Globus.
Iltujîrierte
3eitf4>rift fur Mander- und Volkertunde.
Begründet 1802 nu tari A N d r e e.
HeranSgegeben von
U i ch a r d A n d r e e.
Grau nschweig)
Drnck und Verlag von Friedrich Vieweg und Sohn.
18 9 1.
Inhaltsverzeichnis des LIX. Bandes
Luro p a.
Deutschland und Österreich - Ungarn.
R. Andere, Die Grenzen der nieder-
deutschen Sprache. Mit Karte 29, 41.
G. Mayer, Zur Volkskunde der
Alpenländer 49. 68. Die Armenier
der Bukowina 62. Deutsche Sprach-
inseln im ungarischen Erzgebirge 62.
M. Gehre, Tie Germnnisierung der
Litauer in Ostpreußen 110. A. Kirch-
hofs, Die unterste Saale keine Sprach-
grenze 150. Franz Kraus, Eine
elektrische Alpcnbahn 158. Luserna in
Tirol 160. Sophus Rüge, Die Etsch-
quclle. Mit Karte 180. I. H. Kloos,
Die Höhlen bei Rübcland im Harz.
Mit Abbild. 195. 215. Die Bevölkerung
von Deutschland 255. Warenverkehr
Deutschlands mit seinen Kolonieen 255.
B. Stehle, Münster im Gregorienthai.
Mit Abbild. 264. M. Gehre, Die
neue deutsche Kolonisation in Posen und
Westpreußen 273. Fortschritte des
Deutschtums in Nordschleswig 288.
H. I. Bidcrmann, Übersicht der Sla-
venrestc in Tirol 292. 310. F. Kraus,
Die Dolipen des Karstes. Mit Abbild.
163. F. S. Krauß, Dic Falkenjagd in
Bosnien 332. Die deutschen Gemeinden
in Pieniont 335. F. Kraus, Tie Ver-
änderungen in der Eishöhle am Beil-
stein. Mit Abbild. 344. B. Stehle,
Volksglauben, Sitten und Gebräuche in
Lothringen 377.
Großbritannien, Niederlande, Belgien,
Schweiz und Skandinavien. Kaiser-
liche Nordfahrtcn. Mit Abbild. 89.
H. Rep so Id, Die Basaltinsel Stasfa.
Mit Abbild. 136' I. Winkler, Die
niederdeutsche Sprache in Französisch-
Flandcrn 149. A. Pauwels, Der
vlamischc Sprachstrcit 177. P. Niel-
sen, Die lappische Völkerwanderung.
Mit Abbild, und Karte 21 l. H. Gni-
doz, Die Sprachvcrhältnissc in Luxem-
burg 246. Topographische Gestaltung
des Genfer Sees 255. I. Höfer,
Ein Ausflug nach Dublin. Mit Ab-
bild. 295. 307. Tie Rhätoromancn in
Graubünden 384.
Frankreich, Italien, Spanien und
Portugal. H. Gaidoz, Die französi-
schen Thäler Piemonts. Mit Karte 3.
Ermling, Die Sprachverhältnisse auf
Malta 15. F. Kaibler, Gegen-
wärtiger Zustand der deutschen Gemein-
den am Südfußc des Monte Rosa. Mit
Abbild. 38. Kultivierung der Landes
in Frankreich 48. Ermling, Schäd-
liche Winde auf Sardinien 144. Mo-
derne Geißler in Sizilien 224. Pons
y Soler, Prähistor. Bauten auf
Menorca. Mit Abbild. 230. Diluviale
Dünen in den Landes (Frankreich) 256.
Erzherzog Ludwig Salvator über
Menorca. Mit Abbild. 276. Wölfe in
Frankreich 288. Aberglauben in Mittel-
italien. Mit Abbild. 341.
Europäisches Rußland und die Balkan-
halbinsel. Die Albanesen in Griechen-
land 48. F. S. Krauß, Das Tätto-
wieren bei den Südslaven mit Abbild.
72. Das Tschernosem Rußlands 109.
T sch er n y s ch o w s Forschungen im Pet-
schoralandc 111. P. v. Stenin, Tie
Tuschiner im Kaukasus 108. Spuren
von Kannibalismus bei den Wotjaken
160. N. v. Seidl ist, Die Feier des
Neujahrs bei den Grusinern 172. Geo-
logisches von Thasos 191. Die Beser-
mianer in Rußland 192. Der Hasen
von Saloniki 192. P. v. Stenin,
Vorstellungen des russischen Volkes vom
Tode 236. Missionsthütigkeit unter den
Heiden Rußlands 240. Die deutschen
Kolonieen in Rußland 290. Silbererz-
lager in Südrußland 304. F. Kanitz,
Römisches und Mittelalterliches aus
Kursumlje 305. Montenegros Flotte 368.
Asien.
Asiatische Türkei, Persien und Arabien.
Die Juden von Liberias 62. Das
heutige Tarsus in Cilicien 94. Geo-
logische Karte von Lesbos 174. I. P.
Peters, Die Sarkophage von Sidon
250. Kieperts Spczialkarte vom west-
lichen Kleinasien 206. A. I. Ceyp, Ein
Besuch der Euphratqucllen 349. Ram-
says Forschungen in Kleinasien 383.
Asiatisches Rußland. Kirgisenbildnis von
Krilow 21. Capus über die Viel-
weiberei in Russisch-Turkestan 56.
V. Priklonski, Totengebräuche der
Jakuten. Mit Abbild. 81. Marth e,
Buddhistische Heilkunde in Sibirien 93.
Prähistorisches von Ussuri 96. N. von
Seidlitz, Der Selbstmord bei den
Tschuktscheil^tll. Die große sibirische
Eisenbahn ¿92y Russische Ansiedelungen
an der Anadyrmündung 192. Aibughir
redivivus 272.
Britisch-Indien. Frühreife der Hindu-
mädchen 61. Straßen- und Eisenbahn-
bauten in Kaschmir 63. Aberglauben
contra Aberglauben in Indien 64.
Legenden und Fabeln aus Tschitral 48.
Alte Goldbergwerke in Maisur 96. Der
südindische Staat Maisur 176. Der
Übergang Birmas vom Barrcnverkehr
zum Münzwesen 107. Todesfälle durch
Schlangenbisse in Indien 124. Der
Thcebau aus Ceylon 144. PH. Lenz,
Indische Kinderheiraten 199. 240. Die
Barbiere von Bombay 208. Die Kohlen-
selber Birmas 208. Annektierung Mo-
mciks durch die Engländer 240. Tie
Einwohnerzahl Britisch-Indiens 286.
Die Einwohnerzahl Birmas 288. Mani-
pur 303. Das indische Mundschloß.
Mit Abbild. 364. Die Schlangenver-
ehrung in Indien 384. Vorgeschicht-
liches aus Maisur 384.
Siam. Der Hos von Siam und seine
Kulturbestrebungen. Mit Abbild. 169.
Eisenbahn aus der malaiischen Halb-
insel 256.
Zcntralasiatischc Chanate. Littledales
Reise über den Pamir nach Kaschmir
45. Die Künste bei den Siaposch 224.
Grombtschewskis Reisen in Hoch-
asien. Mit Karte 70.
Nicderländisch-Jndicn und Philippinen.
C. W.Plcyte, Indonesisches Feuerzeug.
Mit Abbild. 52. Kröpf und Kretinis-
mus im Indischen Archipel 103. E. R o t h,
Die Pflanzen- und Tierwelt auf der
Ostküste Sumatras 109. Die heidni-
schen Stämme der Inseln Panay und
Samar 160. F. Blumen tritt, Die
Eingeborenen von Palawan und der
Calamianen 166. 181. H. Sund er-
mann, Der Kultus der Niasser. Mit
Abbild. 370.
Chinesisches Reich. Chinesisches Urteil
über europäische Wissenschaft 63. Nin
Puan, der neue Name für Kuldscha 64.
Die Regierung in Tibet 144. Bonvn-
lots Reise nach Tibet und quer durch
Asien 145. Erste Eisenbahn aus Fvr-
mosa 160. Kindbcttaberglaubcn der
Chinesen 175. Eine untergegangene
Stadt in Ostturkestan 208. Aufklärung
über das chinesische Wachsinselt 223.
C. F. Caspari, Die Grabstätte des
Kaisers Puug-Lo. Mit Abbild. 248.
Zentralasiatische Reise der Bruder G r u in -
Grschimailo 256. Schwierigkeiten
des Telegraphenbaus in Pünuan 287.
Japan. W. Sievers- Beschreibung der
japanischen Inseln von einem Japaner
15. Aus japanische Art 59. Das Lcichen-
verbrennungssystem in Japan 96. Die
Einwohnerzahl Japans 208. O. Mar-
burgs Forschungen aus den Liu-kiu-
Jnseln 266. Die Zahl der Ainos auf
Jeso 288. Reste des alten japanischen
Christentums 304. Der wirtschaftliche
Fortschritt Japans 320. Verkehr zwi-
schen Japan und den Vereinigten Staa-
tcn 335. Reaktion in Japan 336.
Afrika.
Allgemeines. Die Farbenabstufun'gcn der
Neger 80. E. G. Ravenstein, Areal
und Bevölkerung Afrikas 203. Katholi-
sche Missionen in Afrika 288. Wiß-
manns zweite Turchquerung Afrikas.
Mit Abbild. 325. Die Baumwollen-
kultur in den deutschen Kolonieen 352.
Französische Expeditionen in Zcntral-
asrika (Dybowski) 368.
Nordafrika und die Sahara. Fran-
zösisch-arabische Mischsprache in Algerien
62. Das spanische Saharagebiet 143.
VI
Die Spanier in Oran 160. F. Regel,
Die Denudation der Wüste. Mit Ab-
bild. 233. H. Seidel, Neue Portugie-
sische Kolonialkarten 234. Abkürzung
der Schiffahrt ini Suezkanal 304.
Senegambicu und Westsudan. Die Schiff-
barkeit des Niger 78.
Oberguinea mit Kamerun. Kälte in
Kamerun 16. Repatriation westafrika-
nischerNeger47. Zintgrasfs Expedition
im Hinterlande von Kamerun 127.287.
Ludwig Wolfs letzte Reise im Norden
von Dahoms. Mit Karte 129. Ter
Haushund in Assinic 144. Kindermord
in Assinie 176. Morgens Reise im
Hinterlande von Kamerun 272. 367.
Büttikofer über die Liberianer 253.
Niederguiuca, Kougostaat, Portugicfisch-
Westafrika. I. Cholets Reise auf dem
Sangha. Mit Karte 58. Der Handel
des Kongostaats 112. F. Blum entriti,
Spanisch-Guinea 139. Die Entwickelung
der Sinne bei den Gabunesen 224.
A. Scobel, Die Erforschung der Wasser-
läufe des nördlichen Kongogebietes. Mit
Karte 225. Crampels Betuch beim
Zwergstamme der Bayaga 237. Katangas
Metallreichtum 239. Reisen Valeros
in Spanisch-Guinea 160. Tie Fremden
im Congostaate 368.
Südafrika. Das Rätsel von Simbabje.
Mit Abbild. 13. Chinesen in Kimberley
64. Kamele in Südwestafrika 48. Süd-
afrikanische Flußgeister 239. Holubs
Reise zu den Maschukulumbe. Mit Ab-
bild. 243. Bastardland 384.
Ostafrika, Abessinien, Ostsndan. Emin
Paschas Elfenbein 32. Emil Mayr,
Die Südgrenze von Deutsch-Ostasrika.
Mit Karte 35. Die Tropfsteinhöhlen
bei Tanga, Ostafrika 111. Bri cheti is
Reise im afrikanischen Osthorn 127.
Die Entwickelung Dnr-cs-Salams 143.
Die Entwickelung Bagamoyos 143. Die
deutsche Emin Pascha-Expedition unter
K. Peters. Mit Abbild. 151. Lugards
Reise im Hintcrlande von Mombas 159.
Jacksons und Gedges Reise nach
Usoga 159. Der Rikwasee 224. Die
englisch-italienische Einflußlinie in Ost-
afrika 255. 319. Maschkvws Expedi-
tion nach Abessinien 256. R. Andree,
Tippu Tip. Mit Bildnis 284. Die
Missionen am Kilimandscharo 288.
H. Meyers Ostafrikanische Gletscher-
fahrten 60. Eisenbahn von Tanga nach
Usambara 336. Schwankungen des
Tanganjikasees 336. Deutscher Dampfer-
auf dem Viktoriasee 368. Ethnographi-
sches von den Negern am Niassasce 383.
Die Steinzeit Abessiniens 383.
Madagaskar. Das Ncujahrsbad der
Königin 79. Catats und Maistres
Reisen. Mit Karte 123. Besteigung
des Ambondrombo 160.
A tu errk a.
Allgemeines. S. Rüge, Die äußersten
Punkte der Neuen Welt. Atit Karte 1.
Derselbe, Die äußersten Ostpunkte der
Neuen Welt 270.
Britisch-Nordamerika u. Alaska. Frucht-
barkeit der französischen Kanadier 62.
Verschwinden von Sable- Island 62.
Franz Boas, Ein Besuch in Viktoria
aus Vancouvcr 75. Politische Bewegung
unter den Indianern Kanadas 80. Die
Isländer in Manitoba 96. Die Hilfs-
quellen Alaskas 304.
Vereinigte Staaten. Walter I. Hoff-
man, Ursachen des Jndianerkrieges 33.
Inhaltsverzeichnis des LIX. Bandes.
Zurückweichen der Niagarafälle 48.
W. Kobelt, Der Monosee in Kali-
fornien 91. El Morro, ein Inschrift-
felsen in Neumexiko. Atit Abbild. 104.
207. Dr. C. Steffens, Übersicht der
nordamerikanischen Jndianerkriege 106.
Das Wort Irokese 112. Die Entstehung
der großen Seen Nordamerikas 128.
Der „große Geist" der Indianer 174.
Zahl der Indianer in den Vereinigten
Staaten 175. Erforschung des Toten-
tales in Kalifornien 207. Versunkene
Wälder an der Ostküste Nordamerikas
239. Die Eisenerzeugung in den Ver-
einigten Staaten 320. Die Beziehungen
der Neger und Nothäute 207. Ernst
Krause, Die Wälder Virginiens unter
dem Einflüsse der Kultur 353. Zensus
der Neger in den Vereinigten Staaten
366. Lieben die Amerikaner Blumen
383.
Mexiko und Mittelamerika. Der Name
Anahuac 16. Hermann Strebel
(Mexikanische Altertümer). Mit Bildnis
17. Die Cliff-dwellers in Chihuahua
96. D. G. Brinton, Das Heidentum
in Pukatan 97. Tie Altertümer Chi-
riquis. Mit Abbild. 219. 227. Die
Ravilla-Gigedo-Inseln 240. Schcllhas
Studien über Mayaaltertümer 256.
H. Becker, Der Kanal von Nikaragua
331. Die Deutschen in Mexiko 336.
Westittdicn. Die Farbigen auf Haiti und
Jamaika 158. Dr. W. K o b e l t, Sharps
Besteigung des Vulkans von St. Vin-
cent 173.
Südamerika. Die erste trauskontincntale
Eisenbahn Südamerikas 80. Cou-
d r e a u s Forschungen in Französisch-
Guiana 80. Die Salpeterlager Chiles
95. W. Kobelt, Ameghinos For-
schungen in den Argentinischen Pampas
113. 132. H. Pölakowski, Clnle-
nische Kolonieen im Araukanerlande 175.
Aussätzige in Agua di Dios (Colombia)
192. H. Kunz, Die chilenische Provinz
Tarapaca 241. Erforschung des Mar
Chiquita (Argentinien) 256. Altperu-
anische Schädelmasken 320. W. Jocst,
Angebliches Mittel gegen Schlangengift
in Surinam 358. Roussons Reise im
Feuerland 383.
Australien und Ozeanien.
Das Festland. Albinos in Australien 32.
Die Kaninchenplage in Australien 95.
Einwanderung in die australischen Kolo-
nieen 144. Die Vereinigten Staaten
von Australien 287. Howitt, Über
die Gruppenchc der Australier 346.
Die Inseln. R. Andree, Holzfiguren
von den Salomoinseln. Mit Abbild. 6.
Maori und Moa als Zeitgenossen 64.
Dana, Über die Vulkane Hawaiis 45.
Die Datumsgrenze in der Südsce 111.
Tauben als Pflanzenverbrciter in der
Südsee 112. H. Greffrath, Britisch-
Neu-Guinea 1889 bis 1890 127. Der-
selbe, Ter St. Josephs Distrikt in
Britisch-Neu-Guinea 143. Meteoro-
logische Stationen in der Südsee 208.
H. Seidel, Das Atoll Nissan und seine
Nachbarn 247. Lauterbachs For-
schungen in Kaiser-Wilhelmsland 287.
H. Seidel, Die Erforschung der Purdy-
Jnseln 303. Lord Howe-Insel 319.
R. v. Lendenseld, Das südneusee-
ländischc Tafelland. Mit Abbildungen
356, 375. Einige Bemerkungen über
die Fidschi-Inseln. Mit Abbild. 327.
Handel der Samoainscln 336.
Polargebrete.
Wegweiser zum Nordpol 43. Deutsche
Expedition nach Westgrönland 112. Die
beabsichtigte Südpolarexpedition 116.
Neue Fahrten zur See nach Sibirien
126. Pearys Expedition nach Nord-
grönland 240. R. Andree, Die Skulp-
turen der Eskimos. Mit Abbild. 348.
Nansen, Auf Schneeschuhen durch
Grönland 352.
Lpdrographie. Ozeane.
Tiefseeforschungen im Schwarzen Meere 31.
Tiefseeforschungen im östlichen Mittel-
meere 140. Planktonstudien 142. 205.
Die Niveauschwankungen des Kaspischen
Meeres 238. Die Wärmeverhältnisse
des Mittelländischen Meeres 382. Das
kalte Auftricbwasser an der Lstseite des
Atlantischen und an der Westseite des
Nordindischen Ozeans 382.
Meteorologie und Mathema-
tische Geographie.
Blanford über die Entstehung tropischer
Cyklone 45. Meteorologische Stationen
in der Südsee 208. Prechts Syn-
chronoskop 176. Schädliche Winde auf
Sizilien 144. Kälte in Kamerun 16.
van Bcbber, Die Wettervorhersage
286. Wisli cenus, Geographische Orts-
bestimmungen 286. Die Datumsgrenze
in der Südsee 111. Neue magnetische
Aufnahme Österreichs 319.
Geologie.
A. Sauer, Gegenwärtiger Stand der Löß-
srage in Deutschland. Mit Abbild. 24.
Derselbe, Schwarzwaldgletscher und
Lößbildung der oberrheinischen Tiefebene
204. Derselbe, Vordiluviale Glacial-
erschcinungen 69. Die Salpcterlager
Chiles 95. Das Tschernosem Rußlands
109. W. Kobelt, Ameghiuos For-
schungen in den Argentinischen Pampas
113. 132. Dr. W. Sievers, Die Ent-
stehung der Koralleninseln 125. Die
ehemalige nördliche Ausdehnung des
Kaspischen Sees 128. Das Alter des
Uralgebirges 128. H. Repsold, die
Basaltinsel Stafsa. Atit Abbild. 136.
F. Kraus, Die Dolmen des Karstes 163.
Geologisches von der Insel Thasos 174.
I. H. Kloos, Die Höhlen bei Rübe-
land im Harze. Mit Abbild. 195. 215.
Schwefellager in Transkaspien 224.
F. Regel, Die Denudation der Wüste.
Atit Abbild. 233. Versunkene Wälder
an der Ostkllste Nordamerikas 239.
Diluviale Dünen in den Landes (Frank-
reich) 256. Thätigkeit der geolog. Reichs-
anstalt in Wien 271. A. Kirchhofs,
Tundren und Steppen int diluvialen
Deutschland 65. Silbererzlager in Slld-
rußland 304. Alte Goldbergwerke in
Btnisur (Indien) 96. Geologische Karte
von Lesbos 174. Gürich, Geologische
Karte von Schlesien 61. Toyokitsi
Harada, Geologie Japans 15. Tropf-
steinhöhlen bei Tanga (Ostafrika) 111.
Dana über die Vulkane Hawaiis 45.
Fossile Elefanten vom Mont Dol 320.
R. v. Lendenfeld, Das südneusee-
ländische Tafelland. Mit Abbild. 356.
A. Sauer, Eiszeit vor der Eiszeit.
Mit Abbild. 363.
VII
Botanik und Zoologie.
E. Noth, Pflanzen- und Tierwelt auf der
Ostküste Sumatras 109. Tauben als
Pflanzenverbreiter in der Südsee 112.
Die Kaninchenplage in Australien 95.
Heuschreckenschwärine über dem Noten
Meere 96. Der Haushund in Assinie
(Westafrika) 144. Die Stcinböcke in
Graubünden 176. Schlangenplage aus
den Liu-kiu-Jnseln 192. Podomostaceae
in Britisch-Guiana 207. Aufklärung
über das chinesische Wachsinsekt 2)13.
I. v. Goerne, Landferne Schmetterlinge
über dem südatlantischen Ozeane. Mit
Karte 209. Wölfe in Frankreich 288.
Todesfälle durch Schlangenbisse in Indien
124. Kamele in Südwcstasrika 48.
Drüdes Handbuch der Pflanzengeo-
graphie 60. Plankton-Studien (Haeckel
und Brandt) 142. 205. Die Baum-
wollenkultur in den deutschen Kolonieen
352. Dr. Ernst Krause, Die Wälder
Virginiens unter dem Einflüsse der
Kultur 353.
Anthropologie.
Seggels Brustmessungen bei bayerischen
Soldaten 112. Die künstliche Verunstal-
tung der Köpfe in Europa. Mit Ab-
bild. 118. Die angebliche Leichtigkeit des
Gebarens bei den Naturvölkern 191.
Anthropologie der Prostituierten 31.
Albinos in Australien 32. Ammons
Anthropol. Statistik von Baden 51.
Frühreife der Hindumädchen 61. Frucht-
barkeit der französischen Kanadier 62.
Die Farbenabstusungeu der Neger 80.
Entwickelung der Sinne bei den Gabu-
nesen 224. Die Sterblichkeit französischer
Soldaten in den Kolonieen 46. Die
Vererbung der Taubheit 362. Neue
Forschungen über die Dauerbarkeit der
Menschenrassen 381.
Urgeschichte.
Dr. M. Hoernes, Zur Archäologie des
Eisens in Nordeuropa 19. Altersfolge
der Feuerzeuge 62. Preise prähistorischer
Altertümer 62. Prähistorische trepanierte
Schädel aus Dänemark 48. Prähistori-
sches vom Ussuri 96. Ameghinos For-
schungen in den Argentinischen Pampas
113. 132. C. Mehlis, Vorgeschichtliches
aus Reichenhall 171. v. Chlingensp er g,
Vorgeschichtliches aus Ncichenhall 252.
I. Pons y Soler, Prähistorische Bauten
auf Menorca. Mit Abbild. 230._ Die ge-
fälschten Bronzen von Sinj 272. Die
Knochcnlager von Jxclles (Belgien) 286.
Alu nr o, Über die Pfahlbauten Europas
142. Hostmanns Studien zur vorge-
schichtlichen Archäologie 141. Die vorge-
schichtliche Anlage Roms 320. M. Hoer-
nes, Die Genesis der alteuropäischen
Bronzekultur 321. V. Priklonski,
Bronzenes Wildschaf aus einem Minu-
sinsker Kurgane 364. Der Burgwall
von Gornij Poplat. Mit Abbild. 365.
I. H. Kloos, Jadeitbcilchen aus Braun-
schweig 374. Die Steinzeit Abessiniens
383. Vorgeschichtliches aus Maisur
(Indien) 384.
Ethnologie und Soziologie.
G. A. Willen, Die Ehen zwischen Bluts-
verwandten 8. 20. 35. Capus über
Vielweiberei in Russisch-Turkestan 56.
F. v. Hellwald, Der Tanz im Lichte
Jnhaltsvcrzeichnis des LIX. Bandes.
der Völkerkunde 100. 120. M. Haber-
landt, Die Litteraturen des Orients 85.
A. I a c o b s e n, Nordwestamerikanisch-
polyuesische Analogieen 161. G. Schult-,
heiß, Anthropologie und Geschichte 198.
211. 261. 280. Ph. Lenz, Indische
Kinderheiraten 19^. A. H. Post, Ethno-
logische Gedankeist 289. H. Schurtz,
Die Milderung des menschlichen Charak-
ters vom Standpunkte der Ethnologie
299. A. H. Post, Über die Aufgaben
einer allgemeinen Rechtswissenschaft 253.
H. Schurtz, Über die Philosophie der
Tracht 285. Howitt, Über die Gruppen-
che der Australier 346. H. S u n d e r -
m a n n, Der Kultus der Niasser. Mit
Abbild. 369.
Spezielle Ethnographie.
R. Andrer, Holzfiguren von den Salomo-
inseln. Mit Abbild. 6. Kirgisenbildnis
von Krilow 21. 32. G. Meyer, Zur |
Volkskunde der Alpenländer 49. 70.
C. M. Pleyte, Indonesisches Feuerzeug.
Mit Abbild. 52. Die Juden von
Liberias 62. Maori und Moa als
Zeitgenossen 64. F. S. Krauß, Das
Tättowieren bei den Südslaven. Mit Ab-
bild. 72. P. Nielsen, Die lappische
Völkerwanderung. Mit Abbild, it. Karte.
211. Die Altertümer Chiriquis. Mit
Abbild. 219. H. I. Bidermann, Die
Slavenreste in Tirol 292. F. S. Kr a u ß,
Slavische Feuerbohrer 140. 317. Spuren
des Kannibalismus bei den Wotjaken
160. I. Blumentritt, Die Einge-
borenen der Insel Palawan und der
Calamianen 166. 181. Die Zahl der
Indianer in den Verein. Staaten 175.
Die Besermianer in Rußland 192. Die
Beziehungen der Neger und Rothäute
207. Die Künste bei den Siaposch
(Zentralasien) 224. V. Priklonski,
Totengebräuche der Jakuten. Mit Ab-
bild. 81. N. v. Seidlitz, Der Selbst-
mord bei denTschuktschen 111. Gram-
st els Besuch beim Zwergstamme der
Bayagas 237. A. Jakobsen, Ameri-
kanische und sibirische Nephritgeräte. Mit
Abbild. 314. Das Zeichnen der Natur-
völker 320. Übertragung von Orna-
menten von Volk zu Volk 320. R. An-
dree, Die Skulpturen der Eskimos.
Mit Abbild. 348. Das indische Mund-
schloß. Mit Abbild. 365. Die Ver-
wendung der Menschengestalt in Flecht-
werken 383. Die Schlangenverehrung
in Indien 384.
Volkskunde (Folklore).
Kaukasische Volkssagen von den Cyklopen
160. N. v. Seidlitz, Die Feier des
Neujahrs bei den Grusinern 172. Der
„große Geist" der Indianer 174. Kind-
bettaberglaubcn der Chinesen 175.
Kindermord in Assinie (Westafrika) 176.
R. And ree, Die Flutsagen 187.
F. v. And rian, Der Höhenkultus 205.
Gegen Nasenbluten und Blutflüsse 208.
304. Moderne Geißler in Sizilien
224. P. v. Stettin, Vorstellungen des
russischen Volkes vom Tode 236. Süd-
afrikanische Flußgcister 239. S. Wlis-
locki, Amulette und Zauberapparat der
ungarischen Zeltzigeuner. Mit Abbild.
257. F. Kaibler, Die Leichenbretter.
Mit Abbild. 184. Westfalens Schinken u.
Pumpernickel 208. Aberglauben contra
Aberglauben in Indien 64. Legenden und
Fabeln aus Tschitral (Jnnerasien) 48.
Vraeviós südslavischeVolkserzählungen
252. Böhmischer Jagdaberglauben 61.
Karsikot, die entästeten Bäume in Finn-
land 313. Aberglaube in Mittelitalien.
Mit Abbild. 341. Heilige Haine der
Finnen 350. B. Stehle, Volksglauben
und Sitte in Lothringen 377.
Sprachliches.
Der Tschinuk Jargon 47. Die Bedeutung
des Wortes Tabak 78. Das Wort
Irokese l 12. 5). P o l a k o w s k tz, Eine
spanische Ansicht über die Zukunft der
spanischen Sprache 93. R. Andree,
Die Grenzen der niederdeutschen Sprache.
Mit Karte 29. 41. I. Winkler. Die
niederdeutsche Sprache in Französisch-
Flandern 149. A. Kirchhosf, Die
unterste Saale keine Grenze zwischen
Mittel- und Niederdeutsch 150. A. Pau-
wels, Der vlamische Sprachstreit 177.
Die Tiber oder der Tiber? 171. Ver-
wendung des Phonographen bei der
Ausnahme von Sprachen 239. Das
Winnebago-Alphabet 239. H. Gaidoz,
Die Sprachverhältnisse in Luxemburg
246. Französisch-arabische Mischsprache
in Algerien 62. Der Name Anahuac 16.
Biographieen. Nekrologe.
Dr. Wilhelm Stricker st 272. Camille
Colquihat st 272. R. Andrer, Tippu
Tip. Mit Bildnis 284. Hermann
Strebet. Mit Bildnis 17. Professor
H. Handclmann st 335. H. Strebet,
Erinnerungen an Dr. Bercndt. Mit
Bildnis 337. Raimondis Nachlaß 352.
I. E. Hilgard st 368. Denkmal für
Sir R. Burton 384.
Karten.
Europa. Die französischen Alpenthäler
Piemonts (1:1000 000) 5. R. A ndree,
Die Südgrenze der niederdeutschen
Sprache (1:1 500000), Beilage zu 9U°. 2.
P. Nielsen, Ehemalige Grenzen und
Vordringen der Lappen in Norwegen
(1:6000000) 213. Die Etjchquelle
(1:150000) 180.
Asien. G rombtsch ewskis Reisen in Hoch-
asien von Emil Mayr (1:3 500000) 71.
Bonvalots Reise vom Lobnor bis
Lhassa (1: 10 750000) 148.
Afrika. Der Sangha, Nebenfluß des
Kongo (1: 5000000) 58. Emil Mayr,
Die deutsch-englische Grenze zwischen
Niassa- und Tanganjikasee (1 : 2 500 000)
35. Catats und Ma ist res Reisen
auf Madagaskar (1:10620000) 124.
L. Wolfs Reise im Hinterlande des
Togogebietes (1:4000000) 130. Der
Ubangi Helle und andre nördliche Kongo-
zuflüsse (1 :6000000) 225.
Amerika. Der nördlichste Punkt Ame-
rikas 2.
Allgemeine. Südatlantischer Ozean mit
der Verbreitung landferner Schmetter-
linge 269.
Abbildungen.
Europa. Gressoney mit dem Monte Rosa
39. Die Fälle von Gjegnalund, Nor-
wegen 89. Vriksdalebrae, Norwegen 89.
Rödö, Norwegen 90. Wohnhaus aus
Karlsö, Norwegen 90. Stasfa von Süden
136. Stasfa vom Gipfel aus 137. Die
Fingalshöhle (Stasfa) 138. Dolmen
vin
Jnhaltsv erzcichnis des LIX. Bandes.
des Karstes (3 Abbild.) 164. Leichen-
bretter im bayerischen Walde 185. Aus
der Hermannshöhle im Harz (4 Abbild.)
196. 216. Lappischer Löffel, Lappischer
Glockenkranz und Lappische Tasche 211.
212. Prähistorische Bauten auf Menorca
(4 Abbild.) 230. 231. 232. Münster im
Elsaß 265. Die Gruppe des Toro, Me-
norca 277. Mündung des Sta Galdana,
Menorca 277. Forinatjades, Menorca
279. Avias Cuaremas, Menorca 280.
Das Auge Irlands, Bai von Dublin
296. Sackville-Street in Dublin 297.
Der Lifsey in Dublin 308. Die Kirche
St. Patrick in Dublin 399. Die Eis-
höhle am Beilstein. Ansicht und Pläne
344.
Asien. Kirgifenbildnis 2l. Indonesische
Feuerzeuge 53. 54. 55. Jakutische
Grabstätten 84. Der König von Siam
169. Die Königin von Siam 170. Der
Kronprinz von Siam 170. Das Grab
des Kaisers Pung Lo, China 249. Das
indische Mundschloß 365. Häuptlings-
thron von Rias 372. Opfernder Priester
von Nias 373.
Afrika. Die Ruinen von Simbabwe, Süd-
afrika 13. Die Landschaft am Tana
152. Der Kenia 153. Die Teleki-Felsen
156. Dr. Peters auf dem Viktoriasee
157. Die Franz-Jofefs-Berge im Ma-
schukulumbelande 243. Maschukulumbe-
typen 244. Maschukulumbehütten 245.
Kornbehälter der Maschukulumbe 245.
Tippn Tip 284. Der Wißmannfall des
Kassai 325.
Amerika. El Morro, Jnschriftfelsen in
Neu-Mexiko 105. Sintflutbericht der
Algonquins 189. Altertümer von Chi-
riqui (12 Abbild.) 220. 228.
Australien mid Ozeanien. Holzfigurcn
von den Salomoinseln 7. Fahrzeuge
der Fidschi-Insulaner 328. Fidschi-Dorf
329. Fidschi-Insulanerin 330. Remar-
kable Mountains und Humboldt-Berg
in Neuseeland 357. Der FranzJosephs-
Gletscher, Neuseeland 376.
Geologisches. Kantengcschiebe 26. Unter-
elsüssische Diluvialterrassen 28. Staffa,
Basaltbildungen 136 bis 138. Doline»
des Karstes 161. 165. Partieen aus der
Hermannshöhle im Harz 196. 216.
Höhlenbär 217. Abtragung eines Ge-
birges in der Wüste 233. Pilzfelsen in
der Wüste 234. Die Eishöhle am Beil-
stein, Ansicht und Pläne 344. Fjelde
von Moränenkonglomerat am Varanger-
fjord 363. Moränenkonglomerat über
Sandstein mit eisgejchrammter Ober-
fläche 363.
Urgeschichte, Anthropologie, Völker-
kunde. Südslavische Tättowierungen
71. Schädelprofil einer Toulouserin
118. Profile von Franzosen mit künst-
lich verunstalteten Schädeln 119. Prä-
historische Bauten auf Menorca 230
bis 232. Zigeunerische Amulette 259.
Zigeunerische Dämonenbilder 260. Ame-
rikanische und sibirische Nephritgeräte
316. Polnischer Feuerbohrer 318. Ita-
lienische Tättowierungen 342. Bon
Eskimos geschnitzte Köpfe 348. Bronze-
nes Wildfchaf von Minusinsk 364.
Burgwall von Gornij Poplat 365.
Jadeitbeilchen aus Braunschweig 374.
Bildnisse. Hermann Strebe! 17. Prinz
Heinrich von Orléans 115. Gabriel
Bonvalot 115. Tippu Tip 284. Karl
Herm. Bcrendt 337.
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Boas, F. 75.
Brinton, D. G. 97.
Caspari, C. F. 248.
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Chlingesperg-Berg, v. 252.
Dahl, Fr. 205.
Ermling 15. 144.
Gaidoz, H. 3. 246.
Gehre, M. 273.
Goerne, I. v. 269.
Greffrath, H. 127. 143.
Gruß, G. 286. 335.
Günther, S. 286.
Haberlandt, M. 85.
Hellwald, F. v. 100. 120.
Höfer, I. 295. 307.
Hoernes, M. 17. 321.
Hofmann, W. I. 33.
Jacobsen, A. 161. 314.
Joest, W. 353.
Kaibler, F. 38. 161.
Kanitz, F. 305.
Kirchhofs, A. 65. 150.
Kloos, I. H. 195. 215. 374.
Kobelt, W. 91. 113. 132. 173.
Kraus, F. 153. 162. 341.
Krause, E. 353.
Krauß, F. S. 61. 72. 110. 252. 332.
Kunz, H. 241.
Lendenseld, R. v. 356. 375.
Lenz, Ph. 199.
Marthe, F. 93.
Mayr, E. 34. 68.
Mehlis, C. 171.
Meyer, G. 49. 70.
Nielsen, P. 211.
Pauwels, A. 177.
Peters, I. P. 250.
Pleyte, C. Al. 52.
Polakowsky, H. 93. 176.
Pons y Soler, I. 230.
Post, A. H. 289.
Priklonski, V. 81. 361.
Regel, F. 112. 233,
Repsold, H. 136.
Röll, I. 335.
Roth, F. 110.
Ruge, S. 1. 180. 269.
Sauer, A. 21. 59. 61. 204. 334. 363. 382.
Schultheiß, G. 193. 209. 261. 280. 286.
Schurtz, H. 299.
Scobel, A. 206. 225.
Seidel, H. 234. 247. 303. 325.
Seidlitz, N. v. 111. 173.
Sievers, W. 15. 125.
Stehle, B. 264. 377.
Stenin, P. v. 103. 236.
Strebet, H. 337.
Sundermann, H. 369.
Weigel, M. 141.
Wilken, G. A. 8. 20. 35.
Winkler, I. 149.
Wlislocki, H. v. 257.
Zaluski, Th. v. 32.
Bd. LIX
Nr. 1.
Begründet 1862
von
Karl Andres.
Arriick urrà W er: fer g
Mer-M IUàèe
Herausgegeben
von
Richard Andres.
örich 'Wieweg & SoHn.
Braunschwei g.
Jährlich 2 Bände in 24 Nummern. Durch alle Buchhandlungen und Postanstaltcn
zum Preise von 12 Mark für den Band zu beziehen.
1891.
Die äußersten punkte der neuen Welt.
Von Pll-of. S
Der Ausdruck „Punkt" ist absichtlich gewählt, um vor-
läufig unentschieden zu lassen, ob damit ein Kap (Cabo)
oder Point (Punta, d. h. Spitze), oder endlich em Promon-
tory gemeint ist. Es ist ferner noch unentschieden gelassen,
ob die „Punkte" ans dem festen Lande oder aus benach-
barten, zweifellos zu Amerika gehörigen Inseln liegen. Da
in bezug aus diese äußersten Landesteile Amerikas noch jetzt
mehr als bei den andern Erdteilen Unklarheiten herrschen,
oder auch Irrtümer — und wäre es auch nur in der
Schreibweise — mit unterlaufen, so will ich im folgenden
diese „Punkte" bis auf die Zeit ihrer ersten Benennung
zurück zu verfolgen suchen und die Berechtigung ihrer An-
sprüche oder der ans ihren Namen erhobenen Ansprüche
prüfen.
Wie man in Europa stets vom Nordkap als dem nörd-
lichsten Vorgebirge spricht und seltener das auf dem festen
Lande gelegene Nordkyn nennt, so ist es auch mit dem süd- '
lichsten Vorsprunge Amerikas bestellt. Alle Welt weis vom
Kap Hoorn ans der Insel L’Hermitc, aber selten wird die
Südspitze Patagoniens genannt. Wir suchen dieses sogar
auf der' neuesten Karte Südamerikas (Stieler’s Handatlas
Nr. 89) vergebens. Da steht auch noch die falsche Schreib-
weise Horn. Ich glaube, es ist einer der verbreitetsten
Fehler unter allen geographischen Namen, diesen südlichsten
Felsenberg der neuen Welt bloß mit einem o zu schreiben.
Dieses wild und grotesk aus dem Meere aufsteigende Kap
ist 1616 von Le Maire ans einer denkwürdigen Erdumsege-
lung, ans der auch der heutigcstages sogenannte Bismarck-
archipel zuerst gesichtet wurde, entdeckt und zu Ehren der
Vaterstadt des sie begleitenden Kapitäns Schonten nach der
Stadt Hoorn in Nordholland benannt. Daß es nicht ans
dem eigentlichen Feuerlande, sondern auf einer vorgelagerten
hohen Felseninsel liegt, sah zuerst der holländische Admiral
Jakob L'Hermitc im Jahre 1624. Nach ihm erhielt die
Insel ihren Namen. ^ t rr
Das südlichste Vorgebirge aus dcnr Festlande, also an
der Nordseite der Magalhaensstraße, wurde 1587 von
dem englischen Weltnmsegler Thomas Cavendish Kap Fro-
Globus Lix. Nr. l.
phus Rüge.
ward getauft, d. h. das Trotzige. Die Franzosen haben da-
gegen, wie ich vermute, ursprünglich nur durch ein Versehen,
eine Flüchtigkeit, Kap Forward daraus gemacht, was etwa
mit dem vorderen oder äußersten Vorgebirge übersetzt werden
könnte, also auch einen passenden Sinn giebt. Trotzdem
muß man diese Namensform als eine unberechtigte be-
zeichnen. Sie findet sich schon bei Debrosses, der um 1756
schrieb. Auch der berühmte Dumont d’Urville (Voyage au
Pôle Sud. Paris 1841) nennt cs so und übersetzt Forward
mit sourcilleux (hoch, schroff), was eher dem Ausdruck
froward entspricht. d'Urville beschreibt dann (vol. I, p. 118)
das Vorgebirge mit den Worten: „Le cap lui-même est
un mont sourcilleux en forme de cône arrondi au
sommet, s’élevant en pente très rapide du sein même
de l’onde à une prodigieuse hauteur. Il est cepen-
dant dominé par des pics aigus, découpés, couverts
de neiges éternelles. Der deutsche Übersetzer der Polar-
fahrt d’Urvilles, Külb (Darmstadt 1846, I, 149), übersetzt
Forward mit „unfreundlich" und vermehrt die Konfusion,
indem er auf die Karte Froward setzt. Sonst findet man
in älteren Karten auch die entstellten Formen E. Frower,
E. Fronart, und noch in neuerer Zeit schrieb ein englischer
Admiral „Eape Frowards".
Wenden wir uns nun zum äußersten Norden des Landes.
Da wird meistens als nördlichster Vorsprung des Festlandes
Kap Barrow genannt. So im Lehrbuch von Guthc-
Wagner (5. Ausl., 1882), Klödcn (Handbuch, 4. Ausl.,
1884). Stielcrs Handatlas hat im Laufe der Jahre seine
Ansicht zweimal gewechselt. Auf den Karten ans den Jahren
1848 und 1850 (Gesamtausgabe 1851) lesen wir ganz
konsequent Sp. Barrow; dagegen bürgert sich später, zuerst
in Petermanns Mitteilungen 1869 (Taf. 19) und dann
auch in Stielers Atlas die Form C. Barrow ein, so noch
1881 (Handatlas Nr. 78); gegenwärtig (Ausgabe 1890)
ist man auf Nr. 6 zur Barrowspitze zurückgekehrt, hat
aber auf Nr. 77 wieder Kap Barrow. Man sollte nun
meinen, Kap Barrow sei mit Barrowspitze wiedergegeben,
und es verlohne sich nicht der Mühe, darum zu streiten,
1
2
Prof. Tophus NUge: Die äußersten Punkte der neuen Welt.
ob es so oder so heiße. Aber in diesem Falle ist cs doch
von Belang. Spitze entspricht dem englischen Point, der
englische Name würde also Point Burrow, aber nicht E. B.
sein. Es fragt sich doch vor allem, wie der Entdecker die
Spitze getauft hat, und dieser — cs war Kapitän Bocchcy
1826 — hat es Point Barrow genannt (Narrative
of a voyage to the Pacific and Peering Strait I, 425),
weil es eine flache Sandzunge (also kein Kap, kein Bor-
gebirge) ist, an der die Eisbänke sich anhäufen. An dem
„low sand spit of Point Barrow“ überwinterte Com-
mand or Maguire 1851 (Osborn, discovery of the
North-West-Passage, London 1856, p. 352). Wenn
man sich nun noch die neueste Kartenskizze von der Um-
gebung des Point Barrow (Proceed, roy. geogr. Soc.
1884, p. 678) ansieht, möchte man fast fürchten, eine tüch-
tige Sturmflut könnte die ganze Barrowspitze wegspülen, so
wenig festen Untergrund scheint sie zu haben. Auf eine solche
Naturform paßt der Ausdruck Kap entschieden nicht.
Noch mehr aber fällt ins Gewicht, daß wir an derselben
polaren Nordkante Amerikas schon ein echtes Kap Barrow
besitzen und zwar am Coronationgolf östlich von der Mün-
dung des Kupferminenflusses. Dieses Kap wurde im August
1821 von Franklin auf seiner ersten Polarreise gesehen und
im Boot umfahren, ist also früher entdeckt als Point Barrow
und behält seinen Namen mit vollem Recht, das andre viel-
genannte darf nur Barrowspitze heißen. Warum aber wird
diese Sandspitze mit Vorliebe in den Büchern erwähnt?
Ist sie der nördlichste Punkt des Festlandes? Keineswegs.
Aber sie präsentiert sich so schön dem jetzt noch insellosen
Eismeere gegenüber und fällt darum eher ins Auge, als der
zwischen den östlicher gelegenen Arktischen Inseln versteckte
nördlichste Vorsprung des amerikanischen Kontinents.
Dieser nördlichste Punkt liegt auf der Halbinsel Boothia,
an der Bellotstraße. Dieser enge Sund ist 1852 durch
Leutnant Kennedy entdeckt, den Lady Franklin in ihrem
Schiffe Prinee Albert aussandte und den der französische
Leutnant Joseph Rene Bellot freiwillig begleitete, um die
seit Jahren vermißte Expedition John Franklins aufzusuchen.
Am östlichen Eingang dieser Straße war James Roß bereits
1829 gewesen und hatte Besitz von dem Lande an Possession
Point genommen; aber er hatte die charakteristische Eigen-
tümlichkeit der Gegend nicht erkannt. Während er sich von
Norden her der Straße näherte, machte er die Bemerkung,
man habe auch die Vermutung geäußert, daß hier zwischen
unsrer Spitze (es ist Kap Garry gemeint) und dem festen
Lande von Amerika ein offenes Meer sei. Aue 16. August
1829 ging er an Possession Point mit allen Offizieren an
die Küste, um das neu entdeckte Land förmlich in Besitz zu
nehmen eind um 1 Uhr wurde die Flagge mit gewöhnlicher
Zeremonie gehißt. Dann stieg er auf einen etwa 30 m
hohen Kalksteinhügel und erfreute sich an der schönen Aus-
sicht über die Bai und die angrenzenden Küsten, nannte die
davor liegende Insel nach der liebenswürdigen Schwester
des Herrn Booth, der die Expedition ausgerüstet hatte,
Brown-Insel, und das dahinter liegende Land Boothia.
Daß es die nördlichste Halbinsel Amerikas sei, erkannte er
nicht, nur das wurde an diesem und den folgenden Tagen
festgestellt, daß die ganze Ostküste von Somerset und Boothia
auf beiden Seiten der Straße niedriges, flaches, durch zahl-
reiche Buchten gegliedertes Land war, hinter dem das Binnen-
land einen vollkommenen Gegensatz bildete, indem es alle
jene Schroffheit und unregelmäßige Oberfläche zeigte, die
den Granit kennzeichnen.
Dreiundzwanzig Jahre später erschienen auf demselben
Schauplatz Kennedy und Bellot. Ihr Schiff hatte in der
Battybai an der Ostseite von Nordsomerset überwintert, und
von hier aus unternahmen sie im April 1852 Schlitten-
exkursionen nach Süden und kamen am 5. April an den
Possession Point. Alles lag in Eis und Schnee begraben,
man konnte in dem flachen Terrain Meer und Land nicht
genau unterscheiden. „Es war schwierig“, schreibt Bellot
(Jonrnal d’un voyage aux mers polaires. 2e édit.
Paris 1866, p. 251), „mitten ht diesen flachen und über-
schwemmten Ebenen, die die Nordseite der Brentfordbai (so
hatte Roß den östlichen Eingang zur Straße getauft) bilden,
die wirklichen Inseln von den kleinen Halbinseln zu unter-
scheiden, die mit dem Festlande zusammenhängen. Nördlich
von der Brown-Insel geht eine Einbuchtung gerade nach
Westen ins Land. Ein dichter Nebel, der darüber lag,
deutete ans offenes Wasser. Aber ehe wir uns davon über-
zeugen konnten, brach die Nacht herein und zwang uns, auf
der Nordseite der Insel zu rasten. Das uns umgebende
Land ist höher als weiter nordwärts; die Inseln scheinen
aus Granit ztt bestehen.“ Am nächsten Tage wurde nicht
ohne Schwierigkeit eine Höhe von 30 m erklommen und
von hier aus ein Überblick über die sogenannte Bai im
Süden und Westen gewonnen. Zwischen den Inseln int
Westen zeigte sich offenes Wasser, auf dem Eisschollen mit
einer Geschwindigkeit von 5 Knoten weiter trieben. Leider
war diese Wasserfläche nicht sehr groß. Als man sich am
nächsten Tage diesen Stellen näherte, sah utan, daß sich die
Schollen in reißenden Strudeln sehr schnell vorwärts be-
wegten. Wie wir aus einer Inschrift auf M'Clintock's
Karte erfahren, gehen Flut und beständige Strömung durch
die Straße nach Osten. Kennedy schloß daraus sofort auf
eine Wasserverbindung mit dem westlichen Meere; Bellot
blieb unentschieden. „Ich liebe“, sagt er, „in geographischen
Dingen keine Konjekturen; ich glaube nur, was ich sehe.
Kennedys Hypothese ist möglich, aber bis jetzt läßt sich noch
nichts entscheiden.“ Man drang nun an der Long- Insel
vorüber westwärts nördlich von der Straße vor. Heftiges
Schneetreiben nötigte die Reisenden, am 10. April in einer-
schnell errichteten Schneehütte Schutz zu suchen. „Ein Euro-
päer würde es kaum glauben, daß uns die Wärme darin
oft lästig geworden ist.“ Erst ant 12. April um Mittag
konnte man es wagen, die Erforschung des Sundes fort-
zusetzen. Das Land war ganz eben tind einförmig, ein ein-
ziger Hügel int Süden unterbrach diese Einförmigkeit. Es
war Schneelust, der Hitnuiel bedeckt, man konnte nicht weit
sehen. Leider entwickelte sich daraus am folgenden Tage
ein so dichter Nebel, daß man nicht imstande war, einige
Minuten lang dieselbe Marschrichtung festzuhalten. Dabei
versagte die Magnetnadel den Dienst, „der Kompaß schlief“.
Der Hügel, den man am 10. April gesehen, lag 3 oder
4 Miles östlich vor ihnen. Man mußte wiederum für volle
4 Tage halt machen. Der Nebel war so dick, daß man sich
nicht getraute, sich nur wenige Schritte von der Hütte zu
entfernen, aus Furcht, man möchte sie nicht wiederfinden.
Dabei zeigte das Thermometer —27° GL Am 17. April
| schrieb Bellot in sein Tagebuch: „Unsre Ungeduld ändert
! an dem Stande der Dinge nichts, man mußte sich ntit Ent-
l sagung woffnen. Die Pfeife ist die einzige Zuflucht unsrer
Prof. H. Gaidoz: Die französischen Thäler Piemonts.
3
getäuschten Hoffnung, und wir rauchen, wir rauchen mit
einer solchen Ausdauer und mit einer solchen Regelmäßig-
feit, daß man nicht auf die Uhr zu sehen braucht, um die
Zeit zu wissen. „Wie viel Uhr ist cs, Dickin?" — „So
und so viel Pfeifen, Herr!" — ,„Das ist ebenso genau als
die beste Uhr der Welt!" Endlich brach ane 18. April die
Sonne wieder hervor, und nun ging die mühsame Schnee-
wanderung auf Nordsomersct weiter. Um den nach der
Straße hinabziehenden Schluchten, die sich meist in nord-
südlicher Richtung zum Wasserspiegel senkten, auszuweichen,
hielt man sich meist etwas nördlich vom 72" nördl. Br.
Man mußte aber, da der Schnee unter der Einwirkung der
Sonne bei Tage schon zu weich wurde, sich entschließen, von
nun an nachts zu wandern und über Tag zu rasten. Aber
schon nach 2 Tagen entschied sich Kennedy, gerade nach
Norden zu gehen und richtete seinen Marsch nach der Nord-
ostecke von Prinzwalesland, nach dem Kap Walker. Die
Aufnahme der Bellotstraße blieb unvollendet und konnte
unter den schwierigen Verhältnissen des Klimas nur in all-
gemeinen Zügen nachgewiesen werden.
Ich habe aber diese „Schlittenpartie" ausführlicher
wiedergegeben, um zu zeigen, unter welchen Mühseligkeiten
zum erstenmale das nördliche Festland der neuen Welt
umwandcrt wurde.
Weit mehr wurde später MacClintock von Jahreszeit
und Wetter begünstigt, als er am 21. August 1858 in die
Bellotstraße hineinscgelu konnte. (M’Clintock, The voyage
of the „Fox“ en theArctic Seas. London 1859, p. 180.)
Als er von Furypoint her sich der Straße näherte, fühlte
er, daß eine wichtige Entscheidung auf seiner Reise bevor-
stehe, und durfte sich noch die Frage vorlegen: Giebt es
wirklich eine Bellotstraße? Und wenn dem so ist, ist sie
eisfrei? Auf Possession Point war noch der von Roß auf
dem höchsten Punkte aufgetürmte Steinhaufen (cairn) zu
sehen. Unter Dampf und Segel durchlief er noch an dem-
selben Tage die halbe Bellotstraße. Ihre westlichen Bor-
gebirge find hohe Felsufer, die man bei klarem Wetter
50 Miles weit sehen kann; dazwischen ein breiter, freier
Kanal, auf 5 oder 6 Milcs mit schwerem Packeis besetzt,
dem einzigen Hindernis bei der Weiterfahrt, und das bei
eintretender Flut auch das Schiff wieder nach Osten zurück-
drängte. Tie Bellotstraße sieht gerade so wie ein Grön-
landssjord aus, ist 20 Miles lang und an der engsten Stelle
kaum 1 Mile breit; aber es wurde auch etwa ^Mile vom
Nordgestade die Tiefe noch zu 400 engl. Fuß gemessen.
Die Granitküsten sind kühn und hoch, und für die nördliche
Lage von 72" ganz ansehnlich mit Vegetation überstreut.
Einige von den Hügelketten reichen 1500 bis 1600 engl.
Fuß über die See empor. Der östliche Eingang der Straße
ist durch die Longinfel verdeckt; ist man aber bis in die
Mitte hineingefegelt, so kann man das Meer an beiden
Seiten sehen. Endlich wurde nach mehreren vergeblichen
Versuchen, ganz bis in die westliche See vorzudringen, durch
anhaltenden Nordwind die Straße eisfrei und so segelte die
„Fox" noch am 6. September ohne Schwierigkeit hindurch.
Im nächsten Sommer wurde die Straße genau aufgenom-
men; dem äußersten nördlichen Vorgebirge (promontory)
des Kontinents gab M'Elintock den Namen Murchison,
nach dem berühmten Präsidenten der geographischen Gesell-
schaft in London.
Sieht man sich die Lage dieses Vorgebirges auf der
Karte an, so muß man gestehen, daß es nicht den nördlich-
sten Punkt an der Straße bildet, denn dieser liegt am
Osteingange in den Sund. Murchison Promontory bildet
auch nicht eine Spitze des Landes, es erhebt sich vielmehr
mitten an der Breitseite, gewissermaßen an der Stirn, und
ist, was M'Elintock vergessen hat hervorzuheben, vermutlich
der höchste Punkt an der langhingezogenen Felsenwand der
. Bellotstraße, und darum dürfte sich der auf der neuesten
Nordpolarkarte (Sticlers Handatlas, Nr. 6) angewandte
Name Aeurchison-Spitze nicht empfehlen, weil er zu einer-
falschen Vorstellung verleiten könnte. Jedenfalls haben wir
aber an der nördlichsten Breitseite der Halbinsel Boothia
den äußersten Vorsprung des festen Landes vor uns, nahe
am 72" nördl. Br. Über den äußersten Jnselpunkt im
Norden läßt sich noch nichts sagen, hier sind die Ent-
deckungen mit E. Washington in Nordgrönland noch nicht
abgeschlossen. —
Die französischen Thäler Piemonts.
Von p)rof. H. Gaidoz. p)aris.
(Hierzu eine Karte.)
Das alte Königreich Sardinien vor 1859 war in ethno-
graphischer Beziehung mit der Schweiz zu vergleichen. Nahm
die italienische Sprache auch den ersten Rang ein, so war
die französische doch keineswegs unterdrückt. Beide Sprachen,
die französische und die italienische, hatten amtliche Geltung,
jede in dem Teile des Landes, wo sie gesprochen wurde und
außerdem hatte das Französische fast für die gesamte Mon-
archie offizielle Geltung. Die Gesetze wurden in beiden
Sprachen verkündigt und im Parlamente zu Turin konnten
sich Abgeordnete und Senatoren der einen oder der andern '
Sprache bedienen. Da alle gebildeten Leute in Piemont
fließend französisch sprachen, so hatte dieses System in der
Anwendung keine Schwierigkeit und die beiden Nationalitäten
lebten friedlich in demselben Staate, der eine Art monar-
chischer Schweiz bildete.
Von dem Tage an aber, als Savoyen und die Graf-
schaft Nizza vom Königreich Sardinien abgetrennt wurden
und letzteres durch seine Vergrößerungen ein großer Staat
mit einer vorherrschenden Nationalität wurde, änderte sich
die Sachlage für die Bewohner der Alpcnthäler, deren
nationale Sprache das bis dahin geachtete Französisch war.
Im allgemeinen kann man sagen, daß die Alpen zwischen
Frankreich und Italien und namentlich der obere Teil der
Thäler, die von den Alpen nach Piemont hinabsteigen, der
französischen Sprache angehören und daß das Italienische
erst in den unteren Teilen der Thäler beginnt. Die Sprache,
welche zuweilen unbewußt durch eine instinktive und bezeich-
nende Benennung die Thatsachen angiebt, bezeichnet die That-
sache hier durch den Namen Piemont (Pedemontium), Land am
Fuße der Berge, wodurch die Berge selbst ausgeschlossen sind.
Die französischen Thäler bilden drei miteinander nicht
in Verbindung stehende Gruppen.
1. Im Norden, den nordwestlichen Winkel Piemonts
bildend, das Thal der Dora Baltea (Thal von Aofta) mit
zahlreichen Nebenthälcrn.
2. Im oberen Thale der Dora Riparia die ersten Dörfer
vom Ansgange des Tunnels von Modane (Mt. Eenis) bis
nach Susa.
3. Westlich von Pignerolo die Thäler des Pelis (ital.
Pellicc), des Angrogue und des Eluson (ital. Chisone),
Waldenscrthäler nach den hier wohnenden waldeusischen
Protestanten genannt.
1*
4
Prof. H. Gaidoz: Die französischen Thaler Piemonts.
4. Im Westen von Saluzzo (Salaces), südlich vom
Monte Viso das obere Thal der Varaita.
Die Waldenser ausgenommen sind diese Alpenbewohner
katholisch. Nach der letzten Aufnahme der Sprache (Statis-
tice d’Italia. Torino 1862, III, 764) Piemonts redeten
in den Bezirken:
Italienisch Französisch Deutsch
Aosta 3 584 77 687 1014
Jvrea 161756 130 18
Pignerolo 111571 22 541 17
Susa 67 852 16135 3
Turin 456 296 5 254 177
Zusammen 901059 121747 1229
Das Thal von Aosta. Die wichtigste französische
Gruppe nimmt das Thal von Aosta (gesprochen Oste, Adjek-
tiv: valdotanisch) ein. Der Name enstand aus Augusta Prä-
toria, weil es unter Augustus von Kolonisten angelegt wurde,
die den pratorianischen Kohorten entnommen waren. Noch
sind zahlreiche römische Überreste in Aosta vorhanden.
Zwei bis vier Kilometer breit und ungefähr hundert Kilo-
meter lang lehnt sich das Thal an die südlichen Abhänge
des Mont Blanc bis nach Jvrea hin, durchströmt von der
Dora Balten. Pont Saint Martin beim Fort de Bard ist
der letzte französische Ort. Im Jahre 1860 vergaß man
das Thal, obgleich es einen natürlichen Anhang Savoyens
bildet, Frankreich einzuverleiben. Allein bei der Unkenntnis
der Franzosen in der Ethnographie und da der Präfekt, der
von Paris nach Savoyen gesendet wurde, auf seinem Posten
mit einer italienischen Grammatik und einem italie-
nischen Wörterbuche bewaffnet erschien, darf es nicht wunder
nehmen, daß man die 80 000 Franzosen jenseits der Alpen
vergaß.
Aosta selbst sah sich aber 1860 mit Bedauern von
Savoyen getrennt; die Gemeinsamkeit der Sprache und der
Nationalität wiesen es aus die Bereinigung mit Frankreich
hin. Die Volkssprache ist die savoyische, die Schriftsprache
die französische und letztere war bis vor wenigen Jahren
noch die amtliche, wie in Savoyen. Hierdurch war das
Thal (und ebenso die weiter südlichen französischen Thäler)
vor dem italienischen Einflüsse bewahrt. Das Land ist also
französisch, das Volk ganz französisch, wenn auch der Militär-
dienst es langsam an Italien kettet.
Das französische Element wurde von dem Tage an be-
droht, wo die östlich der Alpenabhänge wohnenden Fran-
zosen sich in verschwindender Minderheit im Königreiche
Italien befanden. Das Vorhandensein einer französischen
Bevölkerung an der Grenze Frankreichs schlug dem Natio-
nalitätsprinzipe ins Gesicht, in dessen Namen Piemont sich
allmählich zu Italien vergrößert hatte. Dieser Widerspruch
mußte durch Jtalienisirung des Thales von Aosta und der
andern Thäler behoben werden, mit die übrigens Frankreich
sich so wenig kümmerte, von deren Dasein es kaum Kunde
hatte.
Seit dem Jahre 1861, also ein Jahr nach der Ab-
tretung Savoyens und Nizzas, schlugen italienische Schrift-
steller und Staatsmänner die Abschaffung der französischen
Amtssprache in den Thälern vor, namentlich that dieses ein
italienischer Parlameutsabgeordneter Vegezzi - Nuscalla in
seiner Schrift Diritto e necessita di abrogare il francese
come lingua ufficiale in alcune valli della provincia
di Torino (Turin, Bocca, 1861). „Dieser Zwang, dieser
Flecken aus der italienischen Nationalität muß verschwinden",
schrieb er. Er verlangte auch, daß in den Volksschulen
der Unterricht nicht französisch, sondern italienisch erteilt
werden solle. Der Stadtrat von Aosta erwiderte in einer
(namenlosen) Schrift, deren Verfasser ein Geistlicher, Borard,
war, welcher sich mit Wärme der angegriffenen französischen
Sprache annahm. Ebenso vertraten die in französischer
Sprache erscheinenden Zeitungen Aostas diesen Standpunkt.
Noch einige Zeitlang entgingen die französischen Thäler
Piemonts dieser Gefahr, aber es lag aus der Hand, daß die
italienische Sprache ihnen aufgedrängt werden würde. Der
letzte Streit ereignete sich im Jahre 1882, als der Rechts-
anwalt Defey im Schwurgericht eine Verteidigung fran-
zösisch begann, in seiner „Muttersprache, die seit Jahrhunderten
im Thäte galt und durch alte Vorrechte geduldet-war".
Da diese, so entschied der Minister, durch die Verfassung des
Königreichs Italien abgeschafft seien, so wurden die Schwnr-
gerichtssitzungen unterbrochen, trotz des Widerspruchs aller
Anwälte (bis aus zwei). Seitdem werden aber die An-
geschuldigten in der ihnen unverständlichen italienischen
Sprache abgeurteilt. O italienische Gerechtigkeit!
Heute ist die italienische Sprache überall in amtlicher
Geltung. Die Gerichte sprechen in ihr Recht und der Unter-
präfekt verkehrt mit den Gemeinden italienisch. Gesetze und
Verordnungen werden nur italienisch verkündigt; ebenso sind
die Zivilstandsregistcr und Eheaufgebote italienisch, desgleichen
der Unterricht in den höheren und Mittelschulen. In den
Volksschulen ist die Unterrichtssprache gemischt. Von allen
seinen alten Rechten hat das Französische nur zwei bewahrt:
die Notare dürfen ihre Akten französisch führen und die Ge-
meindeveröffentlichnngen sind noch in dieser Sprache.
Indessen hat die französische Sprache noch eine feste
Zufluchtsstätte, ans der sie lange nicht verdrängt werden
kann, das ist die Kirche. Die Kirche beschäftigt sich hier,
wie in andern Staaten Europas, nicht mit der politischen
Sprache des Staates, sondern redet mit dem Volke in seiner
Muttersprache, sie predigt den Gläubigen, um verstanden
zu werden und bedient sich daher der üblichen Landessprache.
Die Überlieferungen der Kirche von Aosta sind französisch.
Der Bischof von Aosta, früher dem Erzbischof von Chambóry
unterstehend, ist jetzt jenem von Turin untergeordnet; die
Bischöfe waren stets Valdotaner oder Savoyarden. In
76 Gemeinden der Diözese wird französisch gepredigt und
seit einiger Zeit sogar in den beiden Gressoney am Südfuße
des Monterosa, deren Bewohner Deutsche sind.
Die Waldenser - Thäler. Die Waldenser, wahr-
scheinlich nach dem Reformator Waldus (zweite. Hälfte des
12. Jahrhunderts) so benannt, spottweise von den Katho-
liken als vallées des barbets (Pudelthäler) bezeichnet, be-
wohnen die Thäler zwischen dem Mont Tabor und dem
Monte Viso. Sie sind durchflossen vom Polis (Pellice)
und teilweise vom Cluson (Chisone), beide Nebenflüsse des
Po. Hier haben die tapferen Alpenbewohner den Ver-
nichtungskriegen widerstanden, die im Namen der katholischen
Nechtglänbigkeit bald die französischen Könige, bald die Her-
zöge von Savoyen gegen sic führten. Ihre Geschichte weist
ein langes, grausames Martyrium auf; nur ihren Bergen,
ihrer besten Feste, haben sie es zu danken, daß sic, die schon
vor der Reformation Protestanten waren, sich bis auf den
heutigen Tag erhalten haben. Ihre völlige Gleichstellung
erfolgte erst 1848 unter Karl Albert von Sardinien.
Die Sprache der Waldenser ist ein provenga lisch er
Dialekt; sie nehmen lebhaft Anteil an den litterarischen Be-
strebungen Südfrankreichs. Heute umfaßt die Waldenser-
kirche 15 Gemeinden in diesen Thälern, deren französische
Namen folgende sind: Angrogne, Bobi, Luserne, Massel,
Porier, Mancille, Pomaret, Pral, Pramob, Prarustin, Ro-
dovct, Rora, Saint-Germain, la Tour-Pólis, Villar-Polis,
Villesoche. Außerdem giebt es in Turin eine und in Uru-
guay zwei Waldenser Gemeinden. Unter 25 000 Ein-
wohnern giebt es 12 000 Waldenser, d. h. in die Kirchen-
register eingeschriebene Mitglieder. Die Waldenserkirche
Pros. H. <55 st ib o j : Die französischen Thäler Piemonts
5
ist sehr streng und stoßt Mitglieder, die sich schwerer Ver-
gehen schuldig machten, aus. Im Jahre 1828 zählte man
noch 19 000 Waldenser, deren Zahl sich namentlich durch
Auswanderung verringerte. Die Katholiken, unter denen
die Waldenser leben, sind teils Nachkommen solcher, die
unter den Verfolgungen vom Glauben abfielen, teils ein-
gewanderte Piemonteser. Diese sprechen italienisch. Die
Kirche und Schule haben daher dieses kleine französische
Ländchen noch vor der Jtalienisierung bewahrt. Es giebt
190 waldensische Volksschulen, von denen geklagt wird, daß
das Italienische in denselben mehr und mehr Platz ein-
nehme; außerdem ein College, eine Lateinschule in Poma-
ret, zwei Normalschulen. Die Ausbildung der Geistlichen
erfolgt auf einem besonderen theologischen Institute in
Florenz. Trotz der immer innigeren Beziehungen zu Italien
und der Kenntnis der italienischen Sprache sind die Wal-
denser dem Französischen, das in ihren Kirchen herrscht, treu
geblieben.
Die übrigen Thäler. Diese bildeten bis zum Jahre
1713 einen Teil Frankreichs, das sie nach dem Vertrage
von Utrecht an Savoyen austauschte (gegen das Thal von
Barcelonette, Basses Alpes). Die Thäler sind: das von
Bardonnêche, das obere Thal der Dora Riparia, das Thal
von Pragelas oder von Fene-
strelle (nämlich das obere Thal
des Eluson) und das Thal von
Chateau Dauphin (nämlich das
obere Thal der Varaïta).
Die politische Geographie
scheint sich früher wenig um die
Wasserscheiden gekümmert zu
haben; die Verwaltungsgrenzen
der Dauphins überschritten die
Alpen und erst der Vertrag
von 1713 schuf hier Wechsel,
indem tont 66 qui est à l’eau
pendante du costé du Pié-
mont dem Herzoge von Sa-
voyen gehören sollte und tont
ce qui est à l’eau pendante
du costé du Uauplriné Lud-
wig XIV. Der Name Pié-
mont , welcher Land am Fuße
der Berge bedeutet, wurde so
bis auf den Kamm der Alpen
ausgedehnt.
Die 1713 abgetretenen Thä-
ler bilden zwei verschiedene
Gruppen, die gesondert be-
sprochen werden müssen.
Bardonnêche; Thal der
Thal von
Fenestrelle. Diese nickst sehr-
ausgedehnte katholische und
französische Region liegt zwi-
schen der französischen Grenze
und den Waldenser-Thälern.
Der Reisende durchfährt sie,
wenn er aus dem Tunnel von
Modane kommend nach Susa
und weiter nach Turin fährt.
Bardonnêche und Oulx sind
Stationen. Cesana (Césanne)
und Fenestrelle liegen weiter-
südlich; ersteres auf halbem
Wege zwischen dem (französi-
schen) Briançon und Oulp.
Fenestrelle ist eine starke, das
Thal des Cluson sperrende
Feste. Zur Zeit der Abtretung,
1713, als das „Prinzip der
Nationalitäten" noch nicht er-
funden war, hatten diese Thal-
bewohner nicht zu leiden; auch
waren die Herzöge von Savoyen so gut italienische wie fran-
zösische Fürsten, da ihre Staaten teilweise französisch waren.
Das Französische behielt sein altes Recht. Noch im könig-
lichen Dekret vom 30. Juni 1854 wird den Kantonen Césanne
und Oulx der amtliche Gebrauch der französischen Sprache
zugestanden. Die Jtalienisierung begann 1861 und war hier
leichter, als im Thäte von Aosta, wo eine feste Masse ent-
gegenstand. Außerdem standen diese Thäler unter italienischen
Bischöfen. Der Unterricht und der Militärdienst bewirken
6
Richard Andree: Holzfiguren'von den Salomoinseln.
die Ausbreitung der Kenntnis der italienischen Sprache. In
der Kirche herrscht das Französische und die italienischen Hirten-
briefe des Bischofs werden der Gemeinde übersetzt. Die Be-
wohner sind schon zweisprachig und Fas junge Geschlecht be-
vorzugt das Italienische. In Bardonneche, wo jedermann
französisch versteht, gewinnt das Italienische täglich an Boden;
es ist hier eine italienische Sommerfrische.
Das Thal von Chateau Dauphin. Abseit von
den Verbindungswegen bildet es, südlich vom Monte Biso,
ein wenig besuchtes und wenig gekanntes Ländchen. Hier
haben im oberen Thal der Varaita in Pont-Chanal, Bellino
und Chateau Dauphin bis znm Jahre 1850 die Priester
noch französisch gepredigt. Heute geschieht dieses in italie-
nischer oder piemontesischer Sprache. Der letztere Dialekt
wird von den Leuten besser verstanden, da er sich der lokalen
Mundart nähert. Bis zu jenem Datum wurde das Fran-
zösische auch in den Sitzungen der Gemeinderäte gebraucht.
Das Volk .spricht mit Vorliebe seine Mundart, doch findet
man auch Leute, die fließend französisch sprechen und lesen.
Die einheimische Bevölkerung lebt von Landwirtschaft und
Viehzucht; sie ist arm und fleißig. Viele wandern auf
Arbeit nach dem südlichen Frankreich.
In den höchsten Thälern der Maira und Stura sollen
sich auch noch einige französische Elemente befinden.
Dolzfiguren von den Salomoinseln.
Von Richard Andree.
Die ethnographische Abteilung des städtischen Museums
zu Braunschweig enthält eine kleine Sammlung von Gegen-
ständen aus Australien und der Südsee, welche Herr Ger-
hard Krcfft in Sydney im Jahre 1871 hierher sendete.
Darunter befinden sich, bezeichnet mit Nr. 49, 50 und 51,
die hier abgebildeten drei Holzstguren. Bei der Vergleichs-
Weisen Seltenheit ethnographischer Gegenstände von den
Salomoinseln in unsern Museen und dem Interesse, welches
sich an derartige Figuren ans Melanesien knüpft, hielt ich
es für angezeigt, dieselben hier abzubilden und deren Be-
deutung zu besprechen.
Nr. 49. Als Schiffsgötze bezeichnet, ist im ganzen 45 cm
hoch und am oberen Ende 16 cm breit. Die Figur allein
ist 26 cm hoch, steht in einem Rahmen, der mit einer
Zickzackverzierung versehen ist und hält sich mit beiden Händen
an diesem fest. Der Sockel ist, wie die Abbildung zeigt,
vielfach ornamentiert. Die Figur erscheint, bis auf einen
Gürtel um die Hüfte, unbekleidet; auf dem Unterleibe Striche,
die wohl Tätowierung andeuten sollen. Der Kopf zeigt den
echten Typus melanesischer Schnitzereien mit starker, langer
Nase, weit vorspringendem Unterkiefer, breitem, mit vielen
Zähnen besetzten Munde. Die Ohren, mit großen Ohr-
lappen, springen breit hervor. Um das Haar darzustellen,
sind in dicht bei einander stehende Vertiefungen mit einer
harzigen Masse kleine stachelige Samenkörner aus dem
Kopfe dicht nebeneinander eingesetzt, welche wie einzelne
Büschelchen aussehen. Das ganze ist ans einem einzigen
Stücke harten Holzes gearbeitet. (Vergl. Fig. 1 u. 1 a.)
Nr. 50. „Götze". Weit roher als die vorige ausge-
führte 11 cm lange Figur; im Gesichte Tätowierungsstriche.
Das Haar wie bei Nr. 49 durch Samenkörner hergestellt.
Desgleichen ein um Wangen und Kinn herumlaufender
Bart. Der Mund ist klein. Die Augenbrauen und die
Nase sind durch einen rohen zusammenhängenden Wulst
gebildet. (Vergl. Fig. 2.)
Nr. 51. „Götze." Kleine Figur aus hartem Holz, nur
ein Kopf auf glattem Stiele, das ganze 8,5 cm lang. Der
Kopf zeigt den Typus wie Nr. 49. Die Augen sind durch
zwei rautenförmige Perlmutterstückchen mit frei gelassener
Pupille gebildet. Der Kopf trügt eine runde Bedeckung
ohne Rand. Der Stiel ist seiner ganzen Länge nach aus-
gehöhlt; am Hinterkopfe führt die 1 cm breite Öffnung in
denselben hinein, so daß diese Figur vielleicht zur Aufbe-
wahrung eines Pulvers (beim Betelkauen?) diente. (Vergl.
Fig. 3 a u. b.)
Ehe ich auf die Bedeutung dieser Figuren, die nach dem
Einsender „Götzen" darstellen sollen, eingehe, will ich bei-
bringen, was zur näheren Beleuchtung derselben dienen kann.
Die Deutung der Striche auf dein Unterleib u. s. w. als
Tätowierung gründet sich auf diese allgemein bei beiden
Geschlechtern auf den Salomoinseln vorkommende Sitte
(Guppy, The Solomon Islands and their Natives. London
1887, p. 135). Es ist dort ferner Sitte, daß die Ohr-
läppchen durchbohrt werden und die Löcher durch fortwäh-
rende weitere Ausdehnung bis zur Größe eines Zweimark-
stückes gelangen, in die man Scheiben aus weißem Holz ein-
setzt oder in denen man Pfeifen aufbewahrt (Guppy, S. 133) ;
daher die Bildung des Ohres bei Fig. 1. Von Interesse
ist die kunstvolle Darstellung des Haares bei Fig. 1 u. 2,
wodurch die Natur nachgeahmt werden soll. Man könnte
glauben, daß hier längere Haare der Wirklichkeit mehr ent-
sprächen, allein Guppy (S. 116) belehrt uns, daß das
Haar ans den Salomoinseln sehr verschieden getragen wird:
wollig, perrückenartig, teilweise buschig und ganz buschig
und zwar bei beiden Geschlechtern. Offenbar haben wir
bei unsern Figuren es mit der „wolligen" Form der Haar-
tracht zu thun, welche ganz an die-Neger erinnert und von
der Guppy sagt, sie sei somewhat resembling that of
the hair of the african negro, und vom Haare der
„Buschleute" im Inneren sagt er (Seite 121), its sur-
face has osten a peculiar appearance from the hairs
arranging themselves in little knobs. Also wie bei unsern
Figuren.
Ähnliche Figuren sind schon anderweitig in unsre ethno-
graphischen Museen gelangt. So finden wir auf Tafel I.
der dritten Abteilung des anthropologischen Teils des
Novarareisewerks (Wien 1868) unten ein „Idol von den
Viti-Jnseln", welches einen Kops zeigt, fast ganz so, wie
ihn bei uns Fig. 1 trügt. Es lassen sich auch auf der
Photographie genau die kleinen stacheligen Samenkörner
erkennen, welche das Haar vorstellen, und die Augen sind
durch eingelegte Perlmntterschale gebildet, die charakteristisch
für Arbeiten von den Salomoinseln ist. Bereits Schmeltz
(Katalog des Museum Godeffroy 187) hat auf die fehler-
hafte Bestimmung dieses Schnitzwerkes, als von Viti stam-
mend, hingewiesen. Auf letzteren Inseln sind derartige Holz-
schnitzereien unbekannt.
Ganz dieser im Novarawerke abgebildeten Schnitzerei,
welche nur das Bruststück einer Figur mit vorgeschobenen
Armen wiedergiebt, gleicht ein „Schiffsgötze" bei Guppy
(Seite 74, Fig. 10). Er zeigt im Profil viel Ähnlichkeit
mit unsrer Fig. 1, hat ähnliche große Ohren, die Augen
bestehen ans eingelegtem Perlmutter, ebenso verschiedene
bogenförmige Verzierungen im Gesichte, gebildet aus an-
einander hängenden förmigen Ornamenten. Dieser
„Schiffsgötze" stammt von der Bougainvillestraße. Guppy
(Seite 149) sagt darüber: „Der Schnabel der Kühne ist,
gerade über der Wasserlinie, oft mit einer kleinen mißgestal-
iUtdlnrb Andrei H°lrligu»-n »"» dm, Salo umili jdn.
Fig. 1.
F'g. 1 a.
Holzfiguren von ben Salomoinsà Stadtischcs Aènseum in Braunschweig.
teten holzernen Figur versehen, welche die tteine Schutz-
stottl)eit darstellt, die verborgcne Felsen siehl und vor heran-
nahénden Feindcn warnt. Zuwcilen ist die kleine Goltheit
doppelkopfig, so dah sic wachsam nach hinlen und vorne
schauen kann, dann wirb sic auf ben hohcn Schnàbeln ber
Kahne angebracht/
Es handelt sich nun imi die Dentmig ber bvet abgebil-
beten Figuren. Sind bìeselben wirklich „Gotzen", wie ber
8
Prof. G. A. Mitten: Die Eh
Einsender, Gerhard Krefft, sie bezeichnete? Sicher wurden
sie ihm wohl von einem Schisser, der Arbeiter von den
Salomoinseln nach Australien brachte, unter dieser Bezeich-
nung übergeben. Allein dem stehen einige Bedenken gegen-
über. Guppy, dem wir das schöne Werk über die Salomo-
inseln verdanken, lehnt cs ab, auf die religiösen Verhältnisse
der Eingeborenen einzugehen. Hier ist nun der beste Kenner !
Cvdrington (Religiös beliefs in Melanesia. Journal
Anthropological Institute X, 261 sf.), und dieser, der als
Missionar Ursache hatte, auf Götzenbilder zu achten, weis
von solchen ans den Salomoinseln nichts zu berichten. Er
giebt uns sehr genaue Kunde von den Tindalos, den Ataros,
den Geistern von Abgeschiedenen, die verehrt werden, aber
diese sind stets nnkörpcrlich gedacht. Er erzählt (Seite 302),
daß die Geister wohl in Gestalt von Fischen, namentlich
Haifischen gemalt werden, daß man Schlangen, Alligatoren,
Haie, Steine als heilig verehre, daß man Opfer an Schwei-
nen und Menschen darbringe, aber von hölzernen Götzen
ist keine Rede. Ebensowenig finde ich dieselben bei dem
katholischen Missionar Bcrguet erwähnt (Arossi ou San
Christoval in Revue ¿’Ethnographie IV, 193).
Durch ganz Melanesien findet man geschnitzte Holz-
figuren von verschiedenster Größe, welche sich mit den hier
abgebildeten vergleichen lassen. Nur auf den Viti-Inseln
scheinen sie zu fehlen, wenigstens sind von dort nur zwei
kleine Doppelsigürchen aus Walfischzahn bekannt geworden,
Unica, die mir ganz den Charakter eingewanderter Stücke
zu tragen scheinen und an denen viel Unaufgeklärtes haftet,
so daß sie einer neuen gründlichen Betrachtung wert wären.
(Vergl. Kleinschmidt im Journal des Museum Godcffroy,
Heft XV, S. 281 u. Tafel 16.)
Am nächsten stehen wohl unseren Figuren die Korwars
aus dem westlichen Neu-Gninea, die aus dunklem Holze ge-
schnitzten kleinen Bildnisse Verstorbener, bei deren Anferti-
gung durch den Zauberer (zugleich Arzt) die Verwandten
zugegen sind und in denen der umherirrende Geist der Ver-
e zwifchen Blutsverwandten.
storbencn eingefangen wird. Der Korwar findet, als Gegen-
stand der Verehrung, sorgfältige Aufbewahrung (A.B. Meyer,
Notizen über Glauben und Sitten der Papuas. Dresden
1875). Otto Finsch, dem wir über Neu-Gninea und Mela-
nesien so treffliche Arbeiten verdanken, weist stets die Deu-
tung der dort vorkommenden Holzfiguren als „Götzen" aus
das Entschiedenste zurück. Die Telums, hölzerne Figuren
au der Astrolabebai, deutet er als geschichtliche Denkmale
berühmter Personen; auch die zahlreichen kunstvoll geschnitz-
ten Figuren an den Dschelnm (Tabuhäusern, ganz wie an
den Tabuhäuseru der Salomoinseln) des Friedrich-Wilhelms-
hafens, die Gabiangbildfäule amFinschhafcn erklärt er nicht
als Götzen, sondern saßt sie als Ahnenbilder auf. (Finsck',
Samoafahrten. Leipzig 1888, S. 49 und 74.) Desgleichen
hängen nach ihm die Kulap genannten bemalten Holzfiguren
eigenen Stiles an den Tabuhäusern Neu-Islands mit dem
Ahnenkultus zusammen, sie stehen in Beziehung zum Geister-
glauben, haben aber mit verehrten Götzen nichts zn thun.
(Finsch in Annalen der K. K. naturhistorischen Hosmuseums,
Band III, 131. Wien 1888.)
Eine einzige andre Deutung erfuhr Elton von den Holz-
figuren : sie wurden in den Tabuhäusern und L)amspslan-
zungen zur Abwehr böser Geister aufgestellt (Journ. Anthrop.
Instit. XVII, 98), dienten also nach weltbekannter Sitte
ähnlich wie die germanischen Neidstangen.
So sind wir auch geneigt, die kleinen Holzfiguren von
den Salomoinseln nicht als Götzen aufzufassen, denen eine
direkte Verehrung dargebracht wird, und die eine Gottheit,
begabt mit besonderen Eigenschaften, darstellen, sondern eher
als Ahnenbilder. Religiösen Inhalts entbehren sie darum
nicht *).
*) Anmerk. Gerhard Krefft, der Einfendcr der Holzfiguren,
war ein geborener Braunfchweiger, der 1850 nach Melbourne
kam, verschiedene Reifen in Australien zu naturwissenschaftlichen
Zwecken à unternahm und 1881 als Curator des Museums in
Sydney starb.
Die Ehe zwischen
Von fJrof. G
I
In seinem Werke über die Ehen unter Blutsverwandten H
sagt Dr. Van der Stok: „Es ist eine unbestreitbare Wahr-
heit, daß bei geschlechtlicher Vermischung beide Teile ihre
ganzen erblichen Krankheiten und Gebrechen ans ihre Nach-
kommenschaft vererben. Das Kind ist das Ergebnis sowohl
der guten als der schlechten Eigenschaften, der körperlichen
wie der geistigen, die seinen Eltern zu eigen sind. Wenn
nun die Eltern Blutsverwandte sind, ist dann die Blutsver-
wandtschaft als solche im stände schlechte Eigenschaften
oder Gebrechen, welcher Art sie auch sein mögen, in der
Nachkommenschaft zu erzeugen, ja zu schaffen? Können so,
mit anderen Worten, Ehen zwischen Blutsverwandten, ab-
gesehen von der gewöhnlichen krankhaften Vererbung, allein
und ausschließlich durch die Weglassung fremden Blutes,
eine besondere Ursache der organischen Degeneration der
Nachkommen sein, einer Degeneration, die dann für ihr
Teil schädlich wirkt ans die Fortpflanzung der Art?" Dieses
die Frage, die Herr Van der Stok zu lösen bemüht ist.
Wenige Jahrzehnte sind erst darüber vergangen, daß so-
wohl bei Ärzten als bei Laien die Meinung allgemein gültig
war, daß konsangninc Ehen schädlich seien: die Eltern
Huwelijken tnsschen bloedverwanten, historisch-
ethnographisch -kritisch beschonwd en getoetst a an de
wetten der herediteit. s’Gravenhage, M. Nijhoff, 1888.
Blutsverwandten.
I. A. wilken.
[.
sollten ihre guten Eigenschaften auf die Kinder nicht über-
tragen, dagegen aber — selbst wenn sie ganz gesund waren —
die Gesellschaft mit schwachen, kränklichen, entarteten Kin-
dern belasten, die dann später, wenn sie sich verheirateten,
wiederum ein schwaches Geschlecht erzeugten. Indessen hat
sich dieser Ansicht gegenüber langsam eine andre herange-
bildet. Im Gegensatz zu den Anti ko ns a n gui nisten, den
Gegnern der Ehen unter Blutsverwandten, stehen jetzt die
K o n s a n g u ini st e n. Letztere behaupten, daß die Gefahr, die
man in den Ehen unter Blutsverwandten für die Nach-
kommenschaft sieht, keineswegs besteht, daß der Vollzug sol-
cher Ehen an und für sich nicht die Tendenz besitzt, Ent-
artung zu erzeugen. Kommt jedoch bei konsanguinen Ehen
wirklich ungünstig veränderte Nachkommenschaft vor, so ist
dieses so zu erklären, daß die Konsanguinitüt in den Nach-
kömmlingen die individuellen — körperlichen oder geistigen —
krankhaften Eigenschaften der Aszendenten verstärkt und zur
Entwickelung bringt. Darum soll es, mit Rücksicht auf die
Kinder, zuweilen selbst vorzuziehen sein, eine Blutsver-
wandte zu heiraten, als eine fremde, deren Gesundheitszu-
stand man nicht kennt.
Ist es nun schon für den Arzt schwer, zwischen Konsan-
guinisten und Antikonsanguinisten zu entscheiden, wieviel
mehr für den Laien. Doch ist in der letzten Zeit sovsJ
Die Ehe zwischen Blutsverwandten.
9
Prof. G. A. Willen:
thatsächlicher Stoff zu Tage gefördert worden, daß die An-
fichten der Konsanguinisten an Wert fehr gewonnen haben.
Es ist zunächst hervorzuheben, daß, mit Rücksicht auf die
Vefyre von der Erblichkeit, sie auf einem festeren Boden
stehen als ihre Gegner, die Antikonfanguinisten. Bei Richte
besehen ist die Ansicht der letzteren mit dieser Lehre im
Widerspruch. Gomment, ruft Boudm aus, voila, des
parents consanguins, pleins de force et de sante,
exempts de toute infirmité appréciable, incapables de
donner à leurs enfants ce qu’ils ont, et leur donnant
au contraire ce qu’ils n’ont pas, ce qu’ils n’ont jamais
eu, ‘et c’est en présence de tels faits que l’on ose
prononcer le mot hérédité. Doch mit Redensarten, wenn
sie auch noch so logisch find, kann die Frage nicht gelöst
werden. Rur auf Beobachtungen können wir uns da stützen.
So haben denn auch die Konsanguinisten eine Reihe von
Thatsachen gesammelt, aus denen die Unschädlichkeit konsan-
guiner Ehen hervorgeht. Ich will daher versuchen, hier
einige dieser Thatsachen mitzuteilen.
Es liegt aus der Hand, daß, wenn die Ansicht der Anti-
konsanguinisten richtig wäre, in den Gemeinden, die freiwillig
oder gezwnügeu ffolirt sind und deren Glieder stets unter-
einander heiraten, sich ein geistiger und körperlicher Rück-
gang der Menschen zeigen müßte. Dieses ist aber keines-
wegs der Fall, wie die Untersuchungen in solchen isolirten
Gemeinden dargethan haben. Oster schon erwähnt, selbst
in Handbüchern der Völkerkunde, sind die Beobachtungen
des französischen Arztes August Voisin in der Gemeinde
Batz, die nördlich von der Loiremündung auf einer Halb-
insel liegt und von Felsen umgeben ist. Die 3300 Ein-
wohner haben einen äußerst beschränkten Umgang mit der
Außenwelt und Ehen unter Blutsverwandten kommen sehr
häufig vor. „Es bestehen, sagt Voisin, gegenwärtig (1864)
40 Ehen zwischen Blutsverwandten, nämlich 5 zwischen vollen
liessen und Nichten (vierter römischer Grad der Verwandt-
schaft), 31. zwischen Kindern von vollen Neffen und Nichten
(sechster römischer Grad) und 10 zwischen Neffen und Nichten
im vierten kanonischen (achten römischen) Grad." Trotz-
dem fand Voisin keinen einzigen Fall der Übel, die man ge-
wöhnlich als den Ausfluß konsanguiner Ehen betrachtet; im
Gegenteil, der Gesundheitszustand bei Alt und Jung war
ein ausgezeichneter. Ans den 5 Ehen zwischen vollen Neffen
uid) Nichten entstammten 23 Kinder, die sämtlich ganz
gesund waren. Die 31 Verbindungen zwischen Kindern
von vollen Neffen und Nichten (sechster römischer Grad) brach-
ten 120 Nachkömmlinge hervor, sämtlich ohne angeborene
Gebrechen. Dasselbe war der Fall mit den 29 Kindern, die
aus den übrigen 10 Verwandtenehen hervorgegangen waren.
m’a laissé convaincu, que la consanguinité n’est nulle-
ment préjudiciable aux enfants, lorsque le père et la
mère n’ont aucune diathèse, aucune maladie hérédi-
taire, sont de belle santé, de forte constitution, dans
de bonnes conditions climatériques et hygiéniques, et
que, dans ces cas la consanguinité ne nuit d’aucune
layon au produit et à la race, mais, au contraire,
exalte les qualités, comme elle ferait les défauts et
les causes de dégénérescense.
Auch anderweitig sind solche Untersuchungen, wie Voisin
sie in Batz anstellte, vorgenommen worden und stets hat sich
die Unschädlichkeit der Verwandtenehen im höheren oder
geringeren Grade ergeben. In Holland hat unter anderen
Dr. Polijn Büchner den Gesundheitszustand der 1859 ge-
räumten Insel Schokland in der Zuiderzee eingehend unter-
sucht. Diese Insulaner zeigten in bezug aus Körperbau
Globus L1X. Nr. 1.
und Gesichtszüge eine auffallende Übereinstimmung. Die
alten Taufbücher und späteren Standesregister bewiesen denn
auch schlagend, daß die Schoklander seit Jahrhunderten
immer untereinander geheiratet hatten. Dabei muß noch
besonders hervorgehoben werden, daß die nur 600 bis 700
Seelen zählende Bevölkerung in Katholiken und Protestanten
geschieden war, und daß die beiden Glaubensbekenntnisse es
streng vermieden untereinander zu heiraten, wodurch natür-
lich der Kreis, in dem man heiratete, noch viel kleiner wurde.
Was war nun das Ergebnis aus den im engeren oder weiteren
Grade unter Blutsverwandten geschlossenen Ehen? Von
irgend einer Entartung war keine Rede. Die Schoklander
waren im Gegenteil, nach Dr. Büchners Beschreibung, sehr
kräftige, breitschulterige, gesunde Menschen, ohne hervor-
tretende Anlage für konstitutionelle Krankheiten. Auch die
Kinder waren gesund und geistig gut entwickelt. Die zwei
aus der Insel angestellten Lehrer versicherten Dr. Büchner,
daß sie während ihrer 25 jährigen Wirksamkeit unter ihren
Schülern nicht ein schwachsinniges oder einfältiges Kind
gehabt hätten.
deicht weniger belangreiche Auskünfte haben die Be-
obachtungen in einigen Fischerdörfern an der schottischen
Küste geliefert. Die Bewohner an diesen Küsten bilden nach
Huth i) eine besondere Rasse, die höchst selten mit den Bauern
der Umgegend Ehen eingeht, aber so stark untereinander
heiratet, daß in einer Gemeinde nur eine oder zwei Familien
bestehen, die dann durch Spitznamen voneinander unter-
schieden werden. Aber eine klügere und kräftigere Menschen-
art als diese Fischer kann man sich kaum vorstellen. Merk-
würdig ist, was Huth aus dem halbwegs zwischen Whitby
und Saltburn gelegenen Dorfe Staithes mitteilt. Bis vor
kurzem lebten dessen Bewohner in vollständiger Vereinzelung
und so sehr waren sie daraus angewiesen gewesen, unterein-
ander zu heiraten, daß alle mehr oder minder miteinander-
verwandt waren und dieselbe Familienähnlichkeit zeigten.
Doch auch hier hatten die Blutsverwandtschaftsehen keinerlei
Übeln Einfluß gezeigt. Alle Männer wohlgebaut und kräftig,
die Frauen schlank und gefällig, die Kinder so geweckt wie
nur irgendwo im Vereinigten Königreiche.
Die hier ausgeführten Beispiele könnten vermehrt werden;
indessen verweise ich dieserhalb aus die Werke von Van der
Stok und Huth, um aus die bezüglichen Verhältnisse im
Indischen Archipel überzugehen. Im Südosten von Lebak
(Residentie Bantam, Westjava) wohnt in dem vom Tji-
lldjung durchströmten Thäte als lebendige Antiquität der
Stamm der Baduwis. Es sind echte Sundanesen, die jedoch
den Islam nicht angenommen haben, ein geringes Über-
bleibsel von dem Teile der Bevölkerung, der sich bei der
Einführung der neuen Lehre in der zweiten Hülste des
15. Jahrhunderts dagegen hartnäckig auflehnte und mehr
und mehr nach den unzugänglichsten Winkeln des Gebirges
zurückzog. Doch nicht allein dem Gottesdienst ihrer heid-
nischen Vorfahren sind die Baduwis treu geblieben, auch die
alten Sitten und Gebräuche sind von ihnen treu bewahrt
worden. Die von diesen Menschen bewohnten Dörfer werden
Innen- und Außendörser unterschieden. Die Be-
m
wohner der Jnnendorfer, die Djelema-dalem, hasten sich
streng gesondert. Nnr die Frauen dnrsen die Auhendorser
besnchen, doch nicht stinger als 24 Stnnden. Umgekehrt
dnrsen die Fremden in die Binnendorfer nicht kommen;
ausgenommen hiervon find die Baduwis der Anhendorfer,
die Djelema-luwar, doch dnrsen diese nnr eine Nacht
weilen. Diese Djelema-luwar bestehen namentlich ans solchen
Lenten, die etwas verbrochen haben und deshalb aus den
st Huth, The marriage of near kin considered with
respect to the laws of nations, the results of experience
and the teachings of biology, ^incite Auflage 1887.
10
Prof. 6). A. Willen: Die Che zwischen Blutsverwandten.
Binnendörfern verstoßen sind. Außerdem findet man unter
ihnen noch eine andere Klaffe von Leuten. Die Anzahl
der Djelema-dalem darf nun nie mehr als 40 Gesinde
oder Hauswesen betragen. Wird diese Anzahl dadurch über-
schritten, daß durch Heirat ein neues Gesinde entsteht, so
wird dieses zeitweise nach den Außendörfern verwiesen.
Mischehen zwischen Badnwis und anderen kommen höchst
selten vor. Ereignet es sich einmal, daß eine Baduwifrau
einen Mohammedaner zum Manne nimmt, so tritt sie zum
Islam über und geht damit für die Gemeinde verloren.
Der umgekehrte Fall, daß ein Baduwi eine Mohammedanerin
geheiratet hätte, ist noch nicht vorgekommen. Trotzdem nun,
daß im Verlaufe von vier Jahrhunderten diese geringe An-
zahl von Leuten, die aus nur 40 Gesinden besteht, sich nur
in der engsten Konsanguinität fortgeslanzt hat, bilden sie
eine kräftige Rasse. Die Männer, sagt KruscmanH, der sie
kürzlich besuchte, sind alle kräftig gebaut und groß, mit
regelmäßigen und freundlichen Gefichtszügen, stark gewölbter
Stirn, während die Frauen einen kräftigen, schlanken Bau
und ein offenes Gesicht haben. Gebrechliche und Mißge-
staltete scheinen so gut wie gar nicht unter ihnen vorzu-
kommen. „Ich sah, berichtet Kruseman, nur eine Frau
mit Kropf und einen mit Elephantiasis behafteten Mann,
die in dessen Familie erblich war." Außerdem, und dieses
spricht auch nicht für eine Verschlechterung des Stammes,
führen die Badnwis ein eingezogenes Leben und zeichnen sich
durch Aufrichtigkeit und treuen Sinn aus; fast nie begehen
sie Verbrechen; sie zahlen regelmäßig ihre Steuern und sind
die gehorsamsten Unterthanen der Regierung.
Aus diesen Beispielen kann der Leser ersehen, wie cs
möglich ist, daß sich ein Menschengeschlecht, ohne Spuren
von Entartung zu zeigen, während einer langen Zeit durch
konsangnine Ehen fortpflanzen kann. Doch nicht nur, wie
in den angeführten Füllen, wo es sich um abgesonderte Ge-
meinden handelt, die in der Verehelichung ans sich selbst an-
gewiesen sind, kommt dieses vor. Man weiß, daß bei ganzen
Völkern Ehebündnisse unter Blutsverwandten nicht allein
nicht verboten sind, sondern geradezu gerne eingegangen
wurden. Auch hier zeigt sich keine Entartung im Gefolge.
Es ist ganz außer Zweifel, daß die alten Perser ein kräftiges
Volk waren und doch bestanden bei ihnen keinerlei Verbote
in bezug auf blutsverwandte Ehen. Nicht allein Brüder
und Schwestern heirateten bei ihnen untereinander, selbst
Vater und Tochter, Mutier und Sohn; ja für besondere
geistliche Ämter wurden geradezu Personen verlangt, die
ans solchen Verbindungen hervorgegangen waren-).
Ebensowenig kannten die alten Ägypter Ehehindernisse.
Bei den Fürsten kamen Ehebündnisse mit den Schwestern
vielfach vor, was namentlich im Geschlechte der Ptolemäer
der Fall war. Nun hat man wohl den baldigen Verfall
dieser Dynastie den konsanguincn Ehen zugeschrieben, allein
nach Huth mit Unrecht. Dieser beweist aus einer genealo-
gischen Tafel (Seite 35 seines angeführten Werkes), daß
Sterilität und kurze Lebensdauer nicht die Folgen dieser
Ehen waren. Auch zeigt uns die Geschichte keineswegs, daß
die Glieder dieser Familie mehr Krankheiten unterworfen
i) Enkele dagen onder de Baduwis. Indische Gids
1889. I, 113. Vergl. auch Beth, Java III, 123.
0 Daß die alten Perser ihre nächsten Verwandten heirateten,
geht aus den untrüglichen Zeugnissen griechischer Schriftsteller
hervor und ferner aus den Berichten einiger armenischer Autoren
aus der Zeit, als die Armenier von den Lehren Zoroasters zu
dem Christentum übergingen. Unrichtig scheint aber die Meinung
zu sein, das; in den Avesta- und in den Pehlevi-Schriften der-
gleichen Ehen anbefohlen sind, da die Deutung der Ausdrücke
Xwaetvadaila (Zend) und Xwetük-das (Pehlevi), auf die man
sich beruft, unsicher sind. In keinem Falle können diese Wörter
„Verwandienheirat" bedeuten (Hübschmann, Über die persischen
Verwandtenheiraten. Z. D. M. G. 1889, 308).
waren oder geringere geistige Gaben besaßen als andre.
Im Gegenteil, einige von ihnen waren körperlich und geistig
vorzüglich entwickelt. Man denke nur an Kleopatra, die die
Tochter ans einer Bruder- und Schwesterehe war, die Uren-
kelin von einem andren Bruder- und Schwesterpaar, die
Ururenkelin von Berenice, die gleichzeitig Nichte und Schwester
ihres Ehegemahls war.
Bekannt ist ja auch, daß die alten Peruaner ohne
Rücksicht ans Blutsverwandtschaft Mutter, Schwester und
Tochter ehelichten. Die Kinder des ersten Inka heirateten
untereinander und seit dieser Zeit war die erste Frau des
Inka immer seine Schwester, damit das Blut des könig-
lichen Stammes rein erhalten bliebe. Nach diesem könig-
lichen Vorbilde sollen auch die Krieger ihre Schwestern ge-
heiratet haben. Und fern davon, daß hierdurch ein geistiger
und körperlicher Verfall verursacht worden wäre, fand man
bei den alten Peruanern die schönen Künste zu einem hohen
Grade entwickelt; das Volk widerstand mit solcher Tapfer-
keit und Kraft den spanischen Angriffen, daß die Eroberer
mehr als einmal gefährlich in die Enge getrieben wurden.
Den vorstehenden, von Huth und Van der Stok an-
geführten und weiter bekannten Beispielen wollen wir noch
einige andre hinzufügen. Was die Antikonsanguinisten an
erster Stelle verurteilen, auch deswegen, weil die Gesetzgebung
der meisten Länder dieses zuläßt, das sind die Ehen zwischen
vollen Neffen und Leichten, Bruder- und Schwestcrkindcrn.
Es sind nun gerade diese Ehen, die bei einigen Völkern oft
geschlossen werden. So, um einen Stamm aus dem indischen
Archipel zu nennen, besteht bei den Bataks von Sumatra
der Brauch, mit Vorliebe seine Base, die Tochter des Ohms
von Mutierseite her, zu heiraten. Dieses war seit uralter
Zeit die Regel und ist noch heute so allgemein, daß boru-
ni-datulang, Tochter des Mutterbruders, der Ausdruck ge-
worden ist, mit dem der Mann seine Verlobte oder Frau
anredet, selbst wenn sie nicht in diesem Verwandtschaftsgrade
zu ihm steht, während umgekehrt die Frau ihren Mann oder
Geliebten „Sohn von Vatersschwester", nämlich ibebere-ni-
damang nennt. Dennoch kommen die Krankheiten und Ge-
brechen, die im Gefolge konsanguincr Ehen auftreten sollen,
wie Kretinismus, Idiotismus, Taubstummheit, Sterilität, bei
den Bataks äußerst selten oder überhaupt nicht vor L); ja im
allgemeinen kann von diesem Volke behauptet werden, daß
es körperlich zu den entwickeltsten im Indischen Archipel ge-
hört. Namentlich ist bei den Bewohnern des Hochlandes
von Toba nach Junghnhns Zeugnis i) 2) der Körper außer-
gewöhnlich kräftig entwickelt, Arme und Beine rund und voll.
In dieser Hinsicht unterscheiden sich die Bataks auf das
günstigste von den Malayen in den Küstengcgendcn mit
ihrem schwachen Körperbau, eckigen Formen und mageren
Gliedmaßen. Unter den Männern, bemerkt Junghuhn
weiter, sieht man viele, die anatomisch so wohl geformt sind,
daß sie einem Praxiteles zum Modell hätten dienen können.
Ein andres Beispiel liefern die Araber. Ehen mit
Basen, namentlich mit einer bint'amm, Tochter von einem
amen, Oheim von Vatersseite, ist bei ihnen, sowohl den
Städtern als den Beduinen, seit alter Zeit Regel. Gerade
so wie der Batak nennt der Araber auch seine Geliebte oder
Frau „Base", selbst wenn sie es nicht ist, während der
Schwiegervater „Oheim" genannt wird. Jahrhunderte lang
haben die verschiedenen Stämme in Arabien sich so in Kon-
0 Wiewohl Kröpfe in einigen Gegenden der Bataklande en-
demisch sind, kommt Kretinismus dort überhaupt nicht vor.
Ich bemerke dieses ausdrücklich, da diese beiden Übel oft ver-
schwistert sind, so sehr, daß man sogar einen ursächlichen Zu-
sammenhang zwischen beiden angenommen hat. Auch ander-
weitig im Archipel, wo Struma eine endemische Krankheit ist,
kommt Kretinismus uicht vor.
2) Junghuhn, Die Baitaländer auf Sumatra II, 7.
Pros. G. A. Wilken: Die Ehe zwischen Blutsverwandten.
sanguinität fortgepflanzt; sie sind trotzdem in vieler Hinsicht
kräftig und frei von Gebrechen geblieben. Eotbwitbstand-
ing tlie affinity in all tlieir wedlock tliere was none
deformed or lunatic of iliese robust Ilill-Beduins, be-
zeugt der kühne und tüchtige Reisende Dvughty *). Auch
Burton verweist auf die Thatsache, daß die vielen konsan-
guincn Ehen unter den Beduinen auf die Entwickelung des
Volkes keine nachteilige Folgen ausgeübt haben -).
Eine schwache und kranke Nachkommenschaft, wonicht
überhaupt Kinderlosigkeit soll, nach den Antikonsangninistcn,
das Ergebnis der Ehen unter Blutsverwandten sein, Lcament-
lich werden Kretinismus, Idiotismus, Taubstummheit, Blind-
heit, Rhachitis, Wasserkopf, Skrophulose, Albinismus :c. als
Folgen solcher Verbindungen hingestellt. Wir haben aber
bereits gesehen, daß diese Übel und Gebrechen gerade in
jenen Gemeinden und Landstrichen nicht häufig sind, wo das
Schließen konsanguincr Ehen die Regel ist. Doch hat man
es bei diesen allgemeinen Wahrnehmungen nicht gelassen und
statistische Angaben gesammelt, um den Folgen der Blnts-
verwandtenehen so gründlich als möglich nachzugehen. Auch
ans diesen Untersuchungen ist die Unschädlichkeit jener
Ehen hervorgegangen. Daß diese Folgerung scheinbar im
Widerspruche mit dem steht, was viele im Kreise ihrer
nächsten Bekannten beobachtet haben wollen, läßt sich
leicht erklären. Es liegt ans der Hand, daß solche Ehen
unter Verwandten, ans denen unglückliche Kinder hervor-
gingen, lange im Gedächtnis haften bleiben, während solche
Ehebündnisse dieser Art, die keine ungünstigen Ergebnisse
liefern oder durch nichts Besonderes sich kennzeichnen, schleunigst
der Vergessenheit anheimfallen. Sucht man nun nach Bei-
spielen, so kommen die ersteren in die Erinnerung, während
die letzteren übersehen werden. Ja so sehr sind viele von
der Schädlichkeit konsanguincr Ehen für die Nachkonnnen
überzeugt, daß, wenn sie in einer Ehe tüchtige, gebrechen-
freie Kinder sehen, sie es für ganz unnötig halten, die Frage
nach der Blutsverwandtschaft der Eltern zu stellen.
Bei der Beurteilung des Wertes von Fällen, aus denen
die schlechten Folgen von Ehen unter Blutsverwandten her-
vorzugehen scheinen, ist noch eins im Auge zu behalten.
Wenn nämlich die Theorie von der Schädlichkeit richtig
wäre, dann müßte auch aus allen Ehebündnisscn zwischen
Blutsverwandten eine schwache und kranke Nachkommenschaft
hervorgehen. Immer ist die Ursache, die Konsangninität,
vorhanden, es sei denn, man wollte willkürlich annehmen,
daß diese Ursache unsicher und ungleichmäßig wirkte. Jeder
Fall einer konsanguinen Ehe mit gesunden Kindern ist ein
Beweis für das Falsche der antikonsangninistischen Ansichten.
Umgekehrt aber beweist es nichts gegen die Konsanguinistcn,
wenn aus einer Verwandtenehe ein Kind mit den angeführten
Gebrechen geboren wird; ist es doch möglich, daß diese Ge-
brechen Folgen von vorhandenen hereditären Krankheits-
keimen oder anderen schädlichen Einflüssen sind, die mit der
Konsangninität nichts zu thun haben.
Für den ersten Fall führt Herr Van der Stok ein
schlagendes Beispiel an. Unter den Antworten, die Dr. Sasse
m>s seine Anfragen an die Ärzte Hollands bezüglich der
Schädlichkeit der Verwandtenehen erhielt, war auch eine sehr
ungünstige, die sich auf eine Ehe zwischen Vetter und Base
bezog. Ans dieser Ehe waren elf Kinder hervorgegangen
und von diesen lebten nur noch ein Sohn und eine Tochter.
Die letztere war sehr nervös und litt am Veitstanz in hohem
Grade. Der Sohn war wenig entwickelt, geistig nicht mehr
als mittelmäßig. Von den gestorbenen Kindern waren drei
in früher Jugend den Masern erlegen; ein zwanzigjähriges
*) Doughty, Travels in Arabia deserta I, 472.
2) Burton, A pilgrimage to El-Medinah and Meccah
II, 81.
] 1
an Endocarditis rheumatica, ein sechzehnjähriges an
Myelitis; ein fünfzehnjähriges an Peripneumonia cum febre
nervosa, ein ganz junges Kind starb an Krämpfen, während
von den übrigen die Todesursache unbekannt blieb. Natür-
lich galt dieses als ein besonders wichtiger Beitrag für die
Schädlichkeit der Ehen unter Blutsverwandten. Wie
lagen aber die Tinge in Wirklichkeit? Dem Dr. Sasse
selbst war eine andere Ehe zwischen Nichtverwandten be-
kannt, in der acht oder neun von einer großen Anzahl
Kinder früh schon gestorben, während einige überlebende sehr-
schwach und kränklich waren. Es stellte sich jetzt heraus,
daß der Mann aus der ersterwähnten konsanguinen Ehe ein
Bruder der Frau aus der letzterwähnten Ehe unter Nicht-
verwandten war. Durch diese beiden war die Familicn-
anlage für Krankheiten auf die Kinder übergegangen und
dieses bei der Beobachtung einfach übersehen worden.
Es können gleichfalls, wo sich bei Blntsverwandtcnchcn
schlechte Ergebnisse zeigen, diese die Folgen von allerlei
schädlichen Ursachen sein, die mit Konsangninität nichts zu
thun haben. Es ist ja bekannt, wie das Nervcnleben der
Frau von großem Einflüsse auf die Frucht ist. Wir haben
hier das sogenannte „Versehen" im Auge, von dem viele
Ärzte gut festgestellte Beispiele mitgeteilt haben. Dieses
„Versehen" besteht in dem Erschrecken der Schwangeren
vor einem Gegenstände, einem Tier oder einem Menschen;
doch kann es auch die Folge sein von dem andauernden
Denken an Etwas, der fortgesetzten Furcht vor Diesem oder
Jenem. Die Leute welche länger in Niederländisch-Indien
wohnten, werden sich des traurigen und merkwürdigen Falles
erinnern, wie die gesunde Frau eines gleichfalls gesunden
und wohlhabenden Mannes nacheinander drei blinde Kinder
zur Welt brachte, nachdem eine alte eingeborene blinde
Frau, der sie ein Almosen abgeschlagen, sie damit bedroht
hatte. Die Furcht davor, daß die Drohung zur Wahrheit
werden könnte, hatte deren Erfüllung zufolge. So ereignet
es sich auch nicht selten, daß eine Schwangere, ans Angst,
rothaarige Kinder zu bekommen, gerade solche zur Welt
bringt, wenn auch diese Haarfarbe weder in ihrer noch
ihres Mannes Familie vorkommt. Um nun, sagt Herr
Van der Stok, zu begreifen, welchen Einfluß die Furcht
haben kann und unzweifelhaft auch öfter hat, wo es sich
imi Nachkommenschaft in konsanguinen Ehen handelt, brauchen
wir uns nur daran zu erinnern, wie allgemein das Vor-
urteil gegen solche Ehen bezüglich der Gesundheit der daraus
entstammenden Kinder ist. Was ijt natürlicher als daß
eine mit einem Verwandten verheiratete Frau, bestürmt von
guten Freundinnen und von diesen mit Erzählungen von
unglücklichen Beispielen aus Verwandtenehen versorgt, selbst
sich wegen ihres Kindes ängstigt, sich während der Schwanger-
schaft alle die Krankheiten vor Augen führt und schließlich
einem mit irgend einer solchen Krankheit behafteten Wesen
das Leben giebt? Wenn nun dieses Unglück das erste Kind
trifft, scheint die Wahrheit der Mitteilungen bewiesen, die
Furcht nimmt zu und die folgenden Kinder sind auch mit
Übeln behaftet. Auf diese Weife werden die Fälle vermehrt,
die mit Unrecht zum Beweise der Schädlichkeit konsanguincr
Ehen dienen.
Das Verbot von Blutsverwandtenehen kommt
allgemein bei gebildeten wie ungebildeten, bei Kultur- und
Naturvölkern vor. Nach dem Vorstehenden bedarf cs wohl
keines Beweises, daß der Glaube und die Überzeugung von den
nachteiligen Einwirkungen der Konsangninität für die Nach-
kommen nicht der Grund für dieses Verbot gewesen sein kann.
Denn es würde dann von selbst sich die Frage ergeben: woher
stammt diese Überzeugung, dieser Glaube? Auf empirischem
Wege kann man doch nicht gut dazu gelangt sein. Es
ist nicht anzunehmen, daß die Wilden oder die Völker des
2*
12
Pros. G. R. Wilken: Die Ehe zwischen Blutsverwandten.
Altertums die weniger guten Ergebnisse aus Verwandtenehen,
die, wenn sie da waren, doch wenig auffielen, bemerkt haben
sollen. Daß die Verbote nicht auf Grund der Schädlich-
keitstheorie ergingen, ergiebt sich auch daraus, daß — wie
wir sehen werden — Ehen unter den einen Verwandten ver-
boten, unter den anderen eben so nahen aber zugelassen
wurden. In der That kommt denn auch der Glaube, daß
Verwandtcnehcn schädlich für die Nachkommenschaft seien,
bei nur wenigen Völkern vor. Im Altertum findet man
bei Indiern, Hebräern, Griechen und Römern keine Spur
davon. Und was die Naturvölker betrifft, so wird das,
was die Antikonsanguinisten als Folge konsanguiner Ehen
angeben, von ihnen ganz andern Ursachen zugeschrieben.
Low sagt, daß das Vorkommen der häufigen Geisteskrank-
heiten bei den Dajaks wohl in der Gewohnheit dieses Volkes,
im Stamme d. h. in der Familie zu heiraten, gesucht werden
muß. Die Dajaks selbst geben aber eine andre Erklärung
an. Sie betrachten die Geisteskrankheit als die Folge einer
Übertretung der pemali- oder tabu-Gebote. Unerlaubt,
tabu, ist das Essen von Hirschfleisch, und ein Mann, so ver-
sicherte man Low, wurde durch Vernachlässigung dieses Ge-
botes geisteskrank x). Auch Albinismus soll Folge konsan-
guincr Ehen sein. Nach dem Glauben der Maser aber,
der auch anderweitig im Archipel vorkommt, ist der Albino
die Frucht aus dem Umgänge einer Frau mit eineni Usía
oder bösen Geiste.
Indessen kommt bei einigen wenigen Völkern die Schüd-
lichkeitsthcorie dennoch vor. Bei den Europäern ist sie jedoch
erst in ziemlich später Zeit zur Begründung der Verbote
gegen Verwandtenehen angewendet worden, da man diese
anfangs aus ganz andre Weise zu begründen versuchte.
Einige, sagt Huth, schreiben die Beschränkung der Furcht
zu, daß die Verwandtschaft zu verwickelt werden kann;
andre sehen darin eine Maßregel, die verhindern soll, daß
die Liebe sich in einem zu engen Kreise konzentriere; andre
wieder meinen, daß ohne ein solches Verbot die Ehen in zu
jugendlichem Alter geschlossen würden, oder daß die Menschen,
wenn ihnen dazu die Freiheit gelassen würde, stets in der
Familie heiraten würden, um das Eigentum zusammen-
zuhalten; wiederum nach andern soll „natürliche Schaut"
der Grund sein, während nicht wenige sich einfach aus das
göttliche Gebot berufen. Theodor Beza, der feurige Anhänger
Ealvins, verweist auf die Verwirrung, die in der Verwandt-
schaft entstehen müßte, wenn alle Ehen erlaubt wären,
wenn z. B. Vater und Sohn zwei Schwestern, oder eine
Tochter und deren Mutter heiraten könnten. Anders der
englische Bischof Jeremias Taylor. Dieser legt vor allem
Nachdruck auf das Widernatürliche der Verheiratung einiger
Blutsverwandten, die er mit dem Zurückfließen eines Stro-
mes nach seiner Quelle vergleicht. Der erste, welcher die
Schädlichkeit der Blntsverwandtcnehen für die Nachkommen-
schaft zur Begründung des Verbots derselben heranzog, scheint
Papst Gregorius I. gewesen zu sein. An den zur Bekehrung
der Angelsachsen ausgesandten Benediktinermönch Augustinus
schreibt er um 605: „Ein weltliches Gesetz des römischen
Staates läßt cs zu, daß der Sohn und die Tochter von
einem Bruder und einer Schwester oder von zwei Brüdern
oder zwei Schwestern sich miteinander verheiraten. Tie Er-
fahrung lehrt uns aber, daß das Erzeugnis ans solchen
Ehen nicht gedeihen kann." Noch deutlicher findet man die
Schüdlichkeitstheorie in den Capitularía Regum Fran-
corum ausgedrückt. Hier heißt es, daß aus den Ehen
unter Verwandten „Blinde und Krüppel, Krumme und
x) Low, Sarawak 305.
Triefäugige, oder mit ähnlichen andern Gebrechen Behaftete"
hervorgehen. Anfangs nur durch einige Wenige verkündigt,
ist dann diese Theorie allmählich allgemeiner geworden.
Die Lehre, daß konsanguine Ehen schädlich seien, die
bei uns sich so langsam gebildet und festen Fuß gefaßt
hat, kommt, gepaart mit dem Verbote gegen solche Ehen,
auch bei einigen halb- und ungebildeten Völkern vor.
Natürlich können wir auch hier annehmen, daß die Lehre
nach dem Verbot entstanden und nicht, wiewohl dieses ge-
wöhnlich so angenommen wird, diesem vorausgegangen ist.
Nach der Schöpfung, so erzählen die Eingeborenen vom
Cooper's Creek in Süd-Australien, verheirateten sich Brü-
der, Schwestern und andre nahe Blutsverwandte unter-
einander, bis daß die schlechten Früchte solcher Ehen sich
offenbarten und die Häuptlinge darüber berieten, was gethan
werden müsse, um dem Übel zu wehren. Das Ergebnis war,
man müsse sich an den großen Geist Muramura wenden.
Dieser verordnete, daß das Volk in eine Anzahl von Stäm-
men geschieden werden solle, die durch besondere Namen
sich auszeichneten, entlehnt von Tieren, wie Hund, Maus,
Emu, Leguan u. s. w., und daß die Glieder desselben
Stammes nicht untereinander heiraten dürften. So darf ein
Emu-Mann eine Emu-Frau nicht heiraten, er muß
sich ein Weib ans dem Hunde-, Maus- oder Legnanstamme
nehmen i).
Wichtiger schon ist es, daß auch bei den Arabern die
Schädlichkeitstheorie besteht. Ein Ausspruch im Hadith,
der geweihten Überlieferung, lautet: „Heirate unter Fremden,
damit du keine schwache Nachkommenschaft zeugst!" Die
Araber meinen damit, daß Kinder, aus Ehen unter Bluts-
verwandten geboren, schwach und hager sind. Auch in den
späteren Rechtsbüchern findet man dieser Ansicht Ausdruck
gegeben, so thut dieses Badjuri in seinem Kommentar zum
Ilm Qnsim. Will man, so sagt er. eine edle Zucht er-
langen, dann muß man in die Fremde heiraten, wie man
gute Früchte erhält von einem Zweige, der auf einen fremden
Stamm gepfropft ist. Ebenso wird die Ehe mit der
bint- amm, der Tochter des Ohms von Vatersseite, abge-
raten, wiewohl dieses, wie wir früher gesehen haben, seit
alten Zeiten Regel und ohne schädlichen Einfluß für die Nach-
kommenschaft gewesen ist. „Er ist, so singt ein Dichter, um
seinen Helden zu Preisen, ein Jüngling, der nicht aus einer
bint- amm ober nahen Verwandten geboren ist, so daß er
schwach wäre, denn nur die Sprößlinge aus Blutsverwandten
sind schwach" * 2).
Endlich müssen auch die Chinesen noch erwähnt wer-
den. Ein alter Brauch verbietet ihnen, jemanden zu hei-
raten, der denselben Familiennamen, sing, trägt. Alte
arabische Reisende aus dem neunten Jahrhundert3 4), die
von dieser Regel berichten, sagen, daß die Chinesen behaupten,
durch Kreuzung würde eine bessere Frucht erzielt, mit kräf-
tigerem Körper und längerer Lebensdauer, begabt auch mit
andern Tugenden H.
:) Fison and Howitt, Kamilaroi and Kurnai 25.
2) Gr. A. Wilken, Het matriarchaat bij de oude Ara-
bieren 38.
3) Masüdi (ed. Barbier de Meynard) I, 301.
4) Es ist jedoch angebracht, hier zu bemerken, daß diese
Vorstellung nicht allgemein zu sein scheint. Der holländische
Sinolog Dr. Schlegel versichert auch, in der Litteratur nichts
daraus Bezügliches gefunden, noch mündlich darüber etwas gehört
zu haben. Es wird deshalb meistens auch ein andrer Grund
für das Verbot, Personen mit demselben Namen zu ehelichen,
angeführt. Es soll dies ein Mittel sein, um zu verhüten, daß
die Verwandtschaft in Verwirrung gerät, loan-lun, wie der
chinesische Ausdruck lautet (loan — in Verwirrung bringen,
Inn — Blutsverwandtschaft).
Das Rätsel von Simbabje.
13
Das Rätsel von Simbabje.
Die wunderbaren und großartigen Ruinen von Simbabje
(Aimbabye, Zinlbaoä) in Südafrika, deren Wiedcrcntdeckung
durch -Si ail Re auch vor zwanzig Jahren gerechtes Aufsehen
erregte, sind in unsern Tagen mehrfach besucht worden; cs sind
jetzt zahlreiche Photographiern, Zeichnungen und Messungen
anfgcnonnucn worden, die noch der Veröffentlichung harren.
Binnen kurzem wird viel Rede von diesen Bauten sein, die,
wenn auch nicht vereinzelt, von allem abweichen, was wir
über südafrikanische Bauten wissen; es werden abermals die
widersprechenden Meinungen über deren Ursprung auf-
Gesamtansicht der Ruinen von Simbabje. Nach Manch.
einandertrefsen und vielleicht auch das salomonische Ophir
mit denselben wiederholt in Zusammenhang gebracht werden.
Es möge daher hier
Umschau gehalten wer- ° .°
den über die neuesten
Besuche und über unser
älteres Wissen von den
Ruinen.
Im August 1890
sind die Ruinen, die
nach Manch in 21» 50'
südl. Br. und 31» 47'
östl. L. von Gr. liegen,
von der großen Expedi-
tion besucht worden,
welche die englische süd-
afrikanische Gesellschaft
zur Ausbeutung des
Maschonalandes entsen-
det hat. Die Times
vom 7. Oktober 1890
enthält darüber einen
Artikel, in dem cs heißt:
"Es ist uns ein völliges
'Rätsel, was der Ur-
sprung, die Geschichte
und die Bedeutung dieser
merkwürdigen Ruinen
gewesen sein mögen, na-
mentlich das runde Gebäude mit seinem kegelförmigen Turm.
Die gelehrteren Elemente unter uns stehen schweigsam vor
diesen vorgeschichtlichen Überresten und sind stumm vor Er-
ltannen über deren Großartigkeit und Festigkeit. Keiner
tvar kühn genug, eine Lösung des Rätsels zu versuchen.
Eines aber ist sicher, daß die Ausdehnung der Ruinen klar
auf das Dasein eines alten, großen und halbzivilisiertcn
Bolkeö deutet, zn einer Zeit, als Sklavenarbeit in unbe-
grenztem Maße zu haben war."
Grundriß des Hauptgebäudes von Siinbabje. Nach Manch
Die Kaffernstämme der Umgegend wußten den Eng-
ändern nichts über den Ursprung der Ruinen zu berichten;
gegenüber dem Enthn- * 4
-- « » Fuss siasmus, welchen die
weißen Besucher zeigten,
beginnen sie den Zutritt
zn den Ruinen bereits
auszubeuten, indem sie
Decken, Perlen u. s. w.
für den Besuch ver-
langen.
Die Schilderung der
Ruinen, welche der Be-
richterstatter der Times
giebt, stimmt überein
mit derjenigen Mauchs,
dessen Wahrheitsliebe
und Genauigkeit er be-
stätigt. Die Ruinen
liegen am Fuße eines
Granithügels (Kopje in
holländischer Sprache),
der von einem Ma-
schonastamme unter dem
Häuptlinge Moghabi
bewohnt wird. Rings
um das Kopje läuft eine
4 Fuß hohe Mauer,
die sich wegen Gestrüpp
und hohem Gras nicht genau verfolgen läßt. Dann folgt
inmitten eines Labyrinths von Ruinen kleiner runder Bauten,
südwestlich vom Kopje, das großartige Hauptgebäude (Mauchs
Haus der Großfrau), eine runde, 30 bis 35 Fuß (feet)
hohe Mauer, die eine Fläche von 80 Ajards (— 73 Meter)
umfaßt. Diese Mauer, am Grunde 10, oben 7 bis 8 Fuß
stark, ist aus kleinen Granitblöcken, etwa doppelt so groß wie
ein gewöhnlicher Ziegelstein, erbaut; sie sind alle schön be-
hauen und ohne Mörtel regelmäßig aufgeschichtet. Bon
14
Das RäijoÍ von Simbabjc
Osten her führt ein enger Eingang hinein. In: Innern
und beim Eingang und nahe bei der Mauer steht ein 35 Fuß
hoher, am Grunde 18 Fuß Durchmesser haltender konischer
Turne ans den gleichen behauenen Granitblöcken erbaut.
Innerhalb der hohen Mauer verlaufen noch doppelte Zickzack-
schnörkel von Mauern, gleichfalls aus Granit. Aus denn
Kopse befinden sich zahlreiche Überreste solcher runder
Mauern, sind die Ruinen von wenigstens neu ausgemauerten
Terrassen vorhanden und liegen, aus dem Gipfel, ungeheure
Mengen der Granitblöcke, die zu einem Bau verwendet
werden sollten.
Dieses die kurze neueste Schilderung des Berichterstatters
der Times, die im allgemeinen mit jener Mauchs überein-
stimmt. Wenn derselbe jedoch annimmt, seit Manch habe
kein Weißer die Ruinen gesehen, so ist dieses ein Irrtum.
Im Jahre 1889 wurden sie von den Gebrüdern Posselt
besucht (Petermanns Mitteilungen 1890, S. 22) und diesen
verdanken wir eine wesentliche Ergänzung unsrer Kenntnis
der Ruinen. Manch hatte senkrecht aus den Mauern
emporstehende Steinbalken von 8 bis 10 Fuß Höhe gesehen
Steinfignr (Papagei) in V4 uatürl. Größe von Simbabje
nach Posselt.
und bei näherer Untersuchung fand Posselt an denselben
Verzierungen, unter andern drei ans Stein (Phyllit?) ge-
meißelte, 28cm hohe Papageien, welche die Spitzen der
Steinbalken bildeten. Während sonst die Ruinen, soviel
wir bisher wissen, nur die aus einfach behauenen Granit-
steinen bestehenden Mauern zeigen, tritt hier ein künstlerisches
Moment hinzu, eine realistisch gehaltene Figur, deren Typus
allerdings keine Anhaltspunkte darbietet, um sie mit Skulp-
turen irgend welcher Art in Zusammenhang zu bringen, die
aber für die Bestimmung des Knltnrgrades der Erbauer
Simbabjes von Wert ist. (Vergleiche die Figur.)
Die Wicdcrentdeckung der schon den Portugiesen bekannten
Ruinen erfolgte, wie erwähnt, durch Karl Manch im Sep-
tember 1871. Sein erster Bericht befindet sich in Peter-
manns Ergänznngshcst Nr. 37. Sowohl der Entdecker
als auch Aug. Petermann knüpften, gestützt auf die gleichzeitigen
Goldentdecknngen Mauchs in jener Gegend, daran die An-
sicht, hier sei das Salomonische Ophir gefunden. Es ist
damals eine von verschiedenen Seiten mit vieler Gelehrsam-
keit geführte Kontroverse über Ophir geführt worden, die
aber immer noch keine Gewißheit über die Lage jener biblischen
Örtlichkeit gebracht hat. Verneint muß aber der Zusammen-
hang jener Ruinen mit Phöniziern werden.
Ein ausführlicher Bericht Mauchs, der aber auch erst
als „vorläufiger" bezeichnet ist, eine autographierte Mit-
teilung, begleitet von den hier wieder abgebildeten beiden
Zeichnungen, ist erst 1876 in den Verhandlungen der Berliner
Gesellschaft für Anthropologie, Seite 186, erschienen. Dieser
giebt die ausführlichste Beschreibung und stimmt sehr gut
mit dem Berichte in der Times, ist aber namentlich wert-
voll durch die Zeichnungen, die weit klarer als Schilderungen
uns die Ruinen erkennen lassen.
Bis an seinen frühzeitigen, jähen, 1875 erfolgten Tod
hielt Manch, der kein Gelehrter war, an einem phönizischcn
Ursprung der Ruinen fest. So schrieb er noch 1873: „Bei
Bestimmung der Erbauer, des Alters und Zweckes der von
mir entdeckten Ruinen von Zimbabye sollte man vor allem
Ruinen von Bauten, die erwiesenermaßen phönizischcn Ur-
sprungs sind, zum Vergleiche herbeiziehen; es müssen sich ja
deren sehr viele in den von den Phöniziern gegründeten
Kolonieen finden. Sodann dürste sich manch Interessantes
aus Schriften der Venezianer zur Zeit ihrer Handelsblüte
finden lassen, das in bezug zu den Ruinen von Zimbabye
steht. Ich vermute nämlich, daß der vielerwähnte Priester-
könig John oder Johannes, den man unsicher nach Abessinien
versetzt und ihm christliche Prinzipien beilegen will, mit mehr
Wahrscheinlichkeit in den fruchtbaren Distrikten zwischen
Limpopo und Zambezi sein Reich besessen hat und jüdische
Religionsgebräuche und Sitten ausübte."
Es ist nicht nötig, diese Ansichten Mauchs einer Kritik
zu unterziehen. Die Verdienste des tüchtigen Mannes um
die Geographie Südafrikas, seine Entdeckung der Goldfelder
und der Ruinen Simbabjes bleiben ungeschmälert. Daß
er die Ophirfrage nicht löste, ist nicht zu verlangen, nachdem
die Gelehrten über Sofala (Quatrenwrc, Movers, Me-
rensky n. a.), über Indien (Lassen, Kiepert u. a.), über
Arabien (A. Sprenger) als dessen Örtlichkeit zu keiner
Einigung gelangten. Durchaus abweichend, und anßer-
afrikanischen Einfluß bei der Erbauung der Ruinen von
Simbabje verneinend, urteilt Professor Robert Hartmann
(Verhandlungen der Berliner Anthropol. Ges. 1876, 189),
indem er die Bauten den Vorfahren der heutigen Bantn-
völker zuschreibt. Damit nimmt er einen Rückfall der
Kaffern ans ehemaliger Kultur an, für den sonst keine Be-
weise vorliegen. Aber richtig ist, worauf Hartmann hin-
weist, daß verwandte Bauten noch mehrfach in Südafrika
vorkommen. Dahin gehören die von Hübner aufgefundenen
alten Befestigungen im Matebclelaud (Zeitschrift für Eth-
nologie III, 53) und der erwähnte Berichterstatter der
Times giebt an, ähnliche, aber kleinere Ruinen am Lnndi-
slnsse gesehen zu haben.
Daß Manch nur als Wiedercntdecker gelten kann, zeigt
die von Rob. Hartmann (Nigritier I, 26 ff.) behandelte
Entdeckungsgcschichte der Ruinen. Joao de Barros schildert
sie bereits in seinem 1552 zu Lissabon erschienenen Werke;
er erwähnt den Mangel an Mörtel beim Bau, den Turin,
spricht von Inschriften und sagt, solche Gebäude hießen bei
den Eingeborenen Symbaoe, was Hofburg oder Residenz
bedeute. Der Name Zimbabye, Symbabov wird von portu-
giesischen Reisenden des vorigen und dieses Jahrhunderts
in Südafrika noch öfter in der Bedeutung als Hänptlings-
residenz erwähnt.
Die bisherigen Lösungen des Rätsels befriedigen nicht;
die alten Reste einer einstigen Halbknltnr im Lande der
Kaffern stehen noch ohne Verbindung da und sind schwerlich
auch den Vorfahren der heutigen Bantu zuzuschreiben. Ob
Vergleiche hier weiter helfen werden, muß sich zeigen, wenn
die Aufnahme und Photographieen der Engländer veröffentlicht
15
paraba über Japan
werben. Jede, auch die leiseste Andeutung über die Zeit,
aus der die Ruinen stammen, fehlt; wir wissen nur, daß sie
zur Zeit der ersten Entdeckung schon als alt galten. Eü'wiß
wird die Frage von Simbabje wieder aus die Tagesordnung
gesetzt werden, zumal die Geogr. Gcs. in Vonbon den Archäo-
logen Th. Beut mit deren Erforschung jetzt beauftragte.
Beschreibung der Japanischen Inseln von
einem Japaner.
Während die Japaner auf der einen Seite unablässig
bemüht sind, europäisches Wissen, europäische Sitten und
Gebräuche, ja sogar europäische Staats-Verfassung und Re- |
ligion nach Japan zu übertragen, beginnen sie auf der andern .
schon wieder den Europäern zu entschlüpfen, indem sie nach
erlangter Kenntnis in einem Fache dieses nun selbst glauben
ausfüllen zu können, ja manchmal auch wirklich aus-
füllen. Zn diesen Fächern, die sie bereits für sich allem m
Anspruch genommen haben, gehört die Geologie-, die früher ^
von Deutschen (E. Neumann) geleitete geologische Landes-
aufnahme Japans wird jetzt schon fast durchaus von ein-
heimischen Krästen betrieben. Und zu denjenigen Japanern,
welche ihre verantwortliche wissenschaftliche Stellung aus-
füllen, gehört ohne Zweifel Toyokitsi Hárada, welcher >
in Deutschland vorgebildet und durch Arbeiten über Südtirol .
bekannt geworden ist. Hárada bietet uns jetzt ein äugen-
schcinlich groß angelegtes geologisches Werk über „Die Japa-
nischen Inseln"; „eine topographisch-geologische Übersicht."
Erste Lieferung, mit fünf Kartenbeilagen, Berlin 1890. |
126 Seiten. Dieses von der Kaiserlich japanischen geolo- >
gischen Reichsanstalt herausgegebene Werk dürste der Geo-
graphie noch manches Brauchbare liefern.
Die bis jetzt vorliegende Lieferung giebt zunächst eine
Übersicht über die Lage, die Meeresteile um Japan, über das
Areal und die Bevölkerungszahl und -dichtigkeit des Japani-
schen Reiches, welche Zahlen jedoch von den uns zugäng-
lichen neuesten Quellen abweichen bezw. dieselben noch nicht
benutzt haben. So besitzen wir z. B. schon Bevölkerungs-
angaben vom 1. Januar 1888, während bei Hárada solche !
von 1880 verwendet sind. In der Tabelle sind die Qua-
drat-Ri Japans (zu 15,423 kqm) irrtümlich in Quadrat-
meter umgesetzt. Der Gegensatz der ozeanischen und konti-
nentalen Seite Japans wird hervorgehoben. Die hohle
kontinentale ist gleich in der Küstenbeschaffenheit von der
gewölbten ozeanischen verschieden. Die ozeanische Seite ist
sehr stark gegliedert, die kontinentale einförmig. Die ozeanische j
Seite von Honshiu, der Hauptinsel, gewöhnlich Nipón ge- ¡
nannt, ist doppelt so reich gegliedert wie die kontinentale.
Dennoch sind die Küsten arm an guten Häfen. Flußhäfen i
fehlen fast ganz, und wo die Küste gute Häfen bildet, ist
meist das Hinterland arm und öde. Nacheinander werden |
nun die Ost- und Südküste, dann die Gestade des Tung-hai
oder des Chinesischen Ostmeeres, sowie der Korea-Straße,
ferner die Gestade des Japanischen Meeres und der Lsngarn-
Straße, schließlich die Küsten von Hokkaido, gewöhnlich Jesso
genannt, abgehandelt, wobei auch die beiden andern größeren >
Juseln Shlkokn und Kinshiu kurz betrachtet werden.
Für geographische Zwecke ist der interessanteste Absatz der !
Lieferung die „Kurze Übersicht der geotektonischen Gliederung
Japans". Man erkennt gleich aus den ersten Sätzen, daß
sich Hárada die Ansichten von Sueß über die Entstehung
Ostasiens zu eigen gemacht hat. Wir lesen hier von der
Kette der großen Gebirgsbogen, die gegen das Festland zu
hohl sind, von den vier Gebirgsbögeu der Kurilen, der Rin- i
K in-Inseln, von Südjapan und Nordjapan. Die beiden
letzteren sind deutlich ein Faltungsgebirge, was bei den
andern Bögen nicht mehr hervortritt. Im südjapanischen
— Sprachen Maltas.
Bogen werden drei Zonen unterschieden, in der Mitte eine
von altem Urgebirge, zu beiden Seiten daran gelehnt jün-
gere Ablagerungen. Auch der nördliche Bogen zeigt drei
Zonen in derselben Anordnung, allein hier ist die Innen-
seite stark zertrümmert. Der südliche Bogen gilt als Fort-
setzung des Gebirgssystems Chinas, der nördliche hing mit
dem Festlande Koreas und den Amnrländern zusammen;
zwischen ihnen ist, wahrscheinlich nach der mittleren Jurazeit,
das Japanische Meer als großer Kesselbruch entstanden. —
Zahlreiche Brüche durchsetzen die Hauptinseln, besonders die
Medianlinie, welche die Innen- und Außenseite trennt. Das
Faltenland liegt auf letzterer, gefaltetes Gebirge, das Schollen-
land, vielfach eingebrochenes Land mit starken Eruptivmassen,
auf ersterer. Auf der beigegebenen geotektonischen Karte tritt
diese Scheidung durch die ganze Länge der Inselgruppe gut
hervor. Mitten durch Honshiu zieht von Süd nach Nord
die Fuji-Brnchzone mit zahlreichen Vulkanen, darunter der
Fuji-yama. Diese Spalte ist von Neumann Fossa magna, der
große Graben, genannt worden. Es fällt unangenehm ans,
daß Härada, obwohl doch vielfach auf Neumanns Resultaten
fußend, den Namen desselben in diesem ganzen Abschnitte nicht
nennt, während er Sueß, von Richthofen, Pumpelly, erwähnt.
Zwei weitere Bruchzonen durchschneiden Kinshiu und Hokkaido
ebenfalls von Süd gegen Nord und unter Begleitung zahl-
reicher vulkanischer Erscheinungen. Nachdem Härada noch
festgestellt hat, daß infolge der Zerstückelung der Inselgruppe
eine zentrale Landschaft fehlt, beginnt er eine Aufzählung
der unter Zugrundelegung des Baues der Inseln sich er-
gebenden natürlichen Landschaften, und eine ebensolche sämt-
licher von ihm auf denselben unterschiedenen Gebirgsmassen;
es sind deren ihrer nicht weniger als 45. Nach einer kurzen
Übersicht der geologischen Formationen, welche Japan zu-
sammensetzen, folgt dann in dem ganzen Pest des Buches
eingehende Erörterung desselben. Von den beigegebenen
Karten zeigt die erste den Stand der Landesaufnahme in
Japan für 1890, die zweite bietet die schon erwähnte geo-
tektonische Übersicht, die dritte zeigt das mesozoische Gebiet
im Kitakämigebirge ans Honshiu, die vierte ist eine Skizze
der Geologie des Sakavabeckens, und die letzte stellt Hokkaido
nach seiner Zusammensetzung dar. Verfasser dieser Karten
sind verschiedene Assistenten bei der Landesaufnahme, eben-
falls Japaner. I)r. W. Sievers.
Die Sprachverhältnissc auf Malta.
(Aus einem Briefe des Herrn Dr. Erml ing, La Valetta,
7. Aov. 1890.)
In den Städten und größern Ortschaften der Inselgruppe
komme ich im Verkehr völlig mit Italienisch und Englisch
aus. Sobald aber meine Untersuchungen sich auf das Innere
Maltas und die Dörfer erstrecken, muß ich mein Arabisch zu
Hilfe nehmen. Dabei liegen die Sprachverhältnisse hier gar
nicht so einfach, wie man gewöhnlich glaubt, ja selbst Sprachen-
streit ist hier zu finden, und man denkt im kleinen Maßstabe
an die Zänkereien, die unter den Völkern der österreichisch-
ungarischen Monarchie endlos sich fortspinnen.
Wollte man hier nach Prozenten berechnen, wieviel ver-
schiedenes Blut in den Maltesern rollt, man würde kleine
Bruchzahlen finden. Abgesehen von einer etwaigen Ur-
bevölkerung, von der tvir nichts wissen, folgten sich im Besitze
der Inseln Phöniker, Griechen, Karthager, Römer, Vandalen,
Ostgoten, byzantinische Griechen, Araber, Normannen, Fran-
zosen, Spanier, die Johanniter, wieder Franzosen und zum
Schluß (1800) die Engländer. Es fließt also semitisches,
romanisches, germanisches und griechisches Blut in den Adern
der Bevölkerung, indessen weit mehr bei den Städtern, als
bei dem Landvolke.
16
Aus allen Erdteilen.
Wie in den Hafenplätzcn Dalmatiens, dessen Land-
bevölkerung ja slavisch ist, das Italienische Hauptgeltung hat
und in der Verwaltung, im Verkehr und politischen Leben
zur Geltung gelangte, so auch hier bis vor etwa sechs Jahren.
Handel und Wandel ist großenteils in den Händen der
italienisch redenden Städter; diese hatten im gesetzgebenden
Körper auch die Mehrheit erlangt und es durchgesetzt, daß
das Italienische zur Amtssprache erhoben wurde. Wie die
Erhebungen des Gouverneurs aber gezeigt haben, sprechen
von den 160000 Einwohnern der Inseln — abgesehen von
der starken Besatzung — nur 15 000 italienisch und etwa
ebensoviel englisch als Muttersprache. Der große Rest redet
maltesisch. Und dieser Rest fühlte sich natürlich durch den
Erlaß bedrückt, geriet in Aufregung und wurde unter der
Führung seiner Priester vorstellig bei der Regierung, die,
nach angestellter Untersuchung, dahin entschied, daß fortan
neben der englischen Sprache die maltesische Amtssprache sein,
das Italienische aber offiziell fortfallen sollte. In Handel
und Wandel besitzt das letztere jedoch noch immer seine hervor-
ragende Bedeutung.
Es sind jetzt genau 800 Jahre darüber vergangen, daß
die arabische Herrschaft hier ihr Ende erreichte (1090), und
seit dieser Zeit hat zwischen den Bewohnern Maltas und den
Arabern keinerlei Verkehr mehr stattgefunden. Damals er-
oberten die Normannen unter dem Grafen Roger die Inseln.
Trotz dieser langen Zeit ist das Arabische aber immer noch
die herrschende Sprache, wiewohl in sehr verderbter Form,
geblieben, und daß dem so ist, erklärt sich wohl nur aus der
raschen Aufeinanderfolge der Eroberer, von denen keiner Zeit
genug besaß oder Menschen genug nach den Inseln sandte,
um seine eigene Sprache zur herrschenden zu machen. Am
stärksten wurde die Sprache vom Italienischen beeinflußt,
was in der ehemaligen politischen Zugehörigkeit zu Sizilien
und durch das Christentum veranlaßt wurde. Verhältnis-
mäßig am reinsten arabisch ist die Mundart von Gozo,
welche am wenigsten italienische Beimischung zeigt. Bis zu
welchem Grade aber die Sprache noch arabisch ist, beweisen
die Malteser im Oriente; sie finden sich in vielen Hafen-
plätzen des östlichen Mittelmeeres und ich habe in Kairo wie
in Alexandrien selbst beobachtet, daß sie sich leicht mit der
arabisch sprechenden Bevölkerung zu verständigen vermochten.
Es scheint, als ob infolge des erwähnten Spracheustreits
die maltesische Mundart des Arabischen nun einen festeren
Boden gewinnt und mehr Bedeutung in der Schule und bei
den gebildeten Insulanern erhält. Schulbücher mit lateini-
scher Schrift, die aber natürlich zur Bezeichnung der Laute
nicht ausreicht, sind vorhanden, desgleichen solche in einer
gemischten Schrift, mit lateinischen und arabischen Lettern.
In den Pricsterseminaren wird die Sprache am meisten ge-
pflegt und dort hat sie ihren nationalen Halt, von dort stammt
ihre Auflehnung und ihr Widerstand gegen das Italienische,
dessen Herrschaft nun gebrochen ist. Ein in Deutschland
wenig bekanntes Buch von George Percy Badger, das 1838
hier gedruckt wurde und den Titel führt „Description of
Malta and Gozo“, enthält die Volkslieder der Inseln. An
und für sich interessant zeigen sie deutlich das arabische Ge-
präge der maltesischeu Mundart und ihre italienischen Bei-
mischungen.
Aus allen
— Kälte in Kamerun. Das deutsche Gebiet von Ka-
merun ist mit Recht wegen seines Fiebers berüchtigt und gilt
als ein sehr heißes Land; in der Ortschaft Kamerun betragen
die mittleren Extreme der Temperatur 17" und 370 C.
Allein je nach der Bodenerhebung herrschen auch in diesem
großen Lande, das sich bis zum Binue erstreckt, sehr ver-
schiedene Klimate und namentlich scheinen die Hochlande
im Innern, die erst neuerdings durch Dr. E. Zintgrafl
erforscht wurden, mit einem Klima begabt zu sein, welches
dem südeuropäischen sich nähert. Ans der hoch gelegenen,
von Zintgrafl gegründeten Bali-Station, zwischen 6" und 7"
nördl. Br., war das Durchschnittsminimum 12" bis 14" C.
uackts (beobachtet wurde schon 9,5" C.) bei einem durch-
schnittlichen Maximum von 23" bis 26" C. Das sind euro-
päische Wärmeverhältnisse, iinb Zintgrafl ist daher der An-
sicht, daß das Klima von Bali den Europäern zusagen lvird.
Dagegen bemerken wir, daß die hohe Lage allein in Kamerun
nicht vor dem Fieber schützt, wie die hoch oben am Süd-
abhange des Kamerungebirges angesiedelten Schweden be-
weiscn, von denen einige der tückischen Krankheit erlagen
(Büchner, Kamerun 83). In den höheren Lagen des Bin-
nenlandes, so auf der 1550 m hohen Bergkette int Nordosten
der Bali-Station, sind noch geringere Temperaturen keine
Seltenheit. Zintgrafl (Verhandl. der Ges. für Erdkunde zu
Berlin XVII, 220) beobachtete dort ein mit Platzregen und
Hagel verknüpftes Fallen der Temperatur bis 6"C. Ein
Teil seiner Leute erstarrte und blieb am Wege liegen. Am
andern Morgen stellte sich heraus, daß infolge der Kälte
sechzehn Menschen den Tod gefunden hatten. Schon
früher hatten, nach Aussage der Eingeborenen, in dieser
Gegend viele Leute infolge derartiger Wetter ihr Leben ver-
loren. Die häufig mit Hagel verbundenen Gewitter, zusammen
mit scharfem Nordwest, stehen in diesen Gegenden längere
Erdteilen.
Zeit. Die Glieder der bis auf einen Schurz unbekleideten
Leute waren sofort steif vor Frost, sie wankten wie Trunkene
und nur wenige konnten sprechen, so klapperten ihnen die
Zähne; die schwarze Hautfarbe hatte sich in ein schmutziges
Aschgrau verwandelt.
— Die englischen Eisenbahnen reichen bis tief in
Afghanistan hinein und damit befestigt sich Englands Macht-
stellung dort mehr und mehr. Man erkennt dieses aus einer
Anekdote, welche kürzlich Homcward Mail mitteilte. Ein
britischer Eisenbahnbeamter schlug dem in Chaman anwesen-
den afghanischen Gouverneur von Kandahar vor, doch ein-
mal den neuen Tunnel anzusehen. „Sahib, antwortete der
Gouverneur, lieber nicht. Wenn ihr Engländer einem Manne
eine Kugel durch den Leib schießt, ladet ihr dann dessen
Freunde ein, herzukommen und das Loch, welches die Kugel
schlug, zu besichtigen?"
— Der Name Auahuac, als Bezeichnung für die Hoch-
ebene von Mexiko, wird durchaus unrichtig angewendet, wie
Dr. Seler auf dem Amerikanistenkongresse zu Paris, Okto-
ber 1890, zeigte. Auauac heißt „ain Wasser", und das
Wort lvird von sämtlichen alten Autoren (Sahagun u. a.)
nur im Sinne von „Küstenland" gebraucht. Anauac Ayotlan
sei das pazifische Küstenland, Ananac Ticalauco das atlan-
tische. Einzig Motolinia gebraucht das Wort anders, aber
nicht für die Hochebene, sondern für ganz Neuspanien. Aber
auch das ist nach Dr. Seler ein Irrtum, hervorgegangen
aus der Bedeutung der Phrase cem anahuac, die im Sinne
von „die ganze Welt" gebraucht wird. Die ursprüngliche
Bedeutung dieser ist aber „das ganze Land bis zum Meer".
Trotz dieser dankenswerten Aufklärung des besten Kenners
des alten Mexiko wird sich der einmal eingebürgerte Name
in seiner falschen Bedeutung schwer ausrotten lassen.
Herausgeber: Dr. R. Andrer in Heidelberg, Leopoldstraße 27.
Druck von Friedrich View eg und Sohn in Braunschweig.
Bd. LIX.
Nr. 2.
Mer-M AKerKuck.
Begründet 1862
von
Karl Andrer.
Arrecil und ^7 ertstg von
Herausgegeben
von
Richard And ree.
Friedrich "Dieweg & Sok?n.
Brau n s chwei g.
Jährlich 2 Bände in 24 Nummern. Durch alle Buchhandlungen und Postanstalten 1891.
zum Preise von 12 Marl sür den Band zu beziehen
7) e r mann Strebe l.
Nit dessen Bildnis
Es gereicht uns zur besondern Freude, den Lesern heute
den Lebensgang und die markigen Züge eines Mannes vor-
führen zu können, der um die Erforschung der Altertümer
Mexikos sich hervorragende Verdienste erworben hat und
dessen Name für alle Zeiten mit der vorkolumbischen Ge-
schichte dieses Landes verknüpft bleiben wird. Kein Gelehrter
von Fach, kein ursprünglich mit dem modernen Rilstzeug
der Wissenschaft versehener Rei-
sender ist es, sondern ein im besten
Sinne durch eigene Thatkraft ge-
wordener Mann, ein Sohn aus
dem Hamburger Bürgerstande,
heute noch ein thätiger, umsich-
tiger Kaufmann seiner Vaterstadt
und doch als Gelehrter von Fach
stuf beiden Seiten des Ozeans
hochangefehen.
Der Mann, von dem wir
reden wollen. Karl Wilhelm
Hermann Strebet, wurde am
1. Januar 1834 in Hamburg ge-
boren. Er besuchte die gewöhn-
liche Bürgerschule bis Ostern
1848, um dann die kaufmännische
Laufbahn zn ergreifen, wozu ihn
freilich mehr äußere Verhältnisse
als innere Neigung brachten.
Durch den Tod eines seiner beiden
älteren Brüder, die in Mexiko
als Kaufleute thätig waren, wurde
ihm noch in demselben Jahre angeboten, in dessen Stellung
einzutreten, und so verließ der erst Vierzehnjährige schon im
August des Jahres 1848 Hamburg, wurde aber durch
Schifsbruch an der Küste Ljnkatans längere Zeit in Cam-
peche zurückgehalten, so daß er erst am 1. Januar 1849 in
der Hauptstadt Mexiko ankam. Er verblieb daselbst bis
zum Jahre 1853, siedelte dann nach der Hafenstadt Vera-
cruz über, wo er 1857 mit der Leitung eines Handels-
Globus LIX. Nr. 2.
Hauses betraut wurde, sich verheiratete und bis 1867 ver-
blieb, um dann, in seine Vaterstadt zurückgekehrt, daselbst
Mitbegründer eines Handelshauses zu werden, in dem er
noch heute thätig ist.
Bei diesem, für Hamburger Bürgerssöhne des Mittel-
standes in den Hauptzügen typischen Lebenslaufe, bei dem
weder die Schulbildung noch das Leben im Auslande und
das Überwiegen Pekuniärer Inter-
essen, besondere Anregung zu
höheren geistigen Interessen dar-
boten, würde auch Strebel zu einer
Bethätigung an solchen kaum
vorgedrungen sein, wenn er nicht
auch im Auslande seine Liebe zur
Natur im ganzen und einzelnen,
seine Neigung zu künstlerischer
Thätigkeit durch entsprechende Aus-
nutzung seiner Mußestunden wach
gehalten hätte.
Mehr aber noch verdankt er
dem innigen Verkehr mit einem
geistig hoch entwickelten und viel-
seitig gebildeten Manne, dem um
die Kenntnis Mittelamerikas hoch-
verdienten Dr. Hermann Ve-
rend t, damals praktischer Arzt in
Veracruz, der während mehrerer
Jahre Strebcls Hausgenosse war
und ihm entscheidende Anregung
zu großer, günstiger Fortbildung
und mehr zielbewußter Verwertung seiner Thätigkeit gab.
Bcrendt verließ Veracruz mehrere Jahre früher als Strebel,
um nach Mittelamerika zn gehen, wo er später der amerika-
nischen Wissenschaft so wertvolles Material zuführen, ihr
leider aber zu früh durch den Tod entrissen werden sollte.
War cs zuerst ausschließlich das Sammeln von Konchylien,
ßch Strebel, anknüpfend an eine Liebhaberei der Knaben-
dem ^ecy ^utuei, umuu^|tuu uh cmc chwjuvu.»
jähre widmete, und an dem sich auch Berendt zeitweilig be-
3
13
Hermann Strebel.
teiligte, so trat doch nach und nach das Interesse an den
geographischen, sprachlichen und besonders den historischen
Forschungen Berendts (Alt-Mexiko betreffend) mehr in den
Vordergrund, das später ausschließlich herrschen sollte. Der
langjährige Aufenthalt Strebels im Lande, seine Reisen und
sein vielseitiger genauer Verkehr mit Eingeborenen ermöglichten
es ihm, reiche Sammlungen anzulegen und Beziehungen an-
zuknüpfen, die auch von Europa aus noch lebhaft unterhalten
wurden. Nach Hamburg zurückgekehrt, wurde von ihm als-
bald der Verkehr mit Fachleuten angebahnt und damit Ge-
legenheit gefunden, die Aufgaben und Methoden wissenschaft-
licher Forschung genauer kennen zu lernen und sich anzueignen,
so daß die wissenschaftliche Verwertung der reichen Samm-
lungen von ihm selbst in die Hand genommen werden konnte.
Daneben widmete sich Strebet dem wissenschaftlichen Leben
in den Vereinen seiner Vaterstadt, an deren Verwaltung er
mehrfach beteiligt war, und wo er durch Vortrüge das Inter-
esse für seine mexikanischen Studien und Erfahrungen zu
erwecken nnd lebendig zu erhalten wußte.
Eine Übersicht der hauptsächlichsten Arbeiten, welche
Strebel veröffentlicht hat, möge den Schluß dieser Skizze
bilden.
In den Jahren 1873 bis 1882 sind in Hamburg bei
I. G. Herbst die Beiträge zur Kenntnis der mexika-
nischen Land- und Süßwafser-Mollusken, 5 Hefte,
4", erschienen, welche zusammen 54 Bogen Text nnd 80 Tafeln
Abbildungen enthalten, die nach den eigenen Zeichnungen und
Photographiern des Verfassers hergestellt sind. An den
letzten beiden Heften beteiligte sich für den anatomischen
Teil Dr. Georg Pfeffer, jetziger Kustos ane Naturhistorischen
Museum in Hamburg. Diese Arbeit zeigt in dem ersten
Hefte noch große Zurückhaltung, später wächst mit dem
eigenen Zutrauen auch ihr Wert, so daß sie für das Studium
der mexikanischen Mollusken-Fauna ein notwendiges Hand-
buch ist. Für die Systematik wurden darin durch Berück-
sichtigung der Veränderlichkeit der Arten, wie sie nur an
einem großen Material zu Tage tritt, und eingehendes
Prüfen und Abschätzen aller am Organismus auftretenden
Merkmale gegenüber früherer Gewohnheit der beschreibenden
Fachleute manche neue Gesichtspunkte gewonnen. Die zu
Grunde liegende Sammlung ging in den Besitz des Natur-
historischen Museums in Hamburg über, als Strebel sich
ganz der Archäologie widmen wollte, zusammen mit einer
Sammlung einheimischer Land - und Süßwasser-Mollusken,
die Strebel in Hamburg zusammengebracht hatte und
worüber kleinere Mitteilungen in verschiedenen Fachblättern
erschienen sind.
Die erste größere Arbeit auf archäologischen! Gebiete
galt nun der Beschreibung von Material aus der für Europa
bisher einzig dastehenden Sammlung mexikanischer Alter-
tümer, welche unter dem Titel „Alt Mexiko, Archäolo-
gische Beiträge zur Kulturgeschichte seiner Be-
wohner" in zwei Teilen, groß 4°, 1885 und 1889 bei
Leopold Voß in Hamburg erschienen ist. Den etwa 38 Bogen
Text reihen sich 50 Tafeln Abbildungen in Lichtdruck nach
Photographiern Strebels, 3 Tafeln in Farbendruck nnd
26 Abbildungen im Texte an. Es sind im ganzen 3135 Stück
beschrieben, von denen aber nur 1690 abgebildet sind, weil
Doubletten unberücksichtigt bleiben konnten. Dem ersten
Teile ist noch eine Arbeit von Dr. N. Krause über Schädel
nnd eine andre von Pros. Dr. Ferd. Wibcl über Knochen-
reste ans Gräbern und chemisch-technische Untersuchungen
über keramische Erzeugnisse angehängt, da Strebel bestrebt
ist, überall, wo seine Kenntnisse nicht ausreichen, das Urteil
von Fachleuten einzuholen. So ist auch bei den Beschreibungen
der Erzeugnisse ans Stein mehrfach die petrographische
Bestimmung von Fachleuten eingefügt worden. Die be-
schriebenen Gegenstände vertreten über 70 Fundstätten,
welche zum größten Teile aus einer dem ersten Teile bei-
gegebenen Karte verzeichnet sind, in welcher Strebel außerdem,
soweit es ihm möglich war, die Verteilung der beiden in
jenen Gebieten herrschenden Jndianersprachcn zum Ausdruck
bringt. Der weitaus größte Teil dieser Funde hat durch-
aus zuverlässige Fundortsangaben, was bei älteren Samm-
lungen mexikanischer Altertümer selten der Fall ist, deren
wissenschaftliche Verwertung daher auch wenig nutzenbringend
sein konnte. Aber nicht nur dieser ersten und Haupt-
forderung entspricht das Strcbclsche Material, sondern
von manchen Fundorten sind neben der Fülle verschieden-
artigen Materials auch noch Angaben über die Verhältnisse,
unter denen das einzelne gesunden wurde, geboten, die zn-
saulmen mit den in den Text eingefügten Skizzen uns ein
anschauliches Bild der untergegangenen Kulturstätte bieten.
In der Einleitung zum ersten Teile und den Zusammen-
fassungen der Ergebnisse, welche beiden Teilen angefügt sind,
giebt Strebel seine Anschauungen über Aufgaben und
Methoden dieses Zweiges der amerikanistischen Forschung,
und in ihrem Sinne verwendet Strebel nur ausreichendes
Material für seine Schlußfolgerungen, alles andere minder-
wertige, besonders aus Einzelsunden bestehende Material vor-
läufig für solchen Zweck unberücksichtigt lassend.
Das Hauptergebnis der auf so gewissenhafter Methode
vollzogenen Arbeit sind zwei gut unterschiedene Kultur-
gruppen, welche in den in der alten Provinz Totonacapan
ansgefundenen Erzeugnissen zu Tage treten, und von denen
die eine sich an schon bekannte Kulturformen des Hoch-
plateaus, speziell Cholula, durch örtlich und sachlich ver-
mittelnde Formen anschließt. Die Bezeichnung dieser Kultur-
gruppen, Ccrro montoso und Ranchito de las Animas, hat
Strebel nach denjenigen Fundstätten gewählt, die für den
Typus das reichhaltigste Material liefern. Dafür, daß diese
Bezeichnung anstatt einer ethnisch bestimmenden gewählt
wurde, giebt Strebet ebenfalls seine Gründe in folgenden:
an. Der Arbeit ist eine Zusammenstellung der historischen
Überlieferungen über die Bewohner der hauptsächlich durch-
forschten Gebiete vorangestellt, deren Ergebnis dann uiit
denen der archäologischen Forschung verglichen werden.
Hieraus ergeben sich Widersprüche, über deren Ausgleich
Vermutungen aufgestellt werden, die aber zur Zeit keine
Entscheidung gestatten, welche Strebet erst dann endgültig
für möglich hält, wenn in gleicher Weise immer weitere Ge-
biete Mexikos und der angrenzenden Länder archäologisch
durchforscht sind und für die daselbst überhaupt vertreten
gewesenen Kultursormen ebenso feste Anhaltspunkte geboten
sind, wie Strebet sie jetzt für ein beschränktes Gebiet auf-
stellt. Zn bemerken ist noch, daß der in dieser Arbeit be-
schriebene Teil der Strebelschen Sammlung in den Besitz
des königlichen Museums für Völkerkunde in Berlin über-
gegangen ist.
Eine teilweise notwendige Ergänzung zu der eben ge-
nannten größeren Arbeit Strebels ist in Aufsätzen geboten,
die sich unter dem Titel 1) „die Ruinen von Cempo-
allan, 2) Mitteilungen über die Totonakcn der
Jetztzeit, 3) Ruinen aus der Misantla-Gegend"
in den Abhandl. des Natnrw.-Vereins in Hamburg, Bd. VIII,
Teil 1, befinden, wo hierher gehörige Pläne und Beschreibungen
von alten Bauwerken bei Cempoallan und in der Misantla-
Gegend gegeben werden, denen auch historische Überlieferungen
vorangestellt sind. Der Aufsatz über die Totonaken enthält
interessante Mitteilungen über Sprache, Sitten und Ge-
bräuche der jetzigen Indianer. Diese kleineren Arbeiten
fanden eine Fortsetzung unter dem allgemeinen Titel „Archäo-
logische und ethnologische Mitteilungen ans Mexiko", die
ebendaselbst in Bd. XI, Heft 1, erschienen sind.,
Dr. Mori; Hoernes: Zur Archäologie des Eisens in Nordeuropa.
19
Die letzte Arbeit Strebels ist im Internationalen Archiv
für Ethnographie, Bd. 111, beiden 1890, unter dem -Utd
„Studien über Steinjoche" erschienen. Strebel hatte
schon in „Alt-Aiexiko" gelegentlich der Beschreibung einiger
dieser interessanten und gemeiniglich unter dem Namen
Opferjoche bekannten Gebilde die Meinung ausgesprochen,
daß diese Bezeichnung eine falsche sei, mußte aber damals
die Begründung dieser Ansicht, so wie die richtige Deutung
vertagen, weil dazu ein größeres Material notwendig war.
Strebel hat sich inzwischen dieses Material beschafft und
bietet nun eine Studie dar, welche zuerst unter Anführung
der Belegstellen aus der maßgebenden Litteratur nachweist,
daß diese Steinjoche nicht in dem Sinne eines Gerätes bei den
Menschenopfern gebraucht sein können, und wie alle bisherigen
in diesem Sinne, wenn auch verschiedenartigen Deutungen
unbegründet sind, daher künftig aus der Litteratur ver-
schwinden sollten. Er beschreibt dann über 40 solcher ^tem-
soche, die auch zum größten Teile abgebildet werden und ver-
sucht nun an der Hand ihrer äußeren Merkmale und der Art
ihres Borkommens feste Anhaltspunkte für die Beantwortung
der Frage nach Bedeutung und Benutzungszweck zu gewinnen,
die er dann wie folgt zusammenfaßt. „Diese Steinjoche waren
Prunkstücke, welche als besondere Auszeichnung für bestimmte,
hochgestellte Persönlichkeiten, etwa höchste Rangstufen des
Priester- oder Militäradels dienten und diesen im Leben und
darüber hinaus als Totenbeigabe gemacht wurden. Die Be-
deutung dieser Steinjoche war eine allgemeinere, die in der
Joch- oder Bogenform liegt, und mehreren besonderen, die
in sich unterordnender Weise in den Skulpturen zum Aus-
druck kommen. Beide Arten der Bedeutung dienten zunächst
menschlichen Verhältnissen, mögen sich diese nun in weiteren
(Stammes) oder engeren (individuellen) Kreisen bewegen,
wobei nicht nur die Sagen über Abstammung, besondere
Schicksale und Erlebnisse, besondere Thaten, soziale oder-
religiöse Bauverhältnisse, sondern auch Beziehungen zu
Göttersagen und der Einfluß religiöser Anschauungen über-
haupt symbolischen Ausdruck fanden."
Es ist zu erwarten, daß wir von Hermann Strebel noch
weitere Arbeiten erhalten, die zur Aufklärung des mepikani-
schen Altertums beitragen werden.
Zur Archäologie des Eisens in llordeuropa.
Von Dr. INoriz Hoernes.
Schon bei Homer heißt das Eisen „mühevoll" (tcoXvk-
sryro§), und das kann sich nicht auf die Arbeit mit dem-
selben beziehen, welche vielmehr im Vergleich zur Arbeit mit
Bronze-, Kupfer- oder gar Steinwerkzeugen eine leichte ge-
nannt werden müßte; wohl aber paßt das Epitheton ans
die Gewinnung und Bearbeitung des Metalles selbst, welches
mit Ausnahme des Meteoreisens nur in vererztem Zustande
vorkommt und ebenso kräftiger als kundiger Hände bedarf,
um im Haushalte des Menschen die ihm gebührende Stelle
anzutreten.
Nur barer Unverstand wird sich die Frage vorlegen, o
das Eisen völlig unbekannt gewesen sei, als man — in de
verschiedenen Länderräumcn Europas, Asiens und Nordafrika
zu ungleicher Zeit — von der Bronze, immerhin mer!
würdigerweise, den ausgedehntesten Gebrauch gemacht ha
Ich finde, daß man mit Unrecht den ehrwürdigen alte
"Kamen der jüngsten Bronzeperiode ausgegeben hat und dafli
allgemein erste Eisenzeit sagt. Nur so kann die Frage gl
stellt werden: ob Länder, welche Metall erzeugten, zur Zc
der ausgebreiteten Bronzesabrikation neben diesem Erzeugn!
auch Eisen in einem nennenswerten Verhältnis hervorbrachte
oder verwendeten, und ob andre Länder, welche Metall nie!
erzeugten, neben der Bronze auch gleich Eisen durch die Eil
fuhr erhielten. Waren die Gewinnung und der Gebrau«
des Eisens in jenen ersteren Ländern sehr beschränkt, sl
den allgemeinen Kulturstand gleichgültig, und war die Eil
fuhr des Eisens nach jenen andern Ländern aus eben diesei
Grunde ungebräuchlich, so entsteht die weitere Frage: war
und wie das als Kulturmittel jüngere Metall neben d>
Bronze seinen Aufschwung genommen und im Handel ur
Gewerbe neben ihr seinen Platz errungen hat.
s olche chronologisch-kulturhistorische Feststellungen könn«
immer nur auf einem cngbegrenztcn Gebiet und nach d>
genauesten Untersuchungen gewagt werden. Es war cii
irrige Vermutung O. Schräders, daß zuerst unter d>
Beetallen das Eisen einen bedeutenden Einfluß aus d
Kulturverhältnisse des europäischen Nordens gewonnen hal
Er glaubt diese Annahme durch linguistische Zeugnisse stütz«
zu können und meint, die Archäologie sei hier „in d
schwierigen Lage, oft nicht entscheiden zu könenn, ob d>
Fehlen des Eisens in bestimmten Kulturschichten der U
bekanntschaft der Menschen mit demselben oder der zerstören-
den Macht der Zeit zuzuschreiben sei" (Sprachvcrgl. und
Urgesch., II. Ausl., S. 292). Diese Behauptung hört man
häufig von solchen, welche die Priorität des Eisens vor der
Bronze in Mittel- und Nordeuropa erweisen möchten. Sie
ist aber völlig grundlos und beweist mir nur, daß die be-
treffenden Autoren prähistorische Fundstätten frühmetalli-
schen Charakters entweder gar niemals oder wenigstens nicht
mit gehöriger Sorgfalt selbst ausgeschlossen haben. Wohl
konservieren sich die Eisensachen in der Erde viel schlechter
als die Bronzen; sie gewinnen nur zu oft ein trauriges
Ansehen von Zersetzung und Zerbröckelung, aber niemals
verschwinden sie ganz bis auf die letzten schlackenartigen
Eisenknöllchen und Rostspnren. Wer solche Anzeichen nicht
beachtet, der hat sich den Schaden selbst zuzuschreiben, darf
aber nicht der archäologischen Beobachtung überhaupt miß-
trauen. Man pflegt jetzt insgemein schärfer zuzusehen als
früher, und gerade die neuesten Untersuchungen haben das
Dasein einer reinen, eisenfreien Bronzeperiode auch für
solche Länder nachgewiesen, welchen man früher die Bekannt-
schaft mit dem Eisen gleich vom Beginn der Metallzeit
an zuzugestehen geneigt war.
Unter diesem Gesichtspunkt müssen wir die Daten be-
trachten, welche uns von Geschichtschreibern und Sprach-
forschern über das erste Auftreten des Eisens bei den Völkern
Europas beigebracht werden. Daß dem Heroenzeitalter
Griechenlands bronzene Waffen statt eiserner eigentümlich
waren, hat man durch das ganze Altertum hindurch als
sichere Thatsache festgehalten. So fanden sich aus der
Insel Skyros angeblich die Gebeine des Theseus. Wie
riesenhaft auch das Skelett des uralten Königs war, so diente
es doch zu erwünschter weiterer Bestätigung seiner Echtheit,
daß neben ihm eine Lanzenspitze und ein Schwert aus
Bronze lagen. Andre Beispiele von Heroenwassen aus Erz,
welche in Tempeln als Reliquien ausgehängt waren, citiert
Pausanias und vergißt nicht, das bekannte Zeugnis Homers
dafür geltend zu machen. Daß die Römer verhältnismäßig
schneller den Gebrauch der Bronze zu Waffen und Werk-
zeugen aufgaben, schließe ich aus zwei Gründen. Erstlich
behielten sie nicht, den Erznamen zur Bezeichnung des
Schmiedes sondern nannten ihn von Hause aus
8*
20
Prof. G. A. Wilken: Die Ehe zwischen Blutsverwandten.
Eisenarbeiter: faber ferrarius. Zweitens hielten sie die
Liguren im Nordwesten ihrer Halbinsel für ein Volk griechi-
schen Ursprungs, bloß weil sich dieselben noch in geschicht-
licher Zeit bronzener Lanzenspitzen bedienten. Man klagt
immer darüber, daß uns aus dem klassischen Altertum
so wenig Stimmen über die archaischen Kulturstufen der
mitteleuropäischen Bevölkerung geblieben sind. In den
häufigen Nachrichten über verirrte achaische oder flüchtige
troische Helden, die bald da bald dort einen Stamm, einen
Staat gegründet haben sollen, glaube ich eine solche Stimme
zu vernehmen, die allerdings nichts plastisch greifbares
aussagt, aber darum doch nicht unbesehen, wie man es jetzt
gerne thut, verworfen werden sollte. Die alten Autoren
kannten ihren Homer sehr genau, und wenn sie , irgendwo
Bronzewaffen, reichen Bronzeschmuck, vielleicht auch Streit-
wagen und dergleichen schöne altertümliche Dinge fanden,
so faßten sie sich kurz und ließen den Antenor oder Dio-
medes oder sonst einen der erbitterten Kämpfer für oder
wider Jlios dort als Pionier einer längst verschollenen Kultur
auftreten.
Noch sicherer wird die Unkenntnis des Eisens während
einer langen unzeitlichen Epoche, wenn wir uns den ^Nord-
völkern Europas, den Bewohnern des breiteren festländischen
Gürtels unsers Erdteils, zuwenden. Zu den zahlreichen
Thatsachen, welche durch archäologische Funde festgestellt sind,
treten hier auch geschichtliche Zeugnisse aus verhältnismäßig
später Zeit aus, die zum Teil recht merkwürdig, recht be-
herzigenswert sind. Noch Tacitus hebt die Seltenheit des
Eisens bei den Germanen hervor. Als Cäsar zuerst den
Fuß nach Britannien setzte, fand er dort seltsame Zustände.
Die Insel war außerordentlich dicht bevölkert; Vieh gab es
in Überfluß, auch Geflügel, das man zum Vergnügen hegte,
aber zu genießen für unerlaubt hielt. Anstatt Geldes ge-
brauchte man kleine Barren bestimmten Gewichtes von Erz
oder Eisen. Im Innern des Landes wurde Zinn, an der
Küste Eisen gewonnen. Die Ausbeute an letzterem war aber
sehr gering, und die Legierung des ersteren mit Kupfer verstan-
den die Einwohner nicht (oder nicht mehr), so mußten sie ihre
Bronze von auswärts beziehen: aere utuutar importato —
Jahrhunderte nach dem Beginne der Zinnausfuhr! Die da-
maligen Anwohner der britannischen Küsten waren keltische
Stämme, welche ans Abenteuerlust, wie später die Angel-
sachsen und noch später die Normannen, aus Gallien und
Belgien hinübergezogen waren und ihre heimischen Stamm-
namen beibehalten hatten. Sie trieben Ackerbau und hatten
iin Kriege Streitwagen. Im Innern der Insel wohnten
eingeborene Völkerschaften, welche kein Getreide bauten, son-
dern von Milch und Fleisch lebten und in Felle gekleidet
gingen. Dieses Kulturbild, das wir dem größten Manne
des Altertums verdanken, zeigt uns, wie langsam die An-
eignung fremder Errungenschaften in entlegenen Gebieten
der alten Welt vor sich ging (oder wie rasch sie wieder ver-
fiel), auch wenn es an den Bedingungen eines regeren Völker-
verkehrs, wie hier durch den Besitz der Zinngruben, nicht
fehlte.
Le och schlimmer sah es im Nordosten Europas ans.
Die Ästier, ein preußisch-lettischer Stamm, bedienten sich
noch hundert Jahre nach unsrer Zeitrechnung selten des
Eisens, häufig der Holzkenle; die Finnen befestigten um die-
selbe Zeit knöcherne Spitzen an ihren Pfeilen, weil sie kein
Eisen hatten (inopia ferri, Tac. Germ.). Eine höchst
merkwürdige, nahezu unbeachtet gebliebene Notiz überliefert
der byzantinische Geschichtschreiber Simocatta (VI, 2) aus
der Zeit der ersten Ausbreitung slavischer Stämme auf
europäischem Boden um 600 nach unsrer Zeitrechnung. Als
der oströmische Kaiser Mauritius im neunten Jahre seiner
Regierung (591 n. Chr.) bei seinem Heerzng gegen die
Avaren an den Ufern des Marmaramceres lagerte, wurden
ihm eines Tages drei unbewaffnete Männer fremdartigen
Ansehens vorgeführt, welche außer einem lautenartigen
Instrumente nichts mit sich führten. Sie sagten, sie wären
vom Volke der Slaven (deren südliche Stämme damals
schon mit Mord und Brand im Donaugebiet an die Pforten
des Reichs klopften) und hätten ihre Heimat an der äußer-
sten Grenze des westlichen Ozeans. ^ Ui öh r6 [iev s&vog
'¿cpaöav nscpvxEvcu U%laßy]vovg, ttqos tw rsp^icai
XE xov dvuxov coxrjvsvcu Qhemvov sagt der Histori-
ker ; gemeint ist doch wohl nur die Ostsee. Sie seien als
Gesandte zum Chan der Avaren gegangen, der auch ihren
Stamm zum Kriegszug gegen Byzanz aufgefordert habe.
Aber das wäre nicht nach ihrem Geschmack; ihre Beschäfti-
gung sei das Lautenspiel; sie verständen nicht den Körper
mit Waffen zu beladen. In ihrerHeimat kenne man das
Eisen nicht und bringe das Leben in Ruhe und Frieden
hin. Aus dieser Anekdote gewinnen wir Einblick in die
Verschiedenheit der Zustünde bei den nördlichen und südlichen
Slaven während einer sehr aufgeregten Zeit. Die Geschichte
zeigt uns die letzteren in den Strudel der Weltbegebenheiten
hineingerissen, voll wilder, roher Leidenschaften, die letzte
aber auch die härteste Geißel des europäischen Orients,
weil sie noch heute über demselben schwebt; — während die
ersteren angeblich noch nicht einmal das Eisen kennen gelernt
hatten und sich für die Aufforderung zur Teilnahme an
allen Gräueln der Verwüstung höflich aber entschieden unter
Lautenspiel bedankten. Überlegt man das, so wird man
vorsichtig, zu sagen: die Kelten, die Germanen oder die
Slaven besaßen um diese oder jene Zeit das eine oder andre
Metall, oder sie besaßen cs nicht. Denn so ist es im
Grunde mehr oder weniger zu jeder Zeit gewesen. Als die
Kelten nach 400 v. Chr. verheerend weite Lünderstriche
Europas durchzogen, warfen sie höhnisch ihr Schwert in
die Wagschale der zitternden Besiegten, und ihr junges
Eisen gab einem großen Teile des Kontinents für Jahr-
hunderte das Gesetz. Dabei blühte eine ihnen eigentümliche
Schmuckindustrie und Waffenschmiedekunst, deren Formen
weit über die Grenzen der keltischen Seßhaftigkeit hinaus
zur Herrschaft kamen. Und wenige Jahrzehnte vor dem
Beginn unsrer Zeitrechnung, als die Uhr der festländischen
Keltenherrlichkeit schon nahezu abgelaufen war, heißt es von
den Kelten Britanniens: sie lassen sich ihre Bronze von aus-
wärts besorgen. Dadurch werden wir, glaube ich, hinläng-
lich belehrt, in archäologischen Fragen mehr ans Kultur-
zonen als auf Völkergrenzen, mehr auf Fundthatsachen als
auf linguistische Zeugnisse zu achten.
Die <Lhe zwischen Blutsverwandten.
von Prof. G. A. wilken.
II.
„Die scheinen mit der leichtesten Mühe abzukommen, ; Michaelis in seiner 1768 veröffentlichten „Abhandlung von
die sich auf einen natürlichen Schauder (horrorem natura- den Ehegesetzcn Mosis". „Allein", so fährt dieser Schrift-
lem) für den allzunahen Heyrathen berufen", bemerkt schon steller in seiner eigenartigen Weise fort, „hoffentlich wird
22
Prof. G. A. Wilken: Die Ehe zwischen Blutsverwandten.
auch erlaubt sein zu fragen, ob wir denn wirklich einen
solchen natürlichen Trieb oder Abscheu haben? und es ist
nicht genug, ihn bloß vorzugeben. Die Untersuchung ist
auch leicht, denn soll etwas ein natürlicher Trieb sein, so
muß ihn jedermann bei sich deutlich wahrnehmen, ja er
muß sich nicht bloß bei diesem oder jenem finden, sondern
dem menschlichen Geschlechte allgemein sein: wo dies nicht
ist, da wird man ihn nicht für einen natürlichen Trieb,
sondern für eine Folge der Erziehung halten müssen." Nun
giebt es wirklich Völker — wir nannten oben bereits die
Perser, Ägypter und Peruaner — welche allgemein keine
Eheverbote kennen, ja Ehebündnisse in der allernächsten
Verwandtschaft zuließen. An eine Verschlechterung ist hier-
bei nicht zu denken; diese würde schwerlich in Überein-
stimulung zu bringen sein mit der hohen Stufe sittlicher
Entwickelung, woraus alle diese Völker — und es gilt dies
thatsächlich von den drei genannten — stehen. Wir haben
es hier mit primitiven Zuständen zu thun, wie jede Gesell-
schaft deren gekannt hat. Auf solche Vorzeit mit herrschen-
dem Inzest weisen denn auch die mythologischen Erzählungen
von Vereinigungen von Vater und Tochter, Mutter und
Sohn, Bruder und Schwester hin, worüber jeder sich leicht
Beispiele sammeln kann. Hier ist es Aufgabe darauf hin-
zuweisen, wie auch in den Sagen der Naturvölker oft von
solchen Ehen die Rede ist. So stammen die Alfuren der
Minahassa nach der Überlieferung von Lumimuut ab, die
sich mit ihrem Sohne Toar verband, während auch die
Kalangs aus Java und die Maser ans einer solchen Ver-
einigung von Mutter und Sohn hervorgegangen sind, und
die Savunesen ihre Abkunft von einem Bruder- und
Schwesterpaar ableiten. Und wiewohl nun diese und andre
ähnliche Erzählungen als Naturmythen erklärt werden, sind
sie daruul nicht minder ein treues Abbild der Sitten und
Denkart alter Zeit. Übrigens trifft man häufig genug auf
Gewohnheiten, die notwendigerweise aus einer Zeit stammen
müssen, als noch keine Eheverbote bestanden. Dahin ge-
hört, um nur ein charakteristisches Beispiel anzuführen, der
Brauch der Balinesen höherer Kaste, Zwillinge, wenn sie
verschiedenen Geschlechts, nach erreichter Mannbarkeit mit-
einander zu verheiraten. Wiewohl dieses heutzutage nicht
mehr geschieht, pflegt man doch noch solche Zwillinge Kembar-
buntjing, d. h. verlobte Zwillinge, zu nennen. Es liegt aus
der Hand, daß nur in einer Umgebung, wo Ehebündnisse in
der nächsten Blutsverwandtschaft erlaubt waren, ein solcher
Gebrauch auskommen konnte.
Abscheu vor Blutsverwandtenehen ist daher dem Menschen
von Natur aus nicht eigen. Dieses schließt nicht aus, daß
unter dem Einflüße des Verbots gegen solche Ehen der Ab-
scheu sich allmählich gebildet hat, und inzestuöse Vermengungen
aufgehört haben. Diese gelten daher auch nicht allein bei
den Kultur-, sondern auch bei vielen Naturvölkern, so z. B.
im Indischen Archipel, als ein schweres Verbrechen gegen
die gute Sitte. Hat eine solche Verbindung stattgefunden,
dann ist das Land besudelt und nur der Tod der Schuldigen
kann die Schmach ablöschen. Mißrät irgendwo die Ernte,
schreibt Kooreman von den Makassaren und Buginesen, so
ist dieses ein sicheres Zeichen, daß ein Inzest vorgekommen
ist und die Geister beleidigt sind. Als z. B. 1877 und
1878 der Westmonsun ganz ausblieb, der Reis nicht gedieh,
lausende von Büffeln der Viehseuche erlagen, befand sich im
Gefängnisse zu Takalar, wo Kooreman als Kontrolleur an-
gestellt war, ein Sträfling, der früher wegen Jnzests be-
schuldigt war. Ein Teil der Bevölkerung des Distrikts,
dem der Verbrecher angehörte, verlangte dessen Auslieferung,
da nach der allgemeinen Überzeugung des Elends kein Ende
sein würde, wenn der Schuldige nicht seine gerechte Strafe
erlitten haben würde. Ich hatte alle meine Überredungs-
gabe nötig, sagt Kooreman, um die Leute zu bewegen, in
ihre Dörfer zurückzukehren, und als der Verurteilte kurz
darauf, wegen Ablauf seiner Strafzeit, entlassen wurde, gab
ich ihm Gelegenheit, mit einer Prau zu entfliehen, da er sich
im Lande nicht mehr sicher fühlte.
Durch die höheren Mächte wird also die Bestrafung
derjenigen verlangt, die einen Inzest begangen haben. Diese
Bestrafung besteht bei den meisten Völkern im Indischen
Archipel im Ersäufen der Verbrecher, die zusammen in
einem Sacke oder Korb mit Steinen beschwert ins Wasser
versenkt werden. Sind cs fürstliche Personen, die sich so
vergangen haben, so werden sie, wenigstens bei den Buginesen,
auf ein Floß ans Bananenstengeln gesetzt und so ins Meer
getrieben. Auch das lebendig Begraben und lebendig Ver-
brennen kommt bei einigen Stämmen als Strafe des Inzestes
vor. Bei den Pasemahers in den Palembangschen Hoch-
landen von Sumatra wurden die Schuldigen, Glücken an
Rücken gebunden, in eine tiefe Grube gethan und einem
jeden ein hohles Bambusrohr in den Mund gesteckt, das
mit der Luft in Verbindung stand. Wenn nach sieben
Tagen die Grube geöffnet wurde und einer der Verurteilten
noch nicht tot war, so war ihm das Leben geschenkt I. Zu-
weilen, so bei einigen Dajakstämmen, wird aber die Todes-
strafe nicht ausgeführt. In diesem Falle muß ein Büffel
geopfert werden, den man schlachtet und dessen Blut man
in die Runde spritzt, auch ein wenig gegen die Sonne, da-
mit diese nicht mehr zürnt. Aus dem Fleisch wird ein
Versöhnnngsmahl zugerichtet, an dem die Gemeinde und
auch die Schuldigen teilnehmen. Diese letzteren müssen
dabei noch einen eigenen Schimpf über sich ergehen lassen.
Die für sie bestimmten Speisen werden nämlich in einen
bereits gebrauchten Schweinetrog gethan, gegen den einer
der Anwesenden klopft, in derselben Art, wie die Schweine
zum Füttern durch Klopfen gerufen werden. Ans dieses
Klopfen hin muß das schuldige Paar sich nach dem Troge
begeben und daraus essen. Die Bedeutung dieses Schimpfs
ist deutlich genug.
So verschieden die Gesetze gegen Heiraten in der Ver-
wandtschaft bei den Naturvölkern auch sind, entdeckt man
doch bei näherer Prüfung einige allgemeine Regeln, die des-
halb eine besondere Beachtung verdienen. Hierhin gehört
an erster Stelle die Exogamie, nämlich das Verbot des
Heiratens im Staulme. Wo diese Einrichtung besteht, ist
es niemandem erlaubt, ein Mädchen aus dem eigenen
Stannne zu heiraten, er muß sich ein solches aus einem
fremden nehmen. Ein Beispiel hierfür wurde bereits oben
bei den Australiern vom Coopers-Creek angeführt, ebenso
gehört hierher die Sitte der Chinesen, keine Person zu
heiraten, die denselben sing- oder Familiennamen trügt,
übrigens trifft man diese Einrichtung bei sehr vielen Völkern
in verschiedenen Gegenden der Erde, z. B. im Indischen
Archipel auf Sumatra bei Atalayen und Bataks. Beide
Völker sind in eine Anzahl Stämme geschieden, die bei
ersteren suku, bei letzteren marga heißen, jeder mit eigenem
Namen. Den Suku- und Markagenossen ist es verboten,
untereinander zu heiraten oder Gemeinschaft zu haben,
denn dieses wird als Inzest betrachtet. Bei den Bataks
werden die Schuldigen getötet und aufgefressen, eine Strafe,
die, wie bekannt, bei diesem Volke aus einigen schweren Ver-
gehen steht.
Es hat nicht an Mutmaßungen über den Ursprung der
merkwürdigen Sitte der Exogamie gefehlt. Lubbock sucht
sie ans der Hypothese einer ursprünglich kommunalen Ehe
zu erklären. Älle Frauen des Stammes waren anfangs
ff G. A. Wilken, Hst stralrecht bij de volken van den
Indischen Archipel, 33.
Prof. G. A. Milken: Die Ehe zwischen Blutsverwandten.
23
allen Männern gemeinsam; niemand konnte daher eine
Frau aus dem Stamme für sich allein haben, mit ihr eine
individuelle Ehe eingehen, denn dadurch würde er die Rechte
anderer beeinträchtigt haben. Hier war, um mit Proudhon
zu reden, Eigentum Diebstahl. Doch mit einer ans fremdem
Stamme geraubten Frau war dieses nicht der Fall. Ans
eine solche Frau hatte der Stamm kein Anrecht und der-
jenige, der das Weib sich geraubt, konnte es für sich allein
behalten. Durch die Macht der Gewohnheit blieb das
Heiraten außerhalb des Stammes bestehen, auch als die
Notwendigkeit dafür nicht mehr vorhanden war, womit zu
gleicher Zeit sich ein Vorurteil gegen das Heiraten inner-
halb des Stammes heranbildete. So entstand die Exo-
gamie. Indessen ist der Ausgangspunkt Lubbocks nicht
sicher, denn die Hypothese einer ursprünglichen kommunalen
Ehe steht ohne vollgültige Beweise da.
Anders erklärt daher auch Mac Lennan die Exogamie.
Nach diesem Forscher soll der Kindermord (von Mädchen)
hierzu Anlaß gegeben haben, wodurch die Frauen im
Stamme selten werden und die Notwendigkeit entsteht, sich
Weiber aus einem andern Stamme zu nehmen. Nun
kommt noch heute Kindermord bei rohen Völkern vor und
in früheren Zeiten war derselbe noch viel weiter verbreitet.
Die Ursache war sicher die, daß die Wilden bereits früh die
Unmöglichkeit einsahen, alle Kinder, die geboren wurden, zu
unterhalten, und da ist es auch erklärlich, daß sie thatsächlich
dazu kamen, mehr Mädchen als Knaben zu töten. Tapfere
Krieger und kühne Jäger waren, wie Mac Lennan betont,
für den Stamm von großem Nutzen und daher hoch geachtet;
es war daher von Belang, gesunde, kräftige, männliche
Kinder aufzuziehen. Frauen aber gereichten dem Stamme
nicht zum Vorteil, sic waren nicht im stände, sich selbst zu
unterhalten und zum allgemeinen Wohlsein beizutragen.
Außerdem waren sie ein Duell der Versuchung für andre
Stämme. Zuviel Mädchen aufzuziehen laugte also zu
nichts, und so kam man darauf sie zu töten. Ein Beispiel
dafür finden wir bei den alten Arabern, bei denen man dic
Mädchen nach der Geburt lebendig zn begraben pflegte
was sogar in Sprichwörtern gepriesen wird: „Lebendig-
begraben der Töchter gehört zu den edlen Thaten." Dieses
Lebendigbegraben der Mädchen geschah, wie die Kommentar!
zum Koran erkennen lassen, teilweise um sich der Sorger
der Erziehung zu entledigen oder auch um — bei den zahl-
reichen Stammcsfehden — die Mädchen vor Gefangenschaft
und Entehrung zu bewahren. Erst durch Mohamcd würd«
dieser Gebrauch abgeschafft I. Ist cs so nicht zu verkennen
daß der Kindermord mehr beim weiblichen als beim männ
lichen Geschlechte ausgeübt wird, so ist cs eine andre Frage
ob dieses, wie Mac Lennan will, eine Verminderung de:
Weiber im Stamme verursacht, und die Antwort hieran
kann nicht anders als verneinend lauten. Jedoch hat e,
Mac Lennan versäumt, hier mit einer allgemein gültiger
Thatsache zn rechnen, die den Namen eines wesentlicher
sozialen Naturgesetzes verdient, nämlich, daß obgleich ir
federn Jahre mehr Knaben als Mädchen geboren werden
doch die Frarren überall rrnd zn allen Zeiten einen größerer
Teil der Bevölkerung ausmachen als die Männer. Diese
scheinbare Widerspruch wird dadurch gelöst, daß in der
ersten Lebensjahren die Sterblichkeit bei den Knaben größe
als bei den Mädchen ist und ferner dadurch, daß die er
wachsenen Männer weit mehr Gefahren als die Frauei
ausgesetzt sind, wie dieses Darwin in seinem Pescent o
man hervorhebt. Auch bei rohen Völkern gilt sicher diese-
Gesetz, ja, wenn man die Bemerkung Darwins im Aug
behält, ist es bei ihnen noch eher zu erwarten als bei Ge-
bildeten. Bei Wilden, die untereinander stets im Kriege
sind, dic mit allerlei Mühseligkeiten zu kämpfen haben, nur
rnu sich die notwendigsten Bedürfnisse zu verschaffen, ist die
Sterblichkeit der Männer weit größer als die der Frauen.
In der Gesellschaft der Wilden besteht daher auch ein
natürlicher Überschuß der Frauen über die Männer. So
sagt Morgan von den nordamerikanischcn Indianern: The
femáis are iisnally more numerous than the males
from the destruction of the latter in war. In some
nations, as the Blackfoot and the Shiyann, they are
said to he two to one*). Wurden so — um auf das
vorangehende den Fall von Kindermord anzupassen —
Mädchen getötet, während Knaben am Leben blieben, so
hatte dieses höchstens zur Folge, daß das Verhältnis zwischen
den Geschlechtern gleich blieb, in einigen Fällen konnten die
Männer das Übergewicht über die Frauen erlangen, doch
sicher entsprang daraus uidst eine Seltenheit der Frauen.
Die Folgerung Mac Leuirans ist daher unrichtig und seine
Erklärung der Exogamie zu verwerfen. Doch auch an-
gcnorumen, daß gegen die Folgerung nichts einzuwenden
sei, so kann rrran doch die Erklärung nicht annehmen, da
sie einen Widerspruch in sich enthält. Mag auch der
Mädchenrnord zur Spärlichkeit der Werber im Stamme
und darrrit zur Exogamie führen, so rrracht doch derselbe
Mord, in einem andern Starrrrrie ausgeübt, dieselbe bei der
darrrit verursachten Spärlichkeit der Weiber wieder un-
möglich.
Können sorriit weder Mac Lenuans noch Lubbocks
Theorien vor der Kritik bestehen, so ist dieses noch weniger
bei Morgan der Fall. Nach diesem 2), und Maine stimmt
ihm darin bei'), muß die Exogamie als eine Reforrnrnaß-
regel erklärt werden, durch welche den Ehen zwischen Bluts-
verwandten ein Ende bereitet wird, nachdem man erkannt
hatte, daß sie schädliche Folgen hatten. Angenommen ein-
mal, daß wirklich schädliche Folgen bestanden urid daß der
Urmensch diese erkannt hatte, so bleibt doch von diesem
Gesichtspunkte aus die Exogamie unerklärt. Wenn Mann
und Frau aus verschiedenern Stamme, so sind nur zwei
Dinge möglich: entweder folgen die Kinder dem Stamme
des Vaters oder dem Stamme der Mutter. In dem ersten
Falle, in welchem der Vater die Stammeszngehörigkeit bc-
stirrrmt, gehören allein die Abkömmlinge in der männlichen
Linie zum Stamme, sind Glieder des Stammes diejenigen,
die ihre Abkunft ausschließlich in der Linie von demselben
Stammvater ableiten. Im andern Falle, wobei die Mutter
die Stammeszugehörigkeit bestimmt, gehören allein die Ab-
kömmlinge in der weiblichen Linie zum Stamme, sind die-
jenigen Glieder des Stammes, die ihre Abkunft ausschließ-
lich in dieser Linie von derselben Stamruesmutter ableiten.
Man sieht also, daß durch die Exogamie selbst eine Ver-
mindernng in der Zusammensetzung des Stamrucs hervor-
gerufen wird, wodurch die Absicht vereitelt wird, mu derent-
willen sie gerade ex hypothesi eingeführt wurde. Nicht
alle konsanguinären Ehen werden dadurch verhütet, sondern
allein die in der Gruppe der Abstarnruungen der männ-
lichen oder der weiblichen Linie. .Komrrrt man außerhalb
dieser Gruppe, dann sind Ehebündnisse in der allernächsten
Verwandtschaft möglich. Daß sie auch wirklich stattfinden,
wollen wir an ein paar Beispielen erläutern.
Matriarchat heißt die auf die Mutterschaft begrün-
dete Stammeseinrichtung, wie diejenige, welche die Vater-
schaft zur Grundlage hat, Patriarchat genannt wird.
'J ü «. A. Willen,
hieren 36.
Bet rnatriarchaat hi; de onde Ara-
1) Morgan, Systems of consanguinity etc. 477.
21 A. ci. Q. 484, 490.
3) Maine, Dissertations on early law and custom, 227.
24
A. Sauer: Gegenwärtiger Stand der Lößfrage in Deutschland.
Es liegt auf der Hand, daß beim Matriarchat Halbbrüder
und Halbschwestern von Vatersseite, Kinder desselben Vaters,
doch von verschiedenen Müttern, weil sie von verschiedenen
Stämmen sind, sich miteinander verheiraten können. In
der That findet sich diese Art von Ehebündnissen bei ver-
schiedenen Völkern, selbst bei denen, welche die Exogamie schon
aufgegeben oder aus eine kleine Unterabteilung des Stammes
beschränkt haben. Bei den Howas von Madagaskar sind
Ehebündnisse zwischen Abkömmlingen in der weiblichen
Linie bis ins sechste Glied nicht erlaubt. Bruder und
Schwester können sich einander ehelichen, nur dürfen sic
nicht dieselbe Mutter haben; ein Fall, für den cs bei den
Völkern des Altertums gleichfalls nicht an Beispielen fehlt.
Als Solon zu Athen die Ehe mit einer Halbschwester von
Vatersseite zuließ, die mit einer Halbschwester von mütter-
licher Seite aber verbot, bestätigte er einfach einen noch aus
der Zeit, da Exogamie und Matriarchat herrschten, übrig
gebliebenen Brauch. Ganz so finden wir bei den alten
Hebräern Ehen mit Halbschwestern von väterlicher Seite als
Überbleibsel ursprünglicher Exogamie mit Matriarchat.
Nöldeke weist, zur Bestätigung der Allgemeinheit solcher
Ehen, auf den oft im Hohen Liede vorkommenden Ausdruck
„Meine Schwester, o Braut!" hin. Jedenfalls klingt das
wunderbar und Schwesterliebe Pflegt man doch anders zu
bezeichnen als in der naiv-sinnlichen Art, wie die Liebe
zwischen Mann und Frau im Hohen Liede dargestellt wird.
Sieht man sich aber danach um, was anderwärts geschieht,
so findet man eine Erklärung dafür. Wie wir oben schon
sahen, heiratet der Araber mit Vorliebe seine bint-amrn,
d. h. Tochter vom Vatersbruder, und benennt so auch seine
Geliebte, selbst wenn sie nicht in diesem Verwandtschafts-
Verhältnisse zu ihm steht. Auf dieselbe Art ist boru-ni-
datulang, d. h. Tochter vom Mutterbruder, bei den Bataks
die Bezeichnung für die Geliebte geworden, weil man ge-
wohnt war, diese Verwandte zu heiraten. Wenn daher im
Hoben Liede die Braut „Schwester" genannt wird, so weist
dieses auch darauf hin, daß man bei den alten Hebräern
Halbschwestern zu freien Pflegte, wie die Beispiele ja auch
lehren. So war Sara eine Halbschwester Abrahams.
„Auch ist sie wahrhaftig meine Schwester, denn sic ist
meines Vaters Tochter, aber nicht meiner Mutter Tochter
und ist mein Weib geworden ft." Tamar hätte den Amnon
heiraten können, wiewohl sie gleich diesem ein Kind Davids
war, aber eine andre Mutter hatte. „Rede mit dem
Könige, der wird euch dies nicht versagen", sprach sie2).
Noch in späterer Zeit müssen solche Verbindungen vor-
gekommen sein, denn Hesekiel 3) verwies dieses seinen Lands-
leuten und erst nach der Verbannung wurden sie in der
priesterlichen Gesetzgebung verboten ft.
Anfangs waren somit Ehen in der weiblichen oder in
der männlichen Linie ausgeschlossen, je nachdem dem
Matriarchat oder Patriarchat gehuldigt wurde. Von diesen
i) Genesis XX, 12. — 2) 2 Samuel XIII, 13. — 3) Hcse-
fiel XXII, 11. — 4) Levit. XVIII, 16 und XX, 21.
beiden Stammeseinrichtungen ist das Matriarchat das ur-
sprünglichere. Die Thatsache, daß die Frau die Abstammung
regelt, daß das Kind als der Mutter und nicht dem Vater
gehörig betrachtet wird, mag oberflächlich betrachtet als
sonderbar erscheinen, so ist cs dieses doch keineswegs und
hat seine natürlichen Gründe. Diese liegen einesteils in
der Unsicherheit der Vaterschaft, oft selbst in einer besser
geordneten Gesellschaft, als jene war, in welcher die Ein-
richtung des Matriarchats seinen Ursprung genommen haben
muß. Ohne selbst eine völlig ehelose Vorzeit anzunehmen,
wie dieses einige thun, kann man doch mit gutem Grunde
sagen, daß die Ehebande anfangs nicht die festen Formen
besaßen, die wir jetzt kennen. Wie dieses jetzt noch bei
vielen Naturvölkern der Fall, muß die Beziehung zwischen
Mann und Frau ursprünglich von keiner dauernden Art
gewesen sein. Bei solchem Stande der Dinge kann das
Erzeugnis nur allein der Mutter angehören. Andrerseits
kommt zu dieser Unsicherheit der Vaterschaft die urwüchsige
Anschauung von dem Prozeß der Befruchtung, welche zur
Aufrechterhaltung, wenn nicht einigermaßen zum Entstehen
des Matriarchats mitgewirkt hat. Wilde können natürlich
nicht die richtige Vorstellung von diesem Prozesse haben, die
wir davon besitzen und das positive Wissen, daß dadurch das
Kind die Eigenschaften von beiden Eltern erbt, beiden dem
Blute nach gleich steht, ist bei ihnen schwerlich zu erwarten.
Im Gegenteil, die für jedermann sichtbaren physischen
Bande, welche die Nachkommenschaft an die Mutter bindet,
muß den Wilden zu der Meinung bringen, daß die Frau
bei der Zeugung von größerer Bedeutung ist, als der Mann,
daß das Kind dadurch mehr die Eigenschaften von der
Mutter und den mütterlichen Verwandten hat, als vom
Vater. Als Beleg hierzu können wir auf die Araber ver-
weisen. Nach der bei ihnen bestehenden Anschauung hat
niemand den Charakter von seinem Vater, wohl aber von
seinem Chal, seinem Oheim mütterlicherseits. Allein von
diesem hat er den Trieb geerbt, Gutes oder Böses zu thun.
Beim Anhören einer Erzählung von einer guten oder bösen
That ist cs denn auch eine gewöhnliche Erscheinung, daß cs
nicht der Thäter selbst ist, der deshalb gepriesen oder getadelt
wird, sondern sein Chal. Daher die vielfach vorkommenden
Ausrufe „Gott segne seinen Chal!" und „Gott verfluche
seinen Chal!". So sagt auch ein arabisches Sprichwort:
„Wenn jemand sittlich zu Grunde geht, gehört er zu zwei
Dritteln seinem Chal." Damit soll gesagt sein: Zwei
Drittel seiner Schlechtigkeit hat er von seinem Oheim und
ein Drittel durch sich selbst ft. Wilde werden die Frage, ob
das Kind mehr der Mutter oder dem Vater gehört, selbst-
verständlich im ersteren Sinne beantworten. Ajam djantan
tida berte lor, d. h. ein Hahn legt keine Eier, sagt daher
auch der Malaye von Sumatra zur Erklärung der bei ihm
bestehenden matriarchalen Einrichtungen ft.
*) G. A. Willen, Ilet matriarchaat bij de oude Ara-
bieren 30.
2) G. A. Willen, He verbreiding van bet matriarchaat
op Sumatra 11, 19 ff.
Gegenwärtiger Stand der Lößfrage in Deutschland.
Von A. Sauer, Landesgeolog.
Die besonders in den letzten beiden Jahrzehnten auf dem
Gebiete der Diluvialforschung lebhaft entfaltete Thätigkeit
der Geologen hat wiederum eine Frage in den Vordergrund
der Erörterung gerückt, welche, wie wenig andre in der
Geologie, die allervcrschicdenstc Beantwortung erfahren hat.
Das ist die Frage nach der Entstehung des Löß.
Typischer Löß ist ein so charakteristisches und gleich-
zeitig so einförmig entwickeltes Gebilde, daß es überaus
leicht ist, einmal bekannt damit, dasselbe stets wieder zu
erkennen, mögen die Proben desselben aus China, Persien,
Galizien, Böhmen, Sachsen, Thüringen oder dem Rhein-
thalc stammen. Man ist sich demzufolge gegenwärtig, trotz
A. Snucr: Gegenw
grtiaer Stand der Lößsrage in Deutschland.
25
der abweichendsten Ansichten über die Entstehung des Löß,
vollständig klar darüber, was man in petrographischer Hin-
sicht unter Löß zu verstehen habe. Löß ist ein diluvialer,
kalkhaltiger, gleichmäßig-seiner, lichtgelber, mehlartig ab-
färbender Lehm, der außerdem durch eine bestimmte Land-
schneckcnfauna gekennzeichnet ist. Sowohl zahlreiche ihn
durchziehende feinste Kanälchen als auch eine lockere, säst
tuffartige lose Aneinandcrfügnng seiner mineralischen Be-
standteile, befähigen den Löß, Wasser leicht in sich aufzu-
nehmen und durchzulassen. Seiner mineralogischen Zu-
sammensetzung nach kann man den Löß als einen überaus
feinen mäßig mit Thonsubstanz und mit mehr oder minder
stark verwitterten Silikatteilchen gemischten, kalkhaltigen
Quarzstaub bezeichnen, dessen Korngröße etwa zwischen
0,05 bis 0,01 mm liegt.
Trotz vielfacher gegenteiliger Angaben ist hervorzuheben,
daß die Form der Quarzkörner nicht die rein eckig-splitterige,
sondern durchweg deutlich kantengerundete, zuweilen voll-
kommen runde ist. Vermöge seiner überaus günstigen
Physikalischen Eigenschaften mit bezug auf Kapillarthätig-
keit, Erwärmungsfähigkeit und Durchlässigkeit liefert der
Löß für die Pflanzenkultur geradezu einen Normalboden.
Seine mürbe und lockere Beschaffenheit, welche der Bear-
beitung mit den einfachsten Gerätschaften die geringsten
Hindernisse entgegenstellt, war jedenfalls nicht ganz ohne
Einfluß auf die Entwickelung und Ausbreitung des Acker-
baues.
Die erste wissenschaftliche Untersuchung über Löß gab,
wie bekannt, Alexander Braun schon im Jahre 1823, und
zwar über solchen des Rheingcbietcs. Bon dort stammt
auch die Bezeichnung: „Löß" (offenbar von los, locker ab-
zuleiten). Seit jener Zeit hat man sich viel mit der Unter-
suchung des Löß beschäftigt, wichtige Beiträge für seine
Zusammensetzung und Verbreitung über der Erdoberfläche
geliefert, aber auch die verschiedensten Ansichten über seine
Entstehung ausgesprochen. Wenn man von den der neueren
und neuesten Zeit angehörigen Anschauungen von Richt-
hofens und Nehrings über die Entstehung des Löß absieht,
so gingen alle anderen Versuche, die Bildung des Löß zu
gingen ane anoerrn ^crynepc, oee -ouuuny viv gi
erklären, von der Voraussetzung aus, daß hierzu die Mit
Wirkung von Wasser in irgend einer Art als Hauptfaktor
nötig gewesen sei. llnd so hat man dem Löß nacheinander
jede nur mögliche Art der sedimentär wässerigen Entstehung
zugeschrieben; man betrachtete ihn als Ablagerung eines
Seebcckcns, ja sogar als eine Art Brackwasserbildung, als
Hochflutschlamm von Flüssen, als Niederschlag der Gletscher-
trübe in einem Staubecken, als ein durch Schlagregen aus
der diluvialen Grundmoräne ausgespültes Erzeugnis, ja
selbst als unmittelbares Verwitternngsprodukt älterer Ge-
steine (z. B. glaukonitischer Sandsteine). Daß die Ansichten
über die Entstehung des Löß hauptsächlich in dieser Richtung
sich entwickelten, darf nicht wundernehmen, wenn man be-
rücksichtigt, daß die Erörterung vom Rheingebiet ausging
und immer wieder anknüpfte an die Lößablagerungen des
Rheingcbietcs, wo allerdings neben echtem Platcanlöß
zweifellos sluviatil geschichtete, dem Löß überaus ähnlich
werdende und allmählich in Löß übergehende, strichweise
ziemlich mächtige Bildungen vorkommen. Man übersah
jedoch dabei oder erachtete für unwesentlich, daß die ge-
schichteten Löße eine gemischte Land- und Süßwafserschnecken-
fanna, die typischen Plateaulöße aber ausschließlich Land-
schnecken führten, daß also beide Ablagerungen schon in dieser
Hinsicht streng auseinander zu halten seien.
Mit den Epoche machenden Forschungsresultaten von
Richthofens über den chinesischen Löß und. den fast gleich-
zeitig und unabhängig davon durch Nehring gewonnenen
Ergebnissen der Untersuchungen über die hu Löß von Qycde
Globus LIX. Nr. 2.
und Westeregeln eingeschlossene Wirbelticrfauna wurden
neue große Gesichtspunkte für die Vorgänge am Schlüsse
der Dilnvialzeit gewonnen. Ein nach seinen Wirkungen
bisher gänzlich unterschätztes geologisches Agens, der Wind,
wurde für die Geologie entdeckt. Mit überzeugender Klar-
heit lieferte von Nichthosen für die ungeheuren 500, ja
bis 700 m mächtigen Lößablagerungen Chinas den Nach-
weis, daß dieselben fast ausschließlich durch Windthätigkeit
aufgehäuft seien und es sah sich Nehring nach dem Charakter
der Wirbeltierfanna von Thiede und Westeregeln zu dem
Schlüsse gedrängt, daß zur Zeit der Lößbildung in Deutsch-
land ein Steppenklima geherrscht haben müsse.
Obwohl nun Richthofen seine in China gewonnenen
Anschauungen über die Entstehung des Löß auch ans die
deutschen, beziehungsweise europäischen Vorkommnisse über-
tragen zu müssen glaubte, fand die Richthofcnschc Theorie
unter den Geologen selbst, die sich vorübergehend oder
speziell mit Lößstndien beschäftigten, merkwürdigerweise wenig
Anklang, ja man hielt, zäher den je, an der fluviatilcn Ent-
stehung des Löß fest. Tietze, einer der wenigen Anhänger
der Richthofenschcn Theorie unter den Geologen, der aus
Grund seiner Untersuchungen in den großen galizischen
Lößgebieten auf das durchaus Unwahrscheinliche einer fluvia-
tilcn Entstehung des Löß in den dortigen Gebieten wieder-
holt hingewiesen hatte, sagt scherzweise, doch mit Recht , cs
spräche aus den Schriften mancher Geologen die Über-
zeugung heraus, „für Asien und die Chinesen sei die
Theorie von der subaörischen Entstehung des Löß gerade
gut genug, für das nur so viel länger und genauer studierte
Mitteleuropa brauche man dergleichen Hypothesen nicht".
Daß man die deutschen Lößablagcrungcn, selbst die viel-
fach untersuchten des Rhcinthalcs aber entfernt nicht so genau
kannte, als cs den Anschein hatte und es nötig war, um ein
sicheres Urteil über die Entstehung des Löß zu gewinnen,
beweisen mehrere, unlängst erschienene Abhandlungen, aus
welchen hervorgeht, daß für die deutschen Löße dasselbe gilt
wie für die chinesischen, d. h. daß beide im wesentlichen
Produkte äolischer Thätigkeit sind.
Es dürfte auch für weitere Kreise von Interesse sein, die
Beobachtungen in Kürze kennen zu lernen, welche zu diesem
Resultate geführt haben. Die hier zu besprechenden Arbeiten
sind chronologisch nach ihrem Erscheinen geordnet die fol-
genden:
1. A. Sauer: Über die äolische Entstehung des Löß
am Rande der norddeutschen Tiefebene (Bortrag, gehalten
auf der 62. Versammlung deutsch. Naturf. u. Ärzte, Heidel-
berg, September 1889. Ztschr. s. Naturw., 1889, Bd. 62,
1 bis 28).
2. A. Sauer und C. Chelins: Die ersten Kanten-
geschiebe im Gebiete der Rhcinebcne und: Zur Lößfrage.
Neues Jahrb. f. Mineralogie :c., Mai 1890, Bd. II. Bricfl.
Mitt., S. 1 bis 8.
3. E. Schumacher: Die Bildung und der Ausbau
des oberrheinischen Tieflandes. Milt, der gcol. Landes-
untersnchnng von Elsaß-Lothringen. 1890 (September),
Bd. II, S. 194 bis 401.
4. C. Chelins und C. Vogel: Zur Gliederung
des Löß. Neues Jahrb. f. Mineralogie, 1890. (Briefs.
Mitt. vom 15. Okt.)
Die erstgenannte Abhandlung bezieht sich auf das zwischen
Meißen und Lommatzsch ostwestlich sich ausdehnende, so-
genannte Elblößgebiet des nördlichen Sachsens, welches immer
als ein Typus sluviatil entstandener Lößablagcrungcn an-
gesehen wurde. — Der Löß besitzt hier die bekannte typische
Ausbildung und Mächtigkeiten bis zu 20 m. Die Form
seiner Ouarzkörncr ist nicht eckig-splitterig, sondern deutlich
gerundet. Lößkindel sind weit verbreitet, ebenso die be-
26
A. Sauer: Gegenwärtiger Stand der Lößfrage in Deutschland.
kannten drei Lößschnecken (Helix hispida, Pupa muscorum,
Succinea oblonga), die letzteren doch nicht völlig gleich-
mäßig, auch nicht in Zeilen, d. h. in Schichten angereichert,
vielmehr unvermittelt an einer Stelle der Lößablagernng
unb dann gleich in großer Häufigkeit und durch die ganze
Mächtigkeit des Löß an der betreffenden Lokalität auftretend.
Demgemäß stellt das Verbreitungsgebiet schneckenführen-
der Lößparticen gewissermaßen pfeilerartige Durchragungcn
durch den schneckenfrcien Löß dar. (Auf eine durchaus ähn-
liche Verteilung der Lößschnecken im galizischen Löß machte
Tietze aufmerksam.)
Obwohl genannte drei Schncckenarten im' typischen Löß
am häufigsten zusammen vorkommen, so kann doch plötzlich,
aber nur lokal, die eine oder andre Art einmal fehlen, oder
es treten selbst auch einmal geringe Abweichungen in der
Größe hervor, die gleichmäßig alle Individuen der betreffen-
den Örtlichkeit zeigen. Alle diese Erscheinungen find unver-
einbar mit der Vorstellung, daß die Schnecken mit samt dem
Löß von einer großen Hochflut herbeigeführt und abgelagert
wurden; sie beweisen vielmehr, daß die Schnecken da, wo sie
jetzt im Löß sich finden oder doch ganz in der Nähe, lebten
und ihre günstigsten Lebensbedingungcn fanden. Sehr be-
zeichnender Art find auch die Beziehungen des Löß zu seinem
Untergründe, besonders da, wo dieser aus zerrüttetem Fels-
gestein besteht; an der Grenze zwischen diesem und dem Löß
beobachtet man immer eine Art Übergang, indem die eckigen
Gesteinsfragmente sich ganz allmählich in der überlagernden
Lößmasse verlieren; es fehlen also hier an der Grenze zwischen
Löß und Gesteinschutt jegliche Spuren einer auscbcnenden
Thätigkeit, wie sie doch eine große für die Lößablagerung
in Anspruch genommene Stauflut hätte zurücklassen müssen.
Einlagerungen grober Bestandteile im typischen Löß sind
im allgemeinen nicht selten, aber fast nur da anzutreffen, wo
sich kuppenförmige Durchragnngen älterer Gesteine finden.
Es treten da förmliche bis 0,3 m mächtige Gesteinsschutt-
bänke im typischen Löß ans, deren Ursprung sich meist mit
Sicherheit aus die benachbarte Gestcinskuppe zurückführen
läßt. Diese Schuttstreifen, wie sie auch v. Richthofen ans
6.
7.
5 — 7. Kantengeschiebe aus der norddeutschen Ebene. Nach Dr. Bercndt.
dem chinesischen Löß beschrieben hat, wurden offenbar durch
lokale Regengüsse von der noch lößfreien Gesteinskuppe dem
schon mit Löß bedeckten Gehänge zugeführt.
Typischer Löß geht in Sachsen bis zu einer Höhe von
nahe 300 na, nicht aber, wie sich auch angegeben findet, nur
bis 200 in. Beim Verfolgen der Lößablagerungen nach
dem Gebirge hinaus findet man, daß dieselben allmählich
ihren typischen Charakter einbüßen, insbesondere an Mächtig-
keit und auch gänzlich ihren Kalkgehalt verlieren. Schließ-
lich nehmen diese höher gelegenen bis zu 400 in Höhe
himmfgehenden Lößlehme eine so äußerst seinstaubartige Be-
schaffenheit an, daß sie in Physikalischer Hinsicht eher an
einen thonreichen Lehmboden, denn an einen degenerierten
Abkömmling des Löß erinnern, und doch konnte durch chemische
Analysen dargcthan werden, daß, von dem Mangel des nach-
träglich entfernten kohlensauren Kalkes abgesehen, dieser Löß-
lehm einen gleich hohen Kieselsäuregehalt, wie auch im übrigen
gleiche chemische und mineralogische Zusammensetzung besitzt
wie der Löß. Der Lößlehm vom Freiberger Gneisplateau,
typischer Löß ans Mittelsachsen und der ans glazialem Ge-
schiebclehm Nordsachsens gewonnene, der Lößkörnung genau
entsprechende Feinerdcanteil führen die gleichen charakteri-
stischen mikroskopischen Schwergemengteile, welche z. B. dem
reinen Gneisverwitterungslehme fehlen. Hierdurch, wie durch
den geologischen ununterbrochenen Zusammenhang wird be-
wiesen, daß dieser Plateaulehm und der typische Löß der-
gleichen Formation angehörige Bildungen sind; nur ist der
Lößlehm, wohl seiner höheren Gebirgslage zufolge, entkalkt
und ist die Korngröße seiner Bestandteile noch eine feinere
als im Löß. Wandert man vom Gebirge abwärts quer durch
die typische Lößzone hindurch dem Flachlande zu, so sieht
man gleichfalls nur allmähliche Wandlung in der Beschaffen-
27
A. Sauer:
Gegenwärtiger Stand der Lößfrage in Deutschland.
heit desLöß sich vollziehen, jedoch in andrer Richtung, denn
das Material des Vöjj wird allmählich gröber nnd gröber,
man gelangt aus dem reinen Löß zuerst in sandigen Löß,
zuletzt in reinen Sand vom Charakter des Flugsandes.
In diesem Gebiete am südlichen Nande der norddeutschen
Tiefebene gliedert sich also die Lößformation vom Flachlande
nach dem Gebirge hinauf in drei eng miteinander verbundene,
annähernd westöstlich streichende Zonen von Sand und Löß-
sand , typischem Löß und feinstem Lößlehm. Auch diese
zonare Dreigliederung widerspricht aus das deutlichste der
wässerigen Sedimentation des Löß aus einem großen Stau-
becken. Hätte sich der Löß aus einem solchen niedergeschlagen
das nebenbei erwähnt im nördlichen Sachsen eine Tiefe
von mindestens 300 m besessen haben müßte, so müßte die
zonare Verteilung der drei Lößfazies gerade die umgekehrte
sein, d. h. wir müßten das feinste Material im Beckentiefsten
inld nicht am Rande oder Strande des Beckens abgelagert
finden und umgekehrt. Dagegen steht diese Anordnung der
Lößzonen im besten Einklänge mit einer äolischen Ab-
lagerung, mit einer Anblasung durch von Norden herwehende
-lu' zwischen dem älteren diluvialen Untergründe (ins-
esondere C^cjd)icboici)m) und den Ablagerungen der Löß
*...... ................. --------- AHf.«.«.;»*» i,„i 9f]
Die zweite neuere Arbeit über Löß: E. Schumacher:
Bildung und Ausbau des oberrheinischen Tief-
landes, verfolgt im allgemeinen den Zweck, in ausführlicher
Form eine geologische Skizze der Umgebung von Straßburg
nnd des Unterelsaß zu geben. Deshalb beginnt die Arbeit
mit orientierenden tektonischen Erörterungen, mit Dar-
legungen über die Bildung der Rheinthalspalte, die Lage-
rungsverhältnisse des Grund- und Flötzgcbirges der angren-
zenden Gebiete u. s. w. Hieran schließt sich als Hauptteil
der Arbeit die Beschreibung der Diluvialbildungen der Um-
gegend von Straßburg und des Unter-Elsaß. In diesen
Kapiteln nun finden wir das Interessanteste niedergelegt,
was uns je bisher an Beobachtungen über Diluvialbildungen
des Rhcinlhales geboten wurde. Gerade diese Mitteilungen
Schumachers beweisen, was oben schon angedeutet wurde,
daß die angeblich genau gekannten Lößablagerungen des
Rheingebietes, insbesondere diejenigen von Straßburg ab-
wärts bis in die Pfalz hinein, im Grunde genommen doch
noch eine terra incognita waren.
lim zunächst einen Überblick über die Gliederung des
Diluviums dieser Gegend zu gewinnen, dürfte es sich empfehlen,
die Lagerungsverhültnisse und Aufeinanderfolge des betreffen-
den Diluvialgliedes an der Hand des vom Vers, gegebenen,
*.......................... fish rn veraeaen-
besondere Geschiebelehm) und den Ablagerungen der Löß- den ^deraeaebenen Jdcalprosiles sich zu vergcgen-
formatiern in ejemifiau Niveau (im Elbg-bi-I- bei Meißen i umsehend »«»«9 9®™“ •> J ' cin' g^ßereS, in die
. !! „.ft I„.i ui tut ixo in Meere«,» wärt,gen, welche« manqner °nra, g v
______
wärtigen, welches man sich quer durch cin größeres, in die
Rheinebene mündendes Thal gelegt zn denken hat.
Zu unterst liegen mit G S bezeichnet alldiluviale Kiese
nnd Sande, die wohl den gegenwärtig in 300 m Höhe an-
zutreffenden Taunusschotter im Alter gleichgestellt werden.
Hierher im Alter gehören wohl auch die tiefsten Schichten
der, wie wir aus Tiefbohrungen wissen, bis 100 m mächtigen
Rheinkiese. Auf die altdiluvialen Kiese folgen eigentümliche
glimmerreiche graue Sande, dieselben sind kalkhaltig, reich
beweist" aber diri-ü ß r, s ... an Glimmer und Schneckenschalen; sie bilden in dem prüch-
aescbaffen bat hm,,! s/lh iufj wUUt sicher nicht tigert Diluvialprosilc von Hängendietcn die tiefsten Schichten,
tümliche Modellierung ^us welch!-denPll" ^ ^ ^ iiU)rcn ^weilen in gleichmäßiger Verteilung oder in Fetzen
der Kantenlil-sm!,',! ' s' die Bezeichnung Lößmaterial und stellen wahrscheinlich bereits ein Glied der
Diese Kanten i,.sck,; .s "^tragen hat. Rheinlößformation dar. Eine noch engere Verknüpfung mit
ebene weit vei-ln- m t ^ !!*< tn ^Cl norddeutschen Tief- Lößablagerungen lassen Sande nnd Kiese andrer Art, an-
' ne wnt verbreitet. Nachdem man sie früher in ve!- scheinend mehr lokaler Herkunft erke
™ hip über bi
I ui immun iu yuuipuu yuueuu (im tüiuyiviuv w.
und abwärts davon erst bei 150 bis 180 m Meereshöhe)
sich einstellende sogenannte Steinsohle, d. h. die Anreicherung
von größeren Geschieben zn einer Art Pflaster, hat man
vielfach als Beweis, als eine Begleiterscheinung der Schwemm-
thätigkeit der Lößstauslut angeführt. Auffällig ist hierbei
schon, daß diese Steinsohle im eigentlichen Lößgebiet sich nur
relativ untergeordnet entwickelt zeigt und erst da charakteristisch
in die Erscheinung tritt, wo der Löß in Lößsand und zuletzt
in reinen Sand übergeht. Die höchst eigentümliche Ge-
staltung der meisten, diese Steinsohle bildenden Geschiebe
beweist aber direkt, daß Schwemmthätigkeit sie sicher nicht
em bcttf <SV'ti-triofio -ti'irlntoir sirll Xitvrf» i't.aort-
idellicri
lgeschi
scheinend mehr lokaler Herkunft erkennen, das sind die
Bogcsensandc und Kiese, die über diesen grauen Sauden
liegen. Die Lößablagerungen selbst lassen eine deutliche
Zweigliederung zu, in älteren nnd jüngeren typischen Löß,
welche beide durch eine, nach dem Verfasser längere Periode
des Stillstandes in der Lößablagerung getrennt sind. In
dieser Zwischenzeit wurde die Lößoberfläche (L') bis zu ansehn-
licher Tiefe entkalkt (V) und durch energisch erwachte Erosion
reduziert. (Umlagerung normalen alten Lößes und Bildung
uin SU'<rlui,wunu‘ib'-‘i ou ..........von Sandlöß.) Was nun die nähere Zusammensetzung dieser
iirsrntM + u' -CUrta(. n ,^c ^Otur bei ihrer Modellierarbeit Diluvialglieder betrifft, so sind die Vogesensande, meist leb-
1. ) e. Wie sehr die Produkte der Sandanblasungcn hast braun gefärbt, vorwiegend aus Porphyr-, Granit-,
luim. mm uiiuiiini. 9!achdem man sie früher in ver-
schiedener Weise erklärt hat, ist man jetzt so ziemlich einig
darüber, daß sic nur Sandanblasungcn ihre Entstehung
verdanken können; aber daran, sic mit der Entstehung des
Löß in Verbindung zu bringen, hatte man nicht gedacht, und
doch weist ihre Lagerung an der Basis der Löß- nnd dilu-
vialen Dünensande ihnen, wenigstens in diesem Teile der
norddeutschen Tiefebene, ein entschieden diluviales Alter zu.
Daß dieselben auch noch gegenwärtig entstehen können,
beweisen die Beobachtungen Walthers aus der Galalawüste,
cr..„r.™' 00-1—
belauschte. Wie sehr die Produkte der Sandanblasnngen ! hast vraun gesarvr, wuyuai.tv -- 7--r,, .
der Gegenwart in der Wüste jenen aus der Steppenpcriode ^ Buntsandsteinmaterial gebildet, treten zusammen nnt ^and
der Diluvialzeit gleichen, lehrt ein Blick auf bcistehende Ab- ^ löß Terrassen bildend auf und führen gelegentlich Reste von
1'^»— ^---- 1 a w ^ *ritmm*muß nnd roh bearbeitete
bildungen, von denen Fig. 1 bis 4 Kantengeschiebe der
Galalawüste darstellen, Fig. 5 bis 7 solche aus der nord-
deutschen Tiefebene. Es bilden also diese Kantengeschiebe
löß Terrassen ouutuu u»v r,r... 0- u
Rhinozeros, Hyäne, Bos primigenius und roh bearbeitete
teinwerkzeuge.
Der Sand löß ist eine oft äußerst feingeschichtcte und
- ---kJAWoÄ
deutschen Tiefebene. Es bilden also diese Kantcngeschi geflammte, bisweilen äußerlich nur wenig ( )
gewissermaßen die greifbarsten Belege für eine am Schlüsse S >., n üom typischen Löß sich unterscheidende ^ R
der ersten großen Vereisung Nordeuropas stattgehabte ener- iedoch häufig Sandlagcn und Schwitzen eunges y _
Mische äolische Thatchleit, dmch welche der alte kalke,che weM Schnecken sind, Hmnäa palnstres
(ftWirfiPrhrtkpn + a„ft>Avs,«Hat INM MC ^1«!. /
yi|ujc uuu|u)t L.yatigren, vilreis weecye ocr mit irniiirnp
Gletscherboden Norddeutschlands aufgearbeitet wurde und die
Produkte der äolischen Saigerung nach Maßgabe ihrer
Korngröße sich aui Rande der Tiefebene und höher hinauf
auf den Abhängen der Gebirge ablagerten. Zu dem gleichen
übereinstimmenden Schlüsse, daß die Lößablagerungen am
südlichen Rande der norddeutschen Tiefebene als Prmu e
äolischer Thätigkeit aufzufassen seien, führen aber auch a e
übrigen oben mitgeteilten Beobachtungen.
---- -vr i . i /.
welche jedoch häufig Sandlagcn und ^chnutzen eingeschaltet
zeigt. Charakteristische Schnecken sind: Limnäa palustris
(nord. Varietät) und ?upa eoluraolla neben den drei
Hauptschnccken des Plateanlöß (Helix llispicka, Pupa mus-
corum, Sticcinea oblonga). In den sandigen Lagen sind
die Schneckenschalcn gewöhnlich am häufigsten, doch meist
zerbrochen (während dagegen im Plateaulöß die zartesten
Schalen erhalten blieben). Daß die Bildung des Sandlöß
durch einen Akt fluviatiler Thätigkeit herbeigeführt wurde,
A*
28 A. Sauer: Gegenwärtiger Stand der Lößfrage in Deutschland.
unterliegt wohl keinem Zweifel. Nordwestlich und südwest-
lich von Straßburg setzt der Sandlöß zwei durch Breusch-
alluvium getrennte ziemlich ausgedehnte Terrassen, diejenige
von Schiltigheim und Lingolsheim, zusammen, wurde aber
aus der linken Rheinseite noch weit nördlich bis in die Pfalz
hinein verfolgt; seine Mächtigkeit erreicht 19 m (bei Lauter-
burg) und sinkt bei Hangenbieten bis aus 2,5 m herab.
Nicht unwesentlich für die Stellung des Saudlöß zur ganzen
Lößsormation ist der Umstand, daß, je näher dem Hauptthale,
seine Mächtigkeit wächst, je entfernter davon dieselbe und
gleichzeitig der Sandgehalt abnimmt. Im Sandlöß des
Gebietes waren mehrfach Spuren menschlichen Daseins in
Gestalt von Steinwerkzeugen nachzuweisen. Der typische
Plateaulöß ist hier im Elsaß im allgemeinen wie sonst
anderwärts entwickelt; bei Hangenbieten wird er 21 m mächtig,
zeigt zuweilen eine Art Bankung, bei welcher je eine wenig
mächtige dunkle Zone und eine lichtere zusammen eine
Bank bilden, welche bei merklich geneigtem Terrain nicht
horizontal, sondern gemäß der Terrainncigung verläuft.
Die Berteilung der Lößschnecken ist eine ähnliche, wie sie für den
sächsischen Löß geschildert wurde, auch fehlt jede Spur einer
Süßwasserschnecke. Entkalkung färbt den Löß dunkler, fast
rostbraun und macht ihn zäher. Wie schon bemerkt, voll-
ziehen sich die Entkalkungserscheinungen nicht bloß gegen-
wärtig, sie haben auch schon innerhalb der Lößperiode und
anscheinend in solcher Intensität stattgefunden, daß sie
geradezu einen Ruhepunkt der Lößablagerung in derselben
bezeichnen. Aus Grund dieser Erscheinung und einer gleich-
zeitig dazwischen fallenden Erosion, ist, wie schon bemerkt,
Vers, geradezu geneigt, zwei getrennte Lößperioden anzu-
nehmen. Doch dürsten wohl zur weiteren Begründung
Untersuchungen besonders über die horizontale Verbreitung
der entkalkten alten Löße nach dem Gebirge zu abzuwarten
sein. Älterer Löß mit entkalkter Oberfläche und Gehänge-
bildung durch jüngeren typischen Löß überlagert wurde
mehrfach beobachtet. Es sei hier aus ein schönes Profil hin-
gewiesen, welches in dieser besonders, aber auch noch in andrer
Hinsicht von Interesse ist, cs ist dasjenige in der Hurstschen
Grube in Achenheim. Hier sieht man zuoberst etwa 5 m
mächtigen, typischen Löß, oberflächlich etwas entkalkt, dieser
Die quartären Bildungen (Diluvium und Alluvium) der unterelsässischen Diluvialterrassen,rerläutert an einem
¡3. idealen Querschnitt durch das Zorn-Thal bei Mommenheim.
f = Alluvium.
— Fluviale Lehmdecke (Verwitterungsrinde) des jüngeren Decken-
löss.
Y/////\ L” — Jüngerer Deckenlöss.
(SD”) — Tiefere und randliche sandige Facies des jüngeren Decken-
löfs.
ISL”] --- Durch die Erosion wieder weggewaschene sandige Randfacies
des jüngeren Löfs.
SD” Typischer Sandlöss (Menschenspuren),
s Bei der Neubildung des Thals wieder weggespülte Fortsetzung des
Sandlöss.
SL” — Sandlöss eines Nebenthaies mit sandigem und anderem Material
aus dem Jungtertiär oder dem älteren Diluvium (Menschen-
spuren).
SL” — Geschichteter Löfs eines Nebenthälchens, Äquivalent des Sand-
löss des Hauptthales.
1' = Fluviale Lehmdecke des älteren Deckenlöss (Menschenspuren).
L' — Älterer Deckenlöss.
1-xTl VS = Vogesensand (Menschenspuren).
| vs | — Wieder weggewaschene Fortsetzung der Vogesensandschichten.
Vg = Vogesenkies.
GS = Altdiluviale und jungtertiäre (Hagenauer) Kiese und Sande.
geht tut Liegenden in wohlgeschichteten, doch nicht sandigen
(doch der Sandlößstufe angehörigcn) Löß über, der gleichfalls
etwa 5 na mächtig aufgeschlossen ist und sich überdies durch
massenhafte Einlagerung winziger, kalkiger, kugeliger Kon-
kretionen auszeichnet. Dieselben sind auch anderwärts noch
mehrfach, aber immer nur im Sandlöß anzutreffen. Unter
diesem liegt diskordant, eine deutlich schräg angeschnittene,
mit 35" einfallende Oberfläche bildend, dunkelbrauner Löß-
lehm. Nach Analogie andrer Profile ist mit Sicherheit an-
zunehmen, daß unter diesem Lößlehm der intakte ältere Löß
folgt, doch war dieser hier nicht mehr aufgeschlossen. In
diesem Lößlehm, und zwar in einer Gesamttiefe von 17,3m
unter der Oberfläche, fanden sich reichliche Spuren menschlicher
Thätigkeit, zahlreiche Bröckchen von Holzkohle, ein zugehauener
Stein, sowie Knochen vom Rind und Pferd. An einem an-
dern Punkte dieses Aufschlusses, etwas höher und zwar
genau an der Grenze zwischen Lößlehm und geschichtetem
Löß eine dünne Schicht von Asche und Kohle (also eine alte
Feuerstätte!). An andern Stellen des Gebietes, z. B. bei
Hochfelden, hat der alte Lößlehm (von Sandlöß überlagert)
durch reichliche Imprägnation mit Humussubstanz ein an
Schwarzerde erinnerndes Aussehen angenommen, welches
darauf hinweist, daß die alte Oberfläche zeitweise von dichter
Vegetation bedeckt war.
Auch der berühmte von Faudel beschriebene Schädel von
Egisheim stammt nach Ansicht des Vcrf. aus dem älteren
Löß bezw. Lößlehm.
Auffallend ist es, um gleich kurz mit auf die Resultate
einer unter 5) zitierten kleinen Abhandlung hinzuweisen, daß
in den Lößkomplexen nördlich von Darmstadt, welche eine
höchst auffallend übereinstimmende Gliederung mit denjenigen
des Elsaß ergeben haben, ebenfalls in der älteren Lößlehmschicht
sich mehrfach Bröckchen von Holzkohle aufgefunden haben.
Beachtenswert ist auch nach Schumacher und wohl mit
der Gegenwart des Menschen in der Lößperiode in Zu-
sammenhang zu bringen, das ganz unvermittelte Auftreten
isolierter größerer Gerölle inmitten typischen feinen Lößes,
das kaum anders als nur durch künstliche Verschleppung er-
klärt werden kann.
Mit bezug auf eine wahrscheinlich größere Verbreitung
der Lößlehme (also der entkalkten Löße) deutet übrigens der
Verf. noch mehrfach an, daß sich die besonders in Lothringen
und der Pfalz weit verbreiteten Plateaulehme wohl einmal
als zur Lößsormation gehörig herausstellen werden.
Es würde zu weit führen, auf fernere Einzelheiten dieser
ergebnisreichen Untersuchungen einzugehen. Doch sei am
Schlüsse der Besprechung dieser Arbeit noch darauf hinge-
wiesen, daß Verf. glaubt, daß die von ihm mitgeteilten Er-
Richard Andrer: Die Grenzen der niederdeuischcn Sprache.
26
fcheinungen über Zusammensetzung, Perband- und Lagerungs-
Verhältnisse der Elsässer Lößformation sich nur vom Gesichts-
punkte einer äolischen Entstehung der letzteren befriedigend
erklären lassen, das iß ein Ausspruch, der um so schwerer ins >
Gewicht füllt, als der Vers, vor nicht zu langer Zeit, da
ihm die in seiner Arbeit geschilderten Verhältnisse noch nicht
genügend bekannt waren, ein eifriger Vertreter der sluvia-
tilen Entstehung des Löß war.
Die Grenzen der niederdeutschen Sprache.
Von Richard Andree.
(Mit einer Karte.)
Verschiedene in den letzten Jahren erschienene zerstreute
Abhandlungen und Karten haben dazu beigetragen, uns ein
richtigeres Bild der Grenzen der niederdeutschen Sprache zu
geben, als dieses noch vor kurzem der Fall sein konnte. Die
älteren kartographischen Darstellungen von K. Bernhardt
(Sprachkarte von Deutschland. Kassel 1843. Zweite Auflage
von Stricker. 1846), Hubert Vandenhoven (La langue
flamande. Brüssel 1844), H. Bcrghaus (in dessen physi-
kalischem Atlas, Abteilung 8, Tafel 9), H. Kiepert (Völker-
und Sprachenkarte von Deutschland. Berlin 1867) und
R. Andree (in Andree und Pesche!, Physikalisch-Statistischer
Atlas des Deutschen Reiches. Bielefeld und Leipzig 1878,
Tafel 10) sind, wenn jede spätere auch gegenüber den früheren
einen Fortschritt verzeichnete, doch heute wieder der Ver-
besserung fähig. Eine neue Karte wird in vielen Gegenden
ein sehr verändertes Bild zeigen. Aus diesem Grunde will
ich es versuchen, abermals einen Gesamtüberblick der nieder-
deutschen Sprachgrenzen zu geben, wobei ich vor allem das
geographische Bild im Auge habe, ohne hier auf nähere sprach-
liche Begründung einzugehen, die in den angeführten Quellen-
schriften enthalten ist. Tic niederdeutsche Sprache wird (ab-
gesehen vom Meere) im Norden begrenzt von der dänischen
und friesischen, im Süden von der französischen, walloni-
schen, mitteldeutschen und polnischen, im Nordosten von der
litauischen.
1. Nordgrcnze gegen das Dänische und Frie-
sische. Die ältere Litteratur ist verzeichnet bei Andree-
P eschel,Physikalisch-Statistischer Atlas des Deutschen Reiches.
Bielefeld und Leipzig 1876, S. 27. — P. Langhaus, die
Sprachgrenze in Schleswig. Petermanns Mitteilungen 1890
S. 247. Mit Karte. — H. V. Elausen, Sprogkärt ovei
Sonderjylland. Beilage zu verschiedenen dänischen Zeitungen
1889. — E. Wasserzieher, die Sprachgrenze in Nord-
schleswig. Sonderabdruck aus den Berichten des freier
deutschen Hochstists. Frankfurt a. M. 1890. Heft 2. —
P. Langhaus, Sprachkarte von Schleswig auf Velhager
nnd Klasings Heimatskarte von Schleswig-Holstein. Leipzn
1889. — O. Bremer, das söhringer Plattdeutsch. Jahr
buch des Vereins für niederdeutsche Sprachforschung. 1886
S. 123.
Während an ihrer Südgrenze die niederdeutsche Sprache
nur Verluste an die mitteldeutsche aufzuweisen hat, tritt sie
im Norden im Verein mit der durch die Kirche und Schule
eingeführten hochdeutschen erobernd auf, und es haben hier,
auf Kosten der dänischen und friesischen Sprache, gerade in
unserm Jahrhundert nicht geringe Verschiebungen statt-
gefunden. Gegenüber dem Friesischen hat das Niederdeutsche
ganz Eiderstedt, das nordwestliche Dithmarschen, Nordstrand,
Pclworm und einen schmalen, nach Süden zu sich verbrei-
ternden Streifen am Rande der heutigen friesischen Sprach-
grenze schon früher gewonnen. Desgleichen ist der östliche
Teil der Insel Föhr heute niederdeutsch. Ebenso macht sie
auf dem Mittelrücken Schleswigs gegenüber dem Däncschen
Fortschritte und in der Landschaft Angeln hat sie im Ver-
laufe unsers Jahrhunderts dem Dänischen 14 Quadratmenen
mit 60 000 Einwohnern abgenommen.
In bezug auf die gegenwärtige Abgrenzung ist Lang-
haus die beste, unparteiische Autorität; nur bei ihm allein
findet sich auch die richtige Begrenzung des Friesischen, auf
die ich verweise.
Die Grenze der niederdeutschen Sprache in Schleswig
folgt ungefähr einer Linie, die von Husum nach Flensburg
führt; alles, was südlich und östlich von derselben liegt, ist
niederdeutsch. Zum Niederdeutschen gehören auch Bredstedt
mit einem kleinen bis ans Meer reichenden Gebiete und die
Inseln Pellworm und Nordstrand. Nach Nordwest lagert
sich vor das Niederdeutsche ein Mischgebiet, welches bei Bau
(nördlich Flensburg) im Osten beginnt und in mehr oder-
minder starker dänischer oder niederdeutscher Schattierung
nach Westen bis südlich von Tondern und Hoher reicht.
Nördlich von diesem Mischgebiete wird dänisch gesprochen,
abgesehen von den Orten Hoher, Tondern, Lügumkloster,
Apenrade, Hadersleben, Christiansfeld, Sonderburg, Augusten-
burg und Norburg auf Alsen, wo das Deutsche teils vor-
herrscht, teils starke Minderheiten aufweist.
Friesisch ist heute noch ein mehr oder minder breiter
Strich an der Westküste Schleswigs von Bredstedt im Süden
bis Hornsbüll im Norden; von den Inseln sind die Halligen,
das westliche Föhr, Amrum und Sylt friesisch, doch ist von
letzterer Insel die Nordspitze mit List dänisch. Romö ist
dänisch. Außer diesen Friesen kommen noch die Wangerooger
und die Bewohner des Saterlandes in Oldenburg in Be-
tracht, deren Sprachreste Ehrentraut nnd Minssen behandel-
ten i). Im heutigen Ostfriesland wird nur niederdeutsch
gesprochen, in dem noch eine Anzahl friesischer Wörter sich
finden. In einzelnen abgelegenen Dörfern dieses Landes
herrschte im Beginn des vorigen Jahrhunderts noch die frie-
sische Sprache. Im allgemeinen aber kann man behaupten,
daß schon im 15. Jahrhundert im Kreise der Gebildeteren
dort das Friesische dem Holländischen und Niederdeutschen
wich. Alle Urkunden seit Beginn des 15. Jahrhunderts
sind in niederdeutscher Sprache abgefaßt. Auch der älteste
Geschichtsschreiber, der Drost Beninga (fi 1562), schrieb sein
Werk schon in niederdeutscher Sprache. Friesisch wird noch
in der Provinz Friesland des Königreichs der Niederlande
geredet, es ist hier auf Leeuwarden, Hindeloopen nnd Bols-
ward nebst Umgegend beschränkt. Ringsum herrscht die vor-
dringende niederdeutsche Sprache.
2. Grenze gegen die französische Sprache. Litte-
ratur: Böckh, der Deutschen Volkszahl und Sprachgebiet.
Tabelle 9. — I. Winkler, Algemeen Nederduitsch en
Friesch Dialecticon. ’s Gravenhage, 1874, II. 390. —
H. Suchier, die französische und provenzalische Sprache (in
Gröbers Grundriß) 36. — Andree, die Völkergrenzen in
; Frankreich. Globus XXXVI. (1879). — Elisée Reclus,
Xonvelle géographie universelle II, 781.
Die nördlichste Spitze Frankreichs am Kanal trügt den
: Namen Französisch - Flandern und besteht aus den Arron-
dissements Dünkirchen und Hazebrouk des Departement du
0 Für Wangeroog siehe Friesisches Archiv von Ehrentraut
I, 3, 338 und II, 1 ; für das Saterland daselbst II, 135 (Otden-
! bnrg 1817—54).
30
Richard Andree: Die Grenzen der niederdeutschen Sprache.
Nord. Hier, sowie in vier Gemeinden des Departements
Pas-de-Calais, wird noch niederdeutsch geredet; letztere sind
die beiden Vorstädte Hoogbrugge und Lijzcl von St. Omer,
ferner die in der Nähe dieser Stadt gelegenen Orte Clair-
marais und Ruminghem. Die äußerste Grenze der nieder-
deutschen Sprache bilden die Gemeinden Dünkirchen, Groot-
Sinte, Mardijk, Loon, Kraaiwijk, Boerburg, St. Pieters
Broek, Watten, St. Momelin, Reuescure, Blaringhem, Boe-
seghem, Steenbcck, Moerbeck, Oud Berkijn, Belle (Vaillent).
Alle diese Orte sind bereits zweisprachig. Die Gesamtzahl
der vlämischen Gemeinden in Frankreich beträgt (1870) 106
mit 176 860 Einwohnern. Einst reichte die niederdeutsche
Sprache viel weiter nach Süden und Westen im heutigen
Frankreich. Die Grenze bildete im 17. Jahrhundert eine
Linie von Boulogne nach St. Omer, das noch im 16. Jahr-
hundert vorwiegend vlämisch war.
3. Grenze gegen das Wallonische in Belgien.
Litteratur: Suchier a. a. O. — Andree und Peschel,
Physikalisch-Statistischer Atlas des Deutschen Reiches. S. 28.
— R. Böckh, die Sprachgrenze in Belgien. Zeitschrift für
allgemeine Erdkunde III, Tafel 2 (1854). — K. Brämer,
Nationalität und Sprache im Königreich Belgien. Mit
Karte der Sprachgrenze für 1880. Stuttgart 1887.
Die Grenze zwischen Frankreich und Belgien bildet die
Lys, welche einen kleinen Teil von der belgischen Stadt
Warneton (Waesten), die der Sprache nach überwiegend
wallonisch ist, Frankreich, einen kleinen Teil der französischen
Stadt Comines (Komen), die in sprachlicher Hinsicht über
die Hälfte französisch ist, Belgien zuweist. Die Sprachgrenze
verfolgt nun, wie aus der Karte ersichtlich, eine ziemlich
gerade Linie von Westen nach Osten. Von Westflandern
sind wallonisch die an der französischen Grenze gelegenen Orte
Monscron, Luinghe, Hersaux, Dottignics, Espierres. Recken:
ist gemischt; von Honthem ist die Hälfte wallonisch. Die
Sprachgrenze trifft die Schelde bei Helchin und fällt dann
zusammen mit der Grenze zwischen Ostflandern und Henne-
gau : dort ist wallonisch nur die Gemeinde Orroir; hier sind
vlämisch Everbecq, Bievöne, Edingen (Enghien, von: Volke
Ingen genannt). Die Deuder wird bei dem gemischten
Akkeren überschritten und bei Enghien tritt die Sprachgrenze
nach Brabant über, geht weiter ans die Senne zu, die bei
Tubize (Tweebcck) überschritten wird und verläuft weiter
nördlich von den drei wallonischen Ortschaften Braine, über
das wallonische Waterloo, über Ter Hnlpe, Wavre, Arken,
Boschuit, Bevekon auf Sluize (l’Ecluse).
Hier in: Gebiete des großen Geeteflusscs endigt die
Berührung zwischen der wallonischen und niederdeutschen
Sprache. Wohl ist hier die deutsch-wallonische Grenze inner-
halb Belgiens noch nicht erschöpft (und ans der Karte auch
weiter nach Osten bis zur Grenze der Rheinlande ver-
zeichnet), aber ein mitteldeutscher Dialekt, der ripuarische, löst
in der Gegend der Gecte den niederdeutschen ab. Dieser
über Teile Belgiens, der Niederlande und der Nheinprovinz
sich erstreckende Dialekt, welcher nach Westen einen allmäh-
lichen Übergang in die niederländische, nach Norden und
Nordosten hin in die niederdeutsche Sprache (und nach Süden
ins Hochdeutsche) vermittelt, macht die kartographische Be-
grenzung schwer, was auch ans der Karte sich durch die ein-
facher gezogene Grenzlinie ohne näher bestimmende Orte
ausdrückt.
Das Niederdeutsche hat gegenüber den: Wallonischen in
Belgien vielfach an Boden verloren und die Zahl der Zwei-
sprachigen ist auf der vlämischen Seite heute noch vielfach
größer als auf der wallonischen (Brämer). Die Namen der
jetzt wallonischen Orte von Südbrabant und Liinburg be-
weisen, daß diese Provinzen früher einmal ganz dem
deutschen Sprachgebiet angehörten. In Limburg handelt
es sich jedoch nur um eine kleine Anzahl von Ortschaften
(Suchier).
4. Grenze gegen das Mitteldeutsche bis zur
Weser. Litteratur: K. Bernhardt, Sprachkarte von Deutsch-
land. — K. Weinhold in Andree und Peschel, Physikalisch-
Statistischer Atlas des Deutschen Reiches. S. 28. —
Werneke, die Grenze der sächsischen und fränkischen Mund-
art zwischen Rhein und Weser. In Zeitschrift für vaterlän-
dische Geschichte und Altertumskunde XXXII (Münster i. W.
1874). — W. Crecelius, Über die Grenzen des Nieder-
deutschen und Mittelfränkischen. Jahrbuch des Vereins für
niederdeutsche Sprachforschung 1876, 1—10.
Von Belgien gehören Tongern, St. Truijen, Hasselt,
Diest, Tienen, also das Gebiet der Demer bis Diest, noch zu
der eben erwähnten ripuarische:: Mundart und nicht zun:
vlämischen. Es ist dieses also die belgische Provinz Limburg
und der nordöstliche Winkel von Brabant. Ebenso ist die.
holländische Provinz Limburg fast ganz zu diesem Dialekt zu
rechnen. Die Sprachgrenze verläuft also von dem Gebiete
der Gr. Gcete bei Sluize (l’Ecluse) auf Diest, nordöstlich
über Weert nach Venloo, wo sie in das Gebiet des Deutschen
Reiches (Kreis Geldern) tritt. Sie verläuft aufwärts der
Niers bis in die Gegend von Willich, geht auf Krefeld und
nördlich von Düsseldorf über den Rhein (Weinhold).
Vom Rhein bis zur Weser verzeichne ich die Grenze
nach Werneke, wobei sich auch auf der Strecke bis zum Rot-
haargebirge dieselbe Schwierigkeit ergiebt, welche die ripua-
rische Mundart westlich des Rheins für die kartographische
Abgrenzung erzeugte. Auch ans der eben genannten Linie
ist die Grenze in: einzelnen noch sehr der Untersuchung be-
dürftig, sie ist nicht scharf bestimmt, oft verwischt und un-
deutlich, infolge der Vermischung ober- und niederdeutscher
Elemente in der Sprache. Je näher ein Ort dem Rhein
oder der Sieg und je tiefer er im Thäte liegt, desto mehr
tritt das Ripuarische hervor; je näher dem Sancrlaude
oder der Grafschaft Mark und je höher er ans dem Berg-,
plateau liegt, desto mehr ist der niederdeutsche Charakter vor-
herrschend.
Die Schwierigkeiten der Abgrenzung beider Sprachen,
bei der selbst in bezug ans die Lautverschiebung sich Anstände
erheben, hat Crecelius auseinandergesetzt. Er schiebt dieses
ans die frühe Mischung der fränkischen und sächsischen Stämme
in der in Rede stehenden Gegend, wodurch „hier eine rein-
liche Sonderung der Mundarten unmöglich ist; daher das
Auftreten der zahlreichen Mittelstufen zwischen Niederdeutsch
und Mittelfränkisch, wie wir sie im Ruhr- und Keldagan
finden. Eine Stainmmischung mag auch auf der linken Rhein-
seite die ähnliche Erscheinung im Mülgau herbeigeführt
haben." Crecelius schlägt daher vor, hier keine scharfe Grenze,
sondern Gürtel, Zonen, von zwei oder mehr Zwischenstufen,
zu ziehen, je nach den vorwiegender: Momenten ihrer Stellung
innerhalb des Mittelfränkischen oder Niederdeutschen. Un-
gefähr aber kann folgendes festgestellt werden:
Nachdem zwischen Krefeld und Düsseldorf die Grenze
den Rhein überschritten hat, verläuft sie gegen Südost. Hier
werden Erkrath und Hubbelrath in der Bürgermeisterei
Gerresheim von Firmenich (bei Beruhardi) als äußerste Grenze
des Niederdeutschen angegeben. Wesentlich niederdeutschen
Charakter tragen die bergischen Kreise Elberfeld, Solingen
und Lennep, dasselbe ist der Fall bei den weiter südöstlich
liegenden Kreisen Wipperfürth und Gummersbach, welche an
■ Westfalen grenzen. Der südliche Teil des nun in Betracht
kommenden Kreises Waldbrocl und dieser Ort sind mittel-
dentsch, der östlich angrenzende westfälische Kreis Olpe nieder-
deutsch. Kreis Siegen ist mitteldeutsch. An der Eisenbahn,
die in: Norden dieses Kreises aus dem Lennethal ins Sieg-
thal führt, liegt die Grenze zwischen den Dörfern Welschenen-
Anthropologie der Prostituierten,
Tiefseeforschungen im Schwarzen Meere,
31
nest (niederdeutsch) und Litfeld (mitteldeutsch) auf der Wasser-
scheide, wo ein mächtiger Tunnel unter derselben herführt.
Die fränkischen Litseldcr können ihre Nachbarn nicht ver-
stehen, wenn diese in ihrem saucrländischen Dialekt unter-
einander reden.
Weiter östlich bleibt nun die Sprachgrenze auf der Höhe
des Rothaargebirges. Der Knoten des kahlen Asten (830 m),
von dem Ruhr, Lenne, Ruhne, Orke herabfließen, ist eine
fernere Scheide, indem nur das Thal des letztgenannten Flüß-
chens mit Hallcnberg (südlicher Teil des Kreises Brilon)
mitteldeutsch ist, dagegen sind Hesborn, Berge, Dreislar und
Medebach in demselben Kreise niederdeutsch. Wir gelangen
damit an die Grenze von Waldeck.
Die Sprachgrenze zieht sich mitten durch Waldeck hin-
durch, das Ländchen in einen kleinern südlichen, mitteldeutschen
und einen größer« nördlichen, niederdeutschen Teil zerfallend,
entsprechend (wie Wernekc zeigt) der Zusammensetzung ans
drei alten Gauen, dem fränkischen Hessengau und dem säch-
sischen Hessengau und sächsischen Jttcrgau. An der Sprach-
grenze herrscht hier vielfach eine Mischsprache, so z. B. in
Sachsenberg, das ursprünglich ganz niederdeutsch war. Auch
der nördliche Zipfel des hessennassauischcn Kreises Franken-
berg, der zwischen das südliche Waldeck im Thale der Eder
cinschneidet, ist teilweise noch niederdeutsch. Die einzelnen
Grenzorte sind auf der Karte nach Wernekc eingetragen.
Östlich von Waldeck bis zur Weser kommt für das Gebiet
der niederdeutschen Sprache nur der nördlichste Teil des ehe-
maligen Kurfürstentums Hessen in Betracht, Teile der Kreise
Wolfshagen, Kassel, Witzenhausen und der ganze Kreis Hof-
geismar. An der waldeckisch-hessischcn Grenze liegt der mäch-
tige Basaltkegel des Weidelskopfes, der als Sprachscheide
erscheint, denn das Dorf Ippinghausen an seinem Nordfuße
ist niederdeutsch, Naumburg aber südlich davon fränkisch.
Beide Orte liegen an demselben Flüßchen, der Elben. Wolfs-
Hagen, Altenhasungen, Zierenberg, Grebenstein und Jmmen-
hausen bilden die nächsten niederdeutschen Grenzorte in öst-
licher Richtung. Der mächtige Wall des Habichtswaldes
bildet die Scheide, und zwar so, daß das Dorf Weimar, dessen
Gewässer nach Osten, der Fulda zu fließen, noch dem mittel-
deutschen Gebiete angehört; dagegen das nahe gelegene Dörn-
berg ans der Westseite des Kammes zum niederdeutschen.
Südlich von Jmmenhausen stößt bei Wahnhausen (nieder-
deutsch) die Sprachgrenze auf die Werra. Der nun nach
Osten zu folgende ehemals hannoversche Winkel am Zusammen-
flüsse der Werra und Fulda mit der Stadt Münden iß
niederdeutsch. Jenseit der Werra ist das hannoversche Hede-
münden wieder niederdeutsch; das hessische, eine Stunde ober-
halb an demselben Flusse liegende Gertenbach aber oberdeutsch
Beide Orte bezeichnen auch die ehemalige Grenze zwischer
dem ober- und niedcrsächsischen Kreise. Auf der ganzen Streck«
der Sprachgrenze vom Rhein bis zur Weser zeigt sich, das
nicht die Flußlünfe, wohl aber Gebirge und Wasserscheiden
die Grenze bilden. (Schluß folgt.)
Anthropologie der Prostituierten.
Über den Wert, den die anthropologischen Messungei
zur Beurteilung der Verbrecher haben, sind die Ansichten seh
geteilt. Indessen hat sich hier, geführt von dem Jtalicne
Lombroso, eine förmliche Schule gebildet, die vielfach Be
achtung findet.
Eine besondere Gruppe von Verbrecherinnen, die Pro
stituierten und Diebinnen, hat vor kurzem eine Russin, Pan
line Tarnowsktz, die den Grad eines Doktors der Medizii
erlangt, zum Gegenstände ihrer Untersuchungen gemacht
Ihre 226 Seiten umfassende Schrift führt den -vitel Etud
antliropometrique sur les prostituees et les voleuse
(Paris 1889); dieselbe beschränkt sich nur ans Frauen aus
großrussischem Stamme, unter Ausschluß aller Fremden; die
angewendete Methode ist jene Brocas, der nicht weniger als
400 Frauen unterworfen wurden und an jeder wurden
30 Messungen vorgenommen. Es sind 150 Prostituierte und
100 Diebinnen, welche Frau Tarnowsky gemessen hat,
und zum Vergleiche zog sie 150 ehrbare Frauen heran, unter
diesen 100 Bäuerinnen und 50 Gebildete. Es ergiebt sich
hieraus, daß die sorgfältige Arbeit jedenfalls für die anthro-
pologische Beurteilung der großrussischen Frauen von Bedeu-
tung ist, wenn man auch den Messungen keinen kriminalistischen
Wert zugestehen will. Die Mittelwerte der Schädelmessungen
gaben allerdings Unterschiede bei Prostituierten, Diebinnen,
Bäuerinnen und gebildeten Frauen, welche diejenigen, die
Interesse an der Sache haben, in der Abhandlung finden
werden. Von Belang erscheint auch, daß sich bei den unter-
suchten Frauen eine große Verschiedenheit in bezug auf die
Farbe der Haare und der Augen ergeben hat, die auf eine
anthropologische Mischung der Großrussen hindeutet und
zwar mit blonden Finnen. Es befanden sich unter hundert
untersuchten Frauen:
Dunkelhaarige 49,4 Dunkeläugige 33,7
Blondhaarige 40,0 Helläugige 55,7
Rothaarige 1,6 Grününgige 10,6
Die allgemeinen Schlüsse, welche die Verfasserin aus
ihrer Arbeit zieht, sind folgende: „Die Prostituierten und die
Diebinnen gehören zu einer Klasse von abnormen Frauen,
die degeneriert oder in der Entartung begriffen sind. Die
gewohnheitsmäßigen Prostituierten sind unvollständige Wesen,
die in ihrer Entwickelung eine Hemmung erlitten haben, sie
sind behaftet mit einer krankhaften Erblichkeit und zeigen
Spuren von geistiger und körperlicher Entartung int Zu-
sammenhang mit ihrer unvollkommenen Entwickelung. 41 von
100 zeigten Anomalien des Schädels, 42 von 100 Ano-
malien im Gesicht, 42 von 100 Anomalien der Ohren und
54 von 100 hatten schadhafte Zähne. Die Diebinnen, wie-
wohl auch sie eine große Anzahl Merkmale geistiger und
körperlicher Art zeigen, die sie von ehrbaren Frauen ent-
fernen, sind doch vom Typus der normalen Frauen weniger
verschieden als die Prostituierten." v. 8.
Tiefseeforschungen im Schwarzen
Meere.
In den Monaten Juni und Juli 1890 hat im Auf-
trage der russischen Regierung ein Kanonenboot, auf dem sich
die Herren Spindler, von Wrangel und Andrnssow als
wissenschaftliche Kommission befanden, das Schwarze Meer zum
Zwecke von Tiefseeforschungen befahren. Wie die „Allgem.
Zeitung" berichtet, schiffte sich die Expedition in Odessa ein,
fuhr von da durch den wenig tiefen nordwestlichen Teil des
Meeres nach Sewastopol, von da in den Bosporus, dann
längs des anatolischen Ufers bis zum Meridian der Krim,
nach Feodosia, Sebastopol, Batuin, dann wiederum längs
des östlichen Ufers des Meeres und durch dessen mittleren,
tiefen Teil zur Krim, von da nach Südwesten nach Varna,
dann zurück nach Odessa. Große Tiefen wurden fast allent-
halben unfern des Ufers beobachtet mit Ausnahme des nord-
westlichen Teils des Meeres, der durch die Linie Varna-
Eupatoria begrenzt ist. Auf großen Strecken erreicht die
Tiefe mehr als 1000 Saschen (der See-Saschen — 6 Fuß),
in der Mitte zwischen, der Krim und dem anatolischen Ufer
über 1200 Saschen. Die Temperatur des Wassers bis zu
5 Saschen war über 20° C., fiel aber dann rasch bis zu 25
und 30 Saschen, wo sie 7° erreichte, in einer Tiefe von
100 Saschen war sie wieder um mehr als 1° höher (8,8° C.),
bei 900 Saschen 9° und in den größten Tiefen 9,2°. Die
32
Aus allen Erdteilen.
größere Wärme des Wassers in einer größeren Tiefe als
30 Saschen erklärt sich durch den größeren Salzgehalt.
Tiefer als 200 Saschen wurde kein Leben mehr beobachtet
und das Wasser enthielt eine bedeutende Menge Schwefel-
wasserstoff, eine Wahrnehmung, die bis jetzt in keinem Meere
gemacht worden ist. Zwischen 100 und 200 Saschen war
die Menge des Schwefelwasserstoffes geringer, bei 75 Saschen
fehlt er ganz. Von 2OO bis 1000 Saschen wurde eine
Menge Brackwassermuscheln aufgefangen, wie Dreyssena,
Cardinm, Polymorpha. Der Schlamm war in diesen
Tiefen spärlich und von schwarzer Farbe. Tiefer hatte der
Schlamm graublaue Farbe, und es fanden sich in demselben
Knochen von Fischen, aber keine Muscheln vor. Bis 35
Saschen ist in der Mitte des Meeres dieselbe Fauna beob-
achtet worden, wie in der Nähe des Ufers. Andrnssow er-
klärt den Mangel an Leben in geringen Tiefen und das
Vorhandensein von Schwefelwasserstoff wie folgt: In der
Pliocen-Epoche war das Schwarze Meer ein Binnensee mit
schwachem Salzgehalt nnd einer Tiefe bis zu 5O0 Saschen,
in welchem Brackwasserschnecken lebten. Der Durchbruch des
Bosporus nnd der Zufluß des mehr salzhaltigen Wassers aus
dem Mittelmeer hat diese Fauna vernichtet oder in die Fluß-
mündungen verjagt; an ihre Stelle trat dieFauna des Mittel-
meeres, aber nur Tiere, welche in geringen Tiefen leben, da der
Bosporus nicht tief ist. Das Faulen organischer Wesen erklärt
das Vorhandensein des Schwefelwasserstoffes. Der Fänlnispro-
zeß ging im salzigen Wasser langsam vor sich, die sterbenden
Tiere senkten sich auf den Grund und verfaulten dort, wäh-
rend sie im Ozean von den Tieren des Tiefwassers verzehrt
werden. Das Vorhandensein des Schwefelwasserstoffes er-
klärt sich auch durch das völlige Stillstehen des Wassers in
der Tiefe. Aus dem Bosporus dringt jährlich tausendmal
weniger Wasser ein, als sich im Schwarzen Meere befindet,
so daß zu einer völligen Erneuerung des Wassers ein Zeit-
raum von 1000 Jahren nötig wäre, wenn sich der Zufluß
aus dem Bosporus gleichmäßig verteilen würde, was natür-
lich nicht der Fall ist, denn ein bedeutender Teil tritt wieder
in den Kreislauf der früheren Wasser des Meeres ein.
Aus allen
— Emin Paschas Elfenbein. Man lveiß, daß von
Gefährten Stanleys diesem vorgeworfen ist, er habe in ge-
winnsüchtiger Absicht die „Befreiung" Emins unternommen.
Namentlich habe der ungeheure Elfenbeinvorrat Emins ihn
gereizt, dessen Wert nicht allein die ganze Expedition gedeckt
haben, sondern dessen Besitz auch noch einen großen Gewinn
abgeworfen haben würde. Wie es mit diesem Elfenbein-
vorräte aussah, erfahren wir jetzt durch Stanleys Offizier
M. Jcphson, der in seinem Werke „Emin Pascha und die
Meuterei in Äquatoria" (Leipzig 1890) schildert, wie er in
Wadelai die ungeheuren Vorräte an Elfenbein in eigenen Vor-
ratshäusern aufgestapelt sah. „Ich bemerkte dort einen Elefanten-
zahn, der 70 kg wog und der größte war, den ich je in
Afrika gesehen. Emin erzählte mir, es seien auch in Dufild
große Elfenbeinvorräte und außerdem habe er in Monbnttu
etwa 1000 Zähne gelassen. Der Wert des in den Regie-
rungshänsern lagernden Elfenbeins betrug nach seiner Be-
hauptung 1 lj.2 Millionen Mark. Bei dieser Schätzung ist
der Preis des Elfenbeins mit acht Mark pro Pfund an-
genommen; da indes der Preis an der Küste gegenwärtig
zwölf Mark beträgt, so würde der Wert jenes Elfenbeins
sich in Wirklichkeit auf 2^/4 Millionen Mark stellen. Der
Pascha erzählte mir, er habe das Sammeln von Elfenbein
seit drei Jahren anfgcgeben; hätte er aber noch weiter ge-
sammelt, so würde er den doppelten Vorrat gehabt haben."
Dieses ganze wertvolle Elfenbein ist durch die Meuterei
und Emins Abzug verloren. Es muß nach solchen Berichten
doch mit der oft behaupteten starken Abnahme der Elefanten
nicht ganz so schlimm aussehen. Jcphson sah auch (S. 85)
am Weiße« Nil eine ungeheure, 200 Stück zählende Elefanten-
herde; über einen Raum von dreiviertel Kilometer verteilt
wirkte der Anblick „geradezu überwältigend".
— Albinos in Australien. Während auf den um-
liegenden Inseln häufig Albinos vorkommen, waren solche bis
in die jüngste Zeit ans dem australischen Festlaude nicht nach-
gewiesen worden, so daß Brough Smith in seinem großen
Werke über die Eingeborenen Viktorias noch sagen konnte,
ihm sei kein einziger Fall von Albinismus unter den Ein-
geborenen Australiens bekannt geworden. Sollten die sonst
bei allen Völkern vorkommenden Albinos bei den Australiern
fehlen? Eine solche Ausnahme wäre durch nichts begründet
gewesen und sie ist auch thatsächlich nicht vorhanden, denn
Erdteilen.
das Jahr 1890 hat uns mit zwei echten australischen Albinos
bekannt gemacht. Im Februar wurde ein solcher, aus West-
australien stammend, im Panoptikum zu Melbourne ans-
gestellt nnd die Zeitschrift „Colonies and India“ vom
1. Oktober 1890 meldet folgendes: Bei den Schlvarzeu in
Maytown (Queensland) befindet sich ein echtes Albinokind.
Das „Picanniny" ist sehr hell, mit weißem Haar nnd Augen-
wimpern, und etwa sechs Monate alt.
— Kirgisenbildnis. Das auf S. 21 mitgeteilte Por-
trät eines Kirgisen erhalten wir mit folgender Zuschrift: „Der
russische Maler Krilow hat seit längerer Zeit es sich zur
besondern Aufgabe gemacht, die verschiedenen Völkertypen des
Russischen Reiches in charakteristischen Porträts nach der Natur
aufzunehmen. Er hat zu diesem Zwecke weite Reisen, bis
nach Turkestan hinein, unternommen und eine kleine Gallerie
zusammengebracht, deren Charakterköpfe sich mit jenen Wercsch-
tschagins messen können. Eines dieser Bildnisse ist der bei-
folgende Kirgise, welcher um deswillen von Interesse, weil
er anthropologisch genommen ganz entschieden mongolische
Züge trägt, während doch, wie bekannt, die Kirgisen zu den
Turkvölkern gerechnet werden, was vom linguistischen Stand-
punkte aus auch ganz zutreffend ist. Aber ebenso richtig ist
auch des Vorwiegen mongolischer Typen bei ihnen, wasLew-
schin damit erklärt, daß die Kirgisen seit langem kalmückische
Weiber nehmen; Radloff dagegen glaubt, die Vermischung
mit Mongolen sei noch viel älteren Datums nnd einzelne
Stämme, wie z. B. die Naiman, sind ganz von mongolischer
Abkunft. Eine Schilderung der Kirgisen ist hier nicht beab-
sichtigt, nur zur Erläuterung des Krilowscheu Portraits sei
bemerkt, daß es einen Kasak-Kirgisen darstellt; dieses Volk
nennt sich selbst Kasaken, den Namen Kirgisen haben sie
von den Russen. Ihre Wohnsitze sind die weiten Steppen
von der Wolgamündnug bis zum Jrtisch. Unser Kirgise
erscheint in dem durch ganz Mittelasien gehenden faltenreichen
Schapan, dessen Ärmel bis zu den Fingern reichen, dessen
Stoff je nach dem Reichtum des Besitzers vom Samt bis
zum groben Kamelhaartuche wechselt. Er trägt den hohen
Filzhnt, welcher mit Pelz von: Fuchs oder Schaf rundum in
weitem Bausch besetzt ist und hinten, sowie beiderseits herab-
fällt. Der Hauptwert des Krilowschen Bildes liegt in der
charakteristischen Auffassung der Züge; die Zeichnung vermag
dieses besser als die Photographie." Th. v. Zaluski.
Herausgeber: Dr. R. And ree in Heidelberg, Leopoldstraße 27.
Druck von Friedrich View eg und Sohn in Braunschweig.
Bd. LIX.
Nr. 3.
Begründet 186 2
von
Karl Andrer.
§ r.' ir ck 11 rr d W e r C a cj von
Herausgegeben
von
Richard Andrer.
Friedrich 'Dierveg & Sohn.
2? V st lt 11 { eil lU C i fl Jährlich 2 Bünde in 24 Nummern. Durch alle Buchhandlungen und Postanstalten jonj
' rum Preise Von 12 Mark sür den Band zu beziehen. *
Ursachen des gegenwärtigen Indianerkrieges.
Don Dr. Walter j- Hoffman '). Washington.
Obgleich viele von den Zeitungsberichten über die gegc
wärtige Erhebung der Indianer einige der Ursachen l
rühren, welche den Ausbruch der Feindseligkeiten zu so u
günstiger Jahreszeit herbeigeführt haben, so liegen doch s
den Indianer noch gewichtigere Gründe vor, als die blo
Unzusriedenheit über Nahrungsmangel, die Aneignung seir
Ländereien durch den Weißen und die erwartete Erschein«
des Messias. Auf Grund meiner Kenntnis der We
cmfchauung und des Charakters der Indianer, welche c
20 fahriger Erfahrung in amtlicher und wissenschastlicl
Stellung beruht, habe ich gefunden, daß allen ihren gros
und wichtigen Bewegungen meist abergläubische und religi
Motive zu Grunde liegen. Zur richtigen Würdigung die
Thatsache ist es notwendig, dem Leser in Kürze ein B
von der sozialen Organisation der Jndianerstämme, >
Stellung und dem Einfluß der leitenden Persönlichkei
llnd ihren religiösen Anschaltungen zu entwersen.
Unter gewöhnlichen Uniständen würde cs sonderbar
scheinen, daß verschiedene Stännne von gesonderten Spro
familien gemeinschastliche Sache machen, besonders wc
viele von ihnen seit urdcnklichen Zeiten einander feind!
gesinnt waren.
Es giebt gegenwärtig in den Bereinigten Staaten mehr
als 50 Sprachfamilien unter den Indianern, die unter sich
nach Sprache, Sitten, Überlieferungen und religiösen An-
schauungen verschieden sind. Diese Sprachfamilien zerfallen
ihrerseits in Stämme, deren jeder seine eigene Mundart
hat, zusammen etwa zweihundert. Die Stämme teilen sich
wieder in einzelne Totems (Sippen), deren Mitglieder als
blutsverwandt, d. h. als Nachkommen eines gemeinsamen
Borfahren, betrachtet werden. Die Sippe wird gewöhnlich
bildlich nach einem größeren Tiere oder Böget, manchmal
sogar nach einem leblosen Gegenstände benannt, so daß ein
Indianer nicht immer an seinem eigenen persönlichen "Namen
Der Herr Verfasser, Mitglied des Bureau of Ethnologie,
welcher als Militärarzt im Gebiete der Sioux thätig warist
genau mit diesen Indianern bekannt; er wurde Mitglied einer
ihrer Gesellschaften, der Bufl’alo-Society. B. A.
Globus LIX. Nr. 3.
erkannt wird, sondern an dem seiner Sippe, etwa als Bär,
Wolf oder Panther. Heiraten zwischen Angehörigen der-
selben Sippe sind verboten, aber die Mitglieder einer Sippe
dürfen in eine andre hineinheiraten. So sonderbar es auch
scheinen mag, die Angehörigen einer gewissen Sippe eines
Stammes glauben auch mit der gleichbenannten Sippe eines
gänzlich verschiedenen Stammes in verwandtschaftlichem Ver-
hältnis zu stehen. Da das Matriarchat gilt, so kommt
es zuweilen vor, daß eine Frau die Begründerin einer Sippe
mit ihrem eigenen Namen in dem Stamme wird, in welchen
sie hineingeheiratet hat, vorausgesetzt, daß der "Name einer
solchen Sippe nicht schon in demselben vertreten war. Unter
diesen Umständen werden manchmal die Leute ihrer früheren
Sippe und ihres Stammes aufgefordert, dem Stamme, der
sie adoptierte, zu helfen, obgleich die beiden Parteien sonst
vielleicht in Feindschaft miteinander leben.
Dies ist einer der Gründe, weshalb die In-
dianer von außen her Hilfe erhalten, was für die-
jenigen nicht immer verständlich ist, welche mit
jener eigentümlichen Sitte nicht bekannt sind.
Wenn Krieger um Hilfe gebeten werden, so unternehmen
sie keinen Kriegszug, ohne ihr Anliegen dem „Medizin-
manne" vorgetragen zu haben. Erst seine Einwilligung
und Beihilfe sichern den Erfolg. Es giebt mehrere Klassen
von Medizinmännern, von denen wir jedoch hier nur zwei
besonders hervorheben wollen. Die erste heilt angeblich
Krankheiten durch Geisterbeschwörung, d. h. durch Austrei-
bung der bösen Geister, welche die Krankheit verursachen.
Die andern nennt man gewöhnlich „Juggler" (Taschen-
spieler). Sie sind Propheten und Seher; sie versetzen sich
angeblich in einen ekstatischen Zustand, in welchem ihr Geist
mit den vielen andern Geistern verkehrt, welche sie umgeben
und von denen die Luft erfüllt ist. Der Seher ruft seinen
Schutzgeist an, um sich dessen Hilfe bei der Vernichtung der
Feinde zu sichern. Sie liefern die Fetische, Zaubermittcl
oder 'lninlette, mittels welcher derjenige, der sie trägt, gegen
jeden Schaden gefeit ist. Der unerschütterliche Glaube an
diese Amulette erklärt die verwegene Tapferkeit der Indianer,
5
34 Emil Mayr: Die Südgrenze von Deutsch Ost-Afrika zwischen Njassa und Tanganika-See.
welche im Besitze derselben sich gegen Verwundung gesichert
wähnen.
Die Leistungen einiger dieser Seher sind wahrhaft
verblüffend, selbst für den verständigen Beobachter; und
es ist nicht überraschend, wenn die Berichte der Jesuiten und
andre ältere Werke über die Jndianerstämme an den Großen
Seen und in Kanada ausführlichere und wunderbare Er-
zählungen von der Macht dieser Leute enthielten. Ein
Stamm am Ottawaflusse hieß geradezu „die Zauberer".
Häufig sind die Eigenschaften des „Medizinmannes"
und des Sehers in einer Person vereinigt, und wegen der
Furcht und Achtung, die man einem solchen Magier im
ganzen Stamm entgegenbringt, sind sie im stände, die
Handlungen der obersten Gewalthaber und der Kriegshäupt-
linge zu kontrollieren; gar oft bringen sie einen Stamm durch
Verkündigung angeblicher Visionen und Prophezeiungen in
Verwickelungen mit den Behörden. Das Beispiel Sitting
Bults vom Stamme der Sioux wird genügen. Er war
kein Häuptling im wahren Sinne des Wortes, sondern nur
ein Häuptling von Medizinmännern. Der Tanz, der jetzt
als „Träumertanz" bezeichnet wird, ist nur eine Versamm-
lung von Medizinmännern und Kriegern, bei der die an-
erkannten Führer als Seher auftreten, um angebliche Visionen
von den Geistern und durch diese von dem großen Geiste
zu erlangen. Die Visionen selbst sollen ihnen die zur Aus-
führung gewisser Pflichten und Handlungen erforderlichen
Weisungen erteilen. So lassen sich die Indianer oft von
solchen Führern täuschen, die nur persönliche Gründe im
Auge haben.
Zum religiösen Glauben der Indianer gehört auch die
Hoffnung ans Wiederherstellung ihres früheren Landbesitzes
mit seiner Fülle von Wild und andern Hilfsmitteln. 'Die
Weißen müssen in eine andre Sphäre verdrängt werden
und ihre Waffen werden ihnen nichts nützen, wenn erst das
tausendjährige Reich der Indianer anbricht. Dieser Glaube
iß gepredigt worden und seitdem das christliche Dogma von
der Ankunft Christi ihnen gelehrt worden ist, sehen sie eine
solche Glaubenseinheit in beiden Religionen, daß sie nur
noch fanatischer an die Wahrheit ihrer eigenen glauben.
Bei der Gefangennahme Sitting Bults im Jahre 1881
schwor er Rache gegen die Weißen und verkündete seinen
dauernden Widerstand gegen jeden Versuch der Regierung,
die Indianer geistig zu heben; denn er sah, daß dieselben
selbständig und zivilisiert wurden; dadurch war seine Mission
zu Ende. Auch verbitterte ihm seine Niederlage das ganze
Leben. Es gab viele, die sich ihm anschlössen, lediglich aus
Furcht vor seinen geheimnisvollen Kräften.
Sitting Bull, die Hauptseele des neuen Aufstandes der
Indianer, welcher sich nicht nur auf die Sioux, sondern auch
auf die Arapahoes und Apaches u. a. erstreckt, bei denen die
Geistertänze und der Glaube an den Messias des roten
Mannes um sich griffen, Sitting Bull ist im Dezember
1890 im Kampfe gegen die Polizei und Kavallerie der Ver-
einigten Staaten gefallen. Sein Andenken als großer
indianischer Staatsmann, dem es gelang, mit seinem Kriegs-
häuptlinge Crazy Horses zusammen den General Custers
mit seinen Truppen in dem vorigen Aufstande zu vernichten,
wird unter den Indianern fortleben.
Die Südgrenze von Deutsch Gst-Asrika zwischen
Njassa- und Tanganika-See.
Von Emil Mayr.
„In Ostasrika wird das Gebiet, welches Deutschland zur
Geltendmachung seines Einflusses vorbehalten wird, im Süden
begrenzt durch eine Linie, welche, an der Küste von der
Nordgrenze der Provinz Mozambique ausgehend, denn Laufe
des Flusses Rovuma bis zu dem Punkte folgt, wo der
M'sinjefluß in den Rovuma mündet, und von dort nach
Westen weiter auf dem Breitenparallel bis zu dem User
des Njassasees läuft. Dann sich nordwärts wendend, setzt
sie sich längs den Ost-, Nord- und Westufern des Sees bis
zum nördlichen User der Mündung des Songweflusses fort.
Sie geht daraus diesen Fluß bis zu seinem Schnittpunkte
mit dem 33. Grad östlicher Länge hinauf und folgt ihm
weiter bis zu demjenigen Punkte, wo er der Grenze des in
dem ersten Artikel der Berliner Konferenz beschriebenen geo-
graphischen Kongobeckens, wie dieselbe aus der dem neunten
Protokoll der Konferenz beigefügten Karte gezeichnet ist, am
nächsten kommt. Von hier geht sie in gerader Linie aus die
vorhergedachte Grenze zu und führt an derselben entlang
bis zu deren Schnittpunkte mit dem 32. Grad östlicher
Länge, sie wendet sich dann in gerader Richtung zu dem
Vereinigungspunkte des Nord- und Südarmes des Kilambo-
flusses, welchem sie dann bis zn seiner Mündung in den
Taganikasee folgt." So lautet der Absatz 2 des Artikels 1
des deutsch-englischen Abkommens vom 1. Juli 1890, wo-
mit ein Gebiet in feste Grenzen gelegt wurde, das beiden
kontrahierenden Teilen als gleichmäßig begehrenswert er-
scheinen mußte.
Seit Livingstone 1867 ist das Land zwischen Tanganika-
nnd Njassasee vielfach, meist von Engländern, aber auch von
Franzosen und Deutschen durchzogen oder berührt worden.
Die Schilderungen der Reisenden stiunnen alle darin überein,
daß besonders das Hochland nördlich am Njassasee, das
nunmehr zur deutschen Interessensphäre gehört, ein ebenso
schönes, als gesundes und fruchtbares Gebiet ist, welches eine
kräftige und wohlentwickelte Bevölkerung ernährt, wo Thee
und Kaffee ebenso gut wie Getreide und alle halbtropischcn
Gewächse gedeihen können und zahlreiche Rinder- und Büffel-
herden auf üppigem Grasboden ihre 'Nahrung finden. Ja
Konsul Elton bezeichnet schlechthin das hier durchzogene Land
als den schönsten Teil Afrikas, den er gesehen, und sagt, daß
Natal, der berühmte „Garten von Afrika", weder die Frucht-
barkeit, noch solche Grasländereien aufzuweisen hat.
Leider ist die kartographische Darstellung dieses Gebietes
bisher eine ziemlich unvollkommene, sich häufig widersprechende
geblieben und daher ist es der Redaktion der „Mitteilungen
aus den deutschen Schutzgebieten" als besonderes Verdienst
anzurechnen, daß sie im dritten Bande dieser Zeitschrift eine
neue „Karte des deutsch-englischen Grenzgebietes zwischen
Njassa- und Tanganikasee 1:1000000" veröffentlicht und
mit kritischen Bemerkungen erläutert hat. Dieser Karte,
welche wir zu unsrer obigen Skizze verwertet, liegt haupt-
sächlich eine englische Kartenskizze zn Grunde, welche bei den
deutsch-englischen Grenzverhandlungen als Unterlage diente
und ihrerseits wieder auf den Forschungsergebnissen des
englischen Konsuls H. H. Johnston beruht. Die im Scottish
Geogr. Magazine, Juniheft 1890, publizierte Karte des
„Stevenson Road Country“ wurde für den Teil nord-
westlich vom Njassasee mit benutzt. Johnstons Bericht
Prof. G. A. Willen: Tie Ehe zwischen Blutsverwandten.
35
(?r0666<tin^8 Geogr. Soc., December 1890) lobt and) das herrlicher aber, sagt er, sei das Bergland Bundali, das and)
nV//m\N^ •• /v,V.\v
Tic deutsch-englische Grenze zwischen Njassa- und Tanganika-See.
von den 2000 m hohen Wungubergen begrenzt, von denen
lltCttl lltlllìll {flirtiti ili Sto Ski,» si-Ì» (.la . CU r
^»..ywvvvyul UUU Utili
man hinab sd)ant in die Ebene, die sid) bis zum Rukwase
hinzieht. Im Gegensatze zu den früher durd)zogencn Land-
schaften fand Johnston hier eine mit dornigem Gestrüpp be-
deckte Hochebene, die sick) mit sähen wasserlosen Flußrissen
zum Rukwasee bin erstreckte, .Gei- m.i,- nssrä tmin-;« ””S
ohne Ackerbau, „ein Land des Hungers", in dem die Ein-
geborenen von den Nilpferden und Krokodilen des Rukwa-
secs zehrten. Der Gegensatz zu den früher geschilderten
Landschaften kann nicht grell genug gedacht werden. Erstere
aber machen einen wertvollen Teil unserer ostasrikanisd)cn
Besitzungen aus.
Die Ehe zwischen Blutsverwandten.
Von P)rof. G. A. lüilfcn.
III.
Die matriarchale Einrichtung des Stammes ist also
die ursprüngliche, sa sie ist vermutlich ein Stadium, welck)es
das Familienleben überall in seiner Entwickelung dnrch-
laufen hat. Beim Übergänge zum Patriarchat wird so
das Eheverbot von der Gruppe der Abkömmlinge in den
weiblichen Linie aus die von den Abkömmlingen in der
männlichen übertragen. Verbindungen, die unter den alten
Gesetzen als Inzest, sedensalls aber als unerlaubt galten,
konnten bei der neuen Einrichtung ohne Beschwer stattstmen.
Mehr nock) als dieses unter dem Matriarchat der ft'all nun,
konnten die Parteien dabei aus das nächste metemanoer
verwandt sein. Um dieses zu zeigen, ist eine kleine - -
sckzweisung hier nötig.
Es ist namentlick) hervorzuheben, daß da, wo das Patri-
arck)at sick) kürzlick) aus dem Aiatriarchat entwickelte, dieses
nicht auf den Begriff der Blutsverwandtschaft zwisck)cn
Pater und Kind begründet ist, sondern daß die Grundlage
dafür die Gewalt des Vaters über die Mutter ist. Diese
Gewalt wird anfangs dadurck) erlangt, daß der Mann die
Frau von ihren Eltern oder Verwandten kauft. Dock) gab
cs hierzu nock) ein andres Mittel: die Entführung. Viele
glauben, daß diese ursprünglicher als der Frauenkauf ist,
daß eigentlich der Raub, die gewaltsame Überführung der
Frau aus ihrem Stamme in denjenigen des Mannes die
Ursack)en gewesen sind, aus denen sick) das Patriarchat ent-
wickelt hat. So sagt Prof. Köhler in Berlin, einer der
5*
36
Prof. G. A. Wilkcn: Die Ehe zwischen Blutsverwandten.
eifrigsten und kenntnisreichsten Vertreter der vergleichenden
Rechtswissenschaft: „Der Erste, welcher die Ehefrau in
sklavische Abhängigkeit brachte und damit die Periode des
eheherrlichen Mundiums inaugurierte, der Erste, welcher vor
Tausenden von Jahren eine Frau raubte, war wider Willen
ein Wohlthäter der Menschheit, denn er hat die Kluft über-
sprungen, welche das Mutterrecht vom Vaterrechte trennt 0.
Erst später, so nimmt man weiter an, muß statt des Fraucn-
ranbes der mehr geregelte Fraucnkauf Platz gegriffen
haben2).
Dem Manne nun, welcher Herr der Frau ist, die er
gekauft hat, gehören auch die Kinder. So ist es noch stets
bei den Völkern im Indischen Archipel. Ehebündnisse
werden bei ihnen nur gegen das Ausbringen des Braut-
schatzes geschlossen, der im buchstäblichen Sinne des Wortes
ein pretinrn puellae ist. Deutlich erkennen wir nun, wie
allein mit der Gewalt über die Frau auch jene über die
Kinder erworben wird. Ein geregeltes eheliches Znsammcn-
leben greift oft schon Platz, noch che der Mann durch die
Bezahlung des geforderten Preises Besitz von dem Mädchen
erlangt. Dabei ist denn vielfach Regel, daß die Kinder,
die während dieser Zeit geboren werden, dem Vater gehören,
sobald dieser später den Preis bezahlt. Auf den Molukken
ist dieses jedoch nicht überall der Fall, doch gilt dort das
sicher ursprünglichere Gesetz, daß allein diejenigen, die nach
der Bezahlung des Brautschatzes geboren werden, dem
Manne gehören, während die Kinder, die er vor dieser Zeit
zeugte, dem Geschlechte der Mutter verbleiben. Zuweilen
auch findet eine Verteilung der Kinder zwischen beiden
Eltern statt, wenn nur ein geringer Brautschatz gezahlt
wurde, oder bisweilen geschieht dieses auch, wenn nichts be-
zahlt wurde, als Ausnahme von der Regel, daß in diesem
Falle die Kinder ausschließlich der Mutter zukommen.
Ein Beispiel hierfür bieten die Pasemahers in den Palem-
bangschen Oberlanden (Sumatra). Diese haben, wenn man
so sagen kann, eine lokale Exogamie: Bewohner desselben
Dorfes oder Dusun dürfen sich nicht untereinander ver-
heiraten. Bei einer Verheiratung mit Brautschatz gehören
die Kinder dem Dusun des Vaters, wird kein Brautschatz
gezahlt, dann werden die Kinder zu gleichen Teilen zwischen
den Dusuns der beiden Eltern geteilt3).
Nach dieser Abschweifung wird cs klar werden, wie
unter der Herrschaft der Exogamie und des Patriarchats,
wenn nicht Gesetze cs verhindern, Ehen zwischen nahen Bluts-
verwandten, ja zwischen Bruder und Schwester stattfinden
können. So berichtet Piedrahita, daß bei den Panches von
Bogota in Neu-Granada Ehen zwischen den Bewohnern des-
selben Dorfes verboten waren, da alle sich als Verwandte an-
sahen, doch, daß ihre Unwissenheit so groß war, daß Bruder
uttb Schwester sich heiraten konnten, wenn sie in verschiedenen
Dörfern geboren waren. Offenbar haben wir cs hier mit
einem Falle von lokaler Exogamie mit Patriarchat zu thun,
während das, was der spanische Schriftsteller als Unwissenheit
ansieht, nichts andres ist als ein Ausfluß der Regel, daß
nicht die Abstammung vom Vater, sondern die Gewalt über
die Mutter, der Umstand, ob die Mutter bei der Geburt
Köhler, Die Ehe mit und ohne Mundium, Zeitschrift
für vergleichende Rechtswissenschaft VI, 321.
2) Ausführlicheres: Wilken, De vrucht van de beoe-
fening der ethnologie voor de vergelijkende rechtsweten-
schap 21, und Plechtigheden en gebruiken bij verlovin-
gen en huwelijken bij de volken van den Indischen
Archipel 28.
3) Vergleiche Wilken, Oostersche en Westersche Rechts-
begrippen. Bijdragen tot de T. L. en Vk van Neder-
landsch Indie. 1888, 127, und Over de verwantschap en
het huwelijks-en erfrecht bij de volken van het Malei-
sche ras 64, 67,
des Kindes sich noch in patria potestate befinde oder
ob sie durch die Bezahlung des Brautschatzes in manum
mariti bereits übergegangen sei, die Gruppe bestimmt, zu
der das Kind gehört und in der es später nicht heiraten
darf. Es versteht sich übrigens von selbst, daß nicht allein
germani, volle Brüder und Schwestern, sondern auch consan-
guinei und uterini, Halbbrüder und Halbschwestern von
väterlicher und mütterlicher Seite, auf diese Art, durch
Geburt aus Ehen mit und ohne Brautschatz, cum manu
und sine manu zu zwei verschiedenen Stämmen gehören
und so miteinander sich verheiraten können. Ausschließlich
aus Ehen mit Brantschatz, cum manu, geboren, müssen
aber consanguinei stets Stammesgcnosscn sein, so daß
Ehen zwischen ihnen von selbst ausgeschlossen sind. Auch
mit uterini muß dieses der Fall sein. Alan behalte doch
im Auge, daß die gekaufte Frau dadurch in den Stamm
ihres Mannes kommt, in dem Sinne, daß sie bei dessen
Tode nicht außerhalb des Stammes sich verheiraten darf,
sofern sic nicht selbst als Erbstück an einen der nächsten
Blutsverwandten übergeht, ähnlich wie bei der bekannten
Einrichtung des Levirats. Wenn dieses aber nicht geschieht
und die Frau zum zweiten Male in einen andren Stamm
heiratet, können Ehebündnisse zwischen ihren Kindern —
die ja nicht Stammesgenossen sind — möglich fein und sich
auch vollziehen. Wir finden dieses von den Indianern
Guatemalas berichtet *), während, wenn wir Philo glauben
dürfen, die alten Spartaner Ehen mit uterinen Schwestern
gekannt haben müssen.
Die uralte Einrichtung der Exogamie ist zunächst durch
die Macht der Gewohnheit bis auf den heutigen Tag bei
vielen Völkern in allen Teilen der Erde in Kraft geblieben.
Es kommt dazu noch eine andre Ursache, welche zur Auf-
rechterhaltung derselben mitwirkte; die Exogamie ist nämlich
häufig verbunden mit einer andren Einrichtung: dem Tote-
mismus, ein Ansdruck, der bekanntlich den nordamerikanischen
Indianern entlehnt ist. Hier hat jeder Stamm ein ihm
heiliges Tier, das Totem heißt, nach dem der Stamm sich
benennt und von dem seine Mitglieder sich herleiten. Die
Rothaut, welche den Wolf als Totem hat, erkennt diesen
auch als ihren Schirmgeist, trügt dessen Namen und betrachtet
sich mit den Wölfen verwandt. Insofern sind nun Exo-
gamie und Totesmismus gepaart, als die Personen, die sich
nicht miteinander verheiraten dürfen, da sie ja aus dem-
selben Stamme sind, auch dasselbe Totem haben. Dieses ist
nicht allein bei den nordamerikanischen Indianern, sondern
auch bei andren Völkern der Fall. So sind die cxogamcn
Stämme, in welche die Eingeborenen vom Cooper's Creek
in Australien verteilt sind, Totem-Stämme. Auf diese
Weise hat der Gottesdienst dazu beigetragen, die Exogamie
zu verschärfen, zu verstärken und ihr Fortbestehen zu sichern.
Nicht überall wird jedoch die Einrichtung der Exogamie
so streng gehandhabt, als wo sic mit Totemismus verknüpft
ist. Anfangs sich über alle Stammesgenossen erstreckend,
über alle Abkömmlinge der männlichen oder weiblichen Linie
in infmitum, ist bei nicht wenig Völkern das Verbot all-
mählich beschränkt worden. Ich will hier im voraus be-
merken, daß, nach den neuesten Anschauungen, nicht die
Familie, sondern der Stamm die ursprüngliche Form im
Gesellschaftsleben gewesen ist, und daß innerhalb desselben
sich langsam die Familie entwickelte. Dabei haben wir
vor allem auf eine Besonderheit zu achten, nämlich auf die
Festigkeit der Familienbande in alter Zeit. Man kann sich
in der That diese Bande nicht eng genug vorstellen. Die
Glieder eines Gesindes wohnten nicht nur beisammen, sondern
hatten auch gemeinschaftliche Belange, bildeten ein Ganzes,
i) Stoll, Ethnologie der Jndianerstämnie von Guatemala 7.
37
Prof. G. A. Willen: Die Ehe zwischen Blutsverwandten.
sowohl im administrativen als wirtschaftlichen Sinne, wenn
diese modernen Ausdrücke hier erlaubt sind. So verteilte sich
allmählich der Stamm in eine Anzahl Familicngruppen und
ans diese beschränkt sich zuerst das Eheverbot, nachdem die
(Gruppen zu völliger Selbständigkeit gelangt und dadurch
der Begriff der Stammcseinheit mehr in den Hintergrund
getreten war. Ein Beispiel solcher Beschränkung haben wir
weiter oben bei den Howas von Madagaskar bereits kennen
gelernt, die ihr Verbot nicht weiter als bis aus das sechste
(Geschlecht aus der Abstammung in weiblicher Linie aus-
dehncn. Hier wollen wir noch auf die Malayen von
Sumatra, namentlich im Padangschen Obcrlande, verweisen,
die wir bereits unter den exogamen Völkern des Indischen
Archipels nannten. Bei ihnen heißt der Stamm, dessen
CHiebet* nicht untereinander heiraten dürfen, Sulu. In
einigen Gegenden nun wird dieses Verbot nicht mehr
streng gehandhabt, heiratet man bereits im Suku, voraus-
gesept, daß die Frau ans einer andern perut, Familie, ist.
peruts, in die der Stamm sich allmählich auf-
gelöst hat, ist also das Eheverbot übertragen. Dieses schließt
nicht ans, daß das Heiraten außerhalb des Stammes noch
insofern als Adat, Gesetz, betrachtet wird, daß man nicht
nn Stamme heiraten darf ohne vorher den Angehörigen ein
Fest .gegeben und eine Snninie bezahlt zu haben, um dadurch
die Übertretung zu sühnen *).
Zuerst auf die Familtenvereiniannaim im i^>^mm,>
.............ui;uc uue ^eivpanoigkeit Dst;
er geht auf in der Gruppe, zu welcher er gehört, und nur
allmählich tritt er als Person in den Vordergrund, entledigt
er sich der Bande, die ihn fesselten, so daß die Gruppe, in
der er früher mit seinem ganzen Wesen ausging, ihren
ursprünglichen Charakter verliert und völlig zu Grunde
geht. Mit dieser Auflösung der alten Familienvereinigungcn
wurde der Familirnring von Individuen, die sich untereinander
als verwandt ansahen, enger und enger und das Eheverbot
folgte mit der Beschränkung, anfänglich sich wohl nur so
weit erstreckend, als der Ring reichte, um zum Schlüsse sich
auf die Personen zu beschränken, die sich im Blute am
nächsten standen.
So aufgefaßt, soll das Verbot gegen Blutsverwandten-
ehen aus der Exogamie fortgekommen sein. Inzwischen ist
der Entwickelungsgang sicher nicht so einförmig gewesen,
wie die gegebene Darstellung cs vermuten läßt. Ich will
dieses dadurch Nachweisen, daß ich kurz die Regeln bespreche,
die bei den Ehen zwischen Ressen und Nichten, Bruder- und
Schwesterkindern, herrschen. Diese sind in allen Hinsichten
sehr lehrreich 2).
Daß bei der Exogamie Ehen zwischen Neffen und
Nichten, Kindern von Bruder und Schwester, erlaubt sind,
liegt ans der Hand. Diese Kinder gehören da stets zu zwei
verschiedenen Stämmen, einerlei ob man dem Patriarchat
oder dem Matriarchat huldigt. Solche Ehen werden bei
einigen Völkern sogar mit Vorliebe geschlossen, wie dieses
oben von den Bataks gezeigt wurde. Anders ist cs mit
solchen Neffen und Nichten, die Kinder von zwei Brüdern,
oder zwei Schwestern sind. Unter dem Patriarchat sind die
erstcren, unter dem Matriarchat die letzteren Stammcs-
genossen, dürfen sich daher nicht heiraten. Solche Bcstim-
mungen blieben nicht selten bestehen, auch nachdem man die
U Witten, Ua verbreiding van liet matriarchaat op
Sumatra 20. Anmerkung 08.
2) Bergt. Witten, Plechtigheden cn gebrniken I»1 ver-
lovingen en huwelijken bij de volken van den Indischen
Archipel 5.
Exogamie preisgegeben hatte, z. B. bei den Letinescn und
den Aru- Insulanern im Indischen Archipel. Bei jenen
findet man die Bestimmungen, die sich an Exogamie mit
Matriarchat, bei diesen die sich an Exogamie mit Patriarchat
knüpfen. Bei den Leiimsen sind Ehen erlaubt: Zwischen
den Kindern von zwei Brüdern und zwischen den Kindern
eines Bruders und einer Schwester. Verboten: Zwischen
den Kindern von zwei Schwestern. Bei den Aru-Jnsulanern
dagegen erlaubt: Zwischen den Kindern von zwei Schwestern
und von Bruder und Schwester. Verboten: Die Ehe
zwischen Kindern von zwei Brüdern.
Wieder anders als bei den Letinesen und Aru-Jnsulanern
sind die Gesetze, die wir z. B. auf Süd-Flores bei den
Endehnesen antreffen. Es liegt auf der Hand, daß bei
Exogamie mit Patriarchat die Kinder von zwei Schwestern, mit
Matriarchat aber die Kinder von zwei Brüdern sich heiraten
können, wenn im ersteren Falle die Schwestern, im andern
die Brüder in verschiedenen Stämmen verheiratet sind.
Dieses ist aber gewöhnlich eine Ausnahme. Bei den die
Exogamie übenden Völkern sieht man bekanntlich nicht selten
die Stämme paarweise durch das jus connubii verbunden.
Es bedarf wohl keines weiteren Beweises, daß dieser Um-
stand dazu beigetragen hat, daß — beim Übergange vom
Matriarchat zum Patriarchat — das alte Eheverbot zwischen
den Kindern von zwei Schwestern nicht verloren ging, sondern
neben dem neuen zwischen den Kindern von zwei Brüdern
gehandhabt wurde. Dieses nun ist das Gesetz, welches wir
bei den Endehnesen treffen. Bei ihnen sind nur die Ehen
zwischen den Kindern von einem Bruder und einer Schwester
erlaubt, ja diese kommen sehr häufig vor. Ehen zwischen
Kindern von zwei Brüdern oder von zwei Schwestern sind
dagegen unerlaubt.
Zn allen Zeiten, erst unter dem Matriarchat, dann
unter dem Patriarchat, müssen Ehen zwischen Kindern eines
Bruders und einer Schwester erlaubt gewesen sein. Jedoch
finden wir hier und da eine sehr merkwürdige Beschränkung
dieser Regel. Während nämlich, um ein Beispiel anzuführen,
bei den Bataks, wie wir sahen, mit Vorliebe die boru-ni-
datulang, d. h. die Tochter des tulang oder Oheims von
Mutterseite, geheiratet wird, ist cs ein Verstoß gegen den
Adat, ein boru-ni-ambo, eine Tochter der ambo, d. h. Tante
von Vaterseite, zur Frau zu machen. „Ist es möglich", fragt
der Batak, um das Widernatürliche einer derartigen Ver-
bindung auszudrücken, „daß das Wasser nach seiner Ouelle
zurückfließt?" oder wie cs in seiner Sprache lautet: mar-
suntjang clo aek pabulu? Das Sonderbare dieser Be-
stimmung springt noch stärker in die Augen, wenn man sie
so formuliert, daß die Ehe zwischen einem Schwestersohn
und einer Brndertochter erlaubt, aber zwischen einem Bruder-
sohn und einer Schwestertochter verboten ist.
Wie sollen wir uns dieses nun erklären? Nach unsrer
Ansicht ist auch bei den Bataks — wiewohl sie nur eine
streng patriarchale Stammescinrichtnng haben — ursprüng-
lich Matriarchat anzunehmen. Erinnern wir uns dabei
daran, daß bei dieser Einrichtung der Verwandtschaft nicht
der Mann das Haupt der Familie seiner Frau und Kinder
ist, sondern der älteste Bruder der Mutter. Dieser, der
Oheim von Mutterseite, ist der natürliche Herr und Schirmer
der Kinder seiner Schwester, seiner Neffen und Nichten,
beaufsichtigt sie und nimmt ganz die Stelle des Vaters ein.
Versetzen wir uns nun in die Zeit zurück, in welcher das
Patriarchat bestand, das Kind also dem Vater gehörte, jedoch
die mütterlichen Einrichtungen noch in allen Beziehungen
ihre Nachwirkungen ausübten, dann können wir uns vor-
stellen, daß der Bruder, wie zu Zeiten des Matriarchats,
noch immer auf seine Schwesterkinder wie auf seine eigenen
herabblickte, die Schwester aber keineswegs eine derartige An-
38
F. Kaibler: Geqenwärtis>er Zustand der deutschen Genieinden ani Südfuße des Monte Rosa.
schaumig von ihren Bruderkindern hatte, die bei der früheren
Einrichtung für sie fremd waren und dieses nun auch blieben.
Bei einer solchen Ordnung der Dinge werden von seiten
der Schwesterkinder keine Gründe gegen eine Verbindung
mit Bruderkindern bestanden haben, wohl aber umgekehrt.
Während nun die Schwestersöhne fortfuhren, Bruderstöchter
zu ehelichen oder mit Gewalt zu entführen — wie wir sehen
beim Übergang vom Matriarchat zum Patriarchat eine der
Arten die Frau in mamim mariti zu bringen — mieden
dagegen die Brudersöhne die Verbindungen mit Schwester-
töchtern, woraus dann allmählich die Anschauung sich ent-
wickelte, daß die erstere Verbindung eine vollkommen passende,
die letztere aber durchaus unerlaubt sei.
Man erkennt also in Übereinstinnnung mit dem unter
der Exogamie geschehenden, nachdem diese Einrichtung ver-
lassen, wie die Ehe zwischen Bruder- und Schwesterkindcru
zugelassen, während die zwischen Brudcrkindern untereinander
oder Schwesterkindern untereinander verboten werden. Es läßt
sich aber hören, daß man bei einigen Völkern sehr bald dazu ge-
kommen ist, um, nach dem Vorbilde dieser letzten Verbindungen,
auch die erstere als unerlaubt zu betrachten und so die Ehen
zwischen allen Neffen und Nichten zu verbieten. So ist
dieses unter anderem bei den Alfuren der Minahassa der
Fall. Doch auch das Umgekehrte wird sich ereignet haben;
nach dene Vorbilde der erlaubten Verbindungen zwischen
Bruder- und Schwesterkindern wird man hier und da all-
mählich auch die Ehen zwischen Bruderkindern untereinander
und Schwesterkindern untereinander zugelassen haben. Wahr-
scheinlich kam cs durch einen solchen Vorgang, daß bei den
Dajaks, die am unteren Laufe des Barito wohnen, das Ehe-
verbot in der Seitenlinie sich nicht weiter erstreckt als
zwischen Oheimen und Tanten oder Nichten und Neffen. Es
versteht sich übrigens von selbst, daß dieser Vorgang von Aus-
breitung oder Einschränkung des Eheverbotes sich namentlich
bei jenen Völkern entwickelt haben muß, die, wie die hier
genannten, bereits sehr früh die Exogamie aufgegeben haben
und bei denen infolgedessen die matriarchale und patriarchale
Familie, die Familie ausschließlich in der weiblichen oder-
männlichen Linie bereits für die parentale Familie, die
Familie in beiden Linien, Platz machte und somit alle
Neffen und Nichten in bezug zu einander gleich verwandt
wurden.
Dadurch, daß man einfach aus die Exogamie zurückgeht,
diese an den Anfang stellt, lassen sich die verschiedenen und
auch auseinandergehenden Bestimmungen gegen die Ehen
zwischen Neffen und Nichten auf eine befriedigende Weise
erklären. Dieses schließt nicht aus, daß Gründe besonderer
Art wohl einmal, wenn nicht zur Einrichtung, so doch sicher
zur Verschärfung und Erhaltung dieser Verbote beigetragen
haben müssen. Ein den Javancn entlehntes Beispiel möge
dieses zeigen’).
Bergt. Pocnsen, Dadoeng-kapoentir, Mededeelingen
van wege het Nederl. Zendelinggenootschap XXXI, 26.
Ehen zwischen Neffen und Nichten sind bei den Java-
nen verboten. Eine solche Ehe führt zu resah, das ist
Unordnung, Unregelmäßigkeit. Wenn der Javanc dieses
sagt, hat er dabei ein natürliches Verhalten der Kinder unter-
einander ine Auge, das auf der Gewohnheit beruht, die auch
in der Sprache Ausdruck findet, daß ältere und jüngere
Blutsverwandte einander nach Rang und Zcitfolge der Ge-
burt, die auch bei der ferneren Abstammung in Kraft bleiben,
durch bestimmte Anreden als ältere und jüngere ehren. Bei
den Javanen heißt nämlich ein älterer Bruder kakang,
ein jüngerer adi. Wenn sich nun zwei Brüder oder ein
Bruder und eine Schwester, also ein kakang und ein adi,
verheiraten und Kinder bekommen, behalten diese unterein-
ander die Gewohnheit der Eltern bei, so daß die Kinder des
kakang von den Kindern des adi als kakang angesehen und
behandelt werden. Selbst wenn ausnahmsweise der adi eher
als der kakang heiratet und demzufolge die Kinder des adi
älter als jene des kakang sind, bleibt diese Regel bestehen.
Durch keinerlei Umstände kann der kakang ein adi und ebenso-
wenig der adi ein kakang werden. Jetzt wird man cs ver-
stehen, weshalb Ehen zwischen Neffen und Nichten unerlaubt
sind. Angenommen, daß der Sohn eines kakang sich mit
der Tochter seines, des kakangs, adi verheiraten wollte, dann
würde diese Tochter, eine adi, also eine jüngere, durch diese
Heirat notwendigerweise die boq-aju (das ist für Frauen
die gleichartige Bezeichnung wie kakang für Männer) der
Brüder ihres Mannes werden, die ja für sie alle kakangs
sind. Aber wie — so fragt die Unmöglichkeit des Falles
andeutend der Javane — aber wie kann ein jüngerer zu-
gleich ein älterer und ein älterer zugleich ein jüngcrer
werden? Das wäre doch die Tinge auf den Kopf stellen,
die Geburt und Abstammung willkürlich ändern, wenn
überhaupt möglich; das wäre wie ein Zugtier verkehrt
vor den Wagen gespannt, das Gefahr liefe, sich die Kehle
zuzuschnüren und sich zu erwürgen.
Meine Skizze kommt zum Schlüsse. Wiewohl ich mich
auf allgemeines beschränken mußte und wenig mehr als
einige Hauptsachen anführen konnte, wird doch das Mit-
geteilte, wie ich hoffe, den Leser davon überzeugt haben, wie
nützlich das Studium der Ethnologie für die Kenntnis der
Entwickelungsgcschichte der Eheverbote ist. Die Frage nach
dem Ursprung dieses Verbotes haben wir so auf seine ein-
fachste Form zurückgeführt. Wenn die Verbote stets aus der
Exogamie zu erklären, so bleibt nur die Untersuchung über
das Entstehen der letzteren übrig. Ob cs der Ethnologie
einst glücken wird, auch eine vollständige Lösung dieser zu
finden? Die Beantwortung dieser Frage möge der Zukunft
überlassen werden. In bezug aus einen Punkt aber hat uns
die Völkerkunde bereits völlige Sicherheit verschafft, daß
nämlich die Verbote ursprünglich nicht das Ziel gehabt haben,
die wirklichen oder vermeintlichen schädlichen Folgen von Ehen
zwischen Blutsverwandten für die Nachkommenschaft abzu-
wehren und daß hierin der Ursprung der Verbotsbestimmungen
nicht gesucht werden darf.
Gegenwärtiger Zustand der deutschen Gemeinden
am Südfuße des Monte Rosa.
Von F. Aaibler.
„Seit einigen Jahren predigt man auch in zwei Gemein-
den der Diözese Aosta, deren Sprache deutsch ist, französisch.
Sie liegen im obern Teile des Gressoneythalcs am piemon-
tesischen Abhänge des Monte Rosa; es sind dieses Grcssoney-
la Trinits und Gressoncy-St. Jean. Die Priester dieser
Dörfer waren meistens Landeskinder oder aus Bayern ge-
kommene Priester; gegenwärtig sind cs zwei Valdotaner,
welche französisch predigen. Das Französische wird in diesen
tUcffiepten und die Kenntnis des Deutschen, Französischen Gressoncy-St. Jean mehr als 20 Bitten, die von reich aus
und Italienischen ist ihnen sehr wertvoll. Man sieht in der Fremde zurückgekehrten Landeskindern erbaut wurden."
F. Kaibier: Gegenwärtiger Zustand der deutschen Gemeinden am Sndsuße des Monte Rosa.__________________39
die Bevölkerung ist dort intelligent,
eich. Aus Rasseninstinkt zeigten sie während
zwei Dörfern verstanden; die Bevölkerung ist dort intelligent, j des Krieges 1870 bis 1871.^beit tschc ^)>uPathieern ^^' u^
gebildet und reich. Aus Rasseninstinkt zeigten sie während ^ große Anzahl unternimmt wen e 'an er ge e e >.
40
F. Kaibler: Gegenwärtiger Zustand der deutschen Gemeinden am Südfuße des Monte Rosa.
So schreibt Professor H. Gaidoz in Paris in den Annales
de l’école libre des Sciences politiques 1887 und man er-
kennt daraus, daß diese französische Predigt keineswegs zur
Stärkung des ohnehin schwachen Nationalgcfühls der Be-
wohner Gressoneys beitragen kann. Die italienische Geist-
lichkeit ist es gewesen, der wir bisher die Abnahme und das
Eingehen des deutschen Elements in den Dörfern am Monte
Rosa zu danken haben. In diesem Falle aber arbeitet
der Bischof von Aosta wenigstens nicht an der Jtalieni-
sierung, wenn er der deutschen Gemeinde französische Priester
schickt.
Wie von Norden her, wo deutsche Walliser wohnen, ist
der Monte Rosa ursprünglich auch an der Süd- und Ost-
seite vom deutschen Sprachgebiete umschlossen und nur von
Westen her reicht eine provengalische Mundart an ihn heran.
Auch hier war cs früher anders, denn am Levinzon ertönte
einst die deutsche Sprache; noch sind in der Kaplanei
St. Jaques d’Aya viele Gemeindegüter deutsch benannt und
der Strich aufwärts von Ayas heißt Canton des Allemands.
Der Monte Rosa ist somit als ein deutscher Berg zu be-
trachten, der in unsrer Litteratur mit seinem bei den Um-
wohnern heimischen Namen „Gornerhorn" zu benennen
wäre. Monte Rosa ( — Rosenberg) ist nur eine Ver-
stümmelung ans Monte rosso (= roter Berg), von der
gelbroten Farbe seines Gesteins (A. Schott).
Die sieben in Frage kommenden Gemeinden sind: Die
beiden Gressoney und Jssime (mit Gabi) im Lysthale;
Allagna, Rima San Giuseppe und Rimella im obern Thale
der Sesia und deren Nebenbüchen; Macngnaga (mit Burea
und Pescarena) im Ansanscathale '). Die Gesamtbevölkerung
dieser Gemeinden betrug am Ende des Jahres 1878 nach
amtlicher Ouelle 5172 Seelen.
In Gressoney hat sich die deutsche Sprache am besten
erhalten. Als Krämer, Maurer, Steinhauer, Zuckerbäcker-
ziehen die Einwohner weithin in deutsche Lande, um dort
ihr Brot zu suchen. Deshalb nennt Sebastian Münster ihr
Thal schon Krämerthal. Die Gressoneycr Firmen (nament-
lich Tuchgeschäfte) in Zürich, Winterthur, St. Gallen,
Frauenseld, Luzern, Konstanz, Augsburg und an andern
Orten sind sehr angesehen. Meist kehren die Gressoneycr
wohlhabend in die Heimat zurück, aus der sie auch ihre
Frauen nehmen. Es ist ein schöner, blonder, fleißiger und
tüchtiger Menschenschlag, welcher vortreffliche Soldaten
liefert, während cs im nahen kropfreichen Aostathale ganze
Dörfer giebt, die jahrelang keine Rekruten liefern.
A lag na redet auch noch deutsch. Für die Alagnesen
ist der Italiener der „Wailschu". Es ist jetzt eine viel-
besuchte italienische Sommerfrische und ans diesem Grunde
nimmt die italienische Sprache mehr und mehr zu, bis sie,
über kurz oder lang, die allein herrschende sein wird. Die
Schule ist italienisch und so sind auch die Kinder.
Macngnaga ist ein Sammelname für folgende sechs
Ortschaften: Pestarena, Burea, in der Stapf, zum Strich,
auf der Rive, Zertannen. In dem untersten Weiler Pesta-
rena ist das Deutsche ganz, in Burea größtenteils verschwun-
den. In den übrigen Dörfern dagegen ist Sprache, Holz-
bau und Frauentracht noch deutsch. Die Predigt ist hier
italienisch, die Kinderlehre deutsch, die Schule ist italienisch,
so daß auch hier das Eingehen des Deutschen voraus-
zusehen ist.
Jssime hat noch deutsche Volkssprache beim alten Ge-
schlecht. Schule und Kirche sind aber, wie Studer anführt,
französisch. So auch in Gabi. i)
i) Im Thale des Toce ist Pommat (Fornmzzo) heute noch
deutsch; die weiter abwärts liegenden Orte Miggiandone und
Ornavasso sind verwelscht. Sie gehören aber ' nicht zu den
deutschen Orten am Monte Rosa.
In Rimella wird wegen der älteren Leute noch deutsch
gepredigt. Die Schule ist schon seit 1829 italienisch.
Rima mit italienischer Schule und Kirche ist so gut wie
verwelscht.
Schon der Ausdruck „Altwibersproach" für das Deutsche
zeigt, daß es auf dem Aussterbestand steht und nur Gressoney
hat, durch die ins deutsche Sprachgebiet führenden Wande-
rungen seiner Einwohner, noch einigen Halt.
Fest steht, gegenüber andern Ansichten und Phantasiecu,
daß diese Deutschen am Monte Rosa, wie die Sprache
beweist, von Wallis über die Alpen herüberkamen, und daß
auch sie ein Teil der großen Kolonisationsarbeit der Walser
sind. Die sprachlichen Untersuchungen von Schott haben
dieses dargethan. Die historische Untersuchung (Breßlau)
unterstützt dieses völlig. Die Ansiedelungen im Lysthale
sind bereits vor dem 13. Jahrhundert, die übrigen zumeist
in der zweiten Hülste dieses Jahrhunderts begründet worden;
sie erklären sich durch dynastische Verbindungen, welche zwischen
dem Oberwallis und den von dort aus bevölkerten Gebieten
bestanden. Die Orte, wohin die Kolonisten verpflanzt
wurden, behielten den romanischen Namen, den sie geführt
hatten, unverändert oder mit leichter Umgestaltung bei; nur
den einzelnen Weilern, hier und da auch Bergen und Flüssen,
legten die Ansiedler Benennungen bei, die ihnen in der
Heimat vertraut gewesen waren. Bei Macngnaga trifft
man die Weilernamen: In der Stapf, Zum Strich,
Zur Tanne; bei Gressoney findet man Grazmattaz, Loh-
mattaz, Boden, Biel, Wald, Staffel. Häufige Familien-
namen, die in Wallis wiederkehren, sind Lochmatter, Zum-
stein, Wiener, Zimmermann, Beck, Dreißig, Schwarz,
Thüringer. Vielfach klingen noch deutsche Sitten durch;
die Tracht der Frauen im Lys- und Sesiathale ist noch
deutsch; namentlich aber unterscheidet die Dörfer der in
ihnen herrschende Holzbau von den italienischen Stein-
bauten. Das allmähliche Eingehen des Deutschtums ist
bei allen zu erwarten.
Der Entdecker der Deutschen am Monte Rosa ist
Saussure, der sie 1789 besuchte. Une espèce de
garde allemande occupe le pied du Mont-Rose, je
yeux dire ces villages allemands (Macngnaga, Alagna
und Gressoney waren ihm bekannt), qui ne sont pas une
des singularités de cette montagne les moins dignes
de l'attention d’un voyageur, schreibt derselbe im achten
Bande seiner Voyages dans les Alpes (Neuchâtel 1796).
Im Jahre 1822 fügte Freiherr v. Weiden (Der Monte
Rosa. Wien 1824) noch zu den durch Saussure bekannt
gewordenen drei Gemeinden jene von Rima hinzu.
Max Schottky schilderte (Ausland 1836,Nr>92 u. 95)
„das Thal von Rimella und seine deutschen Bewohner" und
beschäftigte sich zum ersten Male mit der Sprache. Er er-
wähnt, daß auch Jssime deutsch sei.
Die grundlegende Arbeit über „Die Deutschen am Monte
Rosa" veröfsenttichte (Zürich 1840) der Oberlehrer Albert
Schott, der Gabi als deutsch nachwies, wiewohl dieses (zu
Jssime gehörig) damals schon zu einem Viertel verwelscht
war. Die beiden Gressoney und Jssime waren ganz deutsch.
Desgleichen damals noch die heute verwelschten Rima und
Rimella; selbstverständlich fand Schott damals auch noch
Macngnaga und Alagna deutsch. Ausführlicher noch als
in der ersten Schrift handelt Schott in seiner zweiten über
„Die deutschen Kolonien in Piemont, ihr Land, ihre Mund-
art und ihre Herkunft" (Stuttgart u. Tübingen 1842).
Die geschichtlichen Verhältnisse (meist nach Bianchetti und
Gremaud) aufgeklärt zu haben, war schließlich das Verdienst
H. Breßlans: „Zur Geschichte der deutschen Gemeinden
im Gebiete des Monte Rosa und im Ossolathale" (Zeit-
schrift der Ges. für Erdkunde zu Berlin XVI, 173).
Richard Andree: Die Grenzen ber niederdeutschen Sprache.
41
_ ^'ìue gute Übersicht bietet auch die Schrift von Julius
minder: „Walliser und Walser, eine deutsche Sprach-
vcrschiebung in den Alpen" (Zürich 1886).
8coch ist ein sprachlicher Beitrag aus den deutschen
Gemeinden demnächst zu erwarten. Der vor Kurzem ver-
storbenst', hochverdiente italienische Alpenforscher Dr. (Gio-
vanni Giordani hat ein sehr umfangreiches Wörterbuch
nebst Grammatik des Dialektes von Alagna hinterlassen,
dessen Berösfentlichnng die Sektion Varallo des italienischen
Alpenklubs in die Hand genommen hat.
In bildlicher Beziehung sind die deutschen Gemeinden
teilweise in dem neuen Photographiealbum von Vittorio
Sella (Biella 1890, 15 Lire) dargestellt worden. Ihm
ist unsre Abbildung von Gressoney entnommen, welches in
den letzten Jahren wiederholt Sommerfrische der Königin
von Italien war.
Die Grenzen der niederdeutschen Sprache.
Von Richard Andree.
(Schluß.)
5. Grenze von der Weser bis zur Elbe. Litte-
ratur: F. Winter, Eiko von Repgow und der Sachsen-
spiegel. In Forschungen zur deutschen Geschichte XIV, 333
(Güttingen 1874). — B. Hanshalter, die Sprachgrenze
zwischen Mittel- und Niederdeutsch von Hedemünden an der
Werra bis Staßfurt an der Bode. Mit Karte. In den
Mitteilungen des Vereins für Erdkunde zu Halle a. S.
1883, 31 bis 51.
Bei Hedemünden, Kreis Witzenhausen, überschreitet die
Sprachgrenze mit der hessischen Landesgrenze die Werra. Die
folgenden niederdeutschen Orte bezeichnen dann die weitere
Grenze in ihrem Verlauf von Westen nach Osten: Mollen-
dorf, Hermannroda, Hebenhausen. Sie folgt dann der
Nordgrenze des Kreises Heiligenstadt, so das; Niedergandern,
Reisenhausen, Lichtcnhagcn, Ischenrode, Bischhausen, Weißen-
born des Kreises Göttingen niederdeutsch sind, ebenso noch
Glasehausen des Kreises Heiligenstadt. In den Kreis Worbis
eintretend schneidet sie dessen nordwestlichen Teil als nieder-
deutsch ab, so daß Neuendorf, Berlingerode, Hundeshagen,
Winzingcrode, Holungen, Kloster Gerode, Lüdcrode, Weilrode
die niederdeutschen Grenzdörfer dieses Kreises sind. Nun
ätsch,
cührt
schen
Zorge (mitteldeutsch).
______ ___owu|i.v |iuu. nenn
in das Amt Herzberg übertretend ist Osterhagen niederdeutsch,
während Nixei und Steina mitteldeutsch sind. Hier berührt
die Grenze den Oberharz und folgt der Wasserscheide zwischen
Oder (niederdeutsch) und Wieda und Zorac lmitteld,'„6cki;
,, ----' " 'vJu
Braunlage ist nieder-, Hohegeiß mitteldeutsch.
Mit geringen Ausnahmen (Stiege und Allrode) ist nun
das Gebiet der Bode bis Staßfurt niederdeutsch. Die süd-
lichen Grenzorte sind nach Haushalter: Braunlage, Voigts-
Sorge, Bcnnekenstein, Hasselfelde, Friedrichsbrunn
selbe,
.. , ^«nv^vtvv f yvuUUUjX’UlUUll
(gemischt), Gernrode, Ballenstedt, Maisdorf, Ermslebcn, Staß-
furt. Von Maisdorf bis Staßfurt lagert sich südlich im
Gebiete der Wipper ein gemischtes Gebiet vor das rein
niederdeutsche, dem die Stadt Aschersleben angehört, eine Er-
oberung der mitteldeutschen Mundart in den letzten 20 bis
30 Jahren. Hier dringt, wie Haushalter gezeigt hat. das
mitteldeutsche rasch vor-, cs ist die Fortsetzung eines Jahr-
hunderte langen Prozesses, der die gange Landschaft zwischen
Helme, unterer Unstrut, Saale, unterer Bode, Wipper und
Harz Schritt für Schritt aus niederdeutschem zu mitteldeut-
schem Gebiete gemacht hat.
Von Staßfurt bis zur Elbe verläuft nach Winter die
Grenze folgendermaßen: Zwischen Hohen-Erxleben und Staß-
furt überschreitet sie die Bode und überweist die an der
Bode liegenden Orte Löbnitz, Hohendorf und München-Nien-
burg dem Mitteldeutschen, während die nördlicher gelegenen
Dörfer Förderstcdt, Ülnitz und Brnmby niederdeutsch reden.
Indem so die Sprachscheide nördlich von Nienburg auf die
Saale stößt, wird dieser Fluß von da bis zu seiner Mündung
in die Elbe die Grenze beider Sprachen. Wedlitz, Wispitz,
Schwartz, Trebitz, Rosenburg sind mitteldeutsch, die auf dem
linken Saalcnfer liegenden Orte niederdeutsch. In den Städten
GlobuS I.IX. Nr. 3.
Barby und Kalbe ist das Mitteldeutsche bereits zum Siege
gelangt und finden sich nur wenig niederdeutsche Sprachreste.
Erwähnen wollen wir an dieser Stelle, daß im Unter-
harze eine mitteldeutsche Sprachinsel liegt, bestehend aus
den Bergstädten Klausthal, Zellerfeld, Wildemann, Lautenthal
und Andreasberg, Altenau und Grund. Dazn kommen dann
noch die Dörfer Ober- und Unter-Schulenberg. Grund und
Lantenthal sind jedoch gemischt. Die herrschende Mundart
ist die erzgebirgische, da erzgebirgische Bergleute den dortigen
Bergbau zur Blüte brachten l).
6. Grenze von der Elbe bis zum polnischen
Sprachgebiet. Litteratur: Stier, die Abgrenzung der
Mundarten im sächsischen Knrkreise. Programm des Witten-
berger Gymnasiums von 1862, Seite 14. — Winter, die
Sprachgrenze zwischen Platt- und Mitteldeutsch im Süden
von Jüterbogk. In den „Neuen Mitteilungen" des thürin-
gisch-sächsischen Vereins für Erforschung des Vaterländischen
Altertums IX, 2. Heft, Seite 8. Halle 1860. — B. Hans-
halter, die Grenze zwischen dem hochdeutschen und dem
niederdeutschen Sprachgebiete östlich der Elbe. Rudolstädtcr
Programm. Mit Karten. Halle 1886.
Von der Mündung der Saale bildet das rechte Elbufer
aufwärts nach Osten zu die Grenze der Sprachscheide bis
zur anhaltischen Grenze bei Griebau. Hier verläßt sie, nach
Stier, die Elbe und in einem Bogen geht sie die Landes-
grenze hinauf, indem sic Apollensdorf, Wittenberg, Dabin,
Rüdersdorf, Euper und Zahna dem Mitteldeutschen über-
läßt. Weiter östlich, also im Süden von Jüterbogk, ist der
von Vlamländern 1133 bis 115 besiedelte Flemming nieder-
deutsch, der südlich daran stoßende „Busch" aber, eine waldige
und haidige Gegend der Kreise Wittenberg und Schweinitz,
mitteldeutsch. Die südlichsten niederdeutschen Dörfer sind hier
nach Winter: Zalmsdorf (östlich von Zahna), Möllnitz,
Morxdorf, Oehna, Zellendorf, Körbitz, Wclsickendorf, Greifen-
dorf, Reinsdorf, Nonneudorf, Waltersdorf, Nieder- und
Hohen-Scefeld, Jhlo, Mehlsdorf, Bollensdorf bei Dahme.
Nach Stier liegt die Grenzlinie jedoch etwas südlicher als
Winter sie angiebt oder vielmehr ein Mischgebiet lagert sich
im Kurkreise südlich vor das noch rein niederdeutsche Gebiet.
Diese südlichere Grenze geht von Zahna auf Leeza, Zemnick,
Jessen, überschreitet hier die Elster, auf Annaburg, geht bei
Arnsneste zurück auf das rechte Elbufer, auf Dnbro, Werchan
und bei Proßmarken an die Provinzialgrenze. Dieses zwi-
schen den Angaben von Stier und Winter liegende Gebiet
ist Verlust der niederdeutschen Sprache. In Wittenberg, das
ja niederdeutschen Namen führt, wurde das städtische Ge-
richtsbnch bis 1416 niederdeutsch geschrieben.
Seit den Mitteilungen Stiers und Winters sind dreißig
Jahre verflossen und diese Zeit scheint gerade in dem Gebiete i)
i) Haushalter, die Mundarten des Harzgebirges, Milt. d.
Vereins für Grdknnve zu Halle 1881, 89.
6
42
Richard Andrer: Die Grenzen der niederdeutschen Sprache.
bei Wittenberg für die niederdeutsche Sprache weiter schädlich
gewirkt zu haben, denn nach den Erkundigungen Haushalters
ist auch die anhaltische Stadt Koswig nebst Umgebung jetzt
zum mitteldeutschen Sprachgebiete zu rechnen.
Wir gelangen nun zur Provinz Brandenburg, in welcher
die niederdeutsche Sprache seit der Reformation gewaltige
Einbußen erlitten hat, von der aber einige Gegenden (das
germanisierte wendische Gebiet von Beeskow-Storkow, die
Niederlansitz re.) niemals niederdeutsch sprachen. Sämtliche
bisherige Karten geben der niederdeutschen Sprache ein viel
zu großes, zu weit nach Südost reichendes Gebiet und
schließen Berlin nebst Umgebung ein. Dieses zeigt sich, nach
Haushalters Erkundigungen, heute als unzutreffend. Letz-
tere beruhen ans Anfragen bei den Landräten, Bürger-
meistern, einzelnen Pastoren und Lehrern und geben wohl
ein im ganzen richtiges Bild, vertragen aber noch eine Aus-
arbeitung im einzelnen nach Aufnahmen an Ort und Stelle.
Zunächst angrenzend an die bis Dahme beschriebene
Sprachgrenze liegt der Kreis Jüterbogk, welcher ganz nieder-
deutsch ist. Der nächste in Betracht kommende Kreis, Teltow,
ist nur noch in seinem südlichen und westlichen Teile nieder-
deutsch, namentlich bis Zossen hin, während bei Teupitz
bereits germanisierte Wenden wohnen, die nur hochdeutsch
reden. Während Kreis Westhavelland noch niederdeutsch ist,
geht die Sprachgrenze bereits durch den Kreis Osthavelland
mitten hindurch, über Nauen nach Oranienburg an der
Havel, den südlichen Teil dem Mitteldeutschen überlassend.
Ähnlich liegen die Verhältnisse bei den beiden im Osten
folgenden Kreisen Nieder- und Ober-Barnim, deren nördlicher
Teil dem niederdeutschen Sprachgebiete angehört. Haus-
halter zieht die Grenze von Oranienburg über Biesenthal
zur Oder hin, so daß Freienwalde noch dem Hochdeutschen
verbleibt. Der ganze weiter östlich gelegene Kreis. Königs-
berg (Neumark) ist niederdeutsch, ebenso der Oderbrnch bis
Küstrin, also auch der nördlichste Teil des Kreises Lebns, in
dem sonst das Niederdeutsche rasch abstirbt, so daß in den
Orten Nen-Hardenbcrg, Görlsdorf und Marxdorf (nordöstlich
von Müncheberg) nur noch alte Leute dasselbe sprechen. Der
Kreis Landsberg ist niederdeutsch, so daß hier die Warte die
Südgrenze bildet; ferner nach Osten ist der Kreis Friede-
berg niederdeutsch, wo das Niederdeutsche auch über die Netze
nach Süden hinausgreift.
Die Provinz Brandenburg weist den größten Gebiets-
verlust der niederdeutschen Sprache auf. Bis gegen den Aus-
gang des Mittelalters ist, wie die Untersuchungen von Hans-
halter ergaben, fast die ganze Mittelmark (Beeskow-Storkow
ausgenommen) niederdeutsch gewesen. Insbesondere war die
Geschäftssprache in den Städten bis Ende des 15. Jahrhunderts
das Niederdeutsche. Der Kreis Lebns, der überhaupt zweifel-
haft niederdeutsch war und die Stadt Frankfurt a. O„ büß-
ten zuerst die niederdeutsche Sprache ein; das Land Stern-
berg wahrscheinlich schon im Beginn des 15. Jahrhunderts.
Berlin wurde durch den Einfluß der hochdeutschen Hofhaltnng
der Hohenzolleru eine wesentlich hochdeutsche Stadt, einem
Zuge, dem nun allmählich die übrigen Städte der Mark folgten,
in denen zuerst das Niederdeutsche als Geschäftssprache wich.
Der große Verkehr der Neuzeit begünstigt dieses im Steigen
befindliche Schwinden, und an den Rändern des noch nieder-
deutschen Gebietes findet mehr und mehr Abbröckelung statt,
die ans den Einfluß der Hauptstadt zurückzuführen ist.
7. Grenze gegen die polnische und litauische
Sprache. Böckh, Sprachkarte vom Preußischen Staate
nach den Zühlnngsaufnahmen 1861. Berlin. — Böckh,
Der Deutschen Volkszahl und Sprachgebiet. Berlin 1869. —
B. Haushalter, Die Grenze zwischen dem hochdeutschen
und niederdeutschen Sprachgebiete östlich der Elbe. Halle
1886.
Die Abgrenzung der deutschen Sprache gegenüber der
polnischen, ans welche wir nunmehr weiter nach Osten hin
stoßen, ist, mangels späterer Aufnahmen, noch immer am
besten zu ersehen aus der Böckh scheu Sprachkarte. Was
zunächst die jetzige Provinz Posen betrifft, so ist der nördliche
Strich derselben, nämlich die Kreise Czarnikau, Kolmar
(Chodziesen), Wirsitz, Schubin, Land- und Stadtkreis Brom-
berg und Jnowrazlaw, dem niederdeutschen Sprachgebiete nach
Haushalters Erkundigungen zuzurechnen. Dieser, bei der
ersten Teilung Polens preußisch gewordene Strich wurde von
Friedrich dem Großen mit Kolonisten ans niederdeutschen
Gebieten besiedelt, deren Sprache sich zumeist erhalten hat.
Die südlicher gelegenen Kreise der Provinz Posen reden,
soweit sie nicht polnisch sind, hochdeutsch.
Die Provinz Westpreußen spricht, abgesehen von den
polnischen Teilen und abgesehen von dem Hochdeutschen der
Städter, niederdeutsch.
In der Provinz Ostpreußen liegen die Verhältnisse ebenso,
nur ist hier jiiif eine hochdeutsche Sprachinsel aufmerksam zu
machen, auf die Dr. Lilienthal zuerst 1842 hinwies. Diese
Sprachinsel, von Schlesiern besiedelt, hat zur Westgrenze den
Passargefluß und zur Nordgrcnze die Dörfer Wnsen, Steg-
mannsdorf, Heiwickan, Paulen (zwischen den Städten Mehl-
sack im Norden und Wormditt im Süden). Sie umfaßt
alsdann den ganzen Kreis Heilsberg und den westlichen Teil
des Kreises Rössel, wo sie bei Lauteren auf die masurische
Sprachgrenze stößt. Wormditt, Heilsberg, Gnttstadt, Seebnrg
sind die größeren Orte dieses „breslauisch" sprechenden
Gebietes.
Im Osten der Provinz Ostpreußen grenzt die nieder-
deutsche Sprache mit der litauischen. Von einer einheit-
lichen Grenze kann hier nicht die Rede sein, da die Mischungs-
und Wohnnngsverhältniffe der preußischen Litauer (Letten)
so durcheinander gehen, das eine genaue Aussonderung nur
statistisch, uitb dieses schwierig, möglich ist. Wirklich unge-
mischte litauische Landesteile giebt es innerhab der deutschen
Grenze nicht mehr.
Ueber die geschlossenen Grenzen hinaus hat sich aber, dem
Zuge der Besiedelung folgend, die niederdeutsche Sprache auch
nach Kurland, Livland und Esthland verbreitet, wo sie im
Mittelalter die herrschende bei den Kolonisten war und dann
allmählich dem Schriftdeutschen, wenn auch Reste hinter-
lassend, gewichen ist.
Schluß. Der verhältnismäßig kleine Maßstab, in welchem
die Karte gezeichnet ist, läßt die Sprachgrenze schärfer erschei-
nen, als dieselbe wirklich aufgenommen ist. Für die Strecke
vom Rothaargebirge bis zur Elbe, sowie in französisch Flan-
dern und Belgien ist dieselbe als genau festgelegt zu betrachten.
Zu beiden Seiten des Rheins aber bereitet die Übergangs-
mnndart des Ripuarischen Schwierigkeiten. Es liegt hier
eine Vermischung vor, die in der einfachen kartographischen
Art, die bei unsrer Karte angewendet ist, sich nicht kenn-
zeichnen läßt, auch wenn der genügende unterscheidende Sprach-
stoff vorläge. Desgleichen liegt die Bestimmung der Sprach-
grenze östlich der Elbe nur in größeren Zügen vor. Abgesehen
davon, daß hier in neuer Zeit keine Aufnahme von Ort zu
Ort stattfand, bereitet das schnelle Vorschreiten der hochdeutschen
Sprache und der entsprechende Verlust des Niederdeutschen
an der Grenze hier Schwierigkeiten. Die Gebirge und
Wasserscheiden, welche weiter im Westen schützend für das
Niederdeutsche wirken, fehlen hier; auch scheint es, als ob
ans dem kolonisierten, den Slaven abgenommenen Boden in
Ostdeutschland das Niederdeutsche nicht dieselbe Zähigkeit be-
wahrt hat, wie auf alt niedersächsischem Boden weiter west-
lich. Denn gerade im Osten treffen wir ans die größten
Gebietsverluste. Auf dem altsächsischen Boden von Westfalen
bis zum Harze ist aber die Grenze im ganzen noch dieselbe,
43
Wegweiser zum Nordpol.
wiewohl seitdem
wie sie zur Zeit Karls des Großen war,
mehr als tausend Jahre verflossen sind.
Das Ideal einer Karte der niederdeutschen Sprache hätte
noch manches zu berücksichtigen, was ans Mangel an vor
bereitetem Stoff heute graphisch noch nicht dargestellt werden
fiiitu1); wo der Text mit umschreibenden Worten, Andeutungen
und Möglichkeiten sich zu behelfen vermag, muß der Karten-
zeichner bestimmt vorgehen. Von Süden her dringt mehr und
mehr das Hochdeutsche in das niederdeutsche Gebiet ein; cs
hat innerhalb des Deutschen Reiches die Städte des Gebietes
säst vollständig erobert und am Rande bröckelt eine Stadt nach
der andern ab. Im heutigen Frankreich ist ein weites, che-
mals deutsches Gebiet, nördlich der Linie Boulogne-St. Omer,
jetzt ganz französisch, ein weiteres (gestrichelt angegebenes)
bereits zweisprachig. Im Süden Brabants weisen zahlreiche
Ortsnamen aus ehedem niederdeutschen Besitz. Starke Ver-
luste ergaben sich, wie gezeigt wurde, in der Gegend südlich
vom Harze; bei Aschcrslcben haben wir gemischtes Gebiet. In
der Wittenberger Gegend schreitet das Hochdeutsche vorwärts.
Die Stadt Magdeburg hat in den dreißiger Jahren unsres
Jahrhunderts bereits ihre niederdeutsche Sprache zu Gunsten
der hochdeutschen ausgegeben und nur noch Fischer und Schiffer
reden sie daselbst. Auch in den kleineren Städten der Magde-
burger Gegend herrscht schon das Hochdeutsche und selbst bei
den reichen Bauern der „Börde" nimmt sie mehr und mehr
überhand. Hier ist also innerhalb des geschlossenen nieder-
deutschen Sprachgebietes eine bereits im sprachlichen Über-
gange zum Hochdeutschen befindliche Gegend -). In Halle
wurden die Urkunden und Schöppenbücher bis in das letzte
Viertel des 14. Jahrhunderts niederdeutsch geschrieben3),
womit freilich noch nicht bewiesen ist, daß alles Gebiet
zwischen Halle und der heutigen Sprachgrenze niederdeutsch
war. Der große Verlust des niederdeutschen Sprachgebietes
in der Provinz Brandenburg ist hervorgehoben und auch in
großen Zügen von Haushalter (a. a. D.) kartographisch dar-
gestellt worden.
Ju der Frage, ob die alten Gau- und Diözesengrenzen
mitbestimmend bei der Sprachgrenze gewirkt haben, besteht
Meinungsverschiedenheit. Eine Einzeichnung derselben, ver-
bunden mit den, größtenteils noch erst zu ermittelnden ehe-
maligen Sprachgrenzen, würde hier Klarheit verschaffen und
wohl zu dem Ergebnis führen, daß eine Verallgemeinerung
hier nicht am Platze ist, sondern daß dieselben hier von Ein-
fluß waren, dort aber nicht bestimmend wirkten.
Hanshalter verwirft das Zusammenfallen der Gau- und
Sprachgrenzen. Allein Werncke (a. a. O.) bringt dafür
schlagende Beispiele bei. Und selbst innerhalb der nieder-
deutschen Sprache weist die scharfe Abgrenzung der Gebiete,
in welchen einerseits mi und di, anderseits mik und dik
ftnek und bet) gesprochen wird, aus ein Zusammenfallen von
Gau- und Dialektgrenzen hin, wie dieses W. Seclmann
und H. Babucke gezeigt haben 4).
effwciscr zu in Nordpol.
Es handelt sich hier um eine Hose und um ein Wurf-
brett.
Als in den sechziger Jahren August Petermann seine
rege Wirksamkeit für die Aussendung einer deutschen Nord-
polexpedition eröffnete, zeichnete er auch verschiedene Karten,
welche in verlockender Weise die Wege zeigten, auf denen der
Nordpol erreicht werden könne. Rote Pfeile gaben die Rich-
tung an, in der die Forschungsschiffe vordringen sollten. Da
waren das ostgrönländische Meer und die Spitzbergensce,
der Smithsnnd und die Bcringstraße mit solchen nach Norden
weisenden Pfeilen geziert. Die Vorteile und Nachteile eines
jeden Weges wurden sorgfältig abgewogen und das ostgrön-
ländische Meer schließlich als die beste Route bezeichnet.
Von den Expeditionen, die im Eismeere zwischen Grön-
land und Sibirien nach Norden vordrangen, gelangte die
.weite deutsche unter Koldewey 1870 mit Schlitten bis
i i
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it Br. und die zweite österreichische unter Payer 18 <4
') Am Jahre 188') verlangte in einer Preisausgabe die
Jablonowskische Gesellschaft zu Leipzig eine Darstellung der
geschichtlichen Entwickelung der Grenze zwischen dem hochdeutschen
und niederdeutschen Sprachgebiete östlich der Elbe. Haushalters
erwähnte Arbeit wurde von derselben mit einem Accessit aus-
gezeichnet.
2) Fr. Hülsie, Über das Zurücktreten des Niederdeutschen in
Magdeburg. Geschichtsblätter für Stadt und Land. Magdeburg
1878, 130.
3) Vergl. die belangreiche Abhandlung von Nich. Löwe: die
Dialeltmischung nu Niagdeburgischen Gebiete. Jahrbuch des
Ver. für niederdeutsche Sprachforschung 1888.
4) Jahrbuch des Vereins für niederdeutsche Sprachforschung
1881, 71.
bis 82" 5', während schon 1827 Parry mit Booten und
Schlitten eine Höhe von 82" 45' erreicht hatte. Der Pol
wurde auf diesem Wege nicht erreicht.
Fast noch zahlreicher waren die Expeditionen, die durch
den Smithsund im Westen Grönlands dem Nordpole zu-
strebten und die 1818 mit John Roß in einem Segelschiffe
begannen. Dieser gelangte bis 77°, während unter seinen
Nachfolgern Nares (Markham) im Jahre 1876 die höchste
Breite 83" 20' erreichte. Es blieb also auch im Norden des
Smithsundes noch eine bedeutende Lücke bis znm Nordpol aus-
zufüllen.
Die dritte Pforte zum Nordpol soll durch die Bering-
straße führen. Zwar sind schon oft Fang- und Expeditions-
schiffe nördlich von derselben vorgedrungen, doch den aus-
gesprochenen Zweck, von hieraus zum Nordpol zu gelangen,
hat bisher nur das amerikanische Schiff „Jeanette" gehabt,
welches 1879 Kalifornien verließ, um dem damals ver-
schollenen Nordcnskiöld im sibirischen Eismeere Hilfe zu
bringen; dann aber, auf dem Wege durch die Beringstraße,
zum Nordpol vordringen sollte. Die „Jeanette" ist nach einem
zweijährigen Eistreiben im Juni 1881 unter 770 15' bei
den neusibirischen Inseln zu Grunde gegangen. Nur wenige
von der Mannschaft vermochten sich nach der sibirischen Küste
zu retten und so blieb auch diese Expedition ihrem angestreb-
ten Ziele, dem Nordpol, fern.
Aber ein seltsames Überbleibsel derselben sollte einen
Fingerzeig geben, daß die „Jeanette" sich auf dem richtigen
Wege befunden hatte. Dieses ist wenigstens die Ansicht des
Dr. Frithjof Nansen, welcher durch seine kühne und er-
folgreiche Durchquerung Grönlands sich Geltung als Kenner
der nordpolaren Verhältnisse erworben hat.
Drei Jahre nach dem Untergange der „Jeanette" trieb
nämlich an der grönländischen Westküste bei Julianehaab
eine Eisscholle an, auf der sich festgefroren eine geölte Ma-
trosenhose befand und diese Hose war gezeichnet mit dem
Namen eines Matrosen der „Jeanette". Wie war sie nun
dorthin getrieben? Wenn der Leser auf eine Nordpolarkarte
schaut, so wird er, unter Berücksichtigung der herrschenden
Strömungen, finden, daß hier drei Wege in Betracht kommen.
1. Sie hat den weiten Weg nach Westen genommen, im
Norden von Sibirien, zwischen Nowaja Semlja und Franz-
Josefs-Land durch, südlich von Spitzbergen nach der grön-
ländischen Ostküste hin und entlang dieser mit der dort
herrschenden Strömung nach Süden, um das Kap Farcwcll
herum. Indessen von einer nach Westen gehenden Strömung
im sibirischen Eismeere ist, soviel wir wissen, nichts be-
kannt und die ungeheure Ausdehnung läßt diesen Weg auch
6*
44
Littledales Reise über den Pamir nach Kaschmir.
2. Die Hose ist vom Untcrgangspunktc der „Jeanette"
unmittelbar nach Norden getrieben worden, durch gänzlich
unbekannte Regionen bis zum Smithsunde und durch diesen
nach Süden an die Westküste Grönlands bis zu dem nahe
dem Südende liegenden Julianehaab. Dieser Weg, der nach
dem Blicke auf die starte sehr einfach erscheint, ist aber um
deswillen nicht möglich gewesen, da die kalten, von Norden
kommenden Strömungen nach dem arktischen Gebiete Amerikas
hinführen, wo die Hose also angetrieben sein müßte. Da-
gegen fließt an Grönlands Westküste eine warme Strömung
von Süden nach Norden, also entgegen der angenommenen
Richtung, aus welcher die Hose gekommen sein soll.
3. Die Hose hat zunächst den eben angegebenen Weg
durch die unbekannte Region über den Nordpol oder dicht
an diesem vorbei genommen, ist alsdann aber an die Ost-
küste Grönlands geraten, und an dieser südlich mit der dort
herrschenden bekannten Strömung um das Kap Farewell her-
um und von da mit der warmen Strömung nach Juliane-
haab geschwommen.
Diese letztere Route, unmittelbar über den Pol hinweg,
hält Herr Dr. Nansen für die wirklich von der Hose zurück-
gelegte und hierauf gründet er einen Plan, durch die Bering-
straße und das unerforschte Gebiet zum Nordpol vorzudringen.
Indessen die Hose ist nicht das einzige Beweismaterial für
das Vorhandensein eines offenen Meeres und einer Strömung
am Nordpol geblieben. Sie hat in einem Wurfbrett einen
Genossen von vieler Beweiskraft erhalten. In der norwegi-
schen Zeitschrift „Naturen" (X, Nr. 11, S. 176) erschien die
Notiz, daß unter dem Treibholz, welches in Godthaab an
der grönländischen Westküste angeschwemmt sei, sich auch ein
Wnrfbrctt oder Harpuncnwerfer befunden habe, welches seiner
Form nach in Grönland unbekannt sei, aber mit den Wurf-
hölzern Alaskas übereinstimme.
Es zeigt sich in diesem Falle recht deutlich, von wie
großem Werte für die Wissenschaft ein unscheinbar ethno-
graphischer Gegenstand sein kann, der durch seine Gestalt gut
charakterisiert ist. Das Wnrfbrctt, Wursholz, Pfeil- oder
Lanzenschicßer, Harpnucnwcrfer, ist ein Instrument, welches
dazu dient, die Lanze oder den Pfeil aufzulegen und diese in
eine bestimmte Ebene zu bringen, in welcher man sie schleudern
will. Die Verbreitung des Gerätes ist eine eigentümliche.
Es kommt vor in Australien, in Neu-Guinea, auf den
Pclau-Inseln, Marianen und bei den Giliaken Sachalins.
Dann wieder bei den Eskimos; cs fehlt bei den nordamerika-
nischcu Indianern, die es vielleicht früher kannten, ist in
einigen Gegenden Mexikos und Mittelamcrikas bekannt und
endlich bei den Indianern Südamerikas x).
John Murdoch in Washington hat nun das 1886 von
Dr. Rink bei Godthaab gefundene Exemplar eines Harpunen-
werfers näher untersucht und gefunden, daß cs mit den auf
der Kaviak-Halbinsel, am Norton-Sund und im Aukondelta
Alaskas gebrauchten Wurfhölzern, namentlich mit den ersteren,
völlig übereinstimmt. (American Antropologist III,
233.) Diese Form ist aber eine so bezeichnende, daß sie mit
derjenigen der Wnrfhölzer ans andern Gegenden, namentlich
nicht mit der ostgrönläudischeu, verwechselt werden kann.
Auch Adrian Jacobscn, der die Eskimos von Alaska, Grön-
land und Labrador genau kennt und unter ihnen ethnographische
Gegenstände sammelte, erklärt, daß das Stiick ans Alaska
stamme. * II,
i) Über dieses ethnographisch wichtige Gerät schrieben: Uhle,
Über die Wurfhölzer der Indianer Amerikas. Mitt. d. Anthro-
pol. Ges. in Wien XVII, 107 u. Tascl 4. — Mason, Throw-
inof-sticks in tlie National Museum. Smithsouian Report,
1884, II, 27;), mit Abbildungen. — Bahnson, Über südameri-
kanische Wurshölzer. Internationales Archiv für Ethnographie
II, 217 u. Tafel 13, Fig. 1 bis 4, und Seler, daselbst III,
137. — Virchow in Verhandl. Berl. Anthr. Ges. 1880, S. 269.
Von Alaska ans muß aber der Harpnucnwcrfer, um nach
Godthaab an Grönlands Westküste zu gelangen, denselben
Weg über den Nordpol gemacht haben, wie die Matrosenhose
von der „Jeanette"; es ist dieses Holz daher ein neuer Beweis
für eine von der Beringstraße durch die unbekannte Region
am Nordpol führende Strömung, für offenes Meer an dem-
selben und somit auch für die Möglichkeit, auf diesem Wege
das längst ersehnte Ziel zu erreichen. A.
Littledales Reise über den Pamir nach
Kaschmir.
(Sommer 1890.)
Eine auch in geographischer Beziehung interessante Reise
über den Pamir und Hindukitsch nach Kaschmir, die eigent-
lich der Aitfsuchung des Bergschafes (Ovis Poli) in jenen
Gegenden galt, vollführte jüngst der Engländer Littledale mit
seiner Frau; letztere ist somit die erste Europäerin, die den
Hinduknsch überschritt. Die Reise begann im Mai 1890
in Osch, wo die Karawane ausgerüstet wurde.
Der Weg führte zunächst den Gnltschafluß entlang, und
da der Terek-Paß durch Schnee gesperrt war, über den
Taldyk-Paß, 3650 m, an den Kisil-sn und sodann über den
Kisil-art-Paß, 4400 m, wo kein Schnee mehr angetroffen
wurde, nach dem Ostufer des Kara-kul. Von hier ans wurde
iiber den Tujuk-Paß die Wasserscheide zivischeu Kara-kul und
Murgab (Ak-sn) erreicht. Die Gesellschaft wandte sich dann
über den Nesa-tasch-Paß, 4300 m, nach dem Alitschur Pamir
und erreichte Tschatar-tasch oder das „Steinhaus". Von
hier ans wurde versucht, über den 5000 m hohen Basch-
guuibas-Paß zn gelangen. Da dies aber des Schnees wegen
nicht möglich war, so zog man den Alitschur-Fluß entlang,
bis man den Jeschil-kul in der Ferne erblickte und kam über
den Kargosch-Paß, 4400 m, an den Pamirstuß, der sich bei
Kila-Pandschah in Afghanistan in den Wachanftuß ergießt.
Nun ging cs ostwärts nach dem Victoria-See (gr. Pamir-
See) und einem kleineren See (Kurknntei-See? d. R.), die
beide, obwohl schon spät im Juni, zu drei Viertel gefroren
waren. Hier auf dem gr. Pamir sah Littledale einige Exem-
plare von Ovis Poli, konnte aber keines erbeuten, was ihm
erst auf einem kurzen Abstecher nach dem Kndschigit - Paß
gelang. Littledale zog nun den Andaminflufi aufwärts und
über den Paß gleichen Namens, 4700 m, nach dem kleinen
Pamir und am Wachan abwärts nach Sarhad, wo er am
12. Juli eintraf.
Hier befand er sich auf afghanischem Gebiete und sollte
dessen auch bald gewahr werden. Auf der Jagd nach Stein-
böcken (Ibex) begriffen, bemerkte er 10 Meilen von Sarhad
eine Gruppe Bewaffneter, die er anfänglich für kandschutische
Sklavcujäger hielt und schickte sich an, ihnen einen warmen
Empfang zn bereiten; allein es stellte sich bald heraus, daß
cs Kundschafter waren, die von Sarhad geschickt wurden, um
die Reisenden zn beobachten. Ter kommandierende afghanische
Offizier war freundlich und sorgte für Schafe und andre
Lebensmittel, allein er verlangte Verhaltungsmaßregeln von
Faisabad, der Hauptstadt von Badachschan, und bald darauf
erschien der Gouverneur von Kila-Pandschah und nach ihm
derjenige von Wachan auf der Bildfläche. Die Anwesenheit
einer Dame überzeugte jedoch allem Anschein nach die
Afghanen, daß die Gesellschaft nicht zur Spionage ausgcsandt
war, und nach einem Aufenthalt von 10 Tagen waren die
Vorbereitungen zur Überschreitung des Hindukusch getroffen.
Nachdem der Wachau und der Mastngflnß überschritten, er-
reichten die Reisenden über den Baroghil und Darkot-Paß
glücklich am 28. Juli Jasin und am 8. August Gilgit,
lebhaft begrüßt vom britischen Agenten Lieutenant Man-
Bl-»,.'.» vb-r »i- Entstehung tropiicher^CyNone. - Dana übn di.
45
ncrs-Smith. Langsam zogen sie nun nach Srinagar und
von da nach Simla, von wo im Spätherbst die Heimreise
angetreten wurde. (Wad) dem Allahabad Pioneer, 2. 9(ov.
1890.) E, M.
tropischer
Die Stürme des nördlichen Indiens entstehen nicht auf
dieselbe Weise wie die bengalischen Cyklone. Sie mögen
wohl, so meint Blanford, der Hannschen Theorie gemäß zu
Stande kommen. v. L.
Planford über die Entstehung
Cyklone.
H. F. Blanford bringt in „Nature" (27. Nov. 1890)
einen sehr belangreichen Beitrag über die Entstehung der
tropischen Cyklone. Er ist der Ansicht, daß die Hannsche
Cyclon-Theorie auf die Wirbelstürme von Bengalen keine
Anwendung finden könne. Früher glaubte mau allgemein,
daß die Cycloneu (um Barometerminima) und die Anticy-
clonen (um Barometermaxima) sowohl in den Tropen wie
in der gemäßigten Zone durch Erwärmung und Aufsteigen
(Cyklon), und Abkühlung und Herabsinken (Anticyklon) der
Lust in der Mitte des Wirbelsturms veranlaßt würden.
Aber Hanns Untersuchungen über die Temperatur und den
Luftdruck hochgelegener Stationen haben diese Annahme sehr
unwahrscheinlich gemacht. Hann betrachtet die Wirbelstürme,
speziell der gemäßigten Zone, als integrierende Bestandteile
der allgemeinen polar-tropischen (Passat) und tropisch-polaren
(Antipassnt) Zirkulation der Atmosphäre. Der hochwehcnde
Antipassat muß ans seinem Wege nach den Polen konzen-
trischen Bahnen folgen. Diese Konzentrizität der Bewegung
verursacht seitlichen Druck, weil um so weniger Platz für die
Lust vorhanden ist, je mehr sie sich vom Äquator entfernt.
Die offenbare Folge dieses seitlichen Druckes in den anti-
passatischcn Lustmassen ist ein Ausweichen derselben nach
oben und nach unten. Das Ausweichen der Lust nach unten
veranlaßt die Barometcrschwanknngcn und Wirbelstürme der
gemäßigten Zone, wobei Temperatur und Feuchtigkeit der
Luft nur eine nebensächliche Nolle spielen.
Blanford scheint nicht abgeneigt, diese Ursache für die
Wirbelstürme der gemäßigten Zone gelten zu lassen, er
meint aber, daß für die Wirbelstürme der Tropen des-
halb eine andre Ursache gesucht werden müsse, weil hier
der Seitendruck der antipassatischen Luftmassen ein ganz
minimaler sei, und trotzdem ganz gewaltige Wirbclstürme
zu Stande kommen. Um der wahren Ursache der tropischen
Wirbelstürme aus den Grund zu kommen, unterwirft Blau-
ford die Stürme von Bengalen einer eingehenden Untersuchung.
Diese Stürme entstehen über der Bai von Bengalen zwischen
8. und ltt. Grad nördl. Br. Nur ganz ausnahmsweise bilden
sie sich über dem benachbarten Lande. Beit dem Wechsel
Dana über die Vulkane Hawaiis.
Es ist gerade ein halbes Jahrhundert darüber verflossen,
seit James Dana, damals ein junger Naturforscher in der
Forschnngsexpedition von Kapitän Wilkes, zuerst seinen Fuß
auf den Boden der Sandwichinseln setzte. Bis zu jener Zeit war
wissenschaftlich nicht über die wunderbaren Vulkane Hawaiis
geschrieben worden und Danas Bericht im geologischen Teile
des großen Reisewerks von Wilkes (United States Exploring
Expedition) besaß einen besondern Wert. Seitdem sind
41 Jahre vergangen, die Lehre von den Vulkanen hat Fort-
schritte gemacht, ist großen Änderungen unterworfen gewesen
und aus diesem Grunde beschloß der für seine Wissenschaft
begeisterte Greis, nochmals die Stätte seiner Jngendwirksam-
keit aufzusuchen. Im Jahre 1887 betrat er abermals den
Boden Hawaiis, nachdem er eine Reise von 10000 englischen
Meilen zurückgelegt, und die Frucht dieser Reife ist ein Werk,
welches den Titel führt: Characteristics of Volcanoes.
With contributions of facts and principles from the
Hawaiian Islands. (London, Sampson Low, 1890.)
Es ist ein Zeichen der geistigen Frische des betagten Gelehr-
ten, der mit vollstem Eifer den dunkeln Problemen des Vul-
kanismus zu Leibe geht.
Die beiden gewaltigen Mittelpunkte der vulkanischen
Thätigkeit Hawaiis, der Manna Loa und der Kilauea, liegen
nahe bei einander auf einer großenBcrgcrhebnng. In ihrer
eruptiven Thätigkeit verhalten sich diese beiden vulkanischen
Nachbarn einander gegenüber ganz unabhängig, und da der
Mauna Loa (13760 feet) fast 10000 Fuß höher als der
Kilauea (3970 feet) liegt, so scheint die Annahme, daß die
Foei beider unabhängig voneinander sind, gut begründet.
Dieses ist auch die von verschiedenen Autoren vertretene
uub bisher gültige Ansicht. Professor Dana ist aber stets
für die Abhängigkeit beider voneinander eingetreten, indem
er den Kilauea nur als ein Anhängsel des Manna Loa
ansieht, eine Ansicht, die durch die neuen petrographischen
Untersuchungen seines Sohnes, Prof. E. S. Dana, wesent-
liche Stützen erhält. Dieser hat gefunden, daß die Laven
beider Krater in ihren Bestandteilen sich so gleich sind, daß
sie ihren Ursprung ans der gleichen Quelle haben müssen.
Die Hawaiischen Laven gehören zur typischen Basaltklasse
und sind deshalb sehe leicht schmelzbar. Es ist eine häufige
Anschauung, daß die Schmelzbarkeit der Gesteine mit ihrer
rt"c..............................allein Dana
eruutcrt oaran, vup Feldspate,
weit leichter schmilzt als der Orthoklas, das sauerste Mineral
dieser Gruppe, während Olivin, der ultra-basische Bestand-
teil der Laven, geradezu unschmelzbar ist. Die Basalte
Hawaiis schmelzen sehr leicht, nicht aber weil sie basisch sind,
sondern weil ihre Hauptbestandteile, Labradorit und Augit,
leicht schmelzen. Wahrscheinlich genügt eine Temperatur von
2000" F., um sie flüssig zu machen, und diese Temperatur-
ist unter den Kratern Hawaiis vorhanden. Die Laven,
ferne davon zähe oder pastös zu sein, wie dies bei trachyti-
schcn Laven oft der Fall, sind völlig beweglich und fließen
mit großer Schnelligkeit, sie kommen daher unter einem sehr
stumpfen Winkel zur Ruhe; die durchschnittlichen Abhänge
der Hawaiischen Lavaslnten haben nur zehn Grade. Die ver-
gleichsweise Flachheit ist daher ein kennzeichnender Zug des
Profils dieser Berge, gegenüber der sonst meist sehr steilen
Kegel form der Vulkane. And) der Krater ist eigentümlich,
> er hat die Form eines ungeheuren breiten Schlundes mit
>.e sich über dem benachbarten Lande. Mit dem
der Jahreszeiten wandert der Stnrmherd von Süd nach Nord
und zurück. Die Barometerstände sind während der Ent- > Anschauung, oay o^ ^'dninnmifocmflc stehe • allein 2
stehung des Sturmes im Herde und außerhalb desselben nicht j Basizüat m es - b aller Felds
wcknUich verschieden. Stets liest der Sturmherd an der ,-»erste Mi
nördlichen Grenze des Südmousnn. !
Im Sturmherd ist die Temperatur zwei Grad höher wie in I
der Umgebung. Dies bedingt ein Emporsteigen der Lust mit
V-.tort der Acceleration der Schwere. Einige Tage vor Aus- ,
brnch des Sturmes ist das Wetter im Sturmhcrdgebietc
unbeständig, Regenschauer und Windstöße werden häufiger
und heftiger. Diese führt Blanford darauf zurück, daß die
warme Lnft mehr oder weniger stoßweise ansteigt. Jeder
solche Stoß wäre dann Ursache eines Regenschauers. End-
lich bemächtigt sich der ganzen Lustmasse über dem Herde die
Bewegung nach auswärts und der Cyklon ist fertig. Unter
den Gründen, welche Blanford für die Richtigkeit seiner An-
schauung anführt, verdient besonders die Thatsache Beachtung,
daß die großen Wirbelstürme von Bengalen durch Verhältnis
müßig niedrige Bergketten ausgehalten werden, was nicht der
Fall sein könnte, wann ihr Herd in den hohen antipassatischen
Luftmassen läge.
46
Die Sterblichkeit der französischen Soldaten in den Kolonieen,
senkrechten Wänden von geschichteter Lava, doch nicht umgeben
von einem Eudkegcl. Man hat daher diese Art Krater auch
als Caldera bezeichnet. Die Oberfläche der Lava ane Grunde
des Kraterschlundes bildet, wenn sie zu einer Fläche erhär-
tet ist, eine weite Ebene, in der hier und da glühende Lava-
tümpel stehen, ungeheuren Bädern von geschmolzenem rot-
glühenden Metall vergleichbar. Diese Flüssigkeit ist von
einer ungewöhnlichen Beweglichkeit, denn wirft man etwas
hinein, so spritzt sic in einem feurigen Regen empor, den
man als ein „Netzwerk von Blitzen" geschildert hat. Zur
Zeit der eruptiven Thätigkeit werden solche Strahlen viele
100 Jards hoch emporgeschleudert. Doch die Eruptionen
sind gewöhnlich so harmlos, daß der Beobachter, ohne jede
Gefahr zu laufen, dicht am Rande des Kraters die erleuchte-
ten Fontänen und ungeheuren Dampfsüulen beobachten kann,
die den feurigen Wogen entsteigen. Erscheinungen, die ander-
wärts mit Grausen betrachtet werden, sieht man hier wie
ein Schauspiel au; die Eingeborenen stehen dabei, wie wir
bei einem Feuerwerke. Wenn die eingeschlossenen Kräfte Er-
leichterung durch den ruhigen Erguß der Lava finden, so sinkt
die durch den Verlust von Stoff unterhöhlte Flur des Kraters
allmählich, scheinbar einer sinkenden Säule von Lava folgend,
bis endlich der harte Boden des Schlundes kein Zeichen vul-
kanischer Thätigkeit mehr aufweist, ausgenommen die flockigen
Dämpfe, die massig ans den Klüften und Spalten aufsteigen.
Die Eingeborenen unterscheiden mit den Namen palioe-
lioe und aa zwei Arten von Lavaströmen; die ersteren be-
sitzen eine glatte Oberfläche, obgleich die Lava selbst gerunzelt
und gefaltet ist, während die letzteren aus getrennten Massen
von unregelmäßiger Größe und Gestalt in großer Verwirrung
aufgehäuft ist. Von Interesse ist das Vorkommen großer
Höhlen in den Lavaflüssen, deren Wände und Decken zuweilen
reich mit vulkanischen Stalaktiten, schlank wie Pfeifenrohre,
doch merkwürdig ineinander verwickelt, bedeckt sind, während
der Boden vulkanische Stalagmiten zeigt. Es scheint, als ob
diese Stalaktiten nicht, wie man leicht annimmt, durch hcrab-
tropfende zühfliissige Lava gebildet, sondern durch eine sekun-
däre Thätigkeit entstanden sind, welche Dana als „Wieder-
kristallisiernng des Basalts" bezeichnet, d. h. die mineralischen
Bestandteile der basaltischen Lava sind wieder kristallisiert,
so daß die Stalaktiten Kristalle von Augit, Labradorit und
Magnetit answeisen. Prof. Dana der Jüngere giebt eine
wertvolle Beschreibung dieser Bildungen, die er ans die Wir-
kungen von Solfatoreu zurückführt, wobei die Lava unter
dem Einflüsse überhitzter Dämpfe einer Auflösung zugeführt
wurde, welche den sie konstituierenden Mineralien gestattete,
aufs neue zu kristallisieren.
Die Sterblichkeit der französischen Soldaten
in den Kolo nie en.
Über diesen Gegenstand hat der französische Arzt Dr.
Gustav Lagneau der Académie de médecine in Paris
eilte statistische Studie vorgelegt, welche einmal einen sehr-
großen Unterschied in bezug ans die Sterblichkeit der Sol-
daten in den Kolonieen Fankreichs zeigt, andererseits aber
auch eine Verminderung der Sterblichkeit in übel verrufenen
Gegenden erkennen läßt.
Die getvöhnlichc jährliche Sterblichkeit unter den jungen
Leuten von 20 bis zu 30 Jahren in Frankreich ist 8 bis 10
auf 1000. Trotzdem nun nur Gesunde zum Militär ge-
nommen werden, ist bei diesem die Sterblichkeit in der Hei-
mat schon größer als der Durchschnitt, denn sie beträgt
9 bis 11 von 1000, was Lagneau namentlich der Über-
fiillttttg der Kasernen zuschreibt.
Die Reihe der Kolonieen beginnt Lagneau mitAlgerien,
wo sich im Laufe der Jahre eine gewaltige Verbesserung in
den Gesundheitszuständen der Armee gezeigt hat; denn bald
nach der Eroberung, in den Jahren 1837 bis 1848, betrug
die Sterblichkeit der Soldaten noch 77 von 1000, während
sie jetzt fast den normalen Stand des Mutterlandes, nämlich
11 bis 12 von 1000 erreicht hat. Etwas Ähnliches, nur
viel rascher, zeigt sich in Tunis, wo im Jahre 1881 noch
61 von 1000 starben und jetzt nur noch 12.
In den Südseebesitzungen Frankreichs sind die Gesund-
hcitsverhältnisse des Militärs äußerst günstige, denn sowohl
in Tahiti als Ncu-Kaledonien beträgt die jährliche Sterb-
lichkeit desselben nur 8 bis 9 von 1000.
Wiewohl die Sterblichkeit auf den französischen Antillen
sich sehr vermindert hat — sie betrug in den Jahren 1819
bis 1855 noch 91 von 1000, also ein Elftel — ist dieselbe
dort heute doch immer noch doppelt so groß wie in Frank-
reich, und wenn das gelbe Fieber auftritt, erhöht sie sich
noch wesentlich.
Wiewohl die Sterblichkeit unter den Soldaten in Fran-
zösisch - Gniana (Cayenne) weit geringer ist, als unter den
ackerbautreibenden Ansiedlern, ist sie doch noch eine sehr große,
namentlich wenn das gelbe Fieber herrscht. Sie ist im
Jahre 1855 auf 237 von 1000 gestiegen, so daß mehr als
der vierte daran starb.
Ungünstig ist auch die Sterblichkeit in der französischen
Kolonie Ostindiens, in Pond ich er y, sie beträgt dort 37
von 1000.
In Kochinchina war die Sterblichkeit in der ersten
Zeit nach der Besitzergreifung eine hohe, nämlich 115 von
1000 (1861), also ein Neuntel der Mannschaft. Seitdem
aber haben sich die Verhältnisse allmählich gebessert und gegen-
wärtig ist dieselbe etwa doppelt so groß wie im Mutterlande.
Doch ist auch diese Zahl trügerisch, denn cs läßt sich in
Kochinchina überhaupt die Sterblichkeit der Truppen wäh-
rend ihres Aufenthalts in der Kolonie nicht genau bestimmen,
weil sehr viele Kranke von dort in die Heimat zurückgeschickt
werden, die dort dann später sterben.
Tonkin würde wohl gesunder in bezug auf die Truppen
erscheinen, wäre deren Zahl dort gegenüber den auferlegten
Anstrengungen nicht zu gering; so betrug in den Jahren
1881 bis 1885 die Sterblichkeit noch immer 40 von
1000 und sie stieg im Cholerajahr 1885 sogar auf 96
von 1000.
Die Insel Rennion im Indischen Ozean zeigt an und
für sich nicht gerade ungünstige Sterblichkeitsvcrhältnisse; da
jedoch die Kranken von Madagaskar und dessen Nachbar-
inseln in die Spitäler von Rennion übergeführt werden, so
steigerte sich die gewöhnliche Sterblichkeit von 29 oder 30
auf 1000 bis zu 70 und 113 auf 1000 in Jahren, wo
auf Madagaskar Feldzüge geführt wurden.
Unter den ungesunden Kolonieen Frankreichs ist Scne-
gambien die fürchterlichste. Die mittlere Sterblichkeit,
148 ans 1000 in den Jahren 1832 bis 1837, hat sich
gegenwärtig auf 73 von 1000 vermindert, was aber nament-
lich dem kürzeren Aufenthalt der Truppen und der schnellen
Rückbeförderung der Kranken in die Heimat zuzuschreiben
ist, wo sie trotzdem noch häufig sterben oder siech bleiben.
In diesen westafrikanischen Kolonieen rafft das gelbe Fieber
zuweilen die Hälfte der Europäer hin; in den Jahren 1830,
1859 und 1878 starben je 573, 610 und 526 von 1000
Europäern.
Um die Krankheiten und die Sterblichkeit der Truppen
zu verringern, verkürzt mau häufig ihren Aufenthalt in den
ungesunden Kolonieen und schickt sie in Gesnndhcitsstationen
von mehr oder weniger hoher Lage, ans Inseln, die unter
dem Einflüsse der Meereswinde eine gesundere Luft besitzen;
auch ist die Rückbeförderung der Erkrankten in die Heimat
überall eingeführt. Trotz alledem muß man mehr und mehr
/
\
Der Tschinuk Jargon. — Aus allen Erdteilen.
47
zum Ersatz durch eingeborene Truppen greifen,
welche acclimatisiert sind, gegenüber den Europäern, deren
Acclimatisierung schwierig ist.
Wahrend die britische Regierung statistische Nachrichten
über die Sterblichkeit der Truppen in den Kolonicen ver-
öffentlicht, ist dieses bei Frankreich nicht der Fall. Dr. Lag-
uean hat daher seine Data ans ärztlichen Einzelschriften,
aus Berichten über Feldzüge u. s. w. zusammentragen müssen.
Die französische Regierung beharrt darauf, keine Statistik
der Truppensterblichkeit in den Kolonicen zu veröffent-
lichen. (Bulletins de la société d’Authropologie, 188!),
157-161.)
Der Tschinuk Jargon.
An verschiedenen Punkten unsrer Erde hat sich aus dem
Verkchrsbedürsnissc heraus eine ganze Reihe von Handels
sprachen gebildet, die zum Teil nur rohe Mischungen ver
schiedencr Idiome sind, aber für den praktischen Gebranc'
genügen. Es gehören dahin z. B. das bekannte Pitschcn
Englisch in China, das seinen Namen von der chinesischer
Aussprache des englischen Wortes Business, Geschäft, er
halten hat. An der westafrikanischen Küste hat sich eir
Neger-Englisch im Handel entwickelt, in den Häsen an der
Küsten des Karibischen Meeres redet man das Papiamento
ein Gemisch von barbarisch zugestutztem Englisch, Französisch
Holländisch und Kreolisch u. s. w.
Eine andre Sprache dieser Art, die Oregon Handels
spräche oder Tschinuk Jargon ist jetzt von einem ameri
kanischen Sprachforscher, Horatio Hale, wissenschaftliö
behandelt worden. Sein Werk führt den Titel: He Orego,
'1'racke Language or „Chinook Jargon“. (London
Whittaker and Co. 1890.) Es giebt uns einen klaren Ein
blick in dieses merkwürdige Kauderwelsch, das, zur Befried!
gung eines Bedürfnisses erfunden, bereits eine kleine Gc
schichte hat. Der Jndianerstamm der Tschinuk, nach dem e
benannt ist, sitzt am unteren Lause des in den Stillen Ozea
mündenden Kolumbiaflnsses bis zu den sogenannten Dalle
oder Wasserfällen, die stets als ein Zusammenkunstsort dc
Küstenstämme und der Indianer des Innern zu Handel«
zwecken galten. Die Stämme, welche hier zusammentrafei
redeten sehr verschiedene Sprachen, über welche aber das Tsch
nuk, als jene des bandelstüchtigsten Stammes, eine Art Übe
gewicht erhielt. Noch mehr wurde dieses der Fall, als d
Weißen ihren Verkehr bis an den Nutkasund erstreckten und
hier mit den Tschinuk in Handelsverkehr traten, den sie
später den Kolumbia aufwärts ausdehnten. Im Jahre
1811 gründete I. I. Astor ans Walldorf bei Heidelberg den
Ort Astoria an der Kolumbiamündnng behufs des Pelzhandels
und damit erhielt für den Verkehr nach dem Innern das
Tschinuk erneute Bedeutung. Tschinuk war den Europäern
an der Küste am geläufigsten und auch die Stämme im Innern
verstanden es; so wurde cs die vermittelnde Sprache und
die Grundlage des sich allmählich ausbildenden Handels-
jargons.
Nach den Untersuchungen, die Hale angestellt hat, ist das
im Handel gebrauchte Wörterbuch dieser Sprache ein keines-
wegs reiches. Sie kommt im ganzen mit 252 Wörtern aus
und diese genügen, um den Handel zu treiben und den Ver-
kehr mit den Eingeborenen zu unterhalten. Diese geringe
Wörterzahl darf nicht auffallen, wenn man sich daran er-
innert, daß, wie Max Müller berichtet, englische Taglöhner
auf dem Lande noch nicht 300 Wörter in ihrem Wörtcr-
buche haben; der gebildete Engländer gebraucht nur 3000
Wörter. Von jenen 252 Wörtern des Jargons gehören
111 dem Tschinuk an, 18 dem Nntka, 41 sind englisch,
34 französisch, 10 sind klangnachahmend (onomatopöia) und
der Rest ist zweifelhaften Ursprungs. Zur Kennzeichnung
der Verunstaltung der nichtindianischen Wörter geben wir
hier einige Proben. Aus dem Englischen wurde gebildet:
Bostnn, Amerikaner, nach der Stadt Boston. Hakatschum,
! handkerchief, Taschentuch. Kol, cold, kalt. Liim, Rum.
Olnnaan, olck man, alter Mann. 8ao, snow, Schnee. Tala,
Doller. Aus dem Französischen sind gebildet: Kapo, capot,
Rock. Labusch, la bouche, Mund. Lamestin, la méde-
cine, der Arzt. Lamontai, la montagne, Gebirge. Pulati,
poudre, Pulver. Mula, moulin, Mühle. Lebeskwi, le
biscuit. Tonse, danser, tanzen. Siapot, chapeau, Hut.
Sawasch, sauvage, Wilder. Onomatopöia sind folgende:
tumwata, Wasserfall, hau hau hurra, rasch, he he, lachen,
lip lip, finden, po, schießen, tik tik, Uhr.
Das so gebildete und langsam vermehrte Wörterbuch wurde
mit wenigen grammatischen Regeln versehen und entsprach
völlig seinem Zwecke. Es ist nun hundert Jahre alt und
hat nicht nur im Handel, sondern auch zur (nominellen) Be-
kehrung der Indianer gedient. Auch einige Hymnen und
Predigten in dieser Sprache teilt H. Hale mit, die an Ein-
fachheit nichts zu wünschen übrig lassen.
Aus allen
— „Repatriation" der westafrikanifchen Neger.
Im August 1890 hat der Gouverneur der britischen Kolonie
Lagos am Guineabnsen, Sir Alfred Moloney, eine Abord-
nung von Farbigen aus Brasilien und Havanna empfangen,
die demselben einen eigentümlichen Wunsch vortrugen. Sen-
hor Ferrcia, Senhor Agosto Mendez, Senhor Da Costa,
dieses waren die dunkelfarbigen Herren, deren Wiege in Bra-
silien und der Havanna stand, trugen dem genatlntcn Gouver-
neur vor, daß ihre Brüder in der Neuen Welt bcu heißesten
Wunsch hegten, wieder in ihr altes „Vaterland" Afrika zurück-
zukehren; allerdings sei dieser Wunsch stärker bei den Alten,
die als Sklaven über den Ozean gekommen seien, als bei den
drüben geborenen „Kreolen". Nur Armut verhindern die
Leute, wieder ihr Vaterland aufzusuchen und der Gouverneur
möge, im Interesse der britischen Besitzungen in Westafrika
etwas dafür thun, diese Bewegung zu unterstützen. Sir-
Alfred verhielt sich gegenüber den farbigen Gentlemen ent-
gegenkommend und versprach, für billige Ubcrfahrtspreise auf
Erdteilen.
dem zwischen Lagos und Brasilien verkehrenden Dampfer zu
wirken. Der Handel könne dabei nur gewinnen und west-
afrikanische Neger könnten sich als Arbeitskräfte zeitweilig
in die brasilianischen Plantagen verdingen, und dann mit
ihren Ersparnissen heimkehren; mit ihren drüben erlangten
Erfahrungen in dem Anbau von Kolonialpflanzen würden
sie Lagos, das nur Palmöl hervorbringt, von Nutzen sein.
So berichten englische Zeitungen.
Es ist höchst auffallend, daß plötzlich in den Millionen
Negern Brasiliens und Westindiens ein platonisches Gefühl
nach dem „Vaterlande" erwacht sein soll, daß sie, wie jener
Freiligrathsche Neger, denken an den Niger, wo er gejagt den
Löwen, den Tiger, daß sie, die heute zumeist spanisch und
portugiesisch reden, wieder in einem Lande leben wollen, wo
Negersprachen herrschen und wo ihrer gewiß soviel. Arbeit
wartet, wie in Brasilien. Ob solche nach Afrika zurückkehrende
Neger ein Segen für das Land sind, erscheint fraglich, nament-
lich mit dem Beispiele Liberias vor Augen, das trotz aller
48
Aus allen Erdteilen.
Beihilfe der Amerikaner nur als ein völlig mißglückter Versuch
zn betrachten ist. Den größten Segen von einer vollständig
durchgeführten Repatriation würden wohl die Vereinigten
Staaten empfinden.
Wir hören soviel von hochgebildeten Negern in Amerika,
die bis zn den höchsten Staatsämtern sich emporgeschwungen
haben und hier ittib da von wissenschaftlichen oder künstlerischen
Leistungen derselben. Bei der Erforschung des schwarzen
Erdteils, die uns hier zunächst von Belang ist, haben die
gebildeten Neger jedoch in nur verschwindendem Maße mit-
gewirkt, dieses Werk vielmehr den Weißen überlassen. Und doch
könnten sie, leisteten sie, was man vorgiebt, gerade hier am
ersten erfolgreich wirken; hier ließen sich ideale Gefühle, falls
sie vorhanden, zuerst im Dienste der Wissenschaft und der
Kultur Afrikas bethätigen. Was zn verzeichnen ans diesem
Gebiete ist in der That sehr gering: Bischof Crowthers
Wirksamkeit am Niger ist erwähnenswert; der liberianische
Schwarze Anderson lehrte uns 1868 durch seinen Vorstoß
nach Mnsardn das Hinterland jener Republik kennen und im
Dienste der Franzosen in Senegambien und in der westlichen
Sahara waren einige Farbige als Pionierreisende thätig.
— Niagarafälle. Die State Commissioners am
Niagarafalle haben am 8. Dezember 1890 darüber berichtet,
daß die Fälle seit ihrer ersten Aufnahme im Jahre 1742
bis jetzt 104 Fuß 6 Zoll (ungefähr 32 in) am Hufeisen-
falle zurückgewichen sind. Die größte Znrückweichnng beträgt
270 Fuß (82 rn), die geringste (der Amerika» falls 10 IN.
Die Gesamtfläche, welche das Zurückweichen an den Ame-
rika» falls einnimmt, beträgt 32 900 Qnadratfuß, am
Hufeisenfalle 275 400 Qnadratfuß. (Nature).
— Die Kultivierung der übelberüchtigten Lan-
des zwischen Bordeaux und Bayonne hat, seit sie 1860 in
Angriff genommen wurde, große Fortschritte gemacht. An Stelle
der öden Haiden, in denen typische Stelzenläufer umhergingen,
und der ausgedehnten Sümpfe sieht man Kiefernwälder und
Weingärten. Man hat dort entwässert, aufgeforstet, Brunnen
gegraben und Straßen angelegt. Der Wert des Grund und
Bodens ist ans das Zehnfache gestiegen und das „Departement
des Landes", früher eines der ungesundesten in ganz Frank-
reich, gehört nun zn den gesunden. Die Zahl der Geburten
überstieg im Jahre 1889 die der Sterbefälle um 1412.
Hauptnrsache aller dieser Wirkungen ist die ausgedehnte An-
pflanzung von Kiefern. Nicht nur ist dadurch die fremde
Einfuhr von Nutzholz in Südwestfraukreich verdrängt wor-
den, sondern die Landes führen auch Holz aus; das in den
Kiefernwäldern gewonnene Terpentin wirft einen bedeutenden
Ertrag ab. Wein wird seit 6 oder 7 Jahren aber nur in
bestimmten Gegenden gebaut. Der ganze physikalische Charak-
ter des Departements ist durch die Aufforstungen geändert
worden; als kennzeichnendes Bild einer öden Haidelandschaft
muß es nun ans unsern geographischen Lehrbüchern ver-
schwinden.
— Der Versuch,Kamele als Lasttiere von Teneriffa ans
in das deutsche Schutzgebiet von Südwestafrika
einzuführen, ist von Herrn Dominicns unternommen worden.
Die Anregung zu der Kamelzucht in Otjimbinguö geht vom
Hanptmann von Francois ans, welcher bereits ein Kamel
probeweise dorthin brachte, wo es vortrefflich gedieh.
— DieAlbanesen in Griechenland. Wiewohl die
zweite Nationalität im Königreich Griechenland, die albane-
sische, von Seiten der Hellenen gern totgeschwiegen wird,
dieselbe auch teilweise in der Hellenisiernng begriffen ist, er-
scheint sie doch noch sehr stark vertreten: der elfte Mensch
im Königreich ist ein Albanese. Uber die Sitze und
Verbreitung dieses eigentümlichen Volkstammes innerhalb
Griechenlands sind wir jetzt durch den deutschen Geologen
A. Ph ilippson genügend unterrichtet worden. Auf seinen
zwölfmonatlichen Reisen im Peloponnes (1887 bis 1889)
zog er genaue Erkundigungen über die dortigen Albanesen
ein, deren Anzahl er ans 90 000 (12,3 Proz. der Gesamt-
bevölkernng) gegenüber 640 000 Griechen (87,7 Proz.) an-
giebt. In Argolis machen die Albanesen sogar über die
Hälfte (55,6 Proz.) der Einwohner aus; in Achaia 2,5 Proz.,
in Lakonien 7,6 Proz., in Messenia 5 Proz. (vergl. Philipp-
sons Abhandlung in Petermanns Mitteilungen 1890, 33
nebst ethnographischer Karte 1 : 1000 000).
Was das 1890 von Philippson besuchte Mittel-
griechenland betrifft, so vermochte er hier die Sprach-
grenze nicht so genau festzustellen wie im Peloponnes. Doch
ist der ganze Osten, die größeren Städte ausgenommen, alba-
nesisch, namentlich sind die Eparchien Attika, Megaris, Theben
albanesich. Die Sprachgrenze verläuft von Martino nach
Süden durch den Kopaissee und von da zur Bai von Aspra-
pitia. Die Zahl der Albanesen in Mittelgriechenland beträgt
84 000 oder 18,6 Proz. der Gesamtbevölkerung. (Vergl.
Zeitschr. der Ges. für Erdkunde zn Berlin XX.L, 402.)
Zn den 90 000 Albanesen im Peloponnes und den
84 000 in Mittelgriechenland kommen noch 40 000 in Süd-
enböa u. s. w., 10 000 in Nordandros u. s. w., so daß
Griechenland 224 000 Albanesen, 11,3 Proz. der Gesamt-
bevölkerung, zählt.
— Prähistorische trepanier te Schädel aus
Däne m a r k. Pruniöres und nach ihm Broca haben die prä-
historische Trepanation seit 1873 au Schädeln ans den Dolmen
von Lozère nachgewiesen und die ausgeschnittenen Schädelteile
als „Rondelle" bezeichnet; Broca führte auch den Nachweis,
daß die Operation nicht eine posthume war, sondern zu Leb-
zeiten ausgeführt wurde. Man nimmt an, daß dieser Ein-
griff ausgeführt wurde, um dem bösen Geiste, von dem man
den Kranken besessen wähnte, einen Ausweg aus dem Schädel
zn öffnen. Seit der Entdeckung Pruniöres sind noch vielfach
trepanierte Schädel aus ueolithischer Zeit aufgefunden worden.
Auch in Nordamerika wurden sie nachgewiesen, desgleichen in
Peru (durch Squier aus Jnkafriedhöfen), in Böhmen (durch
Dudik und Wankel), bei Giebichenstein (durch Virchow) u. s. w.
Hierzu gesellen sich nun vier dänische vorgeschichtliche
trepanierte Schädel, die S. Hansen in den Aarböger for
nordisk Oldkyudighed 1889 , S. 170 beschreibt. Der
erste von der Insel Falster aus der Steinzeit hat eine 53 und
43 mm große Trepanationsöffnung; der zweite von der
Insel Aerö hat ein 30 mm großes rundes Loch, der dritte
aus einem Bronzezeitgrabe in der Gegend von Kopenhagen
hat einen 9 und 12 cm großen Ansschnitt, also ein ganz be-
deutendes Loch; der vierte stammt aus der Eisenzeit von der
Insel Seeland. Wie die Beschaffenheit der Ränder zeigt,
scheinen die Besitzer der ersten beiden Schädel die Operation
längere Zeit überlebt zn haben, was bei jenen der beiden letz-
ten nicht der Fall gewesen sein dürfte. Abgesehen von der
oben angegebenen Erklärung — Hervorbringen einer Öffnung,
ans der der Däinon entweichen konnte — nimmt Hansen
auch nach dem Befunde an, daß die Trepanation zur Heilung
eines Leidens diente, das durch Verletzung des Schädels
(Hiebwunden) entstand. Zwei jener vier Schädel sprechen
dafür.
— „Legenden,Fabeln und Gesänge ansTschitral"
ist der Titel einer Abhandlung in der Asiatic Quarterly
Review, Samtar 1891. Verfasser ist Seine Hoheit der Sirdar
Nizam-el-Malk, der Radscha von Uasin. Dieses zentral-
asiatische Bergland im Nordtvesten Vorderasiens zwischen den
russischen und englischen Besitzungen ist gegenwärtig noch
unabhängig; daß der regierende Fürst einen belangreichen
folkloristischen Beitrag für eine englische Zeitschrift liefert, ist
als Zeichen des dort wachsenden englischen Kultureinstusses
aufzufassen.
Herausgeber: Dr. R. And ree in Heidelberg, Leopoldstraße 27.
Druck von Friedrich View eg und Sohn in Braunschweig.
Bd. LIX.
Nr. 4.
Begründet 1862
von
Karl Andrer.
Arrrck und Dlerkag
Herausgegeben
von
Richard Andrer.
brich 'Dierreg & Sohn.
ÜB r (t lt lt f rfnn r i rt Jährlich 2 Bände in 24 Nummern. Durch alle Buchhandlungen und Postanstalten 1891.
^ i u u U 1 nj 1U C t g. Preise von 12 Mark für den Band zu beziehen.__________________________
3ur Volkskunde der Alpenländer.
von Gustav Meyer. Graz.
I.
Goethe erzählt in seiner Kampagne in Frankreich" ge- 1
legentlich eines Besuches in der Galerie in Düsseldorf: „Einst
hatten wir uns lange in dem Saale des Rubens und der
vorzüglichsten Niederländer ausgehalten; als wir heraus
traten, hitin di,' <d!,„,- ----------------------"s
u 0__,,—...V....U..V,, uujgvtjuuiu; iu» ant ijexauö
traten, hing die Himmelfahrt von Guido gerade gegenüber;
da ries einer begeistert aus: Ist es einem nicht zu Mute,
als wenn man aus einer Schänke in gute Gesellschaft
käme?"
Wen ein ähnliches Gefühl der Erleichterung ergreift,
wenn er von der Lektüre einer Sammlung Volkslieder zu
den Goldschnittbändchen unsrer Salonlyrik zurückkehrt, dem
wollen wir seine Kreise nicht stören. Goethe hatte trotz
seiner Begeisterung für italienische Kunst cutd) offenen Sinn
für den Realismus der Niederländer und fand in ihren
Studien, wie er sich ansdrückte, „Gewinn fürs ganze Leben".
Daß er auch für die Bedeutung der Volksdichtung tiefstes
Verständnis hatte, ist bekannt genug. Heutzutage ist Kennt
«i«S»a ..-w o:.t. ... « ' " '"
----yi V^VHll mut ytl)UUU, UltlUtU Ult
fünf Sammlungen, welche die bekannte Verlagsbuchhandlung
von Liebeskind in Leipzig in allerliebsten Elzevir-Aus-
gaben vor kurzem veröffentlicht hat, eine freudig begrüßte
Gabe sein H.
Die Gattung der Vierzcilen, der sogenannten Schnada-
hüpfeln, ist hier durch zwei Bändchen vorzugsweise reich
vertreten. Sie regen zu mannigfachen Gedanken an, die
*) Tiroler Schnadahüpfeln. Gesammelt und herausgegeben
von R. H. Greinz und I. A. Kapserer. Leipzig 1889.
Tiroler Schnadahüpfeln. Zweite Folge. Gesammelt und
herausgegeben von R. ß. Greinz und I. A. Kapserer. Leip-
zig 1890.
Tiroler Volkslieder. Gesammelt und herausgegeben von
R. $). Greinz und I. A. Kapserer. Leipzig 1889.
Grabschristcn und Marterlen. Gesammelt und heraus-
gegeben von L. von Hörmann. Leipzig 1890.
Haussprüche aus den Alpen. Gesammelt und heraus-
gegeben von L. von Hörmann. Leipzig 1890.
Globus LIX. Nr. 4.
schließlich weit über die Grenzen Tirols und der Alpenländer
überhaupt hinaus führen. Das Hauptgebiet des Schnada-
hüpfels gehört dem bayrischen Sprachgebiete an. Bayrisch
wird gesprochen in Ober- und Niederbayern, in der Ober-
pfalz, in Teilen von Ober- und Mittelfranken, im Egerlande
und an den böhmischen Abhängen des Böhmerwaldes, ferner
in Österreich ob und unter der Enns, in Salzburg, Tirol,
Steiermark und Kärnten, endlich an der ungarischen Grenze.
Hier ist diese vierzeilige Dichtnngsart überall zu Hause,
unter mannigfachen Namen immer ein und dieselbe, sei cs
nun, daß man sie Gsangln und Gstanzln nennt, wie in
Niederösterreich, oder Plapperliedln, wie in Kärnten, oder
Schnadahüpfeln, wie in Bayern, Tirol und Steiermark,
oder schlechtweg Vierzeilige, wie im Egerlande. Von da
greift diese Dichtungsart hinüber nach Westen in alemanni-
sches Sprachgebiet; sie ist in Vorarlberg lebendig und unter
verschiedenen Bezeichnungen in der deutschen Schweiz; wir
treffen sie als Schelmenliedle in Schwaben an, und ein-
zelne Strophen sind bis in das Elsaß verschleppt worden.
Nach Norden zu ist sie im fränkischen Vogtlande vollständig
eingebürgert; die Rundas in der Sammlung von Dünger
sind dutzendweise identisch mit vielen unsrer gangbarsten
Schnadahüpfeln. Auch im Koburgischen sind sie als Schlum-
pcrliedeln noch lebendig; weiter hinaus, in Thüringen und
Dessau, erscheinen sie als versprengtes Gut. Ebensowenig
haben sie im österreichischen und preußischen Schlesien das
volle Heimatsrecht erworben. Am merkwürdigsten ist ihr
Vorkommen im äußersten Nordostcn des deutschen Sprach-
gebietes, in der preußischen Provinz Preußen. In Ost-
preußen ist z. B. folgendes echte und rechte Schnadahüpfl
bekannt, das auch in den Alpenländern, in Schwaben, dem
Sonnebergischen und dem Vogtlande in verschiedenen Vari-
anten gesungen wird:
Vier Ochsen, drei Kälber,
Eine bucklige Kuh,
Das giebt mir mein Vater,
Wenn ich heiraten thu'.
50
Gustav Meyer: Zur Volkskunde der Alpenländer.
In der Sammlung von Greinz - Kapferer lautet es
(I, S. 99):
An schwarzbraunan Ochs'n
Und a tschekati Kua,
Dö geit ma niet’ Vota,
Wenn t heirat'n thua!
Hier in Preußen können wir ungefähr erraten, woher
und wie die Vierzeilen eingewandert sind. Wir dürfen sie
ohne Zweifel an die schwäbische Kolonie in Westpreußen
anknüpfen, welche Friedrich der Große dort angesiedelt hat.
Gerade mit schwäbischen Schelmenliedchen decken sich einige
der noch heute dort gesungenen Vierzeilen vollständig. Mit
Tracht und Sitte, mit Glauben und Sprache, mit Sagen
und Märchen ist auch das Schnadahüpfl mitgewandert aus
der alten Heimat in die neue; aber während Tracht und
Sitte vergessen werden, während die Mundart ausgeht in
derjenigen der Umwohner, bleibt das Schnadahüpfl zäher,
und wenn es auch nicht mehr in der üppigen Fülle wuchert,
wie daheim, so entgehen doch einzelne Exemplare durch be-
ständige Überlieferung von Geschlecht zu Geschlecht immer
wieder der Vergessenheit. Es ist so anspruchslos und so
liebenswürdig, daß es auch den Fremden sich wert zu machen
versteht. Es wird in fremde Mundart übersetzt — das
oben angeführte Liedchen von der buckligen Kuh ist in
Pommerellen wie in Lippe auch plattdeutsch bekannt ;—, ja,
es hat bei der Einfachheit seiner Form und der Faßlich-
keit seiner Pointierung die erstaunlichste Fähigkeit, nach
wenigen Mustern immer neue und neue Strophen erzeugen
zu lassen.
Auch der lustigste und liebenswürdigste Wanderbursche
wird heute nach seinem Paß gefragt. Unser Schnadahüpfl
wandert seit einer Zeit, wo das Herumstreifen aus den Land-
straßen noch nicht durch so feste Ordnung beschränkt war.
Darum vermag so recht mit Bestimmtheit niemand zu sagen,
wo es eigentlich zu Hause ist. Die Alpengebiete Bayerns
und Österreichs scheinen das größte Anrecht daraus zu haben,
für seine Heimat zu gelten. Hier mag die vierzeilige Strophe
mit den zwei Hebungen in jeder Zeile zuerst vorzüglich als
Tanzweise erklungen sein; daraus scheint der Name Schnada-
hüpfl hinzudeuten. Auch heute ist dieser Charakter noch
nicht verwischt: wenn der Bauernbursche seinem Schatz einen
Tanz zahlen will, tritt er mit ihm vor, wirft den Musikanten
Geld hin und singt einen Vierzeiligen nach bekannter Melodie,
die dann von der Musik nachgespielt wird. Aber das
Schnadahüpfl ist nicht aus den Tanzboden beschränkt. Jedes-
mal, wenn sich im Leben des Gebirgsvolkes Fröhlichkeit und
Glück, Übermut und Ausgelassenheit Luft machen will, da
ist es als bequemste Sangweise nnb als leichteste Impro-
visation zur Hand; und nicht minder stellt cs sich dem Kummer
betrogener Liebe und trotzigem Hohn gegen das treulose
Liebchen zur Verfügung und die Herausforderung, die nicht
selten mit blutiger Rauferei endet, spielt sich — besonders
in Tirol — in dem Nahmen eines Wettgesanges mit Vier-
zeilen ab; und ans einsamem Gebirgspsade, wo der Bursch
zum Fensterlu geht oder wo der Jäger dahinzieht, da ertönt
das Liedchen, lind der Überschuß der Empfindung klingt in
lang nachziehendem Jodler aus.
Es ist mit dem Schnadahüpfl wie mit aller Volks-
dichtung. Es ist uralt, und dabei doch immer wieder jung
und neu. Gelehrte Forschung verfolgt seine Spuren bis ins
hohe Mittelalter zurück; sehr viele der heute gesungenen
Strophen sind gewiß vor mehreren hundert Jahren zum
erstenmale gesungen worden. Jede Vierzeile ist einmal zuerst
von einem bestimmten Sänger erdacht und vorgetragen wor-
den. Gefiel sie, dann war sie rasch in aller Munde, ward
hinausgetragen über die Gemarkung des Dorfes, über die
Grenzpsühle des Landes, weit hinaus, so weit überhaupt der-
artige Kunstübung blühte, und, wir haben es gesehen, noch
viel weiter. So kommt es, daß wir Hunderten von Schnada-
hüpfln auf dem ganzen Gebiete dieser Dichtnugsart begegnen,
in Tirol wie im Vogtlande, in Schwaben wie in Steier-
mark, überall gleich und doch anders gestaltet nach Mund-
art und leiser Nüancierung des Ausdrucks. Aber auch da,
wo die einzelne Strophe zuerst entstanden ist, bleibt ihre
Form keine feste; jeder, der sie singt, singt sie anders, mit
kleineren oder größeren Abweichungen, und so wird sie in
stets frisch schassender Improvisation immer gleichsam von
neuem geboren. In feststehender Grundform die größte
Beweglichkeit — das ist die Signatur der Volksdichtung
überhaupt, die man nirgends besser studieren kann als am
Schnadahüpfl und an den verwandten Liedformen andrer
Völker.
Wer die kärtnerischen Alpen hinuntersteigt und durch
Friaul nach dem Venezianischen hineinwandert, der hört
auch dort allenthalben vierzeilige Liedchen, mit einheimischem
Namen Villotte benannt. Ihre Form ist derjenigen der
Schnadahüpfln ungemein ähnlich: die Zeile beginnt mit
einem Auftakt und gipfelt in zwei Hebungen; die zweite und
vierte Zeile reimen, die erste und dritte sind nicht gereimt.
Das ist die normale Form, von der selten Abweichungen
vorkommen, die auch beim Schnadahüpfl nicht ganz fehlen.
Bon den ihrem innern Wesen nach so nahe verwandten
Ritornellen und Rispetten Mittel- und Süd-Italiens heben
sich diese Villotte durch ihre Form in charakteristischer Weise
ab. Ist das durch die lokale Nähe des Schnadahüpfls
hervorgerrufen — auch die Slovenen in Steiermark singen
vierzeilige Vize (Weisen) — oder durch eine gemeinsame
Grundlage bedingt? Und ist diese Grundlage nichts weiter
als eine gleiche Anlage des menschlichen Geistes oder eine
bestimmte ethnologische Thatsache?
Man hat an das letztere gedacht. Der Umstand, daß
das kymrische Volk in Wales ähnliche Vierzeilen besitzt, hat
zu der Annahme geführt, daß die vierzeiligen Liedchen der
Alpenlünder und Oberitaliens in ihren Ürsprüngen den
Kelten zuzuschreiben seien, welche nachweislich einmal in
diesen Gegenden gewohnt haben. Man fand eine Unter-
stützung für diese Ansicht darin, daß auch auf der pyrenüischen
Halbinsel eine ähnliche Dichtungsart — die spanischen Coplas,
die portugiesischen Cantigas — heimisch ist. Wie in sonst
unverwandten Sprachen gemeinsame Erscheinungen auftreten,
die dem ethnologischen Einflüsse einer ältern, aus dem Ge-
biete jener Sprachen einst gesprochenen Sprache zugeschrieben
werden müssen, so glaubte man hier einer ähnlichen That-
sache auf dem Gebiete der Volksdichtung aus der Spur zu
sein. Aber ist man nicht hier etwas zu vorschnell mit der
Schlußfolgerung gewesen? Wenn sich herausstellt, daß auch
in andern Gegenden, in welche niemals ein Kelte seinen
Fuß gesetzt hat, Liedchen von ähnlicher Forni und ver-
wandtem Inhalte vorhanden sind, ist cs dann gestattet, hier-
aus engerem Gebiete die Kelten dafür verantwortlich zu
machen?
Ünd in der That, die vierzeilige Strophe ist eine allent-
halben, wo es Volkspoesie giebt, mit Vorliebe verwendete
Form, um subjektives Empfinden in augenblicklicher Impro-
visation auszusprechen. Sie ist bei den arischen Indern so
wenig unbekannt, wie bei den semitischen Syriern. Die
malayischen Pantuus sehen den Schnadahüpfln zum Ver-
wechseln ähnlich; schon Chamisso hat bemerkt, wie hier, ganz
ähnlich wie bei uns, ein sinniger Gedanke durch einen Ver-
gleich aus der Natur vorbereitet wird. Die lettische Volks-
dichtung besteht wesentlich aus vierzeiligen Liedchen in tro-
chäischem Rhythmus, wie im Spanischen. Ganz reizend
sind zum Teil die russischen und polnischen Tanzliedchen,
auch sie nicht selten ein Naturbild mit einem erotischen
51
Ammons anthropologische Statistik von Baden.
Gedanken verknüpfend. Die tschechischen Pierzeilen will Hel-
fert aus polnischen Einfluß zurücksühren; ich weiß nicht, mit
welchem Rechte. So kann man die Vicrzeile über Schweden
durch plattdeutsches Sprachgebiet verfolgen, bis wir in Frank-
reich wieder aus keltischem Boden ankommen. Und schließ-
lich ist cs wahrscheinlich, daß auch das drcizeilige Ritornell
wie das achtzeiligc Rispett aus vicrzeiliger Strophcnsorm
entstanden sind.
Das alles ist merkwürdig genug. Es giebt dafür kaun
eine andre Erklärung als die aus der überall wesentlich gleichem
Anlage des menschlichen Geistes. Nicht anders ist cs, wem
dasselbe primitive Ornament in den Anfängen der oricnta
lischen und griechischen Kunst und bei südamerikanischei
Stämmen gefunden wird. Nähere Zusammenhänge sin!
daraus nicht zu folgern. Auch aus dem Inhalte nicht. E
ist überall vorzugsweise die Liebe. Daß hier, wo das Ge
fühl mit allen seinen Stufen, Wandlungen und äußeren Bcr
hältnisscn ans dem ganzen Erdball wesentlich das gleiche isi
mitunter an den entlegensten Orten der gleiche Gedanke i
überraschend ähnlicher Pointicrnng auftritt, wen darf die
wundern? Giebt es doch auch ans litterarischem Gebiete di
seltsamsten Begegnungen schöner Geister. Wenn cs h
Schnadahüpfl heißt:
A schcans Diandl liabn
As sei Lebta koa Sund;
Das hat ja da Pfarra
Von da Kanzl vakündt,
so heißt cs entsprechend im italienischen Rispett:
Ich sprach den Pabst in Nom und fragt' ihn frei,
Ob denn das Lieben eine Sünde sei.
Er sagte: Nein, liebt nur in Gottes Namen,
Doch, wohl gemerkt, nur schöne Mädchen. Amen!
Sehr verbreitet ist allenthalben in mannigfacher Version
das Schnadahüpfl:
Mei Herz ist vaschlossen,
Js a Bogenschlop dran,
Js an anziges Büabl,
Das 's asmachcn kann.
Man schreibt gerade diesem Liedchen wegen des Zu-
sammentreffens mit einer Strophe Werners von Tegernsee
hohes Alter zu. Ganz ähnlich lautet eine portugiesische
Cantiga:
Neu cora^ao abre e fecha,
Sem ser arca nem bahu,
E‘tä fechado para todos,
Aberto so para um.
Ich stehe davon ab, weitere Ähnlichkeiten vorzuführen,
wie sie sich zum Beispiel in dem Wunsche junger Mädchen,
zu heiraten, in der Beurteilung der verschiedenen Stände
für die Ehe, in der Abneigung gegen die Heirat mit einem
alten Manne u. s. w. reichlich zeigen. Weit überwiegend
gegenüber der Übereinstimmung ist doch die Verschiedenheit.
Es ist wahrhaft erstaunlich, bei einem Überblick über die
verschiedenen Volslittcraturen zu sehen, welcher geradezu
grenzenlosen Mannigfaltigkeit des Ausdrucks das Gefühl
der Liebe fähig ist. Daß die Verschiedenheit des Volks-
charakters dabei zur durchgreifendsten Geltung kommt, ist
selbstverständlich, und es wäre eine höchst interessante Auf-
gabe, die verschiedenen Völker gerade an der Hand der Vier-
zeilen zu zeichnen. In der endlosen Fülle dieser Produktion
ist nicht alles von gleichem Werte. Es ist wie eine Wiese,
die in weiter Ausdehnung mit einer Fülle bunter Blumen
bedeckt ist und dem Auge so den erfreulichsten Anblick bietet;
geht man näher und pflückt die Blumen ab, so findet man
viel gewöhnliche und unscheinbare Pflanzen darunter.
Ammons anthropologische Statistik von Baden.
Die anthropologische Untersuchung der Wehrpflichtig
in Baden erstreckt sich jetzt über mehr als 18000 Ma
und ergiebt manche beachtenswerte Resultate bei dem U
stände, daß neben Körpergröße und Brustumfang auch
Schädelform und Haar-, Augen- und Hautfarbe scstgestt
wurden. Wir erhalten z. B. eine Aufklärung, wie weit
Annahme von der Identität großer Leute mit blonden Leu
köpfen und kleiner Leute mit brünetten Kurzköpsen bere
tigt ist. Ans Beobachtungen innerhalb kleinerer Bezii
ans die Angaben alter Schriftsteller über die Körpcrbcschafs
heit von Germanen und Kelten hat man die Meinung i
großer Zähigkeit festgehalten, die Blonden müßten groß r
langköpfig sein. Die Untersuchungen zeigen, daß immer!
einiges von dieser alten Behauptung richtig ist. Unter >
Langköpfen kommen bis zu 40 Proz. Große und 17 Pr
Kleine vor; bei den Kurzköpsen findet sich nahezu das v
gekehrte Verhältnis, nämlich nur 16 Proz. Große, aber
für 3!) Proz. Kleine. Es sind nun freilich nicht alle La
köpfe groß, und alle Kurzköpse klein, allein cs besteht d
eine nahe Verwandtschaft zwischen Körpergröße und Kc
form. Wie weit nun germanische und keltische Völker
diesen Lang- und Rundköpfcn stecken, soll hier uncrör
bleiben. Von einer Entscheidung sind wir noch ziem
weit entfernt.
Die Erhebungen in dem Großherzogtum Baden scher
auch für die Vererbung körperlicher Mcrknn
wertvolle Thatsachen zu liefern. Der Berichterstatrer, H
O. Ammon, teilt mit, daß bei der häufigen Vermisch!
der Blonden mit den Brünetten die Merkmale cinzc
aus die Nachkommen vererbt werden. Einige der Kinder
gleichen mehr dem Vater, andre mehr der Mutter; dabei
werden Größe und Kopfform von einem der beiden vererbt,
Augen-, Haar- und Hautfarbe von dem andern. Bei ein-
zelnen Individuen werden aber auch Größe und Kopfform,
sowie Angen-, Haar- und Hautfarben übertragen. Der
Schwerpunkt der statistisch festgestellten Art der Übertragung
liegt in dem Ergebnis, daß einzelne Merkmale ans dem
Organismus gleichsam herausgenommen werden und sich in
den andren verpflanzen. Man dachte früher sich den ganzen
Prozeß der Vererbung anders und verglich denselben mit
einer chemischen Mischung. Mehr und mehr stellt sich aber
jetzt heraus, daß Vererbung zum großen Teil einer m e ch a -
nischen Mischung gleicht, sie liefert ein Mosaikbild, in
welchem die einzelnen das Bild zusammensetzenden Steine
von dem Vater und der Mutter, von Groß- und Urcltern
stammen und aus unbekannten Bedingungen in höchst ver-
wickelter Anordnung sich durchdrungen können.
Neuerdings glaubt der badische anthropologische Verein
noch nach einer andren Seite einen wertvollen Gewinn be-
züglich des schwierigen Problems der Vererbung erreicht zu
haben, wir berichten hier darüber nach einem Artikel in der
Beilage der Allgemeinen Zeitung H, ohne jedoch die Ansichten
des Verfassers zu den unsrigen zu machen. Wir selbst
glauben zwar mit ihm an eine Vererbung geistiger Eigen-
schaften, allein der Sachverhalt bedarf wohl noch nmsassen-
I München, den 29. Okt. 1890, Nr. 300. „Ein Beispiel
der natürlichen Selektion beim Menschen.«
- i'
___T
—//'
52
C. M. Pleytc Wzn.: Indonesisches Feuerzeug.
ii
derer Beobachtungen. „Die Städte, beziehungsweise die
Mittelschulen sollen in größerem Maße die blauäugigen
Langköpfe anziehen als die braunäugigen Kurzköpfe.“ Das
ist ein Ergebnis seiner Statistik :). Dieser vermehrte Zu-
gang von blauäugigen Langköpfen wird nun als eine natür-
liche Selektion im Sinne Darwins aufgefaßt, weil die
Kurzköpfe trotz entsprechender Zahl schließlich in den Städten
aufgerieben werden sollen, da sie in ihnen weniger gut ge-
deihen. „Aber nach und nach gewinnen die Kurzköpfe doch
die Oberhand, weil sie den andren an Zahl überlegen sind."
Die angebliche Selektion bestände nun darin, daß die blonden
Langköpse die Mittelschulen (jetzt wenigstens) mehr frequen-
tieren, weil jede höhere Befähigung mit ihrer Schädel- und
Hirnform zusammenhängen soll (!?).
Der naheliegende Gedanke, bestimmte Fähigkeiten au
bestimmte Kopfformen zu knüpfen, ist wohl von keinem
Gelehrten mit größerer Thatkraft verfolgt worden, als jüngst
von dem Franzosen de Laponge. Ihm zufolge entspringt
jede höhere Befähigung den blonden Langköpfen, welche
Arier genannt werden, und von denen die Germanen ein
Zweig sind. Auf die Anwesenheit von arischem Blut ist
die höhere Gesittung und Thatkraft aller [? Res.) Völker
i) Hier einige Zahlenangaben und Erklärungen hierzu, die
wörtlich den: betreffenden Artikel entstammen.
„Bei den Wehrpflichtigen in der Stadt Karlsruhe waren
30,0 Proz. Langköpfe, im Landbezirk nur 11,5 Proz.; in Mann-
heim Stadt 33,8 Proz., Land nur 23,9 Proz. Umgekehrt waren
die Rundköpfe auf dem flachen Lande zahlreicher. Sie betrugen
in Karlsruhe Stadt 18,5Proz., Land 35,9Proz., Mannheim
Stadt 12,4 Proz.. Land 24,6 Proz. Vergleicht man die ab-
foluten Maße, fo findet man dem Vorstehenden entsprechend die
Stadtköpfe länger als die Landköpfe, aber letztere breiter als
erstere. Dieses Resultat, welches in einigen andern Städten
sich in ähnlicher Weife wiederholte, giebt zu denken. Wenn
wir von der feststehenden Thatsache ausgehen, daß das städtische
Leben unmöglich eine Umformung der Köpfe bewirken kann, fo
werden wir zu dem Schluffe gedrängt, daß zu der fortdauernden
Einwanderung nach den Städten die langköpfigen Bestandteile
der Bevölkerung einen größeren Anteil stellen, als die rund-
köpfigen. Hinter diesem Schluffe erhebt sich aber gleich der
weitere, daß den Langköpfen in höherem Grade als den Rund-
köpfen diejenigen Eigenschaften innewohnen müssen, welche zu
einem regsameren Leben, wie es die Stadt bietet, hindrängen
und befähigen. Unter Langköpfen sind alle mit einem kleineren
Index als 80 verstanden, unter Rundköpfen alle mit Index 85
und mehr. Die früher veröffentlichten Ziffern von Karlsruhe
und Atannheim haben behufs Erlangung der Vergleichsfähigkeit
mit den später folgenden eine kleine Korrektur erfahren müssen,
weil zwei verschiedene Beobachter nicht ganz die gleiche Messungs-
Methoden angewandt hatten."
Dieses ganze Resultat ist vielleicht dadurch herbeigeführt,
daß selbst Leute niit dem Kopfindex von 76 bis 80 zu den
Langköpfen,.gezählt wurden, was kraniologifch nicht gerechtfertigt
erscheint. Übrigens ist der Schluß auf die höhere Intelligenz
der Langköpfe, weil sie zahlreicher die Städte aufsuchen, nach
unsrer Ansicht auch durchaus nicht zwingend.
zurückzuführen, welche in der Geschichte eine Rolle gespielt
haben und noch spielen. Die Arier sind die Pioniere der
Menschheit, die Bahnbrecher des Fortschritts, während die
Rundköpfe und die ihnen nahestehenden Kreuzungsprodukte
die Träger des Stillstandes sind.
Das, was de Lapouge von den Ariern sagt, ist ungerecht
gegen die Kultur im Reich der Pharaonen, der Perser und
der Inder und noch vieler andrer Völker, welche die
unwiderleglichsten Beweise „höherer Befähigung" gegeben
haben. Wo ist mehr „höhere Gesittung und Thatkraft" zu
finden, als in der Geschichte der Griechen und Römer, von
denen weder die einen noch die andern von blonden Lang-
köpfen abstammen. Und die Phöniker und die Araber,
denen Montpellier, die Heimath des Herrn Laponge, seine
Entstehung und seine Förderung verdankt? Die Behauptungen
Lapougcs sind nicht bloß ungerecht, sondern auch irrig; wir
bestreiten des bestimmtesten die Annahme, als ob nur die
Langköpfe Arier gewesen wären. Die Kurzköpfe sind es
nicht minder. Sind cs die einen, so sind cs auch die
andern. Sie sind alle zu gleicher Zeit in Europa an-
gekommen, sie lebten schon miteinander in den ältesten
Pfahlbauten vor der Entdeckung der Metalle und paarten
sich friedlich, als sic noch ihre Werkzeuge aus Feuersteinen
zurechtschlugen. Das hat die Kraniologie schon längst
bewiesen und an dieser Thatsache scheitern alle Ergebnisse
der Statistik, welche zwischen Ariern und Nicht-Ariern in
dieser Weise unterscheiden wollen. Rassenmerkmale halten
wir überdies für den Kulturfortschritt für bedeutungslos. Er
ist durch die Arbeit des Gehirns bedingt und nicht durch
die Form der Schädelkapsel. Deshalb bekennen wir uns
auch zu der Lehre der Kraniologie, welche da sagt: „Es giebt
keine Bauernschädel, obgleich diese Bevölkerungsklasse durch
lange Reihen von Generationen ihre Beschäftigung nicht
wechselt. Gerade die bäuerliche Bevölkerung zeigt die reichste
Abwechslung in ihren Schädclsormcn, von der extremsten
Brachykephalie bis zu der der Reihengräberform ähnlichen
Dolichokephalic. Aber es giebt auch keine Handwerker-,
Beamten-, Schriftgelehrten- oder Faulenzerschädel, obgleich
die Thatsache feststeht, daß in vielen Familien die eine oder
andre dieser Beschäftigungsweisen seit vielen Generationen
auf einzelne Familienglieder vererbt wird."
Die Thätigkeit des Gehirns ist von dem Reiz, d. i. der
Anregung abhängig im weitesten Sinn, das lehrt die
Geschichte der Zivilisation in überzeugender Sprache. Wir
sind nicht Sklaven, sondern Herren unsrer Rassenmerkmale,
sicherlich derer, die am Hirnschädel vorkommen. Sie
bestimmen freilich die Form des Gehirns nach Länge und
Breite, allein nicht den Grad der Intelligenz. Der
Intellekt ist mindestens in Europa diesen Rasseneigenschaftcn
am Schädel niemals Unterthan gewesen. —o —
Indonesisches Feuerzeug.
Von D. ITT. picytc Wzn. Amsterdam.
Auf die Verlesung einer Mitteilung von Skcrtchly H
im Anthropological Institute im Dezember 1889, welche sich
mit den Geräten zur Feuerbereitung in Nordborneo be-
schäftigte, folgte eine Diskussion, in welcher einige Beispiele
des Feuermachens aus Australien und dem Arktischen Ame-
rika angeführt wurden, aber kein einziges aus Indonesien,
obwohl der Gebrauch von Feuergerütcn gerade dort sehr
allgemein ist. Es möge daher gestattet sein, hier aus diese
Lücke einzugehen.
Wenn auch die westliche Kultur in dem Ostindischen
Archipel immer weiter vordringt, und die Eingeborenen schon
mit Zündhölzern bekannt gemacht hat, ist sic doch noch nicht
im stände gewesen, die alten Feuerzeuge zu verdrängen.
Noch heute benutzt der Malaie wie der Melanesier im Not-
fälle oder bei Mangel an Zündhölzern sein altes vererbtes
Feuergerät, und zwar noch ebenso geschickt wie früher, wo
er unsre Methode des Feuermachens noch nicht kannte.
Als die älteste in Indonesien ausgeübte Weise, Feuer
zu erzeugen, muß wohl das Fcuerschlagen mittels eines
Steines gegen ein Stück Bambu betrachtet werden 2); dies
geht hervor aus dem Umstande, daß der noch in primitivem
Zustande dahinlebende Eingeborene beim Hacken von Bambu
C. At. Plcyte Wzn.: Indonesisches Feuerzeug.
53
mehrmals bemerkt haben mußte, daß glühende Splitter von
seiner Steinaxt absprangen. Dabei bemerkte er auch, daß
diese Funken im stände waren, trockenen Schwamm, der
etwa in der Nähe lag, zu entzünden. Was also Zusämger-
weise geschah, brachte ihn aus den Gedanken, abßchtuch
mittels eines Steines, eines Stückes Bambu und Wunder
oder trockener Faser Feuer zu schlagen. Ans die so erhaltene
glühende Masse hauste er trockene Blätter und Holz, emc
Flamme loderte aus, und so gelangte er zur Erfindung dev
Feuergerätes.
Noch heutzutage wird solchergestalt verfahren von den
Alfurcn von Halmaheira '■’’), von den Bewohnern der Ceram-
lawnt - Inseln4), von den Kissarescn, von den Papuas der
Insel WaigerG), von einzelnen Dasakstämmen, und von
einigen Malaien der Pbilippincn. Boyle z. B. berichtet,
^.r..rY..... 6-
daß ein Dasak von tleord- Borneo aus seiner Siridose een
Stück Bambu, eine Scherbe von einem Krug und etwas
Zunder nahm, den er aus die Scherbe legte und an die er
nun scharf nnt dem
Bambu schlug, um
sosort Feuer zu er-
halten o).
Guillemard beob-
achtete dieselbe Me-
thode auf Waigeu,
nur wurde auch statt
eines Feuersteins ein
Stück von einem zer-
brochenen Topfe ver-
wendet , gerade wie
uns dies von Halma-
heira berichtet wird.
Wie hieraus hervor-
geht , haben mehre
Stämme ihr ur-
sprüngliches Feuer-
zeug unvcrsälscht be-
wahrt ; andre da-
gegeN, mehr dem
Einfluß der Zivilisa-
tion ausgesetzt, haben
statt des Steines ein
Stück Stahl ge-
nommen, und schla-
gen Feuer mittels
Stahl und Bambu,
Feuerstahl und Feuerstein eines Batak-
hänptlings.
Wölbung drückt. Von der andern Hälfte spaltet man dann
noch einen lattenförmigen Streifen zurecht, dessen eine Seite
zugeschärft wird. Mit dieser Seite sägt oder geigt der Feuer-
macher nun wie mit einem Bogen auf dem Bambu, der
von einem Begleiter oder einem Pflocke festgehalten wird,
gerade über der Stelle, wo das feine Gcfchabsel liegt,
hin und her, indem er allmählich den Druck und die Ge-
schwindigkeit steigert. Es entsteht ein Einschnitt quer durch
die Längsfasern, die Wärme wächst bei der starken Reibung
sehr schnell, und in dem Augenblick, wo das Gewölbe durch-
schnitten ist, entzündet sich das verkohlte Holzpulver zu
Funken, die in den darunter liegenden Faserballen fallen
und durch vorsichtiges7) Blasen allmählich zu einem Flännn-
chen genährt werden. (Vergl. Fig. 2.) So z. B. verfahren
im Westen des Ostindischen Archipels die Orang Beuna,
des Riouw-Lingga-Archipcls8) und die eingeborenen Stämme
Peraks und Selanggors ans der Halbinsel Malakka 9). Auf
Sumatra wurde bis vor kurzem 10), vielleicht auch noch setzt
Feuer gerieben"). Die Javancn, besonders die Bewohner
des westlichen Teiles der Insel, die Sundanesen, kennen
dieses Feuerreiben unter dem Namen Miruha "). Hierbei
ist jedoch zu bemerken, daß sie kein Bambugeschabscl beim
Reiben verwenden, sondern ein wenig Zunder, Kawul ge-
nannt 7^), den sie auf das untere Stück legen, nachdem sie
vorher in dieses einen Querschnitt gemacht haben. Solcher-
gestalt wird auch von den die nördlichen Striche Borneos
bewohnenden Dasaks "), den Casagus der Suluinseln 15), von
Fig. 2.
wiuijl Ullkl <JUHIUU,
wie z. B. die Bewohner des Goram-Archipels. Wieder
andre, z. B. die Batak aus Sumatra, gaben auch den Bambu
preis und nahmen dafür den Stein wieder. Es würde zu
weit führen, alle Stämme zu nennen, die aus Stahl und
Stein Feuer schlagen. Zur Vervollständigung unsrer Skizze
wollen wir nur die Bataks erwähnen, und dabei einen
Batakschcn Feuerstahl abbilden (Fig. 1).
Außer durch Schlagen versteht der Indonesier noch auf
dreierlei Art Feuer zu entwickeln; durch Reiben von zwei
Stücken Bambu oder Holz aufeinander, durch Drehen eines
Stückes Holz in einem andern, und mittels der Fencr-
pttmpe. Diese drei Methoden werden wir setzt näher be-
trachten.
Znm Fcuerreiben werden auf den meisten Inseln zwei
Stücke Bambu gebraucht. Man sucht dazu ein vollkommen
trockenes Stück aus und spaltet cs der Länge nach in
zwei Hälften, schabt aus dem Inneren die silberglänzende,
weiße Haut und das weiche Holz so fein wie möglich,
heraus und rollt das Geschabsel zu einer losen Kugel zu-
sammen, die auf den Boden gelegt und mit der einen
Hälfte des Rohrs bedeckt wird, so daß sic oben gegen die
Bambus znm Fenersägen von den Kei-Inseln.
den Aposaos ie), den Guinancn, den Tinguianen, den Igo-
rotten, nebst den die Gran Cordillera Central, östlich von
Abra, bewohnenden Stämmen, sowie von den Negritos und
den Bontok-Leuten und Bagobos verfahren "). Die Alfu-
ren der Minahassa18) und die Talant-Jnsulaner thun das-
selbe^). Mehr östlich in Indonesien waren cs, bevor sic
zum Christentum bekehrt wurden, die Ambonesen, welche
aus Bambu Feuer rieben20); heutzutage verfahren so noch
die Bewohner der Insel Kaioa 21) und die des Goram- und
Ccramlawut-Archipcls, die Kei-Jnsulaner 21), die Bevölkerung
der Luang Scrmata- Gruppe, die Eingeborenen von den
Inseln Wetter und Kiffer 22) und die Timorcfcn. Bisweilen
wird von den oben genannten Stämmen Holz statt Bambu
angewendet; in diesem Falle erfordert das Reiben, bis Feuer
entsteht, ein wenig mehr Zeit.
Wir wenden uns nun der Methode zu, nach der durch
Quirlen oder Drehen Feuer erzeugt wird. Vorausgeschickt
muß hierbei werden, daß Fcuerdrehcn nur mittels zweier
Holzstücke in Verbindung mit ein wenig Zunder ausgeführt
werden kann. Die Malaien nennen das Fcuerdrehcn
memusar-api, die Batak mamusar-api; beide Wörter,
meinusar und mamusar, sind abgeleitet von dem
Grundworte pusar — Drehung, speziell schraubenförmige
Drehung23). Memusar-api bedeutet also Feuerdrehen oder
Feuerquirlen, das ganze Instrument wird pnsarau — Feuer-
quirl genannt. Die Qlo-Ngadju- Dajaks von Borneos
Südost-Abteilung sprechen das Grundwort pusäh aus 2H.
Außer von diesen wird der pusaran noch von den Maduresen
benutzt -’•'). Das eine der zum Feuerquirlcn benutzten Holz-
54
C. M. Plcyte Wzn.: Indonesisches Feuerzeug.
stucke, das beim Drehen unten liegt, bildet ein längliches,
viereckiges, flaches Holzbrettchen (Fig. 3 b), bei den Malaien
ibu oder perampuwan und bei den Dasals lisong
genannt. In dieses Brettchen werden auf der einen Seite
einige nach unten zu kegelförmig verlaufende Löcher gemacht.
Das andre Stück stellt ein rundes Stäbchen dar, am untern
Ende stumpf zugespitzt; dieses Stäbchen nennen die Malaien
anale oder laki-laki (Fig. 3 a), die Dajaks balo. Wenn
jetzt Feuer gedreht werden soll, legt der Eingeborene ein
wenig Zunder auf eines der Löcher des Brettchens, und
nimmt das Stäbchen zwischen beide Hände. Darauf stellt
er dieses senkrecht auf das mit Zunder belegte Loch des
Brettchens, und fängt an, es langsam zwischen den Händen zu
drehen, später die Bewegung allmählich verfchnellernd, indem
er einen sanften Druck nach unten ausübt. Natürlich gleiten
feine Hände allmählich nach unten; wenn sie aber dicht bei dem
Brettchen angelangt sind, hält er einen Augenblick inne und
faßt das Stäbchen schnell wieder beim oberen Ende (das
Stäbchen steht also so lange still). Nachdem er diese Arbeit
ungefähr eine Minute fortgesetzt hat, fangen Zunder und
Holz zu glühen an. Selbstverständlich kann jede Öffnung nur
einmal gebraucht werden. Außer von den obengenannten
Malaien, Dajaks und Bataks wird diese Methode des
Feuerdrehens noch von den Dajaks von Nord-Borneo 26)
und einigen Stämmen der Philippinen, wie z. B. den
Apoyaos von Nord-Luzon2?), den Guinanen und Tingancn23)
den Cerammers, den Luang Sermata-Insulanern und den
Weterescn29) ausgeübt.
Wie schon gesagt, nennen die Malaien das Brettchen
ibn oder perampuwan, das Stäbchen anak oder
laki-laki. Die beiden ersten Wörter bezeichnen Mutter
und Weib, die beiden letzten Kind und Mann. Es läßt
sich wohl nach diesen Benennungen annehmen, daß sie nach
den Vorgängen beim Akte der Kopulation auf die beiden
Holzstücke übertragen wurden.
Der Olo-Ngadju-Dajak dagegen hat bei der Benennung
der beiden Teile des Feuerzeuges an seinen Reisstampfblock
gedacht; er nennt das Brettchen lisong (mal.) lesung
(Reisstampfblock) und das Stäbchen balo (mal.) alu
(Stampfer).
Ng- 3- Fig. 5.
Weil aber das Drehen zwischen den Händen ziemlich
anstrengend ist, und eine gewisse Geschicklichkeit erfordert,
war der Eingeborene darauf bedacht, erstens die Handhabung
zu erleichtern, zweitens auch ein Gerät herzustellen, das für
jede Hand brauchbar war. Dieses Gerät fand er in einem
Bohrer, der mittels eines Bindfadens gequirlt werden kann.
Es gelang den zur malaiisch-polynesischen Rasse gehörigen
Huwas auf Madagaskar 3"), den Nias-Jnsulanern und den
Maduresen, solch einen Bohrer zu verfertigen. Modigliani
beschreibt uns in seinem Werke über Rias das Fenerbohrcn
folgendermaßen:
„Ein abgerundeter Stab von hartem Holz wird auf der
einen Seite von einem Stück trockenen, faserigen Holzes, in
dem sich eine Vertiefung befindet, auf der andern von einem
Stück Bambu festgehalten, das in der Mitte ein Loch hat,
um die Spitze des Stäbchens aufzunehmen. Um Feuer zu
erhalten, lassen sie den Bambu von einer zweiten Person
halten oder sie halten ihn allein, indem sie die Füße darauf
stemmen, dann setzen sie das Stäbchen durch eine Schnur
aus Pflanzenstoff, die mehrmals um dasselbe geschlungen ist,
in Bewegung, indem sie dieselbe abwcchselungswcise nach
links und rechts ziehen. Nach wenigen Drehungen entzündet
sich das untere Holz und das Feuer wird mit einem Zunder
aufgefangen, der aus einem Auswuchs, von den Malaien
Lulup genannt, aus dem untern Teile der Palmblättcr
besteht" 31). (Vergl. Fig. 4.)
Der Feuerbohrer der Maduresen ist von dem eben
beschriebenen, was die Form anbelangt, ein wenig verschieden.
Der Stiel dieses Bohrers ist am oberen Ende durchlöchert;
durch dieses Loch wird ein Bindfaden gesteckt, dessen Enden
an einen Querstabe befestigt werden, der in feiner Mitte mit
einem runden Loche versehen ist, worin der Stiel des Bohrers
sich drehen kann. Dicht am unteren Ende des Stieles ist
eine schwere runde Holzplatte befestigt, um die Drehung zu
beschleunigen. Das untere Ende des Bohrers wird auf ein
Brettchen gestellt und ebenso eingerichtet wie dasjenige, das
beim pussaran gebraucht wird.
Um jetzt diesen Bohrer in Bewegung zu setzen, wird das
Seil ein paarmal rund um den Stiel gewunden. Als-
dann drückt man das Querholz nach unten, wodurch der
Bohrer in drehende Bewegung gelangt; die runde Platte
am untern Ende beschleunigt das Drehen in dem Maße,
daß, auch wenn das Seil ganz abgewickelt ist, der Bohrer
in drehender Bewegung bleibt. Sie wirkt also wie eine
Töpferscheibe. Wenn man jetzt das Querholz ein wenig
empor hebt, wickelt das Seil sich von neuem um den Stiel,
jetzt aber in umgekehrter Richtung. Ein neuer Druck dreht
nun den Bohrer natürlich in entgegengesetzter Richtung;
(£ M. Pleyte Wzn.-. JndoneMches öeuaJC«u.
dieses wird wiederholt, bis der Zunder zuin Glühen gebracht der Länge nach in zwei Hälften gespalten und am oberen
ist32) (Fig. 5). 1 Ende der inneren Seite mit eingeschnittenen Figuren ver-
Wie wir also gesehen haben, benutzen die genannten ziert ist. Die beiden Hälften werden wieder vereinigt, und
...........w«—cstpin eltl,h skiiubu, ©tal)i bilden solchergestalt die äußere Form. Zunächst wird ein
" SHvi'Hrfn'rr oenommeN.
1UIV tulü ge'icpcn ipiuui, uum^>. a-.
tamme zum Anmachen von Feuer Stein und Bambu, Stahl
und Bambu, Stahl und Stein nebst Zunder, oder sie reiben
zwei^ Bambustücke aufeinander, oder drehen ein Stück Holz
~“v............... sii'i.'tt StPLtcraci’äten
})wvvn.».wi vin.v»j uijnw .vn.v*jv
dieser Erfindung gelangt wären.
^ Dieses Feuerzeug (vcrgl. Fig. 6 u. 7) besteht aus zwei
Teilen. In ein etwa 9 cm langes Stück Büfselhorn oder
Holz von 2 cm Durchmesser ist ein rundes Loch von 1 cm
Durchmesser bis nahe an den Boden gebohrt. Der zweite
Teil besteht aus einem Stempel, dem Durchmesser und der
Länge des Loches entsprechend; sein unteres Ende ist mit
einer Höhlung versehen zur Aufnahme von Zunder und
außen mit einem gefetteten Faden umwickelt, um einen luft-
dichten Verschluß zu erzielen. Oben am Stempel befindet
sich ein runder Knopf, der bisweilen als Zunderdose ein-
Fig- 6. Fig. 7.
Feuerpumpe von Horn
(Java).
Hölzerne Feuerpumpe
von Borneo.
gerichtet ist. Wird nun der Stempel oben in das Loch
eingesetzt, mit der Hand stark aus den Stempelknopf ge-
schlagen und der Stempel dann sofort herausgezogen, so
gliunnt der in seiner Höhlung befindliche Zunder. (In
Fig. <> zeigt a den Apparat geschlossen, b den Stampfer
mit offener Zunderdose.)
gleri. i|i. -c'n. vi-.v... ..... ............. .
bilden solchergestalt die äußere Form. Zunächst wird ein
Stück flaches Holz, am liebsten ein Brettchen genommen,
worin ein Loch gebohrt ist, im Durchmesser genau mit der
Seele des Cylinders übereinstimmend. Durch dieses Loch
wird, um den Kern der Form zu bilden, ein Stück Rotan
gesteckt, das wiederum durch einen Klumpen Thon, mit
Sand gemischt, hindurch geht, und der hiermit an die obere
Seite des Brettchens festgeklebt wird. Der Rotan steht
ein wenig weiter aus dem Thon hervor, als die Länge des
Cylinders betrügt. Die zusammengebundene Form wird
jetzt mit deul unteren Teile auf das Brett um den Rotan
gestellt; hierdurch entsteht eine Art Dose, worin das ge-
schmolzene Metall gegossen wird. Nachdem dies abgekühlt
ist, wird die Form entfernt, der Rotan herausgezogen, wo-
nach der Cylinder zum Gebrauch fertig ist.
Wie die Eingeborenen zu diesem auf physikalischen
Gesetzen beruhenden Feuergerät gelangten, blieb uns ein
Rätsel und wir dachten zunächst an chinesischen Einfluß.
Allein Herr Dr. I. I. M. de Groot, der vor kurzem nach
dreijährigem Aufenthalt aus China zurückkehrte, versicherte
uns, niemals ein derartiges Gerät in chinesischen Händen
gesehen und auch in dor Litteratur keine Andeutung darüber
gefunden zu haben, daß es dort je in Gebrauch gewesen sei.
In Birma wurde es aber von Herrn Prof. Bastian beob-
achtet33). Also ist die Feuerpumpe entweder von dort
über die Malaiische Halbinsel nach Indonesien gewandert,
oder hat von Indonesien aus ihren Weg nach Birma ge-
funden; wenigstens unsrer Meinung nach, die wir aber
gern für eine bessere preisgeben.
Auf diese Beispiele müssen wir uns jetzt beschränken.
Weitere Untersuchungen werden wahrscheinlich mehr That-
sachen zu Tage bringen, als wir bisher sammeln konnten.
Mit einer kurzen Mitteilung über das Holz und den Zunder
wollen wir schließen.
Über das Holz, das zum Feucrnmchen verwendet
wird, liegen nur dürftige Berichte vor, obwohl die Ein-
geborenen sehr genau die am besten hierzu geeigneten Holz-
arten kennen, was z. B. aus Herrn Skertchlys Bericht
hervorgeht. Als dieser einem seiner Begleiter ein Stück
Holz zeigte, und ihn fragte ob sich hiermit Feuer machen
ließe, antwortete der Mann ihm sofort: „Im kaju ada
api didalam, seperti bisul uanak“, d. h. „in diesem Holz
befindet sich Feuer, wie Eiter in einer Geschwulst“. Über
ein zweites Stück bemerkte er: „Kaju ini jahat ta bulli
kl nah api“, „dieses Holz taugt nicht, cs ist kein Feuer
drin“. Daß unsre Kenntnisse der Holzarten so gering
sind, liegt wohl daran, daß Reisende sich niemals, wenn sie
<- x sTwf,,,,,,, „iM>v Vi'isiiina beobach-
rus. ......r,v...........
oJ.L nr sind, liegt wohl daran, daß Reisende sich niemals, wenn pe
Sn? "^'-IpN des B)tlndlschen Archipels, auf der Insel das Feuermachen durch Drehung oder Reibung beobach-
ii-h *Y w ^ Menangkabauschen - Malaien die teten, mit der wissenschaftlichen Bestimmung der Pflanzen,
/ i HjiY Feuerzeuges unter dem .kamen tjatuw-api- die das Holz lieferten, beschäftigt haben, so spricht Herr
bedienen33). Die Sundanesen kennen ebenfalls " .... °~^ Adas rur selben Gattung
«Äm”?“8"' welchen sie als tjeletok3*) bezcich-
¡MnrJliaa«?”!? c§ Malaien und Dajaks Rord-
Boninks.n?' d/bses Instrument anwenden, ferner
1 ontoklentp S\>ftvS,V,„rm37'> S'i'iUm' irfu
nur gegen
«mnarra, pnv cs vre ^>ccnangravanza)en - mcararen me
sich dieses Feuerzeuges unter dem Namen t.j atuw - api -
balantaq bedienen ■'■'). Die Sundanesen kennen ebenfalls
ger, welchen sie als t.j e 1 c t o k11) bezeich
sind es die Aealaien und Dajaks Nord
v»imW ), uit dieses Instrument anwenden, ferner di
Bontokleute, Bewohner von Nord-Luzon-"). Letztere schätzen
die Feuerpumpe ungemein und trennen sich
verhältnismäßig große Zahlung von ihr.
Die dajaksche Feuerpumpe, mal. besi api timah,
dajaksch besi api bangka, unterscheidet sich von den oben
erwähnten dadurch, daß sie statt von Horn aus einer Legierung
von einem Teil Zinn und zwei Teilen Blei besteht. Skcrtchly
berichtet uns über deren Herstellung folgendes: Die Form,
worin der Cylinder der Feuerpumpe gegossen werden
soll, wird aus einem dünnen Bambusrohr hergestellt, cas
llllU , mn vw , . .
die das Holz lieferten, beschäftigt haben, so spricht Herr
Skertchly von L ad an g-Holz, das zur selben Gattung
gehören soll, wie dasjenige, wovon in Japan Schuhsohlen
gemacht werden. Hardeland giebt Nonang-, Bah and -
jaug- und Sungkay-Holz an. Riedel nennt für die
Luang-Sermata-Inseln Ohi-Holz, für Kiffer trockenes
Holz, nosu ay und für Wetter Hau-Holz3-'). Dies ist
das einzige was wir über die Holzarten erfahren konnten.
Zum Zunder, rabuk (malayisch), kawul (javanisch),
wird allgemein eine schwammartige Substanz benutzt, die
auf den Blumenscheiden der Aren- oder Anaupalme (Areuga
saccharifera) wächst40). De Sturler spricht von einem
Stosse, mehr oder weniger der Wolle ähnlich, der sich an
der inneren Seite der Blattstiele der genannten Palme be-
findet 41). Bischop Grcvclink nennt ein dünnes Gewebe an
56
Capus über die Vielweiberei in Russisch-Turkestan.
der inneren Oberflüche des Fußes der Blattstiele42). Die
Dajaks verwenden den Bast einer Zwergpalme, die Bontok-
Leute angekohlte Baumwolle, während auf den östlichen
Inseln die Faser der Arenpalme und bisweilen auch ge-
4) I. B. Skertchly, On Fire making in North Borneo.
Journal of the Antropological Society XIX, 445.
2) Daß die Methode, Feuer zu erzeugen, durch einen Stein
gegen einen andern harten Stoff zu schlagen, fchon fehr früh
bekannt gewefen ist, beweisen die im Kieler Museum befindlichen
Bronzealterfunde aus Hademarfchen in Holstein. Herr Ols-
haufen machte von dort stammenden Feuerzeugen bekannt, daß
sie vollkommen identisch mit denjenigen feien, welche aus den
Gräbern der cimbrifchen Halbinsel und den nordfriesifchen Inseln
zu Tage kamen. (Verh. der. Berl. Anthrop. Gesell. 1684, 517
u. 522, 1886, 241.)
3) Campen, Eenige mededeelingen over de Alfoeren
van Halmahera. Bydr. t. d. T.-L.- en VK. v. Ned. Indie.
4. volgreeks, dl. VIII, 175. Wallace, The Malay Archi-
pelago II, 34.
4) Riedel, De kroes- en sluikharige rassen tusschen
Selebes en Papua, 187, 429.
5) Guillemard, Cruise of the Marchesa II, 263.
6) Bohle, Adventures among the Dyaks of Borneo
67 — 68.
T) Jagor, Reiseskizzen aus Singapore, Malakka, Java,
178. Schröter, Die Bedeutung des Bambu als Nutzpflanze.
Neujahrsblatt, herausgegeben von der Natursorschenden Gesell-
schaft in Zürich 1886 (LXXXVIII). .
8) Netscher, Schets van den Riouw-Lingga Archipel.
Tydschr. v. Ind. T.- L.- en VK. II, 138.
9) Skertchly, a. a. O. 450.
10) Marsden, History of Sumatra 60.
n) v. d. Tunk, Bataksch - Hollandsch Woordenhoek
unter tutup.
12) Coolsma, Soendaneesch-Hollandsch woordenhoek
unter mir uh a. Veth, Java I, 624.
13) Nach mündlicher Mitteilung des Herrn Kontroleurs
I. I. Meyer.
") Skertchly, a. a. O. 450. Boyle, a. a. O. 67 bis 68.
15) Skertchly, a. a. O. 450.
le) Schadenberg, Verh. Berl. Ges. s. Anthrop. 1889, 680.
17) Schadenberg, a. a. O. 1886, 551. Derselbe, Zeit-
schrift für Ethnol. 1885, 28.
18) Mitteilung von Herrn Prof. Dr. G. A. Willen, der
längere Zeit in Gorontalo als Kontroleur wirkte.
49) Hickson, A Naturalist in North Oelehes 172.
2") Valentyn, Oud en Nieuw Dost Indie II, 161.
trocknete Durianhäute gebraucht werden^3). Die Drang
Beuna des Riouw-Lingga-Archipels nehmen Holzgeschab-
fct44), die meisten Stämme aber die weiche innere Be-
kleidung des Bambu.
Wallace, a. a. O. II, 34. Kaioa ist eine kleinere
Insel an der Westküste Halmaheras, zwischen Makian und
Batjan.
22) Riedel, a. a. O. 187, 226, 319, 429, 456.
23) v. d. Tunk und v. d. Wall, lÜaleisch - Ilollandsch
woordenhoek unter pnsar. v. d. Tuuk, Bataksch-Ilol-
landsch woordenhoek desgleichen.
24) Hardeland, Dajaksch - deutsches Wörterbuch unter
pu8äh.
25) Nach einem Exemplare des Ethnographischen Museums
zu Amsterdam.
26) Skertchly, a. a. O. 451.
27j Schadenberg, a. a. O. 1889, 680.
28) Schadenberg, a. a. O. 1886, 551.
29) Riedel, a. a. O. 126, 319, 456. Diese Methode des
Feuerdrehens war auch früher in Deutschland nicht unbekannt.
Heutzutage amüsieren die Schulbuben des Dorfes Burg im
i^preewalde sich noch damit, auf diese Weise Feuer in die Schul-
bänke^ zu brennen; auch alte Hirten des wendischen Dorfes
Schleife bedienen sich von Zeit zu Zeit dieser Methode (Verh.
Berl. Anthr. Gesellsch. 1831, 132).
30) Sibree, Madagaskar 207 bis 208.
31) Modigliani, Un viaggio a Nias 385.
32) Nach einem Exemplare im Ethnographischen Museum
zu Amsterdam.
33) Van Hasselt, Midden Sumatra, Volksbeschryving.
177 — 178, Taf. 83, Fig. 12. (Nicht Figur 0, wie zitiert
wird.)
34) Tjeletok. Grundwort tjetok — mal. tjatok;
mentjatok — schnell oder mit einiger Kraft niederschlagen.
33) Katalog der ethnographischen Sammlung der
Bataviaasch Genootschap van Künsten van Wetenschappen.
S. 56, Nr. 1120.
3G) Skertchly, a. a. O. 450.
37) Schadenberg, a. a. O. 1886, 551.
38) Bastian, Reisen in Birma 418.
39) Riedel, a. a. O. 319, 429, 456.
40) Veth, Java I, 564.
41) De Sturler, Bydragen t. d. Kennis van het Palem-
bangsch gebied 161.
42) Bischop Grevelink, Planten van Nederl. Indie 737.
43) Riedel, a. a. O. 126.
44) Net sch er a. a. O. 138.
Lupus über die Vielweiberei in Russisch-Turkestan.
Der französische Reifende G. Capus hat vor der fran-
zösischen Anthropologischen Gesellschaft einen Vortrag über
die Ursachen und Wirkungen der Vielweiberei und über
die Bewegung der Bevölkerung im russischen Turkestan ge-
halten, dem wir die nachstehenden belangreichen Mitteilungen
entnehmen H.
Während der Ursprung und die Ausübung der Viel-
weiberei bei den mohammedanischen Völkern Asiens mehr in
das Gebiet der Sozialwissenschast gehören, interessiert die
Polygamie den Anthropologen durch die Wirkungen, welche
sie auf die Bewegung der Bevölkerung und das Verhältnis
der erzeugten Geschlechter ausübt. Dieses Verhältnis kann
von vornherein und ohne besondere Prüfung als eine, wenn
nicht als die erste Ursache der Ausübung der Vielweiberei
betrachtet werden. Leider sind die statistischen Nachrichten
über die Bewegung der eingeborenen Bevölkerung Mittel-
asiens, wenn auch amtlicher Natur, doch ziemlich unzuver-
4) Bull. soc. d’Anthropol. III. Serie, Tome XII,
p. 164.
lässig, was namentlich dem Widerstände der Eingeborenen
bei der Aufnahme zuzuschreiben ist, da dieselben darin nur
Mittel zur Besteuerung und Rekrutenaushebung erblicken.
Der eingeborene Kirgise, Sarte, Tadschik, Ösbege u. s. w.,
gleichviel ob ansässig oder nomadisch, glaubt dem mit der
Aufnahme betrauten Beamten eine geringere Anzahl männ-
licher Kinder angeben zu müssen. Trotz dieses bekannten
Fehlers zeigen die statistischen Ergebnisse einen Überschuß
männlicher Geburten und eine viel größere Anzahl erwachsener
Männer als Frauen. Weniger in bezug aus genaue Zahlen
als aus die Bedeutung der Bewegung der Bevölkerung können
wir aus der Statistik einige Belehrung ziehen. Im Jahr-
buch für Turkestan (1872) befindet sich eine Statistik der Ein-
geborenen der Provinzen Semiretschensk und Samarkand, die
von den Herren Buniakowsky, Tschaikowsky und Virsky her-
rührt. Nach Buniakowsky betrugen die Geburten von drei, vor-
zugsweise von Kirgisen bewohnten Distrikten im Jahre 1868
Knaben: 9616 und Mädchen 8670, oder in Prozenten 53
und 47. Es kam auf 20 Köpfe der Gesamtbevölkerung
jener drei Distrikte eine Geburt. In demselben Jahre zählte
57
Capus über die Vielweiberei in Russisch-TurkestaN.
man dort 17 352 Todesfälle, einen auf je 21 Individuen,
woraus sich ein Wachstum der Bevölkerung von 0,3 auf
100 ergiebt.
Indessen scheint diese Zahl noch ein klein wenig be-
deutender zu sein. Die Geburtszifser ist sehr stark, was,
wie Buniakowsky bemerkt, in Übereinstimmung mit dem all-
gemeinen Gesetze steht, daß, se kultivierter ein Volk, desto ge-
ringer die Zahl der Geburten ist. Die Geburtszifser bei
den Kirgisen übersteigt sogar das Marimum in Europa,
denn in dem in dieser Hinsicht hoch stehenden Rußland findet
eine Geburt erst aus 23 Einwohner statt, lind diese selbe
Ziffer ist auch, im Jahre 1808, bei der in Tnrkestan ein-
gcwanderten Bevölkerung ständig gewesen.
Bei den Kirgisen findet also ein sehr hoher Überschuß
der männlichen Geburten gegenüber den weiblichen statt.
Weit über das normale Verhältnis überwiegen auch die er-
wachsenen Männer die erwachsenen Frauen. Die Zählung
von 1868 ergiebt folgendes:
Distrikte Erw. Männer Erw. Frauen
Wernose 70796 61 353
Kopal 60199 59 416
Sergiopol 46 850 43 000
Jssyk-Kul 25 000 21000
Dieses ergiebt 55 Proz. Männer und 45 Proz. Frauen.
Rach der Statistik von Tschaikowsky waren im Jahre 1869
iw Distrikte Jssyk-Kul 3295 Männer mehr als Frauen
vorhanden. Ans 9908 Zeltbesitzer zählte man 10 976 ver-
heiratete Frauen, 12 238 männliche und 7918 weibliche
Kinder, also einen Überschuß von 4320 männlichen Kindern
lind unverheirateten Jünglingen. Für das Jahr 1872 giebt
ständigkeit sind die Sitten friedlicher geworden, aber die
Lebensweise blieb dieselbe. Man denke daran, daß Dschin-
gischan nicht damit zufrieden war, die Männer zu deportieren;
er ließ oft Männer, Weiber und Kinder niedermetzeln. Und
in Kaschgarien ist es bis in die letzte Zeit bei den Tarant-
scheu, Dunganen und Ehinesen nicht besser ergangen.
Es ist oft behauptet worden, Mittelasien sei früher weit
dichter als heute bevölkert gewesen. Zur Begründung dieser
Ansicht hat man die etwas sagenhaften Berichte mohammeda-
nischer Geschichtschreiber angerufen; man hat auf die zahlreichen
großen Ruinen im Becken des Syr-Darja, des Amu-Darja
und des Murgab hingewiesen, man hat ferner die Spuren
der großen alten Kanäle hervorgehoben, welche einst das
heute von der Kultur verlassene Land bewässerten.
Eapns glaubt nicht, daß diese Ansicht richtig ist, wofür
er kurz folgendes anführt. Die mohammedanischen Ge-
schichtschreiber haben übertrieben und die ungeheuren Heere,
von denen sie sprechen, haben nicht existiert; sie konnten schon
deshalb nicht existieren, weil nur eine kleine seßhafte, acker-
bauende Bevölkerung vorhanden war, die zu ihrer Ernährung,
nicht ausgereicht haben würde. — Die Ruinen, welche einen
sehr großen Flächenranm einnehmen, stammen aus ganz ver-
schiedenen Zeitabschnitten, so die Ruinen des alten Mcrw,
von Tschahr-i-Gulgula, von Termes, von Balch, von Sa-
markand rc. Neue Städte wurde neben den alten und oft
aus dem Material der letzteren erbaut. Es entstanden An-
einanderbauten, die oft einen Umfang von 50 bis 60 km
aufweisen, so daß man an Städte von einer halben Million
und mehr Einwohnern denken konnte, während es sich doch
nur um eine Aufeinanderfolge von Städten von 50 000
und 60 000 Bewohnern handelte. Was die Spuren der
alten Kanäle (aryks) betrifft, wie jene, die man in der
Galodnaja-Steppe, zwischen dem Sarasschan und Syr-Darja,
------- - r,...... - bcn
MaNgett |t(5i;U|UU ----- — , .......... ,
scheinlichen Wechsels der Flußläufe, einer Abspülung der
Ufer u. s. w. ihre Wohnsitze änderte. Auch der Rücksall vom
seßhaften, ackerbautreibenden Leben der Bevölkerung zu einem
Ul1 ^e>ll)gul,lle UNI er veu nomadischen, viehzüchtcnden kann Ursache des Verfalls der
bntuutrr“ ■ °l'! 'L'u \1ta*K^ _tuivd) einen Überschuß „nn- Kanüle gewesen sein. Ein Beispiel aus der Neuzeit mit
weilievoi svp ™”"' vegrnndet sei, wenn anstatt der Viel- gleicher Ursache und gleicher Wirkung liefern uns die Turk-
lK>vfcl)tc. E« «giebt sich aus bet au- m-n-u °°» «chal und «an Mm».
V/v»vj V V XUI ö l'Ullllll
_______........,.... aus 840000 männliche
und 690 000 weibliche Individuen.
Rach diesen Daten kann man also keineswegs behaupten,
daß der gegenwärtige Zustand, die Polygamie unter den
von
lügen»
....... lUJUUl |Ul) UUv UIT
ÜÜ"hrten Statistik des Distriktes Jssyk-Kul, daß, wenn
9 908 Zeltbesitzern oder Familienhänptern nur 3000 bigum
sind (man zählte dort 10 976 verheiratete Frauen), 4976
verheiratete Frauen für 6908 Familienhäupter übrig bleiben,
so daß 4976 monogam und 1032 unverheiratet waren.
Die Ziffer von 3000 Bigamen ist aber nicht übertrieben.
Indessen findet man auch Ausnahmen von der allgemeinen
-lieget des Vorwiegend der Männer, veranlaßt durch den
stärkeren „Verbrauch" der letzteren in Kriegszeilen. So zählte
der Distrikt Tokmak im Jahre 1868 ans 58 682 Männer
61 545 Frauen, dieses Weniger der Männer wurde nach
Buniakowsky durch die inneren Fehden der Karakirgisen und
icren Barantas oder Ranbzüge veranlaßt. In früherer
-?"t haben ans dem Boden Mittelasiens zahllose Revolu-
tionen u ndM ensch ms chläch ter e i en stattgefunden, tausende von
Kriegern sind in der Blüte der Jahre zu Grunde gegangen;
dadurch erlangten die Frauen das numerische Übergewicht
uild dadurch wurde die von der Religion erlaubte Viel-
weiberei begünstigt. Aber dieses numerische Übergewicht
der Frauen war nur vorübergehend, cs schwand durch die-
selben Ursachen, die noch heute wirken, nämlich durch die
weit größere Sterblichkeit der weiblichen Individuen und
das Vorwiegen der männlichen Geburten. Das Klima frei-
lich hat sich nicht geändert, mit größerer politischer Bc-
Globus LIX. Nr. 4.
Endlich muß man auch noch in Rechnung ziehen die that-
sächliche Auswanderung zahlreicher alter Stämme, die früher
als Ackerbauer in der Ebene oder deren Nähe seßhaft waren
und die man heute in den Schluchten und schwer zugängigen
Thälern des Hindu-Kusch und des Tian-Schan wiederfindet.
Um nun auf die Ursachen der Polygamie zurückzukommen,
so scheint es zunächst, daß, wenn die Ansangsnrsachcn auf-
gehört zu wirken oder nur noch aus einem Dogma ohne praktische
Anwendung beruht hätten, die Polygamie erloschen und in der
Praxis durch die Monogamie ersetzt worden wäre, wie dieses
bei andern mohammedanischen Völkern unter gleichen Um-
stünden der Fall gewesen ist, so z. B. bei den Wachis. Die
Wachis sind arm und mit Ausnahme der Häuptlinge meist
monogam, denn sie haben kein Geld, um sich mehrere Frauen
zu kaufen. Die Kasirs sind keine Mohammedaner, sie nehmen
soviel Frauen, wie sie ernähren können; es ist dieses also
eine Vermögensfrage. Und so ist cs bei allen mohammeda-
nischen Völkerschaften Mittelasiens, wo der Eingeborene das
Weib kaust, indem er dem Schwiegervater den Kalim übcr-
giebt und zwar soviel Weiber, als ihm sein Geldbeutel er-
laubt. Man entschuldige den trivialen Vergleich: es wirken
hierbei dieselben Ursachen, als wenn bei uns der Bauer ein
oder mehrere Arbeitspferde kaust oder der Reiche Wagen-
und Lnxuspserde. Die gegenwärtigen Ursachen der Viel-
58
I. Cholets Reise auf dem Sangha.
weiberei beruhen daher in der ungleichen Verteilung des
Vermögens und den: untergeordneten gesellschaftlichen Zu-
stande der Frau bei den Mohammedanern. Bei den Armen
ist die Frau zunächst ein Arbeitsgeschöpf, das er gebraucht
und mißbraucht. Beim Reichen ist sie ein Luxnsgegenstand.
Sein Harem (Anderum) wird oft zu einer Art von Museum,
das er mit wilder Eifersucht bewacht. Dieses ist nun aller-
dings nicht die Regel, weil Reichtum eine Ausnahuie ist,
aber es genügt, die Regel und die Ausnahme anzudeuten,
um die Rolle zu zeigen, welche die Frau in einer Gesell-
schaft spielt, wie sie uns die polygamen Völker Mittel-
asiens heute zeigt.
I. Lholets Reise auf dem Sangha.
I. Cholet, der Administrator der französischen Congo-
kolonie, der nicht nur seinem Vaterlande, sondern auch der
geographische» Wissenschaft durch seine langjährigen Forschun-
gen zwischen Ogowe und Congo, namentlich im Niari-Gebiet
zwischen Loango und Stanley Pool, wesentliche Dienste ge-
leistet hat, berichtete in der Pariser Geographischen Gesellschaft
vom 7. November 1890 über seine Forschungsreise, die dem
Sanghafluß, einem bedeutenden Zufluß des Congo galt, in
welchen sich derselbe auf ungefähr 1° südl. Breite zwischen den
Mündungen des Alima und Ubangi ergießt. Hier hatte
Frankreich früher den sehr wichtigen Posten Bonga, der heute
verlassen ist und wo nur mehr eine Fakterei des Hauses
Daumas und Cie. anzutreffen ist. Die Expedition konnte
am 30. März 1890 von Bonga aus die Bergfahrt beginnen.
Der Sangha ist an der schmälsten Stelle 300 m, häufig
aber 2 km und darüber breit. Sein Bett ist mit Inseln
und Sandbänken angefüllt und die letzteren waren während
des herrschenden niederen Wasserstandes mit Flußpferden
buchstäblich bedeckt. Die Ufer des Sangha sind in seinem
Unterlaufe flach und sumpfig, man verkehrt nur zu Wasser;
die Dörfer liegen weit ab vom Ufer an kleinen Kanälen, die
absichtlich mit Baumstämmen versperrt sind aus Furcht vor
den Ubangi-Leuten, die ihre Razzien bis hierher ausdehnen.
Bewohnt ist dieser Teil von den Afuru, einem Händlervolke,
das den Sangha hinauffährt, um dort von den Eingeborenen
Elfenbein einzuhandeln und es dann in Bonga an das Hans
Daumas und Cie., oder in Bolobo im Congostaatc oder auch
am Stanley Pool zu verkaufen.
An seinem Mittelläufe sind die Ufer höher, die Dörfer-
liegen am Wasser und bilden eine große Straße längs des
Flusses. Hier wohnen die Businde. welche weniger auf dem
Wasser zu Hanse sind. Sie reisen über Land und haben
mit den Ridomba des Ogowe und den Pahuin Verbindung,
was leicht an ihren Waffen und Schmuckperlen zu erkennen
ist, die alle- von einer Form sind, wie sie nur am Ogowe
und nördlich von Gabun verkauft werden. Sie haben etwas
Elfenbein, das sie theils erjagen, theils im Inneren einhandeln.
Der Oberlauf des Sangha, soweit Cholet ihn erreichen
konnte, ist von den Basanga, einem reichen und mächtigen
Stamme, bewohnt. Ihre Dörfer liegen auf Inseln, ihre
Hütten sind nicht kleine Negerhütten, sondern große geschlossene
Schuppen, um welche herum die Zimmer liegen. Die Hütte
des bedeutendsten Häuptlings, Minganga vom Dorf Uoso, war
40 m laug, 18 m breit und 7 m hoch. Die Stämme aus
dem Inneren verkaufen hier ihr Elfenbein an die Afuru, und
trotz der Abgaben, die sie hin und wieder an die Häuptlinge
entrichten, bei welchen sie ihre Handelsgeschäfte abwickeln,
ist das Elfenbein doch um einen wahrhaft lächerlichen Preis
zu haben. Bei Uoso empfängt der Sangha einen bedeuten-
den Nebenfluß, den N'Goko, und nimmt selbst den Namen
Masa an. Zweimal versuchte Cholet, den Masa, der hier
noch 1800 m breit war, weiter hinauf zu befahren, allein
die Sandbänke zwangen ihn zur Umkehr. Die Ufer waren
hier niedrig, weit und breit keine Berge zu sehen und ans
der Größe des Flußbettes konnte man schließen, daß der
Fluß bei Hochwasser (Mitte Juli bis Mitte November) noch
weit, wahrscheinlich nach Norden zu, befahren werden kann.
Da der Masa nicht zu befahren war, so ging Cholet den
N'Goko aufwärts und nun veränderte sich die Landschaft voll-
ständig. Das Flußbett ist enge, höchstens 200 m breit und
zu beiden Seiten zeigen sich hohe bewaldete Berge, Elefan-
ten waren häufig und täglich sah man welche baden. Die
Bevölkerung wohnt abseits vom Flusse, nur drei Dörfer, die
dem Häuptling Minganga von Uoso gehören, liegen auf
Inseln. Beim obersten dieser Dörfer erhält der N'Goko öst-
lich einen Zufluß, deu Mangango, 100 m breit, dessen Strom-
schnellen und Sandbänke aber schon nach 11/2 Stunden die
Weiterfahrt unmöglich machten. Der N'Goko selbst wechselt
hier seinen Namen in „Monba". Vielfach gekriimmt fließt
er zwischen hohen Bergen und bildet kleine Inseln und
Stromschnellen.
Von diesem Zufluß au, der am 9. Mai erreicht wurde,
war keine Spur von Bewohnern mehr zu sehen, keine Bahn,
kein Bauholz, keine Anpflanzung, kein verlassenes Dorf, kein
Fußweg, der nach dem Flusse geführt hätte, nicht einmal
Feuerreste. Elefanten, Flußpferde und tvilde Ochsen sind
hier die Herren und große Flächen zwischen den Bergen sind
hier derartig von ihnen zertreten, daß sie dem Hofe eines
Bauernanwesens gleichen.
Es fingen nun die Lebensmittel für die Leute an knapp zu
werden, der Fluß verengte sich und wurde immer schwieriger
Vordiluviale Glacialerscheinungen. — Auf Japanische Art.
59
zu befahren und überdies nahm er eine Richtung, die aus
deutsches Gebiet führen konnte. (In der That hört aus der
Karte die Darstellung der Reise genau da auf, wo die deutsche
Grenze beginnt! D. R.) Am 15. Mai wurde also dw
Weiterfahrt ausgegeben und die Rückfahrt angetreten, am 31.
wurde Bonga und am 11. Juni der Ausgangspunkt, Brazza-
ville, wieder erreicht.
Die Reisenden wurden überall am Sangha gut aus-
genommen und erhielten leicht alles, was sie brauchten, wenn
der erste Schreck bei Leuten, die noch nie Weiße gesehen
hatten, überwunden war. Die Bewohner haben keinen Ber-
kehr mit den Ubangi-Lentcn, die sie nur vom Hörensagen
kennen, sie sind auch keine Menschenfresser. Ihren Waffen,
ihrer Sprache und ihren Tänzen nach nähern sie sich den
Pahuin und Udombo. Das Land ist reich an Elfenbein,
auch Kautschuk wird gefunden. (Rach Compte Rendu d.
1. 806. geogr. 1890, S. 459.) ^ j
Für unsre deutsche Kolonie in Kamerun ist diese Reise
auch von Wichtigkeit, da dieselbe bis dicht an deren Ost-
grenzen führt, von der ans sich leicht Handelsbeziehungen
nach dem französischen Eongo hin gestalten können. Von
dieser Seite ans suchen uns die Franzosen hier das Hinter-
land Kameruns abzuschneiden, wie andrerseits im Norden
die Engländer eine gleiche Thätigkeit entwickeln.
B o r d i l n b i a l c G l a c i a l c r s ch e i n n n st c it.
Im laufenden Bande der „Nature" (S. 104) bringt
H ans Rensch, Direktor der norwegischen geologischen Landes-
anstalt, folgende überraschende Notiz über das Vorkommen
vordilnvialer Moränenablagernngen aus der skandinavischen
> Halbinsel. — Am inneren Varanger Fjord (norwegisch Lapp-
land) besitzen horizontal lagernde paläozoische Sandsteine
mit konglomcratartigen Einlagerungen eine große Verbrei-
tung. Das Material der 50 in Mächtigkeit erreichenden
Konglomerate besteht aus allerlei archäischen Gesteinen und
zeigt nicht die übliche Rundung der Flutschuttbildungcn, son-
dern ist nur schwach abgerundet, kantenbestoßen; überdies
gewahrt man an einem Teile der Geschiebe, an dolomitischen
Kalksteinen, jene deutliche Schrammnug und Kritzelnng, wie
sie für Glacialschutt charakteristisch ist. Air einer Stelle, wo
günstige Entblößungen die Untersuchung des Untergrundes
dieser Konglomerate ermöglichten, zeigte sich derselbe gefurcht
und geschrammt. Die harten Sandsteine mitsamt den
Konglomeraten rechnen die skandinavischen Geologen
zum Perm, Rensch ist geneigt, denselben sogar
Alter zuzuschreiben.
Es wird nicht leicht sein, die Zugehörigkeit dieser Kon-
glomerate zu Glacialbildnngen zu leugnen, zumal Rensch die
betreffenden Belegstücke seinen übrigen nordischen Kollegen
vorgelegt hat, welche ganz mit seiner Auffassung überein-
stimmen.
Die große Bedeutung dieses Fundes für unsere Erdge-
schichte liegt hauptsächlich darin, daß er nicht der erste dieser
Art ist, vielmehr die Bestätigung liefert für die nicht geringe
Verbreitung von paläozoischen konglomcratischcn Bildungen,
tvelche mit Merkmalen behaftet sind, die uns sonst zur Er-
kennung von Glacialbildnngen dienen.
Früher schon sind uns aus Südafrika ähnliche Ablage-
rungen durch A. Schencks genaue Untersuchungen bekannt
geworden. In den Verhandlungen des achten deutschen Geo-
graphentages finden wir die Resultate derselben, wie folgt,
zusammengefaßt. „Im Bereiche der Karroosormation, welche
etwa die Zeit vom oberen Karbon bis in die Trias umfaßt,
treten alte Konglomerate (Dwpka Konglomerat, Vaal-Konglo-
merat) auf, welche sowohl durch ihre ganze Struktur wie
auch durch die eingeschlossenen gckritztcn Geschiebe und durch
ihre geglättete und geschrammte Unterlage sehr an solche Ab-
lagerungen erinnern, die wir als typisch glaciale ansehen."
— Schon vordem aber ist über Bildungen vom Habitus des
Moränenschuttes aus etwa gleichalterigen Schichtenkomplexen
Englands, Kanadas und des Himalaya berichtet worden.
Anffaüenderweise hat man diesen überaus merkwürdigen
Ablagerungen bisher nicht die gebührende Beachtung geschenkt,
welche sie verdienen. Will man sie aber den sogenannten
Pseudoglacialbildungen zuweisen, wie es in der That ge-
schehen, so folgt weiter daraus, daß Kritzung und Schrammnug
der Geschiebe, Glättung und Polierung des Untergrundes,
welche bei diesen Konglomeraten ebenso charakteristisch auf-
treten, wie bei zweifellosem Glacialschutt, nicht mehr als her-
vorstechendstes Charakteristikum für letzteren angesehen werden
dürfen — oder aber man erkennt diese Geröllmassen der
paläozoischen Periode als Glacialbildnngen an, dann müßte
man das Auftreten von Kälteperioden auch in den weit
zurückliegenden Zeiten unserer Erdgeschichte zugeben. Mit
letzteren Schlußfolgerungen würden die Vermutungen einiger
Paläontologen übereinstimmen. A. Saner.
aber
silnrisches
Auf Japanische Art.
Es ist eine bekannte Erzählung, daß, als Europäer
zuerst einem japanischen Diener eine zugekorkte Flasche und
einen Pfropfenzieher zum Öffnen derselben übergaben, der
Japaner das Instrument mit der einen Hand festhielt und
mit der andern den Kork in dasselbe hineindrehte, also
umgekehrt wie wir es machen. Die Erzählung scheint wahr
zu sein, denn noch heute kann man im Innern des Landes
beobachten, daß die dienstbaren Geister die ihnen von Euro-
päern übergebenen Flaschen in der erwähnten Art öffnen.
Dieser Unterschied in der Handhabung vieler Dinge erstreckt
sich aber weiter und zeigt, daß beim Japaner sehr häufig
eine Anschauung herrscht, die von der unsrigen grundver-
schieden ist. Japanische Bücher beginnen mit dem, was wir
den Schluß nennen; die Zeilen gehen von oben nach unten
und nicht in wagrechter Reihe, wie bei uns. Unsre Fuß-
noten stehen oben an der Seite. Die Briefe sind in gleicher
Weise in Zeilen von oben nach unten geschrieben, einseitig
und auf einem Stücke Papier, das von einer Rolle abgezogen
wird. Die Briefmarke wird nicht wie bei uns aus die
Hauptseite des Briefes geklebt, sondern ans den Verschluß,
was übrigens in Österreich auch oft geschieht. Die Adresse
wird wiederum umgekehrt wie bei uns geschrieben. Ein
Japaner wird adressieren: Deutschland, Berlin, Breitestraße,
Müller August Doktor. Das letztere erklärt sich dadurch,
daß der Japaner stets den Familiennamen vorsetzt, dann den
individuellen, entsprechend unserm Taufnamen, endlich den
Titel.
Betrachten wir die Handwerker, so erblicken wir auch
vieles, was uns „japanisch" vorkommt. Der Zimmermann
hobelt auf sich zu, statt von sich fort, wie unsre Handwerker.
Karten werden nach rechts herum gegeben und das Spiel
! folgt auch in dieser Richtung, nicht nach links, wie bei uns.
In einem Wirtshause angelangt, gebt ihr das Trinkgeld bei
der Ankunft dem Diener, nicht bei der Abreise; die kleinen
Kinder trägt man nicht ans dem Arme, sondern ans dem
Rücken. Brennende Kerzen werden nie ausgepustet, sondern
mit dem Fächer oder dem Luftzug, der durch die Hand ver-
ursacht wird, gelöscht. Der Buchführer schreibt zuerst die
Geldsumme in sein Buch und hinter diese den Gegenstand,
für den sie gezahlt wurde. Wir bevorzugen warme Speisen
und kalte Getränke; der Japaner liebt es umgekehrt. Wappen
bringen wir auf. Geräten und an Möbeln an; der Japaner
trägt sie ans der Kleidung. Pferde werden in Japan von
rechten Seite bestiegen; die Mähne ist aber nach der
8*
der
60
Bücherschau.
linken gekämmt. Im Stalle stehen die Pferde mit dem
Kopfe nach der Thüre zu, also umgekehrt wie bei uns. Nie
wird man sehen, daß ein Japaner sein Boot am Vorder-
teil nach sich zieht, sondern stets am Stern. Bauen sie ein
Haus, so errichten sie zuerst das Dach.
In Japan findet man sehr gutes Porzellan; doch genießt
man nur wenig daraus und zieht es vor, die Speisen in den
schön lackierten Holzgcraten aufzutragen, die weniger leicht
brechen. Manches könnten wir uns aneignen, so z. B. die
Bezeichnung kleiner Kinder in volkreichen Städten mit Tafeln,
ans denen ihr Name und Wohnort geschrieben ist. Verlieren
sie sich, so werden sie schnell zurückgebracht. Der Japaner
wird als ein Jahr alt bezeichnet am letzten Tage des Jahres,
in dem er geboren ist; am ersten Tage des folgenden Jahres
heißt cs schon, er sei zwei Jahre alt. Wird daher ein Kind
am 31. Dezember geboren, so ist es am 1. Januar schon
zwei Jahre alt. Wie bei vielen Völkern die Gemütsänßerungen
und Geberden anders sind als bei uns, so auch bei den
Japanern; er winkt z. B. in der Art, daß wir glauben, wir
sollen uns entfernen. Es nähern sich zwei Jinrikischas,
welche in Japan die Droschken vertreten, einander; der eine
Mann winkt mit der Hand nach rechts und nun glaubt ihr,
daß der Entgegenkommende diese Seite fahren soll. Es ist
aber umgekehrt, der Winkende will rechts fahren. Und so
lassen sich noch Hunderte von Unterschieden aufzahlen, die
namentlich dem neuen Ankömmling in Japan auffallen, so
daß dieser, wenn er etwas nachdenkt, zu der Frage veranlaßt
wird: Wer hat recht?
Der Japaner denkt gerade so wie der Europäer, daß
seine Art die richtige ist. Ein bestimmtes Gesetz für alle
giebt es in solchen Beziehungen nicht. Neben dem Gemein-
schaftlichen, was die Völker und Rassen verbindet, ist aber
stets auch das Trennende und Unterscheidende hervorzuheben.
Ohne dieses zu beachten, giebt es keine gerechte Beurteilung und
wir kommen zu Schablonenansichten, die im praktischen Ver-
kehr mit fremden Völkern nur Unheil verursachen.
B ü ch e
Dr. Hans Meyer, Ostafrikanis che Gletscherfahr ten.
Forschungsreisen im Kilimandscharogebiet. Mit
3 Karten , 20 Taseln in Heliogravüre und Lichtdruck und
19 Textbildern. Leipzig, Duncker und Humblot, 1890.
376 Seiten. Gehestet 20 M.
Ehe wir das Durchlesen dieses in vornehmem Gewände auf-
tretenden Werkes begannen, verglichen wir die demselben bci-
gegebene große Karte des Kilimandscharo im Maßstabe 1:250000
von Bruno Hassenstein mit der von demselben Meister vor fast
30 Jahren gezeichneten Kilimandscharokarte zu dem Deckenschen
Reisewerke, die genau halb so groß ist. Der Vergleich ergab,
daß damals schon in den Hauptzügen und vielen Einzelheiten
die deutsche Forschung und Kartographie Vorzügliches geleistet
hat. Aber trotzdem — welcher Fortschritt offenbart sich in dem
Meyerschen Werke gegenüber Decken und allen übrigen Vor-
gängern! Er darf das stolze Wort The Kilimandscharo is
seltled in Anlehnung an Spckes bekannte Äußerung ruhig
anssprechen; er hat dieses Ziel durch zähes Ausharren auf
seiner dritten, demselben Gegenstände gewidmeten Reise erreicht,
die hier in dem vorliegenden Buche geschildert wird, das auch
als Mnsterleistung schöner Darstellung bei allem wissenschaftlichen
Gehalte hervorgehoben zu werden verdient. Ja, oft werden
diese Schilderungen geradezu poetisch: „Die Südwestseite des
Eisvoms leuchtete im Glanze der tiefstehenden Sonne in rot-
gelben Tönen. Die höher oben am Kegel abbrechende östliche
Eisdecke lag in tiefblauem Schatten. Schwarzbraune Fels-
partieen durchbrechen den geheimnisvoll flimmernden Eismantel,
wie im Hermelinmantel eines Königs die weiße Pelzfläche von
schwarzen Fcllspitzen durchbrochen wird. Und wo wäre ein
König, dem solcher Schmuck mehr gebührte, als dein König der
afrikanischen Berge, dein Kilimandscharo? Seine Füße ruhen
auf dem Samtteppich der oberen Grasflächen und durch den
dunkelgrünen Urwald steigen die Stufen seines Thrones herab
zu den Menschen, die vor solcher Majestät in Ehrfurcht
stehen."
Wenn auch durch Vortrüge und vorläufige Mitteilungen
Meyers endgültige Bezwingung des Kilimandscharo schon in
ihren Hauptzügen bekannt ist, erhalten wir doch erst hier die
fruchtreiche Gesamtschilderung des Doppelberges, „des runden
weißen Kibo und des zackigen, dunklen Mawensi"; wir folgen
dem Reisenden durch die in ihrer Vegetation eingehend geschilderte
Steppe, durch den bei steter Feuchtigkeit in großartiger Üppig-
keit entwickelten Urwald, hinauf..zum Schnee und zum Gletscher,
die allerdings nur eine geringe Ähnlichkeit mit der Eisbedeckung
unsrer Alpengipfel zeigen, da ein eigentliches Firnreservoir fehlt
und das Eis sich ohne Sammelbecken an den Flanken des
Berges bildet. Am 3. Oktober 1889 hatte Dr. Hans Meyer,
was ihm 1887 nicht gelang, den höchsten verwetterten Lava-
gipfel an dem 2000 m Durchmesser haltenden, schneeersülltcn
Krater erklommen und dort die deutsche Flagge gehißt. Froh-
lockend rief er: „Mit dem Recht des ersten Ersteigers taufe ich
diese bisher unbekannte, namenlose Spitze des Kibo, den höchsten
Punkt afrikanischer und deutscher Erde: Kaiser-Wilhclm-Spitze."
Und der höchste Lavastein, den Meyer von dort mitnahm, liegt
heute als Briefbeschwerer auf dein Schreibtische des Kaisers.
- s ch a u.
Das Werk enthält außer der den Verfasser im liebenswürdig-
sten Lichte erscheinenlassendcn Reiscbeschreibung eine zusammen-
fassende Geschichte der Kilimandscharoforschung, wobei scharfe
Kritik an den Bergbesteigungen der Herren Johnston.. und
Ehlers geübt wird; cs werden in sachlicher und von Über-
treibungen freier Art die wirtschaftlichen Verhältnisse Deutsch-
Ostafrikas erörtert; die Vegetation mit ihren ursächlichen Be-
dingungen wird, fast wie von einein Pflanzengeographen von
Fach, geschildert und den geologischen und Eisverhältnissen
besondere Aufmerksamkeit gewidmet. Ern zusammenfassendes
geographisches Bild fehlt nicht, und Spezialsorscher geben uns
Auskunft über die Gesteine, Flechten, Moose und Insekten des
Berges. Höhenberechnungen und eine Übersicht der Kiliman-
dscharolittcratur machen den Schluß.
Außer dem Bergrieseu, dessen Nord- und Ostscite noch
näher zu erforschen bleiben, giebt uns Meyer zum erstenmal
iir diesem Werke eine Schilderung des Berglandes Ugucno, das
1862 nur flüchtig von Otto Kersten an feiner Ostseite gestreift
wurde. Nicht vulkanisch, wie der Kilimandscharo, ist es ein
Gneisgebirge, das in dem schön geformten, 2000 m hohen
Gamualla gipfelt. Es ist eine fruchtbare Landschaft, welche zu
den aussichtsvollen Gebieten der deutsch-ostafrikanischen Besitzungen
gehört. Die Einwohner, die Wagueno, sind ein arbeitsamer,
Ackerbau treibender und Eisen schmelzender Stamm, der, was in
Afrika sehr selten, die Errichtung regelrechter Meiler zur Kohlen-
erzeugung kennt. Hier giebt Meyer auch ethnographische Er-
kundigungen, die sonst in dem Buche zurücktreten.
Wir haben das Buch ein vornehmes genannt; es ist es
nicht nur nach seinem Inhalt, sondern auch nach seiner Aus-
stattung. Die Karten zeigen gleich Hasseusteins Meisterhand,
und auch ein Meister, der Alpenmaler Comptoir in München,
zeichnete nach Meyers Photographiern und Skizzen die zahl-
reichen landschaftlichen Abbildungen, die teilweise wie Radierungen
wirken. R. And ree.
Dr. Oskar Drude, Handbuch der Pflauzengeographic.
Mit 4 Karten u. 3 Abbildungen. Stuttgart, Engelhorn,
1890. 582 S.
Wer seit 1878 die pflanzengeographischen Berichte in
Behm-Wagners geographischem Jahrbuche gelesen, deren Vers.
Prof. O. Drude iir Dresden ist, und ferner in der Neubearbeitung
von Berghaus physikalischem Atlas die der Pflauzenverbreitung
gewidmeten Taseln desselben Gelehrten studiert hatte, dem mußte
es klar sein, daß Drude der ganz geeignete Mann war, um eiu
Handbuch der Pflanzengeographie, wie das vorliegende, zu
schreiben. Eine selbständige Arbeit aus einem Gusse, in welcher
nicht nur die Hauptdisziplin, sondern auch, was der Geograph
angenehm empfindet, alle Nachbarwissenschaften, die heran-
gezogen werden mußten, vortrefflich beherrscht werden.
„Hoch und frei stehen die wissenschaftlichen Ziele der
Pflanzengeographie da, als Ergründung der Kausalität in der
Verbreitungsgefchichte der Pflanzenwelt und als Ergründung
der Wechselbeziehungen zwischen Landesnatur und Vegetations-
teppich, innig angeschlossen an umfangreiche Materien der bota-
nischen Systematik, Physiologie und besonders Biologie und der
Aus allen Erdteilen.
61
anderweiten Disziplinen der physichen Erdkunde, zu deren
Gliede sich die Pflanzcngeographie selbständig ausgestalte
dieser srcien Entwickelung richtet sie ihr eigenes Lehrgcvauvc
aus und die zahllosen Gegenstände, welche der vergleiche
Pflanzengeographik aus allen Teilen der Eede zufließen, erhalten
hier erst den richtigen Platz angewiesen, ihre Bedeutung für
das Allgeineine erst hier klargcstellt."
Der Inhalt des Drudeschcn Werkes gliedert sich folgen-
dermaßen: Begriff und Ausgabe der Pflanzrngcographic, deren
Richtungen und ihre Stellung zur physikalischen Geographie —
dieses als Einleitung. Darauf wird die geographische Biologie
der Pflanzen abgehandelt, wobei die Wirkungen des Klimas,
die Orographie mit ihren Beziehungen zur Pflanzenwelt, die
biologische Verschiedenheit der Organisation (Vegetationsformen
und Vegctationtzzonen) zur Besprechung gelangen. Nun solgt
der geologische Teil, d. h. die Entwickelung der gegenwärtig abge-
sonderten Areale, die Bevölkerung der Florenreiche durch hervor-
ragende Gruppen des Pflanzensystcms, wobei als Beispiele einige
Familien (Palmen, Coniferen, Eupuliscren, Ericaccen u. s. w.)
näher behandelt werden. Die pflanzengeographische Physiogomik,
in der uns die gesellschaftlich vorkommenden Formen vorge-
sührt werden, mit den Schilderungen der verschiedenen Wald-
sormationen, den Grasflur- und Staudenformationcn, den Moos-
nnd Flechtenformationen, den ozeanischen Formationen, bildet
denjenigen Teil des Werkes, welcher den weniger botanisch
gebildeten Geographen am meisten anzicht. Zum Schlüsse
folgen die pflanzcngeographischen Regionen und eine Karte der
Flvrenrciche der Erde, gezeichnet aus Grundlage von W. Köppens
Wärmegürteln. Reiche Litteraturangaben ermöglichen es, da,
jdfop nicht auszurcichcn scheint, sich
F. K.
wo das Werk Trudes
weiter zu unterrichten.
G. Gnrich, Geologische Übersichtskarte von Schlesien,
1:400000, nebst Erläuterungen. 104 S. -Breslau 1890.
Kerns Verlag.
einen
Leitfaden
„„w mV», wujuIIOIS9 ju uci|uju||iu. Deshalb
wurde dem Herausgeber der Karte auch die Unterstützung der
schlesischen Gesellschaft für vaterländische Kultur zu teil. Als
Rose, I. Roll)
)ine voir Nieder-
c Leitung sowie
. . , - -.....—u- vollendete Kartierung
von Oberschlesien. — Die '■':t "10ür‘ -- * "
getretene kgl. pr
Die Karte entsprang dem Bedürfnisse, Jachgeologen ei
Überblick, einheimischen Freunden der Geologie einen Leilsa
und Führer für das Gebiet Schlesiens zu verschaffen. Test
wurde dem Herausgeber der Karte auch die Ur*—ri,t'..........
schlesischen Gefellschast für vaterländische Kultur
wesentliche Grundlage diente die von Beyrich, G
und Runge auügcsührte karthographische Ausnah
schlcsicn aus dem Jahre 1867 und die unter
persönlicher Beteiligung von F. Römer 1860 vollei
cit 1882 in Schlcsìen in Thàtigkeit
... geologische Landesaufnahme wìrd viete neve
und wichtìge Ergebnisse sur die Geologìe deS Gebiet
fordern, und wohl ìnsbcsonderc Klarheit in die ------,, .....
essanten wie kompìiziertcn Berband- und Lagcrungsverhaltnissc
sowic die Gìicdernng des Grundgebirges zu bringen haben,
tes zu Tage
ebenso inter-
zi! bringen haben,
vor, um bis aus längere Zeit
den vorliegenden entbehrlich
,n es vom Verfasser, daß zum geo-
logischen Verständnis von Nieder- und Oberschlesien die Landes-
beträchtlich überschritten wurde und die anliegenden
,.... -*» ..........Il «va v»iiu
doch schreitet dieselbe, zu langsam
einen geologischen Überblick wie
und überholt erscheinen zu lassen.
Sehr verdienstlich ist
grenze oeiracymcy überschritten wurde und die anliegenden
Teile von Österreich und Polen mit zur Darstellung gelangten.
Aus diese Weise gewährt die Karte in der That einen recht
befriedigenden Gesamtüberblick über die beiden
Hinsicht so vielfach von einander
Nieder- und Obcrschlcsien, von de
einen
in geologischer
abweichenden Gebietsteile
Basalt, Phonolith, Gneis, Glimmerschiefer, Amphibolit, Silur,
kristalliner Kalkstein, Devon, Kulm, Kohlcnkalk, productives
Karbon, Rotliegendes, Zechstein, Buntsandstein. Muschelkalk,
Keuper, brauner Jura, weißer Jura, untere Kreide, Cenoman,
obere Kreide. Eocän, Braunkohlenformation, Miocän, Löß, gla-
ciales Diluvium, Alluvium — wie man sieht, eine recht stattliche
Reihe von Gesteinen und Formationsgliedern.
Ein knapper erläuternder Text vermittelt in zweckent-
sprechender Weise fauch mit den nötigen Litteraturnachweisungen
versehen) das nähere Verständnis der kartographischen Übersicht.
Im Kapitel über Diluvium wirkt störend und sicherlich auf
einen Teil der Leser der Karte verwirrend, daß Vers. mit
bezug auf Entstehung des glacialen Diluviums die glücklich
überwundene Dristthcorie wieder zu Ehren zu bringen sucht.
Wenigstens hätte er dazu bemerken sollen, daß diese Theorie
gegenwärtig nur noch wenige Vertreter besitzt und das meist
unter den Geologen, die sich nicht eingehender mit Tiluvial-
sragen zu beschäftigen Pflegen. A. Sauer.
vi'. Cenek Zibrt, Myslivecke povery a eary za starych
cas? v Oechach. Prispevek ke kulturnim dejinäm
ceskym. — (Weidmannsglauben und Zaubereien in alten
Zeiten bei den Tschechen. Ein Beitrag zur tschechischen
Kulturgeschichte, gesammelt von —. Pisck 1869. 67 S. 8".
Verlag von V. Simek.)
Der Name Zibrt, nach deutscher Schreibweise Siebert,
hat mit einer tendenziösen Slavisiernng nichts zu schassen. Der
Urgroßvater des Tr. Zibrt mag als Handwerker oder als Land-
mann unter den Tschechen sich angesiedelt haben und die
Schreibung Zibrt geht bloß auf die phonetische Wiedergabe
des Wortes zurück. Zibrt ist ein emsiger Freund litterar-
historischer Forschung. Er sammelt nicht als Folklorist im
Volke, sondern stöbert sein Material in alten, seltenen Druck-
werken und noch selteneren Handschriften aus, ordnet es sein
säuberlich, versieht es mit mehr oder weniger zufällig aufgelesenen
und zusammengetragenen Parallelen und läßt es drucken. Zibrt
stellte sein Büchlein aus zwei gedruckten Texten zusammen,
wovon der eine in der Zeitschrift des tschechischen Museums
1854 und der zweite in den „Jägerunterhaltungen" (cech. 1864)
erschienen ist. Der letztere stammt aus einer im Jahre 1657
verfaßten und im Jahre 1780 in Böhmisch -Kamnitz neu abge-
schriebenen Handschrift. Ferner standen ihm zur Verfügung
zwei ungcdrnckte Quellen, eine Handschrift aus der zweiten Hälfte
des 17. Jahrhunderts und eine ans dem Jahre 1779. Die
zweite hat einen ausführlichen Titel: „Sehr schöne Beschreibung
gegen Waffen" u. s. w., der unzweifelhaft bloß die Übersetzung
eines gleichlautenden Titels einer deutschen gedruckten oder
ungedruckten Vorlage ist. Zwei Ausgaben lagen dem Heraus-
geber zu lösen ob: 1) Tie Quellen seiner handschriftlichen
Vorlagen aufzufinden und 2) festzustellen, was das tschechische
Banernvolk thatsächlich an Jägerglauben und einschlägigen Über-
lieferungen besitzt. Dann wäre seine Arbeit eine wertvolle
Bereicherung unsrer Wissenschaft gewesen. Er hat aber diese
Ausgaben gar nicht berührt. Was uns das Büchlein bringt,
findet sich so gut wie ausnahmslos in ähnlichen lateinischen
und deutschen Büchern und wir sind nicht mehr berechtigt, den
Inhalt dieses Wcrkchens als Beitrag zur tschechischen Kultur-
geschichte, als den Träger des Namens Zibrt als einen Ur-
tschechen anzusehen! Wichtig und verdienstvoll ist die Arbeit
Nieder- und Oberschleficn, von denen ersteres im allgemeinen Dr. Zibrt's dennoch, denn sie lehrt uns ^/altbekannte That-
durch Massenentwickelung altkrystalliner schickst- und Eruptiv- fache neuerdings, daß der sogenannte mittelalterliche Köhler-
gesteine, durch fast ausschließliches Vorherrschen der Flötzsorma- | glaube " ' ....M f ...............i. SMmiimnm mt i inm.
tlonen lEarbon, Trias. Jura. Tertiärs iim aiiSrriNin^l rnMimid ' tckiriitl
tio„..„ ^ià,11eßlichcsVorherrschcn der Flötzsorma- glaube durch eigene Übersetzungen
i» ,, 'slly.rt' ^^lär) sich auszeichnet, während schriftlich den kleineren slavischen V
tio» in f.f! liegenden Gebiete die Dilnvialsorma- wurde. Tie Hauptsache ist aber
aelannü> ,, . "acht «eher Herrschaft als Oberflächenbildner bei den Tschechen zu leisten: Gene
unterbrochen^ UU^ öon T nrchragungen älterer Gesteine Mittelungen über den wirklichen Vol
Grani?"^la?'1 J5strt!L Umibfu überhaupt farbig unterschieden:
", Graintlt, Serpentin, Gabbro, Mclaphyr, Porphyr,
durch eigene Übersetzungen und Sammlungen auch Hand-
Völkerschaften vielfach zugeführt
noch größtenteils namentlich
vn um Tschechen zu leisten: Genaueste und gewissenhafteste Er-
mittelungen über den wirklichen Volksglauben anzustellen. Manche
gute Vorarbeit ist schon bei ihnen zu verzeichnen, an Folkloristen
aber, wie solche bei den Polen und Russen sich finden, ist das
Tfchechcnvolk arm. Dr. Friedr. S. Krauß.
Aus allen Erdteilen.
— Die Frühreife der Hindumädchen ist bisher
bedeutend überschätzt worden, Noch Ploß (Das Weib l, 138)
führt nach Hinduquellen das zehnte Lebensjahr an; daß diesem
unrichtig, erfahren wir durch einen Vortrag, welchen Frau
Ilr. m«à. Pechey Phipson am 11. Oktober 1890 m
Bombay hielt. Auch sie kam mit dem Glauben nach Indien,
das; die Hindumädchen früher reif würden als die europäi-
schen, fand aber bei ihrer ausgedehnten Praxis in Hindu-
familien bald, das; dieses ein Irrtum fei. Im Gegenteil,
ein Hindumädchen von 15 Jahren steht in bezug auf physische
Entwickelung einem englischen Mädchen von 12 Jahren gleich.
Die Reife tritt später ein, als bei europäischen Mädchen.
62
Aus allen Erdteilen.
— Die Altersfolge der Feuerzeuge. Die iu dieser
Nummer des Globus mitgeteilte Abhandlung des Herrn
Pleyte giebt iu dankenswerter Weise und ausführlicher/
als es bis jetzt irgendwo geschehen, eine Übersicht über die im
malayischcn Archipel angewendeten Arten des Feuermachens.
Es wäre 51t wünschen, daß andere geographische Provinzen
in ähnlicher Weise bezüglich der Arten der Feuerbereitung
bearbeitet würden. Was die Altersfolge der verschiedenen
Feuerzeuge betrifft, so giebt Herr Pleyte dem „Schlagen"
mittels Stein den Vorzug vor dem Bohren. Er stützt sich
dabei ans die Thatsache, daß Bambu, mit Steinäxten behauen,
Funken giebt und daß schon in prähistorischen Gräbern der
Bronzezeit Schwefelkiesknollen (Pyrit) gefunden wurden, die
zum Feuerschlagen gedient haben mögen. Diese Annahme
der Altersfolge, welche Herr Pleyte aufstellt, steht jedoch im
Widerspruche mit dem, was nicht ohne gute Gründe bisher
Geltung hatte, nämlich, daß das Feuerbohren mit zwei Holz-
stücken die ältere Methode, das Schlagen mit dem Stein die
jüngere sei. Aue ausführlichsten hat die Sache E. B. Tylor
in seinem klassischen Besearcbes into the early history
of Mankind 1865, Seite 228 bis 259 behandelt, wo er
zu dem Schlüsse kommt, daß die Methode des Bohrens oder
Reibens die ältere sei. Zn demselben Ergebnisse gelangte
kürzlich auch Walter Hongh in seiner mit Abbildungen
versehenen Abhandlung Aboriginal Fire-Making im Ame-
rican Antliropologist III, 359 — 371. Ebenso Peschcl
in seiner Völkerkunde 147.
— In Kanada besteht seit 1889 ein Gesetz, daß jeder
Familie, iu der mehr als 12 Kinder aus einer Ehe geboren
worden sind, 100 Acker Regiernngsland unentgeltlich ver-
liehen werden sollen. Nun hat es sich gezeigt, daß seit Erlaß
des Gesetzes bis gegen Schluß des Jahres 1890 über 1000
Familien diesen Anspruch erhoben haben, und dieses sind fast
durchweg französische K anad ier. Die Fruchtbarkeit
und starke Vermehrung derselben ist bekannt und steht in
auffallendem Gegensatze zu der geringen Zahl der Geburten
in Frankreich, wo dieselbe bald mit der Zahl der Gestorbe-
nen übereinstimmen wird.
— SableJsland an der Kanadischen Küste unter 44"
nördl. Br. inid 60" westl. L. verschwindet allmählich.
Vor nicht langer Zeit war dasselbe noch etwa 94 km lang,
jetzt nur noch 46. Seit dem Jahre 1880 sind drei Leixcht-
türme ans der Insel erbaut worden, von denen zwei bereits
fortgcwaschen sind und der dritte auch bald verschwunden
sein wird. (Science.)
— Demeter Dall schildert iu einer kleinen Schrift
„die orientalischen Armenier in der Bukowina" (Czernowitz
1890). Es sind zumeist die Geschichte der Einwanderung
mit reichen Quellenangaben und die kirchlichen Verhältnisse
berücksichtigt, weniger die „profanen Sitten". Hier erfahren
wir die völkerpsychologisch interessierende Thatsache, daß in
Suczawa, ihrem Hanptorte, dieses Handelsvolk sich bloß mit
Landwirtschaft und Viehzucht beschäftigt. „Sie verlieren,
schreibt Dan, mehr und mehr jeden Handelszweig ans den
Händen, indem sie von den associierten und auch sonst zahl-
reichen und mehr Kapital besitzenden Juden iit den Hinter-
grund gedrängt werden, wozu nicht wenig die zugleich
mit der Bildung angenommene verfeinerte Lebensweise und
die Scheu vor den mit dem Handel verknüpften Strapazen
beiträgt" (S. 37). Es zeigt sich also hier in der Bukowina
das Entgegengesetzte voll dem Auftreten der Armenier in
Kleinasien und im Morgenlande überhaupt. Dort kommt
der Jude neben dem Armenier liieht auf, und wo letztere ein-
dringen, verschwinden die Inden.
— Französisch-arabische Mischsprache. Die
Franzosen sind nun seit 60 Jahren in Algerien, >vo natur-
gemäß ihre Sprache ans das dort herrschende Arabisch einen
liicht geringen Einfluß zu üben beginnt, während umgekehrt
auch das Französische einzelne arabische Wörter aufnimmt,
ganz in der Art, wie zur Zeit der Maurenherrschaft in
Spanien arabische Wörter (Alkohol, Admiral, Alchemie u. s. w.)
in die europäischen Sprachen übergingen. In welchem
Grade sich beide Sprachen in Algerien bereits bei den Sol-
daten arabischer Abkunft mischen, erkennt man aus einer
Mitteilung von Maille Marial im Bull. d. 1. Soc. de géogr.
et d’archéol. d’Oran 1890. Hier ist ein Turkogesang mit
wörtlicher französischer Übersetzung mitgeteilt, der folgender-
maßen lautet:
Ton la noui ou kanaïa que ça x*. — Toute la
nuit nous devisâmes.
A quatre hour fini k’al trana. — A quatre
heures c’était fini, et lue voila!
Abouartastek iamemmou el abeçar. —•
A boire (me disait-elle), tends ton verre, 0 pru-
nelle des yeux.
A v0ut santi! Chanti! Bekelam el Me-
banna. — A votre santé! Fixante3! (me disait-
elle) avec une inflexion vibrante.
Ça m i t i g a 1, a n a n e d e b b e r a 1 i k. — (Je vous
quitte), ça m’est égal, mais j’assui’erai votre sort.
Do us se ma, elasker! Rouah el alek. —
Doucement, le militaire! Rejoinez les vôtres.
— Preise prähistorischer Altertümer. In einer
Auktion, die aux 13. November 1890 von Sotheby, Wil-
kinson and Hodge in London abgehalten wurde, kam die
prähistorische Sammlung des Mr. Robinson unter den Hammer.
Es erzielten: ein fast 10 Zoll langes Feuersteingerät 215 Mk;
ein fast 24 Zoll langes Bronzeschwert 265 Alk.; eine schöne
20chÇ Zoll lange Speerspitze aus Bronze 420 Mk. ; ein aus
Platten zusammengenieteter Bronzekessel von Antrim, Irland,
16 Zoll hoch, 18 Zoll Durchmesser, 820 Mk. ; ein andrer,
mehr cylindrischer, mit Henkelix und Ornament 900 Mk. ;
drei Stcinformen für Speerspitzen und Äxte 220 Mk.; ein
fraxxzösisches Bronzeschwert, 31 Zoll lang mit verziertem, in
zxvei Voluten endigendenx Griffe, 830 Mk. ; ein 241/3 Zoll
langes deutsches Bronzeschwert 310 Mk. ; Steinhämnxer, je
nach der Schönheit der Ausführung, erzielten von 160 bis
720 Mk. das Stück. Eiix irisches Goldarmband ging für
820 Mk. fort. Für ein neuseeländisches Nephritpatnpatn
(Streitaxt) von 121/2 Zoll Länge wurden 300 Mk. gezahlt.
— Die Juden von Liberias. Herr A. I. Ceyp
hat die Stadt Tabaria, des Liberias der Bibel, im Heiligen
Lande besucht, welche er in der Allg. Zeitung vom 11. Ok-
tober 1890 schildert unter besonderer Hervorhebung der
dortigen Juden. Die Bevölkerung, sagt er, beträgt
4000 Seelen, von denen 1000 Juden sind. Die Einwohner
sind fast durchgängig Ackerbauer und Gärtner. Der größte
Teil der Juden befaßt sich bloß mit geistlichen Übungen
und theologischen Studien. Liberias war nämlich von
alters her eine der vier heiligen Städte des Talmud; die
andern drei sind Jerusalem, Hebron und Saffad. Liberias
wird aus dem Grunde für heilig gehalten, weil der Erzvater
Jakob hier gewohnt haben soll, und tveil diese Stadt anx See
Genezareth liegt, von welchem her, nach der allgemein ange-
nommenen Meinung des Talmud, einst der Messias kommen
lvird. Religiöse Juden ans allen Teilen der Welt strömen
nach den vier heiligen Städten, unx ihre Tage im Gebete für
ihr Seelenheil und das ihrer Brüder, welche noch im Ge-
wirre der irdischen Geschäfte bleiben, zuzubringen. Diese
geistlichen Beschäftigungen sind aber auch höchst notwendig
gemacht durch ein im Talmud enthaltenes Dognxa, nach
xvelchem die Welt in ihr ursprüngliches Chaos zurückkehrt,
wenn nicht in den vier heiligen Städten xvenigstens zxveixnal
Aus allen Erdteilen.
63
in der Woche inbrünstige Gebete zum Gotte Israels empor-
geschickt werden. Dieser Glaube bringt zu gleicher Zeit den
Andächtigen viel Geld ein, indem sie zu ihrer Unterstützung
durch eigene Missionare bei den reichen Juden anderer
Städte und Länder Almosen einsammeln lassen, um ihnen
die Sache wegen des Chaos sehr dringend zu Gemüte zu
sichren. In jedem Jahre werden drei bis vier solcher
Missionare ausgeschickt, einer an die afrikanische Küste, ein
anderer an die europäische, ein dritter nach dem Archipel und
ein vierter durch Syrien.
Auch die Freigebigkeit der Londoner Inden wird von
Z"t zu Zeit in Anspruch genommen; aber die Inden von
Gibraltar haben den Ruhm, das; sie unter allen die frei-
gebigsten seien. Die in Tabaria ansässigen polnischen Juden
schicken auch regelmäßig Einsammler nach Polen und Böhmen,
und die reichen jüdischen Kaufleute dieser Länder haben ihre
Pensionäre im gelobten Lande, welchen sie regelmäßig Geld-
summen überschicken. Zwischen den syrischen und polnischen
^uden scheint jedoch große Eifersucht zu herrschen. Die
v^nden, welche als Pilger nach Tiberias kommen, sind von
allen Altern, von 12 bis 80 Jahren. In der syrischen
Synagoge befinden sich einige schöne Kopieen der Bücher
Aiosis, auf einer langen Zederrolle, nicht Pergament; aber nie-
mand konnte mir sagen, wann oder wo sie geschrieben sind.
■vVcl) vermute jedoch, daß sie von Bagdad kommen, wo die
geschicktesten hebräischen Schönschreiber leben. Die Biblio-
theken der beiden Schulen in Tiberias haben einen mäßigen
Borrat von hebräischen Büchern, welche größtenteils in Wien
und Venedig gedruckt sind. Außer einigen Abschriften des
Alten Testaments und des Talmuds enthalten sie keine
Manuskripte. Der Rabbiner von Tiberias steht unter dem
Oberrabbiner von Safiad. Die Juden genießen hier voll-
kommene Religionsfreiheit.
— Chinesisches Urteil über europäische Wissen-
schaft. In einem Aufsatze über die Anschauungen, welche
gebildete Chinesen über unsere Wissenschaft besitzen, sagt der
zu Shanghai erscheinende North China Herald, daß allge-
mein angenommen werde, unsere Künste, Wissenschaften und
Technik staiumten ursprünglich aus China, seien von dort
nach Europa gelangt und werden jetzt nur in verbesserter
Gestalt von uns den Chinesen zurückgebracht. Schon Mei
Wu-ngan, der zur Zeit des Kaisers Kanghi (17. Jahrh.)
lebte, vertrat diese, seitdem herrschend gebliebene Ansicht. Die
intelligenten Chinesen sagen jetzt: „Wir wollen nun die
Wissenschaft des Abendlandes annehmen, da wir, als ur-
sprünglich von uns stammend, ein gutes Recht daraus haben.
Was Europa heute ist, ist es nur durch unsere Hilfe. Von
uns stammt der fruchtbare Keim seiner Kenntnisse. Die
Optik ist in unserm „Motsz" bereits zu den Zeiten des
Mencius behandelt. Daß die Erde rund sei, wurde von
unserm Dichter Tschü Pneu in einem astronomischen Lehr-
gedichte entwickelt, wenige Jahre nach Mencius. Wir
brauchen uns daher nicht zu schämen, das abendländische
Wissen wiederzunehmen und ihre Speere uns anzuschaffen,
um ihre Schilde zu durchbohren. Unsere Jugend muß in
ihrem Wissen unterrichtet werden, um den Kampf mit ihnen
aufzunehmen." Mei Wu-ugan hatte die Werke der Jesuiten
studiert, die damals bei Hofe in Peking hochangesehen waren
lind deren Astronomen Geltung besaßen, während die ein-
heimischen Mathematiker in Ungnade waren. Einer der
letzteren, Bang, wagte es, eine Verfinsterung vorauszusagen.
Der Jesuit Adam Schaal berechnete aber eine andere Zeit
und ganz Peking war voller Erwartung. Der Jesuit be-
hielt recht, der Chinese wurde in Ungnaden seiner Stellung
enthoben und schrieb nun aus Rache ein verläumderisches
Werk gegen die Jesuiten, das ihn berühmter als seine
Mathematik machte. Es ist seitdem wieder und wieder
gedruckt worden bis zum heutigen Tage und gilt als eine
Hauptwaffe in den Händen der Feinde unserer Kultur.
(Nature.)
— Straßen und Eisenbahnbauten in Kaschmir.
Das schwer zugängige, von den höchsten Gebirgen eingefaßte
oder durchzogene Kaschmir wird nun auch an das indische
Bahnnetz angegliedert und hat Kunststraßen von hoher Han-
dels- und strategischer Bedeutung erhalten. Jammu, die
Hauptstadt des Maharadjah, die allerdings am Südabhangc
der Gebirge liegt, ist durch eine 47 km lange Bahn an das
indische Nordwestbahnsystem angegliedert worden. Von
Rawal Pindi (Eisenbahnstation im Pendjab) ist die dort
ausgehende und dann durch das Jhelamthal aufwärts führende,
herrliche Bergstraße bis Baramula in Kaschmir eröffnet und
wird von regelmäßigen Posten befahren, die in drei Tagen
von einem zum andern Orte durch eine der großartigsten
Berglandschaften der Welt führen. An diese Straße schließt
sich die noch wichtigere nach Norden, nach Gilgit fiihrende
an, die 344 km lang wird, von denen 62 schon am Schlüsse
des Jahres vollendet waren. Sie hat Pässe von 1700 bis
33 000 m (den Hata Pin) zu überschreiten und kreuzt den
Indus bei Banji, wo eine Hängebrücke über die weite
Schlucht im Ban begriffen ist. Neben den Brücken von
Attok und Sakhar wird sie die dritte stehende Brücke über
diesen Strom sein. Diese, dem gewaltigsten Bergknoteupnnkte
unserer Erde sich nähernde Straße soll nach Chitral weiter
geführt werden und dann weiter nach dem Pamirplatean
und Turkestan. Welche Aussichten! Die gewaltige strategische
und Handelsbedeutung dieses Verkehrsmittels liegt auf der
Hand. Es bleibt aber nicht bei Straßen in Kaschmir. Die
indische Regierung hat, angeeifcrt durch den Erfolg der
Straße im Jhelamthale nach Baramnda, bereits den Bau
einer Eisenbahn auf diesem Wege bis Srinagar beschlossen.
— Deutsche Sprachinseln im ungarischen Erz-
gebirge. Daß es mit derMagyarisirnng deutscher Land-
striche in Ungarn nicht immer so rasch geht, als man nach
den gewaltigen Anstrengungen, die die ungarische Regierung
in dieser Richtung macht, glauben möchte, zeigen die kleinen
deutschen Sprachinseln von Deutsch-Bronn, Kremnitz
und Hoch wiesen im ungarischen Erzgebirge.
Die Sprachinsel von Deutsch-Bronn besteht ans den
Ortschaften Deutsch-Bronn (jetzt Nemet Pr6na genannt),
Betelsdorf (Solka), Zeche (Czach), Schmiedshaj (Tussina),
Fnndstollen (Chvoinitza), Beueschhäu (Majzel), Gaidel, Hed-
wig (Hadviga), Brestenhäu (Brjestye) und Münchwiese (Vriczko)
und zählte 1880 10 389 Einwohner, von denen 9663 Deutsche,
264 Slovaken, 11 Magyaren und 393 des Sprechens noch
unkundige Kinder waren. Trotzdem die Orte nur teilweise
deutschen Unterricht und Gottesdienst hatten, ist es den
Magyaren in den dreizehn Jahren von 1867 bis 1880 nicht
gelungen, auch nur in einem Dorfe der Sprachinsel festen
Fuß zn fassen, während es die Slovaken fertig brachten, in
drei an der Grenze der Sprachinsel liegenden, ehemals zum
Teil deutschen Orten, nämlich in Klein-Praben, Kloster und
Käserhän (Jassenova), das Übergewicht zn erlangen. Auch
heute noch sind die zehn Orte der Sprachinsel Deutsch-Bronn
fast rein deutsch und werden cs wahrscheinlich auch noch lange
Zeit bleiben.
Die Sprachinsel von Kremnitz besteht ans der Stadt
Kremnitz, wo 1880 nicht weniger als 6178 Deutsche, ferner
1146 Slovaken, 268 Magyaren und 216 des Sprechens
unkilndige Kinder ermittelt wurden, und aus den Dörfern,
bez. Flecken Deutsch-Litta (Kaproncza), Ober-Turz, Nieder-
-turz, Glaserhän (L>zkleno), Krickerhäu (Handlova), Nenhaj
(Uj-Lehota), Ober-Stuben, Drexelhäu (Jano-Lehota), Kvnesch-
hält (Kunoso) und Honeschhäu (Lucska). Diese Ortschaften
liegen zum größeren Teile im Barscher, zum kleineren Teile
64
Aus allen Erdteilen.
im Thuroczer Komitate; der Marktflecken Krickerhäu gehört
zur Neutraer Gespanschaft. Von den 21000 Bewohnern
der Sprachinsel sind über 17 500 Deutsche, gegen 3000 Slo-
vaken und nur 500 Magyaren — ein Zeichen, daß auch hier
die Magyarisierung bisher nur geringe Erfolge errungen hat.
Die meisten Orte der Kremnitzer Sprachinsel sind vom
13. Jahrhundert bis ans den heutigen Tag fast rein deutsch
geblieben, nur in Kremnitz (von den Magyaren Körmecz-
banya genannt), Neuhaj, Koneschhän und Honeschhäu hat sich
das eindringende slovakische Element zu einiger Bedeutung
emporgeschwungen. An der Süd- und Westgrenze der Sprach-
insel sind leider die Dörfer Prochctzhäu (Prochot) und Mora-
ben, die der Germanist K. I. Schröer im Jahre 1857 noch
deutsch fand, im Laufe der letzten dreißig Jahre fast ganz
slovakisch geworden. Der Boden der Sprachinsel ist sehr
wenig ergiebig und außerdem schwer zu bebauen. Gerade
die Unfruchtbarkeit der Felder hat aber bisher die Slovaken
verhindert, in größeren Scharen in den Kern der Sprachinsel
einzudringen. Die Armut der Gemeinden hat zur Erhaltung
der deutschen Nationalität wesentlich beigetragen. Daß den
Deutschen in und um Kremnitz mit der Zeit das deutsche
Bewußtsein abhanden gekommen ist, darf nicht wunder neh-
men. Haben die Bewohner doch nur geringen Verkehr mit
den Deutschen Österreichs gehabt, haben die magyarischen
Kirchen-, Schul- und Verwaltungsbehörden doch alles gethan,
um aufkeimendes deutsches Stammesgefühl zu ersticken! Haben
die Ortschaften doch nur zum Teil deutschen Unterricht und
Gottesdienst!
Nicht weit von Kremnitz liegt ein kleines deutsches Sprach-
eilaud, das nur aus den zwei Orten Hochwiesen (Velka Pola)
und Panlisch (Pila) besteht. Von den 4000 Seelen dieser
Sprachinsel sind über 3800 Deutsche, 140 Slovaken und
10 Magyaren. Auch hier hat die Unfruchtbarkeit des Grund
und Bodens das Eindringen fremden Volkstums fast ganz
verhindert. Ob der zum Teil magyarische Unterricht ruid
der znm Teil slovakisch gewordene Gottesdienst die deutsche
Sprache werden ersticken können, ist noch sehr zweifelhaft.
Jedenfalls dürften die Bewohner eher dem slavischen als
bcnt magyarischen Volkstum zufallen.
Bisher sind alle Gemeinden im nördlichen Ungarn, ja denen
die deutsche Sprache in Kirche und Schule mit Gewalt oder
List entzogen wurde, nicht magyarisch, sondern slovakisch oder
ruthenisch geworden. Es müßte also von Seiten der Magyaren
das Deutschtum nicht untergraben und gebrochen, sondern
vielmehr gestützt und gefördert werden; denn unter allen
Stammen Ungarns sind die Deutschen allein Freunde der
Magyaren gewesen. Was dem deutschen Volke in Ober-
ungarn in Zukunft verloren geht, wird gerade wie in den
letzten zwei Jahrhunderten nur die Slaven, die Todfeinde der
Magyaren, verstärken! Dr. Gh.
— Maori u ud M o a als Zeitgenossen. Durch
eine Entdeckung, welche der Direktor des Museums zu Christ-
church ans Neuseeland machte, mitgeteilt dem Philosophical
Institute of Canterbury am 2. Oktober 1890, ist jetzt
über allen Zweifel festgestellt, daß der ansgestorbene Riesenvogel
Moa und die Vorfahren der heutigen Eingeborenen der
Doppelinsel noch als Zeitgenossen nebeneinander gelebt haben.
Ein genauer Kenner der Maori, Major Mair, hatte es
ausgesprochen, daß diese niemals Kenntnisse vom Moa gehabt
hätten und da neben Moaresten menschliche Artefakte ge-
fnttden waren, so hatte Julius von Haast eine Rasse der
Moajäger konstruiert, die vor den heutigen Maori Neusee-
land bewohnt haben sollte.
Forbes hat aber jetzt bei Sumner eine unberührte Höhle
untersuchen können, in der unzweifelhafte Reste von Maori
und Knochen und Eier des Dinornis nebeneinander vor-
kommen. Man fand auf dem Boden der Höhle Geräte aus
Holz und aus Grünstein, angekohltes Holz und einen Feucr-
reiber; die Grünsteingeräte waren sehr hübsch gearbeitet, die
ans Holz zeigten das charakteristische Maoriornament. Die
Moaknochen dabei waren teilweise zerbrochen, teilweise ange-
kohlt und lagen rings um den Feuerplatz umher. In den
Küchenabfällen am Eingänge der Höhle entdeckte Forbes
Angelhaken und Speerspitzen aus Moaknochen. Auch Kno-
chen von einem neuen Schwan, Cbenopis sumnerensis,
wurden gefunden. Von Wichtigkeit war der Nachweis zer-
brochener Moaeierschalen in den Küchenabfüllen, die zur
Nahrung gedient hatten, wodurch am schlagendsten der Be-
weis für das gleichzeitige Vorkommen des Moa mit den
Vorfahren der heutigen Maori erbracht wird. Die geschnitzte
Figur eines Hundes, die auch in der Höhle gefunden wurde —
wahrscheinlich ein Teil von einem Rudergriff — zeigt, daß der . |
Maorihund auch gleichzeitig mit dem Moa lebte. Über den
Zeitpunkt, wann hier in der Höhle von Sumner Maori und
Moa zusammen lebten, läßt sich nach den Funden nichts Be-
stimmtes sagen.
— Aberglauben contra Aberglauben. Zwischen
Hindus und Mohammedanern ist wieder einmal vor dem Ge-
richte in Kalkutta ein Fall zur Verhandlung gelangt, welcher
die religiösen grundsätzlichen Verschiedenheiten beider Gemein- ■
schäften schlagend vor Augen führt. Dem Hindu ist jedes
übernatürliche Wesen ein Gott, eine Inkarnation des Höchsten,
es muß daher verehrt werden, man muß ihm Opfer bringen.
Der Islam, der nur einen Gott kennt, hält dennoch an der
Existenz von Dschinnen, Geistern und Kobolden fest, die er
als Feinde verabscheut. Aus diesen Anschauungen erklärt
sich folgender Fall. Ein wüst liegendes, aber gutes Stück
Land war nach Ansicht der Hindus von einer Göttin ver-
zaubert; um sie zu versöhnen, pflanzten sie ihr einen Baum,
in dem sie wohnen konnte, stellten ihr Bildnis ans und
opferten ihr Früchte und Blumen. Aber sie blieb unver-
söhnt, und ein Mann, der das verzauberte Landstück bebauen
wollte, starb. Die benachbarten Mohammedaner lachten dar-
über und suchten sich in Besitz des Ackers zu setzen. Dem
ersten, der dieses wagte, erschien aber die Göttin als grün- j
licher Dämon; ein anderer jedoch meinte, vor einem Bekenner
des Propheten müsse der Spuk weichen; er führte daher eine
Kuh, das heilige Tier der Hindus, zu dem Baume, schlachtete
sie da, hing Fleischstücke in die Zweige und beschmutzte das
Standbild der Göttin mit Blut, das endlich umgeworfen
wurde. Darüber heiliger Zorn bei den in ihren religiösen
Gefühlen verletzten Hindus, die sich an das Gericht wendeten,
das auch fünf Mohammedaner zu Gefängnisstrafe verurteilte.
Die Hindu sagen nun: die englischen Richter haben ein weises
Urteil gesprochen; die Mohammedaner aber behaupten, das
Gericht habe sich auf Seite des bösen Dämons geschlagen,
gegen dessen Niederträchtigkeit sie sich nur verteidigt hätten.
(Nach dem Caleutta Englishman.)
— Kuldscha am Jli (Chinesisch-Turkestan) war von
1871 bis 1881 von den Russen besetzt und wurde im
letzteren Jahre den Chinesen zurückgegeben. Diese haben cs
nach ihrer Art befestigt und der Stadt den Namen Nin-
Unau gegeben. (Petersburger Zeitung.)
— In der südafrikanischen Diamantenstadt Kimberley
(Griqnalaud) sind die Chinesen neuerdings in so großer
Zahl eingewandert, daß auch dort, wie in Kalifornien und
Australien, Arbeiter und Kaufleute unter deren Wettbewerb
zu leiden beginnen. Am Ende des Jahres 1890 bestanden
bereits 75 größere und kleinere chinesische Kaufläden daselbst.
In mehreren öffentlichen Versammlungen erklärten die meisten
Ansiedler, die Chinesen seien eine Plage für das Land, die
daraus vertrieben werden müsse.
Herausgeber: Dr. R. And ree i» Heidelberg, Leopoldstraße 27.
Druck von Friedrich View eg und Sohn in Brannschweig.
Bd. LIX.
Nr. 5.
Begründet 186 2
von
Karl Andres.
Xi
r vt cft und 'Nerkclg von
Herausgegeben
von
Richard Andrer.
Z-riedricH 'Dieweg & Sohn.
33 T st U U f tfj stj £ j (t Jährlich 2 Bände in 24 Nummern. Durch alle Buchhandlungen und Postanstaltcn 1891
zum Preise Von 12 Mark sür den Band zu beziehen. *
Tundren und Steppen im diluvialen Deutschland.
Seit 1855, massenhafter seit 1873 sind Knochcnrcste
von Tieren in verhältnismäßig sehr jugendlichen, ost ganz
oberflächlichen Bodenabsagerungen in unserm Vaterlande
aufgefunden worden, welche teils auf ein Tundra-, teils aus
ein Steppenklima des vorgeschichtlichen Deutschlands hin-
weisen, und zwar sür einen Zeitraum, in welchem bereits
der Mensch hier wohnte; denn neben jenen Tierknochen
fnnhi't, f><+> r-/1
Don Alfred Kirchhofs.
- , .... kühlfeuchte ¿amia ver Tundra,
welches wir von den Nordküsten Europas, Asiens und
Amerikas kennen, wie reimt sich das zusammen mit der
typischen Trockenheit der Steppen mittlerer Breiten im
jahreszeitlichen Wechsel kalter Winter und heißer Sommer?
Wie soll man sich benachbart dem gewaltigen Inlandeis,
das seine alles Leben vernichtende Decke aus Skandinavien
über die norddeutsche Niederung breitete, Steppengebiete
denken? Wo liegt heute eine echte Steppe einem vergletscherten
Lande hart zur Seite? Könnten wir uns die Kirgisensteppe
an Grönland grenzen denken, d. h. die den Baumwuchs fast
gänzlich ausschließende Dürre an einen Raum, der gerade
durch reichliche Feuchtigkeit gewaltige Gletscher nährt? Und
ist nicht Tundra so gut wie Steppe aus dem alten Deutsch-
land ausgeschlossen, da uns die ältesten schriftlichen Über-
lieferungen dasselbe als ein Waldland schildern?
Niemand unter uns war berufener, in diese dunkeln
Fragen gerade von faunistischcr Seite Licht zu bringen, als
Professor Alfred Nehring, welcher nicht bloß die ersten
Masscnentdecknngen echter Steppennagcr im Gipsbruch bei
Thiede unweit Wolsenbüttel und bei Wcsteregeln im Bode-
gebict südwestlich von Magdeburg gemacht, sondern fort
und fort eifrigst und erfolgreich diese Forschungen weiter
fortgeführt hat, selbst schürfend oder die von andern ge-
lieferten einschlägigen Fundstücke sichtend und wissenschaftlich
bearbeitend. Sein kürzlich erschienenes Werk „ÜberTundren
und Steppen der Jetzt- und Vorzeit, mit besonderer
Berücksichtigung ihrer Fauna" (Berlin 1890) giebt eine
Globus LIX. Nr. 5.
vergleichende Darstellung der jetzigen Tundren und Steppen
einerseits, der auf analoge Landschaftsformen im diluvialen
Mitteleuropa deutenden Ermittelungen andrerseits. Es
faßt recht dankenswert alle Hauptergebnisse, die bisher zu
Tage gefördert wurden über den Gegenstand, aus der arg
zerstreuten Litteratur (allein schon Nehrings Aufsätze selbst
beziffern sich auf 60) zusammen, vor allem aber liegt seine
Bedeutung darin, daß es auf gesicherter geographischer Grund-
lage, nämlich fußend auf den jetztzeitlichen Verhältnissen,
nachweist, wie ganz Deutschland gewiß niemals Tundra
oder Steppe oder Waldland gewesen, so wenig es jemals
ganz unter dem Eismantel diluvialer Vergletscherung be-
graben lag, daß vielmehr die oben berührten scheinbaren
Widersprüche bei kritischer Prüfung der Fundthalsachen sich
heben durch ein Neben-, mehr noch ein Nacheinander
jener Landschaftstypen im Anschluß an die großen Klima-
schwankungen der Dilnvialepochc und an die Mannigfaltigkeit
des Bodenbaues Mitteleuropas.
In der näheren Umgebung der Glctschcrmassen unsrer
Eiszeit, namentlich also am Rande des großen nordischen In-
landeises und ans dem bei zeitweiligem Rückzüge dcs letzteren
eisfrei gewordenen, aber noch vielfach von eiskaltem Schmelz-
wasser durchtränkten Boden waren offenbar diejenigen klima-
tischen und Bodenverhältnisse geboten, wie gegenwärtig auf
der arktischen Tundra. Kein Wunder mithin, daß damals
Alpenpflanzen, wie die hübsche, der Rosaceenfamilie an-
gehörige Silberwurz (Dryas octopetala), nachgewiesener-
maßen weit in die norddeutsche Niederung hinaus wuchs
und zusammen mit der Zwergbirke, sowie mit der strauchigen,
allein dicht am Boden wachsenden niederen Polarweide
insbesondere die bescheidene Flora des deutschen Tundra-
bodens zusammensetzen half. Als ganz überzeugenden Hin-
weis auf diluviale Tundra aber müssen wir, wie Nehring
von jeher behauptet hat, die zahlreich nachgewiesenen deutschen
Lemmingvorkommnisse jener Zeiten betrachten. Sowohl
vom Halsband-Lemming (Jlyocl68 torquatus) als vom
Ob-Lemming (M. obensis) liegen, abgesehen von den Kar-
66
Alfred Kirchhofs: Tundren und Steppen im drluvralen Deutschland.
Paten, Russisch-Polen, England, Frankreich und Belgien,
zahlreiche Skelettfundc vor, aus dem nördlichen wie aus dem
südlichen Mitteleuropa. Wir kennen solche aus der Gegend
von Neutitschein in Mähren, von Suslawitz im Böhmer-
walde, aus der fränkischen Schweiz zwischen Bayreuth und
Nürnberg, vereinzelt aus der Würzburger Maingegend, dem
Elsaß, zahlreicher ans der Eifel und dem Lahnthal, aus
der Saatfelder und Geraer Gegend, vor allem jedoch aus
dem nördlichen Harz-Vorland, wo überaus massenhafte
Lemmingkoloniccn ständig ihren Sitz gehabt haben müssen
vor der nördlich benachbarten Kante des Inlandeises der
ersten großen Vergletscherung; von Goslar reichen dort die
Lemmingsunde bis zum Quedlinburger Seveckenberg (welcher
durch Hensels Erstlingssunde von 1855 berühmt geworden),
von da gehen sie über Westercgeln nach Thiede, woselbst
allein vom Ob-Lemming an die 600 Exemplare in Skelett-
resten gefunden wurden.
Fügen wir hinzu, daß wir zusammen mit Lemminggebeinen
ans deutschem Boden sehr gewöhnlich solchen des Polarfuchses,
des Schneehasen, des Schneehuhnes, gelegentlich auch des
Moschusochsen und des Nenntiers begegnen, so werden wir
vollständig in die Tierwelt der heutigen ost- und wcstfest-
ländischen Tundra versetzt. Die nun längst ansgcstorbenen
diluvialen Dickhäuterarten, Mammut und woühaariges Nas-
horn, von denen sich auch mitunter Spuren des Zusammen-
lebens mit den genannten Tundrabewohnern der Gegenwart
gezeigt haben, stehen keineswegs im Widerspruch mit der
Schlußfolgerung, daß cs zeitweilig Tundralandschaftcn bei
uns gegeben habe. Denn schon Darwin wies im Hinblick
ans die Fülle großer Säugetierarten aus den südafrikanischen
Steppen unsres Jahrhunderts den Irrtum zurück, als er-
forderten „große Tiere eine üppige Vegetation". Der
dichte Pelz, mit welchem ähnlich dem diluvialen Nashorn
Deutschlands auch das Mammut bekleidet war, deutet auf
niedrige Temperaturgrade ihrer Epoche, und, so gut wie
jetzt die Tundra unzähligen Tausenden von Ncnnticren
Nahrung genug darbietet, so werden auch die damaligen
Tundraslächen unsrer Heimat den Elcfantcnherdcn im
braunen Vließ, mit den Mähnen und mächtig geschwungenen
Hauern, hinreichend Futter gespendet haben, zumal diese
Dickhäuter durchaus nicht ans die Tundren beschränkt waren.
Auch heute ist der arktische Tundragürtel der Polar-
grenze des Waldes dicht vorgesäumt, ja in Bodeneinsenkun-
gen, welche als solche Schutz vor den das Baumlebcn ge-
fährdenden kalten Secstürmcn gewähren, wächst sogar in der
offenen Tundra rascnhaft Krummholz bestimmter Banm-
arten, wie es Middendorsf ans Nordost-Sibiricn schildert.
Ein andrer klassischer Zeuge der Tundranatur unsrer Tage,
A. G. Schrenk, beschreibt das Hervorragen von Zeugen des
Nadelholz- (besonders des Lärchen-) Gürtels im Schutz der
Thalwände von Flußfurchen in die waldlcere Tundra, „deren
Vegetation hauptsächlich Zwcrgbirken und Weidengestrüpp
bilden". So brauchen wir cs in der That auch gar nicht
in Abrede zu stellen, daß cs selbst zur Zeit der größten
Vergletscherung Mitteleuropas, also in der älteren Diluvial-
ära, bei uns Nadelholzwaldung gab; für solche war zwischen
deui nordischen Inlandeis und dem bis gegen München hin
das Alpenvorland bedeckenden Eise der miteinander ver-
schmolzenen Alpenglctschcr Raum genug übrig, zumal die
mitteldeutschen Gebirge gleichzeitig doch nur hier und da
Gletscher von ganz mäßigem Umfange trugen. Holzkohlen-
stücke sind mehrfach in den diluvialen Ablagerungen von
Thiede und Westercgeln entdeckt worden. Sie beweisen
ganz entschieden das Dasein von Bäumen im eiszeitlichen
Deutschland und rühren stets von schlanken Stämmen her,
wie auch heute noch an der sibirischen Waldgrenze z. B. die
Bäume bei der Kürze der sommerlichen Wachstumszeit nur
dünne Holzringe Jahr für Jahr auszubilden vermögen, des-
halb selbst bei höherem Alter wie junger Nachwuchs aussehen.
Bezeichnend erscheint cs indessen, daß unmittelbar neben
Lemmingrcstcn (diesen Leitfossilien echtesten arktischen Tundra-
bodens) niemals Pflanzenrcste beobachtet werden. Erst von den
mittleren Partieen der Ablagerungen von Thiede und Wester-
cgcln z. B. begegnen wir Kohlenstückcn konifcrischer Hölzer;
während in den unteren, mithin älteren Lagen die Lemming-
rcste sich fanden. In einem der Gipsbrüche letztgenannten
Fundortes enthob man im Sommer 1884 einer Tiefe von
6 bis 7 m mit Knochen des Rhinoceros, des Renntiers und
der nordischen Varietät des Löwen (Felis spelaea) einige
größere Holzkohlenstücke, welche nach der mikroskopischen
Untersuchung Professor Wittmacks von der gewöhnlichen
Lärche (Pinus larix) stammen. Vermutlich haben demnach
Konisercnnadcln in Deutschland dem Mammut ebenso zur
Nahrung gedient wie auf sibirischem Boden, wo man Neste
von solchen in den Schmelzfalten der kompakten Backenzähne
dieses Elefanten nachgewiesen hat. Je weiter sich die Glct-
scherdecke bei uns zurückzog unter dem Einfluß wärmeren
und trockneren Klimas, desto mehr vermochte sich der Wald-
wuchs auszubreiten und die Tundra zu verdrängen. Auch
die Lemminge wichen damit zurück; eine längere Dascins-
frist als in den Niederungen blieb ihnen jedoch aus den Ge-
birgshöhen, z. B. am Oberharz, vergönnt, wo naturgemäß
die Lust noch gar manches Jahrhundert tundrahaft feucht-
kalt blieb.
Lange jedoch dauerte wohl das Vorrücken des Waldes
nicht. Fortgesetztes Trocknerwerden des Klimas setzte ihm
eine abermalige Schranke. Hiermit begann für Deutschland
und seine Nachbarländer im Ost und West eine ganz neue
Landschaftsform einzuziehen: die Steppe. Freilich war auch
sie waldleer oder doch nur von Waldrasen, namentlich von
Uferstreifen geselligen Baumwuchses längs den Flüssen durch-
setzt wie die Tundra, aber nicht der Kryptogamenteppich von
Moosen und Flechten waltete nunmehr in der baumarmen
Flur vor, sondern die Gräser übernahmen die Vorherrschaft
und dienten nebst allerhand andern Kräutern, die wie die
Zwiebelgewächse mit unterirdischen Teilen ausdauern, zahl-
losen Nagetieren zum Unterhalt. Deutschland war außer-
halb der wäldergrünen Gebirgsgehänge und der in sehr viel
engere Grenzen eingehegten alpinen und nordischen Gletscher-
massen weithin ein Wohnraum von Steppentieren geworden.
Die Saiga-Antilope, einem Schaf fast ähnlicher sehend als
einer Antilope, heute Bewohnerin der südrussischen Steppe,
reichte in diesem späteren Abschnitt der Eiszeit durch Mittel-
europa bis nach Westfrankreich. Tausende und aber Tau-
sende von kleinen Nagern aus den Gattungen der Pfeif-
hasen, Zieselmäuse und Pferdespringer gruben sich ihre unter-
irdischen Wohnungen und belebten in der Frühlings- und
Sommerzeit die blnmendurchwirkten Grasfluren des deutschen
Steppcnlandes.
Das war die Zeit, wo sich der deutsche Boden weithin
mit dem gelblichbrannen Löß bedeckte, wie man diese an
Trockcnklimate gebundene Erdart sich noch heute in den ab-
flußlosen Räumen Jnncrasiens bilden sicht. Dauernder,
folglich auch mächtiger als cs in unsrer Zeit etwa im Sommer
nach längerem Ausbleiben des Regens geschieht, häuften
trockene Winde Staub- und Sandmassen auf, die sodann
von der übcrwachsendcn Grasnarbe gefestigt wurden. Völlig
entsprechend dieser „äolischen" Entstehungsweise treffen wir
daher solche schichtcnlose Lößcrde bald in den Flußthälern,
wo sie gewöhnlich nochmals vom cinnagenden Flußwasser
zum Teil abgetragen wurden, daß Lößwände von bezeichnen-
der Steilheit öfters ein früher weit höheres Flußniveau an-
deuten, bald über ausgedehntere Niederungsflächen, wie z. B.
vor dem Nordfuß der deutschen Mittelgebirge, mitunter and)
67
Alfred Kirchhofs: Tundren und Steppen im diluvialen Deutschland.
in beträchtlichen Höhen, wie auf den Simsen des Kaiser-
stuhls, zu denen lein Strom und lein Gletscher den Lehm-
staub hätte hinantragcn können. Daß gerade in diesem
Lößboden die Überreste der erwähnten Steppenfauna ein-
gebettet liegen, ist einer der stärksten Beweise sur die Ent-
stehung des Löß durch Aufschüttung in steppentrockener Luft.
Hiermit steht es keineswegs im Widerspruch, daß stellen-
weise arktische Tierreste ebendort vorkommen, wo sich Spuren
der Steppensauna vorfinden. Denn es erscheint durchaus
wahrscheinlich, daß sich auch während der Trockenzeit auf
unsern feuchteren Gebirgshöhen die Lebewelt der vorangegan-
genen arktischen, d. h. der kaltfeuchten Periode erhalten hatte.
Lemminge z. B. konnten also recht wohl ihre Wanderzüge
vom Oberharz in das offene Grasland des snbhcrcynischen
Gürtels ausdehnen, auch Raubvögel mochten dann und wann
wehrlose Lemminge am Harz erbeuten, um sie aus den Gips-
felsen von Thiede zu verzehren. So finden wir in der That
eben dort vereinzelte Skelettreste von Lemmingen neben oder
über solchen des Pfeifhasen, des Ziesel, der Springmaus.
Indessen die Massenfunde echter Polartiere, der erwähnten
zwei Lemmingarten vor allem und des Polarfuchses, haben
sich auch im Thieder Gipsbruch in den geschichteten sandig-
lehmigen Ablagerungen unter dem Löß gesunden. Ebenso
streng wie die Steppentiere an den klassischen Fundstätten
von Thiede und Westeregeln ausgeschlossen sind von den
alten, deshalb unteren Lagen der großen ersten Vergletscherung,
fehlen dieselben in den jüngsten, oberen Schichten, wo Kno-
chen des Elch, des Hirsches und des Rehes unzweifelhaft aus
den Einzug des Waldes hindeuten.
Deutlich tritt uns also eine tiefgreifende Klimawandlung
auch in unserm Vaterlande während der gewiß nach Jahr-
tausenden zählenden Diluvialzeit entgegen. Die „erste Eis-
zeit", d. h. die Epoche der umfassendsten Vergletscherung,
wurde durch eine Zwischenzeit heißeren und trockeneren Klimas
geschieden von der „zweiten Eiszeit", deren nordisches In-
landeis zwar über die Nordhälftc unsrer norddeutschen Nicde-
rung sich ausdehnte, das mittelgebirgigc Deutschland aber
nicht erreichte. „Postglacial" nennt Prof. Nehring den Löß
und die ihm eigene Steppenfauna; doch er will damit nur
sagen, daß er nach der großen ersten Vereisung gebildet
wurde. „Jnterglacial" wäre vielleicht eine treffendere Be-
zeichnung, weil zumal in den Alpen die Einschaltung von
Löß zwischen unteren Lagen der ersten, oberen der zweiten
Eiszeit gar keinen Zweifel läßt an dessen zwischcneiszeitlicher
Entstehung, und andrerseits eine spätere Steppenepoche
(etwa während der zweiten Eiszeit, wie Neumayr annahm,
oder nach derselben) nirgends bisher mit genügender Sicher-
heit nachgewiesen ist.
--------^muv vi/vuyi. r^v^uuv-
lungen, BK 4, Heft 2) gethan hat. Gerade die von Brückner
erwiesene Oszillation des Klimas noch der jüngsten Jahr-
hunderte, der Wechsel kürzerer Jahresreihen kühler, feuchter,
trockener und wärmerer Zeiten, wie wir sie noch immer er-
leben, muß einen jeden mit Vertrauen erfüllen zn jenen
gleichartigen, nur nach Zeitdauer wie Intensität weit groß-
artigeren Wandlungen der Vorzeit.
Es sei noch verstattet, znm Schluß darauf hinzuweisen,
ie das genannte Nchringsche Werk auch für tiergeogra-
wlc
phische Fragen der nachdilnvialen Zeit, ja unsrer
regende Darlegungen enthält. Denn welcher wahnwitzige anti-
darwinistische Fanatismus müßte den befangen halten, der
leugnen wollte, daß auch nur eine einzige Spezies des Pflanzen-
oder Tierreichs der alluvialen Quartärzeit ihre unmittel-
baren Vorfahren in der diluvialen Vorepoche haben muß!
In Hinsicht auf zwei Tierarten vor allem muß man sich
rückhaltslos Nehrings Einspruch gegen voreilige Schlußfolge-
rungen Viktor Hehns (in dessen bekanntem und sonst so
verdienstvollem Buch über die Herkunft der Kulturgewächse
und Haustiere) ans bloß litterarischen Überlieferungen an-
schließen: in Hinsicht auf den Hamster und auf das Pferd.
Es ist ein offenbarer Irrtum, wenn Hehn den Hamster
(nebst dem Dachs) erst seit der Völkerwanderung in das
westlichere Europa einziehen läßt, ihn als ein osteuropäisches
Tier bezeichnet, dem erst „die Lichtung der Wälder durch
den Ackerbau den Weg bahnte". Da sieht man wieder,
wozu es führt, wenn man das sicher allzu sehr verallgemei-
nernde Schlagwort, welches Tacitus aus Germanien münzte
(„silvis horrida, paludibus foedä), als völlig naturwahr
hinnimmt! Gewiß ist der Hamster niemals ein Wald-
oder gar Sumpfbewohner gewesen; aber, falls er im uralten
Deutschland schon gelebt haben sollte, — würde das uns nicht
vielmehr beweisen, daß schon die altgermanischen wie die
vorgermanischen Wälder ihre Lichtungen besaßen, und zwar
nicht bloß in Sumpfgebreiten, sondern auch auf trockenem
Boden, zumal auf dem für die Baumansiedelung minder-
empfänglichen Löß? Nun und an dem Vorkommen des
Hamsters in der Diluvialzeit bereits ist so wenig bei uns
wie Frankreich ein Zweifel statthaft. Hamsterskelette,
zusammengebettet mit andern Nagern der typischen Steppen-
fauna sind den diluvialen Ablagerungen sowohl in Deutsch-
land (z. B. bei Saalfeld) wie in Frankreich (bei Mont-
morency unweit Paris, in der Auvergne u. s. w.) enthoben
worden. Tie zufälligerweise fast genau mit der Grenze
unsres Reichlandes Elsaß-Lothringen gegen Frankreich zu-
sammenfallende Westgrenze der gegenwärtigen Verbreitung
des Hamsters ist also vielmehr als eine Rückzugslinie dieser
Tierart anzusehen. Das feuchter gewordene, die Wald-
ausbreitung befördernde Klima verkümmerte dem Hamster-
natürlich zuerst int äußersten Westen seinen Wohnraum,
während dann in Deutschland allerdings die Einführung
des Ackerbaues, somit der „Kultursteppe", ihm recht ge-
legen kam.
Dem Pferd weist V. Hehn eine zcntralasiatische Heimat
zn. Gewiß beruht das auf Unkenntnis des Vorkommens einer-
kleinen Wildform des Pferdes (von etwa ld/a Widerrist-
höhe) in Skelettresten des Diluviums Mittel- und West-
europas. Viel annehmbarer ist Nehrings Urteil, daß in
den so verschieden gestalteten Pferderassen der Neuzeit minde-
stens zwei Stammformen aufgegangen sind: in den edleren,
sogenannten warmblütigen Rassen die asiatische, in den
plumperen, sogenannten kaltblütigen die europäische. Das
europäische Wildpferd tummelte sich schon auf den Tundra-
flächen Deutschlands während der großen Vergletscherung,
erlebte die goldenen Tage unerschöpflicher Futtervorräte wäh-
rend der Steppenepoche und weidete auf den Waldwiesen
und wohl auch gelegentlich auf dem Waldboden der nach-
folgenden Jahrtausende erneuter Wälderpracht. Bis tief
ins Mittelalter hinein ist das Wildpferd in unsern Waldun-
gen gesehen worden und hat unsern waidlustigen Altvordern
manches Wildpret geliefert. Das brauchte Nehring nicht
so zweifelnd anzuführen; namentlich aus den Überlieferungen
^age, an- > von St. Gallen wissen wir das ganz genau.
9*
66
Emil Mayr: Grombtschewskis Reisen in Hochasien 1888 — 90.
Grombtschewskis Reisen in Bochasien ;}$$$—90.
Von (£mtl Ist a y r.
(mit Karte.)
Grombtschewski ist auf der Rückreise nach St. Peters-
burg am 26. Oktober 1890 mit seinem Reisegefährten,
einem deutschen Entomologen, Leopold Konrad aus Königs-
berg, der als Präparator thätig war, zu Osch in Fergana
eingetroffen. Beide befinden sich im besten Wohlsein, ob-
wohl Grombtschewski mehrmals während des vergangenen
Winters unter den atniosphärischen Einwirkungen der von
ihm durchzogenen Hochregioncn zu leiden hatte, ein Übel-
stand, der auch unter dem Gefolge schwere Erkrankungen
hervorrief.
Grombtschewski bringt eine reiche wissenschaftliche Aus-
beute und prächtige Sammlungen mit nach Hause. Wäh-
rend 17 Monaten, vom Juni 1889 an, hat er eine Strecke
von über 7000 Werst zurückgelegt. 73 astronomische Be-
obachtungen, 370 Höhenbestimmungen mit dem Siedethermo-
meter, mehr als 3000 meteorologische Aufzeichnungen und
400 photographische Aufnahmen gemacht. Die uatnrge-
fchichtlichen Gegenstände, die auf 33 Lastpferden in Osch
eintrafen, umfaßten außer einer kleinen mineralogischen
Sammlung 2000 Vögel, ungefähr 2000 Pflanzen,
35 000 Insekten, 50 bis 60 merkwürdige Säugetiere
(3 Jrbispanther, wilde Esel, mehrere Mouflons und Stein-
böcke, Paks rc.). Alle diese Vierfüßer wie auch die Vögel
sind von Grombtschewski eigenhändig erlegt; die Expedition
verfügte nur über sehr beschränkte Mittel, bestand außer den
beiden Forschungsreisenden nur aus sieben Kosaken und
kostete nicht mehr als 7000 Rubel. In nachstehendem
lassen wir eine Zusammenstellung der Grombtschewskischen
Reisen 1888/90 folgen und fügen eine kartographische
Darstellung derselben hinzu, soweit das Material gegen-
wärtig zu einer solchen ausreicht.
Grombtschewski brach am 23. Juli 1888 von Fergana
auf und begab sich den Jsfaisamfluß aufwärts über den
Tengisbai-Paß nach dem großen Alaithal und von hier-
über den Kisil-art-Paß nach dem Kara-kul-See, von wo er
sich weiter über den Ak-baital-Paß nach dem Ak-su oder
Murgab wandte und diesen auswärts bis zu seinem Zu-
sammenstoß mit dem Jstik verfolgte. Chinesische Beamte,
die hierher von Tasch-kurgan kamen, um ihn aufzuhalten,
wußte er durch Bestechung zu bewegen, ihn über die Wasser-
scheide zwischen dem oberen Ak-sn und deut Wachan-Daria
weiter ziehen zu lassen. Hindernisse, welche ihm nun hier
die Afghanen in den Weg legten, überwältigte er einfach
dadurch, daß er zwei Kundschafter einer afghanischen Truppen-
abteilung, die ihn gefangen nehmen und nach Sarhad
bringen sollte, in einer regnerischen Nacht überfiel, sie selbst
zu Gefangenen machte und sie zwang, ihm den Weg über
den Wachdschir-Paß nach dem Karatschnkur, dem Onellfluß
des Dangn-basch zu zeigen. Der Paß wurde bei heftigem
Schneesturm am 21. August überschritten und dann im
Kalik-Paß ohne Schwierigkeit der Hindukusch überstiegen.
Nun wurde aber der Weg so beschwerlich, daß Pferde un-
möglich mehr als Lasttiere benutzt werden konnten und Gromb-
tschewski mußte sich an den Chan von Kandschut (auf der
Karte steht durch Stichfehler Kanaschut) um Träger wenden.
Von Safder-ali Chan anfangs mit Mißtrauen aufgenommen,
wurde Grombtschewski später mit großer Auszeichnung be-
handelt; er verweilte dort bis 19. September. Gromb-
tschewski schildert den Herrscher von Kandschut als äußerst
grausam und die Bevölkerung als eine räuberische, die
gleichmäßig bisher chinesische und kaschmirische Karawanen
plündert und die Gefangenen in die Sklaverei verkauft.
Nur der eigenen Unerschrockenheit hatte es Grombtschewski
zu danken, daß er unbelüstigt ihr Land durchziehen konnte.
Am 2. Oktober traf Grombtschewski wieder am Dangn-
basch ein, nachdem er den Min-teke-Paß überschritten. Er
hatte nun die Hälfte feiner Pferde verloren, die andre
Hälfte war untauglich geworden und so entschloß er sich,
seine Leute mit der Bagage hier zurückzulassen und zog mit
einem einzigen Begleiter in das Raskem-Gebiet. Das Land
war kurz vorher von den Kandschuten vollständig verheert
und die Bewohner als Sklaven fortgeschleppt worden, und
als mm der Führer, um Grombtschewski zur Umkehr zu
zwingen, auch noch die zur eigenen Ernährung mitgetriebenen
Schafe im Raskem-daria ertrinken ließ, sah sich Gromb-
tschewski genötigt, wieder nach dem Dangn-basch zurückzu-
gehen. Er folgte diesem Fluß abwärts bis Schindi und
versuchte durch das Watfcha-Thal wieder an den Raskem-
daria zu gelangen. Am Ptschan-jart-Paß ließ er abermals
Leute und Pferde zurück und drang allein, von einem einzigen
Manne begleitet, bis Pil am Raskem-daria vor, kam aber
unterwegs beinahe vor Wassermangel um. Nun ging er
denselben Weg wieder zurück bis Schindi, den Schindifluß
aufwärts über den Jangi-daban und Pas-robat nach den
Quellen des Ring-kol, welchem er abwärts bis Jgis-jar
folgte. Von hier ging er nach dem Kara-tasch über, diesen
aufwärts und gelangte zwischen zwei Gipfeln des Mustag-
ata hindurch auf dem beinahe 5000 m hohen Kara-tafch-
Pasfe nach dem Kleinen Kara-kul-See. Durch das Ges-
Thal über Upal wurde schließlich Kafchgar erreicht, von wo
Grombtschewski anfangs 1889 in St. Petersburg eintraf.
Schon am 13. Juli 1889 sehen wir den Reisenden
wieder unterwegs nach den Gebieten südlich vom Hindukusch.
Er beabsichtigte dieses Mal auf einem mehr westlichen Wege
vorzudringen und ging zunächst über Karategin nach Kala-
i-kum in Darwas am oberen Opus (Piandsch) und dem
Wandsch-Thale. Vergeblich hoffte er, daß die Afghanen
seinen Durchzug nach Kasiristan gestatten würden und er
Schugnan und den Schiwa-See besuchen könnte. Ein
freundschaftlicher Brief von Seid Dfcharneil riet ihm, die
afghanische Grenze nicht zu berühren und so mußte er sich
denn entschließen, vom Sir-Artschi-Paß und den Kintschab-
Ouellen nach dem oberen Ak-su und wieder nach Dangn-
basch-Pamir, gewöhnlich Taghdum-basch-Pamir genannt, zu
ziehen. Im Oktober traf er dort ein, kaufte 50 Hammel,
einige Pferde und mietete 30 Paks für den Transport über
den Jli-su-Paß nach Kaindyn-Ausy und dem Raskem-daria.
Von Tschung-Tukai aus besuchte er das Thal des
Uprang, wurde jedoch durch die Besatzung des Forts Dar-
band abgehalten, den Schimschal-Paß zu überschreiten und
begab sich dann nach dem Thäte des Mus, der in den
riesigen Gletschern des Mustag-Gebirges entspringt und bis
dahin völlig unbekannt war. Wir folgen dem Reisenden
nun nach Südosten den Raskem-daria aufwärts bis Kara-
Dschar-karaul, von wo aus er Abstecher nach rechts und
links machte. Im Agil-Dawan überschritt er die Kara-
kornmkette, untersuchte die Quellen des Mus, bestimmte die
Lage des Mustag-Passes, überschritt dann das Raskcm-
Gebirge im Paß Kukaliang, begab sich über den Tachta-
korum-Paß nach den Tisnaf-Qnellen und kehrte über den
Tschirak-Soldi-Paß wieder nach dem Raskem-daria zurück,
überstieg int Kugart-Paß das Raskem-Gebirge zum dritten
Emil Mayr: Grombtschewskis Reisen in Hochasien 1888 — 90.
69
Male und gelangte sodann nach Schahidulla am Kara-kasch
(Chotan-daria). Am 1. Dezember kam Grombtschewski
über den Kawak-Paß in das Quellgcbiet des Raskem, allein
hier machte sich der Winter mit all seinen Schrecken geltend
und obwohl nur mehr eine Tagreise vom Karakorum- !
Paß entfernt, mußte er sich doch zur Umkehr entschließen,
wenn er nicht erfrieren wollte. Uber den Suget-Paß kehrte
er nun wieder zum Kara-kasch zurück, verfolgte denselben
aufwärts bis in sein Duellgebiet, jenes sandige, wüste, von
drei Bergketten quer durchsetzte Hochplateau, das die Quellen
des Jnrnng-kasch von denen des Kara-kasch scheidet und
gedachte auf diesem Wege Poln am Kcriaflusse zu erreichen.
In einem 19 000 Fuß hohen Paß, dem er den Namen
„Russischer Paß" gab, überstieg er nach dreitägigem Marsche
die erste dieser Bergketten und nach einem vierten Marsch-
tage ohne Wasser erreichte er den kleinen Jssik-Bulak-See.
Aber hier verlor er 28 von seinen 46 Pferden durch Durst
und Erschöpfung und so ging er anfangs Dezember unter
Zurücklassung eines Teiles seines Gepäcks unter den Felsen
wieder nach Schahidulla zurück und von da über Sandschu
nach Chotan weiter, wo er mit Bogdanowitsch, dem Geo-
logen der großen Expedition von Piewzow, zusammentraf.
Beide zusammen brachen am 1. März 1890 von hier
wieder aus, um den Oberst Piewzow in Ria, dessen Winter-
gnartier, aufzusuchen. Der Weg von Chotan nach Nia
führt über eine öde Sandebene, die stellenweise zur reinen
Grombtschewskis Reisen in Hochasien.
>üste wird, und im Norden von Pappelwäldern begrenzt
ist. In Nia traf Grombtschewski den Obersten in bester
Gesundheit, verglich die beiderseitigen Orts- und Höhen-
bestimmnngen, sowie die Instrumente und besprach mit dem-
selben das weitere Vordringen nach Lhassa. Grombtschewski
kehrte nach Keria zurück, besuchte unterwegs Surgak, wo
.-5000 Chinesen auch im Winter mit der Ausbeutung des
goldhaltigen Sandes beschäftigt waren, während sich im
Sommer eine ganze Bevölkerung von Goldgräbern dort be-
findet, und begann am 5. Mai, durch die Feindseligkeit des
Herrschers von Keria gedrängt, von Poln ans seinen Ein-
marsch nach Tibet, obwohl die Chinesen ihm den Eintritt
verboten hatten und seine Verproviantierung hintertrieben
Im Lubaschi-Paß (17 500 Fuß) wurde der Knen-lun mii
äußerster Anstrengung überschritten und ein Vorstoß bit
zum kleinen See von Gugnrtlik gemacht. Eine Rekognos-
zierung weiter nach Osten zeigte, daß das Plateau um diese
Jahreszeit vollkommen wasserlos und nur von Juli bis
September bei der Schneeschmelze gangbar ist. Überdies
litt die Expedition Mangel am nötigsten. Die Kälte stieg
bis zu 200 (s. und so mußte der kühne Reisende den Ge-
danken, Lhassa zu erreichen, ausgeben, und nach Kaschgar
zurückkehren. Ans neuem Wege begab er sich dann von
Kaschgar nach Fergana, indem er nicht die gewöhnliche
Heerstraße den Kisil-su aufwärts nach dem Terek-Paß ein-
schlug, sondern den Markan-su bis zu seinen Quellen hin-
aufging über den Kisil-art-Paß (14 020 Fuß) nach dem
oberen Alai-Thäte übersetzte, um von hier aus über den
Taldik-Paß nach Gnltscha und über Langar auf der ge-
wöhnlichen Karawanenstraße nach Osch zu gelangen.
70
Gustav Meyer: Zur Volkskunde der Alpenländer.
Welch außerordentliche Bereicherung unsrer geographi-
schen Kenntnisse über diese tief verschleierten Gegenden durch
Grombtschewski erfahren, das wird erst ganz gewürdigt
werden können, wenn uns sein vollständiges Reisewerk vorliegt.
Aber schon heute können wir die wissenschaftliche Ausbeute
des einen Mannes getrost den reichen Erfolgen an die Seite
stellen, von welchen die berühmte Forsythsche Mission 1873/74
gekrönt war.
Zur Volkskunde der Alpenländer.
Von Gustav Meyer. Graz.
Hat das Schnadahüpfl uns zu einer Reihe vergleichen-
der Betrachtungen verführt, die vielleicht manchem allzu
weit ausgesponuen zu fein scheinen werden, so können wir
uns bei der Sannnlung der „Tiroler Volkslieder" kürzer
fassen. Nicht als ob nicht auch längere Volkslieder von Ort
zu Ort, von Stamm zu Stamm wanderten; nicht als ob
nicht auch hier an voneinander sehr entlegenen Punkten
dieselben Stoffe in volkstümlicher Behandlung uns begegneten.
Aber was uns die Herren Grcinz und Kapferer in ihrem
Bändchen bieten, umfaßt, nach ihrer eigenen Versicherung,
einen großen Teil der im Tiroler Volk üblichen Gesänge.
Und danach hat cs den Anschein, als ob viele Volkslieder,
die sonst aus alleu möglichen Teilen des deutschen Sprach-
gebietes vorliegen, nach Tirol nicht gedrungen oder hier ver-
loren gegangen sind. Besonders berührt der Mangel an
erzählenden Volksliedern eigentümlich. Von diesen enthält
die Sammlung nur sehr wenige. Zwei davon sind freilich
interessant genug (S. 104, 108); sie behandeln Stoffe der
biblischen Geschichte in der derb realistischen Weise, welche
wir aus den biblischen Volksschauspielen kennen. Als
Christus dem Malchus das abgehauene Ohr wieder ange-
heilt hat, wendet sich Petrus mit folgender Ansprache au ihn:
„Was hat mi denn iatz Niel Hauen g'iiutzt,
Du bist schon a Saggeraichwonz,
Wenn i so an Saukerl z'sainmenputz',
Mochst du mir'n grod wieder gonz!“
Wertvoll ist auch „das Spingeser Schlachtlied" (S. 89),
ein historisches Volkslied ans der Zeit der Franzosenkriege,
gegen Ende des vorigen Jahrhunderts als Flugblatt gedruckt,
in der vorliegenden Fassung aber aus dem Volksmunde auf-
gezeichnet.
Das Malchuslied schließt mit der Strophe:
I bin a schlichter Bauersmonn,
Aus dem Oberland zu Haus,
lind wenn i koa Mirakel mehr wirken kann
Blas' i mir durchs Ermlloch aus.
Hier nennt sich offenbar der Dichter des Liedes. Das heißt,
er nennt sich nicht mit Namen, aber er weist auf seine
bestimmte Individualität als den Verfasser hin. Das hat
weit verbreitete Analogieeu. Wenn mau die niedliche Aus-
gabe französischer Volkslieder von Moriz Haupt durch-
blättert, so findet man zu wiederholten Malen die Schluß-
strophe mit der Antwort auf die Frage beschäftigt: „Wer
hat dies Lied erdacht?" z. B. S. 140:
„Wer hat dieses Lied ersonnen?
Eine, die gern Freude hat
Und die Liebe hat viel lieber
La la la!
Als daß eingesperrt sie klagt.
Lironfa!
Vergl. S. 13, 17, 39, 45, 72, 85, 90, 97, 108, 138,
144, 148, 150, 164. Ebenso unter andern: in den von
Hoffmann von Fallersleben herausgegebenen niederländischen
Volksliedern. Das ist sehr bezeichnend und sehr wichtig
für die Frage nach der Entstehung der Volkslieder. Alan
hört häufig genug noch die unklare Ansicht, „das Volk"
dichte die Volkslieder, oder, wie mau mit noch mystischerem
Ausdrucke sagt, „der Volksgeist" bringe diese Schöpfungen
hervor. Gewiß, der „Volksgeist", so weit er eben in jedem
einzelnen Individuum wirksam ist; aber zunächst ist jedes
Lied einmal von einem bestimmten, einzelnen Dichter ver-
faßt worden. So giebt es eigentlich keine feste Grenze
zwischen Volkspoesie und Kunstpoesie. Ich möchte wissen,
wer einen zwingenden Beweis dafür erbringen könnte, daß
gewisse Lieder von Goethe oder Heine keine Volkslieder sind,
wenn wir eben nicht zufällig bestimmt wüßten, daß sie von
diesen bestimmten Verfassern herrühren. Und andrerseits
hat es erst gelehrter Forschung bedurft, um einige Gocthesche
Lieder als wesentlich unverändert herüber genommene Volks-
lieder nachzuweisen. Der Dichter des Volksliedes nennt sich
nicht, oder er bezeichnet sich nur in ganz allgemeiner Weise,
wie in den oben angeführten Beispielen. Dadurch wird
sein Gut herrenlos, durch kein Gesetz gegen „Nachdruck"
geschützt; das heißt, jeder, der es gehört und gemerkt hat,
singt cs, als ob es von ihm selbst stammte, fügt hinzu, läßt
weg, ändert. Geht es aber den Liedern, Strophen und
Stellen, welche aus unsern „Kunstdichtern" ins Volk dringen,
anders? Wie viele Zitate aus unsern Klassikern gehen in
nicht unwesentlich veränderter Gestalt unter uns umher!
Wer kann sich rühmen, den Text eines viel gesungenen Liedes
ordentlich auswendig zu wissen?
Nur in dem Sinne also dichtet „das Volk" seine Volks-
lieder, daß jeder einzelne das Lied, das er einmal gehört hat,
mehr oder weniger wesentlich umgestalten kann. Daher die
große Anzahl von Varianten der Volkslieder, die gewöhnlich
gerade so groß ist, als die Anzahl der Personen, aus deren
Munde das Lied zu verschiedenen Zeiten aufgezeichnet
worden ist. Ja, dieselbe Person wird, zur Wiederholung des
Textes aufgefordert, denselben schwerlich genau in derselben
Weise wiedergeben, wie das erste Mal. Daß ein solches
Lied zufällig auch auf einem Flugblatt gedruckt wird, wie das
auf die Spingeser Schlacht, ändert daran nichts; das ist
eine Variante mehr unter vielen, die sich daneben im Volks-
munde fortpflanzen.
Dafür, daß anet) litterarische Schöpfungen, wenn sie dem
naiven Charakter der Volksdichtung nahe stehen, vom Volke
wie seine eigenen gesungen werden, wobei natürlich der
Name des Verfassers in Vergessenheit gerät, giebt es allent-
halben Belege. Man hat dafür den, wie mir scheint, wenig
bezeichnenden Namen volkstümliche Lieder gebraucht. Ein
recht charakteristisches Beispiel ist mir neulich auf einem von
den Alpenländern geographisch ziemlich entfernt liegenden
Gebiete begegnet. In einer Sammlung von Volksliedern,
die auf der Insel Chios gcsaunuelt sind, stieß ich auf ein
längeres Gedicht, das ich bald als eines der besseren Erzeug-
nisse der griechischen Litteratur des siebzehnten Jahrhunderts
erkannte. Die „schöne Schäferin" ist in volkstümlichem
Tone gehalten und hat es diesem Umstande zu verdanken,
daß, wie mau schon längst wußte, größere Stücke von ihr
Gustav Meyer: Zur Volkskunde der Älpeuländer.
71
auf den Inseln des ägäifchcn Meeres vom Volk gesungen
werden. Dem Herausgeber jener Sammlung ist der wahre
Sachverhalt entgangen, obwohl die von ihm in Chios aus-
gezeichnete Fassung in ausfallendster Weise mit der gedruckten
übereinstimmt. Am Schlüsse der letzteren ist der Verfasser,
ein gewisser Nikolaus Drimytikos, genannt; das ist natürlich
dort in Vergessenheit geraten.
Eine sehr eigenartige, vielleicht die wertvollste Gabe
unter den Bändchen der Liebeskindschen Sammlung, bietet
uns Herr Ludwig von Hörmann in Innsbruck, der vorzüg-
lichste Kenner des Tiroler Volkslebens, in den beiden von
ihm herausgegebenen Sammlungen der „Grabschristen und
Marterten" und der „Hanssprüche ans den Alpen". Mehr
als die andern find diese geeignet, uns tiefe Einblicke in die
Seele der Alpenbewohner thun zu lassen. Anssprüche tiefster
Lebensweisheit stehen hier neben solchen von geradezu zwerch-
fellerschütternder Naivität, neben Versen von rührender
Innigkeit sindct sich ein Witz, der auch das Heilige nicht
verschont. Die Herausgeber der „Volkslieder" haben ihr
Büchlein für „das deutsche Hans und die deutsche Familie" .
bestimmt; aber in noch viel höherem Grade verdienen cs die !
beiden Hörmannschcn Bündchen, Hausbücher im besten Sinne !
des Wortes zu werden.
Es lohnt sich in hohem Maße, auf den Inhalt etwas
näher einzugehen. Von den „Grabschristen und Marterten" 1
umfaßt die erste und größte Abteilung die eigentlichen Grab-
schristen. Sie sind auf den Friedhöfen, besonders den
Dorfsriedhöfen der Alpenländer gesammelt, wo sie sich teils
ans den Grabkreuzen ausgemalt, teils unter dazu gehörigen
Bildern an der Kirchenmauer ans Tafeln angebracht finden.
Gedanken über Tod und Ewigkeit sind hier in erstaunlicher
Mannigfaltigkeit variiert. Ihnen hat der Herausgeber die
Inschristen der sogenannten Rechbretcr, das heißt Lcichen-
oder Totenbrcter, angeschlossen. Das waren ursprünglich
die Dreier, ans denen die Leichen aufgebahrt gewesen waren;
sie wurden aus häufig begangenen Wegen aufgestellt, ja so-
gar ans dem Wege niedergelegt. Jetzt sind cs meist nach-
her vom Schreiner angefertigte Dreier. Die Sitte ist vor-
zugsweise inObcrbaiern und den westlichen Alpen verbreitet.
In diesen Inschriften der Grabkrcuze und der Totenbretcr
treibt eine teils freiwillige, teils unfreiwillige Komik be-
sonders da ihr Wesen, wo es sich um den Stand, die Be-
schäftigung oder die Todesart des Verstorbenen handelt. So
wirkt z. B. in einer Grabschrist aus dem Oberinnthal die
ungewöhnliche Stellung des Relativpronomens in Verbin-
dung mit dem Reim unwiderstehlich komisch:
Hier liegt der Herr Melcher,
Pfarrer gewesen ist welcher.
In einer andern wird eine ganz selbstverständliche Begrün
düng sehr pomphaft durch ein rhetorisches Kunststück ein
geleitet:
Hier liegt begraben unser Organist,
Warum? weil er gestorben ist.
Er lobte Gott zu allen Stunden,
Der Stein ist oben und er liegt unten.
Die Todesursache ist zu komischer Wirkung verwendet, z. B
Ach, ach, ach, hier liegt der Herr von Zach,
Er war geboren am Bodcnsee
Und ist gestorben an Bauchweh.
Oder
Und er maß sieben Schuh,
Gott geb ihm die ewige Ruh.
Ein unglücklicher Ochscnstoß
Öffnete das Himmelsschloß.
Einigemale schließt eine Grabschrist so -.
Er (sie) lebte in Furcht und Zucht
Und starb an der Wassersucht.
Das weibliche Geschlecht wird mit Ausfällen nicht ganz
verschont, z. B.:
In diesem Grab liegt Anichs Peter,
Die Frau begrub man hier erst später,
Man hat sie neben ihm begraben,
Wird er die ewige Ruh nun haben?
Oder in Hall:
Hier liegt begraben mein Weib, Gott sei Dank,
Sie hat ewig mit mir zankt,
Trum, lieber Leser, geh von hier,
Sonst steht sie aus und zankt mit dir.
Ganz ähnlich den Inschriften auf den Grabkreuzen und
Totcnbretern sind die aus den Erinnerungstafeln, wie sie
in den sogenannten Totenkapellen und Totcnrasten auf-
gehängt werden, jenen kleinen Kapellen außerhalb des Orts,
welche den aus weiterer Entfernung hergebrachten Leichen
solange zur Raststätte dienen, bis der nächste Ortsgcistliche
sie abholt. Besonders charakteristisch sind hier die Arm-
seelentafeln, Darstellungen von nackten Gestalten im Fege-
feuer, dessen Pein in beigesetzten Versen lebhaft geschildert
wird. Höher stehen die Inschriften auf Votivtafeln, Bild-
stöcken und Feldkreuzen, die meistens Erinnerungszeichen an
wunderbare Rettung aus Lebensgefahr oder sonstigem Un-
glück sind. Verse erzählen den Fall, eine bildliche Dar-
stellung erläutert dieselben. Verwandt sind die bekannten
Marterten, die sich in großer Zahl in allen Alpenländern
finden: Täfelchen mit bildlicher Darstellung und poetischer
Erklärung, zur Erinnerung an einen an dem Orte statt-
gefundenen Unglücksfall errichtet. Unter ihnen finden sich
einige, die wegen ihrer Naivität geradezu berühmt geworden
sind. So heißt cs in Stubai ans einen verunglückten Fuhr-
mann :
Der Weg in die Ewigkeit
Ist doch gar nicht weit;
Um 7 Uhr fuhr er fort,
Um 8 Uhr war er dort.
In Passeier sieht man auf einem Marterl dargestellt, wie
aus einem Schneeberge ein Mannskops heraus guckt; links
, läuft ein Knabe eiligst davon. Dabei steht:
Hier starb Martin Rausch.
Die Lawine traf ihn halt
Aus den Leib und macht ihn kalt.
Auch der Jörg, der war darunter,
Aber heut noch ist gesund er.
Schneelawinen sind begreiflicher Weise in den Marterlen
häufig als Todesursache angegeben, z. B.
Hier ruht der ehrsame Junggesell Alois Festini von Caha-
mahango, welcher in der Fremde unter einer kleinen Schnee-
lawine seine wahre Heimat gesunden hat am 18. Dez. 1871.
, oder:
Gedenke der Jungfrau Barbara Hechenpleikner, welche hier
unter der Schneelawine ihr zeitliches Leben in das ewige
verwechselt hat.
Durch eigentümliche grammatische Konstruktion ist aus-
gezeichnet: „Andenken der durch die Schneelawinen ver-
unglückten sind worden drei Kinder" ; durch Kürze und
,: Gedrungenheit des Ausdrucks:
Aust gstiegn,
Kerschen brockt,
Abi gsallen,
Hin gwesen.
Aus dem Lavantthal in Kärnten stammt:
Hier ruht der ehrsame Johann Missegger auf der Hirschjagd
durch einen unvorsichtigen Schuß erschossen aus aufrichtiger
Freundschaft von seinem Schwager Anton Sieger.
Ernsthafter und in der That überraschend reich an
schönen und gesunden Gedanken sind die in dem Bündchen
72
Friedrich S. Krauß und V. Nalctic Vukasovic: Das Tättowieren bei den Südslaven.
der „Haussprüche" vereinigten Sentenzen, die auf der Vor-
derseite der Häuser, auf den Wänden der Stuben, aus Glocken,
Messern, Uhren, Scheiben und dgl. eingeschrieben sind. Bei
den auf den Hausbau bezüglichen Sprüchen ist die bekannte
Doppelzeile:
Wer will bauen auf den Straßen
Muß die Leute reden lassen
sehr mannigfaltig variiert und erweitert. Der Bauherr,
der um sein eigenes gutes Geld sein Haus gebaut hat, giebt
seinem Ärger darüber Ausdruck, daß alle möglichen fremden
Leute an der Straße stehen bleiben und Ausstellungen machen.
Wer will bauen auf offner Straßen,
Muß die Leute reden lassen.
Der eine gafft vorn, der eine gafft hinten,
Wird jeder was zu tadeln finden.
oder
Schimpfen kann ein jeder Bauer,
Besser machen fallt ihm sauer,
Jeder baut nach seinem Sinn,
Keiner kommt und zahlt für ihn.
Ja sogar in maccaronischer Weise:
Qm aedificaturus est
an den Straßen,
Debet stultuui dicere
lassen,
Opiat mihi omnis
was er will,
Opto ei
Noch so viel.
Vielfach werden Maria, die Engel und die Heiligen
um Schutz für das neu gebaute Haus angerufen und einer
besonderen Berücksichtigung erfreut sich dabei der heilige
Florian, der Schutzpatron gegen Feuersbrunst, der unzählige
Mal an Häusern und Brunnensäulen abgebildet ist. Für
die Stellung, welche die Heiligen im Volksglauben einnehmen,
ist ungemein bezeichnend der Spruch aus Wenus:
Dieses Haus stand in Gottes Hand
Und ist dreimal abgebrannt,
Und das viertemal ist's wieder aufgebaut
Und jetzt dem heiligen Florian anvertraut.
Um auch das Ernstere zu seinen: Rechte konnuen zu lassen,
setze ich einen aus dem Jahre 1609 stammenden Spruch
auf die Jungfrau Maria her, der sich an einem Fenster in
Schloß Amras findet:
Maria milt
O mutter zart!
Sey du mein schilt
zur hinefart.
gib mir die gnad,
das ich da find
des lebens Pfad
zu deinem Kind.
Man hat die Inschriften von den Grabsteinen und von
den Vasen der Griechen und der Römer mit emsigem Fleiße
gesammelt und in großartig angelegten und ausgestatteten
Werken herausgegeben. Und man hat recht daran gethan;
denn deutlicher als aus den offiziellen Kundgebungen von
Städten und Staaten spricht aus diesen unscheinbaren Deuk-
niülern die Seele der antiken Völker zu uns. Aber darf
:uan dann nicht für die entsprechenden Auszeichnungen unsres
eigenen Volkes etwas Beachtung verlangen? Ich hoffe, daß
die Hörmannschen Bändchen, mehr als frühere ähnliche Ver-
öffentlichungen, ihnen solche verschaffen werden.
Das Tättowieren bei den Südslaven.
Von Friedrich S. Arauß und V. Valetic Vukasovic.
Die Überschrift erweckt vielleicht bei manchem Leser
größere Erwartungen, während wir nur bescheidene Mit-
teilungen über spärliche Überreste eines alten Brauches zu
machen haben. Bei zahlreichen primitiven Völkern der Erde
pflegt und pflegte n:an sich den Körper zu bemalen oder zu
tättowieren. Wir müßten dies auch bei den Südslaven vor-
aussetzen, selbst wenn wir keine direkten Beweise :nehr für
diesen Brauch hätten, doch daran fehlt es nicht. In einigen
Guslarenliedern wird erzählt, daß sich die Haupthelden die
Augen mit Blut unterfärbten (oci krvi obojene), um durch
den blutrünstigen Anblick den Feind zu erschrecken. Manche
grimmige Haudegen färbten sich Hände und Gesicht blutig
rot, als ob sie gewohnt wären, in: Blute zu waten. Mütter
tättowierten aber ihre Kinder mit eigenen Zeichen auf den
Schultern (biljeg na ramenu), wie es ausdrücklich heißt,
um einmal daran ihre Kinder zu erkennen, sollten sie je in
feindliche Gefangenschaft geraten und nach vielen Jahren
heimkehren. Alija, ein Mohammedaner in Mostar, so be-
richtet ein Volkslied, kaufte auf dem Markte eine stattliche
Sklavin. Nachts legt er sich zu ihr, doch das Frauenzimmer
erkennt an der Tättowierung am rechten Anne in Alija ihren
leiblichen Brüder. Daraus folgt eine herzergreifende Er-
kennungsszene, und die Geschwister beschließen, gemeinsam zu
ihrer hochbetagten Mutter ins Küstenland zu fliehen. Alija
war nämlich ein Christenkind und frühzeitig bei einem tür-
kischen Ueberfall seinen Eltern entrissen, ins Herzögischc ge-
schleppt und zum Islam bekehrt worden. Ähnliche Fabeln
erzählen uns auch viele Romanzen des abendländischen
Mittelalters.
Auch als bloßer körperlicher Schmuck dient das ein-
tättowierte Zeichen. In Slavonien, Kroatien, Serbien und
Bulgarien tättowiert sich das Bauernvolk mit großer Vorliebe.
„Zvizda ispod vrata“ (Stern untern: Halse) ist die Be-
zeichnung eines Blümchens zwischen den Brüsten. Bekannt
ist das Märchen von dem Mädchen, welches sich nur jenem
zu eigen geben will, der im stände wäre, „pogodit joj
zlamenje“, d. h. ihr Tüttowierungszeicheu zu erraten. Es
war ein Blümchen (Sternchen) unterm Nabel! Schöne
Zeichnungen sind äußerst selten. Mit Vorliebe wählt man
Blumen, Sträußchen, Kreuze, Herzen, Schwerter und Hirtcn-
stäbe. Tierbilder kommen unsres Wissens nie vor. Vor-
zugsweise bringt man die Tättowierungen auf dem Oberkörper
an; da aber der größere Teil des Oberleibes durch das
He:::d — gewöhnlich dem einzigen Kleidungsstücke des Bauers
und der Bäuerin für den Oberleib — verdeckt ist, hat man
hauptsächlich bei einem etwas vertrauteren Verkehre Gelegen-
heit, die Einzelheiten einer Zeichnung zu betrachten. Ich
kenne einen Bauern in Pleternica in Slavonien, dessen ganze
Brust von: Hals bis zum Bauch hinab mit allerliebsten, sehr
fein ausgeführten dunkelblauen Blumen tättowiert ist, worauf
er sich etwas einbildet. Diese Tättowierung hat er aber
als Soldat, als er unter Magyaren garnisonierte, erlangt.
Die übrigen Bauern kargen nicht mit ihrer Bewunderung
für den Mann, doch nachahmen können sie diese Zeichnungen
nicht, weil sie sich nicht genug aufs Zeichnen verstehen.
Während dies Tättowieren.im allgemeinen dort belang-
los ist und als eine bloße Spielerei zur Befriedigung der
Eitelkeit betrachtet wird, wo die Südslaveu nur dem christ-
73
Friedrich S. Krauß und V. Äaletic Lukasovic: Das Tättowieren bei den Südslaven.
liehen Glauben angehören, so in Kram, Kärnten, Kroatien,
Slavonien, Dalmatien und Serbien, dient cs im Bosnischen,
Hcrzögischen, in Altserbien und Rumelicn, wo ein starker
Bruchteil der Bevölkerung aus Mohammedanern besteht,
um durch bestimmte Zeichen, die man in die Haut einen:
einritzt, die Religionsangehörigkeit des Individuums zu kenn-
zeichnen. Es sei gleich hier bemerkt, das; der allgemeinste
sndslavische Ausdruck für Tättowieren sieanse (sieati —
kleinweisc einschneiden) lautet. Daneben kommt auch das
Wort bocanji (bocati — Stiche versetzen) vor. Damit
ist uns die Bezeichnung zweier verschiedener Tättowierungs-
versahren gegeben, von welchen aber das erstere derzeit,
soviel wir erfahren, nicht mehr in Übung ist. Man kennt
nnr mehr das Einsticheln mittels einer Nadel.
Es liegt uns eine kleine Arbeit über das Tättowieren
bei den Bosniern vor aus der Feder des verdienstvollen
bosnischen Arztes Dr. £. Glück (im Glasnik zemaljskoga
muzeja Heft 111, S. 81 ff.), welcher neben einigen
richtigen Beobachtungen, die sich von selbst aufdrängen,
mehrere kühne Behauptungen aufstellt. So sagt er z. B.:
„Die ungewohnte (?) Erscheinung (des Tättowiercns) wirkt
um so besremdendcr, da sie speziell nur unter der katho-
lischen Bevölkerung Bosniens und der Herzegowina, und
dies in überwiegender Anzahl bei den Frauen, zu beob-
achten ist." Aus dieser Bemerkung ersehen wir, das;
Dr. Glück nur einen sehr geringen Teil der dortigen Be-
völkerung aufs Tättowieren hin beobachtet hat. Er muß
Wohl seine weiteren Deduktionen den Franziskanermönchen
verdanken, denn seine Ausführung läßt daraus schließen, er
habe sich bezüglich des Berhältnisses zwischen Christen und
_____ t-L ' - .........
„Der Katholizismus hatte lange zu kämpfen, bevor cs
ihm gelang, in Bosnien und der Herzegowina festen Fuß
zu fassen; denn die Lehre der Patarener oder Bogumilen hatte
sich in diesen Ländern — mehr als irgendwo anders auf
der Balkanhalbinsel — einen bedeutenden Einfluß zu ver-
schaffen gewußt und zählte eine so große Anzahl von offenen
und geheimen Anhängern, daß es nicht so leicht möglich
war, sic auszurotten, und als gar noch die Türkeninvasion
dazukam, nach welcher die Einwohnerschaft, meistenteils wohl
des materiellen Vorteils wegen, familienweise zum Islam
übertrat, sah sich die katholifche Geistlichkeit gezwungen, auf
irgend ein Mittel gegen diefcn massenhaften Religionsabfall
zu sinnen, damit das Land nicht vollständig dem römisch-
katholischen Glauben entrissen werde."
„Und so ein Mittel dürfte sie — wenn cs auch im ersten
Momente paradox klingt — in der Einführung des Tätto-
wierens gefunden haben; denn da der Islam das Kreuzes-
zeichen als Symbol der Christenheit in Acht und Bann gc-
thau hatte, so ist es gar nicht so unwahrscheinlich, daß die
katholifche Geistlichkeit auf den Gedanken kam, ihre Anhänger
zu veranlassen, sich an einer offenen Stelle des Körpers mit
diesem von den Mohammedanern verpönten Embleme zu be-
zeichnen, um auf diese Weise dem betreffenden Individuum,
das fetzt noch glaubenstreu war, aber später einmal vielleicht
die Absicht fassen konnte, die katholische Religion zu ver-
lassen, dies soviel als möglich zu erschweren. Denn mit
den: Zeichen des Kreuzes am Körper kann niemand in den
Schoß des Islams aufgenommen werden, sondern cs mußte
vorher vernichtet werden, was nur durch die gewaltsame Ab-
schürfung der Haut möglich war (?!), und da dies bedeutende
..........., .
Mohammedaner aufzustacheln. Es ist endlich an der Zeit,
das; eine solche Art der Erörterung wenigstens in ethnogra-
phischen Fragen vermieden werde und man sich aus die sach-
liche Behandlung eines Gegenstandes beschränke. Wir
wollen den beanstandeten Teil des Aufsatzes hier anführen,
zcugung, sondern nur irgend cm materieller Vorteil, der die
zu erduldenden Schmerzen oft nicht einmal aufwog, im
Spiele war. Und wenn sich zuletzt der Abtrünnige dennoch
dazu herbeigelassen hatte, so blieben ihm immer noch die
......breiten, unauslöschlichen Narben zurück, welche federn andern
um die Hauptpunkte an der Hand der üblichen Tättowierungen I Mohammedaner sichtbar zeigten, daß cs kein wahrer „Qs-
gleich zu widerlegen, weil es sich darum handelt, zu ent- ! mali" sei, den er da vor sich habe, sondern immer nur ein
scheiden, ob das tättowieren ein alter oder ein neuer Brauch christlicher Renegat. Und das war gerade einet) kein Vorteil,
sei. Dr. Glück äußert sich so: Es sind lauter Behauptungen, keineswegs Thatsachen,
„Es kann nicht angenommen werden, das; das Tätto- die uns Dr. Glück zum Besten giebt. Das Tättowieren ist
wirren eine uralte, prähistorische Sitte sei, der es auf Grund alles, nur kein kirchlicher Akt, mit welchem der Franziskaner
irgend welcher besonderer Umstände gelungen ist, sich in etwas zu thun hätte. Nochmals sei es gesagt, auch die ortho-
diesen Ländern bis auf den heutigen Tag zu erhalten; denn dopen (Serben) Christen und die Mohammedaner tättowieren
rn
denn
es ist erwiesen (??), das; das Tättowieren ein den alten
Slaven vollständig unbekannter Gebrauch war, und ebenso-
wenig kann cs eine spezielle alte Landessitte genannt werden,
da sie ja dann bei der ganzen Bevölkerung im Schwange
sein müßte, und nicht nur, wie es thatsächlich der Fall, bei
einem Teile derselben; dafür spricht auch der Umstand, daß
das Volk in seinem reichen Sprachschatze keine spezielle Be-
zeichnung für das Tättowieren hat, sondern es einfach mit
„kriz nabocati“ (Kreuz einstichcln) bezeichnet, ein offener
Beweis, das; das Ganze keine ursprüngliche Frucht des bos-
nischen Bodens ist mib auch noch nicht aus gar zu langer
Zeit datiert. Da also das Tättowieren weder eine altslavischc
noch eine speziell bosnische Sitte ist, drängt sich die Frage
ans, wann und auf welche Art dasselbe in das Land ge-
kommen sei und warum es sich gerade bei den Katholiken
eingebürgert habe."
Statt einen Beweis für diese geschichtlich unhaltbaren
Behauptungen anzutreten, giebt Dr. Glück folgende „Er-
läuterung", welche man in verschiedenen stilistischen Fassungen
bei ganz anderen Themen schon verwertet hat.
GlvliuS l.IX. Nr. s,.
sich ganz inr gleichen Maße wie die Katholiken. Das ein-
tättowierte Kreuz war nie ein Hindernis für den Übertritt
zum Islam, ebensowenig als die christliche Kirche sich fe
weigerte, in ihren Schoß einen Juden aufzunehmen, weil ihm
das Prüptttium fehlte. Es ist eine nichtige Erfindung,
daß man den: Renegaten die Haut abzog, um das Kreuzbild
zu tilgen. Diese Prozedur war gar nicht notwendig, denn
durch einen glatten Querstrich übers Kreuz kann man leicht
einen Stern erzeugen, wie solche auch bei Mohammedanern
häufig genug zu sehen sind. Der Übertritt wurde dem Neu-
ling auf jede mögliche Weise erleichtert, so daß man sogar
von einer vorschriftsmäßigen Zirkumzision (suuet) Abstand
nahm und sich damit begnügte, daß Präputium bloß hori-
zontal durchzuschneiden. Ausdrücklich sei noch bemerkt, das;
sich der Bauer entweder selber tättowiert oder sich diesen Liebes-
dienst von einem Kameraden erweisen läßt. Hirten und
. Hirtinnen tättowieren einander auf der Viehweide zum Zeit-
vertreib. Irgend welche Zaubersprüche (bajanja) werden
dabei uicht gesagt, eben nur darum, weil man sich nicht direkt
aus religiösen Motiven mit Tättowierungen versieht, sondern
10
74
Friedrich S. Krauß und V. Valetic Vukasovic: Das Tättowieren bei den Südslaven.
meist ans Eitelkeit. Die Angabe Dr. Glück's, daß als
„Tättowierer" meistens alte Frauen, sogenannte „vjeste
zene“ „geschickte Weiber" fungieren, ist nur soweit richtig,
als der Bauer auch nicht so unvorsichtig ist, seine Haut dem
erstbesten jungen und unerfahrenen Menschen als Lernmate-
rial zu überlassen, ebensowenig als unsereiner geneigt ist,
wenn er in eine Rasierstube eintritt, sich eineui Lehrjungen
in der Kunst des Barbierens auf Gnade und Ungnade an-
zuvertrauen.
Das am wenigsten umständliche Tättowicrungsversahren
wendet der slavonische Hirte an. Er nimmt Weidenholz-
oder Buchenholzasche und verreibt damit die Nadelstiche.
Ich sah einem Bauernburschen zu, der seinem -Gespielen
„zwei Sterne" (elvi zvizde) in die Waden eintüttowierte,
aus die rechte Wade Fig. 1, ans die linke Fig. 2.
Das Bild wird gelblichblan. Der Tättowierer gebrauchte
beim Einsticheln eine Ahle (silo). Er arbeitete ohne Bor-
lage und ohne vorherige Musterzeichnung. Offenbar hatte
er auch schon andern den gleichen Liebesdienst erwiesen und
fühlte sich seiner Aufgabe gewachsen. Sonst verwendet man
zum Einreiben häufig Schießpulver, Ruß, Kienruß, Indigo
und Krapprötel; dann ist aber das Verfahren etwas zeit-
raubender. Man zündet ein Bündel harzigen Kienholzes
an, neigt es so, daß das Harz in ein untergehaltenes Gefäß
tröpfelt und läßt zu gleicher Zeit eine Blechplatte (oder ein
Stück Fensterglas) über der Flamme stark anrauchen, worauf
man den Ruß in das gewonnene Harz hineinschabt, alles
tüchtig durcheinander mischt und dann mit dieser zähen,
schwarzen Masse die Figur, die ausgeführt werden soll, aus
die betreffende Körperstelle skizzirt, wobei die Haut straff an-
gespannt wird. Dann stichelt man mit einer feinen Nadel,
welche bis zur Spitze mit Bindfaden umwunden ist, damit
sie nicht tiefer, als es notwendig ist, in das Fleisch eindringe,
der Zeichnung nach und zwar so, daß Blut zum Vorschein
Südslavische Tättowierungen. Ausgenommen von Fr. S. Krauß. lj<, natürl. Größe.
kommt. Zum Schluß wird die wunde Stelle mit Tüchern
verbunden und am dritten Tage ausgewaschen.
Es ist natürlich, daß das Volk Ornamente von dort
entlehnt, wo es solche leicht findet, z. B. aus alten Grab-
steinen. Herr Vuletic verteidigt mir gegenüber seine Ansicht,
die Tättowierungsornamente beruhten aus einer alten Über-
lieferung. Ich müßte ihm darin beipflichten, wenn er den
Beweis dafür antreten wollte, daß die gegenwärtigen Be-
wohner des Bosnischen und Herzögischen Aboriginer im
Lande seien oder zum mindesten von jenen Menschen ab-
stammen, die unter beit vielbesprochenen altbosnischen Grab-
steindenkmälern ruhen. Man braucht gar keine Hypothesen,
wo die Erklärung offen zu Tage liegt. Der Bauer kopiert
die Ornamente der Denkmäler, die er täglich vor Augen hat,
weil sie einfach und leicht nachzubilden sind und weil er
dabei sich weiter keine Gedanken macht. Darin liegt auch
die Erklärung dafür, daß wir überall die gleichen Ornamente
antreffen, wo die alten Grabsteine mit Verzierungen vor-
kommen. Einige Beispiele mögen dies erläutern.
Der Bauer Stipo Drinovac im Dorfe Slatina am
Ramaslusse hat auf der Rechten die Tttttowierung Fig. 3:
a ist der Halbmond, b sind die Zweige (Krane), c der Stern
oder das Kreuz (krstaca zvijezda), d sind kleine Sterne,
/ das Schwert. Dieses Bild erblickt man häufig ans Grab-
steinen, nur daß die kleinen Sterne und das Schwert rechts
und links neben dem Kreuz angebracht erscheinen. Die
Kombination unseres Bildes ist jedoch selbständiges geistiges
Eigentum des Tättowierers.
Aus Denksteinen und ans Menschen ist häufig „das mit
Zweigen versehene Kreuz" (Franati. krst) zu sehen, so
z. B. trägt der Bauer Stipo Curie in Grniei bei Prozor
im Ramagebiet auf dem rechten Arme die Figur 4. Curie
sagte wörtlich: „Fast jeder Katholike (Katonik statt Katolik)
in Rama legt auf sich solche Abzeichen, ncanche setzen welche
auch ans die Brust, ich meine Zahlzeichen, Buchstaben oder
sonst eine andre Sache." Er meinte so ein Bild, wie es
nicht selten, und in Fig. 5 dargestellt ist. Die Buchstaben
bedeuten Jsns — Jesns. Das Zeichen im rechten Winkel
Pros. F. Boas: Ein Besuch in Victoria aus Vancouver.
ist wohl als eine Hand aufzufassen. Als ein Beispiel für
ein ordnungsgemäß tättowiertes Frauenzimmer mögen die
Zeichen aus dem Seibe der Katholikin Jvka, der Gattin
des Bauern Pipuniv aus Bistrica bei Gornji Bakus in
Bosnien, dienen. Mitten aus dem Ellbogen hat sie ein
Kreuz wie Fig. 6. Unter der Handbeuge gegen den Daumen
zu ist dasselbe Zeichen, nur kleiner.
Über die Handslüche zieht sich aber ein genau einem Grab-
monumentreliksornamcnt nachgezeichnetes Bild hin (Fig. 7),
ans dem kleinen Finger hat sie zwei „kleine Sterne" ans
dem Ringfinger drei Sterne in dieser Gruppierung —,
ans dem Mittelfinger steht in verkleinertem Maße dasselbe
Bild wie ans der Handfläche und darunter ein Kreuzbild,
wie senes ans dem Daumen, nur ist cs mißlungen, als man
es eintättowicrte (kat se iglom nasicalo). Aus dem linken
Arme hat sie und zwar aus dem oberen Teil des Ellbogens
das Kreuzeszeichen f. Unterhalb dieses Kreuzes ist Fig. 8
angebracht. Aus der oberen Spitze der Handfläche hat sie
sieben „Sterne":...... Die Tättowierungen aus den ver-
hallten Teilen des Körpers konnten nicht ausgenommen
werden. Wesentliche Unterschiede zwischen den Tättowierungen
der Frauen und der Männer konnten wir nicht feststellen,
selbst Schwertbilder findet man aus Frauen. Der Bauer
Stipo Milimo aus dem Dorfe Prokosi in der Mahala
Mujakovioi bei Fojnica hat auf der rechten Hand Fig. 9,
auf der linken Hand Fig. 10.
Milosiv sagte, das zweite Bild stelle einen kleinen
Tannenbaum (Mioa) im Walde vor und daß man nach
den Abzeichen den echten Katholiken erkenne. Richtig ist
wohl, daß Altgläubige das byzantinische Kreuz bevorzugen.
Tättowierungen mohammedanischer Frauen konnten wir
nicht untersuchen und auch darüber keine Erkundigungen ein-
ziehen, weil der Mohammedaner cs als eine gröbliche Be-
schimpfung betrachtet, wenn man sich um seine Frauen
bekümmert. Jedenfalls tättowieren sich auch die Moham-
medanerinnen. Das beweisen uns mehrfach Stellen in
Gnslarenliedcrn. Ter Aga Edhem Kulovio ans Sara-
jevo hat auf der Rechten den Säbel Zulsikar, wie einen
solchen der türkische Held Azreti Ali besessen haben soll
(Fig. 11) und darunter steht muhri Sulejman (das Siegel
Salomos).
So tättowierten sich auch die „Helden", damit sie Glück
im Kampfe und auf Abenteuern gewännen. Den Trudcn-
suß bringt der Mohammedaner aus den Häusern, Moscheen,
Kleidern, Bettcppichen, kurz überall an, um ein Glückszeichen
daran zu haben.
Ein Besuch in Victoria auf Vancouver.
Von j?rof. Boas
Aach langer, ermüdender Eifenbahnrcise war das Ge-
stade des Stillen Ozeans erreicht. Der Dampfer trug uns
über die stillen Gewässer des Puget Sundes dem nächsten
Reiseziele, Bictoria, entgegen. Wir halten den letzten
amerikanischen Hasenplatz, Port Towusend, verlassen und
nun schwankte unser Schiss auf den unruhigen Gewässern
der Juan de Fuea Straße.
lscasch näherten wir uns der Insel Vancouver und schon
wurden die weißen Häuser der freundlichen Vorstadt von
Victoria sichtbar. Jetzt liefen wir in den engen Fjord ein,
welcher den Hafen bildet und nach einigen scharfen Wen-
dungen erblickten wir die Stadt mit ihren freundlichen
Häusern vor uns.
Wir hatten ohne Unterbrechung die Fahrt von der
atlantischen zur pacifischen Küste vollendet und nun mutete
nn« unsre Umgebung gar seltsam an. Die geraden Straßen,
welche sich unter rechtem Winkel kreuzen, sind uns von
Osten her bekannt; ebenso kennen wir die schmucklosen Holz- j
Häuser aus den Kleinstädten der östlichen Staaten. Fremd-
artig erscheinen uns aber die zahlreichen Chinesen und In-
dianer, welche der Stadt ein ganz eigentümliches Gepräge
geben.
Sobald wir uns im Gasthanse heimisch gemacht hatten,
schlenderten wir durch die Straßen, um ein Bild vom Leben
und Treiben daselbst zu gewinnen. Die Straßen sind breit
und ungepflastert. Breite hölzerne Fußsteige führen an den
Häusern entlang, welche meist vorspringende Dächer von der
ganzen Breite des Fußsteiges haben. Schmale Gassen ver-
binden die Hauptstraßen. An den Kreuzungspunkten der-
selben sind hohe Masten errichtet, an welchen elektrische
Bogenlampen angebracht sind.
Der Charakter der Läden zeigt, daß wir uns hier noch
in einem jüngst besiedelten Gebiete befinden. Dieselben
nehmen fast überall das ganze Erdgeschoß der Häuser ein,
und es hat sich noch nicht eine Teilung des Geschäftes in
kleine Einzelzweige ausgebildet. Jeder Kaufmann, mit den
wenigen Ausnahmen derer, welche ausschließlich auf das
reiche Publikum rechnen, führt Artikel für die vcrschiedcn-
lVorcester, Vfass.
artigsten Bedürfnisse. Unter den wenigen Steinhäusern
der eigentlichen Stadt fallen uns außer den Negierungs-
bauten eine Reihe Hotels, Banken und größere Lagerhäuser
in die Augen. Unter diesen ist das Lager der Hudson Bay
Company bemerkenswert. Hier wird eine große Auswahl
aller der Gegenstände feil gehalten, welche für den Handel
mit den Eingeborenen gebraucht werden: wollene Decken,
Kattune, Hemden, wollene Unterzengc, billige Kleidung,
Gewehre und Munition, Eiscnwaren, Mehl, Reis bilden
die Hanptartikcl, die in diefem Handel eine Rolle fpielcn
und anderseits werden in diesen Lagerräumen die wert-
vollen Felle, welche von den Indianern eingehandelt sind,
aufgespeichert. Im Lause der letzten Jahrzehnte haben sich
die meisten Händler von der Hudson Bay Gesellschaft unab-
hängig gemacht, und dadurch sind eine ganze Anzahl von
selbständigen Geschäften entstanden, welche sich demselben
Handel widmen. Die Händler schlagen ihren Wohnsitz
entweder in Jndianerdörfcrn oder an Plätzen, welche
von den Indianern bei Reisen besucht werden, auf, und
kommen nach Victoria, sobald ein genügender Vorrat von
Fellen angesammelt ist. Eine andre Art von Geschäften,
welche Victoria eigentümlich ist, sind Krämerläden, welche
unmittelbar mit den nach Victoria kommenden Indianern
Handel treiben. Auch diese haben sich erst entwickelt, seit
daß Wachstum Victorias die Indianer veranlaßt hat,
häufig die Stadt zu besuchen. Diese Lüden machen gleich-
zeitig ein besonderes Geschäft ans dem Erwerb indianischer
' Geräte, und man findet in ihnen ganze Ausstellungen von
indianischen Schnitzereien, Webereien und Flacharbeiteu,
welche meist für Kleinigkeiten eingehandelt und für hohe
Preise an Fremde verkauft werden.
Der Verkehr dieser Kaufleute mit den Indianern ist
sehr einfach. Die Indianer kommen mit wohlgespicktem
Beutel von der Arbeit und besuchen die Lüden mit ihren
Frauen, um die neuen Waren anzusehen. Der Händler
hat all feine Waren hinter dem Tresen oder unter Glas
und Rahmen schön ausgestellt, um die Kauflust der Indianer
zu reizen, ohne ihnen aber Gelegenheit zu geben, zu stehlen.
10*
76
Prof. F. Boas: Ein Besuch in Victoria auf Vancouver.
Kommen zu viele in den Laden, so wird die größere Anzahl
fortgejagt, bis die erste Abteilung abgefertigt ist. Obwohl
die Käufer, durch Erfahrung gewitzigt, erst alle Läden be-
suchen, um den richtigen Preis kennen zu lernen, ist es doch
dem Verkäufer ein leichtes, durch geschicktes Reden ihnen
etwas aufzuschwatzen, das ihnen zufällig besonders in die
Augen sticht. So lauge der Indianer in Besitz von Geld
ist, und mnssig in der Stadt umherlungert, ist er leicht zu
irgend welchen Einkäufen zu bereden.
Die Händler in Victoria sowohl, als auch an der Küste
sind meist kanadische Franzosen, deutsche Juden oder Halb-
indianer, die Nachkommen eines früheren Geschlechts von
Händlern.
Folgen wir der Hauptstraße Victorias nordwärts, so
gelangen wir in das Chinesenguartier. Dasselbe hat eine
beträchtliche Ausdehnung und beherbergt manch einen wohl-
habenden Kaufmann. Ich kann keine genaue Ziffer für
die Zahl der chinesischen Bevölkerung angeben, dieselbe muß
aber sehr bedeutend sein. Man sieht wenig chinesische
Frauen ans den Straßen und der größere Teil derselben
dürfte aus Prostituierten bestehen, welche einen Teil des
Chinesenviertels inne haben.
Übrigens erfreuen sich die Chinesen hier so wenig einer
angenehmen Stellung, wie in den westlichen Teilen der
Union. Von den Europäern werden sie als ein unent-
behrliches Übel betrachtet, während die Indianer sie tödlich
hassen. Die letzteren dünken sich unendlich über die Chinesen
erhaben und verachten sie gründlich.
Wir folgen der Hauptstraße (Gouvernemeut-Street) nach
Norden und nähern uns nun einem der armseligsten Teile
der Stadt. Zur Linken erhebt sich der Schornstein einer
Sägemühle und der einer Eisengießerei. Die Straßen sind
mit armseligen kleinen Hütten besetzt, in welchen die In-
dianer hausen, welche sich vorübergehend in Victoria auf-
halten. Die kleinsten dieser Hütten sind Bretterschnppen,
welche durch Holzvcrschläge in Abteilungen geteilt sind.
In denselben ist ein Bett roh zusammengezimmert, ein
Herd aufgestellt, und der Raum ist bereit, für etwa zwei
Dollars den Monat, vermietet zu werden. Ein solcher
Bretterverschlag von 20 Fuß Breite und etwa 60 Fuß
Länge bringt daher dem Besitzer annähernd 200 Dollars
jährlich ein, und da dieses Einkommen fast ohne Anlage-
kapital erworben wird, so haben eine ganze Reihe von
Grundeigentümern ihren Besitz auf solche Weise verwertet.
In diesen Hütten wohnen Indianer, die sich vorübergehend
als Arbeitsleute in Victoria aufhalten, manchmal mit Frau
und Kindern; in andern leben Jndianerfrauen, die sich als
Wäscherinnen oder Prostituierte Geld erwerben, um uach
einer Reihe von Jahren mit dem ersparten Gelde in ihre
Heimat zurückzukehren. Dieser Gebrauch hat sich für viele
der Küstenstämme verderblich erwiesen, indem dieselben fast
alle jungen Frauen verloren. Die Stämme von Fort
Rupert sind so dem Aussterben nahe gebracht worden. Alle
Maßregeln, die bislang ergriffen wurden, dem verderblichen
Treiben ein Ende zu machen, haben sich als fruchtlos er-
wiesen, und selbst die entlegensten Stämme schicken heute
ihre Töchter nach Victoria, dem sicheren Untergänge entgegen.
In Victoria befindet sich übrigens eine kleine hölzerne
Kirche, in welcher Gottesdienst für die Indianer abge-
halten wird. Da dieselben ungeheuer viele verschiedene
Sprachen sprechen, wird in Tschinuk, der gewöhnlichen
Umgangssprache zwischen Weißen und Indianern und
zwischen Indianern verschiedener Stämme gepredigt. Dieser
Jargon hat sich zur Zeit, als die Hudson Bay Company
ihre Forts an der Küste anlegte, entwickelt. Der Wortschatz
enthält viele Wörter aus dem eigentlichen Tschinuk, das von
einem fast ausgestorbenen Stamme am unteren Kolumbia-
Flusse gesprochen wird, auch aus der Sprache der Indianer
der Westküste von Vancouver Island, aus dem Englischen
und Französischen, stammen viele Wörter. Es wird von
Oregon bis Alaska, von dem Kamm der Felsengebirge bis
zur Küste gesprochen. Der Jargon ist so hoch entwickelt,
daß die Indianer häufig Lieder in demselben komponieren,
die dann eine weite Verbreitung erlangen. So singen sie
voin Kunspa, Ka tenas Tdotchman pe ienas Whiskey
mitlait, d. h. in Queensborough (Kunspa), wo es hübsche
Mädchen und ein wenig Whiskey giebt. Oder sie singen:
Okok naikas au
Mamuk sick naika tumtum.
Yeke iskum naikas sweatheart
Kakoa naika cly okok sun,
d. h. jener, mein Bruder, hat mein Herz betrübt gemacht,
er nahm mir meine Liebste, darum weine ich heute.
Der Wortschatz des Tschinuk ist allerdings nicht reich,
doch ausreichend, um dem Bedarfe des täglichen Lebens zu
genügen. Man könnte sogar gewisse grammatische Regeln
für diesen Jargon auffinden. So z. B. wird der Imperativ
durch die Form umschrieben: Es wäre gut, wenn du dieses
.oder jenes thätest; das Präteritum wird ausgedrückt durch:
als er fertig war mit . . . . u. s. w. Schwierig ist es
dagegen, abstrakte Ideen durch den Jargon zum Ausdruck
zu bringen, und daher tönen die Predigten in demselben
ganz wunderlich.
Wir wenden uns nun dem Hafen zu. Derselbe sendet
einen schmalen Arm mehrere Kilometer weit nordwestwürts.
In der Nähe der Stadt ist dieser Arm sehr schmal, verbrei-
tert sich aber nahe seinem Ende zu einem weiten Becken.
Der enge Eingang zu demselben, durch welchen die Ebbe
und Flut in heftiger Strömung schießt, ist ein beliebtes
Ziel für Ausflüge von Victoria aus. Wenig westlich der
Stadt ist der Meeresarm überbrückt. Der Weg führt
durch schöne Fichtenwälder zur Eisenbahnstation, von der
aus täglich Züge nach dem großen Kriegshafen Esgnimalt
und nach der Bcrgwerksstadt Nanaimo abgehen.
An der Südseite des Fjordes, der den Hafen der Stadt
Victoria auf Vaucouver bildet, führt ein Fahrweg zu der
nahe gelegenen Reservation der Songisch-Indianer, denen
ich gleich am Tage meiner Ankunft in Victoria einen
Besuch abstattete. Das Jndianerdorf besteht aus einigen
großen, alten Häusern und einigen wenigen kleineren, im
europäischen Stile erbauten. Die Häuser stehen 30 bis
40 Schritte vom Strande, welcher stellenweise ziemlich
steil abfüllt. Am Ufer liegen Kähne, die ans einem
Baunlstamme ausgehöhlt sind, und mannigfache Fischer-
geräte, Netze, Angeln, Angelschnüre, Harpunen und Fint-
keulen. Die größten Häuser sind etwa 50 bis 60 Schritte
laug und 15 Schritte breit. Die Wände derselben be-
stehen aus schweren Brettern, welche gewiß zum Teil
noch vor der Einführung eiserner Werkzeuge gemacht sind.
Dieselben sind mit Keilen aus Baumstämmen heraus ge-
spalten und roh geglättet. Das Gerüst, an welchem
diese Bretter befestigt sind, besteht aus schweren, geschnitzten
Pfosten, die einen starken Querbalken tragen. Dünnere
Pfähle sind an der Innen- und Außenseite der zu errichten-
den Wand eingerammt und zwischen denselben werden die
Bretter mit Seilen ans Zederbast befestigt. Die vom Meer
abgewandte Wand des Hauses ist niedriger, so daß das
Dach uach derselben abfällt. Das Dach besteht aus Brettern,
welche lose ans Balken aufgelegt sind. Ein solches Haus
wird von sechs oder mehr Familien bewohnt, die je einen
Abschnitt desselben inne haben und ihr eigenes Holzfeuer
unterhalten. Der Ranch steigt zwischen den Brettern des
Daches auf, die gewöhnlich gerade über dem Feuer etwas
geöffnet werden. Im Winter werden die Abteilungen
77
Prof. F. Boas: Ein Besuch i
durch Matten voneinander getrennt. Ebenso werden die ;
Wände mit Matten, aus Binsen gefertigt, behängt, um das
Haus warm zu halten. Rings um das Hans lauft eine
niedere Bank, auf welcher sich die Bctteu befinden. Eine
lange Binsenmatte, deren oberer Theil aufgerollt bleibt und
als Kopfkissen dient, ist die Unterlage des Bettes. Felle
oder wollene Decken dienen als Bettdecke. An der höheren
Wand läuft gewöhnlich eine Galerie entlang, auf welcher
die Wintervorräte aufbewahrt werden. Die Hausthüren
befinden sich an den Schmalseiten, doch ist mitunter ein
dritter und vierter Eingang an der Vorderseite angebracht.
Neuerdings sind in einige Häuser Fenster eingesetzt, doch
ursprünglich fiel Licht nur durch das Dach ein, indem man
Tags über einige Bretter zur Seite schob.
Einige wenige Indianer haben sich in europäischen
Häusern von der Küste entfernt niedergelassen und treiben
Ackerbau, die größere Zahl derselben lebt aber noch wie
früher vom Fischfang. Sie verkaufen einen Teil ihrer
Beute an die Fischhändler in Victoria.
Die Nähe der Stadt hat auf die Songisch einen höchst
verderblichen Einfluß ausgeübt. Trotz der strengsten Strafen
und Verbote wird heute noch ziemlich viel Branntwein von .
ben Indianern verbraucht. Alle die schädlichen Einflüsse,
welchen die Indianer der Küste nur vorübergehend aus-
gesetzt sind, alle Verlockungen der Stadt wirken beständig
ans die Songisch und machen sie zu einem der armseligsten
Stämme der ganzen Küste. Die Bemühungen der Missio-
uare um diesen Stamm sind fast ohne jeden Erfolg gewesen,
und eine Kirche nach der andern hat sich von ihnen abge-
wandt und dankbarere Arbeitsfelder aufgesucht.
Eine Fahrt zu dem dem Hafen gegenüberliegenden Ufer
bringt uns in den schmucksten Theil Victorias. Hier liegen
die Villen der Reichen von hübschen Gärten umgeben. _ Ein
kurzer Spaziergang bringt uns an das llfcr der offenen
See, von der aus wir die herrlichste Aussicht auf die Olym-
pia» Range und den Mount Rainicr genießen. Das
Meeresufer besteht aus Gestein, das in steiler Böschung ab-
fallt. Ein Weg zieht sich hier nahe dem Ufer entlang.
Am Fuße der Böschung liegen gewaltige Stämme von
Treibholz, das hier vom Meer angeschwemmt ist. Wenig
weiter östlich erhebt sich das Ufer ein wenig und hier ist
umn im Begriffe einen Park anzulegen, der, wenn vollendet,
seines Gleichen suchen dürfte. Von einem Hügel aus blickt
Ulan über die Sec und auf die bewaldeten Hügel der Insel.
Hier und da erheben sich herrliche Fichten, die letzten Über-
reste des undurchdringlichen Urwaldes. Am Fuße des
Hügels zieht sich eine schöne Allee hin, wo Sonntags nach-
Ulittags die Bewohner Victorias ihren Korso abhalten.
Der Charakter der Stadt ist grundverschieden von deni
der amerikanischen Städte an: Puget Sunde. Die Kauf-
leute sind bequemer und ruhiger als ihre amerikanischen
Nachbarn. Die Kleingeschäfte werden erst spät morgens
geöffnet und früh wieder geschlossen. Die politische Ver-
bindung mit Kanada hat das Wesen der Stadt noch aus-
gesprochener englisch gemacht, als dasselbe früher gewesen zu
sein scheint. Charakteristisch für die Anschauungen der Be-
wohner Britisch Kolumbiens ist der Ausspruch, welchen ein
angesehener Kaufmann mir gegenüber machte. Er sagte:
«Niemand kann besser gestellt sein, als wir Kanadier. Wir
genießen den Schutz Englands, ohne irgend welche Ver-
pflichtungen gegen dasselbe zu haben." Eigentümlicher
Weise hat sich die aus den Vereinigten Staaten einge-
wanderte Bevölkerung, welche einen starken Bruchteil der
Gesamtbevölkerung bildet, diesem Wesen rasch anbequemt,
obwohl eine nicht unbedeutende Partei der Provinz in den
letzten Jahrzehnten den Anschluß an die Vereinigten Staaten
Victoria aus Vancouver.
befürwortet hat. Es ist außerordentlich merkwürdig, den
Unterschied zwischen dem rastlosen Treiben in Seattle oder
Toscana und der Stille in Victoria zu vergleichen, obwohl
die Städte so nahe bei einander gelegen sind.
Von großer Wichtigkeit für die Entwickelung Victorias
und der ganzen Küstenprovinz ist der hohe Zoll, welcher
auf amerikanischen Produkten ruht. Seit Vollendung der
Pacific-Bahn begünstigt derselbe den Absatz von Ackerbau-
produkten ans den Nordwestprovinzen an der Küste/ doch ist
die Fracht so hoch, daß trotz des Zolles Mehl und andre
Produkte vom Puget Sunde aus eingeführt werden. Acker-
banfähige Gebiete von großer Ausdehnung sind auf Van-
couver Island nicht vorhanden. Selbst wo der Boden sich
für Ackerbau eignet, ist derselbe von so dichtem Urwalde
bestanden, daß das Klären desselben höchst mühsam und
kostspielig ist. Die Kolonisten schätzen die Kosten der Urbar-
machung eines Acre auf 100 Dollars. Dann bleiben die
Stümpfe der Bäume stehen und werden erst nach einer
Reihe von Jahren, wenn die Wurzeln zu verfaulen be-
ginnen, entfernt. Das Holz hat nur den Wert als Brenn-
holz. Andre Teile der Insel könnten nur durch Entwässe-
rung bebaubar gemacht werden. Die Sanitch Halbinsel,
auf deren Südspitzc Victoria liegt, und die größeren Fluß-
thäler im südlichen Teile der Insel sind die wichtigsten
Ackerbaugebiete. Im Norden von Victoria wird ziemlich
viel Hopfen gezogen. Obst und Gemüse wächst in Hülle
und Fülle, ebenso ist der Viehstand gut. Getreide wird
dagegen in großen Mengen eingeführt. Auf der Küste
des Festlandes ist nur das Delta des Fraser River anbau-
fähig. Von großer Bedeutung versprechen die Kohlenmincn
von Nanaimo zu werden, welche für die englischen Gebiete
ebenso wichtig sind, wie die des Puget Sundes für die Ver-
einigten Staaten. Die Kohlenlager dehnen sich noch weiter
nördlich aus, doch haben sie sich daselbst nicht ebenwürdig
erwiesen.
Von großem Werte sind die Waldungen der Küste, doch
wörden dieselben leider rücksichtslos ausgebeutet. Das Holz
dient vor allem als Bauholz und wird über den Kamm der
Gebirge iiu die holzarmen Nordwest-Provinzen ausgeführt.
Ebenso eignet dasselbe sich vorzüglich für den Schiffsbau,
während zähes, elastisches Holz, das zu Werkzeugen geeignet
ist, fast ganz fehlt. Das Holz wird die Flüsse hinabgeflößt
und in großen Sägemühlen verarbeitet.
Tie meisten Flüsse sind reich an Lachsen, die in großen
Mengen gefangen und eingemacht werden. Die bedeutend-
sten Lachspackcreicn finden sich am Fraser River und an der
ganzen Küste bis nach Alaska zerstreut. Der Fischreichtum
der See wird noch nicht systematisch ausgenutzt, doch werden
neuerdings Versuche zu diesem Zwecke gemacht. Steinbutten
und verschiedene Arten Dorsche sind die wichtigsten dieser
Fische, welche in besonders großen Mengen auf den Fisch-
bänken nahe dem Nordende von Vancouver Island lind
westlich der Königin Charlotte-Inseln vorkommen. Neuer-
dings ist von einer Firma in Victoria, Deutschen, ein Ver-
such mit dem Walfischfang gemacht worden.
Seit Vollendung der Pacific-Bahn ist eine neue Stadt,
Vancouver, am Endpunkte der Eisenbahn, am Burrad Inlet
entstanden. Dieselbe wächst rasch heran, und droht seit
Eröffnung der transpacisischcn Dampferlinien eine gefährliche
Nebenbuhlerin Victorias zu werden. Wenn dieselbe aber
auch als Importhafen für Kanada von Bedeutung werden
dürfte, so genießt doch Victoria den Vorzug einer leichteren
Verbindung mit den Bereinigten Staaten, und ist in höherem
Grade ein Mittelpunkt für die besiedelungsfähigen Teile
der Küste, als Vancouver, so daß die Bedeutung Victorias
als Provinzialhauptstadt kaum gefährdet erscheint.
1 —
78 Die Schiffbarkeit des Niger. — Die Bedeutung des Wortes „Tabak".
Die Schiffbarkeit des Niger.
In Nr. 14 der Comptes rendus 1890 der Geogra-
phischen Gesellschaft in Paris finden wir eine interessante
Stndie des bekannten Lieutenants Caro n über die Schiffbar-
keit des Niger zwischen Sansandig, dem Stützpunkte der
Franzosen am oberen Niger, und Say (Ssai) in Sokoto,
der wir das Folgende entnehmen.
Dieser Teil des Flusses ist erst einmal in seiner ganzen
Ausdehnung befahren worden, und zwar 1805 von Mungo
Park mit einem großen Boote, welches er sich in Sansandig
erbaut hatte und mit welchen: er glücklich bis Bussa gelangte,
wo er in den Stromschnellen verunglückte. Die Schiffbarkeit
selbst für ein ziemlich großes Boot ist somit erwiesen, wenig-
stens für die Zeit des höchsten Wasserstandes, es gilt aber
die günstige Zeit für die verschiedenen Teile des Flusses
genauer festzustellen, denn der Niger ist in dieser Hinsicht
ein äußerst launenhaftes Gewässer. Die letzten Hindernisse
für die Schiffahrt iin Oberlaufe liegen in nächster Nähe von
Bammaku: die Schnellen von Sotuba und wenig weiter
die von Tulimandio; beide sind nicht unbedingt unpassierbar,
aber immerhin gefährlich; bei Sotuba ist erst kürzlich das
Kanonenboot „Niger" zu Grunde gegangen. Bei Bammaku
fällt nach den seitherigen Beobachtungen die Zeit des nieder-
sten Wasserstandes in die erste Maihälfte; Anfang Juni
steigt der Fluß schon beträchtlich und wächst weiter, bis er
im September seinen höchsten Stand erreicht. Im August
uud September sind die Schnellen von Sotuba passierbar, die
von Tulimandio auch im Juli und Oktober. Vom Septem-
ber ab fällt der Fluß langsam; für flächgehende Kanonen-
boote bleibt er schiffbar bis Mitte Dezember.
Von Tulimandio ab bis Timbuktu liegen keine weiteren
Stromschnellen, aber von Diafarabe ab ändert sich das
Regime des Flusses sehr erheblich. Steigen und Fallen
hängt am Niger, wie überall, ab von der Zeit und der
Menge des Regenfalles innerhalb des Beckens und von dem
von oben kommenden Hochwasser. Im allgemeinen ver-
zögert sich am oberen Niger, da der Regenfall von Süden
nach Norden abnimmt, das Eintreten des Hochwassers in
dieser Richtung, denn die Flut wird hier wesentlich nur durch
den Zufluß vom oberen Teil des Flusses her bedingt. Bei
Tiinbuktn beginnt das Steigen erst Anfang Juli, der höchste
Wasserstand wird aber erst Anfang Januar erreicht; die
Verspätung beträgt also für jeden Brcitegrad nordwärts einen
vollen Monat. Die Höhe des Steigens hängt wesentlich von
der Breite des Flutbettcs ab; während bei Bammaku der
Fluß 8 ni steigt, dehnt er sich am See Dheboe auf beinahe
100 km in der Breite aus, ohne wesentlich zu steigen;
Fahrzeuge von über 2 m Tiefgang finden hier selbst bei Hoch-
wasser Schwierigkeiten. Die französischen Kanonenboote
können indes auf der ganzen Strecke zwischen Kulikoro und
Koriume, dem Hafen von Timbuktu, mit voller Sicherheit
bei Tag und bei Nacht fahren, ohne einen Lotsen nötig zu
haben, und finden bis Kura, 60 km vor Koriume, auch stets
genügendes Brennmaterial.
Den Niger unterhalb Timbuktu haben bis jetzt nur zwei
Europäer kennen gelernt, Mungo Park uud Barth.
Letzterer ist dem Fluß im Juni oder Juli entlang gezogen,
also zur Zeit seines niedersten Standes, wo alle Schranken
sichtbar waren. Nach seinen Berichten beginnt erst bei der
Insel Zamgotz unter 3" westlicher Länge ein felsiges Gebiet,
welches der Schiffahrt Hindernisse bereitet. Bei Tinalchideu
ist der Strom ans eine Breite von 230 m zusammengedrängt
und schießt mit rasender Schnelligkeit dahin. Indes hat
Mungo Park diese Stelle, allerdings im Dezember oder
Januar, zur Zeit des höchsten Wasscrstandes, ohne Unfall
passiert. Ähnliche Engen sind bei Tinscherifen und bei Tosayc,
wo der Niger nur 140 m breit ist; doch glaubte schon Barth,
daß genügend stark gebaute Dampfer besonders mit Hilfe
von Ketten und Tauen, diese Schnellen ganz gut würden
überwinden können. An der Insel Adarnhaut scheint nach
Barth bei niedrigem Wasserstande ein förmlicher Wasserfall
vorhanden zu sein, indessen traf der Reisende dort ein mittel-
großes Boot, das auf der Reise von Goyo nach Bamba
war, es muß also die Fahrt selbst im Juli möglich sein.
Von hier ab ist der Fluß wieder für einen Brcitegrad völlig
offen und frei von Hindernissen, aber jenseits Goyo beginnt
ein neuer gefährlicher Felsendistrikt. Bei Tazori erstreckt sich
eine Reihe Felsen quer durch den Fluß, doch sah Barth hier
am 13. Juli noch einen kleinen passierbaren Kanal; 1400 m
weiter abwärts folgen die gefürchteten „Eisenthore" von
Akarambay, wo der westliche Arm des Flusses zwischen zwei
steilen Felsen nur 36 m breit ist; bei Jkeriziden war der
Fluß am 16. Juli vollständig unfahrbar. Ein weiterer sehr
gefährlicher Punkt ist am Kap Em'n-ashib, wo Barth im
westlichen Arme einen Fall von 18 Fuß Höhe bemerkte;
auch bei Ayoru und an der Insel Kendaji finden sich be-
deutende Hindernisse. Von Garn oder Sinder bis Say ist
dagegen der Fluß wieder frei.
Bei Hochwasser sind, wie Mungo Park erwiesen hat, alle
diese Stromschnellen passirbar. Die Zeit der Hochflut ist
für diese Gegenden nicht genau bekannt, aber da der Niger
hier keinerlei Zuflüsse von Bedeutung erhält, steht anzunehmen,
daß der höchste Stand bei Jkeriziden Mitte Dezember erreicht
wird, also zu einer Zeit, wo der obere Niger schon sehr rasch
fällt. Der 15. Dezember ist für Uamina der äußerste Termin
der Schiffahrt für Fahrzeuge von der Art der französischen
Kanonenboote. So bleiben also höchstens vier Wochen,
vielleicht nur 14 Tage, während deren die Schiffahrt auf
der ganzen Strecke von Uamina bis Say und umgekehrt
möglich ist; ein starkes flach gebautes Dampfschiff müßte also
täglich mindestens eine Schnelligkeit von 10 Meilen ent-
wickeln können, um die ganze Strecke innerhalb der günstigen
Zeit zurücklegen zu können, dabei müßte cs groß genug sein,
um die ganze auf der Strecke von Tinscherifen bis Kurv
nötige Holzmasse laden zu können, denn auf dieser ganzen
Strecke (250 Miles) giebt cs keinerlei Brennstoff. Nur mit
einem solchen Fahrzeuge, ähnlich denen, wie sic auf dem
Roten Flusse in Tonkin laufen, wäre es möglich, in demselben
Jahre von Uamina nach Say uud wieder zurück zu gelangen.
Mit den heute auf dem Niger schwimmenden Kanonenbooten
würde man im allergünstigsten Falle hoffen können, strom-
auf noch bis nach Macina, halbwegs zwischen Timbuktu und
Bammaku zu gelangen und müßte dort das Steigen des
Flusses abwarten. Da es aber für die Ausschließung des
Sudan eine Lebensfrage ist, den Gulbi n'Sokoto zu erreichen
und von da einen Weg nach dem Tsad zu finden — che die
Engländer diesen vom Benne her erreichen —, hält es Caron
für unbedingt nötig, zunächst mit Murinu, dem Scheikh von
Macina, zu einer Verständigung zu gelangen, und sich diese
wichtige Etappe zu sichern. Ko.
Die Bedeutnng des Wortes „Tabak".
Aus dem nachstehend Mitgeteilten wird man erkennen,
wie eine oft seit langem angenommene Etymologie unrichtig
sein kann. Daß der Name nicht von der Insel Tobago oder
der mexikanischen Stadt Tabasco stamme, war längst bekannt.
Dagegen galt als richtig die Erklärung Oviedos, der Name
Tabak komme von dem Gerät, durch welches die Eingeborenen
der Insel Haiti zur Zeit der Entdeckung den Rauch ein-
schlürftcn. Die Stelle lautet: Usaban . . . tomar unas
ahumadas, que llaman tabaco, para salir de séntiao.
Also sic gebrauchten Räucherungen, um sich zu betäuben, welche
Aus allen Erdteilen.
79
sie tabaco nannten. Er beschreibt auch das Gerät, dessen
sie sich hierzu bedienten, und giebt in seinem 1535 zu Sevilla
gedruckten Werke auch die hierbei stehende Abbildung desselben.
Der Stamm des Instrumentes sollte in den Rauch gesteckt
worden sein, der dann durch die beiden Zweige mit den
Nasenlöchern eingeschlürft wurde. Dieses Gerät und nicht
die Pflanze, sagt er ausdrücklich, heiße tabaco. Es sei ein
schlimmes Laster («st« vicio muy rnalo), fügt er hinzu,
welches bereits von einigen Spaniern und Negersklaven an-
genommen worden sei.
Unser Landsmann Dr. A. Ernst in Caracas, welcher
diese Stelle einer Kritik unterzieht (Am. Anthropologist II,
139), zeigt nun ganz richtig, daß das hier abgebildete In-
strument durchaus nicht zum Rauchen dienen konnte, sondern
daß es ein noch heute bei verschiedenen südamerikanischen
Stämmen wohlbekanntes Gerät znm Schnupfen sei, durch
welches ein Schnupfpulver (niopo, parica) in die Nasen-
löcher eingeblascn wird. Oviedo hat daher wohl nur nach
Hörensagen berichtet, wenn cs auch stimmt, daß das Gerät
tabaco oder taboca geheißen hat. Die
Haitier, von denen die Rede ist, schnupften
daher wohl mit der taboca. Das Wort
aber stammt aus der Guaranisprache und
bedeutet dort ein bambusartiges Gras, dessen
Stengel zur Anfertigung des Gerätes dien-
ten. Parica und Niapa, das eingeschlürfte
Schnupfpulver, ist kein Tabak, sondern
wird aus der: Hülfenfrüchten eines Baumes
(Piptadenia) bereitet. Die Muras und
Manhäs am Amazonenstrome besorgen dieses Schnupfen auch
durch einfache Röhren aus den Knochen des Tapirs, wie
Martins angiebt.
Was nun die Haitier betrifft, bei denen Oviedo das
Gerät schildert, so haben diese wohl Tabak geschnupft, doch
kommt bei ihnen für das Pulver auch bei Las Easas
(Historia de las Indias, Madrid 18/6, \, 469) das
Wort cohoba, coioba, coiiba vor, dessen Guaraniursprnng
Gruft nachweist.
Wie kommen nun diese beiden Guaraniwörter taboca
^ud cohoba nach den Antillen, denn die Guarani sind
Stämme des südamerikanischen Festlandes, Brasiliens? Es
entsteht hier eine ethnographische, mit dem Worte verknüpfte
Frage, die Dr. Ernst 'zu lösen versucht. Nach Las Easas,
sv führt er aus, wohnten im nördlichen Haiti die Ciguayos
und Mazoriges, welche eine von den übrigen Bewohnern
der Insel verschiedene Sprache redeten. „Die Ciguayos,
erzählt Las Easas, trugen ihr Haar lang, wie in Kastilien
8
die Weiber." Cig bedeutet aber im Guarani abschneiden,
stutzen und ly ist die Verneinung, so daß hiermit also, genau
wie Las Casas erzählt, ein Stamm bezeichnet ist, der die
Haare nicht abschneidet. Das Gold bezeichnete dieses Volk
nicht mit caona, wie die Kariben, sondern mit tnob, dem
Guarani itayub, d. h. gelber Stein. Und was die Mazoriges
betrifft, so läßt sich ihr Stammesname gleichfalls aus dem
Guarani als „Wasseräugige" deuten.
Es wohnten also sicher Völkerschaften von Guarani,
d. h. südamerikanischem, Ursprünge neben den Kariben aus
der Insel Haiti. Diese Guarani waren mit dem Schnupf-
pulver bekannt und besaßen ihre tabocas oder Schnnpf-
röhren; sie schnupften, ober rauchten nicht.
Indessen giebt es noch ein älteres Zeugnis für das
Tabakrauchen, aus welchem ein andrer Ursprung für das
Wort abgeleitet werden kann. Am 6. November 1492
bringt das Tagebuch des Kolumbus den ersten kurzen Be-
richt über das Zigarrenrauchen. Las Casas berichtet aus-
führlicher, daß zwei Männer damals vom Admiral ausgeschickt
waren, um das Land (Cuba) auszukundschaften, und diese
berichteten, „daß sie viele Indianer gesehen hätten, welche
Fenerbrände in ihren Händen trügen und gewisse trockene
Blätter eingewickelt in ein andres trockenes Blatt, wie die
Papierflinten, welche die Kinder sich um Ostern machen.
An einem Ende waren diese Rollen angezündet, am andern
sogen die Indianer, um den Rauch mit der Luft einzuziehen,
wodurch sie wie berauscht wurden; sie sagten, es nähme ihnen
die Müdigkeit. Diese Flinten, oder wie sonst der Name sein
mag, nannten sie tabacos".
Hier ist also eine deutliche Schilderung des Zigarren-
rauchens, wie es heute noch im Gebrauch ist. Aber das Wort
tabaco bezeichnete keineswegs die heute allgemein so genannte
Pflanze. Um es nun zu erklären, und zwar aus der Sprache
der Arrawaken, welche die Antillen bewohnten, greift Dr. Ernst
zu einer Hypothese. Er sagt: Nehmen wir an, die Boten
des Kolumbus fragten die ihnen begegnenden rauchenden
Indianer, auf die Zigarren deutend: Was ist das, wie
nennt ihr das? wobei sie wohl die Geberdensprache gebrauch-
ten. Dann war die Antwort: „Ich rauche." Diese Redens-
art lautet im modernen Arrawakisch dattukupa von attukun,
saugend essen, das im Verein mit yuli, dem arrawakischen
Worte für Tabak, für Rauchen gebraucht wird. Auch der
gemeine Spanier sagt noch heute chupar tabaco, Tabak
saugen. Durch Transposition, die bei der arrawakischen
Sprache vorkommt, entstand aus dattukupa nun dattupakn,
wobei die erste Silbe dat einen dumpfen. Ton hat. Es
bleibt tupakn übrig, woraus unser Tabak entstand.
Aus allen Erdteilen.
— Das Bad der Königin von Madagaskar am j
Neujahrstage, in der Howasprache Fandróana genannt,
ist diesmal bereits in sehr zivilisierter Form vorgenommen
worden. Die alte Volkssitte, welche vom König Ralambo
eingeführt wurde, demselben, dem die Überlieferung nachsagt,
er habe die Entdeckung gemacht, daß Rindfleisch gut schmecke,
wurde im königlichen Palaste gefeiert. Einheimische Musikanten
mit ihren altertümlichen Instrumenten spielten, die Vertreter
der königlichen Familie und der Armee waren zugegen und
inmitten der großen Halle brodelten zahlreiche Töpfe mit
Reis. Dann erschien die Königin, um sich zu baden. Es
lieschah dieses in dem heiligen nordöstlichen Winkel ihres
Palastes in einer silbernen Wanne, während ihre Dienerinnen
Lambas (Tücher) rings um dieselbe hoch hielten, damit sie
uicht sichtbar sei. Gleichzeitig feuerten die Kanonen den
königlichen Salut ab. Dann erschien die Königin mit einem
Horn, gefüllt mit dem Badewasser und besprengte unter
Segenswünschen mit demselben alle Anwesenden; der Reis
wurde verteilt, wieder ertönten Kanonenschüsse und das neue
Jahr hatte begonnen.
So war es noch vor einigen Jahren, wie Sibree
(Madagaskar 318) uns mitteilt. Diesmal aber ist, wie
die „Débats“ berichten, wiederum ein Stück der alten Sitte
gefallen. Die Königin hat sich gar nicht gebadet, sondern hat
hinter einem Vorhänge nur die Kleider gewechselt, auch die
Anwesenden nicht mit Badewasser, sondern mit echtem
kölnischen Wasser von Johann Maria Farina bespritzt. Es
ist vom ethnographischen Gesichtspunkte ans notwendig, solche
kleinen Züge aufzubewahren, da sie den Verfall alter Sitten
kennzeichnen.
80
Aus allen Erdteilen.
— Eine politische Bewegung hat die Indianer
Kanadas ergriffen, welche zu Deseronto in Ontario am
24. November 1890 eine Versammlung abhielten, welche vier
Tage dauerte und an welcher Abgeordnete von 21 „Nationen",
darunter die Mohawks, Huronen, Algonquins und Abenakis,
teilnahmen. Sie richteten eine Bittschrift an den General-
gouverneur von Kanada, Sir F. Stanley, in welcher dieser
als „Bruder" angeredet und verlangt wird, daß ihnen ihre
alten nationalen Rechte und Zeremonieen unverkümmert bleiben
sollen. Heiden wollen sie nicht wieder werden, sie seien
mit der jetzigen Regierungsform nicht einverstanden, außerdem
seien sie nicht volle britische Untertanen, sondern nur Ver-
bündete Englands. Das republikanische Wahlen ihrer
Vorgesetzten passe ihnen nicht, sie wollten ihre alten erblichen
Häuptlinge als Regenten beibehalten. Sie selbst wollten
ihre eigenen Angelegenheiten führen und nicht dabei von
Regicrungsagenten abhängig sein. Die Jndiancrakte sei nie-
mals von ihrem großen Rate anerkannt worden. — Diese
Indianer reden allerdings noch ihre Muttersprachen, die
meisten aber auch schon englisch oder französisch. Eine sehr-
große Anzahl von ihnen besteht schon aus Mischlingen, die
Kleidung ist auch größtenteils europäisch und das große
Jndianerdorf (der Irokesen) Caughnawaga bei Montreal
unterscheidet sich kaum von einem armen kanadisch-französischen
Dorfe. Trotz dieser „Fortschritte" in der Kultur wünschen
die „Verbündeten" der Engländer wieder Rückkehr in alte
indianische Formen.
— Eine geographische Ausstellung wird mit dem
internationalen geographischen Kongreß vom l.bis 15. August
1891 in Bern verknüpft sein. Dieselbe wird drei Abteilungen
umfassen: 1. Schnlgeographie (Vorstand Prof. Brückner
in Bern); hier kommen Lehrbücher, Bilder, Globen, Wand-
karten, Schulatlanten, Schulpläne, methodische Schriften ge-
ordnet nach den drei Graden: Volksschule, Mittelschule, Hoch-
schule, zur Ausstellung. 2. Internationale Alpenknnde
(Vorstand Dr. Dubi, Präsident des Berner Alpenklnbs).
Diese Abteilung wird Bilder, Photographieen und Panoramen
aus den Alpen enthalten, Alpenkarten und Reliefs, die Alpen-
Litteratur, namentlich Reisehandbücher, Reisebeschreibungen,
Geographie und Wirtschaft der Alpen, die Veröffentlichungen
der Vereine, das Führerwesen, die Ausrüstung bei Berg-
besteigungen. 3. Geschichtliche Ausstellung der
Schweizer Kartographie (Vorstand Oberst Lochmann,
Direktor des eidgenössischen topographischen Büreaus). Dieser
gewiß höchst interessante Teil wird zunächst die Schweizer-
Kartographie bis zum Jahre 1780 umfassen; dann die
Übergangsperiode bis 1845 und endlich von da bis heute
die moderne Kartographie, darunter die Originalaufnahmen
und Knpferplatten der Dufourkarte.
— Französisch Guiana. H. Coudrean hat (Compt.
rendus Soc. géographique 1890, 434) mit großem Er-
folg den Quell fl uß des Oyapok erforscht. Seine Führer
verließen ihn in den Montagnes des Emerillons, doch gelang
es ihm, mit zwei treu gebliebenen Indianern und seinem
Gefährten Lavean ein Dorf der Oyambis am Katarakt
Enmaraña zu erreichen. Mit großer Mühe wurden am
Katarakt Mutnschi einige Ruderer angeworben, welche bereit
waren, den Gefahren der Regenzeit zu trotzen, verrufene
Burschen, die sich aber vorzüglich bewährten. Mit ihnen
erforschte Coudrean die sechs Quellflüsse Camopi, Jmpi,
Iarupi, Enreuponcigne, Mngarara, Motura und Doué und
nahm eine genaue Karte im Maßstabe von 1:100 000 auf;
nur der Camopi war früher aufgenommen worden. Das
Quellgebiet, noch im Anfange dieses Jahrhunderts wohl bc-
völkert, ist jetzt vollkommen menschenleer; mindestens noch
6000 Einwohner fanden Thiebaut und Leprieur, sie sind
sämtlich den Blattern und der Dysenterie erlegen. Diese
Krankheiten wüten heute noch; auf einer Fläche von etwa
30 000 Quadratkilometern leben höchstens noch einige Hundert
Seelen und ihre Zahl nimmt von Jahr zu Jahr ab. Zn
der großen Sterblichkeit kommt noch die Auswanderung nach
den südwestlichen Gebieten zum Stamm der" Caiconcianes.
Das Gebiet des oberen Oyapok scheint übrigens reich an
Gold und würde bald Einwanderer anziehen, wenn nicht
das Befahren der Flüsse durch die vielen Katarakte, von
denen der Reisende 40 verzeichnete, fast unmöglich gemacht
würde. Die Rückfahrt nach Cayenne wurde von ihm in
neun Tagen zurückgelegt. Er ist alsbald mit seinen Leuten
wieder nach dem Innern aufgebrochen und beabsichtigt dies-
mal, die Tumuc-Humac-Kette bis zum Qnellgebiet des Tape-
nahouy zu verfolgen und dem Appronague entlang zurück-
zukehren.
— An der ersten transkontinentalen Eisenbahn
Südamerikas sind nach langem Stocken die Arbeiten wieder
aufgenommen worden und im Jahre 1892 dürften die Kor-
dilleren des Aconcagua überschritten, Buenos Aires mit
Valparaiso durch die Eisenbahn endgültig verbunden sein.
Von der ganzen 1400 hm betragenden Strecke sind heute
1025 hm auf der Ostseite, 132 hm auf der Westseite der
Kordilleren, d. H. in Chile, hergestellt und es handelt sich nur
um die Vollendilng einer 242 hm langen Strecke, auf welcher
die Terrassierungsarbeiten auch schon gemacht sind. Auf circa
80 hm sind sogar schon die Schienen gelegt, aber die schwie-
rigste Aufgabe bleibt doch noch auszuführen: die Herstellung
des Überganges über die Kordilleren und die Durchbohrung
des Tunnels, vor allem des 5 hm langen Tunnels unter
dem „Paso de los Cnmbres" aus einer Höhe von 3138 m,
wohl die bedeutendste, welche bisher mittels Eisenbahnen er-
reicht wurde. Auf einem großen Teil der Strecke beträgt
die Steigung 8 Proz. uub kann nur durch Anwendung von
Zahnrädern, ähnlich wie bei der Brünig- oder Rigibahn,
überwunden werden.
— Ueber die Farbenabstufungen der Neger hat
Dr. Junker in seinen Reisen in Afrika (II, 305) seine Be-
obachtungen zusammengefaßt. Er ist zu dem Schlüsse ge-
kommen, daß die Hautfarbe für die Unterscheidung der ein-
zelnen Negcrvölker ein ganz unzuverlässiges Material ist.
„Ich schließe, sagt er, hier natürlich die extremen Fälle der
räumlich weit voneinander entfernten Völker ans, z. B. der
Schitlnk (von dunkelster Hautfarbe) im Vergleich mit den
lichten Mangbattn oder Waganda, die eine Bestimmung nach
der Farbe wohl zulassen. Dagegen sind mir unter den
dunkel gefärbten A-Sande sehr helle, mit fast ledergelber Haut
anfgestoßcn und anderseits wieder in Mangbattn auffallend
dunkel gefärbte Leute. Erwägt man aber, daß die Völker-
mischnng hier in weit ausgedehnterem Maße stattgefunden
hat, als man gewöhnlich annimmt, und daß ihre ausgleichende
Wirkung sich weit mehr an der Hautfarbe als an andern
Körpermerkmalen bethätigt, so ergeben sich notwendigerweise
zahlreiche Abstnfilngen der Hautfarbe. Die Farbenskala der
Negerhaut ist unendlich mannigfaltig und spielt vom tiefen
Schwarz, welches selten vorkommt, in mannigfachen Ab-
stufungen hinüber zum dunkeln Eisengrau, zur Farbe der
dunkeln Tafelschokolade und des gebrannten Kaffees, zum
lichten Havanuabraun, zum Braungclb des gegerbten Leders,
des Milchkaffees, ja ausnahmsweise bis zur hellen Haut des
Malaien. Die in der Mitte stehenden Schattierungen aber
sind die häufigsten."
Herausgeber: Dr. R. Andrée in Heidelberg, Leopoldstraße 27.
Druck von Friedrich View eg und Sohn in Braunschweig.
Bd. LIX.
Nr. 6.
Begründet 1862
von
Karl Andrer.
Druck und Wertcrg von
Mer-M HKàèe.
Herausgegeben
von
Richard Andrer.
Z-riebrich DUeweg & Sohn.
fli v it « „ f rf, „ Jährlich 2 Bände in 24 Nummern. Durch alle Buchhandlungen und Postanstaltcn <Qni
U II 11 j fl) Ul C t ß. zum Preise von 12 Mark für den Band zu beziehen. lOt/l.
Toten gebrauche der Jakuten.
Von Vasilij j)riklonski.
Nach der russischen Originalhandschrift von Friede. S. Krauß.
Die im nördlichen Dcile des Gouvernements Jakutsk
lebenden Jakuten teilen alle Krankheiten, von welchen ein
Mensch heimgesucht werden kann, in zwei Kategorien ein:
in solche, die man sich zufällig zuzieht und die bald ver-
gehen, so z. B. Schnittwunden, Verrenkungen u. s. w.,
bei denen man eine Heilung durch äußerlich angewandte
Mittel bewerkstelligen mag, sei cs durch Anwendung von
Kuhbutter, sei cs von Exkrementen, Kräutern oder durch
Einrenkung der Glieder n. s. w. Sonstige Erkrankungen
innerer Körperorgane, chronische Leiden, hauptsächlich ^Nerven-
leiden oder geistige Störungen sind Wirkungen eines Dämons
oder bösen Geistes. In solchen Fällen bleiben äußerlich
gebrauchte Arzneimittel erfolglos, denn sie können der Krank-
heit nicht zu Leibe. Nur allein der Schamane — „Ojun“ —,
der den Vorteil.hat, Beziehungen zur Geisterwelt zu unter-
halten, ist in der Lage, durch Vermittelung der Geister ent-
weder eine vollkommene Heilung oder wenigstens eine Er-
leichterung dem Kranken zu gewähren. Eigentlich leichtere
Krankheiten letzterer Kategorie, z. B. Augenleiden (äußere
Augenentzündung, Eiterung der Augenlider) können durch
eine unmittelbare kurze Anrufung der Dämonen geheilt
werden. Der Schamane sagt während zehn Minuten Be-
schwörungen her, starrt fest dabei den Kranken an und
spuckt ihm unerwartet und plötzlich in die Augen. Der
Kranke fährt erschreckt zusammen, der böse Geist (abagy
oder abassy) gerät in Schrecken und entflieht aus dem Leibe
des Kranken, worauf der letztere seine Genesung wieder
findet. Der Mensch verfällt ja eben nur darum in eine
Krankheit, weil sich ein böser Geist, ein Dämon bei ihm zu
Gast eingefnnden.
Dem zum Beistand herbeigerufenen Schamanen liegt cs
vor allem andern ob, den Namen des jeweiligen Geistes
festzustellen, weil doch jeder Geist nur die seiner Sippschaft
eigentümlichen Zustände verursacht und hervorruft; ferner
der Schamane herauszuklügeln, was für ein Opfer dem
Geiste dargebracht werden müsse, damit er, in gnädige
Stimmung versetzt, mit seinen Quälereien den Kranken
Glvbus LIX. Nr. 6.
verschone und in Ruhe lasse. Zu diesem Behufe vollzieht
der Beschwörer vor der Lagerstatt des Kranken ein Mysterium;
nach Anlegung seines Funktionsanzuges (kumä) nimmt er
seine Trommel (djugjur) in die Hand — das ist sein Weg-
geleiter und Führer durch die Unterwelt und durch alle sieben
Himmel — und ruft zur Hilfe auf die Geister seiner ver-
storbenen Vorväter und Verwandten, die Geister mächtiger
Schamanen, und durch deren vermittelnde Beihilfe läßt er
sich in die unterirdische Welt der Geister hinab und klimmt
an stark gedrehten Seilen von einem Himmel in den andern,
wovon er in seinen Mysterien oder Verzückungen singt, und
richtet an jeden Begegnenden die Frage: „wer ist der Geist,
der die Seele meines Schützlings in Gefangenschaft hält?"
Nach einer langwierigen Wanderung verschafft er sich Aus-
kunft über den ständigen Aufenthaltsort des Geistes; darauf-
hin werden weitere Mittel in Anwendung gebracht, um unter
Beteiligung der Protektoren des Schamanen Unterhandlungen
mit dem gefundenen Dämon anzuknüpfen.
Nachdem cs dem Schamanen schließlich geglückt, mit dem
Geist in Fühlung zu treten, so redet er sich ein, er stehe
unmittelbar vor der Persönlichkeit des Geistes, ergeht sich in
Lobeserhebungen über dessen Kraft, Macht und Bedeutung,
spricht sich ehrfurchtsvoll über seinen eigenen Beruf aus,
der darin gipfelt, der leidenden Menschheit zu helfen und
der Geisterwelt Ergebenheit und unerschütterliche Hochachtung
zu erweisen, und fleht den Geist um die Gnade an, seinen,
des Schamanen Schützling zu berücksichtigen, Erbarmen über
dessen Martyrium, über den trostlosen Zustand der Familie
zu empfinden und dessen Seele freizugeben, welche er, der
Dämon, in seiner Allgewalt habe. Die Unterhandlungen
des Schamanen mit dem Dämon sind nicht immer vom
erwünschten Erfolge begleitet; denn es hängt viel von der
Stimmung des Geistes ab. Man hält die Fürsprache für-
erfolgreich, wenn der Dämon bestimmt angiebt, welcher Art
Opfer man ihm darzubringen verpflichtet sei. Nicht selten
kommt es vor, daß der Schamane dem Dämon zuredet, sich
angesichts der in der Familie des Kranken herrschenden
11
82
Vasilij Priklonski: Totengebräuche der Jakuten.
Armut mit einer geringeren Gabe zufrieden zu geben und
daß er das geheischte Opfer, ein Füllen oder einen Stier auf
das Fell eines Polarhafen oder eines Polarfuchses herunter-
handelt. Über den Ausgang des Handels mit dem Dämon
verständigt dann der Schamane die ihn umgebenden Zuhörer,
worauf sie ihm das Sühnungsopfer zum Vollzug ausliefern ]).
deicht immer sind die Bemühungen des Schamanen von
Erfolg gekrönt; zuweilen will es dem Schamanen nicht ge-
lingen, den Krankheitsgeist sicher festzustellen, oder auch,
wenn er dies schon herausgekriegt, vermag er dessen augen-
blicklichen Aufenthaltsort nicht in Erfahrung zu bringen,
oder zum Schluß, die Unterhandlungen waren nicht im
stände, den fürchterlichen und grausamen Geist zu über-
zeugen, ihn zur Milde zu bereden und seinen Zorn in Nach-
sicht umzuwandeln. Bedingungslos ohnmächtig erweist sich
die Vermittelungskunst des Schamanen bei Pestilenzen und
Epidemieen (dzan). Der Dämon hält unablässig die Seele
(kut) des Kranken als Beute fest, nimmt von ihr endgültig
vollständig Besitz, trennt sie von ihrem Leibe und entflieht
mit ihr; der Leib des Kranken bleibt unbeweglich liegen und
hört auf zu atmen, und falls in kurzer Frist der grausige
Dämon nicht milde gestimmt wird, so kehrt die Seele nicht
mehr in ihren früheren Lebcnsaufenthaltsort zurück, die leib-
liche Hülle kühlt ab und geht der Verwesung entgegen.
Das Urbild des Todes ist der Schlaf; wenn der leibliche
Mensch im Schlafe liegt, so verläßt ihn die Seele, doch
schweift sie in nicht zu weiter Ferne vom Körper herum.
Derselbe Zustand kann sich auch einstellen in Fällen von
Ohnmacht, Fieberhitze und ln andern Krankheiten, wenn
der Mensch das Bewußtsein verliert; mit dem Ableben des
Menschen wird die Seele nicht sofort in das Machtgebiet
des Dämons hinübergetragen, vielmehr irrt sie noch während
voller drei Tage au jenen Orten herum, an welchen der
Verstorbene bei Lebzeiten geweilt, namentlich dort, wo er sich
hat Sünden zu Schulden kommen lassen. Der Leichnam,
d. h. der von der Seele verlassene Leib, erweckt bei den
Überlebenden Furcht und Entsetzen; denn im Verstorbenen
hauste ein böser Geist, der durch diese Tatsache allein schon
den Körper verunreinigt und desgleichen die Jurte, in welcher
der Mensch verschieden. Die Spuren des Aufenthaltes des
Abassy sind rundherum und au allen Gegenständen sichtbar;
daher verläßt die Familie des Verstorbenen diese Jurte für
immer und wandert an eine andre Örtlichkeit aus, oder im
günstigsten Falle erbaut sie sich eine neue Jurte in der Nähe
der im Stich gelassenen alten Behausung.
Den Verblichenen Pflegt man gewöhnlich am andern
Tag zu bestatten, d. h. nach der gegebenen Frist, wenn man
mit den Vorbereitungen zur Bestattung fertig geworden.
Der Leichnam wird gewaschen und mit den besten Kleidern
angethan, mit einem Pelze, einer Pelzmütze, mit ausgefütterten
Stiefeln und Handschuhen; in die Hand steckt man ihm eine
Pfeife und legt daneben einen uiit Tabak gefüllten Beutel
hin. War der Verstorbene ein Weidmann, so legt man
Bogen und Pfeile mit bei; war er geschickt im Ausweiden
der Tiere und der Gerbung von Fellen, so bekommt er die
Haudwerkzeuge mit, deren er sich bei seinen Verrichtungen
bediente; war er ein kundiger Bttrcnfänger, so versieht man
ihn für seine Grabreise mit einer Palma, nämlich mit einem
Stock, der in ein massives eisernes Endstück endet, mit einer
Lanze oder einem Hirschfänger. Ein Schmied wird mit
einem Werkzeug zum Ausbohren von Löchern — sugoltca —
und mit einem Hammer — clitie — versorgt. Mit einem
Taschenmesser (bygacb; bys jakutisch — schneiden) ver- l)
l) Über das Schamaneutum der Jakuten vql. Priklonskis
Untersuchung in den Izvestija Vostoc. 8 birsk. Otdjela Imp.
Russk. Geogr. Obs. Bd. 1, Nr. 1, u. 2, 1886. Deutsch von
Krauß. Wien 1887.
sieht man jeden Verstorbenen; denn von diesem Gegenstände
trennt sich auch bei Lebzeiten niemand.
Nur in äußerst seltenen Fällen schaffen die Verwandten
den Verstorbenen zur letzten Ruhestätte; in der Regel halten
sich unter den Eingeborenen eigene Leute auf, die man
Kjuvcß nennt, welche den Leichnam ankleiden, auf den Be-
stattungsplatz hinbefördern und bestatten. Diese bilden eine
eigene Gilde von Handarbeitern, eine Art von Leichcnbestattern,
und pflegen jedesmal mit den Angehörigen des Verstorbenen
über die Entlohnung für die Bestattung einen Preis zu
vereinbaren; gewöhnlich bedingen sie sich eine Kuh, einen
Stier oder das Pferd aus, dessen sich der Tote bei Leb-
zeiten zum Reiten bediente.
Die Jakuten und Tungusen hegen eine eigene Furcht vor
Kranken, denen der Tod offenbar bevorsteht. Die Gesunden
überlassen ihre Kranken ihrem Schicksal, ohne ihnen die ge-
ringste Hilfe zu gewähren. So haben, um nur ein Beispiel
anzuführen, die Bewohner der Insel Sagastyr an der Lena-
Mündung ihre Jurten samt den Kranken darin über den
Haufen geworfen und sind über einen Flußarm auf die
Insel Kytach übergesiedelt. Bei den Tschuktschen herrscht ein
davon etwas abweichender Brauch, der sehr bezeichnend ist
für deren im geringen Maße entwickelten Familiensinn.
Wenn ein greiser Mann die Wahrnehmung macht, daß seine
Kräfte zusehends verfallen und er den Leuten, in deren Mitte
er lebt, zur Last zu fallen anfängt, so wünscht er sich seiner
Qualen und der auf ihm wegen seiner Kraftlosigkeit lastenden
Verachtung zu entledigen und richtet an seinen ältesten Sohn
die Bitte, er möge ihn zu seinen Vorfahren entlassen; in
Erfüllung einer heilig gehaltenen Pflicht und Schuldigkeit
stellt der Sohn den Vater hinter einen Vorhang, um dessen
Todesqualen nicht mit anschauen zu müssen, wenn er ihm
mit fester Hand das Messer ins Herz stößt.
Den angekleideten Toten führt entweder ein Kjuvcß allein
oder in Gesellschaft einer seiner Gehilfen auf Schlitten fort.
Diese Schlitten, hölzerne Syyrgä, wie sie jakutisch heißen,
sind von alltäglicher Art, wie man sie in der Hauswirtschaft
zur Holzfuhr und sonstigen Ladungen gebraucht. Neue Schlitten
werden dazu nicht angefertigt. Es sind ja kaum dreißig
oder vierzig Jahre her, daß im jakutischen Lande mit
Rädern versehene Fuhrwerke in Gebrauch gekommen, und
noch jüngeren Datums ist, daß man Pferde als Zugtiere vor
die Wagen spannt. In früheren Zeiten war es Brauch,
daß, wer sich auf dem Rücken eines Pferdes nicht sitzend er-
halten konnte, z. B. Kinder und Kranke, Jahr aus Jahr-
ein auf Schlitten fuhren, die mit einem Ochsen bespannt
waren. Wohl sind nicht mehr als fünfzehn Jahre verflossen,
daß selbst vornehme Frauen der Jakuten in der Stadt Irkutsk
zur Sommerszeit ihre gegenseitigen Besuche auf Bauern-
schlitten, die nur mit Teppichen bedeckt waren, zu machen
aufgehört haben. Der Schlittenlenker sitzt aus dem Rücken
des Ochsen und hält in der Linken den Zaum, der an einem
hölzernen, dem Ochsen durch die Nüstern gezogenen Ringe
befestigt ist.
Das Grab oder Grabgerüste oder den Grabhügel er-
richtet der Kjuvcß. Es haben sich davon verschiedene Formen
bis auf die Gegenwart behauptet.
a) Man sucht im Walde vier astreiche Bäume aus, die
in kurzem Abstande untereinander ein Viereck bilden; zwei,
drei Ellen über dem Erdboden vereinigt man die Bäume
mit quer darüber gelegten Balken, und auf diese Balken legt
man den ausgehöhlten Baumstamm mit dem Leichnam. So
ein Grab wird Arangäs genannt. Im Notfälle, wenn man
sich sonst nicht zu helfen weis, ersetzt man den ausgehöhlten
Baumstamm durch eine Brettertruhe oder einen Kasten.
b) In jenen Regionen, wo der größte Waldmangel
herrscht, bestattet man den Toten auf der Erde; man legt
83
Vajilij Prrklonski: Totengebräuche der Jakuten.
den Leichnam in eine aus Birkenbast hergestellte Mulde o er
in eine ausgeholte Lodje (v^tlra) und überdacht litt
Brettern. Frühlingsregengüsse und der schmelzende Schnee
setzen diese Vytken unter Wasser, wofern sie nicht schon früher
im Laufe des Winters von gewöhnlichen und von ^tem-
snchsen und von anderen wilden Tieren, welche fech von
Leichnamen nähren, zerstört worden sind. „ .
c) Ilm diesem Übel vorzubeugen, stellt man rn den nor-
lich gelegenen Teilen des Landes die Truhe mit dem > ei y
nam auf Holzblöcken auf, die etwas über dem Sroboren er-
haben sind. Sonst werden auch noch an den liefen der
•........ behilflich
bei' guten Geister, sich zu erheben.
6) Die letzte Art der Bestattung ist die Bergung in
der Erde; man gräbt mittels Grabscheit und Spitzhacke ein
selten mehr als ein und eine halbe Elle tiefes Loch ans.
Das Erdreich im jakutischen Gebiete taut nicht tiefer als
eine halbe Elle hoch auf, an den Lena-Mündungen aber
bloß das Moos, welches mit einer Anzahl kleiner Wasser-
tnmpel besäet ist, auf deren Grund ewiges Eis liegt. Der
Brauch, den Toten in der Erde zu bestatten, ist zweifelsohne
unter dem Einfluß des Ehristentums in Schwung gekommen;
zum Beweis werden über solchen Gräbern Kreuze mit Ver-
schnörkelnngen in Schnitzarbeit und mit Ölfarben bestrichen
aufgestellt und das Ganze ist mit einer Verschalung umgeben.
Die Furcht vor einem Verstorbenen erreicht zuweilen
einen solchen Grad, daß alle Mitbewohner, ohne erst das
Ableben ihres Genossen abzuwarten, ans der Jurte flüchten.
erzählte mir erst jüngsthin ein alter, ehrenwerter Mann,
der bei Verstorbenen ans dem Psalter zu lesen pflegt, folgende
Begebenheit, die er selber miterlebt hat. Es kamen zu ihm
iu die Stadt (nach Jakutsk nämlich) zwei Jakuten und ver-
einbarten mit ihm, daß er noch einem Verblichenen den
Psalter lesen und den Leichnam bestatten solle. Sie führten
ihn bis zur Jurte, wo der Verstorbene auf einem Oron
(jakut.), d. h. einer Bettstatt oder einer Abteilung der
Schlafpritsche lag, öffneten ihm die Thüre und stießen ihn
in die Jurte hinein, sie selber aber versteckten sich. xUt der
Jurte befand sich sonst keine lebende Seele, doch war es
offenbar, daß sie kurz vorher von ihren Bewohnern ver-
lassen wurde. Nach Verlauf einer kleinen Weile warfen sie
ihm in die Jurte das Schenkelstück eines Rindes hinein. Es
wurde Nacht, in der Jurte erschien aber sonst niemand.
Holz und Wasser waren in Bereitschaft und der Psalter-
vorleser kochte sich ein Nachtessen. Am andern Lage öffnete
sich die Thüre der Jurte, und man stieß einen Sarg in der
Form einer rechtwinkligen Truhe hinein, durch die Fcnster-
öfsnung schrie man aber dem Alten zu, vor der Jurte stünde
der Schlitten mit dem Ochsen. Als zuletzt die Zeit kam,
den Verstorbenen in die Sargtruhe zu legen, ihn hinaus-
zutragen, auf den Schlitten aufzuladen, an den bezeichneten
Set zu fahren, den Sarg in das vorbereitete Loch hinab-
zulassen und das Grab zuzuscharren, so mußte dies alles der
ölte Mann allein verrichten. Die Jurte befand sich in einer
Wüstenei, wo weit und breit kein sonstiges bewohntes Objekt
zu sehen und niemand aufzntreiben war, den der Alte um
einen Helferdienst hätte angehen können. Der Alte kollerte
den Verstorbenen vom Oron in den darunter aufgestellten
Sarg hinab, zog den Sarg ans der Jurte hinaus, zerrte
'hll auf den Schlitten hinauf und als er mit der Ladung
am Bestattungsorte anlangte, ließ er, so gut er cs vermochte,
die Truhe in die Grube hinab. Zu diesem Begräbnis hatte
sich kein einziger von den Verwandten oder Bekannten des
Verstorbenen eingefnndcn. Wenn schon bei Bestattungen die
Leute weinen, so geschieht dies aufrichtig ohne Heuchelei,
ohne jede berechnende Absicht, z. B. so:
Wem hast du, o Vater und Ernährer, deine Waisen
überlassen? u. s. w.
Im allgemeinen weint man für sich im Stillen, damit
fremde Leute einen nicht beobachten. Man bemüht sich, über
den Verstorbenen nichts zu reden, namentlich nicht in der
Dämmerstunde, um nicht die Rückkehr des bösen Geistes,
der die Seele des Verstorbenen geraubt, heraufzubeschwören.
Von Totengedächtnisfeiern wußten die Jakuten nichts bis
zur Zeit ihres Übertritts zum Christentum, ja, auch gegen-
wärtig sind sie noch darauf bedacht, ein Grab oder Be-
gräbnisstätten zu umgehen. In der Umgegend des Dorfes
Kazaöje, unweit der Mündung des Jana-Flusses, hatte
ich eine Gelegenheit, zehn Werste von den Wohnstätten ent-
fernt das auf Bäumen befindliche Grab eines Schamanen
zu sehen. Der Ausflug zur Begräbnisstelle war mit be-
deutenden Schwierigkeiten verbunden. Ich konnte nur mit
Mühe die Leute dazu bereden, daß sie mir Renntiere und
einen Wegweiser zur Verfügung stellten. Durch den Einfluß
der Witterungswechsel war die Sargtruhe gänzlich zerfallen.
Erhalten war noch darin der Kopf mit den Haaren. Die
übrigen Gebeine waren höchstwahrscheinlich von vierfüßigen
wilden Tieren und von Vögeln verschleppt worden. Die
Metallplüttchen und Schmnckgegenstände, welche als Ver-
zierung des Gewandes gedient und die ich sowohl in der
zerfallenen Sargtruhe als auf dem Boden herum zerstreut
auffand, zeugten dafür, das der Verstorbene seinem Range
nach ein Schamane, und eine Hutschnalle, wie solche nur
von Frauen getragen werden, machte es wahrscheinlich, daß
der Leichnam der einer Schamanin gewesen sei.
Im Orte erteilte man mir die Auskunft, daß in jüngster
Zeit einzig und allein nur Schamanen auf Bäumen be-
stattet werden. Bei Lebzeiten waren ihre Bestrebungen nur
auf geistige Angelegenheiten gerichtet, weshalb sic auch nach
ihrem Ableben notwendigerweise näher gegen den Himmel
liegen müssen. Diese Vorstellung der Jakuten machte die
Schamanen noch immer nicht zu Himmelsbewohnern, sondern
verfolgte nur das Ziel, denjenigen nicht der Erde zu über-
mitteln, der bei seinen Lebzeiten bloß mit losen Banden mit
ihr verknüpft war. Alan bestattete sic im Walde, an einem
unzugänglichen Orte, damit man so selten als möglich durch
Zufall an ein derartiges Grabmal ankomme. So gut der
Schamane, ein zaubcrkundiger Mann, so lange er noch lebte,
die Gabe besaß, aus persönlicher Rachsucht einem ihm miß-
liebigen Menschen Leid zuzufügen, ebensogut kann nach seinem
Hinscheiden seine flügge gewordene Seele den Überlebenden
Ungemach bereiten. Kein einziger von den Ureinwohnern,
ja sogar nicht einmal einer von den eingeborenen Russen
würde sich erkühnen, der Grabstätte eines Schamanen nahe
zu kommen und noch viel weniger sic anzutasten.
Grabmäler in Holzkühnen (Lodjen), die auf Holzböcken
aufgestellt waren, hatte ich Gelegenheit auf der Insel
Sagstyr zu sehen. Die Leichname in allen den, beiläufig
zwölf Grabstellen lagen mit dem Kops gegen Nordwest und
auf der linken Körperseite; angekleidet und ausgestattet waren
sie so, wie ich dies früher oben geschildert; zu Füßen fast
eines jeden stand ein hölzernes Schüsselchen mit Grützbrei
und einem hölzernen Löffelchen. Die in den Lodjen Be-
statteten hatten ein Ruder und eine Schöpfkelle bei sich, von
jener Art, mit welcher Ruderer gewöhnlich das ins Schiff-
chen eingedrungene Wasser ausschöpfen.
Kinder werden ebenso wie Erwachsene bestattet, nur führt
man sie auf kleinen Schlitten fort und läßt sie in dem
Wieglcin liegen, in welchem das Kind aufwuchs und ver-
starb. Bei Grabstellen der Kinder kann man obenauf auch
deren Spielzeug liegen sehen.
11
85
Dr. M. Haberlandt: Die Litteraturen des Orients.
Den Schlitten, auf welchem man den Verstorbenen
befördert, die Schaufel, die Spitzhaue, mit der man das
Erdreich aufgerissen, zuweilen auch das hölzerne Kummet
des Ochsen, alles dies ließ man und läßt man noch bei
der Grabstätte liegen, mitunter vorsichtshalber in zer-
brochenem Zustande, und nichts von allem wird wieder
zurück heimgebracht. Cs geht die Sage, man habe bei
der Bestattung eines reichen Mannes im Grabe dessen
Pferd geschlachtet, das Fleisch aufgegessen, das Pferde-
geschirre aber aus der Grabstatt liegen gelassen; doch die
llreinwohner stellen mit aller Entschiedenheit die Wahrheit
der unter den Nüssen im Umlauf befindlichen Geschichten
dieser Art in Abrede, so z. B. auch die bekannte Sage, man
habe in alten Zeiten am Grabe des Verstorbenen dessen
Lieblingsdiener getötet, damit ihm letzterer im jenseitigen
setzen als Dienstbote Hilfe leisten soll.
Auf der Heimkehr vom Begräbnis zündete man auf dem
Wege Holzhaufen an und die Verwandten des Verstorbenen
springen, wie dies noch in der Gegenwart zu geschehen
pffegt, durch die lodernden Flammen hindurch, um sich vom
bösen Geist zu läutern und zu befreien, der sich in ihren
Kleidern eingenistet haben konnte während der Zeit ihrer
unausweichlichen Anwesenheit um ihren kranken Genossen.
Das Feuer oder der Dämon des Feuers An-darchan-
t°en oder Al-6t-iccitja ist der Schutz- und Schirmherr
bcs Heimwesens und aller unter einem Dache lebenden Per-
sonen. Das Feuer läutert alles, cs spendet Wärme, es hilft
die Nahrung zubereiten, es verbreitet Licht; die Gottheit des
Feuers halt sich auf der Wandbank oberhalb des Ofens auf
Uttd hat die Gestalt eines zwerghaften greisen Männchens
mit weißem Barte. Bei der Herstellung einer jeden Speise
ist es angezeigt, den ersten Bissen dieser Speise ins Oscn-
seuer zu werfen. Der böse Geist, fürchtet sich vor dem Anta,
und wenn daher die Verwandten des Verblichenen durchs
Feuer springen, so lassen sie den bösen Geist hinter sich
zurück. Wenn man wieder daheim ist, gedenkt man ches
~otcn, oder richtiger gesagt, inan bewirtet einander zu seinen
Ehren mit Fleisch, Salomata H, mit Thee und Branntwein.
Fu früheren Zeitläuften pflegte man auch zur Erinnerung
an den Verstorbenen aus Holz eine menschliche Gestalt nt
der Höhe von zwei oder drei sechszehntcl einer Elle zu schnitzen
ilud sie mit Tierfellen lind Glasperlen auszuschmücken.
Indem diese Darstellung an den Verstorbenen erinnerte,
stellte sie zu gleicher Zeit aitcf) den Geist vor, welcher den
Schutzherrn über die Seele des Verstorbenen inacht oder den
verstorbenen selber in dessen jenseitigem Leben bcschnmt.
Diese Puppe wurde aber keineswegs in der Jurte, somein
im Ehoton (jakut. die Hürde fürs Vieh) oder gar in einem
') Eine Mehlspeise, die aus Mehl, Käse und gebrannter (?)
Frucht bereitet wird.
hohlen Baume aufbewahrt, wo man ihr in kleinen Gefäßen
Brocken besserer Speisen hinstellte und ihr den Mund mit
Kuhbutter oder Thran bestrich, damit der Verstorbene ge-
sättigt werde, sein Schirmherr ihm aber den gewährten
Schutz nicht versage. Doch die Zeit, welche in ihrem
Laufe alles mit sich reißt, rückte auch diese Puppe von ihrer
Stelle, um, nach einem weiteren Verstorbenen, Raum für
die neue Gestalt zu schaffen, und die alte mußte sich mit
einer zweiten Stelle begnügen. Das Leben behauptete sein
Recht. Jeder Tag brachte seine neuen Eindrücke mit im
Geleite von Leiden und Freuden, das Ältere geriet in Ver-
gessenheit und wie alles in der Welt sind auch solche Er-
innerungen mit dem Gedächtnis der Menschen ohne Spur
und Laut im Dunkel der Vergangenheit verschwunden?)
i) Nachwort des Übersetzers. Herr Vasilij Pri-
klonski, der Berfasser dieser Studie zählt zu jener zwar noch
kleinen, doch auserlesen tüchtigen Schar russischer Ethnographen
oder richtiger gesagt Folkloristen, die durch ihre angeborene
Beobachtungsgabe, ihre gründliche, sachgemäße Vorbildung, ihren
unermüdlichen, selbst unter höchst ungünstigen Verhältnissen nie
erlahmenden Eifer, der Wissenschaft vom Menschen ersprießliche
Dienste erweisen. L-eit neun Jahren wirkt Herr Priklonski in
einer äußerst verantwortlichen hohen Stellung als russischer
Beamter in Ostsibirien^und ist alljährlich genötigt, viele Monate
hindurch die endlosen Strecken und Gebiete dieses halböden Erd-
teiles amtlich zu bereisen. Er hatffich eine allseitige und um-
fassende Kenntnis der jakutischen Sprache erworben und hat
dank seinem offenen, liebenswürdigen Auftreten im unmittel-
baren Verkehre mit den Ureinwohnern tiefe Einblicke in deren
Sitten, Gebräuche und Volksüberlieferungen gewonnen. Seine
zuvor in der Anmerkung gedachte Schrift über das Schamanen-
tum der Jakuten hat ihm auch in Europa und Amerika unter
den Fachgelehrten einen rühmlichen Namen verschafft. Ich selber
bin durch meine Übersetzung seiner Schrift mit ihm auch in
persönliche Beziehungen getreten. Der oben mitgeteilte Aussatz
war eigentlich für meine Monatsschrift für Volkskunde „Am
Ur-Qucll" berechnet.^ Im Interesse der Forschung hielt ich
es für nützlicher, die Studie im „Globus" allen Fachgenossen
zur Kenntnis zu bringen.
Erklärung der Abbildungen. (Seite 84.)
Fig. 1. Auf Baumstämmen ruhender geschlossener Sarg
(AranAa8) aus zwei kahnförmig ausgehöhlten Stammhülften.
Unten: Innere Ansicht (Bodenhälfte) des einbaumartigen
Sarges. Vom Grabe eines heidnischen Jakuten aus dem
Süden des Gouvern. Jakutsk. — Fig. 2. Schamanengrab
beim Dorf Kasatschje unweit der Janamündung. — Fig. 3.
Dachförmige Balkenvcrschalung eines modernen Erdgrabes
eines christlichen Jakuten (Gouvern. Jakutsk). — Fig. 4.
Heidnisches Jakutengrab im nördlichen Sumpfgebiet des
Gouvern. Jakutsk. Der Sarg aus Balken zusammengesetzt.
— Fig. 5. Schamanengrab im Walde aus jüngerer Zeit.
Nördlicher Teil des Gouvern. Jakutsk. — Fig. 6. Erdgrab
eines christlichen Jakuten von der Mündung der Lena.
Die Litteraturen des Orients.
von, ethnographischen Gesichtspunkte betrachtet von Dr. rn. haberlandt in wie».
Die allgemeine Litteraturgeschichte, welche, seit Goethe
>)as Morgenland dichterisch entdeckte, die orientalischen Litte-
raturen mehr und mehr kennen gelernt und in voller Aus-
führlichkeit dargestellt hat, ist naturgemäß stets vom künst-
ürischen und dichterischen Standpunkt bei ihrer Beurteilung
des " ' ' ~ '......Errcuanisse
!u)tU UN0 OlUJUTl|Ujlu ....
Gehaltes und Wesens jener fremdländischen Erzcugniss
^gegangen. Ihr war es um die Feststellung des poetischer
Wertes, des geistigen Gehaltes, um die Bekanntmachung
mit Form und Inhalt von dichterischen Leistungen zu thun,
welche man im übrigen trotz ihrer exotischen Heimat un-
besehen mit unsern einheimischen Werken völlig auf gleiche
Linie stellte. Es ist nun eine Aufgabe, welche der
Ethnographie obliegt, auf die Eigenart dieser
Litteraturen aufmerksam zu machen und ihre gan'
eigentümlichen Bedingungen und Grundlagen dar-
zustellen. Sie hat diese Litteraturen mit ihren Einrich-
tungen und Lebensäußerungen sozusagen von außen anzu-
sehen und ihre Besonderheit festzustellen, den äußern Apparat
zu beschreiben, nicht den absoluten Wert und Gehalt ab-
zuschätzen. In dieser Hinsicht ist bezüglich der orientalischen
86
Dr. M. Haberlandt: Die Litteraturen des Orients.
Litteraturen, so bekannt sie geworden sind, noch manches
nachzuholen, wozu im Nachfolgenden ein orientierender An-
fang gemacht sein will.
Eine Litteratur ist wohl nicht bloß eine mehr oder minder-
zahlreiche Sammlung von toten Texten, sondern besteht
eigentlich in dem geistigen Verkehr zwischen Autoren und
ihrem Publikum vermittelst gewisser Veranstaltungen,
welche von jenen zu diesem fuhren. Wollen wir nun nach
diesen drei Hauptpunkten die Verhältnisse unsrer Litteraturen
mit den orientalischen vergleichen, so springen uns überall
die Unterschiede im großen wie im kleinen in die Augen.
Bei uns sind wir gewohnt, den Autor oder Dichter uns
als einen von innen Getriebenen vorzustellen und wir finden
in den dichterischen Werken von Herzen kommende und zum
Herzen sprechende Ergüsse einer Natur, einer in Leiden und
Freuden, in Schauen und Genießen tief ergriffenen Seele.
Leicht so im Orient. Der Poet des Orients ist im all-
gemeinen mehr ein Arbeiter als eine Natur, mehr ein Be-
rufskünstler als ein Talent. Poesie ist hier eine Kunst der
Rede, die man durch Übung und Beispiel zu lernen vermag.
Die poetischen Schöpfungen der meisten orientalischen Völker,
z. B. der Chinesen, Inder, Perser sind dementsprechend —
abgesehen von den wenigen Proben urwüchsigen Bolksgcsan-
ges — keine Schöpfungen der freien Ergießung, sondern
kühl und raffiniert ausgeklügelte Hervorbringungen, deren
größtes Verdienst in geistreichen Einfällen und sinnigen
Vergleichen besteht — häufig wahre Schmuckkästchen voll
poetischen Zierats, vielfach gewürzt mit Wortspielen und
Doppelsinnigkeiten. Ein zweiter Gegensatz beruht auf dem
Mangel dichterischer Individualität im Orient. Der Orient
ist das Land der Typen; die eigene Individualität wird
dort ganz erdrückt und eingeschnürt in den spanischen Stiefel
der poetischen Regel, des dichterischen Herkommens. Ein
Poet übernimmt von dem andern dieselben poetischen Ge-
stalten, dieselben Situationen und Effekte, dieselbe Schilde-
rungsweise, die im Gegensatz zu unsrer psychologischen Art
mehr an der Außenseite, am Kostüme im weitesten Sinne
des Wortes hastet. Die Idee des geistigen Eigentums in
unserm Sinne sucht man daher im poetischen Orient ver-
gebens. Ein Dichter plündert den andern auf die unsag-
barste Weise ans, benutzt seine Vergleiche und Einfälle, als
wären cs die seinen, und alle zehren sie gleichmäßig von
den poetischen Vorräten der je vor ihnen liegenden Zeit.
Sie geben sie freilich nur als „Anspielungen" und sind
auch sehr — besonders die Araber — auf offenbaren Dieb-
stahl aus, aber cs ist doch nur im Namen der Unterschied.
Freilich war cs auch bei uns mit der strengeren Achtung
geistigen Eigentums nicht immer so, wie gegenwärtig, und
die mittelalterliche Poesie steht in dieser wie in mancher
andern Hinsicht der orientalischen Poesie sehr nahe.
Ihrem verschiedenen Charakter entsprechen auch die
äußere Stellung und die sozialen Verhältnisse, in welchen
sich die Dichterwelt hüben und drüben befindet. Bei uns
verschafft dem Dichter und Schriftsteller sein Talent selbst
in unabhängiger Stellung sein Brot oder er lebt als freier
Mann in den Stunden der Muße und Sammlung den
Musen. Dem entgegen ist das Dichten und geistige Produ-
zieren fast im ganzen Orient seit jeher Berufssache und Vor-
recht gewißer Stünde und Verbände gewesen, welche ihre
dichterischen Leistungen zum Teil sehr geschickt zur Erlangung
von Ehre, Reichtum und Einfluß auszunützen verstanden.
So ist cs in China allein der Stand der Litteraten, die
durch eine Reihe von öffentlichen Examina gegangen sind,
welcher als Pfleger der Litteratur seit ältester Zeit auftritt;
und das Dichten wird dort, wenn auch nicht geradezu gelernt,
so doch an eine ine Prüfnngswege zu erhärtende litterarische
Ausbildung geknüpft, so daß z. B. schon bei den höheren
Examen die Aufgabe gestellt werden kann, über irgend einen
Gegenstand oder ein Ereignis ein Gedicht anzufertigen, das
seinem Verfasser unter Umständen ein einträgliches Staats-
amt einbringen kann. Nicht minder zeigt sich in Indien
die litterarische Produktion an einen bestimmten, hier als
Kaste auftretenden Stand als an seinen hauptsächlichen
Träger geknüpft. Es sind in ältester Zeit die vedischen
Sängerfamilien, in späterer Zeit die Brahmanen, die in
ihren Schulen und auf ihren Tempelgütern alle die wichtige-
ren Zweige der reichentwickelten indischen Litteratur betrieben,
oder als Hofpoeten und Hofhistoriographcn den Glanz der
indischen Rädschasitze zu erhöhen hatten. Es waren die
Brahmanen, die bei öffentlichen Festen ihre Dichterwerke im
Wettbewerb vortrugen, lind wo immer andre Elemente
als brahmanische im Betriebe der Litteratur erscheinen, so
sehen wir sie doch immer znnftmäßig, korporativ und mit
der Routine der Korporation ausgerüstet ihrem Dichter-
handwerk obliegen. S» ist die indische Dramatik in den
Händen einer Zunft, so sind die Märchenerzähler und
-Sammler Berufsmenschen, die einander in die Hände
arbeiten und ihr Werk aufeinander vererben und übertragen.
Blicken wir weiter im Orient, so sehen wir in Persien die
Klasse der Derwische, d. i. der Bettelmönche des Islam als
die wichtigsten Träger der Litteratur, die, ob nun in bettel-
hafter Unabhängigkeit, wie der Vogel in der Wüste umher-
streichend, oder als reich mit Ehren und Gold überhäufte
Hofzierden an dem Thronlager des Schah, oder der kleineren
Vasallen und Veziere wohnend, die Poesie als ihr Standes-
gnt in Anspruch nehmen, wovon sie leben und ihren Einfluß
auf Hoch wie Niedrig nähren müssen. Überall aber korpora-
tiver Zusammenschluß: jene unabhängigen Sänger um ein
Sektcnhanpt, einen frommen Scheich als ihren Lehrer und
Meister gruppiert, diese in zünftigem Verbände unter einem
„Dichterkönig" stehend, den der Schah ernannte und zu
ihrem Standesvertreter und Oberhaupt machte. Ähnliche
Verhältnisse herrschen in der arabischen Litteratur. Nur in
den volksmäßigen Anfängen der arabischen Dichtung ist der
Dichter zugleich Bedwine und Krieger seines Stammes;
mit dem Auftreten des Islam haben wir auch hier sofort
eine zünftige Poesie der Jslamdiener und eine weltliche der
Khalifensitze und Emirenhöfe, zünftige, gelehrte und ge-
schulte Poeten, wie Baukünstler, wie Astrologen und Ärzte
zünftig an denselben Sitzen, in analogen Stellungen anzu-
treffen sind. Nirgends noch ist die Poesie aus einer dienen-
den oder doch abhängigen Stellung herausgetreten; die
orientalischen Dichter sind gleichsam die maîtres cke xllrusir
der orientalischen Gesellschaft, nicht aber die Bannerträger
des freien Gedankens, wie wir sie besitzen und verehren.
Noch wurde einer Klasse namenloser Dichter nicht ge-
dacht, welche, überall anzutreffen, besonders auch im Orient
einen breiten Raum in der Litteratur einnehmen. Es sind
dies die anonymen Schöpfer der Volksdichtung in allen
ihren Zweigen als Lied, Fabel, Märchen, Spruch und
Schwank, wie sie den Hauptunterhaltungsstoff der eigent-
lichen großen Volksschichten bildet. Viel häufiger als bei
uns und eben aus jenem früher hervorgehobenen Mangel
an Sinn für das litterarische Eigentum erklärbar ist im
Orient der Fall, daß der Verfasser irgend einer Dichtung
unbekannt ist, weil er sich entweder von Anfang an nicht
genannt hat oder weil das Publikum im Orient überhaupt
nicht viel nach dem Verfasser eines Werkes, das cs liest
oder hört, fragt. Wenn dies schon bei der Knnstdichtung
so vielfach vorkommt, wie viel unklarer müssen die Ver-
hältnisse bezüglich der geistigen Urheberschaft bei der ja
überhaupt anonym auftretenden Volksdichtung sein! Bei
unsrer Volksdichtung lassen sich wenigstens bestimmte Gesell-
schaftskreise und Volksklassen als diejenigen bezeichnen, aus
Dr. M. Haberlandt: Die Litteraturen des Orients.
87
deren^ Reihen die Volksdichtung geflossen. Wir kennen
die Handwerksburschen, die Soldaten, die Schenke und
lhr Gesinde, den Tanzboden und den Hirtcnplan und die
schwatzende Gesellschaft der Spinnstnben als diejenigen, bei
welchen wir den Ursprung der meisten unsrer Volkslieder,
so manchen Scherzes und Schwankes, des verständigen
Sprüchwortes und was sonst litterarisches Volksgut ist, zu
suchen haben. Schwerer wird dies dagegen bei der orienta-
lischen Volksdichtung, in welcher doch gerade so vieles
Schöne und Treffende, in Witz und Geist hervorragende
und an Gesinnung wie Gemüt den Orient am besten kenn-
zeichnende, mehr als in seiner Kunstpoesie, anzutreffen ist.
Wir haben da wohl die Gestalten der öffentlichen Erzähler,
welche von Japan bis nach Ägypten mit ihrem lauschenden
lm^ .„°ft wechselnden Zuhörerkreis eine so charakteristische
Staffage der orientalischen Straßen bilden, als die Bewahrer
und wohl auch Mehrer und Umgestalter der Märchenschätze
des Orients, welche sic in lebhaftem Vortrage und singen-
dem Ton unermüdlich ans ihrem treuen Gedächtnis hervor-
holen. Da sind weiters die Figuren der religiösen Bettler,
die im ganzen Orient eine so zahlreiche Klasse bilden,
Sprüche und Gebete, Legenden und Wundergeschichten von
Srt zu Ort tragen, ausschmückend, verbindend, neu schöpfend,
ohne recht darum zu wissen. Ferner die Haremkreise, welche
sich die Öde ihrer Existenz durch Novellen und Liebes-
geschichten zu würzen trachten, woraus jene Frauenlitteratnr
zum Teil hervorgegangen ist, die ohne berühmte Dichter-
ttamcn, aber in allgemeiner Beliebtheit stehend im ganzen
Sricnt bekannt ist, so in China und Japan, wo sie einen
moralischen Anstrich erhält, so in Indien, woselbst sic als
„striveda“, was wir mit „Weiberbibel" übersetzen können,
bekannt ist, so endlich in den mohammedanischen Ländern
Asiens, wo sie als Haremslitteratur ein ausgebreitetes
Publikum besitzt. — Und wenn wir in die älteren Zeiten
hinaufsteigen, aus welchen die Volksdichtung überall fast als
die einzige, jedenfalls aber als der ausgedehntere Teil der
Litteratur überliefert ist, so ist es vor Allem der Kriegerstand,
der als Pfleger und Träger einer heroischen Dichtung, einer
poetischen Welt des Helden- und Kämpsertums erscheint.
Der japanische Samurai oder Ritter besingt da so gut oder
schlecht seine Waffenthaten, sein kampfreiches Leben und den
ruhmvollen Tod seiner Brüder, wie der indische Kschatriya
oder der indische Wehrstand den Kern des großen indischen
Epos, des Mahäbhärata liefert, indem er von den Kämpfen
der Edlen und Könige seiner Stämme singt. Ebenso er-
scheint der alte arabische Dichter zugleich als Bedwine und
Krieger, der die Kämpfe seines Stammes, welche er selbst
aussechten hals, hinterher in feurigen Gesängen feiert.
In ähnlicher Weise wie der Dichter ist auch das litterarische
Publikum im Orient ganz anders gestellt als bei uns. Wir
sind vorzugsweise ein lesendes Publikum, die Orientalen ein
hörendes. Schon daraus ergeben steh gewisse Folgen für
die Litteratur und ihre Entwickelung. Als lesende, mit sich
und den Gedanken des Autors allein beschäftigte Geister
sind wir in ganz andern: Grade fähig geworden, tiefere und
umfangreichere Gedanken, schwierigere Probleme sinnigere
Empfindungen in uns aufzunehmen und zu würdigen, als
der Hörer des gesprochenen Wortes, das rasch verfliegt, für
welches also das Moment der Spannung ans das Kommende-,
der einschlagenden und zündenden Pointen, die Seite des
sinnlichen Wohllauts und Wortgeklingels, des ebenmäßigen
Rythmus der Gedanken und Worte mehr und mehr hervor-
treten mußte. In der That finden wir die erstangegebencn
Eigenschaften in unsrer Litteratur der Lektüre, die letzt-
erwähnten in der orientalischen Rezitationslitteratnr vorzugs-
weise entwickelt. Die Gelegenheiten nun, bei welchen das
orientalische Publikum Dichterwerke zu hören bekommt, sind
eigentümlich und mannigfaltig genug. Wir wissen aus
Judicu, wie die Poeten an den Höfen des Rädschäs in der
Versammlung der Hofleute und ihrer eigens dazu berufenen
und von überallher versammelten Kollegen ihre Verse vor-
tragen, die dann von den rasch auffassenden und gedächtnis-
starken Anwesenden wenigstens in Bruchstücken weithin
verbreitet werden; wir wissen von großen indischen Volks-
festen, wo die Brahmanen über religiöse und philosophische
Fragen haarspalterisch disputieren und die Poeten ihre jüngsten
Werke im Wettbewerbe um den Preis der Brahmanenkühc
mit den vergoldeten Hörnern vor dem versammelten Volke
rezitieren. Noch heute werden die alten epischen Gedichte,
das Mahäbhärata und Rämäyana, wie in den alten Zeiten
in den Tempeln zum Besten der Besucher vorgetragen, und
noch immer strömen, wie einst in den Dörfern, große Mcn-
schcnmassen um den Käthaka, den Leser dieser alten Sanskrit-
gedichte zusammen, die seine Rezitationen oft mit Thränen
und Seufzern unterbrechen, wenn der Held des Gedichtes in
die Verbannung geschickt wird, während, wenn er in sein
Königreich zurückkehrt, die Häuser des Dorfes mit Lampen
und Guirlanden geschmückt werden. Alltäglich finden sich
die andächtigen Hörer bei solchen Rezitationen ein, die ge-
wöhnlich durch neunzig Tage oder ein halbes Jahr andauern.
Nicht minder sind die hohen Schulen der Gelehrsamkeit der
Sitz eines Hörerkreiscs, der die jeweiligen Rezitationen mit-
gcnicßt und kritisch zergliedert. Was von Indien in diesen
ganz bestiminten Beispielen, das gilt im ganzen und großen
auch vom übrigen Orient. Nicht für sich allein, sondern
in gedrängter Versammlung, sei cs nun im Prunksaal oder
aus freiem Plan, sei cs des Volks oder der Höflinge, genießt
man hier die Poesie — die Litteratur ist hier viel mehr eine
öffentliche Sache, eine wirkliche Volks- und Geseüschasts-
belustignng, als bei uns. Andrerseits ist unser Interesse
an der Litteratur ein weniger zufälliges und sprunghaftes
als das der Orientalen, die eben von sich selber keine Mittel
besitzen, wie wir — nämlich Bücher, die wohlfeil und leicht
zu haben — sich dichterisch zu beschäftigen, sondern die auf
die dargebotene Gelegenheit, etwas davon zu hören, warten
müssen. Daher jener Mangel an Kritik, der im allgemeinen
im orientalischen Publikum anzutreffen ist, daher auch das
gänzliche Fehlen einer öffentlichen Kritik, anstatt welcher
hier nur gegenseitige Schmeicheleien oder Beleidigungen in
den poetischen Werken, und allenfalls in Lehrbüchern der
Poetik schablonenhafte Einteilungen, sowie endlose Kommen-
tare und Snperkommcntare anzutreffen sind.
Es erübrigt nun, nach dieser Skizze von Autoren und
Publikum des litterarischen Orients die Mittel und Wege
anzugeben, durch welche hier der Dichter an sein Publikum
gelangt, und die Veranstaltungen zu schildern, welche im
Interesse der litterarischen Wirksamkeit orientalischer Dichter-
in den östlichen Kulturen getroffen sind. Unsre Litteratur
steht vollständig unter dem ungeheuren Einfluß des Buch-
drucks. Dank diesem ungeheuren Vervielfältigungsapparat
des menschlichen Gedankens ist jedes Wort des Dichters
und Denkers unter uns sozusagen allgegenwärtig. Wie
aber, wenn Litteraturen sich ohne diesen Talisman zu bc-
hauptcn haben? In Ostasien zunächst treffen wir wohl
noch unsre eigenen, fortgeschrittenen Verhältnisse, die sich
aus den Buchdruck stützen, und zwar schon seit viel längerer
Zeit als sie bei uns bestehen, an. Die Chinesen sind doch
bekanntlich viel länger als wir im Besitze der „schwarzen
Kunst" — allerdings nicht mit beweglichen Lettern, wiewohl
sie auch diese eine Zeitlang kannten, aber wieder aufgaben —
sondern mit Stereotyptafeln, deren Gebrauch in China seit
593 n. Chr. historisch verbürgt ist. Indem dieser Erfin-
dung die Kunst der Papierbereitung (ans der Rinde des
Maulbeerbaumes oder aus Bambus), sowie die Anfertigung
88
Tr. M. Haberlandt: Die Litteraturen des Orients.
der Tusche als Schreibmittel um einige Jahrhunderte vor-
angegangen waren, ist China seit dem 6. Jahrhundert u. Z.
im Besitz einer Litteratur, die durch ihre große Billigkeit
die weiteste Verbreitung in: Volke genießt. Wohl giebt
es in China oder Japan, nicht wie in Europa, Bibliotheken
nnd Lesezimmer, dafür kann man in jeder Straße beim
Buchhändler jede Art von Litteratur in den allerbilligsten
Ausgaben nach dem Gewichte haben. Übrigens finden die
Chinesen und Japaner auch so überall zu lesen. Man
kann gewissermaßen sagen, China ist eine ungeheure Biblio-
thek. Inschriften, Sprüche, Grundsätze haben überall ihre
Stelle gefunden. Die schönsten Zitate aus den besten
Schriftstellern bedecken die Theetasscn, die Teller, die Vasen
und Fächer, — die Korridore, die Fahnden der Häuser, die
Pagoden und öffentlichen Denkmäler, die Aushängeschilder
und Hausthüren. Wir finden also hier in China bezüglich
der Litteraturverbreitung nichts andres als daheim, ja die
Karricatur davon. Anders dagegen, wenn wir nach Indien
oder Vordcrasicn blicken. Da finden wir bekanntlich für
die alten Zeiten nicht nur keinen Druck, sondern überhaupt
gar keine Schrift als die Dienerin der Poesie vor. Diese
illitterate, d. h. schriftlose Periode der Poesie ist nun aller-
dings überall urspünglich als das erste Litteraturstadium an-
zutreffen — nur erstreckt sie sich im Orient, z. B. in Indien
oder in Arabien mit einem schon äußerst umfangreich ge-
wordenen Material in eine verhältnismäßig sehr späte Zeit.
Die handschriftliche Fixierung und Überlieferung dieser alten
Litteraturschätze vollzieht sich sodann an den Sitzen des Reich-
tums und der Macht, sowie an den Schulen und Gclehrtcn-
sitzcn, wodurch die alten Dichterwerke des Orients überhaupt
bis aus uns kommen konnten. Diese handschriftliche Über-
lieferung konnte aber wenig beitragen zur lebendigen Kennt-
nis und Verbreitung der Werke im Volke selbst, in den
verschiedenen Kreisen des Publikums durch so weite Länder-
gebiete, wie die des Orients. Es mußte hier andre
Veranstaltungen geben, um ein Dichterwerk im Volk herum-
zutragen und berühmt zu machen, was viele doch unzweifel-
haft gewesen sind. Zwar wissen wir von der begeisterten
Freigebigkeit einzelner, die auch auf dem schriftlichen Wege
für die Verbreitung eines Werkes sorgten, indem sic durch
bezahlte Abschreiber dasselbe in vielen Exemplaren herstellen
nnd über das Land ausstreuen ließen — und namentlich ist
die religiöse Poesie der Buddhisten auf diesem Wege viel
herumgekommen — aber das meiste haben doch die folgen-
den dreierlei Mittel zur Popularisierung der orientalischen
Litteratur beigetragen.
Es ist dies zunächst die öffentliche Rezitation des Werkes
durch den Verfasser selbst und seine Freunde und Schüler
bei verschiedenen festlichen Gelegenheiten, zunächst an den
Höfen, bei Volksfesten, in den Tempeln, auf den Plätzen
der Städte und Dörfer, ja selbst in eigenen Rezitations-
hallen, wodurch allemal einem großen Kreis von Zuhörern,
welcher leicht die Höhe einer Buchauflage an Zahl erreichen
konnte — die Bekanntschaft mit dem betreffenden Werk ver-
mittelt wurde. Es kam dabei nur darauf an, sich möglichst
lange dieser Mittel der Verbreitung für sein Werk versichert
zu halten und nicht etwa durch ein andres in der Gunst der
Einflußreichen und der Menge überhaupt ausgcstocheu zu
werden. Daher nimmt die Rivalität der orientalischen
Dichter gegeneinander einen viel heftigeren und zugespitzteren
Charakter an, als dies bei uns möglich ist, wo die Dichter
mit ihren gedruckten Werken sich ruhig in die Gunst des
Publikums teilen können. Es ist dies dort ungefähr so,
wie mit der Rivalität der Schauspieler: wie diese bemühen
nnd streiten sie sich um die Bühne, von welcher sie dem
Publikum ihre Kunst zu zeigen allein in die Lage gesetzt sind.
Ein zweites Mittel neben der öffentlichen Rezitation er-
kennen wir im Auswendiglernen der Texte, das iui ganzen
Orient ein allgemeiner, von den Schuleinrichtungen aus-
gehender Usus ist. Wie der Schulunterricht überall im
Orient die Methode befolgt, den Kindern erst eine Anzahl
von Texten mechanisch, Zeile für Zeile ins Gedächtnis zu
überliefern, um dann hieran erst die Erlernung.der Schrift,
der Grammatik und des Sinnes zu knüpfen, so ist cs anch
die allgemein ins Leben hinübergenommene Gewohnheit der
Erwachsenen, alles Schriftliche oder Gehörte sofort zu
memorieren, um es nun künftig zu besitzen. Wir müssen
uns dabei erinnern, wie viel stärker das Gedächtnis des
wenig mit der Schrift Operierenden ist, als das Erinnerungs-
vermögen desjenigen, der, demselben mißtrauend, alles Mer-
kenswerte sofort der schriftlichen Aufzeichnung überantwortet.
Zudem ist die Form der orientalischen Poesie mit ihren
ebenmäßigen Rythmcn, mit dem eigentümlichen Singsang
ihres Vortrages sehr geeignet, sich scharf ins Gedächtnis zu
prägen, um gleichsam wie eine Melodie leicht behalten zu
werden. So kommt es, daß derjenige, welcher sich über-
haupt im Orient für Poesie interessiert, das meiste von dem,
was gerade obenauf ist, mehr oder minder vollständig in
seinem Gedächtnis besitzt, aus welchem er cs bei allen mög-
lichen Gelegenheiten zu holen liebt, seine Rede wie seinen
Stil im Schreiben damit schmückend und erhöhend.
Eine dritte Art endlich, wodurch orientalische Dichtungen
sich bekannt zu machen vermochten, war das öffentliche Aus-
hängen der Texte an gefeierten Orten und vielbesuchten
Denkmälern. Es ist in dieser Beziehung nur an den
Namen der berühmtesten altarabischen Gesänge, nämlich
Moallaqat, d. i. „die aufgehangenen Gedichte" zu erinnern.
Diese Gesänge sind die Resultate der poetischen Wettkämpfe,
welche alljährlich auf der menschenwimmelndcn Messe zu
Okhaz abgehalten wurden und wobei das Gedicht, welches
den Preis erhielt, mit goldenen Lettern auf persischer Seide
geschrieben und zum ewigen Ruhm am Eingang des uralten
Nationalheiligtums der Kaaba zu Mekka aufgehangen ward.
Wenn noch erwähnt wird, wie gerne die orientalische Kunst
und Industrie in allen ihren Zweigen die Schrift als
Ornament für ihre Erzeugnisse benutzt, wie auf Waffen
und Gewändern, auf Steinbildern und Gefäßen berühmte
Verse und Dichterstellen sowohl im poetischen Sinne, als
im künstlerischen als Schmuck und Zierat angebracht waren,
so werden wir uns auch dieses, uns etwas fremde Mittel,
die Litteratur zu fördern, in seiner Wirksamkeit für die"
Popularisierung ihrer Erzeugnisse einigermaßen vorstellen
können.
Bei allen diesen Mitteln, die der Verbreitung des Dichter-
wortes im Orient zur Verfügung standen, ist das Resultat
auch nicht annähernd nur den Verhältnissen gleich gekouuncn,
welche durch die Kunst des Buchdrucks unter uns geschaffen
worden sind. Sie haben genügt, eine öffentliche und, wie
wir sagen, allgemeine Pflege der Poesie unter allen Kultur-
völkern des Orients zu erhalten, aber wir dürfen uns über
den Umfang dieser Pflege und ihre Bedeutung für das Ge-
samtleben der Nationen keiner Täuschung hingeben. Die
Litteraturen des Orients nehmen eine ungleich bescheidenere
Stelle unter den Knltnräußcrungen der orientalischen Völker
ein, als dies in unsrer Kultur der Fall, sic gehören dort
sozusagen vielmehr zum äußern praktischen Leben, wie Spiele
oder andre Lustbarkeiten, wofür in den oben beigebrachten
Umständen wohl genügender Grund gefunden werden dürfte.
Kaiserliche Nordfahrten.
89
Kaiserliche Nordfahrten.
Die Fülle am Gjegnalund.
Erfreulicherweise haben sich die Beziehungen zwls )e
Deutschland und dem stammverwandten skandmavPyen
dtorden immer enger gestaltet, seit die Mißstimmung wegen
des Schleswig - Holsteinschen Streites gewichen und wenn
auch ein solcher politi-
scher Einfluß, wie wir
ihn zur Zeit der Hansa-
blüte im Norden aus-
übten, weder erstrebt
noch nötig ist, so läßt
sich doch innerhalb der
Deutschen ein weit
größerer Drang nach
Norden wahrnehmen,
als er bis vor weni-
gen Jahrzehnten noch
vorhanden war. Die
wissenschaftlichen Be-
ziehungen zu dem
Vaterlande von Linnä
und Berzelius sind un-
gemein rege, wir er-
kennen in den skan-
dinavischen Gelehrten
voll ebenbürtige Ge- ,
nossen, Familienbande zwischen den nordischen und deutschen
Herrscherhäusern sind geknüpft worden und alljährlich ergieß
sich ein Strom deut-
scher Sommerreisen-
der nach Schwedens
schöner Hauptstadt oder
an der sjordrcichcn,
malerischen Küste Nor-
wegens hin bis zum
Nordkap. Nicht wenig
aber sind diese Reisen
im größern Publikum
dadurch belebt worden,
daß unser Kaiser zwei-
mal die norwegische
Küstensahrt ausführte.
Diese Reisen, die
in ihren allgemeinen
Zügen und manchen
Einzelheiten schon durch
die Tagespresse bekannt
geworden sind, haben
jetzt in Herrn Paul
Güßfeldt einen ge-
eigneten und erfahrenen
Beschreiber gesundenl).
Seine Leistungen in
Ägypten, an der Lo-
angoküste und in den
Kordilleren sind be-
sannt; als erfahrener Alpcnstciger und GletfcheAcnner cs tz
er Ruf und so eignete er sich vortrefflich als Wissens )as i sc
. l) Kaiser Wilhelms II. Reisen nach N^wegm rn den
Jahren 1889 und 1890 von Paul Gußfel dt. Ml ^ Hei^
ñravüren und 124 Holzschnitten nach Zeichn unge
Saltzmann, und einer Orientierungskarte. Berlin,
Paetel, 1890.
Beirat, der die Erscheinungen der Gletscherwelt dem Kaiser
erläutern konnte und überall mit reichen Erfahrungen
eingriff. Eine leichte Ausgabe ist es sicher nicht gewesen,
die der Verfasser beim Niederschreiben dieses Prachtwerkes
zu lösen hatte, denn
zwei ganz verschiedene
Sachen mußten hier zu
einem Ganzen verwebt
werden: einmal die
persönlichen Erlebnisse
und Beziehungen Kai-
ser Wilhelms, die mit
gr oßer G ew iss enh aftig-
keit ausgezeichnet wur-
den, und dann die
Schilderung des Lan-
des, des Gesehenen,
aus wissenschaftlicher
Grundlage. Die Ge-
legenheit war zum
Sehen, soweit dieses
vom Bord eines Schis-
ses aus mit kurzen
Ausflügen ans Land
der Fall sein kann, eine
überaus günstige und bequeme, wie bei einem Kaiserbesuche
selbstverständlich, und wo die Anschauung nur flüchtig sein
konnte, da ersetzten
Güßfeldts reiche Er-
fahrungen und frühere
Reisen in Norwegen
vieles.
Aus den Beschrei-
bungen geht hervor,
welch lebhaftes Inter-
esse und Verständnis
bei dem Kaiser auch
für geographische und
naturwissenschaftliche
Verhältnisse vorlag
und wie er nicht müde
wurde, sich die Erschei-
nungen der Gletscher-
welt oder geologische
Fragen erörtern zu
lassen. Die Aufgabe
dieser Zeitschrift ist cs
nicht, aus die persön-
lichen Verhältnisse und
Erlebnisse des Kaisers
während der zweimali-
gen Küstensahrt einzu-
gehen, aber hervorge-
hoben werden mag der
Geist und die Stim-
mung, die unter der ganzen Reisegesellschaft herrschte. „Das
schöne an dieser deutschen Tafelrunde in norwegischen Ge-
wässern war das Ungekünstelte. ■ Wenn die Rede frei sein
durste, wenn das Wort vornehmlich dem gestattet wurde,
welcher das gerade vorgeschlagene Gesprächsthema am
sichersten beherrschte, so konnte dies nur geschehen, weil cs
der Wunsch und Wille Seiner Majestät war. Aber auch
Briksdalbrae,
Globus LIX. Nr. 6.
12
90
KaiserlicheWordsahrfen.
die Harmonie, welche zwischen den Herren der kaiserlichen
Begleitung bestand, hatte ihren Anteil daran. Der Kaiser
hatte die Zusammensetzung ausschließlich nach eigenem
Ermessen getroffen. Daß dieselbe sich so stichhaltig gegen
die unzähligen kleinen Differenzen zeigen würde, zu denen
jeder Tag auf engem Raum Gelegenheit giebt, das war in
der That ein seltenes Glück!" So waren diese Kaiser-
fahrten durchaus harmonischer Natur; sie verdienen es, in
dem vorliegenden schönen Werke geschildert zu werden, das
auch äußerlich in dem
Gewände auftritt, wie
es sich für die Schil-
derung einer kaiser-
lichen Reise ziemt.
Um Wiederholun-
gen zu vermeiden, hat
der Verfasser beide
Reisen in der Schilde-
rung geschickt zu einer
zusammengefaßt. Wir
erhalten zunächst eine
Übersicht des bereisten
Landes nach seiner
geographischen Natur,
unter besonderer Her-
vorhebung der Schnce-
und Gletscherverhält-
nisse, sowie der Föhr-
dcn. Das Volk in
seiner Biederkeit nnd^Gastfrenndschaft wird gelegentlich der
Stationen geschildert. Zn großen Zügen umfaßte die Reise
zunächst den Hardangerfjord mit Ausflug nach Oddc und
dem Burbrae (Gletscher),'dann folgte Besuch der alten Hanse-
stadt Bergen; dann des
der Landschaft. Anfänglich sieht man wenig Höfe, die
Felsmassen — Hornelen ausgenommen — bieten rundliche
Formen dar; erst allmählich wird der Pflanzenwnchs
kräftiger und den Gebüschformen folgen die Baumformen.
Die Bedeckung der ferner liegenden Gebirge mit Zebra-
schnee wächst, bis dann auf halbem Wege die Szenerie
des Südufers das Auge gefangen nimmt. Hier fließen in
meistens steilen Kaskaden die Schmelzwasser des 1700 m
hohen GjegnalundMassivs unmittelbar in die See."
Im Hintergründe
des Nordfjord liegt Ol-
den und von hier wurde
ein Ausflug zu Lande
nach dem Briks-
dalgletschcr unter-
nommen. Güßseldt
schildert uns die pracht-
volle Üppigkeit des
Krautwuchses auf dem
Wege im Gegensatze zu
den kümmerlichen Bäu-
men, die imposanten
Trümmerfelder, Reste
alter Bergstürze, die
h errlichen Seitenthäler,
die auf dem Wege lie-
gen. Das untere Ende
Sognefjord mit feinen
Verzweigungen. Hier
wurde der Südfuß des
großen Jostedalbrae
besucht, der als bis
2000 ui hohes „Ton-
nengewölbe" in oro-
graphischer Beziehung
Beachtung verdient.
Er ist ein echtes Fjeld,
welches Kuppen trügt
(Lodalskanpe 2070 m),
aus dem aber Man-
gel an Kenntnis des
Hochgebirges den größ-
ten Gletscher Europas
uiachte. In Wirklich-
keit stellt die Schnee-
decke von Jostedalbrae
das größte Firnfeld
Europas dar, man
schätzt seine Ausdeh-
nung auf 900qkm, was etwa der doppelten Fläche des
Bodensees gleichkommt. Die atlantische Nordwestabdachnng
dieses großartigen Firngebirges wird nach dem Nordfjord
entwässert, der sich in ziemlich gerader Linie von West nach
Ost unter 620 erstreckt. So zeigte er den Reisenden ein
Nord- und ein Südufer. „Solche Südseiten spielen in
Norwegen, wo die Wohlthaten der Sonnenbestrahlung be-
sonders lebhaft zum Ausdruck kommen, eine bevorzugte Rolle;
sie giebt sich zu erkennen in der größeren Anzahl der
Höfe, Wiesen und Felder. Die Fruchtbarkeit steigert sich
mit der Entfernung von der Küste, ebenso das malerische
Rödö. des Briksdalbrae liegt
in 300 m Höhe, einen
Theil des schönen Felsenzirkus ] einnehmend. Ein linker
Seitengletscher endet in der Nähe des Hauptgletschers, etwa
in 600 m Höhe, an einer schwarzgrauen Plattenwand, über
welche das Wasser als Fall stürzt. „Die große Schönheit
des" Briksdalbrae ist
in seinem blauen Far-
benspiel zu suchen, das
dem des Nosenlani-
gletschers nicht nach-
steht; der dunkle, vom
Regen benetzte Fels-
riegel, über welchen
der Gletscher einst ge-
flossen ist und der
heute parallel vor sei-
nem Fuße hinläuft,
warf uns ein blaues
Licht entgegen, als wir,
mit dem Gesicht gegen
die zerklüftete Masse,
auf ihn niedersahen
und das war nichts
anders, als der Wider-
schein des Eises. Man
muß dem Briksdalbrae
und seiner Umgebung
die volle Gleichberechti-
gung mit hervorragenden Alpenlandschaften zuerkennen. An
dieser Stelle zeigt es sich recht deutlich, daß die Abstürze
des Fjelds landschaftlich gleichwertig mit den Gehängen der
Alpenkette sein können."
Mit dem Verlassen Trondhjems begann die eigentliche
Nordsahrt, ein längerer Aufenthalt in Festlandsfjorden kam
nicht mehr vor und der Charakter der Seereise überwog.
Die Beschreibung der Küstenlandschaft ist immer wieder
auf Felsküste, Wasser und Schärenflur angewiesen. „Der
Autor", schreibt Güßseldt, „wenn er etwas über die norwe-
gische Küste sagen will, kann eigentlich nur versichern, daß
Wohnhaus ans Karlsö.
Dr. W. Kobelt: Der Mono-See in Kalifornien.
91
Meer, Inseln und Küstenabfall wechselnd gruppiert Ms,
daß bald das eine, bald das andre dieser Elemente über-
wiegt, daß der Landschaft stets ein gewisser Ernst, rer st j
zur Würde oder Größe steigern kann, innewohnt; daß me
wechselnden Zustände von See und Witterung bem. au
schaftsbilde den wechselnden Ausdruck ganz versehn euer
Stimmungen verleiht." Es war noch eine ganz gewa uze
Reise, die der Kaiser von Trondhjem bis zum .um ap
zurückzulegen hatte; die Entfernung vor: Stavangcu, wo er
zuerst die norwegische Westküste anlief bis Trondhzcm war
allein gleich einer Fahrt von Konstanz bis ^rel un
erst sollte das Hauptstück folgen. Zur Veranschaur j g
der auf der kaiserlichen Reise zurückgelegten Streckcm dcene
folgendes: eine Kreislinie, welche Berlin zum "I
hat und durch das Nordkap geht, schneidet den Kanka m ,
Kleinasien, Tripolis, den Atlas, Südspanien, chor, uga ^
geht mitten durch Island. Was Norwegen allem betnfst,
so erhalten wir von seiner Ausdehnung dcum. ) '
daß die Entfernung von seiner nördlichsten Stac , H
fest, bis zu seiner südlichsten, Christianssnnd, gleich jener
von Berlin nach Barcelona ist.
Mit der Annäherung an den Polarkreis wg^
Region von Felsinseln, deren malerische formen unc ll
artige Gebilde die Aufmerksamkeit der Reisenden jcßclt .
Der Mono-See
Mitgeteilt von
Eine der Hauptaufgaben der II. 8. Geologien! 8urvey
lst in den beiden letzten Jahrzehutcn die Erforschung des
Great Busm gewesen, des Hochplateaus, welches den Raum
zwischen der Sierra Nevada und den Nockp Mountains^ aus-
fällt, mit seinen vulkanischen Erscheinungen, seinen Wüsten
und ganz besonders seinen heute abflußlosen Seen, deren
wohlerhaltene alte llscrtcrrassen in deutlichster Schrift dem
Kundigen die klimatologische Geschichte des westlichen Nord-
amerika seit vielen Jahrtausenden erzählen. Der „Globus
hat seinen Lesern seinerzeit über die Resultate der Forschungen
an den beiden größten der ehemaligen Binnenseen, Lake
Bonneville und Lake Lahonten, berichtet. Der achte Band
hrs Report der Geological Survey enthält nun eine dritte,
frhr hübsche Monographie von I. C. Rüssel, welche sich auf
dm kleinen Monosee bezieht und einige recht interessante
Beobachtungen bietet.
Der Monosee liegt am äußersten Westrande des großen
Beckens in einer Meereshöhe von 1945 m. Er gehört zu
Kalifornien, aber die Grenze von Nevada läuft in seiner
Rühe vorüber und durchschneidet das Becken, das er ehemals
^füllte. Die niederste Einsenkung in den ihn nach bilden
und Westen umgebenden Bergketten liegt 900 m über-
feinem Spiegel, die Bergspitzen ragen doppelt so hoch
empor. Nach den neuesten trigonometrischen Messungen von
W. D. Johnson ist der höchste der den See umgebenden
Bergkegel der Mac Bride Peak, der Nordpfciler der White
Mountains, 4094 m hoch. Über 3900 m empor ragen
voch zwei andre Gipfel, denen die Namen von Ritter und
Lyell beigelegt wurden, vier (Mount Dana, Mount Eonncß,
Dunderberg Peak und Mount Warren) über 3600 m,
Glaß Mountain 3391 m. Das hydrographische Gebiet
oes kleinen Sees, obwohl in wenigen kurzen Tagesrittcn zu
Rlrchmessen, gehört zwei ganz verschiedenen Regionen an, die
Osthälfte der Wüste, die Westhälfte der Sierra Nevada.
Während man im Osten nur die Charaktcrpflanze der amcri-
uuischen Wüste antrifft, den Sage Brush, und dazwischen
Einzelne Grasbüschel, kaum genügend, um eine geringe Anzahl
Unter dem Polarkreise selbst lag zur Rechten das hohe
Schneegewölbe des Svartisen, an dessen Fuß sich mehrere
Fjorde hinziehen, von denen einer besucht wurde. Zur
Linken blieb die Rotinsel, Rödö, von schöner Fclsform,
welche der Kaiser mit einer Sphinx verglich. Nach nur
einstündigem Aufenthalt in Hammerfest wurde am 18. Juli
das Nordkap erreicht und dann die Heimreise angetreten.
Der Kaiser hat lange das Bild, das die Natur ihm dar-
bot, betrachtet und dann plötzlich das Schweigen mit
den Worten unterbrochen: „Heut ist der Tag der Kriegs-
erklärung." —
Auf der Rückfahrt fesselte besonders noch die unter 70"
nördl. Br. sich erstreckende Küstenlandschaft die Aufmerk-
samkeit: „Die Gebirgslandschaft, welche die Fjorde trennt,
ist eine Alpcnkette vom reinsten Typus, nichts erinnert mehr
an norwegische Plateanabstürze." Besucht wurde hier
Karlsö vor dem Lyngcnfjord, das eine Kirche, einen Pfarrer
und einen Landhändler besitzt. Im Gegensatz zu dem ernsten
Nordkap und den Gletschern des Lyngenfjords fand man
hier üppigen Graswuchs und bunte Blumen; der Kaiser
bestieg einen Hügel und errichtete hier, unter 70" nördl. Br.,
einen Barden (Steinmann, Cairn), in welchem er, in eine
Flasche verschlossen, seinen Namen, nebst dem des Gefolges,
zur Erinnerung an seine Nordfahrt niederlegte.
in Kalifornien.
Dr. w. Aobelt.
Rinder vor dem Verhungern zu schützen, erheben sich auf der
Südwestseite prächtige, zum Teil dicht bewaldete Berge bis
über die Waldgrenze, und durch ihre Schluchten rieseln, von
Schneefeldern und Miniaturgletschern genährt, das ganze
Jahr hindurch frische Bäche herab. Gleicht die eine Hälfte
der Sahara, so hat die andre etwas von der Frische und
erhabenen Größe der Pyrenäen.
Noch ist das Monogebict vom durchgehenden Eisenbahn-
verkehr unberührt; seine Schluchten scheinen weniger erzreich,
als die von Nevada, und haben noch keine Ansiedler angelockt.
Die nächstgelegene Eisenbahnstation ist Hawthorne am Süd-
ende von Walker Lake. Von dort führt eine prächtige, von einer
Diligence befahrene Bergstraße auf den Kamm der Wadduc
Mountains zur Silbermine von Bodie und dann wieder
hinab nach Aurora, wo vorläufig Straße und Wagenverkchr
aufhören. Die „Stadt" Aurora ist eine jener Eintagsfliegen,
wie sie sich in Nevada so oft in der Nähe neu entdeckter
Silberminen bilden, ein paar Jahre lang blühen und dann
mit der Erschöpfung der Adern wieder vom Erdboden ver-
schwinden. Sic liegt fast am Rande des Monobeckens, noch
in Nevada, aber die Gegend zeigt schon nicht mehr den
Charakter der wüsten Plateanflächen dieses Landes; sie wird
beherrscht von den scharfen Kämmen und den Spitzbergen der
Sierra Nevada und der Swcctwater Mountains. In geringer
Entfernung von der Stadt wird die Wasserscheide über-
schritten; wenig unter derselben entspringt eine Quelle, welche
kaum ein Quart Wasser in der Minute liefert, das letzte
Trinkwasser, che man die frischen Büche jenseits des Sees
erreicht; alle Wasserrinnen östlich vom See führen höchstens
im Winter für kurze Zeit Wasser. Auf steilen Pfaden geht
es über vulkanisches Gestein mühsam hinab ins Thal, dem
der Name Aurora Valley beigelegt worden ist. Bald trifft
man auf alte Uferlinien, 76 na über der Thalsohle; sie
gehören noch nicht dem eigentlichen Monosee an, der durch
eine hohe Bodenschwelle verdeckt ist, sondern einem andern
See, der allerdings in früheren Zeiten das überschüssige
Wasser des Mono aufnahm. Heute liegt er ganz trocken
12*
92
Dr. W. Kobelt: Der Mono-See in Kalifornien.
und eine enge, stark ansteigende Schlucht führt zum gegen-
wärtigen Seebecken hinüber. In ihr sind die alten Ufer-
linien, durch Tuffablagerungen bezeichnet, besonders deutlich;
sie liegen anfangs 60 m. über der Thalsohle, aber allmäh-
lich verringert sich die Höhe und am Ausgange der Schlucht
ist man der obersten Strandlinie auf circa 25 rn nahe
gekommen. Die Schlucht ist offenbar durch das aus dem
Monosee ausströmende Wasser ausgewaschen worden.
Am Ausgange des Canons sieht man sich am Rande
eines steilen Abfalls; von einem sich hier gerade im alten
Seebett erhebenden Hügel, Cedar Hill, hat man einen präch-
tigen und ganz eigentümlichen Ausblick. Gerade gegenüber
erheben sich die kühnen Spitzberge der Sierra Nevada, über-
ragt von dem Mount Dana, der in der klaren Bergluft nur
wenige Kilometer entfernt erscheint. Zu den Füßen liegt die
kahle, verbrannte Ebene, in ihr nur hier und da zerstreut
einige Zedernforste, in der Mitte wie ein metallener Schild
eine blaue Fläche, in der sich die Schnecberge spiegeln,
während eine schwarz gezackte Insel aus ihr emporragt, der
Monosee. Nach Süden aber steht in schweigender Majestät
ein riesiger Spitzberg, Mac Bride Peak, das Nordende der
weißen Berge, noch höher emporragend als die Gipfel der
Sierra Nevada, bis tief in den Sommer hinein mit Schnee
bedeckt, nur im Herbste nackt, aber dann, namentlich in der
klaren Luft und prächtigen Beleuchtung des Jndianersommers,
noch wilder und großartiger erscheinend als selbst im Winter.
Bei günstiger Beleuchtung ist das Bild von zauberhafter
Schönheit, und wenn diese Gegenden einmal besser bekannt
und besiedelt sein werden, wird Cedar Hill wohl ein von
Touristen viel besuchter Aussichtspunkt werden.
Heute kann der See noch mit vollem Recht mit dem
Toten Meer Palästinas auch in Hinsicht auf die Verlassenheit
seiner Ufer in Parallele gestellt werden. Der Holzreichtum
seiner Berge hat zwar schon zur Erbauung einer Eisenbahn
von den Minen von Bodie .aus Anlaß gegeben, und an
vielen Stellen des jungfräulichen Waldes erklingt schon die
verwüstende Axt des Holzfällers. Nur im Sommer ent-
wickelt sich regeres Leben. Im sonst völlig leblosen Wasser
des Sees lebt nämlich trotz seines hohen Gehaltes an Alkalien
— 53 Gramm auf das Liter — iit Myriaden die Larve
einer Köcherflicge; ihr zu Liebe erscheinen im Sommer zahl-
reiche Familien der Pinte-Indianer, sammeln sie ein und
stampfen die enthülsten und getrockneten Larven in Säcke als
Wintervorrat. Mit dem ersten Schnee ziehen sie ab. Eine
Zeitlang haben unternehmende Iankecs Versuche mit Vieh-
zucht gemacht, aber die Weide war rasch ruiniert, das Gras
wuchs zu langsam nach, und so ist jetzt im Winter Louis
Sammon, der „Pionier" des Monothals, fast der einzige
Bewohner. Es wird wohl noch einige Zeit so bleiben,
denn Ackerbau kann bei dem Mangel an zur Berieselung
geeignetem Wasser auf der Ostseite nicht getrieben werden,
und auf der Westseite erhebt sich der Boden zu rasch zur
Sierra. Der See enthält ja riesige Mengen von Kochsalz,
kohlensaurem Natron und schwefelsaurem Kali, aber an ähn-
lichen Seen ist in Nevada kein Mangel und der Monosee
wird wahrscheinlich noch nicht sobald zur Ausbeutung an die
Reihe kommen.
Die ganze Umgebung des Monosces ist vulkanischer
Natur und an vielen Stellen sprudeln heiße Quellen. Dicht
am See, von seinem Rande nach Süden streichend, erhebt sich
eine Reihe vulkanischer Kegel, nur aus aufgeschüttetem
Material bestehend, aber so vorzüglich erhalten, daß mau
sie für ganz neuen Ursprunges halten sollte. In der That
ist hier eine der Stellen, an denen sich die vulkanische Thätig-
keit im großen Becken noch zu allerletzt geäußert hat. Erup-
tionen haben jedenfalls noch nach dem Ende der Eiszeit
stattgefunden, und viele Lavaströme sind jünger als die Ufer-
linien und die Endmoränen der Gletscher. Die Kette der
Mono-Craters ist gegen zehn Miles lang, ihre Kegel er-
heben sich gegen 900 m über den Seespicgel und haben
somit eine Höhe von erheblich über 2700 m. Einzelne
Teile dieses Gebietes gleichen auf den der Abhandlung bei-
gcgebenen photographischen Nachbildungen ganz frappant
den Ringwällen des Mondes. Eine vulkanische Thätigkeit
ist indes jetzt nicht mehr erkennbar. Nur auf der Insel,
welche sich aus dem See erhebt, arbeitet gegenwärtig noch
eine Fumarole. Für gewöhnlich ist ihre Thätigkeit gering,
die Temperatur an der Hauptmündung 52° R. (1500F.),
der ausströmende Dampf vom Ufer aus nicht zu erkennen;
mitnnter sollen aber auch heftigere Ansbrüche vorkommen
und Dampfsänlen mehrere hundert Fuß hoch emporgeschlendert
werden. Die Geschichte des Monosees, wie sie sich in den
alten Uferlinien erhalten hat, bietet einiges von der der an-
dern Seen des großen Beckens Abweichende, denn der See
hat auch zur Zeit seines höchsten Standes nie einen Abfluß
gehabt und er hat infolge der Nähe des Kammes der
Sierra Nevada auch in den trockensten Perioden den Zufluß
niemals ganz entbehrt. Gegenwärtig beträgt sein größter
Durchmesser 14 Miles, seine Oberfläche 84,5 square miles,
die größte Tiefe 46, die Durchschnittsticfe nur 15 bis 18 m.
Zur Quaternärzeit hatte er dagegen eine Oberfläche von
316 square miles und eine Tiefe von über 250 m.
Die heutigen Inseln befanden sich damals tief unter dem
Wasserspiegel; dafür ragte Cedar Hill als eine gewaltige
Insel aus ihm empor. Seinen Zufluß erhielt er auch da-
mals ausschließlich aus der Sierra, denn an allen andern
Seiten reicht seine höchste Uferlinie bis dicht an den Rand
des Seegebietes heran. Alle Schluchten waren damals von
Eisströmen erfüllt, welche bis in das Wasser des Sees hin-
einreichten. Die ganze Nevada zeigt die unverkennbarsten
Spuren einer ansgedehntcn Vergletscherung. Es lassen sich auch
zwei verschiedene Perioden größter Ausdehnung unterscheiden,
aber daneben unzählige kleine Schwankungen, und eine eigentliche
Jnterglacialepoche läßt sich nicht mit Sicherheit nachweisen.
Aus dem Verhalten der Gletscherspuren zu sekundären Terrain-
verhältnissen können wir indes erkennen, daß auch zur Eis-
zeit das Klima hier kein extremes war, denn sie finden sich
vorwiegend au der Schattenseite der Thäler. Eine geringe
Erniedrigung der Jahrestemperatur würde ausreichen, um
die kleinen Gletscher, die sich fast in allen Schluchten am
oberen Ende erhalten haben, wieder zu einer ähnlichen Aus-
dehnung anwachsen zu lassen. Ans dem Umstande, daß der
Monosee niemals einen Abfluß gehabt hat, können wir
schließen, daß auch nach dem Aufhören der Eiszeit die Nieder-
schläge nicht allzu reichlich waren, und daß der Temperatur-
umschlag nicht allzu plötzlich erfolgte. Vergleichen wir aber
den Salzgehalt des Sees mit dem, den er haben müßte, wenn
er wirklich seit dem Ende der Eiszeit immer als See bestan-
den hätte, so finden wir, daß er für diese Annahme viel zu
gering ist. Schon wenige hundert Jahre würden genügen,
um dem See soviel Salze zuzuführen, als er heute enthält.
Ausscheidungen von Salzen hat man bis jetzt nicht gefunden.
Von den Seen Lahontan und Bonneville gilt bekanntlich ein
Gleiches, und es bleibt dafür keine andre Erklärung übrig,
als daß vor gar nicht langer Zeit diese Seebccken völlig
trocken gelegen haben. Möglicherweise haben Füllung und
völlige Austrocknung mehrfach gewechselt; jedenfalls müssen
wir annehmen, daß das Klima des großen Beckens seit
einigen Jahrhunderten feuchter geworden ist, und können hoffen,
daß Feuchtigkeit und Bewohnbarkeit noch zunehmen werden.
Das große Becken gehört bekanntlich zu denjenigen
Gegenden der Erdoberfläche, in denen heftige Bodenbewc-
gnngen heute noch fortdauern. Auch am Monosee fehlen
die Spuren rezenter Bodenbewegnngeu nicht, sie sind im
Buddhistische Heilkunde. — Spanische Ansicht über die Zukunft der spanischen Sprache.
93
Gegenteil sogar besonders deutlich, weil dicht am See ent-
mng die große Verwerfungsspalte läuft, längs deren das
Plateau von Nevada an der Sierra Nevada abgesunken ist.
Gin steiler Absturz von 15 m Höhe, welcher den Lundy Canon
Eurz vor seiner Ausmündung schneidet und über den der
Bach in Kaskaden herabstürzt, ist offenbar ganz neuer Ent-
stehung, ebenso zahlreiche, noch unausgefüllte Spalten, von
denen viele wahrscheinlich erst dem Erdbeben von 1872 ihr
Dasein verdanken. Es kann also keinem Zweifel unter-
liegen, daß die Erdkruste hier noch nicht ganz zur Nuhe
gekommen ist. Ein Teil der Bewegung ließe sich allerdings
vielleicht durch andre als innere Kräfte erklären. Vom
Kamm der Sierra wird immer eine mächtige Masse von
Schutt und Verwitterungsmaterial herabgeschwemmt und
ionseits der Vcrwersungsspalte aus dem sinkenden Flügel
abgelagert; sie ist wohl im stände, das Gleichgewicht zu
stören und die Senkung zu befördern. Die erste Ursache
kann hierin allerdings nicht liegen und ein Zusammenhang
Mischen den Verwerfungen und den kolossalen Basalt- und
Lavamassen, welche das große Becken erfüllen, kann nicht in
Abrede gestellt werden. Es erscheint den amerikanischen
Geologen auch durchaus nicht ausgeschlossen, daß zu jeder Zeit
hier neue Konvulsionen eintreten können, welche den früheren
Ausbrüchen an Heftigkeit durchaus nicht nachstehen.
Buddhistische Heilkunde und ihr Studium
in Sibirien.
Auf der „Ausstellung des Wolga- und Kama-
gebietes", welche 1890 zu Kasan stattfand, hatte man
u- a. eine Abteilung eingerichtet, welche den Titel „Volks-
medizin" führte. Eine Unterabteilung von Arzneien und
Büchern, welche das Heilwesen bei den buddhistischen
Gingeborenen Südsibiriens, speziell Transbaikaliens,
iW veranschaulichen bestimmt war, nahm besonders das Jutcr-
kffe in Anspruch.
Die ärztliche Wissenschaft der transbaikalischen Buddhisten
(vorzugsweise Burjäten) tritt im tibetanischen Sprachgewandt
v»s und wird von den Lamas, den Trägern geistlicher und
weltlicher Wissenschaft, auf einer etwa 80 km von der
Stabt Sselenginsk entfernt belcgcncn buddhistischen Hoch-
schule erlernt. Der Gesamtkursus derselben umfaßt volle
kO Jahre, die über vier Lehrstufcn oder Kurse verteilt sind.
Bon diesen währt der erste vorbereitende vier Jahre und ist
^er mongolischen und tibetanischen Sprache nebst ihrer Litte-
vatur, sowie der Kenntnis des religiösen Ritus gewidmet;
zweite, dreijährige Kursus ist der medizinische; der dritte,
nur einjährige gilt der Astronomie und Astrologie, der vierte
und letzte von zweijähriger Dauer vermittelt die Erkenntnis
buddhistischer Philosophie und Theologie, beides nach tibcta-
uischer Fassung. Denken wir uns statt der tibetanischen
ble lateinische Form, so haben wir nach dem sachlichen und
bem persönlichen Verhältnis (es handelt sich ja um Kleriker!)
bas christlich-europäische Mittelalter lebendig vor
uns! Im ersten Jahre nun des zweiten, medizinischen
Lehrganges haben die Studierenden fünf Bände tibetanischer
medizinischer Lehrbücher und die tibetanischen Namen sämt-
licher Arzneimitttel auswendig zu lernen, in den beiden folgen-
den Jahren werden sie mit der tibetanischen Therapie und
Chirurgie vorzugsweise praktisch bekannt gemacht. Professoren
"er Medizin sind Lamas, die sich unter den Burjäten als
erfahrene und geschickte Ärzte Ruf erworben haben und die
uoch ihrerseits, wenn nicht jährlich, so doch gewiß ein Jahr
um das andre nach der mongolischen Hochschule zu Urga zu
verreisen pffegen, um hier bei berühmten, aus Hlassa dahin-
oinmenden tibetanischen Ärzten Repetitions- und Ergänzungs-
kurse zu hören.
Die tibetanische Medizin kennt 101 Grundkrankheiten,
unter denen sich außer den auch anderwärts bekannten, wie
Husten, Schlucken, Podagra, Syphilis rc., auch Benennungen
dunkler Art finden, wie z. B. das feuchte Phlegma, die trübe
Hitze, die feurige Geschwulst und ähnliche. Von Arzneimitteln
kennt ein vorliegendes Verzeichnis 429 elementare, die teils
aus den Wurzeln, Blüten und Früchten von Pflanzen be-
stehen, teils aus Mineralien (unter denen das Quecksilber
die nämliche Verwendung wie bei uns findet). Die Apotheke
ist in einer besonderen, kühlen und hölzernen Jurte (Zelt)
untergebracht; hier sieht man an den Wänden derselben
Kommoden aufgestellt; deren Schubkästen sind in Fächer ab-
geteilt, und in diesen liegen wohlgeordnet verschiedene Heil-
mittel; andre werden in Beuteln verwahrt, die teils an den
Wänden hängen, teils auch am Boden nebeneinander in
Reih und Glied stehen. Ein großer Teil dieser Apotheker-
waren wird von Urga aus chinesischen Spezialgeschäften
bezogen, Chinin und einige andre Arzneien stammen aus
russischen Apotheken. In Ostfibirien und namentlich in
Transbaikalien erfreuen sich die tibetanischen Lama-Ärzte
nicht nur unter den Burjaten, sondern auch bei den Russen
eines guten Rufes; man rühmt ihnen nach, daß sie Wunden
und überhaupt äußere Verletzungen, ferner von innern Krank-
heiten Darmkatarrhe erfolgreich zu behandeln verstehen. Die
Mittel werden fast ausschließlich in Form von Pülverchen
gegeben, die meistens aus einer Menge von Elementen (30
bis 60) zusammengesetzt sind, nur selten aus einem einzigen
bestehen. Indessen auch in den sehr zusammengesetzten Arz-
neien wird immer ein Element als das wichtigste, die Heilung
bedingende angesehen, welchem die übrigen nur zur Verstärkung
oder auch zur Abschwächung zugesetzt sind. Was die tibetani-
schen Lehrbücher der Medizin anlangt, so sind dieselben mit
ziemlich richtigen Zeichnungen zur Anatomie des menschlichen
Körpers, sowie mit solchen von chirurgischen Instrumenten
versehen; unter den letzteren entsprechen manche den in Europa
üblichen, andre sind eigenartig. Marthe.
Spanische Ansicht über die Zukunft der
spanischen Sprache.
Gabriel Carrasco aus Rosario de Santa Fs (Argen-
tina) veröffentlicht in der Zeitschrift der Geographischen Ge-
sellschaft zu Madrid H eine Arbeit über die Bedeutung und
Zukunft der spanischen Sprache im Vergleiche zu den übrigen
verbreitetsten Sprachen der Welt. Der Verfasser führt aus,
daß die spanische Sprache in Europa (mit Ausnahme der
Iberischen Halbinsel) fast unbekannt sei, und nur wenige
Personen der Bedeutung derselben Gerechtigkeit widerfahren
lassen. Ein solches Urteil des französischen Kontre-Admirals
Reveillsre wird angeführt. Reveillsre erklärt, daß die
Zukunft der wahrhaft phonetischen Orthographie angehöre,
daß die spanische Sprache für den Marineoffizier die nütz-
lichste sei, da sie leicht zu lesen und zu schreiben sei und sich
dadurch vorteilhaft vor der englischen und französischen Sprache
auszeichne. Er hält cs für möglich, daß die spanische
Sprache die englische mehr und mehr verdrängen werde. In
ähnlicher Weise spricht sich auch El. Reclus (Nouv. Géogr.
Univerp. I, p. 910) aus.
Die Verbreitung einer Sprache hängt von drei Haupt-
sachen ab. Erstens von der Ausdehnung des nutzbaren
Terrains, welches bereits der Herrschaft einer Sprache unter-
steht, und der wahrscheinlichen Zunahme der Bevölkerung
dieser Gebiete; zweitens von der Leichtigkeit, welche die
Erlernung, das Sprechen und Schreiben einer Sprache bietet,
Z Boletín de la Sociedad Geográfica de Madrid,
Tomo XXIX, Num. 1 y 2, p. 120—147 (1890).
94
Das heutige Tarsus in Cilicien.
und endlich drittens von der- geistigen Anlage der Rassen,
welche die betreffende Sprache sprechen, der Bedeutung ihres
Handels, ihrer Litteratur :c.
Unter jedem dieser Gesichtspunkte wird nun die spanische
Sprache geprüft. Es wird zunächst kurz und klar gezeigt,
daß die russische und chinesische Sprache keine Aussicht
haben, sich zn verbreiten. Das ganze asiatische' Rußland
wird stets dünn bevölkert sein. — Während die deutsche
Sprache die Muttersprache von 71 Mill. Menschen ist und
dieselbe ein Gebiet von 861 000 qkm beherrscht (Bet allen
diesen Zahlen sind die Angaben des Gothaischcn Hofkalen-
ders für 1890 zn Grunde gelegt), stellen sich diese Zahlen
für die französische Sprache auf 53i/a Millionen.und
3 201275 qkm. Daneben ist die französische Sprache als
Gelehrten- und Diplomatensprache sehr verbreitet. Trotzdem
hat dieselbe keine Aussicht, Weltsprache zu werden. In ge-
wissen Teilen Nordamerikas wird sie durch die englische, in
Südamerika durch die spanische Sprache verdrängt. Es.ist
ausgeschlossen, anzunehmen, daß die französische Sprache die
herrschende in den Kolonieen dieses Landes werde. Der übrig
bleibende Verbreitungsbezirk der Sprache ist beschränkt, zudem
ist dieselbe schwer zu sprechen und zn schreiben.
Bezüglich der Zukunft der deutschen Sprache sagt der
Autor: „Außerhalb dieser Territorien hat das Deutsche kein
größeres Gebiet, über welches es sich ausdehnen kann; die
Dichte seiner Bevölkerung, wenn sie nicht bereits den Höhepunkt
erreicht hat, ist demselben sehr nahe; sie wird etwas zunehmen,
wird 100 Mill. oder etwas darüber erreichen, aber man
kann vorhersehen, daß die deutsche Sprache nie eine der ver-
breitetsten auf dem Erdbälle werden wird." — Hier ist zu
bemerken, daß der deutschen Sprache in Skandinavien, Holland
und Österreich entschieden noch ein reiches Verbreitungsgebiet
vorliegt und sie als Gelehrtensprache der französischen bereits
starke Konkurrenz macht. Allerdings wird die Verbreitung
unsrer Sprache nie die der englischen oder spanischen erreichen,
da Erlernung und Aussprache derselben sehr schwierig sind.
Die englische Sprache wird von 110 735 483 Menschen
gesprochen und beherrscht ein Gebiet von 29 338 665 qkm.
Hierbei sind Ostindien und Ceylon nicht mit berücksichtigt,
weil hier die englische Sprache nie die herrschende sein wird.
Die Vorherrschaft (auf dem ganzen Erdbälle) ist der eng-
lischen Sprache für die Gegenwart und für eine längere
Zukunft gesichert, aber wird diese Suprematie eine endgültige
sein, soweit sich heute voraussehen läßt?
Herr Carrasco verneint diese Frage. Die spanische und
portugiesische Sprache — letztere erklärt er für eine Tochter
der spanischen und nimmt an, daß dieselbe bald, zunächst in
Brasilien, durch die Muttersprache verdrängt werde — werden
heute von 83 303 279 Menschen gesprochen, welche ein Ge-
biet von 24 206 755 qkm beherrschen. Da diese Gebiete
sämtlich in der gemäßigten und heißen Zone liegen, sind sie
einer großen Bevölkerungszunahme fähig, werden sie für das
nächste Jahrhundert in erster Linie zur Ausnahme der euro-
päischen Auswanderung bestimmt sein. Die englische Sprache
wird durch die dichtere Besiedelung Australiens und Ozea-
niens, des Kaplandes und des südlichen Kanada noch be-
deutend an Ausdehnung gewinnen. Dieselbe ist aber trotz-
dem eine verhältnismäßig beschränkte, da fast 7/s des Ge-
bietes von Kanada unbewohnbar oder nur für eine dünne
Bevölkerung passend sind, und die englische Sprache in Ost-
indien nie nennenswerte Fortschritte machen wird. (Das-
selbe würde von der deutschen Sprache bez. unsrer Kolonieen
zu sagen sein.) Herr Carrasco nimmt auf Grund seiner
Berechnungen — die wir im allgemeinen als logisch und
richtig bezeichnen müssen — an, daß schon nach einem Jahr-
hnndert je 500 Mill. Menschen englisch und 500 Mill.
spanisch sprechen werden.
Sehr richtig sind die Ausführungen des zweiten Kapitels
über die Vorteile, welche die spanische Sprache durch die
Leichtigkeit bietet, mit der sie zu erlernen ist, und die Be-
trachtungen über die große Zukunft, welche dem Handel und
der Industrie der erst wenig ausgebeuteten reichen Länder
des spanischen Amerika und damit der Verbreitung der
spanischen Sprache bevorsteht. Der Verfasser schließt seine sehr-
beachtenswerte Arbeit mit der Mahnung: Europa möge
der reichen, wohlklingenden und leicht zu erlernenden spani-
schen Sprache eine größere Aufmerksamkeit als bisher schenken.
Dieser Wunsch ist besonders im Interesse des deutschen
Handels und der deutschen Auswanderung als ein berechtigter
zn erklären. H. Polakowsky.
Das heutige Tarsus in Cilicien.
Für die Christenheit hat nächst Bethlehem Tarsus als
Geburtsort des Apostels Paulus die größte Bedeutung.
Einer der besten Kenner Kleinasiens, Theodor Beut, hat
sie kürzlich besucht und ihre Altertümer geschildert (Blackwoods
Magazine, Nov. 1890), wobei er einige Bemerkungen über
das neue Tarsus macht. Als Klcopatra dorthin kam, um
den Antonius zu besuchen, konnte sie in ihrem Schiffe den
Kydnos aufwärts bis zur Stadt fahren und bei den Wasser-,
fällen landen, die jetzt l^km östlich vom heutigen Tarsus
liegen. Der Hafen der alten Stadt, Rhegma geheißen, ist
heute ein fieberverbreitender, etwa 1 y2 m tiefer Binnensee
ohne Verbindung mit dem Meere. Es ist hier derselbe Ver-
fall, wie in andern türkischen Städten; die Bewässerung der
brach liegenden Felder hat aufgehört und der klassische Kydnos
heißt jetzt Mesarlik-Tschai, wörtlich — Friedhofstrom. Man
landet jetzt in Mersina und begiebt sich von da mit der Bahn
nach Tarsus und von hier führt ein Stückchen Bahn weiter
nach Osten, bis Adana; es soll dieses der Anfang der einstigen
Bahn nach Bagdad werden.
Tarsus hat seine alte Bedeutlmg und Größe noch im
Anfange der mohammedanischen Zeit gehabt. Es war ara-
bische Grenzfeste mit 100 000 Mann Reiterei als Besatzung.
Daß diese große, einst so volkreiche Stadt gleichsam wie weg-
gefegt ist, erregt Verwunderung. Das Tarsus des Apostels
Paulus ist so gut wie Pompeji eine begrabene Stadt, welche
unter dem Schutt und der Erde ruhen, welche Fluten von
den Bergen herabwnschen. Aus brunneuartigen Schächten
windet man die alten Marmorblöcke, Teile von Statuen und
Sarkophagen empor, um sie zum Bau der elenden modernen
Häuser zn verwenden.
Das heutige Tarsus hat etwa 26 000 Einwohner, die
von Leuten stammen, welche im Laufe der letzten hundert
Jahre einwanderten. Vor einem Jahrhundert lag an der
Stätte der alten Stadt nur ein kleines Dorf. Ringsum
ziehen sich schöne Pflanzungen von Orangen, Zitronen und
Granatbäumen hin, welche die Stadt mit einem grünen
Gürtel umgeben. Wenig Altes zeigt die neue Stadt, wenn
wir die in Moscheen verwandelten Kirchen aus der Zeit der-
einst hier herrschenden armenischen Könige abrechnen. Die
Herrschaft der Türken beginnt mit Ende des 14. Jahrhunderts.
Sehr zahlreich sind die jetzt hier vertretenen Völkerschaften,
über deren erste Ankunft hier schon mancher sich den Kopf
zerbrochen hat. Es sind nämlich vertreten: Indische Sipoys,
Afghanen, Abessinier, Ausarier vom Libanon und dabei
natürlich die Türken, Griechen und Armenier. Im Sommer-
ist das Klima fürchterlich heiß und wegen stehender Sümpfe
höchst ungesund. Dann fiedeln die wohlhabenderen Leute zur
Sommerfrische nach Geuzneh im Taurusgebirge über. Im
Winter dagegen ist das Klima herrlich.
Die Ansarier leben in Rohrhütten im Umkreise der Stadt,
sie sind fleißig und wohlhabend, und zählen mit ihren
95
Di- K»ninch-npl°«- in S6ifloria (Austr-N-n,. - «.» all.» gtbt.iten.
Stammesgcnoss-n in d-n benachbarten Orten zusammen
10 000 Köpfe. In der Stadt selbst bilden das wichtigste
Element die Griechen, unter denen sich sehr reicheren e
sinden; dann folgen die Armenier, die aber religiös in Hro e-
stanten, Katholiken und eigentliche Armenier gespalten sind.
Die drei Konfessionen befehden sich so untereinander daß dre
Armenier nicht zu der Geltung gelangen können, die i inen
der Zahl nach zukommt. In der Stadt des Apostels chan n.
giebt cs heute keinen einzigen Juden.
Die Kaninchenplage in Viktoria
(Australien).
Zahme Kaninchen gab es in der australischen Kolonie
Viktoria schon Ende der dreißiger und anfangs der vierziger
-Fahre. Die Tiere vermehrten sich rasch und viele Jahre
hindurch war große Nachfrage nach Exemplaren zum Zwecke
der Aufzucht. Niemand scheint damals eine Ahnung gehabt
öu haben, wie schädlich diese Vierfüßer mit der Zeit noch
werden konnten und welch hohe Kosten cs verursachen würde,
ihrem Überhandnehmen zu steuern. Man schätzt (nach dem
Victorian Year-book 1888 — 1889, Vol. II) die von
Kaninchen mehr oder weniger heimgesuchten Ländereien auf
10 Proz. der Gesamtgrnndfläche der Kolonie. Für die
Ausrottung wurde seit' 1879 bis 1888 die Summe von
143 300 Pfd. Sterl. verausgabt! Der Verlust, den die Kolonie
durch die Einführung dieses Nagetieres an ihren Graslände-
^cien und Ernteerträgnisscn seit den letzten 11 Zähren er-
litten hat, wird auf ungefähr 3 Millionen Pfd. L>tcrl. ge-
schätzt. Die Grundbesitzer sind zur Vertilgung der Kaninchen
"sÜ ihren Ländereien gesetzlich verpflichtet und wer ein leben-
diges Kaninchen in seinem Besitz hat, kann bis zu 100 Pfd.
^>terl. bestraft werden.
Zur Vertilgung des gefährlichen Nagetieres hat man sich
mehrfach der Frettchen, Wiesel und des Ichneumons bedient,
aber wo das versucht wurde, fand man, daß die eingeführten
Tiere dem Geflügel so sehr zusetzten, daß die Kaninchen das
geringere Übel waren, und überdies hat sich herausgestellt,
daß diese Raubtiere die Kaninchen nur angreifen, so lange
sie hungrig sind. Als das wirksamste Mittel hat sich das
Vergiften erwiesen. Man gebraucht dazu phosphorisierten
Weizen oder Hafer, mit Arsenik vermengte Kleie oder Spreu,
Strychninwasser, gelbe Rüben mit Arsenik oder man tötet
sie in ihren Höhlen, wenn alle Löcher verstopft werden können,
durch Ranch von Schwefelkohlenstoff.
Der Vorschlag Pasteurs, die Kaninchen durch eingeimpfte
Krankheit (Hühnercholera) zu vertilgen, muß als gescheitert
betrachtet werden. Bei einer Reihe von Versuchen ergab
sich nämlich, daß Kaninchen, welchen die Mikroben der
Hühnercholera im Futter beigebracht waren, sehr leicht
starben, aber eine Ansteckung der gesunden Tiere durch die
kranken, wie sie bei den Hühnern verheerend auftritt, findet
nicht statt.
Seit drei Jahren ist der Kaninchenschaden allerdings
bedeutend verringert worden und augenblicklich ist er nicht
groß; ein Nachlassen jedoch in der Verfolgung der Tiere
würde in zwei bis drei Jahren eine gleich zahlreiche Ver-
mehrung, wie je znvor zur Folge haben. Ihre Fruchtbar-
keit ist nämlich eine unglaubliche, und Mr. B. Brook, der
die Vertilgungsakte handhabende Beamte der Kolonie, ver-
sichert, daß zwei Kaninchenpaare unter günstigen Umständen,,
wenn sie in jeder Beziehung ungestört und reichlich mit
Futter versehen sind, in drei Jahren zur enormen Ziffer
von 5 000 000 anwachsen. Grund genug, in der fort-
währenden und energischen Thätigkeit der Vertilgung nicht
zu erlahmen. E. M.
Aus allen Erdteilen.
— Die Salpetcrlager Chiles sind neuerdings von
H. Russell in seinem Werke A Visit to Chile and
J Nitrate Fields of Tarapaca (London, Virtne, 1890)
hildert worden. Er besuchte sic im Gefolge des „Salpeter-
ägs" Oberst North, eines der Hanptbesitzer, und erhielt
'urch klaren Einblick in alle Verhältnisse. Die Salpeter-
er, welche als geologische Formation auftreten, liegen stets
750 bis 1100 m Höhe über dem Meere, 15 bis 130 km
1 der Küste entfernt zwischen 19° und 27° südl. Br. Ihr
halt nimmt nach Norden hin zu; so steigt der Gehalt des
liche, des Salpeterfelsens, von 33 Proz. in der Wüste
acama bis auf 40 und 50 Proz. im Distrikte Tarapaca,
tm letzten Kriege von Chile erobert wurde, die Salpeter-
)er enthalten viele Millionen Tonnen des wertvollen
~ “ ' r ----------------------------—->« w haft Oberst
cs, dessen Ausfuhr so zugenommen yar, emp
h allein jährlich 7 Millionen Mark für Bereitung und
uhr der Nitrate seiner Werke in Tarapaca zahlt. Dr.
'll beschäftigt sich eingehend mit der öfter schon behandel-
Frage nach der Entstehung der Nitrate, Sulfate und
uren Salze, sowie der ihnen beigesellten Stoffe: Koch-
Chlorcalcinm, Gips, Jod- und Bromverbindungen.
vohl er selbst keine bessere Theorie an die Stelle zu
vermag, kann auch er die „Lagunenhypothese" nicht an-
lcn, nach welcher die Lager in Einschnitten des Meeres
rüden sind, tvelche durch Erhebungen zu Landseen wurden,
verdunstete das Wasser allmählich und hinterließ eine
von reinem Seesalz, welche, bei Abwesenheit des Regens
mer Gegend, trocken und Jahrhunderte lang den ver-
schiedensten chemischen Einwirkungen ausgesetzt blieb. Daß an
der chilenischen und westamerikanischen Küste Hebungen bis
zn 400 in Höhe stattfanden, dafür liegen Beweise vor. Andrer-
seits nimmt man aber auch wieder an, daß früher hier Regen
gefallen sein muß, wofür die zahlreichen menschlichen Über-
reste (Grabfunde, Waffen, Webstoffe, Bronze- und Stein-
geräte) sprechen, die sich in heute ganz unbewohnten Gegenden
finden. Fiel aber Regen, wie konnten jene Lager sich un-
gelöst in trockener Form erhalten? Heute ist dort weit und
breit kein Tropfen Wasser zn finden.
Trotzdem kann man die Lagnnentheorie aufrecht erhalten
wenn man die gesellschaftlichen Zustände des alten Reichs
der Inkas im Auge behält, von dem die Salpeterdistrikte
einen Teil bildeten. Es ist bekannt, daß im ganzen alten
Peru die Kunst der Bewässerung zn einem hohen Grade ver-
vollkommnet war, so daß manche jetzt ans Mangel an Wasser
nnbemohnte Gegenden in vorkolumbischer Zeit dicht bevölkert
waren. So z. B. die Küste von Ancon am nördlichen Ende
der regenlosen Zone, wo Reiß und Stübel ihre großartigen
Ausgrabungen ans dem dortigen Totenfelde machten. Die
Atacamawüste war, wenigstens teilweise, von Indianern be-
wohnt, die den bolivianischen Aymara nahe standen, und
einige dieser Atacamenos leben noch an der Punta Negra
Salina am Westfuße des Vulkans Llnllayaca. Die Kupfer-
geräte und Webstoffe, die in Tarapaca gefunden wurden, deuten
auf eine vergleichsweise hohe Kultur und damit eher auf das
Vorhandensein von Bewässerungswerken als auf einen Klima-
wechsel, für den sonst nichts spricht.
96
Aus allen Erdteilen.
— Über große Heuschreckenschwärme, die Ende Mai
1890 im Roten Meere angetroffen wurden, berichtet der
Reichspostdampfer „Bayern". Am Morgen des 27. Mai,
als wir uns im Roten Meere ans ungefähr 18° nördl. Br.
befanden, wurden wir auf einzelne fliegende Insekten auf-
merksam, von denen bald einige auf Deck fielen, wo sie als
Heuschrecken erkannt wurden. Im Laufe des -Tages er-
schienen dieselben in immer größeren Mengen. Sie flogen
in losen Schwärmen, im Durchschnitt nicht höher als 6 bis
12 m über der Meeresoberfläche, mit dem Winde, der zur
Zeit mit der Stärke 3 bis 5 ans N.N.W. wehte. (Die
Windstärken zählen von 1 bis 10, derartig, daß 1 die
geringste, 10 die größte Stärke bedeutet.) So weit das
Auge reichte, war die Meeresoberfläche mit breiten, dichten
Streifen der Heuschrecken bedeckt. Diese Streifen begannen
sich zu zeigen gegen Mittag des 27. Mai in 19° nördl. Br.
und 39,5° östl. Länge, auf der Höhe von Suakim, und
endigten erst am Morgen des 29. Mai in der Nähe der
Jubalstraße, in 27° nördl. Br. und 34,7° östl. Länge, er-
streckten sich also über einen Strich von 550 Seemeilen
Breite, wobei der Dampfer der Flugrichtung der Insekten
entgegen fuhr. Die Tiere hatten eine hellbraune Farbe und
waren 4 bis 5 cm lang. (Annal. d. Hydrogr. 1890, 373.)
— Das Leichenverbrennnngssystem in Japan ist
jetzt so vorzüglich entwickelt, daß es in wirtschaftlicher wie
gesundheitlicher Beziehung fast tadellos genannt werden
kann. Nach Pastor Spinner besitzt die Hauptstadt Tokio
gegenwärtig sechs Krematorien, in welchen etwa ein Drittel
aller Verstorbenen verbrannt wird. 1888 wurden von
34437 Verstorbenen in Tokio 11023 verbrannt, die übrigen
beerdigt, doch nimmt die Zahl der Verbrennungen zu, seit
die Beerdigungen in der Stadt selbst verboten sind. Es
giebt, je nach der Behandlung des Sarges bei der Ver-
brennung, drei Klassen derselben; die Preise sind erste Klasse
25 Mk., zweite 8 Mk., dritte 4 Mk. Die Verbrennungs-
öfen, ganz vorzüglich eingerichtet, sind meist im Besitze von
Aktiengesellschaften und bedürfen zur Verbrennung nur sehr
wenig Holz. Es genügen etwa 20 Scheite von Armdicke
und iy2 bis 2 Fuß Länge, zusammen 66 Pfund im Werte
von einer Mark. Die Verbrennung nimmt kaum 3 Stunden
in Anspruch und ist so vollständig, daß nur die Zähne nn-
verbrannt übrig bleiben; die Urne mit der Asche wird am
Tage nach der Verbrennung von den Verwandten abgeholt
und in der Stadt bei einem Tempel beerdigt. (Mitteil. der
deutschen Ges. für Natur- u. Völkerkunde Ostasiens 1890,
Heft 44, 156.)
— Unsre Kenntnis von den seltsamen Cliff-dwellers,
deren Wohnungen sich an vielen Steilhängen der südwestlichen
Bereinigten Staaten und Nordmexikos erhalten haben, hat eine
große Bereicherung erfahren durch Schwatkas Entdeckung,
daß im südwestlichen Chihuahua heute noch Indianer-
stämme in echten Cliff-dweüings wohnen. Es ist Schwatka
zwar nicht gelungen, in Verbindung mit diesen ängstlich jeden
Verkehr mit andern meidenden Indianern zu kommen, aber
er hat sie genau genug gesehen, um zu erkennen, daß sie groß
und schlank und auffallend dnnkelhäutig sind. Sie bedienen
sich zum Klettern gekerbter Baumstämme; für das Nieder-
steigen haben sic in bestimmter Reihenfolge Löcher in die
Felsen gemacht, die allerdings nur der genau damit Bekannte
benutzen kann. Für Fremde sind die Dörfer unzugänglich.
Schwatka glaubte zu erkennen, daß die Cliff-dwellers die
Sonne anbeten; neugeborene Kinder werden eine Zeitlang
den Sonnenstrahlen ausgesetzt. — Seine Entdeckung hat in
Amerika gebührendes Aufsehen erregt; eine neue Forschnngs-
expedition ist aber erst kürzlich zu stände gekommen; sie steht
unter der Leitung des norwegischen Gelehrten Lumholtz. —
Übrigens hat A. Pinart schon 1879 am Rio Cucurpe in
Sonora am andern Abhang der Sierra Madre ähnliche
Beobachtungen gemacht; die Bewohner dieser Thäler gehören
wie die in Chihuahua zu der großen Familie der Tehues.
Die Cliff-dwellings sind übrigens wahrscheinlich weniger eine
ethnographische Eigentümlichkeit, als bedingt durch geologische
Verhältnisse, das Auftreten einer Bank zerreiblichen Gesteines
zwischen zwei dicken widerstandsfähigen Felsschichten und
deren Aufschluß durch tiefe Barancas. (Compte rendu
Soc. Geograph. 1890, 453.)
— Prähistorisches vom Ussuri. Je geringer noch
unsre Kenntnisse von den prähistorischen Verhältnissen Ost-
asiens — Japan ausgenommen — sind, desto willkommener
ist jede Kunde nach dieser Richtung. Wie wir durch einen
Vortrag von A. W. Jelissejew ans der Petersburger Ver-
sammlung der russischen Naturforscher und Ärzte 1890 er-
fahren, find im Gebiete des südlichen Ussuri, eines großen
rechten Nebenflusses des Amur, zahlreiche prähistorische Arte-
fakte gefunden worden, die nach ihm auf die „Steinzeit"
schließen lassen, welche allerdings in jenem Gebiete neben
der hohen chinesischen Kultur bis spät in die geschichtliche
Zeit reichte. Jelissejew entdeckte Küchenabfälle, Geräte und
Werkzeuge aus Stein und Knochen, ähnlich denen, wie sie
im nördlichen Europa vorkommen. Die aufgefundenen
Schädel zeigen den Typus der Orotschonen, eines rennticr-
züchtenden Volkes, das noch jetzt am Amur lebt.
— In Manitoba (Dominion of Canada) leben jetzt
gegen 10 000 dorthin ausgewanderte Isländer, von denen
etwa ein Drittel in Winnipeg ansässig ist. Kanadische
Blätter preisen sie als die besten Ansiedler des Landes, deren
Landwirtschaft in der höchsten Blüte steht. Die meisten sind
mittellos in Manitoba angelangt, befinden sich aber jetzt
durchweg in günstiger Lage. Auch in den Städten sind die
Isländer wegen ihres ruhigen, fleißigen und nüchternen
Lebenswandels gern gesehene Bürger. Der Zug der islän
dischen Auswanderung nach Kanada hält an.
— Alte Goldbergwerke in Maisnr (Südindien).
Indien gehört nicht unter die goldreichen Länder, aber ganz
ohne Gold ist es auch heute nicht und in alter Zeit scheint
der Bergbau auf Gold ausgedehnter als jetzt betrieben worden
zu sein. Dafür zeugen die sehr kunstgerecht angelegten alten
Goldbergwerke, die man jetzt in Maisnr aufgefunden hat.
Sie liegen an den Bergabhängen, wo man mit der Wasser-
losung nicht viel zu schaffen hatte und bestehen aus Schächten
und Gallerieen. In Kolar, wo man jetzt moderne Bohr-
maschinen zur Bewältigung des Urschiefers eingeführt hat,
fanden die englischen Bergleute zu ihrem Erstaunen in 100 in
Tiefe bereits alte Schächte vor. Daß die alten indischen
Bergleute auch chemische Kenntnisse besaßen und sich auf das
Raffinieren der Metalle verstanden, schließt man aus den
Kenntnissen, welche die indischen Goldwäscher in jenen
Gegenden heute noch entwickeln. Sie haben ihre Probiersteine
und führen kleine Holzflaschen mit Quecksilber bei sich. Das
letztere gebrauchen sie, um die kleinen Goldteilchen, die sich in
einem schwarzen Sande befinden und durch Waschen allein
aus diesem nicht entfernt werden können, durch Amalgamie-
rung zu gewinnen. Das Quecksilber wird durch Erhitzung
aus dem Amalgam entfernt, es bleibt dann schwammiges Gold
zurück, das auf dem Probiersteine auf Silber- und Kupfer-
gehalt untersucht wird. Ist viel Kupfer vorhanden, so wird
dieses durch Schmelzen mit Salpeter entfernt (Madras Mail).
Herausgeber: Dr. R. Andrer in Heidelberg, Leopoldstraße 27.
Druck von Friedrich Vieweg und Sohn in Braunschweig.
Bd. LIX.
Nr. 7.
ImltkKMfir
Begründet 186 2
} / /
von
Karl Stn&fce.
Herausgegeben
von
Richard Andrer.
Ar-uck und Wevbcrg
t> c? n
iriedrich ^ieweg & Sohn.
‘ c^fn-íiá, o Bände in 24 Nummern. Durch alle Buchhandlungen und Postanstalten 1QCM
Braunschwei g. “ zum Preise von 12 Mark für den Band zu beziehen._
Das Heidentum im
Don Daniel G. Br
Ankatan bietet dein Ethnologen ein eigentümliches Schau-
spiel dar; während fast überall ans dem amerikanischen
Kontinente die eingeborene Nasse vor den weißen Eindring-
lingen verschwindet oder diesen untergeordnet ist, hat sie
hier die Oberhand erlangt. Die eingeborene Sprache hat
das Spanische verdrängt, und zwar so, daß ganze Ort-
schaften mit weißer Bevölkerung nur Maya reden und das
Kriegsglück ist in der letzten Generation so sehr aus Seite
der eingeborenen Tapferen gewesen, daß diese sich in unbe-
strittenem Besitze des größeren Teils der Halbinsel befinden.
Ist hierin vielleicht ein Wiederaufleben jener angeborenen
Energie zu erkennen, welche ihre Vorfahren zum Bau der
bemerkenswertesten Architekturschöpfungen auf dem Kontinent,
und zur Entwickelung eines reifen sozialen und politischen
Gemeinwesens befähigte? Es kann dieses kaum bezweifelt
werden; doch, wie dem auch sein möge, solche Betrachtungen
müssen an allem, was sich aus eine so zähe Rasse bezieht,
unser Interesse erwecken.
verdienen diese Beachtung. Gaz um ¡)uiumT.........,..... _
sitz von hierauf bezüglichem Stofs, der noch nicht veröffent-
licht wurde, sowie von Materialien, die selbst sehr fleißigen
Gelehrten nicht leicht zugängig sein dürften. Zu dem
ersteren gehört eine Handschrift des Lizentiaten Zetina von
Tabasco, eines Eingeborenen von Tihosuco, einige Nach-
richten des Don Jose Maria Lopez von Merida und des
verstorbenen Dr. Berendt. Unter die letzteren rechne ich
einen Bericht des Don Bartholome Granado de Baeza, Geist-
licher von Ñapeaba, geschrieben im Jahre 1813 und einen
jüngeren Bericht des gelehrten Geistlichen Estanislao Car-
rillo i). Ans diesen Quellen und mit Hilfe der Wörter-
bücher habe ich entnommen, was ich geordnet hier darbiete.
ft Informe del Señor Cura de Yaxcabä, Don Barto-
lomé del Granado Baeza im Registro Yucateco I, 165. —
Abbé Estanislao Carrillo war Cura von Ticul, wo er 1846
starb. Er war ein eifriger Altertumsforscher, der von Stephens
in seinen Reisen in Pukatan oft erwähnt wird. Sein Aufsatz
erschien im Registro Yueateeo IY, 103.
Globus LIX. Nr. 7.
christlichen yukatan.
inton. Philadelphia.
Diese Mayas, wie die Eingeborenen sich selbst nennen,
wurden zur Zeit der Eroberung (um 1550) in der be-
kannten summarischen Weise der Spanier bekehrt. Wollten
sie sich nicht taufen lassen, so hing man sie auf oder ersäufte
sie. Einmal getauft, prügelte man sie, wenn sie nicht zur
Messe gingen und man verbrannte sie, wenn sie in ihr
Heidentum zurückfielen. Man erhielt sie dabei jn der
dunkelsten Unwissenheit aus Furcht, daß sie zuviel lernen
und dann zweifeln möchten. Ihr sogenanntes Christcn-
tnm war daher nur der alte Heidenglaube unter neuem
Namen; er brachte ihnen weder geistige Erleuchtung noch
Fortschritt. Der einheimische Geschichtsschreiber Apolinar
Garcia y Garcia sagt daher von ihnen mit Recht: „Der
einzige Unterschied war der, daß sie aus heidnischen Götzen-
dienern zu christlichen Götzendienern umgewandelt wurden."
Bis zum heutigen Tage ist daher auch der Glaube an
Zauberer, Hexen, Magie so stark, wie er nur je war, und
in verschiedenen Fällen werden noch jetzt dieselben Gebräuche
beobachtet, wie zur Zeit vor der Eroberung.
Der Zauberer heißt h’men (männliche Pcrsonalsorm
vom Verbum men, verstehen, thun). Er ist also einer, der
etwas weis, ausführt. Sein Hauptgerät ist der zaztun,
der helle Stein, ein Quarzkristall, der vorher mit Gummi,
Eopal und Weihrauch eingerüuchert wurde, wobei man feierlich
alte magische Formeln in einem altertümlichen Dialekte spricht.
So ist er fähig geworden, daß man Vergangenheit und Zu-
kunft in ihm erblicken kann; der Wahrsager sieht in ihm,
wie man verlorene Dinge wieder erhält, wie cs dem Ab-
wesenden ergeht, wessen Zauberei Krankheit oder Unglück
über einen Menschen gebracht hat. Es giebt kaum ein
Dorf in Zukatan, in dem nicht so ein Zauberstein vor-
handen ist. Diese wissenden Männer haben auch großen
Einfluß ans das Gedeihen der Herden und in dieser Be-
ziehung werden sie viel in Anspruch genommen. Man ruft
sie, christlichen und heidnischen Aberglauben mischend, zur
Ausführung einer misa milpera (misa spanisch — Messe;
milpera — Kornfeld). Dieser Brauch wurde schon von Diego
de Landa, einem der ersten Bischöfe der Diözese Mckatan,
erwähnt. Die Zeremonie wird folgendermaßen abgehalten.
13
98
Daniel G. Brinton: Das Heidentum im christlichen Pukatan.
Auf einem aus gleichlangen Holzscheiten errichteten Altar
legt der heimische Priester ein Huhn, das er, nachdem er
ihm etwas Pitarrilla (das einheimische Getränk) in den
Schnabel gegossen, tötet. Die Diener kochen das Huhn und
richten es mit großen Maiskuchen von besonderer Art zu.
Ist alles bereit, so naht sich der Priester der Tafel, taucht
ein Bündel grüner Blätter in einen Krug voll Pitarrilla
und besprengt damit die vier Himmelsgegenden, wobei er
die christliche Dreieinigkeit und zugleich die Pah ah tun, die
heimischen vier Hanptgötter, anruft. Diese letzteren waren
schon vor der Eroberung und sind noch heute die Götter
des Regens, also der Fruchtbarkeit, identisch mit den aus
den vier Himmelsrichtungen blasenden vier Hauptwinden.
Jedem ist eine besondre Farbe heilig und in neuer Zeit ist
jeder einem katholischen Kalenderheiligen gleich gesetzt worden.
So der rote Pahahtun — Osten und St. Dominikus; der
weiße — Norden und St. Gabriel; der schwarze — Westen
und St. Johannes; der gelbe — Süden und weil weiblich
St. Maria. Dieses berichtet Pater Baeza.
Der Name Pahahtun ist schwer zu enträtseln, bedeutet
aber vielleicht „Pfeiler" oder „errichtet", was gut zu der
alten Beschreibung der mit der Verehrung jener Gottheiten
verknüpften Zeremonieen stimmt. Di? die vier Himmels-
richtungen bezeichnenden Farben sind bei den verschiedenen
mittelamerikanischen Völkern verschieden, worüber Gras
de Charencey eine Abhandlung geschrieben hat I. Als der
unermüdliche Ab bä Brasseur aus Burburg die Pflanzung
Xcanchakan im Inneren Pukatans besuchte, hörte er die An-
rufung der vier Himmelsgegenden, welche er mitteilt. Sie
lautet in der Übersetzung^): „Beim Aufgange der Sonne,
Herr des Ostens, geht mein Wort nach den vier Himmels-
richtungen, nach den vier Erdwinkeln im Namen Gottes
des Vaters, des Sohnes und des heiligen Geistes. Wenn
sich im Osten Wolken erheben, wenn Der kommt, welcher
die 13 Wolkenformen ordnet, der gelbe Herr der Stürme,
der, welcher die Herstellung des Göttertranks beherrscht, der,
welcher die Schutzgeistcr der Felder liebt, dann bitte ich um
seine kostbare Gunst. Denn ich befehle alles in die Hände
Gottes des Vaters, des Sohnes und des heiligen Geistes."
Das ist ein Beispiel der Mischung von heidnischem und
christlichem Aberglauben, ein Ergebnis dreihundertjähriger
christlicher Erziehung!
Von dem einst nuf der ganzen Halbinsel herrschenden
Feuerdienst haben sich auch Reste erhalten. Die Missionare
erzählen davon als der besta cts fuego, Feuerfest, doch sind
keine zuverlässigen Schilderungen der geheim gehaltenen Zere-
monie vorhanden. Daß aber noch nicht alles davon ver-
schwunden, geht aus einem Kalender für 1841—42 hervor,
den Stephens während seiner Reise in Pukatan erhielt. In
diesem sind Glücks- und Unglückstage angemerkt und dann
Bemerkungen wie: „Jetzt zündet der Brenner das Feuer
an", „der Brenner giebt seinem Feuer Platz", „der Brenner
ergreift sein Feuer", „der Brenner löscht sein Feuer". Der
Brenner, ah toc, ist der heutige Vertreter des alten Feuer-
priesters. Wir besitzen noch einige dunkle Andeutungen von
der wichtigen Zeremonie tupp kak, Auslöschen des Feuers,
die noch lange nach der Eroberung fortbestand und vielleicht
heute noch in fernen Dörfern ausgeübt wird. Das heilige
Feuer im alten Mayalande wurde von erwählten Jungfrauen
gehütet; es scheint einigermaßen mit der lebenspendenden
Kraft im Tier- und Pflanzenreiche gleichgestellt zu sein.
Das „Fest der Seelenfütterung" ist gleichfalls eine
moderne Zeremonie, die aus alten Glauben zurückgeht, wie
1) Des couleurs considérées comme Symbols des
points de l’horizon chez les peuples du nouveau Monde.
Actes de la société philologique, tome VI (Octobre 1876).
2) Chrestomathie de litérature Maya 101 (Paris 1870).
bei allen Urvölkern, die da wähnen, die Seele bedürfe stoff-
licher Nahrung. Aus Mais und Hühnerfleisch werden kleine
Kuchen bereitet, die man in unterirdischen Ofen bäckt. Per-
sonen, die ihren verstorbenen Verwandten damit etwas zu
gute thun wollen, legen sie auf den Altar der Kirche nieder.
Diese Kuchen heißen banal pixan, Seelennahrung. Sie
dienen offenbar dazu, die Seele aus ihrer Reise ins Schatten-
land zu ernähren.
Beit deut Gedeihen der Ernten und Früchte ist mancher-
lei kleinerer Aberglaube verknüpft. So glaubt man, daß
die weiße Zapote (8apota achras) nicht von selbst reife.
Wenn sie sich der Reife nähert, utilß man sie leicht einige
Male anzapfen und dabei sprechen:
• hohen cheche ; ocen takan !
Unreife vergehe; Reife komme!
Die Eule gilt als Unglücksvogel, deren Flug über das
Hans Krankheit oder Tod andeutet. Ein andrer Vogel,
der Eop, eine Art Fasan, soll durch seinen lauten Ruf das
Herannahen des Nordwindes andeuten.
Zuweilen wird eine sehr eigentümliche Zeremonie ange-
wendet, um das Sterben Kranker zu verhindern. Der Herr
des Todes bei den Mayas war Pum Cimil, welcher in
Gestalt eines Gerippes dargestellt wurde, und der um die
Häuser der Kranken sich herumtrieb in der Absicht, bei
passender Gelegenheit einen solchen mit sich fortzuführen.
Indessen läßt er sich auch mit irgend einem stellvertretenden
Gegenstände abfinden und zu diesem Zweck lassen sich die
Eingeborenen auf den „Tausch", kex, ein. In die Bäume
rings um das Haus hängen sie Krüge und Netze mit Ge-
tränk und Nahrung, wobei sie einige Sprüche sagen; so
wird nach ihrer Meinung der Herr des Todes abgefunden
und der Kranke genest.
Diese Zauberer, die hier erwähnt sind, werden familiär
lat leb — Papagesicht und Tata Polin = Papakopf ge-
nannt , vielleicht mit Bezug auf den ehemaligen familiären
Namen einer Hanptgotthcit, bin leb — das Gesicht (Auge)
des Tages, das ist die Sonne.
Allgemein schreibt man den Zauberern die Kraft zu,
sich in Tiere verwandeln zu können. Hätte man nicht den-
selben Glauben in Kulturländern, so wäre es schwer, die
feste Überzeugung, die in dieser Beziehung in Mittelamerika
herrscht, zu verstehen. Pater Baeza erzählt, daß einer dieser
alten Zauberer aus dem Totenbette gebeichtet habe, daß er
sich öfter in wilde Tiere verwandelt hätte. Im vollen
Ernste berichtet der englische Priester Thomas Gaze, der
1630 in Guatemala Geistlicher war, eine Anzahl solcher
Geschichten. Selbst in unsern Tagen war der Gelehrte
Abbe Brasseur aus Burburg nicht zufrieden mit natür-
lichen Erklärungen der Taschenspielerei des Nagualismus,
wie das System schwarzer Kunst bei den Mittclamerikanern
heißt, und war unsicher, ob nicht teuflische, unsichtbare Kräfte
dabei mitwirken I.
Die heiligen Bücher der Ouiches (eines in Guatemala
lebenden, den Mayas verwandten Stammes) schreiben diese
Kraft einem ihrer berühmtesten Könige zu. Es heißt da:
„Gewiß, dieser Gucumatz wurde ein wunderbarer König.
Alle sieben Tage stieg er in den Himmel und alle sieben
Tage folgte er dem Pfade, der nach dem Aufenthalte der
Toten führte; alle sieben Tage verwandelte er sich in eine
Schlange und wurde sicherlich eine solche; alle sieben Tage
nahm er Adlergestalt an und dann wieder Tigergestalt und er
wurde sicherlich ein Adler und ein Tiger. Alle sieben Tage I
I 1'h. Gage, A new survey of the West Indies,
London 1699, 377. — Brasseur de Bourbourg, Voyage
sur l’istlime de Tehuantepec, Paris 1862, 175.
Daniel G. Brinton: Das Heidentum im christlichen Yukataiu
99
Verwandelte er sich wieder in geronnenes Blut und er war
dann nichts als geronnenes Blut." H
Diese Zauberkraft besaßen Männer wie Frauen gleich-
mäßig. Dieses geht aus einer bisher unveröffentlichten Ge-
schichte hervor, welche ein Mahawcib dem Dr. Berendt in
den Wildnissen Aukatans erzählte und in der cs sich um
das Salz als Gegenmittel gegen Zauberei handelt. „Ein
Mann heiratete ein Weib, wußte aber nicht, daß sie eine
Hexe war. Eines Tages sagte er ihr: Mische zwei Maß
Salz. Sie mischte sie und fragte dann: Warum willst du
dieses? Eines Nachts erwachte der Mann und sah sein
Weib hinausgehen. Daun nahm er seine Axt und folgte ihr
heimlich in den Wald. Als sie an einer kleinen Wiese an-
langten, schien der Mond helle und der Mann verbarg sich
im Schatten eines großen Saibabaumcs. Das Weib warf
nun seine Kleider ab und stand nackt int Mondenscheiu;
dann streifte cs die Haut ab und stand nun als ein Gerippe
gleich Blitzen und der Schlag erklang wie fürchterlicher
Donner, von dem die Erde erzitterte. Sinnlos vor Furcht
stürzt der arme Indianer zu Boden; als er wieder zu sich
kam, hatte ein Hagelsturm die Ernte vernichtet und er selbst
verfiel einem Fieber, das ihn beinahe das Leben kostete.
Die Balams sind starke Raucher und die Indianer
glauben, daß die Sternschnuppen nichts andres seien, als die
von ihnen vom Himmel herabgeworsenen Zigarrenstummel.
Zuweilen entführen sie zu ihren Zwecken Kinder. Solch
einen Fall hörte Dr. Berendt von der Insel San Pedro,
nördlich von Belize. Dort verschwand ein kleiner Knabe in
einer Kakaopflanzung spurlos — natürlich hatte ihn ein
Balam geraubt.
Was zur guten Lebensart gehört, versteht der Balam den
Menschen einzuschärfen. Darüber berichtet Zetina eine Ge-
schichte, die ihm seine einheimischen Freunde mitteilten. Ein
.......................rT- Indianer und sein Weib gingen ins Feld, um Maisähren zu
Sl, swa es mn Simmel. 'Äls sie wieder herabkam, ernten; als nun der Mann einmal fortging, um Wasser zu
ii,i+i''s;.« wxrfi+oii ii,. s«* (VH.11.ns nwnUi,'.» ^och holen, warf das Weib die Kleider ab, damit sie nicht bc-
rlz- schädigt würden, und stand widr ^ ^ r ■
sagte sie zu ihm: Möchtest du den Himmel erreichen. Doci
sie konnte nicht wieder zum Himmel fliegen, wegen des Salz
Wurfs."
Dem Maya sind Wälder, Luft und die Finsternis mi.
mysteriösen Wesen erfüllt, die ihm schaden oder Dienste
leisten, doch meistens ersteres, da die Mehrzahl der Phantasie-
gebilde zu den bösen Geistern gehört. Zn den guten ge
hören die Balams (Im Mayaplural Hbalamob). Mit
diesem Worte bezeichnet man auch den amerikanischen Tiger;
als Auszeichnung legt man es einer Klasse von Priestern
und den Königen bei. Die heutige Bedeutung der Balams
schildert uns der erwähnte Lizentiat Zetina von Tihosuco in
seiner Handschrift. Nach ihm sind diese Wesen sehr alte
Männer, welche die Städte behüten und an den vier Himmels-
gegenden stehen. Am Tage kann man sie gewöhnlich nicht
sehen, sieht man sie aber, so ist dieses ein Zeichen von heran-
nahender Krankheit. Nachts sind die Balams wachsam und
verhüten Unheil, das der Stadt droht, wie Regenschauer,
Stürme, Pest. Mit lautem, schrillem Pfeifen rufen sie ein-
ander an und obgleich sie keine Flügel haben, fliegen sie
schnell wie ein Vogel durch die Lust. Gelegentlich haben sie
mit den bösen Mächten, die der Stadt schaden wollen, ver-
zweifelte Kämpfe. Aus Zeichen dieser nächtlichen Kämpfe
erblickt man am nächsten Morgen zerbrochene Bäume, anf-
gerissenen Boden, nmhergcworfcne zerborstene Steine.
Eine andre ihrer Pflichten ist die des Hiitens der Korn-
felder oder Milpas. Es ist nicht unmöglich, daß die Balams
in dieser Eigenschaft mit den oben erwähnten Pa ahtuns
identisch sind, und daß beide direkte Abkömmlinge der alten
Ackerbaugötter der Mayas, der Ehac oder Bacab, sind,
welche Bischof Lauda u. a. beschreiben. Kein Indianer der
Halbinsel unterläßt zur Zeit des Kornpflanzens, die Balam
durch passende Opfer zu versöhnen; thut er das nicht, so geht
die Ernte durch Regen oder auf andre Weise zu Grunde.
Senor Zetina erzählt eine hierauf bezügliche Geschichte. Ein
Indianer aus der Gegend von Tihosuco hatte, angesteckt
von moderner Zweifclsncht, die üblichen Opfcrgabcn nicht
dargebracht. Die Ernte wuchs Prächtig hervor und er begab
sich aufs Feld, um die reifenden Ähren zu betrachten. Beim
Näherkommen sah er zu seinem Erstaunen einen großen
Mann zwischen den Maisstengeln, welcher die Ähren in
einen Korb auf seiner Schulter sammelte. Zögernd grüßte
ihn der Indianer. Der Fremdling erwiderte: Ich sammle
hier nur, was ich sandte. Dann zog er ans seiner Tasche
eine ungeheure Zigarre, nahm Stein und Stahl und begann
Feuer zu schlagen. Die Funken, die er schlug, waren aber
würden, und stand nackt da. Da rief eine laute
Stinnue pixe avito, xnoli cizin, was Zetina wörtlich ins
Spanische übersetzt: tapataculo, gran diablo! Gleichzeitig
erhielt die Frau zwei Hiebe mit einem Rohr — als sie um
sich blickte, stand ein schlanker weißbärtiger Mann in langem
Gewände vor ihr. Das war der Balam. Er gab ihr noch
zwei Hiebe auf den von ihm bezeichneten Körperteil und ver-
schwand. Die Narben der vier Hiebe, welche das Weib
empfangen, blieben zeitlebens sichtbar.
Vergebens sucht man den Indianern das Thörichte solcher
Geschichten auszureden; sie versuchen es nicht einmal, darüber
zu streiten, sondern sagen einfach: Wie kann das anders als
wahr sein?
Die Balams sind in der That die Götter der vier
Hinttnclsrichtungen und der aus denselben kommenden Winde
und Regen, somit ein Überbleibsel der alten Hauptgötter.
Dem Eingeborenen ist der Wind immer noch etwas Über-
natürliches. Als Dr. Berendt mit Indianern durch die
Wälder zog und ein tropischer Tornado heulend durch die
Bäume blies, rief einer seiner erschreckten Führer: IW catal
noliocli yikal nohoch tat: Hier kommt der gewaltige Wind
des großen Vaters. Doch nur in unbewachten Augenblicken
äußert sich der Indianer so; fernere Ausforschungen bleiben
fruchtlos. Einen Wink giebt uns Zetina, welcher sagt, daß
das Pfeifen des Windes dem tat acmo, dem Vater Stark-
vogel zugeschrieben wird. Ein Urvogel, der zugleich Herr
der Winde und Vater des Stammes ist, findet sich bei vielen
Amerikanern.
Der Balam, ein gütiges Schutzwesen, wird zärtlich yum
balam, Vater Balam, genannt. Er besitzt Menschengestalt,
langen weißen Bart und ein wehendes Gewand. Neben
ihm giebt cs aber andre Gespenster von Riesengroße, schauer-
lich anzusehen und von roher Art. Eines derselben ist so
groß, daß ein Mann ihm nicht an die Kniee reicht. Mitter-
nachts geht cs durch die Straßen, stellt sich wie ein Koloß
quer über dieselben hin, ergreift die achtlos Dahingehenden
und zerknackt ihnen mit den Zähnen die Beine oder schlagt
sie mit plötzlicher Ohnmacht. Der Name dieses Wesens ist
Riesengreifer, na na pach.
x) Popol Vuh, Le livre sacré des Quiches. Paris
1864, 315.
Ein andrer ist der Holzmann, ehe vinic der Maya,
der Salonge der Spanier, ein riesiger Kerl ohne Knochen
und Gelenke. Darum liegt er auf dem Boden, von dem er
sich nur sehr schwer zu erheben vermag, und schläft an Bäume
gelehnt. Seine Füße stehen umgekehrt mit den Hacken nach
vorn und den Zehen nach hinten, dabei ist er rot von Farbe
und stärker als ein Ochse und führt einen Stock von der
Dicke eines Baumstammes. Seine Beschäftigung ist, die im
Walde Gehenden zu packen und zu verschlingen, doch wer das
13'
100
Friedrich v. Hellwald: Der Tanz im Lichte der Völkerkunde.
Geheimnis kennt, entgeht ihm leicht: er braucht nur einen
grünen Zweig abzubrechen, diesen vor sich her zu schwenken
und dabei lustig zu tanzen, woraus der Holzmann in un-
bändige Heiterkeit gerät und so lacht, daß er vor Ver-
zückungen zu Boden fällt. Da er keine Gelenke hat, kann
er sich nicht wieder erheben und der Wandersmann setzt ruhig
seinen Weg fort. Den Glauben an dieses Wesen fand Dr.
Berendt in derselben Form sehr weit verbreitet, in Pukatan,
in Peten, in Tabasco, bei Palenque.
Der Culcalkin ist ein andrer häßlicher Geselle. Dieses
Wort bedeutet den „Priester ohne Nacken"; cs ist ein Geist,
dem das Haupt samt den Schultern abgehauen ist und der
nachts durch die Dörfer wandert, um die Leute zu erschrecken."
Im Gegensatze zu diesen riesigen Wesen stehen die Zw erge
und Kobolde, die, bösartig gesinnt, den Menschen die Freude am
Leben verderben. Am häufigsten sind die li’lox, oder richtiger
h’loxkatob, die „starken Thonbilder". In der Vorstellung
der Indianer sind es die thönernen Götzenbilder, die man
in alten Tempeln und Gräbern findet und die daher, wo
man sie entdeckt, zerschlagen werden zum großen Schaden der
archäologischen Forschung. Der h’lox erscheint nach Sonnen-
untergang in der Gestalt eines dreijährigen Kindes, zuweilen
auch nur eine Spanne hoch und völlig nackt bis auf einen
großen Hut. Diese Wesen sind flink, können vor- und rück-
wärts laufen, sie werfen Steine nach den Hunden und ihre
Berührung erzeugt Krankheit, namentlich Fieber; daher
unterläßt man es, sie zu fangen.
Auch der Chan Pal oder kleine Bursche, der in den
Wäldern sich herumtreibt, ist ein böser Geist, welcher die
Pocken in die Dörfer bringt. Andre sind nicht unmittelbar
schädlich, aber von quälerischer Art. So die X bolon
thoroch, die bei der Familie im Hanse lebt und nächtlicher
Weile all den verschiedenen Lärm und Klang nachahmt, der
tagsüber bei den häuslichen Geschäften gemacht wurde.
Thoroch bedeutet das Summen der Spindel; bolon ist
„neun", womit ein Superlativ ausgedrückt wird, und der
Buchstabe X bedeutet das weibliche Geschlecht des Kobolds.
Der Name bedeutet also: „der weibliche Kobold, welcher das
Summen der Spindel vergrößert". Andre Hausgeister
sind der bokol h’otoch, Stör-das-Haus, welcher unter der
Flur Lärm wie beim Kuchenschlagen macht; der Yankopek,
Krugkobold, der sich in Krügen und Töpfen nmhcrtreibt;
und der Way-cot, Zaubervogel, der auf Mauern sitzt und
Steine auf die Vorübergehenden wirft. Den Sirenen,
Meerweibern, der Lorelei und andern Sagcnfraucn der alten
Welt gleicht ein weibliches Wesen der Maya Folklore. Sie
heißt X tabai, die Verführerin. Sie haust im Dickicht des
Waldes, wo der Jäger plötzlich sie erblickt, wie sic ihr langes
schönes Haar mit einene großen Kamme (X ache) kämmt.
Bei seiner Annäherung entflieht sie ihm, jedoch indem sie
auffordernde und verlockende Blicke zurückwirft; er folgt ihr
und wenn er ihren schönen Leib erfaßt zu haben glaubt, ver-
wandelt sie sich in einen Dornenbnsch und ihre Füße werden
zu Krallen. Zerkratzt und zerstochen zieht er traurig heim,
wo ihn ein Fieber mit Delirium ergreift.
Die X Thoh Chaltun, Fräulein Stoß-dcn-Stein, ist ein
ähnliches Wesen, das bei den Dörfern lauert und auf die
Steine oder einen leeren Krug, den sic bei sich führt, schlägt,
um die Aufmerksamkeit eines Jünglings zu erregen. Folgt
er der verführerischen Einladung, dann läuft sie spröde in
den Wald, wo dem verliebten Verfolger ein ähnliches Schicksal
wie dem Opfer der X tabai bereitet wird.
Wie man sich denken kann, knüpfen sich viele abergläubige
. Vorstellungen an die Tierwelt. Jede Tierart hat ihren
König, der sie beherrscht und beschützt, selbst der furchtsame
Hase. Dem Dr. Berendt erzählte ein Indianer, daß einst
ein Jäger mit zwei Hunden einen Hasen in eine Höhle ver-
folgte, die weit unter die Erde führte. Er stieg hinab und
kam zur Stadt des Hafen. Diese ergriffen ihn und seine
Hunde und brachten ihn vor den König, der sie nur schwierig
gegen allerlei Versprechungen entließ. Vom Strohvogel oder
Geistcrvogel giebt es auch verschiedene Erzählungen. Der
Jäger glaubt auf einen schönen Vogel zu zielen, den er
fehlt; vergebens wiederholt er den Schuß, bis der Vogel
von selbst herabfällt und weiter nichts als eine bunte Feder
ist. Er weiß nun, daß der Zohol chich ihn genarrt hat.
Sehr gefürchtet ist der Ekoneil, der Schwarzschwanz, eine
eingebildete Schlange mit schwarzem, breitem und gespaltenem
Schwanz. Nachts gleitet sie in die Häuser, wo eine stillende
Mutter schläft, der sie mit dem Doppelschwanz die Nasen-
löcher zuhält und die Milch aus den Brüsten sangt.
Was hier mitgeteilt wurde, ist wahrscheinlich nur ein
kleiner Teil des Aberglaubens der Maya. Sie sind zu
zurückhaltend, um anders als zufällig gegen den weißen Mann
über diese Dinge zu sprechen. Er glaubt, daß er entweder
ausgelacht oder getadelt wird, wenn er derlei Bekenntnisse
macht. Allein das oben Gesammelte ist eine annähernd voll-
ständige und sichere Darstellung des bekannten Folklore.
Der Tanz im Lichte der Völkerkunde.
Von Friedrich v. Hellwald.
I.
Das Tanzen mag uns heute, trotz der allgemeinen Be-
liebtheit , deren es sich bei allen modernen Kulturvölkern er-
freut, als eine ziemlich bedeutungslose Belustigung erscheinen.
Und wohl nicht ganz mit Unrecht! Denn wenn zweifelsohne
eine Kunst um so höher steht, je mehr der Verstand daran
beteiligt ist, so ist ebenso gewiß der Tanz die niedrigste und
wildeste der Künste. Ihn aus der Reihe der Künste völlig
zu streichen, wäre aber doch auch wieder ganz ungerechtfertigt,
so wenig die Menge heutzutage geneigt sein mag, das Tanzen
als Kunst anzuerkennen. Leider ist der Begriff des Wortes
„Tanzkunst" so wenig scharf gekennzeichnet, wie derjenige des
Wortes „Redekunst". Die Tanzkunst im weitern Sinne
vereinigt Mimik, nämlich das Geberdenspicl, und Tanzen
im engern Sinnes Ein Teil der Tanzkunst, eben die Miuiik,
ist auch dem Schauspieler eigen, während der Tauzkünstler !
die Kunst der Geberden und diejenige der Bewegungen,
nicht aber jene der Rede besitzt. In der eigentlichen Tanz-
kunst beruht der Genuß des Zuschauers hauptsächlich auf
der regelmäßigen Wiederkehr übereinstimmender Bewegungen.
Mit andern Worten: die Tanzkunst unterliegt den Gesetzen
des Rhythmus. Deshalb ist sie im Range der Musik
gleichzustellen, welche denselben Gesetzen unterworfen ist. Da
aber die rhythmische Bewegung von Naturerscheinungen ab-
zuleiten ist, müssen auch beide Künste als nachahmende, somit
als Künste des Scheins bezeichnet werden, im Gegensatze
zur einzigen zweckdienlichen Kunst, der Architektur. Die
Verwandtschaft von Tanz und Musik ist eine so nahe, daß
die Zeitmaße im Rhythmus der Musik mit denjenigen im
Rhythmus des Tanzes zusammenfallen können, wie cs in
der Tanzmusik thatsächlich eintritt.
101
Friedrich v. Hellwald: Der Tanz im Lichte der Völkerkunde.
Das Tanzen gehört also — dies sei hiermit festgestellt —
unstreitig zu den Künsten, und zwar hat dasselbe zu allen
Zeiten und bei allen Völkern eine sehr bedeutsame Rolle ge-
spielt. Man kann nun allen Tanz in die zwei großen
Gruppen des gesellschaftlichen und des theatralischen
oder szenischen Tanzes teilen, wenngleich eine scharfe
Scheidung zwischen beiden nicht immer möglich ist, weil sie
oft beide ineinander fließen. Vom szenischen Tanze wird
im folgenden nur gelegentliche Erwähnung geschehen. Un-
vergleichlich wichtiger vom Standpunkte der Völkerkunde
wie der Völkerpsychologie ist der gesellschaftliche Tanz, welcher
das gemeinschaftliche Vergnügen, die Unterhaltung zum
Zwecke hat, und auch die sogenannten Nationaltanze in
sich schließt, die als Ausdruck der Volkseigentümlichkeiten
ein besonderes Interesse gewähren. Endlich ist auch nicht
zu läugnen, daß die Art und Weise des Gesellschaftstanzes
im Kreise der gesitteten Nationen ein kennzeichnendes Bild
des Zeitcharakters bietet.
Da nun, wie ich sagte, der Tanz eine Kunst ist, so hat
er wie jede Kunst auch eine Geschichte, hat er Anfänge,
aus welchen er sich allmählich zu seiner späteren Höhe ent-
wickelt hat, und diesen nachzuspüren, ist ganz unerläßlich,
will man in das Wesen des Tanzes einigen Einblick ge-
winnen. Wenn wir nun dabei dem Tanze, d. h. der rhyth-
mischen Bewegung des Körpers nach bestimmten Ziegeln,
sowohl bei den ältesten als auch heute noch bei den wilde-
sten Völkern begegnen, wenn wir darin so wenige Aus-
nahmen kennen, daß man das Tanzen nachgerade als
eine allgemeine Menschensitte bezeichnen kann, so wird
man wohl zu dem Schluffe gelangen, daß dasselbe in
der menschlichen Natur selbst begründet sein
müsse. Und dies wird uns nicht allzu sehr wunder neh-
men können, wenn wir bedenken, daß die ersten Spuren
des Tanzens unverkennbar schon in der Tierwelt zu
finden sind. Denn cs sind wahre Tänze, was die Männ-
chen gewisser Vogelartcn zur Paarungszeit vor den Weib-
chen ausführen, um deren Gefallen zu erregen und deren
Gunst zu gewinnen. Dahin gehört z. B. das Balzen des
Auerhahns und seiner Verwandten, in deren erotischer
Verzückung Tanz und Gesang sich vereinigen. Der Birk-
hahn (Tetrao tetrix L.) stößt in der Balze die sonder-
barsten Töne aus, macht die merkwürdigsten Geberden,
Sprünge und Bewegungen bei gesträubten Federn und erhitzt
sich immer mehr, bis er uñe toll erscheint. Das Männchen
des nordamerikanischen Tetrao urophasianus schleift unter
andern! die Flügel ans dem Boden und nimmt ebenfalls
die sonderbarsten Stellungen ein. Der Felshahn (Rapkola
aurantia L.), ein prachtvoller Schmuckvogel Südamerikas,
errichtet gar an abgelegenen Orten förmliche Tanzplätzc von
IV4 bis 1 Vs ni Durchmesser, auf welchen der Boden so
glatt ist, als hätten ihn menschliche Hände geebnet. Auf
dieser Schaubühne, um welche die übrigen Vögel still und
bewundernd umherstehcn oder ans niedrigen Büschen sitzen,
tritt nun ein Männchen nach dein andern ant, um seine
Künste zu zeigen, welche in verschiedenen Gcbcrden und dem
Ausstößen eigentümlicher Töne bestehen. Sind die Tiere
einmal mit ihrem Tanzvergnügen beschäftigt, so werden sie
davon derart eingenommen, daß die Jäger mehrere hinter-
einander erlegen können, ehe es die übrigen merken und
davonfliegen. Auch der gewöhnliche stelzbeinige Kranich
(Grus cinerea Rech.) übt, von dem allmächtigen Triebe
angefeuert, die edle Tanzkunst mit Leidenschaft, obwohl viel-
leicht mit weniger Geschicklichkeit aus. Die Palme aber
gebührt in jeder Hinsicht sicherlich den australischen Paradies-
vögeln, wie Amblyornis ornata und ihren Verwandten.
Diese bauen nämlich gar Vcrsammlnngshänser, die nicht
etwa als Niststätten, als Nester dienen, sondern lediglich als
Ballsaal, worin Herren und Damen Bekanntschaft machen
und in minnigen Pantomimen sich ergehen.
Diese Beispiele sind gewiß ungemein lehrreich, denn sie
leiten zur Überzeugung, daß der Tanz durch die künstlichen,
mehr oder weniger rhythmischen Bewegungen des Körpers
irgend ein Gefühl oder einen Vorgang ausdrücken soll. Und
so ist es auch in der That. Bei Völkern niederer Gcsittungs-
stufe bildet er den Ausdruck größter Leidenschaftlichkeit und
Feierlichkeit. Bei Wilden und Barbaren äußern sich Freude
und Trauer, Liebe und Zorn, selbst Zauberei und Religion
im Tanze. Welche dieser Regungen als die erste und älteste
Urheberin des Tanzes zu gelten habe, dafür gewähren die
erwähnten Vorgänge deutliche, wohl kaum mißzuverstehende
Fingerzeige. Professor Dr. W. Jerusalem hat mit viel
Scharfsinn zu begründen versucht, daß jeder Schmuck ur-
sprünglich eine Liebeswerbung sei. Nun, mit noch viel
größerer Bestimmtheit läßt Ähnliches sich vom Tanz be-
haupten, wenngleich die Liebe, um welche cs sich handelt,
zunächst allerdings nur der Sinnentricb, die noch tierische
Anziehungskraft beider Geschlechter zu einander ist.
An dieser Erkenntnis darf auch nicht beirren weder die
große Mannigfaltigkeit der Gefühle, welchen der Tanz
Ausdruck verleiht, und deren wichtigste noch zur Sprache
kommen werden, noch endlich der für uns Kulturmenschen
auf den ersten Anschein sehr befremdliche Umstand, daß bei
den Tänzen der Wilden und Barbaren die Hauptrolle, ja
nicht selten die ausschließliche, den Männern zufällt, während
das weibliche Geschlecht in den Hintergrund gedrängt, wenn
nicht völlig davon verbannt ist. Bei Lichte besehen, ent-
spricht indes diese Erscheinung ganz auffällig den Vorgängen
in der Tierwelt, wo wir den Tanz ebenfalls bloß auf das
werbende Männchen beschränkt sehen. Und es ist gewiß
auch kennzeichnend, daß dieser ausschließliche Männertanz
nur Völkern eigen ist, die wir zu den zurückgebliebensten
rechnen. Wir treffen ihn unter andern bei den heute noch
in der Steinzeit lebenden Bakani und Puruna-Indianern
Zentralbrasilicns, bei den Eingeborenen Australiens, besonders
in Queensland, sowie bei den Papua aus Neuguinea und
den Nachbarinseln. Letztere üben den Tanz teils um seiner
selbst willen, hauptsächlich aber in dem Wunsche, den Frauen
zu gefallen. Denn diese sehen mit sichtlichem Interesse den
gewandten Tanzbewegungen der Männer zu, und das
Gleiche läßt sich von einer ganzen Reihe niedriger Menschen-
stämme berichten.
Auf diesen tiefsten Stufen der Gesittung verdient der
Tanz natürlich noch kaum diesen Namen; er gleicht vielmehr
oft, wie H. von Rosenberg z. B. vom Tanze der Arfak auf
Neuguinea meldet, den Sprüngen von Böcken, wobei vor-
und rückwärts gehüpft wird. Aber auch dieses anscheinend
regellose Springen, bei dem von Rhythmus noch wenig zu
merken ist, verfolgt keinen andern als den einfachen Zweck
erotischer Erregung. Beweis dafür unter anderm der Tanz
der Watschandi am Murchisonstrome in Westanstralien. Bei
ihrem großen Feste „Kaoro" umtanzen die Männer eine von
Gebüsch umstandene Grube, springen mit geschwungenen
Speeren und wilden, leidenschaftlichen Gcbcrden umher und
stoßen die Speere in die Grube unter Absingung eines
Liedes, dessen Worte den Sinn ihres Handelns jedem Zweifel
entrücken. Denn der Urtanz, wenn ich so sagen darf, ist
noch nicht, wie der Tanz späterer Zeiten und höherer Stufen,
losgelöst von der menschlichen Stimme, welche die noch
fehlende Musik zu ersetzen hat. Wie wir diese Vokalbe-
gleitung als „Gesang" ansprechen, so dürfen wir freilich noch
an keinen Gesang in unserm Sinne denken. Der Gesang,
womit die Maori auf Neuseeland ihren „Hakatanz" be-
gleiten, läßt, nach Dr. Max Büchners Schilderung, keine
Melodie in unsern! Sinne erkennen und besteht nur aus
102
Friedrich D. Hellwald: Der Tanz un Lichte der Völkerkunde.
zwei oder drei Noten; zuweilen versteigt er sich in heulende
und bellende Töne und endet gewöhnlich in einem gellenden,
kurz und scharf ausgestoßenen Tone. Dabei kann man be-
obachten, wie die fortschreitende Entwickelung von Tanz und
Gesang innig miteinander Hand in Hand gehen. Wo der
Gesang zur Ausbildung von Melodien emporsteigt, stellt
sich im Tanze der Rhythmus ein; und dies geschieht schon
vergleichsweise ziemlich frühzeitig. So sind z. B. bei den
Papua der Finschhafener Gegend an Stelle reiner Natur-
gesänge bereits Metodicen getreten, und ihre Tänze, in welchen
Solotänzer schon eine Nolle spielen, würden überall Er-
staunen erregen; bei vielen dieser Tänze scheint gewissermaßen
nur der Rhythmus der Bewegungen ein vorgeschriebenes zu
sein, während die jedesmalige weitere Ausführung dem Ge-
schmacke und der Gewandtheit ¿et einzelnen Tänzer über-
lassen bleibt. Gesang als Tanzbeglcitung erhält sich übri-
gens lange fort, selbst dort noch, wo schon musikalische
Instrumente in Gebrauch sind, und entwickelt eine sehr ur-
sprüngliche Art der Volksdichtung, das Tanzlied, dessen
Text über Sinn und Bedeutung des Tanzes selbst zumeist
wichtigen Aufschluß giebt.
Bei abnehmender Wildheit bricht natürlich einmal der
Tag an, da die Alleinherrschaft des Mannes als Tänzer
zu Ende geht. Auch das weibliche Geschlecht tritt auf den
Plan. Seine ersten Schritte aus dem Felde, das es später
so siegreich zu behaupten berufen ist, sind freilich ungemein
schüchtern, seine Beteiligung an dem Vergnügen vorerst eine
sehr untergeordnete. Bisweilen wird den Frauen gestattet,
im äußern Kreise um die stets festlich aufgeputzten Männer
herumzutanzen. In der Umgegend von Finschhafen auf
Neu-Guinea bilden sic eigentlich nur eine Art beweglicher
Staffage, indeul sie zu je zweien mit kleinen, sehr zierlichen,
hüpfenden Bewegungen die Gruppe der Männer umkreisen
und bei jeder Beugung des Kniees den Leib ein wenig nach
vorn neigen. In weiterer Folge der Entwickelung sehen
wir neben den älteren Männertänzen eigene Weibertänze
entstehen, die meist von diesen unter sich und abgesondert
aufgeführt werden; ganz zuletzt kommt cs erst zur gemein-
schaftlichen Beteiligung beider Geschlechter am Tanze. Von
da bis zum modernen Tanze, der sich nach Paaren ordnet,
ist aber noch ein himmelweiter Schritt mit vielen Zwischen-
stufen. Und haben die Paare sich endlich aufgefunden, so
tritt das Verhältnis noch lange nicht deutlich, sondern nur
allmählich an den Tag. Bei jenen Tänzen der Indianer
Mittelamerikas, wo ein Mann und eine Frau zusammen
tanzen, geschieht dies nicht nach unsrer Weise durch gegen-
seitiges Anfassen, sondern jedes der beiden tanzt für sich,
und nur aus der Art der getanzten Figuren, den Ver-
beugungen, dem Umkreisen merkt man, daß das Paar zu-
sammengehört. Auf dieser Stufe stehen die Nationaltänzc
der Tschuwaschen, sowie der Kundrower Tataren und zum
großen Teile noch der elegante Mazur der Polen und der
feurige Osnräns der Magyaren.
In allen diesen mannigfachen Phasen ihrer Entwickelung
bleibt der Urgrundzug der Kunst Terpsichorens, das erotische
Moment, deutlich erkennbar. Der gewiegte französische
Soziologe Dr. Charles Letourneau meint, sowie die Weiber
zu tanzen beginnen, sei cs vor, sei cs mit den Männern,
nehme der Tanz einen andern Charakter an, beziehe sich
dann mehr oder weniger aus den Gattungstrieb und werde
nicht selten ausgelassen und unzüchtig. Nun, das angeführte
Beispiel der Watschandi beweist, daß cs dazu nicht erst des
Eingreifens der Weiber bedarf. Schon zuvor hat der Tanz
die Sinnlichkeit erregt, ist er nichts anderes als der mimi-
sche Ausdruck erotischer Begierden. Ganz außerordentlich
ist die Leidenschaftlichkeit, womit die Wilden dem Tanz-
vergnügen sich hingeben; selbst wo Männer allein tanzen,
liegen sie demselben nächte- und tagelang ob, meist durch
ausgiebige Trinkgelage unterstützt, bis sie vor Ermattung
zusammenbrechen. Wahr ist aber und auch Psychologisch
bemerkenswert, daß die weibliche Hälfte jener Naturmenschen
dem Tanze, wenn auch nur unter sich, mit gleicher Leiden-
schaft frönt und darin das erotische Verlangen oft ungescheut
zum Ausdrucke bringt. So führen z. B. die Weiber der
Pebasindiancr in Südamerika abgesondert einen Tanz auf,
in welchem sie eine Gewaltsamkeit der niedrigsten tierischen
Triebe und eine Zügellosigkeit an den Tag legen, wie man
sie sonst kaum am Neger, der darin Erstaunliches leistet, zu
beobachten gewohnt ist. Auf Tahiti, erzählt Cook, ward
von jungen Mädchen ein Tanz aufgeführt, „Tinwrodi" ge-
nannt; er besteht in Bewegungen des Leibes und Gebcrdcn,
die unbeschreiblich mutwillig sind. Während des Tanzens
stoßen sie Reden aus, die den Hauptbegriff dieser Zeremonie
noch deutlicher ausdrücken würden, wenn die Gebcrdcn nicht
sprechend genug wären. Auf den Viti-Inseln nehmen die
jungen Mädchen schon Teil an den höchst zügellosen Tänzen
der Männer und die Worte des Frauengesanges lassen sich
gar nicht übersetzen. Auf der Viti-Insel Kaudavn beob-
achtete Dr. Büchner zwar bessere Verhältnisse, ist aber doch
nicht im Zweifel darüber, daß alle polyncsischen Tänze ur-
sprünglich einen geschlechtlich-lasciven Sinn hatten, der bei
einigen immer noch deutlich genug hervortritt. Im all-
allgemeinen kann man sagen, der ganze Unterschied zwischen
Männer- und Fraueutänzen liege bloß darin, daß letztere
meist bloß symbolische Darstellungen des Aktes der Paarung
selbst sind, während die Männertünze außerdem auch ver-
schiedene Bewerbungsmittel darstellen.
Es unterliegt keinem Zweifel, daß mit wachsender Ge-
sittung, mit dem Abstreifen der Roheit und der Verfeinerung
des Lebens auch der Tanz immer wohlanständigere Formen
gewinnt und sein ursprünglicher Grundzug immer mehr in
den Hintergrund tritt. Gänzlich wird derselbe freilich nie-
mals unterdrückt. Dies war auch wohl die Ursache, wes-
halb sich bei den alten Griechen und Römern gegen dieses
gesellige Vergnügen starke Vorurteile gebildet hatten. Manche
liebten cs zwar leidenschaftlich, und der Athener Hippokleides
verscherzte sich durch seine kunstreichen Tänze vor seinem
ernsten Schwiegervater Kleisthenes von Sikyou die schöne
Braut; allein das Tanzen galt immer als ein Beweis
mangelnder Nüchternheit und fand bloß gegen Ende des
Gastmahles statt. Dann erschienen Sklaven oder noch öfter
Sklavinnen, von welchen man sich Tänze vorwiegend eroti-
schen Charakters vorgaukeln ließ. Sich selbst an solchen
Tänzen zu beteiligen, galt indes bis in die römische Kaiser-
zeit hinein als eines freien Mannes unwürdig. Der Kunst-
freund Mäcenas war allerdings dem Tanzspiele sehr ge-
wogen, am meisten aber wurde die Tanzkunst wohl bei den
Griechen ausgebildet; doch umfaßte sie, wie auch in Rom,
das ganze Geberdenspiel und stand in der innigsten Ver-
einigung mit Gesang, Dichtung und Schauspielkunst, eine
Entwickelungsphase, die wir sogleich als eine ziemlich niedrige
kennen lernen werden. Im ganzen handelte es sich weit
mehr um szenischen als um gesellschaftlichen Tanz; ja das
Zusammentanzen beider Geschlechter war gar nicht Sitte
und bei der halborientalischcn Abgeschlossenheit der Mädchen
und Frauen auch fast undenkbar.
103
Kropf und Kretinismus im Indischen Archipel.
Nropf und Lretinismus im Indischen Archipel.
Der Kropf (Struma, in geringerem Grade „voller
Hals", „Gebirgshals“ genannt) ist eine sich allmählich ent-
wickelnde Anschwellung der an der Vorderseite des Halses
zu beiden Seiten des Kehlkopfes gelegenen Schilddrüse,
welche im normalen Zustande beim Erwachsenen nur 30 bis
60 g wiegt, aber durch die krankhafte Vergrößerung ein Ge-
wicht von mehreren Pfunden erreichen kann. Die Geschwulst
ist nicht schmerzhaft und verursacht nur in höheren Graden
Beschwerden durch Druck auf die von ihr umlagerten Organe
des Halses, besonders die Luftwege. Außerdem ist sie störend
durch eine eigentümliche, jedenfalls unschöne Veränderung
des Gesichtsausdrucks.
Wenn auch der Kropf wohl bei allen Völkern und in
allen Ländern der Erde vereinzelt gefunden wird, so giebt
es doch Bezirke, wo er gleichsam endemisch herrscht, wo eine
größere Anzahl Bewohner, wohl die Hälfte derselben, an Kropf
leidet. In Europa sind in dieser Hinsicht besonders die Gebirgs-
thäler der Schweiz bekannt. Gleichzeitig mit diesem vermehrten
Vorkommen von Kropf wurde sehr häufig in denselben Be-
zirken auch mehr Eretinismus als anderswo beobachtet, so
daß man beide Leiden in Zusammenhang brachte und an-
nahm, daß Kropf die leichtere Form, Eretinismus der aus-
gebildetere Grad einer und derselben Krankheit sei. Mau
hat ferner zu beobachten geglaubt, daß verhältnismäßig häufig
Eretins von kropfkranken Eltern abstammten, so daß Fabre
den Ausspruch that: „1.6 goitre est le pere du creti-
nisme.“ Eine weitere auffallende Erscheinung ist, daß
mitten in stark heimgesuchten Gebieten iuselsörmige, scharf
abgegrenzte Bezirke ganz frei von Kropf sind, so daß das
Entstehen des Leidens an ganz gewisse bestimmte örtliche Vcr-
hälnisse gebunden und ohne dieselben nicht möglich zu sein
scheint. Diese Eigentümlichkeit des endemischen Kropfes ist
außerordentlich selten bei anderen Krankheiten, allenfalls zeigt
sich ähnliches bei Malaria (Sumpf-, Wechselsieber).
Es ist erklärlich, daß dieser eigenartige Kraukhcitsprozeß
schon vielfach Gegenstand eingehender Forschungen gewesen
ist, ohne daß es bisher gelang, das Wesen und die Eut-
stehungsbedingungen des Kropfes bestimmt zu deuten. Einen
wertvollen Beitrag in dieser Hinsicht bietet die neuerdings er-
schienene Schrift von Dr. Willen: „Struma en Cretinisme
in den Indischen Archipel“ (Haag, 1890), welche durch
gründliche Darlegung der Beobachtungen anderer Forscher,
sowie der eigenen, einen interessanten Einblick in diese Ver-
hältnisse in der niederländisch-ostindischeu Inselwelt gewährt.
Daß auf Sumatra, Java, Borneo und anderen ost-
asiatischen Inseln Kropf überhaupt ungemein häufig ist, ja
in manchen Gegenden bis zu 80 Proc. der Bewohner be-
fällt, ist schon länger bekannt gewesen; man sieht dort massen-
haft Männer und Frauen, besonders letztere, mit ringförmig
dem Halse aufsitzenden, oder sogar beutelartig vorn herunter-
hängenden Kröpfen, in ihrem Wohlbefinden anscheinend gar-
nicht dadurch beeinträchtigt. Von einzelnen Forschern sind
Kropfgeschwülste beobachtet worden von der Größe des
Kopfes ihres Trägers, so daß letzterer bei Körperbewegungen
die Geschwulst ihrer Schwere halber mit den Händen stützen
mußte; es wurde sogar ein bis an die Brustwarzen herab-
hängender Kropf gesehen. Das endemische, also massen-
hafte Vorkommen der Krankheit ist festgestellt aus Sumatra,
Borneo, in geringerem Grade auf Java und zwar mehr
in dessen Ost- als Westhälfte, auf Zentral-Eelebcs, Bali,
Portugiesisch Timor und dem nordwestlichen Neu-Guinea;
auf den übrigen Inseln wird Kropf nur vereinzelt gefunden.
Die Krankheitsgebiete sind von zum Teil sehr großer räum-
licher Ausdehnung, besonders in Süd-Sumatra und Borneo,
während cs sich ans den übrigen Inseln um kleinere Bezirke
handelt; fast überall aber giebt cs in ihnen wieder einzelne
Bezirke und Ortschaften, die völlig frei von der Krankheit
sind, so z. B. in Sumatra ein Ort am Flusse Djudjuan,
dessen an demselben Flusse gelegenen Nachbarorte Herde der
Endemie sind.
Eine erbliche Disposition scheint nach den vorliegenden
Beobachtungen nicht annehmbar, da vielfach die Kinder von
hochgradig befallenen Müttern ganz frei von Kropf geblieben
sind. Daß die Höhe und Gestaltung des Bodens für die
Entstehung der Krankheit einflußlos ist, ergiebt sich daraus,
daß sie beobachtet wird in Bergländern bis zu 1800 m Höhe,
wie im Ticflandc von kaum 100 m Erhebung über dem
Meeresspiegel; nur in Küstengegenden scheint Kropf ende-
misch nicht vorzukommen. Auch atmosphärische Einflüsse
können keine Rolle dabei spielen, da in den verschiedenen
Krankheitsherden völlig auseinander gehende klimatische
Verhältnisse bestehen. Besonders ausgesprochen ist das in
Süd-Sumatra der Fall. Hier findet sich Kropf auf den
freigelegencn wenig bewachsenen Berghöhen und in der mit
dichtem Pslanzenwuchs bedeckten Tiefebene, hier ist es feucht
und heiß durch die fehlende Luftströmung, dort trocken und
selbst rauh und kalt. Die frühere Annahme, daß starke
Luftfeuchtigkeit gepaart mit hoher Temperatur und ungenügen-
der Luftwechsel der Entwickelung der Krankheit besonders
günstig sei, wird auch durch die Beobachtung derselben auf
Java widerlegt, wo Kropf gerade in dem trockenen Klima
des östlichen, weniger dicht bewachsenen, und dadurch den
Luftströmungen mehr zugänglichen Teiles der Insel vor-
kommt.
deicht besser läßt sich die Entstehung des endemischen
Kropfes durch die g e o l o g i sch en V e r h ältnis s c erklären, denn
im Indischen Archipel kommt derselbe auf allen Bodenarten
vor. Auch die frühere Annahme, daß die Krankheit durch
den größeren Kalkgehalt des Bodens entstehe, wird hinfällig
bei Berücksichtigung der Verhältnisse daselbst: z. B. ist Kropf
in Mittel-Sumatra, wo Kalkstein den Hauptbodenbestaud-
teil ausmacht, weit weniger vorhanden als in Süd-Sumatra,
wo er nur sporadisch und' in kleinen Mengen zu finden ist.
Auch auf Borneo kommt die Krankheit vor in Gegenden,
wo Kalkstein völlig fehlt oder sehr selten ist. Ebensowenig
gelingt cs, ans dem Mangel oder dem nur spärlichen Vor-
kommen von Magnesia in dem jüngeren jurassischen Gestein,
der Kreide und der Tertiär-formation, das Nichtentstehen
von Kropf in einzelnen Gegenden zu erklären, in welchen
diese Bodenverhältnisse vorherrschen (Hirsch, Handbuch der
historisch-geographischen Pathologie); denn im Indischen
Archipel kommt Struma am meisten vor auf jüngeren, ter-
tiären und quartären Bildungen, also auf Gesteinen, die
nach allgemeiner Annahme wenig oder keine Magnesia ent-
halten. Sicher ist ferner, daß dolomitische, Magnesiumsalze
in einiger Menge enthaltende Gesteine in den Gegenden
mit endemischem Kropf nirgend auffällig vertreten sind.
Auch der Metallgehalt des Bodens spielt keine Rolle, denn
z. B. in Süd-Sumatra, wo die Krankheit besonders stark
verbreitet ist, kommen Erze so gut wie gar nicht vor und
wird speziell Kupfer und Eisen, die man besonders als
schädlich betrachtete, nicht gefunden.
104
El Morro, ein Jnschriftfelsen in Neu-Mexiko.
Eine andre sehr verbreitete Ansicht ist, daß die Ursache
des Kropfes in schlechtem Trinkwasser liege, wie solches aus
den Indischen Inseln vielfach genossen wird; u. a. erzählt
von Rosenberg von einem in den Bergen wohnenden Papua-
stamm auf Neu-Guinea, daß diese Leute in Ermangelung
fließenden Wassers große Bündel einer ans Bäumen und
Sträuchern wachsenden Moosart, welche die Luftfeuchtigkeit
begierig aufsaugt, in den Morgenstunden sammeln, auspressen
und so Trinkwasser gewinnen. Sie leiden massenhaft an
Kropf. Bangert führt dasselbe Leiden in einer andren Ort-
schaft daraus zurück, daß dort das Wasser eines von Sümpfen
gespeisten Baches und bei Trockenheit in Gruben aufgefangenes
Regenwasser getrunken wird. Aber alle diese Beobachtungen
können nicht als beweisend gelten, so lange man die wirkenden
schädlichen Bestandteile des Wassers nicht erkannt hat, zumal
die Krankheit auch in mit gutem Trinkwasser versorgten
Gegenden gefunden wird. Bon mehreren Reisenden wird
der starke Kalkgehalt des Trinkwassers als Ursache des
Kropfes betont: aber in Indien erweisen sich viele Gegenden
mit stark kalkhaltigem Wasser als ganz kropffrei, während
in Orten mit allgemein verbreitetem Kropf kein oder ein
ganz geringer Kalkgehalt im Wasser gefunden wurde.
Etwas mehr Wahrscheinlichkeit, aber auch keineswegs
volle Geltung darf die schon früher aufgestellte Ansicht be-
anspruchen, daß durch das gewohnheitsmäßige Tragen
v on L asten auf dem Kopfe und noch mehr auf dem Rücken mit
Hilfe eines um die Stirn gelegten Bandes und zweier
Schulterriemen, die Halsmuskulatur in anhaltender starker
Spannung gehalten wird, dadurch auf die tiefergelegenen
Halsorgane einen Druck ausübt und so Blutstauung in der
Schilddrüse und Vergrößerung derselben bewirken kann.
Die erwähnte Tragweise ist aber in den gebirgigen Gegen-
den fast allgemein, ohne daß überall Kropf gefunden wird,
während andrerseits auf Java gerade in der Ebene von Kediri,
dem Haupsitz des Leidens auf dieser Insel, die Lasten von
Männern nicht mit Hilfe des Kopfes, sondern auf der
Schulter an einem Tragstock, von Frauen auf der rechten
Hüfte mittels eines über die linke Schulter geschlungenen
schmalen Tuches (slendang) getragen wird.
Wenn nun sogar wissenschaftliche Erörterungen das
Dunkel der Entstehung des endemischen Kropfes bisher nicht
zu durchdrungen vermochten, so ist es wohl erklärlich, daß
sich die Eingeborenen selbst die verschiedenartigsten aber-
gläubigsten Ideen darüber bilden. Eine Hauptrolle in dieser
Hinsicht spielt gleichfalls das Wasser, welches ein schädliches
Insekt enthalten, mit schädlichen Pflanzen (z. B. einer wilden
Melonenart) in Berührung gewesen oder an gewissen Tagen
genossen worden sein soll. Auch das Baden in gewissen
mit übernatürlicher Kraft versehenen Gewässern soll in
manchen Gegenden Ursache des Kropfes sein. Andere be-
schuldigen den Boden, wieder andere eine in den Bergen
beim Dorfe Bangkala hausende Gottheit. Aus letzterer
Anschauung hat sich auf Bali die Sitte gebildet, die Krank-
heit durch Beschwörungen und Anrufen anderer Geister zur
Vertreibung der bösen Gottheit heilen zu wollen; im übrigen
gebraucht man dagegen vielfach als heilkräftig geltende
Mineralwässer, zum Teil jodhaltige, oder wendet äußerlich
Kalkwasser oder Wasser mit Reispulver vermengt zur Linde-
rung der Beschwerden an.
Auch der bisher als feststehend betrachtete Zusammen-
hang zwischen endemischem Kropf und Cretinismns
wird durch die Verhältnisse im Indischen Archipel nicht
bestätigt: die letztere Krankeit scheint hier fast gar nicht vor-
zukommen. Die meisten Berichterstatter erwähnen bei der
Besprechung des Kropfes den Cretinismns gar nicht, andere
betonen ausdrücklich, daß letzterer in Kropfgegenden fehlt,
und nur zwei Forscher (Hagen und van Hasselt) beschreiben
einzelne von ihnen wahrgenommene cretinartige Erscheinungen.
Jedenfalls scheint hiernach für den Indischen Archipel die
bisherige wissenschaftliche Anschauung keine Geltung zu
haben, daß Kropf und Cretinismns verschiedene Grade eines
und desselben Leidens seien, und der Cretinismns der Nach-
kommenschaft mit dem Kropf der Eltern in ursächlichen Be-
ziehungen steht. Dr. D—r.
(Et Morro, ein Inschriftfelsen in Neu-Mexiko.
Im westlichen Teile von Neu-Mexiko ungefähr unter
350 nördl. Breite liegt am westlichen Abhange der Sierra
Madre oder Zuni-Mountains, am Wege, der nach dem
großen Jndianerdorfe Zuni führt, ein vereinsamter Felsen,
der den Namen El Morro führt, aber auch als Inskription
Rock bekannt geworden ist. Eine kurze Schilderung des-
selben finden wir zuerst vor 40 Jahren in den Reports
ob the Secretary of War, die dem 31. Kongresse 1. Session
vorgelegt wurden (Washington, 1850). Dort erzählt der
Jngenieurleutenant James H. Simpson (S. 119), daß er-
den Jnschriftfelsen am 17. September 1849 erreicht habe
und daß der deutsche, ihn begleitende Maler H. Kern
denselben zeichnete und die Inschriften kopierte. Aber Simp-
sons Schilderung ist nur kurz und geht nicht auf die Be-
deutung der Inschriften ein; das beste sind die Zeichnungen
Kerns, von denen wir einige hier aus dem jetzt selten ge-
wordenen Berichte Simpsons wiedergeben. Simpson fand
damals noch bei dem Felsen eine Quelle, die jetzt verschwunden
ist. Auch hat er die Puebloruinen ans dem Gipfel des
Morro besucht und ausgenommen. Die Inschriften, sagt
er, seien zum Teil sehr schön in den Felsen eingehauen,
meistens in spanischer Sprache, weniges lateinisch; dazu
gesellt sich indianische Bilderschrift.
Kürzlich nnn ist der merkwürdige Jnschriftfelsen wieder
von dem verdienten amerikanischen Ethnographen Cnshing
und dem deutschen Forscher Ad. F. Bandelier besucht
worden und letzterer hat im New Porter Belletristischen
Journal vom 13. August 1890 eine längere Schilderung
seiner Reise gegeben, der wir die nachstehende Beschreibung
des Jnschriftfelsens entnehmen.
In der öden Region, in welcher sich der Morro befindet,
steht seine Felsenpartie gleich einer Oase — aber diese Oase
ist wasserleer! Wahrscheinlich ist, daß in früheren Zeiten
ein bescheidener Quell dort hervorsprudelte, allein heute ist
er versiegt oder von Indianern auf die ihnen eigene künst-
liche Weise verschlossen worden. Der Morro ist ein bloßer
Sporn, der von einer ausgedehnten Mesa wenige hundert
Fuß nach Osten hin sich erstreckt. Er bildet also eine
scharfe Felsenkante, über 200 Fuß hoch, mauerglatt sowohl
nach Süden als nach Norden, und in Wirklichkeit kaum
fünfzig Fuß breit. Auf der Nordseite überragt er die
Ebene, auf der Südseite ein malerisches Thälchcn, vielmehr
einen Thalwinkel, in dem hohe Tannen bis hart an große
Felsen heran gewachsen sind. Oben auf der Mesa befindet
sich ein alter Pueblo, für den die Zuni einen Namen in
ihrer Sprache haben: Heshota Yashtoc. Das Vorhanden-
El Morro, ein Jnschristfelsen in Neu-Mexiko.
105
sein dieser Ruinen läßt mit ziemlicher Sicherheit vermuten,
daß eine Quelle in der Nähe gewesen war.
Das Hauptinteresse, welches sich an den Morro knüpft,
rührt von der großen Zahl der Inschriften her, welche die
glatte Fläche der Felsen nahe ihrer Basis bedecken. Ihre
Zahl beträgt hundert. Die meisten derselben sind neueren
Ursprungs. Obschon viele älteren Datums vorhanden
waren, sieht man doch deutlich, daß hier und da moderne
i' NO E /69A
Morro, der Jnschristfelsen. Nordansicht. Zeichnung von R. H. Kern.
Nlind^bm eine uralte Inschrift weggekratzt haben, um an deren Stelle zu setzen. Das Publikum, welches in
„George William Smith" oder „Henry Ni. Brown" u.s.w. neuerer Zeit den Morro besucht, scheint nicht immer der
Inschrift an der Südseite.
besten Klasse angehört zu haben. Allerdings finden sich
auch unter diesen neueren Inschriften höchst achtbare Namen,
so z. B. „Lieutenant I. H. Simpson" neben „N. H. Kern"
und „Lieutenant I. H. Sitgreaves". Kern gehörte zu jener
Globus LIX. Nr. 7.
Kopiert von R. H. Kern.
Klasse hochverdienter Deutscher, deren gewissenhafte Arbeiten
der Amerikaner zu benutzen versteht. Seine Arbeit über
die Pueblos, in Schoolkrafts großem Werke veröffentlicht,
ist viel zu wenig bekannt. Sie hat Simpson zu einem
14
•1 nWT^'Co^ulstc \ \
h^odl Cahildo du \
T) \\ > *,
' Me yno a ShcostA.a 18 1
^ //u6J^os= V v , / \
106
Dr. E. Steffens: Eine Übersicht der nordamerikanischen Jndianerkriege.
großen Teil seines Ruhmes verholfen, obschon Kern selbst
wenig Anerkennung gefunden hat.
Den größten Werth besitzen die alten spanischen Namen
und Daten. In bezug auf diese ist das barockste Zeug
gesagt und auch geschrieben worden. Eine Inschrift vom
Jahre 1725 hat für das Jahr 1525 gegolten, 1581 für
1561 u. s. w. Die Unwissenheit, in der sich die meisten
derjenigen, welche über Neu-Mexiko schrieben, in bezug
aus die spanische Periode befanden und befinden, hat der
Phantasie vollen Spielraum gelassen, die Jahreszahlen zu
deuten, wie es jedem beliebte. Bon Paläographie hatten
die Geschichtschreiber Neu-Mexikos keinen Begriff; sie
wußten nicht einmal, daß eine solche Wissenschaft existierte.
Alles, was nicht englisch war oder nach den Regeln der
hiesigen „Handelsschulen" geschrieben stand, war ihnen un-
verständlich und unleserlich. Daher die unsinnigen Aus-
legungen.
Die älteste Inschrift am Morro lautet: „Pedro Nomero,
1581." — Römers war einer der acht Soldaten, die im
besagten Jahre die drei Franziskaner-Mönche begleiteten,
welche zu Fuß vom südlichen Chihuahua nach Zentral
Ntu-Mexiko gelangten. Während die Missionare am Rio
Grande (beim heutigen Bernalillo) verblieben, besuchten die
Soldaten sogar Zuni, ohne jedoch Acoma zu berühren. Sie
gingen direkt von Bernalillo nach Zuni. Auf diesem Wege
mußten sie direkt am Morro vorbeikommen, und die glatte
Felswand weckte in ihnen die Idee, ihre Namen aus der-
selben einzugraben. Im Jahre 1540 war Coronado von
Zuni nach Acoma und zurück gezogen, hatte aber, wie ich
zur Zeit in Zuni ermittelte, den Morro nicht berührt.
Ebensowenig berührten ihn Espcjo im Jahre 1583, Onate
anno 1598. Der gewöhnliche Weg, den diese spanischen
Offiziere mit ihren Leuten einschlugen, führte sie mindestens
dreißig Meilen südlich davon vorbei. Als aber Onate im
Jahre 1605 von seiner denkwürdigen Reise nach dem Kali-
fornischen Golf heimkehrte, schlug er von Zuni die kürzeste
Route nach dem Rio Grande ein und diese führte ihn am
Morro vorbei. Er fand dort die Inschrift aus dem Jahre
1581 und fügte die scinigc hinzu: „Hier ging vorbei der
Adclantado Don Juan de Onate auf der Rückkehr von der
Entdeckung des Südmeeres, am 16. April a. D. 1605."
Beide Inschriften stehen auf der südlichen Felswand. Der
Weg über den Morro ward nachgerade der übliche Weg
nach Zuni, und die meisten verzierten sowohl die südliche
als die nördliche Fläche des sonderbaren Felsens mit ihren
Namenszügen und oft mit erläuternden Bemerkungen. Der
Morro ward eine Art steinernen Archivs für die ältere
Geschichte Neu-Mexikos. Bei dem Mangel an Dokumenten
aus dem siebzehnten Jahrhundert ist dasselbe doppelt wert-
voll. So ersehen wir dort das Datum, wann die ersten
permanenten Missionen in Zuni gegründet wurden: Anno
1629, unter und durch den Gouverneur Francisco Manuel
de Silva Nieto. Wir finden Namen aus dem Jahre 1636.
Biele aber sind wohl zerstört worden durch spätere Be-
sucher, welche sich Unsterblichkeit sicherten aus Kosten der
Geschichte.
Einige der Inschriften sind kalligraphisch schön, so z. B.
diejenige, welche den Durchzug des Gouverneurs Silva
Anno 1629, und besonders diejenige, welche die einstige
Anwesenheit des Wicdereroberers von Neu-Mexiko, Don
Diego de Bargas (1692), bekundet (siche Abbild.). Biele
Namen zeigen alte Orthographie, und wenn auch das Da-
tum fehlt, so läßt sich daraus doch ihr Alter bestimmen.
Nicht nur an den hohen und glatten Felswänden finden
sich die Namenszüge, auch in den Nischen und Klüften der
Ostseite der Mesa selbst, die allerdings hoch und felsig, aber
weniger schroff ist, als der Sporn, den sie von der Nord-
osteckc aussendet. An vielen schwer zugänglichen oder ver-
borgenen Stellen finden sich Nanien und Jahrzahlen cin-
gehanen. Es würde eine Woche erfordern, um eine voll-
ständige Liste derselben anzufertigen.
Dazu mangelte mir die Zeit. Die Mehrzahl übrigens
hätte nur wenig historischen Wert geboten. Ich kopierte
daher nur solche Inschriften, die für die ältere Geschichte
Neu-Mexikos von Bedeutung waren, und dies nahm den
ganzen Tag in Anspruch. Biele sind des Alters wegen
schwer leserlich, andre können nur bei einer gewissen Be-
leuchtung entziffert werden.
Line Übersicht der nordamerikanischen Jndianerkriege.
Von Dr. L. Steffens. New-tzork.
Seit dem 4. Juli 1776, wo die Unabhängigkcitscrklärung
der Bereinigten Staaten erfolgte, kosteten die Indianer
„Onkel Sam" in runder Summe tausend Millionen Dollars.
Angesichts des neuen, gegenwärtigen Jndiancrkricgcs tritt
die Möglichkeit in den Vordergrund, daß noch weitere
Millionen notwendig sind, bis es gelingt, den Ureingeborencn
dieses Landes den Todesstoß zu versetzen. Als der alte
Pequot-Häuptling die puritanischen Pilgrimväter am „Ply-
mouth Rock" als englische Freunde bewiükommnete, sprach
er im Namen von 1000 000 Indianern, die damals das
Territorium bewohnten, welches heute die Bereinigten Staaten
umfassen. Dieser Aufstellung zufolge kostete die Entrechtung
des „roten Mannes" pro Kopf unsrer Republik 1000 Dollars,
wenn man die beiden genannten Zahlen in Betracht zieht.
Diese Zahlen sind ziemlich genau; denn Tom Donaldson,
der den Jndiancrzcnsns vor drei Jahren aufstellte, berechnete
damals nach guten Quellen, daß die Indianer vom
4. Juli 1776 bis zum 30. Juni 1886 der Regierung
929 239 284 02 Dollars Kosten verursachten. Mit den
Ausgaben der letzten vier Jahre steigt diese Summe wohl
auf tausend Millionen Dollars. Ein Drittel davon wurde
dazu verwendet, die Indianer bei Landanküufen u. dgl. ab-
zufinden und sie zu zivilisieren, die zwei andern Drittel
wurden von den Kriegen, die mit ihnen geführt wurden,
verschlungen.
Senator Doolittle von Wisconsin rechnete seiner Zeit
seinen Kollegen, als Friedensvertrüge mit den Navajoes ab-
geschlossen wurden und verschiedene Senatoren gegen die
bedeutende Abfindungssumme protestierten, vor, was ver-
schiedene Jndianerkriege kosteten, und gab gleichzeitig eine
kurze Schilderung, wie dieselben verursacht wurden. Nur
einige wenige seien hier erwähnt.
Im Jahre 1852, zu einer Zeit, wo die friedlichste Stim-
mung herrschte, brach der große Krieg mit den Sioux aus.
In der Nähe von Fort Laramie befand sich ein Indianer-
lager, und eines Morgens trieben mehrere Mormonen Kühe
vorüber, die nach Salt Lake City bestimmt waren. Ein
Indianer tötete eine Kuh, was zur Folge hatte, daß die
Mormonen sich an den Kommandanten des Forts wandten.
Dieser sandte eine Abteilung Militär von 20 Soldaten in
das Jndianerlager, um die Sache zu untersuchen. Der
befehlende Offizier verlangtes die Auslieferung des Schuldigen
Der Übergang Birmas vom Barrenverkehr zum Münzwesen.
107
und drohte im Weigerungsfälle mit der Beschießung des
Lagers. Den Indianern war es offenbar um Vermeidung
des Kampfes zu thun und sie erboten sich, den Wert der
Kuh zu ersetzen, was abgelehnt wurde. Der Offizier wieder-
holte seine Forderung, die nicht erfüllt wurde, und auf fein
Kommando wurden 20 Schüsse aus die Nothäute abgegeben.
20 Minuten später lag die Abteilung Soldaten und ihr
Führer getötet und skalpiert am Boden. Dies war der
Beginn des Siouxkrieges, der vier Jahre dauerte, viele
Menschenleben auf beiden Seiten kostete und den Vereinigten
Staaten nahezu 18 000 000 Dollars Kriegskosten verur-
sachte.
Der Krieg mit den Navajoes entstand gleichfalls
einer Kleinigkeit halber. Drei Feldzüge wurden gegen den
tapferen Stamm unternommen, in sämtlichen unterlagen
die Bundestruppcn, und der Regierung kostete der Krieg
20 000 000 Dollars. Ein Navasoe kam eines Tages nach
dem Fort, wurde von einem Negerjungen, der der Bediente
eines Offiziers war, beleidigt und streckte denselben mit
einem Pseilschuß nieder. Da seine Auslieferung nicht er-
folgte, rückte eine Truppenabteilung zu seiner Bestrafung
aus, und der Krieg war vom Zaune gebrochen.
Der bedeutendste Jndiauerkrieg, über den am wenigsten
bekannt wurde, war der im Jahre 1862 ausbrechende
zweite gegen die Sioux. Ein Jndianeragcnt, der nach
den verschiedenen Agenturen gutes Schweinefleisch senden
sollte, lieferte statt dessen Schweincköpse und andre Abfälle,
womit sich die Indianer nicht zufrieden erklärten. Da man
auf ihre Beschwerden nicht achtete, begaben sie sich auf den
Kriegspfad. Der Ausstand wurde durch die Generäle Sibley
und Sully, denen 15 000 Mann reguläre Truppen und
mehrere Regimenter konföderiertcr Gefangener zur Verfügung
standen, nach hartem Kamps niedergeworfen. Diese Kriegs-
gefangenen zogen den Jndianerkricg der Gefangenschaft vor,
wurden als Soldaten eingeschworen und kämpften sehr-
wacker. General Sibley, dem philantropischc Bestrebungen
gänzlich fremd waren, führte damals eine neue Methode in
der Kriegsführung ein. Unter seinen Gefangenen suchte er
die kräftigsten und verschlagensten heraus und ließ sie ohne
weitere Gerichtsverhandlung aufhängen.
In den Indianer kämpfen am Missouri, die sich
mit häufigen Unterbrechungen von 1868 bis 1882 abspielten,
wurden 400 kleinere und größere Gefechte mit den Indianern
ansgefochten, die manchem Soldaten das Leben kosteten. Auf
eine Entschließung des Senats hin fertigte der Kriegs-
minister im Jahre 1886 einen Bericht aus, demzufolge
die regulären Truppen im Westen von 1876 bis 1886 der
Regierung 223 801264 50 Dollars kosteten.
In dem Zeiträume vom 1862 bis 1868 wurden im
Indianer-Territorium und Oklahoma 800 Ansiedler von
Indianern ermordet. Am 2. Mürz 1866 begann daher
ein Krieg gegen die Cheynennes, Arapahoes und Ko-
manchen, um diese Stämme zu züchtigen. Am 9. Februar
1869 endete dieser Krieg, in dem 350 Offiziere und Solda-
ten getötet wurden. Von den Indianern wurden 319 ge-
tötet, 289 verwundet und 53 gefangen genommen. Die
Kosten dieses Feldzuges beliefen sich ans 1 056 515 57
Dollars.
Im Modoc-Kricge, bei welchem General Cauby das
Kommando führte, wurden 111 Soldaten und 17 Bürger
getötet. In dem Bericht des Kriegsministers an den Senat
stand zu lesen: „Soviel bekannt, wurde kein Indianer ge-
tötet."
Der dritte Sioux-Krieg im Jahre 1876 erleichterte
den Regiernngssückel um 2 312 531 Dollars, der gegen
die Nez Perces im Jahre 1877, der drei Monate dauerte,
um 931 329 52 Dollars. Die Nez Perces bewohnten
einen Teil des östlichen Oregon und waren ziemlich fried-
liebend. In dem später an den Senat gelangten Bericht
hieß cs: „Zwei schlechte Indianer töteten einen braven
Weißen, weil zwei brave Weiße einen schlechten Indianer
getötet hatten." Eine Truppenabteilung wurde nach dem
Lager der Nez Perces geschickt, von diesen aber völlig ge-
schlagen. General Howard verfolgte dann den kampflustigen
Stamm 1400 Meilen weit und traf rechtzeitig ein, nachdem
General Beiles, der in den setzt schwebenden Jndianerwirren
eine Rolle spielt, den Indianern ein siegreiches Gefecht ge-
liefert hatte.
Seit 1882 fand nur ein Kampf, nämlich mit den
Apachen in Arizona und New Mexiko statt. Derselbe ver-
lief so glänzend, daß die Regierung angeblich für jeden
getöteten oder gefangenen Apachen etwa 100 000 Dollars
zahlen mußte. Für die Finanzen der Vereinigten Staaten
ist es daher eine wahre Wohlthat, daß die zur Zeit schweben-
den Indianerwirren, noch ehe es zum eigentlichen Kriege
kam, auf gütlichem Wege beigelegt wurden.
Der Übergang Birmas vom Barrenverkchr
zum Münzwesen.
Der Barrenverkehr, wie ihn bereits das alte Babylonien
kannte, bildet eine Zwischenstufe zwischen dem Tauschhandel
und dem Geldverkehr. Ungeprägtes Metall wird nach dem
Gewichte für die Ware gegeben; seine Güte wird durch
Stempel gewährleistet. In den östlichen Himalayaländern,
in Zentralasien, teilweise in China und bis vor kurzem in
Hinterindien ist dieser Verkehr im Gange. Da er im Aus-
sterben begriffen ist und binnen kurzem überall durch ge-
prägte Münzen verdrängt sein wird, so ist es von Belang,
noch Genaues über denselben zu vernehmen, und aus diesem
Grunde geben wir eine längere Abhandlung im Auszuge
über Burmese Cohiage und Currency, die ein gründlicher
Kenner Indiens, R. C. Temple, in der „J.caäerny" (11.
und 16. Oktober 1890) veröffentlicht.
Bis zum Jahre 1861 lebten die Birmanen noch ganz
im Barrenverkehr. Damals ließ König Mindon, der Vater
des von den Engländern abgesetzten Thibo, die ersten
Münzen prägen, welche teilweise die Jahreszahl 1852 tragen,
das Jahr seiner Thronbesteigung. Die bis dahin gültigen
Umlaufsmittel waren folgende: 1) Metallklumpen, deren Güte
nur durch Prüfung oder nach dem Aussehen beurteilt wurde.
2) Metallklnmpen, deren Gehalt, aber nicht deren Gewicht
durch einen Stempel bezeichnet war. 3) Unregelmäßige
Münzzeichen. Die Prüfung wird wie in Indien von Gold-
schmieden mit einem Probiersteine und Wachs und Ver-
gleichen des erhaltenen Striches ausgeführt. Der Wert wird
nach dem Silberstandard beurteilt; Gold ward im Jahre
l 889 in Mandalay 29- oder 32 mal so hoch als Silber bezahlt.
Im gewöhnlichen Verkehr genügte aber das äußere An-
sehen, um die Feinheit des Silbers zu beurteilen, was nicht
so schwer ist, wie es scheinen mag. Silber wird auf ver-
schiedene Art aus den Erzen gewonnen und jeder Prozeß ist,
wie Temple durch die Erfahrung kennen lernte, an dem ge-
wonnenen Produkte kenntlich. Ohne Probieren wußte er
schließlich, bloß nach dem Aussehen, den Feingehalt des
Silbers anzugeben, was auch die alten Handelsweiber im
Bazar verstanden; das Gewicht wird, jetzt auch bei Münzen,
durch Wägen in der Hand bestimmt.
Die mit dem Feingehaltsstempel versehenen Metallklnmpen
stammten ans China, Siam oder Ceylon. Die erwähnten
unregelmäßigen Münzzeichen besaßen besondere Form ohne
Prägung, dienten als Kleingeld; statt eines solchen erhielt
Temple einmal auf dem Bazar einen kupfernen Knopf. Um
von den größeren Metallklnmpen Kleingeld herzustellen, schlug
14*
108
Die Tuschincr tu Kaukasicn.
man mit Meißel und Hammer ein Stuck ab und bot dieses
in Austausch gegen die einzuhandelnde Ware. Die Metall-
stücke in Birma bestehen ans Gold, Silber und Blei, doch
nicht aus Kupfer, da dieses Metall im Lande nicht vorkommt.
Wie genau man die Güte der umlaufenden Silber-
klumpen beurteilte, erkennt man daran, daß vier bis fünf
Arten derselben bloß nach dem Aussehen unterschieden wurden.
Shau baw, Shansilber aus den Schanstaaten, galt als
das feinste; ihm kommt dasjenige aus Birma etwa gleich;
Dain, die zweite Güte, hat nur 89 bis 93 Prozent reines
Metall und ist durch gestrichelte Marken kenntlich. Awenti,
die dritte Sorte, hat 85 Prozent Feingehalt; ihm gleicht
Thakhwa, das im Handel von Bhamo gebräuchlich uitb ein
schwammiges Aussehen hat. Die Legierungen des Silbers
werden mit besonderen Namen bezeichnet, deren ein Minister
etwa zwanzig Arten gegenüber Temple nennen konnte. Die
Goldklumpen heißen, wenn rein, Khaynbatke und Mojo,
wenn sie 50 Prozent Zusatz von andern: Metall haben. Der
Prozentsatz lvird ganz genau mit Probiernadeln bestimmt. Die
umlaufenden Bleiklumpen heißen Khege. Auch diese
werden, um „Kleingeld" zu erhalten, mit Hammer und Meißel
bearbeitet.
Von gestempeltem Silber, dessen Stempel nicht das Ge-
wicht, sondern nur den Feingehalt bezeichnete, war das chine-
sische Sycee (saiseh-) Silber im Umlauf, mit dem Stempel
der ausgebenden chinesischen Bank als Gewähr. Was die
unregelmäßigen Münzzeichen betrifft, die den letzten Übergang
zu bcu geprägten Münzen machen, so waren sehr verschiedene
im Umlauf. Die Tschnion sind schalenförmige Silberstückchcn,
die als Effloreszenzen bei der Silberausschmelzung sich bilden,
ans beit Schanstaaten stammen und 6 Prozent Gold ent-
halten. Die Majizis sind goldene und silberne „Tamarindeu-
körner", die gestempelt waren.
Das waren die umlaufenden Wertmesser Birmas, bis
1861 König Mindon die ersten Münzen prägen ließ; denn
ein 1781 gemachter Versuch mit einer Münze, welcher zwei
Fische aufgeprägt waren, blieb ohne weitere Folgen. Sie
sind noch selten in: Verkehr und gelten hier gleich den er-
wähnten Münzzeichen. Das Volk schreibt sie dem Könige
Schwebo zu, allein sie rühren von: Könige Bodawphaya
her, der damals zu Amarapura residierte. Die Münzen,
welche Mindon schlagen ließ, und die jetzt den alten Barren-
verkehr verdrängt haben, bestehen ans Gold, Silber, Kupfer,
Brottze und Eisen und sind vott Temple genau geschildert.
Das Kupfer wurde zu diesen Münzen in dünnen Platten
eingeführt; als dasselbe jedoch eininal in Blöcken kam, ver-
stand man diese nicht auszuwalzen; man legierte es daher
niir Zink und schlug aus dieser Legierung die Bronzemünzen.
Die Tuschincr i tt Kaukasicn.
Bon P. v. Stenin.
In der von der kaiserlichen Gesellschaft der Freunde der
Naturwissenschaften und Völkerkunde in Moskau heraus-
gegebenen „bitnoAialltsolissIrogg Obosrenje“ (Ethnogra-
phische Rundschau) veröffentlicht A. S. Chachanotv eine
ethnographische Skizze über die Tuschincr, ein kartwclisches
Bergvolk an der oberen Alasan in: Kreise Duschet, der wir
nachstehendes entnehmen. Schot: in: 7. Jahrhundert thut
Moses von Chorene der Tuschincr oder Tuschen Erwähnung,
und ebenso erwähnt ihrer als tapferer Krieger die grusinische
Ehronik „Kartlis — Zchowberi".
Heutzutage»zerfallen die Tuschincr in vier Stämme:
Zowen, Tschagliner, Porikiteler und Gomezteler, von denen
der erste Stainn: (die Zowen) nach Chachanotv ein Mischvolk
- vot: Grusinern und Tschetschenzen (Khisten) ist. Die Ur-
sache der Auswanderung dieses kartwclischcn Volkes aus den
gesegneten Thälern von Jmerethien und Karthalinien in die
rauhen Gebirgseinöden des heutigen Tuschetien schreibt der
Verf. der drückenden mohammedanischen Herrschaft in Kanka-
sien und namentlich den Eroberungs- und Raubzügen des
Aga Mohamed Schah von Persien zu Ende des 18. Jahr-
hunderts zu. Die Zowen sind Halbnomaden und treiben
nur Viehzucht, die übrigen Tuschincr sind Ackerbauer. Neben
dem griechisch-katholischen Klerus spielen eine wichtige Rolle
heidnische Priester, und zwar ii: erster Linie die hochangesehe-
nen Oberpriester (Chewis-beri und Dekanosi), welchen das
Schlachten der Opfertiere obliegt; ihnen folgt der Chnzi,
welcher den „CHata", die Stätte, wo die heilige Fahne
(Droscha) aufbewahrt wird, zu beaufsichtigen hat; außerdem
kann er Ehen schließen, Neugeborene taufen, das Haus nach
der Geburt eines Kindes einweihen (da nach der Anschauung
der Tnschiner nach der Niederkunft eines Weibes die Woh-
nung unrein wird), Beerdigungen vornehmen re. Auf der
niedrigsten Stitfe der hierarchischen Leiter steht der Mnate,
der das Kirchengut zu verwalten hat.
An: 17. bis 18 Juli (alten Stils) wird beim Zusammen-
strömen zahlreicher Vertreter verschiedener Bergvölker das
Fest Lascharoba (des Kreuzes des heiligen Königs Georg
Lascha, eines Nationalhelden der Tnschiner) gefeiert, wobei
die Andächtigen mit den: Blute der geschlachteten Opfertiere
besprengt werden. Als Ursache der traurigen Zustände,
welche in: Beginne unsres Jahrhunderts in Grusien herrschten,
betrachten die Tnschiner die Vernichtung der heiligen Eiche
von Lascharis — Dschwari, welche von Engeln betvacht wurde
und mit dem Himmel durch eine goldene Kette verbunden
war. Diesen heiligen Baum nämlich fällte der gottlose Fürst
Eristow durch List, indem er den Stamm mit Katzenblut
besprengte, wodurch die Engel zum Weichen gezwungen wur-
den und die goldene Kette in: Himmel verschwand, Noch
heute beweinen die Tnschiner diese ruchlose That in ihren
Liedern.
Als eine Überlieferung vom früheren Mädchenranb be-
steht noch die Sitte, daß die Braut erst nach langem Suchen
von: Bräutigan: aus ihren: Versteck zur Kirche hervorgeholt
wird, und daß, bevor die Neuvermählten ihre Wohnung be-
treten, die Hochzeitsgäste mit Flintenschüssen die in: Hofe
angezündeten Fackeln auslöschen. Bei einem Begräbnis er-
heben die Weiber Klagegeheul und raufen sich die Haare aus, die
Männer aber schneiden sich das Haar in: Laufe eines Jahres
nicht. Ist eit: Mann gestorben, so lvird er mit seiner Burla
(Pelzmantel) bedeckt, man legt ihm auf die Brust ein Huf-
eisen und neben ihn seinen Kinshal (Dolch). Sein Roß
begleitet die Leiche bis zum Grabe, wird auch an: 7. und
40. Tage zun: Grabhügel geführt und später einen: der Ber-
waudten des Verblichenen je nach der Anweisung des Kadagi
(Orakels) geschenkt. Früher wurde die Witwe auf dem Grabe
ihres Gemahls erdolcht, jetzt muß sie sich nur den Zopf ab-
schneiden lassen. Zur Beruhigung der Seele des Verstorbe-
nen lvird zi: Ende des Jahres das sogenannte Dogi, d. i.
Preisschießcn und Wettrennen veranstaltet. In: Jenseits
(Suleti) erwarten die Seele strenge Richter, lvllche dem Nen-
eintretenden iilit einer scharfen Schere einige Haare abschnei-
den. Zwischen den: Paradies und der Hölle fließt ein toben-
der Theerstrom, über welchen ein Haar als Brücke gespannt
ist, aber nur den Frommen glückt es, diese improvisierte
Brücke zu überschreiten.
Das Weib nimmt bei beit Tuschinern eine bevorzugte
Stellung ein im Gegensatz zu der Lage der Weiber bei andern
Völkern des Orients. Dennoch wurde früher in Tuschetien der
Mord eines Mannes mit 60, dagegen der eines Weibes nur
mit 30 Kühen bestraft!! Vergewaltigung eines Mädchens
ist nicht selten Ursache einer blutigen Fehde zwischen zwei
Dörfern gewesen, und cs ereignet sich nicht selten, daß ein
— Pflanzen- und Tierwelt auf der Ostküste Sumatras.
109
Das Tschernoscm Rußlands.
entschlossenes Mädchen mit einem wohlgezielten Pistolenschuß
einen besonders aufdringlichen Don Juan ins Jenseits be-
fördert. Die Tuschiner dürfen natürlich jetzt unter der
russischen Herrschaft keine eigene Justiz ausüben, es besteht
aber als ein Überbleibsel früherer barbarischer Strafen noch
die Strafe der Steinigung, und zwar nicht mehr des Ver-
brechers selbst, sondern nur seines Namens, indem jeder
Tuschiner unter Ausstößen von Verwünschungen gegen den
Übelthäter an einem Kreuzwege Steine aufhäuft. Man sieht
in Tuschetien solche Steinhaufen recht oft. Auch Gottes-
gerichte (Ordalien) sind unter den Tuschinern an der Tages-
ordnung. Herrn Chachanow erzählte ein alter Tuschiner,
namens Utschkuo Achadeli, daß zur Ermittelung eines Diebes
man sich eines Gefäßes mit siedendem Wasser bediente, aus
welchem die im Verdacht stehende Person ein Hufeisen heraus-
holen mußte.
Das T s ch c r » o s c m Rußlands,
die berühmte „Schwarzerde", ist in der Dezembersitzung
des Leipziger Vereins für Erdkunde von Herrn Lehrer Hoff-
mann zum Gegenstände einer eingehenden Betrachtung
gemacht worden, der wir nach einem Berichte des Herrn
Dr. Fitzau das Nachstehende entnehmen.
Infolge des bis in die letzte Zeit fehlenden bestimmten
Begriffs des Tschernoscm und seiner daher sehr willkürlichen
Abgrenzung von ihm verwandten Bodenarten herrschte bis in
die Gegenwart eine große Unsicherheit über die Verbreitung
des Tschernosems. Rechnet man zürn Tschernoscm alle Boden-
arten^, die über 2 Proz. organische Stoffe enthalten, so findet
sich derselbe im südlichen europäischen Rußland in einem 350
bis 700 Werst breiten, von W. nach D. an Breite allmählich
zunehmenden Gürtel, dessen nördliche Grenze an vielen Stellen
mit dem breiten sandigen Streifen zusammenfällt, der, am
Pripet beginnend, von S.-W. nach N.-O. über Tula bis
Kasan an der Wolga sich hinzieht und ungefähr auch mit der
Jnli-Jsotherme von -s-20"E. zusammenfällt. Das Tscher-
nosemgebiet umfaßt das ganze europäische Rußland südlich
von dieser Grenzlinie mit Ausnahme von Taurien, der Krim
irnd der Gouvernements im N. und N.-W. des Kaspischen
Meeres. Im allgemeinen wächst der Humusgehalt im Boden
von W. nach O.; am höchsten ist er an den Ufern der Wolga,
wo er in den Gouvernements Saratow, Pensa, Simbirsk,
Orenburg, Ufa und Samara 13 bis 16 Proz. beträgt; hieran
schließt sich nach W. zu fast konzentrisch ein Ring mit 10 bis
13 Proz. Humusgehalt und weiter einer von 7 bis 10 Proz.
Gehalt. Die Zone mit 4 bis 7 Proz. Humusgehalt ist die
größte und umfaßt fast */s des transdnjeprischen Gebietes,
den ganzen Küstenstrich des Asowschen Meeres und die zen-
tralen Teile des Tschernosemgebiets. Die sich westlich und
nordwestlich hieran schließende Zone mit 2 bis 4 Proz. Humus-
gehalt bildet den Übergang zu dem nördlichen Rasenboden
einerseits und den südlichen Salzsteppen andrerseits, die beide
einen Humusgehalt von 0,5 bis 2 Proz. haben. In allen
Zonen übersteigt die Mächtigkeit der Schwarzerde nicht iy2 m.
Die Hauptursache der Verschiedenheit des Humusgehaltes
liegt in dem chemischen Charakter des Mnttergesteins, ans
dem der Tschernoscm entstanden ist; je thonreicher das Mutter-
gestein, um so humusreicher ist auch der daraus gebildete
Tschernoscm. Im südwestlichen Teile des Schwarzerdegebiets
ist das Muttergcstein vorwiegend sandiger und kalkiger Natur;
im zentralen Teile ruht das Tschernosem auf fünf verschiedenen
Gesteinsarten: jurassischem Mergelthon, tertiären und andren
Sauden, Kreide und Krcidemcrgeln, devonischen Kalken und
ans Geschiebelöß; und in den östlichen Gebieten sind es vor-
wiegend Mergelthone permischer und triassischer Formation,
die an der Bildung des Tschernosem beteiligt sind. Entgegen
den früheren Hypothesen, nach denen Tschernosem entweder
durch das Meer oder durch Sümpfe gebildet sein sollte, nimmt
man heute allgemein als feststehend an, daß Tschernosem eine
lokale, oberirdische Bildung ist, entstanden durch Einwirkung
einer Reihe von Faktoren auf jene Mnttergesteinsarten, die
noch heute das Liegende des Tschernosems bilden. Diese
Faktoren sind entweder organischer, klimatologischer oder
mechanischer Natur, je nachdem die Flora und die niedere
Fauna bei der Zersetzung des Gesteins und der Humnsbildnng
beteiligt sind, das Klima das Wachsthum einer Steppenflora
begünstigt und die im Boden thätigen kapillaren Kräfte das
Eindringen und Festhalten der Humussäuren ermöglichen.
Wälder haben die Bildung von Tschernosem verhindert, an
seiner Bildung ist ausschließlich die Steppenflora beteiligt.
Die von Würmern, Käfern, Larven, Wühlern und Nagern
bei der Humnsbildnng und Aufspeicherung geleistete Arbeit
ist beträchtlicher, als eine oberflächliche Betrachtung vermuten
läßt. Im Steppenboden geht die Bildung des Humus derart
vor sich, daß die krautartigen Teile der Gewächse absterben,
an der Luft vermodern und sich teilweise in Humus ver-
wandeln, der mit dem Regen- oder Schneewasser in den Boden
eindringt und hier aufgespeichert wird. Diese Humussäuren
wirken lösend auf das Mnttergestein und gehen mit den Ele-
menten desselben Verbindungen ein, auf deren Anwesenheit
die Fruchtbarkeit des Tschernosem beruhte.
Pflanzen- und Tierwelt ans der Ostküste
Sn matras Z.
Während im Westen der Insel sich die Fluten der See
bis dicht an die Gebirgsflanken herangenagt haben, find auf
der Ostküste große alluviale Ebenen entstanden, auf deren
nördlichem, schmäleren Teile das Sultanat Deli, wie die an-
grenzenden Reiche Lankat und Serdang liegen, denen die
nachfolgende Schilderung ihr Entstehen verdankt.
Der im ganzen aber wenig geneigte Boden ruht auf
einer Thonschicht, wodurch die überliegende Sand- und
Humusschicht wie ein Schwamm durchtränkt ist und zahllose
Tümpel, Weiher wie Sümpfe bildet, ein Vorgang, welcher
zum Verständnis der Tier- und Pflanzenwelt von Nöten ist,
weshalb auch der Umstand Beachtung verdient, daß die Luft
in Deli im Mittel stets 80 Proz. derjenigen Fenchtigkeits-
mengc enthält, welche sie überhaupt zu absorbieren im stände
ist. Für die trockene Zeit, vom Februar bis Juli, beträgt
die Anzahl der Regentage 11, für die folgenden Monate der
Regenzeit 18 Tage auf den Monat. In dem ersteren Ab-
schnitt ist die mittlere Regenmenge 127 mm, im zweiten
Halbjahr dagegen 227 mm. Auch Hagelschlag kommt alle
paar Jahre in Deli vor; die Tanbildnng ist selbstverständlich
sehr groß. Die mittlere Jahrestemperatur glaubt Hagen auf
26,7" C. angeben zu können; die Monats-Schwankungen be-
wegen sich zwischen 26,1 und 27,5" E., während sie für die
kältesten Tage einen Unterschied von 5", der Julimonat einen
von fast 9" ausweisen.
Die angebliche Armut der Tropenwelt an schönen Blumen,
welche von so vielen Reisenden berichtet wird, erkennt Hagen
nicht an und führt drei Ursachen an, welche den Reichtum
an Blüten minder hervortreten lassen: die übergroße Tendenz
zur Blattbildung, die oft ungeheure Höhe der blühenden
Bäume, den Umstand, daß die Blütezeit sich nicht wie in
Europa auf eine kurze Zeit zusammendrängt, sondern das
ganze Jahr über währt. Die Vegetation entfaltet sich in
') B. Hagen. Die Pflanzen- und Tierwelt von Deli auf
der Ostküste Sumatras. Naturwissenschaftliche Skizzen und
Beiträge. Tijdschrift van het kon. Nederlandsch Aardrijks-
kundig Genootschap. Tweede Serie, Deel VIII, Nr. 1.
Leiden 1890, S. 1 bis 240.
110
Die Germanisierung der Litauer in Ostpreußen.
vier verschiedenen Zonen, der Strand- oder Küstenvegetation,
der Zone des heißen Tieflandes, welche fast unmerklich in
die halbkühle oder Bergregion übergeht; letztere dagegen hebt
sich scharf ab von der vierten, kühlen oder Hochlandvegetation,
welche sich in der Höhe von 1300 m auf dem Plateau von
Tobah vorfindet.
Im Vergleich zu Java find sämtliche Vegetationsgrenzen
auf Sumatra niedriger. Als Beispiel sei angeführt, daß die
Eichen, welche auf Java erst bei 1400 m häufiger werden,
in West-Sumatra bis zu 160 und in-Deli bis zu 30 m herab
vorkommen, während die Rhododendren bis zu 1000 m hinab
steigen und Baumfarne bei 200 m sich finden. Botanisch ist
die Ostküste von Sumatra noch eine terra incognita, da
kein Fachmann dort jemals Sammlungen angelegt hat.
Was die Säugetierfauna Sumatras anlangt, so kennt
man augenblicklich von dieser Insel 112 Arten, von Borneo
93 und von Java 97, was die Richtigkeit des Wallaceschen
Satzes von der großen Übereinstimmung der Formen von
Borneo, Sumatra u. s. w. von neuem bestätigt. Speziell auf
der Ostküste fand Hagen 64 Arten, darunter, mit Ausnahme
von zwei ganz neuen Flugeichhörnchen, 6 Spezies, welche
bisher nur von Malakka znin Teil und Borneo bekannt
waren, auch meist als dort endemisch angesehen werden.
Rechnet man die am wenigsten bekannten Fledermäuse ab, so
crgiebt sich ein Bestand von
45 Säugetieren für Sumatra und Borneo,
30 „ „ Sumatra „ Java,
23 „ „ Borneo „ Java.
Bezüglich der Vögel stimmen Sumatra und Borneo sehr
überein. Die Ostküste der erst genannten Insel lieferte
142 Arten Vögel, darunter 11 für Sumatra neue Spezies,
welche von Malakka, Borneo und Java bekannt waren.
Malakka und die Ostseite Sumatras zeigen sehr große Gleich-
heit der Vögel, von denen West-Sumatra erheblich abweicht.
Unter 44 Schlangen ans dem Delischen Gebiete fand
sich nur eine neue Art, aber sonst ein Anklang an Borneo, wie
dieser Fall sich auch bei den Schmetterlingen wiederholte.
Die Zahl der Tagfalter, welche Hagen bekannt geworden
sind, beläuft sich ans 315 (darunter 6 neue Spezies); an
Nachtfaltern traf Hagen etwa 180.
In Ansehung der Fauna der Ost- und Westküste Suina-
tras bekommt man den Eindruck, als wenn die Fauna der
alluvialen Küstenebene ebenfalls eine alluviale, von den
gegenüberliegenden Küsten Malakkas und Borneos an-
geschwemmte sei, welche nicht recht in die Lage und in die
Zeit gekommen wäre, sich über die ganze Insel, namentlich
die älteren Partien auszudehnen und die dortige Tierwelt
zurückzudrängen. Dr. E. Roth.
Die Germanisierung der Litauer in
Ostpreußen.
Neben den Wenden, die in der Stärke von 115 000
Köpfen ein Gebiet von ungefähr 50 Geviertmeilen in der
Ober- und Niederlausitz (von Rodewitz südlich von Bautzen
bis Schönhöhe nördlich von Kottbus und von Senftenberg
bis Muskau) bewohnen, sind es besonders die Litauer int
äußersten Nordosten der Provinz Ostpreußen, welche von
Jahr zu Jahr an Zahl abnehmen und langsam im Deutsch-
tum aufgehen. Int Jahre 1861 gab es in den Kreisen
Gumbinnen und Darkehmen noch spärliche Reste des litaui-
schen Stammes, heute sind sie vollständig verschwunden; im
Kreise Goldapp zählte man damals noch 1700 und im Kreise
Stallupönen noch 3631 Litauer; im Jahre 1886 aber er-
tnittelte man in beiden Kreisen nur noch 241 Schulkinder,
welche neben dem Deutschen auch titanisch, und nur 27 Schul-
kinder, welche bloß litauisch verstanden und sprachen. Es
war also hier im Verlaufe von 25 Jahren die Zahl der
Litauer ans ungefähr 1500 Köpfe zurückgegangen. Weit
mehr noch schmolz der litauische Stamm im Kreise Inster-
burg zusammen. Hier wohnten 1861 noch 3329 Litauer;
1886 gab es aber nur noch 68 Schulkinder, welche litauisch
verstanden, so daß gegenwärtig die Zahl der Litauer in
diesem Kreise ans etwa 400 Köpfe berechnet werden kann.
Auch in den Kreisen Pillkallen und Ragnit ist ein Rückgang
der Litauer zu verzeichnen; in Pillkallen verminderte sich
ihre Zahl in der Zeit von 1861 bis 1886 von 11 611 auf
etwa 8000 und in Ragnit von 18 982 auf etwa 16 000;
man ermittelte nämlich 1886 in Pillkallen 784 Schulkinder,
welche im elterlichen Hause nur litauisch, und 532 Schul-
kinder, tvelche litauisch und deutsch sprachen, in Ragnit aber
1229 Schulkinder, welche in der Familie nur litauisch, und
1405 Schulkinder, welche neben dem Litauischen auch deutsch
redeten.
Nur in den Kreisen Tilsit, Niederung, Heidekrug, Memel
und Labiau, die zum Teil dem Verkehr noch entrückt sind,
hat das litauische Volk seine frühere Stärke fast beibehalten.
Daß aber auch hier die deutsche Sprache siegreich vorwärts
dringt, geht ans folgenden Angaben hervor: Im Kreise Tilsit
gab es 1886 3497 Schulkinder, welche im Elternhanse nur
litauisch, und 1090, welche neben ihrer Muttersprache auch
deutsch redeten; im Kreise Niederung sprachen 794 Schul-
kinder nur litauisch und 1036 litauisch und deutsch, im
Kreise Heidekrug 2717 nur litauisch und 1786 litauisch und
deutsch, im Kreise Memel 2834 nur litauisch und 1055
litauisch und deutsch, und im Kreise Labiau 868 nur litauisch
und 1137 litauisch und deutsch, nicht etwa bloß in der
Schule, sondern auch in der Familie.
Im ganzen gab es 1886 12 750 nur litauisch und
8364 deutsch und litauisch sprechende Schulkinder. Da auf
100 Bewohner Ostpreußens etwa 17 bis 18 Schulkinder
kommen, so ist die gegenwärtige Zahl der Litauer auf rund
120000 zu berechnen gegen 137 404 im Jahre 1861.
In Zukunft werden sich die Litauer noch rascher ver-
mindern, da seit 1873 der Unterricht in der Schule nur in
deutscher Sprache erteilt wird; selbst beim Religionsunterricht
bedienen sich die Lehrer mehr und mehr der deutschen Sprache,
auch findet die Konfirmation schon zum Teil in deutscher
statt. Der Gottesdienst in den durchwegs evangelischen
Kirchen ist litauisch und deutsch. Alle Gesetze, alle Verord-
nungen werden den Litauern nur in deutscher Sprache ver-
mittelt; die Verkehrssprache ans der Post und der Eisenbahn
ist ausschließlich deutsch. Sodann bewohnen die Litauer in
Ostpreußen kein geschlossenes Sprachgebiet mehr; vielmehr ist
dasselbe, wie man auf der Böckhschen Sprachenkarte des
preußischen Staates klar erkennen kann, in viele kleine Sprach-
inseln zersplittert, die rasch von dem vordringenden deutschen
Elemente aufgesogen werden. Mit jeder neuen Eisenbahn
geht ein Stück litauischen Volkstums verloren. Ein nicht
unbeträchtlicher Teil des kleinen Völkchens sucht in der Fremde,
meist in Königsberg, ein besseres Fortkommen. Jederzeit
sind die Litauer die besten Patrioten gewesen; sie sind aus-
gezeichnete Soldaten und stolz auf ihre preußische Staats-
zugehörigkeit. Die Versuche der Polen, die Litauer zu einer
feindlichen Stellung gegen die Regierung zu bewegen, sind
durchwegs fehlgeschlagett und werden auch in Zukunft keinen
Erfolg haben. Daß die Litauer neuerdings bemüht sind,
ihre Muttersprache und Nationalität innerhalb des deutschen
Reichsgebiets aufrecht zu erhalten, daß sie eine Anzahl litaui-
scher Zeitungen und Zeitschriften (z. B. die in Memel er-
scheinende „Lietuwißka Ceitunga", ferner die in Tilsit er-
scheinenden Organe „Außra" und „Tilzes Keleiwis") ins
Leben gerufen haben, wird ihnen niemand zum Vorwurf
machen. Höchst wahrscheinlich ist aber die auf Erhaltung
Der Selbstmord bei den Tschuktschen. — Aus allen Erdteilen.
111
des litauischen Volkstums gerichtete Arbeit und Agitation
vergeblich; sie wird nur bewirken, daß das durchaus fried-
liche Ausgehen der ostprcußischen Litauer im deutschen Volke
um einige Jahrzehnte hinausgeschoben wird. Dr. Gehre.
Der Selbstmord bei den Tschuktschen^).
Das Ritual, das mit diesem schrecklichen Brauche ver-
knüpft ist, erweist sich bei allen Tschuktschen als ein gleiches,
mögen dieselben am Schelagschcn-Kap, am Flusse Tschaün
Hansen oder Nossowyje (vom Ostkap oder Noss) oder Tabn-
uyje („Heerden"-) Tschuktschen heißen. Als Veranlassung
zum Selbstmord dient der Glaube ans jenseitige Leben, der,
bis zum Fanatismus gesteigert, im Wunsche, schneller die
verstorbenen Verwandten wiederzusehen, gipfelt. Die Seelen
der verblichenen Tschuktschen werden als Beschützer der
Familie verehrt. Verschiedene Mühsale, Unglücksfälle und
Unpäßlichkeiten werden dem Einflüsse der Verstorbenen, zu-
sammen mit den bösen Geistern, zugeschrieben. Den ver-
storbenen Verwandten und bösen Geistern zu Gefallen opfern
die Tschuktschen ihr eigenes Leben, zumal zur Zeit von Epi-
demiecn und schweren Drangsalen. Der Tschuktsche, der
entschlossen ist alle irdischen Bande und Rechnungen zu zer-
reißen, eröffnet solches seinen nächsten Verwandten, und diese
Nachricht wird bald den benachbarten Tschuktschen, Jukagiren,
Lamuten und Russen mitgeteilt. Die Nachbarn und besonders
die Verwandten beginnen den Fanatiker, der beschlossen hat,
sein Leben vorzeitig zu beschließen, zu bereden, seinen Vorsatz
hinauszuschieben, sie nicht zu kränken. Doch alles derartige
Bereden fruchtet nicht, — der Fanatiker besitzt, seiner Über-
zeugung nach, wichtige Gründe zur Vollführung seines Vor-
satzes: er bezicht sich auf Traumgeschichten, auf Tote, die ihn
quälen, ans Teufel und Verwandte, die ihm im Traume
x) Die fast in jedem Gouvernement oder Landstriche (Oblast)
Rußlands erscheinenden, vornehmlich gerichtlichen Anzeigen oder
Aufrufen gewidmeten amtlichen Zeitungen enthalten außer
Steckbriefen, Suchen von Militärpflichtigen, verlorenem oder ge-
stohlenem Vieh und dergleichen, von niemandem ohne Zwang
gelesenen Nachrichten, mitunter wahre Perlen ethnographischer
Spezialstudien. Eine solche entnahm die seit Kurzem in Moskau
erscheinende „Ethnographische Revue" den „Nachrichten" der
Jakutischen Eparchie.
erscheinen und zu sich rufen. So beginnt denn die Vorberei-
tung des Fanatikers auf den Tod. Dazu wird eine neue
Kleidung aus weißen Renntierfellen (Pyshik) für ihn herge-
stellt, ein neuer Schlitten und Geschirr für die Renntiere,
auf denen die weite Reise ins Jenseits angetreten tvird.
Alles dieses geschieht langsam, wenigstens im Laufe von 10
bis 15 Tagen. Endlich kommt der Tag, der zu seinem
Tode bestimmt ist. Es versammeln sich die Verwandten und
Nachbarn. In deren Gegenwart zieht der sich dein Tode
Widmende die neue Kleidung an und setzt sich in die Ecke
der Jurte (Hütte). Das Werkzeug zu seiner Tötung be-
findet sich in den Händen seines nächsten Verwandten. Das
Werkzeug pflegt in diesem Falle dreierlei Art zu sein: ein
Speer, Messer und Riemen. Wenn er mit dem Messer ge-
tötet zu werden wünscht, halten zwei seiner Verwandten ihn
an den Händen, während der dritte, ein scharfes Messer an
die Gurgel haltend, dasselbe in der Richtung zum Herzen
einführt. Wenn er erstochen zu werden wünscht, wird ihm
durch eine Öffnung in der Wand ein Speer gereicht; den-
selben ins Herz richtend, giebt er ein Zeichen, daß man ihn
ersteche. Wenn aber der Fanatiker erdrosselt zu werden
wünscht, ziehen zwei Verwandte, nachdem sie um den Hals
einen Lasso-Riemen gewickelt haben, solchen nach entgegen-
gesetzten Seiten, bis sie ihr Opfer erdrosselt haben. Des
Tschuktschen Wille ist erfüllt. Den Getöteten thut man auf
den vorbereiteten Schlitten in halbliegender Stellung, und
führt ihn an den bestimmten Ort weg. Hier müssen die den
Toten Begleitenden von ihin scheiden. Die Renntiere, die
ihn hergebracht haben, werden erstochen. Dem Toten nimmt
man die Kleidung ab, zerschneidet sie in kleine Stücke und
läßt sie liegen, während man ihn selbst, an Händen und Füßen
gefesselt, auf einen Scheiterhaufen bringt und verbrennt. Die
Teilnehmer der Leichenfeier wenden sich, nachdem sie ihr
Antlitz und Hände mit dem Blute des Verstorbenen beschmiert,
an ihn während des Verbrennens mit der Bitte, sie nicht zu
vergessen. Hierauf, nach vollendeter Verbrennung der Leiche,
nachdem bloß die Asche von ihm übriggeblieben ist, begeben
sich alle nach Hause--- Dieser schreckliche von altershcr er-
haltene Brauch wird bis auf den heutigen Tag mit derselben
Genauigkeit befolgt, wie solches vor der Einführung des
Christentums im Lande geschah. N. v. Seidlitz.
Aus allen
— Die Datumsgrenze in der Südsee. Infolge der
Entdeckung und der Besiedelung der Philippinen durch die
Spanier von Amerika (von Osten) her, bestand dort bis
zum Jahre 1844 die amerikanische Datumführung. Wie
Freiherr von Banko zeigte, erließ in jenem Jahre der Erz-
bischof von Manila eine Verordnung, der zufolge auf den
30. Dezember 1844 unmittelbar der 1. Januar 1845 folgen
sollte, mithin ein Tag ausfiel und damit die Übereinstimmung
der Datunlführung mit dem asiatischen Festlande erreicht
wurde. Wie Dr. von Danckclman zeigt, ist in der Süd-
see die Praxis des Weltverkehrs für die Datumführung
maßgebend. Auf den Karolinen-, den Marschall- und Kings-
millinseln ist das Datum mit jenem von Australien, Indo-
nesien, China u. s. w. übereinstimmend, ja selbst auf den
Samoainseln, wiewohl dieselben jenseits des 180. Meridians
liegen (zwischen 172" und 160" westl. L. v. Gr.), wird das
gleiche Datum wie in Australien angewendet, lind so wird
es wohl auch auf den Tonga- und andern Inselgruppen
sein, die alle im regen Verkehr mit Australien stehen, von
Amerika aber durch lveite Mecresflächen getrennt sind.
Erdteilen.
— In einem Kalksteingebirge, welches, sich', dem bei
Tanga (Deutsch-Ostafrika) mündenden Mkulumuri entlang
zieht, hat Dr. Kaerger im November 1890 sehr zahlreiche
und mannigfach gestaltete Tropfsteinhöhlen entdeckt, die
teilweise eine Höhe von 30 bis 40 m erreichen und eine
große Ausdehnung besitzen. Die Tropfsteinbildnugcn in
denselben beschreibt er als sehr schön. Bclvohner der Höhlen
sind Stachelschweine, zahllose Fledermäuse und vielerlei „eigen-
tümlich geformte" Insekten.
— Im Petschoralande hat der russische Geologe
T s ch e r ntz s ch o w im Laufe des Jahres 1890 Untersuchungen
ausgeführt, welche die Geologie des Landes als sehr kompli-
ziert darstellen. Er hat eine Karte des Landes angefertigt,
welche beiläufig 50 000 Quadratwcrst umfaßt und deren
wichtigste orographische Angaben sich auf eine Reihe astro-
nomisch neu bestimmter Punkte stützen. Es ist der Bail
einer Reihe von Gebirgen erforscht worden, deren Dasein
bisher kein Geograph geahnt hat, die aber den Samojeden
unter streng feststehenden Namen wohl bekannt waren. Die
112
Aus allen Erdteilen.
Reisenden hatten mit großen Schwierigkeiten zu kämpfen,
namentlich war ihnen der späte Beginn des Frühjahrs hinder-
lich; auf dem ganzen Wege von Ust-Pinega nach Mesen und
weiter bis zur Zylma und Kosma hielten sie mit dem Eis-
gänge Schritt. Als sie, der Kosma folgend, der Tundra
zuwanderten, wußten sie nicht einmal, ob sie Führer antreffen
würden, da die Bevölkerung dieses ausgedehnten Gebietes
sich auf 360 Samojeden beschränkt, die sechs verschiedenen
Stämmen angehören. Nachdem die Gegend der Zylma und
Jschma untersucht war, wurde im September der Pyschma
entlang der Rückweg über Mesen angetreten. (Nach Vcr-
handl. d. Ges. für Erdk. zu Berlin 1890, 460.)
— Deutsche Expedition nach Westgröuland. Der
Vorstand der Berliner Karl Ritter-Stiftung hat beschlossen,
aus den Mitteln derselben eine Expedition nach der West-
küste Grönlands auszurüsten. Führer derselben soll Dr.
E. v. Drygalski sein, welchem sich Herr O. Basch in,
Mitglied der Gesellschaft für Erdkunde, auf eigene Kosten
anzuschließen gedenkt. Zweck der Expedition ist das Studium
der Eisverhältnisse von Grönland, insbesondere der Bewegungs-
erscheinungen auf dem Inlandeis und den Gletschern. Dr.
v. Drygalski beabsichtigt, im Hintergründe des Umanakfjordes,
ungefähr in 70^ Grad nördl. Br., eine Station anzulegen,
auf welcher Herr Baschin fortlaufende meteorologische Beob-
achtungen gewinnen will, und von hieraus auf längeren
nnd kürzeren Ausstügen das Studium der Eisverhältnisse
vorzunehmen. Außer den beiden genannten ist noch ein
dritter wissenschaftlicher Beobachter in Aussicht genommen.
Die Dauer des Aufenthaltes am Eisraude ist auf ein Jahr
bemessen.
— Der Handel des Congostaates hat sich, ent- !
gegen den anfänglichen üblen Voraussagen, stätig und immer
fortschreitend entwickelt. Den größten Nutzen aus demselben
haben, seit der Eröffnung des oberen Congo, die nieder-
ländischen Handelshäuser gezogen, welche ihre Stationen
immer weiter in das Innere vorgeschoben haben. Im Jahre
1886 wurden im ganzen 5000 Lasten von Matadi bis zum
Stanleypool gebracht; im Jahre 1889 transportierte der
Congostaat allein 23 000 Lasten dorthin und entsprechend hob
sich der Privathandel. Damals war jenseits Matadi kein
einziges Warenhaus, jetzt sind dort allein deren 14 errichtet,
und zehn Dampfer befahren nur für Handelszwecke diese
Strecke. Im Jahre 1885 waren nur 13 Missionsstationen
am Congo, jetzt liegen deren schon 15 entlang dem Strome.
Der Wert der Ausfuhr des Congo, welcher ine Jahre 1886 nur
1 633 440 Franken betrug, ist 1889 auf 6184 531 Frauken
gestiegen, und die Einfuhr hat sich in ähnlicher Art gehoben.
Die Einnahmen des Staates weisen noch ein Defizit auf,
welches jetzt durch Einfuhrzölle aufgebracht werden soll.
— Tauben als Pflanzenverbreiter in der Süd-
see. Nach den Beobachtungen, welche C. M. Woodford
bei seiner dritten Reise nach den Salomoinseln (Proc. Geogr.
Soc. 1890, 395) machte, sind es gerade Tauben, welche
Pflanzensamen von einer zur andren Insel verschleppen.
Kleine Koralleninseln, die sehr weit von größeren bereits
bewaldeten entfernt liegen, erhalten ihre erste Vegetation
meist durch solche angeschwemmte Sämereien, die längeren
Aufenthalt im Seewasser vertragen, so die Kasuarinaarten,
Tournefortia argentifolia, Scaevola Koenigii, Guettarda
speciosa, Calophyllum inophyllum, Pandanus. Die
Flora bleibt auf diese Pflanzen beschränkt, wenn die Insel so
fern von andern liegt, daß Landvögel sie nicht erreichen
können. Ist letzteres aber der Fall, so tragen namentlich
Tauben, neben andern Laudvögeln, Sämereien zu, welche
der Flora ein andres Gepräge verleihen. Wie dieses ge-
schieht, beobachtete Woodford an der großen früchtefressenden
Taube der Salomonen, die regelmäßig (vielleicht um den
nächtlich jagenden Leguanen zu entgehen) von den Haupt-
inseln auf die kleinen Nebeninseln um die Abendzeit hinüber-
fliegt. Sie füllen dann die Bäume und find vollgestopft
mit Feigen und besonders den walnußgroßen Kanariennüssen,
deren weiche Hülle sie verdauen, worauf sie die große harte
Nuß selbst von sich geben. Dieses benutzen die Eingeborenen,
welche auf den kleinen Inseln unter den Rastbäumen der
Tauben ihre Nußernte abhalten. Besonders weite Ausflüge
über See macht die weit verbreitete Nicobartaube (Galaenas
nicobarica), welche Woodford einmal 40 Miles von den
Salomonen auf See antraf.
— Über Brust Messungen und Körpergewichtsbe-
stimmungen, die er an Soldaten des 3. bayerischen Feld-
artillerieregiments in den Jahren 1887 bis 1889 vorge-
nommen hat, sprach am 9. Januar 1891 der Oberstabsarzt
Dr. Seggel in der Münchener anthropologischen Gesellschaft.
Vorgenommen wurden dieselben zum Zwecke einer genauen
Bestimmung der Brustweite und der Erweiterungsfähigkeit
der Brust, sowie zur genügenden Kontrolle über die Ernährung
der Leute. Aus dem reichen Inhalte des auf umfangreiches
Zahlenmaterial und die Vorstellung mehrerer Leute gestützten
Vortrages können wir nur erwähnen, daß sowohl bei der
Zivilbevölkerung eine von Jahr zu Jahr sich bessernde Körper-
ernährung, als bei der älteren Mannschaft eine proportionale
Zunahme des Körpergewichtes trotz der Anstrengungen des
Dienstes festgestellt ist. Für die Größe des Brustumfanges
ist nicht die Ernährung, sondern die Beschäftigung von maß-
gebenden: Einflüsse. Die durch die Umstände erschwerte
Messung des Brustumfanges bei der Aushebung gewinnt der
Redner in besserer Weise als bisher durch die Messung der
Schulterbreite und des geraden oder Tiefendurchmessers der
Brust von vorn nach hinten mit dem von den Förstern zur
Durchmesserbestimmung von Bäumen gebrauchten Maßstabe.
Dabei ergab sich, daß die Schnlterbreite viel genauer mit dem
Körpergewicht in Übereinstimmung ist als der Brustumfang;
doch bedarf die Messung der Schulterbreite noch einer Ergän-
zung durch den Tiefendurchmesser der Brust von vorn nach
hinten. _____________
— Das Wort „Irokese". Man liest in den Lehr-
büchern der Völkerkunde eine Erklärung des Wortes Irokese
(Iroquois), die auf den alten Charlevoix zurückgeht, der
in seiner Geschichte Neufrankreichs berichtet: „Der Name
Iroquois ist französisch und ist gebildet ans dem (indianischen)
Worte hiro, ich habe gesprochen (denn mit diesem Worte
schließen die Indianer ihre Reden) und aus koue, welches
langgezogen einen Ausdruck der Trauer, aber kurz ans-
gestoßen Freude bedeutet." Dagegen meinte der amerikanische
Sprachforscher Horatio Hole, die Volksbenennung stamme
von dem Worte garokrva oder ierotz^a — diejenigen,
welche rauchen, oder kurzweg „Tabaksvolk", denn die Irokesen
bauten einst Tabak. Indessen ein guter Kenner der irokcsi-
schen Sprache, I. N. B. Hewitt, bestreitet, daß dieses Verbum
in den irokesischen Sprachen vorkomme und stellt seinerseits
(American Anthropologist I, 188) eine andre Etymo-
logie auf: irinako im Montagnaisdialekt und ininako im
Mohegandialekt jener Sprache bedeutet nämlich „echte Schlange".
Mit der französischen Endung ois entstehen dadurch irinakois
und ininakois, das Wort, woraus dann weiter Iroquois
und unser Irokese wurde.
Herausgeber: Dr. N. Andrer in Heidelberg, Leopvldstraße 27. Druck van Friedrich Viewcg und Sohn in Braunschweig.
Hierzu eine Beilage von Velhagen und Kl a sing, Bielefeld.
Bd. LIX
Nr. 8.'
Brau n s chwei g.
Jährlich 2 Bände in 24 Nummern. Durch alle Buchhandlungen und Postanstalten 1891
zum Preise von 12 Mark für den Band zu beziehen. *
Amegbinos Forschungen in den argentinischen Pampas.
von Dr. w. Aobelt.
I.
Der „Globus" hat zwar bereits in Nr. 23 des vorigen 1
Landes von mir eine kurze Zusammenstellung der von
lmeghino in seinem großen Werke über die fossilen Süngc-
erreste Argentiniens veröffentlichten Funde von Menschen-
esten und Menschenspnrcn gebracht. Da die Fnndberichte
der in einem sehr umfangreichen und kostspieligen Werke
abhalten und obendrein in einer Sprache geschrieben sind,
iclche nur verhältnismäßig wenigen deutschen Natnr-
orschcrn geläufig ist, bin ich von verschiedenen Seiten auf- !
efordert worden, einen ausführlicheren Auszug aus dem
lmeghinoschcn Werk zu geben und der „Globus" hat in
ankenswerter Weise seine Spalten dafür zur Verfügung
stellt.
Der Boden der großen Ebene, welche sich von Pata-
jonien dem Fuße der Anden entlang bis nach Bolivia hinein
rstrcckt und dort mit dem Tieflande des Amazonas ver-
chmilzt, ist von relativ neuer Bildung. Noch zur Krcide-
eit bestand Südamerika aus mindestens drei Inseln, welche
»irch Meere, deren Stelle jetzt die Tiefebenen von Orinoko,
Amazonas und f'a Plata einnehmen, getrennt wurden. Aus
»er heutigen Verbreitung der Landfchncckcn kann man das
lnwiderleglich nachweisen und läßt sich auch die Vermutung
.-echtfertigen, daß der langgestreckte Zug der heutigen Kor-
»illeren bis zur Erhebung dieser Kette, die ja in eine ver-
hältnismäßig sehr junge Zeit fällt und anscheinend noch
ortdanert, auch noch einmal querüber durch einen Meercs-
rrm geteilt war. Die Auftürmung der Kordilleren war
jedenfalls auch von einer Hebung des Meeresgrundes begleitet,
voch genügte dieselbe nur an wenigen Stellen, um die Kreide-
schichten an die Oberfläche zu bringen. Nur in Paraguay
und dann wieder am Oberlauf des Rio Negro di Patagonia
finden sich rötliche Sandsteine, die Adolf Döring als Uiso
Pehuenche zum Eocän rechnet, in denen sich aber in neuerer
Zeit massenhaft Knochen von riesigen Reptilien der Kreide,
besonders Dinosauriern und Krokodilen, gefunden haben,
gemischt mit denen von Edentaten und andren Kryptodonten,
Säugetieren des Eocän. Diese Schichten nehmen also
GlvluiS LIX. Nr. 8.
gewissermaßen eine Mittelstellung zwischen Kreide und
Tertiär ein, entsprechend der nordamerikanischen Laramic-
formation. An sie schließen sich ältere Tertiärschichten, von
Süden nach Norden an Alter abnehmend, viele davon reich
an Säugetierresten, auf eine ungeheure Strecke überdeckt von
einer Basaltkappe von 100 bis 150 m Dicke, welche gegen das
Ende der Eocänperiode ergossen wurde, und zwar über ein
Gebiet, das damals schon Festland war und sich in seiner
Ausdehnung wenig von der des heutigen Patagonien unter-
schied. Nordwärts an die Basaltdecke schließt sich die von
d'Orbigny als Patagonico unterschiedene Formation, teils
subaerischcn Ursprungs, teils Süßwasserbildung, aber bei
weitem nicht so ausgedehnt, wie d'Orbigny annahm, vielmehr
nach Norden bald zu einem schmalen Bande zusammen-
schrumpfend. Ein weiteres Vordringen des Meeres und die
Ablagerung mariner Schichten, charakterisiert durch Unmassen
von Ostrea patagonica, bezeichnen das Ende der Eocän-
periode. Hier schien für geraume Zeit eine Unterbrechung
der Ablagerungen stattgefunden zu haben, denn man fand
in den tief eingeschnittenen Barancas des Parana unmittel-
bar ans dem Patagonico die untersten Schichten des Pam-
peano aufgelagert, das Miocün schien vollständig zu fehlen.
Erst in den letzten Jahren hat Dr. Adolf Döring im süd-
westlichen Teile der Pampas Schichten entdeckt, welche sich
zwischen Eocän und Pliocän einschieben und somit dem
europäischen Miocün entsprechen; sie werden unter dem
Namen Araucano zusammengefaßt und sind für uns be-
sonders wichtig, weil in ihnen Ameghino die ältesten
Menschenspuren gefunden hat.
Alle diese Schichten sind wesentlich nur in Patagonien
und im südwestlichen Teile von Argentinien entwickelt.
Den bei weitem größten Teil der argentinischen Pampas
nehmen die Schichten ein, welche d'Orbigny und Darwin
fast gleichzeitig als Pampasschichten (Pampeano) bezeichnet
haben. Es ist bald sandiger Thon, bald thonigcr Sand,
ohne irgend welches anstehendes Gestein, mit eingebetteten
härteren Schichten und Blöcken in allen Dimensionen bis zu
15
114
Dr. W. Kobelt: Ameghinos Forschungen in den argentinischen Pampas.
der unserer Lößmännchen herab, den sogenannten Toscas.
In den rötlichen Thon sind hier und da inselförmig weiß-
liche Lager eingebettet, reich an Süßwasserkonchylien und
Fischresten, die Spuren ehemaliger Seen in der Pampas-
ebene. Das Pampeano ist säst in seiner ganzen Ausdehnung
eine snbaerische Bildung, analog unserm Löß, es enthält säst
überall eine Menge Wirbeltierknochen, die Reste der auf der
ebenen Fläche gestorbenen Tiere, welche nach und nach von
dem Staube der Steppenstürme begraben worden sind.
Marine Reste fehlen fast ganz, das mittlere Pampeano aus-
genommen, in dem ein Einbruch des Meeres stattgefunden
hat. Im Pampeano liegen die Reste der riesigen Faultiere
und Gürteltiere, großer Katzen, zahlreicher Lama- und
Hirscharten und auch fossiler Pferde, unbestreitbar die Vor-
fahren der heutigen Süngetierfauna Südamerikas, wenn auch
keine Art mit einer heutigen identisch ist. Der größere
Teil der 97 Tafeln, welche Ameghino seinem Werke bei-
gegeben hat, ist den Resten aus dem Pampeano gewidmet.
Die Schichten sind fast durch ihre ganze Dicke gleichmäßig,
nur daß die unteren fester und mehr geschichtet sind und
ihre Toscas mehr kieselig und weniger kalkhaltig als die der
oberen sind. Nach den Säugetierresten lassen sich dagegen
sehr bequem eine obere, eine mittlere und eine untere Ab-
teilung unterscheiden. Die Charaktertiere für die untere Ab-
teilung (Piso ensenadense) sind nach Ameghino: Hicoelo-
phorus latidens, Canis bonaeriensis, Canis ensenadensis,
Typotherium cristatum, Pachyrucos bonaeriensis,
Hippidion compressidens, Macraucbenia ensenadensis,
Scelidotherium Capellinii, Mastodon platensis, Hoplo-
pborus imperfectus, Glyptodon Munizii, Propraopus
grandis. — Eine marine Schicht, einem Einbruch des
Meeres entsprechend, scheidet das untere Pliocän vom oberen;
dieses sogenannte Piso Belgranense ist aber nach dem
Wiederauftanchen des Landes zum größten Teile zerstört
worden und nur an wenigen Stellen erhalten. Über diesen
liegt wieder die Thonschicht des oberen Pampeano (Piso
bonaerense); die Hebung war von starken Faltungen und
Verwerfungen begleitet; eine Verwerfungslinie, dem Parana
folgend, dringt bis tief in das Innere des Kontinentes ein
und wird bei Erdbeben (z. B. am 4. Juni 1888) oft sehr
bemerklich. In das obere Pampeano sind die Betten der
heutigen kleineren Flüsse und die Regenschluchten eingeschnitten.
Aus der Fauna sind die meisten der oben genannten Arten
verschwunden; die Charaktertiere sind: 8milodon populator,
Arctotherium angustidens, Lagostomus angustidens,
Mastodon Humboldti, Toxodon Burmeisteri, Dilo-
bodon Ins anen sis, Eulamaops parallelus, Hippidion
principalis, Macraucbenia patagonica, Ctenomys magel-
lanicus, Glyptodon typus, Panocbtus tuberculatus,
Doedicurus Poncbeti, Hoplophorus ornatus, Eutatus
brevis etc.
Mit dem oberen Pampeano schließt die Epoche der Ablage-
rungen in den Pampas und beginnt die der Denudation, die
heute noch fortdauert. Ameghino nimmt an, daß die Durch-
schnittserhcbnng der Pampas damals circa 30 in höher Mar-
als heute. Ein großer Teil der abgeschwemmten Massen
wurde in sekundären Depressionen, in Seebecken und Flnß-
thälern abgelagert, und bildet hier Schichten, die als Piso
lujanense bezeichnet werden. Sie find nicht sehr aus-
gedehnt, aber für den Paläontologen äußerst wichtig als
Lagerstätten von ungezählten Massen von Knochen und Pan-
zern von Mastodon, Megatberium, Glyptodon, Panocb-
tus, Mylodon, Lestodon, Pseudolestodon und Scelido-
therium; das eigentliche Leitfossil für sie ist aber eine
winzige Brackwasserschnecke, Hydrobia Ameghinii Doering,
welche diese Lager zu Millionen erfüllt, aber in allen jüngeren
Ablagerungen fehlt.
Im Süden legt sich über das Pampeano eine ausge-
dehnte Schicht von mehr oder minder verkitteten Rollsteinen,
die Eormation tehuelche. Sie hat häufig als Beweis für
die Existenz einer Eiszeit in Südamerika dienen müssen,
da sie als eine erratische Formation angesprochen wurde,
aber Carlos Ameghino, der Bruder des Paläontologen,
welcher diese Gegend sehr sorgfältig untersuchte, fand niemals
die charakteristischen Gletschergeschiebe, niemals Kritzen,
immer nur echte Rollsteine, wie sie die Flüsse heute noch
aus den Kordilleren bringen. Die Bildung der Geröll-
schicht hat, da Patagonien seit der Eocänperiode nicht mehr
vom Meere bedeckt wurde, schon unmittelbar nach dem Er-
guß der oben erwähnten Basaltdecke begonnen und bis in
die Neuzeit hinein fortgedauert. (Den feineren Detritus
haben wahrscheinlich die Pampasstürme zwischen den Steinen
heransgeblasen und nach Norden geführt, wie man es heute
noch an dem Südabhange des Atlas in der Vorwüste beob-
achten kann.) Eine Eiszeit für Südamerika leugnet Ameg-
hino, wie schon früher im Globus erwähnt wurde, gänzlich.
Diluvialschichten sind im Inneren der Pampas bis jetzt
noch nicht aufgefunden worden, obschon ihre Existenz in ab-
flußlosen Senkungen durchaus nicht nmnöglich ist. Wohl
aber liegen sie, durch kleinere Hebungen aufs Trockne gebracht,
der Küste entlang und finden sich auch in der Provinz
Buenos Aires einige Sceausfüllungen, welche eine von der
tertiären ganz verschiedene, zur rezenten hinüberführende
Fauna enthalten. Hydrobia Ameghinii wird in ihnen durch
eine andre Art, Hydrobia Parchappi, ersetzt. In den
Küstenschichten, dem Piso querandino, finden sich neben
Seemnscheln, die heute noch an den südamerikanischen Küsten
wohnen, die Knochen von Ganis cultridens, Auchenia
mesolithica, Palaeolama mesolithica, Cervus mesolithi-
cus, Euphractus platensis. In den jüngeren Süßwasser-
schichten des Piso platense treten schon die Unze, das
Guanaco, Ganis Azarae und zahlreiche andre, heute noch
lebende Säugetiere hinzu, von ansgestorbenen Arten unter-
andern auch ein echtes Pferd (Equus rectidens). Das
noch jüngere Piso aymara enthält nur die Reste heute noch
lebender Tiere und muß als alluvial bezeichnet werden.
Ameghino trennt von ihm noch die allermodernsten, seit der
Einwanderung der Europäer abgelagerten Anschwemmungen
als Piso ceriano ab.
Zur Quaternärzeit waren die physikalischen Verhältnisse
der Provinz Buenos Aires wesentlich von den heutigen ver-
schieden; die Bäche und Flüsse strömten in einem erheblich
höheren Niveau, die Ebene war mit zahlreichen stehenden
Gewässern bedeckt, das Klima war offenbar feuchter als
heute, und wahrscheinlich auch etwas wärmer, denn einige
subtropische Landschnecken sind seitdem nach Norden zurück-
gewichen. Der Ozean reichte ein klein wenig weiter in das
Land hinein als heute, an die Küste schloß sich eine Reihe
von untereinander zusammenhängenden Lagunen. Die
Fauna war in ihren Grundzügcn der heutigen ähnlich, aber
sie enthielt noch einige jetzt ausgestorbene Formen; gerade
die Riesentiere, Mylodon, Megatberium und Mastodon,
haben im Anfang der Diluvialperiode sicher noch in den
Pampas gelebt.
Wie oben bemerkt, sind weder die marinen noch die
lacustren Dilnvialablagerungen in den Pampas besonders
ausgedehnt. Menschenreste und Menschenspnren finden sich
im Süßwasseralluvinm, dem Piso platense, relativ sehr-
zahlreich. Leider sind sie vielfach mit rezenten Resten ver-
mengt worden, aber die genaueren Untersuchungen und Aus-
grabungen der letzten Jahre haben doch eine ganze Anzahl
sicher diluvialer Funde geliefert. Sie lassen unschwer zwei
verschiedene Epochen erkennen, eine jüngere mit regelmäßig
geschlagenen Werkzeugen, welche teilweise schon Anfänge von
Dr. W. Kabelt: Ameghinos Forschungen in den argentinischen Pampas.
115
Politur zeigen, und Spuren von Töpfergeschirr 0, der
mesolithischen Periode entsprechend, und eine ältere
mit roheren Werkzeugen und ohne Topfscherben, der paläo-
lithischen Periode angehörend, Neolithische geschlissene
Werkzeuge sind im echten Diluvium noch nirgends gesunden
worden und gehören überall der jüngeren, oberflächlichsten
Bodenschicht an. Ameghino giebt für beide Perioden zahl-
reiche detaillierte Fuudbcrichte. Die Fundstätten sind fast
immer die Stellen alter Lagunen und deshalb insclartig
über die Provinz zerstreut. Eine sehr interessante Lager-
stätte befindet sich bei Canada de 9kocha in der Nähe von
Lujan. Ameghino hat mehrere Monate dort gegraben,
aber nur einen kleinen Teil der Schicht damit ausgebeutet.
Unter einer 80 ein dicken Schicht Dammerde, welche einige
geschliffene Steinwerkzeuge lieferte, liegt eine 2 bis 3 in dicke
Schicht schwärzlicher, eisenhaltiger Erde, durchsetzt mit Kon-
kretionen von Eisenoxydhydrat bis zur Dicke eines Hühner-
eies, und Ampullarien, Planorben und andre Süßwasser-
konchylien enthaltend. Sie liegt direkt aus dem roten Pampas-
thon auf und ist offenbar die Ausfüllung eines Teiches ans
der jüngeren Diluvialzeit. Die Schicht ist in ihrer ganzen
Ausdehnung mit Wirbclticrknochcn gespickt und jeder Schlag
mit der Hacke brachte nicht nur eine Anzahl Knochen, sondern
auch einzelne Werkzeuge ans Stein und Knochen oder Topf-
scherben zum Vorschein. Außer einer Anzahl unbearbeiteter
Knochen sammelte Ameghino an dieser Stelle etwa
500 Steinwerkzeuge, 800 Scherben und etwa 50 Werk-
zeuge aus Knochen. Die Steinwerkzeuge bestanden aus
Pfeilspitzen und Lanzenspitzen des Type Moustierien, aus
kleinen halbrunden Schabern (raspadores) mit sorgfältig
bearbeiteten Schneiden, seinen, an der Schneide nicht weiter
bearbeiteten Kieselsplittern, völlig runden Steinkugeln und
flachen Mörsern. Aus Knochen gearbeitet fanden sich zwei-
schneidige und drcischneidige Pfeilspitzen ohne Stiel, Ahlen
und Glüttwerkzeugc (alisadores s. pulidores). Die Scherben
sind aus grobem Thon und schlecht gebrannt, anscheinend
alle von einer Topssorm herrührend, die einer halben Melone
glich, ohne Verzierungen, gelegentliche Eindrücke mit dem
Fingernagel ausgenommen. Die gefundenen Röhrenknochen
sind mit verschwindend geringen Ausnahmen der Länge nach
gespalten, die Schädel zerschlagen, um das Gehirn zu ge-
winnen, die übrigen Knochen zerbrochen, angebrannt und
mit von Feuersteinmesscrn herrührenden Einschnitten bedeckt.
Sie gehören allen Wirbelticrklassen an, auch einige Reptilien-
knochen finden sich; von den Arten leben die meisten noch
heute in Argentinien, einige sind ausgewandert (Tolypcu-
t68 conurus, Dolichotis patagonica); ausgestorben sind
Palaeolama mesolithica, Cervus mesolithicus, Equus
rectidens; Canis Azarae und die Unze sind durch etwas
von den rezenten abweichende Formen repräsentiert.
In dem Pampasthon unterhalb der Fundschicht finden
sich eigentümliche runde Löcher von 20 bis 80 cm Durch-
messer und bis 2 in tief, 20 cm bis zu lm voneinander
entfernt; zwischen ihnen ist die Erde etwas aufgehäuft und
viele von ihnen verzweigen sich in einiger Tiefe in mehrere
Gänge von geringerem Durchmesser, gerade als seien hier
starke Äste verkehrt in die Erde eingegraben worden; Auieg-
hiuo nimmt deshalb auch an, daß die Menschen der uusoli-
thischen Periode hier im Gebiet einer ausgedehnten schlammigen
Lagune aus einer Art Pfahlbauten wohnten. Die Ansiedelung
muß, nach der Masse der aufgehäuften Knochen zu schließen,
eine geraume Zeit hindurch bestanden haben, aber sie ist
nicht immer bewohnt gewesen, denn zwischen den knochen-
reichen Schichten finden sich einzelne nur aus Seeschlamm
st Anmerkung des Herausgebers. Ob „Töpfer-
geschirr^ zu den diluvialen Funden zu rechnen ist, möchte
doch zweifelhaft erscheinen.
bestehende Zwischenschichten. Menschenreste, aus denen man
einen Schluß auf die Körperbeschaffenheit der mcsolithischen
Menschen ziehen könnte, haben sich in dieser Station leider
noch nicht gefunden. Einige Knochen, die bei Partido de
Juarez gefunden wurden, scheinen, da mit ihnen zusammen
nur Stcinwafsen, aber keine Scherben gefunden wurden,
älter zu sein, aber der Schädel vom Rio Eegro de Pata-
gonia, den Moreno im Rnlletin de la 8ociété d'Anthro-
pologie de Paris als mit Glyptodouresten zusammen
gefunden beschrieb, ist vermutlich mesolithisch.
Eine sehr wichtige mcsolithische Fundstätte liegt in Cor-
doba, in der nächsten Umgebung des dortigen Observatoriums.
Die überliegende Dammerde ist vom Regenwasser weg-
gespült; in der entblößten und von Wasserrinnen zerfressenen
Fundschicht liegen massenhaft Artefakte roher Art zusammen
mit den Resten einer dolichokephalen Menschenrasse, deren
Schädel durch ihre auffallende Dicke einigermaßen an den
Neanderthaler erinnert. Es haben sich bis jetzt nur
Bruchstücke gefunden, die keinen vollständigen Schluß aus
die Schädelform zulassen, aber einige zeigen unverkennbare
Spuren einer künstlichen Deformation, wie bei den Aymaras.
Unter den Steinwaffen finden sich Pfeilspitzen, zugeschlagene
Schleudersteinc, Hämmer und einige große „racloirs“ vom
Type Moustierien. Scherben fehlen, die Station scheint
also älter zu sein, als die von Canada de Rocha. Ameghino
möchte sie mit den Stationen von Solutré und Madclaine
parallelisiercn.
Das ältere Diluvium ist überall in Argentinien arm
an Wirbeltierresten und auch Menschenspnren sind darin so
selten, daß Ameghino anfangs geneigt war, einen großen
Hiatus zwischen den Pampasschichten und dem jüngeren
Diluvium anzunehmen. Neuere Nachforschungen haben aber
doch nicht nur eine ganze Anzahl Süugetierartcn ergeben,
sondern auch unverkennbare Menschenspnren, gespaltene und
roh bearbeitete Knochen, gebrannte Erde und grob zurccht-
geschlagene Steinwaffen, dem europäischen Typus von Chel-
les und Saint-Acheul entsprechend. Den ersten Fund
eines echten Beiles von diesem Typus machte der bekannte
Naturforscher Pellegrino Strobel schon 1867 bei Tandil.
An derselben Stelle sind seitdem noch eine Anzahl ähnlicher
Steinbeile gesunden worden, außerdem große Nuclei aus
weißem Quarzit, mit einer dunkeln Patina überzogen, und
mit ihnen zusammen Knochen eines Palaeolama und des
ausgestorbenen Pferdes (Equus rectidens). Auch in den
reichen Fundstätten am Abhange des Cerro de Montevideo
in der Banda oriental haben sich immer einzelne Instrumente
vom type cheiiéen gesunden, gemischt mit zahlreichen
jüngeren Fuudstücken. Ameghino war so glücklich, am
Meerrsstrand in geschichtetem Diluvium, welches dem Piso
querandino angehört, typische Chelles-Beile zu finden und
somit ihr Alter festzustellen.
Zahlreicher sind die Funde bei Cordoba; der Mensch
scheint im älteren Diluvium den Bergabhang der Ebene
als Wohnplatz vorgezogen zu haben. Hier finden sich zwei
Meter unter der Oberfläche grob bearbeitete Steingeräte aus
Quarz, Quarzit und einem dunklen basaltartigen Gestein,
meist mandelförmig, au einer oder an beiden Schneiden zu-
geschärft, bald an einer Seite zugespitzt, bald an beiden
gerundet, 6 bis 14 cm breit; ferner auf einer Seite zu-
geschärste Rollsteine und geschärfte Splitter vom Typus
der „racloirs moustieriens“, sowie Schlagsteine mit zahl-
reichen Facetten. Die wenigen Säugetierknochen gehören
der Fauna des älteren Diluviums an. Auch an der Laguna
di Lobo und bei Villa de Lujan, der einzigen an Sänge-
tierknochen reichen Lokalität des älteren Diluviums, haben
sich Beile gefunden, welche ganz den Typus von Saint-
Acheul tragen. Von den 36 dort gefundenen Säugetier-
15*
116
Die beabsichtigte Südpolar-Expcdition.
arten sind 14 heute ausgestorben, unter ihnen Megatherium
und Mylodon.
Von großem Interesse sind die Funde, welche bei Ge-
legenheit der großen Ausgrabungen in der neu erbauten
Hauptstadt La Plata gemacht wurden. Hier nimmt das
untere Diluvium eine bedeutende Fläche ein; cs besteht aus
marinen Sanden, die von einer dünnen Süßwasserschicht
überlagert werden. In ihnen finden sich massenhaft die
Knochen großer Scesäugetiere, ganze Skelette von Palaa-
noxtorus, Delphine aus den Gattungen Delphinus, Ponto-
porca, Orca, Tursio, auch zahlreiche Robben; sie harren
noch des eingehenden Studiums und es ist noch nicht fest-
gestellt, ob sie lebenden oder ausgestorbcncn Arten angehören.
Mit ihnen vermischt finden sich plump zurecht geschlagene
Quarze, messerartig zugcschärfte Schiefer, Schlcudersteine
und die charakteristischen Beile von Chellcs oder Saint-
Acheul. Die Geräte, welche sich in den überliegenden Süß-
wasserschichten finden, gehören dem Typus von Moustier
an. Von zerstreuten, anscheinend teilweise absichtlich zer-
schlagenen Menschenknochen hat sich noch nicht mit Sicher-
heit feststellen lassen, welchem Horizont sie angehören.
Ein weiteres interessantes Lager des älteren Diluviums
findet sich südlich von Buenos Aires an der Küste von
Bahia blanca, in dem Thal des Baches Naposta. Auch
hier liegen marine Schichten, überlagert von sluviatilen;
die zahlreichen Wirbeltierknochen gehören denselben Arten
an, wie im älteren Diluvium des Nordens. Neben vielen
gespaltenen Knochen großer Wiederkäuer finden sich .hier
zahlreiche zerbrochene Eier des amerikanischen Straußes,
meistens Spuren von Fenereinwirkung zeigend, und häufiger
als sonst Steinwaffen von altdiluvialem Typus, darunter
besonders ein schönes Quarzitbeil von der klassischen Form
von Saint-Achenl. Darüber liegen in den Süßwasser-
schichtcn die dem Typus von Moustier entsprechenden,
besser bearbeiteten Geräte und ganz oben in der Damm-
erde die fein bearbeiteten Pfeilspitzen aus der Indianer-
zeit; die Werkzeuge jeder Epoche sind am Habitus sofort
zu erkennen.
Will man diese altdiluvialen Schichten mit europäischen
vergleichen, so können cs nur die altquaternären von Abbe-
ville an der Somme sein, in denen Boucher de Perthes
seine Funde machte.
Die beabsichtigte Güdpolar-Lxpedition.
Nachdem der Vorschlag zu einer australischen Südpolar- !
Expedition, welcher Ende 1887 in Victoria auftauchte, durch
die Weigerung des englischen Schatzamts, den von den Kolo-
nieen verlangten Beitrag von 5000 Pfd. Sterl. zu leisten,
scheiterte, scheint das Gelingen der neuerdings geplanten
schwedisch-australischen Südpolar-Expedition bessere Aus-
sichten aus Erfolg zu haben. Baron von Mneller schlug
im Anfang 1890 Nordenskiöld eine gemeinschaftliche
australisch-schwedische Expedition vor und stellte im Falle
des Zustandekommens einen Beitrag der australischen geo-
graphischen Gesellschaft von 5000 Pfd. Sterl. in Aussicht.
Nordenskiöld seinerseits unterbreitete diesen Vorschlag Oskar
von Dickson und dieser stellte in seiner großmütigen Frei-
giebigkeit weitere 5000 Psd. Sterl. zur Verfügung. Mit
dieser geringen Summe von 10 000 Pfd. Sterl. (200 000
Mark) glaubt Nordenskiöld das Unternehmen verwirklichen
zu können, und man rechnet, daß die Expedition 1892,
vielleicht auch erst 1893 Schweden wird verlassen können.
Unter dem Vorsitz des Gouverneurs von Victoria,
Earl of Hopctoun, fand am 27. August zu Melbourne
eine Versammlung statt, welche die wissenschaftliche Erfor-
schung der Südpolarzone als eine nationale Pflicht erklärte
und bei der allgemeinen Begeisterung, die nun in Australien
für die Sache herrscht, wird die Summe von 5000 Psd. Sterl.
aufgebracht werden. Herr G. S. Griffith (vergl. lMturs
vom 26. Oktober 1890) hielt einen Vortrag über Süd-
polarforschung und reihte sich mit seinen Ausführungen jenen
verdienten Männern an, welche, allen voran, unser Lands-
mann Dr. G. Neumayer, seit Jahren die Notwendigkeit
der antarktischen Forschung im Interesse der Wissenschaft,
besonders der Geophysik, aufs nachdrücklichste vertreten.
Nach Griffith hat die Geographie bei einer Südpolar-
Expedition den geringsten Gewinn zu erwarten. Wo Berge,
Thäler und Wasserläufe unter ewigem Schnee begraben sind,
können höchstens bloße Umrisse, das Gerippe einer Karte, ge-
zeichnet werden. Aber das soll dennoch keinen Einwand
bieten gegen ein Unternehmen, das andre große Aufgaben
hat. Unsre gegenwärtige geographische Kenntnis dieses Ge-
bietes ist eine außerordentlich beschränkte, wie der Blick auf
eine Südpolarkarte crgicbt. Wenige unzusammenhängendc
Küstenlinien sind der Inbegriff unsrer gesamten Kenntnis
des Südpolarlandes. Das Hauptproblem, das also in
dieser Hinsicht seiner Lösung harrt, ist die Frage nach dem
Zusammenhange dieser zerstreuten Küsten; bilden sie Teile
eines Kontinents oder sind sie gleich Grönland Stücke eines
Archipels?
In der Geologie interessieren uns andre Dinge. In
der Polargegend muß bei Bildung der Vulkane der Schnee-
fall ebensogut in Rechnung gezogen werden, wie der Aschen-
auswurf und der Lavastrom. Man könnte denken, daß
jeglicher vulkanische Auswurf sofort den Schnee schmilzt,
auf den er fällt; aber das folgt durchaus nicht notwendig.
Vulkanische Asche fällt verhältnismäßig kalt nieder, bildet eine
Kruste und ist dann einer der schlechtesten Wärmeleiter, die
wir kennen. Wenn eine solche Lage einige Zoll dick über
dem Schnee liegt, so kann glühende Lava darüber wegfließen,
ohne daß der Schnee darunter schmilzt, wie Lyell schon 1828
an den Abhängen des Ätna beobachtet hat. Was ist nun
die Folge? Ist das Eis durch die Zwischenfügung starrer
Lavabetten und verhärteter Asche verändert worden? Wird
das Eis durch Verdampfung zerstört oder verhindert die
Aschenschicht diese Art der Auflösung? Eine weitere inter-
essante Frage ist die, welcher Natur sind die Felsen, auf
welchen die untersten Lavaschichten ruhen, in ihrem Verhält-
nisse zu dem antarktischen Kontinent, welcher nach Annahme
der Geologen in der Sekundärperiode dort existierte. Findet
man sedimentäre Gesteine, so deutet das auf die einstmalige
Nähe eines Kontinents, von dessen Oberfläche allein diese
Sedimente herrühren können; trifft man dagegen Plutonische
Gesteine, so erkennen wir darin einen Teil des kontinen-
talen Landes selbst. Ferner sollten, wo immer die Schnee-
verhältnisse cs gestatten, die Polargebirge nach Basalt-
lagern durchsucht werden, um Spiegeleisen und Nickel zu
finden, wie sie Nordenskiöld in Ovifak in Nordgrönland
entdeckte. Denn nur allein diese metallischen Massen auf
der Erde gleichen den außerirdischen Meteoriten; ihr Vor-
kommen am Südpol würde der geologischen Forschung neue
Anregung geben.
Eine Reihe von Pendelbeobachtungen, möglichst
nahe am Pole ausgeführt, müßte ferner unsre Kenntnis
Die beabsichtigte Südpolar-Expedition.
1l7
über Gestalt und Beschaffenheit der Erdoberfläche nicht un-
wesentlich vergrößern, da die Zunahme der Pendelschwin-
gungen gegen den Pol zu nicht allein auf die Abplattung
jenes Teiles des Erdkörpers zurückgeführt wird, sondern
ebenso auf das Hervortreten von Massen ultrabasischer Ge-
steine an die Oberfläche hinweist.
Von den Nordpolrcgionen wissen wir, daß sie in ver-
gangener Zeit ein gemäßigteres Klima hatten. Zahlreiche
Flötze Paläozoischer Kohle, Lager jurassischer Versteinerungen
und ausgedehnte eozäne Schichten mit den Ziesten immergrüner
und laubwechsclnder Bäume und blühender Pflanzen treten
weithin innerhalb des nördlichen Polarkreises aus. Dieser
Umstand erregt in uns das Verlangen, zu wissen, ob die
entsprechenden südlichen Breiten ebenfalls solchen! klimatischen
Wechsel unterworfen waren. Biologen, welche Flora und
Fauna von Süd-Afrika, Australien, Neu-Seeland, Süd-
Amerika und den vereinzelten Inseln des südlichen Ozeans
untersucht haben, haben Formen nachgewiesen, welche das
Vorhandensein eines antarktischen Landes entschieden bedingen,
eines Landes, das mit mannigfacher Vegetation bekleidet,
von Tieren, Vögeln und Insekten belebt war und in seinen
laufenden Gewässern Süßwasserfische beherbergte; auch hier-
in erblicken wir die Anzeichen eines veränderten antarktischen
Klimas.
Betrachten wir nun kurz einige Beweise für das ehe-
malige Dasein dieses Festlandes. Professor Hutton in
Christchurch erklärte, daß 44 Proz. der Neuseeland-Flora
antarktischen Ursprungs sei. Auf den Anckland-, Campbell-
und Macquarie-Inseln giebt es antarktische Pflanzen, dic
niemals Neu-Seeland erreicht zu haben scheinen. Neusee-
land hat mit Süd-Amerika und Afrika gewisse Formen
gemein und Flora und Fauna der Kerguelen-, Erozet- und
Marion-Inseln sind beinahe identisch, obwohl die Inseln
sehr klein und sehr weit von einander und von der übrigen
Welt ablegen sind. Tristan d'Acunha hat 58 Spezies von
Seemollusken, von welchen sich 13 auch in Süd-Amerika,
6 oder 7 in Neu-Seeland und 4 in Süd-Afrika vorfinden
(Hutton's Origin of N. Zealand Flora and I auna). .4. as
gemäßigte Süd - Amerika hat 74 Geschlechter Pflanzen mit
Neu-Seeland gemein und 11 ihrer Arten sind identisch
(nach Wallace, Island life). Pinguine (Eudiptes) haben
Süd-Amerika und Australien gemeinsam; drei Gruppen Süß-
wasserfische sind nur ans diese beiden Gegenden beschränkt.
Von Aptitis, einem Süßwassergeschlecht, giebt cs eine Art
in Tasmanien und zwei in Patagonien. Eine andre kleine
Fischgrnppe (Haplochitonidae) bewohnt nur Feuerland,
die Falklands-Inseln und Süd-Australien, während bte
Gattung Galaxias nur im gemäßigten Süd-Amerika, Neu-
Seeland und Australien vorkommt. Und doch sind diese
Länder soweit voneinander entlegen, daß heutzutage un-
möglich ein gegenseitiger Austausch ihrer Bewohner statt-
finden könnte. Es muß also in der Vergangenheit eine
Verbindung bestanden haben, ein gemeinsames Vaterland
für die gemeinsamen Formen, das von all diesen Ländern
aus zugänglich war und den Wanderern als Brücke diente,
somit entweder ein Festland oder ein Archipel.
Aber noch ein besonderes Interesse ist mit diesem ver-
lorenen Kontinent verknüpft. Wer irgend mit Geologie
vertraut ist, weiß, daß plötzlich mit dem Eintreten der
Tertiärperiode Säugetiere, wie Affen, Katzen, Hunde, Bären,
Pferde und Rinder, erscheinen. Nun ist aber nicht anzu-
nehmen, daß diese Geschöpfe sich mit solcher Plötzlichkeit aus
mesozoischen Formen entwickelt haben können. . Zu diesen
Umwandlungen hatten sie lange Zeit und einen großen
Erdenraum gebraucht und wahrscheinlich hatte jedes von
ihnen eine lange Reihe von Vorfahren. Wo bleiben nun
die fehlenden Glieder? Huxley nimmt an, daß sic sich auf
irgend einem verlorenen Festlande entwickelt haben, dessen
Grenzen allmählich verschoben wurden, indem sich der See-
rand auf der einen Seite langsam hob, während er sich
auf der andern langsam senkte. So blieb stets ein großer
trockener Fleck bestehen, der wie ein großes Floß mit seiner
Fauna und Flora langsam mit der Erdnndulation sich fort-
bewegte. Aber heute ist dieser Raum mit seinen fossilen
Erscheinungen Meeresboden, und Huxley vermutet, daß
Asien jenes Festland vertritt, das einst einen Teil des Stillen
Ozeans einnahm. Wo aber die placentalen Säugetiere
und andere höhere Lebensformen während der mesozoischen
Periode entstanden sind, folgert Blanford, muß auch der
Mensch seine Geburtsstütte gehabt haben, und somit müßten
wir „das Paradies" von der nördlichen nach der südlichen
Halbkugel verlegen.
Solche Möglichkeiten müssen unser Interesse an der
Wicdcraufsindung von Spuren dieser geheimnisvollen Gegend
mächtig vermehren. Dieses Land scheint nach Schluß der
mesozoischen Zeit ins Meer versunken zu sein. Versinkt
aber eine Landmasse, so wird dadurch eine Störung des
klimatischen Gleichgewichts jener Region hervorgerufen und
das Verschwinden eines antarktischen Kontinents mußte das
Klima dieser Halbkugel bedeutend verändern. Würde aus-
gedehntes Land dieselben Sonnenstrahlen empfangen, die
heute die unstüte Sec empfängt und als verhältnismäßig
warme Strömungen nordwärts führt, so könnte die Wärme
ans deren unbeweglichen Oberfläche sich ansammeln und das
Klima abändern. Trugen die jetzt eisbedeckten Südpolar-
ländcr einst ebensolche Lebensformen, wie sie ans Disco
und Spitzbergen vorkamen, so müssen Überbleibsel im
fossilen Zustande noch anzutreffen sein und ihr Auffinden
müßte derartige Spekulationen bekräftigen oder widerlegen.
Dr. M'Cormac berichtet in seiner Beschreibung von Roß'
Reise, daß Teile von Victorialand schneefrei und somit
solchen Untersuchungen zugänglich waren und überdies mögen
auch noch lebende Formen dort anzutreffen sein, wo cs nicht
kälter und rauher sein kann, als es die grönländischen Berg-
spitzen sind, die lange für steril gehalten, neuerlich eine reiche,
wenn auch niedrige Flora lieferten.
In meteorologischer Beziehung ist zu untersuchen,
welche Wirkungen der tiefere Barometerstand, die vorherr-
schende Windrichtung nach dem Südpol und der größere
Feuchtigkeitsgehalt der Luft hervorbringen. Manry behauptet,
daß das Klima um den Südpol herum niildcr sein muß,
als um den Nordpol. Nach seiner Theorie steigen die
feuchten Winde im Südpolargebiet zu großer Höhe ans,
verlieren dort ihre Feuchtigkeit und entwickeln zugleich große
Mengen latenter Wärme. Er schützt den Unterschied in der
Temperatur zwischen Nord- und Südpol größer, als zwischen
einem kanadischen und englischen Winter. Wie immer aber
das Klima am Südpol sein mag, die klimatischen Verhält-
nisse Australiens müssen durch dasselbe beherrscht werden
nnd^schon deshalb ist es von Wert, cs kennen zu lernen.
Ferner harren verschiedene Fragen des Erdmagnetis-
mus ihrer Lösung, wozu lange fortgesetzte'Beobachtungen
über die Wirkungen von Vorgängen im Erdinnern, der
Oberflächenströmung und der atmosphärischen Elektrizität
ans die Magnetnadel gehören. Es müßte mindestens ein
Landobservatorium errichtet und dessen Aufzeichnungen gleich-
zeitig in Australien, am Kap, in Amerika und in Europa
kontrolliert werden, um festzustellen, welche Schwankungen
örtlich, welche allgemein sind. Die genaue Lage des mag-
netischen Hauptsüdpols, sowie die Brennpunkte magnetischer
Intensität und ihre Bewegung müßten bestimmt werden,
überhaupt müßte eine magnetische Ausnahme der südlichen
Hemisphäre südlich vom 40. Breitengrade stattfinden, wie
jüngst Kapitän Creak in der British AssociationWcrlangte.
118
Die künstliche Verunstalt
Eng verknüpft mit Erdmagnetismus sind die Erschei-
nungen des Nordlichts, über dessen Natur und gewisse
Gesetzmäßigkeit wir erst in neuester Zeit durch die For-
schungen von Dr. Sophus Tromholt einen Einblick bekommen
haben. Wie weit die Daten für den Nordpol auch für den
Südpol zutreffend sind und in welcher Weise größere Feuch-
tigkeit und milderes Klima die Erscheinung beeinflussen, das
müßte durch eine Reihe von Beobachtungen in hohen Breiten
festgestellt werden. Bon höchstem Interesse müßten Auf-
schlüsse über den Zusammenhang von Polarlichterscheinungen
und Wetter und über die Periodizität dieser Erscheinungen
sein, und wenn wir daraus irgend welche Anhaltspunkte für
den voraussichtlichen Witterungscharakter in Australien ge-
winnen könnten, so würde ein solcher Erfolg alle Expeditions-
kosten weit auswiegen.
Schließlich sei noch erwähnt, wie die Südpolarforschung
auch Handelsvorteile bringen kann, nämlich durch die
ng der Köpfe in Europa.
Belebung des Walfischsangcs in diesen Regionen. Das Fisch-
bein hat einen Preis von 2000 Psd. Sterl. per Tonne er-
reicht und sichert daher dem Walfischfänger reichlichen Lohn.
Da der nordische Wal aber immer seltener wird, so haben
sich die hervorragendsten Walfischjägcr der Gegenwart,
Kapitän David und John Gray von Peterhead in Schott-
land, der Mühe unterzogen und bei allen noch lebenden
Teilnehmern der Roßschcn Expedition Umfrage gehalten
und kommen zu folgendem Schluß: „Wir halten cs für-
zweifellos, daß Wale von der Art des echten Grönland-
Wales in großer Anzahl in der Südpolarsee vorkommen und
daß die Ausübung des Fanges dort erfolgreich und nutz-
bringend sein müßte."
Griffith schließt, indem er die Überzeugung ausspricht,
daß das Ansehen Australiens in der ganzen zivilisierten Welt
durch nichts mehr gehoben werden könnte, als durch eine
reiflich erwogene und geschickt geführte Südpolar-Expedition.
Die künstliche Verunstaltung der Köpfe in Europa.
Der merkwürdige Brauch, die Form des Kopfes künst-
lich umzugestalten, ist unsrer Zeit zunächst aus Amerika
bekannt geworden. Missionsberichte erzählten, daß die
Flatheads- und Creeks-Indianer u. a. m. die Köpfe ihrer
Kinder durch fortgesetzten Druck in eine nach ihren Be-
griffen schönere Form dauernd umwandeln. Die von
Alcide d'Orbigny im Tafellande der Andes aufgefundenen
Gräber von Peru, also weit von den Indianern Nord-
Amerikas entfernt, enthielten ebenfalls Schädel mit aben-
teuerlichen Formen, welche die Spuren gewaltsam erzwun-
genen Ursprunges unverkennbar an sich tragen I.
F'ä. 1.
Schädclprofil einer Toulouserin. Nach Broca.
Diese Nachrichten setzten die Ethnologen Europas, wie
nicht anders zu erwarten war, in die größte Verwunderung.
Die Kühnheit, selbst die Hülle des Gehirns der Mode dienst-
bar zu machen, konnte nur Indianern in den Sinn kommen,
so dachte man sich. Als daher auf europäischem Boden,
und zwar zuerst in Unterösterreich bei Grafencgg, ein Schädel
gesunden wurde, dessen Gestalt ausfallende Übereinstimmung
mit den Turmköpfen Amerikas besaß, erklärte man ihn für
einen Peruanerschädel, der seinen Weg an die friedlichen
User des Jstcr durch irgend einen Sammler peruanischer
Altertümer gesunden haben sollte. Bald daraus wurde
aber bei Wien ein ganz ähnlicher Schädel aus dem Lchm-
i) Erst neuerdings sind wieder solche Schädel durch Vir-
chow aus dein Totcnfelde von Ancon mit allen Einzelheiten
beschrieben und abgebildet worden in dem bekannten Werke von
Reiß und Stübcl.
bodcn ausgegraben. Er konnte doch unmöglich auch ein
Peruaner sein. Bald war lnan denn darüber einig, daß die
oben erwähnte, durch Pressung und Schnüren erzwungene
Kopfform in der Alten Welt auch vorkam, und zwar bei den
Avaren, bei den Nachkömmlingen der einst am Pontus
euxinus und ane Tanais seßhaften Makrokephalcn, von
denen schon Hippokratcs spricht, deren Verfahren der Schädel-
umgestaltung er beschreibt. Um das Jahr 1851 wurde
diese Einsicht errungen und einige Jahre später wußte schon
Retzius über die künstlich geformten Schädel der Alten
Welt in Müllers Archiv in anziehender Weise vieles zu
erzählen (1854 bis 1858). Immer zahlreicher wurden seit
jenen Tagen die Funde solcher Schädel in den Gräbern,
und zwar in ganz Zentraleuropa; cs ergab sich also, daß
nicht nur in Amerika und Ozeanien vor der Ankunft der
Europäer diese Sitte sehr verbreitet war und nicht bloß bei
den berühmten Makrokephalcn der Krim, sondern auch
bei verschiedenen germanischen Völkern bis hinaus zu den
Belgiern.
So hat sich denn herausgestellt, daß wir in der Alten
Welt, was diesen barbarischen Brauch betrifft, nichts vor-
aus haben vor den Völkern der Neuen Welt, ja noch mehr,
dieser Brauch dauert hüben wie drüben noch beständig fort.
In Europa ist freilich die Absicht nicht mehr vorhanden,,
wissentlich den Schädel nach einer bestimmten Mode umzu-
formen, allein die Gewohnheit ist geblieben, obwohl der
eigentliche Zweck vergessen wurde. Die Frauen gebrauchen
noch für die Kinder die alten Vorrichtungen, die früher zur
Modelung dienten, und jetzt in Mützen und in Bänder
umgewandelt sind. Im mittägigen Frankreich ist cs noch
1871 so gewesen, wie Broca (Urdletin de ia Société
d’Anthropologie de Paris, T. YI, 1871) berichtete, be-
sonders im Departement Aude und oberen Garonne. In
andern Departements (Deux Sèvres und Seine Inferieure)
besteht sie ebenfalls noch, nur ist die Mode der Schädel-
umformung wieder etwas verschieden, ohne daß man im
stände wäre, den Ursprung dieses Brauches auf eine alte
nationale Gewohnheit zurückzuführen. Broca bildet den
Schädel einer Toulouserin ab (Fig. 1) und spricht von einer
toulousischen Art der Verunstaltung, die, wie man sich dort
erzählt, vor unsrer Zeitrechnung und zwar durch Belgier
eingeführt worden sein soll. Wie die Figur 1 erkennen
läßt, handelt cs sich in diesem Falle um eine beträchtliche
Zusammendrückung des Schädeldaches, und zwar in dem
Die künstliche Verunstaltung der Köpfe in Europa.
119
Gebiet der Kreuznaht. Von den Stirnhöckern angefangen,
biegt sich die Scheitellinie beträchtlich ein, statt wie im nor-
malen Zustande in allmählicher Steigung sich zu erheben.
Das Hinterhaupt ist stark gerundet, offenbar infolge des
Druckes, der von der Stelle der tiefsten Einsenkung ausging.
Fig. 2.
Profil einer Frau aus dem Dep. Haute-Garonne mit der
Mütze und dem Band. Nach F. Dclisle.
Fast 20 Jahre später, im Dezemberheft derselben Bulle-
tins, welche einst die Arbeit Brocas brachten, erscheint eine
willkommene Ergänzung zu dem Verständnis dieser selt-
samen Sitte i). Es sind dies Phototypieen von Toulouse-
Fig. 3.
rinnen, welche das Aussehen der Lebenden vergegenwartigen
mit und ohne dcn unschcinbaren Apparat, der die Form
ciner Mütze und eines gestickten Bandes Hat. Die Fig. 2
0 Dell 8 le F., Sur les deformations artificielles du
crâne dans les Deux-Sèvres et la Haute-Garonne. Bull.
Soc. Anthr. Paris, Tom. XII, p. 619 (1889). Mit sechs
Phototypieen.
erklärt mit einem Blick alles. Die eng anlegende schwarze
Mütze bildet eine feste Umhüllung, welche früher bis zur
Stirn reichte und die Haare vollkommen bedeckte. Jetzt
reicht sie nur bis zum Mittelkops. Ein mit vergoldeter
Stickerei versehenes Band ist darüber gebunden, aber, was
Fig. 4.
Profil einer Frau aus dem Dep. Deux-Sèvres.
Nach F. Dclisle.
höchst beachtenswert, unter diesem gestickten sitzt noch ein
weiteres schwarzes Baud, das mit einer Schleife festgebunden
wird. Fig. 3, 4 und 5 sind gute Beispiele der Toulouser
Mode, um die schließliche Wirkung auf den Kopf wahrzu-
Fig. 5.
Prgfil eines Mannes mit der Toulouser Form der
Umgestaltung. Nach F. Dclisle.
nehmen. Sie stimmt mit der Verunstaltung des Schädels
in Fig. 1 überein.
Bei dem Anblick der ausgebildeten Schädel ist nun zu
berücksichtigen, daß Band und Mütze ihre Wirkung bei
den ganz kleinen Kindern beginnen müssen, um ein solches
Ergebnis zu erzielen. Nur der Kopf des Kindes ist für
Druck dieser Art empfänglich, weil die Knochen noch dünn
120
Friedrich u. Hellwald: Der Tanz im Lichte der Völkerkunde.
und die Nähte» nachgiebig sind. Bei den Erwachsenen
würden weder Hut noch Band semals den Schädel so
beeinflussen.
Man hat sich nun erkundigt, ob nicht doch noch, ganz im
stillen, eine Freude an der künstlich erzeugten Schädelform
bei den Frauen bestehe, allein sie erklärten durchaus keinen
Gefallen an diesem platten und langgestreckten Schädel zu
haben, sic würden im Gegenteil runde Köpfe vorziehen. Der
platte Schädel entsteht also gegen ihren Wunsch unter dem
Einfluß dieser Mütze, mit der man den Kopf des fungen Welt-
bürgers sofort nmgiebt. Fraucnschüdel und Frauenbildnisse
zeigen die Umformung stärker als Männer. Bei letzteren ist
der Erfolg weniger auffallend, wahrscheinlich deshalb, weil
den Knaben das Schnürband früher abgenommen wird.
Zwei Fragen drängen sich nun bei der Betrachtung
solcher Köpfe auf. Sind diese künstlich erzeugten Umformungen
erblich? Hierüber ist noch nicht endgültig zu entscheiden. Wenn
man berücksichtigt, wie selten Verstümmelungen vererbt wer-
den, so ist jedenfalls die größte Vorsicht geboten, ehe man
sich zu irgend einer Meinung bekennt. Die Vererbung
erworbener Eigenschaften ist eines der schwierigsten Pro-
bleme, mit denen sich im Augenblick die Biologie wieder
lebhafter als je beschäftigt. Die Erblichkeit solcher Eigen-
schaften wird von den einen ebenso entschieden angenommen
als von den andern bestritten. Hier muß also die Lösung
erst abgewartet werden, denn von vornherein ist eine Über-
tragung nicht ausgeschlossen. Wenn sich Kurzsichtigkeit und
die Folgen der Trunksucht vererben, warum sollte dies nicht
auch mit dem deformierten Schädel der Fall sein?
Eine zweite ebenso schwierig zu entscheidende Frage ist
die, ob denn solcher dauernder Druck auf das Gehirn nicht
traurige Folgen für die geistige Fähigkeit des Jndividiums
bedinge. Man hat in Frankreich viel über diesen Punkt
verhandelt, denn man ist auf die Erscheinung selbst vorzugs-
weise in den Irrenanstalten aufmerksam geworden. Fig. 3
stellt auch eine Bewohnerin des Jrrenasyls von Niort dar.
Sicher ist, daß unter den Geisteskranken der Anstalt solche
mit künstlich deformierten Köpfen sehr zahlreich sind, aber
das will nicht viel sagen, denn dort werden eben die Kranken
ans dem umgebenden Bezirke untergebracht; nachdem aber
dort die Verunstaltung noch fast allgemein im Schwünge ist,
werden auch unter den Geisteskranken solche platte und ein-
gebogene Schädel vorkommen müssen. Jedenfalls tritt der
Nachteil auf die Geistesfähigkeiten nicht regelmäßig auf, sonst
wäre diese Angelegenheit längst entschieden. Wenn ein
solcher Einfluß vorhanden ist, so scheint er sogar sehr selten
aufzutreten, wenigstens in der Form einer Geisteskrankheit.
Die Flatheads- und Creeks-Indianer erzeugen Turmköpfe bei
Knaben, um den Ausdruck der ganzen Erscheinung des
Mannes bis zur Wildheit zu steigern. Man berichtete einst,
daß keiner zur Häuptlingswürde und zu Rang und An-
sehen emporstiege, an dem das Experiment nicht vollständig
geglückt war. Mut, Tapferkeit, Klugheit und Scharfsinn
wurden also durch die grausame Prozedur, auch wenn sie
den höchsten Erfolg hatte, keineswegs beeinträchtigt bei den
Indianern. Freilich wird mitgeteilt, daß die Kinder nicht
immer die Marter aushielten und dann aus dem Druck-
apparat herausgenommen werden mußten, noch ehe der Er-
folg (erst mit dem vollendeten zweiten Jahre) eingetreten
war. Allein in solchen Fällen reagierte das beleidigte Organ
eben sofort. Hatte cs sich dann später innerhalb der fremd-
artigen Form richtig weiter entwickelt, so arbeitete es so gut
wie in normalen Menschenköpfen. Daraus geht hervor,
daß die Verschiebung an sich nichts Bedenkliches ist, wohl
aber die Entzündung, welche bisweilen infolge allzu raschen
Vorgehens bei der Umgestaltung entsteht. Dann können
Veränderungen hervorgerufen werden, welche sich später
rächen. Das mag bisweilen noch in Frankreich, aber doch
im ganzen selten vorkommen. Der Beweis ist in jedem
einzelnen Fall schwer zu führen. Nur große statistische
Reihen vermöchten eine annähernde Sicherheit zu geben.
Allein, bis solche Untersuchungen eingeleitet werden, ist wohl
die Sitte in Frankreich verschwunden. Sie nimmt stetig ab.
— o —
Der Tanz im Lichte der Völkerkunde.
Don Friedrich v. Hellwald.
II.
Wie bei den alten Griechen, so giebt es auf niedrigen
Stufen der Gesittung noch keine Grenzen zwischen der
Tanzkunst und der Schauspielknnst. Was uns von vielen
Tänzen der Wilden berichtet wird, zeigt uns dieselben sehr
häufig im Lichte wahrer mimischer Darstellungen, worauf
schon der in der i^üdsee, wie in Nordostasien, Nordwest-
und Südamerika weit verbreitete Gebrauch eigener, oft sehr-
kunstvoll gearbeiteter Tanzmasken hindeutet. Der nord-
amerikanische Hundetanz und Bärentanz sind wirklich mimi-
sche Darstellungen, bei denen in höchst naturgetreuer und
drolliger Weise nachgeahmt wird, wie sich die Tiere auf der
Erde wälzen, wie sie sich kratzen und beißen. Solcher Tier-
tänze kennt man eine große Menge, und dabei herrscht eine
merkwürdige Übereinstimmung sowohl in ihnen als in den
dazu benutzten Masken bei den sibirischen Völkerschaften
mit den Tänzen und Mummereien der Eskimo und Indianer
Nordamerikas. Den Bärentanz treffen wir sowohl bei den
Dakota wie bei den Ostjaken und ihren Verwandten. Neben
dem Bären dienen noch Elen, Bison, Kranich und viele
andre Tiere als Tanzvorbilder, deren Bewegungen man
nachzuahmen sucht. In Amerika sind diese Tiertänze be-
sonders beliebt und lassen sich vom Norden südwärts bis
nach Mittelamerika verfolgen. In Neumexiko arten diese
Maskentänze bei den alljährlich wiederkehrenden Festen der
Pueblosindianer zu wahren Orgien aus. Noch in Guate-
mala kennt man einen Hennen-, Reh-, Truthahn-, Asfen-
tanz u. dergl.
Außer der Jagd bilden Kriegsszenen für die Barbaren
Vorgänge, welche in Tänzen nachgeahmt werden. Man
kann daher neben dem erotischen Tanze noch die Gruppen
des Jagd- oder Tiertanzes und des Kriegstanzes
unterscheiden. In letzterem soll Begeisterung für den bevor-
stehenden Kampf oder Freude über den errungenen Sieg
ausgedrückt werden. In beiden Fällen handelt cs sich wieder
darum, starke Erregungen zu bewirken, und dadurch sind sie
mit dem erotischen Tanze aufs innigste verknüpft. Ohne
Frage ist auch der kriegerische Tanz, selbst dort, wo das
Bewußtsein davon längst erloschen ist, erotischen Ürsprungs,
und nicht anders verhält cs sich sogar mit einer vierten
Gruppe, jener der religiösen oder Kulttänze. Erwägt
man, wie sehr und tief die Erotik in das Religionswesen
der alten Völker wie auch der heutigen Naturmenschen
hineinspielt, so kann dies kaum befremden. Jedenfalls ist
der religiöse Tanz eine der interessantesten Erscheinungen
121
Friedrich v. Hellwald: Der T
in der Völkerpsychologie, denn er bildet durchaus nicht etwa
eine in sich abgeschlossene Gruppe, wie der Kriegs-, der
Tier- oder der Liebestanz, sondern jeder Tanz aller dieser
Gruppen kann unter Umständen Kulthandlung sein oder
werden. So scheint cs zum Beispiel, als ob fast alle die
zahlreichen Masken- und Tiertänze der nordamerikanischen
Indianer einen religiösen Hintergrund hätten. Die Meidu-
stämme am Sakramentoflusse in Kalifornien führen eine
beträchtliche Anzahl verschiedener Tänze auf, die man als
Jahreszeitentänze bezeichnen kann. Einer der wichtig-
sten ist der Eichelntanz im Herbst, wenn der Winterregen
einsetzt. Sie führen ihn auf, damit im nächsten Jahre eine
ergiebige Ernte der Eicheln nicht ausbleiben möge. Zweck
ihres großen Geistertanzes ist es, den höchsten der Dämonen
günstig zu stimmen. Ebenso tanzen die Dakota den Bärcn-
tanz in der Maske eines Bären, um die Gunst des Büren-
geistes zu gewinnen und zu bewirken, daß dieser die Tiere
dem Jäger entgegenführe. Bei den Mandanindianern am
Missouri, die von der Büffeljagd lebten, wurde in der-
gleichen Absicht ein eigentümlicher Tanz aufgeführt, wenn
sie auf ihren Jagdzügen keine Büffel angetroffen hatten.
Die Pawneeindianer, obwohl sie jeden Tag mehr die Ge-
wohnheiten des weißen Mannes annehmen, beharren bis
zur Stunde in der Ausübung solcher heiligen Tänze, deren
unheimlichster und wichtigster, der Skalptanz, allerdings im
Herbst 1879 zum letztenmal stattgefunden haben soll.
Aus diesen Beispielen ersieht man, wie auf niederer
Kulturstufe der Tanz den Ausdruck für Gefühle und Wünsch e
bildet, und dies hilft uns auch verstehen, wie in den alten
Religionen der Tanz eine der wichtigsten gottesdienstlichen
Handlungen werden konnte. In Ägypten, wo die berufs-
mäßige Tanzkunst bereits sehr entwickelt war, bewegten sich
religiöse Prozessionen singend und tanzend nach den Tempeln,
und Plato erklärte alles Tanzen für eine religiöse Hand-
lung. Allerdings fand der Tanz eine ausgedehnte An-
wendung bei religiösen Feierlichkeiten, sowohl in Hellas als
in Rom, wo alljährlich am Feste des Mars die salischen
Priester singend und tanzend durch Me Straßen zogen.
Kann nun zweifelsohne der Tanz einen Wunsch ausdrücken,
so möchte ich doch in diesem Umstande nicht die alleinige
Ursache für sein Auftreten als Kulthandlung suchen. Dieses
erscheint mir vielmehr weit tiefer in der aufregenden sinn-
lichen Wirkung des Tanzes begründet, die in mancher Hin-
sicht einer Berauschung nicht unähnlich ist. So oft näm-
lich es noch galt, im weissagenden Medium die eigenen Ge-
danken, den eigenen Geist zum Schweigen zu bringen, oder
nach naiverer Auffassung ans dem Leibe zu locken, wenn es
galt, eine „Verzückung" herbeizuführen, griff der Kult ab-
wechselnd stets zu dem einen oder dem andern Buttel:
Betäubung durch Trank oder 9cauch, oder Musik, stehen
ihm gleich. Nur eine Äußerung des Mitempfindens der
Musik ist aber unter naiven Verhältnissen der Tanz; ja er
ist es unter Umständen selbst, der durch den Taktschall die
Musik bildet. Dieser Taktschall aber, das nrsprünglichstc
an der Musik, übt, indem er den Geist gefangen nimmt,
dieselbe erlösende Wirckung wie jede andre Berauschung.
Ungemein bezeichnend ist in dieser Hinsicht die Beobachtung
eines weltlichen Jndianertanzes in Guatemala durch den
schweizer Arzt Dr. Otto Stoll. Die Mehrzahl der Tan-
zenden, sagt er, waren Weiber. Einige von ihnen konnten
gar nicht satt werden. Kaum trat eine Pause in der ein-
tönigen Musik ein, so warfen sie ein zweites Geldstück hin
und begannen von neuem, in höchster Aufregung sich
taumelnd im Kreise zu drehen. Sie waren betrunken.
Mit der Selbstvergessenhcit des akuten Alkoholismus warfen
sie sich mitten im Tanze manchmal kreischend irgend einem
der umstehenden Männer an den Hals, wobei sie cs nicht
Glübus LIX. Nr. 8.
anz im Lichte der Völkerkunde.
besonders auf ihre Ehegatten abzusehen schienen, und küßten
ihn in der höchsten Leidenschaft. Während Dr. Stoll das
seltsame Schauspiel staunend betrachtete, mußte er sich
sagen, daß von der Leidenschaft solcher Tänze nur ein
Schritt sei zum Menschenopfer, wie es wohl in alten Zeiten
bei solchen Gelegenheiten in jener Gegend dargebracht wurde.
Als weiterer Beweis zu Gunsten der vorgebrachten An-
sicht mag das Gebühren mancher Derwischorden dienen,
dieser „Mönche des Islams", welche im „Zikr" oder-
heiligen Tanz, auch durch Gesang, in Extase versetzen. Be-
kannt sind die Rifay oder heulenden Derwische, die in ihren
Übungen den Namen Gottes bis zur Erschöpfung rufen und
auf diese Art keuchend und mit schäumenden Lippen in
„Haket", Verzückung, geraten. Die Mewlewi oder Der-
wischi hukeschan, die drehenden oder tanzenden Derwische,
gelangen zur Extase, indem sie sich kreiselförmig um sich
drehen, und durch die nämlichen Mittel des Tanzes und
Gesanges versetzt sich auch der in Nordafrika weit verbreitete
Orden der Jfsaüa oder Aissawa in einen schwer zu be-
schreibenden Zustand der Erregung. In demselben sind
die Derwische im stände, glühende Eisen abzulecken oder
sich mit spitzen Eisen und scharfen Schwertern schwere
Wunden beizubringen, ohne doch dabei ein Leid zu nehmen.
Ähnliches verrichten auch die indischen Fakire.
Unwillkürlich bringt man mit solchen Erscheinungen auch
die merkwürdigen Tanzepidemieen des Mittelalters nnd
besonders Deutschlands in Zusammenhang, wenngleich diesen
ein pathologischer Charakter nicht abzusprechen ist. Die im
14. Jahrhundert in Deutschland und den Niederlanden von
der Tanzwut Ergriffenen bekamen Zuckungen, sobald sie
etwas Notes sahen, während diese Farbe bei den von
Taranteltanz befallenen Italienern so beliebt war, daß sic
am liebsten rote Kleider trugen oder während des Tanzes
wenigstens ein Stück roten Tuches zwischen den Zähnen
hielten. Andre hatten Vorliebe für Grün, Schwarz oder
Gelb. Der Taranteltanz trat in Italien im 15. Jahr-
hundert auf und erreichte seinen Höhepunkt im 17. Jahr-
hundert. Die Taranteltänzer waren gleichsam auf das blaue
Meer versessen, und viele stürzten sich mit blinder Furie
in die Wogen, wobei sie wollüstige Empfindungen hatten.
Es unterliegt keinem Zweifel, daß diese psychischen oder
geistigen Seuchen, wie man sie mit Fug und Recht nennen
^schn, einen religiösen Hintergrund hatten. Von den
^>t. Johannistänzern des 15. Jahrhunderts wissen wir, daß
sie in ihrer Verzückung den ganzen Himmel offen und darin
die Prozessionen aller Heiligen erblickten. Die Johannis-
tänze selbst waren aber heidnischen Ursprungs nnd sehr-
weltlicher Art. Bei den Esthen auf der Insel Moon wird
sttzt noch am 23. Juni oder 1. Juli das „Beilagcr der
Johannispaare" begangen, wobei Weiber und Mädchen
einen Rundtanz um das Johannisfeuer ausführen.
Bei den modernen Kulturnationen hat die Kirchenmusik
einen hohen Grad von Ausbildung erlangt und damit ist
der religiöse Tanz fast ganz außer Gebrauch gekommen und
nur noch in einzelnen Spuren vorhanden. Das Christen-
tum hat sich indes nur allmählich davon losgemacht. Auf
einem Konzilienbcschluß vom Jahre 692 wurde den Christen
die Feier der Kalenden am Neujahr nnd des Festes, das
am 1. März endet, verboten, welche beide mit üppigen
Tänzen, in der Kirche aufgeführt, verbunden waren. Auf
den Antillen und in Westindien zeigten sich aber noch
tausend Jahre später die Nonnen am Weihnachtsabend dem
Publikum hinter den Gittern ihrer Klöster und drückten
in den wollüstigen Bewegungen des Chicatanzes ihre Freude
über die Geburt des Gottessohnes ans. Endlich sah noch
in unsern Tagen der Reisende Tylor einen Kirchentanz in
der großen Klosterkirche zu Chalma in Mexiko, nnd noch
16
122
Friedrich v. Hellwald: Der Tanz im Lichte der Völkerkunde.
jetzt werden, als Überrest des alten Brauches, von Choristen
in der Tracht der Pagen Philipps III. vor dem Hoch-
altäre der Kathedrale zu Sevilla Tänze aufgeführt. In
feinem ursprünglichen Zustande findet sich der religiöse
Tanz dagegen noch in Indien sowie in Tibet, wo die
Priester mit Tiermasken bekleidet unter den wilden Tönen
von Trommeln und Muscheltrompeten ihre Tänze auf-
führen.
Diese Betrachtungen über den Tanz wären nicht voll-
ständig, wollte ich nicht noch eines sehr auffälligen Um-
standes gedenken. Die Absonderung des weiblichen Geschlechts
vom Verkehr mit der Außenwelt scheint nämlich eine große
Menge von Völkern ans der Reihe der Tanzenden völlig zu
streichen, und bis zu einem gewissen Grade ist dem auch so.
China und Japan kennen den Tanz nur als gottesdienstliche
Handlung, als eine Verrichtung der Priester. Ganz das
nämliche Schauspiel gewährt das weite Bereich des Islam,
der die Frau noch eifersüchtiger der Außenwelt entzieht.
Alle diese Völker, wie auch die Chinesen und Japaner, tanzen
nicht, besitzen demnach auch keinen Nationaltanz. Und doch
lassen sich selbst unter den Moslemin Ausnahmen finden.
Die mohammedanischen Tataren der Krim z. B. besitzen
einen Tanz, der mit dem ungarischen Csardas die größte
Ähnlichkeit aufweist und nur insofern ein wesentlich beein-
trächtigtes Bild gewährt, als cs dabei keine Tänzerin giebt.
Wenn aber auch im Orient und in Ostasien der Mann nicht
tanzt, weder für sich noch mit dem andern Geschlecht, gänz-
lich verzichtet er auf den Tanz doch nicht, dieser herrscht
vielmehr überall, wenn ich so sagen darf, gewissermaßen
latent. Alle diese Völker, die insgesamt einer schon vor-
gerückteren Kultur angehören, haben nämlich als Gegenstück
zum ursprünglichen Männertanze die Sitte ausgebildet, daß
nur Frauen oder Mädchen allein und zwar den Männern
zur Schau tanzen, womit der eigentliche Zweck dieser choreo-
graphischen Leistungen genügend aufgedeckt ist.
Die Besucher der jüngsten Pariser Weltausstellung haben
wohl fast alle in der Rue du Caire den Typus dieser Tänze
kennen gelernt, der eine ganz erstaunliche Verbreitung besitzt,
mit seinen wollüstigen Körperbewegungen aber das ausdrucks-
vollste Sinnbild grobsinnlicher Liebe ist und darum auch
von den Franzosen ganz zutreffend danse du ventre
genannt wurde. Ich will alle die in diese Klasse fallenden
Tänze indes unter der Bezeichnung Bajaderentänze
zusammenfassen, welche freilich in ihrer indischen Heimat
religiöse Weihe besitzen. Das Hervorstechendste daran ist
bei verhältnismäßig geringer Bewegung der Beine und
Arme ein taktmüßiges Bewegen der Hüften, des Bauches
und Beckens, welches diesem Tanze seinen erotischen Charakter
verleiht. In der Südsee, auf Tongatabu, Tahiti, Hawaii —
auf letzterer Inselgruppe der „Hulahula", der ausgelassenste
von allen, waren diese stets nur von Weibern ausgeführten
Tänze ein hochgeschätztes Vergnügen. Dem erwähnten
Hulahula giebt der japanische „Odori", welcher Fremden
oft zu Nagasaki vorgetanzt wurde, wenig nach. Um vieles
höher, allerdings nicht in Anmut, aber in Anstand, stehen
die Tänze, welche die berufsmäßigen „Geisha" (Künst-
lerinnen) in den Theehäusern Japans aufzuführen pflegen.
Tänzerinnen im Stile der Bajaderen Indiens, deren eigent-
licher Name Dewadaschi und für die unteren Grade Na ursch
ist, finden sich auch auf Java und in Hinterindien, dann
bei den Beduinenstämmen Syriens und in ganz Nordafrika.
John Petherick traf sie bei den Hassanich-Arabern am oberen
Nil, und von den „Almeen" (Hawalim) oder „Ghawazi"
(Einzahl, „Ghazije") Ägyptens hat wohl schon jedermann
gehört. Dahin gehören auch die Mädchen vom Stamme
der Uled Nail, welche in Biskra, dem „Paris" der algeri-
schen Sahara, sich bewundern lassen; sich wiegend, schreiten
sie vor- und rückwärts, nach rechts und links, blinzeln dazu
mit den Augen und nehmen plastische Stellungen ein, die
oft höchst unschicklich find. Ein ununterbrochenes Zittern
der Hüften und des Vorderleibes ist auch beim Tanze der
Ghawazi die Hauptsache, und in je gleichförmigerem Rhyth-
mus dies geschieht, desto größer ist die Kunst. So wie
Dr. Büchner auf Hawaii beim Hnlahnla und auf Neusee-
land beim Haka wurde auch Dr. Wilhelm Junker im Nil-
gebiete durch die außerordentliche Beweglichkeit der Bauch-
muskeln in Erstaunen gesetzt. Unabhängig von der in
kurzen Intervallen erzitternden Brust verschob die Ghazije
das Becken in gewaltsamen Stellungen bald nach rechts, bald
nach links oder nach vorn und rückwärts und dem Rhyth-
mus einer Trommel folgend. Es war die Verkörperung
der Sinnlichkeit, die wilde Leidenschaftlichkeit einer Tribade,
einer von Liebeslust überschäumenden Bacchantin. In
Chartum sah der genannte Reisende einheimische Tänze-
rinnen, deren ganzes Kostüm sich auf den „Rahat", den
landesüblichen Fransengürtel beschränkte. Der stramm
herausgereckte Busen wird in eine zitternde Bewegung gesetzt,
welche nur durch eine besondere Muskelübung zu erreichen
ist. Dieses ist ihr Tanz, welcher alles in allem nur auf
eine Schaustellung der Körperschönheiten der tanzenden
Mädchen hinausläuft.
So wären wir denn abermals an dem Punkte angelangt,
den ich als den psychologischen Urgrund des Tanzes bezeichnete:
Die Erregung der Sinnlichkeit; daß es in erster Reihe sich
darum handelt, läßt sich bis in die Entartungen dieses Natnr-
triebes deutlich verfolgen. In den meisten orientalischen
Ländern ist bekanntlich das Laster der Knabenliebe allgemein
verbreitet. Und richtig treten da auch Knaben und Männer
in Tänzen ganz gleichen Charakters wie jene der Bajaderen
auf. In Bochara beleidigen solche Knaben teils in Weiber-
tracht, teils in bunten, seidenen Männerschlafröcken unser
ästhetisches wie natürliches Gefühl. Auch in Ägypten werden
außer den Ghawazi Knaben und selbst Männer als Tänzer
gedungen und sind dann in ähnlicher Weise gekleidet
wie die Ghawazi, lassen das Haar lang wachsen und in
Zöpfe flechten, tanzen wie die Mädchen und gehen selbst
verschleiert auf der Straße umher. Tänzer dieser Art
werden in Ägypten „Chöwal" oder „Ghaiseh" genannt.
Auch in Marokko sah Oskar Lenz die Menge mit viel
Vergnügen die wenig harmlosen Tänze junger, hübsch ge-
kleideter Burschen verfolgen.
Es ließe sich über dieses Kapitel noch unendlich viel
sagen, doch will ich mich nur noch auf ein paar Bemerkungen
und Beobachtungen beschränken. Emile Guimet schildert
den Tempeltanz in Indien, mehr Pantomime als Tanz.
Mit der Geberde glühender Liebe eilt die Tänzerin vor,
weicht aber dann wie beschämt ob ihres Geständnisses zurück;
nach und nach entwickelt sie, dem Rhythmus der Musik
folgend, mit hoher Grazie und vollendetem Ausdruck durch
Miene und Geberde die ganzen, verschiedenen Phasen eines
Liebesdramas. Das ist, wie gesagt, ein religiöser Tanz.
Aber auch sehr viele weltliche Tänze, besonders solche, woran
beide Geschlechter teilnehmen, verraten das nämliche Motiv.
Der in Westindien und Südamerika so beliebte „Bambuco"
ist nichts weiter als eine beständige Verfolgung der Tänzerin
durch ihren Gegenpart; sie weicht zurück, dreht sich um sich
selbst, schlägt dabei die Augen bescheiden nieder, läßt die
Arme schlaff herabhängen, hebt die Füße kaum vom Boden,
entweicht beständig dem Anstürmen ihres Tänzers und
widersteht all seinen Verlockungen. So geht cs stundenlang
fort, bis sie erschöpft und zitternd sich ergiebt. Nahe stimmt
mit dem Bambuco die „Chica" überein, die man noch jetzt
in Spanien tanzen sehen kann: Die Tänzerin hält das
Ende eines Taschentuches oder die beiden Seiten ihrer Schürze,
Calais und M a i st res Reisen auf Madagaskar 1889 — 90.
123
während bei dem stark ausgeprägten Takte Hüften und Lenden
künstlich gedreht werden, und eine besondere Kunstfertigkeit
ist cs, wenn sie ihre Hüften und Schenkel in einem wellen-
förmigen Schwanken zu erhalten vermag, während der
übrige Körper unbeweglich bleibt. Nun nähert sich ihr ein
Tänzer mit einem Sprung, fliegt auf sic zu, zieht sich zu-
rück, kommt wieder und fordert sie zu einem verführerischen
Kampfe heraus; beide werden lebhafter und stellen dann
Gruppen dar, die erst wollüstig erregt und endlich un-
züchtig sind.
Auch hier ist also der Tanz nichts andres als der mimische
Ausdruck des Werdens und Paarens, und als Mittel der
Bewerbung, indem er symbolisch das Paaren darstellte, diente
er auch bei uns bis in die späteste Zeit. Obwohl an den
Höfen im Mittelalter die Tänze mit sogenanntem Anstand
aufgeführt wurden, und so „ernst und feierlich, daß mau sie
z. B. am Hofe Karls IX. von Frankreich nach der Melodie
der Psalmen tanzte", so zeigten die Worte der Psalmen, die
dabei gesungen wurden, doch den ursprünglichen Sinn der
Tänze. Bei den Deutschen aber bestanden, wie bei denVölkern
auf primitiver Stufe, die Tänze aus zwei Abteilungen, dem
Vortanz und Nachtanz. Der Vortanz „geht etwan mit
Gravität ab". Im Nachtanz aber „gehet es was unordentlicher
zu......denn all hier des Lauffeus, Tummclns, Handdrückens,
heimlichen Anstossens, Springens.......und anderer ungebühr-
licher Dinge, die ich Ehren wegen verschweige, nicht verschonet
wird". Die weitere Entwickelung und Ausbildung des
Tanzes bei den Kulturnationen stellt nur noch symbolisch
und in immer fortschreitender Abfchwächung dar, was ur-
sprünglich in der Wirklichkeit und mit bewußtem ernstem
Zwecke im Leben in einer früheren Zeit geschehen ist. So
weisen denn die Tänze in unsern europäischen Ballsälen,
so verfeinert und zeremoniell sie auch sein mögen, dem scharf
beobachtenden Blicke immer noch in Form und Zweck Spuren
ihres Ursprungs aus, und nicht mit Unrecht nennt der geist-
volle Henry Rabusson den Tanz nur eine poetisch verklärte,
verhüllte, gesellschaftlich gut geheißene und in homöopathischer
Verdünnung genossene Sinnlichkeit.
Latats und Maistres Reisen auf Madagaskar 90.
(Hierzu eine Karte.)
Eine für die Geographie Madagaskars außerordentlich
belangreiche Reise, die über den Süden der Insel ganz neues
Licht verbreitet, ist von den Franzosen Catat und Maistre
in den Jahren 1889 und 1890 ausgeführt worden. Die
Mittel zu derselben waren von der französischen Regierung
bewilligt worden und die ersten vorläufigen Berichte sind
von einem der besten Kenner Madagaskars, Alfred Gran-
didier, in der Sitzung der Pariser Geographischen Gesell-
schaft vom 5. Dezember 1890 vorgetragen worden. Trotz
seiner eigenen epochemachenden Forschungen bemerkte Grau-
didier, Madagaskar sei noch „wenig bekannt", noch sei sehr
viel aufzuklären, ehe man eine ordentliche Karte der Insel,
selbst in einem kleinen Maßstabe zeichnen könne. Man
weiß, daß in ihrer Mitte sich ein großes Granitmassiv
erhebt, an dessen Ostseite sich eine Küstenkette ans primitiven
Gesteinen anlehnt und die an allen andern Seiten von
Plateaus aus sekundären Formationen umgeben wird; mau
wußte ungefähr, wie weit das Granitmassiv sich nach Süden
zu erstreckte, aber seine Ausdehnung nach Norden hin war
nicht genau bestimmt. Völlig unbekannt war die Wasser-
scheide im Norden wie im Süden; auch die eigentümliche,
in Randbändern die Insel umziehende Verteilung der Wälder
war nicht vollständig erforscht. Vieles zur Aufklärung dieser
Fragen haben nun die französischen Forscher beigetragen.
Catat, Maistre und als dritter Foucart begannen
ihre Reisen im Beginne des Jahres 1889. Nachdem sie
mit den allgemeinen Verhältnissen und der Howasprache sich
in der Zentralprovinz Jmerina vertraut gemacht, nahm
Foucart den Fluß Mangoro auf, den wichtigsten der an
der Ostküste mündenden Ströme. Er erkrankte hierbei
jedoch so, daß er bald nach Europa zurückkehren mußte.
Catat und Maistre begaben sich nun allein von der Haupt-
stadt Antanarivo nach der Küstenstadt Tamatave, wobei sie
jedoch nicht den gewöhnlichen Weg einschlugen, sondern die
sogenannte Straße Radamas I. verfolgten. Sie wird so
genannt, weil dieser Howaherrscher sie bei seinen gegen die
östlichen Völkerschaften gerichteten Kriegszügen benutzte. Seit-
dem war sie nicht mehr im Gebrauche, wenn auch die an
der Ostküste angesiedelten Europäer glaubten, sie sei kürzer !
als die gewöhnliche Straße von Tamatave nach Antanarivo.
Dieses ist aber durchaus nicht der Fall, infolge der Lage j
der Gebirge, wie die Reise der beiden Franzosen zeigte.
Die größeren Mühen des Weges wurden aber reichlich durch
geographische Entdeckungen gelohnt; Catat und Maistre ent-
deckten eine Sumpfgegend, Didy genannt, das Gegenstück
zur Sumpfebene von Antsihanaka; wie diese und wie jene
von Aukay liegt sie zwischen dem Zentralmassiv und dem
Küstengebirge. Die Reisenden gebrauchten zwei Tage, um
die Sümpfe von Didy, die bisher selbst dem Namen nach
unbekannt waren, zu durchqueren. In ihnen hat der Jvon-
drona, einer der hauptsächlichsten an der Ostküste mündenden
Flüsse, seinen Ursprung. Dem Laufe dieses Stromes folgend,
erreichten sic nicht ohne große Beschwerden die Ostküste.
Von hier aus zogen sie dem Meere entlang nach Norden,
in der Absicht, in der Breite der Bucht von Antongil (16°
südl. Br.) den nördlichen Teil Madagaskars bis zu dessen
Westküste zu durchqueren. Maistre jedoch, der ungemein
am Fieber litt, mußte diese beschwerliche und lange Reise
ausgeben, um sich in Antanarivo zu erholen. Indessen
trotz seines Zustandes schlug er nicht den bequemeren, ge-
wöhnlichen Weg ein, sondern wandte sich von der Küsten-
stadt Fenoarivo direkt nach Westen und erreichte die Provinz
Antsihanaka aus einem Wege, der allerdings am Cnde des
vorigen und im Beginn unsres Jahrhunderts schon von
Europäern begangen worden war, dessen erste Ausnahme
aber wir ihm verdanken. Er fand, daß Antsihanaka aus
den englischen Karten viel zu weit nach Osten verlegt war.
Neaistre untersuchte den hier gelegenen See Ataotra und
begab sich von hier auf südlichem Wege nach der Haupt-
stadt Antanarivo, um seine arg mitgenommene Gesundheit
wieder herzustellen.
Dr. Catat war unterdessen bis Manauara an der Bucht
von Antongil (Nordostküste) vorgedrungen, um von hier aus
die beabsichtigte Durchquerung allein zu vollbringen. Seine
Absicht war, über Mandritsara nach Mojauga au der West-
küste zu reisen, und dieser Plan wurde mit einem glänzenden
Erfolge gekrönt. Er hatte in jener nördlichen Region aller-
dings Vorgänger, den englischen Missionar Houlder, welcher
1876 von der Antougilbai nach Mandritsara gelaugte und
den unglücklichen Deutschen Ruteuberg, der von der West-
küste, von der Nariudabai bis dorthin kam, indessen wissen-
schaftliche Auszeichnungen über diese Reisen besaß man nicht,
16*
'■•■WHgfTIBi
da diejenigen Rutenbergs bei seiner Ermordung verloren
gingen.
Um so wichtiger ist dasjenige, was wir jetzt durch Dr.
Catat erfahren. Er hat festgestellt, daß das große granitische
Zentralmassiv sich nicht bis zum 16. Grade südl. Br. erstreckt,
während man bisher annahm, daß dasselbe noch viel weiter
nördlich reiche. Dagegen bedecken die großen wellenförmigen
Ebenen der sekundären
Formationen mit ihren
verbogenen und ver-
krüppelten Latanpalmen
und andern charakteri-
stischen Bäumen mehr
als Zweidrittel der Insel
in jener Breite. Die
hohen Gebiete des Ost-
abhanges des Küsten-
gcbirges sind mit Wäl-
dern bedeckt, die zmn
ersten Gürtel des an
der Ostküste hinziehen-
den Waldes gehören;
von dem weiter südlich
vorkommenden, zweiten
parallelen Waldgürtel
hat Dr. Catat unter
16^ ^öl. Br. jedoch
keine Spur mehr ge-
funden.
Nachdem Catat Mo-
janga an der Westküste
erreicht hatte, begab er
sich, im Thale des
hier mündenden großen
Stromes Jkopa auf-
wärts reisend, nach der
Hauptstadt Antanarivo,
wo seine Vereinigung
mit seinem Gefährten
Maistre stattfand. Nach-
dem sie hier sich von
ihren Mühen und Rei-
sen im Norden erholt,
traten sie die Erfor-
schung des Südens an,
welche ihnen als Haupt-
aufgabe gestellt worden
war.
Ans dem Südabhange
des großen Zentral-
massivs von Madagas-
kar entspringen alle jene
großen Flüsse, die im
Südosten, Süden und
Südwesten der Insel
münden. Es ist daher
von der größten Wichtigkeit, die Orographie dieses Teiles
von Madagaskar festzustellen und die annähernde Aus- I
dchnung, der Flußgebiete zu fixieren. Auch die Ausdehnung
der Wälder zu begrenzen, erschien hier als eine denkbare
Ausgabe; wie weit erstreckte sich hier der erste und zweite
Waldgürtel nach Süden und nach Westen, jene beiden
Waldgürtel, die, getrennt durch eine waldlose Region, in
der Mitte der Ostküste parallel nebeneinander verlaufen?
Diese Frage ist von den beiden französischen Reisenden
gelöst worden. Auch die Geographie des Landes zwischen
dem Betsilco und Anosy ist von ihnen auf ihrer Südreise
bereichert worden; sie haben auf derselben unter großen
Gefahren das Land der wilden, grausamen und aber-
gläubischen Bara sowie andrer wilder Stämme durchzogen
und glücklich ihre große Aufgabe gelöst.
Die am weitesten
nach Süden vorgescho-
bene Feste der Howas
ist Jhosy; von hier
brachen Catat und Mai-
stre am 8. Juni 1890
auf urtb am 5. Juli
war Fort Dauphin im
Süd osten der Insel er-
reicht. Auf dieser Reise
entdeckten sie die Quellen
des Onilahy, der in
der Bucht St. Augustin
(Westküste) mündet,
zwei, große Flüsse von
Androp, den Manam-
bovo und den Man-
drary, sowie einen
Quellsluß des Mana-
nara (mündet an der
Südostküste). Hierdurch
haben sie die Wasser-
scheide von Madagaskar
festgestellt.
Zu diesen wichtigen
geographischen Ent-
deckungen gesellen sich
zahlreiche astronomische
Ortsbestimmungen, an-
thropologische und eth-
nographische Studien,
die für die dunkle Völker-
geschichte der Malga-
schen vom höchsten Werte
sind, große naturwissen-
schaftliche Sammlungen,
die für Fauna und Flora
der merkwürdigen Insel
viel Neues bieten.
Catat und Maistre
verfolgten von Fort
Dauphin die Südost-
küste nach Norden zur
Mündung des Mnna-
nara bei Vangnindrano
und wandten sich dann
westlich den Fluß auf-
wärts bis nach Jvohibe,
wobei dieser größte Fluß
des Südostens ausgenommen wurde. Dabei durchzogen sie das
merkwürdige Land Antaisaka und gelangten am 25. August
gesund und sicher nach Ambohimandroso im Lande der Betsilco,
von wo sie sich nach Antanarivo begaben.
Nach dem Urteile A. Grandidiers, des ersten Kenners
von Madagaskar, zählt die Reise von Catat und Maistre
„zu denJvichtigstcn, nützlichsten und fruchtbarsten, die jemals
auf der großen Insel gemacht wurden".
125
Dr. W. Sievers: Die Entstehung der Koralleninseln.
Die Entstehung der Loralleninseln.
von Dr. w. Sievers.
Nachdem infolge der erneuten eingehenden Beschäftigung
der Geographen und Geologen mit der Frage der Heibnngen
und Senkungen auf der Erdoberfläche auch die damit in
engerem Zusammenhange stehende Untersuchung der Korallen-
inseln — und Riffe — besonders durch Guppy auf den
Salomons-Inseln und I. Walther an der Sinaihalbinsel
hervorragende Förderung erhalten hat, wurde cs um so mehr
Bedürfnis, eine nach kritischen Gesichtspunkten gearbeitete,
möglichst objektive Übersicht über den gegenwärtigen Stand
der Frage nach der Entstehung der Korallenbauten zu besitzen.
Eine solche liegt jetzt in einer Schrift Langenbecks vor U-
Dieselbe zeichnet sich durch große Genauigkeit und Sorg-
falt aus. Auf Grund der Abwägung der Stützpunkte der
einzelnen Theoricen gegeneinander, ferner durch genaues
eigenes Studium auch der schwerer zugänglichen verstreuten
Litteratur, endlich durch Bearbeitung der in größtem Maß-
stabe erschienenen Seekarten erreicht der Herr Verfasser eine
sehr eingehende Kenntnis aller auf die Korallenbauten sich
beziehenden Fragen. Die ganze Anlage des Buches, der
konsequente Aufbau desselben, die Art der Beurteilung bestätigt
das von Langcnbcck in dem Vorwort über seine eigene Arbeit
gefällte Urteil, daß er sich „stets bemüht habe, die größte
Objektivität zu wahren".
Tie Arbeit zerfällt in sechs Abschnitte. Nach einer Ein-
leitung (S. 1 bis 13), welche als historische Übersicht der
über die Korallcnbauten hervorgetretenen Theorieen gelten
kann, behandelt der Vers. im ersten Abschnitt (S. 14 bis 29)
die Korallenriffe in stationären Gebieten und solchen mit
negativen Bewegungen (also Rückzug des Wassers oder
Hebung). Er bespricht hier zunächst drei Gebiete, in welchen
seiner Auffassung nach andre Verhältnisse herrschen, als bei
den übrigen Korallenbauten. Diese sind Westindien, die
Philippinen und die Salomons-Jnseln. Der Verfasser ist der
Ansicht, daß man bei den daselbst befindlichen Bauten der
Annahme einer Senkung oder positiven Bewegung entbehren
kann. In der Floridastraße und au den Bahamas entstehen
die Korallenbauten auf den unterseeischen alten Falten der
Erdrinde, besonders begünstigt durch den Golfstrom, welcher
die nötige Nahrung in reichem Maße zuführt (-rheorie von
Agassiz). Bei den Philippinen sehen wir Korallenriffe auf
einem in entschiedener Hebung begriffenen Gebiete, und das-
selbe ist nach Guppy auch auf den Salomonen größtenteils
der Fall, wo die Korallenriffe sich um einen erloschenen
unterseeischen Vulkankegel zu bilden pflegen. Alle drei Erd-
räume unterscheiden sich von den übrigen Korallengebieten
durch ihre große Festlaudsnähe und ihr Auftreten am Rande
von Mittelmecren, während die übrigen Korallenbauten sich
aus ozeanischen Tiefen, fern von Kontinenten erheben. Hier-
gegen dürfte sich freilich einwenden lassen, daß auch die Lakka-
divcn nicht weiter vom Festlaudc entfernt liegen, als die
Bahamas von Cuba, freilich sind sic durch ein tieferes Meer
von Indien getrennt. Und das große australische Riff vor
der Ostküste liegt dem Fcstlande ebenso nahe wie die Bahamas
der Halbinsel Florida. Hier wird man auch nicht davon
sprechen können, daß sich dasselbe aus großen ozeanischen
Tiefen erhebe. Die Tiefe zwischen ihm und den: Fcstlande
beträgt noch nicht 200 w. Wohl aber ist cs wichtig, daß
die Begriffe: Strandriff, Barriereriff und Atoll auf die west-
i) R. Langenbeck, Die Theorieen über die Entstehung
der Koralleninseln und Korallenriffe, und ihre Bedeutung für
geophysische Fragen. Leipzig. Wilhelm Engelmann, 1890.
°190 Seiten, fünf, Figuren inr Text.
indischen Riffe nicht angewendet werden können. Diese sind
ganz anders gebaut. Es bestehen also zwei Gruppen von
Korallenriffen; bei der einen (Westiudien) sind durch positive
Bewegungen die Gestalten der Riffe nicht stark beeinflußt
worden, während die andre (Südsee) diesem Einfluß stark
Rechnung getragen hat.
In dem zweiten Abschnitte (S. 30 bis 62) sucht der
Herr Verfasser diese letztere Ansicht zu stützen. Er will zeigen,
daß „wir ans die Darwinsche Senkungstheorie wieder zurück-
zugreifen gezwungen sind". Dazu bedarf er der Entkräftung
der entgegenstehenden Theoricen von Murray und Guppy,
welche gerade die sich hebenden Gebiete als geeignet für
Korallenansiedeluugen bezeichnet hatten. Die Hauptcin-
wände des Herrn Vers. gegen Murray bestehen darin, daß
letzterer nicht im stände sei, die Austiefung der inneren
Lagunen der Atolle, die steilen Böschungen der Außenseiten
der Riffe zu erklären, was allein durch die Senkuugstheorie
Darwins und Danas möglich sei. Außerdem soll nur die
letztere geeignet sein, die Erklärung zu bieten, weshalb so viele
Atolle derselben Gruppen gleichartig gebaut seien, Murrays
Theorie lasse dafür keine Erklärung zu. Von Guppys An-
sichten über die Bildung der Koralleninselu bezweifelt der
Herr Verfasser besonders, daß Atolle nur in Hebungsgebieteu
entstehen könnten. Ferner wirft er Guppy Widersprüche in
seiner Theorie vor, z. B. in bezug auf die Zeit, wann die
Atolle ihre Gestalt erhalten; die Unterscheidung der ver-
schiedenen Bilduugszeit großer und kleiner Atolle hält er mit
Recht für unzulässig. Sodann führt er gegen Guppy au,
daß „in vielen Gebieten des Stillen wie Indischen Ozeans
nicht eine einzige Insel über dem Meeresspiegel erhoben" sei,
was mil der Hebungstheorie nicht übereinstimme. Die,
Guppysche Theorie scheint dem Herrn Vers. weit weniger fest
begründet, als die Murraysche, welche ihm besonders deshalb
verwerflich scheint, weil sie nicht im stände sei, „die Eigen-
tümlichkeiten im Bau der Atolle zu erklären", und auch die
Übereinstimmung des Baues dieser und der Barriereriffe sich
nicht durch sie, sondern nur durch Darwin-Danas Senkungs-
theorie erklären lasse. Diese Senkuugstheorie dient dem Herrn
Vers. auch zur Aufstellung der bisher rätselhaften geogra-
phischen Anordnung der Korallenbauten. Das Fehlen der-
selben in dem größten Teile des Atlantischen Ozeans wird
nach Langenbeck dein Mangel an Senkungen daselbst in jüng-
ster Zeit zuzuschreiben sein. Wir können darin dem Herrn
Vers. nicht folgen, sondern glauben, daß wesentlich die
Wasser- und Nahrungsverhältnisse für die Verbreitung der
Korallentheorie maßgebend sind.
Der umfangreichste Abschnitt des Buches ist der fünfte
(S. 115 bis 162), in welchem die jetzige Verbreitung der
Korallenriffe besprochen wird. Der Herr Vers. ist vielfach
bemüht, Beweise für positive Verschiebung der Standlinie
(Senkung) an den einzelnen Inselgruppen beizubringen und
polemisiert bei Gelegenheit der Bermudasinseln gegen Reins
dort gewonnene Ansicht von der Hebung dieser Gruppe.
Abschnitt vier ist den Korallenriffen früherer geologischer
Perioden gewidmet. Auch hier ist der Herr Verfasser bemüht,
das Zusammenfallen von Koraüenbauteu und Überflutung
durch das Meer, also Senkung des Landes, zu erweisen.
Gerade der durch starke marine Transgressionen beson-
ders ausgezeichneten Kreideperiode fehlt cs an Riffen von
größerer Ausdehnung und Mächtigkeit. Auch einen der
wichtigsten Einwände gegen die Darwinsche Theorie, daß
nämlich die Korallcnbauten der früheren geologischen Perioden
126
Neue Fahrten zur See nach Sibirien.
viel mächtiger gewesen seien als jetzt, sucht der Verfasser zu
entkräften und zwar mit dem Hinweis darauf, daß auch
Darwin und Dana für ihre Theorieen eine Mächtigkeit der
Korallenriffe bis zu 700 m hätten annehmen müssen. Dies
ist aber gerade eine der Schwächen der Darwinschen Ansicht,
zumal da diese Mächtigkeit von 700 m bei modernen Korallen-
riffen keineswegs nachgewiesen ist. Übrigens erreichen die
triassischcn Korallenriffe der Dolomiten Südtirols 1500 m
Mächtigkeit, wie der Herr Verfasser auch selbst zugiebt.
Die eben erwähnten Abschnitte erscheinen dem Referenten
als die schwächsten des Buches, zumal da kein Versuch
gemacht ist, die geographische Verbreitung der Korallenbauteü
anders als durch Senknngsfelder zu erklären. Von beson-
derem Interesse sind aber noch die bisher unbesprochenen
Abschnitte drei und sechs. In ersterem betrachtet Langenbeck
in abgesonderter Darstellung, also wohl der Wichtigkeit dieses
Einwurfs bewußt, die schwierige, gegen alle einseitig nur
Hebung oder Senkung gelten lassenden Theorieen ins Gefecht
geführte Frage nach dem Zusammenvorkommen der drei Riff-
formen nahe bei einander und der Übergänge von positiver
zu negativer Bewegung. Der Herr Verf. findet sich mit
diesen Erscheinungen z. B. auf'der Pelan-, Samoa-, Sand-
wichgruppe in der Weise ab, daß er von einem „stufenweisen
Übergänge von Gebieten, in denen neuere negative Bewegungen
5U konstatieren sind, durch stationäre Gebiete in solche mit ent-
schieden positiver Bewegung" (S. 67) spricht. Diese That-
sache leuchtet auch uns ein, nicht aber, wie dieser stufenweise
Übergang als „ein sehr gewichtiges Argument zu Gunsten der
Darwinschen Theorie" anwendbar ist (S. 67).
Der sechste und letzte Abschnitt ist überschrieben: „Geo-
physischc Betrachtungen". In den ersten Sätzen dieses Ka-
pitels macht der Herr Verfasser stärkere Zugeständnisse an die
Verfechter der Hebung oder der negativen Bewegungen, als
in allen vorigen Kapiteln. Er spricht sogar „von vielleicht
noch weit allgemeiner (als die positiven) verbreiteten negativen
Bewegungen". Hieran schließt sich nun eine Prüfung, ob
diese Bewegungen vom festen oder vom flüssigen Element
ausgehen. Zumeist bekämpft er die Ansicht von Süß über
die gegenwärtige Ansammlung des Wassers in den Äquatorial-
gegenden. Für den Atlantischen und Indischen Ozean trifft
dies wenigstens nicht zu. Ansteigen des Meeresspiegels sehen
wir im Atlantischen Ozean nur au der Küste von Guayana und
ail den Bermudas. In ersteren: Meeresteile existieren aber
keine Korallenriffe, und letzteres Gebiet gehört kaun: mehr zu
den Äquatorialgegenden. Zwischen den Bermudas und dem
Orinoco sind keine Spuren positiver Bewegung vorhanden.
Auch für den Indischen Ozean leugnet Langenbeck das An-
steigen des Meeresspiegels, wenigstens ein gleiches Maß des-
selben. Und ebenso glaubt für den Stillen Ozean Langen-
beck nicht an ein derartiges periodisches Anschwellen und
Abschwellen, sondern er hält die Erdrinde selbst für das sich
Bewegende (S. 170) und kehrt somit zu der alten Theorie
Darwins zurück. Gleichzeitig aber giebt er auch zu, daß
Koralleubildnngen auf sich hebenden Gebieten vorkommen
können, und bezeichnet als solche hauptsächlich die Vulkan-
regionen au: Rande der Senknngsfelder. Ferner giebt er
zu, daß iil früheren geologischen Perioden, z. B. der Jnra-
zeit, sich wenig mächtige Korallenbantcn ohne Senkung der
Erdrinde, sondern bei langsam vorschreitendcm Ansteigen des
Meeresspiegels bilden konnten (S. 172). Auch Schwankungen,
Oszillationen, also bald Senkung, bald wieder Hebung, läßt
er endlich gelten, z. B. bei Sombrero iit den Kleinen Antillen,
und auch bei diesen erklärt er das Meer für das sich bewegende
Element. In: großen und ganzen aber steht er auf dem
Standpunkte, daß' die Koralleninseln sich vorwiegend auf
sinkenden Schollen der Erdrinde, über welche das Meer
hinübertritt, bilden.
Wenngleich Referent zu denjenigen gehört, welche sich
durch die Beweisführung des Verfassers nicht für überzeugt
halten, steht derselbe doch nicht an, diese Abhandlung für
einen ausgezeichneten, sehr fleißigen, klärend wirkenden und
sehr lesenswerten Beitrag zur Litteratur über die Korallen-
iuseln und ihre Entstehung zu erklären.
Neue Fahrten zur See nach Sibirien.
Im Verlaufe des Jahres 1890 ist es wiederholt engli-
schen Fahrzeugen gelungen, zur See nach Sibirien zu gelangen
und dort Absatz für die mitgebrachten Waren zu finden.
Der Seeweg dorthin durch das Karische Meer nach den
Mündungen der sibirischen Riesenströme Ob und Jenissei ist
wiederholt gemacht worden, aber auch oft infolge der Eis-
verhältnisse gescheitert, so daß schließlich die vorherrschende
Ansicht dahin ging: eine regelmäßige Benutzung dieses See-
weges zu Handelszwecken sei ausgeschlossen.
Die Küstenbevölkerung des nördlichen Rußland hatte schon
frühzeitig eine lebhafte Schiffahrt im Polarmeere betrieben
und oft Handelsreisen von: Weißen Meere und der Petschora
nach dem Ob und Jenissei unternommen und das Interesse
der wissenschaftlichen, sowie der Handelswelt würde auf dieser
Grundlage wohl den Seeweg nach Sibirien in: Auge be-
halten haben, wenn nicht der berühmte Naturforscher Karl
Ernst v. Baer 1837 gelegentlich seiner Reise nach Nowaja
Semlja das Karische Meer für einen unwegsamen Eiskeller
erklärt hätte.
Im Jahre 1862 trat der als rastloser Eiferer für die
Seeverbindung Sibiriens mit Europa bekannt gewordene
Michael Sidorow für die Wiederaufnahme der Fahrten
ein; der von ihm ausgerüstete Schoner „Jermak" unter Lieute-
nant Krufenstern ging indessen bei den: Versuche, die sibi-
rischen Flußmündungen zu erreichen, in: Eise zu Grunde.
Dann nahmen aber norwegische Seehunds- und Walroßjägcr
die Fahrten in: Karischen Meere wieder auf; sie fanden in
den sechziger Jahren dieses Meer eisfrei und warfen alle
Theorieen um, welche auf Grund früherer mißglückter Fahrten
über dessen Unschiffbarkeit aufgestellt waren.
In: Jahre 1875 endlich machten die Nordostfahrten einen,
sowohl in geographischer als auch in kommerzieller Beziehung
wichtigen Schritt vorwärts, als es dem berühmten Nor-
dens kiöld glückte, mit der Fischerjacht „Prövcn" durch den
Jugorsnnd und durch das fast eisfreie Karische Meer bis
nach der Mündung des Jenissei zr: fahren. Er segelte den
Fluß aufwärts bis Saostrowskoj und gelangte von da mit
einem Dampfboote bis Jenisseis!. Somit war eines der Ziele
erreicht worden, welches die alten Nordostfahrer sich gestellt
hatten und dem Handel Sibiriens zur See schienen glänzende
Aussichten eröffnet.
Gleichzeitig aber erhoben sich Stimmen, daß nur eine
zufällige Vereinigung glücklicher Umstände diesen Erfolg her-
beigeführt hätte. Um zn beweisen, daß dieses nicht der Fall
war, und um selbst die ersten Waren zur See nach Sibirien
zu bringen, unternahm Nordenskiöld 1876 eine zweite Fahrt
nach Sibirien auf dem Dampfer „Urner", der nicht nur bis zur
Mündung des Jenissei, sondern diesen aufwärts bis 71°
nördl. Br. gelangte. Diese beiden Reisen Nordenskiölds
leiteten wirkliche Handelsfahrten nach den: Ob und Jenissei
ein, die allerdings nicht alle von Erfolg gekrönt waren. Diese
Mißerfolge waren Ursache, daß man den Seeweg nach Sibi-
rier: wieder in Vergessenheit geraten ließ.
Indessen in England behielt man die Sache im Auge
und die Aussicht, mit Hilfe der sibirischen Riesenströme land-
einwärts bis an die Grenzen Chinas Handel treiben zu
können. Es wurde eine Gesellschaft gebildet, an deren Spitze
die Herren Albert Gray und John Milburn stehen, und diese
Britisch Nen-Guinea 1889 — 90. — Aus allen Erdteilen.
127
entsandten bereits 1889 das Schiff „Labrador" unter dem in
der Eisschiffahrt erprobten Kapitän Wiggins nach derJenissei-
mündnng. Im Sommer 1890 war ein neuer Erfolg zu
verzeichnen. Zwei Schiffe und ein kräftiger Schlepper (für
die Flußschiffahrt) wurden Ende Juli und Anfang August
von London abgeschickt und erreichten, trotzdem sie in der
Karasee stark mit dem Eise zu kämpfen hatten, in 39 Tagen
Karaul, welches 250 km am Jenissei aufwärts gelegen ist.
Nach einem Aufenthalt daselbst von 19 Tagen kehrten sic in
26 Tagen nach London zurück, so daß zu der Hin- und
Herreise im ganzen 84 Tage gebraucht wurden. Die Schiffe
waren das gecharterte norwegische Schiff „Biscaya", Kapitän
Petersen, der Dampfer „Thule", Kapitän Cordiner und der
Schlepper „Bard", Kapitän Robert Wiggins. Karaul, der
Ausschiffungsplatz, ist nur ein einzelnes Stationshaus, in
dem der russische Kaufmann Kitmanow lebt, der hier mit
den Samojeden Handel treibt. Den Jenissei abwärts kam
den Engländern hier der Flnßdampfcr „Phönix", mit dem
russischen Zollbeamten an Bord, entgegen, um die für Sibi-
rien bestimmten Waren aufzunehmen.
Ein Erfolg muß diese Expedition jedenfalls genannt werden;
ob derselbe aber ein dauernder sein wird, ist abzuwarten.
Britisch Neu - Guinea 1889 — 90.
Die britische Kronkolonie Nen-Guinea mit einem Flächen-
inhalt von 220 919 qkm steht seit dem 4. September 1888
unter der Administration von Sir William Mac Gregor,
des früheren Vizcgouverneurs der Fidschis. Daß Australien
großes Interesse an der Knltnrentwickelnng der Insel hat,
beweist schon der Umstand, daß seine drei östlichen Kolonieen
Queensland, Neu-Süd-Wales und Viktoria sich zu einem
Jahresbeiträge von zusammen 10000 Pfd. Steri, zu den
Verwaltungskosten verpflichtet haben. Atan ist aber in
Australien, von wo aus man die Insel zu kolonisieren hoffte,
mit der Verwaltung höchst unzufrieden. Sir William Mac
Gregor hat im Einverständnis mit den von der englischen
Regierung beschützten Missionaren erklärt, daß das Land den
Eingeborenen verbleiben mtb eine Ansiedelung der Weißen
ausgeschlossen sein solle. Er beruft sich dabei ans die alte
Erfahrung, daß mit dem Einzuge der Weißen der Untergang
der Eingeborenen besiegelt ist. Man weist dagegen in Austra-
lien ans die fortschreitende günstige Entwickelung der deutschen
Ansiedelung in Kaiser-Wilhelmsland im nördlichen Nen-
Guinea und und deren meist gutes Einvernehmen mit den
Eingeborenen hin, und verlangt eine Änderung im Ver-
waltnngssysteme.
Sir William Mac Gregor hat kürzlich seinen amtlichen
Jahresbericht, betreffend die 12 Monate von Juli 1889
bis dahin 1890, über das unter seiner Verwaltung stehende
englische Nen-Gninea, mit Einschluß der dazu gehörigen öst-
lichen Louisiaden- und D'Entrecasteanx-Gruppen, veröffent-
licht. Es wurden während des Jahres im ganzen zwölf
Eingeborene wegen Mordes zum Tode verurteilt, aber da er
an ihren Genossen begangen worden, zu Gefängnisstrafe
begnadigt. Der Landbesitz der Regierung erhielt durch die
Erwerbung von Tanko Island eine Erweiterung; die dort
angepflanzten 1500 Kokosbäume gedeihen vortrefflich. Unter
den Weißen, d. i. den Beamten und sonstigen Angestellten,
herrschte viel Fieber, hauptsächlich durch Nässe, kalte Winde
und die direkten Strahlen der Sonne veranlaßt. Die
Einfuhr in den beiden Haupthüfen Samarai und Port
Moresby bewertete 16 104 (ff- 4996), die Ausfuhr 6485
(ff- 540) Pfd. Sterl. An Gold, auf den zu den vorer-
wähnten beiden Gruppen gehörigen Inseln Endest und
St. Aignan gefunden, wurden 3470 (—380) Unzen, an
Trepang oder decke cle mer zu 4682 (ff- 2504), an
Perlmutterschale zu 1050 (—760) und an Copra zu 250
(— 300 gegen das Vorjahr) Pfd. Sterl. ausgeführt. Die
Einnahmen ergaben nur 3015 Pfd. Sterl. 13 Schill., während
die Ausgaben sich ans 14 975 Pfd. Sterl. belaufen. Mit
großem Lobe gedenkt Sir W. Mac Gregor der segensreichen
Wirkung der protestantischen Mission an der Südost- und
der katholischen an der Südwestküste. Er selber unternahm
mehrere Forschungsreisen ins Innere der Insel.
H. Greffrath.
Aus allen Erdteilen.
— Brichettis Reise im afrikanischen Osthorn.
Der italienische Ingenieur Luigi Brichetti-Robecchi hat
in der äußersten Ostspitze Afrikas, in dem Lande der übel
berüchtigten Medschertin-Somal eine Reise unternommen,
welche ihn von Obbia am Indischen Ozean bis nach Halule
(Alula) westlich vom Kap Guardafili führte. Sein langer
Bericht steht im Bollettino della Società Africana d’Italia,
Dczemberheft 1890. Die Reise dauerte vom 28. Mai bis
11. August 1890. Brichetti schildert das Land als eine mannig-
faltige Reihenfolge wüster Thäler und Ebenen, in denen
Kalksteine vorherrschen und in der die Vegetation oft ganz
fehlt, dann aber lvicder sehr üppig auftritt. In solchen
Strichen ist dann auch die Tierwelt reich vertreten; Affen sind
häufig, auch Strauße. Nachdem der Reisende den Torrcnt
Kolnla gekreuzt hatte, erreichte er in 360 km Entfernung
das Wadi Nogal. Dieser Torrcnt, welcher unter verschiedenen
Namen vorkommt, und in seinem unteren, etwa 20 km langen
Laufe El heißt, führt reichlich Wasser. Eingefaßt wird der-
selbe von 40 bis 50 m hohen, zerklüfteten, wie Bastionen er-
scheinenden Felsen. Stromaufwärts wird der Pflanzenwuchs
immer üppiger, zahlreiches Vieh weidet ans den ausgedehnten
Grasstrecken und die großen Säugetiere, Elefanten, Löwen,
Leoparden, treten ans. In den Wadis stehen Palmen, Akazien
und Sykomoren.
Der nächste periodische Wasserlanf, den Brichctti kreuzte,
war das Wadi Dhalo oder Dra Sala; damit hörte aber auch
die fruchtbare Beschaffenheit des Bodens ans, das Wasser
wurde selten, das Land wüster und steiniger. Im Becken
des Amudah fand der italienische Reisende zum ersten Male
die Dnmpalme (Hyphaene) in dichten Beständen, unb nach-
dem er das Wadi Dhudo gekreuzt, sah er auch Dattelpalmen
in großer Menge, vermischt mit wildem Wein und Frncht-
bänmen. Der bei weitem größte Teil des Landes zeigte
dasselbe Aussehen: Dürre, steinige Ebenen wechselten mit
Wadis, in denen die erwähnten Pflanzen und namentlich auch
die Salvadora gediehen. Mit seiner kleinen Karawane konnte
Brichetti nicht tief ins Innere eindringen, da ihm sonst die
Vorräte und Wasser gemangelt hätten. Daß das Reisen im
Lande der Somal ein gefahrvolles sei, sollte auch er erfahren,
denn schon zwei Tage nach seiner Abreise von Obbia wurde
er von wandernden Mcdschcrtin angegriffen, wobei er einen
Diener und sein Pferd verlor.
— K a m er un. Die neue Expedition des Dr. Engen Z i u t -
gross zur Erforschung des Hinterlandes von Kamerun in
geographischer und kommerzieller Beziehung ist im November
1890 in das Innere aufgebrochen. Ausgangspunkt ist die
Station Barombi (5" nördl. Br.). Die Vorhut unter Expe-
128
Aus allen Erdteilen.
ditionsmeister Hume verlies; diesen Ort am 20. November.
Am nächsten Tage folgte ihm Dr. Zintgraff mit dem
Hauptteile der Forschungsexpedition, sowie mit drei Sektionen
der Handelsexpedition der Firma Jantzen und Thormählen;
jede Sektion besteht ans 30 Mann und einem Vormann.
Fernere 3^/z Sektionen gingen am 22. November unter der
Führung der Herren Nehber, Caulwell mtb Tiedt ab.
Als Nachhut sollten Lieutenant v. Spangenberg und
Expeditionsmeister Carstensen mit dem Rest der Truppe der
Forschungsexpedition folgen. Beide Expeditionen hofften, ohne
durch Hindernisse und Feindseligkeiten seitens der Banyangs
unterwegs aufgehalten zu werden, zwischen dem 10. und
15. Dezember in Baliburg einzutreffen. Die Balistation
ist bereits 1889 von Dr. Zintgraff als Hauptposten im
Innern ausersehen worden. Die Banyangs sind ein südlich
von derselben (unter 6" nördl. Br.) lebender Stamm, mit
denen Dr. Zintgraff früher in feindliche Berührung geraten
war, dann aber Frieden geschloffen hatte. Einer der Expe-
ditionszwccke ist auch die Anwerbung von Arbeitern im Innern
für die Pflanzungen am Kamerun.
— Todesfälle durch Schlangenbiß und wilde
Tiere in Indien ist in den indischen Blättern eine stehende
Rubrik geworden und danach im Globus öfter schon berichtet
worden. Es liegen jetzt amtliche Berichte für 1888 vor,
nach denen in diesem Jahre in Ostindien nicht weniger als
22 970 Menschen durch Bisse giftiger Schlangen oder wilder
Tiere zu Grunde gingen, eine sehr große Anzahl bei
208000000 Einwohnern! Außerdem wurden durch die-
selben Tiere noch 76 271 Stück Vieh getötet. Am meisten
Menschen (20 571) fielen den Schlangen zum Opfer, 975
wurden durch Tiger, 184 durch Leoparden, 139 durch Wölfe,
110 durch Löwen zerrissen, 57 durch Elefanten getötet und
der Rest fiel Skorpionen, Krokodilen, Wildschweinen u. s. w.
zum Opfer. Trotz des Vernichtungskrieges gegen die schädlichen
Tiere und der großen Summen, die für deren Ansrottnng
gezahlt werden, nimmt die Zahl der Todesfälle durch dieselben
zu. Im Jahre 1881 wurden von den Bestien nur 43 669 Stück
Vieh getötet, wenig mehr als die Hälfte der im Jahre 1888
getöteten. Die Zahl der ihnen zum Opfer gefallenen Menschen
betrug 1880 auch nur 21000. Im Jahre 1888 wurden
20 709 wilde Tiere und 511948 giftige Schlangen vernichtet
und dafür die hohe Summe von 159 253 Rupies bezahlt.
1884 und 1885 überstieg die gezahlte Summe 2Lakh Rupies.
Die am meisten heimgesuchten Provinzen sind Bengalen, Ondh
und die Nordwestprovinzen.
— Eine einstige, bei weitem nördlichere Ausdehnung
des Kaspischen Sees, bis in das untere Kamagebiet
(55" 23' nördl. Br.), wird in hohem Grade wahrscheinlich
gemacht durch die Auffindung mächtiger poftpliozäner Ab-
lagerungen mit zahlreichen organischen Überresten wie
Adacna plicata, Cardium edule, Dreissena polymorpha,
Didacna und Hydrobia, welche identisch sind mit den be-
treffenden, noch jetzt in der Kaspischen See lebenden Arten.
Das Niveau dieser Ablagerungen liegt 160 m über dem
der See. ___________
— Entgegen der allgemeinen Annahme von dem Alter
des Uralgebirges sucht Henry H. Howorth den Nach-
weis zu führen, daß dieses Gebirge erst zu Ende der Mammut-
periode, und zwar schnell emporgehoben worden. Vorher
und noch bis zur Zeit, als das Mammut ansstarb, bildete
Sibirien mit dem europäischen Rußland eine znsammen-
hängende Ebene, deren Flüsse im Osten, wie noch jetzt im
Westen das Land von Norden nach Süden durchzogen und
dort in ein großes mittelländisches Meer mündeten, dessen
Reste den Kaspi-, Aral- und Baikalsee bilden. Als Beweise
für diese übrigens schon von Murchison behauptete junge
Hebung des Ural führt Howorth an: erstens, daß dieses
Gebirge keine Tier- und Pflanzenscheide bildet, vielmehr die
jetzige russische und asiatische Fauna und Flora miteinander
übereinstimmen; zweitens, daß auch die oberflächlichen" Erd-
schichten zu beiden Seiten des Ural einander ähnlich und
durch die interessante Schwarzerde charakterisiert sind; und
drittens, daß der Ural eines jeden Zeichens der Wirkungen
der Eiszeit entbehrt; sowohl im Gebirge selbst sucht man
vergebens nach Gletscherspuren, Moränen, Schrammen n. s. w.,
als auch in der Umgegend, welche keine Findlinge aus dem
Ural, sondern nur aus Skandinavien aufweist. Erst nach
der Eiszeit, zur Zeit des Mammut, sei der Ural schnell
emporgehoben und habe das Gefälle Sibiriens derart ge-
ändert, daß nun seine Flüsse dem Eismeere zustießen, daß
das Mittelmeer austrocknete und sich auf seine kleinen Reste
zurückzog, während das Mammut ausgestorben ist. (Geological
Magazine 1890, Oktober.)
— Die Entstehung der großen Seen Nord-
amerikas wurde bisher mit Wirkungen von Gletscher-
thätigkeit in der Dilnvialzeit in engste Verbindung gebracht.
Neueste Untersuchungen, welche sich zum Teil schon in
G. F. Wrights: The Ice Age in North America; New
York 1889 verwertet finden, vollständiger aber kürzlich von
I. W. Spencer im Quarterly Journ. of Geol. Soc.
Lond. 46, 523 (16. April 1890) mitgeteilt wurden, haben
jedoch ergeben, daß eine derartige Auffassung unhaltbar ist.
Von Seiten der Vereinigten Staaten wie auch Kanadas
wurden zahlreiche Lotungen in den Seen wie auch Tief-
bohrungen in der Drift, welche in der Nähe der Seen zu-
weilen in ansehnlicher Mächtigkeit sich abgelagert findet, aus-
geführt. Diese Erhebungen führten aber zu dem Resultat,
daß die Seen keinesfalls ihre Entstehung der Gletscher-
anshobelung verdanken können, da dem die Beschaffenheit ihres
Untergrundes widerspricht, vielmehr einem präexistierenden,
mehrfach sich verzweigenden Thalsysteme angehören, welches
allerdings in der Dilnvialzeit durch beträchtliche Senkungen
(bis zu 200 m) und lokale Aufschüttung von glacialem
Materiale in ein Seengebiet umgewandelt wurde. — Das
alte Thalsystem hatte etwa folgenden Verlauf. Vom Oberen
See her bestand eine allerdings jetzt mit Drift erfüllte Ver-
bindung nach dem Mississippi hin. Der Michigansee besteht
aus zwei durch ein unterirdisches Plateau von 97 m Tiefe
getrennten Bassins, von denen das nördliche 262 m, das süd-
liche 165 m tief ist. A in nördlichen Ende des nördlichen Bassins
lourde eine schmale, tiefe Verbindung mit dem Huronsce nach-
gewiesen, für das südliche Bassin bestand eine Verbindung längs
des Grand River nach der Saginawbai des Huronsees. Im
Huronsee wurden durch Lotungen folgende Thalrinnen nach-
gewiesen: eine nordöstlich in der Fortsetzung der Saginawbai
verlaufende, eine zweite von annähernd südnördlicher Richtung
und eine dritte, die Fortsetzung des Michigankanales bildende.
Alle drei vereinigen sich vor Cabots Head, um hier uin-
biegcnd nach dein Südende der Georgiabai sich zu erstrecken.
Von hier ist weiter durch flache Terrainbeschaffenheit und
Ablagerung bis 84 m mächtiger Driftmasfen eine Verbindung
mit dem Ontariosee angezeigt. Mit letzterem stand der
Eriesee durch einen einige Meilen westwärts von den heutigen
Fällen verlaufenden Thalweg in Verbindung. Im Ontario-
see endlich wurde ein in der Nähe und längs des Südufers
verlaufender Kanal aufgefunden.
Herausgeber: Dr. R. Audree in Heidelberg, Leopoldstraße 27.
Druck von Friedrich View eg und Sohn in Braunschweig.
Braunschweig
Jährlich 2 Bände in 24 Nummern. Durch alle Buchhandlungen und Postanstalten
zum Preise von 12 Mark für den Band zu beziehen.
1891.
Ludwig Wolfs letzte Reife im Norden von Dahomo.
(Mit Karte.)
Am 26. Juni 1889 ist Stabsarzt Dr. Ludwig Wolf
zu Dabari im Norden von Da Homo dem afrikanischen Fieber
erlegen; aber erst jetzt ist näheres Uber seine letzte Neise be-
kannt geworden, die in bisher von Weißen unbetretene
Gebiete des südlichen Nigerbeckens führend, für die geogra-
phische Wissenschaft noch äußerst fruchtbar geworden ist.
In dem liebenswürdigen, bescheidenen und tüchtigen, aus
dem Hannoverschen gebürtigen kgl. sächsischen Stabsarzte
hat die deutsche Afrikaforschung einen ihrer tüchtigsten Ver-
treter, das Deutsche Reich einen vorzüglichen Kolonialpionier
verloren. Schon als Mitglied der großen Expedition Wiß-
manns an den Kassai (1883—85), sowie bei den folgenden
Erforschungen der Eongozuslüsse Lomami und Sankurru
zeichnete Wolf sich aus. Das 1888 erschienene Werk „Im
Innern Afrikas, die Erforschung des Kassai", auf dessen
Titelblatt wir sein sehr ähnliches Bildnis sehen, ist zum
großen Teil aus seiner Feder geflossen. Wolf wurde von
der Reichsregierung ausersehen, das Hinterland des Togo-
gebietes zu erforschen. Er gründete dort 1887 im Lande
der Adeli unter 8" nördl. Br. die Station Bismarckbnrg,
von der aus er verschiedene Forschungsreisen unternahm
und unter schwierigen Verhältnissen, unterstützt von seinem
Geführten, Lieutenant Kling, den deutschen Einfluß befestigte.
Wolfs Reisen, darunter jene nach der wichtigen Stadt
Salaga im November 1888, sind beschrieben und mit
Karten versehen im zweiten Bande der Mitteilungen aus
dem deutschen Schutzgebiete erschienen.
Der vierte Band dieser Zeitschrift bringt uns jetzt
(1891, Heft 1, S. 1 bis 24) die Beschreibung seiner
letzten Reise nach den hinterlassenen Tagebüchern. Dieselbe
führte ihn über das deutsche Schutzgebiet hinaus, von Bis-
marckburg nach Nordosten in den Norden des Königreichs
Dahouw, dessen Hauptstadt Aboms er auf diesem weiten
Umwege von Osten her zu erreichen strebte, dabei unbekannte
Gebiete erschließend. Wolf hatte nämlich auf einem direkten
Vorstoße von Bismarckburg nach Osten, bis nach Pessi in
der Nähe der Grenze Dahomos im März 1889 gesunden,
daß es ans politischen Gründen angebracht sei, nicht von
Glvbus LIX. Nr. 9.
dieser Seite aus in Dahomo einzudringen. Er entschloß
sich daher, im weiten Bogen von Norden und Nordosten her
in dieses Land zu reisen und brach daher am 22. April
1889 an der Spitze einer Karawane von 32 Mann, be-
gleitet von den Segenswünschen der in Bismarckburg woh-
nenden Adeli, auf. Durch eine Baumsavanne gelangte er
nach Blitta, seinem nächsten Ziele, wo die Bewohner teil-
weise Mohammedaner sind, aber trotzdem Schweine halten;
der Einfluß der mohammedanischen Haussahändler, die von
Norden kommen, macht sich hier sehr fühlbar.
Durch abwechselnde Landschaft, bald Savannen, bald
steiniger Boden, bald Pflanzungen von Mais, L)ams, Hirse,
Bohnen, drang er nach der Landschaft Tschaudjo vor, dessen
Hauptstadt Paratau ist. Der größte überschrittene Wasser-
laus ist der 15 bis 18 m breite, V-’m liefe Akamma- oder
A-uni-Fluß. Hier treten Ölpalmen neben andern Palmen-
arten aus. Der Jabo (Herrscher) mit Namen Bukari
empfing den deutschen Reisenden freundlich. „Das 15 m
hohe Wohnhaus des Herrschers besteht aus einem mächtigen
runden Bau, dessen Mauerwerk aus Lehmquadern zusammen-
gesetzt ist und 6 bis 8 m hoch sein mochte. Die Spitze des
Strohdaches ziert ein Straußenei, ein Ornament, das in
diesen Gegenden nur aus Moscheen und Häuptlingshäusern
zu finden ist. Jabo Bukari ruhte aus drei Leopardensellen
zwischen zwei bunten Lederkissen. Vor ihm stand ein mit
Holzasche halb gefüllter Spucknapf. Rings herum im
Kreise saßen seine Ratgeber und das Gefolge. Nahe der
Wand standen seine zwei Leibpserde, schöne Hengste, mit
einem Strick am Fuße gefesselt, an dem kurze Pflöcke an-
gebunden waren." Es gab viel Vieh in dem Orte und
die Pferde werden hier in den Häusern bei Stallsütterung
gehalten.
"Nachdem Wolf von dem Herrscher die Versicherung er-
halten, daß er gern mit der Küste in Verbindung treten
wolle, machte er einen Ausflug nach dem 1000 Hütten
zählenden, nahe gelegenen Orte Dadaura, wo der moham-
medanische Oberpriester oder Limomu wohnte. Auch hier
wurde Wolf freundlich begrüßt. Über die dort betriebene
17
ISO
Ludwig Wolfs letzte Reife iiu Norden von Dahomü.
Viehzucht spricht er sich lobend aus; er sah weidende Herden
von mehr als 100 Stück Rindvieh, viele Esel und Stuten
mit Füllen. Tschautjo, das noch im deutschen Gebiete liegt,
hat eine besondere Sprache, die Wolf die Dindisprache nennt
und von der er einige Wortverzeichnisse aufschrieb.
Am 7. Mai brach Wolf von Paratan auf, nachdem ihm
der Herrscher noch einen prächtigen Schimmelhcngst im
Werte von 12 Sack (2ä0 000 Stück) Kauris oder 170 Mark
geschenkt hatte. Durch schöne, reich bewässerte Gegenden mit
vielen Olpalmen und Schibutterbäumen, mächtigen Baobabs,
Akazien, Banmwollbüumen und Weinpalmen führte der
Weg in nordöstlicher Richtung weiter, wobei zahlreiche große
Dörfer passiert wurden. Unterwegs traf Wolf Händler-
aus der großen Stadt Jlorin (nördliches Joruba), so daß
hier die Beziehungen zum Niger schon immer deutlicher
wurden. Über Keramnna, das 400 Hütten zählte, wurde
am 10. Mai das mit einer weiten Ringmauer umgebene
Aledfo erreicht; cs besteht ans 800 Hütten, zeigt viele
Ruinen und ist meist von Heiden bewohnt, unter denen nur
wenige Mohannnedaner leben. Politisch gehört cs zum
Reiche des Jabo Bukari, der hier einen Statthalter unter-
hält. Neben dem Dindi, der Sprache Tschautjos, macht
sich hier schon die Anagosprache geltend. Die Sklavcn,
Manner, Frauen nud Madchen, gehen hier vollstcindig nackt,
die Freien, etwa die Haifte der kraftigen Bewohner, tragen
Turban nnd Hemdcn ans heimischer Baumwolle.
Nordlich von Aledfo folgt wieder Buschsavanne mit
Sand- nnd rotem Kiesboden nnd hanfigen machtigcn Fcls-
blocken. Spater treten wieder in der Savanne die schon
erwahnten Banmarten ans. Semere, der am folgenden
Tage ereichte Ort, zahlt 4000 Hnttcn, die von Feldern nnd
schattigen Hainen umgeben find. Jetzt war die Landschaft
Sngn betreten, dercn Herrschcr mit den Nachbarn von
Schebereku nnd Jaggo im Kriege lag nnd von Wolf Bei-
stand gegen diese verlangte, was naturlich abgelehnt wnrde.
Die Bewaffnung der Krieger bestand ans Bogen und Pfeilen,
sowie einem Dolchmcsser. Die Reiter haben je zwei lange
Speere mit Widerhaken an den Spitzen, ein langes Haussa-
schwcrt nnd einen mächtigen runden Schild aus Tierhaut,
der das ganze Pferd bis ans Kopf und Hals sowie den
halben Reiter zugleich bedeckt.
Der Häuptling von Sugn weigerte sich anfangs, Wolf
zu empfangen, gab aber ans Zureden des mohammedanischen
Oberpriesters nach. Am 16. Mai war Wolf in dem
1800 Hütten zählenden Baröi, dessen Bewohner sämtlich
Heiden sind nnd ganz nackt gehen. Hier kommen Kröpfe
vor. „Der Islam ist im allgemeinen in diesen Gebieten
noch nicht die verbreitetste, aber wohl die herrschende Religion,
Ludwig Wolfs letzte Reife iin Norden von Dahoine.
131
da gewöhnlich die vornehme, handeltreibende Klasse sich zu
derselben bekennt. Die Mohammedaner halten ziemlich feft
zusammen. Neben den oft noch heidnischen oder nur halb
mohammedanischen Häuptlingen sind überall mohammeda-
nische Priester, Limomu genannt, vorhanden, die einen mäch-
tigen Einfluß ausüben?' Am folgenden Tage wurde das
1500 Hütten zählende Wangara erreicht, wo der Bruder
des Herrschers von Sugn residiert, dem Wolf vortrug, er
wolle in das Land der wilden und räuberischen Barbar vor-
dringen, um deren Häuptling Koto zu besuchen; eine Schwester
des letzteren, die sich in Wangara aufhielt, sagte ihre Unter-
stützung zu. Die Reise erschien als ein Wagnis, denn erst
vor kurzem hatte eine Bande von 5OO Barbarräubern eine
Karawane von 3OO Personen, die von Kano nach Salaga
unterwegs, ausgeplündert. Ein Barbar soll seine eigene
Mutter, welche mit Handelsgütern vom 'Niger kam, ausge-
plündert und dazu bemerkt haben, daß seine Mutter seit
seiner Geburt ihn nichts mehr anginge.
Dicht bei Wangara liegt in einem herrlichen Hochwalde
Sugukuna, die aus elenden Lehmhütten erbaute Residenz
des Herrschers von Sugn, Pentoni mit Namen, welcher am
19. Mai Wolf mit allem heidnischen Prunk empfing. Er
ruhte aus Löwen- und Leopardenfellen, war in Baumwoll-
gewänder gehüllt und erschien als ein mittelgroßer, tief
dunkler Mann von 60 Jahren. „Er betrachtete mich un-
verwandt mit einem furchtsamen Gesichtsausdruck. Als ich
direkt auf ihn zuging und ihm meine Hand entgegen hielt,
neigte er fein Haupt, klatschte in die Hände und murmelte
Begrüßungsworte. Seine Hautfarbe war grau vor Furcht
geworden und er faßte meine Hand erst, als seine Umgebung
ihm Mut zugesprochen hatte. Allmählich erholte er sich
von seinem Schrecken und zeigte dieses dadurch an, daß er sich
ans den Rücken legte und die Beine in die Lust schlug, wo-
bei er lachte und der Versammlung laut erzählte, wie sehr
er sich bei meinem ersten Anblick gefürchtet habe." Dabei
ist dieser ängstliche Herrscher ein grausamer Despot, der ge-
legentlich gern köpfen läßt.
Auf dem alle vier Tage stattfindenden großen Markte
in Wangara sah Wolf viel Baumwolle und Indigo. Rotgarn
war sehr gesucht. Schön gefärbte Matten, Schmiedearbeiten,
Finger- und Armringe aus Silber, Sklaven (von den
Barbar zu 9 Sack — 180 000 Kauris gekauft), Kolanüsse,
Baumwollgewebc, Tabak, Butter, aus Palmöl bereitete
Seife, Gemüse, Bohnen, Salz, Fleisch, Hirse, Zwirn,
Schafe, Rinder, Hühner, Antimon, Bleiglanz u. s. w. wurden
feilgehalten.
Sugn ist nicht so fruchtbar wie das Adeliland bei Bis-
marckburg; der eisenhaltige Boden wird aber sorgfältig,
hauptsächlich von Männern bebaut, namentlich mit Panis
und Hirse. In ethnographischer Beziehung ist von Inter-
esse, daß Wolf ein Kind sofort nach der Geburt besichtigen
konnte. Die Hautfarbe war wie bei einem europäischen
Kinde, die Iris braun, das Haar glatt, fast blond. Erst
nach einem Monat fangen letztere an, sich zu kräuseln
und dunkel zu werden. Die Nabelschnur wurde etwa
20 Minuten nach der Geburt abgebunden und abgeschnitten,
und zwar Stück für Stück, so daß noch ein bis zum Knie
des Kindes reichendes Ende übrig blieb, das nach sieben Tagen
abfällt. Der Rest der Nabelschnur mit der Placenta wird
in einen Topf gelegt, einem lebenden Hühnchen einige Zehen
abgeschnitten und das ausquellende Blut in den Topf ge-
träufelt. Von dieser Mischung wird etwas aus die Wund-
fläche der noch am Kinde befindlichen Nabelschnur gelegt.
Dann werden in den Topf etwa IO Kauris und ein Stück-
chen Kolanuß geworfen und alles zusammen außerhalb des
Gehöftes vergraben. (Über den weit verbreiteten Nabel-
schnuraberglauben, der in Tahiti z. B. ähnlich, wie hier von
Wolf mitgeteilt, ist, vergleiche H. H. Ploß, Das Kind I, 40.)
Der Ausbruch Dr. Wolfs zu seiner letzten Reise von
Wangara nach Osten fand am 5. Juni statt. Er war jetzt
an der Grenze der deutsch-französischen Scheidelinie ange-
langt und jeder Schritt weiter nach Osten führte ihn der
französischen Sphäre zu. Damit näherte er sich aber auch
dem Gebiete des Niger; die Flüsse, die er bisher über-
schritten hatte, mündeten alle noch unmittelbar in den Guinea-
busen ; jetzt aber begegnete er schon Nebenflüssen des Leiger,
unter denen der 20 m breite und 1 m tiefe Ofo besonders
hervorzuheben ist. Ohne Gefahren war die Reise nicht,
denn in den Wäldern lauerten Räuber. „Es besteht in
diesem Teil des Nigerbcckens ein vollständiges Raubritter-
wesen, das an unsre mittelalterlichen Verhältnisse erinnert.
Die Anführer sind stets Angehörige der Herrscherfamilien
des betrcfsendnn Landes."
Schon am 31. Mai hatte Dr. Wolf in Sagn einen
Fieberanfall mit Erbrechen gehabt, der aber vorüber ging.
Am 5. Juni schließt sein in Reinschrift mit Tinte ge-
führtes Tagebuch und ein kleines Notizheft tritt an seine
Stelle, in welches der Reisende in immer geringerem Um-
fange und mit von Tage zu Tage undeutlicher werdender
Bleististschrist bis zu seinem Todestage Notizen, schließlich
nur noch über seine Körpertemperatur, eingetragen hat.
Am 9. Juni überfiel ihn in dem Dörfchen Dodua ein per-
niciöses Fieber. In sehr elendem Zustande verbrachte er
hier fünf Tage; am 15. war er soweit besser, daß er aber-
mals aufbrechen konnte. Es folgen nun Marschtage von
2 und 31/2 Stunden, abermals Unterbrechung. Am
18. Juni trat noch starke Diarrhöe zu dem zwischen 38
und 40" schwankenden Fieber. Am 25. Juni raffte der
schwächer und schwächer werdende Forscher noch einmal
die letzte Kraft zusammen, um in einem IVs stündigen
Marsche Dabari zu erreichen. Noch hatte er soviel Kraft,
um, freilich mit ganz zitternder Schrift, kurze Jtinerarans-
zeichnnngen, Kompaß- und Uhrablesungen niederzuschreiben.
Am 20. Juni schreibt der sterbende Forscher noch „Ruhetag
in Dabari". Um 11 Uhr morgens ist die letzte Körper-
temperatnr mit 38,10 verzeichnet. Am Abend konnte sein
Dolmetscher Hardesty nur noch die Bemerkung hinzufügen:
Doctor died 20 minutes to 8 o’clock. —
In den „Mitteilungen ans den deutschen Schutzgebieten",
welchen auszugsweise diese letzte 9(eise Ludwig Wolfs ent-
nommen ist, findet sich auch noch eine Erörterung über die
von Heinrich Barth angezweifelte Reise des Schotten Dnncan
im Jahre 1845 nach Adafndia und cs wird hier mit Erfolg
an der Hand der Wolfschen Reisen und Erkundigungen fest-
gestellt, daß die Duncansche Reise auf Thatsachen beruht,
wenn auch einzelnes von dem ungebildeten Verfasser er-
dichtet wurde. Für Dnncan spricht, daß ans seiner Karte
ein Fluß Offo vorkommt, der sich bei Dr. Wolf als Ofo
wiederfindet. Fluß- und Bergnamcn haben bekanntlich eine
viel größere Beständigkeit, als Tors- und Landschastsnamen.
Auch manche der von Dr. Wolf erkundigten Ortsnamen
stimmen mit jenen Duncans überein, und ebenso ergiebt sich
zwischen beiden kein Unterschied in den Schilderungen der
Landschaft, die Dnncan ausdrücklich, wie Wolf, als obere
bezeichnet. Duncans Werk ist sonst sehr dürftig in bezug
auf wissenschaftliche Angaben; aber völlig ans der Lust
gegriffen ist seine Route auch nicht, wenn er, der von
„gezähmten Elefanten" redet, auch von Übertreibungen nicht
reingewaschen werden kann. Erst wenn die Route, die
Dnncan bereiste, von einem zuverlässigen Forscher wieder
begangen wird, kann man völlig über seine Glaubwürdigkeit
ins Reine gelangen.
17*
132
Dr. W. hobelt: Ameghinos Forschungen in den argentinischen Pampas.
Ameghinos Forschungen in den argentinischen Pampas.
von Dr. 3D. Aobelt.
Während in der alten Welt die Annahme der Existenz
des Menschen in der Tertiärzeit immer noch auf erbitterten
Widerspruch stößt, kann für Südamerika von Zweifel keine
Rede mehr sein. Die Funde sind zu zahlreich und von zu
verschiedenen kompetenten Forschern gemacht worden und sie
sind vor allen Dingen vielfach schon auch von Gegnern des
Tertiärmenschen anerkannt worden zu einer Zeit, wo man
das Pampeano noch dem Diluvium zurechnen zu können
glaubte i). Nachdem jetzt durch die gründliche Erforschung
der Wirbeltierfauna des Pampeano unwiderruflich dem
Pliocän zugewiesen worden ist, erheben sich freilich allerhand
Widersprüche, aber sie können an den erhaltenen Resultaten
nicht mehr rütteln. Charakteristisch für die Funde ans dem
Pampeano ist, daß in der eigentlichen Ebene um Buenos
Aires die Werkzeuge fast ausschließlich aus Knochen Her-
gestellt sind und man nur ausnahmsweise kleinere Steine
findet, die zum Zurechtschlagen der Knochen gedient haben.
Die Steinarmut des Schwemmlandes erklärt das zur Ge-
nüge. Näher am Gebirge, in der Gegend von Cordoba,
wo es an Steinen nicht fehlte, treten die knöchernen In-
strumente ganz zurück; hier hat der Mensch offenbar sich
vorwiegend mit zurechtgeschlagenen Steinen beholfen. —
Betrachten wir an der Hand Ameghinos die in den ein-
zelnen Horizonten gemachten Funde näher.
Im Piso lujanense, dem oben erwähnten Zwischen-
horizont zwischen Pliocän und Diluvium, sind die Funde
sehr zahlreich. Bei Mercedes, am linken Ufer des de io
Lujän, nahe der Mündung des Arroyo de Frias, fanden
sich in einiger Entfernung voneinander Stücke des Panzers
von Glyptodon, zu zwei Häufchen übereinander geschichtet,
zusammen mit bearbeiteten Zähnen verschiedener Tiere, an-
gebrannten Knochen und zusammengebackener Erde; ferner
zugeschlisfene Knochensplitter, oft am einen Ende mit ein-
geschnittenen Kerben, Knochen von Mastodon, die am einen
Ende ganz glatt gerieben waren, und gespaltene Röhren-
knochen von Wiederkäuern. Mit ihnen gemischt waren
Knochen von Mastodon Humboldtii, Glyptodon typus,
Mylodon sp., Cervus sp. und Lagostomus tricodacty-
lus; von heute noch lebenden Arten fand sich keine Spur.
Nicht weit davon in demselben Thale fanden sich Mastodon-
knochen mit eingeschnittenen Kerben und bearbeitete Stücke
Quarzit, der in diesem Schwemmland sonst völlig fehlt.
Eine andre Lagerstätte mehr flußabwärts, etwa 40 m im
Durchmesser und 2 m mächtig, lieferte ebenfalls eine Masse
i) Anmerkung des Herausgebers. Der Wert der
Entdeckungen Ameghinos über die Verbreitung der Menschen-
spuren in den lötzartigen Ablagerungen Argentiniens dürfte
kaum geschmälert werden, wenn wir darauf hinweisen, das; man
über die Altersstelluug der Schichten der Pamvasformation
durchaus nicht einig ist. Darwin hielt sie für verhältnismäßig
jung; Burmeister rechnete sic dem Diluvium zu, Roth deutete
sie als bis zum Eocän reichend, Branco sprach endlich die uns
am meisten einleuchtende Ansicht aus, Latz die Fauna der unteren
Hälfte dieser Lötzformation ein Entwickelungsstadium darstelle,
das zoologisch demjenigen des europäischen jüngsten Pliocäns
gleichstehe, dem Alter nach aber nicht gleichwertig sei. Die
charakteristischen Säugetierformcn, welche in Europa mit Schluß
der Tertiärzeit erloschen, treten dann erst in Südamerika auf.
Übrigens hält auch Branco den oberen Teil der Pampassorma-
tion für relativ jung. Daß Ameghinos Methode der Alters-
bestimmung dazu führen kann, Steinwerkzeuge lebender Wilden
für diluvial zu erklären, möchten wir nur andeuten.
II.
bearbeiteter Knochen, große Stücke mit zugeschärften Rändern
und gespaltene und am Rande geschliffene Lamellen aus den
Eckzähnen von Mylodon und Toxodon, die offenbar als
Messer gedient hatten. An einer andern Stelle in der
Nähe fanden sich zwei Panzer, einer von Glyptodon, der
andre von Panoclitus, welche statt der Wirbel und Rippen
dieser Tiere Stücke fremder Röhrenknochen und Fragmente
der Eckzähne von Mylodon und Toxodon, wie sie wohl bei
der Herstellung der oben erwähnten Lamellen entstehen konnten,
enthielten. Die Säugetierfauna an allen diesen Fundstellen
bestand ausschließlich aus ausgestorbenen Arten.
Ähnliche Funde von Knochenwerkzeugen wurden an zahl-
reichen andern Punkten gemacht. Besonders wichtig sind
die von Billa de Lujan, wo sich Schichten des Piso
lujanense über zwei Leguas erstrecken. Sie wurden 1860
von Prof. Ramorino entdeckt und seitdem vielfach unter-
sucht. Hier sind gerade die unteren Schichten besonders
reich an Menschenspuren. Es fanden sich hier zahlreiche
Knochen mit Einschnitten und Kerben, auch mit Längs-
schnitten , die offenbar das Spalten erleichtern sollten, die
gewöhnlichen gespaltenen Röhrenknochen der Wiederkäuer,
zerschlagene Schädel, angebrannte Knochen und Kohlenstück-
chen, gespaltene und geschärfte Zähne, überhaupt alle mög-
lichen Formen von Instrumenten aus Knochen, aber nur
ganz wenige Steinwerkzeuge, teils kleine meißelartige oder
keilförmige Stücke, teils größere, kaum bearbeitete Schlag-
ader Wurfsteine. Biele Fundstückc scheinen gerollt und sind
wahrscheinlich aus der Nachbarschaft durch die Regenfluten
in die Lagune geschwemmt worden. Im Winter 1883 bis
1884 wurden auf einer erhöhten Stelle, die bei Hochwasser
heute noch zur Insel wird und gewiß schon damals in
solchen Fällen dem Menschen als Zufluchtsort diente, im
Auftrage der Akademie der Wissenschaften ausgedehnte Nach-
grabungen vorgenommen, welche genau dieselben Gegenstände
ohne eine Spur von Rollung ergaben.
Weitere Funde aus dem obersten Pampeano wurden
bei Azul, bei Bahia blanca itnb am Arroyo de Marcos
Diaz gemacht; sie stimmen mit den oben beschriebenen ganz
überein.
Der nächstfolgende Horizont, das Piso bonaerense,
welches dem oberen Pliocän Europas entspricht, enthält
Menschenspuren nicht allzu sparsam, aber, seiner snbaerischen
Entstehung entsprechend, nicht an einzelnen Punkten zu-
sammengehäuft, wie in den Seeablagerungen des Piso luja-
nense, sondern einzeln hier und da zerstreut. Ameghino
führt deshalb zahlreiche Funde auf. Sein Bruder Carlos
Ameghino entdeckte im Mai 1884 bei Billa de Lujan eine
vom Hochwasser bloßgelegte Feuerstätte in einer Schicht,
welche die Knochen von Hoplophorus ornatus und Glyp-
todon typus enthält. Eine reichere Fundstätte fand Ame-
ghino selbst bei Mercedes, an dem Arroyo de Frias. Der
Bach hat hier das echte rote Pampeano in einer Tiefe von
reichlich 2 in aufgeschlossen. Unter der Dammerde liegt eine
20 cm dicke Thonschicht mit zersetzten Knochen großer Tiere,
dann eine Mergelschicht von etwa 50 cm mit gut erhaltenen
Knochen großer Edentaten, ein roter thoniger Sand mit
Kalkmännchen und Knochen von 60 ein Mächtigkeit, daun
ein sandiger Thon von etwa 55 cm; darunter haben Aus-
grabungen eine etwas festere Thonschicht von 1V2 m Mäch-
tigkeit nachgewiesen. Die Schichten sind nicht scharf ge-
Dr. W. Kobelt: Ameghinos Forschungen in den argentinischen Pampas.
133
schieden, sondern gehen allmählich ineinander über. Gerade
in den unteren Schichten hat Ameghino selbst 1870 einen
Schädel und den größeren Teil der Knochen eines Menschen-
skelettes gesunden, welche er dem Museum in Mailand über-
sandte, wo sic bis heute noch unbeschrieben lagern. Bei
einer drei Jahre später von Pros. Ramorino an derselben
Stelle vorgenommenen Ausgrabung wurden weitere Menschen-
reste gefunden, zusammen mit den gewöhnlichen Artefakten
und den Resten einer Anzahl zweifellos pliocäner Säuge-
tiere (Canis protojubatus, Macrocyon robustus, Cone-
patus mercedensis, Lagostomus debilis, Reitkrodon
fossilis. Hoplophorus ornatus, Equus sp. etc.).
An dem Arroyo Samborombon fand der Sammler
des Nationalmuseums, E. de Carles, ein beinahe voll-
ständiges Menschenskelett in seiner natürlichen Lage, leider
gerade am Schädel, den die Strömung bloßgelegt hatte,
beschädigt; über ihm lagen ein großes Hirschgeweih, welches
das Museum noch besitzt, und ein Kiefer von Scelido-
therium.
Ein weiteres Menschenskelett fand ein sehr eifriger
Sammler, Santiago Roth, bei Pontimelo am Rio de
Arrecife im nördlichen Teil der Provinz Buenos Aires,
und zwar in einem Panzer von Glyptodon, zusammen mit i
einem bearbeiteten Hirschhorn und einer Schale einer Süß-
wassermnschel (Unio?). Nach dem genauen Fundbericht
des Fundes, den Ameghino abdruckt, kann kein Zweifel daran
sein, daß auch dieses Skelett dem oberen Pampeano an-
gehört; zum Überfluß wurde in der allerletzten Zeit noch
ein Menschenschädel ganz in der Nähe ebenfalls im roten
Pampasthon gesunden.
Einen ähnlichen Fund von Menschenknochen hatte schon
1864 der französische Sammler Francois Segnin gemacht.
Es waren Zähne, Phalangen und andre feste Knochen von
anscheinend vier Individuen, welche mit den Resten von
Equus curvidens und Arctotheriun bonaerense zu-
sammen gefunden wurden und sich im Erhaltungszustand
durchaus nicht von diesen Knochen unterschieden. Mastodon,
Megatherium, Lestodon trigonidens, Hydrochocrus
magnus, Neocuryurus rudas, fanden sich in nächster
Nähe in derselben Schicht.
Im Oberpliocän der Provinz Cordoba scheinen Menschen-
spnren noch häufiger zu sein, als in dem von Buenos Aires
und Santa Fe, aber menschliche Knochen haben sich bis jetzt
dort noch nicht gefunden. Ameghino selbst hat die Barrancas
und Wasserrisse dieses Gebietes fünf Monate lang durch-
forscht und zahlreiche Menschcnspurcn gefunden, besonders
verschiedene Feuerstellen, und diese Funde sind, was vielleicht
manches Mißtrauen beseitigen wird, von den deutschen Ge-
lehrten an der Universität von Cordoba, O. und A. Doering, i
Brackebusch, Kurz und Bodenbender, geprüft und verifiziert
worden. Eine der Feuerstellen wurde beim Bau der Eisen-
bahn von Cordoba nach Malagncno bloßgelegt; sie befindet
sich in einem Einschnitt, der etwa 20 rn tief das obere Pam- !
peano bis zum mittleren ausschließt und zwar im unteren
Drittel. Mit den Kohlen und der hartgebrannten Erde
zusammen liegen hier unzählige kleine angebrannte Knochen-
stücke von Toxodon, Mylodon und Glyptodon und zer-
brochene und angebrannte Schalen von Stranßenciern, sowie !
einige gespaltene Röhrenknochen, welche wohl zufällig dem
Kleinschlagen entgingen. Eine andre Feuerstelle am Fuß
einer Barranca in Cordoba selbst lieferte einen ganz ähn-
lichen Befund. Was sich von Knochen noch bestimmen
ließ, gehörte alles ausgestorbenen tertiären Säugetierarten
an. An Artefakten wurden nur zwei bearbeitete Quarzit- !
stücke etwas von der Fcnerstelle entfernt gefunden. Das
mittlere Pliocän ist, wie eingangs erwähnt, marinen Ur-
sprungs und deshalb natürlich arm an Menschenspuren.
Bei Lnjar haben sich gespaltene Knochen zusammen mit
vom Feuer gehärteten Erdbrockcn tief in dem eingcschnittcnen
Flußufer gefunden. Auch bei La Plata traf Ameghino in
einer tiefen Schlucht auf der marinen Schicht ein Lager
von Fischknochen, gemischt mit Kohlen und gebranntem
Thon, in demselben Horizont mit Neoracanthus Burinei-
steri, Scelidotherium Capellini und Eutatus Seguini.
Das untere Pliocän (Pis o c us e n a d e n s e) hatte in
1881 noch keine sicheren Menschenreste geliefert und Amc-
ghino verhielt sich, als er die ersten Berichte über seine
Funde veröffentlichte, gegen den Menschen des unteren Pliocän
noch sehr vorsichtig. Trotzdem hatte er damals schon einen
unzweifelhaften Menschenrest aus jener Zeit in Händen,
eine Anzahl Schneidezähne, welche er 1877 bei Ausgra-
bungen neben der Gasfabrik von Buenos Aires mit andern
Tierresten zusammen gefunden hatte; aber da er damals
das Vorkommen des Menschen in diesen alten Schichten
noch nicht ahnte, schrieb er sie einer Art 'der von Lund auf-
gestellten Affengattung Protopithecus zu, und Protopi-
thecus bonaerensis figuriert daraufhin in dem mit Gervais
gemeinschaftlich herausgegebenen Katalog der fossilen Säuge-
tiere des Pampeano. Durch andre Funde aufmerksam
gemacht, unterwarf Ameghino die Zähne neuerdings noch ein-
mal einer genaueren Prüfung und erkannte sie als unzweifel-
hafte Menschenzähne. 1883 fand Carlo Ameghino in
unzweifelhaftem unteren Pampeano bei Buenos Aires einen
gespaltenen Röhrenknochen, bald auch andre mit Spuren
von Schnitten und Schlägen, und schließlich wurden mit
den Knochen zusammen Stücke gebrannten Thons gefunden,
die jeden Zweifel beseitigten.
Noch viel wichtiger sind die Funde, welche bei der Aus-
grabung des neuen Hafens von La Plata gemacht wurden.
In 1884 fanden die Arbeiter bei der Aushebung des Ver-
bindungskanals zum Meere eine große Masse Knochen; der
beaufsichtigende Beamte ließ sie auf einen Karren laden
und ins Museum schaffen. Man denke sich die Überraschung
der Kustoden, als sich fast alle Knochen angebrannt, zer-
schlagen oder sonstwie von Menschenhand bearbeitet erwiesen.
Die sofortige Untersuchung der Lokalität ergab, daß es sich
um eine tiefe brnnncnartige Einsenkung handelte, deren In-
halt unzweifelhaft dem unteren Pampeano angehörte; der
untere Teil war noch unberührt. Bestimmt werden konnten
folgende Arten: Eelis, eine größere und eine kleinere Art
Arctotherium bonaerense, Dicoelophorus latidens,
Typotherium cristatum, Toxodon ensenadensis, Macr-
auchenia ensenadensis, Hippidion compressidens, Cer-
vus ensenadensis, Palaeolaraa sp., Mastodon platensis,
Megatherium sp., Lestodon sp., Scelidotherium lepto-
cephalum, Sc. Capellini, Neoracanthus platensis, Gry-
potherium sp., Glyptodon Munizi, Panochthus sp.,
Doedicurus clavicaudatus, Propraopns grandis. Natür-
lich wurde sofort ein Museumsbeamtcr als Wachtposten an
die Ausgrabungen beordert. Es wurden eine Anzahl Skelette
von Scelidotherium gefunden, ausnahmslos von jungen
Tieren. Später fand Ameghino selbst einen allerdings un-
bearbeiteten Stein, der aber in diese steinfreie Schichten
nicht gut ohne Hilfe von Menschenhand gekommen sein
konnte, dann auch einen backsteinartig hart gebrannten Thon-
klumpen, und schließlich entdeckte Dr. Christofaletti eine
Hälfte eines Reißzahnes von Srnilodon populator, die
unzweifelhaft von Menschenhand gespalten, am Rande ge-
schärft und so zur Waffe zurecht gemacht worden war. Die
Existenz des Menschen im unteren Pliocän war damit un-
widerleglich dargethan.
Aber das Pliocän ist noch nicht die unterste Grenze
für das Auftreten des Menschen. Im Februar 1887
machte Ameghino eine Reise nach dem südlichen Teile der
134
Dr. W. Kobelt: Ameqhiiios Forschungen in den argentinischen Pampas.
Provinz Buenos Aires, um die Umgebung von Bahia
blanca zu erforschen. Bei dieser Gelegenheit besuchte er
den etwa 60 üm von dort entfernt liegenden Monte
Hermoso, von welchem ihm Reste einer Fauna zugekommen
waren, welche von der des Panipeano total verschieden er-
schien. Er fand dort eine ungemein reiche Säugetierfauna,
welche sich offenbar zwischen die des unteren Panipeano und
die des am Parana anstehenden Oligocän einschiebt und
dieser ähnlicher ist als der pliocänen. Beschäftigt, das
Skelett einer Macrauchenia antiqua bloßzulegen, stieß er
auf einmal auf ein Stück rötlichen Quarzits, das die un-
zweifelhaften Spuren der Bearbeitung durch ein Vernunft-,
begabtes Wesen trug. Bald fanden sich noch einige andre,
und auch der später von der Akademie zur Ausbeutung
dieser Miocänschichten abgesandte Präparator Santiago
Pozzi fand bearbeitete Steine zusammen mit den Knochen
von Doedicurus antiqmis. Daß sich auch gespaltene
Röhrenknochen und'Spuren von Feuerstätten gefunden, sagt
Ameghino in diesem Fundbericht nicht. Aber wenige Zeilen
später, nachdem er die Funde von Anrillac und am Tajo
erwähnt hat, sagt er: „Aber im Monte Hermoso giebt es
noch etwas Weiteres, was sich bis jetzt in den europäischen
Miocänschichten noch nicht gefunden hat; das gleichzeitige
Vorkommen dieser Gegenstände (d. h. der bearbeiteten Steine)
und längsgefpaltener großer Röhrenknochen, sowie angebrann-
ter andrer Knochen, und die Existenz von Feuerstätten in
verschiedenen Horizonten dieser Schichten, in welchen die
Erde durch die Einwirkung des Feuers zu Backstein ge-
brannt und fast verglast worden ist, während in der ganzen
Formation weder Torf noch Lignit noch sonst ein brennbarer
Stoff vorhanden ist, der zufällig hätte in Brand geraten
können, Fenersbrünste, welche sich mit der fortschreitenden
Ablagerung mehrmals hätten wiederholen müssen. Und
dann diese Feuerstätten, ein sehr seltener Zufall, sind ver-
gesellschaftet mit angebrannten Knochen, die eine so hohe
Temperatur ausgehalten haben, daß nur in den gebackenen
Erdklumpen sich im Innern kugelige Hohlräume bildeten,
bedingt durch die Ausdehnung der eingeschlossenen Luft oder
die Entwickelung von Gasen durch die Einwirkung der Ver-
brennung." — Gerade hier wäre die allerschärfste und
klarste Ausdrucksweise unbedingt nötig gewesen, denn gerade
dieser Fund wird am schärfsten bestritten werden.
„Wie hat der Mensch in der Tertiärzeit, wo er noch
beinahe aller Verteidignngsmittel bar war, sich überhaupt
erhallen können? Im Walde konnte er sich auf die Bäume
flüchten und sich in deren Wipfeln Hütten bauen, in steini-
gen Gegenden konnte er sich Zufluchtsstätten ans zusammen-
getragenen Steinen schaffen, in den Gebirgen fand er Schutz
in Höhlen. Aber in den Ebenen der Pampas, wo es weder
Höhlen, noch Steine, noch Bäume gab? wie schützte sich der
Mensch vor den Angriffen der wilden Tiere und wo ruhte
er nachts von den Anstrengungen des Tages ans?"
Das sind gewiß berechtigte Fragen. Eine Reihe glück-
licher Funde und Beobachtungen hat darauf eine sehr uner-
wartete Antwort gegeben. Schon 1869 hatte Ameghino
bei Lujan mehrfach den Panzer des riesigen Glyptodon ge-
funden, bald auf der Bauchseite, bald auch auf dem Rücken
oder auf einer Seite liegend, in Positionen, die an sich schon
ausfallend waren. Noch sonderbarer aber war, daß diese
Panzer im Innern nicht etwa die zugehörigen Skeletteile
von Glyptodon enthielten, obwohl diese von selbst gar nicht
herausfallen können, sondern Knochen andrer Tiere, ge-
spaltene Röhrenknochen von Wiederkäuern, während in der
Umgebung eben solche Knochen, mit Kohlenstücken und Stein-
splittern vermischt, lagen. Ähnliche Beobachtungen sind
mehrfach auch bei Mercedes und an andern Stellen der
Provinz Buenos Aires gemacht worden. Im Jahre 1876
fand Ameghino selbst bei Mercedes den Panzer eines Pa-
nochtns aufrecht gestellt, mit der vorderen Öffnung nach
unten, mit der hinteren nach oben, so daß der Bauchspalt
eine Art Thür bildete; Schädel, Unterkiefer und Atlas lagen
in der Nähe, der Panzer selbst enthielt keine Knochen, aber
in ihm lag auf der Erde ein Stück Hirschgeweih. —, Kurze
Zeit darauf grub er bei Olivera mitten in der Ebene einen
ebenso gestellten Panochtus-Panzer auf, in dem sich Feuer-
spuren und einzelne Stücke eines andern Panzers fanden.
Der wichtigste Fund aber wurde bei Paso del Eanon,
eine Stunde östlich von Mercedes, gemacht, in der Nähe eines
der früher erwähnten Fundstätte von Mcnschcnrcstcn. Hier
grub Ameghino selbst einen Panochtus-Panzer ans, der mit
der Bauchöffnung nach unten, dem Rücken nach oben in der
Erde lag; er richte auf einer deutlich erkennbaren härteren
Fläche, offenbar der alten Bodenoberflüche, die in seinem
Schutz erhalten geblieben war. Um ihn herum lagen Kohlen,
Asche, angebrannte und zerschlagene Knochen und ein paar
Kieselsteine. Bei der Untersuchung erwies sich der Panzer
leer, aber er bedeckte eine Höhlung im Boden, in welcher
sich ein Gerät aus Quarzit, gespaltene Knochen von Hirsch
und Guanaco, Stücke von Hirschhorn und gespaltene und
am Rande geschärfte Eckzähne von Toxodon und Mylodon
befanden. Dieser Fund — wir erinnern nochmals daran,
daß die Pampasformation kein Schwemmgebilde, sondern
eine subaerische Formation ist — ließ nur eine Deutung
zu: Der Mensch der Pliocänzeit hatte sich den Panzer des
toten Riescngürteltiercs ausgeleert und zur Wohnung ein-
gerichtet, und um etwas mehr Raum zu gewinnen, hatte er
die Erde unter demselben ausgehöhlt. Solche Panzer haben
nach Burmeistcr eine Länge von 1,54 in, eine Breite von
1,32 m und eine Höhe von 1,05 in; wurde der Boden dar-
unter noch etwas herausgekratzt, so gab das einen Raum von
iy2m Höhe, der gegen die Elemente wie gegen die Angriffe
wilder Tiere völligen Schutz gewährte. Die Hütten vieler
heute lebenden Wilden und — fügen wir hinzu — die
Kabinen vieler Matrosen sind nicht so geräumig.
Ähnliche Beobachtungen hat auch Roth gemacht; er
glaubte zu bemerken, daß die aufrecht gestellten Panzer immer
so gerichtet waren, daß der Rückenschild dem gefürchteten
Pampassturm entgegengedreht war. — Die Gürteltiere
lieferten dem Menschen aber nicht nur Zufluchtsstätten,
sondern offenbar auch Nahrung. Panzer, die von Menschen-
hand zerschlagen sind, sind gar nicht selten. Carlos Amc-
ghino fand bei Jauregni eine Schale, welche genau in der
Rückenlinie halbiert war; sie enthielt noch einige Rippenrcste
und war außen vom Feuer geschwärzt und angebrannt.
Der Tertiärmensch hatte das Fleisch des Tieres offenbar
in dein Panzer gebraten. Es ist von sehr großem Interesse,
daß der Gaucho, der heutige Bewohner der Pampas, die
kleinen Nachkommen der riesigen Gürteltiere, die Armadillos,
genau in derselben Weise zubereitet und daß ihm und auch
andern Weißen ein solcher „asado con cuero“ als größter
Leckerbissen gilt.
Ein äußerst interessanter Fund wurde ine Juli 1885
bei Villa de Lujan gemacht. Das Hochwasser eines
Baches hatte Teile eines Skelettes von Megatherhun
bloßgelegt. Kopf und Vorderhälfte waren vom Wasser
fortgeführt, der Nest lag noch tut Boden eingebettet und
wurde sorgsam ausgegrabcn. Die oberen Rückenteile, die
Wirbelsäule und die Rippen waren zerstört und die Knochen
lagen zerbrochen mit Einschnitten und Ritzen bedeckt, un-
regelmäßig durcheinander gemengt und in einer Gesamt-
müchtigkeit von 60 cm mit Asche- und Kohlenschichten ge-
mischt.' Tiefer unten waren die Knochen wohl erhalten und
namentlich die der einen Extremität noch in ihrer natürlichen
Lage und Verbindung. Die Beschaffenheit der Umgebung
135
Dr. W. Kobelt: Ameghinos Forschn
bewies, daß cs sich hier um ein tiefes Sumpfloch handelte;
das riesige Faultier war offenbar auf der Flucht oder durch
irgend einen Zufall hineingeraten und stecken geblieben, und
der Mensch hatte sich das zu Nutze gemacht, Feuer auf der
ungeheuren Fleischmasse angezündet und so viel als ihm er-
reichbar war, geröstet und verspeist.
Die Pampas von Buenos Aires waren zur Pliocänzcit
flache, sumpfige Ebenen, einen Teil des Jahres hindurch
überschwemmt; der Mensch hauste in ihnen jedenfalls in
kleinen Trupps und jagte die Wiederkäuer, Lamas, Gua-
nacos, Hirsche, die Pferde und die kleinen Nagetiere, aber er
wagte sich auch gelegentlich an die Riesentiere der damaligen
Zeit, an die Glyptodonten, das Megatherium, das Mastodon.
Ob er Kannibale gewesen, steht dahin; jedenfalls widmete
er den Leichen keine besondere Sorgfalt, denn man findet die
Menschenknochen meistens unordentlich mit denen andrer
Tiere gemischt.
Die Untersuchung der erhaltenen menschlichen Skelett-
reste erfordert große Vorsicht, denn während im Anfang die
meisten Sammler die Existenz des Tertiärmenschen leug-
neten, will jetzt jeder Reste von ihm besitzen und hat
sich, wie immer, in dieser Hinsicht eine förmliche Fälscher-
indnstric entwickelt. Es bedarf deshalb in jedem einzelnen
Falle einer sehr genauen Untersuchung der betreffenden
Schädel und besonders der chemischen Zusammensetzung
ihrer Knochen.
Von großem Interesse ist, was Ameghino über den be-
rühmten Schädel sagt, den Lund mit den Resten nusgc-
storbener, aber auch lebender Tiere zusammen in der Höhle
da lagoa do Soumidouro an der Lagoa Santa in ^'üd-
Brasilien fand. Derselbe wird im Museum von Rio do
Janeiro aufbewahrt und ist neuerdings von den Herren
Laeerda und Peiroto genauer untersucht und beschrieben
worden. Er ist auffallend dolichokephal mit einem Index
von nur 69,72, stark akrocephal, wie die meisten amerika-
nischen Schädel, aber platyrhin mit einem Nasalindex von
53,33. Die Schädelwände sind ausfallend stell, drc Stirne
schmal und sehr flach, die Jochbeine vorspringend, das
Hinterhaupt fast senkrecht abgeflacht. Der Kubikinhalt be-
trägt 1388 ccm. Der Schädel hat alle Kennzeichen der
amerikanischen Rasse, er gleicht denen der Eskimos, aber
noch mehr denen der heutigen Botokuden. llber fern Alter
läßt sich aus Lunds Fundbericht nichts Sicheres entnehmen;
derselbe sagt nur, daß er in seiner Beschaffenheit ganz den
mit ihm zusammen gefundenen Tierknochen gleich gewesen
sei. Nun liegen aber in den Knochenhöhlen bcv Lagoa
Santa die Reste zweier Faunen von sehr verschiedenem
Alter übereinander, und da dieselben zeitweisen llber slutungcn
ausgesetzt sind, stellenweise auch durcheinander: Smilodon,
Platyonyx,Megatherium, Hoplophorus einerseits,Ily dio-
choerus, Guanaco, Equus rectidens und andre Diere
des jüngsten Diluviums andrerseits. Zu welcher der beiden
Faunen der Menschenschädel gehörte, ließ sich seither nicht
bestimmen. Ameghino ist in der glücklichen Lage, eine Ent-
scheidung zu geben. Bei der genaueren Untersuchung des
Schädels bemerkte er an demselben eine große Wunde, welche
wahrscheinlich den Tod des Individuums herbeigeführt hat.
Die Wunde ist so scharfkantig und so regelmäßig geformt,
daß sie nur mit einem regelmäßig gestalteten und sehr-
scharfen, polierten Werkzeug geschlagen worden sein kann,
z. B. mit einem Steinbeil, wie es sich in den Sambaquis,
den Küchenabfällen an der Küste, nicht selten findet. Die
Menschenrcste aus den Höhlen können also frühestens aus der
späteren Diluvialzeit stammen.
Die in Argentinien gefundenen Schädel aus der meso-
lithischen Periode harren im Museum von Buenos Aires
noch der gründlichen Durcharbeitung, doch hat sie Ameghino i
ngen in ben argentinischen Pampas.
prüfen und messen können. Die Reste von Cordoba sind
dolichokephal, wie die vom Rio Negro, welche Moreno
gefunden und Topinard untersucht hat; ihre auffallende
Dickschaligkeit erinnert an den Ncanderthaler. Die vom Rio
negro fand Topinard den Eskimoschädeln sehr ähnlich; viele
zeigen Spuren einer beginnenden Deformation, wie die der
Aimaras; sie sind dünnwandiger und gehören allem Anschein
nach doch einer andern Rasse an, an welche sich der Luudsche
Schädel unmittelbar anschließt.
Die Pliocänskelette harren leider auch immer noch
genauerer Untersuchung; das eine, von Ameghino selbst im
Anfang seiner Forscherthätigkeit gefundene, liegt anscheinend
unbeachtet im Museo civico in Mailand; aus seinen Notizen
kann der Finder nur entnehmen, daß das Skelett klein, der
Schädel sehr dolichokephal, die Stirn niedrig waren und die
Zähne fast horizontal abstanden. Später an derselben Stelle
gefundene und vielleicht noch zu demselben Skelett gehörende
Knochen wurden von Broea untersucht; es waren ein Stück
des linken 08 iliacum, anscheinend einem alten Weibe an-
gehörend, in der Gelenkpfanne mit Spuren von Arthritis
sicca; vier ganze und mehrere zerbrochene Wirbel, zwölf
teils ganze, teils zerbrochene Rippen, eine Anzahl Hand- und
Fußknochen und ein Schneidezahn; alle sind auffallend klein
und haben anscheinend derselben alten Frau angehört, deren
Größe sicher unter 1 HI m betragen hat. Von dem zweiten,
von Roth gefundenen Skelett sind bis jetzt nur Photo-
graphieen des Schädels bekannt geworden, nach welchen
Birchow denselben mit den Calchaquis und den brachy-
kephalen Schädeln aus den brasilianischen Sambaguis in
Parallele stellt. — Auch das dritte Skelett befindet sich noch
unbeschrieben in den Händen seines, wie es scheint etwas
spekulativ veranlagten Entdeckers. Ameghino hat cs wenig-
stens flüchtig untersuchen können. Auch dieses Individuum
war klein, cs hatte 18 Rücken-Lendenwirbel, also einen mehr
als die heutigen Menschen, und im Sternum eine Perforation,
zwei Erscheinungen, die heute beim Menschen nur sehr selten
und wohl niemals zusammen zur Beobachtung kommen.
Der völlig erhaltene Unterkiefer ist stark und massiv, und
gehört offenbar zu einem brachykcphalen Schädel.
Dagegen ist ein andrer Schädel aus derselben Gegend,
von dem Ameghino eine Abbildung giebt, ausgesprochen
dolichokephal mit einem Index von etwa 75, hypsosteno-
kephal, wie^die meisten amerikanischen Schädel, mit schmaler,
niedriger Stirn, vorspringenden Branenbogcn und starken
Schlüfenleisten.. Er gehört offenbar einer andern Rasse
an und es ist eine sehr interessante Thatsache, daß wir schon
im mittleren Pliocän in einer und derselben Gegend und
in derselben Epoche die beiden Hauptschädeltypen nebenein-
ander finden. Die Hoffnung, durch Schädelmcssuugeu die
einzelnen Menschenrassen zu umgrenzen und ihre Verwandt-
schaft untereinander festzustellen, wird dadurch nicht gerade
gestärkt.
Jedenfalls geht aus Ameghinos Funden unzweifelhaft
hervor, daß schon in der frühen Tertiärzeit in den Pampas
des heutigen Argentiniens Wesen lebten, welche dem Menschen
in allen Hauptpunkten glichen, das Feuer kannten und zu
benutzen wußten und sich Werkzeuge bereiteten. Ob man
sie zu derselben Spezies Homo sapiens rechnen soll, wie
uns, oder ob man, weil alle pliocänen Tiere andern Arten
angehören, wie die heutigen — was aber z. B. für die
^üßwassermollusken nicht durchaus gilt —, für sie eine
neue Spezies Homo pliocenicus errichten soll, gekennzeichnet
diirch kleine Statur, dreizehn Rückenwirbel und perforiertes
Sternum, ist am Ende gleichgültig. Ebenso hat es keine
weitere Bedeutung, ob wir, ans die Analogie der Säuge-
tiersanna gestützt, das Geschöpf, welches die Kieselsteine im
i Araucano des Monte hermoso zurechtschlng, einer eigenen
136
Dr. H. Nepsold: Die Basaliinsel Sta'fsa^
Gattung zurechnen wollen, ob dem Antllropopitllecus Funde festgestellt haben, daß die Wurzeln der Gattung
Mortillet oder, weil alle Miocängattungen Südamerikas llomo tief ins Miocän zurückreichen und daß unsre Vor-
nan den europäischen verschieden sind, einem Anthropo- fahren dort schon als vernunftbegabte Wesen, als Alen-
morphus Ameghino. Die Hauptsache ist, daß Ameghinos scheu, erscheinen.
Die Basaltinsel Staffa.
Don Dr. i). Repsold. London.
Das Städtchen Stolpcn bei Pirna in Sachsen verdankt
seinen Namen dem slavischen Worte sloup oder slup, was
Säule oder Pfeiler bedeutet. Als Ursache für diese un-
zweifelhaft richtige Etymologie müssen die schönen Basalt-
säulen betrachtet werden, die in der Nähe Stolpcns vor-
kommen. Ganz derselben Ursache verdankt auch die schottische
Insel Staffa ihren Namen, ihren wunderbar schön und
regelmäßig entwickelten Basaltsänlen. Nur stammt derselbe
hier aus der skandinavischen Sprache, hängt mit unserm
„Stab" zusammen und bedeutet Stabinsel. Der Name ist,
wie noch mancher andre skandinavische dort im Norden, ein
Zeugnis von der Herrschaft Harald Harfagars (9. Jahr.),
der von Norwegen aus die Häuptlinge der Hebriden einsetzte.
Wenn ich hier die hundertmal beschriebene Insel aber-
mals kurz zur Darstellung bringe, so möge dieses mit den
mangelhaften Abbildungen entschuldigt werden, die bis heute
sich in Lehrbüchern und andern volkstümlichen Schriften finden;
eine von der andern kopiert, verschlechtert und oft bis zur
Staffa von Süden, rechts Buachaille.
Undeutlichkeit entstellt. Neuerdings sind gute Photographiern
der Insel in Schottland zu haben; allein so scharf sie auch
für einzelne Partieen ausgefallen sind, genügen sie doch häufig
nicht, wenn es sich darum handelt, den geologischen Bau der
Insel zur Anschauung zu bringen. Die hier mitgeteilten
Ausnahmen, an Ort und Stelle nach der Natur gezeichnet,
geben uns ein durchaus getreues Bild und lassen die geolo-
gische Bildung der Stabinsel deutlich erkennen.
Staffa ist leicht zu erreichen, wenn auch nicht immer
leicht zu betreten, da die gewaltige Brandung des Atlantischen
Ozeans häufig das Landen verhindert. Ist das Wetter gut,
so ist von Oban an der schottischen Westküste die Reise eine
bequeme Tagesfahrt aus trefflich eingerichtetem Dampfer,
wobei man noch das benachbarte Jona, einen alten Kultursitz,
von dem das Christentum nach Schottland eingeführt wurde,
zu sehen bekommt. Ich habe bei zweimaligem Besuche stets
gutes Wetter getroffen.
Ich lasse die touristische Schilderung der Insel hier ganz
beiseite, da diese zu oft schon geboten wurde und neues
sich hier schwerlich sagen läßt. Dagegen möchte ich die uatur-
wissenschaftliche Beschreibung in den Vordergrund stellen.
Bekannt für die Welt ist Staffa erst wenig länger als hundert
Jahre, denn erst im Jahre 1772 entdeckte sie, welche bis
dahin nur den gaelischen Bewohnern der Hebriden bekannt
war, der englische Naturforscher Sir Joseph Banks, derselbe,
dessen Name in der Geschichte der Erdkunde als Reise-
begleiter Cooks und Gründer der African Society von
bleibender Geltung sein wird. Staffa ist von unregelmäßig
eiförmiger Gestalt und hat eine Längenausdehnung von
2 km; ihr höchster Punkt liegt im Südwesten 47 m über
dem Meeresspiegel. Sie ist völlig unbewohnt und hat
nur gelegentlich als Weide gedient; doch war es stets mit
Schwierigkeiten verknüpft, das Rindvieh oder die Schafe aus
den Gipfel der Insel zu bringen. So ist sie jetzt nur von
Seevögeln bevölkert, unter denen die Scharbe (Kormoran,
Phalacrocorax) der hervorragendste ist. Wie aus den übrigen
schottischen Westeilanden fehlt auch auf Staffa Baumwuchs;
der Gipfel, oder sagen wir besser die Decke der Insel ist
mit Grasnarbe bedeckt, zwischen der Heidekraut, Sumpfwcide
(Salix Lapponum) und Rosenwurz (Rodiola rosea) ihren
Platz gefunden haben, alles Pflanzen, die auch auf den
Nachbarinjelu vorkommen.
Dr. H. Repsold: Die Basaltiusel Stasfa.
137
Die geologischen Verhältnisse Stafsas liegen klar zu
Tage und lassen sich ablesen wie aus einem Buche; auch sie
sind, als klassisches Vorkommen des Basaltes, wiederholt be-
schrieben worden, am eingehendsten wohl von F. Zirkel im
23. Bande der „Zeitschrift der deutschen geologischen Gesell-
schaft" und an ihn schließe ich mich vielfach in nachstehendem
an, da ich selbst Besseres nicht zu bieten vermag.
Am besten erkennt man die Architektur Stafsas von
der Südseite her, die auch in der kleinen Abbildung hier
wiedergegeben ist. Deutlich sind zwei Abteilungen des
Basaltes zu erkennen, während eine dritte, die Grundlage
der Insel, hier noch verborgen bleibt. Die mittlere Ab-
teilung (auf denl kleinen Bilde die untere) besteht aus den
herrlichen senkrechten Säulen, die der Insel den Rainen
gaben, und in denen der Eingang zur Fingalshöhle zu be-
merken ist. Über diesen Säulen liegt gleichsam als Dach
eine schwere, unförmliche und mächtige, durchschnittlich 10 m
hohe Lage von massigem Basalt, ein nngestalter Gegensatz
zu den zierlichen Säulen.
Die untere, hier nicht sichtbare Abteilung des Bauwerks
von Stafsa kommt erst im Westen der Insel zur Erscheinung.
Hier können wir den wohlgeschichteten Tuff und das Konglo-
merat deutlich unterscheiden, aus dem das ganze ruht. Mit
einer geringen Steigung von ungefähr 9" nach Osten
einfallend taucht sie allmählich nach dieser Richtung in das
Wasser ein und verschwindet unter den Säulen. Da wo
das Konglomerat im Westen am höchsten hervorragt, liegt
seine oberste Grenzfläche, die mehr oder weniger eben ver-
läuft, etwa 17 m über dem mittleren Meeresspiegel. Die
Grenze zwischen den beiden oberen Ablagerungen, also zwischen
den Säulen und dem massigen Basalt der Decke, ist nicht
gleichmäßig; sie buchtet bald nach oben, bald nach unten aus,
so daß naturgemäß die Säulen ungleich lang sind. Im
großen und ganzen folgt sie aber doch der nach Osten
Staffa vom Gipfel ans, Blick nach Norden.
gerichteten Neigung der unteren Tufsschichten, und so kommt
es dann, daß nach dieser Gegend zu die Säulen gleichfalls
immer niedriger werden und die obere Basaltdecke sich schief
zum Wasserspiegel herabscnkt. An der Südostspitze kommt 1
letztere in dem Maße zum Vorwiegen, daß nur sehr niedrige
Säulen noch unter ihr stehen.
So der allgemeine Ban der Insel. Betreten wir die-
selbe nun an ihrem südlichen Rande, wo die abgesonderten
Basaltsäulen uns am schönsten entgegentreten, in der That
klassische Exemplare ihrer Art, außer an der Faxade noch
in verschiedenen Höhlen leicht zugängig, unter denen die viel-
genannte Fingalshöhle nur die bedeutendste ist. Im Süd-
osten treffen wir zuerst ans Clamshell-Cove. Mit Elamshell
bezeichnet man hier eine mit starken Rippjm versehene Muschel,
daher der Name, denn diese „Höhle" ist eigentlich nur ezn
tiefer Riß in das Fleisch der Insel, an den Seiten mit
mächtigen Basaltrippen, die hier nicht senkrecht stehen, sondern
gekrümmt sind wie das Gezimmer eines ungeheuren Schisss-
bauches. Zn diesen „Rippen" gesellen sich an andern
Globus LIX. Nr. 9.
Stellen des Risses noch Säulen in andern Stellungen und
Lagen. Nach dem Meere zu erscheint eine Gruppe, deren
Säulen von der Achse aus nach entgegengesetzten Richtungen
auseinander gehen, wie die Fahne einer Feder. Und um
das mannichfaltige Bild noch zu vervollständigen, gewahrt
man die gegenüberliegende, etwa 10 m hohe Wand des weit
aufgesperrten Schlundes, gleichsam gepflastert mit regel-
mäßigen sechseckigen Platten, den abgebrochenen Enden mehr
oder minder wagerecht gelagerten Säulen. „Kein Bienen-
schwarm kann mit größerer Regelmäßigkeit seine Honigwaben
bauen, als sie hier der sich zerklüftende Basalt eingehalten
hat," sagt Zirkel mit Recht. Alle diese verschiedenen Rich-
tungen der Basaltsäulen sind ans engem Raum hart an-
einander gedrängt, ohne daß sich eine gesetzmäßige Anordnung
ermitteln ließe, welche sie gemeinsam beherrscht. Dieses
regellose Durcheinander der einzelnen Säulengruppen macht
sich noch auch an andern Stellen Stafsas bemerklich. Der
Riß der Clamshell-Cove zieht sich, allmählich schmaler
werdend, im ganzen 40 m landeinwärts; die hintersten
18
138
Dr. H. Repsold: Die Basaltinsel Staffa.
Kluftwände, größtenteils mit Schutt bedeckt, weisen aber
nichts bemerkenswertes mehr auf.
Bezeichnet Clamshell-Cove den interessantesten Punkt des
Südostens, so ist der Südabfall der Insel mit seiner über-
wältigenden Säulenfrout die hervorragendste Erscheinung
ganz Staffas zu nennen; in ihm breitet sich auch die Fingals-
höhle ans. Diese herrliche Säulenfront ist mit der er-
wähnten Lage ungestalten Basaltes überdeckt, die durch ihre
drückende Schwerfälligkeit und Unsörmlichkeit die Einheit
der schlank auf-
schießenden Säu-
len noch mehr
hervortreten läßt.
Diese Säulen sind
meistens fünf-
flächig und sechs-
flächig, seltener
dreiflächig; die
stärksten haben
Zeinen Durch-
messer von etwa
60 cm. Neben
der säulenförmi-
gen Absonderung
zeigen diese
schwarzen Basalt-
säulen aber häufig
noch ein andres
Strukturverhält -
nis, nämlich eine
Quergliederung,
derzufolge die
Säulen in lau-
ter einzeln auf-
einander stehende
Stücke zerfallen,
wie die sogenann-
ten „Trommeln"
der architektoni-
schen Säulen.
Die Trennungs-
flächen der einzel-
nen Glieder sind
meist eben, recht-
winklig, die Säu-
len durchsetzend,
seltener einerseits
konkav, andrer-
seits, genau hin-
einpassend, kon-
vex. Zwischen der
brandenden, hoch
an den Säulen
aufschäumenden
See und der herr-
lichen Front zieht
sich eine geneigte
schmale Küste hin, gebildet durch die Enden abgebrochener
und abgewascheuer Säulen, die einer kunstvollen Pflasterung
gleichen.
An der Südseite der Insel ist, wie bemerkt, die Grund-
lage derselben, aus der die Säulen stehen, nicht zu bemerken.
Diese liegt hier unter dem Meeresspiegel und tritt erst weiter
im Westen hervor; die Säulen bauen sich also, abgesehen
von dem schmalen Küstensaume, unmittelbar aus dem Meere
auf. Im allgemeinen stehen sie senkrecht, wenigstens für
den oberflächlichen Blick; da aber die Tuffablagerung, die
Fingalshöhle. Ansicht vou Innen
ihnen zur Grundlage dient, etwas geneigt ist, so folgen die
Säulen dieser Neigung in der Richtung nach Osten. Diese
geringe Neigung stört aber keineswegs die regelmäßige Har-
monie des Bildes; sie ist, wenn man vor den Säulen steht,
auch nicht bemerkbar und wird erst in der Entfernung vom
Meere aus schwach sichtbar.
In diesem majestätischen Säulenwalde der Südseite nun
öffnet sich die großartige Pforte der Fingalshöhle, „der
Tempel, der nicht von Menschenhand erbaut wurde". Der
Name ist modern
und erst seit den
Macphcrson-
schen Ossiandich-
tungcn aufgekom-
men, indem man
den Helden Fin-
gal hier seinen
Aufenthalt neh-
men ließ. Durch
den weitgeösfne-
tcn Thorbogen des
Naturwunders
blicken wir in die
aus schwarzen
Säulen gebildete,
luftig gewölbte
Höhle, deren Flur
der Ozean Jahr
aus Jahr ein flu-
tend und ebbend
durchbrandet,
um grollend mit
eigentümlichem
Widerhall an die
Pfeiler zu schla-
gen — ein sonder-
barer Ton, wel-
cher der Höhle bei
den gaelischcnHe-
bridenbewohneru
den Namen der
musikalischen
(Uaimb Bhinn)
eingetragen hat.
An der einen Seite
ist ein Seil bis
zum tiefsten Punkt
hingezogen und
mit Hilfe dessel-
ben kann man bis
auf den Grund
der Höhle gelan-
gen. An sehr ruhi-
gen Tagen ist es
auch möglich, die-
selbe mit einem
Bote zu beschissen.
Wenn auch die Basaltsäulen nicht alle gleich geformt
sind und oft die eine vor der andern hervortritt, so ist doch
der Gesamteindrnck der beiden Wände vom Hintergründe
aus ein ziemlich gleichmäßiger, wiewohl nach hinten zu die
Höhle schmaler wird. Stolz steigen die Säulen etwa 20 m
senkrecht in die Höhe. Das Licht, das von vorn eindringt,
wird an den Kanten der Säulen vielfach gebrochen und die
Schatten, welche durch einzelne Vorsprünge entstehen, bringen
eine magische Wirkung hervor. Die Decke scheint im Spitz-
bogcnstile gewölbt zu sein und doch besteht sie nur aus den
Prof. F. Blumentritt: Spanisch-Guinea.
139
herabragenden, abgebrochenen Enden der sechseckigen, in der
massigen Decke festsitzenden Säulen. Die Maßverhältnisse
der Höhle, die in einem harmonischen Zusammenhange stehen,
bewirken die täuschende Ähnlichkeit mit einem Dome. Nach
einer älteren, aber sorgfältigen Messung aus dem Jahre
1819 von Dr. Mc Culloch sind die Verhältnisse folgende:
Höhe vom Wasserspiegel bei mittlerer Flut bis zur Wölbung
20 m; Breite der Höhle am Eingang 12,5 m; Breite der-
selben im Hintergründe 6,4 m; Gesamtlänge 69 m. Die
große Regelmäßigkeit des ganzen, die Harmonie der Ver-
hältnisse und die Ähnlichkeit mit einem Bauwerke, diese
sind es, welche vor andren Höhlen die Fingalshöhle aus-
zeichnen. Und unten in ihr braust mit eigentümlichem Wider-
hall das flüssige Weltmeer als seltsamer Gegensatz zu den
starren, schwarzen Säulen.
Was die übrigen durch die Gewalt des Meeres in der
Insel ausgewaschenen Höhlen betrifft, so mag sich keine mit
der Fingalshöhle zu messen. Die Bootshöhle im Westen der
Fingalshöhle ist ein niedriger Tunnel von 5 m Höhe bei nur
4 m Breite, aber 46 m lang. Sie ist nur mit einem Boote
zugängig, daher der Name. Liegt die Bootshöhle noch inner-
halb des abgesonderten Basalts, innerhalb der Säulen, so
dehnt sich die große, der Fingalshöhle, was die Verhältnisse
betrifft, am nächsten stehende Mac Kinnon-Höhle in der unter-
sten Lage der Insel aus, in den Basalttnsfen und Conglo-
meraten. Sie wird auch nach den hier hausenden Kormo-
ranen benannt, ist 16 m hoch, säst ebenso breit und 70 m
lang, da ihr aber jede Säulenabsonderung fehlt, so ist sie
von geringem Interesse.
Noch ist wegen seiner schönen Säulen das zu Staffa
gehörige, nahe dem Eingang der Fingalshöhle gelegene Jnsel-
chen zu erwähnen, welches den Namen Buachaille führt,
ein gaelisches Wort, welches „Hirt" bedeutet, denn dieses
winzige Eiland hütet gleichsam den Eingang zur Fingals-
höhle. Das Jnselchen ist nur ungefähr 10 m hoch und
gewöhnlich von der tosenden Brandung überschäumt, die
ungebrochen in voller Kraft über den Atlantischen Ozean
daherbricht. Das Bemerkenswerte am „Hirt" sind seine
überaus zierlichen und seinen Basaltsäulen, aus denen er
besteht und die sich nicht, wie an der Südseite Stasfas, senk-
rccht erheben, sondern einen Kegel bilden, wie die Holzscheite,
die um den Quendelpfahl eines Kohlenmeilers herum kunst-
voll aufgeschichtet sind.
Bei dem großen Unterschiede, welchen die beiden oberen
Abteilungen der Insel, die massige Basaltdecke und die ab-
gesonderten Säulen, zeigen, hat man wohl die Ansicht aus-
gesprochen, daß cs sich hier um zwei verschiedenalterige,
unabhängige, übereinander hergeflossene Basaltströme handle.
Allein diese Ansicht ist, wie Zirkel gezeigt hat, eine irrige.
Ist auch an einigen Punkten 'die massige Decke ziemlich
scharf von dem Säulenbasalt getrennt, so giebt es doch zahl-
reiche andre, wo ein ganz allmählicher Übergang zwischen
beiden stattfindet. Überdies entbehrt der hangende Teil keines-
wegs völlig der Absonderung, nur geht diese nicht durch
und durch, tritt bloß stellenweise auf und ist dann unver-
gleichlich regelloser. Der höchste Teil der Decke, also die
Oberfläche des Eilands, ist jedenfalls noch am besten abge-
sondert. Der ganze, den fundamentalen Tufsschichten auf-
gelagerte Basaltkörper Stasfas bildet daher nach Zirkel eine
einheitliche Masse, welche in ihrer unteren Abteilung in
jene regelmäßigen Säulen zerspaltet und in ihrem ehemaligen
obersten Teile auch vcrnmtlich früher mit Säulen ausge-
stattet war, während jetzt durch Denudation die ursprüng-
liche Oberfläche bis zur mittleren, nur wenig oder gar nicht
abgesonderten Partie erniedrigt ist.
Die mineralogische Untersuchung unterstützt diese Ansicht.
Wenn schon die ganz homogen erscheinenden, tief grau-
schwarzen Handstücke der Säulen und. der oberen Masse sich
völlig gleichen, so erweisen die Dünnschliffe Zirkels, daß
auch in der mikroskopischen Zusammensetzung ein Unterschied
durchaus nicht vorhanden ist. Alle bestehen aus hübsch ge-
streiftem Feldspat, blaßgrünlichgelben oder etwas dunklen
Augitcn in kurzen Säulen und unregelmäßigen Körnern,
opakem Magnet- und Titaneisen, sowie recht reichlichem, auf
Klüstchcn und am Saume schwärzlichgrün serpcntinisiertcm
Olivin. Sie zeichnen sich durch das Fehlen einer amorphen
Grundmasse aus, scheinen auch keine Spur von Glas zu
enthalten. Indem dabei die Gemengteile von eigentümlicher
gleichmäßiger Größe sind, wird eine fast granitähnliche
Mikrostruktur erzeugt.
Spanisch-Guinea.
Von P)rof. F.
Spanisch-Guinea setzt sich ans folgenden Bestandteilen
zusammen: den Inseln Fernando P6o, Annobon, Eorisco,
Elobey Grande, Elobey Chico und den Besitzungen auf dem
Festlande. Es sei gestattet, hier einige Bemerkungen, ent-
nommen der Revue der spanischen Gesellschaft für Handels-
geographie und den Berichten der spanischen Missionare,
über jenen wenig bekannten spanischen Lünderbesitz mitzu-
teilen.
Über die Insel Fernando P6o (in deutschen Werken
gewöhnlich Fernando Po genannt) läßt sich nach der klassi-
schen Monographie von Dr. Banmann wenig Neues sagen.
Aus den Berichten der Missionare geht hervor, daß die
spanische Sprache und der Katholizismus Fortschritte machen.
Die Bubis, welche man früher für ein hinterlistiges und
blutdürstiges Volk ansah, werden von den spanischen Missio-
naren als gutherzige, den zivilisatorischen Bestrebungen nicht
abgeneigte Leute hingestellt. Sie sind nach denselben Ge-
währsmännern auch zur Arbeit geneigt. Eines der Idole
der Bubis führt den Namen Morimö.
Die Insel Annobon ist seit 1777 in spanischem Be-
sitze, aber die Spanier haben es unterlassen, Behörden dort
Blumentritt.
einzusetzen, die portugiesischen Beamten, Geistlichen und
Soldaten zogen ab und die Bevölkerung blieb sich selbst
überlassen. Erst als der Karolinenstreit den Spaniern die
Einsicht brachte, daß Besitzungen, die nur auf dem Papier
als spanische dastünden, von den andern Mächten nicht
geachtet würden, erinnerten sich die Spanier der Insel
Annobon wieder und sandten Missionare dahin. Diese
fanden die vom Weltverkehr ganz abgeschnittene Bevölkerung
in einem eigentümlichen Zustande: ohne Priester war sic
doch dem katholischen Glauben treu geblieben, ein alter
Mann, den sie Cura (Pfarrer) nannten, verrichtete das Amt
eines Seelsorgers, dessen Hauptbeschäftigung in dem Spenden
der Taufe und in dem Vorsagen von Gebeten bestand.
An einem Holzstabe bezeichnete er durch verschiedene Kerb-
schnitte und Kreuze die verschiedenen Festtage des römischen
Kalenders. Dieses Kalendarium befindet sich jetzt in dem
Kolonialmuseum (Museo de Ultramar) in Madrid. Die
Bevölkerung zählt 2000 Seelen, welche ein verdorbenes
Portugiesisch reden. Die Insel selbst erhebt sich kegelförmig
aus den Fluten, aus dem Gipfel (dem nördlichen, denn cs
giebt deren zwei) ist ein See mit trinkbarem Wasser. Der
18*
140
Slavische Feuerbohrer. — Tiefseeforschungen im östlichen Mittelmeer.
See ist 600 m lang und 400 m breit. Nur der südliche
Teil ist mit Wald bedeckt, der nördliche besteht ans nackten
Lavamassen.
Die Insel Coriseo, deren Umfang etwa 20km be-
tragt , ist seit 1843 spanisches Eigentum. Das Eiland ist
zum Teil sandig, zum Teil sumpsig. Die Hauptprodukte
der Insel bilden Kokosnüsse und Baumwolle. Die Bevöl-
kerung der Insel gehört zum Stamme der Ben gas und
zählt nach der Zählung von 1889 934 Seelen, davon
266 Katholiken. Die Knabenschule wird von 48 Jungen
besucht.
Die beiden Inseln Elobey sind durch eine so seichte
Straße voneinander geschieden, daß bei sehr niedriger Ebbe
die Eingeborncn von einem Eilande zum andern hinüber
waten. Ihre Bevölkerung gehört ebenfalls zum Benga-
(Venga-)Stamme.
Elobey Grande zählt etwa 100 Einwohner, welche
meist europäisch gekleidet einhergehen. Auf Elobey Chico
wohnt der spanische Untergouverneur mit seinen Beamten,
ferner sind daselbst vier europäische Handelsfaktoreien, denn
Elobey Ehico ist ein wichtiger Handelsplatz, aus dem auch
deutsche Faktoreien bestehen. Das Diener- und Arbeiter-
personal wird von Krumttnncrn gebildet. Die Missionare
haben dort ein Schulinternat gegründet, das 57 vom Fest-
lande stammende Negerjungen enthält.
Wir kommen nun zu dem Schmerzenskinde Spaniens,
cs sind dies seine Besitzungen aus dem Festlande. Im
Jahre 1777 erhielt Spanien von Portugal die ganze Küstcn-
strecke zwischen dem Kap Formoso und dem Kap Lopez ab-
getreten, eigentlich erhielt cs nur das Recht dort Handel zu
treiben, was aber für jene Zeiten gleichbedeutend war mit
der heutigen Festlegung der „Interessensphären". Die Spa-
nier nahmen aber thatsächlichen Besitz nur von dem Kap
S. Juan in den Jahren 1856 bis 1859, teilten aber offi-
ziell den Franzosen mit, daß sie den zwischen dem Kap
Santa Clara und dem Rio bet Campo gelegenen Landstrich
als spanischen Besitz betrachten. Die Franzosen protestierten
gegen die spanischen Ansprüche bereits 1860, als aber
Deutschland das Kamerungebiet erwarb, da begannen die
Franzosen in das von den Spaniern beanspruchte Ge-
biet einzudringen, Flaggen zu verteilen, Verträge mit den
Häuptlingen abzuschließen, in welchen Unternehmungen sic
freilich durch gleichartige, aber minder energische Konkurrenz-
versuche spanischer Reisenden und Emissäre gestört wurden.
Um diesen l'lbelständen und Streitigkeiten ein Ende zu
bereiten, trat in Paris eine spanisch-französische Kommission
zusammen, die schon seit einigen Jahren tagt, aber bei
der Hartnäckigkeit, mit welcher beide Parteien auf ihren
Ansprüchen bestehen, noch immer nicht zu einer Entscheidung
gekommen ist. Die Franzosen wollen den Spaniern nur
die Insel Coriseo und ein kleines Gebiet am Kap San
Juan, also nicht einmal die von den Spaniern faktisch in
Besitz genommenen Inseln Elobey zugestehen.
Die Spanier verlangen hingegen ein Territorium von
190000qkm, eingeschlossen von der Küste zwischen dem
Kap Santa Clara und dem Rio bet Campo einerseits und
dem llbangi andrerseits, wobei sie als ihre Grenznachbaren
im Norden das deutsche, im Süden das französische Gebiet
und im Osten den Congostaat betrachten, während auf
deutschen Karten das Kamcrungebiet im Süden an den
französischen Besitz grenzt. Die Spanier verlangen also
ein Gebiet von 190000 qkm, während die Franzosen ihnen
nur 500 qkm zugestehen, ein gewaltiger Unterschied, der
den Spaniern, welche in Kochinchina den Franzosen die
Kastanien aus dem Feuer geholt haben, einen glänzenden
Beweis von der Dankbarkeit des „lateinischen Brudervolkes"
liefert.
Thatsächlich besitzen die Spanier am Cabo San Juan
eine kleine Niederlassung, welche 117 Seelen zählt, außer-
dem erkennen durch Zahlung von Abgaben dreißig euro-
päische Handelsagenturen im Munigcbict die territoriale
Hoheit Spaniens an, von den Negerkönigen zu schweigen,
welche sich Spanien unterworfen haben.
Slavische Feucrbohrer.
Zu C. M. Pletztes Aufsatz über Indonesisches Feuer-
zeug im Globus Nr. 4 und der Notiz auf S. 62 erlaube
ich mir eine Erinnerung meines verewigten Vaters mitzu-
teilen, die auf Feuerbohrung Bezug hat. Mein Vater er-
zählte mir öfters folgendes Erlebnis: „Im Jahre 1833
kam ich als junger Kaufmann zum erstenmal nach Slavonien,
und zwar nach Gaj im Pozegaer Komitate. Es war im
Herbste und zufällig herrschte damals in der Gegend eine
Viehseuche, die dem Volke vielen Schaden brachte. Die
Bauern glaubten, die Seuche sei eine Frau, ein böser Geist
(Kuga), der das Vieh umbringe, und suchten die Knga zu
bannen. Ich hatte damals Gelegenheit, den Vorgang in den
Dörfern Gaj, Knkunjevac, Brezina und Brekinjska
zu beobachten. Gegen Abend war die ganze Dorfbevölkerung
beschäftigt, um die Dorfgemarkung einen Kranz von dürrem
Reisig zu legen. Im ganzen Dorfe wurde alles Feuer aus-
gelöscht. Dann nahmen je zwei Männer an mehreren Stellen
eigens dazu vorbereitete Holzstücke und rieben sie so lange
aneinander, bis sich Funken fingen. Die Funken ließ man
auf Zündschwamm fallen und fachte damit ein Feuer an,
womit man das dürre Reisig in Brand steckte. Das Feuer
brannte also um das ganze Dorf herum. Die Bauern
redeten sich ein, daß darauf die Kuga weichen müsse."
In der Schule pflegten wir Knaben die Bänke durch
Reibung mit Holzstücken schlecht zu machen. Ich erinnere
mich nicht, daß es einem von uns gelungen wäre, wirklich
einen Funken herauszubekommen. Die geriebene Stelle wurde
nur sehr warm und bröckelte sich später los. Einmal erzählte
ich davon einem Müllerbnrscheu in der Schmieduzschen
Mühle an der Orljnva in Pozega, und der Bursche sagte, er
werde mir zeigen, wie man durch Reibung Feuer erzeuge.
Er holte aus einem Winkel einen Feuerbohrer, welcher ganz
dem auf S. 54 unter Nr. 5 abgebildeten gleichsah, nur daß
die Scheibe unten fehlte, und fing damit ein Brett zu bohren
an. Im Nu stieg ein leichtes Rauchwölkchen auf. Er fing
die Funken mit Zunderschwamm auf und ziindcte sich damit
die Pfeife an. So ein Feuer heißt man samorodna vatra
(selbsterzeugtes Feuer). Es ist auch den Bulgaren bekannt.
Erwähnen muß ich, daß Herr Joh. Karlowicz in seiner
polnischen ethnographischen Vierteljahrsschrift „Wisla" eine
Enquete über die Erzeugung von Feuer durch Reibung er-
öffnet hat, über die ich in diesen Blättern Bericht erstatten
werde. Dr. Friedr. S. Krauß.
Tiefseeforschungen im östlichen Mittclmeer.
In der Sitzung der Wiener Akademie der Wissenschaften
! vom 9. Oktober 1890 wurde ein vorläufiger Bericht erstattet
über die Expedition der „Pola" zur Untersuchung der Tiefen
des östlichen Mittelmeercs. Dieselbe war unter Leitung des
Korvettenkapitäns W. Märth am 10. August von Pola in
See gegangen, richtete zunächst ihren Kurs nach Korfu, von
da bis Zante wurden Vorstöße gegen die hohe See gemacht,
dann näher am Festlande. Stamphani, Sapienza, endlich
Kapsala auf der Insel Ccrigo wurde erreicht. Von hier kreuzte
die „Pola" das Mittelmeer bis auf 15 Meilen von Ras Hilil
und fuhr dann längs der afrikanischen Küste in Entfernungen
von 15 bis 40 Seemeilen gegen Ben-Ghazi. Hierauf wurde
Büch erschau.
141
der Kurs gegen Kap S. M. di Lcuca genommen und am
19. September langte die Expedition in Pola an, nachdem
sie einen Weg von 2610 Meilen zurückgelegt und an
48 Haupt- und 25 Nebenstationen Beobachtungen über die
Tiefe und Beschaffenheit des Meeres, sowie über das Leben
in demselben angestellt hatte.
Über die ozeanographischen und physikalischen Arbeiten theilte
I. Luksch einige vorläufige Ergebnisse mit, von denen nach-
stehende hier angeführt seien: Unter den zahlreichen Lotungen
erreichten 10 Tiefen über 3000 m, 2 zwischen 3000 und
2000 m, 15 zwischen 2000 und 1000 m, 15 zwischen 1000
und 400 m, während die übrigen geringere Tiefen aufweisen.
Die größte gelotete Tiefe war 3700 m, sie bildet die östliche
Begrenzung der 4000 Meter-Mulde, welche sich von Malta
nach Cerigo erstreckt. Eine Tiefe von 3150m wurde dicht
unter Land, etwa 10 Seemeilen westlich von Sapienza gc-
funden. Über das Eindringen des Lichtes in das Meerwasser
ergaben Versuche über die Sichtbarkeit weißer, blanker Metall-
scheiben als größte Tiefe 43 m, etwa in 15 Meilen Entfernung
von'der afrikanischen Küste; photographische Platten hingegen
reagierten noch in 500 m Tiefe, etwa 200 Meilen nördlich
von Ben - GhLzi. — Wcllenbeobachtnngen wurden bei der
günstigen Witterung nur wenig gemacht; die Höhe der größten
Wellen betrug etwa 4,5 m, ihre Periode 7 Sekunden. Die
jetzt gewonnenen neuen Daten werden int Verein mit einigen
schon früher ermittelten Thatsachen hinreichen zu einem be-
friedigenden Bilde von dem Seebodenrelief, den Temperatur-
und Dichteverhältnissen und der chemischen Zusammensetzung
des Wassers in dem Meeresraume zwischen Süd-Italien,
Sizilien, Griechenland und Nordafrika. Schon jetzt zeigt
ein flüchtiger Blick über die Lotzahlen, daß das Gebiet größter
Depression (von 3500 bis 4000 m) sich der größeren Aus-
dehnung nach in nordsüdlicher Richtung befindet, während
eine kürzere Rinne nach Westen abzweigend verläuft, daß
ferner die tiefste Senkung (4000 m) etwa zwischen Cerigo
und Malta ain 19. Grade östl. L. ihre Begrenzung findet,
und das endlich die Abfälle an der griechischen Küste zum
Teil noch größere Steilheit aufweisen, als dies an den
sizilischen und italischen Gestaden der Fall ist. Die thermischen
und die Dichteverhältnisse werden erst nach Bearbeitung des
gesamten Materials sichere Resultate ergeben, das Gleiche
gilt selbstverständlich von den übrigen physikalischen und
meteorologischen Beobachtungen. Vorläufig scheint es wahr-
scheinlich, daß die Temperatur des östlichen Mittelmeeres sich
höher stellt, als die des westlichen; ebenso dürfte Dichte und
Salzgehalt nach Osten und Süden hin nicht unwesentlich
zunehmen. In betreff der benutzten Apparate sind gleichfalls
sehr wertvolle Erfahrungen gesammelt worden.
B ü ch e
Christian Hostmann, Studien zur vorgeschichtlichen Ar-
chäologie. (Gesammelte Abhandlungen. Mit einem
Vorwort von Dr. L. Lindenschmit. Braunschweig, Friedrich
Vieweg und Sohn, 1890. — 221 S. 7 M.
_ Diese sehr geschickt getroffene Auswahl aus den zahlreichen
Arbeiten des gelehrten, leider so früh verstorbenen Verfassers,
die teilweise in Monographieen, teilweise im Archiv für Anthro-
pologie und andern Zeitschriften erschienen sind, umfaßt sieben
Abhandlungen nebst einer Einleitung: Nr. 1) bis 3) Die drei
Kutturperioden; 4) das Skelettieren der Leichen und die teil-
weise Verbrennung; 5) über die Bedeutung des homerischen
Chalkos; 6) Uber die Bedeutung des Sanskrit ayas, und
7) die Metallarbeiten von Mykenä und ihre Bedeutung für die
allgemeine Geschichte der Metallindustrie.
Die einzelnen Aufsätze sind zum Teil völlig umgearbeitet
und erweitert, es ist viel neues Beweismaterial, manche neue
Idee hinzugekommen, aber der Vers, hält doch durchweg seine
alten Thesen aufrecht, mit denen er bereits vor Jahren soviel
Aufsehen unter den Prähistorikern erregte. Die deutsche Prä-
historie begann damals eigentlich erst eine Wissenschaft im
wahren Sinne des Wortes zu werden, und .Hostmann gehörte
zu den wenigen, die, gestützt auf eingehende wissenschaftliche und
technische Studien, den Mut hatten, auf eigenen Bahnen zu
wandeln und mit dem ernsten Streben nach Objektivität alle
die veralteten Theorieen und Hypothesen über Bord zu werfen,
welche jede freie Entwickelung und ein Fortschreiten dieser jungen
Wissenschaft unmöglich machten. Sein Hauptkampf galt daher
dem trockenen Schematismus des Dreiteilungssystenis, den nament-
lich die dänischen und schwedischen Gelehrten kultivierten; und
bei seinem außerordentlich umfangreichen und vielseitigen Wissen,
mit dem er sowohl die alte klassische, wie die moderne prä-
historische und ethnologische Litteratur umfaßte, gelang cs ihm
allmählich, soviel schlagendes Bcweismaterial zusammenzubringen,
daß jetzt, wenn auch nicht in allen Einzelheiten, so doch im all-
gemeinen seine Ideen von den meisten dcuftchen Forschern als
die richtigen und niaßgebenden angesehen werden. Allerdings
geht Hostmann in mancher Richtung wohl etwas zu weit, so
z. B., wen» er (S. 32) für den deutschen Norden eine eigent-
liche Steinzeit so gut wie vollständig leugnet und allein eine
symbolische Bestimmung der Steingeräte anerkennen will, und
dann, wenn er auf einzelne ganz gelegentliche und zufällige
Ausdrücke bei den alten Klassikern, wie Homer, Hesiod, Lucrcz,
Ovid rc., ein so großes Gewicht legt, um daraus archäologische
Argumente aufzubauen; aber er hat sehr recht, wenn er das
primitive Schmiedehandwerk und mit ihn: das Eisen in eine viel
ältere Zeit hinaufrückt, als man bisher nach einzelnen zufälligen
Funden annehmen zu müssen glaubte, und wenn er immer
r s ch a u.
wieder auf die natürliche und ganz allmähliche Entwickelung der
menschlichen Kultur hinweist, die gerade in der Vorzeit so
unendlich langsam und stetig vorschritt, und sich nie so plötzlich
und gewaltsam verändern konnte, daß man zu einer so ab-
rupten Periodeneinteilung berechtigt wäre, wie sie die nordischen
Gelehrten gewissermaßen als allgemein gültiges, selbstverständliches
Naturgesetz aufgestellt hatten. Sehr wichtig für die prähistorischen
Studien im allgemeinen ist auch, daß er mit Nachdruck auf den
großen Unterschied hinweist, der zwischen der gleichzeitigen hoch-
entwickelten Bronze- und Metalltechnik und der höchst primitiven
Keramik nicht nur bei den alten Germanen, sondern auch bei
andern Völkern besteht. Die Thongefäße erscheinen immer als
die Erzeugnisse einer ganz lokalen Industrie, während die Bronzen
— auch, wie cs scheint, selbst im homerischen Troja — als ein-
geführte Waren aus höher entwickelten Kulturländern des Orients
zu betrachten sind. Und wenn Bronze und Gold nachweislich
aus dem Orient nach dem Norden ausgeführt sind, warum soll
nicht, ganz abgesehen von der Wahrscheinlichkeit einer ein-
heimischen einfachen Eiscnschmicdeknnst und dem häufigen Vor-
kommen dieses Materials im Norden, ebenso auch Eisen und
Lilber hier bekannt gewesen sein können, da beide Metalle schon
über 1000 Jahre vor unsrer Zeitrechnung nachweislich im
Orient vorkamen? Höchst interessant sind in dieser Beziehung
auch die Argumente) die in technischer Beziehung für das
frühe Vorkommen von Stahl und Eisen in der Zeit der alten
Bronzen geliefert werden, und dann namentlich auch die Be-
trachtungen über das immerhin etwas heikle Thema der Skclct-
tierung und der partiellen Bestattung. Hostmann sucht dabei
hauptsächlich, nicht ohne Glück, darzuthun, daß absolut kein so
schroffer Gegensatz zwischen der alten Leichenbestattung und dem
darauf üblich werdenden Leichenbrand vorhanden sei, und daß
sich sehr gut ein allmählicher Übergang zwischen den beiden
Bestattungsarten in den verschiedenen Formen des teilweisen
Leichenbrandcs finden lasse.
Über die soviel umstrittene Bedeutung des Wortes Chal-
kos, das er für semitischen Ursprungs hält, hat Hostmann im Lause
der Zeit seine Meinung etwas geändert. Er dürfte aber mehr
Anhänger mit seiner alten Hypothese, daß das Wort außer
Bronze und Kupfer auch „Metall im allgemeinen" bedeute,
finden, als jetzt, wo er Chalkos nur als Stahl oder Kupfer
gelten lassen will.
Die Auslassungen über die großartigen Gräberfunde von
Mykenä sind äußerst interessant und bekunden besonders eine
eingehende Kenntnis in technischer Beziehung. — Wenn Host-
mann vielleicht hier und da zu scharf argumentiert und in
mancher Richtung ein wenig zu weit geht, so liegt das daran,
daß er, wie in mancher Beziehung auch seine Gegner, zu sehr
142
Bücherschau.
verallgemeinert, ohne sich immer daran zu erinnern, daß die
Kulturentwickelung der einzelnen Volker nicht durch allgemein
gültige Gesetze geregelt wird und nicht überall in derselben
Weise vor sich geht, sondern doch überall hauptsächlich von der
Natur des betretenden Landes abhängig ist. —
Das ganze Werk bietet aber eine solche Fülle von archäo-
logischem Material, eine solche Menge schlagender Beweisgründe,
so viele geistvolle Ideen, daß es jedem, der sich mit archäo-
logischen und prähistorischen Studien beschäftigt, nicht warm
genug empfohlen werden kann. Dr. M. Weigel.
Ernst Haeckel, Plankton-Studien. Vergleichende Unter-
suchungen über die Bedeutung und Zusammensetzung der
pelagischen Fauna und Flora. Jena, G. Fischer, 1890.°
80. 105 S.
In dieser, dem Herausgeber des Challenger Werkes, John
Murray gewidmeten Schrift, werden die von V. Henscn aus-
gestellten Gesichtspunkte der Planktonsorschung einer scharfen
Kritik unterzogen und die Grundlage von Hensens Methode als
eine völlig verfehlte gekennzeichnet. Zunächst giebt Haeckel einen
Überblick der pelagischen Forschung und ihrer Hilfsmittel:
Johannes Müller betrieb zuerst in systematischer Weise die
pelagische Fischerei mittels des „feinen Netzes" (Müllernetz) und
nannte die erbeuteten Organismen den „pelagischen Austrieb"
wofür jetzt durch Hensen die Bezeichnung Plankton üblich ge-
worden ist. Wesentlich neue Gesichtspunkte ergaben die Tief-
seeforschungen, besonders die große Challengerexpedition, welche
mit-ganz ähnlichen Hülfsmitteln, wie I. Müller mit den so-
genannten „Taunetzen" nicht nur die au der Oberfläche lebenden
„pelagischen" Formen, sondern auch die Lebewesen der tieferen
Schichten bis zum Meeresboden hinab, die „zonarische" und
„abyssale" Fauna, zu erforschen strebte. Durch den Kommandant
der italienischen Korvette Vettor Pisani, G. Palumbo, wurde
sodann ein Schließnetz für bestimmte Tiefenzonen ersonnen, an
welchem Professor Chun weitere Verbesserungen anbrachte. In
den letzten Jahren (seit 1887) trat nun Hensen mit seiner
quantitativen Analyse des Plankton hervor in der Schrift:
„Über die Bestimmung des Plankton", wodurch die Ausrüstung
der Plankton-Expedition vom Jahre 1889 mit für deutsche
Verhältnisse ungewöhnlichen Mitteln auf dem Schiss „National"
veranlaßt wurde. Hensens Forschungen beruhen auf der An-
nahme, „daß in dem Ozean das Plankton gleichmäßig genug
verteilt sein müsse, um aus wenigen Fängen über die Verhält-
nisse sehr großer Meeresstrecken sicher unterrichtet zu werden."
Nun ist aber die Masse des Plankton im Ozean gerade keine
irgendwie perennierende und konstante, sondern eine höchst
variable, abhängig von temporalen Schwankungen, wie Jahr-
gang, Jahreszeit, Wetter, Tageszeit, von klimatischen Verhält-
nissen und vor allem von den verwickelten Verhältnissen der
Meeresströmungen und der in ihren Ursachen noch nicht auf-
geklärten „Zoo-korrenten", kolossalen Anhäufungen von Orga-
nismen, welche an vielen Stellen, wie in der Straße von
Messina, bei den Kanaren u. s. w., in Form von Strömungen
beobachtet wurden. Die Fahrt des „National" war außerdem
nur eine dreimonatliche, berührte nur einen kleinen Teil der
Ozeane, hatte mit ungünstigen Verhältnissen zu kämpfen und
konnte daher nur ganz unvollständige und viel zu dürftige
empirische Grundlagen liefern im Vergleich zu den Ergebnissen
des Challenger und des Vettor Pisani. Die letzteren, wie die
ungewöhnlich reichen Erfahrungen, welche Haeckel selbst seit
Beginn seiner wissenschaftlichen Thätigkeit in den verschiedensten
Meeren, vor allem in dem von ihm seit einem Mcnschcnalter
systematisch durchforschten Mittelmeer gesammelt hat, wider-
sprechen auf das Unzweideutigste und auf Grund eines erdrücken-
den empirischen Materials der „theoretischen Voraussetzung"
Hensens von einer gleichmäßigen Verteilung des Plankton, auf
welcher seine ganze, überaus mühevolle quantitative Plankton-
bestimmung durch Zählung der Individuen eines Fanges sich
aufbaut. Abgesehen von den riesigen Mengen der Individuen,
um welche es sich dabei handelt *), ist auch noch die große innere
Schwierigkeit zu überwinden, was man in jedeni einzelnen Falle
unter einem Individuum zu verstehen hat. Jedenfalls könnte
ft In einem kleinen Fang, welcher kaum 2 chm Ostseewasser
filtriert hatte, fanden sich 5 700000 Organismen, darunter
5 000000 mikroskopische, 680000 Stück Diatomeen, 80000
Copepoden, 70000 andre Tiere. Ein Fang erfordert für die
Ostsee durchschnittlich acht Tage Arbeitszeit ä acht Stunden;
zu jedem Fang von Hensens Planktouexpcdition würden aber
14 Tage gehören, mithin erfordert das Auszählen der mit-
gebrachten 120 Fänge allein sechs Jahre Arbeit oder 17 000
Arbeitsstunden!
der ökonomische Ertrag der Ozeane nur nach Volumen und
Gewicht des Plankton und die nachfolgende chemische Analyse
desselben ermittelt werden, nicht durch die Zahl, so wenig wie
der Ertrag einer Wiese durch Auszählen der einzelnen Gras-
halme des Heues zu erlangen ist; von einer quantitativen
Bestimmung der „Urnahrung", wie sie Hensen finden will, kann
auf diesem Wege keine Rede sein.
Jedoch beschränkt sich die vorliegende Schrift Haeckels
keineswegs darauf, den Grundfehler der Planktontheoric von
Hensen nachzuweisen, vielmehr liegt der Schwerpunkt derselben
in dem Versuch, die verwickelten chorologischen Verhältnisse der
Meeresräume durch Begründung einer brauchbaren Nomenklatur,
welche aus klaren Definitionen beruht, in positiver Weise zu
fördern; die hier niedergelegten Vorschläge Häckels dürsten sich
für diesen so rasch anwachsenden Zweig biologischer Forschung
sehr bald gerade so fördernd und bahnbrechend erweisen, wie
viele Namen seiner grundlegenden „generellen Morphologie" bei
allen Zoologen und Botanikern sich ganz allgemein eingebürgert
haben. So bieten namentlich die beiden Abschnitte „Choro-
logische Begriffe" (III) und „Komposition des Plankton" (V)
eine Fülle von Anregungen, welche nach den verschiedensten
Seiten hin zum weiteren Ausbau und zur kausalen Begründung
der Planktonsorschung anregen werden. Doch muß hier auf die
Schrift selbst verwiesen werden. Fr. Regel.
Robert Munro, The Lake Dwellings of Europe. London,
Cassel und Co. 1890. Mit 212 Abbildungen. XL und
600 S.
So viel Einzclschriften wir auch über Pfahlbauten schon
besitzen, an einer Zusammenfassung über dieselben fehlte es
doch bisher. Dieselbe ist von einem irischen Gelehrten jetzt
ausgeführt worden, von Dr. Robert Munro, in seinem vor-
liegenden Werke. Von dem ältesten Berichte über Pfahlbauten,
den wir bei Herodot finden, führt er uns bis zu den Pfahl-
bauten der Gegenwart in Neu-Guinea, wobei wir allerdings
den einen gemeinsamen Gesichtspunkt: den Bau der Wohnstätten
aus Pfählen im Wasser und die dadurch bedingten Lebens-
gewohnheiten finden, sonst aber auf die größten Verschiedenheiten
stoßen. Ein „Zeitalter" der Pfahlbauten läßt sich nicht fest-
stellen, denn es reicht von der neolithischen Periode bis zur Gegen-
wart; diese Bauten sind in der Steinzeit, in der Kupfer- und
Bronzezeit vorhanden, reichten in Irland bis in das Mittelalter
und bestehen in der Gegenwart bei amerikanischen, afrikanischen,
malaiischen und melanesischcn Völkern noch fort.
Munro geht der Reihe nach die europäischen Pfahlbauten
durch und beginnt mit jenen der Schweiz, deren Entdeckung
im Jahre 1853 durch den niedrigen Wasserstand der Seen
bedingt wurde. Die ausführliche Bibliographie zeigt uns, was
seitdem entdeckt, wieviel aus diesem Gebiete seither gearbeitet
wurde. Es folgen die Schilderungen der italienischen Palasfiti
und Terramaren, wobei eine uns nicht weiter führende Be-
sprechung der Nephritfrage einstießt.
Für uns Deutsche sind die Schilderungen der irischen
und schottischen Pfahlbauten am belangreichsten, weil am
wenigsten bei uns bekannt. Die irischen Crannogs wurden bereits
1839 von Petrie und Wilde untersucht, also lange vordem
Dr. Kctlcr seine epochemachenden Arbeiten über die Schweizer
Pfahlbauten veröffentlichte. Der von Wilde beschriebene Cran-
nog von Danshauglin gehört der Eisenzeit an; there were no
brazen weapons. Man fand schöne, eigentümlich stylisierte Ein-
ritzungen in Knochen, die ganz den Ornamenten der alten irischen
Handschriften glichen und andeuteten, daß diese Crannogs einer
verhältnismäßig jungen Zeit angehörten. Eine Belagerung dieses
Crannogs im Jahre 848 wurde denn auch von Wilde in den
„Annalen der vier Meister" nachgewiesen. Die Bronzeschüsseln,
Broschen (spät keltisch), die Töpferwaren zeigen seinen Geschmack;
von Schmelzarbcit zeigten sich Spuren. Das Ganze vertritt eine
weit höhere und spätere Kultur, als sie uns in den Schweizer
Pfahlbauten entgegentritt — nur die Bauart in einem See zu
Zwecken der Verteidigung ist übereinstimmend. Es liegen Berichte
aus dem 16. Jahrhundert vor, daß damals noch kleine irische
Häuptlinge auf solchen Crannogs in den Seen hausten und hier
von den Truppen der Regierung belagert wurden.
In Schottland wurde 1857 durch Joseph Robertson das
wissenschaftliche Studium der dortigen Seewohnungcn eingeführt.
Er untersuchte die Pfahlbauten im Loch Bachory und inr Loch
Canmor. Ihm folgte 1863 der Herzog von Northumberland
mit der Beschreibung der Pfahlbauten im Loch Dowalton. In
Ayrshire und Dumsriesshiere wurden solche entdeckt. Das
Pfeilerwerk im Pfahlbau von Dowalton zeigt eine sehr künstliche
Zusammenstellung der Eichenstämme, welche aus späte Zeit deutet,
was durch die Auffindung eines Bronzetopfes mit der Inschrift
?. Cipi polibi bestätigt wird. Im Pfahlbau des Loch Rushton
Aus allen Erdteilen.
143
fand nian eine gesäljchte Goldmünze, wahrscheinlich aus sächsischer
Zeit, daneben Fingerringe aus Gold und polierten Bergkrystall.
Also alles sehr spät. Dr. Munro faßt daher die schottischen
Pfahlbauten als Befestigungen der Kelten auf, die hier, nach
deni Abzüge der Römer, mit Angeln, Pickten und Scoten im
Streit lagen. Es ist nicht nötig, mit Dr. Munro anzunehmen,
daß die alten Iren und Schotten „die Kunst des Pfnhlbaucns"
aus dem europäischen Kontinente, von wo sie kamen, erlernten
und in ihrem Lande bis in späte Zeiten bewahrten, während
sie aus dem Kontinente schon vergessen war. Aber alte Cran-
nogs fehlen in Irland und Schottland, und die heute auf
Pfahlresten hausenden Naturvölker verfielen ursprünglich aus
diese Art Bauten. Die Entlehnungstheorie ist hier wenig am
Platze. H. v. H
Aus allen Erdteilen.
— Die Entwickelung Dar-es-Salams. Dar-es- >
Salam, die Stadt des Friedens, die Hauptstadt von Deutsch-
Ostafrika, mit einem schönen, einem Binnensee gleichenden
Hafen, litt am Schlüsse des Jahres 1890 noch sehr unter
den Folgen des Arabcraufstandes. Das deutsche Stations-
haus besteht ans zwei hohen Gebäuden mit drei geräumigen
Höfen und ist mit einer hohen bastionierten, mit Geschützen
belvehrten Umfassungsmauer umgeben. Es besteht ein
deutsches Post- und Telegraphenamt, ein neues Hotel mit
sieben Fenstern Front, ein Pulvermagazin, eine Stunde von
der Stadt. Die evangelische Mission mit zehn Zimmern und
Betsaal besaß am Schlüsse 1890 erst neun Zöglinge. Sie
unterhält auch einen Tischler und einen Schmied. Bei der-
selben wird das von Sansibar hierher verlegte deutsche Hospital
errichtet. In der katholischen Mission (aus Bayern) wirken
Laienbrüder als Ziegler, Tischler, Schmiede, Gerber, Bäcker,
Klempner, Glaser und Schuster. Sie besitzt zwei Gebäude,
eines für Männer, das andre für Frauen. Besonders gut
im stände sind die Reparaturwerkstätten der Schiffsabteilnng,
in denen alle Ausbesserungen vom Dampfkessel bis zur Büchse
ausgeführt werden. Der Handel Dar-es-Salams ist nicht
mit demjenigen von Bagamoyo zu vergleichen, bei dem die
alten Karawauenstraßen münden. Von Wichtigkeit ist die
Gewinnung des fossilen Kopalharzes im Hinterlande, das j
mit 50 Rupien das Frasilah verkauft wird. Dar-es-Salam
gilt als die verhältnismäßig gesundeste Station an der
dentsch-ostafrikanlschen Küste.
— Die Entwickelung Bagamoyos. Bagamoyo war
vor dem Aufstande der Araber gegen die Deutschen die Ver-
kehrs- und volkreichste Stadt der ganzen Suaheliküste gewesen.
Nach der Niederwerfung des Aufstandes war es ein zer-
schossenes Nest, in dem nur wenige indische Kramläden sich
befanden, und die heimische Negerbevölkerung fehlte. Im Hafen
lag kaum ein Schiff. Seit der Frieden wieder an der Küste
herrscht, zeigt der Ort ein ganz andres, zukunftsreiches
Bild: Am Schluffe des Jahres 1890 besaß cs bereits wieder
über 20000 Einwohner, breite Straßen, Hunderte von kleinen
Verkaufsläden. Die dentsch-ostafrikanische Gesellschaft besitzt
hier ein für afrikanische Verhältnisse elegantes Gebäude mit
acht Wohnräumen, dabei große Lager- und Wirtschaftsgebäude;
ferner ein Offizierskasino, ein deutsches Hospital und die
französische Mission mit drei Vätern und acht Brüdern,
welche 172 Knaben und 150 Mädchen unterrichten. Mit
Erfolg haben die Patres die Vanille angepstanzt. Dicht bei
Bagamoyo ist der Bau einer Anstalt für Aussätzige in An-
griff genommen worden, zu der ein reicher Inder das nötige
Geld hergab. Es ist nach einer Art Barackensystem angelegt;
die Pflege der Kranken wird von der französischen Mission,
die ärztliche Aufsicht von den Ärzten der deutschen Schutztruppe
übernommen. Das Warenhaus der deutsch-ostafrikanischen
Gesellschaft ist mit allen europäischen Erzeugnissen wohl ver-
sehen und zur Aufnahme der Karawanen ist ein Karawan-
serai im Bau begriffen, in welchem 10000 Träger Unterkunft
finden können. Als Endpunkt der Karawanen ist Bagamoyo
noch immer van hoher Bedeutung; zeitweise (April bis Juli)
kommen dort über 35 000 Menschen ans dem Innern an.
Mit dem zum Hauptorte von Deutsch-Ostafrika erklärten
Dar-es-Salam tvird Bagamoyo durch eine Eisenbahn ver-
bunden. Bagamoyo gilt als die ungesundeste der Stationen
an der deutsch-ostafrikanischen Küste; es wird angenommen,
daß die große Kingani-Ebene, welche sich im Innern im Halb-
kreise um den Ort ausdehnt, mit ihrem sumpfigen Unter-
gründe einen Fieberherd bildet.
— Das spanische Saharagebiet. Eine spanische
Besatzung besitzt nur das am Rio Oro angelegte Blockhaus.
Eine Zeitlang trug sich die spanische Regierung mit dem Ge-
danken, diese Garnison wieder aufzuheben, über die Vorstellung
der geographischen Gesellschaften aber gab die Regierung diese
Idee wieder ans und seitdem hat die Ausdehnung der spanischen
Herrschaft gegen das Innere zu bedeutend zugenommen. Durch
Verträge wurden der Sultan von Adrar, sotvie die Scheichs
der zwischen Adrar und Rio Oro und jener zwischen dem
Kap Bajador und dem Wadi Draa wohnenden Stämme zur
Anerkennung der spanischen Oberhoheit verpflichtet. Die
beiden geographischen Gesellschaften Madrids, sowie die
Presse Spaniens machen eine lebhafte Propaganda dafür, cs
möchte als Ostgrenze der spanischen Interessensphäre im
Saharagebiete der Meridian von Timbnktn angenommen und
dessen Anerkennung von Frankreich erwirkt werden.
— Der St. Josephs Distrikt des britischen Ncn-
Gninea. Der Administrator des britischen Neu-Guinea, Sir
William Macgregor, bereiste den dortigen St. Joseph-Distrikt,
welcher der Anle-Jnsel, in 8" 4' südl. Br. u. 146" 28' östl.
von Gr. im Osten des Papna-Golfes, gegenüberliegt. Der-
selbe erstreckt sich von der Meeresküste aus nordwärts bis zu
dem 50 bis 65 km entfernten Hochgebirge, ist gänzlich un-
bewaldet und auch nur an wenigen Stellen einer gelegent-
lichen Überschwemmung durch den St. Joseph-Fluß ausgesetzt.
Wenn man den 4 bis 5 km breiten sandigen Meeresstrand
außer Acht läßt, umfaßt der Distrikt ein Areal von ungefähr
500 qkm des vorzüglichsten Alluviums, auf welchem Zucker-
rohr (von den Eingeborenen in verschiedenen Sorten angebaut),
Mais, Thee, Kaffee, Vanille und selbst Kakao herrlich ge-
deihen, resp. gedeihen würden. Auch auf den dem Hoch-
gebirge vorliegenden niedrigen Hügeln, mit mächtigen, zum
großen Teile abgestorbenen Bäumen bestanden, setzt sich der-
selbe fruchtbare Boden für derartige Kulturen fort. Die
gegen 10000 Köpfe starke Bevölkerung ist intelligent und in
der Zivilisation weiter vorgeschritten, als bei andern Stämmen
auf Neu-Guinea gewöhnlich der Fall ist. Die auf der Uule-
Jnscl angesiedelte katholische Mission, mit einer Zweignieder-
lassung am St. Joseph-Flusse, hat dazu wesentlich beigetragen.
Sie haben so ziemlich das ganze für ihre Ernährung nötige
Areal unter Kultur gebracht, so daß für eine etwaige euro-
päische Ansiedlung kein Raum ist. Jede Familie hat ihr
Oberhaupt, dessen Anordnungen strenge Folge zu leisten ist,
und ihre besondere Wohnung. Nur die zwar heiratsfähigen,
aber noch nicht verheirateten jungen Leute des Dorfes wohnen
in gemeinschaftlichen Räumen beisammen und stehen unter
der Aufsicht eines älteren Mannes. Am Morgen tvird
zunächst in den Gärten fleißig gearbeitet. Dann begiebt sich
144
Aus allen Erdteilen.
der Mann, mit Keule und Speer bewaffnet und von seiner Frau
begleitet, auf die Suche nach den für die nächsten 24 Stunden
nötigen tierischen Lebensmitteln und nach Brennholz. Gegen
3 Uhr nachmittags kehren sie zurück, die Frau als Last-
trägerin. Wenn im letzten Monate kein Todesfall vorge-
kommen, versammelt sich die Gemeinde des Dorfes am Abende
ans einem offenen Platze und vergnügt sich mit Tanz. Gold
existiert im Distrikte nicht, es könnte nur in Quarzfelsen oder
in den Thälern des Hochgebirges gefunden worden.
Greffrath.
— Die Einwanderung auf dem Seewege in die
sieben australischen Kolonieen im Jahre 1889 belief sich
insgesamt auf 285 300, die Auswanderung auf 183 612,
so daß den Kolonieen ein Zuwachs in ihrer Bevölkerung von
81688 verblieb. Der größte Zuwachs fiel auf Neu-Süd-
Wales mit 20 640, auf Queensland mit 10 926, auf Viktoria
mit 10164 und auf Tasmanien mit 2 672, während die
Zunahme für Westaustralien nur 578, für Südaustralien
494 für Neu-Seeland 214 Personen betrug. —th.
— Schädliche Winde auf Sardinien. Auf meiner
Reise von Sassari nach Alghero habe ich mich von den schäd-
lichen Einflüssen überzeugen können, welche hier die Nord-
winde auf die Pflanzenwelt ausüben. Sie wehen ungemein
stark und andauernd. Auf jenem Teile des Weges, der sich
dem Meere nähert, sah ich in höheren Lagen vereinzelte
Bäume, deren Zweige infolge der Winde alle wagerecht nach
Süden zu gebogen waren und, wie der Schweif eines Kometen,
vom Stamme abstanden; das Wachstum der Bäume ist ge-
hindert, ihr ganzes Aussehen ein kümmerliches. Demselben
Einflüsse dieser Winde ist es zuzuschreiben, daß hier andre
Bäume, wie die Orangen und Zitronen, nicht gedeihen und
da, wo sie unmittelbar dem Einflüsse der Nordwinde aus-
gesetzt sind, zu Grunde gehen. Wo aber diese Bäume durch
Mauern geschützt werden oder an Südabhängen von Bergen
wachsen, wie z. B. in Sarrabus und in Milis, da gedeihen
sie prächtig und geben Früchte, welche süßer als die Orangen
von Mentone oder Sorrent sind. Diese Nordwinde bewirken
eine derartige Abkühlung der Atmosphäre Sardiniens, daß
die Vegetation hier ungefähr vierzehn Tage gegenüber andern
Gegenden derselben Breite zurück ist. Trotzdem habe ich
Ende Januar in Sassari, also im Norden der Insel, die
Mandelbäume in voller Blüte gefunden. Wenn der Rück-
stand der Pflanzenentwickelnng hier nicht größer ist, so muß
dieses der Heiterkeit und Klarheit des Himmels zugeschrieben
werden, welche die erkältenden Wirkungen der Nordwinde
abschwächen. De la Marmorn hat daher aus diesen Gründen
auch Sardinien unter die Länder mit gemäßigtem Klima
gerechnet. Er sagt, daß im Dezember und Januar die Tem-
peratur sehr milde, der Himmel heiter, die Atmosphäre trocken
ist, da.es selten regnet. Der Februar ist unbeständig und
es regnet viel; nach ihm ist dieses die unangenehmste Zeit
des Jahres. Der März ist verhältnismäßig kälter als
die vorhergehenden Monate. Im April herrschen die Nord-
winde, welche stets den Fortschritt der Vegetation hindern.
Es folgt nun die heiße Zeit. Von Mitte Juli bis Ende
August brennt eine heiße Sonne, welche die Ebene verdorrt
und im Süden der Insel die Campidani mit dichten Dünsten
erfüllt. Im Oktober bringen häufige Südwestwinde Regen
und Frische.
Ich habe während zweier Wintermonate in Sardinien
fortdauernd heiteres Wetter und milde Temperatur gefunden.
Leider kann ich mich über die meteorologischen Verhältnisse
der Insel nicht näher verbreiten, da, so viel ich weis, regel-
mäßige Beobachtungen ans verschiedenen Teilen derselben
fehlen. Drei Viertel der Insel zeigen eine wunderbare, nur
wenig ausgenutzte Fruchtbarkeit. Die Dattelpalme, die Zwerg-
palme, die Opuntia, die amerikanische Agave, der Johannis-
brotbaum, die Jujnba, die Kapper, Myrte, der Granatapfel,
die Feige gedeihen prachtvoll. Viele mitteleuropäische Ge-
wächse entwickeln sich hier in einer staunenerregenden Weise,
so daß man sie kaum wieder erkennt. Ich erwähne statt
vieler nur eine Pflanze, die hier ein ganz anderes Ansehen
gewinnt, es ist dieses der Schierling. In Asinnra treibt
derselbe bis 3 m hohe Stengel; ich habe einen gemessen, der
am Boden 40 cm Umfang hatte. Man bereitet dort sehr
feste und leichte Stühle aus diesen Stengeln.
Dr. Ermeling.
— Die Regierung in Tibet. Ganz allgemein ist
bei uns der Irrtum verbreitet, die Regierung Tibets sei eine
theokratische. Das ist jedoch, wie einer der besten Kenner
des Landes, Abbe Dcsgodins zeigt (Bull. soc. de geogr.
1890, 266), durchaus falsch. Abgesehen vom Dalai-Lama,
der durch Schenkung des ersten Mandschukaisers von China
der einzige „Eigentümer" des Landes ist und abgesehen vom
Könige oder Regenten, der erst seit etwa 60 Jahren auch
ein Lama ist, besteht die ganze Regierung Tibets aus Laien,
Zivilisten, von den vier Kaluns oder Staatsministern an-
gefangen. Jedes Mitglied der Zentralrcgierung muß ein
Diplom vom chinesischen Kaiser haben, ehe es seine Thätig-
keit ausüben darf. Die ganze Verwaltung der Provinzen
ist in den Händen von Laien. — In der Hauptstadt Lhassa
besteht sogar noch eine chinesische Nebenregierung, ver-
treten durch drei Maudschngcsandtc, die von Peking aus-
gesendet sind, um die tibetanische Regierung namentlich in
ihren auswärtigen Beziehungen zu überwachen. Der Dalai-
Lama, der König, die Minister, sie alle dürfen nicht unniittel-
bar an den chinesischen Kaiser schreiben, sondern müssen ihre
Schriften durch die chinesische Gesandtschaft gehen lassen.
Letztere hat zu ihrer Verfügung 4000 Soldaten, die durch
ganz Tibet verteilt sind; in Lhassa stehen nur 500 Mann.
— Der Haushund im Königreich Assinie an der
Goldküste gleicht nach Reichenbach am meisten dem englischen
Foxterrier, nur sind seine Gliedmaßen feiner und er trägt die
Ohren aufrecht. Reichenbach hat mehrere dieser Hunde, die
er völlig übereinstimmend mit jenen am Gabon fand, für
die Jagd abgerichtet und war sehr zufrieden mit denselben.
Namentlich war ihr Geruchsinn außerordentlich scharf ent-
wickelt. Weder Thau noch Hitze hinderten sie daran, stunden-
lang die Spur von Antilopen, Gazellen oder Stachelschweinen
zu verfolgen. Dabei sind sie von unvergleichlichem Mute;
die Übereinstimmung mit dem Hunde der Pahonins am Gabon
ist eine vollständige und dieses Volk richtet ihn zur Jagd ab.
Der Hund greift Stachelschweine und Leoparden an und beißt
sich fest, bei letzterem Wilde jedoch oft mit schlechtem Erfolge.
(Bull. 800. geogr. 1890, 338.)
— Ein Denkmal für den hervorragenden englischen Ent-
decknngsreiseuden und Orientalisten Sir Richard Burton,
welcher als britischer Generalkonsul zu Triest 1890 starb,
soll ans dem Mortlake-Friedhofe in London, wo er begraben
liegt, errichtet werden.
— Der Th ceban auf Ceylon verdrängt dort mehr und
mehr den Anbau des Kaffees und nimmt in einem groß-
artigen Maßstabe von Jahr zn Jahr wachsend zn. Der
erste Thee, nur 282 Pfund, wurde im Jahre 1875 nach
England verschifft. Im Jahre 1889 betrug die Theeausfuhr
bereits 34 346 432 Pfund.
Herausgeber: Dr. R. A ad ree in Heidelberg, Lcopoldstraße 27.
Druck von Friedrich View eg und Sohn in Braunschweig.
Bd. LIX
Nr. 10.
imkni JöfEerMe
Begründet 1862
von
Karl Andrer.
A V u cft rr ra ö W e x s a 3
Herausgegeben
von
Richard Andrer.
örictz Mieweg & Sohn.
r it it it f rsi wir» Jährlich 2 Bände in 21 Nummern. Durch alle Buchhandlungen und Postanstalten
O r n u u , w 11 ;z. zum Preise von 12 Mark für den Band zu beziehen.
Bonvalots Reise nach Tibet und quer durch Asien )$$<)—90.
Entdeckung innerasiatischer Vulkane.
Unter den Reisen, welche in der Neuzeit in Asien aus-
geführt worden sind, nimmt einen der hervorragendsten Plätze
diejenige Gabriel Bonvalots und des Prinzen Heinrich
von Orleans (geboren 1867) ein. Ihr Ziel war die
Prinz Heinrich von Orleans.
von vielen Reisenden umworbene, aber seit langem unzu-
gängige Hauptstadt des verschlossenen Reichs Tibet, Lhassa,
die sie allerdings nicht erreichten, der sie aber ganz nahe
kamen. Indessen war ihre Reise, die von Nordost nach
Gabriel Banvalot.
Südost quer durch ganz Asien führte, für die Wissenschaft
von der höchsten Bedeutung, da sie teilweise durch neue,
noch nie von Europäern besuchte Strecken führte. Nament-
lich ist jener Teil derselben von Belang, welcher vom Lob-
nor, dem asiatischen Zentralbccken, mitten im härtesten
Winter von 1889—90 durch eine völlig menschenleere ent-
Globns LIX. Nr. 10.
schliche Wüstenei nach dem Tengri-See führte, der nur bis-
her durch den indischen Panditen Nain-Singh uns bekannt
war und von da bis fast vor die Thore Lhassas. Auch die
Reise von hier bis zu der chinesischen Stadt Batang führte
noch über jungfräulichen Boden.
Mit Recht sind die gegen Ende des Jahres 1890 zurück-
19
146
Bonvalots Reise nach Tibet und quer durch Asien 1889 — 90.
gekehrten kühnen Reisenden in Paris glänzend empfangen
worden; sie verdienen unser Mitgefühl wegen der ausgestan-
denen Gefahren und Leiden, aber ebenso unsere Anerkennung
bezüglich des für die Wissenschaft geleisteten. Ein vor-
läufiger, aber sehr belangreicher Bericht Bonvalots, erschie-
nen mit (provisorischer) Karte und Abbildungen in einer
Beilage zu der Zeitschrift Le Temps (Januar 1891) setzt
uns in den Stand, schon setzt die wichtigsten Ergebnisse und
den Verlauf der Reise unsern Lesern mitzuteilen.
Die Kosten der Reise trug der Herzog von Ehartres, der
Vater des jungen Prinzen Heinrich von Orleans; die Füh-
rung hatte der erfahrene Gabriel Bonvalot, dessen Reisen
in Afghanistan und Mittelasien ihn bereits bekannt gemacht
hatten. Am 6. Juli 1889 wurde Paris verlassen, in Mos-
kau ein großer Teil der Ausrüstung besorgt und dann ging
es über den Ural nach Omsk und weiter nach dem russischen
Grenzorte Tscharkent an der chinesischen Grenze, wo die
Karawane organisiert wurde. Es verursachte dieses große
Schwierigkeiten, allein hier schloß sich ein früherer Reise-
gefährte Bonvalots, der Osbege Rachmed, ihnen an, ein
Mann, der später von großem Nutzen wurde. In Kuld-
scha, dem ersten chinesischen Orte, trat noch der belgische
Missionar de Deken zu ihnen, ein lange dort ansässiger,
das Ehinesische vollkommen sprechender Mann; auch dessen
christianisierter chinesischer Diener Bartholomäus zog mit.
Dazu kam ein ehemaliger Genosse Prschewalskis, Abdullah,
der chinesisch und mongolisch redete und als Dolmetsch an-
geworben wurde. Das war, außer Dienern und Trägern,
der Hauptstock der Karawane. Einen chinesischen Paß hatten
sich die Reisenden absichtlich nicht verschafft; denn, sagt Bon-
valot mit Recht, wußte man in Peking um unsere Reise,
so fand man auch Mittel sie zu vereiteln und uns von dem
unmittelbaren Vordringen auf dem südlichen Wege nach Tibet
abzuhalten und auf die östlichen Wege nach Tsaidam zu
drängen, wo wir auf bekannte Gegenden gestoßen wären,
auf die von Prschewalski, Richthosen, Szecheny erforschten
Teile Chinas.
Auf gewöhnlichem Wege wurde der Tian-Schan über-
stiegen; es war diese immerhin schwierige Aufgabe, die unter
strömendem Regen und bei heulendem Sturme vor sich ging,
eine Vorbereitung für das folgende, weit schlimmere und
gefährlichere Reisen. Es begann das Zeltleben, das Trin-
ken von zahllosen Tassen Thee, der Genuß von oft ranzigem
Hammelfleisch. Dazu der gewaltige Temperaturwechsel,
denn im Thale des Knnges hatte man Temperaturen von
4- 40° E. im Schatten und im Hochthale des Julduz solche
von — 20° E. während der Nacht.
In Korla, jenseit des Tian-Schan unter dem 42.
Breitengrade gelegen, versuchten die Chinesen die Karawane
aufzuhalten und zurückzuschicken. Die Franzosen kümmerten
sich aber nicht darum und besorgten hier ihre letzte Reise-
ausrüstung, namentlich die Anschaffung von reichlichen, aber
sehr einfachen Lebensmitteln, denn sie wußten, daß sie Ein-
öden zu durchkreuzen hatten — und das zur Winterszeit!
— in denen durchaus nichts zu erhalten war. Reis, Brot,
Mehl, Salz, 6000 Pfund Gerste, lebende Schafe, das waren
die hauptsächlichen Lebensmittel.
Am 10. Oktober 1889 konnte Bonvalot Korla ver-
lassen und nun verfolgte er einen fast stets südlich gehaltenen
Weg, der ihn direkt auf Lhassa zuführte. Um den Koni-
sch e-Dar ja zu überschreiten, wurden von den Eingebore-
nen aus Pappelstämmen schnell zwei Flöße gebaut, auf
denen alles glücklich ans jenseitige Ufer gelangte. Entlang
dem Tarimflusse, der in den Lobsee mündet und der gerade
große Überschwemmungen verursacht hatte, ging es weiter
durch eine Landschaft mit hungerleidenden Bewohnern.
Tscharkalyk im Westen des Lobsecs war das letzte Torf,
das die Franzosen auf ihrem Wege nach Süden berührten.
Hier wurden noch Briefe nach der Heimat gesandt und des-
gleichen die bislang gemachten Sammlungen; darauf ging
cs in die große unbekannte Wüste, denn nur noch ein ver-
hältnismäßig kurzes Stück vermochten die Reisenden Wegen
zu folgen, die vor ihnen Prschewalski und der Engländer
A. D. Carel) (vergl. Proceedings Roy. Geogr. Soc. 1887)
gewandelt waren. Einige Eingeborene vom Lob-Nor, die
als Jäger und Goldsucher mit den: Lande vertraut waren
und später sich sehr nützlich erwiesen, wurden angeworben,
und nun zog man weiter, trotzdem die Leute erklärten, nicht
ins Unbekannte mit folgen zu wollen und ungeheuerliche
Schilderungen von den bevorstehenden Gefahren entwarfen.
Am 17. November brach die Karawane von Tschar-
kalyk auf. Es begann sehr kalt zu werden und alle hatten
ihre Pelze angelegt, dabei kamen Temperaturunterschiede
von 50° C. vor; — 16° C. in der Nacht, dagegen Mittags
st- 34° C. in der Sonne. Am folgenden Tage erblickten sie
die hohen Berge des Altyn-Dagh. Jenseits, so sagte
einer der landeskundigen Begleiter, beginnt das „Land der
Eiswinde". Damit waren die tibetanischen Hochebenen gut
gekennzeichnet. Unter großen Schwierigkeiten wurde am
23. November der „Sandpaß" überschritten, wobei bereits
die Bergkrankheit sich mit Kopsschmerz, Erbrechen und
Ohrensausen bemerkbar machte. Am 27. November wurde
die Sache noch schlimmer, denn nun gelangte man an den
„Steinpaß", der bereits 5000 m hoch liegt, wo man die
Kamele wegen der großen Steilheit abladen und das Gepäck
streckenweise tragen mußte. Nasenbluten trat ein, die Leute
warfen sich nieder und wollten nicht weiter, dazu kein
Tropfen Wasser, kein Strauch. Und weiterhin sahen die
Begleiter nichts als hohes schneebedecktes Gebirge. Alles
fluchte in türkischer oder chinesischer Sprache und war nahe
daran, weitere Dienste zu versagen.
Ein Thal folgte dem andern, eine Höhe, ein Paß dem
andern. Alles kahl, eisig, ohne Menschen und Pflanzcn-
wuchs, nur einige Bergschnfe (Ovis spec.), ein paar Kulans
(wilde Pferde), Raben und ein Flug langschwänziger Reb-
hühner wurden beobachtet. Am 4. Dezember 1889 lagerte
man an dem kleinen Salzsee Usun-Tschur, wo die
Franzosen zu ihrem Erstaunen Menschen bemerkten, die bei
einem Gestrüpp Feuer anmachten; es waren traurig aus-
sehende zerrissene Gesellen, die sich seit zwei Wochen von
Fleisch nährten, das sie vor dem Genusse auftauen mußten,
Jäger, die vom Lob-Nor in diese Einöden gekommen waren.
Aber noch eine andre, wichtigere Begegnung machten
hier die Reisenden, die ihnen den Beweis lieferte, daß sie
sich auf dem richtigen Wege befanden. Sie kamen an einer
Kalmückenkarawaue vorüber, bei der sich in einem Trag-
sessel ein verschleiertes Lama befand — es waren Pilger,
die von Lhassa zurückkehrten, und der Zustand der Füße
ihrer Kamele bewies, daß der Weg dahin nicht ganz schlecht
sein konnte. Es galt nun, den Spuren derselben in ent-
gegengesetzter Richtung zu folgen, jede Fußtapfe, jedes Häuf-
lein Mist mußte nun beachtet werden, der Blick war weit-
mehr auf deui Boden, als geradeaus gerichtet. Die südliche
Route war nun betreten und sie führte auch die Franzosen
bis dicht vor Lhassa hin.
Freilich, ein Teil der Begleiter, denen die Sache zu
gefährlich erschien, machte noch hier kehrt, mit dem Reste
aber begann frohen Mutes, wiewohl der bevorstehenden
Gefahren sich wohl bewußt, Bonvalot den Eintritt in die
eisigen Hochebenen Tibets. Das nächste Ziel war der von
Prschewalski und Carey erwähnte „See, der nie zu-
friert". Eine vollständige Wüstenei ohne Wasser und
Pflanzenwuchs nahm jdie Reisenden auf, die bei heftigem
W'nde und — 20° C. viel zu leiden hatten. Indessen, die
Bonvalots Reise nach Tibet und quer durch Asien 1889 — 90.
147
Lasttiere und Begleiter waren in gutem Zustande und
Lebensmittel für 5 bis 6 Monate vorhanden, so daß man
sich wohl in die Wüste wagen konnte.
Beim Eintritt in diese Wüstenei am 12. Dezember
hatten die Reisenden einen wenig ermutigenden Anblick.
Beim Überschreiten eines Eisbandes, das ihnen den Weg
sperrte, sahen sie die Kadaver von Kamelen und aus dem
Eise selbst herausragend die Rücken von Kamelen, die hier
mit ihren Führern ertrunken waren. Der Arm eines Kal-
mücken ragte gefroren heraus, als wollte er damit gegen den
Himmel drohen!
Nur mühsam konnte man bis zum 31. Dezember die
Spuren der Karawanenstraße verfolgen, da sie oft ans Kilo-
meter hin verschwanden; doch an Stellen, die vor dem Winde
geschützt waren, entdeckte man sic wieder. Wo früher
Karawanen gelagert hatten, da schlugen auch die Franzosen
ihr Lager auf und machten, nach Landessitte, Gebrauch von
dem Argol, d. h. dem trocknen Miste der Karawanentiere,
der in diesen Holzteeren Einöden als Brennstoff dient.
Namentlich der Mist der Pakrinder ist hierzu geeignet. Ab-
wechselung gewährte hier und da das Auftreten von Rudeln
der Orongoantilope, von anderen Tieren bemerkte man
Kulane (Wildpferde), einige Ratten, selten einen Wolf oder
Fuchs. Raben nährten sich von den Eingeweiden der von
den Reisenden geschlachteten Schafe.
Mit 36 Kamelen, 20 Pferden und 14 Menschen trat
am IO. Dezember 1889 die Karawane in die „große Ein-
öde^ ein. Ihre Lagerstätten befanden sich nun meist in
4000 und 4500 m Höhe, einmal auch in 5000 m — also
höher als der Montblanc. Daß dabei die Bergkrankheit
herrschte, ist natürlich. Wie mit gebrochenen Knieen, sich
übergebend, mit Nasenbluten, Ohrensausen, Kopfschmerzen
schwankten die Reisenden durch die Gebirgswelt dahin und
gegen Ende des Monats waren die Kamele und Pferde
kaum noch brauchbar. Ohne Unterlaß blies mit furchtbarer
Gewalt von früh bis abends der eisige Nordwest. Nachts
hatte man Minima von — 25° bis — 33° C.; tagsüber
hob sich das Thermometer bis —13° C. „Während eines
Sturmes, der 48 Stunden andauerte, schreibt Bonvalot
hatte wir ein Minimum von — 29» E. und das in einer
Höhe von 5000 m, c’est du quoi tuer hommes et
betes.“
Am 22. Dezember fiel das erste Pferd; ein Kamel-
treiber fiel besinnungslos hin, die Pferde hatten sieben Tage
lang nicht getrunken und nnr Eis gekaut oder Schnee ge-
leckt. Man schickte sie nach einer entfernten Quelle und
dabei verirrte sich der Ösbege Rachmcd, der 30 Stunden
ohne Nahrung in der Wüstenei umherlief. Am 23. Dezem-
ber starb der Kameltreiber Niaz, welcher der Bergkrankheit
erlag; in einer Höhe von 5000 m wurde er unter Steinen
begraben. Der Weihnachtstag wurde bei — 33° C. Kälte
und einem Stückchen trocknen holländischen Käses gefeiert.
Das neue Jahr 1891 brach heran; man hatte bei
fürchterlichen Sandstürmen in den letzten Tagen keinerlei
Spuren der „Straße" mehr gesehen und Bonvalot entschloß
sich nun, nur nach denn Kompasse zu reisen; man suchte
nicht mehr nach Spuren unb nach Mist, sondern verließ sich
im ganzen Berlauf des Januar auf den Kompaß, einfach der
südlichen Richtung folgend. Eine Bergkette folgte der an-
dern, ein Ouerthal auf das andere wurde durchschritten,
umgangen, auf- und abwärts, oft mit Enttäuschungen, in
wüster, menschenleerer, vorher niemals von Europäern be-
gangener Gegend, deren geographische Aufnahme dabei er-
folgte und deren Niedcrlegnng in den Karten von hoher
Bedeutung ist.
Es nahte setzt eine sehr wichtige, für die Geologie und
Geographie höchst schätzbare Entdeckung. Die Franzosen
bemerkten Laven auf der Steppe. Die erloschenen
innerasiatischen Vulkane, von denen (seit Humboldt)
oft die Rede war, in Entfernungen vom Meere, wie kein
andrer Vulkan der Erde, lagen vor den Reisenden. Sie
nannten den einen Vulkan Reck ns, den andren Vulkan
Ruysbrock, nach dem berühmten mittelalterlichen vlämischen
Reisenden. Im Angesicht der Vulkane gefror am 6. Januar
das Quecksilber.
Etwas mehr als durch Bonvalot erfahren wir aus einer
Mitteilung des Prinzen Heinrich (La Nature, 7. Februar
1891) über diese Vulkane. Die Laven hatte man bereits am
22. Dezember mit Erstaunen wahrgenommen und dann den
vereinzelt dastehenden Vulkan Reclus entdeckt. „Weiterhin,
heißt es dann, sahen wir bis zum 20. Januar Vulkane.
Die Laven sind sehr häufig. Einzelne Blöcke haben einen
Gehalt von 2 ebm. Besonders ist mir eine kleine Vulkan-
gruppe aufgefallen, welche jenen der Auvergne gleicht; sie sind
trichterförmig und haben einen kleinen Kegel in der Mitte.
Am 18. Januar fand ich in dem hohen Dupleiygebirge fos-
sile Muscheln (appartenant ä des terrains fort anciens,
tertiaires setzt Prinz Heinrich hinzu) in 5800 m Höhe.
In dieser Gegend sind die heißen, oft schwefligen Quellen,
die gefrorenen Geysir zahlreich." Erst wenn die volle Be-
schreibung dieser meerfernen Vulkane vorliegt, werden wir
die ganze Wichtigkeit der Entdeckung ermessen können, die
mit der Theorie, daß die Eruptionen an die Nähe des
Meeres geknüpft seien, im Widerspruch steht. Die meisten
der bisher bekannten Vulkane liegen auf Inseln oder an
Festlandsrändern; nirgends aber auch nur annähernd so weit
vom Meere entfernt wie die neuen inncrasiatischcn Vulkane.
Allmählich verloren die Pferde ihre Kraft; man mußte
absteigen und zu Fuße gehen. Am 8. Januar erreichte man
einen großen, mindestens 70 bis 80 km langen und 20 km
breiten See, der See Montcalm benannt wurde.
Am 13. und 14. Januar 1890 lagerten die Reisenden
in 5500 m Höhe. Ringsum war die Gegend vulkanisch,
mit Lava bedeckt. Das Lager befand sich am Fuße eines
8000 m hohen Berges. Am folgenden Tage wurde ein
6000 m hoher Paß überschritten, in dessen Westen sich ein
ungeheurer Gletscher ausdehnt und hinter dem ungeheure
Bergriesen sich erhoben. „Wir sind inmitten des höchsten
Gebirges, das wir gesehen haben; es ist weiß von Schnee
und Eis und wir nennen cs Dupleip-Gebirge." Am
Fuße dieses Gebirges und in dessen Felsen, in ganz bedeuten-
der, aber nicht angegebener Höhe, wurden Affen entdeckt,
die Prinz Heinrich (La Nature, 7. Februar 1891) als grau,
langhaarig und mit kurzem Schwänze beschreibt. Nur an
dieser einen Stelle wurde dieser Affe gefunden.
Auf gefrorenen Flußläufcn oder „wachsartigem" Eis
vorschreitend, stets möglichst nach Süden zu, glaubt Bonva-
lot sich im Gebiete der Ouellslüsse des Jang-tse-Kiang
befunden zu haben. Am 18. Januar bemerkte nian Wölfe,
Füchse und, in 5500m Höhe, Spuren eines Sommer-
lagers. Das hob sofort den Mut, denn man wußte nun,
daß man sich wieder bewohnten Gegenden näherte. Am
folgenden Tage kam man an heißen, wenig salzigen
Quellen vorbei und sah gefrorene Geysir; wilde Paks
kreuzten den Pfad; es schneite und die Temperatur wies
noch immer Minima von — 30° C. auf.
Ilm diese Zeit waren die Begleiter der Franzosen rein
„menschentoll" geworden. Alles sehnte sich nach dem langen
Zuge durch die Einöde danach, wieder einen Menschen zu
erblicken, gleichviel ob Feind oder Freund. Man spähte
fortwährend danach aus und als eines Tages ein Kamel-
treiber ein Seil fand, das anders gedreht war als die seinigcn,
da war die Freude groß und man sah die „Südmcnschen"
bereits im Geiste. Die Menschentollheit wuchs. Endlich,
19*
148
Bonvalots Reise nach Tibet und quer durch Asien 1889 — 90.
gegen Ende des Januar, wurden die Spuren von Lagern
und Herden immer häufiger. Die Tibetaner mußten bald
erscheinen. Unterdessen marschierte man über Berg und Thal
weiter; einem alten Kirgisen erfroren die Füße. Am
27. Januar entdeckte man einen fließenden Bach, an dessen
Ufern vom Bich ausgetretene Pfade hinliefen und mageres
Kraut zeigte sich am Abhänge der Berge. Das alles machte
den Eindruck des Paradieses auf die ans der menschenleeren
Wüstenei kommenden Reisenden. Im Bache schwammen
sogar Fische!
Die Lagerstätten mehrten sich, man war auf dem rich-
tigen Wege nach Lhassa und am 30. Januar erscholl plötz-
lich aus allen Kehlen der Ruf: Ein Mensch! Ein
Mensch! Liebenswürdige Aufnahme, Thee, Zucker, Brot
— alles stand für ihn in Bereitschaft. Aber was für ein
Mensch war dieses erste Exemplar eines Tibetaners, der den
Reisenden entgegentrat! Klein, mager, häßlich, bartlos,
mit langen, in Strähnen herabfallenden Haaren, mit winzi-
gen Augen, bewaffnet mit einer Luntenstinte — so wird er
geschildert. Er war über die bärtigen fremden Leute nicht
minder erstaunt, als diese über ihn. Revolver, Flinten, der
weiße Zucker, den man ihm darbot, alles war ihm fremd.
Gewaschen hatte sich dieser Tibetaner seit seiner Geburt
nicht und seine Achtung vor den Fremdlingen bewies er
durch das Herausstrecken seiner gewaltig großen Zunge. Der
brave Mann verstand weder chinesisch noch mongolisch und
da die Kenntnis des tibetanischen bei dem Franzosen gering
war, so beschränkte sich die Unterhaltung meistens auf die
Zeichensprache. Aber man hatte doch einen lebendigen Tibe-
taner in Händen: Und bald zeigten sich davon noch mehr,
die im Besitze von Schafen waren. So eröffnete sich denn
auch die Aussicht auf Flcischgenuß und da in jener Gegend
noch der Barrenverkehr herrscht, so konnte man gegen ein
Stück Silber Fleisch erhalten.
Die neuen Ankömmlinge versuchten die Reisenden von
der bisher verfolgten Straße nach Südwest abzulenken unter
dem Borgeben, daß dort bessere Weide zu finden sei; jene
aber beharrten aus der Fortsetzung der mit Glück betretenen
südlichen Straße und schritten damit immer mehr in be-
wohnte Gegenden vor. Reiter aus kleinen Ponies erschienen
Nachträge zur Karte der niederdeutschen Sprache.
149
und am 2. Februar sah sich die Karawane von beobachtenden
Reitern umschwärmt, die gelegentlich ihre Flinten abschössen.
Am 5. Februar endlich zeigte sich ein Häuptling, der in der
liebenswürdigsten Weise die Reisenden aufforderte, nicht
weiter vorzugehen; man verhandelte in mongolischer Sprache.
Natürlich kümmerten sich die Franzosen um den Wunsch
des Häuptlings nicht und als man ihnen den Ankauf von
Pferden verweigerte, die sie zum Ersätze ihrer abgetriebenen
Tiere dringend gebrauchten, nahmen sie dieselben mit Gewalt.
Der 13. Februar wurde wieder durch den Tod eines
der Kameltreiber bezeichnet, dann aber durch die Entdeckung
des großen Sees Namtso; dieser große Sec ist im Osten
von Gebirgen umgeben; im Süden erheben sich die schnee-
bedeckten Häupter des Nindjni-Tangla. Es ist dieses derselbe
See, der ans unsern Karten als Tengri-Nor verzeichnet
steht und von dem berühmten indischen Panditen Nain-Singh
erforscht wurde. Von hier ans drangen die Franzosen noch
zwei Tagemärsche weiter nach Süden vor, stets bedroht von
den Tibetanern, die sie vom Vordringen ans das nahe
Lhassa abhalten wollten. Drei- bis vierhundert mit Lanzen,
Säbeln und Luntenslinten bewaffnete Reiter umschwärmten
sic drohend und am 17. Februar 1890 waren sie endlich
genötigt Halt zu machen und Unterhandlungen zu beginnen.
Am 17. November 1889 waren sic in die große Wüstenei
eingetreten und bis zu dieser Haltestelle hatten sie etwa
1400 km im Winter durchreist; jetzt waren sämtliche Pferde
gefallen, die Kamele ganz unbrauchbar, um Lasten zu tragen;
unter den Leuten konnten höchstens sieben oder acht noch
gehen. Man begreift es, daß die Reisenden den Tibetanern
nicht länger widerstehen konnten und sich ans Unterhandlun-
gen einlassen mußten. Diese dauerten vom 17. Februar bis
zum 5. April und endigten damit, daß die Franzosen Lhassa
nicht betreten, sondern nach Osten abschwenken mußten; man
hatte sic für Russen gehalten und es gelang nur schwer, die
Tibetaner von dem Dasein eines französischen Volkes zu
überzeugen.
Der letzte große Abschnitt der wichtigen Reise begann
nun, jener von Lhassa nach Batang im westlichen Ehina.
Nicht auf der durch Missionare (Huc und Gäbet) bekannten
Straße, sondern ans einem ganz neuen Wege, der durch
viele feindselige wilde Völkerschaften führte, bahnten sich die
Franzosen ihren Weg, der abermals 1500 km lang durch
bisher nicht von Europäern bcschrittenes durchweg gebirgiges
Land führte.
Was die Bewohner in diesen tibetanisch-chinesischen
Grenzgcbirgen betrifft, die ethnographisch zu den unbekann-
testen, aber auch belangreichsten Stämmen Jnncrasicns ge-
hören, so erfahren wir einiges über dieselben aus den Schil-
derungen, die Prinz Heinrich von Orleans in der Uevue
des Deux Mondes (1. Februar 1891) veröffentlicht hat.
Alle die verschiedenen Stämme gleichen sich in bezug auf
das Äußere und die Kleidung. Alle tragen Schuhe von
farbiger Wolle mit Lcdersohlen und einen großen Mantel
aus Schaf-Fell oder grober Wolle als einziges Kleidungsstück.
Sie schnüren ihn über den Hüften ein und gebrauchen den
obern Teil als eine Art Vorratssack für Nahrungsmittel.
Oft entblößen sie den rechten Arm und die Schulter; in
ihren Bewegungen zeigen sie eine große Zierlichkeit. Unter
den Männern sieht man sehr schöne Gestalten mit seinen
Zügen, mit echt griechischem Profil, so daß sie einem
Bildhauer als Modell dienen könnten. Die Weiber sind
häßlicher; ihr breites rundes Gesicht und ihre Brust scheinen
nur ein grober Entwurf zu sein; man glaubt, diese seien nur
mit ein paar Messerschnitten, ohne jede feinere Verarbeitung,
aus dem vollen Fleische geschnitzt. Dieser Unterschied
zwischen Männern und Frauen erklärt sich dadurch, daß die
letzteren alle groben Arbeiten verrichten müssen, die Männer
aber nichts thun.
In Tatsien Lu trafen die Reisenden wieder (24. Juni)
die ersten Europäer, hier ansässige französische Missionare,
bei denen sie vortrefflich aufgenommen wurden, und von
wo sie am 28. Juni wieder nach der Provinz Setschucn
aufbrachen. Hier und in Mnnan befanden sic sich auf be-
kanntem Boden. Den Roten Fluß abwärts fahrend,
wurde am 28. September 1890 Hanoi, die Hauptstadt
der französischen Kolonie Tongking, erreicht und von hier-
auf dem Seewege über Suez die Heimreise angetreten. Die
äußerst fruchtbare und schneidig durchgeführte Reise hat im
ganzen 15 Monate gedauert und dem Führer derselben,
G. Bonvalot, die wohlverdiente große goldene Denkmünze
der geographischen Gesellschaft in Paris eingetragen.
Hier hat nur eine vorläufige Übersicht derselben gegeben
werden können — die näheren geographischen Ergebnisse
stehen noch aus.
Nachträge Zur Karte der niederdeutschen Sprache.
Infolge der Veröffentlichung der Karte in Nr. 2 deS
„Globus", welche die Südgrenze der niederdeutschen Sprache
darstellt, hat der Herausgeber verschiedene Zuschriften
erhalten. Namentlich ist auch die nach Ha ns Halters Er-
kundigungen in der Mark Brandenburg eingezeichnete Grenze,
welche das Gebiet im weiten Umkreise von Berlin vom
Niederdeutschen ausschließt, angegriffen und dieses dem Hoch-
deutschen zugewiesene Gebiet als noch vorherrschend nieder-
deutsch beansprucht worden; allein ohne daß von Seiten des
kompetenten Kritikers etwas positives an die Stelle gesetzt
werden konnte. Es ist daher die Aufklärung über die
Sprachgrenze in der Mark Brandenburg dringend zu
wünschen; der Herausgeber würde sich freuen, wenn er von
dort ans Zuschriften erhielte, welche auf Grundlage der
Sprachkenntnis uns über die Sprachgrenze aufklärten.
Thatsächliche wertvolle Berichtigungen erhielt der Heraus-
geber von zwei Seiten und diese gelangen hiermit zum
Abdruck.
1. Die niederdeutsche Sprache in Französisch-
Flandcrn und die Sprachgrenze in Belgien.
Don Johan Winkler. Haarlem.
Ungefähr seit dem Jahre 1870, als ich mein Werk „Al-
tern een Nederduitscli en Friesch Dialection“ schrieb,
und seit 1874, als dasselbe erschien, hat sich in Französisch-
Flandcrn bezüglich der vlamischen Sprache sehr viel ver-
ändert und verbessert. Die vlamische Sprache ist da wieder
vorwärts gegangen und mehr zu Ehren gelangt. Dieselbe
hat sich mehr ausgebreitet, auch in Strichen, wo sie um die
Mitte unsres Jahrhunderts schon ganz Vertrieben schien,
obgleich sie daselbst die eigentliche Volkssprache gewesen war.
So ist es gekommen, daß man jetzt wieder vor den Thoren
der Stadt Kales (Calais) vlamisch kann sprechen hören (wo
ja auch die Fischerbevölkerung vor Alters ausschließlich
vlamisch war), und daß seit 1881 in der katholischen Kirche
daselbst zeitweilig wieder in vlamischer Sprache gepredigt
150
Nachträge zur Karte der niederdeutschen Sprache,
wird. Sie können ruhig die gestrichelte Grenzlinie in Ihrer
Karte als die feste, abschattierte Hauptlinie ziehen. Die
gestrichelte Linie können Sie weiter westlich verlegen von
Kales (Calais) auf St. Omaars (St. Omer). Weiter
östlich fallen Waasten (Warneton) und Komm (Comincs)
noch ganz ins niederdeutsche Sprachgebiet und kann die
gestrichelte Linie bis Armentiers (Armentiercs), ja fast bis
Rijssel (Lille) laufen.
Meine Kenntnis von den Sprachzuständcn in Französisch-
Flandern hat sich sehr vermehrt, seit ich dasselbe bereist und
aufmerksame Umschau hielt, wie Sie (der Herausgeber des
Globus) dieses auch gethan haben, nach Ihrer Mitteilung
„Die Völkergrenzen in Frankreich" („Globus" XXXVI, 26)
zu schließen. Doch das Ergebnis meiner Untersuchung war
ein ganz andres als das Ihrige. Sie haben dort nicht
viel vlamisch mehr gehört, u. a. zu Hazcbroek nicht. Doch
spricht dort noch jedermann vlamisch, ebenso in Dünkirchen,
Bergen, Kassel, Belle u. s. w. Ach! Man hat mit Ihnen,
als einem Deutschen, mit dem man glaubte kein Vlamisch
sprechen zu können, einfach französisch geredet und so haben
Sie dort einen falschen Eindruck empfangen.
Alles, was in Französisch-Flandern — auch im Arron-
dissement Rijssel, d.i. Lille, in Halewijn (Haluin) u. s. w.—
seit 1870 auf sprachlichem Gebiete sich verändert hat, und
alles, was ich selbst dort beobachtet, gesunden und gehört
habe, finden Sie ausführlich beschrieben in meinem Werke
„Oud Nederland“, Haag, Ch. Ewings 1888, namentlich
in dem Hauptstück „Xodorlarid in Fraukrijk en Duitsch-
land“ S. 167 ff. Dasselbe bietet auch anderweitige Kunde
auf ethnographischem Gebiete für Niedcrland, Belgien und
Frankreich, ebenso über die Ausbreitung des friesischen Volks-
stammes in alter und neuer Zeit.
Es ist mir unklar, weshalb Sie die beiden Limburg
(holländisch und belgisch) größtenteils außerhalb der
Sprachgrenze legen. Diese beiden sind vollständig nieder-
deutsch. Wollen Sie sich überzeugen? Lesen Sie in meinem
Dialektikon das Gleichnis vom verlorenen Sohn in -der
Sprache der Städte Venloo, Roermonde, Maastricht, Hasselt
und St. Druiden einmal nach. Dann können Sie auch die
amtliche von der Regierung dort gebrauchte Sprache heran-
ziehen: Diese ist in Belgisch - Limburg die vlamischc und in
Niederländisch-Limburg die holländische Sprache. Zwischen
Vlamisch und Nordniederländisch (Holländisch) ist aber kein
größerer Unterschied als zwischen der Schriftsprache eines
Berliners und Wieners. Wie kann man nun dieses von
dem niederländischen Sprachgebiete ausschließen Ü?
Aber ich begreife wohl, woher dieses kommt. Die Schuld
von dieser falschen Auffassung wird wohl bei den hochdeutschen
Sprachgelehrtcn zu finden sein, die einen andern Maßstab
gehrauchen für das, was zum Niederdeutschen gehört und
was nicht, als wir hier in Niederland. Aber nicht alle
Hochdeutschen thun dieses. Es sind nur diejenigen, die allein
mit deutschen Verhältnissen rechnen, und auf das Germanische
außerhalb Deutschlands nicht Acht haben, die nur in Deutsch-
land Germanien finden. Diese beschränkte Auffassung führt
dann zu allerhand Mißbcgrisfen. — Die hochdeutschen
Gelehrten nennen nur Niederdeutsch, was Friesisch und
Sächsisch ist. Jedoch andre, zu denen auch alle nieder-
ländischen und belgischen Sprachforscher gehören, wissen sehr-
gut, daß Nieder-Fränkisch (in Deutschland auch Nieder-
Rheinisch genannt) nur Niederdeutsch ist. Ginge cs nach
jenen Hochdeutschen, dann müßte der größere Teil des cigent-
i) Es handelt sich hier um den niederrheinischen (ripuari-
schen) Mischdialekt, den ich auf Pros. Weinholds Autorität zu
dem mitteldeutschen stellte. Die Schwierigkeiten, die derselbe
für die Abgrenzung bereitet, und dasz dessen Stellung eine
fragliche sei, habe ich im Texte zur Karte hervorgehoben. A.
liehen Holland mit einem großen Teil von Utrecht und
Gelderland, Flandern, ganz Nord- und Südbrabant mit
Antwerpen außerhalb des niederdeutschen Sprachgebietes
liegen, denn dieses ist alles nieder-fränkisches Sprachgebiet.
Ich erlaube mir noch eine Bemerkung zu Ihrer Sprach-
karte zu machen. Gesetzt den Fall, Sie fänden in einer-
holländischen Schrift die Namen der deutschen Städte Köln,
Aachen, Eupen, Mainz auf französische Art als Cologne,
Aix-la -Chapelle, Neau, Maycnce geschrieben, so würden
Sie ohne Zweifel und mit Recht sich darüber sehr ver-
wundern. Nun, ebenso ärgerlich ist es für uns Niederländer,
die Namen unsrer Orte — gut niederdeutsche Ortsnamen
und lägen sie selbst in Frankreich — durch Sie und andre
Deutsche — Germanen wie wir — nach französischer Form
geschrieben zu sehen. Gravelines, St. Omer, Stecnbecque,
Morbecque, St. Pierre-Brouck, Hazebrouck, Bailleul, Warne-
ton, Comincs, l'Ecluse, Otrange, Bassange, Fouron-le-Comte.
— Brrr! Das ist für einen Germanen, für einen Nieder-
länder, um eine Gänsehaut zu bekommen! Das muß
Gravelingen, St. Omaars, Steenbcke, Moerbeke, St. Pietcrs-
Broek, Hazcbroek, Belle, Waasten, Komen, Sluize, Woute-
ringen, Bitsingen, 's Gravenvoeren heißen. Um nicht zu
sprechen von Calais = Kales, Boulognc — Booncn,
Roubaix — Rodebcke, Lille = Rijssel, Espierres — Spiers,
Russeignies — Roosnaken, Braine-l'-Alleud = Eigen-
brakel, da dieses Orte sind, die heute außerhalb der Grenzen
des niederdeutschen Sprachgebietes liegen und von denen cs
also zweifelhaft ist, oh man sie mit ihrer französischen oder-
germanischen (niederländischen) Bezeichnung benennen soll,
geradeso, wie es für einen Niederländer zweifelhaft ist, oh
man die Hauptstadt von Französisch-Lothringen mit den
Deutschen Nanzig oder mit den Franzosen Nancy oder ob
man Pruntrut oder Porrentruy (in der Schweiz) sagen soll.
Für meine Person ist mir das nicht zweifelhaft, denn als
Germane halte ich cs in solchen zweifelhaften Fällen mit
den Deutschen.
Ihre Sprachkarte bringt ferner noch zwischen Brüssel
unb Bergen (Mons steht aus derselben) einen Ortsnamen
Comte. Das muß Braine-le-Comtc sein, niederländisch
s'Gravenbraekel, im Gegensatz zu dem benachbarten Braine-
l'-Allend, Eigenbrakel. Zu meiner Freude lese ich aber auf
Ihrer Karte Doornik und nicht Tournai, obschon der Kon-
scgucnz wegen — da Sie Lille und Mons schreiben — hier
Tournai hätte stehen müssen. Übrigens hat auch Doornik
so gut wie Luik, Lüttich, eine hochdeutsche Namensform,
nämlich Thorneck. Dieser Name hatte im 16. Jahrhundert
in Deutschland Gültigkeit, so gut wie damals Antwerpcn
Autors genannt wurde. Die Nameuformcn Thorneck und
Antorf sind wohl gegenwärtig in Deutschland gänzlich außer
Gebrauch? (Ja!) Zum Schlüsse noch die Bemerkung,
daß Beauvechain zwischen Löwen und Dienen im Nieder-
ländischen nicht, wie aus der Karte steht, Bevckon heißt,
sondern Bcvecum (Varianten: Bcvecom, Bevckum); es ist
ein ursprünglich niederdeutscher Ort, der hochdeutsch Bcvinck-
heim lauten sollte.
2. Die unterste Saale keine Grenze zwischen
Mittel- und Niederdeutsch.
Von A. Kirchhofs.
Seit Jahrzehnten kehrt auf Karten, in Büchern und
Abhandlungen die Angahe immer wieder, die thüringische
Saale bilde von dem letzten an ihrem linken User (oder viel-
mehr an dem der Bode dicht vor ihrer Einmündung in die
Saale) gelegenen anhaltischen Orte Nienburg ab eine Sprach-
grenze, abgesehen von den Städten Kalbe und Barby, in
- welchen sich während unsres Jahrhunderts die hochdeutsche
Die deutsche Emin Pascha-Expedition unter Karl Peters.
151
Sprachform festgesetzt hat, rede man abwärts von Nienburg
links von der Saale niederdeutsch, rechts von ihr mittel-
deutsch bis an die Elbe, jenseit deren erst wieder all-
gemein platt gesprochen werde.
Da diesem Irrtum auch in der verdienstlichen Arbeit
Richard Andrees („Grenzen der niederdeutschen Sprache")
sowie ans der ihr beigefügten Karte jüngst in dieser Zeit-
schrift Ansdruck verliehen worden ist, so möge die Kleinigkeit
an dieser Stelle nachfolgend berichtigt werden.
Allerdings ließ noch 1874 ein ausgezeichneter Forscher
ans dem Gebiete geschichtlicher Volkskunde dieser mittleren
Elbgegend, Pastor F. Winter, den Satz drucken: „Unterhalb
Nienburg bildet die Saale die Grenze zwischen Mittel-
deutsch und Niederdeutsch bis zu ihrem Ausfluß."
Indessen stützte sich Pastor Winter bei seinen Belegen
für diesen Satz allzu sehr ans schriftliche Mitteilungen über
einzelne Wortformen, und das führt in Grenzgegenden
von dat- und das-Sprache leicht in die Irre. So hört
man z. B. in Brumby, einem Dorfe westwärts von Kalbe,
Wasser für water, in der jüngeren Generation setzt sich
Zeit oder Zit für tick fest, im übrigen gehört Brumby noch
wesentlich dem niederdeutschen Sprachgebiet an; man sagt
dort ik öke (ich auch), jrot (groß), tun (Zaun), perd
(Pferd), tarn (zahm), kintdepe (Kindtaufe) it. s. s.
Man muß eben den Wanderstab zur Hand nehmen und
die Leute an Ort nnd Stelle selbst sprechen hören, dann erst
darf man sich ein etwas besser begründetes Urteil über die
keineswegs so ganz einfache Grenzlegnng zutrauen. Und das
eben hatte Winter, ans dessen Autorität sich alle Neueren
berufen, an der in Rede stehenden Örtlichkeit unterlassen.
Durchwandert man nun dieses flache Schwemmland am
rechten Ufer der unteren Saale, das mit seinen Deich-
bauten, seinem saftigen Wiesengrün, seinen Windmühlen
vielfach an Holland erinnert, so hört man überall abwärts
von Nienburg den Bauer platt reden, wie es bei dem
(zwar nicht durch Brücken, aber durch Fähren vermittelten)
regen Verkehr zwischen beiden Flnßufern auch ganz natür-
lich ist. In den Dörfern nahe oder dicht am rechten Saal-
nser (Wedlitz, Wispitz, Schwartz, Trabitz, Groß- und
Klein-Rosenberg) erklingt niederdeutsche Zunge. Satze,
wie dat will ik de seihen (das will ich dir sagen), kann
Ulan dort überall hören. Daß schon bis hinab nach Klein-
Rosenberg Zit und Wasser an Stelle von tick und water
eingedrungen ist, bringt, wie die obigen Angaben aus der
Brumbyer Mundart beweisen, das Rechtssaalische keines-
wegs in Gegensatz znm Linkssaalischen, ebensowenig der
Umstand, daß auch hier Jüngere mehr der mitteldeutschen
Sprachweise zuneigen. Dabei vernimmt man daselbst, übri-
gens wie anderwärts im Saalgebiet, gleichfalls recht thürin-
gische Anklänge wie fingen (finden), hingene (hinten),
hitsche (Fußbank), wän (Wagen), marcht (Markt).
Auch in Breitenhagen, östlich der beiden Dorfschaften
Rosenberg, am linken Elbnser wird wat, dat, ik ge-
sprochen, neben jröt (groß), op (ans), kiken (sehen), sepe
(Seife), allerdings zün (Zaun), ferd (Pferd) n. a. Erst
zwischen Breitenhagen nnd dem viel südlicheren Löderitz
ist die Grenzlinie gegen das Mitteldeutsche zu ziehen. Der
Zwickel zwischen unterster Saale und Elbe gehört mithin
ebenso wie der zwischen unterster Werra und Fulda dem
niederdeutschen Sprachgebiet.
Die deutsche (Emm Pascha-(Expedition unter Karl Peters').
Ist das große, fast eine Million Quadratkilometer nm-
sende, mit der Farbe Deutschlands bedeckte Gebiet inOst-
cika einer Lawine zu vergleichen, so ist sicher Karl Peters
e Stein gewesen, der sie ins Rollen brachte. Es ist be-
ant, wie er als junger Mann, der noch im dritten Jahr-
)nt seines Lebens stand, ans gut Glück sich dorthin begab
ld die ersten „Verträge" abschloß, die den Kern unserer
'afrikanischen Besitzungen bargen. Im Erfolge läßt sich
ne zweite afrikanische Reise, die er als Führer der dent-
jen Expedition zum Entsätze Emin Paschas unternahm, mit
t ersten nicht vergleichen; denn seine „Verträge" waren
>rch das höher stehende deutsch-englische Abkommen hin-
klig geworden nnd Emin Pascha ist auch nicht durch Peters
ssetzt worden. Aber trotzdem ist diese Expedition ein Wag-
nck besonderer Art, ein Akt kühner Thatkraft nnd Ent-
stossenheit gewesen nnd auch die Wissenschaft hat dabei
ancherlei gewonnen.
x Das Buch, das diese Expedition in überaus fesselnder
Csise schildert, zeichnet sich äußerlich vorteilhaft ans, über-
list hierin die neuesten englischen Afrikawerke, jene Stan-
hs, Jephsons, die daneben gewaltig abfallen. An inter-
santen Abenteuern, spannenden Kriegsgeschichten, Leiden,
^'fahren, Kraftentschlüssen steht cs auf der Höhe, nnd wer
trau Gefallen findet, wird es befriedigt aus der Hand legen.
x) Tic deutsche Emin - Pascha - Expedition von Tr. Karl
ners. Mit dem Bilvnis des Verfassers nach Franz v. Lein
, 32 Vollbildern in Tondruck und l>6 Textabbildungen von
891 ^gre^vc> sowie einer Karte. München, R. Lldenbourg.
Trotz vielen Widerstandes wurde ant 31. Januar 1889
die Expedition von dem Emin-Pascha-Komite beschlossen
nnd schon am 1. Februar ließ Dr. Peters den Telegraph
nach Aden zur Anwerbung von Somalisoldaten spielen. Am
25. reiste er nach Ostafrika ab, am 31. März war er in
Sansibar, wo er durch einen Rattenkönig von Zettelnngen
und Widerwärtigkeiten sich durcharbeiten mußte. Es schien
nicht weniger als alles schief zu gehen. Die Engländer, an
der Spitze der Admiral Fremantle, der die Küste blockirte,
versuchten alles, um den Zug zu hintertreiben; die eigene
deutsche Regierung that auch nichts für Peters, war seinem
Unternehmen durchaus abhold. Die Waffen wurden von
den Engländern beschlagnahmt; der Sultan von Sansibar-
erklärte, jedem Schwarzen, der mit Peters ginge, den Kopf
abschlagen zu lassen — nnd doch landete Peters, täuschte
die ganze britische Flotte und lachte den Admiral aus. Seine
Landung in Kwaihn bei Lamn (2° südl. Br.) ist ein Meister-
stück kühner Entschlossenheit. Der britische Admiral aber,
der fünf Tage mit seinen Kriegsschiffen Peters aufgelauert
hatte, lief wutschnaubend nnd mit den Füßen stampfend
umher, er verhinderte nur noch, daß Peters seine Waren
zugingen nnd ließ an diesen seinen Arger aus. Das ist
alles sehr lesenswert nnd hat politischen Beigeschmack.
Veit mühselig zusammengerafften Waren und Waffen
rüstete Peters im kleinen, damals unabhängigen Sultanat
Witu seine Karawane aus und mit dem Leutnant von
Ticdemann als einzigem weißen Gefährten hat er schließlich
seinen Zug ausgeführt, der ihn den Tanastuß aufwärts, am
schneebedeckten Kenia vorüber, zum Baringosee, um den
152
Die deutsche Emiu Pascha-Expedition unter Karl Peters.
Viktoriasee herum und wieder zur Ostküste zurückführte.
Wir wollen hier zuerst eine allgemeine Übersicht der Reise,
unter Hervorhebung verschiedener Einzelheiten, geben, und
dann das geographisch wichtige ans derselben besprechen.
Auch bei Peters wird uns die Geschichte des afrika-
nischen Trägerelends, das Davonlaufen der Angeworbenen,
das Stehlen der Güter u. s. w. nicht erspart. Man kann
davon nur sagen toujours perdix und es geht da den
Menschen wie den Leuten. Der endgiltige Abmarsch von
Witu fand am 26. Juli statt. Die ganze Expedition be-
stand aus den beiden Weißen, durchschnittlich 60 bis 80
Trägern, 16 Kamelen und 6 Eseln, einem Dutzend Somal
als Soldaten; auch ein kleines Geschütz wurde mitgeführt.
Man zog den Tana aufwärts durch das Gebiet der
Wapokomo, eines Negerstammes, und gelangte dann bei
Oda-Boru-Rnwa zu den Gallas, wo ein längerer Aufent-
halt (24. Sept. bis 21. Oktober) gemacht wurde. Vom
Sultan Hnjo wurde Peters gut aufgenommen.
„Diese Gallas sind im allgemeinen von imposanter Er-
scheinung. Hoch und schlank gebaut, tragen sie denselben
Typus, welchen ich in Witu an den Somalis bewundert
hatte. Der Gesichtsschnitt weicht von dem der Neger voll-
ständig ab und erinnert in seinen schmalen feingeschnittenen
Zügen durchaus an den der Kaukasier. Schwermütig schauen
dunkle Angen ans denselben heraus, welche nur zu funkeln
beginnen, wenn die Leidenschaft die Herzen bewegt. So ge-
hören die Gallas zu den schönen Völkern der Erde, und sie
haben auch in ihrem Auftreten etwas Adeliges." Sie unter-
hielten in Oda - Born Wapokomosklaven, welche für
sie Ackerbau treiben. Nach Peters Schätzung verfügte der
Sultan über 1200 Krieger, es war aber der Rest eines
einst größeren Heeres und die Macht dieser nach allen
Expedition des Dr. Peters. Landschaft am Tana.
Seiten hin im Kriege befindlichen Gallas schmilzt mehr
und mehr zusammen. Peters schreibt: „So gleichen diese
Gallas von Oda-Boru-Rnwa den trotzigen, aber zum Unter-
gänge bestimmten Jndinnerstänunen Nordamerikas, und es
liegt ein Hauch von Wehmut über ihrem Geschick. Ich
faßte von vornherein eine starke Sympathie für diesen kriege-
rischen, aber so sehr bedrängten Stamm, zn diesen stolzen
Männern mit dem schwermütigen Blick und diesen in sich
gekehrten Mädchen, welche in ihrem Äußern durchaus an
den Typus der Zigeunerinnen erinnerten. Dies Interesse
ist bei mir nicht erloschen, als ich hernach im Fortgang der
Entwickelung durch die harte Notwendigkeit der Selbsterhal-
tnng gezwungen wurde, den Gallas mit Gewalt entgegenzu-
treten, und hat meine Haltung gegenüber dem Stamme
nach dem Gefecht, welches ich in der Nacht vom 6. Oktober
mit ihnen zu bestehen hatte, wesentlich bestimmt?' Das
kam aber folgendermaßen. Peters, dem die herrliche frucht-
bare Gegend gefiel, hielt es für an der Zeit, den ersten
Vertrag abzuschließen und die deutsche Flagge zu hissen.
Der Sultan wurde auch dazu bereit gefunden. Um zu sehen,
wie ein solcher Vertrag ausschaut, setzen wir denselben im
Wortlaut hierher, wobei man beachten will, daß — bei
unklaren politischen Verhältnissen — Dr. Peters sich persön-
lich das Eigentum zusprechen ließ.
„Dr. Peters erkennt als Sultansgebiet das Land am
Tana von Massa bis zum Kenia an. Sultan Hnjo tritt
mit diesem gesamten Gebiet unter den Schutz von Dr. Peters.
Dr. Karl Peters wird versuchen, für das Galla-Sultanat
die Freundschaft Sr. Majestät des deutschen Kaisers zn
erwirken. Indessen ist dieser Vertrag nicht abhängig von
der Erteilung des deutschen Reichsschntzes noch von der Rati-
fikation irgend einer europäischen Macht. Sultan Hnjo tritt
an Dr. Karl Peters das Recht der Ausbeutung des Landes
über und unter der Erde nach jeder Richtung ab.
Die deutsche Emiri Pascha-Expedition unter Karl Peters.
153
Dies Recht schließt insbesondere das ausschließliche
Handelsmonopol, das Recht, Plantagen anzulegen und das
ausschließliche Bergwerksmonopol ein. Wird Gold gefunden,
soll Sultan Hujo ein Viertel vom Reingewinn aus der Pro-
duktion desselben haben. Dr. Karl Peters soll höchster Herr
im Gallalaude sein, über die bewaffnete Streitmacht befehlen
und die Leute richten. Dies geschieht zum Segen und Wähle
des Gallalaudes. Dieser Vertrag ist nach mehreren langen
Konferenzen und nachdem sein Inhalt in einer großen öffent-
lichen Volksversammlung von den gesamten Gallas beraten
und einstimmig beschlossen worden war, am heutigen Tage
vom Sultan Hujo und Dr. Peters rechtsgültig abgeschlossen.
Dr. Peters. Handzeichen von Hujo.
Zeugen: v. Tiedemann, Handzeichen des Hujo Valo-
galgal, Bruders und Premierministers des Sultans, und
Handzeichen des Galgalla, Dolmetschers."
Auch eine hübsche Station, „von der Heydt-Haus" ge-
nannt, wurde erbaut. „Aber, sagt Dr. Peters, das Schick-
sal wollte unserm Aufenthalt doch nicht nur die reinen
Eindrücke friedlicher Arbeit aufstempeln." Es entstanden
Mißhelligkeiten und schließlich ein Kamps, in welchem an-
fangs Peters zu unterliegen schien. „Die Sache war einen
Augenblick kritisch; aber nachdem wir etwa im ganzen sechs
Salven abgefeuert hatten, durch welche der Sultan und
sieben seiner Großen niedergestreckt wurden, war die Sache
in drei Minuten entschieden und der ganze Stamm aus-
einandergesprengt. Die Gallas waren so sehr erschreckt,
daß einzelne von ihnen bis an die Küste flohen und hier
das Gerücht aussprengten, daß ich meinerseits gefallen sei,
wodurch dann Europa mehrere Monate unter dem Ein-
drücke stand, daß unsre Expedition am Tana gescheitert und
ich selbst tot sei."
Expedition des Dr. Peters. Der Kenia.
Die Sache schadete indessen nicht viel, denn mit dem
schnell nengcwähltcn Sultan schloß Peters wieder Frieden
und der neue Sultan erkannte den Vertrag an.
Der Weitermarsch begann nicht, ohne daß Peters das |
Schicksal befragt hatte. Sein Leierkasten spielte den Marsch ,
aus Earmen: Siegesbewußt, Mut in der Brust! Das
schlug durch und nun ging cs in die Steppen, immer am
rechten Tauauser hin. Mit dem Stamme der Wando-
robbo, die mit giftigen Pfeilen die Expedition beschossen, !
gab es bereits am 31. Oktober einen neuen Zusammenstoß.
„Schnell ließ ich den Sultan Niederschlagen und <in Ketten
legen, ergriff ihn sodann bei den Ohren und schob ihn als
eine Art Schild vor mir her auf die schießenden Wando-
robbo zu. Meinen Leuten verbot ich, auf dieselben zu
feuern, da ich Frieden mit ihnen zu haben wünschte."
Weiter aufwärts, wo Bantustämme am Tana wohnen,
traf man die Wadsagga, von denen Peters folgendes Bild
Globus LIX. Nr. 10.
entwirft: „Die Wadsagga haben etwas Sanguinisches in
ihrem Auftreten. Sic lieben cs, sich ritterlich herauszu-
putzen, mit mächtigen Federn sich zu schmücken und Eisen-
stücke an den Füßen zu tragen, welche beim Schritt gleich
Sporen klirren. Ihre Frauen sind üppige und lebens-
lustige Erscheinungen, reich geschmückt mit Perlen und
Ringen. Sie liebten cs, kokett mit ihren Anbetern vor
unserm Lager zu lustwandeln, um sich in ihrer Schönheit
bewundern zu lassen."
„Auch in dieses Land war noch keine Kunde von weißen
Leuten gedrungen. Ich glaube, man kannte hier auch nicht
einmal Araber oder Wangwana. Unsre Flinten hielten sic
für Knüppel, und als sie unsre Füße mit hohen Stieseln
bekleidet erblickten, fingen sie an, laut zu lachen, weil sie
der Meinung waren, wir hätten unsre Füße in Esclsbcinc
gesteckt, um besser marschieren zu können, oder wir besäßen
wohl gar selbst Eselsbeine." Auch mit diesen gab cs blutigen
20
154
Die deutsche Emin Pascha-Expedition unter Karl Peters.
Kampf; etwa 1000 Mann stark griffen sie die Expedition an,
wurden aber bei dieser Gelegenheit gewahr, wie es sich mit
den „Knüppeln" verhielt und stürmten in wilder Flucht davon.
Auf dem nun folgenden Abschnitte des Marsches, der
über die Hochebene von Leikipia führte, im Osten der Ge-
birge, die am Naiwaschasee sich hinziehen, traf Peters mit
den übelberüchtigten Massais zusammen. Der Engländer
Thomson, so zeigt Peters an der Hand des Werkes desselben,
habe sich feige gegen sie benommen und sei schlecht von
ihnen behandelt worden. Peters giebt eine sehr drama-
tische Schilderung des Volkes, das er mit Attilas Hnnney
vergleicht. Eine Hirtenbevölkernng, die ihr Vieh nicht zu-
gleich schlachtet, sagt er, sei sanft. Wo aber seit hunderten
von Geschlechtern der Hirte zugleich der Schlächter seines
Viehs ist, wie das bei den Mongolen ans den Hochplateaus
von Zentralasien und bei den Massais auf den zentral-
afrikanischen Plateaus der Fall ist, da muß durch Ver-
erbung ein fast absoluter Grad von Herzenßverrohung ein-
treten. Dieses Gesetz hat zu allen Zeiten die Hirten der
Nomadenstämme zu den wildesten Erscheinungen der mensch-
lichen Geschichte gemacht, wie wir sie in Europa durch Ge-
stalten wie Attila und Dschingis Chan verkörpert gesehen
haben. Es kommt nämlich zu diesem psychologischen Gesetz
hinzu, daß solche Rassen durch die Eigenart ihrer Beschäfti-
gung an jeder dauernden Seßhaftigkeit verhindert werden.
Die großen Herden, welche sic besitzen, erheischen eine fort-
währende Veränderung, des Wohnplatzes. Während der
Ackerbauer gezwungen ist, ans seiner Scholle fest zu sitzen,
an welche sein Herz sich hängt, ist der Nomade gleichgültig
gegen die Reize des eigenen Heims. Dort, wo Weide für
sein Vieh ist, wo Wasser zur Tränke vorhanden, dorthin
zieht er sich mit seinen Herden, und diese Übung von Jugend
auf macht ihn dann anderseits wieder befähigt zum Kriegs-
zuge über weite Räume hin. So sind die Massais der
Schrecken des gesamten Ostasrika geworden. Es ist dann
bald mit diesen Massais zu einer förmlichen Schlacht ge-
kommen mit vielen Toten auf beiden Seiten. Man möge
bei Peters die Schilderung nachlesen, wie er schließlich den
Massaiort Elbejet — wo Thomson etliche Jahre früher so
schnöde behandelt war, einnahm, ausplünderte und an acht
Ecken in Brand steckte. „Als die Adventglocken in Deutsch-
land zur Kirche riefen, prasselten die Flammen über das
große Kral an allen Seiten gen Himmel." Peters fand
43 Massaileichen, sämtlich die Kugeln von vorn. Die
tausende von kriegerischen, mit fürchterlichen Lanzen bewaff-
neten Massais nahmen aber keine Rache an Peters, denn
eine Himmelserscheinung kam ihm zu Hilfe, eine gänzliche
Sonnenfinsternis, die von den Massai für einen großen
Zauber des Fremdlings angesehen wurde. Das war der
Weihnachtstag 1880. Es ist dann Frieden geschlossen wor-
den, der von den Massai gebrochen wurde und zu wieder-
holten neuen Kämpfen führte.
Unter schwierigen Märschen, stets bedroht, ging ans
wasserarmen Hochebenen der Marsch weiter, meist in nörd-
licher Richtung; der Boden war vollständig schwarz, vulka-
nisch und der Name des Guaso Narok, der hier fließt, be-
deutet „schwarzer Fluß" und eine düstere, hoch emporragende
vulkanische Felspartie, zwischen der Einmündung des Guaso
Narok und des Guaso Nyiro, benannte Peters nach seinem
Vorgänger in diesen Gebieten „Teleki-Fels". In dieser
Region, östlich vom Baringosee, hatte die Expedition viel
von Wassermangel zu leiden und war nahe daran zu ver-
dursten.
Am 5. Januar 1890 war das liebliche blaue Becken
des Baringosees erreicht, in dessen poesievollem Bilde die
Reisenden gleich ihren Vorgängern schwelgten und da, wo
Thomson und Dr. Fischer gelagert, ließ auch Peters unter
friedlichen Menschen sich nieder. Das erste Hauptziel war
erreicht. Schon am 8. Januar schloß hier Peters mit den
Waknafi einen Vertrag, welcher ihr Gebiet unter seinen
Schutz stellte, dann ging es in geradem Zuge in westlicher
Richtung ans den Viktoriasee und das Reich Uganda zu.
Daß in Uganda zerfahrene politische Verhältnisse herrschten
und die Araber die Christen zu verdrängen bestrebt waren,
erfuhr Dr. Peters schon unterwegs, als er von den dürftigen
Hochebenen in das feste, Herden- und wildreiche Kawirondo
im Nordost des Viktoriasees hinabstieg; der ihm voran-
gehende Ruf als Besieger der Massai ebnete ihm hier die
Wege und verschaffte ihm beim Sultan Sakwa freundliche
Aufnahme, was er am I. Febr. 1890 sofort zum Abschlüsse
eines Vertrags benutzte, in dem der Sultan Dr. Peters
„unbedingt als seinen Herrn" anerkennt. Hier hatte auch
die englische Expedition unter Jackson gelagert und traten
bereits viele Spuren europäischen Einflusses ans.
Es begann nun abermals eine politische Aktion. Mit
einer Handvoll treu gebliebener Soldaten standen Peters
und Tiedcmann an den Grenzen des Ugandareiches, das in
der innerafrikanischen Geschichte eine so hervorragende Rolle
spielt, wo Speke, Grant, Stanley und zahlreiche Missionare
weilten und Protestanten wie Katholiken und Mohamedaner
um die Herrschaft sich rissen. Die Geschichte, wie Peters
in Uganda einzog und dort dem zum Christentum bekehrten
Könige Muanga gegen die mächtig gewordenen Araber bei-
stand und ihm zur Wiederausrichtnng seiner Macht verhalf,
ist in der letzten Zeit oft, wenn auch nicht so genau und
dramatisch, wie in dem Reisewerke, erzählt worden und darf
füglich übergangen werden. Was Jackson, den der König
dringend um Hilfe gegen die Araber gebeten, nicht gewagt,
vollführte Peters.
Beim Vorschreiten nach Westen im Norden des Viktoria-
sees, wo Peters in sehr wenig bekannte Landschaften kam,
überschritt er auch eine afrikanische Kulturgrenze. Als der
Ort Kwa-Tunga „von stolzen Mauern und hochgeschwnn-
genen Thoren umgeben" erreicht war, riefen seine Somal-
soldaten aus: „Habesch" und erläuterten dieses dahin, daß
genau wie hier die Dörfer in Abessinien gebaut seien. Auch
die Kleidung aus Rinderstoffen, von der Schwcinfurth,
Junker und Emin soviel erzählen, trat hier schon ans. Das
Land Usoga, in dem man sich befand, war kaum bekannt
und wurde von Peters zuerst erforscht, bevor er nach dem
wohlbekannten Uganda übertrat. Insofern war für Peters
das Land Usoga auch ein Wendepunkt in seiner Expedition,
als er hier die Gewißheit erhielt, Emin Pascha sei mit
Stanley abgezogen, nach der Ostküste hin. Der Zweck der
deutschen Emin-Pascha-Expedition war damit hinfällig ge-
worden.
Das war ein Schlag, der aber den thatkräftigen Reisenden
nicht niederwarf und zur Umkehr bewog, sondern ihn viel-
mehr zn neuen Thaten anspornte, für die in Uganda ein
ergiebiges Feld vor ihm lag. Zu Mbengo an der Murchison-
bucht des Viktoriasecs traf Peters am 26. Februar 1890
den König Ugandas, den er folgendermaßen schildert:
„Sowie wir in die Halle eingetreten waren, erhob sich
am äußersten Ende ein noch junger Mann von einem Sessel
in vollständig europäischer Tracht. Seine dunklen Augen
blickten wohlwollend zu uns herüber. Ein dunkler Bart
umrahmte ein Gesicht, welches einen fast europäischen Schnitt
besaß. Die Nase und der Mund waren regelmäßig geformt,
letzterer zwar ein wenig groß, aber ausgezeichnet durch tadel-
los weiße und schöne Zähne. Die ganze Erscheinung hatte
ans den ersten Blick etwas Angenehmes und Sympathisches.
Das war Muanga, Ugandas König, lange Zeit in der
europäischen Presse bekannt als der „Bluthund" Muanga.
Er trug einen schwarz und weiß karierten Anzug, Hose
Die deutsche (ginnt Pascha-Expedition Unter Karl Peters.
und Jackett, welcher seiner Erscheinung den Eindruck eines
wohlsituierten europäischen Herrn in der Sommerfrische
Verlieb “
verlieh."
Wir können hier die Haupt- und Staatsaktion des
Dr. Peters in Uganda nicht weiter verfolgen und erwähnen
ttltV hilf» Snvil'iili* A11t Oö ££i»flVltAV Sunt
ui uijuuuu muji luuui uci|uiycu uuu ciiuui/utJ
nur, daß derselbe bereits am 26. Februar mit dem König
einen Bertrag schloß, wonach dieser die Kongoakte aner-
kannte, und in „Freundschaft" mit dem deutschen Kaiser-
tritt. Der Sklavenhandel wurde verboten, Frieden zwischen
den verschiedenen Parteien gestiftet, das Land blühte schnell
wieder auf.
Ende März hieß cs, „denn dem väterlichen Herd sind
die Schiffe zugekehrt und zur Heimat geht es wieder". In
den hochgeschnübeltcn Ugandaboten wurde die Seefahrt an
der Westküste des Bictoriasees ausgeführt, dann dessen Süd-
westecke abgeschnitten und bei Niagesi in Usukuma am
13. April gelandet. Auf der Fahrt hat Peters mehrere
bisher unbekannte Inseln des Sees besucht und Spuren ge-
funden, die auf dessen periodisches Fallen und Sinken hin-
deuten, was er vulkanischen Ursachen zuschreibt.
In Nyangesi wurde Peters von einem elsässischen
katholischen Missionar deutsch begrüßt. Ein Missions-
gebäude, Glockengeläute, Studierzimmer vervollständigten die
günstigen Eindrücke, die Peters hier empfangen, und unter
solchen konnte er nun den letzten Abschnitt seiner Reise
durch bekannte Länder nach Sansibar antreten. Freilich an
harten Kämpfen, niedergebrannten Dörfern und wcggetrie
155
heiß geworden, daß ich sie
Jni Juni erfolgte in Mpuapua oas Zuiammernressen mir
^nün Pascha, der jetzt in deutschen Diensten stand. Am
16. Juli war Bagamoyo erreicht, am 25. August Berlin.
Es sind wenig Reisen in Afrika mit größerer Thatkraft
als jene des
einer Beziehung
Vi» |UIU lUt'lliy 141 W|UIU mu yu
und Entschlossenheit durchgeführt worden,
Dr. Peters. Das Buch wird in mehr als t-iuci ^¿u-yuuy
die Kritik herausfordern und großes Aufsehen erregen.
Schwer ist cs, von wohlgcborgenem Sitze in der Heimat ein
Urteil über das viele Blutvergießen zu füllen, zu denen die
harte Notwendigkeit getrieben haben mag. Die Liebe zum
Vaterlande und das strenge Arbeiten im Dienste desselben
ist einer der hervorstechendsten Züge bei Dr. Peters und
dieses soll ihm an erster Stelle angerechnet werden. Er i|t
Historiker von Fach, in den Naturwissenschaften nicht be-
wandert; er zog aus zu einer mehr politischen Expedition
und aus diesem Gesichtspunkte darf unsere Kritik an seinen
geographischen Forschungen nicht scharf ausfallen. Wir
'Nüssen dankend dasjenige annehmen, was er uns bietet.
Wenden wir uns nun zu diesen geographischen Er-
gebnissen der Expedition Peters, so fällt sofort auf, daß
der Tana auf seiner Karte einen durchaus andern Verlauf,
hon 8 förmiger Art, hat als auf allen bisherigen Dar-
stellungen. Im Oberlauf, am Kenia, stimmt Peters nicht
s»it den Aufnahmen des Grafen Teleki und Herrn v. Höhnet
überein. Der Mittellauf — jenseit der Endpunkte von
Denhardt und Pigott — ist durch Peters uns zum ersten-
male erschlossen worden und hier hat er die Karte auch mit
neuen Gebirgszügen bereichert und zahlreiche deutsche Namen
ln dieselbe eingetragen.
Was zunächst den Unterlauf betrifft, so schildert Peters
lhn als äußerst malerisch. „Vom Fluß ans angesehen,
Machen die Tanaufer durchweg einen landschaftlich sehr lieb-
lichen Eindruck, gleichviel, ob sic von Buschwald oder von
Anpflanzungen eingerahmt sind. Ist man außerhalb diescr
llmrahmung, so befindet man sich in der trockenen Steppe,
einein Terrain, welches für den Marsch außerordentlich
begneni ist, mit Mimosen verschiedener Art bestanden, deren
Dornen freilich, wenn man zu Pferde sitzt, einem oft un-
barmherzig Kleider und Haut zerreißen. Ost marschiert
man auch stundenlang durch Kakteenbildungen (?) hindurch,
deren harte Stacheln den Füßen der Träger und Lasttiere
gefährlich werden. Diese Steppe, durch welche der Tana
seine Fluten ergießt, ist ein Teil der großen nordostafrika-
nischen Randsteppen, in welchen die Somali und Gallas
Hansen. So unfruchtbar sie auch wegen ihrer Trockenheit
für Anpflanzungen aller Art ist, so stellt sie sich doch für
das Auge des Durchreisenden als im hohen Maße malerisch
und lieblich dar, zumal nach der Regenzeit, und bietet wegen
ihres außerordentlichen Wildreichtnms auch ein belebtes und
frisches Bild. Da ist die Antilope in mächtigen Rudeln,
da sicht man allmorgendlich die Losung des Elefanten und
die plumpen Spuren des Rhinoceros, da ergötzen sich die
Herden von Pavianen und andern Assen, und Böcke aller
Art sind ein willkommenes Ziel für die Büchse. In der
Lust aber tummeln sich Perl- und andere Hühner, oder cs
streicht die Wildente, die Gans oder man sieht den großen
Pelikan, Geier nnd Adler."
Etwas oberhalb Massa hört der eigentliche Unterlauf
des Tana aus, da, wo der Strom ein fruchtbares Alluvium
in der trockenen Steppe gebildet hat, und es beginnt dessen
Mittellauf, an welchem der Steppencharakter rein erhalten
ist. Der Mittellauf wird gekennzeichnet durch das Fehlen
des Alluviums und durch das unmittelbare Herantreten von
hohen Steppcnufern an den Strom.
Der Tana, von Galamba aufwärts, stellt eine ununter-
brochene Reihe von Jnselbildungen dar. Zehn Meilen ober-
halb Oda-Born-Ruwa fällt derselbe aus seinem Oberlauf
in den Mittellauf hinunter. Während er bis dahin in
Felsbetten sich fortbewegt, tritt er bei Hargazo in die sandige
Steppe ein, und dies führt bei dem schwankenden Wasser-
stande zu fortwährenden Neubildungen von Stromläuscn
und dementsprechenden Jnselbildungen. Dazwischen finden
seenartige Erweiterungen statt, so daß der Fluß sehr lebhaft
an die Havel zwischen Potsdam und Spandau erinnert.
Diese sämtlichen Inseln, deren einheitlicher Charakter von
Peters zuerst festgestellt wurde, ist mit einem Gesamtnamen
als Von der Heydt-Inseln auf der Karte eingetragen.
Am linken Ufer traten nun (unter 38° östl. L. und fast
unter dem Äquator) gewaltige Bergmassen im Norden
hervor, die Peters „Kaiser Wilhelms 1l. Berge" be-
nannte. „Besonders großartig hob sich nordwestlich von
uns eine Bergspitze hervor, welche in ihrer Gipfelung etwa
die Form eines halb umgekippten runden Gartentischcs
hatte. Hinter den ersten Ketten ragte Bergeshanpt über
Bcrgeshanpt empor. Wir standen tief ergriffen augenschein-
lich einem ganzen Gebirgslande gegenüber, welches noch
keines Weißen Auge erschaut haben konnte. Von dem
glühenden Abendhimmel hoben sich die Umrisse der Berge
besonders scharf und malerisch empor." Die südliche Ab-
dachung, die bis an den Tana herantritt, nannte Peters
„Bennigsen Kettr"; an dieselbe lehnt sich nach Westen
zu der „Kruppberg".
A,„ it;.~ <----
, ,__ , »wie ui'i oev
übrigen Gebirgen. Noch weiter aufwärts, wo nach Peters
Karte unter 37° östl. 8. der Tana ein Knie macht, bildet
derselbe eine Anzahl mächtiger nnd höchst malerischer Wasser-
fälle, unter denen der 100 m hoch herabstürzende Karl-
Alexander-Fall der bedeutendste ist, so daß er zu den
bedeutendsten Wasserfällen gerechnet werden muß. Jenseit,
d. h. westlich der Fülle, beginnt wieder rote Steppe, also
Latcritboden, und verschiedene Ströme, die Peters über-
schreiten mußte, eilen von Westen her dem Tana zu, darunter
20*
156
Die deutsche Emin Pascha-Expedition unter Karl Peters.
der 30 m breite Dika. Hier in einer Höhe von etwa 1000 m
sank das Thermometer bereits in der Nacht bedeutend. Es
war das schöne, fruchtbare Land Kiknjn, die Perle des
englischen Besitzes in Ostafrika, geeignet zur Ansiedelung für
europäische Bauern, die „Hochplateaumulde" zwischen dem
Kenia und den Bergen am Naiwaschasee. Am 9. Dezember
erblickte Peters zum erstenmale den stolzen und vornehmen
Kenia (5700 m), den nördlichen Genossen des Kilimand-
scharo, dessen Schneekoppe deutlich zu unterscheiden war.
Die Flora zeigte hier in Kiknsu Formen, welche an die
gemäßigte Zone erinnern, Eichen, frischen grünen Klee. Die
Nächte wurden bitter kalt, das Thermometer stand abends
ans st-8°E., des morgens lag Reif über der Landschaft.
Am 17. Dezember 1889 sank das Thermometer nachts
auf —20 C£. und die leicht bekleideten Leute schrieen vor
Kälte. „Wenn die Sonne stieg, schreibt Peters, hatten wir
das herrlichste deutsche August- und Septemberwetter. Die
Luft war oben so dünn, daß das Auge in unermeßliche
Fernen zu schweifen schien. Greifbar hebt sich ein Hügel,
ein Baum, ja ein Blatt am Baume in der kristallnen Lust
ab. Das Wild, welches in dichten besonnten Gruppen äst,
scheint so greifbar nahe zu sein, daß man unwillkürlich
immer wieder die Büchse anlegt, um es niederzustrecken.
Aber siehe da! Die Kugel schlügt in der Mitte zwischen
uns und ihrem Ziel ein! Zur Rechten aber den ganzen
hellen Morgen hindurch immer der Kenia, mit seiner sieben-
zackigen — so erscheint es uns — in den blauen Himmel
emporragenden Eiskrone sich stolz und vornehm empor-
hebend über die mitstrebenden Erhöhungen ringsum. Steigt
die Sonne um die Mittagszeit ins Zenith, so erhebt sich
auch die Temperatur bis aus 30» über Null. Aber nun
beginnt der Kenia, sein Eishaupt in den Wolken zu vcr-
Expedition des Dr. Peters. Teleki-Felsen.
hüllen, und bald am Nachmittag fällt ein Hagelschauer oder
ein Platzregen über unser Lager nieder, wodurch die Tem-
peratur alsbald wieder auf 17° bis 13° C. abgekühlt wird,
so daß wir von 5 Uhr ab unfreundliches und kühles
Novemberwetter haben. “
Die Gewässer von Kiknjn ergießen sich sämtlich in den
Tana. Nach Norden zu beginnt aber ein anderes Fluß-
gebiet, das des Gnado Nyiro, welcher von den Bergen des
Naiwaschasees kommt. Der Tana trägt in Kiknjn den
Namen Sagana; seine Quellen liegen am Kenia. Letzterer
Berg heißt dort Kilenia.
Über das im Westen des Kenia bis zum Baringosee
sich erstreckende Leikipia-Plateau waren wir bereits durch
Thomson u. a. vor Peters unterrichtet. Erst wieder im
Nordosten des Biktoriasees, nachdem er Kawirondo ver-
lassen, traf der Reisende wiederum auf Landschaften, die
ziemlich unbekannt waren. Beim Überschreiten des Sio, der
sich von Norden her in den Viktoria gegenüber der Insel
Usttguru ergießt, stand Peters vor zwei hohen Gebirgszügen.
„Zwischen beiden befindet sich eine Lücke von 3 bis 4 Meilen
Breite, welche ein gut angebautes, noch immer 1200 m
hohes Hochplateau darstellen. Ich habe als erster Weißer,
welcher durch diese Lücke hindnrchmarschiert ist und die Bil-
dung dieser Berge erforscht hat, die Gebirgsmasse int Süden
nach unserm Landsmanne, zu dein wir jetzt hinstrebten,
„Emin Pascha-Berge" benannt, während ich die Kette
im Norden nach dessen Freund und Genossen „Junker-
kette" getauft habe. Beide haben in ihrer Bildung gar
nichts miteinander gemeinsam. Die Eutin Pascha-Berge
erstrecken sich in westöstlicher Richtung, kehren sich nur mit
ihrer schmäleren Seite nach Kawirondo zu und gehören voll
und ganz der vulkanischen Umrahmung des Viktoriasees an,
während die Junkerkette nichts ist als ein südwestlicher
Ausläufer des Elgon. Natürlich gehören sie beide zu dem
Die deutsche Emin Pascha-Expedition unter Karl Peters.
157
großartigen vulkanischen System, welchem die gesamte Hoch-
plateanbildnng, über die wir gezogen waren, ihre Entstehung
verdankt. Als ich am Morgen des 5. Februar diese Be-
zeichnungen vornahm, hatte ich das Gefühl, daß wir in der
That nunmehr in die Regionen hineinzogen, in welchen
die Wirksamkeit dieser beiden Männer sich abspielte."
Ein weiter westlich liegender Hügelzug, der unter dem
1. Grad östl. V. von Nord nach Süd verläuft, wurde Wiß-
* c.t.r— (Hirsi
Land Ilsoga aus, bisher ein weißer Fleck auf der Karte.
Peters sagt über dasselbe: „Mola ist ein Teil des gesamten
llsoga, in dem es durch die Macht und Intelligenz seines
Sultans Wachore die leitende Stelle einnimmt, llsoga
scheint sich vom See bis 11/2° nördl. Br. hinzuziehen. Seine
westliche Grenze bildet der Nil, welcher hier Kiyira oder
auch Nyiro genannt wird. Im Osten grenzen die Wiß-
mannhügel das Land gegen die Walukuma und gegen die
Walundu nordwestlich davon ab. Dieses ganze Bändchen
gleicht, von einer Bergspitze aus gesehen, einer gewellten
See, deren Wellenkämme im Winde zerstäubt sind. Die
Hügelkümme sind meist mit Felsen oder Steinen gekrönt.
Der Übergang über die Erhebungen vollzieht sich ohne
Schwierigkeiten, in der Regel in Bananenhainen. Das ganze
Hügelland wird in llsoga Namakoko wa Wachore genannt.
Der Höhenunterschied zwischen Berg und Thal, welche lang
gestreckt und in unregelmäßiger Richtung sind, mag von 50
bis zu 100 in betragen. Erst wenn man sich dem Westen
Usogas nähert, treten energische Bergketten, die von Süd-
südwest nach Nordnordost streichen, auf. Sie scheiden das
Rilthal gegen Osten ab. Sie haben eine Breite von etwa
^i'ki Meilen und mögen Erhebungen bis zu 1800 in anf-
weisen. Nach Norden hin verloren sie sich in unabsehbare
Ferne. Der südlichste nnd, wie mir schien, auch bedeutendste
Berg in diesen Ketten, welcher sich bereits über den 'Nil
erhebt, heißt Ndira Mera. (Wera heißt weiß. Ob Ndira
wiederum mit Kyira oder Nyiro zusammenhängt, oder ob
vielmehr einfach „Weg" bedeutet, vermochte ich nicht zu ermit-
teln.) Ich habe diese Randketten „Reichardketten" benannt."
ün dem Lande wird besonders Bananenknltur getrieben.
Man brennt Pombe nnd Mrissa, Wein und Bier, aus den-
selben, zecht stark und befindet sich oft schon früh im ange-
heiterten Zustand. Die Biehzucht (Rinder, Schafe, Ziegen,
Geflügel) wird stark betrieben. Über die Bewohner äußert
sich Peters folgendermaßen:
„Überall sind die Wasoga ein liebenswürdiges, lebens-
lustiges Völkchen, bei dem der Biertopf nicht leer wird, nnd
Trommel mit Flöte Tag und Nacht in Bewegung ist. Der
Rasse nach gehören sie ganz und gar den Waganda an,
Bantugrundlage mit einem starken Zusatz nordöstlicher Ein-
wanderung. Aber sie sind sanfter von Gesichtsbildung und
gehören unstreitig zu den hübschesten Rassen des östlichen
Zentralafrika. Sie haben im Ausdruck ihrer Angen und
der Weichheit ihrer Gesichtszüge etwas entschieden Weib-
liches, und demgemäß ist auch besonders der weibliche Teil
der Bevölkerung hervorragend. Ihre Kleidung besteht vor-
nehmlich, wie bei den Waganda, in rötlichem Baumrinden-
gewebe, welches um die Taille mit einem Gürtel zugeschnürt
wird und den ganzen Körper bedeckt. Daneben sind aber
auch bereits viele Baumwollstoffe eingedrungen, so daß
eine Mannigfaltigkeit der Trachten zu bemerken ist. Als
Schmuck lieben sie Perlen und Ringe, von denen sie sehr-
geschmackvolle Eisenarbeiten selbst verfertigen. Außerdem
sind sie sehr geschickt in Holzflechtwerk nnd Matten. In
der That zeigt sich in der ganzen Art ein bemerkenswerter
158
Die Farbigen auf Haiti und Jamaika. — Eine elektrische Alpenbahn.
Grad von Gefälligkeit und Geschmack. Auch in ihrer Be-
wafsnung stellt sich der Übergang dieser Art aus einer Pri-
mitiven in eine höhere Kulturstufe dar. Speer und Bogen
scheint die ursprüngliche Volksbewaffnung gewesen zu sein,
neben dem Schild aus Holzgeflecht, phantastisch mit Fellen
geschmückt. Heute aber strebt jeder, der irgendwie mitzählen
will, nach der Büchse, und zwar gilt bei den Vornehmeren
der ursprüngliche Vorderlader schon keineswegs mehr für voll.
In Usoga wie in Uganda kaun man fast jede Art unserer
Gewehrmodelle vertreten finden bis ans das neueste hin."
Die Farbigen ans Haiti und Jamaika.
Dem siebzehnten Baude der großen Geographie von
Elistze Reclus entnehmen wir folgende Bemerkungen über die
gegenwärtige Lage der farbigen Bevölkerung auf den großen
Antillen.
Wenn man nur die Lage auf Haiti betrachtet, kann man
in der That daran zweifeln, ob der Neger im stände ist,
eine zivilisierte Gesellschaft zn bilden, und sich selbst zu regieren.
Ganz anders, wenn man Jamaika vergleicht, wo heute
625 000 Farbige nur noch 15 000 Weißen gegenüberstehen
und ihnen völlig gleichberechtigt sind. Trotz des Überwiegens
der Schwarzen gedeiht die Insel und ist zu einem wahren
Zivilisationszentrum geworden, das seine Einwirkungen be-
sonders auf Zentral-Amerika, Ankatan und Darien erstreckt.
Dieser Unterschied wird nicht durch die englische Regierung
bedingt, denn England kümmert sich sehr wenig um Jamaika,
sondern einzig und allein durch die andre Verteilung von
Grund und Boden. Auf Jamaika ist seit 1805 die Zahl
der großen Zuckerplantagen von 859 auf 300 (in 1865)
zurückgegangen; in ähnlicher Weise haben die Kaffeeplantagen
abgenommen; dieZnckeransfuhr ist gesunken von 137 000 Bon-
cants auf 23 750, die des Kaffees von 10000 auf 1350.
Aber die Insel ist darum nicht zurückgegangen. An die
Stelle der großen Pflanzer sind sofort die befreiten Sklaven
getreten und besitzen jetzt kleine Stücke derselben Plantagen,
welche ihre Väter unter der Geißel der Aufseher bearbeiten
mußten. Rur die wenigsten geben sich dazu her, gegen Tag-
lohn auf den Pflanzungen der Weißen zu arbeiten. Die
nleisten siedeln sich ans einem kleinen Landstück an und be-
baneu nur soviel Land, als sie für sich selbst nötig haben.
Innerhalb der ersten acht Jahre nach der Emanzipation
gingen 40000 ha Land in das Eigentum ehemaliger Sklaven
über und wurden gegen 200 Dörfer gegründet. Anfangs
wurden allerdings nur die nötigsten Lebensbedürfnisse gebaut,
Mais, Aams, Bananen, Orangen, aber jetzt fangen die Neger
auch wieder an, Zuckerrohr im kleinen zn bauen, und hier
und da bilden sich bereits Genossenschaften, welche ans ge-
meinsame Rechnung größere Fabriken mit modernen Maschinen
anlegen. Die Schwarzen sind im allgemeinen wohlhabend;
ihre Zahl steigt jährlich um etwa 8000, in 1888 sogar um
10000.
Ans Haiti hat man auch nach der Revolution (wie übrigens
unter der Herrschaft des Code Napoleon gar nicht anders
möglich) den Großgrundbesitz beibehalten; die einflußreicheren
Farbigen nahmen die verlassenen Plantagen in Besitz und
versuchten sie in der alten Weise zn bewirtschaften, natürlich
mit sehr schlechtem Erfolg, die große Masse der Bevölkerung
blieb ohne Grundbesitz. Erst 1883, 80 Jahre nach der
Erklärung der Unabhängigkeit, ist ein Gesetz erlassen worden,
welches die Staatsdomänen in kleine Besitze von \l/2 bis
21/2ha zerschlügt und diese den Bürgern überläßt unter der
Bedingung, daß sie dieselben mit Zucker, Kaffee oder andern
Exportartikeln bebauen. Man hofft davon einen ähnlichen
Aufschwung wie auf Jamaika. Er wäre sehr nötig, denn
Haiti befindet sich in einem überaus kläglichen Zustand. Die
große Masse der Bevölkerung ist völlig ungebildet und aber-
gläubisch bis zum Exceß; die Straßen sind im traurigsten
Zustand, die öffentlichen Gebäude bei den ewigen Bürger-
kriegen mehr oder minder zn Ruinen geworden, die Dörfer
sind jammervolle Haufen von Strohhütten. „Aber — und
hier kommt der Franzose zum Durchbruch — wie
gering die Bildung der Schwarzen von Haiti auch sein möge,
sie sind trotzdem ein sehr interessantes Volk durch ihren
offenen Geist, ihr verständiges Urteil und die Feinheit ihrer
Beobachtung. Sie haben einen großen Respekt vor Kennt-
nissen, und selbst in den abgelegensten Gebieten erhalten die
Kinder von den Alten wenigstens einigen rudimentären
Unterricht (?). Im Verhältnis zur Bevölkerungsziffer ist die
Zahl der nach Frankreich zur Erziehung gesandten Kinder
eine sehr beträchtliche und der Anteil, welchen Haiti an der
Zunahme der Litteratur hat, ist größer als der manches
französischen Distriktes. In bezug auf die Sprache ist Haiti
Frankreich; es hat Geschichtschreiber, Publizisten und be-
sonders Dichter, und manche Ode oder Elegie gehört zu dem
klassischen Hauptschatz der französischen Litteratur. Die Poesien
in ihrem köstlichen Kreolenpatois sind in naivem Reiz und
zarter Empfindung unübertroffen und kein Volk besitzt Sprich-
wörter von feinerer Beobachtung und schlagenderer Form. (!)
Der Hallenser ist sich vollkommen der Solidarität mit Frank-
reich bewußt, welche die Sprache ihm giebt, und so eifersüchtig
er auf seine politische Unabhängigkeit ist, so ist er darum nicht
minder stolz auf das Band, welches ihn mit seinem alten
Mutterlande verbindet, und er sucht es zn verstärken, indem
er alles nachahmt, was ihm von dort zukommt, Lieder, Feste,
Moden, politische Einrichtungen und Sitten." — Nur Schade,
daß diese Nachahmung bis jetzt keine besseren Früchte getragen
hat. Es lautet dieses alles sehr optimistisch und steht im
geraden Gegensatze zil den thatsächlichen Mitteilungen des
Engländers Spenser St. John in seinem vor einigen Jahren
über Haiti erschienenen Werke.
Die weiße Bevölkerung von Jamaika hat übrigens nach
den von Reclns mitgeteilten Ziffern des Zensus von 1890
gegen 1870 nicht abgenommen, sondern ist von 13 000 auf
15 000 gestiegen. Die verhältnismäßig viel stärkere Zu-
nahme der Farbigen entfällt nicht auf die Neger allein, sondern
umschließt auch die zahlreich eingeführten indischen Kulis und
Chinesen.
Eine elektrische A l p e n b a h n.
In verschiedenen Blättern wird für eine höchst merk-
würdige Bergbahn eifrig gewirkt, welche das höchste Ziel er-
reichen will, und zwar die Spitze des Großglockners. Als
System soll das vereinigte Adhäsions- und Zahnradsystem
gewählt werden, nur soll der Antrieb ans elektrischem Wege
geschehen, nachdem großartige Wasserkräfte zur Verfügung
stehen, für welche keine andere Verwertung möglich wäre.
Angeblich soll die Bahnlinie keinen besonderen Schwierig-
keiten begegnen, und dies mag bis zur geplanten Station
„Hofmannshütte" wohl der Fall sein, aber die Überschreitung
des Pasterzengletschers dürfte doch eine schwer zu lösende
Aufgabe sein. Einen Kuriositätswert wird diese Bahn
wohl besitzen, einen volkswirtschaftlichen aber nicht, ja selbst
die Bergsteiger werden kaum über den Plan entzückt sein,
welcher ihnen wieder einen Hochgipfel „verschandeln" soll,
denn in: Interesse der Nichtbergsteiger, welche dann die
Hanptmenge der Besucher bilden würden, müßte auch die
Besteigung des mittelst der Bahn nicht erreichbaren Gipfels
so erleichtert werden, daß jedes Kind hinaufzugelangen ver-
mag. Es eröffnet sich da eine unerwartete Aussicht für
die armen Schneeschanfler, welche im Sommer eine lohnende
159
Ans allen
Beschäftigung finden würden. Was doch die moderne
Technik für absonderliche Pläne zn ersinnen vermag, während
viel näher liegendes ihrer Beachtung entgeht! Der dem
Glocknerprojekte zu Grunde liegende Grundsatz, Eisenbahnen
in die entlegeneren Gebirgsthäler zn bauen, um ihnen einen
Anschluß an die großen Verkehrsadern zu schaffen, und zum
Betriebe dieser Seknndärbahnen die Wasserkräfte der Alpen
heranzuziehen, ist sowohl technisch als volkswirtschaftlich be-
gründet. Der Bau von solchen Bahnen könnte belebend ans
den Verkehr der betreffenden Thäler wirken, und die Aus-
fuhr von Holz, Erzen und edlem Steinmateriale möglich
machen, die jetzt kaum gewinnbringend wäre. Aber nein,
nicht die Thäler werden ins Auge gefaßt, wo derartige
Bahnen großen Nutzen stiften würden, sondern die Hoch-
gipfel, lvo schon jeder Pflanzenwuchs aufhört, und wohin ein
Verkehr nur während einiger Wochen im Sommer wahr-
scheinlich ist, wenn die Witterung günstig bleibt. Weit
nützlicher wäre eine elektrische Verbindungsbahn von Bruck-
Fusch über Fehrleiten, und die Pfandelscharte nach Heiligen-
Erdteilen.
blut, und durch das Müllthal hinaus, wobei der Besuch des
Großglockners wohl erleichtert, der Berg selbst aber unbe-
rührt bliebe. Ain Nützlichsten aber wäre cs, diesen Grund-
satz in einem minder schwierigen Gelände zn erproben, und
dazu empfiehlt sich die Strecke Saalfelden-Reichenhall wohl
am besten. Von Saalfelden bis Loser ist das Gelände be-
kanntlich sehr günstig. Diese Strecke könnte als erste Ver-
suchsstrecke gebaut werden. Eine Verlängerung bis zur
österreichischen Grenze, und von da bis Reichenhaü könnte
einer späteren Zeit vorbehalten bleiben. Eines muß betont
werden: der Grundsatz elektrischer Sekundärbahnen mit Wasser-
antrieb ist das einzig richtige für die Alpenthäler. Der
leichtere Unterbau, und der billigere Betrieb sichert ihnen
einen Gewinn auch dort, wo derselbe für Lokomotivbahnen
nicht vorhanden ist. Dies ist längst erkannt; hat sich ja
doch schon der Kaiser von Österreich gelegentlich der elektri-
schen Ausstellungen in Wien und Steyr geäußert, daß in
der Elektrizität das Mittel für die Verwertung der Wasser-
kräfte in den Alpen liege. Franz Kraus.
Aus allen
— Lngards Reise im Hinterland von Mombas.
Der in Diensten der englischen ostafrikanischen Gesellschaft
stehende Kapitän Lugard hat im verflossenen Jahre das
Hinterland von Mombas und den bei Malindi (3° 10'
südl. Br.) mündenden Sabaki erforscht. Sein Ziel war
Maschako, etwa 400 km in direkter nordwestlicher Richtung
von Mombas. In seiner Karawane befanden sich äußer-
ten Trägern eingeführte Perser und Indier, er hatte Maul-
tiere, Esel und Kamele, die sich nur ans offenem Boden, aber
nicht im Busche bewährten. Der Sabaki, ans den Lugard
120 km nordwestlich von Mombas traf, ist für Kähne im
untern Laufe schiffbar. Das Land hob sich bald von 2000
auf 3000 m; es ist überall mit tiefen Einschnitten und meist
wasserlosen Flußläufen durchfurcht. Mit durchaus wüsten
Strichen wechseln reichere Landschaften und fruchtbare Thäler
ab, die „für die Ansiedelung von Persern und Indiern"
geeignet erscheinen. Schwierigkeiten bereiten die Einfälle
der räuberischen Massai, vor denen die Eingeborenen, fried-
liche Neger, große Angst zeigen. Lugard erbaute sechs
Rerschanzungen anf seiner Straße und nahm eine Karte
auf, die manches Neue bietet. Er fand viel Eisen, Graphit
uud Schwefelkupfer und deutet auch goldhaltige Duarz-
viffe an.
— Jacksons und Gedge sReise nach Usoga. Zwei
andre Angestellte der englischen ostafrikanischen Gesellschaft,
beide schon durch frühere Reisen bekannt, sind im verflossenen
Jahre bis nach dem durch Dr. Peters Reisen (oben S. 157)
bekannt gewordenen Usoga im Norden des Viktoriasees vor-
gedrungen und haben auch Uganda besucht. Mit einer Träger-
karawane von 500 bis 600 Mann verfolgten sie von Mom-
bas aus denselben Weg wie den oben erwähnten Lngards
bis Maschako und zogen von hier über Mount Elgon nach
Uganda, durch Gebiete, die durch Thomson, Teleki, Peters
bekannt geworden sind. Gelegentlich erfolgten Kämpfe mit
den Eingeborenen, „weil das Benehmen des Grafen Teleki
die Eingeborenen gegen die Weißen aufgebracht hatte". Die
Flagge der britischen Gesellschaft wurde fleißig gehißt.
Der Weg von Maschako zum Viktoriasee wird als schwierig
geschildert. Der Man-Abfall wird zn 3000 m angegeben,
'wch dessen Erklimmnng ein schönes Tafelland vor den
Reisenden lag. Die Schilderungen des Landes gleichen denen
Erdteilen.
des Dr. Peters, „welcher die deutsche Flagge in einem oder
zwei Dörfern gehißt hatte; doch als man deren Bedeutung
erklärte, wurde sie schnell herabgeholt". Der Mount Elgon
wurde nördlich umgangen; die Leute wohnen hier in natür-
lichen Höhlen, nicht in künstlichen, wie Thomson annahm.
Nördlich vom Berge dehnt sich trostlose Wüste aus. Die
Expedition lagerte in dem alten Krater des 43OO m hohen
Mount Elgon; der Krater ist nach Jackson etwa 13 km weit.
Usoga (Jackson schreibt Usogo) wird, ebenso wie von
Dr. Peters, von Jackson als äußerst fruchtbar, lieblich und
schön geschildert; es übertreffe das gelobte Uganda bei
weitem. Hier soll die Hauptstation der britischen Gesellschaft
errichtet werden.
Uganda, das nun betreten wurde, ist eine traurige
Wüstenei geworden; wildes Gestrüpp wächst auf den einst
üppigen Feldern — eine traurige Folge der inneren Kriege
und Revolutionen, überall fand man Leichen; das Volk
hungerte. Katholiken u n d P r o te st a n t en st eh en a u f d etit
schlimmsten Kriegsfuße. „Muanga, der König, giebt
sich für einen Katholiken aus, doch sein Christentum reicht
nicht bis unter die Haut und nur aus Furcht verfällt er
nicht wieder in sein heimisches Heidentum." Die Mohamedaner
stehen an der Grenze und warten, bis sie wieder eindringen
können. Jackson konnte kaum Lebensmittel erhalten und
hatte Schwierigkeiten, einen Vertrag abzuschließen, da der König
ein Spielball in den Händen der Missionare. Die Prote-
stanten, Missionar Gordon an der Spitze, waren für den Ver-
trag; die Katholiken unter Pater Lourdel (der indessen starb) da-
gegen. Jackson ließ, da sonst seine Träger verhungert wären,
Gedge im Lande und ging zur Küste zurück. Gedge selbst
aber mußte sich nach dem Südufer des Viktoriasees flüchten.
In Uganda sei nichts mehr zu machen, meint er; man müsse
es aufgeben und Usoga statt dessen als vielversprechendes
Hauptquartier wählen. (Times.)
Was ist aus Uganda, dem einst blühenden, die
Hoffnung Jnnerafrikas genannten Lande mit seiner-
tüchtig veranlagten Bevölkerung geworden! Der
Übergang wird unendlich schwer uud fast scheint es uns, als
ob die alten Zustände, wie Speke und Grant sie vor bald
dreißig Jahren fanden, denn doch den heutigen vorzuziehen
seien, die sich dort seit dem Eingreifen der Europäer und
Araber entwickelt haben.
160
Aus allen Erdteilen.
— Spanier in Dr eut. Die Spanier in der Kultur-
zone des Departements Oran bilden 33 Proz. der Land-
eigentümer, 25 Proz. der Pachter und 75 Proz. der Tage-
löhner, wobei bemerkt werden muß, daß unter diesen Spaniern
nur solche zn verstehen sind, welche spanische Untertanen
verblieben ; wollte man jene dazu zählen, welche sich naturalisieren
ließen und dann als Franzosen geführt werden, so würde
das Verhältnis des spanischen zum französischen Element sich
noch um ein erhebliches zn Gunsten des ersteren wenden.
Von den Tabakpflanzern sind 40 Proz. Spanier. Im fran-
zösischen Heere sin Algerien) dienen 2643 Spanier. (Berichte
der spanischen Handelskammer von Oran.)
— Die heidnischen Stämme der Insel Panay und
Samar (Philippinen). Über die heidnischen Stämme
der genannten Inseln ist so gut wie gar nichts bekannt. Dies
gilt besonders von den „Wilden" des Binnenlandes von
Samar. Der spanische Arzt Dr. Lacalle Sanchez schreibt
ihnen chinesische Abstammung zn, zn welcher Annahme ihn
die hellgelbe Hautfarbe, die Form der Nase und die Schädel-
bildung verleitet. Es wäre gewagt, dieser Hypothese ohne
weiters zu glauben, denn die Spanier sind schnell bei der
Hand, philippinische Stämme wegen schiefgestellter Augen und
heller Hautfarbe von den Chinesen abstammen zn lassen.
Wenn es gestattet ist, in Vermutungen sich zn ergehen, so
ist eher anzunehmen, daß die „Wilden" von Samar entweder
einem den Bukitnon der Insel Negros verwandten Stamme
angehören oder Abkömmlinge von Rcmontados sind. Unter
letzteren versteht man auf den Philippinen jene zivilisierten
Malayen, welche, um dem Steuerdrücke oder der strafenden
Hand der Gerechtigkeit zu entgehen, sich in die Bergwildnisse
flüchten und dort nun ein unabhängiges Leben führen, welches
allmählich zur vollständigen Abstreifung ihrer spanisch-katho-
lischen Zivilisation führt. — Über die „Wilden", welche die
Cordillera Central der Insel Panay bewohnen, berichtet
derselbe spanische Arzt: Sie sind von kleiner Gestalt, die
Nase ist weniger plattgedrückt wie bei den Stämmen Luzons,
der Mund ist groß, der Prognathismus ist gering. Das
reichliche Kopfhaar ist „rauh" (also wohl — „straff") und
lang. Die Haut ist schwärzlich und von Hautkrankheiten
entstellt. Einige Familien erinnerten den Gewährsmann
an Stämme von Ost-Mindanao. Dr. Lacalle Sanchez sagt,
sie würden in Jlo-ilo Monteses genannt, das ist aber eine
ganz allgemeine Bezeichnung, die ans den Philippinen etwa
der Bedeutung des deutschen „Wilde" entspricht. Wahr-
scheinlich sind sie mit den Mnndos identisch. Der Padre
Reüz erwähnt auch, daß Catataugis auf der Insel Panay
wohnten, bemerkt aber zugleich, daß er von diesem Stamme (?)
nichts andres als den Namen kenne.
— Reisen des Don Jose Valero ini spanischen
Guinea-Gebiet. D. Iosa Valero gründete im Sommer 1890
eine spanische Faktorei der (spanischen) Dampfschiffahrtsgesell-
schaft La Campania Transatlàntica in Elobey Chico
und ging hierauf ans das Festland hinüber. Die Eingeborenen
am Rio Munda und Rio Noya baten ihn um spanische
Flaggen. Noya ist von Valangues und Pamües (Fan?)
bewohnt. Valero befuhr den Rio Benito, bis die Katarakte
seiner Fahrt ein Ende bereiteten, in seinem Oberlaufe heißt
dieser Fluß Bolo oder Eyu. Valero gründete während dieser
Reisen spanische Faktoreien: zwei ain Rio San Beristo,
die eine am rechten Ufer in Bolondo, die zweite am linken
Ufer in Membale, mit den drei Filialen in Jbots, Rumo
und Itale, eine am Congiie und war (Mitte September) im
Begriffe, eine weitere am Muni zu begründen. Die Land-
schaft zwischen dem Benito und Bota fand Valero bereits
von den Franzosen militärisch besetzt. Valero bewundert
den Wildreichtnm des Landes, besonders zahlreich sind die
Elefanten, welche bis an die Küste kommen. (Revista de
Geografía comercial.)
— Die kaukasischen Volkssagen von den Cyklopen
wurden zuerst von Prof. Anutschin in Daghestan aufgefunden,
später auch bei den Osseten und andern Völkern. Anutschin
nahm, an, daß dieselben zu den Avaren auf litterarischem Wege
gekommen seien, vielleicht in einer orientalischen Bearbeitung.
Prof. W. F. Müller, der über diesen Gegenstand auf der
russischen Archüologenversammlnng zn Moskau 1890 sprach,
ist jedoch andrer Ansicht. Er kennt fünf Formen der Cyklopen-
sage im Kaukasus: eine mingrelische, eine daghcstauische, eine
tschetschcnzische und zwei ossetische. Dieselben stimmen mit
der gleichartigen griechischen Sage ziemlich überein, nament-
lich hat die mingrelische Form der Sage eine große Ähnlich-
keit mit der letzteren. Müller ist der Ansicht, daß die
mingrelische Sage nicht aus der Odyssee geschöpft habe,
sondern vielmehr umgekehrt haben sich die Griechen das
orientalische Märchen angeeignet und dann ihrem National-
heros angepaßt, sowie sie es mit mehreren andren Sagen
in der Odyssee geniacht haben, die auch östlichen Ursprungs
sind. Diese Ansicht hat schon Gerland ausgesprochen und
Müller stimmt derselben bei.
— Spuren des Kannibalismus hat in der Volks-
poesie derWotjaken Prof. I. N. Smirnow auf dem russischen
Archäologenkongresse zn Moskau 1890 nachgewiesen. Nament-
lich in den Märchen sind dieselben vorhanden, wo, wie bei
manchen Naturvölkern, das Verzehren des Herzens des Feindes
vorkommt; auch Menschenopfer kommen in den Märchen vor.
Gott selbst wird für einen Kannibalen gehalten, der am Ge-
nusse von Menschenfleisch Gefallen findet. Der auch in
Deutschland noch nicht ganz verschwundene Glaube, daß man
die Eigenschaften von Leuten erwerben könne, von denen man
Teile verzehre, ist auch vorhanden. Bampyrglanbe fehlt
gleichfalls nicht. Entweder fordern die Vampyre menschliche
Opfer für dargebotene Schätze oder sie nehmen an den Eltern,
die ihre Erziehung vernachlässigten, Rache. Smirnow deutet
die von Herodot erwähnten, nördlich von den Skythen wohnenden
Menschenfresser ans die Vorfahren der Wotjaken.
— Das Dorf Luserna an der tirolisch-italienischen
Grenze östlich von Salurn auf den Höhen über dem Thale
des Astico war bekanntlich in Gefahr, bem Welschtum zu
verfallen. Indessen die vom Schulverein dort errichtete
deutsche Schule hat diese Gefahr gänzlich beseitigt, denn bei
der Volkszählung im Dezember 1890 bekannten sich von
den 797 Bewohnern des Ortes 775 als Deutsche und
nur 22 als Italiener.
— Madagaskar. Die Ersteigung des Berges Ambon-
drombo ist zum erstenmale von zwei Franzosen, Dr. Besson
und dem Pater Tulazac, ausgeführt worden. Bei den Bct-
sileo, in deren Gebiet der Berg liegt, gilt derselbe als heilig,
trotzdem gingen fünf Betsileo als Führer und Träger mit.
Der Anstieg, welcher von Amboasary ans unternommen
wurde, dauerte sieben Stunden. Die Höhe des Ambrondrombo
beträgt 1870 m.
— Auf der Insel Formosa, die von den Chinesen als
Versuchsfeld für abendländische Einrichtungen betrachtet tvird,
ist im Februar 1891 die Eisenbahn zwischen den beiden
im Norden gelegenen Städten Ki-lung und Tai-pei-fu er-
öffnet worden.
Herausgeber: Dr, R. Andrer in Heidelberg, Leopoldstraße 27.
Druck von Friedrich Vieweg und Sohn in Braunschweig.
Bd. LIX.
Nr. 11.
Herausgegeben
von
Richard Andrer
'Zlieiveg & Sohrr.
m - , Jährlich 2 Bände in 24 Nummern. Durch alle Buchhandlungen und Postaiistnlten iQOi
I' (l 1t tt | ClJ »U C t zum Preise von 12 Mark für den Band zu beziehen. -Io Jl*
Nordwestamerikanisch-polynesische Analogien.
Don 2ldrian Jacobson.
Bei aufmerksamer Betrachtung der Geräte und Erzeug-
nisse räumlich weit voneinander getrennter Völker, welche
unsre ethnographischen Museen uns jetzt gestatten, erstaunt
man oft über die großen hier vorhandenen Ähnlichkeiten.
Eine solche merkwürdige Übereinstimmung oder wenig-
stens Ähnlichkeit in der Kultur läßt sich in vielen Beziehungen
bei den Bewohnern der Südsee-Jnscln einer- und denen der
Nordwestküste Amerikas andrerseits feststellen, obschon das
Klima bei den ersteren ein tropisches, bei den letzteren ein
mäßiges und kaltes ist. Lasten diese klimatischen Unterschiede
auch bedeutende Verschiedenheiten in Kleidern und Gerät-
schaften erwarten, so findet man doch wiederum oft eine geradezu
auffallende Ähnlichkeit zwischen beiden sprachlich durchaus
verschiedenen Volksstämmen, die wohl kaum als bloßer Zufall
Zn betrachten ist. Selbst wenn man einen Blick ans die
religiösen Anschauungen und die Lebensweise dieser beiden
Völker wirft, so sind auch hier die Ähnlichkeiten viel größer,
als man bis in die Neuzeit hinein angenommen hat.
Wir wollen zuerst unsre Aufmerksamkeit den Ver-
zierungen der Häuser sowie dem allgemeinen Gebrauche
von Tanzmasken zuwenden.
Bekanntlich verzierten die alten Maoris ans Neuseeland
den Eingang zu ihren Häusern mit äußerst kunstvoll ge-
schnitzten Pfählen, die eine gewisse Verwandtschaft mit den
Stammbäumen der Eingeborenen Nordwest-Amerikas haben.
Äuch die Melanesier (besonders die auf Neu-Britannien
und Neu-Jrland), sowie die Mikronesier zeigen in den
Schnitzereien ihrer Totem- oder Wappenpseiler denselben
üdeengang, wie die Amerikaner. Sie reihen nämlich ihre
Wappentiere, Vögel, Fische, Ungeheuer und dcrgl., in der
Weste übereinander, daß ein Tier das andre zu verschlingen
scheint, um dadurch die enge Zusammengehörigkeit beider
auszudrücken. Leider kennt man hier die Bedeutung vieler
Einzelheiten noch nicht genau; wahrscheinlich wird aber der
Jdeengang und die Bedeutung solcher Pfähle ganz derselbe
sein, wie bei den Nordwest-Amcrikanern.
Die drei Hauptstämme Nordwest-Amerikas, die noch
Globus MX. Nr. II.
heute schöne Stammbäume besitzen, sind die Haida, Tschimp-
sian und Tlinkiten.
Mit wenigen Worten möchte ich wenigstens die Haupt-
stammtiere nebst ihren Begleitern nennen. Der Küsten-
bewohner Nordwest-Amerikas glaubt, daß in der Vorzeit ver-
schiedene Gottheiten in der Gestalt eines Naben, eines
Adlers, Wolfs und Bären auf der Erde wohnten. Sie
verwandelten sich häufig in Menschen, schlossen Heiraten mit
diesen und wurden Stammväter der jetzigen, dort lebenden
Geschlechter. Jedes von den vier erwähnten Tieren besaß
nun noch eine Reihe von ihnen untergebenen Tieren, so z. B.
den Grislybären, den schwarzen Bären, den Finwal, das
Birkhuhn, die Eule, den Zander, die Sonne und den Regen-
bogen. Dem Wolf diente ebenfalls teilweise der schwarze
Bär und außerdem der Kranich; dem Adler der Biber, die
Heilbut, der Katzenhai und der große Walfisch; dem Raben
der Killer (Delphinus orca), der Seelöwe, der Frosch und
der Teufelssisch. Da nun in Nordwest-Amcrika niemandem
erlaubt ist, ein Mädchen zu heiraten, das ihren Stammbaum
von derselben Gottheit ableitet, wie er selbst, so ist stets, um
derartige Mischheiratcn zu verhüten, das Stammtier von
Vater und Mutter auf dem Stammbaume eingeschnitzt.
Diesen eigentlichen Stammtieren folgen meist ein oder
mehrere untergeordnete, und da häufig das Geschlecht noch
außerdem einen berühmten Vorfahren, sei cs als Krieger
oder als Medizinmann, auszuweisen hat, so bildet ein solcher
bunt bemalter Totempseiler oft ein überaus reiches und viel-
gestaltiges Bild. Ehe die Indianer europäische Farben
kannten, war der Farbenschmnck ihrer Stammbäume denen
der Südsee-Jnsulancr fast gleich.
Die Masken zeigen teilweise auch eine Verwandtschaft,
doch repräsentieren die der Nordwestindianer meist nur sagen-
hafte Helden oder Dämonen und werden eigentlich nur für
religiöse Feste dramatischen Charakters gebraucht, während
die Mikronesier und Melanesier die Masken auch im Kriege
gebrauchen sollen. Beide Völker schnitzen und bemalen ihre
Masken äußerst kunstvoll.
21
162
Adrian Jacobsen: Nordwest amerikanisch - polynesische Analogien
Unter den Waffen finden wir bei den Maoris früher
allgemein im Gebrauch eine Kriegskeule, meist aus Walfisch-
knochen oder Nephrit- und andern Steinen verfertigt; genau
dieselben Waffen brauchten die Bewohner von Vancouver
und den Königin Charlotte-Inseln; die Ähnlichkeit ist eine
so merkwürdige, daß sie selbst in Form und Größe dem
großen Entdecker Kapitän Cook auffiel, als er sie bei den
Maoris und daraus in Amerika sah. Nur bei solchen
Exemplaren, an denen Ornamente oder bildliche Darstellungen
vorhanden find, ist ein Unterschied zu erkennen, da die Nord-
west-Amerikaner mit Vorliebe an beiden Seiten der Keule
ein Ungeheuer in Form einer Riesenschlange einschnitzen, die,
wie einige Stämme behaupten, in Flüssen, wie andre meinen,
im Walde und im Gebirge lebt.
Betrachtet man die Bekleidung, so fällt es sofort auf,
daß die an der Küste lebenden Völker, obschon sie in einem
ziemlich kalten Klima wohnen, den Gebrauch von Bein-
kleidern nicht kennen, während alle Jndiancrstämme, die
im Binnenlande unter demselben Breitengrade wohnen, stets
Beinkleider tragen. Es kommt vor, daß Indianer an der
Küste auf Schneeschuhen mit bloßen Füßen gehen; ihre
Kleidungsstücke sehen fast ebenso aus wie die der Maoris
auf Neuseeland, sowohl hinsichtlich der Form wie auch des
Stoffes und der Herstellungsart; die Ähnlichkeit ist so groß,
daß einige Decken, von jeder Gegend nebeneinander aufge-
hängt, kaum zu unterscheiden sind. Ferner tragen die
Indianer Pellerinenartige Umhänge, die in Form den Feder-
kragen der Hawaii-Insulaner vollständig gleichen. In Wcst-
Vancouver tragen die Frauen Schürzen ans Baumbast als
Bekleidung; es ist sehr wahrscheinlich, daß dieselben, ehe
europäische Waren dorthin kamen, an der ganzen Küste
getragen worden sind. Diese Schürzen gleichen denen der
Polynesier und Melanesier vollständig. Ebenso lieben es
beide Völker, ihre Köpfe mit Ringen und Federn zu schmücken.
Die Indianer Nordwest-Amerikas sind, wie cs die
Wohnplütze an der Küste mit sich bringen, weit eher ein
Fischer- als ein Jägervolk. Deshalb sind sic auch vorzüg-
liche Seefahrer, welche Reisen bis gegen 1000 englische
Meilen an der Küste entlang mit ihren großen Kanoes
unternehmen.
Unter den Hausgeräten findet man besonders zwei Arten
von Steinh ämmern, die beide dieselbe Form in Nordwest-
Amerika wie in Polynesien (so z. B. auf Hawaii, Tonga,
Marquesas und den Ellice-Jnseln) und in Melanesien
zeigen. Die eine Art ähnelt dein Kopfe des Hammerfisches,
die andre ist cylindersörmig und endigt auf der einen Seite
in eine Glocke. Diese beiden Formen sind für die genannten
Gebiete typisch und man findet sie sonst nirgends in der
ganzen Welt. Sie werden gewöhnlich beim Holzspalten
zum Hineintreiben der großen, aus Knochen gefertigten Keile
benutzt. Auch schlägt man mit ihnen beim Zimmern der
Häuser und Kanoes das Stemmeisen. Auch die Axtgriffe
und die Art der Befestigung an den Holzschast sind bei den
polynesischen Völkern genau dieselben wie bei den nordwest-
amerikanischen; dasselbe könnte man auch von den Kawa-
schüsseln der Melanesier (Admiralitäts-Inseln) und der
Hawaiier sagen, die meist schön verziert und in Form von
Vögeln oder Fischen geschnitzt sind; denn diese Art der Ver-
zierung bei derartigen Schüsseln ist auch eine Besonderheit
der nordwestamerikanischen Völker. Eine weitere Analogie
bilden die Schlägel für die Tapa, jene berühmten, bunt ge-
druckten, aus Baumbast hergestellten Kleiderstoffe der Südsce-
Jnsulaner, da wir in Form und Größe genaue Gegenstücke
dazu aus Nordwest-Amerika besitzen.
Auch die Fischangeln der Indianer und die der Poly-
nesier sind in der Form vollständig gleich und von einem
so eigenartigen Typus, wie er, soweit mir bekannt, in der
ganzen Welt nicht wieder vorkommt. Der Haken, welcher
aus Holz besteht, ist eiförmig gebogen, derart, daß die beiden
Enden sich fast berühren. Der Widerhaken wird durch einen
Knochen hergestellt, der mit Bast ani Holz befestigt ist.
Der Küstenbewohner Nordwest - Amerikas nimmt im
Kriege nie den Skalp seines erschlagenen Feindes, wie
die Indianer der südlichen und östlichen Gebiete, sondern
den ganzen Kops und befestigt denselben auf einer
Stange außerhalb des Dorfes. Diese Sitte ist mehr oder
weniger auch in der Südsee verbreitet. Die Maoris be-
graben ihre Toten ans schön geschnitzten Pfahlgestellen;
ebenso setzen die nordwestamerikanischen Indianer ihre Toten
auf derartigen Gerüsten bei oder hängen sie in bemalten
Kisten an den Bäumen auf. Ferner zeichnen sich beide
Völker durch große Gastfreiheit, zahlreiche Feste sowie durch
große Tanzlust aus.
Die Haidaindianer tättowieren sich Brust, Arme und
Schenkel mit ihrem Stammbaumtier, während die Neusee-
länder gewöhnlich Kreise und Linien als Ornamente ver-
wenden.
Bemerkenswert ist vielleicht auch das Wort „tahi“,
das in Amerika soviel wie „heilig", „groß", „etwas Ver-
botenes" bedeutet, während man in der Südsee denselben
Sinn mit dem Worte „tabu“ verbindet. Ich will mich
weder für noch gegen die Möglichkeit aussprechen, daß Ein-
flüsse von der Südsee nach der Nordwestküste Amerikas
stattgefunden haben könnten, doch ist es immerhin sehr aus-
fallend, daß die so häufig wiederkehrenden Ähnlichkeiten in
der Kultur mit den australischen Inseln nur an dem Teile
von der nordwestamerikanischen Küste zu finden sind, wo die
von Westen herkommende Kuro-Siwo- oder schwarze Strö-
mung die Küste trifft, und wo die starken Westwinde herrschen,
welche in dem nördlichen Teile des Stillen Ozeans genau
dieselbe Nolle spielen wie im Nordatlantischen. So strandet
z. B. alles, was etwa von den Sandwichs-Jnseln her ins
Meer gerät und sich einige Zeit über Wasser zu halten
vermag, an der Küste von Nordwestamerika, und zwar nur
an dem Gebiete zwischen der Mündung des Kolumbiaflusses
und der Cooks-Insel, also gerade da, wo die oben erwähnten
Indianer wohnen, während die südlicheren am Oregon und
in Kalifornien wohnenden Völker kaum eine Spur von einer
Ähnlichkeit mit der Kultur der australischen Eilande anszu-
wcisen haben.
Wirft man schließlich noch einen Blick ans das Äußere
der beiderseitigen Völker, so ist doch auch hier der
Unterschied nicht so gewaltig, wie man gewöhnlich glauben
möchte, und ganz besonders will ich bei dieser Gelegenheit
ans die merkwürdige Ähnlichkeit hinweisen, die zwischen
den Haida-Indianern und einigen Stämmen der Vancouver-
Jnseln herrscht.
Ein Teil der Bevölkerung Nordwest-Amerikas trägt
allerdings einen etwas mongolischen Typus, der sich auch
bei einzelnen Individuen außerordentlich scharf ausprägt;
daneben finden wir aber auch, und besonders bei den Küsten-
bewohnern, eine ausfallend helle Hautfarbe, wie sic bei den
meisten Südsee-Jnsulanern vorkommt. Der Körperbau ist
bei beiden Völkern gleich gedrungen und kräftig.
So traf ich einmal auf einer kleinen Insel bei Vancouver
einen Sandwichinsulaner, der dort verheiratet war und
Familie besaß. Ich konnte zwischen ihm, seinen Kindern
und seinen Nachbarn keinen merklichen Unterschied weder in
der Statur noch in der Hautfarbe auffinden; nur die Haut
war ein wenig dunkler, so daß ich dem Gerede über die Her-
kunft des Mannes kaum Glauben geschenkt haben würde,
wenn mir derselbe, da er sehr gnt englisch sprach, cs nicht
selbst bestätigt hätte. Er war vor vielen Jahren mit einem
englischen Schiff nach London gekommen und von da mit
Franz Kraus: Die Dolinen des Karstes.
163
einem der Hudsonbai-Compagnie gehörenden Fahrzeuge nach
Viktoria gelangt, wo er, da cs ihm dort gefiel, seinen Wohn-
sitz nahm.
Wie bereits gesagt, liegt cs mir vollständig fern, weder
in anthropologischer, noch in ethnologischer Beziehung einer
direkten Verwandtschaft zwischen Alaska, Britisch-Kolumbicn
und den Südsee-Inseln das Wort zn reden, aber trotzdem
möchte ich darauf hinweisen, eine wie große Ähnlichkeit in
den Kulturerzeugnissen und in dem körperlichen Habitus der
Leute in beiden Ländergebieten besteht, so daß es wohl wert
erscheint, diese Verhältnisse noch genauer als bisher zu
studieren.
Die Dolinen des Karstes.
Von Franz Araus.
Das interessante Karstphänomcn hat in dieser Zeitschrift
wiederholt Berücksichtigung gefunden, lind es ist nicht zu
wundern, daß sich zumeist österreichische Forscher damit be-
schäftigt haben die Ursachen zu ergründen, welche die Bildung
des merkwürdigen Karstgcländcs zur Folge haben, weil auf
Österreich und seine südlichen Nachbarländer der wesent-
lichste Teil des Karstbodens entfällt. Schon im 17. Jahr-
hunderte beginnt die Litteratur über den Karst mit Dal-
vasor (1689), Steinberg, Schönleben u. a. Dann folgen
Grnber (1781) und Hacquct (1778). In unserm Jahr-
hunderte nahm Schmidt es ans sich, die öffentliche Auf-
merksamkeit wieder ans den Karst zu lenken, und widmete
insbesondere der Erforschung der Grottenwelt ein eingehendes
Studium. Sein Buch: Die Grotten und Höhlen von ^
Adelsberg, Lneg, Planina und Laas (Wien 1854), welches
auf Kosten der kaiserlichen Akademie der Wissenschaften er-
schien, ist heute noch eines der besten Nachschlagbücher, ob-
wohl es insbesondere in bezug auf die Adelsberger Grotte
weit überholt ist. Vor Schmidl hatte schon Ami Voué
im Memorial de la société géologique de France (Paris
1835) über die geologischen Verhältnisse der illyrischen .
Provinzen eine Abhandlung veröffentlicht. Stolitzkas
geologische Karte des kroatischen Grenzbezirkcs stammt aus
dem Jahre 1862. Mit den Fortschritten der geologischen
Wissenschaft mehren sich auch die Beobachter, unter denen
Hauer, Fütterte, Lorenz, Stäche, Rcyer, Wolf, Mojssisovics,
Stur, Teller, Bittner und Tietze besonders hervorzuheben
sind. Die meisten unter diesen Männern der Wissenschaft
stinlmen damit überein, daß die Dolinen Einsturzerschci-
nungen sind, nur Mojssisovics erklärte sie als Resultate
oberirdischer Erosion. Die Polemik, welche sich hierüber
zwischen dem Genannten und seinem Kollegen Dr. Emil
Tietze entspann, brachte alles pro und contra zur Sprache,
und war für alle jene höchst lehrreich, die sich noch keine cnd-
giltige Ansicht gebildet hatten. Bezüglich der Dolincnbildung
muß auch auf den Aufsatz „Über Dolinen" in den Verhand-
lungen der k. k. gcolog. Reichsanstalt (Nr. 2 vom Jahre
1887) und auf jenen im Globus, Bd. LIII, 145 (beide vom
Schreiber dieses) hingewiesen werden, in denen das Wesent-
lichste erörtert ist. Die Sache hat aber nicht nur eine theore-
tische, sondern auch eine hervorragend praktische Seite, welche
letztere in den Aufsätzen: „Die Entwässcrungsarbeiten in
den Kesselthälern von Kram", von Franz Kraus (Wien
1888, mit Plänen), „die Ursachen der Überschwemmungen
in den Kesselt hä lern von Jnnerkrain" von Wilhelm Putick
(Wien 1888), über „landwirtschaftliche Ameliorationen in
der Herzegovina" von Josef Riedel (Wien 1889, mit Illu-
strationen), „die Wasserversorgung von Pola" von Franz
Kraus (Wien 1890), — sämtlich in der Wochenschrift des
österreichischen Ingenieur- und Architekten-Vereines vcr- (
ösfentlicht, — eingehend erörtert ist. Ferner muß noch er-
wähnt werden die ausgezeichnete Studie von Dr. Guido
Stäche: „Die Wasserversorgung von Pola" (Wien 1889, mit ;
vier Kartcnbeilagen) und eine Menge von zerstreuten Auf- i
sähen in deutschen Fachblättern und Tagesblüttern, sowie
das Werk von E. A. Martel „Les Cevennes et la région
des Causses (Paris 1890).
An Litteratur liegt also ein reiches Material vor, allein
die praktischen Erforschungsarbeiten ruhen doch nur in
wenigen Händen. So viel auch bereits geschrieben und
geforscht wurde, so ist das Beweismaterial noch immer nicht
so vollständig, daß man die Erforschung, als abgeschlossen
betrachten dürste. Insbesondere die Dolincnsrage bedarf
noch mehrerer beweiskräftiger Thatsachen, um darauf eine
unumstößliche Theorie begründen zu können. Diese kann
nur eine genaue Kontrollmessnng über der Erde, und in den
korrespondierenden Höhlen unter derselben liefern. Wohl
hat man derlei Messungen bereits mehrfach vorgenommen
und gesunden, daß die Trümmerberge, welche gewisse Höhlen-
gänge abschlössen, genau mit Dolinen korrespondierten, welche
über dem Zentrum der Schnttkegel lagen; die bevorstehende
markscheiderische Aufnahme des ganzen Grottenrevieres von
Adelsberg, mit welcher eine oberirdische Kontrollmessnng ver-
bunden werden soll, wird aber erst ein so umfassendes Bcob-
achtnngsmaterial liefern, daß die daraus begründete Theorie
unumstößlich werden muß.
Auffallend ist cs, daß die landschaftlichen Eigentümlich-
keiten der Karststrccken von künstlerischer Seite so wenig
Aufmerksamkeit fanden. Abgesehen von den Ölgemälden
Riegers, welche Teile der Grotten von St. Canzian dar-
stellten, begegnet man in Kunstausstellungen nie einer eigent-
lichen Karstlandschaft, deren es doch aus den Hochplateaus
der Kalkalpen und aus dem Krainer Karste viele giebt, die
nicht nur typisch, sondern auch malerisch wirksam sind. Die
Illustrationen im Werke Österreich-Ungarn in Wort und
Bild, welche dem Aussatze „Der Karst" beigcgcben sind, geben
eine Idee davon, daß der Karst nicht nur Felswüsten, sondern
auch großartige, ja selbst liebliche Seiten hat. Die große
Naturbrücke in den Haasberger Forsten bei Planina (der
Rest einer eingebrochenen Höhle), der Eingang der Piuka
jama, und noch viele andre Partieen müßten in Farben
ausgeführt prächtig wirken. Insbesondere die Piuka jama
mit ihren Lichtcfsektcn, die Friedrichsteiner Eishöhle mit dem
Regenbogen zur Mittagszeit und dergleichen, könnte einmal
eine Abwechselung in die schon monoton werdenden alpinen
Landschaftsbilder der Kunstausstellungen bringen. Zu dieser
Exkursion in das Gebiet der Kunst liegt der Anlaß in den
ebenso künstlerisch aufgefaßten als naturgetreu dargestellten
drei Originalaquarellcn, welche hier in schwarzer Strichmanier
wiedergegeben sind und vom Maler W. Beurlin stammen.
Es sind dieses Abbildungen, aus welchen auch derjenige zn
erkennen vermag, wie eine Dolinc aussieht, der keine Gelegen-
heit hat, diese eigentümlichen Bodensenkungen an Ort und
Stelle kennen zu lernen.
Die Figur 1 stellt eine Karstlandschaft ohne Dolinen
vor. Der durch die Abschwemmung der vordem aufgelagerten
jüngeren Schichten bloßgelegte Kreidefelsboden hat eine Art
Planierung durch Sedimente erfahren, die aber nicht mächtig
21*
Franz Kraus: Die Dolinen des Karstes
Franz Kraus: Die Dolinen des Karstes.
165
genug war, um alle Unebenheiten
zu bedecken und einen kulturfähigen
Boden zu schaffen. In den Mulden-
thäkern ist dies nicht der Fall. Dort
liegen die unlöslichen Zersetzungs-
Produkte der zerstörten Gesteine hoch
aufgeschüttet, und aus der Thalfohle
ragt nicht ein einziger Stein hervor.
Man sieht also aus dem Bilde, das;
die Landschaft eine Plateauland-
schaft ist.
Figur 2 ist ebenfalls dem Plateau
entnommen. Gleich dem Krater
eines Vulkans treust sich eine trichter-
förmige Bodensenkung ab. Im
Hintergründe erblickt ucan eine zweite
Doline, und weiterhin mag sich die
Reihe noch weiter fortsetzend Dieses
Bild ist ungemein lehrreich, denn
es zeigt im Zusammenhange mit
3, welche das Innere einer
Doline im Durchschnitte vorstellt,
den ganzen Vorgang des Thal-
bodenbildungsprozcsses' in den großen
Muldenthälern an einem Beispiele
im kleinen, denn im Grunde der
Doline hat sich nach den gleichen
Gesetzen bereits eine Schichte abge-
lagert, welche einer reichen Vegeta-
tion Nahrung giebt, während das
Plateau selbst sehr vegetationsarm
ist. Es muß aber betont werden, daß
nicht aus alle Dolinen der Name
„Karsttrichter" paßt, den man in
die Fachlitteratur einführen wollte,
denn nicht alle sind abgeböscht, son-
dern cs giebt deren auch mit senk-
rechten Wänden. Die Trichterform
erhalten sie erst durch nachträgliche
Verwitterung, aber auch die Kreis-
form ist nicht immer vorhanden, die
Nuglutza bei Adelsberg ist z. B.
viereckig, die Ryba ist langgestreckt
u. dergl. m. Auch die Dimensionen
wechseln von einigen Metern bis zn
Hunderten von Metern, und die
Tiefen sind ebenso mannigfaltig. Eine
genaue Grenze läßt sich nicht ziehen
wo der Schlund aufhört und die
Doline beginnt, und ebenso zwischen
jener und dem Kesselthale. Nur bei
den engeren Schlünden giebt cs durch
oberirdische Erosion erweiterte Spal-
ten, die der Kundige nicht leicht mit
denl durch Einsturz entstandenen ver-
wechselt.
Deutlicher als die langatmigste
Beschreibung sprechen diese Bilder,
und es wäre nur zu wünschen, daß
alle die absonderlichen Eigentümlich-
keiten des Karstreliefs in ebenso ge-
lungener Weise den weitesten Kreisen
zugänglich gemacht würden. Die Be-
hauptung, daß der Karst ein Land
der Wunder sei,'welches 1 sich nicht
leicht mit einem andern Lande ver-
gleichen läßt, und welches die Auf-
s.il
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Fig. 3. Dmchlchmtt einet Karstdolme. Nach einem Ot!g!n°l°qnarell v°» W. Bentlun
166
Prof. Ferdinand Blumentritt: Über die Eingeborenen der Insel Palawan rc.
merksamkeit jedes Naturfreundes verdient, würde viel
glaubwürdiger klingen, wenn viele solche Abbildungen ver-
öffentlicht würden. Insbesondere Naturforscher fanden ihre
Rechnung in der eigenartigen Flora und Fauna, und die
wissenschaftliche Erforschung dieses merkwürdigen Landes
gewänne ein rascheres Tempo, wenn sich nicht nur Fach-
leute, sondern auch Neulinge im Höhlensport daran be-
teiligten; sie finden in dem Vereine „Anthron", dessen aus-
übende Mitglieder im Höhlensporte wohl erfahren sind,
die beste Stütze.
Ueber die Eingeborenen der Insel palawan und der Inselgruppe
der Ealamianen.
Don jIrof. Ferdinand Blumen tritt.
I.
Während ans der Insel Mindanao durch die'Forschungen
der spanischen Jesnitenmissionäre und deutscher wie franzö-
sischer Forscher (Pros. Semper, Dr. Schadenberg, Dr. Mon-
tana und Dr. Marche) Licht in das Dunkel der Völkerkunde
jenes großen Eilandes gebracht wurde, herrscht in bezug
auf die Insel Palawan und den benachbarten Archipel der
Calamianen in diesem Punkte eine derartige Unklarheit, daß,
wer nicht die über diesen Teil des Archipels veröffentlichte
Litteratur gründlich beherrscht, ratlos vor der Völkerliste
steht, die ihm von seiten spanischer und französischer Auto-
ren entgegengehalten wird. Ein kleines Wörterbuch scheint
das Verzeichnis der Völker, welche jenen Teil der Philippinen
bewohnen, zu sein, denn nicht weniger als dreizehn Namen
werden uns aufgezählt, die ich hier in alphabetischer Reihen-
folge mitteile: 1. Agntainos. 2. Ate. 3. Batak. 4. Bulala-
kaunos. 5. Bouayanans. 6. Ealamianos. 7. Jgorroten.
6. Mangniancn. 9. Moros. 10. Palauanes (Palawanes).
11. Tagbanuas (Tacbanuas, Tabanuas). 12. Tandolanos.
13. Tinitianos.
Aus dieser Liste können wir sofort die Jgorroten und
Mangniancn ausscheiden. Jgorrote ist ein Name, der
nur einem im nordwestlichen Teile der Insel Luzon wohnenden
Kopfjägerstamme zukommt. Die Leichtfertigkeit, mit welcher
in der spanischen Litteratur uiit Völkernamen umgegangen
wird, hat es dahin gebracht, daß man diesen Namen nicht
nur ans andre Kopfjägerstämme, sondern überhaupt auf
„wilde" Stämme übertrug, man sah „Wilde", d. h. unab-
hängige Heiden auf der Insel und gab ihnen sofort den
Namen Jgorrote und wenn dann ein Spanier nach Pala-
wan kani und hier die Tagbanuas und andre wirklich
existierende Völkerstämme kennen lernte, so blieb cs bei Ab-
fassung eines Berichtes aus Pietät gegen seine Vorläufer
bei dem Namen Jgorrote und man schuf damit einen neuen
auf der Insel gar nicht existierenden Völkerstamm. Das hat
selbst ein Josä Baamonde, dem wir sonst ganz anerkennens-
werte Notizen über diese Insel verdanken, verbrochen, und
alle andern haben diesen Irrtum gläubig nachgeschrieben.
Den Namen Mangnianes danken wir Baamonde-
Ortega und Don Felipe Canga-Argüelles Billalba, der als
Gouverneur von Süd- und Mittelpalawan sich ausgezeich-
nete Verdienste um das Wohl der Insel erworben hat.
Mangnian (sprich: Mangian) ist ein Sammelname (von
Gianga oder Gulanga — Wald) und heißt soviel als
„Waldbewohner", damit werden speziell die heidnischen
Stännne des Binnenlandes von Romblon, Mindoro, Mas-
bete und Ticao, ohne Rücksicht darauf, ob sie der malaiischen
oder der Negrito - Rasse angehören, bezeichnet. Da auf
Palawan viele Deportierte von jenen Inseln weilen, wo
der Name^für „Wilde" Mangniancn lautet, so wurde
dieser Name auch nach der Insel Palawan übertragen und,
wie ich aus einigen Notizen sowohl Canga-Argüelles als
Paamondcs entnehme, wohl zumeist den weiter unten zu
besprechenden Bulalakaunos gegeben, während I g o r r o t e,
wenn damit ein spezieller Stamm gemeint ist, zur Bezeich-
nung für Tagb anuas (Bataks) und andre Stämme an-
gewendet wurde. Beide Namen (I gorro t e und M a ugni a n)
dürften bald aus der ethnographischen Nomenklatur der
Insel Palawan vollständig verschwunden sein. Dasselbe
gilt von dem nichtssagenden Namen Palauanes (Pala-
wanes), welches soviel als Palawaner bedeutet, jedoch nur
ans die heidnischen Bewohner der Insel, vorzugsweise ans
die Tagbanuas gedeutet und angewandt wurde.
Nun wollen wir uns erst mit den übrigen Namen be-
schäftigen, zuvor aber einige Bemerkungen über die Bevölke-
rung der Insel Palawan im allgemeinen machen. Nach
Canga-Argüelles zählt die Insel ini ganzen gegen 28 000
Bewohner, davon sind 100 Spanier und deren Mestizen,
100 Chinesen, etwa 1300 christliche Malaien (aus allen
Teilen des Archipels zusammengewürfelt, weil diese Insel
als Deportations- und Verbannungsgebiet für gemeine und
politische Verbrecher benutzt wird), 2000 Mohammedaner,
der Rest sind freie, unabhängige Heiden.
Die Mohammedaner, von den Spaniern Moros ge-
nannt, gehören nicht einem einzigen Stamme an, sondern
gehören zu den Sulus und Küstenstämmcn von Borneo
(Saba, Tidong und Brnnai) (das ist der Adel), oder es
sind zum Islam bekehrte Tagbanuas (diese bilden die Plebs
der mohammedanischen Niederlassungen). Die Moros haben
die Südküste der Insel inne und verlieren mit der zunehmen-
den Ausbreitung der spanischen Herrschaft an Ansehen und
Kopfzahl (letzteres durch Auswanderung, vorzüglich nach
Britisch-Borneo).
Von all den weiter anzuführenden Stämmen verdient
vor allen andern jener der Tagbanuas unsre Beachtung
und zwar, weil er die Hauptmasse der eingeborenen Be-
völkerung bildet und weil seine Existenz nicht bezweifelt
werden kann, wie dies bei einigen andern der noch zu nennen-
den Stämme der Fall ist. Die wissenschaftlich zuverlässig-
sten Nachrichten über die Tabanuas oder Tagbanuas l) danken
wir dem Franzosen A. Marche, dann den Spaniern Canga-
Argüelles, Baamonde-Ortega, Jordana, Lacalle-Sánchez
und Fray Cipriano Navarro. Ans den Nachrichten Marches
geht unstreitig hervor, daß die Tagbanuas ehedem aus
einer höheren Kulturstufe sich befunden hätten, wie heutzu-
tage, denn sie befinden sich noch im Besitze eines Alphabets
ähnlich jenen, wie solche die Spanier bei der Entdeckung
und Besitznahme der Philippinen bei den Bisayas, Tagalln,
Jlokanen rc. gesunden haben. Die Degcnericrung der
Tagbanuas scheint ein Werk der beständigen Überfälle von
seiten der Sulu- und Borneopiraten gewesen zu sein, gegen
welche sie von seiten der Spanier nur ungenügenden Schutz
0 Der Name scheint mir soviel als „die vom Lande her"
zu bedeuten (Tag a — von — her, bann a — Land).
167
Prof. Ferdinand Blumentritt: Über die Eingeborenen der Insel Palawan rc.
fanden. Bis vor 20 Jahren beschränkte sich der spanische
Besitz nur ans den nördlichsten Teil der Insel, auf bie
Umqebung des nun ganz verfallenden Tay - tat) und auch ca
herrschten die Spanier nur so weit, als die Geschütze und
Gewehre der Besatzungen trugen. Wenn A. Marche sich
nicht irrt, so sind die heutigen Ealamianos (Bewohner des
Archipels der Calamianen), Agutainos (Bewohner der Insel
Agutaya) und Coyuvos (Bewohner des Cuyo - Archipels)
nichts andres als Tagbannas, wie aus ihrer Sprache her-
vorgeht. Dieses Resultat der Forschungen Marches. wirkt
insofern verblüffend, als die Spanier und zwar die (freilich
nur praktisch) sprachkundigen Mönche jene obgenannten
Sprachen als selbständige Idiome behandelten, während
aus den Berichten des französischen Forschers hervorgeht,
daß die Calamiano, Agutaino und (5oynvo genannten
„Sprachen^ nichts andres als Dialekte (und nicht einmal
stark abweichende!) des Tagbanüa-Jdioms wären.
Wir wollen uns nun mit den Tagbanüas der Insel Pala-
wan beschäftigen. Marche reiht sie unter die Indonesier ein;
nach ihm sind sie von kleiner Statur und präsentieren auf
dm ersten Blick den rein malaiischen Typus, erst bei näherer
Betrachtung erkenne man in ihnen Mischlinge von Malaien
und Negritos. Ihre Hautfarbe ist nicht zu dunkel, ihre tief-
schwarzen und üppigen Haare sind schlicht (das weist nach meiner
Ansicht nicht auf Abstammung von Negritos hin), der Bart-
wuchs an Kinn und Lippen ist schütter. Die rcinblütigen
Sagbanüas haben stark vorspringende Kinnladen. Die Nase
ist oft nur durch die Nasenflügel angedeutet. Sie sind unrein-
lich und haben demgemäß viel von Hautkrankheiten zu leiden.
Ihre Hütten stehen auf Pfählen. Die Bauart ist eine
nachlässige, da die Tagbannas eine unstäte Lebensweise lieben
und häufig wandern (wohl eine Nachwirkung der beständigen
Überfülle von seiten der Moro-Piraten). Häufig hat die
Hütte gar keine Seitenwände, sondern nur Boden und Dach,
giebt cs Seitenwände, so sind sie sehr einfach aus Blättern
zusammengeflochten. Ihre Niederlassungen legen sie am
liebsten in der Nähe des Meeres und an den Ufern der
Flüsse an, am dichtesten wohnen sie an der Westküste der
^usel. Wenn sie die Nacht beim Marsche überfällt, so
errichten sie sich einfache Schutzdächer aus Gras, Marche
wllt uns zwei solcher Campcments in seinem Reisewerke
durch Abbildungen mit (p. 343).
. Sie Tracht der Männer beschränkt sich meist auf eine
zwischen den Beinen durchgeschlungcne Schambinde, bei den
Oranen ans einen dem malaiischen Sarong ähnlichen Rock.
^ och tragen beide Geschlechter auch Jäckchen nach dem bei
den Ae o r o s der Philippinen üblichen Zuschnitt. Die Weiber
tragen um das Handgelenk Ringe ans Kupfer, Messing
und Rotang. Die Männer scheren sich das Haar kurz ab,
manche lassen es sich nach Frauenart lang wachsen, in diesem
Falle binden sie dasselbe, wie die Frauen, zu einem Knoten
am Hinterhaupte zusammen. Beide Geschlechter kauen Betel.
Ihre Waffen bestehen aus Lanzen, Bogen und Pfeilen
und einem Waldmesfer, dem Bolo der Tagalen. Einige
benntzen auch das Blaserohr zur Jagd auf kleine Vögel.
, lc, südlichen Teile der Insel wohnenden Tagbanüas
landein von den Moros auch malaiische Krise ein.
— Iw, ihren Ackerbau liegen keine verläßlichen Daten vor.
Sl> scheinen, wie aus den auf die Religion bezüglichen
macheichtui hervorgeht, vorzugsweise Reis und Bananen
Zn Pflanzen, doch ist cs nicht unwahrscheinlich, daß sie auch
Mais und Kamote anbauen.
Über ihre Religion sind nur unznsammenbängende Dar-
stellungen bekannt, doch deutet alles darauf hin, daß ihre
religiösen Anschauungen auf derselben Idee, dem Animismus,
basieren. Nach Marche sind ihre Hauptgötter: der Mag-
nisd a oder 9! agabkaban, der Gott der Höhe, des Himmels;
Poko, der Gott des Meeres, ein guter Gott, den man auch
bei Krankheiten anruft; der Sedumunadok, der Gott der
Erde, der bei Ernten angerufen wird, und Tabiakond, der
Gott des Erdinnern. Canga-Argüellcs hingegen spricht
nur von einem einzigen Hauptgott namens Maguindose
(besser: Magindok'?), der den Ursprung der Flüsse be-
wohne und bei allen wichtigen Vorfällen des Lebens seine
Hände im Spiele hätte und dem man Jeeis und getrocknete
Fische als Opfer spende. Da aber auch von andern Geistern,
Diwatas, die Rede ist, ein Name, der in der Götterlehrc
der Bisayas und der Mindanao-Heiden ebenfalls zur Be-
zeichnung der zu Dämonen und Göttern gewordenen Ahnen-
scelen gebraucht wird, so erscheint es mir nur zu sehr wahr-
scheinlich, daß die oben angeführten Götter auch nichts
andres als Diwatas sind, wie denn Marche auf S. 326
angiebt, daß bei Krankheitsfällen der Diwata angerufen
wird, was einen Widerspruch mit seiner früheren Behaup-
tung, daß der Gott des Meeres, Poko, bei solchen Fällen
in Anspruch genommen würde, in sich schlösse, wenn nicht,
wie ich glaube, Poko ebenfalls ein Diwata wäre. Marche
erwähnt übrigens, daß die Tagbanüas der Insel Busuanga
einen Gott oder Dämon Namens Manalok verehrten.
Eanga-Argüclles bemerkt, daß sie Kenntnis von Strafen
und Belohnungen in einem jenseitigen Leben besäßen; nach
Baamonde-Ortega glauben sie, daß die Seele eines bösen
Menschen ruhelos Herumschweife. Wie Canga - ArgüeÜes
uns mitteilt, nennen sie die Hölle: Bas and.
Wenn die Reisernte vorüber ist, so feiern die Tagbanüas
ein großes Fest. Auf den Ruf des Opferpriesters versammeln
sich die Tagbanüas an den Gestaden des Meeres, allerlei
Lebensmittel herbeischleppend. Der Priester nimmt Hühner
und Hähne und hängt sie mit den Beinen an den Zweigen
eines Baumes auf. Er schlägt hierauf mit einem Stocke
mit einem Schlage nach dem Tiere, trifft er cs und schlägt
er cs tot, so wird es gebraten und verzehrt. Er darf eben
nur einmal nach dem Tiere schlagen, geht sein Hieb fehl,
so wird das Tier losgebunden und freigelassen, es steht jetzt
fortan unter dem Schutze des Gottes Poko (man sollte
meinen, des Gottes Sedumunadok) und niemand darf cs
wagen, es zu töten. Hat man die Opfertiere verzehrt, wozu
ans Jeeis hergestellter Branntwein getrunken wird, so wird
dann getanzt. Um Mitternacht, wenn der Stern BuntalcA)
den Meridian passiert hat, schreitet der Priester tänzelnd in
das Meer und stößt ein kleines Floß mit den Opfergaben
für den Gott Poko in dasselbe heraus. Das Floß ist aus
Bambus hergestellt, etwa 1,50 m lang und ungefähr ebenso
weit. Auf demselben befinden sich ans Bananenblättern
Reis, Fische, gekochte Hühner, süße Gerichte aus Honig, Kokos
und Jeeis und außerdem vier lebendige Küchlein von vier bis
fünf Tagen Alter. Wird das Floß an den Strand zurück-
getrieben, so ist dies ein böses Zeichen, denn Poko weist
dann das Opfer zurück; wird cs ins Meer hinausgetragen,
so herrscht dann allgemeiner Jubel, denn cs steht ein gutes
Jahr bevor. Nach dem Padre Navarro kommt dieses Floßopfcr
in veränderter Form auch unter den christlichen Tagbanüas
vor: Am Festtage des Kirchenheiligen bringen sie als Ge-
schenk ein kleines Schiffsmodell dar. Es ist roh aus Holz
gezimmert und mit hölzernen Nägeln zusammengefügt, das
Steuerruder ist mit Bejuco (Rotang) angefügt. Der Padre
schätzt den Wert eines solchen Fahrzeuges auf 20 bis 25 Pesos.
Es giebt noch andre Feste, welche von reichen Tagbanüas
gegeben wurden; auch bei diesen interveniert der Priester mit 1
1) Nach Marche, dem ich diese Schilderung entnehme dürfte
dieser Stern mit dem Jupiter identisch fein. Der' Name
Buntala klingt verführerisch an den Götternamen Bathala
an, der in der Mythologie verschiedener Völker von Holländifch-
Jndien und den Philippinen vorkommt. ^
168
Prof. Ferdinand Blumentritt: Über die Eingeborenen der Insel Palawan rc.
Gesang und Tanz. Diese Feste finden stets bei Nachtzeit
statt, beginnen am Neumonde und dauern bis zur Beendi-
gung der Mondphase.
Bei andauernden Krankheiten wird die Hilfe von Priestern
in Anspruch genommen, und zwar bei männlichen Patienten
von männlichen Priestern, bei weiblichen von Priesterinnen.
Der Priester tanzt um den Kranken herum und ruft hierbei
den Diw ata an, damit dieser in seinen — des Priesters —
Leib fahre und ihm so die Kraft verleihe, den Patienten zu
heilen. Dann wirft er den Geistern eine Hand voll Reis
und eine andre gefüllt mit Glasperlen zur Hütte hinaus.
Hierauf nimmt er ein Huhn bei den Füßen und schlägt mit
einem einzigen Schlage nach demselben. Tötet er das Huhn
mit dem Schlage, so ist der Kranke gerettet, wenn nicht, so
hat der Diwata das Opfer nicht angenommen und der
Kranke muß sterben.
Die Tagbanüas heiraten sehr jung, oft schon mit 8 bis
9 Jahren (Marche, S. 325). Der Bräutigam kauft die
Braut von deren Vater für Geschenke, welche einer Geld-
summe von 10 bis 50, mitunter bis 100 Franks entspricht.
Nur die Neichen üben die Polygamie aus. In einer solchen
Ehe hat jede Frau ihre eigene kleine Hütte oder zum min-
desten ein besonderes Zimmer im Hause ihres Galten,
gleichwohl sind Streitigkeiten unter diesen Damen häufig.
Der Mann lebt eine bestimmte Reihe von Tagen bei jeder
Frau in regelmäßigem Turnus; die Frau, bei welcher er
wohnt, muß ihn während dieser Zeit ernähren.
Die Heiratszeremonien sind in verschiedenen Gegenden
verschiedene. Marche erzählt von einer solchen, der er in
Bnrlan beiwohnte: Die Brautleute setzen sich in der Nähe
der Hütte nieder, der Priester nähert sich mit einer Hand
voll Kokosöl und während er unverständliche Worte mur-
melt, taucht er einen Finger in das Öl und zieht damit eine
Linie über den Arm des Bräutigams von: Zeigefinger bis
zur Schulter; dasselbe thut er bei der Braut, nur verlängert
er die Linie bis zum Busen.
Baamonde-Ortega schildert dies anders: Wenn dem
Tagbanna ein Mädchen gefällt, so erscheint er eines Tages
in ihrem Hause und macht ihr ein Geschenk von grobem
Geschirre anö glasiertem Thon. Nimmt sie das Geschenk
an, so kann sofort jitr Hochzeit geschritten werden, weist sie
es zurück, so hat der Freier ans gut deutsch gesagt, einen Korb
bekommen. Bei der Hochzeit begleitet der Baba plan
(Priester) den Bräutigam uiit der Schar der Festgäste unter
Höllenspektakel in die Hütte der Braut, um selbe in das
Haus des Bräutigams zu führen. Hier hocken sich Braut
und Bräutigmn auf einer Matte nieder, vor ihnen steht
eines der Thongefäße, die der Bräutigam der Braut gegeben;
es ist mit gekochtem Reis gefüllt. Eine Weile sehen sich
Braut und Bräntigaul stumm an, dann greift der letztere
in den Reis, nimmt ein Häufchen davon und formt daraus
eine Kugel, die er der Braut in den Mund stopft, diese macht
ihm dasselbe. Dies ist die ganze Trauungszeremonie (die
auch bei andern heidnischen Stämmen der Philippinen üblich
ist), während welcher von den Zuschauern ein großer Lärm
geschlogen wird, damit die bösen Geister verscheucht würden.
Wenn eine schwangere Frau fühlt, daß ihre Stunde
nahe ist, so steigt sie von der Hütte zur Erde nieder und
ihr Mann muß dann Hebammendienste verrichten. Geht
die Geburt schwer von statten, so wird der Nachbar zu
Hilfe gerufen oder sonst ein andrer Mann. Frauen nur
in den allerseltensten Fällen und dann nur Priesterinnen.
Illach Marche geht die Frau nach der Geburt znm nächsten
Bache oder Flusse und wäscht das Neugeborene, nach Eanga-
Argüelles thut dies jedoch der Mann. Wird das Kind ein
bis zwei Jahre alt und ist genügend kräftig, daß man glaubt,
es würde „groß" werden, so erhält cs einen Namen; ist es
kränklich und glaubt man, daß cs bald sterben würde, so
giebt man ihm keinen Namen, „denn es steht nicht dafür".
Der Witwer- oder Witwenstand dauert nach A. Marche
drei Jahre, erst dann kann man wieder heiraten, doch kann
man durch ein Geldgeschenk an die Priester oder an die
¡ Familie der verstorbenen Ehehälfte einen Dispens erwirken.
Stirbt eine Frau eines „polygamen" Tagbanüa, so zahlt
er den Dispens den Greifen seines Tribus.
Über die Begräbnisplütze und Leichcnbcstattungsarkten
weichen die Autoren in ihren diesbezüglichen Mitteilungen
sehr voneinander ab, wohl aus dem Grunde, weil an ver-
schiedenen Orten auch verschiedene Bräuche herrschen, wie
sich dies auch aus den Mitteilungen von A. Marche ergiebt.
Am verbreitetsten scheint folgende Sitte zu fein: Die
Leiche wird in einen ausgehöhlten Baumstamm gelegt und
dieser hermetisch verschlossen. Der Sarg wird dann tief im
Walddickicht unter dem Gezweige eines Baumes versteckt. Mit-
unter wird ein Strohdach über demselben errichtet. Beit
den: Toten werden seine Waffen und seine wertvollsten
Gerätschaften und Schnmcksachen begraben (Marche). Nach
Canga - Argüelles wird die Hütte und das Feld des Ver-
storbenen für immer gemieden; nach diesem Autor wird die
Leiche eben in dem (Reis-) Felde begraben. Derselbe
Canga-Argüclles sagt, daß kleine Kinder in Urnen (tibores)
bestattet würden, welche Basinganis genannt werden.
Die Friedhöfe der Tagbanuas der Insel DibatacH sehen
ganz anders aus. Die Leichen liegen in einer seitlich offenen
Tragbahre, welche in das Geäste der Bäume eingefügt ist.
Das Dach besteht aus Blättern. Seitwärts oder unterhalb
sind die Utensilien des Toten untergebracht. Mit der Zeit
faulen die Rotangs der Tragbahre und diese stürzt ein und
die Gebeine fallen zu Boden. Diese werden dann gesammelt
und in mehr oder minder ornamentierte Holzsärge oder
große Urnen gesteckt und diese endgültig beigesetzt. Wie die
Sánenles der Insel Sámal des Golfs von Dávao ein
Jnfelchen — Malipano — zu ihrer Nekropolis sich ans-
erschen haben, so begraben auch die Tagbanuas ihre Toten
gerne auf der Insel Mayo-Payao. Baamonde-Ortega sagt
daß sie nur jene Toten in freier Luft verwesen lassen, welche
durch einen guten Lebenswandel sich ausgezeichnet hätten.
Derselbe Autor erwähnt noch folgende merkwürdige Zere-
monie: Stirbt ein Ortsfremder oder Reisender in einer
Tagbanuaniederlassung, so rammen sie in die Erde einen
festen Pfahl, auf welchem sie einen Querbalken derart be-
festigen, daß er wie eine Magnetnadel frei nach rechts und
links oszillieren kann. Hierauf wird der Tote an einen
Pfahl gebunden und an dem einen Ende des beweglichen
Balkens aufgehängt, als Gegengewicht ein der Leiche gleich-
schwerer Klotz an dem andern Ende befestigt. Nun fragt
man den Toten: „Willst du hier oder in deiner Heimat
begraben sein?" und bringt den Balken in drehende Schwin-
gung. Wenn die Schwingungen der „Totenwage" zu Ende
sind, so ist das Gewicht der Leiche entweder gegen die
Richtung seiner Heimat hin gewendet oder nicht, im ersteren
Falle wird die Leiche nach Hause geschasst, im letzteren Falle
aber an Ort und Stelle bestattet.
Eine eigenartige Todesstrafe müssen Ehebrecher und Blut-
schänder erdulden; sie werden in das Meer versenkt, beide
Teile aneinander gefesselt. Die Tagbanüas sind überhaupt
ein gesittetes Volk. Raub und Mord sind ihnen unbekannte
Dinge und dies ist mit so glaubhafter, als diese Nachricht
uns ein Missionär, der Padre Navarro, bringt.
Offenbar hängt der Name dieser Insel nüt Diwata
zusamnien.
Der Hof von Siam und feine Kulturbestrebungen.
109
Der Mf von Siam und seine Kulturbestrebungen.
Man muß den Bericht des Chevalier de Chaumont geführt werden, während das Volk — anders wie in Japan
über seinen Empfang beim Könige von Siam im Jahre — dabei sich wenig beteiligt und nicht jenen Drang zur
1685 gelesen haben, als er demselben ein Schreiben Lud- ■ Europäisierung zeigt, wie er schon bei dem japanischen
Über die feierliche Audienz er-
685 gelesen haben, als er demselben ein Schreiben Lud-- Europäisierung zeigt, um
igs XI V. überbrachtex), um zu verstehen, welche großartige Mittelstände vorhanden ist
l.indKnnn mit dirn, .ftofe von Siam vor sich aeaanaen ist. halten wir folgenden Bcric
wigs
Wandelung mit dem Hofe von Siam vor sich gegangen tH
Morgenländischer Prunk und Pracht auf der höchsten Stufe
umgab den hinterindischen Herrscher und alles in seiner
Umgebung lag ohne Schuhe und Strümpfe auf dem Boden.
Unter dem 1806 verstorbenen Vater des gegenwärtigen
Königs, dem weifen Mongkut, begann aber der europäische
Einfluß zii erstarken und europäische Sitten hielten ihren
Einzug am Hofe von Bangkok, der nun neben jenem Japans
der am meisten europäisch zugeschnittene Asiens ist und an
dem europäische Prinzen mit einer
Etikette empfangen werden, die
nichts zu wünschen übrig läßt.
Ein solcher Empfang ist vor
kurzem deni Erzherzog Leopold
Ferdinand von Österreich zu teil
geworden, der als Kadett an Bord
des Kriegsschiffes „Fasana" die
ficd- und ostasiatischen Küsten be-
suchte. Diese Reise hat in dem
K. K. Linienschifssleutnant Leo-
pold v. Jedina einen ganz vor-
trefflichen Beschreiber gefunden2).
Es ist derselbe Offizier, der sich
durch sein gehaltvolles Werk „Um
Afrika" bereits vorteilhaft be-
kannt gemacht hat. Die besondere
(Gelegenheit, daß ein österreichischer
Erzherzog sich an Bord befand,
verschaffte ihm, seinem eigenen
Begleiter, überall den Zutritt,
wo andere nicht so leicht hinge-
langen. Und so sind es denn ver-
schiedene asiatische Fürstenhöfe,
die in ihrer ganzen Pracht, aber
auch in ihren ethnographischen
Eigentümlichkeiten zur Anschauung
kommen. Die Reise führte nach
Makalla und Maskat in Südarabien und die Schilderung
dieser beiden sehr selten von Europäern besuchten Sultanate
gehört mit zu den wichtigsten des Buches. Es folgen
Schilderungen des Persischen Golfes, Vorder- und Hinter-
iudiens, Chinas, Japans, der Liukin-Jnseln, Ceylons. Neben
vielem Bekannten, das aber in fesselnder Weise vorgetragen
wird, kommen and) neue Mitteilungen zur Darstellung;
so wollen wir auf die besondere Berücksichtigung der Musik
(>nit Noten) bei verschiedenen der besuchten Völker hinweisen.
Unter den Schilderungen der Höfe ist namentlich jener
des Königs von Siam von Bedeutung, denn aus derselben
"'hiebt sich der großartige Umschwung, der in europäischem
'wttme hier stattgefunden hat. Hervorzuheben ist dabei aber,
wie die Reformen, die in Siam Platz greifen, einzig und
allein von oben her, durch den Hof anbefohlen und dnrch-
x) 8>r John Bowrimr, The Kingdom and people of
Siam. London 1857. II, 72.
-) „sJlu Asiens Kosten und Fnrstenhöfen." Tagebuchblätter
von der Reife L>. M. Schiff „Fafana" 1887—89. Mit einer
Karte, 70 Bvll- und 470 Textbildern. Wien, Ed. Holzel. 1891.
Somdet Pra Paramindr Maha Tfchulalonkorn,
König von Siam.
halten wir folgenden Bericht.
Eine entsprechende Anzahl Galawagen, sowie eine Ab-
teilung Gardereiter, recht schmuck in ihren scharlachroten
verschnürten Röcken, blauen Beinkleidern und weißen Hel-
men, auf ihren Lanzen weißrote Fähnlein führend, harrten
vor dem Palais und hatten nicht wenig neugieriges Volk
angezogen. Der Weg nach der königlichen Residenz, längs
der weißen krenelierten Mauern derselben, über die breite
Kasernenstraße und über den Platz vor dem gegen Norden
gelegenen Hauptportale war bald
zurückgelegt. Wir gelangten in
den ersten Schloßhof, eigentlich
eine breite Straße, die von ver-
schiedenen größeren Gebäuden ge-
bildet wird. Hier war eine Kom-
pagnie Gardesoldaten aufgestellt.
Beim Vorbeifahren Sr. k. u. k.
Hoheit senkten sich die Fahnen
mit dem weißen Elefanten auf
dem roten Grunde und ertönte
die österreichisch-ungarische Volks-
Hymne , von einer jugendlichen
Mnsikbande sehr gut ausgeführt.
Im zweiten Schloßhofe leisteten
weitere Abteilungen der Leibgarde
die gleichen Ehrenbezeigungen. Auf
der Freitreppe wurde Se. k. n. k.
Hoheit vom Oberzeremonien-
meister Prinz Praschak Silpakom,
einem Stiefbruder des Königs,
empfangen und in die Vorhalle
und zum Audienzsaalc geleitet. Bis
auf die Treppe vor dein Saale
ihrem erlauchten Gaste entgegen-
eilend, begrüßten der König und
der Kronprinz den Herrn Erz-
herzog, worauf sich die höchsten
kleinen Audienzsaal begaben, Nach
Glvbus LIX. Nr. li.
Herrschaften in den
einiger Zeit, während welcher man uns den in Siam ebenso
wie in Japan unvermeidlichen Thee und Zigaretten vor-
setzte, wurde das Gefolge zur Audienz befohlen. Wir ge-
langten vorerst in einen großen Saal, der mit ausgesuchter
Feinheit europäisch eingerichtet ist. Hier bildeten die Groß-
würdenträger des gleiches Spalier. Die höchst kleidsamen
und geschmackvollen weißen Galauniformen der mit Orden
bedeckten Militärs und Beamten fanden ein würdiges
Gegenstück in den reichen Goldbrokatgewändern der Edel-
leute und den indisch gekleideten kleinen Pagen.
Im ebenfalls ganz europäisch eingerichteten kleinen
Audienzsaalc befanden sich der König, der Kronprinz, die
Königin, sowie die Prinzen ersten Ranges. König Tschn-
lalonkorn, oder wie der amtliche Titel lautet: Somdet
Pra Paramindr Maha Tfchulalonkorn, ist ein hübscher
Mann von mittlerer Größe, den man weit eher für einen
Süditaliener als einen Siamesen halten würde. In seinem
ganzen Auftreten vereinigt er große Zierlichkeit mit wahr-
haft königlicher Würde, was durch die überaus kleidsame
22
170
Der Hof von Siam und feine Kulturbestrebungen.
Uniform in erhöhtem Maße zur Geltung kommt. Nach
den Regeln der siamesischen Hofsitte redete Se. Majestät
bei der Vorstellung nur siamesisch, doch versteht derselbe
sehr gut englisch nnd wendet auch diese Sprache im Verkehr
mit fremden Prinzen an. Der Kronprinz Mahawadji
Rnnit, welcher noch nicht das elfte Lebensjahr erreicht hat,
ist eine allerliebste Erscheinung mit sehr lebhaften klugen
Angen. Die kleine, schlanke Gestalt mit dem durch einen
Blumenkranz gezierten Scheitelknoten, nahm sich in dem
weißen Wafsenrock, über welchem er gleich dem Könige
das Band seines österreichischen Ordens trug, besonders
vornehm ans. Funkelnde Brillantnadeln im Haare. und
mit gleichen Edelsteinen besetzte Fnßspangen über den Knic-
strümpsen verliehen ihm zugleich auch ein ganz eigenartiges
Aussehen.
Ihre Majestät die Königin Sawang Waddhana ist eine
höchst anziehende Dame von ungefähr 26 Jahren. Gleich
den meisten Mitgliedern des königlichen Hauses von ziem-
lich lichter Hautfarbe und schlankem Wüchse, mit raben-
schwarzem kurzen Haare und ausdrucksvollen Augen von
gleicher Farbe, verbindet sie mit mädchenhafter Zurückhal-
tung ein königliches Selbstbewußtsein. Die eigentümliche
Kleidung, ein durch einen Gürtel zusammengehaltenes Leib-
chen mit engen Ärmeln, sowie ein Panung, beides aus fein-
stem Goldbrokat, weiße Kniestrümpse und Schnallenschuhe,
dabei Ordenssterne auf der Brust nnd der ganze Anzug
mit Brillanten übersäet, erhöhten das Ungewöhnliche der
äußerst gewinnenden Erscheinung.
Mit einigen huldvollen Worten an jeden einzelnen der
Vorgestellten war die Audienz beendet, nnd unter den gleichen
Sawang Waddhana, Königin von Siam.
Ehrenbezeigungen, wie bei der Ankunft, fand die Rück-
fahrt statt.
Das Einlenken in europäische Bahnen in Siam ist
das Verdienst des Vaters des gegenwärtigen Königs, des
„weisen" Mongut. Überzeugt, daß nur eine heilsame Re-
form der Verwaltung und geordnete Rechtszustünde Siam
die Selbständigkeit retten können, hob er all die drückenden
Monopole ans, durch welche bisher die Regierung den
Außenhandel erschwerte, eröffnete das Land den Fremden,
schloß Handelsverträge mit den europäischen Mächten ab
nnd begünstigte alle industriellen nnd Handelsnnternehmun-
gen. Unter ihm entstand eigentlich erst die siamesische
Handelsflotte für die weite Seeschiffahrt, welche nun schon
eine beträchtliche Anzahl von Dampfern nnd Onersegel-
schisfen zählt. Er legte auch den Grund zur modernen
siamesischen Kriegsflotte und. bildete das Heer nach euro-
päischem Muster ans. Die natürlichen Reichtümer des Landes
Mahawadji Runit, Kronprinz von Siam.
kamen jetzt erst zur Geltung. Die Ausfuhr von Reis und
Teakholz, die Hanptprodukte des Landes, steigerte sich stetig
und damit nahm der Wohlstand zu.
König Tschulalonkorn, welcher im Jahre 1866 seinem
Vater ans dem Throne folgte, erbte von diesem den fort-
schrittlichen Geist und setzte die angebahnten Reformen mit
Thatkraft fort. Er führte eine moderne Rechtspflege ein,
hob die erbliche Sklaverei gänzlich ans und beschränkte das
bestehende Sklavereiverhältnis. Wenn man bedenkt, wie
die Sklaverei bei allen Völkern Hinterindiens eingelebt ist,
und daß z. B. die Franzosen in Kambodja cs noch nicht
für zeitgemäß halten, sie gänzlich zu beseitigen, muß man
der Willenskraft des Königs alle Achtung zollen.
Unter König Tschulalonkorn trat Siam dem Weltpost-
verein bei, die Hauptorte des Landes wurden telegraphisch
verbunden und der Anschluß des so entstandenen Netzes au
die Weltlinien über Moulmein und Saigon hergestellt. Die
Die Tiber oder der Tiber? — Vorgeschichtliches aus Reichenhall. 171
Einrichtung eines zweiten Königs, welche bei dem Um- j so singt das Räuberpaar noch heute. Dieser althergebrachte
stände, daß König Tschulalonkorn die Regierung ganz in Gebrauch des weiblichen Geschlechtswortes begann in weiteren
seinen'Händen vereinigte, überflüssig geworden ist, wurde Kreisen erst in den fünfziger oder sechziger Jahren unseres
abgeschafft. Der König unternahm ferner — ein in der Ge- Jahrhunderts unsicher zu werden, und zwar waren es zu-
schichte Siams unerhörter Fall — eine Reise ins Ausland nächst deutsche Gelehrte, die uns unterwiesen, der Tiber sei
nach Britisch- und Niederländisch-Indien, um die dortigen richtiger als die Tiber, weil das Wort in der Ursprache, der
Verhältnisse durch eigene Anschauung kennen zu lernen, lateinische Tiberis nämlich und ebenso der italienische Tevere,
Die Errichtung von Schulen und Krankenhäusern, mannig- ! männlichen Geschlechts sei. Dieser Weisheit ist dann im
fache Einführungen zur Hebung der gesundheitlichen Per- , Laufe der Jahre eine größere Menge urteilslos gefolgt, als
hältnisse und zur Verschönerung Bangkoks, die Einrichtung es „gebildet" wurde, die Kenntnis lateinischer Gelehrsamkeit
einer modernen Sicherheitswache, sowie die Entsendung ! auszuhängen.
einiger Siamesen zur Ausbildung in das Ausland waren die Als unsre deutschen Vorfahren vor Jahrhunderten das
Folge davon. ! Lehnwort „Tiber" bildeten, da haben sie sich um das Geschlecht
Durch häufige Rundreisen im eigenen Lande überzeugte des lateinischen oder italienischen Stammwortes nicht gekümmert,
er sich von der regelmäßigen Verwaltung desselben, und trotzdem es auch zu jener Zeit an Gelehrten aller Art nicht
wurde seine Aufmerksamkeit auf die Hebung des Verkehrs- gefehlt hat, sondern sie legten dem umgedeutschten Worte
Wesens gelenkt, welche durch Anlage einer Eisenbahn nach dasjenige Geschlecht bei, welches nach dem Brauche ihrer
den nördlichen Provinzen demnächst Ansdruck finden wird.
Mit der Einführung der Zeitrechnung nach Sonnenjahrcn
ist gleichfalls ein den Handel und Verkehr mit dem Aus-
lande erleichternder Fortschritt gemacht worden.
Aber auch in gesellschaftlicher Beziehung bethätigte sich
die fortschrittliche Denknugsweise des Königs. Die skla- !
vischcn Unterwürfigkeitsbczeigungen der Niedern gegenüber
den Höheren wurden aufgehoben; auch das früher übliche
Niederwerfen beim Erscheinen des Königs ist abgestellt.
Ferner hat die gesetzlich gestattete Vielweiberei in der Praxis
schon eine bedeutende Einschränkung erfahren. Auch bezüg-
lich Titel und Stellung der aus derselben hervorgehenden
großen Anzahl von Prinzen werden gewisse Beschränkungen
gemacht, um die Bedeutung dieses Titels aufrecht zu erhalten.
Von den eigentlichen Frauen des Königs, welche Prinzessinnen
von Geblüt sein müssen, wird nur eine zur Königin erhoben,
aber erst dann, wenn einer der ans dieser Ehe hcrvorgegan-
sienen Söhne zum Kronprinzen erklärt wurde, Rur die
Söhne des Königs, welche eine Prinzessin von Gcblüte zur
Mutter haben, erhalten den Titel königliche Hoheit, die
Enkel sind nur mehr Hoheit, und im vierten Geschlecht
erlischt der^Titel gänzlich. Die meisten hervorragenden
stellen inl Staate sind durch Prinzen besetzt, nnd das ganze
9ceich macht den Eindruck einer großen Familiendomäne.
DaS ganze geistige und politische Leben Siams vereinigt
sich in Bangkok, und hier laufen wieder alle Fäden im
königlichen Schlosse zusammen. Tagtäglich findet des Abends
die Berichterstattung beim König statt und kein Vorkomm-
nis in Bangkok bleibt demselben unbekannt. Bei den außer-
ordentlichen Geistes- und Herzensgabcn, welche die Mit
glieder der gegenwärtigen Dynastie auszeichnen, erweist sich
dieses Regierungssystcm für die Siamesen sehr vorteilhaft.
Sie bilden eine einzige große Familie, die im Könige nicht
bloß den legitimen Herrscher verehrt, sondern auch den
Familienvater liebt, soweit solche Gefühle bei dem zwar
gutmütigen, aber teilnamlosen Eharakter der Siamesen über-
haupt möglich sind.
Die Tiber oder der Tiber?
Die Beantwortung der Frage, ob das deutsche Lehnwort
T iber weiblich oder männlich zu behandeln sei, ist in neuerer
Zeit mehr und mehr schwankend geworden. Noch vor 3 bis
4 Jahrzehnten hörte und las man allgemein die Tiber, und
als solche wird der römische Fluß den Älteren von uns
Lebenden in der Schule wohl fast ausnahmslos beigebracht
worden sein. Aus Flotows bekannter Oper „Stradella", die
ans dein Anfange der vierziger Jahre stammt, kennen wir den
Gesang der beiden Banditen: „An dem linken Strand der Tiber,
bei dem Hügel rechts vorüber, liegt ein Flecken ..." — und
deuZche» Muttersprache den Flußnamcn mit der Endung
. . er zukam. Sie kannten je nach der Gegend, in der ihre
Wiege gestanden hatte, die heimatliche Weser und ihre Neben-
flüsse, die Emmer und die Aller, weiterhin den Nebenfluß der
letzteren, die Oker und deren Nebenflüsse, die Ecker und die
Schnnter; oder sie kannten die Eider, die Alster, die Emscher,
die Pader, die Wupper, die weiße Elster nnd die schwarze
Elster, die Oder', Eger, Ucker, Jser, Ziller, Lieser, Iller u. s. w.
Und nach dieser Regel ihrer Sprache, an der vereinzelte Aus-
nahmen (der Bober, der Kocher, der Stöber) nichts ändern,
schufen sie „die Tiber" und haben es damit gehalten die
Jahrhunderte hindurch, trotz den männlichen Tiberis und
Tevere, bis auf unsre Zeit. Sogar am Tiberstrande selbst,
iil Rom, haben die Deutschen früher nur die Tiber gekannt,
trotzdem gerade für den dort lebenden Deutschen, der den
männlichen Tevere tagtäglich vor Augen und Ohren hat, die
Versuchung sehr nahe liegt, auch das deutsche Wort Tiber
männlich zu behandeln. Goethe kennt in seinen Briefen aus
Rom nur die Tiber. „So sind die sieben Hügel Roms —
heißt es in der italienischen Reise unter dem 25. Januar
1787 — nicht Erhöhungen gegen das Land, das hinter ihnen
liegt, sie sind cs gegen die Tiber nnd gegen das uralte Bette
der Tiber." Und Goethe war der „tlavus Tiberis" und
„il Tevere" ebenso geläufig, wie irgend einem unsrer
neueren Übcrgelehrten; aber er folgte, wenn er deutsch sprach,
dem Geiste seiner Muttersprache nnd nicht Livius und Cicero.
(Zeitschrift des deutschen Sprachvereins.)
Vorgeschichtliches ans Reichcnhall.
Unter obigem Titel veröffentlichte Herr v. Chlingensberg-
Berg in der „Beil. z. Allgem. Zeitung" 1891, Nr. 38, einen
größeren Artikel. In einer Thalschlucht am Fuße des Zwiesel-
berges liegt dort ein 4 m hoher Hügel von 24 na Durchmesser.
Grabungen ergaben zwei Schichten. Zwischen zahlreichen Tier-
knochen (Pferd, Rind, Schwein, Schaf, Ziege, Hund (zweimal))
standen etwa 700 Gefäße. Es sind rote und hellgraue, mit
Zapfen, Buckeln, Einkerbungen versehene, meist bauchige
Geschirre. Bei mehreren findet sich Bemalung mit brauner
oder gelbroter Farbe. Aus dem Berichte geht nicht mit
Klarheit hervor, ob auch diese Gefäße Knochenteile enthielten.
Wenn jedoch die weißgebrannten Knochenteile, zwischen
denen die Gefäße lagen, nicht Tierknochen waren — und
in solchem kalzinierten Zustande werden sie schwer von
Menschcnknochen zu unterscheiden sein! —, dann hätten wir
in diesem Befunde einfach ein Urnenfeld vor uns, das,
wie so häufig in den Ostalpen, in der Form eines größeren
! Tumnlns erscheint. Zur Erkenntnis dieses Verhältnisses
gehört eben Blick und Übung! — Ob die Brand- und Opfer-
plätze, welche Herr v. Chlingensberg im westlichen Teile dieses
22*
172
Die Feier des Neujahrs bei den Grusinern.
Lagers und in dessen Mitte entdeckt hat, zn diesem Uruen-
felde als Ustrinen gehören, läßt sich nur aus etwaigen ana-
logen Gesäßresten bestimmen! —
In der Mitte des Hügels „ziemlich tief in der Holzkohle"
stießen die Arbeiter ans zwei an den Enden sich verjüngende
Armringe von Bronze (der eine schnurartig gewunden, der
andre mit Wolfszahnornamcnten und Querstrichen geziert)
und eine abgebrochene Brouzeuadel mit Einschnürungen am
Kopfe. Darunter fand sich innerhalb eines regelmäßigen
Steinkranzes in einer Lchmdecke ein — Menschenopfer nach
dem Berichterstatter. An Stelle der dem Kannibalismus der
Vorzeit zum Opfer gefallenen Leichenteile setzt eine besonnene
Forschung, welche sich nach gegebenen Mustern umsieht, eine
ganz einfache Bestattung der Hallstattperiode, wobei vielleicht
an Stelle der vollständigen Lcichenbeisetzung teilweise Leichen-
brand trat. Es fanden sich von Körperteilen nur Schädel-
dach, Occiputteile, grüngefärbt von den Bronzebeigaben, vor.
Als Beigaben dieser Leichen konstatiert der Verfasser
zwei Bronzefibeln (Kahnsibcln'?), Pfeilspitzen, Zängchcn, Be-
schläge, Knöpfe und mehrere andre mit Feuer veränderte
Bronzegegenstüude. Wie so häufig bei Hallstattgräbern der
Oberbayern (vergl. Dr. I. Naue: „Die Hügelgräber zwi-
schen Ammer- und Staffclsee", S. 176 bis 177) fanden
sich auch hier Teile eines Ebers vor. — Der bekannte Er-
forscher der Grabhügel Südbayerns, Dr. I. Naue, hat einen
dem obigen ganz entsprechenden Grabfund bei Huglfing
gemacht. Auch hier stieß man ans eine unter einer Lehm-
decke halb bestattete, halb verbrannte Leiche, bei welcher Kahn-
fibel, Knöpfe, Gürtelblech, Bronzekreuz und Armreifen
als Beigaben lagen. Die Verzierung und die Gestalt dieser
letzteren (Taf. XXVI, Fig. 6) entspricht dem einen der von
Herrn v. Chlingensberg erwähnten Armreifen.
Über den Fund von Huglfing, vergl. Dr. I. Naue a. a. O.,
S. 42 n. 43. Was den schnurartig gewundenen Bronze-
armring betrifft, so sind sie in Hallstattgräbern von Mittel-
franken und Oberfranken (Beckerlohe und Jgcnsdorf) von dem
Referenten selbst konstatiert worden; auch in dem berühmten
Tnmnlus von Rodenbach in der Pfalz kommen solche vor
(vergl. von Tröltsch: „Fundstatistik der vorröm. Metallzeit
im Rheingebiet", S. 22, Nr. 47 und 48). Auch in Ober-
bayern (Eching), Niederbayern (Hienheim), sowie in der
Oberpfalz (Dungling) hat man ihr Vorkommen konstatiert.
Sie fallen in den Übergang von der jüngeren Bronzezeit in
die ältere Hallstattperiode. — Hier sind diese zwei Armreifen
— wenn die Grabschicht ungestört war — als Totengeschenke
von Seiten Anverwandter zu betrachten. — Wie aus unserm
Referate ersichtlich, beruht das Ungewöhnliche nicht in den
einzelnen Fundreihen, sondern in dem örtlichen Zn-
sammentreffen eines größeren Urnenfeldes mit einem sorg-
fältig bereiteten Einzelgrabe der Hallstattzeit. — Von Opfern,
Kannibalismus, Kulturstätten kann ein kritischer
Archäologe nichts erblicken in dem „Vorgeschichtlichen
aus Reichen hall".
Dürkheim, den 14. Febr. 1891. Dr. C. Mehlis.
Die Feier des Neujahrs bei den Grusinern').
Die Schilderung der mit der Neujahrsfeier bei den Gru-
sinern verknüpften Gebräuche zeigt uns eine interessante Ver-
einigung christlicher Begriffe mit wenigstens zwei Jahr-
tausende (denn so alt ist bald das Christentum in Grusien)
zurückreichenden heidnischen Aufzeichnungen. Die Feier des
a) Nach Herrn A. S. Chachanows Abhandlung in der
„Ethnographischen Rundschau", herausg. v. d. Ethnogr. Sektion
der Kaiserl. Gesellschaft der Freunde der Naturkunde, Anthro-
pologie und Ethnographie an der Moskauer Universität 1889,
Heft 3.
ersten Januars Begann in den ältesten Zeiten am Hofe der
grusinischen Könige, laut dem Historiker Wachnscht, lange vor
Sonnenaufgang. Nach dreimaligem Krähen der Hähne ver-
sammelten sich alle Zivil- und Militär-Befehlshaber im
Palaste des Königs nach ihrer Rangordnung, mit gebührenden
Geschenken: der Amilachor, d. h. Konnetable, mit dem
schönsten goldgezänmten Rosse, der B a s i e r t - r e ch u z e ß,
Jägermeister, brachte einen vergoldeten Eberkops ° und in
einem Käfige einen flinken Falken dar. Nachdem alle Offi-
ziere, sich stumin verbeugend, abgetreten waren, brachten die
Eristawi, Gebietsverwalter, dem Könige gespannte Bogen
mit Pfeilen mit den Worten dar: „Möge dieser Pfeil er-
barmungslos das Herz des Verräters an dir, mächtigster
Fürst, durchbohren!" Die Glückwünsche eröffnete der Ts ch ko n -
dideli, Erzbischof von Martwili in Mingrelien, dem Könige
Kreuz und Heiligenbild, der Königin Süßigkeiten darbringend.
Nach der Kur ritt der König zur Jagd, zn der Tages zu-
vor die Vorbereitungen getroffen waren: dargebrachte elende
Klepper in einer Verzäunung im Felde geschlachtet worden,
um Wölfe, Füchse, Schakale dahin zn locken und sie beim
Erscheinen der königlichen Jagd herauszulassen und zu erlegen.
Ein homerisches Mahl, Pferderennen, Fanstkämpfe und Ring-
spiele schlossen das Fest, wobei die Sieger vom Könige ein
Ehrenkleid (Chalat) erhielten.
Die heutigen Ingeloi, die im Kachschen Bezirke des
ehemaligen Ssnltanats Jclisscn und heutigen Sakataler
Kreises, im Thale des Alasan-Flusses lebten, und die tm
15. Jahrhunderte, nach der Teilung Grnsiens unter die
Söhne Georgs VIII. vom Volke der Zachwier (Lesghier) aus
dem Daghestan unterworfen worden waren, hat die 400 jährige
Trennung von den übrigen Grusinern ihrer alten Volks-
bränche noch nicht entfremdet. Bei ihnen beginnt heutzutage
die Neujahrsfeier bei Sonnenuntergang mit Flintenschüssen,
Lärm und Geschrei, die um Mitternacht einer Totenstille
Platz machen. Alles im Hause geht schlafen, nur die Hnus-
fran spinnt eifrig ihre Wolle, während sie der Hausherr
mit angenehmem Gespräche zerstreut. Nach vollendeter Arbeit
schleichen sie beide lautlos an die schlafenden Kinder heran,
thun deren Hände ans die Decken herauf und umwinden
solche mit Gespinst, umwickeln damit alles Geschirr und den
die Hütte stützenden Dcda-bodsi (Mutterpfosten oder
Hanptpfosten), ans daß alle Familienglieder und ihr Hab und
Gut heil und unberührt bleiben mögen. Von der Hand
wird der Faden nicht vor drei Tagen entfernt. Sobald die
Hähne dreimal gekräht haben und die Morgenröte sich gezeigt,
wecken die ältesten alle übrigen Familienglieder, die aufstehen
und ihr neues Kleid und Schuhwerk anthun, um sich darauf
alle fröhlich um den Herd zu scharen, der inmitten des
Hauses die ganze Nacht über gelodert hat. Auf ein plötzlich
ertönendes Klopfen unterbrechen alle ihr Gespräch, um zu-
sammen dreimal zu fragen: „Wer da und was trägt er'?"
worauf die Antwort erfolgt: „Glück und Wohlergehen bringe
ich meiner Familie" — wobei der vorher im Lärme unver-
sehens aus der Hütte entschwundene Familienvater mit dem
Wunsche, seine Fußstapfeu möchten die des Engels ine Hause
sein, hereintritt. Damals hatte er einen Krug und Zwerg-
säcke mit Vogclfutter mitgenommen, sich am Flusse gewaschen,
gebetet, den Krug mit Wasser gefüllt, den Sack mit Vogel-
fntter im Wasser genetzt, einige Nußbaumzweige in den andern
Sack gethan und war darauf heimgekehrt. In die Hütte
tretend, stellt er den Krug in den Schrank zum Geschirr
oder ans das Brett (Körte), thut die Nußzweige in die
Ssakane oder Begeli, worin das Mehl und die Körner-
frucht aufbewahrt worden und bestreut alle Ecken des Hauses
mit Futter, dazu beständig den Haussegen betend: „Gott,
o Kurmucher Kirche, gieb uns Brot und Wohlergehen."
Nachdem die Hütte zur Erlangung reichlicher Ernte bestreut
Sharps Besteigung
be§ Vulkans von St. Vincent (Westindienst^
178
worden, nimmt der Älteste ein Tages zuvor hergerichtetes
und hinter dem Deckbalken verstecktes Bündel Nußzweige und
giebt jedem Familiengliede einen Zweig, worauf er den ersten
selber ins Feuer thut, wo die frische Rinde in der Hitze
schnell zerplatzt und prasselt, was eine besondere Bedeutung
hat und vom Familienhaupte jedesmal von den andächtigen
Ausrufungen: „Herr, mehre uns und sende Fülle in unser
Haus, sei uns gnädig!" begleitet wird. Alle Zweige werden
einer nach dem andern Opfer der Flamme, außer zweien,
die aufs neue aufbewahrt werden. Danach beginnt man
schon um die Morgendämmerung die Tabla, das Opfer,
zuzurichten. Auf den Präsentierteller (Chontsdü) thut
man das Brot (Nasuki), Fladen, einen Teller mit Honig,
Butter, einen Krug Wein, weißen und roten Zwirn und
Alle gehen zusammen, den Garten mit dem neuen Fahre zu
beglückwünschen. Hier bleiben sie vor einer üppig tragenden
Weinrebe stehen, beschneiden solche, begießen um sie herum
die Erde mit Wein und schlachten an deren Wurzel einen
Hahn mit roten Federn, die dann an die Rebe gebunden
werden. Bei dieser Handlung wird das gebräuchliche Gebet
gesprochen: „Herr, heiliger Georg von Kurmuch, laß unsere
Krüge nicht ohne Wein!" Zum Schlüsse des ersten Aktes
dieses Gratulationsganges bietet der Familienvater jedem
ein Stück Brot mit Honig und Butter an, giebt etwas Wein
abzutrinken — und nach Beendigung dieser eigenartigen
heiligen Handlung begeben sich alle in die Hütte. So wird
d^r Anfang des Festes begangen.
Nach der Heimkehr ans dem Garten zerbricht ein jeder
schon selber sein Brot und ißt ein kleines Stück desselben.
Tages zuvor war nämlich für jedes Familienglied ein be-
1 anderes Brot gebacken worden, dessen Form die Bestimmung
und Verpflichtung jedes Familiengliedes bezeichnet: für die
ältesten backt man ein Beil, für die Söhne — Eicheln, für
die Weiber — Spinnrocken, einen Kringel — für die Knh
und einen andern Kringel — für die Vögel des Himmels;
dm letzteren thut man auf das Dach, während man den
andern der Kuh giebt, nachdem man ihn zuvor an ihrem
Hörne aufgehangen. Dabei spricht man: „Lebe lange un-
Uersehrt, bewahren möge dich der heilige Georg von Kurmuch!
Am Neujahrstage pflegt bei den Jngcloi das Acittags-
mahl früh stattzufinden, wobei durch den Brauch geheiligte
speisen bereitet werden: eine Hühnersuppc und Plow (Reis-
H'i)- Zum Mittage erwartet man den Mekwle (d. h. den
”tc Feldfurche, den Glückspfad Ziehenden), der in den Augen
ov Volkes besonders vom Glück begünstigt sein muß. Es
tzk dieses gewöhnlich ein Verwandter der Familie. Vor
seuler Ankunst nimmt man keinerlei Besuch an. Der
Mekwle ninttnt, zum Neujahre Glück wünschend, die hinter
denc Deckbalken versteckten Zweige hervor, thut sie ins Feuer
und ruft bei ihrem Knistern, daß Gott den Hausgenossen
Gesundheit und Erntesegen schenken möge. An diesem Tage
verleiht man nichts, auf daß der heilige Georg sich nicht er-
zürne und aller Fülle beraube. Dann beginnt das heitere
Mittagsmahl mit Essen, Trinken und Singen, vornehmlich
hutarischer Lieder zu den Lauten der Tschungura, einer
vcer- bis fünssaitigen Zither.
Der vielberühmte heilige Georg von Kurmuch genießt ;
fön altersher der besondern Verehrung der Jngcloi. Seine
sttzt bis auf den Grundriß zerstörte Kirche steht auf einem
Hngll beim großen Dorfe Kach, iy2 Meilen von der Grenze
, Nnchaschcn - Kreises, durch den Kurmuchfluß von jenem
reichen Wohnorte getrennt. Die JngiloG), seien sie schon
3Um Ehristcutume ihrer griechischen Voreltern zurückgekehrt
Z.Jngiloi oder Jcngiloi vom türkischen Worte jengi,
!ni- Huchen einst und noch jetzt die neubekehrten Grusiner, als
ln den mohammedanischen Glauben annahmen.
N. v. Scidlitz.
oder noch Mohammedaner, bringen dem heiligen Georg von
Kurmuch in den ersten Tagen des November Brot, Seide
und Früchte, sowie Tiere, die sie schlachteten, selber aber au
Ort und Stelle oder später gesalzen verzehren.
Ähnlich feiern die Kartalinier (die Grusiner im Kreise
von Gorids, Gouvernement Tiflis) ihr Neujahr. Sie backcn
Glückskringel (Bediß-Kweri) für das Vieh, für das ganze
Haus aber das Brot Bassiln, mit einem Kreuze in der
Mitte, so genannt nach dem heiligen Basilius: für den Ackers-
mann wird ein Pflug, für den Ochsen — ein Joch, für die
Kuh — ein Euter gebacken. Alles dieses thut man auf
einen Präsentierteller um einen Schwcinskopf herum, der eine
notwendige Zuthat der Neujahrsfeicr bildet, die bloß in
einigen grusinischen Provinzen durch die lange währende
mohammedanische Zwinghcrrschaft ausgemerzt worden ist.
Der Präsentierteller mit allem Eßwerk und angezündeten
Lichtern heißt Abramiani, d. h. Opfer zu Ehren Abrahams.
Eine Pflicht des Hausältesten ist es, die Präsentierteller auf
den Hof hinauszutragen, damit in den Viehstall zu gehen
und die Kühe und Ochsen zu beglückwünschen. Mit einem
Ei berührt er das Vieh, dazu sprechend: „Seid so rund und
voll, wie dieses Ei!"
Wieder ins Haus zurückgekehrt, tritt er vor allem an
den Herd und wenn die Funken sprühen, flüstert er: „So-
viel Kühe, Ochsen, Schweine, soviel Jahre Lebens, soviel
Geld" u. s. w. Darauf bewirtet er alle mit Honig, einem
jeden wünschend: „So süß mögest du altern, wie dieser
Honig süß ist!" Die Abramiani wird drei Tage lang
dem ältesten zum Mittage und Abendessen aufgetragen, nach
Verlauf dreier Tage aber schneidet man aus dem Brote
Bassila das Kreuz heraus und wirft cs in den Speicher,
wobei das Gebet gesprochen wird: „Möge das Brot in
diesem Speicher reichlich und unerschöpflich sein!"
Am Nenjahrstage vermeidet der Kartalinier Streit und
Unannehmlichkeiten, da er diesen Tag für das ganze Jahr
als maßgebend erachtet. Die Nägel zu schneiden ist verboten,
damit der Teufel sich derselben nicht bemächtige. Jemanden
vor dem Mekwle, dem bewährten Glückwünschcr, zu em-
pfangen, wird vermieden. Der Mekwle bringt der ältesten
im Hanse einen roten verzuckerten Apfel, ihn selber aber
bewirtet man mit Gosinaki — in Honig eingekochten Nüssen.
Ähnlich wird in Gurien (an der Küste des Schwarzen
Meeres) der Neujahrstag von den Grusinern gefeiert, nur
daß er dort vom griechischen Kalandai — Kalandoba
genannt wird. Der älteste im Hanse mit dem jüngsten
Familiengliede tragen den gebräuchlichen Schweinskopf mit
einem Weinkruge mit angezündeten Kerzen aus dem Speicher,
wo diese Tabla (Opferspende) die Nacht über gestanden
hatte, in den Weinkeller. Hier wendet sich der älteste an
einen Gott des Weines, Aguna, ihn anflehend, die Dörfer
Bachwi und Askani, die ihrer Weine wegen in ganz Gurien
berühmt sind, zu besuchen und dann in seinen Keller zu
kommen. N. v. Seidlitz.
Sharps Besteigung des Vulkans von
St. Vincent (Westindien).
In No. 2 der Proceedings der Akademie von Phila-
delphia 1890 giebt Dr. B. Sharp einen eingehenden Bericht
über den gegenwärtigen Zustand des Vulkans von St. Vincent
in Westindien, welcher seit dem berühmten Ausbruch von
1812 im Solfatarenznstande zu verharren scheint.
Um den Krater zu besuchen, fährt man in einem Boot
von Kingstown, der Hauptstadt der Insel aus, nach Chateau
Belair. Tie Küste bietet für den Geologen einen äußerst
interessanten Anblick, da sie aus lauter Lavaströmen mit
zwischenliegenden kleinen Thälchen besteht und die Ströme
174
Aus allen Erdteilen.
an ihren Stirnenden sämtlich, von den Meereswogen ange-
schnitten, ihr Querprofil zeigen. Sie bestehen sämtlich zu
unterst ans einer Lage Steinen von verschiedener Größe, vulka-
nischen Bomben, mit deren Auswurf der Vulkan regelmäßig
seine Thätigkeit eröffnet zu haben scheint; darüber liegt die
Asche, durch die mit ihr gleichzeitig herabstürzenden Regen-
fluten zwischen die Blöcke hineingeschwemmt und in einen
festen Tuff verwandelt, und darüber die feste Lava, bewachsen
mit Grasbüschen, riesenhaften Kandelaberkaktus (Cereus) und
dem „Floridamoos", der bekannten grauen Bartflechte. Hier
und da zeigen sich prächtige Säulenbasalte, besonders im
Cumbcrlandthal, tvo Säulen von 50 in Höhe bei Meterstärke
vorkommen.
Chateau Belair ist eine reizende kleine Ansiedlung, welche
ganz einem Schweizerdorf gleicht; sie liegt am Eingang des
Wallabu-Thales, dessen Nordwand der Vulkan, die Sonf-
fritzre, bildet. Die beiden Thalhänge sind mit dunkelgrünem
Unvald bedeckt, aus dem sich die Kronen hoher Baumfarne
wie hellgrüne Schirme abheben; über die Felsen hängen
Lianen und Schlingpflanzen herab. Der Pfad folgt dem
Kamm eines Lavastroms, von dem man nach beiden Seiten
in mit Grün erfüllte Thalschluchten hinabblickt. Wilde
Bananen (ImUsIm-s), von Feuchtigkeit triefend, bedecken den
Lavastrom, hier und da muß man sich mit dem Jagdmesser
den Weg durch wahre Dickichte von Begonien bahnen. In '
einer Höhe von 000 in trifft man ans ein kleines Plateau,
das von zwei riesigen, mehrstämmigen Feigenbäumen, den
„Maroon-trees“, beschattet wird und den gewöhnlichen Rast-
punkt vor der Besteigung des Gipfels bildet. Dann tvird
der Anstieg steiler, die Üppigkeit der Vegetation nimmt ab,
an die Stelle des Urwaldes tritt niederes Gebiisch, dann
Farne und Gräser mit einzelnen vom Schwefeldampf ge-
töteten Bäumen; Schlacken und lose Steine bedecken den
Boden und machen den Tritt unsicher. Kurz unter dem
Kraterraud bietet eine künstliche Höhle, von Lianen und Far-
nen überschattet, Schutz vor der Witterung.
Der Kraterrand ist gegenwärtig etwa 1100m hoch.
150 m unter ihm liegt ein blauer kreisrunder See, umgeben
von einem mit Weiden und Schlinggras bewachsenen Steil-
hang; der Durchmesser am oberen Rande betrügt etwa 11/2 km,
die Tiefe des Wassers gegen 180 m. Die Schwefelaus-
duustungen sind sehr bemerklich. Dieser Krater ist der alte.
Dicht an seinem Nordrande, durch einen schmalen, oben
messerscharfen, senkrecht abfallenden Grat geschieden liegt der
neue Krater von 1812. Dieser ist gegen 300 m tief und
nicht von Wasser erfüllt; nur ein flacher Teich findet sich auf
seinem Grunde; sein Nordrand erhebt sich zu etwa 1200 m
und bildet wahrscheinlich den Kulminationspunkt der Jusel.
Sic ist früher höher gewesen; Scrope giebt vor dem ersten
bekannt gewordenen großen Ausbruch von 1718 die Höhe
der Insel auf 1505 m an. Nach dem Bericht von Moreau
de Jonntzs wäre der Ausbruch von 1718 allerdings nicht
an der Stelle der heutigen Sonffritzre erfolgt, sondern am
Ostende der Insel, aber das muß ein Irrtum sein, denn
die Insel hat kein eigentliches Ostende und besteht überhaupt
nur aus einem von Nord nach Süd laufenden Bergrücken,
dessen Nordende der Vulkan einnimmt. (Nach der gewöhn-
lichen Annahme ist nicht der Vulkan, sondern der Bonhomme
der höchste Punkt der Insel.) Seit 1812 hat der Vulkan
sich ganz ruhig verhalten; sein damaliger Ausbruch bezeichnet
bekanntlich das Ende der großen Erdbebcnperiode von 1811
bis 1812. Dr. W. Kobelt.
Aus allen
— Der neunte deutsche Geographentag wird in
den Tagen vom 1. bis 3. April 1891 in Wien abgehalten.
Ortsgeschäftsführer sind: Hofrat F. von Hauer und Prof.
A. Peuck in Wien; Hanptgegeustände der Verhandlung:
der gegenwärtige Stand der geographischen Kenntnis der
Balkanhalbinsel und die Erforschung der Binnenseen.
Verbunden damit wird eine geographische Ausstellung
sein, die namentlich die Entwickelung der Kartographie von
Österreich-Ungarn und der südöstlich angrenzenden Länder
zur Anschauung bringen soll. Ausflüge sollen nach Buda-
pest, Fiume und dem Karstgebiete unternommen werden.
Anmeldungen bei Dr. Diener, Wien, Universitätsplatz 2.
— „Der große Geist" der nordamcrikanischen Indianer
hat nie existiert. Da derselbe aber selbst in wissenschaft-
lichen Werken, namentlich in theologischen und religions-
philosophischen bis zum heutigen Tage eine Rolle spielt, so
wollen wir hier daran erinnern, daß bereits vor 14 Jahren
der ausgezeichnete amerikanische Gelehrte Garrick Mallery
in einer sorgfältigen Untersuchung, in der ihn verschiedene
Sprachforscher und Ethnographen unterstützten, nachwies, daß
kein einziger Jndiancrstamm vor seiner Beeinflussung durch
Missionare einen ausgeprägten Glauben an einen allmächtigen
„großen Geist" oder etwas besaß, was der jüdischen oder
christlichen Vorstellung von „Gott" gleich kam. Alle An-
gaben der Missionare und frühesten Reisenden, die dieses
behaupten, sind irrtümliche; es ist aber bekannt, daß auch
einige der frühesten Schriftsteller über die Indianer schon
das Richtige aussprachen. So sagte Lafiteau, daß die Namen
„Oki" und „Manito" verschiedene Geister und Genien be-
zeichneten. Champlain berichtete, daß „Oki" die Bezeichnung
Erdteile n.
eines Mannes sei, der durch Tapferkeit und Geschicklichkeit
vor den übrigen hervorrage. Manilo bedeutet „etwas, was
über die Fassungskraft hinausgeht". Eine Schlange war
oft ein Manilo, und selten that man einer Schlange ein Leid
au. „Hawaneu", wenn richtig geschrieben, heißt nur „laut-
stimmig" , nämlich der Donner. „Kitschi Manito" ist kein
Eigenname Gottes, sondern ein Sammelnaine für eine ganze
Klasse großer Geister. Die Dakota-Bezeichnung „Wakau"
bedeutet das geheimnisvolle Unbekannte. Eine Uhr ist ein
Wakau. Was man vor 200 Jahren bei den Tschokta als
Wort für Gott ausgab, entpuppt sich jetzt als die Vokabel
für „hoher Berg".
Es scheint, als ob einige Indianer eine unbestimmte Vor-
stellung von irgend einem guten Geiste oder Wesen hatten,
das sie aber nicht verehrten und zu dem sie nicht beteten.
Sie beteten und opferten nur den thätigen Geistern, über die
sie viele Mythen besaßen. In ihren verschiedenen Schöpfungs-
geschichten kommt zuweilen ein nebelhaftes Wesen vor, welches
die Dinge in Gang brachte; wenn aber die Sache einmal
ihren Lauf hatte, so ist von dieser causa movens keine
Rede mehr; ungefähr so, lvie heute auch fortgeschrittene Philo-
sophen vom Uranfange reden.
Man hat die Indianer darüber belobt, daß sie den Namen
Gottes nicht unnütz gebrauchten. Das ist allerdings richtig,
hat aber einen ganz andern Grund, als den in der Bibel
betonten. Sie hatten nämlich, nach den besten Kennern der
amerikanischen Sprachen, überhaupt kein Wort für unser
„Gott", das sie brauchen oder mißbrauchen konnten. Sie
verdienten also dafür ebensowenig Lob, als wenn man sie
dafür lobte, daß sie vor der Anknuft der Europäer keinen
Branntwein tranken.
Aus allen Erdteilen
175
Die Missionare, welche Dinge gesunden haben, die nicht
vorhanden waren, sind jedoch nicht ohne Entschuldigung.
Der Indianer hat nämlich die Gewohnheit, einem Fragenden
die Antwort zu erteilen, die er wünscht, Rur wenn nenn
ihn in seiner eigenen Sprache seine Mythen erzählen und
erklären läßt, kann man darauf rechnen, die Wahrheit zu er-
fahren. Solche Berichte sind die einzig wertvollen und erst
seit kurzem hat man begonnen, die Rothäute in dieser Weise
auszuforschen, und ist dahin gelangt, zahlreiche landläustgc
Irrtümer auszumerzen.
Bei der Übersetzung der genannten Bezeichnungen über-
setzten Missionare und Reisende nach bestem Wissen und ge-
brauchten dabei das, wie es ihnen schien, am besten passende
Wort. Ein lehrreiches Beispiel dafür bietet uns Boscana,
welcher von einem „Tempel" bei den südlichen Kaliforniern
berichtet. Es war aber nur ein runder, sechs Fuß hoher
Zaun, ungedeckt — ein Tanzplatz. Doch die darin aus-
geführten Tänze waren religiöser Art und daher war seine
Übersetzung mit „Tempel" nicht ganz unberechtigt, wenn ftc
auch spätere Forscher veranlaßte, nach den Ruinen dntzev
Tempels zu suchen. „ ,
att wenig Beachtung hat man auch dem Umitandc ge-
schenkt daß es gerade die intelligentesten Indianer waren, ,
die über ihre religiösen Anschauungen berichteten, solche, die
bereits an der Wahrheit der alten Geschichten zweifelten.
Unter' ihnen waren solche, die nach der Wahrheit suchten und
die ihre Sehnsucht nach derselben in vagen Borstellungen von
einer allmächtigen Vorsehung kundgaben. Das gemeine Volk
war aber davon weit entfernt. Die Missionare, welche be-
richtet hatten, daß bei den Indianern der Glaube an einen
Gott bestehe, waren aufs höchste überrascht, als der bekehrte
Hiaccomes von Marthas Vinetzard ans einmal seine 37
nacheinander aufgezählten Götter abschwor. Dieses ist aber
nur ein die Wahrheit bezeichnendes Beispiel. Die Indianer
hatten eine große Anzahl Götter. (Nach Garrick Mallery,
Israelit« and Indian. A Parallel in Planes of Cultur«
New York lHiSD.)
— Kindbettaberglaubcn der Chinesen. Zu Hong-
kong erscheint eine chinesische Zeitung, „Tscbang lsTgoi San
Po“, welche es sich zur Aufgabe macht, chinesischen Volksglauben
und Volksüberlieferungen zu sammeln. I. H. S. Lockhart
hat daraus Verschiedenes übersetzt und im „Folk-Lore“
(September 1890) mitgeteilt. Aus den Kindbettaberglanben
der Chinesen bezieht sich das Folgende. Wenn in King-sai
eine Fran vor ihrer Niederkunft stirbt, so glaubt man, daß
der Geist des ungeborenen Kindes ans die Erde zurückkehrt
und das Leben irgend eines neugeborenen Kindes verlangt.
Ans diesem Grunde wird eine Fran bei der Geburt eines Kindes
im Innern des Hauses sorgfältig von Frauen bewacht, während
außerhalb Männer Wache halten. Gleichzeitig muß ein
junger Mensch mit unverwandtem Blicke auf die Stelle schauen,
von der man glaubt, daß der Geist dort erscheinen könnte,
während andre ihn dann vertreiben. Werden diese Vor-
kehrungen nicht getroffen, so glaubt man, daß Mutter und
Kind den, Geiste zum Opfer fallen.
stirbt aber eine Mutter im Kindbette und das Kind
blewt am Leben, dann glaubt man. daß der Geist der Aintter
ti'.v Hanv zurückkehre, ihr Kind in die Arme nimmt und so
besten Tod verursacht. Um dieses zu vermeiden, wird ein
weißes Huhu im Hanse gehalten, während gleichzeitig das
-lluid Tag und Nacht von Familiengliedern bewacht wird.
Kommt der Geist, so nbergiebt man ihm das weiße Huhn
inld er entfernt sich. Am nächsten Tage wird alsdann das
t rab der Mutter besucht. Findet man darin ein Loch, so
kehrt der Geist niemals wieder. Ist aber kein solches vor-
handen, so muß ein andres weißes Huhn angeschafft werden,
um dieses dem Geiste zu reichen, falls er in das Haus zu-
rückkehrt. Das muß man so lange wiederholen, bis man ein
Loch im Grabe findet.
— Die Zahl der Indianer in den Vereinigten
Staaten ergiebt sich ans einer Veröffentlichung des Zensus-
amtes in Washington im Dezember 1890. Die Indianer
Alaskas sind dabei aber außer Acht gelassen. Es geht daraus
hervor, daß die Gesamtzahl der Indianer in den Vereinigten
Staaten sich ans 244704 beläuft, welche sich aus folgender
Zusammenstellung ergiebt:
In Reservationen und den unter der Aufsicht des
Jndianeramtes stehenden Schulen leben, nicht steuerpflichtig,
130254.
Von solchen Indianern, welche nur mittelbar unter dem
Jndiancramte stehen und selbst für ihren Unterhalt sorgen,
befinden sich in dem Jndianergcbietc 25 357 Cherokecs,
3 464 Chickasaws, 9 996 Choctaws, 9 291 Creeks und
2 529 Seminolcn. Außerdem gehören den genannten
Stämmen 15 247 Negermischlinge an. Danach beläuft
sich die Gesamtbevölkerung des Gebiets der fünf „zivilisierten"
Stämme ans 64871 Seelen.
Ferner zählen die P neb los in Nen-Mexiko 8 278, die
Sechs Nationen und St. Bagos Bande im Staate New
Bork 5 304, die „Eastern Amrokees" in Nord Karolina
2 885 Seelen. Sich selbst unterhaltende und der Besteuerung
unterliegende Indianer, von denen sich 96 Proz. nicht in Reserva-
tionen befinden, sind mit 32 567 Köpfen in der allgemeinen
Bcvölkernngszahl nachgewiesen. Ferner befinden sich in den
„Mount Vernon Barracks" 384 gefangene Apaches und in
Staats- oder Territorialgefängnissen 184, was eine Gesamt-
zahl von 114473 ergiebt.
Ferner weist der Bericht 80 715 steuerpflichtige und nicht
steuerpflichtige männliche Indianer und 63 770 nicht steuer-
pflichtige männliche Indianer ans Reservationen, 82106
steuerpflichtige und nicht steuerpflichtige Indianerinnen, 66 484
nicht steuerpflichtige Reservations-Indianerinnen, 32210 von
den Vereinigten Staaten Rationen erhaltende und 96044
sich selbst durch Landwirtschaft, Viehzucht, Pferdezucht, Fischerei
und Jagd unterhaltende Indianer nach.
Die Zahl der Weißen in den verschiedenen Reservationen
im Jndianergcbietc beträgt 107 987, nämlich in dein Gebiete
der Cherokee-Nation 27 166, der Chickasaw-Nation 49 444,
der Choctaw-Nation 27 991, der Seminolcn 96 und der
Creek-Nation 3 280.
— Chilenische Kolonieen im Araukanerlande.
Die seit 1883 von der Regierung der Republik Chile im
früheren Araukancnlande begründeten Ackerbau-Kolonieen für
europäische Einwanderer sind in erfreulichem Aufschwünge
begriffen. Da auch zahlreiche Deutsche dort angesiedelt sind,
dürften einige Angaben über den heutigen Stand dieser
Kolonieen von Interesse sein. Das Land ist meist fruchtbar,
für den Anbau von Weizen, Kartoffeln und Gemüsen und
zur Viehzucht passend. An Wasser und Holz ist kein Mangel,
das Klima ist gesund und angenehm. Die zwischen den
Kolonisten und Chilenen wohnenden Eingeborenen sind fried-
fertig und ehrlich und arbeiten znm größten Teile gern und
für einen bescheidenen Lohn bei den Fremden. Die Regierung
läßt diesen Resten der alten Herren des Landes jetzt in den
fruchtbarsten Landstrichen kleine Landgüter (etwa 4 ha pro
Person) anweisen und stellt denselben unentgeltlich Besitztitel
aus. Die Indianer dürfen diese Landgüter nicht verpachten
oder verkaufen. Für Verkehrswege ist gut gesorgt; die neue
! Eisenbahn nach Traignen verläuft in der Nähe der Kolonieen.
Auch für Schulen ist in den letzten Jahren viel gethan, es
fehlt nur noch an Lehrern, Ärzten, Hospitälern und Kirchen.
176
Aus allen Erdteilen.
Besonders macht sich der Mangel eines evangelischen Geist-
lichen für die zahlreichen deutschen, englischen und schweizer
Kolonisten fühlbar. Durch Anstellung eines Wanderpredigers
soll dem wenigstens teilweise abgeholfen werden.
Unter den 331 Familien (ans 1589 Personen bestehend),
welche vom April 1888 bis April 1889 nach diesen Kolonieen
befördert wurden, befanden sich 159 englische, 6 deutsche,
100 französische und 39 spanische. Zwei neue Kolonieen,
Lantaro und Nueva Imperial, sind angelegt worden. In
den 12 Kolonieen lebten im Mai 1889 in Summa 1037
Familien aus 4967 Personen bestehend. Die bedeutendsten
dieser Kolonieen waren Victoria (1488 Einwohner), Ercilla
(618 Einwohner), Quino (728 Einwohner) und' Queche-
reguas (588 Einwohner). Ausgesät wurden Weizen und
Kartoffeln. Die Kolonisten besaßen 1354 Pferde, 3066
Ochsen, 2213 Kühe rc. — Die Sicherheit für Person und
Eigentum der Kolonisten hat sich im letzten Jahre gebessert,
läßt aber noch immer viel zn wünschen übrig. Die Wirk-
samkeit der Behörden wird durch den Fremdenhaß der Chilenen,
welche vor Gericht stets zusammenhalten und oft falsches
Zeugnis gegen die Kolonisten ablegen, sehr erschwert.
H. Polakowsky.
— Die Steinböcke in Graubünden. In den
Jahren 1878 und 1879 beschäftigten sich die Sektionen
Oberland und Rhütia des Schweizer Alpenklubs mit der
Frage der Anlegung von Steinbockkolonieen in den Schweizer,
zunächst Bündner Alpen. Die Aufhebung der Stcinbockzüchterei
des Königs von Italien bei Turin gab dem Zentralkomitee
des Schweizer Alpenklnbs Veranlassung, die Bundesbehörden
auf die sich bietende günstige Gelegenheit zur Wiedereinführung
dieses seltenen Wildes in die Alpen aufmerksam zn machen.
Da jedoch von dieser Behörde nichts gethan wurde, erwarb
die Sektion Rhätia ein Rudel von zwölf Stücken, zu denen
später noch weitere kamen und wagte damit den Versuch einer
Wiederbelebung des Gebirges mit dem Wappentier des
Bündnerlandes. Die im Bannbezirke der Errgruppe aus-
gesetzten Steinbockkolonieen hatten indessen Mühe, sich zu halten,
da die erhoffte Vermehrung nicht in erwünschtem Maße ein-
trat; dagegen wurden die wilden Tiere zu einer neuen Gefahr,
indem Reisende von ihnen angefallen wurden. So entsprach
der Erfolg nur teilweise den gehegten Erwartungen.
— Jedes zehnte Kind, das dieselbe Mutter ge-
biert, wird umgebracht im Königreiche Assinie an
der Goldküstc. Diese Beobachtung machte der dortige französische
ResidentI. C. Reichenbach bei folgender Gelegenheit: „Die
Mutter eines meiner Soldaten, erzählt er, mit Namen Anno,
stand davor, ihr zehntes Kind zur Welt zu bringen. Da ich
die Gebräuche des Landes kannte, so hatte ich Anno befohlen,
mich sofort davon in Kenntnis zu setzen, wenn die Nieder-
kunft einträte. Er selbst verwarf auch den Gebrauch. Eines
Nachts gegen 3 Uhr erschien er zitternd und schweißbedeckt
auf der Pflanzung Elima, wo ich wohnte, und sagte mir, daß
die in der Behausung seines Vaters versammelten Verwandten
die Auslieferung des Neugeborenen verlangten, daß aber auf
seine Dazwischcuknnft hin ein Aufschub bis zu meiner An-
kunft erfolgt sei. Schleunigst begab ich mich in das Dorf.
Beim Eintritt in die Wohnung vernahm ich eine heftige
Unterredung zwischen dem Oheim und der Mutter Annos,
worauf ich mir auseinandersetzen ließ, um was cs sich hier
handle. Der Mann verlangte, daß man ihm das Kind ans-
liefere, ehe noch die 24 Stunden vergangen wären. Ich ließ
den Oheim verhaften und unter guter Bedeckung nach Elima
bringen; dort blieb er drei Tage eingesperrt, um die Zeit
verstreichen zu lassen, während der ihm der Brauch das Recht
gab, von dem Kinde seiner Schwester Besitz zn ergreifen. Das
letztere wurde so gerettet und damit ein Fall geschaffen, ans
den man sich in der Folge berufen konnte. — Auch ein Kind,
das mit sechs Fingern an einer oder an beiden Händen ge-
boren wird, ist dem Tode geweiht. Ich habe auch ein solches
gerettet, dessen Vater Arbeiter auf der Pflanzung bei Elima
war. Sonst werden die Kinder der Mutter weggenommen,
mit roter Farbe bestrichen und von den Verwandten der Mutter
im Walde lebendig begraben." (Binde sur le royaume
d’Assinie. Bull. soc. geogr. 1890, 316.)
— Prechts Synchronoskop. Wie die Generalver-
sammlung des Vereins deutscher Eisenbahnverwaltnugen be-
schlossen hat, wird mit dem Inkrafttreten des Sommerfahr-
plans 1891 zunächst für den inneren Eisenbahndienst
Mitteleuropas die Zeit des Meridians 15 östlicher Länge
von Greenwich in Geltung kommen, während die Annahme
dieser Zonenzeit fürs bürgerliche Leben und die hiervon ab-
hängige Einführung in die öffentlichen Fahrpläne vor-
läufig nur als empfehlenswert erklärt werden. Es hängt
dieses mit einem weiter gehenden Vorschlage zusammen, der
von Amerika ausgegangen ist. Derselbe geht dahin, für die
ganze Erde eine Zonenzeit einzuführen, wie in den Vereinigten
Staaten schon geschehen, derart, daß von Greenwich aus
jeder 15. Grad als Hauptmeridian für die Zeitrechnung ge-
wählt werde, wodurch man 24 solcher Hauptmeridiane er-
halten würde, deren Zeitunterschiede immer in ganzen Stunden
beständen. Jeder Ort würde sich dabei in seiner Zeit nach
demjenigen Hauptmeridiane richten, der ihm am nächsten liegt.
Hierdurch würde man erreichen, daß die Uhren an den ver-
schiedensten Orten der Erde stets dieselben Minuten zeigen
und sich nur in ihren Stundenangaben unterscheiden.
Herr Dr. W. Precht hat nun zusammen mit Herrn
Schlöbcke, Assistenten an der technischen Hochschule in Hannover,
Apparate hergestellt, die er Synchronoskope nennt und die-
selben der Hamburger Geographischen Gesellschaft vorgelegt.
Diese aus drehbaren Pappscheiben angefertigten Apparate
lösen auf verschiedene Art die Aufgabe, die aus einer belie-
bigen Stundenzone stammende Zeitangabe nach Uhrzeit und
Datum in die Zeit einer andern Zone umzurechnen, aber auch
zugleich zur Veranschaulichung des Wechsels der Stunden und
des Datums auf der ganzen Erde dienen. Wird das eine
der Synchronoskope an einer Uhr angebracht, so erhält man
eine Weltuhr, welche für die ganze Erde die jedesmalige
Zonenzeit anzeigt, ohne daß eine Umrechnung oder Umstellung
nötig wäre.
— Der südindische Staat Maisur (Mysore) erfreut
sich, wie mir aus einem Berichte des Premierministers er-
sehen, einer sehr gedeihlichen Entwickelung. Es ist dieses
eine Art Budget, welches derselbe der Notabelnversammlung
des Landes vorlegte, die in Verwaltungs- und Gesetzgebungs-
angclcgenheiten eine beratende Stimme hat. Maisur wurde
von 1830 bis 1880 von den Engländern verwaltet, in
letzterem Jahre aber wieder dem Maharadschah selbständig,
wiewohl unter britischer Oberaufsicht, überlassen. Nach dem
Berichte des Ministers haben sich die Einkünfte, die 1862
erst 20 Mill. Mark betrugen, auf 27Mill. Mark gehoben;
die Steuern gehen regelmäßig ein, die Fläche des bebauten
Landes hat sich seitdem verdoppelt. Es bestehen innerhalb
der Grenzen Maisnrs schon gegen 500 Um Eisenbahnen. Die
Gerichtsverwaltnng hat wesentliche Verbesserungen erfahren
uub das englisch-indische bürgerliche Gesetzbuch ist mit geringen
Abänderungen eingeführt worden. Die Goldausbeute be-
trug im Jahre 1889 gegen 80000 Unzen, wofür der Staat
440000 Mark an Abgaben empfing.
Herausgeber: Dr. R. And ree in Heidelberg, Leapoldstraße 27.
Druck van Friedrich View eg und Sohn in Braunschweig.
Bd. LTX.
Nr. 12
Begründet 1862
von
Karl Aübtee.
^rucst ux\b
Braunschwei g.
Jährlich 2 Bände in 24 Nummern. Durch alle Buchhandlungen und Postanstalten
zum Preise von 12 Mark sür den Band zu beziehen.
1891.
Der vlamische Sprachst reit.
Don Dr. jur. Adolf Aauwels. Antwerpen.
Es ist mir sehr erwünscht, daß ich, auf Ersuchen des
Herrn Herausgebers des „Globus" hin, den deutschen
Stammesbrüdern eine Übersicht von dem gegenwärtigen
Zustande des vlamischen') Sprachstreites geben kann. Es
hebt mir das Herz, wenn ich sehe, wie das große mächtige
Deutschland mehr und mehr Anteil nimmt an dem eigenen
Geistesleben der verwandten Vlamingcn und an ihrem hart-
näckigen und unversöhnlichen Kampfe gegen das Romanen-
tum. Flandern ist stets eine Vorhut des großen Germanien
und wiederum rechnet Flandern ans die sittliche Unterstützung
aller derjenigen, in deren Adern germanisches Blut fließt.
Die Planungen oder Süd-Niederländer sind desselben
Ursprungs wie die Brüder jenseit des Rheins, sic sind
Germanen wie diese. Und was mehr ist: die Vlamingen
bilden auf sprachlichem Gebiete eigentlich nur ein Volk mit
den Holländern und Norddeutschen. Vlamisch, Holländisch,
Plattdeutsch sind nur eine Sprache: das schöne, süße und
doch so kräftige Niederdeutsch, das — ach! — im Ver-
laus der Jahrhunderte durch politische Verhältnisse sich in
verschiedene Zweige verteilte. Doch, Gott sei Dank, in
R'ord- und Südniederland (Holland und Flandern), ebenso
im Deutschen Reiche ist bei den Sprach- und Schristkundi-
gen das Bewußtsein der innigen Sprachverwandtschaft, ja
der ursprünglichen Sprachcinheit erwacht. Dieses Gefühl
der sprach- und Stammverwandtschast wird dem Deutschen
sicher noch besser znm Bewußtsein kommen durch die kurze
Etudie, die ich hier mitteilen kann.
Es ist unnötig zu erwähnen, daß der Streit der Pla-
nungen-) gegen Frankreich nicht erst von heute ist, sondern
schon im frühen Mittelalter begann. Jedoch in dieser
u Tie Wörter Vlamisch, Holländisch. Niederländisch, Nieder-
deutsch, Dictsch werden für eine und dieselbe Sprache gebraucht.
2) Unter den Wörtern Flandern und Vlamingen ver-
steht man nicht allein die alte Grafschaft Flandern und ihre
Bewohner, sondern ganz Nordbelgien mit seinen Bewohnern,
also die Landstriche, wo die vlamische oder niederdeutsche Sprache
geredet wird.
Globus I.lX. Nr. 12.
Zeit — der Heroenzeit Flanderns —, als das kleine aber
mutige Flandern gegen das herrschsüchtige und übermütige
Frankreich einen Riesenstreit führte und seine Gemeinde-
freiheit in eigener Sprache verwaltete, war cs hauptsächlich
ein Kampf mit den Waffen in der Faust; der edlere Ge-
danke einer Stammes- und Sprachbeschützung lag damals
nur erst als Keim im Gehirne der Vorfechter und Führer
Flanderns. Nach langem Ringen fiel Flandern nacheinander-
unter spanische, österreichische und französische Herrschaft.
Im Jahre 1815 schlug die Stunde der Erlösung zu
Waterloo — wo wir noch unlängst zusammen mit hollän-
dischen und deutschen Stammesgenossen eine einmütige Feier-
begangen haben — und Flandern wurde mit seinem natür-
lichen Bundesgenossen, mit Holland, znm Königreich der
ckcicdcrlande vereinigt, wie in früheren Jahrhunderten. Das
unglückliche Jahr 1850 zerriß das Band zwischen den beiden
Schwesterlanden. Die Umwälzung, die namentlich von den
Wallonen ausging, durch die meisten Vlamingen und
namentlich durch die in diesem Punkte mit den liberalen
einmütige Geistlichkeit befördert, durch Frankreich geschürt
— triumphierte. Jetzt betrauern alle aufgeklärten und
echten Planungen ohne Unterschied der politischen Gesinnung
die unheilvolle Erhebung des Jahres 1830. Und dazu
haben sie auch vollen Grund, denn die Umwälzung von
1830 bedeutet nichts anderes als den Triumph der Wallo-
nen über die Vlamingen.
Veit dem Jahre 1830 beginnt für Flandern eine Zeit
der Stammes- nnd Sprachnnterdrückung. Rogier, ein
eingewanderter Franzose, der sich mit an die Spitze der
Umwälzung gestellt hatte und der in Belgien Minister wurde,
war der eigentliche Anstifter der amtlichen Unterdrückung
der Vlamingen zum Vorteile der Wallonen. Als Herr
Raikem, ein wallonischer Abgeordneter im sogenannten Na-
tionalkongreß von 1831, die Gleichheit der Landessprachen
auf rechtlichem Gebiete durch ein besonderes Gesetz bekräftigt
wissen wollte, schrieb ihm Rogier: „daß die vlamische
Sprache und der germanische Bestandteil des Volkes mit
23
178
Dr. Jur. Adolf P au Wels : Der vlamische Sprachstreit.
Rücksicht auf die Einheit in der Staatsregierung unter-
drückt werden müßten. Eines des Passendsten Mittel hierzu,
sagte er, sei soviel als möglich alle Ämter und Stellen an
die Wallonen zu vergeben". Von da ab konnte kein Vla-
niing mehr ohne Kenntnis der französischen Sprache ein
Staatsamt erhalten, während im Gegenteil die Wallonen
alle Stellen und Ämter nicht nur im wallonischen Landcs-
teil, sondern auch in den vlamischen Gegenden und zwar
ohne die geringste Kenntnis der niederdeutschen Sprache er-
hielten.
Unterricht, Justiz, Regierung, Heer — alles wurde auf
französische Art eingerichtet. Bald war der Unterricht nur
noch in den niederen Schulen vlamisch, während in den
Mittelschulen (Kollegia, Athenäa — den deutschen Gymna-
sien) sämtliche Fächer in der fremden französischen Sprache
vorgetragen wurden. Dieses galt nicht nur für die Staats-
schnlen, sondern auch für die frei gestifteten, meist von Geist-
lichen geleiteten Schulen, die dem verderblichen amtlichen
Vorbilde folgten. Auf den vier Hochschulen Gent, Lüttich
(Staat), Löwen (katholisch) und Brüssel (liberal) lagen die
Dinge ebenso schlecht. Niemand konnte — und kann es
auch heute noch nicht — Rechtsanwalt, Arzt, Notar, Rich-
ter u. s. w. werden, ohne Französisch zu können — für die
Wallonen aber war cs nicht nötig, niederdeutsch zu verstehen.
Veit dem Gerichte war cs noch schlimmer bestellt; nicht
allein in bürgerlichen, ja sogar in Strafsachen war die
ganze Rechtspflege fast ausschließlich französisch. Man ver-
urteilte die Vlaminger in ihrem eigenen vlanüschcn Lande
vor einer vlamischen Richterbank zum Tode in französischer
Sprache, ohne daß der Beschuldigte nur ein einziges Wort
von dem ganzen Prozeß verstand! Alles, was vom Staate
abhing, die Ministerien, die Post, die Telegraphen, die
Eisenbahnen n. s. w., alles war bis auf den Grund ver-
wälscht.
Im Heere wurden — und das geschieht heute noch —
die Befehle ausschließlich französisch erteilt; die meisten
Offiziere waren — und sind es noch jetzt — Wallonen,
die weder Niederdeutsch sprechen noch verstehen. Wieviel
vlamische Rekruten erhielten von rohen Korporalen nicht
Kolbenstöße und wurden ausgeschimpft von jenen, die die
Volkssprache nicht verstanden!
Ich habe etwas länger bei den Zuständen, wie sie sich
nach 1830 entwickelten, verweilt, weil sie heute noch beinahe
ganz die nämlichen sind.
Im Gefolge der Fremdherrschaft vor 1814 war fast
alles geistige Leben in Vlamiseh-Belgien vermodert. Bereits
unter Spanien und Österreich nahm die Verwahrlosung
der Muttersprache ihren Anfang. Die Schuld lag wohl
an den andauernden Religionsstreitigkeitcn, den unaufhör-
lichen Kriegen und Verwüstungen, an der Fremdherrschaft,
die Nationalgefühl und Muttersprache nicht auskommen ließ.
Unter Napoleon wurde sogar die Herausgabe vlamischer
Zeitungen ohne französische Übersetzung verboten. Daraus
erklärt sich, daß in der kurzen niederländischen Zeit von
1814—1830 das litterarische Leben sich nicht wieder ent-
wickeln konnte. Dieses war denn auch, meiner Ansicht nach,
der Hauptgrund, weshalb die meisten Vlaminger im Jahre
1830 ohne Stammesbewußtsein und Rassegefühl, durch
allerlei begründete und unbegründete Reden aufgehetzt, sich
den Wallonen anschlossen und das schöne Reich der Nieder-
lande, das für Flandern noch jetzt ein Ideal sein muß, ver-
nichten halfen.
Bald aber sahen die Vlaminger ein, daß sie durch die
listigen und selbstsüchtigen Wallonen betrogen worden waren,
wie diese alle Staatsvorteile für sich selbst behielten und die
Vlamingen wie Hunde behandelten, denen sie von Zeit zu
Zeit einen Knochen zum Abnagen hinwarfen!
Und doch bildeten die Vlamingen die Mehrzahl im
Lande, Noch sind sie beinahe 3y2 Millionen gegenüber
2 y2 Millionen Wallonen. Warum dauert denn dieSprach-
nnterdrückung immer fort? Einfach deshalb, weil Flan-
dern durch die politischen Parteien zu sehr zerrissen ist und
namentlich dadurch, daß in den Schulen tausende von Kin-
dern ohne Wissen und Wollen zu Feinden des vlamischen
Vaterlandes wurden und in Mark und Bein vcrbastert sind
durch das langsame Einschlürfen des französischen Giftes,
das im Unterricht ihnen langsam in alle Poren des Geistes
und Herzens eingepumpt wird. Doch neben diesen ver-
wülschtcn Zweigen des germanischen Bolksstammes fanden
sich, von 1830 an und etwas später, mutige und gelehrte
Vaterlandsfrennde, die die Gefahr des llntcrgangs der Vla-
mingen einsahen und mit zäher Geduld das Werk begannen,,
feste Deiche gegen die alles überwältigende französische Flut
zu errichten. Zu diesen Männern gehören: Jan Frans
Willems, Hendrik Conscience, Jan de Laet, I. B. David,
Snellaert, Serrure, Bormans, Blomaert, Jan und Theodor
van Rijswijk und eine große Anzahl anderer begabter
Vaterlandsfrennde.
Als Sprach- und Geschichtsforscher, als Romanschreiber
und Dichter suchten sie die Werke der alten vlamischen
Meister hervor, durchstöberten sie alte Chroniken, stellten
sie die Heldenthaten der Väter dem verfallenen, doch lauschen-
den, lernbegierigen und bewundernden Geschlechte der Nach-
kommen vor Äugen. Namentlich lehrte Hendrik Cons-
cience mit seinen geistreichen vaterländischen Nonlancn das
Volk lesen. Dieses war die Zeit der litterarischen vla-
mischen Bewegung.
Und aus dieser litterarischen Bewegung heraus wurde
der echte politische vlamische Sprachenstreit geboren. Die
wahre Grundlage zu demselben ist aber erst im Jahre 1870
gelegt worden. Bis dahin hatte die studierende Jugend
noch nicht an dem Streite teilgenommen. Freilich hatten
sich schon früher einige Studenten an den Hochschulen von
Gent unb Löwen mit vlamischer Litteratur beschäftigt; doch
das waren Ausnahmen. Allmählich aber hatte sich um
jene Zeit in allen Teilen Flanderns durch das Lesen vater-
ländischer Schriften bei den Studierenden der Gymnasien
ein allgemeiner Geisteszug eingestellt, der auf die Hebung
der unterdrückten Muttersprache hinging. Namentlich in
Westflandern nahm der Studentenkampf von Anfang an
einen großen Aufschwung, angeregt durch die glühenden
Gedichte des leider zu früh verstorbenen Albrecht Rodenbach.
Auf fast allen Kollegien im vlamischen Lande wurden von
den Gymnasiasten Verbindungen zur Hebung und Vertei-
digung der Muttersprache gegründet. Die Studierenden ver-
langten im Gegensatze zu den verstockten wälschgesinntcn
Lehrern die Vlamisiernng des Unterrichts. An den freien
Tagen hielten sie Versammlungen, an denen die Heldenthaten
der Vorväter besprochen und bewundert wurden, sie eiferten
sich an einzutreten für die Wiedergewinnung der verlorenen
Sprachrechte und für Verbesserung des Verbasterten Volks-
geistes. Bald kamen die vlamisch gesinnten Studenten der
verschiedenen Provinzen zu einander in Beziehung und er-
richteten allgemeine Versammlungen, die Gau- und Landtage.
Das waren schöne Tage vaterländischen Geisteslebens
und vaterländischer Freude, von hartnäckigem Streit, an
denen selbst als ein thätiges Mitglied teilgenommen zu
haben ich mich rühmen darf. Dieses vaterländische Streben
der vlamischen Studenten kann ich nur mit der Wirksamkeit
der deutschen Burschenschaft für die Einheit Deutschlands
vergleichen. Ich glaube nicht, daß cs außer Deutschland
und Flandern in einem andern Lande der Welt solche Vor-
bilder der Vaterlandsliebe zu finden sind. Es spricht für
sich selbst, daß durch die lernende Jugend verschiedene Zeit-
Dr. jur. Adolf Pauwcls: Der vlamische Sprachstrcit.
179
schriften herausgegeben wurden, um die Begeisterung warm
zu erhalten und um die Forderungen des vlamischen Stu-
dentenkampfes bekannt zu machen. Noch jetzt wird dieser
mannhafte Kampf durch die Jünglinge fortgeführt und die
Anzahl der jugendlichen Anhänger der vlamischen Grund-
rechte wächst fortdauernd, so daß nach wenigen Jahren das
ganze gelehrte und litterarische Geschlecht ein durch und durch
vlamisch gesinntes fein wird. Und von dem Augenblicke
an gehört der Sieg uns!
Dieses ist um so sicherer, da bereits seit sieben oder acht
Jahren der Stndentenkampf sich mit dem großen politischen
Sprachstrcit verschmolz, aus welcher Verschmelzung die mäch-
tigcn vlamischen Landtage entstanden, ans denen Bürger
und Studenten als Redner und Zuhörer erschienen. Aus
diesen Landtagen, an denen 2000 bis 3000 Vlamingcn teil-
nahmen, gingen verschiedene Gesetzentwürfe hervor, die in
dem einen oder andern Fach die vlamische Sprache zu Ehren
bringen wollen. Das Gesetz vom 1. August 1873 schreibt
im ersten Paragraphen vor: „In den Gauen Ost- und
Westflandcrn, Antwerpen, Limburg und im Justizbereich von
Löwen (Brabant) soll die Rechtspflege in Strafsachen vom
ersten Vernehmen des Beschuldigten an vor dem Richter in
vlamischer Sprache geschehen und das Erkenntnis in dieser
ausgesprochen werden" — abgesehen von gewissen Beschrän-
kungen. Dieses war das Coremansgesetz, so benannt nach
seinem Urheber, dem Antwerpener Volksvertreter Edward
Coremans.
^ Dieses Gesetz würde, wenn es ehrlich gehandhabt würde,
ans strafrechtlichem Gebiete den Vlamingen gegeben haben,
was ihnen gebührte. Doch infolge der Bequemlichkeit und
Feindschaft verwälschter Richter und Rechtsanwälte wird
dieses Gesetz schlecht oder gar nicht durchgeführt. Sie stützten
sich^ ans einige andre Artikel des Gesetzes, deren Sinn sie
entstellten, um den ersten Artikel zu umgehen und die ganze
Rechtspflege französisch durchzuführen. Es ist nun nament-
lich den vlamischen Studenten zu danken, daß im ganzen
<ande das vlamische Volk in den Zeitungen zu klagen begann
und aus Versammlungen sich beschwerte, bis endlich das
Gesetz vom 3. Mai 1889 errungen wurde. Nach diesem neuen
Coremansgesetz können jetzt die vlamischen Angeklagten ver-
stehen, was vor Gericht für oder gegen sie gesprochen wird.
Das Gesetz vom 22. Mai 1878 regelt den Gebrauch der
vlamischen Sprache in Negierungssachen; doch ist dasselbe,
wie das vorhin genannte, noch sehr unvollständig. Es ver-
langt, daß in den vlamischen Landstrichen die Mitteilungen
c er Staatsbeamten an das Volk in niederdeutscher Sprache,
oder niederdeutsch und französisch verfaßt sein müssen. Ver-
boten i|t, diese Berichte nur in französischer Sprache zu
schreiben. Auch muß der Briefwechsel zwischen Beamten
und vlamischen Gemeinden oder Personen niederdeutsch ge-
führt werden, cs sei denn, daß diese die französische Sprache
verlangen.
Das Gesetz vom 15. Juni 1883 stellt den Gebrauch
uiederdentschen Sprache in den mittleren Staatsschnlcn
(Athenäa n. s. w.) des vlamischen Gebietes fest. Es be-
luimt hauptsächlich, daß der gesamte Unterricht in den vor-
erenenden Abteilungen derselben in vlamischer Sprache
gegel'en werden muß. In den andern Abteilungen müssen
Aiecerlündisch, Deutsch und Englisch und wenigstens zwei
onme Unterrichtsgegenstände in vlamischer Sprache gelehrt
werden.
Wiederum ein Gesetz schreibt den Offizieren des Heercs
c ie Kenntnis der vlamischen Sprache vor; und ein unlängst
erlassenes verlangt dasselbe von Richtern, Notaren, Leh-
lmi u\f* ch' Neben dem schon früher eingerichteten Lehr-
stuhl für niederländische Litteratur wurde nun auch ein
solcher für das Strafrecht in vlamischen Sprache auf den
Hochschulen errichtet. Unter dem jetzigen Ministerium er-
hielten wir vlamische Aufschriften auf Münzen und Pfand-
scheinen und man hat uns auch vlamische Postmarkcn und
Poststempel zugesagt.
Immer aber noch werden wallonische Staatsbeamte, die -
der niederländischen Sprache nicht mächtig sind, in die vla-
mischen Gebiete gesendet. Dieses bezieht sich sowohl auf
den Zolldienst — selbst an der vlamisch-belgischen Grenze,
wo kein Mensch französisch spricht — als auf den Eisen-
bahn-, Post- und Telegraphendienst u. s. w. Auch die
Sprachgesetze werden schlecht durchgeführt oder durch wallo-
nische und französischgesinnte Beamte verkümmert. Es ist
dieses auch unvermeidlich, da in den Abteilungen der Mini-
sterien noch immer von 100 Angestellten 90 Wallonen
und nur 10 Vlamingen sind. Sie bilden die allmächtige
wallonische Bürcaukratie, die dem Volke noch immer
sein Recht verdirbt.
Gegen diese Bürcaukratie und ihre unehrliche Handlungs-
weise sind in den vlamischen Städten Beschwcrdeans-
schüssc eingerichtet, zu dem Zwecke, den fortwährenden
Gesetzübertretungen der wallonischen Beamten auf vlnmi-
schcm Gebiete nachzugehen, sie bei den Ministern und der
Volkskammer anzuklagen und das Recht herzustellen. Doch
dieser traurige und erniedrigende Zustand wird nicht eher
ein Ende haben, als bis der letzte wallonische Beamte aus
Flandern verjagt ist, denn der alte Spruch „Wat Walsch
is, valsch is!“ bleibt stets wahr. Außerdem sind die wäl-
schen Zeitungen, besonders die französisch geschriebenen
Blätter von Brüssel — größtenteils von Wallonen und
eingewanderten Franzosen herausgegeben — gegen uns von
Haß erfüllt, der über alle Maßen geht. In diesen Blättern
werden Tag für Tag Vlamingen wie Deutsche verlästert
und mit Lügen überschüttet. Alles, was den vlamischen
Sprachstrcit betrifft, wird absichtlich in diesen Blättern ver-
kleinert, verschwiegen, verdreht und verfälscht. Alles, was
deutsch oder germanisch ist, wird in diesen französischen
Blättern Belgiens übergangen, alles, was französisch ist, in
den Himmel gehoben. Diesen gegenüber stehen die vlami-
schen Tages- und Wochenblätter, die vor zehn Jahren noch
schwach und gering, jetzt tagtäglich an Macht und Ansehen
gewinnen. Die vlamischen Blätter, wiewohl sie sich nicht
allein mit dem Sprachenstreit beschäftigen, stellen die Dinge
in wahrem Lichte dar, und sind unter diesen auch einige
keine warme Freunde Deutschlands — woran frühere Vor-
urteile und die französische Erziehung schuld —, so haben
doch alle große Achtung vor dem Prächtigen Deutschen
Reiche, vor dem Kunstsinn, der ernsten Wissenschaft und
dem männlichen Charakter der deutschen Stammesgenosscn.
Wie man sieht, ist der Kampf, den die Vlamingen in
ihrem eigenen Lande zu führen haben, teils gegen verbasterte
Stammesgenosscn, teils gegen wälsche Herrscher gewichtiger
und belangreicher, als ein fern stehender Zuschauer erkennen
kann. Vor kurzem erlitten die Vlamingen einen großen
Verlust durch den Tod des Prinzen Balduin, auf den sie
ihre Hoffnung bezüglich der Vlamisieruug der hohen Kreife
gesetzt hatten und der ihr erster vlamisch sprechender König
' geworden wäre. Hoffen wir, daß sein Bruder, Prinz Albrecht
von Flandern, die niederdeutsche Sprache gründlich erlernen
und dieselbe Zuneigung für das vlamische Volk hege, wie
sein leider so früh verstorbener Bruder. Solche Schläge
aber können das vlamische Volk nicht abhalten, auf seinem
Wege fortzuschreiten. Der Geist des Volkes lebt kräftig
fort und schwebt über den vaterländischen Streitern! Die
Losung lautet jetzt, daß bei allen Wahlen für Gemeinde,
Gau und Land den Kandidaten das vlamische Streitprogramm
vorgelegt werde, und daß nur solche gewählt werden sollen,
- die sich darauf verpflichten.
23*
180
Sophus Ruge: Die Etschquelle.
An dem Tage, wo unsre vlamisch gesinnten Volksvertreter
in der Volkskammer mit Beharrlichkeit die niederdeutsche
Sprache reden werden, und den Gebrauch des Französischen
in der gesetzgebenden Versammlung für ewig abschwören,
dann wird der Wallone an seinen richtigen Platz gestellt
sein und die Notwendigkeit fühlen, dem heiligen Sprach-
recht Flanderns zu huldigen. An jenem Tage werden die
Vlamingen Herren der Ministerien und des Unterrichts und
damit der Zukunft des Landes sein.
Der Tag naht mit Riesenschritten!
Die Etschquelle.
Von Sophus Ruge.
Wenn man von Finstermünz her nach Nauders hinauf-
gestiegen ist, befindet man sich bei etwa 1400 na Seehöhe in
einem langsam nach Süden ansteigenden offenen Hochthal
mit Wiesengrund, das uns nach der Wasserscheide zwischen
Inn und Etsch führt. Dort steht auf Ncschenschcideck an
der Straße oberhalb des Dörfchens Neschen eine vom öster-
reichischen Touristen-Klub (Ö. T. C.) angebrachte Tafel mit
der belehrenden Inschrift: Wasserscheide. Etsch-Ursprung.
Die Wasserscheide wird man mühelos gewahr; aber mit
dem Etsch-Ursprung kommt man in Verlegenheit, nnmcnt-
lich wenn im Hochsommer die Wiesenkräuter üppig auf-
geschossen sind. Wo ist denn die Etsch? Rechts und links
grüne Gehänge, aber von einem Bache keine Spur. Leider
trieb uns der Ausbruch eines gewaltigen Wetters, in dem
ersten Hause von Reschen Schutz zu suchen. Aber die ein-
mal aufgetauchte Quellensrage interessierte uns doch so, daß
ich beschloß, im nahen Kirchdorfe Graun, wo man in der
„Post" ein recht gutes Unterkommen findet, zu bleiben, um
so mehr, als sich der Ort recht wohl zum Standquartier
eignet, um von da Ausflüge zu machen. Am Sonntag früh,
4. August 1889, machte ich mich mit meinem Sohne auf
zur Aufsuchung der angezeigten Etschquelle. Wir stiegen
wieder die mäßige Höhe hinter dreschen hinauf und standen
bald, fast möchte ich sagen ratlos neben der Tafel und
suchten nach einem Bache. Nach der Generalstabskarte
(1:75 000), Sektion Nauders, sollte sich die Quelle rechts
von der Straße ganz in der Nähe unterhalb der Wald-
grenze finden und dann unter der Chaussee hindurch mit
einer Wendung nach Süden sich in den Reschensce er-
gießen. Der Bach lief unter der Straße ohne das karto-
graphische Brückenzeichen hinweg. Es war auch in der
That nicht die geringste Spur von einer Art Überbrückung
auf der Straße selbst zu bemerken. Ein ganz leises Rieseln
unter den Wiesenkräntern machte uns aufmerksam. Ein
dünner Wasserfaden, kaum einen Fuß breit, sickerte, von
Grün überwachsen, ungesehen durch die Wiesen herab und
ging in einer sehr bescheidenen Leitung unter der Straße
durch. Das sollte also die berühmte Etschquelle sein?!
Schon in dem Atlas der Alpenländer von Mayr (Gotha
1859) ist hier der Ursprung der Etsch angegeben und dieser
Angabe folgt auch noch mit der Inschrift „Ursprung der
Etsch" die oben genannte Sektion der Generalstabskarte.
Übrigens ist diese Ansicht über die Etschquelle schon älter,
wie man z. B. bereits in A. Schaubachs Deutschen Alpen
(IV, 5, Jena 1846) lesen kann. Da heißt es: „Hier liegt
das Dorf Reschen . . . am Reschensce, dem Ürsprung
der Etsch, obgleich dem Reisenden gewöhnlich eine Quelle
links neben der Straße als Etschquelle bezeichnet wird."
Das hätte allerdings schon mehr Sinn, den Reschensce als
Qncllsee aufzufassen; doch muß gleich dazu bemerkt werden,
daß die sogenannte Etschquelle nicht im stände ist, diesen
Sec zu ernähren. Wir umwandcrten nun unter solchen
Betrachtungen den ganzen See und überschritten ane west-
lichen Gehänge bei Pitz bald einen ansehnlichen Bach, der
von der Reschener Alp herabkommt und sich als Rojenbach
in den See ergießt. Es ist ein helles Bergwasser, das aller-
dings in einem südnördlichen Laufe zum See eilt, Mühlen
treibt und, auf dem Thalboden angelangt, durch steinerne
Schutzwehren in Schranken gehalten werden muß. Das ist
zweifellos der Ernährer des Sees, und sein Abfluß könnte
Prof. Ferdinand Blumcntritt: über die Eingeborenen der Insel Palawan rc.
181
als Etsch gelten; allein auch dagegen muß ich gewichtige
Gründe vorbringen.
Zunächst ist aber die Vorfrage zu erledigen: „Wie sollen
wir Haupt- und Nebenfluß unterscheiden?" und im Quell-
gebiet: „Welchem Quctlbache gebührt der für den Fluß oder
Strom gültige Name?" Ehr. Gruber hat in seiner sorg-
fältigen Studie über das Quellgebiet der Isar (Jahrcsber.
d. geogr. Ges. in Aeünchcu für 1886, S. 60) darauf hin-
gewiesen, daß es vier Momente seien, die bei Bestimmung
des Hauptquellarmes eines Flusses vor allem in Frage
kommen könnten: Länge des Laufes, Thalrichtung mit
Hinsicht auf den tektonischen Aufbau des Gebirges, Wasser-
menge und ununterbrochenes Fließen.
Noch allgemeiner hat Dr. Wisotzki die Untersuchung
über Haupt- und Nebenfluß (Verh. d. Vereins f. Erdkunde
zu Stettin, l888 — 8!)) geführt und kommt im Laufe
seiner Darlegungen (S. 54) zu folgendem Ergebnis: Wenn
man feinen Standpunkt an der Vereinigung zweier Flüsse
nimmt und hier entscheiden soll, welcher von beiden der
Hauptfluß ist, so gilt folgendes:
A. Oberhalb der Vereinigung:
Hauptfluß ist derjenige, welcher sich 1) durch Länge,
2) Breite, 3) Tiefe, 4) Ouellhöhe, 5) Zahl der
Nebenflüsse, 6) Größe des Flußgebietes (Niedcr-
schlagsgcbiet), 7) Wasfermasfe auszeichnet.
B. Unterhalb der Vereinigung:
Hauptfluß ist derjenige, welcher mit dem unterhalb
der Vereinigung gelegenen Flußlaufe in gewissen
Erscheinungen und Eigenschaften übereinstimmt und
zwar in 1) Richtung, 2) Eharaktcr des Flußbettes,
3) Uferbefchaffenheit, 4) Schwellzeitcn, 5) ununter-
brochenem Fließen, 6) Geschwindigkeit des Fließens,
7) Farbe des Wassers u. s. w.
Um nun das Endurteil fällen zu können, will ich vor
allem erst meinen Etsch-Prätendenten vorführen. Es ist
der Earlinbach, der von den Ötzthaler Alpen herabkommt,
das Langtauferer Thal durcheilt und sich im Mitterfee mit
dem Abflusse des Neschensees vereinigt. Das ist ein echter
Sohn der Hochalpen, hinter dein auch der Rojen weit
zurückstehen muß. Vor feinem Ausfluß aus dem Gletscher-
thor des Langtaufer, ferner oberhalb der Malager Alp ist
er bis zum Mitterfee 15 Irrn lang; dagegen mißt der Etsch-
bach bis zu demselben Ziel nur 5 Irin. ' Der Earlin ist bei
seinem Eintritt auf den Thalboden von den Bewohnern von
Graun abgelenkt, weil er das Dorf zu vernichten drohte.
Es müssen jährlich mehrere 1000 Gulden für Uferbauten
aufgewendet werden, und auch unterhalb Graun läuft der
wilde Bergstrom noch lange in einem künstlichen, von
schweren Blöcken ummauerten Bette an der Chaussee entlang.
Auch hier wälzt er noch, obwohl er bereits ein geringeres
Gefälle hat, um die Wiesen bewässern zu können, Rollsteine
von 7-2 m Durchmesser mit sich fort. Dieselben müssen,
um das Bachbett nicht zu sehr auszufüllen, von Zeit zu
Zeit herausgeholt werden und lagern in großen Massen auf
den künstlichen Ufern. Das giebt die beste Vorstellung von
der Gewalt des wilden Bergstromes, denn liegen auf dem
oberen Thalboden der sogenannten Malser Heide drei Seen:
Reschcnsee, Mitterfee und Haidersee. Der Abfluß des
Reschcnsees, in den die „Etschquelle" und der Rojen gehen, ist
, ganz klar, der Bach geht ruhig und sanft durch die Wiesen.
Der See selbst hat eine tiefgrüne Farbe, die nach der Ferne
zu in tiefes Blau übergeht. Dagegen hat der Carliubach
trübes Gletscherwasser, lehmiggelb undurchsichtig; er klärt
sich im Mitterfee zwar ein wenig, giebt aber dem ganzen
Fluß von nun an seinen spezifischen Ton und kommt auch
aus dem dritten, dem Haiderfee, nur als ein durchscheinendes
Wasser heraus, das man am besten mit gelblichem Seifen-
wasser vergleichen könnte. So also färbt der Carlin die
Seen und färbt auch weiterhin die Etsch.
Es liegt der Charakter der Etsch im Carlinbache. Er
ist der längste, der wasserreichste, der dem Hauptfluß fein
Gepräge giebt. Was kann dagegen die sogenannte Etsch-
qnelle in die Wagfchale werfen? Nur die tektonische Nich-
tung des Thales. Aber das muß nur ein nebensächliches
Moment sein, wo cs sich nicht um starre Formen, sondern
um die Macht und Menge des fließenden handelt. Das-
selbe unwichtige Moment könnte auch die Saone für sich
der Rhone gegenüber geltend machen, und doch hat auch
hier der Alpensohn längst gesiegt. Auf der andern Seite
mag die Etsch sich mit der Donau trösten, daß ihr von der
Quelle an ihr berühmter Name noch versagt ist. Mit
demselben Rechte, wie wir schreiben: Brege und Brigach
sind die Quellbäche der Donau, mit gleichem Rechte müssen
wir den Carlin als Queübach der Etsch anerkennen. Soll
ich nach ihrem hydrographischen Werte die sogenannte Etsch-
quelle mit dem Carlin in einem Dichterworte vergleichen,
so gebe ich dem Etschquell das Höltysche Motto:
„Und die rieselnde Quelle weint",
dem Carlin aber den Goetheschen Vers:
„Es stürzt der Fels und über ihn die Flut".
Damit wird wohl die Frage nach dem Werte des Etsch-
Ursprungs erledigt fein.
Über die Eingeborenen der Insel Palawan und der Inselgruppe
der Ealamianen.
Dem Prof. Ferdinand Blumentritt.
II.
p7tc erwähnt, zählt A. Marche die Agutainos (die ' Die Agutainos weisen einen reineren Tagbanriatypus
nach ihm nur 1000 bis 1200 Seelen zählen) zu den Tag- auf als die Calamianen. Die Braut wird gekauft. Der
bauuas und erwähnt, daß sie die „Sprache der Tagbanüas Bräutigam erscheint mit seinen Eltern und Verwandten vor
eer Calamianen-Inseln sprächen", während die Spanier dem Hause der Braut, wo sich die Verwandten derselben
bekanntlich das Agutaino- und das Calamiano-Jdiom ebenfalls eingefnndcn haben. Nach einigen Wcchselrcden
scharf voneinander unterscheiden. Sie nähren sich meist setzen sich die Parteien einander gegenüber und man beginnt
vom Batate- (Tripang-) und Krabbenfang. Wenn sie in um den Brautpreis lange zu handeln, wobei es den Wort-
großer Not sind, so verdingen sie sich als Arbeiter auf ; führern weniger daraus ankommt, die Interessen ihres
den Nachbarinfeln, halten es aber nicht lange aus; sobald Klienten zu wahren als mit ihrer diplomatischen Begabung
ste ein wenig Geld erworben haben, kehren sie auf ihre und ihrer Redekunst zu prunken. Der Brautpreis besteht
Inseln zurück. in Schweinen, Hühnern und Zeugstoffcn.
182
Prof. Ferdinand Blumentritt: Über die Eingeborenen der Insel Palawan rc.
Eine Witwe verläßt nach dem Tode ihres Gatten ihre
Hätte auf sieben oder acht Tage nicht und dann zu einer
Stunde, wo eine Begegnung mit jemandem nicht gut wahr-
scheinlich ist, denn wer sie erblickt, stirbt eines plötzlichen
Todes. Die Witwe pflegt deshalb, um niemandem den Tod
zu bringen, mit einem Holzpslock auf die Bäume zu klopfen,
um so die andern zu warnen. Die Agutainos glauben
denn auch, daß diese angeklopften Bäume bald absterben.
Die christlichen Agutainos bestatten ihre Toten nach
katholischer Sitte, die heidnischen lassen ihre Leichen in freier
Luft unter den Ästen der Bäume verfaulen. Die Knochen
werden dann gesammelt und in einer Grotte beigesetzt, ent-
weder ganz frei, oder in einem Sarge, oder in einem Gefäße.
Der Sterbende giebt selbst an, wie er bestattet zu werden
wünscht, und dieser Wunsch wird streng respektiert, weil man
sich fürchtet, der Geist des Verstorbenen würde sich rächen.
Unter den „Göttern" der heidnischen Agutainos scheint der
Manalok die größte Verehrung zu besitzen.
Die Cala miauen gehören nach A. Marche ebenfalls
zu den Tagbanuas. Sie zerfallen in zwei Gruppen: in die
heidnische und christliche. Sie unterscheiden sich von den
Tagbannas der Insel Palawan durch stärkere Behaarung
und durch einige Abweichungen in der Sprache. Über die
Coyuvos liegt mir kein weiteres Material vor.
Wir kommen zu einem andern interessanten Volksstamme
der Insel Palawan, cs sind dies die Tinitianen (Tinitianes),
welche mit den Batak des Franzosen A. Marche identisch
sind. Der Name Tinitian rührt vom einem Vorgebirge
her, in dessen Hinterlande sie hausen. Zn bemerken ist, daß
einige Spanier sie auch Jgorroten nennen. Die Tinitianen
wohnen nicht unmittelbar an der Küste, sondern in den
Bergwäldern und scheinen nur im nördlichen Teile der Insel
zu finden zu sein.
A. Marche sagt von den Batak, die er übrigens nicht
selbst gesehen: Sie sind dunkler gefärbt, als die Moros und
Tagbanuas, beinahe schwarz und ihre Haare sind gekräuselt.
Er fügt hinzu: L68 Negritos et les Bataks nous parais-
sent être une seule et même population (sl. a. £).
S. 277). Letzteren Satz möchte ich doch einigermaßen be-
zweifeln, da die Spanier Negritos von Malaien doch zu
unterscheiden wissen und die Sitten derselben von jenen der
übrigen Negritos sich scharf unterscheiden. Das eine aber
steht sicher, daß die Batak oder Tinitianen Negritoblut in
ihren Adern haben, denn der Missionär Fray Cipriano
Navarro sagt von ihnen: Ihre Haut ist schwarz, ihr Haar-
gekräuselt, ihre Statur und Körperbau athletisch und
wohlgeformt. Das gekräuselte Haar beweist unzweifelhaft
eine Kreuzung mit Negritos.
Ihre Kleidung ist sehr einfach: die Männer tragen einen
einfachen Lendcnschurz aus Baumrindenstoff, der ihnen,
wenn sie durch Reiben mit zwei Bambuspflöckcn Feuer
machen, auch als Zunder dient. Die Weiber tragen eine
Saya (— dem malaiischen Sarong) aus demselben Stofs,
die bis zu den Knieen reicht.
So weit stimmt A. Marche, der die Batak oder Tini-
tianen nur vom Hörensagen kennt, mit den Spaniern
P. Fray Cipriano Navarro und Baamonde-Ortega, welche
diesen Volksstamm in seinen Wohnsitzen besucht haben,
überein. Nun berichtet aber Marche, daß ihm die andern
Eingeborenen Palawans gesagt hätten, daß sie in ihren
Hütten, welche Marche nur als starke Schutzdächer deutet,
nie die Nacht zubrächten. Dies ist nicht richtig, oder cs
haben jene Eingeborenen von den wirklichen Negritos be-
richtet, die ja auch auf der Insel Palawan sich finden.
Die Tinitianen (Batak) leben vielmehr in sehr geord-
neten Verhältnissen und zwar als Sozialisten! Nach Baa-
monde-Ortega sind ihre Häuser mit großer Vollendung
(gran perfección) und mit einem gewissen Anklang an
Eleganz, sowohl was den innern als auch den äußern Bau
anbelangt, gebaut. Jede Tribu wohnt in einem einzigen
großen Hause, es zerfallt in vier Abteilungen, in der einen
schlafen die Witwen und die Jungfrauen, in der zweiten
die Witwer und Junggesellen, in der dritten die Ehepaare
und in der vierten die Kinder. Die Abteilung für Ehe-
paare ist in Zellen eingeteilt, für jedes Ehepaar.eine. Von
der Größe eines solchen Hauses kann man sich einen Begriff
machen, wenn erwähnt wird, daß dies von Baamonde be-
schriebene Hans in der Abteilung für Ehepaare 20 Zellen besaß.
Sie leben in einer Art von Gütergemeinschaft: die Felder
sind Tribu-Eigentum, gemeinsam wird der Wald ausgerodet
und der Acker bestellt, auch speist die ganze Tribu womöglich
gemeinsam. Der Stammälteste verteilt die Arbeit und den
Ertrag. Sie bauen Reis, Camote (Convolvulus-Spezies)
und Bananen an.
Der Stammülteste führt überhaupt die Leitung, er ist
auch der Richter; die Strafen bestehen in Prügeln mit
Bcjucorohr, die gewöhnliche Zahl der Hiebe beträgt 12 bis
25. Der Ehebruch wird aus folgende Weise bestraft: Die
Stammältesten lassen sich ans einer Bank unter einem von
guten Geistern bewohnten Baume, der von einem Zaune
umgeben ist, nieder. Die beiden Sünder werden vorgeführt,
das Weib erhält nun soviel Prügel, als ihr Gatte verlangt,
während der Don Juan verurteilt wird, dem Gatten der
Ehebrecherin eine Buße, bestehend in Lebensmitteln, Eisen-
waren, Küchengerätschaften it. s. w. zu entrichten. Hierauf
wird ein Hahn geopfert, in dessen Blut Buyo (Betelportion)
von den Anwesenden getaucht und schnell gekaut wird, damit
ist (wie bei den Europäern nach stattgefundenem Duell) die
Ehre wieder allerseits hergestellt. Wenn Blutschande kon-
statiert ist, so wird eine Mulde mit Steinen belastet, aus
diese das Weib und über dieses der Mann gebunden und
sie so ins Meer versenkt (ähnlich wie bei den Tagbanuas).
Sie leben in Monogamie. Die Hochzeitszeremonien
sind folgende: Der Bräutigam bcgiebt sich mit seinen Ver-
wandten in das Haus (oder Gemach?) der Braut, wo ein
Menu ans Morisketa (Reis in Wasser gekocht) und Wild-
schweinsbraten (welchen mitunter ein Affenbraten vertritt)
der Gäste harrt, außerdem wird mit Buyo (Betel) und
Tabak aufgewartet. Nach aufgehobener Tafel erhebt sich
der Bräutigam, formt ans der Morisketa eine Kugel (die
Österreicher würden sagen ein Knödel) und steckt sie der
Braut in den Mund, welche Artigkeit die Braut sofort er-
widert, wodurch sie Mann und Frau werden. (Ähnliche
Zeremonien findet man auch bei den Tagbanuas und auf
Mindanao.) Hierauf wird der Frenndschaftsbund zwischen
den beiden Familien abgeschlossen, bei dem ein Trinkgelage
die Hauptrolle spielt. Als Getränk diente früher Pangasi
(Wein aus Reis), heute aber wird derselbe immer mehr
durch den importierten Nipawein und Menorca (Anisettc-
schnaps von den Balearen) verdrängt. Nach P. Navarro
verlassen sich bei einem Ehebrüche beide Teile und jeder kann
nach Belieben sich wieder verheiraten. Nach Baamonde-
Ortega scheint, wenn in oben angeführter Weise der Ehe-
bruch gesühnt wurde, keine Lösung des Ehebandes stattzu-
finden. Übrigens kommt Ehebruch sehr selten vor.
Wenn die Frau der Entbindung harrt oder in den
Wehen liegt (sie ruht hierbei auf einer Bambusbank, die
gegen das Fußende zu niedriger ist), so sicht der Mann wie
rasend herum, um sie und das Kind gegen die „bösen
Geister" zu schützen. Unter diesen „bösen Geistern" ist
wohl der Patianak oder Puntianak, ein bei den meisten
malaiischen Völkern bekannter Dämon, zu verstehen.
Sie kennen gute und böse Geister. An der Spitze der
ersteren steht der Bánua. Sic benennen die niederen
Pros. Ferdinand Blumentritt: Über die Eingeborenen der Insel Palawan rc.
183
Geister, wie dies fast bei allen Völkern der südlichen Philip-
pinen der Fall ist, mit dem Namen Diwata. Sie glauben
auch, daß die Seelen der Guten von den guten Diwatas be-
gleitet würden, während die Seelen jener, welche aus Erden
übles thaten, von den bösen Diw atas beständig gehetzt würden.
Ist jemand gestorben, so legen sic die Leiche entweder
auf ein aus Rohr lind Rotang verfertigtes Ruhebett oder
in eine Art (offenen??) Sarges und legen zur Seite des
Leichnams (in den Sarg) seine Waffen, Eisensachen, seine
Kleider, Reis und andre Lebensmittel. Auch streuen sie
Asche rings um den Sarg, um zu spähen, ob an den Fuß-
stapfen nicht zu erkennen wäre, daß der Tote „umginge".
Dann finden die Traucrzercmonien statt (welche mehrere Tage
Tage währen?). Die Trauernden hocken, sich bei den Händen
haltend, rings um den Sarg, in dessen Nähe sich die Zauber-
priester und Pricsterinncn herumtreiben. Sie singen nun
monotone Lieder, in denen sie die Tugenden des Verstorbenen
preisen und den Bunua bitten, er möge sich mit dem Toten
begnügen und niemanden andern noch töten. Dann heulen
die (um hohen Preis gemieteten) Klageweiber. Zuletzt wird
der Sarg gehoben (hinter welchem unmittelbar die Klage-
weiber schreiten) und in den Wald getragen. Hier hängt
man den Sarg mit Rotangfeilcn an einem Baume auf
(womöglich an einem Bogobaumc, wenn ein solcher nicht
zu finden, an einem Jpil), der von guten Diwatas bewohnt
wird. Wenn der Sarg oder das Traggerüst so lange im
Geäste des Baumes hängen bleibt, bis das Fleisch der Leiche
vollkommen verwest ist und nur die Knochen übrig bleiben,
so ist das ein gutes Zeichen; es beweist dies nämlich, daß
cs dem Toten (oder vielmehr seiner Seele) im Jenseits gut
gehe. Wenn aber vor diesem Zeitpunkte der Leichnam bezw.
der Sarg zu Boden fällt, sei es, daß die Rotaugseile faulten
oder die neugierigen Assen die Knoten lösten, so glauben sie,
daß cs der Seele des Verstorbenen schlecht gehe. Solange
der Leichnam an dem Baume hängt, legen sie zu Füßen des
Baumes Buyo (Betel), Bananen, Tabak u. s. w. nieder,
damit die Seele des Verstorbenen ihnen wohl gesinnt bleibe
und Segen bringe. Von dem Augenblicke an, wo der Leichnam
bezw. der Sarg zu Boden gefallen, kümmern sie sich um
ihn nicht mehr, jene Liebesgaben werden eingestellt, denn sie
haben vom Toten nichts mehr zu erwarten.
Wie die Tagbanüas (und andre philippinische Volks-
stämme), rüsten sie bei Epidemieen ein Schiffsmodell aus,
welches sie mit Reis, Buyo und frischem Trinkwasser be-
frachten, um dasselbe dann ins Meer hinauszustoßen, damit
die bösen Geister abfahren. Solche Schiffsmodelle — Sa-
knyan genannt — werden auch sonst noch zu Heilzwecken
verwendet. Gewöhnliche Krankheiten nämlich kurieren sic
mit Heilpflanzen, bei schweren Füllen aber schmücken sie die
Wohnung des Kranken mit Zweigen jener Bäume ans,
welche als Wohnsitze guter Geister gedacht werden, damit
letztere zur Heilung herbeikämen, außerdem hängen sie kleine
Schiffsmodelle an der Decke auf. Baamonde-Ortcga meint,
dies thue man, damit die guten Meergeister darin Platz
nähmen, ich aber glaube, daß man erwartet, die bösen Geister
schifften sich darin ein und dann (so vermute ich) wird das
Schiff wohl, wie oben, ins Meer oder in den Fluß gelassen.
Das Bett des Kranken umgeben sie mit Speisen, wie Ortega
meint, damit die guten Geister daran sich labten, nach
meiner Vermutung aber, damit die bösen Geister statt den
Kranken „zu sich zu nehmen" an den Speisen ihren Hunger
stillten.
Ihre Tänze werden von einer Trommel begleitet, cs
tanzt immer nur ein Paar, welchem, wenn es ermüdet, ein
zweites, diesem ein drittes u. s. w. folgt. Die Rangordnung
der Paare wird durch das Alter bestimmt, d. h. das älteste
Paar eröffnet, das jüngste endet den Tanz.
Ihr Handel ist gering, er beschränkt sich darauf, Bejuco
(den sic Sign nennen), d. h. Rotang und Kopalharz, in die
christlichen Niederlassungen zn bringen. Als Gegenwert
nehmen sie Reis, Mcssingdraht u. dgl. m.
Ihre Hauptwaffe bilden Bogen und Pfeile, letztere sind
mit einem stark wirkenden vegetabilischen Gifte vergiftet.
Eben deshalb werden sie von ihren Nachbaren gefürchtet,
selbst die verwegenen Moros haben vor ihnen einen großen
Respekt. Sie sind als ungastlich sehr verschrieen und ihr
Gebiet wird deshalb gemieden; die freundliche Aufnahme,
welche einzelne Missionäre bei ihnen fanden, beweist aber,
daß sie besser sind, als ihr Ruf.
Sie zeigen wenig Geneigtheit, das Christentum anzu-
nehmen, wohl nicht nur aus Anhänglichkeit an ihren väter-
lichen Glauben, sondern auch, weil mit dem spanischen
Christentnme auch ihre nationalen kommunistischen Eigen-
tümlichkeiten sich nicht vertragen. P. Navarro schätzt ihre
Zahl auf 2000, was mir eine zu niedrige Ziffer zu sein
scheint.
Da von den Tinitiancn oder Batak erwähnt wurde, daß
sie Negritobut in ihren Adern besäßen, so will ich gleich von
den Negritos selbst sprechen.
A. Marche erwähnt (p. 345), daß man ihm versichert
hätte, im Innern von Palawan gäbe es Negritos, welche
Atä genannt würden. Canga-Argüelles kennt sie ans
persönlicher Anschauung. Nach ihm leben sie in größtem
Elend auf den Berghöhcn. Ihre Blöße bedecken sie mit
Salügan, d. h. mit der Rinde eines Baumes, welche sie
durch Maccration in ein Gewebe verwandeln. Sie sind auch
Ackerbauer; die Waldrodung obliegt den Männern, die Aus-
saat beiden Geschlechtern, die Ernte den Weibern allein.
Canga-Argüelles sagt, sie hätten „Familien und Güter ge-
meinschaftlich"; ist da unter ersterem die Weibergemeinschaft
zn verstehen? Sic sind gastfreundlich, gutmütig und in-
offensiv, rächen sich aber fürchterlich für erlittene Unbilden.
Die Knaben werden schon frühzeitig im Gebrauche des
Bogens unterrichtet. Ihre Sprache weicht vom Tagbanüa-
Jdiome ab. Das ist alles, was wir von den Palawan-
Negritos wissen, immerhin mehr als von den Bouayanans
(richtiger wohl: Buayanan), von denen nur der Name be-
kannt ist. Marche scheint sic neben die Negritos zn stellen.
Ein weiterer Volksstamm der Insel Palawan ist jener
der Tandnlanen oder Tandolnnen. Ihr Name wird
von tandul — „Vorgebirge" abgeleitet, weil sie angeblich
von einem Vorgebirge zum andern wandern. Ihre Zahl
soll sehr gering sein, die Ziffer 200, die Marche giebt, ist
aber jedenfalls für ein Volk mit eigenem Sprachstamm zn
klein. Sie wohnen oder wandern zwischen der Bai von
Malampaya und jener von Caruray (A. Marche) und von
der Punta Dienti bis Tularan herum (Padre Ruiz). Unter
ihnen leben auch Remontados und Deserteure. Unter
Remontado ist ein in die Wildnis aus irgend einem Grunde
(Furcht vor Strafe re.) geflüchteter christlicher Malaie zu
verstehen. Deshalb giebt cs unter ihnen auch Individuen,
welche so gefärbt sind, wie die „Indier", d. h. die christlichen
! Küstenstämme des Archipels, und auch dieselben straffen
j Haare besitzen; die Mehrheit setzt sich aber aus Leuten von
dunkler Hautfarbe und mit krausem oder gelocktem Haare
zusammen und ein Drittel des Stammes soll aus ganz
schwarzen Leuten bestehen. Auf letztere bezieht sich wohl
die Mitteilung Canga-Argüelles, nach welchem die Tandu-
lanen physisch den Negritos ähnlich sind, aber viel schwäch-
licher, auch sprächen sic eine andre Sprache. Marche sagt,
sie wären ganz regulär gewachsen. Einige haben einen
j Bartanflug.
Die Männer tragen eine Leibbinde aus Baumrinde, die
! Frauen einen Schurz (Sarong?) ans demselben Stoffe.
184
F. Kaibler: Di
Tritt kalte Witterung ein, so legen die Frauen (und Männer?)
eine Art „maurischer" Jacke an, die an der Brust und am
Gürtel mit Muschelschnalleu oder mit Kokosnußfasern zu-
sammengehalten wird. Die Weiber tragen Armbänder aus
dickem Messingdraht und durchbohren sich die Ohrlappen,
um Zigarren und Stücke weißen Holzes hineinzustecken.
Bemerkenswert ist die Nachricht Marches, nach welcher
einige Tandulancn sich die Zähne schwarz beizen. Nach
demselben Autor sind sie sehr schmutzig und verbreiten einen
sehr unangenehmen Geruch. Sie waschen und baden sich
niemals, außer wenn sie ein unfreiwilliges Bad durch einen
Sturz ins Wasser nehmen. Trotzdem bleiben sie von Haut-
krankheiten verschont. Sie kennen keinen Ackerbau (Cauga-
Argüellcs), sie nähren sich nur von Waldfrüchten, Wildpret
und Fischen, letztere erbeuten sie durch Pseilschüsse oder durch
Angeln. Ihre Angeln und Harpunen verfertigen sie aus
Nochenschwänzen, welche sie ebenso wie die Pfeile (aber nicht
immer) mit einem stark wirkenden, vegetabilischen Gifte
vergiften. Nach Canga-Argüelles kennen sie ein Gegengift.
Das Wildschwein jagen sie, indem sie aus einem Fruchtbaum
sich verbergen: kommt das Schwein, um die abgefallenen
Früchte zu fressen, so strecken sie cs mit ihren vergifteten
Pfeilen nieder. Zn ihrer Jagdbeute gehören Affen, Stachel-
schweine, Schlangen, je eine kleine Schweine (?)-Spezies
(Pantot genannt), welche erheblich stinkt. Die Assen
werden mit 30 cm langen, vergifteten, bartlosen Pfeilen
aus Blaserohren erlegt. Auch Schildkröten werden eifrig
verfolgt. Die Nahrung nehmen sie roh oder gekocht zu sich,
ersteres häufiger. Das Salz ersetzen sie durch Meerwasser.
Ihre Kühne sind mit Ausliegern versehene Einbäume.
Sie kauen keinen Betel, rauchen aber Zigarren. Uber
ihre Sitten und Bräuche ist nichts bekannt. Nach Canga-
Argüelles bilden nahe Verwandtschaftsgrade kein Ehehinder-
nis. Handel scheinen sie nur mit den Moros zu treiben,
von denen sie ihre Bolos (Waldmcsser) einhandeln. Alles,
was wir von den Tandulanen wissen, gestattet den Schluß
zu ziehen, daß sie eine Mischrasse mit vorwiegendem Negrito-
l'lute bilden. Sie scheinen die Parias der Insel Palawan
zu bilden. Ich belucrke zugleich, daß auch die Tandulanen
mitunter Igor roten genannt werden.
e Leichenbretter.
Eine weitere Mischrasse bilden die Bulalacaunos, doch
scheint die etwas adlerartig gekrümmte Nase darauf zu
deuten, daß das Negritoblut nicht vorwiegt. Sie bewohnen
das Innere der Calamiancn-Jnseln und auch den nördlichen
Teil der Insel Palawan.
Da ich schon einmal etwas über die Bulalacaunos ver-
öffentlicht habe (Deutsche Rundschau für Geographie und
Statistik, Bd. VI, S. 164 bis 165, 1884),- so erwähne ich
hier nur, daß unter ihren Göttern der Tano Satolonam
kleine Kinder frißt und den Menschen mit Schabernack heim-
spielt, also an den Patianak und Osnang der Tagulen er-
innert. Sie verehren oder fürchten auch den M am ä o oder
Mangaloc, der mit dem Dämon Mangalo der alten
Tagalen identisch ist. Wenn der Kilit-kilit, ein dem Turm-
falken oder Rötelgeier ähnlicher Vogel, vom Dache eines
Hauses aus seinen Schrei ertönen läßt, so wird einer der
Bewohner desselben bald sterben.
Fassen wir das oben Gesagte kurz zusammen, so ergicbt
sich, daß Palawan und die Calamianen von folgenden Volks-
stämmen bewohnt werden:
A. Von Negritos (Ate).
B. Von der negritomalaiischcn Stämmen: I.Tandolancs
oder Tandulanen (mit vorwiegendem Negritoblut). 2. Tinitia-
nen oder Batak. 3. Bulalacaunos (mit vorwiegendem Ma-
laienblut).
6. Von malaiischen (bezw. indonesischen) Stämmen:
1. Tagbannas, zu welchen nach A. Marche auch die Cala-
miancn, Agutainos und Coyuvos zu zählen sind. Nach
demselben Autor haben sie auch Negritoblut in ihren Adern.
2. Moros.
Wohin die Bouayanans des A. Marche zu stellen sind,
kann heute nicht gesagt werden.
Aus der Namenliste der Völker jenes Teiles des Philip-
pinen-Archipels sind unbedingt zu streichen die Igor rotes,
Mang ui an es und Palawanes.
Immerhin bleibt nur gewiß, daß es Negritos, Tagba-
nuas und Moros giebt, denn über die übrigen Stäunne sind
wir doch nicht so genügend unterrichtet, um nicht z. B. eines
Tages mit der Nachricht überrascht zu werden, daß z. B.
Batak und Bulalacaunos einen einzigen Stamm bildeten.
t
Die Zeichenbretter.
Don F. Kaibler.
Von der Schweiz an durch Tirol, Salzburg, die bayeri-
schen Lande und die Oberpfalz nach Böhmen hinein, aus-
klingend in Oberfranken, hat sich der Brauch erhalten, die
Bretter, aus welchen die Leiche vor dem Begräbnis gelegen
hat, nach demselben öffentlich aufzustellen und mit dem
Namen des Verstorbenen, sowie Sprüchen versehen als ein
Denkmal für denselben zu erhalten. Der Brauch ist danach
auf den allemaunischen und namentlich den bayerischen Volks-
stamm beschränkt oder hat hier sich wenigstens erhalten,
denn es fehlt nicht an Nachrichten, daß das Leichenbrett
auch schon in alter Zeit bei andern Stämmen benutzt wurde.
Von dem Körper des erschlagenen Siegfried heißt cs (Nibe-
lungen 1058): „man zöcli uz den Kleidern sinen schönen
lip und wuosch im sine wunden; man leite in auf den re“.
Hier tritt uns einer der ältesten Namen für das Lcichen-
brett entgegen, nämlich re. Noch jetzt ist in den Alpen
die Bezeichnung Nebrett oder Nechbrett üblich I. In der
i) Leiche: althochdeutsch hreo, angels. hrä(w), altnord,
hrae. Die Bedeutungen des Wortes im Mittelhochdeutschen
sind (nach Lexer): Leichnam, Tod, Tötung, Mord, Grab, Begräb-
nis, Totenbahre.
Schweiz heißt das Brett „Laden“, in der bayerischen Ober-
psalz „Toudenbrett“. Der Sarg (von sarcophagus) ist
etwas verhältnismäßig spätes; ursprünglich beerdigte man
die Leichen in Tücher gehüllt oder in ausgehöhlten Bäumen,
den Totenbäumen. Wo diese nicht die Leiche schützten, da
wurde Holzwerk oder ein Brett zum Schutz gegen das nach-
folgende Erdreich über den Körper gelegt. Daher hat man
in den Totenbrettern einen Nachhall jenes lignum insuper
positum erkennen wollen, welches nach den bayerischen Volks-
gesetzen (Tit. XIX, Cap. 8 der Leges Bajuvariorum) zum
Schutze über den toten Körper vor dem eingeworfenen Erd-
reiche in das Grab gelegt wurde. Gras Hundt (Sitzungs-
berichte der baycr. Akad. d. Wisseusch. 1866, II, 409) hat
in seiner Arbeit über die Neiheugräber von Gauting, in
welchen Holzschichten oberhalb der Toten beobachtet wurden,
die Ansicht geäußert, daß jenes zu heidnischer Zeit in das
Grab mitgegebene Brett, jetzt in christlicher Zeit, wo die
Bestattung in vollständigen Särgen erfolgt, aus frommer
Sorge für das Seelenheil des Verstorbenen an vielbetretenen
Fußpfaden ausgestellt wurde. Christliche Sitte erwuchs aus
heidnischem Brauche.
186
F. Kaibler: Die Leichenbretter.
Verfolgen wir nun die Leichenbretter von West nach Ost
und sehen wir uns alsdann den Inhalt derselben an, den
sie zur Erinnerung an Verstorbene in oft rührenden, oft
auch sehr naiven Sprüchen uns offenbaren.
Im Züricherlande wurde noch im vorigen Jahrhundert
die Leiche nur in ein Tuch gehüllt und dann ans einem
Brette, der Lade, zu Grabe gebracht, selbst in der Stadt
lange noch ohne Sarg. „Daher ist die Gewohnheit übrig
geblieben, den Laden, ans welchem die Leiche gelegen, beim
Wohnhause als Steg über den nächsten Wassergraben zu
legen, oder, wie es bei St. Gallen geschieht, dem Ver-
storbenen eine hölzerne Gedenktafel mit seinem Namen in
Form eines Sargbrettes aufzurichten." (Rochholz, Deutscher
Glaube und Brauch I, 193). Ist hier in der Schweiz auch
von dem poetischen Inhalt der Leichenbretter keine Rede,
erscheinen sie rein als Erinnerungstafeln, so tritt uns doch
schon hier die eigentümliche Verwendung derselben als
Brückensteg über Graben oder Sumpf entgegen, eine Ver-
wendung, die ihnen bleibt bis zu dem andern, nordöstlichen
Ende ihrer Verbreitung in der bayerischen Pfalz. Diese
Anwendung als Brückensteg benutzte L. Lindenschmit (Hand-
buch der deutschen Altertumskunde I, 97) zur Erläuterung
einer Stelle im salischen Gesetz, wo von der äußeren Grab-
ausstattung die Rede ist und es heißt: Silave, quod est
ponticulus super hominem mortuum. Dieses rätselhafte
Silave soll das Leichenbrett sein, welches einmal als Er-
innerungstafel, dann aber als Brücke diente, wo es die Auf-
merksamkeit Vorübergehender auf sich zog.
Über die „Rechbretter" in Tirol belehrt uns Ludwig
von Hörmann (Grabschriften und Marterten, Leipzig 1890,
Vorrede). Vorzüglich sind sie auch im Salzburgischen
häufig. Hier aber ist cs nicht mehr das ursprüngliche
Leichenbrett, das an den Weg gestellt wird, sondern ein
stellvertretendes Machwerk des Tischlers. Hörmann beob-
achtete sie im Pinzgau besonders oft.
In Oberbayern sind die Leichenbretter häufig im
Lande an der Amper, im Flachlande zwischen Lech und
Isar, aber auch im Traungau. Sie sind hier an Kirchwegen,
an Bäumen angeheftet, als Stege über Gräben angebracht,
aber auch oft platt ans die Feldwege gelegt, so daß sie nicht
übersehen werden können. (Bavaria I, 413.)
In Riederbayern, namentlich im bayerischen Walde,
scheinen die Leichenbretter ihre stärkste Verbreitung zu finden,
sind sie am häufigsten vertreten. Felix Dahn (Bavaria 1,995)
meint, daß selten dort noch das wirkliche Leichenbrett, ans
dem der Tote gelegen, aufgestellt werde, meist käme eine
Säule, Pyramide u. dergl., Machwerk des Schreiners, an
ihre Stelle. Allein B. Köhler, der diesen Leichenbrettern
besondere Aufmerksamkeit widmete, erklärt (Illustrierte
Zeitung vom (i. Februar 1875), daß das neue Brett, ans
dem die Leiche wirklich lag, zum Schreiner kommt, der es
mit einem Schutzdache versieht und mit Farben bemalt.
Unter dem Schntzdache ist ein Heiligenbild angebracht, jetzt
meist Lithographie, oder es sind die Symbole der Vergäng-
lichkeit, Totenkopf, Sanduhr n. s. w., dort abgemalt. Der
Heilige steht in Beziehung znm Vornamen dessen, der einst
ans dem Leichenbrette lag: Der heilige Joseph mit dem
Christkinde bei einem Manne namens Joseph. Die heilige
Katharina mit schrecklichem Zackenrade bei einer Frau namens
Katharina. Unterhalb der Bilder stehen Vor- und Zuname,
Beruf, Geburts- und Todestag des Betreffenden. Nach der
Personalbeschreibung folgen die poetischen Ergüsse. Im bayeri-
schen Walde stehen die Leichenbretter meist nicht einzeln, son-
dern in Gruppen, gewöhnlich um ein Kruzifix herum. An
einem Draht sind unter den Inschriften häufig Nosenkranz-
perlen .angebracht, die znm Gebet für den Verstorbenen einladen;
man schiebt sie vorwärts und spricht dabei ein Vaterunser.
Wie im bayerischen Walde sind die Leichenbretter auch
im Böhmerwalde verbreitet und hier sowohl ans der
bayerischen als der böhmischen Seite. Die Deutschen hu
südwestlichen Böhmen stammen ans Bayern und nahmen
die Sitte der Leichenbretter mit hinüber ins slavische Land.
Häufig sind sie z. B. bei Eisenstein an den befahrensten
Straßen, dort grün und blau angestrichen und mit weißen
Kreuzen bemalt. Auch dort stehen sie in Gruppen, und
neben den frischen Brettern manch altes, morsches, zusammen-
gefallenes. (F. Höllrigl, Aus dem Böhmerwalde. Wien
1884, 85). In Böhmen verknüpft sich auch der Aber-
glauben mit den Totenbrettern: Sie fallen am heiligen
Abend um, und in welcher Gegend sie fallen, dort stirbt
jemand (Grohmann, Aberglauben aus Böhmen 1310).
Weiter nördlich wird die öffentliche Ausstellung der
Totenbretter als Erinnerungszeichen immer seltener, wiewohl
sie selbst noch bekannt sind. In der bayerischen Oberpsalz
wird der Verstorbene aus das „Tondenbrett" gebracht; doch
darf er mit dem Gesichte weder gegen Abend noch gegen
Morgen daraus liegen; die Füße müssen gegen die Stuben-
thür gerichtet sein. Drei Tage bleibt die mit einem Tuche
bedeckte Leiche ans dem Brette, dann erst kommt sie in den
Sarg (Bavaria II, 322). Endlich finden wir die Leichen-
bretter noch im bayerischen Oberfranken, und hier scheinen
sie ihre Nordgrenze zu erreichen. Öffentlich aufgestellt
werden sie hier auch nicht mehr. Im Mistelgau z. B. ist
in jedem Hanse ein Totenbrett vorrätig, das seine Ver-
wendung schon bei Ahn und Urahn gefunden hat und auf
dem die Leiche liegt (Bavaria III, 365).
Soviel über die Sitte selbst und deren Verbreitung, die
eine streng begrenzte ist. Aber die Leichenbretter werden
noch von Wichtigkeit dadurch, daß sie in ihren Inschriften,
welche denen ans Grabdenkmälern gleich stehen, in großer
Mannigfaltigkeit und wechselnder Gestaltung die Anschauungs-,
Denk- und Gefühlsweise der Menschen innerhalb eines
großen Zeitraums wiederspiegeln. Sie werden dadurch für
den Sprach- und Sittenforscher zu einer Fundgrube für die
Beurteilung des Volkscharakters. „Ihr Inhalt, sagt von
Hörmann, ist entweder allgemeiner Natur und behandelt
das Kapitel vom Tode und der Ewigkeit, daneben Schmerz
über den Verlust teurer Angehöriger mit der Hoffnung auf
Wiedersehen. Manche dieser Verse sind von einer Tiefe
und Innigkeit, wie man es gar nicht erwarten möchte.
Zeitweilig kommen auch Ursprünglichkeit mib Naivetät znm
Durchbruch." Zur Charakteristik mögen nun hier einige
dieser Inschriften folgen; mehr ist in den angeführten
Schriften von Köhler und Hörmann zu finden.
Da Freund, es wird dein Ende kourmen,
Doch weißt du nicht wo, wann und wie,
Vielleicht wirst du der Welt entnommen
Heut' Abend oder morgen früh.
Vielleicht ist auch dein Ziel bestimmt,
Eh' diese Stund' ein Ende nimmt. (Pinzgau.)
Auf einem Leichenbrett bei Eisenstein in Böhmen steht:
Denkmall.
Auf diesem Brett
hat geruht die Ern-
geachtete Jungfrau Theresia Gschwendner, welche nach empfangen
Sterbsakrament ihres Alters im 18. Jahr 23. August 1873
gottselig im Herrn entschlafen ist.
In meiner schönsten Jugendblüth
Hätt' ich es nicht gedacht,
Daß der Tod, der Sensenmann
An meiner Thür klopset an.
Bin ich bekannt gewesen dir
So bitte ein Vaterunser mir;
So bitte ihn mit heller Stimm',
Weil ich so jung gestorben bin.
Richard Andree: Die Flutsagen.
187
Hier spricht die Berstorbcne selbst zum Borilbergchenden;
ebenso auf einem Zeichenbrett im bayerischen Walde:
Ich lieg' im Grab und muß verwesen,
Was du jetzt bist, bin ich gewesen!
Was ich jetzt bin, das wirst auch du!
Drum steh und bitt für meine Ruh.
In derselben Gegend spricht sich der Schmerz einer
Mutter über den Tod des Kindes folgendermaßen aus:
Mein Kind, das war ein Rosenknopf
Wollte eine Rose werden.
Da kam der Tod und roch daran,
Da war's nicht mehr auf Erden.
Betrachtungen über die Hinfälligkeit des menschlichen
Lebens und aller irdischen Herrlichkeit enthält der folgende,
gleichfalls aus einem Leichenbrett im bayerischen Walde
stehende Spruch:
Ob die ganze Welt dich nennt,
Oder bloß dein Nachbar kennt,
Ob du arm bist oder reich,
Ob du rot bist oder bleich,
Dieses ist zuletzt ganz gleich.
Jeder Mensch auf Erden
Muß zu Staube werden.
Das ist ein alter Spruch, der auf vielen Leichenbrettern
wiederkehrt, wie denn überhaupt, nach Köhlers Beobachtung,
die meisten dieser Sprüche von einem Brette ans das andre
übergehen und immer wieder mit den alten Worten ein
neues ttnd doch auch ewig das alte Lied zu singen.
Die L1 u t s a g e n.
Don Richard Andres.
Die Ansicht, daß die Flutsagcn ein allen Völkern der
Erde gcnlcinsames Erbteil aus der Urzeit des Menschen-
geschlechts seien und daß dieselben ans ein großes Ereignis,
das in der Bibel erzählte, zurückgehen, hat allerdings schon
hier tind da Widerspruch gefunden, ist aber nichts desto- j
weniger noch die herrschende geblieben.
Beides ist aber unrichtig; die Flutsagen sind nicht uni-
versell und gehen keineswegs ans ein und dasselbe Ereignis
zurück. Um sie richtig beurteilen zu können, ist es vor allem
nötig, das Material zu sammeln, was bisher nicht, oder in
sehr ungenügender Weise geschehen war. Erst wenn eine
Übersicht möglich über das, was an Flutsagcnstoff auf der
Erde vorhanden, dann läßt sich ein Urteil fällen; der ver-
gleichende Weg, den der Ethnograph hierbei einschlägt,
wird vieles aufhellen, in andern: Lichte erscheinen lassen,
als eine einseitig theologische Behandlung vermag, die den
biblischen Bericht in den Mittelpunkt, gleichsam als festen
Felsen stellt und gelegentlich andre Berichte als bestätigendes
Beiwerk heranzieht.
Es kommt also darauf an, den Stofs zu sammeln und
kritisch zu sichten. Ich habe einen Versuch in dieser Rich-
tung gemacht und gegen 100 Flutsagcn bei den verschieden-
sten Völkern gesammelt und besprochen in einer demnächst
bei Friedrich View eg und Sohn erscheinenden kleinen
Schrift: „Die Flutsagen, ethnographisch betrachtet",
aus der ich hier einige Ergebnisse mitteilen will. Es ist
ganz natürlich, daß ein Einzelner, der zu sammeln beginnt,
zu einer Vollständigkeit nicht gelangen kann, daß er keinen
Abschluß zu erzielen vermag; ich betrachte meine kleine Schrift
daher auch nur als einen Anfang, an den noch mehr Stoss
ankristallisicrcn wird. Schon soeben, beim Abschlüsse des
Druckes, wird mir wieder eine neue Flutsage bekannt *), die
ich nicht mehr benutzen konnte.
Nach meiner Zusammenstellung, deren Lückenhaftigkeit
mir wohl bewußt ist, die aber immerhin noch mehr bietet,
als bisher gesannnelt wurde, läßt sich nun in großen Zügen
überschauen, wo überhaupt Flutsagcn vorkommen. Es er-
giebt sich sofort, daß dieselben nicht universell sind. In
Vorderasien, Persien, Tibet, Vorder- und Hintcrindien
kommen sic vor. Sie erscheinen so verwischt und selten ans
dem großen ostasiatischen Archipel, daß ich sie hier fast aus-
0 Eine Flutfage der Lolos in Pünnan, eine der berühmte-
sten Mythen dieses Volks, die bei Verlobungen, Hochzeiten und
Todesfällen vorgetragen wird, erzählt Paul Vial in seiner
neuesten Schrift 1)6 la langue et de l’écriture indigènes
an Yun-nan. Paris, Leroux, 1890.
schließen möchte. Jnselartig vereinzelt ist die Flutsage ans
der Halbinsel Kamtschatka vorhanden. Danach ergiebt sich,
daß dieselbe in Arabien, Jnnerasien, ganz Nord-
asien, China und Japan fehlt.
Europa hat eigentlich nur in den hellenischen Flutsagen
seine Vertretung auf diesem Gebiete. Das wenige andre,
was bekannt ist, erscheint a::s der biblischen Quelle geflossen,
die in heimische Gewänder gekleidet wurde oder sich auf echt
vorhandenen Stofs aufpfropfte.
Afrika ist, woraus schon von andern hingewiesen wurde,
auszuschließen. Es sind allerdings einige ans natürliche und
örtliche Ergebnisse hinweisende Flutsagen vorhanden; dieses
ist aber dem ganzen großen Erdteil gegenüber so wenig und
verschwindend, daß cs übergangen werden kann. Wenn der
äußerste Süden mehr Anklänge zeigt, so ist hier christliche
Beeinflussung maßgebend gewesen. Vom australischen
Festlande an über Neu-Guinea durch Melanesien, Mikro-
nesien und Polynesien bis zu den Sandwichinseln finden wir
die Flutsagcn. Sie sind in Amerika von den Eskimo in:
Norden bis zu den Araukanern in: Süden überall vorhanden.
Die Gemeinsamkeit aller Sintslntsagen und die Zurück-
führung derselben auf ein großes Ereignis, dasselbe, welches
in der Bibel erzählt wird, ist eine Annahme, die noch vielfach
Geltung hat und ihre Vertreter selbst in gelehrten Kreisen
findet. L enorm ant l), welcher auf diesem Standpunkte
steht, sagt: Der Sintslutbericht sei une tradition univer-
i selle dans tous les rameaux de l’humanité, à l’excep-
tion de la race noire. Aucun mythe religieux ou
cosmogonique ne présente ce caractère d’universalité.
Daher sind ihm diese Sagen der Nachklang eines wirk-
lichen, fürchterlichen Ereignisses, welches die ersten Menschen
traf und bei deren Nachkonnnen nicht in Vergessenheit geriet;
es fand statt in der Nähe der Wiege des Menschengeschlechts.
Abgesehen davon, daß wir über die „Wiege des Menschen-
geschlechts", wie der vage Ausdruck lautet, noch gar nichts
wissen, sind die Flutsagen durchaus nicht so allgemein über
die Erde verbreitet und bei allen Völkern — von den Negern
abgesehen — zu finden, wie Lenorm ant meint. Meine
! Zusammenstellung läßt noch gewaltige slutsagcnfreie Gebiete
erkennen; daneben finden sich räumlich begrenzte Sagcn-
gebiete von Fluten, die auf meist bestimmte natürliche Ver-
hältnisse zurückgeführt werden können.
Bereits Jakob Grimm hatte das Richtige getroffen-),
0 Origines de l’histoire d’après la Bible I, 489,
2) Deutsche Mythologie^ 547.
24
188
Richard Andree: Die Flutsagen.
wenn er sagt: „Es scheint mir unmöglich, die Vielheit aller
Dichtungen von der großen Flut und von der Erschaffung
des Menschengeschlechts auf die mosaische Urkunde zurück-
zuführen, aus der sie verwildert und entstellt sein sollten,
das verbieten schon die eigentümlichen Vorzüge, Mängel und
Abweichungen einer jeden." Muß denn diese Sage gerade
bei den Semiten entstanden sein, und könnten, wenn wir
einmal von einem Urquell ausgehen wollten, die Hebräer
nicht auch von andern Völkern etwas angenommen haben?
Die Wahnvorstellung von der völligen Originalität der
Juden in allen Dingen ist von der vergleichenden Völker-
kunde doch längst zurückgewiesen worden, und vieles, was
nur aus sie oder ihren Gesetzgeber zurückgeführt wurde. (Be-
schneidung, Speiseverbote :c.) erweist sich als weit verbreiteter
Brauch oder älter als bei den Inden.
Die vergleichende Ethnographie und das Studium des
Folklore haben uns heute weit genug geführt, um uns zu
zeigen, daß Sagen und Erzählungen ihre Wurzeln in der
Natur des menschlichen Geistes haben. Ihr Dasein hängt
nicht ab von einer Rasse; gewisse Formen derselben sind
unter günstigen Umstünden allerdings von einem Volke zum
andern gewandert und haben dort, verändert nach den
dortigen Verhältnissen, Lokalfärbungcn angenommen oder
mit vorhandenen Mythen sich vermischt, so daß es Sache
der Kritik ist, hier Ursprüngliches und Eingcwandertcs zu
scheiden. Daß die geologische Diluvialperiode ausgeschlossen
und mit der mosaischen Fluterzählung nicht in Zusammen-
hang zu bringen sei, wird jetzt allgemein zugegeben, wie denn
überhaupt von einer die ganze Erde deckenden Flut nicht
die Rede sein kann und es sich nur um örtliche, teilweise
Überflutungen handelt. Mit demselben Rechte, wie der
biblische Bericht, spricht der Indianer Amerikas oder der
Südseeinsnlaner von der Überschwemmung der ganzen Erde;
es ist eben die Erde, soweit sie in seinen Gesichtskreis
fällt, darunter zu verstehen. Die Sage hat überhaupt die
Neigung, das Kleine zum Großen zu gestalten, ein Ereignis,
das nur örtlich war, wird von ihr zur Weltbegcbenhcit auf-
gebauscht.
Abgesehen auch davon, daß die Flutsagen keineswegs in
dem Grade universell sind, wie man gewöhnlich annimmt,
spricht der innere Inhalt derselben gegen gemeinsamen Ur-
sprung. Bei vielen zeigt sich, wie wir gesehen haben, der
offenbare Zusammenhang mit der biblischen Urkunde so
deutlich, daß sofort der Einfluß christlicher Missionare in
die Angen springt. Oft ist es die mosaische Erzählung, der
nur ein örtlicher Mantel umgehangen wird, noch häufiger
aber die Aufpfropfung derselben auf eine echte, vorhandene
Flutüberlieferung, die dann erst von dem biblischen Beiwerk
befreit werden muß, um sie genau zu erkennen. Häufig ist
auch nur die nackte Thatsache von einer großen Flut über-
liefert, in welcher viele Menschen untergingen, einige aber
sich auf Berggipfel oder vorsichtig in Kühnen retteten, welche
vorher mit Lebensrnitteln versehen waren. Solche Ereignisse
sind so natürlich rrnd einfach, daß man dabei nicht an Ent-
lehnung zu denken oder einen Nachhall des biblischen Be-
richtes anzunehmen braucht. Und will man dennoch letzteres,
warum fehlen denn alle übrigen gleichwertigen biblischen
Erzählungen, warum ist denn z. B. die Schöpfungsgeschichte
nicht erhalten geblieben und nur die Sintslutsage?
Mit den ausschmückenden Einzelheiten ist es etwas
andres, und diese, wenn sie zu sehr an den biblischen Bericht
sich anlehnen, geben uns oft Fingerzeige für eine Entlehnung
und für spätere christliche Einflüsse. Man hat cs wohl als
charakteristisch für den biblischen Bericht von der Flut hin-
gestellt und diesen allein auszeichnend, daß die Flut als ein
göttliches Strafgericht über das sündhafte Menschengeschlecht
kam und durch dieselbe die Vertilgung stattfand. Aber auch
dieser Zug findet sich anderweitig in durchaus echten Flut-
sagen und erscheint mir nicht ausfällig.
In dem von mir mitgeteilten Stosse ist ein Straf-
gericht durch eine vernichtende Flut, ausgehend von einem
höheren Wesen und verfügt wegen der Sünden der Menschen,
erzählt bei den Kohls, den Mincopi, bei den Dajaks, den
Fidschiinsulancrn, den Pelaninsulanern, auf den Gesellschafts-
inseln, bei den Algonguin, den Arawaken. Von diesen
können aber nur einige als biblisch beeinflußt gelten.
Die Aussendung der Taube aus der Arche und ihre
Rückkehr mit dem Ölzweig ist schon eine bezeichnendere
Einzelheit, die bei ihrem Vorkommen in den Flutsagen der
Naturvölker Verdacht erregen muß. Namentlich bei den
Indianern treten verschiedene Vögel, der Nabe, die Moschus-
ratte an die Stelle der Taube, bei andern der Coyote. Stets
ist dabei aber zu bedenken, daß im Bereiche seefahrender
Völker das Mitnehmen von Vögeln auf weiten Seereisen,
um durch diese in zweifelhaften Fällen die Küstcnrichtung
zu erkennen, nichts Ungewöhnliches ist und daher leicht in
den Sagen Aufnahme finden konnte. Gerade im Altertum
finden sich darauf bezügliche Beispiele, wie solcher Gebrauch
im Indischen Meere bei den Seefahrern von Taprobane
erwähnt wird. Die Argonauten lassen Tauben fliegen, um
von der Möglichkeit der Fahrt durch die Symplegadcn sich
zu überzeugen. Floke Vilgedarson, der 868 auszog, um Is-
land zu entdecken, führte nach dem Landnambuk drei Raben
mit sich, die ihm als Wegweiser dienen sollten und von
denen man annahm, daß sie bei der Nähe von Land diesem
zufliegen würden, so daß der Seefahrer ihnen bloß zu folgen
brauchte. Auch in den Mythen der nordamerikanischen Völker
spielen während der Flut ausgesandte Tiere eine Rolle, um
Land zu erkundigen.
Der Zug in der Dcnkalionischen Flut, daß Menschen
durch das Werfen von Steinen entstehen, kehrt wieder bei
den Indianern Guianas und zwar ganz unvermittelt.
Als ein sich wiederholender Einzelzug tritt auch die
Vorausverkündigung der Flut durch Tiere ein. Bei den
Tschiroki ist ein Hund der Warner, bei den Peruanern sind
cs Llamas.
Wieder gilt als ein die Gemeinsamkeit der Flutsagen
beweisender Zug, daß das Schiff, in welchem die Überlebenden
sich retten, auf einem hohen Berge strandet. Sofort will man
darin den Ararat erkennen. Wie aber die Rettung in einem
Schiffe ein durchaus natürlicher, keine Entlehnung beweisender
Zug ist, so auch das Sitzenbleiben des Schiffes aus einem
Berge, und daß dieses ein hoher, durch die Formen in die
Augen springender sein muß, ist beim Wesen der Sage ganz
natürlich. Darum kehrt auch der Ararat so oft wieder. In
Indien (Naubandhanam), der Tendong bei den Leptscha, die
Insel Wolaemi bei den Mineopi, der Lulumut bei den
Binnas, der Nusaku auf Ceram, der Parnaß (nach andern
Othrys, Athos) bei den Hellenen, Mbengge bei den Fidschi-
insulanern, die Insel Taomarama bei den Gesellschafts-
insulanern, der Tschaneguta der Loncheur, der „Befestigcr"
in der Olympic Range bei den Clallam, die Cascade Range
bei den Puyallop, der Taylors Peak bei den Mattoal, der
Pik von Colhuacan in Mexiko, der Ancasmarca in Peru,
der Thegtheg bei den Araukanern, der Tamanaku am Orinoko
sind solche Parallelen des Ararat. Aber nur der kleinere
Teil dieser Rettungsberge erscheint in unverfälschten Flut-
sagen, eine etwas größere Zahl findet sich in solchen, die mit
biblischen Elementen durchsetzt sind.
Es giebt aber noch andere in den Flutsagen bei den ent-
ferntesten Völkern sich wiederholende Züge, die aus ganz
natürlicher Veranlassung fließen, aber nicht als Beweisgrund
einer Entlehnung aufgefaßt werden können. In vielen Flut-
sagen kehrt der Zug wieder, daß das rettende Schiss an ein
> 1. Meniamo ma8kan - ako - anup lennowak niakowini essopak. A
W' Bong ago powerful snake when men also bad beings had become.
2. Maskanako shingalusit nijini-essopak
Strong snake enemy beings had become
ekin - shingalan.
together hating.
shawalendamep
became troubled
3. Nisbawi palliton niskawi
Both fighting both
lungundowin.
peaceful (or keeping peace).
machiton
spoiling
nisbawi
both
matta
4. Mattapewi wiki nihanlowit mekwazuan.
Bess men with dead keeper fighting.
5. Maskanako gicbi
Strong snake great
palliton.
to destroy (fight).
6. N’akowa petonep,
Black snake he brought
petonep.
he brought.
penanwelenclamep
resolved
lennowak
owini
beings
arnangam petonep akopeliella
monster he brought rushing snake water
7. Pehella- pehella pohoka-pokoka
Much water rushing much go to hills
palliton-palliton.
much destroying.
eshohok-eshohok
much penetrating
Tulapit menapit Nanaboush maska-boush
At Tula (or turtle land) at that island Nanabush (strong)
owinimokom linowimokom.
of beings the grandfather of men the grandfather.
^20
9. Gishikin-pommixin tulagishatten-lobxin.
Being born creeping at Tula he is ready to move and dwell.
10. Owini linowi wemoltin pehella gahani pommixin
Beings men all go forth flood w iter creeping (floating?)
nahiwi tatalli tulapin.
above water which way (where) turtle-back.
^ 11. Amaugamek makclopamek alenclguwek metzipannek.
Monsters of the sea they were many some of them they did eat.
12. Manilo-dasin mokol-wickemass palpal payat payai
Spirit daughters boat helped come, come coming coming
wemichemap.
all helped.
13. Nanaboush Nanaboush wemimokom winimokom
Nanabush Nanabush of all the grandfather of beings the grandfather
linnimokoni tulamokom
of men the grandfather of turtles the grandfather.
14. Linapima tulapima tulapewi tapitawi.
Man then turtle then turtle they altogether.
â
15. Wishanem tulpewi
Frightened (startled?) turtle he
wuliton.
to make well.
pataman
praying
tulpewi
turtle he
paniton
let it be
A \
7
16. Kshipehelen
Water running off
maskan
powerful or dire
penkwihilen kwamipokho
it is drying plain and mountain
wagan palli wi.
action elsewhere.
sitwalikho
path of cave.
-intflutbcricht der Algonquins nach Sqnier.
Richard Andree: Die Flutsagen.
190
Richard Andrec: Die Flutsagen.
Seil gefesselt wird. Zn der Bibel fehlt er. Laßt man ein
solches einzelnes Argument als kräftig genug gelten, um
Entlehnung festzustellen, so ist ein Zusammenhang bei den
Flutsagen der Inder, der Kamtschadalcn, der Wogulen, der
Pelauinsulaner, der Twana und Arawaken vorhanden, bei
denen allen das fesselnde Seil von Wichtigkeit. Es ist so
natürlich wie eine auf Kundschaft entsendete Taube oder das
Stranden des Rettungsschiffes aus hohem Berge.
Gewiß ist es auch ein schwer wiegender Grund gegen
die vermeintliche Universalität der Flutsagen und gegen einen
gemeinsamen Ursprung der letzteren, daß die den Hebräern
benachbarten Völker ohne Kenntnis derselben waren. Bei
den Arabern findet sich nichts, was aus eine Flutsage hin-
deutet, trotzdeni sie Semiten und die nächsten Nachbaren der
Babylonier und Hebräer sind. Sie weichen in mytholo-
gischer Beziehung überhaupt stark von den Nordsemiten ab,
und ihre Götterwelt, vor dem Auftreten Mohammeds, ist
eine durchaus andre, als jene der übrigen Semiten.
Das gewöhnlich nach Regen lechzende und nichts weniger
als zu Überschwemmungen geneigte Eran macht von vorn-
herein die Übertragung der Flutsage vom vorderasiatischen
Boden dorthin unwahrscheinlich. Trotzdem wollen ver-
schiedene Gelehrte gefunden haben, daß die große Flutkata-
strophe der Genesis im Avesta wiederzufinden sei, eine An-
sicht, welcher Friedrich Spiegel nicht beipflichtet. In
einer Erzählung des Bnndchesch kommt allerdings eine Flut-
sage vor, die jedoch keinerlei Analogie mit dem biblischen
Bericht bietet.
Auch die südwestlichen Nachbaren der Hebräer, die Ägypter,
besitzen keine Flutsage. Ihr fast regenloses Land weist
dieses schon ab. Lauth will allerdings eine ägyptische Flut-
sage gesunden haben; es ist dieses eine hieroglyphische In-
schrift „Die neue Weltordnung nach Vernichtung des sündigen
Menschengeschlechts", welche sich in einer kleinen Kammer
beim Königsgrabe des Pharao Scti I. (um 1350 vor Chr.)
in Theben befindet und die H. Brugsch unter diesem Titel
herausgegeben hat. Gerade aber diese Sage von der Ver-
nichtung des Menschengeschlechts infolge seiner Sündhaftigkeit
giebt dem Texte eine besondere Bedeutung, da sie unwillkür-
lich an die biblische Überlieferung von der Vertilgung des
sündhaften Menschengeschlechts erinnert. Hier wie da die
Vorstellung von einem göttlichen Strafgerichte, das nur die
Auserwählten dem allgemeinen Untergange entzog. Sonst
bewegt sich die ägyptische Überlieferung nur in dem cng-
bcgrenzten Nahmen mythologischer Vorstellungen, und es ist
auch, außer den angeführten Übereinstimmungen, nicht ein
einziger weiterer Zug in ihr vorhanden, welcher eine Ver-
gleichung mit der biblischen Überlieferung gestattet. Nament-
lich ist von einer Wasserflut in ihr durchaus nicht die Rede.
Bei den nächsten Nachbaren der Hebräer und Babylonier
ist also die Flutsage nicht vorhanden.
Der Einfluß der chaldäisch-hebräischen Flutsage auf die
Völker der Erde ist aber ein gewaltiger gewesen, und er ist
da um so stärker geworden, wo er an ursprünglich Vor-
handenes sich anlehnen konnte. Es zeigt sich dieses so recht
in Amerika. In diesem weit ausgedehnten Gebiete dürfen
wir das Vorhandensein echter und ursprünglicher Flutsagen
annehmen; doch diese haben sich nur teilweise rein erhalten,
andre zeigen die originalen Formen bloß bruchstückweise, bei
sehr vielen zeigt sich eine Vermischung mit Elementen der
vorderasiatischen Sage, ja diese tritt hier und da ganz in
den Vordergrund, nur mit einem heimischen Mäntelchen ver-
sehen. Es ist ein weiter und langer Weg, den die vorder-
asiatische Sage durch die Jahrtausende, die Geschlechter und
Völker zurückgelegt hat, bei denen sie mit zäher Lebenskraft
sich stets wieder verjüngte, ein Weg, wie er kaum noch cin-
mal bei einem menschlichen Geisteserzeugnisse sich verfolgen
läßt. Viertausend Jahre liegen zwischen den in Sardana-
pals Palastbibliothek einst aufbewahrten Keilinschrifttafeln
und den von ihnen beeinflußten Erzählungen, wie sic heute
noch im Wigwam des Indianers widerhallen.
Betrachten wir nun unter dem Gesichtspunkte der chal-
däisch-hebräischen Beeinflussung die oben mitgeteilten Flut-
sagen, so lassen dieselben sich in echte und beeinflußte scheiden.
Das letztere ist in sehr verschiedenem Grade, der Fall ge-
wesen; oft sind in die ursprünglich vorhandene, echte heimische
Überlieferung nur wenige Züge des vorderasiatischen Be-
richtes aufgenommen worden, oft auch mehren sich diese und
der heimische Urquell versiegt, so daß schließlich manchmal
nur die biblische Sage in einem fremden Gewände vor uns
steht und es schwer zu entscheiden ist, ob überhaupt eine
ursprünglich echte Fassung der Flutsagen vorhanden war.
Eine Aussonderung habe ich in meiner Schrift versucht.
Namentlich machen sich die Einflüsse des biblischen Berichtes,
getragen von Missionaren, unter den amerikanischen In-
dianern geltend, so daß eine Aussonderung schwer wird.
Ich gebe hier, als ein Beispiel, die Flutsage der Algonquins
wieder, in welcher die Zerstörung der Welt durch Wasser-
fluten einem bösen Geiste (der Schlange) zugeschrieben wird.
Er steht im Gegensatze zu Manabozho (Mcnaboschn), einem
mächtigen Halbgotte. Die Bilderschrift dieser Erzählung
mit indianischer Erklärung und wörtlicher englischer Über-
setzung wiederhole ich hier nach Squicr ans der beigefügten
Tafel. Danach ergiebt sich folgende Umschreibung:
1. „Es ist lange her, da kam die mächtige Schlange
(Maskanako), als die Menschen schlecht geworden waren.
2. Die starke Schlange war der Feind der Geschöpfe
und sie wurden verwirrt und haßten sich untereinander.
3. Dann kämpften sie und vernichteten sich untereinander
und hielten keinen Frieden. 4. Und die kleinen Menschen
(Mattapewi) kämpften mit dem Hüter der Toten (Nihanlowit).
5. Da beschloß die starke Schlange, sogleich alle Menschen
und Geschöpfe zu zerstören. 6. Sie brachte die schwarze
Schlange und Ungeheuer und rauschende Gewässer. 7. Die
rauschenden Gewässer breiteten sich aus über die Berge,
überall hin, alles zerstörend. 8. Ans dem Schildkröten-
eiland (Tula) war Manabozho, der Großvater von Menschen
und Geschöpfen. 9. Kriechend geboren, kann er auf
Schildkröteneiland sich bewegen und wohnen. 10. Die
Menschen und Geschöpfe fluten auf den Wassern umher und
suchen überall nach dem Rücken der Schildkröte (Tulapin).
11. Der Seeungcheuer waren viele und sie zerstörten viele
(der Menschen). 12. Dann half ihnen die Tochter eincs
Geistes in ein Boot und alle vereinigt riefen: Kommt,
helft! 13. Manabozho, der Großvater aller Geschöpfe,
der Menschen und Schildkröten. 14. Alle zusammen, ans
der Schildkröte dort, die Menschen dort, waren alle zu-
sammen. 15. Sehr erschreckt bat Manabozho die Schild-
kröte, daß er alle wieder herstellen wolle. 16. Dann
verliefen sich die Wasser, cs ward trocken ans Berg und
Ebene und der große Böse ging anderswo hin auf dem
Höhlenpfade."
Mit der biblischen Flutgeschichte stimmt höchstens das
Boot (Fig. 12), das ganz unvermittelt hier erscheint und
aus Missionseinslüsse. zurückgehen kann.
Die Ursachen großer Fluten, welche verheerend weite
Landstrecken überschwemmen, sind sehr mannigfacher Art,
doch spielt dabei der Regen eine untergeordnete Rolle, da er
nie ein gewisses Maß überschreitet und, dem Gefälle der
Thäler folgend, mehr oder weniger schnell abfließt; ebenso
verlieren sich die oft gewaltigen Fluten verheerender Ströme
nach kurzer Zeit und bleiben meist räumlich beschränkt.
Diese ^Naturereignisse sind klein im Verhältnis zu den
mächtigen Fluten, die durch Wirbelstürme oder in noch
Aus allen Erdleileu
191
höherem Maße durch Erdbeben veranlaßt werden, worüber
wir Zusammenstellungen von Eduard Süs besitzen.
Die Erdbebenfluten sind es, welche die größten zer-
störenden Überschwemmungen hervorrufen, und zwar durch
das in Aufregung versetzte Meer, welches flache Küsten-
striche und Inseln verheert. Daß sie ganz entschieden in
der Überlieferung der von ihnen betroffenen Böller haften
und fagenbildend wirken, ergiebt sich ans mehreren der
gesammelten Flutsagen. Es ist gerade die an Erdbeben-
sinten reiche Westküste des amerikanischen Festlandes, wo
ich sie nachweisen kann. Sie beginnen im Norden mit der
Sage der Eskimo der Prinz Wales-Halbinsel, sind deutlich
erkennbar in den Überlieferungen der Makah und Washo,
wiederholen sieh in Peru und endigen im Süden bei den
Araukanern.
Treffen wir Flutsagen im Inneren eines Landes, in
hohen bergigen Gegenden, so ist zu prüfen, welche Ursachen
hier zu Grunde liegen oder ob sie eingewandert sind. Es
kann nämlich ein örtliches Ereignis, wie eine unter besondern
Umständen stattfindende Flußüberschwemmung, zu Flut-
traditionen Anlaß bieten, während regelmäßig wiederkehrende
Überflutungen, die als bekannt zu bestimmten Jahreszeiten
erwartet werden, keine Ursache werden, daß daraus sich eine
Überlieferung bildet. Die periodische Nilschwelle oder das
gewaltige Anschwellen der abessinischen Ströme hat zu keinen
Flutsagen Anlaß gegeben. Aber der Durchbruch des Rio
Funza ans der Hochebene von Santa Fü de Bogota, der in
der Erinnerung hastete, oder dem die Eingeborenen die
natürlichen Verhältnisse absahen, wirkte mythenbildend und
gab einer echten Flutsage das Dasein. Aus Durchbrüche
von Seen deuten auch die in Tibet und Kaschmir umlaufenden
Flulsagen. Ganz Ungarn, so lautet eine Sage, war einst
von einem weiten Süßwassersee bedeckt, der erst später durch
das eiserne Thor seinen Abfluß fand. Die Geologen be-
streiten nicht die Möglichkeit solchen Ereignisses und daher
kann die Sage von der einstigen Überschwemmung des Landes
auch hier angeknüpft sein.
Es gehören weiter hierher die bekannten Überflutungen
des Hoangho in Ehina, die Bildung des Thales Tempe,
durch eine von Poseidon bewirkte Erderschütterung, wodurch
die Thessalien bedeckenden Gewässer ihren Abfluß erhielten.
Fernere Veranlassung zu Sagen, daß einst das Meer
bis zu den höchsten Berggipfeln das Land überschwemmt
und alles darauf Befindliche zerstört habe, gaben die Ver-
steinerungen, welche selbst dem Auge der Naturvölker
nicht entgingen. Aus Samoa wurde allgemein geglaubt,
daß einst da, wo jetzt sich Land erhebt, die Fische schwammen;
als die Wasser sich verliefen, blieben viele Fische zurück und
wurden in Stein verwandelt. Franz Boas fand dieselbe
Anschauung bei den Zentral-Eskimo, was der alte Cranz
schon von den Grönländern berichtete. Die Flntsage der
Gesellschaftsinsulaner beruft sich auch aus die Farero, die
versteinerten Korallen und Muscheln ans den hohen Bergen,
welche nur bei der großen Flut dorthin gelangt sein konnten.
Noch sind die Cyklone oder Wirbelstürme mit ihren
hohen Wasserfluten und verheerenden Wirkungen, wie sie
namentlich in Ost- und Westindien auftreten, als Ursachen
von Finten zu betrachten, welche in der Erinnerung hasten
und zu Flutsagen Anlaß geben. Aut ihren ungeheuren
Flutsolgen sind sie wohl dazu geeignet, daß daraus die Sage
eine Sündslut gestaltete, zumal wenn ein solches Ereignis
über ein dünnbevölkertes Land hereinbricht, aus dem nur'
wenige Menschen sich retteten. Diese konnten dann leicht
im Wahne sein, die einzig Überlebenden zu sein, welche nun
„die Erde" wieder bevölkerten, das örtliche Ereignis als ein
allgemeines betrachteten und die Überlieferung davon kommen-
den Geschlechtern mitteilten.
Die Erdbebensinten mit ihren verheerenden Wirkungen,
örtliche Ereignisse, wie der beobachtete Durchbruch von Flüssen,
die Betrachtung der aus dem Festlande gefundenen Ver-
steinerungen von Meerestieren, die Wirbelstürme mit den
sie begleitenden Finten, diese also sind Ursachen, welche zu
den Flutsagen Anlaß geben konnten und gegeben haben, so-
weit solche nicht kosmogonischer Art sind. Die weite Ver-
breitung solcher wirkenden Ursachen über die Erde läßt aber
bereits den Schluß zu, daß es sich bei den Traditionen von
Finten nicht um eine einzige handelt, sondern daß ganz
naturgemäß bei vielen Völkern Flutsagen entstehen mußten.
Aus allen
— Über die angebliche Leichtigkeit des Gebärens j
bei den Naturvölkern hielt in der Sitzung des Anthro-
pologischen Vereins München am 20. Februar Geheimrat
Winckel, Direktor des Gebürhanses, einen Vortrag. Er
Zeigte, daß die Beobachtungen einzelner Reisenden nur durch
falsche Generalisierung der Ansnahmefälle diesen Schluß
ermöglichen. Der regelmäßige Verlauf sei in allen Kultur-
stufen der gleiche. Auch in Deutschland oder Frankreich sei
ärztliche Hilfe nur in sehr wenigen Fällen (etwa 1 von 100)
wirklich nötig, sonst nur Mißbrauch. Ebenso sei die angeb-
liche Verengerung des Beckens bei Kulturvölkern, wie sie
auch von den Japanerinnen der oberen Stände behauptet
worden, überaus selten. Andrerseits sei auch bei den soge-
nannten Natllrvölkern die Hilfeleistung andrer Frauen Regel.
Auch die vielfach festgestellte Gewohnheit der Abtreibung
oder erstrebten Fehlgeburt gehöre dazu. Leichte, rasche und
anscheinend schmerzlose Geburten, ja solche, die ganz uner-
wartet in voller Öffentlichkeit, in Pferdebahnwagen, auf der
Straße n. s. w. vor sich gegangen wären, worüber eine Liste
vorgelegt wurde, könnten von fremden Beobachtern ebenso
irrtümlich verallgemeinert werden, als ob in Deutschland
die Geburt ungeschent im Freien vor sich ginge. Über den
Erdteile n.
Punkt der Kraftleistung in und nach der Geburt, die der
Vortragende durch mehrere Fälle als gleich bei sogenannten
Kulturvölkern und Naturvölkern erwies, konnte der anwesende
Dr. Hösler von Tölz die merkwürdige Thatsache beibringen,
daß in der Jachenan, einem einsamen Thale östlich des
Walchensees, nach seinen Forschungen bis 1847 die Geburt
in kauernder Stellung — außerhalb des Bettes — die Regel
war. Der Bortrag wird bei seiner Veröffentlichung sicher
beachtet werden. Sch.
— Lesbos und Thasos. Der französische Geologe
de Launay, Professor an der Pariser Bergschule, hat die
Inseln Thasos icud Lesbos besucht und geologische Karten
derselben entworfen. Eine besondere Aufmerksamkeit widmete
er dem Vorkommen von Metallen, den schon im Altertum
bekannten heißen Quellen und den Erdbeben. Die Marmor-
brüche von Thasos wurden im Altertum stark abgebaut. De
Launay hat auf Thasos viele alte Schutt- und Schlackeu-
halden nachgewiesen, die jenen gleichen, die man jetzt bei
Laurinm (Attika) wieder ansbentet. Herodot spricht von
Goldminen anf Thasos. Aber weder Parrot, der 1862 da-
nach forschte, noch de Launay konnten Spuren davon auffinden.
192
Aus allen Erdteilen.
— Die B es erm i a n e r im russischen Gouvernement Wjatka
wurden bisher bald zu den Tataren, bald zu den Wotjaken
gezählt. Prof. I. N. Smirnow, der ihre ethnographische
Stellung untersuchte und darüber auf dem russischen Archäo-
logenkongresse zu Moskau 1890 Bericht erstattete, kommt in-
dessen zu einer abweichenden Ansicht. Die Besermianer
sprechen wotjakisch, ihr Äußeres ist aber türkisch. Die
Wotjaken sind klein, blond, ihre Augen grau, die Hautfarbe
rötlich, die Besermianer dagegen sind schwarzhaarig und
schwarzäugig, von mittelgroßem Wüchse und gelblicher Gesichts-
farbe. Ihre Frauen tragen andre Kopftracht und ihre
Stickereien ans Hemden und Röcken sind ganz andre als
bei den Wotjaken. Auch in der Sprache finden sich viele
nicht wotjakische Wörter; so besonders die Bezeichnungen für
Vater, Bruder, Schwager. Der bei den Wotjaken unbekannte
Ahnenkultns findet sich bei den Besermianer«. Daß dieses
Volk auch nicht zu den Tataren gehört, ersieht man daraus,
daß es da, wo es mit diesen gemischt lebt, nicht tatarisch,
sondern wotjakisch redet. Smirnow neigt sich ans diesen
Gründen zu der Ansicht, die Besermianer seien ein türkisches,
wotjakisirtes Volk.
— Schlangenplage ans den Liukiuinseln. Die
Habns (Trimeresurus Riukianus) sind Giftschlangen von
beinahe zwei Meter Länge, die auf den Liukiuinseln viel Un-
heil stiften. Sie klettern auf Bäume und leben von Vögeln,
Ratten und Fröschen, werden aber, wie Dr. Marburg auf
der Insel Oschima zu beobachten Gelegenheit fand, den
Menschen sehr gefährlich. Gewöhnlich ist der Biß nach
wenigen Stunden oder höchstens zwei Tagen tödlich; manch-
mal soll Lähmung erfolgen. Kleinere Glieder werden meist
nach dem Bisse abgenommen. Jährlich sterben auf jener
Insel etwa 40 Menschen daran, 80 wurden gebissen. Am
Tage der Ankunft Dr. Marburgs starb ein Mann durch
diese Schlange, der tags zuvor von derselben gebissen worden
war. Wie ein Fluch lastet die Plage auf dem Lande, selbst
Dörfer werden verlassen, wo die Habil zil sehr zunimmt. Es
steht eine Belohnung von 10 Sen (= 80 Pfennigen) auf
der Tötung jeder Schlange, aber man merkt kaum eine Ver-
minderung. Es giebt zwei Spielarten, die Gold- und
Silbcrhabu, je nachdem die Zeichnung mehr gelb oder weiß
ist. Die Schlange kommt auf allen Liukin vor, fehlt aber
in Japan.
— Die große sibirische Eisenbahn. Nach dreijähriger
Arbeit ist der von der russischen Regierung ernannte Aus-
schuß für den Bau der sibirischen interozeanischen Bahn zu
einem Entschlüsse gelangt. Das zuerst empfohlene System
die großen Wasserlüufe der Kama, des Tobol, Jrtisch, Ob,
Tom, des Amur und Ussuri zu benutzen und dieselben mir
durch einzelne Eisenbahnstrecken miteinander zu verknüpfen,
hat man fallen lassen, wiewohl es das billigste gewesen wäre
>lnd zwar aus dem einfachen Grunde, weil infolge klimatischer
Verhältnisse die Verbindung nur 41 /2 Monate im Jahre
benutzbar gewesen wäre. Auch wären mit diesem kombinierten
Systeme vorzugsweise traurige und öde Gegenden erschlossen,
reiche, znkunftbringende aber vernachlässigt worden. Man
hat sich daher für eine ununterbrochene Eisenbahnlinie ent-
schieden und unter verschiedenen Projekten dem nachstehenden
den Vorzug gegeben.
Ausgangspunkt ist Samara an der Wolga, das nach
Westen hin in unnnterbrochencr Verbindung mit Moskau
und Petersburg steht. Nach Osten hin reicht von hier aus
die Bahn über Ufa bis Slatoust am westlichen Abhänge des
Ural. Hier also beginnt der neue Bahnbau mit der kurzen
Uralstrecke bis Miask (32 km), worauf dieselbe über Tsche-
labinsk, Tjukalinsk, Omsk, Kainsk, Tomsk, Mariinsk, Kras-
nojarsk nach Nischni-Udinsk geführt wird, im allgemeinen
der bekannten großen Straße folgend. Das ist eine Länge
von 2912 km, durch den bevölkertsten Teil Sibiriens führend
und in Rußland an die fruchtbare Region des Tschcrnosem
anschließend. Die Kosten dieses Teils der Bahn sind auf
236 Millionen Mark veranschlagt.
Nischni-Udinsk an der Uda, nordwestlich von Irkutsk, ist
der Mittelpunkt der ganzen großen Bahn. Die Weiterfüh-
rnng von hier nach dem Osten, nach dem Kriegshafen Wladi-
wostok am Stillen Weltmeere, soll folgendermaßen erfolgen:
Nach Irkutsk, von hier nach dem Mweesowsky-Hafen am
Baikalsee, dann nordöstlich über Tschita, Nertschinsk nach
Strjetensk an der Schilka, dem großen Quellflusse des Amur.
Im Thale der Schilka und des Amur geht es abwärs bis
Chabarowka an der Ussurimündung, alsdann in südlicher
Richtung den Ussuri aufwärts und nach Wladiwostok. Diese
zweite große Abteilung der Bahn, von Nischni-Udinsk bis
Wladiwostok wird 7656 km lang, die ganze Bahn von
Minsk bis Wladiwostok danach 10 568km. Die Gesamt-
kosten betragen nach dem Anschlage gegen 740 Millionen
Mark. Eine Bahn wie diese, die doppelt so lang wie die
kanadische Pacificbahn ist, kann natürlich nicht in wenigen
Jahren erbaut werden; man rechnet 10 bis 12 Jahre bis zur
Vollendung.
— Agua di Dios in Colombia ist nach einem eng-
lischen Konsulatsberichte aus Bogota das Dorf der Aus-
sätzigen in jener südamerikanischen Republik. Es liegt
etwa 460 m hoch und gilt als ungewöhnlich gesund. Die
Zahl der Aussätzigen, die hierher gebracht sind, beträgt 520;
sic machen den dritten Teil der Ortsbevölkerung ans und
verkehren mit den Gesunden ungehindert, ja heiraten vielfach
mit denselben, wie der englische Konsul Wheeler hervorhebt,
ohne daß dabei eine Ansteckung erfolgt. Dagegen sind die
aus solchen Ehen stammenden Kinder fast durchweg leprös.
— Russische Ansiedelnng an der Anadyrmündnng
(Sibirien). Vor einiger Zeit sind in St. Petersburg Nach-
richten über den Dr. L. F. Grinewetzki eingelaufen. Dr.
Grinewetzki hat sich im Sommer 1889 als Jspravnik
(eigentlich Chef der Landpolizei) in den Anadyr-Bezirk an
das nordöstliche Ufer des Eismeeres begeben. In Begleitung
eines Gehilfen und mit 10 Kosaken hat er glücklich die Anadyr-
mündung erreicht und daselbst in einer völlig unbewohnten
Gegend eine Niederlassung Neu-Mariinsk gegründet. Im
Jahre 1890 ist ein Missionar mit einigen russischen An-
siedlern aus Makarjewsk zu Grinewetzki gekommen. Den
Winter 1890—91 beabsichtigten die Erforscher jener Gegend
in der Ansiedelung zu verbringen, im Sommer 1891 aber
soll mit der Untersuchung des Gebietes begonnen werden.
(Nvwoje Wrjemä.)
— Der Hafen von Saloniki steht in Gefahr zu ver-
sanden. Seine Bucht wird durch die immer mehr sich vor-
schiebenden Alluvionen des Wardar allmählich vom Meere
abgeschlossen und damit das Dasein Salonikis als Hafenort
bedroht. Schon jetzt ist die Spitze des Wardardeltas nur
noch 6 km von dem gegenüberliegenden Kap Kara-Burun
entfernt und die Einfahrt durch Sandbänke sehr erschwert;
denn Wardar und Wistritza schütten große Massen von Ab-
lagerungen in den Golf. Wegen der Verbindung Salonikis
mit dem österreichischen Bahnnetze ist diese Versandung von
praktischer Bedeutung. (Mitt. Wiener Geogr. Ges.)
Herausgeber: Dr. R. Andrer in Heidelberg. Leopoldstraße 27.
Druck von Friedrich Vieweg und Sohn in Braunschweig.
Bd. TJX.
Nr. 13
Braunschwei g.
Jährlich 2 Bände in 24 Nummern. Durch alle Buchhandlungen und Postanstalten
zum Preise von 12 Mark sür den Band zu beziehen.
1891.
Anthropologie und Geschichte.
Dem Dr. F. Guntrain Schultheiß.
I.
Im berechtigten Stolz unantastbarer Selbständigkeit blickt
die heutige deutsche Geschichtswissenschaft auf die Zeiten
zurück, da nacheinander Theologie, Reichs- und Staatsrecht,
Philosophie die Bornumdschaft über die Geschichte in Anspruch
nehmen durften. Nur mit der Philologie hat die kritische
Geschichtsforschung engere Fühlung hinsichtlich der Behand-
lung der Onellenüberliefernng behalten. Zwar das an-
fängliche Programm der Beschränkung, nur zu erzählen, wie
die Kriege geschehen feien, und dafür ausschließlich ans die
Berichte Mithandelnder zurückzugehen, blieb seinem Urheber
keine Fessel der Reflexion; es galt auch zunächst für die
neueren Zeiten und für die rein politische Geschichte. Ein
gefeierter Geschichtschreiber nennt diese die Königin der
historischen Wissenschaften, denn der Staat sei schließlich der
Bestimmende, mehr als Entdeckungen oder Erfindungen.
Immerhin dürfte somit andern historischen Wissens-
zweigen nicht die Daseinsberechtigung, nur die Ranggleichheit
bestritten fein; und wenn die kritische Geschichtsforschung sich
auf die Feststellung der Ereignisse und Zustände beschränken
will, so scheint sie die Erklärung, die Antwort auf Wie?
und Warum? jenen zu überlassen, da nun doch einmal die
exakte und objektive Erzählung nicht alle geistigen Bedürf-
nisse befriedigt.
Zwar die Philosophie der Geschichte, die gern mit einem
Endzweck derselben oder mit einem Erziehungsplan der
Menschheit anhob, ist der Mißachtung verfallen. Hingegen
die Kulturgeschichte, gleichfalls aus der Berührung der
Philosophie mit der Geschichte entsprossen, hat sich von
Voltaire und Herder an fortgesetzt, auf mannigfache Gebiete
sich verzweigend oder mit der Naturwissenschaft sich vcr-
fchwistcrnd. Aus den Anregungen der vergleichenden Sprach-
wissenschaft und der Philosophie ist die Völkerpsychologie
hervorgegangen; soweit ihr als Ziel vorschwebt, die Völker
als psychische Einheiten zu erfassen, lehrt sie aus ihren
Eigenschaften ihre Geschicke begreifen.
Auch die Anthropologie, nach Namen und einzelnen
Elementen älter als selbständiger Wissenszweig, hat mancherlei
Berührungen mit der Geschichte. Ihr fällt das Gebiet der
Globus MX. Nr. 13.
Urgeschichte zu. Zwar das spärliche Licht, das die Funde
auf Industrie und Sitte verschollener Ansiedelungen werfen,
kommt zunächst der Geschichte der menschlichen Kultur zu
gute; die politische Geschichte kann sich geringschätzig von
diesen dunkeln Gebieten wegwenden, aber eine weiter aus-
greifende Volksgeschichte sollte es nicht thun. Sie hat die
große Entdeckung der Sprachwissenschaft von uralter Ge-
meinschaft der arisch redenden Völker angenommen, die
Hypothesen von Einwanderung der Germanen oder Kelten
aus Asien verzeichnet, so müssen ihr auch die Ergebnisse der
Forschung über die ältesten Bewohner unsres Erdteils,
über die Urrassen, über ihr Verhältnis zu den geschichtlichen
Völkern willkommen sein.
Epochemachend wirkte für das Verhältnis der Anthro-
pologie zur Ethnographie und Geschichte die Einteilung der
menschlichen Rassen nach dem Schädelban. Weder die An-
nahme der alttestamentlichen Genealogie der Sem, Ham und
Japhet, noch die am weitesten verbreitete Klassifikation
Blnmenbachs, die, unter dem Einfluß der Sprachfamilie
stehend, eigentlich von vornherein auf naturgeschichtlich
brauchbare Definition verzichtete, noch manche andre konnte
festen Boden geben. Erst die Einteilung in Lang- und
Knrzköpfe, mit einer Zwischenform der Mittelköpfe und
einigen Unterabteilungen entsprach dem Bedürfnis der
Klassifikation und beherrscht, soweit zu sehen ist, jetzt die
Forschung. Sie bietet ja auch den Vorteil, Schädelfunde aus
vorgeschichtlicher und geschichtlicher Zeit einreihen zu können.
Die emsig betriebene Schädelmessung hat uns eben That-
sachen ergeben, die für die Völkergeschichte von größter Be-
deutung sind. Der Unterschied der körperlichen Erscheinung
der heutigen Bevölkerung, besonders des südlichen Deutsch-
lands von der der alten Germanen, wie sie geschichtlich
überliefert ist, fiel ja auch schon früher gelegentlicher Beob-
achtung ans. Tie anthropologischen Untersuchungen haben
die genauesten Nachweise geliefert, daß die alten Germanen
langköpsig und groß, die heutigen Deutschen überwiegend
knrzköpfig und klein sind, daß sie ebenso dunkelhaarig sind,
während jene als blond gelten müssen, daß mit einem Wort
25
194
Dr. F. Guntram Schultheiß:
ein Unterschied der Rasse vorliegt, wenigstens in vielen Teilen
des heutigen Deutschlands. Die Verhältniszahlen sind vielfach
geradezu überraschend auch für den, der eine Vermischung
der alten Germanen oder ihrer Nachkommen mit Bevölkerungs-
teilen fremder Herkunft von vornherein zugiebt. In dieser
gewöhnlichen Annahme, wenn man beispielsweise in Deutsch-
land keltische Überreste sich denkt, geht man freilich ganz
über die Frage hinweg, ob denn nur bloß die Germanen
innerhalb der Jndogermanen groß und blond gewesen seien,
so daß sie den Römern und Griechen als antochthone Rasse
erscheinen konnten. Beit am ersten machte von Holder für
Württemberg darauf aufmerksam, daß die rund- und kurz-
köpfige Bevölkerung — man hatte sa wohl gelegentlich von
Bauernschädeln gesprochen — von andrer Abkunft sein
müsse als die, deren langgestreckter Hinterkopf sie als Nach-
kommen der echten Germanen kennzeichne. Er nannte die
erstere damals ligurischen Typus und schrieb ihn der Nach-
wirkung römischer Kolonisation zu. Später nannte er die
Kurzköpfe noch bezeichnender Turanier, in demselben Sinne
ward in Frankreich der Name der Mongoloiden üblich. Auch
dort ward der Unterschied der kleinen, knrzköpfigen, dunkel-
farbigen Bevölkerung, die heute weitaus vorherrscht, von
den alten Galliern, die sich nach der Schilderung klassischer
Schriftsteller anthropologisch den Germanen an die Seite
stellen, als Verschiedenheit der Rasse aufgefaßt. Schon
Hupley hatte bemerkt, daß zu einer Sonderstellung der
mitteleuropäischen Kurzköpfe gegenüber der slavisch-mongo-
lischen Völkermasse kaum Grund sei. Für Deutschland konnte
man an vorgermanische Bevölkerung, an mitgebrachte Sklaven,
an spätere Kriegsgefangene, an die Nachwirkung von fremden
Kriegszügen, von den Hunnen und Magyaren bis zum
30 jährigen Kriege denken, oder aber Einflüsse kombinieren. Für
Tirol hatte ja Ludwig Steub die Fortdauer rhätischcr Reste
bis ins deutsche Mittelalter verfochten, besonders nach den
seltsamen Ortsnamen; das Zurückbleiben von Resten romani-
sierter Provinzialen ist ähnlich für Bayern und besonders
für das Salzburgische durch Ortsnamen und andre Spuren
erwiesen, neuerdings auch für den Schwarzwald. Es sind
eben nicht Römer, sondern vorrömische Reste. Aber ein
Mehr als spärliche Reste ist weder nachzuweisen, noch auch
wahrscheinlich bei der Art der Ansiedelung.
Aber auch sonst bedeutet das Verschwinden der Langköpfe,
besonders aus der jetzigen Bevölkerung Süddeutschlands, und
die Abnahme der Blondheit für die historische Völkerkunde
ein Problem. Für Bayern hat Ranke den Anteil der Lang-
köpfe an der alten Bevölkerung als die Hälfte, den der
Mittelköpfe auf vier Zehntel berechnet; jetzt sind der ersteren
1 Proz., der zweiten 16 Proz., während die Kurzköpfe von
etwa 10 Proz. auf 83 Proz. gewachsen sind. Blonde sind
es noch 20 Proz. In Norddeutschland nach Virchows
Ermittelung zwischen 43 und 33 Proz. Für Niederösterreich
giebt Zuckerkandl als den ehemaligen Anteil der Lang-
köpfe 66,7 Proz., jetzt 4,6 Proz., der Kurzköpfe ehemals
4 Proz., jetzt 63 Proz. Überkurz sind davon 25 Proz.
Für Oberösterreich ist es noch auffallender: den 80 Proz.
der Langköpse und 20 Proz. der Mittelköpfe stehen 2 Proz.
und 18 Proz. gegenüber der Masse für kurze und überkurze
Schädel. In Böhmen sind die 57 Proz. der Langköpse
völlig verschwunden, aus den 23 Proz. der Kurzköpfe sind
60 Proz. geworden und dazu noch 22,5 Überkurze. Noch
rätselhafter wird die Sache, wenn man erwägt, daß auch
die vorgermanische Bevölkerung der Donauländer nach den
Gräberfunden langköpfig gewesen sein muß, so wenigstens
die keltischen Völker, die von den Römern unterworfen
wurden.
Der Gedanke an die Möglichkeit einer allmählichen Um-
bildung der langen Kopfform in die kurze liegt zu nahe,
Anthropologie und Geschichte.
als daß er nicht aufgetaucht wäre. Daß die Masse des
Gehirns im Laufe der Kulturentwickelung gewachsen sei,
wurde z. B. nach Messungen in Pariser Gräbern belegt.
Man nannte so die Kurzschädel die Kulturschädel; doch konnte
weder diese Annahme noch die Vermutung eines Einflusses
der Höhenlage auf die Umbildung sich behaupten. Im
Gegensatz hierzu steht die Lehre von der Unveränderlichkeit
der Rassenmerkmale, also besonders der Kopfform, außer
durch Mischungen, seit dem Diluvium, der Eiszeit, wie sie
am schärfsten Kollmann vertritt. Es läßt sich auch nicht
bestreiten, daß der Begriff der Rasse, zunächst klassifikatorisch,
doch die Notwendigkeit der körperlichen Vererbung in sich
schließt. Wer könnte zweifeln, daß das Kind eines Negers
und einer Negerin wieder ein Neger, der Sprößling eines
Chinesen und einer Chinesin wieder ein Chinese wird?
Drängt sich denn nicht der Zweifel aus, mit welchem Recht
sich überhaupt die Mehrzahl der heutigen Deutschen als die
Nachkommen der alten Germanen betrachten können, ob es
mehr als eine Fiktion oder Selbsttäuschung sei, wenn sie
den Arminius als den Retter und Befreier feiern und ihm
oder der Germania Standbilder aufrichten? Besonders die
Süddeutschen? Man darf auch die Tragweite wissenschaft-
licher Theorien nicht überschätzen. Eine Zeitlang war die
Abstammung der Bayern von den keltischen Bojern offiziell
gelehrte Geschichte, sie rechtfertigte zur Zeit des Rheinbundes
die Verbindung mit den Franzosen und spukt auch jetzt noch
in abgelegenen Köpfen. Umgekehrt hat sich später der süd-
deutsche Partikularismus darin gefallen, die rein deutschen
Stämme der Bayern und Schwaben den halbslavischen
Preußen gegenüber zu stellen. Noch jetzt thut dies das
Bayrische Vaterland, eine vielgelesene, durch zur Schau ge-
tragene Unabhängigkeit einflußreiche Zeitung.
Sollten nicht auch die Ergebnisse der anthropologischen
Forschung zu theoretischen Folgerungen führen?
Das Verhältnis des heutigen deutschen Volkes zu den
alten Germanen hat in Deutschland Karl Penka behandelt
im Zusammenhang mit einer umfassenden Hypothese über
Ursprung, Heimat, Verbreitung und Geschichte der Arier —
in zwei Büchern Origines Ariacae 1883 und Herkunft der
Arier 1886. Unabhängig von ihm hat der französische An-
thropologe De Lapouge vielfach sich damit berührende Auf-
fassungen über französische Geschichte und gesellige Zustände
und Aussichten zum lebhaftesten Ausdruck gebracht'). Aller-
dings die strenge Wissenschaft läßt Theorie und Hypothesen
gerne auf sich beruhen. Aber sonst haben beide schon Beachtung
und Anhang gefunden; und was ans ein tieferes Verständ-
nis geschichtlichen Zusammenhanges ausgeht, wird sich auch
mit gewagten Verknüpfungen der Thatsachen abfinden müssen.
Penka zieht die volle Konsequenz aus der Bezeichnung
der europäischen Knrzköpfe als Turanier. Sie sind ihm
Angehörige einer völlig getrennten Rasse. Den germani-
schen Typus, die Laugköpfigkeit, Hellfarbigkeit und Größe
nimmt er als die Merkmale der unvermischten arischen Rasse.
Diese Merkmale selbst weisen ans den Norden als auf seine
Wiege. Von Skandinavien aus sind die arischen Völker
ausgezogen und haben ihre Herrschaft und ihre Sprache bis
nach Indien getragen. Aber ihre Lebens- und Fortpflanzungs-
fähigkeit zeigt sich dort als unverträglich mit milderem Klima;
nur durch die Vermischung mit Unterworfenen hat sich Name
und Sprache erhalten, nur in hohen Gebirgen haben sich
weithin verstreute Neste der Nasse gefristet. Im allge-
meinen sind sie außerhalb der Urheimat und den nördlichen
Ansiedelungen nach und nach ausgestorben, die früheren Unter-
thanen haben an ihrer Stelle das Übergewicht bekommen rmd
U Siehe eine Reihe von Aufsähen in den letzten Jahr-
gängen der U6VU6 d’Anthropologie.
Dr. I. H. Kloos: Die Höhlen bei Rübeland im Harz.
195
nur die Sprache ihrer früheren Herren täuscht über den
Wechsel der anthropologischen Elemente innerhalb der Böller.
So sind also auch die knrzköpfigcn deutschsprechenden Bevölke-
rungen des Südens in Wirklichkeit Tnranier, keineswegs die
Nachkommen der Germanen. Österreich und die Schweiz
sind anthropologisch geeinte Staaten, trotz der Sprachver-
schiedenhcit. Bezug genommen ist hierbei auf einen Aus-
spruch Ratzels (Anthropogcographic): Gemeinsamkeit der
Sprache, des Glaubens, der Sitten, vor allem, was man
National- oder Bolksbewnßtsein nennt, das sind alles nur
Gewänder, welche verhüllend und gleichmachend über Ver-
schiedenstes geworfen sind. Es sind damit Völker gemeint
wie die Italiener, die die Anthropologie in verschiedene
Nassen zerlegen kann.
Es wäre also nach Penka das Klima, von dessen nach-
teiligen Einflüssen in südlicheren Ländern das Verschwinden
der blonden Raffe bedingt sein soll. Hingegen sucht De
Lapongc die Gründe der gleichen Erscheinung in Frankreich
ausschließlich in geschichtlichen Thatsachen. Das arisch-kel-
tische Rassenelcment sei schon durch Cäsars Eroberung auf-
gerieben worden. Seine Erneuerung durch die germanische
Einwanderung der Franken, Goten u. s. w., der kriegerische
Lehensadel sei durch das Fehdewesen, die Krcuzzüge, denEöli-
bat der Geistlichkeit, das die Hälfte der Männer, zwei Drittel
der Frauen jeder Generation zur Unfruchtbarkeit verurteilte,
durch die Hngenottenvcrfolgnng und zuletzt durch die Revo-
lution ausgemerzt worden, bis also im heutigen Frankreich
das knrzköpfige, keltoslavische oder mongoloide Rassenelement
die Vorherrschaft erlangt habe.
Noch stärker als Penka oder deutsche Anthropologen be-
tont De Laponge die Starrheit und Unabänderlichkeit der
Raffenmerkmale. Die blonden Langköpfe und die dunklen
Kurzköpfe treten in seiner Auffassung wie scharf getrennte
Arten hervor. Wie er den Neger einen komplizierten Ehim-
panse nennt, den zivilisieren zu wollen eine verhängnisvolle
Thorheit sei, so behandelt er auch die Nachkommen der Kreu-
zung zwischen Ariern und Mongolen, oder Lang- und Knrz-
köpfen nach Analogie der Anschlinge zwischen Weißen und
Farbigen. Er sieht in ihnen nur eine Verschlechterung und
behauptet, daß sie unter sich eigentlich nicht fruchtbar, nur
durch wiederholte Kreuzung mit reinem Blut den Anschein
einer konstanten Mischart erhielten. Die niedere Geburten-
ziffer, den drohenden Rückgang der französischen Bevölke-
rung, läßt er nur für die Gegenden der gemischten Nassen,
die fruchtbaren Flußthäler, gelten; sie ist ihm die Folge
der fortgesetzten Kreuzung der Mischlinge, deren Ergebnis
unter dem Gesetze des mangelnden Zusammenhanges der
durch verschiedene Vererbung überlieferten Körperteile znm
Widerspruch der Organisation führt, bei Frauen zur Sys-
symmetrie des Uterus, welche die Fortpflanzung unmöglich
macht. Das schließliche Aussterben der französischen Misch-
lingsbevölkernng, ihre Ersetzung durch reinere Rassen, durch
Belgier und Deutsche, scheint ihm unaufhaltbar.
In dieser Auffassung der Rassen als echte und ge-
trennte Arten, die die Mischlinge nach Analogie der Maul-
tiere und Maulesel betrachtet, folgen andre Anthropologen
nicht. Der Vertreter der Unveränderlichkeit der Rassen-
merkmale seit dem Diluvium, Kollmann, läßt doch eine
frühere Periode der Veränderlichkeit zu, eben die Zeit der
Bildung der Rassen, zunächst der europäischen. Wie soll
man sich nun die Entstehung der Raffen in jener Urzeit
vorstellen? Das neue Dictionnaire des sciences anthro-
pologiques 1889 kann als Definition für die beiden Haupt-
rassen schließlich doch nur die geben, daß ein Paar Lang-
köpse keinen Kurzkops, ein Paar Kurzköpfe keinen Langkopf
zeugen können. Ouatresages gab den beiden Rassen andre
Namen nach wichtigen Fundstätten, er nannte den urzeit-
lichcn Typus der Langköpfe die Kanstattraffe, — nach Penka
ist die blonde arische Rasse ihre direkte Fortsetzung, wobei
sich auch das charakteristische Merkmal der Knochenwülste
der Augenbrauengegend erhalten hat; die kurzköpfige kleine
Rasse, die Tnranier oder Mongoloiden, nannte er nach einem
belgischen Fundort Furfoozrasse und schrieb ihr fast gleich hohes
Alter, und nicht asiatische Abkunft 'zu. Eine dritte Rasse
nannte er die Ero Magnonrasse, gleichfalls groß, langköpfig,
aber abweichend von der ersten, mit rautenförmiger Gesichts-
form und sonstigen Eigenschaften. Penka erklärt sie für die
Stammform der mittelländisch semitischen Langköpfe, der
Iberer, Japygen, Pelasgcr. Auch De Laponge nimmt eine
mittelländische Rasse an, zu der die Knschiten zählen.
Es ist vielleicht an sich nicht so wichtig, wie viele solcher
fossilen Rassen, deren charakterisierende Umgrenzung doch nur
ans verhältnismäßig wenigen Funden gezogen ist, man auf-
stellen will. Wichtiger ist, daß sie.nicht ausgestorben sind,
daß sie noch fortleben, daß ihre Nachkommen gelegentlich
in völliger Raffenreinheit noch jetzt unter den europäischen
Völkern sich vorfinden, und daß durch die Gräberfunde ans
allen Zeiten die Verbindung der Gegenwart mit jener Ur-
vergangenheit bewiesen ist. Daß die Kanstatt-Rasse und
der germanische Typus zusammenhängen, ist auch für die
Volksgeschichte eine wichtige Thatsache. Es fragt sich nur,
; wie sic einzuordnen ist.
Die Döhlen bei Rübeland im Dar
Don Dr. Z. H. Irloos. Braunschweig.
B
3- I7. Ixloos.
I.
Kalkige Gesteine besitzen im Harz eine geringe Ver-
breitung, und namentlich die sogenannten Maffenkalke, nicht
geschichtete oder nur in dicken Bänken unregelmäßig abge-
sonderte Kalksteine, nehmen nur einen verschwindend kleinen
Anteil am Aufbau des Gebirges. - Daher kommt cs, daß
trotz des Maffenrcichtums des hercynischcn Waldes, trotz
der vielen, tief eingeschnittenen Flußläuse, trotz der weit-
gehenden Zerspaltung der Schichten, die Höhlenbildung ans
einzelne Teile des Gebirges beschränkt ist.
Denn Höhlen sind an bestimmte Gesteine gebunden,
an solche Felsarten, auf welche das Wasser in zweierlei
Weise einwirken kann. Zunächst ist die mechanische Wir-
kung des Wassers erforderlich, welche bereits vorhandene
Klüfte und Richtungen geringsten Widerstandes erweitert,
und dann muß die chemisch wirkende, auflösende Kraft des
Wassers und der in demselben enthaltenen Bestandteile in
Thätigkeit treten können. Das Wasser nun kann diese
auslösende Thätigkeit in dem zur Höhlenbildung gerade
notwendigen Maßstabe nur entfalten in Kalksteinen, in
Gips und in dolomitischen Gebirgsmaffen.
Die ausgedehnteren unterirdischen Hohlräume werden
in Kalksteinen angetroffen und zwar in Maffenkalkcn, deren
kompakte Beschaffenheit es mit sich bringt, daß große natür-
liche Gewölbe sich bilden und erhalten können; der Gips
weist nur selten größere Höhlensysteme aus, denn einmal
haben die Gipslager gewöhnlich nur eine geringe Aus-
dehnung und dann ist diese Gebirgsart in zu reichlichem
Maße einer völligen Zerstörung durch fließende Gewässer
Gewölbe in einem der höchsten Niveaus der Hermannshöhle.
Ml yuvioqn^ 13q usihgtz :§ooi^ H •£ -a^
198
Dr. I. H. Kloos: Die Höhlen bei Rübeland im Harz.
ausgesetzt; es findet infolgedessen nicht eine teilweise Weg-
führung von Substanz, sondern eine völlige Abrasion der
Schichten statt.
Ist nämlich eine Felsart leicht in Wasser löslich, so
kann dieselbe sich überhaupt nur in seltenen Fällen und in
wasserarmen Gegenden an der Erdoberfläche halten. Ein
Beispiel dafür liefert uns das Steinsalz, welches wir daher
gewöhnlich nur in großer Tiefe, von mächtigen Thon- und
andern wasserundurchlässigen Schichten überlagert, an-
treffen. Wären letztere nicht vorhanden gewesen und hätte
das flüssige Element Zutritt zu dem Steinsalzlager ge-
funden, so würde dasselbe überhaupt schon längst gänzlich
verschwunden sein.
Viele und große Höhlen lassen sich daher nur dort
erwarten, wo mächtige Kalk- und Dolomitlager durch die
gebirgsbildenden Kräfte aus ihrer ursprünglichen Lagerung
gebracht und durch die seitliche Pressung beim Nachsinken
der Erdkruste ans den schwindenden Kern durch und durch
zerklüftet sind. An und in solchen Gesteinen nagt das
Wasser mittels der aufgelösten Kohlensäure, in mehr unter-
geordneter Weise auch durch gewisse saure Bestandteile
organischen Ursprungs. Das Alter der Gesteine thut hier-
bei nichts zur Sache und finden wir ausgedehnte und weit
verzweigte Höhlensysteme sowohl in den archäischen Kalken
der griechischen Inseln und in den paläozoischen Kalksteinen
Nordamerikas, Englands, Belgiens und Westfalens, als in
den weit jüngeren jurassischen Kalksteinen und Dolomiten
Schwabens, Frankens, ja sogar in den Alpenkalken noch
jugendlichen Alters, wofür das Gebiet des Karstes so groß-
artige Beispiele auszuweisen hat.
In kleinem Maßstabe sind die Bedingungen zur Höhlcn-
bildung sämtlich erfüllt da, wo im östlichen Harzgebirge
der viel gepriesene Gebirgsfluß, die sagenumwebte Bode,
das Elbingeroder Kalkplatean durchfurcht und 80 m tief in
dasselbe eingeschnitten hat. Nachdem der im südlichen Teile
des Brockenmassivs oberhalb Schierke entspringende Fluß die
Granitregion verlassen, tritt er in ein geologisch sehr vcr-
wickeltes Gebiet, die sogenannte Elbingeroder Devonmnlde,
den tektonisch interessantesten Teil des ganzen Gebirges !).
So lange der Weg durch das Schiefergebirge führt, konnte
das Wasser seinen Lauf nur oberirdisch fortsetzen. Bald
jedoch ist das zerklüftete Kalkmassiv erreicht und nun bildeten
sich auch verschiedentlich unterirdische Flußläufe, die sich später
wieder allesamt in der einen Thalrinne zusammenfanden.
Richtung und Verlauf der Flußthäler hängen aufs engste
zusammen mit dem geologischen Bau einer Gegend. Eine
längere Thalrinne kann jedoch aus geologisch ganz ungleich-
wertigen Teilen bestehen, und gelingt es nicht immer, der-
selben in ihren ersten Ursachen nachzuspüren, gewissermaßen
die Geschichte einer jeden Krümmung zu schreiben. In dem
kleinen Kalkgebirge, einem alten, völlig metamorphosirten
Korallenstock der devonischen Zeit, welches sich der Bode
entgegenstellte, als sie ans ihrem vielfach verschlungenen
Wege bis in die Gegend des jetzigen Rübeland gekommen
war, hat jedoch das Wasser selbst seine Geschichte in riesigen
Schriftzügen hinterlassen.
Es sind die Höhlen, welche uns hier die Schicksale des
Flusses erzählen.
Die berühmteste und am längsten bekannte Höhle bei
Rübeland ist die Banmannshöhle. Die ältesten Nachrichten
über dieselbe stammen aus der zweiten Hälfte des 16.
Jahrhunderts. Etwa ein Jahrhundert später wurde die
Bielshöhle entdeckt und im Jahre 1866 fand man eine
0 Es ist hier die Kalte Bode gemeint, welche sich bei
Königshof mit der von Braunlage komnicndcn Warmen Bode
vereinigt. Später nimmt der Fluß noch die Rappbode und
die Luppbode'auf.
dritte Höhle, welche zuerst den Namen Sechserdingshöhle
erhielt, gegenwärtig jedoch einen Teil der Hermannshöhle
ausmacht, deren Haupträume erst in der allerneuesten Zeit
gefunden und zugänglich gemacht worden sind. Fast gleich-
zeitig (im Jahre 1888) fand ein kühner Bergmann und
Höhlenführer, Namens Streitenberg, angeregt durch die
Entdeckungen in der Hermannshöhle, daß auch die Baumanns-
höhle eine weit größere Ausdehnung besitzt,, als bis jetzt an-
genommen war. Es ist zwar zu verschiedenen Zeiten viel
von der unergründlichen Länge und Tiefe dieses unterirdischen
Höhlenranmes gefabelt worden und hatte die Sage sich
dessen in ausgiebigster Weise bemächtigt, doch hatte man
vergeblich versucht, in die verschiedenen, sich verengenden
Gänge und Spalten einzudringen. Sie zeigten sich stets
von riesigen Blockhalden dermaßen verschüttet oder von
Kalksinter so sehr überkrustet, daß ein weiteres Vordringen
hoffnungslos erschien.
So lange jedoch nicht fester Fels einen Höhlengang ab-
schließt, ist die Möglichkeit vorhanden, daß das Höhlensystem
eine weitere Fortsetzung hat, und die engen Zugänge zu
größeren Räumen durch versinterte Blockhalden verschlossen
sind. Selbst da, wo in einem bestimmten Niveau an-
stehendes Gestein einen Abschluß zu bilden scheint, kann cs
vorkommen, daß nur ein mächtiger, vom Wasser verschont
gebliebener Pfeiler sich hindernd in den Weg stellt. Dies
war z. B. in der Hermannshöhle der Fall, wo die am
26. Dezember 1887 im Niveau der Haupthöhle erreichten
Räume 110 m vom Eingänge ihr Ende gegen Osten zu
finden schienen. Hier stand nian vor einer festen Wand,
ans mit Schieferschichten abwechselnden Bänken eines dunkeln
Kalksteins bestehend, die mit sehr steilem Einfallen gegen
Süden in die Tiefe setzten. Erst am 2. September 1888
gelang cs, auf Umwegen durch die tiefsten Regionen des
Höhlensystems die Fortsetzung zu finden, und nun zeigte es
sich, daß ein vom Süden vorgeschobener Pfeiler, 20 m
stark, die sich von West nach Ost erstreckenden Räume ge-
wissermaßen in zwei große Abteilungen teilt. Jetzt ist
durch das teilweise Wegräumen von Blöcken und Schutt-
massen aus einer engen Spalte die Verbindung allerdings
auch in den oberen Niveaus hergestellt worden.
Überhaupt erstreckt die Höhlenbildung sich ans die ganze
Ablagerung des Massenkalkcs am rechten Bodcnfcr. Die
Grenze nach Osten bildet eine Verwerfnngsspalte, welche
das Bodethal kreuzt und deren Lage durch die geognostischen
Aufnahmen der Preußischen Landesgeologen, speziell von
Prof. Lossen, genau festgestellt ist. Diese Hauptverwerfung
in der Elbingeroder Devonmulde ist zugleich eine llber-
schiebnngskluft und läßt sich über Tage an beiden Usern des
Flusses nachweisen. An ihr sind die Sandsteine und Thon-
schiefer des Unterdevons in die Höhe geschoben und lagern
jetzt scheinbar über dem oberdevonischen Kalkstein. Die
Kalkpartie ist etwa 1700 m lang (in ostwestlicher Er-
streckung) und bis 500 m breit. Außer der Biels- und
Hermannshöhle sind in derselben noch einige kleinere Hohl-
räumc und eine große Zahl von weiteren und engeren Spalten
bekannt. Obgleich die kolossalen Schuttmassen, welche die-
selben erfüllen, den unmittelbaren Nachweis ihres Zusammen-
hanges mit den größeren Höhlen bis jetzt nicht ermöglicht
haben, so kann cs kaum einenr Zweifel unterliegen, daß wir
es mit einem ununterbrochenen System von Gängen und
unterirdischen Flußläufen zu thun haben.
Obgleich am linken Ufer der Bode der Kalk in be-
deutend größerer Erstreckung nachgewiesen ist, so wurde hier
bis jetzt nur die Banmanns höhle aufgefunden, deren
Ausdehnung, wenn auch nach den neuesten Entdeckungen
recht beträchtlich, doch im Vergleich zum Kalkstein selbst
geringfügig erscheint. Die vor kurzem stattgefundenen sorg-
Dr. PH. Lenz: Indische Kinderheiraten.
199
faltigen Vermessungen haben ergeben, das; die unterirdischen
Kanäle der Banmannshöhle in ihrer Höhenlage überein-
stimmen mit den gleichgeformtcn Räumen in der gegenüber-
liegenden Hermannshöhle. Diese wie jene besteht aus einer
Reihe von schräg (in der Einfallsrichtung der Spalten)
übereinander liegenden alten Bodearmen, welche nachträglich
(durch Einsturz der stehen gebliebenen Kalkbänke) zu einem
einzigen ausgedehnten Höhlenraume verbunden worden sind.
Durchschreitet man denselben, sei cs nun an dieser oder an
jener Seite des Flusses, so wandert man zum Teil in den
noch übrig gebliebenen Resten der früheren Flußläuse, teils
aus und über gewaltige Mengen von Schutt und Gerölle,
aus großen Felsblöcken ruhend, die zwischen den Wänden
der Spalten eingeklemmt liegen. In beiden Höhlen setzen
die Räume einmal nach Norden, das andre Mal in süd-
licher Richtung in die Tiefe, ganz übereinstimmend mit den
zwei Zerklüftnngsrichtungen, welche die mächtigen, ins Thal
vorgeschobenen Pfeiler, die sich vom Plateau abzweigen,
überall ausweisen. Auch diese fallen bei übereinstimmender
Richtung in der Horizontale entgegengesetzt ein und die durch
eine gewaltige innerliche Zerquetschung des spröden Gesteins
hervorgerufene Zerspaltung läßt sich oft bis in die kleinsten
Bruchstücke des Masscnkalkcs verfolgen.
Die vormaligen unterirdischen Flnßläufe in Kalk- oder
Dolomitgebirgcn werden als Schwemmhöhlen bezeichnet; sie
silid kenntlich an den abgerundeten und wie abgeleckt aus-
sehenden Formen der Felswände. Die hohlkehlartige Be-
schaffenheit der Seiten, welche sich in dem nämlichen Niveau
in horizontaler Lage verfolgen läßt, sowie die flach gewölbte
Decke sind sichere Beweise für die ehemalige mechanische
Wirkung des Wassers. Diese Kennzeichen besitzen die Rübe-
länder Höhlen in mehreren Niveaus übereinander.
In den Fig. 1 und 2 sind dergleichen Räume dargestellt
worden. Die erste Abbildung ist der sogenannten unteren
Schwcmmhöhle in der Hermannshöhle entlehnt. Sie liegt
7 m über dem jetzigen Niveau des Flusses und ist von einem
fetten, schwarzgrauen Lehm ausgefüllt, in welchem Geschiebe
von Kieselschicser, Grauwacke, Thonschiefer, Hornfels, Dia-
bas, Granit und andern Felsarten, z. Th. dicht aufeinander
gepackt, eingebettet gefunden sind. Das stark abgerundete
Material stimmt vollständig überein mit dem Bodekies,
wie er sich noch gegenwärtig im Flußbette bei Rübeland
absetzt. Die subterrane, flnviatile Bildung ist 2 bis 2 Hz m
mächtig, reicht stellenweise bis an die Decke und füllt über-
haupt den größten Teil des bis über 10 m breiten, flachen
Gewölbes vollständig ans. Bevor die Aufräumungsarbeiten
und Grabungen in den Lehm eingeschnitten halten, war cs
daher nirgendwo möglich, in aufrechter Stellung den Höhlen-
gang zu durchwandern. Stellenweise sogar mußte man, aus
allen Pieren kriechend, oder sich aus dem Bauch fortschleppend,
seinen Weg über die Kalksinterdecke nehmen, welche den
Flußlehm überkrustet, wobei die zahllosen, von der Decke
herunterhängenden Tropfsteine in empfindlicher Weise den
Rücken berührten.
Die in der zweiten Figur dargestellte Schwemmhöhle
liegt etwa 21m über dem Bodebette an der Brücke bei
Rübeland und bildet das östliche Ende der Haupt- oder
Bärenhöhle. Hier wurden bis jetzt keine fremde Geschiebe
ansgefunden, was jedenfalls seinen Grund hat in der späteren
Auswaschung, welche den ehemaligen Flnßkies in ein tieferes
Niveau führte. In der Geschichte eines jeden einzelnen
unterirdischen Flußlaufes sind mehrere Perioden zu unter-
scheiden. Zuerst wurde der flach gewölbte Kanal aus-
gewaschen und darauf der so geschaffene Raum durch die
von außen eingeführten fremden Geschiebe, sowie durch
lehmige, beziehungsweise grandige und sandige Massen aus-
gefüllt. Wahrscheinlich fand diese Ausfüllung bei besonders
hohem Wasserstande, während der periodischen Anschwellungen
des Flusses statt. Inzwischen hatte sich letzterer weiter in
das Kalkgebirge eingegrabcn und in einem tieferen Niveau
die vorhandenen Spalten und Klüfte bearbeitet. Sobald
, dieser Prozeß weit genug vorgeschritten war, erfolgte der
! Einsturz der oberen Schwemmhöhlen und die gänzliche oder
teilweise Zerstörung der dieselben ausfüllenden Ablagerungen,
welche nun nicht wieder ersetzt werden konnten, da das
I Wasser sein früheres Niveau nicht mehr erreichte.
Indische Kinderheiraten.
Von Dr. Vh- Tenz.
Eine außerordentliche, tiefe Aufregung geht durch die >
gesamte Hinduwelt, bei der es sich um eine Angelegenheit i
handelt, die nach europäischen Begriffen sehr einfach und
natürlich zu lösen ist, in Indien aber bei ihrer Lösung reli-
giöse und soziale Fragen von großer Wichtigkeit berührt.
Es handelt sich dabei um das gesetzlich zulässige Heirats-
alter der Mädchen in Indien, um die sogenannte Age of
Consent Bill. In der Sitzung des gesetzgebenden Rates
von Indien zu Kalkutta am 9. Januar brachte namens
der Regierung Sir Andrew Scoble einen Gesetzentwurf ein,
nach dem §. 375 des Strafgesetzes dahin geändert werden
wöge, daß das Minimum des Heiratsalters der Mädchen
von 10 aus 12 Jahre erhöht werden sollte.
Daher die ungeheure Aufregung, welche Indien (die
Mohamedaner und Anhänger des Brahmo Somaj ausge-
nommen) ergriffen hat. Zahlreiche Versammlungen sind
schon abgehalten worden, der größte Teil der heimischen
Presse spricht sich aus das Entschiedenste gegen die Neuerung
ans, wiewohl neuerdings sich Fälle ereignet haben, daß
1 o jährige verheiratete Mädchen am Tage nach der Braut-
nacht starben. Es ist ähnlich wie im Jahre 1850, als die
britische Regierung nur gegen den Willen der Hindus das
Gesetz über die Wiederverhciratnng der Witwen durchsetzen
konnte. Freilich fehlt es auch nicht an aufgeklärten Hindus,
welche aus Seite der Regierung treten und für deren
Maßregel eintreten, wie denn kürzlich Dr. Tschander Sen
(von der Eampbell Medizinischen Schule in Kalkutta) eine
Schrift herausgegeben hat (Um Nubile Age of Females
in India, physiologically treated), in welcher er warm
für die Erhöhung des Heiratsalters eintritt.
Unter solchen Umständen wird man sich naturgemäß
fragen, was liegt hier zu Grunde, daß eine so gewaltige Ab-
neigung gegen ein Gesetz um sich greift, das nach allen Seiten
hin nur günstig zu wirken scheint und einen bösen Miß-
brauch abstellt? Würden allein europäische Anschauungen,
religiöse und soziale Verhältnisse dabei in Betracht kommen,
so hätte es auch nicht die geringsten Schwierigkeiten. Aber
wir sind in Indien, wo die Dinge ganz anders liegen und
eine Frage gelöst werden soll, die uns wiederum einmal die
Lehre giebt, daß bei der Behandlung der fremden
Völker durch Europäer die Völkerkunde in Be-
tracht zn ziehen ist, daß sie es ist, die uns zeigt,
wie Schablonen in dieser Behandlung nicht ange-
bracht sind. Der Staatsmann, welcher ohne Kenntnis
der Völkerkunde in solchen Fällen handelt, wird leicht Schiff-
bruch leiden.
200
Dr. PH. Lenz: Indi
Bei dem allgemeinen Interesse, welches die Sache erregt
und da wir beim Eingehen aus dieselbe gewisse religiöse
und gesellschaftliche Verhältnisse Indiens sehr genau kennen
lernen, halten wir es für zeitgemäß, auch im „Globus"
darauf einzugehen, wobei als Duellen drei bemerkenswerte
Abhandlungen dienen, die am Schlüsse des vergangenen
Jahres erschienen. Sie rühren von ausgezeichneten Kennern
Indiens her, von H. H. Risley (in Blackwoods Maga-
zine), von Rees (im Nineteenth Century) und von
Asburner (in der National Review).
Die öffentliche Aufmerksamkeit wendete sich gerade in
letzter Zeit diesem schlimmsten Mißstand im sozialen Leben
der Hindus zu, nachdem in Kalkutta eine noch"im Kindes-
nlter stehende Braut an den in der Brautnacht erlittenen
Verletzungen gestorben war. Bei dieser Gelegenheit fand
die Sache der Frauen in Indien mächtigere Fürsprecher, als
man sie von den Indiern bei ihrer Gleichgültigkeit gegen-
über dem traurigen Loose der Schwachen hätte erwarten
können. Die Gesellschaft für das Gesundheitswesen, eine
einflußreiche Vereinigung von Europäern in Kalkutta, welche
bis zu einem gewissen Grade die öffentliche Meinung in
Indien zum Ausdruck bringt, überreichte im verflossenen
Jahre der Regierung eine Denkschrift, worin sie die herr-
schenden Übelstände hervorhebt und eine Verbesserung des
Strafgesetzbuches in der Weise empfahl, wie dieselbe jetzt
von der Regierung beabsichtigt ist, nämlich die Erhöhung
des Heiratsalters der Mädchen von 10 auf 12 Jahre.
Bei keinem der vielen Probleme, welche im Orient noch
der Lösung harren, muß mehr vor Übereifer gewarnt wer-
den, als bei dem der Kinderheirat. Diese seltsame Sitte,
welche so ernste Gefahren für das physische und geistige
Wohlergehen der Frauen in sich birgt und die Zukunft der
ganzen Rasse in Frage stellt, ist gegenwärtig verknüpft mit
einer der ältesten Religionen und einem höchst sorgfältig
ausgearbeiteten System sozialer Einrichtungen.
Üm uns nun klar zu werden, was hier zu thun ist und
wieweit die bessernde Hand angelegt werden kann, bedürfen
folgende Fragen einer näheren Beleuchtung:
1. Was bedeutet eigentlich die Kinderheirat?
2. Inwieweit ist sie unlösbar mit der Hindureligion
verknüpft?
3. In welchen Punkten bedarf sic am meisten der
Reform?
Zunächst hat man sich zu vergegenwärtigen, daß in ver-
schiedenen Teilen Indiens zwei sehr verschiedene Arten
von Kinderheiraten vorkommen, deren eine wenigstens
vom physiologischen Standpunkte einwandfrei ist, während
die andre in jeder Hinsicht verurteilt werden muß. Jene
erstere herrscht im Pandjab vor und wird von Dcnzil
Jbbetson, einer Autorität auf dem Gebiete des indischen
Sittenlebens, in folgender Weise geschildert:
„Überall, wo Kinderheirat Sitte ist, kommen Braut
und Bräutigam erst dann zusammen, wenn eine zweite
Zeremonie, muklawa genannt, vorgenommen worden ist.
Bis dahin lebt die Braut als Jungfrau im väterlichen
Hause. Diese zweite Zeremonie ist von der wirklichen Hoch-
zeit durch einen Zeitraum von 3, 5, 7, 9 oder 11 Jahren
getrennt, und die Eltern des Mädchens bestimmen den Zeit-
punkt für dieselbe. So kounut cs oft vor, daß das eheliche
Zusammenleben um so später beginnt, je früher die Ver-
heiratung stattfindet. In den östlichen Distrikten z. B. hei-
raten die Jats gewöhnlich im Alter von 5 bis 7 Jahren,
und die Rajputen mit 15 oder 16 oder noch später;
während aber bei diesen das junge Paar sofort mit der
geschlechtlichen Beiwohnnng beginnt, finden bei den Jats die
Eltern das heranwachsende Mädchen oft so nützlich in der
sche Kinderheiraten.
Haushaltung, daß ein Druck aus sie ausgeübt werden muß,
um sie zur Auslieferung desselben an ihren Gatten zu be-
wegen. Und so nimmt hier das eheliche Zusammenleben
meist später seinen Anfang als bei den Rajputen.
Wohl niemand, der ein Pandjab-Regiment hat vorbei-
marschieren sehen oder die drallen Jatweiber beobachtet hat,
wie sie die schweren Wasserkrüge am Dorfbrunnen empor-
heben, kann darüber im Zweifel sein, welch' guten Einfluß
ihr Heiratssystem auf die körperliche Konstitution der Rasse
ausübt. Bei den Rajputen zeigen beide Geschlechter einen
leichtern Bau als bei den Jats, aber auch hier findet man
keine Anzeichen von Entartung. Der Typus ist ein andrer,
aber das ist alles."
Wenn wir das große Rekruticrungsgebiet der Indischen
Armee verlassen und in südöstlicher Richtung die Ebene des
Ganges hinabwandern, so scheint der gesunde Sinn, welcher
die kriegerischen Stämme ihre Töchter zu Hause behalten
läßt, bis sie der Bürde der Mutterschaft gewachsen sind,
dem Dämon eines verderbten Zeremouienwesens gewichen
zu sein, der stets bereit ist, hilflose Frauen und Kinder der
Tradition einer grillenhaften Orthodoxie zu opfern. Bereits
in den nordwestlichen Provinzen darf bei ¿am drei höchsten
Kasten — der Bramanen-, Ehattri- und Kayasth-Kaste —
die Braut unmittelbar nach der Hochzeit dem Gatten ins
Haus gesandt werden, sei sie nun apta viro oder nicht;
freilich zieht man es gewöhnlich vor, bis zur Vornahme
einer zweiten Zeremonie, gauna genannt, zu warten, welche
1, 3, 5 oder 7 Jahre nach der ersten stattfinden kann und
für welche der passende Zeitpunkt nach der körperlichen Ent-
wickelung der Braut gewühlt wird.
Was in den nordwestlichen Provinzen die Ausnahme ist,
wird in Bengalen leider mehr und mehr zur Regel. Hier
hat der Einfluß der Frauentraditiou (stri-achar) die reli-
giösen Heiratsgebräuche der Hindus mit einem Wust von
sinnlosem Hokuspokus (der sich meist in den Frauen-
gcmächern abwickelt) überladen und es dahin gebracht, daß
die Mädchen der besseren Klassen das eheliche
Leben mit neun Jahren beginnen und so früh
Mutter werden, als dies überhaupt physisch für sic möglich
ist. Seit wielange dieser Brauch besteht, kann niemand
mit Sicherheit angeben. Vor fast 90 Jahren schrieb
Buchanan in seinem wohlbekannten Bericht über Bengalen
das folgende über einen der Distrikte von Behar, dem Grenz-
lande zwischen Bengalen und den nordwestlichen Provinzen:
„Bei einigen Stämmen in Shahabad werden, wie in
Bengalen, die Ehen vor Eintritt der Pubertät geschlossen.
Die Sitte hat sich jedoch nicht weit verbreitet und die Leute
sind gewöhnlich stark und groß. Die Pamar Rajputen,
welche die Sitte der vorzeitigen Eheschließung angenommen
haben, sind ein schlagender Beweis für die üblen Wirkungen
derselben; denn ich bemerkte unter ihnen nicht einen ein-
zigen gut aussehenden Mann, ausgenommen den Raja Jay
Prakas, und den meisten scheint es an der körperlichen und
geistigen Frische zu fehlen. Diese Sitte und die große Zahl
der Witwen, die durch ihren Rang verurteilt sind, ledig zu
bleiben, üben ohne Zweifel einen unheilvollen Einfluß aus
die Bevölkerung aus."
An einer andern Stelle sagt Dr. Buchanan, daß hin-
sichtlich der Heiratsgebrttuche Patna fast aus einem Fuße
steht mit Bhagalpur; „aber hier (in Behar) ist die Sitte
der vorzeitigen Heiraten nicht so vorherrschend; die üblen
Folgen sind auch bei weitem nicht so in die Augen fallend
wie in Bengalen. Denn während dort das Mädchen ge-
wöhnlich im Alter von 10 Jahren verheiratet wird, bleibt
es im Behar-Distrikte bis zum Eintritt der Reife im väter-
lichen Hause. Natürlich sind dann auch seine Kinder kräf-
tiger und es verfällt weniger der Unfruchtbarkeit".
Dr. PH. Lenz: Indische Kinderheiraten
201
So standen also die Dinge zu Anfang des Jahrhunderts
nach dem Zeugnis eines zuständigen Beobachters. Uber die
Verhältnisse von heute schreibt ein hochgebildeter Hindu,
einer der fähigsten und thatkräftigsten unter den eingeborenen
Beamten in Bengalen, das folgende an Rislcy:
„Es ist allgemein Sitte, daß Mann und Frau, ohne
dazu nach den heiligen Schriften der Hindus berechtigt zu
sein, sofort nach ihrer Verheiratung mit der geschlechtlichen
Beiwohnung beginnen. Die Eltern leisten dem Gebrauch
unbewußt Vorschub, ja sie machen ihn zu einer ^Notwendig-
keit . . . Am zweiten Tag nach der Hochzeit ist die Blumen-
bettzeremonie; Mann und Frau, ein Knabe und ein Mädchen
oder heutzutage gewöhnlich ein junger Mann und ein Mäd-
chen, müssen in dem Hochzeitsbett zusammenliegen. Inner-
halb acht Tagen nach ihrer Verheiratung muß die junge
Frau in ihr väterliches Hans lind dann wieder zu ihrem
Schwiegervater zurückkehren, oder sie darf die Thürschwelle
ihres Gatten ein Jahr lang nicht überschreiten. In den
ineisten Familien hält man den achttägigen Termin ans
Bequemlichkeit ein. Es würde nur wenig kosten und von
unberechenbarem Vorteil sein, wenn man jene Zwischenzeit
von einem Jahre für alle Familien zum Gesetz erhöbe oder
dieselbe, was noch besser wäre, auf zwei Jahre erhöhte und
jenen achttägigen Termin ganz ausmerzte. Die üblen Folgen
der verderblichen Sitte, welche der unnatürlichen Befriedigung
des Geschlechtstriebes geradezu Vorschub leistet, bedürfen
keiner weiteren Auseinandersetzung. Sie befördert unter
andern eine vorzeitige Pubertät und bildet so die Hanpt-
wnrzel all des Unheils, das frühes Heiraten im Gefolge
hat. Letzteres aber könnte vermieden werden, ohne der
Religion Eintrag zu thun."
Das ist die Meinung eines orthodoxen Hindus aus
hoher Kaste, der trotz seiner englischen Erziehung seine
Nationalität nicht verleugnet, und sie beleuchtet scharf die
soziale und physische Seite der Kinderheiraten in Bengalen.
Wenden wir uns nun zu ihrer religiösen Seite.
Die heiligen Texte, welche sich mit der Heiratssrage be-
fassen, reden eine zu deutliche Sprache, als daß man sie
hier anführen könnte. Was sic darüber sagen, faßt Dr.
Julius Jolly in einer Anmerkung zu seiner Übersetzung des
Nrirada, in den Heiligen Büchern des Ostens, folgender-
maßen zusammen:
„Aus dieser Regel (daß nämlich ein Vater seine Tochter
verheiraten muß, sobald sie reif scheint) darf man nicht den
Schluß ziehen , daß Narada im Gegensatz zu vielen andern
Smriti Autoren die Kinderheirat verwirft. So sagt Daksha:
Man verheirate ein Mädchen im Alter von acht Jahren;
so wird das Recht nicht verletzt werden. Angiras schreibt
vor, daß ein Mädchen jedenfalls im 10. Lebensjahre ver-
heiratet werden soll. Rüjaumrtanda, Pama und Parasara
erklären, daß es eine schwere Sünde sei, wenn es nach ihren:
l 2. Lebensjahre noch im väterlichen Hanse verbleibe. Vasishtha,
Gantama, Bishnu und Manu verordnen, daß ein Mädchen
heiraten soll, bevor sie das Alter der Reife erreicht hat."
.. Wenn das Zeugnis dieser Texte nicht durch die tägliche
Übung bei den Hindus gestützt würde, könnte man geneigt
sein, mit ihnen nach Voltaires Manier zn verfahren und
sie einfach als eine Erfindung der Priester zu brandmarken.
Heutzutage jedoch sind wir gewöhnt, wenn wir in alten
Werken seltsame Dinge lesen, den Urmenschen, wie er durch
die noch jetzt lebenden zurückgebliebeneren Menschenrassen
repräsentiert wird, zur Erklärung derselben heranzuziehen.
Und der Urmensch weis nichts von Kinderheirat.
Wenn also diese durchaus kein normales Produkt sozialer
Entwickelung darstellt und in der That nur in Indien
zn finden ist, welchen Ursachen müssen wir dann ihre
Entstehung zuschreiben'?
Globus LIX. Nr. 13.
Die landläufige Erklärung der Bramanen ist offenbar
unzulänglich. Sie bezeichnet die Heirat als eine Art von
Sakrament, dessen jede Jungfrau teilhaftig werden soll, da-
mit sie ihre eigene Person von dem Makel der Sünde reinige,
die Erlösung ihres Vaters und ihrer Vorfahren vollende
und einem Sohne das Leben gebe, der den häuslichen Kult
in der Familie ihres Gatten weiterführe. Je früher sie
diesen ihren Pflichten genüge, desto besser sei es. Das
ganze ist augenscheinlich eine jener nachträglichen Erklärun-
gen von einmal vorhandenen, aber nicht verstandenen Ge-
bräuchen, von denen die priesterlichc und Gcsetzcslitteratnr
aller Zeiten und Länder wimmelt.
Nachdem wir noch vorausgeschickt, daß diese Frage keine
rein antiquarische Spekulation, sondern von unmittelbarer
und praktischer Bedeutung für die Möglichkeit und Form
eines gesetzlichen Eingriffes ist, wollen wir versuchen, ge-
wisse Faktoren festzustellen, welche in längst entschwundener
Zeit eine wirksame, wenn auch dunkle Rolle bei der Ein-
führung der Kinderheirat gespielt zn haben scheinen und
welche in der Gegenwart die Grenzen bezeichnen, innerhalb
deren eine Reform versucht werden kann.
Jedermann weis, daß die Gesellschaft bei den Hindus
seit urdenklichcn Zeiten in eine unbegrenzte Zahl abgeson-
derter Kasten geteilt ist, deren Mitgliedern es verboten ist,
wechselseitige Heiraten zu schließen. Dieses Verbot ist
d a s C h a r a k t e r i st i s ch e a n d e m g a nz e n S y st e m. Weniger
allgemein bekannt ist es, wenigstens in Europa, daß alle
größeren Kasten in eine Reihe von Nebenkasten zerfallen,
deren jede wie die Stammkaste endogam ist.
Der Deutlichkeit halber wollen wir ein Beispiel nehmen,
bei dem die uns fremdartig klingenden indischen Namen
durch deutsche ersetzt sind. Denken wir uns, die große
Sippe der Müller sei eine nach indischem Vorbild orga-
nisierte Kaste, so würden zwei Einteilungsprinzipien uns in
die Augen fallen. Zunächst würde die ganze Kaste der
Müller in eine unbegrenzte Zahl endogamer Sippen ge-
spalten sein und zwar auf Grund von allerlei alltäglichen
Unterschieden. Da gäbe es brauende Müller und backende,
jagende und schießende, milchverkanfende und mit Wein
handelnde, Müller mit Doppelnamen, Müller mit Doppel-
namen ohne Bindestrich, konservative und liberale Müller,
Kesselflicker und Schneider, Müller aus Westprcnßen und
aus Baden — diefe und alle andern Variationen der Sippe
der Müller wären gewissermaßen kristallisiert durch ein
unerbittlich strenges Gesetz, welches ihnen verbietet, über den
durch den Stammesnamen bezeichneten Kreis hinaus zn
heiraten. So könnte ein nltramontancr Müller nur ein
nltramontanes Fräulein Müller heiraten, er dürfte nicht an
eine liberale Dame denken; ein v. Müller könnte nur eine
v. Müller heiraten u. s. w. Zweitens, und dies möchten
wir hier besonders betonen, würde nach einem andern Ein-
teilungsgrundsatz jede dieser Einzelsippen in drei oder vier-
kleinere Gruppen gespalten sein, welche eine Art von auf-
steigender Stufenleiter der gesellschaftlichen Stellung bilden.
So würde die Sippe der v. Müller, die wir als die Elite
der ganzen Kaste betrachten wollen, wieder in orthodoxe,
liberale und freidenkerische v. Brüller eingeteilt sein, wobei die
ersteren die höchste, letztere die geringste gesellschaftliche
Stellung einnehmen sollen. Nun würde für diese drei
Gruppen die Regel gelten, daß ein Angehöriger der höchsten
oder orthodoxen Gruppe ein Mädchen seiner eigenen oder
der beiden niedrigeren Gruppen heiraten könnte, ein Liberaler
eine Liberale oder Freidenkerin, während ein Freidenker auf
seine eigene Gruppe beschränkt wäre. Ein Mädchen jedoch
könnte unter keinen Umständen in eine tieferstehende Gruppe
hineinheiraten, vielmehr wäre es höchst wünschenswert, daß
sie sich mit einem Manne aus einer höheren Gruppe ver-
26
202
Dr. PH. Lenz: Indische Kinderheiraten.
heiratete. Es ist klar, daß, bei sonst gleichen Verhält-
nissen, zwei Drittel der orthodoxen Mädchen keine Männer,
und zwei Drittel der Freidenker keine Frauen bekommen
wurden. Es giebt verschiedene Arten, dieses künstlich er-
zeugte Mißverhältnis auf künstlichem Wege wieder auszu-
gleichen. Ein früher gutgeheißener Ausweg für die Eltern
bestand in der Tötung aller derjenigen Säuglinge weib-
lichen Geschlechts, für die sie keine Gatten finden zu können
glaubten. Dieser grausame Brauch bestand bei den Nadsch-
pnten des nördlichen Indiens, bis die Engländer ein Gesetz
erließen, welches für jedes Dorf unangenehme Folgen hatte,
das nicht die gehörige Zahl Mädchen aufweisen konnte.
Ein andrer Ausweg ist Polygamie im großen, wie
sie von den Kutin Bramanen Bengalens vor einem Menschcn-
altcr geübt wurde und in kleinerem Maßstabe noch jetzt
herrscht. Ein Kulin von mittlerem Alter soll mehrere
Hundert Frauen gehabt und sein Leben mit Besuchen bei
seinen Schwiegermüttern zugebracht haben.
Aber was man anch ersinnen mag, um das Gleichgewicht
herzustellen, die Lage der Dinge ist, wie man leicht einsehen
wird, eine äußerst schwierige. Aus der einen Seite finden
wir die streng bindende religiöse Pflicht, eine Tochter vor
Eintritt der Reife zu verheiraten, eine Pflicht, deren Außer-
achtlassung ihre Vorfahren ans drei Generationen dazu ver-
dammt, unermeßliche Zeiträume in der Hölle zuzubringen:
auf der andern Seite bedingen die beständige Zersplitterung
der Sippen und Nebensippen und die seltsam verwickelten
Heiratsvorfchriften ein erschreckliches Jagen nach Ehemännern
und erhöhen die Schwierigkeit, die religiösen Gebote zu er-
füllen. Der Brautpreis, dem wir in der Kulturgeschichte
sonst so häufig begegnen, verschwindet in den höheren Gruppen
und es tritt an dessen Stelle ein „Bräutigamspreis",
der sich mehr und mehr erhöht, da die Bildung neuer
Sippen und Nebensippen die Zahl der verfügbaren Ehe-
männer beständig verringert.
„Wenn unter solchen Umständen", so sagt ein erfahrener
Hindu, „die Eltern sehen, daß der eine oder die zwei jungen
Männer, die ihnen als Gatten für ihre Tochter zur Wahl
stehen, anderweitig vergeben werden könnten, falls sie die-
selbe nicht sofort verheiraten, und daß es ihnen zur Un-
möglichkeit würde, das Mädchen vor ihrem 11. Jahre an
den Mann zu bringen, so würden sie die günstige Gelegen-
heit ergreifen ohne Rücksicht auf die üblen Folgen einer
Kinderheirat."
Daß dieser Beweggrund gegenwärtig einen tiefgreifenden
Einfluß ausübt, davon kann sich jeder selbst überzeugen.
Die geschichtliche Entwickelung der Dinge scheint die gewesen
zu sein, daß ein stark entwickeltes Standesbewußtsein und
übertriebene Begriffe von zeremonieller Reinheit den inneren
Bau der höheren Kasten in der Weise differenzierten, daß
das Gleichgewicht im Verhältnis der beiden Geschlechter ge-
stört, die Nachfrage nach Ehemännern erhöht und das Alter,
in welchem die Mädchen heiraten, künstlich herabgemindert
wurde. Nachdem nun einmal die Kinderheiraten durch diese
besonderen gesellschaftlichen Verhältnisse ins Leben gerufen
waren, wurde dem vorhandenen Brauche von den Brah-
manen die religiöse Weihe gegeben und in ihren Schriften
die geistliche Erklärung für denselben niedergelegt. Aber die
Sitte ist älter als ihre religiöse Billigung und die heiligen
Schriften und sie entstand wahrscheinlich aus obigen Ursachen.
Die praktische Folge von all denn ist, daß die indische
Gesellschaft in ein unentwirrbares Netzwerk von Gebräuchen,
Überlieferungen, Verträgen, gegenseitigen Unternehmungen,
Familienbündnissen und dergl. verwickelt ist, die alle das
eine große Ziel verfolgen, den Leuten die Verheiratung ihrer
Töchter in Übereinstimmung mit jenen gesellschaftlichen und
zeremoniellen Unterscheidungen zu ermöglichen. Jede bessere
Hindnfamilie ist von einem ganzen Heer von Verbindlich-
keiten dieser Art eingezwängt, in die sich die Regierung
ebensowenig einmischen kann, als sie es vermag, den Aus-
bruch des Regens zu regeln. Auch wäre nicht der geringste
Grund zu einem so aussichtslosen Eingriff vorhanden.
Denn während die heiligen Bücher der Hindus das
größte Gewicht auf das Alter legen, in welchem die zere-
monielle Verheiratung eines Mädchens zu vollziehen
ist, verwahren sie sich vorsichtig gegen die Annahme, daß
dies auch der geeignete Zeitpunkt für den Beginn des ehe-
lichen Zusammenlebens sei. Nachdem das junge
Ehepaar sich auf den sieben Stufen zum heiligen Feuer,
dem Mittelpunkt des Familienkultus, unlöslich verbunden,
soll es getrennt leben, bis die Braut die körperliche Reife er-
langt hat. Letzteres Ereignis wird durch eine besondere
Zeremonie gefeiert und schreckliche Strafen, physische und
moralische, werden denen angedroht, welche gegen dieses
heilige Gebot verstoßen.
So wird uns die Frage, in welchen Punkten das Heirats-
system der Hindus reformbedürftig sei, der Hauptsache nach
von ihren heiligen Schriften selbst beantwortet. Sie weisen
auf die Natur der Reform hin und ziehen die Grenzen, auf
welche sie sich zu beschränken hat. Wir können offenbar
nicht verlangen, daß die Heiratszeremonie verschoben
werde, bis die Braut das Alter der Reife erlangt hat, oder
wie die theistischen Sektierer der Brahmo-Somajen forderten,
bis sie 14 Jahre alt ist. Das hieße nicht nur die aus-
drücklichen Vorschriften der heiligen Bücher außer Acht
lassen, sondern würde das Gesetz direkt in Streit bringen
mit dem obenerwähnten Netzwerk von Familicnverbindlich-
keiten und eine Verrückung der sozialen und Familienver-
hältnisse im Gefolge haben, vor der selbst der kühnste Gesetz-
geber zurückschrecken müßte.
Fassen wir das bisher Gesagte zusammen, so ergeben
sich folgende Sätze:
1. Nach Wortlaut und Geist der heiligen Bücher der
Hindus sollte ein Mädchen vor Eintritt der geschlechtlichen
Reife sich der Heiratszeremonie unterziehen.
2. Nach Wortlaut und Geist der heiligen Schriften der
Hindus sollte ein Mädchen nicht in das eheliche Leben ein-
treten, bevor sie die Reife erlangt hat.
3. Der Gebrauch des Pandjab stimmt niit den Geboten
der heiligen Bücher überein; das eheliche Leben beginnt nach
Eintritt der Geschlechtsreife und das körperliche Befinden
der Lente ist ausgezeichnet.
4. Die Sitte der höheren Kasten Bengalens läuft der
Lehre jener Schriften zuwider; das geschlechtliche Zusammen-
leben beginnt vor der Reife, und die Leute stehen in ihrer
körperlichen Entwickelung nicht nur hinter den Bewohnern
Nordindiens, sondern auch hinter derjenigen der Bengalis
niederen Ranges zurück, welche ihre Mädchen daheim be-
halten, bis sie erwachsen sind.
England hat also, sagt Risley, eine Art von sozialer
Wiedergeburt herbeizuführen, indem es die bengalische Sitte
in Übereinstimmung bringt mit der nordindischen und mit
den Geboten der heiligen Bücher. Wie dieses geschehen soll,
haben wir am Eingänge dieser Abhandlung gezeigt. Die
Folgen aber, die sich durch das Eingreifen der Engländer-
ergeben, lassen sich durchaus noch nicht übersehen.
E. G. Ravenstein: Areal und Bevölkerung Afrikas.
203
Areal und Bevölkerung Afrikas.
Nach (£. G. Ravenstein.
Seit dir vortrefflichen Übersichten nicht mehr erscheinen, worden, die aber sehr häufig (auch ohne Quellenangabe) auf
welche Bchm und Wagner unter dem Titel „Die Bevöl- Behm- Wagner zurückführten. Jetzt hat der unermüdliche
kcrnng der Erde" Herausgaben, ein Werk, das ungemein I E. G. Ravenstein neue Schätzungen und Berechnungen
vielfach benutzt wurde, behilft man sich oft mit älteren mitgeteilt, die dem Werke von Arthur Silva White,
Areal- und Bevölkerungsangaben, wo außereuropäische, Tire Development os Africa (London and Liverpool,
namentlich halb und unzivilisierte Länder in Betracht I George Philip and Sohn 1890) einverleibt find. Wir
kommen. Für Afrika sind allerdings gelegentlich der > teilen daraus die nachfolgenden Tabellen mit (unter Um-
Politischen Teilung des Schwarzen Erdteils in der letzten rechnung der englischen Square-Miles in Quadrat-Kilo-
Zeit manche mehr oder minder gute Schätzungen versucht | meter).
Areal in Quadrat-Kilometern Bevölkerung Einwohner auf 1 qkm
Marokko und Tuat 813 300 6 076 000 7
Algerien 667 150 3 870 000 6
Tunesien 116 000 1 500 000 13
Tripolis 1 035 960 1 010 000 1
Sahara 6 179 500 1 400 000 0,2
Eigentl. Ägypten 1 129 200 6 970 000 6
Alte ägyptische Tributärstaaten 1 774 000 7 162 000 4
Abessinien 331 500 3 000 000 9
Galla und Somalländer 1 896 100 3 190 00 ) 2
Zentral-Sudan 1 715 000 31 880 000 18
West-Sudan und Ober-Guinea Äquatorial- und Südafrika 1 994 220 14 266 000 7
11 547 690 41 818 170 4
Inseln 621 270 4 896 200 8
Summa.... 29 820 800 127 038 370 4
Nimmt man die politische Verteilung zur Grund- werden können, so stellt sich die Verteilung von Areal und
läge, wobei freilich vieles fraglich ist und wegen der Grenz- Bevölkerung wie auf der folgenden Tabelle dar, wobei wir
streitigkeiten, bei denen Engländer, Franzosen, Spanier und die Zahlen für die europäischen Besitzungen abgerundet
Portugiesen beteiligt sind, keine sicheren Zahlen erlangt haben. Es sind
Areal in Quadrat-Kilometern Bevölkerung Einwohner auf 1 qkm
kl n ter t ü r k i s ch e r H e r r s ch a s t
Ägypten 1 129 200 6 970 000 6
Tripolis 1 035 960 1 010 000 1
In europäischem Besitze 2 165 160 7 980 000 4
Britisch 6 000 000 39 289 500 6
Französisch 7 200 000 21 947 600 3
Deutsch 2 100 000 5 105 000 2
Italienisch Portugiesisch 810 000 5 369 000 7
2 580 000 5 513 900 2
Spanisch 640 000 444 000 0,7
Belgisch 2 100 000 15 000 000 7
21 430 000 92 669 000 4
Unabhängige Staaten . . . 5 490 000 24 595 370 5
Liberia 90 000 1 050 090 11
Poerenstaaten 437 600 744 000 2
Die großen Seen 208 040 — —
Summa.... | 29 820 800 | 127 038 370 1 *
26*
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Tie Schwarzwaldgletschcr und die Lößbildung der oberrheinischen Tiefebene.
Die Schwarzwcüdgletscher und die Lößbildung der
oberrheinischen Tiefebene.
Unter dem Titel: Das Pleistocän und Pliocän in
der Umgebung von Freiburg i. Br. hat G. Stein-
mann unlängst in den Mitteilungen der Gr. Bad. gcolog.
Landesanstalt eine überaus fesselnd geschriebene Abhandlung
veröffentlicht, in welcher auf Grund eingehender Unter-
suchungen an oberrheinischen Diluvialbildungen deren Ent-
stehungsgeschichte für sich und im Hinblick auf die allgemeinen
Vorgänge während der Dilnvialzeit in Mitteleuropa zur Er-
örterung gelangt. Insbesondere liefert die Arbeit wichtige
Beiträge zur Lößfrage *).
Im südlichen Gebiete der oberrheinischen Tiefebene er-
langen rote Bohnerzthone eine große Verbreitung; nach ihrem
paläontologischcn Charakter erweisen sich dieselben als jüngste
Tertiärbildungen, welche ans Grund ihrer Lagerungs-
Verhältnisse, nämlich des Übergreifens über sämtliche, in
das Rheiuthal abgesunkene, ältere Flötzgcsteinsschollcn, an-
zeigen, daß bei ihrer Bildung die großen Dislokationen des
Rheinthales sich bereits vollzogen hatten. Darüber folgen
die als pleistocän zusammengefaßten jüngeren und jüngsten
posttertiären Ablagerungen. Dieselben bestehen aus Mo-
ränen b ildungen, Schwarzwaldschottern, Rhein-
kiesen, Löß und Lehm.
Nach ihrer Höhenlage gliedern sich die Moränenbildungen
in zwei Gruppen: die Moränen der höheren Teile des
Schwarzwaldes, besonders in der näheren und weiteren
Umgebung des Feldbergcs, in einer Höhe von etwa 850 bis
1200 in gelegen, in den Thälern bis höchstens 700 in her-
abgehend , sind vorwiegend als Gruudmoränen ausgebildet
und sehr wahrscheinlich jünger als eine zweite Gruppe, die
Moränen der tieferen Lagen, am Fuße des Gebirges
(z. B. in der Staufencr Bucht) oder in den tieferen Teilen
der Schwarzwaldthäler (im Wehrathale), welche auch ein schon
bei weitem weniger frisches Gepräge ausweisen als die ersteren
und von Lößlehm vielfach überlagert werden. Diese Gliede-
rung der Morttncnbildungen hat ihre Parallele in den Alpen-
vorlanden, wo die tiefer gelegenen Moränen von ganz ähn-
lichem Habitus sich als Produkte der ersten großen Vereisung
in der Diluvialzeit herausgestellt haben, die Moränen höherer
Lage dagegen einer jüngeren, bei weitem weniger aus-
gedehnten Gletscherbildnng angehören.
Für die Erklärung der nachweislich bis 100 m mächtigen
Geröllaufhäufnngen in der Rheinebene ist cs bedeutungsvoll,
daß sich unveränderte Moränenbilduugen bis fast in die
Rheincbcne verfolgen lassen; sie zeigen uns den Weg, auf
welchem die Auffüllung derselben erfolgte, nämlich teilweise
durch Einführung des Materials in Form ursprünglicher
Moränen, teils durch Überschotternng mit dislozierten, durch
Schmelzwasser besonders ans den mittleren Teilen der Thäler
herabgeführten Moränenmaterials. Und so stehen auch die
alten Flnßschotter der Gegend in einem mehr oder weniger
engen Zusammenhange mit diesen alten Glacialablagerungen,
1) die Schwarzwald sch otter, welche oft im Liegenden
geradezu in diese übergehen und mit ihnen gemeinschaftlich
von Lehm und Löß überlagert werden, und 2) die dilu-
vialen Rheinkiese, welche ein gleiches Alter besitzen und
aus ihrer Verbreitung bei Freiburg erkennen lassen, daß der
i) Vergl. darüber den laufenden Band des „Globus“,
S. 24. Bei dieser Gelegenheit bitten wir, in der Unterschrift
des Profils S. 28 zweimal den Druckfehler „fluvial“ in „cluuial“
zu verbessern.
Rhein einst den Kaiserstuhl umflossen hat. Die dem Alter
hiernach folgendenDilnvialglicder, die Lößbildungen finden
wir, von den sekundären, weit verbreiteten Verlchmungen ab-
gesehen, in einer dreifachen Facies entwickelt: 1) als Berg-
löß (Deckenlöß, Plateaulöß); Löß im engeren Sinne; dieser
besitzt alle Merkmale des typischen Löß, führt nur die drei
bekannten Lößschnecken und geht in höherer Gebirgslage in
Lößlehm (Deckenlehm, Berglehm) über; 2) als Gehängelöß
(nicht zu verwechseln mit den in großen Lößgebieten sehr ver-
breiteten, relativ jung verschwemmten, an flachen Gehängen
gehäuften Lößmassen, d. Ref.), welcher häufig streifenförmige
Einschaltungen älterer, oberhalb seines Auftretens anstehender
Gesteine führt, sich oft in seiner ganzen Masse in hoch ver-
lehmtem Zustande befindet, häufig eine dem Gehänge folgende
Schichtung und ziemlich reiche Schneckenfauna aufweist
(Pupa columella, Helix pulchella, Helix arbustorum).
Der Gehängelöß geht einerseits in Berglöß, andrerseits
in Thallöß über. Der letztere zeigt eine fast immer recht
deutliche, durch Lehm- und Sandstreifen, Gerölle- oder
Schneckenlagen hervorgerufene Schichtung. Er steigt im all-
gemeinen nicht über 30 bis 40 m über das Niveau der
heutigen Niederungen. Die Schneckenfauna des Berglöß
und Gehängelöß trifft man im Thallöß vereinigt, sie ist
darum sehr reichhaltig, doch fehlen Süßwasscrschnecken voll-
kommen, die weiter thalabwärts, z. B. in der Sandlößstufe
des Elsaß so häufig sind. Reste von Wirbeltieren beschränken
sich hauptsächlich auf den Gehänge- und Thallöß.
Die Bildung des Rheinlöß fällt in die Zeit zwischen
erster und zweiter Vereisung. Derselbe stammt nicht aus
den oberrheinischen Gebirgen oder deren Moränen; er wird
auch nicht vom Rhein herzugetragen, sondern muß einer
Gegend entnommen sein, wo über weite ausgedehnte Strecken
durch Wind leicht aufbereitbare Materialien von sehr gleich-
artiger Zusammensetzung verbreitet sind. Sein Vorkommen
in Europa liegt im Süden der hauptsächlichsten Gletscher-
gebiete, er überschreitet die Alpen und dehnt sich über das
östliche Europa aus, ohne seine Zusammensetzung und sein
Auftreten zu ändern. Wo das Material fortgeweht wird,
bleiben die Spuren der Ausblasung zurück — Sand schliffe
an den größeren Geröllen, im Süden davon Sandanhänfungen,
die seitlich in Löß übergehen. Wir wissen jetzt, daß sich die
Ausblasung nicht auf die nordenropäischen Grnndmoränen
beschränkt hat, sondern daß auch im unteren Teile der ober-
rheinischen Tiefebene Flugsande vorhanden sind, welche gegen
Süden in Löß übergehen. Im Rheinthale ist diese Erschei-
nung nur eine örtlich beschränkte, im norddeutschen Tieflande
hingegen weit verbreitet. Ilm die Mannigfaltigkeit der Löß-
gebilde, welche sich in den Rheingegenden ablagerten, ver-
stehen zu lernen, ist es von Nutzen, Gegenden aufzusuchen,
welche sich heute in einem sehr ähnlichen Zustande befinden,
wie unsre Gegend zur Zeit des Znrückweichens der Gletscher;
dazu gehört z. B. das südliche Patagonien, welches der
Verfasser selbst bereist hat. Vom Atlantischen Ozean das
Land betretend, gelangt man in das Gebiet der ebenen bis
wellig-hügeligen Pampa. Schon hier herrscht eine gewisse
Verschiedenheit in den Feuchtigkeitsverhältnissen und den
Lebensbediugungen der Organismen; Hochflächen und Hügel
sind trocken und nur dürftig bewachsen, in den Niederungen
dagegen breiten sich, besonders in der Nähe von Gewässern,
auch im Sommer Wiesenteppiche aus. Gegen das Gebirge
Bücherschau.
205
verschärfen sich die Gegensätze. Die Plateaus behalten den
steppenartigen Charakter bei, in bedeutenderen Höhen werden
sie von Feuchtigkeit liebenden, hochandinen Pflanzenformen
bewohnt. Zwischen Pampa und Gletscher (in etwa 1200 m
Höhe) schiebt sich eine kümmerliche Waldzone ein; sie kann
auch fehlen, so das; der Jäger die Guanacos, Strauße u. s. w.
tut Sommer bis in die unmittelbarste Nähe der Gletscher
verfolgen kann. Am Fuße der Kordilleren reichen mächtige
Gletscherströme bis zu den Seen von Sta. Cruz (125 m ü. M.)
hinab. Die Fauna ist armselig, relativ reich an Säugern und
Vögeln. Das Guanaco, der amerikanische Straus;, das ver-
wilderte Pferd, gefolgt von Puma und Fuchs, durchziehen die
weiten Ebenen oder suchen ihre Nahrung ans den grünen
Höhen, ja in unmittelbarer Nähe der Gletscher. Der Winter-
schnee treibt sie in die milderen Flnsithäler, wo sie im Winter
durch das rauhe Klima, im Frühjahr durch Überschwemmungen
oft in großen Massen vernichtet werden. Nager (die magella
nische Wühlratte) und Gürteltiere können als die eigentlichen
Steppenbewohner gelten.
Ähnliche Verschiedenheiten und Gegensätze dürften in den
Gebieten des Rheinthales, da der Gletscher sich zurückzog
und die Lößablagerung begann, geherrscht haben. Wo der
Staub auf feuchtere, mit reichlicher Vegetation bedeckte Stellen
fiel, bewirkten die mit Kohlensäure geschtvängerte Boden-
feuchtigkeit schnelle Entkalkung, auf dem trockenen Plateau
erhielt sich der Kalkgchalt. Wie heute noch ans den Höhen
eine andre Schneckenfauna lebt als im Rheinthal, so auch zur
Lößzeit. Helix hispida, Succinea oblonga, Pupa mus-
corum waren den geringsten Feuchtigkeitsgraden angepaßt;
die reichste Fauna liefert der Thallös;, wo die ans dem
Berglöß hcrabgeschwcmmten Gehäuse sich mit den feucht-
lebenden Formen und Süßwasserschnecken mischten. Reste
der Wirbeltiere der Lößzeit werden vorwiegend in flnviatilen
Ablagerungen gefunden. In den Flußniederungen suchten
die Tiere zur rauhen Jahreszeit Schutz und Nahrung; hier
verendeten auch die meisten Exemplare ; geschützte Höhlen dien-
ten ebenfalls als Zufluchtsstätte.
Die Lebensweise des Menschen der Lößzeit im
Rheinthale war jedenfalls nicht wesentlich ver-
schieden von der des heutigen Tehuelchen in Pata-
gonien. Wie dieser heute, so hat auch er bei der Seltenheit
der Quellen in Lößgebieten die Umgebung derselben und die
Niederungen aufgesucht. Spuren menschlicher Thätigkeit sind
im Rheinlößgebiet häufig und haben sich insbesondere durch
Untersuchungen in der Neuzeit beträchtlich gemehrt (Kohle-
bröckchen, Aschelagen, aufgeschlagene Knochen re.). Das ganz
vereinzelte Auftreten von Rollkieseln mitten in homogenem
Lös; gehört auch hierher und läßt sich kaum anders als durch
künstliche Verschleppung erklären; wie noch vor kurzem dem
Tehuelchen Flußgerölle als Schleudersteine (boia) dienten,
so hat sich jedenfalls auch der Lößmeusch des Rheinthales
ähnlicher Waffen bedient. Dr. A. Sauer.
B ü ch c v s ch a u.
K. Brandt, Haeckels Ansichten über die Plankton-
Expedition. Verlag von Ernst Homann, Kiel 1891.
Der Deutsche liebt die Polemik, das giebt sich nicht nur in
den Schriften, sondern sogar in den Referaten zu erkennen.
So geht ein kürzlich gegebenes Referat von HaeckclS Plankton-
Studien kaum auf den positiven Teil der Schrift ein, während
der kleinere polemische Teil besonders ausführlich wiedergegeben
wurde. ^Da nun einmal nicht abgewartet ist, bis man von der
andern Seite sich rechtfertigte, so muß der Laie jetzt auch auf
eine soeben erschienene Entgegnung aufmerksam gemacht werden,
obgleich beides im Interesse der Wissenschaft am liebsten unter-
blieben wäre.
In der Brnndtschen Schrift wird zunächst dem Verfasser
der Planktonstudien die bona fides abgesprochen, der schlimmste
Vorwurf, der, namentlich einem Alaune der Wissenschaft, gemacht
werden kann. — Die von Hensen ausgeführten, mit Zählungen
verbundenen Untersuchungen sind in doppelter Beziehung wichtig:
1. weil durch sie für die subjektiven Bezeichnungen „häufig",
„selten" rc. rc., welche von allen Zoologen angewendet werden,
ganz bestimmte und vergleichbare Werte eingeführt sind und
2. weil sie in Verbindung mit Volumen und Gcwichtsbestimmun-
gen nebst chemischen Analysen, wie sic .Hensen schon ausgeführt
hat, in der That ergeben, wieviel der Ozean an organischer
Substanz hervorbringt. Der Einwand Haeckels nämlich, daß
das Plankton nicht gleichmäßig genug im Ozean verteilt sei,
um aus einer beschränkten Anzahl von Fängen aus das ganze
befahrene Gebiet schließen zu können, muß ebenfalls zurück-
gewiesen werden: die meisten Beobachtungen von Ungleichmäßig-
keit, namentlich die sämtlichen von Hacckel selbst gemachten, be-
ziehen sich aus die Küsten, wo besondere Verhältnisse obwalten
und wo besondere Untersuchungen gemacht werden müssen, in
Kiel übrigens auch schon lange eingeleitet sind. Die Resultate
der englischen Challenger-Expedition und der italienischen Vcttvr-
Pisani-Expedition treten in dieser Hinsicht vollkommen zurück,
l. weil sic aus subjektiver Beobachtung beruhen und 2. weil
dresc Expeditionen in je drei Jahren an noch nicht so vielen
Stellen pelagische Organismen gefischt haben, als die Plankton-
Expedition in drei Monaten. Die Zahl der Stationen beider
Expeditionen ist im Atlantischen Ozean zusammen nur 49, die
der Plankton, Expedition 130. Ausfallende Tierschwärme, wie
sie auf der Plankton-Expedition beobachtet wurden, machen nach
einfachen Rechnungen und Überlegungen kaum ein Prozent des
Planktons, d. h. der hauptsächlich durch mikroskopische Organis-
men gebildeten Masse aus. Die Tageszeiten können schließlich
nicht in Betracht kommen, weil 200 bis 400 m tief gefischt wurde
und die Plankton-Organismen, mit geringer Eigenbewegung
ausgestattet, am Tage nicht so tief hinabsteigen können. Zum
Schluß sei bemerkt, daß demnächst eine gründliche Widerlegung
der Angriffe Haeckels durch den Leiter der Expedition erfolgen
wird. Im einzelnen, namentlich was den zu Ansang genannten
scharfen Vorwurf anbetrifft, muß auf die Schrift selbst verwiesen
werden. Dr. Ir. Dahl.
Fcrd. Freih. von Andrian, Der Höhenkultus asiatischer
und europäischer Völker. Eine ethnologische Studie.
Wien, Karl Konegen, 1891. 385 S.
Der hochverdiente Vorsitzende der Wiener Anthropologischen
Gesellschaft behandelt hier zusammenfassend und für verschiedene
Gebiete zum erstenmal die B er g v er eh r un g in der Alten
Welt, welche im Kultus, der Litteratur, den Mythen und
Bräuchen der einzelnen Völker deutlich zu Tage treten. Es ist
ein gewaltiges Gebiet, das er hier angreift, da sein Thema ihn
notwendigerweise aus das der Religion und Mythologie eines
großen Bruchteils der Völker Asiens und Europas führen mußte.
Völlig aus der Höhe der heutigen ethnographischen Wissenschaft
stehend, behandelt er besonders ausführlich die arischen Inder
und die Chinesen (wobei Pfizmaier wesentliche Ouelle), während
auf des Vers. Antrieb hin durch R. Beer die heiligen Höhen
der Griechen und Römer (in demselben Verlage) einer beson-
deren Betrachtung unterzogen wurden.
Das Ergebnis des umfangreichen Werkes läßt sich etwa
im folgenden zusammenfassen. Die Bergverehrung zeigt in den
ihr zu Grunde liegenden Vorstellungen eine sehr große Mannig-
faltigkeit, die jedoch nicht des inneren Zusammenhanges entbehrt.
Die primitive Naturanschauung hält an der Einheit der Natur
fest, wofür die weit verbreitete Ansicht spricht, daß „die beiden
großen Eltern", Himmel und Erde, einerlei seien. Diese Ansicht
wird aus doppelte Weise ausgeführt. Die irdischen Verhältnisse
werden aus den Himmel übertragen oder es dienen umgekehrt
die Himmelserscheinungen zum Maßstabe für die irdische Welt.
Beide Richtungen bilden wichtige Stufen der menschlichen Geistes-
entwiüelung. In ähnlicher Weise lassen sich auch die Vor-
stellungen sondern, welche zu einer Bergverehrung führten, je
nachdem dieselben von örtlich irdischen Gesichtspunkten aus-
gehen ^oder einen kosmischen Charakter ausweisen.
In der ersten Vorstcllungsgruppc erscheint ein Berg oder
ein Gebirge animistisch personifiziert. Er wird als ein mit
übernatürlichen Kräften ausgestattetes Jndividium aufgefaßt,
206
B ii ch e r s ch a u.
als ein der menschlichen Seele verwandter Geist, der jedoch
stärker und mächtiger ist, als eine menschliche Seele. Der Berg
ist ein Dämon oder beherbergt einen Dämon, der auf der
Spitze oder im Innern des Berges wohnt und dementsprechend
einen gewissen Teil desselben, mit allem, was sich daran oder
daraus befindet, als sein Eigentum in Anspruch nimmt und vor
sremdeu Angriffen schützt. Daher dürfen bestimmte Berge gar
nicht oder nur unter bestimmten Zeremonien bestiegen werden.
Man darf auf denselben nicht ausspucken oder andre Hand-
lungen verrichten. Wer Kräuter sammeln oder Steine holen
will, hat den Berggeist zu entschädigen. Auf hohen Bergspitzen,
beim Überschreiten von Pässen, beim Umschiffen steiler Vor-
gebirge darf nicht laut gesprochen werden, um die bösen oder
guten Berggeister, welche daselbst hausen, nicht zn erzürnen.
Eine andre Ehrenbezeugung für dieselben ist die Errichtung von
künstlichen Steiuhügeln (Obos). Die Berggeister 'sind teils
guter, teils böser Art. Sie verursachen schreckliche Stürme,
Erdfälle, Lawinenstürze, Erdbeben, vulkanische Ausbrüche, giftige
Gasausströmungen. Sie sammeln aber auch die Wolken zu
wohlthätigem Regen. Alan verdankt den Berggeistern heilsame
Pflanzen; sie sind die Eltern der Flüsse und besitzen viele kost-
bare Dinge. Zur Erlangung dieser Gaben, zur Abhaltung der
schädlichen Einflüsse bedarf es fortgesetzter Opfer, welche sich
nicht selten zn Menschenopfern steigern können. Die Einheit
der Natur bei aller Mannigfaltigkeit der Erscheinungen, die
Wechselwirkung der Naturkräfte drückt die animistisehe An-
schauung durch die besondere Einerleiheit einer ungezählten
Geisterschaar, durch die unbestimmte Abgrenzung der dämonischen
Individualitäten, sowie ihres Machtbereichs, durch ständig
wiederkehrende Vergesellschaftung verschiedener Geisterkategorieen
aus. Demgemäß bietet die Bergverehrung zahlreiche Berüh-
rungspunkte mit den übrigen Naturkulten, mit der Verehrung
von Steinen, Pflanzen, Quellen, Flüssen. Beispiele hierfür
sind die Verehrung von Felsblöcken, Stromschnellen und Wasser-
fällen, die Regenbeschwöruug auf Bergen, die heiligen Haine
auf Bergen.
Die zweite, kosmische Vorstellungsweise geht von dem
Verhältnisse unsrer Erdoberfläche zum Himmel aus. Die Berge
tragen den Himmel, sie bilden eine natürliche Brücke zwischen
Himmel und Erde. Das Firmament wird als ein Felseil oder
Berg, als eine aus Erz, Stahl, Kristall, Glas bestehende feste
Masse vorgestellt, welche »ach der Hesiodischen Kosmogonie aus
der Erde hervorgegangen ist. So bildet das Himmelsgewölbe
einfach die Fortsetzung der Berge. Diese letzteren empfangen
zunächst die wohlthätigen Äußerungen der Himmelsgötter und
übermitteln dieselben weiter an die übrige Erde. Die an den
Berggipfeln hervortretenden Lichterscheinungen, das wechsclvolle
Spiel der Wolken an den Höhen bezeugen gleichsam das innige
Verhältnis der Berge zum Himmel. Dieser überirdische Charakter
wird durch die Schwierigkeit der Annäherung noch verstärkt.
Als Symbol der Unendlichkeit und Ewigkeit, als bevorzugte
Manifestationspunkte der das organische Leben beherrschenden
Kräfte werden die Berge zum Ausgangspunkt einer Weltan-
schauung, welche die unendliche Mannigfaltigkeit des Kosmos
unter dem Bilde eines Himmel und Erde umfassenden Berges
(Weltenberg, Götterberg) versinnlicht. Diese kosmische Ausfassung
der Berge spielt unstreitig in den höheren Kulturstadien eine
größere Rolle als die Berggeister. Sie bildet einen wichtigen
Bestandteil der nationalen Mythvlogieen und Kosmogonieen und
giebt den Anlaß zu zahlreichen späteren Lokalisierungen von
Götterbergcn. Die Wandelbarkeit dieser Vorstellungen ist fast
unbegrenzt. Sie führt bei den Chinesen auf ein rein ethisches
und mystisches Gebiet, in andern Fällen wenigstens zu einer
Verflüchtigung des physischen Charakters und zu einer fort-
schreitenden Verhimmelung der Götterberge. In der Ilias
bildet die höchste Spitze des irdischen Olynip den Wohnsitz der
Hauptgötter.
Untersucht man die Verbreitung der kosmischen Bergver-
ehrung und deren Ableger bei den Kulturvölkern, so findet man vor
allem eine ethnographisch gewiß bedeutsame Lücke oder wenigstens
eine sehr späte Form derselben bei den italienischen Völkern.
Dagegen besitzen alle asiatischen Kulturzentren, denen sich Griechen-
land anschließt, einen großen Götterberg schon in weit älteren
Epochen ihrer Entwickelung. Die mächtigen Einflüsse des
Orients zeigensich auch hier und werden von Andrian vielfach
nachgewiesen. Übrigens ist die Übertragung von Volk zu Volk
und deren nachträgliche Ummodelung noch in vielen Füllen fcst-
gestellt. So sind die indischen Götterberge mit den daran
haftenden religiösen und kosmischen Vorstellungen in mannig-
fachster Verarbeitung über ganz Nord- und Ostasien gewandert.
Der so mannigfaltig ausgebildete Höhenkultus der Chinesen,
dessen Umrisse bis jetzt kaum bekannt sind, beruht nur zum Teil
auf bodenständigem, ursprünglichem Animismus und auf bud-
dhistischen, meist leicht erkennbaren Einflüssen.
Dieses sind nur kurze Andeutungen über den Inhalt und
die Ergebnisse des Andrianschen Werkes, sie beweisen aber die
wichtige Rolle, welche die Berge in dein Geistesleben der Völker
Asiens und Europas gespielt haben und noch spielen. Es
giebt kaum ein hervorragendes Gebirge, welches nicht unter
irgend einer Form Gegenstand einer religiösen Verehrung ge-
wesen wäre.
Heinrich Kiepert, Spezialkarte vom westlichen Klein-
asien in 1:250000. Zweite Lieferung. Berlin, D. Reimer,
1890.
Wenn ein Mann, wie Prof. Kiepert, eine neue Arbeit über
den Orient veröffentlicht, können wir nur einfach referieren,
denn zum Kritisieren sind außer ihm wohl nur sehr wenige
berufen. Mit der Bearbeitung dieser bedeutenden und wert-
vollen Karte, die nach ihrer Vollendung 15 Folioblätter um-
fassen wird, schreitet der Autor rüstig auf dem Wege weiter,
den er schon seit Jahrzehnten betreten: die kleinasiatischen Länder
in möglichster Ausführlichkeit und mit besonderer Berücksichtigung
der antiken Topographie darzustellen. Die Schwierigkeit einer
solchen Arbeit vermag nur der voll zu ermessen, der selbst wenig
bekannte Erdgebiete kartographisch bearbeitet hat. Welch unge-
heures und doch so verschiedenwertiges Material wußte Kiepert
hier zusammenzutragen! Von den gut vermessenen, auf den
Seekarten niedergelegten Küsten gehen sichere geodätische Linien
nur so weit, als die Eisenbahn läuft oder für künftige Bahnen
Vorarbeiten ausgeführt sind. Für das Innere muß heute noch
eine nicht allzu umfangreiche Zahl von astronomischen Positions-
bestimmungen das Skelett liefern, welches dann durch Benutzung
von etwa vorhandenen Karten, von Reiseberichten, Spezial-
aufnahmen und Jtineraren ausgefüllt und belebt worden ist.
Hierher gehören die Ergebnisse einer großen Zahl von Reisen-
den, Deutschen, Franzosen, Russen und Engländern. Besonders
sind hier hervorzuheben Moltke, Kiepert selbst, der schon 1841
in Kleinasien reiste, Wrontschenko, Hamilton, Ainsworth, Smith,
die österreichische Expedition nach Lykien 1882 bis 1883, die
Ausnahmen von Diest im Aufträge des Kaiser!. Archäologischen
Instituts, Möllhausen, Ramsay, Sterret, der für die Konstruktion
viele Tausende Kompaßpeilungen lieferte, Humann und Hirsch-
feld. Viele Manuskriptkarten von den türkischen Behörden sowie
von verschiedenen Jndustriegesellschaften standen dem Heraus-
geber zur Verfügung, überhaupt eine Fülle bisher unverösfent-,
lichten Materials, über welches in den Begleitworten zur Karte
berichtet wird. Die zweite, fünf Blätter enthaltende Lieferung
ist wegen neuen, früher nicht zugänglichen Materials etwas
verspätet ausgegeben worden. Es sind ihr eine Anzahl Korrek-
turen für die früher veröffentlichten ersten fünf Blätter bei-
gefügt. Situation und Schrift sind in den Blättern schwarz,
das Terrain in brauner Schummerung ausgeführt, was das
Kartenbild klar und übersichtlich macht. Die Umschreibung der
türkischen und griechischen Namen ist mit Rücksicht auf nicht-
deutsche Leser nach der Transskriptionsweise gegeben worden,
welche vor einigen Jahren von einer Kommission der Pariser
Geograph. Gesellschaft vorgeschlagen wurde. Aus griechischen
und türkischen Karten entlehnte unsichere Ortslagen sind in
Haarschrift geschrieben. Wir ersehen aus dem Charakter der
Karte, wieviel im Innern des Landes für Topographie noch
zu thun übrig bleibt, besonders wenn wir die leeren Stellen
oder die einfachen Formen mancher Gebiete vergleichen niit
den detaillierten Angaben an der gut bekannten Küste oder
auf den Inseln des Archipels. Trotz alledem haben wir aber
hier das Beste, was überhaupt über Kleinasien existirt und
sehen mit Freuden den weiteren Arbeiten des gelehrten Autors
entgegen. Hier ist ein Fingerzeig gegeben, wie größere geo-
graphische Zeitschriften sich wissenschaftliche Verdienste erwerben
würden, wenn sie in ähnlicher Weise kartographische Zusammcn-
arbeitungcn brächten von Ländern, in denen es an einer topo-
graphischen Ausnahme mangelt; die Karten neuer geographischer
Entdeckungen sind ja heute bei weitem nicht mehr so zahlreich,
wie vor einigen Jahrzehnten. A. Scobel.
Aus allen Erdteilen
207
Aus allen Erdteilen.
— Die Inschriften des Morrofelsens in Neu-
Mexiko (S. 105) sind nach einer gütigen Mitteilung des
Herrn Prof. F. Blumen tritt folgendermaßen richtig auf-
znlösen, beziehungsweise zu lesen.
Aí estuvo el General D. Diego
de Vargas quien conquistó ....
á la Sante Jé y a la Real
Corona todo el nuevo Mexico
á su costa, año de 1692.
Hier war der General D. Diego
de Vargas, welcher eroberte
.... für den heiligen Glauben
und die Königliche Krone das
ganze Ncu-Mexico auf seine
eigenen Kosten, im I. 1692.
Por aquí pasó el Alférez Don
Joseph de Payba-Basconcelos
el año que tuvo el cavildo del
Reyno á su costa á 18 de Februar
de 1726 años.
Hier passierte der Lieutenant
D. I. de P. B. in dein Jahre,
in welchem er das Obrigkeits-
amt des Königreichs auf seine
eigenen Kosten ausübte, am
18. Februar des I. 1726.
Mohawks lebte, führt deren Zahlwörter an, von denen aber
Brinton nachweist, daß sie dem Mandingo (Westafrika) an-
gehören. Nach Peter Kalm wurden die ersten 1620 nach
Virginien gelangten Neger dort für schwarze Geister von den
Indianern angesehen, spater vermischten sie sich aber mit
denselben. Die letzten Mattapony in jenem Lande hatten
mehr Neger- als Jndianerblut in sich.
Jli verschiedenen der Südstaaten hielten sich die Indianer,
namentlich die Tschiroki, Negersklaven, die oft von einem
Stamme an den andern verkauft wurden. Auch die Semi-
nolcn in Florida hielten zahlreiche Negersklaven. Ein ein-
zelner Häuptling besaß 1835 deren nicht weniger als 100.
Der Staat Georgia verlangte einmal 250 000 Dollars von
den Creeks für zu diesen entlaufene Sklaven. Dadurch kam
viel Negerblut in alle diese Indianer, wiewohl sie mit Ver-
achtung auf die Schwarzen herabblickten. In den westlichen
Reservationen (bei Tschiroki, Creek) leben noch jetzt viele Neger
zwischen den Indianern.
Naturgemäß sind infolge solcher Vermischung viele Über-
lieferungen und mythologische Vorstellungen der Neger zu
den Indianern übergegangen, worüber eine Abhandlung von
F. Crane, Plantation folklore, Auskunft giebt. Auf West-
indien, tvo heute der Neger herrscht und der Indianer ver-
schwunden ist, und auf Südamerika, wo auch starke Mischungen
stattfanden, ist Chamberlain in seiner Abhandlung nicht
eingegangen. Nachdem der Gegenstand einmal angeregt ist,
wird es gut sein, denselben weiter zu verfolgen, namentlich
nach der physiologischen, gesellschaftlichen und volkskundlichen
Seite hin.
— Über die Beziehungen der Neger und Not-
häute zu einander in Nordamerika hat A. F. Chamberlain
im Canadian Institute (24. Januar 1891) einen belang-
reichen Vortrag gehalten. Er behandelt die Beziehungen vom
anthropologischen, sprachlichen, mythologischen und soziologi- I
scheu Gesichtspunkte. Die ersten Neger wurden kurz nach
1500 in Amerika eingeführt; im ganzen wurden nach
Nordamerika (nach Shaler) 500 000 gebracht und in ganz
Amerika leben heute vielleicht, wenn man die Mulatten
einrechnet, gegen 30 000 000 Neger. Was zunächst die
Berührungen in Kanada betrifft, so wissen wir, daß Irokesen ^
in Ontario sich stark mit Negern vermischt haben. Sehr
stark war auch eine solche in Massachusetts, wo, als 1633
die Indianer zu erstenmal einen Neger ans einem Baume
sitzen sahen, sie ihn für abamacho, den Teufel, hielten, den
sie zu beschwören versuchten. Kinder von Negersklaven und
Jndiancrweibern waren frei und daher trachteten die Neger
danach, solche zu bekommen. Ein Jahrhundert später werden
dort schon häufiger Mischlinge zwischen Negern und In-
dianern erwähnt, improved in temperance and industry.
In einem Berichte ans dem Jahre 1833 heißt cs: The
Indians are said to he improved by the mixture mit
Negerblnt. Die „150 Indianer", welche bei Gay Hcad
(Mass.) leben, sind eine vollständige Mischung von weißem,
schwarzem und rotem Blute. Man lobt sic als reinliche
und ordentliche Fischer mtb Ackerbauer. Die Mischlinge von
Negern und Indianern in Connecticut werden aber als arm,
elend und verkommen geschildert. Die Reste der Montouk
und Shinnakttk ans Long Island sind stark mit Sklaven
blut versetzt.
Wie weit die Vermischung mit den Indianern der Chesa
peakbai ging, hat auf sprachlichem Wege Brinton nach-
gewiesen. Pyrläus, der 1780 als Missionar unter den
— Britisch-Guiana. Mit der botanischen Erforschung
des Landes ist Dr. Goebel beschäftigt, der namentlich der
höchst eigentümlichen, bisher kaum näher bekannten Familie
der Podostemaceae sein Augenmerk zuwendet. „Diese
Pflanzen, schreibt das in Demerara erscheinende Blatt „Ar-
gosy“, die an den überschwemmten Felsen der Wasserfälle und
steinigen Flußbetten unsrer Hauptgewässer wachsen, sind den
Goldgräbern und Reisenden wegen ihrer schönen rosaroten
Blütenmassen wohl bekannt, die sie in der trockenen Zeit, wenn
die Flüsse zurücktreten, entwickeln. Es giebt deren viele Ge-
schlechter und Arten. Sie klammern sich wie Seetange mit
einem scheibenförmigen Stammende an die Felsen so außer-
ordentlich fest, daß man beim Losreißen oft eile Stück des
Gesteins mit ablöst. Den größeren Teil des Jahres sind
sie unter Wasser und fluten darin, tvie die Tauge am Boden
des Meeres; beginnen aber die Wasser in der trockenen
Jahreszeit zu verlaufen, dann fangen sie an zu blühen und
^ Früchte zu tragen." (Nature.)
— Die Erforschung des Totenthales im südöst-
lichen Kalifornien unter Dr. Palmer und Vernon Bayley
hat im Verlaufe des Winters gute Fortschritte gemacht.
Diese Depression von — 20 in bis — 30 m zieht sich zwischen
der Paramintkette im Westen und der Amargosakette im
Osten von Norden nach Süden. Die Expedition besteht aus
Naturforschern für die verschiedenen Gebiete und ist mit
allem ans das vortrefflichste ausgerüstet, auch mit eigenen
Wasserwagen, die bei dem wasserlosen Charakter des Thales
notwendig waren; dafür sprachen schon die zahlreichen mumi-
fizierten Leichen derjenigen, die in diese Alkaliwüste sich
hineingewagt und darin umgekommen waren. Die Station
wurde bei Bennetts Wells aufgeschlagen, wo die Expedition
sich teilte und eine Abteilung zur Erforschung des östlichen
208
Aus allen Erdteilen.
Seitenthales Furnace Creek aufbrach, das sich an den Black-
Monntains und der Furnacekette hinzieht. Diese Depression
ist durch eine gewaltige vulkanische Thätigkeit entstanden,
durch das Einsinken der ganzen von Norden nach Süden ver-
laufenden Spalte, zu deren beiden Seiten die jäh abfallenden
Gebirge, westlich die Paramintkette mit dem 3330 m hohen
Teleskopberge und östlich die bis 2000 m hohe Amargosa-
kette stehen blieben. Solche Bodensenkung infolge von vulka-
nischer Thätigkeit ist auch weiter westlich am Owensee beob-
achtet worden, wo 1872 durch ein Erdbeben der Ort Lone
Piue mit vielen Einwohnern zerstört wurde und eine 7 m
tiefe Bodensenkung stattfand. Vor 10 Jahren wagte Bendire
wegen fürchterlicher Hitze nicht ins Toteuthal (im Mai) ein-
zudringen. Die neue Expedition fand in diesem Winter aber
das Klima angenehm. Trotz des Wüstencharakters ist das
Totenthal nicht ohne Pflanzen und Tiere. Es wurden bisher
21 Säugetiere, darunter mehrere neue Arten gesammelt.
— Meteorologische Stationen in der Südsee.
Die Regierung der australischen Kolonie Queensland hat
beschlossen, den mangelhaften Kenntnissen der meteorologischen
Verhältnisse in der Südsee abzuhelfen, indem sie auf ver-
schiedenen Inseln derselben Stationen mit guten Instrumenten
errichten läßt. Der Beginn ist im Dezeiuber 1890 ans
Neu-Caladonien, tu der Hauptstadt Noumea, geinacht
worden, wo die von C. L. Wragge eingerichtete Station von
cinein dortigen Einwohner, S. Johnston, regelmäßig bedient
wird. Im Januar 1891 sollte auf den Neu-Hebriden
(Aneitum oder Havanna) und dann auch auf Tahiti eine
Station durch Wragge errichtet werden. (Nature.)
— Die Einwohnerzahl Japans. Nach der amt-
lichen Zusammenstellung der Volkszählung voiu 1. Dezember
1889 zählt Japan 40 702 020 Einwohner, nach Klassen
verteilt: Adlige 3825, alte Militärklasse 1 993 637 und
Volk 38 074 558. Gegenüber dem Jahre 1888 bedeutet
das eine Zunahme von 464 786 Seelen. Über 100 Jahre
alt waren 151 Personen. 15 Städte haben über 100 000
Einwohner, darunter die Hauptstadt Tokio (Verwaltungs-
bezirk) mit 1 138 546 Seelen.
— Eine untergegangene Stadt in Ostturkestan
ist von Lieutenant Bo wer entdeckt und kürzlich in der Asia-
tischen Gesellschaft von Bengalen beschrieben worden. Sie
liegt im Distrikte von Katschar, also südlich vom Thian-
Schan, bei Mingai am Schahjarftnsse, der sich in den Tarim
ergießt. Vom Volke wird die Erbauung dieser Stadt dem
Könige Afrasiab, einem Zeitgenossen Rustems, zugeschrieben.
Die meisten Wohnstätten dieser Stadt sind unterirdisch und
durch lange Tunnels zugängig. Sie führen zu einer Anzahl
Zellen, die etwa 2 m im Geviert haben und deren Mauern
mit Mörtel beworfen sind, der Verzierungen in geometrischen
Mustern zeigt. Ähnliche unterirdische Städte sollen noch
mehrfach in dein Distrikte vorhanden sein. In der Umgegend
dieser Städte findet man eigentümliche massive, bis 30 m
hohe, turmartige Bauten aus lufttrockenen Ziegeln, über deren
Bestimmung nichts bekannt ist, die aber sehr alt sein müssen.
Am Fuße einer dieser Bauten gritO ein Eingeborener eine
Handschrift ans Birkenrinde und einige Münzen aus, die in
Bowers Besitz gelangten. Das Manuskript ist noch nicht
gelesen, man nimmt an, es sei ein Überrest des „indo-tatari-
schen Sanskrit", welches im Anfange unsrer Zeitrechnung
in Koten nnb Kaschgar herrschte. Die meisten Buchstaben
stimmen überein mit alten Newari- und Wartula-Charakteren,
nach welchen in der Mitte des siebenten Jahrhunderts das
tibetanische Alphabet gebildet wurde. Das Manuskript be-
steht ans 56 Birkenrindeblattern, auf welchen die Schrift
mit schwarzcr Tiute geschrieben ist. Zwei dieser Blatter find
in Heliogravure in deu Proceedings der Asiatic Society
of Bengal veroffentlicht Worden.
— Unter den Barbieren von Bombay herrscht eine
große Aufregung. Sie sind früher wohlhabend gewesen, jetzt
aber heruntergekommen und arm. Woran dieses läge und
wie dem abzuhelfen, wurde in einer Versammlung beraten,
an der 400 Mitglieder des Gewerbes, Mahratta- mid Gud-
scharati-Hindus, teilnahmen. Nachdem der alte und angesehene
Barbier Sadoba Krischnadschi zum Vorsitzenden gewählt war,
trat Babadschi More als Redner auf und erklärte, ein Fluch
laste auf dem Gewerbe, seit es sich damit abgebe, die Köpfe
armer unschuldiger Witwen zu scheren und damit diese
ihres besten Schmuckes zu berauben. Es verstieße gegen die
Schastrasgesetze, Witwen zu scheren. Kein Barbier dürfe
mehr, bei Strafe der Ausstoßung aus der Innung, eine
Witwe scheren, wiewohl sic öfter von Höherstehenden hierzu
gezwungen würden. Dagegen müsse man die britische Regierung
anrufen. So wurde auch, trotzdem das Einkommen der
Barbiere sich dadurch verringerte, beschlossen.
— Gegen Nasenbluten und Blutflüsse überhaupt
hilft in Ostflandern ein roter Seidenfaden, mit dem man
das Zeichen des Kreuzes über die Nase macht. Diese etwa
einen halben Meter langen wunderthätigen Seidenfäden werden
zu Nienkerken verkauft, wo sie in der Kirche geweiht und
mit gewissen Reliquien in Berührung gebracht werden. Im
Venetiauischen helfen auch Seidenfäden, aber sie werden
innerlich genommen. Fällt eine schwangere Frau hin, so
giebt man ihr einen Seidenfaden in einem Ei ein; der Faden
näht dann die etwa durch den Fall entstandenen innerlichen
Verletzungen wieder zusammen. (Bull. soc. d’Anthropol.
1890, 287).
— Die Kohlenfeld er Birmas ergeben nach dem Ver-
waltnngsberichte für das Jahr 1890 immer günstigere Resul-
tate. Im oberen Tschindwin-Distrikt und im Landstriche
zwischen den Flüssen Myittha und An umfassen sie eine Fläche
von 175 englischen Quadratmeilen. Die Kohlen gehören zur
Tertiärformation, in welcher sie in zahlreichen, selten über
meterstarken Flözen lagern. In Bezug auf Güte läßt sie
wenig zu wünschen übrig. Auch bei Laschio in den nörd-
lichen Shanstaaten ist tertiäre Kohle in Flözen bis zu 10 m
Stärke gefunden worden, die sich über viele Meilen Länge
erstrecken. Sie wird aber erst von Nutzen sein, wenn die
Shanstaaten, besser als bisher der Fall, dem Verkehre er-
schlossen sind.
— Über Westfalens Schinken uub Pumpernickel
sagt Privatdozent Dr. Fink (Anthropol. Correspondenzblatt,
1890, Nr. 12), daß sie sich nicht gleichzeitig und in den
frühesten Zeiten nachweisen lassen. Während aber die uralte
Schweinemast, die Hervorhebung derselben in den ältesten
Heberegistern, das Vorkommen von neun köstlichen Schinken
(novem pernas optimas) um das Jahr 1000 bereits als
ein uraltes Genußmittel in Westfalen feststellen, tritt uns
das andere Nahrungsmittel, der Pumpernickel mit diesem
Namen (Schwarzbrot, panis niger begegnet uns schon früher),
erst seit dem siebzehnten Jahrhundert entgegen, ist mithin
jünger als die dicken Bohnen (nämlich vicia faba) Westfalens,
die schon in den Epistolae obscurorum virorum eine
Rolle spielen.
Herausgeber: Dr. R. Andree in Heidelberg, Leopoldstraße 27. Druck von Friedrich Vieweg und Sohn in Braunschweig.
Hierzu zwei Beilagen: Th. Grieben's Berlag (L. Fernau) in Leipzig und
Wilhelm Friedrich, K. R. Hofbnchhäudler in Leipzig.
Bd. LIX
Nr. 14
Begründet 1862
von
Karl Andrer.
S r it cst it rt b 'Der k<r g
Herausgegeben
von
Richard Andrer.
brich 'Dieweg & Sohn.
r a un Í dl Ul C t n jährlich 2 Bünde in 21 Nummern. Durch alle Buchhandlungen und Postanstaltcn
' ' zum Preise von 12 Mark sür den Band zu beziehen.
Anthropologie und Geschichte.
Don Dr. Guntram Schultheiß.
II.
Fassen wir den Begriff der Rasse ins Auge. Ersichtlich
giebt es nur zwei Möglichkeiten. Entweder sind die Nassen
uranfänglich getrennt, und so aus der Hand des Schöpfers
hervorgegangen, oder sie haben sich durch Abzweigung von
einer Urform disferenziiert. Ob man diese Urform für
schon menschlich oder noch für tierisch ansehen will, ist dann
schließlich nur eine Frage nach der 'Feit. Den homo alalus
nachzuweisen, wird ja wohl kaum möglich sein.
Nach Kollmann fällt die Zeit der Differenzierung in
die tertiäre Periode, oder wenigstens vor das Diluvium.
Penka nimmt mit Moritz Wagner das Europa der tertiären
Zeit, als es noch tropischen oder subtropischen Eh^raktcr
hatte, für die Heimat des Menschengeschlechts an, von wo
die Abkühlung des K limas Auswanderungen veranlaßte, die ,
zur Differenziicrung der Rassen führten.
Nach den klaren Gesichtspunkten der Deszendenztheorie
sind nun die Rassenmerkmale entweder Abzweigungen vom
llrtypns, die in bestimmten Lebensverhältnissen einen Bor-
zug gewährt haben, so daß die nicht bevorzugten Individuen
nach und nach ansstarben. Das wäre das Überleben des
Passendsten.
Oder Merkmale ohne Einfluß ans Lebcnsfunktionen
oder Vorteil für Sicherheit und Verteidigung sind durch
den fortgesetzten Vorzug bei Paarung fortgesetzt und be-
festigt worden, sei es, daß die nicht Begünstigten bei der
Fortpflanzung ausgefallen sind und nach und nach ans-
starben oder bei fortschreitender Differcnziierung znrück-
blieben, also eine Art für sich bildeten. Das wäre geschlecht-
liche Zuchtwahl.
Moritz Wagners Ableitung der Menschenrassen von
den Auswanderungen, die in verschiedenen Teilen der Erd-
oberfläche zu Rassen wurden, scheint kaum etwas Andres
als das erstere, daß die Menschen sich den neuen Wohnsitzen
anpaßten, wie etwa die Reger dem heißen Klima. Wenn
Globus I.IX. Nr. 14.
er noch die Isolierung und die Inzucht als Grund der
Rassenbildung hinzufügt, so dürfte deren Wirkung nnr als
verstärkend und beschleunigend in Betracht kommen. Außer-
dem könnte sie nur in ganz beengten Grenzen der Aus-
breitung die Hänsung und Befestigung zufällig auftretender
Abweichungen befördern, wie sie der Tierzüchter benutzt.
Pösche (Die Arier 1878) hat bereits die blonde Rasse
mit den Ariern identifiziert und die Rokytnossümpfe als deren
Wiege erklärt, weil hier die Depigmentation, das Verschwinden
des Farbstoffes aus Haut, Haar und Auge häufig auftritt.
Wir wollen dies weder in die schematische Einteilung unter-
bringen, noch daraus Folgen ziehen, sondern nur bemerken,
daß Penka überhaupt den Gedanken Pösches ablehnt. Gegen
Pösches Ausdruck Halbalbino erklärt sich auch triftig Andrer,
Ethnographische Parallelen, N. F. 240.
Er leitet die Hellfarbigkeit nur im allgemeinen von dem
Einfluß der Eiszeit Europas ans die zurückbleibenden Menschen
ab. Dem Einwände, daß andre Völker trotz langen Aufent-
haltes im nordischen Klima noch keinen analogen Ansatz
zur Abhellung zeigten, setzt er nur den Hinweis auf die
länger dauernde Einwirkung während der Eiszeit entgegen.
Nun hat ja Oswald Heer (Urwelt der Schweiz, 2. Aufl.,
1870, S. 596) eine wiederholte Eiszeit erwiesen, die
Zwischenzeit soll sich allein auf mehrere Jahrtausende er-
strecken. Die französische Einteilung der Urgeschichte stimmt
damit überein; Mortillet giebt der Epoche von Solutrá
eine Dauer von 11000 Jahren, der ersten und zweiten
Zeit der sich ausdehnenden Gletscher aus Vorliebe für große
Zahlen noch viel längere. Jedenfalls lange genug für die
Ausbildung von Nassen. Ob man nun die Hellfarbigkeit
als einen Vorzug im Kampf ums Dasein betrachten will?
Jedenfalls in andern: Sinne als die Größe oder die Lang-
köpsigkeit! Wenn nun Penka Europa als Urheimat des Men-
schen annimmt, und den Reanderschädel als Vertreter des
27
210
Dr. F. Schultheiß: Anth
Grundtypus in Anspruch zu nehmen scheint, könnten diese
Merkmale einfach als Erbe der Stammform gelten, deren
Umbildung unterblieb, da kein Faktor dahin wirkte. Andrer-
seits läßt er aus den nach Hoch- und Mittelasien ausge-
wanderten Urmenschen die mongolisch-turanischen Kurzköpse
werden, ohne es näher zu begründen. Man dürfte darauf
hinweisen, daß nach Prichard die Breite des Mongolcn-
schädels Folge ihrer entwickelten Sinnesorgane sein könnte
(Darwin, Abstammung d. Menschen l, 102). Über Mög-
lichkeiten kommt man eben hierbei nicht hinaus.
Für die spätere Ein- oder Rückwanderung der Knrz-
köpfe nach Europa, nach dem Ablauf der Eiszeit, als die
nach Norden zurückweichenden Eismassen die große ost-
europäische Tiefebene frei gaben, kann ja Penka sich auch
nur auf den negativen Beweis berufen, daß das Dutzend
Schädel der ältesten Zeit, die die Anthropologie als sicher
zugiebt, alle der langen Form zuzurechnen sind. Jeder neue
Fund könnte dies ändern; in der jüngeren Steinzeit finden
sich dann Mittelköpse und Kurzköpfe.
Die Identifizierung der Arier mit den unvermischten
Nachkommen der ureuropüischen quaternären Langköpfe, und
mit dem Typus der späteren Germanen, wie sie von Penka,
De Lapouge und auch von andern behauptet wird, kann
demnach manches zu ihren Gunsten anführen. Auch die alten
Schriftsteller bringen die blonde, germanische Rasse in Zu-
sammenhang mit nördlichem Klima. Die Theorie von der
asiatischen Urheimat der Arier scheint ohnehin ihre Anhänger-
mehr und mehr einzubüßen. Wenn aber Penka gerade
Skandinavien als die das Gepräge vollendende Heimat der
Arier vor der Trennung in die einzelnen Völker in An-
spruch nimmt, weil er eine Isolierung gegenüber der
turanischen Einwanderung nach der Eiszeit nötig zu haben
glaubt, und deshalb die Renntierjäger der letzten Epoche der
Eiszeit ihrem Jagdtier nach Norden folgen läßt, so versagt
diese Stütze vollständig. Jede zurückbleibende Horde, die
von andern jagdbaren Tieren sich erhalten lernte, hatte die
Möglichkeit raschen Anwachsens und weiter Verbreitung.
Auch die angebliche Kluft der Kultur der älteren und
jüngeren Steinzeit, die Übergänge zwischen beiden im Norden
sind kein Beweis. Die Wahrscheinlichkeit des Ursitzes der
blonden Rasse im Norden der Alpen und Karpathen kann
ebenso zugestanden werden, wie ein Zusammenhang mit dem
arischen Ürvolk, ohne die Unwahrscheinlichkeit in den Kauf
zu nehmen. Als die Heimat des noch ungetrennten arischen
Urvolkes kann nian nur ein Gebiet für wahrscheinlich er-
klären, das sowohl das allmähliche Anwachsen als die späteren
Wanderungen begünstigt, das den Übergang von dem Jäger-
zinn Hirtenleben erleichtert hat. Als den Zeitpunkt des
Auseinandergehens in Stämme oder Völker hat man etwa
das Jahr 3000 vor Christus aufgestellt. Man könnte eher
herunter- als hinaufgehen. Welchen Zeitraum will man
dann für die einheitliche Sprachbildung annehmen? Wer
könnte glauben, daß die weit verstreute, quaternäre Bevöl-
kerung Europas, wenn sie schon von gleicher Rasse ge-
wesen sein soll, auch in der sprachlichen Entwickelung die
Einheit hätte festhalten können? Sprachlos werden auch
die Renntierjäger der Eiszeit nicht gewesen sein; nach ihrer
sonstigen Kulturstufe ist cs ausgeschlossen. Wenn nun sic
oder erst ihre Nachkommen in den arischen Sprachstamm
über- oder aufgegangen sind, wenn sie zugleich die blonde,
langköpfige Rasse sind, so ist ersichtlich von der anthropo-
logischen und urgeschichtlichen Forschung darüber Auskunft
erholt worden, welcher Zeitraum zwischen dem Ende der Eis-
zeit und dem Beginn der arischen Wanderungen, die bezüglich
das Ende der nrarischen Sprachperiode ist, verlaufen sein mag.
Selbst nach der Theorie von der Einwanderung der
Kurzköpse als Turanier oder Mongoloiden ans Asien war
ropologie und Geschichte.
mit dem allmählichen Freiwerden der östlichen Tiefländer
die geographische Isolierung der langköpfigcn Bevölkerung
Mitteleuropas aufgehoben; nur feindseliges Verhalten, Krieg
konnte die Absonderung der beiden Rassen festhalten.
Sehen wir dabei ganz ab von der vielfach sich geltend
machenden Vorliebe für große Zahlen, wie Quatrefages
das Ende der Eiszeit vor 100000 Jahren, der englische
Geologe Croll vor 80000 Jahren eingetreten sein läßt.
(Kritik bei Heer, Urwelt der Schweiz, 2. Ausl., S. 668.)
Die Berechnungen auf Grund der Kjökkenmöddinger, der
Küchenabfülle einer urgeschichtlichen Bevölkerung Dänemarks
nach dem Rückgänge der ehemaligen nördlichen Gletscher-
bedeckung, und aus Grund des mehrfachen Wechsels der
Vegetation in Skandinavien liefern immerhin die Angabe von
10 000 bis 12 000 Jahren ihrer Dauer. Die Theorie
Adhemars für die Dauer der Eiszeiten würde etwas geringere
Zahlen für den Anfang der Bewohnbarkeit dieser Länder
geben, doch hat sie sich nicht behaupten können.
Nun liegt die verhältnismäßige Festigkeit der arischen Ur-
sprache sicher viel weiter vom Ürsprunge der Sprache, besser
von den Anfängen der Sprachbildung ab, als die heutigen
arischen Sprachen von der Zeit ihrer Einheit. Die rasche
Veränderung von Natnrsprachen, d. h. den ungepflegten
Sprachen kleiner Jägerstämme, in jetziger Zeit muß davor
warnen, die arische Ursprache in allzu ferne Vorzeit hinanf-
zurücken. Die größere Festigkeit des Baues der Sprachen,
der Grammatik, wie man es kurz im Gegensatz zum Wort-
schatz nennen kann, ist kein Einwand dagegen. Der flexivischen
Stufe der arischen Ursprache gingen jedenfalls frühere
Entwickelungsstufen voraus. Wenn sich auch damals ab-
gezweigte Sprachen auf dieser Stufe erhalten hätten, so
wären sie nicht als arisch zu identifizieren.
Die Anfänge der Sprachbildung beschränken sich jeden-
falls auf wenige Wörter, deren Bedeutung sich auf den
engsten Kreis von Familien oder Horden als Träger-
sprachlichen Verständnisses beschränkte, wie andrerseits ihrem
Austausch nichts als die Schranken des Verkehrs entgegen-
standen. Das Leben der Sprachen ist an die sozialen
Verbände geknüpft; vor allem läßt ein größerer Reichtum
der Sprache an Bezeichnungen auch auf das Zusammen-
fließen des ehemals getrennten Sprachgutcs von Familien
und Horden schließen. So auch der verhältnismäßige Wort-
oder, wenn man will, Wurzelreichtum der arischen Ursprache.
Andrerseits sichert auch die große Anzahl der Sprach-
gcnossen die Sprache vor rascher Veränderung. Eine solche
umfassende Volkssprache erweitert, im engsten Zusammenhange
mit der Geschichte des Volkes, ihre Geltung und zehrt
lawinenartig eng begrenzte Sprachen auf. Das gilt nicht
nur für die Urzeit, es gilt unter veränderten Verhältnissen
and) für das Lateinische gegenüber den eng begrenzten
Sprachen der barbarischen Völkerschaften, die von den
Römern unterworfen wurden, für das Russische in Europa
und Asien, für das Spanische und Portugiesische in Süd-
amerika. In der Sprache selbst, als Drang der Mitteilung,
liegt ein Moment der Vereinigung des Getrennten. Für
die Urzeit müssen zahllose Sprachen angenommen werden,
bevor eine soziale Notation die Atome vereinigte.
Die Geschichte der arischen Sprachbildung hat also
gewiß einen viel späteren Anfang, als die Verbreitung der
langköpfigen Rasse in Europa, und auch als die der Ver-
breitung von Kurzköpfen. Man kann dann die Fragen
formulieren. Sind alle Langköpfe oder Blonden von An-
fang an die Träger der arischen Sprachbildung gewesen?
Dann mußten sie entweder isoliert von andern gelebt haben
oder die Sprachbildung muß ein Ausfluß der Rassen-
organisation gewesen sein! Oder hat die arische innere und
äußere Sprachgeschichte ihren Anfang in einem begrenzten
Prof. Dr. Pngvar Nielsen: Die lappische Völkerwanderung vom 17. bis l9. Jahrhundert.
211
Gebiete, wenn auch in einer Horde gleicher Rasse, die all-
mählich erwachsend und sich verzweigend 'in die arischen
Völker auseinandcrging? Dann konnte sie ja Lang- und
Kurzköpfe auch von Anfang an umfassen! Die Möglichkeit,
ob die arische Sprache von einer kurzköpsigen Bevölkerung
ausgegangen sein kann, wollen wir beiseite lassen.
Pcnka wie De Lapougc und ihre Anhänger nehmen eine
spezifische Begabung der Arier und der Rassen überhaupt
an; Penka vertritt auch mit aller Bestimmtheit das Ent-
weder der obigen Alternative; er und Lapougc bieten sa
gerade in dem Wechsel des blonden Elementes den eigent-
lichen Schlüssel des Verständnisses der Völkcrgeschichte.
Die lappische Völkerwanderung vom 37. bis 39. Jahrhundert.
Lin Kulturkampf zwischen Nomaden und Ackerbauern.
Von j?rof. Dr. tzngvar Nielsen. Kristiania.
(Mit einer Karte.)
Im Sommer 1889 bereiste ich die Gegenden von Nor-
wegen, die man bis vor einigen Jahren als die Heimat der
südlichsten Zweige der lappischen Nationalität betrachtet hat.
Meine Absicht war eine doppelte, erstens ethnographische
Sammlungen zu machen und daneben die eigentümlichen
Verhältnisse zu studieren, welche in den letzten Jahren einen
scharfen Streit zwischen den Nonmden lappischer Herkunft
und der festwohnenden norwegischen Bevölkerung hervorge-
rufen haben. Eine königliche Kommission
war eben eingesetzt, um die Sache rechtlich
zu beleuchten; mir lag besonders daran,
das interessante Phänomen ans nächster
^)eähe zu studieren, wie eine nomadische In-
vasion in Gegenden, die Jahrhunderte hin-
durch im Besitze einer zivilisierten Nation
gewesen, wirklich stattfinden konnte —
wodurch sie veranlaßt war, und wie sie
endlich ablaufen würde. Die Wissenschaft
hat sich verhältnismäßig wenig mit den
südlicheren Lappen beschäftigt, und was
man in den norwegischen wie in den schwe-
dischen Museen vorfindet, stammt zum
größten Teile von den mehr nördlich woh-
nenden Vertretern dieser Rasse. Aus der
beigefügten Kartenskizze wird der Leser den
nötigen Überblick von den besuchten Gegen-
den erhalten können. Es erstreckten sich die
Untersuchungen vom Südende des hoch ge-
legenen großen Gebirgssees Facmundsjö,
ein wenig südlich vom 62. Breitengrade
bis gegen den 65. ..um die Duellen des
Ramsen und der Angermannaelf, längs
der schwedischen Grenze.
Was hier augenblicklich ausfallen mußte,
war der große Unterschied zwischen dem
lappischen Leben und Treiben in der südlichen und nörd-
lichen Hälfte der bereisten Gegend. Es bildet hier die
1882 vollendete Bahn von Trondhsem nach Östersund (die
Merakerbahn) ungefähr die Grenze zwischen den süd-
lichen Gebirgsstreckcn, wo die lappische Rasse erst in neuerer
Zeit eingewandert sein konnte, nnd den nördlicheren, wo
alles darauf hindeutet, daß dieses kleine Volk seit vielen
Jahrhunderten über die Berge und durch die Wälder mit
seinen Renntierhcrden umhergeirrt ist.
Südlich von der Merakerbahn keine alten Gräber, keine
lappischen Ortsnamen, keine Traditionen, — nördlich davon
allerlei Merkmale einer alten Anwesenheit dieser Nomaden,
wie* ssie, von der Kultur überall umgeben, sich bis in
die Gegenwart erhalten können. Gräber in den öden Ge-
birgsgegenden, alte Opferstellen, wo vielleicht noch in unsern
Tagen der Nomade heimlich den alten heidnischen Göttern
seines Volkes eine materielle Huldigung darbringt H, immer
zahlreichere Namen lappischen Ursprunges zeugen hier von
dem alten Bürgerrecht der nordischen Nomaden. Auch das
historische Bewußtsein der einzelnen Lappen — wenn über-
haupt bei einem Nomaden von derartigen Begriffen die
Rede sein kann — ist ein ganz verschiedenes. Die Lappen
um den Faemundsjö, um den Aursnndensjö und um das
von der Nidelv durchströmte Hochthal von Tydalen haben
keine Erinnerung von der nicht besonders
weit entfernten Zeit, als ihre Vorfahren
noch Heiden waren; wer ihnen etwas der-
artiges erzählt, wird ausgelacht. Ganz
anders mit den Lappen, welche ihr leben-
lang die weiten Einöden um Joma,
Derga und Börgefseld durchstreifen;
die Gegend selbst, mit den alten Gräbern
und Opferstätten, mit den von ihrem Volke
in heiliger Ehrfurcht betrachteten Berg-
gipfeln, zwingt sie dazu. Um 1720 heißt
es von ihnen, daß sie ihre Toten in den
Gebirgen begraben, und diese Sitte hat noch
hundert Jahre fortgedauert. In Björnhus-
dalen, am Oberlaufe des Namsen, findet
sich ein lappisches Grab von 1828, ganz
in heidnischer Weise, und noch höher thal-
aufwärts ein andres, das ans dem Jahre
1820 stammt 2). Selbst heute mag hier
die Bekehrung eine mehr äußerliche sein.
Tie Lappen am Aursundcn sind gläubige
Christen; mit denen von Joma und Börgc-
fjeld mag es zweifelhafter sein. Ebenso ist
ihr Rassetypus, besonders ihr Blick wilder,
oder besser: weniger gezähmt. Sic sind
mehr bewußte Nomaden; in ihnen lebt wohl
auch mehr Haß gegen die Kultur, welche
sie von allen Seiten einengt. Alle ethnographischen Merk-
male zeigten deutlich, daß der Unterschied ein tiefer und
wohlbegründeter sein mußte. Von Norden her geht der
alte lappische Boden bis an die heutige Merakerbahn; süd-
lich von dieser sind die Lappen nur Einwanderer aus ziem-
lich neuer Zeit.
Als ich schnell diese Überzeugung gewonnen, war auch
meine Aufgabe als Sammler mir deutlich bezeichnet. Von
den Lappen anS der Umgegend von Röros habe ich Trach-
ten, Schmucke und einige Geräte erworben, die nicht be-
sonders ausgeprägt, auch nicht alt sind. Von Schädeln
waren keine zn haben, weil diese Lappen immer ihre Toten
u Tic südlichste, die man jetzt kennt, befindet sich auf
eincrstleinen^Jnfel im Tunnsjö, unter 64» 44' n. Br.
2) Tie Schädel aus beiden sind jetzt im ethnographischen
Museum zu Kristiania.
Fig. 1. Lappischer Löffel
aus Renntierhorn. Namsdalen.
1/2 natürl. Größe. Museum in
Kristiania.
27*
212
Prof. Dr. Pngvar Nielsen: Die lappische Völkerwanderung vom 17. bis 19. Jahrhundert.
in christlicher Weise auf den ihnen mit der norwegischen
Bevölkerung gemeinsamen Friedhöfen begraben hatten.
Bon den nördlicheren Lappen habe ich bessere Sachen
erworben, darunter auch — neben echt lappischen Schädeln —
einzelne Gegenstände, die bei den Lappen fast als Antigui-
tüten gelten können. Ein netter Lössel von Renntierhorn
(Fig 1) trägt die Jahreszahl 1822 und zeigt interessante
alte Formen, wie sie wohl nicht weiter südlich zu finden
sind. Besonders eigentümlich ist ein alter „Glockenkranz",
wie er um den Hals des Renntierbockes gehängt wird
(Fig. 2). Er sei zweihundert Jahre alt, sagten die Lappen
von diesem seltenen Stücke; wäre es nur hundert Jahre
Fig. 2. Lappischer Glockenkranz für Renntiere aus Namsdalen. iJg uatürl. Größe. Stickerei mit Zinndraht.
Museum in Kristiania.
alt, wäre es fast ein Rätsel, wie es noch existieren könnte.
Wahrscheinlich datiert es vom Anfang dieses Jahrhunderts.
Der „Kranz" ist von Leder verfertigt und mit verschieden
gefärbten wollenen Kleiderstücken be-
setzt. Die Stickerei — echt lappisch —
ist von Zinndraht und erinnert an
indianische Arbeit. Der Kranz wird
oben am Genicke des Bockes zusammen-
gebunden und hängt dann an beiden
Seiten herab, mit se einer Glocke an
scder Seite. Eine andre, aber neuere
Probe derselben Stickereien giebt eine
kleine, lose Tasche (Fig. 3), wie sic
immer von den Männern getragen
wird, welche darin ihren Tabak, ihr
Flintenzeug und ähnliches verwahren.
Alles dieses ist echt lappisch, wie
es auch aus einer alten lappischen
Gegend stammt, und zeugt von der
Gleichartigkeit der speziell lappischen
Kultur vom Eismeere bis an die
Merakerbahn. Man wird sie nirgends
besser finden, wohin man sich auch
wenden möchte. Es ist sogar wohl mög-
lich, daß sich eben bei diesen Lappen,
den norwegischen Namdalslappen I,
viel mehr Altes, viel mehr Ursprüng-
liches finden kann als bei den mehr nördlich wohnenden.
Sie haben ein mehr unbeachtetes Dasein geführt, vielleicht
eben deshalb auch um so leichter derartige Überreste be-
wahrt. Mehr südwärts soll man auch vergebens nach solchen
i) Das breite Namdal wird von dem Namsen durchströmt;
nach diesem Thale kann man überhaupt die auf den umgrenzen-
den Gebirgen lebenden Lappen mit einem gemeinsamen Namen
benennen.
Sachen suchen. Das Volk hat wohl seine alten Trachten
beibehalten, bietet aber sonst nicht viel, was den ethno-
graphischen Sammler interessieren kann.
Im Herbste 1889 habe ich dann
dieselben Fragen aus geschichtlichem
Wege zu untersuchen und zu beant-
worten versucht, und bin durch Stu-
dien der einschlägigen Litteratur und
archivalische Forschungen zu Resul-
taten gekommen, welche den an Ort
und Stelle gewonnenen rein ethnogra-
phischen Eindruck völlig bestätigen.
Der Zug der Lappen ist Jahr-
hunderte hindurch gegangen und geht
fortwährend von Norden gegen
Süden. Dieses kleine Volk befindet
sich in einem steten Vordrängen, das
es immer mehr in eine feindliche Be-
rührung mit der Kultur bringen muß.
Diese Thatsache allein muß genügen,
um mit der schon früher aufgegebenen
Theorie von einer ehemaligen lappi-
schen Bevölkerung, welche auf den süd-
licheren Bergen Norwegens als Fischer
und Jäger umherirrte, gründlich auf-
zuräumen. Man weiß ja jetzt, daß
die seiner Zeit viel besprochenen ver-
meintlichen Überreste lappischer Lager in den Hochgebirgen
von Hardangcrvidda einen norwegischen Ursprung haben
und von norwegischen Rcnntierjägern stammen. Wenn jetzt
die Lappen wieder in diese Gebirge ihren Einzug halten,
dann ist dies nicht ein Zurückkehren in die alte, vor Jahr-
hunderten verlassene Heimat, sondern eine Benutzung ganz
neuer Gegenden.
Archäologische Überreste, die einer alten lappischen Be-
Fig. 3. Lappische Tasche aus Namsdalen.
Stickerei mit Zinudraht. V4 natürl. Größe.
Museum in Kristiania.
Prof. Dr. Pngvar Nielsen
Die lappische Völkerwanderung vom 17. bis 19. Jahrhundert.
213
völkerung gehören können, finden sich überhaupt nicht süd-
licher, als in der Umgegend von Stenkjaer am inneren
Trondhjemsfsord. Eben in diese Breite setzen auch die älte-
ren Verfasser, welche im 16. Jahrhundert über die Lappen
geschrieben haben, ihre Südgrenze. Das Zusammentreffen
beider Zeugnisse ist kein Zufall.
Der alte norwegische Topograph, Peder Clanssön
Friis I, der um 1600 schrieb, setzt die Südgrenzc der Lappen
zwischen Namdalen und Jämtcland (das letzte auch bis
Ehemalige Grenzen und Vordringen der Lappen in Norwegen nach Süden.
Gezeichnet von A. Nielsen.
1045 norwegische Provinz). Der schwedische Verfasser,
Dla,ls Magni2), dessen Kenntnisse auf Mitteilungen
aus der ersten Hälfte des 16. Jahrhnnders beruhen, spricht
auch nicht von Lappen in südlicheren Gegenden; er teilt
speziell sehr genaue Nachrichten über die geographischen Ver-
hältnisse um den 03. Grad mit. Ein vereinzelter Lappe
U Schriften, herausgegeben von Tr. G. Storni, S. 399.
2) llistor. gent. septentrion., Üb. II, cap. 12.
. crfll. auch seine von Dr. O. Brenner veröffentlichte Karte
^ristiania Videnskabsselskabs Forhandl.,
1686, Nr. 15.
wurde 1057 in der Gegend der jetzigen Merakerbahn von
den gegen Schweden marschierenden norwegischen Soldaten
angetroffen I.
Die Verfasser des 17. Jahrhunderts sprechen sich mehr
unbestimmt aus. Jonas Ramus, dessen Beschreibung
von Norwegen 1715 erschien, nennt Lappen östlich von
Snaascn, I. F. Schefser kennt in seiner 1074 erschiene-
nen La pp onia Lappen in der Nähe von Underfaker, west-
lich von Östersund, an der jetzigen Bahn. Doch müssen
zu dieser Zeit oder ein wenig
später die Lappen diese Bahnlinie
überschritten haben und bis in die
Gegend um Storsjö Capel öst-
lich von Hede vorgedrungen sein.
Denn ein schwedischer Topograph,
der 1775 schrieb2), kennt in
dieser Gegend lappische Opfer-
stätten und Gräber, welche aus
alten Zeiten stammten. Die Lap-
pen müssen folglich diese Gegend
(unter 620 25' n. Br.) spätestens
um 1700 erreicht haben. Sic
wohnten aber dort südlicher als
einige Lappen in Norwegen, wo
— wie später erwiesen werden
wird — noch am Ende des 17.
Jahrhunderts die jetzige Meraker-
bahn ihre Südgrenze bildete und
sie sogar südlich von Snaasen
sehr spärlich vorkamen. Der
große Vorstoß, welcher die Lap-
pen weiter auf norwegischem Bo-
den forttrieb, kommt erst im An-
fang des 18. Jahrhunderts und
dann nicht von Norden her, son-
dern von Osten. Seit der Zeit
haben sie sich in Schweden nicht
weiter ausgebreitet; in der schwe-
dischen Provinz Dalarnc kommen
sic nicht vor, und höchstens kann
man da einen vereinzelten Bettler
von dieser Nationalität antreffen.
Im 17. Jahrhundert hat ihre
Zahl stets in Schweden zuge-
nommen2). Schon längst waren
dort im Norden des Reiches die
Lappen in die verschiedenen Lapp-
marken eingeteilt und für ihre
Bekehrung eine wirksame Mission
errichtet. Nachdem Jämtcland mit
Herjeadalen 1645 unter schwe-
dische Herrschaft gekommen war,
war auch von der jämtelandischen
Lappmark die Rede. Aber erst
spät (von 1746 an) organisierte
die schwedische Regierung hier eine
Mission. Bis damals hatten die dortigen Lappen als Heiden
gelebt. Wenn die zunehmende Nomadenbcvölkerung sich
neuen Platz suchen wollte, war sie auf Norwegen angewiesen,
i) I. A. Fridcricia, Jörgen Bjelkes Selvbio-
graphi (1890).
. 2) Abr. Hülp Hern, Samlingar tili en beskrif-
ning öfver Norr]and III, p. 69.
3) Nach Mitteilungen von Professor Dr. Gustav Storni,
welcher die schwedischen Steuerlisten studiert hat; die Resultate
seiner archivalischen Forschungen stimmen genau mit den mei-
I nigen überein.
214
Prof. Dr. Pngva r Nielsen: Die lappische Vc
zumal, da sie auch nur hier die nötigen Bedingungen einer
fortgesetzten Nomadenwirtschaft finden konnte. Das erste
Auftreten von Lappen in Norwegen, südlich von der Mera-
kcrbahn, muß durch das Anwachsen des Volkes veranlaßt
worden sein.
Zuverlässige Nachrichten über das erste Vorkommen der
Lappen, südlich von der jetzigen Merakerbahn auf norwe-
gischem Boden finden sich in einer 1742 niedergeschriebenen
amtlichen Relation von den Lappen, die von einem
intelligenten, norwegischen Offizier, Major Peter Schnit-
ter, verfaßt ist, welcher mit den vorläufigen Untersuchungen
für die neue, 1751 endlich abgeschlossene Grenzenregulierung
zwischen Norwegen und Schweden beauftragt war.
Major Schnitter, der seine Reise im Frühjahr 1742
unternahm, zu einer Zeit, wo die späterhin von den Lappen
besessenen Gebirge noch ganz mit Schnee bedeckt waren, war
bis zu Tydalen, am Oberläufe der Nidelv gekommen,
ohne von Lappen gehört oder gesehen zu haben. Sie waren
zu der Zeit am Faemund, am Aursunden und um Röros
nicht eingebürgert. Erst auf den Gebirgen, welche Tydalen
umgeben — in der skandinavischen Geschichte durch den
Rückzug des schwedisch-finnischen Heeres Januar 1719
traurig bekannt — hatte er Gelegenheit, mit der ihm bisher
nie vorgekommenen lappischen Rasse Bekanntschaft zu machen,
und er benutzte diese Gelegenheit, um seine Abhandlung, die
Relation von den Lappen, zu versassen, welche jetzt
eine große ethnographische Bedeutung erworben hatH.
Schnitter erzählt, daß die Lappen nach den Tydalschen
Gebirgen „in der Zeit der Eltern der jetzigen Bauern"
gekommen, und daß sie von Osten, von Schweden her,
eingewandert waren. In Schweden lebten sie schon längst
weiter südlich; nach der Schnitlcrschen Relation weiß man
also nun, daß die Einwanderung nach Norwegen um 1700
oder vielleicht besser schon in den letzten Jahrzehnten des
17. Jahrhunderts stattgefunden hatte. Einer der Lappen,
mit denen zu verkehren er jetzt Gelegenheit hatte, war selbst
1681 in Schweden geboren und führte ein Wanderleben ans
den norwegischen wie ans den schwedischen Grenzgebirgen.
Die Zahl der Familien war nicht groß; nach den Angaben von
Schnitter gab es in Tydalen nur drei, und ebensoviel an
der schwedischen Seite um Ljusnedal. Schnitler erzählt
weiter, daß die Lappen auch mehrere Versuche gemacht hatten,
aus der norwegischen Seite mehr südwärts zu drängen, daß
aber die Bauern ihnen Widerstand geleistet hatten und die
Eindringlinge zurückdrängten.
Die Schnitlersche Relation ist ein wertvolles unverwerf-
liches Zeugnis über die Völkerwanderung der Lappen. In
Schweden waren sie schon früher, als Heiden, bis über Ljus-
nedal vorgedrungen; in Norwegen kamen sie erst Ende des
17. Jahrhunderts nach den Tydalschen Gebirgen^). Die
hinteren Lappen haben die ersten Pioniere weiter vorge-
schoben; der Druck wurde diesen zu stark. Sie rückten vor-
wärts und andre nahmen ihre alte Stelle ein. Als der
Geschichtsforscher Gerhard Schöning 1773 Tydalen bereiste,
fand er Lappen auch an der Südseite. Sie hatten das
enge Thal überschritten und weideten ihre Renntiere auf
dem Gebirge Bukhammeren, zwischen dem Tydal und dem
Guldal.
Vielleicht war schon früher auch die Grenze gesprengt,
welche die Bauern um Röros und Aursunden noch 1742 * 2
1) Gedruckt im Jahrbuch der geograph. Gesellschaft
zu^Kr i stiania 1889/90.
2) Sporadisch kaun man sie schon weithin treffen. 1685
kam ein Lappe mit einem Renntier nach Opdal, uni sich dem
Könige Christian V. zu zeigen, welcher da nach Trondhjem
reiste. Wahrscheinlich gehörte er zu einer der gegen Tydalen
hervorrückenden Familien.
ölkerwanderung vom 17. bis 19. Jahrhundert.
gehalten hatten. Um 1780 waren jedenfalls die Lappen
schon um Röros eingebürgert und breiteten sich längs den
Ufern des großen Gebirgssees Faemund aus.. Die Gegend ist
nur spärlich bevölkert. Nach und nach haben sich hier die
Nachkommen der Bergmänncr von Röros angesiedelt und
zwischen den hochgelegenen Wäldern ihre vereinzelten Woh-
nungen gegründet. Hier drängten nun auch die Nomaden
vorwärts und fanden ein lappisches Dorado "vor, wo das
Renntiermoos in nie versiegender Fülle für ihre Tiere immer
vorrätig war. Ich kenne keinen Distrikt, wo die Lappen
so ausgezeichnete Weidegründe haben, wie eben um Faemund,
und sie wissen cs sehr wohl. Lappen mnd Röroiken haben
mir von dem Reichtum der Faemundgegend erzählt; sic be-
trachteten es als das herrlichste Ziel, einmal dahin zu kommen
und diese Herrlichkeiten zu sehen.
Als der Kronprinz Friedrich 1788 nach Trondhjem
reiste, stellten sich ihm die Lappen von Röros vor und er-
hielten von ihm einen Schirmbrief, auf den sie späterhin
ihre Rechte begründet haben. In diesem Jahrhundert haben
sic auch einige Thäler am Faemund verpachtet; sie glauben
selbst dadurch ein ewiges Recht erworben zu haben, und be-
achten nicht, daß der Termin schon längst überschritten ist,
ohne daß ihre Kontrakte erneuert sind.
Der Zensus von 1801 zeigte, daß in der Röros-
Facmundgegend im ganzen sieben lappische Familien von
32 Personen lebten. 1742 waren keine da gewesen.
Bald wurde ihnen aber der Raum zu eng. Ihre Tiere
müssen viel Platz haben, und sieben Familien war schon eine
hohe Zahl. Die Lappen sind keine aussterbende Rasse. In
Jemtland (Schweden) lebten 1830 im ganzen 334 Lappen,
welche Zahl 1870 ans 784 gestiegen war. Diese rasche
Vermehrung erklärt genügend die Ansdehnungskraft, welche
dieser Rasse innewohnt. In Schweden war der Raum
schon ausgenutzt. Wollten sie sich weiter ausbreiten, war
ihnen nur ein einziger Weg gelassen; sie mußten auf den
norwegischen Hochgebirgen weiter ziehen und sich dort neues
Land erobern.
Es ist eine weit verbreitete, aber irrige Meinung, daß
die Lappen von Röros und Faemund nur „ein elender Über-
rest des ehemals mächtigen südlappischen Stammes" sein
sollen. Es streitet dies gegen all unser Wissen.
Schon bald nach 1800 nahm dieser Kampf des allzu
rasch wachsenden kleinen Nomadenvolkes seinen Ansang.
Es drehte sich damals und dreht sich noch in unsern Tagen
um das Überschreiten des Glommenflusses und des Österdals.
Der Reisende, welcher hier mit der Bahn nach Trondhjem
reist, ahnt nicht, welch ein Kulturkampf oben in den Höhen
geführt wird. Es ist dies der Kampf zwischen Acker-
bauer und Nomade.
Die Lappen glauben selbst von Gott mit allen nor-
wegischen wie schwedischen Gebirgen belehnt zu sein. Der
Bauer hat das Thal, wir die Höhe; so sagen sie immer.
Unglücklicherweise meint nun der Bauer auch ein Recht an
die Höhen zu haben, wo er seit uralten Zeiten seinen Senn-
betrieb hat. Die Lappen lassen sich nicht mit dem öden
Steinboden, mit Schnee und Gletschern genügen. Im
Sommer geht ihr Zug auf dieselben Weiden, wo die Bauern
ihre Herden haben, und im Winter sind sie gezwungen, ihren
Tieren Schutz in der Waldrcgion zu verschaffen.
Ein Zusammenstoß war unvermeidlich, sobald die Lappen
den Glommen und die Gula — die jetzige ans der Karte
angegebene Eisenbahn Kristiania - Trondhjem — über-
schritten. Die Gerichtsakten wurden damit auch die Amiales
Lapponici. In: Jahre 1810 überschritten die ersten Lappen
die genannte Linie. Röros liegt im Amte Süd-Trondhjem,
Tolgen im Amte Hedemarken. An dem rechten User des
Glommen lagerten sie sich nördlich von der Grenze zwischen
Dr. I. H. Kloos: Die Höhlen bei Rübeland im Harz.
215
den beiden Ämtern, ließen aber ihre Tiere südwärts davon >
umherstreifen, wie sie die Weiden der hochgelegenen Thäler
von Os und Dalsbygden betraten. Ihre Hauptstalion
war im Sennenthal, Hersedalen. Schon 1811 kam die
Katastrophe.
Am 25. August 1811 versammelten sich die durch die
neue Invasion in ihren. Interessen bedrohten Bauern und
ermordeten am selbigen Tage 300 bis 400 Renntiere. Die
Rappen klagten den Behörden und so wurde ein Kriminal-
prozeß eingeleitet. In 1813 wurden die Bauern von einer
Spezialkommission, und 7. Septbr. 1814 von dem Ober-
kriminalgericht verurteilt. Später, noch ehe der Prozeß vor
das höchste Gericht gebracht war, wurde ein Ausgleich
geschlossen l).
Die Bauern bezahlten 18000 Reichsthaler, und die Lappen
versprachen, weg zu ziehen. Der. Lappe, Jon Mortenssön,
welcher das Geld abholte, hatte sich aber betrunken und die
ganze Summe weggeworfen. Er endete als Bettler.
Sämtliche Lappen verließen die neuen Stationen im Herjcdale
an den Seen Oinngen und Elgssöen, und waren für
20 Jahre von dort verschwunden.
1835 erschienen da wieder im Winter einige arme
Lappen, welche von Riastin, zwischen Anrsunden und Tydalen
kamen und dort in fünf bis sechs Wintern ab und zu von
neuem erschienen. Einen neuen Besuch von Lappen hatte
man dort in zwei Wintern in den 60er Jahren.
Endlich kam 1877 die letzte Invasion nach Hersedalen.
Die Lappen überschritten dann Glommen und sind seither
in den Sennenthälern am rechten Ufer, besonders in Hersedalen
umhergeschweift. Sie sind da Winter und Sommer. Ihre
Renntiere zählen zwischen 4000 und 6000.
Die Folge ist eine Reihe von Prozessen gewesen. August
1890 hatten sich die Bauern ans ein neues Eingreifen vor-
bereitet; sie versammelten sich und wollten die Renntiere und
ihre Herren vertreiben. Glücklicherweise verschwanden diese
aber vorher. Später sind sie wieder zurückgekommen.
Weiter und weiter geht der Zug. Während man im
Osten prozessiert, wandern die Lappen weiter gegen Westen.
1800 ließen sie sich auf den Gebirgen von Stangvik nieder.
1889 erreichten sie auf ihrem Marsche südwärts die Hoch-
thäler vom Gudbrandsdale, wo sie überall in Streit mit
den Bauern geraten. 1890 hörte man endlich von einer
lappischen Kolonie, welche in den öden Hochebenen von
Hardangervidde sich niedergelassen hatte, und damit waren
die äußersten Borposten der Nomaden bis gegen den 60. Grad
vorgedrungen.
Alle diese Lappen leben als Nomaden, und sämtlich
gehören sie der Röros-Faemnndgrnppc an, mit einem ge-
wissen Zusätze von schwedischen Lappen. Der Borstoß kommt
immer von Schweden, und neue Lappen treten immer an
U Diese und die folgenden Einzelheiten verdanke ich der
Tüte des Präsidenten der kgl. Lappenkommission, Herrn Stants-
advokat H. Berg in Elverum. Die Sache selbst ist schon längst
bekannt; siehe Bargas Bedniar. Reise nach dem hohen
Borden (Frankfurt a. M. 181!») I, S. 259 ftg.
die leeren Stellen, — der beste Beweis, daß das kleine
Bolk im Zunehmen begriffen ist H.
Ihr fester Glaube an das gottgeschenkte Recht kann
sie aber nicht retten. Überall ist die lappische Frage eine
brennende geworden, und der Kampf wird auch überall mit
denselben juristischen Waffen geführt. Wie soll dies enden?
Die Frage muß endgültig durch die bevorstehenden Urteile
abgemacht werden, und damit muß dem Vordringen der
neuen Kolonieen Einhalt geboten werden. Die Lappen
müssen ihre neu besetzten Territorien verlassen, sofern sie
nicht ihre Herden an die Bauern verkaufen und in ihren
Dienst treten. Alle seit 1877 gemachten Eroberungen
müssen aufgegeben werden, und höchstens kann man die Lappen
in ihren älteren Sitzen um Röros und Faemund sitzen lassen.
Ihre Stellung ist wesentlich eine andre, östlich und westlich
von der Eisenbahn Kristiania-Trondhjem.
Die alten Sitze erlauben keine Erweiterung des Tier-
bestandes; sind sie doch schon ziemlich stark besetzt; der Über-
schuß des Volkes kann dann nicht mehr in der altherge-
brachten Weise leben. Sich der Kultur fügen wollen und
können sic vielleicht nicht; sie werden nicht in die Reihen
der festwohnenden Bevölkerung übertreten. Ihr künftiges
Loos muß damit als das traurige der Bettellappen bezeichnet
werden. Auch jetzt leben in den alten Sitzen mehrere
Familien, die ihren Besitz an Renntieren verloren haben
und ein elendes Leben als Bettler dahinschleppen, indem
sic zugleich ihre Nachbarn, die Bauern, gründlich hassen.
Die Zahl derartiger problematischer lappischer Existenzen
muß sich mit der Zeit bedeutend mehren. Die norwegischen
Lappen sind Nomaden oder Bettler; sie können sich die
Kultur so weit aneignen, als es mit dem Nomadenleben
vereinbar ist. In ihren rauhen Zetten sieht der Reisende
englische Wanduhren, er trinkt Kaffee aus Porzellan. Sich
ruhig niederlassen und Ackerbau treiben, ist ihnen aber bis
jetzt nicht eingefallen. Ein vereinzelter Lappe, der reiche Paal
Jonssön, hat sich gewiß eine Hütte und etwas Land dazu
gekauft, um damit der Rechte der wohnhaften Bauern teilhast
zu werden. Seine Söhne setzen das alte Leben fort und
ziehen mit seinen Herden von einem zum andern Weideplätze.
Die Gerichte werden die Frage lösen müssen.
Bon der kgl. Lappenkommission wird man hoffentlich
binnen kurzer Zeit eine Denkschrift erhalten, welche den
thatsächlichen Bestand aller dieser verwickelten lokalen Streit-
fragen in ihren Einzelheiten darlegt. Auf dieser Grund-
lage muß dann weiter gearbeitet werden.
Mittlerweile werden die Prozesse ihren Gang gehen, —
eine eigentümliche Form eines Kulturkampfes zwischen Acker-
' bauern und Nomaden. Diese Prozesse sind fast zu einer
! Institution geworden. Einer der Lappen, die Herjedalen
besetzt halten, hat — so wird cs wenigstens erzählt — seinen
besonderen Advokaten, den er mit einem festen, nicht unbe-
: trächtlichcn jährlichen Gehalt bezahlt. i
Tydalen gilt noch als eine Grenze; nördlich davon leben
die Rordlappen, südlich die Südlappen, wie sie allgemein in der
i Gegend bezeichnet werden.
Die Döhlen bei Rübeland im Darz.
Dem Dr. j- l). Kloos. Braunschweig.
II.
Nach der Trockenlegung und teilweisen Zerstörung trat mit zahllosen Knochen gemengtes lockeres Gestein, welches
eine zweite Art von raumausfüllender Thätigkeit ein. Die unter Mitwirkung der organisierten Welt zustande kam.
Produkte derselben sind verschiedener Art. Entweder lieferte j Es ist dies der sogenannte Höhlenlehm, ein Gestein, wel-
sw schüttige Massen, scharfkantige oder wenig abgerundete > ches der jüngsten geologischen oder Quartärperiode ange-
Kalkblöcke und Kalkgrus, oder ein völlig neues Gebilde, ein hört. Endlich sind hierzu auch die Kalksinterbildnngen und
216
Dr. I. H. Kloos: Die Höhlen bei Rübeland im Harz.
Tropfsteine zu rechnen, welche ausschließlich der chemischen
Thätigkeit des Wassers ihre Entstehung verdanken.
Diese verschiedenen Stadien lassen sich in den Rübe-
lander Höhlen in ausgezeichneter Weise verfolgen. Der
tiefste, in 1866 aufgefundene Höhlengang trägt über eine
Länge von nahezu 100 m noch jetzt überall den ausgeprägten
Charakter eines unterirdischen Flußlaufes, wie solcher durch
Fig. 1 (oben S. 196) veranschaulicht wird. Er enthält
die eingeschwemmten Massen in unversehrtem Zustande. In
einem 7 m tieferen Niveau nagt jedoch unausgesetzt der
Fluß mittels einer unterirdischen Abzweigung, welche ihren
Weg in derselben Richtung nimmt, worin das Höhlensystem
sich erstreckt. An der Stelle, wo der Kalk zu Ende ist,
vereinigt das Wasser des Höhlenbaches sich wieder mit der
Bode. Vorher hat es jedoch eine mächtige Ablagerung von
Flußlehm mit zusammengeschwemmtem Schutt, mit Knochen
und Kalkblöcken derart unterspült, daß nur noch eine Sinter-
schicht übrig blieb, welche jetzt in gefahrdrohender Weise den
gespenstigen Raum überwölbt, über dessen schlüpfrigen Boden
man sich mühevoll einen Weg bis zum nächsten stehen
gebliebenen Kalkpfeiler suchen muß.
Die durch das Einbrechen der Decke entstandenen Räume
zeigen im Gegensatz zu den Schwemmhöhlen überall zackige
Konturen, sowie ebene (nicht gerundete) Ablösungsflächen
der Kalkblöcke, die sich oft noch an den betreffenden Stellen
einpassen lassen, von wo sie herabgestürzt sind.
Fig. 3 ist einer charakteristischen Stelle in der Hermanns-
höhle entlehnt, welche ihre ursprüngliche Gewölbeform ein-
Fig. 3. Zerstörtes Gewölbe in der Hermannshöhle.
gebüßt hat und eine solche nur noch in den allgemeinen Um-
rissen des Raumes zu erkennen giebt. Die entgegengesetzt
einfallenden Spaltenrichtungen sind hier deutlich ausgeprägt;
sie bringen die dachförmige, zugeschärfte Gestalt der Decke
hervor. Die Sohle des Höhlenganges besteht nicht aus
festem Kalkscls, wie in den noch erhaltenen Resten früherer
Schwemmhöhlen, sondern'aus einem Haufwerke scharfkantiger
Blöcke, welche in der durch Bruch erweiterten Spalte ein-
geklemmt liegen und durch Sinterbildung zu einer riesen-
haften Breccie verkittet worden sind.
Es ist im höchsten Grade wahrscheinlich, daß die Höhlen
bei Rübeland, welche gegenwärtig durch das bis 80 ui tiefe
und 200 m breite, schluchtartige Thal getrennt sind, in
früheren Zeiten, als der Fluß noch weniger tief in das
Kalkmassiv eingeschnitten hatte, in Zusammenhang standen.
Rur dann lassen sich die Erscheinungen erklären, welche die
Höhlcnsauna darbietet; auch ist die Entstehung von Thälern
in Kalkgebirgen durch Einsturz früherer Hohlränme eine
auch anderweitig, z. B. in Porkshire, sicher gestellte That-
sache. So weit die unterirdischen Räume jetzt durchforscht
sind, liegt das höchste Schwemmhöhlenniveau des Rübe-
lander Höhlensystems in den neuen Räumen der Baumanns-
höhle. Hier fand ich in einer Höhe von 35 iu über dem
jetzigen Bodebette und 16 m unter der Oberfläche des über-
liegenden Plateaus die deutlichen Reste eines früheren Fluß-
laufes. Man erreicht diese Stelle jetzt von einer großen
Blockhalde in der Haupthöhle auS auf Leitern, mittels deren
man durch die Einbruchsstelle hinaufsteigt. Der regelmäßig
gewölbte Raum ist fast bis unter die Decke von einem röt-
lichen, stark versinterten Lehm erfüllt. Derselbe enthält
viele abgerundete Geschiebe, unter denen ich Hornsels, Kiesel-
und Thonschiefer, Grauwacke und einen weniger festen Sand-
21?
Dr. \ H. Kloos: Die Höhlen hei Rübeland lM Harz.
stein erkennen konnte. Es ist dieser alte Flußarm der einzige
Raum in den höheren Niveaus, wo ich noch fremde, von
außen eingespülte Gesteine auffand. Diese oberste Flntz-
kiesablagerung ist jedoch nur ein unbedeutender Rest früherer
ausgedehnter Absätze. Ihr Auftreten in einem so hohen
Niveau kann nicht auffallen, wenn nian bedenkt, daß au s
über Tage in gleicher Höhe alte Schotterterrassen vor om-
inen. Dergleichen sind namentlich auch im Bodcthalc oni
halb Rübeland bekannt. . . ,
Die riesigen Blockanhäusungen, welche die untern dis sen
Räume stellenweise völlig ausfüllen, ziehen sich in cm no s
höheres Niveau als die oberste, bis jetzt anfgefnmcne
Schwemmhöhle. Im neuen Teile der Baumannshdh e ge-
lang es, ans einem solchen Felssturz bis etwa 5 m nn er
Tage hinaus zu klettern. Dann war jedoch die Spalte vo
ständig verstürzt. , .
Was die Größe der bis jetzt bekannten unterirdlschcn
Räume bei Rübeland anbelangt, so sind ln horizontaler
Ausdehnung in der Hermannshöhle etwa 400 m zugäng-
lich gemacht worden. In der Banmannshöhle wurde in
neuerer Zeit gewöhnlich nur eine horizontale Erstreckung
von etwa 200 m befahren und in der Bielshöhle beträgt
die lineare Ausdehnung der Räume etwa 240 m. In der
Hermannshöhle ist es jedoch dem Besucher, welcher die müh-
selige Fahrt über unebene und schlüpfrige Wege nicht scheut,
möglich, 600 m Länge zu durchwandern und in der Bau-
mannshöhle wurde diese Möglichkeit sich auf etwa 700 m
erstrecken, daher die Gesamtausdehnnng der unterirdischen
Räume unsres kleinen Kalkgebirges durch die neuesten Ent-
deckungen bis zu 1500m oder l^km angewachsen ist.
Größe und Ausdehnung der Höhlen eines Kalk- oder
Dolomitgebirgcs würden bedeutend erheblicher sein, wenn
dieselben nicht von lockeren Bildungen sowohl wie von kom-
pakten Massen nachträglich wieder in so hohem Maße aus-
gefüllt wären. Das Studium der verschiedenartigen Höhlen-
ausfüllnngen ist von dem größten Interesse für die Geologie,
um so mehr, weil diese gewöhnlich Reste einer untergegan-
genen Tierwelt beherbergen. Letztere besteht zum Teil aus
eigentlichen Höhlenbewohnern, teilweise aber auch aus solchen
Tieren, welche entweder durch Raubtiere eingeschleppt oder
Fig. 4. Skelett des Höhlenbären aus der Hermannshöhle.
. ., .... „„„.^11 Um festgeklemmt zwischen den Wänden der Spalten und dienen
nach ihrem Tode vom Wasser emgefchwenu ‘ ^ f0 als Unterlage für kleinere Blöcke und Schnttmassen.
hinsichtlich der einen oder andern Ents c)i st*- ^ Entfernt man in Gedanken diese erstaunliche Menge zer-
Knochenablagernngen in Höhlen Slcheryen z 6 , störten Kalksteins, so bleibt ein einziger, zusammenhängender
müssen genau wie bei allen geologischen Ll 1 > 4 ^aum pchrig, der nur hin und wieder von einem stehen
Gebiete der sedimentären Formationen £>tc . M cr' gebliebenen Pfeiler unterbrochen wird. Wir sahen bereits
welche die organischen Reste einschließen, am g oben, daß die einzelnen Höhlengänge häufig nichts weiter
forscht und aus ihrer Beschaffenheit aus w 9 I «n^ als zufällige 'Niveaus, Zwischenräume in dem Felsen-
hältnisse geschlossen werden. , Dabei i t » pinanbcrfotqc Haufwerke, durch Festklemmung der Blöcke entstanden. Man
urteilung der Altersverhältmste und u '1 b U1\v ^>merkt dies allerdings nur in solchen Höhlen, wo die Wege
verschiedener Faunen die größte Borsicht zn gc ^ noch nicht durch Menschenhand geebnet wurden. Das Auf-
c8 fehv häufig mit dislozierten Bllcnttgcn , ^ von Blöcken und Einebnen der Wege kann die ur-
geschwemmtem Material zu thun haben, vc 1 , sprünaliche Physiognomie einer größeren Höhle vollständig
weise einen mehrfachen Transport durchgu ach h° ^.stören und eine ganz falsche Vorstellung ihrer Entstehuugs-
daher Tierreste aiis verschiedenen ^^eu eu habllu^amu ^rerrufen
Auch bei Rübeland siud die Ho)ci ^ ßst, bereits Die nächste Stelle in bezug auf Mafsenhaftigkeit nimmt
"mannigfacher Art. Am meisten . ^un Trümmer- daun der Süßwasserkalk ein. Diese lediglich der chemischen
mehrfach erwähnten gewaltigen - j , Niveaus der Thätigkeit des Wassers, ohne Mitwirkung der organisierten
selder ein, die sich häufig ) st J . incn KM 'N'atur entsprungene Neubildung ruft zwar keine Kalksteine
fniheren Flußläufe verfolgen lasser. ^ ^ können im eigentlichen Sinne des Wortes hervor, immerhin kann
btt Äa,tsmttt in btr 7 *m’fitfh,ra ""b
Globus L1X. Nr. 14.
21Ö
Dr. I. H. Kloos: Die Höhl
Kalkkrusten einen bedeutenden Raum einnehmen und engere
Gänge zwischen den Blockfeldern oder im festen Fels voll-
ständig verschließen.
Die Rübelander Höhlen sind sämtlich Tropfsteinhöhlen
und bilden als solche einen Hauptanziehungspunkt für die
Touristen des Harzes.
Weniger Raum einnehmend, aber von der größten Be-
deutung für die Geschichte unsrer Höhlen und ihrer Bewohner
sind die knochenführenden Ablagerungen. Vor allem
ist dies der Fall mit dem eigentlichen Höhlenlehm, welcher
selbst zu einem großen Teil aus den Substanzen des tieri-
schen Leichnams zusammengesetzt ist. Seine Bildung fing
in einem Zeitalter an, welches dem Erscheinen des Men-
schen auf unsrem Planeten unmittelbar vorangegangen
ist und ragt noch in die gegenwärtige Entwickeluugsperiode
desselben hinein. Durch die neuen Entdeckungen in der
Hermanns- und Baumannshöhle ist für den östlichen Harz
das Vorhandensein wenigstens zweier in ihrem Charakter völlig
verschiedener Höhlenfaunen der Diluvialzeit nachgewiesen.
In der älteren Fauna ist der Höhlenbär, Ursus spelaeus,
weitaus die bezeichnendste und die so sehr überwiegende
Tierform, daß alle übrigen Knochenrcste gegen dieses im
ganzen Diluvium der alten Welt auftretende Raubtier ver-
schwinden.
Trotz der großen Menge von Knochen dieses Bären in
den verschiedensten Alterszuständen, welche sich in den Rübe-
lander Höhlen vorfinden, ist cs hier ebensowenig wie in
andren gleichalterigen Höhlenablagerungen bis jetzt gelungen,
ein nur annähernd vollständiges Skelett desselben aufzu-
finden. Die in den Museen vorhandenen Gerippe des
Ursus spelaeus von verschiedenen deutschen, österreichischen
und polnischen Fundorten sind stets zusammengesetzt aus
den Knochen verschiedener Individuen und dies findet seine
naturgemäße Erklärung in der Entstehungsweise des Höhlen-
lehms, der die Reste beherbergt. Ein derartiges, aus mög-
lichst zusammengehörigen und zusammenpassenden Einzelteilen
des Ursus spelaeus aus der Hermannshöhle zusammen-
gesetztes Sklett ist nun auch in dem Naturhistorischen
Museum der Technischen Hochschule zu Braunschweig anf-
geftellt und bringt Fig. 4 eine Abbildung desselben. Der
mit dargestellte Maßstab in Zentimetern ermöglicht cs, aus
der Abbildung die Maße der verschiedene» Sklettteile dieser
ausgestorbenen Spezies zu entnehmen und dieselben mit
denjenigen der entsprechenden Teile der Bären unsrer jetzigen
Schöpfung zu vergleichen.
Am auffälligsten bei unsrer Spezies ist die Größe des
Kopfes im Verhältnis zur Länge des Körpers. Der Eis-
bär, sowie der Grislybär, welche ihrem Geführten der
Diluvialzeit in der Größe am nächsten stehen, oder gleich-
kommen, zeigen in dieser Beziehung gerade das umgekehrte
Verhältnis.
Außer dem Höhlenbären finden sich von größeren Tieren
in der älteren Fauna noch vereinzelt Reste des Höhlenlöwen
(Felis spelaea), des Wolfes (Canis lupus) und des Edel-
hirsches (Cervus elaplms). Von kleineren Tieren wurden
bis jetzt aufgefunden der Hamster (Cricetus frumentarius),
sowie Reste von Lemmingen (Myodes). Alle diese kleineren
und größeren Knochen, reichlich vermischt mit scharfkantigen
Kalkbrocken von der verschiedensten Größe, sind in einem
echten Höhlenlehm eingebettet. Derselbe hat in feuchtem
Zustande eine gelblich- bis rotbraune Farbe und eine thonige
Beschaffenheit; getrocknet ist er pulverig und nimmt dann
eine brüunlichgelbe bis gelblichgraue Färbung an. Die
chemische Untersuchung hat nachgewiesen, daß hier eine
Mischung von kohlensaurem und phosphorsaurem Kalk mit
Thon, feinstem Sand und organischen Stoffen, aber in den
verschiedensten Verhältnissen, vorliegt.
en bei Rübcland im Har).
Die organischen, zum Teil stickstoffhaltigen Bestandteile
rühren unzweifelhaft von den verwesten Leichnamen und
Exkrementen, der phosphorsaure Kalk von den Knochen der
großen Säugetiere her. Der Höhlenlehm mit dieser älteren
Fauna tritt in verschiedenen Niveaus auf. Er bildet zum
Teil eng begrenzte, bis zu 10 m mächtige Terrassen, zum
Teil erstreckt er sich im Zusammenhange aber mit weit
geringerer Mächtigkeit durch die Blockhalden, wo er, wie in
der neuen Baumannshöhle, bereits 50 m weit verfolgt wer-
den konnte. Diese Ablagerungen bestehen größtenteils aus
zusammengeschwemmtem Material und die betreffenden Tier-
reste sind erst nach dem Tode der Tiere an ihre jetzige
Lagerstätte geraten, mit andern Worten, sie haben in den
unterirdischen Räumen einen Transport durchgemacht und
dieser kann nur durch fließendes Wasser bewirkt sein.
Für die jüngere Fauna giebt in der Baumannshöhle
das Renntier, in der Hermannshöhle das Moorschncehuhn
(Lagopus albus), oder eine nahe verwandte Vogelspezics
die häufigste Tierform ab. Außer diesen beiden Tieren
finden sich jedoch eine Menge andrer, meistens kleinerer
Vierfüßler und Vögel, von denen bis jetzt die nachfolgenden
Arten mit Sicherheit haben erkannt werden können. Es
sind dies die beiden Lemminge (Myodes torquatus und
lemmus oder obensis), der Pfeifhase (Lagomys hyper-
boreus), die Wasserratte (Arvicola ampbibius), die
nordische Wühlratte (Arvieola ratticeps), der Hamster
(Cricetus frumentarius), das Hermelin (Putorius
Erminius), der Fuchs (Canis vulpes), das Pferd (Equus
caballus fossilis), der Schneehase (Lepus variabilis), die
Spitzmaus (Sorex cf. alpinus), der Pferdespringer (Alac-
taja jaculus), sowie unzählige Reste von Fledermäusen.
Von letzteren läßt sich nicht immer bestimmen, ob sie zu
einer verschwundenen oder rezenten Höhlenfauna gehören.
Eine nähere Bestimmung erwarten noch die Hornzapfen und
das Unterkiefer-Bruchstück einer Antilope, welche zur Gemse
(Antilope rupicapra) gehören können, sowie das Bruch-
stück eines Hornzapfens vom Ochsen, möglicherweise von
Pos primigenius herrührend. Von letzterem ist es auch
unbestimmt, ob er zur älteren oder jüngeren Fauna gehört.
Das Bruchstück wurde mit stark abgerundeten Kalkstein-
geröllen, sowie mit Resten vom Höhlenbär und von andren
Raubtieren in einem der vormaligen Flußläufe in der
Baumannshöhle aufgefunden.
Alle hier nicht genannten sonstigen in den Rübelander
Höhlen aufgefundenen und in den letzten Publikationen auf-
geführten Tierreste, wie Reh, Igel, Fuchs und Marder, sind
unzweifelhaft rezent und der jetzigen Fauna des Harzes an-
gehörig.
Das Muttcrgcstein der jüngeren, aber ebenfalls ver-
schwundenen Höhlenfauna bei Rübeland ist vom eigentlichen
Höhlenlehm völlig verschieden und besteht aus einem klein-
schüttigen Kalkgrns, vermischt mit einem hellfarbigen, grauen,
kalkreichen Lehm von gleicher Beschaffenheit wie der Ge-
hängeschutt des äußeren Geländes. Die räumlich eng be-
grenzten Lagerstätten besitzen jedenfalls eine weit geringere
Ausdehnung als die älteren Ablagerungen und haben die
Form von Spaltenausfüllungen und Schuttkegeln. In der
Hermannshöhle ist das lockere Gestein an zwei Stellen be-
kannt. Die eine liegt in der unteren Schwemmhöhle, 8 bis
9 w. über der Bode und erwies sich als die Ausfüllung einer
50 cm breiten, zu Tage gehenden Kluft. Die zweite, weit
bedeutendere, findet sich in der Haupthöhle und hat die Form
eines von den schönsten Tropfsteinbildungen bedeckten Schutt-
kegels. Die Basis desselben liegt in einer Höhe von 16m
über der Bode. Die Ausdehnung nach oben ist nicht be-
kannt, jedoch weiß man, daß der Schutt auch hier die Aus-
füllung einer Spalte bildet, welche möglicherweise zu Tage
Die Altertümer Chiriquis.
219
ausgeht. Vom Fuße des Kegels verbreitet sich ^dcr graue
Lehm, mit kleinem Kalkschutt vermischt, in das innere er
Höhle und macht allmählich dem rötlichen,,, phosphorsaur
reichen Höhlenlehm Platz, ohne daß eine Überlagerung zt
bemerken wäre. Daher sind die Verhältnisse hier ft ft
wischt und eine Aufeinanderfolge zweier Faunen tonn e mt
Sicherheit nicht festgestellt werden. Der Höhlenbär '1
dem Schuttkegel selbst nicht vertreten, stellt sich j^o 1
Fuße desselben bereits im grauen Lehm ein und seme lCl 1
nehmen, sobald der braunrote Lehm sich einstellt, sosor e
Häufigkeit zu. ... -
In dem neuen Teile der Baumannshöhle liegt cm
Schuttkegel von 9 m Höhe und etwa 50 m Umfang au
Basis, von gleicher Beschaffenheit wie der soeben beschncvcm
zum Teil auf den Ausfüllungsmassen erncr cmgcstm cn
Schwemmhöhlc, zum Teil auf großen, in einer ^pa > '
geklemmten Blöcken. Während die Unterlage dieses Kege s
die ältere Fauna beherbergt, führt der Schutt iiur >0fti l
Fauna. An der Grenze beider Ablagerungen ft ^ .
Knochen teilweise vermischt, nichtsdestoweniger 'l eine -
cinandcrfolgc sicher gest!«,. Ob in dem Sch»Nk°g° »
verschiedene, durch bestimmte Ticrsormm chamtlcnste,
Schichten unterschieden werden können, laßt \\ ) 11_ )
mit Bestimmtheit sagen. In petrographischer Hinsicht Ir ß
sich namentlich eine seinsandige Schicht unters )eii ,
beiul Eingraben in den Schuttkegel , m 2 a m x. ij
dem Gipfel, aufgefunden wurde. Dieselbe beste) <
aus wenig gerundeten Quarzkörnchcn, deren r
Gestalt erst mittels des Mikroskops au gefunden
können. Daneben fand ich Splitter von Fcldsp , ' '
Hornblende und Turmalin, alles in feinster Berteillmg
(Durchmesser der einzelnen Körner und Spltt er ' .
bis 0,15 nun). Dieser an den Fingern hastende stau art g
Sand hat die größte Ähnlichkeit mit dcnl . oß von den
hängen unsrer großen Flußthüler und deutet auf eine a) -
liche Entstehung. Von gleich feiner Verteilung ist der dem
eigentlichen Höhlenlehm beigemengte Quarzsand. Er dürfte
durch starke Winde in die Spalten cingeblasen sein. Eine be-
sondere Bedeutung erhält diese vermutlich äolische Bildung
durch die Auffindung eines echten Steppenticrcs in einer
lockeren, mit etwas seinem Staub vermischten Schicht kleiner,
scharfkantiger Kalksteine unmittelbar über dem lößartigrn
Sande. Es ist der bereits oben erwähnte große Pferde-
springer (Alactaga jaculus), der ganz besonders für die
Steppenfauna der Gegenwart charakteristisch ist. Mit diesem
Tiere in der nämlichen Schicht liegen Reste von Nagetieren,
von welchen die nordische Wühlratte (Arvicola ratticeps)
mit Sicherheit hat erkannt werden können, sowie mehrere
Exemplare von Helix hispida.
Das Vorkommen von Stcppentiercn mitten im Harz
ist jedenfalls eine auffällige und in wissenschaftlicher Hinsicht
höchst bemerkenswerte Thatsache. Im übrigen trägt die
jüngere diluviale Fauna aus den Rübelander Höhlen einen
ausgeprägt nordischen Charakter und deutet in jeder Hinsicht
auf eine von der gegenwärtigen starken Waldbedcckuug völlig
verschiedene Vegetation *).
!) Die diesem Aufsätze beigegebenen Abbildungen wurden
dem Werke über die Hermannshöhle von Dr. I. H. Kloos
und Dr. Max Müller (Weimar 1889, Verlag der Deutschen
Photographen-Zeitung) entlehnt. Die Untersuchungen in den
neuen Teilen der Baumannshöhle, ausgeführt von den Professoren
Dr. W. Blasius und Dr. I. H. Kloos, haben im Frühjahre
1891 einen Anfang genommen. Außer einigen vorläufigen
Mitteilungen von Dr. I. H. Kloos in der Zeitschrift der
Deutschen geologischen Gesellschaft von 1888, S. 300 sind über
die Funde in der Baumannshöhle bis jetzt nähere und aus-
führlichere Mitteilungen erschienen in den Braunschweigischen
Anzeigen Nr. 289 bis 291 vom 10. bis 12. Dezember 1890, auch
besonders als Auszug aus dem Sitzungsbericht des Vereins
für Naturwissenschaft zu Braunschweig vom 27. November 1890.
Braunschweig, Verlag des Herzog!. Naturhistorifchen Museums.
Letztere Publikation lag zum Teil dem obigen Aufsatze zu Grunde.
Die Altertümer L h i r i q u i s ').
I.
Die auf beut Isthmus gelegene, zu Colombia gehörige
u»d an Costarica angrenzende Provinz Chiriqui ist er
ueuester Zeit näher erforscht worden. Damit ist and
Erkenntnis gekommen, daß wir es hier mit einem einst dicht
'evölkerten amerikanischen Kultnrlande zu thun haben, dessen
Ee Einwohner uns reiche, künstlerisch gestaltete Schütze
ftnterließcn, die einen klaren Einblick in ihre ehemalige
^"ltur gestatten. Namentlich ist es der südliche Teil der
'"..... der hier in Betracht kommt. Von S st nach
st in
ist auch die
Provinz, ... iu ....... ...... —
^est durchzieht der Länge nach, die Wasserscheide bildend, die
Kordillere Chirigui; von Süden, vom Stillen Qzean her,
tritt die Bai von David in das Land, von welcher ans der
Boden allmählich zur Kordillere aufsteigt, ein Tafelland von
lügen 1000 m Höhe bildend, das mit Bergen besetzt und
hon Schluchten durchbrochen ist. Dieses, vielleicht einst die
T »rchzngsstraße der vom nördlichen nach dem südlichen Fest-
lande flutenden Bevölkerung, mußte stets zur Besiedelung
angelockt haben und es ist darum auch, namentlich im Ge-
biete der nach der Davidbai abfließenden Gewässer, der
Hanptfnndort jener archäologischen Schätze, welche uns
gestatten, die alten Bewohner Chirignis neben die Kultur-
völker Mexikos und Perus zu stellen.
ft William H. Holmes, Sixili Annual Report of
,he Bureau of Ethnology, 13—187.
Die bisherige Litteratur über Chirignis Altertümer ist
nicht groß. Merritt schrieb 1860 im Bulletin of the
American Ethnological Society über die alten Gräber
oder Huacals von Chiriqui; in demselben Jahre behandelte
die bis dahin bekannten Altertümer Bollaert in seinem
Antiquarian researches in New -Granada; gleichfalls
I860 gab der französische Konsul in Panama, de Zeltner,
Xotes sur les sépultures indiennes du département
de Chiriqui mit photographischen Abbildungen heraus. Der
letzte, welcher über die Archäologie Chirignis handelte, war
der französische Amerikanist Pinart im Pariser Bulletin de
la société de Géographie 1885.
Alle diese, im ganzen nicht sehr bedeutenden und ausführ-
lichen Nachrichten werden jedoch in den Schatten gestellt
durch die Ausgrabungen und Forschungen des Amerikaners
I. A.McNiel, der einige tausend Gräber Chirignis öffnete
und die gefundenen Schätze dem National-Museum in
Washington einverleibte. Seinen Sammlungen und Auf-
zeichnungen liegen die nachfolgenden Mitteilungen zu Grunde.
Gegenwärtig ist Chirigni von Indianern und Misch-
lingen bewohnt, unter denen, nach Pinart, noch Überliefe-
rungen von den alten Vorfahren und Graberbauern bestehen.
^ Stämme, welche die Gräber gruben und ihre Schätze
lerlenkten. tmmt RAw ^ ■
Die , , ... ^»v»wV yi.iuiu nno tyre Schütze
darin versenkten, waren sicher noch zur Zeit der spanischen
Eroberung int Besitze des Landes. Inwiefern sie mit den
28*
220
Die Altertümer Chiriquis.
nördlichen oder südlichen Kulturvölkern Amerikas in Be-
ziehung standen, laßt sich aus den hinterlassenen Knnst-
erzengnissen nicht schließen; die Töpferware zeigt indessen
mehr nach Norden hin; aber ihre Grabgcbränche, der Mangel
an festen Häusern und Tempeln, ihre reiche Herstellung von
Goldgeräten deutet mehr auf die Chibchas (Muyscas) von
Neu-Granada. Ob auch bei den alten Bewohnern Chiriquis
verschiedene Kulturschichtcn aufeinander folgten, läßt sich
beim gegenwärtigen Stande unsrer Kenntnis nicht aus-
machen; was bis jetzt in den Museen aufgespeichert ist, deutet
eher auf eine einzige Kulturepoche hinZ.
D i e B c g r ä b n i s st ä t t e n.
Die alten Huacals oder Grabstätten sind über den
größeren Teil des pazifischen Abhanges von Chiriqui ver-
breitet, seltener am Meere, in Menge aber in den Thälern,
an den Bergabhängen, mitten im Walde. Sie sind nicht
groß und die ausgedehntesten umfassen einen Raum von
etwa 12 Acres; wahrscheinlich lagen sic in der Nähe der
Ortschaften, von denen aber bisher keine Spur aufgefunden
wurde. Häuser der alten Bewohner sind unbekannt
und man muß annehmen, daß diese aus einem leicht zerstör-
baren Stoffe erbaut wurden, was allerdings im Widerspruch
zu der sonst sich ergebenden hohen Kultur steht.
Die Gräber sind schon in früherer Zeit von Schatz-
suchern durchwühlt und dabei ist manches kostbare Stück ver-
nichtet worden, viel Gold in den Schmelztiegel gewandert.
So wurde der Friedhof von Bugaba 1859 ausgeraubt, wobei
die Schatzgräber Goldsiguren im Gewichte von 130 Pfund
fanden, die zumeist eingeschmolzcn wurden x).
Die Gräber selbst wechseln nach Form, Bauart und
Tiefe, sie sind bald oval, bald viereckig, gewöhnlich vier bis
sechs Fuß tief und mit Stcinpackung versehen, oft auch völlige
Steinkammern, von Platten eingefaßt. Andre wieder sind
förmliche Schächte bis zu einer Tiefe von 18 Fuß. Die
flachen Steine, welche die Grabkammer umgeben, sind oft
Mahlstein in Gestalt eines Puma.
Lauzcnspitze aus Stein. Chiriqui.
Fig. 1.
Fig. 3.
Fig. 2. Steinbeil aus Chiriqui.
sehr schwer und wiegen bis 300 Pfund und mehr, so daß
die Erbauung dieser unterirdischen Kammern viel Mühe
verursachen mußte.
Auffallend ist die gänzliche Abwesenheit mensch-
licher Überreste in den Gräbern, so daß man annahm,
die alten Bewohner Chiriquis hätten Leichenverbrennung
geübt. Unter den geschichtlich bekannt gewordenen Stämmen
jener Gegend ist diese aber nnerwiesen und schwerlich würde
man auch die großen Steinkammern für die Asche erbaut
haben. Darum bleibt aber die Abwesenheit von Leichen-
resten nicht minder bemerkenswert. Merritt wies Menschen-
haar und einen Backenzahn in den Gräbern von Bugaba
nach; de Zöllner berichtet von einem Schädel und einigen
sehr zerfallenen Knochen; Mc Niel, der die meisten Gräber * 7
M. Uhle (Congrès international des Américanistes.
7me session. Berlin 1888, <5.471) ist geneigt, die Beziehungen
der Kunst Chiriquis zum Süden (also zu den Tschibtschas) höher
anzuschlagen als Holmes. „Kulturelle, von dem Sprachstamme
der Tschiblscha ausgegangene Einwirkungen sind durch ganz
Daricn und .Panama erweisbar." Er hebt namentlich die
überraschende Übereinstimmung der Gräber hervor, die so groß
ist, daß sic den Schluß auf eine einheitliche über diese Gebiete
ausgedehnte Kulturform zu erlauben scheint. A.
öffnete, fand nur wenige Knochen — dieses wenige genügt
aber noch nicht, die auffallende Abwesenheit von Leichen-
resten zu erklären. Die Grabbeigaben, Töpferware, Geräte,
Zierrat, wurden vielleicht mit dem Toten selbst bestattet —
wie sie aber bei demselben lagen, läßt sich bei der Abwesen-
heit von Gerippen nicht erkennen. Cs scheint aber, daß sie
nicht direkt beim Körper lagen, sondern, daß sie erst, nach-
dem das Grab zugefüllt war, zwischen den Lücken der
Steinsatzungen angebracht oder in die aufgeschüttete Erde
geworfen wurden. Die schwereren Steingegenstände lagen
nie tief unter der Oberfläche.
Bis jetzt ist cs der Inhalt der Gräber fast allein, der
uns über die Kunstleistungen der alten Eingeborenen von
Chiriqui Ausschluß giebt, und dieser zeigt uns Gegenstände
0 Vergleiche hierzu: C. W. Luders, der große Goldsand
in Chiriqui im Jahre 1859. Mit 6 Tafeln Abbildungen. Jahr-
buch der Hamburgischen wisseuschastlicheu Anstalten, VI, 1889.
Nach Lüders war der Metallwert der Figuren nahezu eine Million
Dollars. Ein Freund des Herrn Lüders konnte damals die
wichtigsten Figuren in Panama vor dem Einschmelzen abzeichne»;
sie sind in der genannten Abhandlung wiedergegeben und zeigen
vielfach interessantere Typen, als Holmes sie nach den in Washing-
ton befindlichen Stücken abbilden konnte. A.
221
Die Altertümer Chiriquis.
aus Stein, Thon, Gold und Kupier, die nachstehend be-
handelt werden sollen. Über die Baukunst, Landwirtschaft
und Webkunst geben die Grabfunde jedoch keine Auskunft.
Gegenstände aus Stein.
Hier ist zunächst der Piedra pintal, der Stein "stt um-
gegrabenen Figuren zu erwähnen, der bei Caldera, non. >
von David, liegt und schon 1853 von Berthold Seemann
(Reise um die Welt. Hannover 1853. I, 325) gefcp >.er
wurde. Cr unterscheidet sich nicht von den vielen sogenann en
„Inschrift"-Steinen Südamerikas, und zeigt eingeritzte —uv"
Üguren, Sonnen, Gesichter. , . •
Von Steinfiguren finden sich etwa sechs ^ “
ber Sammlung Mc dkicls, unter denen eine rohe wem 1
Figur von 23 Zoll Höhe die bedeutendste ist. üußcr ernt
Rrt Kopfbedeckung und einem Gürtel ist sie, un ic ^-
Der Stoff, ans dem sie gefertigt, ist olivcngruner Basalt.
Vielleicht stellt sie, da die Gestalt sich mehrmals wiederholt,
Fig. 4. Pfeilspitze aus Stein. Chiriqui.
Fig. 5. Goldfigur aus Chiriqui.
eine Göttin vor; im Stile nähert sie sich den rcn,
^r mittelamerikanischen Staaten. Ünere, e Lallen
gleichfalls ans Basalt, sind viel roher Ö?«vbettet unb Ttelien
plumpe, menschliche Gebilde mit affenartigen 1 gnsietatc
Weit hervorragender als diese Figuren sind d« M^tatt
oder Mahlsteine, die früher und noch lc|_ 1 | „«dLäufer
"'schen Haushalte zu finden find und aus schale r \
bestehen, zwischen denen das Korn, 8-llais w., ,■> •- 1
rieben wkd. Sie sind zahlreich und finden s h ^
Oberfläche der Gräber, oft auch noch benutz von den heutigen
Indianern. Alle find aus dem vulkanischen J ^^ist
^nndes gearbeitet und die Schale, auf Fußen s e) / .
sehr kunstvoll. Zuweilen liegt der ^ckfale eine ~ g
Grunde wie in Figur 1 ein Puma. ~ at_ a ■' ^cr
einem Stück gearbeitet; die Schale stellt den Korpn vo ,
auf den vier Beinen ruht. Der Kopf, wohl e
tionell gehalten, läßt mit feinen Raubzähnen me gr v
deutlich erkennen. Das Ganze ist mit Ornament üleiz g
und 17 Zoll lang, doch findet man auch bis zwei Fuß 5 .1
Metatcs.
An die Mahlsteine schließen sich die sogenannten „Sessel"
oder „Stühle" an, von denen es jedoch zweifelhaft ist, ob
sie jemals wirklich als Gegenstände zum Sitzen dienten. Von
den Mahlsteinen unterscheiden sie sich dadurch, daß ihre runde
Platte mit einem scharfen, aufstehenden Rande versehen ist.
Der Fuß ist oft von großer Schönheit ans durchbrochenem
und gegittertem Steinwerk, manchmal mit Figuren von
Affen geziert. Da ganz ähnliche Gegenstände auch aus Thon,
der leicht zerbrechlich ist, gefertigt vorkommen, so ist ihre
Verwendung als Sessel mehr als zweifelhaft und man kann
sie auch als Untersetzer für Vasen und Götzenbilder oder als
Opferaltäre deuten.
Die sehr schön gearbeiteten Celte und Beile ans
Stein, die zu hunderten in allen Stadien der Herstellung
gefunden wurden, kommen in den Gräbern vor, doch sind
selten mehr als drei Stücke nebeneinander gefunden worden.
Ihre Schneiden zeigen die Spuren langen Gebrauchs, sind
aber trotzdem noch völlig scharf. Als Stoff zu ihrer An-
fertigung diente ein fester,
dunkler vulkanischer Tuff,
welcher einem fein gekörn-
ten Schiefer gleicht. Die
Formen sind im allgemeinen
dieselben wie bei allen vor-
geschichtlichen Steingeräten;
die größten Beilklingcn
haben 8^/2 Zoll Länge, bei
4 Zoll Breite und 7/8 Zoll
starke. Die meisten sind
kleiner. Für eine Klasse
dieser Beile ist ein sechs-
eckiger Durchschnitt kenn-
zeichnend, so an dem Figur 2
abgebildeten Stück. Die
Glättung und ganze Arbeit
an diesen Steingeräten ist
eine vollkommene, während
bei den Speerspitzen
und Pfeilspitzen der Ar-
beiter sich mit einfachem
Zuschlagen und Anschlei-
fen der Spitzen begnügte.
Charakteristisch für diese
Speer- und Pfeilspitzen von
Chiriqui ist der dreieckige
Dnrchsthnitt (Figur 3 n. 4).
Der Stofs, aus dem dic-
' selben hergestellt wurden, ist meistens ein fenersteinartiger
Jaspis von rötlicher oder gelblicher Farbe.
Gegenstände aus Metall.
Von Metallen kannten die alten Bewohner Chiriquis
wie die meisten ihrer Nachbarn: Gold, Silber, Kupfer und
Zinn, das letztere in der Bronze. Gold wurde von ihnen
am häufigsten verarbeitet, und zwar allein oder als Legierung
mit Kupfer und Silber, ferner verstanden sie dasselbe zu
Plattierungen anzuwenden. Schon die ersten Spanier, die
in das Land kamen, erwähnen den kostbaren Metallschmuck
der Eingeborenen. Balboa erhielt 1510 auf dem Isthmus
Schmuck aus Gold im Werte von tausenden von Pesos.
Kolumbus fand die Landschaften Chiriqui und Veragua so
goldreich, daß er die Gegend Castillo dcl Oro nannte
Abcr schon zu jener Zeit durchsuchten die Eingeborenen
alte Gräber nach Goldschmuck, ein Beginnen, in dem die
Eroberer ihnen bald folgten, so daß bereits 1642 ein Gesetz
erlassen wurde, nach welchem alles im spanischen Amerika
gefundene Gold an die Spanier abgeliefert werden mußte
6. Goldfigur (Papagei) aus
Chiriqui.
Fig. 7.
Goldfigur (Puma) aus
Chiriqui.
222
Tie Altertümer Chiriquis.
Die Goldgegcnstände, die in den Gräbern Chiriquis
gefunden wurden, betrachtet man meistens als persönlichen
Schmuck, doch ist es höchst wahrscheinlich, daß viele derselben
einen sinnbildlichen Charakter besaßen. Sic waren wohl
mächtige Amulette, die zum Schutze ihrer Besitzer gegen
böse Einflüsse getragen wurden. Wie verbreitet und zahl-
reich sie waren, ergiebt die oben mitgeteilte Geschichte des
großen Goldsundcs aus dem Jahre 1859. Nicht in allen
Gräbern sind sie vorhanden, dann aber ans dem Boden der
Grabschächte, bei der (verschwundenen) Leiche oder auch in
kleinen Nischen zur Seite des Grabes.
Gewöhnlich ist das Gold mit Kupfer legiert, doch findet
man auch Gegenstände aus ganz reinem Golde. • In
einzelnen Fällen scheinen die Figuren aus natürlichen Gold-
klumpen geformt zn sein, gewöhnlich aber sind sie gegossen.
Der erste Anblick scheint dem zn widersprechen, denn man
glaubt zunächst an ein Filigranwerk, bei dem der Golddraht
durch Löten vereinigt ist. Allein die sorgsamste Unter-
suchung der alten Technik hat ergeben, daß von Löten keine
Rede sein kann und daß wir es nur mit höchst kunst-
vollem Guß zu thun haben. In der Regel wurden ein-
fache Figuren und einige Teile von zusammengesetzten
Figuren in Formen gegossen, doch sind solche Formen bis-
her noch nicht ansgcsunden worden, ebensowenig hat man
an den Figuren Gnßnähte entdeckt, die ans Formen deuten,
welche ans Stücken zusammengesetzt sind. Golddraht, durch-
schnittlich V2s Zoll stark, wurde zur Herstellung von Einzel-
heiten und Schmuck an den Figuren in reichem Maße
benutzt 0.
Die Art, in welcher die vielen Teile der zusammen-
gesetzten Figuren miteinander verbunden sind, ist zugleich
interessant und staunenerregcnd. Vergebens sicht man sich
nach dem Vorhandensein eines Lötstosfcs um. Die auf-
gelegten Drähte erscheinen mit dem Hauptkörper der Figuren
durchaus homogen verbunden, keinerlei Zwischenraum oder
Übergang ist vorhanden, wie deutlich durch die vorgenommenen
Durchschnitte nachgewiesen wurde. Auch die aufgelegt er-
scheinenden Drähte sind zugleich mit dem Hauptkörper ge-
gossen. Gegossen ist also das Ganze. Selbstverständlich
aber wurde das Originalmodell aus besonderen Drähten und
. den massiven Teilen zusammengesetzt; als Stoff zn dem-
selben diente eine formbare Masse, wie Thon, Teig oder
Wachs. Der Vorgang wird ähnlich gewesen sein, wie der-
selbe heute noch im Oriente stattfindet, d. h. mit sogenannten
„verlorenen Formen". Das Modell wird aus Wachs, Harz
oder einem ähnlichen plastischen Stoffe hergestellt und dann
um dasselbe ein Mantel ans Thon geschlagen, also ans einer
Masse, welche große Hitze verträgt. Ist dieser Mantel nun
getrocknet und genügend dick, so wird durch Hitze das ur-
sprüngliche Wachsmodcll herausgcschmolzen und an seine
Stelle das Metall hineingegossen, Nach dem Erkalten zer-
schlägt man den Thonmantel und erhält so den Guß. Bei
dieser Art des Gießens gehen natürlich Modell und Form
verloren und dieses ist der Grund, daß nie zwei ganz gleich
gestaltete Figuren vorkommen, da für scdcn Guß ein neues
Modell gefertigt werden mußte.
Von Ziselierung findet sich bei den Altsachen aus Chiri-
qni keine Spur; dagegen bemerkt man Spuren von Hämuie-
rnng, durch die hier und da an den Extremitäten der Figuren
noch geformt und zugerichtet wurde. Das auffallendste aber i)
i) Bei den Tschibtscha, deren Kunst viel verwandtes mit
jener von Chiriqui zeiqt, hat man Modellplattcn aus Schiefer
gefunden, in welchen die Figuren aus Goldblechen mittels
Durchreiben,gebildet wurden. Die ausgesetzten Goldfäden fehlen
aber hier. Über die Technik der Tschibtschas vergleiche Bl. Uhle
in den Veröffentlichungen aus dem königl. Museum für Völker-
kunde. Berlin 1889, I, 41, A.
bei den Mctallaltcrtümcrn Chiriquis ist, daß viele Gegen-
stände mit Gold platicrt sind, während der Körper aus
geringem Gold oder reinem Kupfer besteht. Diese That-
sache hat zn der Frage Veranlassung gegeben, ob nicht etwa
hierbei europäischer Einfluß stattgefunden habe? Ja, die
Vermutung ist nicht ausgeschlossen, daß in dieser Richtung
Fälschungen durch Weiße begangen wurden, wenn auch
anderseits die Äußerung von Acosta vorliegt, daß. die Ein-
geborenen das Kupfer zu vergolden verstanden; doch ist seine
Erklärung dieses Vorgangs, nämlich es sei geschehen durch
Einreiben mit einem Pslanzensafte, ganz ungenügend.
Abgesehen von dem Prozesse der Vergoldung aus chemischem
Wege scheint cs aber, als ob die alten Bewohner Chiriquis
das rein mechanische Platieren gekannt haben, wenigstens
sprechen dafür die dicken Goldlagen auf kupfernen Kernen;
aber auch sehr dünne Schichten kamen vor. Wie dem nun
auch sein möge, über die angewendeten Methoden haben wir
nur Mutmaßungen und keine sichere Kenntnis. Alle Kenner
der Altertümer von Chiriqui weisen übrigens den vermuteten
europäischen Einfluß bei deren Herstellung zurück und zwar
aus folgenden Gründen: Die erobernden Spanier lobten
die Metallurgie der Eingeborenen, erzählten von deren
Kunst im Formen und von den „Lötrohren"; europäische
Fälscher würden auch keineswegs zum Kerne der Figuren
eine reiche Goldlegierung, sondern sicher ein unedles Metall
gewählt haben; namentlich ist aber der Stil der Sachen,
welcher ein durchaus eigentümlicher, amerikanischer ist, aus-
schlaggebend für deren Echtheit.
Die Altertümer stellen meist grotesk geformte Lebewesen
dar: menschliche Figuren, Vögel und Tiere, im Stile ganz
ähnlich den Figuren aus Stein oder Thon desselben Land-
strichs. Figur 5 stellt eine der typischen Goldsignrcn dar,
welche, um ihr Halt zu geben, an zwei etwas gebogenen
flachen Goldbalkcn befestigt ist. Die menschliche, männ-
liche Figur bildet die Grundlage, auf welcher eine Menge
Einzelheiten aus Draht, Vögel und Schlangen darstellend,
angebracht sind. Der Kops ist aus drei Geicrköpscn ge-
bildet; aus dem geöffneten Munde gehen zwei Schlangen
ans geflochtenem Golddraht hervor, welche von den Händen
der Figur oberhalb ihres Kopfes ergriffen werden. Vom
Kopfe und den Füßen der Figur, die im ganzen aus etwa
80 im Modell zusammengesetzten Teilen besteht, gehen gleich-
falls schlangenartige Gebilde aus.
Vögel sind häufig mit ausgebreiteten Flügeln und
Schwanz dargestellt; gewöhnlich ist nur die Unterseite mit
dem Kopfe ausgearbeitet, während der Rücken die rohe
Gußfläche zeigt. In Figur 6, welche einen Papagei vor-
stellen soll, ist der Schwanz durch Hämmern breit gedrückt.
Unter den Vierfüßern ist der Puma ein beliebter Gegen-
stand der Darstellung und, wie Figur 7 zeigt, mit Lebcns-
wahrheit gebildet. Der Körper ist hohl, am Bauche offen
und an den Vorderfüßen mit Ösen zum Aushängen versehen.
Unter den Reptilien erscheint am häufigsten der F r o s ch in
den verschiedensten Größen, lebhaft und natnrtrcn, ebenso
sind Alligatoren, Polypen n. dcrgl. vielfach zum Vorwurf
genommen.
Unter den Bronzegegenständen fallen die Schellen
oder Glöckchen aus, die eine häufige Erscheinung in Amerika
sind und in manchen Formen sich ganz den Schellen nähern,
wie sie bei uns an Schlittengäulen angebracht sind. Sie
bestehen also ans einem hohlen, kugelförmigen Körper, der
an einer Ose hängt und einen Schlitz besitzt; im Innern
liegt ein kleines Metallstück, durch welches der Ton erzeugt
wird. Diese Schellen, die häufig in den Gräbern Chiriquis
gesunden werden, sind stets gegossen und oft verziert, so daß
manche mit erhabener Arbeit, mit Gesichtern n. s. w. be-
deckt sind. Bei der Ähnlichkeit dieser Schellen mit den
Aufklärung über bas chinesische Wachsinsekt.
europäischen ist die Frage aufgeworfen worden, ob diese 'e
nicht etwa von den Spaniern entlehnt seien? otuqK11
findet sich die Schelle schon auf altmexikanifchen Abbildungen,
sie ist auch dort als Bronzeglöckchen bekannt, offenbar stwvm
gegangen ans der Klapper, einem allgemein amenkams Yen
Instrument, das von den Medizinmännern vom Jiorortt
bis zum äußersten Süden in Gebrauch ist. . .
Das Gold zu den aufgeführten Metallgegenstandcn fand
sich frei in den Strömen des Landes, kann aber au 1 chll
dem Handelswege dahin gelangt sein. Silber nn
kommen nur in Legierungen mit Gold und Kupfer, o e
nicht allein für sich, in Chiriqui vor. er
legierung ist wahrscheinlich ein natürliches ^ortomn e ,
während das Zinn, wohl von auswärts eingeführt, uns . 1
mit dem Kupfer zur Bronze verschmolzen wurde, JM
bezug auf Aussehen und Härte der europäischen g e ) ■
Analysen derselben liegen noch nicht vor. Dafür, aß
Bewohner Chiriquis es verstanden, Erze anzuschmelzen, smo
keine Beweise vorhanden. (Schluß fo g .
Anfkliirnllg über das chinesische Wachsiusekt.
Über das chinesische Wachsinsekt (Oooeu^ fm i-Ü, '
Pflanzen, auf denen es lebt und die ganze chmesische Bach,
industrie waren wir
falsche Vorstellungen
welche die Sache be , - . r fv'
Konsularagenten, Alexander Hosre, bei sei -
westlichen China die Sache womöglich aufzuklaren. -
ist auch gelungen, wie ein besonderes Hauptstuck m dem
neuen Reisewerke Hosies (Three years in Western C •
t «^rative of three years Journey^ m ^
hweichow and Ynnnan. Lond. 1' 1 ] f . «,auüt;
um das Wachsinsekt zu finden, von Tschengckn, d P
stabt Setschnens nach Südwest, in dre von Kn Lolo. be
wohnten Lande und von da in das Thal U*~L Polo.
""t gleichnamiger Hauptstadt, dem Carndu e. ^yal
Ke jetzt der Mittelpunkt der Wachsrndnstrie rst. .,
lw'gt etwa in 1500 m Höhe. Der Baum 1 ^
dum) hat dicke, immergrüne, glänzende Lac,
Im Mai und Juni tragen diese Bäume Büschel wechzer
Blumen, aus welchen sich purpurrote Fru e
Als im März Hosic diese Bäume besichtigte, fane
Asten zahlreiche braune Auswüchse, in der Forn c '
welche beim Öffnen entweder eine wcrpbraune fl" ^e
Masse bildeten, oder auch eine Menge kleiner Tiere z g .
welche wie Mehl aussahen, und deren Bewegunge ^
rade mit bloßem Auge wahrnehmen konnte.
Allen entwickelte sich binnen zwei bis drei Mon jj-
Schwarm brauner Tierchen, wovon ledesmrt sech.
und ein Paar Fühlern versehen war, die Weißwach, i , « ^
Viele von diesen Auswüchsen enthielten au ]| 1 •ncu
Kokon, welches eine Puppe umhüllte; undre wn r
vollkommen ausgebildeten kleinen, schwarzen Käfer (Br y *
'uch, welcher von den Chinesen „Büffel" genannt wird W
"wn denselben ungestört, so fährt er fort, sich cn h u • t
Kuig der Hülse einzubohren, welche seine Nahrung zu st . ^
Dieser Käfer ist in der That ein Schmarotzer de- K -
Wenn man eine Hülse von dem Baume abbri ) ' ' ,
schlüpfen die Cocci durch die entstandene Öffnung. ° ’
nordöstlich vom Tschien-tschang-Thal und getruin vo>
selben durch eine Gebirgskette, liegt die Stadt TM - 3/ >
______ 223
in welcher das weiße Jnsektenwachs als Handelsartikel zu-
bereitet tvird. Im Tschien-tschang-Thal sammelt man die
Hülsen, packt sie in Papier, und macht davon Pakete, wovon
jedes ungefähr 16 Unzen wiegt. Eine Ladung besteht aus 16
solcher Pakete, welche durch Träger von Tschien-tschang nach
Tschia-ting befördert werden. Man sagt, daß es in früheren
Jahren gegen 10 000 solcher Träger gegeben habe. Sie
reisen nur des Nachts, um die hohe Temperatur des Tages
zu vermeiden, welche zu der schnellen Entwickelung der In-
sekten und deren Auskriechen aus den Hülsen beitragen würde
An einem kühlen Orte der Haltestellen werden die Pakete
geöffnet, wo man gewöhnlich findet, daß jedes Paket während
des Transportes durchschnittlich eine Unze an Gewicht ver-
loren hat. Ein Pfund dieser Hülsen auf diese Weise nach
Tschia-ting gebracht, kostet in guten Jahren etwa 21/2 Mark •
in schlechten Jahren ist der Preis doppelt so groß. In
günstigen Jahren kann man aus einem Pfund Hülsen vier
bis fünf Pfund Wachs erzielen. In der Ebene, welche Tschia-
ting umgicbt, findet man Felder, welche von Baumstümpfen von
1 bis 4 in Höhe umzäunt sind, die unsren gekappten Weiden
ähnlich sind. Aller Wahrscheinlichkeit nach ist dieser Baum
Fraxinus chinensis, eine Art Esche. Bei der Ankunft der
Hülsen von Tschien-tschang, ungefähr zn Anfang des Monats
Mai, packt man zwanzig bis dreißig Stück zusammen, und
wickelt sie in ein Blatt des Holzölbaumes. Die Ränder
dieses Blattes werden mit einem Reisstrohhalm zusammen-
gebunden, vermittels welchem das Paket dicht unter die Äste
der oben genannten Esche oder des Weißwachsbaumes, wie
die Chinesen sagen, aufgehangen wird. Mit einer stumpfen
! Nadel werden hierauf einige Löcher in das Blatt gestochen
î damit die Insekten ihren Weg durch dieselben nach den Ästen
finden können.
Nach dem Verlassen der Hülsen kriechen die Insekten
schnell nach den Blättern der Esche, unter welchen sie ungefähr
während dreizehn Tagen nisten. Sie kriechen alsdann auf
die Äste und Zweige herab, auf welche sie sich niederlassen-
die Weibchen wahrscheinlich, um sich der Fortpflanzung ihrer
Rasse hinzugeben, indem sie Hülsen bilden, um darin ihre
Eier zu legen, und die Männchen, um den Stoff ab-
zusondern, welchen man als weißes Wachs kennt
Das letztere erscheint zuerst als ein Ansatz an den Seiten der
Äste und Zweige wie eine leichte Schneedecke, welche dem
schwefelsauren Chinin ähnlich sieht. Nach und nach ver-
breitet sich diese Schicht über den ganzen Ast, und erreicht
nach drei Monaten eine Dicke von ungefähr i/4 Zoll. Nach
Verlauf von Hundert Tagen ist die Ausscheidung been-
det, die Äste werden abgehauen und das Wachs soviel wie
möglich mit der Hand entfernt. Dieses wird alsdann in
einen eisernen Topf mit kochendem Wasser gethan und das
Wachs, welches an die Oberfläche steigt, abgeschäumt, in eine
runde Form gegossen, von welcher es als weißes Wachs, wie
es im Handel vorkommt, abläuft. Im Fall es unmöglich ist,
das Wachs mit der Hand zu entfernen, werden die Äste und
Zweige ebenfalls in den Topf gesteckt; jedoch ist das so ge-
wonnene Wachs dunkler und von geringerer Güte. Die
Insekten,. welche sich am Boden des Topfes absetzen, steckt
man in einen Sack, preßt sie so lange, bis der letzte Tropfen
Wachs herauskommt, und wirft sie alsdann vor die Säue
Das Wachs wird als äußerer Überzug der tierischen und
vegetabilischen Talgkerzen verwandt, um dem Talg größere
Festigkeit zu geben. Zuweilen wird es auch als Leim für
Papier und Baumwollenwaren gebraucht, sowie um der Seide
einen Glanz zu verleihen und um die Möbel zu polieren
224
Aus allen Erdteilen.
Aus allen Erdteilen.
— Moderne Geißler in Sizilien. Im Septem-
ber lvird alljährlich in einem Bergstädtchen bei Messina die
Festa der Madonna della Catena gehalten, über welches
Kirchenfest kürzlich der englische Vizekonsnl in Messina einen
amtlichen Bericht erstattet hat. Hat ein Mann Sorgen, ist
er krank oder verliebt, so gelobt er, ein, zwei, drei oder vier
Jahre hintereinander die Pilgerfahrt zu „unsrer lieben Frau
in Ketten" zn machen. Zn diesem Zwecke entkleidet er sich
vollständig, bis ans ein Tuch um die Lenden und macht sich
ein Geißelgerät aus einem Stücke Sferzaholze, das sehr
markreich ist, zurecht. In dasselbe werden 40 bis 50 Na-
deln gesteckt, die 3 bis 4 mm aus dem Holze hervorstehen
und mit denen er sich auf dem 2 bis 3 Irrn weiten Wege
bis zur Wallfahrtskirche die Schultern, Brust und Beine
blutig schlägt. Die Weiber reichen unterdessen den Männern
Wein und Wasser und ein Priester führt mit einer Fahne
die Prozession an. Als der englische Vizekonsul diese Pro-
zession sah, nahmen über 100 Männer an derselben teil,
die fürchterlich bluteten. Zwei Todesfälle kamen infolge
dieser Geißelung vor! Die Weiber aber, welche Gelübde
geleistet hatten, leckten mit ihren Zungen den Weg von der
Kirchenthür bis zum Hochaltar trotz aller Unsauberkeit ab.
So geschehen 1890.
— Der Rikwasee südöstlich vom Tanganjikasee ist
1879 zuerst von Joseph Thomson besucht worden, welcher
ihn „nach unserm studierenden Prinzen Leopoldsee" nannte. Bei
den Eingeborenen wurde er Likwa, Ruckwa, Hikwa, Huckwa
genannt. Thomson, der nur am nordwestlichen Ende an
den See traf, vermochte nichts genaues über dessen Größe
,ind Ausdehnung mitzuteilen. Im Jahre 1882 erreichte ihn der
Abgesandte der deutschen afrikanischen Gesellschaft, Dr. Kaiser,
und jetzt giebt ein Begleiter Johnstons, D. K. Croß, einige
nähere Auskünfte über dieses Gewässer, das endlich anfängt,
feste Gestalt auf der Karte anzunehmen, auf der es bisher
umherschwankte (Proceedings 1891, 95). Der Rikwa-
see liegt vollständig innerhalb des deutschen Schutzgebietes
(vergl. die Karte auf S. 35 dieses Bandes); er ist nach
Croß etwa 150 km lang und 50 km breit. Sein Wasser ist
schwarz, brackig, schlammig und ganz ungenießbar; Croß hält
ihn für den Rest eines größeren, zusammengeschrumpften
Sees. Er sah viele Fische, aber keinerlei Flußpferde und
Krokodile. Von Osten her mündet der Songwa, von Süden
der Sasi in den See; ein Abfluß soll nicht vorhanden sein.
An der Ostküste zieht sich ein hohes Gebirge hin, im Süden
und Westen dehnt sich Steppe aus. Besonders zahlreich sind
die Büffel am See.
-- Über die Entwickelung der Sinne bei der:
Gabunesen (Westafrika) machte neuerdings Dorlhac de
Borne bemerkenswerte Mitteilungen. Ziemlich unempfind-
lich scheinen dieselben gegen Schmerz zn sein, da sie unter
eingreifenden chirurgischen Operationen wenig leiden, Ver-
letzungen des Kopfes leicht ertragen und schwere Verwun-
dungen, welchen die meisten der Europäer erliegen würden,
schon nach einigen Verbünden überstehen. Krankheiten gegen-
über sind sie weniger widerstandsfähig, sie sträuben sich gegen
europäische Krankenbehandlung, nehmen Zuflucht zu ihren
Fetischpriestern (ogango) und wünschen bei langwierigen Krank-
heiten selbst den Tod herbei. Der Geruch sinn ist offenbar
gut entwickelt, denn der Gabnnese ist sehr empfänglich für enro
päische Wohlgerüche; er bevorzugt das Lavendelwasscr, liebt aber
auch andrerseits für civilisirte Nasen widerwärtige Gerüche, wie
z. B. jenen des ranzigen Palmöles, womit die Frauen ihr
Haar einschmieren. Alles ihrem Geruchsorgane Wohlgefällige
bezeichnen sie mit oyombo. Manche vermögen an dem Ge-
rüche Angehörige verschiedener Stämme zn unterscheiden.
Das Gehör ist besser als bei den Weißen entwickelt, dabei
unempfindlich gegen die widerwärtigsten Geräusche. Das Seh-
vermögen ist auch sehr gut. Kurz- und Weitsichtige oder
Farbenblinde sind kaum bekannt. Vor Ankunft der Euro-
päer wurden drei Farben hergestellt, Weiß aus Schlemmkreide,
Schwarz aus Kohle, Rot aus Rotholz oder dem Rucnbanm;
diese drei Farben werden gegenwärtig auch noch bei feierlichen
Gelegenheiten bevorzugt, trotzdem durch die Europäer die ver-
schiedensten Farben eingeführt sind. Weiß, Rot oder Blau
nimmt man hauptsächlich für die Schurze, letztere Farbe in
Trauerzeiten. Durch Übung scheinen sie ihre Augen bis zu
gewissem Grade an direktes Sonnenlicht gewöhnen zn können.
So giebt es einen Tanz, welchen junge, an Kopf und Schul-
tern mit Blättern geschmückte Mädchen aufführen, bei wel-
chem diese ans ein Zeichen der Anführerin direkt in die
Sonne blicken und zwar so lange sie es auszuhalten ver-
mögen. Manche Frauen üben diese Augenquälerei ohne An-
strengung mit einer gewissen Fertigkeit (Bull. soc. d’Anthro-
pologie 1890, p. 64).
— Über die Künste bei den Siaposch, den ari-
schen Vewohnern von Kafiristan in Jnnerasien, war so gut
wie nichts bekannt. Cap ns hat darüber einige Mitteilungen
in der Pariser Anthropologischen Gesellschaft am 6. März
1890 gemacht. Sie schnitzen Idole aus Holz, seltener aus
Stein. Bei den Begräbnisfeierlichkeiten wird der Tote durch
eine Holzfigur dargestellt. Ist der Siaposch fern von
seinem Hause gestorben, so stellt man ihn durch eine Stroh-
figur dar, die mit den Kleidern des Verstorbenen angethan
wird. Zum Andenken ihrer Häuptlinge stellen sie Holz-
statuen bei deren Särgen oder Wohnungen ans; rot bekleidete
Figuren oder auch nur einen Holzpfosten mit soviel Ein-
schnitten als der Häuptling Feinde getötet hat. — Die Götzen-
bilder sind sehr zahlreich. Suruja, Panda und Lamani
werden aus Holz geschnitzt; Matika Panu, die Trösterin der
Weiber, aber ans Stein. Pulis Panu in Musgal ist ein
Idol mit silbernen Augen. Das höchste Wesen, Deohgan in
Sanu-Glam ist eine Holzfignr mit durchbohrendem Blicke.
Er sitzt mit gezücktem Schwerte ans einem Sessel; dazu trägt
er Messer und Flinte. Die Augen sind vergoldet. Die
Siaposch verstehen sich aufs Zeichnen. Die Verzierungen
ihrer Gewebe und Waffen sind sehr symmetrisch und zeigen
künstlerischen Sinn.
— Schwefellager in Transkaspien. Auf dem halben
Karawanenwege von Aschabad nach Chiwa (300 km von
Aschabad), in der Steppe Karakorum befindet sich ein Ge-
biet, das heißt Kyr-Tschulba (auf deutsch 40 Hügel).
Der größte Teil dieser etwa 25 bis 60 m hohen Hügel besteht
aus Schwefelerzen, die 40 bis 45 Proz. reinen Schwefel
enthalten. Die Schwefellager, die den Tekinzen schon lange
bekannt sind, gehören unzweifelhaft zu den reichsten der Wett.
Bis zn Ankunft der Russen haben die Tekinzen hier mit sehr
primitiven Werkzeugen Schwefel gewonnen. Nach den Mit-
teilungen der Eingeborenen giebt es außerdem noch reine
Schwefellager auch in der Ebene. 8t.
Herausgeber: Dr. R. Andrer in Heidelberg, Lcopvldstraße 27. Druck von Friedrich View eg und Sohn in Brannschweig.
Hierzu eine Beilage von der C. F. Winter'schen Verlagsbuchhandlung in Leipzig.
Nr. 15
Bd. LIX.
Begründet 1862
von
Karl Andres
Druck und Hlerkug non
îàk-wÈ Dôlkàîle.
Herausgegeben
von
Richard Andrer.
Iriedvich 'Wierveg L Sohn.
------------mnòe in 24 Nummern. Durch alle Buchhandlungen und Postanstalten . oqi
B r a un s ch w e i g. P,.n- «°» 12 m„i tur b«. B-.a ¡. i-ci».,. 18al-
Die Erforschung der Wasserläufe des nördlichen
Kongogebietes.
Von A. Scobel.
D-r Ubangi-Uelle und andre »s-dlich- Kongo,nflM Noch dm neuesten Forschungen und der Karte von W-nt-rs.
29
220
A. Scobel: Die Erforschung der Wasserläufe des nördlichen Kongogcbietes.
Im Süden des Kongo waren schon viele der großen
Nebenflüsse bekannt, als tnan im Norden noch ein weites
Feld für Hypothesen hatte. Kapitän Hanßens war der
erste, der ans seiner Kongofahrt 1884 den nördlichen Neben-
flüssen Aufmerksamkeit schenkte und im April desselben
Jahres den llbangi (Mobangi) sah. Hanßens befuhr den
Mbula oder Bulumbu (Rubi oder Stanleys Jtimbiri)
75 km weit und untersuchte den Mongalla. Eine bedeutende
Thätigkeit entwickelte der englische Missionar Grenfell,
der mit Co mb er 1884/85 viele Nebenflüsse teils nach
Lage und Verlauf genauer feststellte, teils neu entdeckte. Der
Kwa wurde gegen die Stanleyschen Angaben richtig gestellt,
der Jkelemba und Boloko (Lomami) befahren, von rechts-
seitigen Nebenflüssen Lesini, dèkie (Ukenje), Alima, Mon-°
galla, Loika (Jtimbiri), besonders aber der große Ubangi
oder Mobangi, der bis 4° 29' nördl. Br. verfolgt wurde.
Oberhalb seiner Einmündung in den Kongo, am Posten
Ukundja, mißt die Strombrcite des llbangi 2500 m bei
einer größten Tiefe von 9 m. In 4° nördl. Br., unterhalb
der Stromschnellen, mißt die Breite 1200 m bei einer Tiefe
von 7 m. Woher erhielt dieser mächtige Fluß seine Wasser
und wo war sein Oberlauf zu suchen?
Weit im Nordosten wurde 1870 von Schweinsurth
der westlich fließende Helle (Kibali) entdeckt. Man be-
trachtete ihn als den Oberlauf entweder des zum Tsadsee
fließenden Schari oder des zum Kongo strömenden Aru-
wimi. Seine westliche Stromfortsetzung erhielt bestimmtere
Lage durch die Reisen Dr. Junkers 188.8, der den Nelle
= Makna bis 23° 13' östl. 8. und 3» 57' nördl. Br. ver-
folgte. Durch die ersten Nachrichten von Grenfells Reisen
wurde Wauters, der thätige Redakteur des „Nonvernertt
géographique“, 1885 veranlaßt, eine Hypothese über die
Identität des Nelle mit dem llbangi aufzustellen. Die
Forschungsreisen schritten indes in schnellem Tempo vor-
wärts. Im Jahre 1885 untersuchte Grenfell mit Leut-
nant v. Francois die linksseitigen Kongo-Nebenflüsse
Lulongo und Nruki (Tschnapa), beide aus einer Strecke von
mehr als 600 km, ferner den Tributär des letzteren, Bussera.
Der rechtsseitige Zufluß des Lulongo, der Lopori, wurde
1887 von Kapitän van Gè le befahren. Auch wurde
von Grenfell ein rechtsseitiger, unterhalb des llbangi in den
Kongo mündender Fluß, Bunga (Sangha), befahren. Von
Leutnant Massari wurde 1886 der Likuala bis zum
Äquator aufwärts verfolgt und von Kapitän Rouvier
Ortsbestimmungen vorgenommen, durch welche der llntcr-
und Mittellauf des Kongo auf eine sichere kartographische
Grundlage kam.
Der belgische Leutnant Baert kam auf beut Mongalla
325 km weit bis unter 3° 30' nördl. Br. und 21° östl. L.
Dieser Fluß konnte aber mit dem Nelle nicht identisch sein,
da er nur eine Breite von 10 m und eine Tiefe von 1,5 m
hatte, während der Nelle nach Junker eine viel bedeutendere
Ausdehnung zeigen sollte. Kapitän van G5le hatte bereits
im Oktober und November 1886 den llbangi untersucht
und mehrere Zuflüsse entdeckt, aber erst durch seine späteren
Fahrten wurde die Wauterssche Annahme über den Zu-
sammenhang des llbangi mit dem Nelle glänzend bestätigt.
Im Jahre 1886 fuhr van Gèle nur bis zn den Songo-
stromschncllen des llbangi, die Grenfell 1885 schon über-
wunden hatte; er untersuchte ferner die zwei rechtsseitigen
Tributäre Jbenga (Grenfells Botabo) und Lobai, sowie den
linksseitigen Leghisi und den Lopori, den rechten Nebenfluß
des Lulongo. Erst 1887 gelang es van Göle in Be-
gleitung des belgischen Leutnant Lionart, mit zwei kleinen
Staatsdampsern nach vielen Schwierigkeiten die Strom-
schnellen von Songo zn überwinden. Oberhalb der Schnellen
hatte der Strom eine Breite von 800 bis 900 m und eine
Tiefe von 4,5 m. Der nördlichste Punkt des Ubangi liegt
in 5° 7' nördl. Br. Ende Dezember 1887 wurde der rechte
Nebenfluß Bangasso (Mbomu) entdeckt und kurz darauf, im
Januar, die Rückfahrt angetreten.
Die bedeutendste Reise van Gèles, in Begleitung der
Kapitäne de Rechter, Schagcstrom, Hanolet und der
Leutnants Marinel und Busine, nahm am 21. Mai
1889 ihren Anfang. Die Expedition erreichte Songo am
25. Juni, passierte die Schnellen und gründete zwei Sta-
tionen in Mokoanghay und Banzyville. Int November-
würden zwei rechtsseitige Zuflüsse entdeckt, Kuangu und
Bengi, von denen der erstere 125 m breit ist und 110 km
weit befahren wurde. An seiner Mündung ist er 180 m
breit und 4 m tief; der kleinere Bengi ist nur 60 m breit
und 5,5 m tief. Am 12. Dezember wurde der Nebenfluß
Kotto gefunden, dessen Name sich schon auf der großen
Junkerschcn Karte findet. Der Fluß war 270 m breit und
1,9 m tief. Es ist anzunehmen, daß die Flüsse Foro und
Engi, die 1882 unter 7° nördl. Br. von Lupton-Bey
überschritten wurden, die oberen Zuflüsse des Kotto sind.
Ferner wurden auf einer Bootsfahrt in 5° 7' 49" nördl. Br.
und 22° 36' östl. L. zwei gleich bedeutende Flüsse ge-
sunden, die nach ihrer Vereinigung den Ubangi bilden.
Der nordöstliche wird von den Anwohnern Kcngo und
weiter hinauf Mbomu genannt (der Mbomo Junkers) und
mißt 700 m Breite bei 2,9 m Tiefe. Der südöstliche Fluß
wird von den Eingeborenen Koju genannt und ist der
Makna Junkers, der Uelle Schweinfurths. Er ist 850 m
breit und 1,8 m tief. Am 23° östl. L. beginnt eine Reihe
von Felsenbarrieren und ihre Wasserfälle setzen hier der
Schiffahrt ein Ziel. In 23° 4' 27'' östl. L. wurde von
van Gèle der äußerste Punkt erreicht, etwa 15km ent-
fernt von der Seriba Abdallah, bis wohin Junker 1883
und di o g et 1890 gelangten. Letzterer fand weiter auf-
wärts bei Djabbir den Uelle 200 m breit, aber von
großer Tiefe. Der Mbomu, deut linksseitig der Fluß Bi
oder Mbili zuströmt, hat viele Stromfchnellen und Wasser-
fälle. Auf Booten wurde sein Laus verfolgt bis Ban-
gasso, 4° 49' nördl. Br. und 23° 8' östl. L. Unsre Karte
(nach derjenigen im „Mouvement geogrupllique" vom
8. März 1891) zeigt die Resultate dieser wichtigen Ent-
deckungsfahrten, durch welche die großen Flußgebiete des
nördlichen Kongogebietes endlich in großen Zügen bekannt
geworden sind.
Durch zwei Dampferfahrten von März bis November
1890 hat Hodister den Nachweis geliefert, daß der Mon-
galla sich weiter nach Norden ausdehnt, als Kapitän
Baerts Fahrt 1886 wahrscheinlich gemacht hatte, und
jedenfalls nicht weit votlt Mittelläufe des Uelle-Makua ent-
springt. Der Fluß wird von drei größeren Quellflüssen
gebildet, sein Quellgebiet ist ein sehr nutfangreiches, Nach
Zurücklassung des Dampfers in Liboko wurde der Quell-
fluß Dua verfolgt bis zum kleinen See Ababuba. Der Dua
sowohl wie der Quellfluß Ebala durchströmen dichte Wal-
dungen. Eine Verbindung der Aufnahmen zwischen dem
mittleren Kongo und dem Uelle wurde von den Offizieren
des Kongostaates Kapitän Roget und Kapitän Becker her-
gestellt. Ersterer ging votit Rubi (Jtimbiri) aus und er-
reichte den Uelle int Juni 1890 wenig oberhalb von Dr.
Junkers fernstem Punkte, unfern der kleinen Seriba Abdal-
lah, und kam nördlich noch bis zum Gango und Mbomu
(5° 12' nördl. Br.). Kapitän Becker ging von Jambuga,
an der Schiffbarkeitsgrenze des Aruwimi gelegen, über den
Luln (den nördlichen Zufluß des unteren Aruwimi) und den
Rubi (Loika, Jtimbiri) bis zum Uelle, der dort eine Breite
von 1500 m hatte. Wieviel diese beiden Landreisen geo-
graphische Neuigkeiten bringen werden, läßt sich heute noch
227
Die Altertümer Chiriquis.
nicht übersehen, doch wäre cs sehr wertvoll, nach der Periode
der großen Flußsahrten endlich auch an die Ausschließung
des Landes zu gehen. Die Grundlage für eine kartogra-
phische Darstellung bleibt bis jetzt leider noch sehr schwan-
kend. Die Breitcnbcstimmnngen von van Gtzle im unteren
Ubangigebiete stimmen mit denjenigen des französischen
Reisenden Crampel ziemlich überein, doch zeigen die Längen-
bestimmungen beider erhebliche Differenzen. Es wäre zu
wünschen, daß die Regierung des Kongostaates bald mit
der astronomischen Fixierung einiger Hauptpunkte beginnen
ließe, um in die kartographischen Darstellungen jener Gegen-
den etwas Beständigkeit zu bringen.
Die Altertümer Lhiriquis.
II.
Die T h o n w a r e n.
Die Gräber Chiriquis haben einem einzigen Forscher
ms einem Raume von etwa 50 Sqnaremiles 10 000 Stück
Töpferwaren geliefert. Dieses allein zeugt schon von der
Ausbreitung einer Kunst, die hier in Amerika sich zu einer
eltenen Höhe erhob. Eine vortreffliche Technik, doch ohne
Kenntnis der Töpferscheibe, schöne, mannichfaltige, oft klassische
formen, ein großer Reichtum in der Verzierung zeichnen
)ie Thonwaren Chiriquis ans. Dabei zeigen dieselben ver-
chiedene Stile und Herstellungsarten, so daß man ans
nehrere Zeitperioden in der Ausführung schließen kann,
lluch auswärtige Einflüsse, so z. B. jener von Costarica,
affen sich bei den Thonwaren von Chiriqui nachweisen.
Die Hauptmasse derselben besteht aus Gefäßen verschiedener
^lrt, an welche sich Trommeln, Pfeifen, Klappern, Spinn-
virtel, pnppenartigc Figürchen anschließen. Auffallend ist
)er Mangel an Porträts und menschlichen Figuren, die in
)en peruanischen Töpferwaren so oft wiederkehren.
Die Gesäße werden, wie erwähnt, in den Gräbern ge-
funden, und wiewohl alle menschlichen Teile, alles was von
volz, Knochen oder Muschelschalen war, aus denselben ver- ,
ichwunden ist, haben sich die Thomvarcn in bezug ans Form, ^
schliss, Farbe so wunderbar gut erhalten, daß sie durch die
Berührung mit dem Erdboden gar nicht gelitten zu haben
scheinen. Sie sind aus einem sehr zarten Thone gebildet,
der stark mit sein pulverisiertem Sand vermengt ist. Die
Symmetrie ist so groß und die Gestalten der Gefäße sind
so schön, daß vorzügliche mechanische Hilfsmittel bei der Her-
stellung verwendet sein müssen, wenn auch die Töpferscheibe
unter diesen sich nicht befand. Die oft zahlreichen Teile
wurden einzeln geformt und dann später znm Ganzen ver-
einigt, das oft so schön poliert erscheint, als ob es glasiert
wäre. Das Brennen muß auch in einer vorzüglichen Weise
vor sich gegangen sein, da nirgends Schwärzung der Ware
sich zeigt, wie dieses bei roheren Brennmcthoden erfolgt.
Die Naturfarbe der Thongefäße wechselt von einem Hellgelb-
grau bis zum Terrakottabraun. Hier und da kommt Lachs-
farbe und Orange oder Schwarz und Schwarzbrann vor;
zur Verzierung wurden Rot, Schwarz nnd Pnrpnrgran an-
gewendet. Auffallend ist, daß die meisten Gefäße keinerlei
Spuren von Gebrauch zeigen, auch nicht vom Feuer ge-
schwärzt sind, über dem sie doch gestanden haben müßten,
wären sie verwendet worden. Alles deutet darauf hin, daß
sie gleich nach ihrer Vollendung, frisch und neu, mit in die
Gräber gelegt wurden, daß also die Töpferei hier wesentlich
religiösen und Totengebräuchen dienstbar war. Bei den
Dreifüßen nnd zweihenkligen Schalen, sowie bei großen
Kesseln findet man dagegen häufig Schwärzung, die daraus
hinweist, daß sie im häuslichen Gebrauch Verwendung
fanden.
In der Dekoration zeigt das Töpferwerk von Chiriqui
manche eigentümliche Züge; in bezug auf die Schönheit nnd
Vollendung der Formen wird es von keinem andern keramischen
Erzeugnisse Amerikas übertroffen. Die Verzierungen bestehen
teils aus plastischen, teils ans flachen Formen, von denen
die ersteren meist sehr realistische und groteske Gestalten
zeigen, während die letzteren fast ganz geometrischer Natur sind.
Die plastischen Verzierungen sind teils als Henkel, teils als
Füße verwendet; sie zeigen niemals Pflanzensorm, sondern
nur Krokodile, Pumas, Affen, Eidechsen, Frösche, Fische und
groteske Mcnschenfiguren, wie z. B. Fig. 8, bei der die
Arme und Beine in sich windende Schlangen auslaufen.
Konnte man den Ursprung dieser uns jetzt rein ornamental
erscheinenden Figuren nachweisen, so würde sich wohl für
dieselben eine andre Bedeutung herausstellen, sie würden
etwa in einem mythologischen Gewände erscheinen oder als
Fetische nnd Zaubermittel, bestimmt auf die Gefäße, an
denen sie angebracht sind, einen günstigen Einfluß auszuüben.
Die Gefäße von Chiriqui kann man in zwei große
Gruppen einteilen: in bemalte und unbemalte. Die
letzteren, die eigentlichen Terrakotten, sind die bei weiten!
zahlreicheren; sie sind von biskuitartigcr Natur und zeigen
uns die fortgeschrittene Kunst der alten Töpfer von Chiriqui
am besten. Wir finden da Vasen der verschiedensten Art,
stets aber in schönen gefälligen Formen. In der Form,
nicht aber in Stoff und der Ausführung des Ornaments,
schließt sich der Terrakottaware die schwarze Ware an.
Die Verzierungen sind entweder vor oder nach deni Brande
in dieselbe eingeritzt nnd dann mit einer weißen Substanz
ausgefüllt, durch welche das Muster deutlich hervorgehoben
wird, wie Fig. 9 zeigt.
Was die bemalten Gefäße betrifft, so kann man ge-
ritzte, mit Henkeln versehene, drcisüßige, kastanienbraune, mit
roten oder weißen Linien versehene, alligatorförmige und viel-
farbige unterscheiden. Geometrische Motive sind bei der
Bemalung iu ausgedehnter Weise verwendet, doch fehlt der
anderweitig in Amerika häufig vorkommende Mäander hier
ganz, dagegen finden sich Ornamente, welche natürlichen Ge-
stalten entlehnt sind und dann von der natürlichen Form
allmählich in ganz stilisierte übergehen. Dabei läßt sich
nicht verkennen, daß der Kunsthandwerker ein feines Ver-
ständnis für die Anpassung des Ornamentes an die Gestalt
des Gefäßes besaß. Nachdem das Gesäß fein poliert war,
so daß cs wie glasiert aussieht, wurden die Verzierungen in
Schwarz, Weiß nnd Rot in verschiedenen Abstufungen, sowie
in einem düsteren Purpur aufgetragen, was zusammen mit
der grauen oder bloß orangefarbenen Grundfarbe einen
schönen Effekt abgab.
Die eingeritzten bemalten Gefäße sind verhältnismäßig
selten und nur von zwei Orten, nördlich von David und bei
Alanje, bekannt. Sie sind nach der Art des zur Herstellung
verwendeten Stoffes, sowie nach der Rohheit der Formen
nnd der Verzierungen mit den übrigen Gefäßen von Chiri-
qui nicht ans gleiche Stufe zu stellen und scheinen von einem
niedriger stehenden Volke herzurühren. Fast alle gehören
zur Gruppe der Dreifüße, zeigen dicke, plumpe Wandungen
und rohen, leicht zerbrechlichen, schlecht gebrannten Thon.
Die Verzierungen sind einfach geritzt und ohne viele Kunst
29*
228
Die Altertümer Chiriquis.
-Fig. 8. Groteske Menschenfigur
aus Thon, mit Armen und Beinen in
Schlangenform. Chiriqni.
Fig. 9. Schwarze Töpferware
mit eingeritzten weißen Figuren.
Chiriqni.
Fig. 10. Dreifuß mit fischförmigcn Füßen.
Chiriqni.
Fig. 12. Alligatorvase. Chiriqni.
Fig. 13. Stilisierung des Alligatorornameutes.
Chiriqni.
Die Altertümer Chiriquis.
229
und Abwechselung hergestellt. Der von den Einritzungen
frei gebliebene Teil des Gefäßes ist mit dunkelroter Farbe
bedeckt.
Während die meisten Gefäße von Chiriqui, wie erwähnt,
keine. Spuren des Gebrauches zeigen und nur als Toten-
beigaben verwendet wurden, find die Henkelgefäße sicher
zum Kochen benutzt worden, wie ihr angeschwärzter Boden
beweist. Sie zeigen meist zwei, seltener einen Henkel,
manchmal in Ticrforur. Keineswegs gehören sic zu den
feineren Exemplaren, sie sind richtige Gebrauchsgegcnstünde.
Das gleiche gilt von den Dreifüßen, die in ihrem Körper
ulit den eben erwähnten Gefäßen übereinstimmen, aber durch
ihre drei, meist übermäßig langen Thonsüße ausgezeichnet
sind. Die letzteren sind häufig in Tierform und dabei über-
wiegt der Fisch, vielleicht weil solche darin gekocht wurden.
Die Füße sind hohl, haben meist Schlitze und enthalten
kleine Thonkngeln, oft bis zu einem Dutzend, so daß diese
Füße, wenn das Gefäß bewegt wurde, die Nolle von Schellen
übernahmen. Fig. 10 zeigt einen solchen Dreifuß, dessen
Füße von Fischen gebildet werden, an denen die Flossen
und Augen leicht erkennbar; der Schlitz verläuft über den
Rücken.
Die kastanienbraunen Gefäße sind bisher nur in
geringer Anzahl in den Gräbern von Los Tenajos durch
Mc Neil gefunden worden. Sie sind einfarbig in der
genannten Farbe, ohne andre Malerei hergestellt, meist schön
und sorgfältig in den Formen, welche aber mit jenen der
übrigen Gruppen stimmen, so daß das Charakteristische nur
in der Farbe liegt. Dasselbe ist der Fall bei der rot-
l i n i g e n Gruppe, bei der als einzige Farbe auf dem gran-
orangen Grunde rote Linien vorkommen. Bei einer andern,
gleichfalls kleinen Gruppe zeigt das Ornament weiße
Linien.
Die Gefäßgrnppe mit der verschwundenen Farbe ist
die größte von allen und umfaßt herrliche Gebilde der Kera-
mik. Auf dem polierten Grunde, der entweder ans der natür-
lichen Farbe des Thons oder aus dem sl^chcnbildenden Rot
besteht, war in einer jetzt völlig verschwundenen Farbe das
Muster aufgetragen, dessen Spuren aus dem Grunde aber
noch erkennbar sind, da die Grundfarbe durch das ver-
schwundene Pigment verändert wurde. Woraus dieses, das
der Zeit keinen Widerstand leistete, hestand, läßt sich jetzt schwer
sagen. Die Zeichnungen sind sehr mannichfaltig, zeigen
aber doch einen einheitlichen Charakter. Sowohl feine
geometrische als Naturformen kommen vor, gehen aber un-
merkbar ineinander über; plastische Verzierungen, an Henkeln
und Füßen, sind nebensächlich, da cs bei dieser Gruppe vor
allem aus schöne Politur und Färbung ankam. Die meisten
Gefäße sind trug- oder vasenförmig. Fig. 11 zeigt ein
Exemplar dieser krugartigen Gesäße.
Als die interessanteste Gruppe der Thongefäße von Chi-
riqui müssen jene mit dem Alligatorornament bezeichnet
werden, bei denen an die Stelle des vorherrschenden Alli-
gators auch andre stilisierte Ticrformcn treten können. Sie
besteht meist aus krugförmigen, kurzen und dicken Gefäßen
von graugelber Grundfarbe, auf der die roten und schwarzen
Malereien ans einen verhältnismäßig geringen Raum be-
schränkt sind. Einzelne Exemplare haben ganz absonderliche
Formen. Gewöhnlich sind diese Gefäße nur klein, doch
kommen einzelne vor, die den Inhalt von einer Gallone und
mehr haben. Fig. 12 zeigt eine Alligatorvase, gleichzeitig
das bemerkenswerteste Stück, welches in Chirigni gesunden
wurde. An den würfelförmigen Körper setzt sich ein schorn-
steinartiger, nach oben erweiterter Hals an. Als Träger
der Vase erscheinen zwei groteske, mit dem Rücken an die-
selbe gelehnte Menschengestalten mit weit gespreizten Beinen,
deren Köpfe als Henkel dienen. Sie haben auf dem mit
einem Diadem geschmückten Kopfe einen Schlitz, sind hohl
und stehen mit dem Hauptraume der Vase in Verbindung.
Aus dem Halse der Vase ist das stilisierte Alligatorornament
in einem Nahmen von roten und schwarzen Linien angebracht;
auf dem Körper der Vase sieht man einen gleichfalls stili-
sierten zweischwänzigen Assen. In den mannichfaltigsten
Formen wird der Alligator bei diesen Gefäßen verwendet
und der Übergang von stilisierten Gestalten, welche aber noch
deutlich das Tier zeigen, bis zu ganz einfachen Formen,
welche an und für sich betrachtet den Ursprung nicht mehr
erkennen lassen, läßt sich beim Vergleiche größerer Serien
von Töpferwaren aus Chirigni unschwer erkennen, wie
dieses Fig. 13 zeigt J).
Den Schluß machen die vielfarbigen Vasen, die
höchsten Gebilde der keramischen Kunst Chiriquis. Schöne
Formen und schöne Verzierungen zeichnen sie in gleichem
Maße ans. Ihre Grundfarbe ist stets ein poliertes Hellrot,
ans welchem die Ornamente in Schwarz, Dunkelrot und
Pnrpnrgran ausgetragen sind. Als Beispiel der Verziernngs-
art sei hier in Fig. 14 die Zone am Halse einer großen
Vase wiedergegeben, welche zwei symmetrische stilisierte Rep-
tiliensiguren in Schwarz und Rot wicdergiebt.
Die plastische Kunst der alten Bewohner Chiriquis zeigte
sich aber nicht bloß in der Herstellung der bis jetzt auf-
geführten Gegenstände. Auch Spinnwirtel, mit und ohne
Verzierung, bemalte Nadelbüchsen mit Deckeln, kleine groteske
Menschcnfiguren, wie an der großen Alligatorvase (Fig. 12),
Sessel, ganz in der Art, wie die früher erwähnten aus Stein,
und namentlich Musikinstrumente ans Thon kommen
vor. Unter den letzteren sind Trommeln, Klappern, Pfeifen
und Klarinetten gefunden worden. Die Klappern sind
flaschenförmig und enthalten im Bauche kleine Steinchen,
welche nur einen schwachen Klang geben. Vielleicht wurden
sie bei priesterlichcn Funktionen benutzt, worauf namentlich
schön bemalte und mit Figuren geschmückte Stücke deuten.
Die Trommel war bei der Entdeckung Amerikas ein all-
gemein verbreitetes und beliebtes Instrument. Über dem
großen vasenförmigen Gefäße von Holz oder Thon war eine
dünne Tierhaut ausgespannt. Nur wenige Trommeln ans
Thon haben sich erhalten, was darauf hindeutet, daß dieses
Musikinstrument wohl meistens aus Holz gebildet wurde.
Am zahlreichsten sind die Blasinstrumente aus Thon in
den Gräbern, es sind Pfeifen einfacher Bauart, die als ge-
wöhnliches Spielzeug anzusehen sind; nur wenige sind vor-
handen, welche mehrere Töne besitzen und darauf hindeuten,
daß die Musik nicht in den ersten Kinderschuhen bei den
Eingeborenen stand. Immer aber haben diese Instrumente
hübsche Formen, so daß man an ihnen leicht die verschieden-
sten Tiere, Pumas, Armadille, Adler, Papageien, Enten,
Alligatoren, Krabben unterscheiden kann. Die Konstruktion
des Pfeifapparates ist in allen Fällen gleich und entspricht
etwa unserm Flageolet (s. Fig. 15). Die Öffnungen stehen
so nahe beisammen, daß beide Pfeifen notwendigerweise gleich-
zeitig geblasen werden mußten. Der erzeugte Ton ist ein
sehr hoher, durchdringender, ja ohrzerreißender. Auch rohr-
förmige Pfeifen mit Fingerlöchern, auf denen acht Töne ge-
gespielt werden können, sind gefunden worden.
i) Wie die alten indianischen Bewohner Chiriquis es ver-
standen, eine natürliche Figur in eine stilisierte Form überzu-
führen, so noch heute Indianer Südamerikas. Dr. PaulsEhren-
reich fand bei den in völligem Urzustände lebenden Bakairi
an den Quellflüssen des Schingu Schlangen, Fische u. s. w. als
Ornamente verwendet und bemerkt dazu: ,.Es wurde die kul-
turgeschichtlich wichtige Thatsache sestgestellt, das; alles als geome-
trische Figuren erscheinenden Zeichnungen in Wirklichkeit abge-
kürzte, zum Teil geradezu stilisierte Abbildungen bestimmter,
ganz konkreter Gegenstände, meistens von Tieren, sind.« (Zeit-
schrift für Ethnologie 1890, S. 89.) A.
230
Juan Pons y Soler: Prähistorische Bauten auf Menorca (Balearen).
Ü b e r b l i ck.
Die vorhergehenden Mitteilungen haben uns den Beweis
geliefert, daß auf einem kleinen, bisher wenig beachteten
Raume des amerikanischen Isthmus ein großer Reichtum an
Kunsterzeugnissen gefunden wurde, welche uns Zeugnis von
der hohen Kultur der einstigen Bewohner ablegen, die,
vielleicht niedriger als jene der amerikanischen Kulturvölker
im Norden und Süden Chiriguis, dennoch der Originalität
nicht entbehrt und sicher aus vorkolumbischer Zeit stammt.
Diese Kunstwerke finden sich in Gräbern, in denen keine
Spur der darin bestatteten Leichen mehr vorkommt. Ist
auch die Kunst in Stein wenig vertreten, so fällt cs um so
mehr auf, daß von Bauwerken irgend welcher Art, die doch in
andern zentralamerikanischen Ländern sich finden, in Chirigui
so gut wie nichts vorhanden ist. Dagegen bemerkt man in
Felsen geritzte Figuren, Statuetten aus Stein, verzierte
Mahlsteine, Sessel, Beile, Speer- und Lanzenspitzen. Bon
Kriegswaffen aber keine Spur. Von Metallen ist Gold,
Kupfer, eine Legierung aus beiden, sowie Bronze vertreten
und die Gebilde ans denselben zeigen einen höchst eigen-
artigen Stil. Sie sind meistens klein, erreichen selten das
Gewicht von einem Pfund und dienten ausschließlich als
zierende Anhängsel. Sie sind in Formen gegossen und
stellen zum allergrößten Teil Tierarten dar.
Die meisten Altertümer Chiriguis sind Thongebilde von
oft bewundernswerter Form und Ausschmückung. Die Basen
stellen sich den schönsten amerikanischen Erzeugnissen dieser
Art an die Seite. Weder Glasiernng noch die Töpferscheiben
waren bekannt. An die Basen schließen sich Statuetten,
kleine Büchschen, sesselartige Gebilde, Spinnwirtel und
Musikinstrumente aus Thon an, alles dekoriert, und die letzter»
beiden den Beweis liefernd, daß die Künste des Wcbens und
der Musik in Chirigui bekannt waren. Was die ästhetische
Seite der Keramik Chiriguis betrifft, so kann sie sehr hoch
angeschlagen werden, wie die schönen, fast klassischen Formen
vieler Basen schon bezeugen. Die Flüchcndckoration verdient
besondere Aufmerksamkeit.
Die Elemente dieser Dekoration stammen in der Kera-
mik aus zwei Quellen: aus der Kunst und aus der Natur.
Die Kunstelemcnte sind hauptsächlich mechanischen Ursprungs,
daher nicht imitativ und geometrisch. Die Naturelemente
ahmen natürliche Formen nach und sind daher ursprünglich
nicht geometrisch. Die Knnstelemente sind, als mechanischen
Ursprungs, ohne innere Bedeutung und nicht ideographisch;
diejenigen, welche der Natur entnommen wurden, sind aber
in ihren frühesten Stadien gewöhnlich mit mythologischen
Vorstellungen verknüpft und daher ideographisch. Alle
Dekorationen können daher in vier Doppelklassen untergebracht
werden: 1) mit bezug auf die Art der Ausführung als
plastisch und flach; 2) mit Rücksicht auf die Abstammung
als mechanisch und nachgeahmt; 3) mit bezug auf den Plan
der Darstellung als geometrisch oder nicht geometrisch und
4) mit Rücksicht aus die zu Grunde liegende Idee als etwas
bedeutend oder als bedeutungslos. Die keramische Kunst,
welche die verschiedenen Elemente des Ornaments ergriffen
hat, führt sie nach eigenen Methoden durch viele Wechsel der
Form hindurch. Dieses ist namentlich bei lebenden Formen
erkenntlich und von Wichtigkeit. Ein realistisches Tier geht
durch viele Übergänge in ein ganz bestimmtes dekoratives
Motiv über, wie dieses beim Alligator erkenntlich war.
prähistorische Bauten auf Menorca (Balearen).
Von Juan j?ons y Soler in Viahon.
Betrachtet man die archäologischen Denkmäler Menorcas
nach ihrem Ursprünge, so kann man zwei sehr bestimmte
Arten unterscheiden, t. Solche, die sich nur ans den
Balearen, besonders Menorca, finden und hier meist als
Talayots, Navetas und
Taulas bezeichnet werden.
2. Solche, die auch in an-
dern Ländern vorkommen,
wie Höhlen, die als Woh-
nungen oder Begräbnis-
stätten dienten, Megalithen,
Menhirs, Cromlcchs. Dio-
dor von Sizilien ist der ein-
zige Schriftsteller des Alter-
tums, der sie, wenn auch
in unbestimmter Weise, er-
wähnt. Neuerdings haben
John Armstrong und Dr.
Juan Ramis in ihren
Schilderungen ans Menorca
sich mit denselben beschäf-
tigt. Sie halten dieselben
für keltisch, wiewohl wir
keinerlei Anhaltspunkte für
den Aufenthalt der Kelten
auf der Insel haben. Spätere Schriftsteller sind ihnen hierin
einfach gefolgt, indem sie die Irrtümer vermehrten und
z. B. die Taulas als Dolmen bezeichneten, wiewohl sie mit
diesen nichts zu thun haben. Demnächst ist von Emil Car-
tailhac ein Werk über diese Denkmäler zu erwarten, das
uns wohl manche Aufklärung über den Ursprung dieser
geheimnisvollen Denkmäler bringen wird.
Die Talayots (Fig. 1) werden durch einen abge-
stumpften Kegel charakterisiert, der aus großen, nach der
inneren Seite roh geebne-
ten Steinblöcken aufgeführt
ist. Die Steine sind in
parallelen Schichten aufge-
führt, deren jede aus einer
Steinlage besteht. Alle
Talayots, die noch einiger-
maßen erhalten sind, sowie
diejenigen, die wir haben
zerstören sehen, endigten in
einer wagerechten Plattform
ohne Brüstung, die etwa
zur Verteidigung hätte die-
nen können; auch waren sic
nicht mit Erde eingeebnet.
Mit cyklopischen Bauten
haben sie nichts gemeinsam,
dagegen kann man sie mit
den bekannten Nurhagcn
Sardiniens vergleichen, wie-
wohl diese vielleicht jün-
geren Ursprungs sind und ihre Erbauer mehr Baukunst
verraten. Die Nurhagen kann man als vervollkommnete
Talayots ansehen und Sampere hat daraus hingewiesen, daß
Menorca im Altertum Nura hieß. Die Güte der Aus-
führung der Talayots ist verschieden, doch darf man daraus
Fig. 1. Ein Talayot. Nach Photographie.
Juan Pons l) Soler: Prähistorische Bauten auf Menorca (Balearen).
231
wohl nicht auf ein verschiedenes Alter derselben schließen.
Die Verschiedenheit ist dem verschiedenen Können der Er-
bauer zuzuschreiben; die Typen, nicht die Einzelheiten charak-
terisieren die Epochen. Man findet die Talayots einzeln
oder in unbestimmten Gruppen, auf Höhen oder Thälern,
nah oder fern dem Meere, immer da, wo der Stoff zu
ihrem Bau vorhanden. Es giebt mehrere Arten dieser
Bauten, die verschiedenen Zwecken gedient zu haben scheinen.
Zuweilen ist der Talayot nur von einer einzigen Kammer
eingenommen, die als Wohnstätte gedient haben kann. Bei
andern wird das Innere von einer nach der Plattform
führenden Treppe erfüllt, so daß der Bau bloß wegen der
Plattform aufgeführt zu sein scheint. Die einfachsten sind
völlig mit Steinen erfüllt. Bei einigen neuerdings zer-
störten will man Aschenurnen gefunden haben. Auf einer
meiner Besitzungen befindet sich ein zerstörtes Talayot mit
Grabstätten im Grunde. Bei mehreren sieht man in ver-
schiedener Höhe und ohne Symmetrie an der Außenseite
kleine Nischen oder Zellen angebracht. Wieder andre sind
von einfachen oder verzweigten Gängen mit Zellen dnrch-
Fig. 2. Naveta des Tudons. Nach Photographie.
zogen, die zur Plattform führen. Zwei oder drei Talayots
haben Grundrisse in Form einer Ellipse oder eines Kreis-
ausschnittes. Die Wichtigkeit dieser Ansnahmeformen werden
wir bei den Navetas erkennen. Was die Zeit der Erbauung
anbetrifft, so können wir bei dem
gegenwärtigen Stande unsrer Kennt-
nisse uns nur auf Mutmaßungen
beschränken.
Die Navetas oder Schiffchen
(von nau) haben die Gestalt eines
umgekehrten Botes mit dem Kiel
nach oben. Die Art ihres Baues
ist dieselbe, wie jene der Talayots.
Die Naveta des Tudons (Fig. 2)
galt als die einzige ihrer Art, bis
ich das Glück hatte, noch fünf wei-
tere zu entdecken. Seitdem hat sich
ihre Anzahl abermals vermehrt.
Bor wenigen Jahren war jene
Naveta noch mit Steinplatten
völlig gedeckt, die zu beiden Seiten auf den Mauern ruhten.
Auf der First bildete eine gerade Vinte behauener steine
den Kiel; aber dieses Dach ist jetzt verschwunden. Alle
Navetas haben oder hatten einen sichtbaren Eingang und
diese Anlage paßte nicht zu einem Grabe. Die Gebeine, die
man in einigen derselben gefunden hat, wurden wahrscheinlich
später darin niedergelegt. Mit den Gebräuchen der ver-
schiedenen Völker, die seit Jahrhunderten in Menorca auf-
einander folgten, mag sich auch die Bestimmung der alten
Denkmäler der Insel geändert haben. Die älteren, die einen
echten Totenkultns hatten, waren wählerisch in der Art der
Grabstätten; die neueren, weniger streng, paßten das Be-
gräbnis den vorhandenen Baulichkeiten an, die Begräbnis-
stätten können selbst mehrere Male gedient haben. Es ist
möglich, daß ein Vandale in dem
Grabe eines römischen Bürgers
ruht und daß ein barbareskischer
Seeräuber in einer Naveta bestattet
wurde, die als Tempel des Neptun
oder der Isis diente, der Be-
schützerin der Schiffahrt. Die klei-
nen Verhältnisse stehen dem nicht
entgegen: der von Nomulus errich-
tete Tempel des Jupiter Feretins
war noch kleiner. Deuten die
gegen Norden gerichteten Vorder-
seiten der Navetas auf den Weg,
den ihre Erbauer nach dem Landen
auf Menorca verfolgten? Dieser
Gedanke kommt mir durch eine
Stelle des Sallust, in welcher es heißt, daß nach dem
Tode des Herkules die Meder, Perser und Armenier, die
ihn nach Spanien begleitet hatten, nach Afrika gingen, die
Ufer des Mittelmeeres besetzten, und, da ihnen Steine und
Holz zum Banen fehlten, ihre Schiffe in Häuser ver-
wandelten, indem sie den Kiel nach oben stellten. Er fügt
hinzu, daß zu seiner Zeit die Bewohner der Campagna
ähnliche Häuser besaßen, woraus hervorgeht, daß man
hundert Jahre vor Christus Häuser in Schiffsform hatte.
Das Schiff, welches den Ulysses nach Jthaka brachte, wurde
Flg. 3. faulst de Talmi de Dalt.
Nach Photographie.
232
Juan Pons y Soler: Prähistorische Bauten auf Menorca (Balearen),
nach Homer, ohne seine Form zu verlieren, in Stein ver-
wandelt. Alles dieses kann mit den Navetas in Verbindung
gebracht werden und darf die Aufmerksamkeit der Archäologen
erregen. Man kann auch annehmen, daß die Navetas
Ilmwandlungen der Talayots find, hervorgegangen aus
einem solchen mit elliptischer Grundform.
WaS die Taulas betrifft, fo sind sie Denkmäler ganz
eigener Art. Es find Bilithcn, bestehend aus einem ziemlich
gleich hohen und breiten und dabei sehr schmalen Grund-
stein, der aufrecht im Boden steht, in den er nur wenig
tief eingegraben ist oder der gar auf dem natürlichen Felsen
ruht. Auf dieser gebrechlichen Grundlage ruht wagerecht
ein zweiter großer und dicker Stein, der wie durch' ein
Wunder das Gleichgewicht hält. Aber nicht immer hält
der Stein sich ohne Stütze auf seinem Platze; bei einigen
Taulas, fo bei jener von Talati di Dalt (Fig. 3), find Stein-
stützen zu seinem Halte angebracht. Die meisten der wage-
rechten Steine der Taulas sind gut zubehauen, während die
unteren, senkrecht stehenden das rohe Material zeigen. Man
kann dieses recht gut bei der Taula von Trapuco bei Maho
erkennen (Fig. 4). Dieser Umstand scheint einer rituellen
Vorschrift zu entspringen, die nicht auf Altären zu opfern
gestaltete, die durch die menschliche Hand profanirt waren.
Rings um einige Tanlas sieht man einen weiten Kreis
von Pfeilern oder Menhirs, welche das Denkmal vervoll-
ständigen; es ist also ein Cromlech. Ich schließe mich der
Anficht derjenigen an, welche in den Taulas Altäre sehen;
wenn sie aber zu Opfern dienten, so können sie ihren
Fig. 4. Taula von Trapuco. Nach Photographie.
Dimensionen zufolge nicht zum Opfern von Menschen und
großen Tieren gedient haben.
Grotten, die zur Wohnung oder zu Begräbnissen dien-
ten, sind sehr häufig auf Menorca; zu Calas Covas am
Meere bilden sie eine beträchtliche Ortschaft. Sie haben
Thüren, Fenster und selbst in den Felsen gehauene Sitze.
Im Barranco d'Algcndar ist die Vorderseite einer Grotte
mit Verzierungen versehen, ähnlich den phönizischen. Me-
galithische Wohnungen finden sich in Menorca auf und
unter der Erde. Die Mauern sind oft aus den natürlichen
Felsen gebildet, wie alles in rohen Steinen erbaut ist.
Einige besitzen einen Mittelpfeiler, der monolithisch oder
aus mehreren Steinen gebildet ist. Andre besitzen eine oder
zwei Reihen von Pfeilern mit runder oder viereckiger Basis.
Die Denkmäler Menorcas dürfen, wegen ihrer besondern I
Verhältnisse, nicht in das System eingefügt werden, welches
für andre Länder Gültigkeit hat. Es giebt auf unsrer
Insel Mauern, die ganz den cyklopifchcn Bauten gleichen.
Andre sind durch eine einzige Reihe von Steinen gebildet.
Eine ganz andre Art von Mauern, sehr dick, nachlässig aus
rohen Steinen zusammengefügt, find die Antigots. Zur
Zeit des Dr. Inan Ramis sah man bei Albranca Vell ein
Amphitheater mit einigen Stufen; die letzteren sind ver-
schwunden, doch sieht man noch die Grundlagen des Theaters,
vier konzentrische Ringe, jeder ein Bieters über dem vor-
hergehenden; der für die Arena übrige Raum war unge-
nügend für Kämpfe und dramatische Vorstellungen. Man
kann annehmen, daß es sich hier um eine Agora handelte,
die etwa 300 Personen faßte. (Übersetzung aus To Torn-
au Monde 1890. Bd. LIX, S. 238 bis 240.)
233
F. Regel: Dre Denudation der Wüste.
Die Denudation der wüste.
Don F. Regel. Jena1).
Anfang 1887 unternahm Dr. Walthcr eine Reise nach
Nordafrika und nach dem Roten Meere, nm die Bildung
der Korallenriffe zu studieren, sowie Beobachtungen über
die in der Wüste thätigen Kräfte zu sammeln: er lernte
zunächst am Roten Meere die Wüsten des Sinai kennen,
hatte dann das Glück, einer Einladung Schweinfurths fol-
gend, im Wadi el Arabah das dortige hochinteressante De-
vonvorkommnis näher zu studieren und konnte nunmehr in
Begleitung jenes ausgezeichneten Kenners der ägyptischen
Wüste zum koptischen Kloster des heiligen Antonius und
durch das Wadi Asbar zur südlichen Galala hinaufsteigen,
und schließlich von hier aus allein quer durch die Wüste
zum Nil reiten und so nilabwärts nach Europa zurück-
kehren. Im Jahre 1889 konnte Walther, von einer Reise
nach Indien zurückkommend, die begonnenen Studien fortsetzen
und die früheren Beobachtungen ergänzen.
In der vorliegenden Abhandlung sind nunmehr die Er-
gebnisse zusammengestellt, zu welchen der Verf. auf Grund
seiner originalen Beobachtungen an Ort und Stelle, sowie
nach einer gründlichen Durcharbeitung der sehr umfassenden
einschlägigen Litteratur gelangt ist. Dieselben gehen keines-
wegs nur die Geologen von Fach an, sondern sind ebenso
geeignet, lebhaftes Interesse in geographischen Kreisen zu
erwecken, da es sich ja nicht um spezielle Paläontologische,
Fig. 3. Äolische Abtragung in der Wüste, späteres Stadium.
Fig. 4. Zeuge im Wadi Gnerrani.
tratigraphische oder tektonische Studien handelt, sondern um
ie Deutung ganz allgemeiner, überall in den Wüstenzonen
er Erde auftretender und wirksamer Erscheinungen.
Die ungewöhnlich reich mit Textabbildungen und acht
'ichtdrucktafeln ausgestattete Arbeit gliedert sich in acht
Capitel: I. Meteorologie der Wüste einschließlich des
^flanzenwuchses — so werden z. B. die sogenannten „Neu-
inge", Sandanhäufungen um Wüstenpflanzen, hier be-
Prochen; II. Charaktere der Wüste: es werden 1. Fels-
vüste, 2. Kieswüste, 3. Sandwüste, 4. Lehmwüste
mterschieden. In den folgenden vier Kapiteln (III bis VI)
vird nun jede einzelne dieser verschiedenen Formen der Wüste
Pezieller behandelt, weiterhin (im Kap. VII) Belege für die
Beständigkeit des Klimas in Ägypten gebracht und schließlich
n einem „Rückblick" (VIII) die Antwort auf die Fragen
2) Die Denudation in der Wüste und ihre geolo-
gische Bedeutung. Untersuchungen über die Bildung der
~"v i. !.. -... «»¡¡ft,,,, um, nbannes Walther,
lj|C U. VUU)|. vyv|. —
Hirzel, 1891, gr. 8°, 225 6.)
Globus LIX. Nr. 15.
zu geben versucht, welche sich der Verf. bei Antritt seiner
Reise gestellt hatte: „Welche meteorologischen Kräfte
sind in der Wüste thätig? Wie zerstören dieselben
die Felsen? Was ist das Endergebnis dieser Pro-
zesse? Ist das Relief der heutigen Wüste unter
dem Einfluß anderer Kräfte entstanden, als heut-
zutage dort wirksam sind? Woran erkennt man
Wüsten?"
Von einer Meeresbedeckung der Wüstentafel in jüngerer
geologischer Vergangenheit ist keine Rede, das Salz der
Wüste stammt durchweg aus älteren Sedimenten; die
Modellierung des Wüstenreliefs ist nur zum geringeren Teil
durch das Wasser bewirkt, Erosion und Verwitterung (durch
Wasser) tritt ganz in den Hintergrund gegen die gewaltigen
äolischen (— Wind) Gewalten, welche den Felsenboden
der Wüste zertrümmern und alle die zum Teil wunderbaren
und eigenartigen Bildungen der Wüste erzeugen, indem sic
teils den Boden tief aushöhlen, natürliche Amphitheater,
enge Uudikessel und Schluchten erzeugend, teils ganze Schich-
tenkomplexe bis auf einzelne Pfeiler oder Klötze, die „Zeugen
(témoins)", oder sonderbare Pilzfelsen hinwegblasen.
30
234
H. lseidel: Neue portugiesische Kolonialkarten.
Die denudierende Kraft der Wüstenwinde hat Verfasser
uiit dem unzweideutigen Ausdruck Deflation bezeichnet.
Im Kapitel III werden nun die Wirkungen der Deflation
in der Felswüste näher dargelegt: wie „Zeugen" in
Gegenden mit abwechselnd harten und weichen Schichten
entstehen, ist hier sehr schlagend nachgewiesen und durch höchst
charakteristische Zeichnungen veranschaulicht, ebenso die Aus-
modellierung der Uadis, an welchen der erodierenden Kraft
des Wassers wohl eine gewisse Mitwirkung zuzusprechen ist,
obschon der Löwenanteil auch hier der Deflation zukommt.
Von allen Seiten wird das Tafelland durch die Winde
angefressen, kleine Uadis dringen herein und cs entsteht ein
Umriß, wie Fig. 1 ihn zeigt, doch fast ohne die Mitwirkung
erodierenden Wassers. Immer tiefer nagen sich die kleinen
Uadis, sie verästeln sich, sie vertiefen sich, aber ihre Grund-
früher weit ausgedehnten Gesteinsschicht und eine Ruhepause
tritt ein in der Abtragung des Landes, denn die Kalkbank I)
widersteht lange den Angriffen der wüstenbildenden Kräfte.
Eine sehr eigentümliche und nicht leicht erklärbare Wir-
kung der Deflation zeigt sich auch bei der Bildung der
Säulengänge und der Pilzfelscn, die man oft in der Wüste
trifft. Man sicht Felswände wie von regelmäßigen Fenster-
reihen durchbrochen, die durch spätere Entfernung der eigen-
tümlichen und nicht erklärten Schutzwände entstanden sind.
Etwas Ähnliches findet bei der Bildung der Pilzfelsen
(Fig. 5) statt. Vereinzelte Blöcke von größerem Umfange
bilden sich in der Wüste auf zweierlei Art: entweder sind
es von einer Felswand herabgebrochene Stücke, oder sie sind
bei der Deflation in situ isoliert. Solche vereinzelte Blöcke
werden nun leicht, sofern sich ihr Gestein dazu eignet, von
der erwähnten braunen
Schutzdecke umgeben, wenig-
stens aus ihrer oberen
Hälfte. Der Fuß wird
durch Sandgebläse zerfressen
und verkleinert, während
die Oberseite durch die
Schutzrinde widerstands-
fähig geworden ist. Letztere
wird bisweilen teilweise
durchlöchert und nun be-
ginnen die Wüstenkräste
sich hineinzubohren. Aus
diese Weise entstehen Pilz-
felscn mit weit überhängen-
dem, ausgezacktem Rande,
wie in der beistehenden
Fig. 5 nach einer Zeich-
nung G. Schweinfurths
schön zu sehen ist. Solche
pilzähnliche Kalkstücke, durch Deflation aus einer größeren
Felsmasse herausmodelliert, haben etwa 6 m Höhe und
Breite. Fast 1 na ragt der gebräunte Hut über einem
weißen Stiel hervor.
In dem Abschnitt (IV) über die Kieswüste wird die
Zerstörung der Gesteine durch „das Sandgcbläse" und
die mächtige Wirkung der Insolation eingehend erläutert,
das Auftreten der sonderbaren Säulengänge, der Pilz-
felsen, das Vorkommen versteinerten Holzes in der
Wüste erklärt, während eine andre Erscheinung, die „braune
Schutzrindc" des Wüstengesteines, noch nicht völlig aufge-
klärt werden konnte.
Sehr interessante Beobachtungen enthält auch der Ab-
schnitt über die Sandwüste: hier wird auf die Bildung des
Wüstensandes, auf die Form und das Wandern der
Dünen, die Fußspuren im S ande u. a. näher eingegangen.
fläche bleibt immer die Kalkbank D\ ihre Wände werden
von dem Mergel G gebildet und nach oben wird die Berg-
masse abgeschlossen durch die Bank B. Das Wasser schasst
aus den Uadis die groben Blöcke heraus, aber die Haupt-
leistung vollzieht die Kraft des Windes. Auf einem späte-
ren Stadium (Fig. 2) sehen wir auf dem Profil eine
Zeugenlandschaft. Der Deflationsprozeß geht weiter. Die
freistehenden Zeugen bieten der Denudation geringen Wider-
stand und einer nach dem andern verschwindet. Endlich
ragt (Fig. 3) ans der weiten durch die Bank I) gebildeten
Wüstenebene noch ein einzelner Zeuge heraus, der letzte Rest
einer früher weit ausgedehnten Schichtcndccke. Der Zeuge
wird infolge stärkerer Verwitterung an der Schattenseite
schief (Fig. 4) und unregelmäßig, ans der Nordseite wird
die schützende Kalkplatte stärker untergraben, sie bricht end-
lich herab und bald verschwindet auch der letzte Zeuge einer
Neue portugiesische Kolonialkarten.
Von H. Seidel.
Seit Ausbruch des englisch-portugiesischen Streites ist
man am Tajo eifriger als je mit Publikationen über die
lnsitanischen Besitzungen in Afrika hervorgetreten. Neben
den litterarischen Erscheinungen ist uns in rascher Folge
eine stattliche Reihe von Kartenwerken zugeflogen, die sämt-
lich Portugals Anteil am dunkeln Erdteil illustrieren. Man
beeilt sich, wieder gut zu machen, was früher, so lange
die Kolonialarchive ängstlich geschlossen blieben, versäumt
und gesündigt ist. So liegen mir heute nicht weniger als
26 afrikanische Karten vor, welche überwiegend in den letzten
zwei Jahren durch die kartographische Kommission des
Niinstkrio da Marinha e Ultramar herausgegeben sind.
Zur bequemeren Übersicht möchte ich diese Werke in drei
Gruppen ordnen, indem ich zuerst die reinen Landkarten,
dann die Seekarten und endlich die Jnselkarten bespreche,
da einige der letzteren ebensowohl die terrestrischen wie mari-
235
H, Seidel: Neue portugiesische Kolonialkarten.
timen Verhältnisse ihres Gebietes behandeln. Eine Sonder-
stellung nimmt schließlich der Esbogo do curso do Zam-
beze in 1:200000 ein, den ich am besten als Flußkarte
kennzeichne.
Den Reigen dars die Carta da Guiñé Portugueza
in 1:500000 aus dem Jahre 1889 eröffnen. Dieselbe
veranschaulicht das vielfach gegliederte und durch einen
Schwarm von Inseln umlagerte Territorium in der Mün-
dungszone der Flüsse Cazamausa, Cacheo, Geba, Cassini
und Nuñez. Aus dem Wirrsal von Delta-Armen, Buchten,
Sandbänken und Klippen erhebt sich der einsame Bissaqos-
Archipcl (vergl. Globus LVII, 237).
Geringer im Wert steht uns die zweite Karte, ein kleines
Blatt in 1 : 750000, das für die Territorios de Cabinde,
Molembo e Massabi bestimmt ist. Auch die dritte Karte,
die auf schmaler Fläche die Kongo- oder Zaire-Mündung
wiedergiebt, läßt kaum eine Erörterung zu. Etwas mehr
können wir aus der Carta de Angola in 1:3000000
lernen, da hier durch verschiedene Farbentönung die frucht-
baren und relativ gesunden Regionen von den fruchtbaren,
aber ungesunden Bezirken augenfällig unterschieden sind.
Der Karte ist noch eine Übersichtstafel der landwirtschaft-
lichen und Bergwerkserzeugnisse beigegebeu, die sich leider
mit gar zu allgemeinen Daten begnügt.
Indem wir nach Ostafrika übergreifen, sei hier zu-
nächst eine recht inhaltreiche Karte des Distrikts Maniea
und der Umländer erwähnt, aus welcher unter anderen auch
die wichtigsten Routen der neueren Forschungsreiseuden ein-
gezeichnet sind. Das Blatt stammt aus dem Jahre 1887,
und so erklärt sich die mangelhafte Wiedergabe des Zambesi-
Deltas, wo wir z. B. den Ehinde-Arm vergebens suchen.
Die Befahrbarkeit desselben ist erst nach jener Zeit erprobt
worden, so hauptsächlich durch das englische Kriegsschiff
„Storch" mit dem Konsul Johnston an Bord. Der
„Storch" Passierte früh am 28. Juli 1889 die Barre, eine
bis zwei Stunden nach Hochwasser, und fand 19 Fus^ Tiefe,
so daß. er ungefährdet in den schönen Hafen des Nañombe-
Beckens — ober, wie die portugiesischen Karten schreiben,
Jnhaombe — einlaufen konnte. Laut der Berichte von
Konsul Johnston I und Kapitän Balsour2) ist der Chinde
stark gewunden, und manche seiner Biegungen sind sogar
ziemlich kurz; aber das Wasser ist sehr tief, ausgenommen
den Zugang in den Zambesi, wo die Fahrrinne bei Niedrig-
wasser nur 10 Fuß Tiefe hat. Die Flut steigt und fällt
hier noch um 8 Fuß, so daß — nach Konsul Johnston —
Schiffe von höchstens 17 Fuß Tiefgang und 200 Fuß Länge
nicht nur die Chinde-Barre bequem passieren, sondern auch
ebenso leicht den Hauptstrom selbst durch den Chinde er-
reichen können.
Während der englischen Vorstöße auf dem Chinde war
. Wfwrts“ irit Woclum
w z>. ... t
oieier nerven begrüßen wir den sorgfältigen
Barre, sowie des unteren Flusses bis Punta Salimane in
1:20000. Vor allem ist die Beschaffenheit der Barre mit
größter Pünktlichkeit lviedergegeben. Ans den Tiefenzahlen
ersehen wir, daß die flachste Stelle in der Einsegelungslinie
1,8 nr bei Niedrigwasser mißt. Rechnen wir hierzu
Steigen der Flut im Mittel zu 3,2m, im Maximum
noch
das
Bluebook C. — 5904. Africa Nro. 2 (1890) Corre-
spondence respecting the action of Portugal etc. S. 140
u. 141.
2) A. a. O. S. 143 bis 145. Zwischen den Angaben John-
stons und denen des Kapitäns besteht ein merkwürdiger Unter-
schied. Der Konsul setzt sämtliche Tiefenzahlen um 2 dust höher
an, als der vorsichtigere und für seinen Bericht verantwortliche
Seemann. Wir sind unbedenklich dem letzteren gefolgt.
aber zu 4 m, so ergeben sich gut 5 m Tiefe und darüber für
die Fahrrinne, allerdings in den meisten Fällen doch etwas
weniger, als die Meldung Johnstons voraussetzen läßt.
Die hydrographischen Verhältnisse des Hauptstroms bis
über die Abzweigung des Chinde hinauf sind bereits seit
mehr als 20 Jahren zuverlässig mappiert. Die britischen
Seekarten Nr. 650 und 2865 erteilen den Schiffsführcrn
die nötige Auskunft, die ihnen merkwürdiger Weise der sonst
recht inhaltvolle Esbogo do curso do Zamboze gerade für
das Delta versagt. Auf einem 30 cm breiten und 21/2m
langen Streifen ist der Unterlauf des Zambesi bis kurz
oberhalb von Tete mit seinen Inseln, Ufersümpfen und
Nebenflüssen, mit den benachbarten Bergzügen, Handels-
wegen und Ortschaften in möglichster Vollständigkeit nieder-
gelegt. — Sehr hübsch präsentiert sich ferner die große Carta
de Mozambique in 1:3 000000, die im Süden bis über
Lourengo Marques, im Norden bis Mikindani und den
Bangweolo-See reicht, während im Westen etwa der 28. Meri-
dian östl. v. Gr. die Scheide bildet. Wir haben hier so-
nach das ganze ausgedehnte Feld vor uns, auf dem sich
gegenwärtig der englisch-portugiesische Jnteressenstreit bewegt;
namentlich überrascht uns der gewaltige Umfang des briti-
schen Bergriffes „Nyassaland", wozu man an der Themse
außer dem See und seinen Rändern auch das Schiregebiet,
sowie die Räume östlich und westlich des Zentralbeckens
zählt. Die lang bestrittene Priorität der Entdeckung des
Nyassa hat kürzlich Jaime Batalha Reis in seiner Schrift
„0s Portuguezes na regia o do Nyassa“ auf Grund ge-
wisser „documentos já esquecidos ou ignorados" von
neuem für Portugal in Anspruch genommen I.
Von den Seekarten, zu denen ich jetzt komme, ist eine
schon des Näheren erörtert. Die übrigen enthalten, teils
genauer, teils flüchtiger ausgeführt, die Pabia do Mocambo,
den Rio Pungue bis 19° 25' südl. Breite aufwärts, so-
wie dessen Einfahrt vor Beira und die Mündung des Rio
Linde im Delta des Zambesi. Zur westafrikanischen Küste
gehören zwei Litoralaufnahmen aus Angola und die kleine
Karte einer Bucht der Insel Braka unter 14" 52' nördl. Br.
Störend wirkt es, daß zur Bezeichnung der Tiefen in den
Karten kein einheitliches Maß gewählt ist; bei einigen
treffen wir Meter, bei anderen Fuß oder gar Bragas an.
Geographisch weit interessanter sind die sechs Karten der
Kap-Verdischen Inseln, denen bei San Thiago noch
zwei Seekarten, die eine für Porto da Praia (1: 8000), die
andre für die Bahia do Tarrafal (1:5000), zugezählt
werden müssen. Sämtliche Inseln sind in gleichem Maß-
stab 1:100000 gezeichnet, und wir erhalten dadurch ein so
ausführliches Bild jener entlegenen Eilande, wie es uns
sonst nicht geboten wird. Das in brauner Schummerung
gehaltene Terrain bietet mancherorts ganz überraschende
Gemälde dar. Höchst seltsam erscheint z. B. der mit wech-
selnden Kraterformen bunt übersäete westliche Teil der An-
toniusinsel. Auf einer elliptischen Fläche von 10 km Lüngen-
und 5 km Breitenachse sind an 50 vulkanische Krater ver-
streut, manche von erheblichen Dimensionen, wie der Campo
redondo, manche wieder sehr klein, nur 100 bis 200 m im
Durchmesser haltend. Bei vielen ist der umschließende Ring-
wall durchbrochen, oft gar zur Hälfte und darüber eingestürzt,
oder es hat sich in dem älteren Zirkus noch ein zweiter
Krater gebildet, der hier und da auch schon zerstört ist.
Kurz, die Physiognomie der Gegend erinnert uns sofort an
die längst bekannten typischen Mondlandschaften. Von dem
durchweg niedrigen Kulturstand der Inseln und ihrer
schwachen Bevölkerung geben die Karten ein sprechendes
I Der englische Text obiger Abhandlung ist im Mai 1889
im 8cottish Geographical Magazine erschienen.
30*
236
Vorstellungen des russischen Volkes vom Tode.
Zeugnis. Die spärlichen Ansiedelungen sind vorwiegend auf
die Küstensüume beschränkt, wenn diese nicht, wie aus der
Jlha de Boa Vista oder der Jlha do Sal, durch ein un-
gastliches und gefährliches Ufer den Kolonisten zurückschrecken.
In dem Plane von Porto da Praia fällt eine hübsche
„Vertonung", d. h. bildliche Ansicht der Stadt und ihrer
näheren Umgebung mit dem scharf zuckcrhutförmigen Pico
d'Antonia und dem gleichmäßigen Kegel des Monte Vermelho
angenehm auf. Ebenso ist zur Bahia do Tarrafal eine
Zeichnung der Strandszenerie gegeben, welche das jäh ab-
fallende, von Klippen umgürtete Gestade mit den: statt-
lichen Monte Graciosa dahinter (645 ui hoch) prächtig zur
Schau bringt.
Weniger gelungen sind die beiden letzten Inselkarten,
nämlich die der Ilha de S. Tliomé in 1:150 000, sowie
die der Ilha do Principe in 1:100 000. Die erstere ist
auf Professor Greffs Karte in Petcrmanns Mitteilungen
1884, Tafel 6, trotz des kleineren Maßstabes viel detail-
lierter gehalten. Der einzige Vorzug des portugiesischen
Blattes besteht in einer als Karton eingefügten Seekarte der
Bahia de Anna de Chaves in 1:40000. Verschiedene
Farbentönungen machen für die Inseln das kultivierte
wie das unkultivierte Terrain erkennbar, und für San
Thomé ist noch ein kultur- und handelsstatistischer Plan
beigedruckt, dessen Daten allerdings auf das Jahr 1881/82
zurückgreifen.
Trotz solcher und ähnlicher Mängel, die auch in den
früher besprochenen Blättern kaum fehlen werden, können
wir es der portugiesischen Regierung nur Dank wissen, daß
sie mit der Publikation ihrer afrikanischen Karten so wacker
voranschreitet. Noch mehr zu rühmen ist jedoch die Liberalität,
mit welcher Portugal diese Werke auch an auswärtige Biblio-
theken und Institute gelangen läßt.
V o r st e l l u n g c n des russischen Volkes
vom Tode.
Der Tod ist nach dcu Vorstellungen des russischen Bauern
ein schreckliches Ungeheuer, dem alles auf der Erde Unterthan
und jeder Widerstand unmöglich ist. Dieses Ungetüm wird
in einer alten Legende vom Riesen Anlka folgendermaßen
geschildert: Ein Ungeheuer mit einem Mcuscheukopfe mit langen,
bis zu den Hüften herabwalleuden Haaren und mit Pferde-
füßen; seine Bewaffnung wird bald als nur aus einer Sense,
bald als aus Schnittmesser, Säge und Schaufel bestehend
beschrieben.
Die Gestalten, welche die Seele annimmt, um aus dem
Körper eines Verstorbenen zu entweichen, sind sehr verschieden,
bald ist sie ein kleiner Vogel oder ein Schmetterling (daher
wird im Gouvernement Jarosslawl der Schmetterling dn-
schitschka, von duschá = Seele, genannt), bald ein kleines
Männchen, und sie wird sogar als Ranch (dymzó máloje)
geschildert. Damit die entwichene Seele vor Beginn der be-
schwerlichen Wanderung ins Jenseit sich stärke, wird auf dem
Fensterbrett eine Tasse mit Wasser aufgestellt. Die Vor-
stellung vom Jenseit, wie sic Basilius, ein Bischof von Now-
gorod ans dem XI V. Jahrhundert, beschreibt, ist unverändert
bis auf den heutigen Tag in der Phantasie des russischen
Bauern geblieben. In seinem Briefe an Theodor, den Bischof
von Twer, schildert Basilius, auf eine Legende vom heiligen
Enphrosinns Bezug nehmend, der angeblich int Paradiese
gewesen sein soll, das Paradies als einen hohen, von der
Brandung eines stürmischen Meeres umtosten Berg. Da
nun dieser Berg sehr schwer zu ersteigen ist, so herrscht unter
den Bauern in einigen Gegenden Rußlands die Meinung,
daß die abgeschnittenen Nägel unter keinem Vorwände weg-
gcworfen werden dürfen, sondern man muß sie sorgfältig
aufbewahren, um sie nach dem Tode beim Ersteigen des
Paradiesberges benutzen zu können. In einigen Gegenden
legte man zu demselben Zwecke aus Riemen geflochtene Settern
in den Sarg, und in den Gouvernements Kursk und Woro-
nesh bäckt man für den Toten Kuchen in Form einer Leiter.
Da das Paradies von einem Meere umgeben ist, nach
andern wieder von einem Feuerstrome (ognennaja rjeka)
umflossen wird, so legt man dem Toten Geld in den Sarg,
damit er die Überfahrt bezahle. Wie naiv die Vorstellungen
der Russen vom Jenseit sind, zeugt am deutlichsten der Glaube,
daß der Verstorbene dieses Geld außer zur Überfahrt noch
zum Ankauf eines Platzes für sich, zur Bestechung der hölli-
schen Richter re. braucht. Die Raskolniken verfertigen noch
jetzt Särge ans ausgehöhlten Baumstämmen, in der Art, wie
früher Kähne hergestellt wurden. Also hier begegnen wir
der so oft bei verschiedenen Völkern wiederkehrenden Sitte,
ihren Toten ein Boot zur Reise ins Jenseit mitzugeben.
Jin Altertum wurden mit dem Verstorbenen seine Weiber,
Sklaven, Vieh und mancherlei Geräte beerdigt, als ein Über-
bleibsel ans der heidnischen Zeit kaun man die Sitte betrachten,
bent Toten ein Handtuch aus Leinwand in die Hände zu
legen. Das Totenmahl (pominki) der Russen, welches am
Beerdigungstage, am 9., 21., 40. Tage utld am Jahrestage
veranstaltet wird und zu dessen wesentlichen Bestandteilen
Kissel, eine Mehlspeise mit Zusatz von Zucker, Himbeer-,
Heidclbeer- oder andern: Beerensaft, unb Bliny, flache, runde
Buchweizenkuchen, welche mit Butter, Kaviar, Lachs genossen
und merkwürdigerweise nur noch außer zum Totenmahl in
der Butterwoche (massljaniza) gebacken werden, gehören, —
dies Totenmahl ist natürlich nichts andres als die alte heid-
nische trisna, welche auf dem Grabe des Verstorbenen mit
Essen, meistens übermäßigem Trinken, nicht selten mit Tanz
und Musik gefeiert wurde.
In einigen Gegenden zünden die Bauern auf ihren
Höfen Stroh am heiligen Weihnachtsabend und am Vor-
abend der heiligen drei Könige (krestschenskiy sotschelnik)
an, damit die Verstorbenen sich erwärmen können. In der
ersten Woche nach Ostern wird zu Ehren der Dahingeschie-
denen die sogenannte radoniza gefeiert, in Rjasan heißt dies
Fest auch nawiy den (von naw = Toter) oder grobki
(von grob = Sarg). An diesem Tage werden Bliny ge-
backen, Eier gefärbt, und alle ziehen auf den Kirchhof hinaus,
um damit ihre geschiedenen Anverwandten zu bewirten, wobei
die Eier in Grabhügeln vergraben und diese mit Branntwein
und Met begossen werden. Diese Sitte herrscht nicht nur auf
dem Lande, sondern sogar in Städten, und selbst in der sonst
fast kosmopolitischen Hauptstadt des Reiches St. Petersburg
sind alle Kirchhöfe an diesem Tage von Arbeitern, Hand-
werkern, niedern Beamten, Kaufleuten und ihren Familien
überfüllt.
Ebenso am Tage des Heiligen, welchem der Friedhof ge-
weiht ist, ziehen alle hinaus zu den Gräbern ihrer An-
gehörigen, um dort zu deren Ehren zu essen und zu trinken,
wobei es nicht ohne rohe Auftritte und widerliche Szenen
völliger Trunkenheit abgeht; bezeichnend ist z. B., daß noch
im Jahre 1889 am Tage des heiligen Mitrofan, auf dem
ihm geweihten Friedhofe (Mitrosaniewskoje kladbistsche)
in St. Petersburg nicht weniger als 300 Polizeisoldaten
und berittene Gendarmen zur Aufrechterhaltung der Ordnung
aufgeboten werden mußten. Da die Polizei das Mitbringen
von geistigen Getränken streng untersagt hat, so versucht man
die beim Eingänge zum Friedhof aufgestellten Polizisten auf
verschiedene Art zu täuschen, um Bier und Schnaps einzu-
schmuggeln.
Im Gouvernement Charkow glaubt man, daß zu Ostern
die Toten in der Kirche sich versammeln und die längst ver-
Crampels Besuch beim Zwergstamme der Bayaga (äquatoriales Westafrika).
237
storbenen Priester das Hochamt zelebrieren. Das Seelen-
messenlesen und andre mit dem Totenkultus verbundene
Zeremonien galten in Rußland vor der Reform Peters I.
fnr so wichtig, daß dafür ein besonderes Ministerium in
Moskau existierte, der sogenannte „panapkidniy prikas“.
In Nowgorod erzählte man einst die Sage von dem Possad
nik (einer hohen Magistratspersou) Stschila, tvelcher ein
arger Wucherer war und deshalb lebendig zur Hölle fuhr.
Der Erzbischof ließ auf einem Bilde die Hölle darstellen und
inmitten der Flammen befand sich der sündige Possadnik.
Der Sohn des Sünders ließ in 48 Kirchen Seelenmessen
für das Heil seines Vaters lesen, und siehe da! der Kopf des
Stschila wurde über den Flammen sichtbar; als der Sohn
diese Seelenmessen wiederholen ließ, erhob sich der Sünder
bis zu den Hüften ans den Flammen uitb nach der dritten
Totenfeier (pominowenje) wurde er gänzlich aus den Flammen
befreit.
Bekanntlich herrscht in Rußland, namentlich bei den
Kaufleuten, noch heute die Sitte, besondere Klagetveiber zu
mieten, tvelche den Toten beweinen (golossitj) und seine
Tugenden in wohlgesetzten Reden mit weinerlicher Stimme
preisen (pritschitywatj) sollen. Irrlichter auf den Fried-
höfen und Sümpfen galten im Gouvernement Tambow als
Seelen der Verstorbenen, und man erzählt im Gouvernement
Pensa, daß auf dem Grabe eines unschuldig Hingerichteten
jede Nacht eine Kerze brannte, bis für sein Heil eine Seelen-
messe gelesen wurde.
Im Gouvernement Perm und in Sibirien hält man
Sternschnuppen für die Spuren eines nach der Seele eines
Sterbenden ausgesandten Engels.
Sehr viele Russen niedern Standes haben abergläubische
Furcht vor dein Porträtieren, weil dabei angeblich ihre Seele
ihnen genommen wird. Daß die Seele die Gestalt eines
Vogels annimmt, ist in Rußland ein weit verbreiteter Glaube,
so z. B. als 1661 der Diakonus Theodor und andre Häupter
(8akonout8obit6li) der Sektierer (raskolniki) in Moskau
auf dem Scheiterhaufen starben, entwichen ihre Seelen, nach
den Berichten der Raskolnikcn, als weiße Tauben. Als
1754 der kaiserliche Hofmeister Tschoglokoff starb, hielt seine
Witwe einen in ihr Schlafzimmer zufällig hincingeratenen
Vogel für die Seele ihres verstorbenen Mannes. In den
Kreisen (ujesd) Mossalsk und Shisdra im Gouvernement
Kaluga wird sechs Wochen nach dem Tode eines Hausgenossen
ein Handtuch auf dein Fensterbrett ausgebreitet und darauf
Brot gelegt, damit die Seele des Verstorbenen, welche in
Gestalt eines Vogels kommt, nicht zu hungern braucht.
P. von Stenin.
Crampels Besuch beim Zwergstamme der
Bayaga (äquatoriales Wcstafrika).
In der Sitzung der Purist geographischen Gesellschaft
von: 5. Dezember kam ein Brief Crampels zur Verlesung,
der die Pygmäen Zentralafrikas wieder in einer neuen Loka-
lität nachweist, und manche interessante Beiträge zu ihrer
genaueren Kenntnis giebt: Crampel fand sie im Gebiete der
M'Fangs, nördlich vom Ogowo, unter 11° östl. L. und
20 nördl. Br. Das Land ist ein ausgedehntes Sumpfgebiet,
meist mit dichtem Urwald bestanden, ein Lieblingsrevier des
Elefanten; nur hier und da finden sich trockenere, hügelige
Stellen, auf denen die M'Fangs mit Vorliebe ihre Dörfer
erbauen. Sie sind Ackerbauer; die Ausübung der Jagd über-
lassen sic, wie andre Waldstämme auch, den Pygmäen, welche
hier Bayagas heißen. Sie stehen mit diesen in einer Art
Bertragsverhültnis. Jeder Häuptling hat seine bestimmte
Horde Bayagas, welche im Wald in der Nähe seines Dorfes
hausen und für ihn besonders den Elefanten jagen. Dabei
treten sie aber durchaus nicht in ein eigentliches Dienst-
verhältnis und wahren sich ängstlich ihre Freiheit. Man
bekommt die Bayagas nur zu Gesicht, wenn sie wollen, sagte
der M'Fang-Häuptling, der Crampel zu „seinen" Bayagas
führte. Sie bleiben selten länger als ein paar Tage an
einer Stelle, runde Zweighütten mit großen Blättern über-
deckt sind ihre Wohnstätten, ein Haufen Laub ihr Lager; ihre
Hausgeräte bestehen ans einem kaum geformten Eisenklumpen,
der wie vielfach in Afrika als Hammer dient, und einem
kleinen Elefantenzahn, mit dein sie die Baumrinde, aus der sie
ihre Kleidiliig gewinnen, klopfen und glätten. Manche haben
auch eine Rohrflöte oder noch seltener einen Tambourin; ein
paar Speere und Bogen und Pfeil vollenden die Ausrüstung
eines Bayaga. Vor dem kleinen Loch, welches jedem Ban
als Thüre dient, steht eine kleine aus Zweigen geflochtene
Hürde zum Fleischtrocknen.
Die Bayagas hausen meistens in Trupps von etwa
15 Köpfen zusammen; jeder Trupp teilt sich in zwei Hälften,
die abwechselnd jagen gehen. Sobald ein Elefant erlegt ist,
wird der Häuptling benachrichtigt; er sendet dann seine Frauen
mit Lasten von Maniok und Bananen an die Stelle, wo das
Tier liegt, und nimmt für diese das Elfenbein und einen
Teil des Fleisches in Empfang. Ist die Jagd besonders gut
gewesen, so erhalten die Jäger wohl auch noch ein paar alte
unbrauchbare Flintenläufe und zerbrochene Äxte, aus denen
sie ihre Speere schmieden, einige Lappen Zeug und vielleicht
einige Perlen. Nur in ganz besonderen Fällen, wenn sie
ungewöhnlich große Elefantenzähne abliefern, erhält der Älteste
des Trupps wohl auch einmal eine noch brauchbare Flinte mit
Pulver und Blei. Crampel hatte selbst einmal Gelegenheit,
einem derartigen Tauschhandel beizuwohnen. Die Bayagas
brachten, da der tote Elefant zu fern lag, nur die ziemlich
kleinen Zähne; sie wurden mit Geheul empfangen, hernm-
gestoßen, fast geprügelt, man nahm ihnen das Elfenbein ab
und warf ihnen ein paar Perlen und ein altes Gewehr hin,
und das Geschäft war abgemacht. Der Reisende äußerte sich
mißbilligend darüber. „Was willst Du?" sagte der Häuptling,
„so ist es ganz in der Ordnung. Vor langer Zeit hatten die
Bayagas noch keine Speere und nährten sich kümmerlich von
Honig und Beeren. Sie hatten Hunger und ihr Vater hieß
sie eines Tages die Elefanten angreifen; aber die Elefanten
waren stärker als sie. Da erbarmte sich der Vater der
M'Fangs ihrer und gab ihnen die alten Gewehre, daß sie
sich Speere machen und die Elefanten töten konnten. Nur
durch uns können sie jagen und es ist darum nur billig, daß
sie es für uns thun." Die Bayagas standen mit gesenkten
Köpfen dabei, als der Häuptling das erzählte, und schienen es
zu bestätigen. Sie betrachten sich selbst als eine niedrigere
Rasse und der Reisende mußte, wenn er sie zum Reden bringen
wollte, erst alle M'Fangs aus der Nähe entfernen.
Die Sprache der Bayagas ist den M'Fangs absolut un-
verständlich, aber bei jeder Horde finden sic einzelne, welche
die M'Fang-Sprache kennen, und durch diese konnte sich
Crampel ganz gut mit ihnen verständigen. So erfuhr er
Genaueres über ihre Lebensweise. Sie sind Jäger von klein
auf. Die Kinder fangen die kleineren Waldtiere in Schlingen,
die Frauen sammeln den wilden Honig, die Jünglinge und
Männer jagen mit Pfeil und Bogen Affen und Antilopen.
Ihre Lieblingsbeschäftigung aber ist die Elefantcnjagd.
Sie jagen natürlich nur mit der Lanze. Diese ist 1,60 ur
lang, länger als der Jäger, zweischneidig und sehr spitz. Die
Bayagas greifen immer zu zweien ein Tier an; die erfah-
rensten und stärksten nehmen auch die größten Männchen auf
sich. Affenartig gleiten sie unter Vermeidung der Pfade
durch die dichten Lianen des Urwaldes und beschleichen den
Riesen, wenn er schläft oder wenn er sich gerade im Sumpf
238
Die Nivcauschwankungen des Kaspischen Meeres.
wälzt nud über seinem eigenen Plätschern die anschleichen-
den Zwerge nicht hört. Einer von rechts und einer von
links nähern sie sich unhörbar und stoßen ihm die Speere in
die Weiche; dann verbergen sie sich im Dickicht, bis der
Elefant sich ausgetobt hat, und folgen nachher seiner Spur,
bis er zusammenbricht. Nicht immer geht es glatt ab; die
Truppe, welche Crampel kennen lernte, hatte innerhalb sechs
Monaten sechs Leute verloren, aber auch 26 Elefanten erlegt.
Von Zeit zu Zeit machen sie einmal Ferien, um sich neue
Waffen zu schmieden und etwas auszuruhen. Dann kommen
sic in die Nähe der Dörfer und die M'Fangs müssen sie
während dieser Zeit ernähren. Werden sie schlecht behandelt
oder zu arg beim Handel betrogen, so sind sie auf einmal
verschwunden, und der betreffende Häuptling hat dann mit-
unter lange zu warten, bis ein andrer Trupp in seine
Dienste tritt. Das wissen die M'Fangs und deshalb ist das
Verhältnis zwischen beiden Stämmen durchschnittlich ein ganz
leidliches. Sie vermischen sich aber nie; auch die Bayagas
würden nie ein Mädchen einem M'Fang zur Frau geben.
Die Bayagas, mit denen Crampel in Berührung kam,
waren durchschnittlich nur 1,40ni groß, also im Vergleich
mit den hochgewachsenen M'Fang Zwerge; sie sind aber
stämmig und kräftig gebaut und gut gewachsen. Ihre Farbe
ist ein gelbliches Braun, die Haut beinahe überall behaart.
Die Brauenbogcn springen stark vor, die Augenbrauen fließen
zusammen, die Backenknochen stehen vor; die Nase im Profil
gesehen ist gebogen; von vorn erscheint sie breit und nach
dem Mund herabsteigend. Der Hals ist sehr kurz, so daß
der Kopf zwischen den Schultern steckt; die Brust ist gewölbt,
der Arm stark, die Faust groß, die Beine krumm, der Knöchel
springt stark vor. Im Ruhezustand sind die Füße einwärts
gekehrt. Am meisten fällt der eigentümlich scheue, ängstliche
Gesichtsansdruck auf; sobald man sic befragt, senken sie den
Kopf und scheinen zu zittern; trotzdem sind sie sehr neugierig.
Die Frauen sind noch scheuer und nur ganz ausnahmsweise
gelang cs dein Reisenden, sie durch Salz heranzulocken. Sie
durchbohren die Ohren und stecken immer größere Gegenstände
hindurch, bis schließlich das Ohrläppchen bis auf die Schultern
herabreicht. Genaueres über Sitten und Gebräuche war nur
schwer zu erfahren, denn die M'Fangs berichteten darüber
das tollste Zeug und aus den scheuen Bayagas war nur
schwer etwas herauszuholen. Die einzelnen Trupps scheinen
in der That Familien zu sein, Vater, Kinder und Enkel,
seltener auch ein Bruder des Familienhauptes und seine Nach-
kommen. Doch gilt offenbar noch Mntterrecht, denn der
junge Bayaga, der heiraten will, muß in die Familie seiner
Frau eintreten; vorher muß er aber längere Zeit umsonst
dienen und besonders eine Anzahl Elefanten erlegen helfen. Hat
er einen Sohn und ist dieser soweit erwachsen, daß er einen
Elefanten töten kann, so darf der Vater wieder in seine
ursprüngliche Familie zurückkehren, aber der Sohn gehört zu
der der Mutter und bleibt bei dieser, bis er heiraten will.
Mehr als eine Frau haben nur die Ältesten, die Zahl der
Frauen scheint zu gering, als daß allgemeine Polygamie
möglich wäre.
Nachdem Crampel einmal durch Verteilung von Salz,
Messer und Stoffen das Vertrauen der Bayagas gewonnen
hatte, erwiesen sie sich sehr anhänglich; drei Männer be-
gleiteten ihn längere Zeit, bis ein Häuptling der M'Fangs,
denen diese Freundschaft sehr wenig gefiel, sie durch Drohungen
verscheuchte.
Die Nivcanschwankungen des Kaspischen Meeres.
Die seit langer Zeit bekannten Niveauschwankungen des
Kaspischen Meeres sind verschiedenen Ursachen zugeschrieben
worden. Man hat einen unterirdischen Abzug nach dem
Persischen Golf angenommen, andre dachten an einen Schlund
im Karabugas, in dem die Wässer verschwanden, und neuer-
dings hat man von unterirdischen Vulkanen gesprochen,
welche die Wässer in sich aufnehmen und anderweitig wieder
von sich geben. Auch hat man die Schwankungen überhaupt
bezweifelt, weshalb es nötig erschien, die alten Beobachtungen
wieder zu prüfen und neue feste Marken anzubringen, die
spätere Untersuchungen möglich machen.
Unter denjenigen, welche sich mit der Frage beschäftigt
haben, sind Pallas, Humboldt, Lenz, Abich, Baer und
Chanikow zu nennen. Alle diese haben, wenn auch nicht in
genügender Weise, versucht, die Erscheinung zu erklären. Um
eine feststehende Marke zu besitzen, meißelten Lenz 1830
und Chanikow 1853 auf der Insel Nargen und bei Baku
Zeichen in die Felsen ein. Chanikow studierte die Sache ein-
gehend und kam zu folgenden Schlüssen: Im ersten Jahr-
hundert unsrer Zeitrechnung stand der Spiegel des Kaspischen
Meeres 26 m über dem heutigen Niveau, dehnte sich somit
Über eine weit größere Fläche ans. Seitdem hat ein all-
mähliches Einschrumpfen stattgefunden. Im achtzehnten Jahr-
hundert trat dagegen wieder ein Steigen ein, wenn die
Berichte von Hauway, Woodruffe, Tatitschew und andern
Reisenden richtig sind. Mit dem Beginn unsres Jahrhunderts
trat abermals ein Sinken ein, doch seit 1865 hat sich der
Spiegel wieder gehoben.
Chanikow sowohl als Lenz in seiner Abhandlung „Über
das Niveau des Kaspischen Meeres" förderten die Kenntnis
der thatsächlichen Verhältnisse wesentlich. Auch der 1843/48
im Kaspischen Meere beschäftigte Flottcnoffizier Sokolow
brachte, aus eigener Beobachtung schöpfend, viel neuen Stoff
bei. Er zeigte, daß in unserm Jahrhundert der Spiegel
stetig gefallen war, sowie er im verflossenen ständig gestiegen
war, wodurch bei den Umwohnern große Furcht vor Über-
schwemmungen und der Glaube an ein 13 jähriges Fallen
und Steigen des Sees entstanden. Lerch, der 1734 und
1747 in Baku war, fand überschwemmte Gebäude, die
30 Jahre früher auf trocknem Lande standen, und von der
Bucht von Enscli bei Rescht erzählte ihm ein Perser, daß der
See alle 30 Jahre abwechselnd steige und falle, was aller-
dings nicht zutrifft.
Jetzt hat N. M. Philipow in den Zapiski der russischen
geographischen Gesellschaft (Bd. XX, 2. Petersburg 1890)
die ganze Angelegenheit einer neuen Untersuchung unter-
zogen. Er nahm Teil an der hydrographischen Untersuchung
des Kaspischen Meeres unter Oberst Jvatschintsew und zählt
verschiedene Ursachen auf, die auf die Niveauschwankungen
von Einfluß sind: Der Wind treibt das Wasser nach ge-
wissen Küsten; die Temperatur bewirkt im Sommer starke
Verdunstung und damit ein Fallen des Spiegels, während
im Winter das Gegenteil der Fall ist. Die Flüsse, der
Regen, Erdbeben sind auch thätig, um tägliche und monatliche
Schwankungen hervorzubringen. Die russische Regierung
zollt der Angelegenheit ihre Aufmerksamkeit und hat den
Meteorologen Rykatschow beauftragt, neue Marken anzu-
bringen, so daß an die Stelle von ungewissen Theorieen
nun sichere Thatsachen treten können. (E. D. Morgan in
Proceedings 1891, 130.)
Aus allen Erdteilen
239
Aus allen
Erdteilen.
— Der Phonograph wird mit vielem Erfolge jetzt bei
der Anfnahme dcr nordamerikanischcn Indianer -
sprachen angewendet, welche zahlreiche Laute enthalten, die
mit unserm Alphabet sich nicht einfach wiedergeben lassen.
Kaum zwei Sprachforscher hören da gleich oder geben die
Laute in der gleichen Weise wieder und auch die langen Er-
zählungen und Gesänge werden bei einfacher Niederschrift
nur schwer ordentlich festgehalten; aber gerade diese, die all-
mählich aussterben, noch jetzt uns zu bewahren, ist eine Aus-
gabe unsrer Zeit. Der Kaklan, ein Zuni- Ritual, welcher
vom Priester nur alle vier Jahre einmal vorgetragen wird,
bedarf mehrerer Stunden, um hergesagt zu werden, an und
für sich eine Aufgabe, die schwerlich ein Weißer ohne An-
stand durchführt. Walter Fewkes hat nun mit Erfolg die
Gesänge und Erzählungen der im Staate Maine lebenden
Possamaquoddy mit dem Wachscylinder des Phonographen
aufgenommen und ebenso die Gesänge bei den heiligen Tänzen
der Znnis in Neu-Mexiko. So sind dieselben uns echt er-
halten. Die Transscription allerdings bereitet Schwierigkeiten.
— Südafrikanische Flußgeistcr. Bei den Zulu
und andren südafrikanischen Bantustämmen spielen die Fluß-
und Wassergeister eine große Rolle. In den vom Stand-
punkte der Volkskunde ganz ausgezeichneten Abhandlungen,
die Rev. I. Macdonald nach genauer persönlicher Kenntnis
der Südafrikaner veröffentlicht, geht derselbe auch ans diese
Geister näher ein (llourn. Anthropol. Instit. XX, 124,
November 1890). Die Orte, wo sie Hansen, werden ge-
fürchtet und gemieden. Ertrinkt ein Mensch und es liegt kein
offener Grund dafür vor, so heißt cs: „Der Fluß (-Geist)
hat ihn gerufen." Diesem Ruf kann Niemand widerstehen,
man muß ihm Folge leisten und untergehen. Die Zauberer
bringen ihre Opfer dar, nicht, indem sie die Tiere töten,
sondern indem sie dieselben in den Fluß treibe«. Eine andre
Form ist, daß man unter wiederholten Anrufungen einige
Hände voll Korn in das Wasser wirft. Das hindert aber
nicht, daß die Zauberer einmal entscheiden, der Geist müsse
gesteinigt werden; dann versammeln sich die Männer am
Flusse, werfen Steine hinein und stoßen Schimpfworte gegen
die dort hausenden Geister aus. Doch diese Flußdämonen
dürfen nur im Beisein der gegen sie schützenden Zauberer
solchergestalt gereizt werden. Setzt man über einen unbe-
kannten Fluß, so unterläßt man nicht, etwas — sei es auch
wertlos — hineinzuwerfen, um so Schaden abzuwenden.
Vor etlichen Jahren badeten einige Galekamädchen an
einem schönen Tage im Baschiflussc. Eines geriet an eine
tiefe Stelle und begann mit dem Wasser zu kämpfen und um
Hilfe zu rufen; die Gefährtinnen schrieen und auf ihren
Rnf eilten einige in der Nähe befindliche Männer ans Ufer,
während das Mädchen noch lebte; keiner der Männer aber
machte den geringsten Versuch, ihr zu helfen, denn cs lag ans
der Hand, sie war „gerufen" vom Flusse. Der Körper ward
aufgefunden und es stellte sich heraus, daß das Mädchen in
nur 5 Fuß Wassertiefe ertrunken war. Als die Sache vor dem
britischen Residenten, Bell mit Namen, in Gegenwart der
Zauberer verhandelt wurde, gaben jene Männer zu, daß sie
das Mädchen wohl hätten retten können, „allein es sei unrecht
und gefährlich, sich einzumischen, wenn jemand vom Flusse
gerufen würde". Sie erhielten zur Strafe jeder 6 Monate
schwere Arbeit.
Im Jahre 1889 ertrank ein Mädchen im Flüßchen
Mbulu, dessen Körper sich unter einem Felsvorsprunge fest-
klemmte und nicht leicht entfernt werden konnte. Die Ver-
wandten trieben einen Ochsen ans Ufer und der dabei an-
wesende Zauberer betete: „Gieb uns unsre Tote. Wir
bringen dir ein Opfer." Die Geister antworteten nicht und
ein englischer Reverend tauchte schließlich und holte die
Leiche, obwohl alle Schwarzen entsetzt schrieen, er würde auch
„gerufen".
Als Macdonald selbst im Tsitsa an einem heißen
Sommertage baden wollte, warnte ihn sein Bursche vor den
im Flusse lebenden Schlangen. Die Gegenrede, Wasserschlangen
bissen nicht, zog nicht. Der Bursche warnte mehr und mehr
und brach schließlich in die Worte aus: „Herr, um die Wahr-
heit zu sagen, da drinnen wohnt ein Tikolosch, der „ruft"
Sie, wenn sie in den Fluß gehen. Was soll ich Ihrer Frau
sagen, wenn Sie nicht wiederkommen?" Man erkennt die
Verwandtschaft der südafrikanischen Wassergeister mit unsern
Nixen n. s. w., die heute noch nicht ganz im Volksaberglauben
ausgestorben sind.
— Über versunkene Wälder au der Ostküste Nord-
amerikas berichtet Shaler in einer eingehenden Arbeit über
die Geologie von Cape Ann, Mass. (in Nintli. Ann. Rep.
U. S. Geol. Survey 1887/88). Er kommt zu dem Schluß,
daß von einer Versenkung durch Unterwaschung nirgends
die Rede sein könne, daß cs sich vielmehr überall, wo er
Gelegenheit zu einer genauen Untersuchung gefunden, offenbar
um eine wirkliche Senkung der unterliegenden Gesteins-
schichten handele. Wo die Wellen das Ufer mit solcher
Energie treffen, daß eine Unterspülung erfolgen kann, werden
auch die oberen Schichten, so bald sie sich senken, völlig zer-
stört. Die versunkenen Wälder kommen überhaupt nur da
zum Vorschein, wo die Baumstämme durch überlagernden
Sand gegen die Wogen geschützt gewesen sind, also wo ein
sandiges oder dünentragendcs Ufer von den Wellen an-
gefressen wird. Am Cape Ann liegen die Baumstümpfe nur
etwa drei bis vier Fuß unter Hochwasser, in den anstoßenden
Gewässern der Küste von Massachussetts dagegen erheblich
tiefer, bei Canabridgeport sogar siebzehn Fuß unter Hoch-
wasser und noch sieben Fuß unter der tiefsten heutigen Ebbe-
linie. Ko.
— Das Winnebago-Alphabet. Es ist bekannt,
daß die Tschiroki schon seit längerer Zeit auf Grundlage
unsres Alphabetes ein eigenes Alphabet erfunden haben, daß
sie bei ihren Schriften benutzen. Jetzt hat Alice C. Fletcher
entdeckt, daß in ähnlicher Weise und ganz selbständig die
Winnebago in Nebraska sich ein Alphabet zurecht gemacht
haben, da sie einsahen, daß unsre Buchstaben und Laute
nicht ausreichten, um ihre Sprache zu schreiben. Es besteht
aus 19 Zeichen, von denen 16 unserm Alphabet entnommen
sind, aber zum Teil andre Lautwerte haben. Drei Zeichen
sind neu. Alle Silben werden getrennt geschrieben. Nähe-
res über dieses Winucbagoalphabet im Journ. Americ.
Folklore III, 299, 1890. —
— Katanga, eines der metallreichsten Länder Afrikas
an den Quellflüssen des Cougo (10 bis 12° südl. Br.), ist
mit den nördlich daranstoßenden Gebieten Kasongo, Urna,
Manjema u. s. w. vom Congostaate zur Ausbeutung an eine
besondere Katangagesellschaft übergeben worden. Im
Westen wurde es von Cameron berührt, von Osten Her-
drang Reichart bis an die Grenzen, im Süden waren es die
Portugiesen Jvens und Eapello und der schottische Missionar
Arnot. Alle priesen die Reichtümer,' Schönheit und das
m
Aus allen Erdteilen.
Klima des Landes. Cameron sah Gold, welches non dort
stammte. Vor allem ist aber sein Kupferreichtum großartig.
Das Kupfer von Katanga, welches in Form von Kreuzen
(Hondas) ausgeschmiedet wird, geht als Tauschartikel durch
einen großen Teil Südafrikas. Die Kupferbergwerke von
Knlabi sind von Capcllo und Jvens beschrieben worden.
England macht den Besitz Katangas dem Congostnate streitig.
— Missionsthätigkeit unter den Heiden des
europäischen Rußland. Aus Kasan schreibt man: Das
Gouvernement Kasan bietet der Thätigkeit der Missionare
ein weites Feld; neben der Bekämpfung einer Agase-Sekte
ist die Bekehrung der Mohammedaner und Heiden mit vielen
Schwierigkeiten verbunden. Bisweilen ereignet sich folgendes:"
Der Missionar erreicht das erstrebte Ziel, indem er einige
Familien, vielleicht sogar eine ganze Gemeinde zum Christen-
tum bekehrt hat; ruhig verläßt er seine neuen Christen jetzt
wieder. Aber sobald er im Verlaufe einiger Monate wieder
in die zuerst besuchte Gegend zurückkommt, findet er entweder,
daß die Neubekehrten vollkommen vom Christentum abge-
fallen sind, oder daß sie viele ihrer christlichen Feiertage
anstatt des Sonntags den Freitag feiern, daß sie wieder
den „Keremet" verehren und daß sie mit abergläubischer
Furcht sich ihrem Naturgotte, dem „Jomsen", zuwenden. Und
von neuem beginnt die schwere Arbeit, die oft sehr traurig
endet. Besonders schwierig ist die Vernichtung des „Keremet";
zur Bestätigung dieser Behauptung möge folgende Thatsache
angeführt werden: In einer Gemeinde der Tschuwaschen
(Kreis Jadrinsk) erfreute sich der Keremet („Kass-Kagy-
oldutsche“) einer besonderen Verehrung; sein Standquartier
war eine einzelne Eiche inmitten eines weiten Platzes. Hier
lebte lange Zeit ein alter Geistlicher, der sich aber um den
„Keremet" gar nicht kümmerte. Doch der Alte ging ab und
ein junger Geistlicher trat an seine Stelle; dieser junge nun,
um die Ohnmacht des Keremet darzuthun, hieb in Gegen-
wart der Tschuwaschen eigenhändig den Eichbaum um. Die
Tschuwaschen waren in voller Erwartung des kommenden
Unheils — der Rache des schrecklichen Keremet. — Und in
Folge des Zusammentreffens trauriger Umstände erkrankte
bald darauf der junge Geistliche, verlor die Sprache und
starb. Die Tschuwaschen aber wurden von Schrecken erfaßt,
denn sie betrachteten den Tod des Geistlichen als ein Zeichen
de.s Zorns ihres Keremet; um ihnen wieder gnädig ju sein,
begannen sie ein andres Feld zu besuchen, wo in einer alten
Eiche ein andrer Keremet, Chori-Ssori, lebte.
Ein andrer Fall: Ein Missionar kommt in das Dorf
Schije und findet, daß die neubekehrten Tschercmissen sich
entfernt haben, um zu ihrem Keremet zu beten, aber vor
ihrem Abzug den Bauern Jegorew nehst der ganzen Familie
fast zu Tode geprügelt haben, weil derselbe an ihrem Gebet
sich nicht beteiligen wollte.
Solche Thatsachen beweisen, daß bis zur Ausrottung des
Heidentums unter den Eingeborenen noch viel zu thun ist.
(Nowoje Wrjewä 1891.)
— In Stein ausgehauene Affenköpfe, ungefähr
25 cm hoch, sind am John Day River, einem Nebenflüsse des
Columbia in Oregon, als Oberflächenfnnde durch James
Terry aufgefunden worden. Sie gleichen den Köpfen
anthropoider Affen. Terry meint, daß diese wahrscheinlich
sehr alten Skulpturen von asiatischen Einwanderern aus der
Erinnerung angefertigt wurden und Alfred Ruffel Wallace
(Nature 26. Febr. 91), der diese Ansicht zurückweist, schließt
(vorläufig) sich einer andern "Meinung an, daß nämlich der-
artige Affen einst in Columbia in: Columbiathale lebten. —
Allein, es ist gar nicht nötig, eine solche Hypothese aufzu-
stellen. Viel einleuchtender ist uns, was Otis T. Mason
(8eience, 6. März 91) über diese Köpfe sagt. Er weist auf
die sehr ausgebildete Bildhauerkunst der Eingeborenen an der
amerikanischen Nordwestküste hin und deutet die Köpfe als
Steinkeile und Steinschlägel, mit denen man dort das Holz
zu Planken bearbeitet. Diese Schlägel werden meist schön in
Tierkopfformen ausgearbeitet (vergl. z. B. in Jacobsens Reise
an der Nordwestküste Amerikas die Abbildungen S. 31 und
58). Die Phantasie jener indianischen Bildhauer ist sehr
reich, sie fertigen bereits Figuren, die Europäer darstellen,
ebenso übertragen sie Abbildungen in Zeitungen in Stein.
Es liegt weit näher, eine derartige Entstehung der Affenköpfe
anzunehmen, als zu solchen Hypothesen zu greifen, wie Terry
und Wallace sie vertreten.
— Die Rev illa-G ig ed o-Inseln im Westen von Mexiko,
zwischen 18 und 19° nördl. Br. gelegen, sind 1889 von
dem amerikanischen Dampfer „Albatroß" mit dem Naturforscher
Townsend an Bord untersucht worden. Socorro und
Clarion sind die Hauptinseln. Die erstere ist 38 km lang,
15 km breit und besitzt Berge bis zu 600 m hoch. Townsend
sammelte 26 Pflanzen, 18 auf Socorro und 12 auf Clarion;
vier Arten sind beiden Inseln gemeinsam. Der Charakter der
Flora ist ein tropischer, jenem Mexikos vielfach gleich. Jeden-
falls ist die Flora nicht reich; vertreten sind weit verbreitete
Arten, wie Portulaca pilosa, Waltheria americana, Tri-
bulus cistoides, Dodonaea viscosa, Sophora tomentosa,
Lantana involucrata n. a. (Nature.)
— Der nördlichste Punkt Grönlands soll durch
Schlittenfahrten erreicht werden. Zu diesem Zwecke soll am
1. Mai eine Expedition unter dem Ingenieur der Ver.
Staatenflotte, Peary, New Bedford in Massachusetts ver-
lassen, um sich nach dem Jnglefieldfjord zu begeben, von wo
die Schlittenreise angetreten werden soll.
— Nach einer Bestimmung des Kaisers erhält die beim
städtischen Krankenhause Friedrichshain in Berlin gelegene
neue Straße den Namen Virchowstraße, zu Ehren des
berühmten Gelehrten, der in diesem Jahre seinen 70. Ge-
burtstag feiert. Diese Anerkennung des bewährten Anthro-
pologen ist hocherfreulich. Wir wollen bei dieser Gelegen-
heit daran erinnern, daß 1890 der Stadtrat von Paris eine
Straße nach dem verstorbenen Anthropologen Broca, eine
andre nach dem britischen Naturforscher Darwin benannte.
— Indische Kinderheiraten. Der Gesetzentwurf,
welcher das ^Heiratsalter der Mädchen von 10 ans 12 Jahre
erhöht, ist am 19. März 1891 vom Legislative Council tu
Calcutta angenommen worden. Unter den Hindus besteht
die gleiche Aufregung, tuie zur Zeit, als die Sattis, die
Witwenverbrennungen, verboten wurden (vgl. S. 199).
— Der bisher unabhängige Staat Monteik, der au die.
Rubinminen in Birma grenzt, ist von den Engländern besetzt
und mit Oberbirma vereinigt worden. Seit der Eroberung
des letzteren durch die Engländer ist Momeik stets eine Quelle
nachbarlicher Unruhen und Streitigkeiten gewesen. Amtlich
galt Momeik als Schanstaat, doch besteht nur ein kleiner Teil
der Bevölkerung aus Schans; die meisten Einwohner sind
Katschjens und Birmanen.
— Vasilij Priklonski, dessen wichtige Arbeit über die
Gräber der Jakuten wir nt Nr. 6 mitteilten, erhielt am
28. Januar von der ritssischeu geographischen Gesellschaft für
seine dreijährigen Forschungen im Jakutenlande die goldene
Medaille.
Herausgeber: Dr. N. And ree in Heidelberg, Leopoldstraße 27.
Druck von Friedrich Vie weg und Sohn in Braunschweig.
Nr. 16
Bd. Lix.
Begründet 1862
Karl nnkvee
Druck und 'Dertug
Mer-M Jölktckmije
Herausgegeben
von
Richard Andrer.
brich Dckeweg & Sohn.
jährlich 2 Bände in 24 Nummern. Durch alle Buchhandlungen und Postanstalten 18(11
V r st U U f dj tU C Ì (J. zum Preise von 12 Mark sür den Band zu beziehen. *
Die chilenische Provinz Tarapaca.
von Hugo Aunz i).
Der Rio Loa (21° 28' S.) bezeichnet im Süden, die
uebrada de Camaroncs (190 12' S.) im Norden die
renze der durch ihren Natronsalpeterreichtum berühmten,
rmals Peruanischen Provinz Tarapaca, die während des
alpeterkrieges durch die Gewalt des Schwertes in den Be-
i von Chile gelangte. Die Provinz umfaßt ein Flüchcn-
oiet von 50 000 qkm mit 45086 Einwohner, daher eine
evölkerungsdichtigkeit von nur 0,9 ans den Quadrat-
ometer.
Welche steigende Wohlstandsquelle diese Provinz für
hile bedeutet, veranschaulicht die Statistik der Salpeteraus-
hr und die aus letzterer dem Staate erwachsenden Ein-
lhmen. Die Salpeterausfuhr betrug im Jahre
386: 452 788 292 kg im Werte von 19 230047 Dollars
bei einer Einnahme für den Staat im Betrage von
10 429 096 Dollars.
388: 784249831kg im Werte von 33866196 Dollars
bei einer Einnahme für den Staat im Betrage von
17 888 978 Dollars.
Den Vorrang unter allen Salpeterhäfen (Pisagna,
quiqne, Junin, Caleta Buena, Tocopilla, Antofagasta,
altal) behauptet Jquique (20° 12' S.). Der Hafen, in
elchem die Schiffe guten Ankergrund und Schutz gegen
-üdwestwinde finden, liegt zwischen der Stadt und der
eichnamigen Insel. Der Exportanteil an Salpeter, Jod,
>orax rc. belief sich im Jahre
Jquique Pisagua
1885 aus 14 086 414 Doll, auf 5 487 835 Doll.
1888 „ 19 810219 „ „ 14 547 363 „
Dee Herr Verfasser, friihcr Sekretàr dee deutschcn Gcsandi-
ft in Santiago, befindct sich seit Jahresfrist in chilenischen
latsdiensten. Scine Schilderungen sind deshalb von beson-
.'m Belang, weil die Provinz Tarapaca in ber gegenwartigen
wlution in Chile cine hervorragende Ralle spicit. A.
Globus LIX. Nr. 16.
Der gesamte Salpeterexport vom 1. Januar 1878 bis
30. Juni 1889 wird in dem Boletin de la Sociedad
Nacional de Mineria, S. 387, auf 4 992 470 609 kg im
Werte von 245 885 758 Dollars nachgewiesen. Nach
einem ungefähren Überschlag soll die Pampa Tamarugal,
in welcher der Salpeter gewonnen wird, noch heute mehr
als 50 Millionen Tonnen enthalten, also den Bedarf noch
auf mindestens 1000 Jahre decken. Bon feinem Wert für
die Landwirtschaft ganz abgesehen, ist der Salpeter auch für
die Schiffahrt wichtig, weil er für viele Fahrzeuge, welche
sonst in Ballast aus der Südsee zurückkommen müssen, eine
wertvolle Fracht liefert.
Im Gegensatz zu dem lebhaften Eindruck, den der Hasen
von Jquique macht, bietet die Stadt selbst den Anblick einer-
geradezu beängstigenden Eintönigkeit und Langeweile. In
diesen stauberfüllten, ungepflasterten, von bretternen Trottoirs
eingefaßten Straßen, auf dieser einzigen, mit einem halben
Dutzend staubbedeckter und wasserdurstiger Bäume und
Blumen bepflanzter Plaza, dieser künstlichen Oase inmitten
der sonneglühendcn Salzsteppe, nirgends die Spur eines
städtischen Gchabens und Treibens! Eine nur spärlich
sickernde Quelle der Geselligkeit und geistiger Erholung
bieten wohl der englische und deutsche Fremdenklub, im
übrigen aber sind die Verhältnisse trostloser Art.
Die Architektur Jquiqucs ist der Nutzbau in der aller-
ursprünglichsten Gestalt: Holzpsosten mit Brettern um-
kleidet, darüber ein Wellblechdach, das ist der Typus der
Menschcnwohnungen, die den Eindruck eines vorübergehenden
Daseins hervorrufen. Ilnd in der That, wer bürgt bei der
schicksalsvollen Vergangenheit Jquiqucs für den kommenden
Tag? Bis gegen 1850 ein kleines Fischerdorf, verdankt die
heute 15 391 Einwohner zählende Stadt ihr Aufblühen der
sich in der Pampa de Tamarugal entwickelten Salpeter-
industrie. Von der fast gänzlichen Zerstörung durch das
Erdbeben vom 13. August 1868, später durch die Feuers-
brunst im Jahre 1875, durch das abermalige Erdbeben vom
31
242
Hugo Kunz: Die chilenische Provinz Tarapaca.
9. Mai 1877 hat sich die Stadt ungeachtet ihres mehr und
mehr aufblühenden Handels nicht zu ihrem Borteil zu ent-
wickeln vermocht.
Seit dem Jahre 1875 verbindet der 126H4 engl. Meilen
lange Schienenweg der „Nitrate RailwaysCo." Jguigne mit
dem 40 Meilen weiter nördlich gelegenen zweitwichtigsten
Salpeterhafen Pisagua und verschiedene Zweiglinien die
einzelnen Salpeterwerke. Mit den ersteren zusammen mißt
der Schienenweg eine Lange von 202 engl. Meilen bei einer
Mapimalsteigung von 4 Vs Proz. Von Jguigne aus teilt
sich der Schienenweg auf der Station Central in zwei Linien
nach dem Norden (Endstation Pisagua) und nach dem Süden
(Hauptstation La Noria). Die Bahn behauptet unter allen
Verkehrsanlagen des Nordens, von der Caldera-CopiapO-
Bahn abgesehen, den ersten Rang.
Die salpeterhaltige Erde, Caliche genannt, befindet sich
gewöhnlich 1 m unter der Erdoberfläche. Alan unterscheidet
den Caliche nach seinem Prozentgehalt, der zwischen 70 bis
20 Proz. abwärts schwankt und durchschnittlich 1 Proz. Kali-
salz enthält; es kommen auch ärmere Caliches vor, die indes
bisher nicht bearbeitet werden. Die einzelnen Salpeterwerke
beschäftigen je nach ihrem Betriebsumfange bis zu 800 Maul-
tiere, um oft 4 bis 5 km weit den Caliche mittels Wagen
nach der Maschine zu befördern. Es epistieren verschiedene
Systeme der Auslaugung, doch hat sich bislang das so-
genannte Agua-Santa-Systenl, das dem in der Sodaerzeugnng
bekannten Shanksschen Verfahren gleich ist, am vorteil-
haftesten bewährt.
Der durch Kochen von fremdartigen Bestandteilen ge-
reinigte Salpeter wird zu Kuchen geformt, welche in
2V2 Zentner haltenden Säcken verladen und zum weitaus
größten Teile nach England und Hamburg verschifft werden.
Der Preis für 95-und 96 proz. Salpeter war durchschnittlich
2,50 bis 2,60 Dollars.
In der wasserlosen Wüste wird das zum Auslangen
nötige Wasser nur in ungeheurer Tiefe gefunden und mittels
Dampspumpen zur Oberfläche befördert; da das Wasser
indes salzhaltig ist, muß dasselbe vorher der Destillation
unterzogen werden. Der Eimer dieses destillierten Wassers
wird mit 5 Centavos bezahlt.
Wie das Wasser teuer ist, so ist auch der Kohlenverbrauch
ganz bedeutend. Das Verhältnis zwischen dem Kohlen-
verbrauch und der Salpetercrzeugung wechselt von 1:5 bis
1:10, wobei auf 5 Quintales Salpeter 1 Quintal iii-
ländischer Kohlen kommen, während bei der englischen Kohle
wegen ihres bessern Heizstoffgehaltes sich ein günstigeres
Verhältnis ergiebt. Alle Maschinen müssen Tag und Nacht
arbeiten, Sonn- und Feiertage nicht ausgenommen, so daß
der Salpeterarbeiter keinen Ruhetag kennt, Nur am ersten
Montag jeden Monats, dem Zahltage, wird zuweilen die
Arbeit vernachlässigt; indes steht der Maschinenbetrieb nie-
mals still.
Das Leben in dieser Salpeterregion ist ein recht müh-
seliges. Sämtliche Lebensmittel, die zur Unterhaltung
der einzelnen Salpeterwerke erforderlich sind, werden ver-
mittelst der Bahn von Jguigne zugeführt und übersteigen
das Doppelte der ohnehin teuren Marktpreise im Hafenplatz.
Die Hauptnahrung der sehr kräftigen Salpeterarbeiter
besteht aus Hülsenfrüchten, Bohnen und Mais. Der Mehr-
zahl nach sind es Chilenen und Bolivianer. Nach einer in
der Revista Economica veröffentlichten Statistik befanden
sich am 31. Juli 1890 insgesamt 11 788 Arbeiter sowie
244 Pferde und 4685 Maultiere im Dienste der 48 Salpeter-
werke; die meisten Arbeiter (1231) beschäftigte die Oficina
Primitiva.
Zn einem nicht geringen Teile sind diese Arbeiter gericht-
lich verfolgte Banditen und Soldaten, die nach dem perua-
nischen Kriege, durch die hohen Löhne angelockt, sich hier
niedergelassen haben. Ein solcher Salpeterarbeiter verdient
im Akkord zwischen zwei bis fünf Pesos Tagelohn, da der-
selbe indes meistens mit Gummimarken, sogenannten Fichas,
im Nominalbeträge von 1 Peso, 50, 20 und 10 Centavos
ausbezahlt wird, die anderwärts nicht in Zahlung genommen
werden, fließt der größte Teil des Verdienstes in die den
Werken gehörigen Pulperias (Proviantmagazine) zurück.
Ungeachtet dieser plumpen Übervorteilung reicht die Börse
des Salpeterarbeiters immer noch aus zu Ausschweifungen,
die ihn zu Grunde richten.
Die Wohnstätten in diesen Salpeterdistrikten sind mit
Rücksicht auf die häufigen Erdbeben aus Latten, Segel-
tuch, Blechtafeln, Strohmatten und Leinwandsetzen not-
dürftig hergestellte Hütten mit manselochartiger Thüröffnung.
Die Füße der Bettstellen stellt man in mit Petroleum
gefüllte Blechbüchsen, um das Anklettern des häufigen Unge-
ziefers zu verhüten, was indes nicht hindert, allnächtlich
von Ratten heimgesucht zu werden. Am lästigsten ist die
Fliegenplage.
Das an und für sich nicht ungesunde, aber heiße und
trockene Klima in den Salitreras von Tarapaca beeinträchtigt
der durch die Seewinde (West- und Südwind) hervorgerufene
schroffe Temperaturwechsel zwischen Tag und Nacht; während
beispielsweise morgens um 6 Uhr das Thermometer noch
vier Grad unter Null zeigt, steigt dasselbe nicht selten bis
nur zwei Stunden später ans 22 und 25" R. Der längere
Aufenthalt unter dem Einflüsse der oft unerträglichen Hitze,
der verzehrenden Trockenheit, des schlechten Wassergenusses,
des Mangels jeder Vegetation und des durch einen Über-
fluß elektrischer Spannung bis zum höchsten Grade gestei-
gerten Mißbehagens wirkt zuletzt doch sehr nachteilig auf
die Gesundheit, daher Lcberkrnnkheiten eine nicht seltene Er-
scheinung sind. Regen ist gänzlich unbekannt, höchstens im
Herbst und Winter herrscht häufig eine starke Camanchaca
(dichter Nebel). Wenn den Reisenden solcher Nebel überrascht,
ist ihm dringend geraten, abzusteigen und den hellen Tag
abzuwarten, jedenfalls nicht in der Nacht auf die Gefahr
der Verirrung weiter zu reisen. Vielerorts bleichen in der
Pampa die Knochen der aus solche Weise verunglückten
Reisenden.
Im Zusammenhange mit der Salpetererzeugung steht
seit Anfang der sicbenziger Jahre die Gewinnung des Jods,
das im Wege der Raffinerie und nachfolgender Sublimation
ans der Mutterlauge des Natronsalpeters gewonnen wird.
Die Gesamtgewinnnng des Jods belief sich im Jahre 1886
noch auf 175680 kg im Werte von 1756 800 Dollars.
Infolge einer Übereinkunft der Salpeterfinnen ist zum
Zwecke der ständigen Preishaltung seitdem die Erzeugung
beschränkt worden. Dieselbe betrug im Jahre 1888:
91 375 kg im Werte von 913 750 Dollars. Der Ge-
samt -Jodepport in der Zeit vom 1. Januar 1879 bis
30. Juni 1889 wird in denl Boletin de la Sociedad
Nacional de Mineria, S. 387, mit 1734 230 kg inl
Werte von 21 182 052 Dollars nachgewiesen.
Da der Natronsalpeter in hohem Grade Feuchtigkeit
anzieht, gelangt derselbe nlit einem Untergewicht von min-
destens 3 Proz. nach Europa zur Verschiffung. *
Das in Jguigne angelegte englische Kapital beläuft sich
heute ans 7 565 000 Pfd. Sterl. Dasselbe beeinflußt zum
Nachteil der deutschen Handelsstellung die dortigen Verhältnisse
in so hohem Grade, daß z. B. die spanische Sprache im
Handel und Verkehr des Nordens, selbst an Bord der unter
chilenischer Flagge fahrenden Küstendampfer zu gunsten der
englischen fast vollständig verdrängt und der größte Teil der
deutschen Salpeterwerke durch Kauf in englischen Besitz
übergegangen ist.
Holubs Reise zu den Maschukulumbe.
243
Daß die Werte der Salpeterlagcr in den letzten Jahren
außerordentlich gestiegen sind, ist natürlich, da Salpeter
immer allgemeiner zu einem fast unentbehrlichen Bedürfnisse
der Landwirtschaft in den europäischen Kulturländern ge-
worden ist.
Borax gelangt in ansehnlichen Mengen seit Jahren von
Jquique und Pisagua aus zur Ausfuhr; im Jahre 1887 allein
belief sich dieselbe auf 3 053 200 kg im Werte von 457 980
Dollars, wogegen sich die Ausfuhr im Jahre 1888 auf
538 286 kg im Werte von nur 80 742 Dollars beschränkte.
szolubs Reife Zu den Maschukulumbe.
gcschmack giebt, der an Bakers Reise zum Albert Nyanza
vielfach erinnert, das ist die Begleitung Holubs durch seine
Das Land im Norden des mittleren Sambcsilaufcs ist
das Forschungsgebiet Dr. Emil Holubs, zu dessen Auf-
klärung er nicht wenig beigetragen hat. Sein erstes großes junge Frau, die in allen Dingen sich vorzüglich bewährte
Reisewerk „Sieben Jahre in Südafrika" (zwei Bände, Wien und mit seltener Thatkraft den Gefahren Trotz bot, so daß
1881) macht uns namentlich mit dem Marutsc-Mambnnda- wir nur mit der größten Hochachtung vor Frau Rosa Holub
eiche bekannt, das seitdem wieder, wie so manche andre das Buch aus der Hand legten,
afrikanische „Staatcnschöpsuug", zerfallen ist. Die noch
weiter nach Norden gelegenen Länder mit dem Bangweolosee
ivwiir m,u| ^ vv . ~O O
als Ziel schwebten abermals Dr. Holub bei seiner neuen
Reise vor, da gerade auf der Strecke vom Sambesi bis zum
Bangweolo noch
1 wichtige unbe-
kannte Gebiete lie-
gen. Von Osten
her war 1879
der Engländer
Sclous bis Si-
tanda gelangt, ein
Jahr vor Holub,
1885, waren die
Portugiesen Ca-
pello und Jvens
bis zn dem Kerne
des Gebietes, zn
den Maschuku-
lumbe gekommen.
Den Bangweolo-
sce, sein ideales
Ziel, hat Dr. Ho-
lub freilich nicht
erreichen können,
seine Expedition
kam unter 15°30'
fiidl. Br. durch einen Gewaltakt zum Abschluß, aber das
Fig. 1.
Ju den Matokelündcrn, nordöstlich von den Viktoria-
fällen, hatte Holub bereits jungfräulichen Boden unter sich
und traf er die ersten Neger, die wohl von den Weißen gehört,
aber niemals solche gesehen hatten. Neu und am wichtigsten
sind seine Ergeb-
nisse, die er aus
dem Lande der
Maschukulumbe
mitbrachte, das er
im Juli 1886 bei
160 Br. und
unter 280 g^l. L.
betrat. Schon
von den südlichen
Nachbarn der
Maschukulumbe,
den Matoke, war
er vor jenen ge-
warnt worden,
und in der That
fand auch bei
ihnen, im An-
gesicht des von
Holub entdeckten
Franz-Josefs-
Gebirges (unter
15° 30'südl.Br.)
Die Franz-Josefs-Berge im Maschukulumbelande,
von Galulongo ans gesehen.
durch Beraubung der Expedition diese ein jähes Ende.
Diese Kämpfe und persönlichen Abenteuer, bei denen einer
von Holubs weißen Begleitern getötet wurde, sind wie ein
Roman zu lesen, können aber hier, wo wir auf des Wichtigste
UUl. l . UUIU UUUl V'IH'VU.. u * u
wichtige Maschukulumbeland ist uns durch ihn bekannt g
worden und damit der mittlere Lauf des Lu nge emes
lmKn Nebenflusses ^^durck^Livingstone entdeckt wurde, im Buche, die zerstreuten Nachrichten über die Maschuku
Wie das früh... Rnstwnk Holubs ist °.'ch da« m.,.,-) : tag* k°nd, ringen w°u.n, -ich. weiter UM
fc()v feffetnb ober et»«« ^7 Bml.ächlun- j Da«Mchchukulumbclmd mit durchschnittlicher Erhebung
und Jägdge,-luchten, über mch ¡¡fclig». Reise bis Mn 1000 bis 1100 m ist eine fluche Ebene, in welcher die
nun Sambesi flchrl'dur^bekaunte, oft beschriebene Ander, : Flüsse träge dahin schleichen und zahlreiche große Siin'psc
die trotzdem bei Holub, dem genauen Kenner des lindes,
noch mit Gewinn für den Leser studiert werden müßen
Da, wo Livingstone die donnernden Viktoriafalle entdeckte,
ist heute schon eine feste Ansiedelung von Weißen und noch
ein gutes Stück weiter nördlich kann man die „Zone
Kattuns" mit Verdrängung heimischer Art verfolgen, ^as
in persönlicher Beziehung die Expedition des unerschrockenen
Österreichers auszeichnet und der Reise einen eigenen Lei-
is Von der Kapstadt ins Land der Maschukulumbe. Reisen
im südlichen Afrika in den Jahren 1883 bis 1887 oonDr.Ennl
Holub. 2 Bände. Mit 205 Holzschnitten
und 2 Karten.
Wien, Holder, 1890.
vorhanden sind. Latcrit ist häufig; hauptsächlich ist das
Riesengras charakteristisch für weite Strecken, neben denen
wieder Palmenwälder kilometerweit sich hinziehen. Von
Süd nach Nord, ungefähr in der Richtung, in welcher Ho-
lnbs Weg führte, fließt der Monjcko, ein rechter Nebenfluß
des Luenge, und jener ist es, der die großen Sümpfe bildet.
„Zur Zeit des Hochwassers ragen nur die kleineren und
größeren Termitenhügel mit ihren Palmen inselförmig über
die lange Zeit seeartig stagnirende Flut empor." Dann
ist die Landschaft auch nur von Wasserbockantilopen bewohnt.
In der trockenen Jahreszeit bleiben die Sümpfe mit ihrer
dicken Ficberluft stehen.
31*
244
Holubs Reise zu den Maschukulumbe.
Trockener und mit einzelnen kleinen Höhen versehen ist
das Thal des Luenge, der von West nach Ost etwa unter
150 40' südl. Br. das Land durchströmt. Diese mit Sy-
komoren und Riesenmimosen bestandenen 10 na hohen Hügel
„sind durch alte Fluten entstanden", sie dienen zur Anlage
der Dörfer. Der Luenge ist bei Bosango, wo ihn Holub
überschritt, 120 bis 150 m breit, ziemlich tief und ungefähr
5 m in die Thalsohle eingeschnittcn.
Das Land im Norden des Luenge ist eine hochbegraste
Thalebene mit zahlreichen. Lagunen und Sümpfen. Holub
teilt dieses Gebiet in drei Zonen von Süd nach Nord: die
Zone des höchsten Graswuchses am Luenge, 5 bis 26 km
breit; daran nörd-
lich stoßend die
Zone der heuscho-
bergroßcn Termi-
tenhügel, „mehr
denn 100000 an
der Zahl", end-
lich im Norden
die Zone der
Schilfrohrsümpfe,
unterbrochen von
Hainen oder
Gruppen hoher,
schattiger Riescn-
mimosen. Das
Gebiet ist reich an
Wild, namentlich
Antilopenarten,
Zebras, Hyänen,
Nilpferden.
Den Abschluß
des Maschuku-
lumbclandes iui
Norden bildet eine
Gebirgskette, de-
ren Höhe weder
im Texte noch auf
der Karte ange-
geben ist und die
von Ost nach West
verläuft. Sic
stellt einen Kamm
mit zwei sattel-
förmigen Einsen-
kungen dar. Sie
ist felsig, schwach
bewaldet und
schließt mit ihrer
Mittelpartie nach
Süden zu einen
Halbkessel ein, der
die großen Galulongasümpfe umgiebt. Holub nannte dieses
Gebirge, das Endziel seiner Reise, FranzJoscfs-Bcrgc
(Fig. 1).
In der kurzen Zeit, die Dr. Holub in: Maschukulumbc-
lande zubrachte, noch dazu in fortwährender Lebensgefahr,
konnte er natürlich kein vollständiges Bild desselben ent-
werfen, noch die zu den Bantnstämmcn gehörigen Eingebore-
nen, von denen er nur schlechte Eindrücke empfing, näher
studieren. Proben von ihrer Sprache erhalten wir nicht.
Wiewohl die Maschukulumbe durch Einfuhr fremder Frauen
kein reiner Stamm sind, zeigt sich bei ihnen doch ein einheit-
licher Typus. An einer Stelle des Buches werden sie „pech-
schwarz" genannt; ihre Figuren, die bei säst völliger Nackt-
heit leicht zu übersehen waren, sind meist kräftig. „Unter
1. Glatirasierte Frau.
den Anwesenden fielen uns einige Häuptlinge mit leichten
Adlernasen durch ihre schönen, ja prächtigen Gestalten, ihren
stolzen Gang auf." Sie erinnerten in ihrem togaartig um-
geworfenen blauen „Leintuch" au römische Patrizier. Die
Bekleidung ist gering, ja, abgesehen von einen: Antilopen-
fell, das nachlässig umgeschlungen wird, oder der erwähn-
ten Toga, geht Mann, Weib und Kind nackt. Desto mehr
wird auf den Haarputz verwandt und hier treffen wir
auf meterhohe Aufbauten, Chignons, die alles hinter sich
zurücklassen, was sonst aus dem in bezug ans Frisuren so
reichen Afrika bekannt ist. Männer tragen Chignons bis
zu 110 cm Länge, Frauen erscheinen glatt rasiert und letz-
teres ist der Be-
weis weiblicher
Opferfähigkeit,
denn die Frau
spendet ihr Woll-
haar den: Manne
zu seinen Haar-
touren. Auch die
Sklaven und die
im Kampfe Er-
schlagenen werden
zu diesem Zwecke
rasiert, außerdem
wird Haar von
andern Stämmen
gekauft und mit
all dieser Wolle
baut der Ortsfri-
seur den Riescn-
chignon faustgroß,
stufenförmig oder
meterlang zusam-
men. Ein sol-
cher Ricsenchig-
non konnut in:
Werte auf einen
Ochsen zu stehen
und seine Herstel-
lung, ein Kunst-
stück, nimmt Wo-
chen, ja Monate
in Anspruch.
Mit einer Tape-
ziernadel wird die
Wolle in kleinen
Flöckchen durch
einen Bastsaden
zusammengebaut,
der spiralförmig
vom Kopse bis
zur Spitze des
Chignons läuft und mit Haarglanzschmiere überstrichen ist.
Mit dem Chignon hat der eitle Maschukulumbe sein höchstes
Glück erreicht; er zeigt dadurch seinen Reichtum und Ärmere
müssen sich mit kleineren Frisuren behelfen (Fig. 2).
Die Frauen werden als unschön bezeichnet und das
Rasieren des Kopfhaares verunstaltet sie noch mehr. Reiche
Maschukulumbe haben deren bis acht; Holub sah aber ge-
wöhnlich nur eine bei einem Manne, bei den Häuptlingen
zwei. In den häufigen Fehden tötet :nan selbst die Frauen
der Feinde, ::::: den feindlichen Stamm nicht anwachsen zu
lassen, und in Gegenden, wo solche Kämpfe häufig vor-
kommen, müssen Frauen dann wieder durch Kauf von andern
Stännucn erworben werden. Frauenhandel (14 eiserne Hauen
das Stück) ist am Luenge daher gäng und gäbe und es giebt
Fig. 2. Maschuknlumbe-Typcn.
2. u. 3. Der Chignon im Bau begriffen,
endeter Chignon.
4. u. 5. Voll-
Holubs Reise zu den Maschukulumbe.
245
#
Frauenhändler, die stets Waare vorrätig haben, jedoch meist
häßliche. Bei dem herrschenden Frauenmangel ist starke
Eifersucht natürlich und nie schläft der Maschukulumbe
nachts außerhalb seiner Hütte.
Abgesehen davon, daß die Maschukulumbe uns als
räuberisch, hinterlistig und grausam geschildert werden, ist
ihnen große Arbeitsscheu und Faulheit eigen. Daher die ver-
hältnismäßig geringe Stufe afrikanischer Kultur, auf der sic
stehen, was noch durch
ihre Abgeschlossenheit
gegen die Nachbar-
stämme befördert wird.
Sie sind auch Lang-
schläfer in einem
Grade, wie es Holub
nirgends bei den vielen
von ihm besuchten
südafrikanischen Stäm-
men fand. In der
„Stadt"Kaboromando
fand er um 11 Uhr
mittags noch alles
int tiefsten Schlafe,
so daß er ungesehen
den Ort durchziehen
konnte.
Fig. 3. Maschukulumbehütten mit Schädeln geschmückt.
Die Maschukulumbe wohnen in kreisförmig angelegten,
meist mit Holzpalissaden umgebenen Dörfern. Die spitz-
dachigen Hütten zeigen den Typus wie jene der Bctschuanen;
die Erbauung derselben ist Sache der Frauen, während die
Männer nur den Stoff
zutragen. Bei den
Dörfern im Norden
des Landes fand Holub
die Spitzen der kegel-
förmigen Grasdüchcr
mit Antilopenhörnern,
mit Büffel-, Zebra-
und auch Löwenschä-
deln geschmückt, was
ihnen ein eigentüm-
liches Ansehen gab
(Fig. 3). Waren dieses
Jagdtrophäen, wie cs
öfter in Afrika vor-
kommt, so war der
Schädelbaum, den der
Reisende in 'Nikoba
traf, weniger unschul-
diger Natur. Ein astreicher, abgestorbener Baum war ganz
mit Mcnschenschädeln bedeckt, die teilweise noch ziemlich frisch
waren, und unter den Schädeln hingen Waffen, die erkennen
ließen, welchem Stamme die einstigen Besitzer der Schädel
angehört hatten. Meist friedliche Händler hatte man nieder-
gemacht, um den Baum mit den schrecklichen Trophäen zu
schmücken H.
Fig. 4. Kornbchälter der Maschukulumbe.
Raubzüge und Kriege, wobei sie mit Wurfspeeren von
ungewöhnlicher Länge ausgerüstet sind — andre Waffen
fehlen — bilden eine Hauptbeschäftigung der unter vielen
kleinen Häuptlingen zersplitterten Maschukulumbe. Jedes
Dorf hat fast seinen eigenen Herrn und lebt mit den Nach-
barn in Fehde. „König" Njambos Reich im Norden ist
das größte, er gebietet über 20 Dörfer mit 500 wehrhaften
Männern und vielleicht 1000 Einwohnern. Es erstreckt
sich über 50 km Länge
und 25 km Breite.
Was die Beschäfti-
gung betrifft, so sind
die Maschukulumbe in
erster Linie Rinder-
hirten. Außer dein
Rind kommt nur noch
der Hund als Haus-
tier vor. Der genannte
Njambo, der reichste
Fürst, besitzt 7000
Rinder und 70 Hunde.
Bei guter Weide ist
die Viehzucht leicht
und Rinderherden von
mehreren Tausenden
werden öfter in dem
Buche erwähnt. Die Milch wird getrunken. Außerdem
treibt man Jagd in Fallgruben, und Fischfang, wozu man,
aus Faulheit, die Reusen von auswärts kauft und nicht selbst
verfertigt. Der Handel ist sehr beschränkt. Tabak in
Kuchenform bringen
die nördlich wohnenden
Mankoja, die dafür
die Felle der in den
Sümpfen lebenden
Letschweantilope ein-
tauschen.
Noch ist der keines-
wegs blühende Acker-
bau der Maschnkn-
lunibe zu erwähnen.
Mais wird viel gebaut;
aber die Felder sind
klein und zeigen wenig
Sorgfalt in der Be-
bauung; man schützt sic
gegen das Wild durch
Zusammcnknoten des
hohen Grases an ihrem
Rande. Zur Aufbewahrung des Kornes dienen eigentüm-
liche geflochtene Kornbehälter auf Holzfüßen, die bis 30
Zentner fassen und mit Zement beschmiert sind (Fig. 4).
Die einzige Stelle in dem Buche, die auf künstlerische
Neigungen der Maschukulumbe deutet, befindet sich bei der
Schilderung dieser Korngefäße, „die mit rohen Zeichnungen
verziert sind".
^ 1) Dafür giebt c§ vielfache Parallelen, nicht bloß in Afrika.
Das bekannte Koppensnellen der nialayisch-polynesischcn Welt
gehört auch hierher. Bei den Ragas in Indien steht im Mittel-
punkte des Torietz ein heiliger Baum, an dessen Ästen die
Kopse der im Kampfe erschlagenen Feinde aufgespießt sind.
(Woodthorpe). A.
246
Prof. H. Gaidoz: Die Sprachverhältnifse in Luxemburg.
Die Sprachverhältnifse in Luxemburg.
Von P)rof. H. Gaidoz. Plaris x).
Die Eingeborenen Luxemburgs, welche von deutscher
Herkunft sind, sprechen einen Dialekt, welcher niit demjenigen
Mitteldeutschlands, oder genauer genommen, mit den fränki-
schen Dialekten verwandt ist. Der luxemburgische Dialekt
(welcher in vier Mundarten zerfällt) wird seit einem halben
Jahrhundert in einer solchen Weise kultiviert, daß er sogar
eine Volkslitteratur bildet. Diese Litteratur beschränkt sich
jedoch nur auf Gedichte, humoristische und romantische Er-
zählungen, Lustspiele n. s. w., welche sogar in Luxemburg
aufgeführt werden. Das Gedicht von Lentz, D'Letzeburgcr,
welches zur Volkshymne wurde, ist in luxemburgischem Dialekt
geschrieben. Die Luxemburger sprechen unter sich selbst nicht
hochdeutsch, sondern den luxemburgischen Dialekt. Sic
hängen um so mehr an demselben, weil er ihre kleine Nationa-
lität verkörpert. Auf der Weltausstellung in Paris, im
Jahre 1889, gab es Warnungstafeln in allen Sprachen.
Auch der Kommissär der luxemburgischen Abteilung hatte
eine solche anbringen lassen, nur zu zeigen, daß die Luxem-
burger eine besondere Sprache vor der deutschen besitzen.
Sie lalltet: g'et oicht op't bem; streckt de Kapp an't ben net
heraus. Jni Fall Luxemburg noch ein halbes Jahrhundert
unabhängig bleibt, wird sein Dialekt vielleicht noch eine
litterarische und Politische Sprache werden, wie z. B. das
Holländische y.
In der Presse herrscht jedoch die deutsche Sprache vor;
und augenblicklich giebt es nur ein Journal in Luxemburg,
welches ausschließlich in französischer Sprache gedruckt wird —
l’Independance luxembourgeoise. Le Memorial officiel
erscheint in beiden Sprachen. Die andern Zeitungen werden
in deutscher Sprache gedruckt, bringen jedoch manchmal Auf-
sätze oder Ankündigungen in französischer Sprache. Die
deutschen Sprachreiniger haben sich mehrmals über Galli-
cismen beklagt, welche das in Luxemburg gesprochene oder
geschriebene Deutsch entstellen. Der französische Einfluß ist
die Schuld dieser Verwälschung, wenn man z. B. schreibt: Man
ist gebeten, anstatt: Man wird gebeten, oder: Ein sicherer
N... anstatt: Ein gewisser N... Das Französische hat
sich zuweilen in das Luxemburgische eingeschlichen, und oft zu
manchen Eigentümlichkeiten Anlaß gegeben. So z. B. wird
man in dcnl häufig gebrauchten Ausdruck: mala! schwerlich
eine Mischung des französischen mais und des deutschen ja
erkennen. Ebenfalls würde ein Deutscher oder ein Franzose
Mühe haben, in dem Worte mischen, die Abkürzung des 1 2
1) Unser verehrter Freund, Herr Professor Henri Gaidoz,
hat uns gegenüber den Wunsch ausgesprochen, dass wir seine
Arbeit über Luxemburg, die in der Revue Nouvelle (1. und
15. Oktober 1890) erschien, dem deutschen Publikuni zugängig
machen möchten. Indem wir diesem Wunsch bezüglich des Ab-
schnitts über die Sprachverhältnisie Raum geben, bemerken wir,
das; Prof. Gaidoz natürlich als Franzose und im sranzösischen
Interesse schreibt, wiewohl er sich bemüht, unparteiisch zu sein.
Stimmen wir alich nicht überall mit seinen Ansichten überein
und gestatten wir uns hier und da eine abweichende Meinung zu
äußern, so ändert dieses doch nichts an dem reichen thatsächlichen
Stoss, den Prof. Gaidoz zur Beurteilung der Sprachverhältnisie
in Luxemburg beibringt. Der Herausgeber.
2) Das ist doch wohl nur ein Scherz des Herrn Prof.
Gaidoz oder ironisch gemeint, denn bei einer Mundart, die von
wenig über 200000 Menschen gesprochen wird, noch dazu
zwischen den beiden großen Litteraturvölkern der Deutschen und
Franzosen, ist dieses nicht ernst zu nehmen. Die luxeniburger
Mundart wird in dieser Beziehung nie eine andre Rolle spielen
als etwa das proven^alisch in Frankreich, das Plattdeutsche in
Deutschland, das „Schwyzcrdeutsch" in der Schweiz. A.
französischen demi-setier wiederzufinden. Außerdem ent-
hält das Luxemburgische, wie es scheint, eine Anzahl Worte,
welche im Deutschen nicht vorhanden sind. Sprachgelehrte
sind im Begriff, ein Wörterbuch herauszugeben, um zu
beweisen, daß ihre Sprache kein Patois ist, und daß die
Luxemburger keine Deutschen sind (??). Die Luxemburger
haben daher (meint Prof. Gaidoz) drei Sprachen in ihrem
eigenen Dialekt für das häusliche und alltägliche Leben, und
außer diesen das Deutsche und Französische. Die Luxem-
burger Schriftsteller schreiben beide Sprachen ungefähr gleich
gut. Die Schulbildung bringt dies mit sich, da beide Sprachen,
von der Volksschule an, gelehrt werden müssen. Man findet
beide während der ganzen Schulzeit nebeneinander, wie zwei
Fäden von verschiedener Farbe in der Hand eines geschickten
Webers. Diese Lehrmethode würde für einen Pädagogen
sehr interessant zu studieren sein; aber es ist nur mit Lehrern
möglich, welche beide Sprachen gleich gut sprechen, welches
man nur selten antrifft, ausgenommen in den Ländern, wo
zwei Sprachen gesprochen werden.
In bezug auf die Muttersprache, d. h. die angestammte
Volkssprache, kommt im Großherzogtum einzig und allein die
germanische Sprache in Betracht. Bloß in einigen Dörfern,
welche zum Kanton de Bastogne (im jetzigen belgischen
Luxemburg) gehörten, findet man ein Gemisch von walloni-
scher, d. h. französischer Bevölkerung mit den Deutschen. Es
sind dies die folgenden Dörfer oder Weiler, Doncols, Sonlez,
Tarchamps und Troine. Noch vor kurzer Zeit Predigte man
in Doncols nur französisch, der jetzige Pfarrer predigt abwech-
selnd in beiden Sprachen. Herkömmlicherweise war jedoch das
Französische die zweite Sprache des Landes. Sie gab den Aus-
schlag im „quartier wallon“, und dieses Vorrecht ist ihr so
wenig bestritten worden, daß nach der Teilung des „quartier
wallon“ im Jahre 1839 das Französische amtliche Sprache
geblieben ist, ohne daß sich ein Luxemburger dadurch beleidigt
gefühlt hätte. Seit der neuen Organisation des Groß-
herzogtnms hat die luxemburgische Regierung das Deutsche
im Verkehr mit dem deutschen Bund und in allem, was sich
auf die Bundesverfassung bezog, angewandt; in der allgemeinen
Verwaltung des Landes gebrauchte man jedoch das Fran-
zösische (Erlaß des Großherzogs vom 17. November 1841).
Seit dieser Zeit sind alle Verfassungen, welche die Luxem-
burger gehabt haben, im Französischen geschrieben worden. In
französischer Sprache eröffnet ferner der Großherzog oder
sein Vertreter den Landtag; ebenso finden die Verhandlungen
der Abgeordneten und der Minister in dieser Sprache
statt. Die Gesetze und amtlichen Bekanntmachungen werden
im Französischen veröffentlicht, sowie das Amtsblatt le Me-
morial (bezüglich in deutscher Übersetzung) herausgegeben.
Der Text des, Gesetzes ist stets französisch, das Deutsche
wird nur zur Übersetzung gebraucht. Die einzige Ausnahme
in dieser Beziehung bilden nur die Aktenstücke, welche sich
auf Sachen des Zollvereins beziehen und die nur deutsch ge-
druckt werden. Die Münzen, welche Luxemburg schlagen läßt,
sind bloß Stücke im Werte von 5 und 10 Centimes mit
französischer Umschrift. Selbst die Postmarken sind den fran-
zösischen nachgeahmt, und ,haben mythologische Figuren, wie
Merkur und Mai'a. Der Überlieferung und der Zustimmung
des ganzen Volkes verdankt die französische Sprache diesen
Vorzug, denn das Gesetz macht zwischen den beiden üblichen
Mundarten keinen Unterschied. Artikel 29 der Verfassung
von 1868 lautet: Der Gebrauch der deutschen und französi-
H. Seidel: Das Atoll Nissan und seine Nachbarn.
247
scheu Sprache ist fakultativ, deren Anwendung nicht beschränkt
werden darf. Diese Regel wird auch bei den amtlichen Er-
lassen befolgt. L'Frrêté sur ¡’organisation et le service
des bureaux (§. 5) verlangt, daß die Beamten beider
Sprachen mächtig sein müssen, ein Zwang, wenn man cs
so nennen darf, welcher nur für sie allein besteht.
In Wirklichkeit beschränkt sich die Anwendung der deutschen
Sprache nur auf Gemeinde-Angelegenheiten. Im Gemeinde-
rate der Stadt Luxemburg finden die Verhandlungen im
Französischen statt, während sie in den Gemeinderäten des
Platten Landes gewöhnlich im Deutschen, oder vielmehr im
üblichen Dialekt erfolgen. Protokolle werden in beiden
Sprachen aufgenommen, je nach dem Ermessen des Bürger-
meisters oder seines Sekretärs. Dasselbe geschieht mit den
Zivilstandsregistern; und was die bürgerlichen Akten be-
trifft, so werden sie ebenfalls in der einen oder andern
Sprache ausgefertigt, je nach dem Wunsche der betreffenden
Personen.
Für das Gesetzbuch in Luxemburg hat man als Grund-
lage und Ausgangspunkt den Code Napoléon (Code fran-
çais de 1808) genommen, jedoch hat dasselbe seitdem
manche Veränderungen erfahren, namentlich die Abschaffung
des Geschworenengerichts. Der Gerichtshof besteht aus sechs
Personen: drei diäten und drei Bezirksrichtern, und die
gleiche Stimmenzahl genügt, um den Angeklagten freizu-
sprechen.
Es liegt auf der Hand, daß mit dem Bestehen des Code
Napoleon das Französische die Gerichtssprache geblieben
ist; und seltene Ausnahmen abgerechnet, findet das gericht-
liche Verfahren in dieser Sprache statt. Urteile, welche sich
auf städtische und Gemeinde-Sachen beziehen, werden ebenfalls
in französischer Sprache vollzogen. In bezug auf Straf-
sachen, und im Interesse der niederen Klassen, denen das
Französische weniger geläufig ist, räumt mau der deutschen
Sprache seit einigen Jahren gewisse Rechte ein *). Eine
ministerielle Verfügung vom 10. September 1879 schreibt
die deutsche Sprache für die Gerichtsakten vor, insofern die
Anklage-Akten, die Zeugenaussagen und die Urteile in dieser
Sprache abgefaßt werden. Dagegen hat dieser Erlaß durch-
aus nichts mit den Verteidigungsreden der Advokaten und
des Staatsanwalts zu thun. Dieselben geschehen, wie früher,
in französischer Sprache, nicht weil cs das Gesetz vorschreibt,
sondern weil es eine alte hergebrachte Sache ist. Eine amt-
liche deutsche Übersetzung des Strafgesetzbuches ist im Jahre
1879 herausgegeben worden, jedoch sind die andern Gesetz-
bücher nur in französischer Sprache vorhanden. Die Akten
der Notare werden gleichviel in der einen oder andern Sprache
geführt, je nach dem Wunsche der betreffenden Parteien.
i) Die hier geschilderten Verhältnisse beziehen sich doch
wesentlich aus die Hauptstadt und die größeren Orte des Länd-
chens — auf dein platten Lande, in den Dörfern, ist die Kenntnis
des Französischen gering. A.
Das Atoll Nissan und seine Nachbarn.
Von H. Seidel.
Als Darwin im Frühjahr 1874 die zweite Ausgabe
seines Werkes über die Korallenbauten erscheinen ließ, mußte
er sich für die Riffe im Salomons- und Bismarck-Archipel
noch mit älteren, zum Teil recht lückenhaften Angaben be-
gnügen. Vor allem konnte der verewigte Gelehrte von der
langen Atollreihe, die sich seewärts der genannten hohen
Inseln erstreckt, keine befriedigende Nachricht geben. Ong-
tong-Java oder Lord Howe im 5. Grade südl. Br. ist das
einzige Gebilde, das er mit Sicherheit als Atoll zu bezeich-
nen wagte i).
Zieht man statt dessen Dr. K. Meinickes Monographie
über die Inseln des Stillen Ozeans zu Rate, bte gerade
ein Jahr nach Darwins Buche erschien, so wird billig die
Genauigkeit überraschen, mit welcher der deutsche Geograph
jene melanesischcn Riffkränze charakterisiert. Dabei standen
unserm Landsmann kaum die großartigen Hilfsmittel und
Unterstützungen zu Gebote, deren sich Darwin schon in der
ersten Auflage seines Werkes rühmt.
M ein icke2) beschreibt fast ohne Ausnahme sämtliche
Inseln, die bei uns erst in jüngster Zeit durch die For-
schungen der deutschen Kriegsschiffe weiteren Kreisen bekannt
gemacht sind. Die Zahl der dortigen Lagunenringe ist eine
erheblich größere, als man nach Darwin je annehmen
durfte. So liegen gleich in der Nähe von Ontong-Java • )
— der Grabstätte des Kapitänlieutcnants Paleske4 * * 7 8) —
zwei kranzförmige Riffe, nämlich die Tasman-Gruppe ') im
1) Darwin, Korallenriffe. Deutsche Ausgabe 1376, S. 170.
2) Inseln des Stillen Ozeans, Bd. I, Leipzig 1875, S. 140,
141, 158 u. 159. ^
3) Annalen der Hydrographie rc. 1876, S. 209; 1877,
S. 48 u. 350; 1887, S. 350 und 1890, S. 128.
4) Mitteilungen aus den deutschen Schutzgebieten, Bd. 111,
1890, S. 87 u. 88. Ä L ovl „
5) Annalen rc. 188.9, S. 278 u. 515 mit Karte des Atolls
auf Tafel 8 und Annalen 1885, S. 60.
Norden und das inselarme Eandclaria- oder Roncador-
Risf3) im Süden. Letzteres ist keineswegs identisch mit
dem viel weiter entfernten Bradley-Risf, das wir ganz im
Südosten und nahe der Grenze des deutschen Schutzbereichs
eingetragen finden^). Etwa 2^ Grad westlich von Ean-
delaria folgen die Markeninseln I und diesen wieder, in
etwas geringerer Entfernung, die mageren Sandslecke auf
dem Earteret-Kranze 9). In der breiten Durchfahrt zwischen
der Salomone Buka und Neu-Mecklenburg haben Nissan-
Atoll und Pinepil oder die Grüne Insel 10 11) ihren einsamen
Platz, und noch tiefer in See werden die Abgarris- oder
Faedinscln n) getroffen, laut der Kalling Directions eine
Kette niedriger Eilande und Sandbänke, die von Riffen
umgürtet sind und sich ungefähr 30 Seemeilen in der deich -
tnilg von Nordwest nach Südost erstrecken. Nicht weit von
diesem Atoll sah der Schoner „Heron" noch einen zweiten
Korallenbau12) von 3 Seemeilen im Umfange mit einem
6) Annalen 1876, S. 209 und 1887, S. 48 u. 350. Desgl.
8ailing Directions for the Pacific Islands, Vol. 1, Western
Groups. London, 1890, p. 421, 422.
7) Pacific Islands, Vol. I, p. 421.
8) Au ch Mortlock-Atoll genannt — nicht zu verwechseln
mit den Mortlock-Jnseln im Karolinen-Archipel—; Anualen rc.
1883, S. 273; 18H4, S. 596; 1885, S. 60 uud 1887, S. 702.
9) Annalen 1879, S. 282 ; 1882, S. 227 ; 1883, S. 279,
234, 515 und Karte aus Tasel 6.
i") Letztcre ist noch sehr wenig bekannt; nach der Karte
in den Annalen 1883, Tasel 10 sText S. 517) ist sic jeden-
salls korallinen Ursprungs und wahrscheinlich «uch ein Atoll,
vorausgcsetzt, dah die Karte an demsejben Fehler krankt, wie
die noch zu erwahnende Ausiiahmc von Nissan. Als Korallen-
gebilde bezeichnet sic auch der kaiserliche Kanzler S ch miele in
den Mitteilungen aus den deutschen ^chutzgebieten 1891, Hest I,
S. 66.
11) Meinicke, a. a. O., Bd. I, S. 140 u. 141 und Pacific
Islands, Voi. I, p. 430.
12) Pacific Islands, Vol. I, p. 430, 431.
248
C. F. Caspar:: Die Grabstätte dös Kaisers Pung-Lo (Mingdynastic).
trockenen Jnselchen in der Acitte. Dagegen ist das Lyra-
Riff ^), das 1826 von Kapitän Rennick entdeckt wurde,
und das sich selbst in unsre Handatlanten eingeschlichen hat,
ein submarines Gebilde von zweifelhafter Lage und Aus-
dehnung, über welchem 4 bis 5 Faden Wasser stehen sollen.
Es hat Jahre und Jahrzehnte gedauert, ehe jedes dieser
Zusfe untersucht und annähernd richtig in die Karten ein-
getragen wurde. Manches ist bis in die neueste Zeit ganz
falsch dargestellt worden, oder es schwankte mit wechselnden
Namen in unsicheren Positionen hin und her. Für die
Tasman-Jnscln z. B. waren noch die Nebentitel Welling-
Gruppe und Le Maire-Atoll üblich, eine geraume Weile sogar
lief der Ring als „Liiupson Ooral-IslunckZ" durch die
Listen der „Ueporteck Dangers“. — Welche Mängel selbst
den besten Quellen anhaften können, zeigt uns ein Vergleich
der Schilderungen und Karten von Nissan-Atoll oder der
Sir Charles Hardy-Jnsel.
Nach deutschen u) und englischen Karten und Segelan-
weisnngen erscheint das Atoll als eine elliptische Fläche mit
etlichen ansspringendcn Ecken, von Rissen umgeben, die sich
einzig an der Westseite zu einer kleinen Bucht öffnen, deren
Zugang jedoch durch Korallenmassen und ein schmales Jnscl-
chen gesperrt wird. Die Ufer sind mäßig hoch, tragen
Mangroven und Kokosbäume und fallen besonders nach der
Ostseite hin sehr steil ab, so daß ein Landen mit Booten
nur an wenigen Stellen ausführbar ist. Die höchsten
Punkte im Innern schätzt die Aufnahme aus 1883 durch
das Kriegsschiff „Hyäne" zu 100 in.
Hält man diese Beschreibung mit den Ergebnissen der
jüngsten dUssan-Forschung durch den kaiserlichen Kanzler
G. Schmiele* 14 15) zusammen, so lassen sich zwischen beiden
kaum irgend belangreiche Ähnlichkeiten entdecken. Denn statt
der Vollinsel, von der uns die früheren Quellen sprechen,
erblicken wir ein echtes Atoll, und zwar zu jenem Typus
gehörig, den Darwin treffend als „Hufeiseninsel" bezeich-
net. Die eckigen Umrisse aus der älteren Karte sind ver-
schwunden; die Außenlinie läuft sanft gerundet um das ganze
Atoll, nur einmal im Osten und zweimal im Westen durch
tiefere Buchten gegliedert. Um so vielgestaltiger zeigt sich
dafür der Saum der Lagune, besonders im südlichen und
13) Pacific Islands, Yol. I, p. 431.
14) Annalen rc. 1883, S. 517 mit Karte auf Tafel 10, und
1886, S. 521; 1890, S. 340. Hier giebt Korvettenkapitän Her-
bing die erste richtige Beschreibung des Atolls. Pacific Islands,
Vol. I, 1890, p. 428 wiederholen nur fast wörtlich die Notiz
ans Annalen 1883, S. 517.
15) Mitteilungen aus den deutschen Schutzgebieten 1891,
Bo. IV, Heft 1, S. 65 u. 66 mit Karte.
südöstlichen Teile, wo er wahrhaft mäandrische Windungen
macht. Das Binnenwasser ist von de orden nach Süden
12 Seemeilen laug bei einer Breite von 4 bis 5 Seemeilen.
Zum offenen Meere führen drei Ausgänge, zwischen welchen
die Eilande Barahen und Sirot liegen. Das 3 bis 4 See-
meilen breite, wie ein Hufeisen gekrümmte Hauptland heißt
bei den Eingeborenen „Nissan", ein Name, den Kanzler-
Schmiele für das gesamte Atoll empfiehlt. Am merkwürdig-
sten ist der Ostflügel der Insel geformt; das Land springt
gleich hinter der Lagune mit jähem Hange 7 bis 10 in aus
und hebt sich dann, gleichmäßig ansteigend, in der Richtung
zum Weststrande gegen 40 bis 60 in empor. Ein schroffer
Abfall leitet von der Hochfläche in ein bis 500 in breites
Vorterrain hinab, welches Pandanus und Kokospalmen in
Fülle trägt. Dieser fruchtbare Küstenstreifen wird Talehna
genannt.
Steilhänge, die auf eine nachträgliche Hebung des Atolls
schließen lassen, begegnen uns ferner im Nordosten bei Jal-
hua, sowie an der ganzen Westseite, wo Abstürze von 8,
9, 20 und 25 in verzeichnet sind. Besonderes Interesse
erheischen die in der Wand von Talehna eingewaschenen
Höhlen, die oft in dreifachen Reihen übereinander liegen und
zum Teil mehrere Hundert Fuß tief sind. Es untersteht keinem
Zweifel, daß die Insel ein gehobenes Atoll darstellt, ähn-
lich wie das über 10 Längengrade östlich vor ihr belegene
Nauru, welches jetzt gleichfalls zum deutschen Kolonial-
besitz rechnet. Wir treffen auf Nauru, dem Pleasant-Js-
land 16) der englischen Karten, in gewisser Hinsicht dieselben
Erscheinungen an, wie auf Nissan. Der Boden schwillt
von der schmalen Strandebene mit rauh zerklüfteten Klippen
nnd Wänden zu 50 bis 60 m auf. Der feste Korallenkalk
ist zu tiefen Grotten, steilen Türmen und Zinnen ausge-
waschen; oft schauen die Blöcke weißschimmernd zwischen
dem Grün der Vegetation hervor. Aus der Eggertschen
Karte17) von Nauru sind außerdem am Westufer zwei
unterseeische Höhlenausflüsse verzeichnet. Vor allem aber
läßt uns die ovale Senkelä) im Innern, deren Grund noch
jetzt ein brackischer See ausfüllt, keinen Augenblick über die
frühere Natur von Nauru im Zweifel.
i«) Annalen 1873, S. 195; 1831, S. 533; 1882, S. 154;
1884, S. 375 mit Karte und Ansicht auf Tafel 10, und 1888,
S. 231. Nergl. auch die „Aufzeichnungen über die Insel Nauru"
vom Kaiser!. Kommissar Dr. Sonnenschein in den Mitteilungen
aus den deutschen Schutzgebieten 1889, Bd^ II, S. 19 bis 2«!.
17) Mitteilungen aus den deutschen Schutzgebieten 1890,
Bd. III, Hest 3, Tafel 8.
ich „The centre is of much less elevation than the
coast“. Pacific Islands, Vol. II, p. 76.
Die Grabstätte des Kaisers Hung-Lo Wngdvnastiej.
Don (£. F. Laspari. Hongkong.
Der beifolgende, auf Vermessungen beruhende Grundriß
des berühmten Grabes des Kaisers Anng-Lo ist wahrschein-
lich der erste, welcher zur Veröffentlichung gelangt, da wohl
Zeichnungen vorhanden waren, die Wächter aber mit Rück-
sicht auf den bekannten Fengschui-Aberglauben bisher jeder
Anfnahme Widerstand entgegensetzten. Bei einem Ansfluge,
welchen ich im verflossenen Frühjahr in Begleitung eines
Schotten, des Mr. Savage, zu den berühmten Ming-Grübern
von Peking aus unternahm, gelang es uns, in klingender
Weise die Wächter auf unsre Seite zu bringen und das größte
Grabdenkmal der Mingdynastie zu vermessen, was um so
genauer gelang, als Mr. Savage ursprünglich Architekt ist.
Das besondere Interesse, welches diese großartigen Bauten
darbieten, besteht vor allem in der Vereinigung zwischen
einem Tnmulus prähistorischer Art nnd dem Bauwerk ver-
gleichsweise modernen Ursprungs. Um den Tnmulus von
300 m Durchmesser zieht sich kreneliertes Manerwerk herum
und der Zugang wird gebildet durch ein ans drei großen
aneinanderstoßenden Abteilungen bestehendes Bauwerk. Es
scheint, als ob hier uralte Formen der Begräbnisstätten bei-
behalten sind, was bei dem konservativen Volke der Chinesen
ja nichts auffallendes ist; der ganze Grundriß erinnert an
gewisse prähistorische Gräber Europas, bei denen auch der
Zutritt zu der eigentlichen Grabkammer durch einen Gang
C. F. Caspari: Die Grabstätte des Kaisers Ä)ung-Lo (Mingdynastie).
249
riesiger Steinplatten gebildet wurde mit nachfolgender Aus-
schüttung von Erde in Form eines Tnmnlus.
Die berühmten Ming-Gräber liegen ans dem Wege von
Peking zur Großen Mancr. Wir kamen vorüber an dem
von den Franzosen zerstörten kaiserlichen Sommerpalast
Wan-schau-schan, übernachteten in einem Tempel in Ta-be-an,
passierten am andern Tage Tschang-ping-"tschau und gelang-
ten nachmittags zu der bekannten, oft abgebildeten Gräber-
straße, die zu dem kesselartigen Thale führt, in dem eine der
größten Nekropolen der Erde sich befindet. Hier liegen die
13 Kaiser der Mingdynastie begraben, welche fast 300 Jahre
lang (1368—1044) China beherrschten. Sie sind also Zeit-
genossen unsrer deutschen Kaiser von Karl IV. bis Fer-
dinand III. und erloschen zur Zeit des 30 jährigen Krieges
mit dem freiwilligen Tode des letzten Mingkaisers, worauf
die jetzt regierende Tsingdynastie folgte.
Die Straße der berühmten Steinbilder mit ihren riesigen
Pferden, Kamelen, Elefanten und Löwen, die den Zugang
zum Gräberthal bildet, ist so oft beschrieben und auch ab-
gebildet worden, daß ich wohl hier von ihr schweigen darf.
Ich will nur als Begleitworte eine kurze Schilderung des
Tnmnlus Kaiser Dung-Los geben, da dessen Grabstätte die
größte unter allen ist. Pung-Lo, der dritte in der Reihe
der Mingkaiser, regierte von 1403—1425; er ist auch im
Abendlande dadurch bekannt geworden, daß er die Haupt-
stadt von Nanking nach Peking verlegte; sein Ahnenname ist
Tsching-tsu.
Der flach erscheinende Tnmnlus liegt am nördlichen Ende
des ganzen Baues und wird durch eine starke Mauer aus
roten Ziegeln zusammengehalten. Sein Durchmesser beträgt
300 m; er ist bepflanzt mit Koniferen, welche nach chine-
sischem Glauben die Eigenschaft besitzen, mißgestaltete Geister,
die Mong-tsa-on, abzuhalten, die sich vom Gehirn der Leichen
nähren. Die Höhe des Tnmnlus beträgt ungefähr 30 m.
Der nach Süden zu vorgebaute, aus drei Abteilungen be-
stehende Tempelgang ist mit einer hohen roten Umfaffnngs-
mauer umgeben und bildet ein an den Tumulus sich an-
schließendes Parallelogramm von 360 m Länge und 150 m
Breite (in abgerundeten Zahlen). Der mittlere Theil dieser
dem Grabdienst und der Verehrung des hier bestatteten
Pilug-Lo geweihten Baulichkeiten wird durch die große Halle
gebildet, die ein besonders schönes Beispiel chinesischer Grab
architektur ist und deren Dach von hohen Säulen aus Teak-
holz getragen wird, die bis 20 m hoch sind. Dieser Haupt-
tempel ist von hellfarbigen Marinorbalustradcn umgeben, die
in schöner Reliesarbcit mit chinesischen Symbolen, Drachen-
nnd Vogelfiguren bedeckt sind. Das ganze großartige Gebäude
mit der hoch über uns emporragenden Decke hat nur den
Zweck, die Ahnentafel Aung-Los zu schützen, ein nur 60 ein
> langes Brett, auf dem der Kaiser als „der vollkommene Ahne,
der litterarische Kaiser" gefeiert wird. Weihrauchgefäße,
Räucherkerzen und was sonst zu der Verehrung der Ahnen
gehört, stehen vor der Tafel.
Es folgt nun die dritte Abteilung der Baulichkeiten, die
zunächst dem Tumulus gelegene. In derselben steht, ohne
Überbau im offenen Raume, ein 7 m langer mächtiger Altar,
dessen Deckplatte aus einem riesigen Monolith gebildet wird.
Hier fanden früher die besonderen Opfer für den verstorbenen
Kaiser statt. Es folgt nun, unmittelbar an den Tumulus
angebaut, das hohe Mausoleum, welches die eigentliche Grab-
stätte Anng-Los bildet. Durch dasselbe hindurch steigt schräg
aufwärts ein bequemer Gang nach dem Hügel, den wir an
der Plattform der krenelierten Mauer erreichten. Man kann
auf derselben den ganzen gewaltigen Tnmnlus umschreiten;
von dort oben hat man einen herrlichen Blick ans das Thal
mit seinen zahlreichen Gräbern.
Globus LIX. Nr. 16.
32
250
I. P. Peters: Die Sarkophage von Sidon.
Die Sarkophage von Sidon.
Von J. p. Peters.
Am Fuße der Berge hinter Sidon und Tyrns findet
man eine fast ununterbrochene Reihe von Grüften, welche in
den Felsen gehauen sind. Wie in Palästina wurden auch
in Phonizien die Toten in Grüften begraben, welche
in Felsen gehauen sind, und sich gewöhnlich an steilen Berg-
abhängen uub tiefen Gewässern entlang ziehen, wo die Boden-
beschaffenheit es erlaubt, mit möglichst geringer Muhe solche
Grüfte auszuhauen. Reiche Leute jedoch bauten oft ihre
Grabstätten in ihren Gärten, obgleich dies mehr Arbeit er-
forderte, namentlich wo die Oberfläche des Felsens eben ist.
Um solche Grabstätten herzustellen, in welche sie ihre Sarko-
phage versenkten, mußten sie tiefe Schächte in dem festen
Gestein ansteufen, auf deren Grunde sie ihre Gräber aus-
höhlten. Gräber dieser Art findet man häufig in den Saat-
feldern und Gärten hinter der Stadt Sidon, sowie zwischen
letzterer und dem Gebirge. In einer solchen Gruft, süd-
östlich von Sidon, ans dem Felsenplateau, gerade über den
Gärten, wurde der Sarkophag des Königs Eschmnna'zar
gefunden, welcher sich jetzt im Louvre befindet. Dieser Sarkophag
wurde, wie es scheint, seines Inhaltes beraubt, ans der
königlichen Gruft entfernt, wieder gebraucht und an andrer
Stelle in eine Gruft gesetzt. Hier war es, wo Renan Aus-
grabungen vornahm und eine Anzahl Gräber fand, so daß
er diese Stelle auf seiner Karte mit dem Namen Nekropolis
von Sidon bezeichnete. Diese Bezeichnung ist jedoch ganz
unrichtig, denn man findet ebensoviel Gräber iibcrall hinter
der Stadt, als in Rennns sogenannter Nekropolis. Die
ganze Oberfläche dieses Felsenplateans oberhalb der Gärten
und unterhalb der Hügel ist mit solchen Gräbern besäet, die
man teils einzeln, teils in Gruppen findet. Die dortigen
Steinhaner entdecken fortwährend neue Gräber. Sie werden
gewöhnlich von ihnen geplündert, und die Lampen, Fläschchen rc.
all Antiquitätenhändler und Reisende verkauft. Es waren
ebenfalls Steinhaner, welche die Gruft entdeckten, die den
erwähnten Sarkophag Eschmuna'zars enthielt. Die eigen-
tiimlichen Merkmale des letzteren veranlaßte sie, den Fund
andern mitzuteilen, und so kam er in den Besitz des Dnc de
Lnynes fiir den Louvre.
Vor vier Jahren machte ein Steinhaner die Entdeckung eines
Grabes, ain Saume des Plateaus, dicht an den Gürten, un-
gefähr so weit nordöstlich von der Stadt, als sich Renans
„Nekropolis" südöstlich von ihr befindet. Die eigentümliche
Beschaffenheit der darin befindlichen Sarkophage bewogen den
Steinhaner, die amerikanischen Missionare in Sidon von
seiner Entdeckung in Kenntnis zu setzen, welche dem Direktor
des kaiserlichen Museums, Hamdy Bey, hiervon Mitteilung
machten. Dieses führte 1887 zu weiteren Ausgrabungen
in Sidon, und der Auffindung jener bemerkenswerten Sarko-
phage, welche im neuen Museum der türkischen Hauptstadt
ausgestellt sind.
Jul Winter 1887/88 verbreitete sich die Nachricht, daß
einer dieser Sarkophage derjenige Alexander des Großen
sei, eine Ansicht, die seitdem nicht wieder ausgesprochen wurde.
Das Werk Hamdys über die Sarkophage ist bei Leronx in
Paris erschienen. Es ist Renans „Mission en Phenicie“
ähnlich und mit vielen Abbildungen versehen. Ich sah die
Sarkophage im Oktober 1890. Ich werde nie meinen ersten
Besuch vergessen, den ich nach meiner Ankunft in Kon-
stantinopel machte, wo ich Hamdy im Museum aufsuchte,
welcher mir sofort die Sarkophage zeigte.
Er begann mit dem Sarkophag der „Leidtragenden" und
schloß mit jenem, den man Alexander dem Großen zuschrieb.
Ich war erstaunt, denn obgleich ich etwas von den Schön-
heiten der Skulpturen gehört hatte, so hatte ich durchaus
nicht vermutet, solche wundervolle Knnstschätze zu finden.
Ich hatte nie etwas Ähnliches gesehen, und je öfter ich sie
später besah uub genauer prüfte, desto größer war der Ein-
druck. Sie nehmen ganz sicher einen hohen Rang unter den
Kunstschätzen der Welt ein, und es lohnt sich der Mühe, eine
lange Reise zu machen, um sie 51t sehen und zu studieren.
Insgesamt giebt es dort siebzehn Sarkophage, wovon neun
mit polychromen Skulpturen verziert sind. Es waren
zwei Gräber vorhanden, wovon das eine, ein phönizisches,
königliches, ganz unbeschädigt war; und das andre ein
griechisches. Im letzteren fand man alle Sarkophage er-
brochen und beschädigt. Das erstere befand sich in einer
höheren Lage als das letztere. Als man die griechische Gruft
baute, wußte man nichts inehr von der phönizischen Gruft,
denn als die Banleute einen Schacht abteuften, wurden sie
durch einen dumpfen Ton darauf aufmerksam, daß sie in eine
ältere Gruft eindrangen. Sie trieben daher ihren Schacht
noch tiefer, bis sie zu der ungewöhnlichen Tiefe von 12 in
kamen.
Einige Angaben über die Auffindung der phönizischen
Gruft, und speziell des erwähnten Sarkophag von Tabnith,
des Vaters des eben erwähnten Eschmnna'zar, enthielt die
Revue Archéologique vom Jahre 1887, wo Renan jedoch
irrtümlicherweise sagte, daß sich das griechische Grab ans
einem höheren Niveau als das phönizische befunden habe.
Auch setzt er die phönizische Gruft und die Inschrift
Tabniths ein Jahrhundert zu spät an. Hamdy Bey ist cs
gelungen, annähernd das Datum Tabniths zu bestimmen;
wenigstens liefert seine Entdeckung den entschiedenen Beweis,
daß die Jahreszahl 300 v. Chr. Geburt um wenigstens
hundert Jahre oder noch mehr zu hoch gegriffen ist. Die
Aufschrift am Sarkophag der Tabnith lautet wie folgt:
„Ich, Tabnith, Priester des Ashtaroth, König der Sidonier,
Sohn des Eschmnna'zar, liege hier in diesem Sarge. Wan-
derer, der du diesen Sarg findest, öffne mein Grab nicht,
noch entweihe cs, denn weder ein Bildnis von Silber oder
Gold, noch Juwelen sind hier verborgen (?). Ich allein liege
in diesem Sarge, öffne mein Grad nicht, noch entweihe es,
denn es ist ein Abscheu vor Ashtaroth, und wenn du je mein
Grab öffnest und entweihest, so sollst du keine Nachkommen
unter den Lebenden unter der Sonne, noch eine Ruhestätte
unter den Toten haben!"
Man wird gerührt beim Lesen dieser Aufschrift, welche
sogar von der Unsicherheit königlicher Gräber Zeugnis ab-
legt, was auch aus der Mühe hervorgeht, welche man sich
gegeben hatte, um den Sarkophag in seiner Nische zu be-
festigen. Derselbe war in einer Höhlung des felsigen Bodens
eingelassen, mit kleinen Steinen und Kalk ausgefüllt und
oben mit einem großen Stein belegt, welcher ungefähr 3 in
lang und 1 y2 m dick war. Trotzdem haben weder Ver-
wünschungen nocki äußere Mittel geholfen, dieses Grab unver-
sehrt zu erhalten, denn es ist Thatsache, daß derselbe Sarko-
phag, in welchem die Mumie von Tabnith gefunden wurde,
von einem ägyptischen Grabe gestohlen worden war. Die
ägyptischen Aufschriften sind innerlich und äußerlich unver-
sehrt, wonach es den Anschein hat, daß dieser steinerne,
I. P. Peters: Die Sarkophage von Sidon.
261
mumienförmige Sarg unsprünglich derjenige eines ägyptischen
Generals, namens Panephtah, gewesen ist. Es ist wahr-
scheinlich, daß nach der Eroberung Ägyptens durch die
Perser, als viele alte Grüfte geplündert tvnrden, man anfing,
mit ägyptischen Särgen Handel zu treiben. Als Ergebnis
solchen Handels kann der Sarkophag des Eschmmia'zar im
Louvre angesehen werden, welcher ein ägyptischer, steinerner
Sarg ist von derselben Art als derjenige des Tabnith.
Wie schon bemerkt, wurde er weder in seiner ursprünglichen
Beschaffenheit, noch wahrscheinlich in seiner ursprünglichen
Lage gefunden. Hamdy Bey ist geneigt, anzunehmen, daß
das Grab Eschmnna'zars in derselben Gegend, wie dasjenige
des Tabnith war. Wenn dieses der Fall, dann kann
das Grab von Tabnith einen Teil einer königlichen Nekro-
pole gebildet haben und mau wird dort vielleicht nicht
weniger interessante, unbeschädigte Gräber von andern
Königen Sidons entdecken. Stcinhauer versichern, im letzten
Sommer in jenem Reviere noch mehr Grabeshöhlen entdeckt
zu haben. Hamdy Bey hofft dieselben im Frühjahr 1891
auszngraben.
In der Gruft des Tabnith giebt es noch andre Grab-
höhleu, welche steincre Sarkophage ohne Inschrift enthalten,
und vermutlich die Särge der Frauen seiner Familie sind.
Soviel wie mir bekannt ist, wurde in keinem von ihnen
etwas Interessantes gefunden, sie enthielten bloß Lampen und
Basen von gewöhnlicher Form. Sic wurden ebenfalls nach
Konstantiuopel gebracht, und bilden einen Teil der Sarko-
phagensammlung, welche einzig in ihrer Art ist. Dieselbe
füllt das ganze niedere Stockwerk des neuen Museums aus
und erstreckt sich nach vorn bis in den Hof.
Wichtiger noch als die Entdeckung des Grabes des Tab-
nith, war die Entdeckung der griechischen Sarkophage mit
polychromen Skulpturen, welche man später in einer tieferen
Gruft vorfand. Es giebt deren vier, welche vorzügliche
Kunstwerke sind, jeder aus einem rechtwinkeligen Block
weißen Marmors bestehend, ungefähr 3 m lang und 1 h 2 rn
breit und hoch. Einer von denselben ist inwendig in
menschlicher Form ausgehöhlt, die übrigen haben nur einfache
Formen. Jeder Deckel besteht ans einem einzigen großen
und schweren Marmorblock. Diese gewaltigen Steinblöcke
wurden am Boden eines 12 m tiefen Schachtes gefunden,
und zwar in einer Gegend, wo es keine Krahne noch sonstige
mechanische Vorrichtungen gab, um solche Massen zu hand-
haben. Hamdy ließ einen schiefen Tunnel durch den Felsen
bis an den Fuß des Schachtes treiben, und die Sarkophage
einen nach den: andern mit Seilen ans Tageslicht bringen.
Hierauf legte er eine Straße durch die Gärten und beförderte
sie ans dieselbe Weise nach dem Meere. Man kann sich kaum
vorstellen, mit welchen mechanischen Schwierigkeiten Hamdy
bei seinen Ausgrabungen zu kämpfen hatte. Der erste dieser
Sarkophage, den ich sah, war eine Nachahmung eines griechi-
schen Tempels mit Säulengang. Zwischen je zwei Säulen
stand eine weibliche Figur in trauernder Stellung. Diese
Anordnung in ihrer Einförmigkeit nimmt sich etwas steif
ans, doch ist die Darstellung der weinenden Figuren so ver-
schieden und so anmutig, daß diese Steifheit verschwindet.
Auch die kleinen Verzierungen sind ungemein schön, doch ist
die Farbe dieses Sarkophags ziemlich verwischt. Neben
diesem steht der Sarkophag eines alten Mannes. Auf einer
der Längsseiten ist er dargestellt, als ob er im Begriff
stände, seinen Wagen zu besteigen; auf der andern Längsseite
erscheint er als Jäger und an einer der kurzen Seiten sitzt
er zu Tische. Seine Figur bildet in allen Fällen den
Mittelpunkt.
Der dritte Sarkophag ist Diel größer als der vorige, der
Deckel ist hoch und gespitzt, mit Giebeln an beiden Enden.
Die eine der Längsseiten stellt eine Wettfahrt zu Wagen dar.
Die Köpfe der Pferde sind die schönsten, die man in Marmor
sehen kann. Die Giebel sind mit Greifen versehen. Das
Polychrom war hier sehr gut erhalten, ebenso das Gold,
welches jedoch an andern Stellen sehr verwischt war.
Jeder von diesen drei Sarkophagen ist ein prächtiges
Kunstwerk für sich, und jeder von ihnen überragt an Schön-
heit alle Sarkophage, welche ich je gesehen habe, aber keiner
von ihnen kann in bezug aus Interesse und Schönheit mit
dem vierten Sarkophag verglichen werden. Eine seiner
Längs- und eine seiner Querseiten stellen eine Schlacht zwi-
schen Griechen und Persern dar. Zur äußersten Linken,
wo das Gefecht beginnt, befindet sich Alexander der Große
zu Pferde. Die Mittelfigur der Handlung ist ein junger,
bartloser, hübscher Grieche, welcher ebenfalls zu Pferde sitzt.
Der Kops dieser Figur war noch nicht restauriert, als ich
den Sarkophag sah, doch war cs mir, durch die Güte Oskan
Effendis, des Professors der Skulptur an der Kunstakademie
zu Konstantinopel, vergönnt, ihn zu sehen. Der Hut dieses
Jünglings war vergoldet, eine Auszeichnung, welche die
andern Figuren nickt besaßen. Diese Thatsache, sowie seine
Stellung im Mittelpunkte lassen vermuten, daß der Sarko-
phag für ihn bestimmt war. Zur äußersten Rechten des
Schlachtbildes, an einer der Längsseiten, befindet sich ein
dritter Grieche zu Pferde.
Nach Hamdy Bey stellt er einen Greis vor, dessen Ge-
sicht übereinstimmt mit demjenigen eines Griechen, welcher
von Griechen im Basrelief des einen Giebels ermordet
wird. Sollte diese Identität wirklich bewiesen werden, so ist
wahrscheinlich Hamdys Annahme richtig, daß dieser Sarko-
phag der des Perdikkas sei. Trotzdem würde ich noch
nicht ganz überzeugt sein, da mir die Stellung des jungen
Mannes mit dein vergoldeten Hute im Mittelpunkte des Fel-
des Bedenken einflößt. Es schien mir, als wenn die Iden-
tität der erwähnten zwei Figuren nicht hinreichend sei, doch
habe ich keinen so sorgfältigen Vergleich zwischen ihnen wie
Hamdy angestellt. Soviel wenigstens scheint sicher, daß der
Sarkophag einem der hervorragendsten Männer angehörte,
der mit Alexander dem Großen gekämpft hatte, und in irgend
einer Weise an dem Morde eines Griechen, vielleicht des
Perdikkas, beteiligt war. Dieser und die andern Sarkophage
desselben Grabes müssen daher dem Schluffe des vierten Jahr-
hnndcrs vor Christus zugeschrieben werden.
Doch wein auch dieser Sarkophag gehört haben möge,
er ist nicht nur eines Generals Alexanders würdig, sondern
Alexanders selbst. Ein gleich ausdrucksvolles Stück von .
Skulptur habe ich nie gesehen. Zuweilen sind Skulptur und
Malerei vereinigt, und manchmal die letztere mir allein ver-
treten, je nachdem man mehr oder weniger Relief geben will.
Die Wirkung ist ungemein realistisch. Die Farben sind
nicht vollständig erhalten, doch genügend, daß man mit tvenig
Einbildung sich das Ganze vollkommen herstellen kann. Ein
andrer merkwürdiger Beweis von Realismus ist der Gebrauch
der Metalle für Pferdegebisse, Lanzen, Schwerter rc. In
gleicher Weise ist Gold zu Schmucksachen angewandt. Ich
habe meine Beschreibung hauptsächlich dem Schlachtbilde ge-
widmet; die Jagdszene ist jedoch fast ebenso interessant,
und sogar besser erhalten. Als man diese Sarkophage fand,
waren sie alle bedeutend beschädigt. Glücklicherweise fand
man die fehlenden Stücke bei den Sarkophagen, sie sind alle
so geschickt zusammengefügt worden, so daß man den wirklichen,
ursprünglichen Sarkophag ziemlich unversehrt vor sich hat'
Die Vandalen, welche sie zerstört hatten, waren gewiß sehr
zahlreich und mit tüchtigen Instrumenten versehen. In An-
betracht der häufigen Plünderungen und der Art der dabei
gebrauchten Werkzeuge vermutet Hamdy, daß sie von römi-
schen Soldaten erbrochen und geplündert wurden. Zum
Schluß will ich wiederholen, daß Hamdy Bey mit den Sar-
32*
252
Vorgeschichtliches aus Reichenhall. — Bücherschau.
kophagen von Sidon einen der größten Kunstschätze der Welt
entdeckt hat, dessen ausführliche Beschreibung von Künstlern
und Archäologen mit Ungeduld erwartet wird.
(The Nation. Januar 1891).
Vorgeschichtliches aus Reichenhall.
Unter dieser Spitzmarke erscheint auf S. 191 dieses
Bandes eine Kritik über die in der Beilage zur Allgemeinen
Zeitung 1891, Nr. 38 veröffentlichten Schürfnngsergebnisse
einer prähistorischen Stätte bei Reichenhall. Da die von
dem Herrn Referenten — Studienlehrer Dr. Mehlis aus
Dürkheim — hierüber gezogenen Schlüsse dem Leserkreise des
Globus unter teilweiser Entstellung der Fundgeschichte unter-
breitet wurden, ist nachfolgende Berichtigung erforderlich.
Die aufgefundene oberste Bodenschicht zu Langacker besteht
ans einem über den ganzen Hügelbau sich hinziehenden
Knochenlager, welches mit unzähligen Geschirrresten durchsetzt
ist; dieser weißgebrannte Knochenschotter bedeckt nun bei seiner
kolossalen Mächtigkeit von 25 bis 120 cm somit eine Fläche
von mehr als 100 Schritten im Umfange und berechnet sich
sein Inhalt ans mindestens 270 Raummeter. Bei dem
Umstande, daß dieses hartgebrannte Knochenmaterial, welches
seine äußere Form nicht verändert hat, zahlreiche Horn-
zapfen, Hnfbeine, Gehörnstücke, Schneide- und Backenzähne
von Pferden, Rindern u. s. w. enthielt, war jede „Verwechse-
lung mit menschlichen Skeletteilen" völlig ausgeschlossen,
eine an Drt und Stelle von Fachleuten wiederholt vorge-
nommene Besichtigung des großen Beinlagers, sowie die nach
München zur Rassenbcstimmnng eingesandten kalcinierten
Knochenteile ließen bezüglich ihrer tierischen Herkunft auch
nicht den geringsten Zweifel aufkommen.
Grobe Ungenauigkeit läßt sich der Herr Studienlehrer in
seiner Kritik bei Angabe der Funde und der sie begleitenden
Umstände zu schulden kommen und mehrfach ist ersichtlich,
daß das „Vorgeschichtliche aus Reichenhall" nicht einmal mit
der erforderlichen Aufmerksamkeit gelesen worden ist. Die
Besprechung der Beilage -zur Allgem. Zeitung erwähnt z. B.
einfach den Fund von zwei Armringen in dem obersten weiß-
gebrannten Knochenlager (et. S. 2, Abs. 5), der Herr
Dr. Mehlis läßt dagegen dieselben „ziemlich tief in der Holz-
kohle" und mit dem weiteren Zusatze „in der Mitte des
Hügels" auftreten. In unsrer Fundgeschichte geschieht von
einer „durch Bronzebeigaben veranlaßten grünen Färbung
der Schädclfragmente und Occipntteile" mit keiner Silbe
Erwähnung; falsch ist ferner die Angabe von „zwei" erhobenen
Fibeln (Kahnfibeln), da unter den Beigaben nur eine frag-
mentierte Fibel (Bügel fehlt, Fuß, Rolle und Nadel sind
erhalten) aufgeführt ist (et. S. 2, Abs. 5). Daß sämt-
liche Bronzefunde mit Ausnahme der Armringe und einer
Gewandnadel bald in der Lehmdecke, bald auf dem Steinban
ällerorts ausgestreut vorgefunden wurden, wäre klar und
deutlich auf S. 2, Abs. 5 zu lesen gewesen, der Herr
Referent dagegen stellt fest, daß die Beigaben in Mitte des
Hügels in einem Steinkranze über menschlichen Leichenteilen
lagen. — Nur bei gänzlicher Außerachtlassung des in ver-
schiedenster Entfernung, Tiefe und Bodenlage zu Tage ge-
tretenen Fundmnterials konnte zu Dürkheim ein Phantasie-
gebilde über eine Leichenbcstattung aus der Hallstattperiode
entstehen, welches in Wirklichkeit zu Langacker niemals vor-
handen sein konnte.
Unter der obersten Bodenlage des Hügels, dem weiß-
gebrannten Knochenlager, welches mit Scherben durchsetzt ist,
die behufs ihrer chronologischen Zuteilung der Bronzezeit
angehören und in auffallender Verwandtschaft mit den kera-
mischen Fabrikaten aus den Pfahlbauten des Starnbergersees
und oberösterrcichischen Sees stehen (cf. S. 2, Abs. 1 der
Beilage z. Allg.), Hallstattgräber zu vermuten, ist ein ar-
chäologischer Schnitzer, welcher „einer besonnenen Forschung"
nicht unterlaufen sollte!
Die ohne Schablone und Voreingenommenheit geführte
Forschung zu Langacker ist vom schönsten Erfolge begleitet
und wird von der kritischen Feder des Herrn Studienlehrers
Dr. Mehlis nicht in Mißkredit gebracht werden können.
Bad Reichenhall, 29. Mürz 1801.
v. Chlingensperg-Berg.
Dücherscha u.
Buk vit. Vreevie, Narortne pripovijesti i presude iz zi-
vota po Bold Kotorskoj, Hercegovini i Crnojgori.
Ragusa 1890, D. Pretncr. (Volkserzählungen und Recht-
sprüche aus dem Leben in der Bocca di Cattaro, im Herzog-
lande lind den Schwarzen Bergen.)
Die Volkserzählungen des 1881 verstorbenen Vuk Ritter
v. Vreevie, österreichischen Konsuls inTrebinje im Herzoglande
sind eine der wichtigsten Quellen für Belehrung über das ser-
bische Volkstum. In den schwer zugänglichen Felsengebirgen
Montenegros, des Herzögischen, der Krivomja und der Bocca di
Cattaro behauptete und entwickelte sich ein eigenartiges Volks-
tum, welches sich im wesentlichen bis in die Neuzeit auf der
epische» Kulturstufe der homerischen Lieder bewegt. Inmitten
dieses Volkes ist Vreevie geboren und erzogen worden und
dort hat er auch seine Tage verbracht. Seine allgemeine Bil-
dung westlicher Art war unbedeutend, er sprach ziemlich fließend
italienisch und etwas deutsch, aber er war ein tüchtiger Beob-
achter und ein unermüdlicher Sammler. Als Gerichtsschreiber
auf Cctinje in Montenegro und als Konsul in Trebinje hatte
er überreiche Muße, die Anregungen zu befolgen, welche ihm
sein Freund Buk Karadzio, der erste und einflußreichste ser-
bische Bolksschriststeller dieses Jahrhunderts, gegeben. Vreevie
sammelte und erzählte unermüdlich, doch sein Leserkreis war
gering. In seinem Nachlasse wurden bedeutende Schriften vor-
gefunden, welche nun allmählich veröffentlicht werden.
Alan kann Vreevie mit keinem unserer modernen deut-
schen Dorfgeschichtenerzähler in eine Reihe stellen. Diese er-
zählen mehr oder weniger für ein gebildetes Publikum und
legen sich das Volk zurecht, wie es ihnen paßt. Das ist Kunst-
schriststellerei. Vreevie aber schreibt bloß nieder, was er aus
dem Munde von Bauern gehört und vernommen. Seine Kunst
liegt darin, daß er unmittelbar die Rede des Bauern wiedcr-
gicbt, ohne sie mit Reflexionen irgendwelcher Art zu bereichern.
Aus diesem Grunde ist das jüngsthin erschienene Buch Vreevies,
auch für den Folkloristen eine Quelle ersten Ranges zu 'nennen.
Daß Vreevie's Verdienste sowohl unter den Südslaven als
auch in Deutschland unter den Ethnographen nach und nach
bie gebührende Würdigung finden, ist nicht zum geringsten
meinen Bemühungen zu verdanken, denn seit acht Jahren schon
weise ich bei jeder Gelegenheit und fast in jeder meiner Arbei-
ten auf Vreevies Leistungen hin. Das soll auch jetzt wieder ge-
schehen, indem ich in Kürze über den vom ethnographischen
Gesichtspunkte bemerkenswerten Inhalt einiger Erzählungen
dieses Buches Bericht erstatten werde.
1. Bruchstücke aus dem Leben in der Bocca di
Cattaro. Zwei dalmatinische Matrosen, Jugendfreunde, be-
gegnen einander nach zwanzjähriger Trennung in Kalifornien
und erzählen einander ihre Schicksale. Sie sind beide im Be-
griff, nach Heim zu reisen. Jeder hat schon genug in der Welt
erworben. Der eine ist verheiratet, der andre ledig. Jija, der
ledige, fragt den verheirateten Ponto: Du hast also geheiratet?
Ist das Weib ruhig oder bellerisch? Darauf Ponto in aller
Gemütsruhe: „Ein Weib, welches nicht bellt, taugt zu nichts.
Eine Hündin, die ihre Hürde, und ein Weib, welches sein Heim
nicht verteidigt, essen umsonst das Brot des Hauses." Das
sind echte Volkssprichwörter, welche das Verhältnis zwischen
Mann und Weib bezeichnen. Von Sprichwörtern wimmelt es
in dem Buche. Einige auf das Weib bezügliche sollen gleich
noch angeführt werden, S. 66: Der Hausvorstand, der sein
Weib nicht durchzuhauen sich getraut, das ist kein Mann. S. 74:
Bücherschau.
253
Ein Weib hat einen Kopf und hundert Zungen. S. 127:
Eine Schlange muß man auf den Kopf, ein Weib aber auf den
Rücken hauen, und dann brauchst du dich vor ihnen nicht
zu fürchten.
II. Eine Mutter als Mörderin ihres Sohnes.
Ein Ereignis, welches sich im Jahre 1750 in Piva zugetragen
fjsli und noch erzählt wird. Die verwitwete Mutter zweier
Dohne hat am Dorfende ein Wirtshäuschen und ernährt sich
schlecht und recht. Der ältere Sohn wird Mohammedaner und
ist dann für sie in der Welt verschollen. Späterhin muß auch
der jüngere Sohn in türkische Dienste treten. Nach 15jährigcr
Abwesenheit kehrt er als sehr reicher Mann heim und als
Fremder bei seiner Mutter ein, ohne sich am ersten Tage er-
kennen zu geben. Nachts schlachtet ihn die Mutter unter Mit-
hilfe ihres Knechtes ab, um ihn zu berauben. Am Morgen
erfährt sie, daß sie ihr eigenes Kind aus der Welt geschasst und
stößt^sich vor Gram ein Messer ins Herz. Die Geschichte ist
als Sage im ganzen Süden wohlbekannt und verbreitet. Im
übrigen ist dieses Motiv auch dem Sagenschatze andrer Völker
nicht fremd 1).
III. Zwei montenegrinische Hochzeiten. Eine
wahre Begebenheit nach der Volksüberliefcrung aus der Mitte
des 17. Jahrhunderts. Unter den Stämmen herrschte bekannt-
lich Exogamic (Frauenraub und Frauenkaus). Der Zufall fügte
es, daß Martin Tomasev und Golub Gjokanov, beide aus dem
Dorfe Bajica und dem Stamme Katuni, um ihre Bräute die
Hochzeitsgeleitschaften gleichzeitig aussandten, Martin um ein Mäd-
chen aus dem Stamme Kovi und dem Hause Batrieevie, Golub um
ein Mädchen aus dem Stamme Euci und der Sippe Pcrovio.
Weder sic noch ihre Eltern kannten die Bräute. Man hatte
letztere durch fernstehende Vermittler deren Angehörigen abge-
kauft. Da und dort kamen die Hochzeitsführer und das Ge-
leite bei Nacht an, übernahmen sogleich die tiefverschleierte Braut
und machten sich auf den Heimweg. Im Gebirge trafen die
zwei Hochzeitszüge zusammen und hielten gemeinsam Nachtrast.
Die zwei Bräute schliefen abgesondert bei einander. Beim
Aufbruch wurden die zwei Bräute zufälligerweise vertauscht,
und so geschah es, daß die Bräutigame mit fremden Mädchen
getraut wurden. Zu erwähnen ist die Episode (S. 26), daß in
den ersten zwei, drei Nächten die zwei Brautführer mit der
Braut schlafen, und in den folgenden Nächten die Schwieger-
mutter, so daß Braut und Bräutigam länger als eine Woche
miteinander in keine Berührung konnncn können. Auf diesen
Brauch wies ich schon in meinem Buche „Sitte und Brauch
der Südslaven" hin „(Wien 1885, S. 454), und ineine Deutung
desselben als eines Uberlebsels vom Hetärismus der Braut-
nacht, fand bei den Ethnographen Anklang. Hervorzuheben ist
jedenfalls, daß dieser Brauch unter den Südslaven nur bei den
montenegrinischen Stämmen nachweisbar ist.
IV. Aus Unverstand in den Tod gerannt. Ein
Ereigniss aus dem Jahre 1820 in der Gemeinde Pobora in der
Boeca di Cattaro. In Montenegro und Süddalmatien ist es
Brauch, wenn der Bienenstand in einem Hause nicht gedeiht,
und der Bauer einen neuen Bienenstand einführen will, daß
der Hausvorstand als Stock drei Bienenkörbe samt Brut neu
einwirtschaften muß, und zwar kaust er einen, den andern läßt
er sich schenken und den dritten stiehlt er irgendwo. Der Bauer
Rade machte es auch so, wurde aber beim nächtlichen Diebstahl
von: Eigentümer des Bienenstandes erschossen. Der Fall kam,
um die Blutrache zu verhüten, vor das bäuerliche Friedcns-
gcricht, welches sich aus 24 älteren Hausvorständcn zusammen-
setzte. Der Sohn des Getöteten wollte durchaus den Mörder
töten, Loch die Friedensrichter füllten ein andres Urteil: der
Sohn des Getöteten habe am Liebfrauentag im Hause des
Mörders zu erscheinen und mit ihm drei „feuchte" Gevatter-
schaften (mokra kumstva, das sind Taufgevatterschaften) und
drei Wahlbruderschaften (tvi pobratimstva) einzugehen unter
üblicher gegenseitiger Bcschcnkung.
V. Schätze graben. Ein Fall aus dem Herzoglande
aus neuerer Zeit. In zwei alten Kirchcnruincn wurde nach-
gegraben, aber nichts gefunden. De» Ort, wo Schätze ver-
graben liegen, erfährt man entweder im Traume, oder ein
schwarzes Öchslein bleibt an einer solchen Schatzstelle stehen,
scharrt daselbst mit den Hörnern den Boden auf und stößt
dabei ein unablässiges Gebrülle aus, oder die Gcbirgsgcister
(planinslri dzini) halten über dem vergrabenen Schatze beim
dritten Hahnenkrähen ihre Versammlung ab. Einer erzählt:
„Meinem Vater träumte von einer Stelle, wo ein vergrabener i)
i) Vcrgl. das bekannte Volkslied ans dem Huy (bei Halber-
stadt): „Es waren einmal zwei Bauernsöhne, die hatten Lust,
in Krieg zu ziehen."
Schatz liege, und er machte sich vor Tagesanbruch mit seinem
Bruder und zwei andern Verwandten auf den Weg. Sie
nahmen einen im Monat März ausgebrüteten, schwarzen ma-
kellosen Hahn und einen schwarzen, fleckenlosen Schafbock mit.
Man halte fest vereinbart, kein Wörtchen zu sprechen, Als sie
auf den bezeichneten Ort kamen, schlachtete mein seliger Vater
den einjährigen Schafbock, machte einen blutigen Umkreis dort,
wo mau zu graben hatte, und dann ging cs noch vor Sonnen-
aufgang an die Arbeit. In der Tiefe von einer Elle stießen
sie auf eine behauene Steinplatte auf. Da schlachtete nun
mein seliger Vlcker über jener Platte den Märzhahn und rötete
mit Blut den Dtein. Leider brach mein Oheim vorzeitig das
Schweigen. AIs sic hernach die Platte aufgehoben, fand man
darunter ein steinernes Gefäß voll Kohlen, statt des Schatzes".
(Im Volke herrscht der Glaube, ein schwarzer Märzhahn sei in
jeder Hinsicht ein Glück für das Haus, denn er sei geistersichtig
(s.jenovit) und verstehe sich auf hunderterlei Künste, ja, wo ein
solcher Hahn sei,., dort vermögen böse Seelen oder Geister dem
Hause gar kein Übel zuzufügen.) Gut ist es ferner, wenn der
Schatzgräber in seiner Schultertasche bei sich etwas Merrcttig,
drei Schwarzdornreiser und eine Wachskerze hat. Manche
Schatzgräber nehmen als Opfer einen schwarzfarbigen Hengst
und einen schwarzen Widder mit, der aber drei Hörner
haben muß. Über solche Opfer vergl. mein Buch „Volksglaube
und religiöser Brauch der Südslaven", Münster i. W., 1890,
S. 148 bis 170.
VI. „Die Heldenthat eines Weibes." Aus dem
Jahre 1820. Der Grundherr Bey Mula Jusuf, ein serbischer
Mohammedaner aus Trcbinje, besuchte in Grahovo seine Grund-
bauern, um die ihm zustehenden Gebühren in Naturalien ein-
zuheben. Bei der Gelegenheit wollte er nebenbei auch der
jungen Frau des Hofbauern froh werden. In der Hitze der
Abwehr schlitzte ihm das Weib mit einem Rasirmesser den
Bauch auf. Vrecvio stellt diesen ziemlich vereinzelten Fall als
einen Beweis für die Keuschheit der Bäuerin dar. Nicht ganz
mit Recht. In der Regel ist die ledige und ganz gewöhnlich
die verheiratete südslavische Bäuerin mit ihrer Gunstbezeugung
nicht knauserig. Im Savelande z.B. ist so gut wie jede Bäuerin
für einen äußerst bescheidenen Preis bereit, dem erstbesten sich
hinzugeben. Die Auffassung über den Wert der Keuschheit ist
aber doch in den verschiedenen Gegenden des Südens eine ver-
schiedene. Dafür bietet uns das vorliegende Buch mehrere
treffende Beispiele. Hier drängen sich zwei einheimische Mädchen
zugleich einem wildfremden, andersgläubigen Manne auf, dort
wieder wird ein einheimischer Bursche samt seiner Braut vom
Volke gesteinigt, weil sie vor der Trauung von den Freuden
der Liebe genossen. Beide Fälle sind aus ein und derselben
Gegend! Jene zwei Mädchen gingen dagegen straflos aus!
Die vierzehnte Erzählung hat Vrsievio als Augen-
zeuge miterlebt. Es war im Jahre 1653. Zwei junge Männer,
Geschwisterkinder, die in Eintracht miteinander, aufgewachsen,
gerieten in tätliche Feindschaft. Der Anlaß war nicht unbedeu-
tend. Zufällig erblickten beide zu gleicher Zeit einen unbewaff-
neten Türken und rannten mit blankem Schwerte auf ihn zu,
um ihm den Kopf abzuhauen. Ter eine packte ihn rückwärts
beim Zopf, der andre bei der Kehle an, jeder wollte aber den
Kopf für sich haben. Sie kamen darüber in Streit, bis sic ein-
ander verwundeten und bis ein dritter Montenegriner für sich
dem Türken den Kopf abschlug und frohlockend heimeilte. Der
älteste der Phratrie (brastvo) und die Sippenhäupter bemühten
sich vergebens, die zwei Blutsverwandten zu versöhnen. Endlich
brachten es die Väter der zwei Jünglinge so weit, daß sich die
Streitenden dazu verstanden, ihren Fall dem Fürsten auf Eetinje
vvrzutragen, damit er ein gerechtes Urteil fälle. Der Fürst
und die Senatoren samt Breevia dem Schreiber, waren in
großer Verlegenheit, wie man da Recht sprechen solle, denn beide
Jünglinge hatten doch gleichen Anspruch auf den Kopf .des
Türken gehabt. Um der Geschichte ein Ende zu bereiten, wurde
das Urteil Gott überlassen, d. h. man genehmigte einen Zwei-
kampf auf Jatagnne vor den Richtern, Entfernung sechs Schritte.
Vor dem Kampfe erfolgte zuerst eine rührende Versöhnung,
dann rief der eine: clrz mi se (halt dich mir), der andre: drzim
ti se! und sie stürmten mit den Jataganen auf einander los.
Stanko durchhieb dem Iotas die linke Achsel und Iotas dem
Stanko drei Rippen auf der rechten Brustseitc. Nun waren
beide kampfunfähig. Gott hatte gerecht geurteilt. Stanko konnte
schon nach 15 Tagen wieder heimwärts ziehen, Iotas aber erst
nach zwei Monaten.
Das Buch enthält 35 Erzählungen. Ans den dürftigen
Skizzen, welche ich eben mitgeteilt, mag man auf den reichen
Inhalt schließen. Es würde sich wohl verlohnen, dieses Buch
vom Anfang bis zum Ende ins Deutsche zu übersetzen.
Dr. Fr. S. Krauß.
254
Büchersch au.
I. Büttikofer, Reisebilder aus Liberia. Resultate geo-
graphischer, naturwissenschaftlicher u. ethnographischer Unter-
suchungen. Mit Karte und Abbildungen. II. Band. Leiden,
E. I. Brill, 1890.
Büttikofcr behandelt in diesem zweiten Bande seines
klassischen Werkes die Bewohner und die Tierwelt Liberias.
Mit großer Objektivität und doch mit vielem Wohlwollen steht
er dem merkwürdigen Negersrcistaate gegenüber, welcher schon
vor 40 Jahren von Karl Ritter in einer Monographie behan-
delt und mit Hoffnungen begrüßt wurde, die leider nur zum >
allergeringsten Teile zur Wahrheit geworden sind. Der Ein- I
fluß der Liberianer auf die Eingeborenen ist ausgeblieben, sie
selbst erhalten sich nur unter amerikanischem, fortdauerndem Ein-
flüsse auf dem Standpunkte der aus der neuen Welt mit her-
übergebrachten Kultur, und von Fortschritten ist kaum die
Rede. Das Gesamtbild, das wir aus Büttikofers mit viel
Anerkennung geschriebenem Werke erhalten, ist kein günstiges.
Es kommt hierbei darauf an, ob man unfern Maßstab der
Zivilisation anlegt und glaubt und verlangt, daß der Neger sich
bis zu unsrer Höhe emporschwingen kann. Für solche, die
dieser Ansicht sind, muß allerdings das Studium des Werkes
ernüchternd wirken. Wer aber glaubt, daß der Neger wohl
entwickelungsfähig fei, nur in andrer Weise als wir, der seine
Zukunft nicht darin sieht, ihn auf den Standpunkt unsrer
Kultur erhoben zu sehen, wird viele Bestätigungen für seine
Meinung finden.
Als Staatswescn, finanziell so gut wie bankerott, steht
Liberia, trotz redlicher Arbeit einiger tüchtiger Präsidenten, sehr
niedrig da. Es existirt eigentlich nur in einigen Städten mit
zusammen 20 000 zivilisierten Negern (S. 78). Eine Volks-
zählung ist nie vorgenommen worden. Aber man hat zahl-
reiche Nachbargebiete angegliedert und deren Bewohner, wie es
in einem liberianischen Berichte heißt, „teilweise zivilisiert.
Diese Thatsache ist eines der denkwürdigsten Ereignisse des
19 Jahrhunderts". Daß aber die eigentlichen Eingeborenen
noch auf der urwüchsigsten Stufe stehen, erkennen wir durch
Büttikofcr. Die „Thatsache" ist einfach nicht vorhanden und
nur der maßlose Dünkel an jenem Berichte ist von Belang,
aber kennzeichnend für den Liberianer. Gewalt vor Recht er-
gehen lassend, haben in Grenzstreitigkeitcn die Engländer den
Liberianern manches Unrecht zugefügt. Von Widerstand konnte
nicht die Rede sein und die auswärtigen Beziehungen sind, so-
bald ein Streit entsteht, immer wenig ehrenvoll für Liberia
gewesen. Als die deutsche Korvette „Victoria" für Plünderung
eines deutschen Schisses 1881 von der Hauptstadt Monrovia
Schadenersatz verlangte, konnte die Summe von nur 4500 Dollars
nicht von dein Staate aufgebracht, sondern mußte erst bei den
fremden Handelshäusern in der Stadt geborgt werden. Auf die
unterworfenen Eingeborenen ist die eingewanderte amerikanische
Negerbevölkerung so gut wie ohne Einfluß geblieben, auch ist
die Regierung zu schwach, um ihr Ansehen aufrecht zu erhalten
(S. 81 bis 84).
Die Armee mit einem Brigadcgeneral au der Spitze ist
eine Karikatur. Auf der Parade spazieren die Truppen mit
Sonnenschirmen und Damen am Arm. „Dcu Offizieren wird
bald der Mut vergehen, sich eine passende Uniform anzuschaffen",
schreibt ein Liberianer. Büttikofcr hatte für diese Armee, „deren
Dienste nicht verlangt werden", ein mitleidiges Lächeln. Be-
waffnet ist sie mit Vorladern, „wer aber einen Snider- oder
Winchester-Riste besitzt, bringt diesen, mit". Das Schlimmste
sind die Finanzen, die Anleihen, das Übersteigen der Ausgaben
gegenüber den Einnahmen, das fortwährende Rechnen auf Hilfe
von außen (Amerika).
Die Hauptrolle in Liberia spielt der Handel und dieser
ruht ganz in den Händen von drei Firmen, einer deutschen
(Wörmann), einer holländischen und einer amerikanischen. Was
muß man dazu sagen, wenn man hört, daß das reiche, ent-
wickelungsfähige, für den Anbau von Kolonial- und Nahrungs-
pflanzen ungewöhnlich geeignete Land seine Lebensmittel
(namentlich Reis) aus den: Auslande bezieht! Dazu Mehl,
Erbsen, Fleisch, Gemüse u. s. w. Ebenso den Tabak. Außer
den gewöhnlichen Handwerkern, unter denen mit Stolz'ein Uhr-
macher erwähnt wird, ist nichts, was au Industrie erinnert.
Bretter schneidet man mit der Handsäge. Würde der Ackerbau
ordentlich betrieben, so läge alles anders, dann wären reiche
Hilfsquellen vorhanden. Aber wie jammervoll ist cs damit be-
stellt, selbst mit „Sklaven eingeborener Häuptlinge" arbeitet
hier und da der Liberianer. Fortschritt ist nicht vorhanden, trotz
einiger Ausnahmen, die Büttikofcr immer gern ^irt allen Füllen
hervorhebt und anerkennt. Im allgemeinen fehlt Sinn für Spar-
samkeit und Blick in die Zukunft, zwei mit der Negerrasse eng
verknüpfte Eigenschaften. Viehzucht ist kaum vorhanden, frisches
Fleisch in Liberia selten zu haben; abgesehen von Hühnern.
Die Liberianer sind europäisch gekleidet und die „gesell-
schaftlichen Formen werden mit angeborenem Takte beobachtet".
Sie sind angenehm und freundlich, haben ein reges Vereins-
lebcn, das sich auch ganz naturgemäß bei ihnen entwickeln
mußte, da ja Orden, Verbindungen, Geheimbünde u. s. w. schon
bei den urwüchsigsten Westafrikanern eine Rolle von jeher spiel-
ten. Daher auch die Vorliebe für das Frcimaurertum. Die
protestantische Kirche herrscht, ist aber in viele Sekten getrennt.
Die Amerikaner sorgen für Aufrechterhaltung der Kirche; sie
bauen die Gotteshäuser und besolden die Prediger. Was ohne
diese Thätigkeit stattfände, läßt sich wohl ahnen. Die religiöse
Schwärmerei der Liberianer ist groß, anerkennenswert aber ihre
Duldsamkeit gegen Andersgläubige. Revivals mit Verzückungen
sind an der Tagesordnung und beliebige Bürger oder Hand-
werker wirken dabei als zerschmetternde Sittenprediger. „Das
Wenige, was in bezug auf den Unterricht gethan wird, ver-
dient Anerkennung." Einzelne gebildete Leute hat cs immer
in Liberia gegeben, aber „wenig besonders hervorragende Dichter
und Denker". Gewiß wird man diese kaunr verlangen können.
„Der Liberianer hat sich unstreitig zu früh emanzipirt", lautet
Büttikofers Schlußurteil. „Die große Masse aber ist blind und
taub für die Fragen der Zukunft."
Ethnographisch von hohem Werte sind Büttikofers Schilde-
rungen der eigentlichen Eingeborenen, der Vai, Golah, Pcssy,
Bassa, Kru u. s. w., die Mitteilungen über deren Sprachen mit
Vokabularien; endlich der zoologische Teil. R. And ree.
Alb. Herrn. Post, Über die Aufgaben einer allge-
meinen Rechtswissenschaft. Oldenburg und Leipzig,
Schulzesche Hofbuchhandlung, 1891, S. 214.
Den zahlreichen ethnologisch-rechtswissenschastlichen Ar-
beiten des Verfassers, die ihm bei allen Kennern der Sache
ungeteilten und wohlverdienten Beifall eintrugen, die das hohe
Verdienst haben, neue Bahnen für die Rechtswissenschaft er-
öffnet zu haben, setzt dieses Werk die Krone auf, indem cs die
ganzen Ergebnisse seiner langjährigen Studien zusammenfaßt und
uns zeigt, was denn eine allgemeineRechtswissenschast auf völker-
kundlicher Grundlage aufgebaut eigentlich ist und wie unend-
lich höher und weiter ihre Gesichtspunkte sind, als die bisherige in
beschränkten Grenzen sich bewegende Juristerei. So wie die Sprach-
wissenschaft eine ganz andre geworden, seit sie durch Bopp in
die Welt hinaustrat und eine vergleichende, allgemeine wurde,
seit der bloß klassischen Philologie der kleinere, ihr gebührende
Raunl zugewiesen wurde, so wird es nun auch, dank Post und
andern gleichgesinnten Gelehrten, auf den: Gebiete des Rechts
werden. Der rechtswissenschaftliche Teil der Ethnologie steht
im Begriffe, uns allgemeine für die ganze Menschheit gül-
tige soziale Gesetze zu erschließen. Da liegen höhere Aufgaben
vor, denen sich die Rechtsgelehrten widmen können, als das
Wiederkäuen von Pnndektenstellen.
Post giebt uns in diesem klar und schön geschriebenen,„von
echter wissenschaftlicher Begeisterung getragenen Buche eine Über-
sicht des Rechtslebens der ganzen Menschheit und die Ergrün-
dung ihrer Ursachen, soweit dieses nach dem bisher vorliegen-
den, schon sehr umfangreichen Stoffe möglich ist. Die Äußerungen
des individuellen Rechtsbewußtseins und die Gesamtheit der
Rechtsgebräuche werden erörtert. Ein Jdcalrccht giebt cs nicht
und läßt sich nicht ausbauen. „Das einzige Beständige im Recht
der Völker ist, daß dasselbe die Grenze des Jndividualwillens
gegen den Kollekturwillen eines konkreten sozialen Organismus
darstellt." Das Jdcalrccht der Naturphilosopheu stellt nichts
andres dar, als das Naturrecht der geschichtlichen Entwickelungs-
stufe, auf welcher es sich befindet.
Die Untersuchung des Rechts als eines sozialen Lebens-
gebietes, mit andern Worten die Untersuchung der Nechts-
gebräuche, welche bei den vcrschiedeucu Völkern der Erde vor-
kommen, ist die Ausgabe des vorliegenden Werkes. Danach
handelt Post von den Quellen der allgemeinen Rechtswissen-
schaft und deren Bearbeitung; er giebt eine Übersicht der wich-
tigsten Parallelerscheinungen ine Nechtsleben der Völker und
stellt die verschiedenen Rechtsgebicte der Erde und ihre Bearbei-
tung zusammen. Hier ist es nun zu bewundern, wie der Ver-
fasser, ein vielbeschäftigter Richter in Bremen, es vermocht hat,
den geradezu ungeheuren Stoff zusammenzutragen und zu be-
wältigen. Nicht nur die geschriebenen und durchgearbeiteten
Rechte Europas, was Asien, die Südsec, Amerika und Afrika
bieten, ist hier nach Hunderten, ja Tausenden von Quellen
mühsam zusammengetragen, ein herrliches Zeugnis deutschen
Fleißes. Das ethnologische Material ist hier in der reichlichsten
Weise ausgenutzt, entgegen dcu auf bodenloser Unkenntnis
beruhenden verzopften Anschauungen vieler Juristen, daß
dasselbe wertlos sei. Gerade das, was die Rechtsverhältnisse
der Naturvölker uns bieten, enthält die Keimbildungen des
Aus allen Erdteilen
255
Rechtslebens und damit den sichersten Schlüssel sur die Ent-
wickelungsgeschichte der Kulturrechte. Was vor letzteren liegt,
die Anfänge, kennt ein bloß im römischen Recht geschulter
•O'UiiJi — mu|;.
Diesen Fachleuten ist es ganz unbekannt, welch großer, all-
gemein menschlicher Bestand in den Ncchtsinstituten und Rechts-
normen der Böller der Erde vorliegt, die allerdings »och teil-
weise besser, als bisher möglich war, gesammelt werden müssen.
Aber die bereits gesichteten Parallelen der ethnologischen Juris-
prudenz ergaben schon bestimmte Grundzüge: Es giebt be-
stimmte Rechtsinstitute, welche sich so sehr bei vielen Völkern
wiederholen, daß man sie als ein Gemeingut der Menschheit
betrachten darf. In ihnen wird man das allgemein Menschliche
im Recht erblicken; sic bilden den Stamm, an welchem sich das
ganze Blätter- und Blütenwerk eines konkreten Rechtsgcbietes
entwickelt. Sie sind das Naturnotwendige im Rechtsleben, das-
jenige was in organischen Individuen das Skelett ist. Andre
Rechtsinstitute dagegen finden sich nur sporadisch, sporadisch
aber wieder bei ganz stammfreniden Völkern. Andre wieder
sind beschränkt aus bestimmte Völkergruppen, welche sie nicht
überschreiten, andre erstrecken sich nur aus ein einzelnes Volk,
andre nur auf einzelne Stämme. Gerade die von Post ge-
gebene Übersicht der wichtigsten Parallelerscheinungen im Rechts-
leben der Völker (Geschlechtsverfassung, territorialgenossenschaft-
liche Verfassung, herrschaftliche Organisation, gesellschaftliche
Organisation, die Parallelen im Verf'assungs-, Personen-, Fami-
lienrecht u. s. w.) bilden die wichtigste und jeden Vorurteils-
freien überzeugende Grundlage für den Ausbau der all ge-
rne tuen Rechtswissenschaft, die hier in ihren Anfängen von
Post dargestellt wurde.
Aus allen
Erdteilen.
— Die Bevölkerung Deutschlands. Der „Reichs-
anzeiger" veröffentlicht das vorläufige Ergebnis der Volks-
zählung vom 1. Dez. 1890 im Deutschen Reich. Daraus
ergiebt sich, daß Deutschland seit 1885 einen Bevölkerungs-
zuwachs von 2 665138 Seelen erfahren hat, was einer Zu-
nahme von 5,7 Proz. gleichkommt. Außerdem ist noch die
Einwohnerzahl von Helgoland mit 2086 Köpfen hinzuzu-
rechnen. Im Einzelnen stellt sich das Ergebnis der Volks-
zählung wie folgt:
Ortsanwesende
Staaten
1. Königreich \ ohne Helgoland .
Preußen j mit „ ...
2. Königreich Bayern..............
3. „ Sachsen...............
4. „ Württemberg . . . .
5. Baden . .......................
6. Elsaß-Lothringen...............
7. Hessen.........................
8. Hamburg........................
9. Mecklenburg-Schwerin...........
10. Braunschweig..................
11. Oldenburg.....................
12. Sachsen-Weimar................
13. Anhalt........................
14. Sachsen-Meiningen.............
15. Sachsen-Koburg-Gotha..........
16. Bremen........................
17. Sachsen-Altenburg.............
18. Lippe.........................
19. Reuß jüngerer Linie...........
20. Mecklenburg-Strelitz..........
21. Schwarzburg-Rudolstadt . . . .
22. Lübeck........................
23. Schwarzburg-Sondershausen . .
24. Reuß älterer Linie............
25. Waldeck.......................
26. Schaumburg-Lippe..........
D-ui,ch-s Reich s
Bevölkerung
am 1. Dezember
1890 1885
29 957 302 28 318 470
29 959 388 —
5 589 382 5 420 199
3 500 513 3 182 003
2 035 443 1 995 185
1 656 817 1 601 255
1 603 987 1 564 355
994 614 956 611
624 199 518 620
578 565 575 152
403 029 372 452
355 000 341 525
325 824 313 946
271 759 248 166
223 920 214 884
206 329 198 829
180 309 165 628
170 867 161 460
128 414 123 212
119 555 110 598
97 978 98 371
85 838 83 836
76 459 67 658
75 514 73 606
62 759 55 904
57 283 56 575
39 183 37 204
49 420 842 46 855 704
49 422 928 —
— Über den Warenverkehr Deutschlands mit
seinen Kolonieen enthält der neueste Band der „Statistik
des Deutschen Reiches" folgende Mitteilungen: Die Einfuhr
in den freien Verkehr betrug (1889): aus den deutschen
Schutzgebieten in Westafrika (Kamerun, Togo, südwestafri-
kanisches Schutzgebiet) 4 363 000 Mk., aus den deutschen
Schutzgebieten in Ostafrika (das Witu-Gebiet ist noch mit
eingerechnet) 256 000 Mk., aus den deutschen Schutzgebieten
der Südsee (Kaiser Wilhelms-Land, Bismarck Archipel, der
deutsche Anteil der Salomons-Jnsel und die Marschall-Jnseln)
10 000 Mk., zusammen 4 629 000 Mk. Die Ausfuhr
aus dem freien Verkehr betrug: nach den deutschen Schutz
gebieten in Westafrika 4165 000 Alk., nach den deutschen
Schutzgebieten in Ostafrika 311 000 Mk., nach den deut-
schen Schutzgebieten der Siidsee 509 000 Mk., zusammen
4 985 000 Mk. Die Ein- und Ausfuhr zusammengeuommen
betrug 9 614 000 Mk. Hierbei ist der Veredelungs- und
Durchfuhrverkehr nicht mit in Betracht gezogen. Selbstver-
ständlich sind auch diejenigen Waren nicht berücksichtigt,
welche nach Einlagerung in andern Ländern von den Schutz-
gebieten hieher, bezw. von Deutschland nach den Schutz-
gebieten gelangt sind. Das genaueste Bild des Verkehrs
mit dem Mntterlande ergiebt daher die Statistik für die-
jenigen Schutzgebiete, welche in direkter Schiffsverbindung
mit Deutschland stehen, wie dies bei Togo und Kamerun
der Fall ist. Die wichtigsten mit den Schutzgebieten aus-
getauschten Waren waren bei der Einfuhr von Dentsch-
Westafrika: Palmkerne, Kopra, Bntterbohnen im Werte von
2 138 000 Mk., Kautschuk für 1 450 000 Mk., Palm- und
Kokosnußöl für 249 000 Mk.; bei der Ausfuhr nach
Westafrika: Schießpulver für 1 020 000 Mk., grobe
Eisenwaren für 300 000 Mk., Branntwein 6067 kg für
455 000 Mk. Bei der Einfuhr von Deutsch-Ostafrika
spielten Elfenbein und Kaffee, bei der Ausfuhr dorthin
Steinkohlen eine Hauptrolle.
— Die englisch-italienische Einflußlinie in Ost-
afrika ist zwischen den Vertretern beider Mächte am 24. März
in Rom festgestellt worden. Dieselbe steigt im Thale des
nahe dem Äquator mündenden Jubastromcs aufwärts bis
6" nördl. Br., wendet sich von hier nach Westen bis 35« östl. L.
und entlang diesem Grade zum Blauen Nil. Damit fällt ganz
Abessinien mit seinen südlichen Vorlanden (Kaffa u. s. w.)
den Italienern zu. — Viel schwieriger als diese Greuzfrage
werden jene im Osten und Nordosten der italienischen Be-
sitzungen zu lösen sein. Im Osten handelt es sich um die
Abgrenzung gegen französische und britische Gebiete am
Golfe von Aden; im Nordwesten um die Landschaften von
Kassala und Taka, die vor der mahdistischen Revolution unter-
ägyptischer Oberhoheit standen.
— Die topographische Gestaltnng des Genfer
Sees ist von Delebecque näher untersucht worden. Durch
die Barre von Nernier oder Promenthonx, welcher oberfläch-
lich die Einschnürung im westlichen Teile des Sees ent-
spricht, wird derselbe in den großen und kleinen See zerlegt-
der erstere mit einer größten Tiefe von 310 m bildet ein
weitausgedehntes', fast ebenes Becken, dessen Niveauunterschiede
beispielsweise über einem Areal von 46 qkm die Höhe von
5 m nicht übersteigen. Die Neigung der Beckenränder ist recht
verschieden znm Teil nur 1° bis 2» in der Bucht von Rolle
und Chondrtze, 56° dagegen am Fuße des Schlosses Chillon.
I Das Areal des kleinen wees besteht aus 4 bis 76 m tiefen
256
Aus allen Erdteilen.
Kesseln, die durch abgeplattete Barren getrennt werden.
Bcllerive gegenüber erhebt sich eine unterirdische Kuppe bis
8 na unter dem Seespiegel. Im großen See wird die flache,
horizontale Beschaffenheit des Grundes durch eine in die
Verlängerung des Rhonbettes fallende Rinne unterbrochen;
das abgelagerte Material ist ein überaus feiner Schlamm;
an den Gehangen grobe Trümmermasse. (Nach einem Be-
richte von Schräder in Tour du Monde.) 8.
— Erforschung des Mar Chiquita (Argentinien).
Der Ingenieur Georg B. v. Grnmbkow machte im Februar
1890 eine Expedition naä) diesem in der Provinz Cordoba
der Argentinischen Republik belegenen großen See. Er be-
richtet darüber (in Holet, del Inst. Geogr. Argent., T. XI,
cuad. 4 bis 6) folgendes. Das „kleine Meer" ist von
Norden nach Süden an der schmälsten Stelle, zwischen der
Bahia de Toscas und einer andern namenlosen Bai (an
der Nordküste), 50 Irin breit und von Westen nach Osten
81 km lang. Es enthält über 15 ziemlich große Inseln,
die dicht mit „Quebracho Colorado“ (= Quebracliia Lo-'
rentzii Gr.) und „Pino" (jedenfalls eine Podoca.rpus = 2ii't)
bewachsen sind und von denen sich einige 7 m bis 8 m über
die Oberfläche des Wassers erheben. Die Tiefe des Meeres
beträgt durchschnittlich 34 m, der Boden besteht ans hartem
oder grobem Saude. An der Nordküste und in einigen
Baien (wie in denen des Rio Primero und R. Segundo)
ist die Tiefe 30 bis 50 cm. Heftige Stürme erzeugen
auf dieser Wasserfläche Wellen von 1,5 bis 1,75 in Höhe.
Das Wasser enthält 6 Proz. fast reinen Kochsalzes. Die
zahlreichen Wasservögel lassen die Fische in diesem Meere
nicht zur vollen Entwickelung kommen. — Der Boden des
Ufers ist sehr humusreich; die ganze Küste, mit Ausnahme
der nordöstlichen und östlichen, ist mit Wäldern von Que-
bracho Colorado und Algarrobo (Prosopis-Arten) bedeckt.
Die Fläche des „Mar chiquita" liegt 82 m über dem Niveau
des Ozeans. II. P.
— Eine russische Expedition unter Leutnant
Maschkow nach Abessinien ist Mitte April aufgebrochen.
Sie begab sich unmittelbar nach Antogo, der Hauptstadt des
Königs Menilck, von wo aus Reisen nach verschiedenen Rich-
tungen zum Zwecke botanischer, zoologischer und geologischer
Forschungen unternommen werden. Die Dauer der Expe-
dition ist auf drei Jahre berechnet; die Rückkehr soll wo-
möglich durch die Gallaländer im Süden erfolgen. Leut-
nant Maschkow ist 33 Jahre alt und stammt aus dem Kau-
kasus. Unter seinen Begleitern befindet sich auch der Mönch
Tichon, welcher ursprünglich Arzt war.
— Auf der malayischen Halbinsel wird eine Eisen-
bahn von Singora an der Ostküste nach Saibnri und von
da nach Kulen im Zinngebiete der Provinz Kedah gebaut.
Sie liegt auf siamesischem Gebiete. Unternehmer ist ein
Engländer aus Singapur.
— Die zentralasiatische Reise der Gebrüder
Grum-Grschimailo 1889/90. Die im Juni 1889 be-
gonnene und mit dem Schlüsse des vorigen Jahres vollendete
große Reise der Gebrüder Grum-Grschimailo, welche die-
selben von Kuldscha an der sibirischen Grenze bis zum
Hoangho im Innern Chinas und von da wieder zurückführte,
ist eine für die Wissenschaft äußerst ergebnisreiche gewesen,
da sic namentlich in geographischer und zoologischer Bezie-
hung viel Aufklärung über bisher unerforschte Gebiete brachte.
Der ältere, Gregor, ist znm fünften Male als Naturforscher
gereist; er war diesmal von seinem Bruder Michel, einem
russischen Gardcoffizier, begleitet. Nach einem Berichte von
E. Blanc ans Taschkent (Gompte rendu soc. geogr. 1891,
p. 104) Haben die Gebrüder über 1200 Vögel, über 300
Säugetiere, 70 Fische, 150 Reptilien und Amphibien, 1000
mineralogische Handstücke und 500 Pflanzen mitgebracht.
Sie haben im Norden von Gntschcn in der Dsungarei (44"
n. Br., 90" öst. L.) echte wilde Pferde gejagt lind nördlich
vom Lobsee echte wilde Kamele. Die Länge ihrer Reise
auf chinesischem Gebiete betrug 8000 Werst, davon entfielen
6000 auf unerforschte Gegenden. 35 astronomische Orts-
bestimmungen wurden gemacht. Das neu erforschte Gebiet
liegt östlich von dem bisher bekannten. Als besonders wich-
tig ist hervorzuheben: Das Nichtvorhandensein einer bisher
angenommenen Wüste südlich von der Stadt Chami. Man
kommt südlich von derselben zunächst ans die 3000 m hohen
Taguetaberge, von denen bis znm Lobsee sich eine knltivier-
bare Steppe ausdehnt. Die große chinesische Kaiserstraße
von Kuldscha nach Sutschcu und Peking verläuft ganz
anders als bisher angegeben wurde. Verschiedene Seen, die
bisher ans den Karten standen, sind nicht vorhanden, so jener
im Norden von Anst. Das Merkwürdigste ist die Fest-
stellung einer Depression im Süden Lnktschus gegen
Dsga zu im Lande der Uiguren, also südlich von dem be-
kannten Turfan. Die Ruinen von alten Städten im Ui-
gnrcnlande wurden besucht.
— Vergleichende Studien über Mayaaltertümer
hat Dr. Schellhas im Internationalen Archiv für Ethno-
graphie III, 209 veröffentlicht. Die architektonischen Über-
reste, die vorhandenen Handschriften und die Sammlungen
(namentlich jene im Berliner Museum für Völkerkunde) sind
da verglichen. Reicher Gewinn wird durch die sorgfältige,
mit vielen Figuren versehene Arbeit erzielt und wir erhalten
Gewißheit über die physischen Merkmale, die Tättowiernng,
die Kleidung, die Schuhe, die Halsketten, den Ohrschmnck,
den phantastischen Kopfschmuck, die Gefäße und Fächer der
Mayas von Aukatan. Ein einheitlicher Typus fehlt unter
den Mayaaltertümern, Handschriften, Reliefs der Bauten
und die Thonsignreu bilden drei verschiedene Gruppen, die
allerdings in einzelnen Punkten übereinstimmen. Die Bauten
zeigen mexikanischen Einfluß, die Kodices und Thonfignren
weisen mehr nach Süden, nach Paleuqne und Copan. Hier
lag das eigentliche Zentrum der mittelamerikanischen Kultur,
die bei den Maya die höchste Blüte erreichte und reichere,
zierlichere, aber auch realistischere Kunsterzeugnisse hervor-
brachte, als Mexiko mit starren, eckigen, konventionellen Typen.
Die Blüte der alten mittelamerikanischen Kultur war aber
schon vor Ankunft der Spanier vorüber.
— In den Comptes rend. vom 22. Dez. 1890 macht
Duregne Mitteilungen über das Vorkommen wahrschein-
lich diluvialer Düneubildnngen in den Grandes
Landes zwischen Gironde und Adonr. Von den
recenten Dünen dieses Gebietes unterscheiden sich die alten
Dünen schon durch beträchtlichere Höhe, welche 75 in erreicht,
vor allem aber durch die Streichrichtung, West-Süd-West gen
Ost-Nord-Ost, welche nahezu rechtwinkelig zur Längserstreckung
der recenten Dünen gerichtet ist. Die alten Dünen sind
mit einer dichten, mannigfaltigen Waldvcgetation bedeckt
(Kiefer, Eiche, Erdbeerbanm, Stechpalme, Farne u. s. w.).
Diese dürfte eine uralte und von den ältesten Bewohnern
schon vorgefundene sein. Denn es finden sich im Bereiche
dieser Dünenwaldnngen Stein Werkzeuge. Bezeichnender-
weise führen die alten Dünenzüge den Namen montagne,
so montagne de Lacanau, d’Arcaclion, de la Teste de
Buch, de Biscarrosse, de St. Girons u. s. w. 8.
Herausgeber: Dr. R. Andrer in Heidelberg, Leopoldstraße 27. Druck von Friedrich Vieweg und Sohn in Brannschweig.
Hierzu zwei Beilage«: Allgemeiner Verein für Deutsche Litteratur in Berlin und Robert Oppenheim in Berlin.
Bd. LIX.
Nr. 17.
Brauns ch weig.
Jährlich 2 Bünde in 24 Nummern. Durch alle Buchhandlungen und Postanstalten
zum Preise von 12 Mark sür den Band zu beziehen. ___
1891.
Amulette und Zauberapparate der ungarischen Zeltzigeuner.
Don Dr. Heinrich v. IDlislocki.
Da man bei den Zigennern von eigentlichen Kultus-
gebräuchen, sofern man nicht die Opferungen zur Versöhnung
nnd Bestechung böser Geister hierher rechnen will, vollständig
absehen muß, so kann selbstverständlich an das Vorhanden-
sein einer eigenen Priesterkaste nicht gedacht werden, um so
mehr, als selbst bei größeren Opserfesten immer der Häupt-
ling (gakko, thagar) des Stammes oder der Vorstand
einer Sippe (saidiäfo) die religiösen Zeremonien leitet oder
deren Vollzug besorgt. Trotzdem können die sogenannten
Zauberfrauen (covalyi) der Zeltzigenner, denen überirdische
Kräfte zugeschrieben werden, als eine eigene Kaste betrachtet
werden, teilweise mit Priesterlicher Würde. Sic wirken
als Wahrsagerinnen, sagen Gebet- und Zauberformeln her
und vertreten am häufigsten die Stelle der sogenannten
Heilkünstler, die Amulette nnd Zauberapparate verfertigen,
boshafte Dämonen vertreiben können, überhaupt im Besitz
einer höheren Gewalt sind und denen ein Einfluß ans die
Geisterwelt zugeschrieben wird. Da nun jede Erkrankung
nach dem Glauben der Zigeuner dem verderblichen Einfluß
eines mißgünstigen und boshaften Dämons zuzuschreiben ist,
so wird in allen Krankheitsfällen die Hilfe der Zauberfrau
in Anspruch genommen, die, wenn auch „nicht helfen, so
doch den Ansgang vorhersagen kann". Ist z. B. bei einem
Kranken der „Krankheitsdämon" übermächtig und steht der
tätliche Ansgang bevor, dann greift die Zaubersrau zum
letzten Mittel, zur Untersuchung der Schulterknochen, nm
sich Gewißheit über den Ausgang der Krankheit zu ver-
schaffen. Bei dem Eintreten bedrohlicher Erscheinungen,
bei Steigerung des Fiebers oder bei zunehmendem Kräfte- |
verfall des Kranken läßt die Zauberfrau in der Nacht von
den Angehörigen des Kranken einen Hammel, einen Ziegen- '
bock oder ein Schwein schlachten, nnd dessen linken Schulter-
knochen vom Fleische loslösen. Während die Angehörigen
mit dieser Arbeit beschäftigt sind, tobt die Zauberfrau in
dem nur durch düsteres Feuer erhellten Zelte des Kranken
in wildem Stampfen und Sprüngen im Kreise umher, in-
Globus LIX. Nr. 17.
dem sie die Dämonen in einem einförmigen Gesänge an-
ruft, z. B.:
Misece avri janen! Ihr Dämonen, kommt hervor!
Tarnen mange mosht penen: Flüstert leise mir ins Ohr:
Kay te kay tradyan turnen Wohin habt ihr denn vertrieben
xManusheskro, adaleskro Dieses Mannes, dieses Lieben
Oute, gule e fixen? Süßes, allersüßtes Leben?
Tore turnen mosht me dav, Will Gedärme nun euch geben,
Kokala me Qunavav, Will die Knochen euch vergraben,
Turnen hüte hala dav! Auch Ticrhaare sollt ihr haben!
Anen turnen mange fixen; Mannesscele her mir bringt;
The kokalo pharadyol Wenn d. Knochen schnell zerspringt
Andro yao'okothan, In des Feuers Glut,
Manusheske, guleske Soll dem Manne, süß und gut,
Tn' avel sigo e fixe; Kommen Her das Leben;
Daren, dai-en most daren, Bor mir sollt ihr beben,
Kana fixen na anen! ') Wollt zurück ihr es nicht geben.
Zum Verständnis dieses Zaubergesangcs müssen wir
nun bemerken, daß bei inneren Krankheiten der krankheit-
erregende Dämon stets von der boshaften Absicht erfüllt
ist, die Seele, das Leben (fixen) des von ihm erkorenen
Menschen dem Leibe zu entführen; die Seele eines
Kranken entfernt sich, dem Volksglauben der Zigeuner
! gemäß, in dem Augenblicke, als der Dämon von
dessen Innern Besitz ergriffen, ans seinem
Körper, kehrt zeitweilig wieder zurück, wird
aber vom Dämon immer wieder vertrieben.
Diese Entfernung der Seele steigert sich stets mit dem Zu-
nehmen der Krankheit, so daß sie schließlich zum gänzlichen
Verluste des Lebens, zum unabwendbaren Tode führen kann,
wenn es der Zaubersrau eben nicht gelingt, den Dämon zu
besiegen und die den Körper des Kranken verlassende und
wieder dahin zurückkehrende Seele, die nur von ihr allein
i) Was die Transskription anbelangt, so entspricht dem
e — tsch, tz — ch, f — dsch, n — nj, sh — sch, y — j, siche
meine „Sprache der transsilvanischen Zigeuner" Leipzig 1884.
W. Friedrich), S. 3.
33
258
Dr. Heinrich v. Wlislocki: Amulette und Zauberapparate der ungarischen Zeltzigeuner.
gesehen werden kann, zu stetigem Verweilen in dem siechen
Leib zu bewegen.
Obigen eintönigen Gesang setzt die Zauberfrau so lange
fort, bis die Anverwandten des Kranken den Schulter-
knochen bringen, worauf sie neunerlei Holz ins Feuer wirft
und den Knochen in die Glut einscharrt und ihn so lange
im Feuer läßt, bis die ganze Oberfläche gleichmäßig schwarz
gebrannt ist. Dann hebt sie den Knochen mit einem, nur
hierzu gebrauchten Werkzeug, das zwei miteinander ver-
bundenen Zangen ähnlich sieht, aus der Glut hervor und
verschiedene Mal daraufspuckend, prophezeit sie aus den
Rissen und Sprüngen, aus der Form des Schulterknochens
überhaupt, die Genesung oder den Tod des Kranken. Diese
Beobachtung der Schulterknochen muß schon in den ältesten.
Zeiten bei den Zigeunern in Gebrauch gewesen sein. Die
Deutungen, welche sich nicht nur auf Tod und Genesung,
sondern auch auf verschiedene Lagen und Verhältnisse des
menschlichen Lebens beziehen können, sind etwas verwickelter
Art und schwer ohne ausführlichere Erläuterung der einzel-
nen Merkmale am Schulterknochen verständlich zu macheu.
Die südungarischen Zigeuner nennen die Gelenkhöhlung oben
das Zelt (cerga); wenn sie von bedeutender Tiefe ist, so
bedeutet dies Glück und Erfolg; der aus dem Schulterblatte
hervorragende Knochen heißt Leben (jipen), und von feiner
Größe und Stärke schließt man auf Genesung oder Tod des
Kranken, auf die Lebensdauer überhaupt. Zuweilen finden
sich auf der ebenen Seite des Schulterblattes unzählige kleine
schwarze Punkte, die Glück (bagt) heißen, wenn sie in der
Mitte des Schulterblattes stehen; dagegen mit der Benen-
nung Unglück (bibagt) belegt werden, wenn sie sich dicht
gedrängt am Rande der ebenen Seite des Schulterblattes
befinden. Hat die untere Seite des Knochens in der Glut
Risse und Sprünge bekommen und können dieselben mit
dem Daumen der linken Hand bis zum ersten Knöchel nicht
zugedeckt werden, so stirbt der Kranke, es tritt ein Todesfall
in der Familie ein. Bekommt die ebene Seite des Schulter-
blattes in der Glut viele sich kreuzende Riffe, fo ist der Tod
des Kranken gewiß, denn „das Leben will nicht mehr im
siechen Leibe wohnen" (jipen nà kainel andrò nasvàlo
trupo the beshel). Bilden sich durch die Glut Erhöhun-
gen auf der ebenen Seite des Schulterblattes und sind dabei
keine Glisse und Sprünge vorhanden, so ist noch Hoffnung
auf Genesung vorhanden und der Schulterknochen wird in
der Nähe des Kranken in die Erde vergraben, damit sich
die ziellos herumflatternde Seele darauf setzen könne. Tritt
dann eine Besserung im Zustande des Kranken ein, so heißt
es: „Das Leben sitzt auf dem Knochen" (jipen beshel
upro kokalos).
Die Auffassung der Maus als Unheils- und Todes-
bote veranlaßte vielleicht vor vielen Jahrhunderten die
Zauberfrauen der Zigeuner zur Verfertigung eines zwar
einfachen, aber in seiner Anwendung höchst eigentümlichen
Apparates, der also hergestellt wird: In der Johannisnacht
wird eine Haselrute abgeschnitten, die beiden Enden mitein-
ander durch einen roten Zwirnfaden fest verbunden, so daß
die Rute eine kreisähnliche Figur bildet. Dieser Haselreif
wird nun mit Fellen von Mäusen, die in der Zeit von
Weihnachten bis Neujahr gefangen wurden, so überzogen,
daß neben je ein noch mit Haaren besetztes Fell je ein der
Haare ganz und gar entblößtes Fell zu stehen kommt, so daß
die also verfertigte Kreisfläche die Ähnlichkeit eines Schach-
brettes hat. Diesen Apparat nennen die Zeltzigeuncr mish-
cerga (wohl von raisha = Maus und cetga — Zelt;
also Mauszelt). Will nun jemand erfahren, ob ihm dies
oder jenes Leid ein. gewöhnlicher Mensch oder eine Hexe
(holyipi) angethan habe, so geht er zu einer Zauberfrau
(covalyi), die einen solchen aus Müusefellen bereiteten
Apparat (mishcerga) besitzt. Er muß nun den kleinen
Finger seiner linken Hand mit einem Messer so tief ritzen,
daß die Zauberfrau einige Tropfen feines Blutes in einen
dünnen Federkiel auffangen kann, dessen untere Öffnung
sie mit dem kleinen Finger ihrer linken Hand verstopft. Ist
der Federkiel ungefähr bis zur Hälfte mit Blut gefüllt,
dann hält sie ihn über die Müusefelle, bläst durch die freie
Öffnung hinein und indem sie die nach unten, gegen die
Mäusefelle gekehrte, mit ihrem Finger verstopfte Öffnung
durch ein rasches Wegziehen des Fingers frei macht, wird
das Blut Sprühregen gleich über die fellbedeckte Scheibe
.verstreut. Kleine Blutstropfen werden auf den enthaarten
Fellen bemerkbar und nur diese kommen in Betracht; die
auf die haarigen Felle gefallenen Tropfen „zählen nichts".
Nun zählt die Zauberfrau die auf die enthaarten Felle ge-
fallenen Vlutströpschen ab und giebt dann, ans der Anzahl
und der Lage dieser Tropfen den Schluß ziehend, die ge-
wünschte Auskunft. Gar oft wird diese mishcerga auch bei
unverhofften Erkrankungen zu Rate gezogen und dem Kran-
ken durch den Schnitt in den kleinen Finger feiner linken
Hand unnötige Schmerzen bereitet. Ich selbst war während
meiner ersten „Zigeunerfahrt" Zeuge davon, daß die Zelt-
zigenner in ihrer bangen Neugierde, die Zukunft zu erfor-
schen, selbst Sterbende nicht schonen. Ein Greis, Namens
Petru Pikn, des siebenbürgischen Zeltzigeunerstammes Kukuya
erkrankte eines Vormittags plötzlich, nachdem er am Morgen
noch rüstig und wohlauf die Wanderfahrt angetreten hatte.
Am Abend desselben Tages lag er schon im Sterben. Seine
Angehörigen waren nun vollkommen überzeugt, daß ihm
„eine Hexe das Leben rauben wolle" (holyipi leske jipen
kamel the corel), ließen ihm Blut aus dem linken Finger
und eine Zauberfrau sprengte dasselbe auf die mishcerga.
Schauerlich war es anzusehen, wie der sterbende Greis, als
man ihm in den Finger schnitt, in Zuckungen verfiel.
Zu ähnlichen Zwecken und fast ausschließlich nur, um
das Wirken der Hexen zu bestimmen und dieselben in ihrer
schädlichen Thätigkeit zu hemmen, dient den südungarischen
und serbischen Zigeunern auch ein andrer Apparat, der
aus zwei Wieselfellen hergestellt wird; das kleinere wird
enthaart und trichterförmig zusammengenäht, dann in das
größere, nicht enthaarte und ebenfalls trichterförmig zu-
sammengcnähte Wieselfell gesteckt, so daß das Ganze einen
doppelten Trichter bildet. Will nun jemand erfahren, ob
ihm oder seinem Haushalte eine Hexe ein Leid zugefügt
habe, und er sie dafür züchtigen möchte, so geht er zu einer
Zigeunerin, die ihn sein Wasser in den inneren Trichter
abschlagen läßt, dann wird der Apparat von dem Beschä-
digten an einem einsamen Orte abends an einen Baumast
gehängt und zwar mit den Worten: „Wieviel Tropfen
drinnen, so viel zentnerschwere Steine mögen auf dein Haupt
fallen!" Zu bemerken ist, daß der innere Trichter unten
eine Öffnung hat, durch welche er mit dem äußeren in Ver-
bindung steht; das äußere, behaarte Fell ist aber unten
zugenäht. Am nächsten Morgen sucht der Beschädigte noch
vor Sonnenaufgang den Apparat auf, und findet er, daß
das Wasser ans dem inneren Trichter in den äußeren hin-
übergesickert ist, so kann er vollkommen überzeugt sein, daß
das ihm oder seinem Hauswesen zugefügte Leid von einer
Hexe herrührt, llm diese nun für immer unschädlich zu
machen, so wirft er den ganzen Apparat samt dessen Inhalt
in der Richtung der aufgehenden Sonne von sich und spricht
in seiner Muttersprache die Worte: „Nimm und verreck!"
Nun muß er sich rasch vom Orte bis zu einem Kreuzwege
wegbegeben und zwar ohne nach rückwärts zu blicken, denn
. sonst fährt die Seele der Hexe in ihn und er muß dann, in
einen „Hundemenschen" (jiuklanush) verwandelt, in den
Wäldern herumirren. „Hundemenschen" sind dämonische
Dr. Heinrich v. Wlislocki: Amulette und Zaubcrapparate der ungarischen Zeltzigeuner.
259
Wesen von menschlicher Gestalt, mit Hnndefüßcn und einem
Hnndckopf versehen.
Einen eigentümlich geformten Zauberapparat verkaufen
bisweilen die südungarischcn Zeltzigcunerinnen, der als ein
zuverlässiger Probierstein für die Treue einer Ehefrau be-
trachtet wird. Derselbe besteht ans drei entblätterten Buchs-
baum- und ebenso vielen Rosmarinzwciglein, die mit einem
roten Faden umwunden durch drei entfleischte Elstcrnschüdel
gezogen werden. Der eifersüchtige Gatte legt nun diesen
Zauberapparat unter das Kopfkissen seiner Frau: ist sie
rein, so wird sie ruhig schlafen, im andern Falle aber wird
ihr Schlaf unruhig sein, ja sie wird im Traume alle ihre
Fehltritte ausplaudern. Wirksamer wird dieser Apparat,
wenn er nenn Tage vorher in dem Grabhügel eines unge-
tauft gestorbenen Kindes eingescharrt gelegen und dann mit
kiu Menstruationsblute eines Weibes besprengt worden
ist. Um seine Ehefrau vor Verführung „zu sichern", läßt
sic der junge Gatte in der Brautnacht unbemerkt auf eine
kleine Scheibe aus Lindenholz, von der Größe eines Thalers,
barfuß treten. Aus der einen Fläche dieser Scheibe, die die
Dicke und Größe eines Thalers hat, sind, wie aus folgender
Abbildung ersichtlich, Zeichen und Figuren mit einer noch
nie gebrauchten, im Feuer erhitzten Nadel eingeritzt:
Eine Zigeunerin erklärte mir diese Zeichen folgender-
maßen : die am Rande der Fläche hinlaufenden, verschlungenen
Linien bedeuten eine Kette („wie mit Ketten soll die Frau an
den Mann gefesselt sein" — sar lancaha e rornsii romeske
Fig. 1. Fig. 2.
hin pandli); die Kreuze bedeuten das „böse Glück" (rnisctz j
ba§t) — Wollust, die in das „Loch" (§ev) fallen soll.
Die darunter befindliche Figur stellt die Schlange dar (wahr-
scheinlich symbolisch den zukünftigen Verführer) und die
darunter befindliche Figur ist ein „Turm", „wo der Gatte
wachen soll" (kay o romthe arakel) über die Treue seiner
Gattin, oder „seine Glieder sollen so stark sein, wie der
Turm" (soralo kär hin leske, sar toroiiyis), damit seine
Gattin mit ihm zufrieden sei. Auf diese Seite der Scheibe !
soll die junge Gattin in der Brautnacht mit dem linken
Fuß treten, mit dem rechten aber ans die andre Seite, die
mit folgenden Zeichnungen versehen ist:
Die obere Figur soll eine Blume darstellen, „das ist die
Liebe" (ada hin kamaben); die untere aber zwei gekreuzte
Stöcke (kopalori), für den Fall, wenn sich die Ehefrau in
der Liebe vergessen sollte.
Um den Abortus zu verhindern und den ehelichen Zwist
zu vermeiden, tragen die nordungarischcn Zigeunerinnen im
ersten Jahre ihrer Ehe auch sogenannte tharyibo kamabi-
neskro (Liebcsbetrug), Amulette am bloßen Leibe, deren cs
verschiedene Arten giebt, von denen wir hier nur einige an-
führen wollen.
Ein schwarzer Hnnd wird mit dem Schwänze an die
allgemein bekannte Pflanze, Knabenkraut (Orchis, zig.
karengro), festgebunden, nachdem man vorher die Wurzeln
der Pflanze mit einem noch nie gebrauchten Messer halbwegs
bloßgelegt hat. Hierauf hält man dem Hunde ein Stück
Esclsfleisch vor; indem der Hund nach dem Fleische springt,
reißt er die Pflanze aus. Nun werden aus den also er- !
langten Wurzelknollen menschliche Genitalien geschnitzt und,
in ein Hirschlederstück eingewickelt, am linken Arm getragen.
Dies gilt bei den Zigeunern auch als geheimes Mittel zur
Beförderung der Konzeption J).
Ein andres Liebesamulett, das ebenfalls von jungen
Zigennerwcibern am bloßen Leibe getragen wird, besteht aus
einem achteckigen Lindenholztüselchcn, auf welchem folgende,
genau nachgebildete Zeichnung eingebrannt ist:
Eine Schlange umzingelt den Neumond, welchen neun
Sterne umgeben. Die Schlange soll hier, dem zigeunerischen
Volksglauben gemäß, den „Bösen" (mise§) — Krankheits-
dämon darstellen, während die neun Sterne und der zu-
nehmende Mond „Kinderreichtum" bedeuten.
Ähnlich ist ein andres Amulett. Dasselbe besteht aus
einem herzförmigen Lindenholztäfclchen, auf dessen einer
Seite folgende Zeichen eingebrannt sind:
Die Schlange umzingelt hier abermals neun Sterne,
den zunehmenden Mond und auch den Vollmond. In A
befindet sich ein Loch, in welches eine mit Eselschwanzhaarcn
künstlich übersponnene Haselnuß eingezwängt wird. Fällt
diese Haselnuß mit der Zeit heraus, so glaubt das junge
Weib sich in gesegneten Umständen zu befinden. Das Ori-
ginal, von dem "ich obige Zeichnung nahm, befand sich im
Sommer 1885 im Besitze einer jungen siebcnbürgischcn
Zeltzigeunerin, namens Ivane Lovachela.
Serbische und bosnische Zigeunerinnen tragen, sobald
sie sich in andern Umständen fühlen, um den bloßen Leib
Fig. 3. Fig- 4-
einen aus Eselsschwanzhaarcn gewirkten, ungefähr fünf Finger-
breiten Gürtel, in den fortlaufend je ein Stern, ein zu-
nehmender und ein abnehmender Mond mit roter Baum-
wolle gestickt ist. Durch das Tragen dieses Gürtels glauben
sie die ihnen bevorstehenden Geburtswehen zu erleichtern,
die Krankheitsdämonen von ihrem Leibe fern halten zu
können. Mit Bärenklauen besetzte Gürtel, die über das
Gewand geschlungen werden, sollen dieselben Dienste leisten.
Will eine solche Frau erfahren, ob sie einem Knaben
oder einem Mädchen das Leben schenken wird, so wendet sie
sich an eine Zauberfrau, die in einer glänzenden Zinntafcl
das Geschlecht des zu erwartenden Kindes erscheinen läßt,
bisweilen aber auch das Gesicht des betreffenden Krankheits-
dämons, der bei der Geburt die Gebärerin foltern wird; —
was aber, wie alle schwarze Magie, nur heimlich verlangt
und gezeigt wird. Diese Zinutasel ist ungefähr zwei
Spannen lang und anderthalb Spannen breit und trichter-
förmig zusammengerollt, jedoch so, daß der obere Teil nicht
ganz schließt, d. h. die Kanten der Tafel einen Schlitz frei
lassen, durch welchen die betreffende Person bei der Befragung
der Zukunft in das Innere des Trichters blicken muß. Ich
selbst habe bei verschiedenen Gelegenheiten und zu verschie-
denen Zeiten in mehrere solcher Zaubertrichter (cnrin) hinein-
geblickt, aber darin gar nichts gesehen, während Zigeuner steif
lind fest dies oder jenes darin erblickt zu haben behaupteten.
0 Bergt. Will. Tennauf, Indian recreations, Yol. I,
Edinb. 1803, p. 194: „On this principle manied women
fometimes wear a small golden Ungarn upon the neck
or arm.“
33*
260
Dr. Heinrich v. Wlislocki: Amulette und Znubcrapparate der ungarischen Zeltzigeuner.
Zu ähnlichen Zwecken dient auch der Apparat, zu dem
die Zigeuner Siebenbürgens das Holz zu Pfingsten zu schneiden
pflegen. Dieser Apparat, der heutzutage schon gar selten
bei den Wanderzigeuncrtruppcn Siebenbürgens und Rumä-
niens anzutreffen ist, besteht aus einem kleinen Schranke, in
welchem eine von außen drehbare, vierseitige Walze angebracht
ist; über der Walze ist ein Spiegel befestigt, einem in der
Seiteuwand des Schrankes befindlichen Guckloche gegenüber.
Auf zwei Seiten der vierseitigen Walze ist je ein Bild eines
Mannes oder Weibes angebracht. Wenn nun der Fragende
durch das Loch in den Schrank sicht, so erblickt er sein
Gesicht im Spiegel, weil eben die bilderlose Seite der Walze
dem Spiegel zugekehrt ist; während die Zanberfrau ihn durch
Fragen unterhält, dreht sic unbemerkt an der Walze, so daß,
wenn der Fragende abermals in den Schrank hineinblickt,
er das Bild, das sich auf der Walze befindet, im Spiegel
erblickt. Freilich sind diese
Bilder verwischt und erschei-
nen nur in verschwommenen
Umrissen im Spiegel, so daß
die Phantasie des Fragenden
gar sehr in Anspruch genom-
men wird, um aus dem Ge-
sehenen etwas heraustüfteln zu
können. Zigeuner selbst neh-
men diesen Apparat bei Be-
fragung um die Zukunft gar-
nicht in Anspruch; „er ist für
die weißen Leute geschaffen"
Garns inanrmhsngs yov
kerdalo hin). —
Wir gehen nun zu den
Grab- und Totenfetischen
über.
„Alles und jedes", sagt
F. S. Krauß, mit bezug auf
die Südslaven, „was mit einem
Toten in irgend eine Berüh-
rung kommt oder auch nur in
eine entfernte Beziehung tritt,
erlangt unter Umständen die
Kraft eines Totenfetischcs, z. B.
der Hausbcsen, die Grab-
schaufel, die Abfälle von den
Sargbrettern u. s. w." Das-
selbe gilt auch in ausgedehn-
testem Maße für die Zigeuner,
die alles und jedes, was mit
einem Toten in Berührung
kommt, zu Zaubereien verwenden. In erster Reihe sind die
sogenannten „Totenmänner" (wanush mulengre) kleine
Figuren, in Nachahmung von Menschen- und Tiergestalten,
die ans einem Teig von Baumwachs, den man von Bäumen
eines Friedhofes entnonuuen, den gepulverten Haaren und
Nägeln eines toten Kindes oder einer Jungfrau, ferner aus
der Asche, die man nach der üblichen Verbrennung der Kleider
des Verstorbenen erhält, verfertigt. Diese kleinen Figuren
werden zeitweilig zu Pulver gerieben, unter das Futter des
Viehs gemischt; dadurch wird dasselbe vor Hexerei geschützt
und in seinem Wachstum und seinem Gedeihen befördert.
Sowie eben der Volksglaube die Zigeuner verleitet, den
Muscheln, Ringen und Holzplättchcn, die sie von irgend
einer Zauberfrau erhalten, seltsam geformten Wurzeln und
Zweigen und vielen andern Dingen übernatürliche Kraft
und großen Einfluß auf die Krankheitsdämonen, auf die
Geisterwelt überhaupt zuzuschreiben, ebenso halten sie zäh
an der Meinung fest, daß figürliche Darstellungen, die in
irgend einer Verbindung mit Toten stehen, gleich andern
Talismanen die Krankheitsdümonen zu bestimmen vermögen,
und daß sie überhaupt Böses abzuhalten, Gutes zu ver-
mitteln im stände sind.
Blanche dieser „Totcnmünncr" (manush mulsngrs)
zeigen Darstellungen der ganzen menschlichen Gestalt, andere
wieder sollen Dämonen darstellen, letztere stehen wohl mit
den religiösen Begriffen des Zigeunervolkcs in unmittel-
barerem Zusamnicnhange, als erstere, da sie nur aus dem"
Grunde geschaffen werden, um ihrem Besitzer die Gunst der
Dänwucn zuzuwenden. Aus dem oben angeführten Teige,
dem, um die Wirkung zu erhöhen, noch Exkremente, Aus-
scheidungen jeder Art, wie Blut und Speichel, und Körper-
teilchen eines Verstorbenen beigemengt sind, werden Dämonen,
wie z. B. Phuvusche (Erdgeister), Nivaschi (Wassergeister),
Maschurdalo (Riesen) u. s. w. je nach Bedarf geformt, d. h.,
wenn z. B. ein Zigeuner als Besenbinder oder Holzfäller
seine Beschäftigung aufnimmt, so formt er sich aus dem
Teige ein Phuvusch
oder einen Maschur-
dalo, den er bei
seinem ersten Ein-
treten in den Wald
ins Gebüsch wirft;
dann glaubt er sich
für die Dauer seiner
Beschäftigung, für-
einige Monate ge-
sichert vor den Nach-
stellungen dieser Dä-
monen. Verdingt sich
der südnngarische Zi-
geuner als Gehilfe
bei einem Fischer oder
Schiffer, so formt er
sich einen Nivaschi
(Wassergeist), den er
ins Wasser wirft,
bevor er noch seinen
Dienst antritt.
Nicht nur aus
diesem Teige werden
diese Bildwerke ge-
formt, sondern auch
aus morschen Sarg-
brettern , Grabkrcu-
zen und aus dem Holze solcher Bäume, die auf dem Fried-
hofe wachsen, denn nicht bloß der Tote und was unmittelbar
zu ihm gehört, sondern auch der gesamte Friedhof hat im
allgemeinen Fetischkrast. Die Zigeuner meinen durch sichere
Zeichen, die ihnen im Traume mitgeteilt werden, von den
betreffenden Dämonen selbst die Anweisung zu erhalten, aus
welchem Holze und ans welchem Aste des Baumes, der auf
diesem oder jenem Friedhofe wächst, und in welcher Gestalt
sie diese Bildwerke zu schnitzen hätten.
Während meinen häufigen Wanderfahrten mit Zigeunern
sah ich mehrere solcher Figuren, von welchen ich hier zwei
in möglichst getreuer Abbildung vorführe.
Fig. 5 stellt einen Phuvusch (Erdgeist) dar. Die Größe
des Gebildes ist kaum viel mehr als die der vorliegenden
Illustration; das Material ist Lindcnholz. Die Gestalt ist,
wie ersichtlich, in derber Weise roh und klotzig geschnitten;
Augen, Ohren, Nase und Mund sind durch kantige Ein-
schnitte beiläufig charakterisiert; in die Kappe sind oben
sieben kleine Nägel eingeschlagen, die vor ihrer Verwendung
neun Tage laug in irgend einem Grabhügel verscharrt ge-
legen sind.
Fig. 5.
Dr. F. Guntram Schultheiß: Anthropologie und Geschichte.
261
Fig. 6 stellt einen Hundemenschen (jiuklanush) dar,
von beut wir schon weiter oben gesprochen haben. Die
Größe dieses Gebildes ist auch kaum viel mehr als die der
vorliegenden Abbildung; der Stoss ist ebenfalls Lindenholz
und die Gestalt verrät in der kernigen Art der Darstellung
eine geübte Hand. Zu bemerken ist, daß diese Gebilde, wo
intmer man sie in Ungarn, Siebenbürgen, Serbien und
Rumänien antrifft, in der Darstellung einander ähnlich sind.
Nie wird cs einem Zigeuner einfallen, einen „Hunde-
menschen “ oder Phuvusch anders zu schneiden, als die oben
ntitgeteilten Abbildungen diese Gebilde darstellen. Wir
haben eben in diesen kleinen Holzsiguren jene rohen Schnitz-
arbeiten vor uns, die um so weniger einen Anspruch auf
irgend welche Kunstfertigkeit zu erheben vermögen, als jeder
Zeltzigeuner ohne Rücksicht darauf, ob er nun dazu Talent
besitze oder nicht, den religiösen Bedürfnissen des Augenblicks
entsprechend, sich einen mami8h mulengre in aller Eile
selbst anfertigt. Die bildhanerischen Erzeugnisse der Zelt-
zigeuner können uns freilich eine besonders hohe Meinung
von der plastischen Kunstfertigkeit dieses Volkes wohl nicht
beibringen; aber diese Arbeiten hängen durchaus mit den
religiösen Vorstellungen dieses Wandervolkes zusammen, das,
äußerlich der christlichen Religion anhängend, int Innern
noch immer an den alten Überlieferungen festhält, deren
Keime es vielleicht vor Jahrtausenden in seiner asiatischen
Urheimat empfangen hat. —
Somit hätten wir in flüchtigen Strichen ein wichtiges
Kapitel zigeunerischen Volksglaubens mitgeteilt, als Be-
weis dafür, daß es sich wohl der Mühe verlohnt, sich mit
diesem Wandervolke eingehend zu besassen und Stoff zu
sammeln an den wenigen Orten, wo solcher noch zu finden
ist. Auch mit bezug ans die Zigeuner müssen wir unseres
hochverehrten Altmeisters Adolf Bastian Worte an-
führen: „In der Fülle der Zeit zur Reife aufgebrochen,
steht die Ethnologie am heutigen Tage ihrer Geburt
mit einem Fuße bereits int Grabe. Seit wenigen Jahr-
zehnten sind ihre Ausgaben dem Bewußtsein klarer ent-
gegengetreten, die Aufgabe, wie sie sich stellt, mit Ein-
führung der Psychologie unter die Naturwissenschaften, bei
induktiver Behandlung derselben mittels der Bausteine ans
den Schöpfungen des Völkergedankens, — die Vorbedin-
gung der Aufgabe deshalb, wie in Ansammlung des Mate-
rials aufliegend, aus unabweislich ernster und zwingendster
Pflicht."
Anthropologie und Geschichte.
Von Dr. F. Guntram Schultheiß.
III.
(Fortsetzung
Gleich den Normannen der späteren Zeit sind nach
Penka die arischen Völkerschwärme aus ihrer skandinavischen
Heimat ausgezogen und haben den schwächeren Rassen ihre
Herrschaft auferlegt. In allen Völkernamen findet er den
Gegensatz der hellen Rasse gegen die dunklen Untertanen
ausgedrückt: Arier, Germanen, Romanen, Hellenen, Gal-
lier u. s. w. geht auf die Bedeutung der „Hellen" zurück.
Das Aussterben der Nordländer infolge des Klimas ermög-
licht die Wiedererhebung der chenialigen, freilich in der
Sprache arisierten Untertanen dunkler Rasse. Der Kampf
der römischen Plebejer gegen die Patrizier, wie der der
mittelalterlichen Zünfte gegen die Geschlechter; der Kanipf
der Bauern gegen den Adel; der Zusammenbruch der feu-
dalen Herrschaft in Frankreich beruhen alle ans dctn Rassen-
gegensatz der Herren und der Untertanen, obgleich er nicht
in reiner Form, sondern in der sozialen oder Politischen
auftritt. Es sei erlaubt, hierzu auf eine Stelle in Koll-
manns Referat über v. Hölders Schädelsormen in Würt-
temberg 1876 aufmerksam zu machen. Archiv für Anthro-
pologie (1877) X, 173.
Mit Recht hat jüngst int Anthropologischen Verein zu
Stuttgart ein kompetentes Mitglied direkt auf den Stand-
punkt der Anthropologie sich gestellt und das Ergebnis der
Württembergischen Reichstagswahlen als den Ausdruck eines
natürlichen Instinktes beurteilt, der iu den Naturanlagen des
Volkes wurzelt. Im Oberland ... ein kompaktes Schwarz:
die klerikalen Wahlen von einer Volksmasse mittlerer Be-
schaffenheit, — Dunkel- und Helläugige in gleicher Masse.
Dagegen scheint ein entschiedener Zusammenhang zu bestehen
zwischen den Schwarzaugen und der Demokratie. Demo-
kratisches Wählen und Überwiegen der dunklen Rasse fällt
meistenteils zusammen, ebenso wie die Helläugigen tnit den
Wahlen im Sinne der Regierungspartei (Deutschen? SchJ
in enger Verbindung zu stehen scheinen. So führen stati-
stische Erhebungen aus dem Gebiet der physischen Anthro-
aus Nr. zq.)
pologic hinüber auf das der Psychologie der Völker. . .
Hölder regt zum Nachdenken an. Auf deut Zurückweichen
des arischen Bestandteils in Süddeutschland und Österreich
beruhen die partikularistischen Bestrebungen dieses Jahr-
hunderts, die Unterordnung der süddeutschen Staaten unter
das stärker arisch gebliebene Norddentschland, der Untergang
der österreichisch-deutschen Herrschaft in Ungarn und Italien.
Das anthropologische Moment ist eben durchaus wichtiger
als das sprachlich ethnische. Der geringe Prozentsatz der
Blonden in Elsaß-Lothringen erklärt die Sympathieen für
Frankreich, dem es näher steht als den Norddeutschen.
Eine merkwürdige Parallele bietet der litterarische Streit
zwischen dem Humanisten Wimpheling und dem Franzis-
kaner Murner über die natürliche Zugehörigkeit Straßburgs
und des Elsasses, Anfang des 16. Jahrhunderts. Wim-
pyellug hatte in seiner Germania betont, daß die Römer
links und rechts des Rheiucs schon das gleiche Volk, mutig,
groß, blond, vorgefunden hätten.
Murner sprach sich int Verlaus des Streites in einem
Büchlein honestorum poematum laudatio dahin aus,
daß die Reiche weder nach Sprache noch nach Sitten geteilt
seien, 8i etiam capillorum varietas regna secerneret
quot filios quisque pareno liabet pilis difformes eos-
dem ex tot esse regnis progenitos diceremas, wenn
vollends die Haarfarbe ausschlaggebend sein sollte, so müßten
verschiedenfarbige Söhne eines Vaters aus verschiedenen
Ländern herstammen; das sei lächerlich. Tie Rassenmerkmale
sind unabänderlich, die ethnischen Momente wandelbar. Das
Gleiche behauptet auch Kollmann. Deshalb mußte die Wissen-
schaft der Anthropologie die Berechtigung des Nationalitäts-
prinzips verneinen, wie Penka belegt.
Auch das Verhältnis zur Religion ist von der Rasse
bestimmt. So ist der Fanatismus der Spanier das Erb-
teil der iberisch-semitischen Abstammung. Der Katholizis-
mus steht den Kurzköpfen, den Turaniern, die den größten
202
Dr. F. Gunkram Schultheiß: Anthropologie und Geschichte.
Teil der Bevölkerung Europas, besonders auch Süddeutsch-
lands bilden, näher, wie andrerseits auch der mit dem
Christentum sich berührende Buddhismus, während dieses
in seinem innersten Wesen den Ariern nicht congcnial war,
weshalb die Christianisierung vieler germanischer Stämme
nur schwer, durch Gewalt oder durch Zugeständnisse in
Sitten und Anschauungen gelang. So ist auch der deutsche
Protestantismus „die zum plötzlichen Durchbruch gekommene
Reaktion gegen eine Religion, die niemals in die innerste
Denk- und Anschauungsweise der unverniischt gebliebenen
Germanen Eingang gefunden hatte". So deckt sich also noch
setzt der Protestantismus mit dem Gebiet starker germani-
scher Bevölkerung, der Katholizismus mit dem Überwiegen
der kurzköpfigen dunkelhaarigen Bevölkerung, der Turanicr
Süddeutschlands und deS übrigen Europas.
Wie die Tnranier, der größere Teil der Bevölkerung
von Europa, auch bei Mischung sich nur wenig von den
Mongolen unterscheiden, so paßt denn eine allgemeine
Charakteristik auf beide. Dem Turanicr fehlt die Energie des
Willens, die Initiative, der Sinn der Selbständigkeit, das
Gefühl der Persönlichkeit, die Phantasie — er ist passiv
phlegmatisch und konservativ. Deshalb die lange Dauer
der von Kurzköpfen gegründeten Staaten. Sie sind einer-
seits Gefühlsmenschen und friedfertig, obschon, zum Kampf
genötigt, ausdauernd und selbst grausam, andrerseits prak-
tisch, nüchtern und von überwiegender Verstandesthätigkeit.
Wenn wir also diese Charakteristik umkehren, so werden
wir die der echten Arier haben.
Ganz den gleichen Anschauungen huldigt nun auch der
französische Anthropolog De Lapougc und giebt ihnen eine
bestimmte Anwendung auf die Geschichte und die Zustünde
Frankreichs. Die Arier gelten ihm durchwegs als die zur
Herrschaft berufene Rasse. Aus ihnen gehen die Anführer
und, Erfinder hervor; sie sind die Heroen der Griechen und
Römer; dieser Abkunft sollen selbst die führenden oberen
Stände der andern Kulturvölker des Altertums sein; der
Ägypter, Chaldäer, Assyrier, Chinesen! In Europa ge-
hören der arischen Rasse nicht nur fast alle regierenden
Häuser an, sondern auch der Adel selbst in Italien, Spanien
und Rußland, besonders aber in England und Deutschland,
während hier die Masse der Bevölkerung ersichtlich andrer
Rassk, nämlich Kurzköpfe sind. Deshalb ist die Ausmerzung
der blonden Rasse in Frankreich — die diese wesentlich
dem Adel gleichgesetzt —, die den Glanz und die Macht
der alten französischen Monarchie bestritt, der Grund von
dessen Rückgang, während die ausgewanderten Hugenotten
Preußen das Übergewicht verschafften. Die Kurzköpfe sind
nur die Soldaten, die ohne Führer nichts leisten können.
Die Vorherrschaft der langköpfigen nördlichen Völker, der
Engländer, Nordamerikancr u. s. w., wird immer zunehmen
und die Zukunft der Kultur arisch sein. Der Charakter
der Kurzköpfe, der Celtoslaven oder Mongoloidcn beherrscht
die Zustände des jetzigen Frankreichs: Fleiß, Sparsamkeit,
Nüchternheit, aber auch Engherzigkeit und Beschränktheit.
Mit dem Wegfall des zur Herrschaft und Leitung befähigten
Arier ist die Demokratie als Begleiterin des Verfalles auf-
gekommen. Die Richtung auf Gleichförmigkeit, wie sie sich
in der Forderung gleicher Dienstzeit für alle ausspricht, ist
ein unfehlbarer Faktor des Rückschritts.
An die Möglichkeit einer Hebung, eines Fortschritts durch
Unterricht und Erziehung der Massen glaubt der französische
Anthropologe nicht. Seine Wissenschaft zwinge, aus solche
Illusionen zu verzichten; er läßt das Gesetz der Ver-
erbung, der Unveränderlichkeit der körperlichen und geistigen
Ausstattung der Rasse gelten. Die untern Stände sind
ihm der Bodensatz, nachdem die lange Reihe von Geschlech-
tern alles Aufstrebende und Entwickelungsfähige hcraus-
destilliert haben. Die Lehre von der Verderbnis der Misch-
linge kennen wir schon; in ihnen verstärke sich der Egoismus
der Kurzköpfe nur noch durch den kühnen Individualismus
der Langköpfe, während das Gemeingcfühl der deasse und
der Familie erlösche. Als Folge der spezifischen Begabung
der Rassen tritt die Unverträglichkeit der doppelten Vererbung
auf in dem Widerspruch der nach zwei Seiten ziehenden
Neigungen, Gefühle und Antriebe, bis zur gegenseitigen
Aufhebung, bis zur Ohnmacht des Willens. Es ist Buridans
Esel ins Moderne übersetzt; die Schuld fällt aber den Vor-
fahren und deren unüberlegten Verbindungen zu. Die Zer-
setzung der Nassen liefert also körperlich die Analogie zum
Straßenhnnd, als Gegensatz und Aufhebung der Rassenschön-
heit, moralisch einen Schwächling, eine problematische Natur.
Hingegen entziehen sich Schönheit, Kraft, Befähigung, Cha-
rakterstärke infolge der verkehrten sozialen Verhältnisse allzu
häufig der Vererbung, da nicht Rücksicht auf sie, sondern
auf Geld die Ehen zu stände bringt, und die Guten nicht
zugleich die Reichen sind. Die Intelligenz ohne Vermögen
aber kann die Schmälerung des Einkommens durch zahlreiche
Nachkommenschaft nicht wünschen.
Als eine Konsequenz der verschiedenen Fruchtbarkeit der
Rassen, von denen die Arier der nördlichen Länder, besonders
die Angelsachsen, sich am schnellsten vermehren, prophezeit
De Laponge dem nächsten Jahrhundert Rassenkriege mit
Millionen von Opfern, geführt wegen eines Unterschieds
von 1 oder 2 Grad des Längen- und Breiten-Index, der
die Einreihung unter die Lang- oder Kurzköpfe bestimmt.
Für die Ersetzung der französischen Mischbevölkerung durch
reinere Rassen, Belgier und Deutsche, die in den Grenz-
strichcn bereits im Gange ist, für die düstern Aussichten
der Kurzköpfe überhaupt tröstet sich der französische Anthro-
pologe durch die Hoffnung, daß die Arier die Theorie der
Vererbung und die Praxis einführen und durch Zuchtwahl
innerhalb der Rasse die Erhaltung und Steigerung ihrer Vor-
züge betreiben werden. Es bedarf dazu nur der Abschließung,
wie sie auch die Juden gegenüber den Völkern üben, unter
denen sie leben; es bedarf nur einer aliñarme aryemie, da
sie das Bewußtsein der Solidarität der Rasse besitzen, um
die Vervollkommnung der Menschheit durchzusetzen. (Vcrgl.
Revue d’Anthropologie 1888, p. 191.)
Diese Theorie des Eugenismus, der erblichen Vorzüg-
lichkeit, die vom Engländer Galton herübergenommen ist —
einen ähnlichen Gedanken hat aber auch Spnrtzhcine vor
etwa 60 Jahren ausgesprochen — zeigt, zu welchen Folge-
rungen der Begriff der Rasse verleiten kann.
Ist nun aber der Schritt, der von der Annahme der
Unveränderlichkeit der körperlichen Rassenmerkmale zu der-
gleichen Festigkeit der geistigen Befähigung führt, allzu
groß? Man wird zugeben müssen, daß die Sprache nach
beiden Seiten Beziehungen hat. So hat Penka ausführlich
dargestellt, wie die Veränderungen und Abweichungen der
verschiedenen arischen Sprachen darin ihren Grund haben,
wie das Arische sich im Munde andrer Rassen gestaltet
habe. Die Ouetschlaute deS Sanskrit und des Italienischen,
die Lautverschiebungen des Deutschen, die Nasenlaute des
Französischen wären so durch Übertragung des Arischen auf
nicht arische Sprachorgane entstanden. Das bessere Fran-
zösisch der Süddeutschen gegenüber den Norddeutschen ent-
spräche der anthropologischen Zusammengehörigkeit der Kurz-
köpfe, die Ersetzung der echten Flexion der älteren arischen
Sprachen durch Wortgruppen mit Präpositionen und Hilfs-
zeitwörtern, also malm und de la mère, volui und j’ai
voulu, das süddeutsche vulgäre dem Richter sein Haus
statt des Genitivs, ganz wie im Magyarischen, wäre der
Durchbruch der turauischcn Gcistesorganisation. Daß der
Chinese das Englische nur nach Maßgabe seiner Sprachstufe
Dr. F. G uni ram Schultheiß: Anthropologe und Geschichte.
263
bewältigt, könnte als Analogie aus der Gegenwart angeführt
werden. Ob das gleiche Prinzip der Erklärung für so
viele einzelne Erscheinungen der Sprachgeschichte ausreicht,
das erscheint untergeordnet gegenüber der Frage, inwiefern
die Zurückführung geschichtlicher Veränderungen ans anthro-
pologische Vorgänge und Formeln die treibende Kraft auf-
deckt und wie sich die angebliche Unwandelbarkeit spezifischer
Geistesorganisation zum Wechsel der Zeiten verhalten möge.
Daß der körperlichen Vererbung, die die Rasse bestimmt,
eine geistige zur Seite geht, wer könnte das bestreiten
wollen? Wie der einzelne Mensch nach Befähigung und
Charakter, Neigungen und Gewohnheiten Abbild oder
Kombination seiner Erzeuger und Ahnen ist — eine uralte
Beobachtung der Weisheit aus der Gasse, des Sprichwortes:
der Apfel fällt nicht weit vom Stamm und andrer — so ist
es auch für das Große, für Völker und Rassen. Die Über-
tragnng und Fortdauer von Anlagen und Charakterzügen
bildet für Völkerkunde und Geschichte die Grundlage der
Betrachtungen. Für den Begriff des Volkscharakters braucht
man nur auf die Zigeuner und Inden hinzuweisen. Über
den Begriff des Volkscharakters (schon bei Hume, Essays
I, Nr. 21, On national charakter) vcrgl. die Einleitung
zu Richard Andree, Volkskunde der Juden, „das Rassen-
element im Völkerleben". Ribot, hérédité, chap. VII
(Juden und Zigeuner). Den deutschen Volkscharakter gene-
tisch und historisch zu fassen, versuchte der Verfasser 1887.
Grenzboten, III. Quartal, 4 Juli-Nummern. Den Prote-
stantismus, die Reformation hat Jakob Grimm zuerst, doch
nicht der Einzige, auf den Freiheitssinn, auf die religiöse
Anlage als Wurzel zurückgeführt; selbst Ranke spricht von
einer natürlichen Verwandtschaft des eingeborenen Sinnes
der Bevölkerung mit der Lehre Luthers. Sollen dies nur
müßige Arabesken am Ban der Thatsachen sein? Die
Verteidigung von Saragossa 1809 hat man in Parallele
gestellt uiit dem Heldenmut der Numantiner. Die
Schilderung, die Strabo vom Charakter der Iberer entwirft,
paßt, so sagt man, auch auf die heutigen Spanier. Den
fränkisch-germanischen Einfluß auf Einrichtungen und Ge-
schichte des französischen Volks, sein allmähliches Zurück-
treten, das Emporkommen andrer, galloromanischer Züge
zu beobachten, ist so wenig neu wie die Bemerkung, daß
Cäsars Charakterschilderung der alten Gallier auch heute
wieder geschrieben werden könnte. Ilnd schon vor Bismarck
hat Katharina von Rußland die französische Revolution als
die Erhebung der Gallier gegen die Franken verstanden.
Ist es davon weit zur rein anthropologischen Auffassung als
Rassenkampf?
lind die ungleiche Befähigung der Rassen für höhere
geistige Entwickelung ist ein schon von älteren Anthropologen
und Ethnographen gern behandeltes Thema (Carus 1849;
Vollgraff 1853; Gobineau 1854; auch Klemm, Kultur-
geschichte, IV. Bd.). Wer wollte auch annehmen, daß die
Australier oder die Neger eine der europäischen gleichstehende
Kultur zu erreichen befähigt gewesen wären; oder daß die
Indianer Amerikas durch Unterricht und Anleitung zu Teil-
nehmern am Aufschwung der Union werden könnten?
Hat man dann nicht auch das Recht, die Leistungsfähig-
keit, die Aussichten der europäischen Kurzköpfe an dem
Maßstab turanisch-mongolischer Kulturstaaten abzuschätzen?
Übersehen werden wir freilich nicht, daß z. B. De Lapouges
Charakteristik der französischen Kurzköpfe halb vom Klein-
bürger, dem épicier, halb vom Chinesen abstrahiert ist.
Die Erklärung der einzelnen Ereignisse als anthro-
pologischer Vorgänge müßte aber eben doch vor allem mit
den Thatsachen übereinstimmen, bevor man noch zur Er-
wägung veranlaßt wäre, ob die anthropologische Seite An-
spruch hat, die Hauptsache zu sein. Hölder hat nun z. B.
nachgewiesen, daß in der Stadt Eßlingen im Laufe der
Jahrhunderte in den mittleren und oberen Stünden die Kurz-
köpse zugenommen haben. Ähnlich neuerdings De Laponge
für Montpellier (Anthropologie 1891, S. 36—43). Ob
aber der Streit der römischen Plebejer und Patrizier zugleich
ein Gegensatz zweier Rassenelemente war, das kann die An-
thropologie nicht mehr entscheiden. Gegen die etruskische
Abstammung der Lueeres hat sich Mommsen allerdings ver-
wahrt; daß aber die Plebejer, die Nachkommen unterworfener
Latiner, durchaus andrer Abkunft gewesen seien, als die
Einwohner des als Stadt jüngeren Roms, wird kaum wahr-
scheinlich gemacht werden können.
Der Kampf der Zünfte gegen die Geschlechter in den
deutschen Städten des Mittelalters oder der Bauernkrieg
werden sich ebensowenig mit körperlichen Gegensätzen decken.
Die Geschlechter sind sicher in vielen Städten Nachkommen
der ehemaligen Ministerialen und Hörigen der Bischöfe oder
sonstigen Landesherren, nach einer Auffassung kommen ja
z. B. für Köln Überbleibsel der romanisierten Provinzialen
in Betracht. .Jedenfalls mußte auch der später bevorrechtete
Teil städtischer Bevölkerung vielfach sehr langsam von den
drückendsten Formen persönlicher Unfreiheit sich erheben. Auch
der niedere Adel ging vielfach aus Hörigen hervor. Andrerseits
sank der einst freie Bauernstand, der Kern der germanischen
Stämme, immer mehr in Abhängigkeit und Unfreiheit herab.
Der jüngere Zuzug in die Städte wird wohl gerade seine
trotzigsten, dem Zwang widerstrebenden Glieder aus diesem
Teil der Landbevölkerung erhalten haben. Die Fülle kühner,
energisch aufstrebender, streitbarer Männer, die die Städte
stets in die Wagschale warfen, unter Heinrich IV. und
väter in den Junftkämpfeu, läßt sich mit den angeblichen
Lügen der Kurzköpfe nicht vereinigen. Auch die Lands-
knechte setzten sich aus jüngeren Bauernsöhnen neben Junkern
zusammen; die Nachwirkung zeigt sich wieder im Bauern-
krieg Der Jndividualismtts, als Charakterzug der Germanen,
waltet in den Städten nicht minder kräftig, wie vormals
in den Urwäldern. So bleibt auch das Ausstreben der
Eidgenossen, die Buntscheckigkeit der staatlichen Gebilde, die
späteren Sympathieen mit Frankreich, das Eindringen der
französischen Sprache wohl andrer Erklärung bedürftig, als
des anthropologischen Nachweises, daß das Land heute
Hervorragend kurzköpfige Bevölkerung enthält. Wo sind
denn die alemannischen Bauern hingekommen, die einmal
so gründlich germanisiert haben, vor denen die Nhätoromanen
ins Gebirge zurückwichen? Das Klima hat sie gewiß nicht
umgebracht. Oder hatten sie eine so überwiegende Menge
von Knechten mitgebracht, und dieselben dann so günstig
gestellt, daß ihre Vermehrung die der Herren überwucherte?
Auch hierüber wird die geschichtliche Forschung aus eigenen
Mitteln Erwägungen anstellen können. Abgesehen davon,
daß es auch Kriegsgefangene und Knechte germanischer Ab-
kunft gegeben haben muß, kann ein Überwiegen der Unfreien
beim Übergang der Germanen zum Ackerbau im eigentlichen
Sinne bei der Ausbreitung über Donau und Rhein gerade
von der anthropologischen Statistik der Gräberfunde nicht
bewiesen werden. Die gelegentliche Vermutung, daß die
Knechte gar nicht beigesetzt, sondern wie das Vieh verscharrt
worden wären, vielleicht in der Nähe des Schindangers
(v. Hölder, Archiv für Anthropologie II, S. 80), soll nur
erwähnt sein.
Am leichtesten ist es, den angeblichen Zusammenhang
der Neligionsform mit der Rasse zu widerlegen. Selbst
wenn wirklich die Verbreitung oder das Vorherrschen der
knrzköpsigen Raffe mit dem Katholizismus, der langköpfigen
mit dem Protestantismus sich besser deckte, bliebe das po8t
hoc ergo propter hoc zu prüfen. Nun sind ja die Süd-
deutschen, Württemberger, Badener, Franken, Schweizer
264
Bruno Stehle: Münster ini Gregorienthal.
gutenteils protestantisch, die echten Sachsen, die Westfalen
stramm katholisch, Finnen, Eschen, ein Teil der Magyaren
protestantisch. Dogmen und Gebräuche, sofern sie die Zu-
gehörigkeit zu einer Religionsgenossenschast entscheiden, ver-
tragen sich mit jeder Besonderheit der Befähigung und des
Charakters; nur wenn sic Opfer an Gewohnheiten, Über-
zeugungen oder Einkünften fordern, nötigen sie das Indi-
viduum, sei es zum Widerspruch oder zur Unterwerfung.
Diese Erregung des Willens in bezug auf die Kirche ist
allerdings die treibende Kraft der Neformationszeit; die
allgemeine Verbreitung des Mißbehagens kommt dem Mut
des Angriffs ans das Bestehende zu gute. Aber es ist
durchaus keine tiefere Erklärung des Protestantismus, wenn
man ihn in irgend welchen Worten auf den Volkscharakter
zurückführt, wie, daß die Germanen schon zur Zeit des
Tacitus keine Götterbilder und Tempel gehabt, oder daß er
als Lehre dem eingeborenen Sinne der Deutschen verwandt
sei. Wie die Körperlichkeit Luthers nicht dem germanischen
Typus entspricht, so ist auch seine Rechtfertigungslehre für
die Volksstimmnng kaum mehr als der Ausdruck der Oppo-
sition. Diese war — wenn man will — negativ, sie wollte
nur etwas Andres. Die praktischen Konsequenzen Luthers,
die ihm in zweiter Linie kamen, waren das Durchschlagende,
der Enderfolg aber war Machtfrage, in Deutschland und in
ganz Europa. Daß die Reformation oder der Abfall von
der Kirche gerade in den germanischen Ländern durchdrang,
ist nicht die Folge einer Wahlverwandtschaft. Das zeigt
deutlich die Kirchengründung Heinrichs VIII. in England,
die die Lehre unangetastet ließ, oder der Zwang, durch den
die echtesten Germanen, die Isländer, von der alten Kirche
abgebracht wurden. Die Ketzer Südfrankreichs und die
Hussiten hatten sich lange vorher von der Kirche abgewandt.
Pulver und Blei haben schließlich entscheiden müssen, wie weit
die Macht des Papstes und der Jesuiten reichen solle. Daß
nachher die protestantische Religionsform der selbständigen
Entwickelung deutschen oder germanischen Wesens vorteil-
hafter wurde, das ist nicht religiöse, sondern soziale Folge,
lind im übrigen wurden gerade vom deutschen Adel Klagen
darüber laut, daß durch die teilweise Säkularisation der
Kirchengüter die Versorgung seiner jüngeren Söhne in geist-
lichen Stellen ihm geraubt worden sei.
Wenn uian überhaupt dem Adel in Frankreich, Deutsch-
land und England wegen seiner germanisch-arischen Rassen-
reinheit einen Vorzug der Befähigung zuschreibt, so ist da-
gegen einzuwenden, daß weder die wesentliche Gleichartigkeit
der Rasse die Regel ist, noch das Fortblühcn in gleicher
körperlicher und geistiger Kraft, vielmehr das Gegenteil.
So fanden die Franken in Gallien schon vornehme und
begüterte gallo-romanische Geschlechter, die senatorischen
Familien vor; andre Romanen kamen im Hofdienst der
Merowinger empor. In der Schlacht bei Benevent trat
die Überlegenheit der deutschen Ritter Manfreds an Größe
und Stärke über die französischen Karls v. Anjou so stark
hervor, daß die Franzosen ihre Gegner, die das Schwert
mit beiden Händen schwangen, durch Stöße in die Achsel-
höhlen zu fällen trachteten. Die mannigfache Abstammung
des römisch.m Adels ist gleichfalls schon öfter hervorgehoben
worden.
Wenn De Lapouge eine spezifisch höhere Begabung des
französischen Adels, der nach ihm mit dem arisch-germanischen
Element zusammenfällt, nach De Eandolles Statistik der
Gelehrten, durch die Anerkennung der französischen Akademie
und den verhältnismäßigen Anteil der einzelnen Stünde zu
beweisen sucht — so bedarf das keiner Widerlegung. Er
versichert auch, daß die Eintragung der hervorragenden
Menschen in eine Karte das Übergewicht der arisch-germa-
nischen nördlichen Länder, als einer Zone der Erfinder und
Entdecker zur Anschauung bringt. Ebenso könnte man eine
Karte der Kommerzienräte entwerfen, die die Inferiorität
Süddeutschlands in Handel und Gewerbe klar beweisen würde.
Erst seit wenigen Jahren wäre ein Aufschwung bemerkbar!
Im übrigen ist der Niedergang und das Erlöschen vor-
nehmer Geschlechter so häufig, daß es bekanntlich nur wenige
Adelige giebt, die ihren Stammbaum bis über das Jahr 1000
hinauf belegen könnten. Jeder Mensch hat ja schließlich
Ahnen bis in die graueste Vorzeit; es kann sich also nur um
den Zeitpunkt handeln, wo ein Geschlecht eine hervorragende
Stelle gewinnt. Jedes Jahrhundert weis von ausgegangenen
Familien zu berichten, nicht nur regierender Häuser, auch
andrer Adeligen. Es sind nicht nur die Jahrhunderte, in
denen kriegerische Gewohnheiten den Lebcnsfaden verkürzt
haben können. Um 1700 wird der Verfall, das körperliche
Verkommen des hohen Adels in England, Spanien und
Frankreich von ernsten Schriftstellern konstatiert, man sei
unter ihm wie in einer Gesellschaft von Kranken gewesen
(vergl. üihot, hérédité 1879, p. 392). Man wird sich
auch an Swifts Schilderung erinnern, wie Gulliver die
Ahnen der vornehmen Häuser sich heraufbeschwören läßt.
Aber mit der Rasse hat es nichts zu thun, daß eine
hervorragende Lebensstellung nicht auf viele Geschlechter in-
direkter Linie sich fortsetzt. Man möchte glauben, daß die
Verdichtung der Lebensenergie, ob sie nun Repräsentations-
pflicht sei oder sich in greifbaren Leistungen geistiger
Produktivität ausdrücke, schließlich aus Kosten der Nach-
kommenschaft geschehe. Das Heruntersinken zu Mittel-
mäßigkeit, die Fortfristung eines Geschlechts, ist ja nicht
ausgeschlossen. Aber der bloße Begriff der Rasse als Ab-
stammung scheint uns kein Licht zu bringen für die Auf-
hellung der dunklen Zusammenhänge körperlicher und geistiger
Bestimmtheit des einzelnen wie der Völker.
Münster im Gregorienthal.
Don Bruno Stehle in Oolinar.
Zn den schönsten Thälern unsrer Hochvogesen zählt das
im Westen von Colmar bis an den Hochkamm des Gebirges
sich hinziehende Gregorienthal. Mitten darin liegt die alte
Klosterstadt Münster oder monasterium ad oouüusutos —
das oberelsässische Koblenz — ungefähr da, wo die Bäche
des Großthales und des Kleinthales sich vereinigen.
Die Gründung der Stadt führt uns in jene Urzeit
zurück, wo die Sendlinge des heil. Gregorius um die Mitte
des siebenten Jahrhunderts in diese Wildnis kamen und
nach schweren Kämpfen mit Bären und Auerochsen ihre
ersten Zellen bauten. Heute erinnert nichts mehr an diese
Zeiten der ersten Besiedelung durch die Mönche; und wo
einstens das Vesperglöcklein die Klosterleute zur Andacht
lud, ruft jetzt die Glocke die zahlreichen Arbeiter in die
Werkstätten der großen Spinnerei von Hartmann u. Söhne.
Aus einer Klostcrstadt wurde Münster eine Fabrikstadt
ersten Ranges.
Aber eines ist geblieben. Die prächtigen Berge mit
ihren dunkeln Tannenwäldern, die klaren Bergwasser, die
zwischen den Felstrümmcrn schäumend sich Bahn suchen, die
Bruno Stehle: Münster im Grcgorienthal. 265
34
Globus LIX. Nr. 17.
Münster im Elsaß. Nach einer Photographie.
266
O. Marburgs Forschungen auf den Liukiu-Znfeln.
grünen Matten mit ihren einladenden Molkereien, sie haben
den Wandel der Zeiten überstanden und üben dieselbe An-
ziehungskraft ans uns aus, wie ehedem aus die Söhne des
heil. Bcncdiktns. Noch tragen, wie vor undenklichen Zeiten,
die Bewohner im oberen Thäte ihre alte Tracht, noch vererbt
sich die Kunst der Bereitung von Käse, der jährlich in vielen
Zentnern verschickt wird, von Bater auf Sohn wie vor
Hunderten von Jahren.
Münster eignet sich wie wenige Orte als Standquartier,
um von da aus einen großen Teil der Hochvogescn zu durch-
streifen. In wenigen Stunden erreicht man einen der be-
liebtesten Luftkurorte „Drei Ähren" (690 in über dem
Meere) mit seinen beiden Prächtigen Gasthöfen. Noch groß-
artiger als hier ist die Aussicht von dem ungefähr eine
Stunde entfernten großen Hohnack. Das Auge beherrscht
von hier ans die Nordvogesen mit der Hohkönigsburg und
St. Odilien, das Rheinthal, die Südvogesen mit Staufen,
Großem Belchen, Kahlen Wasen, nach Westen den Hohneck
und die Schlucht. Wer weiter wandern will, wende sich
den Seen zu, dem Weißen und dem Schwarzen Sec, sie liegen
hoch oben, nahe an der französischen Grenze, eingebettet in
gewaltige Felsblöcke. Durch nichts wird die majestätische
Ruhe hier oben gestört, wenn nicht der Wanderer durch
Zufall das einsam äsende Reh aufscheucht. Auch zu lin-
guistischen Studien ist hier reichlich Gelegenheit; die Be-
wohncr des Dorfes Labaroche (lat. parochia — Pfarrei),
durch das unser Weg führt, sprechen ein eigentümliches
französisches Patois, in dem Kenner noch manche keltische
Bestandteile finden wollen.
Bon Münster aus erreicht man in ungefähr vier Stunden
die französische Grenze, die Schlucht, einen wildromantischen
Gebirgspaß, dessen Umgebung völlig alpinen Charakter trügt.
Bon dem nur eine Stunde entfernten Hohneck (1361 m)
schweift der Blick über den ganzen Wasgau hinüber zum
Schwarzwald und von da bis zu den Schneehäuptern der
Alpen, unter denen besonders die Bergriesen des Berner
Oberlandes herüberleuchten.
Ist manche dieser Wanderungen mit einiger Anstrengung
verknüpft, so ist die Besteigung des Kahlen Wasen oder
Kleinen Belchen (1268 in) fast mühelos, doch nicht weniger
lohnend. Der müde Wanderer findet in der Bergwirtschaft
gute Verpflegung.
• Auf alle diese Punkte führen sorgsam unterhaltene
Vogcsenpfade, die vom Bogesenklnb, dessen Sektionen im
Gebirge eine große Thätigkeit entfalten, angelegt sind.
Ebenso zahlreich sind die Spaziergänge in den schattigen
Anlagen der Stadt Münster selbst wie in deren nächster
Umgebung. Fügen wir noch hinzu, daß in vielen Molke-
reien wie in besonderen Gasthäusern aus den Höhen auch
für des Leibes Bedürfnisse trefflich gesorgt ist, daß in
Münster ein großer neuer Gasthof mit billiger Pension
jeglichen Wünschen gerecht wird, so bedarf es wohl keines
weiteren Beweises, daß Münster zu den angesehensten
und zugleich lohnendsten Sommerfrischen der Hochvogesen
gehört i).
U Wer sich über die Geschichte der Stadt, ihre Kulturver-
hältnisse bis zur Gegenwart unterrichten will, dem sei das mit
Liebe für seine Vaterstadt geschriebene Buch von Dr. Friedrich
Hecker, Die Stadt und das Thal zu Münster im St. Grego-
rienthal (Münster, Beck, 1890) empfohlen.
G. Marburgs Forschungen auf den Linkiu-Tnseln.
Über die Liukin- Inseln, die sich in einem Bogen von
der südlichsten japanischen Insel bis zur Nordspitze Formosas
hinziehen, sind wir im allgemeinen noch dürftig unterrichtet.
Neben den kurzen Nachrichten, die wir der Broughtonschen
Entdeckungsreise am Ende des vorigen Jahrhunderts ver-
danken, sind Notizen und Schilderungen uns zngängig
gemacht worden durch Basil Hall, der 1816 mit den
englischen Kriegsschiffen „Alceste" und „Lyra" die Liukin
besuchte; durch Kapitän Beechey, der 1827 mit dem eng-
lischen Kriegsschiffe'„Blossom" hier war und durch das
amerikanische Geschwader unter Perry, 1853 und 1854.
Bei der damals noch sehr mißtrauischen und feindseligen
Stimmung der Eingebornen wurde aber durch alle drei Expe-
ditionen unsre Kenntnis des Archipels nur wenig gefördert.
Eine neue Ära beginnt mit der Wiederbesestigung und
Ausdehnung des japanischen Einflusses ans den Liukin.
Deren Verbindung mit dem Sonnenaufgangsbade ist eine
alte, tausendjährige, und wiewohl hier auch chinesischer Ein-
fluß durch die Jahrhunderte sich geltend machte und die
japanische Oberhoheit über die Linkin auch heute noch nicht
von China anerkannt ist, so übt doch Japan die Herrschaft
thatsächlich aus. Schon 1853 fand Perry auf der Haupt-
insel eine japanische Besatzung. Im Jahre 1876 wurde
der letzte König mediatisicrt und nach Japan geschickt. Es
war früher von einer Äbtretung der Südgruppe an China
die Rede; allein alle Inseln sind jetzt im thatsächlichen
Besitze der Japaner und kein Chinese lebt auf der ganzen
Gruppe.
Mit der Ausbreitung der japanischen Herrschaft beginnt
auch eine bessere Kenntnis der Inseln. Das Wichtigste ans
dem Berichte des japanischen Gesandten Jdjichi übersetzte
Müller-Beeck, und der an der Universität Tokio angestellte
deutsche Professor Döderlein sammelte während eines vier-
zehntägigen Aufenthalts auf der Hanptinscl Okinawa wich-
tige Materialien.
Die Inseln, die in vier Gruppen zerfallen, liegen
zwischen 24 und 30 Grad nördl. Br., also selbst die südlichste
noch innerhalb der gemäßigten Zone; der Flächeninhalt wird
nach den Ausmessungen der Karten von Döderlein ans
nur 3800 plan berechnet (d. i. ungefähr so groß, wie das
Herzogtum Brannschweig); dagegen ist die Bevölkerung
ziemlich dicht; sie beträgt nach japanischen, ziemlich zu-
verlässigen Quellen 370 000.
Wichtige neue Nachrichten über die Gruppe verdanken
wir jetzt dem Dr. O. Marburg ans Hamburg, der die
Inseln vor drei Jahren besuchte und deren Pflanzengeo-
graphischcn Charakter feststellte. Einem Vortrag, den der-
selbe in der Hamburger Geographischen Gesellschaft gehalten
hat (Mitteilungen derselben 1889 bis 1890, S. 121 bis 145)
entnehmen wir die nachfolgenden, viel Neues bietenden
Schilderungen.
Bon dem japanischen Hafen Koba ans begab sich Dr.
Marburg mit einem japanischen Dampfer zuerst nach der
Insel Os chima, die er als bergig, düster, aus Urgestein
aufgebaut schildert, mit einigen guten Häfen und 30 000 bis
50 000 Einwohnern. Die sogenannte Sagopalme (Cycas
revoluta) erreicht hier ihre Nordgrenze, ebenso eine Zucker-
palme (Arenca Engleri). Die Cycas ist die wichtigste
Pflanze der Liukin, sie bildet durch ihren Sagogehalt kleine
Proviantmagazine in Zeiten der Not. Als Hauptnahrnngs-
O. Marburgs Forschungen auf den Liukiu-Jnselir
207
mittel dient die von China her eingeführte Batate oder süße
Kartoffel. Hauptausfuhrartikel ist der Zucker; auch baut
man Indigo.
Eine Tagereise brachte Dr. Marburg nach der Hauptinsel
Okinawa, wo er in dem Hafenorte Nafa in einem kleinen
japanischen Hotel freundliche Aufnahme fand. Daß dort jetzt
selbst ein japanischer Photograph ansässig ist, beweist, wie sehr
die Insel allmählich in die Kultnrsphäre einbezogen wird.
Der Hasen ist mit Dschunken belebt, und als Marburg dort
war, lagen in demselben sogar zwei kleine Handelsdampfer.
Auch die japanischen Jinrikschas (von Männern gezogene, als
Droschken dienende Wägelchen) haben ihren Einzug gehalten;
früher gab es keine Läden; jetzt haben die Japaner solche
eingerichtet und neben Pale Ale war Flensburger Stockbier
zu haben. Die Industrie ist bedeutend; Glasflaschen, Stein-
gut, Ziegel, Lacksachen, Messing, Zinnarbeiten werden er-
zeugt; vor allem aber wird viel gewebt, selbst in Fabriken,
die grobe Stosse aus Manilahanf herstellen. Die Stoffe
werden nach Japan ausgeführt. Dazu kommt sehr viel
Branntwein (Awamori), aus Hirse und Reis gebraut.
Der wichtigste Ausfuhrartikel ist Reis. Dagegen werden
eingeführt: Baumwolle, Tabak, Thee, Öl, Makkaroni,
Papier, Metalle u. s. w.
Eine Stunde von dem Hafen Nasa landeinwärts liegt
höchst malerisch die frühere Residenz Schuri, in der jetzt
eine japanische Garnison haust. Der Berg, aus dem die
Stadt liegt, ist durch mächtige, bis 20 m hohe Mauern
kunstvoll terrassiert.
Von der verhältnismäßig am besten bekannten Haupt-
insel begab sich Dr. Marburg in einem kleinen Privatdampfer
nach den südlicheren Inseln. Zuerst wurde Kcrama, west-
lich von der Hauptinsel, besucht, wo es sehr viele, wohl ein-
geführte Hirsche giebt. Es besteht aus dunkeln Schiefer-
massen und Konglomerat, oben ist Gneis und darüber liegen
kristallinische Schiefer. Die Höhe der Insel giebt Marburg
zu etwa 150 m an. Von Bedeutung ist hier die Schweine-
zucht. Noch weiter westlich liegt Kumeschima, wo ein
einziger Japaner, der Gouverneur, lebt. Sie besteht aus
drei bis gegen 250 m hohen, dicht bewaldeten Hügeln, an
die sich nach Westen eine mit Reis bebaute Ebene an-
schließt.
Viel wichtiger ist das zur Südgrnppe gehörige Tai-
pinsan oder Mijakoschima, eine dicht bevölkerte, aus
gehobenem Korallenkalk bestehende Insel mit vielen Grotten,
in denen sich süßes Wasser ansammelt. Hier fand Dr.
Marburg auf einem Hügel mitten unter Prächtigem Pan-
danusgebüsch einen Marmorblock ans einem Granitsockel mit
folgender Inschrift:
Im Juli 1873 ist das deutsche Schiff R. I. Robertson
geführt von Kapitän Hernsheim aus Hamburg,
an den Felsen der Küste von Taipinsan
gestrandet. Die Besatzung wurde mit Hilfe
der Uferbewohner gerettet, in Sicherheit ge-
bracht und während 34 Tagen gastlich auf-
genommen, bis sich am 17. August 1873 die
Heimreise bewirken ließ. In Anerkennung
dieses rühmlichen Benehmens haben wir
Wilhelm von Gottes Gnaden deutscher
Kaiser, König von Preußen, die Aufstel-
lung dieses Denkmal zur bleibenden
Erinnerung angeordnet.
Von Taipinsan wird Tripang nach China ausgeführt;
man webt Nesseltuch, baut Reis und Bataten. Aus der
Südgrnppe leben 50 Japaner, darunter 21 Beamte. Ein
Hafen ist nicht vorhanden; man ankert zwischen zwei Inseln
in 16 Faden Tiefe. Für die 32 000 Einwohner bestehen
nur vier, von Japanern geleitete Schulen.
Jschikagi, die nächste von Marburg besuchte Insel,
bildet mit Jriomotte zusammen die Untergruppe Perama,
die 15 000 Einwohner, darunter 250 Japaner, zählt.
Jschikagi ist sehr bewaldet und hat wohl den höchsten Berg
der Linkius, den Omotodake, 512 in hoch. Neben Reis und
Hirse wird Holz (Eiche und Kiefer) ausgeführt. Dort
wächst der beste Tabak der Inseln. Jschikagi hat gar keinen
Hafen, man legt eine Stunde weit vom Lande an.
Was Jriomotte, die letzte größere Insel betrifft, so ist
sie sehr ungesund durch Fieber, wovon die nördlichen Inseln
ziemlich verschont sind. Sie war vor 20 Jahren eine
Strafkolonie des Königreichs Liukiu. Die Insel ist gebirgig,
mit Spitzen bis 440 na, schön und dicht bewaldet, mit reizen-
den tropischen Landschaften, Mangrovewäldern und Wasser-
fällen. Der Hafen von Funaoki im Norden ist mäßig
geschützt und bis 28 Faden tief. Die Insel besteht zumeist
aus Sandstein mit Kohlenflötzen; an der Ostseite soll
Schiefer zu Tage treten. Seit sieben Jahren wird die
Kohle durch eine japanische Gesellschaft in sehr urtümlicher
Weise mit Japanern abgebaut. Die Flötze sind nur 70 cm
stark; die Tonne Kohlen kostet kaum 4 Mark; ausgeführt
wird dieselbe nach Hongkong.
Nach dieser kurzen Übersicht der Reisen des Dr. Mar-
burg gehen wir ans die ethnographischen Bemer-
kungen desselben ein. Die Liukiu sind in einem Um-
wandlnngsprozesse begriffen, der sich unter dem Einflüsse der
japanischen und der ihr folgenden europäischen Kultur voll-
zieht. Japanische Kaufleute, Fabrikanten und Gesellschaften
bringen Geld ins Land hinein, die Hilfsmittel europäischer
Kultur werden zugüngig gemacht. Hungersnot durch die
Taifune (deren vier bis fünf jährlich über die Inseln gehen)
gehört bei den heutigen Verbindungen zu den Unmöglichkeiten.
Kurzum die Inseln werden bald wie das japanische Haupt-
land kultiviert sein. Viel Ursprüngliches war bei dem fort-
gesetzten Einflüsse Chinas und Japans überhaupt nicht vor-
handen, und aus diesen Ländern stammen die meisten
Einrichtungen, Sitten und Gebräuche. „So ist der Haus-
bau mit den Strohdächern und auf Pfählen japanisch;
ebenso sind die Matten wie in Japan gefüllte, der Mangel
von Stühlen und Tischen, ebenso der kleine Hausaltar, die
wie unsre Fausthandschuh geformten Socken, die Stroh- und
Kolzsandalen, die Pfeifen und Tabakstäschchen, die Servicrung
und Zubereitung des Thees, das Gospiel, die Tänze und
vor allem die Sprache, die als ein altertümlicher und etwas
veränderter japanischer Dialekt aufgefaßt werden muß. Ihre
Schriftsprache steht der japanischen sehr nahe, doch verstehen
die Vornehmen und Gebildeten auch die chinesischen Zeichen.
Von den Chinesen haben sie vor allem die Religion und
Heilkunde, ferner eine Reihe von Geräten, auch die Zucker-
mühlen, die Pflasterung der Straßen, den Brückenbau, die
Ziegelbereitung, die Musikinstrumente, die Djunkcn, die Ab
schlicßung ihrer Häuser durch Mauern und, als die Inseln
noch selbständig waren, ihr ganzes Beamtenwesen. Dagegen
erinnert die feste Abgrenzung der Stünde wieder an Japan.
Der sogenannte Linkiuzops, der erst seit zwei Jahrhunderten
bestehen soll, wird mit der Mandschudynastie in China in
Zusammenhang gebracht. Die Gräber sind äußerlich durch
ihre Hufeisenform den chinesischen sehr ähnlich. Die Sitte
der Knochenwaschung, d. h. der Gebrauch, das Grab nach
drei Jahren festlich zu öffnen, die Knochen zu reinigen und
sie in ein andres Gesäß zu thun, findet sich auch jetzt noch
in Korea und einem Teile Chinas. Wie alle die östlichen
Völker, haben sie einen Ahnendienst, gerade auf den Linkius
nur sehr dünn übertüncht durch Buddhismus und die Lehre
des Konfucius. So sehen wir denn, daß die Sitten und
Gebräuche der Liukininsulaner größtenteils ältere Formen
der chinesischen und japanischen Sitten sind."
34*
268
O. Marburgs Forschungen auf den Liukiu-Jnseln.
Von Interesse ist auch, was Marburg über das Tätto-
wieren der Hände bei den Frauen mitteilt. Aus Okinawa
lassen sich nur verheiratete Frauen nach bestimmten Mustern
tättowieren. Auf Mijakoschima aber tättowieren sich die
Schönen selbst die Muster der von ihnen gefertigten Stoffe
auf den Arm, und zwar von früh an. Bei einer Dame sah
Marburg 53 Webmuster auf dem Arme.
Wie weit die Liukiuinsulaner ein selbständiges Volk sind,
welche Rassenelemente in ihnen enthalten, darüber äußert
sich Dr. Marburg sehr zurückhaltend. In ihrem Körper-
bau findet man die Anzeichen eines Kulturvolkes, d. h. starke
Abwechselungen der verschiedenen körperlichen Merkmale, so
daß die Urformen schwer festzustellen sind. „Ich habe,
schreibt Dr. Marburg, eine Reihe von Messungen der Körper-
und Gesichtsmaße angestellt, die noch der Bearbeitung harren,
doch glaube ich kaum, daß man ein andres Ergebnis erhalten
wird, als daß sie den Japanern sehr nahe stehen, was man
freilich ohne Messungen auch erkennt. Ans diese Ähnlichkeit
mit den Japanern hin unterscheidet nun Döderlein zwei
Typen, indem er nämlich alle japanischen Charaktere dem
einen Typus, alles möglichst unjapanische dem andern zu-
teilt." (Döderlein in Bd. III der Mitt. d. deutschen Ges.
für Natur- und Völkerkunde Ostasiens.) Als auffallend
bezeichnet Dr. Marburg das häufige Vorkommen viel stärkerer
Körperbehaarung als bei den Japanern, Chinesen, Formo-
sanern u. s. w., wodurch, wie auch oft durch den Gesichts-
schnitt aus ein Element in den Liukiuinfulanern hingedeutet
wird, das mit den Ainos von Jeso stimmt. Diese reichten
in Japan früher weit südlicher und bilden, wie sich immer
bestimmter zeigt, ein Element in der anthropologischen
Bildung derselben. Ob auch eine malaiisch - polynesische
Bevölkerung bei der Bildung der heutigen Liukiuinsulaner
mit beteiligt war, läßt sich nicht nachweisen, aber auch nicht
verneinen.
Sehr wichtig und die Wissenschaft fördernd ist, was Dr.
Marburg über die geologische und botanische Stellung
der Liukins ermittelt hat, und die darauf bezüglichen Fragen
waren der Hauptzweck seiner Reise. Dr. Marburg hat
festgestellt, daß die Liukiu als Reste eines vormaligen
Landes zu betrachten sind, welches Japan mit
Formosa und so mittelbar auch mit dem asiatischen
Festlande verknüpfte.
Japan besitzt eine Flora, die aus zwei Elementen zu-
sammengesetzt ist, aus einer Flora der subtropischen und der
gemäßigten Zone; erstere ist aus der südlichen Insel vor-
herrschend und nimmt in der Hauptinsel Hondo die wärmeren
Thäler ein. Nun gab es aber zu Ende der Tertiär- und
Anfang der Ouartttrperiode in Südjapan eine Zeit (viel-
leicht unsrer Eiszeit entsprechend), wo Pflanzen, einer kälteren
Formation angehörig, in Südjapan vorherrschten, vor allem
Buche, Ahorn, Hainbuche, Walnuß rc., während jetzt diese
Pflanzen nur auf den höheren Bergen der Insel vorkommen
und subtropische Pflanzen ihre Stelle in tieferen Bergen ein-
nehmen.
Danach entsteht die Frage: Wenn diese subtropischen
Formen damals schon vorhanden waren, wo sind sie während
der Zeit des kühleren Klimas geblieben, oder wenn sie erst
später einwanderten, wo kamen sie her? Nachdem Marburg
verschiedene Möglichkeiten ihrer Einwanderung (von Norden
und Westen) von der Hand gewiesen, spricht er sich nach den
erlangten Kenntnissen für die Einwanderung von den Liukiu
aus, wiewohl er ein endgültiges Urteil erst fällen will, wenn I
die Floren von Japan, China, Korea und Formosa näher
bekannt gemacht worden sind.
Waren die Liukins eine Zufluchtsstätte oder ein Aus-
gangspunkt für die subtropischen Formen in dieser jungen
Periode, so war anzunehmen, daß dieselben oder korrespon-
dierende Ärten sich noch jetzt dort erhalten haben würden;
war das nicht der Fall, so blieb nur noch die Annahme,
daß sich in der betreffenden Periode in Südjapan selbst die
subtropischen Elemente doch noch an geschützten Stellen er-
halten haben müßten, während neben ihnen die Elemente der
gemäßigten Zone gediehen.
Es ließ sich, sagt Marburg, voraussehen, daß die eigent-
lichen Liukins, d. h. von Oschima an südwärts, kaum die
Annahule rechtfertigen, daß sich die japanischen Formen
dorthin zurückgezogen hatten. Die Verwandtschaft der Inseln
zu Südchina, Formosa und den polynesischen Inseln ist eine
weit größere als zu Nordchina. Von 121 Arten z. B., die
Marburg darauf hin prüfte, sind neben 5 den Liukiu eigen-
tümlichen 50 denl Süden und nur 22 dem Norden gemein-
sam, während 44 auf beiden Seiten zu finden sind. Dieses
ist nur ein Teil der Pflanzen von Oschima und Okinawa.
Wenn die Südinseln mit betrachtet werden, so ändert sich
das Verhältnis noch mehr zu Ungunsten Japans. Nach
Döderleins Mitteilungen verhält es sich mit den Tieren
Oschimas ähnlich, so daß wir kaum berechtigt sind, in dieser
so kurz verflossenen Periode noch eine Landverbindung zwischen
den Liukiu und Japan anzunehmen. Nun liegt aber zwischen
Japan und Oschima noch eine Reihe von Inseln, unter
denen auch einige größere sind, welche eine Japan sehr ähn-
liche Flora haben, und in der That ist es nicht unwahr-
scheinlich, daß Japan sich nach dieser Richtung hin damals
weiter ausgedehnt hat.
Das Hauptergebnis der Reisen Marburgs, daß die
Liukiu die Reste eines ehemaligen Landes waren, welches
Japan mit Formosa verband, wird aber noch durch folgen-
des unterstützt.
1. In einer der späteren Perioden des Tertiär waren,
wofür geologische Thatsachen sprechen, die Linkiuinseln noch
miteinander verknüpft. Dafür sprechen außer tier- und
pflanzengeographischen Gründen auch geologische Thatsachen,
so vor allem die Kohlenlager. Die Kette ist größtenteils
von Vulkanen begleitet und Erdbeben sind häufig, also
Hebungen und Senkungen von vornherein nicht ausgeschlossen.
2. Die Pflanzen und Tiere von Formosa und Linkin
zeigen große Verwandtschaft und die Zahl endemischer Arten
auf den Liukiu ist gering.
3. Viele Organismen Japans sind den korrespondieren-
den Arten in Formosa näher verwandt, als den korrespon-
dierenden Arten in Südchina.
4. Formosa, die Liukins und Japan besitzen eine Reihe
gemeinsamer oder sich sehr nahe stehender Formen ans
solchen Gruppen, die Meereshindernisse schlecht überwinden,
deren Verbreitung also nicht durch den Kuroschivo (ost-
asiatischen Golfstrom) erklärt werden kann.
Es ist danach wahrscheinlich, daß sich die Landbrücke
nach Japan eher löste, als die nach Formosa, ob aber, wie
Döderlein meint, beide Verbindungen vor der Ankunft von
Säugetieren in Japan und Formosa schon gelöst waren,
erscheint Dr. Marburg fraglich; er möchte im Gegenteil eher
glauben, daß einige, wie z. B. Affe und Schwein, gerade
den Weg über die Liukins genommen haben. Beide und wahr-
. scheinlich auch der Maulwurf kommen auf den Inseln vor.
Landfeine Schmetterlinge über dem Südatlantischen Ozean.
269
Landferne Schmetterlinge über dem Südatlantischen Ozean.
Ähnlich wie der Wüstenstaub der Sahara weit in den
Ozean hinausgeführt wird (man vergleiche Globus LV,
Nr. 16), werden auch in den Gewässern südöstlich vom
La Plata Schmetterlinge und Insekten, ja sogar Landvögel
teils in ganzen Schwärmen, teils in vereinzelten Individuen
weit ab vom Lande angetroffen. Sie sind die Begleiter der
vom Lande herkommenden Luftdruck-Depressionen, und zwar
kommen sie nicht etwa gleichzeitig mit den aus West bis
Südwest daherstürmenden Pamperos, sondern zeigen sich bei
der dem Ausbruch des Sturmes vorangehenden Windstille,
wenn das Barometer seinen tiefsten Standpunkt erreicht hat.
Die Erklärung dafür, das; sich die Tiere schon zeigen, noch
ehe der Sturm entfesselt ist, mag darin gesucht werden, daß
dieselben gleich anfangs durch den Wind, welcher znm stillen
Zentrum des Wirbels hindrängt, ebendahin verschlagen
werden und dort die Möglichkeit finden, am Leben zu
bleiben.
Eine tveitere Erklärung, das; die Tiere nicht sogleich vom
Sturme vernichtet werden, dürfte darin liegen, das; sie durch
den in der Umgebung des Minimums aufsteigenden Luftstrom
länger schwebend erhalten bleiben und nicht sofort im Wasser
umkommen. Ans einigen Angaben deutscher Schiffe (vergl.
Annalen der Hydrographie, 1889, Heft 12) geht hervor,
wenn mau dazu noch deren Positionen auf dem beigegebenen
Kärtchen betrachtet, in welch ungeheure Entfernungen die
Tiere in den Ozean hinaus verschlagen werden; Entfernungen,
t . <rvv Drt illl an dem die Schmetterlinge an Bord kamen,
die, von der La Plata-Mnndnng gerechnet m sndösttrcher Du.-i^ . Richtung 880 Seemeilen
Richtung an 1000 Seemeilen betragen. E ist dies een °m ^ ^ ,'e durch ein zweites Schiff, die Bark
Abstand, welcher dem von Hamburg nach Tunis oder dem von elttstrnt. j ^ ^ ^ ^ ^ ^ „Undine" (4 Uhr
^"'lin «ach Madrid nngesähr gleichkommt. Wieist 1 »u m " .^.„Uttags am 12. Februar) ihre Beobachtung machte, fest-
gewissen, durchaus berechtigten Voraussetzungen sc) nßen i ß, werden das; die Tiere noch weiter anzutreffen waren,
wird sich aus denn Folgenden re uckereffante Thaffache - ^^werdem da^ ^ ,^ßer Schnietterling an
iick'tt, das; der stündlich zurückgelegte Weg ""ev so em e . Dione" stand etwa 1000 Seemeilen vom Lande
Tieres 22 Seemeilen wahrend emer Zeitdauer^v n 48 funden o» ^ (üou Stille bis zum Sturm) verlief
um" 4 Uhr nachmittags "bei^schwacher NNO.-Brise und auch hier ganz Ähnlich mit entsprechend andern Zeiten wie
einem bereits seit 11 Stunden niedrigen Barometerstände auf dem eilten ^Oili. . ..
tuum üfuu. 1 Zur Begründung der eingangs erwähnten Äußerung, daß
ftmt 732 5 min auf eine avofic 3abl avoüei 2>ci)tnettirlin[ji, \) ' . c c < (7 ..j.
von i c J i 0 J die Depression UI der That von der sudamerlkanlschen Küste
die aus südlicher Richtung kommend, ans dem Schiffe Schutz oie c o, J O.
tut, uu. ilium) •' Ä.Äfln , aekommen ivar, können die Beobachtungen der Bark „Parnaß"
suchten Nicht lange währte es und eme leichte SL>W.-Drlie, ijuummiui>«»•', . T ?... "7 '
' 7; ’ T... r ’ r t ............ sRja «roittmintfat dienen. Diese befand sich zwei Tage früher vor der La Plata-
MN L Mitudu..- (¡„ mso v°„ der Küste, «..ch brach
m ^ 1 J irtsisitnpr Ktärke sich der Sturm, nachdem der Luftdruck langsam abgenommen,
Barometer, um dann gegen Morgen zu maplger viarie ^ ^ . . x: J
. ' » ,, > . plötzlich aus ^-L>W. herein, wuchs zuin Sturme und führte,
zu verringern. \ v i >
270 Die äußersten Ostpunkte der Neuen Welt. — Eine russische Stimme über die deutschen Kolonieen rc.
bei mehr westlich gewordener Windrichtung, eine große Menge
von Pflanzenstoffeu mit sich. Eine zweite, noch festere Stütze,
daß jene Schmetterlinge dem siidamerikanischen Festlande ent-
stammten, findet sich in den Aufzeichnungen des Dampfers
„Köln" (K) vom 10. Februar: Gegen 5 Uhr nachmittags
droht schweres Wetter aus Südwest. Als gegen 6x/-2 iihr
eine schwere Regenböe aus Westen einfällt, kamen vor der-
selben viele Schmetterlinge und Libellen an Bord.
Nimmt man nun nicht unberechtigter Weise an, daß der
Schmetterlingsschwarm auf dem „Köln" mit dem der „Undine"
identisch war, so ist der letztere von dem dem „Köln" zunächst
gelegenen Punkte der Küste 1070, und das einzelne Indivi-
duum an Bord der „Dione" gar 1200 Seemeilen über das
Meer geführt worden. I. v. Goerne.
Die äußersten Ostpunkte der Neuen Welt.
Bon Prof. S. Rüge.
Die äußersten Westpunkte Amerikas sind, seitdem sie ein-
mal entdeckt und benannt worden waren, weder nach der
Form des Namens noch nach der Bedeutung ihrer Lage in
Zweifel gezogen. Sie werden in allen Handbüchern genannt
und haben also ihren festgegründeten Ruf.
Anders verhält es sich mit den Ostpunkten sowohl Süd-
als Nordamerikas. Nehmen wir Südamerika zuerst. Man
muß zugeben, der äußerste östliche Punkt des Festlandes scheint
nichts Auffälliges zu bieten, was man für eine so wichtige
Stelle wünschen möchte. Daher hat man sich meistens mit
dem schon im Anfange des 16. Jahrhunderts getauften Vor-
gebirge des heil. Rochus begnügt. Höchst wahrscheinlich
stammt die Taufe von der Fahrt Amerigo Vespuccis im
Jahre 1501. Da sich bei dieser Entdeckungsreise die
Hauptmomente aus den Kalendertagen ablesen lassen und da
das Kap des heil. Rochus in die Reihe paßt, so wird man
dadurch in der Annahme, daß Vespucci der Taufpate gewesen
ist, um so mehr bestärkt. Der Kalendertag des heil. Rochus
(Sau Roque) fällt auf den 16. August; weiter südlich folgt
der heil. Augustin auf den 28. August (Kap de St. Agostino),
Rio de San Francisco auf den 4. Oktober, Allerheiligenbai
(Bahia de todos os Santos) auf den 1. November. Der
heil. Rochus wird deshalb, weil er seit langen Zeiten einen
geographischen Namen hat, oft zitiert. Und doch charakteri-
siert Wappäus (Südamerika II, 1214) das Vorgebirge da-
hin, daß es einen nur wenig hervorragenden weißen, an
einzelnen Stellen von wenig Rasen und Buschwerk bedeckten
Saudberg bilde. Allerdings liegt das Kap der auffälligen
Wendung der Küstenlinie Brasiliens am nächsten; aber es ist
doch nicht richtig, zu sagen, daß von diesem Vorgebirge aus
die Küste sich scharf südwärts wende. (Guthe-Wagner I,
217, 5. Anst.) S. Roque liegt fast einen halben Breitengrad
südlich von der Küsteubeuge und der Gestadezug läuft über
100 km nach S. zu O. bis nördlich von Peruambuco. Und
hier liegt die Punta de Guia (richtiger im Portugiesischen
wohl Ponta de Guia) nach Rapers Practice of navigation
(London 1877), mit dem Zusätze 6a8t 6xtr. of 8. Amer.
unter 34" 47' w. Gr. und 7" 26' s. Br. Am nächsten
kommt ihm das nördlich gelegene Kap Branco, unter 34" 48'
w. Gr. und 7" 8' s. Br. Weit mehr als diese tritt das
Kap S. Roque zurück, denn es liegt 35" 16' w. Gr., also
beinahe einen halben Grad weiter westlich als de Guia.
Dieses habe ich bisher nirgends erwähnt gefunden; vermut-
lich ist es als Landmarke bedeutungslos. Will man diesen
allerdings nicht unwesentlichen Gesichtspunkt in den Vorder- !
gründ rücken, dann möchte sich empfehlen, die Olindaspitze !
zu nennen. Olinda ist eine Vorstadt von Peruambuco und
liegt weithin sichtbar auf dem Hügel gleichen Namens. Dieser
Hügel bildet für den Schiffer, der von Norden kommt, die
erste wichtige Landmarke und den ersten hohen bergartigen
Punkt an der ganzen brasilianischen Küste (Wappäus 11,1215).
Er wird sich nach der Lage der großen benachbarten Handels-
stadt leicht merken lassen und liegt unter 34" 50' w. Gr.,
also nur 3 Gradminuten westlicher als Guia. Ehedem war
Olinda bekannter und berühmter als jetzt. Dapper giebt
in seiner „Beschreibung des Weltteils Amerika" nicht nur
einen prächtigen Kupferstich von „Olinda de Peruambuco",
wie sich der bebaute Oliudahügel von der Seeseite her aus-
nimmt, sondern liefert auch (S. 435) eine ausführliche Be-
schreibung davon.
Ich wende mich nun nach Nordamerika. Beiläufig
will ich bemerken, daß das östlichste Jnselkap, auf Neufund-
land gelegen, gegenwärtig den entstellten englischen Namen
C. Race trägt, was nichts bedeutet; denn das Wort Race in
der Bedeutung Stamm, Geschlecht, Rasse kann man doch un-
möglich heranziehen. Im Anfange des 16. Jahrhunderts
zeigen die spanischen und portugiesischen Seekarten das ge-
nannte Vorgebirge unter dem Namen C. Raso, so z. B. auch
die Karte von Pedro Reinel im Atlas zur Entdeckungsge-
schichte Amerikas (München 1857, Tafel 1). Raso heißt in
Portugal eben, flach, frei. Dies Vorgebirge wird schon um
deswillen erwähnt, weil hierher von Irland aus das trans-
atlantische Kabel landet. Dagegen herrschen über die Ostspitze
auf dem Festlande wieder Unklarheiten. Guthe-Wagner nennt
gar keinen östlichsten Punkt auf dem festen Lande von Nord-
amerika. Klöden nennt in seinem Handbuch (V, 214, 4. Ausl.
1884) das Kap Charles an der Ostecke Labradors, aber er
giebt die Lttngenbestimmuug davon nicht an. Der Name
Cap Charles findet sich bei den älteren Kartographen wie
Mercator, Hondius, Sansón noch nicht, wohl aber bei de
l'Jsle und bei d'Anville. Er wird wohl erst im 17. Jahr-
hundert gegeben worden sein, aber wir wissen jetzt, daß es
auf einer Insel an der Küste liegt. Etwas nördlich davon
treffen wir am festen Lande auf das Kap St. Lewis. Man
vergleiche dazu die Karte des Kapitäns Chimmo im Journal
R. Geogr. Soc. London 1868. Nach Raper liegt dieses
Kap unter 55" 37,2' w. Gr., Kap Race dagegen unter
53" 4,3' w. Gr. So sind also die östlichsten Punkte der
Neuen Welt in Nord- und Südamerika, Kap St. Lewis
und Ponta de Guia, bisher noch ziemlich unbekannte
Größen zu nennen.
Eine russische Stimme über die deutschen
Kolonieen in Rußland.
Wiederholt haben die Tagesblätter gemeldet, wie sehr die
deutschen Kolonieen in Rußland neuerdings von der Russi-
schen Presse angefeindet werden. Mit Rücksicht hierauf ist
es nicht ohne Interesse, zu vernehmen, was die Neue Zeit
(Nrwoja Wrjemä) vor kurzem darüber schrieb:
In den Zeitungen ist der Kampf gegen die deutschen An-
siedler in Rußland wieder aufgenommen worden: man hält
den Deutschen vor, daß sie russische Ländereien ankauften.
Leider ist in dieser Hinsicht nichts neues zu melden, immer
dasselbe — Behauptung, Klagen über den ökonomischen Schaden,
der für Rußland daraus entsteht, daß die russischen Lände-
reien in die Hände der Deutschen übergehen. Und doch ist
nichts leichter, als zu zeigen, daß jene Behauptungen unbe-
gründet sind, wenn man sich streng auf dem Boden der all-
gemeinen ökonomischen Grundsätze hält. Zunächst ist ein
Satz vollkommen klar: die russischen Landbesitzer verkaufen
ihre Ländereien an die Deutschen deshalb, weil sie selbst, wie
ersichtlich, keinen Vorteil finden, ihr Land auszunutzen, und
weil zweitens die Deutschen bessere Preise zahlen als die
Russen selbst.
Thätigkeit ber k. Í. geblogischen Reichs anstatt in Wien 1890.
271
Wenn man sich die Grunde, warum die russischen Lände-
reien an die Deutschen übergehen, klar macht, so überzeugt
man sich leicht, daß, wenn die russischen Besitzer ihr Land
verkaufen, weil sie die Wirtschaft nicht lohnenswert finden
und die Deutschen dieselben Ländereien kaufen, tveil sie aus
Gewinn rechnen, nur eins möglich ist. Entweder täuschen
sich die Deutschen, wenn sie die russischen Ländereien kaufen,
in ihrem erhofften Vorteil — dann werden sic Verluste er-
leiden, die sie allmählich zwingen werden, die gekauften Lände-
reien tvieder aufzugeben; oder aber die Deutschen irren sich
nicht in Bezug auf die vorteilhafte Wirtschaft — dann ist es
sicher, daß die russischen Wirte schlecht gewirtschaftct haben.
Wenn die Russen ihre Ländereien verloren, tragen sie die natür-
lichen Folgen ihres schlechten Wirtschaftens; die deutschen Käufer
mildern nur die Folgen, insofern als ohne die Deutschen das
Land noch billiger verkauft werden müßte oder vielleicht gar
keine Käufer fände.
Was für Gründe liegen vor, um behaupten zu können,
daß der Ankauf der russischen Ländereien durch deutsche An-
siedler dem russischen Reich in ökonomischer Beziehung Scha-
den brächte? Im Gegenteil, es ist vollkommen klar, daß der
Ankauf der Ländereien von Seite der deutschen Ansiedler für
Rußland in ökonomischer Beziehung direkt vorteilhaft ist. j
Die Verkäufer der Ländereien erhalten höhere Preise und die !
Ländereien kommen in geschicktere Hände, die aus ihnen reich- !
lichen Gewinn ziehen werden. Wenn aber auch die Deutschen ;
nicht besser wirtschaften würden als die Russen, die ihre '
Ländereien verkauften, so bleibt immerhin die Erhöhung des j
Kaufpreises für den Boden — das ist ein Plus in der Volks- !
wirtschaft.
Wenn demnach keine ökonomischen Gründe vorliegen, um
das Zuströmen der Deutschen zur russischen Landwirtschaft
schädlich zu nennen, so soll damit doch keineswegs gesagt sein,
daß die Regierung sich gleichgültig gegen die Thatsache des
Eindringens der Deutschen in die russische Landwirtschaft
verhalten solle. — Die Regierung soll nicht nur ans ökono- :
mischen Vorteil ihre Aufmerksamkeit richten, sondern auch die
Umstände dabei ins Auge fassen, die einen ganz andern
Charakter haben und für Kultur und Politik von Beden- j
tnng sind.
Und über die politische Bedeutung des friedlichen Eindrin-
gens der Deutschen in die russische Landwirtschaft kann kein
Zweifel bestehen. Die Thatsache, daß die Deutschen sich der russi-
schen Ländereien bemächtigt, wirkt viel schädlicher, als einst der
Umstand wirkte, daß alle hohen russischen Staatsposten in den
Händen der Deutschen sich befanden. Im letzten Falle blieb
alles deutsch, was die Deutschen mit sich brachten in der |
oberen Schicht — in das Volk drang nichts hinein; wurde
auch die Masse des Volkes davon berührt, so war das nur
äußerlich —, das eigentliche Volksleben, das geistige Leben
des Volkes blieb unbeeinflußt. — Für die Bevölkerung der-
jenigen Gouvernements, wo jetzt bereits die Deutschen ausge-
breitete Landflächeu innehaben, steht die Sache jetzt anders. j
Hier kommt nun der deutsche Einwanderer nnnüttelbar mit
dem Volke zusammen, hier wo sie ans dem Gebiet des täglichen
Interesses sich begegnen, hier ist der Deutsche durch seine :
Kultur, durch sein Wissen der Masse des russischen Volkes
überlegen, hier ruft der Erfolg der Deutschen in der Land-
wirtschaft das Staunen der Russen hervor —, hier übt der
deutsche Einwanderer ans die Masse einen ungeheuren Ein-
fluß ans, hier beherrscht er sie mit Leichtigkeit, hier bestimmt
er die Masse, ihm zu folgen, hier bewirkt er eine innerliche
Veränderung im geistigen Sein des Volkes. Vom ökonomi-
schen Standpunkte aus ist das alles nur von Nutzen: der
russische Bauer kann von dem deutschen viel Nützliches lernen.
Aber in bezug ans Kultur und Politik ist dieser deutsche
Einfluß — ein Gift, das die religiöse und politische Ueber-
zeugung zerlegt. Das ist eine sehr große Gefahr — von
dieser Gefahr muß man sprechen, um die Frage richtig zu
stellen. (Nowojä Wrjemä 5349, Jan. 1591.)
Thätigkeit der k. k. geologischen Neichs-
anstalt in Wien 1890.
Die erste Sektion setzte die 1889 begonnene Ausnahme
der Flpschzone von Salzburg bis in die Gegend von Gmun-
den fort; eine Neuaufnahme des Grazer Beckens wurde durch-
geführt, und die Umgebung des Hochschwabgebietes (Lunz,
Hieflau, Gams, Schneealpe u. s. w.) durchforscht, sowie
Begehungen im Kaisergebirge und im Hochschwabgebiete
gemacht, über welche das „Jahrbuch" Heft 3 und 4 v. 1890
und die „Verhandlungen" (Nr. 16 v. 9. Dezember 1890)
ausführlich berichten. Gelegentlich der Aufnahme in den
Sannthaler Alpen wurden in den Mcgalodonten führenden
Kalken, welche dem Dachsteinkalke zugezählt werden, Durch-
brüche von Felsitporphyren entdeckt. Die Aufnahme der
Gegend von Judenburg wurde vollendet, die von Muran
gegen Westen fortgesetzt, und jene von der Mur bis zum
Tauernkamine zum Abschlüsse gebracht.
Die zweite Sektion arbeitete in Mähren im Karpaten-
sandsteingcbicte des Maesgebirgcs, des Steiuitzer Waldes,
und in den südwestlichen Ausläufern des mährisch-ungarischen
Grenzgebirges, wobei die Neogenablagerungcn der mährischen
Bucht des Wiener Beckens bei Gapa in das Aufnahmegebiet
mit einbezogen wurden. Auch wurde die Aufnahme des
Blattes Göding-Lnndenburg der Generalstabskarte vollendet,
und der östliche Teil der hohen Tatra begangen, um auch das
Blatt Nenmarkt- Zakopane zum Abschluß zu bringen.
Auch die dritte Sektion betrieb die Aufnahme von mähri-
schen Gegenden in der Umgebung von Brünn, Olmütz und
in der mährischen Schweiz, ferner bei Freiwaldau, Senften-
berg und Schönberg. Der Oberbergrat Dr. Gnido Stäche
setzte selbständig seine Aufnahmen in Istrien und Görz fort,
und widmete die Monate August und September der Spezial-
aufnahme des südlichen Teiles des Blattes Villach. Auf
der Insel Lesina wurden die fischführenden Plattenkalke ein-
gehend untersucht und zwei verschiedene Horizonte festgestellt.
Auch einige Ausflüge auf das dalmatinische Festland und die
Insel Bna lieferten schöne Ergebnisse und eine reiche Aus-
beute von Versteinerungen. Eine große Anzahl von wichtigen
Photographieen kennzeichnender tektonischer oder lehrreicher
Erosionserscheinilngen wurden von Stäche aufgenommen,
welche als Illustrationen, insbesondere für die Veröffentlichung
über die geologischen Verhältnisse der Umgebung von Triest
dienen sollen. Direktor Dr. Stur revidierte sechs Blätter der
Umgebungskarte von Wien, die den Anfang der zu veröffent-
lichenden geologischen Karten bilden werden, für welche 1891
von Seite des Unterrichtsministeriums ein Betrag von
5000 Gulden bewilligt worden ist. Damit ist ein lang-
jähriger Wunsch der Direktion erfüllt.
Trotz dieser angestrengten Thätigkeit blieb den Mitgliedern
der Anstalt noch Zeit übrig für Ncuanfstellungen im Museum,
welche in den nicht heizbaren Räumen nur im Sommer vor-
genommen werden können. Der Jahresbericht des Direktors
umfaßt 32 Seiten, aus denen hier nur die wichtigsten Punkte
entnommen sind. 1?.
272
Aus allen Erdteilen.
Aus allen Erdteilen.
— Kamerun. Die Expedition des Premierlcutnants
Morgen ist nach einem erfolgreichen Zuge von Batanga und
dem südlichen Hinterlande nordwärts bis Jbi am Benutz
vorgedrungen und hat sich von hier ans zn Schiff au die
Küste begeben. Leutnant Morgen war im Mai vorigen
Jahres nlit zwei Vertretern der Firmen C. Woermann und
Jantzen und Thormählen als Führern einer Handelsexpedition
ins Innere der Kolonie aufgebrochen. Die Karawane kam
bis ins Gebiet des mächtigen Häuptlings Ngila, der zur Zeit
ans einem Kriegszuge gegen die Nachbarn begriffen war.
Nach Errichtung einer Station trennte sich Morgen im
Oktober von seinen kaufmännischen Begleitern und schlug die
nördliche Route ein, um über Tibati uitb Banjo marschierend
gen Adamana zu gelangen. Die Handelskarawane nahm
ihren Rückweg über den Samaga-Flnß und dessen Lauf
folgend bis zu den Jdia-Fällen. Hierbei wurde sie viermal
von den beutegierigen Schwarzen angefallen, konnte aber die
Feinde mit Leichtigkeit in die Flucht schlagen, so das; sie wohl-
behalten am 25. Dezember mit 1000 Pfund Elfenbein am
Sitze des kaiserlichen Gouverneurs wieder eintraf.
Unterdes hat auch Premierleutnant Morgen sein Ziel,
den Anschluß au die Routen Flegels und Ziutgraffs in Ada-
mana, nach einer äußerst mühseligen Tour schließlich erreicht.
Von den Strapazen und Gefahren erhält man einen Begriff,
wenn es heißt, daß 100 Leute umgekommen sein sollen, ob-
wohl Morgen für seine Expedition lauter kräftige Neger,
besonders Wei aus Oberguinea, angeworben hatte. Ein
genauerer Bericht steht noch aus; wir wissen nur, daß
Morgen die Absicht hatte, von Akassa an der Nigermünduug
direkt mit seiner Truppe nach Kamerun zu gehen; er ist aber
durch das Scheitern des für diesen Zweck bestiminten Küsten-
dampfers gezwungen worden, mittels eines englischen Schiffes
zunächst nach Lagos zu segeln, wo er seine Leute entließ.
Von dort wird sich Morgen nach Kamerun begeben und
einen ausführlichen Reisebericht nebst Karte einsenden. Sechs
Kisten und zwei Balten mit ethuograpischen Gegenständen
sind von Lagos nach Berlin abgegangen. II. 8.
— In dem am 5. März 1801 in seiner Vaterstadt Frank-
furt a. M. verstorbenen Arzte Dr. Wilhelm Stricker ver-
liert die Kulturwissenschaft und Anthropologie einen warmen
und litterarisch vielfach thätigen Förderer. Stricker war
1816 geboren, hatte viele Länder gesehen und war Biblio-
thekar der Senckeubergischen Bibliothek. Seine Arbeiten
sind in geographischen und anthropologischen Zeitschriften zer-
streut. Er schrieb u. a. über die afrikanische Tierfabel, ver-
glichen mit der europäischen, und war der erste, welcher die
später vielfach behandelte Frage nach der Bedeutung der so-
genannten Haarmenschen und bärtigen Frauen anregte.
— Kommandant Camille Colquihat, Vizegonvcrnenr
des Kongostaates, geboren 1853 zu Lüttich, ist am 24. März
1801 zu Boma am Kongo gestorben. Seit 1882 war er
in schneidiger Weise für den Ausbau des neuen Staates
thätig; ihm gelang es, die Bangalas zu brauchbaren Truppen
heranzuziehen. Seine Erfahrungen und Beobachtungen am
Kongo hat er in dem Werke 8ur Io haut Congo niedergelegt.
sei ausgetrocknet. Nach den kürzlich in jener Gegend von
Oberst Koslowski vorgenommenen Untersuchungen be-
findet sich aber jetzt dort wieder ein See mit bleibendem
Wasser, der vielleicht, je nach dem wechselnden Wasserstande
des Aralsees, wieder einen Busen des letzteren bilden könnte.
Allein, da sein Wasser süß ist, erscheint dieses ausgeschlossen.
In den neuen Aibnghir fließt ein von Nordost kommender
Fluß, der Abzug der Sümpfe, die bei der Mündung des
Alnu-Darja in den Aralsee gelegen sind. Diesem Wasser-
abzug wird die Neubildung des süßen Sees zuzuschreiben sein.
— Aibnghir redivivus. Seit der russischen Expe-
dition gegen China im Jahre 1873 verschwand die südwest-
liche, bis dahin auf allen Karten befindliche Fortsetzung des
Aralsees von den Karten. Der Aibnghir, so hieß dieselbe,
— Die gefälschten Bronzen von Sinj. Im ersten
Hefte der Musealzeitschrift von Sarajevo, B. II, 1800,
finden sich auf S. 18 bis 20 die Gutachten dreier gelehrten
Archäologen über „zwei wunderbare Bronzegrnppen ans der
Sinjcr Gegend". (Sinj ist ein Städtchen in Dalmatien,
fünf Wegestunden von Spalato entfernt.) Hinsichtlich der
Bedeutung der höchst seltsamen Figuren, deren Patina auf
hohes Alter hinweist, konnten die Gelehrten nicht einig
werden. Das Rätsel würde noch so manchem schweres Kopf-
zerbrechen verursachen, hätten nicht glücklicherweise Herr Dr.
Franz Bnlat, der Direktor des Spalatoer Museums, Herr
Dr. Bulio, Gymnasialdirector ebenda und Herr Dr. Lud-
wig Thallüczy die Lösung gefunden. Bei prähistorischen
Antiquitäten ist es in den allerseltensten Fällen möglich, auch
nur das Jahrhundert der Entstehung oder Anfertigung eines
Stückes genau zu bestimmen, diesmal jedoch gelang es sogar,
nahezu das Entstehungsjahr und den Künstler mit vollem
Namen aufzuspüren. Er ist Feldbaner, Hufschmied, Büchsen-
schäfter, Maurer, Bildhauer u. s. w. Kurz ein Tausend-
künstler und Autodidakt, heißt mit Namen Peter Pczclj,
wohnt im Dorfe Rozei in der Pfarre Dünji Dolac des
Sinjer Bezirkes und versorgt seit etwa 15 Jahren Freunde
von Altertümern mit den merkwürdigsten Stücken seines
Fleißes. Seine ersten „Studien" machte er als Besucher
des Spalatoer Museums, er entlehnt aber auch Motive den
Reliefdarstellnngen alter Kirchen, z. B. jener in Trau. Die
Statuetten und Bronzegruppen seines Fabrikates schickt er
in die Welt als Antiquitäten durch Vermittelung andrer
Personen, welche gewöhnlich angeben, sie hätten die Gegen-
stände entweder in der alten Burgwarte oazina unweit Dolac
oder in Vojnio-Gardnn (Arduba?) aufgefunden. Herr Dr.
Bulio sah mehrere Kunstwerke Pezeljs, z. B. zwei Öchs-
lein aus Bronze, eine Gruppe, welche einen ans dem Throne
sitzenden König darstellt, dem mehrere kleinere Könige ihre
Ehrerbietung erweisen; auf der Rückseite dieser Gruppe war
die geheimnisvolle Inschrift NERONOIN zu lesen; ferner
sah er einen Prinzen Marko (M. Kraljevio), der seinen
Namen in einem Schwerte eingeritzt zur Beglaubigung mit-
führte. Die im Glasnik veröffentlichte Gruppe wurde Herrn
Dr. Bulio' im Jahre 1885 oder 1886 von einer Frau in
Tran angeboten als ein Gegenstand von großem Werte, der
die Tötung Agrippinas durch Nero darstelle. Als Dr. Bulio'
der Frau erklärte, es läge eine Fälschung vor, räumte sie
dies ein. Die kostbare Gruppe „Prinz Marko" hat vor
etwa zehn Jahren der damalige russische Konsul in Ragusa,
Herr Vasilij Passek, käuflich an sich gebracht und als
serbische Antiquität nach Rußland mitgenommen. Die Patina
wird von Pezelj durch Schweincexkremente erzeugt, nur
ist diese Patina infolge des Phosphorgehaltes nicht grün,
sondern schwarz. F. S. K.
Herausgeber: Dr. R. Andrer in Heidelberg, Lcopoldstraßc 27. Druck von Friedrich Bieweg und Sohn in Braunschweig.
Hierzu eine Beilage vom Bibliographischen Institut in Leipzig und Wien.
Bd. LIX.
Nr. 18.
Brauns chweig.
Jährlich 2 Bünde in 24 Nummern. Durch alle Buchhandlungen und Postanstalten
zum Preise von 12 Mark sür den Band zu beziehen.
1891.
Die neue deutsche Kolonisation in Posen und Westpreußen
in den Jahren j$$6—j$t)0.
Von m. Gehre.
Unter den mannigfachen Maßregeln, die von der Preußi-
schen Regierung und der Volksvertretung im Jahre 1886
beschlossen worden sind, um das polnische Element in den
Provinzen Posen und Westpreußen zurückzudrängen und das
Deutschtum daselbst zu kräftigen, ist gewiß die bedeutsamste
und wirksamste die Umwandlung polnischer Rittergüter in
deutsche Kolonistendörfer. 100 Millionen Mark wurden sür
diesen Zweck bestimmt; eine eigene Ansiedlungskommission,
an deren Spitze bis vor kurzem der Oberpräsident der
Provinz Posen, Graf Zedlitz-Trützschler, stand, wurde mit
der wichtigen Aufgabe betraut, polnische Güter, die sich für
die Ansiedelung deutscher Kolonisten eignen, anzukaufen, zu
parzellieren und zu besiedeln. Obwohl nur erst wenige Jahre
seitdem verflossen sind, obwohl man sich aus Erfahrungen
nicht stützen konnte, da in Preußen seit 80 Jahren kein neues
deutsches Dorf mehr auf slavischem Boden aufgebaut worden
war, so ist doch schon Großes auf dem Gebiete der Koloni-
sation geleistet worden. Alan ersieht dies am besten aus
den fünf Denkschriften, welche die Ansiedelungskommission in
den Jahren 1887 bis 1891 für die Regierung und den
Landtag herausgegeben hat.
Bis Ende 1890 wurden von der Ansiedelungskommission
im ganzen 82 größere Güter mit einer Fläche von
48 665,63 ha für 29 376 816 Mark und 32 Bauernwirt-
schaften mit einer Fläche von 1334,37 lut für 904295 Mark,
insgesamt also 50000 lut Landes für 30281211 Mark
angekauft. Im Jahre 1886 wurden erworben 16 Ritter-
güter mit 11748,59 ha, 1887 27 Güter mit 14825,77 lu>,
1888 19 Güter mit 9523,55 ha, 1889 8 Güter mit
4800,63 ha und 1890 12 Güter mit 7767,09 ha Fläche.
Von den 82 größeren Gütern finden sich in West-
preußen 17 mit einer Fläche von 11 885ha. Die
bedeutendste Besitzung, die in dieser Provinz erworben wurde,
ist die Herrschaft Rynsk mit 7 Vorwerken im Kreise Briefen.
Sie hat eine Flüche von 3778 ha. Die übrigen Güter
Globus LIX. Nr. 18.
verteilen sich auf die Kreise Pr. Stargard, Flatow, Schlochau,
Bereut, Karthaus, Schwetz, Löbau, Kulm, Strasburg und
Rosenberg. Im Kreise Pr. Stargard liegt das Ansiedelungs-
gnt Barchnan (395 ha), im Kreise Flatow Dollnik-Paruschke
(859,40 ha), im Kreise Schlochau Groß-Jenznik (193 ha),
im Kreise Bereut liegen die drei Güter Alt-Bukowitz, Lip-
pnsch und Waldowken mit einer Gesamtfläche von 1563 ha,
im Kreise Karthaus das Gut Kobissan (772 ha), im Kreise
Schwetz das Gut Zbrachlin mit dem Vorwerk Schellenschin
(500 ha), im Kreise Löbau das Gut Groß-Tiüitz (350 ha),
im Kreise Kulm das Gut Kiewo (379 ha), im Kreise
Rosenberg das Gut Gulbien (768 ha), im Kreise Strasburg
endlich die fünf Güter Bobrowo, Niewierz, Zgnilloblott,
Kruschin, und Griewenhof mit einer Gesamtfläche von
2280 ha.
In der Provinz Posen, wo die Ansiedelungskommission
ihre Hauptthätigkeit entwickelt, wurden 65 Rittergüter mit
einer Gesamtfläche von 36 780 ha erworben. Davon kommen
auf den Regierungsbezirk Posen 24, auf den Regierungs-
bezirk Bromberg 41 Rittergüter. Von den Ansiedelungs-
gütern im Posener Bezirke finden sich je 1 in den Kreisen
Lissa, Wollstein, Koschmin, Obornik, Schildberg, Schrimm,
Schroda und Schmiegel. Es sind dies die Güter Belenein
(1073 ha), Zodyn (692 ha), Groß-Zalesie (684 ha), Bogu-
niewo, Przadborow (949 ha), Zabno (1119 ha), Czarnc
piatkowo und Leipe. Je 2 Güter liegen im Kreise Frau-
stadt (Groß-Kreutsch und Deutsch-Wilke mit 2855 ha) und
Rawitsch (Slonskowo und Groß-Goretzki), je 6 Güter in
den Kreisen Wreschen (Wengierki, Kornaty, Sokolnik,
Zajezierze, Ossowo und Sedziewojewo mit 2886 ha) und
Jaroschin (Wojziechowo, Cerekwice, Loweneice, Strzyzewko,
Slawoszewo und Wileza mit 3018 ha).
Von den Ansiedelungsgütern im Bromberger Bezirke
liegen 2 im Kreise Schubin (Sadlogosch und Jablowo-
Buschkowo), 3 im Kreise Jnowrazlaw (Modliborzyce, Konary
35
l/R
274
Die neue deutsche Kolonisation in Posen und Westpreußen in den Jahren 1886 —1890.
und Baschkowo), 5 im Kreise Mogilno (Ostrowitte, Rad- !
lowo, Strzyzewo, Orchowo und Slovikowo mit 3473 ha), !
6 im Kreise Witkowo (Chladowo, Liste, Ruchocin, Rudki,
Malachowokepe und Sobinsierue mit 2563 ha), 7 im Kreise
Wongromitz (Jmielinko, Jaroszewo, Kostaschin, Runowo,
Zrazim, Wisniewko und Wysoka mit 3554 ha), 8 im Kreise
Znie (Czewosewo, Zurawiniec, Skorki, Ustaszewo, Zarniki,
Riedzwiady, Dziewierzewo und ilieudorf mit 5756 ha) und
10 im Kreise Gnesen (Michalcza, Lubowo, Lubowko,
Sokolniki, Komorowo, Swinary, Sminiarki, Lednogora,
Czechi und Waliszewo mit 3940 ha). Die meisten An-
siedelungsgüter liegen also östlich und nordöstlich von der
Provinzialhaupstadt Posen und zwischen THorn und Löbau
nicht allzu weit von der russischen Grenze.
Fast alle Güter wurden von Polen teils freihändig, teils
in der Zwangsversteigerung erworben; von Deutschen wurden
nur wenige Güter (z. B. Modliborzyce, Kobissan, Gulbien,
Griewenhos, Waliszewo und die Kujawa-Mühle) angekauft.
In den letzten Fällen war die Konkurrenz mit polnischen
Interessenten zugleich mit dem Umstande für den Ankauf
entscheidend, daß die Besitznahme für den Schutz deutscher
Interessen besonders wünschenswert erschien.
Die Ansiedelungskommission hätte ungleich mehr Güter
ankaufen können, wenn sie gewollt Hütte. Es wurden ihr
allein im Jahre 1887 216 Güter und 121 sonstige Grund-
stücke zum freihändigen Erwerb angeboten, nämlich 102 Güter
aus polnischer und 114 Güter ans deutscher Hand, 1889
27 Güter und 61 bäuerliche Grundstücke aus polnischer
und 23 Güter und 16 bäuerliche Grundstücke aus deutscher
Hand, und im Jahre 1890 25 Güter und 26 bäuerliche
Grundstücke aus polnischer und 27 Güter und 20 bäuer-
liche Grundstücke ans deutscher Hand. Es hat sich also die
Thatsache geltend gemacht, daß die polnischen Besitzer,
welche überhaupt verkaufen wollen, gar kein oder nur wenig
Bedenken tragen, in direkte Verhandlungen mit der An-
siedelungskommission zu treten.
Das Ankaussverfahren zerfällt in zwei verschiedene
Phasen: die Wertschätzung und den Vertragsabschluß mit
der Übernahme. Die Wertschätzung bietet die allergrößten
Schwierigkeiten. Es giebt keinen, selbst nur für ein be-
schränktes geographisches Gebiet oder für bestimmte Boden-
verhältnisse objektiv richtigen Wertmesser. Weder die Grund-
steuer, noch die landschaftlichen Taxen können hierfür als
absolut bestimmend gelten. Der opferwilligen Mitwirkung
einzelner Gutsbesitzer, Pächter und Administratoren von
unzweifelhafter Sachkunde ist es zu danken, daß die An-
siedelungskommission in den ersten Jahren nicht genötigt
gewesen ist, für die Zwecke der Abschätzung eigene Beamte
anzustellen. Die Abwickelung des Kaufgeschäftes war bei
den freihändigen Erwerbungen meist eine sehr zeitraubende
und mühevolle Arbeit. Bei dem Ankauf der Güter fällt
besonders die spezielle Brauchbarkeit für die Zwecke der
Aufteilung und Besiedelung ins Gewicht. Ein Gut,
welches bei bedeutendem Betriebskapital im großwirtschaft-
lichen Betriebe zu hoher Rente befähigt sein kann, wird bei
der Verwertung zu kleinbäuerlichen Stellen fast stets als zu
teuer erscheinen; umgekehrt aber kann in vielen Fällen ein
bis auf den Grund vernachlässigtes Großgut für den Zweck
der Ansiedelung besonders geeignet sein. Die angekauften
Güter werden zunächst bis zur Parzellierung in Verwaltung
genommen nach bestiunnten Grundsätzen, die sich bewährt
haben. Die Ergebnisse dieser Verwaltung bessern sich stetig,
nachdem die ersten schwierigen Übergangsperioden überwunden
sind und ein Stamm von Lokalbeamten herangebildet ist,
der mit den Normen und Zielen einer derartigen, immer
nur aus kurze Fristen berechneten Wirtschaftsführung sich
vertraut genmcht hat. Im letzten Jahre ist die Verwertung
der Produkte sowie der Ankauf der größeren Bedarfsartikel
; einheitlich für sämtliche Ansiedelungsgüter erfolgt, wodurch
recht erhebliche finanzielle Vorteile erlangt wurden.
Die Bearbeitung der Ansiedelungspläne erfolgt zum Teil
durch das technische Büreau der Ansiedelungskommission,
zum Teil durch die Generalkommission in Bromberg nach
speziellen Vorschriften. Es erfolgt eine vollständige Neu-
messung und Kartierung, sowie die Erörterung der kultur-
technischen und der Verkehrsverhältnisse des Areals und,
nachdem den hierdurch bedingten Erfordernissen durch Fest-
legung der etwa nötigen Verbesserungen und Wegeanlagen
ans dem Plane Rechnung getragen ist, die den örtlichen und
wirtschaftlichen Verhältnissen angepaßte Aufstellung des
Verteilungsplanes. Mit diesen Arbeiten wird eine Prüfung
und Klarlegung der öffentlich rechtlichen und privatrechtlichen
Verhältnisse der Grundstücke, die Abschätzung der vor-
handenen Gebäude nach ihrem Gebrauchswert und endlich
eine genaue Bonitierung verbunden, durch die das gesamte
Areal in verschiedene Wertklassen zerlegt wird. Derartig
festgestellte Teilungspläne bilden ein völlig abgeschlossenes
Werk, das nur insoweit der Abänderung unterliegt, als
etwa im Laufe des eigentlichen Austhuungsgcschäftes sich
ans Gründen der Zweckmäßigkeit oder um den Wünschen
der Ansiedler entgegenzukommen, Verlegung von Grenz-
linien rc. nötig zeigen.
Über das System, nach welchem bei den Planeinteilungen
die Gehöfte zu gruppieren und die Größe der einzelnen
Parzellen zu bemessen sind, hat sich keine allgemein gültige
Norm finden lassen. Man hat sich bemüht, die möglichst
geschlossene Dorfanlage anzustreben und die Größe der ein-
zelnen Parzellen so anzuordnen, daß die wirtschaftliche
Existenz einer Familie auskömmlich und bei reinem Land-
wirtschaftsbetriebe die volle Ausnutzung der menschlichen und
tierischen Arbeitskraft ermöglicht wird.
Die Mehrzahl der bisher ausgearbeiteten Pläne hat den
Eigenaufbau der Ansiedler, insoweit denselben nicht ans den
vorhandenen Gebäuden solche überwiesen werden können, in
Aussicht genommen. Aus den meisten bisher zur Besiedelung
gelangten Gütern ist der Ausbau der Wohnhäuser, Scheunen
und Schuppen von den Ansiedlern bereitwillig übernommen
und die Aufgabe im ganzen recht befriedigend, vielfach so-
gar in überraschend kurzer Frist und zweckmäßiger Weise
gelöst worden, allerdings unter sehr wesentlicher Mitwirkung
und Hilfeleistung der technischen Beamten der Kommission
und der Lokalverwalter. Da jedoch der Eigenaufbau
wesentlich nur zu Gunsten der ans nahe gelegenen Gebieten
zuziehenden Kolonisten und derjenigen wirkt, die durch bau-
liches Geschick selbst oder durch Familienglieder einen erheb-
lichen Teil der Kosten abarbeiten können, so hat die An-
siedelungskommission, um den Ansiedlern aus der Ferne die
Niederlassung zu erleichtern, durch das Bauamt eine größere
Zahl von Gehöften auf eigene Kosten herstellen lassen: im
Jahre 1889 wurden 87 Gebäude (3 größere Wohnhäuser,
26 Wohnhäuser mit Stallung unter einem Dach, 10 Wohn-
häuser mit Stall und Scheune unter einem Dach, 13 allein
stehende Stallgebände, 5 Gebäude, welche Stall und Scheune
unter einem Dache enthalten, 24 Scheunen, 3 Schmiede-
und 3 Kruggebäude) und im Jahre 1890 sogar 132 Ge-
bäude aufgebaut und an die Ansiedler entweder verpachtet
oder verkauft. Außerdem wurden zur provisorischen Unter-
bringung der Kolonisten bis Ende 1890 96 Holzbaracken
hergestellt. Für öffentliche Zwecke wurden 1889 fertig
gestellt, zum Teil vollständig neu gebaut 9 Schulen mit
Nebengebäuden und 8 Brücken; 1890 wurden 1 Kirche,
11 Schulhäuser mit 22 Nebengebäuden, 1 Armenhaus,
2 massive Brücken u. s. f. teils begonnen, teils vollendet.
Die auf die Besetzung der planmäßig aufgeteilten Güter
Die neue deutsche Kolonisation in Posen und Westpreußen in den Jahren 1886 — 1890.
275
mit Ansiedlern gerichtete Thätigkeit zerfällt in zwei Teile:
1. In den informierenden schriftlichen und mündlichen Ver-
kehr mit den sich meldenden Bewerbern und die Prüfung
der Personal- und Vcrmögcnsverhältnisse und 2. in das
eigentliche Ansiedelungsgeschäft selbst. Von Ansang an ist
ein besonderes Gewicht aus die eingehende Bescheidung der-
jenigen Leute gelegt worden, die ein ernstes persönliches
Interesse als Bewerber um Ansiedelungsstellen zeigten. Ab-
gesehen von zahlreichen mündlichen Erkundigungen wurde
derart verfahren, daß alle erstmaligen und ganz allgemein
gehaltenen Anträge sormularmäßig beantwortet wurden.
Diese Bescheide enthalten eine kurze Erläuterung über das
Wesen der Ansiedelung und die Formen, unter denen sich
dieselbe vollziehen soll, und haben augenscheinlich sehr klärend
gewirkt. Sie sind in den Heimatsorten sicher von Hand
zu Hand gegangen, wie aus dem Umstande zu erkennen war,
daß oft von Leuten, die der Ansiedelungskommission völlig
unbekannt waren, auf sic Bezug genommen wurde. Jedem
dieser Bescheide wurde ein Fragebogen beigefügt und dessen
Ausfüllung und Wiedereinreichung zur Bedingung für die
fernere Berücksichtigung des betreffenden Bewerbes gemacht.
Es haben sich nun seit 1886 bei der Ansiedelungskommission
im ganzen 4537 Bewerber gemeldet, welche ein Gesamt-
vermögen von 19338181 Mk. hatten, nämlich 4092 Evan-
gelische, 428 Katholiken, 12 Mennoniten und 5 Juden, im
Jahre 1890 allein gingen 836 Ansiedclnngsanträge ein,
und 613 Bewerber wurden in die Liste aufgenommen.
Im ganzen wurden bisher planmäßig parzelliert
20 799 ha, mehr als 2/ñ der erworbenen Bodenfläche. Für
öffentliche Zwecke, wie für Kirchen- und Pfarrgrundstücke,
für Schnlgehöfte und Lehrerdienstland, für Lehm- und Sand-
gruben, Schulzendienstland und Wegeanlagen wurden
1124 ha bestimmt, für spätere Begebung vorbehalten
2279 ha, und auf 978 Ansiedlcrstellen verteilt 17 396 ha.
Von den 978 Stellen sind 37 größeren Umfangs (Rest-
güter rc.), 116 Haben eine Flüche von 25 ha und mehr,
361 eine Fläche von 13 bis 25 ha, 381 eine Fläche von
4 bis 13 ha, 83 eine Fläche von weniger als 4 ha. Von
den 978 eingerichteten Stellen wurden bis Ende 1890
964 zum Verkauf gestellt. Davon wurden in den Jahren
1886 bis 1889 526 Stellen und 1890 186 Stellen
begeben; unbegeben blieben noch 252 Stellen. Zu Kauf
gegen Rente wurden 555, zu Pacht auf Zeit 146 Stellen
begeben; 11 Parzellen sind zu freiem Eigentum verkauft
worden.
Auf den 712 begebenen Stellen wohnen im ganzen
690 Ansiedlerfamilien, von denen 183 aus Posen, 150 ans
Westpreußen, 78 aus Schlesien, 61 ans Brandenburg, 51
aus Pommern, 31 ans Württemberg, 28 aus Westfalen,
21 aus dem Rheinland, 45 ans den übrigen preußischen
Provinzen stammen, 6 andern deutschen Staaten angehören
und 36 aus Rußland zurückgewandert sind. Mit der Zu-
nahme des west- und süddeutschen Elements in den Ansiede-
lungen vermehrt sich sichtlich der Zuzug kapitalskrüftiger
Bauern; Landwirte, die für einen Erwerb von 25 bis 40 ha
Landes ein Anlagekapital von 10 000 bis 15 000 Mark
mitzubringen sich anheischig machen, sind keine Seltenheit
mehr. Mehrfach wurde auch festgestellt, daß die von aus-
wärts zuziehenden Ansiedler Heimatsangehörige nach sich
ziehen, welche in der Nähe der Ansiedelungsgemeinden Hof-
stellen erwerben oder in den Ansiedelungen selbst sich ein-
mieten und als Handwerker ihr Brot suchen und finden.
Daß sich evangelische Schwaben entschlossen haben, nach
Posen auszuwandern, ist von guter Vorbedeutung. Gefällt
es diesen Schwaben im Osten — und daran ist wohl kaum
zu zweifeln —, so werden in den kommenden Jahren gewiß
Hunderte, ja Tausende von wüttcmbcrgischcn Landwirten
anstatt wie bisher nach Amerika nach Posen und Wcstpreußcn
gehen, um sich daselbst eine neue Existenz zu gründen. Die
Schwaben sind aber — in Süd-Ungarn und im südlichen
Rußland haben sie das zur Genüge gezeigt — ihres rast-
losen Fleißes, ihrer Sparsamkeit und ihres Kinderreichtums
wegen der zur Kolonisation tauglichste deutsche Volksstamm.
Von den 42 parzellierten Rittergütern waren bis Ende
1890 33 vollständig oder doch zum größten Teil mit deutschen
Kolonisten besetzt. Diese fertigen deutschen Dörfer sind:
Sablonowo im Kreise Briefen (17 Stellen), Dollnik bei
Flatow (22 Stellen), Bobrowo bei Strasburg (57 Stellen),
Kiewo bei Kulm (26 Stellen), Alt-Bukowitz bei Bcrent
(35 Stellen), Groß-Jcnznik bei Konitz, Niewicrz bei Stras-
burg, Lippusch bei Bercnt (12 Stellen), Komorowo
(15 Stellen), Michelsdorf, früher Michalcza (17 Stellen),
Bismarckfelde, früher Swiniary-Swiniarki (34 Stellen)
und Sokolniki (18 Stellen), bei Gnesen, Slonskowo
(34 Stellen) und Gorctschki (22 Stellen), bei Rawitsch,
Lubowo-Lubowko (38 Stellen), Jmielinken mit Jaroschan
(25 Stellen) und Runowo bei Wongrowitz (25 Stellen),
Zodyn bei Bomst (14 Stellen), Ustaszewo (mit 28 würt-
tembergischen Familien besetzt), Jablowo-Buschkau und
Czewojcwo (56 Stellen) und Zerniki bei Znin, Boguniewo
bei Obornik (22 Stellen), Wojziechewo (18 Stellen) und
Lowencice (36 Stellen), bei Jarotschin, Ostrowitte bei Mo-
gilno (21 Stellen), Sadlogosch bei Schubin (24 Stellen),
Wengicrki und Kaczanowo bei Wreschen, Ruchocin mit
Lipa bei Witkowo (30 Stellen), Kobissau bei Karthaus
(41 Stellen), Knjawa-Mühle (8 Stellen), im Kreise Briefen
und Kopaschin bei Wongrowitz (14 Stellen). Drei der neu
entstandenen Dörfer, Dollnik, Michelsdorf und Bismarck-
felde, sind bereits in selbständige Landgemeinden umgewandelt
worden. 30 Dörfer sind von evangelisch-deutschen Ansiede-
lern, 3 von deutschen Katholiken bewohnt. In 16 Ansied-
lungen wurde tut November 1889 eine Zählung vorge-
nommen, welche ergab, daß neben 2441 Deutschen 415 Polen
(14,5 Prozent) wohnten. Letztere waren zum größten Teil
Knechte, Mägde und Arbeiter, zu einem kleineren (91 Köpfe)
Mieter. Die größten von diesen neuen deutschen Dörfern
waren Bobrowo mit 369, Bismarckfelde mit 318, Lubowo-
Lubowko mit 312, Slonskowo mit 248, Jmielinken-Jaroschau
mit 237 und Dollnik mit 202 Seelen.
Für den Unterricht ist in den neuen deutschen Kolo-
nicen in ausgiebigster Weise gesorgt worden. Zn Slonskowo
bei Rawitsch wurde bereits im Dezember 1887 eine deutsche
Schule ins Leben gerufen, die gut gedeiht und von 50 bis
60 Kindern besucht wird. In den letzten drei Jahren
wurden 21 neue deutsche Schulen errichtet. Wo eine S chul-
gründung nicht für nötig erachtet worden ist, hat sich der
Anschluß der Ansiedlerkinder an eine bestehende, ihrer Kon-
fession entsprechende deutsche Schule überall ohne Schwierig-
keiten erreichen lassen. Mit besonderer Sorgfalt ist auch
die kirchliche Versorgung der Ansiedler ins Auge gefaßt
worden. In Lubowo bei Gnesen ist die evangelische Kirche
im Rohbau vollendet. Nach vorläufigen Erhebungen können
diesem Kirchspiele aus verschiedenen Ansiedelungsdörfern
etwa 1000 Seelen zugewiesen werden. Die neue Pfarrei
wird mit 30 ha Land ausgestattet. Umgeben von großen,
in deutschen Händen befindlichen Gütern und acht zum
Teil deutschen Bauerndörfern, an einem Knotenpunkte
des Wegenetzes des südlichen Teiles des Gnescner Kreises
gelegen, ist Lubowo besonders geeignet, den Mittelpunkt
für das Deutschtum der dortigen Gegend zu bilden. Die
Begründung eines weiteren evangelischen Kirchspieles mit
dem Mittelpunkte Zernicki im Kreise Znin ist eingeleitet.
Der Betsaal in Bobrowo findet sich schon seit längerer
Zeit in Benutzung; weitere Bethäuscr sollen demnächst
35*
276
Erzherzog Ludwig Salvators Werk über Menorca.
in Jaroschau, Jablowo und Wengierki errichtet werden.
Außer dem Vikar in Lubowo ist noch ein zweiter Vikar in
Rynsk zur Pastorierung des größten Teiles der westpreußi-
schen Ansiedelungen und ein dritter in Ustaszewo im Kreise
Znin für die sieben Ansiedelungen dieses Kreises angestellt
worden. Für das kirchliche Bedürfnis der katholischen An-
siedler von Sokolniki, Kaczanowo-Ossowo und Kobissau ist
in durchaus zufriedenstellender Weise gesorgt. Die in den
Ansiedelungen eingerichteten Volksbibliotheken haben
großen Anklang gefunden und sind überall, namentlich in
den älteren Kolonieen, während der Wintermonatc fleißig
benutzt worden. In mehreren Orten wurden Postagenturen
und Posthilfsstellen errichtet.
Der Obstbau bürgert sich rasch ein; 1889 wurden von
den Kolonisten gegen 5000 Obstbäume (Äpfel-, Birn-,
Kirsch-, Pflaumen- und Nußbäume) gepflanzt, 1890 wurden
durch Bermittelung der Ansiedelungskommission für 262 Be-
sitzer 7192 Obstbäume geliefert. Viele Kolonisten, nament-
lich die Schwaben in Ustaszewo, pachten jetzt schon die Obst-
gärten benachbarter deutscher und polnischer Güter, um aus
dem gewonnenen Obst guten Most zu bereiten.
Fast überall stehen die deutschen Ansiedler in freundlichen
Beziehungen zu ihren deutschen und polnischen Nachbarn bäuer-
lichen Standes. Als die besten Ansiedler haben sich bisher
diejenigen erwiesen, die durch die Ansiedelung selbst wirt-
schaftlich und sozial eine oder mehrere Stufen heraufstiegen.
Landwirte, welche in hochkultivierten Gegenden kleinen Besitz
zu hohem Preise verwerten und mit dem Erlöse das Vier-
bis Fünffache an sich gleich guten Bodens im Osten erwerben
können, dürfen in besonderem Maße einer gesicherten Zukunft
entgegensehen. Dringend zu wünschen ist, daß die polnischen,
der deutschen Zunge so ungelüufigen Namen der Güter und
Dörfer recht bald durch deutsche ersetzt werden mögen!
Nachdem in den letzten Jahren eine stattliche Anzahl polnischer
Ortsnamen im Regierungsbezirk Bromberg beseitigt worden
ist, nachdem zwei der Ansiedelungen Michelsdorf und Bis-
marckfelde genannt worden sind, ist gewiß zu hoffen, daß
die Mehrzahl der neuen deutschen Kolonieen bald auch
deutsche Namen erhalten wird. Vielleicht findet der Vor-
schlag Beachtung, sie nach den großen deutschen Männern
unsers Jahrhunderts zu benennen.
Schon jetzt läßt sich übersehen, daß die in großem Maß-
stabe begonnene deutsche Kolonisation in Posen und West-
preußen ebensogut gelingen werde, wie die, welche von dem
Großen Kurfürsten in Brandenburg, von Friedrich Wilhelm I.
in Ostpreußen, von Friedrich dem Großen in Schlesien,
Westpreußen und im Netzedistrikt, von Friedrich Wilhelm II.
in Posen ins Werk gefetzt wurde. Die bisher aufgestellten
Rechnungen ergeben, daß die Kolonisation ohne große Opfer
an Kapital durchführbar ist, daß selbst bei reicher Dotierung
der neuen Gemeinden mit Schul-, Kirchen- und Wohlfahrts-
einrichtungen mit der Zeit 90 bis 92 Millionen Mark in
den Betriebsfonds zurückfließen werden, so daß nur 8 bis
10 Millionen Mark als verloren zu betrachten sind. Schon
jetzt ist dem polnischen Adel in den Kreisen Gnescn, Wit-
kowo, Znin, Wongrowitz, Jarotschin, Wreschen, Strasburg
und Kulm viel Einfluß entwunden worden; mehrere, den
Polen bisher ganz sichere Landtags- und wahrscheinlich auch
zwei Reichstagsmandate werden in Zukunft den Deutschen
zufallen. Bleibt die Regierung in ihren Bestre-
bungen fest, werden von Jahr zu Jahr einige Hundert
deutscher Familien in den Kreisen Posens und Westpreußens
angesiedelt, in welchen jetzt das Polentum die große Mehr-
heit hat, so werden die Deutschen in einem halben Jahr-
hundert gewiß das Übergewicht in diesen Kreisen erlangen.
Aus dem seit sieben Jahrhunderten bald mit den Waffen
in der Hand, bald auf dem Gebiete des wirtschaftlichen und
geistigen Lebens geführten Kampfe zwischen Deutschen und
Slaven an der Warthe und Weichsel werden und müssen
die Deutschen als Sieger hervorgehen!
Erzherzog Ludwig Salvators werk über Menorca.
Erzherzog Ludwig Salvator von Österreich-Toskana,
geboren 1847, der zu Palma auf der Insel Mallorca wohnt,
setzt sein großes Werk über die Balearen, das sich nicht im
Buchhandel befindet, rüstig fort. Vor uns liegt ein neuer
Band, der nicht weniger als 20 Pfund wiegt und 596 Seiten
auf schönem kartonartigen Papier umfaßt: Die Balearen.
In Wort und Bild geschildert. Sechster Band. Die
eigentlichen Balearen. Viertes Buch, Menorca. (Leipzig,
F. A. Brockhaus, 1890.) Wie die früheren Bände ist auch
dieser mit vielen prächtigen Farbendrucken, meist landschaft-
lichen Ansichten, und zahlreichen erläuternden Holzschnitten
geschmückt. Die Schilderung der Insel ist so ausführlich,
so sehr ins Einzelne gehend, mit statistischen Tabellen der
minutiösesten Art ausgestattet, daß nach dieser Züchtung
nichts zu wünschen übrig bleibt. Es liegt eine große Liebe
zu dem Gegenstände der Arbeit und ein gewaltiger Fleiß
darin. Diese bis ins kleinste gehende Schilderung, die heute
uns wohl teilweise als zu weit gehend erscheint, wird in
Jahrhunderten aber ihren Wert haben, um dann durch den
Vergleich sich ein genaues Bild von: ehemaligen Kultur-
zustande Menorcas machen zu können. Es ist nicht leicht,
aus dem umfangreichen, gar nicht gegliederten Bande das
Wichtigste auszuziehen; im nachstehenden soll dieses aber
versucht werden.
Menorca ist im allgemeinen flach und bei oberflächlicher
Betrachtung einförmig zu nennen, indem die bedeutendste
Erhebung der Insel, jene des Toro, nur 358 na erreicht.
Er nimmt mit den andern Haupterhebungen die Mitte
der Insel ein. Der Weg von Ciudadela nach Mahon
scheidet die Insel in zwei Hälften, die so ziemlich der geo-
logischen Struktur entsprechen. Die nördliche Hälfte bildet
eine ganze Reihe von ameisenhaufenartigcn, durch kurze enge
Thäler getrennten kleinen Hügeln; der südliche Teil besteht
aus einem nach Süden geneigten Plateau, dessen höchste
Stellen 170 m hoch sind. „Etwas Öderes und Einförmigeres
als dieses steinige Plateau läßt sich kaum denken." Weit
schöner ist der bewegtere Norden, mit beckenartigen Thal-
fohlen. Die Küsten sind meist scharf abgebrochen mit jähen,
häufig ausgehöhlten Wänden und tiefen Seehöhlen. Der
Hafen von Mahon ist einer der besten des Mittelmeeres.
Eigentliche Flüsse fehlen auf Menorca; cs giebt nur Bäche,
steil in ihrem Anfang und mit sanftem Verlauf gegen ihre
Mündung hin. Im Sommer trocknen sie meist aus,
während sie in der Regenzeit Überschwemmungen veran-
lassen. Die Bäche verlaufen im Süden in tiefen Furchen,
welche das flache Jnfclland durchschneiden und den Zentral-
thülern als Abfluß dienen. Diese Furchen, von den In-
sulanern Barrancs genannt, sind häufig von senkrechten
Felswänden begrenzt, haben aber bei aller Schönheit einen
gewissen einförmigen Charakter. Es sind dieselben sich
immer wiederholenden Bilder, üppiger Pflanzenwuchs in
der Thalsohle und weißliche, tief ausgehöhlte Felswände,
Erzherzog Ludwig Salvators Werk über Menorca. 277
wie dieses am Bilde der Ausmündung des Sta Gal- > In dem nördlichen, mannigfaltiger gestalteten Teile der
danaflusses sich erkennen läßt. . Insel ist namentlich Devon (130 ^Icw) und bunter Sandstein
Die Gruppe des Toro (Menorca).
Mündung des Sta Galdanaflusscs (Menorca).
vertreten, aber auch Muschelkalk und Keuper; im Süden ! schnitt der Jahre 1865 bis 1887 16,9°; das kälteste Jahr
herrschen tertiäre Kalke vor, die den größten Raum ein- I hatte 15,5°, das wärniste 17,6° (5. Die Extreme betrugen
nehmen. Die mittlere Jahrestemperatur betrug im Durch- ! + 35,0 und — 1,0" E. Schneefälle sind selten und kamen
278
Erzherzog Ludwig Salvators Werk über Menorca.
in jener Periode (22 Jahre) nur 39 mal vor. Was die
Fruchtbarkeit des Bodens betrifft, fo stehen darin die
Barrancthüler obenan, worauf das Miocänplateau folgt.
Aber meist tritt die felsige Unterschicht zu Tage und das
Plateau im Süden erscheint in: Sommer und Herbste, wenn
das Gras verdorrt ist, ganz kahl. Die Flora stimmt im
wesentlichen mit jener der übrigen Balearen überein; in
unsrer Duelle find 819 Gefäßpflanzen aufgeführt. Als
Charakterpflanzen werden hervorgehoben der wilde Ölbaum,
der Mastixstrauch, die Jlexeiche, die Strandkiefer, Cistus,
Erica multiflora, die Mprte, Calycotome spinosus, Cle-
matis und die Tamariske; Palmen find selten. Die Zone
am Meere wird gekennzeichnet durch Euphorbia dendroides,
Sonchus cervicornis, Astragalus Poteriurn und Thyme-
laea velutina. Von Fischen verzeichnet man 194 Arten,
von Amphibien und Reptilien 13. Die gemeine Eidechse,
der Gecko, die griechische und namentlich die Süßwasserschild-
krötc sind vertreten; von Schlangen sind die Natter und
Äskulapschlange häufig. Die Zahl der Vögel wird aus
163 angegeben. Unter den Landvögcln ist das Steinhuhn,
Passer Pretoria, Merops apiaster, der Aasgeier (Neo-
pliron) hervorzuheben. Säugetiere zählt man, die Haus-
tiere eingerechnet, 26, darunter Myoxus nitela, Robben,
Delphine. Die Vivcrre, die auf Mallorca noch haust,
fehlt auf Menorca. .
Die Bevölkerung betrug im Jahre 1887 nur
38237 Seelen, das ist bei 665 <pkm 59 Seelen auf den
Quadratkilometer. Eine ungemein genaue Statistik der-
selben, auf die einzelnen Distrikte und Gemeinden eingehend,
wird mitgeteilt. Was die Gesundheitsverhältnifse
betrifft, „so geht ein gewisser Zug von Malaria über die
ganze Insel"; im übrigen zeigt sich der Einfluß der Boden-
beschaffenheit hier sehr deutlich: Wo Sandstein und Devon
auftreten, ist die Insel ungesund, gesund im Bereich der
tertiären Kalke; namentlich sind die hohen Plateaus im
Süden gesund. Die Religion ist seit alten Zeiten die
katholische und nur wenige Evangelische wohnen hier, denen
ein englischer Pastor vorsteht. Die Sterblichkeit wird als
sehr günstig geschildert; die Leute sind gewandt, intelligent,
mit guten Anlagen, sehr begabt für die Musik. Die Häuser
bleiben selbst in den Städten nachts unverschlossen und
Diebstähle sind selten. Der Erzherzog schreibt: „Ich selbst
ließ wiederholt das Haus, welches ich sowohl in Mahon wie
in Ciudadela bewohnte, offen, ohne daß jemand im Hause
geblieben wäre und niemals hat mir auch nur die kleinste
Sache gefehlt." Die Kriminalstatistik bestätigt diese günstige
Anschauung.
Die Sprache Menorcas ist dieselbe, wie jene der
übrigen Balearen, und gehört zu den katalanischen Dialekten.
Sie enthält kastilanische, französische, italienische und
namentlich auch englische Wörter, letztere aus der Zeit der
englischen Herrschaft, wie lesi (lazy), peni (penny), bebi
(baby) u. s. w. Die Namen vieler Handwerksgeräte und
Kinderspiele sind englisch, so daß man bei letzteren in Mahon
Ausdrücke wie in, out, stop, please hören kann.
Der Erzherzog führt die einheimischen Schriftsteller und
ihre Werke ausführlich an und. giebt auch eine Anzahl von
eigentümlichen Volksliedern in Übersetzungen und Original;
sie sind religiösen, erotischen und humoristischen Inhalts.
Es fehlen Kinderlieder und Sprichwörter, letztere wenig
übereinstimmend mit den mitteleuropäischen, gleichfalls nicht.
Für Unterrichtsanstalten ist gut gesorgt und die Bildung
ist auf Menorca verhältnismäßig größer als auf den andern
Balearen. Religiöse Bildung wird nicht sehr gepflegt, aber
das Volk ist seinen Gefühlen nach religiös und seinem
Gruß ist der religiöse Stempel ausgedrückt. Alabat sia
Deu, Gott sei gelobt, lautet derselbe. Der Erzherzog führt
manche religiöse Gebräuche an, die das Volksleben durch-
ziehen, unter denen wir folgenden hervorheben, da er auf
einer uralten Anschauung zu beruhen scheint. Wenn die
Kalkbrenner das Feuer in ihren Ösen anzünden, thun sie
cs mit einer Fackel, die sie an einer Lampe, welche vor dem
Bildnisse der Mutter Gottes von Toro brennt, angesteckt
haben, nachdem sie kniecnd ein Gebet verrichtet. Was den
Aberglauben betrifft, so findet sich auf Menorca vieles,
was allgemein europäisch, ja universell ist. Umgeschütteter
Wein bedeutet Glück und Heiterkeit, ausgeschüttetes Salz
das Gegenteil. Wenn 13 an einem Tische speisen, stirbt
einer im Laufe des Jahres von ihnen. Der nächtliche Ruf
der Eule beim Hause eines Kranken deutet aus dessen bevor-
stehenden Tod. Unter Lebenden verschenkte Scheren zer-
stören die Liebe. Ein Hufeisen am Thore aufgehängt, bringt
Glück ins Haus. Abgeschnittene Haare in die Hände einer
Hexe oder eines Feindes gelangt, bringen dem Inhaber der-
selben Leid. Nadeln, in ein Schafherz gestochen und ins
Meer geworfen, lassen sympathisch den zu Grunde gehen,
dem es gilt. Klingt das rechte Ohr, so wird man gelobt,
das linke, getadelt. Rauten im Gärtchen gepflanzt, verhindert
den Eintritt böser Geister. Die Placenta eines unentwickelt
geborenen Kindes, in Stückchen getrocknet und aufbewahrt,
bringt Glück. Das ist allgemeiner Aberglaube, der tausend
Parallelen bei andern Völkern besitzt. Eigentümlich ist
folgendes: Um einen Dieb zu quälen und ihn zu zwingen,
Gestohlenes zurückzugeben, wirft man Bohnen in das Öl
der Kirchenlampen; je nachdem diese quellen und sich öffnen,
tritt Gewissensangst und schließlich Rückgabe des Gestohlenen
bei dem Diebe ein. Volksmedizin fehlt natürlich nicht.
Infolge der vielfachen Besetzung Menorcas durch fremde
Völker ist der ursprüngliche Typus der Bevölkerung
ein gemischter geworden. Ein großer Teil der Araber hat
sich mit den Christen verbunden; aber oft schlägt der arabische
Typus noch durch und andrerseits glaubt man wieder rosige,
blonde Engländerinnen zu sehen, was bei dreimaliger Herr-
schaft der Engländer erklärlich wird. Am schönsten sind
die Leute in den beiden größeren, im Osten und Westen ge-
legenen Städten, in Mahon und namentlich in Ciudadela,
wo die edle, regelmäßige Form der Gesichter ausfällt. In
der Mitte der Insel sind die Leute weniger schön. Die alte
Tracht ist ganz verschwunden. Erwähnenswert ist die ganz
urtümliche Fußbekleidung des Landvolks, die Aubarca ans
Rindshaut, die mit den Haaren nach außen gewendet ist
und von einigen Lederschnüren zusammengehalten wird. Das
Leder dazu stammt ans Montevideo.
In dem Hauptstück, das vom Hausbau handelt, fallen
die sehr eigentümlich gestalteten Kamine auf und ist von den
Zisternen die Rede, welche auf der wasserarmen Insel sich
bei jedem Hause finden; anschließend daran besitzt man
steinerne Destillirapparate, denn das Rcgenwasser dient zum
Trinken. Die Kochkunst wird sehr eingehend von dem
Verfasser erörtert; sic ähnelt der spanischen, hat aber einen
wesentlichen Vorzug vor der letzteren, wenigstens in unsern
Angen: man bedient sich bei der Bereitung der Speisen der
Butter statt des Öles, was die Menorquiner wohl von den
Engländern überkommen haben und was sich einerseits ans
der aroßen Buttererzeugung, andrerseits ans dem Mangel
an Öl leicht erklärt. Wie wir aus den seitenlangen Speise-
verzeichnissen ersehen (es werden z. B. 26 Salatsorten an-
geführt), spielen Schweinefleisch und Käse eine besonders
große Rolle auf Menorca. Schokolade, sonst in Spanien
so verbreitet, wird aus Menorca wenig getrunken; auch speist
man viel Fische, und der Name der bei uns so bekannten
Mayonnaise stammt von der Stadt Mahon, wo sie erfunden
wurde und noch zu vielen Speisen benutzt wird. Eine große
Rolle spielen die Formatjades, die Käsegerichte, die unter
279
Erzherzog Ludwig Salvators Werk Uber Menorca.
Zusatz von Fleisch, Eiern, Mehl in besonderen Formen
sternartig, durchlöchert oder zuckerhutartig gebacken werden.
Selbst die vornehmsten Damen widmen sich mit Vorliebe
der Bereitung dieser nationalen Speise; alle Leute ans dem
Hause nehmen an der Herstellung teil, die ein förmliches
Fest bedeutet.
Der Gesang ähnelt auf Menorca jenem auf Mallorca
und die meisten Volkslieder, deren Erzherzog Ludwig Sal-
vator eine Anzahl nebst Laoten mitteilt, sind beiden Inseln
gemeinsam. Die alte, sonst viel gebrauchte Panflöte oder
Syrinx ans Rohr ist nur noch tut Innern der Insel ge-
bräuchlich; sie ist durch die modernen europäischen Musik-
instrumente verdrängt worden, gerade so wie die allgemein
europäischen Tänze die einheimischen verdrängten. Seit
dem 15. Jahrhundert waren Wettrennen und Ringspiele
ans Menorca gebräuchlich, was nicht wenig zur Verbesserung
der Pferdezucht beitrug. Diese Spiele haben sich am Jo-
hannistage in Ciudadela erhalten, wo eine große Kavalkade,
eine Art Maskerade mit Lanzen- und Ningstechen, stattfindet.
Dazu Rennen mit Pferden, mit Maultieren, Eseln und
zwischen Männern und Knaben. Wir können hier nicht
auf die verschiedenen Volkssitten und Feste näher eingehen,
erwähnen aber noch die Avias Cuaremas, wie eigentüm-
liche, aus Papier geschnitzte, drollige Figuren mit sieben
Füßen heißen. Die sieben Füße bedeuten die sieben Wochen
der Fastenzeit und nach Ablauf einer jeden Woche reißt man
einen Fuß ab, um so ein Bild zu haben, wie lange die Ent-
haltungszeit noch dauert. In diesen sieben, nach Ablauf
einer Woche abzureißenden Füßen kann man ein Überlcbsel
urtümlicher Zählungsweise erkennen, wie bei Naturvölkern
dieselbe noch heute vorkommt. Statt vieler will der Be-
richterstatter hier nur zwei Parallelen anführen. Bei den
Buschnegern in Guayana sind Knotenschnüre im Gebrauch,
bei denen die einzelnen Knoten z. B. eine Anzahl Tage be-
deuten, innerhalb welcher ein Auftrag ausgeführt werden
soll. An jedem Tage wird zu diesem Zwecke ein Knoten
gelöst, damit die richtige Zeit eingehalten wird (Kappler,
Holländisch-Guayana, 237). Die Papuas der Küsten, wenn
sie mit denen der Berge sich verabredet haben, daß sie sich
in zehn Tagen treffen wollen, um mit ihnen Handel zu
treiben, machen sich Schnüre mit zehn Knoten darin, von
denen sie täglich einen lösen. Ist der letzte gelöst, so ist es
Zeit, sich zu treffen (van Hasselt in Zeitschrift für Ethno-
logie VIII, 201).
Formatjadas von Menorca.
Von den zahlreichen Spielen, die sehr genau beschrieben
werden, sind viele allgemeinen Charakters, andre eigcntüm-
licher Natur und einzelne deuten ans geschichtliche Erinne-
rungen. So erinnert das Spiel iKoros en terra, gelandete
Mauren, an die Überfälle der Mauren. Die Knaben teilen
sich hierbei in Christen und Mauren, die einander bekämpfen.
Wieder mahnt das Spiel Matar judius, Judentötcn, an
die alten Judenverfolgungen. Dieses wird in der Charwoche
gespielt, wobei mit Palmrippen ein Stein geprügelt wird,
der den Juden vorstellt. Das an die alten Balearen er-
innernde Schlenderspiel von Groß und Klein, Passetja
genannt, kommt jetzt außer Gebrauch. Alan schleuderte
nach einem Ziele. Nur im Innern der Insel ist die Schleuder
beim Zusammentreiben des Viehes noch im Gebrauche.
Wir übergehen hier die Schilderungen der Taufen, Ver-
lobungen, Hochzeiten und erwähnen nur die Trauer. Man
hielt Trauermahlzeiten und aß während der Trauerzcit be-
stimmte Speisen nicht. Um letzteres zu umgehen, errichtete
man in den Häusern kleine Trauerbacköfen aus Thon, um
im Geheimen doch essen zu können. In Abnahme begriffen
ist auch der Brauch, sich nach dem Tode eines nahen Ver-
wandten ein Jahr lang nicht zu scheren.
Ein Hauptreichtum der Insel besteht in ihren Steinen,
die gebrochen und ausgeführt werden. Bei dem Reichtum
der Insel an solchen ist dieselbe ganz, wie ein Schachbrett,
mit ohne Mörtel aufgeführten Mauern (Tancas) durch-
zogen. „Etwas Öderes und Einförmigeres, als diese Tancas,
läßt sich nicht denken, denn von der Tiefe gesehen, deckt sich
Wand mit Wand und selbst das Grün der Felder ver-
schwindet hinter der öden Steinwüstenei.“ Die Frucht-
barkeit des Bodens ist eine sehr verschiedenartige. Das
Kulturland nimmt 40 000 ha ein, der Wald 14 000, das
Grasland 7000 und unkultiviert liegen über 4000 ha.
Sehr ausführlich wird mit allen Geräten, zum Teil recht
urtümlicher Art, der Ackerbau geschildert. Weizen ist die
wichtigste Frucht. Der Wald ist zum allergrößten Teile
niedriger Buschwald, und nur die Strandkiefer und die
immergrüne Eiche bilden eigentliche, aber nicht große Wälder.
Der Ölbaum tritt ganz zurück, dagegen wird die Feige in
27 Sorten mit Erfolg gebaut, während der Wein wieder
eine untergeordnete Rolle spielt. Der Anbau des Havanna-
tabaks (Nicotiana Tabacum) ist verboten; noch 1862
wurden auch die Ernten von Bauerntabak zerstört, seitdem
darf derselbe aber wieder gebaut werden. Auf der kalkigen
Südhälste Menorcas ist die Kultur des Espartograses, als
Faserpflanze, sehr verbreitet. Bedeutend ist die Vieh-
zucht, bei der die Schafe vorherrschen (22 000 Stück),
dann folgen Rinder (5000), Maultiere (1800) und die
280
Dr. F. Guntram Schultheiß: Anthropologie und Geschichte.
beliebten Schweine (4000). Höchst eigentümlich und an Prä-
historische Bauten erinnernd sind die aus Steinen Pyra-
midenförmig oder in Stufenbanten aufgeführten Viehställe
(Barraeas) mit einem oder mehreren Schutzgemächern, und
besonders hervorgehoben zu werden verdienen die mannig-
faltigen Eigentnms-
marken, die in den
Ohren der Rin-
der, Schafe, Ziegen
und Schweine durch
Löcher angebracht
werden (S. 444).
Jede Besitzung hat
ihre Marke, welche
einst von der Uni-
versidad general
verliehen wurde,
während sie heute
von den Distrikts-
vorstehern vergeben
wird, die hierfür
ihren eigenen Be-
amten, Batte de las
Ovellas, anstellcn.
Er führt ein Register
mit allen Marken
und entscheidet in
zweifelhaften Fällen,
denn das Vieh wird
ohne Hirten in den
Tancas (s. oben)
gelassen und über-
springt diese zu-
weilen. Selbst die
Fleischer haben die Pflicht, die Marken der geschlachteten
Tiere zu verzeichnen und die Gerber die Ohren am Leder
zu belassen, was schon zu Ende des 14. Jahrhunderts
geschah. Diese Maßregel verhindert Diebstähle. Die AMar-
ken werden mit Scherenschnitt in die Spitze oder den
Avias Cnaremas (vergl. S. 279).
Rand des Ohres angebracht. Man kennt 18 verschiedene
Marken, die an einem Ohr oder an beiden, an einem
Rande oder an beiden eingcschnitten werden, wodurch
eine große Zahl von Zusammenstellungen erzielt werden
kann. Solche Eigentumsmarken am Vieh sind weit ver-
breitet und uralt,
sie kommen schon im
Evangel. Johannis
vor; das berühmte
indische Hakenkreuz,
das Svastika, ist
ursprünglich nichts
andres, und and) in
Deutsä)land wie
der Schweiz, abge-
sehen von zahlreichen
Naturvölkern, ist
diese Kennzeichnung
der Tiere nicht un-
bekannt.
Die Fischerei
ist an den Küsten
sehr entwickelt. Be-
rühmt ist die Insel
wegen ihrer Ma-
risc, d. h. eßbaren
Mollusken, Poly-
pen, Austern, Pec-
ten-, Area-, Tapes-,
Spondylns-, Venns-
arten, die nach
Barcelona ausge-
führt werden. Die
gewerbliche Thätig-
keit ist nicht bedeutend; die Thonwaren zeigen zum Teil
recht altertümliche Formen. Schuhwerk wird fabrikmäßig
dargestellt und ausgeführt; ebenso Blumen aus Muschel-
schalen, aus denen selbst Heiligenfiguren zusammengeklebt
werden.
Anthropologie und Geschichte.
Von Dr. F. Guntram Schultheiß.
IV.
(Schluß.)
Aber wenn nun auch für das Verständnis der geschicht-
lichen Vorgänge im einzelnen durch den dargebotenen Be-
griff der Rasse kaum mehr gewonnen scheint als ein neuer
Name für eine alte Sache, so kann sich doch die Geschichte
ihrerseits nicht der Aufgabe entziehen, die Ergebnisse der
anthropologischen Forschung mit der historischen Überliefe-
rung in Einklang zu bringen. Wie ist die Thatsache, daß
die Germanen beim Eintritt in die Geschichte den fremden
Beobachtern in solchem Abstande körperlicher Erscheinung
entgegen treten, geradezu als antochthon galten, zu verein-
baren mit ihrer Zugehörigkeit zur arischen Sprachfamilie?
Dies gilt im ganzen auch für die Gallier oder Kelten, die
einige Jahrhunderte früher in den historischen Geschichts-
kreis der klassischen Kulturvölker eintraten.
Die Hypothese von der Einwanderung der Germanen
aus Asien ist ohne Rücksicht darauf aufgestellt, daß zwischen
der in germanischen Gräbern vorherrschenden Kopfform und
Körperbau und den entsprechenden Merkmalen der Urbevöl-
kerung Mitteleuropas solche Übereinstimmung besteht, daß
genealogischer Zusammenhang kaum abzuweisen ist. Die
Blondhaarigkeit und Hellfarbigkeit kann natürlich durch
keinerlei Gräberfunde ans irgend welcher Zeit bewiesen
werden. Stillschweigend gilt stets die Annahme, daß die
langköpsigen Urrassen dunkel gewesen seien, daß die Hell-
farbigkeit, durch irgend welche äußeren Einflüsse begünstigt,
sich allmählich ausgebreitet habe. Sie besteht noch jetzt in
weiterer Verbreitung als die Größe und Langköpfigkeit.
Die blonden Haare sind aber sporadisch fast aus der ganzen
nördlichen Erdhälfte verbreitet, sie waren besonders auch bei
den Griechen der heroischen und klassischen Zeit häufig.
Man kann behaupten, daß ihre Verbreitung sich mit der
der arischen Völker decke, sei dies nun Eroberung und kriege-
rische Einwanderung oder Wirkung sonstiger Mischung, z. B.
durch Sklavenhandel. Welchen Ursachen die häufige Blond-
heit unter den heutigen Juden, die auch in Saloniki beob-
achtet wird, zugeschrieben werden könnte, wollen wir bei
feite lassen und uns auf die Thatsache beschränken, daß die
Germanen und teilweise die Gallier als blonde Rassen, d. h.
Dr. F. Guntram Schultheiß: Anthropologie und Geschichte.
281
als durchaus blond in die Geschichte eintreten, wie sie
andrerseits als durchaus groß und langköpfig durch die
Gräberfunde erwiesen sind. Als die Gründe der anthro-
pologischen Sonderstellung der nördlichen Völker nehmen
die Alten unbedenklich Klima und Lebensweise an, Kälte
und Feuchtigkeit der Wohnsitze, beständige Uebung der
Kräfte, einfache und reizlose Nahrung. Ob sie damit so
weit von dem Richtigen geblieben sind? Die Zurück-
schiebung der Ursachen in die Eiszeit ist auch nichts andres
als die Berufung auf das Mögliche. Die Möglichkeit er-
klärt ohnehin nur den Anfang einer Abänderung der körper-
lichen Merkmale, als Naturerscheinung, als individuelle Ab-
weichung.
Der Sprache nach sind die Germanen unzweifelhaft ein
Teil der Arier. Diese müssen vor der Trennung der einzel-
nen Völker lange Zeit in naher Gemeinschaft gelebt haben.
Die Sprachentwickelung, das Auseinandergehen in Stämme
setzt eine Verdichtung der Bevölkerung voraus, die erst mit
deut Übergang zum Hirtenleben möglich ist. So kann auch
als die Heimat der Arier nur ein Gebiet in Betracht kom-
men, das sowohl diese Bedingungen bot, als zu der späteren
Trennung und der Richtung der Wanderungen ohne Sprung
hinüberleitete. Das kann nur ein Festland sein. Längst hat
man deshalb an die große osteuropäische Ebene in verschie-
dener Fipiruug gedacht, gelegentlich auch an das eigentliche
Deutschland oder die Rokytnosümpfe. Aus allgemeinen und
speziellen Gründen empfiehlt es sich gerade, ein Übergangsland
zwischen dem mitteleuropäischen Waldgebiet und dem völligen
Weidegebiet anzusetzen. Dort hat während der Eiszeit eine
schmale Landbrücke zwischen der weit ausgedehnteren Ostsee,
ob sie nun Wasser oder Eismasse gewesen sein soll, und den
gleichfalls vergletscherten Karpaten bestanden. Der paläo-
lithische Mensch hat sich auch bis weit nach Osten verbreitet.
Andrerseits hat auch der asiatische Mensch keine andren Gren-
zen seiner Verbreitung haben können. Die abtrocknende ost-
europäische Tiefebene erweiterte diese Zone; östliche Horden
konnten nach Mitteleuropa sich verbreiten, wenn sie nicht an
dieser Stelle mit ältern Bewohnern zusammenstießen und auf-
gehalten wurden. Gleichviel nun, woher die Kurzköpfe neben
den Langköpfen in Ansiedlungeu der süngereu Steinzeit, in
Höhlen Belgiens und in Pfahlbauten des Alpenvorlandes
gekommen sein mögen! Die Bewahrung von Unterschieden
der Rassen kann von da an nicht mehr bloß Folgeerscheinung
des Klimas oder natürliche Auslese sein. Nehmen wir
hypothetisch das Land von den Sudeten östlich, von den
Karpaten nördlich, das Gebiet, von dem große Ströme nach
Osten und Norden, und eine niedrige Wasserscheide nach
Süden den Weg weisen, als den Ursitz der arischen Sprach-
genossenschaft an. In den nordwestlichen Strichen herrscht das
Jägerlcben vor, die östlicheren Arier gingen mehr und mehr
zum Hirtenleben über, das die Vorbedingung ihrer weiten
Wanderungen ist. Hirtenstämmen ist der Knecht auch fremder
Rasse wertvoll, Krieger und Jägerstämme können Sklaven
kaum halten, noch weniger sich vermehren lassen. Die
Kulturstufe der Germanen des Cäsar ist ein sehr geringer,
wenigstens einseitiger Fortschritt gegen die urarische, wie
sie aus der Vergleichung des Sprachschatzes zusammengestellt
worden ist; schon dies ist als ein Zurückbleiben im räum-
lichen Sinne und im übertragenen zu verstehen. Indem dann
die Urgermanen arischer Sprachstuse den nördlich fließenden
Strömen entlang sich ausbreiteten, werden die übrigen ver-
einzelten Nachkommen der einheimischen langköpfigen Be-
völkerung desto leichter mit ihnen verschmolzen sein, se mehr
die Nasse die gleiche war. Dies folgt aus der viel früheren
Verbreitung der paläolithischcn Langköpfe in Mitteleuropa
gegenüber der Notwendigkeit, für die Bildung der arischen
Ursprache ein begrenztes Gebiet anzunehmen und eine jüngere
Globus LIX. Nr. 18.
Zeitperiode als das Ende der Eiszeit und die fortschreitende
Bewohnbarkeit Skandinaviens; denn für dieses, speziell
für Dänemark, ist ja eine vorgermanische Bevölkerung nach-
gewiesen durch die Urgeschichte. Alle Schwierigkeiten lösen
sich durch die Nächstliegende Annahme, daß sie wesentlich
derselben Rasse angehörten, wie die später kommenden Ger-
manen, ohne daß man mit Munch an Kelten glaubt. Waren
sie dem aus Mitteleuropa sich nach Norden zurückziehenden
Renntier gefolgt, so ist freilich nicht einzusehen, weshalb
nicht dunkle Langköpfe, die bis nach Belgien sich verbreiteten,
von Broca und Quatrefages Cro-Mognou-Rasse genannt,
gleichfalls hatten dorthin gelangen können. Mau hat denn
auch die langköpsigen, hochgewachsenen aber dunkeln Dale-
karlier aus solche Vorfahren zurückführen wollen. Übrigens
zeigen die schwedischen Gräber der jüngeren Steinzeit einen
Anteil kurzer Schädel.
Für die Frage, ob der germanische Typus gar nichts
weiter sei als die unvermischte Fortsetzung einer gleichartigen
arischen Rasse, kommen aber noch andre Gesichtspunkte in
Betracht. Selbst die Gleichartigkeit des Aussehens, wie sie
die Alten an den Germanen fanden, schließt individuelle
Abweichungen nicht aus. Für den ersten Anblick überwiegt
auch andern Rassen und Völkern gegenüber die Ähnlichkeit
der Individuen ihre Unterschiede; für uns sehen alle Neger
oder Chinesen gleich aus, für sie wir Europäer.
Nun wird aber der Farbe des Haares der Germanen mit
aller Bestimmtheit von einem alten Schriftsteller (Galen)
nicht blond, sondern feuerfarben, von andern rot oder rötlich
genannt. Mehrfach ist erwähnt, daß die Germanen durch
eine besondere Seife oder Salbe das Haar rot färbten.
Bedeutet dies, daß sic dunkleres Haar heller haben woll-
ten, weil cs als Zeichen der Unfreiheit schien? (Andree,
Ethnographische Parallelen, F. 262.) Suntonius er-
zählt, daß Caligula Gallier ihre Haare rot färben ließ, um
sie im Triumphzug als germanische Gefangene ausführen
zu können.
Es lüge darin, wie in manchen andern weniger sichern
Anhaltspunkten, die Einwirkung eines Schönheitsideals der
Rasse vor. Darwin sagt geradezu, daß unter allen Ur-
sachen der Rassebildung die geschlechtliche Zuchtwahl die
wirksamste wäre. (Abstammung des Menschen ll, S. 338.)
Richtiger würde man sagen: Nur die geschlechtliche Zucht-
wahl in Rücksicht auf die Rassenmerkmale kann diese be-
festigen. Denn es handelt sich eben um die Ausschließung
der Übergangsstuscn; darauf zielt auch Moritz Wagners
Bedingung der Isolierung und Inzucht, wobei aber noch
dunkel bleibt, ob es sich um bloße Differenzierung im lokalen
Sinne oder um Häufung individuell günstiger Eigenschaften
handeln soll.
Nun kann aber für den germanischen Typus die Zeit
zwischen der Ablösung von der arischen Sprachgruppe und
dem Auftauchen in der Geschichte nicht ohne Einfluß sein:
entweder Verstärkung oder Abschwüchung! Konnten sich
doch in dem gleichen Klima, dem die Alten zusammen mit
Lebensweise und Nahrung die Rassenmerkmale der Germanen
zuschrieben, auch andere behaupten. Inwieweit aber Reste
einer vorarischen oder doch vorgermanischen Bevölkerung
wesentlich gleicher Rasse sich im Unterschied der Hörigen von
den Knechten verraten, das stehe dahin (vgl. Grimm, Nechts-
altcrtümer 321). Aber auch letztere konnten, wie Tacitus
ausdrücklich und unzweifelhaft bezeugt, Germanen sein, wenn
auch meist von einem andern Stamm. Auch ein Aufsteigen
zur Freiheit kam vor. Noch viel später haben die Lango-
barden so eine ausgiebige Verstärkung gewonnen, wie Paulus
Diakonus berichtet nach Volksüberlieferung und Volksauf-
fassung! (Hist. Langob. I, 18.) Dies ist auch anthropologisch
von Belang für die Beurteilung der Rassengleichheit.
36
282
Dr. F. Guntram Schultheiß: Anthropologie und Geschichte.
Dunkle Spuren der Mutterfamilie bei germanischen
Stämmen deuten in eine Vorzeit, die der Inzucht in der
Richtung eines Rassenideals günstig sein konnte, wenn eben
ein solches der Differenzierung individuellen Geschmacks
entgegen stand. In jüngeren Lebensformen aber konnte
es als Schönheitsideal sowohl die geschlechtliche Zuchtwahl
leiten wie eine soziale Auswahl! Etwas ähnliches wirkt
bei allen Völkern int Naturzustand gegen Differenzierung.
Der Vater hatte das Recht, das Kind gelten zu lassen oder
nicht; d. h. dem Tode zu weihen. Man will es auf
Schwächlinge beschränken — wie bei den Spartanern, und
meint, die Sitte hätte die Strenge des Rechts gemildert
(Waitz, Deutsche Verfassungsgeschichte I, 49). Aber wes-
halb idealisieren? Allerdings soll bei Kindern die Rasse
nicht ausgeprägt sein. Verkauf der Kinder in Sklaverei
kommt noch in christlicher Zeit vor, ja bis ins 15. Jahr-
hundert (Grimm, Rechtsaltertümer 461); in dem lateini-
schen Schwank vom Schneekinde entledigt sich der Schwabe
so des ihm ins Nest gesetzten Kindes. Es giebt auch andre
Züge von Barbarei. Menschenopfer, besonders von Kriegs-
gefangenen, sind nichts seltenes; ja ganze Heere wurden den
Göttern zum Opfer geweiht. Ein Heer christlicher Franken,
das 539 in Oberitalien einfiel, schlachtete die gotischen
Weiber und Kinder als Kriegsopfer ab. Weshalb sollte
denn für die Urzeit der Germanen die Sitte etwas andres
sein als das Recht? Das Beispiel der Spartaner zeigt
die Richtung der Auslese.
Tacitus bezeugt, daß die Heergemeinde über die Wehr-
haftmachung und Aufnahme der Jünglinge entschied. Wies
sie auch zurück? Und was geschah mit den Zurückgewiesenen?
Taeitus sagt auch, daß die Schwächlinge mit den Weibern
und Greisen den Ackerbau trieben. Natürlich entsprach nicht
aller Nachwuchs dem Rassenideal. Bekannt sind Pipin oder
der wegen seiner Kleinheit verhöhnte Longobarde bei Paulus
Diakonus. Gerade vom Adel forderte man als Beweis seiner
Ächtheit die Steigerung der Rassenmerkmale. Der König
der Teutonen, Teutoboch, soll — nach späterer Erzählung
bei Florus — über die römischen Feldzeichen hinausgeragt
und über sechs Pferde gesprungen sein. Das nordische Lied
Rlgsmäl, über den Ursprung der Stünde, stellt den schmutzi-
gen verkümmerten Knecht in Gegensatz zum leuchtend hellen
Edeling. Der Freie, der Bauer steht einfach in der Mitte
zwischen beiden. Bei den Sachsen waren die drei oder vier
Stünde nach Rudolf von Fulda, der im 9. Jahrhundert
schrieb, wie Kasten von einander geschieden; gewiß ist wenig-
stens soviel, daß ein zahlreicher Adel den Gemeinfreien abge-
schlossener entgegenstand als sonst bei Germanen. Noch der
viel spätere Sachsenspiegel III, 44 (Homeyer I, 377) leitet
die Unfreiheit von Eroberung ab, nicht aber nicht im anthro-
pologischen Sinne verschiedene Rassen annehmend; hier und
noch mehrfach sind es Thüringer, die von den Sachsen in
niedrigere Rechtsstufe versetzt werden. Auch die Recht-
fertigung der Unfreiheit durch den Fluch No ns über Eham,
die sich schon Ende des 13. Jahrhunderts bei Hugo v. Trim-
berg findet, ist allzu klar theologischen Ursprungs, als daß
man daraus Schlüsse ziehen könnte.
So mögen also die verschiedensten Verhältnisse zusammen-
gewirkt haben, um einen alten Rassentypus zu der körper-
lichen Vervollkommnung herauszuarbeiten, die ja gerade
Fremde und Feinde anerkennen, nicht nur bei den Männern,
sondern auch bei Weibern, so z. B. Prokopius (Gotischer
Krieg III, 1). In ähnlichen Lebensverhältnissen, doch
anderm Klima, haben ja auch die Kasfern sich zu einem
Ideal körperlicher Ausstattung erhoben, natürlich innerhalb
der Grundzüge der afrikanischen Rassen, doch von vor-
urteilslosen Beobachtern mit den Körperformen antiker
Plastik verglichen.
Der Übergang der Germanenstämme zu voller Ansässig-
keit während der Jahrhunderte der Völkerwanderung bahnt
auch bei den zurückbleibenden in der alten Heimat oder deren
Nähe eine völlige Änderung aller Lebensverhältnisse an, die
sich bis auf die Nahrung, ja später auch ans das Klima
ausdehnt. Größe und Kraft traten im Kamps ums Dasein
gegen wirtschaftliche Tugenden zurück; nach heutigem Aus-
druck zeigt sich eine Krisis der Gemeinfreien als Bauern,'
indem sie massenhaft zu Formen der Abhängigkeit herabsinken.
Sollte es bedeutungslos sein, daß fortan die Kleineren und
Schwächeren konkurrieren konnten, unter den Schutz der Kirche
traten von der Geburt bis zum Tode? In Gräbern der
christlichen Zeit finden sich eben mehr und mehr Mittelköpfe.
Muß das durchaus Mischung sein? Noch gegen Ende des
achten Jahrhunderts nennt der Bischof Aribo von Freising
seine Landsleute hochgewachsen. Sollen etwa die Ungarn-
einfälle gerade den kräftigsten und schönsten Teil der bai-
rischen Bauern vernichtet und so die Rasse verschlechtert
haben? Es wäre Aufgabe einer historischen Statistik, An-
haltungspunkte dafür zu gewinnen, ob andre Gründe als
das Klima die Ersetzung der bairischen Bauern durch die
anschwellenden Unfreien wahrscheinlich machen können.
Übrigens wirkt das alte Schönheitsideal noch lange
Jahrhunderte fort, ja man kann sagen, bis in die Gegen-
wart. (Gretchen!) Schon im neunten Jahrhundert gelten
körperliche Vorzüge als Ausdruck sozialer Vorrechte. Dies
zeigt eine hübsche Anekdote der St. Galler Klosterchronik
(Ca8. 8. Galli I, 10, 15; Mon. Germ. II, 84). Es sind
aber weder durchaus die alten Rassenmerkmale noch sind
sie selbst unter dem höchsten Adel so durchgängig, wie man
glauben könnte. Leider sind zuverlässige Schilderungen
ziemlich selten, so daß man einwenden könnte, der alte ger-
manische Typus sei derart Regel, daß nur die Ausnahmen
erwähnt würden. So wird Otto II., der den Beinamen
des Roten, wegen seiner Gesichtsfarbe führt, klein genannt.
Dem Volk wohlbekannt war der tapfere Ritter Kuono der
Kurzbold. Kaiser Heinrich III. hieß wegen seiner dunklen
Gesichtsfarbe der Schwarze, nach späterem Berichte wegen
seines schwärzlichen Bartes. Zugleich war er wie alle seines
Geschlechtes durch Körpergröße hervorragend. Vollständiger
sind wir über die Hohenstaufen unterrichtet. Friedrich der
Rotbart wird von seinem Verwandten Otto von Freising
oder dessen Vertrauten und Fortsetzet' als etwas über mittel-
groß, blondhaarig, von rötlichem Bart und milchweißer
Hautfarbe geschildert (Gesta Friderici IV, 76). Eine
ganze Reihe seiner Zeitgenossen wird in einer etwas späteren
Auszeichnung beschrieben (Acerbi Morenae contin. Mon.
Germ. 18, 640), aber sehr tut Widerspruch mit den anthro-
pologischen Behauptungen des gleichartigen germanischen
Typus des hohen Adels. Die Kaiserin Beatrix, eine Bur-
gunderin, sowie ihr Bruder sind blond und mittelgroß,
auch die beiden Bischöfe Rainold von Köln und Hermann
von Werden. Groß und weißblond ist des Kaisers Neffe,
Konrad von Rotenburg, und ein Graf, der schönste im
Heere. Groß ist Otto von Wittelsbach, später Herzog
von Baiern, aber fast schwarzhaarig, ebenso zwei deutsche
Grafen; Heinrich der Löwe, mittelgroß, mit schwarzen
Augen und ziemlich schwarzem Haar. (Nach einem eng-
lischen Chronisten war sein Enkel Otto das Kind von an-
gestaunter Länge.) Der Markgraf von Montserrat, ein
Lombarde, ist mittelgroß und weißblond, ein andrer Ita-
liener klein, schwarzhaarig, von schwärzlicher Gesichtsfarbe.
Friedrichs und der Beatrix Sohn, König Philipp, wird
von deutschen Chronisten wegen seines schwachen Körper-
baus Holzwürmchen genannt, Heinrich IV. ähnlich ge-
schildert. Friedrich II. wird als mittelgroß und rotblond
bezeichnet. Allerdings finden sich auch die allgemeinen
Dr. F. ©unirom Schultheiß: Anthropologie und Geschichte.
283
Ausdrücke von der Größe und Blondheit der Deutschen.
Bemerkenswert ist in anthropologischer Beziehung eine An-
gabe der Chronik von Kolmar im Elsaß (Mon. Germ. 17,
240), daß die Männer insgemein 6 Fuß 2 Fingerbreiten
hätten, kleine Leute würden aber gefunden mit 4y2 Fuß.
Es ist allerdings eine späte Handschrift, die das zur Nach-
richt hinzufügt, daß Rudolf von Habsburg 7 Fuß Länge
und einen kleinen Kopf gehabt habe. Nachrichten über die
Kopfform, auf welche die Anthropologie so viel Gewicht
legt, dürften sonst selten sein. Vielleicht beweist die Be-
trachtung der alten Kaiserkrone in Wien, die wohl zur Zeit
Friedrichs II. gefertigt ist, für welche Form sie berechnet
ist. Außerdem konnten nur Untersuchungen in den Grüften
alter Geschlechter darüber Aufschluß geben. So sind die
Grafen von Cilli im 14. und 15. Jahrhundert als Kurz-
köpfe erkannt.
Man hat versucht, das Schönheitsideal der höfischen
Ritterzeit aus den verstreuten Angaben in den Gedichten zu
konstruieren (Alwin Schulz, Quid de pulchritudine Ger-
mani XII. Saeculi sen. serint., 1866). Eine Bevor-
zugung der blonden Haarfarbe, der hellen Augen ist freilich
unverkennbar. An den österreichischen Adeligen tadelt
Thomas Ebcndorfer noch im 15. Jahrhundert die Eitelkeit,
ihr Haar künstlich zu locken und blond zu machen. Solche
Anhaltspunkte sind von belang; die einzelnen Stellen geben
an sich trotz aller Statistik noch keinen Einblick in die
Wandlungen, denen auch das Schönheitsideal — bewußt
und unbewußt — im Lause der Geschlechter unterworfen
ist. Zwischen den grimmen Recken des Walthariusliedes,
der Nibelungen, der Gudrun und den eleganten Rittern
der höfischen Epen liegt ein solcher Wechsel in der Mitte.
Das körperliche Ideal in diesen hat selbst für Männer
eine Art weiblichen Beigeschmacks, die Helden sind die
ewigen Jünglinge. So zeigen in späterer Zeit Bildnisse
ganz verschiedener Individuen und Künstler den gleichen
Ausdruck. Ist diese Ähnlichkeit eine solche der Menschen
oder bloß von der Äuffassnng hineingetragen? Andrerseits
hat Moritz Wagner gegenüber anthropologischen Einseitig-
keiten mit Recht darauf hingewiesen, daß die geschlechtliche
Anziehung seit der Zeit der Exogamie auf einem gewissen
Gegensatz beruht. Freilich gilt dies nur innerhalb bestimm-
ter Grenzen der körperlichen Verschiedenheiten und hat mit
vorübergehenden Verbindungen nichts zu thun. Wer Fa-
miliengallerien betrachtet, wird vielleicht finden, daß wie bei
den Männern, so auch bei den Frauen der gleiche Typus
öfter wiederkehrt. Anthropologisch wird das nicht zu fassen
sein. Aber rätselhafter wäre diese Erscheinung unbewußter
Abhängigkeit, gleichsam des Snchcns nach dem ergänzenden
Typus, auch nicht, als die des Atavismus im rein körper-
lichen Sinne, wenn Vertreter der Urrasscn Europas sich
gelegentlich wieder konstatieren lassen, nachdem nicht Jahr-
hunderte, sondern Jahrtausende an ihrer Abschwächung und
Verschmelzung gearbeitet haben. Sollte vielleicht die Be-
hauptung von der Dauerhaftigkeit und Unwandelbarkeit der
(europäischen wie der andern) Rassen seit dem Diluvium
nur der Ausdruck der Thatsache sein, daß sich alle Schädel-
formen der heutigen europäischen Völker gerade in ihren
Extremen deshalb schon in so frühen vorgeschichtlichen Zeiten
finden, weil sic überhaupt die Grenzen der Wandelbarkeit
darstellen?
Fassen wir die Schlußfolgerungen zusammen, zu denen
die Ergebnisse der anthropologischen Forschung berechtigen.
Der Begriff der Rasse ist nichts andres als die Verall-
gemeinerung der körperlichen Vererbung, deren individuelle
Geltung längst beobachtet und anerkannt ist. Doch ist sie
nicht die bloße Wiederholung der Erzeuger, sei es eines von
beiden oder einer Kombination unter sich, oder mit ent- I
ferntcn Vorfahren, sondern cs besteht noch für die individuelle
Abweichung ein größerer oder kleinerer Spielraum. Diese
vertrügt sich auch mit der Verallgemeinerung, welche die
wesentliche Gleichheit oder Ähnlichkeit innerhalb größerer
Gruppen zusammenfaßt, und dabei teilweise genealogischen
Zusammenhang, teilweise Abhängigkeit von Lcbcnsverhält-
nisscn voraussetzt. Denn außerdem könnten die Merkmale
ganz willkürlich gewählt werden. Die Identifizierung
fossiler Rassen mit jetzigen Typen strebt nach Merkmalen,
die den genealogischen Zusammenhang beweisen sollen, die
auch die Summierung individueller Abweichungen noch über-
ragen müssen. Die Entscheidung hierüber kann aber nur
nach dem Maßstab der angenommenen Wichtigkeit der
Merkmale erfolgen. Ganz abgesehen von den willkürlichen
Grenzen bei Übergangssormcn, wie den Mittelköpfen, bleibt
es bei der Vereinigung verschiedener Merkmale eine offene
Frage, welches vorwiegen soll. Wer kann die Annahme
eines kurzköpfigcn und blonden Rassenclemcntes widerlegen?
Oder die Möglichkeit einer späteren Rasscnbildnng? Es
handelt sich nur darum, welche Wichtigkeit man den ersten
Ansätzen beilegen will, durch die sich die Engländer von den
festländischen Sachsen, die Pankce von den Engländern
unterscheiden. Vielleicht entzieht sich diese Differenzierung
anthropologischer Bestimmung; aber wenn auch nur die
Möglichkeit besteht, so ist die Fortführung von Umständen
abhängig, die auch in früheren Zeiten fördernd und be-
günstigend hätten wirken müssen. Die größere oder ge-
ringere Intensität, eine neue Kombination herrschend zu
machen, begründet kaum einen Unterschied, wenn die Ver-
breitung einer Rasse als Thatsache der Naturbeschreibung wie
eben bei Tieren aufgefaßt wird, wie es die ältere Anthro-
pologie that — hierin eigentlich mehr Geographie oberflächlich
und unzureichend für die Gegenwart wie für die Vergangen-
heit der menschlichen Rassen.
Die Umstünde der Bildung, Verbreitung und Verdrängung
der Rassen beruhen hauptsächlich, wie die gesamte Entwicke-
lung des Menschen, seine Erhebung über die Tierwelt, ans
dem sozialen Moment, im weitesten Sinne des Wortes. Nur
als geselliges Wesen genießt er das Erbe der Vergangenheit.
Auch die körperliche Bedingtheit, der individuelle Anteil an der
Rasse, ist ein Stück fortlebender Vergangenheit, aber er tritt
an Bedeutung immer weiter zurück gegen die objektiven
Einflüsse, die als Sprache und Anschauungen, Gesellschaft
und Staat den einzelnen zwingen, sich in sie einzuleben,
sie in sich aufzunehmen. Das Maß seiner Befähigung
entscheidet darüber, ob sie ihn unterjochen, oder ob er einen
Rest individueller Freiheit behaupten kann; das Maß seiner
Willenskraft, ob er bei neuen Bedürfnissen Verzicht leistet
oder Befriedigung anstrebt. Der Zusammenstoß des Neuen
mit dem Alten ist eben Geschichte; wo er fehlt, wie bei
Naturvölkern, kann Jahrtausende hindurch alles beim Alten
bleiben, selbst die Möglichkeit einer Anpassung an neue
Verhältnisse erlöschen, die gewaltsame Berührung mit andren
Lebensformen das Aussterben nach sich ziehen. Nur Menschen
von überschießender Individualität können Veränderungen
durchsetzen, so weit diese nicht von äußerer Gewalt herrühren;
vor allem, wenn die Schranken der sozialen Ordnung und
Gliederung in Widerspruch mit individuellem Selbstgefühl
stehen. An die Rasse ist dies nicht gebunden; dies zeigen
alle Sklavenaufstände der alten und der neuen Geschichte;
das römische Weltreich betrieb in seiner Ausbreitung syste-
matisch dessen Zerstörung, die pacificatio. In der kriegerischen
Gesellschaftsverfassung der Germanen war das Gefolgswesen
der Ausweg.
Nun sind allerdings Thatkraft und Urteil sehr verschieden
bei einzelnen wie bei Völkern oder in den Zeiträumen —
nicht Ergebnis der Erziehung oder des Vorbildes, sondern
36*
284
R. Andree: Tippu Tip.
der Vererbung seelischer Elemente in individueller Steigerung
und glücklicher Kombination. Ihr Eingreifen in die Ge-
schichte, ihr Erfolg aber hängt doch von Umständen und
Bedingungen ab. So mancher Luther mag verbrannt, so
mancher Napoleon im ersten Treffen seines Lebens getötet
worden sein. Wer wollte derf Zufall leugnen, den Ziegel-
stein, der vom Dach füllt und einen Newton oder Kant zum
Tölpel machen kann, oder die Seuche, die Generationen
voraus beseitigt? Man kann sagen, daß das Negative außer
Rechnung bleiben kann, und sich selbst gegenseitig aufhebt.
Doch ist sicher, daß die Inquisition die Spanier, die Gegen-
reformation die Deutschösterreicher gerade um die besten
Kräfte gebracht hat. Aus dem Ergebnis einer langen Ge-
schichte der Völker oder Rassen kann man aber nicht den
Schluß ziehen, daß eine spezifische Begabung die Bahn be-
stimmt. Allerdings giebt nur der Feuerstein so viel Funken,
als zum Feuermachen nötig ist. Die Mongolen haben
nur einen Dschingiskhan hervorgebracht, um dann wieder
zurückzusinken; die Chinesen und Ägypter sind stecken ge-
blieben, als die Last der Vergangenheit zum Hindernis des
Fortschritts wurde. Aber auch dieses Hindernis gehört der
sozialen Geschichte an, nicht der der Rasse, und ihrer Er-
schöpfung. Ebenso ist die rapide Steigerung der europäischen
Kultur nach einem tausendjährigen Stillstände, ja Rückgänge
der überlieferten römischen doch im direkten Widerspruch zu
der Deutung, welche anthropologische Einseitigkeit der That-
sache geben möchte, daß in dieselbe Zeit eine Zunahme der
Kurzköpfigkeit trifft. Die historische Betrachtung kann die
Gründe davon auf sich beruhen lassen. Die Zurückführung der
europäischen Völker auf ihre körperlichen Grundformen mag
ebenso richtig sein wie der Nachweis, daß gesellschaftliche
Umwälzungen Parallel mit Veränderungen im Typus laufen,
eine tiefere Einsicht in den geschichtlichen Zusammenhang
kann man daraus nicht gewinnen. Über den Ursprung der.
Völker kann die historische Anthropologie Aufschluß geben.
Aber es ist kaum mehr als eine petitio principii, von der
Unveränderlichkeit der Rassenorganisation auszugehen und
allen Wechsel der Zustände auf den schleichenden Kampf
der Rassenelemente innerhalb der Völker zurückzuführen.
Wie aus flacher Paßhöhe die Wasserscheide kaum merklich
verläuft, jenseit und dicsseit aber die Bäche, rasch zu Thale
stürzend, sich zu sammeln streben, so entfernt sich auch die
Entwickelung der Völker immer weiter von ihrem Ursprung,
an den sie kaum die Erinnerung lange festhalten, und mannig-
fache Einflüsse beherrschen die Richtung ihrer Geschichte.
Wie die Ereignisse zu den Gedanken und Auffassungen sich
verhalten und diese selbst wieder abändern, das ist die
Aufgabe der historischen Betrachtung. Aber keinerlei allge-
meine Formel kaun die Untersuchung des einzelnen un-
nötig machen.
Tippn Tip.
Unter den Arabern, die von Sansibar aus ihre Sklaven-
jagden, Raub- und Handelszüge bis über den Congo hinaus
tief ins Innere unternommen haben, 'ist keiner bedeutender
und mächtiger geworden, als Tippu 'Tip, der mit seinem
eigentlichen Namen Hamed bin Mohamed heißt. Viele Rei-
sende der Gegenwart sind mit
ihm im Innern oder in
Sansibar, wo er sein Stand-
quartier hat, zusammenge-
troffen uud alle heben den
mächtigen Einffuß hervor, den
dieser Mann im schwarzen
Erdteile sich zu erringen wußte.
Nachrichten aus Sansibar be-
sagen, er liege vom Schlage
getroffen in Unjanjembe uud
es fragt sich, ob damit seine
Geschichte ihr Ende erreicht
hat. „Während dreier Jahre,
seit er Vali im Dienste des
Cougostaates an den Stan-
leyfällen ist, hat Tippu Tip
treu sein Wort gehalten",
schrieb noch jüngst das Or-
gan des Cougostaates, Mou-
vement géographique, ohne
indessen zu verkennen, daß
die Schwierigkeiten, welche
der Islam und die Araber
in Afrika den Europäern be-
reiten. nicht überwunden sind.
Es ist jetzt wohl an der Zeit, daß wir einige Nachrichten
über den hervorragenden Mann hier zusammenstellen, die
wir mit seinem Bildnisse begleiten, das nach einer Photo-
graphie gefertigt ist, welche F. de Meuse im Jahre 1888 an
den Stanleyfalls aufnahm.
Tippu Tip. Nach einer Photographie von F. de Meuse.
Der erste Europäer, der uns von Tippu Tip berichtete,
war der englische Leutnant Cameran, welcher in der
Gegend von Nyaugwe am Congo mit ihm zusammentraf.
Er zog von dem intelligenten Manne viele Erkundigungen
ein, die ihm bei seinem großen Zuge quer durch Afrika von
Nutzen wurden. In dem-
selben Jahre hatte Stanley in
Sansibar von Tippu Tips
kühnen Zügen tief ins Innere
gehört, von seinem Reichtum,
von den vielen Sklaven, die
er geraubt, von dem Elfen-
bein, welches er zusammen-
gebracht und dem Ansehen,
das er sich unter den Ara-
bern erworben. Tippn Tip
war ein fürstlicher Kaufmann
geworden, der es auch ver-
stand, Krieg zu führen und
über eine ansehnliche Macht
gebot. Auch Stanley traf
in der Gegend von Nyangwe
mit Tippu Tip im Oktober
1876 zusammen. Er schil-
dert ihn folgendermaßen: „Es
war ein großer, schwarzbär-
tiger Mann mit negerartiger
Hautfarbe, in der Blüte
seiner Jahre, von straffer Hal-
tung und lebhaft in seinen
Bewegungen, ein wahres
Bild von Energie und Stärke. Er hatte ein schönes, intelli-
gentes Gesicht mit einem nervösen Zucken in seinen Augen
und mit glänzendweißen, vollkommen geformten Zähnen.
Er war von einem zahlreichen Gefolge junger Araber, welche
zu ihm als ihrem Befehlshaber emporblickten, uud von
285
Bücherschau.
20 Wanjamesi begleitet, die er Tausende von Meilen weit
mit sich durch Afrika geführt hatte. Mit dem würdevollen
Benehmen eines feingebildeten Arabers und fast mit Höflings-
manieren hieß er mich willkommen. Nachdem ich ihn einige
Minuten betrachtet hatte, gewann ich die Überzeugung, daß
dieser Araber ein bedeutender Mensch sein müsse, der bedeu-
tendste, dem ich bisher unter den Arabern in Afrika begegnet
war. Er war fein in seinem Äußern, seine Kleider waren
von der reinsten Weiße, sein Fez nagelneu, um seinen Leib
war ein kostbarer Seidcnschal geschlungen, sein Dolch glänzte
von feinen Silbcrdrahtverzierungen und seine Gesamt-
erscheinung war die eines arabischen „Gentleman", der sich
sehr großer Wohlhabenheit zn erfreuen hat."
Tippn Tip war damals bereits neun Jahre fern von
Sansibar im Innern Afrikas auf seinen Raub- und Haudcls-
zügen gewesen und wurde auch für Stanley durch seine
Kenntnisse des Landes und Volkes vom höchsten Werte.
Er gab ihm Auskunft über den Lauf des Congo, und schloß
mit Stanley einen Kontrakt, nach welchem er ihn gegen Zah-
lung von 5000 Dollars ein gutes Stück den Congo abwärts
durch die feindlichen Völker führen solle, bis es ihm gelänge,
sich einzuschiffen. Dieser Kontrakt ist auch ausgeführt wor-
den und zwei Monate lang, von Ende Oktober bis Ende
Dezember 1876, ist Tippn Tip denn mit Stanley durch die
Wälder und Landschaften am Congo hingezogen. Das war
seine erste Bekanntschaft mit diesem mächtigen Araber, die
später zu einer weiteren Verbindung zwischen beiden Männern
führen sollte.
Auch Wißmann ist im Jahre 1883 mit Tippn Tip
zusammengetroffen, und zwar im Osten des Tanganjikasees,
bei dem damals allmächtigen Häuptlinge Mirambo, mit dem
Tippn Tip, der zweitmächtigste Mann Ostafrikas, Freund-
schaft schloß. Mach Wißmann war Tippn Tip damals 45
Jahre alt, „von ganz schwarzer Hautfarbe", obwohl sein Vater
ein reiner Araber war. Er bestätigt übrigens Stanleys
Schilderung, nur sagt er, Tippn Tip habe etwas Lauerndes
im Auge und spöttele gern.
Als der Congostaat gegründet wurde und dessen Pioniere
bis zu den Stanleyfällen vordrangen, fanden feindliche Be-
rührungen mit Tippn Tip statt. Die Belgier bombardirten
seine Niederlassungen mit Kruppschen Geschützen, von denen
mehrere in Tippn Tips Hände fielen. Er hatte diese Kriegs-
beute auf ungeheurem Wege quer durch Afrika mit sich nach
Sansibar geschleppt, wo er sie im März 1887 wutschnaubend
Stanley zeigte, der gerade seine Emin-Pascha-Expedition an-
trat. Er brütete damals über Wiedervergeltungspläne, die
indessen nicht zur Ausführung kamen. Im Gegenteil, er
wurde durch Stanley ein Verbündeter und Beamter des
Congostaates. Die Sache hat damals viel Aufsehen gemacht
und es ist Stanley als Fehler angerechnet worden, daß er
den großen Sklavenjäger zum Werkzeuge europäischer Kultur-
bestrebungen gemacht habe.
Der erste Anlaß zur Anwerbung Tippn Tips geschah
übrigens auf Anregung des Königs Leopold von Belgien.
Tippn Tip ging auf die Sache ein; er sollte Vali an den
Stanleyfällen werden, möglichst selbständig sein, doch ein
Europäer sollte ihm zur Seite stehen. Sklavenhandel und
Sklavcnjagdcn wurden ihm streng untersagt; dagegen konnte
er nach Herzenslust Handel für eigene Rechnung treiben und
erhielt monatlich einen glänzenden Gehalt in Sansibar aus-
gezahlt.
So schiffte sich denn der neue Gouverneur samt 100 Mann
Begleitung mit Stanley nach der Congomündnng ein. Stau-
nend sah er in der Kapstadt, was die Europäer zu leisten
vermögen — gegen diese war das berühmte Sansibar nur
ein Schatten. Friiher, so sagte er dort, hätte er geglaubt,
daß alle Weißen Narren seinen, jetzt glaube er aber, daß sie
sehr gescheit sein müßten und unternehmender als die Araber.
Auch hoffe er vor seinem Tode noch London zu sehen.
Tippn Tip ist dann als Bali cm den Stanleyfällen ge-
blieben und hat dort mit den im Lager von Jambuja am
Aruwimi zurückgelassenen Offizieren Stanleys (Bartelot, Jame-
son u. s. w.) vielerlei Berührungen gehabt. Nach den Schil-
derungen Jamesons, der ihn in seiner Hauptstadt Kassongo
am Congo (südlich von Nyangwe) damals aufsuchte, thronte
er dort wie ein Fürst. Seinen Namen hatte er von den
Eingeborenen nach dem Knalle der Gewehre erhalten, mit
denen er sie zuerst bekämpfte. Er trug sich mit riesigen
Plänen und wollte das Land bis zum Albert-Nyanza erobern;
das Vorgehen der Deutschen war ihm störend und offen sprach
er den Wunsch aus, Deutschland und Frankreich möchten doch
bald in Krieg miteinander geraten, damit ersteres in Ostafrika
nicht weiter vorgehen könne und er freie Hand erhalte. Auch
Jameson lobt seine wahrhaft fürstliche Gastfreundschaft und
seine Güte. Stanley dagegen spricht schließlich von seiner
„natürlichen Herrschsucht, seiner Unkenntnis der Geographie,
seiner barbarischenÜberhebung und seiner wachsenden Habsucht".
Die letztere scheint überhaupt ein wesentlicher Charakterzug
dieses Arabers zu sein. „Die Verpflichtungen, welche er
kontraktlich eingegangen war, und die Dankbarkeit, die er mir
schuldete, waren in dem regen, geschürften Appetit nach Geld
vergessen", meint schließlich Stanley von ihm. Bei seiner
Rückkehr von der Emin-Pascha-Expedition ließ Stanley in
Sansibar noch die Summe von 200 000 Mark, die Tippn
Tip gehörten, mit Beschlag belegen, um sich schadlos für die
von diesem nicht erfüllten Verpflichtungen zu halten. So
schwankt Tippn Tips Charakterbild bei Stanley.
R. Andrer.
B n ch e r s ch a u.
Heinrich Schurtz, Grundzüge einer Philosophie der
Tracht mit besonderer Berücksichtigung der Neger-
trachten. Stuttgart, Cottas Nachsolger, 1891. 146 S.
Der Versasser, dessen Name den Lesern des Globus nicht
unbekannt ist, sordert in der Einleitung den Fortschritt der
Ethnologie vom bloßen Aufspeichern des Stoffes, „bestenfalls
ein Aufsuchen von Analogieen", S.. 2 — was als auss äußerste
getriebene induktive Methode bezeichnet ist — zu einer deduk-
tiven Ethnologie. In unserm eigenen Innern gelte es die Triebe
zu entdecken, die die mannigfachsten Sitten und Bräuche her-
vorgerufen haben. Im Sinne der Deduktion sucht er nun die
Tracht (richtiger Kleidung, denn Tracht ist deren nationale, lokale
und soziale Ausbildung) von der psychologischen Wurzel des
Schamgefühles als eines allgemein^ menschlichen (dies nach
Ratzel, Völkerkunde I, 63) Besitzes abzuleiten, — im Gegensatz,
wie er selbst betont, zu der fast durchaus geltenden Zurück-
führung auf die Putzsucht. Dafür sind ja nicht nur die S. 6
Angeführten — sondern auch Gewichtigere wie Wnitz, Heller oder
Lippcrt eingetreten. Ratzel I, 64 ist nicht ohne weiteres der
Meinung wie Schurtz. Die Berechtigung und Ersprießlichkeit
der Deduktion als Methode wird niemand bestreiten, insofern
sie zeigen kann, ob das gewählte Prinzip zur hypothetischen Er-
klärung genügt.
Eine Prüfung des Prinzips, eine Untersuchung des Be-
griffes des Schamgefühles fehlt; sie scheint, soweit Referent vor-
läufig sieht, auch sonst noch nicht versucht worden zu sein. Als
allmählich entstanden betrachtet es aber auch Schurtz, nur ver-
wahrt er sich gegen den „ungeheuerlichen Gedanken, daß cs aus
der Gewohnheit der Kleidung erst herangezüchtet sei". Als dessen
Ausgang gilt ihm vielmehr der geschlechtliche Alleinbesitz, die
286
Aus allen Erdteilen.
Ehe, die Eifersucht des Mannes. Deshalb werde die Ver-
hüllung der Weiber allenthalben als nötiger empfunden. Da
nach feinem Prinzip der Ausgang der Kleidung die Bedeckung
der Geschlechtsteile ist, völlige Nacktheit eines oder beider Ge-
schlechter als Rückschritt erscheint, so gelten Beschränkungen der
Bedeckung und des Schamgefühles auf andre Teile, wie Nabel,
Gesäß, oder Gesicht, als Perversitäten (Abschnitt IV). Sym-
bolische Andeutung der Kleidung (V) und damit Anerkennung
des Bedürfnisses der Verhüllung findet Schürt; auch in der
Muschel der Melanesier, die bloß die Eichel bedeckt; so sind auch
Schmutzkruste, Fetteinreibung, Bemalung und Tättowierung (VI)
als Ersaß der Kleidung behandelt. Der VII. Absckuitt handelt
von der Mode bei Naturvölkern; voraus geht eine Betrachtung
des Begriffes der Mode. Nur soweit die Kleidung Schmuck sei,
bleibe sie fortwährendem Wechsel unterworfen; das Durchdringen
einer Mode hänge davon ab, ob sie der allgememen Stimmung,
erzeugt vom Gange der Politik und der wirtschafllichen Lage,
entspreche. Daß aber die Schnelligkeit des Wechsels propor-
tional der Abnutzung schmückender Kleidungsstücke sei (S. 97),
wird kein Ehemann oder Vater unterschreiben. Zum Titel ge-
hört nur der Einfluß europäischer und arabischer Tracht in
Afrika. Im VIII. Abschnitt, Erweiterung der Tracbt, läßt
Schürt; sein Prinzip fallen, Rücksicht auf Schutz, auf Schmuck
und Symbolik bedingen sie. Wie reichere Kleidung Abzeichen
der Vornehmheit gegenüber dem Sklaven ist, so drückt Ent-
blößung auch Unterwürfigkeit — unsre Hoftracht, ausgeschnittene
Kleider! S. 124 — und Trauer aus. Daß reichlichere Kleidung
nicht immer Steigerung der Schamhaftigkeit sei, das spreche
gegen deren Entstehung durch gewohnheitsmäßige Bekleidung.
Auch die beiden letzten Abschnitte, Tracht (Kleidung!) und Moral
(IX) und Tracht in der Kunst umschreiben nur im einzelnen,
daß Sittlichkeit und Kleidung getrennte Wege wandeln. Sie
zeigen aber auch, daß das angeschlagene Thema einer Psycho-
logie der Kleidung nicht ausgeführt werden kann, ohne die
Kultur-, Sitten- und Trachtengeschichte auch andrer Völker
heranzuziehen. Tie Beweiskraft von Beobachtungen an so-
genannten Naturvölkern ist überhaupt begrenzt. Auch andre
Punkte, wie die Ehe, d. h. Monogamie mit der Eifersucht, er-
fordern breiteren Aufbau als hier am Platze fein könnte; es
sind Probleme der Soziologie und Urgeschichte.
Dr. Schultheiß-München.
Dr. Walter F. Wisliccnus, Handbuch der geographischen
Ortsbestimmungen auf Reisen zum Gebrauche für
Geographen und Forschungsreisende. Mit 19 Fig.
im Text. Leipzig, Verlag von Wilhelm Engelmann, 1891.
XII, 270 S.
Ter Vcrf. bemerkt im Vorworte wohl mit Recht, daß die-
jenigen Andeutungen zur Anstellung von Ortsbestimmungen,
deren Autoren Astronomen sind, meist viel zu sehr ins Einzelne
gehen und auf Punkte Gewicht legen, welche z. B. für den
Forschungsreisenden von untergeordneter Bedeutung sind, daß
dagegen wieder die Lehrbücher der mathematischen Geographie
„zu wenig astronomisch" angelegt zu sei» pflegen. Beides trifft
zu und ist in der Statur der Sache wohl begründet. Für die
Erdkunde als solche ist die Festlegung eines bestimmten Punktes
durch Koordinaten nur eines der vielen Probleme, an deren
Lösung sie zu arbeiten hat, ein hochwichtiges und umfassendes
freilich, aber doch keines, das im Systeme mehr Raum und
Zeitaufwand zu fordern berechtigt wäre, als etwa die Erfor-
schung der Erdgestalt oder das Studiunr der Bewegungen unseres
Planeten. Dem Unterzeichneten ist wohl auch in einzelnen
Besprechungen iseines vor Jahresfrist erschienenen „Handb. d.
math. Geogr." der Vorhalt gemacht worden, daß auf diesen
Punkt, zumal auf die Verdeutlichung der abstrakten Lehren durch
Beispiele, zu wenig Bedacht genommen worden fei, allein ein
derartiges Verlangen beruht auf einer Verkennung dessen, was
ein systematisches Werk, ein Handbuch zumal, zu leisten be-
stimmt ist und zu leisten hoffen darf. Hierfür muß ein Buch
dienen, wie dasjenige von Wislicenus, mit dessen Veröffent-
lichung der Verf., wie uns bedünken will, einen guten Griff
gemacht hat.
Der Vorzug des Buches besteht darin, daß es sich strenge
an die Anforderungen der Praxis hält, nicht zu viel voraussetzt
und durch eine Fülle vollständig in Zahlen durchgeführter
Rechnungsparadigmen den Praktiker, an den es sich ausschließ-
lich wendet, in den Stand setzt, sich selbst zu helfen und die-
jenige Genauigkeit zu erreichen, welche für geographische Zwecke
ausreichend ist. Man glaubt zu bemerken, daß der Verf. schon
an wissenschaftlichen Reisen teil genommen und die auf solchen
sich ergebenden Erfahrungen an sich selbst gemacht hat; darauf
weisen hin seine Bemerkungen über die Behandlung der In-
strumente, über deren Verpackung, über die Anbringung
gewisser Korrektionen u. s. w. Von Winkelmeßinstrumenten
werden speziell Universalinstrument, Spiegelsextant und Prismen-
kreis berücksichtigt, während neben den Uhren auch der von
Chandler erfundene „Ehronodeick" hinsichtlich seiner Verwen-
dung zur Zeitbestimmung besprochen worden ist. Für die
Breitenbestimmung empfiehlt der Vers, als die genaueste die
Methode von Gauß (drei Sterne in gleicher Höhe); die Längen
lehrt er nicht bloß terrestrisch oder durch Monddistanzen aufzu-
finden, sondern er trägt auch dem früher in so hohem Ansehen
stehenden und in etwas ungerechtfertigten Mißkredit gekomme-
nen Verfahren Rechnung, welches von den Verfinsterungen der
Jupilerstrabanten Gebrauch macht.
Großes Lob verdienen die sehr übersichtlich angelegten
Rcchnungsschemata, welche es auch dem mit mathematischen
Dingen weniger Vertrauten ermöglichen, sich rasch zurecht-
zufinden. Wer mit den Hauptsätzen der sphärischen Trigono-
metrie vertraut ist, findet keine theoretische Schwierigkeit bei
dem Studium des Werks; die praktischen Schwierigkeiten da-
gegen, wie sie das,Beobachten selbst darbietet, werden nur von
der unausgesetzten Übung überwunden. Insoweit ein gedruckter
Ratgeber dieses Geschäft abzukürzen und zu erleichtern vermag,
wird der vorliegende seine volle Schuldigkeit thun, und er sei
deshalb vorwiegend geographischen Kreisen recht angelegentlich
empfohlen.
München. S. Günther.
W. I. van Bcbber. Die Wettervorhersage. Eine prak-
tische Anleitung zur Wettervorhersage auf Grundlage der
Zeitungswetterkarten und Zeitungswetterberichte für alle
Berussarten. Im Aufträge der Direktion der deutschen
Seewarte bearbeitet von . . . Stuttgart, Verlag von
F. Enke, 1691.
Das treffliche Buch des bewährten Meteorologen richtet
sich an das große Publikum, insbesondere an alle Berufsklassen,
welche in höherem Grade von Wind und Wetter abhängig sind,
und hat den Zweck, die Grundzüge der Meteorologie in gemein-
faßlicher Weise darzustellen, insbesondere den Leser zu befähi-
gen, sich ein selbständiges Urteil über die jeweilig sich voll-
ziehenden Witterungserscheinungen zu bilden, damit derselbe in
Stand gesetzt werde, auf Grund des erforderlichen Materials
auf die kommenden Witterungsvorgänge zu schließen. Bei der
außerordentlichen Bedeutung der Wettervorhersage ist das treff-
lich geschriebene Werk von sehr hohem Wert hauptsächlich auch
des Nutzens wegen, welcher daraus für das Berufsleben ge-
zogen werden kann. Dr. Gruß.
Aus allen
— Die Einwohnerzahl Britifch-Jndiens beträgt
nach den vorläufigen Ergebnissen der eben abgeschlossenen
Zählung 220 490 000, was gegenüber dem Zensus des
Jahres 1881 eine Zunahme von fast 22 Millionen Seelen
crgiebt. Rechnet man die Bevölkerung der Vasallenstaaten
hinzu, so ergeben sich 285 bis 290 Millionen Einwohner. —
Die Hauptstadt Kalkutta hat 674 000, mit den Vororten,
wozu auch Bally und Howrah gehören, aber 969 000 Ein-
wohner. Bombay hat 806 000 und Madras 449 000
Einwohner.
Erdteilen.
— Über ein Knochenlager mit Säugetierüberresten,
welches bei Jxelles in der Umgegend von Brüssel entdeckt
wurde, hat Mourlon im Bull. de l’Ac. roy. de Belgique,
t. XVII, 131 bis 151 ausführlich berichtet und demselben
ein prädiluviales, nämlich pliocänes Alter zugeschrieben. Nach
Boule, welcher Gelegenheit hatte, die betreffenden Überreste
ans eigner Anschauung kennen zu lernen, zwingen weder
Gesamtcharakter der Fauna, noch auch die Lagernngsverhält-
nissc dazu, derselben ein höheres Alter zuzuschreiben als ein
diluviales. (L'Anthropologie 1891, 49 S.) 8.
Aus allen Erdteilen.
287
— Kamerun. Auf Seite 127 haben wir den Abgang
der Zintgraffschen Expedition von der Barombi-Station
nach Norden angezeigt und können jetzt einen Schlußbericht
darüber folgen lassen. Am 9. Dez. traf Dr. Zintgraff
nach einem anstrengenden Marsche durch sumpfiges Gelände
in Baliburg ein. Der Gesundheitszustand sämtlicher Mit-
glieder war trotz der ungewöhnlich lange dauernden Regenzeit
recht befriedigend. Leider hat der Vertreter von Jantzen und
Thormählen, Eggert, auf der Elefantenjagd durch ein ver-
wundetes Tier, das den Schützen in der Wut ins Wasser
schleuderte, sein Leben verloren. Die früher feindseligen
Banyangs stellten Träger und lieferten Lebensmittel. Doch
empfiehlt Zintgraff, in das größte Dorf der Banyangs, in
Miyimbi oder Difang Tale, eine Besatzung unter einem
Europäer zu legen, um das Volk in Obacht zu halten und
an den Frieden zu gewöhnen. Auf der Station Baliburg,
die in der elfmonatlichen Abwesenheit ihres Begründers arg
zerfallen war, mußten verschiedene Neuanlagen und Pflan-
zungen gemacht werden. Der Häuptling des Landes, Garega,
ließ seine Neger mithelfen, gab auch die Erlaubnis, daß
Weiße allenthalben in seinem Gebiete umherreisen und Handel
treiben dürfen.
Die so glücklich begonnene Expedition hat noch in letzter
Stunde einen traurigen Abschluß erhalten. Bei Bafnt, nörd-
lich der Barombistation und schon auf der deutsch-englischen
Grenze belegen, kam es mit den Eingeborenen, die sich bereits
auf Zintgraffs erster Reise sehr bösartig gezeigt, znm offenen
Kriege. Den Anlaß dazu gab die Ermordung zweier Wei-
Jungen, die Dr. Zintgraff dem Häuptling in Bafnt zuge-
schickt hatte, um ihm ein Freundschafts- und Handelsbündnis
anzubieten. Statt dessen ließ der neidische und durch die
Bevorzugung des Bali-Fürsten Garega in seinem Stolze ge-
kränkte Wilde die beiden Sendlinge töten. Sofort stockte
der eben eingeleitete friedliche Verkehr; es kam kein Elfen-
bein ans den Markt und das Ansehen der Deutschen begann
zu schwinden. Um jene Unthat zu rächen und zugleich das
sinkende Ansehen wieder herzustellen, entschloß sich Dr. Zint-
graff zum Kampfe. Am 31. Januar lieferten die Weißen,
vereint mit 5000 Mann Hilfstrnppen der Balis, den etwa
10 000 Bafuts, Bandengs und ihren Anhängern ein großes
Gefecht, das anfangs siegreich war, schließlich aber mit einer
Niederlage endete, die durch den Tod des Leutnants v. Span-
genberg, des Expeditionsmeisters Huwe und der Handels-
beamten Nehber und Tiedt für die Deutschen um so schmerz-
licher wurde.
Nach dem Gefecht hielt sich Dr. Zintgraff noch 14 Tage
in der Station Baliburg auf, um einen möglichen Angriff
der Bafuts abzuwarten; allein diese verhielten sich ruhig
und Zintgraff konnte ungehindert die nötigen Schutzmaßregelu
treffen. Er ließ den Expeditionsmeister Carstensen mit
140 Mann in Baliburg, während Caulwell mit 25 Manu
nach Miyimbi gelegt wurde zur Bewachung der Handels-
straße. Der Führer selbst ging dann nach Kamerun zurück,
in der Absicht, weitere Schritte gegen die Feinde in Bafnt
vorzubereiten.
Es steht zu hoffen, daß das Auswärtige Amt in Berlin,
gegenüber diesen erschütternden Thatsachen, aus seiner lauen
Zurückhaltung heraustritt, damit das deutsche Blut nicht
umsonst in Afrika verspritzt ist. Männer, wie der gefallene
Leutnant v. Spangenberg, der mit sprachlichen und astro-
nomischen Kenntnissen gründlich ausgerüstet war, strömen
unsern Schutzgebieten wahrlich nicht in Scharen zu; ein
solcher Verlust ist also um so schwerer zu ersetzen.
Was die Sicherung der Kolonie anlangt, so führt uns
der letzte Mißerfolg ganz von selbst auf den Plan der Ham-
burger Handelshäuser Woermann und Jantzen und Thor-
mählen zurück, nämlich in Kamerun eine Schutztruppe von
200 bis 300 Haussas zu organisieren, die, über das Land
verteilt, den Verkehr zwischen den einzelnen Stationen, wie
diese selbst zu schützen hätte. Außerdem müssen, wie Dr.
Zintgraff vorschlägt, die treuen Balis unter Garöga bewaffnet
werden, damit sich dieselben zu einer Art kostenlosen Schutz-
truppe heranbilden.
Augenblicklich ist unsre Lage in Kamerun geradezu un-
haltbar. An der Küste sitzen die übermütigen Duallas und
beuten nach wie vor ihr Monopol als Zwischenhändler rück-
sichtslos aus. Im Innern vernichten die kriegerischen
Bafuts die eben geknüpften guten Beziehungen zu friedlichen
Völkern, erschlagen unsre wackern Knlturpioniere und töten
ungestraft Hunderte von unsern schwarzen Freunden. Das
tiefe Hinterland endlich, Adamana und den Zugang znm
Tschad, sowie zu den nördlichen Tributären des Congo,
trachten die Franzosen an sich zu bringen, denen es schon
seit langem gewaltig nach jenen Reichen gelüstet.
Das Programm des Comité de l’Afrique Centrale
und ein Artikel im Journal des Débats über die Expedition
Paul Crampels zum Tschad zeigen deutlich die Gefahren,
welche uns seitens der Franzosen für Kamerun drohen.
H. 8.
— Die Schwierigkeiten des Telegraphenbaues
in Dünn an werden in einem Bericht des Statthalters dieser
Provinz in der amtlichen Pekinger Zeitung geschildert. Die
Drahtlinie reicht jetzt bis nach Momein an der Grenze Birmas.
Die Strecke von der Stadt Iünnan ist 1600 Li oder 440 Irin
lang und führt durch ein bergiges, dicht bewaldetes Land,
wo oft auf weite Strecken keine Menschen, aber Tiger und
Wölfe gefunden wurden und die Arbeiter unter freiem Himmel
in höchst ungesunder Gegend schlafen mußten. Besondere
Schwierigkeit verursachte die Überschreitung der Flüsse Mekong,
Salwin und Schweilei. Namentlich raffte am Salwin die
Malaria viele Arbeiter hin und das Klima war hier, nach
des Statthalters Bericht, so schlecht und feucht, daß den
Pferden die Hufe von den Füßen abfaulten. Die Linie
war im Mai 1890 vollendet. Von Momein, dem chinesischen
Grenzorte, bis Bamo, dem englischen Telegraphenendpunkte
am Jrawaddi in Birma, ist nur eine verhältnismäßig kurze
Strecke.
— Kaiser Wilhelms-Land. Im November und
Dezember 1890 hat Dr. Lauterbach aus Breslau eine
Expedition zur näheren Erforschung der Astrolabe-Ebene unter-
nommen, worüber jetzt die ersten Berichte kund werden. In
Begleitung eines Beamten der Neu-Gninea-Kompagnie und
der nötigen Träger ging Dr. Lauterbach zuerst den Gogol-
fluß hinauf, welcher bei der Gorimaspitze in die Astrolabe-
Bai mündet. Der Fluß war 14 km aufwärts für eine
Barkasse von 4 bis 5 Fuß Tiefgang befahrbar; dann zog
die Expedition noch weitere 60 km über diesen Punkt hinaus
und fand am nördlichen Flußufer eine ausgedehnte, mit Ur-
wald bestandene Ebene, die vortrefflichen Boden enthält.
Am südlichen Ufer traten die Berge dichter, als man bisher
vermutet, zum Wasser heran. Das Land war im oberen
Gebiete stark bevölkert und von höchster Fruchtbarkeit und
Schönheit. Die Eingeborenen zeigten sich freundlich und
entgegenkommend. ________ H. 8.
— Die Vereinigten Staaten von Australien.
Der 9. April 1891 ist der Geburtstag dieses neuen großen
Staatenwesens : The Commonwealth of Australia, denn
an diesem Tage hat die zu Sydney tagende Versammlung der
Abgeordneten der bisherigen einzelnen Kolonieen die Bundes-
verfassung für ganz Australien angenommen. Noch ist die-
selbe von den einzelnen Kolonieen und dem britischen Parla-
288
Aus allen Erdteilen.
mente zu ratifizieren, worüber indessen kein Zweifel besteht.
An der Spitze des Bundes befindet sich künftig ein einziger,
von der Krone ernannter Generalgouverneur; die bisherigen
Kolonieen bestehen als Staaten mit eigener Gesetzgebung fort,
doch besitzen sie ein gemeinsames Parlament mit zwei Häusern,
Abgeordnetenhaus und Senat, deren ersteres aus direkten
Wahlen hervorgeht, während letzterer durch die Parlamente
der einzelnen Staaten erwählt wird. Sieben Minister stehen
dem Gouverneur zur Seite; ein höchster Gerichtshof wird
(nach Art desjenigen der Vereinigten Staaten von Nord-
amerika) geschaffen. Zwischen den einzelnen Staaten besteht
Handelsfreiheit. Die sieben bisherigen Kolonieen (Neu-
Süd-Wales, Viktoria, Queensland, Südaustralien, West-
australien, Tasmania und Neuseeland) umfassen (1889)
7 964000 qkm mit einer Bevölkerung von 3 860000 Seelen,
das macht durchschnittlich nur 0,5 auf den Quadratkilometer.
' Am dichtesten bevölkert ist Viktoria mit 5 Seelen auf den
Quadratkilometer. Eingeborene sind auf dem Kontinente
noch 31000, auf Neuseeland noch 42 000 vorhanden.
Melbourne, die größte Stadt, zählt 440000, Sydney 370000,
Adelaide 120 000 und Brisbane 85 000 Einwohner. Die
übrigen Städte sind wesentlich kleiner.
— Fortschritte des Deutschtums in Nord-
schleswig. Eine halbamtliche Statistik crgiebt die bezeich-
nende Thatsache, daß in den 57 Kirchengemeinden, in welchen
bis 1864 der Gottesdienst abwechselnd in deutscher und däni-
scher Sprache stattfand, das dänische vollständig und zwar mit
Zustimmung der Mehrheit der Bewohner verschwunden
ist, so daß dort die Kirchensprache jetzt ausschließlich deutsch
ist; in den 114 Kirchspielen Nordschleswigs, in welchen bis
1864 kein deutsches Wort in der Kirche gehört wurde, wird
jetzt in 45 Kirchen der Gottesdienst in deutscher und dänischer
Sprache gehalten, so daß jetzt nur 6 9 Kirchspiele aus-
schließlich dänische Kirchensprache haben. Während
der ersten zwanzig Jahre nach 1864 machte die deutsche
Sprache ans kirchlichem Gebiet keine umfangreichen Fort-
schritte. In den sechs „gemischten" Gemeinden der Propstei
Süd-Tondern wurden die dänischen Gottesdienste vollständig
beseitigt, während die Gemeinden Abel und Ropstedt in der
Propstei Nord-Tendern, Holebüll, Rinkenis, Klipleff und
Ries in der Propstei Apenrade und Broacker in der Propstei
Sonderburg teilweise deutsche Kirchcnsprache erhielten. Seit
dem Jahre 1885 hat die deutsche Sprache auf kirchlichem
Gebiete in Nordschleswig einen nie geahnten Fortschritt ge-
macht, indem seit diesem Zeitpunkte in nicht weniger als
28 neuen Kirchspielen die Kirchcnsprache teilweise deutsch
wurde, nämlich in den Gemeinden Hammeleff, Schottburg,
Hügttm, Holk, Frörup, Steppiug, Jögerup, Hoptrup, Alt-
Hadersleben, Sommerstedt, Toftlund, Rödding, Scherrebek,
Hvidding und Oxenwatt der Propstei Hadersleben-Tönninglehn,
in den Kirchspielen Ulderup, Ulkebüll und Kekenis der Propstei
Sonderbnrg, in den Gemeinden Quars, Uk, Jordkirch und
Bjolderup der Propstei Apenrade, sowie in den Kirchen-
gemeinden Bulderup, Buhrkall, Tingleff, Hoist, Hortrup und
Brede der Propstei Nord-Tondern.
— Die Missionen am Kilimandscharo. Zu Modschi
(Moschi) am Kilimandscharo besteht seit längerer Zeit eine
englisch-evangelische Mission, deren Vorstand und Arzt Dr.
Baxter ist. Neben ihm wirkt der Engländer Stegall, der
seine europäischen Hosen abgelegt hat und dafür das Kikoi,
das Lendentuch der Eingeborenen, trägt; was, wie Dr. E. Wolf
schreibt, vielfach bei den englischen Missionaren im Innern
Sitte ist, wiewohl dadurch das Ansehen der Europäer gegen-
über den Eingeborenen geschädigt wird. Der Unterricht in
dieser Mission ist in englischer Sprache, wiewohl sie auf
deutschem Gebiete liegt, und über dem Missionshause weht
die englische Flagge! Stegall hat eine Druckerei einge-
richtet, in welcher er ein Lesebuch sowohl in der Kimodschi- wie
in der Kivetasprache hergestellt hat; am Schluffe des 16 Seiten
umfassenden Buches steht das Vaterunser. Die Schüler der
Mission stammen aus den umliegenden Gehöften. — Die-
französischen katholischen Missionare, an deren Spitze Pater
Sonnenginger steht, haben 6 Stunden höher hinauf im Ge-
birge ihre Station errichtet; in dieser wird nicht etwa fran-
zösisch, sondern deutsch und kisuaheli unterrichtet. Bezüglich
der Erfolge und Wirksamkeit der Missionen am Kilimandscharo
verweisen wir auf Dr. Hans Meyers Werk: Ostafrikanische
Gletscherfahrten, S. 294.
— Katholische Missionen in Afrika. Von den unter
Kardinal Lavigerie stehenden afrikanischen Missionen ist eine
Übersichtskarte erschienen (Carte des missions des Peres
blancs et des Soeurs missionaires de N. d’Afrique),
welche die zahlreichen Sitze dieser vom Maison Carree in
Algerien ausgehenden Missionare zeigt. Die nordafrikanische
Mission umfaßt Algerien und Tunis und reicht im Innern
bis zum Niger und Tsadsee. Das Vikariat des Viktoria
Nyanza umfaßt die Umgebung dieses Sees und den weißen
Nil (mit Uganda); ein andres Vikariat zieht sich am östlichen
Tanganjikasee hin und ist nach ihm benannt. Westlich von
demselben erstreckt sich das Provikariat des oberen Congo;
ganz in das deutsch-ostafrikanische Schutzgebiet fällt das
Provikariat von Unjanjembe, und am Nyassasee liegt das
nach diesem bezeichnete Provikariat. In Deutsch-Ostafrika
befinden sich folgende Missionen der weißen Brüder: Saint
Marie Karema am Tanganjika, gegründet 1881, Hauptsitz;
Saint Jean d'Ufipa, südlich vom vorigen, dazu fünf Neben-
stationen; Kipalapala, Hauptsitz der Mission in Unjanjembe,
Usambiro, nordwestlich von diesem. Auf diesen Stationen
wirken ein Vikar, ein Provikar, neunzehn Väter und Brüder,
und drei schwarze, in Malta gebildete Ärzte. Am deutschen
Ufer des Viktoriasees liegen: Notre Dame des Exiles und
Notre Dame de Kamoga.
— Die Zahl der Ainos auf der Insel Jeso gab
Dr. B. Schenke in seiner Schrift über dieses Volk (Aokohama
1882) auf rund 17 000 für die damalige Zeit an. Genaue
Angaben konnte er nur für einen Teil der Insel erlangen,
doch konnte er das Übergewicht des männlichen über das
weibliche Geschlecht feststellen. Jetzt teilt Nature (5. März
1891) eine Statistik der Ainos mit, welche für das Jahr 1872
zusammen 15 275 Ainos und für 1888 17 062 (8475 Männer
und 8587 Frauen) crgiebt. Mit einigen Schwankungen hat
daher eine Zunahme der Ainos, deren Aussterben man be-
fürchtete, stattgefunden. Auf Jeso leben 350000, meist
eingewanderte Japaner.
— Einwohnerzahl Birmas. Dieselbe betrug nach der
Aufnahme für das Jahr 1890 in Ober-Birma 2 500000,
in Unter-Birma 4430000. Hierbei sind die Schanstaaten
mit 500000 Seelen nicht inbegriffen, ebenso nicht die
Stämme der Tschins, Katschjens und Roten Karens, die
zusammen 100000 Köpfe ausmachen.
— Wölfe in Frankreich. Im Jahre 1884 wurden
1035; in 1885 900; in 1886 760; in 1887 701; in
1888 505; in 1889 515 Wölfe in Frankreich getötet, die
meisten in den Departements Dordogne und Charente. Das
crgiebt eine stetige Abnahme und Aussicht auf gänzliche Aus-
rottung dieses Raubtieres.
Herausgeber: Dr. R. Andrer in Heidelberg, Leopoldstraße 27.
Druck von Friedrich View eg und Sohn in Braunschweig.
Bd. LIX
Nr. 19
95rstUnfdltDCtst Jährlich 2 Bände in 24 Nummern. Durch alle Buchhandlungen und Postanstaltcn 1891
' ^ zum Preise von 12 Mark für den Band zu beziehen. *
Ethnologische Gedanken.
Von Dr. Alb.
Die Naturwissenschaften des neunzehnten Jahrhunderts
haben allmählich ein mächtiges Material zusammengetragen
und auf diesem Material beginnt sich langsam aber sicher
fortschreitend ein Bau des menschlichen Wissens aufzutürmen,
welcher, wenn er einmal vollständig fertiggestellt sein wird,
sich wesentlich anders ausuehmen wird, als alle Weltan-
schauungen, welche bisher von den Völkern der Erde er-
zeugt sind.
Die naturwissenschaftlichen Anschauungen beginnen in
unsern Tagen schrittweise auch in das Gebiet des Volkslebens
vorzurücken und die Sozialwissenschaften zeigen die Tendenz,
sich zu einer einzigen Natürwissenschaft des sozialen Lebens
zu entwickeln. Diese Naturwissenschaft des sozialen
Lebens ist die Ethnologie. Zur Zeit läuft sie noch
neben den alten, ans andern Weltanschauungen erwachsenen
Sozialwissenschasten her, indem sie sich als besondres Zweig-
gebiet in jene einschicbt. Es ist aber leicht möglich, daß
später einmal alle Sozialwissenschaften nur noch als Zweig-
gebiete der Ethnologie erscheinen werden.
Die ans naturwissenschaftlicher Basis erwachsenen ethno-
logischen Anschauungen stehen in einem sehr bemerkenswerten
Gegensatze gegen diejenigen, welche bisher die Sozialwissen-
schaften beherrscht haben, und lassen nach den verschiedensten
Seiten hin das Volksleben in einem ganz neuen Lichte er-
scheinen. Es handelt sich dabei auch nicht um Nebendinge,
sondern um ganz fundamentale Punkte.
Schon die Natur des einzelnen Menschen, soweit der-
selbe als Glied der sozialen Verbände in Betracht kommt,
erscheint vom Standpunkte der Ethnologie ganz anders, als
von demjenigen der bisherigen Sozialwissenschaften.
Die bisherige Sozialwissenschaft hatte das menschliche
Individuum von der ganzen übrigen Welt streng abgeschieden
und ihr ein besonderes Reich des Geistes gegründet, in
welchem es als willenssreies Wesen umherwandelte, erleuchtet
von der Sonne der ihm allein beschiedcnen Vernunft, weit
erhaben über die übrige organische Welt unsers Planeten,
weit erhaben selbst über den Wandel der Gestirne, die im
trüben Banne des Naturgesetzes ihre Bahnen vollenden.
Globus LIX. Nr. 19.
Herm. P)ost.
Dem entsprechend schied sie das ganze Völkerleben aus dem
Nahmen der Natur aus. Die Geschichte wurde von der
Naturgeschichte streng abgesondert. In jener herrschte
Freiheit, in dieser Gesetz. Die Geschichte entwickelte sich
ans Kampf und Kompromiß der kleinen menschlichen Jndi-
vidualgötter. Sie wurde von den einzelnen Menschen ge-
macht. Sie wurde gekämpft und beschlossen.
Der Ethnologie ist diese ganze Anschauung über die
Natur des Menschen fremd. Die Resultate ihrer Forschung
sind mit einer solchen Anschauung vollständig unvereinbar.
Sie findet die Menschheit gebannt in große, streng gesetz-
mäßige Entwickelungsgänge, welche über Jahrhunderte und
Jahrtausende ihren festen Weg verfolgen, ganz unbekümmert
um die kleinen historischen Ereignisse, welche nur hier und
dort als Symptome jenes gewaltigen Werdeprozesses zu
Tage treten. Die Einwirkung der einzelnen Individuen
auf diesen Werdeprozcß ist minimal. Sie glauben zu treiben,
aber sie werden getrieben, sie glauben zu denken, aber cs
denkt in ihnen, und wenn sich ein historischer Entwickelungs-
Prozeß mit dem Namen einer historischen Persönlichkeit ver-
knüpft, so ist nicht jener durch diese erzeugt, sondern diese
durch jenen.
Die Entdeckungen der Ethnologie über die Entwickelungs-
gänge des Völkerlebcns lassen keinen Raum für den willcns-
freien Menschen. Es kann ja nicht bestritten werden, daß
der einzelne Mensch bis zu einem gewissen Grade die
Empfindung hat, als ob sein Wille seine Handlungen be-
stimme, und man kann insoweit vom physiologischen Stand-
punkte aus von einer Willensfreiheit sprechen. Es scheint
sich aber dabei lediglich um eine Übersetzung seines unbe-
wußten und andersartigen seelischen Vorganges in das Be-
wußtsein des menschlichen Individuums zu handeln; denn
die Resultate der Ethnologie lassen darüber gar keinen
Zweifel, daß alle seelischen Thätigkeiten der einzelnen Men-
schen, sobald sic in der Sinnenwelt erscheinen und speziell,
soweit sie im Volksleben wirksam werden, so gut im Nahmen
des naturgesetzlichen Geschehens liegen, wie irgend ein andrer
Prozeß in der Welt. Die großen Gesetze des Kosmos
37
290
Dr. Alb. Herrn. Post: Ethnologische Gedanken.
machen keinen Halt vor dein willensfreien Menschen. Sie
reichen hinein bis in die kleinsten Fäserchen des Volkslebens.
Kein König, kein Philosoph kann sich ihrem Banne entziehen.
Der Gedanke eines naturgesetzlichen Verlaufs des Volker-
lebens war den bisherigen Sozialwissenschaften ganz fremd.
Es galt aber ein feststehendes Dogma, daß es im sozialen
Leben keine Naturgesetze gebe und es konnte dies auch nach
der Entwickelungsgeschichte der Wissenschaften, welche sich
mit dem Volksleben beschäftigten, kaum anders sein. Den
Ausgangspunkt für diese Anschauung bildete wohl ursprüng-
lich die Geschichtsforschung. Diese zog ihrer Natur nach
das Dogma groß, daß jedes Volk etwas Eigenartiges,
von jedem andern Volke Verschiedenes sei, daß jedes Volk
seine eigene Geschichte habe, welche sich nirgendwo auf der
Erde wiederhole und für welche es bei andern Völkern
höchstens zufällige Analogiecn gebe. Die geschichtlichen Ur-
kunden, namentlich die Chroniken, führten mit fast zwingen-
der Gewalt zu dieser Anschauung. Denn sie überlieferten
der Regel nach nur konkrete Zeitereignisse, welche als solche
nur einmal vorgekommen und von jedem ähnlichen Ereig-
nisse verschieden waren. Insoweit sich die Geschichte eines
Volkes aus derartigen konkreten Ereignissen zusammensetzt,
ist sie notwendig eine Geschichte, welche lediglich diesen!
Volke und keinem andern eigen ist. Durch die älteste ethno-
logische Disziplin, die Sprachwissenschaft, wurde diese An-
schauung nur noch verstärkt, denn die Sprachen sind isolierte
Produkte, welche nur in bestimmten Völkern und Völker-
gruppen ihren Boden haben.
Diese Anschauung machte sich auch in allen übrigen
Sozialwissenschaften geltend. Der Blick der Vertreter der-
selben war in der Regel auf einzelne Völker beschränkt, deren
Eigenart bis ins Kleinste zu begreifen für besonders wissen-
schaftlich gehalten wurde. Dehnte er sich einmal besonders
weit aus, so umfaßte er das Gebiet der europäischen Kultur.
Darüber hinaus gab es nur noch wertlose Wildnis. Bei
einer solchen Betrachtung des Völkerlebens war cs unmög-
lich, von einem gesetzmäßigen Entwickelungsgänge in dem-
selben irgend etwas zu entdecken. Denn es wurde geflissent-
lich alles ignoriert und vermieden, was in dieser Beziehung
Aufklärung geben konnte.
Die Ethnologie führt zu ganz abweichenden Anschauungen.
Seitdem sie ihre Studien aus alle Gebiete des Volkslebens
und aus alle Völker der Erde ausgedehnt hat, ist cs zu einer
unumstößlichen wissenschaftlichen Errungenschaft geworden,
daß in allen möglichen Gebieten des Volkslebens bei den
verschiedensten Völkern der Erde gleichartige Sitten und
Anschauungen zu Tage treten. Es steht fest, daß der Geist
der Menschheit bei allen Völkern der Erde wesentlich gleich-
artige Sitten und Anschauungen erzeugt, ganz gleichgültig,
welcher Rasse ein Volk angehört und welchen Erdteil es be-
wohnt. Und diese allgemein menschlichen Erscheinungsformen
des Völkerlebens sind so überwiegend, daß die Eigenart der
einzelnen Völker, welche allerdings ebenfalls überall zu Tage
tritt, sehr oft nur als eine Spielart eines festen Typus er-
scheint. Solche ethnographische Parallelen finden sich in großer
Massenhaftigkcit namentlich in den Gebieten der Religion
und des Rechts. Sie treten aber auch in allen möglichen
geselligen Sitten und Anschauungen hervor. Von Masken,
Tänzen, Spielen, Trachten, Werkzeugen, Geburts-, Hochzeits-
und Totenbräuchen, Sprichwörtern, Rechtsiustitutcu, Kunst-
formen spinnt sich eine ununterbrochene Kette gleichmäßiger
Erscheinungen hinauf bis zu den höchsten religiösen und
wissenschaftlichen Ideen; und sehr häufig sind diese Erschei-
nungen so seltsam, daß wir nach unsern landläufigen An-
schauungen viel geneigter sein würden, sie für individuelle
Ausgeburten des Gehirns von Spaßvögeln zu halten, als
für Erzeugnisse des Geistes der Menschheit.
Es steht auch ferner fest, daß sich in den verschiedensten
Gebieten des Volkslebens bei allen möglichen Völkern der
Erde korrespondierende Entwickelungsgänge finden, welche
unabhängig von der Eigenart der Völker und sogar vielfach
unabhängig von ihren Existenzbedingungen sind, so daß sie
als naturgemäße Erzeugnisse des geselligen Menschentums
anzusehen sind.
Wie diese Parallelerscheinungen und diese gleichmäßigen
Entwickelungsgänge im Völkerleben zustande kommen, ist
von der Theorie des willenssreien und vernunftbegabten
Menschen aus allerdings vollständig unbegreiflich. Es wird
sich da stetig die Frage aufdrängen, ob denn außer den
menschlichen Individuen, welche ein Volk bilden, noch ein
geheimnisvolles Etwas existiere, welches die Geschicke eines
Volkes leite, ob etwa iu irgend welchen Klüften oder lichten
Regionen ein Volksgeist hause und das Treiben der Menschen
regiere. Sobald man sich mit der Ethnologie daran ge-
wöhnt hat, das Volksleben als etwas im Nahmen der Natur
Liegendes anzusehen, tauchen aber derartige Fragen überhaupt
nicht mehr aus. So wenig wir die Gestirne Geistern zu-
weisen, die ihren Lauf leiten, so wenig wir die Geschicke eines
Baumes einer Nymphe anvertrauen, so wenig bedürfen wir
eines Volksgeistes, damit er den Gang des Volkslebens
überwache. Die Gesetzmäßigkeit des Völkerlebens ist von
einem naturwissenschaftlichen Standpunkte aus nicht rätsel-
hafter, als die Gesetzmäßigkeit in den Bewegungen eines
Gestirnsystems. Rätselhaft wird sie nur, wenn man den
Menschen aus dcui Reiche der Natur entfernt und ihn als
willensfreien Gott in der Natur herumtaumeln läßt.
Sieht man mit der Ethnologie das Volksleben als ein
Gebiet der Natur an, so hat dies den erheblichsten Einfluß
auf die Stellung, welche dem individuellen menschlichen
Bewußtsein zukommt. Mit der Theorie des willenssreien
und vernunftbegabten Menschen hatte derselbe in seiner
Vernunft einen Maßstab gewonnen, an welchem er die ganze
Welt auf ihre Güte, Wahrheit, Schönheit, Zweckmäßigkeit
maß. Sogar der Wcltgeist war nicht davor sicher, von der
menschlichen Vernunft gemeistert zu werden. Von: erhabe-
nen Throne der Vernunft aus wurde dekretiert, wie die
Welt sein müsse und vor allem war das Volksleben ein
Gegenstand vernunftgemäßer Belehrung. Der Nechts-
philosoph erwies aufs Genaueste, was Recht sein müsse,
ohne sich um die Entwickelungsgeschichte des Rechts zu
kümmern; der Religionsphilosoph erklärte die Religion für-
unhaltbar und dem Verfall geweiht, wenn sie sich mit seiner
Vernunft nicht vereinigen ließ; und schließlich erschienen auch
noch Volksbeglücker, welche einen ganzen Staat aus ihrer
Vernunft oder gar aus ihrem gesunden Menschenverstände,
d. h. der landesüblichen Durchschnittsdummheit, heraus-
arbeiteten und träumten, denselben in die Wirklichkeit über-
setzen zu können.
Die Ethnologie ist gezwungen, der individuellen Ver-
nunft eine ganz andre Stellung anzuweisen. Aus den
großen Entwickelungsgesetzen, welche im Völkerleben wirksam
sind, geht mit zwingender Notwendigkeit hervor, daß ein
Volk ganz anders empfindet, fühlt und denkt, wie der ein-
zelne Mensch. Das individuelle Empfinden, Fühlen und
Denken erscheint vom ethnologischen Standpunkte ans nur als
ein Ausläufer der gesamten seelischen Thätigkeiten, welche im
Volksleben zum Ausdruck gelangen und von denen nur ein
kleiner Teil dem menschlichen Individuum überhaupt bewußt
wird. Damit kehrt sich die ganze bisherige Betrachtungs-
wcise des Völkerlebens um. Anstatt das Völkerleben am
Maßstabe der individuellen Vernunft zu messen, mißt der
Ethnologe seine eigene Vernunft an den Empfindungen,
Gefühlen und Gedanken, welche im Völkerleben zum Aus-
druck gelangt sind. Anstatt durch seine Vernunft die Völker
291
Dr. Alb. Herrn. Post: Ethnologische Gedanken.
zu belehren, lernt er von ihnen, um sich selbst zu erkennen.
Anstatt vom Katheder der individuellen Vernunft aus den
Glauben eines Bottes siir Aberglauben, seine Sitten für
Unsitten zu erklären, sind ihm Glaube und Sitte der Völker
die geheimnisvollen Offenbarungen des Geistes der Mensch-
heit, dessen wunderbares Schaffen er in der eigenen Seele
nicht mehr ergründen, sondern höchstens in weihevollen
Stunden ahnend empfinden kann.
Diese veränderte Betrachtungsweise des Volkslebens führt
dann wieder zu der Konsequenz, daß der Ethnologe über-
haupt nicht mehr danach fragt, ob irgend eine Volkssitte,
irgend eine Volksanschaunng gut, wahr, schön, zweckmäßig
ist, sondern nur danach, ob sie vorhanden ist und welche
Ursachen sie hat. Es ergicbt sich dies unmittelbar ans der
naturwissenschaftlichen Betrachtung des Völkerlebens. Ein
Naturforscher wird sich nicht damit beschäftigen, darüber
nachzudenken, ob die Welt etwa bisher gar nicht da wäre
oder ob sie bisher anders wäre, sondern für ihn ist die Welt
etwas Gegebenes, welches er soweit möglich aus seine Ur-
sachen untersucht. Diese Anschauungsweise hat der Ethno-
loge auch in bezug auf die Erscheinungen des Volkslebens.
Die Sitten und Anschauungen eines Volkes sind ihm ganz
in der gleichen Weise ein wissenschaftliches Beobachtungs-
obstkt, wie es die Pflanzen für den Botaniker und die Tiere
für den Zoologen sind. Die individuelle Wertschätzung
einer Volkssitte oder einer Volksanschauung liegt ganz außer-
halb seiner wissenschaftlichen Aufgabe. Er übt sie, wie jeder
andre Mensch, persönlich, insoweit er selbst treibendes, von
den seelischen Vorgängen des Volkslebens beeinflußtes In-
dividuum ist; aber sie liegt außerhalb seiner Thätigkeit als
Ethnologe. Diese Grundanschauungen lassen den Ethno-
logen auch die praktischen Gebiete unsers Volkslebens in
einem wesentlich andern Richte erscheinen, als in welchem sie
Beobachtern erscheinen, welche sie nach der irr den bisherigen
Sozialwissenschaften üblichen Grundsätzen betrachten.
Als ein Beispiel mögen die Anschauungen über unsre
Volksreligion dienen. Es existieren in unserem Volksleben
im wesentlichen zwei Grnndanschaunngen über das Christen-
tum. Die eine, die gläubig-theologische, betrachtet das
Christentum als eine göttliche Offenbarung und somit als
etwas Gegebenes, welches nur aus sich selber zu erklären ist,
und ganz außerhalb des natürlichen Entwickelungsganges des
Völkerlebens liegt. Die andre, die rationalistisch-philo-
sophische, mißt den Inhalt des Christentums an der in-
dividuellen Vernunft des heutigen Menschen und behauptet
im wesentlichen, da sich hier Differenzen ergeben, daß das
Christentum, wenigstens in seinem überkommenen Zustande,
im Zerfall begriffen und sein Untergang nur eine Frage
der Zeit sei.
Die Ethnologie steht beiden Anschauungen gleich fremd
gegenüber. Das Christentum erscheint ihr nicht als eine
Offenbarung Gottes, sondern als eine solche des Geistes der
Völker, die es erzeugt haben. Ihre Forschungen haben er-
geben, daß dies religiöse Bewußtsein der Menschheit bei
allen Völkern der Erde seinen ganz gebundenen Entwickelungs-
gang hat und in ganz bestimmten, sich überall ans der Erde
wiederholenden Formen zum Ausdruck gelangt. Die ganze
Entwickelungsgeschichte des Christentums trägt die unverkenn-
barsten Zeichen dieser allgemeinen Entwickelungsgeschichte des
religiösen Bewußtseins der Menschheit. Es giebt kaum eine
einzige christliche Anschauung und Sitte, welche nicht bei den
verschiedensten Völkern der Erde, mögen sie auf niederer
oder hoher Kulturstufe stehen, ihre genauesten Analogieen
hätte. Für den Ethnologen hat dies auch gar nichts Über-
raschendes. Die Vorgeschichte der christlichen Religion reicht
bis zu den primitivsten Anfängen des religiösen Bewußt-
seins hinab. Eine Menge hochentwickelter religiöser Ideen
älterer Kulturvölker sind in dieselbe übergegangen und von
ihr weiter verarbeitet. Alles, was an religiösem Leben bei
den Völkern, welche die christliche Religion im Laufe der
Geschichte angenommen haben, vorhanden war, hat sie in
sich ausgenommen und ihm ein christliches Gewand angelegt
und bis ins kleinste Detail sind die reliösen Bedürfnisse
jedes Volkes von unzähligen fleißigen Arbeitern seit Jahr-
hunderten und Jahrtausenden studiert. So hat sich denn
im Schoße der christlichen Kirche allmählich ein Schatz
religiösen Lebens angesammelt, der sie befähigt, mit den
mächtigsten Weltreligionen der Erde in Wettbewerb zu treten.
Und dieser kolossale Ban sollte gefährdet sein, weil er mit
der Vernunft des modernen menschlichen Individuums nicht
in Einklang steht, weil er Reste von Weltanschauungen ent-
hält, welche vergangenen Zeiten angehören und jetzt, wenig-
stens in Europa, nicht mehr entstehen könnten? Vom
ethnologischen Standpunkte aus liegt gerade umgekehrt der
Wert der großen Weltreligionen darin, daß in ihnen alles
nebeneinander liegt, was seit Jahrtausenden durch religiös
erregte menschliche Seelen zum Ausdruck gelangt ist, da vom
ethnologischen Standpunkte aus in einem Volke stets gleich-
zeitig alle Schichten übereinander liegen, aus denen dasselbe
allmählich zu seiner zeitigen Kulturhöhe erwachsen ist, so
entspricht eine Religion nur dann den Bedürfnissen des
ganzen Volkes, wenn sie jeder Schicht das dem religiösen
Bedürfnisse dieses Entsprechende bieten kann. Es erscheint
daher ganz gleichgültig, ob bestimmte religiöse Dogmen oder
Gebräuche dem Entwickelungszustande bestimmter Schichten
des Volkes nicht entsprechen, sofern sie nur dem Entwickelnngs-
stande andrer Schichten zusagen. Es kann vom ethno-
logischen Standpunkte aus kaum irgend einem Zweifel
unterliegen, daß das zeitige Christentunl im wesentlichen
mit dem Standpunkte des religiösen Bewußtseins der abend-
ländischen Völker sich noch vollständig deckt; wie denn auch
zu unsrer Zeit, in welcher weite Kreise sogenannter Gebildeter
sich vom Christentum abgewandt haben, weil sie es mit den
zeitigen wissenschaftlichen Anschauungen nicht für vereinbar
halten, daß die Kirchen wie Pilze aus der Erde wachsen und
eine so allseitige apologetische Litteratur entstanden ist, wie
noch nie. Es wird auch das Christentum sich durch nichts
ersetzen lassen, am allerwenigsten durch die Wissenschaft.
Das Menschengeschlecht scheint ohne das mystisch-magische
Halbdunkel der Religionen überhaupt nicht existieren zu
können, und je mehr bei uns eine rein wissenschaftliche Welt-
anschauung die Oberhand erhalten würde, desto wahrschein-
licher würde eine Erstarkung der katholischen Kirche sein,
welche die mystisch-magische Seite des religiösen Bewußt-
seins der Menschheit am reinsten bewahrt hat.
Ähnliche Differenzen zwischen den zur Zeit noch herrschen-
den und den ethnologischen Anschauungen ergeben sich hin-
sichtlich andrer Gebiete des Volkslebens.
Vor allem sieht sich das Gebiet der Wirtschaft und das
eng damit verbundene Gebiet des Rechts vom Standpunkte
der bisherigen Sozialwissenschaften und von demjenigen der
Ethnologie sehr verschieden an.
Vom Standpunkte der Theorie des willenssreien Menschen
aus ist das heutige wirtschaftliche und rechtliche Leben der
westeuropäischen Völkersamilien nach vielen Seiten hin ein
idealer Zustand. Die zahlreichen und sehr kräftigen
Störungen, welche uns tagtäglich vor Augen treten, kommen
nur daher, daß noch nicht alle Menschen ihre begnadete In-
telligenz als kleine willenssreie und vernunftbegabte Jndivi-
dualgötter auszufüllen vermögen. Dazu müssen sie erzogen
werden, was allerdings recht schwierig zu sein scheint.
Daran aber, daß der kleine willenssreie Gott mit allen seinen
Attributen im wesentlichen weiter bestehen müsse, wird nur
von wenigen gezweifelt.
37*
292
Prof. Dr. Herrn. Ign. Bidermann: Übersicht der Slavenreste in Tirol.
Vom ethnologischen Standpunkte ans gewähren unsre
zeitigen wirtschaftlichen und rechtlichen Zustände dagegen ein
mindestens sehr seltsames Bild.
Soweit der Blick des Ethnologen reicht, findet er die
Menschheit stets gegliedert in soziale Verbände von bedeuten-
der Solidarität der Interessengemeinschaft. Der Einzelne
ist in diesen Verbänden stark gebunden, aber auch durch
sie stark gestützt. Lediglich auf sich selbst finden wir ihn
nirgendwo gestellt. Je weiter wir in der Geschichte der
Völker zurückgehen, desto kräftiger sind diese Verbände. Der
älteste soziale Verband, das Geschlecht, namentlich das seß-
hafte Geschlecht, die Hausgemeinschaft, eine Bildung, die mit
geringen Ausweichungen über die ganze Erde verbreitet ist,
ist ein Verband von der allerhöchsten Solidarität, ein
wichtiger Kommunalstaat im Kleineren. Die Hausgcmeiu-
schast auf der vollen Höhe ihrer Entwickelung kennt nur
gemeinsames Eigentum, welches von ihrem Oberhaupte im
Interesse der Hausgenossen verwaltet wird, und aus welchem
alle Bedürfnisse derselben bestritten werden. Das Land der
Hausgemeinschaft wird von den Genossen gemeinsam bear-
beitet, aller Erwerb derselben fällt in das gemeinsame
Hausvermögen. Im Inneren wird die Ordnung der Haus-
gemeinschaft durch das Oberhaupt derselben oder durch
die Gesamtheit der Genossen gehaudhabt; begeht aber ein
Hausgenosse nach außen hin, gegen einen Genossen einer
andern Hansgemeinschnft einen Rechtsbruch, so trifft die
Schuld für diesen Rechtsbruch alle Hausgenossen des Rechts-
brechers und alle Hausgenossen des Verletzten üben gegen
alle Hausgenossen des Rechtsbrechers Rache. Es entsteht
also zwischen den beiden Hausgenossenschaften Krieg. Die
sogenannte Blutrache, welche so lauge andauert, bis Friede
geschlossen wird.
Von dieser ältesten Organisationsform des Völkerlebens
bis zu unserm heutigen Zustande findet sich ein über Jahr-
hunderte, ja über Jahrtausende sich hinziehender Zerfallprozeß,
in welchem sich die ursprünglichen Assoziationsformen der
Menschheit stets wieder neue Gestaltungen zu schaffen suchen,
ohne je wieder zu einer so allseitigen Ausbildung zu ge-
langen, wie in der ursprünglichen Hausgemeinschaft. Das
Geschlechtsvermögen löst sich, indem zunächst jeder Haus-
genosse bestimmten Erwerb für sich behalten darf. Damit
beschränkt sich daun die Haftung des Geschlechtsvermögens
auf bestimmte Schulden. Das Sondergut der Genossen
wächst immer mehr, so daß schließlich nur noch einzelne
Grundstücke Geschlechtseigentum bleiben. Dann erlischt
auch das Kollektionseigentum der Hausgenossen an diesen
und es bleibt ihnen nur ein Recht des Vorkaufs im Falle
der Veräußerung desselben. Endlich wird alles Ge-
schlechtsvermögen Privateigentum. Damit ist dann zugleich
jede Haftung eines Hausgenossen für Schulden eines andern
erloschen. In gleicher Weise verschwindet auch die blut-
rechtliche Seite der Haftung der Hausgenossen für einander.
Die blutrechtlich verantwortlichen Kreise werden immer
kleiner, bis schließlich nur der einzelne Rechtsbrecher einem
einzelnen Bluträcher gegenüber steht. So zerfällt das alte
Geschlecht schließlich in unsre heutige Familie, welche wirt-
schaftlich und rechtlich kaum mehr eine soziale Epistenz hat.
Das alte Kollektiveigentum ist Jndividualeigentum geworden,
aus der Haftung jedes Blutsfreundes für den andern ist
die persönliche Haftung des Einzelnen für feine Handlungen
entstanden; die gemeinsame Wirtschaft der Hausgenossen ist
in die Einzelwirtschaft jedes Einzelnen übergegangen.
Schließlich, um den Untergang des alten Geschlechts voll-
ständig zu machen, ist an die Stelle des Racherechts und
der Rachepflicht der Blutsfreunde die Strafjustiz des Staates
getreten. Nirgendwo auf der Erde ist dieser Zersetzungs-
prozeß soweit vorgeschritten, wie im westlichen Europa. In
China und Japan bilden die alten in Vermögensgemeiuschast
lebenden Hausgemeinschaften noch heutzutage die Grundlage
des Staatswesens und in Indien ist noch heutzutage in der
Regel alles Eigentum Kollektiveigentum. Eine scharfe
Bindung des Individuums in soziale Verbünde tritt uns auch
außerhalb der Familie bei allen Völkern der Erde entgegen.
Wo sich Dorfgemeinschaften entwickeln, findet sich unter den
Dorfgenossen überall eine starke Solidarität und regelmäßig
gemeinsames Landeigentum, welches gemeinsam genutzt oder
unter die einzelnen Haushalte periodisch verteilt wird. Wo
herrschaftliche Organisationsformen entstehen, bilden wieder
die Höfe feste soziale Stützpunkte, au welche sich die schutz-
bedürftigen Hörigen anlehnen. Ebenso sehen wir überall
auf der Erde Kasten, Gilden, Zünfte mit bedeutenderer
Solidarität der Mitglieder entstehen. Im heutigen west-
lichen Europa sind alle sozialen Verbände zerfallen. Jeder
Einzelne wirtschaftet für sich, individuelles Eigentum über-
wiegt zu einem bedeutenden Grade und ist durch nichts mehr
beschränkt, individuelle Haftung für Verbrechen und Schulden
ist ausschließlich bekannt. Unser Recht wird immer mehr
ein Komplex von individuellen Rechten mtb Pflichten.
Unsre Rechtsordnung bezeichnet nur noch die Grenze, bis
zu welcher der" Mensch im Kampfe aller gegen alle seine
Individualität bestätigen darf. Jeder Mensch ist auf sich
selbst angewiesen und kann sich nur durch rücksichtsloses
Hervordrängen seiner Individualität im harten Kampfe
ums Dasein erhalten. Er ist heimatlos und friedlos. Seine
Mitmenschen find ihm mehr feindliche Gewalten als Freunde.
Um sich eine wirtschaftliche Existenz zu schaffen, muß er
rücksichtslos alle Mitmenschen niederdrängen, welche sich in
derselben Not ihm in den Weg stellen. Dem Ethnologen
müssen solche Zustände, trotz des Glanzes, welchen einzelne
Individuen dabei um sich zu verbreiten vermögen, als Zu-
stände eines tiefen sozialen Verfalls erscheinen, welche aller
Wahrscheinlichkeit nach über kurz oder lang stark sozialistische
Triebe im Volksleben wachrufen werden. Man möge aus
diesen kurzen Andeutungen ersehen, daß die Ergebnisse der
Ethnologie allerhand Gesichtspunkte eröffnen, welche von
den landläufigen Volksanschauungen stark abweichen. Ob
die ethnologische Betrachtung des Volkslebens auf dieses
selbst einen Einfluß üben wird, das ist eine zweite Frage.
Gewöhnlich erwachsen neue Wissenschaften gleichzeitig mit
neuen sozialen Bildungen int Volksleben und geben diesen
festere Stützpunkte. Vielleicht hat auch die Ethnologie eine
solche Mission zu erfüllen.
Übersicht der Slavenreste in Tirol.
Von P)rof. Dr. Herrn. Zgn. Bidermann.
I. "
Vor 25 Jahren erschien in der von A. Lukgic heraus-
gegebenen (Wiener) Zeitschrift „Slavische Blätter" mein
„Slavenreste in Tyrol" betitelter Aufsatz (I). Derselbe war
ohne mein Vorwissen durch einen Freund, welchem ich ihn
zur Durchsicht und Ergänzung übersendet hatte, in die Öffent-
lichkeit gelaugt. Trotz seiner Mängel fand er freundliche
Aufnahme und durch wiederholte Reproduktion eine über alle
Erwartung weite Verbreitung. Er wurde auch für Andre
293
Prof. Dr. Her in. Jgn. Biderinann:
zum Anlaß, über den darin behandelten Gegenstand weitere
Forschungen anzustellen und die Sonde fachwissenschaftlicher
Kritik an das damit Gebotene zu legen. Im Jahre 1876
lieferte ich dazu Nachträge in Gestalt eines Anhangs zu
meinem Werke „Die Romanen und ihre Verbreitung in
Österreich" (II). Hierdurch wurde die Aufmerksamkeit der
in gleicher Richtung thätigen Litteraten neuerdings auf den
Gegenstand gelenkt. Dr. Valentin Hintner beschäftigte
sich mit demselben in seinen 1878 in Wien erschienenen
„Beitr. z. tirolischen Dialektforschung" (III). Der als
Sprachenkenner und Förderer der katholischen Missionen in
Afrika auch außerhalb seiner engeren Heimat geschätzte
Gymnasial-Direktor Dr. I. C. Mitterrutzner zu Brixen
in Tirol veröffentlichte im 29. Programm des dortigen k. k.
Gymnasiums (1879) eine Abhandlung: „Slavisches ans dem
östlichen Pnsterthal in Tirol" (IV), welche in geschichtlicher
Beziehung meinen ersterwähnten Aufsatz ergänzt und den
slavischen Wortschatz, welchen ich bis dahin konstatiert hatte,
vervollständigt. Noch im nämlichen Jahre brachte das
Journal des kaiserl. russischen Ministeriums der Volksauf-
klürnng (Novemberheft 1879, S. 71 bis 83) einen Aufsatz
des Akademikers A. Wesselofsky: „Die germanisierte
slavische Niederlassung in Tirol, nach Biderinann, Mitter-
rutzner u, A." (V). A. Unterforcher widmete in seiner,
dem Programm des Leitmeritzer Gymnasiums für 1885
einverleibten Abhandlung „Romanische Namenreste aus dem
Pusterthal" (VI) auch den hier vorkommenden slavischen
Namen einige Bemerkungen, vorwiegend polemischen Inhalts.
Eingehender und ans Grund eigener Umschau behandelte der
Letztgenannte die slavischen Namenreste im Osten des
Pnsterthales in vier weiteren Programmarbeiten, von welchen
drei in Leitmeritz, die vierte aber in Eger auch als Sonder-
abdrücke publiziert wurden. Die Titel dieser Abhandlungen
lauten: „Beitrag z. Dialekt- und Namenforschung des
Pnsterthales" 1887 (VII); „Slavische Namenreste a. d.
Osten des Pnsterthales" 1888 (VIII); „Zur slavischen
Namenkunde a. Ost-Pnsterthal" 1889 (IX); „Beiträge und
Berichtigungen z. slavischen Namenforschung a. Ost-Pnster-
thal", Eger 1890 (X). Pfarrer Davorin Trstenjak
veröffentlichte iir der Klagenfurter Zeitschrift „Kres" 1884
einen Aufsatz unter dem Titel: „Slovenske beseele v
Tirolskoj nemcini“ (Slavische Wörter im tiroler Deutsch)
(XI). Ich selber habe in meiner Schrift: „Die Nationa-
litäten in Tirol" (Forschungen z. deutsch. Landes- u. Volks-
kunde, I. Bd.) 1886 Ergänzungen zu meinen früheren
Arbeiten anhangsweise beigebracht (XII). Jos. Patigler
handelt in der ersten Abteilung der Programmarbeit „Ethno-
graphisches ans Tirol-Vorarlberg" im Progr. der deutschen
k. k. Staats-Realschule in Bndweis für 1887 von „einstigen
Wendensitzen in Deutschtirol" (XIII). Der das Thema
bloß streifenden Druckschriften gedenke ich im Folgenden nach
Bedarf; die vorangeführten aber zitiere ich mit den römi-
schen Zahlen, welche ich in Klammern jeder beisetzte.
Die Slavenreste in Tirol sind: teils in der Umgangs-
sprache fortlebende, teils an Örtlichkeiten haftende
slavische Wörter, die als sogenannte Hausnamen mitunter
auch zur Bezeichnung von Familien dienen; ferner
Gebräuche und rechtsgeschichtliche Überlieferungen;
endlich einzelne Merkmale ain Typus der Bevölkerung
gewisser Gegenden, bezüglich welcher auch geschichtlich
feststeht, daß sie einst von Slaven bewohnt waren.
Von den Slaven resten müssen die bloßen Anklänge
slavischen Wesens unterschieden werden, welche durch ganz
Tirol verbreitet sind, jedoch einen Rückschluß auf einstige
Anwesenheit von Slaven an den Orten, wo sie sich vorfinden,
nicht gestatten. Diese rühren von äußerer Einwirkung her
oder -es treibt, ohne daß auch nur derartiger Einfluß Platz
Übersicht der Slavenreste in Tirol.
gegriffen hätte — lediglich der Zufall damit sein Spiel.
Ihnen müssen die oft täuschenden Analogien zugerechnet
werden, welche auf den ersten Blick sogar als Slavenreste sich
darstellen, während in Wirklichkeit nicht einmal ein Anklang
slavischen Wesens vorliegt.
Von derartigen Vorkommnissen will ich hier zuerst
berichten und zwar sowohl von denjenigen, welche als echte
Anklänge Beachtung zu verdienen scheinen, als auch von den
einer gründlichen Überlegung nicht Stand haltenden Seiten-
stücken. Mit letzteren hat sich A. Unterforcher wiederholt
befaßt. Sein Verdienst ist es namentlich, falschen Deutungen
mit beweiskräftigen Argumenten entgegengetreten zu sein und
so manchen Irrtum berichtigt zu haben. Das Mißtrauen,
womit er insbesondere die slavischen Anklänge auf ihren
wahren ethnographischen Wert prüft, verleitet ihn zwar zu
einer Strenge, welche ohne Not die slavischen Wnrzelwörter
durch romanische ersetzt wissen will und den Slaven überhaupt
einen sehr beschränkten Einfluß auf jene Anklänge einräumt;
allein die Vermutung streitet da in der That zumeist für eine
andre Auslegung, als welche der Slavist im Sinne hat, und
in dieser Hinsicht bildet Unterforchers Rückhültigkeit einen
grellen Gegensatz zu der Geneigtheit, womit der im Früh-
jahr 1890 verstorbene Pfarrer Davor in Trstenjak die
fraglichen Anklänge als Ausflüsse slavischen Wesens, ja häufig
sogar als Belege für slavische Niederlassungen gedeutet hat.
Indessen sind die Ergebnisse, zu welchen Trstenjak beim
Durchforschen des von I. B. Schöpf begonnenen und von
Ant. I. Hofer vollendeten „Tirolischen Idiotikon" gelangte,
immerhin der Veröffentlichung würdig, weil sie trotz der Ein-
seitigkeit und Übertreibung, womit der Genannte überall
slavische Anklänge fand, wo nur ähnliches seiner Beobachtung
sich darbot, — überraschende Winke in sich begreifen. Je
ferner den Verfassern jenes „Idiotikon" der Gedanke lag,
daß am tirolischen Sprachschatze auch das Slavische einen
Anteil haben könne, desto schätzbarer sind diese Winke. Da-
her gebe ich hier einen Auszug ans dem Verzeichnisse, welches
Trstenjak veröffentlicht hat (XI). Augenfällige Mißgriffe
bleiben unerwähnt.
Allgemein übliche oder doch an keine bestimmte Lokalität
gebundene Ausdrücke sind in Tirol: Bisen, beslen — Rennen
des von Bremsen gestochenen Rindes (slov. bez-ate, biz-ati);
Plüschen, Bläschen — Schlagen, daß es schallt (slav. ples-
k-ati); Brenta — Kufe, Bottich (slav. brenta); Britsch
— flaches Scheit zum Plattschlagen des Düngers (slav.
pei-ic, peraca); Dese — Backtrog (rnss. deza); Glutschc
= Abteilung im Stalle für Kleinvieh (serb. Uljaé — schiefer
Dachboden); Gnmpe — Kretin (slav. gumpec von gump
— Kropf); Törcher— Vagabund (slav. ckerbal — Gesindel);
Inten — Käsewasser, Molken (slav. juta — eine durch
Umrühren bereitete säuerliche Speise, rnss. jur-aga — Käse-
wasser); Kander — Werg (bei den karantan. Slaven ¿oder);
Klenken — Schlingen machen (altslav. klenka); Tnlli —
junger Stier (slov. tuliti — brüllen); Paschebna — Hirten-
knabe auf der Alm Zlcw. pasa — Weide); Las — Berg-
rutsch (slov. laz von lazim — rutschen); Schmatte — dickes
Weib (slov. zmeten — schwer); Schmöchen = fortglimmen
(slav. smoha — ein schwer entzündbares Tannengeäste);
Schnrimnri — übereilt, ungeschickt (slav. curimuri); Tschogkl
— Holzschuh (slov. Lokel); Tschore — Närrin (slov. cura);
Toll — gut, schön (rnss. tal)-, altslav. toliti — begütigen).
Auch die den Kühen beigelegten Kosenamen: Rnmel, Muschga,
Zncka, Moara und Nizza erklärt Trstenjak aus dem Slavi-
schen, und zwar leitet er sie von rama, rema (— gestreiftes);
musko (kroat. — Sommerrappe); cuba (— junge Kuh);
maora (— schwarze Kuh) und rickza (—dnnkelrote Kuh) ab.
Die Mehrzahl vorstehender Ausdrücke ist offenbar im-
portiert worden, hauptsächlich durch Tiroler, welche außer
294
Prof. Dr. Herm. Jgn. Bidermann:
Landes Viehmärkte besuchten und dort die betreffenden Worte
vernahmen (noch heutzutage wandern Schweinehändler aus
Tirol bis ins Königreich Serbien) oder als Hausierer sie
aufschnappten. Doch ist auch nicht ausgeschlossen, daß sie
vom östlichen Pnsterthale, wo sie alteinheimisch gewesen, ihren
Weg durchs übrige Land machten; mindestens wird dies von
einigen anzunehmen sein, wie z. B. von Bisen, Plüschen,
Britsch, Kander, Klenken, Tulli, Tschogkl. Wie aber soll
man es erklären, daß der an der Kärntner Grenze übliche
Ausdruck „Köise" — Schirmdach zum Aufhängen der Garben
im Freien, wofür die Jnner-Pusterthaler das Wort „Harpfe"
gebrauchen, — einer der wenigen Ausdrücke, denen auch im
„Tirol. Idiotikon" slavischer Ursprung zugestanden wird —
in der Form „Löss" auch im Sarnthale bei Bozen zur
Bezeichnung solcher Schirmdächer dient? Und wie soll man
es sich erst zurecht legen, daß im Schnalser Thäte ein ent-
ehrtes Mädchen wie bei den Kärntner Slaven cura (Tschnrl)
heißt; daß die Vintschganer einen zwischen Hügeln gelegenen
Weideplatz „Gunck" nennen, was dem slov. gonck (= Vieh-
trieb) entspricht; daß im oberen Etschthale der Halsbogen am
Joche der Zngrindcr „Larp" heißt, während im Slavischen
Kei-p-lje den hölzernen Bogen bedeutet; daß im Leukeuthale
(zwischen Kitzbühl uub Erpsendorf) das slavische Wort
dober mit der nämlichen Bedeutung, die das deutsche „brav"
hat, angewendet wird; daß im Unterinnthale „eine Roi
machen" nicht etwa soviel als beim Tanze eine Reihe her-
stellen heißt, sondern „Roi" da mit dem slavischen Roj
(Schwarm) gleichbedeutend ist; daß ebendort die Schalen der
Hülsenfrüchte mit dem slavischen Worte jezice (abgekürzt:
Schitzen) benannt werden; daß dort ein Morast „Serkl"
(vom slavischen serkati) heißt? Als weiteres Rätsel füge
ich hinzu, daß das in Deutsch-Tirol allgemein übliche Wort
Ritsche, womit offene Kanäle bezeichnet werden, seiner Bedeu-
tung nach vollkommen mit dem slavischen Worte rioea über-
einkommt, da die betreffenden Rinnsale gewöhnlich ein Netz
von Wasseradern darstellen. Keinesfalls haben wir es da
mit Slavenresteu, sondern wir haben es da mit slavischen
Anklängen zu thun, und selbst diesen gegenüber darf man
sich skeptisch verhalten, schon weil die für das „Tirolische
Idiotikon" thätigen Sammler einzelne Wörter unrichtig auf-
gezeichnet oder lokalisiert haben können.
Nicht minder ist es zweifelhaft, ob die gewissen, vorzugs-
weise bei den Slaven verehrten Heiligen (dem h. Veit, dem
h. Cyrill, dem h. Nikolaus, der h. Helena) geweihten Kirchen
und Kapellen deshalb schon als Überbleibsel slavischer Gottes-
verehrnng anzusehen sind. Ist ja doch die Slavizitüt des Veit-
Kultus sogar für den Fall, daß er auf die Gottheit Svantevit
zurückzuführen wäre, von kompetentester Seite in Frage ge-
stellt worden. Siehe den diesbezüglichen Ansspruch des
„Großmeisters der slavischen Sprachforschung" (Miklosic) bei
A. Unterforcher (X, S. 7).
Ich leugne auch nicht die Berechtigung der Bedenken,
welche (ebenda) gegen die Behauptung erhoben wurden, daß
die ans einen Voit hinweisenden Lokalbenennungen eine
slavische Ansiedlnng an dem Orte, dem sie anhaften, zur Vor-
aussetzung haben.
Dagegen sind es unbestreitbare Slavenreste, welche
ich im Nachstehenden verzeichne u. z.
I. In der Umgangssprache fortlebende Wörter.
Diese vernimmt man fast ausschließlich im Jselthale und in
dessen Verzweigungen. Es gehören hierher nach A. Unter-
forcher (IX, S. 26 — 29) folgende Ausdrücke: Ainschlizen
für Stachelbeere (oslgioo), Aunitschen für Hagebutten (alnice),
Dabernitsche für eine Art Stachelbeere (doberuioe), Pres-
litzen für wild wachsende Johannisbeeren (prilesje = im
Haselgebüsch), Parliesken für Frühlingszeitlose (prileska),
Obletzen (auch Oublitz'n) für gekochte Rüben (oblica), Pötsch'n
Übersicht der Slavcnreste in Tirol.
für gebratene Rüben (pecka), Jaus'n für Mittagmahl
(juzina), Barleß für Specht (brglez), Pröbigen (auch Pro-
beten) für Zaunringe (vom slov. proviti, winden, flechten),
Bogrite (Pougritte) für schlechte Schlafstelle (pograä —
Lager für Holzknechte), Pogratte für Tragbahre mit Fuß-
gestell (gleichen Ursprungs), Bekez'n für wimmern (bekati
— blöken), Tschatsch für wertlose Dinge (oaoa — Tand).
Ans VII, S. 8 und X, S. 4 füge ich hinzu: Arl für eine
Art Pflug (oralo), sowie für ein Geviertmaß (welches nach
der Leistung dieses Pfluges bemessen wurde); ferner: Wnrn
für Alpenweide (von vora, dimin. vorina — Gehege).
Aus III, S. 111 entlehne ich: Jauch-Wind — Südwind
(Föhn) vom slav. gang, der Süden. Damit ist aber der
bezügliche Wortschatz noch keineswegs erschöpft. Mir selber
stieß vor einigen Jahren westwärts vom Toblacher Felde, zu
Niederdorf nämlich, das Wort Datschker für Kröte auf,
welches mit dem das Gleiche bedeutenden, südslav. krastaca
zusammenhängt. Gewissermaßen mundartlich, wenn schon
jetzt nur mehr auf einzelne Lokalitäten angewendet, sind Aus-
drücke wie: Pol (Pölle) für Hügel mit einer abschüssigen
Wand (vom slav. polje — hügelige Gegend), Petsch (Pötsch)
für Höhle (vom slav. peca, pecina), und Dröge für thal-
ähnliche, durch Abrutschung entstandene Vertiefung (vom slav.
podraga — am Graben). Derlei Wörter müssen den Be-
wohnern der Jselregion noch vor 100 Jahren weit geläufiger
gewesen sein. Dies darf aus dem „Salzburgischen Idiotikon"
gefolgert werden, mit welchem L. Hübner im III. Bande
seiner „Beschreibung des Erzstifts Salzburg" (Salzburg 1796)
uns bekannt macht. Zu Ende des 18. Jahrhunderts waren
danach im unmittelbar an die Jselregion grenzenden Nachbar-
lande außer manchen oben angeführten Wörtern noch Aus-
drücke wie: Fempitzen für Flimmern, Gamitzen für Gähnen,
Garitzen für Wimmern, Manlitzen für Zanken, Narritzen für
Foppen, Napfitzen für Schlummern, Raukitzen für Jammern
— gang und gäbe. Ist gleich die Wurzel dieser Wörter nur
ausnahmsweise slavisch, so verrät doch die Endung große
Vertrautheit mit slavischen Sprachformen und die Hinneigung
zum Gebrauche derselben.
II. An Örtlichkeiten haftende Wörter. Die voll-
ständigsten Verzeichnisse solcher hat bisher A. Untcrkircher
(VIII u. IX) geliefert. Aber auch Mitterrutzner hat die
von mir (II) beigebrachten Belege schon um ein Beträcht-
liches vermehrt (IV). Es steht jetzt außer Zweifel, daß so-
wohl in den Katastern der Gegenwart, als in den Steucr-
nnd Urbarbüchern der Vorzeit das Gebiet, von welchem hier
zunächst die Rede, durch zahllose Lokalbenennnngen slavischen
Ursprungs als ehemaliges Slavenland gekennzeichnet ist.
Darunter sind Wörter, die sich beinahe unverändert aus der
Zeit erhalten haben, wo daselbst ausschließlich slavisch ge-
sprochen wurde; so z. B. Geziska, eine Schafweide bei
Windisch-Matrei (jazisko = baumlose Gegend); Grnsch-
kitze, ein Acker in Schlacken (kruskica — Ort, wo Birn-
büume stehen); Laß, mehrfältige Bezeichnung von Äckern,
(identisch mit laz — Neubruch); Mnlitz, Thal und Alpe
in Defereggen, Bach bei Ainet und zwei Wiesen bei Birgen
(mulica, mylovica — Ort, wo Flutsand oder Schlamm
liegt); Proseck, Weiler bei Windisch-Matrei (proseku —
Verhau); Staniska, Gemeindefraktion in Kals (stanisto —
Standquartier); Belitz, Alpen in Gwabl (bolioo — weiß,
glänzend); Mallwitz, Alpe in Pregraten (malovice, malvice
vom Personennamen Malov — Klein). Hierher gehören
auch: die vielen ans deber = Anhöhe gebildeten Orts-
namen (Daber, Tabernitz u. s. w.); der Glabuschker Wald
und die gleichnamige Wiese in der Gemeinde Grafendorf bei
Lienz, vom altsloven. glaboku — tief; die Flur Gominig
zu St. Johann im Walde von kanionik = steinig, das
Büchlein Jslitz (Jsolica, Diminutiv von Jsl); der Röglas-
Dr. Johannes Höfer: Ein Ansflug nach Dublin.
295
Bach (reklica) im Virgenthale und mancher andre Name,
welchen Unterforcher jüngst (X) nachgetragen hat. Der-
selbe Forscher hat (ebenda, S. 13) die Wandlungen nach-
gewiesen, welche einzelne slavische Namen im Laufe der Jahr-
hunderte in der Jselregion erfuhren. Das heutige Prag-
ratten hieß im Jahre 1329 pregrad, predegrad; das
heutige Klein-Jsclthal 1545 Jslitz, 1329 Jsoliz; das heutige
Wölzelach 1545 Wclzellach, 1329 welzedlacli; das heutige
Damerwitzen 1545 Damcrwiz, 1329 tambrovi^. Daß
das Pustcrthal nach einem slavischen Worte (pustrica —
Wüstenei) benannt sei, gilt langst für eine ausgemachte Sache.
Der vorgenannte Forscher hat cs aber mit einem Aufsähe,
welchen er in Nr. 24 der „Lienzer Zeitung" vom 15. Juni
1889 veröffentlichte, sowie durch spatere Erörterung des
Sachverhalts (in X) wahrscheinlich gemacht, daß diese An-
nahme falsch ist. Nach ihm kommt der Name von Birrus,
welche Bezeichnung der Ricnzfluß getragen zu haben scheint
und welcher zufolge die Bewohner des unteren (westlichen)
Pnsterthales Pyrusten genannt wurden *). Damit stimmt
vollkommen überein, daß der mittelalterliche „Eornitalus de
pustrissa“ den Landstrich zwischen dem Eisackthale und dem
Gsicßerbache bei Welsberg umfaßte, also ein Gebiet, auf dessen
Benennung Slaven um so weniger Einfluß nehmen konnten,
je gewisser es ist, daß deren Wohnsitze nicht bis dahin sich
erstreckten. Denn die Einteilung der Gemeinden in „Rotten",
welche für ehemaliges Slavenland charakteristisch ist, findet
sich nirgends im vorerwähnten Gebiete. Die alten Gerichts-
bezirke Toblach, Alt-Rasen, St. Michaclsburg und Schöncgg
zerfielen in „Malgrcyen", ebenso zum Teile das Gericht
Welsperg, während andre Fraktionen desselben „Oblayen"
hießen, welcher Benennung wir auch in den älteren Steuer-
büchern der „Anwartschaft" Gsieß begegnen. Das Ober-
amtsgericht Bruneck war in „Pinnwerke" geteilt.
i) Noch jetzt kommt der Name Piristi als der einer im
Pusterthale seßhaften Familie vor, nach welcher in Bruneck ein
Haus benannt wurde.
Lin Ausflug
Von Dr. Ioh
I
Das war eine stürmische Fahrt. Drei Stunden nur
sind cs von Holyhead bis Kingstown, aber wer die irische
See kennt, weiß, daß man an diesen drei Stunden in der
Regel gerade genug hat. Doch jetzt sind wir am Ziele,
und das Panorama, das sich immer schöner und großartiger
unsern staunenden Blicken enthüllt, belohnt uns reichlich für
die ausgestandenen Leiden.
Bor uns liegt, von den Strahlen der untergehenden
Sonne vergoldet, die herrliche Bucht von Dublin und
heiter lacht uns im Vordergründe das reizende kleine Eiland
an, welches „das Auge Irlands" genannt wird. Wohl
haben die Irländer ein Recht, aus die Lage ihrer Hauptstadt
stolz zu sein; und wenn auch der beliebte Vergleich ihrer
Bai mit dem Golf von Neapel eine kleine lokalpatriotischc
Übertreibung ist: daß sie sich den schönsten ihrer Art eben-
bürtig an die Seite stellt, muß jeder zugestehen. Freilich,
so strahlend und heiter, wie heute, stellt sie sich dem Feinden
nicht immer dar. Wenn die Gipfel der umkränzenden
Berge in Nebel gehüllt sind und die bleigrauen Fluten das
einförmige Bild eines trüben Regenhimmels wiederspiegeln,
dann lagert eine düstere Schwerumt über der ganzen Land-
schaft und ergreift auch das Gemüt des Ankömmlings. Aber
selbst diese schwermntvolle Stimmung hat ihre Reize; findet
sie doch ihren Wiederhall in den melancholischen Tönen der
irischen Volkspoesie.
Inzwischen haben wir Kingstown erreicht. Noch
einige Augenblicke, und wir stehen ans dem Boden der
grünen Insel, im Lande von Oliver Goldsmith, Edmund
Burke und Thomas Moore. Der erste Gegenstand, der bei
der Landung unsere Blicke auf sich zieht, ist ein kurzer, dicker,
ziemlich häßlicher Obelisk, der überragt wird von einem
Kissen mit einer Krone darauf. König Georg IV. be-
suchte im Jahre 1821 Irland, und zum Andenken an diesen
Besuch wurde ihm von seinen dankbaren irischen Unterthanen
dieser Obelisk errichtet. Seit eben der Zeit führt auch der
Hafen den Namen Kingstown, Königsstadt, während er
früher Dunleary hieß.
Von Kingstown führt uns die Bahn in 20 Minuten
nach Dublin. Bis wir unser Gepäck besorgt nnd ein
Nachtquartier gesunden haben, ist es Abend geworden. Die
Kaufläden sind bereits größtenteils geschlossen, aber in den
nach Dublin.
annes Höfer.
breiten, geräumigen Straßen herrscht noch ein reger Verkehr;
denn es ist Samstag Abend, wo alle Welt feiert und dem
Vergnügen nachgeht. Auf den Fußwegen wimmelt es von
Passanten: junge Bursche in leichtem Spielkostüm, vom
football match heimkehrend; Arbeiter, die aus den Fabriken
nach Hause strömen; Dienstmädchen, die noch die letzten
Einkäufe besorgen, weil am Sonntag alles geschlossen ist;
Straßenjungen mit zerlumpten Kleidern und bloßen Füßen,
in den höchsten Falsetttönen die neuesten Abendzeitungen
anpreisend: alles drängt sich rastlos durcheinander.
Aber am lebhaftesten gehts heute in den „pnbs", den
Trinkhöllen, her. Hier feiern die Ritter der Arbeit ihre
sabbathlichen Orgien und verjubeln in wenigen Stunden den
Arbeitslohn der verflossenen Woche. Wie die Heringe auf-
einander gepreßt, drängen sie sich vor den Schenktischen,
Männer wie Weiber, Jung und Alt, oder kauern an den
Wänden umher, in einer Atmosphäre, in der jedes gewöhn-
liche Menschenkind ersticken müßte. Noch ist cs verhältniß-
mäßig ruhig; nur hie und da erheben sich bereits lautere
Stimmen; aber nach und nach macht sich die Wirkung des
Alkohols in den leicht erregbaren irischen Köpfen geltend:
erst ein Wortwechsel, darauf Drohungen und endlich eine
allgemeine Balgerei sind die Folgen, wenn sich nicht der
Wirt rechtzeitig ins Mittel legt und mit Hülfe einiger-
nüchterner Elemente die tobsüchtigen Geister an die Luft
befördert, wo sic dann mühsam ihre Gebeine aus dem
Straßenschmutz auflesen, um in irgend einem Winkel von
den Mühen des Abends auszuruhen.
Wir haben genug von diesem Anblick menschlicher Ver-
rohung und sind froh, endlich unser Hotel wiederzufinden.
Hier beeilt man sich, uns zu versichern, daß die Irländer
das friedlichste und gesittetste Volk der Erde seien, daß mit
Ausnahme der Agrarverbrcchen die Gerichte nirgends so
wenig zu thun haben als in Irland, und daß jener Hepen-
fabbatt) in den public-liouses weiter nichts sei, als die
abendliche Lcbensäußerung von Menschen, welche den Tag
über redlich und nüchtern ihrer Arbeit nachgehen nnd jeden
Sonntag die Messe besuchen. Mit diesem tröstlichen Be-
wußtsein begeben wir uns zur Ruhe.
Man braucht gerade kein Freund vom frühen Aufstehen
zu sein, um in England als early risei- bewundert zu wer-
296
Dr. Johannes Höfer: Ein Ausflug nach Dublin.
den. Der englische Tag fängt sehr spät an, und ein großer im Sommer sowohl wie im Winter. Um acht Uhr morgens
Teil der Bevölkerung verschläft gerade die schönsten Stunden, findet man in Dublin, selbst im Hochsommer, die Fenster
„Das Auge Irlands." Insel vor der Bai von Dublin.
Die Bai von Dublin.
noch geschlossen und die Straßen öde und leer. Gegen neun
Uhr fängt man allmählich an sich zu erheben; die Dienst-
mädchen kehren die Trottoirs vor den Häusern, und die
Kaufläden werden langsam geöffnet, aber erst gegen zehn
1
Sackville Street in Dublin. Nach einer Photographie.
298
Dr. Johannes Höfer: Ein Ausflug nach Dublin.
Uhr kann man mit Sicherheit daraus rechnen, in denselben
einen Gehilfen zu treffen, von dem man bedient wird.
Auch die Pferdebahnen find in den Morgenstunden leer.
Zahlreiche Linien durchschneiden die Stadt nach allen Rich-
tungen. Fast alle gehen von der Hauptpost aus, einem
mächtigen Gebäude in griechischem Stil, dessen Front mit
den Statuen der Hibernia, des Merkur und der Fidelitas
geschmückt ist. Man erzählt, daß ein Fremder feinen Kutscher
fragte, was diese drei Figuren darstellten. „Die zwölf
Apostel", erwiderte der Gefragte ohne Zögern. — „Aber
wie kommt es denn, daß nur drei dastehen?'' — „Ja, das
will ich Ihnen sagen", meinte Pat, „es gehen nämlich immer
nur drei zur Zeit aus." Da hat man ein treffendes Bei-
spiel für den bekannten, von den Engländern oft verspotteten
irischen Volkswitz.
Eine der Tramways bringt uns in weniger als einer
halben Stunde nach dem Phönixpark. Schwerlich giebt
es in der Welt eine zweite Stadt, die unmittelbar vor ihren
Thoren einen öffentlichen Park von solcher Ausdehnung hat.
Auf einem Areal von 850 lia umschließt derselbe stolze lllmen-
waldungcn, prachtvolle Weiß- und Notdornbüsche, deren
knorrige Stämme eine ungewöhnliche Höhe erreichen, Wiesen
mit saftigem Grün und lachenden Gänseblümchen, die von
schönen braunen Kühen, fetten, grauen Hammeln und reizen-
den kleinen, bunt gesprenkelten Damhirschen abgeweidet wer-
den; einen zoologischen Garten, ein Gelände für Trnppen-
besichtigungcn, Spielplätze für football, cricket und lawn-
tennies, die Sommerresidenz des Statthalters, Kriegsschule,
Militürhofpital, Artilleriekaserne und Polizeibürean: alles
findet man im Phönixpark, — nur keine Spaziergänger.
Ist es seine weite Ausdehnung, die ihn so verlassen erscheinen
macht, oder haben die Dubliner wirklich kein Gefühl für
seine Schönheiten, — gleichviel, der Park gewinnt dadurch
nur noch an Reiz.
Manchmal freilich drängt sich die Menge hier so dicht
aufeinander, daß keine Stecknadel zu Boden fallen könnte.
Das sind die Tage, an denen Männer wie O'Brien und
Parnell ihre Brandreden halten und das irische Volk zur
Befreiung vom britischen Joche auffordern. Dann tönen die
grünen Hallen wieder von Verwünschungen und Flüchen,
und der alte Wellington, unter dessen Denkmal diese Meetings
gewöhnlich stattfinden, schaut kummervollen Blickes auf die
Jährende Menge, die von innen her den Bau des Reiches
zu zerbröckeln droht, das er mächtig nach außen hinterlassen hat.
Und nun stehen wir auf dem Platze, wo jene Blutthat
geschah, die den Namen des Phönixparkes in alle Lande
trug und mit roten Leitern in die Annalen der Weltgeschichte
eingrub. Gerade der vizeköniglichen Villa gegenüber, an
dem Graben, der die große Hauptallee begrenzt, ist die Stelle,
wo am 6. Mai 1882 Mr. Burke und Lord Cavendish, der
Staats- beziehungsweise Unterstaatssekretür für Irland, den
Messern der Fenier zum Opfer fielen. Es war gegen zehn
Uhr morgens, als zwei Veloeipedisten den Weg kreuzten, auf
dem die beiden Männer spazieren gingen. Als sie einige
Augenblicke später auf dem Rückwege zur Stadt dieselbe Stelle
passierten, bemerkten sie in einer Seitenallee zwei Körper
ausgestreckt liegen: es waren die noch warmen Leichname.
Im selben Augenblicke langten verschiedene Konstabler und
Schloßbeamte ans dem Schauplatz der That an. Lord
Spencer, der Vizekönig, selbst hatte den ersten Alarm ge-
geben. Von einem Fenster des Schlosses aus hatte er mehrere
Männer miteinander ringen sehen; er konnte sie ans der
Ferne nicht erkennen; aber die schleunige Flucht einer in der
Nähe wartenden Droschke ließ ihn sofort ein Verbrechen
ahnen. Der Staatssekretär war es, dem der Anschlag ge-
golten hatte; Lord Cavendish wollte ihn verteidigen und
mußte sein Los teilen. Der unglückliche junge Mann war
erst den Morgen vorher aus England angekommen, um seinen
Posten zu übernehmen.
Kein Stein, kein Denkmal bezeichnet die Stelle, wo sie
gefallen. Das ist charakteristisch genug. England ist sonst
nicht undankbar gegen Mitbürger, die im Dienste des Vater-
landes ihr Leben gelassen haben. Man fürchtete offenbar,
ein solches Denkmal möchte der Anlaß zu schmähenden Kund-
gebungen werden. Das mag uns eine Idee von der Festig-
keit der englischen Herrschaft in Irland geben.
Eine der Hauptverkehrsadern Dublins ist die außer-
ordentlich breite und wirklich schöne Sackville Street
(s. Abbild, auf voriger Seite), die sich vom Quai des Liffay
auf dem linken Ufer bis nach Rntland Square erstreckt.
Der Brücke gegenüber, die gleichfalls seinen Namen trügt,
zieht das imposante Denkmal O'Eonnells die Blicke auf
sich. Es wurde 1882 errichtet und enthält außer der
Statue des „Befreiers" noch gegen fünfzig allegorische
Figuren von kleineren Dimensionen, worunter die der
Hibernia, ihre Fesseln zerbrechend, die bedeutendste ist.
Vor der Post erhebt sich eine übermäßig hohe dorische
Säule, von deren Gipfel, sich fast in den Wolken verlierend,
ein kleiner melancholischer Nelson auf das Menschen-
gewimmel herunterblickt. Unten aber, auf den Stufen des
Piedestals, sitzt ein Heer von Bummlern und Vagabunden;
vom Morgen bis zum Abend lungern sie hier herum, rauchen
ihre Pfeife, schwatzen über Politik, mustern mit gekreuzten
Armen die Passanten, und wenn man sie fragt, warum sie
nicht arbeiten, erhält man mit unfehlbarer Sicherheit den
Bescheid, weil sie keine Arbeit hätten. Vor mehr als
150 Jahren hat Swift von diesen seinen Landsleuten die-
selbe Antwort, dieselbe Entschuldigung für ihren gewohnheits-
mäßigen Müßiggang zu hören bekommen. Vielleicht ist
etwas Wahres daran; aber in dieser langen Zeit haben sie
jedenfalls auch schon Geschmack am Bummeln gefunden;
denn sie sehen nicht aus, als ob das Nichtsthun besonders
schwer auf ihnen laste.
Die Geschichte dieser Straße ist merkwürdig. Offiziell
heißt sie Sackville Street, und auf den Straßenschildern
findet sich überall dieser Name. Aber feit der Errichtung
des O'Connell-Denkmals hat das Volk geglaubt, die Brücke
allein genüge nicht für das Andenken des großen Mannes,
und hat deswegen seinen Namen aus die ganze Straße aus-
gedehnt. Es braucht sich niemand einsallen zu lassen, einem
Kutscher die Straße anders als unter dem Namen O'Eonnell-
Street zu bezeichnen: er wird einfach thun, als ob er ihn
nicht verstehe. Allerdings ist es so ganz unberechtigt nicht,
wenn das Volk meint, der Geist O'Eonnells schwebe über
dieser Straße: hat doch im Hanse dir. 43 das Zentral-
koinito der Nntionalliga seinen Sitz, was den Vorüber-
gehenden in möglichst auffälliger Weise durch ein Schild
mit goldenen Buchstaben angekündigt wird.
Aber die Dubliner Patrioten begnügen sich nicht damit,
der Hauptstraße einen nationalen Namen zu geben. Sie
denken es mit allen übrigen so zu machen, welche die Er-
oberer durch sächsische Namen geschändet haben. Zn diesem
Zwecke suchen sie eifrig in den historischen Erinnerungen
ihrer Stadt, die aber unglücklicherweise großenteils tragischer
'Natur sind, wie die meisten Erinnerungen dieses durch be-
ständige innere und äußere Kämpfe zerfleischten Landes.
H, Schurtz. Die Milderung des menschlichen Charakters Nom Standpunkte der Ethnologie.
099
Die Milderung des menschlichen Charakters vom
Standpunkte der Ethnologie.
Von H. Schurtz.
Der unaufhaltsame Fortschritt der Menschheit zum
Guten, die beständige Zunahme und Ausbreitung humaner
Gesinnung ist ein Schlagwort, das Volksrednern aller Art
von jeher die besten Dienste gethan hat; aber dem Unbefan-
genen mag cs oft scheinen, als ob wir wohl daran thaten,
diese schwungvolle Phrase nicht ohne weitere Prüfung hin-
zunehmen und nachzusprechen. Unsre Kultur gleicht, wie
schon oft bemerkt worden ist, einem Firnis, der die unzer-
störbare tierische Natur, die „Bestie im Menschen" not-
dürftig verhüllt, der aber zu Zeiten abfallt und das wahre
Wesen des Kulturmenschen sehen läßt. Man braucht, um
Beweise für diese Behauptung zu finden, nicht weit zurück-
zugreifen und an das Mittelalter zu erinnern, das die grau-
samen Instinkte der Menschheit in voller Entwickelung zeigt,
nachdem das klassische Altertum sic Schritt für Schritt
zurückgedrängt hatte. In einer Zeit, die uns näher liegt,
sahen wir viele der ersten Ansiedler Amerikas zu Barbaren
verwildern, die ihren eingebornen Bedrängern an wilder
Grausamkeit wenig nachgaben, sahen europäische und arabische
Sklavenhändler an planmäßiger Mordlust und kalter Un-
barmherzigkeit den rohesten Neger übertreffen; und was
mitten in einem Kulturstaate möglich ist, lehren die Gräuel
der großen französischen Revolution oder des Kommuneauf-
standes zur Genüge, deren Wiederholung vollkommen im
Bereich der Möglichkeit liegt.
Und doch, trotz allen Mißbrauchs, der mit dem schön-
klingenden Worte gerade von den Unwürdigsten getrieben
wird, ist der Glaube an einen Fortschritt der Menschheit
in moralischer Beziehung kein Selbstbetrug. Die Ethnologie
lehrt uns, daß nicht nur die Moral der Kulturvölker lang-
sam, unter zahllosen Rücksüllen und Unterbrechungen sich
hebt, sondern daß wir auch unter den Bölkern, deren Stille-
stehen aus tiefen Stufen geistiger Bildung uns auch von
ihrer moralischen Kraft keine vorteilhafte Meinung fassen
läßt, dennoch, sobald die Umstände günstig sind, eine Milde-
rung grausamer Sitten, ein Gefühl der Nächstenliebe sich
Bahn brechen sehen. Dieses moralische Aufwärtsstreben
an einzelnen Beispielen zu zeigen und seinen Ursachen nach-
zuforschen, ist eine der interessantesten Aufgaben der ver-
gleichenden Völkerkunde.
Als äußerste Abirrung von aller menschlichen Moral
pflegt man den Kannibalismus hinzustellen; ob mit vollstem
Rechte, ist allerdings fraglich. Es giebt eine Jmmoralitüt
der Schwäche, die fast hoffnungslos ist und von einem
einzelnen fast nie, von dem großen Organismus eines
Volkes nur in Generationen allmählich überwunden wird,
lind eine Jmmoralitüt der Kraft. Der furchtbarste Aus-
wuchs der letzteren ist der Kannibalismus, den wir infolge-
dessen nicht vorwiegend bei den schwächlichen, sondern bei
starken, kriegerischen und in ihrer Art kultivierten Völkern
finden. Diese Kraft, die sich zerstörend nach außen wendet,
führt aber auch unter günstigen Umständen zur Selbstzucht
und zu rascher Hebung der Moral. Das Bewußtsein
dieses engen Zusammenhanges zwischen Energie und echter
Moral läßt uns auch auf der Bühne einen kraftvollen
Bösewicht anziehender erscheinen als einen gutmütigen
Schwächling. Fast allenthalben finden wir die Kannibalcn-
stämmc geschickter und tüchtiger als ihre Nachbarn, deshalb
auch fähiger, die Kultur der Europäer zu verstehen und
aufzunehmen, sobald nur die ersten Kämpfe überstanden und
vergessen sind. Der Kannibalismus ist eine Kinderkrank-
heit der Menschheit, die oft gerade die kräftigsten Völker
befällt. Um diesen Satz ganz zu verdeutlichen, müßten wir
uns mit der Entstehung des Kannibalismus, einem der
schwierigsten Probleme der Ethnologie, beschäftigen; an dieser
Stelle soll nur der Versuch gemacht werden, in kurzen
Worten sein Verschwinden zu zeigen und zu erklären.
Als Anfang eines Fortschritts zum Besseren ist schon
das Ableugnen des Kannibalismus zu betrachten, wie cs
namentlich in Afrika bei jenen Stämmen beliebt ist, die nur
in besonderen Fällen Mcuschenfleisch verzehren; mit um so
größerem Eifer wird jedesmal das Nachbarvolk als An-
hänger der scheußlichen Sitte geschildert. Auch auf Neu-
britannien ist das Verheimlichen der Anthropophagie viel-
leicht der Ansang ihres Endes: „Wenn man", sagt Ro-
milly, „einen Eingeborenen fragt, ob er Menschcnsleisch
gegessen habe, wird er cs für seine Person ableugnen, aber
sagen, daß der oder jener cs gethan habe." Ein Häupt-
ling eines Bergstammes aus Fidschi erklärte dem Gouver-
neur Gordon, daß er von Menschenfresserei gehört habe,
daß sic aber niemals an seinem Volke ausgeübt worden
seiJ, eine unbedingt falsche Angabe, die aber beweist, wie
rasch und gründlich der einst als althergebrachte und be-
rechtigte Sitte angesehene Kannibalismus vor der euro-
päischen Kultur zusammengebrochen ist.
Oft scheint man für die eigene Person vom Kannibalis-
mus zurückgekommen zu sein, ohne auf dessen abschreckende
oder strafende Wirkung ganz verzichten zu wollen; man
überläßt dann die Leichen von Verbrechern oder feindlichen
Kriegern wilden Stämmen oder gewissen Volksklasscn zum
Mahle. Flegel schildert derartige Scenen aus Adamaua,
ältere chinesische Quellen behaupten ähnliches von den Be-
wohnern Tibets. In Lunda verzehren nach Monteiro die
Gangas zuweilen die Leichen der Hingerichteten, begnügen
sich aber meist damit, die zerstückelten Körper in den Fluß
zu werfen, — also eine abermalige Abmilderung der Sitte.
In der Regel verschwindet der Kannibalismus, sobald
ihm seine Fundamente entzogen sind, äußerst rasch. In
Fidschi trat 1854 ein Umschwung in den Ansichten des
Volkes ein, der bald die Menschenfresserei völlig abkommen
ließ * 2). Diese Erscheinung erklärt sich aus dem Einfluß
der Europäer; aber cs ist zweifellos, daß auf den Inseln
des Stillen Ozeans die Anthropophagie, die früher allgemein
verbreitet gewesen sein imtfj3), an vielen Stellen von der
Bevölkerung selbständig aufgegeben worden ist. Dieser
Aufschwung der Moral scheint auf den entlegeneren, schwach
bevölkerten Inselgruppen am frühesten stattgefunden zu
haben: Bei den Bewohnern Hawais stießen die Begleiter
Cooks aus den lebhaftesten Abscheu vor Menschenfleisch, in
Fidschi dagegen ist der Kannibalismus erst vor kurzem, int
Bismarck- und Salomons-Archipcl überhaupt noch nicht er-
loschen. Auf Tahiti fanden sich nur noch unbedeutende,
tz Proceedings of the Roy. Geogr. Soc., London 1887,
S. 13.
2) B. Secmann, Zciischr. s. allgcm. Erdkunde IX, S. 476.
3) „Turch ganz Polyncsien Icbten die Reste dcr einst
weiieren Verbreitung der Menschenfresserei in Tingen und
Sagen" (F. Ratzel, Volkerkunde II, S. 126).
33*
300
H. Schurtz: Die Milderung des menschlichen Charakters vom Standpunkte der Ethnologie.
mehr symbolische Reste der Sitte; auf Tonga beobachtete
Mariner noch die Menschenfresserei, fügt aber hinzu, daß
sie bereits allgemein verabscheut war. Auch aus den Samoa-
Inseln kam sie noch bis in die neuere Zeit sporadisch vor.
In Afrika hielt sich der Kannibalismus hier und da in der
Nähe der Küste. Staudingcr berichtet, daß in Braß an
der Nigermündung noch vor wenigen Jahren 15 Sklaven
unter die Häuptlinge verteilt und verzehrt wurden; ein
Häuptling indessen ertränkte seinen Gefangenen, der dann
nicht mehr verzehrt werden durfte. Es ist fraglich, ob
diese Regung des Abscheus auf europäischen Einfluß zurück-
geführt werden darf. Dasselbe gilt von der Thätigkeit des
Häuptlings Moschesch in Süd-Afrika; bei einem Kannibalen-
stamme, der sich seinem Volke angeschlossen hatte, suchte er
mit Erfolg die Unsitte zu unterdrücken ft. Dem Islam
scheint man die Milderung eines grausamen Gebrauchs in
Dar-For zuschreiben zu müssen, den Nachtigal ausführlich
schildert. Bei der sogenannten großen Paukenfeier werden
von den Prinzen und Prinzessinnen des Hofes die halb
verwesten Eingeweide eines Hammels mit Pfeffer und ranziger,
zwei Jahre alter Butter verspeist. An der Stelle dieses
ekelhaften Leckerbissens verzehrte man in der heidnischen Zeit
die Eingeweide einer halberwachsenen Jungfrau. Gerade
während Nachtigals Anwesenheit brach sich eine neue
Milderung der Sitte Bahn. Ursprünglich wurde jeder,
der bei der widerlichen Mahlzeit Ekel zu erkennen gab oder
hustete, sofort erschlagen, weil er durch diese Handlungen
ftbelwollen gegen den König verriet; aber diesmal wagte
schon einer der Prinzen das Verbot ungestraft zu verletzen").
Ein gutes Beispiel des Verschwindens kannibalischer
Gebräuche hat uns Loureiro überliefert. In Kochinchina
entrissen früher die Soldaten den getöteten Verbrechern kleine
Stückchen Fleisch, die sie in unreife Melonen steckten und
mit diesen verzehrten. Manche schnitten indes das Stückchen
so klein, daß sie es zwischen den Fingern fallen lassen konn-
ten, und verschluckten nur die Melone ft. Jetzt ist der
Gebrauch völlig abgekommen. Auch bei den Indianern
Kanadas scheint zur Zeit, als die ersten Franzosen in die
Urwälder am Lorenzstrom eindrangen, der Kannibalismus
int Erlöschen gewesen zu sein; noch verzehrten die Huroncn
zuweilen einen Gefangenen, den sie unter scheußlichen Martern
getötet hatten, aber viele nahmen nur mit Abscheu und
Widerwillen an dem Mahle teil ft. Bei den Miamis war
der Kannibalismus bereits auf eine einzige Familie beschränkt,
deren Vorrecht und Pflicht es war, die Leichen der getöteten
Gefangenen zu verspeisen.
Kannibalismus und Menschenopfer finden sich oft zu-
sammen und sind in ihren Ursachen eng verwandt; aber
die Menschenopfer sind viel allgemeiner verbreitet, so all-
gemein sogar, daß cs kaum ein Volk geben dürfte, das nicht
in irgend einer Periode seiner Geschichte dem schrecklichen
Brauche gehuldigt hätte. In vielen Sagen des klassischen
Altertums klingen Berichte von Menschenopfern nach; erst
in einer Zeit reinerer Moral, die durch den Sieg des olym-
pischen Zeus symbolisiert wird, verfallen die grausamen
Opfer dem verdienten Abscheu. Die Thaten des zenscnt-
sprossenen Herakles deuten nicht nur auf Fortschritte mate-
rieller Kultur hin, sondern in ihnen erkennen wir auch die
schweren und langwierigen Bemühungen der Besten des
Volkes, barbarische Opfergebräuche abzustellen, so wenn
Herakles die Gattin des erkrankten Admet, Alccstis, die für
ihren Gemahl gestorben ist, aus der Unterwelt zurückholt,
oder wenn er sich der menschenfressenden Rosse des Thrakiers * 2
ft Anlüropolo^ieal Review, April 1869.
2) Nachtigal, Sahara und Sudan III, S. 439.
ft H. Vos, Internat. Archiv f. Ethnogr. II, S. 71.
ft Brébeuf, Relation des Hurons 1636, S. 121.
Diomedes bemächtigt. Tantalus, der seinen Sohn den
Göttern zur Speise schlachtet und einer furchtbaren Strafe
verfällt, folgt in der Sage auf Herakles, und seine Unthat
mag daran erinnern, daß häufige Rückfälle in die alte Ge-
wohnheit stattfanden. Es fehlt auch andern Völkern nicht
an Gestalten, die dem Kultnrbringer Herakles gleichen; der
germanische Siegfried, der slavische Gellon, dem man die
Vernichtung der Anthropophagen zuschreibt, mögen hierher
gehören. Auf Tahiti hat sich die Sage von den Riesen
Fannra und Fatauhui erhalten, die das menschenfressende
Schwein in Eivo bekämpften. Diesen Vorgängen, die in
der Verhüllung der Sage nur halb verständlich bleiben,
stehen, ähnliche, genau beobachtete aus neuerer Zeit gegen-
über. Zunächst tritt in der Regel eine Beschränkung in der
Zahl der Opfer und in der Häufigkeit der blutigen Feste
ein. Alle neun Jahre nur fanden nach dem Zeugnis Adams
von Bremen zu Upsala Menschenopfer statt. Bei den alten
Preußen hatte in Zeiten der höchsten Not nur der Ober-
priester die Pflicht, sich für das ganze Volk zu opfern, und
ebenso nahm noch 1814 bei einer verheerenden Seuche ein
Häuptling der Tschuktschcn, freilich erst nach langem Zureden,
die Sünden seines Volkes ans sich und wurde von den Scha-
manen getötet (nach Matjuschkin). In Wcidah an der
Sklavenküste mag ein ähnlicher Brauch bestanden haben,
aber schon vor längerer Zeit war er dahin abgeändert, daß
nicht der Häuptling selbst, sondern nur ein Mann in der
Tracht und mit den Abzeichen eines Häuptlings im Meere
ertränkt wurde ft. Dieses Unterschieben eines minderwerti-
gen Opfers ist ein echt menschlicher Vorgang, der sich un-
zählige Male wiederholt. In Tahiti war man, als die
ersten Europäer die Insel genauer erforschten, bereits von
der Tötung Unschuldiger zurückgekommen und wählte als
Schlachtopfer Gotteslästerer und Verbrecher aus, die man
vielleicht ohnedies bestraft hätte; es zeigt sich hier besonders
deutlich der enge Zusammenhang zwischen Menschenopfer
und Todesstrafe, die uns auch sonst oft zu denken giebt.
Die Karthager kauften oder raubten fremde Kinder und
brachten sie an Stelle ihrer eigenen als Opfer dar, bis sie
dann und wann ein großes Unglück zu ihrer vermeintlichen
Pflicht zurückbrachte. Immerhin dienen hier noch Menschen
als Ersatz; viel häufiger aber müssen Tiere aushelfen, wie
nach dem vereitelten Opfer der Iphigenie oder Isaaks, oder
rein symbolische Handlungen deuten das ehemalige Menschen-
opfer an.
Die Mongolen des Ordos-Gebietes opferten dem Tschin-
gis-Bogdo Menschen, bis ein buddhistischer Heiliger tierische
an Stelle der menschlichen Opfer einführte. Ein Häuptling
in Onitscha am unteren Niger schlachtete nach Crowther,
durch die Vorwürfe der Missionare bestimmt, seiner Gottheit
statt eines Menschen einen Ochsen; bei den malaiischen
Kopfjägern treten, wenn sic das Christentum annehmen,
Maiskolben und Ochsenköpfe an die Stelle der Feindes-
schädel, die sonst als Trophäen ihre Hütten zierten, und rote
Farbe an die Stelle des Blutes, mit dem sie ehemals die
Tempclpfostcn bestrichen. Bei den Irokesen beobachtete der
Pater Jogues (1643), daß nach einem siegreichen Kriegs-
zuge nur eine einzige Gefangene verbrannt und das unvoll-
ständige Opfer durch zwei Bären ergänzt wurde; wahr-
scheinlich hatte hier europäischer Einfluß bereits mildernd
gewirkt. Hammelopfer scheinen in Dar-For vielfach die
Menschenopfer ersetzt zu haben, wie Nachtigal berichtet.
Nicht minder häufig treten symbolische Handlungen an
die Stelle des Opfers. Die Einwohner von Chalkis weihten
den Göttern den zehnten Teil ihrer Leute, als Mißwachs
und Seuchen sie bedrängten; aber sie töteten sie nicht, wie
ft Tylor, Ansänge d. Kultur II, S. 276.
H. Schurtz: Die Milderung des menschlichen Charakters vom Standpunkte der Ethnologie.
301
es früher die Regel gewesen sein mochte, sondern sandten sic
als Kolonisten aus; die Verbannten gründeten Rhegium in
Unter-Italien. Einen ähnlichen Vorgang hat Uhland in
seinem herrlichen Gedichte „Ver sacrum“ in lebendiger
Frische wieder erstehen lassen. — Ein symbolisches Opfer-
ist es, wenn am Grabe eines Häuptlings der Karcncn ein
Sklave und ein Pony angebunden werden; beide machen sich
wieder von ihren Fesseln los, und der Sklave wird ein
freier Mann. Ganz besonders deutlich sehen wir die
symbolische Opferhandlung noch in einem Brauche der Rnk-
Insulancr (bei Neu-Guinea) erhalten, den Paul Reina *)
schildert: Zwei Männer, fratzenhaft vermummt, fordern
die beschnittenen Knaben, die der Gott Marsaba bisher noch j
nicht verspeist habe. Die heulenden und bebenden Jungen
müssen den Vermummten zwischen den Beinen durchkriechen.
Hierauf wird verkündet, Marsaba habe die Knaben gefressen
und werde sie nicht eher wieder von sich geben, bis ihm
dafür Schweine, Taro und Jgnamcn geliefert worden seien.
Alles steuert bei, und man verschmaust dann die Gaben im
Namen Marsabas.
Die grausamen Totenopfer vieler Stämme sind zu
bloßen Zeremonien geworden. P. Kaue fand noch 1858
die Witwenvcrbrcnnnng bei den Indianern Kolumbias als
festeingewurzelte Sitte, während Hesse-Wartegg berichtet,
daß gegenwärtig die Witwe nur so lange ans dem Scheiter-
haufen'verweilt, bis die Leiche des Gatten in Flammen ge-
hüllt ist. An der Goldküste werden die Frauen der Häupt-
linge nach dem Tode ihres Geniahls oft nicht mehr um-
gebracht, sondern nur eine Zeitlang eingekerkert. Auf
Tonga, wo wir bereits das Verschwinden des Kannibalismus
beobachten konnten, wurde das übliche Witwcnopfcr während
Mariners Anwesenheit bereits einmal unterlassen.
Sterbende, die sich wieder zu erholen scheinen, werden von
den Angehörigen mancher Stämme vollends getötet, so von
den Bororó-Indianern der Provinz Matto-Grosso * 2 3) und
selbst von christlichen Indianern der westlichen Staaten Süd-
Amerikas; ob man den Sterbenden als ein Opfer der bösen
Geister ansieht, das man den Gefürchteten nicht entziehen
will, ob hier ein Nachklang der Sitte vorliegt, alte und
unbrauchbare Mitglieder des Stammes bei Seite zu schaffen,
mag dahingestellt bleiben. In Indien müssen einst ähnliche
Anschauungen geherrscht haben, gegenwärtig aber begnügt
inan sich damit, die Todeskandidaten, die bereits als letzte
Weihe den Mund mit heiligem Gangcsschlamm gefüllt
haben, nach ihrem Wiederaufleben aus der Gesellschaft der
Menschen in das „Dorf der Auferstandenen" zu verstoßen.
In Europa befolgen wir noch ictzt einen Gebrauch, der
eine Abmilderung eines uralten Menschenopfers ist. Das
Einmauern von Menschen, namentlich Kindern, in die
Grundmauern wichtiger Gebäude ist keine bloße Sage,-
sondern-einst thatsächlich auch in Europa geübt worden, wie
in Hinterindien und Polynesien noch in neuerer Zeit. Später
ersetzte man die Menschenopfer bei den germanischen Völkern
durch Schweine, Hühner, Lämmer oder Pferde, die dann
unter Umständen ebenso als Gespenster umgingen, wie die
Seelen der gemordeten Kinder, die zu Schutzgeistern des
Hauses wurden8). Die Südslaven mauern nach Hnbads
Angabe H einen Hahn, einige Scheidemünzen und etwas
Gerste in den Grundpfeiler, und so sehen wir, daß auch
unsre Sitte, Münzen den Grundsteinen stolzer Gebäude zu
vertrauen, nichts andres ist als der Nachklang eines blutigen
Opfers an die leicht zu erzürnenden Götter der Vorzeit.
J) Zeitschr. f. allyem. Erdkunde 1858, S. 356.
2) K. v. d. Steinen in den Verhandl. der Gesellsch. für
Erdkunde zu Berlin, XV, S. 485.
ch Grimm, Deutsche Mythologie, S. 1095.
r ch Globus 50, S. 299.
Viele andre unsrer Sagen und Bräuche mögen an
Menschenopfer erinnern, so der Sprung durch das Johannis-
seuer, die Reihe von Springersagen, deren bekannteste Körner-
unter dem Titel „Harras, der kühne Springer" bearbeitet
hat ch u. s. w. Ferner hat man die unter zahlreichen Völkern
verbreitete Sitte der Beschneidung als symbolisches Über-
bleibsel von Menschenopfern gedeutet. Man kann allerdings
mit derartigen Vermutungen leicht zu weit gehen. Wenn
Aszelius ein in Gotland übliches Spiel der Kinder schildert,
bei welchem einer der Knaben von den andern anscheinend
geopfert wird, so könnte man leicht das Spiel für die Nach-
ahmung eines alten Menschenopfers halten; aber da der
Knabe bei der Feierlichkeit in einen Pelz gehüllt wird und
ein Büschel Halme wie Schweinsborsten im Munde trägt,
so unterliegt es keinem Zweifel, daß er den Julebcr, das
Opfertier des germanischen Weihnachtsscstcs, darstellen soll2).
Gewiß sind auch viele der Ersatzmittel für Menschenopfer
gleichzeitig mit diesen schon gebräuchlich gewesen. Menschen
konnten in der Regel nur die Vornehmsten den Göttern dar-
bringen, während sich Ärmere mit Nachbildungen behelfen
mußten. So fanden in Mexiko die großen Menschenopfer
in den Tempeln im Beisein der Priester und Fürsten statt,
aber keiner aus dem Volke versäumte cs, zu gleicher Zeit
wenigstens einen Kuchen, der die Gestalt eines Menschen
hatte, symbolisch zu opfern.
Daß allenthalben eine Milderung grausamer Gebräuche
sich geltend macht, ist somit ausreichend festgestellt; weit
schwieriger ist die Frage nach der Ursache der Erscheinung
zu beantworten, selbst wenn wir nur nach den sekundären
Ursachen forschen und uns jeder philosophischen Theorie über
das Entstehen moralischer Gefühle enthalten. Es ist zunächst
festzustellen, ob die moralische Hebung eines Volkes ganz aus
eigner Kraft möglich ist, oder ob wir die Entwildcrung bar-
barischer Stännne nur dem Einfluß der Kulturnationcn,
insbesondere dem der arischen und semitischen Rasse, an-
rechnen dürfen. Ine letztern Falle müßten wir zwar den
Kulturvölkern eine selbsterworbene Moral zuschreiben, könnten
aber immerhin glauben, daß sic sich bei ihnen nur zufällig
in der gegenwärtigen Form ausgebildet hat, mit andern
Worten, daß die Grundbegriffe der Sittlichkeit nicht ein All-
gemeinbesitz der Menschheit, sondern nur künstlich von einigen
hervorragenden Völkern ans andre übertragen sind. Die
wunderlichen Anschauungen mancher kulturarmcn Stämme
über Gut und Böse können uns in dieser Ansicht bestärken;
aber vor einer näheren Betrachtung vermag sie nicht stand
zu halten.
An der Einwirkung der Kulturvölker auf die Sitte
tiefer stehender Stämme ist an und für sich allerdings nicht
zu zweifeln. Man hat oft behauptet, daß die „Wilden"
von den Angehörigen kultivierter Stämme zwar leicht Laster
und Untugenden annehmen, aber selten einen Teil ihrer
moralischen Kraft sich zu eigen machen, die ein Ergebnis
langdauernder Sclbsterziehung der Völker ist; indes fehlt cs
nicht an Beweisen vom Gegenteil, deren einige bereits an-
geführt werden konnten. Parkman behauptet mit Bestimmt-
heit, daß die Sitten der nordamcrikanischen Indianer sich
infolge des Einflusses der Europäer gemildert hätten. „Die
Besserung", sagt er I, „war nicht groß, aber sie war unver-
kennbar und scheint überall dort erfolgt zu sein, wo indianische
Stämme mit irgend einer achtbaren Gemeinde von Weißen
in nähere Beziehung getreten sind." Wir können dieser An-
sicht gewiß zustimmen, ohne indes behaupten zu dürfen, daß
1) Beryll darüber: Wissenschaft!. Beil. d. Lcipz. Zeituna
1890, Nr. 45 und 1891, Nr. 17.
2) Grimm, a. a. O., S. 1200.
3) Parkman, Tie Jesuiten in Nordamerika, S. 284.
302
H. Schurtz: Die Milderung des menschlichen Charakters vom Standpunkte der Ethnologie.
wir damit die eigentlichen Ursachen der Erscheinung begriffen
Hütten. Der Einfluß der Europäer konnte sich auf ganz
verschiedene Weise geltend machen, — direkt durch Belehrung,
Züchtigung und gutes Beispiel, indirekt durch Beseitigung
der Ursachen, die zu grausamen Sitten geführt haben. Wir
werden den direkten Einfluß, so wirksam er stellenweise sein
mag, doch nur in zweiter Linie berücksichtigen dürfen. Die
Erfolge der Missionare sind schon deshalb meist oberflächlich
und geringfügig, weil der Abschaum der zivilisierten Mensch-
heit, der sich in die Kolonieen zu ergießen Pflegt, keine hohe
Meinung von der Sittlichkeit des Europäers unter den
Eingeborenen aufkommen läßt. In Afrika z. B. ist ihre
Anteilnahme am Sklavenhandel den Europäern noch nicht
vergessen, und wenn man auch nicht überall mehr glaubt,
daß sie die Sklaven in ihr Land geführt haben, um sie zu
verzehren, so ist men doch überzeugt, daß die Weißen ans
den Knochen der Neger Pulver fertigen, Seife aus ihrem
Gehirn machen und mit ihrem Blute Baumwollstoffe zu
färben wissen *). Man kann dem gegenüber kaum mehr
behaupten, daß Europäer — die Missionare nicht aus-
genommen — dem Neger als Musterbilder idealer Sittlich-
keit erscheinen, und es ist nicht zu verwundern, wenn während
Staudingers Anwesenheit in Braß gerade eine fromme
Gesellschaft eingeborner Christen bei einem Kannibalcn-
schmansc ertappt wurdet). So machte auch ein Maori,
der längere Zeit auf einem englischen Schiffe gedient und
dabei die Insulaner der Ehatham-Jnseln kennen gelernt hatte,
nach seiner Heimkehr seine neuseeländischen Landsleute auf
dieses unbcschützte Völkchen aufmerksam, worauf sencr Kriegs-
zug der Maoris erfolgte, bei welchem ein großer Teil der
Chatham-Jnsnlancr gefangen und von den Siegern verzehrt
wurde; die Schlachtopfcr mußten sogar selbst die Ofen bauen,
in denen sie gekocht werden sollten, und das Holz herbei-
schaffen 3). Von einer Milderung der Sitten durch die
Europäer konnte also tut Jahre 1835, in welchem das Er-
eignis stattfand, noch nicht die Rede sein.
Weit bedeutender sind die indirekten Wirkungen der An-
wesenheit von Kulturvölkern. Die Kriege unter den Ein-
gebornen werden unterdrückt, die Familien- und Stammcs-
fehden, die Jahrhunderte lang ihre Hekatomben forderten,
beigelegt; Sicherheit und Behaglichkeit der Existenz werden
allgemein, und damit gewinnt das Leben des Einzelnen für
ihn selbst wie für die Gesamtheit erhöhten Wert. Die
wohlwollenden Gefühle, die sich nur in der Abgeschlossenheit
des engsten Familienlebens zu regen vermocht hatten, wagen
sich hervor und uutfassen nach und nach die große Familie
des Stamtnes, der Rasse, ja endlich der ganzen Menschheit;
und je geringer die Zahl der Feinde wird, je ferner sie dem
einzelnen stehen, je leichter er gegen Kränkungen Schutz
findet, desto mehr schwinden die Ursachen der Grausamkeit,
deren tiefste Wurzel die Rachsucht, das brennende Gefühl
erlittenen Unrechts ist. Die Gesamtheit des Volkes über-
nintntt für den einzelnen die Rache und kann, da sie selbst
nur mittelbar beteiligt ist, mit Ruhe und Milde richten.
Wenn es demnach vorwiegend der indirekte Einfluß der
europäischen Gesittung ist, der die Sinnesart zurückgebliebener
Volksstämme mildert, dann ist auch eine völlig selbständige,
von Kulturvölkern nicht beeinflußte Besserung der Moral
möglich. Wenn es einem Volke gelingt, sich Ruhe und
Sicherheit zu schassen, Zwistigkeiten im Innern thunlichst
beizulegen, seinen Lebensunterhalt reichlich zu gewinnen, dann
wird sich ganz von selbst seine Moral veredeln, dann werden
1) Nachliqal, Sahara u. Sudan II, S. 621. — Pogge,
Muata Jamwo, S. 52.
2) Im Herzen der Haussaländer, S. 480.
3) H. Travers, Peterm. Mitt. 1866, S. 63.
sich auch die Religionsgebräuche entsprechend mildern. Wenn
es noch eines Beweises bedarf, so bietet ihn die Thatsache,
daß entgegengesetzte Ursachen — Unglücksfälle aller Art,
Seuchen und Hungersnot — regelmäßig zu Rückfällen in
die bereits überwundene Barbarei führen. An Beispielen,
von denen einige wenige an dieser Stelle genügen mögen,
fehlt cs nicht.
Bei Gelegenheit einer schweren Hungersnot wurde König.
Donald von Schweden von seinem Volke dem Odin geopfert;
Jarl Hakon von Norwegen opferte vor der Seeschlacht in
der Hjörungerbucht (980 n. Chr.), die über das Schicksal
seines Reiches entscheiden mußte, den Göttern seinen eigenen
Sohn H, ähnlich wie jener moabitische König, von dem die
Bibel erzählt (2. Kön., 3), und mit gleichem Erfolge. Noch
weit später begrub man in Westergotland während einer
verheerenden Pest zwei Bcttelkinder lebendig, um die Seuche
zu bannen* 2 3 * 2). Nach der Schlacht bei Cannä ließ der
römische Senat, um dem Volke wieder Mut einzuflößen,
auf einem öffentlichen Platze vier Gefangene lebendig begraben;
die Unglückssälle Karthagos im punischen Kriege ließen in
der gefährdeten Seestadt die Menschenopfer, die man schon
vielfach nmgangcn und verabsäumt hatte, in der alten Furcht-
barkeit wieder aufleben. Man darf übrigens auch den Ein-
fluß nicht unterschätzen, den barbarische Nachbarvölker oder-
einzelne Angehörige des eignen Volkes auszuüben vermochten.
Während der kurzen Negierung des Kaisers Heliogabal, der
den Sonnenkultus des Orients in Rout einführte, wurden
zahlreiche Jünglinge geopfert, obwohl die Menschenopfer
bereits 95 v. Chr. gesetzlich abgeschafft worden waren. Auf
Tonga war, wie schon erwähnt, während Mariners An-
wesenheit der Kannibalismus fast ganz erloschen, aber zu-
weilen gingen Scharen junger Leute nach den Fidschi-Inseln,
um dort im Kriege ihr Glück zu machen, und brachten dann
die scheußliche Unsitte, die sic für etwas besonders Männliches
und Martialisches hielten, nach Tonga zurück. Derselbe
vortreffliche Beobachter stecht die Grausamkeit der Tonga-
Insulaner, die ihrem sonstigen Charakter wenig entspricht,
dem Einfluß gewisser Häuptlinge zuzuschreiben, die ihre
Wildheit dadurch aetf Hunderte übertragen, daß das Volk
gewohnt ist, blindlings ihren Befehlen zti gehorchen.
Wenn die Not leicht zur Unbarmherzigkeit führt, so thut
cs allerdings auch ihr Gegenpol, die Langeweile. Eine
weichliche, träge Lebensführung erzeugt bei dem Einen über-
triebene Sentimentalität, bei dem Andern Neigung zur
Grausamkeit, die dann nur noch als angenehmer Nerven-
reiz empfunden wird, und nicht selten finden sich beide
Regungen in einer Person vereinigt. Der pathologische
Drang zur Grausamkeit, über den wir namentlich Krafft-
Ebing wertvolle Mitteilungen verdanken, ist dabei noch nicht
einmal in Betracht gezogen.
Alle diese Rückfälle der verschiedensten Art haben die Ent-
wickelung einer höheren, umfassenderen Moral nicht hindern
können. Diese Entwickelung vollzieht sich wie das Wachs-
tum der Pflanzen eines Waldes; Ungcwitter und Stürme
können hochgewachsene Stämme niederbrcchen, Wasserfluten
den Boden zerwühlen, aber tausend Keime überdauern die
Verheerung, geräuschlos wächst eine neue Saat heran und
ersetzt die Zerstörungen eines wilden Tages durch jahre-
langes unermüdetcs Streben. Diese Kräftigung der Moral,
die wir bei unkultivierten Rassen beobachtet haben, ist auch
bei uns noch nicht zu ihrem Abschlüsse gelangt.
Den Anfang des Bestrebens, die Kriege weniger furcht-
bar ztl machen und gewisse Arten der Befehdung völker-
rechtlich ganz zu verbieten, dessen vorläufiger Abschluß die
Snorre, Heimskrinqla I, S. 56.
2) Grimm, st. st. O., S. 1140.
Die Erforschung der Purdy-Jnseln.
303
Manipur. —
Genfer Konvention gewesen ist, finden wir schon bei Homer.
Odysseus wendet sich an Jlos, um Pfeilgift zu erhalten:
„Doch jener weigert' es ihm, denn er scheute den Zorn
der ewigen Götter."
Auch die Milderung unsres Strafrechts ist in diesem
Sinne aufzufassen. Schon gewinnt eine kriminalistische
Schule Einfluß, die im Verbrecher nur einen unglücklichen,
geistig gestörten Menschen sieht und jede Regung der Rache,
die im Grunde alle Strafen diktiert und den Hinrichtungen
eine verzweifelte Ähnlichkeit mit gewissen Menschenopfern
verleiht, zu vermeiden sucht. Verbrecher in Irrenhäusern
— das ist eine Aussicht in die Zukunft, die uns zunächst
ebenso wenig gefallen will, wie ein Rückblick in die Ver-
gangenheit mit Tortur und Scheiterhaufen; jedes Zeitalter
hat aber seinen eigenen moralischen Standpunkt, zu dem es
sich emporgeschwungen hat und den es bis auf weiteres für
den einzig wahren und berechtigten hält.
m anipur.
Der Kampf, den die Engländer gegenwärtig in diesem
kleinen indischen Fürstentum führen, giebt uns Veranlassung,
hier dessen geographische und ethnographische Verhältnisse zu
erläutern. Es liegt nordöstlich von Kalkutta, zwischen Assam
und Birma, ist seit einem Jahrtausend unabhängig und zählt
gegenwärtig nicht ganz eine Viertel Million Einwohner.
In der Mitte dieses 8000 engl. Quadratmeilen großen
Landes liegt ein weites und flaches, fruchtbares Thal in
800 m Seehöhe. Die Hälfte der Bewohner des ganzen
Reiches sitzt ans dieser Ebene, welche kaum ein Zwölftel des
ganzen Flächenraums einnimmt. Das Hügelland, welches
den weitaus größten Teil von Manipur bildet, erhebt sich
stellenweise bis zu 1600 m iiber dem Meere.
In der genannten fruchtbaren Ebene liegt, in einer
Breite von 25° N. und 95° O. von Gr. die gleichnamige
Hauptstadt mit 60 000 Einwohnern, welche einen Flächen-
raum von 15 engl. Quadratmeilen einnimmt.
Das Hügelland ist bewaldet. Im Flachlande aber stehen
nur einzelne, aus religiösen Rücksichten erhaltene Bäume;
hier werden Reis und andre Feldfrüchte gebaut. Die ärm-
lichen Hütten, ans denen die Hauptstadt besteht, stoßen nicht
aneinander: jede ist von einem Garten umgeben, in welchem
Bäume stehen, so daß die ganze Stadt von der Ferne wie
ein Wald aussieht.
Die Bevölkerung scheint aus einer Mischung von Indo-
Chinesen mit Ariern hervorgegangen zu sein. In den letzten
Jahrhunderten hat sich der Hinduismus in Manipur immer
mehr ausgebreitet. Die Leute werden von einer der besten
Autoritäten, dem Oberst Johnstone, als kräftig und sehr ener-
gisch geschildert. Sie sind ausdauernd unter Mühseligkeiten,
aber von Natur aus keineswegs mutig; gleichwohl sind sie,
gut gedrillt und geführt, brauchbare Soldaten.
Manipur ist sehr unzugänglich und liegt von der briti-
schen Interessensphäre so weit ab, daß an eine Annexion
dieses Ländchens bisher nicht gedacht worden ist. Dennoch
besindet sich seit 1825 ein britischer politischer Agent in
Manipur, dem in neuerer Zeit auch Militärbedeckung zur
Seite steht, und cs ist natürlich, daß dieser einen nicht un-
beträchtlichen Einfluß ans die politischen Verhältnisse des
Ländchens ausübt. In letzter Zeit hat sich der Rajah von
Manipur der britischen Regierung sehr freundlich gezeigt
und hat dafür Geschenke von einigen gezogenen Geschützen
und mehreren Hundert guten Hinterladern erhalten. ~ Dieser
freundliche Rajah starb 1886. Darauf wurde sein Sohn —
ebenfalls ein Britenfreuud — Rajah. Im vorigen Jahre
empörten sich zwei Brüder des verstorbenen Rajah gegen
ihren Neffen, der den Thron inne hatte. Die Revolution
gelang und der Herrscher floh nach Kalkutta, um britische
Hilfe zu erlangen.
Der britische, politische Agent hatte eine Truppenmacht
von 500 Mann gesammelt und es scheint — obwohl noch
nichts über die Zwecke bekannt, die er verfolgte —, daß er
die Herrscher äo facto, die Oheime des entflohenen Rajahs,
zwingen wollte, ihren entflohenen Neffen zurückzurufen. Wie
dem auch sei, jedenfalls kam es zu einem Kampfe, bei
welchem die Truppen des britischen Agenten unterlagen.
Einige englische Offiziere, welche von den Manipuris ge-
fangen genommen tvorden waren, wurden in brutaler Weise
ermordet, zcrstückt und den halbwilden Hunden zum Fraße
vorgeworfen.
Es handelt sich jetzt natürlich darum, diese That zu be-
strafen und es sind zu diesem Zwecke britische Truppenkörper
nach Manipur aufgebrochen. Die drei Wege, welche diese
Kolonnen zurückzulegen haben, sind außerordentlich schwierig,
da der ganze Proviant und die Munition durch weite
Strecken von Sumpf, Dschungl und Urwald ans schlechten
Saumpfaden fortgeschafft werden müssen. Der Weg über
Katschar erfordert einen Marsch von 2101cm, von denen 80
im sumpfigen Tiefland liegen und zur Regenzeit überschwemmt
sind. Von Tamn ist es bloß 1201cm nach Manipur, meist
auf guten Saumpfaden durch Hügelland. Der dritte Weg
über Nigriting und Golaghat ist der längste. Er erfordert
einen Marsch von mehr als 320 km. Während aber ans
der kürzeren Route von Tamn keine Transportmittel vor-
handen sind, finden sich solche mindestens in einem Theile
der letztgenannten, allerdings viel weiteren Route. Elefanten,
Ochsen und Maultiere haben den Transport zu besorgen,
auf welchen schließlich alles ankommt, da der Sieg über die
Mörder und ihre Anhänger sicherlich an dem Tage erfochten
sein wird, an welchem die britischen Kolonnen, vor Manipur
vereinigt, zum Sturm ans die Stadt vorgehen. v. L.
Die Erforschung der Purdy-Jnseln.
Aus dem neulich veröffentlichten Geschäftsbericht der Neu-
Gninea-Kompagnie für 1890 ist eine Stelle bemerkenswert,
die sich auf die Insel Mole in der Pnrdy-Gruppe bezieht.
Geographisch wird dieser kleine Schwarm noch zu den Admi-
ralitäts-Inseln gerechnet, obschon er ziemlich weit südwestlich
von dem Hauptgliede oder Tani abliegt und eine ziemlich
vereinsamte Stellung einnimmt. Die Purdy-Jnseln wurden
1817 von dem englischen Kapitän Abraham Bristow ent-
deckt und von ihm nach seinem Freunde, dem nautischen
Schriftsteller Pnrdy, benannt. Der Deutschrnsse Krnsenstern
lieferte die erste genauere Beschreibung, ohne jedoch die er-
heblichen Fehler zu berichtigen, welche die Positionsangaben
der Inseln enthielten. Diese Mißstände beseitigte im November
1886 der Landeshauptmann von Schleinitz auf einer Reko-
gnoszierungsfahrt des Dampfers „Ottilie" (Nachrichten über
Kaiser Wilhelms-Land rc. 1887, Bd. 3, S. 56 bis 59).
Laut Text und Karte sind die Inseln sämtlich korallinen Ur-
sprungs und bestehen aus den drei Bat-Eilanden, dem Latent-
Riff und den Schwester-Inseln Maus und Mole. Von
Guano, der englischen Quellen zufolge ans der Gruppe sich
finden sollte, war keine Spur zu entdecken, zumal der Boden
überall ein dichtes Waldkleid trägt und das Klima außer-
ordentlich feucht ist. Wesentliche Ergänzungen zu diesem
Bericht erbrachte die Reise des Dr. Hollrung im November
1887 (Nachrichten über Kaiser-Wilhelms-Land rc. 1888,
Bd. 4, S. 32 bis 34); allein auch dieser Gelehrte konnte
die Existenz von Vogeldünger nicht nachweisen. Jetzt ent-
schloß sich die Neu-Gninea-Kompagnie. auf Phosphate bohren
zu lassen (Nachrichten rc., Bd. 4, S. 237 ff.); die ordnungs-
304
Aus allen Erdteilen.
mäßig gewonnenen und behandelten Proben wurden an Prof.
Dr. Märcker, Vorsteher der landwirtschaftlichen Versuchs-
station in Halle, eingehändigt und von diesem Herrn genau
geprüft. In seinem ausführlichen Gutachten (a. a. O.,
S. 23s bis 241) spricht sich Prof. Märcker dahin ans, daß
mehrere der Proben, z. B. die von Nord-Bat, sowie von
Maus und Mole durch ihren hohen Phosphorsäuregehalt
sich den reichhaltigsten und wertvollsten Phosphaten eben-
bürtig an die Seite stellen. Daraufhin beschloß die Neu-
Guinea- Kompagnie, den Abbau der Lager ans den Pnrdy-
Jnseln ernstlich in Angriff zu nehmen. Ein Dampfer und
ein großes Barkschiff gingen dahin ab, und nach Überwindung
der Schwierigkeiten, welche Brandung und Riffe für das
Einnehmen der Ladung boten, konnte die „Esmeralda" mit
1000 Tons inzwischen geförderter Phosphate beladen werden
(Nachrichten re. vom 20. Dezember 1890). Der eingangs
erwähnte Geschäftsbericht sagt nun, daß die „Esmeralda" be-
reits nach Europa unterwegs sei, wo sie hoffentlich wohl-
behalten eintrifft, um ihre für den deutschen Ackerbau so
bedeutsame Fracht glücklich zu landen.
Erweisen sich die Phosphate von den Purdy-Jnseln hin-
länglich mächtig und von gleichmäßiger Güte, so wäre damit
eine neue, wichtige Gabe ans unsern Kolonieen entdeckt.
H. Seidel.
Aus allen
— Die Schiffahrt im Suezkanal ist durch die Ein-
führung des elektrischen Lichtes, welches den Schiffen auch
die Fahrt bei Nacht gestattet, bedeutend abgekürzt worden.
Die meisten Schiffe mieten sich in Port Said einen elektrischen
Apparat, dessen Benutzung für die Fahrt 200 Mark kostet.
Im Jahre 1887 benutzten nur 395 Schiffe einen solchen
Apparat; 1890 war. deren Zahl schon ans 2836 gestiegen
(unter 3389 Schiffen, die überhaupt den Kanal benutzten).
Die mittlere Zeit, welche im Jahre 1886 ein Schiff zum
Passieren des Kanals gebrauchte, also vor der Einführung
des elektrischen Lichtes, betrug 36 Stunden; sie ist jetzt auf
22 Stunden herabgesunken, so daß im Durchschnitt 14
Stunden bei der Durchfahrt gespart werden. Der schnellste
Dampfer durchfuhr im verflossenen Jahre den Kanal in
141/4 Stunden.
— Reste des alten japanischen Christentums hat
Pfarrer Spinner ans den Gotoinseln nachweisen können,
die zwischen Japan und China gelegen sind. Schon früher
war die Vermutung aufgetaucht, daß nach der Schimabara-
Rebellion (1638) sich Christen dorthin geflüchtet hätten und
solche Reste scheinen auch die Bauern und Jäger im Inneren
der Insel Fukaöschima zu sein, die sich von der Fischerbevöl-
kerung an der Küste ganz abgesondert halten. Unter ihnen
lebt die Überlieferung, daß ihre Vorfahren von Amakusa
herübergekommen seien. Sie tragen von altersher das Kreuz
ans der Brust, halten den Sonntag heilig und leben streng
sittlich. In die Einsamkeit haben sie sich früher zurückgezogen
ans Furcht, entdeckt und bestraft zu werden. Diese ehe-
maligen Christen bewohnen 60 Häuser, führen ein muster-
haftes Leben und heiraten nur unter sich. Allmonatlich
schicken sie einen Vertreter mit einem Geschenk Reis an die
katholische Mission in Nagasaki.
— Mit Rücksicht auf den S. 208 mitgeteilten flandrischen
Aberglauben teile ich folgendes mit : Jur nördlichen Ost-
preußen , besonders in Littauen, ist zum Stillen des
Nasenblutens folgendes Mittel gebräuchlich: Zwei Stroh-
halme werden auf der Erde in Kreuzesform übereinander
gelegt und der Patient muß sich nun bemühen, daß die
herabfallenden Blutstropfen die Halme an ihrem Kreuzungs-
pnnkte treffen. Gelingt ihm dieses, so hört die Blutung
alsbald auf. Wichtig wäre cs, zu erfahren, ob das Mittel
auch in andern Gegenden Deutschlands bekannt ist.
Paul Schikowski-Breslau.
— Alaska. Das uordamerikanische Zensusamt ver-
öffentlicht einen Bericht Iwan Petroffs über Alaskas Hilfs-
quellen und Produkte im Jahre 1890, dem folgende An-
Erdteilen.
gaben entnommen sind. Seit der Besitznahme Alaskas durch
die Vereinigten Staaten sind von dort für 33 000 000 Doll.
Robbenfelle und für 16 000 000 Doll, andre kostbare Pelze
verschifft worden. Der Wert des Ertrages der Lachsfischerei
war 7 500 000 Doll. Der Stockfischfang seit 1868 hatte
einen Wert von 3 000 000 Doll, und auch der Heringsfang
ist schon sehr bedeutend. Die Jagd auf^Walfische und Wal-
rosse an der Nordküste des Gebietes ergab im Jahre 1890
226 402 Pfund Fischbein im Werte von 2,50 bis 3,50 Doll.,
3980 Pfund Elfenbein im Werte von 50 Cents das Pfund,
und 14 567 Faß Thran. Ferner hat Alaska seit 1868 für
4 000 000 Doll. Edelmetalle geliefert, und der Ertrag des
letzten Jahres an solchen belief sich ans 700 000 Doll.
Ferner haben sich bedeutende Braun kohlenlag er gefunden,
von denen bis jetzt aber nur ein auf einer langen schmalen
Halbinsel besonders günstig gelegenes in Angriff genommen
ist. Es erweist sich als eine große Wohlthat für die Wal-
fischfahrer und Zolldampfer, welche hier ihr Brennmaterial
erneuern. Bauholz dagegen scheint nicht in dem Maße vor-
handen zu sein, wie man anfänglich vermutete.
Alles in allem genommen dürfte Alaska bis jetzt seit
dem Ankauf im Jahre 1868 Erzeugnisse im Werte von
100 000 000 Doll, geliefert haben.
Bei der Massenabschlachtung der Pelztiere, namentlich der
Robben, dürfte diese Quelle des Reichtums in nicht ferner
Zeit stark zurückgehen. Die Fischerei dagegen wird noch
ans viele Jahre hinaus reiche Erträge liefern. Der Iukon-
Flnß wimmelt bis 200 Miles von der Mündung hinauf von
rothen und Königslachsen, die eine Länge von bis zwei Metern
und ein Gewicht von 120 Pfund erreichen. In Karuk,
welches sich der größten „Cannery" der Welt rühmt, die
1100 Fischer und Einmacher beschäftigt, wurden im ver-
flossenen Jahre 200 000 Lachse eingemacht. Man glaubt
auch, daß der Fischreichtum infolge der Ausrottung der ge-
fräßigen Robben noch zunehmen wird. Gold enthält
Alaska augenscheinlich ansehnliche Mengen, indessen ist das
Gebiet zu wenig erforscht, um einigermaßen sichere Schlüsse
zu ziehen.
— Große Silbererzlager sind im Süden von
Rußland vor kurzem entdeckt worden. (Gouvernement Jeka-
terinoslaw im Kreise Slavänosserbsk.) Kürzlich nun wurden
Probestücke ans jener Gegend im chemischen Laboratorium
zu Charkow untersucht. Der Silbergehalt der Erze betrug
5 Proz. Wenn sich das als richtig bestätigt, so wäre die
Alexander-Erzgrube eine der bemerkenswertesten in Europa,
insofern als die Silbererze allseitig von andern weniger
kostbaren Erzen umgeben sind.
(Nowoja Wrjemä nach der Charkowschcn Zeitung.)
Herausgeber: Dr. R. And ree in Heidelberg, Leopoldstraße 27.
Druck von Friedrich View cg und Sohn in Brannschweig.
Bd. LIX.
Nr. 20
Biliunschwcig
Jährlich 2 Bände in 24 Nummern. Durch alle Buchhandlungen und Postanstalten
zum Preise von 12 Mark für den Band zu beziehen.
1891.
Römisches und Mittelalterliches über Aursumlse.
Don Aanitz.
Am 4. Oktober 1889 führten mich meine in den letzten
Jahren am Balkan wieder aufgenommenen Forschungsreisen
nach dem westlich von Nis liegenden serbischen Bezirksstädtchen
Kursumlje. Dieser auf dem rechten Ufer der Toplica an-
genistete, ehemals stark verrufene Arnautenhorst wirkt noch
heute auf den Fremden gleich unheimlich wie vor 30 Jahren,
als Konsul v. Hahn ihn zum erstenmal schilderte. Sein
Gasthof zum populären altserbischen Vojvoden „Strahiniea-
bau" milderte nicht den empfangenen schlimmen Eindruck.
Die Dualität der Gäste stimmte mit seinem Schmutze und
der neue Mehanabau war nicht vollendet. Dazu kam für
mich die unangenehme Botschaft, der Bezirkskapitän, auf
dessen Begleitung ich bei den geplanten Ausflügen rechnete,
sei von Belgrad zur Grenzberichtignng nach Vranja entsendet
worden. Der Kreischef sicherte mir jedoch sein weiteres
Geleite zu, der Amtsschreiber hatte, während wir das kaum
genießbare Mittagsesscn an uns vorbeigehen ließen, ein ver-
lassenes Türkenhaus aufgestöbert und notdürftig ausgestattet,
das Firmament blaute wieder und als auch Ingenieur Va-
lenta angesprengt kam, welcher einen ihn an Prokuplje nageln-
den Fieberanfall rasch überwunden hatte, vcrschtvanden die
dunkeln Punkte; mein Forschungseifer war neu belebt und
ich schritt zur Arbeit.
Zwischen der Morava und dem linken Ufer der Toplica
dehnt sich westlich von Nis, dem großen römischen Waffen-
platze und Geburtsorte Kaiser Konstantins, das stark wellenför-
mige Dobriv-Hochplatcan aus, über welches der Naissus (9cts)
mit dem adriatischen Lissus (Alessio) verbindende Heer- lind
Handelsweg lief. Konsul v. Hahn, der einzige Forscher, der
seine Stationen festlegen wollte, scheiterte bei dieser Arbeit,
weil er ungenügende archäologische Studien auf dem Gebiete
zwischen Nis und Pristina gemacht hatte. Meine Wieder-
ansnahme seines Bersllches erlvies die vollste Genauigkeit
der von der Tabula Pentingeriana überlieferten Entfernungen
zwischen den Hauptorten dieser bisher unbestimmt gebliebenen
Globus LIX. Nr. 20.
hochwichtigen antiken Verkehrsader der römischen Provinzen
Moesia supcrior und Dardania mit dem Meere, die ich
von Naissus bis zur serbisch-türkischen Grenze persönlich
verfolgte.
Die erste Station an dieser römischen Querstraße von
Naissus nach Lissus, das von der Peutingerschen Tafel ver-
zeichnete „Adv Herkulem“, ist mit den antiken Befestigungen,
welche ich bei Zitorabje an der Toplica auffand, die zweite
„Ilammaum“, mit Prokuplje identisch; die dritte, „Ad
Fines“, von der hier eingehender die Sprache sein soll, ver-
setzte der serbische Oberst Dragasevie auf den Mrdarberg
bei deur nicht vorhandenen Dorfe Prepolac *). Meinen Vor-
studien zufolge fiel aber dieses auf der Tafel mit 20 Millien
von Ilammaum verzeichnete Ad Fines auf Kursumlje.
Der Bclveis dafür war allerdings noch ans dem Terrain zu
erbringen, denn in keiner Schilderung des Städtchens fand
ich eine Andeutung von dort bemerkten antiken Resten. Es
mußte dort aber solche geben, dies verriet schon seine hervor-
ragend strategisch wichtige Lage am Gabclpnnkte zweier großer
Thalgebiete.
Nach vergeblichem Ausfragen brachte mich eine Rekognos-
zierung ans dem Rechtsufer der Toplica bald zur richtigen
Führte. Der jenseitigen Kaserne gegenüber erblickte ich
Ziegelfragmente von römischem Typus, die, nachdem in der
Umgebung keine Mauerspuren vorhanden, sich nur von der
Stadtterrasse herab verirrt haben konnten. Ich erstieg diese
und war angenehm überrascht, oben nicht allein Stücke von
antiken Deckplatten, sondern einen ansehnlichen, sorgfältig ge-
schichteten Haufen 36 X 27 cm großer Ziegel zu erblicken,
deren nach ihrem Fundorte befragter Eigner mich zum Hause
seines Nachbars Vukoje Ristie führte. Neben diesem erschien
der 12 m hohe Terrassenhang in etwa 30 m Ausdehnung
Z Belgrader „Glasnik", XLV, 62. — Es giebt einen
Berg, aber keine Ortschaft dieses Namens.
39
bOG
F. Kanitz: Römisches und Mittelalterliches über Kursunilje.
zum Gewinne des prächtigen Baumaterials freigelegt und
bald hatte ich die ganze nördliche Wallfronte von Ad Fines
sicher gestellt. Sein fest ummauerter Burgus lag 130
Schritte vom heutigen, früher etwas näheren Toplicarande
auf der vom gegenwärtigen Kursumlje eingenommenen Höhe,
im westlichen Banja-Mündungswinkel etwa 250 Schritte
OW. sich dehnend, die wahrscheinlich größere Länge der
antiken Ansiedelung wird sich bei künftigen Fundamentaus-
hebungen bestimmen lassen. Das Kastell oder vielleicht nur
der Wachtturm von Ad Fines stand auf dem durch die To-
plica von der Stadt getrennten, diese beherrschenden Saud-
steinfelsen und zwar mit größter Wahrscheinlichkeit auf dem-
selben Punkte, wo die Kirchenruine Sveti Nikola herab ins
Thal blickt.
Diese prächtige Baute bildet, trotz ihres Verfalles, durch
ihre doppelte Turmanlage, den reich gegliederten oktogonalen,
einst mit Blei gedeckten Kuppeltambonr und ihre vorzügliche
technische Ausführung eines der wirkungsvollsten Werke alt-
serbischer Backstein-Architektur, dessen malerischen Eindruck
der glücklicherweise tiefer stehende moderne, roh gezimmerte
Glockenturm und stark vernachlässigte Zaun nur wenig beein-
trächtigen. Der quadratische Südturm stürzte vor beiläufig
40 Jahren durch einen Blitzschlag ein. Ans seinen Resten
steht heute ein Häuschen, in dem getauft und getraut wird.
Im erhaltenen Nordturine wurde durch eine eingefügte Decke
eine Kapelle geschaffen. Die Narthexmanern fand ich bis
auf geringe Teile zerstört, ebenso den an den Hauptraum
gelehnten südlichen Vorbau. Jur nördlichen sah ich eine
roh profilierte Steinplatte, neben ihr ein unmittelbar nach
der serbischen Besitznahme geöffnetes, zwei in schwarzen
Seidenstoff gehüllte Skelette enthaltendes Grab; im Estrich
des Hauptschiffes einige unvollständig lesbare Votivsteiue
aus dem 4. Jahrhundert. Am dreigeteilten Ostfenster des
Kuppeltambonrs erkannte ich reich verschlungenes- Alfresko-
Ornament. Den einstigen siguralischen Bilderschmuck bedeckt
ein dicker Kalküberzug, was die Überlieferung bestätigt, die
Kirche sei durch längere Zeit als Moschee und ihr Südturm
als Minareh benutzt worden. Die zierlich konstruierte Tri-
buna wurde erst kurz vor Kursumljes Eroberung (1878)
von den Arnauten zur Gewinnung ihres schönen Materials
teilweise zerstört und ohne des Bischofs Einschreiten beim
Niger Gouverneur wäre, wie Augenzeugen mir versicherten,
das ganze, eine Brutstätte zahlloser Schlangen bildende Denk-
mal dem gleichen Schicksale verfallen.
Stefan Nemanja, der Gründer des ersten altserbischen
Dynastengeschlechtes, erbaute die Kirche vor 1160 für seinen
Sohn Sava, welcher als erster nationaler Erzbischof sie zur
Diözesankirche des von ihm gegründeten Toplicaer Bistums
erhob. Schon diese historischen Momente sollten es dem
Belgrader Bauministerium als einen nicht länger aufschieb-
baren Pietätsakt erscheinen lassen, den Bauzustand der alt-
ehrwürdigen Ncmanjakirche auf die Frage eingehend zu
prüfen, ob derselbe nicht ihre Wiederherstellung in alter Pracht
gestatte? und wenn cs möglich, sie der Nation zur Ehre und
Kursumlje zur Zierde thunlichst rasch ins Werk zu setzen.
Rettungslos verloren für alle Zeit ist die zweite, von
demselben Herrscher 1 km östlicher, gleichfalls auf dem
linken Flußnfer erbaute Kirche. Sie gehörte zum Kloster
Sv. BogorodiccG) (heil. Jungfrau), in das, nachdem Stefan
i) Danicic, Rjecnik I, 441.
1195 zu Studenica als Mönch eintrat, seine Gemahlin
Ana unter dem Namen Anastasija Nonne wurde. Von den
Gebäuden dieses Frauenstiftes blieb wenig erhalten; von
seiner Kirche traf ich ihren westlichen Teil verschüttet, vor der
Tribuna das einzige hoch aufragende, dreibogige Mauerstück,
das mit den Grundmauern, so weit sie freiliegen, eine große
Ähnlichkeit der Bauanlage mit der berühmten Marmorkirche
zu Manasija zeigt. Rings um den höheren Mittelbogen sind
auf dem Mörtelanwurfe figurenreiche Freskenreste sichtbar,
unter dem Querbalken au den Pfeiler-Schmalseiten solche
von Heiligen mit Nimben und Umschriften. Die Bautechnik
darf ich als vorzüglich rühmen, ebenso die wechselnden Brnch-
und Backsteinlagen mit oft 25 X 35 cm großen Pracht-
ziegeln. Das Volk nennt die nur wenige Schritte südlich
von der Prokupljer Straße zwischen jungem Eichwald in
schattigem Tiefgrnnde liegende Ruine Sv. Petka. An Frei-
tagen besonders erscheinen viele Gläubige, die hier ihre
Leiden durch Gebete und Opfer heilen wollen. Als solche
sah ich in der halbkreisförmigen Altarnische der Heiligen dar-
gebracht Glasperlen, Messingringe, Medizinfläschchen, Knöpfe,
eine römische Kupfermünze , Blumen, Weizenkörner u. s. w.
Leicht wären die pittoresken Überbleibsel dieses einst präch-
tigen altserbischen Denkmals durch eine feste Umzäunung
gegen ihre drohende gänzliche Verwüstung zu schützen. Wohl
erzählt man, daß die von einem Arnauten ans entführtem
Kirchenmaterial erbaute Mühle zur Strafe durch die Toplica
weggerissen wurde; dies hindert jedoch die christlichen An-
wohner auch heute oft nicht, Ziegel wegzutragen oder nach
Schätzen dort zu graben, wozu nicht wenig die Sage bei-
trägt, vor 50 Jahren wäre in der Tribuna eine mit Silber
und Gold gefüllte Truhe gefunden worden, welche die Zarin
Ana vergraben hatte!
Kursumlje teilte zu allen Zeiten die Schicksale von Nis
und Pristina, in deren Mitte cs liegt. Die Serben nannten
die Stadt anfänglich „Toplica", später, nach der weithin
leuchtenden Nikolakirche, „Beln crkva" (weiße Kirche). Dieser
den türkischen Eroberern wenig passende Name wurde, der
nahen Bleiminen wegen, mit dem heutigen vertauscht. Seit
sich das fanatische Albanesentum auch in dieser Stadt ein-
nistete, während der österreichischen Kriege selbst das Blei-
dach von Sv. Nikola zu Kugeln umgoß und nach diesen das
christliche Element noch härter bedrückte, sank dieses au Zahl
stetig mehr herab. Hahn fand dort 1858 neben 50 mos-
limischen Häusern nur 15 christliche, deren Insassen „sich
kaum zu atmen getrauten". Den durchreisenden Konsul selbst
bat der türkische Mudir (Bezirkshauptmann), das Haus nicht
zu verlassen! Der Arnaute mutete unsern objektiven Lands-
mann hier wilder, selbstbewußter und unternehmender au,
als in irgend einem Teile des eigentlichen Albaniens. So
ist es nicht zu verwundern, daß 1877 Beim Heranznge der
durch das Toplicathal vordringenden serbischen Streitmacht
in Kursumlje nur zwei Christen, ein Bäcker und ein Töpfer,
wohnten. Am 24. Dezember jenes Jahres wurde die Stadt
vorübergehend, am 19. Januar 1878 durch den Oberst
Milojko Lesjanin dauernd genommen; im Berliner Frieden
aber Serbiens Grenze auf die Wasserscheide zwischen der
Toplica und dem Lab westlich vorgeschoben. Seitdem sind
die Albanesen Kursumljes und seines Gebietes zur großen
Freude ihrer christlichen Bevölkerung ans türkischen Boden
übergesiedelt und lassen nur durch periodische Raubeinfülle
von sich hören.
Dr. Johannes Höfcr: Ein Ausflug nach Dublin.
307
Lin Ausflug nach Dublin.
Don Dr. Johannes Höfer.
II.
Der Name Dublin selbst ist keltisch, und es ist gut,
daß kein Fremder seinen Sinn versteht; er möchte sonst leicht
in dem ästhetischen Genusse der schönen Ilmgegend beein-
trächtigt werden. Duibh-luine bedeutet „schwarzer Morast",
und der Zustand des wisset) zur Ebbezeit und die übel-
riechenden Dünste, die er dann aushaucht, rechtfertigen diese
Benennung auch heute noch mehr als erwünscht. Alan
hätte es sich sparen können, den Vauf des Flusses bis weit
in die Bai hinaus durch Baken zu bezeichnen: die kotige
Beschaffenheit seiner Fluten hätte das Fahrwasser für die
einfahrenden Schisse schon ohnehin genügend gekennzeichnet.
Nicht weit von den düsteren, häßlichen Gebäuden der
vizeköniglichen Residenz, dem Gegenstände des Hasses für
alle patriotischen Dublincr, liegen zwei mächtige Banwerke
einander gegenüber, beide im griechischen Stil erbaut. Das
eine ist das alte irische Parlamentsgebäudc, das seit
der Vereinigung der beiden Königreiche in eine Bank ver-
wandelt ist. Jedesmal, wenn Daniel O'Connell an diesem
Tempel der verlorenen Freiheit vorüberging, pflegte er zum
Zeichen der Achtung und Trauer das Haupt zu entblößen;
so erzählt man uns.
Das andre ist Trinity College, die Dublincr Uni-
versität, die „schweigsame Schwester" von Oxford und Cam-
bridge. Wenn cs ihr nicht gelungen ist, dieselbe Berühmt-
heit zu erlangen, wie ihre beiden älteren Schwestern, so ist
daran in erster Witte die mangelnde Unterstützung und Be-
günstigung von seiten der Regierung schuld, deren sich jene
immer im höchsten Maße zu erfreuen hatten. Und dann
war sic von ihrer Gründung durch Elisabeth an bis in die
neueste Zeit ausschließlich in den Händen der wenigen Prote-
stanten; erst 1702 wurden katholische Studenten bedingungs-
weise zugelassen, und 1873 sind dann endlich die letzten
konfessionellen Schranken beseitigt worden. Freilich scheinen
nur wenig Katholiken von diesen neuen liberaleren Be-
stimmungen Gebrauch zn machen; denn nach den statistischen
Angaben betrug die Zahl der katholischen Studenten in den
letzten Jahren kaum sechs Prozent der Gesamtzahl. Eine
ausschließlich katholische Universität ist schon lange die Sehn-
sucht aller Katholiken Irlands gewesen. Aber als vor
einiger Zeit das Ministerium Salisbury den Beschluß faßte,
den Iren dieses Zugeständnis zu machen, da erhob sich in
der ganzen englischen Presse, der liberalen sowohl wie der
konservativen, ein solcher Sturm, daß Salisbury schleunigst
seinen Plan fallen lassen mußte. Allerdings wollten auch
die Irländer selbst von einem solchen Artaxerxesgcschenk
nichts wissen.
Trinity College ist nach dem Muster der beiden großen
englischen Universitäten organisiert, d. h. die Studenten
wohnen in Internaten zusammen und stehen unter einer
strammen, aber vernünftigen Zucht, die ihnen añe nötigen
Freiheiten gewährt. Die innere Ausstattung der Gebäude
ist vortrefflich; Vorlesungssäle, Laboratorien, geologische und
zoologische Sammlungen, Wohnungen der Lehrer und Stu-
denten, Refektorium und Kapelle: alles aufs beste eingerichtet.
Die Bibliothek zählt mehr als 200 000 Bände und viele
nationale Altertümer, worunter besonders schön illustrierte
Manuskripte. Und zwischen den einzelnen Gebäuden tragen
wohlgepflegte Reihen von Bäumen und grünende Rasen-
anlagen zur Belebung und Verschönerung des Ganzen. bei.
Ein großer Park dient als Tummelplatz bei den Spielen
und turnerischen Übungen, und in den Freistunden hallt
alles wieder von dem Lärm jugendlicher Fröhlichkeit. Daß
in dieser gymnastisch-körperlichen Ausbildung manchmal auf
Kosten der geistigen etwas zu weit gegangen wird, ist be-
kannt. Eine glückliche Kombination der deutschen und eng-
lischen Erziehungsweise wäre ein großer Segen für die Zu-
kttnft beider Völker.
Undankbar gegen die Verdienste ihrer großen Landsleute
sind die Iren nicht. Dublin ist voll von Denkmälern,
welche das beweisen. Sir John Gray, der frühere Ober-
bürgermeister, war kaum gestorben, als ihm auch schon ein
Bronzestandbild gesetzt wurde, welches sich, allerdings in be-
scheideneren Dimensionen, gegenüber demjenigen des großen
O'Connell erhebt. Offiziell galt der Dank seiner Mitbürger
dem einsichtigen Leiter der städtischen Verwaltung, welcher
die Stadt mit gutem Qnellwasser versehen hatte; in Wirk-
lichkeit aber richtete er sich an den Eigentümer und Heraus-
geber von Frccman's Journal, dem allmächtigen Organ
der Partei der Nationalisten und Katholiken.
Ans der andern Seite des Flusses sehen wir in weißem
Marmor den Verschwörer William Smith O'Brien,
auf dessen Kopf 1848 ein Preis von 10000 Mark gesetzt
war. Nachdem er sich wochenlang ans dem Lande verborgen
gehalten, wo Hunderte von Bauern, die seinen Versteck wohl
kannten, eher Hungers gestorben wären, als ihn zn verraten,
kehrte er endlich, der Unthätigkeit müde, nach Dublin zurück.
Ein Eisenbahnbeamter erkannte ihn und überlieferte ihn der
Polizei. Er wurde zum Tode verurteilt, sollte gehängt und
gevierteilt werden, aber die Strafe wurde in lebenslängliche
Verbannung umgewandelt. Nach einigen Jahren wurde er
von der Königin begnadigt und beschloß seine Tage in seiner
Vaterstadt. Wenn die Irländer seine Geschichte erzählen,
pflegen sie hinzuzufügen, jener Verräter sei ein Engländer-
gewesen, und weil er von seinem Blntgclde keinen besseren
Gebrauch zu machen wußte, als es zu vertrinken, sei er
kurze Zeit nachher am Dslirium trauraim gestorben.
Vor dem Portal von Trinity College steht der große
Redner Edmund Burke neben Oliver Goldsmith, dem
unsterblichen Verfasser des Vicar of Wakefield; sie sind
nicht gerade schlecht getroffen, aber ihre kurzen Hosen und
karierten Röcke nehmen sich für Bronzestatuen doch recht
seltsam aus. Ihnen gegenüber haben wir Henry Grattan,
den bekannten Patrioten aus dem Ende des letzten Jahr-
hunderts, und nicht weit davon Thomas Moore, Irlands
großen Lyriker, in faltenreichen, phantastischen Zinkhosen
und einem Mantel, dessen Metall einen schokoladefarbigen
Schimmer angenommen hat; mit seinem hoch erhobenen
Finger macht er den Eindruck, als ob er einen der in der
Nähe stationierten Fiaker heranwinken wolle. Aber die Krone
des Grotesken gebührt dem Reiterstandbilde Wilhelms von
Oranien, welcher, ausstaffiert nach Art eines römischen
Imperators, genau so aussieht, wie einer jener Kautschuk-
männer, welchen die Kinder durch Drücken mit der Hand
die abenteuerlichsten Gestalten geben.
Ein Umstand wird jedem Fremden, der die Sehens-
würdigkeiten Dublins besichtigt, sofort ausfallen: daß in diesem
durch und durch katholischen Lande alle einigermaßen alter-
tümlichen, historisch und künstlerisch wertvollen Kirchen der
protestantischen Episkopalkirche gehören, welche doch nur
etwa zwölf Prozent der Bevölkerung repräsentiert. Die Er-
39*
303
Dr. Johannes Höfer: E
klärung dafür ist höchst einfach. Bis gegen Ende des vorigen
Jahrhunderts, wo die freiheitlichen Ideen sich allmählich auch
in der Verwaltung der eroberten Insel geltend machten,
haben die Sieger beständig die Praxis befolgt, den Unter-
drückten alles zu nehmen, was ihnen brauchbar schien, und
es sich selbst anzueignen. Als der reformierte Glaube in
England zur Staatsreligion erhoben war, nahm die Church
of England überall die schönsten Kirchen für sich in Anspruch
und ließ den Katholiken nur die häßlichsten. Nach Aus-
hebung der religiösen Schranken sind nun wohl neue und
schöne katholische Kirchen entstanden, aber keine von diesen
besitzt jenes historische Interesse, welches die Neugierde des
Fremden am meisten erregt.
Dublin hat das seltene Vorrecht, zwei Metropolitan-
in Ausflug nach Dublin.
kirchcn zu besitzen, die jetzt beide in Händen der Kirche von
England sind. Noch vor der Resormationszeit wurde das
seltsame Abkommen getroffen, welches Saint Patrick und
Christ Church den gleichen Rang zuerkannte, wobei die
letztere den Namen einer Staatskathedrale erhielt.
Die Kirche von Saint Patrick (s. Abbildung) ist doppelt
ehrwürdig: einmal wegen ihres hohen Alters und dann wegen
des großen Apostels und Schutzpatrons der Iren, dessen
Namen sie trügt. Patrick selbst hat hier im fünften Jahr-
hundert neben dem Brunnen, in dem er den größten Teil
des Volkes getauft hatte, eine Kirche gegründet. Die jetzige
ist freilich erst in der Zeit von 1110 bis 1370 entstanden.
Ihre "Fassade macht einen imponierenden Eindruck, und der
40 m hohe Turm wäre ein schönes Stück Architektur aus
Zollhaus in Dublin.
dem Ende des 14. Jahrhunderts, wenn er nicht durch eine
Spitze im verdorbenen Geschmack des 18. Jahrhunderts ent-
stellt würde.
Unter den zahlreichen Leichensteincn und historischen Er-
innerungen, welche den Besucher im Innern fesseln, interessiert
uns vor allem die berühmte, von ihm selbst verfaßte Grab-
schrift Jonathan Swifts, welcher Dekan dieser Kirche
war und seit 1745 hier ruht, „ubi saeva indignatio alte-
rius cor lacerare nequit“. Er, der der beißendste Sati-
riker eines satirischen Jahrhunderts war, ist heute außerhalb
seines Vaterlandes nur noch als Verfasser von „Gullivers
Reisen" bekannt, die man den Kindern als phantasieerregende
Lektüre darreicht, ohne an ihre ursprüngliche, eminent sati-
rische Bedeutung zu denken. In Irland selbst aber ehrt
man noch heute in Swift den Mann, der durch seine „Eettres
of M. B. Drapier“ (1723) zum ersten Male in seinen
Landsleuten wieder das Nationalbewußtsein erweckte, das
seit Jahrhunderten in Blut ertränkt war. Obwohl Prote-
stant und von englischer Abkunft, hat er mit seiner giftigen
Feder mehr für die Erschütterung der britischen Herrschaft
in Irland gethan, als das siegreiche Schwert Wilhelms von
Oranien für die Befestigung derselben. „Wandrer, gehe
hin und ahme, wenn du kannst, diesen wachsamen Ver-
teidiger der Freiheit nach“, fügt die Grabschrist bescheiden
hinzu.
Neben dem Denkmal Swifts ist eine andre Marmor-
tafel in die Wand eingelassen znm Andenken an jene Hefter
Johnson, die in Swifts Werken unter dem Namen Stella
erscheint, und die in seinem Leben eine so geheimnisvolle
Rolle spielte. —
309
Die Kirche Saint Patrick in Dublin. Nach einer Photographie.
scheinen gerade die unsaubersten Elemente in der Hanpstadt
zusammenzuströmen. Dieselbe ist in der That ans lauter
Armenvierteln zusammengesetzt, deren Elend bis an die
Pforten der Wohlhabenden reicht.
Tagediebe, wie sie O'Connellstrcet unsicher machen, trifft
man überall auf den Brücken, an den Quais und auf den
Plätzen. An eine Wand gelehnt oder mit dem Ellbogen
auf eine Brüstung gestützt, schauen sie den vorübergehenden
Passanten nach oder starren in die Strömung des Flusses
hinunter, einen schmierigen Filz über den Ohren, die Hände
in den Taschen ihrer zerlumpten Hosen, die unten zerrissen
und an den Knieen zerplatzt, oben glücklicherweise von einer
schmutzigen Jacke verdeckt werden, welche auch mehr ans
Löchern als ans Lumpen besteht. Straßenjungen ohne
Strümpfe und Schuhe laufen scharenweise umher und er-
füllen die Luft mit ihrem Geschrei. Aber elender als alles
andre sind die Frauen- und Mädchengestalten, welche be-
schäftigungslos durch die Straßen schleichen. Mit ihren
zusammengebettelten Kleidern, die sämtlich einst bessere Tage
gesehen, ihren bleichen Gesichtern und ihren vergrämten oder
310
Prof. Dr. Herm. Jgn. Bidermann: Übersicht der Slavenreste in Tirol.
vertierten Zügen sind sie himmelschreiende Bilder des tiefsten
menschlichen Jammers. Mit ein paar alten Zeitungen
oder vertrockneten Blumensträußen laufen sie umher, um
unter dem Borwande des Berkausens der Mildthätigkeit der
Passanten einige „coppers“ zu entlocken; denn das Betteln
ist in Dublin verboten. Aber wenn man, dem Zuge des
Mitleids folgend, ihnen ein paar Pence zuwirft, so kann
man cs erleben, daß sie mit dem kaum erhaltenen Gelde in
der nächsten Kneipe verschwinden.
Will man aber das Elend Dublins in seiner ganzen
Tiefe kennen lernen, so muß man sich in die Gegend der
St. Patrickstraße begeben, welche die beiden Kathedralen
verbindet. Zwei Reihen jammervoller, baufälliger Spelunken,
die eher Viehställen als menschlichen Wohnungen gleichen,
ziehen sich die Straße entlang; Grauen und Verzweiflung
schaut aus den öden Fensterhöhlen, und Haufen von Kot
und Unrat, welche die Unsauberkeit ganzer Generationen
dort angehäuft hat, liegen vor den Thüren und verpesten
die Luft mit ihren gesundheitsschädlichen Ausdünstungen.
Alle drei Thüren eine Kneipe, die sich inmitten dieser Ba-
racken wie ein Palast ansnimmt. Jeden Augenblick ein
Trödlerladen, aus welchen ein großer Teil der Lumpen ent-
nommen ist, welche uns vorhin entsetzten. Die einzigen
lebcnsfrischen Gestalten in diesem Reiche des Jammers sind
verschiedene Kinder Israels, welche selbst in dieser Atmo-
sphäre zu gedeihen und ihre Geschäftchen zu machen wissen.
Glücklicherweise liegt dieses Viertel sehr hoch und ist
deshalb von Natur das gesundeste und luftigste der ganzen
Stadt. Einstmals war cs das Zentrum der Aristokratie
und der Klöster; ans irgend einem unerklärlichen Grunde
ist dieses von hier nach und nach in die niedrigen, feuchten
Bezirke des Black Pool an den Ufern des Liffey verlegt
worden. Die Gärten sind verschwunden, die Paläste in
Schutt gesunken, und die, welche noch stehen, sind in
Mietkasernen verwandelt, die jeden Augenblick einzustürzen
drohen. Was wir in dem Innern derselben sehen, schnürt
uns das Herz zusammen. Eines Tages fanden die In-
spektoren der Sanitätsbehörde in einem großen, kahlen Raume
108 menschliche Wesen bunt durcheinander ans dem Fuß-
boden liegen, der mit ihren Kleidungsstücken und einigen
vermodernden Strohhalmen bedeckt war; im Raume nebenan
waren zwölf weitere untergebracht, unter denen sieben Typhus-
kranke! — Diese Zustünde werden wohl nur noch von den-
jenigen im Ostend von London übertroffen.
Da kann denn eine Einrichtung nicht rühmend genug
gepriesen werden, welche bestimmt ist, unter all diesem Elend
wenigstens einige Besserung anzubahnen. In einer der
Patrickstreet benachbarten Straßen erheben sich verschiedene
umfangreiche Gebäude von gefängnisartigem, düsterem Aus-
sehen, welche unter dem Namen ragged school (Lumpen-
schule) allgemein bekannt sind. Es ist ein Institut der
Gesellschaft für Verbreitung der protestantischen Konfession
in Irland und letzten Endes dazu bestimmt, auf dem Wege
der Wohlthätigkeit Proselyten für die evangelische Kirche
zu gewinnen. Es werden deshalb grundsätzlich Schüler nur
unter der Bedingung aufgenommen, daß sie im prote-
stantischen Glauben erzogen werden. Ob dies Verfahren zu
billigen ist, bleibe dahingestellt! jedenfalls hat diese Anstalt
schon unendlichen Segen gestiftet, und mit Stolz erzählt
uns die Frau des Oberlehrers, daß mehrere Schüler dieser
ragged school cs bis zur Aufnahme in Trinity College
gebracht haben.
Noch eines Etablissements müssen wir flüchtig gedenken,
ehe wir von diesem Viertel des Elends Abschied nehmen:
cs ist die gewaltige Brauerei Guincß, welche einen großen
Teil des Stout oder Porters braut, der in Irland und Eng-
land getrunken wird. Vor einigen Jahren ist sie für die
enorme Summe von 6 Millionen Pfund Sterling, d. h.
120 Millionen Mark, in den Besitz einer Aktiengesellschaft
übergegangen. Danach kann man sich eine Idee von der
Größe dieser Brauerei machen. Auch sie trägt ihr Teil
zur Verminderung des Elends bei: beschäftigt sie doch allein
über 3000 Arbeiter in ihren Hallen.
Von den Geschäfts- und Verkehrsstraßcn ist nicht viel
zu sagen. Sie unterscheiden sich in keiner Weise von denen
der andern englischen Großstädte. Im Süden der Stadt,
auf dem rechten Ufer des Flusses, breitet sich das feine
Stadtviertel aus. Saint-Stephens Green ist ein wahrer
Park mit prachtvollen Gartcnanlagen und umgeben von
großartigen Gebäuden. Aber eine merkwürdige Eintönigkeit
unb Ruhe lagert über diesem ganzen Viertel.
Dublin ist in der That eine tote oder wenigstens eine
eingeschlummcrte Stadt. In der zweiten Hälfte des letzten
Jahrhunderts war sie ans dem Gipfelpunkte ihres Glanzes.
Damals herrschte ein reges geistiges Leben in ihren Mauern;
das nationale Parlament hielt damals noch den irischen Adel
an Dublin gefesselt; die Theater standen in voller Blüte.
Seit der Vereinigung mit England hat sich das alles ge-
ändert. Die Gesellschaft von Dublin besteht heute durchweg
ans Vertretern des besseren Bürgerstandes, die meist wohl-
habend, fein gebildet und sehr gastfrei sind, aber leider durch
die vielen politischen und religiösen Parteiungen so zerrissen
werden, daß ein - wirkliches gesellschaftliches Verkehrsleben
unmöglich ist. Die wenigen altirischen Adelsfamilicn ziehen
sich vollkommen von der Welt zurück und warten in stiller
Trauer auf des Epimcnidcs Erwachen. Wann wird endlich
die Stunde der Erlösung und der Ruhe schlagen für dieses
unglückliche Volk?
Übersicht der Slavenreste in Tirol.
Von PKof. Dr. Herm. Jgn. Bidermann.
II. '
III. Haus- und Familiennamen. Noch jetzt stößt
man im Jselgcbiete häufig ans derartige Namen, deren
befremdender Klang die slavische Abkunft verrät. Aber die
Träger derselben sind nur in den seltensten Fällen Angehörige
altcinheimischer Familien, in deren Adern vielleicht, wenn
schon sehr verdünnt, slavisches Blnt stießt. In der Regel
haben sic oder ihre Voreltern diesen Namen durch Erwerbung
von Bauernhöfen, welchen dieselben ankleben, überkommen.
Solche Namen sind (nach IX): Gladnig, Globocnik, Gomig,
Gosnig, Jliwitschger, Jesacher, Kopernik, Libiseller, Nibitzcr,
Oblasser, Perloger, Pedritsch, Pepeler, Plasisker, Ploniger,
Plünig, Pöllanter, Possenig, Pospodor (Gospodar), Prößnig,
Pschinig, Rasnitzcr, Toznik, Trutschnig, Tscharitsch, Tschcluig,
Tschitschcr, Wratschgcr, Zäbernig.
Vor Zeiten waren derlei Vorkommnisse im Jselgcbiete
noch weit allgemeiner. Ein Görzcr Urbar vom Jahre 1329
(a. a. O. benutzt) erwähnt einen Clavig (Clavik), einen
Chudocruch, einen Lastigoj und einen Stoymir zu Lienz;
einen Cobnich, einen Korisnich, einen Platsnik, einen Povcck
und einen Schngoy zu Birgen. Manche auf jenes Gebiet
311
Prof. Dr. Herm. Jgn. Bidermann:
zurückzubeziehende Personennamen slavischer Herkunft kommen
jetzt außerhalb desselben her. So z. B. Grebitschitscher,
Lasser, Ganner. Der österreichische Minister Joseph Freiherr
von Lasser entstammte der Windisch-Matreier Familie dieses
Namens. Zum Verschwinden derartiger Namen im ursprüng-
lichen Bereiche ihrer Verbreitung trug die gewaltsame Gegen-
reformation bei, welche daselbst in der zweiten Hälfte des
17. Jahrhunderts ins Werk gesetzt wurde. Denn dadurch
wurden viele altansässige Bauernfamilien zum Verlassen ihrer
Heimat gezwungen. Dieselben zerstreuten sich nach verschie-
denen Richtungen hin, zogen indessen meist nach Schwaben
und in die Schweiz. Die Auswanderung dauerte von
1684 bis 1691. Vornehmlich waren es protestantisch
gesinnte Bewohner des Thales Defereggen, darunter mehrere
Mitglieder der Familie Degischer, welche das Exil dem
Glanbenswechsel vorzogen. Als im Oktober 1685 ein
Agent der katholischen Priesterschaft des Erzstiftes Salzburg,
unter dessen Landeshoheit das eben genannte Thal damals stand,
nach Ulm kam, um die dort weilenden Deferegger zur Rück-
kehr zu bewegen, traf er dort ihrer achtzig an. Das giebt
einen Maßstab für die Menge der Exulanten. Es liegt
darin auch ein Fingerzeig, wo in Deutschland möglicherweise
noch heute slavische Familiennamen, welche der tirolischen
Jselregion entstammen, anzutreffen sind.
IV. Gebräuche und rechtsgeschichtliche Über-
lieferungen. Zweifellos slavisch ist der Benennung nach
das „Turtschen", ein Spiel, wobei Eier aneinander gestoßen
werden; wahrscheinlich slavisch ist, wenn schon der Name aus
dem Deutschen abzuleiten ist (VII, S. 5), das „Gröggeln",
nämlich der Brauch, daß am Abend vor Allerheiligen Bursche,
welche „Gröggelr" heißen und verstellt reden, mit einer Art
hölzerner Zange von Haus zu Haus gehen, um Krapfen, die
die Hausleute sodann in die Zange stecken, zu erhaschen
(III, S. 85 u. 267). Gewissermaßen als eine rechtsgeschicht-
liche Überlieferung sind die Familiennamen Wratschger und
Wnrnig anzusehen. Ersterer weist auf adelige Abstammnng,
letzterer auf Hofdienste hin, welche der Stammvater zu leisten
hatte. Auch der Hausname Tschelnig (von celinik, der
Vorgesetzte) und das im Jsel-Gebiete, auf welches allein das
hier gesagte Bezug hat, zur Bezeichnung von Gemeindcfrak-
tionen dienende Wort „Rott" (IX, S. 29) erinnern an eine
uralte Rechtsordnung, die der slavischen Vergangenheit dieser
Gegend angehört. Wichtiger noch und bezeichnender sind die
Nachwirkungen slavischer Kommun - Wirtschaft, welche im
Windisch-Matreier Gerichtsbezirkc stellenweise noch jetzt wahr-
nehmbar sind (IV, S. 14; XII, S. 85), im 16. Jahrhundert
aber sehr verbreitet waren und des obrigkeitlichen Schutzes
sich erfreuten. Da die im Gerichtsbuche vom Jahre 1557
bis 1559 eingetragenen Verhandlungen und Erkenntnisse
darüber viel Licht verbreiten, will ich hier einiges daraus
mitteilen, was ich beim Besuche des Windisch-Matreier Ge-
richts-Archivs mir notierte.
Als im November 1558 der Salzburger Dompropst
Eberhard in eigener Person zu Windisch-Matrei zu Gericht
saß, entschied er einen Streit zwischen Jörg Schneider und
dessen Vettern „von wegen der Wirdt- und Hausmannschaft"
dahin, daß Jörg „die Wirdtschaft annemben und inen (ihnen)
Allen treulichen Haussen solle"; sein Vetter Asm solle ihm
„als wirdt gesellig, gehorsam und nicht widerwärtig sein".
Würde sich nach Ablauf eines Jahres herausstellen, daß die
Wirtschaft schlecht gehe, so solle mit den Beteiligten von
neuem verhandelt werden. Tags darauf (am 8. November)
erschienen vor Gericht Hanns Pätrer auf Racell (ansässig)
und dessen Vetter Blasius, welchen ersterer beschuldigte, er
habe „nit fürwcrtz" (nicht vorwärts) gehaust, sondern viel-
mehr Schulden gemacht. Darauf hin übertrug der Dom-
propst die Wirtschaft dem Kläger für die Dauer eines Jahres
Übersicht der Slavenreste in Tirol.
und zwar dergestalt, „daß er inen Allen zum trewlichsten
und ungeverlich Haussen, auch den Blassy, sein Weib und
Kind umb gesundt (d. h. in Krankheitsfällen) und in Allem
wie sich gepürdt vnudterhalten sol und Blassy sol sein Arbait,
was er mit Zimern oder sonnst erobert inn das Haushaben
geben und sol mit des Hannsen als Wirdts wissen und willen
zu zimern oder sonst zu arbeiten ausgeen". Am 9. Novem-
ber bat die Witwe des Alban „auf dem Stain", sie davor
zu schützen, daß ihr Stiefsohn Rnlf sie samt ihren Kindern
zwinge, aus dem gemeinsamen Familienverbande zu scheiden.
Rnlf erklärte, ihr dies darum angedroht zu haben, weil er
sie und ihre Kinder „zu Arbeit angeredet" und weil darob
Krieg und Hader entstand. Er erbot sich übrigens, die
Witwe und deren Kinder bei sich zu behalten und aller Ge-
bühr nach zu halten, dafern sie ihrerseits sich geziemend be-
nehmen. Am 17. November brachte Christan, Sohn des
Hanns zu Jesach in Defereggen wider seinen Oheim Stefan
vor: er wolle an Stelle seines Vaters zur „Heimat", die
dieser mit dem Stefan zusammen gekauft habe und welche
letzterer nun allein besitze, „zugelassen werden". Doch der
Schulden, welche dieser gemacht habe, während er (Christan)
„nit anhaimbs gewest, auch das Heimat nit gerimbt noch
genossen hab", wolle er „unentgolten" sein. Der Dompropst
erkannte: weil Christan „nit bedacht (ist), sich von dem Heimat
abfertigen zu lassen, auch Stefan begehrt, daß Inn gedachter
Christan soll Haussen und arbaitten helffen, so sollen sie sich
in Ansehung der großen Schulden, so verhanden, damit
dieselbe best leichter aus ungeteiltem Gut bezahlt werden
mugen, zusammenziehen und Christan soll dein Stefan als
wirdt gefällig sein, auch treulichen Hausen und arbaitten
helffen". Dem Stefan wird eingeschärft, seine Kinder von
aller Unbill wider Christan abzuhalten. Zeigt sich nach zwei
Jahren, daß sie im Vereine zu leben sich nicht eignen, so
mögen sie vor Gericht „vmb Thailung" anhalten; aber diese
wird nur deshalb zugestanden werden können, weil „dasselb
Guet vorhin auch gethailt gewest". Die Kosten der Gerichts-
verhandlung hat Stefan allein „als wirdt ans dem Hans-
haben und ungethailten Guet" zu bestreiten. Am 1. März
1559 trug Jörg Stainer ans Racell dem Urbargerichte den
Wunsch vor, cs möge Einer seiner Brüder „zu der Wirt-
schaft gesetzt werden". Er begründete sein Anliegen damit,
daß er schon in die 20 Jahre Wirt gewesen; nun aber
wollen sich die Hausfrauen seiner beiden Brüder „in dem so
sich Haushabens Notturft gepürt" nicht mehr fügsam er-
zeigen, und sie werden darin durch die Ehemänner bestärkt.
Die Brüder des Klägers widersprechen dem und gelobten,
dafür sorgen zu wollen, daß ihre Frauen mit dem Eheweibe
des Jörg fürderhin gut auskommen. Sie willigten auch
ein, daß nachdem dermalen die Hausfrau des Lucas
„Mairin" sei, von jetzt an die „Mairschaft" (d. h. die Leitung
der weiblichen Verrichtungen in der Haus-Kommunion) der
Hausfrau des Jörg „gelassen werde". Hierauf ging jedoch
Jörg nicht ein, sondern er bestand darauf, daß die Frau des
Lucas in dieser Stellung verbleibe, weil sie „die meisten
Kinder habe"; hinwider möge die Hausfrau des Christan,
die nur ein Kind habe, seiner (des Jörgen) Frau, welche
kinderlos sei, „arbaitten helffen". Das Gericht beschied die
streitenden Parteien wie folgt: Jörg bleibt Wirt; die Haus-
frauen seiner Brüder haben in Ansehung der Haushaltung
ihm zu gehorchen; vertragen sich die Weiber untereinander
nicht und wehren ihre Männer nicht dem Streite, so sollen
sie allesamt mit Gefängnis oder sonst „nach Gelegenheit"
bestraft werden. Aber auch Jörg möge sich gegen die übrigen
„wirdtlich und gepürlich halten und nit zu Hardt sein". —
Also zwangsweise sogar wurden damals die Hans-Kommunio-
nen zusammengehalten. Das Gegenteil hiervon mußte frei-
lich Platz greifen, als der Gerichtsbezirk Windisch-Matrei im
312
Prof. Dr. Herrn. Jgn. Bidermann: Übersicht der Slavenreste in Tirol.
Jahre 1810 ein Bestandteil des französischen Königreichs
Jllyrien wurde und demzufolge der die Zerstückelung der
Bauerngüter begünstigende (locke Napoleon dort zur Geltung
gelangte. In einem amtlichen Berichte, welchen der Admini-
strator des salzburgischen Pfleggerichts Lengberg unterm
21. Januar 1807 erstattete, heißt cs rücksichtlich des Bezirks
Windisch-Matrei u. a.: „Mithäuserey sKommunhausung)
kommt in diesem Bezirke allein vor. Sämtliche Geschwister
leben im väterlichen Hanse, heiraten und helfen einem so-
genannten Vorhanser das Gut bearbeiten. Es ist daher ein
gemeinschaftlicher Besitz, zu welchem durch Todfall des vorigen
Besitzers oder durch Übergabe gelangt wird. Bei Lehen und
bei der Freystift ist die Mithäuserey gewöhnlich. Der Vor-
hauser wird guter Eigenschaften willen gewählt und er leitet
die Wirtschaft. Die übrigen Helsen ihm tvie Knechte und
Mägde, haben ihre volle Verpflegung, aber keinen Lohn und
keinen Anteil an der jährlichen Ersparnis, worüber (wenn sie
zu verteilen wäre) ein eigener Vertrag bestehen müßte. Beim
Todfall kann nur das Inventar, das dem gemeinschaftlichen
Besitze zu Grunde liegt, bei den Mithäusern zur Sprache
kommen. Jedoch ist der Mithauser berechtigt, den Fortgang
des Hauswesens zu beurteilen und, wenn er es für zuträg-
licher hält, aus der Gemeinschaft zu treten und seinen An-
teil von den übrigen herauszufordern oder eine bestimmte
Herausgabe anzusprechen, dafern die Abteilung von der
Obrigkeit nicht gestattet wird. Dieses findet gleichfalls statt,
wenn ein Mitgehäuse einer andern Mithausung einverleibt
wird oder einheiratet (vulgo: angewunschen wird)." — Man
ersieht hieraus, wie sehr schon zu Anfang des 19. Jahr-
hunderts die Strenge, mit welcher in früherer Zeit die
Kommun-Wirtschaft im Wiudisch-Matreier Bezirke war ge-
handhabt worden, einer milden Praxis gewichen war. Damit
aber die Übereinstimmung der in Rede stehenden Bewirt-
schaftungsart mit dem, was die Südslaveu unter Haus-
Kommunion verstehen, ersichtlich werde, setze ich ein paar
die letztere kennzeichnende Sätze aus dem von ihr handeln-
den Werke des kroat. Obergespans Utiesenovic (die Hans-
kommunionen der Südslaven, Wien 1859) hier her: „In
einem solchen mit dem Taufnamen des Hausvaters und mit
einem einzigen Familiennamen benannten Hause findet man
gewöhnlich 1. einen rüstigen Hausvater (gospodar, staresina)
von 40 bis 50 Jahren mit seinem Eheweibe und 2 bis 3
Kindern; der erstere ist mit dem Amte des Verwalters dieses
ganzen Hauses betraut, wogegen ihn sein Weib in bezug
auf das innere Hauswesen unterstützt; 2. seine alten 60- bis
70 jährigen Eltern (der Vater war früher Hausvater, hat
aber diese Bürde Alters wegen zurückgelegt); 3. seines Vaters
Bruder mit seinem Eheweibe mit oder ohne solche Kinder;
4. einen jüngeren Bruder des Hausvaters mit seinem Ehe-
weibe. . . " (S. 19). „Diese Hausgenossen wirtschaften
mit vereinten Kräften auf diesem gemeinschaftlichen Besitze.
Der Hausvater hat die Oberleitung und die Exekution, während
alle erwachsenen männlichen Hausgenossen, in wichtigeren
Fällen beratend und beschließend, sonst aber im allgemeinen
die Anordnungen des Hausvaters exequierend, mitzuwirten
berufen ftub. Die Hausvaterstelle wird nicht immer vom
ältesten Manne versehen. Wenn selbst in einem solchen Hanse
nur ein Vater mit seinen Söhnen ist, so legt der erstere die
Hansvaterstelle freiwillig nieder, sobald er fühlt, daß seine
Kräfte abnehmen. . . Er übergiebt dieses Amt auch nicht
immer dem ältesten, sondern dem gescheidtesten wackersten Sohne
und wenn sein eigener Bruder oder ein andrer Verwandter
tut Hause ist, selbst diesem, wenn er älter als die Söhne ist.
Auch tritt öfters die Wahl ein." (S. 21.) „Das Erträgnis
der Wirtschaft übernimmt der Hausvater und die Hausmutter
in Verwahrung und es wird davon der jeweilige Bedarf für
dass" ganze Haus und die öffentlichen Abgaben bestritten."
(S. 22). — Oben wurde erwähnt, daß der Ausdruck „gos-
podar“ (Hauswirt) sich in der entstellten Form “Pospodor“
erhalten hat. Er ist ein zu Stribach, einer Gemeinde am
Fuße des Jselberges (eine Wegstunde östlich von Lienz), vor-
kommender Familienname (IX, S. 21).
V. Merkmale am Typus der Bevölkerung. Nach-
dem ich selber längst (I) auf Schriftsteller hingewiesen hatte,
welche auf Grund näherer Vertrautheit mit der Bevölkerung
des Jselthales dieser slavische Gesichtszüge und Temperaments-
Eigenheiten zugeschrieben haben, kam Mitterrutzner (IV)
auf derlei Slavenrcste zurück, indem er den Seelsorger des
Kaiser Thaler, Anton Auer, als Gewährsmann zitiert, welcher
bereits in Amthors „Alpenfreund" (V.Bd., I.Heft, 1872) solche
"hervorgehoben hat. Insbesondere werden da die „slavischen
Gesichter" (vorstehende Backenknochen, blinzelnde, etwas, doch
kaum merklich, schief geschnittene Augen, teilweise blasser, blei-
farbiger Teint und ein undefinierbarer, glänzender Blick, sowie
die, allerdings nicht durchschnittlich, glatten Haare) betont,
ferner gewisse Eigenschaften des Gemütes (in sich gekehrtes,
zu mystischer Richtung geneigtes Seelenleben, rascher Wechsel
entgegengesetzter Affekte, melancholische Gruudstimmnng, die
sich im Mollton der von ihnen gesungenen Melodicen offen-
bart). Von den Bewohnern der Jsel-Region sagt bereits
Beda Weber, ein Lienzer von Geburt, in seinem Werke
„Das Land Tirol" (III, 158): „So sehr sie durch Art,
Tracht und Sitte voneinander geschieden sind, haben doch
alle die gemeinsamen Merkmale der wendischen Abkunft und
als solche sind sie den Kärntnern weit ähnlicher als den
Tirolern."
Am Schluffe dessen, was von den Bewohnern dieser Ge-
birgsgegend hier berichtet wird, ist auch noch der Wahr-
nehmung zu gedenken, daß denselben slavisches Rindvieh,
allerdings mit bojoarischem fast zu gleichen Teilen gemischt,
zur Seite steht. Regierungsrat Ferd. Kaltenegger in Brixen,
ein Forscher ersten Ranges auf dem Gebiete der Ticrrasscn-
kunde, hat dieses Vorkommnis durch eine dem Direktor
Mitterrutzner gemachte und von diesem (IV, S. XIV) ver-
öffentlichte Mitteilung verbürgt.
Mit der Frage, wie lange die Slaven in Tirol ihr
Dasein fristeten? haben sich Patigler (XIII, S. 15)
und Unterforcher (X, S. 12 ff.) beschäftigt. Beide
stimmen darin überein, daß vom Jahre 1329 bis zur Be-
stattung des letzten Slaven im Jsel- und Möllthale nur
eine ganz kurze Spanne Zeit liegen kaun. Dagegen sind sie
verschiedener Ansicht tu bezug auf die Fortschritte, welche
die Germanisierung unter den tirolischen Slaven wachte.
Ersterer nimmt an, daß schon gegen das Ende des 10. Jahr-
hunderts „die wendische Sprache" in der Jsel-Region nicht
mehr vorherrschte, sondern mit der Christianisierung bereits
die Germanisiernng dort um sich griff. Letzterer folgert
aus dem Lautbestande der slavischen Nanten, die in einem
Görzcr Urbar von 1329 vorkommen, daß bis dahin in den
abgelegenen Thälern nicht nur, sondern auch in der Lienzer
Ebene sich Slaven erhielten. Er hätte sich zur Begründung
dieser Annahme auch auf die von ihm selbst (IX, S. 25)
beigebrachte Stelle jenes Urbars berufen können, wo eines
„Mansus, in qno residet suppan“, als tut Thale Birgen
gelegen, Erwähnung geschieht. Es stand also im Jahre 1329
noch ein Zupan an der Spitze der Virgeuer Thal-Gemeinde,
was wohl kaum möglich gewesen wäre, wenn das Slaventnm
damals dort schon aufgehört hätte, sich zu regen. Ich bin
geneigt, was die entlegenen Thäler betrifft, das Aussterben
der Slaven in denselben in eine noch spätere Zeit zu ver-
legen. Aber cs ist nur eine Vermutung, welche ich hier
äußere, und ich verkenne nicht, daß sie auf schwacher Grund-
lage ruht. Die zu Anfang des 16. Jahrhunderts nieder-
geschriebene Kirchmayrsche Chronik des Pustcrthales, die sich
313
Karsikot, die entästeten
nur in transskribierter Gestalt erhalten hat, meldet nämlich,
daß zu Anfang des 15. Jahrhunderts Hussiten ihre Irr-
lehren in der Lienzer Gegend zu verbreiten suchten, worauf
sie kaum verfallen wären, wenn sie dort nicht Slaven anzu-
treffen erwartet hätten. Und damit hängt vielleicht ein Er-
lebnis meines verstorbenen Freundes Hermann Ritter von
Delama zusammen, welcher, wie er mir zu Anfang der
60 er Jahre erzählte, etwa sechs Jahr zuvor als Adjunkt
des Bezirksamts Täufers bei einer Dienstesverrichtung in
einem der Thäler, durch die man über hohe Gebirge nach
Deffereggcn gelangt, durch Lawinengefahr festgehalten in dem j
Bauernhöfe, wo er verweilte, eine ihm unverständliche Hand-
schrift vom Besitzer des Hofes mit der Bemerkung vorgewiesen
erhielt: sie erbe sich in seiner Familie als eine Erinnerung
an die Hussitcnzeit fort. Den Bauernhof mir zu bezeichnen,
weigerte sich der Genannte, weil er dem Bauer hatte geloben
müssen, das bis dahin sorgfältig gehütete Geheimnis nicht
zu verraten. Daß cs in jenen Thälern noch um die Mitte
des vorigen Jahrhunderts Krypto-Protcstantcn gab, ist durch
Erhebungen der kirchlichen Behörden sicher gestellt. Und
welche Abneigung gegen den Katholizismus unter den Dcfe-
reggern einst herrschte, wurde bereits erwähnt. — So viel
über die Slaven im Pnsterthale oder vielmehr in dessen
nördlichen Verzweigungen.
Was die sonst noch in Tirol vorhandenen Slavenreste i
Karsikot, die entästeten
Die Karsikot (Sing.-Karsikko) sind bei den Finnen eigen-
tümliche Bäume, welche noch in Savolaks und Karelicn, wie
auch hier und da im nördlichsten Ostrobotnien vorkommen.
Gewöhnlich macht man ein Karsikko aus Fichten und
Tannen durch Ausästung so, daß nur der Gipfel oder auch
der untere Teil ihre Äste behalten. In der Mitte des
Baumes läßt man als Arme zwei Äste stehen, wenn die
Person, für welche das Karsikko bestimmt wurde, verheiratet
ist und nur einen Ast, wenn sie unverheiratet ist.
Man macht die Karsikot nicht nur für Lebendige, sondern
auch für Gestorbene. Kommt jemand zum erstenmal aus
Besuch in einen fremden Hof, so wird ihm zu Ehren ein
Karsikko gemacht, auf dem ein Ast nach der Richtung hin
zeigt, wo jener zu Hanse ist. Der Reisende ist da „Härkä-
mies", d. h. Ochsenmann, und es ist Sitte, ihm zu Ehren
eine Bewirtung, Härkükannnt, d. h. Ochsenkannen, herzu-
stellen. Auch Reisegefährten machen für einander Karsikot,
wenn sie zum Beispiel auf einer Reise in fremden Orten
ankommen.
Auch für Verstorbene macht man ein Karsikko, wenn die
Leiche in die Kirche gebracht wird. War der Entschlafene
verheiratet, so läßt man zwei Äste als Arme gegen den
Wald hin, war er unverheiratet, nur einen Ast gegen den Weg
hin stehen. Hier und da erkennt man das Karsikko eines
Gestorbenen daran, daß der Ast gegen die Kirche gerichtet
ist. In späteren Zeiten aber begnügte man sich einfach mit
dem Glätten der Seite der Tanne, worauf die Jahreszahl
des Todes cingeschnitteu wurde oder man nagelte auf der
i) Der Globus beginnt hiermit eine Reihe von Mitteilun-
gen volkskundlicher Art aus Finnland, die ihm von einem der
berühmtesten finnischen Gelehrten zugingen, dessen Name aber
leider aus Rücksichten verschwiegen werden muß, für die wir
in Deutschland kein Verständnis besitzen. Die obige Mitteilung
stammt aus dem Album der Studenten Finnlands in finnischer
Sprache, welches Elias Lönnrot bei seinem 81. Geburtstage
(9. April 1882) verehrt wurde. A.
Globus LIX. Nr. 20.
Bäume in Finnland.
anbelangt, so halte ich heute noch beinahe alles aufrecht, was
ich diesbezüglich in meiner ersten Abhandlung über diesen
Gegenstand (I) hinsichtlich des Wohngebietes der La-
diner gesagt habe.
Ich bin heute mehr als je davon überzeugt, daß die
Voreltern der meisten tirolischen Ladiner, wozu ich auch die
Bewohner des Tessin- und Fassa-Thalcs und die Pri-
mörioten rechne, aus Friaul zugewandert sind und daß
mit ihnen, wenn schon nur in geringer Menge, Slaven aus
diesem Lande in jenes Wohngebiet kamen. Auf solche Zu-
zügler führe ich zurück die an die Slavinen des Görzer Ge-
biets erinnernde Tracht der Weiber des Val Tessin und
deren Überbürdung mit Feldarbeit, die anderswo Männer
verrichten; ferner Ortsnamen wie: (Castell) Jwano, Strigeo;
Ausdrücke wie: Colmcllo, Canale; endlich die auffallenden
Hochzeitsgebräuche zu Prcdazzo und im hinteren Fassa-Thale.
Die Klageweiber bei Leichenbegängnissen im Valsugan und
den kolo-ähnlichen Gobbi-Tanz zu Trient mache ich hier nicht
mehr als einschlägige Gebräuche geltend, zumal auch Wesse-
lofsky (V) Zweifel über deren Beweiskraft geäußert hat.
Möge endlich ein slavischer Ethnograph es der Mühe
wert finden, das Wohngebiet der Ladiner in Tirol zu be-
reisen und daselbst mit der nötigen Unbefangenheit nach
Slavenresten forschen. Er wird sich für seine Bemühung
reichlich belohnt sehen.
Bäume in Sinnland').
Fichte ein kleines schwarzes Brettchen mit den Initialen und
dem Todesjahr des Gestorbenen fest. In dem Kirchspiel
Jisalmi (Savolaks) werden sogar Jahreszahlen, die man zur
Erinnerung an Gestorbene in die Wände eingeschnitten hat,
Karsikot genannt.
Scheinbar erinnert die eben beschriebene Form der Kar-
sikot mit ihren „Armen" an die menschliche Figur und
M. A. Castrstt erwähnt in seinen Bemerkungen von So-
dankylä (Kirchspiel in dem nördlichsten Ostrobotnien) die
Sitte, daß ein Reisender, der zum erstenmal in eine Gegend
kommt, sich entweder ein Karsikko oder ein Bild aushauen
läßt, das der menschlichen Figur ähnelt. Das Bild wird
Hnrrikkaincn genannt und ist nach der Vermutung Ca-
strsns von derselben Art wie die ehemaligen hölzernen
Seidabilder der Lappen. Solche Bilder hat Hjalmar Appel-
gren an den Ufern des Kennstusses abgezeichnet, wo man
sie häufig unter dem Namen Patsaat, d. h. Säulen oder
Denkmäler, findet. Es sind dieses Denkzeichen der Fischer
und Jäger, errichtet da, wo sie sich wegen des Fischfanges
aufgehalten haben, oder um Renntiere zu fangen oder Perlen
zu fischen.
„Ursprünglich", erzählt Appelgren, „sind es lappische Götzen-
bilder oder Seidas gewesen, an deren Nachahmung das jetzige
Volk noch sein Vergnügen findet. Man weis nämlich, daß
die Lappen vormals die Sitte hatten, an der Stelle, wo sie
fischen wollten, „zur Ehre des Wassers" ein Denkmal zu
geloben, für den Fall, daß sie gute Beute machten. Dasselbe
geschah bei gutem Fang an den Gruben, wo die Renntiere
gefangen wurden. Man findet nicht nur hölzerne, sondern
auch steinerne Säulen. Tie ersteren wurden aus einem
wachsenden Baume, den man eine oder zwei Ellen über der
Erde abhieb, gemacht und dessen oberes Ende trichterähnlich
geformt wurde, so daß er gewissermaßen einer menschlichen
Figur ähnelte. Oben wurde die Säule eben gemacht und
eine steinerne Scheibe darauf gelegt, um die Vermoderung zu
j verhindern."
40
314
Adrian Iacobscn: Amerikanische und sibirische Nephritgeräte.
Die steinernen Denkmäler sind klein, aus Steinscheiben,
die aufeinander gelegt sind, gemacht und also ähnlich den
Jatulin patsaat (Säulen der Jatunen, ein traditionelles
Volk) in Kenn, die in Snomen Kuvalehti (Illustrierte
Zeitung Finnlands) abgebildet sind.
Die Karsikot, Hurrikkaiset und Patsaat scheinen doch, nach
dem Vorgesagten zu schließen, säst denselben Zweck zu haben,
da sie alle Denkzcichen an einen Besuch fremder Orte sind.
Wenn dieses aber so ist, so bezeugt die Häufigkeit der Karsikot
in Savolaks und Karelien, daß die Errichtung solcher Dcnk-
zeichen nicht als eine Nachahmung einer lappischen Sitte
gelten kann, sondern wahrscheinlich in irgend einer Form auch
bei den Finnen eine uralte Sitte ist, vielleicht entsprechend dem
Versetzen der Penaten in dem klassischen Altertum. Darauf
deutet auch eine uns erhaltene geschichtliche Erinnerung. Als
die Russen im Jahre 1559 bei der schwedischen Regierung
über die Kolonisation der Umgegenden des Oulujärvi-Secs
(im nördlichen Finnland) sich beklagten, die sie als russisches
Gebiet betrachteten, erzählten sie u. a., daß die Kolonisten
bei ihrer Ankunft in dem Dorfe Kuritkin ausgeschnittene Bild-
säulen — tlloros utskärne keleter — auf den Plätzen
errichteten, wo sie ihre Höfe gründen wollten.
Es ist natürlich, daß die künstlichen Götzenbilder der
Finnen, insofern sie überhaupt existierten, schon frühzeitig zer-
stört wurden durch die Verbreitung des Christentums; dagegen
war cs nicht so leicht, diese gelegentlich vorkommende Sitte
zu vernichten, von welcher oben geredet ist. Doch haben sich
einige Überlieferungen auch von häuslichen Götzenbildern er-
halten. In der Zeitung Viipurin Sanan Saattajat (Bot-
schafter Wiburgs), 1834, steht ein Aufsatz über die Bekehrung
der Karelier, wo einige seltsame Nachrichten über das Heiden-
tum dieses Volkes ohne Quellenangaben erzählt werden,
u. a., daß sie zu Hause aus Holz geschnittene Götzenbilder
hatten, in den Wäldern aber geräumige Opferstätten mit
einem großen Stein in der Mitte, zu welchen sie kriechend
ihre Opfer brachten, und dann mit dem Blut der Opfer die
Bilder ihrer Abgötter beschmierten. In Töysä (Kirchspiel
im südlichen Ostrobotnien) spricht mau noch von dem Ab-
gott Tohnis. Dieser stand bei dem Hof Tohni auf einem
steinernen Hügel, Kreuzhügcl genannt, wurde aber vor
mehr als hundert Jahren von dem Voigt des Distriktes Lapua
zerstört. Als der Hügel später weggeräumt wurde, fand
man noch den hinteren Teil des Bildes und darin eine
silberne Münze, wie auch auf dem Boden des Hügels kleine
Kreuze und Fingerringe.
Es ist schwer zu bestimmen, welche von den beschriebenen
Volkssitten älter ist, die Errichtung von Karsikot oder die von
Bildsäulen. Die erste ist einfacher und die Karsikot, welche
die Aufmerksamkeit der Priester weniger erweckten, konnten
sich deswegen in der Sitte des Volkes bis auf unsre Zeit
erhalten, ebenso auch die Opserbäume, die man noch an
vielen Orten im mittleren und östlichen Finnland trifft. In
Wiitasaari (Kirchspiel im mittleren Finnland) soll sich sogar
ein Opferbaum befinden mit ausgeschnittenen Götzenbildern
an der Seite, — vielleicht solche der menschlichen Figur ähn-
liche Bilder, die man nach M. A. Castro« in sehr alten
Bäumen in den nördlichen Teilen Finnlands gefunden hat.
Einen andern Zweck mag das Karsikko haben, das man
für den Gestorbenen macht, wenn man die Leiche in die
Kirche Bringt. 0 In der Zeitung Sanoroia Tarusta (Nach-
richten von Abo), 1861, erzählt ein Reisender, daß er auf
dem Wege von Wiburg nach Friedrichshamu eine große
Birke mit zahlreichen Kreuzen, mit Namen und mit Todes-
jahren beschriebenen Brettchen gesehen habe. Sie wurde
Krcuzbirke genannt und man gab an, sie verhindere den Ge-
storbenen, das Haus wieder zu besuchen. Man erklärt näm-
lich, der Tote bleibe stehen, um seinen Namen auf dem
Brette zu betrachten, dabei sieht er aber das Kreuz und muß
deswegen nun zurückkehren. Zu demselben Zwecke soll man
auch anderswo in der Provinz Wiburg Kreuze an den
Bäumen und Steinen halbwegs zwischen dem Haus und der
Kirche anbringen. Daraus ergiebt sich wahrscheinlich als
Zweck des Karsikko des Gestorbenen, diesem das Spuken im
Hause zu verwehren.
Amerikanische und sibirische Nephritgeräte.
Gesammelt und erläutert von Adrian Iacobsen.
Wiewohl schon so viel über Nephrit und die Nephrit-
srage geschrieben wurde, glaube ich doch, daß die Mitteilung
meiner Erfahrungen in dieser Beziehung nicht unwillkommen
sein wird, da ich Nephrit sowohl in bearbeitetem, wie in
rohem Zustande in manchen Gegenden gefunden, in denen
er, soweit mir bekannt, vorher von keinem andern Reisenden
beobachtet wurde. Nach meinem Erachten ist cs auch
ganz sicher, daß die «leisten von mir gesehenen und
gesammelten Stücke auch aus der Gegend, in der
ich sie antraf, stammen. Denn die bei weitem größte
Zahl der aus Nephrit gefertigten Schmuckgegen-
stände und Gerätschaften zeigte genau denselben
Charakter, wie die andern in der betreffenden
Gegend gebrauchten Steingeräte.
Auf meiner in den Jahren 1881 bis 1883 für das
Völkerkunde-Museum in Berlin unternommenen Sannnel-
reise in Alaska erwarb ich auf der Cap Princc os Wales-
Halbinsel, sowie am Kotzcbucsunde gegen 80 Gegenstände
aus Nephrit, deren Farbe zwischen Weiß und Dunkelgrün
wechselt. Auch ein eigentümliches, braun und grün gestreiftes
Stück habe ich dort gesehen, aber leider nicht in meinen Besitz
bringen können. Die braunen Streifen in diesem Stücke
schienen mir aus einem andern eingesprengten Mineral zu sein.
Die dort erworbenen Gegenstände bestehen aus Äxten,
Meißeln, halbmondförmigen Messern (von den Eskimo-
frauen zum Abziehen der Felle, sowie zum Zerlegen der
Fische gebraucht), kleinen scharfen, scheerenförmig geschliffenen
Messern (zur Anfertigung von allerlei Holz- und Knochen-
geräten verwendet) und schließlich einem großen, breiten
Dolche mit tiefer Blntrinne an der einen Seite. Ferner
befinden sich darunter noch eine Reihe von Bohrern und
Hämmern, zu welchen letzteren man in der Regel Steine
von heller, weißer oder grauer Farbe wählt; Perlen, zwei
bis drei Zoll lange, ovale Knöpfe (unsern Manschctten-
knöpfcn ähnlich), welche den Eskimos als Lippenschmuck
dienen, indem sie dieselben in die durchbohrten Mundwinkel
einknöpfen, und endlich stabförmige Amulette, die an einer
Schnur um den Hals getragen oder am Gurte befestigt
werden.
Auf wiederholtes Befragen, woher die Eingeborenen den
Nephrit hätten, erklärten die Eskimos einstimmig, daß er
von einem hohen Berge herstamme, welcher an dem in den
Kotzebuesund mündenden Kowak-Fluß liege. Ein Führer,
der bereits längere Zeit bei mir war, erbot sich sogar, mich
dorthin zu geleiten; doch, da wir uns mitten im Winter
befanden und unter den dortigen Bewohnern Hungersnot
Adrian Jacobsen: Amerikanische und sibirische Nephritgeräte.
315
ausgebrochen war, standen wir von dieser beschwerlichen und
weiten Reise ab, bei der der Erfolg doch immer sehr zweifel-
haft gewesen wäre.
Die Eskimos erzählten ferner, daß im Kotzebuesunde
zwei berühmte Schamanen lebten, welche das Gewinnen des
Minerals ans obigem Berge besorgten und dann dasselbe
gegen hohe Bezahlung an das Bolk verkauften. Die Scha-
manen träfen große, in Wahrsagen, Opfern, Gebeten u. dcrgl.
bestehende Vorbereitungen, ehe sie in die Berge hinaufgingen.
So binden sie sich beispielsweise an jede Seite des Gesichtes
ein Brett und umwinden dann den ganzen Kops mit Leder-
riemen. Dies thun sie deshalb, weil angeblich die Stelle,
an der sich der Nephrit befindet, von einem Dämonen be-
wacht wird, der es bewirkt, daß einem gewöhnlichen Sterb-
lichen der Kopf zerspringt, nur der Medizinmann hat es in
seiner Gewalt, sich durch Zaubermittel davor zu schützen.
Deshalb wagt sich auch kein andrer in jene Gegend, denn
waren aber die beiden berühmten Medizinmänner gestorben
und von den übrigen Eskimos vermochte keiner den Fundort
genau anzugeben.
An der Mündung des Jukon konnte ich nur sechs Stück
dieses Gesteins erwerben, die augenscheinlich durch Handel
dort hingekommen waren, und auf der Alaskahalbinsel
kannte inan wohl den Namen des Minerals, aber es kam
mir dort kein Stück zu Gesicht. Alle Waffen und Gerät-
schaften, wie Beile, Messer rc., die ich dort sah, waren ans
andern Gesteinsarten verfertigt; denn die nordwestlichen Eski-
mos leben bekanntlich noch heute vollständig im sogenannten
„Steinzeitalter", was insofern eigentlich sehr befremden muß,
als diese Leute seit längerer Zeit niit Europäern mehr oder
weniger tiu Verkehr stehen und Eisen hinreichend kennen.
Das Vorkommen von Stcingeräten hängt hier mit dem
Aberglauben der Eskimos eng zusammen, die sich noch nicht
entschließen konnten, die von ihren Vätern ererbten Gewohn-
heiten und die durch so althergebrachten Gebrauch gewisser-
maßen geheiligten Geräte einfach über Bord zu werfen. So
darf z. B. kein Weib die Lachse mit einem eisernen Messer
zerlegen, da sonst die Fische ans Nimmerwiedersehen die
Küste verlassen würden. Auch dürfen bei Krankheiten keine
eisernen Geräte hu Dorfe gebraucht werden, vielmehr wer-
den dieselben sogar in solchen Fällen den Einheimischen wie
den europäischen Reisenden abgenommen. So stellen die
Leute noch heutigen Tages ihre Lanzenspitzen aus Stein her,
und bei Festlichkeiten wird das Holz mit Beilen ans Wall-
roßzahn gespalten.
Nephritüxte sind vereinzelt auch wohl noch bei den
Tschnktschcn von Reisenden gefunden worden; doch dürften
diese infolge des lebhaften Handels zwischen Eap Prince of
Wales und Sibirien von den Eskimos herübergebracht sein.
In Britisch-Columbia fand ich die erste Nephritaxt im-
Norden der Provinz auf der Königin-Charlotte-Jnsel. Sie
war ans hübschem, dunkelgrün gefärbtem Material. Auch
bei den Tlinkiten find Nephritbeile gefunden worden. Dieser
Stamm handelt bekanntlich viel nach dem Jukon und es ist
somit leicht möglich, daß sie das Mineral von dorther be-
zogen haben. Auch auf dem Festlande, gegenüber von Van-
eonver, sowie in der Nähe von Viktoria erwarb ich einige
Nephrite.
Man darf wohl die Vermutung aussprechen, daß Nephrit
vom Kotzebnesnnd aus nach Süden durch viele Jahrhunderte
exportiert worden ist. Die Mallemuten, die Bewohner des
Kotzebuesundes, bereisen heute noch die Küste bis zur Eooks-
inlet hinab, und ich habe selbst beispielsweise dort eine
Familie getroffen, die vom Kotzebuesunde gekommen war
und sich dort angesiedelt hatte. Ferner treiben die Bewohner
des Nortonsundes einen regen Handel zu Lande mit den
Bewohnern des oberen Jukon. Diese Gegenden besuchen,
wie oben ermähnt, die Tlinkiten. Andrerseits kommen die
Haida von Vancouver noch jetzt, wie früher nach Norden
hin zu den Tlinkiten, nach Süden hin in das Washington-
Territorium. Alle diese Völker haben eine mehr oder weniger
ständige Kultur, dieselben Waffen und Gerätschaften sind
noch heute bei ihnen in Gebrauch, wie sie ihre Vorfahren
vor Hunderten von Jahren besaßen. Und bei meiner An-
kunft in Alaska bemerkte ich sogar zu meinem Erstaunen,
daß die Eskimos so noch heutzutage genau dieselben Lippen-
pflöcke tragen, wie ehemals die alten Mexikaner, ja teilweise
sogar ans demselben Material. Diese Lippenpflöcke werden
in einer Entfernung von je einem Zoll rechts und links von
den Mundwinkeln in den durchbohrten Backen getragen.
Sie haben die Form eines Miniaturcylinderhutes und wer-
den aus Lignit, Serpentin, Marmor, Walroß- und Mam-
mutszähnen gefertigt. Die Ähnlichkeit ist eine so auffallende,
daß man die prähistorischen und die modernen Stücke nicht
zu unterscheiden vermag; mit wenigen Unterbrechungen wer-
den sie noch heute von Vancouver bis zur Barrow-Spitze,
der nordwestlichsten Spitze Amerikas, getragen.
Auf meiner Reise in Sibirien (1884 bis 1885) besuchte
ich auch das Jrkutsker Museum, dessen Sammlungen leider
bei einem Brande zum großen Teil zerstört worden waren;
doch wurden gerade damals von neuem in der Umgegend
Ausgrabungen veranstaltet und dabei viele Nephritstücke ge-
funden. Besonders fiel mir ein Schneideinstrument auf,
dessen Form ich sonst nirgends wieder gesehen habe, dasselbe
war auf der einen Seite wie unsre Taschenmesser geschliffen,
auf der andern Seite dagegen wie eine Schere. Auch be-
wahrte man int Museum drei mächtige Nephritblöcke, die
als Geröll im Jrkutskflusse gefunden worden waren. Auf
meine Bitte, mir eine Probe von denselben zu überlassen,
wurde nach einem Schmied gesandt, der uns einige Stücke
von dem in Hülle und Fülle vorhandenen Materiale los-
schlug i).
Am Amur, wo ich viele Steingeräte erwarb, erhielt ich
anfänglich kein einziges Nephritexemplar, nnd meine Nach-
frage in betreff dieses Minerals war erfolglos; später je-
doch kaufte ich auch hier Nephrite in Gestalt von breiten,
runden, dünn geschliffenen Scheiben, die in der Mitte durch-
bohrt waren, und die von den dortigen Völkerschaften als
Amulette benutzt werden, welche man der Braut als Ge-
schenk in die Ehe mitgiebt. Hin und wieder sah ich reiche
Goldenfrauen, die solche Platten, wenn auch von kleinerem
Umfange, an ihren silbernen Ohrringen aufgereiht trugen.
Auch auf Sachalin sah ich ähnliche Amulette. Ich bin
jedoch der Anficht, daß diese Nephritringe am Amur von
mongolischen und mandschurischen Händlern herrühren.
Im Jahre 1884 oder 1885 sandte die amerikanische
Regierung, durch meine Forschungen angeregt, eine Expedi-
tion nach dem Kotzebnesnnd, die neben geographischen Zwecken
auch die Nephritfrage näher untersuchen sollte. Diese
Expedition wurde von Leutnant Stoney geleitet, welcher
einen der größten in den Kotzebnesnnd mündenden Flüsse,
von den Eskimos Kowak genannt, aufwärts fuhr. Die
Forschungen nach dem Nephrit waren jedoch ohne Erfolg,
während die geographische Seite der Expedition das über-
raschende Resultat ergab, daß die dortigen Flüsse viel größer,
jene Gegenden weit bevölkerter sind, als man bis dahin
annahm.
Bei allen Völkern, bei denen überhaupt Nephritsachen
vorkommen, steht dieses eigentümliche Gestein wegen seiner
i) Anmerkung des Verfassers. Dieses wurde später-
unter die Mitglieder der anthropologischen Gesellschaft zu Berlin
verteilt; mehrere der Herren tragen setzt daraus verfertigte
Anhängsel in Form von geschlissenen Beilen u. dergl. an der
Uhrkette.
40*
Dr. Friedrich S. Krauß: Altslavische Feuergcwknnung.
317
schönen Farbe und wegen seiner außerordentlichen Härte
und Dauerhaftigkeit in gleich hohem Ansehen. Auch im
Altertum ist das bereits der Fall gewesen, und daher ist
es auch kaum wunderbar, wenn man in vielen Gegenden«
dem Nephrit eine übernatürliche, zauberische Kraft zuschrieb,
die den Besitzer eines ans solchem Material hergestellten
Amuletts vor Unglück schützen und ans Gefahren erretten
kann. So erzählte mir einst ein gebildeter Chinese, mit
dem ich die Fahrt von Alaska nach San Franzisko zu-
sammen machte, daß sein aus weißem und grünem Nephrit
bestehender Armring ihn vor Unglücksfällen und Lebens-
gefahren beschütze, und daß außerdem derartige Stücke die
zauberische Kraft hätten, die Schwerkraft des Trägers auf-
zuheben; in seiner Heimat wären bereits zwei Fälle vor-
gekommen, wo einmal ein Kind und dann ein Mann von
einer größeren Höhe hernutergefalleu, aber durch das Nephrit-
amulett, das sie trugen, so geschützt wurden, daß sic voll-
ständig unverletzt geblieben seien.
Eine ähnliche Sage wurde mir bei den Eskimos von
einem Riesen erzählt, der am Kotzcbuesuud wohnte und
wegen seiner gewaltigen Körperkraft weit und breit ge-
fürchtet war. Durch einen Mord, den einer seiner Ver-
wandten begangen, hatte sich derselbe die Blutrache eines
Mannes zugezogen, der ihm den Tod geschworen hatte, weil
er des Schuldigen nicht habhaft werden konnte. In hinter-
listiger Weise wurde er von diesem an einem schönen
Sommertage aufgefordert, mit auf einen einsam im Meere
liegenden Felsen zu steigen, um dort Vogeleier zu suchen.
Nur mit langen Balken konnten sie dorthin gelangen, und
kaum war der vorangehende Riese auf dem Felsen ange-
kommen, als sein heimtückischer Feind eiligst die Balken
zurückzog und ihm holmlachend zurief, daß er nun hilflos
und einsam bleiben und elend zu Grunde gehen müsse, weil
der Tod des Erschlagenen auch seinen Tod als Rache fordere.
Darauf verschwand er schnell in der Ferne und ließ den
Riesen hilflos zurück, der vergeblich nach Rettung ausschaute
und endlich, nachdem er einen ganzen Tag in der brennen-
den Sonnenhitze von Hunger und Durst geplagt ausgeharrt
hatte, freiwillig zu sterben beschloß, um den Qualen eines
langsamen Hungertodes zu entgehen. Er fesselte sich selbst
seine Hände und stürzte sich so von oben ins Meer hinab,
um so schnell wie möglich seine Qualen zu beendigen. Kaum
war er aber untergetaucht, als er eine gewaltige Kraft in
seinen Gliedern fühlte, die Mattigkeit, die er eben noch ge-
fühlt, war verschwunden, seine Augen wurden hell, die
Fesseln zerrissen und er wurde langsam von den Wellen an
das sichere Ufer getragen; das Nephritamnlett, das er auf
der Brust trug, hatte ihn vom Tode gerettet. Er rächte
sich nun an seinem hinterlistigen Feinde und floh dann in
ein andres Land, wo er der Stammvater eines zahlreichen
Geschlechtes wurde.
Ähnliche Sagen sind auch noch bei andern Völkern
vorhanden, überall finden wir die zauberische Kraft des
'Nephrits wieder und überall die gleiche Unsicherheit über
die Herkunft desselben. Daß die Nephritgegcnstände in der
nördlichen Hemisphäre ziemlich häufig vorkommen, ist sicher,
aber damit ist die eigentliche Heimat desselben noch nicht
sicher bestimmt, und es wird wohl erst einem künftigen Ge-
schlechte beschieden sein, wirkliche Beweise dafür liefern zu
können, daß Nephrit in Nordasien wie in Nordamerika in
rohem Zustande gefunden wird. Wenn man bedenkt, daß
es in Alaska ungeheure Länderstrecken giebt, aus die noch
nie ein Weißer den Fuß gesetzt hat, so dürfte es immerhin
sehr gewagt sein, wenn man, wie manche es gethan haben,
behaupten will, daß Nephrit nicht dort vorkomme, sondern
erst von Sibirien eingeführt sei. Ich glaube vielmehr, daß
im Gegenteil die bei den Tschnktschen erworbenen Gegen-
stände aus diesem Mineral von Alaska nach dorthin impor-
tiert worden sind.
Erklärung der Abbildungen.
Amerikanische Nephrite (Fig. 1 bis 15). 1. Dolch-
messer aus hellgrünem Nephrit mit eingeschliffener Blutrinne
und Griff aus Mammutzahn. Kotzebuesund. — 2. Messer aus
hellgrünem Nephrit, Griff aus Renntierhorn. Kotzebuesund.
— 3. Steinmetzen aus hellgrünem Nephrit mit Holzgrisf. Aus
der Tundra zwischen Jukon und Koskoquin. — 4. und 5. Amu-
lette aus hellgrünem Nephrit, mit Lederriemen, um sie am
Halse zu tragen. Cap Prince os Wales. — 6. Perle aus
hellgrünem Nephrit, Lippcnschniuck. Cap Prince of Wales. —
7. Steinhammer; grauweißer Nephrit mit Lederriemen am Griff
aus Renntierhorn befestigt. Kotzebuesund. — 8 a. und b. Lippen-
schmuck für Männer aus hellgrünem Nephrit. Mündung des
Selawik. Kotzebuesund. — 9. Axt aus dunkelgrünem Nephrit
mit Längs- und Querschliffen. Golowinbai, Norton-Sund.
— 10 a. und b. Fisch- und Fellmesser aus fast schwarzem
Nephrit; Griff aus Renntierhorn. Kotzebuesund. — 11. Bohrer-
aus dunklem Nephrit. Port Clarence. — 12. Lanzenspitze aus
hellgrünem Nephrit. Kotzebuesund. — 13. Stemmeisen aus
hellgrünem Nephrit. Port Clarence. — 14. Männerlippen-
schmuck in Fijchschwanzform aus hellgrünem Nephrit. Port Cla-
rence. — 15. Harpunenspitze aus hellgrünem Nephrit. Norton-
Sund.
Sibirische Nephrite (Fig. 16 bis 18). 16. Frauen-
ohrring mit kleinen grünen und weiß und grün gefleckten
Nephrit,cheibcn. Bon Golden zwischen Troitzkoje und Chaba-
rowka. Amur. — 17. Brustgehäng aus weißem Nephrit. Braut-
geschenk, Sofiisk am Amur. — 18. Brustgehäng (Amulett?) aus
wcißlichgrünem Nephrit. Von Golden an der Mündung des
Usuri m den Amur.
Altslavische S e
Don Dr. Fried
Znr Ergänzung meiner Notiz über den slavischen Feuer-
bohrer auf S. 140 dieses Bandes sind mehrere beachtens-
werte Nachträge zu verzeichnen.
In den dreißiger Jahren, als mein verewigter Vater
nach Slavonien kam, war beim dortigen serbischen Bauern-
volke die Fenerbereitung durch Feucrbohrer oder Holzreibung
ein Überlebsel, welches sich nur bei der Kulthandlung der
Pestbannung behauptet hatte, im übrigen hatte jeder Bauer
in seinem Schultersack einen Feuerstahl, einen Feuerstein
(kremecak, kremencic) und Feuerschwamm (trud). Feuer-
stahl und Feuerstein waren Handelsgegenstände, die man aus
Ungarn und Steiermark einführte. Sic hatten im Tausch-
handel, der infolge des allgemeinen Geldmangels vorherrschte,
u e r g e w i n n u n g.
r i ch S. Kraus.
ihren ständigen Tauschwert. Für einen halben Feuerstahl gab
der Bauer eine halbe Metze Hafer und für einen Feuerstein
entweder zwei Maß Weizeufrucht oder ein Halfter Heu, d. h.
soviel Heu, als man mit einem Halfter umspannen konnte.
Die Pflicht der jeweiligen Schaffnerin in der zadruga
(Hausgemeinschaft) war es, darauf zu achten, daß das Feuer
auf dem Herde in der Küche nicht ausgehe. Vor dem Schlafen-
gehen mußte sie das Feuer im Herdloch sorgfältig verdecken,
um in der Frühe mit geringer Mühe an den noch glimmen-
den Kohlen frisches Feuer anzufachen. So machten es auch
die in Slavonien angesiedelten Schwaben. Als Überlebsel
ist in der Sprache noch das Sprichwort erhalten: „Wenn
mans Feuer braucht, muß mans in der Aschen suchen."
318
Dr. Friedrich S. Krauß: Altslavische Feuergewinnung.
Analog dem ersteren deutschen Sprichworts ist das serbische,
gleichfalls ein llberlebsel: „Ko se diirta no nadimi, taj se
vatre ne nagrije“ (Wer nicht genug Rauch hinunterwürgt,
der hat auch keine Gelegenheit, am Feuer sich genug zu er-
wärmen).
In Slavonien wurde das durch Reibung gewonnene
Feuer samorodna, in Serbien ava (lebendiges Feuer) yatra
genannt.
In des Bulgaren P. Ljiebenov Büchlein Baba Ega
(Mütterchen Ega oder Sammlung verschiedener Glaubens-
sachcn, volksmedizinischer Vorschriften, Magien, Zaubersprüche
und Gebräuche im Gebiete von Küstendil), Trnovo 1887,
findet sich auf S. 44 die Bemerkung: In der Umgebung
von Küstendil wird das Knltfeuer (Festfeuer), mit welchem
die Feuerstöße in Brand gesteckt werden, zwischen denen man
das Vieh durchtreibt, durch Reibung zweier Stücke Eschenholz
erzeugt. In einigen Dörfern der Umgebung des Ortes
Provadija pflegt man das Vieh auszuräuchern. Man treibt
es zwischen Reihen von Feuerbränden durch, während Popen
slavische und Hodzen türkische Gebete dabei hersagen. Am
selben Tage machen die Bauern daheim kein Feuer an,
sondern bereiten ihre Mahlzeiten bei den Festfeuern, und
nehmen davon zuletzt Braudstücke mit, um daheim damit
Feuer anzufachen. (Vergl. K. Jireczek: Die Straßen in
Bulgarien, S. 634.)
Auf diese Stellen weist schon Herr Stanislaus Cis-
zewski, ein tüchtiger polnischer Folklorist hin, welcher in
der polnischen ethnographischen Zeitschrift Wisla (Bd. HI
u. Bd. IV, 1889 f. Redakteur Jan Karlowicz in War-
schau) eine Nachforschung über diesen Gegenstand mit viel
Geschick eingeleitet hat. Im dritten Bande, S. 666 berichtet er
wie folgt: „Die Feuererzeugung durch Reibung hat sich bei
unserm Volke unmittelbar bis auf den heutigen Tag erhalten,
und das Merkwürdige dabei ist, ausschließlich zu praktischen
Zwecken". Wir sagen ausdrücklich „bis auf den heutigen Tag",
denn sie ist noch gut in Erinnerung des älteren Geschlechtes,
zum mindesten der Gegend von Slawkow, trotzdem sie nicht
mehr gehandhabt wird, da Zündhölzchen allgemein im Ge-
brauche sind. Unsre Zeichnung zeigt einen solchen Apparat
für Feuererzeugung, welchen Nikolaus Szlezak, ein 55 jähriger
Bauer ans dem Dorfe Bukowna im Bezirke Olknsch, ange-
fertigt und mit dessen Hilfe er in unsrer Gegenwart Feuer
gewonnen hat. Jin Prinzipe unterscheidet er sich nicht von
jenem hübscheren Fenerbohrer, welchen Tylor in seiner
„Anthropologie" abgebildet; nur ist er doch in einem Punkte
vollkommener. Der Apparat besteht ans zwei ganz gewöhn-
lichen Kiefernholzstattgen, die in die Erde eingerammt werden,
die mit zwei kleinen, aber doch so großen Lücken versehen
sind, daß sich dazwischen eine gleichfalls aus Kiefernholz ange-
fertigte und an beiden Enden zugespitzte Walze bewegen kann.
Die Walzenspitzen bedeckt man vor der Einsetzung in die
Stützlücken mit kleinen Stücken zerfaserter Leinwand, die mit
ein wenig Harz oder Pech bestrichen ist; das Pech muß rein,
d. h. dick, ohne Ölzusatz sein. Sobald die Walze eingesetzt
ist, dreht mau um sie einigemal eine Schnur (Hirten pflegten
vor einigen Jahren bei solcher Feuergewinnnng eine Peitsche
anzuwenden) und bringt sie durch Hin- und Herziehen der
Schnur in Bewegung. Bei dieser Arbeit drückt einer von
den Helfern leicht die Steckpfühle zusammen, damit die Walze
bei der Drehung nicht heransspringe und um die Reibung
zu vermehren, indes der zweite die Schnur anzieht. Nach
Verlauf von höchstens einer Minute erzeugt sich infolge der
Reibung innerhalb der Stützenlücken eine solche Wärme, daß
Ranch hervorkommt und ein widriger Geruch von den glim-
menden Lappen zu verspüren ist. In: selben Augenblick läßt
der eine die Stützen los, der andre aber reißt flugs die Lappen
womöglich aus beiden Lücken heraus und legt sie ans trockene
Kienspähne, die nun bald Flammen fangen.
Wie bemerkt, ist gegenwärtig wegen der allgemeinen Ver-
breitung der Zündhölzchen dieser Apparat außer Gebrauch
gekommen; wie mir aber der gedachte Bauer versicherte und
es auch andre Bauern bestätigten, war er vor einigen vierzig
Jahren allgemein bekannt. Der hier abgebildete Apparat
beftndet sich gegenwärtig im ethnographischen Museum auf
Bagatela.
Der polnische Folklorist H. Rafael Lnbicz teilt im
vierten Bande, S. 457 der Wisla folgende eigene Ermittelungen
mit: 1. „In Frampol im Zamotzoer Bezirke stieß vor eini-
gen Jahren der Neuangekommene Probst auf den Brauch
der Fenererzeugung durch Reibung am Osterheiligenabend. (In
unsrer Kirche herrscht zu Osterheiligenabend der Brauch, Feuer
mittels Feuerstein zu erzeugen. Dieses Feuer unterhält man
das ganze Jahr.) Ein Mitglied der (kirchlichen) Bruder-
schaft (ein bracki) wollte durch Reibung zweier früher schon
eigens dazu vorbereiteter Hölzer Feuer zur Einweihung an-
machen. Indessen ist diese lange Manipulation aufgegeben
worden und man machte mit Zündhölzchen Feuer (statt
mittels Feuerstein nach den liturgischen Vorschriften). 2. .In
gleicher Weise wird im Kloster von Czeustochau am Oster-
heiligenabend durch Holzreibnng Feuer gewonnen. Ebenso
teilt Lnbicz noch Fälle von Fenererzeugung durch Reiben ans
dem Dorfe Biala in Podlachien, aus Liszno bei Chclm, von
den Bauern am Flusse Wieprz mit.
Lnbicz verweist ferner auf Töppen: Aberglauben der
Masuren, Danzig 1867, S. 71 und auf Oskar Kolberg:
Mazowsze, obraz etuografieny, Bd. 1, Krakau 1885,
S. 206 f. Martin ans Urzedow, ein polnischer Geistlicher
aus der Mitte des 16. Jahrhunderts, ein Feind der Volks-
bränche, erzählt (nach dem Citat bei Kolberg): Am heiligen
Johannisabend haben die Frauenzimmer Feuer angemacht,
sie tanzten, sangen dem Teufel zu Ehren und beteten ihn an;
von diesem heidnischen Branche wollen sie bis ans den heu-
tigen Tag in Polen nicht lassen, indem sie Wermutkraut
opfern; sie machen Sobotki (Johannisfeuer), das Feuer er-
zeugen sie durch Holzreibnng, damit es eine echte Teufelsfeier
sei. Im vierten Bande der Mazowsze, S. 138 berichtet
Kolberg: „Am St. Rochnstage zündet man Feuer ans der
Straße des Dorfes an und treibt je dreimal das Vieh hin
und zurück durch, um es vor der Seuche zu bewahren.
Dieses Feuer wird durch Reibung von Pappclstangen an
Pappelnholzbohlen oder an Kiefernbohlen gewonnen; sowie das
Pappeluholz Funken sprüht, drückt man daran Hanfwerg, mit
welchem man darauf Pappelnspüne entzündet. Die Kohlen
trägt man hin auf die Straße, zündet damit Stroh an und
streut es aus. Nachdem man das Vieh darüber hinweg-
getrieben, liest man die Kohlcnstückchen ans und bewahrt sie
daheim auf, bis sie verglimmen, um an ihnen ein Heilmittel
in Krankheiten zu haben. (Kosino, Blichowo, Miszewo
1864".)
Neue magnetische Aufnah ni e Österreichs. — Aus allen Erdteilen.
319
Im Augusthefte der Kievskaja starina von 1889 liefert
der russische Gelehrte Sumcov einen Aufsatz, Kulturelle
Überlebst!, worin er auch von der Feuererzcugung handelt.
Einen Bericht über diese Studie bringt die ^Visla, Bd. IV,
S. 1, 244 ff. Daselbst heißt es: „Zyvy (te£ienbtge§) oder
bozy ogien (Gottesfcucr) wird das zum erstenmal in der
Sennhütte der Goralen in den Karpaten entzündete >
Feuer genannt, welches man nach Ablauf des Winters und
dem Aufstieg zu den Alpenweiden anmacht. Die Feuer-
anmachung geschieht auf einem morschen Holz. Man schlägt
eine Spalte, keilt ein Holz hinein und zwei Männer erzeugen
durch Reibung das Feuer. Sobald sich das Feuer zeigt,
sinken alle auf die Kniee, bekreuzigen sich dreimal und der
Vorstand betet laut ein Vaterunser. In Rußland heißt
man das durch Reibung zweier Holzstücke gewonnene Feuer:
Holzfeuer, Waldfcuer, neues, lebendiges Feuer oder Kaiser-
feuer. In manchen Gegenden Rußlands entzündet man mit
lebendigem Feuer die Holzstöße am Johannisfesttagc, treibt
das Vieh hindurch und springt selber darüber hinweg in der
Überzeugung dadurch Gesundheit zu erlangen. In Zeiten
einer pestilenzartigen Krankheit erzeugt man lebendiges Feuer
durch Reibung zweier Stücke Eichenholz; damit steckt man
die Lichter vor den Heiligenbildern und die Weihrauch-
pfannen an."
^ B. M. Kulka beschreibt in seinem Werke: Mährische
Sagen, Märchen, Gebräuche und Glaubenssachen (Moravske
narodni pohadky, II, 315) die Feucrzeugung der mähri-
schen Hirten durch Holzreibung mittels einer Walze und zwei
Stützen ganz so wie oben Ciszewski. Das Feuer nennen
sie Holzfeuer. Die gleiche Weise der Fcuergewinnung
war auch bei den Tscheä)en gebräuchlich.
Neue magnetische Aufnahme Österreichs.
Österreich war das erste Land, in welchem die erdmagne-
tischen Elemente an vielen Punkten nach einem bestimmten
Plane gemessen worden sind. Diese Messungen wurden in
den Jahren 1843 bis 1845 von Karl Kreil in Böhmen
begonnen und hierauf in den übrigen Krouläudcrn der
Monarchie fortgesetzt und auch auf Südosteuropa und einige
Küstcnpunkte Kleinasiens ausgedehnt. Inzwischen sind nahezu
45 Jahre verstrichen; es erschien eine Wiederholung der
Messungen der erdmagnetischen Elemente in Österreich um so
wünschenswerter, als in den letzten Jahren magnetische Auf-
nahmen in Italien und Frankreich stattgefunden haben und
auch in Deutschland eine neue magnetische Aufnahme zu er-
warten steht. Auf Anregung des Direktors der k. k. Zcntral-
anstalten für Meteorologie und Erdmagnetismus, Herrn
Prof. Hann, wurde durch Unterstützung der kais. Akademie
der Wissenschaften in Wien eine neue magnetische Aufnahme
Österreichs mit Ausnahme der magnetischen Stationen Kreils
an den Küsten der Adria, wo das k. und k. hydrographische
Amt in Pola die Ausführung der Messungen übernommen
hat, beschlossen und mit der Ausführung dieser Messungen ist
der best bewährte Fachmann H. I. Liznar, Adjunkt der k. k.
Zentralanstalt, betraut worden. Die von demselben heraus-
gegebenen zwei vorläufigen Berichte enthalten die näheren
Angaben über den Fortschritt der Arbeit, die in etwa fünf
Jahren vollendet sein soll. Im Sommer 1889 (2. Juli
bis 1. Oktober) wurden magnetische Messungen an 21 Sta-
tionen Böhmens, im Sommer 1890 (16. Juni bis
21. September) Messungen der erdmagnetischen Elemente an
5 Stationen in Böhmen, an 6 Stationen in Mähren, an
2 Stationen in Schlesien, in Krakau, an 2 Stationen in
Niederösterreich, an 3 Stationen in Oberösterreich und au
3 Stationen in Salzburg ausgeführt. Die definitiven
Werte der einzelnen Messungen sollen erst später veröffentlicht
werden, die vorläufigen Ergebnisse zeigen eine Abnahme der
Deklination im Mittel um 41/2 Grade in 40 Jahren, eine
Zunahme der horizontalen Intensität um 0,08 (im Mittel)
Gaußsche Einheiten, und eine Abnahme der Inklination um
1 Grad in demselben Zeitraume. Dr. G. Gruß.
Aus allen
— Die englisch-italienische Einflußlinie in Ost-
afrika von der Mündung des Juba bis zur Kreuzung des
35. Grades östl. L. mit dein Blauen Nil (vergi. S. 255) ist nach
Norden hin durch Übereinkunft vorn 15. April 1891 folgen-
dermaßen ergänzt worden. Die Italien vorbehaltene Ein-
flußsphäre wird im Norden und Westcll durch eine von Ras
Kasar am Roten Meere bis zum Krcuzungspunkte des
17. Parallclkreiscs nördlich mit dem 37. Grade östl. Gr. ge-
zogene Linie begrenzt. Die Linie verfolgt den Meridian bis
160 30' n. Br. und läuft dann von diesem Punkte aus in gerader
Richtung bis Sabderat, dieses Dorf östlich lassend. Von
diesem Dorfe geht die Linie nach dem Süden bis zu einem
Punkte am Gasch 20 engl. M. von Kassala aufwärts und
erreicht wieder den Atbara bei 14° 52' n. Br. Die Linie
bewegt sich sodann vonr Atbara aufwärts bis zum Zusammen-
flüsse des Chor Kakainot (Hahamot), von wo sie in westlicher
Richtung bis zum Chor Lemsen geht, auf welchem sie sich bis
zu seiner Vereinigung mit dem Rabad abwärts bewegt.
Schließlich wird die Linie, indem sie zunächst dem Rabad
fiir die kurze Strecke zwischen dem Zusammenflüsse des Chor
Lemsen und der Kreuzung des 35. Grades östlicher folgt, in
südlicher Richtung mit diesem Meridian bis zum Blauen Nil
zusammenfallen. Das Gebiet des von Teleki und Höhncl er-
forschten Rudolf- und Stephaniesees, sowie der vollständige
Lauf des Nil fallen damit in die englische Interessensphäre.
Da England thatsächlicher Besitzer Ägyptens ist, herrscht das-
Erdteilen.
selbe nun von Alexandria am Mittelmeere bis zu seinem
ostafrikanischen Schutzgebiete am Indischen Ozean — aller-
dings gegenwärtig noch unterbrochen durch das Gebiet
des Mahdi, der durch Englands Schuld emporkam und den
es, um Zusammenhang in seinen Besitz zu bringen, nun wohl
oder übel beseitigen muß.
— Über Lord Howe-Insel, zwischen Australien und
Neuseeland gelegen, verlautet selten etwas/ An der Hand
eines älteren, erst jetzt bekannt gewordenen amtlichen Berichtes
von 1882 bringt Botting Hemsley jetzt in „Nature“ einige
Nachrichten. Sie liegt 480 km von der Ostküste Australiens,
ist 11 km lang, 1,6 km breit und erhebt sich mit basaltischen
Bergen bis fast 1000 m. Der Boden ist fruchtbar, das
Klima herrlich. Die Flora nähert sich jener Neuseelands;
Palmen, unter denen drei oder vier der Insel eigentümlich,
herrschen vor; ebenso giebt es dort vier oder fünf endemische
Farne, die aber schon geschützt werden müssen, damit sie nicht
ganz verschwinden. Unter den Bäumen sind die auch in
Australien vorkommenden Ilibiscus Patersonii, Myoporum
acuminatum und Ochrosia elliptica am häufigsten. Die
Banyanfeigc kommt in gewaltigen Exemplaren vor. Ähnlich
wie in Neuseeland und verschieden von Australien sind Legu-
minosen auf der Insel selten. Eine von den fünf Arten,
Sophora chrysophylla, ist bisher nur von Hawaii bekannt
geworden.
320
Aus allen Erdteilen.
— Zwei altperuanische Schädelmasken schildert
Professor H. Giglioli im Internationalen Archiv für
Ethnographie (IV, S. 83, mit Tafel). Sie stammen ans
Gräbern (lmacas) in der Gegend von Lima und werden
vom Vers, dem Chinin zugeschrieben. Sie sind die ersten
ihrer Art, die bekannt wurden und bestehen ans dem vor-
deren Teile eines menschlichen Schädels samt dem Unterkiefer,
ans welchem durch Stuck Nase und Lippen ersetzt sind.
Eine Holzscheibe mit runder eingeschnittener Öffnung bildet
das Auge und zeigt, neben den angebrachten Löchern für
Schnüre, daß diese Schädelhälfte als wirkliche Maske benutzt
wurde. Teile der Haut sind erhalten. Nach der Fundart
glaubt Giglioli nicht, daß diese Masken (wie es anderweitig
oft vorkommt) als Leichenmasken, Bedeckung des Gesichtes
einer Leiche, dienten.
Mit Recht zieht Giglioli die auf Neubritannien vor-
kommenden, sehr bekannten Schädelmasken zum Vergleiche
heran. Er ist der Meinung, daß nur in Peru und in der
Südsee solche Schädelmaskcn vorkommen. Dabei ist ihm
aber ein weit näher liegender Vergleich entgangen, nämlich
die mexikanischen Schädelmasken, die uns in zwei
kostbaren Exemplaren, in Berlin und London, erhalten sind.
Vergl. And ree, Ethnogr. Parallelen, N. F., S. 130, und
Uhle, in den Veröffentlichungen ans dem königlichen Museum
für Völkerkunde in Berlin I, 20 (mit Abbild.). A.
— Die vorgeschichtliche Anlage Roms war das
Thema eines Vortrages, welchen Luigi Pi go ri ni in der
Festsitzung des deutschen archäologischen Instituts zu Rom
am 17. April hielt. Der bekannte Prühistoriker zeigte an
der Hand der ältesten Gründungen der Italiker im Norden
des Apennin, daß manche Stadtanlage im Süden des Apennin
noch die Grundzüge jener nördlichen Terramaren der ersten
Eisenzeit bewahren. Vor allem findet das älteste Rom, die
Roma quadrata, mit seinem trapezförmigen Grundriß, der
Orientation, dem eisenlosen pon8 Sublicius, ja in Wall
und Graben der Servianischen Befestigung eine lehrreiche
Parallele in einer neuerdings von Pigorini untersuchten An-
lage des veuetischcn Gebietes.
— An dem den Geologen wohlbekannten Mont Dol in
der Bretagne sind ans dem engen Raume von 1000 qm die
Überreste von ungefähr 100 fossilen Elefanten gefunden
worden. Die Knochen sind sämtlich zerschlagen, so daß man
annimmt, die vorgeschichtlichen Bewohner jener Gegend hätten
dieses gethan, um zum Marke zu gelangen.
— Der wirtschaftliche Fortschritt Japans seit dem
Jahre 1866, in welchem die große Staatsnmwälznng statt-
fand, ist ein ganz gewaltjger gewesen, wie sich aus den nach-
folgenden Zahlen ergicbt, die einem in Japan erscheinenden
Blatte entnommen sind. Tie Ausfuhr betrug in jenem Jahre
15 550 000 Dollars, die Einfuhr 10 690 000 Dollars. Die
korrespondierenden Zahlen hierfür sind im Jahre 1889 auf
70 060 000 und 66 100 000 Dollars gestiegen; sie haben
sich also in 20 Jahren ungefähr versechsfacht. Es giebt jetzt
2038 Aktiengesellschaften mit einem Kapital von fast 68 Mill.
Dollars und 1061 Bankgeschäfte mit einem Kapital von
92'/2 Mill. Dollars. Alle diese Gesellschaften und Banken
sind seit der neuen Ära gestiftet worden und beschäftigen sich
hauptsächlich mit Bergbau, Weberei und Spinnerei, nament-
lich aber mit Seidenmanufaktur. Der Ackerbau macht ge-
waltige Fortschritte bei Anwendung europäischer Methoden und
die Ernte der Hauptfrucht, des Reises, stieg von 25^4 Mill.
Kokn im Jahre 1878 auf ^/rMill. Kokn 1888. Weizen,
Gerste, Thee, Seide nahmen in ähnlichen Verhältnissen zu,
d. h. haben sich in den letzten zehn Jahren verdreifacht. Im
Jahre 1888 besaß Japan schon 1420 nach europäischer Art
erbaute Seefahrzeuge; die Post blüht mächtig ans; sie beför-
derte 1888 schon 158V4 Mill. Briefe, Zeitungen u. s. w.
Die Zahl der Unterrichtsaustalten im Jahre 1888 war 27 923
mit 69 023 Lehrern und 3 050 538 Schülern. Im Jahre
1873 zählte man (nach dem ersten damals stattfindenden
Zensus) 1326190 Schüler, so daß deren Zahl gewaltig an-
gewachsen ist.
— Die Beobachtung der Naturvölker bei Er-
fassung der menschlichen oder t i e r i s eh e n F i g u r
ist eine schärfere als jene unsrer Künstler. Wenigstens tritt
dafür der Amerikaner Muybridge ein, welcher durch seine
Momentphotographieen die hervorragende Beachtung aller
Künstler in Deutschland erregte. In einem zu München
gehaltenen Vortrage verglich er die Darstellung von Tieren
bei Naturvölkern oder bei solchen, deren künstlerische Kultur
noch von der Fessel konventioneller Darstellung frei ist, und
zeigte hier an schlagenden Beispielen, daß die richtige Beob-
achtung — von der Wiedergabe der Einzelheiten abgesehen
— den Urvölkcrn meist mehr innewohne als der Kunst, die
sich im Atelier ausbildet. Parallelen zwischen Photographiern
nach dem Leben und solchen nach altägyptischen, assyrischen,
indianischen und andern Malereien bewiesen dies deutlich.
An manchen modernen Arbeiten aber wurde nachgewiesen,
daß sie entweder unmittelbare Fehler oder aber lluwahr-
schcittlichkeiten an sich tragen.
— Die Eisenerzeugung in den Vereinigten
Staaten war schon in jedem der lctztverflossenen Jahre eine
sehr bedeutende, sie hat aber in: Jahre 1890 bisher noch
nicht dagewesenen Umfang erreicht. Nach den vollständigen
Nachweisen, welche der American Iron aud Steel Asso-
ciation seitens der Erzeuger im Lande eingereicht wurden,
hat die Gesamterzengnng 9 202 703 t gegen 7 604 525 t
im Jahre 1889 betragen, so daß eine Zunahme um 21 Proz.
festzustellen ist, und cs ist diese Zunahme um so bemerkens-
werter, als schon für das Jahr 1889 ein Mehr um 17 Proz.
gegen 1888 auszuweisen war. England ist mit seiner
Erzeugung dadurch in die zweite Stelle zurück gedrängt,
da dort im Jahre 1890 nur etwa 8 Millionen Tonnen
Roheisen erblosen sind.
— Für die Übertragung von Ornamenten von
Volk zu Volk bringt die Schilderung der Schätze des Ge-
werbemuseums in Lemberg von L. v. Wierzbicki reiche Be-
lege. Das Werk ist in polnischer, ruthenischer, deutscher und
französischer Sprache erschienen und führt bcu Titel „Orna-
mente der Hausindustrie". Auf dem Boden Galiziens, der
von Mongolen, Tataren und Türken überstntet war, haben
sich in der Teppichweberei der Rutheucu Namen und Muster
aus dem Morgenlande auf das deutlichste erhalten. Ans
Gelim, dem ungeschorenen, gobclinartig gewebten Teppich
wurde Kilimek, als Bezeichnung der Decken über Sitzmöbel;
aus Gcbbch, dem schmalen Fußbodenteppich: Kobierz; aus
Matka, Wandteppich: Makata. Geometrische Ornament-
motive von turkmenischen Teppichen kehren genau auf ruthe-
nischen wieder, deren Entstchungszeit sich nicht feststellen läßt,
die aber jedenfalls älter als die Stilbewegnng der Gegen-
wart sind. Der Überlieferung zufolge waren polnische
Soldaten, die in türkischer Kriegsgefangenschaft in Webereien
hatten arbeiten müssen, die Vermittler zwischen dem Morgen-
lande und ihrer Heimat.
Herausgeber: Tr. R. And ree in Heidelberg, Lcopoldstraße 27.
Druck von Friedrich View eg und Sohn in Vraunschweig.
Bd. LIX.
Nr. 21
Braunschweig.
Jährlich 2 Bände in 24 Nummern. Durch alle Buchhandlungen und Postanstalten
zum Preise von 12 Mark sür den Band zu beziehen.
1891.
Die Genesis der alteuropäischen Bronzekultur.
Don Dr. Dlo
Unsre sonst so trefflichen Urgeschichtsforscher bedienen
sich, wie mir scheint, zn wenig der geographischen Hilfs-
mittel, um den rätselhaften Hergang großer kulturhistorischer
Prozesse der fernsten Vergangenheit aufzuklären. Sie be-
trachten die Sachlagen, welche durch Ausgrabungen und
Zufallsfnnde geschaffen werden, zu sehr als etwas Gegebenes,
das von innen heraus, durch den Fortschritt der typolo-
gischen Untersuchungen, erhellt werden müsse, als daß sie
dem Werden der Erscheinungen in dem Kreise ihrer nächsten
Grundlagen nachspüren. Diese Grundlagen sind für unsre
Erkenntnis nicht die Völker, von deren Anlagen, Kultur-
nnd Verwandtschaftsverhältniffen die Linguistik und die
somatische Anthropologie uns nur schwankende und unsichere
Daten übermitteln, sondern der Boden und die Lebens-
bedingnngen, welche er der Zivilisation darbietet: Die Welt-
lage, die Konfiguration und die natürliche Ausstattung der
einzelnen Länder.
Nur zaghaft ist man an die Wahrnehmung heran-
getreten, daß diese Faktoren schon in der Diluvial zeit
eine beträchtliche Rolle spielen. Vergleicht man beispiels-
weise die Fundserien aus den klassischen Allnvioncn des
Sommethales bei Amiens und Abbeville mit denjenigen aus
dem Löß bei Willendorf an der Donau, wie sie jetzt im
natnrhistorischcn Hofmuseum zu Wien einander gegenüber
ansgestellt sind, so wird man es nicht mehr aus Rechnung
nationaler Eitelkeit setzen, wenn die Franzosen für ihre
paläolithischen Vorfahren einen gewissen Vorrang in Anspruch
nehmen. Zn demselben Ergebnis führt eine Vergleichung
der diluvialen Höhlensunde des Pärigord mit denjenigen
aus Franken, Niederösterreich oder Mähren. Man mag
über die fabelhaft zahlreichen und merkwürdigen Knochen-
schnitzereien ans französischen Höhlen denken was man will,
ein Teil davon wird sich immer als echt und alt erweisen,
und dieser Bruchteil, zusammen mit der mannigfachen und
guten Ausprägung der Werkzeugformen in Feuerstein, Horn
und Knochen, genügt, um hier eine vorübergehende Superio-
rität des Geistes und der Gesittung zn konstatieren, deren
Globus LIX. Nr. 21.
r15 Hoernes.
natürliche Bedingungen sich erforschen lassen, die wir aber
zunächst als einfache Thatsache anerkennen müssen.
Diese Verschiedenheit steigert sich, wenn wir in das
Zeitalter der geschliffenen Steingeräte, in die neolithische
Periode, hinübertreten. Hier wird unsre Aufmerksam-
keit durch zwei andre Länderräume gefesselt, die sich auch
späterhin, in der Bronzezeit, durch eine hohe und lange
dauernde Kulturentwickelung auszeichnen. Die Schweiz und
Skandinavien sind diese beiden Gebiete. In der kalten
und rauhen Diluvialzeit völlig mit Gletschereis bedeckt,
boten sie erst nach dem Anbruch der gegenwärtigen erd-
geschichtlichen Epoche dem Menschen ein Asyl und mögen
ihm zunächst annähernd ähnliche Existenzbedingungen ge-
währt haben, wie sie der quartäre Mensch in Frankreich
gefunden hatte. Deshalb ließ man nicht nur die Fauna,
sondern, auf den Führten seiner Jagdtiere, auch den Menschen
in höhere Breiten auswandern. Thatsächlich offenbaren
die neolithischen Pfahlbauten der Schweiz, die neolithischcn
Gräber Skandinaviens einen relativ hohen Kulturstand
innerhalb der gesamteuropäischen Verhältnisse der letzten
vormetallischen Periode. Wieviel auch von den auszeich-
nenden Zügen dieser Lokalbilder auf Rechnung äußerer
oder sekundärer, der Erhaltung günstiger Umstände zu setzen
sein mag, jedenfalls haben wir es hier wie dort mit außer-
gewöhnlich dichten und in friedlicher Entwickelung nach Ver-
besserung des Daseins strebenden Bevölkerungen zn thun.
Allerlei klimatische, sanitäre und ökonomische Vorzüge mögen
dabei im Spiele gewesen sein. Wir sehen nur deutlich, daß
es gut abgeschlossene Gebiete waren, in welchen man die
Wohnsitze mit vieler Sorgfalt auswählte, und wo man ans
das Vorhandensein des zur Werkzeugfabrikatiou erforder-
lichen Materiales großes Gewicht legte.
Es unterliegt keinem Zweifel, daß vor dem Stil der
Bronzezeit und dem bekannten klassischen Rezept der Bronze-
mischung das Kupfer, oder eine sehr zinnarme Bronze
(denn auf letztere wird die Analyse vieler vermeintlich reiner
Kupfersachen hinauslaufen) in weiten Länderstrichen Europas
41
322
Dr. Moriz Hoernes: Die Genesis der alteuropäischen Bronzekultur.
Aufnahme und Verbreitung fand. Ja, bei dem Umstande,
daß das Kupfer von Ungarn bis nach Irland in gleich-
artigen Formen und also ziemlich gleichzeitig der jüngeren
Bronze, man kann sagen den Weg bereitete, läßt sich von
einer raschen und gierigen Aufnahme sprechen, wie sie
namentlich hochentwickelten neolithifchen Völkerschaften wohl
zuzutrauen ist. Aber das Kupfer erwies sich als unfähig,
der neolithifchen Kultur ein Ziel zu setzen. Wir stellen
uns vor, daß man mit dem neuen Material überall eifrig
Versuche anstellte, aber es dabei bewenden ließ, als man
sah, daß nicht viel damit "gewonnen fei. Den Durst nach
einem neuen materiellen Faktor höherer Kultur konnte dieses
Metall nicht löschen; das' gelang erst der Bronze. Aber
schon in der Statistik der Kupserfunde kommt neben der
Volksdichtigkeit die Weltlage und die natürliche Ausstattung
der einzelnen Länder zur Geltung. Ungarn, die Schweiz
und neuerdings Spanien haben sich besonders reich an alten
Kupsersachen erwiesen. Auch die Formen lehren, daß man
es mit einer Verbreitung von Süden her zu thun habe.
Kyprische Kupferdolche sind nicht nur in Hissarlik und
Ungarn, sondern auch in der Schweiz gefunden worden.
Der Reichtum Spaniens an primitiven Kupferartefakten
liefert uns ein weiteres Argument, diese Kulturphase vom
phönikischen Handel getragen zu denken. Gewiß hat der
Import an vielen geeigneten Plätzen lokalen Bergbau und
einheimische Metalltechnik ins Leben gerufen. Was wir
von der uralten Bekanntschaft der nugetrennten Jndogermanen
mit einem Metalle nach linguistischen Zeugnissen zu halten
haben, lassen wir dahingestellt. Wir verwahren uns nur
dagegen, daß uns jedes beim Anschneiden rötlich glänzende
Metallobjekt als reines Kupfer gegeben wird, und daß man
alle prähistorischen Kupsersachen, auch die bekannten großen
Arte mit Stielloch, an welchen Ungarn so reich ist, für
spätneolithisch erklärt. Gebraucht man in diesen beiden
Punkten die nötige Vorsicht, so wird die Statistik der euro-
päischen Kupfersunde bald ein anderes Bild gewähren als
bisher.
Es erscheint die „klassische" Bronze, und was dem
Kupfer allein und dem Kupfer mit einem schwachen Zinn-
beisatz (von 1 bis 5 Proz.) nicht gelungen, wird der richtigen
Legierung aus Kupfer und Zinn (9:1) ziemlich leicht. Ein
nahezu gleichzeitiges erstes Auftreten der Bronze in den ver-
schiedenen Ländern Europas wird durch die Gleichartigkeit
der Formen, die wir überall als die ältesten antreffen, be-
wiesen. Woher sie gekommen sein mag, darüber dürfen
wir uns heute nur mit großer Vorsicht äußern. Aber wenn
sich Mesopotamien als das Mutterland der Erfindung be-
stätigt, so liegt es sehr nahe, von dorther namentlich zwei
Wege für Europa ins Auge zu fassen. Diese Wege sind
der mediterrane für das südliche und der pontische für das
mittlere Europa. Der mediterrane Weg ist geographisch
und geschichtlich durch die alte Blüte der asiatischen und
afrikanischen Küstenländer am südöstlichen Mittelmeer vor-
gezeichnet. Ägypten und Phönikien mußten hier für Italien,
Griechenland und seine Inselwelt die natürlichen Vermittler-
werden. Nach Mitteleuropa sind von dorther nur einzelne
Formen und Objekte gedrungen, die teils als Muster ge-
wirkt, teils als bloße Jmportstücke sich in das autochthoue
Kulturbild eingefügt haben. Nordische Archäologen, nament-
lich Sophus Müller und Jngvald Undset, sind der Frage
dieses mediterranen Einflusses nachgegangen und haben über-
einstimmend gefunden, daß man die altenropäische Bronze-
kultur in ihrer Gänze nicht von den Ländern am Mittel-
meer herleiten dürfe. Dazu fehlt uns doch die notwendige
breite Zwischenlage in Südeuropa.
Deshalb erscheint die Annahme eines zweiten, des poli-
tischen Weges unabweislich. Als eigentliche Mittelstation
zwischen Babylon und den Donaumündungen liegt am öst-
lichen Ende des Schwarzen Meeres das erzberühmte Berg-
gebiet der Moscher und Tibarener, die nach alttestamenta-
rischen Zeugnissen mit ihren Bronzewaren bis Palästina
hinab Handel getrieben haben. Von einem ganz über-
flüssigen Verlassen der geraden Linie, wie es der weite Um-
weg im Norden des Kaspischen und Schwarzen Meeres
mit sich bringen würde, möchten wir absehen. Die stärkste
Stütze für den vorderasiatischen Ursprung der Bronze bildet
heute wohl das Vorkommen der westsibirischen Bronzen,
welche — so alt oder jung sie sonst sein nlögen — eine
tiefgehende Ähnlichkeit mit den europäischen Bronzen besitzen,
die nicht anders erklärt werden kann, als wenn wir die
europäische und die westsibirische Bronzezeitgruppe als zwei
divergente Ausstrahlungen von einem und demselben alten
K ulturz entr um ans eh en.
Das Auftreten der Bronze in Europa gleicht dem eines
mächtigen orientalischen Herrschers, der im Flug ungeheure
Landstrecken erobernd durchzieht. Aber gauz auf die Art
und Weise jener vorzeitlichen Monarchieen, deren Größe
wir bewundern, zeigt auch das prähistorische Bronzereich
ein lockeres föderalistisches Gefüge. Es entsteht rasch und
es zerbröckelt langsam, indem die einzelnen Provinzen zu
selbständiger Entwickelung gelangen und in ungleicher Dauer
bei der gemeinsamen Fahne ausharren. Und hier treten
die geographischen Faktoren mit Macht ins Spiel.
Wir unterscheiden heute (wenn der Ausdruck auch neu
ist, die Thatsache wird doch von jedem Prähistoriker zu-
gestanden werden) in Europa entwickelungsarme und
entwickelungsreiche Bronzezeitprovinzen. Von den
letzteren liegen zwei in Mitteleuropa, zwei in Nordeuropa.
Das eine Paar ist die Schweiz und Ungarn, das andre
Großbritannien und Skandinavien (mit einem Teile Nord-
deutschlands). Die entwickelungsarmen Bronzezeitgebiete
liegen in Mittel- und Südeuropa. In Mitteleuropa sind
es Frankreich und Südösterreich, in Südeuropa Spanien,
Italien und die Balkanhalbinsel.
Wir müssen die Thatsache der ungleichen Entwickelung
der Bronzekultur in diesen Ländern als bekannt voraus-
setzen und fassen nur die Gründe der Erscheinung ins Auge.
Um diese richtig zu würdigen, haben wir uns gegenwärtig
zu halten, daß die erste Eisenzeit, welche nicht nur den Ge-
brauch des zweiten großen Kulturvolkes, sondern auch die
Herrschaft eines neuen Stiles in Europa einführte, zweifel-
los vom Süden ausgegangen ist. Länder wie Italien und
die Balkanhalbinsel haben, wie heute allgemein anerkannt
wird, in dieser Zeit den größten Einfluß auf Mitteleuropa
ausgeübt. Wenn dies als erwiesen angenonnncn werden
darf, so erscheint die hohe Entwickelung der Bronzekultur in
den vier erwähnten Ländergebieten aus geographischen Grün-
den sehr wohl erklärbar. Für England-Irland einer-
seits und Skandinavien mit Nord deutsch land andrer-
seits wird zuerst die größere Entfernung vom eisenverbreiten-
den Süden maßgebend sein. Es sind geschlossene, relativ
gut bevölkerte Gebiete, gleichsam Endpunkte, wohin das
Eisen und der neue Stil naturgemäß mit spätesten gelangen
mußte. Zugleich sind es mctallreiche Länder, wo man sich
der Bronze in viel intensiverer Weise bemächtigen konnte,
als in metallarmen, bloßen Dnrchzugsgebieten. Schließlich
sind es die Ausgangspunkte der beiden großen nordischen
Handelsrimessen, des Zinnes und des Bernsteines, deren
starker Export nach Süden eine Quelle des Wohlstandes
bildete und zugleich durch die Notwendigkeit eines friedlichen
Verkehrs mit den Nachbarstämmen sittigend wirken mußte.
Etwas anders steht es mit den entwickelungsreichen
Bronzezeitprovinzen Mitteleuropas, mit Ungarn und der
Schweiz. Diese beiden Länderräume sind geographisch
Dr. Moriz Hoernes: Die Genesis der alteuropäischen Bronzekultur.
323
in ihrem Verhältnis zum Süden dadurch charakterisiert, daß
sie vom Mittelmeer durch die vorgelagerten Halbinseln —
Ungarn durch die Balkanhalbinsel, die Schweiz durch Italien
— von diesen Halbinseln selbst aber durch hohe Gebirge
getrennt sind. Dadurch unterscheiden sic sich aufs merk-
barste von den Neben- und Zwischengebieten, namentlich
von Frankreich und Südösterreich. Für Ungarn und die
Schweiz ist also ein gewisses zähes Beharren auf erreichten
Kulturstufen und eine innere, fremdländische Einflüsse ab-
weisende Ausbildung derselben durch die Natur bedingt,
namentlich wenn cs sich um einen Abschluß gegen Süden
handelt. Gegen Einflüsse, die von Westen oder von Süd-
osten ausgehen, wird sich Ungarn naturgemäß anders ver-
halten. In diesem Sinne ist cs ein offenes Gebiet und
hat sich in der Geschichte wiederholt als ein solches bewährt.
Auch die heutigen Zustünde dieser Länder zeigen, daß wir
es mit aparten Existenzbedingungen zu thun haben. Die
Schweiz ist der einzige europäische Staatskörper, welcher
Glieder mehrerer großer Kulturnationen in einem republika-
nischen Gebilde vereinigt. Ungarn ist der einzige Staat
Europas, wo sich Angehörige mehrerer großer Völker unter
der Hegemonie eines nicht arischen Rassenclemcntes zu-
sammengefunden haben.
Die andern europäischen Länder, welche wir im Hin-
blick auf die reine Bronzezeit entwickelungsarm genannt
haben, müssen wir alsbald entwickelungsreiche nennen, sowie
die sogenannte „Hallstattpcriode" oder erste Eisenzeit in
Frage kommt. In Griechenland und Italien hat diese
Kultur auf europäischem Boden zuerst festen Fuß gefaßt;
von dort aus ist sie weiter nach Norden gedrungen. Vor
der ersten Eisenzeit oder, wenn ein Jahr genannt werden
soll, vor 1000 v. Chr., also an Stelle der mittel- und
nordeuropälschen Bronzezeit, finden wir hier ein Präludium
der späteren glorreichen Entwickelung in Gestalt der „my-
kenischen" Kultur, welche ziemlich unfruchtbar geblieben ist.
Diese Kultnrphase zeigt den Wert des Bodens, aber auch
die Unreife des Volkes, auf und unter welchem sie erblühte.
Ihrer ganzen Art nach war sie nicht geeignet, den Weg
nach Norden zu finden. Auch war sie ans europäischem
Boden lokal sehr eingeschränkt und hat selbst in Griechen-
land nur auf der Ostseite und auf den Inseln eine Stätte
gefunden.
Die Länder, welche in der Entwickelung des Bronzestils
keine weiteren Fortschritte gemacht haben, die Provinzen,
welche von dem orientalischen Bronzereich mit frühesten ab-
gefallen sind, waren — von dem zwischenlicgendcn Ober-
italien abgesehen — Südösterreich und Frankreich, d. h. die
klassischen Länder der mitteleuropäischen Hallstattknltur.
Für Südösterreich hat F. v. Hochstetter, für Frankreich
Al. Bertrand die Existenz einer reineren Bronzezeit über-
haupt geläugnet. Sie ist seither für beide Länder erwiesen,
aber allerdings sind ihre Spuren viel dürftiger, als in der
Schweiz, in Ungarn, Norddeutschland und Skandinavien.
Betrachten wir nun dieses Länderpaar in seincnr Ver-
hältnis zum Süden, so zeigt cs sich vor allem auf See-
wegen gut zugänglich, Südösterreich vermittelst der Adria,
Frankreich durch den Golfe du Lion. Lange vor der Grün-
dung der griechischen Pflanzstädte Hatria und Massalia
waren an diesen nördlichen Endpunkten des Mittelmeeres
zugleich die südlichen Endpunkte der Überlandwege, auf
welchen die großen nordischen Exportartikel zur See gebracht
wurden. An der Rhonemündung kam das britannische
Zinn, an der Pomündung der baltische Bernstein zur Auf-
stapelung und zur weiteren Verfrachtung nach Süden. Die
unmittelbaren Hinterländer waren eminente DnrchzngS-
gebiete, welche dem Import 'und Verkehr vom Süden viel
offener standen, als die Schweiz'und Ungarn.
Unter den Fundmassen der „schönen Bronzezeit" in den
beiden letztgenannten cntwickelungsreichcn Ländern trifft man
Fremdlinge, die sich aus den ersten Blick als Angehörige
andrer Knlturkreise zu erkennen geben. So haben die
Skandinavier in den Schweizer Pfahlbansachcn aus dem
Vieler und dem Ncuenbnrger See vereinzelte typische Stücke
ihrer nordischen Bronzezeit, ein Hängegcfäß, ein Scheiben-
fibcl-Fragment, entdeckt. Das darf uns nicht in Erstaunen
setzen, die Grenzen beider Provinzen liegen nicht so entfernt
voneinander, daß nicht einzelne Stücke den Weg von der
einen zur andern hätten finden können. Aber die Schweizer
Pfahlbauten des bel-age du bronze lieferten, wie die
Publikation von Victor Groß zeigt, auch einzelne Fundstücke
(Fibeln), die der Hallstattperiode Oberitaliens, also der
ersten Eisenzeit, angehören. Und ebenso sind, in dem Funde
vor Hajdu-Böszörmeny, charakteristische Bronzegefäße der'
Hallstattperiode neben Typen der vorgeschrittenen ungarischen
Bronzezeit ans Licht getreten. Das sind die schwachen
Wirkungen, welche der Beginn der neuen Zeit und ihres
Stiles auf die abgeschlossenen, von innen heraus zu höherer
Entwickelung gelangten Bronzegebiete Mitteleuropas aus-
zuüben vermochte. Aus die skandinavisch-norddeutsche Bronze-
provinz hat der Stil der Hallstattperiode bekanntlich in der
zweiten Hälfte des letzten Jahrtausends vor Chr. einen
entscheidenden Einfluß gewonnen, ohne jedoch dem Eisen da-
durch zu einer weiteren Ausbreitung seiner Herrschaft zu
verhelfen. Das gelang erst der La Tene-Kultur um den
Beginn unserer Zeitrechnung.
' Den umgekehrten Fall, daß das Eisen vordrang, ohne
den Stil der Bronzezeit — sofern nicht gewisse Elemente
desselben, gleichsam primäre metalltechnische Formen über-
haupt ihr Fortleben finden müssen — außer Kurs zu setzen,
habe ich jüngst in Bosnien beobachtet, wo mir in den
letzten Jahren die Leitung der höchst erfolgreichen Aus-
grabungen in dem Grabhügelgebicte von Glosinac anver-
traut war. Es ist hier nicht der Ort, auf typologische
Einzelheiten einzugehen, ich werde dies an andrer Stelle
thun; hier sei nur bemerkt, daß in Bosnien, wie sonst
nirgends in dem ausgedehnten Länderkreise, welchen man der
Hallstattknltur im weitesten Sinne zurechnen darf, Formen
der reinen Bronzezeit neben dem Eisen ihre Existenz be-
haupten. In tausend und abertausend Grabhügeln der
ersten Eisenzeit finden wir da keramische und metalltechnische
LYPen, wie sic uns in der Regel nur ans den Pfahlbauten
der Schweiz, den Terramarcn Oberitaliens und aus unga-
rischen Bronzezeitsnndcn bekannt sind.
Diese Erscheinung wurde nicht gleich erkannt, weil im
Anfang zu wenig Material vorlag, und weil man von
vornherein, nach dem ersten Bekanntwerden eiscnzeitlichcr
Grabhügelfunde ans Bosnien, von dem Fortgang dieser
Untersuchungen ganz anderes erwartete. Ich selbst bekannte
mich in meiner ersten Publikation über die Altertümer von
Glasinac (Mitteil. d. Wiener Anthrop. Gcscllsch. 1889,
S. 134) enttäuscht; denn ich hatte gehofft, dieser Fundort
würde uns, wie die italischen Gräberfelder der „prima,
epoca del ferro“, neue Belege für die Ableitung der
mitteleuropäischen Hallstattknltur vom Süden darbieten.
Auch war ich einmal (in den Sitzungsber. der Wiener
Anthrop. Gcsellsch. 1888, S. 57) gegen Virchow, der bei
jener Herleitung zunächst ausschließlich Italien ins Auge
fassen will, dafür eingetreten, die Einflüsse, welche uns von
der Balkanhalbinsel her vermittelt worden sein möchten,
nicht unberücksichtigt zu lassen. Thatsächlich sind in den
bosnischen Grabhügeln auch echt griechische Jmportstücke
(ein Helm, eine Kanne aus Bronze u. a.) und hellenisircnde
Fibeltypen (mit großer drei- oder viereckiger Fußplattc) ge-
funden worden, welche eine gewisse Übereinstimmung des
41*
324
Dr. Moriz Hoernes: Die Genesis der alteuropäischen Bronzekultur.
Kulturbesitzes zeigen; aber eine vermittelnde Stellung
zwischen Süd und Nord hat für die bosnischen Funde, bis-
her wenigstens, nicht nachgewiesen werden können. Dagegen
erscheint das oben angedeutete Verhalten der bosnischen
Funde in einem andern genetischen Sinne viel richtiger.
Auf diesem neu erschlossenen Fundgebiete begegnen sich
meine vergleichenden Betrachtungen mit den Studien, welche
die skandinavischen Archäologen seit geraumer Zeit der Ur-
sprungsfrage der in ihrer Heimat so glänzend entwickelten
Bronzekultur gewidmet haben. Das Problem, welches sich
die nordischen Altertumsforscher gestellt haben, ist leichter
zu lösen, als die Aufgabe, welche uns in Mitteleuropa ge-
stellt ist. Jene brauchen zur Erläuterung ihrer heimischen
Bronzen nicht nach Kleinasien und Mesopotamien hinüber
zu greifen, wo uns verschleierte Bilder auf die Zukunft ver-
trösten; sie finden den näheren Ausgangspunkt in den besser
durchforschten Gebieten Mittel- und Südeuropas. Zn
dieser Frage haben Sophus Müller in Kopenhagen, Mon-
telius in Stockholm, Ündset in Kristiania teilweise über-
einstimmende, teilweise differierende Ansichten geäußert. Die
Untersuchung hat sich in den letzten Jahren auf gewisse
hervorragende Typen von Fundgegenständen konzentriert,
namentlich auf die Schwerter und die Fibeln. Darin stimmen
heute Sophus Müller und Undset miteinander überein, daß
sie die Schwerttypen der europäischen Bronzezeit von
einer ägypto-phönikischen Grundform ableiten. Dieser Grund-
typus zeigt eine schilfblattförmige Klinge und eine breite
Griffzunge, an welcher die Grisfschalen mittels Nägeln oder
Bändern befestigt waren. Wir kennen ihn jetzt aus Ägypten,
Kypern, Griechenland (Mykenä, Rhodos) und Italien, so-
wie aus Ungarn, der Schweiz und Nordeuropa in einer
genügenden Zahl von Exemplaren und können ihn getrost
an die Spitze der europäischen Schwertformen der Bronze-
zeit setzen, welche fast alle noch Reminiscenzen an diese Ür-
form (in der Verzierung der vollen Handgriffe) bewahren.
Merkwürdigerweise erscheint aber diese Form wieder in
der Hallstattperiode, die, wie wir sahen, in ihrer Gänze
von Süden herzuleiten ist. Die vollgrissigen Bronzeschwerter
treten hier zurück vor den bronzenen oder eisernen Schwertern
mit belegten breiten Griffzungen. Die Anfänge der ersten
Eisenzeit in den entwickelungsarmen Bronzezeitländern Mittel-
europas müssen also gar nicht solange nach dem Beginne
der reinen Bronzezeit gesucht werden; sonst hätte derselbe
südländische Typus nicht zweimal hintereinander vorbild-
lich werden können.
Etwas anders steht es mit der Urform der Fibel,
deren Entwickelung in Ungarn und Skandinavien so üppige
Blüten entfaltet hat, während die Schweizer Bronzezeit in
diesem Punkte steril geblieben ist. Die Stammform hat
Montelius in Italien gesucht. Von ihr sei die schnörkel-
reiche Fibel der ungarischen Bronzezeit abgeleitet, welche in
vereinfachter Form als Brillenfibel (Doppelspiralfibcl, Hall-
stätterfibel) in Griechenland Eingang gesunden habe und
von dort in der ersten Eisenzeit wieder nach Westen und
Norden verbreitet worden sei. Andrerseits sei die ungarische
Fibel die Mutter der skandinavischen geworden. Auch Und-
set hat die Stammformen der nordischen Bronzezeit früher
in Ungarn gesucht. Heute sieht er sich durch den Fortschritt
der Lokalsorschungcn in früher vernachlässigten Fundgebieten
genötigt, weiter nach Süden hinabzugehen. Daß die unga-
rische Fibel nicht die Mutter der nordischen sein kann, hat
in einem Vortrage auf dem Wiener Anthropologen-Kongreß
1889 F. Szombathy gezeigt, indem er nachwies, daß Fibeln
vom nordischen Typus in Niederösterreich schon während
der älteren Bronzezeit auftreten, während vereinfachte unga-
rische Formen in demselben Gebiete erst am Beginne der
Eisenzeit auftreten. Überhaupt tritt Szombathy dafür ein,
daß die spezifischen Formen der ungarischen Bronzezeit als
relativ späte, mit der ostalpinen Hallstattkultur kontemporäre
Erscheinungen anzusehen seien, worin wir ihm nur bei-
stimmen können.
Undset hat die einfache, unsrer modernen Sicherheits-
nadel ähnliche Grundform der Fibel mit Eifer verfolgt.
Er hat sie in den Terramarcn Oberitaliens, sowie in Ungarn
nachgewiesen. In letzterem Gebiete geht sie nicht neben den
üppig verzierten Formen der jüngeren Bronzezeit her,
sondern stammt sicher aus älteren Schichten. Undset will
die Form nicht von Italien herleiten, wozu kein Anlaß vor-
liegt. Er denkt vielmehr an den nördlichen Teil der Balkan-
halbinsel, wo die klassischen Archäologen aus trachtgeschicht-
lichen Gründen den Ursprung der Fibula suchen. In:
mykcnischen Kulturkreise ist die Fibula unbekannt, und sie
muß daher den orientalischen Völkern ursprünglich durchaus
fremd gewesen sein. Studniczka, gegenwärtig einer der
heften Kenner des altgriechischcn Kostüms, meint, daß der
Ursprung der Fibel in jene Zeit hinaufreicht, als die
Griechenstämme in den unwirtlichen Bergländern inmitten
der Balkanhalbinsel saßen. „Von dort aus werden in dem
Landverkehre mit dem Westen die ersten Heftnadeln zu den
Italikern in der Poebene gekommen sein, deren einfachste
Formen derjenigen unsrer Sicherheitsnadel am nächsten
stehen."
Diese Ableitung hat heute alle Wahrscheinlichkeit für
sich, und ich freue mich, in einer wichtigen Frage, worüber
so bewährte Forscher, wie Undset und Studniczka eines
Sinnes sind, einen kleinen thatsächlichen Beleg beibringen
zu können. Dieser Beleg besteht in dem Nachweise der
Fibelstammform in den Grabhügeln Bosniens, wo, wie
wir gesehen haben, der Stil der Bronzezeit sich mit erstaun-
licher Zähigkeit neben dem eindringenden Eisen behauptet
hat. Die Museen in Wien und Sarajevo besitzen jetzt
solche einfache Fibeln ans Tumulis von Glasinac, und das
Museum in Agram bietet ferner ein ähnliches Exemplar
(aus Toplwica), das mit dem ersten achterförmigcn Schnörkel-
ansatz die Entwickelung zur typischen ungarischen Bronzezeit-
fibula andeutet.
Das hochwichtige Fundgebict im Norden der Balkan-
halbinsel ist noch so gut wie jungfräulich. Und doch haben
wir von dort Aufklärungen zu fordern über das erste Kultur-
stadium, welches die griechischen Stämme ans europäischem
Boden durchgemacht haben, sowie andrerseits Aufklärungen
über die Genesis der mittel- und nordcnropäischen Bronze-
zeit. Und wenn uns typologische Untersuchungen einzelner
leitender Formen hierher in btc- Nähe des Pontus und
Kleinasiens führen, so scheint mir das ein gutes Zeichen,
daß es einmal licht werden wird in der dunkeln Frage nach
der Herkunft unsrer ältesten Metallkultur und der Art
ihres Überganges von Asien nach Europa.
Wißmanns zweite Durchquerung Afrikas^
.825
Wißmanns zweite Durchquerung Afrikas').
Nach den glänzenden Erfolgen der ersten und zweiten * 2)
Wißmannschen Reise log es nahe, daß der gewiegte Forscher
bald zu neuen ehrenvollen Arbeiten im dunklen Weltteil be-
rufen wurde. Da er nach der Kassai- Expedition noch ein
drittes Jahr dem Könige der Belgier verpflichtet blieb, so
stellte ihm dieser die Wahl, ob er die Verwaltung des ganzen
innern Kongostaates vom Stanley-Pool aufwärts übernehmen
oder tut Süden des Kongo das ans der Kassai-Fahrt be-
gonnene neue Werk weiter ausführen wolle. Wißmann ent-
schied sich für das Letztere und empfing nun die Weisung, im
Baluba-Lande unter Benutzung der günstigen politischen Lage
einen Stützpunkt zu allen ferneren Unternehmungen im süd-
lichen Kongostaate zu schaffen und die eingeborenen Stämme
möglichst bis zu den Grenzen mit den neuen Verhältnissen
vertraut zn machen. Außerdem sollte er dem Gange der
Sklavenjagden und des Sklavenhandels nachspüren, diesen
Greueln kräftig entgegen arbeiten und dabei zugleich auf den
kulturellen Wert der südwestlichen Länder sein Augenmerk
richten.
Demgemäß reiste Wißmann am 8. Januar 1886 von
Madeira nach der Kongomündung ab und begab sich über
Boma und Vivi nach dem Stanley-Pool. Gleich in den
ersten Marschtagen traf er mit den deutschen Offizieren Knud
und Tappenbeck zusammen, die eben von ihrer gefährlichen
Der Wißmannfall des Kassai. Etwa 100 m breit, 8 m hoch. Entdeckt am 18. Mai 1886 von Wißmann.
Expedition am Lukenje oder Lukatta heimkehrten. Nach kur-
zem Aufenthalt bei den Kameraden langte Wißmann in
ziemlich leidendem Zustande am 23. Februar in Leopoldsville
an, wo er sofort mit dem Missionar Grenfell ein Ab-
kommen zur Benutzung des Missionsdampfers „Peace" für
die Bergfahrt ans dem Kassai schloß. In Quamouth, an
der Mündung des Kassai, erwartete er die „Peace", mit wel-
cher er nebst einigen Europäern am 22. März die Reise
stromauf antrat. Der anfänglich schmale Kassai erweiterte
sich bald in ein fast unentwirrbares Netz von Kanälen, die,
durch langgestreckte Grasinseln und Bänke getrennt, in ihrer
stillen Einsamkeit einen begehrten Standort für Scharen von
Elefanten und Flußpferden bildeten. An der Mündung des
Z H. von Wißmann, Meine zweite Durchquerung Äqua-
torial-Afrikas vom Kongo zum Zambcsi. Frankfurt a. Oder,
Trowitzsch & Sohn, 1891.
2) Vgl. unsern ausführlichen Bericht im Globus, Bd. LV,
Ar. 7 und 8.
Kuango vorbei, der hier Sali-Mbi genannt wurde, steuerte die
„Peace" in die schon von der Thalfahrt her bekannte seeartige
Verbreiterung des Kassai, den Wißmann-Pool, und wieder
entzückte die Fremden der überraschende Vcgetationsschmuck
und die Fruchtbarkeit des Uferstriches wie der Inseln. Bald
darauf kam der Poggeberg in Sicht; man kreuzte den Aus-
tritt mehrerer kleiner Nebenflüsse, passierte die Übergangs-
stelle von Knud und Tappenbeck und fuhr nun in das
Gebiet der berüchtigten Bassongo-Mino oder Zahnmen-
schen ein, die sich jedoch bei Annäherung des Dampfers
schleunigst ins Innere flüchteten. Sonst benahmen sich die
Uferstämme gegen die Expedition durchaus freundlich und
bekundeten lebhafte Neigung zum Handelsverkehr.
Am 6. April wurde das Gemünde des von Süden
kommenden Sali-Temboa — d. i. der mit dem Luschiko ver-
einigte Loange — untersucht, und zwei Tage später erschien
das Delta des Sankurru, welchen kurz zuvor Dr. Wolf mit
dem Dampfer „En Avant" befahren hatte. Messungen ergaben,
326
Wißmanns zweite Durchquerung Afrikas.
daß der Kassai reichlich ein dreimal so großes Volumen besitzt,
als sein Tributär, so daß es um deswillen schon unangebracht
ist, wenn einzelne Kartographen in allzu strenger Befolgung
der Berichte Knuds und Tappenbecks *) den Namen San-
kurru auch für die Hauptader anwenden.
Gegen Mittag des 12. April öffnete sich auf dem rechten
Ufer der Lnlna, an dem sich gerade mehrere in Weiß ge-
kleidete Personen geschäftig tummelten, bis gleich nachher die
„En Avant" selbst hinter einem Landvorsprnnge sichtbar
wurde. In wenigen Minuten fand sich Wißmann mit
Dr. Wolf und andern Teilnehmern der früheren Expedition
vereinigt und erfuhr die schönen Resultate, die Ludwig Wolf
bei seiner eben vollendeten Tour ans dem Sankurrn und
seinen Tributären für die Hydrographie des südlichen Kongo-
beckens erbracht hattet. — Am folgenden Morgen dampfte
die „Peace" mit Dr. Wolf an Bord in den Lnlna hinein
und ankerte nach 48 Stunden vor der neu gegründeten
Luöbo-Station am Austritt des gleichnamigen Nebenflusses.
Von hier leitete ein sicherer Überlandweg zur Feste Lulua-
bnrg, die der Afrika-Veteran Bugslag seither in muster-
hafter Ordnung gehalten, so daß Wißmann mit freudigem
Erstaunen den Fortschritt deutscher Kulturarbeit auf diesem
entlegenen Posten feststellen konnte.
Unterdes rannten Eilboten nach Mukenge, um dem Fürsten
Kalamba und seiner Schwester Sangula die Wiederkehr
ihres weißen Freundes zu melden, der jetzt zum dritten Male
seinen Fuß in ihr Reich setzte. Ganz Lubnku brach in Jubel
aus, und zu Tausenden strömte das Volk herbei, um mit
schallendem Gruße unsern Forscher willkommen zu heißen. —
Wißmanns Aufenthalt in Lubnku mußte abgekürzt werden
zu gunsten einer geplanten Untersuchung des Kassai, oberhalb
der Lulua-Mündung.
Von der Luöbo-Station ruderte der Führer der Expedi-
tion in Dr. Wolfs Begleitung auf dem Stahlboot „Paul
Pogge" flußabwärts in die Hauptader hinein, die hier in
1000 m Breite ihre trüben Fluten zu Thale wälzt. Die
Ufer waren hoch und von Urwald strotzend, indes fast genau
in der Mitte des Stromes eine merkwürdige Reihe langer
Sandbänke das Wasser teilte. Bald änderte sich jedoch die
Scenerie; Felsgerölle erfüllten die Biegungen, und schließ-
lich zog sich ein niedriges Felsriff quer von Ufer zu Ufer,
das durch einzelne Lücken und Kanäle zwar noch immer eine
Passage freigab, bis gleich darauf ein lautes, brüllendes
Rauschen die Nähe der Fälle und damit die Grenze der
Schiffbarkeit ankündigte. Noch eine letzte Wendung und ein
herrlich - großartiges Bild entrollte sich vor den Augen der
Fremden. In gewaltigem Sprunge stürzte sich der Strom
Ü m tief in ein seeartiges Becken hinab; vier üppig mit
Palmen und Pandanus begrünte Inseln schieden ihn in fünf
Arme. Das war der Wißmannfall, dessen Abbildung
umstehend mitgeteilt ist.
In achtstündiger schneller Fahrt lief das Boot zum Lnlna
zurück, dann diesen hinauf zur Station, wo gerade der
Dampfer „Stanley" mit zahlreichen Europäern verschiedenster
Nationalität angekommen war. Wißmann marschierte jetzt
mit Kapitän de Macar und 150 Schwarzen nach Osten, in
der Absicht, den Balungo-Häuptling Kassongo-Tschiniama
für den Kongostaat zu gewinnen. An die in Dörfern hau-
senden Baluba reihten sich die zerstreut wohnenden Kalo sch,
ein starkes schwerleibiges Volk, bei dem Gestalten von 6 Fuß
und darüber sehr häufig sind. Von Tag zu Tag nahmen 1 2
1) Mitteilungen der afrikanischen Gesellschaft in Deutsch-
land, Bd. V, S. 118.
2) Vergl. Dr. L. Wolf, Reisen in Centralasrika. Bortrag,
gehalten in d. Berliner Gesellsch. f. Erdkunde a. 7. Januar
1887 — und Petermann, Geogr. Mitteil. 1888, S. 193 ff.
mit Tafel 12.
die Eingeborenen an Menge zu; ihre Haltung wurde drohender
und ging endlich zum offenen Angriffe über, der zwar ab-
geschlagen wurde, trotzdem aber Wißmann bei der Schwäche
seiner Truppe zum Rückzug bestimmte, ohne daß er seinen
Zweck erreicht hätte.
In den nächsten Monaten ließ Wißmann, um das An-
sehen des Kongostaates in Lubnku und in weiterem Sinne
unter den Baschilange-Völkern überhaupt fest zu begründen,
seinen alten Gefährten Kalamba feierlich zum Oberhäupt-
ling ausrufen und ihm von den Nachbarn huldigen. Dann
erst glaubte er, die „große Reise" nach Osten in Ruhe an-
treten zu dürfen. Am 16. November verließ er mit Leutnant
Le Marinel, Bugslag und gegen 900 Schwarzen mit
500 Gewehren die freundliche Station Luluaburg. Der
Zug bewegte sich mehr nordöstlich, als die 1882 von Pogge
und Wißmann begangene Route und führte die Expedition
über den Lubi, den Moansangomma und Lubudi an den
Sankurrn und von diesem, der bald verlassen wurde, zum
Lubefn hinüber, welcher später unter der von Dr. Wolf
ihm irrtümlich (?) zugeschriebenen Bezeichnung Lomami in
den Sankurrn mündet. In dieser Urwaldregion, die uns
lebhaft an den von Stanley durchquerten großen Wald am
Aruwimi erinnert, hatte Wißmann das Glück, mit Zwergen
aus dem Batua-Volke zusammenzutreffen. Die Leute waren
klein, von lichtbrauner, gelblicher Farbe mit dunklerer Schattie-
rung, langgliedrig und mager, aber doch nicht eckig, ohne
jede Verzierung, Bemalung oder Haarfrisnr. Ihre Bewaffnung
bestand in Bogen und zierlichen Pfeilen, die sie vor dem
Gebrauch in eine mit Gift gefüllte Kalabasse tauchten, die
am Gürtel befestigt war.
Um Neujahr 1887 zeigten sich bereits die ersten Spuren
der arabischen Menschenräuber, zunächst im Lande der Be-
necki, wo die Karawane bei Kafnngoi die alte Poggesche
Straße wieder einschlug. Aber welche entsetzlichen Verände-
rungen hatten sich hier vollzogen! Statt des volkreichen,
schönen Ortes, wo früher Tausende der Benecki die Weißen
freundlich begrüßt und sie in Frieden von Dorf zu Dorf
geleitet, gähnte jetzt eine durch Mord und Brand verwüstete
Einöde. Noch standen, wie damals, die mächtigen Palmcn-
haine und nahmen die Müden in ihrem Schatten ans; aber
Häuser und Bewohner fehlten; ans den Wegen wucherte
mannshohes Gras, ans dem hier und da ein verkohlter
Pfahl, ein gebleichter Schädel, ein zerbrochenes Gerät an den
unglücklichen Stamm gemahnte. Die Bandenführer Tippn
Tips hatten das Land durchstreift, um ihrem Herrn die
Ausbeute dieser zur Zeit noch unberührten Gebiete vor dem
Eintreffen mißgünstiger Handelsgcnossen zu retten. Deshalb
ward alles mit Stumpf und Stiel ausgerottet, daß dem später
Kommenden nicht einmal die Nachlese blieb.
Fortan traf Wißmann unausgesetzt mit arabischen
Sklavenjägern zusammen. Er passierte das Lager des bluti-
gen Said, der sich an gefangenen Schwarzen int Pistolen-
schießen übte und über dessen Lagerpforte 50 abgehauene
Hände faulten. Je näher dem Kongo, desto größer wurde
der Übermut dieser Scheusale, die ihre sonstige Höflichkeit
ganz außer acht ließen und offen die Weißen verhöhnten.
Nach Überschreitung des zum Kongo gehörigen Lomami kreuzte
Wißmann in der Mitte des Februar 1887 den Lualaba
und nahm in Nyangwe Quartier, wo gerade ein Bastard
Tippn Tips, der schwarze Zefu, residierte, den unser
Forscher bei der ersten Durchquerung aus Mirambos Händen
vor dem sicheren Tode gerettet hatte. Jetzt brannte der Un-
dankbare darauf, Wißmann und seine Karawane gefangen
zurückzuhalten und nur mit Mühe machte sich der Chef aus
der Räuberhöhle los. Seine Getreuen aus Lubnku gingen
unter Leutnant Le Marinel nach der Heimat zurück, wäh-
rend der Führer zum Tanganjika wanderte und dann nach
327
Einige Bemerkungen über die jFibschl-Jnseln.
Udschidschi fuhr, wo er die ersten Nachrichten von den Un-
ruhen im Osten empfing, die ihn bestimmten, sich südwärts
nach Quilimane durchzuschlagen. Von Niumkalo, am Aus-
gange des Sees, stieg Wißmann zu dem hohen Plateau
hinauf, das hier auf kurze Entfernung seine Gestieße ohne
merkliche Wasserscheide >) nach drei Becken, dem Tanganjika,
Bangweolo und Rikwa, entsendet. Die drei letzten Tagemärsche
führten auf einem schmalen Negersteige, von den Briten
emphatisch „Stevensons Road" tituliert, an den Nyassa, d. h.
zur Station Karonga, von welcher das alte Missionsschiff
„Jlala" die Reisenden an den bekannten Niederlassungen der
Kaufleute und Missionare vorbei glücklich in den Schire
brachte. Der Rest der Fahrt um die Murchison-Fälle und
ben mittleren Schire und Zambesi hinab bis Onilimane
^) Vergl. hierzu die Karte auf S. 35 in Nr. 3 des laufen-
den (59.) Bandes.
vollzog sich ohne Hemmnis, so daß Wißmann und Bugs-
lag um die Mitte des August nach Sansibar abreisen konnten,
da auch den letzten treuen Westasrikanern durch das Ent-
gegenkommen der Portugiesen die Rückbeförderung nach
Angola zugesichert war.
Zwei wichtige Erkenntnisse drängten sich Wiß-
mann in den langen Wochen und Monden vom Lnbilasch
bis zum Sambesi ans, nämlich erstens, daß der Ein-
fluß des Arabertums in Afrika nur durch eine
starke europäische Machtentfaltung zu brechen sei
und zweitens, daß sich englischerseits ein ernster
Schlag gegen das morsche portugiesische Kolonial-
reich vorbereite, dem die Portugiesen wahrschein-
lich erliegen würden.
Die Folgezeit hat diese Voraussagen schnell in ihrem
ganzen Umfange bestätigt. ^ .
Einige Bemerkungen über die Fidschi-Inseln.
Die Fidschi- (Fidji- oder besser Viti-) Inseln liefern
jetzt ganz ausgezeichneten Ertrag; sie sind eine gewinnbrin-
gende Kolonie und waren vor zwanzig Jahren noch „zu
tyctbeit“. England hatte es sogar ganz bestimmt abgelehnt
die Oberhoheit dort auszuüben und später, nicht zu seinem
Schaden, doch zugegriffen.
Die politischen Verhältnisse haben sich dort folgender-
maßen entwickelt. Bis zum Ende des vorigen Jahrhun-
derts zerfiel der inselreiche Archipel in eine Anzahl von
einander unabhängiger selbständiger Distrikte, von denen
einige umfangreichere und durch Macht hervorragende über
die andern kleinern sich ein Übergewicht zu verschaffen
wußten. Mit Hülse einiger Europäer, welche 1808
165 Jahre nach der schon 1643 durch Tasman erfolgten
Entdeckung des Archipels — an der klippenreichen Küste
Schissbruch erlitten hatten und des von ihnen erlernten
Gebrauches der Feuerwaffe gelang es dem Häuptlinge
Nanlivn von Alban, den damals mächtigsten Staat der
Inselgruppe, Berata, im östlichen Biti-Levu, zu unterdrücken
und seinem Nachfolger, ihre Herrschaft noch weiter ans-
zudehnen, so daß sie sich unter dem 1852 zur Regierung
gelangten „Könige" Thakombau (oder Kakoban), einem alten
Menschenfresser, über den ganzen Archipel erstreckte. Den
ersten Europäern folgten bald andre, und nachdem durch
^se thatkräftige und von außerordentlichem Erfolge begleitete
Thätigkeit der Missionare größere Ruhe und Sicherheit,
wenigstens in den Küstenländern, erzielt war, erfolgten Ein-
wanderungen im größeren Maßstabe und mit ihnen zuneh-
mender Verkehr und Handel. Durch eine- hohe an ihn
gestellte Geldforderung in Verlegenheit gesetzt, trug König
thakombau 1858 der britischen Regierung unter gewissen
Bedingungen die Oberhoheit über die Insel an; die Regie-
rung lehnte jedoch damals den Antrag ab. Diesen Antrag
wiederholte der zum Ehristentum bekehrte Thakombau im
üahre 1874 als neuerdings politische Wirren aus den
Fidschi eintraten, diesmal eine Folge der Einführung einer
Konstitution mit Ministern und Parlament nach euro-
päischem Zuschnitt, natürlich auch mit zahlreichen Gesetzen
»nb hohen Steuern, denen die europäischen Ansiedler sich
widersetzten. Die Verwirrung nahm einen hohen Grad
stn und die Engländer beschlossen nun zuzugreifen. Am
10. Oktober 1874 wurde der Archipel an Großbritannien
abgetreten und am 1. September 1875 übernahm der erste
. Gouverneur, Sir A. Gordon, die Regierung in aller Form.
Die Fidschi-Inseln mit dem in bezug auf Verwaltung
dazugehörigen aber entfernt liegenden Rotumah haben
20843 km mit 126 000 Bewohnern, mithin 6 auf den
Quadratkilometer. Danach ist dieser (aus 200 Inseln
bestehende Archipel) etwas größer als das Königreich
Württemberg.
Die meisten Inseln, darunter die beiden Hauptinseln,
Viti-Levn und Vanua-Levu, sind gebirgig, mit Erhebungen
bis über 1200 in. Vulkanische Gesteine, Laven, Basalte, Kon-
glomerate setzen hauptsächlich den Boden zusammen, der noch
größtenteils dicht bewaldet ist und wertvolle Nutzhölzer trägt.
Die Bewässerung ist eine vorzügliche und zahlreiche Flüsse
und Bäche suchen ihren Weg nach dem korallennmsänmten
Gestade. Der Fluß Rewa ans Viti-Levn ist 80 km weit
schiffbar; der jährliche Regensaü beträgt im Durchschnitt
500 06m. Die Häfen und Reeden der Inseln sind zahl-
reich und wohl geschützt, aber wegen der alle Inseln um-
gebenden gefährlichen Korallenriffe schwer zugängig.
Die Inseln sind so oft und vorzüglich geschildert worden,
daß ich nicht näher ans deren geographische Verhältnisse
eingehen will. Aber einige kurze Bemerkungen über die
Einwohner will ich hier mitteilen, wie dieselben sich mir
während meines Aufenthaltes aufdrängten. Reine Mela-
nesier sind die Fidschianer keineswegs, sie sind vielmehr stark
mit polynesischem Blute vermischt, wenn auch die Rasse der
dunkelfarbigen Südseeindianer vorherrscht; schon die geogra-
phische Lage, inmitten der melanesischen und polynesischcn
Inseln, weist darauf hin und die bei beiden Rassen vorzüg-
lich ausgebildete Schiffahrt mußte die Mischung befördern.
Hat man reine Melanesier und reine Polynesier gesehen,
dann kann man die Vereinigung beider Elemente ans den
Fidschiinseln finden, aber keineswegs so, daß eine gleich-
zeitige Körpermischung aus beiden Elementen hervorgegangen
wäre, in welcher die beiden bildenden Faktoren, der mela-
nesische und der polynesische, zn einem einheitlichen Typus
verschmolzen wären. Vielmehr macht jeder für sich sich
geltend, so, daß innerhalb einer Familie, bei den Kindern
desselben Elternpaares, das eine mehr melanesischen, das
andre mehr polynesischen Typus zeigt, dunkler oder Heller,
krauser oder lockenhaariger ist. Alle sind wohlgebaut und
die Farbenabstnfungen wachsen vom dunklen kupserbraun
bis schwärzlich; eigentlich „negerartige" sieht man nicht und
in jeder Beziehung stehen sie über dem, was wir gewöhnlich
als Neger uns vorstellen. Ich erwähne dieses deshalb, weil
Fahrzeuge der Fidschi-Insulaner
328
Einige Bemerkungen über die Fidschi-Inseln.
329
V
ßintqe üßetuetiuttQfn übet bic üribf djtiiOiitjelrt.
oft ein anthropologischer Znsammenhang zwischen Negern
und Melanesiern von Anthropologen angenommen wnrde,
eine Hypothese, die ans kraniologische Merkmale begründet
wnrde.
Die Sprache klingt sehr harmonisch; Mundarten der-
selben sollen, wie mir Missionare versicherten, in ziemlicher
Abweichung aus den verschiedenen Inseln bestehen. Die
hellsten Insulaner leben aus der kleinen Insel Banna Mba-
lavu, südöstlich von Vanua Levu, zu den sogenannten Wind-
ward Islands gehörig. Man nimmt an, daß hier starke
Beimischung von Tonganern stattfand.
Die Natur hat ihre Gaben so reichlich über Fidschi
ausgestreut, daß das Volk dort' ohne viel Arbeit leben kann.
Ackerbau, Fischfang, Schiffahrt bilden die Hauptbeschäfti-
gung. Indessen ist der Fidschianer so kräftig und wider-
standsfähig, daß er recht gut soviel arbeiten kann, wie ein
europäischer Arbeiter und sie haben dieses auch, wenn ihr
Interesse in Frage kommt, und sie angeleitet werden, gethan,
so daß sie als Arbeiter in den Pflanzungen recht gute
Dienste thun.
Die Kultur, die nun seit der britischen Besitzergreifung
mit Macht über sie hineinströmt und in immer verstärktem
Maße sich geltend macht, je mehr Weiße ans dem Archipel
sich ansiedeln, hat ihre gesellschaftlichen Verhältnisse und
Bräuche bis jetzt noch wenig verändert. Freilich, der
Kannibalismus, wegen dessen sie übel berüchtigt waren,
hat ausgehört und man munkelt nur zuweilen von einigen
Rückfällen bei den Bergstümmen, die steinerne Axt ist durch
die eiserne ersetzt worden und Baumwollstoffe dienen zur
Bekleidung. Aber im ganzen leben die 110 000 Ein-
geborenen — sie waren früher zahlreicher, bis die Masern
zahllose Opfer forderten — in ihren 1200 Dörfern noch
Fidschi-Dorf bei Suva.
nach der Väter Sitten. Keinensalls sind sie in körperlicher
Beziehung zurückgegangen, wozu auch die Verhinderung des
Branntweinhandels durch die Regierung das ihrige mit bei-
getragen haben mag.
In geistiger Beziehung sind die Fidschianer tüchtig ver-
anlagt und man darf hoffen, daß sie sich noch weiter ent-
wickeln werden. Als td) die von den Engländern begründete
„industrial School“ für Eingeborene besichtigte, fand ich
dort gegen hundert Knaben von den verschiedenen Inseln
beschäftigt. Die europäischen Lehrer bestätigten mir, daß sie
in der Tischlerei, dem Zimmermannshandwerk, dem Boot-
banen und andren Gewerben ganz vorzügliche Fortschritte
wachten. Namentlich im Bootbauen, denn dieses liegt ihnen,
wie den meisten Südseeinsulanern, sozusagen im Blute.
Hhre heimischen Boote, klein wie groß, sind schon Neuster
tüchtiger Schiffsbankunst. Wie bei den übrigen Südseeinsula-
ucrn haben auch die Fahrzeuge der Fidschiinsulaner Ausleger,
auch bauen sie sehr schöne Doppelkanns, Fahrzeuge, mit
Globus LIX. Nr. 21.
Nach einer Photographie.
denen sie weite Reisen unternehmen, und die durch fort-
währendes Ausschöpfen über Wasser gehalten werden. Sie
bestehen ans dem eigentlichen, gewöhnlich 30 m (!) langen,
aber nur 3 ui breiten Schisse mit 5 m tiefem Schiffsraum,
sowie dem nur halb so langen, als Ausleger dienenden
Nebenschiss. Letzteres wird selten bemannt oder zur Unter-
bringung von Lasten benutzt, dient vielmehr meist nur als
Gegengewicht und Ausleger für das große und schwere Haupt-
schiff. Bei diesen großen Fahrzeugen liegt ans den dieselben
verbindenden Querbalken eine Plattform mit Hütte, von der
aus auch das Segel bedient und das Schiss gesteuert wird.
Ein solches vollständig ausgerüstetes Doppelkanu kann
200 Blaun nebst Vorräten sür 8 oder 10 Tage aufnehmen.
In früherer Zeit, als die einzelnen Inseln einander noch
bekriegten, segelten ganze Flotten solcher Fahrzeuge aus.
Von wesentlichem Einflüsse aus die Insulaner sind die
Missionare, die dort seit langem ein sehr ergiebiges Feld
ihrer Thätigkeit gesunden haben. Wesleyaner, Katholiken
330
Einige Bemerkungen über die Fidschi-Inseln.
und die englische Hochkirche sind dort an der Arbeit. Das
System der eingeborenen Lehrer (native teachers) hat sich
bereits ans die meisten Dörfer erstreckt, in denen man jetzt
ein Kirchlein und eine Schule findet. Mehr und mehr
breitet sich die Kenntnis der englischen Sprache über die
Inseln aus. Im Gefolge der Missionsthätigkeit und der
Bekehrung zum Christentum machen sich aber neben manchen
Fortschritten auch Ubelstünde geltend. So werden viele Ein-
geborene geradezu religiös überspannt, andre dünken sich als
Christen zu gut, um bei Weißen zu dienen und zu arbeiten,
wie denn die meisten Ansiedler in den Städten Suva und
Levuka vielfach darüber klagen, daß die Dienstboten lieber
mit der Bibel in der
Hand dasäßen, als
im Hause und der
Küche zu arbeiten.
Die Hauptstadt
Suva liegt auf
Biti-Levu und ist
der Sitz des Gouver-
neurs , gegenwärtig
Sir John Thistle,
der seit der britischen
Besitzergreifung hier
wohnt, sich von unten
aufgeschwungen hat
und die Sprache der
Eingeborenen voll-
kommen spricht.
Suva besitzt, außer
den Regicrungsge-
bäuden, Kirchen und
Schulen, jetzt schon
drei Hotels, welche
mäßigen Ansprüchen
genügen. Dicht da-
bei kann man die
Hütten der Einge-
borenen noch studie-
ren. Sie bilden
längliches Biereck,
welches meist auf
einer klein künstlich
hergestellten und an
der Seite mit Stei-
nen eingefaßten Er-
höhung errichtet ist.
Ilm die Schweine
von der Hütte fern
zu halten, wird diese
oft mit Pallisaden
aus Farnbaumstäm-
men umgeben. Das
Sparrenwerk ruht auf starken Pfosten; alles ist mit gefloch-
tenen Kokosfasern zusammengebunden. Das Dach ist mit
Gras oder Schilfblättern gedeckt und die ans Rohrgeflecht
gebildeten Seitenwände ebenso mit Gras oder Blättern dicht
verkleidet. Fenster giebt es nicht, nur Thüren. In der
Mitte der Hütte ist der Kochplatz, auf dem die irdenen
runden Töpfe auf Steinen ruhen. Unter allen Südseevölkern
haben die Fidschianer es am weitesten in der Töpferei ge-
bracht, sie verstehen es sogar, Glasur herzustellen. Über
dem Kochplatz sind Geflechte angebracht, um Holz und die
Kawawnrzel zu trocknen, aus der das beliebte berauschende
Kawagetränk bereitet wird. Der Fußboden ist mit Matten
gedeckt. Die Schlafplätze werden zum Schutze gegen die
Stechmücken mit dem einheimischen Stoffe aus dem Papier-
j maulbeerbaum, der Tapa, umhangen; als Kopfkissen dient
ein kleiner hölzerner geschnitzter Schemel. Bei den einge-
borenen Lehrern fand ich eine besondere Küche angebaut, die
als Beispiel dienen soll, wie viel reinlicher und gesunder
eine solche Einrichtung ist. Indessen findet sie bei den
Fidschianern, die in bezug auf ihr Hauswesen sehr konser-
vativ sind, nur wenig Nachahmung. Bedeutender als Suva,
namentlich für den Handel, ist die Stadt Levuka auf
der kleinen Insel Ovalan. Dort hat auch unser deutscher
Konsul, Hennings, seinen Sitz, der einer der ältesten leben-
den Ansiedler auf den Fidschi und einer der bedeutendsten
. Kaufleute daselbst ist. Seine Erinnerungen reichen noch in
die alte Menschen-
fresserzeit zurück und
er weiß davon man-
ches zu erzählen. Als
seine Frau einst
niedergekommen war,
sandte ihm ein be-
nachbarter Häupt-
ling aus Aufmerk-
samkeit ein Geschenk
für diesen Fall. Es
bestand in einem
Frauenarm — ge-
wiß eine seltsame
„Wochensuppe".
Welchen Wechsel hat
Herr Hennings hier
nicht schon erlebt!
Statt der einheimi-
schen gelten jetzt eng-
lische Gesetze, die
allerdings auch da
streng geblieben sind,
wo die Fidschi-In-
sulaner ehemals
strenge Gesetze be-
saßen, schon darum,
damit sie nicht
glauben sollten, die
Weißen straften ge-
ringer wie sie. Ehe-
bruch und Prostitn-
tion werden z. B.
mit Gefängnis be-
straft. Es giebt
ordentliche Gerichts-
verhandlungen, die
in einheimischer
Sprache geführt wer-
den und bei denen
Richter und Anwalt
trotz der Hitze nach englischer Art in Perücke und Talar er-
scheinen müssen! Auch Gefängnisse besitzt man schon in Suva.
Wie schon angedeutet, nimmt die Zahl der Eingeborenen
ab, wozu viele europäische Einrichtungen beitragen und vor
allem die Masern, die schreckliche Verwüstungen anrichteten.
Die Krankheit war 1875 von Australien eingeschleppt
worden, bis dahin unbekannt und erregte einen fürchterlichen
Schrecken unter den Eingeborenen. Die Folge war eine
Reaktion gegen die Weißen und Missionare, welche man
als die Ursache der Seuche betrachtete; letztere wurden zum
Teil verjagt und das alte Heidentum wieder angenommen.
Über 10 000 Eingeborene sind damals von der Seuche
hingerafft worden, das Elend war unbeschreiblich und die
Leichen wurden von den Schweinen gefressen. Es konnte
Fidschi-Insulanerin. Nach einer Photographie.
Der Kanal von Nikaragua.
331
Heinrich Becker:
fürwahr nicht wunder nehmen, daß die unwissenden Ein-
geborenen der inneren Distrikte den Glauben faßten, die
Weißen hätten cs auf ihre gänzliche Vernichtung abgesehen
und zu diesem Zwecke die ihnen bis dahin ganz unbekannte
Masernkrankheit eingeführt. Die Zahl der Frauen ist auch
geringer als diejenige der Männer. Das Geschlecht der
Mischlinge von europäischen Vätern und Fidschimüttern ist
im Zunehmen und heute vielleicht schon ebenso groß wie die
rein weiße Bevölkerung, die etwa 3000 beträgt. Die
Mädchen, aus gemischtem Blute, die ich sah, waren recht
hübsch.
Eine Merkwürdigkeit, die ich nicht unberührt lassen
will, ist, daß die Hunde auf den Fidschiinscln nicht fort-
kommcn. Nicht etwa, weil das Klima ihnen nicht zusagt,
sondern wegen einer eigenen Art von Parasiten. Eine Art
Eingeweidewurm dringt nach dem Herzen vor und ver-
mehrt sich dort so stark, daß schließlich das Herz wie mit
einem Pelz umgeben ist. Dann stirbt der Hund und all-
jährlich müssen zum Ersätze neue von Australien eingeführt
werden.
Kein Zweifel, daß die Fidschiinseln in nicht zn langer
Zeit zu den wertvolleren Kolonieen Englands gehören wer-
den. Der Boden ist außerordentlich fruchtbar. Zucker wird
in großer Menge gebaut; die Kopra (getrocknete Kokosnuß)
bildet den Hauptartikel und Versuche mit dem Anbau des
Thees haben sehr günstige Resultate ergeben.
Der Kanal von Nikaragua.
Dem Heinrich Becker.
(Nachdruck untersagt.)
Die Republik der Vereinigten Staaten von Nordamerika
hat ihrer Freundin, der Republik Frankreich, einen Dienst
erwiesen, von dem man heute noch nicht sagen kann, wer
den Vorteil davon trägt. Zn dem Augenblick, in dem das
Unternehmen des Herrn von Lesseps — der Bau des
Panama-Kanal — zum stillstehen genötigt war, be- !
gannen die Amerikaner den Bau des Kanals von Nikar-
agua. In freundschaftlicher Übereinkunft hat die neue
Gesellschaft bereits die Bagger-Maschinen dem Herrn
von Lesseps abgekauft; andre Geräte werden nachfolgen — es
ist ihrem Zwecke dienlicher, sie werden benutzt, als daß sie
unter endlosen Regengüssen verrosten.
Herr Warner Miller, der Präsident der Nikaragua-
Gesellschaft, hat über den Beginn des Unternehmens be-
richtet. Bevor wir davon reden, sei eine Schilderung der
neuen Situation gestattet. Zentral-Amerika, der lange
schmale Landstrich zwischen Nord- und Süd-Amerika, besteht
in seinem Grundstöcke ans einer langen Reihe von Vulkanen.
Man zählt deren 30, von denen heute noch 16 bis 18
thätig sind. Sic lausen alle an der Westseite her; sie
steigen bis zn 3000 und 3700 m empor (einer bis zn
4400 m) und fallen jäh zn dem Wcstmeere hinab. Auf der
Ostseite ist bis zum 10. Grade nördl. Br. gleichfalls jäher
Absturz zum Karibischen Meere. Nördlich davon dachen
sie aber in langem Verlaufe allmählich sich hinab.
Der Grund liegt in den beiden Mcerströmen, die im
W und 0 verschieden sind. Im W zieht von dem Nordpol
der kalte Pacifische Strom südwärts zum Äquator; im
0 der warme Altlantische Strom nordwärts zum Pole.
Zener wird mit der nach 0 rennenden Erde hart wider die
llfer geschleudert, er höhlt die Felsen aus und läßt kein
Geröll sich ansammeln. Die Küste ist deshalb felsig und
steil; sehr wenig Buchten, die ein Schiff bergen könnten.
Der Atlantische Strom wird von Afrika zurückgeworfen; er
läuft dann gegen die Drehung der Erde und fällt nur mit
halber Stärke wider Süd- und Nord-Amerika. DasAutillcn-
Meer ist deshalb nicht als eine Aushöhlung eines zerstörten
Kontinentes zu betrachten. Die Antillen sind vielmehr
werdende Inseln; sie haben einen vulkanischen Kern, der
von angeschwemmtem Grus und Sand sowie von Korallen-
Bauten umgeben wurde.
So ist auch die Ostküste von Zentral-Amerika ein breites
angeschwemmtes Land, was aus der verwitterten Lava der
Vulkane und dem von den südamerikanischen Flüssen hcr-
gespülten Sand, Thon und Kalk von dem Golfstrome ge- |
bildet wurde. Es dacht sich in der Ausbauchung von
Nikaragua bis zu 100, in der Halbinsel L)ukatan bis zu
200 Stunden vom Gipfel der Vulkane bis zum äußersten
Vorgebirge im Antillen - Meere ab. Unter dem Meere
laufen von Nikaragua nach Jamaika, wie von Lsukatan nach
Kuba zu eine Menge Korallenriffe und schon ausgefüllte
Sandbänke hin, die bereits den Weg andeuten, auf dem
diese großen Antillen einst mit Zentral-Amerika verwachsen
werden.
Zwischen den Ausbauchungen laufen auf der Antillen-
seite große Buchten in die Küste des Festlandes hinein:
der Golf von Dänen, der Golf von Mosquito, der von
Honduras und der von Campeche. Sie sind teils durch den
Rückstoß des Golfstromcs, den er an den Antillen erleidet,
teils durch das Ausströmen der Flüsse gebildet. In größe-
rem Maße ist dies bei den Flüssen von Ljukatan zu sehen,
an denen große Lagunen mit Sandbarren sich bildeten. Zn
kleinerer Gestalt gewahrt man dies an der Bucht von
Aspinwall, von welcher der Panama-Kanal ausgehen soll
— und der Bucht von San Juan del Norte — von
welcher der Kanal von Nikaragua anfängt. Zn jene fließt
der Rio Chagrcs, in diesen der Rio San Juan.
Der Rio San Juan kommt ans dem See Nikaragua.
Der See liegt inmitten des Landes, sechs bis sieben Stunden
von der Westküste, 20 bis 25 Stunden von dem Antillen-
Meer. Er läuft in der Axe von Zentral-Amerika, von
NW nach SO, in einer Länge von 36 und Breite von 15
Stunden i). Am NW-Ende strömt der Rio Tanaloya herein,
der aus dem oberliegcnden See Managua kommt. Rings
um den Managua, wie den Nikaragua erheben sich ganze
Reihen von Vulkanen. Im NW des Managua stehen allein
deren sechs heute noch thätige, riesige Gipfel, die bis zu
3500 und 3700 m sich erheben. Von ihnen flößt der
Regen die kleinen Basaltkörnchen herab, die dem Nikar-
agua seinen Namen gaben, d. i. „Schwarz-Wasser“2).
Die großen Vulkane liegen alle an der NW- und 8W-
Scite der beiden Seen; an der W-Scitc liegen kleinere, er-
loschene, dazwischen. Auf der ganzen 0-Seite ist nur ein
minder hohes Gneis-Plateau, das im 80 zur Mündung
des San Zuan-Flusses sich verläuft. Damit ist eine Gasse
gebildet von 10 bis 15 Stunden Breite, die von dem
Managua, Nikaragua und San Juan durchströmt wird.
Sie zieht mit der Axe von Zentral-Amerika von NW nach
80 und öffnet sich im Kariben-Mecr.
1) Das ist etwa die halbe Länge des alten Rhein-See,
der von Basel bis Frankfurt reichte.
2s Der „Blaue Nil" führt ebenso den Namen von den
Bnialtkörnchen, die von dem Rbessinischen Gebirge ihm zuge-
slößt werden.
42*
332
Dr. Friede. S. Krauß: Die Falkenjagd in Bosnien.
Der Regen, der die Seen füllt, kommt nicht vom Stillen
Meere. Der kalte Strom bringt nur wenig Dämpfe; die
hohen Gipfel, die in Guatemala zuweilen Schnee erhalten,
kaffen keinen Dampf herüber; wohl aber kommt er vom
Antillen-Meer. Der Golfstrom, der vom Äquator kommt
und die Gaffe zwischen den Vulkanen bildete, jagt auch den
Regen ans dieser Richtung hinein. Er spült die Berge in
der Gasse ab, färbt die Seen mit den schwarzblauen Körn-
chen und führt den feinen Sand bis zur Mündung des
San Inan hinab ans Meer.
Der San Juan bildet eine Lagune und daraus eine
Bucht mit vorstehender Sand-Barre. Sie führt den be-
zeichnenden Namen „Punta Arcnas", d. i. „Sand-Spitze".
Für den Geologen ist sie ein Warnungszeichen; der Ingenieur
kümmert sich nicht viel darum. Nach dem Bericht des Herrn
Präsidenten Warner Miller haben die Ingenieure die
Sandbarre durchbrochen und — „wo vor drei Monden noch
trocknes Land war" — führt jetzt ein Kanal nach dem
Flusse, der den Schiffen von sieben Fuß Tiefgang bereits
den Eingang gestattet. Dann haben sie eine Reihe von
Wellenbrechern vor der Mündung aufgebaut, die dem
Golfstrom einen andern Weg weisen sollen.
Die Geschichte erzählt, daß im Jahre 1850 eine
Dampfschiffahrt auf dem Nikaragua, wie dem San
Juan-Flusse errichtet wurde. Im Jahre 1855, als die
Kalifornier durch ihre Goldfunde ganz Amerika und Europa
aufregten, wurden die Dampfer viel benutzt. Als aber bald
darauf eine Eisenbahn über die Landenge von Panama ge-
baut, ward die Schiffahrt auf dem San Juan ihrer besten
Fracht, des Transportes über den Isthmus, beraubt. Im
Jahre 1863 war dann die Mündung des San Juan derart
versandet, daß der geringe Verkehr die Ausbaggerung
nicht lohnte. Heute wird die Bagger-Maschinerie des
Herrn von Lesfeps zunächst an der Mündung des Flusses
dem Unternehmen guten Vorschub leisten. Immerhin ist
jener Vorgang bedenklich, daß von 1850 bis 1863 der
Fluß bis zur Unschiffbarkeit versandete.
Die kleinen Dampfer, welche früher den San Juan
herabfuhren, mußten in der Mitte ausladen, weil Strom-
schnellen die Fahrt hemmten. Diese Sperren werden
jetzt durch einen Kanal umgangen, der den Ober- und Unter-
lauf des San Juan verändert. Hier werden auch Schleusen
angelegt, durch welche die Schiffe zu dem See hinauf ge-
hoben werden. Der See liegt 40 m über dem Atlantischen
Meere. Der San Juan durchläuft eine Strecke von 32
Wegstunden. Es sind demnach von der Mitte des Flusses
an 10 bis 15 Schleusen mit je 2 m Stauung erforderlich,
um ein Schiff bis in den Sec zu bringen.
Zwischen dem See und dem Stillen Ozean erhebt sich
ein sechs bis sieben Stunden breites Felsen-Plateau. ES
erhebt sich bis zu 1000 m; einzelne erloschene Vulkane stehen
als Kegel in einer flacheren Ebene. Zwischen diesen soll
der Kanal hindurchgehen. Wie hoch hier der niederste Paß
über das Meer sich erhebt, ist uns nicht bekannt. Wenn er
auch nur 60 m über dem See, d. h. 100 m über dem
Stillen Ozean steht *), dann ist die Arbeit schon bedeutend,
weil der Kanal auf die Höhe des Sees (40 m über dem
Meere) eingeschnitten, dann eine ebenso große Schleusen-
Reihe, wie auf der Ostseite angelegt werden müßte, damit
die Schiffe von dem Nikaragua in den Golf von Papagayo
im ^V-Meere gelangen könnten.
Es find bis jetzt auf der 0-Seite ungefähr 1000 Per-
sonen beschäftigt. Die Maschinisten und Handwerker sind
Weiße ans der Union, die Arbeiter Neger aus Jamaika.
0 Der höchste Punkt von der Wasserscheide des Panama-
Kanals beträgt nur l00rn.
Es soll bis jetzt noch keiner gestorben sein, obgleich sie auf
sumpfigem Boden arbeiteten. Man rühmt dies, im Gegen-
satz zu Panama, ob aber mit Recht?
As pinwall oder Eolon, die 0-Station des Panania-
Kanales, liegt unter dem 9. Grad nördl. Br.; San Juan
del Norte, die 0-Station von Nikaragua, unter dem
11. Grad nördl. Br. Beide liegen innerhalb der Wendekreise.
Zweimal im Jahre steht hier die Sonne senkrecht; man
kann sagen von anfangs Mai bis anfangs September ohne
Unterbrechung fast senkrecht. Während dieser Zeit fangt
die Sonne fortwährend die Dampfmassen aus deut Antilten-
meer und der Cyclon, der sich dabei entwickelt, jagt sic mit
ungeheurer Gewalt längs der Küsten und des schmalen Fest-
landes. Der Rio Chagres (Panama) stürzt die Wasser-
massen nach Colon; der San Juan nach der Hafenstadt, die
nach ihm benannt ist (von den Engländern vorübergehend
Greytown geheißen). Die Wasfermassen fallen rasch nach
dem Meere; die Sandmaffen, die mit ihnen fließen, häufen
sich aber zu Barren, die das Wasser wieder aufstauen,
Lagunen und Sümpfe bilden.
Diese sind bei San Juan bedeutender, als bei Eolon.
Unmittelbar im X der Stadt beginnt die Küste der Mos-
quitos. Hier sind die ebenso genannten Indianer weniger
gefährlich, als die kleine Fliegenart, welche man zum ersten-
mal dort kennen lernte. Sie sind ein Produkt der Sümpfe
und der dichten Urwälder, die aus diesem Treibhause empor-
schießen. Sumpf und Urwald bringen aber auch den schlim-
meren Feind, das gelbe Fieber, das hier, wie auf Jamaika,
Kuba und Florida, alljährlich mit der Regenzeit seinen Ein-
zug hält.
Herr Warner Miller ist trotzdem kein „Warner". Er
ist vielmehr ebenso opfermutig wie Herr de Lesfeps. Er-
hofft bis zum Jahre 1897 den Kanal zu vollenden. Die
Kosten berechnet er auf 120 Millionen Dollars. Das
lautet allerdings weniger, wie 600 Millionen Franks, mit
denen Herr de Lesfeps begann. Die Amerikaner sagen des-
halb: Wenn der Kanal das Doppelte kostet und fertig wird,
dann ist er billiger, wie der des Herrn von Lesfeps, der mit
120 Millionen Franks nicht vollendet wurde. Man rechnet
auf 7 Millionen Tonnen, die den Kanal jährlich passierten;
für jede Tonne 3 Dollars, ertrüge das Werk 21 Millionen
Dollars oder 100 Millionen Franks. Das wäre bei
1200 Millionen Anlagekosten immer noch ein reicher Gewinn,
der geeignet ist, vielen mutigen Leuten noch mehr Hoffnung
zu erwecken. So kann mit Energie und Geduld das Werk
gelingen und damit ein Schlenfen-Kanal Zustandekommen,
welcher dem Welthandel so lange aushilft, bis ein zweiter
Lesfeps die halb fertige Meerstraße vollendet.
Die Falkenjagd in Bosnien.
Bon Dr. Friedr. S. Krauß.
In meiner vor drei Jahren veröffentlichten Studie „über
den Einfluß des Orients auf die Südslaven" setzte ich, cnt-
gegen den landläufigen Ansichten, auseinander, daß die Türken
im wahren Sinne des Wortes Kulturträger für die Süd-
slaven gewesen. Sie vermittelten ihnen persische, arabische
und ägyptische Kultur, abgesehen von der türkischen, deren
relative Höhe der Ethnograph nicht unterschätzen wird. Nicht
bloß die Sprache, sondern auch das ganze Leben der Süd-
slaven weisen vielfach auf türkischen Einfluß hin.
Die Zähmung der Falken zur Jagd und auch zur Brief-
post gehörte zur Türkenzeit bei den bosnisch-hcrzögischeu Edel-
leuten zu den gewöhnlichen Beschäftigungen. Den Gebrauch
der Jagdfalken finden wir öfter in Guslarenliedcrn besprochen,
aber meines Wissens nur dreimal den Falken als Brief-
333
Bücher
boten. Brieftauben scheint man nicht benutzt zu haben, zum
mindesten nicht bei Mohammedanern. In einem noch un-
gedruckten Guslarcnlicde meiner Sammlung tvird erzählt, wie
Mnskie Stjepan (Stefan der Moskauer) seinen Brief nach
Udbina bestellt:
er rief darauf herbei den grauen Falken
und band ihm um den Hals das Briefchen fest,
und gab auf griechisch ihm sodann die Weisung:
— „Verweil mir nirgends und an keinem Orte
eh' du zur Burg des Burgherrn hingekommen,
dann laß dich ihm aufs Fenstergitter nieder!"
Der Falke flog zum Himmel unter Wolken
und ließ im türk'schen Udbina sich nieder
ans Osmanagas weißgetünchter Warte
und von der Warte schoß er hin ans Fenster.
Als ihn ersah der Burgherr Osmanaga,
da sprach er wohl auf griechisch au den Falken:
— „Komm her zu mir graugrüner Vogel Falke!"
Der Falke fiel ihm ans den weißen Schoß,
da löst' er ihm den Brief vom Halse los
und legte sich den Brief auf seine Kniee
und brach das Siegel von dem Schreiben auf.
Bei den Türken stand die Falkenbeize seit jeher in größ-
tem Ansehen. („Falknerklee", drei ungedruckte türkische Werke
über die Falknerei, eines der ältesten Denkmäler der türki-
schen Literatur, übersetzte Josef von Hammer. Pesth
1840.) Die türkischen Sultane waren fast ausnahmslos
Freunde der Falkenjagd. Am meisten widmeten sich ihr
^ojesid, der Wetterstrahl, und Mohammed IV. Nach der
Schlacht bei Nikopolis (28. September 1396) gab S. Bajesid
ben ausgelösten deutschen, ungarischen und französischen
Kriegern eine Falkenjagd zum besten und setzte sic durch die
Pracht seines Jagdstaates, der aus 7000 Falkenjägern
und 6000 Hundewärtern bestand, in Erstaunen. Die
Falkeniere bildeten die Masse der sultanischen Jägerei, welche
aus den vier Klassen der Falkenjäger, der Weihejäger, der
Geierjäger und der Sperberjäger besteht, während die
Hundewärter, in der Folge den Janitscharen einverleibt,
33 Regimenter derselben bildeten. Ihre höheren Offiziere
wurden durch Benennungen der Jagd nach den ältesten
Begriffen des Morgenlandes geadelt, weil die Lebensmittel
ber Nerv des Krieges und die Jagd das edelste Vorspiel
desselben ist i).
^ In dieser Schule lernten auch die bosnisch -herzögischcn
^pahis und Zaimbege die Falknerci kennen und verpflanzten
fle von dort in ihre Heimat, wo sie sich bis auf den heutigen
Sag noch behauptet hat. Der verdienstvolle und sehr
strebsame Herausgeber des „Glasnik" in Sarajevo, Herr
K. Hörmann, ließ durch den Maler Ewald Arndt aus
Deutschland, darüber in Bosnien Ermittelungen anstellen
und veröffentlichte kürzlich in seinem Organe die mit Hülfe
des Bezirksvorstandes Jordan und des Oberförsters Elle-
]) I. v. Hammer, Geschichte des osmanischen Reiches.
Zweite Ausgabe, Bd. I. Pesth 1834, S. 201.
schau.
der gewonnenen Nachrichtens, aus welchen wir nachstehende
Mitteilungen entnehmen.
Noch vor 15 bis 20 Jahren jagten allgemein die Begen
in Nordbosnien (Krajina) und im Savelande mit Falken,
gegenwärtig aber ist die Falkenjagd nur mehr üblich in den
Edelsippen Uzeirbegovie in Maglaj und den Sirbegovie und
Smailbegovie in Tesanj. Die Begen erklären bestimmt, die
Falknerei sei nach der Unterwerfung des Landes durch die
Osmanen eingeführt worden. Einen Jagdfalken zu über-
wintern, verstehen die Begen nicht mehr, wahrscheinlich, weil
sic die zweckmäßige Fütterung des Vogels verlernt haben,
früher richtete man den Wanderfalken (falco peregrinus)
ab, in unsrer Zeit dagegen so gut wie ausnahmlos nur jene
Art, die man „atmadza“ nennt (atmadza oder akmadza
bedeutet aber türkisch einen Sperber!). Zuweilen nimmt
man auch einen gewöhnlichen Sperber, doch hat man von ihm
nur geringen Vorteil.
Den Falken fängt man mit Netzen. Zwei beiläufig zwei
Meter hohe und ebenso breite Netze werden sehr schwach in
einem spitzen Winkel an Stangen befestigt. Von der Außen-
seite verdeckt man die Netze mit dünnem Gezweige und grünen
Dornen. In der Mitte zwischen den Netzflügeln bindet
man eine lebendige Dohle an, worauf sich der Jäger in einem
Gebüsche in der Nähe verbirgt. Um sich zu befreien, fängt
die Dohle zu flattern und zn krächzen an, worauf sich leicht
ein einjähriger noch unerfahrener Falke auf die Beute stürzt.
Es entspinnt sich ein heftiger Kampf, bei dem das Netz über
den Kämpfern zusammenfällt. Zur Abrichtung wählt man
lieber ein Weibchen als das schwächere und kleiner gebaute
Männchen. Die Freunde der Falkenjagd wissen genau, aus
welchen Nestern sie die tauglichsten Falken erhalten können;
alle Falken sind nämlich nicht gleich gelehrig. Im Ozren-
Walde zählt man 20 Falkenhorste, doch nur an drei Stellen
findet man die verwendbaren Falken.
Die Falkenbeize erheischt viele Mühen. Vorerst muß
man den Falken daran gewöhnen, geduldig den Riemen am
Bein zu tragen. Der Sitz des Falken muß stets in schaukeln-
der Bewegung erhalten bleiben und von Zeit zu Zeit hat
man den Falken mit Wasser zu bespritzen, damit er nicht ein-
schlafe. Auch muß er lernen, ruhig auf des Jägers Hand
zu sitzen, die mit dicken aus Schaffell angefertigten Hand-
schuhen bekleidet ist. Diese Abrichtung währt 15 bis 20 Tage.
Mit dem gefügigen Falken auf der Hand begiebt sich der
Jäger in Begleitung seines Jagdhundes aufs Feld. Sobald
der Hund eine Wachtel aufgestöbert, wirst der Jäger den
Falken in der Flugrichtung der Wachtel auf, und der Falke
schießt auf seine Beute mit Blitzschnelle los. Ein gut ge-
schulter Falke in Händen eines tüchtigen Jägers kann des tags
10 bis 15 Wachteln fangen. Im Herbste, wenn die Wachteln
nach dem Süden wandern, kann ein flinker Falke 60 bis 80,
ja sogar 100 Wachteln einsangen oder erbeuten. Der
Gebrauch eines Fcderspiels oder Luders bei der Falkenbeize
scheint den bosnischen Waidmünncrn unbekannt zu sein.
1) Glasnik zemaliskog muzeja u Bosni i Hcrcegovini,
1890, Heft 2, 8. 228 bis 233.
Büchcrschau.
Die Forschungsreise S. M. S. „Gazelle" in den Jahren
/8,4 bis 1876 unter Kommando des Kapitäns zur See Frcr-
herrn v. Schleinitz. Herausgegeben vom hydrographischen Amt
Reichsmarineamts. Fünf 'Teile. Berlin 1889 bis 1890.
Grnst Siegfried Mittler. ^ ,
I. Teil. Der Reisebericht. Mit 58 Tafeln. Reben
in die Geschichte der Forschungsreisen eingeschriebenen
Hamen der österreichischen Fregatte „Rovara" und des britischen
Schisses „Challenger" wird gleichwertig und mit hoher Achtung
in unsern Tagen der Raine der „Gazelle" genannt, welche
unter dem Kommando des Freiherrn von Schleinitz Hervor-
ragendes für die Erforschung der Ozeane leistete. Die deutsche
Expedition zur Beobachtung des Venusdurchganges im Dezem-
ber 1874 aus der im südlichen Ozean gelegenen Kergueleninsel
war zu einer allgemeinen Weltreise erweitert worden, deren
Ergebnisse nun in fünf stattlichen Bänden vor uns liegen, ein
334
Bücherschau.
herrliches Zeugnis für die Tüchtigkeit der Offiziere der „Gazelle"
und für die Gelehrten, welche die Bearbeitung des heimgebrachten
Stoffes übernahmen. Die „Gazelle" hatte neben den wissen-
fchaftlichen Aufgaben auch militärische und politische zu lösen,
es befand sich (abgesehen von Dr. Studer) kein Stab von
Gelehrten an Bord, wie bei dem Challenger, und die verschie-
denen wissenschaftlichen Arbeiten fielen den Offizieren zu. Das;
dieselben in so ausgezeichneter Weise gelöst wurden, spricht für
die Tüchtigkeit der deutschen Flottenosfiziere.
Die allgemeinen Ergebnisse der Reise sind längst bekannt
und manches ist auch eingebend in wissenschaftlichen Zeitschriften
besprochen worden. Die Reise ging von Kiel über Madeira
nach San Jago und Liberia und über die'Insel Ascension nach
der Kongomündung. Alsdann nach der Kergueleninsel, deren
Geographie und Naturgeschichte sehr wesentlich bereichert und
aufgehellt wurden, durch den Indischen Ozean, über die ein-
samen Inseln St. Paul und Amsterdam, Mauritius nach Am-
boina. Weiterhin wurde das wichtigste Forschungsgebiet der
„Gazelle" aufgesucht, nämlich Neu-Guinea und vor allem der
Bismarck-Archipel, der in geographischer und ethnographischer
Beziehung reiche Ausbeute lieferte. Brisbane in Australien,
Auckland aus Neuseeland, die Fidschi-, Tonga- und Samoainseln
waren das nächste Ziel. Durch die Magellanstraße, und über
Montevideo und die Azoren erfolgte die Heimreise.
Was auf dieser zweijährigen Fahrt für die Hydrographie
der Ozeane geleistet wurde, das beweisen die Karten des Werkes
mit ihren zahlreichen Lotungen, die ein gegen früher uns völlig
verändertes Bild des Meeresbodens zeigen. Der erste Teil,
um den es sich hier handelt, ist, bei Verhinderung des Kapi-
täns (nunmehrigen Admirals) von Schleinitz, der zum Landes-
hauptmann in Kaiser-Wilhelms-Land ernannt wurde, vom
Admiralitätsrat Rottok bearbeitet, dem die Herren Dr. Grün-
wedel und Prof. Hartmann (für den ethnographisch-anthropo-
logischen Teil), der Direktor der Secwarte, Prof. Neumayer
(bezüglich der hydrographischen Ausrüstung), Prof. Gümbel
(bezüglich der gesammelten Meeresgrundproben) und Prof.
Weinet zur Seite standen. Von letzterem rühren die schönsten,
charakteristischen Zeichnungen des Werkes her. Außer den Ab-
bildungen (die ethnographischen teilweise in Umzeichnungen von
Prof. Hartmann nach den beschädigten Photvgraphicen) sind
Karten, Pläne und Küstenansichten beigegeben, die den unge-
meinen auf die Ausnahmen verwendeten Fleiß erkennen lassen.
Schon der Raum verbietet uns, weiter auf diesen über 300 Seiten
umfassenden ersten Teil einzugehen, zumal die allgemeinen Er-
gebnisse bekannt sind. Aber es steht trotzdem so viel Neues und
Wertvolles darin, daß derselbe beim Studium der betreffenden
Länder und Ozeane nicht übergegangen werden kann.
R. And ree.
II. Teil. Physik und Chemie, mit 85 Tafeln, ent-
hält die während der Reise ausgeführten Tiefseelotungen.
Mit denselben wurden in der Regel Temperaturbeobachtunaen
und Strommessungen verbunden und Wasserproben für Be-
stimmung des spezifischen Gewichtes und der chemischen Zu-
sammensetzung des Meerwassers entnommen; im ganzen wurden
an 165 Stationen derartige Beobachtungen, und zwar an
132 Stellen Lotungen ausgeführt, an 133 Temperaturreihen,
an 116 Strömungen, an 107 die Farbe, an 99 die Durch-
sichtigkeit des Meerwassers festgestellt. Meeresgrund-
proben wurden aus Tiefen bis zu 5000 m von 82 Stellen
herausgebracht. Charakteristisch für den Tiefsceschlamm ist
der durchweg beträchtliche Mangangehalt; überdies fanden sich
darin auch winzige Bimssteinfäserchen und sonstige Fragmente
vulkanischer Gesteine; in dem Globigerinenschlamm häufige Fett-
kügelchen ; einen Hauptbestandteil aber machen die thonigen oder-
mergeligen Sedimente aus. In der Nähe des Festlandes ist
der Boden des Meeres mit schiesergrau gefärbten Schlamm-
ablagerungen bedeckt, in der eigentlichen Tiefsee treten an deren
Stelle, soweit es sich um die kalkfreien Sedimente handelt, die
roten Tiesseeschlamme. In diesen fehlen Foraminiferen-
schalen vollständig, doch finden sich alle Übergänge zu dem
eigentlichen Globigerincn- bezw. Radiolarienschlamme.
Wie nun zwischen dem Globigerinenschlamme und gewissen
erdigen Kreidebildungen der kretaceischen Zeit so große Ähn-
lichkeit besteht, daß man die Bildung des ersteren geradezu als
Fortsetzung der letzteren betrachten könnte, so lassen sich auch
unverkennbare Analogiecn auffinden zwischen den stark mangan-
haltigen, rot gefärbten, an Radiolarien reichen Schlammablage-
rungen und den roten, kieseligen, manganhaltigen Juraschiesern
(Aptychen- und Wetzsteinschiefern) des alpinen Gebietes, welche
meist mit Radiolarien erfüllt sind. Ständige Begleiter der
Foraminiferen sind die Coccolithe, das sind radialfaserige Kalk-
kügelchen ; Oolithe wurden dagegen merkwürdigerweise in keiner
der Proben nachgewiesen.
Pendelbeobachtungen wurden auf der Kerguelen- und
Aucklandinsel ausgeführt; für erstere ergab sich die Länge des
Sekundenpendels zu 993 945, für letztere zu 994 026. — Mag-
netische Beobachtungen über Deklination, Inklination und Total-
intensität sind in ununterbrochener Reihenfolge während der
ganzen Fahrt angestellt worden, Gezeitenbeobachtungen auf den
Aucklandinseln. Der Band enthält 69 Temperaturkurventafeln,
l4 Jsothermentaseln und 1 Übersichtskarte der Reiseroute und
Beobachtungsstationen; die Bearbeiter sind: Rottok, Karsten,
Jacobsen, Gümbel, Bürgen, Peters.
III. Teil. Zoologie und Geologie. Da die Auf-
zählung der während der Expedition gesammelten Arten und
die Beschreibung neuer Formen in besonderen Veröffentlichungen
bereits erfolgte, so handelte es sich in diesem Bande vorwiegend
darum, auf die natürlichen Daseinsbedingungen, unter welchen
die früher beschriebenen Organismen leben, näher einzugehen.
Und so wurden von diesem Gesichtspunkte aus von Studer,
dem Zoologen der Expedition, die zoologischen Erscheinungen
von Kergüelenland, von Kerguelen bis Neu-Guinea, von Neu-
Guinea, den Anachoreteninseln, dem Bismarck-Archipel, der
Magellanstraße, die Schleppresultate von der Magellanstraße
und der Ostküste Patagoniens, endlich die pelagische Fauna be-
handelt. — Daß der Band nur wenig Geologisches enthält,
darf nicht überraschen, da geologische Beobachtungen während
der Expedition nur gelegentlich, und dann auch nur von Nicht-
fachgelehrten angestellt werden konnten. Wesentliche Dienste
leistete die Expedition der geologischen Wissenschaft dagegen durch
Beschaffung der zahlreichen Meeresgrundproben, welche von
Gümbel untersucht, und wie oben erwähnt, beschrieben wurden.
Dr. A. Sauer.
IV. Teil. Botanik. Mit 38 Tafeln. Der stattliche
Band bringt die Bearbeitung der Artenausbeute, welche
Marine-Stabsarzt Dr. Naumann sammelte, und welche inter-
essante Funde aus fast allen Abteilungen des Pflanzenreiches
enthält. Die Algen sind von Prof. Dr. Askenasy in Heidel-
berg mit Unterstützung von E. Bornet, A. Grunow, P. Harist,
M. Möbius, O. Nordstedt, die Pilze von Baron F. v. Thllmen,
die Flechten von Prof. Dr. I. Müller Arg. in Genf, die Leber-
moose von Dr. Gotische in Altona und Dr. Schiffner in Prag,
die Laubmoose von Dr. K. Müller in Halle, die Farne und
Lykopodien von Dr. M. Kuhn, die Phanerogamen von Prof.
Dr. Engler in Berlin mit Ünterstützung von O. Böckler, Cas.
de Candolle, A. Cogniaux, E. Hackel, E. Kühne, F. Krünzlin,
E. Marchal, L. Radlkoser und H. Gras zu Solms-Laubach
bestimmt worden.
Eine Übersicht von Engler stellt die botanischen Ergebnisse
nach den Florengebietcn, nämlich dem westafrikanischen Wald-
gebiete, dem malaiischen Gebiete, dem antarktischen Waldgebiete
Süd-Amerikas, dem australischen Gebiete, Kerguelen, St. Paul
im Indischen Ozean und Äsccnsion zusammen. Den Algen
sind 12, den Lebermoosen 8, den Farnen 3 und den Phanero-
gamen 15 Tafeln beigegeben.
1) Alls Westafrika (Liberia) enthält die Sammlung eine
Anzahl Süßwasseralgen, welche für dieses Gebiet zum ersten-
mal nachgewiesen sind, sowie zwei neue Arten; ferner eine neue
Flechte, vier neue Laubmoose und vier neue Phanerogamen
(Cyperaceen) von Monrovia. Auf den Inseln gegenüber Ponta
da Lenha sammelte Dr. Naumann die beiden neuen Arten Cy-
perus flexifolius Bcklr. und C. Naumannianus Bcklr.
2) Aus dem malaiischen Gebiete sind neu: Sargassum
heterocystum Mont. var. timoriensis Grunow, Ocellularia
defossa Müll. Arg-. Hypodematium phegopterideum Kuhn
und vier Phanerogamen: Chamaerophis gracilis Hack,
Pimelea brevituba Fawcet, Lagerströmia Engleiana Köhne
und Blumea balsamifera JDC. var. Floccosa Engl., sämtlich
von der Insel Timor. Durch andre Pflanzen der Sammlung
wurden die botanischen Beziehungen der Insel zur australischen
Flora aufs neue bestätigt.
Amboina hat zwei neue Pilze ergeben, sowie zehn neue
Lebermoose; ferner vier neue Laubmoose. Die Luceparainscln
lieferten eine neue Orchidacee: Tropidia Reichenbaebiana
Kränzl.
Unter der Ausbeute des westlichen Neu-Guinea befinden
sich zwei neue Meeresalgen, ein Pilz, vier Flechten, 11 neue
Lebermoose, 16 neue Laubmoose, zwei neue Lykopodien und
11 neue Phanerogamen.
Von den Inseln des Bismarck-Archipels sind viele Neu-
heiten mitgebracht worden, aus der Küstenregion zwei Pilze,
eine Flechte, sechs Lebermoose, ein Farn: Heteroneuron
Naumanni Kuhn und fünf Phanerogamen. Die Region des
Userwaldes ergab zwei Lebermoose, sowie sieben Phanerogamen.
Aus der Region des Bergwaldcs sind neu: drei Lebermoose,
sieben Laubmoose, sechs Farne, drei Lykopodiaceen, sowie 10
i
1
L
Aus allen Erdteilen.
335
Phancrogamen, und endlich aus der Region der Bergsavane
ern Farn: Alsophila Nauraanni Kuhn.
^ Die Fidji- Inseln lieferten vier neue Algen, drei neue
Flechten, ein neues Lebermoos, ein neues Laubmoos, einen
neuen Farn und eine neue Lykopodiacee. An der Moreton-
Vai im tropischen Ostaustralicn wurden noch zwei neue Laub-
nioose aufgefunden.
3) Das altozeanische Florenreich ergab in Neuseeland
Zwei neue Laubmoose, im nordwestlichen Australien (Dauipier-
Archipel) drei neue Phancrogamen, auf der Dick Hartog-Insel
drei neue Algen.
4) Vom antarktischen Südamerika sind neu: eine Alge,
Zwei Flechten, 14 Lebermoose, vier Laubmoose, sowie ein Gras.
Sehr ergiebig war die Ausbeute von Kerguelen. Unter
den dort gesammelten Pflanzen befinden sich 20 neue Mceres-
Pgen, ein neuer Pilz: Phoma festucina Thüm.; sieben neue
Flechten, sechs neue Lebermoose und 80 neue Laubmoose.
Die Insel St. Paul im Indischen Ozean ergab fünf neue
Mceresalgen, einen neuen Pilz und einen neuen Phancrogamen.
Von Ascension sind vier neue Flechten und 10 neue Laub-
moose bekannt geworden. Letztere sind nach C. Müller denen
des tropischen Afrika und Südamerika nahe verwandt.
Endlich wurden von Dr. Naumann noch zwei neue Algen
an den Inseln des Grünen Vorgebirges gesammelt.
Die vorzüglich au Kryptogamen reiche Ausbeute zeigt, daß
es bei botanischen Forschungsreisen sehr zweckmäßig ist, die
Kryptogamen nicht zu vernachlässigen, da Jie gerade ein ver-
hältnismäßig reiches Beobachtungs- und Sammlungsmaterial
bieten. ' Dr. I. Rö ll.
, V. Teil. Meteorologie. Das Klima der Kerguelen-
insel und der Aucklandinseln gehört zu den merkwürdigsten der
Erdoberfläche. Im Weihnachtshafen der Kergueleninsel über-
winterte 1840 Sir James Roß und stellte daselbst während
feines, 69tägigen Aufenthaltes meteorologische Beobachtungen
an. Uder die Witterungsverhältnisse des Winters der Auck-
landinseln stammen andrerseits allgemeine Schilderungen von
Kapitän Mus grave her, welcher durch Schissbruch genötigt
war, 20 Monate auf diesen unwirtlichen Inseln zu verbringen.
Dagegen war Uber das Sommerklima der bemerkten Inseln bis
1874 fast nichts bekannt. Wir verdanken nun der aus beiden
Inseln in Verbindung mit der deutschen astronomischen Station
zur Beobachtung des Venusvorüberganges vor der Sonnen-
scheibe am 8. und 9. Dezember 1«74 errichteten meteorologischen
Beobachtungsstalion zahlreiche Aufzeichnungen im Sommer
der südlichen Hemisphäre, wodurch die angeführten älteren
Beobachtungen eine wesentliche Ergänzung erfahren. Die
meteorologischen Beobachtungen der Kergueleninsel (Betsy Cove)
im Zeitraume vom 6. November 1874 bis 29. Januar 1875
sind mit größter Sorgfalt ausgeführt und bilden einen wert-
vollen Beitrag zur Erkenntnis des Klimas dieser buchtenreichen,
zumeist vom sumpfigen Moos bedeckten, trostlosen Felseninsel.
Die mittlere Temperatur (ff-6,4p C.) ist für deren südliche
Breite von 49" 10' auffallend niedrig, die Winter-
temperatur hingegen milde (ff-2,(PC.). Es herrscht dort fast
beständig Sturm, hauptsächlich zwischen NW. und SW.
mit Schnee, Hagel, Regenböen, welcher oft auch bei klarem
Himmel und kühlem Wetter auftritt. Diese interessanten Auf-
zeichnungen bilden den 4. Abschnitt des genannten V. Teiles.
— Der 5. Abschnitt umfaßt die meteorologifchen Beobach-
tungen auf den Aucklandinseln (Terror Cove) vom 6. No-
vember 1874 bis 28. Februar 1875; dieselben zeigen, daß
diese Inseln einen wärmeren Sommer als die nördlicher
gelegene Kergueleninjel haben. Das Wetter ist auch auf
diesen Inseln sehr unwirtlich. Stürme und Regen sind vor-
herrschend; doch stellt sich auch zuweilen für längere Zeit schönes
Wetter ein.
Die meteorologischen Beobachtungen an Bord S. M. S.
„Gazelle" während der Reise von Juni 1874 bis April 1870
(l. Abschnitt des V. Teiles), welche in zweckentsprechenden Aus-
zügen aus dem meteorologischen Tagebuche in der Weise mit-
geteilt werden, daß alle bezeichnenden Züge des Witterungs-
charakters erhalten blieben, sowie die anemometrischen Messungen
am Bord (2. Abschnitt) und die Beobachtungen über das spezi-
fische Gewicht und die Temperatur des Wassers au der Meeres-
vberfläche (3. Abschnitt) bilden ebenso erwünschte als wichtige
Beiträge zur maritimen Meteorologie. Die Temperatur des
Meeres der Kergueleninsel und der Aucklandinseln ist der Tem-
peratur der Luft daselbst nahe gleich, nur weist sie geringere
Schwankungen auf und sinkt niemals bis zum Gefrierpunkte.
Prag. Dr. G. Gruß.
Aus allen
— Prof. Dr. G. H. Handelmann, der Direktor des
schleswig-holsteinischen Museums vaterländischer Altertümer
in Kiel, geboren am 9. August 1827 zu Altona, starb am
26. April 1881 zu Kiel. Er hat sich um die Geschnhte
und Erforschung der vorgeschichtlichen Altertümer seinem
Heimatlandes Schleswig-Holstein hochverdient gemacht, wo-
sür seine zahlreichen Abhandlungen zeugen. Im Jahre 1860
veröffentlichte er (Berlin, bei I. Springer) eine fast
1000 Seiten starke „Geschichte von Brasilien", ein noch
heute sehr brauchbares, dem Prinzen Adalbert von Preußen
gewidmetes Werk, das für die Kolonialgeschichte der Neuen
Welt von Bedeutung ist. Unter feinen Arbeiten über Ur-
geschichte erwähnen wir die Ausgrabungen auf S>ylt (1870 biv
1880), die in zwei Heften mit Abbildungen veröffentlicht
wurden und (mit Ad. Pansch zusammen) die Moorleichem
snnde in Schleswig-Holstein (Kiel 1873). Beiträge von
ihm brachten auch vielfach die Verhandlungen der Berliner
Anthropologischen Gesellschaft.
Herr Jnazo Nitobe, ein Japaner, hat in Baltimore
(The John Hopkins Press 1891) ein Werk erscheinen
lassen, das den Titel trägt: The Intercourse between the
United. States and Japan. Es ist nicht nur von Wich-
tigkeit für den Gegenstand, den es behandelt, sondern ein
schönes Zeugnis für die Tüchtigkeit und den Eifer seines
Verfassers, dem dabei seine Frau, eine geborene Amerikanerin,
hilfreich zur Seite stand. Herr Nitobe ist in einer der süd-
westlichen Provinzen geboren, aber ans Jeso im Norden er-
jagen worden. Schon in der Heimat trat er zum Christen-
l'un über, studierte in Amerika und in Halle, wo er bereits
Erdteile n.
Schriften in deutscher Sprache herausgab. Sein Stil ist
ein ganz vortrefflicher und man merkt es dem Verfasser kaum
an, daß er ein Asiate ist, so sehr hat er sich in unsern Kultur-
kreis eingearbeitet. Die auswärtigen Beziehungen Japans
vor der Eröffnung des Landes durch die Amerikaner zu
Korea, China, Spanien, Portugal, Holland, Rußland werden
in dem Buche ausführlich erörtert, um dann ans die beson-
deren amerikanisch-japanischen Beziehungen einzugehen. Es
ist von hohem Interesse, hier einen Japaner vom Stand-
punkte seines Volkes ans Kritik an den Abendländern, ihren
Kaufleuten, Missionaren und Diplomaten üben zu sehen.
Es ist die japanische Brille, durch die wir hier schauen
dürfen und das hat auch seinen Wert, wenn es darauf an-
kommt, die Gegenstände und Verhältnisse rein sack)lich zu be-
urteilen. Es ist nicht der Fall, daß unsre europäische An-
schauung immer die richtige ist.
— Die deutschen Gemeinden in Piemont ist der
Titel einer kleinen Schrift, die Prof. L. Neumann (Frei-
burg, Mohr, 1891) veröffentlicht hat. Er besuchte dieselben
teilweise persönlich und die Ergebnisse, die er über das dortige
Deutschtum mitteilt, stimmen im allgemeinen mit jenen über-
ein, welche I. Kaibler vor kurzem im Globus (oben S. 38)
nns vermittelte. In Pommat (Formazza) am Griesgletscher
fand er das Deutschtum dieser nördlichsten italienischen Ge-
meinde noch völlig lebenskräftig und mühelos konnte er mit
den Leuten plaudern. Auch in dem östlich davon gelegenen
Bosco im Kanton Tessin, wo der Gottesdienst deutsch, die
Schule aber italienisch ist. In Rima und Rimella ist nach
Neumanns Erkundigungen das Deutsche abgestorben. Dagegen
336
Aus allen Erdteilen.
ist cs noch kräftig in Mucungaga, wo aber Schule und
Kirche italienisch sind. Auch in Alagna herrscht sie noch,
doch hat sich hier, durch kirchliche Einflüsse und die Wanderung
der Alagnesen nach Frankreich, neben dein Italienischen das
Französische Geltung verschafft. Die Männer sind drei-
sprachig und eine Mischung von Französisch und Italienisch
wird nicht selten geredet. Die beiden Gressoney, gerade
die südlichsten Gemeinden am Monte Rosa, haben ihr Deutsch-
tum trotz der französischen Kirche (!) am besten bewahrt.
Reumanns Schriftchen enthält manche neue belangreiche Mit-
teilungen über jene deutschen Vorposten, bringt Sprachproben
und deutsche Grabinschriften. In Pommat und Gressoney
wird das Deutsche noch länger fortleben.
— Der Ban der Eisenbahn von Tanga nach Usam-
bara in Deutsch-Ostafrika ist durch die Bildung einer Eisen-
bahngesellschaft in Berlin mit einem Kapital von 4 000000
Mark sichergestellt. Die Herstellungskosten von 1 km Geleise,
Spurweite 1 m, einschließlich Brücken und Beschaffung von
Betriebsmaterial, ist auf 70 000 Mark veranschlagt. Üsam-
bara ist, wie wir durch Banmann, H. Meyer u. a. wissen,
eines der fruchtbarsten und gesundesten Länder Deutsch-Ost-
asrikas und die Bahn darf bald darauf rechnen, Gewinn ab-
znwcrfen. Sie wird von Tanga ausgehen, welches heute
schon als Ausfuhrhafen eine Rolle spielt und vorläufig bis
Korogwe am Panganiflusse geführt werden, wobei sie durch
verhältnismäßig gut bevölkertes Land ohne Bodenschwierig-
keiten läuft. Das Getreide von Rguru und Useguha sowie
der Kautschuk von Usambara sollen nach Korogwe gezogen
nnd mit der Bahn nach der Küste verfrachtet werden. Das
Heranziehen der Karawanenrouten von Korogwe nach dem
Kilimandscharo nnd durch die Massai-Länder, sowie jener, die
über Rord-Rguru nach Ugogo führen, wird ebenfalls durch
diese Bahn zu ermöglichen sein. Wie von Korogwe weiter
gebaut werden soll, ob nach Tabora oder nach dem Kiliman-
dscharo, läßt sich noch nicht sagen; es wird dies zum Teil von
den Bestrebungen der Engländer abhängen, welche bekanntlich
von Mombas ans nach dem Kilimandscharo vorgehen wollen.
Ob man nun die Bahn als Plautagcnbahn betrachtet oder
von vornherein ihre Fortsetzung nach dem Viktoria-Ryanza
oder nach Tabora im Auge hat, es ist syinpathisch zu be-
grüßen, daß das deutsche Kapital sich diesen Unternehmungen
zuwendet.
— Der Handel der Samoainseln ist im Jahre
1800 auf 1280000 Mk. herabgesunken gegen 2900000 Mk.,
welche derselbe noch 1887 betrug. Kopra und Baumwolle
wurden viel weniger ans- nnd Holz, Eisenblech, Baumwoll-
warcn u. s. w. viel weniger eingeführt. Dieser Rückgang
ist den gestörten politischen Verhältnissen zuzuschreiben, die
jetzt, nach der Übereinkunft Deutschlands, Amerikas und
Englands, wieder geordnet sind, denn die Pflanzungen (Kokos,
Baumwolle, Kaffee) gedeihen prachtvoll, die Rindviehzucht
nimmt einen gewaltigen Aufschwung. Mit San Francisco
besteht regelmäßige Dampferverbindung, ebenso (deutsche Linie)
über Tonga mit Australien, beides in 28 Tagen. Briefe
von der Hauptstadt Apia gehen über Sau Francisco in
33 Tagen nach Hamburg.
— Reaktion in Japan. Es liegt uns ein Bericht vor,
ans welchem hervorgeht, daß in Japan mehr und mehr ein
Rückschlag gegen die überstürzte Einführung der europäischen
Kultur sich geltend macht. Roch freilich aber steht die
Regierung nicht ans Seiten der nationalen Reaktion unb wie
weit dieselbe gelangen wird, ist auch fraglich. Auch tönt
nicht mehr, wie in den sechziger Jahren, der Ruf Jo-i, d. h.
jagt die Fremdlinge fort, aber das Parlament selbst steht
unter dem Zeichen der Reaktion und diese macht sich zunächst
auf dem Gebiete des Unterrichts bemerkbar. Die Schulen
mit europäischem Unterricht gehen stark zurück. Zwei Schulen,
deren eine bisher 300, die andre 150 Zöglinge besaß, mußten
vereinigt werden und zählen heute zusammen 150 Schüler.
Die fremden Lehrer an der Universität in Tokio sind minder
zahlreich als früher und dieses bezieht sich selbst auf unsre
deutschen Landsleute, die am angesehensten auf wissenschaft-
lichem Gebiete sind. Man zieht junge einheimische, euro-
päisch gebildete Lehrer heran und diese werden doch schließlich
endgültig die fremden ersetzen. Rach den Verhandlungen im
Parlament über die in Europa und Amerika ans Staats-
kosten studierenden Japaner läßt sich sicher voraussehen, daß
deren Zahl in Zukunft beschränkt werden wird. Bezeichnend
ist auch, daß die Verhandlungen über das Handelsgesetz (nach
Art des deutschen) voin Parlament auf das Jahr 1893 ver-
schoben wurden. An kleinen Zeichen der Reaktion fehlt es
auch nicht. Die Münze zu Osaka entschied sich z. B. für
den Ankauf heimischer Schmelztiegel, wiewohl dieselben viel
schlechter als die fremden sind, „weil den heimischen Erzeug-
nissen stets der Vorzug gegeben werden müsse".
— Der Tanganjikasee scheint mehr und mehr zurück-
zutreten und seinen Spiegel, von dem man Schwankungen
annimmt, zu erniedrigen. Rach Berichten des Missionars
Bridoux, welcher zn Karema am Ostufer ansässig ist, steht
der Hügel, ans welchem vor 12 Jahren die Station von
dem Belgier Cambier dicht am Ufer errichtet wurde, gegen-
wärtig 1500 m von demselben entfernt. Auf dem trocken
gewordenen Boden liegen fünf neue Dörfer.
— Die Deutschen in Mexiko. Über unsre dortigen
Landsleute enthält die in der Hauptstadt Mexiko erscheinende
deutsche Zeitung „Germania" einen Bericht, dem wir folgen-
des entnehmen. Es ist ein großer Unterschied zwischen den
deutschen Kolonieen in den Vereinigten Staaten und denen in
Mexiko. In unserm Vaterlande hat man bis jetzt die Nieder-
lassung von deutschen Kolonisten als ein Mittel in Betracht
gezogen, nicht um unbewohnte oder wenig bewohnte Gegenden
zn bevölkern, sondern um eine vorgeschrittene Kultur zn ver-
breiten. Jede auswandernde Nation hat in das Land, wo-
hin sich ihre Söhne wendeten, etwas von ihren charakteristi-
schen Eigenheiten gebracht. Deutschland hat sich begnügt, im
ganzen lateinischen Amerika große Handelshäuser, gleich mili-
tärischen Kolonieen neuer Art zu gründen. Vom Riobravo
bis zum Kap Horn beherrschen die Deutschen wie die Eng-
länder den Handel und die Banken. Sie betrachten den
Kanfmannsstand als ein Priestertum und weihen sich dem-
selben mit Leib und Seele.
Die Deutschen haben sich des spanisch-amerikanischen
Handels vermittelst ihres kaufmännischen Genies, des legitimen
Rechts ihrer natürlichen Neigung znm Handel bemächtigt, sie
machen von diesem Talent und dieser Neigung mit Geschick-
lichkeit und Erfolg Gebrauch, so daß sie sich den Vorrang in
fast allen Orten des lateinischen Amerikas erobert haben.
Unsern Haupthandelsplatz, Vera Cruz, kann man füglich
als einen ganz deutschen betrachten, denn obgleich dort ange-
sehene mexikanische Handlungshäuscr bestehen, so ist doch das
deutsche Element vorherrschend, ebenso in Colima, Mazatlan,
Tampico und an vielen andern Häfen beider Ozeane.
Dabei haben die Deutschen in Mexiko, wie der Bericht
sagt, ihr Deutschtum bewahrt, und „wer einem Ball odereiner
Abendunterhaltung im „Deutschen Hause" zu Mexiko bei-
wohnt, glaubt sich an das Rheinufer versetzt".
Herausgeber: Dr. R. Andree in Heidelberg, Leopoldstraße 27.
Druck von Friedrich View eg und Sohn in Braunschweig.
Begründet 1862
von
Karl Andrer
Druck und Wertug von
R r it it tt s rsi k« i * Jährlich 2 Bände in 24 Nummern. Durch alle Buchhandlungen und Postanstalten 1 QQ1
H I uj W C l g. zum Preise von 12 Mark für dei^ Band zu beziehen. .1 OtJl,
Erinnerungen an Dr. Karl Hermann Berendt.
Von Hermann strebe!.
Unter den Nekrologen, welche nach dem im Jahre 1878
erfolgten Tode Berendts erschienen sind, ist wohl der in den
Proccedings of the American Antiquarian Society,
April 1874 veröffentlichte und von Dr. Daniel G. Brinton
verfaßte derjenige, welcher trotz mancher verzeihlicher Un-
genauigkeiten in den biographischen Angaben am besten um.
überzeugendsten Berendts wissen-
schaftliche Bedeutung und Thätig-
keit schildert. Freilich war Brinton
durch den Erwerb des größeren
Teiles von Berendts wissenschaft-
lichem Nachlasse besser als mancher
andere in derLage, jene Bedeutung
zu beurteilen. Eine Übersicht über
die von Berendt veröffentlichten, so-
wie Andeutungen über den Haupt-
inhalt der nachgelassenen Arbeiten,
welche inzwischen ja zum Teil
schon von Brinton veröffentlicht
sind, .bilden die Grundlage jener
Beurteilung.
Wenn ich nun trotzdem zu gunsten
des verstorbenen Freundes, dem ich
so reiche Anregung und Belehrung
verdanke, die Feder ergreife, so
geschieht es nicht nur ans dem
Bedürfnis persönlicher Dankbarkeit
heraus, sondern weil es mir in
unsrer raschlebigen und allzu oft
nur die unmittelbaren und auf- . • ,
dringlichen Erfolge anerkennenden Zeit gerecht erscheint, die
Erinnerung an einen Mann aufzufrischen, der die reichsten
Jahre seines Lebens der Wissenschaft geweiht hat. Ihm
war es nicht vergönnt, unter äußeren günstigen Lebens-
bedingungen Sammlung und Muße für die Berwertnng
seines ilinfassenden Wissens und seiner reichen Erfahrungen
M finden. Die Macht der Verhältnisse mehr noch als
Globus LIX. Nr. 22.
eigene Neigung trieben ihn von Ort zu Ort, um in rast-
loser Arbeit den sich immer mehr konzentrierenden Aufgaben
seines wissenschaftlichen Strebens gerecht zu werden, und als
er endlich die Zeit gekommen glaubte, wo er ein dauerndes
Heim zu gründen und unter den Segnungen eines so lange
entbehrten Familienlebens die Ergebnisse seiner Arbeit ver-
werten zu können hoffte, da ereilte
ihn der Tod. Andre, denen es un-
gleich schwerer fallen dürfte als ihm
selbst, haben nunmehr die reiche
wissenschaftliche Hinterlassenschaft
nutzbar zu machen, und man kann
nur erfreut sein, wenn dies immer
unter der rückhaltslosen Anerken-
nung der Verdienste Berendts ge-
schieht, wie es von seiten Brintons
der Fall ist.
Ich will nun versuchen, in dem
Nachfolgenden das Wesen Berendts,
seine Thätigkeit und seine Erleb-
nisse in den Hauptzügen zusammen-
zufassen, wofür der Stoss teils sei-
nen eigenen Aufzeichnungen, teils
eigener Anschauung entnommen ist.
Berendts Teilnahme an der Be-
wegung 1848 in Deutschland zog
ihn bei der eintretenden Reaktion
allerlei Verfügungen der Militär-
behörde zu, wodurch die Ausübung
seiner ärztlichen Praxis sehr er-
schwert wurde, so daß er, der leicht ungeduldig werdende,
besonders wo die Beschränkung persönlicher Freiheit ins
Spiel kam, sich im Jahre 1851 zur Auswanderung mit
seiner Frau und seinen beiden kleinen Kindern (er hatte im
Jahre 1848 geheiratet) entschloß. Das Ziel der Reise war
vorläufig New Aork. Eine lange, gefahrvolle und durch
schlechte Beköstigung noch besonders erschwerte Seereise hatte
43
Dr. Hermann Berendt.
am 12. November 1817 in Danzig. Gest. am
12. Mai 1878 in Guatemala.
338
Hermann Strebet: Erinnerungen an Dr. Karl Hermann Berendt.
die Gesundheit von Frau und Kindern stark angegriffen,
was in Verbindung mit dem Klimawechsel einen durch
seine Dauer so bedrohlichen Zustand herbeiführte, daß nach
kaum einem Jahre die Rückreise der Frau und der Kinder
nach Deutschland beschlossen und ausgeführt werden mußte.
Von diesem Zeitpunkte an beginnt Verendts Wanderleben
und trotz des immer lebendig bleibenden Wunsches, irgendwo
als Arzt eine Stellung zu gewinnen, die ihm die Möglich-
keit der Wiedervereinigung mit der Familie geboten hätte,
war ihm dies nicht beschieden. Seine umfangreiche Korre-
spondenz durch Briese und Tagebücher, die er mit seiner
Fran Pflog, erhielten die Familienbeziehungen stets lebendig
und ließen seine Frau an seinen vielfach so interessanten
Erlebnissen Teil nehmen. Ich selbst habe jahrelang die liebe-
volle und außergewöhnliche Gewissenhaftigkeit bewundern
können, mit der er das Fortleben mit der Familie Pflegte,
und so versteht man die Liebe und Achtung, welche ihm
seitens der Frau und des einzig überlebenden Sohnes Map
Berendt noch heute gezollt wird. Die an Geistes- und
Herzensbildung hoch begnadete Frau hat ihr schweres Los
mit seltener Ergebung und Würde getragen, und ihr ist
es wohl zu gönnen, daß sie recht häufige Beweise der An-
erkennung der Wirksamkeit desjenigen erhaltender einen so
bedeutsamen Inhalt ihres Lebens gebildet hat und noch bildet.
Es ist wohl begreiflich, daß jene politischen Anschauungen,
welche Berendt die Heimat verleidet hatten, durch die damit
verknüpften mittelbaren und schwer wiegenden Folgen eine
Verschärfung erlitten, die auch nicht durch die alles mil-
dernde Zeit aufgehoben werden konnte, wenigstens war ich
selbst häufig genug Zeuge, daß er jenem Abschnitte seines
Lebens mit großer Erbitterung gedachte. Berendts im
Grunde aristokratische Natur Paßte freilich schlecht zu dem
politischen Standpunkte, den er einnahm, und sein scharfer
Verstand konnte sich daher umsoweniger mit dem befreunden,
was in der Praxis die amerikanischen Verhältnisse seinen
freisinnigen politischen Anschauungen zu bieten vermochte;
muß doch eine derartige Freiheit dem wahrhaft Gebildeten
nur zu oft als Zerrbild erscheinen.
Berendts Wanderungen gingen von New Pork zuerst
nach Nicaragua, wo er in Masaya, Granada und Leon bis
zum Jahre 1853 als Arzt thätig war. Politische Unruhen
und Jndianeraufstände zwangen ihn, einen weniger gefähr-
deten und sicheren Wirkungskreis aufzusuchen, und er wandte
sich nach Mexiko, wo er nach dem Besuche der Hauptstadt
sich zuerst in Orizaba niederließ, um dann 1855 nach dem
für seine Berufsthätigkeit verheißungsvollen Hafenplatz Vera-
cruz überzusiedeln. Hier war es mir vergönnt, ihm näher
zu treten und durch das Bewohnen desselben Hauses einen
täglichen und innigen Verkehr anzubahnen, an den ich noch
heute als eine stets frische Quelle geistiger Anregung und
Förderung mit Vergnügen zurückdenke..
Berendts ärztliche Thätigkeit in Beracrnz war anfangs
auf die dort ansässigen Deutschen beschränkt, doch auch bei
einigen von diesen mußte vorerst manches Vorurteil beseitigt
werden; galt es doch in erster Reihe die Behandlung des
gelben Fiebers, für die man die dort ansässigen spanischen
und einheimischen Ärzte, ja oft die mit Vorliebe kurpfuschen-
den Krankenwärterinnen für erfahrener und daher geeigneter
hielt. Es trat dies um so mehr zu Tage, als Berendt von
der landläufigen Behandlung, bei der Ricinus und besonders
die Aderlässe die Hauptrolle spielten, abwich und bei im
allgemeinen rationeller Behandlung von vornherein Chinin
anwandte. Ich kann in dieser Frage kein maßgebendes
Urteil haben, soviel ist aber gewiß, daß Berendts Erfolge
zum mindesten keine schlechtere waren, als die der andern
Behandlungsmethode, und daß er sogar manchen schweren
Fall zur sonst angezweifelten Genesung führte. Das
durch Unverstand und zum Teil auch Brotneid genährte
Vorurteil, welches in der verbreiteten Redensart „el
medico aleman mata con quinina“ (der deutsche Arzt
tötet mit Chinin) Ausdruck fand, schwand doch allmählich
vor der Überzeugung, daß nicht nur auf diesem Spezial-
gebiete, sondern überhaupt Berendts Wissen zu schätzen sei,
und so wurde er bald auch von den Einheimischen bei ern-
steren Krankheiten zu Rate gezogen. Berendts vielseitige
Kenntnisse, sein praktischer Sinn und sein, wo er wollte,
liebenswürdiges Benehmen gaben ihm bei seinen Freunden
ein gerne zugestandenes und vielfach ausgenutztes Über-
gewicht. Mancher freilich kann ein derartiges geistiges
Übergewicht nicht vertragen, zumal wenn es sich mit Unge-
duld und scharfer Beurteilung dem Unverstände gegenüber
verbindet. So hatte Berendt denn auch mit manchem
stillen und lauten Übelwollen zu rechnen. Seine Mußezeit
widmete er ausschließlich seinen Studien, denn der gesell-
schaftliche Verkehr reizte ihn nicht und nur selten brachte er
demselben die notwendigen Opfer. Seine Häuslichkeit, so
weit cs die Klimaverhältnisse zuließen, wußte er gemütlich
einzurichten und die Abende in seiner Wohnung, wo er bei
seinem Lieblingsgetränk, dem Thee, und der unvermeidlichen
Zigarre die Tagesereignisse oder allgemeinere Themata zum
Inhalt seiner Plaudereien machte, gehören zu meinen an-
genehmsten Erinnerungen. Jede freie Stunde am Tage
und oft bis spät in die Nacht hinein, denn er litt häufig an
Schlaflosigkeit, waren der Arbeit gewidmet. Entweder be-
schäftigte ihn die Karte des Staates Veracruz, deren Ent-
wurf nach vorhandenen Karten er nach eigenen, auf seinen
Ausflügen gemachten Beobachtungen oder nach eingezogenen
Erkundigungen zu berichtigen und zu ergänzen bestrebt war.
Oder auch Auszüge aus der ihm damals noch spärlich
zugänglichen Litteratur über die Vorgeschichte Mexikos sowohl
mit Berücksichtigung ethnischer wie geographischer und sprach-
licher Gesichtspunkte brachten ihm die Vorstudien auf dem
Gebiete, dem er sich später fast ausschließlich widmen sollte.
Bis dahin hatte er auf seinen Reisen nur die Anregungen
zu diesen Studien erhalten, wie auch zu naturgeschichtlichen,
die er später nur nebensächlich behandeln konnte.
Wenn das Abgeschiedensein von einem durch persönlichen
Verkehr und durch die litterarische Produktion auffrischenden
und erweiternden Einflüsse auf sein medizinisches Wissen ihn
mehr und mehr erkennen ließ, daß er aus diesem Gebiete
nicht im stände war, sich auf der, seinen strengen Anfor-
derungen entsprechenden Höhe zu erhalten, womit ein Nach-
lassen des Interesses Hand in Hand gehen mußte, so ist es
erklärlich, daß seinem Bedürfnis nach geistiger Arbeit das
damals noch weit weniger als jetzt beachtete Gebiet amerika-
nistischer Forschung sehr verlockend erscheinen mußte. Sehr
wesentliche Bekräftigung erhielt diese Neigung durch die
Ausflüge nach der Zuckerplantage Mirador, wo er im
Gedankenaustausch mit Sartorius, dem bekannten Verfasser
von „Mexiko und die Mexikaner", und unter dessen Führung
die Überreste altmexikanischer Kultur, welche die dortige
Gegend noch an Bauwerken und Erzeugnissen der Kleinkunst
aufweist, sowie Land und Leute studieren konnte. Durch
Sartorius wurde er auch in die Beziehungen zu den damals
hervorragendsten Leitern der Smithsonian Institution in
Washington eingeführt, denen er später persönlich näher
treten sollte. Weit anregender und entscheidender aber
wurde sein im Jahre 1858 unternommener Ausflug nach
Hucatan, wo er an der Hand von Stephens Werk die
Ruinen von Chichen Jtza besuchte und durch die in Sisal
und Merida angeknüpften persönlichen Beziehungen manche
wichtige Auskunft und litterarisches Material erwarb. Die
Beschäftigung in seinen Mußestunden wurde durch derartige
Bereicherung seiner Erfahrungen und Anschauungen und
t
4
H ermann Streb el: Erinn
339
erunge
die damit verknüpfte Anregung zu wissenschaftlicher Ver-
wertung zu einer sehr vielseitigen. Damit war aber auch
für ihn die Entscheidung nahe gelegt, die Ziele seiner Thätig-
keit zu beschränken, um sie vertiefen zu können. Seine
Ansprüche an Gründlichkeit waren zu groß, um ans die
Dauer Oberflächlichkeit und Zersplitterung zu gestatten,
andrerseits freilich gingen diese Ansprüche so weit, daß sie,
wie Brinton cs schon ausgesprochen hat, oftmals ein Hemm-
schuh für sein litterarisches Schaffen wurden. Einen Ab-
schluß der Forschung, wie er ihn wollte, giebt cs nur selten
und besonders nicht oder wenigstens noch nicht auf dem
Gebiete amerikanistischer Forschung, wo es sogar erwünscht
und notwendig ist, den Austausch von Erfahrungen und
Anschauungen stets lebendig zu erhalten. Dieser Fehler
Bcrcndts lag übrigens zun: großen Teil in der vorwiegen-
den Abgeschiedenheit von wissenschaftlichen Arbeits- und
Prodnktionsmittelpunktcn.
Mit dem Jahre 1859 begann eine Reihe von Poli-
tischen Vorgängen, welche besonders die Bewohner von Vera-
cruz stark in Mitleidenschaft zogen, und den Aufenthalt
daselbst zeitweilig zu einem höchst ungemütlichen machten.
Der Anfang war allerdings insofern ein interessanter, als
der Präsident Juarez damals mit den zum Teil sehr
bedeutenden Männern seines Ministeriums, wie Lerdo de
Tejada und Ocampo, in Veracruz weilte, von wo aus die
berühmten Reformgesetze, darunter das über die Einziehung
der Kirchengüter, ihren Ansgang nahmen. Durch persönliche
Beziehungen zu dem Minister Guillermo Prieto, der, eine
Dichternatnr durch und durch, nur ein sehr schlechter Finanz-
minister gewesen ist, wurde ein persönlicher Verkehr mit den
politischen Koryphäen angeknüpft, da Berendt sich natürlich
sehr für die damals wirklich idealen Bestrebungen jener
Führer interessierte und die persönlichen Eigenschaften eines
Ocampo und Prieto wohl einen näheren Verkehr rechtfertigten.
Im Frühjahr dieses Jahres traf auch das preußische Kriegs-
schiff „Gesion“ ein, und von der Besatzung war es besonders
der Arzt Dr. Friedet, mit dem wir viel verkehrten, und dessen
vorzügliches Klavierspiel uns manche genußreiche Stunde
bereitete. Das Jahr 1860 brachte die Belagerung und
Beschießung von Veracruz durch den reaktionären General
Miramon, welche durch das allerdings nicht ganz zu recht-
fertigende Eingreifen des Befehlshabers der dort stationierten
amerikanischen Kriegsschiffe ein frühes Ende erreichte, da
derselbe Schiffe, welche den Belagerern Munition brachten,
mit Beschlag belegte, wonach Miramon unverrichteter Sache
abziehen mußte. Berendt war rechtzeitig nach dem Mira-
dor gereist und kehrte nach Wiedereröffnung der Thore
zurück, wo er unser Haus durch zwei Bomben stark demoliert
vorfand, wenngleich seine im Zwischenstock belegene Wohnung
kaum gelitten hatte. Wir hatten diese Bevorzugung seitens
der reaktionären Bomben dem Umstande zu verdanken, daß
der in unsrer Nachbarschaft wohnende amerikanische Konsul,
wie alle übrigen Konsuln, seine Flagge aufgezogen hatte,
die aber, wie leicht verständlich, zur besondern Zielscheibe
diente. Der gute Konsul, ein allzu eifriger Freund geistiger
Getränke, war während dieser Tage nicht aus seinem tiefen
Schlafe zu erwecken, so daß am zweiten Tage, nachdem
mehr und mehr Bomben in unser Quartier sielen, der
Eigner des Hauses, ein französischer Kaufmann, eigenhändig
die Flagge entfernte, worauf dann auch dem Übel ab-
geholfen war.
Die durch die sich entwickelnde Dazwischenkunft der fremden
Mächte immer bedrohlicher werdenden politischen Verhältnisse
^eßen es Berendt geraten erscheinen, sich und seiner Familie den
Schutz einer fremden Macht zu sichern, den er ja durch seine
Auswanderung verloren hatte, es lag daher nahe, zn solchem
Zwecke die damals in jenen Gegenden weitaus einflußreichste
n an Dr. Karl Hermann Berendt.
und thatkräftigste Macht, die der Vereinigten Staaten von
Nordamerika, zn wählen. Mit einer Reise nach Mobile er-
langte er dort das Bürgerrecht und Pässe für sich und seine
Familie. Zu den unerquicklichen und für den Erwerb sehr
ungünstigen Verhältnissen in Veracruz gesellte sich für Berendt
eine mehr und mehr hervortretende ungünstige Veränderung
seines Gesundheitszustandes, so daß er sich endlich aus
dringenden ärztlichen Rat 1862 entschloß, Veracruz zu ver-
lassen. Von hier ab wird mein Verkehr mit ihm nur durch
seltene Briefe ausrecht erhalten, und so will ich denn zur
Vervollständigung lieber die Notizen anfügen, welche seine
Frau aus seinen Briefen an sie zusammengestellt und mir
zur Verfügung überlassen hat.
Im Mai 1862 kommt Berendt in Laguna de Termi-
nos an. Aber auch hier soll seines Bleibens nicht sein,
denn die Ankunft französischer Kriegsschiffe trägt auch in
diese abgelegenen Gegenden den Krieg. Er reist nach San
Juan Bantista de Tabasco, wo ein verhältnismäßig ruhiges
und einförmiges Leben ihm zusagt, da es die Förderung
seiner Studien gestattet. Der Handel freilich liegt auch hier
darnieder und als in 1863 eine zweitägige Beschießung der
Stadt durch die Franzosen erfolgt, sah sich Berendt ge-
nötigt, seine Einrichtung aufzugeben und 1864 San Juan
mit einem dort mit Blauholz beladenen Schiffe, welches
nach New Pork bestimmt war, samt seinen Sammlungen
und Manuskripten zu verlassen. Ein Teil der Manuskripte,
welche für Europa bestimmt von hier ans abgesandt wurden,
ist verloren gegangen. Seine naturhistorischen Sammlungen,
insbesondere Schildkröten und Pflanzen, führen ihn in das
Smithsonian Institution, wo er mit den Professoren Baird
und Henry in nähere Beziehungen tritt. Es taucht der
Plan eines amerikanischen Konsulates an einem geeigneten
Platze Mittelamerikas auf, wo ihm Gelegenheit zu umfang-
reicheren Sammlungen geboten werden soll, aber der Krieg
in den Vereinigten Staaten selbst vereitelte die Ausführung.
Das Manuskript eines Maya-Wörterbuches aus dem scchs-
zehnten Jahrhundert veranlaßt ihn, nach Providence zu gehen,
wo er in Bartlett Verständnis und Förderung seiner Pläne
findet. Berendt kopierte jenes Manuskript, das über
2000 Seiten umfaßt, daneben entsteht eine Arbeit über
Mexiko mit Karten und eine andre über Bernstein. Nach
New Port zurückgekehrt, lernt er hier den Abbe Brasseur
kennen, dessen Schriften ihn veranlassen, die eigenen über
ähnliche Gegenstände noch zurückzuhalten und neues Material
zu gewinnen. Hier befestigt sich erst die Absicht, sich aus-
schließlich der Erforschung der Mayasprache und der ihr
verwandten zu widmen, um vermittelst ihrer dem Verständ-
nis der Hieroglyphenschrift näher zu kommen. Boston wird
besucht, wo Agassiz und Gray die von ihm gesammelten
Schildkröten und Pflanzen bearbeiten und die persönliche
Bekanntschaft mit noch andern Männern der Wissenschaft
anbahnen. Berendt versaßt seine Arbeit über „An Analy-
tycal Alphabet“. Das Jahr 1865 bringt neue Pläne für
seine Zukunft. Ein Konsulat in Afrika kommt in Vor-
schlag, doch zerschlägt sich die Sache, so daß Berendt es vor-
zieht, die Vorschläge der Smithsonian Institution anzunehmen,
die ihn mit der Erforschung von Pctcn, Dolores und Jzabal
beauftragen. Er reist in Begleitung eines Jägers und eines
Ausstopfers über Belize ab. Doch schon an diesem Orte,
wo durch Nachlässigkeit des Begleiters eine Kiste mit Geld
und Ausrüstungsgegenstünden gestohlen und nicht wieder-
erlangt wird, beginnen die Schwierigkeiten dieses Unter-
nehmens. Berendt entläßt den betreffenden Gehilfen und
erreicht 1866 Flores Petcn, wo er sich einrichtet und so gut
cs geht, seinen Aufgaben gerecht zu werden sucht, wobei ihm,
unterstützt durch seine Sprachkenntnis, ein ausgedehnter Ver-
kehr mit den Indianern jener Gegenden möglich wird und
43*
340
Hermann Strebel: Erinnerungen an Dr. Karl Hermann Bcrendt.
weiteres Material für seine sprachlichen Aufgaben zufällt.
Jndianeraufständc zwingen ihn auch hier, den Aufenthalt
abzubrechen, wobei ein Teil der Sammlungen im Stiche ge-
lassen werden mußte. In 1867 nach New Uork zurückge-
kehrt, hält er daselbst einen Vortrag über die Ergebnisse der
Reise. Ein Besuch in Cambridge, Mass., erweitert seine
wissenschaftlichen Beziehungen und er arbeitet dann weiter an
den verschiedenen in Aussicht genommenen Veröffentlichungen.
Das Jahr 1868 bringt die Möglichkeit, daß sein lingui-
stisches Werk in Leipzig gedruckt werde, des weiteren Ver-
handlungen mit dem Peabody-Museum, aber nichts kommt
in der gewünschten Form zum Abschluß. Viele Zuschriften
aus Hukatan veranlassen Berendt wiederum dahin abzureisen,
wo er dann auch für das oben genannte Museum Ankäufe
von Altertümern machen soll. In Merida findet er wieder
wichtige Manuskripte, schreibt einen Artikel über die Bücher
von Chilam Balam, studiert eingehender die Kultur des
Hencquen (des Sisalhanfcs). Von San Juan de Tabasco
aus macht er Vermessungen an der Küste, Nachgrabungen
und besichtigt eingehend die Mahagoniholzschlüge der dortigen
Gegend. Aus dieser Zeit, wo er für seine Freunde ver-
schollen war, und sie ihn tot glaubten, stammt der Nekrolog
über ihn vom Padre Carillo. Trotz eines neuen Aufstandes,
der in jenen Gegenden ausbricht, besucht er Palenque, Chia-
pas, Ococingo, Comitan und San Cristoval, wo er manches
lohnende Material sammelt. Er läßt sich dann für einige
Zeit in Tuxtla nieder, von wo aus er Ausflüge auch nach
Chiapas hinein macht, aber sein Gesundheitszustand ist an-
gegriffen, er selbst liegt schwer krank am Fieber darnieder
während sechs seiner Begleiter starben, so daß er sich ent-
schließen muß, gesundere Gegenden aufzusuchen. Das Haupt-
ergebnis dieser Reisen war ein sehr umfangreiches Manuskript
der Zoguesprache aus dem 16. und 17. Jahrhundert. Er
reist vorerst nach Merida, wo er Brasseur de Bourbourg
antrifft, der auch krank, sich wieder uni eine Pfarrstelle in
Guatemala bemühen will. Mächtig zieht cs Bcrendt in
die Heimat, aber die Fertigstellung seines Mayawörterbuches
hält ihn gefangen. So geht er über New Orleans nach
Providence, wo er den größeren Teil der Jahre 1871 und
1872 in schriftstellerischer Thätigkeit verbringt.
Seine angegriffene Gesundheit hält ihn meist an das
Zimmer gebannt und eine Pleuritis verschlimmert zeitweilig
seine Leiden. Das Jahr 1873 bringt ihm die Ernennung
zum korrespondierenden Mitglied der Berliner Gesellschaft
für Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte, wodurch er
der deutschen Gelehrtenwelt näher gebracht wird. Sein
Vetter und Freund, Dr. von Frantzius, vermittelt zum
Teil diese Beziehungen. Da erneute Anfälle von Leber-
beschwerden und Asthma einen Klimawechsel erheischen, reist
er im Januar 1874 zuerst nach Nicaragua, wo er die ihm
schon bekannten und liebgcwordenen Städte wieder aufsucht,
die Verhältnisse daselbst aber nichts weniger als günstig für
einen längeren Aufenthalt findet. Der Tod seiner Mutter
giebt ihm die Mittel 1875 nach Guatemala zu gehen. Auf
der Reise dahin findet er eine schon verloren geglaubte Kiste
mit Altertümern, besonders von der Insel Ometepec wieder
welche nebst andern inzwischen erworbenen Stücken durch
die Vermittelung von Dr. von Frantzius an das Berliner
Ethnographische Museum verkauft worden. Der amerika-
nische Gesandte Williamson, den Berendt schon in New
Pork kennen gelernt hatte, wünscht seine Begleitung auf der
Reise nach Eoban, wo sie im März zusammen anlangen
und bei dem dortigen amerikanischen Konsul Sarg gastliche
Aufnahme finden. Das schöne Klima, der Umgang mit
gebildeten Menschen, reifen in Berendt die Absicht einer-
dauernden Niederlassung und den Erwerb einer Kaffee-
plantage. Inzwischen hat Dr. von Frantzius nähere Be-
ziehungen zu hervorragenden Persönlichkeiten Berlins ver-
mittelt, welche die Hoffnung erwecken, Berendt zum Abschluß
und zur Förderung seiner wissenschaftlichen Arbeiten die
nötige Gelduntcrstützung zu gewähren, worüber der in-
zwischen nach Südamerika abgereiste Pros. Bastian bestimmte
Zusagen mitbringen soll. Im Jahre 1876 erwirbt Bercndt
in Eoban eine kleine Kaffccplantage, die er Oliva nennt;
die Freude an diesem Besitz, das Arbeiten auf demselben in
freier Luft heben seinen Gesundheitszustand. Von Pros.
Bastian trifft ein Brief ein, der Berendt in Guatemala
zu sehen wünscht, die Angaben sind aber so ungenau, daß
es Berendt nicht gelingt, ihn zu treffen. Kurz entschlossen,
reist er ihm nach New Bork nach, wo er ihn denn auch
trifft, und mehrere Tage in seiner Gesellschaft in Washing-
ton und Philadelphia zubringt. Hier werden Pläne für die
Zukunft besprochen. Die von ihm gewünschte und in einem
ausführlichen nach Berlin gesandten Programm entwickelte
Form seiner Thätigkeit ist freilich nicht genehmigt, sondern
cs wird nur die Übernahme der Ausgrabungen in den
Ruinenstätten von Santa Lucia de Cozumalhuapa für Rech-
nung des Berliner Museums abgemacht. Die Anwesen-
heit des Kaisers von Brasilien veranlaßt die Geographical
Society zu einer Festsitzung, wo auch Bcrendt einen Vor-
trag über die Centres of Ancient Civilisation in Zcntral-
amerika hält.
In diese Zeit fällt die erste und einzige Herzensfreude,
welche Berendt in seinem schon so lange verödeten Leben gehabt
hat: das Wiedersehen mit dem inzwischen zum Manne ge-
reiften Sohne, der eine ihm zur weitern Ausbildung in
seinem Berufe als Ingenieur zur Verfügung gestellte Summe
nicht besser anzuwenden glaubte, als den Vater kennen zu
lernen und daneben die Ausstellung in Philadelphia zu be-
suchen. Schöne Wochen verlebten beide abwechselnd in
New Bork und Philadelphia und wohl war jene Zeit an-
gethan, einen Glanzpunkt in dem Leben Berendts zu bilden.
Anerkannt in der Wissenschaft, aufgesucht von angesehenen
Vertretern derselben, die Familicnbcziehungen durch den
Sohn zu beider Freude und Genugthuung lebendig gemacht,
ein anscheinend gebesserter Gcsundheitsstand — so verließ
der Sohn den Vater, um ihn nie wiederzusehen. Leider
sollte diese glückliche Zeit nicht lange anhalten; ein gastrisch
biliöser Zustand hält Berendt bis in den Januar 1877 in
New Bork fest, und er reist dann über Aspinwall und dem
Isthmus nach San Jose am Stillen Ozean, von wo aus er
telegraphisch die nötigen Erfordernisse zur Reise beordert
und dann nach Santa Lucia aufbricht. Das Auffinden und
Vorbereiten der skulpierten Steine zum Transporte erfordert
viele Mühe. Es gelingt ihm, Techniker und Steinhauer zu
finden, welche die Hebung der versunkenen Steine und das
Absägen ihrer skulpierten Flüchen ermöglichen. Inzwischen
wird die freie Zeit zu Vermessungen, Zeichnungen, Aufspüren
und Ankäufen von Altertümern benutzt, worüber eingehende
Berichte an Professor Bastian abgesandt werden. Erst im
April kann Bercndt nach Eoban zurückkehren, nachdem alle
nötigen Arbeiten eingeleitet und in Ausführung begriffen sind.
Einige nähere Angaben über diese seine Thätigkeit sind von
Professor Bastian seiner Arbeit über die Steinskulpturcn
von Santa Lucia angefügt worden. Freudig begrüßt er die
Freunde und sein kleines Gut, wo er noch einen heitern
Lebensabend zu verleben träumt. Mit einer zweiten Reise
nach Santa Lucia hofft er für immer dem Wanderleben zu
entsagen und sich ganz der Bearbeitung seines Gutes und
der Fertigstellung seiner umfangreichen wissenschaftlichen
Arbeiten widmen zu können. Die überstandencn An-
strengungen der Reise haben ihm Verschlimmerung seiner
Leiden gebracht, so daß er erst im Dezember die Reise nach
Santa Lucia antreten kann. Jul Januar 1878 schickt er
Aberglaube in Mittelitalien.
341
Von Guatemala aus noch eine in heiterer Stimmung ab-
gefaßte ausführliche Reisebeschreibung. Die Locieckack Eco-
nomica daselbst fordert ihn zu einem Bericht über die Jn-
dianerstämme Guatemalas auf, was ihn zurückhält. Er
übernimmt diese Arbeit mit großer Lust und vielem Eifer,
da aber feine Zeit dazu nicht ausreicht, fordert er Dr. Nock-
stroh zur Mithilfe auf. Er sieht noch den ersten Bogen
von dieser Arbeit gedruckt, von der er schreibt, daß sie das
Beste sei, was ans seiner Feder geflossen. Dann muß er
seine Reise nach Santa Lucia antreten, gelangt aber nur bis
Antigua, wo ihn eine schwere Erkrankung zur Umkehr nach
Guatemala zwingt. Nach achttägigem qualvollen Leiden ist
er dann hier am 12. April aus seinem mühevollen, be-
wegten Leben zur ewigen Ruhe hinübergeschlummert!
Es beschleicht mich stets aufs neue ein Gefühl tiefer
Trauer, daß eine so reiche geistige Veranlagung, ein so ernstes
Streben und eine so außergewöhnliche Arbeitskraft weder die
Ausnutzung noch die Befriedigung finden konnte, welche
unter günstigeren Verhältnissen dem Menschen wie der
Wissenschaft gesichert gewesen wären. Unter dem Zwange der
Daseinssicherung ist Bercndts Leistungsfähigkeit und seine
Arbeitskraft vielfach zersplittert und schließlich für Gebiete
in Anspruch genommen worden, die weder seinem Alter noch
seiner angegriffenen Gesundheit entsprachen. Das, was er selbst
ersehnte und wofür sein späterer Entwickelungsgang und seine
Fähigkeiten am meisten geeignet waren, nämlich die Ergeb-
nisse des nach jahrelangem Bemühen angehäuften reichen
Materials selbst auszuarbeiten, wozu er der Ruhe und einiger-
maßen gesicherten Daseinsbedingungen bedurfte, das ist ihm
tctbcr nicht vergönnt gewesen. Sein Tod hinterläßt in jeder
Beziehung unausfüllbare Lücken, aber denjenigen, die Ursache
haben, seiner in Liebe und Verehrung zu gedenken, kann
die Überzeugung tröstend und erhebend sein, daß die Aner-
kennung feines Schaffens, wenn sie ihm auch im Leben nicht
voll und ganz zu Teil wurde, mehr und mehr durchdringen
und ihm in den Annalen amerikanistischcr Forschung gern
die bevorzugte Stellung einräumen wird, die ihm gebührt.
Von den Schriften, die Bcrcndt veröffentlichte, sind folgende
zu erwähnen: 1862 bis 1863. Viele Aufsätze in Petermanns
Geographischen Mitteilungen. — 1869. -Xu Analytical Alphabet
for Mexican and Central American Languages. A meric.
Ethnolog. Soc. — 1871. Los trahasos lingüísticos de I). Pio
de Perez. Mexico. — 1871. Cartilla en lengua Maya. Me-
rida.— 1873. On an grammar and dictionary of theKarif
or Carib- Language. Smiths Pep. — 1873. Die Indianer
des Isthmus von Tehuantepec. Zeitsckr. f. Ethnol. Berlin. —
1874. The Darien Language. Americ. Hist. Record. — 1874.
El Ramié. Tratado del Cultivo. Merida. — 1876. Re-
marks on the Centres of ancient Civilisation in Central-
America. Dull. Americ. Geogr. Soc. — 1878. Zusammen
mit E. Rockstroh: Los Indigenas de la America Central y
sus Idiomas. Guatemala.
Über den Nachlaß Berendts äußert sich Dr. Brintou
folgendermaßen: „Tie Berendtsche Sammlung ist besonders
reich an Wörterbüchern, Grammatiken und indianisch geschriebenen
Werken und ist bedeutend reicher als die von Brasseur de Bour-
bourg. Die drei unveröffentlichten Mayawörterbücher, die Gram-
matik von Buenaventura und Beltran und die Libros de Chi-
tan Balam bilden allein ein Material zur Beurteilung der
Mayasprache, wie es kaum für eine andre amerikanische Sprache
vorhanden ist. Außerdem sind die sämtlichen Werke des Padre
Ruz vorhanden, wie ich glaube, ein Unikum. Außer der Moya-
gruppe sind alle Sprachen der Eingeborenen zwischen dem Jsth-
inus von Tehuantepec und Panama vorzüglich vertreten. Tie
Anzahl der Titel sind 175, zum Teil in Originalhandschriften,
andre in vorzüglichen Abschriften.«
Aberglaube in Mittelitalien.
^exen. Religiöse Tättowierungen. Teufel. Allerlei Geister.
Die Società antropologica italiana hat den guten
Gedanken gehabt, ihre Mitglieder zu Berichten über die in
den verschiedenen Teilen Italiens noch herrschenden aber-
gläubischen Meinungen und Gebräuche aufzufordern, und
bringt die eingelaufenen Mitteilungen in der von Paolo
Mantegazza redigierten Gescllschaftszcitschrift (Archivio per
l’Antropologia e la Etnologia) zum Abdruck. Das vor-
liegende erste Heft des XX. Bandes bringt zwei interessante
derartige Arbeiten, die eine über die Marche Appannine
von Caterina Pigorini Beri, die sich unter den Folk-
loristen durch mehrere in der Nuova antologia erschienene
Arbeiten über Volkslieder und Sprichwörter in den Marken
einen bekannten Namen gemacht hat, die andre über die
Gegend von Modena von Dr. Paolo Riccardi. Beide
Gebiete haben noch gar manchen von der modernen Kultur
unbedeckten Winkel aufzuweisen, und demgemäß bieten beide
Arbeiten manches Interessante und Wichtige. Besonders die
Berfasserin des ersten Berichtes, für welche allerdings die
Verhältnisse auch günstiger lagen, hat keine Mühe gespart utid
hat als Gläubige die meisten Zeremonien mitgemacht, über
die sie berichtet, thatsächlich die einzige Art und Weise, durch
welche es möglich ist, wirklich die Wahrheit zu erfahren.
Die Hauptrolle im ländlichen Aberglauben der Marken-
bewohner spielen natürlich die Hexen. Die italienischen
Streghe unterscheiden sich votl den deutschen Hexen in einem
sthr wichtigen Punkte, sic saugen nämlich den Menschen und
ganz besonders den Säuglingen das Blut ans; die Spuren
ihres Bisses sind die gefürchteten Totcnflecken (in der Mark
more genannt). Hier fließen also Vampyr und Hexe zu-
sammen. Die Thätigkeit der Streghe ist auf zwei Nächte in
der Woche beschränkt, Mittwoch und Samstag; von einem
Avemaria zum andern können oder richtiger müssen sie durch
die Lüfte fahren und ihrem unheimlichen Werk nachgehen;
in diesen Nächten hört man sie besonders an den Waschplätzcn
ihr Wesen treiben, die Wäsche mit dem Schlegel bearbeiten,
und keine Mutter läßt Wäsche und besonders Kindcrwäsche
bis zur Dunkelheit draußen liegen, da die Hexen sonst Macht
darüber gewinnen. Sollte aber durch einen Zufall einmal
das Hereinholen vergessen worden sein, so muß die Wäsche
auch liegen bleiben, bis die Sonne sie am andern Tage
wieder beschienen hat, denn das löst den Zauber; Diebstahl
ist nicht zu fürchten, der Dieb würde glauben, mit der Wüsche
and) den schädlichen Zauber in sein Haus zu tragen. Auch
dürfen Kinder, solange sie nicht ein Jahr und drei Tage
alt geworden sind, unter keinen Umständen über das Ave-
marialäutcn hinaus im Freien bleiben, ja wenn sie nur bis
znm ersten Glockenton draußen geblieben sind, empfiehlt es
sich schon, sie sofort der Wärterin wegzunehmen und einem
Manne zu geben, der sie schleunigst ins Haus trägt; vor-
sichtige Mütter lassen auch dann das Kind sofort segnen oder
wenigstens von einer Hexcnbannerin, einer „donna chi ha
la virtü“, besprechen.
Im übrigen gleichen die Streghe den Hexen, sie behexen
Mensch und Vieh, ihre Wirksamkeit fällt vielfach mit dem
„occhio cattivo“ zusammen. Allerdings ist dieses nicht
ein Privilegium der Hexen, auch zahlreiche andre Leute sind
342
Aberglaube in Mittelitalien.
damit behaftet und selbst das jeweilige Oberhaupt der Kirche,
der Papst in Rom, gilt 6o ipso für einen jettatore. Ein
Hauptvergnügen der Hexen ist, sich eine Stute aus dem Stall
zu holen und auf dieser zum Tanzplatz zu reiten;
ein Besen qner über die Stallthür gelegt, sperrt
ihr zwar den Weg durch die Thür, ober nicht
den durch das Fenster oder durch einen be-
liebigen Ritz. Im Stalle bleibt dann nur ein
Schemen (meriggia) zurück, er sieht ganz wie
ein Pferd ans, aber wenn man ihm den Sattel
auflegen will, fällt derselbe zur Erde. Über
Hengste und Maultiere haben Hexen keine
Macht, namentlich über letztere nicht, denn ein
Maultier hat einst die Madonna über ein Ge-
wässer getragen, während die Stute sich weigerte.
Darum ist das Maultier vor Hexen sicher und
l.
braucht auch keine Jungen zur Welt zu bringen, während die
Stute sich niemals satt fressen kaun und den bösen Mächten
preisgegeben ist. Eine in guter Hoffnung befindliche Frau
wird deshalb niemals eine Stute reiten. Auch
dem lieben Rindvieh kaun keine Hexe etwas an-
haben, denn cs hat das Christkindchen in der
Krippe gewärmt. Der Ziegenbock scheint merk-
würdigerweise von den italienischen Hexen nicht
als Reittier benutzt zu werden, obwohl seine
satanische Majestät auch iu den Marken mitunter
diese Gestalt annimmt.
Die Vorschriften über den Verkehr mit Hexen
und über die Art und Weise, wie man sich, die
Seinen und sein Eigentum vor ihnen schützen
kann, sind von den in Deutschland bekannten
nicht wesentlich verschieden. Auch der Zusammen-
Franziskanische Tättowiernngen.
1. Madonna von Loreto und Kruzifix von Sirolo. 2. Tättowierungsnadel. 3. Der heil. Franz mit den Stigmata.
4. Kreuz mit den Armen des heil. Franz. 5. Madonna mit Engeln. 6. Erzengel Michael als Drachenlöter.
7. Der heilige Geist.
hang zwischen Hexen und Katzen ist derselbe; müssen die Hexen
eine körperliche Gestalt annehmen, so ist es die der Katze,
besonders wenn sie durch irgend etwas verhindert werden,
vor Avemaria wieder in ihrer Wohnung zu sein. Eine Katze,
der man den Schwanz abhaut, wird zur Hexe. Fremde
Katzen, welche die Wohnung umschleichen, sind gewöhnlich
Erotische und religiös-erotische Tättowiernngen.
Hexen. Der Hund ist als Katzenfeind auch der natürliche
Feind der Hexen; sein Betten vertreibt sie, sein Haar oder
ein Stück Fell als Amulett getragen, schützt vor Behexung.
Am meisten gefährdet sind die Säuglinge, nach deren
Blut die Hexen besonders lüstern sind. Selbst in gebildeten
Familien unterläßt man nicht, ihnen die schützende Koralle
Tättowiernngen mit Attributen der Jesuiten.
umzuhängen. In den Marken hält man sie nur selten für
ausreichend, fast allen Kindern bindet man alsbald nach der
Taufe, die seltsamerweise keinen Schutz bietet, ein rotes Säck-
chen um. Dasselbe enthält ein Heiligenbildchen, gewöhnlich
das des San Pacifico di Severino oder noch besser ein Stück
von dem Schleier, mit welchem das Bild dieses Heiligen
überdeckt ist, dann ein Bild der Madonna von Loreto, einen
Zweig der „erba della Madonna“ (die Bacca oder Bac-
j
1
I
Aberglaube in Mittclitalicn.
343
!
charis der Alten, Gant de Notre Dame der Franzosen,
ol> D1gita1i8 oder Campannla, die beide unter diesem Namen
gehen?), ein Stückchen von der in der Kirche gebrannten Oster-
kerze, ein Körnchen Salz und ein Stückchen Brot oder Macca-
roni. Ein andres selten vergessenes Schutzmittel ist das rote
Krenzchen, das mit Kreuzstichen jedem Stückchen Kinderwäsche
aufgenäht ist.
Dieses christliche Zeichen führt hinüber zu einem eigen-
tümlichen, in den Marken weit verbreiteten, aber bis jetzt
kaum beachteten Gebrauch, den Tättowierungen, welche
tu Loreto mit den Pilgern vorgenommen werden. Die
Verfasserin hat diesem Gegenstände besondere Aufmerksamkeit
gewidmet und hat das Glück gehabt, aus dem seinerzeit mit
Beschlag belegten Nachlaß eines „beccamorto“ (Totengräber)
den ganzen zum Tättowieren nötigen Apparat, die dreispitzigen
»pennini“ und gegen 100 uralte, in Holz geschnittene Muster
zn erwerben. Die ganze Sammlung befindet sich jetzt in der
psychologischen Abteilung des Florentiner Museums; einer
ausführlichen Mitteilung über dieselbe, welche die Verfasserin
ül der „Illustrazione italiana“ vom 9. Dezember 1888
veröffentlicht, entnehmen wir die beigedruckten Proben.
Natürlich spielen die beiden Hauptheiligtümer der Marken,
die Madonna von Loreto und das uralte bekleidete Kruzifix
von Sirolo, die Hauptrolle, daneben die Stigmata des heiligen
Franziskus, dessen Heiligtum in Assissi ja auch nicht weit
entfernt ist, der längs der ganzen italienischen Ostküste hoch-
verehrte Erzengel Michael und verschiedene andre Symbole.
Konkurrenz machen die Symbole der Jesuiten, das Herz
Fesn und dergl., aber nebenher gehen auch zahlreiche, ganz
oder halb erotische Embleme, vereinigte und durchbohrte
Herzen, Anker, ja Amor selbst, denn die Hauptmasse der
Pilger sind immer junge Leute, denen dergleichen noch über
die Furcht vor den Hexen geht. Die Bilder werden ans der
Innenseite des Vorderarms angebracht. Das Verfahren ist
äußerst einfach. Der Operateur ätzt ganz oberflächlich das
gewünschte Bild in die Haut, was mit unglaublicher Gewandt-
heit und Schnelligkeit geschieht, ohne daß Blut fließt; dann
ergreift er den „pennino“, einen Griffel, an dem vorn drei
seine Nadelspitzen befestigt sind, macht den Schnitten entlang
seine Einstiche, so tief, daß etwas Blut hervordringt, und
reibt in diese eine bläuliche Tinte. Damit ist die Tätto-
wierung vollendet, eine Reaktion tritt kaum ein, und nach
24 Stunden empfindet man nicht das geringste mehr.
Die Verfasserin mag recht haben, wenn sie die heute ge-
bräuchlichen Tättowierungen auf die Stigmata des heiligen
Franziskus zurückführt; der Gebrauch ist aber weit über die
Grenzen der Marken mtb Italiens hinaus verbreitet und
findet sich auch in nichtchristlichen Gebieten.
Neben den Hexen spielt der Teufel eine recht unter-
geordnete und traurige Rolle; er schließt keinen Pakt mehr,
um arme Seelen 511 gewinnen, und begnügt sich, als Ziegeu-
äock, als Hund n. dergl. späte Wanderer zn erschrecken; das
Zeichen des Kreuzes genügt, um ihn zn verscheuchen. Legen-
den, die von mehr zu berichten wissen, sind freie Erfindungen
dichterischer Gemüter, nicht ans dem Volksglauben hervor-
gegangen. Wohl aber leben noch die alten Hausgeister, die
wonacheddn Süditaliens, hier mazzamurelli ge-
"unnt, weil sie an die Mauern klopfen. Sie ängstigen be-
sonders die allein im Hause befindlichen Frauen und rufen
äns Alpdrücken hervor, sind aber leicht zn verscheuchen, sobald
Man den Mut hat, laut zu fragen: Cbe vuoi dalle parte
Dio? Sie hüten auch verborgene Schätze, die mit Hilfe
^ Wünschelrute (palla simpatica) gehoben werden können,
vber nur, wenn sie noch nicht länger als hundert Jahre liegen.
Nach einem Jahrhundert gehören sie der Erde, und nur durch
Ulnständliche und schwer zn erfüllende Prozeduren können sie
gehoben nnd die Geister erlöst werden. Onellensuchcr ge-
brauchen die Rute von Holunder, der auf dem Grabe eines
Ermordeten gewachsen ist. Solche Bäume sind nicht selten,
denn Holunder wird häufig auf solche Gräber gepflanzt, um
der armen Seele Ruhe zu verschaffen.
Wenn Totenhemd nnd Totenkleider angefertigt werden,
muß man dieselben sorgsam abschneiden, nnd die Nähte dürfen
nur „am Filze" mit einfachem Stich und ohne Hinterstich
genäht werden, damit die arme Seele den Faden leicht heraus-
ziehen kann; andernfalls findet sie keine Ruhe, bis der letzte
Rest von Körper und Kleidern zu Staub zerfallen ist.
In der verkehrsreicheren Umgebung von Modena hat nach
Riccardi der Hexenglaube sehr abgenommen; was noch übrig
ist, fällt wesentlich mit der Furcht vor der Jettatura zusammen.
Allerdings giebt es aus den Dörfern noch Hexen genug, und
mitunter kommt es zu Thätlichkeiten gegen sie. Dann nimmt
aber der Gläubige einen Stock vom Holz eines weißen Tranben-
stocks, denn sonst empfindet die Hexe die Schläge nicht. Vom
Bluttrinken scheint man in Modena nichts mehr zn wissen.
Dagegen sind noch viele Mittel zur Entlarvung der Hexen
bekannt, wesentlich dieselben, wie sie auch in vielen Teilen
Deutschlands noch hier und da angewendet werden. Am
sichersten ist es, sich in der Weihnachtsnacht mit einer ganz
neuen Mistgabel auf einen Kreuzweg nahe bei einer Kirche
zu stellen und das Kinn auf den Mittelzacken zu stützen;
dann müssen alle Hexen des Dorfes erscheinen. Auch kann
man einen Faden, der in der Weihnachtsnacht gesponnen, ge-
kocht, gewaschen und getrocknet worden ist, um die Kirche
herumspannen; dann müssen alle Hexen in die Kirche und
können nicht wieder heraus, solange der Faden liegt. Hexen-
meister, die aber sehr selten sind, können die Kirche nicht ver-
lassen, wenn man eine Nadel in das Weihwasserbecken wirft.
Eine Hexe, der man das Zeichen des Horns hinter dem
Rücken macht, muß sich alsbald umdrehen; legt man ihr ein
Körnchen Salz unter den Stuhl, so kann sie nicht aufstehen,
ohne,es zuvor aufzuheben.
Übrigens sind die Seelen der Hexen dem Teufel recht
leicht zu entreißen. Wenn eine Hexe im Todeskampf liegt,
braucht der Geistliche nur den Besen ins Kamin zu stecken,
dann fährt der böse Geist alsbald in denselben und ruft ängst-
lich: Che mi fai? che mi fai? und auf den Befehl:
Fuori spiriti maligni, fuori fliegt der Besen zum Kamin
hinaus oder verbrennt doch wenigstens, und die Seele ist der
Hölle entrissen.
Die Seelen im Fegefeuer können zeitweise zur Erde zurück-
kehren; Mäuse, Eidechsen und Schlangen ans Friedhöfen sind
ihre Verkörperungen und werden darum gehegt, besonders
die Eidechsen, die ihrer Erlösung nahe sind, denn die Eidechse
ist ein Schützling der Madonna und hat ihr einmal einen
Dorn aus dem Fuße gezogen. Der Gecko (rornarno) dagegen
hat ihr diesen Liebesdienst verweigert; er ist darum verflucht,
nur verdammte Seelen erscheinen in seiner Gestalt, und man
verfolgt ihn geradezu mit Wut.
Von den zahlreichen sonstigen interessanten Mitteilungen,
welche besonders die Arbeit der Frau Pigorini-Beri enthält,
heben wir nur noch die über das Wochenbett hervor. Hier
spielt eine Hauptrolle als Zaubermittel die „pietra aquilina“,
der Stein von Aquila. Es ist dies ein sogenannter Klapper-
stein, ein runder, hohler Stein, welcher im Innern einen
kleineren enthält; man findet ihn in den Abruzzen in der
Nähe von Aquila, hier und da auch in Deutschland. Schon
Plinius kennt sie und ihre Kraft. In den Marken gehört
ein solcher Stein zum nötigsten Handwerkszeug der Hebamme,
er verhindert Blutungen nnd Frühgeburten und hält im Not-
fälle die Geburt zurück, bis Hilfe da ist. Wird die Amme
zu zwei Wöchnerinnen gleichzeitig gerufen, so schickt sie der
einen ihren Stein; dann kann diese warten, bis die andre
besorgt ist. Der Stein wird übrigens nicht einfach in seiner
344
Franz Kraus: Die Veränderungen in der Eishöhle am Beilstein.
natürlichen Form angewandt; man sprengt die äußere Schale
und bindet sie wieder übers Kreuz mit Draht, dann umgiebt
man ihn mit einem dreifachen Ledersückchen, den drei Eihäuten
entsprechend, und so wird er der Wöchnerin umgebunden.
Diese darf sich während der Entbindung nicht ins Bett legen,
sondern muß, auf einen Stock gestützt, stehen, wie die Madonna
auch, der Mann dagegen legt sich ins Bett, bis die Sache
voriiber ist. Ein Anklang an die Convade der Indianer
dürfte das freilich kaum sein.
Das „Ausschütten" der Kinder gilt allgemein als Folge
von Behexung; ein probates Mittel dagegen ist das Eingeben
gepulverter Korallen, das allerdings durch das Binden der
überschüssigen Magensäure manchmal wirksam sein kann.’
Eigentümlich ist der Glaube, daß Schlangen nicht nur
den stillenden Frauen die Milch aus den Brüsten saugen,
sondern auch in ihren Körper hineinkriechen können. Hält
man einer solchen Frau eine Schüssel voll Milch vor den
Mund, so wird die Schlange herauskommen. Bleibt sie im
Körper, so kommt sie bei der nächsten Niederkunst zum Vor-
schein, um den Hals des Kindes gewickelt; beide sterben noch
an demselben Tage und müssen zusammen begraben werden.
Der Raum gestattet uns nicht, weiter auf die zählreichen
interessanten Mitteilungen einzugehen. Nur einen Aber-
glauben bezüglich der Bienen wollen wir noch erwähnen;
Bienenstöcke dürfen nicht verkauft, sondern nur verschenkt
werden, sonst verlassen alle Bienen den Stock. Die Bezahlnng
darf nur in Form eines Gegengeschenks geschehen. Auch
prozessiert darf um einen Bienenstock nicht werden.
Die Veränderungen in der Eishöhle am Beilstein.
Beobachtet von Franz Ar aus.
Trotzdem die Eishöhle am Beilstein zu jenen gehört, die
verhältnismäßig leicht zu erreichen find, so wird sie doch
nur wenig besucht. Die Ursache ist nur dadurch zu er-
klären, daß man selbst in den Kreisen der Männer der
Wissenschaft den Höhlen im allgemeinen wenig Beachtung
schenkt. Vom großen Touristenschwarme ist ein Interesse
für das Eishöhlenphänomen noch weniger zu verlangen,
welches weit entfernt ist von einer Erklärung, die als unan-
fechtbar gelten und
allgemein acceptiert
werden könnte. Meh-
rere Theorieen stehen
sich entgegen, allein
sie vermögen nur die
Erscheinungen in be-
stimmten Höhlen zu
erklären, während sie
bei andern Höhlen
nicht mehr ausrei-
chen. Das Beobach-
tungsmaterial ist ein
viel zu dürftiges,
und der wissenschaft-
liche Streit wird
noch lange auf der
Tagesordnung blei-
ben, wenn es nicht
gelingt, aus mehre-
ren Lokalitäten Bc-
obachtungsreihen zu
erhalten, welche min-
destens ein ganzes
Jahr umfassen. Aber
auch diese würden
nicht genügen, wenn
die Beobachter selbst
nicht unbefangen genug sind, um auch jenen Nebenumständen
Rechnung zu tragen, welche gegen die eine oder die andre
Lieblingstheorie sprechen würden. Es ist nicht unnötig, dies
zn betonen, denn derlei Fülle sind oft genug vorgekommen
und haben mehr verwirrt als genützt.
Ohne auf die von Professor Dr. Bruno Schwalbe in
Berlin gesammelten und in verschiedenen Zeitschriften publi-
zierten diversen Eishöhlentheorieen näher einzugehen, mögen
hier an der Hand von eigenen Beobachtungen die Lokal-
verhältnisse der Eishöhle am Beilstein beschrieben werden,
aus denen nur ein Umstand hervorgehoben werden soll, und
zwar: die großartigen Veränderungen in den Eisgebilden,
die sich binnen kurzer Zeit vollziehen, was beweist, daß die
Eisbildung nicht so unabhängig von den meteorologischen
Verhältnissen der Außenwelt ist, als einige Physiker be-
haupten.
Schon Ruthner bemerkt, daß die Eisgebilde bei seinem
ersten Besuche der Höhle (1837) viel mächtiger waren als
bei seinem zweiten
(1874)1). Er schreibt
dies der mittlerweile
erfolgten Holzschlä-
gerung zu, die eigent-
lich eine Devastation
war. Noch heute ist
das Terrain um die
Höhle herum voll-
ständig kahl, und
die Aufforstung muß
von Jahr zu Jahr-
wiederholt werden,
weil das arg ver-
karstete Plateau des
Beilstein fast von je-
der Humusbedeckung
entblößt ist. Nur mit
der äußersten Mühe
und Sorgfalt ge-
lingt es hier und da,
ein Fichtenpflünzlein
fortzubringen. In
dem klüftigen Kalk-
boden hält sich keine
Feuchtigkeit. Bevor
nicht eine neue Vege-
tationsdecke empor-
wächst, ist an eine Besserung der Verhältnisse nicht zu denken,
und früher dürfte auch die ehemalige Pracht der Beilstcin-
Eishöhle nicht wiederkehren. Wer sie in den früheren Jahren
nicht gesehen hat, der wird aber jetzt noch über die schönen
Eissänlen und über den mächtigen Gletscher, welcher den
Boden bedeckt, erstaunt sein. Die Hauptstellen, an denen sich
die Eissänlen zu bilden pflegen, bleiben stets die gleichen,
was auch natürlich ist, weil das aus den Klüften sickernde i)
Die Eishöhle am Beilsteiu 1889. Originalzeichnung von Franz Kraus.
i) Siehe „Ausland" 1875.
Franz
Kraus: Die Veränderungen in der Eishöhle am Vcilstcin.
345
Idealer Durchschnitt vom Eingänge bis zum großen Schlund.
die Löcher im Eiskuchen selbst ändern nie ! aus, die bis an die Decke reichen. Die Mitte des Eisschlnndes
darauf schließen läßt, daß dieselben durch 1 nimmt ein eigentümliches Gebilde ein, dessen Höhe wohl
' ' ” *■ nr“c 1 «<M-.s,«Spvitssi ist. welches sich aber in der Form ziem-
Auf-
Wasser die Ursache der Eissäulenbildnng ist. Nur in den
Dimensionen wechseln sie, nicht nur von Fahr zu Eahi, son-
dern auch von Saison zu Saison. Der Gletscher, welcher
mit sanftem Falle
von der Mün-
dung bis zum so-
genannten Eis-
schlunde an der
drückwand den
größten Teil des
Bodens bildet,
entsteht unzwei-
felhaft vom über-
schüssigen Wasser,
welches im rück-
wärtigen Teile
und längs der lin-
ken Seitenwand
durch Löcher und
Spalten abfließt,
nachdem cs den
Gletscher über-
rieselt hat. Diese
Spalten sind aber
keine Gletscher-
spalten, sondern
Randklüftc, und
ihre Stelle, was ......, , , „ „ , .
Temperaturverhältnisse auf diesen Platz gebannt suid.
fallend ist auch
der Umstand, daß
es auf der rech-
ten Seite (vom
Eingänge gerech-
net) keine Rand-
klüfte giebt, wäh-
rend jene der lin-
ken Seite fußbreit
klaffen.
Die Eishöhle
bildet einen ein-
zigen großen und
weiten Raum,
dessen Ende im
rechten Winkel
abbiegt *). Wie
die meisten Eis-
höhlen bildet auch
die Beilsteinhöhle
einen Sack ohne
jede sichtbare
Fortsetzung. Sei-
tengänge giebt es
wohl, aber sic sind
kurz und enden
irn rückwärtigen
Teile der Höhle
mit Eisgebilden,
welche sie total
verschließen, Nur
bar zu sein, weshalb sich darüber nichts weiter sagen läßt.
Nur soviel kann darüber berichtet werden, daß sich Eis-
gebilde nur im vordersten Teile dieses Spaltes befinden, wäh-
rend der rückwär-
tige Teil eisfrei
ist. An der lin-
ken Höhlenwand
befindet sich eine
geräumige Nische,
deren Mitte eine
frei stehende
schlanke Eispyra-
mide einnimmt,
welche der Form
nach einem goti-
schen Altare
gleicht. Gegen-
über an der Ecke
der Höhle sind
die Eisgebilde
niedriger, aber
massiger, und am
Rande des Eis-
schlnndes bauen
sie sich oft zu
schlanken Säulen
Plan der Eishöhle am Beilstein. Aufgenommen von Franz Krans.
Große Öffnung in der Decke, früherer Einstieg, jetzt unzugängig. — 1>. Deckenteil, der
" N ns,„kl __ p. l{
ließen. Nur i1, ®r°6c Öffnung m der L>eae, jruytui ....
im vorderen noch ^ ^fläche erreicht. — c. Eisfrei. — d. Nandkluft. — e. kleiner Eisjchlund. —
Hon, TrtftPÄfSAt» f- ®vo&cr Eisschlund. — g. Im Jahre 1832 zugängigc Höhlung im Gletscher, 1889 ver-
_vs, "g^PUcytc wachsen. — I>. Nische mit aufsteigender Fortsetzung, 1889 eisfrei. — i. Gefrorener
iss«) verschwunden. — k. Steil abfallender Einstieg mit Steigbauin.
erhellten Teile Wasserfall, 1889 verschwunden
scheint ein Spalt
sich in die Tiefe fortzusetzen, allein er ist zu enge, um passier-
U Wie aus dein alavue aufgenommenen Plane ersichtlich ist.
Globus LIX. Nr. 22.
auch veränderlich ist, welches sich aber in der Form zieni-
’ ltch gleich zu blei-
ben scheint. Der
Schlund selbst hat
eine Tiefe von 4
bis 5.n>, und sein
Grund ist mit
Blöcken von ge-
borstenen Eis-
säulen angefüllt,
welche über den
geneigten Glet-
scher in die Tiefe
geglitten sind.
Geradezu wun-
derbar sind die
zarten, korallen-
förmigen Ansätze
an den Eiszapfen,
welche über den
Eishang hinab-
hängen. Diese
Eiszapfen können
nur vom Wasser
entstanden sein,
welches den Glet-
scher überrieselt
hat, hier in ab-
gekühltem Zu-
stande angelangt
ist und in Eis ver-
wandelt wurde.,
Auch dürften die
dünnen Eisblätt-
chen erwähnens-
wert sein, die sich
am Grunde des Schlundes im tiefsten Teile befinden. Diese
rühren jedenfalls von stagnierendem Wasser her, welches
oberflächlich gefroren ist, ehe es vollends versickern konnte.
14
346
Howitt über die „Gruppenehe" der Australier.
Man tritt oft vier bis fünf solcher dünnen Lagen durch,
welche knirschend brechen, weil sie durch Zwischenräume ge-
trennt sind und daher keinerlei Tragfähigkeit besitzen.
Es ist ein glücklicher Zufall, daß eines der wichtigsten
Eisgebilde, und zwar jenes im Eisschlunde, im Jahre 1881
von Schreiber dieses skizziert worden ist. Nach dieser Skizze
hat Meister Hlavaczek eine Illustration für die österreichische
Touristen-Zeitung angefertigt, welche cs heute gestattet, die
Veränderungen anschaulich zu machen, welche seit damals
und dem Jahre 1889 dieses Eisgebilde erfahren hat.
Vor allem ist dasselbe in dem regenreichen Sommer
von 1889 ungemein in die Höhe und in die Breite ge-
wachsen, während die Eissäulen am Rande des Schlundes
eingestürzt waren, und einen bequemen Abstieg in den Schlund
gebildet hatten. Früher war es ohne Seil oder Leiter nicht
möglich, hinab zu gelangen; 1889 aber konnte man über
die fest zusammengefrorenen Trümmer mit Hilfe von Steig-
eisen ohne Seil aus- und absteigen. Die Rückwand, von der
aus das Bild aufgenommen ist, war in beiden Jahren eis-
frei, das großartige Eisgebilde auf der linken Seite, welches
1881 sich an die Felswand anlehnte, war total verschwunden,
und auch weiterhin gab es längs der Wand kein Eis mehr.
Durch das Abschmelzen einer so bedeutenden Menge von
Tropfeis wurde sogar eine Nische frei, welche man früher
nicht bemerken konnte, und in dieser 9 cif che befand sich
auch nicht die Spur von Eis. Dagegen zeigte sich eine
Kluft am Boden, welche aber mit Gesteinsschutt ganz ver-
legt war. Eine Luftströmung konnte in dieser Kluft nicht
konstatiert werden, wie überhaupt die Lust in der ganzen Höhle
am betreffenden Tage auffallend ruhig war. Selbst am
Eingänge, den man sonst mit offenem Lichte kaum passieren
konnte, flackerten die Kerzen nicht. Es war ein zwar
regenloser, aber trüber Tag, an dem die Sonne nicht viel
Kraft hatte. Bedeutend erweitert war 1889 die Raudkluft
an der linken Wand in der Nähe der Nische mit dem
gotischen Altare. Sie klaffte über meterbreit, und man
konnte bemerken, daß die Unterlage des Gletschers ans
groben: Steiublockmateriale bestehe, welches jedenfalls hoch
aufgeschüttet liegt. Diese Stelle, sowie die Nische am Ende
des Eisschlundes waren übrigens die einzigen Stellen, an
welchen man die Unterlage des Eiskuchens deutlich sehen
konnte. Ob diesem Schutte nicht vielleicht eine hervor-
ragende Nolle beim Eisbitduugsprozesse zuzuschreiben ist,
mag vorläufig unerörtert bleiben.
In: Jahre 1881 konnte man vom großen Eisschlunde
unter den Gletscher einige Schritte weit in einer kleinen
Eishöhle vordringen. 1889 aber war die Öffnung durch
Eiszapfen verschlossen. Der Eisschlund selbst hatte 1882
eine Länge von 13 m und eine Breite von 7^/zm. 1889
war derselbe bedeutend länger, weil er bis an die östliche
Felswand reichte, welche 1881 durch mächtige Eisgebilde
(gefrorene Wasserfälle und Eissänlen) verdeckt war. Die
Gesamtlänge der Höhle überschreitet nicht 70 m, was er-
wähnt werden muß, weil einige ältere Berichte die Größe
arg übertrieben angeben. Auch über die Tiefe des Eis-
schlundes wird darin gesagt, daß sic sehr bedeutend sei, was
nicht richtig ist.
Es ließe sich noch viel über diese sehenswerte Höhle sagen,
allein das Vorstehende mag genügen, um das allgemeine
Interesse auf dieselbe zu lenken, und es dürste nur Praktisch
sein, etwas über den Weg zu sagen, auf welchem man zur
Höhle gelangen kann. Für die mit der Rudolfbahn An-
kommenden ist die Station Landl (zwischen Groß-Reifling
und Hieflau) die bequemste. Von dort aus erreicht mau
in einer Stunde bequem den Ort Gams, wo man gute
Unterkunft (Fallmanns Gasthaus) und Führer erhalten
kann. Von Garns geht man am besten dem Gamsbache
entlang, an der Villa Grottenheim, dem Mineralbade und
dem Kronprinz Rudolf-Denkmale vorüber, durch den Fels-
paß „die Not" in den Krautgraben. Dort verläßt man
den Bach und steigt im linken Gehänge zur Stutzbauernalpe
und von dieser zur Langriedleralpe empor, in deren Nähe
sich noch eine zweite unerforschte Eishöhle befindet. Die
Langriedleralpe liegt bereits am Hochplateau, welches man
von ihr aus nicht mehr verläßt. Ohne Führer ist aber der
Weg nicht leicht zu finden, weil er verschiedene Hindernisse
umgeht, und überhaupt nicht sehr deutlich ist. Auch ver-
wirren die zahlreichen Steige, welche durch das Weidevieh
ausgetreten sind, und die Wildwechsel, die oft eher einem
Wege ähnlich sehen, als der eigentliche Steig. Nächst der
Höhle liegt die Ammelbauernalpe, die auch in direktem
Anstiege über den Heidbauernhof (spr. Iload) vom Kraut-
graben aus erreicht werden kann. Allerdings verliert mau
dabei die interessante Plateauwanderung.
Wer von Mariazell aus über Wildalpen kommt, kann
auch von letzterem Pfarrortc ans durch den Beilsteingraben
ansteigen und in der Schifteralpe sich erfrischen. Den
Weg ohne Führer zu machen, ist auch von dieser Seite nicht
rätlich, weil die Nomenklaturen in der Generalstabskarte
nicht richtig sind, :md weil mau am Plateau in ein Gewirr
von Dolincn gelangt, in welchem selbst Einheimischen die
Orientierung bei einfallendem Nebel schwierig wird. Ge-
fährlich ist keiner der Aufstiege, und auch die relative Höhe,
welche zu überwinden ist, überschreitet nicht 1000 m, weder
von der einen noch von der andern Seite.
Wünschenswert wäre es nur, daß etwaige Besucher sich
mit Thermometer versehen möchten, um Tempcraturmessungeu
anstellen zu können. Für Beleuchtung genügt offenes
Kerzenlicht. Das Mitnehmen von Steigeisen ist anzuraten,
aber unbedingt nötig sind dieselben nicht. Im letzteren
Falle ist Vorsicht an den geneigten Stellen des Gletschers
allerdings geboten.
Dowitt über die „Gruppenehe" der Australier.
Unter den Dieri lind verwandten Stämmen am Eyre-
See iu Juncraustralien giebt es zwei Arten von Heiraten.
Zuerst Ehen zwischen einem Mann, welcher einer gewissen
Klasse, iiitb einer Frau, welche einer andern Klasse angehört.
Man könnte diese „Sonder-Ehen" oder der Bequemlichkeit
wegen „Noa-Ehen" nennen, wenn man den Ausdruck der
Dieri gebraucht, welcher unserm Worte „Eheleute" entspricht.
Ferner giebt es Eheverhültnisse, welche zwischen einem Mann
und einer Anzahl Frauen, oder zwischen einer Frau und
einer Anzahl Männern vorkommen, indem dieselbe Regel
in bezug auf die Klassen befolgt wird. Dieses letztere Ver-
hältnis könnte man als „Gruppeuchen" oder der Bequem-
lichkeit wegen mit dem Namen „Piraurn-Ehen" bezeich-
nen, wie es bei den Dieri geschieht. Das richtige Verständnis
dieser beiden Arten von Ehen, deren Beziehungen zu einander,
und deren gesellschaftlichen Folgen, ist so wichtig, daß es keiner
Entschuldigung bedarf, wenn wir genaue Einzelheiten über
das Noa- und Pirauru-Systcm anführen.
347
Howitt über die „Gruppenehe" der Australier.
Keine von diesen beiden Heiratsformen ist zwischen Per-
sonen von demselben Totem (Murdu) erlaubt, weil diese als
ans demselben Blute stammend betrachtet werden, also z. B.
Mutter und Kind oder Bruder und Schwester. Ebenso sind
beide Formen zwischen Personen verboten, welche zu einander
als Vater, Mutter, Onkel, Tante, Neffe, Nichte, Enkel oder
Enkelin in Verwandtschaft stehen. Unter diesen sind auch
die Gruppen-Verwandtschaften eingeschlossen, d. h. nicht nur
jeder Frau ist es verboten, das Weib eines Mannes zn
werden, welche die Tochter seiner Mutter war, sondern auch
jeder Frau, welche in der „Gruppcnverwandtschaft" als
Tochter zu ihr stand. Ein Mann oder eine Frau wird
,,Noa" zu einander, indem die Frau während ihrer Kindheit
von ihrem Vater ihm versprochen, oder von dem Haupte und
dem großen Rate des Stammes ihm speziell als Noa zuerkannt
wird. Wenn ein Vater seine Tochter als Noa verspricht,
so hält er treulich sein Versprechen. Ein Mann kann nur
eine Noa erwerben, wenn er die Zeremonien des Wilyam
und Mindari bestanden hat, d. h. er kann sein versprochenes
Weib nicht nehmen, noch würde ihm eine andre gegeben
werden, bis er als vollständig mannbar erklärt worden ist.
Ein Dieriweib wird keine Noa, bis nach der Wilpadrinazcre-
monie, und sie kann nicht mehr als einem Manne zu gleicher
Zeit as Noa dienen. Diese Beschränkung hat aber nichts
mit dem Manne zu thun, welcher zn gleicher Zeit mehr als
eine Noa haben kann. Jeder Mann erhält mit der Zeit
eine Noa, aber sie mag vielleicht das alte Weib eines noch
alteren Mannes sein, welches ihm überwiesen wurde. Es
giebt kein Gewohnheitsrecht im Dieri-Stamm, welches einer
Person verbietet, eine andre aus derselben Horde zn heiraten.
Die einzigen Beschränkungen hängen von den Klassenverwandt-
schaften ab.
Außer den Noa-Ehen giebt cs noch eine Art von Gruppen-
ehcn, welche von den Dieri „Piraurn", und von den
weißen Ansiedlern „Liebhaberehen" genannt werden. Während
meinen Forschungen in diesem Teile von Zentral-Australien
wurde meine Aufmerksamkeit von der außergewöhnlichen Un-
gezwungenheit, welche ich in den geschlechtlichen Beziehungen
bemerkte, erregt, sowie der Freiheit, mit welcher die Aantru-
wuilta, Dieri und andre Stämme ihre Weiber befreundeten
Fremden anboten. Mr. Gason gab in seiner bekannten und
wichtigen Schrift über „The Dieyerie Tribe“ (Adelaide
1871) einige Aufklärung darüber, welche ich hiermit vervoll-
ständige, indem ich genauere Nachrichten darüber hauptsächlich
ihm verdanke.
Ehe die erste Abteilung von Einweihnngsfeierlichkeiten
stattfindet, wo der ganze Stamm der Kuraweli wonkana
gegenwärtig ist, halten die Häupter der Totems und die
älteren Männer einen Rat, in welchem beschlossen wird,
welche Leute als Piraurn einander zuerkannt werden sollen.
Woß solche Männer, welche die Mindarizeremonie, und
Mädchen, welche die Wilpadrinazeremonie durchgemacht
haben, können Piraurn werden. Die verschiedenen Paare,
welche für einander bestimmt sind, werden nicht befragt, auch
kommt es nicht in Betracht, ob sie sich einander lieben. Der
Nat der Älteren bestimmt, ob sie zn einander passen. Jedoch
darf kein Hindernis vorhanden sein in bezug ans Klasse oder
Verwandtschaft. Kurz, diejenigen, welche sich als Piraurn
gegenüber stehen, sind solche, welche Noa werden können.
Einige Abende vor der Zeremonie der Kuraweli wonkana
verkündet der Häuptling in langsamen und gemessenen Sätzen,
lvobei er zwischen jedem eine Pause macht, die Namen jedes
Piraurnpaares, und seine Worte werden von einem oder
Mehreren der Älteren wiederholt. Bei jedem Namen ertönt
ein allgemeines Freudengeschrei im Lager. Es ist dies eine
Zeit von Festlichkeiten, Gelagen und Vergnügen, wozu reich-
liche Nahrungsmittel angeschafft werden. Man tanzt, und
außerdem herrscht während vier Stunden eine allgemeine
Zügellosigkeit im Lager unter den Piraurus. Übrigens
stehen die Piranru, wenn sie einander zugewiesen sind, zu-
künftig stets in dieser Verwandtschaft, und da bei jeder Be-
schneidnngsfeierlichkeit eine neue Verteilung stattfindet, so
kann es geschehen, daß ein Mann oder ein Weib nach einer-
gewissen Zeit mehrere Piraurus haben kann.
Mr. Gason hat mir in unverkennbaren Worten mitgeteilt,
ums er bei diesen Gelegenheiten gesehen hat, und welche dar-
auf hinausgehen, daß alle anwesenden Frauen und Männer,
welche die Mindarizeremonie durchgemacht hatten, Piraurus-
gruppen bildeten, unter welchen, für gewisse Zeit, vollstän-
dige Vermischung herrschte.
Ein Alaun kann stets sein Eherecht gegen seine Piraurn
ausüben, wenn sie zusammenkommen und ihr Noa abwesend
ist, aber er kann sie ihm nur mit seiner Einwilligung weg-
führen, mit Ausnahme bei gewissen Festlichkeiten, wo eine
allgemeine Zügellosigkeit unter den Klassen herrscht, in denen
Zwischenheiraten vorkommen. Die festlichen Veranlassungen
sind z. B. die Einweihungsfeierlichkeiten oder die Hochzeiten
zwischen einem Mann und einer Frau, welche zwei ver-
schiedenen Stämmen angehören. Die Einwilligung des
Noa-Ehemannes wird dem männlichen Piraurn selten ver-
weigert. Für gewöhnlich genießt ein Noa-Ehemann stets
den Vorrang über einen Piraurn, während seiner Abwesen-
heit jedoch nimmt der anwesende ältere Piraurn das Weib
des ersteren und beschützt sie während dieser Zeit. Das
Noa-Eheweib genießt ebenfalls ein Vorrecht über das weib-
liche Piranru, im Fall, daß beide zusammenwohnen.
Im Fall, daß ein Mann irgendwo mit seiner Noa und
Piranru lagerte, so würde er nächst dem Feuer schlafen, seine
Noa neben ihm und dann erst neben dieser die Piraurn.
Ältere, männliche Piraurus haben den Vorrang über
jüngere männliche Piraurus. Diese Einrichtungen sind sorg-
fältig getroffen, um Eifersucht zu verhindern, aber trotz allen
diesen Anordnungen entstehen die meisten Streitigkeiten unter
den Dieri wegen dieser Piranru-Sitte, weil bei deren Aus-
übung kein Ehemann seine Frau ausschließlich fiir sich be-
halten kann. Ebenso genießen die älteren Männer keine
Alleinherrschaft über die Frauen, weil im Laufe der Zeit die
Frauen mehreren Männern zugeteilt werden, und in Wirk-
lichkeit es keine Männer giebt, welche nicht eine oder mehrere
Piraurus besitzen, selbst wenn sie keine Noa haben.
Einige Beispiele werden beweisen, wie sich dieses System
unter den männlichen Piraurus bewährt. Angenommen,
man hätte dieselbe Frau einem älteren und einem jüngeren
Manne als Piraurn zugesprochen. Im Fall nun, daß der
jüngere Mann sich in irgend einem Lager mit seiner Noa
und seiner Piranru befindet, unb daß der ältere Mann bloß
allein dort ist, so würde der letztere ein Recht haben, des
ersteren Piraurn zu sich zn nehmen. Sollten aber beide
Männer sich in demselben Lager ohne ihre Noas befinden,
so würde der ältere Mann das Vorrecht haben, die Ge-
sellschaft irgend einer Piranru zu beanspruchen, welche gerade
dort anwesend ist und beiden Männern bewilligt und zur
Verfügung gestellt worden war. Beide Männer könnten
auch dieselbe Hütte mit ihr teilen, sowie von den Lebens-
mitteln zehren, welche sie gebracht hatte.
Wie schon erwähnt, besitzen die älteren Männer kein
alleiniges Recht über die Frauen, aber obgleich sie dasselbe
nicht ausschließlich ausüben können, besitzen sie doch sicherlich
sehr ausgedehnte Vorrechte. Die Wilpadrina ist z. B. die Aus-
übung eines ausschließlichen Vorrechts für eine gewisse Zeit.
Gewöhnlich haben die Häuptlinge mehr Noas und Piraurus
als andre. Der Häuptling Jalina Piramnrana hatte mehr als
ein Dutzend ihm zuerkannte Piraurus, sowie außerdem mehrere
Weiber, welche ihm von den benachbarten Stämmen als ein
44*
348
Die Skulpturen der Eskimos.
Zeichen der Hochachtung, gewissermaßen als Ehrenpiraurus
anvertraut waren. Irgend ein alter oder junger Manu, dem
eine Noa dieses Häuptlings als Pirauru bewilligt wurde, ward
dadurch als sehr geehrt angesehen. Solche auf diese Weise
ausgezeichnete Männer waren gewöhnlich Häupter der Totems
oder sonstige Leute von Rang. Die Kinder der weiblichen
Pirauru werden von ihrem männlichen Pirauru „Sohn"
und „Tochter" genannt. Sie nennen ihn „Vater" und die
Kinder einer Frau nennen das Noa-Weib ihres Pirauru
„Mutter". Wurde jedoch ein Mann über seine Angaben
näher befragt werden, so wurde er sagen, daß der Noa seiner
Mutter sein „Apiri murla“ — „Apiri rnuthu“ oder sein
„wirklicher Vater" oder „leibhaftiger Vater", und daß 'der
Pirauru seiner Mutter sein „Apiri waka“ oder „kleiner
Vater" sei. Seines Vaters Pirauru würde genauer genoin-
men seine „Anrtri waka“ oder „kleine Mutter" sein. Sehr
oft sagen die Frauen, daß sie nicht wissen, welcher Mann,
der Noa oder der Pirauru, der Vater eines gewissen Kindes
ist, oder geben gar nicht zu, daß es bloß einen Vater hat.
Daher ist das Kind wirklich das Kind eines
„Gruppenvaters", und nicht eines Einzelnen,
welches die natürliche Folge der „Gruppenehe" ist. Im
Fall eine Noa stirbt, nimmt eine weibliche Pirauru sich
deren Kinder an, behandelt sie mit Liebe und durchaus nicht
nach der Art einer „Stiefmutter". Die Kinder der weib-
lichen Noa und der weiblichen Pirauru behandeln sich gegen-
seitig liebreich und zeigen keineswegs die geringste Eifersucht
gegen einander. Sie leben wie Geschwister. Es ist ein Vorteil
für einen Mann, so viele Piranrns als möglich zu haben.
Er braucht alsdann weniger zu jagen, da seine Piranrns,
wenn sie bei ihm sind, ihm einen Teil ihrer Speisen über-
lassen, wenn ihre eigenen Noas abwesend sind. Er gewinnt
auch großen Einfluß bei dem Stamme, indem er ihm seine
Piranrns gelegentlich überläßt, und empfängt Geschenke von
den jungen Männern, denen noch keine Piranrns zugeteilt
worden sind, oder welche keine Piranrns mit sich überhaupt
oder im Lager haben dürfen. Ähnliche Dinge kommen sehr
häufig vor, und auf diese Weise kaun ein Mann große Schätze,
Waffen aller Art, Schmucksachen rc. erwerben, welche er
wiederum an hervorragende Männer, Häuptlinge von Totems
und ähnlichen Leuten, verschenkt und dadurch sein eigenes An-
sehen erhöht. Diese Handlungsweise wird bei den Dieri nur
als recht und billig betrachtet. (A. W. Holvitt im Journal
of tlie Anthropologieal Institute XX, 53, 1890.)
Die Skulpturen der Eskimos.
Die Kunstfertigkeit der Naturvölker im Zeichnen und der
Skulptur, die häufig unterschätzt wurde, ist durch zahlreiche,
in den letzten Jahren veröffentlichte Arbeiten in das richtige
Licht gestellt worden. Fehlt auch die künstlerische Ausbil-
dung, so sind doch die
Anlagen bei sehr vielen
Naturvölkern vorhan- ^
den, und was Charak-
terisierung der dar-
zustellenden Gegenstände
betrifft, so erreichen sie
darin einen Grad, um
den viele europäische
Künstler sie beneiden
dürften. Es kommt ihnen
hierbei ihr fortdauern-
der Umgang mit der
Natur zu statten.
Wir wollen heute
nur mit einigen Worten
auf die Fertigkeit der
arktischen Völker iu
der Bildhauerei hin-
weisen, gelegentlich der
beiden hier mitgeteilten
Holzskulpturcn, welche
Nansen in seinem Werke „Auf Schneeschuhen durch Grön-
land" abbildet. Er erhielt sie von grönländischen Eskimos,
deren Formsinn er lobt. „Man kann keinen Augenblick im
Zweifel sein, daß der Verfertiger hier seine eigene Rasse hat
nachbilden wollen." Es sind Porträtköpfe, lachend dargestellt,
die, verglichen mit Photographieen von Eskimos, große
Natnrwahrheit bekunden.
Diese Köpfe sind auch noch darum von Belang, weil die
Eskimos weit seltener menschliche Figuren schnitzen als Tiere.
Die Walfische, Robben, Narwale, Walrosse, Eisbären, die
Von grönländischen Eskimos geschnitzte Köpfe.
Boas (Sixth Annual Report of the Bureau Ethnology)
uns voll den Zentraleskimos mitteilt, sind bewnnderns-
lvürdig. The Eskimo are exeellent draftsmen and
carvers, sagt Boas. Diese Schnitzereien gleichen ganz jenen
der TschllktscHen ilnd
sind wie diese aus Wal-
roßzahn oder Holz her-
gestellt, sie weisen die
gleiche Charakteristik ans,
ivie die von Nordenskiöld
mitgebrachten Exemplare
deutlich erkennen lassen
(Hans Hildebrand, Ile
lägre Naturfolkens
Konst, Stockholm 1884.)
Die Eskimos im Osten
der Bcrillgstraße in
Alaska zeigen auch die-
selbe Kunstfertigkeit, wie
die Tschuktschen, die Ze»
traleskimos iiitb Grön-
länder, wofür die Freu
digkcit spricht, mit der
sie viele ihrer Geräte mit
Skulpturen schmücken
(Jakobsens Reise an der
Nordwestküste Amerikas, Leipzig 1884). Bessel (Amerikanische
Nordpolexpedition, Leipzig 1879) erzählt, daß die Eskimos am
Smithsunde in seiner Gegenwart Tierfiguren und Menschen-
gestalten schnitzten, die „überaus charakteristisch waren". Durch
geringe Mittel gelang es ihnen, das Typische der Eskimo-
physiognomie zur Darstellung zu bringen, sowie den Typus
des Europäers auszudrücken. — Was die Zeichnungen der
Eskimos betrifft, so sind dieselben nicht minder tüchtig wie
ihre Skulpturen, worüber Rink, Boas, Hofman, Petitot n. a.
zahlreiche Beispiele beigebracht haben. R. Andree.
A I. Ccyp: Ein Besuch der Euphratqucllcn.
349
Lin Besuch der Luphratqueilen.
Von A. 3. Leyp.
Die genaue Kenntnis der Lage der Euphratquellcn ist
dis Mitte des laufenden Jahrhunderts dunkel und ungenau
geblieben. Bon all den Berichten älterer Geographen ist
nicht einer aus unmittelbarer Forschung hervorgegangen und
deshalb mehr oder minder unrichtig. Den Griechen und
Römern war die Lage der westlichen Euphratquellen beiläufig
bekannt, wie wir aus den Angaben des Strabo und Plinins
ersehen. Nach Plinins entspringt der Euphrat in der
Provinz Karanitis Großarmeniens am Berge Aba, welchen
Strabo Abos nennt. Diese Angabe entnimmt Plinins den
Aussagen des Doinitius Corbulo, welcher als Statthalter-
in Syrien unter Kaiser Nero im Jahre 63 n. Chr. mit
einem Heere gegen die Parther bis zum armenischen Euphrat
vordrang. Dagegen nennt Licinius Mucianus, welcher
sechs Jahre später als Statthalter Bespanians nach Syrien
gesandt worden, den Berg, an dessen Fuß der Euphrat ent-
stehe, Capotes und die nächste Stadt Zimara. Der Berg-
name Aba oder Abos scheint heute im armenischen Hoch-
lande verschollen, aber in der alten armenischen Benennung
Garin, welche die Stadt Erzerum führte, bevor sie den
Namen Theodosiopolis erhielt, will St. Martin den antiken
Landschaftsnamen Karanitis wieder erkenà, sowie in der
Bencnnnng Capotes das armenische Wort Gaboid, d. i. blau,
mit welchem mehr als ein hoher Berg in Armenien bezeichnet
wird. Ptolemäns bezeichnet ziemlich richtig die Breitengrade
der beiden Quellarme, ohne den Ort ihres Ursprungs zu
beschreiben. Ganz falsche Nachrichten giebt Procopius,
welcher Euphrat und Tigris ans demselben Berge ent-
springen läßt. Auch in den Schriften der arabischen,
türkischen und armenischen Geographen, bei Masudi, Edrisi,
Kjatib, Tshelebi, Jedshidshean finden sich nur oberflächliche
Mitteilungen über das euphratische Quellgcbiet. Den
Charakter des Stromes hat der Prophet Jesaias klar und
schön gezeichnet, indem er mit dessen Gewalt das um sich
greifende assyrische streich verglich: „Siehe, darum wird der
Herr über sie die wilden und großen Wasser des Euphrats
stürzen lassen, den König von Assyrien und seine ganze
Bracht. Der Strom wird allenthalben über seine Dämme
steigen und allenthalben über seine Ufer treten. Er richtet
dann auch seinen Lauf gegen Juda, er überschwemmt und
durchströmt es. Bis an die Kehle wird sein Wasser reichen
und wird mit ansgespannten Armen dein ganzes weites
Vaterland umschließen, 0 Immanuel!"
Die erste genaue Angabe der Lage der Enphratqnellen
findet sich in der Statistik, welche der russische Gcneralstab
nach Beendigung des vorletzten türkischen Feldzuges ver-
öffentlicht hat. Sie nennt den Berg und das Gipfelthal,
uns welchem die Hauptquellen entspringen, bei dem wahren
Namen, den sie im Lande führen: Gianr D-igh und Domln-
D-rgh. Doch giebt sie keine topographische Skizze der
Gegend. Unter den neueren Reisenden ist der Engländer
Abbot anzuführen, welcher die Hanptquelle selbst besucht hat,
ohne etwas Näheres darüber veröffentlicht zu haben.
Nach Beendigung meiner vor vier Jahren stattgehabten
Persischen Reise unternahm ich den Ausflug nach den
Enphratqnellen. Die Jahreszeit war bereits weit vor-
gerückt. Aber ein ungewöhnlich warmer und sonniger
Spätherbst hatte die Herden noch auf den Alpenweiden
zurückgehalten. Die Hcrbstvegetation war noch ziemlich
schön, itnb dieselben zierlichen Hipparchicn, Hesperiden und
Lycäen, welche zum Teil dem Hochgebirge Armeniens ganz
eigentümlich sind, umflattern im Sonnenschein die letzten
Blümlein der Höhen, welche wenige Tage darauf bei plötz-
lichem Witterungswechsel unter eine Schneedecke begraben
wurden. In Begleitung eines tüchtigen Führers, der alle
Wege und Stege dieser Berggegenden vortrefflich kannte,
ritten wir an einem hellen Oktobertage von Erzerum in
nördlicher Richtung aus. Nach fünfstündigem Ritt erreichten
wir das kleine Dorf Hashkavan, welches größtenteils von
Türken und nur wenigen Armeniern bewohnt ist. Die
armenische Kirche dieses Ortes bewahrt die Gebeine eines
Heiligen und wird als Wallfahrtsort von den Armeniern
weit und breit besucht. Zur Einquartierung der frommen
Gäste befindet sich eine Reihe von Zimmern im unteren
Hofe der Kirche.
Gleich hinter Hashkavan geht es bergauf. Der ganze
Höhenrücken, welcher östlich vom Sichtshik sich bis zu dem
Sattel hinzieht, der die Scheide der Gewässer bildet, welche
einerseits durch Läsistün nach dem Schwarzen Meere, ander-
seits durch Armenien und Mesopotamien nach dem Persischen
Meerbusen fließen und zunächst den Tortnm sn nach Norden
und den Kara-su liegen Süden senden, führt den Namen
Gianr -Dagh und besteht ans Trachyt, zeigt aber weder
einen Krater, noch Lavaströme, wie sein Nachbar, der Sicht-
shik. Nach viertehalbstündigem Steigen über den Trachyt
erreichten wir das hohe Gipselthal, aus welchem die Euphrat-
qncllcn entspringen. Dasselbe hat eine sanfte Senkung,
mag vier Kilometer im Umfang haben und war in dieser
Jahreszeit beinahe schneefrei. Bon den höchsten Abhängen
dieses Gipfelthales aus, einem mit Alpenblnmen und Gras
bedeckten Humusboden, der sich aus dem verwitterten Trachyt
und der Begetalerde gebildet hat, entspringen 21 Quellen,
welche hier das erste und fernste Enphratwasser liefern.
Diese Gipfelsenknng führt den Namen Domlu-Dügh und
erhebt sich mittels des Siedepunktes 995 m über der Hoch-
ebene und 2828,60 m über dem Spiegel des Schwarzen
Meeres. Beiläufig 65 m unterhalb der höchsten Quelle
sprudelt die Hanptquelle hervor, welche allein mehr Wasser
liefert, als alle übrigen Quellen zusammengettominen. Sie
ist die schönste, reinste und frischeste Bcrgqnelle, die ich je
gesehen, und hat eine Temperatur von nur 2,8" E. Kri-
stallklar in prächtigem Sprudel strömt der Springquell aus
einem von Trachytsteinen künstlich übereinander gehäuften
Becken. Diese Einfassung verdankt sie den Besuchern,
welche an schönen Tagen von nah und fern herbeikommen,
der würzigen Berglnft und der milden Temperatur sich zu
freuen und das köstlich frische Wasser zu genießen. Ganz
nahe dieser Quelle tritt nackter Felsen zu Tage, ein Trachyt
Porphyr mit glasigen Feldspatkristallen. Die Quelle liefert
eine bedeutende Wasserincnge, fließt sogleich als Bächlein
weiter, vereinigt sich bald darauf mit andern zuströmenden
Wassern, strömt anfangs in östlicher Richtung unter dem
Namen Domln-sn durch die Hochthäler und Schluchten des
Gianr-Dngh flüchtig, schäumend und tosend, bald zwischen
nacktem Felsgestein, bald über grüne Matten, und wendet
sich dann im südlichen Laufe der Hochebene zu, wo bald
andre Onellströme von allen Seiten zufließen. In der
Hochebene verliert der Qnellbach Charakter, Farbe und
Namen, nimmt trägen Lauf an, bekommt dunkles Wasser,
sieht fast mehr wie ein Kanal als wie ein Fluß ans und
heißt Kara-sn. Auf den Höhen des Gianr-D-lgh leben in
dem reinen Enphratwasser Forellen, im Kara-su kommen
andre Fischarten vor, die einen widerlichen Sumpfgeschmack
haben und deren Genuß nach dem Glauben der Eingebornen
350
Heilige Haine und Bäume der Finnen.
Fieber erzeugen soll. Fünf Stunden nordwestlich von der
Stadt Erzermn vereinigt sich der SertshnmLh-su mit dem
Kara-su. Ersterer entspringt von den schneeweißen Gipfeln
des Berges Scrtshnumh, welcher in der Form einer ab-
gestützten Pyramide sich zwischen dem Sichtshik und dem
Kop-Dagh erhebt und nach seiner Form zu schließen wahr-
scheinlich gleich jenen ein erloschener Vulkan ist. Aus einer
Schlucht, nahe dem Fuße des Hosha-BunLr, tritt der
Sertshnmnh-sn in die Hochebene ein. Er liefert eine fast
ebenso große Wassermenge, als der Kara-su, und unterscheidet
sich von demselben durch einen viel rascheren Lauf. Seine
Quellen können nicht als die wahren Euphratguellcn be-
trachtet werden, da ihr Lauf bis zur Vereinigung mit dem
Kara-su nicht die Halste der Entfernung beträgt, welche wir
von den Quellen des Domlu-Dagh bis zu dem Fuße des
Hosha-Bunar oder Kop-Dagh rechnen. Bemerkenswert
ist, daß alle die vielen Quellen der beiden Bergzüge, welche
die Hochebene umsäumen und die ersten Euphratwasser
bilden, aus trachytischem Gestein, gewöhnlich aus Trachyt-
porphyr gehen, der sonst den Geognosten nicht eben seines
Quellenreichtums wegen bekannt ist. Der Quellenreichtum
bedingt auch die große Fruchtbarkeit der Hochebene. Trotz der
größeren Feuchtigkeit der Atmosphäre und der reichhaltigen
Niederschläge müssen auch hier Felder und Wiesen, wie in
der Ebene von Erivan, durch künstliche Abzugskanäle
bewässert werden, um ergiebige Ernten zu liefern.
Heilige Haine und Bäume der Sinnen').
Haine uub Bäume haben bekanntlich auch die Finnen in
ihrer heidnischen Zeit heilig gehalten, und in Hainen feierten
sie wahrscheinlich, wie noch in späteren Zeiten ihre Stamm-
verwandten an der Wolga, ihre heidnischen Feste. Solche
Heiligtümer werden in der Geschichte Finnlands bereits in der
Zeit erwähnt, als nur das südwestliche Finnland und ein
Teil Tawastlands zum Christentum bekehrt waren. So z. B.
befestigte der Papst Gregorius IX. tut Jahre 1229 die
Besitzungsrechte der Kirche Finnlands ans die Haine und
heiligen Orte, die, früher zu abgöttischen Zeremonien der
Heiden benutzt, von den aufs neue zum Christentmtt Bekehrten
freiwillig der Kirche abgetreten worden waren. Ein Hain
dieser Art war vielleicht auch ein zu heidnischen Festen benutzter
Landstrich in dem Kirchspiel Maskn, den Bischof Thomas
fünf Jahre später, 1234, seinem Kaplan Wilhelm schenkte.
Heilig gehalten waren wahrscheinlich auch die Bäume,
uut welche die Tawasten die Christen sich zu Tode laufen
ließen, wie in dem Schreiben erzählt wird, in welchem der
oben ermähnte Papst 1237 den Kreuzzug gegen die Tawasten
predigte. Daß man laut der Erzählung Erwachsene den
Abgöttern opferte, andre aber in erwähnter Weise sich zu
Tode laufen ließ, läßt vermuten, daß dieses Laufen als eine
Versöhnung der „heiligen Bäume" betrachtet wurde.
Aus religiösen Gründen wurden natürlich solche Heilig-
tülner voit der christlichen Priesterschaft allmählich mit Feuer
und Axt zerstört. Desnugeachtet erhielten sich manche bis
tu unsre Tage. Besonders bekannt ist ein Hain alter be-
mooster Föhren und Tannen in der Nähe der Stadt Kno-
pio, Ristinkanta (Kreuzgrund) genannt, wo die Bevölke-
rung noch mit 1650 opferte und abergläubische Bräuche
trieb, bis der Küster Paavo Lyytikäinen, ein kühner Veteran
aus dem 30 jährigen Kriege, es wagte, ans Befehl des
Pfarrers den Hain niederzuhauen. Noch gegen Ende des-
selben Jahrhunderts war unweit der Kirche Oriwesi ein
Hain, Ri st in kan gas (Kreuzhöhe), wo die Bevölkerung die
heidnische Sitte bewahrt hatte, beim Vorübergehen einen
grünen Zweig unter einer großen Fichte zu opfern. Diese
Fichte und das beint Opfern angesammelte Reisig wurden
zuletzt von dem Pfarrer in Oriwesi, Joseph Lanräus (1686
bis 1694), verbrannt. Die Krcnzbenennnng dieser Orte be-
zeugt, tvie es scheint, daß die Priester schon in älteren Zeiten
ein Kreuz in den heidnischen Hainen errichteten, um so all-
mählich das Heidentum zu verdrängen. Es ist wenigstens
von den heidnischen Festen bei den finnischen Völkerschaften
in Rußland bekannt, daß orthodoxe Priester nicht selten dabei
anwesend sind und daß die Namen der heidnischen Götter
r) Bergt. Globus, Bd. 1UX, S. 313, zusammengestellt nach
Mitteilungen in der finnischen Zeitung Eusi Suometar, 1880
und 1881'.
in den Gebeten nur allmählich durch die Namen der ortho-
doxen Heiligen ersetzt werden.
Vielleicht wurden diese Haine ehemals als Grabfelder
benutzt. Noch in späteren Zeiten haben die orthodoxen Dörfer
in Karelien jedes seinen Tannenhain gehabt, wo die Bewohner
ihre Leichen begrübet!, um den mühsamen Weg zu der ent-
fernten Kirche zu sparen, und man erzählt, daß der orthodoxe
Priester, um seinerseits die Mühe zu sparen, bei der Meldung
des Todesfalles auf die Treppe seines Hauses heraustrat
und in der Richtung des Haines die Asche des Toten segnete.
Kaum 20 Jahre vorher sollen die orthodoxen Bewohner
Kareliens beim Hofgericht Wiburg einen Prozeß mit ihrer
Priesterschaft über diesen Hain gehabt haben.
Heilige Haine giebt es gegenwärtig kaum noch in Finnland.
Heilige Bäume, Opferbänme, sind aber nicht besonders selten.
Unlängst stand in der Nähe des Hofes Metteli im Kirchspiel
Kristina (Savolaks) ein großer Wachholderbanm, Mettelin-
f citct jci genannt, 13 Ellen hoch, die Krone mehr als 50 Ellen
und der Stamm, der sich bald verteilte, 5l/2 Ellen tut Umfange.
Unter diesem weit bekannten Baume wurden in alten Zeiten
abergläubische Zeremonien in der Johanniszeit betrieben. Der
Bannt wurde als Schntzgeist des Hofes betrachtet und behütet
und die Wirtinnen brachten demselben Opfer. Im Sommer
1874 aber wurde der alte Bannt durch einen Blitz zersplittert
und seitdem ist davon nur der Stubben übrig geblieben.
In deut Kirchspiel Wiitasaari, nicht weit von Jyväskylä,
stand ans der Landzunge Soskonniemi in dem Keitele-See
eine alte Tanne, Soskouknusi genannt. Laut der Volks-
überliefernng war die Tanne von den ersten Kolonisten der
Gegend gepflanzt, um als Glücksbaum zu dienen. Der Ruf
des Baumes vermehrt sich von Geschlecht zu Geschlecht. Von
jeder Art der Ernte des Jahres brachte man, ehe noch jemand
davon gekostet hatte, deut Baum zum Opfer; unter dem Baume
sammelte sich dann die ganze Bevölkerung des Dorfes, ttttt
die Opferspeisen zu verzehren. Die Tanne ist so groß, daß
zwei Männer, die den Stamnt umspannten, kantn einander
berühren konnten. Die Tanne wurde als eilt sicherer Wahr-
sager betrachtet. Brach ein Ast in dem Gipfel und fiel zur
Erde, so erwartete man mit Sicherheit das Sterben jemands;
war der gebrochene Ast groß, so war auch der Sterbende
ebenso gewachsen oder alt. Mehr und mehr starb die Krone
des Baumes ab, und in demselben Maße starb das Geschlecht,
dessen Voreltern die Tanne gepflanzt hatten, aus. Endlich
war davon nur ein altes Weib übrig. Eines Tages stürzte
die Tatine und kurz nachher schloß auch das Weib seine Augen.
Bekannt als Opferbaunt war auch an dem Ufer desselben
Sees eine Birke, Kajaman koivn genannt. Der erste
finnische Mann, der in die Kajama-Gegend kam, soll einen
Lappen gefragt haben, tvo er den glücklichsten Platz für die
Bücherschau.
351
Silage seines Hofes finden könnte. Der Lappe antwortete:
„Gehe längs dein Ufer des Sees, bis du ein Haselhuhn siehst,
das ans dem Ast einer Birke sitzt, die sich gegen den Sec
krümmt; dort ist der beste Platz für deinen Hof. Thue aber
weder dem Baum noch dem Haselhuhn Schaden!" So fand
der Finne die Birke, die seitdem heilig gehalten wurde. An
den Wurzeln derselben wurden Opfer gebracht, unter denen
sich mehrere Vögel, wenigstens ein Haselhuhn befinden mußte.
Einer Opferbirke in dein Kirchspiel Kangasniemi in
Savolaks wurde jeden Michaelstag ein Hammelkopf dar-
gebracht. Einmal wollte sich eine Dienerin die Miihe er-
sparen und warf den Kopf nur aufs Feld und sagte: „Holst
d>l dir, guter Herr, den Kopf nicht, so hast dn ihn nicht
nötig." Der Götze in der Birke soll wirklich den Hammel-
kopf geholt haben, ärgerte sich dabei aber so, daß er auch die
Hälfte des Daches eines Kornbodens mit sich nahm.
In der 46. Rune von Kalcwala wird beschrieben, wie
der ewige Sänger Wäinämöinen den Kopf des getöteten
Bären in den Wald brachte und das Schätzchen dort ließ.
„Auf des goldenen Hügels Gipfel,
Auf dem crzdurchwachsenen Berg,
Hoch an einer herrlichen Fichte,
Einem hundertästigen Baum;
Hangt ihn auf am breitesten Zweige,
An dem stärksten, zähesten Ast,
Allen Leuten im Dorf zur Freude,
Jedem Waudcrsmanne zur Lust."
„Hängt ihn mit den Zähnen nach Osten,
Mit den Augen gegen Nordwcst,
Doch nicht grade im höchsten Wipfel;
Hätte ich dort ihn aufgehängt,
Könnt' das Wetter ihn leicht verderben,
Und der Sturmwind Schaden ihm thun.
Auch nicht unten hing er am Baume —
Hätte ich dort ihn ausgehängt,
Könnten die Ferkel ihn benagen,
Könnten ihm die Borstigen nahn *)."
Dieselbe Sitte läßt sich fast bis auf unsre Tage ver-
solgen. In den Opfcrbänmen findet man nicht selten hölzerne
Nägel eingetrieben. In dem Kirchspiel Kangasniemi ans
U Kalewala, das Bolkscpos der Finnen. Übersetzt von
Hermann Paul. Helsingfors 1866, II, S. 307 bis 308.
B ü ch c
runnel G. Brinton, The American Race: A lin-
guistic classification and ethnographic De-
scription of the Native Tribes of North and
South America. New York. Hodges 1891.
Klar, nüchtern und bündig, wie alle Schriften des viel-
seitigen und überaus fleißigen Gelehrten in Philadelphia, ist
ouch diese Arbeit, in welcher derselbe zum erstenmale die gesamte
amerikanische Menschheit vom Eismeere bis zum Feuerland
systeniatisch gegliedert uns vorführt. Es ist die geographische
Provinz der Amerikaner, in welche hier auch die sonst getrennten
Eskimos eingeschlossen sind. Nimmt man, wozu volle Berechti-
gung vorliegt, die Amerikaner als Ganzes, so ist die sprachliche
Einteilung derselben, so weit heute unser Wissen reicht, die
sicherste, während anderwärts eine solche Einteilung zu inneren
Widersprüchen führt und Inkongruenzen zwischen Sprache und
Körpermerkmalen ergiebt. Dabei übersieht und unterschätzt aber
Brinton keineswegs die Kultur- und physischen Verhältnisse.
Wo der vorhandene Stoss cs erlaubt, stellt er selbstverständlich
me grammatische Struktur der Sprachen über die lexikalischen
Elemente bei seiner Gliederung. Von großem Werte ist die
Sichtung und Rechtschreibung der Stammesnamen, die hier
kritisch durchgeführt wird. Wie sehr schwanken dieselben, zu-
'»al im Gebiete der heutigen Vereinigten Staaten, wo ein und
derselbe Stamm oft unter drei, vier Namen erscheint!
einer kleinen Insel in dem See Puulawesi, Karhusaari
(Bäreniusel) genannt, steht eine trockene Fichte, 5 Faden hoch
und 7V2 Zoll im Durchmesser. Von der nördlichen Seite
des Stammes sind Späne abgehauen zum abergläubischen
Gebrauch. An diesem Baume waren noch vor zwanzig Jahren
vier Bärenschädel mit Nägeln ans harzigem Fichtenholz be-
festigt; gegen das Ende des letzten Jahrhunderts aber hingen
dort sieben Schädel, der unterste vier Ellen hoch von der
Erde, die übrigen höher. Unter dem Baume lag eine große
steinerne Platte und eine Menge kleinere in einem Kreise
herum. Auch beim Graben in der Erde fand man Bären-
schädel und Kieferknochen, zum Teil ziemlich tief.
Auf einer sehr kleinen Insel im Kieluwasee in dem Nach-
barkirchspiel Hirvensalmi steht eine ebenfalls seit mehreren
Jahrzehnten trockene Fichte, deren Stamm sechs mit der
Axt eiugchauene Kerbschuitte zeigt. Die Erde unter dem
Baume war erfüllt mit Kieferknochen und Zähnen von Bären.
Dabei lag eine lange Stange. Solche Stangen wurden be-
nutzt, um die Bärenköpfe an dem Baume zu befestigen, so daß
die Stange in der Spalte des Baumes angebracht war, und
der Kopf hing am äußeren Ende derselben. Das Volk er-
innert sich noch der vier Männer, die znm letztenmal diese
Fichte benutzt hatten. Sie hatten zusammen die „Houig-
tätzchen" verfolgt und getötet, dann ein Fest ans einem Berge
gefeiert und die Köpfe nach der Insel gebracht. Dorthin
brachten sie auch die Knochen vom Luchse und andern wilden
Tieren, wie auch die Eingeweide der Bären.
Auch in Karelien, auf einem Berge im Kirchspiel Toh-
majärvi, kannte man eine große Fichte, an deren Stamme
sechs oder sieben Bärenschädel festgenagelt waren. In einer
Hütte auf dem Berge wohnte ein weitgepriesener Bärenschütz
und man erzählt, daß er immer singend den Kopf nach dem
Baume brachte. Endlich, sagt man, wagte es ein Mann,
namens Tuuniainen, den Baum umzuhauen.
Die letzterwähnten Opferbäume scheinen besonders zur
Erlangung des Jagdglücks errichtet worden zu sein. Andern
Bäumen an den Seeufern opferte man, um guten Fischfang
zu erzielen. Unter diesen wurde das Fischergerät verfertigt,
dorthin brachte man die Schuppen und Eingeweide der Fische,
an ihnen nagelte man die Aalranpe fest, die beim Fischzng
einen schlechten Fischfang bedeutete. Zur Beförderung der
Landwirtschaft dienten Opferbäume ans den Feldern in der
Nähe des Hauses.
e s ch a u.
Brinton, der vollständig beherrscht, was in Amerika und
Europa über die Amerikaner geschrieben wurde, geht zuerst auf
die Abstammung ein und kritisiert Fusang, die Atlantis und
ähnliche mit mehr Phantasie als Grund herbeigezogene Hilfs-
mittel, um die Amerikaner aus der Alten Welt zu holen. Daß
jetzt noch Dschunken aus Ostasicn an die Nordwestküste ver-
schlagen werden, weiß er sehr wohl. Aber für eine Angliederung
der Amerikaner an die Mongolen sind sie ohne Beweiskraft.
Dschunken sind eine verhältnismäßig spät entstandene Schiffsart
der Chinesen und Japaner und konnten daher bei einer ur-
sprünglichen Besiedelung nicht in Betracht kommen. Der Ver-
kehr an der Beringstraße zwischen beiden Kontinenten war stets
vorhanden. Hierbei ist aber zu bedenken, daß Sibirien erst
sehr spät, in neolithischer Zeit bevölkert wurde, und daß der
gegenüberliegende Teil Nordamerikas, Alaska, bis in die neueste
geologische Epoche hinein so vergletschert war, daß über diese
Landstriche eine Verbindung der Menschen der Alten und Neuen
Welt nicht erfolgen konnte. Hält man aber an der Einheit des
Menschengeschlechtes fest, dann muß man in eine weite geo-
logische Vergangenheit zurückgreifen, um den Zusammenhang
festzustellen.
Wir wissen jetzt durch unzweifelhafte Funde, daß der
Mensch in Amerika sehr alt ist, daß er dort früher lebte als
in Sibirien oder in Polynesien, die erst zur nevlithischcn Zeit
352
Aus allen Erdteilen.
bevölkert wurden. Auf dem amerikanischen Festlande ist aber
auch die Urheimat des Menschen nicht zu suchen, sondern
nach Darwin in der Alten Welt (als Verwandter der katar-
rhinen Anthropoiden). Wie und wann war diese mit der Neuen
verbunden? Nach Gcikie bis zur postglacialen Zeit durch eine
Brücke, die 1000 m über dem heutigen nordatlantischen Ozeane
lag. Vom heutigen Europa aus wanderte der Mensch auf
dieser Brücke nach Amerika hinüber. So liegen heute die
Anschauungen, die durch geologische, botanische und zoologische
Thatsachen gestützt werden. Was man in 100 Jahren darüber
denkt, ist eine andre Frage.
Die Amerikaner, die sich in der neuen Welt bildeten,
stehen jetzt als eine ethnische Einheit, trotz vieler körperlicher
Verschiedenheiten, vor uns da. „Nirgends finden wir eine
Spur fremden Einflusses oder fremder Belehrung, nirgends
Künste und gesellschaftliche Systeme, die wir auf die Ein-
wirkung der östlichen Halbkugel zurückführen müssen." Der
Unterschied zwischen den höchst kultivierten (wie Mexikanern) und
den Durchschnittsamerikanern (z. B. Algonkin) war, von Archi-
tektur und einigen Erfindungen abgesehen, nicht so groß, wie
man oft annimmt. Es liegt mehr Übereinstimmendes als
Scheidendes vor, wie dieses das. in kurzen Zügen entwickelte
allgemeine Kulturbild Brintons bestätigt. Und die psychische
Einheit der Amerikaner wird namentlich auch durch ihre
Sprachen vollauf bestätigt; letztere sind, wie W. v. Humboldt
erkannte, in ihrer „inneren Form" überraschend gleichartig.
Brinton teilt sic konventionell nach fünf geographischen Pro-
vinzen ein und zerlegt diese wieder in Unterabteilungen. Die den
Hauptumfang des Buches einnehmenden Einzelschilderungen der
verschiedenen Sprachen und Völker mit den reichen Literatur-
angaben sind Meisterstücke knapper inhaltreicher Arbeit.
R. Andrer.
Dr. Fridtjof Nansen, Auf Schneeschuhen durch Grön-
land. Deutsche Übersetzung. Mit 160 Abbildungen und
4 Karten. 2 Bände. Hamburg, Verlagsanstalt 1891.
Später als die englischen und französischen Übersetzungen
liegt die deutsche uns vor und wenn auch durch vorherige Mit-
teilungen des Verfassers die Hauptergebnisse seiner Durch-
querung Grönlands bekannt waren, so ist das vollständige Werk
darum nicht weniger von Belang und fesselnd. Nansen hat
etwas ausgeführt, was vor ihm keiner vermochte. Seine mühe-
volle Schlittenfahrt selbst füllt nur den kleinsten Teil des Werkes
aus, ist auch nicht gerade der interessanteste und bestätigt uns,
was wir schon allgemein annahmen, daß das Innere Grönlands
mit Eis und Schnee bedeckt ist. Alle Schwierigkeiten, die
ungeheure Kälte, die äußerst sparsame Ernährung, die große
körperliche Anstrengung beim Schlittenziehen, bergauf bis zum
höchsten Punkte (2718 m), wurden glänzend bewältigt. Die
Durchquerung ist noch dadurch ausgezeichnet, daß sic von Ost
nach West durchgeführt wurde, nicht wie die bisherigen unvoll-
endeten Versuche (Nordenskiöld u. a.) von West »ach Ost gehend.
Durch Nansen wissen wir, daß Grönlands Eisdecke sich regel-
mäßig von einer zur andern Küste wölbt, was er aus Druck
zurückführt. Die Dicke derselben nimmt Nansen bis zu 2000m
an; die Oberfläche zeigt dünne Eiskrusten und trocknen Schnee.
Was die Temperatur im September betrifft, so war dieselbe
im Mittel — 300 gj- 340 C., eine ungewöhnlich niedrige.
Während man am Tage —15°(£. beobachtete, folgten Nächte
mit —45° C.; also sehr große Schwankungen. — Das Buch
ist ein fesselndes, denn außer dem wissenschaftlichen Inhalte
bringt es viel persönliche Abenteuer, Jagdgeschichten, Schilde-
rungen des Schneeschuhlaufens u. s. w. Dem kühnen Reisen-
den und seinen Geführten folgt unsre ungeteilte Sympathie.
C. H.
Ans allen
— Die Baumw0llcnkulturen in den deutschen
Kolonieen. Hiermit ist ein erfreulicher Anfang gemacht
worden und es steht zu hoffen, das; Deutschland einen Teil
der 980 000 Ballen, die es jetzt jährlich aus dem Anslande
bezieht, durch seine eigene Kolonialthätigkeit erhalten wird.
Die Vereinigten Staaten beziehen über Bremen, den Haupt-
banmwollennlarkt des Kontinentes, jährlich allein 135 Milt.
Mark. Diese einzige Ziffer beweist, lvie wichtig es für
Deutschland ist, sich hier möglichst unabhängig zu machen
und dazu sind unsre, für den Baumwollenbau geeigneten
Kolonieen ausersehen. Schon vor zwei Jahren konnte sich
Baumwolle, gezogen in Kaiser- Wilhelmstand (Neu-
Guinea), auf dem Bremer Markte mit Ehren sehen lassen.
Die dortigen Anpflanzungen von Gossypium barbaclense,
der nordamerikanischen Sea-Jsland-Banmwolle, bei Stephans-
ort, stehen unter Leitung des bekannten Südseeforschers
Knbary.
Über die Baumwolle in Togo berichtet Herr von Fran-
cois, über Bismarckbnrg Wolf und Kling. Dr. Zintgraff
hat schon Ende 1888 Baumwolle eingesandt, die auf der
Barombi-Station in Kamerun gezogen war, und das
Resultat der Prüfung war ungemein günstig. In Ost-
a fr i ka hat die Deutsch-Ostafrikanische Gesellschaft sich mit
der Frage der Banmwollenknltnr beschäftigt, für die dann
namentlich die süddeutschen Fachkreise lebhaftes Interesse
zeigten, so das; die Gesellschaft heute im Begriffe ist, Versuche
in größerem Maßstabe anzustellen. Alle Anzeichen weisen
aber dahin, daß wir in Zukunft den Schwerpunkt der Arbeit
in Baumwolle nach Togo und Kamerun zu verlegen haben
werden. In Togo wird von jeher im ganzen Gebiet die
Baumwolle in guter Qualität gepflegt, und da auch Kamerun
einheimische Banmwollbäume und Standen hat, liegt keinerlei
Grund vor, an der Möglichkeit zu zweifeln, auch dort in
Zukunft Banmwollplantagen in großem Maßstabe anzulegen.
Ob man dabei zur amerikanischen Pflanze greifen oder die
einheimischen Arten bearbeiten wird, ist eine Frage, über
Erdteile n.
welche nur die praktische Erfahrung wird entscheiden können.
Aller Wahrscheinlichkeit nach wird es besser sein, sich an das
afrikanische Material zu halten, da Gossypium barbaclense
den starken Regenfällen Afrikas nicht genügenden Widerstand
entgegensetzt. Neuerdings ist von der deutschen Regierung
der Gärtner Goldberg, welcher lange ans Samoa sich mit
Banmwollenpffanzung beschäftigte, angeworben worden, um
den Baumwollenbau in Togo lind Kamerun in die Höhe zu
bringen.
— Raimondis Nachlaß. In Antonio Raimondi, der
am 25. Oktober 1890 zu San Pedro bei Pascamayo in
Peru nach langen Leiden starb, hat dieses Land seinen besten
Kenner und größten Naturforscher verloren. Geboren
15. September 1826 zu Mailand, kam er 1851 nach Peru,
dessen Erforschung nun seine Lebensaufgabe wurde. Von
seinem Hauptwerke El Peru sind drei Bände erschienen,
von denen zwei historisch-geographischer Art sind. Gegen
Ende 1889 gab er in Paris bei Erhard die ersten fünf
Bände seiner großen Generalkarte von Peru in 1:50 000
heraus, der Rest von fünf Blättern soll bald erscheinen.
Außerdem erschienen Monographiecn über die Departements
Loreto (am Amazonas) lind Ancast, sowie viele bergmännische
Arbeiten in den Annales deMinas. Raimondi, der in be-
drängten Umständen lebte, verkaufte seine Sammlungen und
Manuskripte, die Frucht 19 jährigen Sammelns und Studiums
im Innern Perus, für 50 000 Dollars an den Staat, und
um diesen Preis werden sie jetzt wieder von der Regierung,
die ursprünglich ein Museum dafür bauen wollte, ansgeboten.
Der Krieg mit Chile und die sich daraus ergebende Geld-
verlegenheit Perus vereitelten diesen Plan. Es befindet sich
darunter das großartige Herbarium, die fast vollständige
Sammlung der peruanischen Mineralien, die von Gabb be-
stimmten Versteinerungen, sowie die zoologische Sammlung.
Außerdem das ganze handschriftliche Material. In den Ver-
einigten Staaten interessiert man sich für den Ankauf.
Herausgeber: Dr. R. Andrer in Heidelberg, Leopoldstraßc 27. Druck von Friedrich View eg und Sohn in Vraunschweig.
Hierzu eine Beilage von Tausch & Grosse in Halle a. S.
Bd. LIX.
Nr. 23.
Begründet 1862
von
Karl Andrer.
Druck und Wertcrg
Herausgegeben
von
Richard Andrer.
brich D'ieweg & Sohn.
Braunschwei g.
Jährlich 2 Bände in 24 Nummern. Durch alle Buchhandlungen und Postanstaltcn
zum Preise von 12 Mark sür den Band zu beziehen. f
1891.
Die Wälder Virginiens unter dem Einfluß der Kultur.
Don Dr. med. Ernst
Selten wird der europäische Naturforscher und Natur-
freund sich bewußt, wieviel Kunst in der ihn umgebenden
Natur steckt. Die Wälder, Heiden, Brüche und Wiesen der
Heimat erscheinen uns als unverfälschte deutsche Landschaften.
Freilich ist manchmal urkundlich nachweisbar, daß, wo heute
hundertjährige Kiefern den Boden beschatten, vor einigen
Jahrhunderten Heide war und noch einige Jahrhunderte
früher Eichenwald, mit Eschen, Espen, Ulmen, Ahorn und
Weiden gemischt; aber wenn jemand behauptet, daß es solche
Wälder, solche Heiden und Wiesen, wie wir sie heute um
uns sehen, vor dem Eindringen der menschlichen Kultur gar-
nicht gegeben habe, findet er selten Glauben.
Victor Hehn hat versucht, aus geschichtlichen und aus
sagenhaften Überlieferungen, sowie durch Vergleichung der
Sprachen und Sitten der alten Kulturvölker nachzuweisen,
daß die Pflanzendecke der Mittelmeerländer in der Vorzeit
einen ganz andern Charakter hatte als jetzt. Sein Buch
hat mehrere Auslagen erlebt, aber die maßgebenden Pflanzen-
geographen haben seine Schlußfolgerungen bis jetzt nicht
anerkannt. Die Entwickelung mehrerer einförmiger Land-
schaftsbilder aus einem einzigen bunten kann man in Europa
jetzt kaum noch beobachten; man hat keine Beispiele mehr
vor Augen für solche Umwälzungen, wie sie Victor Hehn
für Südeuropa und mehrere andre Schriftsteller für einzelne
mitteleuropäische Landstriche annehmen.
Verständlicher werden uns solche Vorgänge bei Betrach-
tung der Neuen Welt. Die folgende kurze Schilderung dcr
Pflanzenwelt Virginiens wird zeigen, wie aus gemischtem
Walde nicht nur Bauplätze, Gärten und Äcker gewonnen
werden, sondern wie aus demselben Urwalde auch verschiedene
sogenannte natürliche Vegetationsformalionen hervorgehen:
Nadelwald, Laubwald, immergrünes Gebüsch, heideartige
Moor- und steppcnartige Dünenlandschaft.
Meine Beobachtungen beziehen sich auf die Gegenden
um Norfolk und Hampton, auf die Zeit des Mai und
Juni 1890.
Globus LIX. Nr. 23.
i). £. Krause. Kiel.
Urwüchsigen Wald erreicht man in Virginien am leichte-
sten in der Nähe neuangelegter Seebäder. Die deutschen
Badeorte entwickeln sich meist aus Fischerdörfern und werden
erst dann dem Eisenbahnnetz angeschlossen, wenn sie eine
gewisse Bedeutung erlangt haben; in Amerika kauft der
Unternehmer ein Stück Wüstenland, verbindet es durch eine
Eisenbahn mit der nächsten Stadt und baut aus dem Holz
des Waldes das Kurhaus. Solche, verhältnismäßig junge,
von Wald umgebene Anlagen sind bei Norfolk Oceanview
und Virginia beach.
Der Urwald besteht ans zwei Nadelbäumen und vielen
Laubhölzern. Die ersteren sind eine Kiefer (Pinus austra-
lis) und die Sumpfcypresse (Taxodium distichum). Die
Kiefer ist ihren europäischen Verwandten im Wuchs sehr-
ähnlich, sie erreicht eine ansehnliche Höhe. Die Sumpf-
cyprcsse gehört zu denjenigen Nadclbäumen, welche im Winter-
kahl stehen, ihre Blätter sind zweireihig angeordnet wie bei
der Eibe und der Edeltanne. Dieser Baum erreicht minde-
stens dieselbe Höhe wie die Kiefer, ist aber so viel seltener,
daß er das Gesamtbild des Hochwaldes nicht wesentlich
beeinflußt. Unter den Laubhölzern sind bei weitem am
häufigsten mehrere Eichcnarten, dann folgen Ahorn und
Platanen, seltener sind Nußbäume und andre Hölzer. Die
Kiefer wird höher als irgend ein Laubholz, aber ihre Be-
stände sind nicht so dicht, daß nicht überall Laubbäume dar-
unter hochkämen. Manchmal trifft man im Umkreise von
einigen hundert Metern nur Kiefcrbäume, manchmal größere
Laubholzgruppen ohne Kiefern, aber niemals reine Nadel-
oder Lanbholzbestände von nennenswerter Ausdehnung. Die
Laubhölzer erreichen keine so auffallende Dicke wie die euro-
päischen Eichen. Das Unterholz ist reich an immergrünen
Formen: da ist sehr häufig ein Hülfebusch (Uex), sehr ähn-
lich dem europäischen, er erreicht 15 m Höhe und 2 m Um-
fang; da ist ferner eine Eiche, die in der Blattform dem
Ölbaum gleicht. Mehr fremdartig erscheinen dem Europäer
der Sassafras, Magnolien und Aralien. Von Nadelhölzern
45
354
Dr. med. Ernst H. L. Krause: Die Wälder Virginiens unter dem Einfluß der Kultur.
wächst zwischen diesen ein Wachholder, der nicht selten 2 m
Stammumfang erreicht. Auf feuchtem Boden sind Weiden
häufig. Schlingpflanzen giebt cs viel in diesen Wäldern,
einige sind dem heimischen Jelängerjelieber nahe verwandt,
die meisten gehören mehr südlichen Typen an. Am häufig-
sten sind unter ihnen die rankenden Reben (Vitis), häufig
ist auch der sogenannte wilde Wein (Ampolop^s), dessen
Rankenenden durch Bildung luftleerer Hohlflächen fest an
der Baumrinde haften. Auch Schlinggewächse, die nach
Art des Epheu wurzeln, giebt es, und zwar laubwechselnde
Formen. Roch mehr erinnern an südliche Klimate die
Lianen mit gelbroten Gloxinienblumen (Bignoniaceen) und
die immergrünen, stachligen Smilaceen. Viele dieser Schling-
gewächse erreichen einen beträchtlichen Stammumfang, alle
klettern bis in die Kronen der Laubbäume. Von Schling-
gewächsen durchzogene Kiefernkronen habe ich nur vereinzelt
gesehen, obwohl die Stämme dieser Bäume oft von Reben
umrankt sind. Je lichter der Wald, desto dichter ist das
Unterholz und desto größer das Gewirr der Reben und
Lianen. Am Waldrande ist das Buschwerk oft so dicht,
daß man trotz Messer und Schere nicht durchkommen kann.
Wo die hohen Bäume dichter stehen, ranken die Schling-
gewächse meist an den Stämmen dem Lichte zu, der Wald
ist leidlich gangbar.
Hier und da finden sich Misteln auf den Bäumen.
Den Boden des Waldes bedecken kleine Sträucher und
Kräuter verschiedenster Art. Sehr verbreitet ist ein Bick-
bcerenstrauch, höher als der europäische, häufig sind Brom-
becrbüschc, Erdbeeren, Veilchen, Gräser und Seggen. Die
Farnkräuter sind den mitteleuropäischen sehr ähnlich. Auf
nasseul Grunde bedeckt ein Rohrgras mit verzweigten Halmen
oft große Strecken des Waldbodens. Wo auf trocknen:
Boden das Laubholz spärlicher ist, und die Kiefern dichter
stehen, wächst Fichtenspargel, Wintergrün (Pirola) und
Frauenschuh.
Gegen den Ozean und gegen die brackigen Buchten der
Chesapeakbai erstreckt der Wald sich bis an den Rand der
Uferterrasse. Das Gezeitenland (Tidewater-Virginia) ist
vollkommen eben und fällt gegen die See mit einem Steil-
ufer von 1 bis 2 m Höhe ab. Das vor dieser Uferkante
liegende, zeitweise überflutete Land trügt kein Holz; hier
tritt als zweite natürliche Vegctationsformation die Wiese
auf. Am Mecrcsstrande ist der Ufersand streckenweise zu
Dünen aufgetürmt. Der Wind treibt den Flugsand manchmal
weit in den Wald hinein. Die verwehten Bäume gewähren
dann einen eigentümlichen Anblick. Ich sah eine Magnolie,
deren Hauptstamm nur 1 m hoch aus dem Sande hervorragte,
in der Umgebung sahen überall Zweigspitzen hervor, und
die Blüten saßen unmittelbar auf dem Boden. Die Kiefern,
welche auf diesem Düncnsande aufwachsen, bleiben niedrig
und verästeln sich stark, sie ähneln sehr dem Krummholz.
Früchte tragen sie trotz ihrer Krüppelgcstalt reichlich. Die
immergrüne Eiche gedeiht gut auf dem Sande, ebenso die
meisten laubwcchsclnden Sträucher. Die Eichbäume sind in
unmittelbarer Nähe der See etwas seltener als sonst, an
den Platanen bemerkte ich Spuren von Frost. Mehrere
hohe, starrhalmige Gräser (Elymus u. a.), einige kleine
Sträucher (Onagraceen), ein Kaktus und ein einjähriges
Kraut (Linaria) habe ich nur auf solchem Dünensand
gesehen, aber eine besondere Dünenvegetation bilden sie nicht.
Zahlreiche Süßwassertümpel liegen hinter und zwischen
den Dünen. Sie haben im Gegensatz zu den Brack- und
Salzwasserbuchten kein Wiesenufer, sondern dichtes Unter-
holz von Wachholdcr, Weiden, Magnolien, Hülsen, Sassafras
und Araliaceen bedeckt die User. Zwischen diesen ist sehr
häufig die Sumpfcypresse, aber nicht als hoher Baum,
sondern in niedrigen, kümmerlichen Exemplaren. Oft steht
sie aus Bülten mitten in: Wasser. Die meisten Wasser-
pflanzen sind europäischen Arten nahe verwandt (BatraolUnm,
Nuphar, Utricularia, Hippuris, Potamogeton u. s. w.).
Entstanden sind diese Süßwassertümpel aus Buchten, welche
durch Dünenbildung von der See abgeschnitten wurden;
manchmal bricht die Flut wieder in sie ein, sei es durch die
Düne, sei es durch den schmalen Streifen festen Bodens,
welcher wie eine Nehrung die ehemalige Bucht vom Meere
trennt. In einem solchen Durchbruch südlich vom Kap
Henry stehen Bülten von Walderde mit Kiefernresten nahe
am Strande; abgestorbene, verwehte und verkümmerte Bäume
umgeben den Wald. Die Taxodiumbülten sind teilweise
umgeworfen, andre sind stehen geblieben, aber so abgewaschcn,
daß die knollige Anschwellung des sonst im Boden steckenden
unteren Stammendes sichtbar ist. Die Süßwasserpflanzen
wachsen zum Teil nach Rücktritt der Flut im Triebsand weiter.
Den Beweis für die Entstehung dieser Ufer- und Süß-
wasservegetation an und in abgeschnittenen, ursprünglich
brackigen Buchten liefert ein Arm des Elisabethstromcs bei
Ropersville. Dort schneidet der Kanal vom Drummondsee
einen unbedeutenden Seitenarm des genannten Gewässers ab.
Da der Wasserspiegel des Kanals bedeutend höher liegt, ist
dieser an der Kreuzungsstelle zwischen Schleusen eingeschlossen.
Unterhalb der Schleusen findet sich am Elisabethstrom die
Ufervegctation des Brackwassers, oberhalb hat sich an und
in dem abgeschnittenen Wasser dieselbe Pflanzengemeinschaft
angesiedelt, wie sie von den Dünentümpeln eben geschildert
wurde.
Ich habe es für angebracht gehalten, die Küstenvegetation
genauer zu schildern, um die Entstehung der hochmoorartigen
Bildung des großen Schreckmoores (dismal swamp) ver-
ständlicher zu machen. Dieses Schreckmoor, welches an der
Grenze Virginiens gegen Nord-Karolina liegt, ist keine
Niederung, sondern ein der Küste paralleler Höhenzug,
welcher gleich südlich von der Station Tuckers der „Norfolk
and Western" Eisenbahn beginnt und bis nahe an den
Albemarle Sund sich südwärts erstreckt. Der Nordabhang
dieses Höhenzuges bei Ropersville besteht aus Dünensand
und ist, soweit er nicht in Kultur liegt, mit gemischten
Wäldern bestanden, die schon arg verhauen sind. Auf der
Höhe — nach amerikanischen Angaben 27 Fuß über der
Flutmarke von Norfolk — liegt der Drummondsee. Hier
ist der Boden moorig, das Wasser des Seces sowohl wie
des aus ihm zum Elisabethstrom führenden Kanals ist von
brauner Farbe („wie starker Thee"). Sumpfcypressen und
Wachholder sind hier häufiger als anderswo in Virginien,
aber der Gesamtcharaktcr der Vegetation ist nicht verschieden
von den: der oben beschriebenen Wälder. Der dismal swamp
ist zweifellos eine alte Düne, der Drnmmondsee ein alter
Ufersee. Außer diesen Uferseen giebt es kein stehendes Süß-
wasser in: virginischcn Küstenland.
Es giebt also im virginischcn Küstenland nur zwei
natürliche Vegetationsformationen: die Salzwiese und den
geuiischten Wald. Je nach der Bodenbeschafscnheit sind in
letzterem die einzelnen Bestandteile in verschiedenem Verhält-
nis häufiger oder seltener. Es sei nebenbei erwähnt, daß
auch die Salzwicse keine wesentlichen Verschiedenheiten zeigt,
je nachdem sie auf Schlick oder Sand wächst, sie besteht in
der Hauptsache immer aus denselben Binsen und Seggen.
Ganz frei von europäischen Einwanderern sind diese Forma-
tionen nirgend geblieben, wo je einmal Menschen oder Haus-
tiere eingedrungen sind. An ganz frischen und wenig be-
nutzten Waldpfaden findet man schon Klee (Trifolium
pratense), Knaulgras und Wegerich, sowie einzelne andre
Unkräuter (Sonchus, Anagallis, Prunella, Ruraex).
Ehe ich dazu übergehe, die Entstehung der verschiedenen
Kulturlandschaften aus dem Urwalde zu erläutern, sei be-
Dr. med. Ernst H. L. Krause: Die Wälder Virginicns unter dem Einfluß der Kultur.
355
richtet, wie der gerodete Wald auf verlassenem Lande sich
erneuert. Es sind in Virginien viele Hufen verlassen,
weil nach Aufhebung der Sklaverei die Landwirtschaft nicht
so gewinnbringend erschien wie Fisch- und Austernfang. Zn
manchen Wäldern sind die alten Ackerfurchen noch deutlich
erkennbar zwischen Kiefern, die 15 bis 30 m Höhe und
mehr als 1 m im Umfang erreicht haben. Die Schlacht-
felder des Bürgerkrieges sind so bewaldet, daß sie kaum
mehr zu finden sind; die vor noch nicht 30 Jahren auf
offenem Lande angelegten Wälle und Brustwehren liegen
jetzt in dichtem Hochwald x). Verlassene Äcker bewachsen zuerst
mit Gras und Kraut und Reben, dann finden sich Sträucher
an; bald erheben sich hier und da kleine Gruppen von
Kiefern über das Gebüsch, und der gemischte Wald entsteht
von Neuem. Daß bei dieser Auferstehung des Waldes dem
Auftreten der Kiefer eine Periode vorhergeht, in welcher
strauchiges Lanbholz vorherrscht, ist bemerkenswert. An
Kiefcrsamen fehlt es offenbar nicht, aber die junge Kiefer-
pflanze geht leicht ein. Kleine, fingerlange Sämlinge findet
man sowohl im hohen Walde als ans offenem Sande überall
in Menge, desto seltener aber Gruppen von Stangenholz,
diese vielmehr ausschließlich aus lichten Waldplätzen und in
lichten Gebüschen. Es ist augenscheinlich, daß die Kiefer
auf offenem Lande nicht hochkommen kann; — ob die Dürre
des Hochsommers die Ursache ist, oder was sonst, bleibt
zweifelhaft. Unter dichtem Laubdach kann die Kiefer auch
nicht aufwachsen; die Folge davon ist, daß sie nirgend ge-
schlossene Bestände bildet, sondern stets dem niedrigeren
Laubholz einen beträchtlichen Raum lassen muß. Würden
die verlassenen Äcker von vornherein überall gleichmäßig
dicht mit Busch bewachsen, so könnte die Kiefer das Feld
nicht behaupten; aber im Gebüsch bleiben und entstehen stets
Lücken, diese besetzt die Kiefer, die Dickichte verbleiben dem
Laubholz. Diese Wälder „zweiter Auflage" sind schöner
und regelmäßiger gewachsen als die ursprünglichen, weil der
Altersunterschied ihrer Bäume nur ein geringer ist. Hohe
Sumpfcyprefsen habe ich in nachgewachsenen Wäldern nicht
gesehen. Diese Baumart gehört einer im Aussterben bc-
• griffcncn Gruppe an, die durch ihre Organisation an frühere
geologische Perioden erinnert. Anderseits sind europäische
Unkräuter und verwilderte Kulturpflanzen, wie Wegerich,
Ampfer, Klee und Möhre nicht selten in solchen Wäldern.
Wird der Wald nicht gerodet, sondern nur ausgenutzt,
oder läßt man ihn nach dem Abtrieb unter dem Einfluß
der Kultur wieder aufwachsen, so nimmt er ein je nach der
Behandlung verändertes Aussehen an. Da die Kiefern
wegen größerer Höhe und Dicke ihrer Stämme wertvoller
sind als das Lanbholz, so werden meist nur jene gehauen,
während dieses stehen bleibt, (Norfolk exportierte 1887
500 000 Fuß kienenc Bretter.) Die hohen Laubbäume,
welche zwischen Kiefern aufgewachsen sind, haben eine sehr
zusammengezogene Krone, sie gleichen den Eichen, welche
in den ostholsteinischen Buchenwäldern wachsen. Die jungen
Laubhölzer aber, welche noch im Unterholz steckten, wachsen
nach dem Abtrieb der Kiefern schnell auf und breiten ihre
Krone nach allen Seiten weit aus. So entsteht reiner
Laubwald. Die Abstände zwischen den hohen Bäumen sind
verhältnismäßig groß, das Unterholz ist sehr reichlich; Wege
und Lichtungen sind mit Gräsern, Seggen, Binsen, Erd-
beeren und andern teils amerikanischen, teils europäischen
Standen und Kräutern bewachsen. Einzelne Laubholzarten
werden aus diesen Wäldern ihres Wertes wegen bald aus-
gehauen, besonders die Nußbüume. An Plätzen und Wegen
trifft man oft Kiefernsämlinge und manchmal Gruppen von *)
*) Nach der landwirtschaftlichen Zeitung „The Cornucopia
1883.
Stangenholz; sie liefern den Beweis, daß der reine Laub-
wald ein Kunstprodukt ist.
Nasse Wälder hat man durch Grüben entwässert; in solchen
findet man das Rohrgras noch auf jetzt trockenem Boden.
An einer Stelle südlich von Norfolk sah ich einen Wald,
aus welchem außer den Kiefern auch das Unterholz ans-
gchauen war, also vollständigen Laubhochwald.
Während der eben beschriebene Laubwald einem Raub-
systeni seine Entstehung verdankt, erwächst unter verständiger
Forstwirtschaft der reine Kiefernhochwald. Geschlossene
Kiefernbestände bilden sich, wenn das Laubholz und Busch-
werk aus dem Urwalde entfernt wird. Es muß der Ab-
trieb des Unterholzes so oft wiederholt werden, bis die nach-
gewachsenen Kiefern einen hinreichend dichten Stand erreicht
haben. Einzelne kleine Eichen trifft man stets noch in
diesen Wäldern, im übrigen bedeckt sich der Boden mit
Brombeerbüschen, Bickbeerstrüuchern n. dergl., zwischen denen
Reben und Smilaeeen ranken, und Adlerfarn und zahl-
reiche Standen und Gräser gedeihen. Weißer Klee und
andre europäische Pflanzen (Ranunculus repens, Cera-
stium triviale, Veronica triphyllos, Anthoxanthum
odoratum u. s. w.) wachsen zwischen den amerikanischen
Arten, und unter den letzteren sind mehrere, die auch in
Europa schon als Unkräuter bekannt sind (Oxalis, Sisy-
rynchium). Dem europäischen Laien würden in solchem
Walde nur die Reben als fremdartig erscheinen.
An einzelnen Stellen trifft man bei Norfolk junge
Kiefernbestände, so dicht, daß keine andre Pflanze dazwischen
aufkommen kann. Die regelmäßige Form dieser Bestände
macht cs zweifellos, daß sie angesät sind.
Ziemlich reine Bestände der Snmpfcypressen — den
mitteleuropäischen Ellernbrüchen vergleichbar — sind stellen-
weise an den Süßwasserseen entstanden, wo das hohe Holz
geschlagen ist, besonders am Drummondsee.
Während die drei bisher geschilderten sekundären Wald-
formationen den mitteleuropäischen entsprechen, erinnert die
nun zu beschreibende an die Mittelmeerländer. Ich meine
das immergrüne Gebüsch. Solches findet sich auf der Land-
zunge, ans deren Südspitze die Festung Monroe liegt. Zn
der Mitte genannter Landzunge liegt der Friedhof der
Festung in hohem Kiefernwald. Zn unmittelbarer Nach-
barschaft des Friedhofs ist der Kiefernbestand schon sehr ge-
lichtet, Gestände der lanbwechselnden und kleine Bäume
der immergrünen Eichenart bilden mit Hülsen u. a. das
Unterholz. Daran schließt sich südwärts kahle Düne, der
Schießplatz der Festung, nordwärts ein dichtes Gebüsch von
Hülsen und immergrünen Eichen, durchrankt von Smilax
und Reben. Der dichte Bestand, der Seewind und der
Flugsand erschweren den Nachwuchs der Waldbäume, un-
möglich gemacht wird er durch das Vieh, welches hier
weidet und das zarte Laub der aufschlagenden Bäume den
starren Blättern der immergrünen Sträucher vorzieht. Es
ist derselbe Vorgang, wie in vielen Küstenländern des
Mittelmeeres, wo der Biß der Ziegen das Wiederwachsen
des Waldes verhindert und nur Gestrüpp aufkommen läßt.
Am abweichendsten von der urwüchsigen gestaltet sich
das Landschaftsbild der entwaldeten Düne. Die erste Folge
des Abholzcns ist eine größere Ausbreitung des Flugsandes
nach der Landseite — eine Abflachung und Verbreitung der
Düne. Der Wald würde zu seiner Erneuerung eine lange
Zeit gebrauchen und er kann sich gar nicht erneuern, wo
das Dünengelände als Viehweide, als Exerzierplatz oder
zum Ausbreiten von Netzen gebraucht wird. Solche Strecken
bewachsen mit starrblätterigen, blaugrünen Gräsern, Binsen
und mit ganz niedrigem Strauchwerk, stellenweise auch mit
Kaktus (Opuntia). Dazwischen ranken und kriechen häufig
Reben und Smilax. Sehr häufig ist ein einjähriges Lein-
45*
356
R. v. Lendenfeld: Das Südneuseeländifche Tafelland.
kraut (Linaria) mit blauen Blumen. Bon größeren
Sträuchern ist die immergrüne Eiche mit am häufigsten.
Die Dünen sind verhältnismäßig arm au eigentümlichen
Pflanzen, und ich habe am Meere keine Art gesehen, die
nicht auf dem Flugsand des Binnenlandes auch vorkäme.
Allmählich wird auch diese Pslanzengemeinschaft durch euro-
päische Einwanderer vergrößert werden. Der Spargel ist
um Norfolk schon an vielen Stellen verwildert und gedeiht
besonders auf sandigem Boden am Ufer, ebenso sind die
Kalipflanze und die Melde (8al8oia kali und Atriplex
hastata) an einigen Stellen der Küste bei Norfolk und
Old Point schon vorhanden. Brachliegende Sandschollen
des Binnenlandes sind manchmal ausschließlich mit zwei
europäischen Arten bestanden, dem Mauseklee und dem kleinen
Sauerampfer (Trifolium arvense und Rumex Acetosella).
Im Anschluß an die Düne entwickelt sich meist eine weitere
Vegetalionsformation: die Wiese, und zwar in einer von
der urwüchsigen Salzwiese gänzlich verschiedenen Zusammen-
setzung. In den Dünenthälern gedeihen ans feuchtem Boden
Gräser und Binsen, sowie allerlei Blumen, deren ursprüng-
liche Standorte feuchte Waldplätze sind. Dazwischen haben
sich Knaul- und Timotheegras (Dactylis glumerata und
Plileum pratense), Wegerich (Plantago major), Klee
(Trifolium pratense) und andre Einwanderer (Anagaliis,
Prunella, Sonchus, Ranunculus sceleratus) angesiedelt.
Streckenweise zieht sich ein zusammenhängender Wiesenstreifen
an der Landseite der Dünen hin.
Seit durch Aufhebung der Sklaverei eine intensive Be-
arbeitung des Bodens erschwert ist, hat in Südostvirginien
die Viehzucht ans Kosten des Fruchtbanes sehr zugenommen.
Der Bedarf dieser Landschaft an Heu soll sich jetzt jährlich
auf fast eine halbe Million Doppelzentner belaufen, wovon
der weitaus größte Teil im Lande selbst gewonnen wird.
Aber dieses Heu stammt von keiner der beiden bis jetzt ge-
schilderten Wiesenformen, ^ sondern von Feldern, die mit
Klee und Gras (Trif. arvense, pratense und selten liy-
bridum, Dactylis glomerata und Phleum pratense) be-
stellt sind.
Am Dismalswamp hat der Ackerboden streckenweise das
Aussehen kultivierten Heidelandes, ist anmooriger, geschwärzter
Sand, stellenweise ist der Boden sehr moorig und naß.
Ortstein findet sich nicht. Der Pflanzenwuchs dieses Bodens
an den Wegen, am Kanaluser und auf verlassenem Land
erinnert durch Königs- und Adlerfarn, Heidecker (Tormen-
tilla), Brombeeren, Wachholder u. a. an Heidevegetation,
aber es fehlt ein Analogon des Heidekrauts, so daß ein be-
stimmter Vegetalionscharakter nicht ausgeprägt ist. An nassen
Stellen ist die Snmpfcypresse stellenweise ziemlich häufig.
Die Feldfrüchte sind von ihren kosmopolitischen Un-
kräutern begleitet. Man baut hauptsächlich Mais, Hafer,
Kartoffeln und Erdbeeren. Von diesen stammt eigentlich
nur der Hafer aus der alten Welt, aber die Kartoffel ist
in dieses Land auch erst ans dein Umwege über Europa
gekommen, sie wird allgemein als „Irish potatoe“ be-
zeichnet , und eins der häufigsten Unkräuter der Kartoffel-
äcker ist der gemeine Erdrauch (Fumaria officinalis). Die
Gras - und Kleefelder erwähnte ich schon. Weniger aus-
gebreitet ist der Anbau von Roggen, Tomaten, Erbsen,
Kohl, Spinat, Möhren, Lauch, Sellerie, Spargel n. s. w.
Die Flora der Weg- und Ackerränder stammt vorwiegend
ans der alten Welt, da sind Klee und Gräser, Möhren und
Spargel verwildert, da wachsen Kamillen, Beifnß, Schaf-
garbe, Trespe (Bromus arvensis) und viele andre Ein-
wanderer. Von amerikanischen Gattungen haben nur die
widerstandsfähigsten einen hervorragenden Platz behauptet,
solche nämlich, welche auch in Europa Eingang gefunden
haben (Aster, Erigeron, Oenothera, Sisyrynchium).
Stellenweise finden sich im Kulturland bedeutendere
Reste der ursprünglichen Flora. Manchmal ragen noch
verkohlte Baumstämme aus Mais und Haferfeldern auf,
und daneben hat sich allerlei Buschwerk lebend erhalten.
Die heideähnliche Vegetation auf Moorboden ist schon er-
wähnt. In andern Gegenden hat man zwischen den Hufen
Streifen Waldes stehen lassen, deren Vegetation mit Un-
kräutern durchsetzt in mancher Hinsicht an die Knicks der
cimbrischen Halbinsel erinnert. Häufig sind einzelne alte
Bäume oder Baumgrnppcn bei den Häusern der Ansiedler
stehen gelassen; besonders den Wachholder trifft man dort
nicht selten.
Virginien wird noch nicht drei Jahrhunderte von seß-
haften Menschen bewohnt, und schon ist die Vegetation so
bedeutend beeinflußt, daß der Botaniker viele Pflanzen nach
der Art ihres Standortes dort für inländische halten müßte,
wenn es nicht bekannt wäre, daß sie ans der Alten Welt
dorthin verpflanzt oder verschleppt sind. Schon in der
Neuen Welt muß der Pslanzengeograph die Kulturgeschichte
im weitesten Sinne als Hülfswissenschaft heranziehen —
wie viel mehr also in den alten Kulturländern!
Das Südneuseeländische Tafelland.
Don R. v. Lendenfeld.
Der mittlere Teil der Südinsel von Neuseeland wird
von einem hohen Gebirgskamme durchzogen, welcher nahe
der Nordwestküste, dieser parallel von Südwest nach Nord oft
streicht. Nördlich wird dieses Gebirge niedriger und teilt
sich in eine Anzahl von Parallelketten, welche den ganzen
Norden der Südinsel Neuseelands einnehmen. Im Süden
geht der erwähnte, mächtige Gebirgskamm in ein Plateau
über, welches den südwestlichen Teil der Insel bildet.
Dieses Plateau reicht im Westen bis an die Küste heran
und setzt hier steil gegen die Strandlinie ab. Im Osten
ist die Abdachung eine sanftere. Vom offenen Meer im
Westen her sind dreizehn schöne Fjorde in dieses Plateau
eingeschnitten. An der Ostabdachung liegen mehrere —
den Fjorden im Westen entsprechende — lange, schmale und
tiefe Binnenseen.
I.
Das Plateau hat eine durchschnittliche Höhe von etwa
1400 m. Einige Gipfel erheben sich über 2000 m.
Der südwestliche Teil dieses Plateaus besteht aus Granit
und kristallinischem Schiefer und wir finden auch weiter
nördlich, in der Mitte der Insel, eine breite und lange
Zone von Granit an der Westabdachung des hier schmalen
Gebirges. Ein breites Band alter Phyllite durchzieht das
Südende der Insel quer von Nordost nach Südwest in
Gestalt eines nach Südwest konvexen Bogens. Dieser Phyllit
begleitet anch das Granitband im Norden an dessen Südost-
seite, wird in der Gegend des Mount Cook sehr schmal und
verbreitert sich im Norden wieder beträchtlich.
Nicht der Granit, sondern dieser Phyllit erscheint als die
! Axe des Gebirges. Denn zu beiden Seiten demselben angelagert
finden sich paläozoische und weiter anch mesozoische Gesteine.
R. v. Lendenfeld: Das Sudneuseelachdische jTafelland.
Z57
Remarkable Mountains (Neuseeland). Nach Photographie.
Dcr Humboldt-Berg (Neuseeland).
Nach Photographie.
358 Prof. Dr. Wilhelm Joest: Über ein angebliches Mittel gegen Schlangengift aus Surinam.
Das ganze neuseeländische Gebirge erscheint als kleiner
Nest eines einstens weit ausgedehnten Alpengebirges und
interessant ist die Thatsache, daß sich gerade in diesem
kleinen flieste eine winklige Krümmung der Gebirgsaxe um
fast 90° bemerkbar macht. Der Scheitel des Winkels liegt
in der Gegend des Mount Aspiring. Der eine, den
Zentralstock der neuseeländischen Alpen mit dem 3768 m
hohen Mount Cook bildende Schenkel streicht nordöstlich;
der andre, den nordöstlichsten Teil des Plateaus im Süden
bildende Teil streicht südöstlich.
Vergleichen wir diese Verhältnisse mit jenen, welche in
den Westalpen Europas vorliegen, so haben wir den Gra-
nit und kristallinischen Schiefer an der Südwestspitze.Neu-
seelands (außerhalb des Winkels) mit dem Granit und
Gneis der Gegend zwischen Toulon und Cannes zu homo-
logisieren, und den Granitstreif an der Westabdachung des
Mount Cook, dem Granitstreif zwischen Grenoble und dem
Mont Blanc. Bei den Westalpen liegen überall, bei den
neuseeländischen Alpen stellenweise (im Süden) versteinerungs-
führende Schichten zwischen diesen vorgelagerten azoischen
Massen und den azoischen Gesteinen der Ape des Gebirges.
Cs hat mit einem Worte die konvexe Seite des neusee-
ländischen Bogens einen ähnlichen Bau wie die Seite des
Bogens der Westalpen. Ganz anders verhält es sich aber
an der Konkavseite. Bei den Westalpen folgt im Winkel
des Bogens, das ist in der Gegend von Turin, auf die
ältesten Gesteine (Glimmerschiefer, Serpentin re.) direkt
Diluvium und Alluvium; bei den neuseeländischen Alpen
jedoch sind im Winkel, an der konkaven Seite des Bogens,
paläozoische, mesozoische und tertiäre Gesteine zwischen den
azoischen Phylliten des Plateaus und den recenten Geröll-
ablagerungen der Errnterlmr^ plains, welche der Poebene
homolog sind, eingeschoben.
Der Wakatip-See, von dessen Gestaden ans die bei-
gegebenen Ansichten aufgenommen wurden, liegt an der
konvexen Seite des Bogens der neuseeländischen Alpen,
gerade an der Grenze zwischen dem azoischen Phyllit der
Gcbirgsaxe (im Nordosten) und der paläozoischen Zone,
welche der Außenseite des Phyllitbogens aufgelagert ist (im
Süden).
Über ein angebliches Mittel gegen Schlangengift aus Surinam.
Don Arof. Dr. Wilhelm Io est.
In jedem Lande der Erde, in welchem giftige Schlangen
in größerer Menge vorkommen, giebt es einzelne Leute, die
im Besitz von Geheimmitteln gegen den Biß von Giftschlangen
zn sein behaupten, und viele Leute, die den ersteren dieses
Arkanum für theures Geld abkaufen. Wagt ein Reisender
beim Besuch dieser Länder seinen Zweifel an der Wirksam-
keit dieser Mittel auszusprcchen, an welche die dort lebenden
Europäer mindestens ebenso fest glauben, wie die Eingeborenen,
so wird er ob seiner „ewigen Nörgelei" mit angenehmen
Redensarten, wie: „Natürlich, wenn man aus Berlin kommt!
u. s. w." so lauge geärgert, bis er den gegen Schlangenbiß ge-
sicherten oder den im Besitz der betreffenden Geheimmittel
sich befindenden Leuten vorschlägt, sich doch einmal unter
seiner Aufsicht von einer giftigen Schlange, die er (der skep-
tische Reisende) mitbringen würde, beißen zu lassen. Mir
selbst ist es trotz hoher Wetten nie gelungen, einen Weißen
oder Farbigen zu einem solchen Versuch zu bewegen.
Glücklicher war Prof. Martin Leyden im Jahre 1885
während seines Aufenthaltes in Surinam; der Wunderdoktor
erklärte sich zu dem Versuch bereit — er wurde von einer
giftigen Schlange gebissen — und starb nicht.
Da ich im vorigen Jahre denselben Mann in Surinam
kennen lernte, so möchte ich mir erlauben, über denselben und
über die Erfolge meiner Versuche mit seinem Geheimmittel
in Folgendem kurz zu berichten.
Als allgemein bekannt darf ich wohl voraussetzen, daß
sämtliche Giftschlangen mit nur ganz vereinzelten Ausnahmen,
dem Menschen nie etwas zuleide thun, so lange derselbe sie nicht
bewußt oder unbewußt dazu reizt. Das beste Mittel gegen
Schlangenbiß sind also Vorsicht und starke Stiefel oder
Gamaschen oder Schellen, die man sich um die Fußgelenke
bindet, wie das z. B. die nackten Briefträger im südlichen
Vorderindien thun. In Britisch Indien sterben jährlich mehrere
Tausend *) nackter also unbeschuhter Menschen infolge von
Schlangenbissen, weil sie nachts außerhalb oder innerhalb
ihrer dunklen Hütten unversehens auf Giftschlangen treten,
die nur im Gefühl der Angst oder des Schmerzes von ihren I)
Waffen Gebrauch machen. Der indische Briefträger aber
wandert nächtelang furchtlos und ungestraft durch das
finsterste Jungte, weil er ganz genau weiß, daß die Schlangen
sich beim Nähern seiner Schellen schleunigst in das Dickicht
zurückziehen. Als ebenso bekannt darf man voraussetzen,
daß die Cobras de capello und sonstigen Giftschlangen,
deren sich die berühmten „Schlangenbändiger" in Kairo und
in Vorderindien zum Entsetzen oder Ergötzen der Cook'schen
beziehungsweise Stangen'schen Reisegesellschaften bei ihren
Schaustellungen bedienen, ganz harmlose Tiere sind, denen
der Künstler dadurch, daß er sie in einen mit Lappen um-
wickelten Stock beißen läßt, um sie dann mit aller Wucht zu
Boden zu schleudern, die gifthaltenden Zähne längst aus-
gebrochen hat.
Nicht mehr Wert haben die Kämpfe zwischen giftigen
Schlangen und den für diesen Sport dressirten Mongoose,
Ichneumon (Herpcstes), da die Schlangen, wie gesagt, über-
haupt nicht mehr gefährlich sind und da die viel verbreitete
und geglaubte Fabel, daß das Mongoose, sobald es von einer
Giftschlange gebissen werde, in das Jungte oder den Urwald
liefe, um hier, nach allen Regeln der Pharmakopoe, eine
gewisse Pflanze oder deren Wurzel anzuknabbern, deren Saft
ein sicheres Gegengift gegen den Schlangenbiß bilde, eben
nichts andres ist wie eine Fabel.
In Indien sowohl wie in Birma glaubt man an die
Wirksamkeit kleiner Amulette, die um den Hals getragen
werden und die man nach dem Biß sofort auf die Wunde
zn legen hat. Diese bestehen aus Stücken von Rhinozeros-
horn, die infolge ihrer Poröfität das Blut, vielleicht auch
zuweilen hiermit das Gift ans der Wunde saugen. Ist das
Amulett mit Blut gesättigt, so fällt es ab und der Patient
ist gerettet — zweifellos stets dann, wenn er von einer nicht
giftigen Schlange oder von einer Giftschlange gebissen wurde,
deren Giftvorrat erschöpft war.
In Brasilien, zumal in den von den Deutschen koloni-
sirten nördlichen Provinzen S. Paulo, S. Catarina, Rio-
grande do Snl u. ft w. giebt es mehrere, durchaus wissen-
schaftlich gebildete Leute, Ärzte und Apotheker, welche Mittel
gegen den Biß von Giftschlangen gefunden zu haben be-
I) Im Jahre 1883 deren 20571! Glodus 1891, S. 128.
359
Über ein angebliches Mittel gegen Schlangengift aus Surinam.
Prof. Dr. Wilhelm Joest:
Häupten. So schreibt mir Herr R. Gershard, der über sechs
Jahre in Joinville Sta. Catarina gelebt hat, daß ein Apo-
theker Schmidt dort ein Mittel entdeckt habe, durch welches
über 400 Menschen vom Tode gerettet worden seien. Ich
möchte die bona fides dieser Herren und auch die Wirk-
samkeit der betreffenden Mittel nicht im geringsten bezweifeln,
bin aber nicht im stände, ein Urteil über letztere abzugeben, da
ich persönlich nie Zeuge eines solchen Heilungsvorganges war.
Ich habe während meiner mehr wie zehnjährigen Reisen
in den Tropen niemals jemand an den Folgen eines Schlangen-
hisses sterben gesehen. Mir ist überhaupt nur ein Fall be-
kannt, daß ein Europäer durch eine Schlange sin Südafrika)
getötet wurde, und erlaube ich mir die Worte von Im
Thurn — abgesehen von Wallaee und andern, die professionelle
Schlangensucher und Jäger waren, und die sich in ganz dem-
selben Sinne äußern — zu wiederholen: „Snakes are rarely
ever annoying to man . . . tliey are shy and retire
silently before tbe approach of man“ Z.
Die einzige rationelle Behandlungsweise von Menschen,
die tätlich durch Schlangenbiß verletzt sind, an deren Wirk-
samkeit zu zweifeln ich keine Veranlassung habe, obgleich ich
auch nie Augenzeuge einer solchen war, die mir aber in drei
Weltteilen von Farbigen, hauptsächlich Negern, und Europäern
vielfach nach eigener Erfahrung bestätigt wurde, besteht darin,
daß der Patient die Wunde sofort aussangt oder sich aus-
faugen läßt; daß man dieselbe darauf operativ vergrößert, mit
Ammoniak oder übermangansaurem Kali einreibt (subkutane
Einspritzungen nicht ausgeschlossen) und den Verletzten dann
mit Alkohol, meist in Form von Schnaps, von welchem Neger
oft enorme Quantitäten zu sich nehmen können, geradezu voll-
pnmpt, ohne Rücksicht auf Erbrechen und dergleichen. Ver-
rät der Patient, teils infolge seines Rausches teils durch
die nach jedem giftigen Schlangenbiß sich einstellenden all-
gemeine Lähmung die Lust einzuschlafen, so wird er durch
alle möglichen Mittel, Prügel durchaus nicht ausgeschlossen,
gezwungen zu laufen, herumzutaumeln, überhaupt in Bewe-
gung zu bleiben. Nach Verlauf einer Stunde soll sich dann
heftiger Schweiß einstellen, ein Beweis, daß die Krisis
glücklich überwunden ist. Partielle Lähmung bleibt dann
oft noch übrig, verschwindet aber mit der Zeit. Schläft der
Patient aber vor der Krisis ein, so ist er verloren.
Bei dem oben Angeführten handelt es sich aber stets nur
um die Behandlung von Leuten nachdem sie gebissen sind;
in Surinam aber wollen zwei Männer, ein Neger Rigot in
Phädra ant oberen Surinamfluß und ein Mischling Jaeob
van Tol, der jetzt am oberen Saramaeea beim Boeger Kreek
(früher in Karolina am oberen Surinam) lebt, ein Mittel
gefunden haben, das prophylaktisch angewendet wird, das
den Menschen, nachdem er mit demselben geimpft worden,
uicht nur gegen die Folgen des Bisses immun machen,
sondern ihn überhaupt von der Gefahr befreien soll,
jemals gebissen zu werden.
Als ich im vorigen Jahre von Paramaribo ans einen
flehten Ausflug nach dem oberen Saramaeea unternahm,
um dort die Goldfelder und die am Flusse angesiedelten
Indianer und Buschneger zu besuchen, zeigten mir unsre
Neger eine kleine Hütte am linken User des Stromes, in
welcher der berühmte „Schlaugendoktor" lebe. Ich beschloß,
denselben auf der Rückfahrt zu besuchen. Unsre sämtlichen
farbigen Diener und Bootsleute — ich benutzte mit einigen
Freunden einen ganz kleinen, stach gehenden Dampfer —
schworen auf van Tol. Sie waren sämtlich von demselben
geimpft worden und keiner von ihnen war jemals von einer
Schlange gebissen. Auf unsre Bemerkung, daß auch wir, *)
*) Everard im Thurn: Among the Indians of
Guyana. London 1883, p. 129.
die wir alle lauge in den Tropen gelebt, ohne von Herrn
van Tol behandelt zu sein, uns desselben Vorzuges erfreuten,
lautete die Antwort stets: „Gehen sie erst einmal hier in den
Bosch (Urwald), dann werden sie schon sehen, wie es ihnen
ergehen wird. Vor uns läuft jede Schlange weg, sie wird
uns überhaupt nie beißen u. s. w." Dann begannen, während
unsre Nußschale langsam gegen die Strömung vorpuffte, lange
Gespräche, denen sich die Neger, sobald sie sahen, daß man
es gut mit ihnen meint, und in dem stolzen Gefühl, dem
Masern (Master) etwas demselben neues, unbekanntes mit-
teilen zu können, so gern in behaglicher Breite hingeben. Da
wurden die wunderbarsten Geschichten über van Tol und
sein Geheimmittel erzählt, die in dem Ausspruch gipfelten:
Wenn van Tol unter einem Baume hergeht, auf dem sich
eine giftige Schlange befindet, so braucht er nur in die Luft
zu blasen, und das Reptil fällt steif und starr zu seinen
Füßen!
Denselben Glauben an den Wunderdoktor fanden wir
auf den Plaeers (Goldgruben) bei den dort beschäftigten hellen
Mischlingen und Europäern. Ein Schwede z. B. zeigte mir
ein kleines Packetchen mit dem van Tol'schen Geheimmittel,
das er wie ein Amulett um den Hals trug und dessen In-
halt er, sobald er von einer Schlange gebissen würde, ver-
schlucken werde. Bis jetzt aber sei er, trotzdem er seit so
und so viel Jahren im Urwald lebe, noch nicht gebissen
worden. Von der Wirksamkeit des Mittels war er felsen-
fest überzeugt.
Mir fiel hierbei eine Stelle aus Stedmau's H Werk ein,
in welcher derselbe schildert, wie ein Soldat „door een zoort
van bygelovigheid, dat de beest hem geen kwaad
konde veroorzaaken“ eine sechs Fuß lange Schlange —
die jedenfalls nicht giftig war — am Schwanz ergriff, die-
selbe durch Faustschlüge betäubte und dann durch seinen Säbel
„in tween kloofte“ — alles mit größter Ruhe und Sicher-
heit, weil er überzeugt war, daß das Tier gegen sein Ge-
heimmittel machtlos sei.
Auf der Rückkehr von den Goldfeldern, ant 1. März
vorigen Jahres, näherten wir uns wieder dem Boeger Kreek
und ließen vor der Palmhütte van Tols unsern Miniatur-
dampfer halten, um in kleinem Kahn an Land zu rudern.
Der Besitzer war glücklicherweise zu Hause.
Ich kann nicht behaupten, daß der erste Eindruck, den
ich von ihm empfing ein gerade günstiger gewesen sei. Van
Tol, ein Mann von vielleicht 40 Jahren, ist ein heller Misch-
ling, sein Gesichtsausdruck ist unsympathisch, sein Blick uustät
und lauernd. Er empfing uns in halb höflicher halb un-
höflicher Weise, da er anscheinend uicht wußte, wie er den
überraschenden und ungewohnten Besuch von vier unbekannten
Weißen auffassen sollte.
Wir setzten ihm bald den Zweck des letzteren auseinander.
Die Hütte war ärmlich genug, sie machte sogar einen
recht verkommenen Eindruck. Jedermann aber weiß, daß
van Tol durch den Vertrieb seines Geheimmittels viel, für
Surinamsche Verhältnisse sogar sehr viel Geld verdient.
In dem vom letzten Regen noch nicht getrockneten
Schlamme vor dem Hause nach dem Ufer hin lagen in sanfter
Ruhe ein paar Schweine, denen lebhafte, kleine Äffchen, die
gegen unser Eindringen durch lautes Geschrei protestierten,
Parasiten ans den Borsten ablasen; mehrere erbärmlich
magere Köter krochen halb zitternd, halb schwanzwedelnd mit
lautem Gewinsel um uns herum, ungewiß ob sie gestreichelt
oder geprügelt werden würde«; zahlreiche Hühner, aus ihrer
Ruhe gestört, flatterten mit lautem Gekrächze um unsre
Häupter; große und kleine Papageien, die teils frei in Ge-
i) John Gabriel Stedman: Reize naar Suriname en
Guiane. Amsterdam 1799, II, p. 7.
360
Prof. Dr. Wilhelm Joest: Über ein angebliches Mittel gegen Schlangengift aus Surinam.
scllschaft der ewig lärmenden und lachenden Banana-beks in
den nahen Palmenbäumen ihr Wesen trieben, teils an den
Sparren des vorspringenden Daches angekettet waren, be-
gannen ihr unausstehliches Geschrei, während zwei kleine
Giftschlangen, in einem aus Drahtgitter gebildeten Käsig aus
ihrer Schläfrigkeit nicht zu erwachen schienen.
Nach einigen allgemeinen Redensarten ergriff van Tol
das Wort. Ohne scheinbar irgendwie zu renommieren oder
aufzuschneiden *), erzählte er kurz die Geschichte seines Lebens
und seiner epochemachenden Entdeckung. Tausende verdankten
der letzteren ihr Leben, tausende seien nie von Schlangen
gebissen worden, weil er sie geimpft habe. Sein Mittel be-
stände nicht etwa wie das von Rigot aus zerstampften Köpfen,
Zähnen und Drüsen giftiger Schlangen, sondern er benutze
dazu nur ihm allein bekannte heilkräftige Kräuter, die er zu
Kohle verbrenne und alsdann mische. Auf unsern Wunsch
holte er in einer Arzneiflasche sein Arkanum heran, das am
besten mit unserm Schießpulver verglichen werden kann.
Van Tol fuhr fort zu erzählen: Ihm würde eine Schlange
nie etwas zuleide thun. Daß im Jahre 1885 die von
Prof. Martin aus Aruba mitgebrachte Klapperschlange ihn
wohl gebissen und schwer krank gemacht habe, sei dem Um-
stande zuzuschreiben, daß er sich damals lange nicht mehr
mit seinem Mittel behandelt habe, dabei durch Fieber und
Einnehmen von Calomel geschwächt gewesen sei und darum
keine Widerstandsfähigkeit besessen habe. Außerdem sei eine
Schlange, die von einer Insel komme, stets giftiger wie eine
solche vom Festlande; letztere könne überall herumbummeln
(pisowaijen), während der Insulanerin ein bestimmt be-
grenztes Terrain vorgezeichnet sei. Auch bei den Menschen
sei der solide Mann immer kräftiger wie der Bummler.
Diese wissenschaftliche Erklärung interessirte mich ungemein.
Van Tol hatte inzwischen irgend ein grünes Gras oder
Kraut gekaut, er ergriff den Käfig mit den beiden Gift-
schlangen, rüttelte denselben ein wenig, ohne daß die Schlangen
hierauf reagierten, blies und spuckte sein Spinat gegen diese
ans und sagte dann stolz: „Sie sehen, daß diese Tiere mir
gar nichts thun." Ich nahm den Käsig, rüttelte ihn, blies
und spie die Schlangen an (aber ohne Spinat), setzte den Käfig
wieder hin und sagte: „Mir thun sie auch nichts."
Dies Experiment war mißlungen.
Van Tol warf mir einen bösen Blick zu und bemerkte
kurz: „Ja, Sie sind ja auch jetzt bei mir." Er verschwand
in seine dunkle Hütte, um bald darauf mit vergilbten suri-
namschen Zeitungsblättern wieder aufzutauchen, in denen
sein mehrmals angeführter Versuch von Prof. Martin und
dem damaligen Gouverneur beschrieben war.
Die Sache verlief folgendermaßen* 2) :
Am 28. März 1885 wurde van Tol von und vor durch-
aus unparteiischen Zeugen ersucht, seine Zauberkraft an der
oben erwähnten Aruba-Klapperschlange zu beweisen. Er
faßte bon gré mal gré das Reptil an, und dasselbe biß ihn
sofort in die Hand.
Diese Thatsache allein genügt, die Nichtigkeit der van
Tolschen Theorie und Praxis und die mangelnde Wirkung
seines Geheimmittels zu beweisen, da er und mit ihm die
von ihm Geimpften stets behauptet hatten, eine giftige Schlange
würde sie überhaupt nicht beißen, sondern sich vor ihnen ver-
kriechen u. s. w. Die faulen Ausreden des Wunderdoktors
habe ich schon oben angeführt.
ft Tenfelben Eindruck erhielt Prof. Martin Leyden im
Jahre 1885. „Der Mann spricht so verständig und so wenig
prahlerisch". Globus XLIX, S. 208.
2) Bijdragen tot de T. L. 8. K. v. Ned. Indien.
Haag 1886. Th. 35. p. 72: K. Martin, „Bericht über eine
Reise ins Gebiet des oberen Surinam". Referat hierüber im
Globus XLIX, S. 208.
Der gewagte Versuch bekam dem Patienten schlecht.
Zehn Minuten nack) dem Biß begann die Hand, später
der Arm und die Schulter zu schwellen, die Zunge wurde
dick und der Mann brach dunkles Blut aus.
Diese Erscheinungen sollen nach einer gütigen Mitteilung
von Dr. Benda vom physiologischen Institut hier, durchaus
denen entsprechen, welche man im allgemeinen. bei akuter
Vergiftung bei Tieren und Menschen wahrninunt.
Am 29. März nahm die Schwellung etwas ab, das
Blutbrechen stellte sich aber mehrfach wieder ein.
Am 30. März klagte Patient hauptsächlich über Leib-
schmerzen und heute — lebt er noch. —
Hier stehen wir vor drei Fragen:
1. Verdankt van Tol seine Rettung wirklich seinem
Geheimmittel, das er, sobald er gebissen war, so-
wohl innerlich wie äußerlich anwendete.
2. Wäre nicht jeder andre Mensch, ohne vorher oder
nachher mit dem van Tolschen Mittel behandelt zu
sein, ebenso gut oder schlecht davongekommen?
3. War der Biß der Schlange überhaupt tötlich oder
hatte dieselbe ihr Gift schon vorher durch Beißen
in die Stangen ihres Käfigs u. s. w. abgegeben?
Letztere Frage können wir heute nicht mehr beantworten;
eine Entscheidung über die beiden ersten konnten nur Ver-
suche mit dem Geheimmittcl au lebenden Tieren liefern.
Van Tol, der mit einem gewissen Talent die Rolle eines
verkannten Wohlthäters der Menschheit spielt, will sein Ge-
heimnis, durch welches er jährlich Tausende vor sicherm
Tode rette, der holländischen Regierung für 30 000 Gulden
unter Zusicherung einer freien Fahrt nach Europa und zu-
rück verraten. Weit höhere Anerbieten, die er aus Nord-
amerika erhalten, habe er aus Patriotismus zurückgewiesen.
Die Anwendung seines Pulvers ist folgende:
Tol ritzt den Leuten die Haut an beiden Händen oben
oberhalb des Gelenkes durch links drei, rechts zwei leichte
Einschnitte, in welche er sein Pulver einreibt; er tättowiert sie
also ganz einfach mit seinem Kohlcnarkanum. Gegen meine
Bemerkung, daß es wohl gleichgültig sei, ob man links drei
und rechts zwei zirka 1 em lange Einschnitte mache oder um-
gekehrt, protestierte er lebhaft; auch sei das Mittel vollkommen
ohne Wirkung, wenn man beide Hände gleichmäßig behandle,
die Schnitte müßten immer „unpaar" sein.
Auf meine Frage, warum er denn gerade den Punkt oben
im Handgelenk für seine unfehlbare Impfung wähle, gab er
die außerordentlich charakteristische Antwort: „Omdat (weil)
hier das Ncrvenzeutrum sitzt, wie denn auch der Doktor,
wenn er den Puls fühlt, gerade auf diese Stelle immer
seinen Daumen legt."
Diese Erklärung genügte mir vollkommen; ich beschloß
aber doch, diesem Mann, der am Ende kein größerer
Schwindler ist, wie mancher Knet- oder Entfettungsdoktor
mit oder ohne Professortitel in Europa eine Probe seines
Mittels abzukaufen um damit später in Europa Versuche
anzustellen.
Vau Tol verkauft sein Pulver messerspitzenweise. Jede
Portion kostet 1,32 Gulden; im Dutzend nicht billiger. Da-
bei muß sich jeder Patient jährlich einmal zu demselben
Preise aufs neue impfen lassen, wofür er allerdings den
Rest der Messerspitze zum innerlichen Gebrauche mitnehmen
darf. Nach dem „Schneiden" muß nämlich der Betreffende
eine kleine Menge des Pulvers mit Branntwein gemengt zu
sich nehmen.
Tol behauptet auch jeden nicht von ihm geimpften Menschen
nach einem Schlangenbiß retten zu können, wenn er den Be-
treffenden innerlich und dessen Wunde durch Einreiben zeitig
behandeln würde.
361
Prof. Dr. Wilhelm Jo est:
Über ein angebliches Mittel gegen Schlangengift aus Surinam.
Ich wiederhole hierbei, daß van Tol durchaus nicht den
Eindruck eines Schwindlers machte, sondern eher den eines
Fanatikers, der wirklich das glaubt, was er sagt.
Ich kaufte ihm zwei Portionen seines Pulvers zu je
1 Gulden 32 Cents, nie mehr und nie weniger, ab, wir
schüttelten ihm die biedere Rechte und setzten unsre Fahrt
den herrlichen Saramaccafluß hinab fort.
Nach Europa zurückgekehrt, bat ich Herrn Pros. Sul-
kowski in Berlin, das Pulver chemisch untersuchen zu wollen.
Das Ergebnis lautete:
„Die zur Untersuchung übergebene Substanz stellt ein
mittelgrobes schwarzes Pulver mit sehr unregelmäßigen
Körnern dar. Die mikroskopische Untersuchung läßt eine
bestimmte Struktur nicht erkennen. Die einzelnen Partikel-
chen sind von sehr unregelmäßiger Form, scharfkantig, viel-
fach zugespitzt . . . Eine Probe der Substanz auf dem Platin-
blech erhitzt, verbrannte unter Hinterlassung einer weißen,
stark alkalisch reagierenden Asche. An angesäuertes Wasser
gab das Pulver beim Kochen damit nur Spuren von orga-
nischer Substanz, sowie Kalisalze und Phosphorsäure ab.
Die Untersuchung auf Mineralsubstanzen ergab als in
dem Pulver enthalten: Eisen, Kalk, Magnesia, Kali, Spuren
von Natron, Kohlensäure, Phosphorsäure, außerdem mecha-
nisch beigemischt etwas Sand. Giftige Metallverbindungen
fehlen. Nach diesem Befund ist es sehr wahrscheinlich, daß
das Mittel gegen Schlangengift nichts andres ist, als eine
beliebige, durch Sand verunreinigte vegetabilische Kohle."
Dieser Bescheid klang nicht ermutigend.
Ich beschloß aber dennoch Versuche an und mit lebenden
Tieren zu machen.
Unser bekannter Physiologe, Prof. Dr. Gustav Fritsch,
hatte die große Güte, die Impfung der Tiere im physiolo-
gischen Institut hier genau den van Tolschcn Anordnungen
gemäß vorzunehmen. Ich hatte hierzu ein kleines, gelbes
Meerschweinchen und ein großes schwarzes Kaninchen gekauft.
Bei den Tieren wurden in die Hinterbeine eine Reihe von
Einschnitten gemacht, die, um die Impfung zu einer
sichern zu machen, bis in das Mnskelflcisch eindrangen. In
die Wunden rieben wir das van Tolsche Pulver sorgfältig
ein und wurde beiden Tieren dann eine entsprechende Portion
Branntwein mit dem Pulver gemischt eingegeben. Das
Kaninchen verhielt sich ganz apathisch; dem Meerschweinchen
schien der Alkohol gar nicht zu munden.
Das war am 9. Januar d. I.
Die Tiere blieben vollkommen gesund und die verletzten
Stellen, die vorher abgeschoren waren, heilten in wenigen
Tagen. Die kleinen Narben erschienen blau wie jede ge-
wöhnliche Tättowierung, genau so wie die van Tolschcn Ein-
ritzungen am Handgelenk.
Am 14. Januar, einem Mittwoch, dem Tage, an welchem
einmal wöchentlich im Berliner Aquarium die Schlangen
gefüttert werden, wurde mit gütiger Erlaubnis des Direktors,
Dr. Hermes, der entscheidende Versuch vorgenommen ft.
.ft Ich verwende im folgenden wesentlich den Bericht der
hiesigen „National-Zeitung" vom selben Tage, weil derselbe
von einen: vollkommen unbeteiligten und unparteiischen Zu-
schauer stainnlt. Ich konnte dem Versuche selbst nicht beiwohnen,
ba ich als Offizier zu einem Ehrengericht befohlen war.
Zuerst wurden in einen Glaskäfig, in welchem sich zwei
Klapperschlangen (Crotalus), eine kleine, und eine vielleicht
5 Fuß lange, befanden, das geimpfte Kaninchen und ein
ziemlich großes ungeimpftes Meerschweinchen herabge-
lassen. Das letztere sollte dazu dienen, zu konstatieren, ob
die Schlangen, gemäß der van Tolschcn Theorie, etwa
irgend eine Abneigung gegen das „imprägnirte" Kaninchen
verraten, und demselben das nngeimpfte Tier vorziehen
würden.
Eine Zeitlang verhielten sich alle beteiligten Tiere voll-
ständig ruhig; keines schien Notiz von dem andern zu nehmen.
Dann fing das Kaninchen an die ruhig daliegende
Schlange zu beschnuppern, aus ihr herumzulaufen, das Meer-
schweinchen trieb seine Unbefangenheit sogar so weit, durch
die Ringe der zusammengerollten Schlange hindurchzukriechen,
bis der letzteren die Sache doch tvohl zu bunt wurde, und
sie sich erinnerte, daß sic seit einer Woche nichts gegessen.
Nun begann jenes unheimliche Spiel des Feindes mit
seinem Opfer, das Spähen und Züngeln der Schlange, die
sich mit wenig erhobenem Vorderleib, den Kopf nach vorn
gesenkt und beinahe flach am Halse anliegend, plötzlich los-
schncllte und mit einer blitzartigen Bewegung vorstoßend
zuerst das Kaninchen, dann im selben Augenblick das
Meerschweinchen biß. Wie sich bei der späteren Untersnchung
herausstellte, war das Kaninchen nur leicht am Ohr geritzt,
das Meerschweinchen am Bauch verletzt; letztere Wunde be-
gann auch zu bluten.
Mit der gespanntesten Aufmerksamkeit wurden nun die
weiteren Vorgänge beobachtet. Die Schlange zog sich in
einen Winkel zurück und die Tiere hüpften munter weiter,
als sei nichts vorgefallen. Nach einer Minute begannen sich
ihre Bewegungen zu verlangsamen; das Verhalten beider
Tiere war durchaus dasselbe. Zuerst trat eine deut-
lich wahrnehmbare Lähmung der hinteren Extremitäten ein;
die Tiere vermochten sich nur noch mühsam auf den Vorder-
beinen fortzuschleppen, dann waren auch diese gelähmt. Unter
starkem, krampfartigem Zittern, bei vergeblichen Versuchen,
die Beine zu gebrauchen, waren beide Tiere in der Zeit von
5 Minuten verendet.
Gerade so verlies der Versuch mit dem nach der van
Tolschcn Methode behandelten Meerschweinchen, das in den
von zwei Puffottern (Echidna arietans) bewohnten Käfig
getrieben wurde. Beide Schlangen bissen das Tier, das
genau unter denselben Erscheinungen, wie eben angegeben,
6 Minuten nach dein Biß einging.
Nach diesen Versuchen scheint es zweifellos, daß
das van Tolsche Geheimnis ans eitel Schwindel
beruht. Daß die etwaige Veröffentlichung vorstehender
Mitteilung in holländischen oder surinamschcn Blättern den
Aberglauben der Surinamer an das van Tolsche Mittel und
dessen Wirksamkeit gegen den Biß giftiger Schlangen irgend-
wie erschüttern werde — das bezweifelt niemand mehr wie
der Schreiber dieser Zeilen.
Er hielt es aber dennoch für seine Pflicht, diesem Wunder-
doktor — der ja durchaus nicht etwa hinten in: fernen
, Surinam vereinzelt in der Welt dasteht, sonderi: der genug
: Kollegen in uns näher gelegenen Erdteilen und Ländern
i zählen kann — mit wissenschaftlicher Kritik entgegenzutreten.
Globus LIX. Nr. 23.
46
362
Die Vererbung von Taubheit.
Die Vererbung
Alexander Graham Bell, der selbst der Sohn einer
Taubstummen ist und eine Taubstumme geheiratet hat,
machte neulich vor einer Versammlung von Taubstummen in
Washington einige höchst interessante Mitteilungen über die
Vererbung der Taubheit, denen wir (nach Science) folgendes
entnehmen.
Jedermann weiß, daß von den Taubstummen, welche sich
verheiraten, einige taubstumme Kinder haben. In den weit-
aus meisten Fällen gehen aus Ehen Taubstummer gar keine
taubstummen Nachkommen hervor; aber in den übrigbleibenden
Fällen ist das Verhältnis der taubgeborenen Kinder zu den
gesunden ein sehr ungünstiges, — so ungünstig, daß es den-
kende Geister wirklich beunruhigen «ruß, und daß verschiedene
Forscher in der That die Besorgnis ausgesprochen haben,
es könne sich in absehbarer Zeit eine taubstumme Varietät
des Menschengeschlechtes heranbilden. Die Frage: weshalb
gehen aus gewissen Tanbstummen-Ehen so unverhältnismäßig
viele, aus den meisten andern dagegen gar keine taubstummen
Kinder hervor? ist deshalb von allergrößtem Belang.
Der Amerikaner Turner war der erste, welcher darauf
aufmerksam machte, daß diejenigen, bei denen die Taubheit
angeboren ist, größere Aussicht haben, taube Nachkommen
zu erhalten, als die, bei denen dies nicht der Fall ist. Er
wies nach, daß, wenn zwei Taubgeborene sich heiraten,
etwa ein Drittel der Kinder taub ist. Diese Be-
hauptung ist neuerdings auf das glänzendste bestätigt worden
durch die Untersuchungen von Counor und Williams, welche
fast genau zu demselben Ergebnis führten.
Wenn man nun unterschiedslos sämtliche Heiraten taub-
geborener Personen in betracht zieht, einerlei, ob sie taube
oder hörende Personen geheiratet haben, so zeigen sich in den
statistischen Angaben über den Prozentsatz der taubstummen
Kiuder die allergrößten Verschiedenheiten: sie schwanken
zwischen 15 und 95 Prozent!
Wie sind solche Schwankungen möglich? — Es kommt
noch ein andrer Faktor in Betracht, antwortet Bell, ein
Faktor, den man bisher gar nicht berücksichtigt hat, der aber
vom größten Einfluß ans die Vererbung der Taubheit ist
und dessen Vernachlässigung eben jene Schwankungen ver-
ursachte. Man muß nicht nur zwischen Taubgeborenen und
Nichttaubgeborenen, sondern auch zwischen sporadischer
und Familientaub heit unterscheiden.
Es giebt Familien, in denen nur ein Kind taubstumm
ist, während alle niedern, wie auch die Eltern, Vorfahren
und Verwandten völlig gesund sind. In einem solchen Falle
von sporadischer Taubheit wird das Übel meist zufällig
erworben sein, und wir haben gar keinen Grund, anzunehnien,
daß es unter diesen Umständen der Vererbung ausgesetzt ist,
es sei denn, daß die Taubheit angeboren war. In der übcr-
wiegenden Mehrzahl der Fülle von angeborener Taubheit ist
allerdings die Tendenz zur Vererbung nnbezweifelbar; aber
wo die Taubheit durch Gehirnentzündung, Masern, Scharlach-
fieber u. dergl. veranlaßt ist, und wo kein andrer Fall von
Taubheit tu der Familie vorliegt, da darf man ruhig an-
nehmen, daß wenig oder gar keine Neigung zur Vererbung
vorhanden ist.
Wenn dagegen „Familientaubheit" vorliegt, d. h.
wenn zwei, drei, vier oder fünf Glieder einer Familie an
Taubheit leiden, dann ist es klar, daß in der Familie eine
Neigung zur Taubheit besteht, und hier wird man daher das
Übel von vornherein als erblich bezeichnen können. Es
pflanzt sich hier von den Eltern auf die Kinder irgend eine
von Taubheit.
Eigenschaft fort, welche Taubheit erzeugt oder die Entstehung
derselben begünstigt. Das Übel tritt dabei vielfach erst in
späterer Zeit hervor. So erzählt Bell einen Fall, wo.in einer
Familie vier Kinder an Taubheit litten, und keins derselben
war taub auf die Welt gekommen. Sie hatten das Übel
infolge von Masern, Scharlachfieber und andern Krankheiten
erhalten, aber alle zu verschiedener Zeit und aus scheinbar
zufälligen Anlässen. Trotzdem kann es unmöglich ans Zufall
beruhen, daß in einer Familie vier taubstumme Kinder
sind; es muß vielmehr eine erbliche Anlage zur Taubheit
vorhanden gewesen sein.
Die Größe der hereditären Belastung einer
Familie für Taubheit wird nach Bell etwa durch das
Verhältnis der taubstummen Mitglieder derselben
ausgedrückt. Wenn man einen Bruch bildet und die Zahl
der taubstummen Kinder über den Bruchstrich als Zähler
und die Gesamtzahl der Kinder unter den Strich als Nenner
setzt, z. B. so wird dieser Bruch einen ungefähren Begriff
von der Anlage zur Taubheit in der betreffenden Familie
geben; unter sechs Kindern ist eins taub. Und wenn man
einen Fall nimmt, wo von sechs Kindern drei taub sind (§),
so wird offenbar die Gefahr der Vererbung in dieser Familie
dreimal so groß sein wie in jener, und zwar ist jedes Mit-
glied der Familie, mag es nun taub sein oder nicht, in ge-
steigertem Maße dieser Gefahr ausgesetzt. Es gilt mithin
im allgemeinen das Gesetz: die Tendenz zur Vererbung von
Taubheit ist am größten in den Familien, welche verhältnis-
mäßig die meisten taubstummen Mitglieder haben und am
kleinsten in denen, welche die wenigsten haben. Wenn des-
halb ein Taubstummer eine hörende Person heiratet, welche
drei oder vier taubstumme Geschwister hat, so ist die Wahr-
scheinlichkeit, daß er taube Kinder bekommt, größer, als wenn
er eine Taubstumme heiratet, die keine taubstummen Ver-
U'andten hat.
Bell teilt die 776 Fälle, welche er seinen statistischen
Untersuchungen zu Gründe legt, in vier Kategorieen ein, je
nachdem die taubstummen Eltern (beide oder einer von
ihnen) sind:
1. Nichttanbgeborcnc, die keine tauben Verwandten haben.
2. Nichttaubgeborene, die taube Verwandten haben.
3. Taubgeborene, welche keine tauben Verwandten haben.
4. Taubgeborene, welche taube Verwandten haben.
Wie viel taube Kinder in jeder dieser Gruppen auf je
100 Familien kommen, erzieht sich aus folgender Tabelle:
Lebensperiode, Charakter der Taubheit
in welcher die Taubheit der sporadische Familien-
Eltern eintrat Taubheit laubheit
Nach der Geburt 4,7 9,4
Vor der Geburt 11,5 17,8
Die große Bedeutung jener Scheidung zwischen
sporadischer und Familientaubheit, welche das Verdienst Bells
ist, geht ans dieser Tabelle deutlich genug hervor. Familien-
taubheit steigert den Prozentsatz tauber Kinder bei Nichttanb-
geborenen von 4,7 auf 9,4, also um das Doppelte, bei Taub-
geborenen von 11,5 auf 17,8, also um mehr als die Hälfte.
Freilich ist der Einfluß des andern Faktors, ob die Taubheit
der Eltern angeboren war oder erst später erworben wurde,
noch größer; denn angeborene Taubheit steigert den Prozent-
Eiszeit vor der Eiszeit.
368
satz bei sporadischer Taubheit von 4,7 auf 11,5, also um das
2 Vs fache, bei Familieutaubheit von 9,4 auf 17,8, also fast
um das Doppelte.
Die praktischen Folgerungen jener Zusammenstellung
sind ebenfalls klar. Am besten ist es natürlich, wenn ein
Taubstummer eine gesunde Person heiratet. Aber das wird
ja leider nur in beschränktem Maße möglich sein: einmal,
weil hörende Menschen sich selten zu Heiraten mit Taub- j
stummen entschließen und dann wegen des sehr verbreiteten
Vorurteils der Taubstummen, daß sie mit gesunden Personen
nicht glücklich leben könnten. Wenn aber ein Taubstummer
eine taubstumme Person heiratet, so sollte er, um keine taub-
stummen Nachkommen zu bekommen, möglichst eine solche
wählen, deren Taubheit nach der Geburt zufällig erworben
ist, und welche keine tauben Verwandten hat. In zweiter
Linie könnte er sich eine solche aussuchen, welche zwar taub
stumme Verwandten hat, bei welcher sich aber die Taubheit
erst nach der Geburt einstellte. Schon weniger zu empfehlen
sind Fälle, tvo die betreffende Person zwar keine taubstummen
Verwandten hat, aber selbst bereits taub auf die Welt ge-
kommen ist. Unter keinen Umständen aber sollte er eine
Person heiraten, die selbst taub geboren ist und auch taub-
stumme Verwandten hat.
Zum Schluß tröstet Bell die Taubstummen durch den
Hinweis ans ein wichtiges Vererbnngsgesetz: das Gesetz
des Rückfalls in die normale Form. Alle Varietäten
haben eine ausgesprochene Neigung, zum normalen Typus
der Rasse zurückzukehren. Es bedürfte schon einer konstanten,
durch Generationen fortgesetzten Zuchtwahl ans beiden Seiten,
nin ein abnormes Gebilde zu befestigen. Daher kommt es,
daß selbst, wenn beide Eltern taubgeboren sind, doch zwei
Drittel ihrer Kinder hören können (s. oben), und daher wird
ein Taubstummer bei vernünftiger Wahl seiner Gattin be-
gründete Aussicht haben, lauter gesunde Kinder zu erzeugen.
Eiszeit vor der Eiszeit.
obgleich bereits Seite 5!» des laufenden Bandes dieser
Zeitschrift über das von Prof. Hans Reusch nachgewiesene
Vorkommen vordiluvia-
ler Glacialablagernngen
an der Hand einer kur-
zen Notiz Mitteilung
gemacht wurde, glauben
wir nochmals ans diese
für allgemeine Geologie
und physische Erdkunde
gleich bedeutsame Ent-
deckung zurückkommen zu müssen, da wir nunmehr in der
Lage sind, die früheren Mitteilungen nach der inzwischen er-
schienenen ausführlichen Abhand-
lung (Norg. geol. uiidersog.
1891) und besonders durch die
uns vom Autor aus dieser freund-
lichst zur Verfügung gestellten
Abbildungen zu ergänzen.
Die niedrigen Berge der
Nordseite des inneren, der russi-
schen Grenze schon nahe gelege-
nen Varangerfjords in Fin-
Nlarken bestehen an ihrer Basis
untergeordnet aus Schiefern (bei
Ü und X in Fig. 1), in der
Hauptsache aber ans mindestens
50 m mächtigen Konglomeraten.
Diese sind vollkommen schich-
tungslos und aus einem röt-
lichen thonigen Sandstein als
Grnndmasse und zahlreich ein-
gestreuten, bis kopfgroßen Ge-
schieben zusammengesetzt. Die letz-
teren sind vorwiegend archäische
Granite und Gneise, ferner Dio
^'ite, selten Quarzite und Dolo-
mite. Der Gesamthabitus des
Konglomerates ist durchaus jener
des diluvialen, glacialen Blocklehmes. Die Geschiebe sind
"icht wie Flußgeschiebe gerundet, meist nur kantenbestoßen,
Fjelde von Moränenkonglomerat im (Osten von Bergeby.
Nordseite des Varangerfjords.
oft deutlich geglättet und selbst mit kreuz und quer verlaufenden
Kritzen und Schrammen bedeckt. Es ist bekannt, daß man in
den diluvialen und rezen-
l- ten Glacialablagernngen
Glacialstrcifung vorwie-
geud nur an mittelhartem
Material findet, so auch
hier. Die beste Streifung
zeigen die Dolomitfrag-
mente, obwohl den an-
dern Geschieben Andeu-
tungen nicht fehlen. Nicht weniger interessant als der Habitus
dieser Geschiebe ist die Beschaffenheit des Untergrundes der
Konglomerate, welcher an einer-
gleich zusammengesetzten, aber
weniger mächtig aussehenden
Konglomeratablagerung ans der
Nachbarschaft des Hauptprofiles
schön zu untersuchen war.
Fig. 2 liefert eine Ansicht
dieses Aufschlusses. Die Basis
des Konglomerates ist deutlich
geschrammt und gefurcht. Mau
unterscheidet leicht zwei Sy-
steme, ein nahezu W-0 und ein
NW-SO gerichtetes.
Die Furchen jedes Systemes
sind nicht streng untereinander
parallel, sondern können um
einige Grade voneinander ab-
weichen. Fig. 2 zeigt solche in
1/.2 n. Gr. und dazu, daß wir
dieselben von den üblichen Gla-
cialfurchen jedenfalls nicht zu
unterscheiden vermögen. Die Kon-
glomerate werden von Dahll für
Moräuenkonglomerat über
Oberfläche.
Sandstein mit eisgeschrammter permisch, vom Berf. für cambrisch-
Bigganjargga. syrisch erklärt. - (Für Hin-
weise auf ähnliche, schon ander-
wärts beobachtete Vorkommnisse vergleiche man unsre erste
Mitteilung hierüber Globus IckX, S. 58.) Sauer.
46*
364
Vasilij Priklonski: Bronzenes Wildschas :c.
. — Das indische Mu nd schloß.
Bronzenes Wildschaf aus einem Minusinsker Kurgane.
Von Vasilij priklonski.
Den Sommer 1890 verbrachte ich auf Bereisungen des
Gebietes von Minusinsk int Gouvernement Jenisej, welches
wegen der überreichen Fuudstücke aus dem Bronzezeitalter, die
man in Kurganen gemacht, genug
bekannt ist. Mir ist es geglückt,
an 30 Stück ganz merkwürdiger
Gegenstände zu entdecken, wornnter
einige Äxte und vollkommen zer-
fressene Dolche, alles mit Ma-
lachitgrün überzogen. Unter an-
derm wurde in der Gegend von
Irkutsk bei der Auspflügnng des
Erdbodens unterm Gestrüpp das
bronzene, mit einer dnnkelmatten
Patina belegte Böcklein gefunden,
in dessen Innern ein Helles, gleich-
falls bronzenes Kügelchen um-
kollert. Es ist klar, daß dies ein
Glöcklein war, und nach den
Ausführungen unsrer Archäologen
wurde dieser Gegenstand auf einen
Stab gesteckt und diente als Ab-
zeichen der Schamanenwürde dieses
verschwundenen Geschlechts, wel-
ches in den tiefen Höhlen der steil-
abfallenden Felsen an den Ufern
des Jenisej und seiner oberen Zu-
flüsse hauste. Ihre Verstorbenen
bestatteten sie in Gehäusen ans
Balken von der Dicke bis zu andert-
halb Ellen im Durchmesser und
verschütteten sie mit hohen Kur-
ganeu. Die letzteren umgaben sie
mit steinernen Fliesen, die über
der Erde mehrere Ellen hoch und
in der Erde zwei Ellen tief waren.
Beachtenswert ist der Umstand,
das; man sich fragen muß, wie
denn bei den Kurganen in der
Steppe, die doch so weit von jedem
Wald und Berg entfernt sind, diese schweren Steinblöcke und
mit welchen Rütteln sie zur Stelle gebracht worden sein
mögen? Obgleich es mich sehr gefreut haben würde, mich
mit der Verfolgung der Spuren dieser Altertümer zu be-
schäftigen, mußte ich doch aus Mangel an Zeit darauf Ver-
zicht leisten. Ich bin in der gleichen Lage, wie der Vertreter
eines hiesigen Handlnngshanses, der in Paris gewesen, doch
Paris nicht gesehen. Als ihn die
Leute nach seiner Rückkunft be-
fragten, wie es ihm in Paris ge-
fallen, erwiderte er: „Bitte um
Entschuldigung, ich bin nur in
Geschäftsangelegenheiten meines
Prinzipals gereist." So ergeht es
auch mir; mir liegt es ob, so viele
rein amtliche und sehr wichtige
Arbeiten zu erledigen, daß mir
die Möglichkeit fehlt, mit Ethno-
graphie oder Archäologie eingehen-
der mich zu beschäftigen. So-
viel mir aber bekannt ist, findet
sich in keinem einzigen archäolo-
gische Kabinette Rußlands etwas
meinem Böcklein Ähnliches vor,
obgleich Bockdnrstellungen sonst
häufig, sogar auf Ankern vor-
kommen.
Bemerkung des Heraus-
gebers. Das bronzene „Böcklein^
stellt offenbar ein zentralasiatisches
Wildschas oder Argali (Ovi8 ar-
gali) vor, welches in verschiedenen
Spielarten in den mittelasiatischen
Gebirgen vorkonnnt, aber auch in
den niedrigen Stcppenbergen lebt.
Die Kirgisen nennen es Archar.
Indem diese Bronze ein heimisches
Tier darstellt und zwar sehr charak-
teristisch, darf auch daraus wohl
geschlossen werden, daß sie nicht
eingeführt, sondern mittelasiatischen
Ursprungs ist. Derartige bron-
zene Wildschafe hat schon Pallas
(Reise III, Tafel 7) abgebildet
und neuerdings auch Rudlosf (Aus
Sibirien II, Tafel 5). Bei letz-
terem ausgezeichneten Forscher fin-
det man die ausführlichsten Nachrichten über die sibirische
Bronzezeit, welcher das hier abgebildete „Böcklein" angehört.
Die Übersetzung des russischen Briefes des Herrn Vasilij
Priklonski verdankt der „Globus" Herrn Dr. Fr. S. Krauß
in Wien.
Bronzeböcklein. Natürliche Größe. Gefunden
1890 bei Irkutsk.
Das indische Mun.dschloß.
Über ein eigentümliches, bei den Hindus gebräuchliches
Gerät, das mit religiösen Gebräuchen und Ansichten im Zu-
sammenhange steht, sind wir bisher kaum unterrichtet gewesen.
Es ist daher ein Verdienst von F. Fawcett, dasselbe im
Journal of the Antbropol. Soc. of Bombay (II, 97, 1890)
beschrieben und abgebildet zu haben. Das Mundschloß oder
die Mundsperre besteht ans einer großen silbernen Sicher-
heitsnadel, die durch beide Backen gestochen und zwischen den
Zähnen hindurchgeführt wird; dieses geschieht als Gelübde
an irgend ein Heiligtum für eine empfangene Wohlthat.
Tausende von solchen silbernen Mundspangen, die namentlich
aus Maisur und Heiderabad stammen, werden als Opfer-
gaben in Tirapati geopfert, da, wo auch so viele Hindus ihr
Haar darbringen. Ursprünglich diente es dazu, das Gelübde
des Schweigens und des Hungerns zu erleichtern und zu
erzwingen; mit der Zeit nahm es aber einen milderen
Charakter an, verlor die ursprüngliche Bedeutung und ist jetzt
nur noch ein Zeichen der Selbstverstümmelung. Dieses
Mnndschloß heißt in Pelugu noti begam und auf Kanarc-
sisch bazze bega; es wird von beiden Geschlechtern an-
gelegt, wenn sie nach Tirapati wallfahrten, nur Krankheiten
los zu werden oder sonst einen Wunsch erfüllt zu erhalten.
Gewöhnlich legt ein Goldschmied das Mnndschloß an, doch
thun dieses die Frauen auch selbst. Ganz Rechtgläubige
Der Burgwall non Gornij Poplat.
365
tragen es auf der ganzen Wallfahrt, andre legen es der
Bequemlichkeit halber nur erst vor Tirapati an. Dort an-
gelangt, nimmt man es ab und legt es in einen Kasten als
Opfer; von hieraus verkaufen die Priester die Spangen zum
Silberwert. Tirapati ist ein Heiligtum Wischnus, und keinerlei
Tiere dürfen hier geopfert werden. Dasselbe Gelöbnis in
Verbindung mit einem Opfer wird aber in Bangalor dar-
gebracht, wo ein Tempel mit den Steiubildnissen der sechs
Gottheiten: Krupama, Mariama, Madnrama, Mutialama,
Saviarama und Kalama steht. Der Priester ist ein Paria,
und Hindus aller Kasten aus der Nachbarschaft kommen
hierher, um Gelübde zu leisten. Namentlich bringt man
kranke Kinder dorthin und gelobt, daß sie nach der Genesung
das Mundschloß tragen sollen. Ist das Kind aber noch zu
jung, um die Operation gut vertragen zu können, so hilft
man sich dadurch, daß man statt der Backen eine Banane
mit der Spange durchbohrt, die dann von dem Kinde ge-
tragen wird. Zuweilen schicken auch Leute aus niederen
Kasten ihre Frauen und Kinder statt ihrer zum Heiligtum
und lassen diese das Mundschloß tragen.
Die gewöhnlichen Mundschlösser sind ans Silber; cs
giebt aber auch solche aus Gold, Kupfer und Bronze. Ein
silbernes kostet 3 Annas. Im Jahre 1889 wurden im
Tempel von Bangalor nur 10 Mundschlösser geopfert, doch
in manchen Jah-
ren steigt deren
Zahl auf 50.
Von den Schafen,
Ziegen und Hüh-
nern, welche bei
dieser Gelegenheit
vor dem Tempel
geopfert werden,
erhalt der Priester
nur die Köpfe;
den Rest des Flci
schcs müssen die
Frommen und
ihre Freunde ver-
zehren , verkanfen
dürfen sie densel-
ben nicht. Auch opfert man gelbes Zeug und Kokosnüsse.
Am letzten Tage des Festes erscheint jeder Wallfahrer mit
einem Lichte, das er samt einer Pastete dem Priester dar-
bringt.
Wie bei dem Mnndschlosse sich schon eine Milderung der
ursprünglichen Sitte zeigt, so ist es auch mit einem andern
religiösen Gebrauche, der bei den Tempelfestlichkeiten in
Bangalor stattfindet. Früher befestigte man sich scharfe
Haken in das Fleisch, die an Seile angebracht waren, an
denen man sich um einen feststehenden Pfahl herumschwang.
Jetzt macht man das einfacher und schmerzloser in einer Art
Schaukel, in die man sich setzt, und die um den Pfahl herum-
geschwungen wird. Der Priester leitet die Sache und erhält
dafür 4 Annas vom Erwachsenen, 2 von jedem Kinde
(1 Annas — 12 Pfennige). Wer auch diese geringe Summe
nicht aufzubringen vermag, behilft sich damit, daß er dreimal
um den Pfosten herumgeht. Dabei zerbricht man Kokosnüsse
am Grunde des Pfostens. Das Fest dauert fünf bis sechs
Tage, und dabei ist alles aus den niederen Kasten, ein-
geschlossen der Priester, betrunken. Am letzten Festtage opfert
der Priester einen selbstgekauften Büffel der Krupama und
ihren Schwestern; thäte er dieses nicht, so würde die Göttin
erzürnen und eines seiner Familienglieder im Laufe des
Jahres töten. Hauptsache des Festes ist, die Göttin Kru-
pama bei guter Laune zu erhalten.
Der Burgwall von Gornij Pop lat.
Der Bergwerkshauptmann, Herr V. Radimsky, ein
zuverlässiger Beobachter der bosnisch-herzögischen Altertümer,
beschreibt im Serajevoer Glasnik zem. muzeja, Bd. II,
Heft 3, S. 292 bis 295 einen der merkwürdigsten uralten
Burgwälle des Okkupationsgebietes. In der Gemeinde
Gornij Poplat des Bezirkes von Stolac erhebt sich östlich
von der Straße Stolac-Cjubinje das Vrsnik-Gebirge (Meeres-
höhe 514 m). Schon beim Aufstieg von der Straße ge-
wahrt man die auf der Berghöhe gelegene gewaltige Gomila
(oder Gromila — , Erdhaufen). Blickt man ans der Straße
von der Höhe der 2egulja-Karaula nach rückwärts, so erkennt
man leicht, daß drei konzentrische Wälle die Gomila umgeben,
daß daher die ans dem Vrsnik befindliche große Anhäufung
das Terrain beherrscht.
Wie der Grundriß zeigt, hat dieser Burgwall eine ellip-
tische Form, die der Linie des Bergabhanges folgt und
von Nordwest zu Südost sich erstreckt. Er besteht aus fol-
genden Teilen: 1. einer Gomila A; 2. einem kreisrunden
aufgeschütteten inneren Wallet; 3. einem inneren Walle C;
4. einem mittleren Walle D; 5. einem zu letzterem parallelen
Walle E, und 6. aus dem äußeren Walle F. Die Gomila {A)
ist aus herbeigeschafften größeren Steinen errichtet, 7 m hoch,
hat tut runden Fundament 25 m Durchmesser und ans der
Spitze 7 tu. Am Rande der Höhe läuft eine Brustwehr von
Im Höhe, die einen Raum von 5m im Durchmesser um-
schließt. Offenbar diente diese Gomila als eine Späherwarte.
Der runde, innere zerbröckelte Wall (B) liegt ebenso wie die
Goinila in der zweiten Achse des Baues und ist vom Fun-
dament der Gomila 8 m entfernt. Er besteht aus einer
runden Anfschüttuttg, hat 42 m im äußeren Durchmesser
und umfängt einen Raum von 28 m im Durchmesser. Die
Fnndamentbreite dieses Walles beträgt 7 in, die Breite an der
Spitze 3 m und die Höhe 3 m. Ein Eingang ist nicht mehr
erkennbar und es ist unentschieden, ob dieser Raum als
etwaige letzte Zufluchtsstätte der Verteidiger oder als Heilig-
tnin gedient haben mag. Die große Achse des inneren
Walles (C) beträgt 158 m, die kleine 116 m, der Umfang
431m; die große Achse des mittleren Walles (_D) 312 m,
die kleine 212 m, der Umfang 822 m. Der Querwall (E)
hat die Länge von 250 m. Zweifellos hatte dieser Wall die
Stärke der Befestigung auf der minder steilen Seite des
Berges zu erhöhen. Der äußere Wall (F) hat eine Längen-
achse von 371 m und eine kleine Achse von 269 m, der Um-
Zensus der Neger in den Vereinigten Staaten.
Bücherschau.
366
fang macht 1007 m ans. Die horizontale Entfernung der
einzelnen Walle untereinander wechselt zwischen 31 und 53 m,
und vertikal überragt einer den andern zwischen 7 bis
17m. — Die Gesamtlänge der Wälle mit dem innern Ver-
hau crgiebt 2510 m. Die Gesamtfläche beträgt 7,8 Im.
Die Verhältnisse des Vrsnik-Walles sind geradezu riesig
und es bedurfte vieler Hände Arbeit, bis man die Steine
aus weiter Umgebung auf die Höhe hinaufgebracht und auf-
geschichtet hatte. Nachgrabungen haben nichts andres zu
Tage gefördert, als eine dunkle, wahrscheinlich mit Asche ge-
mengte Erde. F. 8. K.
Zensus der Neger in den Bereinigten Staaten.
Im Zensusbnlletin Nr. 48, welches vor kurzem in
Washington ausgegeben wurde, sind die Neger oder vielmehr
die Farbigen behandelt. Nach demselben haben die Farbigen
sich in dem Jahrzehnt 1880—90 nicht so vermehrt wie
1870—80. In den Staaten des Black Belt, des schwarzen
Gürtels, lagen die Verhältnisse zwischen Weißen und Far-
bigen in den beiden Jahrzehnten wie aus folgender Tabelle
ersichtlich ist.
1880 1890
Weiße Farbige Weiße Farbige
North Carolina . 867 212 531 277 1 049 191 567 170
Virginia.... 880 858 631 616 1 014 680 640 867
Georgia .... 816 906 725 133 973 462 883 716
Florida .... 112 605 126 690 224 461 166 678
Alabama. . . . 662 185 600 103 830 796 681 431
Louisiana . . . 454 954 483 655 554 712 562 893
Mississippi . . . 479 398 650 291 539 703 747 720
South Carolina . 391 105 604 332 458 454 692 603
1 695 253 4 353 097 5 645 459 4 922 978
Die Zunahme zwischen Weißen und Farbigen in den
beiden Jahrzehnten ist eine sehr verschiedene. Sic betrug bei
den Weißen 1870—80 und 1880—90 resp. in North
Carolina 27,8 und 20,9, in Virginia 23,7 und 15,1, in
Georgia 27,8 und 19,1, in Florida 48,4 und 57,4, in
Alabama 27,0 und 25,4, in Louisiana 25,6 und 21,9, in
Mississippi 25,2 und 12,5, in South Carolina 35,0
und 17,2.
Bei den Farbigen ergeben sich für die beiden Jahrzehnte
folgende Zahlen: In North Carolina 35,6 und 6,7, in Vir-
ginia 2,31 und 1,4, in Georgia 33,0 und 19,1, in Florida
38,1 und 31,5, in Alabama 26,2 und 13,5, in Louisiana
32,8 und 16,3, in Mississippi 46,4 und 14,9, in South
Carolina 45,3 und 14,5.
Diese Zahlen zeigen in ihren gewaltigen Abweichungen,
daß der eine oder andre Zensus, oder beide, sehr unregel-
mäßig durchgeführt sein muß und nur mit großer Reserve ist
es möglich, dieselben zu vergleichenden Schlüssen zu benutzen.
In Louisiana, Mississippi und South Carolina über-
wogen die Schwarzen. Geht man aber auf einzelne Cvun-
ties zurück, so tritt das Überwiegen der einen oder. andern
Rasse noch mehr hervor. Nach dem Zensus für 1890 sind
die „schwärzesten" Conntics folgende, in welchen gegen zehn
Farbige auf einen Weißen kommen:
Weiße Farbige
Louisiana: Concordia 1 546 13 324
East Carroll 967 11 390
Madison 900 13 235
Tensas 1 111 15 533
Mississippi: Jssaquena 692 11 623
Tunica 1 218 10 936
South Carolina. Beaufort. ..... 2 563 31 553
Berkeley 7 661 47 666
Je weiter die Bevölkerungstabellen gedeihen, desto deut-
licher wird es, daß die Neger sich aus den früheren Neger-
staaten über den Mississippi nach Westen und über den Ohio
nach Norden verziehen. Wir bemerken, daß in Tennessee die
weiße Bevölkerung seit 1880 um 17 Prozent, die farbige
nur um 7 Prozent, in West-Virginien die weiße Bevölkerung
um 23, die farbige noch nicht einmal um 3 Prozent zuge-
nommen bat. Da keine besondere Epidemie unter den Far-
bigen vorgekoinmcn ist, ihre Ebenbürtigkeit tu der Fähigkeit
zur Fortpflanzung nicht bezweifelt werden kann und sie die
Bedingungen der Erhaltung ihrer Nachkommenschaft wohl
durchschnittlich kaum weniger besitzen als die Weißen, so ist
ihre verhältnismäßige Abnahme int Süden nur durch Wan-
derung nach dem Westen und Norden zu erklären.
Für den Norden und Westen mag dies keine besondere
Errungenschaft sein. Andernteils dürften diese Landestcile
die Neger verhältnismäßig leicht aufsaugen, da sie doch nur
einen kleinen Prozentsatz der Bevölkerung bilden; wo sie aber
lästig fallen, mögen sie wesentlich dazu beitragen, die Stini-
mung von Leuten, die früher in der Ncgerfrage besonders
fanatisch waren, zu klären. Ein derartiges Übel mag da-
durch erträglicher werden, daß man es ans ein größeres Ge-
biet ausbreitet, was eine gleichzeitige Verdünnung bedingt.
Der Süden scheint durch die Wanderung der Neger um so
weniger zu leiden, als er sie in nicht geringem Maße durch
weiße Einwanderung ersetzen kann. Ob anderseits die Neger
ihren Wandertrieb nicht teuer zu bezahlen haben, indem sie
im Westen und Norden nicht dieselben günstigen klimatischen
Verhältnisse vorfinden, ist eine andre Frage.
B ü ch e r s ch a n.
Die königlichen Observatorien für Astrophysik, Meteorologie
und Geodäsie bei Potsdam. Aus amtlichem Anlaß her-
ausgegeben von den beteiligten Direktoren. Berlin, Mayer
und Müller, 1890. 160 S. 10 Tafeln. Preis Jk 6 (resp.
in Einzelabteilungen M. 2,50; 2,50; 2).
Nachdem die Organisation der Anstalten, welche die
preußische Regierung sür da8 Studium der Physik des Himmels
und der Erde ins Leben ries, ihren einstweiligen Abschluß
gesunden hat, war cs sehr dankenswert vom Unterrichts-
ministerium , die Vorstände der betreffenden Institute — Pros.
Vogel, Pros. v. Bezold, Pros. Helmert — zur Erstattung der
Berichte zu veranlassen, welche nunmehr in hübscher Ausstattung
der Öffentlichkeit vorliegen. Die Herren begnügten sich nicht
damit, die Entwickelung des nunmehr ihrer Leitung unterstellten
Forschungszweiges in seinen neuesten Phasen zu schildern,
sondern sie holten sämtlich weiter aus und verbreiteten sich auch
über die unscheinbaren Anfangsstadien, so daß der Leser ein
abgerundetes geschichtliches Bild vorgeführt erhält. Dem ent-
spricht es auch, daß jeder Abteilung das Medaillonbild des
Mannes vorgesetzt wurde, mit dessen Namen die bezügliche
Disziplin untrennbar verbunden ist: G. Kirchhosfs, von dem
die Chemie der Himmelskörper begründet wurde, A. v. Hum-
boldts, des Vaters der wissenschaftlichen Klimatologie, und
I. I. Baeyers, der die europäische Grundmessung und eine
neue Auffassung des Fundamentalproblems der Geodäsie ge-
schaffen hat.
Aus allen Erdteilen.
367
An dieser Stelle kann auf den reichen Inhalt der Schrift
natürlich nicht im einzelnen eingegangen werden, vielmehr
müssen wir uns mit einzelnen Andeutungen begnügen, Über-
aus interessant ist die Übersicht über die mancherlei astronomi-
schen Untersuchungen, welche auf der Potsdamer „Sonnenwarte"
bereits ausgeführt worden sind oder noch in Vorbereitung sich
befinden; diese Anstalt besteht bereits längere Zeit, und infolge-
dessen ist die Arbeit an ihr auch schon am meisten in den
stationären Zustand übergegangen. Die Sonne selbst, zu deren
unausgesetzter Beobachtung der mit ihren Besonderheiten wohl
am besten bekannte Prof. Spörer von Anklanr betraut wurde,
bietet freilich nicht das einzige, ja zur Zeit kaum mehr das
besonders im Vordergründe stehende Forschungsobjekt dar, doch
hat gerade die Sonnenphysik bereits eine sehr wichtige Be-
reicherung durch die hier zustande gekommenen Beobachtungs-
reihen erfahren, indem festgestellt ward, daß Fackeln und Flecke
in der Nähe des Sonnenäquators gleiche Rotationsgeschwindig-
keit besitzen, daß dagegen diese Beziehung in höheren Helio-
graphischen Breiten eine ganz andre wird. Auch photometrische
Messungen wurden mehrfach gemacht, und für die Dichte des
Erdkörpers ist von dem Observator Dr. Wilsing der sehr viel
Vertrauen verdienende Wert 5,579 (.±0,012) ermittelt worden.
Dagegen scheint das Zöllncrsche Horizontalpcndel, welches der
Berichterstatter vor neun Jahren in einem tiefen Brunnen-
schächte angebracht sah, noch nicht in regelmäßigen Dienst
gestellt worden zu sein.
Das meteorologische Institut ist, wie wir erfahren, zur
Zeit noch geteilt, indem die Räumlichkeiten für die Meteoro-
logie im eigentlichen Sinne noch in Berlin verblieben, wogegen
das unter Leitung des Dr. Eschenhagen gestellte erdmagnetische
Observatorium nach Potsdaiu verlegt wurde. Das erstgenannte
besteht aus drei Abteilungen: für allgenieine Fragen der atmo-
sphärischen Physik (Dr. Hellmann), für Gewitter und außer-
gewöhnliche Vorkommnisse (Dr. Aßmann), endlich für Instrumente
(Dr. Sprung). Über die Anlage des preußischen Stationsnetzes
werden wir gründlich unterrichtet, und es wird jedermann den
Eindruck gewinnen, daß der Betrieb der Klima-und Witterungs-
kunde, seitdem sie von ihrer nicht geeigneten Verbindung mit
dem statistischen Amte losgelöst ist, einen sehr bedeutenden Auf-
schwung in Preußen genommen hat. Bei der Beschreibung des
Neubaues auf dem Telegraphenberge verdient besonderes Interesse
die hohe Sorgfalt, welche einmal aus die Verwendung absolut
unmagnetischer Baumaterialien und sodann aus die Hintan-
haltung der den Variationsbeobachtungen durch Temperatur-
schwankungen drohenden Gefahren gerichtet werden mußte.
Die Thätigkeit des geodätischen Instituts ist, wie man
kurz sagen kann, hauptsächlich der Ermittelung der Abweichungen
gewidmet, welche die durch einen vollständig ruhigen Wasser-
spiegel dargestellte Erdgestalt einer ihr sich möglichst genau an-
schmiegenden geometrischen (Referenz-) Fläche gegenüber aus-
weist. Schwerkraftsbestimmungen und Studien über lokale
Lotabweichungen bilden daher zur Zeit die Hauptbeschäftigung
dieser Anstalt. Bekanntlich hat sich letztere in jüngster Gegen-
wart auch dadurch ein großes Verdienst um die wissenschaftliche
Erdkunde erworben, daß ihr Vorstand die vielumstrittene Frage,
ob die Polhöhen der einzelnen Erdorte periodischen Verände-
rungen ausgesetzt seien, einer endgültigen Lösung entgegen-
zuführen begonnen hat.
München. S. Günther.
M’Avzmv. Neoe1X)]ui7.)] yswyQcuptxij zpiloloyiu
xzX. ’/iV ’Afrf]y<a$ (Barth und von Hirst) 1869. <T und
128 SS. 4 M.
Mit Vergnügen sei auf dieses verdienstliche Verzeichnis
der neugriechischen geographischen Litteratur hingewiesen. Herr
M., der infolge zahlreicher geographischer Arbeiten größeren und
kleineren Umfangs rühmlich bekannt ist, hat die von Griechen
und nationalisierten Ausländern verfaßten Schriften aus dem
Zeitraume von 1800 bis 1889, insoweit sie geographische Dinge
fauch das Ausland) behandeln, systematisch zusammengestellt.
Die Pariser Gesellschaft zur Förderung der griechischen Studien
hat diesen Katalog, der in der That eine Lücke ausfüllt, mit
einem Preise ausgezeichnet. Als erster dieser Art ist er natür-
lich nicht absolut vollständig. Aber das mögliche ist. namentlich
durch Ausbeutung der so zahlreichen griechischen Tagesblätter,
erreicht. Hier nur einige wichtigere Zusätze: R i kip h o ro 8-G a j i s
Zioiyilu ysioyQucs: Wien 1884. — Siliwergos 'Entrost]:
Nauplia 1831. — A nastasios ’AnoloyCa iazoQioyswyQcapix/]:
Triest 1814. — Über Kythnos: Länderer Ath. 1835. Ky-
prvs: Konstantinidis G. M. Ath. 1886. ^Paisios: Warö-
scha (auf Cypcrn) 1887. — Samos: Die Staatskalender des
Fürstentums Samos sind von dem verdienten samischen Staats-
sekretär Epam. Stamatialis regelmäßig fortgesetzt worden (bis
1890). — Daß der Herausgeber brieflich einen Nachtrag in
Aussicht stellt, ist sehr dankenswert. Bei der Aufzählung der
Staaten ist befremdlicher Weise die Türkei nicht genannt.
Vielleicht wäre in ähnlicher Weise eine Zusammenstellung aller
kartographischen Arbeiten über griechisches Kulturgebiet zu er-
möglichen. L. Bürchner.
Ans allen
— Kamerun. Unsern Bericht (S. 272) über die
Expedition Morgen können wir jetzt durch einige genauere
Daten, die Reise des deutschen Forschers nach Ad am an a
betreffend, vervollständigen. Nach Rückgeleitnug der Handels-
karawane zur Jaunde-Station brach Premierleutnant Morgen
wit 100 Leuten nach Ngila, dem Mittelpunkte des Elfen-
beinhandels, auf. Um den auf uneinnehmbarer Höhe ge-
kegenen Ort zählt man in dem reichen Kultnrlande an 50
Dörfer von je 10 bis 20 Häusern, deren eine Hälfte zur
Wohnung, die andre als Scheune zur Aufbewahrung von
Korn und Mais benutzt wird. Mehrere Tagemärsche nörd-
lich von Ngila liegt der Platz Nganndere II, der jedoch nicht
ülit Nganndere I in Adamaua verwechselt werden darf. Fm
vergangenen September mußte Leutnant Morgen um der
eigenen Sicherheit willen mit dem Häuptling Ngila und
dessen Bruder Ngnte einen Kriegszug wider das erstgenannte
Nganndere nnternehmen. Darauf begann der Weitermarsch
llen Nordosten auf das Land der Tibati zu, deren erstes
Dorf, Joko, nach einer mühseligen Wochcntonr erreicht
wurde. Einen vollen Monat mußte Leutnant Morgen hier
auf freiem Felde bei stetig fließendem Regen liegen bleiben,
ehe ihm der Eintritt in das Land gestattet ward, und so traf
er nicht früher als am 1. Dezember in dem etwa vier Tage-
reisen südwestlich von der Stadt Tibati (bereits von Flegel
u>id später von Tappenbeck erkundet) befindlichen Kriegslager
Sauserni ein. Der Empfang durch Fürst und Volk war
Erdteilen.
durchaus freundlich, doch blieben dem deutschen Offizier keines-
wegs die Schrecken eines überaus lebhaften Sklavenhandels
verborgen, durch den, wenn nicht schleunigst Einhalt geschieht,
dieser Teil des Hinterlandes unsrer Kolonie in kurzer Zeit
entvölkert werden muß. Ein einziger unterworfener Stamm
„hatte 500 Männer, Weiber und Kinder als Tribut" zu
entrichten, von denen die Mehrzahl für Iota und Sokoto
bestimmt war.
Von Sanserni zog sich Morgen zuerst in östlicher,
dann in nordöstlicher Richtung zum Mb am hinüber und
fand, daß der Fluß an der Furt trotz des herrschenden Tief-
standes zwischen 3 und 4 Fuß Wasser hatte. Nach Aussage
der Eingeborenen soll der Mb am noch weiter hinauf für
Boote und Kanus fahrbar sein, so daß sich damit eine brauch-
bare Verkehrsstraße bis in das Herz dieser wichtigen Handels-
zone öffnet. Nun wandte sich Morgen in einem großen,
schließlich nach Westen gerichteten Bogen auf Banjo zu,
diesem wichtigen und stark befestigten Platz Adamanas, wo-
mit der Anschluß an Flegels südlichsten Punkt, den er im
April und Mai 1884 besucht, glücklich bewerkstelligt wurde.
Bon Banjo gelangte Morgen über Gaschka, das auch
Dr. Zintgraff auf seiner erstenAdamaua-Reise passiert hat,
nach Jbi am Bennö, von wo ans er die Rückfahrt in der
von uns schon gemeldeten Weise antrat.
Während Zintgraff und Morgen die Unterstützung
rühmen, die ihnen durch Mr. Mac Intosh, dem Ehef der
368
Aus allen Erdteilen.
Royal Niger-Company am Benutz zu Teil ward, wider-
hallt es in Frankreich von Klagen über die Unbilden, welche
dieselbe Niger-Company der Expedition Mizon zugefügt
haben soll. Wir sind weit entfernt, die englische Gesellschaft
irgendwie in Schutz zu nehmen; ihr vielgenanntes Opfer,
der deutsche Kaufmann Hönigsberg, ist jetzt ganz kürzlich
in Berlin aus dem Leben geschieden, während seine Sache
noch dem Schiedssprüche des belgischen Staatsministers
Jakobs unterlag. Der Verstorbene, aus Bayern gebürtig,
hat mit nie rastendem Fleiß sein Glück fast in allen Erd-
teilen versucht. Er ist lange in Südamerika gewesen; er hat
u. a. die Bahn von Sabanilla am Magdalenenstrome gebaut,
wurde aber durch die kolumbianische Regierung um die
Früchte seiner Arbeit gebracht. Er ging damr 1885 nach
Lagos in Westafrika und später nach Eggan am Niger und
gründete hier, dank seiner kaufmännischen Geschicklichkeit, ein
blühendes Geschäft. Wie dieses und damit seine Eigentümer
durch die Ränke der Royal Niger-Company ruiniert wurden,
ist bei den ewig erneuten und noch immer schwebenden Ver-
handlungen wohl in aller Erinnerung. Jener letzte schwere
Schlag hatte die Thatkraft des sonst so rührigen Mannes
auffällig gelähmt; grau und gebückt ging er daher, aber
würdig, daß auch an dieser Stelle seiner mit einem teil-
nehmenden Worte gedacht werde. II. 8.
— Französische Expeditionen in Zentralafrika.
Am I. Dezember 1890 wurde zu Paris ein Comité de
l’Afrique française begründet zu dem Zwecke, Expeditionen
auszusenden, welche den französischen Besitz am Kongo (Congo
français) mit den französischen Besitzungen am Mittelmeere
verknüpfen sollten, indem sie im Hintcrlande des deutschen
Kamernngebietes, namentlich am Tsadsce, Verträge abschließen
sollten, welche die dortigen Länder und Völker unter den
Schutz Frankreichs brächten. Ein riesiges Unternehmen, das
zuin Teil durch noch ganz unbekannte Gegenden Afrikas
führt. Bereits ist der berühmte französische Reisende Paul
Crampel vom Ubaughi (nördlicher Zufluß des Kongo)
unterwegs, und ihm folgt jetzt eine zweite Expedition zur
Unterstützung, die im Mürz schon in Loango war, wo die
Träger gemietet wurden. Sie besteht ans dem Führer
I. Dybowski, Brunache aus Algerien als erstem Offizier,
dem Kaufmann Bigrcl und dem Naturforscher Chalot. Dazu
42 mit Repetiergewehren bewaffnete Senegalneger. Haupt-
sache ist die Ausdehnung des französischen Besitzes vom Kongo
bis znin Tsadsee. „Die Verbindung unsrer algerischen Be-
sitzungen — heißt es int Bulletin des genannten Komités —
und von Tunis und dem Süden mit denen am Kongo, mit
dem Tsadsee als Mittelpunkt, wäre dann bald eine vollendete
Thatsache. Wir brauchen wohl nicht weiter auszuführen,
welchen unermeßlichen Wert dieses Gebiet in französischen
Händen haben würde."
— Montenegro, welches nach dem letzten russisch-türki-
schen Kriege einen schmalen Küstenstreifen am Adriatischen
Meere erhielt und damit aufhörte, ein Binncnstaat zu sein,
hat in seinen beiden Küstenstädten Antivari und Dalcigno
seine Flotte allmählich entwickelt. Nach Veröffentlichungen
ans Ccttinje besitzt das Fürstentum jetzt fünf Dampfer und
150 Segelfahrzenge verschiedener Art, die unter montenegri-
nischer Flagge fahren.
— Julius Erasmus Hilgard, früher Vorstand der
Küstenvermessung in den Vereinigten Staaten, starb am
8. Mai 1891 zu New Jork. Er war am 7. Januar 1825
in Zweibrücken geboren und kam im Jahre 1835 mit seinem
Vater nach den Vereinigten Staaten. Die Familie siedelte
sich bei Belleville, Illinois, an, und der Vater erwarb sich
ein unsterbliches Verdienst, indem er die Kultur der Wein-
rebe in Amerika einführte und außerdem entdeckte, daß sich
die Catawba-Tranbe am besten für das Klima von Illinois,
Ohio K.t wo sie jetzt in ausgedehntem Maße gepflegt wird,
eigne. Der junge Hilgard wurde Civilingenieur und trat
unter Superintendent Bache in den Küstenvermessungsdienst
ein, an dessen Arbeiten er, namentlich auch während der an-
strengenden Zeiten des Bürgerkrieges, hervorragenden Anteil
nahm; die Kartierung der früher fast unerforschten Küste
des Stillen Ozeans ist zum guten Teil sein Werk. Nach
dem Ableben des Superintendenten Pierce wurde er dessen
Nachfolger und stand dem Küstenvermessnngsdienst bis zum
Jahre 1884 vor.
— Der Begleiter von Dr. K. Peters, Herr Oskar
Borchert, wird den ersten kleinen Dampfer, beschafft ans
Mitteln der Petersstiftung, auf den Viktoriasee bringen,
an welchem zugleich eine Schiffswerfte angelegt wird. Der
Kahnbau wird dort schon lange von den Negern betrieben
und dieselben werden schnell auch den Ban von Segelschiffen
nach europäischer Art erlernen. Der Dampfer soll geringen
Tiefgang, 0,8 m in unbeladenem, 1,5 m in beladenem Zu-
stande haben; 20 m Länge und 3,6 in Breite sind die
Dimensionen, welche man bei Bestellung des Dampfers ins
Auge fassen würde. Der Dampfer sollte 60 Pferdekräfte
betragen und — abgesehen von seiner Schleppkraft— 40 Tonnen
Ladung und 120 Personen aufnehmen können, ferner würde
er auf Holzheizung eingerichtet und mit Segelvorrichtung
versehen sein, um die regelmäßigen Winde zu benutzen.
— Die Fremden im Kongostaate. Die im Jahre
1890 vorgenommene Zählung hat ergeben, daß über den
weiten Raum des Kongostaates 744 Nichteingeborene zerstreut
leben. Unter ihnen 677 Europäer, 15 Amerikaner, 50
Afrikaner (Ägypter, Araber) und 2 Indianer. Unter den
Europäern sind die Belgier mit 338, die Engländer mit 72,
die Italiener mit 63, die Portugiesen mit 56, die Holländer
mit 47, die Schweden und Dänen mit 67, die Franzosen
mit 18, die Deutschen nur mit 6 vertreten. Diese ein-
gewanderte Bevölkerung ist stark in der Zunahme begriffen,
denn 1886 belief sich dieselbe erst auf 254 Köpfe. Der
Beschäftigung nach stehen 271 im Dienste des Kongostaates,
157 sind Handwerker und 175 in kaufmännischen Geschäften
angestellt. In Matadi, das mehr und «lehr europäischen
Anstrich gewinnt, leben 169, in Boma 159, in Léopold-
ville am Stauleypool 82, in Banana am mittleren Kongo
73. Von da nach dem Innern und an den Nebenflüssen
des Kongo nimmt die Zahl mehr und mehr ab. Doch sind
an den Stanley-Falls noch 10 Weiße angesessen. Diese
Zahlen beweisen abermals einen großen Fortschritt des
Kongostaates.
— Der kürzeste Weg von Europa nach Ostasien
ist jetzt über Kanada. Am 13. Mai 1891 traf in London
die erste Post auf der neuen Route an; dieselbe war von
Pokohama in Japan nur 25 Tage unterwegs, hatte aber in
Amerika drei Tage gelegen, da gerade kein Dampfer zur
Weiterbeförderung vorhanden war. Die Briefe aus Shanghai
i waren 32 Tage unterwegs. Ohne jenen unnötigen Aufent-
halt wäre die Post in 22 bezw. 29 Tagen in London ab-
geliefert worden. Der Dampfer „Empreß of Jndia" durch-
fuhr den Stillen Ozean in 10y2 Tagen und die „Canadian
Pacific Railway" brachte die Post in 91 Stunden vom
Stillen Weltmeer znm Atlantischen Ozean.
Herausgeber: Dr. R. Andree in Heidelberg, Leopoldstraße 27.
Druck von Friedrich Vieweg und Sohn in Braunschweig.
Bd. LIX.
Braunschwei g.
Jährlich 2 Bände in 24 Nummern. Durch alle Buchhandlungen und Postanstalten jßOf
zum Preise von 12 Mark sür den Band zu beziehen.
Der Kultus
von Missionar H.
Wenn ich von einem Kultus der Niasser rede, so muß
ich zuerst und vor allem bemerken, daß dieser ganze Kultus
am allerwenigsten aus eigentlich religiösem Gefühle ent-
springt. Wir müssen von einem eigentlich religiösen Be-
dürfnisse mit überirdischem Wesen in Verbindung zu treten,
beziehungsweise in Verbindung zu bleiben, so gut wie ganz
absehen. Alles tiefere Gefühl sür eine überirdische Welt
und auch für ein Leben nach dem Tode ist ihnen abhanden
gekommen, wie mir dies die jungen Christen, bei denen wir
Missionare es jetzt natürlich nach Kräften zu wecken suchen,
oft gestanden haben. Sie sagen selbst: Für etwas weiteres j
als was wir hier auf Erden haben, haben wir keinen Sinn;
wenn wir hier nur fertig sind und nur unsere irdischen
Bedürfnisse befriedigt haben, dann sind wir zufrieden
und etwas weiteres brauchen wir nicht. Was wir nun hier
Kultus nennen, das entspringt nur ans Zweckmäßigkeits- ;
gründen. Zuerst und vor allen Dingen sucht man dadurch
Hilfe und Genesung in Krankheit, sodann Fern-
haltnng von solchen, Vertreibung böser Geister und sonstiger
schädlicher Einflüsse, Segen für Haus und Acker und Vieh-
stand und was dergleichen Gründe mehr sind.
Allerdings haben die Niasser auch noch eine gewisse
Gotteserkenntnis, aber dieser Gott bleibt draußen, sie
treten in so gut wie keine Beziehung zu ihm. Der Name
für „Gott" ist „Lowalangi", dessen Ursprung uns aber dunkel
bleibt. Ich möchte am ersten noch vermuten, daß der Name
ein Kompositum sei aus den drei Wörtern Lö — „nicht"
und ba — „in" und langi (malaiisch langik) — „der sicht-
bare Himmel", „das Firmament", und somit würde er
-----------
U Herr Missionar Gundermann, der 14 Jahre auf der
Insel Nias an der Westküste Sumatras lebte, ist zweifellos einer
der gründlichsten Kenner der Niasser, was bereits aus mehreren
von ihm in Warnecks Allgem. Missions-Zeitschrist verösfent-
tichten Aufsätzen hervorging. Er hat außer den Sitten die
Sprache von Nias gründlich studirt und das Nene Testament in
dieselbe übersetzt. Bergl. auch Fr. Kramer „Der Götzendienst
^der Niasser" in Tijdschr. voor lud. Taal-, Land- en Volken-
künde, XXXIII,'Batavia 1690. A.
Globus LIX. Nr. 24.
der Niasser.
Sun6ermann').
möglicherweise aussagen, daß dieses Wesen nicht im sicht-
baren Himmel ist und also der Hohe und Erhabene, indessen
wage ich keineswegs diese Erklärung als gesichert hinzustellen.
Den Namen dieses Gottes hört man nun sehr häufig
und meistens, wenigstens nach unsern Begriffen, geradezu
mißbrauchen. Immer wieder heißt es: „Balazi Lowa-
langi“, d. h. „es steht bei Gott"; „iila Lowalangi“ —
„Gott siehet es"; „irongo ligoe Lowalangi“ — „Gott
hört meine Worte", „Gott ist mein Zeuge" u. s. w. u. s. w.
Lowalangi ist es auch, der im letzten Grunde die Seele
etoeö, d. h. der dieselbe abreißt wie einen Faden und also
Herr ist über Leben und Sterben.
Auch bei Flüchen wird der Name Gottes häufig ge-
nannt, z. B. „Jamoefatord horonia Lowalangi“ — „möge
Gott ein Verbrechen auf ihn bringen"; „ Jainoehondrogoö
Lowalangi“ — „möge dich Gott niederdrücken, oder er-
drücken"! „Jamoefainato lidwandraoego Lowalangi" —
„möge dich Gott wie Spinat abbrechen" u. dergl. m.
Um Hilfe wird Gott, wenn überhaupt im Ernste, dann
doch nur sehr selten angerufen; leere Worte, wie: „Jamoe-
tolo Lowalangi“ — „Gott möge helfen" u. dergl. hört
man freilich öfter, auch soll bei dem einen oder andern
Götzenopfer Lowalangi nebenbei um Erhaltung des Lebens
angerufen werden. Eher ruft man ihn vielleicht noch um
Rache an: „Halo mbalögoe Lowalangi“ — „räche mich
mein Gott"!
Im übrigen heißt es auch hier: „Ihr Herz ist ferne
von mir". Das Verhältnis, in dem der Niasser zu Gott
steht, könnte man vielleicht, wenn ich mich so ausdrücken
darf, als einen praktischen Deismus bezeichnen, woneben
dann eben der Ahnen- und Geisterdienst besteht, auf
den sich der ganze Kultus bezieht.
Wenn wir nun auf den letztern unser Augenmerk etwas
näher richten wollen, so werden wir zu reden haben:
, 1. Von den Wesen, die verehrt und angerufen werden.
2. von den Götzen, 3. von den Priestern und 4. von
den Opfern und deren Darbringung.
47
370
H. Sundermann: Der Kultus der Niasser.
I. Von den Wesen, die verehrt und angerufen
werden. Daß Lowalangi = Gott, so ziemlich draußen
bleibt, wurde eben ausgeführt. Ihm zunächst steht ein ge-
wisser Halbgott, den man Naivere nennt. Nach einer
Ausführung meines Kollegen, des Missionar Kramer, soll
er in der Sonne wohnen. Latoere sowohl als auch Lowa-
langi, mitsamt noch einigen andern bösen Wesen und auch
dem ersten Menschen, sind hervorgegangen ans den Früchten
zweier Bäume, die am Anfange aller Dinge auf dem Rucken
der Winde wuchsen. Latoere sollte eigentlich den Menschen
zum Menschen machen und da er dies nicht vermochte und
lowalangi es somit doch thun mußte, so erhielt der erstere
den Menschen nur als sein Schwein zum Geschenke zurück.
Darum heißt er jetzt: Latoere sobawi si hönö = Satoerc,
der die lausende als Schweine besitzt, oder Latoere sobawi
sato — der die Menge als Schweine besitzt. Von Zeit
zu Zeit ißt er nun einen ans, oder vielmehr nur den
Schatten desselben, was aber den Tod zur Folge hat und
sich durch eine Krankheit des betreffenden anzeigt. Dann
muß geopfert werden, um Latoere zu bewegen, einen andern
fettem zu nehmen, aus einem andern Teile der Insel.
Außer Latoere sind cs die afocha und nadaoja, die
auch den Schatten des Menschen essen und denselben krank
machen. Sie stammen von zwei Stammvätern gleichen
Namens ab, die, wie eben schon erwähnt, auch aus den
Früchten eines jener Bäume entsprossen sind. Hier wird
indessen der Kranke unfehlbar durch ein Opfer gesund, wenn
nicht zugleich Lowalangi sein Ende beschlossen hat, daher
wohl die Redensart: „Lö saetoe ba Lowalangi“ =
„seine Seele ist noch nicht von Gott abgerissen worden".
Die afocha und nadaoja sind sehr groß, mit sehr
langen Beinen und streifen gewisfermaßen als Jäger durchs
Land, um Menschen ¿u jagen. Der Regenbogen ist das
Fangnetz der nadaoja für den Schatten der Menschen und
darum fürchtet man sich vor dem Regenbogen. Auch Hunde
haben sie, asoe mbanoea — Lufthunde, deren Kopf ver-
dreht nach hinten steht, und die man bisweilen bellen hört.
Ist der Schatten eines Menschen im Netz, so wird er auf-
gespießt. Dieser Schatten soll aber noch ein besonderer
Schatten sein und nicht der, den der Mensch in der Sonne
auf die Erde wirft.
Ferner giebt es noch eine ganze Anzahl bechoe narö
danö — unterirdische böse Geister, die in Löchern und
Höhlen leben und hervorkommen, um die Menschen zu
plagen, resp. deren Schatten zu fressen. Da hat man sigelo
danö (eigentlich Erdsau), lainii, lamoeti, lamoeha, 806-
mbala u. s. w., über deren Gestalt man nicht recht zur
Klarheit kommt. Auch der harirno (Tiger) wird als Bechoe
betrachtet, da man von Sumatra gehört hat, daß derselbe
Menschen fresse. Dann hat man noch matiana, die
Geister von Frauen, die im Wochenbette sterben. Diese er-
greifen Männer und ziehen ihnen wohl die Arme aus, um
sie verkehrt wieder einzusetzen, mit den Handflächen nach
außen. Aber auch vor den Geistern der Verstorbenen tut
allgemeinen fürchtet man sich und nulß somit durch Furcht
des Todes int ganzen Leben ein Knecht sein, und immer
wieder durch endlose Opfer alle diese Wesen zufrieden zu
stellen, oder auch abzuhalten suchen.
Außer diesen eigentlich göttlichen, beziehungsweise teuf-
lischen Wesen, werden dann noch gefürchtet und bei gewissen
Anlässen verehrt die drei Ahnen Laoewa danö, Laloe-
goe Loeo raewöua und Toehazangaröfa, die ähn-
lich wie einst Romulus gewissermaßen Götter oder Halb-
götter geworden sind. Laoewa danö ist unter der Erde
und trägt als Atlas die Erde, darum sagen sie bei Erdbeben:
„Ilaoe Toeada“ = „unser Großvater ist wieder beschäf-
tigt". Laloegoe Loeo mewöna ist droben und ist Mittler
bei Opfern an Latoere, und Toeha zangaröfa wohnt aus
dem Grunde des Meeres als Neptun der Niasser. Hier
und da erhalten auch diese Opfer, wenigstens der erstere
und der letztere. Und dann dürfen wir auch vor allen
Dingen die eigentlichen Vorfahren nicht vergessen, von
denen adoe zatoea (Elterngötzen) hergestellt werden, die
bei allen möglichen Gelegenheiten Opfer erhalten und be-
sonders um Segen für alle möglichen Fälle und Verhält-
nisse angerufen werden.
So ist des Opferns kein Ende, und die Sache kann bei
vielen Krankheiten, oder sonstigen Unglücksfällen in einer
Familie, eine solche finanziell gänzlich rniniren, wie ich da-
von noch in neuerer Zeit ein Beispiel hatte auf meiner
Station Dahana.
II. Von den Götzen. Der Götzen giebt es, man
möchte sagen Legion, man spricht aber von einer Zeit, in
der es nur sieben Arten gab. Augenscheinlich haben die
Priester im Laufe der Zeit immer neue erfunden, da sie ja
den meisten Vorteil von der Sache haben. Bleibenden
Wert haben indessen nur wenige von diesen vielen Götzen.
Unbedingt bleibend sind die Adoe zatoea — die eigentlichen
Ahnenbilder und dann etwa noch die 8iraha = Haus-
götzen, die Lawaoeloe — Fest- resp. Häuptlingsgötzen, die
Lihara — Priestergötzen und die Adoe horö, aus die
wir gleich noch zurückkommen, letztere aber schon weniger.
Die allermeisten Götzen werden nur für die bestimmten
Fälle von Krankheiten u. s. w. gemacht und haben dann
ihren eigentlichen Wert damit verloren. Weitaus die wich-
tigsten Götzen sind die Adoe zatoea, wenn ich auch die
Verehrung der Ahnen vorhin an letzter Stelle genannt habe,
weil diese doch eben nur menschlichen Wesen gilt. Zugleich
sind diese Adoe zatoea aber auch mit von den kleinsten
Götzen. Es sind hölzerne Figuren von etwa 15 bis 25 cm
Länge, meistens recht nett geschnitzt, in ordentlicher mensch-
licher Gestalt, nur mit sehr kurzen Beincheu und in etwas
hockender Stellung; manche unter ihnen sind aber auch sehr
primitiver Art.
Wodurch erhalten nun aber diese Figürchen ihren hohen
Wert? Wenn jemand, sei es nun ein Mann oder eine
Frau, gestorben ist, der männliche Nachkommen hat, so wird
an seiner Statt ein solcher Götze angeschafft und im Hause
aufgestellt. Dann muß der Priester denn Geiste des Ver-
storbenen winken und ihn an das Bildchen überweisen. . Das
ist aber noch nicht hinreichend. Es giebt auch noch ein IIber-
bt cibsel des Herzens des Verstorbenen (ein alölöa
clock0 in), welches aus dem Grabe aufsteigt. Nach einiger
Zeit, oft auch erst Jahre nachher, wenn man vielleicht durch
Krankheit oder sonstige Unglücksfälle in der Familie daran
erinnert wird, wird eine Feier veranstaltet, die man das
fanao — das Holen, Hervorholen nennt. Dann wird das
Grab gereinigt vom Grase, man breitet Kleider, Schmuck-
sachen u. s. w. darauf ans, streut einige Körnchen Reis
daraus und dann setzt sich die Familie darum herum und
lädt jenes Überbleibsel des Herzens, welches man mökömökö
nennt und welches in Gestalt eines kleinen Spinnchens aus
dem Grabe aufgestiegen fein soll, ein, sich zu zeigen. Findet
man dann ein Spinnchen, von dem man denkt, daß es das
richtige sei, so thut man es in ein Röhrchen und bringt cs
noch nach einem besondern Platze im Gebüsch, wo ein
besonderer Versammlungsort der Geister der Verstorbenen
fein soll, läßt es hier wieder laufen, schlachtet ein Schwein-
chcn und tanzt und singt, und endlich fängt man das Tier-
chen wieder ein und bringt es ins Haus, in die Nähe des
betreffenden Götzenbildes. In dem Götzen nimmt es nun
seine Wohnung. Es wird dann noch geopfert und getanzt
und die Geschlechter werden aufgezählt u. s. w., und nun *
ist dieser Götze ein sangehowoe = ein Segensspender ge-
H. Sundermann: Der Kultus der Niasser.
371
worden, von dem man alles Heil erwartet und den man
zugleich fürchtet.
Bekommt aber das Bild vielleicht einen Riß, so denkt
man das mókómókó sei entflohen und dann muß die ganze
Handlung mit einem neuen Götzenbilde wiederholt werden
und ebenso, wenn ein solches Bild etwa durch Brand zu
Grunde geht.
Nach und nach wird nun der eine Verstorbene an
den andern gereiht; alle werden an eine Stange ge-
bunden und jemehr sich die Familie erweitert, desto mehr
Besitzer oder Veitantheilhaber dieser Götzenreihe, bis man
dann allmählich in den einzelnen Familien neue Reihen
beginnt. Wer nun gerade die Götzen bei besonderen Ver-
anlassungen nöthig hat, der holt sic in sein Haus, bis daß
ein anderer sie wieder braucht. Den Götzen des ältesten
Stammvaters muß immer der Nachkomme des ältesten
Sohnes desselben aufbewahren. Nun ist aber interessant
bei der Sache, daß man glaubt, eine solche Familie habe
kein Glück und sterbe bald aus.
Im allgenieinen hängt man sehr fest an diesen Ahnen-
bildcrn und sind dieselben ein großes Hindernis für die Aus-
breitung des Christentums, hier und da kommen aber auch
Fülle von Abfall und Liberalismus, ja von Blasphemie
gegen dieselben vor. So erzählte einer meiner Getauften
folgenden Fall: Ein Mann, der Schulden halber von seinen
Gläubigern gedrängt wurde, geriet plötzlich in Wut gegen
den Götzen, der seinen Vater vorstellte. Cr nahm ihn von
seinem Platze herunter und mit den Worten: „Weil du mir
nicht zu Würde und Reichtum vcrholfen hast, Götze meines
Vaters, so darfst du dich heute Nacht hier unter dem Brüt-
huhn erlaben" steckte er denselben unter die brütende Henne.
Am andern Morgen zog er ihn wieder hervor und sagte in
blasphemischer Weise: „So, hat es dir geschmeckt unter
dem Huhn, heute Nacht, Götze meines Vaters?" und dann
schleuderte er ihn zum Dachfenster hinaus in die Büsche.
„Und doch," setzte der Erzähler hinzu, „lebt der Mann
heute noch und der Götze hat sich nicht gerächt;" was die
Heiden sonst glauben würden.
Die Götzen, die zur Heilung von Krankheiten dienen,
sind ein Geschenk von oben zum Trost und zur Hilfe in den
vielen Nöthen lind Krankheiten auf dieser Erde.
Was die Herstellung, resp. die mehr oder weniger
schöne Figur betrifft, so wird außer den genannten Ahnen-
götzen eigentlich nur noch aus die 8 i ralla — Hausgötzen
Werth gelegt; man findet darunter welche, die einem angehen-
den Bildhauer alle Ehre machen würden. Sie werden in
dem größten Raume des Hauses in einiger Höhe an einem
freistehenden Pfeiler plaziert und bleiben dort dauernd.
In jedem Hause giebt es nur einen dieser Götzen. Die
Priestergötzen — bihara werden aus 50 verschiedenen
Holzsorten hergestellt und zwar von jeder Holzsorte zwei,
jodaß man 100 einzelne Stäbchen hat, etwa von der Dicke
eines Fingers und etwa eine Spanne lang. Sie sind nur
notdürftig mit einigen Kerben versehen, die das Gesicht vor-
stellen sollen und werden, ähnlich wie die Ahnengötzen, alle
nebeneinander an eine lange Stange gebunden und dann
oben im Dachstnhl aufgehängt und mit Palmblättern ver-
ziert. Beigegebcn wird ihnen noch eine ganz kleine Stange
Nlit etwa zehn ganz kleinen Bildchen, die ihre Kinder dar-
stellen sollen und noch ein Bündelchcn von Modellen einiger
Hausgerüthe.
Die größten und schwersten Götzen sind die ackoo boro
uttb die fangoeroe, die aus dicken Baumstämmen, zum Teil
Kokospalmen hergestellt werden; die Bearbeitung ist indessen
eine sehr primitive und nachlässige.
Der erstgenannte (adoe lloro) wird gebraucht von
jemand, der an der richterlichen Entscheidung über irgend
ein Verbrechen oder Vergehen (lloro) teilgenommen hat, und
nun vielleicht bald nachher krank wird, resp. befürchtet oder
auch weiß, daß er sich eines Fehlers bei der Sache schuldig
gemacht habe, der ihm nachteilig werden könnte. Ich be-
merke dabei, daß es mit der Gerechtigkeit der Richter nicht
allzu glänzend aussieht. Einer dieser Götzen hat die Ge-
stalt eines Krokodils und ein andrer hat z. B. an beiden
Enden einen Kops. Diesen soll man machen, wenn man
von beiden Parteien Geschenke genommen hat.
Die fangoeroe werden gemacht um Krankheiten,
besonders Pocken- und Cholera-Epidemieen, von deren Auf-
treten man hört, vom Dorfe abzuhalten. Etwa drei große
rohbcarbeitete Stämme, denen man Porzellanscherben an
Stelle der Augen einsetzt, werden mit noch einigen kleinern
in der Mitte des Dorfes ans der Straße aufgestellt und
ähnliche an den Ausgängen des Dorfes. Ferner werden die
einzelnen Häuser mit allerlei Blättcrwerk umzogen, um die
Krankheitsgeister abzuhalten. Während einer Anzahl von
Tagen darf dann kein Fremder das Dorf betreten und man
bahnt wohl einen Weg darum herum durch das Gebüsch.
Die bavaoeloe — Fest- oder Hüuptlingsgötzen werden
nur von Häuptlingen, oder sonstigen vornehmen Personen
gemacht. Sie sind verschieden, teilweise recht abenteuerlicher
Gestalt und werden alle mit den Füßen in ein langes Brett
eingelassen, welches auch selbst an einem Ende wieder mit
einem Götzenkopfe versehen ist.
Auch die osaosa, der Thron, auf dem der Häuptling
bei großen Festen umhergetragen wird (Fig. 1), ist zu
gleicher Zeit Götze in phantastischer Gestalt, etwa der eines
Büffels, und dasselbe gilt etwa auch von den großen Steinen,
die die Häuptlinge und mehr oder weniger auch andre Leute,
als Zeichen ihrer Größe und ihres Reichtums vor ihren
Häusern ausstellen, resp. hinlegen. Diese haben, soweit sie
überhaupt bearbeitet werden, die Gestalt eines Menschen.
Außer den hier namhaft gemachten, giebt es nun noch
eine große Menge von Götzen, für alle möglichen Fälle
und in allen möglichen Gestaltungen; es giebt darunter auch
kleine Figürchcn ans Lehm. Manche bilden ganze Systeme.
So der kostspieligste unter allen, was die Opfer anbetrifft,
der adoe ba mboemboe — „der Götze auf der Firste",
den man in Etappen aufstellt, vom Hose an bis auf die
Firste des Hausdachcs. Diese vielen Götzen alle einzeln zu
beschreiben, würde zu weit führen, und ich komme deshalb
jetzt auf die Priester.
III. Von den Priestern. Die Priester bilden bei den
Niassern keine besondere Kaste, aber immerhin doch immer
einen besonderen Stand, abgesehen davon, daß manche Leute,
besonders Häuptlinge und Hüuptlingsfrauen, noch nebenbei
Priester sind, die man also vielleicht in gewissem Sinne
Laicnpriester nennen könnte. Wie schon hiermit angedeutet,
können auch Frauen die Priesterwürde erlangen. Eine be-
sondere Abgabe an die Priester ist mir nicht bekannt und
sie haben also nur dann Vorteil von ihrem Amte, wenn
sie auch wirklich pricsterliche Geschäfte zu verrichten haben.
Die Berufung zum Priestertum, wenn ich mich einmal
so ausdrücken bars, kündigt sich gewöhnlich damit an, daß
die betreffende Person einen Anfall von Irrsinn bekommt
und dann wegläuft und sich eine zcitlang im Dickicht ver-
borgen hält. Man glaubt dann, sie sei von den bösen
Geistern entführt worden und man will solche Leute schon
aus Bäumen wieder entdeckt haben. Sie wollen dann auch
allerlei Erscheinungen gehabt und womöglich weder Hunger
noch Durst verspürt haben. Tie Geister müssen dann durch
Opfer bewogen werden, den Entführten wieder frei zu
geben. Gewöhnlich kehrt er nach einiger Zeit wieder zurück.
Bleibt einer länger ans, so behauptet man, die Geister haben
ihn nach der anoenoea, einem Platze auf einem der nörd-
47*
372
H. Sundermann: Der Kultus der Niasser.
lichcn Vorsprünge von Mas, Tojo lawa genannt, gebracht,
wo eben der Hauptaufenthaltsort der Geister sein soll. Eine
anoenoea befindet sich im übrigen mid) in der Nähe eines
jeden Dorfes, und das Wort besagt wohl eigentlich „Röst-
stätte" (von dem Worte „toonoo" — „anstecken", „rösten")
und es werden dort die auf der gemeinsamen Jagd erlegten
Wildschweine zerlegt und verteilt. So sollen denn auch dort
aus dem Tojo lawa in früheren Zeiten viele Leute von den
bösen Geistern verzehrt worden seien; möglich, daß man
dies erfunden hat, um das Verschwinden derjenigen Leute zu
beschönigen, die früher oft heimlich an die Atchinesen als
Sklaven verkauft wurden. Ist nun eine Person dorthin
entführt worden und die Geister haben doch die Absicht sie
wieder zurückzugeben, so wird sic vorher von dem Obersten
der Geister im Götzendienste unterrichtet. Bei der Rückkehr-
ist sic dann mit Schlangen bekleidet, welche Kleidung aber
nur von solchen, die bereits Priester sind, gesehen werden
kann. Solche, die dort gewesen sind, werden nachher recht
wirksame Priester, Hauptpriester.
Zur Heilung eines solchen Irrsinnigen und um dem-
sclben die Kunst zu verleihen Priester zu werden, müssen
nun nach der Rückkehr des-
selben die oben beschriebe-
nen Priestergötzen (bi-
liar a) gemacht und diesen
geopfert werden. Daß diese
Götzen aus 50 verschie-
denen Holzsorten bestehen,
wurde oben bereits erwähnt.
Der Niasser glaubt, daß
die Geister sich je eine
Holzart ausgesucht haben,
auf denen sie hausen, und
wenn nun diese Holzart als
Götze ins Haus gebracht
wird, so wird dadurch der
betreffende Geist abgehalten
resp. verscheucht. Auch den
Ahnen muß der angehende
Priester Opfer bringen und
endlich muß er dann bei
andern Priestern und Prie-
sterinnen einen Kursus
durchmachen, um in alle
Schliche und Kunstgriffe
des Priestertums eingeweiht zu werden und auch das Trom-
meln und das Hersagen der Formeln zu lernen. Es werden
ihm auch von den verschiedenen Orten, z. B. ans den
Gräbern und auf den Bergen die Geister gezeigt.
Wenn nun die ganze Sache beendet ist, so wagt der Priester
indessen noch nicht, ohne weiteres in sein Hans zurückzu-
kehren, da ihn noch zu viele Geister umgeben, die ihm dann
folgen würden, um in seinem Hause allerlei Unglück anzu-
richten. Er macht deshalb noch in andern Dörfern Besuche
aus einige Tage, damit diese Geister allmählich dort zurück-
bleiben mögen. Kehrt er nun endlich wirklich zurück, so
braucht er doch noch die Vorsicht, daß er aus dem Wege ein
dünnes Holz spaltet und durch diesen Spalt hindurchkriecht,
um so den letzten Geist, der ihm noch etwa gefolgt sein
möchte, von sich abzustreifen. Nun ist er ein ere, ein
Priester und kann zum Opferdienste gerufen werden, und
auf die Opfer und ihre Darbringung haben wir nun noch
unsre Blicke zu richten.
IV. Von den Opfern und deren Darbringung.
Die meiste Veranlassung zur Darbringung von Opfern an
die Götzen geben wohl immerhin bereits ausgebrochcne
Krankheiten, sodann opfert man aber auch viel um befürch-
tete Krankheiten und sonstiges Unglück abzuwenden, wozu
dann noch die Verehrung der Ahnenbilder kommt, die
meistens den Zweck hat, von diesen Segen zu erbitten für-
alle möglichen Verhältnisse und Vorkommnisse?
Wird jemand ernstlich oder andauernd krank, so wird
erst wohl nur eine Segnung mit ihm vorgenommen, die
auch die oben erwähnten Laienpriester vornehmen- können.
Hilft dies aber nicht, dann muß ein eigentlicher Priester-
gerufen werden und dieser hat nun zuvörderst durch
allerlei Zaubermittel herauszubringen, welcher von den
vielen Götzen diese Krankheit heilen werde. Es giebt
verschiedene Methoden, um dies zu erkunden. Z. „B. der
Priester nimmt eine Flasche, bestreicht dieselbe mit Ol und
sucht dann darauf ein Ei zum Stehen zu bringen, wäh-
rend er verschiedene Götzen nennt. Bei welchem Namen
daun das Ei stehen bleibt, das ist der rechte Götze für den
vorliegenden Fall. Oder: Er nimmt eine Lanze und mißt
die Länge derselben; dann streicht er über dieselbe, damit sie
sich ausdehne, wobei er wieder die Namen der Götzen
nennt, und bei welchem Namen die Lanze länger wird, das
ist der rechte; und dergleichen Hokuspokus mehr.
Nun wird Holz geholt
aus dem Busche und der
Götze oder das Götzen-
s y st c m wird hergestellt;
wie schon erwähnt ist die
Bearbeitung meistens nur
eine sehr primitive; ge-
schmückt werden die Götzen
mit Palmblättern. Dann
muß ein Opfertier her-
beigeschafft werden, wenn
der Götze nicht etwa nur
ein Ei als Opfer erhält.
Die Größe der Opfertiere
ist sehr verschieden, vom
kleinsten Hühnchen bis zu
einem großen Schweine, ja
bis zu einer ganzen Anzahl
von Schweinen. Hat die
Familie weder Schwein
noch Huhn im Stalle oder
auf dem Hofe, so muß
eben aus 100 oder mehr
Prozent geliehen werden
und so kann man durch vieles Opfern in die drückendste
Armut gerathen. Das Tier wird geschlachtet und der Götze
erhält nur ein klein wenig davon, einige Borsten resp.
Federn und etwas vom Eingeweide, vom Herzen und von
der Leber, wozu freilich, wenigstens bei einigen Opferungen,
noch Weltopfer kommen, die dann aber von den älteren und
vornehmeren Leuten verspeist werden; das meiste ist für
den Priester und was er nicht aufißt, das nimmt er mit
nach Hause; auch die Angehörigen des Kranken bekommen
vielfach nicht allzuviel davon mit. So kann man sich leicht .
denken, daß die Priester das größte Interesse daran haben,
immer neue Götzen zu erfinden und so die Sache immer
mehr auszudehnen.
Der Kranke muß den Götzen berühren und dann sitzt
der Priester da, schlügt die Trommel und leiert seine „Ge-
bete" her (Fig. 2) zunächst an den Götzen. Die Götzen
sind, abgesehen etwa von den Ahnenbildern, nur die Ver-
mittler der Sache und man kann danach also nicht sagen,
daß die Heiden hölzerne Götter haben. Hinter dem Götzen
steht ihnen die höhere Macht und zwischen diesen und
ihnen hat der erstere zu vermitteln.
Hat z. B. der Priester festgestellt, daß es Latoere ist,
H. Sundermann:
Der Kultus der Niasser.
373
der den Menschen krank gemacht hat und ihn aufessen will,
so giebt es zwischen diesem und dem Priester, der das Opfer
darbringt, noch drei Instanzen. Die erste bildet eben der
Götze und die zweite ein Wesen, das man Sa ho nennt,
über welches man aber nicht recht zur Klarheit kommt, nicht
einmal darüber, ob cs ein Mann oder ein Weib ist. Es
soll früher Mensch gewesen und dann in die Luft entrückt
sein. Von ihm sagt man auch, daß cs weine, wenn irgendwo
ein Fall von Ehebruch oder Hurerei vorliegt, worauf eS
dann besonders viel regnet. Die dritte Instanz bildet
Baloegoe Loeo mewöna, ein Bruder der von oben her-
niederlassen»» Stammväter der Niasscr, der aber droben
geblieben ist, weil er besonders nach dem Herzen seines
Vaters war.
Indessen sind diese Instanzen doch nicht so zu denken,
daß die eine die Sache immer wieder an die andre zu über-
mitteln hätte, sondern der Götze ist der, der direkten Zugang
zu Latoere hat und man bittet ihn, er möge doch hinauf-
gehen und Latoere bitten, daß er dieses sein Schwein (den
Kranken) nicht schlachte und ihn nicht den Gästen vorsetze,
darum bringe man ihm (dem Götzen) das Opfer, um
dadurch das Heil und das
Leben zu erbitten und darum
müsse ja die Genesung ein-
treten.
An Saho richtet man dann
die Bitte, er möge, als in der
Mitte stehend, doch das ?oe-
mange, was eigentlich „Ehr-
beweis" bedeutet, hier aber
wohl soviel als „Heil", „Ge-
nesung" heißen soll, vermitteln
und dasselbe herniederlassen,
wie man ein Gefäß mit Palm-
wein von der Kokospalme hcr-
niederbringe.
An Baloegoe Loeo me-
wona richtet man eigentlich
keine Bitte, sondern man
sagt ihm, er habe ja bereits
einen Tritt gegen die Thür
des Schweincstalles gethan und
schon die Pfähle ausgezogen
und somit werde der Kranke
ja freikommen und genesen.
Latoere selbst aber wird ersucht, er möge doch als
Schlachtschwcin einen Kargen und Geizigen nehmen (wohl
einen solchen, der kein Opfer, oder doch ein geringeres bringt)
ans einem anderen Teile der Insel, von der Westküste, vom
Ojo oder vom Lahomi und diesen Kranken also noch wieder
freilassen.
Finden diese Gebete eine Erhörung, dann vermittelt
Saho das soemange, das „Heil" oder „Heilmittel". Dies
wälzt sich dann, wie eine große Welle oder Wolke, von oben
her heran und kann nur bei Sonnenlicht empfangen werden.
Vielleicht wäre cs möglich, daß hier eine Selbsttäuschung des
Priesters vorläge und daß derselbe so lange in die Sonne
schaut, bis cs ihm wie eine Wolke vor den Angen erscheint
und alles flickert und flimmert. Er fängt dann diese Wolke
mit einem Tuche auf, woraus sie auseinander springt,
daß es ihm dann wie lauter kleine Glühwürmchen erscheint,
wovon er dem Kranken an die Stirn setzt und die die Ge-
nesung bewirken.
Alle die Zeremonien und Handlungen bei den einzelnen
Opfern nun zu beschreiben, würde uns hier viel zu weit
führen. Der umständlichste und zugleich kostspieligste
Götze ist, wie schon erwähnt, der adoe ba mboemboe —
Fig.
der Götze aus der Firste. Er bildet gewissermaßen die letzte
Zuflucht, wenn alles andere nicht helfen will. Die Unkosten
sollen je nachdem zwischen 25 und 80 holländischen Gulden
schwanken. Zwei bis sechs Priester sind mit der Opferung
mehrere Tage lang beschäftigt. Von allen Holzsorten,
die in der Nähe zu finden sind, werden 60 bis 100 neue
Götzen gemacht und auch die alten im Hanse mit Blättern
bekränzt. Ans dem Hofe, im Hanse und bis ans die Firste
des Daches hinaus, stellt man Götzen ans. Zum Beginn
der Opferung wird ein kleines Schwein mit zusammen-
gebundenen Füßen vom Dache heruntergerollt, daß cs ans
dem Hofe zurecht kommt. Dann wird es geschlachtet und
die Götzen im Hause mit dem Blute bestrichen. Der
Dienst der Priester wird den ganzen Tag kaum unter-
brochen.
Im ganzen werden etwa 12 bis 24 Schweine geopfert.
Einer der Priester macht dann oben von der Firste eine
Öffnung ins Dach, um dort das eben erwähnte soemange
zu empfangen. Die Götzen, die oben stehen, sind mit einem
Seil von Koknsblättern mit den unten stellenden in Ver-
bindung gebracht. Am dritten Tage geleiten die Priester
die bösen Geister aus dem
Hause in die Götzen, die ans
dem Hofe stehen.
Alle Dorfbewohner werden
zu dieser Opferung eingeladen
und bewirtet und Verwandte
haben auch noch die Verpflich-
tung, dazu beizusteuern.
Schließlich werden von den
Priestern noch zwei neue
Götzen gemacht und den einen
davon hebt der eine Priester
im Hause in die Höhe mit den
Worten: „Darum habt ihr
Kranke, weil ihr diesem Götzen
noch keine Ehre erwiesen
habt"; also gewissermaßen dem
unbekannten Gott. Dann fra-
gen die Angehörigen deö Kran-
ken: „Was ist unsre Schul-
digkeit? wir wollen bezahlen;"
und die Priester erhalten Ge-
schenke. Hilft auch dieser Götze
dem Kranken nicht, dann hat
man kaum noch Hoffnung. Die Priester schieben dann die
Sache aus die Angehörigen; vielleicht waren die Schweine
zu klein und zu mager, oder man hat es sonst verfehlt.
Ähnlich ist auch die Darbringung der Opfer in den
übrigen Fällen. Indessen soll bei den Krankheiten, die
man von einem bösen Geiste herleitet, ein Bela nächst dem
Götzen der Vermittler sein, der die Sache an den betreffen-
den bösen Geist überbringt. Diese Bela sind in gewissem
Sinne die Kobolde bei den Niassern. Ihr Stammvater
ist, als er von oben hcrniedergelassen wurde, auf einem
Baum hängen geblieben, weil die Kette zu kurz war, und
dort halten sich seine Nachkonnnen noch heute.
Auch sie bewerfen die Menschen wohl mit Asche, wo-
durch dann AnSschlag entsteht, aber andrerseits sind sic also
den letzteren auch wieder dienstbar.
Außer bei schon vorhandener Krankheit, wird wie
auch bereits erwähnt, auch viel geopfert, um Krank-
heiten und andere Übel zu verhüten. Die Opfer
an die Ahnenbilder werden meistens gebracht, um
Segen zu erbitten und Unsegen ferne zu halten, seltener
bei Krankheiten. Bei Geburten von Kindern erhalten
die Ahnen Darstellungsopfer. Aber auch bei Heiraten,
Opfernder Priester von Nias. - Ornstnal-
photographie von H. Sundermann.
374
Prof. Dr. I. H. Kloos: Jadeitbeilchen ans dem Braunschweigischen.
bei Bestellung des Ackers u. s. w. u. s. w. wird ihnen ge-
opfert.
Die Hauptabsickst bei den Opfern im allgemeinen scheint
mir die zu fein, den Götzen zur Vermittelung willig
zu machen, darum nennt man dieselben auch vielfach „ö
nadoe“ — „Götzenspeise". In etwas sind sie aber auch
wohl Lösungsopfer, wenigstens da, wo man es mit einem
bösen Geiste als Veranstalter des Übels zu thun hat und
zwar so, daß man ihm den Schatten eines Opfertiercs
anstatt des Schattens des Menschen zur Speise gibt.
Weniger wohl hat man dabei die Idee des Sühneopfers,
außer vielleicht in einigen Fallen, z. B. bei starkem Erd-
beben, wo dem Bäoewa dano, dein Atlas, geopfert wird.
Auch der Sündenbock ist bekannt, den man (in Gestalt
eines Huhnes oder eines Schweinchcns) laufen läßt, um
ihn dann aber wieder einzufangen. Bei der Ahnenver-
ehrung hat man nur den Götzen als alleinige Instanz, da
man sich denselben ja wie oben ausgeführt, in gewissem
Sinne als beseelt denkt und darum wird auch nur dieser
angeredet. Gebe der Herr, daß bald auch das niassische
Volk in Schaaren die Opfer darbringe, die Gott gefallen,
nämlich einen gcüngstigten Geist und ein gcängstigtes
und zerschlagenes Herz, die Gott auch bei ihnen nicht ver-
achten wird.
Jadeitbeilchen aus dem Braunschweigischen.
Von jFrof. Dr. I. H. Aloos.
Im Monat Mai 1888 fand ein Waldarbeiter an dem
Höhenzuge der Asse im Herzogtum Brannschweig einen be-
arbeiteten Stein von grüner Farbe. Derselbe lag unter
der Wurzel einer großen Buche und zog durch seine Farbe
und Politur sofort die Aufmerksamkeit auf sich. Dies war-
um so mehr der Fall, als der bewaldete Abhang des Berges,
an welchem der Baum gewachsen war, aus Muschelkalk be-
steht und die Leute gewohnt waren, dort nichts weiter zu
finden, als die flachen, scharfkantigen, scherbenartigen Bruch-
stücke des Wellenkalkes.
Der Stein hat die gewöhnliche Form der bekannten
Nephrit- und Jadeitbeilchen. Er ist bikonvex, glatt und
poliert, mit gerundeten Kanten und ausgezeichnet scharf er-
haltener Schneide. Dieselbe bringt eine bogenförmig ver-
laufende, hellgrün durchscheinende Kante hervor. Länge und
Fig. 1- Fig. 2. Fig. 3.
Breite betragen 5 cm; die größte Dicke ist 17 mm. An der
dicksten Stelle ist das Veilchen offenbar abgebrochen. In den
nebenstehenden Skizzen habe ich den Gegenstand in der Hälfte
natürlicher Größe abgebildet. Fig. 1 und 2 stellen denselben
von der breiten Seite dar, Fig. 3 giebt die Seitenansicht.
Die Farbe ist schmutziggrün, aber weißlich geädert und
gefleckt, außerdem sind vereinzelt scharf begrenzte, schwärzlich-
grüne, dunkle Stellen ersichtlich. In der Nähe des in Fig. 1
sichtbaren Sprunges ist die Farbe rostbraun. In Fig. 2
und 3 sind durch feine Striche eine Anzahl streng parallel
verlaufende schmale, aber verschiedentlich tiefe Furchen ange-
deutet, welche möglicherweise als Sägeschnitte aufzufassen wären.
Die Härte ist sehr bedeutend. Sie liegt nur wenig unter
derjenigen des Quarzes, von welchem Mineral das Veilchen
eben noch geritzt wird, während es selbst den Feldspat in viel
höherem Grade ritzt. In der Härtenskala würde die Härte
daher sehr nahe bei 7 liegen. Das Material ist leicht schmelz-
bar; dünne Splitter, welche mit hellgrüner Farbe durch-
sichtig werden, schmelzen vor dem Lötrohre sofort zu einer
Kugel und runden sich auch bereits im Bunsenschen Brenner
ohne Zuhilfenahme des Lötrohres am Rande ab, während
sie die Flamme lebhaft gelb färben.
Dieses Verhalten deutet auf Jadeit, und da die Farbe
des Veilchens für das als solches gewöhnlich bezeichnete Gestein
zu dunkel ist und im allgemeinen mehr an Nephrit erinnert,
so dürfte hier die von Damour als ChloroMelanit be-
zeichnete Varietät vorliegen, welche nichts weiter als ein eisen-
reicher Jadeit ist.
Werden Splitter auf Kohle mit Kobaltsolution befeuchtet
und geglüht, so erhält man eine schmntziggranblau gefärbte
Schmelze, offenbar weil der Natrongehalt die für die Thon-
erde charakteristische blaue Färbung nicht Zustandekommen läßt.
Die Zugehörigkeit unsres Veilchens zum Jadeit wird
durch die Untersuchung eines Feinschliffes desselben völlig
Fig. 4. Fig. 5.
bestätigt. Zur Anfertigung desselben wurde an einer Ecke
eine dünne Platte ausgeschnitten und dieselbe dünn geschliffen.
Der Schliff erwies sich als ein Aggregat von Augitindividnen
in regelloser Lage, daher sehr viele Querschnitte vorlagen, die
mit Sicherheit die augitische Spaltbarkeit erkennen ließen. Auch
die große Auslöschnngsschiefe (bis zu 42°) bestätigte die Natur
des Pyroxens. Im übrigen besitzen die Individuen, welche
das äußerst feinkörnige Aggregat zusammensetzen, insoweit
eine recht verschiedene Ausbildnngsweise, als sie einmal in
kompakten, glatten, kaum gefärbten Säulchen, das andre Mal
in faserigen Kristalloiden vorliegen, die in ihrem ganzen Ver-
halten, namentlich durch ihre bunte Polarisation bei großer
Auslöschungsschiefe, an Diallag erinnern. Das Innere der
Individuen ist nicht immer klar, sondern wird häufig durch
ein wenig durchsichtiges Aggregat kleinster Körnchen getrübt,
deren Natur sich nicht weiter ermitteln ließ.
Auffülligerweise enthält der Schliff auch einen Querschnitt,
der sich durch seine Spaltbarkeit als zum Amphibol gehörig
R. v. Lendeilfeld-. Das Südncuseeländifche Tafelland.
375
herausstellt. Derselbe bildet jedoch eine vereinzelte Erscheinung;
er ist ganz unregelmäßig begrenzt und wird von allen Seiten
von Augitsäulchen umgeben, die in ihn hineinragen und zu
dessen zackigen Umrissen Veranlassung geben.
Dann liegen inmitten des Pyroxens mehrere scharf be-
grenzte, keilförmige, völlig farblose Durchschnitte eines leb-
haft polarisierenden Minerals. Es weist grobe, unregel-
mäßige Spalttracen auf, etwa nach Art des Titanits oder
des Epidots, und hat eine rauhe Schlifffläche. Die Natur
dieses Gemengtheiles muß vorläufig unentschieden bleiben.
Die dunkeln, schwärzlichgrnnen Flecken unsres Veilchens
werden offenbar durch ein Zersetzungsprodnkt hervorgebracht,
welches auch der Dünnschliff vereinzelt aufweist. Es ist
dort fast opak, von körniger Beschaffenheit und an den
etwas durchsichtigeren Stellen von einer graugelben Farbe.
Es könnten diese Flecken von umgewandeltem Titaneisen
herrühren.
Ich habe das mikroskopische Verhalten dieses Jadeits
möglichst genau beschrieben, in der Hoffnung, daß diejenigen
Forscher, welche sich mit der Untersuchung von Schliffen des
nämlichen Gesteins beschäftigt haben, daraus werden ent-
nehmen können, mit welchen andern Vorkommnissen des rohen
oder bearbeiteten Materials das nnsrige übereinstimmt.
Die Fundstelle an der Asse wird als Ebersberg in der
Wittmarschen Jnteressentenforst bezeichnet. Der bewaldete
Höhenzng, welcher den nordöstlichen Flügel des Asseluftsattels
bildet und wozu der Ebersberg gehört, ist als Festberg be-
kannt. Der Punkt liegt in der Nähe des Fußweges, der
ans dem Innern der Asse über die steile Muschelkalkhöhe
nach Mönche-Vahlberg führt.
Trotzdem ich kurz nach dem Auffinden des Veilchens den
Abhang von mehreren Arbeitern unter meiner steten Aufsicht
abgraben und untersuchen ließ, wurde kein zweites Stück und
überhaupt kein fremdes Gestein, weder in bearbeitetem noch
rohem Zustande gefunden. Es stimmt dieses isolirte Auf-
treten überein mit dem Vorkommen ganz analoger prähisto-
rischer Nephrit- oder Jadeitgegenstände in der Provinz
Hannover, wie mir Herr Amtsrat Dr. Struckmann in Hannover
vor kurzem mitteilte.
Außer dem oben beschriebenen Veilchen liegt aus dem
Herzogtum Brannschweig, soviel mir aus Litteratur und
Sammlungen bekannt, nur noch ein einziger aus Jadeit oder
Nephrit bestehender prähistorischer Gegenstand vor. Derselbe
ist im Jahre 1869 dicht vor der Stadt Brannschweig in
der als Hagenbruch bekannten sumpfigen Niederung hinter
dem früheren Kurgarten gefunden worden. Das in den
Fig. 4 und 5 in vorderer und seitlicher Ansicht zur Hälfte
natürlicher Größe dargestellte Veilchen ist 10 cm lang und
etwas über 5 cm breit, stimmt daher in den Abmessungen
sowohl wie in der Form mit dem an der Asse gefundenen
überein. Es ist jedoch letzteres nur ein größeres Bruchstück,
während das ältere Veilchen vollständig vorliegt. Dieses
wurde von H. Fischer in Freiburg in einer „Übersicht
über die in öffentlichen und Privatmnseen Deutsch-
lands, Österreichs, der Schweiz und Oberitaliens
vorfindlichen größeren Beile aus Nephrit, Jadeit
und ChloroMelanit" Z bereits im Jahre 1880 als
Jadeitbeilchen kurz erwähnt und ist ans diesen im städtischen
Museum zu Brannschweig liegenden Gegenstand neuerdings
in den Braunschweigischen Anzeigen 9h:. 72 wieder hinge-
wiesen worden 2). Nach einer oberflächlichen Prüfung, welche
ich vornehmen konnte, liegt auch hier in der That Jadeit
vor, wie es von Fischer bestimmt wurde, nur rührt das
Rohmaterial allem Anschein nach nicht von der nämlichen
Fundstelle her. Dasselbe ist bedeutend Heller und grobspatiger
als der Jadeit von der Asse.
Von sonstigen, aus Jadeit oder Nephrit bestehenden, ans
braunschweigischem Territorium gefundenen prähistorischen
Gegenständen ist mir nichts bekannt geworden.
1) H. Fischer, Mineralogisch-archäologische Beobachtungen I.
Fm Korrespondenzblatt der deutschen Ge>elljchaft für Anthropo-
logie, Ethnologie und Urgeschichte für 1880, S. 10.
2) Das Material dieses Beilchens wurde ursprünglich für
Grünstein gehalten, und so ist dasselbe z. B. von A. Nehring
in seinen „Vorgeschichilichcn Steiniiistrunienten 3lorddeutjch-
lands", herausgegeben von dein Wolfenbüttlcr Ortsverein für
Geschichte und Altertumskunde, 1874, S. 25, als Keil oder Axt
von Hellem, rötlich geflecktem Grünstein aufgeführt worden.
Das Güdneufeeländifche Tafelland.
Don R. v. Lendenfeld.
II.
Das Klima ist im Süden der Südinsel von Neuseeland
ein kühl gemäßigtes. Der Winter ist milde und Schnee
bleibt in den Küstenstrichen nur ausnahmsweise liegen. Der
Sommer ist kühl: Mais und Wein gedeihen hier nicht mehr,
die gewöhnliche Feldfrucht ist der Weizen und der weitaus
überwiegende Teil der südöstlichen Ebenen ist Weideland.
Da das neuseeländische Alpengebirge mauergleich dem
Meere entragt und senkrecht zur Richtung des regenbrin-
genden Antipassatwindes verläuft, so ist der schmale Nord-
westabhang des Gebirges viel regen- und schneereicher wie
der Südostabhang. Während der erstcrc mit dichtem, immer
grünem Urwald bekleidet ist, erscheint der letztere völlig
baumlos. Die Regenmenge ist an der Nordwestküste drei-
mal so groß wie an der Südostküste.
Trotzdem, daß der Nordwcstabhang des Gebirges der
Sonenbestrahlung viel mehr ausgesetzt ist als der Südost-
abhang, so reicht doch die Grenze des ewigen Schnees dort
bis zu 1700 m über dem Meere herab, während die Schnee-
grenze am Südostabhang durchschnittlich 2000 m über dem
Meere liegt. Dies ist darauf zurückzuführen, daß der Schnee-
fall am Nordwestabhang viel bedeutender ist als am Süd-
ostabhang.
Die Mittcltemperatur Neuseelands in der Breite des
Mount Eook beträgt an den Küsten ungefähr + 10°.
Wegen der Isoliertheit nnd Schmalheit des Gebirges ist die
Tcmperatnrabnahme mit zunehmender Höhe eine besonders
rasche. Einen noch größern Einfluß wie dieses übt die
Gleichmäßigkeit des Klimas auf die Gletscherentwicklung in
Neuseeland ans. Diese Gleichmäßigkeit wird durch die völlig
ozeanische Lage Neuseelands bedingt. Sie ist die Ursache, daß,
obwohl die jährliche Mitteltemperatur in den Alpen Europas
nnd Neuseelands ziemlich die gleiche ist, die Minima und
die Maxiina in den ersteren viel weiter voneinander entfernt
sind als in den letzteren. Demnach ist trotz der annähern-
den Gleichheit der Mittcltemperatur die Gesamtsumme der
Temperatur über Null in den europäischen Alpen viel größer
als in den neuseeländischen. Diese allein ist es aber, welche
die Gletscher beeinflußt. Ist die Temperatur nur unter
Null, so ist es für die Gletscher-entwicklung fast gleichgültig,
wie niedrig sie ist. Ist die Winterkülte groß, so muß, falls
Franz-Joseph-Gletscher (Neuseeland). Nach Photographie.
Bruno Stehle: Volksglauben, Sitten und Gebräuche in Lothringen.
die Mittcltemperatur gleich bleiben soll, die Sonnenwärme
entsprechend groß sein, nnd diese wirkt lebhaft auf die Glet-
scher ein. Bei gleichbleibender, jährlicher Mitteltemperatur
werden also die Schneegrenze und die Gletscherenden um so
tiefer zu liegen kommen, je gleichmäßiger das Klima ist,
und wir werden leicht verstehen, wieso in dem gleichmäßigen
ozeanischen Klima Neuseelands die Schneegrenze am Westab-
hang bei 1700 ui und am Ostabhang bei 2000 in angetroffen
wird, während sie in den europäischen, in höherer Breite
liegenden Alpen, in einer Seehöhe von 2700 bis 2800 ru
liegt, und wieso die Gletscher an der Westseite der Neusee-
ländischen Alpcnkette bis zu 215 iu, und an der Ostseite
bis zu 730 in über dem Meere herabgehen, während die
europäischen Gletscher größtenteils zwischen 1300 und
1500 in über dem Meere enden.
Vergleicht man die neuseeländischen mit den europäischen
Gletschern, so findet man, daß sie nicht nur viel tiefer herab-
stcigen als diese, sondern sich auch dadurch vor ihnen aus-
zeichnen, daß ihre Eisstromfläche relativ viel größer, ihre
Firnslttche aber relativ viel kleiner ist. Während z. B. beim
Aletschgletscher die Eisstromfläche zur Firnfläche sich wie
30:100 verhält, ist das Verhältnis zwischen Eisstrom- und
Firnfläche bei dein größten neuseeländischen Eisstrom, dem
28 !<m langen Tasmangletscher, 116:100. Auch dieser
höchst auffallende Unterschied beruht auf dem Unterschied
377
zwischen dem ozeanischen Klima Neuseelands und dem viel
trockneren und ungleichmäßigcrn Klima der Alpen Europas.
Der hier abgebildete Franz-Josephs-Gletscher ist einer
von den Gletschern der Westabdachung der Neuseeländischen
Alpcnkette, welcher fast bis 200 m über dem Meere herabreicht.
Einstens war Neuseeland viel stärker vergletschert als
gegenwärtig. Zn jener Zeit — der Neuseeländischen Eis-
zeit — bedeckte, wie dies heute noch in Grönland zu beob-
achten ist, eine kontinuierliche Eisdecke das ganze südliche
Tafelland. Die westlichen Eisströme erreichten allenthalben
das Meer und höhlten jene Fjorde ans, welche jetzt die
Westküste zieren. Vom Zentralstock der neuseeländischen
Alpen reichten mächtige Eisströme weit hinab nach Osten
und bedeckten die östlichen Ebenen. Diese östlichen Gletscher
scheinen das Meer jedoch nicht erreicht zu haben.
Aus die Skulptur des Terrains übte diese gewaltige
Vergletscherung einen sehr bedeutenden Einfluß aus und noch
heute findet man allenthalben auf dem südnenseclündischcn
Tafellande die Spuren jener einstigen, großartigen Ver-
gletscherung.
Obgleich sich nun Neuseeland heute — wenn wir es
mit den europäischen Alpen vergleichen — in einer beträcht-
lichen „Eiszeit" befindet, so war cs doch einstens noch viel
stärker vergletschert, ebenso stark, oder stärker vielleicht wie
Europa zur Eiszeit, oder wie es Grönland heute ist.
Volksglauben, Sitten und Gebräuche in Lothringen.
Von Bruno Stehle in (Lolmar.
Wodan. Wilder Jäger. Mittwoch. Feuerrädcr. Die Zwölften.
Bohnenkönig. Fastnacht. Zwerge. Kobolde.
So lange unsre Ncichslande unter französischer Herrschaft
standen, war das Studium des Volkstümlichen, der uralten
Sitten und Gebräuche der Bevölkerung nicht sonderlich geachtet.
Es ist dies auch ganz natürlich. Wie sollte ein fremdes
Volk Sinn und Verstand für diese haben! Das Fremdartige
an sich stieß schon ab, und wagten sich doch einzelne auf
dieses Gebiet, so war ihre Arbeit nur von kurzer Dauer.
Mit jedem Spatenstich, den sie machten, stießen sie gegen
Willen und Erwarten auf so nrdcutschcs Wesen, so ur-
deutsche Eigenart, daß sie bald von dieser Arbeit abstanden.
Nur Stöber in Mülhausen hat mit seinen Freunden in
seiner Alsatia dieses Feld bebaut. Doch das waren eben
deutsche Männer. Jetzt ist es anders geworden. Das
Volkstum im Elsaß wurde nach mancher Seite hin Gegen-
stand gelehrter Forschung. Hinsichtlich Lothringens ist
weniger geschehen, obgleich mir die Quellen noch reichlicher
zu fließen scheinen, als es im Elsaß der Fall ist.. So ver-
suchen wir hier ein zusammenhängendes Bild von Volks-
glauben, Sitten und Gebräuchen — freilich nur in großen
Zügen — zu geben und nehmen dabei auch Rücksicht auf
unsre germanische Götterlehre, inwieweit ihr Einfluß sich
noch im Volksglauben und Volksleben des lothringischen
Landes nachweisen läßt.
An der Spitze der deutschen Götterwelt steht der
Wolken- und Lnftgott Wodan. Mit den in den Schlachten
gefallenen Helden und Schlachtenjnngfrancn durchbraust er
als Herr des Sturmes die ächzenden Wälder und jagt in
den fürchterlichen Stnrmcsnächtcn am Himmel einher. Da-
durch wurde er überhaupt zum Himmelsgott, der über Sonne
und Sterne waltet. Und auch iu dieser Bedeutung wurde
seine Macht erweitert, er wurde zur alles durchdringenden,
belebenden, Fruchtbarkeit imb Segen verleihenden Kraft.
Globus LIX. Nr. 24.
Weihnacht. Frau Holle. Donnar. Donnerstag.. Helle. Johannisfest.
Hexen. — Verlobung, Hochzeit, Krankheit, Beerdigung.
Von allen diesen Attributen finden sich noch Reste im
Volksglauben Lothringens. Der wichtigste Überrest der
Wodansmythe ist der durch ganz Deutschland und auch
durch Lothringen gehende Glaube an den wilden Jäger, der
in dem Toben der Stürme wohl ohne Zweifel seinen Ur-
sprung hat. Da Sturm und Ungewitter Unglück bringen,
so ist der Tag des Wodan oder Wodanstag oder Mittwoch,
der im Englischen noch heute Wcdnesday heißt, ein Unglücks-
tag, wie mir dieses ans vielen Orten Lothringens gemeldet
wurde. In Obergailbach bei Saargemünd läßt man, um
nur ein Beispiel anzuführen, bis auf den heutigen Tag
niemals neugekaufte Ferkel mit den andern an einem Mitt-
woch zum erstenmal auf die Weide gehen.
Die alten Deutschen sahen die Sonne als ein Feuerrad
an und das Rad ist deshalb das Symbol des Wodan, des
Gottes der Sonne. Daher auch die wichtige Bedeutung
des Rades im Aberglauben. Wir nannten Wodan den
Gott des Segens und der Fruchtbarkeit. Auch als solcher
wird er noch heute mit seinem Rade in Lothringen verehrt.
In Niedcr-Kontz läßt man an Johanni ein brennendes oder-
feuriges Rad den Berg hinnntcrrollen; kommt dasselbe bis
an die Mosel, die am Berg vorbeifließt, so folgt Segen, es
giebt ein gutes Weinjahr, Wodan ist gnädig; bleibt es aber
auf halbem Wege stecken, so hat man wenig Hoffnung auf
einen guten Herbst.
Unsre Vorfahren hatten drei große Opferfeste oder Opfer-
zeiten: im Winter, tut Frühling und im Hochsommer. An
diesen Tagen trieb man vor allem Zauberei, man suchte das
ferne Schicksal, die Zukunft zu erraten. Zur Zeit der
Wintersonnenwende, die dem Wodan geheiligt war, Jnlfest
genannt, wurden große Opferfeste gefeiert und dabei vor
allem in das Dunkel der Zukunft einzudringen versucht.
48
376
Bruno Stehle: Volksglauben, Sitten und Gebräuche in Lothringen.
Auch davon ist ein gutes Stück geblieben. Die Zeit der
Zwölfnächte von Weihnachten bis Dreikönig ist eine Haupt-
zeit des Aberglaubens, in der ja überall Zauberei getrieben
wird. Durch ganz Lothringen sucht man mittelst zwölf
Zwiebelfchalen die Witterung der kommenden zwölf Monate
zu erraten. Man füllt die zwölf Zwiebelschalen mit Salz
an; diejenigen, in denen das Salz trocken bleibt, lassen auf
trockene Monate, diejenigen, in welchen das Salz feucht
wird, auf nasse Monate schließen.
In Givryconrt schneidet man in der Weihnacht zwischen
11 und 12 Uhr eine Haselnußgerte, mit der man jeden
durchprügeln kann, ohne daß man erkannt wird. Diese
Rute muß ein Jahr alt sein und in drei Schnitten abge-
schnitten werden.
Wer in dieser Zauberzeit nach einem Glauben von
Pfalzburg in der Weihnachtsmette in oder durch ein Osterei
schaut, kann die Hexen sehen, freilich muß man sich vor deren
Rache hüten.
Mit den alten, zu Ehren des Wodan gefeierten Opfer-
sesten waren feierliche Opfcrschmäuse verbunden, deren be-
stimmte Speisen sich bis aus den heutigen Tag überall er-
halten haben. In Lasccmborn, Kreis Saarburg, versammeln
sich an Sylvester die jungen Leute und schmücken einen
Tannenbaum mit Papier und Blumen, der nachher den
Dorfbrnnnen ziert. Dabei wird getanzt bis Mitternacht.
Zn dem Tanze gehört auch ein Schmaus — das ist der
alte Opferschmaus — es sind die Kuchen, welche die Haus-
mütter zur Verherrlichung des Festes backen müssen.
In dieser wunderbaren Wodanszeit kann das Vieh im
Stalle der Mittelbronner (bei Pfalzburg) sprechen. Ein
Mann ans Mittelbronn wollte einstens das Gespräch be-
lauschen und legte sich deshalb unter die Krippe, wurde
aber am andern Morgen tot hervorgezogen. Wenn man
dem Vieh während der Wcihnachtsmette zu fressen giebt,
oder wenn in derselben Zeit die Kinder in Banmbieders-
dorf mit Äpfeln, Nüssen, Zuckerwerk beschenkt werden, so
ist gewiß auch darin eine Vcrchristlichnng uraltgermanischer
Sitte zu erkennen. Dasselbe sehe ich in einem alten
Liede ans Lascemborn, das die Dienstmädchen, die an Syl-
vester ehedem ihr Bündel schnürten, sangen und dabei nach
Hause zogen:
Dans le bon vieux temps un jupon durait cent ans
Dans le bon vieux temps les gens remplis d’adresse
Étonnaient par leur sagesse
Des pâtés et les brioches croissaient dans les champs.
Die gute, alte Zeit, in der Pasteten und Butterstollcn an
Sylvester ans dem Felde wuchsen, liegt weit hinter uns, es
ist die Jnlzeit, die Opferzeit des Wodan.
Sogar die Form der Opferbrotc, die Bretzeln, gehen
auf Wodan zurück, cs sind seine Räder.
Die Gebräuche des Weihnachtsscstcs sind auch deshalb
interessant, weil sich der alte Wodanskult mit dem der Frau
Holle oder Holda begegnet. So erscheint beispielshalber in
Banmbiedersdorf das Christkind folgendermaßen:
Vor der Mitternachtsmette kommen die Bekannten in
den Häusern zusammen lind unterhalten sich mit mancherlei
Spielen. Das Christkind kommt nur zu den Kindern unter
10 Jahren. Macht sich dasselbe durch Schellen oder da-
durch, daß es Äpfel, Nüsse, Znckcrwerk in das Zimmer wirft,
bemerkbar, so knieen die Kinder nieder und beten. Die
Mutter verläßt das Zimmer allein, um dem Esel des Christ-
kinds Futter zu bringen. Sie warnt aber die Kinder ernst-
lich, ja nicht zur Thüre hinanszuschauen, weil sie das Christ-
kind sonst mit feuriger Hand ins Gesicht schlüge. Darauf
erscheint das Christkind selbst im Zimmer in Gestalt eines
weißgekleideten Mädchens. Von den braven Kindern erhält
jedes ein kleines Christbänmchen von 20 bis 40 cm Höhe,
das mit Zuckersachen und 9küssen geziert ist.
In dem angeführten Falle deutet der Esel, auf welchem
das Christkind reitet, auf das Pferd, den Schimmel Wodans,
zumal in andern deutschen Landen das Christkind auf einem
Schimmel reitend gedacht wird. Das weißgekleidete Mädchen
aber ist Frau Hulda oder Bertha, wie es noch heute in
Tirol, wo der Vorgang sich ähnlich abspielt, genannt wird.
Wenn vorher gesagt wurde, daß in Lasccmborn der
Brunnen in der Neujahrsnacht geschmückt wurde, so führt
das auf die alte Sitte der Germanen zurück, an den Usern
der Flüsse, an Quellen und Brunnen ihre Gottheiten zu
verehren. Wasser, das in diesen heiligen Opferzeiten ge-
schöpft wurde, hatte eine ganz besondere Kraft. In Baum-
biedcrsdors, Kreis Bolchen, erhält derjenige, welcher Neujahr
nach Mitternacht das erste Wasser holt, heilkräftiges Wasser,
das beste für das ganze Jahr.
In nächster Beziehung zu Wodan, aber viel derber und
ungeschlachter steht Donnar, der Donnergott, der über Wolken
und Regen, Berge und Felsen gebietet, der durch Donner
und Blitz im Gewitter den schwachen Sterblichen seine
Macht zeigt. Sein Tag ist der Donnerstag, ein Glück
bringender Tag. Läßt man Eier, die anl grünen Donners-
tag gelegt sind, ansbrüten, so giebt es buntfarbige Hühner,
die jedes Jahr ihr Federkleid in den Farben wechseln. Das
glaubt man durch ganz Lothringen. Unter den Pflanzen
gehört die Erbse dem Donnar und deutet unzweifelhaft auf
den Hagel, den der Donnergott vom Himmel sendet. Aus-
drücklich wird demjenigen, welcher in Obergailbach bei Saar-
gemünd eine gute Ernte an Erbsen machen will, geraten,
daß er sic am grünen Donnerstag säe. Durch ganz Loth-
ringen geht auch die Sitte, an diesem Tage das Mittagessen
aus neunerlei grünen Gemüsen zusammenzusetzen.
Die Todesgöttin der alten Deutschen ist Helle oder Hel,
ihre Wohnung ist die schwarze Unterwelt und sic selbst wird
ganz schwarz gedacht. Ein Hund ist ihr Begleiter, der in-
folge reichlicher Nahrung bei Seuchen besonders fett wird.
Auch von diesem Glauben hat sich ein Nest erhalten. Heult
ein Hund ans der Straße, so stirbt bald jemand in der
Nachbarschaft nach Ansicht der Bewohner von Mittelbronn;
bellt ein Hund in der Gemeinde Lascemborn und hebt er
dabei den Kopf in die Höhe, so entsteht ein weiteres Un-
glück: eine Feuersbrunst sucht die Gemeinde heim.
Unser heutiges Johannisfcst am 24. Juni ist das uralte
Fest der Sommersonnenwende, deren hohe Bedeutung bei den
alten Germanen wir aus den zahlreichen Predigten sehen,
in welchen die Bekehrer Deutschlands dagegen eifern. Da
das Sonnensolstitium nach damaliger Annahme auf den
24. Juni fiel, so wurde dieser Tag von der Kirche zur
Feier der Geburt des heiligen Johannes bestimmt, welche
nach dem Evangelium der Geburt des Herrn um sechs
Monate vorausging. Wie die Gebräuche des heidnischen
Julfestes vielfach auf das christliche Weihnachtsfcst über-
gingen, so fand auch das Sonnenwendfcst in den christlichen
Vorstellungen passende Anhaltspunkte, und auch dieser heid-
nischen Feier wurde christliche Deutung untergelegt.
Johannes der Täufer gilt ja als „Leuchte der Mensch-
heit", und so werden später zn seinen Ehren die altheid-
nischen Feuer abgebrannt. In der Nähe von Dicdcnhofcn,
bei Ober-Jentz, wird das Johannisfcst folgendermaßen ge-
feiert: Oberhalb des Dorfes, auf einer kleinen Anhöhe, wird
Stroh, alte Körbe, Holz ans einen Hausen zusammengetragen.
Sobald es anfängt dunkel zu werden, versammelt sich die
männliche Dorfjugcnd daselbst. Unter Jauchzen inib Singen
wird der Hansen angezündet, und sobald er ganz im Brennen
ist, wird jedem Burschen ein „Frcicsch" oder Schatz zuge-
sprochen. Ist das Feuer ans, so ziehen die jungen Burschen
379
Bruno Stehle: Volksglauben, Sitten und Gebräuche in Lothringen.
ins Dorf, um die eben erhaltenen Freiesch zu begrüßen. In
Viellingen bei Saaralben sammeln an diesem Tage die
Wunderdoktoren zwischen 11 und 12 Uhr Mittags ihren
Bedarf an Heilkräutern. Auch wird an diesem Feste das
Nußwasser angesetzt. Die Nüsse müssen Schlag 12 Uhr
Mittags gepflückt werden. Dann ist daS Wasser ein lint'
versalmittel gegen alle Krankheiten, also auch bei dieser
Festzeit, wie beim Julfest, scheint Zauberei getrieben worden
zu sein.
Andre Sitten und Gebräuche schließen sich an die kirch-
lichen Feste an. Am Dreikönigstag wirft man z. B. in
Angny, Kreis Metz, das Loos, um zu entscheiden, wer für
das kommende Jahr in der Familie König sei. So viele
Nüsse, Bohnen oder Erbsen, von denen eine weiß oder auch
schwarz ist, werden in einen Sack geworfen, als die Familie
Mitglieder zählt. In Banmbiedcrsdors wird außerdem
eine für Maria und eine für St. Joseph hineingelegt. Der-
jenige, welcher die besonders gefärbte Bohne zieht, ist König
für das Jahr, und man trinkt ans die Gesundheit des Königs
unter dem Ausruf: Vivo lo roi! In den meisten Gegen-
den Lothringens wird an diesem Tage eine Bohne in einen
Kuchen gebacken; wer das Stück tnit der Bohne erhält, ist
König für das kommende Jahr.
Unter den Fastnachtsgebränchcn erwähne ich vor allem
das „Küche machen" oder „Küche stellen". In Herrchwciler,
Banmbiedcrsdors schleichen sich die jungen Burschen am
„selten" Donnerstag, d. i. am Donnerstag vor Fastnacht,
in die Küche der Geliebten und suchen durch Berstecken, Ver-
bergen, Umstellen der Gerätschaften die größte Unordnung
hervorzubringen.
In Bibisch, Kreis Bolchen, werden an demselben Donners-
tag die ledigen Burschen und Mädchen von zwei gegenüber-
liegenden Hügeln aus paarweise ausgerufen und so mitein-
ander verlobt. In Tcntlingen holen die Junggesellen in
den einzelnen Häusern Geschenke an Eiern, Speck, Schinken,
Butter nub Kartoffeln. Ist die Runde gemacht, so geht
es ztlr Wirtschaft, tun daraus einen Schmaus bereiten zu
lassen. In Ober-Jentz gehen die jungen Burschen verkleidet
an diesem Tage im Dorf umher und holen bei ihren Lieb-
sten ein Backwerk, „Grebelchcr" genannt, wofür der Bursche
seinem Freiesch am Bretzelnsonntag Bretzeln kauft.
Ist die Fastnacht vorüber, so wird sie begraben. In
Laseemborn trugen ehedem die jungen Leute Dünger ans
einer Tragbahre im Dorfe herum.
Bei diesen Fastnachtsgebränchcn spielen Essen und
Trinken eine Hauptrolle. Diese Schmausereien sind wohl
auch ein Überbleibsel, eine Erinnerung an ein altheidnisches
Fest, an welchem eine Vorfeier des Frühlings stattfand.
Die genannten Grebelchcr, anderswo „Krüppel" genannt,
vertreten heute wohl die Stelle alter Opferkuchen.
Wie überall, ist auch in Lothringen die Fastenzeit und
die Charwochc reich an alten Gebräuchen. Wer in Mittel-
bronn in der Fastenzeit viel fastet, findet im Frühjahr viele
Vogelnester oder — was jedenfalls viel einträglicher ist —
cine reiche Frau. In Laseemborn giebt ntan am Char-
frcitag den Hühnern Fleisch zu fressen ttttb wirft dasselbe
dabei an die Mauer des Hauses. Fressen die Hühner das
Fleisch, sind sie für immer vor dem Habicht gesichert. Lauge
auszuschütten, ist am Charfrcitag in Obergailbach bei Saar-
getnünd streng verboten, sonst ist das Hans verflucht.
Regen am Charfrcitag bedeutet in Bnschdorf, Kreis For-
bach, Segen für das ganze Jahr. Regnet cs dagegen an
diesem Tage in Mittelbraun, so regnet es das ganze Jahr
hindurch. Kocht man in Alberschweilcr atn Charfrcitag
neunerlei Gemüse und ißt davon, so bekommt man in dem
Jahre das „Frieren" nicht.
Eine große Rolle spielen im Glauben des lothringischen
Volkes jene niedrigstehenden, aber immerhin noch über-
menschlichen Wesen, wie Zwerge, Kobolde und Hexen. Das
„Erdmännchen" ist ein solches kleines Wesen, das von den
Wöchnerinnen in Heinrichsdorf bei Psalzbnrg ganz besonders
gefürchtet wird. Daselbst muß in dem Zimmer, in welchem
ein neugeborenes Kind schläft, nachts immer eine Lampe
brennen, bis das Kind getauft ist. Wird es nämlich in
dem Zimmer dunkel, so kommt das Erdmännlein und sangt
dem Kinde an den Brustwarzen das Blut aus; davon
werden die Brustwarzen sehr dick. Um das Erdmännlein
abzuhalten, wird an die Stubcnthür ein Bierschild, die be-
kannten ineinander liegenden Dreiecke, gezeichnet. Gewöhn-
lich weiß nur die Hebamme, an welcher Stelle man beim
Zeichnen dieses Bierschildcs anfangen muß, und thut es
deshalb meistens selbst.
Auch in Dannelburg glauben die Leute an das Erd-
männchen oder „Doggele", das znm Schlüsselloch herein-
kommt, den Kindern die Brüste aussaugt und sich auch an
große Leute wagt. Man glaubt auch, daß das Doggele
während der Nacht den Pferden Zöpfe flicht.
In Alstingcn, Kreis Forbach, nennt man die Erdmünn-
chen auch „Drückermännchen". Diese sind böse Personen,
welche den schlafenden Leuten, denen sie feindlich gesinnt
sind, des Nachts in die Häuser dringen, durch die Schlüssel-
löcher kriechen, sich ans die Brust der Schlafenden stürzen,
diese festhalten, so daß sie sich nicht rühren, ihnen die Kehle
zudrücken, daß sie nicht schreien können. Dies geschieht des
Nachts von 12 Uhr an; vor dieser Zeit haben sie keine
Getvalt. Sobald aber die Morgenglocke tont, müssen sie
so schnell als möglich heim auf demselben Weg, ans dem
sie gekommen sind, einen andern Weg können sie nicht ein-
schlagcn. Um sich der Gewalt der Erdmännchen ;tt ent-
ziehen , muß man ein Stückchen Wachs der Osterkerze sich
anhängen lassen, oder man stelle des Abends, wenn man
schlafen geht, die Schuhe so, daß der Schuh, den man links
am Tage trug, rechts ttnb umgekehrt unter dem Bette steht,
oder man lege die Arme krenzweis auf die Brust; nie darf
man aber auf dem Rücken liegen.
Dieses Erdmännchen wagt sich auch an die Tiere, be-
sonders die Pferde; manchmal wurden des Nachts mehrere
mit einem Halsband zusammcngebnnden, daß sic sich nicht
mehr rühren konnten. Schneidet man das Lederhalsband
entzwei, so schneidet inan auch jedesmal das Pferd in den
Hals; ist das Band eine Kette, geht meistens ein Pferd
dabei verloren. Ja, manchtnal stecken die Erdmännchen
sogar den Fuß des Pferdes in das Halsband.
Es giebt aber auch gute „Erdmännchen", wie zu Möh-
ringen, Kreis Bolchen. Dasselbe hält sich hier im Stalle
auf, ist nur so groß wie eine Hand und hat ein rotes
Mützchen auf dem Kopfe. Es soll die Mähne des Pferdes
znsatnmenknüpfen und sich darauf schaukeln. Sein Auf-
enthalt im Stalle soll den Pferden zu statten kommen.
Tritt man in den Stall, so klettert es behende an den
Leitern in den Heuschober hinauf. Manche Bauern lassen
aus Ehrfurcht vor dem Erdmännchen die Flechten in der
Pferdemähne nicht auflösen.
Die große Angst vor Hexen erinnert an jene altgerma-
nischen Zeiten, in welchen einzelne Frauen mit besonderer
Kraft und Zauberei ausgerüstet waren. Der Hexenglaube
ist in Lothringen noch ganz allgemein. Daher die stete
Sorge und die daraus entspringende Vorsicht, nicht verhext
zu werden. Dagegen hilft stets das Kreuzzeichcn, oder ein
bischen Salz, das man ans die Milch streut, ehe man sie
genießt. Vermutet man eine Hexe im Hause, so braucht
man nur einen Besen umgekehrt hinter die Hauthüre zu
stellen — und die Betreffende kann nicht hinaus, ehe der
Besen weggenommen ist. In Armsdorf, Kreis Bolchen,
48*
380
Bruno Stehle: Volksglauben, Si
sind Hexen leicht zu erkennen, wenn man sich mit einem
Abwischtuch in der Christmette hinter die Kirchenthür stellt.
Hat die Wandlung begonnen, so dreht nämlich alles, was
nur Hexe ist, den Kops nach der Thür, um den zu sehen,
der sie erkennen will. Der Neugierige muß sich aber dann
eiligst aus dem Staube machen, wenn er seinen Vorwitz nicht
strenge büßen will. In Geblinzen, Kreis Forbach, nimmt
man in der Christnacht ein Ei in die Kirche, stellt sich
während der Wandlung ans einen Schemel und hält das
Ei in die Höhe. Dann erkennt man die Hexen, denn alle
haben rote Käppchen ans.
Die Macht der Hexen ist groß. Man glaubt beispiels- „
halber in Ober - Jentz bei Diedenhofen, daß sie durch Be-
rühren oder durch Verfluchen der Kühe bewirken können,
daß diese rote Milch geben oder gar krepieren. Verflucht
ein solcher Mensch beim Betreten der Schwelle seines
Feindes das Hans, dann ist cs mit dem Glück vorbei, dcni
Eigentümer gelingt tetu Unternehmen mehr, sein ganzer
Wohlstand muß schwinden. Aber auch außerhalb des
Hauses haben die Hexen große Macht. Nach dem Läuten
der Nachtglocke darf keine Milch über die Straße aus dem
Hanse gegeben werden, sonst wird die Kuh verhext. In
Baumbiedersdorf werden von abergläubischen Leuten die
Wachsknöpfe an der Osterkerze gestohlen, um sich damit vor
Geistern und Hexen zu schützen. Niemals soll man während
der Nacht nach Katzen werfen, denn es gibt Hexen, die sich
in diese Tiere verwandeln. In Dannelburg wird man schon
verhext, wenn man nur Wasser nach dem Läuten der Nacht-
glocke holt.
Ein solch allgemein herrschender Aberglaube kann natür-
lich die bedenklichsten Folgen für den einzelnen, für Familien,
für ganze Gemeinden haben. Stellen wir nur das eine
uns vor Augen: der Rückgang des materiellen Wohles wird
bei so tief eingewurzeltem Hexenglauben stets in den geister-
haften, übermächtigen Wesen, nicht aber in der eigentlichen
Mißwirtschaft, Faulheit und Dummheit gesucht.
Doch lassen wir diese Schattenseiten im Volksleben!
Fröhlich und freudig, manchmal ausgelassen erscheint alles,
was sich auf Verlobung und Hochzeit bezieht.
In vielen Orten Lothringens wird die snnge Braut
recht sinnig mit einer aus dein Garten entwendeten Blume
verglichen, die der Dieb oder Bräutigam nachträglich er-
kaufen muß. Befindet sich der Bräutigam z. B. in Obcr-
Jentz im elterlichen Hanse der Braut, so kommen seine Be-
kannten auch dahin und sprechen zu dem, welcher die Thüre
öffnet, folgendermaßen: „Aus unserm Garten ist uns eine
Blume entwendet worden, beinahe die schönste von allen,
wir glauben dieselbe in diesem Hause zu finden." (Aus
eisern Gart ass eis eng Blum geholl gin, beinoh de
scheunscht vun en all; mär werden se gewess an
disem Haus sannen.) Darauf läßt mau die jungen Leute
mit dein Bescheid in das Hans ein, selbst nachzusehen, ob
die entwendete Blume sich finde oder nicht. Sobald jene
die verlorene Blume in der Braut wiedergefunden haben,
muß der Bräutigam den Junggesellen die Blume abkaufen,
wenn er sic behalten will. Diese ziehen dann ins nächste
Wirtshaus und trinken für das erhaltene Geld auf das
Wohl des Brautpaares.
Am Hochzeitstage versammeln sich sämtliche Gäste in
dem Hanse der Braut. Hier erteilt der Vater derselben
dem vor ihm kniecnden Brautpaare den Segen, taucht einen
Buchsbaumzweig in Weihwasser und besprengt damit die
Brautleute. Dann erheben sie sich, und der Vater führt
die Tochter zur Kirche. Nach der Trauung geht der
Hochzeitszug — Braut und Bräutigam an der Spitze —
nach dem Hause der Braut, wo der Schmaus gehalten wird.
So in Armsdorf, Kreis Bolchen.
en und Gebräuche in Lothringen.
Treten die Brautleute nach der Trauung aus der
Kirche, so ist cs in Bibisch, Kreis Bolchen, Sitte, daß sie
zum Gedächtnis an ihre Verstorbenen weinen.
Der Hochzeitstag wird nach allen Seiten scharf beob-
achtet, und aits manchen Vorkommnissen Glück oder Unglück
prophezeit. Findet in Lascemborn eine Hochzeit und ein
Begräbnis an demselben Tage statt, so werden die Eheleute
unglücklich. Dasselbe ist der Fall, wenn die Eheleute beim
Weggehen vom Altare ihre Gesichter nicht gegen einander
wenden. Die Hochzeitsschnhe werden von der Braut sorg-
fältig aufbewahrt; denn so lange die Frau diese besitzt,
wird sie vom Manne nicht geschlagen. In diesem Dorfe
fanden wir auch die eigenthümliche Sitte, daß die älteren
Brüder einem jüngeren, wenn er sich vor diesen verheiratet,
eine Ziege bezahlen müssen.
Während des ganzen Hochzeitstages muß der Bräutigam
in Obergailbach, Kreis Saargemünd, ans seine Braut wohl
acht haben, daß sie ihm nicht genommen und in ein andres
Wirtshaus geführt wird. Ist dies trotz aller Vorsicht
geschehen, so muß der Bräutigam sie durch Bezahlung der
ganzen Zeche loskaufen. Auch sucht man der Braut die
Schuhe zn nehmen, welche die Brautführer ersteigern müssen.
Das Geld erhält der Koch.
Die Hochzeit ist vorüber, sie hat zwei, vielleicht drei
Tage gedauert; man glaubt das Glück kaum ermessen zu
können. Doch das Unglück schreitet schnell. Es stellen sich
Krankheiten in der jungen Familie ein, man greift zunächst
zur Sympathie. Die Krankheiten sind nicht Störungen
im Körper, sondern werden fast als Persönliche Wesen be-
trachtet, so behandelt und in Sprüchen geradezu angeredet.
Auch geheimnisvolle Zahlen spielen dabei eine Rolle. So
giebt es 77 Arten von Fiebern. Gegen diese kann man
sich in Lascemborn schon im voraus schützen, indem man
die ersten Hälmchen des hervorsprießenden Getreides ißt.
Viele Krankheiten mit einem bohrenden Schmerz werden
ans Würmer zurückgeführt, die in dem betreffenden Gliede
wühlen. In Pfalzburg können solche Personen den Wurm
heilen, denen man vor der Taufe einen Regenwurm in die
Hand gab. Dieser Regenwurm mußte in der geschlossenen
Hand des Kindes faulen. Nun hat es die Kraft, den Wurm
durch Berührung zu heilen. In Lascemborn kann ein Kind
den Wurm heilen, das im siebenten Jahre einen Maulwurf
erdrückt hat. Auch hier haben wir wieder die heilige Zahl
sieben.
Allein die genannten Mittel gegen Fieber und Wurm
nützen nicht immer, der langsam bohrende Schmerz konnte
nicht geheilt, besprochen werden, — die Krankheit führt zum
Tode.
Dann bellt der schon früher genannte Hund in Mittel-
bronn in der Nachbarschaft des Unglückshauses; oder es
klopft an Thüren und Fenstern; oder es klirrt das Küchen-
gcschirr in der Küche. So in Lascemborn. In Geblinzen
sind die Meisen die Totenvögel, die stets rufen: „Komm
mit, komm mit!" Wenn in Buschdors am Sonntag wäh-
rend des Hochamts eine Kerze auf dcni Altare erlischt, so
stirbt jemand in der nächsten Woche. Zeigt sich in Zittcrs-
dors ein Rabe am Fenster eines Hauses, so stirbt die älteste
Person darin; oder schlägt die Glocke während der Wand-
lung, so stirbt ebenfalls jemand int Dorfe. In Willerwald
betrachtet man vor allem den Körper eines Verstorbenen;
ist derselbe nicht steif, sondern schlaff, wenn er in die „Toten-
ladc" gelegt wird, so stirbt ebenfalls bald jemand. In
Givrycourt wird der Leichnani in die Kirche gebracht, und
zu beiden Seiten des Sarges werden Kerzen angezündet.
Geht eine der Kerzen zufällig auf der Männerseite auS, so
ist der zunächst Sterbende ein Mann, geschieht dies auf der
Frauenseite, so ist es eine Frau.
Neue Forschungen übet b t e Dauer barkeit ber e ii j d) c n t ei j j t n.
381
Hat sich eines dieser Anzeichen erfüllt und ist der Kranke
seinen Leiden erlegen, haben Besprechung und Sympathie
nichts genützt, so versammeln sich z. B. in Hcrrchweilcr,
Kreis Forbach, die Nachbarn im Sterbchause, um die Toten-
wache zu halten. Die Angehörigen des Verstorbenen reichen
Brot, Butter, Käse und geben tüchtig zu trinken. Ist der
Verstorbene ledig, so siechten die Mädchen bunte Kränze zur
Zierde des Sarges und des Grabes; ist es ein Kind, so
wird die Nacht hindurch gespielt.
Soweit es möglich ist, sorgen die Angehörigen dafür,
daß die Beerdigung nicht an einem Freitag stattfindet, weil
dann nach dem Glauben der Bewohner von Niederstinzel
bei Saarburg noch ein Glied der Familie stirbt.
Ist der Verstorbene der Herr des Hauses, so muß man
den Tod der Uhr ansagen, sonst bleibt sie stehen. Ebenso
muß das Unglück dem Essig angekündigt werden, und dies
geschieht, indem man ans Essigfaß klopft und sagt: „Dein
Herr ist gestorben!" Sonst wird der Essig unbrauchbar.
So in Geklingen, Kreis Forbach.
Die interessantesten Gebräuche bei der Beerdigung fand
ich in Armsdorf bei Bolchen. Der Tote wird mit seinen
besten Kleidern angezogen, auch mit Schuhen und Strümpfen
versehen, damit er vollständig gekleidet sei, wenn er wieder
erscheine. Auch legt man einen Stock in den Sarg, als ob
der Tote sich zur Reise rüste. Die Hände werden gefaltet und
ein Rosenkranz und ein Kreuz ans Wachs in dieselben gelegt.
Der Tote darf nicht über die Schwelte, sondern »ins; stets
durch das Fenster aus dem Hanse gebracht werden. Nach
der Beerdigung wird ein großer Schmaus gehalten, bei dem
aber zum Zeichen der Trauer mit den Gläsern nie angestoßen
wird. Beim Nachtisch erheben sich alle und beten das de pro-
fundis; dieses Totenmahl heißt bald Jms, bald Schlamp.
Es gibt sogar Anzeichen, wie es dem Toten im jenseitigen
Leben ergeht — und damit schließen wir unsere Darstellung.
Wenn es in Buschdorf während eines Begräbnisses oder-
unmittelbar nachher regnet, so haben die Leute alle Hoffnung,
daß dem Verstorbenen die Krone der ewigen Glückseligkeit
zu teil wurde.
Neue Lorschungen über die Dauerbarkeit der Menschenrassen.
Die Herkunft der Völker beschäftigt die Anthropologie
seit mehreren Jahren wieder lebhafter als je, dabei hat
die Rassenanatomie in erster Reihe ein Anrecht, gehört zu
werden, denn will man die charakteristischen körperlichen
Merkmale einzelner Völker herausfinden, so wird wohl
nur die Anatomie durch ihre besondere Untcrsuchuugs-
Methode, wie z. B. durch die Schädelmessung, Körper-
messung, Feststellung der Farbe der Augen, der Haare
und der Haut n. dergl. m. eine sichere Grundlage schaffen
können. Linguistik, Mythologie, die Geschichte des Rechts,
der Sitten und Gebräuche, der Waffen herab bis zu den
einfachsten Hausgeräten, sie alle können die wertvollsten
Aufschlüsse geben über geistige Verwandtschaft, über uralte
Beziehungen weit entlegener Länder, über Wanderungen
der Völker, wie der Gedanken, aber Aufschlüsse für oder
gegen Blutverwandtschaft kann nur die Rassenanatomie
liefern. Hier fallen nun besonders jene Beobachtungen in
die Wagschale, die an isolierten Völkertrümmern angestellt
werden, welche weit ab vom Strome der Wanderung seit
langer Zeit ein stilles Leben geführt haben. In dieser Be-
ziehung sind die Angaben über einen griechischen Volksstamm
in Lykien, über die Tachtadschy, bemerkenswert. Luschan
hat in seinem Werke: Reise in Lykien, Wien 1889, darüber
berichtet. Dieser griechische Stamm besteht nicht aus einem
einheitlichen Typus, sondern aus zwei, die nebeneinander
leben und trotz tausendjähriger, ehelicher Mischung dennoch mit
ihren charakteristischen körperlichen Eigenschaften unterscheid-
bar bleiben. Die Angabe widerspricht der zumeist herrschenden
Ansicht, daß jedes Volk einen besonderen einheitlichen Typus
besitze. Allein die eifrigste Nachforschung mit genauen
Methoden konnte bisher nichts derart auffinden. Alle
Völker bestehen wie dieser griechische Stamm aus Trümmern
verschiedener Typen, die sich im Laufe der Jahrtausende
zusammengefunden haben. Einen unumstößlichen Beweis
hat hierfür die große Statistik über die Farbe der Augen,
der Haare und der Haut der Schulkinder geliefert. Sic
hat gezeigt, daß zwei Typen über ganz Europa von Norden
bis zum Süden verbreitet sind: der blonde und der brünette
Typus. Die Deutschen, die Schweizer, die Franzosen, die
Engländer, die Österreicher re. re. sind auf diese Weise zu-
sammengesetzt. Diese beiden Typen sind so ineinander ge-
wandert, daß in jedem Dorfe, ja meist in jeder Familie
beide neben einander vorkommen, wie dies ans den von
Virchow veröffentlichten Karten und Zahlentabellen her-
vorgeht. Dieses Resultat hatte niemand erwartet. Alan
hoffte mindestens kleine Stämme oder Völkcrsplittcr noch
irgendwo zu finden, die nnvermischt aus einem einzigen
Typus bestehen. Aber nirgends ist dies der Fall. Das
beweist deutlich, daß die Völkerrassen anatomisch zusammen-
gesetzte Massen sind, wenn sie auch in der Geschichte unter
dem Bilde einer politischen und sprachlichen Einheit auf-
treten. Dieser an Millionen geführte Nachweis hat noch
immer nicht genügende Beachtung gefunden. Es ist deshalb
sehr wertvoll, daß aus der Ferne das nämliche Resultat
zum Vorschein kommt, wie z. B. bei dem eben erwähnten
griechischen Volksstammc. Von einem andern entlegenen
Gebiete der Erde kommt eine weitere übereinstimmende Be-
obachtung. Franz Boas teilt (Science, April 1891) mit,
seine Mcffungen an Jndianerstämmen Amerikas zeigten
die gleiche Erscheinung wie die Griechen Kleinasiens. Die
Bella Eoola (Bilqula) von Britisch Columbien haben sich
seit langer Zeit ehelich mit Athapasken und Haeltzukcn ver-
mischt. Die Schädelmessnngen zeigen unter ihnen zwei
verschiedene Kopflängen, wobei die Körperhöhen und die
Gesichtsformen mit den Verschiedenheiten des Schädels
übereinstimmen. Die mitgeteilten Zahlen sind so schlagend,
daß jeder Zufall ausgeschlossen ist. Daraus geht also her-
vor, daß auch die Jndianerstämme Columbias nicht einer-
einzigen Rasse angehören, sondern ans zwei verschiedenen
Rassen zusammengesetzt sind, die im Lause der Zeit sich be-
gegneten. Diese haben sich dann vermischt, aber dennoch ist
keine Mischrasse entstanden, sondern die einzelnen Typen
bleiben stets deutlich erkennbar. Boas weist darauf hin,
daß diese übereinstimmenden Beobachtungen aus weit ent-
fernten Gebieten die Ansichten Kolli» an ns von der Un-
zerstörbarkeit der Typen bestätigen. Langgesichter und
Breitgesichter, Langschädel und Kurzschädel von gleicher
Beschaffenheit, wie sie heute unter uns vorkommen, finden
sich schon in den ältesten Niederlassungen nebeneinander. Sie
existieren schon manches Jahrtausend in Europa. Die Schädel
aus den Pfahlbauten, aus den Hünen- und Reihengräbcrn
stimmen mit denen der heutigen Bevölkerung Europas
so vollkommen überein, daß die genaue Vergleichung mehr
und mehr zu der Erkenntnis führt, Völker, Staatcnbildung
382 Die Wärmeverhältnisse des Mittelländisch
und Kultur-entwickelung seien allein veränderlich, entwicke-
lungsfähig, die rassenanatomischen Eigenschaften der Typen
dagegen dauernd, fast ewig zu nennen. Sie Verhalten sich
hierin wie die meisten Pflanzen- und Tierformen, die nur in
unendlichen Zeiträumen und höchst allmählich eine Umände-
rung erfahren. Es ist physisch immer dasselbe Menschen-
material, das entweder geistig stationär bleibt oder aber
politisch rlnd kulturell hohe Stufen erringt, ohne doch dabei
die Farbe seiner Augen, seiner Haare oder seine Schädel-
form irgendwie zu ändern. — o —
Die Wiirmevcrhiiltttisse des Mittelländischen.
Meeres.
Durch die neueren Tiefseeforschungen ist festgestellt wor-
den, das; ine Atlantischen Ozean die Temperatur von 20" an
der Oberfläche bis 2,7" in 2600 m Tiefe sinkt; im Mittel-
meere hingegen nimmt die Temperatur von der Oberfläche
(25" C.) nur bis etwa 51t 200 m Tiefe ab und bleibt sich
voll da bis zur größten Tiefe gleich (13" C.). Dagegen
verhält sich das Mittelmecr bezüglich der Temperatnrabnahme
ähnlich loie bestimmte Süßwasserseen, z. B. der Genfersee.
In beiden trifft man eine obere Wasserschicht, in welcher die
Wärme regelmäßig mit der Tiefe abnimmt und darunter eine
Tiefenschicht von ganz gleichmäßiger Teulperatnr. Aus dieser
Ähnlichkeit schloß Forel, daß das Mittelmecr ititi) die Süß-
wasserseen gleichen Gesetzen unterliegen, welche von Forel
erforscht wurden. Jnbetreff der Süßwasserseeu hat er drei
verschiedene Typen aufgestellt, von denen für den Vergleich
mit dem Mittelmeer nur der tropische Typus in Frage kommt,
bei welchem die Temperatur niemals unter die des Dichtig-
keitsmaximums sinkt, so daß die Schichtung des Wassers eine
nur durch die Wärme bedingte ist, loie sich dieses u. a. beim
Genfersee zeigt.
Beim Mittelmecr findet man das ganze Jahr hindurch
unter 500irr eine gleichmäßige Temperatur von 13"; das
Oberflächenwasser kühlt sich im Winter nicht unter 13" ab
und erwärmt sich im Sommer auf 25". Da das Mittel-
meer durch eine hohe Barre vom Atlantischen Ozean getrennt
ein abgeschlossenes Becken bildet und seine Temperatur nie-
mals unter die des Dichtigkeitsmaximnms sinkt, so finden die
für die Süßwasserseen mit tropischem Typus gültigen Be-
trachtungen auch hier im allgemeinen ihre Anwendung. In-
dessen bildet der Salzgehalt des Mittelmeeres einen wichtigen
Unterschied. Sein Einstuß ans die Schwere des Wassers ist
nach den vorliegenden Messungen an verschiedenen Stellen
und in verschiedenen Tiefen von derselben Größenordnung
wie die Schwereänderungcn, welche durch die in diesem Meere
vorkommenden Temperatur-verschiedenheiten veranlaßt werden,
so daß sie sich neutralisieren können, wenn sie einander ent-
gegenwirken. Der Einfluß dieses Momentes ist leicht er-
sichtlich und veranlaßt in der That ein verschiedenes Ver-
halten von jenem der Süßwasserseen. Letztere schichten sich
thermisch, sowie die Oberfläche erwärmt lvird; das warme
Wasser bleibt, weil leichter, oben. Wenn aber das Wasser-
salzhaltig ist, so wird es beim Erwärmen nicht leichter, son-
dern infolge der Verdunstung konzentrierter, schwerer und
sinkt zu Boden. Ebenso steigert der Salzgehalt bei der Ab-
kühlung durch die Verdunstung die Zunahme des spezifischen
Gewichtes und das abgekühlte Wasser sinkt früher und
tiefer nieder.
Wie in den Seen des Süßwassers ist es auch im Mittel-
meere vorzugsweise die Oberfläche, von der ans die Wärme
während des Sommers die obersten Schichten thermisch lagert
und von der sich im Herbste die Wärme verliert. Hierdurch
wird eine Gleichförmigkeit der Temperaturen herbeigeführt,
indem die obersten Schichten auf die Temperatur der Ticfeu-
en Meeres. — Das kalte Auftriebwasser re.
schichten sich abkühlen. Durch die langsame und lange Fort-
pflanzung der Oberflächenwärme wird die Temperatur der
Tiefenschichten allmählich auf etwa 17" über der Temperatur
des Dichtemaximnms des Salzwassers (—4") erhöht; aber
wegen der schnellen Abkühlung in den kalken Wintern ent-
weicht die Wärme der Tiefenschichten leicht in die Atmosphäre
und so lvird verhindert, daß die Temperatur der Tiefenwasser
unbeschränkt sich weiter erhöht. Kompliziert werden die
Verhältnisse durch die große Ausdehnung des Mittelmeeres,
das sich von der warmgemäßigten bis zur subtropischen Zone
erstreckt. (àcllives <Je8 Sciences physiques et naturelles
1891, Ser. 3, XXV, 145.)
Das kalte Anftriebwasscr an der Oftfeite
des Nordatlantischen und der Westseite des Nord-
indischen Ozeans.
Unter diesem Titel veröffentlicht Dr. A. Puff in dem
letzten Jahresberichte des Frankfurter Vereins für Geographie
und Statistik 1888 bis 1890 eine Studie, welche einen
interessanten Beitrag zur Frage nach der lveiteren Verbreitung
des eigentümlichen Phänomens der ozeanischen kalten Auftrieb-
wasser liefert. Neuerdings hat sich herausgestellt, daß die
von Hnmboldt zuerst beobachteten kalten Küstenströmnngen in
gewissen tropischen und subtropischen Gebieten nicht durchweg
als polare Obcrflächenströmnngen gedeutet werden können,
sondern durch lokalen Auftrieb kalten Wassers erzeugt werden.
An der Hand des im Archiv der deutschen Seewarte nieder-
gelegten, überaus reichlichen Beobachtungsmatcrials hat nun
der Vers, gewisse als abnorm bekannte Temperatnrerscheinnngen
au der Ostscite des Nordatlantischen und der Westseite des
Nordindischen Ozeans im Lichte dieser neueren, besonders von
Krümmel und Buchanan vertretenen Auffassung einer kriti-
schen Betrachtung unterzogen. Für den Atlantischen Ozean
gelangt der Vers, zu folgenden Ergebnissen. Das kalte
Wasser in unmittelbarer Nähe der Ostküste des Nordatlanti-
schen Ozeans zwischen 40 und 10 Grad n. Br. ist nicht,
lvie man bis vor kurzem annahm, die Folge eines aus höhern
nach niedern Breiten eilenden Oberflächenstromes, sondern es
stammt aus der Tiefe und wird von hier ans dicht unter
Land au die Oberfläche gebracht. Ursache ist der ablandige
Wind (Nord bis Nordost), welcher die Wassermaffeu von der
Küste abtreibt und nach dem offnen Ozean anstaut, infolge-
dessen in der Tiefe eine Compensationsströmnng erzeugt.
Zwischen 40 und 35 Grad u. Br. und 20 bis 10 Grad
n. Br. giebt es ablandige Winde, und darum kaltes Küsten-
wasser nur für einen Teil des Jahres, im ersten Gebiete im
Sommer und Herbst, im letzteren im Winter und Frühling,
während im mittleren Teile zwischen Kap Spartet und dcr
Argnin Bank infolge der beständigen Nordostpassate das
ganze Jahr hindurch dies vorherrscht. In der Straße von
Gibraltar kombinirt sich die Strömung ans dem Atlantischen
Ozean mit den Winden an der afrikanischen Seite, so daß
die spanische Küste warm, die afrikanische bei Tanger kühl
ist. Für Algier erzeugen ablandige Winde gleichfalls Ab-
kühlung der Küstenwäffer. Bemerkenswerte Begleiterschei-
nungen dieser kalten Auftriebwässer sind Ernicderung der
Lufttemperatur und häufige Nebelbildnng, vor allem aber der
Fischreichtum der betreffenden Gebiete, der sich dadurch erklärt,
daß das kalte Wasser mit zahllosen Organismen beladen und
daher oft ganz trübe aus der Tiefe aufsteigt. So hängt
hiermit der Fischreichtum der portugiesischen, der marokkani-
schen, der algerischen Küste zusammen.
Im Indischen Ozean ergaben sich als Gebiete kalten Anf-
triebwassers zur Zeit des SW.-Monsuns: die Ostküste
Afrikas von Kap Warscheik bis Kap Gnardafui; die Nord-
Aus allen Erdteilen.
363
und Ostküste der Insel Sokotra; die Südostküste Arabiens
östlich von Ras Fartak; die Südwestküste Arabiens westlich
Non der Bucht von Aden. Während die durch das kalte
Wasser erzeugten Nebel in Verbindung mit den Stürmen
die Schiffahrt beim Kap Guardafni so überaus gefährlich
gestalten, gereichen dieselben Nebelbildungen der arabischen
Küste zum Segen, wo sie in der Provinz Jemen überhaupt
die Kultur des Kaffeebaumes ermöglichen; auch hier ist das
Anftriebwasser mit Fischreichtum verknüpft.
Dr. Saner.
Aus allen
— Ethnographisches von den Negern zwischen
Niassa- und Tanganjikasee erfahren wir in Wißmanns
„Zweiter Durchquerung Äquatorial-Afrikas", S. 215 ff.
Die dort wohnenden Wakonde verfahren mit ihren Toten
genau so, wie die moderne Leichcnverbrennung cs ver-
langt. Drei Tage nach dem Tode wird der Leichnam ver-
brannt und die Asche desselben in kleinen Töpfen von der
Familie gesammelt und aufbewahrt. Auch sezieren diese
Stämme häufig ihre Toten, wenn der Grund des Todes nicht
ganz klar ist. Man öffnet mit einem scharfen Stück Palm-
rinde den Magen und untersucht dessen Inhalt und Wände.
— Unsre Spiritisten bedienen sich bei ihren Gaukeleien des
sogenannten Psychographen, der durch seine Schrift Ver-
borgenes enthüllt. Jene Neger machen es gerade so. Soll
ein Schuldiger entlarvt werden, so müssen die Angeschuldigten
sich im Kreise versammeln, der Häuptling ergreift eine Holz-
schecre, genau so gearbeitet wie unser bekanntes sich ver-
längerndes und zusammenziehendes Kinderspielzeug, und läßt
dieselbe arbeiten, bis sie plötzlich, lang ausgestreckt, die Brust
des durch sie entlarvten Thäters trifft. Eine dritte Sitte,
die bei uns ihre Parallele findet oder früher fand, ist das
Fest des neuen Feuers. Im ganzen Laude werden alle
Feuer am Abend vor dem Feste gelöscht. Es beginnt ein
Gelage, und wenn der Mond eine bestimmte Höhe erreicht
hat, macht der Häuptling durch Reiben von Hölzern ein
neues Feuer, das durch Zunder aufgenommen und überall
hin verteilt wird. Dieses Feuer hat nun für die nächsten
zwölf Monate auszuhalten.
— Fcuerlaud. Die Herren Rousson und Willems,
von der französischen Regierung mit einer Forschungsreise
nach Fcuerlaud beauftragt, haben einen Bericht eingesandt,
welcher am 20. März 1891 in der Pariser Geographischen
Gesellschaft vorgelegt wurde. Der von ihnen bereiste Teil
Feuerlands ist der nordwestliche, gegenüber Punta Arcnas
an der Magellanstraße. Er ist von einer Gebirgskette durch-
zogen, die am Kap Boqncrou jäh 500 m hoch sich aus dem
Meere erhebt und bis Kap Espiritu Santo reicht. Zahl-
reiche, teils im Sommer versiegende, teils ausdauernde
Flüsse gehen von dieser ins Meer, unter denen der Rio del
Oso der bedeutendste. Das veränderliche Klima ist nicht so
schlimm, wie man gewöhnlich annimmt; die Winde sind aber
sehr heftig. Gold kommt vor und wird auch gewaschen,
liefert aber wenig Ausbeute. Die Bewohner dieses Teils
von Feuerland sind die Onas, bis 2 m hohe Indianer, die
noch zu den Patagoniern gehören. Weiße sind im Sommer
schon viele vorhanden, doch ziehen die meisten sich im Winter
nach Punta Arenas zurück. So wie das Land im Norden
der Magellanstraße bereits eine ergiebige Viehzucht besitzt, so
wird auch bald Feucrland mit seinen reichen Triften von
Schafen und Rindern schwärmen. Eine dort ansässige eng-
lische Gesellschaft hat damit große Erfolge erzielt.
— Lieben die Amerikaner Blumen? Diese Frage
wirft The Illustrated American auf und kommt dabei zu
dem Ergebnis, daß sie dieses allerdings, wo es sich um
Erdteilen.
Sträuße, Zimmcrschmuck und Schmückung der Tafel handelt,
thun, mit einem Worte, ivo es ans Schau und Schmuck an-
kommt. Dabei aber stellt sich die Thatsache heraus, daß trotz
mehrhnndertjährigen Besitzes des Landes die Nordamerikaner
den einheimischen Pflanzen keine neuen Namen
gegeben haben, sondern dieselben bei ihren wissenschaft-
lichen botanischen Namen benennen; höchstens übertrugen sie
europäische Bezeichnungen ans dieselben. Sie sprechen von
Viola Nuttallii, Anemone patens, Calochortus venus-
tus. Die Sprache scheint in dieser Beziehung erlahmt zu
sein und Benennungen wie unser Vergißmeinnicht, Stief-
mütterchen, Frauenschuh, Männertreu, Maßliebchen, Ehren-
preis, Löwenzahn u. s. w. fehlen ganz.
— Die Steinzeit Afrikas, deren ehemaliges Dasein
hier und da noch angezweifelt wird, gewinnt immer mehr
Stützen, je weiter man forscht. Jetzt bringt Dr. G. Bellucci
(Arch, per l'Antropologia XX, 367) Beweise für das
Vorhandensein derselben in Abessinien, wobei er erwähnt,
daß in verschiedenen afrikanischen Sprachen (wie gleichfalls
in indoeuropäischen) die Wörter für Axt und Stein gleich-
lautend seien. Die abessinischen vorgeschichtlichen Artefakte
fand Ceechi im Moserthale (10° nördl. Br., 39° 40' östl. L.).
Es sind Nuclei, Schaber, Messer u. s. w. von paläolithischem
Charakter, den entsprechenden europäischen Formen gleichend.
Material ist Chalcedon, Quarzit, Obsidian u. s. w. Ein
zweiter Fundort ist am Haddosen tut Lande der Ada-Galla,
ein dritter in Godscham.
— Die Verwendung der Menschengestalt in
Flcchtwerkcn ist der Titel einer belangreichen Abhandlung,
die Dr. W. Hein in den Mitteilungen der Wiener Anthro-
pologischen Gesellschaft (Band 21) veröffentlicht hat. Die
Menschcnfigur muß da natürlich als stilisiertes, symmetrisches
Ornament dienen, da der Stoff, welcher zu Matten, Ge-
fäßen u. s. w. geflochten wird, eine naturgetreue Nachbildung
der Formen nicht gestattet. Hein, der hier ein neues Gebiet
betritt, bildet solche Flechtwerke von den Arawakcn Guyanas,
ans Sau Paulo de Loanda (Westafrika) und von Borneo
ab. Mehr war ihm bisher nicht zngängig. Ich erlaube
mir, noch auf die Flechtwerke der kalifornischen Indianer mit
Menschenfignren, ganz gleich denen der Arawaken, und auf
die altperuanischen Flechtwerke hinzuweisen, die Holmes im
Sixth Ann. Rep. Bureau of Etlmology abbildet und
beschreibt. A.
Kleinasien. Im laufenden Sommer begiebt sich Prof.
Ramsay, begleitet von den Herren Hogarth und Munro,
nach Kleinasien, um die archaischen Denkmäler vorhellenischen
Charakters im Antitanrus und Commagene zu erforschen.
Die Kosten werden vom Asia Minor Exploration Fund
getragen. Prof. Ramsay hat bereits viel zur topographischen
Kenntnis und historischen Geographie Kleinasiens beigetragen,
namentlich hat er viele alte Ortslagen in Pisidien und Jsan-
rien bestimmt. Auch ist ihm die Entdeckung der ältesten
noch erhaltenen christlichen Kirche zu verdanken.
384
Aus allen Erdteilen,
— Die Schlangenverehrung in Indien. In der
Asiatic Society zu London hielt am 20. April 1891 Dr.
Oldham einen sehr wichtigen Vortrag über die Schlangen-
verehrnng in Indien, der zum erstenmal uns Aufklärung
über dieselbe giebt. Die Nagas sind die in ganz Indien
bekannten Kobraschlaugen, aber dieses ist auch die Benennung
eines Volksstammes, der schon in Kaschmir ansässig gewesen
sein soll, als dieses Land sich aus den Wassern erhob. In
den Puranas werden die Nagas als übernatürliche Wesen
oder als wirkliche Schlangen geschildert, die unterirdisch
Hansen. In älteren Schriften werden sie als ein im Indus-
thale wohnendes Volk erwähnt, dessen Hauptstadt Patala war.
Nach Oldham sind die Nagas und Takhas dasselbe Volk,
ein Radschputenstamm im bergigen Osten Kaschmirs, das
dort unter eigenen Häuptlingen bis vor kurzem unabhängig
hauste. Vor den mohammedanischen Zerstörern wußten sie
ihre Tempel zu bewahren, ebenso wie vor den Brahmanen
ihre Religion. Noch verehren sie in alter Weise ihre
Schlangengötter, nicht etwa die Reptilien oder Symbole der-
selben, sondern ihre zu Götter erhobenen alten Herrscher.
Die Schlangengötter Sescha, Vasuhi, Kakschaka u. a.
sind in menschlicher Form dargestellt, doch mit einem Kopf-
schmuck von 5, 7 oder 9 Nagas oder Kobraschlaugen ver-
sehen. Diese Nagahäuptlinge waren nach der Überlieferung
einst Beherrscher eines großen Teiles des Jndnsthales. Noch
alljährlich ziehen zahlreiche Pilger nach dem Bergsee Kallas
Kand, welcher als heilig gilt, da dorthin sich Vasuhi vor
seinem Feinde Garnda rettete.
Die Takhas sind ein Überrest eines mächtigen Radsch-
putenstammes, der fast das ganze Pandschab beherrschte und
von dem ans Kolonieen nach den Küsten Indiens, Ceylons
und selbst Hinterindien ausgingen. Sie waren, wie Oldham
nachwies, Arier. Von Wichtigkeit ist ferner der Nachweis
Oldhams, daß die Buddhistische wie die Jainareligion unter
diesen Nagas ihren Ursprung nahmen, ja Buddha selbst
gehörte höchst wahrscheinlich dieser Rasse an. Daher
stammt auch der enge Zusammenhang zwischen der Schlange
und dem Buddhismus, worüber so viele Mutmaßungen an-
gestellt wurden.
Die Nagas waren also ein sonnenverehrendes sanskrit-
sprechendes Volk, dessen Totem die Nag oder Kobraschlauge
war. Sie waren bekannt nach diesem Stammessymbol, mit
dem sic allmählich identifiziert wurden. Man kann sie bis
in die früheste Zeit indischer Geschichte znrückverfolgen und
bis heute haben sie ihre alte Religion, die Verehrung ihrer
Häuptlinge in Form von Halbgöttern bewahrt. Durch diese
Erkenntnis wird der Zusammenhang des Buddhismus und
der Jainareligion mit der Schlange erklärt.
— Zu den anssterbenden Sprachen Europas gehört das
Rhätoromanische oder Ladinische im Kanton Grau-
bünden. Im Jahre 1850 sprachen von überhaupt 2390 116
Schweizern 48064 (die größere Hälfte der Bevölkerung
Graubündens) ladinisch; zwanzig Jahre später redeten von
überhaupt 2 669 147 Schweizern nur noch 42180 und
1881 von 2 846102 nur noch 38 705 oder kaum noch 2/5
der graubündischen Bevölkerung ladinisch. Bei der letzten
Volkszählung int Jahre 1888 ermittelte man in der ganzen
Schweiz 38 375 Ladiner, von welchen 30 077 in Gran-
bünden lebten. Die Zahl der ganz oder überwiegend ladini-
schen Ortschaften beläuft sich ans 120; außerdem giebt es
noch eine Anzahl Orte, in denen die Ladiner die Minderheit
der Bevölkerung bilden. In letzteren Ortschaften ist der
Rückgang des Ladinischeu zu gitnsten der deutschen Sprache
am bemerkenswertesten. Fast ganz deutsch sittd in Gran-
bünden die Bezirke Ober-Landgnart (9054 Deutsche, 474 Ita-
liener und 355 Ladiner), Unter-Landqnart (11426 Deutsche,
607 Italiener und 119 Ladiner) und Plessur (10 634
Deutsche, 279 Italiener und 1288 Ladiner). Im Bezirke
Hinterrhein halten die 1404 Deutschen den 1366 Ladinern
die Wage, im Bezirke Heinzenberg stehen 3756 Deutsche
2689 Ladinern gegenüber. Ganz oder überwiegend ladinisch
sind die Bezirke Vorderrhein (93 Deutsche, 5691 Ladiner),
Münsterthal (298 Deutsche, 1180 Ladiner), Maloja (1310
Deutsche, 2558 Ladiner), Inn (939 Deutsche,.5167 La-
diner), Im Boden (1568 Deutsche, 3595 Ladiner), Glcnncr
(2722 Deutsche, 7780 Ladiner) uub Albula (919 Deutsche,
5160 Ladiner). Daß der kleine rätoromanische oder ladi-
nische Stamm auch in Zukunft immer mehr zurückgehen
werde, ist wohl nicht zweifelhaft; zwischen zwei großen Kultur-
völkern lebend, werden die Nachkommen der gegenwärtigen
Generationen zum größten Teil den Deutschen, zu einem
kleineren Teile den Italienern sich anschließen. Durch den
Ban einer Eisenbahn von Laudeck in Tirol nach dem Ober-
Engadin würde die Ausbreitung der deutschen Sprache im
ladinischeu Sprachgebiete Graubündens wesentlich begünstigt
werden. Gh.
— Bastardland wird der schmale, dünn bevölkerte
Landstreifen int Norden des Oranjeflnsses genannt, der im
Westen von dem deutschen Südwestafrika, im Osten vom
Nosobflnsse begrenzt wird. Dasselbe ist im Mai durch den
Gouverneur der Kapkolonie der englischen Kronkolonie Bet-
schnanaland einverleibt worden. Im Süden des Bastard-
landes wohnen Korona, im Norden bei Mier die Bastards.
Beide Völker sind Hottentotten, die Bastards gehören zu den
Griqua.
— Das Denkmal für den ausgezeichneten Eutdecknngs-
reisenden mtd Orientalisten, Sir Richard Burton, ist am
26. Mai 1891 ans seinem Grabe in London, wohin seine
sterblichen Überreste von Triest aus gebracht wurden, enthüllt
worden. Es stellt ein 5 m hohes arabisches Zelt dar, über
dem sich ein goldener Stern erhebt. — Der Nachlaß des hoch-
verdienten Mannes und britischen Generalkonsuls betrug, wie
seine Witwe eidlich aussagte, nur die Summe von 200 Pfund.
— Vorgeschichtliches ans Maisur (Mysore). In
diesem südindischen Staate hat Dr. Bain einen Crontlech
mit drei Steinzirkeln geöffnet. Die Grabkammer in der
Mitte desselben, 1,3 na unter der Oberfläche, sprengte er mit
Dynamit. In derselben fand er zunächst Tschatties, Unten,
ähnlich den jetzt noch gebrauchten Gefäßen mit verschiedenen
Getreidearten gefüllt. Dieselben standen in drei Reihen um
den Begrabenen herum. Weiterhin kamen zwei eiserne
Schwerter zum Vorschein, die stark verrostet waren und ge-
kreuzt über der Brust des Skelettes lagen. Letzteres ruht
auf einer großen, den Boden des Grabes bildenden Stein-
platte. Vom Schädel hatten sich einzelne Teile, der Unter-
kiefer und viele Zähne erhalten, welche um die vollständig er-
haltene Abformung des Gehirns (cast of the brain, wohl
in Thon?) herumlagen. In der Gegend der Nase lag ein
kleiner dünner Goldring von sehr einfacher Arbeit, wie Bain
meint, der erste Goldgegenstand, der in einem vorgeschichtlichen
indischen Grabe gefunden wurde. An der einen Seite, bei
den Handkuochcu, fand man ein gekrümmtes, 8 Zoll langes
und y4 Zoll starkes Kupferstäbchen, an der Stelle der Füße
aber eine Anzahl eiserner Pfeil- und Speerspitzen, an denen
noch Überreste der Holzschäfte saßen. Die in den Gefäßen be-
findlichen Getreidcarten sind verloren worden, daher leider
nicht bestimmt. Nach diesem Berichte kann cs sich keineswegs
um ein sehr altes Grab handeln; die Cromlechs wurden danach
noch in verhältnismäßig später Zeit errichtet (Journ. An-
thropol. Soc. Bombay II, 229. 1890).
Herausgeber: Dr. R. Andrer in Heidelberg, Leopoldstrabe 27.
Druck von Friedrich Vieweg und Sohn in Brannschweig.
Druckfehler im LIX. Bande.
Seite 2, Spalte 1, Zeile 5 lies Becchct) statt Bocchcy. Seite 289, Spalte 2, Zeile 28 lies 1890 statt 1891.
- 2, „ 1, „ 11 „ Commander statt Com- 219, 2. „ 28 „ psychologischen statt phy-
mandor. siologischen.
„ 3, „ 1, „ 4 „ Dickte statt DiKin. 289, 2 30 „ eines statt seines.
» 28 in der Unterschrift des Profils lies zweimal Eluviale 290, 1' " 6 „ als statt aber.
statt Fluviale. 291, 1, » 17 u. 18 lies besser statt bisher.
„ 150, Spalte 2, Zeile 20 lies Grevclingen statt Grave- 291, 2 7 von unten lies Existenz statt
lingen. Intelligenz.
,, 150, „ 2, „ 40 's Gravenbrakel statt 292, l. » 6 lies Solidarität und statt der.
s' Gravenbrackcl. 292, >, „ 15 „ richtiger statt wichtiger.
„ 179, „ 1, „ 18 17. August statt l. August. 292, 1, 46 „ Kollcktiveigentum statt
„ 179, „ 2 „ 8 „ vlamisch-holländischen Kollektionseigentum.
statt vlamisch - belgischen. 292, 2, „ 35 „ bethätigen statt bestätige».
„ 195, „ 2, „ 9 von unten lies Wasserreichtum 367, „ 2, „ 31 „ 1804 statt 1884.
statt Massenreichtum. 367, „ 2, „ 31 „ yiinynaq iuq statt ysat-
„ 214, » 2, „ 12 lies aus Rörviken statt und ynicig.
Nöroiken.
Brannschwei g.
Jährlich 2 Bände in 24 Nummern. Durch alle Buchhandlungen und Postaustalten
zum Preise von 12 Mark für den Band zu beziehen.___________________________
1891.
Inhalt. H. Gundermann, Der Kultus der Niasser. Mit zwei Abbildungen. — Prof. Dr. I. H Kloos,
Jadeitbeilchcn aus dem Braunschweigischen. Mit fünf Abbildungen. — R. v. Lenden sc ld, Aas Südneusceländrsche Tafel-
land. II. Mit einer Abbildung. — Bruno Stehle, Colmar, Volksglauben, Sitten und Gebräuche m Lothringen. — Neue
Forschungen über die Daucrbarkeit der Menschenrassen. — Die Wärmeverhältnisse des Mittelländischen Meere». - Dr. Sauer,
Das kalte Auftriebwasser an der Lstseitc des Nordatlantischen und der Westseite des Nordindischen Ozeans. allen Cud-
teilen. — Schluß 8. Juni 1891.
Verlag' von Friedrich Vieweg & Solm in Braunschweig. Verlag von Friedrich Vieweg & Sohn in Braunschweig.
Archiv für Anthropologie.
Zeitschrift für Naturgeschichte und Urgeschichte
des Menschen.
Begründet von A. Ecker und L. Lindenschmit.
Organ der deutschen Gesellschaft für Anthropologie,
Ethnologie und Urgeschichte.
Unter Mitwirkung von A. Bastian in Berlin, 0. Fraas
in Stuttgart, F. v. Hellwald in Tölz, W. His in
Leipzig, H. v. Holder in Stuttgart, L. Rütimeyer in
Basel, H. Scliaaffhausen in Bonn, C. Semper in Würz-
burg, R. Yircliow in Berlin, C. Vogt in Genf, A. Voss
in Berlin und H. Welcker in Halle,
herausgegeben und redigirt von
L. Lindenschmit in Mainz und J. Ranke in München.
Mit Holzstiehen und lithographirten Tafeln. 4. geh.
Erschienen sind: I. his XIX. Band incl. 2 Supplement-
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unter Mitwirkung von
O. T. Christensen, A. Elsas, W. Fahrion, A. Fock,
C. Hell, A. Kehrer, F. W. Küster, C. Laar, E. Ludwig,
F. W. Schmidt, W. Sonne, W. Suida, A. Weltner
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Prof. Dr. Finkelnburg in Bonn, Dr. Göttisheim
in Basel, Prof. Dr. August Hirsch in Berlin, Baurath
Dr. Hobrecht in Berlin, Prof. A. W. v. Hof mann in
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Geh. Med.-Rath Dr. M. Pistor in Berlin, Gen.-Arzt Prof.
Dr. Roth in Dresden, San.-Rath Dr. A. Spiess in Frank-
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Redigirt von
Dr. A. Spiess und Dr. 31. Pistor.
Frankfurt a. M. Berlin,
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I>r. W. Sklarek
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Inhalt von Nr. 25.
Botanik. P. Magnus: Einfluss von Parasiten auf die
Ausbildung des befallenen Pflanzentheiles. (Original-
Mittheilung.) S. 313.
Physik. Orme Massen: Eine Folgerung aus der Gas-
theorie der Lösungen. 8. 315.
Paläontologie. Henry Fairfield Osborn: Uebersicht
über die Säugethiere der Kreidezeit. 8. 317.
Kleinere Mittheilungen. Gu illau me Capus: Meteoro-
logische Beobachtungen auf dem Pamir - Hochlande.
8. 318. — Emilio Villari: Beobachtungen über einige
Phosphorescenz- und Fluorescenz-Erscheinungen. 8. 318.
— Berthelot: Wirkung der Wärme auf das Kohlen-
oxyd. 8. 319. — B. Eathke: Versuche über den
Kohlenstoffgehalt des Spiegeleisens. 8. 320. — A. und
P. Buisine: Beiträge zum Studium der Theorie des
Bleichens an der Luft. 8. 320. — Ferdinand Cohn:
Ueber Wärme-Erzeugung durch Schimmelpilze und Bac-
terien. 8. 320. — Körnicke: Ueber autogenetische
und heterogenetische Befruchtung bei den Pflanzen.
8. 321.
Literarisches. Jacques Loeb: Untersuchungen zur
physiologischen Morphologie der Thiere. I. Ueber
Heteromorphose. — Hans Pohlig: Die grossen Säuge-
thiere der Diluvialzeit. 8. 322.
Vermischtes. Structur von Nebelflecken. — Schneedecke
in Russland. — Doppelmagnetisirungen. — Neue Le-
girungen. — Luft-Manometer. — Kalk im Lehmboden.
— Aus Goethe’s Nachlass. — Vereinigung von Freun-
den der Astronomie und kosmischen Physik. —- Perso-
nalien. 8. 323.
Bei der Redaction eingegangene Schriften. 8. 324.
Astronomische Mittheilungen. 8. 324.
Gedenktafel zur Geschichte der Mathematik, Physik
und Astronomie. 8. 324.
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liche Gesundheitspflege“. XXII. Band.
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gr. 8. Preis geh. 8 JL, geh. 8 JL 80 L
2. Jahrgang. 1887. Mit 33 eingedruckten Holzstichen
und 1 lithographirten Tafel, gr. 8. Preis geh. 8 JL,
geh. 8 JL 80 L
3. Jahrgang. 1888. Mit 46 eingedruckten Holzstichen.
gr. 8. Preis geh. 9 Ji>., geh1. 9 JL 80 L
4. Jahrgang. 1889. Mit 68 eingedruckten Holzstichen.
gr. 8. Preis geh. 10 JL, geh. 10 JL 80 -Z
Jahres-Berieht
über die
Untersuchungen und Fortschritte auf dem G-esammtgebiete
der
Zuckerfabrikation
von Dr. K. Stamm er
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Jahrgang. 1889. Mit 38 eingedruckten Holz-
stichen. gr. 8. geh. Preis 12 JL
G-esundheitslehre
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B a nd.
Globus.
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Zeitschrift für Länder- und Völkerkunde.
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Herausgegeben von
Richard Andrer.
Am ino
Sechszigster Band.
-vivcr>0<=:><v;'
Lraini schweig,
Druck und Verlag von Friedrich Vieweg und Sohn.
18 9 1.
I
s
Inhaltsverzeichnis des LI, Bandes
Europa.
Deutschland und Österreich - Ungarn.
Professor S. Rüge, Ein Jubiläum der
deutschen Kartographie 4. 174. Mit
der ältesten Karte Deutschlands als
Sonderbeilage zu Nr. 1. Volkszählung
in Luxemburg 15. Küster, Die deut-
schen Buntsandsteingebiete31. H. S ch u rtz,
Die Pässe des Erzgebirges 32. Fr.
Krauß, Alte röniische und sächsische
Bergwerke in Bosnien 45. Nabert,
Karte der Verbreitung der Deutschen in
Europa 46. Pröscholdt, Der Thü-
ringerwald 47. A. Rothpletz, Das
Karwendclgebirge 47. M. Weigel,
Das Gräberfeld von Reichenhall in
Bayern. Mit Abbild. 49. B. Stehle,
Vom Odilienberg nach Zabern im Unter-
elsaß. Mit Abbild. 68. Dr. Gruß,
Das Klima Helgolands 77. Die freie
und Hansastadt Lübeck 78. Witte,
Zur Geschichte des Deutschtums in
Lothringen 79. Fr. von Hcllwald,
Die Halbinsel Istrien 81. I. Hoops,
Arabischer Bericht aus dem 10. Jahrh.
über deutsche Städte 109. Volkszählung
und Magyarisicrung in Ungarn 112.
Schlattner, Die Ansiedelungen am
Bodensee 126. Sie Vers, Zur Kenntnis
des Taunus 127. Dr. Zcchlin, Das
Fürstcntuni Kammin 215. 232. 246.
Dr. Grabow, Slowenische Forschungen
über Tirol 220. L. Friederichsen,
Die deutschen Seehäfen 223. Bester,
Tie Ortsnamen des Kreises Forbach
270. Franz Kraus, Zur Hydro-
graphie des Karstes 285. A. Sauer,
Ursachen der Oberflächcngestaltung des
norddeutschen Flachlandes. Mit Abbild.
292. Die Biber an der Elbe 303. Die
Familiennamen der Helgoländer 304.
B. Stehle, Graufthal und Lichtenberg im
Elsaß. Mit Abbild. 307. Lstpreuß'ische
Lippowaner 334. Konfessionen und Aus-
länder in Berlin 351. Zur Kennzeichnung
der Deutschen 352. Ertrag des Fremden-
verkehrs in Tirol 368. Ungleiche Ver-
mehrung der Nationalitäten in Öster-
reich 384.
Großbritannien, Niederlande, Belgien,
Schweiz und Skandinavien. Jo Han
Winkler, Fricsland, Friesen und frie-
sische Sprache in den Niederlanden. Mit
einer Sprachkarte 17. 36. 53. 73. 84.
Andr ee, Die deutsch-französische Sprach-
grenze im Schweizer Jura 125. Der
Zensus Irlands 123. Bevölkerung der
Kanal-Inseln 176. Gö hing er, Tie
romanischen Ortsnamen des Kantons
St. Gallen 223. Die Westküste Irlands.
Mit Abbild. 259. Die basaltische Nord-
küste Irlands. Mit Abbild. 371. Sprach-
verschiebungen in der Schweiz 381.
Frankreich, Italien, Spanien und
Portugal. Franz Kraus, Der Schlund
von Padirac. Mit Abbild. 40. Joh. |
Höfer, Korsika. Mit Abbild. 113. 131.
Die Einwohnerzahl Frankreichs 160. |
Der Domplatz zu Pisa. Mit Abbild. !
198. Scylla und Charybdis mit Karte j
265. Moderne Heiden im nördlichen I
Italien 286. Dr. Ermling, Die Nur-
hagen Sardiniens. Mit Abbild. 337.
G. E. Fritz sch e, Der unterseeische
Vulkanherd von Pantcllaria 351. Tic
Höhe des Montblanc 352, Die Mündung
der Gironde und ihre Änderungen 366.
Europäisches Rußland und die Balkan-
halbinsel. Ersteigung des Elbrus durch
Pachtussow 16. Sresnewskij, Die
Schneeverwehungen auf den Eisenbahnen
in Rußland 62. Erforschung der Halb-
insel Kola 80. Die Juden in Russisch-
Polen 15. Die Aland-Inseln 159. Die
Jnterglazialzeit in Rußland 175. Die
Bevölkerung Serbiens 176. A. Philipp-
son, Der Peloponnes 190. W. Götz,
Das serbisch-türkische Genzgebirge. Mit
Karle und Abbild. 241. Aberglauben
in Rußland 286. Die Omorikafichte der
Balkanländer 335. Neue romanische geo-
graphische und ethnographische Litteratur
336. Die Gletscher des Kaukasus 351.
Asien.
Asiatische Türkei, Iran und Arabien.
Von der Eisenbahn Jaffa-Jerusalem 16.
L. Bürchner, Mittheilungen über die
Insel Samos 375.
Asiatisches Rußland. Das Gebirgsland
an Olelma und Witim 176. Gold im
Gebiete von Semiretschensk 272.
Britisch-Indien. Eniil Schmidt, Ein
Ausflug in die Anaimalai-Berge (Süd-
indien). Mit Abbild. 1. 26. Hob-
days Expedition zu den Oucllflüsscn
des Jrawadi 15. Zunähn,e der Katho-
liken in Indien 16. Der Tschagos-
Archipel 112. Die Sanskritstudien in
Indien 123. Katholische und evange-
lische Missionen in Indien 159. Dar
Shanstant Kaiamtschaing 175. Sterb-
lichkeit unter den indischen Mekkapilgcrn
175. Lord Lamingtons Reise in den
Shanstaatcn 205. Die indische Landes-
aufnahme 1890, 205. Die hygienischen
Zustände in Indien 207. Vorgeschicht-
liche Felsenbilder in Südindicn 238.
E. Goeze, Die Pflanzenwelt von Bri-
tisch Beludschistan 348. Biddulphs
Reise durch die Persische Salzwüste. Bitt
Karte 364.
Hinterindien. H. Seidel, Der König von
Annam. Mit Abbild. 167. H. Seidel,
Handel und Wandel in Nam-dinh (Tong-
king). Mit. Abbild. 355.
Indonesien und Philippinen. Ten Katcs
Reise auf Timor 112. Der Tabaksbau
in Deli 143. Jjsermans Zug durch
Sumatra 144. -Die Sakit-Kanoes 154„
Wilken über das Erbrecht auf Sumatra
157. Schimper, Die indomalaiische
Strandflora 222. Handel in Britisch-
Nordborneo 224. C. W. Plcyte, Die
religiösen Anschaungen des Batals.
Mit Abbild. 289. 310. Entwickelung
Sarawaks 304. Die zweite Durchquerung
von Flores 317. Aberglauben der
Javanen 336. Archäologische Karte von
Java 336. F. BI um ent ritt, Die
Moros der Philippinen 369.
Chinesisches Reich. Die Spielwut der
Chinesen 14. Opium als Kleingeld 80.
Das Grab des Kaisers Pung-Lo. 160.
I. Grunzel, Die Ursachen der Unruhen
in China 153. I. de Groot, Tie
Hochzeitskleider einer Chinesin. Mit
Tafel 181. Russische Expedition nach
den Ruincnstädten der Mongolei 255.
I. Grunzel, China als staatlicher
Organismus 264. Die Ausländer i»
China 271. Pjcwtsows Reise im Kwcn
Lun 365. Chinesische Hetzlitteratur gegen
die Weißen 384.
Japan und Korea. W. Ko beit, Neue
Forschungen über Korea 105. Die
Vulkaninseln 207. Gold in Korea 224.
Eisenbahnen in Japan 224. Das Erd-
beben von Gifu in Japan 383.
Afrika.
Allgemeines. Prof. W. Götz, Die Er-
haltung des Elefanten Afrikas 33.
Schleicher, Afrikanische Sprachverglei-
chung 78. R. Andree, Die Masken
in Afrika mit Abbild. 212. Sicvers,
Landeskunde von Afrika. Mit Abbild. 300.
Nordafrika und die Sahara. La Marti-
niöre in Marokko 16. Die Insel Pere-
gil (Marokko) 64. Neue Ortsnamen in
Algerien 96. W. Kobelt, Ghardaja
und die Mozabiten. Mit Abbild. 227.
Eine Zwergrasse in Marokko? 240.
Dr. A. Sauer, Das Delta des Nil.
Mit Karten 276.
Sencgambicn und Nigcrlande. L. G.
Bingers Reise vom Niger zur Ober-
guineaküfle. Mit Abbild. 9. 21. Er-
forschung des Kebbi-Benuö. 192. H.
Seidel, Ausbreitung der französischen
Herrschaft im westlichen Sudan. 203.
Expedition der englichen Nigergcsellschaft
nach Kuka 224. Grenzen der französischen
und englischen Besitzungen in Westafrika
334.
Oberguinea und Kamerun. Entdeckung
des „Sodensee" in Kamerun 15. Nyassa-
land 15. Französische Annektierung in
Oberguinea 16. H. Seidel, Die
Völkerbewegung in Kamerun 139. Eine
Gesundheitsstation im Kamerungebirgc
158. Dobinsons Reise im Hinterlande
des Nigerdelta 155.
Niederguinea, Kongostaat, Portngicsisch-
Westafrika. A. Sharp es Reise nach
VI
Katanga 14. Weitere Erforschung des
Helle 96. Der Kratersee Dschala am
Kilimandscharo 96. Das Scheitern der
Expedition Crampels 140. Klima von
Vangala am Congo 207. H. Hartert,
Ein Besuch bei den M'pangwes am
Muni 209. Fourncau und Gaillard
am Sangha 267. Fourneaus Reise vom
Ogowe zum Congo 284. Thomson am
Bangweolvsee 303. Die Kupserwcrke in
französisch Congo 368.
Südafrika. Die Goldgräber im Matcbclc-
land 48. Tr. H. Schinz' Reisen in
Deutsch-Südwestasrika. Mit Abbild. 100.
Statistik der evangelischen Missionen in
Südafrika 144. Die Ruinen von Sim-
babje 189. Kleinschmidt, Tie Lage
in Deutsch-Südwestasrika 161. P. H.
Brincker, Südafrikanische Etymologicen
206. Südafrikanische Eisenbahnen 206.
Ostafrika, Abessinien, Ostsudan. H.
Seidel, Das englisch-portugiesische
Grcnzabkvmmen 44. Die englische Mis-
siou in Uganda 48. Emin Pascha 64.
Nettelbladt, Suaheli-Dragoman 126.
Kultursortschritte in der Mission Karema
128. Die russische Expedition nach
Abessinien 143. 256. Einteilung der
deutsch-afrikanische Küste 191. Kultur-
fortschritte in Deutsch-Ostafrika 224.
Deutsche Expedition zum Victoria Nyansa
240. Kapitän Lugard in Uganda 240.
Dr. O. Baumann, Usambara und
seine Nachbargebiele 270. Eisenbahn
von Aiombas nach dem Innern 271.
Schynses Reise am Viktoria Nyania
303. Expeditionen zum Viktoria Nyansa
303. H. Seidel, Land und Leute in
Uhähä 315. Oskar Baumauns Reise
nach Ostafrika 319. Die Landschaft
Ognden im Somallande 319. Ethno-
graphie des afrikanischen Osthorns 335.
A m erií ñ.
Britisch - Nordamerika u. Alaska. Tie
portugiesischen Entdeckungen an der Nord-
ostküste Amerikas 16. Amerikanische
Expedition nach Labrador 63. 255.
Zensus des Dominion of Canada 191.
A. Jakobs en, Nordwestamerikanische
Totempseiler. Mit Abbild. 253. Da to-
so ns Geologie von Neu-Schottland 302.
Rüssels Ersteigung des Mount Elias
302. Die Robbenjagd im Bcringsmeer
305.
Vereinigte Staaten. Kritik des amerika-
nischen Geisteslebens 14. A. S. Gat-
schct, Oregonische Märchen 57. Tie
städtische Bevölkerung in den Vereinigten
Staaten 96. Die Bewässerungsverhält-
nisse im südlichen Kalifornien 112.
C. Stessens, Seebildungin der Colo-
radowüste. Mit Karte 137. 256. Tie
Einwanderung in den Ver. Staaten seit
1820. 141. E. Schmidt, Neue For-
schungen über den paläoliihischcn Menschen
in Nordamerika 156. Höhlen in Ore-
gon 191. Verteilung der Unionsbevölke-
rung nach der Höhenlage 192. Geologische
Geschichte des Ohioflusses 206. Kohlen-
reichtum des Staates Washington 208.
Die Nunivakinsel (Alaska) 256. Meer-
schaumlager in Neu-Mexiko 304. Tönen-
der Sand in Kansas 319. Clifsdweller
in den Mogollonbergen 335. Mound-
ausgrabungen in Ohio 352. W. I.
Hoffman, Ein Besuch bei den Odjibwa
363. I. Höfer, Zurückweichen des
angelsächsischen Elements in Nordamerika
382.
Mexiko n. Mittelamerika. Lumholtz'
Reise zu den Clisfdwellcrs 15. M.Uhle,
Inhaltsverzeichnis des LX. Bandes.
kostarikanische Schmuckgeräle aus Goto
und Kupfer. Mit Abbild. 163. Die
Amerriqiindianer in Nicaragua 272.
Der Vulkan Poas in Costarica 272.
Altmexikanischer Federschild in Ambras
320.
Westindien. Die John Crow Berge aus
Jamaica 256. Dr. E. Krause, Die
westindische Insel Barbados 273.
Südamerika. Entscheidung des Grcnz-
streites zwischen Venezuela und Kolum-
bien 15. Die trausaudine Eisenbahn
63. Die Quellen des Rio Aconcagua 96.
A. Scobel, Die streitigen Gebiete in
Guayana. Mit Karte 60. H. Cou-
dreaus Reisen „ in Guayana 96.
Chr. Nusscr-Asport, Padre Armen-
tias Reise in der bolivianischen Provinz
Caupolican 97. Pech mann, Deutsche
Einwanderer in Rio Grando do Sul
124. Die Jndianerstämme Guayanas
175. H. v. Jhering, Geschichte der
Ureinwohner von Rio Grande do Sul
177. 194. G. Schulz, Ein Besuch aus
den Falllaudinsclu. Mit Abbild. 183.
Die Juden in Holländisch - Guayana
304. I. I. v. Tschudi, Kulturhistorische
Beiträge zur Kenntnis des alten Peru
317. Der Vulkan Ollagua 319. Die
Küsten von Guayana 320.
Australien und Ozeanien.
Das Festland. Gressrath, Die Elder-
sche Expedition im westlichen Zentral-
australien 31. 380. Geisteskrankheiten
unter den Eingeborneu 160. Gress-
rath, Die austral. Eisenbahnen 176.
New Nursia, die Kolonie der westauslrali-
schcu Eingeborneu 192. Tie ehemalige
Verbindung zwischen Australien und
Neuseeland 288. R. Andres, Die
Australneger Queenslands. Mit Abbild.
325. Die Pferdeplage in Queensland
335. Dr. A. Vollmer, Der weite
Westen von Neusüdwales 377.
Die Inseln. Die Chatham-Inseln 64.
Besteigung des Mount Pule in Neu-
Guinea 80. Dr. CH. P rieb er, Die
gegenwärtige Lage der Maori auf Neu-
seeland. Mit Abbild. 90. Negative
Strandverschiebungen im westlichen Paci-
fic 143. R. von Lenden selb, Der
Ruapehu aus Neuseeland. Mit Abbild.
151. Totemismus aus den Salomonen
160. Tabakbau in Deutsch-Neu-Guinea
207.
pol arge biete.
H. Martens, Die dänische Expedition
nach Ostgrönland 13. 383. Drygalskis
Forschungsreise nach Westgrönland 15.
288. Pearys arktische Expedition 63.
191. Das Zurückweichen der Nordgrenz c
der Eskimos 111. Eine Frau als Nord-
polarreiscnde. Mit Bildnis 128. Ur-
sprung der „Flora Grönlands 208.
Nossilows Überwinterung auf Nowaja
Semlja 239.
Hydrographie. Ozeane.
Tic größten Tiefen im Mittelmeere 48.
319. Das Sargassomeer 94. C. Stes-
sens, Seebildung in der Koloradowüste.
Mit Karte 137. Tasman See 192.
Scylla und Charybdis. Mit Karte 265.
Tiefseeforschung im Indischen Ozean 288.
Prof. O. Krümmel, Die Haupttypen
der natürlichen Seehäfen. Mit Karten
321. 342. „ Tie Mündung der Gironde
und ihre Änderungen 366.
Meteorologie und Mathema-
tische Geographie.
Sresnewskij, Über Schneeverwehungen
aus den Eisenbahnen in Rußland 62.
Dr. Gruß, Das Klima Helgolands 77.
G. Gruß, Einfluß des Waldes auf die
periodischen Veränderungen der Luft-
temperatur 126. Magnetische Anomalien
159. Verwertung der Photographie für
Kartendarstellungen 204. Das Klima
von Bangala anr Congo 207. Über
künstliche Regenerzeugung 287. Geschichte
der Schwankungen der Alpengletscher 333.
Sind die Winter im Norden wärmer
geworden? 367. Die Gradmessung des
Eratosthenes 368.
G e o l o g i e.
E. Küster, Tie deutschen Buntsandstein-
gebiete 31. Franz Kraus, Der Schlund
von Padirac. Mit Abbild. 40. H. Prö-
scholdt, Der Thüringerwald 47.
A. Rothpletz, Das Karwendelgebirge
47. Gold im Matebcleland -18. Geo-
logisches aus Kola 80. Sievers, Zur
Kenntnis des Taunus 127. Strehl,
Negative Strandverschiebungcu „im west-
lichen Pacisik 143. Cohen, Über die
Alandinseln 169. R. v. Lendenseld,
Der Ruapehu auf Neuseeland. Mit
Abbild. 151. Jnterglazialzeit in Ruß-
land 175. Das Gebirgsland an Olekma
und Witim 176. Philippson, Der
Peloponnes 190. Geologische Geschichte
des Ohioflusses 206. Gold in Korea
221. Gletscher der amerikanischen West-
aebirge 271. Gold in Semiretschensk
272./ Der Vulkan Poas 272. Ehe-
maligeLnndesverbinduna zwischen Europa
und Amerika 272. Die Westküste Ir-
lands. Mit Abbild. 259. Dr. A. Sauer,
Das Delta des Nil. Mit Karten 276.
Ehemalige Verbindung zwischen Austra-
lien und Neuseeland 288. A. Sauer,
Ursachen der Oberflächeugestaltung des
norddeutschen Flachlandes. Mit Abbild.
292. Dawsons Geologie von Neu-
Schottland 302. Meerschaumlager in
Neu-Mexiko 304. Tönender Sand in
Kansas 319. G. E. Fritzsche, Der
Vulkanherd von Pantellaria 351. Die
Gletscher des Kaukasus 351. Beziehungen
zwischen der Höhe der Vulkane und ihrer
Entstehung 367. Die Kupferwerke in
Französisch-Congo 368. Die basaltische
Nordküste Irlands. Mit Abbild. 371.
Das Erdbeben von Gisu in Japan 383.
Böhmische Granaten 384.
Botanik und Zoologie.
Prof. W. Gütz, Die Erhaltung des Ele-
fanten Afrikas 33. Wallace, Der
Darwinismus 94. Das Sargassomeer
94. Ursprung der Flora Grönlands
208. Verhältnis der Molluskensauna
von Suez zu der des Mittelmeeres 304.
Die Biber an der Elbe 303. Die Robben-
jagd im Beringsmeer 305. Pfeffer,
Erdgeschichtliche Entwickelung der jetzigen
Verbreitung unsrer Tierwelt 332. Die
Omorika-Fichte der Balkanhalbinsel 335.
E. Goeze, Die Pflanzenwelt von Bri-
tisch-Beludschistan 348. Ein botanischer
Garten im Hochgebirge 368.
Anthropologie.
L. Wilser, Anthropologie und Geschichte
110. R. Neuhauß, Zur Kenntnis des
Inhaltsverzeichnis des LX. Bandes.
VII
Zwergwuchses. Mit Abbild. 145.
Farbenblindheit bei Indianern 304.
G. Schultheiß, Rasse und Volk 327.
Die Vererbung des Zwergwuchses 335.
Urgeschichte.
War der vorgeschichtliche Mensch links-
händig? 48. Dr. M. Weigel, Das
Gräberfeld von Reichenhall. Mit Ab-
bild. 49. R. Andrer, Vorgeschichtliche
Spielkiesel. Mit Abbild. 76. Das
archäologische Museum in Philadelphia
127. E. Schmidt, Neue Forschungen
über den paläolithischen Menschen in
Nordamerika 156. Heimat der Bronze
208. Vorgeschichtliche Felsenbilder in
Südindien 238. Dr. W. Fischer, Der
Weg des steinzeitlichen Bernsteinhandels
268. Dr. Ermling, Die Nurhagen
Sardiniens. Mit Abbild. 337.
Ethnologie und Ethno-
graphie.
Th. Achelis, Alb. Herm. Post 65.
M. Winternitz, Zur Geschichte der
Ehe 129. 148. 166. Wilken, Das
Erbrecht in Lmdsumatra 157. Totemis-
mus auf den Salomonen 160. P. v.
Stenin, Das Gewohnheitsrecht der
Samojeden 170. 186. Der Geschmack
außereuropäischer Völker 272. Die
Juden in Russisch-Polen 15. Joh.
Winkler, Friesland, Friesen und frie-
sische Sprache in den Niederlanden. Mit
einer Sprachkarte 17 ff. Nabert, Ver-
breitung der Deutschen in Europa 46.
Dr. Eh. P rieb er, Die gegenwärtige
Lage der Maori auf Neuseeland. Mit
Abbild. 90. Das Zurückweichen der
Nordgrenze der Eskimos 111. I. de
Groot, Die Hochzeitskleider einer Chine-
sin. Mit Tafel 181. Die verlorenen
zehn Stämme Israels 165. H. v. Jhe-
ring, Geschichte der Ureinwohner von
Rio Grande do Sul 177. R. Andrer,
Die Masken in Afrika. Mit Abbild. 212.
A. Jacobsen, Nordwestamerikanische
Totempfeiler. Mit Abbild. 253. H. v.
Wlislocki, Handarbeiten der ungari-
schen Zeltzigeuner. Mit Abbild. 278.
C. W. Pleyte, Die religiösen An-
schaunngen der Bataks. Mit Abbild.
289. 310. Die Nasenflötc 334. F. v.
Hellwald, Die Gleichheit der Menschen
im Lichte der Wissenschaft 339. 360.
Der Völkergedanke im Ornament 352.
A. H. Post, Über einige Hochzeitsbräuchc
354. Bier und Hopfen in der Völker-
kunde 3-3.
Volkskunde Folklore).
Boas, Über Verbreitung der Märchen unter
den Eingebornen Nordamerikas 48.
61 ätsch e t, Oregonische Märchen 57.
Kaarle Krohn, Mann und Fuchs,
vergleichende Märchenstudien 79. Der
Sternhimmel bei den Finnen 108. Der
jüdische Fischtanz 123. Die Sakit-Kanoes
im Indischen Archipel 154. Der Eidechsen-
glaubcn bei den Malayo-Polynesiern
157. Eine Mailänder Hexengcschichte
1891. 174. Altägyptische'Schöpfungs-
geschichte 256. Dr. Goldziher, Tage-
wählerei bei den Mohammedanern 257.
B. W. Segel, Jüdische Volksmärchen
2-3. 296. 313. Moderne Heiden im
nördlichen Italien 286. Aberglauben
in Rußland 288. Der Kuckuck in: Volks-
glauben auf Madagaskar 334. Aber-
glauben der Javanen 336.
Sprachliches.
Joh. Winkler, Friesland, Friesen und
friesische Sprache in den Niederlanden.
Mit einer Sprachkarte 17 ff. Schleicher,
Afrikanische Petrefakten (Afrikanische
Sprachvergleichung) 78. Die Sanskrit-
studien in Indien 123. And ree, Die
deutsch-französische Sprachgrenze im
Schweizer Jura 125. Nettelbladt,
Suahelidragoman 126. P. H. Brincker,
Südafrikanische Etymologieen 206. Dr.
Grabow, Slowenische Forschungen über
Tirol 220. Die Bedeutung der tschechi-
schen Sprache 303. Sprachverschiebungen
381.
Brographieen. Nekrologe.
Richard Schomburgh ch 16. R. D. Aldrich f
16. Josef Zingerle f 16. Französische
Ehrung für Adolf Schlagintwcit 44.
Adolf Bastian 45. Denkmal für Gustav
Nachtigal 63. R. H. Major ch 64.
Albert Hermann Post von Th. Achelis
65. Dr. Otto Tischler ch 80. D. G.
Brinton. Mit Bildnis 104. Frau
Josephine Diebitsch-Peary. Alit Bildnis
128. Dr. K. Friesach f 144. Rajen-
dralala Mitra ch 144. Fräulein I. Ates-
torf 144. Mrs. French Sheldon, die
Afrikareisende 191. I. D. E. Schmeltz,
G. A. Wilken ch. Mit Bildnis 193.
R. Neuhauß, ZuVirchows 70. Geburts-
tage. Mit Bildnis 235. M. Qucden-
feldt si 256. W. Ferrel f 256. Denk-
mal für General Faidherbe 256.
I. E. Polak f 287. Dr. R. Rackwitz f
288. Georg Rosen ch 334.
Verkehrswesen.
Eisenbahn Jaffa-Jerusalem 16. Die
transandine Eisenbahn 63. Die Eisen-
bahnen der Erde 1820—1889 140.
Greffrath, Australische Eisenbahnen
176. Südafrikanische Eisenbahnen 207.
Eisenbahnen in Japan 224. Eisenbahn
von Mombas nach dem Innern Ost-
afrikas 271. Eisenbahn in Tonking
283. Dr. I. Hoops, Neue Straßen
des Weltverkehrs 298.
Missionen.
Statistik der evangelischen Missionen 175.
Zunahme der Katholiken in Indien 16.
Englische Mission in Uganda 48.
Mission Karcma 128. EvangeUsche
Missionen in Südafrika 144. Katholische
und evangelische Missionen in Indien
159. Westaustralische Kolonie New
Nursia 192.
Kart e n.
Nico laus Cusan us, Germania. Die
älteste Karte von Deutschland 1491,
Sonderbeilage zu Nr. 1. A. Scobel,
Die streitigen Gebiete in Guayna
(1:10000000) 60. Joh. Winkler, Die
Sprachverhältnisse in den nördl. nieder!.
Provinzen (1:1200000) 85. Der neue
See in der Coloradowüste (1:1350000) I
138. W. Götz, Gebirgslinie zwischen
Lim und östlicher Ntorava (Serbien)
212. DieStraße von Messina (1:300000)
266. Die Nilmündung von Rosette in
vier Darstellungen (1 : 200000) 277.
Reede . von. Cherbourg 322. Porto
Grande (st. Vrncent) 323. Sta Jhabel
(Fernando Poo) 323. Tofino Hafen
der Columbretes 323. Hafen von Malta
325. Das heutige Alexandria 342.
Das heutige Tyrus 343. Das heutige
sidon 343. Das Lister Tief 344. Die
Emsmündung vor dem 13. Jahrh. 345.
Die Emsmündung um 1590. 345. Die
Emsmündung um 1890. 346.
Abbildungen.
Europa. Eingang in den Schlund von
Padirac (Frankreich) 40. Inneres des
Schlundes 41. Tropfsteinbarren im
unterirdischen Flußlauf desselben 42. 43.
Die Heidenmauer am Odilienberg.
Elsaß 69. Die Klosterkirche zu Maurs-
münster 70. Altes Haus in Zabern 71.
Calacuccia mit dem Monte Cinto (Kor-
sika) 115. Der Monte d'oro (Korsika)
116. Die Calanchenstraße (Korsika) 117.
Mann von Calasima (Korsika) 132.
Bonifacio (Korsika) 133. Ghisoni (Kor-
sika) 134. Weiße Büßer auf Korsika
135. Dolmen von Kauria (Korsika)
136. Bronzethür im Dom zu Pisa
198. Der Domplatz zu Pisa 200.
Inneres des Domes zu Pisa 201. Bronze-
lampe im Dom zu Pisa 202. Der
Jbardurchbruch am Westfuße des Kopao-
nik 244. Serbische Karaula 245. An-
sichten von der Westküste Irlands 260 ff.
Granitrundhöcker bei Kamen; 293. Ge-
röllzug von Neu-Rofow bei Stettin 293.
Lichtenberg im Unterelsaß 307. Grauf-
thal im Unterelsaß 308. Tracht im Unter-
elsaß 309. Nurhagen von Torralba
(Sardinien) 338. Durchschnitt eines
Nurhagen 339. Basaltbildungen an der
Nordküste Irlands (4 Abbild.) 372 ff.
Asien. Die Velliyangiri-Berge. Süd-
indien 3. Die Anaimalai-Berge. Süd-
indien 3. Kaderfrau aus Satumally 28.
Malser aus Serkarpuddy 28. Dongh-
Khanh, König von Annam 168. Chinesi-
sches Brautkostüm. Tafel zu Nr. 12.
Religiöse Gegenstände und Amúlete der
Bataks 290. 312. Katholische Kathedrale
in Kcso (Tongking) 356. Ansicht von
Nam-dinh 358. Drogenhandlung in
Nam-dinh 359. Kohlenhändler in Nam-
dinh 360.
Afrika. Helm aus Katon 9. Hochöfen
in Umalokho 10. Eingeborne aus
Lera 11. Moschee in Lokhoguile 21.
Ansicht von Khong 24. Das Dorf
Gandugu 25. Hausdächer der Bvbo-
Fing 26. Quer- und Längenprofil
durch Deutsch Südostafrika 101. Tafel-
berg in Deutsch-Süowestafrika 102. Ab-
fall des Tschirubgebirges in Groß-
Namaland 102. Hererofrauen in Fell-
tracht 103. Kitschitänzermaske 212.
Umzug der Du 213. Der maskierte
Häuptling der Ganguela 213. Der
Mokho Missi Ku 214. Ein Mozabite
227. Ansicht von Ghardaja 228. Fried-
hof bei Ghardaja 230. Ziehbrunnen bei
Ghardaja 231. Kap Gardafui 301.
Brandung an der Guineaküste 301.
Amerika. Costaricanische Schmuckgeräte
aus Gold und Kupfer 164. Stcinftrvm
auf den Falklandinseln 184. Tussockgras
auf den Falklandinseln 185. Totcm-
pfeiler der Tlinkiten 253. 254. Eingang
der Bai von Rio de Janeiro 343.
Australien und Ozeanien. Maorifrau
mit tättowiertem Kinn 90. Maorihaus
91. Maori aus dem Kings Country 92.
Alte Maoriholzschnitzerei 93. Der Vulkan
Ruapehu. Neuseeland 152. Mann und
VIII
Jnhaltsv erzeichnis des- LX. Bandes.
Frau aus Quensland 326. Botenstöcke
aus Queensland 327.
Geologisches. Abbildungen aus dem
Schlunde von Padirac (Frankreich) 40 ff.
Tafelberge in Deutsch-Südwestasrika 102.
Steinstrom auf den Falklandinseln 164.
Ansichten von der Westküste Irlands
260 ff. Granitrundhöcker bei Kamenz
293. Geröllzug von Neu-Rosow bei
Stettin 293. Bafaltbildungen vom
Giants Canseway (Irland) 4 Abbild.
372 ff.
Urgeschichte, Anthropologie, Bvlker-
kttnde. Schnallen und Beschläge aus
dem Gräberfelde von Reichenhall 50.
Ketten, Fibel und Schwert daher 52.
Bemalte vorgeschichtliche Spielkiesel von
Mas d'Azil 76. Dolmen von Cauria
(Korsika) 136. Schädel des Zwerges
Jakob Maier 146. Die Zwergin Sophie
Petersen 147. Die Zwergin Anna
Olrich 147. Handarbeiten der ungari-
schen Zeltzigeuner (17 Figuren) 280.
Manuk Manuk (Sumatra) 290. „Kleid
der Seele" (Sumatra) 291. Religiöse
Gegenstände und Amulette der Bataks
312. Nurhagen von Torralba (Sardinien)
338. Durchschnitt eines Nurhagen 339.
Bildnisse. Dr. D. G. Brinton 104.
Frau Josephine Diebttfch-Peary 128.
G. A. Milken 193. Rudolf Birchow im
Jahre 1849, 225.
Büch erschau.
Baumann, O., Usambara 270.
Bester, At., Ortsnamen des Kreises For-
bach 270.
Brose, Repertorium der deutschen Kolonial-
literatur 333.
Chlingensperg, M. v., Gräberfeld von
Reichenhall 49.
Culin, Alls Gambling Games of the
Chinese in America 14.
Dawfoil, W., Geology of Nova Scotia
302.
Fisch, Tropische Krankheiten 127.
Friederichsen, L., Die deutschen Seehäfen
Gore, G., Geodesy 287.
Götzinger, W., Die romanischen Orts-
namen in St. Gallen 223.
Günther, S., Physikalische Geographie 366.
Haarsma, G. E., Tabakbau in Deli 143.
Jankó, I., Das Delta des Nil 277.
Krohn, K., Mann und Fuchs 79.
Küster, E., Die deutschen Buntsandstein-
gebiete 31.
Lehmann, R., Das Kartenzeichnen im
Unterricht 32.
Lübeck, Die freie und Hansastadt 78.
Merkel, Fr., Jacob Henle 287.
Nnbert, H., Karte der Verbreitung der
Deutschen 46.
Nettelbladt, F. von, Suaheli-Dragoman
126.
Opitz und Polakowsky, Mapa de Chile
383.
Partsch, I., Philipp Clüver 142.
Pfeffer, G., Verbreitung der Tierwelt 332.
Philippson, A., Der Peloponnes 190.
Pröscholdt, H., Der Thüringerwald 47.
Ratzel, F., Anthropogeographie II. 142.
Richter, E., Schwankungen der Alpenglet-
scher 333.
Rothpletz, A., Das Karwendelgebirge 47.
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Kinkelin, F. 127.
Kleinschmidt 161.
Kobelt, W. 105. 227. 333.
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Krauß, F. S. 45.
Krümmel, O. 321. 342.
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Pechmann 124.
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Pleyte, C. M. 289. 310.
Polakowsky, H. 143.
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Prieber, Eh. 90.
Regel, F. 47.
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Rüge, S. 4. 174.
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Schlagintweit, E. 44.
Schmeltz, I. D. E. 194.
Schmidt, Emil 1. 26. 157.
Schultheiß, G. 32. 142. 158. 327.
Schulz, G. 183.
Scobet, A. 60. 205. 223. 383.
Segel, B. W. 283. 296. 313.
Seidel, H. 9. 21. 139. 167. 203. 268.
284. 317.
Sievers, W. 143.
Stessens, C. 137.
Stehle, B. 68. 271. 307.
Stenin, P. von 170. 186.
Uhle, M. 163.
Vollmer, A. 377.
Weigel, At. 49.
Wilser, L. 110.
Winkler, I. 17. 36. 53. 73. 84.
Winternitz, M. 129. 148. 166.
Wlislocki, H. v. 276.
Zechlin, 215. 232. 216.
Druckfehler im LX. Band e.
Seite 107, Spalte 2, CO GQ lies Japaner statt Chinesen.
„ 150, » 1' „ 31 ist vor jus primae noctis
„dieses" einzufügen.
„ 166, „ 1' „ 50 lies „alte" statt alle.
" 32, 2, » 8 von unten ist Fergunna zu streichen.
Seite 142, Spalte 1, Zeile 36 lies Nun statt Nur.
„ 158, „ 1, >, 63 „ capitis statt capitio.
„ 158, „ 1, » 66 „ ayak statt onak.
„ 295, » 1, „ 18 „ 40 m statt 400 m.
Bd. lx.
Nr. 1.
Braun schweig.
Jährlich 2 Bände in 24 Nummern. Durch alle Buchhandlungen und Postanstaltcn
zum Preise von 12 Mark für den Band zu beziehen.
1891.
Ein Ausflug in die Anaimalai-Berge fSiidindien).
Von Lmil Schmidt. Leipzig.
Das Berggerüst des Dekhan bildet ein dreiseitiges Hoch-
plateau, das an seinem West- und Südostrand, den Ghats,
steil abfüllt, und dem westlich nur ein schmaler Saum, öst-
lich eine weithin gedehnte Flüche ebenen Landes vorgelagert
ist. Der Abbruch dieser zentralen Tafellandscholle ist in
den West-Ghats im ganzen regelmäßiger, steiler, an dem
weniger jähen Ostabfall dagegen unregelmäßiger gebrochen,
zerklüfteter, auch tauchen ans dieser Seite aus der vorliegenden
Ebene größere und kleinere steil aufragende Horste in großer
Anzahl aus, stehen gebliebene Neste eines in geologischen
Vorzeiten gleichmäßig hohen Landes.
Da, wo unter 11" nördl. Br. die Ost- und West-
ränder des zentralen Hochlandes zusammentreffen, erhebt sich
wie ein Eckpfeiler das Plateau der Nilgiri-Berge, das süd-
wärts wenige geographische Meilen weit einige tektonisch
stark zerrissene Ausläufer bis zur Breite der gleichnamigen
Hauptstadt des Distriktes Eoimbatore aussendet.
Verfolgt man die Oberslächengestalt Südindiens von
hier noch weiter südlich, so begegnet man sofort einem merk-
würdigen, von Ost nach West verlaufenden Einbuchsthal,
der 32 Km breiten Pforte von Palghat, die den Zusammen-
hang des südindischen Gebirgssystems schroff unterbricht.
Es ist ein breiter, bequemer Verbindungsweg zwischen Ost und
West, an seinem höchsten Punkt kaum 300 m über dem Meere
erhöht, offen für den Verkehr, der, wie mehrfache Münzen-
fnnde aus Augustus' und Tiberius' Zeit zeigen, schon im Alter-
tum dieser wichtigsten Handelsstraße folgte, und den heute die
südliche Verbindungseisenbahn zwischen beiden Meeren bc-
ni,(3t, offen auch für die herrschenden Winde des SW? und des
^0-Monsuns, von welchen der erstere im Hochsommer feuchte
Luft durch diesen Riß im Gebirgs-Rcgenschatten Indiens
hinüberbläst auf die trockne Ebene, während sich im Spätherbst
und in den Wintermonaten die Wucht des X0- Monsuns
den westlich von Palghat vorüberfahrenden Schiffen weit
hinaus aus das Meer stürmisch bemerklich macht. Südlich
aber von dieser Gebirgslückc erheben sich wieder die tektonisch
Globus LX. Nr. 1.
stark zerklüfteten Schollen des Hochlandes, zunächst die breit
gelagerten Anaimalai- und Pnlney- (Palm)-Berge, dann
sich verengend, ihre südliche Fortsetzung, ein schmaler, bis zur
Südspitze Indiens fortlaufender Gebirgszug, der aber auch
nicht ein Auffaltungsgebirge, sondern, wie sämtliche Höhen
Südindiens, eine stehen gebliebene Tasellandscholle aus Syenit
und Gneis darstellt. Dieser südliche Teil des Gebirges, der
das britische Gebiet von dem unter einheimischen Fürsten
stehenden Travancore scheidet, wird von mehreren fahrbaren
Straßen durchzogen, seine Forsten stehen, namentlich aus der
englischen Seite, unter geordnetem Betrieb, er ist im Ganzen
gut bekannt. Weit weniger ist es der nördliche Teil dieses
Gebirgszuges, besonders die Anaimalai-Berge, ein Hoch-
plateau, das im Anamüdi-Peak mit 2607 m die höchste
Erhebung Indiens südlich vom Himalaya erreicht. Noch
vor wenigen Jahren waren an der Stelle der Hauptmasse
dieser Berge auf den offiziellen Spezialkarten nur große
weiße Flecken zu sehen. Die wenigen Jäger, die bis auf
die Höhen vorgedrungen waren, konnten nicht Worte genug
finden, die Schönheit des Gebirges, die Üppigkeit der Wälder,
den Reichtum an Wild, die Frische und Reinheit der Luft
aus den Hochflächen zu schildern. Die Höhen selbst waren
und sind noch vollständig unbewohnt; nur in den Vorbergen
und in dem von Malaria verpesteten Saum von Gebirgs-
schutt, der die letzteren umgürtet, hausen dürftige Stämme
dunkclhäutiger Ureinwohner, der Puliyars, Kaders, Malsers,
die unberührt von der Hindu-Kultur, ans primitivste
Weise ihr kümmerliches Dasein fristen. Erst in den letzten
Jahren dringt hier europäisches Leben Schritt für Schritt
vor: die üppigen Wälder, die noch vor wenigen Jahrzehnten
den Fuß des Gebirges umgaben, sind abgeholzt, die halb-
wilden Bewohner in den Dienst europäischer Kultur gestellt,
ja bis in die Berge hinein, mitten in die an Nutzhölzern
überreichen Wälder hat sich seit wenig mehr als einem
Jahre der Schienenweg und zwar eine Elcsanten-Tram-
bahn, wohl die einzige in ihrer Art, vorgeschoben.
1
2
Emil Schmidt: Ei n Ausflug in die Anaimalai-Berge (Südindien).
Als ich Anfang Januar 1890 einige Tage unter dem
gastlichen Dache des damaligen Kollektors von Coimbatore,
Herrn Thomson, zubrachte, lernte ich den ersten Forstbeamtcn
des Distriktes, Herrn Porter, kennen. Mit Freuden nahm ich
seine liebenswürdige Einladung an, an einer Besichtigung der
neuerbauten Elesanten-Eisenbahn teil zu nehmen, ans welcher
in den letzten Tagen mehrere schwere Regengüsse des NO
Monsuns einige Brücken und Dämme beschädigt hatten. Der
Ausslug erschien vielversprechend: der Weg bis zu den Anai-
malaibergen zeigte mir ein Stück der großen östlichen Ebene,
das durch die besondern Verhältnisse des Palghat, dieses
dem 8^-Monsnn offenen Wind- und Regenthores, unter
günstigeren, klimatischen und agriknlturellen Verhältnissen
steht, als der größte Teil des östlichen Südindiens: und dann
lockten die Berge selbst, ihre reiche Vegetation, die eigenartige
Bahn, die dunkelhäutigen, lockenhaarigen Ureinwohner, von
welchen ich mit Hilfe der Beamtenantorität mehr zu sehen
und zu erfahren hoffen durfte, als es mir sonst möglich
gewesen wäre.
Überall, wo die Engländer in Indien Besitz von Land
ergriffen, haben sie es sich angelegen sein lassen, durch gute
Straßen Handel und Verkehr zu heben. Und so sind auch
die Wege, welche von Coimbatore nach den Anaimalai
führen, zum größten Teil sehr gut. Das gewöhnliche
Beförderungsmittel in Südindien ist der bullock carfc, ein
von zwei Ochsen gezogener, auf zwei 5 bis 5 V2 Fuß hohen
Rädern laufender, mit Mattenwerk halb zylindrisch über-
deckter Karren ohne Federn. Zwischen größeren Orten, ans
belebteren Straßen ist oft auch noch ein andres Beförde-
rungsmittel eingerichtet, das „Transit", der von kleinen
raschen Pferdchen gezogene Schnellwagen. Unsre Verabredung
war es, daß ich gegen Abend nach Pollachi (Pollatschi), dem
Hauptort des gleichnamigen Kreises (Taluk) kommen, und
am folgenden Tage gegen Mittag in dem am Fuße der
Berge gelegenen Forsthaus, dem Satumally bungalow, mit
Herrn Porter zusammentreffen sollte, wohin um diese Zeit
eine Anzahl der Schwarzen für anthropologische Beobach-
tungen bestellt waren.
Der um 3 Uhr nachmittags bestellte Wagen kommt mit
gewohnter indischer Unzuverlässigkeit erst um 51/2 Uhr an;
es ist ein kurzer überdeckter, ans vier Rädern laufender Kasten
mit zwei Längsbänkchen, der mich und mein weniges Gepäck
aufnimmt, während mein indischer Diener und Dolmetscher
den schmalen Bocksitz mit dem Kutscher teilt. Der Weg führt
ans dem östlich gelegenen europäischen Viertel Coimbatores,
dessen Bnngalos ans kahlen, von Kaktnshecken umzäunten
Feldern weitläufig zerstreut sind, zunächst durch einen Teil des
bnntbelebten, farbenreichen Bazars der Eingeborcnen-Stadt,
biegt aber dann südwärts ab. Sobald man die Stadt ver-
läßt, wölben sich über der durchweg breit angelegten und
vortrefflich gehaltenen Landstraße oben tunnelartig dicht
zusammenschließend uralte indische Feigenbäume (Ficus
indica), von der tiefschattigen Lanbdecke hängen stalaktiten-
artig Luftwurzeln in selten gesehener Massenhaftigkeit herab.
Die ersten paar Meilen hinter Coimbatore fallen noch ganz
in das Bewüsserungsgebiet des von den westlich gelegenen
Velliyangiri-Bergen herabkommenden Noyil, dessen Wasser,
durch Kanäle ans die Felder geleitet, ititb in großen Teichen
aufgesammelt, einen wunderbar üppigen Pflanzenwnchs her-
vorzaubern: weithin wogt smaragdgrüner Reis ans wasser-
durchtränkten Feldern, eingefaßt von Kokospalmen mit träu-
merisch im Wind sich wiegenden Fiederkronen, ans etwas
höherem Terrain wird Mohrenhirse, Sorghum, Weizen,
Hanf, Ricinus, Tabak, indische Baumwolle gezogen, alles
sorgfältig bestellt, strotzend von gesunder Saftsülle. Welcher
Gegensatz, sobald man das Bewässerungsgebiet verläßt und
sich auf die leichten Bodenschwellen erhebt, die keine Wasser-
zufuhr ans dem Fluß gestatten! Biel Land ist hier gänzlich
unbebaut; auf den ärmlichen angepflanzt gewesenen Feldern ist
die Ernte bereits eingebracht; alle Felder sind — eine Eigentüm-
lichkeit des Distriktes Coimbatore, — ringsum eingefaßt mit
dichten Hecken des Balsambaumes, Balsamodendron Berryi,
stacheliger Opuntien, baumartiger Euphorbien (Eupkorbia
antiquorum), auch mit amerikanischen Agaven, deren, dicke,
häufig gewundene Blütenschäfte zum Teil noch die geschlossene
Knospe zeigen, zum Teil armleuchterähnlich entfaltet sind.
Dürr, rotbraun, verbrannt liegt das Land zwischen den saft-
armen Hecken: es ist das Bild der ganzen großen Ebene des
südöstlichen Indiens, die, vom regenreichen 8>V-Monsuu
durch die zwischenliegenden Ghats abgeschnitten, in ihrer
Wasserversorgung fast allein aus die spärlicheren Regen des
NOMonsnns, auf das Stauwasser der Flüsse und Teiche,
und auf die künstliche Bewässerung durch in das Grund-
wasser hinabgetriebene Brunnen angewiesen ist. Überall
stoßen die Gegensätze hart aneinander: soweit, und in dem
Maße, als Bewässerung ausführbar ist, reiche Fruchtbarkeit
— vollständiges wüstes Brachliegen oder kärglicher Anbau
in dem der Bewässerung nicht zugängigen Gebiete, das
während eines großen Teiles des Jahres geradezu als rot-
braune, dürre Wüste daliegt. Bleiben hier die Regen des
NO-Monsuns ganz aus, so treten Hungersnöte ein, die oft
die Bevölkerung millionenweise dahinraffen.
In zackigen, schroff schönen Linien hebt sich im Westen
vom warmen Hinunel das duftig schimmernde Gebirge der
Belliyangiri-Berge ab, die rechts mit der steil ab-
fallenden Spitze des Lambton Peak abschließen (Fig. 1).
Tiefer sinkt die Sonne, orange, rot, purpurn wird der
Abendhimmel, blauer die Bergsilhouette: jetzt ist die Sonne
für den Horizont untergegangen, aber noch nicht für die
Berge, die wie ein Schirm ihre letzten Strahlen auffangen
und ihre langen bläulichkalten Schatten wie mächtige
Radien auf dem goldig-purpurnen Hintergründe des west-
lichen Himmels bis über den Zenith hinauswerfen, nicht
eine roscnsingerige Morgen-, sondern eine schattenfingerige
Abendröte. Aber sehr rasch verblaßt das Farbenspiel. Wir
sind inzwischen schnell südwärts vorgerückt, in breiter Ein-
sattelung liegt jetzt im Westen die flach eingesenkte, rechts
und links von steilen Bergen begrenzte Prositlinie des Pal-
ghat-Einschnittes vor uns, über ihr der tief dunkelpurpurne
Abendhimmel. Rasch kommen die Sterne herauf und mit
ihnen das Zodiakallicht, genau im Westen, ein schmaler,
hoher, bis zum Zenith hinanfleuchtendcr Lichtkegel, weit Heller
als die Milchstraße, aber auch opaker, so daß alle Sterne
in seinem Bereich den Glanz verloren zu haben scheinen,
während sie in der Milchstraße glitzernd funkeln. Dunkler
wird die Luft, strahlender die Sterne, dann aber verblaßt
Alles schnell, und Milchstraße, wie Zodiakallicht treten fast
ganz zurück in der Dämmerung des rasch heraufziehenden
Mondes, welcher — seit drei Tagen ist der Vollmond
überschritten — von unten her, nicht wie bei uns, von der
Seite her, seine Rundung verloren hat.
In der Mitte des Weges, 20 km entfernt von Coim-
batore, bei dem Dörfchen Kanathukadavn, werden die Pferde
gewechselt. Unter ein paar alten Feigenbäumen neben der
Straße steht zum Wechseln fertig ein HalbesDutzend kleiner,
struppiger Pferdchen, rasch ist unsern dampfenden Tieren das
einfache Geschirr abgenommen, den frischen übergeworfen, und
nach kaum einer Minute geht es weiter im Galopp, in die
Nacht hinein.
Die Straße hebt sich und senkt sich, und damit wieder-
holt sich der Wechsel der Vegetation: an den Bächen reicher
Anbau, schattige Baumalleen an der Straße, auf den höhe-
ren Stellen magere Kaktus- und Wolfsmilchhecken und weiter
Ausblick über die im Mondlicht dämmerig schimmernde
Emil Schmidt: Ein Ausflug in die Anaimalai - Berge (Südindicn).
3
Landschaft. Zahlreiche Karren und Gruppen von Männern
und Weibern kommen uns entgegen und an den dunklen
Stellen, im tiefen Schatten der Baumgewölbe erfordert es
große Vorsicht, um einen Zusammenstoß zu vermeiden: sic
alle kehren vom Donnerstag-Wochenmarkt aus Pollachi zurück,
wo sie den Ertrag ihrer Felder, Baumwolle, Tabak, spani-
schen Pfeffer, Hülsenfrüchte, Getreide verkauft und dafür
aus Malabar eingeführte gewebte Stoffe, Messinggerüt,
Pfeffer rc. eingehandelt haben.
Erst nach 9 Uhr erreichten wir den Hauptort des Kreises,
Pollachi. Nachdem noch der Mann am Schlagbaum feinen
Zoll erhoben, führt mich der Kutscher, obgleich ich ihm mit
Hilfe meines Dolmetschers begreiflich zu machen versuchte,
daß ich im Rasthaus dieses Dorfes bleiben wollte, doch ohne
weiteres zum Bungalow des Assistent-Kollektors, Herrn
Harding, der schon von Coimbatore über mein Kommen be-
nachrichtigt war und der mich mit der, alle dortigen engli-
schen Beamten auszeichnenden Liebenswürdigkeit gastfreund-
lich bei sich aufnahm.
Am folgenden Morgen wurde die Reise — ein Transit
giebt cs weiter ins Gebirge hinein nicht mehr — mit
dem Ochsenkarren fortgesetzt; leider war die Aussicht, die
man, im Tunnel seines Mattendaches sitzend, nur noch
vorn und hinten haben kann, sehr eingeengt. Die Gegend
Fig. 1. Die Veüipangiri-Berge, westlich von Coimbatore. Nach einer Aquarelle von Pros. E. Schmidt.
hat im wesentlichen noch denselben Charakter, wie die am
gestrigen Abend durchfahrene, aber der gestern noch weit ent-
fernte Hintergrund der Anaimalai-Berge ist nahe gerückt.
Vor und links von uns türmen sie sich mächtig auf, eine
Reihe schön gezeichneter Spitzen, trotziger Felsköpfe, schroffer
Zacken (Fig. 2). Besonders schön ist der Blick von dem
am FlusseAliyar gelegenen Dorfe Anaimalai ans, daS wir
nach zwei Stunden erreichen: im Vordergrund an dem Flusse,
Fig. 2. Anaimalai-Berge, vom gleichnamigen Dorfe aus in südwestlicher Richtung gesehen. Nach einer
Aquarelle von Prof. E. Schmidt.
der etwa die Größe der Saale bei Jena hat, ein Hindu- ! Das Dorf Anaimalai (etwa 5000 Einwohner) hat nur
Tempel, daneben säulcnreiche Mandapans (Pilgerhallcn), ! wenige Häuser, die durch etwas stattlicheres Aussehen ans
überschattet von dichtem Mango-Gebüsch, das Ufer reich bc- j dem Einerlei der viereckigen Lehmhütten mit weit überstchcn-
lebt von wassertragenden Frauen und Mädchen in färben- | dem Strohdach, dem gewöhnlichen Hanse der Tamils, her-
reichen Kleidern von griechischeur Wurf und mit blitzend- j vorragen. Um die Häuser und um das Dorf liegen viele
blanken Messinggefäßen; in der Ferne schaut man südlich Schutt- und Schmutzhansen, zahlreiche Geier erspähen von
in die Scharte hinein, die der Fluß in das Gebirge einge- I oben her, ob nichts Frcßbarcs darin verborgen ist. Im
schnitten hat, und hinter welcher koulissenartig ein reich ab- I Dorfe wohnt eine größere Anzahl von Töpfern, die über
gestuftes Bergland aufsteigt, mit steilen Felscnstirncn, an ! guten Thon verfügen müssen, wenigstens fertigen sie schöne
denen kleine weiße Wölkchen hängen. Auch gerade vor uns, j Helle, auf dem Bruch grellrote Töpfe. Am beliebtesten ist
nach Südwesten, schließt das Bild mit spitzen Höhen ab: im die Form eines rundbauchigen Topfes ohne flachen Boden
Mittelgrunde steigt ans der Ebene, 4 bis 5 km vom Dorfe oder Fuß und mit müßig engem Hals, aus welchen rote
Anaimalai entfernt, ein etwa 100 m hoher steiler Felsenklotz ! und schwarze Dreiecksverzierung aufgemalt ist. Alte, schöne
unvermittelt aus der Ebene auf. indische Tempel sind am Ende des vorigen Jahrhunderts
1*
4
Prof. Dr. S. Rüge: Ein Jubiläum der deutschen Kartographie.
mohammedanischen! Fanatismus zum Opfer gefallen; als
hervorragendstes Gebäude erhebt sich setzt eine weißgetünchte
Moschee mit vier dünnen, schmucklosen Minarets. Es leben
verhältnismäßig viele Mohammedaner hier (723); ihre
Frauen sind gar nicht besonders scheu vor Fremden, sie
kamen sogleich aus ihren Häusern heraus, als ich ein paar
Kindern einige kleine Kupfermünzen geschenkt hatte und
sprachen ganz ungeniert vermittelst meines Hindudolmetschers
mit mir, dem Christen und Fremden. Sie und die Kinder
hatten den Saum der Ohren mit einer Menge kleiner
Löcher durchbohrt, in welchen ringförmig gebogene Draht-
stückchen von Messing, Silber oder Gold eingefügt waren;
bei mehreren Kindern und größeren Mädchen zählte ich sc
12 Ohrsanmlöcher.
Um Anaimalai herum ist reich entwickelter Feldbau.
Das Wasser des Aliyar und seiner beiden, nahe aul Dorfe
einmündenden Nebenflüsse, des Uppar und des Palür, sind
durch gemauerte Wehre in Kanäle und Teiche geleitet, so
daß ergiebige Flußbewässerung möglich ist. Dann aber ist
hier auch das System der sogenannten Garten-Irri-
gation, d. h. der Bewässerung mit Grundwasser, das aus
Brunnen heraufgezogen wird, in ausgedehnter Anwendung.
Über dem Brunnen steht ein einfaches Gerüst mit einer
Rolle, daran stößt für die Zugochsen eine abschüssige Bahn,
die an ihrem Brunnenende über den Boden erhöht, am
andern Ende in die Erde eingegraben ist. Die Tiere gehen
an der einen Seite der Bahn hinab, auf der andern hinauf;
sind sie oben angekommen, so wird der Strick, der über die
Rolle läuft und der an seinem Brunnenende einen sehr-
großen Lederkübel trägt, an das Nackenholz befestigt, und
die Ochsen ziehen, die Bahn hinabschreitend, den Kübel voll
Wasser hinauf, das dann ein am Brunnen stehender Kuli
in den Hauptkanal des Gartens ausgießt. Unten ange-
kommen, löst der Ochsentreiber den Strick, der durch den in
den Brunnen hinabsinkenden Kübel wieder zurückgeschleift
wird, während das Gespann wieder auf der andern Seite
der Bahn zum Brunnen hinaufsteigt, um das Spiel von
neuem, zu beginnen.
Das Systeul der Garten-Bewässerung giebt sehr reiche
Erträgnisse. Aber auch das nicht bewässerte Land ist hier
ergiebiger als sonst, denn die Nähe der Berge und das offne
Thor des Palghat bringen doch etwas westlichen Regen.
Dazu kommt, daß der Boden, der noch vor einem halben
Jahrhundert bis zum Dorf Anaimalai heran mit dichtem
Wald bestanden war, jetzt aber bis an den Fuß der Berge
abgeholzt ist, sehr reichen Humus besitzt und dadurch die
Feuchtigkeit länger zurückhält. Diese, dem Landbau gewon-
nenen Felder sind daher einstweilen noch sehr ertragsreich,
freilich aber auch noch recht siebergefährlich und Vielen der
uns Begegnenden ist in ihrem fahlen Aussehen, den tief-
liegenden Augen der Stempel der Malaria deutlich ausge-
drückt.
Wenn so diese Striche vor dem Gebirge auch etwas
günstiger mit Feuchtigkeit ausgestattet sind, so erinnern uns
doch die Agavenhecken, die Opuntien, die Asclepien daran,
daß cs im Grunde doch immer nur Trockengcbict ist. Hier
und da steht auf und an den Feldern eine einzelne Mirnose
mit schirmartig ausgebreitetem Astwerk, das einem auf
einem Pfahle stehenden riesigen Storchnest gleicht: es sind
die Wachplätze für die Feldhüter, die sich hier in den Baum
hinein eine Art flachen Boden gebaut haben, um von hier-
aus mit Lärm, Steinwürfcn, unter Umständen auch mit
Feuerbrändcn die den Ackerfrüchtcn schädlichen Tiere fortzu-
scheuchen. Ein Bambusstab, dessen Zweige nicht weit vom
Stamuie abgeschnitten sind, führt als Leiter hinauf zu dcr
erhöhten Wachtstubc.
Lin Jubiläum der deutschen Kartographie.
Von P)rof. Dr. 5. Rüge.
(Nit einer Karte als Sonderbeilage.)
Vor vierhundert Jahren, im Sommer 1491, erfchien
die erstc gedruckte Karte von Deutschland. Dicse mcrk-
würdige Karte, die der Ausgangspunkt für die kartogra-
phische Darstellung unseres Landes bildct, Hat sich nur in
einem Exemplare im britischen Musenui erhalten, wo sic
durch Nordenskiold wieder entdeckt worden ist. Der Güte
dieses berühniten Forschers verdanke ich eine photographische
Nachbildung, wonach auch die hier diescn Bemerkungen bei-
gegebene Kopie angefertigt ist. Der Titel besteht aus zwolf
Hexametern:
Quod picta est parva Germania tota tabella
Et latus Italie gelidas quod prospicite alpes
Sauromatumque truces populi gentesque profundo
Yiene adriaco Pelopis regnumque vetusti
Pannonios et tendit agros qua frigidus Hister
Aque Licaonios terrarum quicquid in axes
Vergit et equoreas Rhodanus qua verberet undas
Et multe punctis urbes villeque notate.
Gracia sit Cuse Nicolao murice quondam
Qui tyrio contectus erat splendor que senatus
Ingens Romani nulli explorata priorum
EI loca qui modico celari iussit in ere.
Eystat anno salutis 1491. XII. Kalendis Augusti persectum.
Der Jnhalt latzt sich ctwa dahin zusannnenfasscn: Dast
ganz Deutschland und ein Teil von Italien auf dem kleinen
Blatte gemalt ist, daß man die eisigen Alpen vor sich
sieht n. s. w., das verdanken wir dem Nikolaus Cusa, der-
einst mit dem tyrischen Purpur bekleidet war (Kardinal).
Er hat diese Karte stechen lassen, aber sie ist erst am
21. August 1491 fertig geworden.
Nikolaus Cusa oder Cusanus gehört zu den hervor-
ragendsten Gelehrten und Kirchenfürsten des 15. Jahrhunderts.
Er war zu Kues an der Mosel 1401 geboren, sein Familien-
name war Chrypffs (d. h. Krebs). Mit Unterstützung des
Grafen Manderscheid hatte er zu Dcventer eine gelehrte
Bildung erhalten, machte dann 1424 eine Studienreise nach
Italien und gewann in Padua den Grad eines Doktors der
Rechte. Ein verlorener Prozeß verleidete ihm aber die
Rechtswissenschaft und so wandte er sich der Theologie zu
und wurde 1430 in Deutschland zum Priester geweiht. Für-
sein ganzes Leben ward ihn: aber seine Bekanntschaft mit
dem Kardinallegaten Giuliano Cesarini von bestimmendem
Einfluß. Schon im Jahre 1432 wurde er Mitglied des
Konzils zu Pisa, dessen Verhandlungen von Cesarini geleitet
wurden. Cusa beschäftigte sich indes nicht bloß mit geist-
lichen Dingen; geistig bedeutende Männer umfaßten damals
so ziemlich alle Wissenschaften und befaßten sich mit allen
möglichen wissenschaftlichen Fragen. Seine Bekanntschaft
mit dem berühmten Florentiner Paul Toscanclli führte ihn
Prof. Dr. S. Nuge: Ein Jubiläum der deutschen Kartographie.
5
den Naturwissenschaften und namentlich der Mathematik zn.
Mit Toscanelli und später auch mit Peurbach, den er
1458 in Rom kennen lernte, blieb er in lebhaftem Verkehr.
„Dem sehr werten und sehr gelehrten Paulus, der Natur-
wissenschaften Kundigen zu Florenz (Toscanelli)", wid-
mete Cusa nicht allein seine Schrift de geometricis trans-
mutationibus, sondern auch seine zweite de arithmetricis
complementis und führte in dem Dialog de quadra-
tura circuli sich mit seinem Freunde Paulus im Gespräch
ein. Schon 1448 war er Kardinal geworden, bereiste
1451 einen großen Teil von Deutschland und ging dann
wieder nach Italien, wo er am 11. August 1464 zn Todi
bei Spoleto starb.
Wenn auch in seinen Schriften nichts darüber zu finden
ist, so unterliegt es doch keinem Zweifel, daß Toscanelli ihn
auch auf das damals ncuerwachende Studium der Geographie
hingelenkt hat. Es mag hier nur erwähnt werden, daß von
Toscanelli der Gedanke herrüht, ein Gemälde nicht der be-
kannten Welt, sondern ein Bild der Grenzen der unbekannten
Räume des Erdballs zu entwerfen und daß dieses Bild
der ozeanischen Seite des Globus, auf dem die Westgrenze
Europa-Afrikas und das Ostgestadc Asiens zu sehen war,
ihn ans den Plan führen mußte, den Kolunilms später aus-
führen sollte, nämlich ans dem Westwcge von Europa aus
die reichen Länder des Orients, China nnd Indien, zu er-
reichen. Toscanelli hat diesen Plan nebst Karte schon 1474
dem portugiesischen Hose vorlegen lassen und Kolumbus hat
sich von Toscanelli später eine Kopie dieser Karte erbeten
und sie auch erhalten. Mit ihr und nach ihr hat er seine
erste Reise ausgeführt, und man darf mit großer Sicherheit
annehmen, das uns der Globus Behaims das Bild, wie es
Toscanelli entworfen hat, noch heute bewahrt. Toscanelli
stand mitten in diesen großen Problemen des neuen Studiums
der Erdkunde oder der Renaissance der Geographie und die
deutsche Karte Cusas ist ein Abglanz jener Freundschaft
zwischen Toscanelli und Cusa.
Den wesentlichsten Anstoß zur raschen Entwickelung der
Kartographie gab das Wiederbekanntwerden des Ptolemäns,
dessen Werk dein lateinischen Abendlande fremd geworden
war. Erst als Jakob Angelus 1410 die lateinische Über-
setzung jener griechischen Kosmographie vollendet hatte, wurde
Ptolemäns redivivus der Lehrmeister des gesamten Abend-
landes. Zunächst wurde er nur handschriftlich verbreitet;
allein auch das war schon eine kostspielige Arbeit, da die
Exemplare mit einer bedeutenden Zahl von Karten ver-
sehen werden mußten. Um das Abschriftcnwescn machte sich
ein deutscher Mönch, ein Benediktiner aus Neichenbach,
namens Nikolaus Germanus, verdient. Er besorgte nicht
nur gute Abschriften des Textes, sondern versah sie auch mit
schön gemalten Karten nach einer verbesserten Projektion,
nach der sogenannten Kegelprojektion, die Ptolemäns nur
für seine Weltkarte in Anwendung gebracht hatte. Dieser
Nikolaus Germanus, der wohl gelegentlich mit Nikolaus
Cusanns verwechselt worden ist, hat auch lange unter ent-
stelltem Namen seinen Nachruhm suchen müssen. Da das
Wort Dominus, Donnus, als Titel und Begleiter seines
Namens Nikolaus mehrfach in Donis verstümmelt wurde,
so kennt die Geschichte diesen verdienstvollen Geistlichen bis
in die neueste Zeit nur als Nikolaus Donis und spricht
auch von einer Donisprojektion. Nun hat er seinen Ptolc-
niäns zwar dem Papste Paul II. (1464 bis 1471) ge-
widmet, und wenn Cusa bereits 1464 gestorben ist, so müßte
man annehmen, daß seine Karte von Deutschland nicht von
der Donisprojektion beeinflußt sein könnte, nnd doch sehen
wir sic in ausgezeichneter Kegelprojektion ausgeführt. Die
Sache wird sich wohl dahin erklären lassen, daß Nikolaus
Germanus, allerdings erst frühestens 1464, seine Arbeit
zum Abschluß gebracht hat, daß er aber Jahre lange Vor-
studien hat machen müssen und daß Nikolaus Cusa von
diesen Arbeiten, da sie in Italien ausgeführt wurden, Kennt-
nis gehabt, wohl auch den Rcichcnbacher Mönch persönlich 1
gekannt hat. Unmöglich bleibt es freilich nicht, daß Cusa ,
die von Ptolemäns schon erklärte Kegelproduktion selbständig
und unabhängig angewandt hat: dann wäre sein Verdienst
um so höher zu schützen. Nikolaus Gcrmanus starb 1471,
und ein Jahr darauf erschien der lateinische Ptolemäns zum
ersten Mal in Druck, freilich noch ohne Karten. Daß die
Angabe des Jahres 1462 in dieser Ausgabe auf einem
Druckfehler beruht, ist aus dem Lebensalter des Heraus-
gebers erwiesen. Die erste Ptolemänsausgabe mit Karten
verdanken wir wieder einem Deutschen, Arnold Buckinck,
der 1478 seine prachtvolle Arbeit mit vorzüglichen Kupfer-
stichkarten in Rom erscheinen ließ. Diesseits der Alpen
herrschte durch die ganze erste Hülste des 16. Jahrhunderts
der Holzschnitt bei Herstellung der Karten vor, jenseits der
Alpen der feinere Kupferstich. Nur die 1491 gestochene
Karte Eusas macht eine Ausnahme. Die Kartensprache
des Ptolemäns von 1478 ist maßgebend geworden für die
graphische Darstellungsweise aller Kulturvölker des Abend-
landes. Die Buckinckschen Karten sind, mit Ausnahme einer
Weltkarte von etwa 1450 und einer rohen Karte vom hei-
ligen Lande in Eudimentum novitiorum (Lübeck 1475),
die ersten gedruckten modernen Karten. Dann folgt
die Ulmer Ptolemänsausgabe von 1482. Im selben Jahre
erschien in der vcnetianischen Ausgabe des Pomp. Mela eine
kleine Weltkarte und ein gleiches Kärtchen im Macrobius
(Brescia 1483). Das sind, wenn man von den ziemlich
rohen kleinen Karten der Inseln des griechischen Archipels
absieht, die im Jsolario 1477 erschienen, die^ einzigen Vor-
läufer Eusas, wenn das Jahr der Vollendung seiner Karte
im Stich betont wird; handschriftlich war Eusas Karte eher
fertig. Neue Karten von größern Ländereien waren bis
dahin noch nicht im Druck erschienen, Deutschland und Cusa
beginnen den Reigen. Cusas^Arbeit ist also die erste ge-
druckte Originalkarte, die uns Mitteleuropa nicht nach Vor-
stellung der alten Griechen, sondern nach der lebensvollen
Auffassung eines modernen Beobachters, der das Land ans
vielfachen Reisen kennen gelernt hat, vor Augen führt.
Warum die Karte so spät, fast 30 Jahre nach Eusas
Tode erscheint, warum sic in der Bischofstadt an der Alt-
mühl gestochen ist, darüber fehlt uns jede Nachricht. Ein
Glück, daß sic überhaupt wieder aufgefunden! Als Norden-
skiöld an seinem Facsimile-Atlas arbeitete, kannte er das
Blatt noch nicht (vergl. Fol. 25, 40a, 116b, 119b), aber
er vermutete schon mit Recht, daß in der Ptolemänsausgabe
von 1508 (Rom) eine Kopie dieser gesuchten Karte gegeben
sei. Ebenso weiß auch L. Gallois (Des geograplies alle-
mands de la renaissance, Paris 1890, p. 221) noch
nicht, daß die Karte wiedergefunden ist.
Unser bekannter Kosmograph des 16. Jahrhunderts,
Sebastian Münster, veröffentlichte 1530 eine Beschreibung
Germaniens zur Erläuterung der Karte Eusas (pro tabula
Nicolai Cusae intelligenda). Diese jedenfalls damals
noch geschätzte und seltene Karte war von Kaspar Peutinger
angekauft, und der thätige gelehrte Buchdrucker Andreas
Eratander oder Cartander zn Basel hatte beschlossen, eine
neue Ausgabe der Karte zu besorgen. Ob cs geschehen ist,
weiß ich nicht; jedenfalls ist kein Blatt davon erhalten oder-
bekannt geworden. Daß aber Sebastian Münster in seiner
Germania nur unsere Karte beschreibt nnd keine andre vor
sich gehabt haben kann, geht aus seinen bestimmten Angaben
über den Entwurf der Karte, in dem Kapitel „Canon ta-
bulae“, nnd die Erstreckung nach Längen- und Breitengraden
schon deutlich hervor, wird aber dadurch noch sicherer, daß
6
Prof. Dr. S. Rüge: Ein Jubiläum der deutschen Kartographie.
er auf einzelne geographische Irrtümer und Fehler in den
Ortsnamen aufmerksam macht *).
So lasse Cusa irrtümlich den Neckar bei Nottenburg
entspringen, er verlege Bamberg an den Fuß des Böhmer-
waldes; statt Eiflia (Eifel) sei Eislia, statt Hegavia (Hegau)
sei Hegasia, statt Massilia Masilia geschrieben. Alle diese
Ausstellungen finden sich auf der Karte bestätigt. Da die
Karte viele Jahre nach Cusas Tode erst vollendet wurde,
war eine genaue Prüfung der Platte von Seite des Ver-
fassers in bezug ans Richtigstellung der Namen ausgeschlossen.
Prüfen wir nun die Karte selbst, so füllt auf den ersten
Blick die trapezförmige Gestalt des Blattes inS Auge als
klarer Ausdruck der Kegclprojektion. Im Rahmen an den
Seiten, oben und unten sind nicht bloß die Gradabteilungen
scharf hervorgehoben, sondern jeder Grad ist wieder in zwölf
zerlegt, die nach Münster (S. 498) je fünf italienischen
Meilen entsprechen, von denen 60 auf einen Breitengrad
gerechnet wurden. Diese Einteilung, die also nicht nach
deutschem Maße 15 Meilen, sondern 60 italienische Meilen
ansetzt, weist entschieden auf italienischen Einfluß hin, unter
dem Cusa die Karte entworfen hat. In der äußern Er-
scheinung erinnert die Karte außerordentlich an die Karten
der Ptolcmäusausgabe von 1478, 1490 n. s. w. Stich
und Gestalt der Buchstaben, ja sogar die Seitcnlegenden
selbst gleichen sich, z. B.:
C u s a
DECIMVSOCTAVVS . PARALELLVS.
DIFFEET . AB . AEQYINOCTIALI .HOEIS 5'/z .HABENS
MAXIMYM .DIEM .HOKABVM 17>/z-
Ptolemäus
OCTAVVDECIMVS . PARALELLVS.
DIFEEßT . AB . EQVINOCTIALI . HOKIS 5ya . HABENS
MAXIMVM . DIEM . HOKAK YM 17'/2.
Die Größe der Buchstaben, die Punkte in der Mitte
zwischen den Worten, der Text sprechen für das gleiche
Vorbild, höchst wahrscheinlich Nikolaus Germanus. Die
Küstenumrisse an der Ostsee, der gerade östliche Verlauf der
Strandlinien, die Gestalt der Propontis und der Halbinsel
Italien lehnen sich entschieden an das griechische Vorbild,
auch der Laus des untern Donaustromes erinnert noch daran;
sonst aber ist der ganze Inhalt der Karte modern und vom
Ptolemäus nichts mehr zu spüren. Zwar ist das ganze
Kartenbild mit einem vollständigen Netze von Gradlinien
überspannt, doch möchte ich nicht annehnien, daß Cusa be-
reits zahlreiche astronomische Beobachtungen zu seiner Ver-
fügung gehabt habe.
Nur im Südosten Deutschlands, in Franken, Schwaben
und am Rhein, liegen die Städte in annähernd richtiger
geographischer Breite; je weiter man nach Nordosten kommt,
um so unsicherer wird die Darstellung. Die Flußläufe sind
zwar auch eingezeichnet, aber für sich allein ist nicht ein
einziger an seiner Gestalt zu erkennen, selbst der Rhein oder
Main nicht. Am Ende des 15. Jahrhunderts wurden in
den sogenannten alfonsinischen Tafeln die ersten Listen neuer
Breitcnbestimmungcn gedruckt, die wohl, soweit sie Deutsch-
land angehen, von Peurbach und Regiomontan herrühren
mögen. Diese Bestimmungen harmonieren aber nur in
0 L. Gallois hat in seinem erwähnten Werke (appendix IX,
p. 258) nach dem Exemplar der Züricher Kantonalbibliothek
das wichtige Kapitel, in dem Münster die Karte Cusas kritisch
beleuchtet (Civitatum qnarundam et locorum, quae conti-
net tabula, ocularis demonstratio) zum Abdruck gebracht;
indes ist die ganze Arbeit Münsters auch in dem zu Basel 1574
erschienenen Sammelwerke Historicum opus (tom. I, p. 467
bis 500) enthalten.
wenigen Fällen mit den Positionen Cusas. Ich werde in
den folgenden Tabellen Cusas Annahmen mit den späteren
astronomischen Bestimmungen zusammenstellen und diese
Listen bis auf Schöner und Apian ausdehnen, weil das einen
beachtenswerten Fingerzeig auch für die folgenden frühesten
Karten von Deutschland abgeben wird, die noch besprochcn
werden sollen. In bezug auf die Ordnung der Städte
muß ich bemerken, daß in dem ganzen hier in Frage kommen-
den Zeitraum die Orte nicht nach der Breite, sondern nach
der Längenlage, nach Meridianstreifen geordnet sind. In
der letzten Kolumne sind noch einige Ortsnamen aus Pto-
lemäus angeführt, die man glaubte mit neuern bekannten
Städten identifizieren zu können, man gewann dadurch an-
scheinend einige willkommene astronomische Stützpunkte für
die Karte.
C u s a. «m è 1 r§ w cF> Ptolemäus
Prunis 55° 52» 52» 51"32'
(Briiaae)
Vienna Pro- 45° 44» — — — —
vinciae
Massilia 43» 43»50' — —
G an clavum 53» 30' 52» 52» — 51»30'
(Gent)
Macblinia 53» 51» 51» — 51»15'
Colonia 52»40' 51» 51» — 51»
Agrip.
Maguntia 50»30' 50» 50» — 50» 8' Lugodinum 53» 20' Ganodurum
Traiectum 55» 53» 53» 52» 20' 52» 16'
Constantia 46» 30' 46" 48» — 47» 28' 46» 30'
Argentina 48» 30' 47° 49» — 48»44'
Herbipolis 50» 50» 50» 49» 50' 49°57' Artaunum
Prunsuiga 53»30' 53» 53» 52» 40' 52»34' 50»
Nuremberga 49» 49» 49» 49» 30' 49»24'
Ulma 47»30' 47» 48» 48»30' 48"26' Bicurgium 51» 15'
Kr for dia 51» 51» 51» — 51°10'
Batisbona 4 7» 30' 49» 49» 49» 48»56' Artobriga
Lips 50» 40' 51» 51» — 51 »24' 47» 10'
Augusta 47» 46» 48» 48»5' 48»20'
Vinci.
Brixina 46» 45» 46» — — Mesovium
Madeburgum 52» 54» 52» — 52» 20' 53» 50'
Lubeca 56» 56» 55» 54»50' 54»48' Casurgis
Praga 49» 50» 50» 50» 50»20' 50» 10'
V ratislavia 50» 51» 51» 51»5' 51 »10' Iiudorgis
Cracosia 50» 50» 50» 30'
Unter den mit Städten im Ptolemäus identifizierten
Orten sind nur zwei, Konstanz und Würzburg, in gleicher
Breite angenommen worden. Aus ältester Zeit stammt die
Breitenbestimmung für Massilia, die erste Beobachtung
machte Pythros im vierten Jahrhundert v. Chr. Außerdem
stimmen Cusa und die alfonsinischen Tafeln nur für Würz-
burg und Erfurt, sowie merkwürdiger Weise für Lübeck und
Krakau überein. Aber man wird das allgemeine Ergebnis
aus der Vergleichung gewinnen können, daß Cusa wenig
astronomische Stützpunkte für seine Darstellung verwerten
konnte, und daß noch lange Zeit die Bestimmungen der
Astronomen nicht unwesentlich von einander abwichen.
Jedenfalls wird man aber dem Kardinal seine Anerkennung
nicht versagen können, daß er nach streng wissenschaftlichen
Grundsätzen seine Karte aufzubauen unternahm.
Werfen wir nun einen Blick aus die Karten, die in dem
Jahrhundert von 1491 bis 1585 über Deutschland erschienen.
Es ist das Zeitalter der Blüte deutscher Kartographie, von
Cusa bis auf Mereator. Die nächsten Karten stehen in
Prof. Dr. S. Nuge: Ein Jubiläum der deutschen Kartographie.
7
bezug auf Technik weit hinter der ersten zurück, und auch in
bezug auf die Projektion werden wir im Dunkeln gelaffen.
Es sind rohe Holzschnitte mit derber Schrift, die gegen
den Kupferstich ungemein abstechen. Um den Fortschritt in
der richtigen Darstellung bemessen zu können, muß man vor
allem aus das Flnßnetz achten. Weiterhin kommt auch die
Form der Schrift und der Ortsnamen in Frage. Das
erste dieser Blätter erschien 1493 zu Nürnberg in Hart-
mann Schedels Chronik. Es sei nebenbei daran er-
innert, daß in das Jahr zwischen dem Erscheinen der beiden
ersten Karten von Deutschland, daß in das Jahr 1492 die
Herstellung des ersten modernen Globus durch Martin
Behaim in Nürnberg fällt. Ans Hartmann Schedels Karte
fehlen Angaben über Länge und Breite, sowie über den
Maßstab. Während Cusa die Viigc der Städte durch dunkle
Kreise markiert, giebt Schedel nur die Namen der Städte,
ohne eine Andeutung, wo wir die Orte zu suchen haben.
Das Flußnetz gleicht der Darstellung Ensas. Alles in allem
macht Schedels Blatt den Einfluß einer laienhaften Kopie.
Einen entschiedenen Fortschritt bekundet, wenn wir von
der römischen Kopie Ensas (im Ptolemäus 1508) absehen,
die Karte Waldseemüllers im Straßburger Ptolemäus
1513. Waldseemüller, der Erfinder des Namens Amerika
(1507), hat sich durch die neuen Karten in der genannten
Ptolemäusausgabe ein ehrenvolles Denkmal seines Könnens
gesetzt. Auch bei dieser Darstellung des deutschen Landes
muß im allgemeinen gesagt werden: weil unsre ersten
Geographen sämtlich aus dem Westen oder Südwesten des
Reiches stammen, so sind die heimatlichen Gebiete und deren
weitere Umgebung am besten gelungen. Waldseemüller stammt
ans dem Breisgan und lebte in Lothringen und im Elsaß.
Der Südwesten Deutschlands zeichnet sich bei ihm durch
Reichhaltigkeit und annähernd richtige Darstellung aus.
Der Rhein von Chur bis Mainz ist wohl kenntlich, ebenso
von Koblenz bis zur Mündung. Wir sehen hier auch zuerst
den Main „schlangenwandelnd". Ebenso mag der Lauf
der Donau von den Quellen bis Wien befriedigen. Dagegen
sind Ems und Weser kaum wieder zu erkennen. Der obere
Lauf der Elbe und der Saale ist, abgesehen von den fehlen-
den Elbquellen, recht gut, dagegen bietet der untere Lauf
von Magdeburg bis zur Mündung keine Ähnlichkeit. Die
Spree läuft ziemlich gerade von Süden nach Norden, von
der Quelle oberhalb Bautzen nach Berührung von Berlin
bis Stralsund direkt in die Ostsee. Rühmlich hervorzuheben
ist die ziemlich richtige Gruppierung der Gebirge, namhaft
gemacht sind Rigrasilva, Bosagus mons, Eissel, Westersilva,
Otenwald, Steigerwald, Thnringorum silva, Picearia silva.
Der böhmische Gebirgsring ist unbenannt. Weiter muß
noch erwähnt werden, daß die Breitengrade von 41 bis 56
angegeben sind und daß unten am Rande auch ein Maßstab
für deutsche Meilen nicht fehlt. Noch eins verdient bemerkt
zu werden, daß Waldscemüller zuerst anfängt, wenigstens
stellenweise, die Namen der Flüsse in ihrer deutschen Form
zu geben. Daneben kommen allerdings auch lateinische vor,
namentlich wo sie schon im Altertum bekannt waren. So
schreibt er Nab, Egcr, Isar, Ens, Salsa, Lait, und giebt
wohl auch gelegentlich den lateinischen nnd den deutschen
Namen nebeneinander, z. B. Weser fl. alias Visui-^is,
Amasns sine Enis fl.
Auf Waldseemüller folgt Sebastian Münster, der in
seiner Kosmographey 1544 ein kleines Blatt darbietet unter
dem Titel „Teusch(!)landt mit seinem gantzem begriff vnd
eingeschlossenen landtschafst". Das Blatt fußt auf seinem
Vorgänger, ist aber ärmer an Einzelheiten, zeigt nirgend
einen Fortschritt in der Berbesserung der Flußläufe, läßt die
Spree als selbständigen Fluß auftreten, giebt einige wenige
neue Flußnamen in deutscher Form, z. B. Mosel, Wal,
Lipp und führt nur sehr wenige Berg- oder Gebirgsnamen
an, wie z. B. Brenner, Hartzwald, Duringerwaldt, Bogesus,
Eyscl, vielleicht auch den unleserlich gewordenen Odenwaldt.
Es kommen von dieser Karte auch roh kolorierte Exemplare
vor, auf denen die Landschaften ziemlich willkürlich bunt an-
gestrichen, die Flüsse und Seen aber breit und kräftig im
schönsten Blau prangen.
Eine Kopie der Münsterschen Karte findet sich in
Io. Stumpfs Schweizer Chronik (Zürich 1548), aber sie
ist künstlerisch besser gestochen und durch zahlreiche kolorierte
Wappen der Staaten und Herrschaften bereichert, die über
das ganze Blatt verstreut sind. Es ist der Anfang des
dekorativen Schmuckes, den namentlich das 17. Jahrhundert
ausbildete. Daß durch die Wappen etwas neues eingeführt
wird, bekundet die kleinere Inschrift rechts unten ans der
Karte. „Wir haben auch zu mehr liecht vnnd besserem ver-
staubt, vnsers Vermögens, den namhasstigsten Fürstenthnmen
jhre Wappen zugesetzt, in Hoffnung, es sol dem Leser nit
wenig anmnts gepcren".
Die Namen der Landschaften, die bei Münster stets in latei-
nischer Form angebracht waren, sind bis aus wenige (Croa-
tia, Rhetia) verdeutscht, z. B. Prüssen, Bleichsten, Beiern
(bravo!), Düringen, Franken, Brnnschwig u. s. w., überhaupt
geht ein großdeutscher Zug durch die ganze Behandlung und
Darstellung. Man fühlt dies besonders ans der Inschrift
heraus, die mit einer schönen Randverzierung umgeben,
rechts seitwärts angebracht, folgendermaßen lautet: „In
dieser Tafel Germanie haben wir nit gefolget der Be-
schreibung der Alten, die Germanian allein zwischen dem
Rhyn und Dunaw einschließen, sonder vil mehr gesehen ansf
unserer Zcyt sitten, art vnnd sprach, darbey wir Teütsche
Elation befindend, weit über die Dunaw hinauß, biß in
die obersten Alp spitzen, deßgleychen vber den Rhyn, biß an
die Schelde sich erstrecken". Dies deutsche Bewußtsein giebt
sich auch noch in der durchweg deutschen Form der Lünder-
nnd Städtenamen und der ausschließlichen Verwendung
deutscher Buchstaben kund, während die früheren Karten-
zeichner sich in dieser Beziehung schwankend und unsicher
zeigen. Schedel giebt die lateinischen Ländernamen mit
großen lateinischen Buchstaben, die Städtenamen bald deutsch,
bald lateinisch; neben Mentz nnd Trier stehen Basilea nnd
Uüitst. Waldseemüller macht es ganz ähnlich. Münster giebt
in den Ländernamen bereits etwas nach: da steht Vucst-
phalia neben Holand, aber die Städte sind in humanistischem
Sinne latinisiert. Stumpf wirft, wie wir gesehen haben,
das fremde Kleid ganz beiseite. Seine Karte von Deutsch-
land ist auch äußerlich kerndeutsch. Auf Münster fußt end-
lich noch eine merkwürdige Karte Stellas: „Die gemeine
Landtaffel des deutschen Landes, Etwan durch Herrn Se-
bastianum Münsternm geordnet, nun aber vernewert nnd
gebessert, durch Tilcmannnm Stellam von Eigen". Diese
aus zwei Bogen zusammengesetzte Karte ist dem Herzog
Johann Albrecht von Mecklenburg dediciert nnd vom Jahre
1560 datiert; sie ist kreisförmig, im innersten Ringe sind
die Breitengrade 45" bis 55" 40' angegeben in Abteilungen
von 10 zu 10 Minuten. Um den innern Ring folgen die
12 Zeichen des Tierkreises. Die vier Winkel des Karten-
blattes sind durch kleinere Kreise ausgefüllt, in denen oben
das Diurnal und Rocturnal, unten der „Circkel der Jarzal
vnd gleichen Stund", sowie der „Circkel des Horoscopi vnd
Ptanetenstund" dargestellt sind. Die Karte ist reich an
Einzelheiten; cS sind nur lateinische Buchstaben verwendet,
aber die Namensformen sind sämtlich deutsch. Die Hydro-
graphie im deutschen Osten ist richtiger, die Spree erscheint
als Nebenfluß der Elbe, die Oder mit ihren linken Neben-
flüssen tritt in erkennbarer Form ein. Ortelius nennt in
seinem Kartenkatalog diese Arbeit Stellas nicht, wohl aber
8
Prof. Dr. S. Rüge: Ein Jubiläuin der deutschen Kartographie.
erwähnt er, daß Stella eine verbesserte Ausgabe der Münster-
sehen Karte 1567 bei Peter Zeitz in Wittenberg habe er-
scheinen tasten.
Ortetins nennt noch einige Karten Germaniens, die vor
1570 vollendet gewesen sein müssen, über deren Verbleib
sich bis jetzt kein Nachweis hat geben tasten. Auch Norden-
kiöld weiß in seinem „Fascimite-Atlas" keine weitern Be-
lege zu bringen. Indes ist nicht ausgeschlossen, daß sie noch
in irgend einer alten Sammlung wieder zunr Vorschein
kommen. Es sind folgende Blatter: Carolus Heydanus,
Germaniae typus (Antwerpen hoi Hieronymus Eock);
Christianus Schrot von Sonsbeck hat auch eine Karte
von ganz Deutschland geliefert, die von demselben Cock her-
ausgegeben ist. Chriftophorus Pyramius endlich gab
eine tabula Germaniae zu Brüssel heraus.
Ehe ich mich aber znm Abschluß des ersten Jahrhunderts
der deutschen Kartographie, zu Ortelius und Mercator, wende,
muß ich noch einer besonderen kleinen Gruppe von Dar-
stellungen gedenken, die wesentlich praktischen Zwecken dienen
sollte. Cs sind Reisekarten aus dem Anfange des 16. Jahr-
hunderts, und wie alle danmls in Deutschland erschienenen
Blätter in Holzschnitt ausgeführt. Die älteste Karte dieser
Art kenne ich nur dem Titel nach, sie ist 1501 von
G. Gtogkendon in Nürnberg veröffentlicht und führt den
Titel: „Das sein dy lantstraßcn durch das Römisch reych von
einem Königreich zu dem andern dy an Teutsche land fassen,
von meilen zu meilen mit Puncten verzeichnet". Exemplare
dieser Karte finden sich im germanischen Museum zu Nürnberg
und in der Sammlung der Fürsten von Liechtenstein zu Wien.
Ein jedenfalls ähnliches Blatt, wie schon aus beut Titel zu
ersehen ist, trägt am oberen Blattrande in einer Zeile die
Inschrift: „Das ist der Rom-Weg von meylen zu meylen
mit punkten verzeichnet von cyner stat zu der andern durch
deutzsche lantt". Unten befindet sich die sechszeilige, in der
Mitte durch eine Kompaßzeichnung geteilte legende: „Wer
wissen wyl, wye fer von eyner Stat zu der andern ist, do
zwischen keyn Punct ist, der messe mit eyncm zirkel von dem
Punct der stat zu dem Punkt der andern stat und setz den
zirkel hie unten ans die Punct, der yetlicher tut eyn gemeyn
deutzsche meyl vnd eyn strich zehen meyl. So aber dye meyl
in landen nit gleych seyn, nymt man gewonlich solcher meyl
hye verczcychent fix für fünf in landen Swaben, Hessen,
westfaln, Saxen, Mark, pomern, behem vnd in Sweycz
zwo für eyne". Sodann ist noch Anleitung gegeben, wie
man nach dem „Kompaß" wandern kann. Die Karte reicht
vom 41. dis 58. Grade n. Br. Das Flußnetz ist dem bei Wald-
seemüller gleich; Schrift und Namensformcn sind deutsch.
Die Reisewege führen von den nördlichsten Endpunkten,
von Danzig und Stettin, Rostock, „Ryp" in Jütland,
Bremen, Utrecht, Nyeport bei Brügge, und von Krakau nach
Süden und erreichen ans drei Alpenwegen über den Pontafel-
paß, Brenner und Splügen, Italien und endlich Rom.
L. Gallois hat in seinen „Geographes alleraands de la
renaissance“ (Paris 1890) eine verkleinerte Phototypic nach
dem Exemplare in der Nationalbibliothek zu Paris ver-
öffentlicht; ein andres Exemplar, das vor mir liegt, gehört
der königl. Bibliothek zu Dresden.
Mit Abraham Ortelius, dessen epochemachendes
„Theatrum“ 1570 erschien, treten wir in den letzten Ab-
schnitt unsrer kartographischen Betrachtung ein. Der Holz-
schnitt wird wieder durch den Kupferstich verdrängt. Und
wenn Ortelius auch kein schöpferischer Kartograph, sondern
im Grunde nur ein fleißiger Kopist war, so hat er doch das
große Verdienst, alle bis dahin erschienenen Einzelblätter
nach Möglichkeit gesammelt und verarbeitet zu haben. Außer-
dem empfahlen ihn seiner Zeit der klare Stich der Platten
und die höchst sauber mit der Hand ausgeführte Kolorierung,
die bei den Prachtexemplaren so weit getrieben wurde, daß
man die kleinen Kreise in den Städtezeichnungen durch glän-
zende Goldpunkte ersetzte. Der Titel der Karte lautet
„Germania", dementsprechend sind auch alle Ländernamen
lateinisch gegeben, wie auch von nun an von den berufenen
Kartographen nur lateinische Schrift verwendet wird; die
Ortsnamen sind deutsch. Die Küsten der Nordsee vom
Rhein bis zur Weser sind ziemlich richtig, nur zwischen
Weser und Elbe läuft das Land zu spitz nach Norden aus.
Das Flußnetz ist im ganzen Nordosten bis zur Weichsel
richtiger geworden; nur hat sich von den Havelquellen gegen
Westen nach Dömitz und Rostock zu eine wunderliche Bifur-
kation erhalten. Im Osten und Westen sind die Breiten-
grade mit weiteren Abteilungen bis zu 10 Minuten angegeben.
Eine Einteilung nach den Längengraden ist nicht versucht.
Dieses Kartenbild ist für die folgenden Auflagen des „Thea-
trum" noch über den Tod des Ortelius hinaus bis in das
erste Jahrzehnt des 17. Jahrhunderts beibehalten, obgleich
schon 1585 die erste kritische Karte von Deutschland durch
Mercator veröffentlicht war. Sie erschien in Duisburg
und zeigt schon darin einen wesentlichen Fortschritt gegen
Ortelius, daß hier seit Eusas Entwurf zuerst wieder ein
bestimmtes Netz von Längen- und Breitenlinien angelegt ist.
Fehler kommen natürlich nach beiden Richtungen vor; aber
es konnte doch nun durch jede neugewonnene astronomische
Bestimmung ein neuer fester Punkt gewonnen werden.
Leider sank ja sehr bald die Kartographie zu einem bloßen
Handwerk herab und daher vergingen nach Mercators That
über 150 Jahre, ehe Tobias Mayer 1750 wieder mit
kritischem Maßstabe das vorhandene Material für eine Karte
von Deutschland prüfte. Doch sehen wir bei Mercator auch
noch nach andern Richtungen einen Fortschritt. Während
bei Ortelius alle Landschaftsnamen im Deutschen Reiche
noch die lateinische Form trugen, lesen wir auf Mercators
Karte die Namen Meissen, Duringen, Hessen u. s. w. Ist
das nicht ein Zeichen deutscher Sinnesart, die Mercator
mehr bekundet als Ortelius? Das Flußnetz ist schärfer
nach den charakteristischen Formen der Wasserlänfe aus-
gebildet. Was noch bei Ortelius fehlte, z. B. der obere
Lauf der Aller und der Werra, hier sind sie eingetragen.
Leider sind die fragwürdigen Flußgabelungen in Mecklenburg
und Pommern noch stehen geblieben. Immerhin wieder ein
Zeichen, daß die genauere Kenntnis des deutschen Landes
von Westen nach Osten langsam vorwärts schreitet.
Mercator ist ebenso wie Cusa von der Überzeugung
durchdrungen, daß für jede Darstellung eines Teils der Erd-
oberfläche die strengste mathematisch-astronomische Methode
die notwendige Voraussetzung ist. Zwischen diesen beiden
Säulen der deutschen Kartographie hat keiner der andern
genannten Kartenzeichner die zwingende Notwendigkeit ge-
fühlt. Mercator gilt allgemein mit Recht als der Refor-
mator der Kartographie. Wenn wir nun schon mehr als
100 Jahre früher bei Eusa dieselben wissenschaftlichen Grund-
sätze finden, dann wächst unsre Hochachtung vor dem Kar-
dinal um so mehr, und wir können mit Stolz auf den
Mann hinweisen, der vor 400 Jahren das erste Bild des
deutschen Landes zu entwerfen wagte.
H. Seidel: L. G. Viagers Reise vom Niger zur Oberguinea-Küste.
9
L. G. Ringers Reise vom Niger zur Gberguinea-Küste.
Von H. Seidel.
Die französische Regierung hat in neuerer Zeit unendlich
viel zur Erforschung ihrer überseeischen Gebiete gethan,
namentlich in Afrika, wo sie den ausgesprochenen Zweck
verfolgt, die setzt noch zerstreuten Erwerbungen zu einem
großen äthiopischen Kolonialreich zusammenzufassen.
Aus bescheidenen Anfängen ist in Senegambien allmälig
ein großes Besitztum erwachsen, das sich mit breiter Basis
an den obern Niger lehnt; und senseits dieses Stromes
sitzen im Schatten der Trikolore zahlreiche eingcborne Herr-
scher und walten unter französischem Schutze ihres Amtes.
Andre, gleichfalls französische Länder, deren Binnenerstreckung
kein mißgünstiger Nachbar beengt, ziehen sich an der Küste
von Oberguinea hin und fordern wie von selbst zur An-
gliederung an die nördlichen Gebiete
aus. Daß solches nicht schon früher
geschah, verboten die noch wenig oder-
gar nicht erforschten Räume im
großen Nigerbogen, Räume, deren
Leere wir bisher nach unsichern Be-
richten mit hypothetischen Flüssen und
Gebirgen und kaum gehörten Volks-
namen notdürftig erfüllten.
Eine wesentliche Beschränkung
erfuhr diese terra, incognita jüngst
durch die Reise des französischen
Hauptmanns d«zx Marineinfanterie,
Ludwig Gustav Bing er, ans
Straßburg im Elsaß gebürtig, der
in glücklichem Zuge die Reiche eines
Samory und Tieba kreuzte, die
vielgerühmte Handelsstadt Kong be-
suchte, die noch nie ein Weißer ge-
sehen, dann nördlich gewandt das
Netz des obern Wolta enthüllte,
Waghodhugn und Gurunsi passierte
und über Jcndi und Salaga nach
Kong und von dort nach Grand
Bassam in Obcrguinea zurückkehrte.
Als Ausgangspunkt seiner Expedition wählte Binger st
die Senegal-Niger-Route, wo er weit in das Innere hinein
bekannte Räume und Sprachen traf, wo er überall geschulte
und zuverlässige Begleiter finden konnte, und wo chn der
Weg auch jenseits des Grenzstromes beträchtliche Strecken
durch ein Reich führte, dessen Herrscher Samory mit der
Republik in Frieden und Freundschaft lebte.
Im März 1887 ging Binger2) von St. Louis den
Senegal hinauf bis Bafulabe und folgte dann der sogenannten
Proviantierungsstraße über Badumbe und Kita nach Bam-
mako, dem letzten französischen Posten am Niger. Drüben
führte ihn sein Pfad stracks südöstlich über das höher gelegene
Laterit-Plateau an niedergebrannten, armseligen Dörfern
vorbei gen Wolosebngu, das er am 5. Juli erreichte. Der
Ortsvorsteher ersuchte ihn, so lange zu warten, bis von
st Biographische Nachrichten über Binger findet der Leser-
in Petermanns geogr. Mitteilungen 1890, S. 26 und 27 und
in der deutschen Rundschau für Geographie und Statistik,
Bd. Xkll, Heft 2, S. 89 bis 91.
st Seine Reise erschien im „Tour flu Monde“, Bd. 61,
S. 1 ff. (1891) mit zahlreichen Abbildungen. Danach unser
Bericht und unsre Abbildungen.
Globus LX. Nr. 1.
Samory die Erlaubnis zur Weiterreise eingetroffen sei.
Allein die Erlaubnis blieb ans, und ein neugewonnener
Freund, der den wahren Sachverhalt kannte, gab Binger
den Rat, daß es besser sei, vorläufig nach Bammako zurück-
zugehen.
In den ersten Tagen des September brach Binger
von neuem auf und zog unangefochten durch die monotone,
mit hohem Grase und zwerghaften Bäumen bestandene
Ebene immer südöstlich bis Tenetu fort. Dann bog der
Weg jäh nach Osten ab und brachte Binger an den Ba-ule
und einige seiner Zuflüsse, sowie später an den Bagoe oder
Badië, der sich mit dem vorigen im Sultanat Segu zu
einem ansehnlichen Nebenflüsse des mittleren Niger ver-
bindet. Rings in den Dörfern und
Weilern wütete arge Hungersnot,
eine Folge der ewigen Kriege, die der
„Alexander des Sudan", wie man
Samory in Frankreich sehr zu Un-
recht nennt, über das unglückliche
Land heraufbeschworen hat. Gegen
Osten, zwischen Natinian und Si-
kasso, hob sich das Land etwas mehr,
da hier der eigentliche First des
'Plateaus und ein wichtiges Quell-
zentrum liegt. Dicht vor Sikasso
stieß Binger ans das Lager Samo-
rys, und bald trabte eine Reitcrschar
heran, der „Prinz" Karamokho an
der Spitze, der bereits in Paris ge-
wesen war und die Herrlichkeiten
der französischen Zivilisation an der
Quelle gekostet hatte. Er geleitete
Binger zum Könige, der dem Frem-
den die Hand schüttelte und ihn mit
den Worten: „Français, bonjour"
willkommen hieß.
Samo r y befand sich zur Zeit
im Kriege mit seinem östlichen Nach-
bar Tiöba, und da der Ausgang noch zweifelhaft war, wollte
der schlaue Despot durchaus französische „Kanonen und Sol-
daten" zur Hilfe haben. Binger konnte nichts dergleichen ver-
sprechen und nahm deshalb, um jeden unnützen Aufenthalt zu
vermeiden, bald wieder Abschied von dem begehrlichen Könige.
Aus dem Wege, den er gekommen, zog er bis Tiola zu-
rück und wandte sich nun südwärts nach Bcnokhobugu, das
bereits oberhalb des Zusammenflusses des Bagoö mit dem
Basing gerade unter 11° n. Br. liegt.
In dem ganzen Bereich aber scheint eine größere Er-
hebung zu fehlen. Die Vegetation wechselt mit der Boden-
form und zeigt sich in den Lateritstrecken dürftig und krüppel-
haft; mau baut hier Sorghum, Hirse und nur in den
Niederungen Mais und Reis. Dafür begegnet uns desto
öfter der Schibutterbaum. Am 11. Breitengrade gesellt
sich zur Kultur der Zerealien die der Knollengewächse, als
2)ams, Taro und Bataten. Auch kommen schon vereinzelte
Bananen und Orangen vor, bis mit 8 ^/z Grad die Ölpalme
auftritt und ein dichter Hochwald die frühere Zwergvegetation
ablöst. Die Körnerfrüchte müssen ganz den Knollengewächsen
weichen, sowie die Schibutter jetzt durch das Fett der Kola-
nuß ersetzt wird.
2
Helm aus Katou.
10
H. Seidel: L. G. Viagers Reise vom Niger zur Oberguinea-Küste.
Am 25. Oktober machte sich Binger ohne die erforder-
liche Genehmigung Samorys und ohne Führer nach Süden
auf den Marsch. Bis Warakana, dem Sirakana Eailliss,
kam er durch Gaue, die erst von Tiäba, dann von Samory
verwüstet waren. Der Besuch Tengrelas, das seit (¿stillte
kein Weißer betreten, wurde ihm nicht gestattet; er mußte
ein gutes Stück Weges wieder zurück, um dann mehr östlich,
nach Überschreitung des obern Bagoe, in die Staaten
Tiöbas vorzudringen. Bei Kadiolini überschritt er die
Grenze, die hier etwa im 8. Meridian von Paris verläuft,
und mit jedem Schritt nach Osten atmete er leichter, da er
sich endlich der einer Gefangenschaft ähnlichen Überwachung
in Samorys Staaten entzogen fühlte.
In Katon, kurz vor Diamantene, wurde die Karawane
mit lautem Schießen und Jubeln empfangen. Bingers
Leute gerieten in Entzücken; denn der Lärm bedeutete —
ein Begräbnis. „Das ist ein günstiges Zeichen", riefen
sie, „alle Schwarzen halten es für das beste, wenn man auf
der Reise in einem Dorfe lagert, wo ein Toter ist."
Begräbnisse geben hier im Lande zu wahren Freudenfesten
Anlaß. Stirbt jemand, so ziehen die Verwandten ihre
besten Kleider an und laufen von Haus zu Haus, um ihren
Freunden die Nachricht zu bringen. Diese ergreifen flugs
ihre Gewehre und vereinigen sich beim Trauerhanse und
1 schießen, so lange das Pulver reicht. Aus Flöten, Tamtams
! und Saiteninstrumenten wird die nötige Musik gemacht, oft
Hochöfen und Schmiede in Umalokho.
drei bis fünf Tage ohne Unterlaß, und inzwischen kocht in
Riesentöpfen das Nationalgericht „To", und Hirsebier oder
Dolo wird herbeigeschafft, und ntan ißt und trinkt nach
Herzenslust, den Leichnam natürlich in der Mitte, dem man
der Sitte gemäß von allen Speisen und Getränken zuerst
anbietet. Im Hofe oder auf einem Platze des Dorfes wird
getanzt; das junge Volk beider Geschlechter beteiligt sich
daran mit unglaublicher Ausdauer, unb man ruht nur, um
sich an Dolo zu stärken oder einer älteren Person, die etwa
ein Solo tanzen will, Platz zu machen. Das Oberhaupt
der trauernden Familie verschenkt unterdes an seine Besucher
allerlei Eßwaren, auch Kauris, und fühlt sich sehr geschmeichelt,
wenn die Feier recht lange dauert; denn das zeugt von der
Achtung, die der Entschlafene bei seinen lieben Mitbürgern
genoß. Nachts werden Feuer entzündet, und Fest und Tanz
dauern fort, bis sich der Leichenzug ordnet.
Unter Schießen, Pfeifen und Trommeln gehts zum Thore
hinaus; zwei starke Männer tragen den in Matten gewickelten
Körper, dem singende Frauen, die Kuhschwänze in den
Händen halten, voranschreiten. Totengräber und Verwandte
machen den Schluß.
Arme und Fremde werden ohne jede Zeremonie ver-
scharrt, ebenso junge Mädchen und kinderlos verstorbene
Frauen.
In dem Leichengefolge sah Binger einen jungen Mann,
welcher sich durch eine höchst merkwürdige Kopfbedeckung
auszeichnete. Er trug nämlich einen hölzernen Helm, der
ans einem einzigen, im Feuer geschwärzten Stück gefertigt
war und von vorn in einer Vertiefung das Reliesbild eines
Menschen mit gespreizten Armen und Beinen zeigte. Auf
beiden Seiten der Nische erhob sich je ein großes, schwarzes
Horn, das durch weiß übermalte Felder schachbrettartig
Eingeborene aus Lera.
eidel: L. G. Bingers Reise vom Niger zur Oberguinea-Küste.
12
H. Seidel: L. G. Bingers Reise vom Niger zur Oberguinea-Küste.
geteilt war. Die Helmkuppe endlich trug noch eine Schnitz-
figur, einen Reiter zu Pferde darstellend. Das ganze war
grob und wenig symmetrisch ausgearbeitet. Bergt. S. 9.
Nach Durchfurtung eines kleinen Quellflusses des Ban-
dama befand sich Binger im eigentlichen Machtbereich des
Königs Tiöba, der seine Herrschaft zwischen den Staaten
Samorys und dem Laude Kong ausgebreitet hat. Tiöba
stammt, wie sein feindlicher Nachbar, aus bescheidenen Ver-
hältnissen. Sein Vater hieß Daula und war ursprünglich
Ortsvorsteher in Daulabugu, nördlich von Sikasso. Einige
glückliche Sklavenrazzien gegen wehrlose Dörfer hatten ihm
zu Macht und Ansehen verholfen, und so vernichtete er bald
größere Gebiete wie Mengera, Follana und ganz Kenedugu
mit seinen Horden. Als er 1877, starb hinterließ er fünf
Söhne und eine Tochter; der bedeutendste war eben Tiöba,
welcher sich bald als würdiger Nachfolger seines Vaters er-
wies; denn er schlug in häufigen Feldzügen alle Gegner
ringsumher und dehnte zuletzt, in den Jahren 1884 bis 1886,
seine Einfälle bis aus das linke Ufer des Bagoö, also in das
Reich Samorys aus, wodurch jener schon mehrfach erwähnte
Krieg zwischen beiden Gewalthabern entstand.
Die Besitzungen Tiöbas zerfallen in solche, welche völlig
unterworfen sind und direkt vom König verwaltet werden,
und in solche, welche nur seinem Protektorate unterstehen
und als Schutzstaaten gelten. Im Kern des Ganzen, also
im Distrikt von Sikasso, haben wir nach Binger die wich-
tigste A n s ch w e l l u n g i in westlichen Abschnitt des
Nigerbogens zu suchen, nämlich die Massenerhebung
zwischen Natinian und Sikasso, die sich jedoch weniger
als ein eigentliches Gebirge, sondern vielmehr als ein aus
Plateaus und Rundkuppen zusammengehäuftes Hochland
darstellt. Den Kulminationspunkt bildet der Pik von Fara-
misiri, der bei 780 m Gesamthöhe die benachbarte Ebene
etwa um 380 m überragt. Die Hügel sind von ungleicher
Form; sie bestehen aus Sandstein und einem sandigen, eisen-
reichen Lehm. Vom Nordabfall des Massivs rinnen die
Wasser in den Fluß von Kauro oder Kobadiöla zusammen,
der aber nach unsern Karten in den Bakhoy mündet uttb
nicht, wie Binger behauptet, sich direkt in den Niger ergießt.
Auf dem Ostabsall entspringen die Quellen des westlichen
Woltaarmcs oder des schwarzen Wolta, den wir uns so
lange viel kürzer dachten. Gelegentlich der Rundreise von
Kong nach Waghadugu und Salaga stieß Binger mehrmals
auf diesen Fluß, zuerst bei Bossala in 11 */2 Grad n. Br.,
wo sich eben die beiden kleineren Adern Bn-ule und Bani-
sing zueinander gesellt haben. Das vereinigte Gefließ
schwingt sich im stattlichen Bogen über den 12. Parallel
hinauf und dann jäh hinab von Norden nach Süden, wo
ihm später der von Osten kommende mittlere oder rote
Wolta zugeht. Durch diese Feststellung verringert sich das
südliche Nigerregime ungemein gegen die bisherige Annahme;
denn der weitaus größere Teil dieser Landschaften führt
seine Wasser dem Komoö und namentlich dem Wolta zu. —
Auf dem Südabfall endlich ist der Ursprung des Komoö
oder des Flusses von Grand Bassam zu suchen, voraus-
gesetzt, daß wir die Ausdehnung des Bingerschen Massivs
„Natinian-Sikasso" nicht streng aus die höchstens 25 km
Entfernung, die zwischen jenen beiden Orten liegt, beschränken.
Gegen Süden flacht sich das Plateau allmählich ab, und hier
entspringen die in die Lagune von Grand Bassam aus-
gehenden Küstenflüsse Dabu und Lahn. Es wiederholt sich
also für diesen Bereich die in Afrika häufige Erscheinung,
daß die Wasserscheide zwischen mächtigen Stromgebieten
durch kaum bemerkbare Höhendifferenzen gekennzeichnet
wird. Das „traditionelle Konggebirge" H, dessen intellek-
0 Petermanns Mitteilungen 1890, S. 27.
tueller Urheber kein geringerer als Mungo Park gewesen ist,
muß von den Karten verschwinden.
Die Länder Tiöbas zeigten fast dieselbe Entvölkerung,
wie die seines Nachbars Samory, etliche Strecken abgerechnet,
z. B. die Bezirke zwischen Diumantenö und Niölö, in
welchen immerhin über 40 Menschen auf den Quadratkilo-
meter entfallen. Der Gcsamtdnrchschnitt dagegen dürfte
wohl nicht über 12 bis 15 Personen für den Quadratkilo-
meter hinausgehen, und selbst dieser geringe Satz übertrifft
die mittlere Bevölkerungsdichtigkeit in Samorys Reich noch
um das Doppelte. — Wie dort, ziehen auch hier die Salz-
nnd Kolastraßen von Scgu und Djenne in nordsüdlicher
Richtung ans Worodugu hin durch das Land, und Tiöbas
Hauptstadt Sikasso, schon begünstigt durch ihre Lage im oro-
graphischcn Zentrum dieser allsgedehnten Räume, erscheint
sonach wohl geeignet, ein in jeder Weise bedeutender Stütz-
punkt für militärische und wissenschaftliche Unternehmungen
zu werden. —•
Mittlerweile entfernte sich Binger aus dem Strom-
gebiet des Niger und lernte einige Quelladern des Leraslusses
kennen, der sich später mit dem Komoö verbindet. Etwa
6 km vor Niöle erkrankte der Reisende auf einem Togoda,
d. i. einer Art befestigter Ackerbau-Kolonie, wie sic der
Landesfürst Pegc vielfach angelegt und mit Gefangenen
bevölkert hat. Diese erhalten für den Beginn mehrere Stück
Schlachtvieh, einige Haustiere und die nötigen Sämereien,
und darauf gehen sie an die Urbarmachung des Bodens.
Die Erträgnisse der Farmen zieht nachher Pege znr Pro-
viantierung seiner Truppen ein. Man baut verschiedene
Arten „Kn" oder Yamswurzeln, geringwertigen Mais, Erd-
nüsse und sehr gute Bataten, außerdem eine bestimmte Hirse-
art, den „Sanio" lind den roten „Bimbiri", also eine
Sorghum-Pflanze. In den meisten Dörfern giebt es weit
mehr Kornspeicher als Wohnungen. Neben dem Schibutter-
baume gedeiht eine den Schwarzen in mannigfacher Beziehung
nützliche Bassia biglobosa. Die Gefangenen fielen sämtlich
durch Häßlichkeit und Mangel an Kleidung aus. Die
Weiber schlingen nur die Lenden etwa 20 Fellschnüre, deren
jeder wieder aus drei blattdicken Riemen geflochten ist, und
an diese Schnüre werden dann allerlei kupferne Amulette
gehängt, Schildkröten, Eidechsen oder auch Pferde darstellend,
die nach dem Volksglauben reichen Kindersegen bewirken
sollen. Die Gefangenen sind vortrefflich disciplinirt; die
Männer nehmen den Hut ab und verbeugen sich, wenn sic
angeredet werden; die Weiber knieen gar nieder, allerdings
mit dem Gesicht nach hinten, so daß sie dem Betreffenden
den Rücken zukehren. Leider fehlt sonst in vielen Dingen
die rechte Ordnung, so daß bei den Schwarzen hier
wie allerorts die Verschwendung über die Sparsamkeit
triumphiert. —
Der Besuch von Niöle, der Residenz Peges, wurde
Binger trotz seiner Bitten nicht gestattet, und so finden wir
den Reisenden bald wieder unterwegs und kehren mit ihm
in Umalokho ein, wo der Häuptling seine Schmiede und
Eisenarbeiter angesiedelt hat. Bor dem Dorfe stehen 15
Hochöfen von wirklich hübscher Bauart und gut geregelten!
Zuge, indem jeder Ofen mit cincui Dutzend Zugröhren ver-
sehen ist, die anfangs sämtlich in Thätigkeit sind, später
jedoch noch Maßgabe des Brandes zurückgezogen werden.
Die zahlreichen Schmiede hatten unausgesetzt vor den Öfen
zu schassen, und sie warteten auch allem Anschein nach mit
Eifer ihres Amtes. Vergl. S. 10.
Aul 5. Februar 1888 gewahrte Binger in der Ferne
den Waldgürtel eines größeren Flusses, nämlich des Lera,
der ans der Landschaft Kenedugu kommt und hier in 50 m
Hochwasserbreite zum Komoö'strömt. Der Ort Lera oder
Dera selbst liegt zwei Wegstunden vom Ufer entfernt; die
Heinrich Martens: Die dänische Expedition nach Ostgrönland.
13
Überzahl seiner Bewohner machen die Guings oder
Mbuings ans, ein wildes, niedrigstehendes Volk, das sich
in Typus und Sprache vollständig von den Mandingo
unterscheidet. Beide Geschlechter haben dieselbe erdigschwarze
Färbung, und beide rasieren sich gleicher Weise das Haupt-
haar. Der Mann trägt außer der Bila ein Kaurihalsband
und an jedem Unterschenkel je eine Schenkclbinde, auch mit
Kauris besetzt, und den Kopf verhüllt ein Strohhut, der in
seiner Form den Spitzkappen unsrer Clowns nicht unähnlich
ist. Zur Bewaffnung dienen Bogen und leichte Pfeile, wie
sie in Ganadngu und von den Bambarra und Siöne-reh in
Follana gebraucht werden. Gegen den Widerschlag der
Sehne ist die linke Hand durch ein ledernes Armband ge-
schützt. Die Tättowierung beschränkt sich ans ein bis drei
kleine Einschnitte um die Mundwinkel; durchbohrte Unter-
lippen gewahrt man nur bei den Männern, die cs hierin
den Frauen aus der Umgegend Tengrclas nachzuthun scheinen
und hölzerne oder eiserne Spitzen oder auch einen Federkiel
in das Loch hineinstecken. Vergl. S. 11.
Die Tracht der Frauen ist fast noch einfacher, da sie die
Bila oder Schambinde durch einen kupfernen Leibgürtel er-
setzen, in den hinten und vorn ein Büschel belaubter Zweige
gestopft wird. Die Mütter tragen ihre Kinder in einer
kleinen Matte, die mit je einem Riemen unten an dem Leib-
gurt und oben über den Brüsten festgebunden ist. Ein
Strohhut, ähnlich den papiernen Dreimastern der Straßen-
jugend, schützt abwechselnd Mutter und Kind.
Nach Bingers Versicherung leben bia Guings häufig
von Raub und Mord, und ein Fremder, der sich führerlos
in das Land begiebt, setzt sich unfehlbar den größten Ge-
fahren für Eigentum und Leben aus. Der Menschen-
fresserei scheint das Volk aber nicht zu fröhnen; die Toten
z. B. werden gewaschen, mit Fett eingerieben und dann
sofort bestattet, aber ohne jede Leichenfeier. An Früchten
bauen die Guings nur Hirse, Sorghum und Pfeffer (Cap-
sicum indicum); sowie der Acker einigermaßen erschöpft
ist, wird er verlassen und ein frisches Feld gebrochen, nach
dessen Lage die Wilden schnell ihre Dörfer und Hütten
umsetzen. (Schluß folgt.)
Die dänische Expedition nach Ostgrönland.
Von Heinrich Martens.
Am 7. Juni d. I. hat die vom dänischen Staate aus-
gerüstete Grönlandexpedition auf dem norwegischen Robben-
fangschiffe „Hekla", Kapitän Knudsen, Kopenhagen verlassen.
Leiter der Expedition ist der dänische Premierleutnant zur
See C. Ryder, der schon wiederholt in Grönland war. Die
übrigen Teilnehmer sind: Premierleutnant zur See Vedel,
der Cand. mag. Bay als Naturkundiger; ein Dolmetscher
Johann Petersen, der sich an der Expedition des Kapitäns
Holm, 1883 bis 1885, nach der Ostküste Grönlands be-
teiligte; ferner zwei dänische Seeleute, zwei norwegische und
ein grönländischer Walfischfänger. Außerdem nehmen zwei
dänische Studenten, Harty (Botaniker), und Deichmann (Ento-
mologe) au der Reise der „Hekla" teil, mit welcher sie jedoch
im Herbste zurückkehren. Das Schiff, welches als Segler
wie als Dampfer benutzt werden kann, hat eine Tragfähigkeit
von etwa 350 Tons und eine Maschine von 48 Pferdekraft.
Der Führer des Schiffes, Kapitän R. Knudsen, ist auf den
Fang von Walfischen und Robben eingerichtet. Die Besatzung
des Schiffes besteht ans 20 Mann, welche nach der Über-
führnng der Ryderschen Expedition dem Fange nachgehen
und im Herbst in die Heimat zurückkehren werden.
Der von Ryder ausgearbeitete und von der „dänischen
Komissiou für geologische und geographische Untersuchungen
Grönlands", sowie der dänischen Regierung gutgeheißene
Expeditionsplan geht auf die Untersuchung der Ostküste
Grönlands vom 66. bis 73. Grad nördl. Br. hinaus. Es
wird in demselben im wesentlichen folgendes ausgeführt:
Während die Untersuchungen auf der Westküste Grönlands
bis zu 741/2° nördl. Br. hinaufreichen, erstrecken sich die
systematischen Untersuchungen ans der Ostküste nur bis zu
66" nördl. Br., bis zu der Stelle, welche Kapt. Holm 1884
erreichte. Vom 66. bis ungefähr 70. Grade ist die Küste
dagegen vollständig unbekannt und noch von keinem Europäer-
betreten. Vom 70. bis 73. Grade, der Mündung des Kaiser-
Franz-Josephs-Fjord, ist die Küste, jedoch meist nur das
Außenland, im Jahre 1822 von William Scoresby besucht
worden, der eine Karte über dieselbe herausgegeben hat. Da
Scoresby indes als Führer eines ans Walfischfang ausge-
sandten Schiffes diese Untersuchungen nur sehr nebensächlich
betreiben konnte, kann die in Rede stehende Strecke nicht als
näher untersucht bezeichnet werden. Dagegen ist die Küste
vom 73. Grade nordwärts bis ungefähr 77. Grade nördl. Br.
in der Hauptsache von der zweiten deutschen Nordpolar-
expedition in den Jahren 1869/70 zur Karte gebracht, und
dieser Teil der Küste kann als verhältnismäßig gründlich
bekannt betrachtet werden. Dementsprechend, und da be-
fürchtet wurde, daß andere Nationen der zunächst berufenen
dänischen Nation zuvorkommen würden, falls diese nicht
sofort die Sache in Angriff nehme, ist mit der'Ausführung
des Planes zur Untersuchung der grönländischen Ostküste
vom 66. bis zum 73. Grade nördl. Br. nunmehr begonnen
worden.
Die Expedition wird auf ungefähr 700 nördl. Br. ge-
landet werden und wird dort auch überwintern. Zn diesem
Zwecke, sowie zu den erforderlichen Schlittenfahrten und Boot-
reisen führt die Expedition ein recht bedeutendes Material mit
sich. Es gehört dahin ein hölzernes Wohnhaus, welches 13
Ellen lang und 6 Ellen breit ist und zum Bewohnen zwei, etwa
3i/2 Ellen hohe, durch einen Korridor getrennte Wohnzimmer
hat. Dach und Außenwände sind mit Dachpappe bekleidet.
Um das Haus, welches doppelte Wände hat, wird eine grön-
ländische Mauer, aus Erde und Steinen, gezogen. Inwendig
sind Fußboden und Wände mit Linoleum bekleidet. In der
Nähe des Wohnhauses werden zwei kleinere Holzhäuser zu
astronomischen Beobachtungen errichtet. Sodann kommen
drei Böte mit Masten und Segel hinzu. Die in Arendal
(Norwegen) aus Eichenholz erbauten Böte haben eine Länge
von 23 Fuß und eine Breite von 6 Fuß und können ein
Gewicht von 4000 Pfund tragen. Die aus Eschenholz er-
bauten Schlitten sind von demselben Manne (Tischlermeister
Christiansen in Telemarken) angefertigt, welcher die vorzüglich
bewährten Schlitten herstellte, die Dr. Nansen über das grön-
ländische Binneulandeis benutzte. Und endlich ist die Expe-
dition vorzüglich mit Instrumenten zu Vermessungen, astro-
nomischen, hydrographischen und magnetischen Beobachtungen
versehen.
Sobald die Holzhäuser an Land gebracht und aufgestellt,
sowie die Vorräte in Sicherheit gebracht sind, verläßt der
Dampfer die Expedition, um diese 1893 wieder heimzuführen.
Im Laufe dieses Sommers gedenkt die Expedition die Ge-
wässer vom 70. Grade nordwärts so weit wie möglich zu
untersuchen; alsdann geht sie ins Winterquartier, von welchem
aus sie, wenn die Eisverhältnisse es erlauben, Schlittenreisen
unternehmen wird. Sobald das Eis im Frühjahr oder
Sommer 1892 so weit geschwunden ist, daß die Gewässer-
fahrbar sind, verläßt die Expedition ihr Winterquartier und
geht mit ihren Böten und so vielem Proviant wie möglich
südwärts. Alsdann wird sie an geeigneter Stelle ein Depot,
bestehend aus den eingeheimsten wissenschaftlichen Sammlungen,'
errichten, welches Depot der Dampfer „Hekla" verladen wird,'
14
Alfred Sharpes Reise nach Katanga. — Aus allen Erdteilen.
wenn er die Expedition heimführt. Dieses soll möglicher-
weise von Angmagsalik aus geschehen, welches die Expedition
im Herbst 1892 zn erreichen hofft. Da der Leiter der Expe-
dition, sowie auch mehrere Mitglieder derselben mit den zu
einem guten Erfolge und glücklichen Ansgange des Unter-
nehmens notwendigen Kenntnissen und Erfahrungen aus-
gerüstet sind, wird es diesem hoffentlich weder an dem einen
noch dem andern fehlen.
Alfred Sharpes Reise nach Katanga.
Eine in geographischer Beziehung ergebnisreiche Reise
nach dem zentralafrikanischen Katanga hat Alfred Sharpe
ausgeführt, derselbe, welcher bereits 1889 durch seinen Vor-
stoß in die Landschaften zwischen dem Südcnde des Massen
sees und dem Longweflusse sich bekannt machte (Froceeck. 1890,
p. 150). Der Metallreichtum des Landes („Globus" LIX,
239) hat auch die britische Südafrikagesellschaft angelockt, in
deren Auftrage Vizekonsul Sharpe reiste, so gut wie die Belgier,
die eine Expedition dorthin gesendet haben. Der vorläufige
Bericht (Times 10. Juni) lautet:
Sharpe verließ den Niassasee im Herbst des vorigen
Jahres, kreuzte das Plateau zwischen diesem und dem Süd-
ende des Tanganjika und zog dann westlich und südwestlich,
wobei er einen neuen Salzsee entdeckte, der in der Regen-
zeit stark angeschwollen war. Er traf alsdann auf das
Ostnfer des Moörosees, an bem er hinzog, um nach Kasem-
bes Stadt zu gelangen, die er im Anfange Oktober erreichte.
Der Monarch empfing den englischen Reisenden sehr nn-
gnädig, zumal als er erfuhr, daß dieser zum Fürsten Msiri von
Katanga ziehen wolle, zu dem Kasembe in einem abhängigen
Verhältnisse steht. Sharpe versuchte es, nach Süden vorzu-
dringen nild dann den Lnapula zu überschreiten, um sich
weiter westlich zu wenden. Allein er war genötigt, bis zuin
Tanganjika umzukehren, da er und seine Leute fast ver-
hungerten. Nachdem er sich mit frischen Mitteln versehen,
marschierte er an das Nordende des Moero, überschritt den
dort heraustretendeu 200 Aards breiten Lnapula und erstieg
den östlichen Abfall des hohen Tafellandes, das sich hier zum
Moero herabsenkt. In west-südwestlicher Richtung vordrin-
gend, überschritt Sharpe die Qnellflüsse des Lufua unb kam
am 8. November 1890 in der Hauptstadt Msiris an. Er
blieb dort acht Tage, scheint aber keine „Verträge" abge-
schlossen zn haben. Der Gold- und Kupferreichtum Katan-
gas wird vollauf von Sharpe bestätigt.
Seine Rückkehr erfolgte so ziemlich ans demselben Wege.
Den von ihm entdeckten Salzsee fand Sharpe, da inzwischen
die Regenzeit eingetreten war, bedeutend angeschwollen. Auf
der Hochebene erreichte er eine Höhe von 1650 m, von wo
er eine prächtige Aussicht über den westlichen und süd-
westlichen Teil des Sees hatte, in dem die Insel Kilwa liegt.
Über die Bewohner der Insel herrscht Simba, der in stetem
Streite mit Msiri liegt. Der Lnapula, der selbst sehr insel-
reich ist, fließt in das Südende des Sees. Vom Nordende
des neuen Sees begab sich Sharpe wieder nach dem Tan-
ganjika, an dessen Südende die Seengesellschaft die Station
Abercorn errichtet hat. Ende Januar war Sharpe wieder
am Niassasee.
Aus allen Erdteilen.
— Eine Kritik des amerikanischen Geisteslebens,
die sehr scharf ansfällt, hat Thoneas Davidson in der Mai-
nummer der angesehenen amerikanischen Monatsschrift „The
Forum“ veröffentlicht. Er sagt darin n. a.: „Es ist eine
bedauerliche Thatsache, daß der freie Geist unsrer Unabhängig-
keits-Erklärung noch nicht in hohem Grade als bildendes
Prinzip in unser Volksleben eingedrungen ist. Während wir
anerkanntermaßen eine neue Epoche in der Geschichte der
menschlichen Freiheit und Civilisation repräsentieren, begnügen
lvir uns immer noch, in unserm Geistesleben den halbbar-
barischen Epochen der Vergangenheit sklavisch nachzuahmen.
Auf keinem Gebiete unsrer Geistesthätigkeit — in der Politik,
Religion, Erziehungswesen, Kunst und Litteratur — hat sich
bis jetzt der Geist amerikanischer Freiheit geltend gemacht.
Obgleich wir prahlen, daß wir uns von der europäischen
Tyrannei frei gemacht haben, so sind wir bis auf den Namen
immer noch Europas Sklaven. Horaz sagt, daß das unter-
jochte Griechenland seine rohen Besieger unterjochte; so herrscht
das bezwungene Europa immer noch über seinen Bezwinger
Amerika, und mit guten: Grunde verachtet es uns dafür."
Auf keinem Gebiete tritt die Abhängigkeit von Europa
deutlicher zu Tage, als auf dem der Litteratur. Der Bücher-
markt wird von: Auslande beherrscht, und die amerikanischen
Schriftsteller ahmen das Ausland sklavisch nach.
Davidson geißelt dann die Nachäffung des englischen „ Iligh
life“ und zeigt nun, wie lächerlich sich die vornehmthuenden
Amerikaner machen, welche den Aristokraten herausbeißen
wollen. Er weist nach, wie viele der Verheirathungen aineri-
kanischer Erbinnen an englische Lords, deutsche Barone und
italienische Grafen auf Rechnung der amerikanischen Litteratur
zn setzen sind. „Die Weiber", sagt er, „welche durch das Lesen
dieser sogenannten „Society Novels“ demoralisirt werden,
sind unfähig zn amerikanischen Hausfrauen und Müttern.
Ihr Hauptbcstreben geht dahin, ihr Leben nach englischem
Muster zu gestalten; sind sie arm, so schweifwedeln sie vor
den Reichen, sind sie reich, so spielen sie die anmaßende Her-
zogin nach besten Kräften. Die meisten machen sich lächerlich
vor Gott und den Menschen, inden: sie sich ihren Weg in die
europäische Aristokratie bahnen und einen Stolz darin suchen,
fürstliche Hofdamen, d. h. Kammerzofen zu werden. Wenn
alle die Opfer, welche entartete amerikanische Väter und
Mütter gebracht haben, um ihren Töchtern adelige Männer
zu kaufen, bekannt würden, so könnte dies eine Enthüllung
geben, so schmachvoll, daß künftig kein patriotischer Ameri-
kaner einen: Ausländer ins Gesicht sehen könnte."
Übersehen hat Davidson, daß die amerikanische Presse sich
von der europäischen ganz unabhängig gemacht hat und eigene,
originale Wege wandelt.
— Die Spielwnt der Chinesen ist bei den Ein-
wanderern in den Vereinigten Staaten die nänüiche wie in
der Heimat, worüber Culins Abhandlung „TheGambling
Games of the Chinese in America“ (Philadelphia 1891)
uns aufklärt. Er beschreibt zwei der am meisten in den
Spielhöllen gespielten Hazardspiele, Fan Tan und Fall Kop
piu mit allen Einzelheiten. Die Besitzer der Spielhänser bil-
den eine förmliche Gilde in New Jork zur Versicherung gegen
Beraubung von Seiten ihrer eigenen Landsleute; ebenso in
Philadelphia und andern Städten. Ein großer Teil des
Verdienstes der chinesischen Arbeiter bleibt^ in den Händen
der Bankhalter, die mit ihren: Gewinn sich nach China zu-
rückziehen. Wie die ineisten Spieler sind anch die Chinesen
abergläubig. Alles in: Spielhause muß von weißer Farbe
, sein, weil sonst der Bankhalter zn verlieren glaubt. Die
Aus allen Erdteilen.
15
Spieler legen Orangeschalen auf den Spieltisch, denn das
bringt ihnen Glück; an den Eßtischen iin Spielhause sitzt
man nur allein und spricht nicht, weil sonst für die Betref-
fenden Verluste eintreten. Begegnet der zum Spielhause
gehende Chinese in der Straße einem Wagen, so kehrt er um.
Bücher dürfen im Spielhanse nicht geduldet werden, denn
das chinesische Wort 8hü bedeutet, je nach der Betonung,
„Buch" oder „verlieren". Der Spieler richtet sich nach den
glücklichen und unglücklichen Tagen des Kalenders; da aber
der Kalender t’ung shü heißt und das ominöse Wort 8hü
darin vorkommt, so wird er von Spielern nur Kat sing,
glückliche Sterne, genannt. Vor dem Spiele wird der Altar
des Kriegsgottes, Kwan Ti, besucht und diesem geopfert.
— K. Lumholtz' Reise zu den Cliffdwellers.
Im „Globus", Bd. 59, S. 96 ist die Entdeckung von noch
lebenden Bewohnern der Klippenhöhlen in Mexiko durch den
verstorbenen Reisenden I. Schwatka erwähnt worden. Der
Norweger K. Lumholtz, der zur weiteren Erforschung
derselben im verflossenen Jahre aufbrach, hat jetzt an Dr.
E. Hamy in Paris über seine Reise berichtet (Compte
rendu soc. geogr. 15. Mai 1891). Im Dezember und
Januar hat er drei Ketten der Sierra Madre unter großen
Schwierigkeiten überschritten und ist bis zu einer Höhe von
3000 in gelangt. Lebende Cliffdwellers hat er nicht
gefunden, wohl aber Höhlen mit ziemlich jungen Resten der-
selben, darunter gut erhaltene Mumien mit vollständigen
Haaren. „Es war ein kleines Volk, ganz ähnlich den heute
noch lebenden Moquis" (in Arizona), also keineswegs ein
sehr großes mit schwarzroter Haut, wie Schwatka angab.
Die Schilderung von Lumholtz paßt zu den heutigen Stämmen
in Neu-Mexiko und Nachbarschaft. Am Westabhange der
Sierra Madre hat Lumholtz zahlreiche Mounds ausgegraben,
die eine reiche Ausbeute an Steingeräten und schöner Töpfer-
ware lieferten. Lumholtz, der abermals in die Sierra
Madre aufgebrochen ist, hofft doch noch lebende Cliffdwellers
zu finden.
— Hobdays Expedition zu den Qnellflüssen des
Jrawadi. Major I. R. Hobday verließ am 22. Dezember
1890 Bhamo am oberen Jrawadi in Birma und drang nördlich
bis Senbo mit dem Dampfer vor, von wo ans er auf dem
rechten Ufer des Stromes bis zu dem Punkte marschierte,
wo dessen beide Hauptguellflüsse, der Malikha und der
Mekha, sich vereinigen. Er folgte nun dem rechten Ufer
des westlichen Armes, des Mali, aufwärts bis 26" 15', wo
er am 15. Januar 1891 anlangte und wo er verhindert
wurde, weiter nördlich vorzudringen. Zwei Tage später
kehrte die Expedition um und kreuzte den Winkel, der vom
Mali und Aid gebildet wird, gelangte an den letzteren und
überschritt ihn 32 hm vor seinem Zusammenflüsse mit dem
Mali. Am 1. Februar war Hobday in Maingna am linken
Jrawadiufer gegenüber von Myitkyina. Ein zweiter nörd-
licher Zug im Methale verlief auch bezüglich des Vordringens
ergebnislos. „Wir haben", schreibt Hobday, „nicht viel zur
Lösung der Frage nach den Quellen des Jrawadi beitragen
können. Wir maßen das Volum des westlichen Zuflusses
des Malikha und des östlichen oder Mekha, am Zusammen-
flüsse beider und fanden, das die Wassermenge des letzteren
bedeutender und kälter. Da, wo wir 32 hm vor dein Zu-
sammenflüsse den Ms kreuzten, und wo er Erweiterungen
(pools) bildet, fanden wir ihn 28 m tief. Die Area des
Beckens des Mali habe ich erforscht und nach dem Unter-
schiede im Volumen der beiden Flüsse bin ich geneigt anzu-
nehmen, daß der östliche keinen längeren Lauf als der west-
liche hat, so daß der Lukiang Tibets sich, wie ich glaube, als
identisch mit dem Salwin Herausstellen wird. Über den
Lukiang konnte aber nichts sicheres erkundigt werden, da wir
am Mekha zu den Marus und Naw-Ains kamen, wilden
Stämmen, über die wir nur wenig wissen." (Kroceed.
Geogr. Soc., Juni 1891.)
— Kamerun. Der schwedische Händler G. Valdan
entdeckte im Juli 1890 nördlich vom Flusse Memeh einen
neuen See, der dem Barombi oder Elefantensee wenig an
Größe nachsteht. Er liegt 700 m hoch, mißt 2 hm im Quer-
schnitt und ist vulkanischen Ursprungs. Valdan benannte
ihn nach dem Gouverneur von Kamerun „Sodensee" (Peter-
manns geogr. Mitteil.).
— Die deutsche Forschungsreise nach Westgrön-
land unter Dr. Erich von Drygalski (Globus LIX, 112),
welche bereits im laufenden Jahre stattfinden sollte, ist aus
das Jahr 1892 verschoben worden. 1891 macht Dr.
v. Drygalski nur eine vorbereitende Fahrt, zu der derselbe
am 2. Mai, begleitet von Herrn Baschin, von Kopenhagen
aus aufgebrochen ist. Jakobshavn, Waigat uitb Umenak
werden zunächst besucht und die Station für das nächste Jahr
bestimmt.
— Der zweite internationale Kongreß f ii r
Volkskunde (Folklore) findet zu London vom 1. bis 7. Okto-
ber 1891 statt. Vorsitzender ist Joseph Jacobs, Schrift-
führer Alfred Nutt (270 Strand). Der Beitrag beträgt
21 Mark, wofür die Verhandlungen geliefert werden. Es
werden drei Sektionen gebildet: 1) für Volkserzählungen und
Lieder, 2) für Mythen, 3) Sitten und Gebräuche. In der
letzteren Sektion sollen die Heirats- und Begräbnisgebräuche,
die Erntebräuche in Großbritanien, die Zeugnisse der Volks-
kunde für den europäischen oder asiatischen Ursprung der
Arier, die Verbreitung der Spiele u. s. w. besprochen werden.
— Im Großherzogtum Luxemburg zeigt die Volks-
zählung vom 1. Dezember 1890 eine Abnahme der Bevölkerung
um 2195 Seelen in den letzten fünf Jahren. Am 1. Dezem-
ber 1890 zählte man 211 068 Einwohner, während am
1. Dezember 1885 213 283 ermittelt worden waren. Der
Konfession nach sind nach der neuesten Zählung 208 921 Katho-
liken, 1058 Reformierte und Protestanten, 1009 Israeliten,
der Rest gehört verschiedenen Sekten und den Konfessions-
losen zu. ____________
— Der Grenzstreit zwischen Venezuela und
Kolumbien ist von der Königin von Spanien, als Schieds-
richterin, zu Gunsten des letzteren Staates entschieden worden.
Die ganze Goajiro-Halbinsel, die Territorien von San Faustino
und Aranca sind jetzt Kolumbien zugesprochen worden. Die
Grenze verläuft jetzt entlang dem Rio Aranca bis zum Ein-
fluß in den Orinoko, diesen aufwärts bis zur Mündung des
Atabapo in denselben, am Atabapo hin und den Rio Negro
abwärts.
— Ny a ssa land ist der Rame, welcher durch eine Prokla-
mation der Konigin Vittoria dem durch Vertràge jetzt ab-
gegrenzten Lande ini Jnncrn Sudafrikas verliehen wurde,
welches im Suden von Britisch - Betschnanaland nnd Trans-
vaal, im Westen von Deutsch-Sudwestafrika nnd ben portu-
giesischen Besitzungen, im Norden vom Kongostaat nnd Deutsch-
Ostafrika, im Osten von den portugiesischen Besitzungen be-
grenzt wird.
— Die Juden in Russisch-Polen. Der englische
Generalkonsul Grant in Warschau giebt in seinem amtlichen
Berichte an die britische Regierung die Zahl der Juden in
16
AuS allen Erdteilen.
Russisch-Polen jetzt auf 1 380000 an, unter einer Bevölkerung
von 8 250 000 Seelen. In Warschau machen die Juden
40 Prozent ans, in vielen anderen Städten 50 Prozent.
Handel und Industrie in Warschau sind fast ganz in jüdischen
Händen. In den höheren Handelszweigen kommen auf
16 Juden 3 Christen, in den niedrigern auf 19 Inden nur
2 Christen; Agenten und Makler sind fast nur Juden (auf
43 Juden ein Christ). Von den größern Fabriken sind
63 Prozent in jüdischen Händen. In den niedrigen Er-
werbsschichten, bei der Handarbeit u. s. w. ändert sich das
Verhältniß sofort. Hier sind nur 11000 Juden oder
8 Prozent der gesamten jüdischen Bevölkerung beschäftigt
gegenüber 43 000 Christen, oder 20 Prozent der ganzen
christlichen Bevölkerung.
— Ersteigung des Elbrus. Der Topograph
Pachtussow hat im Juli 1890 den Elbrus erstiegen, worüber
er im April dieses Jahres der geographischen Gesellschaft in
Tiflis berichtete. Am 24. Juli brach er mit acht Kosaken
und einem swanetischen Führer aus dein Lager ain Fuße des
Ilschba auf. Am 31. Juli war der westliche Gipfel nach
vielen Schwierigkeiten erklommen. Pachtussow schreibt dar-
über: „Um 9 Uhr 20 Minuten betrat ich von der nordöst-
lichen Seite den höchsten Punkt des Berges und befand mich
18 470 Fuß über dem Meere; 10 Minuten später waren
auch meine Kosaken oben. Das Thermometer, welches ich
zwei Arschin über dem Schnee gegen die Sonne ausgehängt
hatte, zeigte von 9 Uhr 20 Min. bis 11 Uhr —8,1° C.;
von 11 bis 1 Uhr Mittags —7,5°ß. Die ganze Zeit wehte
starker Westwind. Zu gleicher Zeit war die Temperatur in
Pjatigorsk -s-29,9"C., in Tiflis -s- 33,7°C., in Batum
-s- 34" C. Da die Temperatur im ganzen Kaukasus Ende
Juli die größte Höhe erreicht, so kann man wohl mit Recht
den Schluß ziehen, daß die Temperatur auf dem Elbrus nie
höher steigt als bis auf Rull; hier kann also der Schnee
niemals tauen; selbst in der Nähe des Felsens sind keine
Spuren von Auftauen zu sehen. Deshalb kann der Schnee
sich hier auch nicht anhäufen, da er im trockenen Zustande
leicht vom Winde weggefegt wird. Wirklich ist auch der
Gipfel fast ganz schneefrei, besonders am westlichen und süd-
lichen Abhang beider Gipfel, wo er nicht einmal die kleinen
Steine bedeckt. Das deutet auch darauf hin, daß hier oben
West- und Südwinde vorherrschen. Auf den Nordabhängen
dagegen liegen große Schneemassen. Beide Gipfel haben
Trichterform; die Ränder sind auf den dem Sattel entgegen-
gesetzten Seiten ansgebrochen. An den Rändern beider
Trichter sind je drei kleine Gipfel, am östlichen Trichter ist
der höchste Punkt 18 347 Fuß hoch, ein nackter Felsen, am
westlichen bildet der höchste Gipfel ein Dreieck, ist mit Schnee
bedeckt und 18 470 Fuß hoch. Die Trichterform der Gipfel
weist auf erloschene Vulkane hin."
— Von der Eisenbahn Jaffa-Jerusalem, der
lange besprochenen und ersehnten, ist am 24. Mai das erste
kleine (Stiles bis Ramleh eröffnet worden.
— Die Zunahme der Katholiken in Indien ist
nach den Aryiales de la propagation de la f'oi eine sehr
beträchtliche. Man schützte die Zahl derselben im Jahre 1800
auf 475 000, wovon über die Hälfte in dem portugiesischen
Goa lebte. 1890 war die Zahl der indischen Katholiken auf
1 701 337 gestiegen, von denen 470000 in Goa und über
eine halbe Btillion in dem französischen Pondichery leben.
In Malabar rechnet man 335 000, in Ceylon 220 000.
Die Bevölkerung Indiens zu 257 Millionen angenommen,
kommt erst auf 151 Einwohner ein Katholik. Es giebt
jetzt 26 katholische Bischöfe und 645 katholische Missionare
in Indien. Die römische Kirche unterhält über 2200 Schulen,
in denen 100 000 Schüler unterrichtet werden.
— Dr. Richard Schombugk, geboren zu Freiburg an
der Unstrut, seit 1866 Direktor des botanischen Gartens zu
Adelaide in Südaustralien, starb daselbst im April. Er be-
gleitete 1840 seinen berühmten älteren Bruder Robert nach
Britisch-Guayana, um die Grenzregnlierungen auszuführen.
Er beschrieb die wichtigen Reiseergebnisse in dem dreibändigen
Werke „Reisen in Britisch-Guayana" (Leipzig, I. I. Weber,
1847). Seine spätere Thätigkeit in Australien gehörte ganz
der Botanik.
— Die portugiesischen Entdeckungen an der Nord-
ost kü st e Amerikas behandelt in den Transactions of the
Roy. Soc. of Canada Rev. G. Patterson unter dem Titel:
The Portuguese on the Northeast Coast of America,
a lost chapter in American History. Der Verfasser
will zeigen, daß die Portugiesen die ersten waren, welche im
16. Jahrhundert die Küste von Labrador, Neufundland und
Neuschottland befuhren, daß sie die Fundy-Bai entdeckten und
die Küste Neu-Englands bekannt machten. Noch vor Cartier
seien sie den St. Lorenzstrom bis Montreal hinaufgefahren.
In einem Anhange giebt Patterson ein Verzeichnis der noch
in jenen Gegenden haftenden portugiesischen Namen. Die
1521 von Vianna in Portugal nach jenen Gestaden aus-
gesendete Kolonie fand Patterson in alten Erdwerken bei
St. Peters (Kap Breton) wieder.
— Admiral Robert Dawcs Aldrich starb, 83 Jahre
alt, am 2. Juni 1891 zu Croydon. Er war 1824 in die
englische Marine eingetreten und machte sich um die Erd-
kunde verdient durch seine Schlittenfahrten in dem arktischen
Archipel Amerikas während der Expedition zur Aufsuchung
Sir John Franklins unter Austin und Peney 1850 bis 1852,
welcher er als Leutnant angehörte.
— Oberguinea. Im Mai des laufenden Jahres hat
im Auftrage des französischen Gouverneurs von Konakry
(Sierra Leona-Küste) durch zwei französische Kriegsschiffe die
Annexion des im Osten von Liberia gelegenen Küstenstriches
in der Ausdehnung von 300 hm stattgefunden. Derselbe
reicht vom Cavallyflnsse (bei Kap Palmas) bis St. Andreas,
wo er mit dem bereits früher von Frankreich besetzten Ge-
biete an der Zahnküste zusammenstößt, zu dem auch Bassam
gehört. Ein Teil dieses Gebietes, zu Maryland gehörig,
steht eigentlich unter der Oberhoheit der Negerrepublik Liberia,
welche einfach bei dieser Annexion unbeachtet blieb.
— Professor Josef Zingerle, geboren 25. Januar
1831 zu Meran, starb am 14. April zu Brixcn. Wie sein
älterer, noch lebender Bruder Ignaz Vinzenz Zingerle, hat
er sich um die Volkskunde Tirols hoch verdient gemacht. Mit
diesem gemeinsam sammelte er die Märchen und Sagen
Tirols, die seit 1852 erschienen. Viele belangreiche Beitrüge
von ihm stehen in Wolfs und Mannhardts „Zeitschrift für
deutsche Mythologie".
— Marokko. Der französische Gelehrte La Martiniöre,
welcher mit der archäologischen Erforschung von Tingitana
beauftragt ist und Ausgrabungen in den antiken Städten
Lixus und Volnbilis macht, hat im Januar 1891 den süd-
westlichen Atlas überstiegen und ist bis Tarudant und ins
Wadi Sus vorgedrungen. Die Aufnahme seiner Route in
1:1 500 000 ist der Pariser geographischen Gesellschaft über-
geben worden.
Herausgeber: Dr. R. And ree in Heidelberg, Leopoldstraße 27.
Druck von Friedrich Vieweg und Sohn in Braunschweig.
1
4
Q^OU (W/WNJiW TÄlHiP»ir*irXATVSt^«M.ur ÖÄ«W&^^|Ji31>»QiFlcn i AtFtSJ ÄAMSOMirrYM q**. *ÄVC** 'fÖPVUlGEKrtr QVI PRöFVNDO M«N^ ADRlACCUftiOwr-.p.;
VaKHO'IU;. ArrVT IACAONJO.V n RRAHVM ÖVICOVlÜ IN AXFS VßRGiTi^r roVOREAS RBODAÄVS OVAVER»I:!lAT VNfA5t&r MVL1E PVNCTIS VKßfiS V!tLE <*YE NCTATE ;
Cu».aC«A 5« CVrd'Mt AO ¿.AWRIGfc mNrAJSG^Lto TYWP SOKUlfilVS BRÄri.lBEfcftD'W^ve MTWW, v NVtt« E iELPRATA .PRIORVM S W IJDCA <M» MODlCO CEiARl.IVS51T- IN CR« -
KVM ov« VtBVST*
¥
it-" ;t a «ofti: v AP ■ iv !zp
K-i»r;so
Globus, Band 00. 1891.
NICOLAUS CUSANUS, GERMANIA.
Die älteste Karte von Deutschland. Eystat 1491.
Braunschweig. Fr. Vieweg & Sohn.
LICHTDRUCK VON STENGEL & MARKBRT IN DRESDEN.
s ì i V î '' à ì
Bd. LX
Nr. 2
Braunschweig.
Jährlich 2 Bände in 24 Nummern. Durch alle Buchhandlungen und Postanstaltcn
zum Preise von 12 Mark für den Band zu beziehen.
1891.
Lrieslaiid, Friesen und friesische Sprache in den Niederlanden.
Don Iohan Winkler. Haarlem.
Dem aufmerksamen wissenschaftlichen Beobachter bieten
die Niederlande ]) im allgemeinen, was Land nnd Volk
betrifft, gleichviel ans welchem wissenschaftlichen Gebiete er
sich auch bewegen möge, sehr viel belangreiches und merk-
würdiges dar. Namentlich ist dieses der Fall in bezug ans
das eigentliche Bolk nnd Volksleben, wie dieses sich in zahl-
reichen Besonderheiten nnd Eigentümlichkeiten äußert, sowohl
llet Koninkrijk der Nederlanden, das Königreich
der Niederlande, das ist der amtliche Name des Landes, welches
die Deutschen, und auch andre gewöhnlich Holland nennen.
Doch diese letztere Bezeichnung ist falsch, gerade so falsch, als
wenn man ganz Deutschland Preußen nennen wollte. Der
Name Holland kommt nur zwei von den elf Provinzen zu,
welche die Niederlande bilden, nämlich Süd- und Nordholland.
Allerdings sind diese beiden von altersher und noch heute stets
die vornehmsten Provinzen gewesen, in denen die Hauptstadt
des Reiches, Amsterdam, und 's Gravenhage, die Residenz des
Königs nnd der Sitz der Regierung, liegen; aber an und für
sich haben Nord- und Südholland, gewöhnlich Holland genannt,
tenrerlei Vorrang vor den andern Provinzen wie Friesland,
Gelderland, Zeeland, Nordbrabant re. Auch die Bezeichnung
„holländische Sprache", die vielfach statt „niederländische
Sprache" gebraucht wird, ist falsch. Die amtliche Sprache der
niederländischen Regierung, die überall in den Niederlanden
Geltung hat, die allgemeine Schrift- und Buchsprache, ist die
niederländische, die eine Unterabteilung der niederdeutschen aus-
wacht, ebenso, wie alle provinziellen Mundarten in den Nieder-
landen Unterabteilungen des Niederdeutschen ausmachen. Außer-
dem lebt noch in der Provinz Friesland, als Umgangs- und
Schriftsprache (doch dieses letztere nicht im amtlichen Sinne)
*>><-' friesische Sprache. Eigentlich kommt der Name „holländische
Sprache" nur jener Mundart zu, die in den beiden Provinzen
Holland als Volkssprache herricht; und dieses Holländische ist
nicht mehr als das Gcldcrsche, das Zeeuwschc oder Deeländische,
das Brabantische und als hundert kleine Unterabteilungen der
verschiedenen Mundarten, die in den Niederlanden bestehen.
Friesen, Geldersche, Brabanter und andre nicht holländische
Niederländer lassen sich daher die Benennung „Holländer" für
stch, und holländische Sprache für ihre allgemeine niederländische
Sprache auch nicht gern gefallen.
Globus LX. Nr. 2.
Clarum inter Germanos Frisiae nomen. Tac.
Den Friesen ist eigen, daß sie mit großer Eifersucht
> und dichter Geschlossenheit ihre Sitte, Art und Weise
gegen fremden Eindrang zu verteidigen suchen.
E. M. Arndt.
in der niederländischen Sprache im allgemeinen als auch in
den mannigfachen, untereinander sehr abweichenden Mund-
arten. Ferner in Volkssitten und Gebräuchen, in allerlei
Folklore, in den sehr merkwürdigen, ans ein hohes Alter
deutenden Volkstrachten, namentlich in dem Kopfschmuck der
Frauen; dann in der Lebensweise, der Bauart und Ein-
richtung von Haus und Hof, Stall und Scheuer beim
Bauernstande; in Handel und Wandel, Betrieb und Arbeit
von Bauer und Bürger, Landmann und Seemann, Acker-
bauer und Viehzüchter, Fischer und Schiffer. Endlich auch
in bezug auf die Unterhaltung und Befestigung des Landes
durch Deiche, Dämme nnd Schleusen, Wasserlösungen und
Wasserwehre, Durchgrabungen und Austrocknungen — kurz-
um in fast allen Dingen des täglichen Lebens. In allc-
dem ist in den Niederlanden noch sehr viel ans alter, ja
uralter Zeit übrig geblieben. Vieles, was man bei andern
germanischen Völkern umsonst sucht, was bei andern Ger-
manen vielleicht niemals bestand oder in ganz andrer Form
sich äußerte oder bereits außer Gebrauch gekommen, unter-
gegangen, seit langem verschwunden und vergessen ist.
Alle diese besonderen Volkseigcnheiten zeigen sich in den
Niederlanden am stärksten bei den Friesen, bei jenem Teile
des niederländischen Volkes, der rein friesischen Ursprungs
ist; im geringeren Grade dagegen bei denjenigen Friesen,
welche mit zwei andern altgermanischen Völkern, mit Sachsen
und Franken, zu einem Mischvolke verschmolzen sind, zu
Friso-Sachsen auf der einen, zu Friso- Franken ans der
andern Seite. In der That, der größte Teil aller Beson-
derheiten, alles Altertümlichen, welcher das niederländische
Volk noch heute von seinen germanischen Stammesverwandten
in Deutschland und England unterscheidet, ist friesischen
Ursprungs, besteht ans friesischen Eigenartigkeiten.
Von alters her und noch heute haben die Friesen unter-
allen germanischen Völkern stets ihren eigenen und gewiß
3
18
Iohan Winkler: Friesland, Friesen und friesische Sprache in den Niederlanden.
sehr besonderen Platz eingenommen. Sie hatten wohl im
Volke der Sachsen ihre nächsten Stammverwandten, und
diese Sachsen machten auch von ihrem ersten Erscheinen aus
der Weltbühne an, und durch ihre ältesten Volkseigenschaften
stets das Verbindungsglied aus, welches die Friesen mit
den andern Germanen vereinigte. Und namentlich auch
mit dem germanischen Mischvolke, das sich in Britannien
entwickelte, mit den Angelsachsen, die in der That auch teil-
weise friesisches Blut aufweisen, hatten von alters her die
Friesen Volkseigenheilen gemeinsam, wie denn die heutigen
Friesen noch jetzt in ihrer Sprache mit dem heutigen
englischen viel übereinstimmendes haben. Trotzdem aber
zeichneten sich die Friesen in alter Zeit durch die Jahr-
hunderte hindurch in ihrer Eigenart, in ihrem Volksleben,
und ihrer Sprache seit dem Bestehen ihres Stammes unter
den Germanen besonders aus. Und diese Sonderheit zeigen
sie noch heute! Aber abgesehen von dieser Eigenheit sind
und waren die Friesen echte, typische GermanenJ). Ja,
manche allgemein germanische Volkseigenheit, sowohl an
Leib als an Leben, war vorzugsweise den Friesen in stark
ausgeprägter Form eigen. Unter den Friesen fand das
germanische Urbild seinen vollkommensten, seinen edelsten
Ausdruck. Mit Recht rühmt daher auch der römische
Geschichtsschreiber, dem wir die Kenntnis so vieler Volks-
eigenschaften unsrer Vorväter zu danken haben, die Friesen
als „berühmt unter den Germanen".
Unter all den friesischen Volksstümmen, die noch heute
im volkstümlichen Sinne, im größeren oder geringeren
Maße abgesondert, in den verschiedenen Teilen ihres alten
Volksgebietes bestehen, in Ost, West und Nord, tritt die
Eigenart doch nirgends stärker hervor, als bei den nieder-
ländischen Friesen, die den besondern Gegenstand dieser
Abhandlung ausmachen.
Ein einiges, völlig zusammenhängendes Volk int poli-
tischen Sinne, unter einem Haupte, unter eine einzige
Regierung vereinigt, sind die Friesen niemals gewesen.
Sie standen da, Mann für Mann, Geschlecht für Geschlecht,
Staunn für Stamm, Volksgruppe für Volksgruppe, auf sich
selbst angewiesen, frei und unabhängig; sie hatten keinen
andern Zusammenhang, als den ihre Volkseinheit, int ethno-
graphischen Sinne, mit sich brachte. Von alters her waren
ft Die Deutschen rechnen die Friesen unbedingt zum nieder-
deutschen Volksstamm. Ae er die Friesen haben über diese Sache
ihre eigene abweichende Ansicht. Die Friesen halten sich von
alters her westlich von der Ems nicht für Holländer und östlich
von der Ems nicht für Deutsche. Sie hielten sich, mit Recht,
für ein besonderes Volk, wohl für germanisch, aber nicht für
oeutsch oder holländisch. Und in den sriesischen Gauen, wo das
friesische Volksbewusztsein noch lebendig und stark in seiner
Überzeugung ist, da gilt noch heute diese Ansicht voll und ganz.
Natürlich — denn die niederländischen Friesen haben unmittel-
bar mit den Deutschen nichts zu thun; aber auch gegenüber
den Holländern und andern niederländischen Volksstäminen,
selbst von ihren nächsten Verwandten, den sriso-sächsischen
Groningerländern und den sriso-fränkischen Nordholländern
(Westfriesen), halten sie sich für verschieden. Ünd in Nordsries-
land ist es ebenso. Selbstverständlich zumeist auf den nord-
friesischen Inseln und in den Gauen des Festlandes, wo man
noch die friesische Sprache redet. Aber selbst in den Gauen,
wo eine Vermengung mit Sachsen stattfand und die friesische
Sprache bereits seit zwei oder drei Jahrhunderten ausgestorben
ist, hat sich diese Volksmeinung noch erhalten. So berichtet
Otto Bremer (Zeugnisse für die frühere Verbreitung der
nordfries. Sprache im Jahrb. d. Ver. für niederdeutsche Sprach-
forschung, XV, 108) von den Eiderstedtern, einem altfriesischen,
obgleich jetzt sriso-sächsisch redenden Volksstamme in Nordfries-
land (Schleswig-Holstein): „Noch heute (1890) reisen die
Eiderstedter „nach Deutschland"." Ünd noch 1828 gab dieser
in Ostsriesland noch lebendigen Ansicht ein Dichter in Emden,
I. L. Lange, in den Versen Ausdruck:
De düütsche Taal is wall wat finer,
Doch Düütschers fund wi neet.
sie ein Volk von freien Männern und nur zeitweilig und in
besondern Verhältnissen gehorchten sie nach eigenem Willen
selbstgewählten Männern ans ihrem eigenen Volke. Diese
Freiheit galt ihnen als das höchste. Die Bezeichnung Irin
Fresa, freier Friese, galt ihnen als höchster Ruhm, und mit
diesem Ehrennamen schmücken sie sich gelegentlich noch heute
gern, zumal in den Niederlanden. Auch ihr alter Wahl-
spruch ljeavor dead as slaef, lieber tot als Sklave, ist
noch heute im Munde des Friesenvolkes im Westen (in den
Niederlanden) wie im Osten und Norden und läßt noch
manchem Standfricsen das Herz lebhafter schlagen I. Darum
singt auch der Friese — wenn ihm auch das alte Frisia non
oantat die Sangesfertigkeit abspricht — gern, tut Norden:
Hje wiarn de Mans aw Sie,
Hje wiarn de Mans awd Löud
Hat Knght most Niman bie,
Her aw a hile Strönd.
Sö was de üle Wisse,
De we nag delling prisse:
To hupe hüllen hje sö braw,
llje wiarn liwer düd as
Slaw 2).
Und im Osten:
Deine Freiheit lasse
Dir das höchste sein,
Neben ihr verblasse
Äußrer Ehre Schein.
Glaube — Steh zum Rechte
Und im Westen:
Wierne de älde Friesen fry,
Friske soannen binne wy.
De älde moed is aet forrün,
0! wy steärre for üs gründ!
Die Helden auf den Wogen,
Die Helfen auf dem Land,
Sie haben nie gebogen
Das Recht im ganzen Strand.
So war die alte Weise,
Die ich noch heute preise:
Zusammen hielten sie so brav,
Sie waren „lieber tot als
Sklav".
Frei bis in den Tod,
Lasse dich nicht knechten
Lieber grabe Sloot (Graben);
Rufe, wie's auch traf:
Leiwer.dood as Slaaf ft.
Waren die alten Friesen frei,
Friesische Söhne sind wir.
Der alte Mut ist nicht verronnen,
O! wir sterben für unser Land.
De älde Friesen wierne fry,
For de frydom fjochte wy.
End en echte, frye Fries
Hath fen freämde Diwang
en gris 4).
Die alten Friesen waren frei,
Für die Freiheck fechten wir.
ünd ein echter, freier Friese
Hat vor fremdem Zwang ein
Grauen.
ft Als im Jahre 1555 dem König Philipp von Spanien
in Brüssel als Herrn der Niederlande gehuldigt wuroe, leisteten
die Abgeordneten der verschiedenen nord- und südnicderländtschen
Landschaften, die nun unter einem Haupte vereinigt waren,
knieend vor feinem Throne den Eid der Treue. Nur die
friesischen Abgeordneten — wiewohl sie bereit waren, den Eid
abzulegen — widersetzten sich in ihrem rechtmäßigen Volks-
trotz als freie friesische Männer unter ihrem Führer, dem
Edelmann Gemme Burmania, gegen die sklavische ünter-
würfigkeit gegenüber einem Menschen. ede weigerten sich zu
knieen. ünd als die Höflinge, die um den königlichen Thron
standen und auch die Abgeordneten der andern Landschaften
den Friesen zumuteten, sich nicht zu widersetzen, sondern willig
vor dem Throne zu knieen, da trat Gemme Burmania stolz
mitten in die Versammlung und rief laut in seiner Mutter-
sprache: Wy Friesen kuibbelje alinne for Hod! Wir
Friesen knieen nur vor Gott! Darauf legten sie stehend ihren
Eid ab, wie es sich freien Männern ziemt, ohne daran von
König Philipp oder einem andern verhindert zu werden. Nach
dieser besondern, stehend verrichteten Eidesleistung erhielt
Gemme Burmania von seinen Zeitgenossen den ehrenvollen
Veinameu des Standfriesen, ein Name, der später einem
jeden Friesen gegeben wurde, der sich durch Standhastigkeit in
oer Bewahrung seiner Votkseigen>chasten auszeichnete; ein
Name, der auch noch heute als Ehrenname für jeden tüchtigen
Friesen gebraucht wird, welcher der Vorväter Tugenden und
Eigenschaften im besondern friesischen Sinne, namentlich was
Sprache und Sitte betrifft, übt.
ft M. Nissen, „Lönd an Folk“ in feiner Gedichtsamm-
lung : De freske Sjeinstin, der friesische Spiegel, Altona 1868.
3) Bernhard Brons jr., Die Wahlsprüche der Friesen.
Die Worte Leiwer dood as Lckaaf! sind nicht in der eigent-
lichen friesischen Sprache abgefaßt, die in Ostfriesland bereits
ausgestorben ist, sondern in sriso - sächsischer Mundart, die das
heutige ostfriesische Niederdeutsch (Platt) ausmacht.
ft Dr. E. H. Halbcrtsma, De Friske Tsjirlen, die
friesischen Kerle, in seinem Werke: De Lapekoer fen Gabe
Skroar, Deventer 1822 (Gabe Schneiders Lappenkorb).
Johan Winkler: Friesland, Friesen und friesische Sprache in den Niederlanden.
19
Wenn auch im täglichen Leben nicht mehr gebräuchlich,
kennen die Friesen noch den alten friesischen Gruß ihrer
Vorväter: Eala, fria Fresa! (Hola, freier Friese!) und er-
heben daran ihre Herzen. Noch im Jahre 1877 sah ich
diesen Gruß als passende Inschrift ans dem Schilde des
Wirtshauses in dem ostfriesischen Dorfe Loga bei Leer an-
gebracht I.
Bereits die altsriesischen Gesetze, die uns noch in alt-
friesischer Sprache aus dem Mittelalter erhalten geblieben
sind, verkündigen und befestigen nachdrücklich in dichterischer
Sprache die Freiheit der Friesen, daß da Fresen ymmer-
meer wolden wessa frylieren, di berna ende di onberna,
also langh soe di wynd fan da wolkenen wayd ende
dyoe wrald stoede. Oder, an einer andern Stelle: alsoe
langbe soe di wynd fan dae vlkenum wayth, ende
ghers groyt ende baem bloyt, ende dio sonne optyocht
ende dio wrald steed, dat i dat ne lete vm inannis
rede, vm frouwen sponste, ner vm seluis todita, ner
vm nene secknm ther ioe framia ief scadia moghe;
thet ioe God alsoe lielpe u. s. w. * 2).
Ihre alte Volkssreihcit wurde den Friesen durch Karl
den Großen, der die Sachsen und Friesen zum Christen-
tume bekehrte, anerkannt und befestigt. Darauf bezügliche
alte Volksüberlieserungen finden sich noch bei den Friesen im
Umlauf. Gegenüber spätern deutschen Kaisern beriefen sie
sich auf die von Kaiser Karl verbürgte Freiheit, ebenso
gegen andre kleinere Fürsten, welche sie bezwingen und über-
wältigen wollten, ehe sie zu dem ruhmreichen, erlösenden
Schwerte griffen. In verschiedenen, zuweilen sehr kleinen
Bnndcsgenossenschasten vereinigt, hatten alle diese kleinen
Republiken wenig Zusammenhang. Sie umfaßten in der
Regel ein sehr begrenztes Gebiet, unter selbst gewählten
Edelleuten, welche sie Haedlingen, Hovetlingen, Hoofd-
lingen (Häuptlinge) nannten, oder auch bei drohender oder
vorhandener Kriegsgefahr unter tapferen Truppenansührern,
echten Volksherzogen, die in niederländisch Friesland mit
dem Namen Potestaten bezeichnet wurden. Nur einmal
jährlich versammelten sich diese Häuptlinge und Truppen-
führer, um über allgemeine Landes- und Volksangelegenheitcn
zu beratschlagen. Diejenigen aus den niederländisch-friesischen
Gauen (westlich der Ems) und aus Ostfriesland tagten zur
Pfingstzeit bei dem Upstalsboom, einem alten Gerichtsplatz,
und gewiß einem alten Heiligtum in der Nähe von Aurich
in Ostfriesland. Die weiter östlich an der Weser und Elbe
wohnenden Friesenstämme kamen zusammen bei der Staleke
(Gerichtseiche) von Hagen, Osterstade (am Ostuser der
Weser, Hannover).
Eigentlich stand dort und steht vielleicht noch^heute Eala
fria Fresena. Dieses ist aber vom sprachlichen Standpunkte
eine falsche Form, die aber auch von den niederländischen
Friesen meist gebraucht wird. Dieser Fehler rührt aus dem
Jahre 1617 her, als der friesische Schriftsteller Sibrand
Siccama den Gruß in jener Weise falsch schrieb.
2) Die Friesen immcrmehr Freiherrn sein wollten, die
Geborenen und die Ungeborenen, also lange der Wind aus den
Wolken weht und die Welt steht. — Also lange als der Wind
von den Wolken weht und Gras wächst und Baum blüht und die
Sonne aussieht und die Welt süht, das; sie das nicht lassen um
Mannes Rede, um Frauen Verführung, noch um Selbstgedanken
(eigene Gedanken), noch um keine Salle, die ihnen frommen
oder schaden mögen; daß ihnen Gott also helfe u. s. w. In die
heutige niederländisch-friesische Sprache übersetzt lautet obiges:
Py Friesen jimmer frylieren wese woeden, dy berne end
dy ünberne, alsa lang as de wind fenne wölken waeit, end
de wrald stieth. — Alsa lang as de wind fenne wölken
waeit, end gers groit, end beam bloit, end de sinne
optiocht, end de wrald stieth, det Y det net litte meie om
inans rede, om frone forliedinge, noch om selfs thochte
(ut egin bithinksel), noch om nin saken, dy Jo foardie-
neh eft skeadlik wese meie; det Jo God alsa lielpe.
Dieses Zusammenwirken war aber stets von sehr geringer
Bedeutung. Häufige Zwiste, die oft wegen nichtiger Ursache
oder kleinlicher Eifersüchteleien der Häuptlinge entstanden,
und die in niederländisch Friesland in den Parteien der
Skieringers und Fetkeapers ihren Gipfelpunkt erreichten,
vernichteten den Bruderbund, das Eintrachtsband, und
brachten Land und Volk in Schimpf und Schande. Durch
diesen Mangel an gemeinsamem Gefühl und Zusammenhang,
die aus den heillosen Zwisten hervorging, wurden hier
und da die Seewehrcn, die doch zur Erhaltung des niedrigen
Landes so dringend nötig waren, vernachlässigt. Durch
gewaltige Sturmfluten und Überschwemmungen, mandrenken
genannt — weil darin viele Männer ertranken — wurden
große Strecken des fruchtbarsten Landes von der wilden
Nordsee verschlungen, gingen mit Städten, Dörfern, Ackern,
Menschen und Vieh in den ungestümen Wogeu der See
zu Grunde. Ja, gerade durch ihre übertriebene Vorliebe
für persönliche Selbständigkeit und Unabhängigkeit, durch
diesen ihren entarteten Freiheitssinn haben die Friesen (zum
Teil wenigstens) ihre Volkseinheit, ihre Selbständigkeit ein-
gebüßt. Am Ende des Mittelalters war ihre Volkskraft
großenteils gebrochen und vom Streit, Bruderzwist, Blutver-
gießen, Morden und Brennen müde, fielen sie, gutwillig oder
böswillig, in die Hände der benachbarten Fürsten: Schleswig-
Holstein (Dänemark), Hannover, Oldenburg. Ostsriesland,
obwohl es einen Teil des Deutschen Reiches ausmachte, blieb
noch unter dem einheimischen Fürstengcschlccht der Sierk-
senas ein gewisses Maß von Selbständigkeit erhalten; dieses
dauerte bis in das vorige Jahrhundert, als diese Landschaft
nach dem Aussterben des heimischen Fürstenhauses an
Preußen siel. Was die friesischen Gauen westlich der Ems-
mündung betrifft, so vereinigten sie sich freiwillig zur Bundes-
genossenschaft mit Holland und den andern niederländischen
Provinzen, deren Schicksal sie nun seit dreihundert Jahren
geteilt haben.
Seit dem Jahre 1500 giebt cs daher noch viel weniger
eine friesische Volkseinheit im politischen Sinne, als, so
gering sie auch war, vorher im Mittelalter. Im Beginn
des 19. Jahrhunderts, als die Friesenlande zu vier Rcichs-
bänden gehörten, war die politische Zersplitterung aus den
Gipfel gestiegen. Nordfricsland gehörte zu Dänemark,
Helgoland noch bis 1890 zu England, die friesischen Gaue
an der Weser und Jade, sowie Ostfriesland zu Deutschland,
außerdem noch verteilt unter Hannover und Oldenburg,
später Preußen und Oldenburg. Das übrige Friesland
westlich der Emsmündung machte, wie heute noch, einen
Teil der Niederlande aus. Ja, will man die südwestlichsten
friesischen Stämme noch hinzurechnen — wiewohl sie schon
sehr mit Franken und Sachsen vermischt sind — dann besitzt
auch Belgien (im Küstenland an der Nordsee, Westslandern)
und Frankreich (an der Küste um Dünkirchen) jedes noch
einen Teil des alten Frieslands in seinem allergrößten Um-
fange und seinem allerausgcbreitetsten Sinne.
Diese politische Verteilung war den Friesen keineswegs
förderlich, im Gegenteil schädlich für den Zusammenhang
ihrer ethnographischen Einheit; und ebenso thaten die natür-
lichen Verhältnisse des von ihnen bewohnten Landes daran
Abbruch. Wie heute noch, bewohnten die Friesen die Süd-
küste der Nordsee von der Widau im Nordostcn, ja noch dar-
über hinaus, von der Königsau an der jütischen Grenze
bis zur Mündung der Schelde im Südwesten und noch
weiter hin. Es ist ein langer, ausgedehnter Küstenstrich
von niedrigen Landschaften, die reichlich von breiten Fluß-
mündungen (Elbe, Weser, Ems, Laucrs, Mel (Flie), Rhein,
Maas, Schelde) durchschnitten ist, mit einer langen Reihe
von Inseln davor, von Texcl bis Sylt, der friesische Archipel.
Dieser Küstenstrich, das uralte Erbteil des friesischen Volkes,
3*
20
Iohan Winkler: Friesland, Friesen und friesische Sprache in den Niederlanden.
war an vielen Stellen, namentlich zwischen Weser, Elbe,
Eider nnd Widau, nur sehr schmal. Nirgends war ein
geeigneter Mittelpunkt vorhanden, der nicht von den andern
Orten weit entfernt gewesen wäre. War auch dieser Küsten-
strich anderwärts breiter und erstreckte er sich auch tiefer
landeinwärts (ine Gebiete der Friesen an der Weser, in
Ostfricsland und Groningcrland, zwischen Weser, Ems und
Lauers, und namentlich im eigentlichen Friesland zwischen
Flie und Lauers), so war doch diese letztere Landschaft, von
alters her der Hauptsitz der Friesen, von den Wohnsitzen der
Weser-, Elb- und Nordfriesen zu weit abgelegen, um einen
dauernden Einfluß aus das Volksleben dieser östlich und
nördlich wohnenden Stammesgcnosscn ausüben zu können.
Auch der Umstand, daß viele Friesen auf ihren Inseln und
Halligen zerstreut saßen, nnd daß der Geist dieser friesischen
Inselbewohner, all ihr Sinnen und Trachten nach außen,
seewärts hinging, nicht landeinwärts zu ihren Volksgenossen
aus dem festen Lande, trug viel dazu bei, die Isolierung zu
begünstigen. Dadurch auch entwickelten sich viele örtliche
Besonderheiten im Volksleben, namentlich in der Sprache
und Tracht, auf der einen Insel so, auf der andern so, auf
dem benachbarten Festlande wieder anders. Die friesischen
Gaue an den Flußmündungen, namentlich am Flie, Dollart,
der Jade, die durch Sturmfluten, Deichbrüche und Über-
schwemmungen zu Grunde gegangen waren, oft mit den
Inseln, die vor den Mündungen im Meere lagen, waren
ebenso viele verlorene Glieder in einer Kette, die ursprünglich
die verschiedenen Glieder des friesischen Landes und Volkes
zu einem zusammenhängenden Ganzen verbunden hatte.
Und so ging auch hierdurch, gerade so wie durch die politische
Trennung, die Kette, der unmittelbare Zusammenhang,
zum großen Schaden der Volkseinheit zu Grunde.
Das alles waren höchst ungünstige Zustände für die
Erhaltung eines einheitlichen Frieslands. Der Endersolg
war denn auch der, daß Allfriesland zu einer Reihe von
unzusammenhängenden, verbröckcltcn, kleinern und größern
Gauen und kleinen Volksstämmen aufgelöst ist, als welche
es heute dasteht. Wahrlich, man braucht sich nicht darüber
zu wundern, daß die besonderen Eigenschaften der Friesen,
die sich bis auf unsere Tage in den verschiedenen Gauen, in
Ost und West und Nord noch erhalten haben, so viele
bedeutende Abweichungen, so sehr viele große Verschieden-
heiten ausweisen. Im Gegenteil! Man muß sich noch
wundern, daß unter all den höchst ungünstigen Einflüssen,
denen Allfriesland Jahrhunderte lang zur Beute fiel, und
die den friesischen Geschichtsschreiber Clement ein volles
Recht gaben, von einer Leidensgeschichte der Friesen zu
sprechen H, dennoch so viel ureigenes auf ethnographischem
Gebiete bei den Friesen sich bis zum heutigen Tage er-
halten hat. Mehr, viel mehr als bei einem andern germa-
nischen Volke. So. viel, daß man in der That noch
im ethnographischen Sinne von einem einigen Volke der
Friesen sprechen kann und muß, von einem einigen
Volke friesischer Brüder, obgleich sie im Politischen Sinne
als Deutsche und Niederländer, ja bis vor wenigen
Jahren noch als Dänen und Engländer voneinander ge-
schieden waren.
Und dieses zeugt ehrenvoll für den gesunden, erhaltenden
ehrenfesten Sinne des ganzen friesischen Volkes. Zugleich
ein Beweis für den tüchtigen Kern, der diesem urgermani-
schen Volke der „freien Friesen" innewohnt; von den
kräftigen eigenen Lebeusgruudsätzen, die sich bei ihnen offen-
es K. I. Clement, Die Lebens- und Leidensgeschichte der
Friesen, Kiel 1845, ein sehr merkwürdiges nnd in vieler Be-
ziehung belangreiches Werk, geschrieben von einem Standfriesen
von der Insel Amrum, in tiefer Wehmut über sein dem Unter-
gänge zuneigendes Volk.
baren und welche machen, daß sie ihre Volksehre, ihre Volks-
eigenschaften mit Recht so hoch halten.
Von dem heute zum Deutschen Reiche gehörigen Teil
Allfrieslands, von den östlich der Eins gelegenen friesischen
Gauen, soll hier nicht die Rede sein. Diese sind den
deutschen Lesern dieser Zeitschrift gewiß genügend bekannt
durch belangreiche, wissenschaftliche wie volkstümliche deutsche
Bücher und Schriften, von verschiedenen Gesichtspunkten ge-
nommen, und durch deutsche Gelehrte geschrieben.
Die ganze niederländische Küste der Nordsee mit dem
darangrenzenden mehr oder minder tief landeinwärts reichen-
den Landstriche war von alters her von Friesen bewohnt. Ihre
Nachkommen, sowohl reine als vermischte Friesen, sind noch
heute dort ansässig. Der Mittelpunkt dieses niederländisch-
friesischen, ja des allfriesischen Gebiets, der Hauptsitz des
Friesenvolkes in seiner größten Ausdehnung, war von alten
Zeiten an und ist es noch heute das Land zwischen Flie I
und Lauers 2), die heutige niederländische Provinz Fricsland b). 1 2
1) Das Flie ist eigentlich die Mündung des Flusses Mel
in die Nordsee. Als das Land zwischen dem heutigen friesischen
Gestade und jenem Wcstfricslands (beni nördlichen Nordholland)
noch bestand, noch nicht überschwemmt und ertrunken und in
offenes Meer verwandelt war, strömten die Gewässer der Flüsse
Pssel und Vechtc (Zwarte Water) durch die niedrigen Lande,
durch den altsriesischen Welgau, zwischen Schokland und der
Lemmer, zwischen Enkhuizen und Staveren nordwärts ab, ent-
lang Hindcloopen, Harlingen und das Grind, um durch die
Meeresstraße zwischen den Eilanden Flieland und Ter Schelling
fauch durch das Marsdiep zwischen Texel und dem Helder) in
die Nordsee zu gelangen. Ob damals schon der Abfluß von
Assel und Wechte den Namen Flie trug, ist nicht sicher. Jetzt
aber führt, im ausgedehntesten Sinne genommen, die ganze weite
Mündung der Zuiderzee — nämlich die ganze See, die sich nörd-
lich von einer angenommenen Linie zwischen Enkhuizen und
Staveren ausdehnt — im allgemeinen den Namen Flie. (Die
eigentlichen Holländer, aber nicht die Friesen, schreiben auch
wohl fälschlich Vlie und Ylieland.) Doch immer mehr kommt
dieser Name für den südlichen Teil jenes Meerbusens, zwischen
Staveren, Hindcloopen, Workum und Makkum einerseits, und
zwischen Enkhuizen, Mcdemblik, Wicringen und Helder andrer-
seits in Abnahme. Heute gilt er hauptsächlich nur für die See,
den Strom zwischen der Stadt Harlingen und den Inseln Flie-
land und Ter Schelling, während außerdem noch ganz besonders
die Straße zwischen diesen beiden Inseln Flie genannt wird. Den
Namen Zuiderzee, Südersee, trägt dieses Binnenmeer nicht im
Gegensatz zur Nordsee. Keineswegs, denn der Name Südersee
ist friesischen Ursprungs, wurde von Friesen jener See beigelegt,
die sich südlich von ihrem Lande zwischen Staveren und dem
Kuinder ausbreitet. Also ergiebt sich auch schon aus diesem
Namen, daß er nicht auf die See sich beziehen kann, die westlich
von Friesland liegt, westlich von Staveren bis Harlingen, mit
andern Worten, daß er nicht für das Flie gelten kann.
2) Die Lauers, die in Jben hohen Veengründen bei dem
Dorfe Surhuisterveen entspringt und nach Norden zu in die
Nordsee fließt; vor alters war sie eine friesische Gaugrenze, wie
sie noch heute die Grenze zwischen den Provinzen Friesland
und Groningcrland bildet. Ursprünglich floß die Lauers bei
der Insel Schiermonnikvog in die Nordsee. Aber seit dem 9.
bis 13. Jahrhundert hat ihr Unterlauf südlich von Schiermonni-
koog sich zu einem Meerbusen erweitert, in dem die Stadt
Esonstad unterging. Der Name Lauers, meist von den Holländern
Lauwers geschrieben, kommt in alten Urkunden lateinisiert als
Laubachus und Laubacus vor, in der Landessprache Labeki,
und später, im 13. Jahrhundert, als Lavica, Laveka, Laveke.
Im heutigen Hochdeutsch müßte dieser Name Laubach oder
l Lobach heißen, im heutigen Niederländischen Loobeek, d. i. Eichen-
waldbach. Man muß den Namen des Busens der Lauers als
Lauersee und nicht Lauwerszee schreiben, wiewohl dieses aus
Mißverständnis vielfach geschieht. Friesisch ee, niederdeutsch,
sächsisch wie fränkisch a oder aa, althochdeutsch aha, ach be-
deutet Wasser. Wir finden das altsriesische ee z. B. auch in den
Namen Wichteree, Accumee, ostsriesischen Meeresstraßen.
3) Niederländisch - Friesland wird von Deutschen und Ost-
sriesen — und nicht mit Unrecht von ihrem Standpunkte aus
— Westfriesland genannt, im Gegensatz zum deutschen Ostsries-
land. Aber die niederländischen Friesen und alle Niederländer
beschränken diesen Namen Westsriesland — und auch sie von
H. Seidel: L. G. Ringers Reise vom Niger zur Oberguinea-Küste.
21
ihrem Standpunkte aus mit vollem Recht — auf den westlichsten
friesischen Gau, auf Frieslaud westtich vom Flie, oder mit andern
Worten auf das nördliche Nordholland. Selbst umgekehrt
nannten die alten Holländer im Mittelaller das eigentliche
Friesland, das friesische Stammland zwischen Flie und Lauers,
wohl Ostfriesland, im Gegensatze zu Westfriesland, ohne dabei
an das eigentliche Ostfriesland an der Eins zu denken. Um
Verwirrung zu vermeiden, gebe ich in der Folge in dieser Arbeit
ausschließlich den Namen Friesland dem altfriesischen Stamm-
lande zivischen Flic und Lauers, der heutigen niederländischen
Provinz Friesland. Der Name Westsriesland bleibt dann auf
das nördliche Nordholland beschränkt.
£. G. Bingers Reise vom Niger Zur Gberguinea-Küste.
Von H.
Mit dem Ostufer des Komoö, den Binger am 12. Februar
überschritt, begann ein granitischcs Plateau, überhöht von
einzelnen Gipfeln, die in der Routcnkarte mit 800 bis 1400 m
verzeichnet sind. Von setzt ab mehrte sich auch die Zahl der
Mohammedaner sehr rasch; fast jede Ortschaft hatte ihre
Moschee, und der landesübliche Typus dieser Gotteshäuser
Moschee in
festlagen bis zur Spitze empor und versammelt mit lauter
Stimme seine Gläubigen zur vorgeschriebenen Feier. Auf
einem der Türme prangt ein Straußenei, das von Djenne
hergebracht ist. Die innere Einrichtung der Moschee bietet
wenig Bemerkenswertes; zwei niedrige Mauern zerlegen das
Schiff in drei Abteilungen, deren jede ihren besonderen rituellen
Zwecken dient.
Von Lokhognile marschierte Binger in südlicher Richtung
nach der Handelsstadt Kong. Am 16. Februar erreichte er
den mit dem Lern vereinigten Komoö, jetzt ein stattlicher
Fluß von 100m Breite und Im Tiefe bei Niedrigwasser.
Seidel.
trat dem Reisenden zuerst in Lokhognile in seiner ganzen
Eigentümlichkeit vor Augen. Die dortige Moschee ist ein
viereckiges Gebäude von 10 ui Seitenläuge und 5 m Höhe,
über dessen Dach zwei Pyramiden-Türme aufragen, die außen
mit etlichen Reihen langer Holzpflöcke besteckt sind. Auf
dieser primitiven Leiter klimmt der Marabut an den Haupt-
Lokhognile.
Aber weder hier, noch später auf der Rundreise im Osten
von Kong, wo Binger den Komoö mehrmals zu Gesicht
bekam, konnte er bei den Eingeborenen irgend welche Aus-
nutzung dieser Wasserstraße entdecken. Die Uferdörser be-
sitzen höchstens ein paar mittelmäßige Kanus, um den Fähr-
verkehr zu bewirken. Schiffbar nach unsern Begriffen wird
der Komoö erst im Unterlaufe von Attakru an, und selbst
auf diesem beschränkten Teile sind noch viele „Schwierig-
keiten, welche teils durch Stromschnellen, teils durch die
Haudelseifersucht der kleinen Gestadcortschaftcn hervorgerufen
werden, zu besiegen".
22
H. Seidel: L. G. Binders Reise vom Niger zur Oberguinea-Küste.
Vier Tage nach der Passage des Komoö tauchte über
der trostlosen Ebene ein Strich hoher Bäume empor, und
bald ließen sich die Minarets der Moscheen und mehrere
flache Dörfer erkennen — es war das lang ersehnte Kong.
Genau ein Jahr nach seiner Abfahrt von Bordeaux
trabte Binger auf einem Neitstier wohlbehalten durch die
Thore von Kong, wo ihn eine zahlreiche, neugierige Bevölke-
rung freundlich empfing und ihn in Scharen zum Könige
geleitete. Im Schatten zweier großen Bäume saß der König
Karamokh o-uls, d. h. der „Note", und ihm zur Linken der
Stadtkommandant von Kong, Diarawary Wattara,
beide umgeben von ihren Würdenträgern und Beamten, die
in ihrer sauberen orientalischen Tracht und in ihren grauen
oder weißen Bärten einer stattlichen Versammlung ehren-
werter Patriarchen glichen und die Feier des Empfanges
wesentlich erhöhten. Nach den üblichen langen Begrüßungs-
reden erhielt Binger seine Quartiere angewiesen und fand
nun Zeit, sich eingehend mit der merkwürdigen Stadt zu
beschäftigen, über die so viele widersprechende Nachrichten
früher laut geworden.
Der Ort ist unbefestigt und bedeckt mit seinem Häuser-
felde ein von Ost nach West gestrecktes Rechteck. Das
Ganze zerfällt in sieben Quartiere oder Q.baila, um welche
sich jenseits der Gärten einige Vorstädte gruppieren. Die
Straßen sind eng und schmutzig und erfüllt von Hammeln,
Ziegen und Federvieh; auf den Bombax-, Feigen- und
Dattelbäumen, welche hier und da ein freies Plätzchen be-
schatten, nisten unsre allbekannten Störche. Gewisse leere
Stellen geben Zeugnis, daß dort die Erde zum Häuserbau
ausgehoben ist; denn bei dem Mangel an künstlichen wie
natürlichen Steinen kennt die Bevölkerung kein andres
Material. In einigen Quartieren begegnen uns Indigo-
pflanzungen, und zwischen der Stadt und den Vororten liegen
die Hirse-, Mais- und Tabak-Kulturen. Kong besitzt fünf
Moscheen, deren eine, die Misiriba oder „große Moschee"
auf dem Markte ihren Platz hat und die übrigen durch
ihren Umfang gerade um das Doppelte übertrifft. Sonst
gleicht auch sie in Anlage und Einrichtung völlig dem vorher
beschriebenen Gotteshause von Lokhognile.
Binger schätzt die Einwohnerzahl auf 15 000 Köpfe,
sämtlich Mohammedaner, die sich in drei Klassen teilen
lassen, nämlich erstens die gebildeten Muselmänner
des intelligenten und tonangebenden Standes, zweitens die
ungebildeten Muselmänner, welche aber streng nach
den Vorschriften des Korans leben, und drittens die
Muselmänner laxer Moral, die noch Dolo, d. h. Bier
trinken. In Kong befindet sich eine vollständige Dolobrauerei,
und zwar im Quartier Sumakhana, nicht weit von einer
Moschee. Meist sind es Frauen, die der Dolo-Erzeugung
obliegen, uub die es auch verkaufen, allerdings nur im Be-
reich ihrer Häuser, da das Bier nicht auf den Markt kommen
darf. Wer also trinken will, muß zu den Brauhütten
gehen, nach Dolo-su, d. h. dem „Bicrdorfe", wie jener Teil
von Sumakhana genannt wird. Das Liter kostet an der
Quelle 20 bis 25 Centimes, ein ganz ansehnlicher Preis,
wenn uian die Leichtigkeit der Herstellung und den bedeuten-
den Verbrauch in Rechnung zieht, aber — und nun kommt
die Lösung — das Dolobraucn ist Monopol einer Gruppe
gewinnsüchtiger Muselmänner, und diese frommen Herren
verstehen es meisterlich, aus dem Durste ihrer Mitbürger
Kapital zu schlagen. Überhaupt werden die religiösen Vor-
schriften auch in bezug auf den Dologcnuß im ganzen west-
lichen Nigerbogen recht milde gehandhabt. Keiner der drei
Herrscher, weder Samory, noch Tiäba, noch Karamokho-ul«,
ist Fanatiker von Schlage eines El Hadschi Omar 0, dieses
wahnwitzigen Heiligen, der vor 30 Jahren mit Schwert
und Koran in der Faust den Sudan unter die strengsten
Satzungen des Islam beugte. Solche Motive sind den
heutigen Gewalthabern frenid. Samory und der König
von Kong sind vor allem Geschäftsleute, hauptsächlich der
erstere, den wir am besten als den „Großsklavenhündlcr des
Sudan" bezeichnen. Um Glaubenssachcu kümmert er sich
wenig und verlangt auch von seinen Unterthanen keine be-
sondere Frömuligkeit. Das Dolotrinkcn hat er zwar ver-
boten, aber wohl mehr zuni Schein; denn Binger traf unter
den westlichen Bambarra leidenschaftliche Verehrer des Hirse-
bieres. Ja eines Tages veranstaltete solch ein Schwarzer,
zusammen mit andern Freunden, in der Hütte des Reisenden
ein förmliches Dologelage, das er mit den Worten beschönigte:
„Unser Herr hat uns zwar das Biertrinken verboten, aber
dies Verbot kann sich unmöglich auf den Weißen erstrecken,
der aus einem Lande kommt, wo so viel Bier getrunken wird."
Die Toleranz in Kong geht so weit, daß ein Moham-
medaner ohne engherzige Bedenken gern einen Kochtopf oder
eine Kürbisflasche an einen Andersgläubigen verleihen würde.
Die Leute wissen sehr wohl, daß es drei Hauptreligionen
giebt, die sie Musa-Sila, Jnsa-Sila und Mohammada Sila
nennen, d. h. wörtlich: „Weg des Moses", „Weg Jesu" und
„Weg des Mahomet". Oft sprachen sie mit Binger über
die Unterschiede dieser drei Lehren, ohne dabei den Islam
in starrer Verrauntheit als die beste zu bezeichnen; ja einige
waren der Ansicht, daß die drei Religionen im Grunde auf
dasselbe hinausliefen, auf das Bekenntnis: „Wir glauben all'
an einen Gott."
Kong ist Handelsstadt im höchsten Sinne des Wortes.
Jeder hat ein Geschäft, jeder sucht zu verdienen. Kleine
Mädchen von 6 bis 7 Jahren laufen durch die Straßen
und bieten Kolas, Honig, Süßigkeiten, Ntokhos oder Erd-
nüsse, Bananen, Melonen und Bakhadaras feil; letztere sind
Gewürzbrötchen, die aus Hirse, Honig und Capsicum her-
gestellt werden. Die Armen sammeln Holz und verkaufen
es auf dem Markte; die Krämcrfrauen, deren Männer einen
großen Teil des Jahres in der Fremde zubringen, handeln
mit allerlei Früchten. In den Schlächterläden kann man
jederzeit frisches Fleisch zu mäßigen Preisen erhalten. Auf
den Straßen, an den Kreuzwegen rasieren umherziehende
Barbiere für 10 oder 20 Kauris ihre Kunden und salben
ihnen nach glücklich überstandener Marter noch gratis Kopf
und Wangen mit einem Gemisch von Palmöl und Wasser.
Alte gebildete Muselmänner praktizieren als Ärzte und
brennen und versehen die Wunden, die der Medinawurm
seinen Opfern beigebracht hat. Abends ziehen singende
Schüler von Hof zu Hof, um einige Kauris zusammenzu-
betteln, die sie nachher ihrem Lehrer abliefern und ihn der-
gestalt für seine Ausgaben an Papier und Tinte und für
seine Mühe einigermaßen bezahlt machen.
Kong ist Handelsstadt; das empfindet der Europäer
nirgend stärker als im Orte selbst, wo das ganze Geschäft
in den Häusern der Eingeborenen liegt, die keinen Fremden
neben sich dulden. Man ist in all und jeder Sache durch-
aus auf die Kong-Leute angewiesen; man hört und erfährt
nichts ohne sie, und muß jede Information aus ihrer Münze
beziehen. Natürlich stellen sie die Dinge nur so dar, wie
es ihnen gerade beliebt, und man hat niemand, der dies
subjektive und oft absichtlich gefälschte Urteil berichtigen
könnte. Die Kong-Leute reisen sehr viel; allerwärts im
Nigerbogen sind sie zu treffen, und hat jemand unterwegs zu-
fällig Unglück gehabt, so läßt er sich im nächsten besten Dorfe
nieder und sucht hier zu verdienen; denn keiner geht aus
der Heimat fort, der nicht ein ambulantes Handwerk gelernt
hat. Die meisten z. B. können weben und üben diese Kunst
auf längeren Stationen fleißig aus. Ein Hauptwunsch in
i) Vergl. Globus, Bd. LV, S. 146.
23
L. G. Binders Reise vom Niger zur Oberguinea-Küste.
H. Seidel:
Kong zielt auf die Eröffnung eines guten und sicheren Weges
zu einem europäischen Handelskomptoir, das jedoch näher
liegen müßte als Sataga im Hinterlande von Togo. Bingcr
schlägt vor, solche Warenlager in Bondukn, wo schon jetzt
ein lebhafter Zwischenhandel mit europäischen Produkten
betrieben wird, oder in Grumania zu errichten, um dadurch,
wie er hofft, den Berkehr von Sataga abzulenken. Unbe-
dingt dürften es nur französische Erzeugnisse sein, sagt
Binger, die hier an den Markt zu liefern wären, weil diese
bei den Eingeborenen den Vorzug hätten vor den deutschen
und englischen Waren — sagt Binger. Dagegen meldet
die Statistik, daß Frankreichs Export nach dem schwarzen
Erdteil wahrlich nicht so hoch beziffert ist, um daraus zu
beweisen, daß die französischen Fabrikate diejenigen sind,
welche allen Wünschen und Bedürfnissen der Schwarzen so
vollauf Rechnung tragen').
Die Nationaltracht der Kong-Männer besteht in einem
weiten, faltenlosen Beinkleide ans blau-weiß oder blau-weiß-
rot gestreifter Baumwolle mit ein wenig bunter Borde am
unteren Teil. Der Doroko oder Überwurf ist lang und
wird gleichfalls am Halsausschnitt und an der Tasche mit
verschiedenfarbiger Baumwolle oder Seide hübsch bordiert.
Ein Burnus aus „Kassa", wie der in Djenne gefertigte
Wollenstoff heißt, oder aus starkem, einheimischen Baum-
wollenzeuge vervollständigt das Kostüm. Begüterte Lente
tragen dazu eine Sammetkappe; am meisten sieht man jedoch
die neapolitanische Mütze aus roter, selbstcrzeugter Baum-
wolle, die den in Pomporo und Follaría üblichen, zwei-
spitzigen Hut „Bammada", d. h. Krokodilsrachen, ersetzt.
An Festtagen zeigt sich die männliche Bevölkerung von Kong
in blauen oder weißen Turbans.
Das allverbreitcte Schuhwerk, seien cs nun die gelben
Halbstiefel, die Pantoffeln oder die Sandalen, wird im Lande
selbst fabriziert. Die Frauen bedienen sich zur Verhüllung
des Unterkörpers der westafrikanischen Pannos oder Hüften-
tücher, welche in der Länge von 1,20 m bis 1,40 m vom
Leibe bis zu den Füßen herabfallen. Um die Schultern
schlagen sie ein Stück weißes oder indigblaues Baumwollen-
zeug. Den Kopf bedeckt in der Ziegel ein flacher Anssatz,
vor welchem gerade auf der Stirn ein kugelförmiger Haar-
knäuel liegt, der mit einer „Faltara" oder einem schmalen
Bande umwickelt ist. Junge Mädchen haben eine weiße,
verheiratete Frauen eine schwarze Fattara, die, wenn sie ans
Seide oder auch nur zur Hälfte aus Seide gemacht ist, den
Gipfel der Eleganz bedeutet.
Als Rimessen für Salz und wollene Burnusse gehen
von Kong nach Djenne rote und weiße Baumwollcngewcbc,
verschiedene Sorten Pfeffer (Eapsicum) und endlich Gold-
staub, der von Lobi nach Kong gegen Kupferbarren und
Sklaven eingetauscht wird. — Aus Tiöbas Ländern kommen
allerlei Eiscnwarcn, Spaten, Äxte, Prunklanzen und gehäm-
merte Kochtöpfe, da es im Reiche Kong weder Eisen noch
Schmiede giebt. Europäische Erzeugnisse gelangen, wie
schon mitgeteilt, aus dem Umwege über Salaga nach Kong.
Die besuchteste Verkehrsstraße führt eben von Salaga
über Bondukn, Kong und Bobodiulaso nach Djenne am
Zeiger. Wir haben damit einen neuen Beleg für die große
Bedeutung Salagas und können uns des Hinweises nicht
enthalten, daß diese Bedeutung kurz vor Binger auch von
unserm deutschen Landsmann Kurt von Frantzvis aus
seiner Reise im Hinterlande von Togo sofort in vollem
, U Bergt, auch Globus, Bd. IjVIT, S. 248, wo gezeigt ist,
wie sich Frankreich nicht einmal in Tongkiug, also iin eigenen
-vause, der deutschen und englischen Konkurrenz erwehren kann,
wie viel weniger wird das aus einem afrikanischen Freihaudels-
geblete geschehen können.
Umfange erkannt worden ist. Hanptmann von Francois
nennt uns unter den vier Karawanenstraßen I, die aus dem
weiten Nigerbccken und von der westsudanischen Hochebene
strahlenförmig in Salaga zusammentrafen, als erste die
Route über Bondukn nach Kong — oder Pong — nebst
deren westlicher Fortsetzung nach Tcngrera, dem Tcngrela
Bürgers. Letzterer Ort gehört in ein zweites, für die Kong-
Leute sehr wichtiges Absatzgebiet, das wir in den kriegerischen
Reichen des Westens, also bei Pegc und Tiöba zu suchen
haben, wohin von Kong aus Pferde, Gewehre, Pulver,
Flintensteine rc. exportiert werden.
Binger hat nicht gesäumt, mit dem Herrscher
von Kong einen Schutzvertrag abzuschließen.
Um die Mitte deö März brach der französische Forscher
zu einer größeren Rundreise nach Osten auf. Am vierten
Tage entdeckte er in der Ferne eine stattliche Höhenkette,
deren Kulminationspunkt etwa 1800 m aufragt und mit
seinen Nachbarn in der Gegend als Komono-Konkili
oder Gebirge von Konkili bekannt ist. Allerwärts
tritt Granit in Masse ans; selbst die Ackererde ist besät mit
Glimmerblättchen von 25 bis 30 qcm Oberfläche, die int
Sonnenlichte lebhaft glänzen. Anfang April wurde der
Gau Dokhosis erreicht, wo sich in der Art des Häuscrbaucs
manche interessanten Neuheiten bemerken ließen, die auf
nnsernl Bilde des Dorfes Gandudugu leicht zu ersehen sind.
Der Ort zerfällt in einen älteren und in einen neueren
Teil; im crstern hat man die Wohnräumc in die Erde ge-
graben, rrnd in diesen niedrigen, dunklen Höhlen bewegen sich
Kinder, Hühner, Ziegen und alte Frauen, die das Essen
bereiten, in wilder Unordnung durcheinander. Über dem
Kellerloche erhebt sich, wie ein Hochparterre, ein oberer Ramn,
der aber wegen seines Schmutzes und seines Ungeziefers für
einen Europäer auch nicht benutzbar ist. Die Bewohner
suchen zwar die Wanzen öfter durch ein Strohfeucr aus-
zuräuchern, aber immer retten sich einige vor dem wohl-
verdienten Tode, und diese werden dann die Erzeuger eines
neuen, nicht minder blutdürstigen Geschlechts. Die Wanzen-
plage ist übrigens ein allverbreitetes Übel; in Kong werden
jeden Abend aus dem Markte große Büschel eines besonderen
Strohes verkauft, das den Namen „Samakurnbing" oder
„Wanzenstroh" trägt.
In dem neuern Teile des Ortes' waren die Hütten vier-
eckige mit Stroh gedeckte Erdbauten. Die Thür beschattet
eine Veranda, und zum Verschluß des Eingangs dient ein
Bambusgeslecht. Binger hatte ähnliche Behausungen schon
früher in den westlichen Ländern getroffen, nur daß die
Zieger dort das Innere der Hütten durch Erdstnsen oder
Wandsimse zur Aufstellung von Geräten und durch eine
kleine, den Bettschirm vertretende Mauer noch wohnlicher
und bequemer auszustatten wußten.
Mitten im Dorfe wölbten sich mehrere sonderbare flach-
konische Hügel, auch aus Erde znsammcngehäuft und mit
Federn geschmückt, die den Ort vor bösen Geistern bewahren
sollten. Die Hirsespeicher ferner bestanden aus einem cylin-
drischen Unterbau, auf dem ein halbkngelförmiges Dach
ruhte, das wieder zum Schutze gegen Stürme durch eine
große Steinplatte beschwert war. — Bei den Tiöfos, deren
Sitze der Reisende gleich nachher besuchte, boten sich im
Hans- und Spcicherban ganz andre und abweichende Muster;
ja es schien, als habe in diesem Umkreise jeder Gau bei der
Konstruktion seiner Baulichkeiten irgend einen bestimmten
0 Vergl. Mitteilungen ans den deutschen Schutz-
gebieten, Bd. I, 1888, Heft 4, S. 157, 158, 160, 161 und
Mitteilungen, Bd. 2, 1889, Heft II, S. 33 sf. mit Bericht
über die zweite Reise nach Salaga, und Mitteilungen,
Bv. III, 1890, Heft 3 mit dein Bericht über die Reise des
Hauptmanns Kling nach Salaga.
Ansicht von Kong.
H. Seidel: L. G. Viagers Reise vom Niger zur Oberguinea-Küste.
25
Zweck vorzugsweise im Auge gehabt, und sei dem zu Liebe
von den Formen der Nachbarschaft abgegangen. —
Ein schwieriger, fast senkrechter Aufstieg von 80 m Höhe
leitete Binger über den sähen Plateanrand zu den nördlichen
Ländern am oberen schwarzen Wolta hinauf. Östlich dieses
Flusses zieht sich eine ausgedehnte Hochplatte von 1000 m
Erhebung bis zum Massiv von Nauri hin, das sich fast
rein südlich von Waghodngu zu 1800 m auftürmt. „Bon
dieser höchsten Bergmasse, welche Binger überhaupt ange-
troffen hat, ist das Gebirge von Gambaga durch das Thal
des östlichen oder weißen Wolta getrennt", der sich ans dem
Lande Bnssang entwickelt.
Im Norden des schwarzen Wolta fanden sich bereits
Gäste ans dem mittleren Sudan, nämlich Fnlbe, ange-
siedelt, deren Einfluß ans die bodenständige Bevölkerung in
vieler Hinsicht wahrnehmbar ist. Die B o b o - F i n g und
Bobo-Diula z. B. verraten sich durch ihre wechselnde
Hautfarbe und Gesichtsform schon als ein Mischvolk: „on
voit aussi tous les profils depuis le nez épasé jusqu’au
nez fin, caractéristique du Peul (Foulbé)“. — Über-
haupt wohnen in den von Binger durchzogenen Räumen,
um an dieser Stelle die ethnographischen Resultate der
Expedition kurz darzulegen, folgende größere Völker-
gruppen. In Kong nnd in dem Reiche Samorys sitzen
die Mandingo oder, wie Binger schreibt: Mandé-
Diula; dieselben haben außerdem Strecken von Worodngu,
Knrndngu, Gondja nnd andern Distrikten eingenommen.
Die Sie nere h oder Siena so Hansen in Tiäbas nnd
Peges Staaten und breiten sich auch über Follava nnd
Worodngu ans. Im Osten, also im Gebiete des mittleren
Wolta, wo die Gaue Bnssang nnd Gnrnnsi aus Bingers
Karte stehen, begegnen uns die Gur unga-Stämme. Die
Mo ans dem Lande Mossi oder Muschi kennen wir bereits
durch K. von Francois, nnd ebenso wissen wir, daß sich
weiter an die Mo die Haussa und Aschanti reihen.
Bon den tief nach Westen vorgeschobenen Koloniecn der
Fnlbe ist oben schon gesprochen.
Bei den Bobo-Fing entdeckte Binger in Tracht nnd
Schmuck, besonders der Weiber, Ähnlichkeiten mit den
Gnings oder Mbnings. Die Häuser dieses Volkes waren
dagegen nach den verschiedensten Mustern erbaut. In
Bobodin las n z. B. besaßen die Wohnungen zunächst ein
umfangreiches Erdgeschoß, welches nur zum Teil von dem
ersten Stock bedeckt wurde, so daß ringsherum eine Art
Oberstraße freiblieb. Da immer mehrere Häuser dicht zu-
sammen stehen, kann man bequem ans diesem lustigen Wege
ganze Quartiere nmschreiten. Etwas anders schauen die
Hütten des Dorfes Koroma ans, indem hier das Dach
durch einen kleinen Verschlag von 2,50m Länge und 1,50 m
Breite überhöht wird, dessen Thür sich immer nach Osten
öffnet, falls man den Kasten nicht unverschlossen läßt und
darin allerlei Mittel zur Abwendung böser Geister unter-
bringt. 8loch andre Formen weist Kotodngn ans, wo
der tieserliegcndc Teil der Wohnung eigentlich nur eine
Höhle ist, dem oft sogar die Pforte mangelt. Das Dach
besteigt man mittelst einer primitiven Leiter, bestehend ans
einem längeren Stück Holz mit einer oder zwei Sciten-
sprossen. Vom Dache führt ein Loch von 50 cm Durch-
messer in das untere Gemach hinein, wo in ewigem Halb-
dunkel Kinder und Frauen sich drängen, wo der Herd seinen
Qualm verbreitet, Ratten pfeifen, Skorpione drohen und
die Vorräte ihre zweifelhaften Düfte ausströmen. (Abbild.
S. 26.) —
*
*
Indes es wird Zeit, daß wir an das Ende unsrer
Reiseschildcrnng denken. Binger hat außer einem vorläufigen
Bericht vor der Geographischen Gesellschaft zu Paris am
3. Dezember 1889 setzt in „Le Tour du Monde“
(Januar nnd Februar 1891) eine hier benutzte ausführliche
Bearbeitung seiner Tagebücher begonnen. Diese Publikation
reicht aber nur bis zum Juni 1888; der Schluß steht also
noch ans, nnd wir müssen uns daher in den Angaben über
die letzten Erlebnisse und Resultate sehr kurz fassen. ■— Die
Landschaft Gnrnnsi fand Binger in völliger Anarchie, von
plündernden Hanssabanden durchzogen, die Verwüstung und
Schrecken um sich her breiteten. Im Juli traf er nach
mancherlei Gefahren in Woghodngn, der Hauptstadt von
Mossi, ein, wurde aber bald von dort ausgewiesen, da der
Sultan, der um die Expedition des Hanptmanns v. Fron-
Emil Schmidt: Ein Ausflug in die Anaimalai-Berge (Sübiitbten),
«xois nach Salaga wußte, den neuen Fremdling mit Argwohn
betrachtete. So ging dieser ohne den erhofften Anschluß an
Barths Route in Libtako bewirken zu können, über Gurma
und Bussang weiter nach Walu-Walu, lag hier 1 l/2 Monat
krank und konnte erst tut Oktober den Handelsplatz Salaga
erreichen. Am Wolta hörte er, daß ein Franzose, Treich-
Laplone, von der Elfenbeinküste unterwegs,..sei, der ihm
Hilfsmittel zuführen solle. Jenseits Bondukn, schon im
Januar 1889, vereinigte sich Binger endlich mit seinem
Landsmann und zog mit ihm vor der Hand nach Kong, wo
der bereits erwähnte Schutzvertrag abgeschlossen wurde.
Dann setzten sich beide in Marsch zur Küste, und zwar ans
dem kürzesten Wege längs des Komoe, so daß sie am
20. März, gerade 2 Jahre nach Bingcrs Aufbruch vom
Auf den Hausdächern der Bobo-Fing in Kotodugu.
Sénégal, in der kleincn franzosischcn Kolonie Grand-Bassam
eintrafen '). —
Abgesehen von den zahlreichen wissenschastlichen Ergeb-
nissen, die Binger von seiner Expédition heimgebracht Hat,
0 Treich - Laplène, weniger glücklich als Binger, ist bald
nach seiner Rückkehr in dus Jnnere in Bonduku verstorben.
Vergl. 6omte rendu cl68 8éanee8 cio lu Société de Géo-
graphie de Paris, 1890, Nr. G, pag. 145, 146.
ist durch ihn die französische Herrschaft in Westafrika in
ungeahnter Weise ausgedehnt und befestigt worden. Eine
Reihe von Verträgen mit Kong, Bondukn und den kleineren
Staaten bis zum Meere bindet diese Länder setzt an die
dritte Republik, und der Traum von der Schaffung eines
großen französischen Kolonialreiches, welches ganz Westafrika
von Tunis bis Ober-Guinea umfassen soll, sieht sich der
Wirklichkeit um vieles näher gerückt.
Lin Ausflug in die Anaimalai-Berge (Südindicn).
Don Emil Schmidt. Leipzig.
II.
Als ich gegen ein Uhr am Forsthaus des Satumally
Bungalow, am Rande des niedrigen Dschungels, das den
Fuß der Berge umgiebt, angekommen war, lagerten um das-
selbe herum in respektvoller Entfernung eine Anzahl dunkler,
wüstlockiger Gestalten, die bestellten Malser (Malasar, Mnl-
cers rc.); von Kaders waren nur drei Frauen erschienen;
ihre Männer seien schon vor ein paar Tagen in die Wälder
ausgezogen, um dort Cardamomen und Wachs zu suchen.
Die Weiber, eine ältere und zwei jüngere, waren klein,
zwischen 145 und 150 cm hoch, von mitteldunkelbrauner
Hautfarbe und ebensolcher Iris; das schwarze, wellig-lockige,
mäßig reichliche Haar war auf dem Hinterkopf in einen
Emil Schmidt: Ein Ausflug in die Anaimalai-Berge (Südindien).
27
Schopf zusammengebunden, in welchem eine der jüngeren
Frauen einen breiten, nach Art der Schildpattcinsteckkännne
geformten, mit geometrischem Ornament verzierten Kamm
ans Bambus eingesteckt hatte. Eines der jüngeren Weiber
hatte ihr großes Kleid-Tuch nach Art der Tamilweiber
togaähnlich über die Schultern geschlagen, die beiden andern
hatten es nur bis hinaus unter die Achselhöhlen um den
Rumpf gewickelt, so daß Schultern und die Arme frei blieben.
Die Fußknöchel und Oberarme waren mit Messingringen,
der Hals mit mehrfachen Perlschnüren, Finger und Zehen
mit dicken Ringen von Weißmetall geschmückt; das auf-
fallendste Ornament aber bildeten zwei Zentimeter breite,
sechs Zentimeter Durchmesser haltende Rollen von trockenen
aufgewickelten Palmblättern; sie waren in die durchbohrten
Ohrläppchen eingezwängt, so daß der Ohrläppchensaum wie
ein prall gespannter Kautschukring um sie herum lag; kleinerer
Schmuck in Form von silbernen Herzchen k. war an kleinen
Kettchen im Ohrsanm, auch tm rechten Nasenflügel der einen
Frau ausgehängt. Die Gesichter dieser Frauen waren
übrigens durchaus nicht häßlich; die braunen Augen schauten
freundlich unter der schmalen und nicht hohen Stirn hervor,
das Stumpfnäschen war nicht so breit, die Lippen ganz und
gar nicht so wulstig, die Kiefer bei weitem nicht so sehr
nach vorn vorgerückt, als bei afrikanischen oder australischen
Schwarzen (Fig. 3).
Die zahlreich erschienenen Malscr waren durchschnitt-
lich klein, zwischen 150 und 160 6m hoch, von schlankem
Glicdcrban und geringer Fettentwickelnng. Die Farbe ihrer
Haut war mittel- bis dunkelbraun, die der Iris mittelbraun,
die schwarzen Haare von Natur wellig-lockig, aber durch
Vernachlässigung zottelig verfilzt, mäßig lang, bei mehreren
jüngeren Leuten hinten mit einer Schnur unibundcn, so daß
der Rest wie ein chignonartiger Bausch auf dem Nacken
auflag. Der Gehirnschädel länglich-oval, die Stirn schmal,
niedrig, nicht überhängend, die Nasenwurzel nur mäßig ein-
gesattelt, Nase eher klein als groß, stumpf, etwas breit, aber
bei weitem nicht so platt und breit als beim Neger; die
Lippen mäßig dick, nicht wulstig, Kicserstellung nicht prog-
nath (Fig. 4).
Ich gebe hier wieder, was ich über die Sitten der
Malser von den Forstbeamten, die in beständiger Berührung
mit ihnen sind, und was ich mit der Letzteren Verdolmetschung
direkt von den Malsers selbst erfragen konnte.
Sie gelten von allen Stämmen des Gebirges als der
niedrigste, verachtetste. Kein Puliyar oder Kader würde
einen Malser berühren können, ohne sich moralisch zu ver-
unreinigen. Aber auch die Europäer stellen ihnen kein gutes
Zeugnis aus: sie sind in hohem Grade unzuverlässig, ge-
neigt, von einer übernommenen Arbeit durchzubrennen, dabei
leicht gewaltthätig, Freund von räuberischen Anfällen. Leute
des flachen Landes durchziehen die Gegend, wo Malser wohnen,
ans Furcht vor diesen nur in größerer Gesellschaft. Im
Dienst der britischen Regierung haben sie sich doch brauchbar
erwiesen: sie sind gute Waldarbeiter, auch gute Träger.
Dabei nehmen sie die Lasten ans den Kops, nicht, wie die
Kaders und Puliyars, die übrigens vor Tragen überhaupt
große Sehen haben, ans den Rücken.
Herr Porter erzählte mir die folgende Geschichte, die
erst vor wenigen Jahren sich abspielte: Einige Parias be-
saßen Felder ans etwas erhöhtem Terrain, und da sie sich
in den Jrrigationsgebictcn von den Vortheilen reichlicher
Bewässerung überzeugen konnten, beschlossen sie, Wasser aus
dem nächsten Bach ans ihre Felder hinauszuleiten. Natür-
lich lief das Wasser in dem gegrabenen Kanal nicht hinauf,
cs wurden daher zuerst den Göttern, rot angestrichenen
Steinen, Opfer dargebracht, erst Reis, Bananen und andre
Früchte, dann blutige Opfer, Hühner und Ziegen — alles
vergebens! Die Götter waren sehr anspruchsvoll, sie er-
warteten augenscheinlich größere Opfer. Kurz entschlossen
fingen sie drei Malsermädchcn ein, schnitten ihnen die Köpfe
ab und begruben dieselben im Boden des frisch gegrabenen
Kanals. Groß war ihr Erstaunen, als selbst nach solchem
Opfer das Wasser noch immer nicht den Berg hinauf lausen
wollte, und sie werden wohl nach ihrer Gewohnheit ihren
Gott für diese Ungchörigkeit gezüchtigt, geschlagen, oder gar
ins Wasser geworfen haben. Die Sache wurde ruchbar, man
fand die drei Leichen, später auch ihre Köpfe, einige Parias
wurden eingesperrt, da man aber keinem einzelnen nachweisen
konnte, daß gerade er den Mord begangen habe, verlief der
Fall ohne weitere gerichtliche Folgen.
Das äußere Leben der Malser ist ein außerordentlich
dürftiges; in geringer Anzahl — bei der letzten Volkszählung
1881 wurden im Distrikte Coimbatore 174 Köpfe gezählt,
vielleicht zu wenig, da sich manche, bei ihrem Argwohn gegen
die Weißen, solchen Zählungen entzogen haben mögen — be-
wohnen sie eine Anzahl kleiner Dörfer, die aus wenigen arm-
seligen Reisighütten bestehen; bei ihrer Arbeit im Walde be-
gnügen sic sich auch wohl mit einem Windschutzdach aus Blät-
tern und Zweigen. In früheren Zeiten waren sie, wie auch der
Waldbezirk, der zu ihren Dörfern gehörte (Puddy), Besitz ver-
schiedener Herren in den Nachbardörfern. Von diesen wurden
sie gegen eine kleine Entschädigung (das größte Puddy brachte
zu Buchanans Zeit, also am Emde des vorigen Jahrhunderts,
seinem Herrn nur vier Rupien jährlich ein) an Unternehmer
abgegeben, die sie znm Sammeln von Gewürz und Kräutern,
von Honig und Wachs ausschickten und dafür ihnen eine
unbedeutende Gegenleistung von Salz, Reis, Baumwollen-
stoff k. gewährten. Sie wurden so von ihren Unternehmern
aufs äußerste ausgenutzt. Jetzt sind sie im britischen Ge-
biet ganz frei; man hat ihnen feste Wohnplätze am Rande
des Gebirges und bestimmte Feldmarken für ihren Ackerbau
angewiesen. Sie ziehen Ragi (Eleusine coracana), Cho-
lam (Sorgum vulgare), Avary (Policbos Lablab), Tonda
(Ricinus), verschiedene Kürbisse, aber keinen Reis, der eine
sorgfältigere Behandlung erfordern würde, auch keine Bataten.
Fleisch, welches ein echter Hindu aufs äußerste verabscheuen
würde, wird gern gegessen und zwar sind sie gar nicht
wählerisch damit: was Tiger und Panther im Walde übrig
lassen, was ihnen ihre Hunde fangen, was von Vieh in
ihren und in den Nachbardörsern krepiert, ist ihnen eine
leckere Speise. Ziegen- und Ochsenfleisch, Hirsch (Sambcr)
und Reh, Assen und Rieseneidcchsen, Fische und weiße Ameisen
prangen, je nachdem ihnen das Glück günstig ist, auf ihrer
Speisenkarte. Aber bei alledem sind sie doch kein Jägervolk,
Bogen und Pfeil sind ihnen unbekannt, ebenso Tierfallen,
Schlingen nicht im Gebrauch, Jagdgewehre nicht in ihrem
Besitz. Fische werden angeblich nur mit der Hand, nicht
in Netzen, Reußen oder mit Angeln gefangen, auch wird
das Fischwasser nicht, wie bei andern Gebirgsstämmen des
südlichen Indiens, vergiftet.
Tic Malser sind dem Trünke sehr ergeben, bereiten sich
aber nicht selbst berauschende Getränke, sondern verschaffen
sich dieselben durch Kauf oder Tausch. Tabak wird sowohl
gekaut, als auch geraucht, in Form einer gerollten, mit einem
Stück welken Bananenblattes umwickelten Cigarette; auch
Betel wird gern gekaut, Opium dagegen soll bei dcn Malsern
nicht im Gebrauch sein.
Das Feuer, das sie jetzt immer durch Streichhölzer ent-
zünden, wurde früher immer ängstlich bewacht. Daß cs
früher durch Stahl und Stein, oder durch Reiben von
Hölzern entzündet worden sei, wollten sich auch die ältern
Malser, die ich danach fragte, nicht entsinnen. Der Feuer-
platz ist vor der Hütte, in der Regenzeit unter einem, ans
Pfählen erhöhten Blätterschntzdach; hier werden die Speisen
28
Einil Schmidt: Ein Ausflug in
für die zwei bis drei täglichen Mahlzeiten von den Weibern
in irdenen Töpfen gekocht, die aber nicht selbst von den
Malscrn gemacht, sondern in den nächsten Dörfern einge-
handelt werden. Angeblich sollen Weiber und Männer zu-
sammen essen, ich möchte aber diese Angabe bezweifeln; bei
allen andern Bcrgstämmen essen, wie überhaupt in Indien, die
Weiber erst das, was ihnen ihre Herren und Gebieter übrig
gelassen haben.
Die Malser bilden nur eine einzige Kaste, jeder von
ihnen kann mit jedem andern Malser zusammen essen, jedoch
sollen sie nicht außerhalb des Dorfes heiraten. Die Ehen
werden von den beiderseitigen Eltern vereinbart, wenn die
zu Verheiratenden noch Kinder sind. Buchanan erzählt,
daß ein Mädchen, das bis zur Pubertät noch keinen Mann
gefunden hat, für unrein gilt und alle Aussicht verliert, sich
noch später zu verheiraten. Stirbt der Verlobte noch vor
der Hochzeit, so darf sich die Braut nicht wieder verheiraten,
Witwen dagegen soll es unverwehrt sein, eine zweite Ehe
einzugehen. Die Ehen sollen streng monogamisch sein und
nach Buchanan nur bei nachgewiesener Untreue der Frau
gelöst werden können; in diesem Falle würde die Ungetreue
Fig. 3. Kaderfrau aus Satumally. Originalaufnahme
von Prof. E. Schmidt.
Unreinheit nur so lange als diese, zwei bis vier Tage); nach
dem siebenten Tage kehrt die Mutter mit ihrem Kinde wieder
zur übrigen Gesellschaft und zu ihrer gewohnten Arbeit
zurück.
Bei Erkrankungen werden zuerst gewisse Kräuter und
Wurzeln angewandt; helfen sie nicht, so schickt man nach
Tenfelstänzern. Die Malser selbst haben keine Teufels-
tänzer, man läßt solche im Nothfall aus andern (Tamil-)
Kasten kommen. Der böse Geist der Krankheit wird durch
lärmende Musik und Tanz von den phantastisch aufgeputzten
Beschwörern ausgetrieben, die ihre geräuschvolle Arbeit ge-
wöhnlich die ganze Nacht hindurch fortsetzen.
In der Weise der Totenbestattung scheint sich in den
letzten 100 Jahren eine Änderung vollzogen zu haben; noch
zu Buchanans Zeit wurden die Toten verbrannt, jetzt ge-
schieht das nnr noch mit den alten Leuten, die Jüngeren
werden ans dem hoch auf einem Berge gelegenen Begräbnis-
platz des Dorfes begraben, den Kopf nach Süden gewendet.
Die Leichen werden aus der Thür hinausgetragen; die Leichen-
träger waschen sich nach der Beerdigung, werden dann aber
nicht länger für unrein gehalten. Die Hütte des Verstorbenen
wird einfach mit Kuhdüngcr bestrichen, um die durch den
ie Anaimalai-Bcrge (Südindien).
vor versammeltem Volk gezüchtigt und zu ihren Eltern
zurückgeschickt; der Gatte nähme sie nie zurück, jeder andere
aber soll sie heiraten können, wenn er Lust dazu habe.
Die Zeremonie der Eheschließung findet bei eintretender
streife statt; es wird ein Schmaus gegeben und der Vater
des Bräutigam giebt dem Brautvater elf Rupien, vier Annas
| vor 90 Jahren (Buchanan) nur zwei Fanams, sowie ein
Fanam der Braut für ein Kleid, d. h. einen kleinen Baum-
wolllappen), dann folgt das Mädchen dem Bräutigam in
die Hütte der Schwiegereltern, wo es aber zunächst seinen
Zukünftigen noch nicht ansehen darf. Die Ehe gilt erst als
wirklich geschlossen, wenn der Braut das Pasi oder Mani
(das dem Tali der Malabarküste entspricht), d. h. eine Perlen-
kette von der Schwester des Bräutigams umgebunden wird.
Es folgt wieder ein Schmaus mit Musik; die jungen Ehe-
leute bleiben noch drei Wochen im Hause der Eltern des
Ehemannes, dann baut sich letzterer selbst eine Hütte.
Während einer Schwangerschaft sollen keine besondern
Gebräuche beobachtet werden; bei der Geburt hilft irgend
ein beliebiges anderes Weib; die Wöchnerin gilt sieben Tage
als unrein (bei einer gewöhnlichen Menstruation dauert die
Fig. 4. Malser aus Serkarpuddy. Originalaufnahme
von Prof. E. Schmidt.
Tod eines Bewohners eingetretene Unreinheit aufzuheben,
wird aber dann ohne Bedenken weiter bewohnt. Was aus
der Seele nach dem Tode wird, darüber behaupten sie keine
Vorstellung zu haben.
Ein gemeinsames Oberhaupt über alle Malser soll nicht
existieren, dagegen soll jedes Dorf seinen besondern Vorsteher,
den Mupan, haben, dessen Amt sich von Vater auf Sohn
vererbt. Auch das Familieneigentum, Hütte, Gerät, ver-
erbt sich in männlicher Linie.
In der Rangstufe der Kasten nehmen die Malser eine
der untersten Stellen ein. Das Herkommen gebietet, daß
sie einem Brahmanen auf etwa zehn Nieter ausweichen, den
mittleren Kasten nur auf einige Schritte. Gegrüßt wird
von den Malsern, indem die rechte Hand vor das Gesicht
erhoben und der rechte Ellenbogen mit der Spitze des linken
Mittelfingers berührt wird; manchmal grüßen sic auch durch
Erheben beider Hände vor das Gesicht.
Als Gottheit, Ayapasami, werden Steine verehrt, die mit
roter Farbe bestrichen werden (nach Buchanan verehrten die
Malser ihren Steingott unter dem Namen Mallung). Den
Götzen werden als Opfer Kokosnüsse, Bananen, Reis, Nagi,
auch Hühner und Ziegen dargebracht. Das Fleisch der
Emil Schmidt: Ein Ausflug in die Anaimalai-Berge (Südindien).
29
letzteren, die vor dem Stein geschlachtet werden, wird nach
dem Opfer mitgenommen lind zu Hause verzehrt, der Gott
muß sich mit dem Blute des Thieres begnügen, Regelmäßig
wird einmal im Jahre, im April, dem Gott ein größeres
Opfer dargebracht, auch im Januar wird ein größeres reli-
giöses Fest, Tai nombi, für das Gedeihen des Großviehes
gefeiert. Jeder opfert dem Gott für sich; Priester (Pud-
schüris), oder geistliche Berater (Gurus), wie bei den Hindus,
giebt es bei den Malfern nicht.
Der folgende Tag war für den Besuch der mit Ele-
fanten betriebenen schmalspurigen Trambahn be-
stimmt. Der Weg zu derselben führt vom Forsthaus von
Satumally zunächst durch angebautes Land, dessen reicher
Pflanzenwuchs (Ricinus, Sorghum) noch von dem Humus
zehrt, den der Urwald seit Jahrtausenden hier angesammelt
hat. Dann führt die für schwere Karren gut fahrbare
Straße noch zwei englische Meilen weit durch niedriges
Strauch-Dschungel. Um den ganzen Fuß der Berge herum
ist der hohe Wald erst seit wenigen Jahren abgeholzt; tät-
liche Fieber herrschten früher in seinem Bereich, und auch
jetzt ist die Gegend noch sehr ungesund. Besonders in der
trocknen Zeit ist die Malaria noch sehr gefährlich, wenn nach
den Monfunregen die Wälder ausdörren und der Boden
austrocknet, am meisten im Februar, März und April. In
diesen Monaten ruht hier alle Feld- und Waldarbeit; erst
wenn'im Mai die Regen des 8^V-Monsuns wieder ein-
setzen, wird der Wald wieder fast fieberfrei und die Forst-
arbeit nimmt wieder ihren Anfang. Eine sehr lästige
Plage sind dann aber die kleinen durstigen Blutegel, die zu
Millionen überall, auf Stämmen, Blättern, Steinen auf
Beute lauern.
Am Fuße der Höhen, die hier eine etwa 240 m hohe, am
vordern Rand steil abfallende Einsattelung zwischen andern
höher aufragenden Bergen bilden, erwarten uns einige ein-
geborene Forstleute, Tamils, und mit ihnen der Elefant, ein
junges, etwa 2 m hohes Weibchen von besonders fried-
fertigem und sanftem Temperament. Sein Führer, der
Mäh out (spr. Mahaut), ist mit einem gewöhnlichen Gehstock,
sowie mit einem kurzen, flößerhakcnähnlich armierten Stab
bewaffnet, macht aber von letzterem, der im Notfall einfach
in die Haut des Kopfes eingehauen wird, keinen Gebrauch,
sondern kommt mit guten Worten ans. Es ist wunderbar,
wie der Elefant jedes Wort des hinter ihm gehenden Führers,
den er gar nicht einmal sehen kann, versteht. Der Rücken
des Thieres ist mit einem breiten, strohsackahnlichcn Kissen
vom Schulterblatt bis zum Schwanz bedeckt; es besteht ans
zwei seitlichen Hälften, die in der Mitte nur durch eine ein-
fache, nicht gefütterte Stofflage miteinander verbunden sind.
Dieser dünnere Teil kommt auf die kantige, wie ein Kiel
vortretende Mittellinie der Dornfortsätze der Wirbelsäule zu
liegen *). Will man aufsteigen, so legt sich der Elefant auf
Geheiß des Führers einfach auf den Bauch, indem er Vorder-
und Hinterfüße nach vorn und hinten ausstreckt. Man fetzt
sich quer auf; der Vorderplatz, quer über beide Schultern, ist
diel bequemer als der breite Hinterplatz, der nur ein Sitzen
auf der einen Seite gestattet, wodurch das Kissen trotz seiner
engen Befestigung mit Kokosstricken doch eine Neigung zum
Abrutschen nach der betreffenden Seite erhält., Beim Er-
heben und Niederkniecn des Elefanten, sowie beim Überschreiten
steiler Böschungen muß man sich fest an die Stricke anhalten.
Das kommt oft genug vor, da der unerwartet starke Regen
vor wenigen Tagen die meisten Brücken weggeschwemmt hat.
Aber der Elefant geht die steilen, selbst für Menschen un-
b Das beschriebene Kissen ist nur ein Packsattel für schwere
Vasten; der Reitelefant wird mit einer kleinen hölzernen Plntt-
form gesattelt.
behaglich zu passierenden Abhänge mit einer Vorsicht hinab,
die bald das Gefühl vollständigster Sicherheit erwecken. Die
Bewegung beim Gehen ist bei dem jungen, kleinen Tier
durchaus nicht unangenehm, ein sanftes breites Wiegen oder
Schaukeln. Ganz anders ist das Gefühl beim Reiten ans
alten großen Elefanten, ein höchst unangenehmes Stoßen
und Werfen nach vorn und von einer Seite zur andern.
Der Rajah von Jeykur hat die Liebenswürdigkeit, allen
Europäern, die seine Hauptstadt besuchen und die ihn darum
bitten, einen Elefanten zur Verfügung zu stellen, um sie
nach der wundervoll malerischen verlassenen Stadt und Re-
sidenz Ambir zu tragen. Die Tiere imponiren durch ihre
gewaltige Größe, aber ans ihnen zu reiten „mag eine Ehre
sein, ein Vergnügen ist es nicht".
Die Schnelligkeit der Bewegung ist nur eine mäßige,
kaum drei Kilometer die Stunde. Wird der Elefant warm,
so kondensiert sich der Respirationsdampf in seinem Rüssel
und er Prustet dann von Zeit zu Zeit einen gewaltigen
Sprühnebel heraus.
Der Weg, neu angelegt für das Herabkarren der ge-
waltigen Nutzholzstämme über den letzten steilen Abhang,
führt in mäßiger Steigung bergaufwärts, indem er den
schroffen Felsabsturz durch große Biegungen überwindet.
Der Wald wirft in dieser Höhe, zwischen 450 und 900 m,
zum größten Teil in der trockenen Zeit die Blätter ab (de-
ciduous forest); nur da, wo Onellen hervortreten, oder
wo der Boden durch seine Beschaffenheit oder besonders
schattige Lage die Feuchtigkeit länger hält, ist immergrüner
Wald, meist mit scharfgezogcner Grenzlinie gegen den blätter-
abwerfenden Wald abgefetzt. Das eigentliche Gebiet des
immergrünen Laubes aber sind die größcrn Höhen, auf
welchen einerseits durch reichlichere Niederschläge, andrerseits
durch die, bei der verminderten Wärme geringere Ver-
dunstung keine Gefahr für das Austrocknen und Absterben
der Bäume vorhanden ist. Gegen diese Gefahr, daß bei
geringer Feuchtigkeitsznfnhr die Blätter zu viel Feuchtigkeit
verdampfen, schützt sich der deciduous forest durch Ab-
werfen der Blätter in den trockenen Monaten, vom Januar
bis April.
Die wichtigsten Nutzhölzer gehören dem blättcrabwcrfen-
den Walde an. Vor allem der Teakbaum, Tectonia gran-
dis, mit seinen großen fahlgrüncn Blättern. Durch früheren
Raubbetrieb ist im Bestand dieser wertvollen Bäume stark
ausgeräumt worden, doch ist seit der Reorganisation des
südindischen Forstwesens auch hier Wandel geschaffen und so
sieht man neben Strecken mit großen, alten, schlagreifcn
Stämmen auch halbwüchsigen Wald, oder ganz offene Schläge
mit frischgepflanzten Bäumchen. Weitere Nutzholzbäume
dieses Striches sind die mit noch größcrn Blättern aus-
gestattete Hillenia pentagyna, Anogeissus latifolius mit
weißer Rinde und bereits sehr dünnem Laub, Sterculia
ureus mit gleichfalls weißem, an die Platanen erinnerndem
Stamm und mit ihren verdrehten, dicken, jetzt schon ganz
blätterlosen Ästen weit hinaus greifend, eine kleine Stercidia
(villosa), deren Bast zur Herstellung der fast unzerreißbar
zähen Stricke für den Elefantendienst benutzt wird, die mäch-
tige Terminalia tormentosa, die in ihrem Gerüst an die
knorrigen Formen unserer Eichen erinnert, denen sie auch
mit ihrer korkreichen Rinde gleicht, von welchen sie aber
das weichere, sanfter gezeichnete Laub unterscheidet, endlich
die einzelnen, hoch über das Niedergebüsch hcrausragendcn
Bombax-Bäume, Bombax malabaricum, deren leuchtend
rote Blütenkrone die Stelle der abgeworfenen Blätter ersetzt
und die später ihre Samen in ein dichtes Wollbctt einhüllen
(Woübänme). Dazwischen im Niederholz ein Strauch, Heli-
cteris Tsora, mit Blättern, die fast vollständig denen unsrer
Haselnuß gleichen.
30
Emil Schmidt: Ein Ausflug in die Anaimalai-Berqe (Südindienl.
An einzelnen Bäumen des Waldes, besonders an hoch-
hervorragenden Wollbäumen, lehnen lange, einfache Leitern
ans hochstämmigem Bambusrohr, die Seitenäste 10 bis
15 cm weit vom Stamm abgeschnitten, letzterer am Baum-
stamm durch eingetriebene Holzpflöcke befestigt. Es find die
Steigleitern, auf denen die Kaders zu dem Honig gelangen.
Auch über einer steilen, fast überhängenden Felswand hängt,
an langgliedrigen Ketten ans Schlingpslanzcntanen, die oben
an einem starken Baum befestigt sind, eine ähnliche Leiter
herab: auch hier handelt es sich darum, den in Felsspalten
abgesetzten Honig zu gewinnen, keine leichte Arbeit. Die
Biene, welche hier ihre Waben baut, ist groß und ihr Stich
außerordentlich schmerzhaft, so daß es vorkommt, daß die
Gestochenen vor Schmerz den Halt an der Leiter verlieren
und in der Tiefe zerschellen. Die Nester sind verhältnis-
mäßig groß, der Honig gut und deshalb wird diese gefähr-
liche Art des Honigsammelns doch immer noch betrieben.
Bei Tage würde eine Annäherung an den Bienenstock gar
nicht möglich sein; nur in dunklen Nächten, in der Neumond-
zeit, gelingt die Beraubung des Honignestes, wenn die Bienen
schlaftrunken sind, und der Räuber durch die Dunkelheit ge-
schützt ist. Nachdem der Kader schon ein Paar Tage vorher
die Schlingpflanzenleiter bis in das Nest herabgelassen hat,
steigt er in der Nacht leise herunter, sammelt mit raschen
Griffen den Honig in einem mitgebrachten Bambusgefäße
und zieht sich dann schleunigst wieder aus dem gefährlichen
Bereiche der nmherschwärmenden Bienen zurück.
Weniger gefährlich und schwierig ist die Gewinnung des
Banmhonigs. Es sind drei Bienenarten, die hier ihren
Honig absetzen; die eine, ziemlich große Art baut ihre Waben
zilindrisch um Zweige herum; die Wabe ist zwar klein, der
Honig aber vorzüglich und von sehr aromatischem Geschmack,
die Biene läßt sich leicht durch Fuchteln mit einem blütter-
reichen Zweig verscheuchen. Zwei andere kleinere Bienen-
arten setzen ihren Wachs und Honig in hohlen Bäumen ab.
Der Kader beobachtet den Flug der Bienen und hat, wenn
er das Flugloch ausfindig geniacht hat, nur dieses zu er-
weitern, um zu seiner Bente zu gelangen.
Auf dem durch den Regen plastisch erweichten, züh-
thonigen Boden sinkt der Elefantenfnß tief ein und hinter-
läßt scharfe Abdrücke; andere ganz frische Spuren zeigen,
daß große Hirsche (Sambers) und Tiger den Weg passiert
haben; kleinere Abdrücke von Füßen des Panthers oder junger
Tiger sind ziemlich häufig; auch die Anwesenheit des Bären
erkennt man ans den Eindrücken seiner platten, langen Sohle,
sowie ans der reichlich vorhandenen Losung.
Höher oben kommen wir in den Bereich des immer-
grünen Waldes, in dessen Schatten wir, zunächst eine
Lichtung mit niedrigem Strauch- und Banmwerk passierend,
einen Abstecher machen. Der Elefant findet an armdicken
Bambnsen und Holzstämmchen gar kein Hinderniß, sie biegen
sich an ihm einfach zur Seite oder werden umgeknickt. Mehr
belästigt ist der Reiter, der immer auf der ,stmt sein muß, ent-
gegenstehende Zweige abzubiegen oder ihnen auszuweichen.
Sobald man in den immergrünen Wald eintritt, wird der
Weg bequemer. Unter dem dichten, tiefschattigen, kühlen
Lanbdach wächst nur spärliches, dünnholziges, blätterarmes
Unterholz; der Boden ist nur mit Laub bedeckt, fast ganz
grasleer; an den Stämmen und Ästen der größeren Bäume
hinauf ranken und verschränken sich strickähnliche Schling-
pflanzen, während in der Rinde, in hohlen Stellen, in Ast-
achseln zahlreiche Epiphyten, Orchideen, Farne und Moose
Wurzel gefaßt haben.
Die Bahn, welche ihren Anfang erst ziemlich hoch oben,
nahe dem obern Rand des Steilabsturzes nimmt, erhebt sich
zunächst mit einer Steigung von 1 : 12 bis zur Höhe, um
dann, bald etwas sich senkend, bald mit. geringer Neigung
ansteigend, im Ganzen elf Kilometer weit in die Wälder
hineinzuführen. Sie ist schmalspurig und hat stellenweise
Kurven mit sehr kurzem Radius; sie ist bestimmt, das Holz
ans einem ziemlich umfänglichen Waldbezirk bis an den
Rand des letzten Gebirgsabstnrzcs herauszuführen. Bon
hier aus wird cs dann ans einer steilen Rutschbahn weiter
befördert, die überall ein Paar Fuß tief in den Boden ein-
gesenkt, auf ihrer Sohle mit runden O.uerschwellcn besetzt
ist. Sie bringt die Blöcke vom Abladeplatz am untern
Ende des Schienenweges herab bis zum Anfang des neu her-
gestellten Karrcnwcgcs, von wo sie dann ans der Achse bis
nach dem Stapelplatz in Anaimalai, und von da bis zum
Alipa zum Weitcrslößcn, oder bis zur nächsten Eisenbahn-
station Pothannr verfrachtet werden. Auf der Bahn selbst
genügt ein Elefant zum Ziehen mehrerer großen Stämme,
die auf einer Anzahl kleiner Wagen ruhen.
Wir folgten, fast immer auf dem Bahnkörper reitend,
dem Schienenweg bis zu dem ans freier sanfter Anhöhe ge-
legenen Forsthans Mount Stuart Bungalow. Kurz
vorher begegnete uns noch ein älterer, sehr dunkclhäntiger,
kleingcwachsencr Kader mit graumelierten, sehr zotteligen
Haaren; er schleppte von der Bahn zu seiner höher gelegenen
Hütte Wasser hinauf in einem einfachen, aber zweckmäßigen
Gefäß, einer zwei Meter langen, stark schcnkeldicken Bam-
busstange, deren Zwischcnschcidcwände bis ans die unterste
durchstoßen sind.
Mount Stuart ragt aus einem weiten, flachen, rings von
höheren gerundeten Bergen umgebenen Kessel als mäßige
Anhöhe ans, die eine freie Rundsicht gestattet; doch ist der
ganze Zug von Bergen, von hier ans gesehen, etwas ein-
förmig, die Begrenznngslinien wenig unterbrochen, nur wenige
felsige Spitzen treten schärfer heraus. So weit man sehen
kann, ist überall dichter Wald, dem von dem dürren Roth-
braun der östlichen Ebene ermüdeten Auge ein erfrischender
Anblick. Im Walde aber kann man an den verschiedenen
Entwickelungsstufen des Nachwuchses noch deutlich erkennen,
wie die Bergstämme mit ihrer waldverwüstenden Boden-
kultur (Kümeri oder Ponäkäd) zu verschiedenen Zeiten hier
gehaust haben. Neben dem Wohnhaus steht die Elcsanten-
küche, in welcher in gewaltigen kupfernen Kesseln der Reis
für die Tiere gekocht wird; daneben eiserne Ketten zum An-
sesseln der Elefanten am Abend.
Am Nachniittag folgen wir wieder auf dem Rückwege
der Bahn bis zu ihrem Anfange, der am Rande des steilen
Abfalls gelegenen Endstation. Eine stattliche Menge starker,
viereckig behauener Stämme ist hier abgelagert, die meisten
mit einem Loch versehen, das entweder schräg unter einer
Kante hindurchgeht oder das einen besondern, beim Zim-
mern ausgesparten Henkel durchbohrt. Um die an den
Abladeplatz anschließende Rutschbahn zu probieren, soll ein
schwerer Stamm auf ihr herabgelassen werden. Mit wunder-
barem Verständnis stößt und schiebt der Elefant mit Nafen-
wnrzel und Vorderfuß den Block von seiner Lagerstätte weiter
bis auf die Rutschbahn und hier versetzt er ihm dann noch
einen kräftigen Fußtritt, der ihn weiter abwärts schießen
läßt. Aber der Regen hat den Boden aufgeweicht, die
Schwellen mit Schmutz überzogen, und die Reibung dadurch
so vermehrt, daß der Block mehrmals zur Ruhe kommt.
Auch hier kommt der Elefant zu Hilfe, immer den Umständen
nach geschickt angreifend. Bei stärkerem Hindernis drückt
er mit der Nasenwurzel, in leichteren Fällen hebt er auf
Geheiß des Führers, nicht ohne eine gewisse Eleganz, den
schweren Vorderfnß und löst so den Block, der zuletzt mit
zunehmender Geschwindigkeit durch den herrlichen Wald von
Lanbbänmen und im Winde knarrenden Bambnsen hinab-
sanst, um erst wieder ans denn untern flachen Ladeplatze zur
Ruhe zu kommen.
H. Greffrath: Eine neue Expedition im westlichen Zentralaustralien. — Bücherschau. 31
Wir wählten zum Abstieg nicht den bequemeren, aber
weiteren Karrenweg, sondern kletterten auf der alten steilen
Rutschbahn über gerundete, von herabbeförderten Stämmen
an vielen Stellen ganz glattgeriebene GneisfelfenMchen hin-
unter. Wegen der starken Beschädigung, die hier alle
Stämme erlitten haben, ist diese Rutschbahn für Blöcke jetzt
ganz außer Gebrauch. Spät am Abend kehrten wir nach
Satumally Bungalow zurück, um am andern Tage unsern
Rückweg über Anaimalai und Pollachi nach Coimbatore
anzutreten.
Line neue Expedition im westlichen Zentralaustralien.
Von l). Greffrath,
Der reiche Großkaufmann und Squatter Sir Thomas
Elder in Adelaide, Kolonie Südaustralien, ist in geographi-
schen Kreisen allbekannt. Keiner hat sich um die Erforschung
des zentralen westlichen Australiens verdienter gemacht als
er. Er war es, welcher zuerst im Jahre 1863 Kamele aus
Ostindien einführte, mit denen ein tieferes Eindringen in das
wüste Innere des Kontinents ermöglicht ward. Die beiden
großen Expeditionen unter Warburton 1873 und 1874 und
unter Giles 1875, welche das westliche Australien zuin ersten-
mal durchquerten, wurden auf seine Kosten unternommen, und
wo immer es sich um eine Forschungsreise handelte, steuerte
er nicht nur in der liberalsten Weise bei, sondern lieferte
auch die Kamele kostenfrei. Letztere haben sich auf seinen
großen Ländereien jetzt zu Hunderten vermehrt.
Wie ein Blick auf die Karte zeigt, zieht sich im westlichen
Zentralaustralien noch immer ein nicht unbedeutender und
unbekannter Landgürtcl hin. Um auch diesen endlich für
die geographische Kenntnis zu erschließen, erbot sich Sir
Thomas Elder im August vorigen Jahres, als er in London
verweilte, den Royal Geographical Societies of Australia
gegenüber, auf seine Kosten eine Expedition dahin auszusenden.
Die Gesellschaften sollten einen Reiseplan entwerfen und
chm zur Genehmigung vorlegen. Dies geschah, alles ward,
Uamentlich durch den regen Eifer des Baron von Müller,
Vorsitzenden der Royal Geographical Society in Melbourne,
geordnet und die Expedition konnte um Ende April 1891
von der Eisenbahn- und Überlandtelegraphenstation the
^oake in 28° 4' südl. Br. und 135" 52' östlich von Gr.
aus die Reise antreten. Der angenommene Plan ist folgen-
der. Die auf die Dauer von zwölf Monaten berechnete
Reise soll von the Peake zunächst in westlicher Richtung
verlaufen, und zwar zwischen den früheren Reiserouten von
Dorrest 1874 und Giles 1875 entlang bis zu den Quellen
des Mnrchison River Z in ungefähr 25- 35' südl. Br.
und 1170 östlich von Gr. in der Kolonie Westaustralien —
"u Areal von rund 1300 Miles (2092 km) Länge und
200 Miles (322 km) Breite. Dann wird eine nordöstliche
Richtung eingeschlagen werden, um das zwischen den Reise- *)
*) Der Mnrchison R. mündet an der Westküste der Kolonie
Westaustralien in 27- 35' südl. Br. und 114-4' östlich von
Greenwich.
routen von Giles und Warburton gelegene Areal, etwa
900 Miles (1448 km) lang und 200 Miles (322 km)
breit, zu erforschen, und zuletzt eine östliche ins Northern
Territory über die zwischen dem Viktoria R. und dem Sturt
Creek im Westen und dem Überlandtelegraphen im Osten sich
hinziehende 400 Miles (644 km) lange und 300 Miles
(483 km) breite Gebiet, wo der Baron v. Müller Spuren
von Leichardt vermutet.
Die Leitung der Expedition sollte dem bekannten australi-
schen Erforscher Charles Winnicke, dem Sohne eines vor
Jahren in Südaustralien cingewanderten Deutschen, über-
tragen werden, allein dieser wurde durch den plötzlichen Tod
seines Vaters an der Annahme verhindert. Die Wahl fiel
dann ans Mr. David Lindsay, einen nicht minder bewährten
Forschungsreisenden.
David Lindsay, Sohn des verstorbenen Kapitän John
Lindsay, wurde im Juni 1857 in dem Städtchen Goolwa
am Murray R. geboren. Nach Beendigung seiner Schul-
jahre trat er in das öffentliche Vermessungsamt in Adelaide
ein und war dann bis zum Jahre 1882 als Regiernngs-
feldmesser im Northern Territory, um dessen Erforschung er
sich während dieser Zeit sehr verdient machte, thätig. Im
Jahre 1883 leitete er mit großem Erfolge eine von der süd-
anstralischen Regierung ausgerüstete Expedition in Arnheim-
Land, und 1885 wieder eine Expedition zur Erforschung
des Gebietes zwischen den Dalhonsie-Springs in 26- 26'
siidl. Br. und 135-45' östlich von Gr. und dem Herbert R.,
wo er dann Vermessungen ausführte. Auf dieser Reise cith
deckte er in den Macdonnell-Ranger Rubinen, Gold und
Mica (Katzensilber). Auch wies er nach, daß der Finke R.
nicht den Lake Eyre erreicht, sondern sich in Sandhügeln
ostnordöstlich von Dalhousie verliert, bei hohen Regenflnten
aber seine Wasser an den Macumba R. abgiebt.
Mr. F. W. Leech, Begleiter des Mr. Lindsay auf seinen
früheren Reisen, ist der Expedition als Zweiter im Kommando
zugewiesen.
Dr. Elliott, seit längerer Zeit in Queensland als Arzt
thätig, begleitet die Expedition als Naturforscher, Mr. R. Helms,
Angestellter am Sydney-Museum, als Sammler und Herr
Viktor Streich aus Freibnrg in Sachsen als Geologe und
Mineraloge. Dazu kommen mehrere Leute zur Führung
der Kamele und für allgemeine Dienste.
25 li ch e v s ch a ll.
Dr. Emil Küster. Die deutschen B u nt fand stein gebiete,
ihre Oberflächengestaltung und anthropogeogra-
phischen Verhältnisse. (Forschungen zur deutschen
Landes- und Volkskunde, Bd. V, Heft 4, 1891.)
Der gesamte Flächeninhalt, welchen die Buntsandsteinareale
ln Deutschland einnehmen, läßt sich, allerdings vorläufig nur
annäherungsweise, zu etwa 27100 qkm angeben, das ist das
Doppelte der Oberfläche des Königreichs wachsen und 7,7 Proz.
jener des Deutschen Reiches. Diese beträchtliche Ausdehnung
ver Buntsandsteingebirge, ihre mannigfachen, oft sehr scharf aus-
geprägten charakteristischen Eigentümlichkeiten nach geologischer
Zusammensetzung, topographischer Gestaltung, den Vegetations-
und Besiedelungsverhältnissen, ließen es als eine dankenswerte
Aufgabe erscheinen, dieselben als Ganzes monographisch zu
behandeln. Mit dieser Untersuchung wollte der Vers, einen
Beitrag zur Lehre vom Einfluß des inneren Bodenbaues auf das
32
B ü cherscha u.
Leben der Menschen, etwa im Sinne der schon von B. v. Cotta
in „Deutschlands Boden" angebahnten Lehre, liefern. Man darf
wohl sagen, daß ihm dieser Versuch, soweit es überhaupt mög-
lich ist, jetzt schon in dieser Hinsicht etwas zu leisten, geglückt ist.
Mit großem Fleiß und Geschick hat der Vers, die überaus um-
sangreiche. aber auch recht weit zerstreute Litteratur benutzt und
sich mit allen einschlägigen geologischen, forstwirtschaftlichen,
botanischen und bovenkundlichen Schriften bekannt gemacht.
Auch der geologische Fachmann wird diese zusammenfassende
Darstellung über das Buntsandstetngebirge Deutschlands gern
lesen. Die Verteilung des Stoffes ist folgende: Verbreitungs-
gebiet des Buntjandsteins in Deutschland; petrographische Zu-
sammensetzung; geologische Gliederung; die stehenden Wasser
des Buntsandsteius; die Quellen; die fließenden Wasser des
Buntjanvste'ns; Oberflüchcnsormung; Oberflächengestaltung im
großen; Thalbildung; Bodenschätze; Waldungen; Acker-- und
Wiesenbau; Gewerbfleiß und Handel; Besiedelung.
A. Sauer.
Dr. Phil. Heinrich Schürst, Die Pässe des Erzgebirges.
Leipzig 1831 (64 Seiten und eine Karte).
„Wege ttnd Straßen sind älter als die Menschheit", so
lautet der erste Satz; gemeint sind damit die Pfade, wie sic die
größer» Säugetiere sich bahnen, denen dann später auch der
Mensch folgt. Andrerseits giebt es Straßen und Wege, die
von der Natur vorgezeichnet sind, die Pässe, wenn dieses
Wort gleich Gebirgsstraßen gesetzt wird. Von diesen beiden
Sätzen aus kommt der Verfasser nach einer allgemeinen Betrach-
tung des Erzgebirges zu der vorläufigen Ausstellung des Er-
gebnisses seiner Untersuchung: „Die Pässe des Erzgebirges sind
in ihrer allgemeinen Lage und Richtung nicht von der Natur
vorgezeichuete Wege, sondern ihre Entstehung ist ein Problem
der Anthropogeographie, oder die Slädte als Kulturzentren
haben mit der Zeit bewirkt, daß sich aus der Fülle möglicher
Straßen bestimmte Gruppen vorwiegend entwickeln." Es han-
delt sich demnach um Verkehrslinien, die das Erzgebirge über-
schreiten. Dieses ist nach Schurtz als eine von Nord nach Süd
ansteigende Hochebene mit steilerem Abfall nach Böhmen zu
betrachten.
Der Vers, unterscheidet nun vier Straßenzüge, zu deren
Bezeichnung als Ausgangspunkte Dresden, Freiberg, Chemnitz
und Zwickau gewählt sind, wenn auch die beiden ersteren erst
spät eigentliche Bcvölkerungsmittelpunkte geworden sind, Zwickau
aoer keinen nennenswerten Verkehr nach Böhmen gehabt hat.
Dessen Bedürfnis nach Salz und Blei habe den Handelsverkehr
im allgemeinen bedingt. Der Schwerpunkt der Ausführung
liegt — unabhängig von den Bezeichnungen der Straßen — in
der Art, wie deren Richtung durch historische Nachrichten und
durch die Etymologie der Ortsnamen ermittelt wird. Es ist
ohne Zweifel eine mühsame und dankenswerte Zusammenstellung
vielfach, besonders in lokalen Publikationen, verstreuten Materials,
eine Art Entschuldigung auf S>. 64 gegenüber der Verwöhnung
durch glänzende geographische Entdeckungen — höchstens für
einen Teil von Interessenten veranlaßt. Auch die Heranziehung
der Ortsnamen ist ein fruchtbarer Gedanke; sicher ist wenigstens,
daß zwischen den einzelnen Ansiedelungen auch Wege von je
bestanden haben müssen. Dem gegenüber scheint es weniger
ins Gewicht zu fallen, ob die einzelnen Deutungen aus dem
Slawischen immer Stich halten könnten; der Vers, sucht gern
eine Beziehung auf eine größere Handelsstraße darin; so Birk-
witz voii dsrügu, Steuereinnehmer; oder Mückenberg und ähnliche
Bildungen von inike, Priester, also eine Kultusstätte. Es
könnte damit in Zusammenhang gebracht werden, daß die so-
genannten Hummelbauern bei Bayreut in Obersranken durch
das Nachahmen des Summens einer Hummel sich ärgern lassen
müssen. Der Grund dürste wohl etwas anders sein als das
bekannte Schildbürgerstück. Nur ist die Deutung von Orts-
namen ein schlüpfriges Gebiet, wenn nicht die urkundlichen
Formen leiten. Wer sucht hinter Berlepsch die Grundform
llöralltlsidootinooll'? (vergl. Arnold, Ansiedelungen und Wande-
rungen). Großes in Verballhornungen leisten bekanntlich gerade
offizielle Karten, aus Mißachtung der Mundart!
Auch aus dein alten Namen für das Erzgebirge: Fer-
gunna im Chronicon Moissiacense ad 805 und Fergunua
Mirquidui bei Thietmar, VI, 10 läßt sich kaum der Schluß
(auf S. 6) einer „gewissen Wichtigkeit" ziehen; beides sind
Appellative. Das erstere vom gotischen fairguni — Bergwald
abzuleiten, da es in einer aquitanifchen Auszeichnung vorkommt,
nahe westgotischen Sitzen, liegt bei der Hand. Virgurmia oder
Yirguiida hieß auch der Höhenzug zwischen Ellwangen und
Ansbach (Förstemann, Ortsnamen II, 555), wenn es das gleiche
Wort ist. Mircwidu, „finsterer Wald", galt auch an der
Merwe (Thietmar IX, 28). Die „gutbegrenzte Gebirgsindivi-
dualitüt" S. 5 hat also mit diesem Namen wenig zu thun;
wohl aber könnte er, ganz entsprechend dem noch vor kurzem
bestehenden Urwaldreste im Bairischen Wald, die Vorstellung
des „Urwalds der deutschen Gebirge" lebendig machen, besser
als die Entlehnung aus den Tropen (S. 11), die mit Recht
abgewiesen wird.
Die Einzelangaben über die Straßenzüge brauchen wohl
nicht besprochen zu werden; an ihrem Ende ist aus dem „Problem
der Anthropogeographie" eine „Frage der Heimatskunde" ge-
worden. Name ist Schall und Rauch. Aber das „starke
Betonen des historisch Gegebenen" bedarf keiner Verzeihung,
auch in einer Abhandlung geographischen Inhalts (S. 131);
eher noch der mehrmals auftretende Annalist Saxo. Es ist
eben bewiesen, daß der Gegenstand selbst seine Begrenzung und
Methode fordert, nicht die „Zmeigwissenschast der Erdkunde, die
Anthropogeographie" (S. 4). Die gewaltthätig«: Wortbildung
einer Menschengeographie, die noch nicht analog der Tier-
oder Pflanzengeographie sein soll, durfte wohl von Ansang
an Zweifel erwecken. Die nachträgliche Rechtfertigung des
gewordenen durch allgemeine geographische Begriffe, wie der
Sieg des Meißener Markgrafen als des Vertreters des nord-
deutschen Volkslebens (S. 7), kann wohl kaum mehr als eine
scheinbare Vertiefung durch inhaltslose Abstraktionen gewähren.
Da das Historische doch die Hauptsache der vorliegenden Schrift
ist, so dürfte man sie als einen recht anregenden Beitrag zur
lokalen Kulturgeschichte bezeichnen oder, wenn man darauf Ge-
wicht legt, sie einer Kulturgeographie einreihen.
München. G. Schultheiß.
R. Lehmann, Das Kartenzeichnen im geographischen
Unterricht. Halle a. S., 1831. 201 S.
Der Umstand, daß in letzter Zeit von verschiedenen Seiten
her Stimmen gegen das Kartcnzeichnen int geographischen
Unterrichte laut geworden sind, hat den Verfasser veranlaßt, die
ganze Frage des Kartenzeichnens einer gründlichen Prüfung zu
unterziehen. Die Ergebnisse dieser Prüfung sehen >vir in dem
oben angeführten Werke vor uns.
Der Vers, spricht zunächst eingehend über den Zweck des
geographischen Zeichnens und geht, nachdem er dessen Wert für
lne schärfere Auffassung der verschiedenen Kartenobjekte hervor-
gehoben, zu den Methoden über, welche hierbei angewandt
werden; es sind dies: I. Das Einzeichnen in gegebene Grund-
lagen; II. Das völlig freihändige Kartenzeichnen und zwar
1) in Gradnetzen, 2) in Quadratnetzen, 3) aus Grund einzelner
ausgewählter Gradnetzlinien, 4) auf Grund konzentrischer Distanz-
kreise, 5) mit Hilfe von Normallinien und 6) auf Grund freier
geometrischer Hilfskonstruktionen. — Bei allen diesen giebt
Lehmann zunächst das Wesen einer jeden Methode klar und
übersichtlich an, wägt ihre Vorzüge und Nachteile gegen ein-
ander und gegen die andrer Methoden ab und kommt zu dem
Schlüsse, daß dem Zwecke, den das Kartenzeichnen in den
Schulen haben soll, das Kirchhosfsche Verfahren (Zeichnen im
Gradnetze) weitaus am besten entspreche. — Den Schluß bilden
allgemeine Bemerkungen zu der unterrichtlichen Handhabung
des Kartenzeichnens.
Alles dies behandelt Lehmann mit der Gründlichkeit,
welche uns auch sonst in seinen Schriften entgegentritt. Aber'
diese Gründlichkeit ist es nicht allein, welche den Wert dieser
Arbeit ausmacht, vielmehr die Unparteilichkeit, mit welcher er
die Vorzüge und Nachtheile eines jeden Verfahrens prüft und
danach seine Entscheidung trifft. Recht deutlich tritt diese
letztere Eigenschaft hervor am Ende des Abschnittes über die
Zeichenmethoden (2. 122 bis 126), wo er die Schlüsse aus den
bisherigen Darlegungen zieht. Hier entscheidet er sich zwar
ohne Rückhalt für die Kirchhosfsche Methode des Zeichnens im
Gradnetz, aber keineswegs versagt er seine Anerkennung den
Vorzügen, welche andre Methoden gewähren und giebt an, wo
und in welcher Weise dieselben nutzbar angewandt werden
können.
Gerade auf diesein Gebiete kommt Lehmann seine in lang-
jähriger Schulpraxis gesammelte Erfahrung vorzüglich zu
statten; jede Seite seines Buches bringt uns den Eindruck, daß
wir hier nicht die Arbeit eines einseitigen Theoretikers vor uns
haben, sondern das Urteil eines Mannes, der Theorie und
Praxis in gleicher Weise beherrscht. DaS Studium desselben
wird daher jedem Schulmanne, der geographischen Unterricht
erteilt, von hohem Interesse und Wert sein, und kann ihm
daher auf das wärmste einpfohlen werden.
Braun schweig. Dr. W. Petzold.
Herausgeber: Dr. R. Aiidrcc in Heidelberg, Leopoldstraße 27. Druck vou Friedrich Vieweg und Sohn iu Braunschwcig.
Hierzu eine Beilage von Th. Chr. Fr. Enslin (Richard Schoeir) in Berlin.
Bd. LX
Nr. 3
v n it tt f rii tu i» i it Jährlich 2 Bände in 24 Nummern. Durch alle Buchhandlungen und Postanstalten 18^)1
l « W U ] aj IU L l g. zum Preise von 12 Mark für den Band zu beziehen. '
Die Erhaltung des Elefanten Afrikas.
Von prof. H).
Die Frage der Zukunft des afrikanischen Elefanten ist
besonders durch zwei weitgreifende Thatsachen zum Auf-
wurf gelangt. Am meisten wohl infolge der Bekämpfung
jener Arabergreuel der Sklavenjagden, welche jeden Nerv der
christlich gesitteten Welt aufregen; denn die Sklavenjagden
wären nicht entfernt zu solcher satanischen Bösartigkeit aus-
geartet, wenn man nicht Träger und Menschenware als
Zahlungsmittel für den Erwerb und Vertrieb der Elefanten-
zähne unter Mord und Brand zu rauben sich gewöhnt hätte.
Andrerseits aber heißt das Bedürfnis nach einem billigeren
und einfacheren Transportmittel, als es die menschliche
Schulter ist, namentlich in der Nähe non Flüssen und Wasser-
stellen, nach dem klügsten.und stärksten aller Tiere der Tropen-
welt Ausschau halten, zumal ja der Elefant auch iiberans
rasch ist, den besten Pferden im Laufen gleichkommt und be-
sonders in bergigen Gegenden die hervorragendsten Dienste
leisten kann.
Zahlreich und immer häufiger werden Klagen laut über
die massenhafte Vernichtung dieses in Asien so nützlichen
Tieres, welches in jeglichem Alter so mannigfach und meist
höchst grausam von den zu Habgier aufgestachelten Wilden
in Afrika lediglich seiner beiden Zähne wegen getötet wird.
Alan klagt, daß schon in zwei Menschenaltcrn der afrikanische
Elefant eine Seltenheit in den dichtesten Wäldern sein werde,
wenn der Ausrottnngseifer sich so fort entwickelt wie in den
letzten 20 Jahren und jährlich 80 000 getötet würden.
Andere freilich preisen jenen Tag als ein Freudenfest der
Zukunft, an welchem der letzte Zahn des letzten Elefanten an
die Küste gelangt, wodurch daun die Bluthctze der arabischen
Händler aufhöre, unter Jammer und Thränen des Elfenbeins
wegen die einst glücklichen oder immerhin harmlosen Neger-
krale zu verschütten. Man wird aber die Frage bejahen, ob
nicht, abgesehen von Elefantenjagden, doch der feste Arm deut-
scher und englischer Hoheit zwischen Nil und Sambesi dem
Leid der Sklavenjagden in zehn Jahren ein Ende gemacht
haben wird, und andrerseits darauf hinarbeiten, daß die
europäischen Kultivatoren dem großen afrikanischen .
Globus LX. Nr. 3.
Dickhäuter einen weit größeren Wert abzugewinnen
suchen werden, als sie ihn durch das Abbrechen der zwei
Zähne unter Vernichtung des Tieres erlangen können.
Wenn letztere Bestrebung nicht zur Geltung kommt, dann
wird ja freilich in immer schwunghafter betriebener Massen-
tötung ans Grund der rasch zunehmenden Ortskenntnisse über
das Innere in etlichen Jahrzehnten das erwähnte Ende für
den Elefanten eintreten. Und doch sollte schon die noch
immer vorhandene gewaltige Menge von Elefanten, welche
Afrika trotz ausgiebiger Einschränkung ihres Verbreitungs-
gebietes beherbergt, dazu mahnen, dieses enorme Kapital von
tierischer Kraft und Intelligenz nicht nach Art leichtsinniger
Verschwender um einer untergeordneten Annehmlichkeit willen
zu verpuffen, sondern es zu dauerndem Zinsertrag zu führen.
Sehen wir also zunächst nach seiner derzeitigen Verbreitung.
Bekanntlich ist die Grenze des häufigeren Vorkommens
des Elefanten nicht nur im Norden und Süden und von
allen Küsten landeinwärts zurückgeschoben worden, son-
dern man hat auch beträchtlich tief in das Binnenland hinein
da und dort Lücken in die Verbreitung gerissen. Man hatte
noch in der Mitte dieses Jahrhunderts Elefanten allerorten
westlich und östlich der Ufer des Blauen und Weißen Nil,
soweit nicht Stein- und Sandwüste oder baumlose Savanne
sich ausbreitete; denn die Tiere ersetzten sich trotz jahrtausend-
langer Gewinnung des Elfenbeins, welches man durch Jagd
von der Küste des Roten Meeres aus gewann, immer wieder
von ihren üppigen Nahrungsgebieten südlich des 10. Breite-
grades her. Auch noch zur Zeit Baker Paschas, anfangs
der sicbenziger Jahre, war das Land Makaraka zlvischen 4.
und 5. Grad n. Br. durch reiche Eigeulieferung ein wert-
volles Elfenbeingebiet. Denn es jagten ja die einheimischen
Stämme den Elefanten nur des Fleisches und Fettes wegen,
bevor die Händler aus Chartum eindrangen U und den
Ausfuhrhandel für die Zähne organisierten, auch Sklavenranb
und Wegnahme von Herden und Nahrungsmittel zu einem
i) Junker, Reisen I, S. 373.
5
34
Prof. W. Götz: Die Erhellung des Elefanten Afrikas.
regelmäßigen Geschick der Bewohner machten. Aber die
immer zahlreicheren Stationen, in welchen berufsmäßige
Elefantenjäger, geführt von ortskundigen Negern, unterhalten
wurden — sie mußten es bald dahin bringen, daß diese Tiere,
in Gruben und mit der Lanze von einzelnen kühnen Jägern
allerorts erlegt, aus den nördlicheren Gebieten verschwanden.
Zur Zeit sind es noch die Njam-Njam oder Sandehgebicte
zwischen dem 5. und 3. Breitegrad, besonders jenseit der Wasser-
scheide der Congozuflüsse (Mobaugigebiet), in welchen der
Elefant noch zahlreich überall zu finden ist. Casati traf ihn
vielfach tut Bereich der dortigen Flüsse Kibali und Bomo-
kandi. Allerdings geschah dies auch schon vor nenn Jahren;
aber infolge der Wirren der Machdibewcgung darf man
immerhin annehmen, daß infolge von Elfenbeinnachfrage in
diesen Gegenden wenig Elefantenjagd stattgefnnden. So
wird auch nördlicher, im Bahr et Ghasalgebiet, sich gleichfalls
der Stand der Dinge seit acht Jahren bezüglich des Tieres
wenig verändert haben. In Abessinien, zunächst im nörd-
licheren Teile, im Atbaragebiete, fand sich im vergangenen
Jahrzehnt auch in bergigen Strichen nach den Beobachtungen
von Meng es der Elefant keineswegs selten, wie er auch im
Süden dieses Landes im Bereich des Blauen Nil im Sobat-
gebiete haust. Elfenbeinausfuhr findet deshalb immerzu auch
nach Zeila an der Tadschurrabai statt. Dagegen ist ziemlich
gewiß, daß die Galla in den südlichen Hinterländern von
Harar, vielfach weithin steinige Wüste und ohne Savannen-
wald und Wasser, auf Elcfantenjagd verzichten müssen. Auch
nach dem Kenia hin und von da zum Kilimandscharo fehlt
das Elfenbein, während nördlich des Baringosees und am
Tana in geringer Anzahl Elefanten sich erhielten (Peters,
Telcki). Am Kilimandscharo trifft mau ihn häufiger; er
treibt sich auf diesem Bergmassiv bis zu 3600 m Seehöhe
umher. Während aber Abessinien für ihn sozusagen eine
nordöstliche Ausbuchtung seiner Grenzen bietet, schränkte die
Natur und die Jagden der letzten 40 Jahre sein Gebiet
nach dem Tanganjika und Nyassa hin ein. An diese»! und
zahlreicher beiderseits des Schire, wie auch am Sambesi, wird
er als Standwild gejagt. Im Betschuanenland und oberen
Limpopogebiet Hansen noch kleinere Herden; mehr vereinzelt
hält sich das Tier in Strichen von Transvaal, Sulnland
und Oranje. Hier im Südosten ist jedenfalls zur Zeit auch
ein weiteres Herantreten an die Küstenländer gegeben als !
im Südwesten. Freilich war es vor kurzem auch in letzt-
genannter Richtung anders als heute. Wie Livingstone am
Ngamisee noch stattliche Herden sah, so gab es auch in den
wasserarmen Landschaften westlich davon Elefanten: heute ist
letzteres ausgeschlossen, und am Ngami betrachtet man das
Tier nur als Strich-, nicht als Standwild. Daher lesen !
wir ganz verschwindende Zahlen, wenn die Durchfuhr von
Zähnen ans der Kapstadt oder Port Elisabeth berichtet wird,
obwohl ja die Eisenbahn so billig vom Oranjestuß her be-
fördern würde. Wohl hat die englische Kolonialverwaltung
für einzelne östlichere Waldgebiete reservierte Gehege bestimmt,
in welchen nur gegen ganz besondere Erlaubnis Elefanten
getötet werden dürfen. Aber man erlegt sie eben ohne solche,
so daß in Kürze Schutzmaßregeln gegenstandslos sein werden]).
In Westafrika wird man innerhalb des bisherigen por-
tugiesischen Gebietes freilich den Elefanten als nahezu ans-
Z So ist es nach dieser Richtung immerhin noch nicht so
schlimm geworden, wie nach einer Bemerkung in Wißmanns
neuestem Werke (S. 224) anzunehmen wäre. Er sagt, daß im
Bereich des Schießgewehres südlich des achten Breitegrades der
Elefant nur an wenig Punkten noch ständig sich aushalte. Wenn
wir auch die Berichte eines Farini („Durch die Kalahari-
wüste") als afrikanisches Jägerlatein aufnehmen, so geben doch
Holub und englische Notizen Zeugnis genug, daß das zu-
sammenhängcnde Elefantengebiet nicht im südlichen Congolande
aufhöre.
gerottet betrachten müssen (nach Wißmanns „Im Innern
Afrikas"). Wenn auch nach den Hafenplätzen wechselnde
Mengen von Elfenbein gebracht werden, so ist gerade der
Umstand, daß in Malansche ein beträchtlicher Handel mit
Zähnen stattfindet, ein Hinweis darauf, daß dieser Platz ein
Zielpunkt der weiter binnenwärts stattfindenden Elefantenjagd
iiub ihrer Ausfuhr sei. Erst mit denr Kassaigebiet beginnt
das riesige Revier des großen Elefantenreichtnms, welchen
das Congosystem besitzt, worauf übrigens schon die Savannen-
waldstriche am Knango langsam vorbereiten.
Beiderseits des untern Congo haust das Tier noch in
kleineren Herden bis zum Stanleypool und im Innern des
Ogowelandes. Überhaupt scheint etwa 400 km von der
Oberguineaküste seine Außengrenze bis zur geographischen
Breite des Kamerunpik zu verlaufen. Ausnahmsweise trifft
man den rasch wandernden Dickhäuter natürlich auch näher
an den Seeorten. Am oberen Benne ist er noch in beträcht-
licher Zahl zu finden, selten am untern. In den Haussa-
ländern erhielt er sich, soweit unbewohnte Gegenden in Be-
tracht kommen. Aber nach Westen hin ist erst das obere
Senegalgebiet wieder reicher an Elefanten, wie er natürlich
am Gambia und Rio Grande ebenso ausgerottet ist, als nahezu
am mittleren Niger.
Im innern Sudan tritt er in den sumpfigen Gegenden
von Sokoto häufiger ans (Staudinger, „Im Herzen der Haussa-
länder", S. 691). Da ist Kano ein starker Handelsplatz
für Elfenbeiuzähne, sowohl aus den Nferstrichen des Tschad-
see als ganz besonders aus dem südlichen und östlichen Ada-
mana und den nach dem Nile hin sich erstreckenden Zwischen-
ländern.
Innerhalb dieser Randgebiete endlich ist natürlich wieder-
um alles baumlose Savannenland in Abzug zu bringen, wenn
es sich um Feststellung des Areals handelt, in welchem der
Elefant als Standwild gejagt werden kann. Allein es sind
freilich noch weite Regionen, in welchen er, wenig von Ver-
folgung gestört, sich vermehren kann. Traf doch die Expe-
dition v. Francois' am obern Tschuapa, etwa oo 30' südl. Br.
und zwischen 22 und 23 Grad östl. Länge, eine Bevölkerung,
welche das Elfenbein nur wegen seiner Härte und Dauer-
haftigkeit zu Keulen und Mörserstempeln verwendete und für
einen Blechteller einen Zahn von 20Schwere einzutauschen
ihn flehentlich bat.
Die Zahl der Tiere mit einer einigermaßen berechtigten
Ziffernangabe zu schätzen, würde allerdings zur Zeit noch zu
gewagt sein. Aber man darf trotz aller gewinnsüchtigen
Ausrottnngsarbeit während der letzten 15 Jahre immerhin
behaupten, daß noch mehrere hnnderttausende zur Zeit die
Frage bejahen lassen, ob sich erhaltende Maßnahmen erfolg-
reich dem derzeitigen Veruichtungseifer entgegenstellen können,
so daß man dieses enorme Kapital tierischer Arbeitskraft zu
einer für Afrikas Kultur segensreichen Verwendung auch jetzt
noch zu bringen vermöchte.
Es bedarf hier keiner Auseinandersetzung, welche Un-
summe von Arbeit, die Jagd ans Raubtiere eingeschlossen, durch
den afrikanischen Elefanten für die Kultivation und Ver-
waltung aller nicht wasserarmen Gebiete billiger und rascher
als durch irgend welche andern Mittel geleistet würde, wenn
eben die Frage gelöst wäre, wie man dieses Tier dort zürn
Arbeiten bringen könne. Wiederholt sind nicht nur berufene
Stimmen dafür eingetreten (z. B. Schweinfurth, Wauters),
sondern es wurden auch schon einzelne Ansätze zu dem großen
Werke gemacht, den afrikanischen Elefanten auf die vorteil-
hafte Stufe seines indischen Vetters zu bringen, welcher
namentlich der Regierung so trefflich dient.
Würde es zweifellos feststehen, daß der jetzige afrikanische
Elefant ganz die gleiche Art sei wie jener, welcher bis in
Diokletians Zeit (Anfang des vierten Jahrhunderts) in Nord-
35
Prof. W. Götz: Die Erhaltung des Elefanten Afrikas.
afrika hauste, so wäre ohnedies von vornherein zu betonen,
daß es lediglich heute an der nötigen Umsicht mangle, das
gewünschte Ziel sofort zu erreichen. Denn darüber kann
keine Meinungsverschiedenheit bestehen, daß der Kriegselefant !
der Karthager im eignen Gebiete gefangen und gezähmt
wurde, nachdem doch z. B. im Staatsauftrag Hasdrnbal, der
Sohn Giscons, im Jahre 205 ins Land gesendet wurde, !
um für den Krieg Elefanten zu jagen (Appian, dsU. pun.), |
wie ja auch Hanno bei seiner Fahrt an die Sierra Leone-
küste (450 v. Chr.) am Wadi Draa Elefanten sich tummeln
sah und Mauretaniens Kriegselefanten wiederholt erwähnt
werden. Auch die Verwendung afrikanischer Elefanten in
den römischen Cirkussen steht durch Abbildungen fest. Nur
ist damit nicht auch schon bewiesen, daß gerade sic die ab-
gerichteten gewesen sein mußten, denn die erzählten Kunststücke
konnten auch von indischen produziert worden sein x).
Aber wenn man auch kritisch unnachsichtig die Identität
dieses nördlichen Elefanten mit den heutigen Afrikas ver-
neinen will, so sprechen doch zwei Thatsachen für die Zähm-
barkeit des letztern. Das eine ist, daß in zoologischen Gärten
und Menagerien Europas schon viele gezähmte afrikanische
Elefanten sich gezeigt haben-), und das andere, daß auch
schon Afrikaner einen solchen Erfolg erlangten. Wenn wir
nämlich von minder sicheren Mitteilungen absehen, so war
es wenigstens Mtesa von Uganda, welcher 1871 an Sultan
Said Bargasch einen völlig gezähmten jungen Elefanten sen-
dete, welchen dann I. Kirk erhielt und wiederum als Geschenk
nach Bombay überführen ließ.
Allerdings sind alle solche Exemplare zweifelsohne nur
als junge Tiere unter die Hand ihrer Abrichter gelangt, aber
manche erst drei bis vier Jahre alt. Dies beweist jedenfalls,
daß es in der Natur des afrikanischen Tieres nicht liegt,
unbändig einem unvertilgbaren Triebe der Wildheit verfallen
zil sein und lebend unnütz bleiben zu müssen. Man lese
doch die genaueren Beschreibungen über die lange anhaltende
Wildheit und den Grimm der indischen Elefanten, die znm
Zweck der Zähmung in die Korals getrieben worden sind!
Mehr Widerstand kann schwerlich das freiheitsdnrstigstc und
stärkste afrikanische Tier beweisen.
Es ist aber noch kein ernstlicher Versuch an erwachsenen Ele-
fanten in der Weise der indischen Zähmung ans afrikanischem
Boden angestellt worden, nachdem die von König Leopold im
Jahre 1879 veranlaßte Unternehmung teils infolge nn-
anfgeklärter mißlicher Zufälle nicht in Gang gebracht werden
konnte. Bekanntlich wurden damals vier kräftige indische
Elefanten unweit Dar es Salaam ans Land gebracht, um
im Innern, zunächst von Karema am Tanganjika aus, wie
in ihrem Heimatlande ihresgleichen zähmen zu helfen. Aber
für bereits andere klimatische Verhältnisse durch ihre Natur
angelegt, erlagen vor der Westgrenze von Ugogo zwei Tiere,
und nur eines erreichte Karema, ohne daß mau jedoch das
Klima zweifellos als verderblich zu erachten hätte. Es kamen
ja z. B. die indischen Elefanten, welche Gordon von Chartum
nach Dufilé führen ließ, trotz Nahrungsmangel auf mühsamem
Wege alle wohlbehalten au. So bleibt es eine der Nächst-
liegenden Aufgaben, einen Anfang mit dem Nntzbarmachcn
des afrikanischen Elefanten erst noch zu machen.
Dieser verspricht ja in mehrfacher Hinsicht noch mehr
Vorteile als der indische. Vor allem ist er etwas größer 3)
U Menges (Peterm. Mitt. 1888) nimmt allerdings an,
daß der abeffinische Elefant von den Ptolemäern und dann von
den Römern abgerichtet, also gezähmt worden sei. Uns ist bis
st'tzt keine unbestreitbare Notiz hierüber bekannt; es würde sonst
freilich die Zähmbarkeit der Masse dieser afrikanischen Art außer
Trage gestellt sein.
2) Menges giebt deren Zahl auf nicht weniger als 200 an.
ch Alle Jagdberichte geben uns merklich größere Zahlen für
Höhe und Länge an, als sie für die indischen Exemplare sich finden.
und daher zweifellos auch zu noch höheren Kraftleistungen
geeignet. Er hat längere Beine und vermag sich naturgemäß
dann auch noch schneller zu bewegen, wie er ja ungemein
rasch wandert (100 km im Tage). Er ist vorzüglich im Er-
steigen steiler Berghalden sowohl im Kilimandscharo- wie im
östlichen Teilgebiet und Abessinien. „Bodenhindernisse scheinen
siir ihn uicht zu existiren." N a m e n tl i ch aber m a ch e n i h n
die Vcgetations- und Wasserverhältnisse Afrikas
auch anspruchsloser hinsichtlich seiner Ernährung.
Gerade die Ernährnngsfrage wird mau nicht durch un-
veränderte Übertragung der Ansprüche des indischen Elefanten
auf den afrikanischen erledigen dürfen. Dann aber fällt viel
von einem öfter gehörten Einwand hinweg. Dies ist um
so belangreicher, als das afrikanische Tier sich auch damit be-
gnügt, je am zweiten Tage Wasser aufzusuchen. Wird
dann die Raschheit seiner Fortbewegung auf den nur dann
und wann von dichtem Urwald unterbrochenen Verkehrslinien
Afrikas ausgenützt, so verliert auch dies spärliche Auftreten
von Wasser in vielen flachen und in gebirgigen Gegenden für
den Waarentransport und für Personenverkehr wesentlich an
Widrigkeit. Mit den Fortschritten der Kultivation ist übrigens
der Anbau von Getreide und Anpflanzung von Bäumen an
sich schon gegeben, und erst wo diese Thätigkeit stattfindet,
schließt sich das Bedürfnis eines das Jahr hindurch stetig zu
benutzenden Transportmittels an, tvie dies eben die Kraft
des Elefanten ist. So ist dann in der Regel für dessen Er-
nährung vor allem mit Getreide, anstatt etwa mangelnden
Grases und Laubes schon vorgesorgt, wenn man nach ihm
verlangt.
Wenn also auch das in Afrika hier in Betracht kommende
Gebiet meist eine geringere Rente abwirft als die bezüglichen
von Indien, so daß man in ersterem nur geringeren Kulti-
vationsanfwand rechtfertigen möchte, so wird ja daselbst auch
die Verwendung der einheimischen Elefanten minder an-
spruchsvoll.
Aber sie ist vor allem für die Kulturarbeit in Afrika
notwendiger als in Indien. Denn die vielfache Unterbrechung
1 der bewässerten und baumbestandenen Gebiete durch Savanne
und Ödland und die Bedürfnisse des Wegbaues in den stark
i erodierten Flußfurchen, die in der Regenzeit so massenhaft
überströmen, verlangen dringend eine rasch und wirkungsvoll
transportierende Kraft. Klimatische Hindernisse (die Regen-
zeit gegenüber Kamelen) und Insekten stehen auf weiten Ge-
bieten der Benutzung von Kamelen, Maultieren und Rindern
entgegen, und die menschliche Arbeitskraft wäre auch dann
zu kostspielig, wenn der Neger sich an wochenlang anhaltende
schwere Tagesarbeit gewöhnen möchte. Gerade das völlige
Absterben des Laubes und des Grases in der Trockenzeit
und das Aufhören ungezählter Wasserstellen erheischt um so
mehr während der bessern Jahreszeiten eine Beschleunigung
von all den eingreifenderen Arbeiten, die in Europa durch
Hand- und Spanndienst zu stände kommen. Da ist es immer
nur die Leistung des gezähmten Elefanten, welche den be-
treffenden Anforderungen sofort genügen kann.
Es gilt also, der verblendeten Zerstörung dieses unver-
gleichlichen und unersetzlichen Arbeitsgehilfen Einhalt zu thun.
Dies vermag nur die Macht der zivilisierten europäischen
Mächte, welchen die betreffenden Teile Afrikas unterstellt sind.
Mittelbar werden sie wohl schon an und siir sich bald
dazu übergehen müssen. Afrika ist nämlich im ganzen ein
waldarmer Erdteil. Man wird deshalb vor allem zur
Schonung des Gruppen- oder Savannenwaldes und der
schmalen Galeriewälder ernstlich anhalten. Dies wird zugleich
ein Schutzmittel für den Elefanten bilden. Aber es wäre
allzu langsam wirkend: die Habsucht könnte daneben zu lange
ihr Ausrottnngsgeschäft fortsetzen. Daher sind unmittelbare
Maßregeln unerläßlich, deren wir der Unterstützung von seiten
5*
36
Johan Winkler: Friesland, Friesen und friesische Sprache in den Niederlanden.
der öffentlichen Meinung und der kolonialen Kreise mehrere
empfehlen.
1. Der Ausfuhrhandel mit Elfenbein wäre zum
Monopol der politischen Obergewalt zu erklären. Die
Negerstämme waren vielfach schon daran, gegenüber ihren
Häuptlingen, gewöhnt. Die Überwachung der Ausfuhr ist
durch den größten Teil der afrikanischen Küste sehr erleichtert,
da die Landungs- oder Verladnngsstellen nur auf kurze
Strecken und wenig Buchten beschränkt sind. Der Ausgang
nach dem mittleren Nil ist durch die Zustünde des Machdi-
gebietes und durch die englische Aufsicht in Ägypten kom-
merziell verschlossen oder überwacht. Alle Küsten, außer der
von Monrovia, stehen unter europäischer Gewalt. (Der Norden
kommt abgesehen von Tripolis ohnedies nicht in Betracht.)
2. Es wären Prämien von Belang auf die erfolg-
reiche Durchführung von Zähmungsversnchen an
afrikanischen Elefanten zu setzen. Geldprämien für volkswirt-
schaftliche Fortschritte werden in allerlei Form und Zusammen-
hang heute wie seit Jahrhunderten in Europa angewendet.
3. Die Kolonialverwaltung sollte sowohl selbst mit
so gezähmten Elefanten arbeiten, als auch jenen, welche
mit ihnen größere Leistungen erzielen, z. B. für Bauten oder
Transporte, Bevorzugungen gewähren.
4. Die Jagd auf Elefanten behufs deren Zäh-
mung sollte durch die öffentliche Gewalt als ein gemein-
nütziges Werk ans jede Weise gefördert werden.
Derjenige Staat, welcher zuerst für die ungeheure Trag-
weite einer solchen Behandlung dieser Kulturfrage Verständ-
nis mit der That bekundet, wird sogar positiver auf die
Umgestaltung Afrikas zu einem großen Kultnrfeld einwirken,
als dies durch die Beseitigung der Sklavenjagden geschieht.
Denn diese höchste Arbeit, welche die zivilisierte Menschheit
bis jetzt in Afrika unternommen, ist doch nur abwehrender
Art und bringt an sich noch keinen positiven Fortschritt im
Innern Afrikas zuwege. Der reichste Elefantenbesitzer nun
wäre der Congostaat und damit Belgien. Nächst ihm ist
England sowohl durch seine neueren Besitzergreifungen, be-
sonders im Südosten und durch sein vieles Küstengebiet und
die Niger-Benneufer, zum Vorgehen berufen.
Aber auch Deutschland hat durch Kamerun und Ostafrika
noch hinreichend viel Land unter sich, in welchem die Nutz-
barmachung der vorhandenen Elefanten großes wirken könnte,
genug für das moralische Recht, zu einem solchen Knltnrfort-
schritt als erster Staat voranzugehen. Würde bei uns in
allen berufenen Kreisen auf Grund ernster Studien allmäh-
lich mehr erfaßt, daß der Nährboden für die Weltstellung
und Zukunft des deutschen Volkes in der vermehrten Nutzung
auswärtiger Gebiete liegt, so würde man eine Angelegenheit,
wie die hier besprochene, nicht wie eine Art von neutraler
Tagesnenigkeit behandeln, sondern als eine Aufgabe, die
unter allen Umständen und bald zu ihrem Ziele hindurchzu-
führen ist.
Mesland, Friesen und friesische Sprache in den Niederlanden.
Don Zohan Winkler. Haarlem.
II.
Zwischen Flie und Lauers erstreckt sich das alte. Erbteil der
Friesen am tiefsten landeinwärts, bis ans hohe Been itttb die
Heidestrecken von Drente und Overyssel, die von Sachsen und,
als Verbindungsglied, von Friso- Sachsen bewohnt werden.
Östlich und westlich von diesem friesischen Hauptlande und zum
Teil unmittelbar daran grenzend, dehnen sich einige andre,
ursprünglich ebenso rein friesische Gaue aus, wo jedoch die
Bevölkerung ihr Friesentum nicht unverletzt bewahren konnte,
infolge dessen die kennzeichnenden friesischen Eigenschaften
jetzt weniger stark bemerkbar als im Hauptlande sind. Es
sind dieses, östlich, zwischen Lauers und Ems, der ganze
Hnnsegoo (Hunsingau), Fivelgoo (Fivelinggau), Hunlsterland,
Middachten, Fredewold, Langewold, Goorecht (bereits frühe
stark sächsisch), das Oldambt und Westerwolde, die sämtlich
heute die Provinz Groningerland bilden. Westlich vom
Hauptland, über dem Flie, liegt der westlichste Teil vom
ehemaligen Altfriesland, insoweit dieses als echtes, reines,
zweifelloses Friesenland galt und noch gilt. Dieses west-
lichste Friesland, das von je Friesland zwischen Flie und Re-
kere (ein alter jetzt verschwundener Fluß bei Alkmaar) ge-
nannt wurde, oder auch Friesland zwischen Flie und Kinhem
(das heutige Kennemerland, das Land um und zwischen den
Städten Alkmaar und Haarlem entlang dem Dünensanm),
bildet heute den nördlichsten Teil der Provinz Nordholland,
also alles Land, das von einer angenommenen Linie zwischen
Alkmaar und Hoorn nördlich liegt. Dieser alte Friesen-
boden, in seiner Gesamtheit Westfriesland genannt, wird in
zwei Teile geschieden: in Drechterland, den östlichen Teil
zwischen den Städten Hoorn, Medemblik und Enkhuizen
und das eigentliche Westfriesland im allerengsten Sinne,
aus dem übrigen nördlichsten Teil von Nordholland be-
stehend, mit dem alten, ansehnlichen Marktflecken Schagen
als Mittelpunkt.
Auch der übrige Teil Nordhollands, südlich, von der
Linie Alkmaar — Hoorn, ist wohl noch alter Friesenboden
in bezug auf Bolksart und allerlei Eigentümlichkeiten seiner
Bewohner, aber der Name Friesland ist hier nicht bewahrt
geblieben. Es sind dies die Gauen Waterland (um die
Städte Monnikendam und Edam herum), die Zaankant
(östlich und westlich vom Flüßchen Zaan mit Zaandam),
das Kennemerland (oben bereits erwähnt) und Amstelland
(östlich und westlich vom Flusse Amstel mit Amsterdam).
Im Gooiland dagegen, dem südlichsten Gau von Nord-
holland, in der Umgegend von Naarden und Hilversum
(Hilwarthsheim), befindet sich das friesische Element schon
sehr in der Minderheit und wird, ethnographisch genommen,
vom sächsischen überwogen.
Der nordholländische Gau Kennemerland und alles,
was iil der Provinz Südholland friesischen Ursprungs ist,
so die Gaue Rijnland (nördlich und südlich vom Duden
Rijn, von Woerden und Leiden bis Katwijk), Westland
(südwestlich von 'S Gravenhage mit dem Dorfe Naaldwyk
als Mittelpunkt) und Delfland (bei der Stadt Delft), stellt
die friesische Bolksart nnb Eigenschaft nicht nur in einer
sehr gemischten, sich verlierenden und durch fränkische Ein-
mischung entarteten, sondern auch in einer ursprünglich
einigermaßen veränderten Form dar. Je weiter südlicher
und östlicher in Südholland, destomehr tritt der fränkische
Volksbestandteil in den Vordergrund und verdrängt das
Friesische. Auch in der Provinz Seeland ist dies in starker
Weise der Fall. Hat inan es hier in Südholland und
Seeland mit einem friesischen Volksstamm zu thun, der
schon von Anfang an mehr oder minder vom friesischen
Urbilde abwich, wie letzteres durch den friesischen Haupt-
stamm zwischen Flie und Lauers dargestellt wird? Oder
haben sich die Friesen bei ihrem südlichen Zuge entlang der
Johan Winkler
Friesland, Friesen und friesische -Sprache in den Niederlanden.
37
Nordseeküste nach den Mündungen des Rhein, der Maas und
Schelde mit den alten Landsassen, die hier im Beginn unsrer
Zeitrechnung wohnten, mit Eaninefaten und Batavern ver-
schmolzen? Es ist wohl nicht gut möglich, darauf heute
noch Antwort zu geben.
In einiger Hinsicht und etwas stärker und deutlicher
treten die Spuren friesischen Ursprungs und friesischer Eigen-
art wieder bei dem alten Land- und Seevolk hervor, das
südlich vom eigentlichen Seeland wohnt, südlich von den see-
ländischen Inseln, südlich der Hont oder Westerschelde im
sogenannten seelündischen oder Staatsflandern, jenem schmalen
Landstriche, der sich entlang dem Südufer der Hont hinzieht
und noch zu den Niederlanden, zu der Provinz Seeland im
politischen Sinne gehört; dieses ist eigentlich vlamisches, kein
seeländisches Land. Ebenso in den nördlichen Teilen der
belgischen Provinz Ostflandern, nördlich von Gent, in den
Gauen Waasland und Meetjesland, der Umgebung der
Städte St. Nicolaas und Eekloo. Namentlich aber auch an
der Küste Westflanderns, rundum, jedoch meist nördlich von
Brügge, welcher Gau Het Vrije van Brügge heißt. Dann
rund um die Städte Ostende, Nienpoort, Dixmude und
Beurne, in dem sogenannten Blocke (Blöße) von Flandern,
nämlich dem von Wald entblößten, baumlosen, nur mit
Weiden und Wiesen bedeckten Lande, ein vlamisches Fries-
land. Schließlich noch im nördlichsten Zipfel des heutigen
Frankreichs, in der nächsten Umgegend der Stadt Dünkirchen
(vlamisch Duinkerke, friesisch Düntsjerke), in französisch
oder Seeflandern, in einem Gau, der den Namen de Wateringen
(etwa „Wasserungen") führt, ein ursprünglich niederdeutscher
Name, den die Franzosen zu Quattringues verhunzten.
Aber die Spuren des Friesentums sind doch bei der Bevöl-
kerung in diesem Bar ^Vest des niederdeutschen Sprachgebietes
nur noch sehr wenig bemerkbar. Im allgemeinen kann
man sagen, je weiter man sich westlich von dem friesischen
Stammlande zwischen Lauers und Flie wendet, desto mehr
tritt das Friesentnm in den Hintergrund, es entartet, Ver-
bastert und geht allmählich im Fränkischen auf; und je schma-
ler wird auch der Küstenstrich, an dem es sich zusammen-
zieht. Endlich auf den schmalen Küstenstrich bei Dünkirchen
beschränkt, verschmilzt der geringe Rest friesischer Volksart
westlich von Dünkirchen zusammen mit den: gleichfalls
schwachen sächsischen Volksbestandteil, der dort, am alten
Litus saxonicum, noch in der Umgegend der Städte
Kales und Boonen l), ja selbst über Dieppe hinaus, bis
Bayeux angesessen ist.
Auch mit diesen allfriesischen Gauen im Südwesten,
mit allem, was südlich und westlich von der alten Gau-
grenze bei Alkmaar liegt, wollen wir uns hier nicht weiter
beschäftigen-); ebensowenig mit der Bevölkerung, die südlich
vom Hauptsitze des friesischen Volkes, längs der Ostufcr
der Zniderzee in Overyssel in Gelderland und auch in
B Kales and Boonen find die altvlamijchen, also nieder-
deutschen, germcmischen Namen der Stable, welche die Franzojen
Calais und Boulogne sur Mer nennen. Diese Mien, bet den
heutigen Vlamingen noch gebrauchten Namen sollten daher auch
>>n Hochdeutschen bevorzugt werden.
ch Wer sich nciher daruber unterrichten will, deit verweise
nh aus die Abhandlungen Friesland over lle grenrien, Band,
Volk en taal in West-Vlaanderen und Nederland in Frank-
r'jk en Duitschland in meinem Sammelwerke Ond Neder-
land, 'g (Iravenltage (Haag) 1888.
^) Bou Deuischen wird der Name dieser nicderlandischen,
an Deutschland grenzenden Provinz wohl Oberyssel geschrieben,
als ware eS ein Seitenstuck zu Oberrhein oder Oberweser. Das
>st falsch. Overyssel bedeutet Uberyssel,- das Land nber (jenseit)
der Asset, eigentlich vollstLndig: das Stift liber der Alllll nam-
vch jener Teil des alien Stifles (Bistunts) Utrecht, der jenseit
oer Asset lag, im Gegensatze zum Hauptteil des Bistums, der
sich rund utn die Stadt erstreckte und der Hauptsache nach die
Drente wohnt. Auch diese Bevölkerung, die im ganzen
nördlichen Teile der Provinz Overyssel wohnt, im altfrie-
fischen Melgau, bis an die Thore der Stadt Zwolle und
in der Umgegend der Stadt Kämpen (de Kuinder, Steen-
wijk, Blokzijl, Zwartsluis, Aiastenbroek und Umgegend um-
fassend), und ferner noch die Bevölkerung des Nordzipsels
der Provinz Gelderland an der Meeresküste im Gau Over-
Veluwe, die Umgegend der Stadt Elburg bis nach Harder-
wyk, ist friesischen Ursprungs. Unzweifelhaft war dieses
auch der Fall mit dem Volke, welches das untergegangene
Land in diesen Gauen bewohnte, zwischen Vollenhove, Urk und
der Lemmer, von dem noch die Insel Schokland der letzte
Rest ist. Doch sind diese Overyssel'schen und Gelder'schen
Friesen, diese Melfriesen, nicht von dem gleich reinen Friesen-
stamme, der im friesischen Hauptlande sitzt. Sie zeigen
einigermaßen veränderte Kennzeichen und namentlich haben
sie sich vielfach mit ihren nächsten Nachbarn vermengt, mit
der sächsischen Bevölkerung in den höher gelegenen Teilen
von Overyssel und Gelderland und mit den Nachkommen
der alten salischen Franken, die noch im Salland an der
Pfsel zwischen Kämpen und Deventer wohnen. Aus dem
Namen des uralten Dorfes Oldemark im nördlichsten Zipfel
Overyssels, an Frieslands Grenze gelegen, läßt sich erkennen,
daß diese Melfriesen in der That kein Stamm sind, der
mit den echten, reinen Friesen des friesischen Stammlandes
eines Ursprungs ist. Dieser Name bezeichnet nämlich alte
Grenze, alte Volksgrenze:).
Dieses alles gilt auch von der friesischen oder friesen-
artigen Bevölkerung, die in der Provinz Drente wohnt, in
der Umgegend der Stadt Meppel östlich bis Hoogevecn;
ferner längs der drentisch-friefischen Grenze zwischen Bceppel
und Assen und nordwestlich von Assen in dem an Friesland
und Groningerland grenzenden Strich.
Alle die hier aufgeführten Friesen und Friesengenossen
kann man daher nicht zu den reinen, nnvermischten Friesen
rechnen. Unzweifelhaft reine Friesen aber, so gut wie im
Stammlande zwischen Flie und Lauers, waren jene in den
Gauen zwischen Rekere und Flie (Westfriesland) und die
zwischen Lauers und Ems (Groningerland), wie oben S. 20
bereits näher auseinandergesetzt wurde. Eine kleine, aber wich-
tige Ausnahme in Bezug ans das Friesentnm der Bevölkerung
macht hier die Hauptstadt Groningen. Die alte Bürger-
schaft dieser Stadt stammte ans sächsischem, westfälischem
Blute, abgesehen von den altfriesischen adligen Geschlechtern,
die vom Platten Lande ans, von ihren „Stinsen“ (befestigtcn
Türme) und „Burchtcn" in der blühenden Hauptstadt sich
niedergelassen hatten. Die sächsischen Einwohner Groningens
bildeten im friesischen Gebiete einen Vorposten des sächsischen
Volkes, der sick) ans einen Ausläufer des hohen Drentschcn
Sandrückens, der Geest, in die friesische Marsch hinein
niederließ; es ist dieses ein langgestreckter, steiniger, hoher,
von Drente aus nordwärts ziehender Sandrücken, der soge-
nannte Hondsrug, auf dem die Stadt Groningen erbaut ist.
Vieles aus alter und neuer Zeit, was sich ans die Eigen-
artigkeit in Volksleben und Sprache der Friesen in West-
friesland und Groningerland als Beweis ihres friesischen
Ursprungs bezieht, muß ich hier übergehen. Sie brauchen
auch nicht besonders hervorgehoben zu werden; sie liegen klar
zu Tage vor dem Geschichtsschreiber, dem Altertumskundigeu,
dem Volkskundigen und Sprachgelehrten.
heutige Provinz Utrecht bildet. Overyssel liegt gerade an der
llnteryssel; die obere Assel fließt in Gelderland uno Deutschland
(bei Asselborg). Ein deutsches Oberyssel mußte niederländisch
Boveuyssel unv nicht Overyssel heißen.
x) Auf vielen deutschen und niederländischen Karten sindet
man den Namen fälschlich „Oldemarkt" geschrieben, als sollte
er „Alter Marktplatz" bezeichnen.
33
Iohan Winkler: Friesland, Friesen und friesische Sprache in den Niederlanden.
Wir wollen jetzt auf das eigentliche Friesland zwischen
Flie und Bauers näher eingehen. Dazu möge uns ein
Deutscher, Dr. Karl Freiherr von Richthofen, der die
friesischen Rechtsquellen (Berlin 1840) veröffentlichte, er-
mutigen. Er sagt: „Die Römerzeit kennt als Hauptland
der Friesen die heutige niederländische Provinz Friesland.
Schars unterscheidet Sprache, Recht und Sinnesart den
Friesen von seinen Nachbarn; ein Jahrtausend hat nicht
vermocht, seine eigentümlich starre Kraft zu brechen; noch
heute ist sie den Nachkommen der alten Friesen geblieben.
In der jetzt niederländischen Provinz Friesland, deren
Mittelpunkt Leeuwarden bildet, kennen wir keinen Volks-
stamm, der vor den Friesen dort gesessen hat; und wenn
wir auch annehmen müssen, daß vor ihnen dort andre
Menschen gewohnt haben, so hat doch keine deutsche Bevöl-
kerung irgend einer andern Gegend größere Ansprüche für
Ureinwohner zu gelten, als die jenes merkwürdigen Küsten-
striches zwischen dem Flie und dem alten Laubach (Lauers),
der im Osten die Provinz Friesland von der Provinz
Groningen scheidet. Mit Fug und Recht nennen wir dieses
Land für den Forscher ältester deutscher Volksart einen
heiligen Boden."
Ja, gewiß, es ist ein heiliger Boden, dieses alte Stamm-
land der Friesen, nicht allein für die Friesen, sondern für-
alle Germanen!
Ein Land voller geschichtlicher Erinnerungen an das
eigentümlichste, das edelste Volk der Germanen — ein Land
voller alter Überreste, was die Bodcnbeschafsenheit betrifft
(Terpen), was alte Bauten (romanische Dorfkirchen des
elften und zwölften Jahrhunderts in Jelsum, Oudega in
Smallingerland und viele mehr) und andre Kunstwerke
angeht, die heute noch dastehen oder gelegentlich dem Boden
entrissen werden.
Ein Land, dessen Bewohner dort seit ihrem ersten Auf'
treten in der Geschichte aus dem Erbteil der Väter saßen —
ein Volk, das seinen Adel findet und beweist in der großen
Liebe, mit der es an seiner Volkseigenart hängt, in dem
zähen Beharren an derselben gegenüber fremden Einflüssen
— ein Volk, das an seiner alten Sprache trotz so vieler
schädlicher äußerlicher Einwirkungen festhält, nicht nur als
Ümgangs- sondern auch als Schriftsprache, und das, im
litterarischen Sinne, diese Sprache noch mit Vorliebe ge-
braucht.
Ein Land endlich, reich gesegnet, schön und fruchtbar,
voller Abwechslung und lieblicher Naturschönheiten, mit
Weiden und Ackern, mit Seen uub Strömen, mit Wald
und Heide, als freies Eigentum von einem kräftigen, frischen,
tüchtigen und ehrbaren Menschenschlag, der in elf größten-
teils blühenden Städten und hunderten von wohlhabenden
Dörfern oder in vielen hundert schönen, gut unterhaltenen
Landsitzen wohnt.
So liegt das Stammland der „freien Friesen", der edlen
„Standfriesen" da zwischen seinen uralten Gaugrenzen Flie
und Lauers, zwischen den unfruchtbaren hohen Veenen und
dürren Heidestrecken, die nach Süden zu der Sachsen Erbteil
ausmachen, und der endlos scheinenden Wasserfläche der ruhe-
losen ^Nordsee und der stillen träumerischen Zuiderzee; an der
Meeresküste umsäumt von einem starken Gürtel kostbarer,
hoher Seedeiche, von tüchtigen, kunstvollen Wehren gegen
den kräftigen Wogenschlag der Nordsee, die ihre erste Kraft
in blinder Wut schon zum Teil am stachen Strande und
den weißen Dünen der lieblichen Nordseeeilande einge-
büßt hat.
Mit Recht rühmt jauchzend daher auch der Friese —
und der Schreiber dieser Abhandlung, ein Vollblutfriese aus
altfriesischem Geschlechte in Friesland geboren, stimmt von
Herzen dabei ein:
J>et äld skier land, fol skiente end greatheid,
Det foar elts each as pronkbild bleat leit,
ls Friesländ, is üs Heiteländ! I
Kein Land in der Welt hat seit seinem geschichtlichen
Bestehen so viel Bodenveränderungen durchgemacht als Fries-
land im allgemeinen. Ganz besonders ist dies im stärksten
Maße bei Friesland zwischen Flie und Lauers der Fall, so-
wohl an der Küste als im Binnenlande. Sturmfluten,
Teichbrüche, Überschwemmungen, durch die ausgedehnte Land-
schaften untergingen, Durchgrabungen und Trockenlegungen
haben von grauer Vorzeit durch das Mittelalter bis auf
unsre Tage die Gestalt des Landes wesentlich umgestaltet
und verändert.
Wenn aber auch das salzige wie das süße Wasser dem
Friesenland ein mächtiger und gefährlicher Feind war, gegen
den unaufhörlich sich die Bevölkerung zu wehren hatte, so war
dasselbe Wasser doch wieder ein Freund, der reiche Gaben
brachte. Wenn auch die Sec das Land an der einen Küste
zernagte und unterspülte, zum Verderben, ja ganz zum Unter-
gänge führte, so häufte doch dieselbe See an andern Ufern
wiederum breite und dicke Lagen von fruchtbarem Schlick
und Schlamm an. So bildete sie breite Untiefen, große
Flächen, die beim Wechsel von Ebbe und Flut halb über
halb unter dem Wasser liegen. Durch andauernde Zufuhr
von Seekleischlamm hoben sich diese Kleibänke höher und
höher über den Wasserspiegel der Ebbe, bis sie von der ge-
wöhnlichen Flut nicht mehr überspült wurden — also trocken
gelegt und eingepoldert werden konnten. So ist im Westen
Frieslands im Flie viel Land verloren gegangen mit den
Städten Grind (jetzt nur ein unbewohntes Jnselchen zwischen
Harlingen und Ter Schelling, aber 1222 noch mit Wüllen
und Gräben versehen, mit theologischer Schule und ansehn-
licher Kirche), Westworkum, de Grebbe und den Dörfern
Westerbierum, Dykshorn, Goeseind, Lammoer u. s.w. Auch
östlich im Lauersee (Esonstad) und südlich in der Zuiderzee
(Bantega, Lemstrahorn) ging viel Land verloren. Dagegen ist
ein breiter und mächtiger Seearm, der tief von Norden her
in Friesland eindrang, ganz zu Land geworden. Er begann
mit breiter Mündung zwischen Minnertsga und Hallum und
verlies fernerhin zwischen Bcrliknm und Sticns, Marsum
und Leeuwarden, Weidum und Wirdum, Oosterwierum und
Rauwerd bis in die Nähe der Städte Sneek und Bols-
ward. Dieser Arm hieß die Middelzee oder nach dem in
ihn mündenden Flüßchen Boorn, das Boorndiep oder Boer-
diep; er schied den Oster- und Westergau (fr. Eastergoa und
Westergoa) voneinander. Diese zwei Gauen sammt einem
dritten im Süden, Siebenwälder (friesisch Sawnwälden,
altniederdeutsch Sevenwolden) genannt, bildeten zusammen
von altersher Friesland zwischen Flie und Lauers. Im
späten Mittelalter wurde diese Middelzee, die nach und nach
durch eingeschwemmte Seeschlick aus der Nordsee ausgefüllt
wurde, nach und nach eingedeicht und trocken gelegt, ein
Werk, das, abgesehen von der Ncündung zwischen Berlikum
und Stiens, im Jahre 1300 vollendet war. Hierdurch
wurde ein breiter, fruchtbarer Landstrich gewonnen, der noch
heute unter dem Namen Nyland bekannt ist, ein Name, der
auch noch an dem Dorfe Nyland haftet, das zwischen Bols-
ward und Sneek auf dem alten Boden der Middelzee erbaut
ist. Die breite Ncündung der Middelzee, an welcher das
seitdem untergegangene Städtchen Utgong lag, wurde erst
zwei Jahrhunderte später eingedeicht und in die heutige
Landgemeinde (Grieteny) bet Jlildt verwandelt.
Die in unsern Tagen mehr und mehr vervollkommneten i)
i) Jenes altersgraue Land voll Schönheit und Größe, das
für jedes Auge als Prunkbild offen liegt, ist Friesland, ist unser
Vaterland I. G. van Blom, Friesländ.
39
Johan Winkler: Friesland, Friesen und friesische Sprache in den Niederlanden.
Deiche und Seewehren haben dem vernichtenden Einflüsse
der wilden Meeresgewässer Ziel und Grenze gesetzt; die An-
schwemmung von neuem Lande dauert stetig fort, namentlich
in den Watten, den Seeuntiefen, die sich zwischen dem frie-
sischen Festlande und den Nordseeinseln ausdehnen. Daraus
kann man mit gutem Grunde, ja mit Sicherheit schließen,
daß die Inseln, namentlich Ameland, in nicht allzuferner
Zeit durch fruchtbare Polder mit dem Festlande verbunden
werden.
Auch das Binnenwasser hat in Friesland große Ver-
änderungen verursacht. Große inmitten des Landes gelegene
Bodenflächen, die in alter Zeit, um das Jahr 1000, noch
mit Wald bedeckt waren, wurden durch langsam eintretende
Erhöhung des Wasserstandes, durch Vcrveennng des Bodens
in Neuen (Binnenseen), Sümpfe, Teiche und Moräste um-
gewandelt. Noch ist der alte Waldreichtum dieser jetzt so
wasserreichen Gegenden Mittelfrieslands aus den vielen
mächtigen Stämmen erkenntlich, die man gelegentlich ans
dem weichen Moorboden, aus den Seen und Sümpfen heraus-
baggert. Auch erkenntlich ans den hier befindlichen Ortsnamen:
Suawoude (woud, woude niederl. für Wald; friesisch wald,
gesprochen woa’d), Eernewoude (fr. Earnewalde, gespr.
ungefähr Jennewoa’d), Henswonde, Ljmswoudc, Lippen-
woude, Woudsend (fr. Waldsein), Oostwoude, Kolderwolde,
mit den Gaunamen I)e lege Waiden und de Igewälden.
Auch die Gewinnung des als Brennstoff in Friesland und
dem eigentlichen Holland sehr geschätzten Torfes im großen
Maßstabe, wodurch viele zum Teil unter dem gewöhnlichen
Wasserspiegel liegende ausgedehnte Veengründe tief ausge-
graben wurden, verursachte die Entstehung vieler Binnenseen
und Sümpfe, die heute durch die rastlos an der Veränderung
und Verbesserung ihres Landes arbeitenden Friesen wieder
trockengelegt und eingcpoldert werden.
Die den Boden Frieslands bildenden Grundarten sind
schwere und leichtere Klei im Norden und Westen, hohe
und niedrige Sandgründe und hohe und niedrige Veenen
(fr. Heeg und Leeg Fean) tut Osten und Süden. Der
Friese unterscheidet diese beiden Bodenarten als Flaei und
Waiden, was völlig mit dem übereinstimmt, was die
Friesen und Friso-Sachsen Deutschlands Marsch und Geest
nennen. Während aber in den deutsch-friesischen Gauen
Marsch und Geest gewöhnlich dicht aneinandergrenzen, sind
Flaei und Waiden durch einen breiten Strich von Moor-
gründen geschieden, durch ausgedehnte, meistens schon ans-
gegrabene Veenen, die mit großen Binnengewässern und
hunderten von Teichen und Sümpfen abwechseln, die ihrer-
seits durch kleinere imd größere Flußläufe in Verbindung
stehen. Nur im Nordosten, bei Dokkum und Kollnm, grenzen
auch hier Marsch und Geest, Flaei und Waiden unmittel-
bar aneinander.
Dieser Strich niedrigen Moorbodens, den die Friesen
das Wettirländ (gespr. Wettirloan), Wasserland, nennen
und der in der Umgegend des Dorfes Eernewoude, weiter
zwischen Grou und Oldeboorn (fr. Aldeboarn, gewöhn-
lich einfach Uoarn genannt, gesprochen Boon), zwischen Sneek
und de Joure, rundum Heeg und Woudsend seine größte
Ausdehnung hat, erstreckt sich quer durch Fricsland von
Stroobos an der Grenze von Groningerland im Nordosten
bis nach Staveren im Südwesten. Es umfaßt alle die
großen Binnenseen: Bergumermecr, Sneekermcer, Tjcuke-
meer, Slotermcer, Flueßen (fr. Birgumermar, Snitser-
mar, Thieukemar, Sleatemermar, Fljüesen), und die
vielen Teiche und Sümpfe, die diesem Teile Frieslands ein
so kennzeichnendes Gepräge verleihen.
Das friesische Wettirland zeichnet sich durch saftige
Viehtriften und Heufelder aus, die mit den ausgezeichneten
Weiden und Wiesen auf den: leichteren Kleibodcn südlich
von Harlingen, Franeker und Leeuwarden in der Richtung
auf Sneek, rundum um Bolsward und ans Workum hin
(die sogenannte Greidhoek) für die berühmte Viehzucht
und die Molkerei der Friesen den geeigneten Boden liefern.
Der schwere Kleiboden nördlich von Harlingen, Franeker,
Leeuwarden und Dokknm, die sogenannte Bouhoek, dient be-
sonders zum Anbau des Getreides, der Ölsamen, Kartoffeln
und Cichorie, und bei Berlikum zur Obstzucht. Die im
Osten und Süden gelegenen Sand- und Veengründe dagegen
werden namentlich zum Anbau des Roggens und Buch-
weizens benutzt, auch zu etwas Waldwirthschaft. Viehzucht,
Milch- und Käsewirtschaft breitet sich jetzt aber auch mehr
und mehr aus, auch über den schweren Kleibodcn im Norden
und über den Sand- und Veenboden im Südosten.
Der Moorstrich inmitten des Landes ist ein Paradies
für den Fischer und Wasserwildjäger, aber nicht minder
durch seine eigenartige Schönheit ein Paradies für den Freund
einfach lieblicher, stiller, fast träumerischer Naturschönheit.
Einzig schön, zumal bei Sonnenauf- und Untergang ist die
fast unbegrenzte Fernsicht über die hellgrünen Weiden mit
ihrem in ungestörter Ruhe grasenden Vieh, über die end-
losen einsamen Wiesen, über den blinkenden Wasserspiegel
der zahllosen Binnenseen und Teiche mit ihrem breiten,
wogenden, goldbraungefiederten Rohrsaume.
DaS friesische Wasserland steht einerseits in reizvollen!
Wechsel mit dem hohen Sandboden im Süden, wo stattliche
Wälder, lieblich duftende Bnchweizenfelder und wogende
Roggenäcker das Auge entzücken und andrerseits mit dem
schweren Kleibodcn des Nordens, der, obschon fast ganz
baumlos, doch durch die verschiedenen dort gedeihenden Feld-
früchte Abwechselung bietet — alles überwölbt von dem
schönen, formreichen in verschiedenen Farben und Lichtern
strahlenden Wolkenhimmel, mit dem nebelig verschwimmen-
den Horizont, welcher der niederländischen Landschaft einen
so anziehenden Ausdruck verleiht. Und endlich die Secküstc
und die Nordsceeilande niit all ihren herrlichen Schönheiten,
welche die gewaltige Nordsee, die stille Zuiderzee bieten!
Wahrlich! Friesland ist ein schönes Land, lieblich und
anziehend für jeden, der ein offenes Auge, ein empfängliches
Gemüt für stille, einfache Naturschönheiten hat, welche durch
ihre Farbenverteilnng bei wechselnder Beleuchtung, eine
dichterische, fast wehmiitige Stimmung erwecken. Keines-
wegs verdient Friesland die Schmach ein plattprosaischcs,
eintöniges, langweiliges Land genannt zu werden ■— eine
Schmach, die nur von nüchternen, gefühllosen Seelen diesem
abwechselungsreichen Boden angethan werden kann. Dahin
gehören Seelen wie Voltaire, der ganz Holland bespöttelte
als un pays de canaux, canards et Canaille — war
das französischer esprit? oder nur die gewöhnliche, liebens-
würdige französische Uberhebung? — oder der lateinische
Dichter Euricius Cordns (16. Jahrh.) der von Fries-
land reimt:
Qui laudata aliis, placeat mihi Frisia, quaeris?
Non adeo male, ai bos vel anas f’uerim.
Was denkt von Friesland Ihr und wie
Gefällt es Euch? — Recht gut! Wär' Ent' ich oder Vieh.
40
Franz Kraus: Der Schlund von Padirac.
Der Schlund von padirac.
Von Fran
Schon einmal *) waren wir in der Lage, über die inter-
essanten Forschungen in den Cevcuneu zu berichten, welche
eine ganz neue Welt erschlossen haben. Damals war jedoch
der neuentdeckte unterirdische Flußlauf, welcher sich am Grunde
des Schlundes von Padirac befindet, noch nicht bis zu seinem
Ende verfolgt worden. Dies geschah erst am 9. September 1890
durch den Entdecker Herrn E. A. Märtel und seine Begleiter
bei vielen andern derartigen waghalsigen Expeditionen.- Herr
5 Ar aus.
Märtel hat über seine Erfolge in französischen Zeitschriften
mehrfach berichtet und der glückliche Umstand, daß einer seiner
Begleiter, Herr M. G. Gaupillat, eine große Geschicklichkeit
im Photographieren von Höhlenräumen besitzt, gestattet ihm,
seine Aufsätze mit höchst lehrreichen Abbildungen auszustatten,
von denen wir heute einige vorzuführen in der Lage sind l).
Der Schlund von Padirac liegt in dem „Cau88e de
Gramat“ genannten Teile der Ccvennen im Departement
Fig. 1. Eingang in den Schlund von Padirac.
„Lot", unweit vom Walfahrtsorte Rocomadonr, und ist unter
diesem Namen auch in der französischen Generalstabskarte
eingezeichnet. Wie Abbild. 1 zeigt, öffnet sich dieser Schlund
ganz unvermittelt im freien Felde, und gehört unzweifelhaft
zu den durch Einsturz entstandenen Schlünden, wofür nicht
nur der bedeutende Durchmesser von 65 ru am Grnnde spricht,
sondern auch die aus den Abbildungen ersichtlichen scharfen
Brüche, und wohl am deutlichsten der mächtige Schuttkegel,
welcher noch unberührt cuu Grnnde des Schlundes liegt
(Abbild. 2). Herr Märtel, der sonst die Bildung der Schlünde
gern andern Ursachen zuzuschreiben liebt, erkennt selbst an,
daß hier keine andre Erklärungsart zulässig ist. Die Tiefe
des senkrechten Abfalles bis zum höchsten Punkte des Schntt-
kcgels beträgt vom Tage aus gemessen 54 na. Rund um
den Gipfel des Kegels sind die Tiefen bedeutender (62 bis
75 na). Im Süden und im Norden öffnet sich je ein großes
Portal. Das südliche hat nicht weniger als 25 na Höhe ans
10 na Breite. Rechnet man dazu die Mächtigkeit der Auf-
füllung durch den Schuttkegel mit mehr als 40 na, so kann
man beurteilen, welch gewaltiger Hohlranm hier einst bestanden
haben mag. Dem schon früher veröffentlichten Plane, des
Schlundes nach, dürften hier einst sich zwei Arme einer
Höhle vereinigt haben, von denen der Seitenarm gänzlich
verschüttet wurde, während die Firste des geräumigen Haupt-
ganges nach beiden Richtungen frei blieben. Solche Ber-
einigungspunkte neigen stets sehr zu Einstürzen, wie man
i) Globus, Bd. LVIII, S. 12.
u Bergl. Tour du Monde, Bd. LX, S. 401 (1890),
Franz Kraus: Der Schlund von Padirac.
41
dies am Karste wiederholt festgestellt hat. Der Flußlauf am
Grunde der Höhle kommt aus dem Südaste, wo er aber
nur 160 na weit verfolgbar ist, denn die Decke taucht am
Ursprünge unter das Wasser. Ob genügendes Gefälle vor-
handen ist, um das Niveau des Tümpels an jener Stelle
so weit zu erniedrigen, daß die Decke frei werde, erwähnt
keine der Beschreibungen, theoretisch gesprochen, kann aber
hier nicht das Ende des Oberlaufes sein.
Der hier entspringende
Fluß bohrt sich durch den
Schuttkegel bei niedrigem
Wasserstande; bei Hoch-
wasser übersteigt er den-
selben zeitweise, wenn die
engen Zwischenräume zwi-
schen den Blöcken für den
Wasserandrang nicht mehr
genügen, und stürzt sich
über denselben hinweg in
den nördlichen Hauptgang.
Es muß dies selten der
Fall sein, denn Herr Martel
erwähnt ausdrücklich, daß
er nach 14 Monaten die
Fußspuren im Höhlenlehm,
welche von der ersten Ex-
pedition herrührten, noch
deutlich erkennen konnte, un-
geachtet sie kaum 1 m über
dem Niederwasserstande sich
befanden. Der nördliche
Hauptgang fällt im Anfange
schlundförmig ab. In einer
Tiefe von 103 m (vom
oberen Schlundrande aus
gemessen) erscheint der Fluß
wieder, dessen Erforschung
am Tage der Entdeckung
(9. Juli 1889) längs der
Ufer versucht wurde, was
nur insoweit gelang, als
festgestellt werden konnte,
daß die Höhle sich noch
weiterhin fortsetze, aber nur
mit Hilfe eines Bootes ver-
folgbar sei. Am nächsten
Tage wurde daher das mit-
gebrachte zerlegbare Osgood-
boot (Crocodile genannt) in
die Höhle geschafft, und auf
diesem gelang unter unbe-
schreiblicher Mühe und Ge-
fahr ein Vorstoß bis auf
2000 ra vom Eingänge.
Diese Fahrt wurde nur von
den Herren Martel u. Gau-
pillat unternommen. Jni
Anfange floß das Wasser
so sanft, daß die Entdecker diesem Teile des Flusses den
Namen rivière plane gaben. Nach 425 m kam die erste
Stromschnelle, die aber unbedeutend war, dann folgten pracht-
volle, mit Tropfstein ausgekleidete Räume, in denen der Fluß
sich zu kleinen seeartigen Becken erweitern konnte. Schwieriger
gestaltete sich die weitere Fahrt, denn es zeigten sich viele
Stromschnellen, welche durch Barren aus Tropfstein hervor-
gerufen wurden, die sich quer über den Flußlanf legten, wie
es Abbild. 3 auf der folgenden Seite zeigt.
Fig. 2. Inneres des Schlundes mit dem Schuttkegel.
Diese aus kristallisiertem Calcit bestehenden Dämme von
verschiedener Höhe (von wenigen Centimetern bis zu mehreren
Metern) bilden sich nur dort, wo mit Kalk gesättigtes Wasser
sich befindet. Bei der Verdunstung wird der überschüssige
Kalk ausgeschieden und zur Kristallisation gezwungen. In
Wasserhöhlen mit ununterbrochenem Wasserlauf sind diese
Bildungen freilich schwer erklärbar, allein bei periodischer
Wasserzirkulation sind sie nicht sehr selten. Schöne, leicht
erreichbare Beispiele trifft
man auch in den Karst-
grotten, insbesondere in der
Adelsberger Grotte und in
der Grotte bei Castun. Es
muß auch in der Höhle
von Padirac Zeiten geben,
in denen nur übersättigtes
Wasser sich in diesen Tüm-
peln befindet, welches den
Überschuß in Kristallform
absetzt. In dem im Mo-
nat April 1891 entdeckten
neuen Gange der Adels-
berger Grotte kann man
die Bildung dieser rundum
mit prachtvollen Calcit-
kristallen ausgekleideten
Wassertümpel gut studieren.
Die Wände, der Boden
und alle in die Tümpel ge-
fallenen Fels- oder Tropf-
steinstücke sind mit Kri-
stallen überkleidet und gleich
einem Korallenriffe wächst
diese Masse empor zu einem
kompakten Aggregate, welches
auch einem starken Wasser-
schwalle Widerstand zu lei-
sten vermag. Wie es durch
die Eutstehungsweise dieser
Dämme bedingt ist, sind
ihre Ränder eben. Sie
wachsen durch Überrieselung,
während die ausgebildeten
Kristalle an der Innenseite
anschießen. Herr Märtel
nennt die Bassins zwischen
diesen Barren, „gours“,
was der in den Alpen vor-
kommenden Bezeichnung
„Tumpf" entspricht. Das
Befahren eines solchen mit
mehr als 30 solcher Hinder-
nisse bespickten Flusses ist
keine leichte Sache, wenn
derselbe noch überdies Engen
enthält, durch welche das
Boot kaum durchzuzwingen
ist und niedrige Durch-
gänge, wie jener, den Abbild. 4 zeigt. Bei der ersten Fahrt
fiel Herr Märtel vom Kamme einer Calcitbarre in das
Wasser und verdarb seinen Zündholzvorrat, dies war auch
teilweise die Ursache, daß die beiden Forscher nur bis zur
34. Stromschnelle gelangten. Die vollständige Entdeckung des
befahrbaren Teiles des Flusses erfolgte erst später in größerer
Gesellschaft und mit vollständigerer Ausrüstung, worunter
besonders drei Boote anstatt eines einzigen.
Unter denselben Mühen wie bei der ersten Fahrt gelangte
Globus Ui. Nr. 3.
6
42
Franz Kraus: .Der Schlund von Padirac.
Fig. 3. Tropfsteinbarren im unterirdischen Flußlaufe.
Franz Kraus: Der Schlund von Padirac.
43
die Expedition bei der zweiten bis zur 36. Stromschnclle,
von der aus es keine Hindernisse mehr gab. Diese 36. Strom-
schnelle ward für Herrn Märtel insofern verhängnisvoll, als
er von ihr aus in das Wasser fiel, welches sehr kalt war.
Bald darauf verlor sich der Fluß in einer engen Spalte.
Eine trockene Höhle führte nach 200 m wieder zum Flusse.
Als ein Boot herbeigeschafft worden war, bestieg Herr Märtel
mit einem Arbeiter trotz der Übermüdung dasselbe, um dcu
11. größeren See zu übersetzen, auf den eine kleine Ver-
engung, und darauf der 12. See folgte, der 60 m lang war
und in eine Sandbank anslief. Außer einem kurzen, auf-
wärtssteigenden Höhlenstumpfe zeigte sich keinerlei Fortsetzung.
Herr Märtel nimmt an, daß hier das Ende der Höhle sei,
was aber nicht denkbar ist, denn die gewaltigen Naturkräfte,
welche die großartigen Räume ausgehöhlt haben, können nicht
an dieser Stelle so plötzlich ihre Kraft eingebüßt haben. Es
ist vielmehr anzunehmen, daß irgend ein Hindernis den
weiteren Verlauf der Höhle verlegt habe. Ob dasselbe in
einem Einbrüche der Decke, oder in der Verlegung einer
Enge durch Einschwemmung bestehe, müßte erst eine genaue
Untersuchung erweisen. Nachdem ein Plan der ganzen Höhle
vorliegt, so wäre es möglich, die Stelle oberirdisch aufzufinden,
an welcher die Höhle aufhört. Vielleicht befindet sich dort
ein eben solcher Schlund wie jener von Padirac, dessen Schutt-
kegel die Fortsetzung der Höhle so gründlich abgesperrt hat,
daß nur das Wasser durch die Klüfte zu sickern vermag, ohne
daß für Menschen passierbare Gänge offen geblieben sind.
Auch können ähnliche Seitengänge gefunden werden, wie jener
vor dem 11. See, die wieder zum Wasser führen.
Die Fahrt einschließlich der Rückkehr bis zur Stelle, wo
der Fluß aus dem Schuttkegel des Schlundes tritt, erforderte
16 Stunden, während welcher weder gerastet, noch Speise
Fig. 4. Niedriger Tunnel mit Barren des unterirdischen Flußlaufcs.
und Trank genommen werden konnte, denn die Zeit war zu
kostbar. Daß unter solchen Umständen die Erforschung sich
nur auf den Hauptgang beschränken durfte ist klar, die Einzel-
untersuchung wird aber noch viel Wichtiges zutage bringen,
wenn einmal die beabsichtigte Gangbarmachung des Schlundes
durchgeführt sein wird, welche Herr Märtel beabsichtigt, zu
welchem Zwecke er auch das Eigentumsrecht des Schlundes
erworben hat. Nachdem Herr Märtel und seine Begleiter die
Bahn gebrochen haben, werden seine Nachfolger nach dem
Hinwegfallen des schwierigen Abstieges leichtes Spiel haben.
Eine so bedeutende Höhle wie jene von Padirac, kann nicht
auf einer einzigen Fahrt erforscht werden. Die Adelsberger
Grotte ist wohl der beste Beweis dafür, daß selbst in vielfach
besuchten Höhlen Schlupfe bestehen können, die zu neuen Ent-
deckungen führen, und auch Padirac dürfte seine Seitengäuge
haben, deren Entdeckung einer späteren Zeit vorbehalten ist.
Daß Herrn Märtel die Verfolgung keines einzigen unter-
irdischen Wasserlaufes bis zu seinem Austritte gelungen ist,
mit Ausnahme des „Bonheur", darf ihn nicht entmutigen,
denn es ist, wie die Erfahrung gelehrt hat, nur in den
seltensten Füllen eine Verfolgung stromabwärts durchführbar.
Viel leichter ist dies in der entgegengesetzten Richtung, und
es ist auch weit ungefährlicher. Die mutmaßlichen Mün-
dungen der verfolgten Wasscrläufe liegen noch mehrere Kilo-
meter weit ab. Diese Quellen sind zumeist, gleichwie am Karste,
künstlich gestaut und ein Vordringen von ihnen aus wäre
nur nach Beseitigung der Mühlenwchren möglich. Zur
Forxirung der Gurkquelle wurde die Mühle an der Grotte
von Obergurk vom Landesausschusse von Krain für die Dauer
der Arbeiten gepachtet, und hofft man durch Tieferlegung des
Quellenspiegels das Hindernis überwinden zu können, welches
in einem Syphon besteht, der allem Anscheine nach nicht sehr
tief ist. Auf ähnliche Weise könnte auch in den Cevennen
vorgegangen werden. Sehr erwünscht wäre auch eine hydro-
graphische Karte, in welche die neuentdeckten unterirdischen
Wasscrläufe eingezeichnet sind. Erst diese würde es gestatten,
6*
44 Franz. Ehrung für Adolf Schlagintweit. — H. Seidel: Das englisch-portugiesische Grenzabkommen.
zu beurteilen, welche Quellen mit den unterirdischen Wasser-
laufen in Verbindung stehen können.
Es giebt außer den von Herrn Märtel entdeckten unter-
irdischen Flußlaufen, deren Ursprung und Mündung unbe-
kannt ist, in den Cevennen auch Schlnndbäche, die einen
mitunter mehrere Kilometer langen oberirdischen Lauf haben
und welche in Höhlen verschwinden, die bis 1890 noch un-
erforscht waren. Selbstverständlich lockte dies den uner-
schrockenen Forscher, und er machte sich daran, die noch von
niemand betretenen Raume zu untersuchen; weiter als 400 m
vorzudringen, gelang ihm nirgends, und dies führte ihn zur
Ansicht, daß diese Höhlen nur blasenförmige Quellenreservoire
seien, welche durch enge Klüfte das Wasser allmählich an die
entfernten tiefer liegenden Quellen in den Thalfurchen ab-
geben, und bestärkte ihn in der Ansicht, daß auch die Höhle
von Padirac nur ein solches Reservoir sei, und deshalb keine
Fortsetzung zn haben brauche. Dieser Irrtum ist insofern
gefährlich, als er leicht Herrn Märtel auf eine falsche Fährte
lenken kann, wodurch er die weitere Verfolgung der Grotte
von Padirac als hoffnungslos betrachten könnte, was durch-
aus nicht der Fall ist. Hat man ja doch 70 Jahre nach der
Entdeckung des neuen Teiles der Adclsberger Grotte und
35 Jahre nach den Untersuchungen von Sünnidt den Zu-
sammenhang der Adelsberger und der Ottokar Grotte, sowie
mehrere bedeutende Nebenhallcn und Gänge gefunden. Die
großen Erfolge traten erst ein, als man durch Kartographierung
der Höhlenzüge und der unterirdischen Flußläufe ein einheit-
liches Bild gewonnen hatte. Dazu bedarf es aber jahrelanger
Forschung. Jene in den Cevennen ist noch zn jung, um die
Frage der unterirdischen Wasserläufe als abgeschlossen be-
trachten zu dürfen, und cs steht noch ein weites Feld offen
für neue Entdeckungen von weittragender Bedeutung.
Französische Ehrung für Advlf Schlagintweit.
Herr Eduard Blanc hatte die Pariser Geogr. Gesellschaft
bei der Ausstellung in Taschkeud vertreten und dann einen
Abstecher nach Kaschgar gemacht an den Fuß des dort auf
Betreiben des Konsuls Petrowski seitens der russischen Geogr.
Gesellschaft für unsern Bruder Adolf errichteten Denkmals.
In der Sitzung vom 3. April berichtete Herr Blanc über-
feine Reise nnd stellte sodann den Antrag, cs wolle seitens
der Gesellschaft dem Monumente eine Inschrift, ähnlich in
Form und Inhalt wie die von der Petersburger Schwester-
Gesellschaft gewidmete Platte eingefügt und das unvoll-
kommene Kreuz auf seiner Spitze durch ein schön gearbeitetes
eisernes Kreuz ersetzt werden. „Von weniger einsichtsvollen
Zuhörern möchte ein Einwand von der Nationalität von
Schlagintweit als Bayer zu erwarten sein; auch könnte An-
stoß erregen, daß der Reisende bereits 1857 ermordet wurde
und daß er Katholik sei. Die deutsche Regierung hatte voll-
ständig recht, den Ruhm und das Denkmal für den Bayern
Schlagintweit für das ganze Reich in Anspruch zu nehmen
im Namen der deutschen Einheit; wir befinden uns in unserm
besondern Fache als Geographen, wenn wir die Verdienste
des Verblichenen in Anspruch nehmen für ganz Europa, ja
für die ganze Welt im Namen der Wissenschaft. Noch che
der Tod dein Reisenden ein neues Anrecht auf unsere Be-
wunderung gegeben hatte, wurde sein Name und der seiner
Brüder auf einer der Gedenktafeln in der Eingangshalle zn
unsern Sälen eingegraben, welche den hervorragendsten Reisen-
den gewidmet ist.
„Auf dem Schlachtfeldc der Wissenschaft giebt cs nicht
Gegner, sondern nur Mitarbeiter. Die Kritikeil der Deutschen
über die Unsrigen sind durchweg streng und selbst ungerecht;
wir wollen ihnen bei diesem Anlasse erwidern, wie es sich
für einen Franzosen ziemt, wie cs Männern der Wissen-
schaft ansteht und tute mau es von uns als Leuten von Ge-
schmack gewohnt ist: wir wollen einen ihrer ausgezeichnetsten
Angehörigen, dessen hervorragende Arbeiten, unermüdliche
Hinneigung zur Wissenschaft, große Kenntnisse und herr-
liche Entdeckungen der gesammten Menschheit zur Ehre ge-
reichen und der seine Arbeiten sogar mit seinem Tode krönen
mußte, die verdiente Huldigung und Bewunderung angedeihen
lassen, noch ehe die Deutschen selbst zur Niederlegnng einer
Gedcnkplatte an diesem Denkmal schritten."
Die Einsetzung eines Kreuzes wird damit gerechtfertigt,
daß die Eingeborenen ein solches nicht zn schmieden verstehen
nnd „daß Frankreich seit Jahrhunderten, getreu der Über-
lieferung, im Orient die glorreiche Aufgabe erfüllte, die erste
und am wenigsten selbstsüchtige Beschützerin der Zivilisation
ttttb des Christentums zu sein."
Vorsitzender in dieser Sitzung war Vizeadmiral Vignes;
derselbe dankte dem Berichterstatter dafür, „die Erinnerung
an die herrlichen Reisen der Brüder Schlagintweit wach-
gerufen zu haben" und erklärte, „es soll alles geschehen, lvas
möglich ist, um die Anträge wie gestellt zur Ausführung zu
bringen".
Der Pariser Verein ist die älteste aller geographischen
Gesellschaften; die Verhandlungen gereichen dem Antragsteller
wie der Versammlung zn hoher Ehre und hielt ich es für
meine Pflicht, der Anregung des geehrten Herrn Heraus-
gebers dieser Zeitschrift nachzukommen und diese überaus takt-
voll geführten Verhandlungen im Auszug hier bekannt zu
geben. Emil Schlagintweit.
Das englisch-portugiesische Grcnzabkommcn.
Von H. Seidel.
Der englisch-portugiesische Grenzstreit in Afrika ist endlich
als erledigt anzusehen, seit die Volksvertretung in Lissabon
jüngst den Abmachungen beider Kabinette zugestimmt hat.
Damit ist eine neue Verteilung des Machtbcsitzes, wie der
Interessensphären in Süd- und Mittelasrika zur Thatsache
erhoben, und das verpflichtet uns, diese Änderung in ihren
Hauptpunkten klarzulegen.
Portugal suchte von seinem früheren Eigentum natur-
gemäß soviel wie nur möglich zu retten, zuerst das Marntse-
Mambnnda-Reich im großen Sambesibogen, dann weiter öst-
lich die Distrikte in der Umgegend von Sumbo und dann, als
diese Wünsche kein Gehör fanden, ein Stück des von den
Briten usurpierten Landes südöstlich voin Nyassa und östlich vom
Schire. Vergebens. England ließ nur den Beweis gelten, daß
Portugal „nördlich von Tete begründete Ansprüche auf größere
Territorien habe, als ihm in der Note vom 20. August
vorigen Jahres zugestanden seien." Sonach erhält es jetzt
statt jenes schmalen Dreiecks, das zwischen dem Schire und
Zambesi eingekeilt lag und durch eine Linie von der Ruo-
müudnug (in den Schire) nach Tete abgeschnitten wurde, „a
large concession covering some 50000 square iniles“.
Die neue Grenze tauft von Schiwanga am Schire in ge-
wundcner Linie bis zürn Schnittpunkte des 14. Parallels
mit dem Meridian 33° 30' östl. v. Gr. Darauf biegt sie
nach Südwesten um nnd eilt der Stelle zu, wo der 15. Breiten-
kreis den Loanga (oder Loangwa) kreuzt nnd dann diesen
Fluß in der Mitte des Fahrwassers hinab nach Sumbo. Im
Süden des Zambesi folgt die Grenze meist der August-Linie,
d. h. sic läßt hier den 10-Meilen-Streifen südlich von Sumbo
für Portugal frei und zieht sich auch ferner noch etwas gen
Osten fort, worauf sie plötzlich scharf nach Südosten umspringt
und den Masoe oder Mazu-Fluß in 321/a0 östl. Länge er-
reicht. Von dort wendet sich die Grenze zwischen 3272° und
33° östl. Länge stracks südlich zum Parallel 1872° südl. Breite
und begleitet diesen westlich eine kurze Strecke lang bis an
A. Bastians neueste Reisen. — Friedr. S. Krauß: Alte römische und sächsische Bergwerke in Bosnien. 45
den Sabi. Alle Länder östlich vom 33. Meridian sollen zn
Portugal gehören, wohingegen westlich von 32" 30' die bri-
tische Herrschaft beginnt. Der Spielraum von einem halben
Grade ist mit Rücksicht auf die noch mangelhaften Orts-
bestimmungen gewählt und besonders auch deshalb, weil
Massi-Kessex) an Portugal, Mutassa aber an England fallen
soll. Vom Sabi streicht die Grenze schließlich ans den Lim-
popo zu, vor dem sie noch eine kleine westliche Ausbuchtung
beschreibt.
Durch diese Abmachung wird das englische Südzambesia
fast ganz von Nordzambesia und dem Nyassalande abgeschnitten.
Außerdem mußte der Limpopo im Unter- und Mittelläufe
den Portugiesen belassen werden, ebenso ein bedeutendes Stück
von König Gungunhamas Reich, welches die South Africa
Company mit Zustimmung der schwarzen Majestät bereits
als ihr wohlerworbenes Eigentum angesehen hatte. Die Ge-
sellschaft begehrt vorläufig zwar noch nicht das gesamte König-
reich; sie würde sich mit dem Strich zwischen dem Sabi und
Limpopo (bis zur Küste?) zufrieden geben, obschon „Gun-
gunhamas Besitz sich thatsächlich bis an den Busi erstreckt".
Darin, fürchten wir, wird die Chartered South African
Company Grund zu neuen Verwickelungen finden, was schon
in einem Satz der Times über diese Frage ziemlich unver-
blümt durchschimmert. „It is to be feared that if under
the new treaty the Portuguese should attempt to
bring any pressure to bear on the King mischief
would result.“
Über die Grenzen zwischen der englischen und der portu-
giesischen Interessensphäre in Zentralafrika hat die amtliche
„London Gazette" bei der Protektorats-Erklärung über Nyassn-
Land vom 14. Mai dieses Jahres nachstehende Angaben ver-
öffentlicht. Die Nyassa-Distriktc umfassen alle Gebiete, welche
im Osten und Süden durch die portugiesischen Besitzungen
begrenzt werden, im Westen durch eine Linie, die südlich von
dem Punkte beginnt, wo die portugiesische Grenze durch die
im Artikel I der Berliner Kongo-Akte festgesetzte Linie der
Freihandelszone geschnitten wird. Letzterer folgend, zieht
sich die Grenze nördlich zu dem im selben Artikel näher be-
zeichneten geographischen Südrand des Kongo-Beckens fort,
den sie bis zur Scheide der deutsch-englischen Interessensphäre,
wie solche nach dem Abkommen vom 1. Juli 1890 nieder-
gelegt ist, begleitet. Genauer ausgedrückt, soll die Grenze
von den Katimasällen des Zambesi ihren Anfang nehmen;
sie streicht dann, immer in der Mitte der Stromrinne, nörd-
lich um das Marutse-Mambunda-Reich und trifft zuletzt auf
einer durch eiue beiderseitige Grenzkommission endgültig zu
fixierenden Linie den südlichen Kongostaat.
Adolf Bastians neueste Reisen.
Adolf Bastian, von seiner anderthalbjährigen, im
Interesse des Berliner Museums für Völkerkunde unter-
nommenen Reise zurückgekehrt, erstattete darüber in der Juni-
sitzung der dortigen Gesellschaft für Erdkunde Bericht. Über
den Kaukasus und das Kaspische Meer gelangte er auf der
transkaspischen Bahn nach Samarkand in Jnnerasien.
An den Ban dieser Bahn, in dem unser Forscher ein
Unternehmen von außerordentlicher Tragweite sieht, knüpfte
er folgende Betrachtung: In dem Vordringen der Kultur des
Westens nach dem uns verschlossenen Osten vollzieht sich ein
interessanter völkerpolitischer Prozeß. Einst standen hier zn'ei
Welten streng abgegrenzt einander gegenüber, einmal die sich
auf ägyptisch-assyrischer Grundlage aufbauende westliche Welt,
die sich jetzt auf das Übergewicht des arisch-germanischen
0 „Al Massi Kesse, a small patch is lest to Portugal
in the plateau where her officials can take reluge from
the unhealthy plains.“ — Wie human!
Stammes stützt, sodann die Kultur der mongolisch-chinesischen
Welt, der turanischen Rasse. So oft im Osten die Wogen
hoch gingen, sind in Kämpfen die Franken niedergeworfen
worden, so in den Hunnenzügen Attilas. Gegenwärtig ist
aber der Schwerpunkt nach Westen gefallen; der Widerstand
des Ostens ist gelähmt, er sieht das Unvermeidliche heran-
nahen. Durch diese Rußland im Osten gestellte Aufgabe
werden alle seine Kräfte in Anspruch genommen sein; sein
Hineinwachsen in Asien wird sich dauernd vollziehen. Der
russische Kolonist erblickt hier seine Heimat, und der schmieg-
same slawische Charakter bietet für die russischen Bestrebungen
die günstige Vermittelung. Der erste entscheidende Schlag
in dieser Sache fiel 1865 mit der Eroberung von Taschkend;
für die damit eingeleitete Umwälzung war der Ban der trans-
kaspischen Bahn von großer Bedeutung. Bisher ging der
Weg sicher über den Norden; durch die Bahn ist plötzlich
Turkestan in unmittelbare Berührung mit Europa gekommen.
Dieser Bahnbau war kein wohlüberlegter Plan, man könnte
ihn beinahe einen Zufall nennen, denn er wurde durch eine
bessere Verproviantierung der Truppen veranlaßt.
Nachdem Bastian Taschkend, Kokan und Merw besucht,
kehrte er über Vorderasien und Konstantinopel zurück, um
dann über Suez sich nach Indien zn begeben. Indien, so
führte unser Forscher aus, befindet sich gegenwärtig, wie
die meisten Länder Süd- und Ostasiens, in einem kriti-
schen Übergangsstadium infolge der europäischen Einflüsse.
Dnrch den Suezknnal und den Ban von Bahnen und Tele-
graphen ist in diese Länder eine Menge fremdartiger Gährnngs-
stoffe hineingetragen, und zwar so rasch und unvermittelt,
daß ein allmählicher Gang von Reformen dadurch behindert
wurde. Zu der Zerspaltung der Bevölkerung in nationale
Parteien tritt die in religiöse und Kastenscheidungen hinzu.
Dessennngeachtct sind die Inder geschichtlich nie selbständiger
gewesen als heutzutage, und haben es nie besser gehabt als
unter englischer Herrschaft. Durch die Klassenscheidungen
sind sie vor der sozialistischen Bewegung bewahrt geblieben.
Jeder Inder ist stolz ans diejenige Kaste, der er angehört,
sogar der Paria; seine Weltanschauung und sein religiöser
Glaube geben ihm die sichere Aussicht auf die einstige Aus-
gleichung alles ihm im Leben geschehenden Unrechts.
In Indien hat Bastian, überall ethnographisch forschend,
Bombay, Maisur, Madura, Tandschur, Travankor, Kotschin,
Mangalur, die Radschpntana, Adschmir, Snrat, Karatschi
und Quetta in Afghanistan besucht. Letzteres erreichte er
mit der Eisenbahn. Während früher auf solche Fahrten
Monate hingingen, werden sie jetzt dnrch das ausgedehnte
Eisenbahnnetz wesentlich abgekürzt. Auf die Kastenscheidung
wirken die Eisenbahnen ausgleichend. Zwar hat die englische
Regierung im Bahnbetrieb auf die religiösen Scheidungen
Rücksicht genommen und besondere Wagen für Mohammedaner
und Hindus, Brahmincn und Parias eingerichtet, indessen
der starke Verkehr macht die strenge Durchführung solcher
Maßregeln oft unmöglich, und so kommt es vor, daß neben
einem Paria ein Brahmine zu sitzen kommt, obwohl die reli-
giöse Satzung letzterem vorschreibt, daß er sich von ersterem
69 Schritte entfernt halten muß.
Bastian hat noch das Sulaimangebirge und Ceylon besucht
und ist dann nach Australien gegangen, das er auch infolge
des europäischen Einflusses in völliger Umwälzung begriffen
fand. Über Algerien und Südfrankreich kehrte er zurück.
Alte römische und sächsische Bergwerke in Bosnien.
Von Fried. S. Krauß.
Nach der Besitznahme Bosniens und des Hcrzögischen
durch Österreich Ungarn bildete sich in Wien eine Aktiengesell-
schaft zur Ausbeutung der alten und Schaffung neuer Berg-
46
Bücherschau.
werke im Okkupationsgebiet. Seit vier oder fünf Jahren
hat das Finanzministerium das Geschäft von der Gesellschaft
übernommen. Die Hoffnungen ans Fünde neuer Adern von
Edelmetall sind bisher nur in bescheidenem Maße in Er-
füllung gegangen. Einen Gewinn hat man jedenfalls zu
verzeichnen, daß nämlich endlich Klarheit über die Art des
Gewerkbetriebes in älteren Zeiten gewonnen wurde. Einer
der verdienstlichsten und tüchtigsten, und wie ich aus eigener
Erfahrung hinzufügen darf, liebenswürdigsten bosnischen
Bergwerksbeamten ist Herr Ludwig Pogatschnigg in Sre-
brnica, der nun seit etwa acht Jahren in einer schwer zugäng-
lichen Wildnis kahler düsterer Berge die Grabungen leitet.
Seinen Mitteilungen im Glasnik zem. muzeja, Sara-
jevo II, S. 125 ff. entnehmen wir folgende Angaben. ° Bei
Srebrnica (am linken Drinaufer) neben dem Flüßchen Kri-
äevica und dem Bache Cwevac giebt es eine ganze Reihe
alter Schlackenhaufen. Auf dem Wege von Ljubovije nach
Srebrnica befindet sich beiin Han SoloouZa ein riesiger
Schlackenhaufen und ein zweiter bei der serbischen Kirche.
An diesen Orten waren offenbar in alter Zeit Schmelzstätten,
zu welchen man das Gestein aus den Gruben der südwestlichen
Seite des Kvarac-Gebirges ober Bitlovic: herholte. Bei Ci-
oevac hat Pogatschnigg im Jahre 1885 die Fundamente
der alten Schmelzstätte bloßgelegt. Dort stand das römische
Mnnicipium Domavia und späterhin arbeiteten hier sächsische
Bergleute im venezianischen Solde.
In den römischen Bergwerken, welche die Erzadern des
nordöstlichen Abhanges des Kvarac durchziehen, sind die Ein-
gänge so groß, daß Wagen einfahren und die Erze heraus-
fahren konnten. Ein- solcher Stollen ist die Kovaoica, der
3 in hoch und 2,5 ui breit ist und in seinem Bau eine große
Regelmäßigkeit und Sorgfalt zeigt. Alle diese Erzgruben
waren mit Straßen verbunden, die zur Schmelzstätte nach
Ciecvac führten. Über die breiten Tiefen waren Brücken
gebaut, deren Pfeiler noch zu sehen sind. Es stehen noch zum
Teil ganz unversehrte Mauern da. Nach den wertvollen Funden
in den Ruinen ist man berechtigt zu schließen, daß zur Römer-
zeit dort ein bedeutender Wohlstand geherrscht haben müsse.
Der mittelalterliche Bergwerkbetrieb weist insofern einen
Fortschritt auf, als die Stollen nur niedrig sind, so daß man
nur in gebückter Haltung schreiten und stellenweise sich kaum
durchzwängen kann. Die Schmelzstellen waren von ein-
fachster Art. Ziegel und behauene Steine scheinen gar nicht
angewendet worden zu sein. Die Nachgrabungen auf der
Schlackenstelle in Cieevac ergaben bloß einige irdene Scherben,
einige Holznägel und einen hölzernen Rechen. Darin liegt
ein Beweis für große Armut der damaligen sächsischen Berg-
werkslcute, die um ihr kümmerliches Dasein kämpften. Die
Ragusaer Kaufleute gaben ihnen für die Erze bloß Nahrungs-
mittel. Es scheint, daß cs im Mittelalter keine eigentliche
Hauptschmelzstätte dort gab, sondern daß man vielmehr die
herausgeförderten Erze gerade schmolz, wo sich ein geeigneter
Platz fand. Nichts berechtigt uns aber zur Annahme, daß
in dieser Gegend vor der römischen Herrschaft Bergbau be-
trieben worden sei. Auch scheint es, daß der Ort Srebrnica
(Silberstadt) erst im Mittelalter entstanden sei.
B ü ch e v f ch a u.
Prof. Dr. H. Nabcrt, Karte der Verbreitung der
Deutschen in Europa. Nach österreichischen, russischen,
preußischen, sächsischen, schweizerischen und belgischen amt-
lichen Quellen, Reiseberichten des Tr. Lotz u. a., sowie
nach eigenen Untersuchungen in den Jahren 1884 bis 1887
im Austrage des deutschen Schulvereins und unter Mit-
wirkung von R. Böckh. Maßstab 1:925 000. Glogau,
C. Flennning (1891). In 8 Sektionen ä M. 3.
Amtlich gab es in Frankreich nur Franzosen, und die
nichtsranzösischeu Sprachen des Landes hatten keine amtliche
Geltung; daher wurde weder vom Königreiche, noch dem
Kaisertum, noch der Republik die nichtfranzösische Bevölkerung
des Landes gezählt und festgestellt. Vor einem halben Jahr-
hundert wußte man wohl, daß in Elsaß und Lothringen noch
Deutsch geredet wurde, wie weit sich dasselbe aber erstreckte, wie
die Sprachgrenze verlief, darüber hatte man keine genaue Kunde.
Da unternahm es der Braunschweiger H. Nabert, diesem Mangel
abzuhelfen und er beging einen großen Teil der Sprachgrenze.
Seine fleißige und mühevolle Arbeit, die H. Berghaus in seinem
physikalischen Atlas 1852 verössentlichte. blieb die Grundlage
aller späteren Darstellungen der deutsch-französischen Sprach-
grenze, bis die Wiedergewinnung der deutschen Reichslande 1871
amtliche Ausnahmen behufs Feststellung der Sprachverhältnisse
der einzelnen Gemeinden ermöglichte. Unermüdlich hat Prof.
Nabcrt, der im Mai 1890 starb, seitdem auf dem betreteinn
Gebiete weiter geforscht, wenn er auch wenig an die Öffentlich-
keit trat. Aber die Frucht seiner rastlosen Arbeit hat er uns in
der hier angezeigten Karte hinterlassen, deren erste Sektion vorliegt.
Diese Arbeit erscheint gleichsam wie eine Übertragung von
R. Böckhs ausgezeichnetem Werke „Der Deutschen Volkszahl
und Sprachgebiet in den europäische» Staaten" (Bert. 1869) in
das Kartenbild, fortgeführt und ergänzt bis aus die Gegenwart
und mit den neuesten Ergebnissen wissenschaftlicher Forschung
bereichert. Sie reicht vom Asowschen Meere im Osten bis zur
Straße von Dover im Weste», von Jütland im Norden bis
Oberitalien im Süden. Sie ist deutlich und sauber in Litho-
graphie nach Art der Wandkarten ausgeführt und in 20 Farbcn-
tönen gedruckt, welche die Teutschen (in drei Tönen: Hochdeutsche,
Niederdeutsche und Niederdeutsche mit eigener Schriftsprache)
nebst ihren Nachbarn zur Anschauung bringen. Somit erhalten
wir eine Gesamtübersicht über die Wohnsitze der Teutschen in
Europa, über das zusammenhängende Sprachgebiet und über
die Ausbreitung der deutschen Sprachinseln nach Osten und
Südostcn hin; es ist ein Bild, aus dem sich ein gutes Stück
deutscher Kulturgeschichte ablesen läßt, das uns aber auch die
Verluste zeigt, welche die deutschen Ansiedelungen durch Ent-
fremdung von ihrem Volkstum erlitten haben.
Tie vorliegende Sektion 2 bringt den Nordosten Deutsch-
lands bis Memel und einen Teil Polens sowie Böhmens. Die
gewählten Farben treten gut und kräftig hervor und Gelb, für
die Teutschen, springt, namentlich in den Sprachinseln, herrschend
hervor, somit dem Zwecke der Karte gut dienend. Für Rußland
sind die Juden, die dort noch eine völlig abgeschlossene Nationa-
lität bilden mit einer besonderen Farbe ausgezeichnet. Diese
Darstellung scheint der großen Rittichschen ethnographischen
Karte von Rußland entnommen zu sein, mit welcher Nabert
ganz übereinstimmt. Die Abgrenzung der Polen und Deut-
schen in Preußen stimmt im wesentlichen überein niit der
Böckhschen „Sprachkarte vom Preußischen Staate" (1861), die
schon deshalb als Grundlage dienen mußte, weil seit 1864 in
Preußen keine Aufnahmen der Nationalitäten stattfanden und
zur Berechnung derselben man sich an die Sprache der Schul-
kinder halten nuißte, die mehrmals erfolgte. Weit über Russisch-
Polen hin erstrecken sich deutsche Kolonisten, oft in breiten
Sprachinseln. Doch glaube ich, daß hier des guten oft zu viel
gethan ist; denn wenn auch diese zum Teil alten Ansiedelungen
der Deutschen in Polen nicht zu unterschätzen sind, so sind die-
selben doch sehr häufig mit Polen gemischt,„was bei der Dar-
stellungsweise nicht zum Ausdruck gelangt. Überhaupt stellt sich
die Sprachgrenze im Osten nicht überall so reinlich dar, wie
die Nabertsche Karte sie uns zeigt. Es sind da vielfache
Mischungen vorhanden, die nicht berücksichtigt wurden. Indessen
will ich gern zugestehen, daß entsprechend dem Charakter der
Karte, die mehr als Wandkarte gedacht ist, dieses vernricden
werden mußte, um die Klarheit des Bildes zu erhalten. Es
ist da der Grundsatz maßgebend gewesen, daß die Mehrheit
einer Nationalität in der Farbe zum Ausdruck gelangte. Auf
die Besprechung des in diese Sektion fallenden Teiles, von
Böhmen will ich zurückkommen, wenn die übrigen Teile Öster-
reich-Ungarns vorliegen.
Die Sektion giebt uns auch die Südgrenze der nieder-
deutschen Sprache gegenüber der oberdeutschen in ihrem östlichen
Teile vom Harze bis zur polnischen Sprachgrenze und hier sind
einige kritische Bemerkungen am Platze. Aschersleben liegt nicht
Bücherschau.
47
mehr im niederdeutschen, sondern jetzt im mitteldeutschen Sprach-
gebiete (Haushalter); an der Mündung der Saale in die Elbe
greift das Niederdeutsche noch mit einigen Dörfern aus das
rechte Saalcuser über (Kirchhofs), läuft also nicht entlang dem
Flusse. Bedenklich erscheint aber die Abgrenzung in der Mittel-
mark und Niederlausitz, wo sicher dem Niederdeutschen ein zu
großer Raum zugewiesen ist. Wenn auch, wohl mit Recht, die
Arbeit von Haushalter über die niederdeutsche Sprachgrenze
östlich der Elbe (Halle 18ü6), was die Umgebung von Berlin
betrifft, nicht als stichhaltig anzusehen ist, so steht doch fest, daß
da, wo in den letzten Jahrhunderten seit der Reformation die
Wenden germanisiert wurden, diese nicht die niederdeutsche,
sondern die hochdeutsche Sprache annahmen. Diese germani-
sierten Wenden wohnen bis über Beeskow-Storkow nördlich, und
bis Teupitz westlich, wo überall noch das falsch anlautende h
erklingt, (Hund statt und, 'ammel statt Hammel) und nieder-
deutsche Kolonisten nur in spärlicher Anzahl vorhanden sind.
Das Land Sternberg zwischen Warthe und Oder büßte schon
im 15. Jahrhundert die niederdeutsche Sprache ein; der Kreis
Lebus war überhaupt zweifelhaft niederdeutsch und so auch
Frankfurt a. O. Keinenfalls sind sie cs heute, und danach wäre
bei Nabert die Sprachgrenze des Niederdeutschen gegen das
Hochdeutsche zu berichtigen. Eine Linie Dahme, Baruth,
Zossen, Köpenik, Müncheberg, Küstrin dürfte annähernd richtig
sein. Doch liegen hier leider keine eingehenden Ausnahmen
vor und Haushalters Erkundigungen genügen nicht.
Richard Andrer.
Dr. H. Pröscholdt, Der Thüringerwald und seine
nächste Umgebung (Forschungen zur deutschen Landes-
und Volkskunde, Bd. V, Heft 6). 51 S. Stuttgart, I. Engel-
horn, 1891.
ES ist mit Dank zu begrüßen, daß einer von den Geo-
logen, welche den Thüringerwald und seine Umgebung seit
einer Reihe von Jahren aufnehmen, auch für weitere Kreise
die geologischen Berhältnisse und die Entstehungsgeschichte dieses
schönen Gebirges dargestellt hat, da naturgemäß die Fach-
litteratur, besonders in den von der Geologischen Landesanstalt
herausgegebenen Schriften, die Jahrbücher, Abhandlungen und
Erläuterungen zu den einzelnen geologischen Blättern, aus einen
bestimmten Leserkreis beschränkt bleiben.
Der Bersasser hat es verstanden, ein klares, anschauliches
Bild von dem Bau und der Entstehung des Thüringer-
waldes zu entwerfen, indem er die eigenen Beobachtungen
wie das massenhaft angehäufte Material zahlreicher andrer
Beobachter in knappen Zügen zusammengefaßt ft.
Ein kurzes einleitendes Kapitel ist der Begrenzung
und der Orvmetrie gewidmet. Bei der folgenden Über-
sicht der geologischen Formationen ist naturgemäß das
südöstliche Schiefergetnrge mit Schichten vom Kambrium bis
Karbon aufwärts für sich behandelt; es folgt der mittlere und
nordwestliche Teil des Gebirges, welcher sich, abgesehen von
einigen untergeordneten archäischen Gebieten, hauptsächlich aus
den Schichten des Rot lieg enden und den zahlreichen gleich-
zeitigen Eruptivgesteinen (besonders Porphyren) aufbaut;
viel untergeordneter tritt das jüngere Karbon auf. Der dritte
Abschnitt behandelt die Hauptphasen der Entwickeln n g. Das
südöstliche war ein Teil der paläozoischen „mitteldeutschen Alpen",
welcher sich in der Karbonzcit und zwar in der Richtung von
Südivest nach Nordost emporwölbte, bann aber der Abtragung
anheimfiel und vom Zechsteinmeer zu einer schräg aufsteigenden
Abrasionsfläche abgehobelt wurde^ aus letzterer lagerten sich
dann in langen Zeiträumen die Schichten des Zechsteins, der
Trias, des Jura, vielleicht auch der Kreide ab und bedeckten die
Reste des paläozoischen Faltengebirges in einer Mächtigkeit von
weit über 1000 m.
In der Kreidezeit wurde Thüringen Festland, an welchem
das Wasser abermals seine nivellierende Thätigkeit ausübte.
In der Tertiärzelt lagerte sich über Thüringen eine oligocäne
Braunkohlenbildung ab. Nunmehr treten gewaltige Druckkräfte
in Thätigkeit und führten zu zahlreichen Spalten, an welchen sich
die Schichten vertikal verschoben. Dieselben traten hauptsächlich
Ul der Richtung von Nordwest nach Lmdost (in „hercynischer
Richtung") auf. Der Thüringerwald blieb nunmehr als Horst
stehen und ist thatsächlich fast allenthalben durch Schichken-
störungen von seinen Borlanden getrennt. Durch das Absinken
ft Da eine Spezialkarte nicht beigefügt ist, so wird vielen
Lesern die einzige, auf modernem Standpunkt stehende geologische
Übersichtskarte des Gebirges in Meyers Konversationslexikon,
4. Aust., Bd. XV (von Beyschlag), gute Dienste leisten.
seiner Vorlande trat im Thüringerwald ein Stück der ehe-
maligen mitteldeutschen Alpen zu Tage, zunächst aber noch
überlagert von einer mächtigen Decke der Zechstein- und Trias-
schichten, welche seitdem bis auf verschwindende, durch besondere
Umstände geschützte Reste weggeführt wurden. Die gewaltigen
Beträge der Erosion im Gebirge wie in dessen Borlanden wer-
den nun eingehender dargelegt, ebenso die Vorgänge des jüngsten
geologischen Zeitalters und das Fortwirken der gebirgsbilden-
den Kräfte bis zur Gegenwart besprochen.
Den Einwirkungen dieser Kräfte auf die ein-
zelnen G e st e i n s s ch i ch t e n ist der vierte Abschnitt gewidmet
und hier auch die schließliche Ausgestaltung der heutigen Relief-
formen erörtert. Verfasser geht dann im Schlußkapitel noch
auf die Entwickelung der Hydrographi,chen Verhältnisse
des Thüringerwaldes näher ein und kommt dabei auch auf die
Entstehung der größern Ströme im Vorland, speziell der Saale
und Werra, zu sprechen. Manche seiner Ausführungen, nament-
lich hinsichtlich der Werra, dürften auf Widerspruch stoßen, da
Verf. den von Penck, Philippson, Jüschke ausgesprochenen An-
sichten entgegentritt; mit der Zeit dürften aber auch diese
schwierigen Fragen mit der weiter voranschreitenden Detail-
forschung mehr und mehr sich klären. Dazu werden die hier
niedergelegten Entwickelungen ebenfalls beitragen. Sie sind
ganz dazu angethan, das Interesse für unsre heimatlichen
Gebirge zu beleben und zu weiteren Forschungen anzuregen.
Der Titel dieser Studie durfte enger gefaßt werden, da
ja in derselben nur der Gebirgsbau behandelt wurde, während
klimatische, biologische und anthropogeographische Verhältnisse
nicht berücksichtigt sind.
Jena. Fr. Regel.
A. Rothpletz, „ Das Karwendelgebirge (Zeitschr. d. Deut-
schen und Österr. Alpenvereins. Geolog. Karte 1:50000;
Erläuterungen 75 S., mit 9 Tafeln und 29 Figuren im
Text. München 1888 u. 1889).
Das Karwenoelgebirge, das eigentlichste Quellgebiet der
Isar, im Westen und Norden vom Jjarthal selbst, im Osten
vom Achenthal, im Süden vom Innthal begrenzt, ein Stück
der östlich im österreichisch-bayerischen Grenzgebiete liegenden Kalk-
alpen bildend, wurde auf Veranlassung und mit Unterstützung
des deutschen und österreichischen Alpenvereins geologisch voin Berf.
aufgenommen. Demselben leisteten Beihilfe: Elark, Fraas,
Geyer, Jäkel, Reis und Schäfer. Eingehende topographische
Revisionen, besonders Eintragung von Höhenlinien auf bayeri-
scher Seite, wurden von Bischof ausgeführt. Das Gebiet setzt
sich aus vier langen ostweststreichenden Bergketten, der hinteren
Karwendelkette, der Gleierschkette, der vorderen Karwendelkette
und dem Karwendelgebirge zusammen. In der ersteren, der bei
weitem größten, ist eine auch sonst im übrigen Gebiete mehrfach
wiederkehrende topographische Eigentümlichkeit besonders scharf
ausgeprägt, nämlich die Ausbildung von Seitenkämmen rechts
und links von der Kammllnie, welche durch tiefe zirkusartige,
auswärts in schmale Klammen sich öffnende Kare getrennt sind.
Tiefe Längsthäler trennen die vier Hauptketten, doch biegen sie
merkwürdigerweise in ihren' oberen Enden mehrfach in Quer-
thäler um. Gletscher und Firnfelder fehlen dem Gebiete, daher
sind die aufragenden Gesteinsmassen meist wasserarm, um so
ergiebiger ihr mit Schuttmassen bedeckter Fuß; in den mit
thonigen Zwischenschichten versehenen Raibler, Kössener und
Neokomschichten stellen sich auch Schichtquellen ein, von denen
19 in Höhen von 1150 bis 1750 m gemessen 2,5 bis 6°(£.
Wärme ergaben. Das Gebiet setzt sich aus Trias (Werfener-
fchichten), Myophorienschichten, Muschelkalk, Partnachschichten,
Wetlersteinkalk, Raiblerschichten, Hauptdolomit, Plattenkalk.
Kössenerschichten (Dachsteinkalk), Jura (Lias, Malm), Kreide
(Neokom) und Diluvium zusammen. Die Tektonik erwies sich
bei weitem mannigfaltiger, als man bisher anzunehmen geneigt
war, und zwar deswegen, weil sie nicht allein durch die am
Schluß der Tertiärzeit allgemein sich vollziehende Auffaltung des
Alpengebirges bedingt war, sondern auch durch vielfache ältere
Tafelbrüche der noch nicht aufgefalteten Sedimente. Denkt man
sich hierzu noch in dem präalpin dislozierten Gebiete energische
Erosionswirkungen, so wird es klar, daß bei nachfolgender Auf-
faltung nicht die aus andern alpinen Gebieten bekannten
schematisch einfachen Sättel- und Muldenbildungen entstehen
konnten. — In wissenschaftlicher und technischer Hinsicht ist
vorliegende Publikation eine überaus beachtenswerte Leistung.
Diese veranlaßt zu haben, ist für den deutschen und österreichischen
Alpenverein unr so verdienstlicher, als es geologische Spezial-
karten im Maßstabe von l:50OJ0 in den östlichen Alpen bisher
nur sehr wenige giebt. A. Sauer.
48
Aus allen Erdteilen.
Aus allen Erdteilen.
— Über die Verbreitung von Märchen und Er-
zählungen unter den Eingebornen Nordamerikas
hat Franz Boas eine belangreiche Abhandlung veröffentlicht.
Dieses fand in Amerika ganz ähnlich statt wie in der Alten
Welt, z. B. von Indien naeh Europa. Freilich auf Grund
litterarischer Quellen, wie bei uns, ist die Verbreitung dort
nicht nachweisbar und wir kennen nur die Volksmärchen der
heutigen Stämme. Daraus ergiebt sieh, daß nur der Ver-
gleich des gegenwärtig vorhandenen Stoffes uns zu Schlüssen
über die Verbreitung führen kann. Doch hier taucht wieder die
Schwierigkeit ans, daß solche Märchen auch, wie wir wissen,
unabhängig voneinander entstanden sein können. So ist
z. B. sicher die Geschichte vom Manne, der den Fisch ver-
schlingt, trotz dieses charakteristischen Zuges eine unabhängig
bei verschiedenen Völkern entstandene, schon deshalb, weil die
Sache eine ganz einfache, natürliche ist. Jonas wird vom
Walfisch verschlungen, unser Däumling von der Kuh, der
Menaboschu der Rothäute vom Fisch, ein indischer Prinz vom
Fisch u. s. w. Findet sich aber eine Kombination ver-
schiedener Elemente in verschiedenen Gegenden, so darf inan
auf Entlehnung schließen. Wie hier nun die Kritik zu ver-
fahren hat, zeigt uns Professor Boas an verschiedenen Bei-
spielen. Namentlich haben die Eskimos mit den Indianern
an der Küste des Stillen Weltmeeres viele gemeinsame Er-
zählungen und es bestehen auch solche Übereinstimmungen
zwischen den Algonqninstämmen (im Osten) mit denen der
Indianer an der Westküste, die, wie ihre Elemente beweisen,
nur aus einer Quelle stammen können.
yiod) weiter greift Boas aus, durch Vergleich mancher
Erzählungen der Alten mit jenen der Neuen Welt. Die iden-
tische Geschichte vom Menschenfresser, welcher Kinder verfolgte
und die Caströn bei den Samojeden fand, ist mit überraschen-
den Einzelheiten nach Boas an der nordpazifischen Küste
Amerikas bekannt. Desgleichen finden sich hier Erzählungen
der Ainos (Nordjapan) und von den Pelauinseln wieder.
Für Folkloristen ist die Abhandlung des Prof. Boas von
Wichtigkeit. A.
— Die englische Mission in Uganda. Bischof
Tucker von der Church Missionary Society hat eine In-
spektionsreise nach dem vielbesprochenen Uganda unternommen,
wo er am 27. Dezember 1890 eintraf. Die Reise über
den Viktoriasee von Usambiro aus hatte 23 Tage gedauert.
Schon am Tage nach seiner Ankunft predigte er vor 1000
evangelischen Ehristen, von denen aber viele, ans Furcht vor
einem Überfall durch die katholische Partei, mit Flinten be-
waffnet waren. Unter den Zuhörern befand sich der Kati-
kiro, der höchste Würdenträger des Staates. Der König,
bei dein Tucker seinen Besuch abstattete, machte auf ihn keinen
günstigen Eindruck, auch war er unzufrieden, weil Tuckers
Geschenke durch ein Versehen iu Usambiro zurückgeblieben
waren. Hauptsächlich ließ es sich Tucker angelegen sein, die
Streitigkeiten zwischen den beiden christlichen Parteien beizu-
legen. Französisch und katholisch, englisch und protestantisch
gelten als gleich und der erbitterte Streit hat politischen Bei-
geschmack. Da aber Uganda jetzt zur englischen Interessen-
sphäre gehört, so hofft Tucker auf Beilegung durch den englischen
Kommissar (damals Kapitän Lugard). Sein Hauptaugen-
merk richtete er auf die Erziehung eingeborner Lehrer (Pre-
diger), von denen er eine Anzahl weihte. „Die Waganda
sind als Lehrer sehr geschickt." Bischof Tucker sieht alles
im günstigsten Lichte und betont die Opferwilligkeit der Ein-
gebornen, welche unentgeltlich Häuser für die Missionare
bauten. Mit dem Vorstande der katholischen Mission, Pore
Brard, hatte Tucker eine Zusammenkunft, in welcher die
Grundlagen für einen Ausgleich zwischen beiden Parteien
angenommen wurden. Die englische Mission wird auch jetzt
auf das durch Peters bekannt gewordene Nachbarland Usoga
ausgedehnt. Am 22. Januar 1891 verließ Tucker Uganda
wieder. (Nach dem „Church. Miss. Inteil.“, Mai 1891.)
— Die Goldgräber in Matebeleland. Die große
englische Expedition von 700 Menschen, welche im verstossenen
Jahre nach dem Matebelelande im Norden von Transvaal
zog, hofft dort gute Ergebnisse zu erlangen. Der Geistliche,
welcher dieselbe begleitete, F. H. Surridge, hielt darüber
kürzlich einen Vortrag im Royal-Colonial-Jnstitnte. Danach
wird die Umgebung der Hartley-Berge (vergl. die Karte in
den Proc. Geogr. Soc., Februar 1891) als besonders
goldreich geschildert. Die besten Qnarzgoldriffe liegen au der
Vereinigung des Umfuli und Simbo, wo bereits 2000 „Claims"
ausgeteilt sind. Etwa 160 Irin nordöstlich davon befinden
sich die Mazoe-Goldfelder, welche auch gute Ergebnisse ver-
sprechen. Überall trifft man auf alte Goldbergwerke. Das
Waschen des Goldes in den Strömen ist bisher nicht sehr
lohnend gewesen. Die Maschona, von Natur ein fleißiges
Volk, erweisen sich als sehr nützlich bei den Arbeiten. Sur-
ridge hofft, daß bald ein großer christlicher Staat in Mate-
bele- und Maschonaland sich bilden werde.
— Die größten Tiefen im Mittelmeere find nach
einer von einer Karte begleiteten Mitteilung G. Coras im
Kosmos 1891 vom italienischen Dampfer Washington im
Ionischen Meere gelotet worden. Zwischen 35° 39' und
36° 56' nördl. Breite unter 18° 18' bis 18° 38' östl. Länge
findet sich hier eine Tiefenzone von durchschnittlich 4000 in
Tiefe. Der tiefste Punkt befindet sich unter 35° 52' 25"
nördl. Breite und 18° 18' 30" östl. Länge mit 4067 in.
Der Boden ist äußerst schlammig. Cora schlägt für dieses
Gebiet nach dem Leiter der Sondierungen, dem Kontreadmiral
Magnaghi, den Namen „Abisso Magnaghi" vor. Eine Er-
forschung dieser Einsenkung mit dem Schleppnetz wäre von
der allergrößten Wichtigkeit, da sie durch die flacheren Teile
des Mittelmeeres und die Schnelle von Gibraltar von dem
Tiefwasser des Ozeans getrennt, jedenfalls eine ganz eigen-
tümliche Fauna hat und vielleicht noch manche Relikten aus
der Tertiärzeit beherbergt.
— War der vorgeschichtliche Mensch linkshändig?
Diese Frage hat Gabriel de Mortillet in der Pariser
anthropologischen Gesellschaft am 3. Juni zu beantworten
gesucht. Er stützt sich dabei auf die vorgeschichtlichen Schaber
und Geräte in den Sammlungen, die er unter dem erwähnten
Fragepunkte untersuchte und an denen er unter 354 unter-
suchten Stücken nachzuweisen sucht, daß 197 für den Gebrauch
der linken und nur 105 für den Gebrauch der rechten Hand
eingerichtet waren, während bei 52 sich eine Entscheidung
über die Frage nicht treffen ließ. Danach schließt er, daß
in vorgeschichtlicher Zeit mehr die linke als die rechte Hand
benutzende Menschen lebten. Übrigens warnt Mortillet selbst
vor zu hastiger Verallgemeinerung seiner Beantwortung der
Frage und fordert zu weiterer Prüfung ans. Würde sich
seine Lösung bestätigen, so wäre dann weiter zu forschen, wie
aus den linkshändigen rechtshändige Menschen wurden.
Herausgeber: Dr. R. And ree in Heidelberg, Leopoldstraße 27.
Druck von Friedrich Vieweg und Sohn in Braunschweig.
m r ii 1t it f rfi hi i* i u Jährlich 2 Bände in 24 Nummern. Durch alle Buchhandlungen und Postanstalten
*¿7 i II u u | aj iu L i g. zum Preise von 12 Mark sür den Band zu beziehen. 1
Das Gräberfeld von Reichenhall in Bayern.
Von Dr. M. Weigel, Assistent am Museum für Völkerkunde. Berlin.
Das Königl. Museum für Völkerkunde in Berlin ist
vor kurzem durch eine großartige Sammlung bereichert
worden, welche in archäologischer und kulturhistorischer
Beziehung von ganz hervorragendem Werte ist.
Herr M. v. Chlingensperg-Berg in Reichcnhatt hatte im
Jahre 1884, gelegentlich eines Ausfluges in der Nähe der
Stadt, ganz zufällig au dem Abhänge des Kirchbcrges, an
einem durch Abbau entstandenen Bergeinschuitt eine Anzahl
von muldenartigen Lehmgruben und die Reste menschlicher
Gebeine entdeckt und war infolgedessen auf die Vermutung
gekommen, daß sich hier eine Nekropole ans alter Zeit be-
fände.
Der Besitzer des Grundstücks versicherte zwar, daß hier
die im Anfange dieses Jahrhunderts, gelegentlich der blutigen
Kümpfe zwischen den Bayern und Tirolern, erschlagenen
Krieger bestattet seien, aber Herr v. Chlingensperg schenkte
dieser Tradition keinen Glauben, da der schlechte Erhal-
tungszustand und das Aussehen der Knochen, sowie daS
Vorkommen von Metallbeigaben, von dem ihm erzählt
wurde, auf ein bei weitem größeres Alter hinwiesen. Er
nahm eine genaue Untersuchung der Lokalität vor und seine
Vermutung wurde in glänzender Weise bestätigt. Im Laufe
von fünf Jahren, von 1884 bis 1888, gelang es ihm, ein
großes, umfangreiches Gräberfeld aufzudecken, dessen Schätze
zu den großartigsten gehören, welche bisher ans dieser Periode
unsrer deutschen Vorzeit erhalten sind. Und die außer-
ordentlich sorgfältige Art der Ausgrabung, die peinliche
Akkuratesse, mit der jedes Grab und jeder Fund gesondert
und aufgezeichnet ist, verleiht dieser Sammlung ihren einzig
dastehenden Wert in wissenschaftlicher Beziehung.
Die Funde sind von dem Entdecker selbst in einem sehr-
splendiden und mit vorzüglichen Photographiern ausgestatteten
Werk publiziert *), und wurden dann durch Vermittelung von
Max v. Ehlingen sperg-Berg, Das Gräberfeld von
Neichenhall in Oberbayern. Geöffnet, untersucht und beschrieben.
Reichenhall 1820. Buhler. 4". V, 164 S. Mit einer Karte
und 40 Farbentafeln in unveränderlichen Lichtkupserdrucken aus
Crayonpapicr. 40 Mk.
Globus LX. Nr. 4.
Herrn Prof. A. v. Heyden und Herrn Direktor Dr. A. Doß
von Sr. M. Kaiser Wilhelm II. angekauft, um jetzt als kaiser-
liches Geschenk in der Reichshauptstadt in der prähistorischen
Abteilung des Königlichen Museums für Völkerkunde eine
würdige Ausstellung zu finden.
Die ganze Umgegend von Neichcnhall, dessen außer-
ordentlich reiche Salzquellen schon Jahrhunderte vor unsrer
Zeitrechnung von den Kelten, dann später von Germanen
und Römern ausgebeutet wurden, ist reich an Altertümern
der verschiedensten Kulturperioden. Auch die älteren Funde,
die nicht speziell zu dem großen Gräberfelde und der Kaiser-
sammlung gehören, aber in der Umgegend der Stadt gesunden
wurden, sind in dem erwähnten Werk publiziert worden.
Die Armspirale (Tafel I, Fig. 4), die Schaftlappcn-Zelte
(Tafel I und II), sowie das Bronzeschwcrt von echt ungari-
schem Typus weisen auf die ältesten Perioden der Metallzeit
hin und dürften wohl noch älter sein, als das nicht allzuweit
entfernte berühmte Hallstätter Gräberfeld. Die beiden
Ringe (Tafel III) zeigen La Töne-Charakter, und die
römischen Skulpturen uttb Jnschriftsteine gehören der Kaiser-
zeit an. Das große Gräberfeld selbst wird von Herrn
v. Chlingensperg vom Anfang des 6. Jahrhunderts bis
zum Ende des 7. bezw. Anfang des 8. Jahrhunderts ge-
fetzt. Wir werden uns jedoch am Schlüsse noch eingehender
mit der Chronologie in dieser Lokalität zu befassen haben.
ES herrscht, mit einer Ausnahme, wo der Entdecker-
partiellen Leichenbrand annimmt — ob mit Recht oder nicht,
wage ich nicht zu entscheiden —, durchweg Lcichcnbestattung,
die nach der Zeit der Völkerwanderungen bei allen germani-
schen Stämmen, mit Ausnahme der Sachsen und Thüringer,
Regel war. Die Fundstelle fällt somit in die Kategorie
der sogenannten Reihengräberfelder, obgleich hier die Gräber
nicht in regelmäßigen Reihen aneinander geordnet, sondern
oft recht unregelmäßig nach verschiedenen Richtungen orien-
tiert sind. Die Zahl der sämtlichen von Herrn v. Chlingen-
sperg untersuchten Gräber beträgt 525, 184 Männer-,
204 Frauen- und 132 Kindcrgräber. Durch frühere
Grabungen und Verwüstungen schien aber bereits ein schr
7
50
Dr. M. Weigel: Das Gräberfeld von Reichenhall in Bayern.
großer Teil, vielleicht sogar der größere des ganzen Feldes
zerstört worden zu sein, so daß möglicherweise früher vielleicht
die doppelte Zahl von Gräbern vorhanden gewesen ist. Es
kommen Einzelgräber vor, gemeinsame Bestattungen von
zwei, drei und vier Personen, dann Erbbegräbnisse mit einer
größeren Zahl von Familienmitgliedern verschiedenen Alters
und Geschlechts und schließlich Nachbestattungen, d. h. zu-
fällige Anlegung von spätern Gräbern auf der Stelle von
alten Grabanlagen, so daß diese letzteren oft mehr oder-
weniger zerstört sind. Dadurch läßt cs sich auch am leich-
testen erklären, daß die halb zerstörten Gebeine verschiedener
Skelette so oft ohne Ordnung wüst durcheinander lagen
und daß sehr häufig die ältern Gräber bei Anlegung der
neuen alles kostbaren Inventars beraubt wurden, was Herr
v. Chlingcnsperg oft ganz sicher zu erkennen glaubte.
Die Situation der Skelette war in der Regel eine ge-
streckte Rückenlage, wie es in dieser spätgcrmanischcn Zeit
üblich ist, im Gegensatze zu der Bestattungswcise in der
neolithischcn Zeit, wo die Toten meist auf der Seite und
fast immer mit zusammengezogenen Beinen bestattet sind.
Einige zufällige Ausnahmen auf den: Reichenhaller Felde,
wo z. B. ein Skelett wie in roherWeife einfach in die Gruft
hineingeworfen erscheint, sind nicht von Belang.
Bon dein bei weiten! größten Interesse bei diesen auf-
gedeckten Gräbern sind natürlich die zahlreichen Beigaben,
mit denen die meisten Skelette mehr oder minder ausgestattet
waren, denn sic entrollen vor uns ein klares Bild von der
Kultur, von den Sitten und Gebräuchen der damaligen Zeit
und geben uns, so weit es niöglich ist, einen Anhalt für eine
genaue chronologische Bestimmung.
In vollständiger Gewandung, wie sich aus den zahl-
reichen Abdrücken von Geweben im Rost der Eisensachen
konstatieren läßt, ans einer weißen Kiesunterlage und dann
mit Holzbrettcrn bedeckt, wurden die Toten reihenweise
ziemlich dicht nebeneinander zur Erde bestattet. Dem vor-
nehmen Krieger lag das lange zweischneidige Schwert, die
Spata, an der linken, das kurze einschneidige, der Skramasax,
an der rechten Seite, daneben gelegentlich eine eiserne Lanzen-
Schnalle. (Von Tafel XXVI.)
Riemenbeschlag. (Bon Tafel XXXI.)
spitze oder ein Messer; eine eiserne Schere und ein Kamm
von Knochen, als Zeichen des freien Mannes, der mit lang
herunterwallendem Haar daher stolzierte, lagen unter dein
Kops, und Schnalle und kostbare Riemcnbeschlügc auf Leib
oder Brust, wo sie am Gürtel oder an sonstigen Riemen
befestigt waren. Viele Gräber enthalten natürlich auch be-
deutend weniger, zwei oder drei Gegenstände, etwa ein Schwert,
ein Messer, eine Schnalle, einen Feuerstahl mit dazugehörigem
Feuerstein, irgend einen Riemenbeschlag oder dergl. Manche
Gräber, vielleicht die der Ärmeren, zeigen auch gar keine
Beigaben.
Die Frauengräber zeigen hauptsächlich Schmuckgcgcn-
stände und unter diesen spielen vor allem die Halsketten
von bunten Glasperlen eine Hauptrolle, die in keinem besser
ausgestatteten Frauengrabe fehlen, hier und da Bernstein-
perlen, dann silberne Ohrringe, einige darunter mit feiner
Filigran-Arbeit, Knochen-Kämme, Schnallen, gelegentlich auch
von Geräten ein Messer, eine Nadel oder Schere.
Sehr interessant ist, daß man einigen Leichen nach der
Sitte der Griechen und Röruer eine Münze mit ins Grab
Große Schnalle, V2 natürl. Größe.
(Von Tafel XXVII.)
Beschlag. (Von Tafel XXXV.)
gelegt hatte, die als Viatikum für die große Reise ins Jenseits
oder als Fährgeld für Charon dienen sollte. So hatte das
Skelett einer Frau einen goldenen Bracteaten im Munde und
mehrere Krieger eine römische Kupfermünze ebenfalls im
Munde oder in der Hand. Bei sehr vielen Gräbern glaubte
Herr v. Chlingcnsperg die Spuren eines Opfer- oder Totcn-
mahls erkennen zu können, das nach allheidnischer Sitte wahr-
scheinlich am offenen Grabe zu Ehren des Verstorbenen
gefeiert wurde. Daher rührten die häufigen Tierknochen,
von Schwein, Ziege, Rind rc. her, ferner Kohlen- und
Afchcnreste und schließlich die Thonschcrbcn von Gefäßen,
die nian dabei gebraucht und dann, wie cs auch bei den
Römern üblich war, zerbrochen hatte, um sie den Manen
der Verstorbenen zu weihen und jeden fernern Profanen
Gebrauch unmöglich zu machen.
Betrachten wir nun die in den Gräbern gefundenen
Stücke selbst, so fällt unter ihnen besonders die große Zahl
der meist mit Silber, zum Teil auch mit Gold tauschierten
Eisensachen auf. Besonders Schnallen, Riemen- und Gürtel-
beschlüge von der verschiedensten Form und Größe zeigen
Dr. M. Weigel: Das Gräberfeld von Reichenhaljl in Bayern.
51
die mannigfaltigsten Muster dieser eigenartigen Technik und
Ornamentik, die wahrscheinlich schon sehr früh aus dem
Orient nach Byzanz kam und von hier aus zu den germa-
nischen Völkern gelangte, wo sie die ausgebreitetste Verwen-
dung fand und, nach ihrem häufigen Vorkommen zu.schließen,
außerordentlich beliebt war.
Die Technik — worauf mich Herr Pros. v. Heyden einmal
gelegentlich einer genaueren Besichtigung der Sammlung auf-
merksam machte — ist bei diesen Reichenhaller Funden inso-
fern eine ganz eigentümliche, als nicht nur die feinen Streifen,
sondern auch die breiten Streifen und selbst die größeren
Flachen in den Furchen und vertieften Feldern der Eisensachen
nicht durch aufgelegte dünne Silberplatten, sondern auch
feine dicht nebeneinander gelegte und dann breit gehämmerte
Silberdrähte gebildet sind, wie an vielen Stücken noch ganz
deutlich zu erkennen ist. Die Ornamentik bei den taufchierten
Stücken, wie auch bei den übrigen, ist eine außerordentlich
mannigfaltige, so daß auch nicht zwei gleiche Stücke in ver-
schiedenen Funden vorkommen. Besonders bandförmige ara-
beskenartige Verschlingungen, Spiralen, Zickzack- und Gitter-
muster kommen in den verschiedensten Anordnungen und
Detaillierungen vor, an den Bronzen sehr oft auch phan-
tastische Tierbildungen mit Schlangen und Vogelköpfen.
Alle Details sind durchschnittlich mit großer Sauberkeit und
Akkuratesse durchgeführt, während z. B. die fränkischen
Fundstücke ähnlicher Art recht oft ziemlich unregelmäßig und
nachlässig gearbeitet sind.
Die gegenüberstehenden Schnallen von Taf. XXVI und
XXVII, sowie die Riemenbeschlüge von Taf. XXXI und
XXXV geben ein anschauliches Bild dieses eigentümlichen,
für die altgermanische einheimische Kunstindustrie so außer-
ordentlich charakteristischen Stils.
Die sehr zahlreichen Knochenkämme, die leider meist in-
folge der festen lehmigen Beschaffenheit des Bodens nicht so
sehr gut erhalten sind oder so mürbe waren, daß sie wohl
nur mit der größten Mühe im defekten Zustande heraus-
gebracht werden konnten, sind meist reich mit Anear-, Kreis-
und Punkt-Ornamenten bedeckt. Mehrere darunter sind nach
Art unsrer Taschenmesser zum Zusammenklappen eingerichtet
und mit Griff und Schalen versehen, andre sind Doppel-
kämme aus einer Seite mit feineren, auf der andern mit grö-
beren Zähnen. Die verschiedenen Platten werden gewöhnlich
durch bronzene oder eiserne kleine Niete zusammengehalten.
Die in den Männergräbern gefundenen Waffen, die
bereits erwähnten langen zweischneidigen und kürzeren ein-
schneidigen Schwerter, zum Teil noch mit den Resten von
hölzernen oder ledernen Scheiden, sowie die Lanzenspitzen
haben genau dieselben Formen, wie diejenigen bei den übrigen
germanischen Stämmen während dieser Zeit. Sie haben
alle etwas Klobiges und Massiges an sich, scheinen aber sehr
gut geschmiedet gewesen zu sein, wie überhaupt die Eisen-
schmiedekunst bei den germanischen Stämmen Süddeutsch-
lands, vielleicht infolge der Nachbarschaft von Norikum,
bereits ziemlich früh außerordentlich entwickelt und zu hoher
Blüte gelangt war.
Die umstehende Abbildung zeigt einen Skramasax
(Taf. VIII, Fig. 192), der mit seiner ledernen, mit Knöpf-
chen, kleinen Nieten und einem Beschläge von Bronze ver-
zierten Scheide außerordentlich gut erhalten ist. Der lange
Griff war früher, wie aus den Resten zu ersehen ist, mit
Holz umkleidet. Das Stück muß im Altertum mit seinen
goldglänzenden Bronzeverzierungen auf dem schwarzen Leder
einen ungemein prächtigen Eindruck gemacht haben und ge-
hört zu den schönsten Exemplaren, die bisher in diesem
^enre gefunden sind.
Die Messer und Scheren, die letztcrn in der gewöhn-
lichen Form unsrer heutigen Schafschere, sind, wie alle
Waffen und Werkzeuge, von Eisen — Bronze kommt nur
hier und da für Schmucksachen und zur Dekorierung eiserner
Geräte zur Verwendung — und zeigen meist die auch sonst
allgemein gebräuchlichen Typen. Merkwürdig sind nur die
ziemlich häufigen Klappmesser, ziemlich große, mit eisernen
Schalen versehene Exemplare von der Konstruktion unsrer
Taschenmesser, die in fränkischen und allemannischen Gräbern
außerordentlich selten sind.
Unter den eisernen Pfeilspitzen sind einige, zusammen in
einem Grabe gefundene, dreikantige, mit stark hervortretenden
Flügeln zu erwähnen, die bisher meines Wissens noch Unika
sein dürften. Die in den Frauengräbern gefundenen Ketten
von Glasperlen sind zwar in außerordentlich großer Anzahl
vertreten und zeigen einen großen Farbenreichtum, rote,
blaue, gelbe, violette, grüne und verschiedenfarbige, mit
Bändern und Augen versehene, kommen bunt durcheinander
vor, aber nirgends eigentlich ganz besonders hervorragende
Exemplare. Die Form ist kugelartig, bald zilindrisch oder
doppelkonisch, sehr oft aber auch recht unregelmäßig und roh
gearbeitet. Sie sind durchweg aber ziemlich klein und machen
im Ganzen doch einen primitiveren Eindruck als die pracht-
vollen Perlen, die wir, wenn auch nicht annähernd in so großer
Zahl, aus manchen römischen und fränkischen Gräberfeldern
besitzen. Tafel XXV zeigt zwei solcher Perlketten, die an
dem Halse von weiblichen Skeletten gefunden sind; die drei
großen Mittelstücke der kleineren Kette sind Bernstein, das
Mittelstück der größern Achat. (Abbildung umstehend.)
Auf derselben Tafel ist eine prachtvolle, große, silberne,
zum Teil vergoldete Fibel abgebildet, das einzige Exemplar
ihrer Art aus dem ganzen Gräberfelde, welche in Form und
Ornamentik, besonders mit dem schlangenkopfartigen Ende
über dem Nadelhalter, lebhaft an die fränkischen Typen er-
innert.
Die in einzelnen Gräbern oder wenigstens im Terrain
des Gräberfeldes gefundenen Thonscherben — ganze Gefäße
sind nicht gefunden worden — sind, soweit sie einheimischen,
d. h. germanischen Ursprungs sind, alle von grauer Farbe
und sehr hart gebrannt. Nieist zeigen sie den Gebrauch der
Töpferscheibe, aber doch eine ziemlich rohe Technik und wenige
oder gar keine Ornamente. Die mehrfach vorkommenden
horizontalen Furchen erinnern schon an die Gefäße des eigent-
lichen Mittelalters, wie ich überhaupt einen Teil der zur
Sammlung gehörigen Thonscherben als nicht eigentlich der
Kultur des Gräberfeldes, sondern einer etwas spätern Zeit
angehörig ansprechen möchte.
Mehrere Scherben aus terra siAillata sind Produkte
römischer Industrie. Ob sie aber vou römischen Fabrikanten,
die noch unter germanischer Herrschaft in dieser Gegend
sitzen blieben, verfertigt wurden, oder ob sie durch den Handel
oder als Beutestücke aus Italien oder irgend einer kultivierten
römischen Provinz in diese Gegend gekommen sind und dann
gewiß lange aufbewahrt und in Ehren gehalten wurden,
möchte ich dahin gestellt sein lassen. Mir scheint das erstere,
was Herr von Chlingensperg anzunehmen scheint, eigentlich
das unwahrscheinlichere zu sein.
Sonst zeigen außer den Münzen nur eine kleine Bronze-
fibel in Grab Nr. 356 und das Bruchstück einer bronzenen
Kette aus Grab dir. 165 echt römische Arbeit. Das letztere
Stück spricht Herr von Chlingensperg als Ziest eines Gürtels
an, wozu es möglicherweise ja auch gedient haben kaun; ur-
sprünglich ist es aber das Fragment eines aus römischer Fabrik
stammenden Zaumzeuges, wie ähnliche Stücke in verschiedenen
Gegenden Deutschlands aus der römischen Zeit mehrfach
gefunden sind. Die große Masse der übrigen Fnndstücke
dürfen wir ohne Zweifel als echt germanisch, als einheimische
nationale Kultur betrachten, die sich allerdings ursprünglich
zum großen Teil auf römischer Basis aufbaute, aber sich
7*
52
Dr. M. Weigel: Das Gräberfeld von Reichenhall in Bayern.
sehr bald, mit Hinzuziehung mancher ans alter Zeit übrig
gebliebener nationaler Elemente so eigenartig entwickelte,
daß bald kaum mehr noch etwas von römischen Einflüssen
zu erkennen ist.
Auch von der Kultur der Franken und Allemanuen, die,
obwohl sie nur einen verhältnismäßig kleinen Teil im Westen
unsres heutigen Vaterlandes innehatten, doch bisher immer
als Haupt-, wenn nicht als einzige Repräsentanten dieser
Kulturperiodc nach den Völkerwanderungen angesehen wurden,
unterscheiden sich diese Reichenhaller Funde in mehrfacher
Beziehung, wenn auch zum Teil nur in negativer Weise.
Charakteristisch für Reichenhall ist das Überwiegen des
Eisens, das häufige Vorkommen sorgfältig gearbeiteter Silber-
und Goldtauschierungen, der zahlreichen kleinen bunten Glas-
perlen und der Klappmesser. Die kleinen einfachen Schnallen
ohne daranhängende Riemenbeschläge sind meist bedeutend
seiner und zierlicher als die fast immer sehr massiven bei
den Franken und erinnern mehr au römische Formen.
Die einheimische Reichenhaller Keramik ist eine gänzlich
andre und vielleicht wohl etwas primitivere als diejenige am
Rhein; kein einziger Scherben zeigt die merkwürdigen einge-
stempelten Ornamente der fränkischen Gefäße; das Material
ist weniger fein geschlemmt und zum Teil sogar recht reich-
lich mit Kies untermischt, wie die alten Töpfe aus der vor-
römischen Zeit, was bei den fränkischen, fein profilierten Ge-
fäßen kann: vorkommen dürfte. Ausfallend ist dann die
außerordentlich geringe Zahl von Fibeln; die drei Exemplare,
eine römische Bügelfibel, eine mit bunten Glasstückchen und
Goldplättchen belegte runde Scheibenfibel unb die bereits
besprochene Fibel vom fränkischen Typus kommen bei einer
Anzahl von 525 Gräbern gar nicht in Betracht. Auch die
Scheibenfibel ist wohl ein allemannisches, fränkisches oder
longobardisches Importstück, so daß bei den alten Bajuwaren
die Schnalle zum Zusammenhalten des Mantels gewöhnlich
vollständig die Fibel ersetzt zu haben scheint. Beachtenswert
ist ferner unter so vielen zum Teil so reich ausgestatteten
Kriegergräbern die geringe Zahl der Schildbuckel, nur ein
einziger mit einem kleinen flachen Knopf auf der Mitte ist
im gut erhaltenen Zustande, ein andrer vollständig verrostet
und zerbrochen gesunden worden.
Vollständig fehlen in Reichenhall, ebenso wie ganz er-
haltene Thongefäße, Glasgesäße, die am Rhein in den Gräber-
feldern dieser Zeit keineswegs zu den Seltenheiten gehören,
und, was für ein kriegerisches Volk wie die Bajuwaren
eigentlich am merkwürdigsten ist, eiserne Äxte, die, sowohl
als Kriegswaffe und als auch zum praktischen Hausgebrauch
verwandt, so sehr häufig in den verschiedensten Formen in
den fränkischen und allemannischen Gräbern gefunden wer-
den. Die eigentümliche Form der Franziska scheint doch
sonst nicht bloß ans die Franken beschränkt zu sein, sondern
stitcs) bei Allemannen und Thüringern vorzukommen, und
die flacheren breiteten Äxte mit gewöhnlich gerundeter Schneide
haben eine außerordentlich weite Verbreitung, wir finden sie
sowohl am Rhein wie in den Gräbern der Wikinger, in den
Bnrgwällen der Slawen wie in den Gräbern der Preußen
und Littauer.
Was schließlich die Zeitsteünng dieses Gräberfeldes an-
betrifft, so setzt Herr von Ehlingensperg dasselbe, wie bereits
mitgeteilt, in das sechste und siebente Jahrhundert nach
Christi, vielleicht sogar noch bis in den Anfang des achten,
und glaubt in der letzten Periode des Gräberfeldes bereits
Spuren des Christentums erkennen zu können. Das letztere
scheint mir etwas gewagt zu sein; es sind nirgends Kreuze
gefunden, wie z. B. die bekannten longobardischen Gold-
kreuze, oder wie sie von Bronze in den altlivischen Gräbern
der ersten christlichen Zeit vorkommen, und dann dürste cs
immerhin unwahrscheinlich sein, daß die zum Christentum
Bekehrten ihre Toten ans demselben Felde begraben haben
53
Johan Winkler: Friesland, Friesen UN
sollten, wo es die Heiden gethan hatten. — Ich möchte das
Gräberfeld von Reichenhall in seiner ganzen ursprünglichen
Ausdehnung, d. h. mit dem bereits früher zerstörten älteren
Teile schon im fünften Jahrhundert beginnen lassen und
möchte kaum annehmen, daß es das siebente Jahrhundert
überdauert hat.
Von den römischen Münzen, ein Antonius Pius oder
Markus Aurelius (138 bis 161, 161 bis 180), ein Kon-
stantin (306 bis 337) und zwei Valens (364 bis 378) ist
noch nicht einmal eine ans dem fünften Jahrhundert. Die
römische Bügelfibel würde ich, wenn es ein Einzelfund
wäre, in das dritte oder vierte, kaum noch in das fünfte
Jahrhundert setzen. Aber freilich sind, wenn unter Hunder-
ten von Stücken zwei oder drei chronologisch nicht genau
mit den übrigen übereinstimmen, diese nicht als maßgebend
oder ausschlaggebend zu betrachten. Die Fibel kann, ebenso
wie die Münzen und die Terra sigillita-Gefäßc, lange Zeit,
vielleicht von mehreren Generationen in einer Familie als
Wertobjekt aufgehoben worden sein. Immerhin besteht die
Thatsache, daß sämtliche datierbaren römischen Stücke auf
eine ältere Zeit als das sechste Jahrhundert hinweisen.
Bereits im fünften Jahrhundert haben wir in den großen
fränkischen und allemannischen Gräberfeldern zur Zeit Ehil-
derichs und Chlodwichs eine annähernd ähnliche Kultur, wie
hier in Reichcnhall. Wir sehen in diesem wilden Jahr-
hundert Attilas einen großen Völkerschwarm nach dem andern
durch diese Gaue Süddcntschlands im wüsten Durcheinander
d friesische Sprache in den Niederlanden.
bald in südlicher, bald in westlicher oder östlicher Richtung
! daherziehen, manche mögen sich länger aufgehalten, manche
sich zeitweise, andre für immer häuslich niedergelassen haben,
zumal an einem Ort, der wegen seiner Salzquellen gewiß
überall bekannt und in nationalökonomischer Beziehung eine
wichtige Station gewesen sein mußte.
Im Laufe des fünften Jahrhunderts siedeln sich in
Bayern die verschiedensten germanischen Stämme, Burier,
Skyren, Juthungen, Markomannen, Heruler, Rugier, Tur-
cilinger:c. an und bilden, ähnlich wie die Allemannen, mit
der Zeit einen großen Völkerbund, den der Bajuwaren, unter
denen man aber neben den verschiedenen germanischen Ele-
menten wohl sicher noch einen gewissen Prozentsatz keltischen
und romanischen Blutes annehmen darf. Darauf weisen
auch die verschiedenen Formen der in Reichenhall gefundenen
Schädel hin, es kommen brachycephale, mesocephale und doli-
chocephale nebeneinander vor, so daß von einer einheitlichen
Abstammung aller Bestatteten keine Rede sein kann.
Die Kultur, die uns entgegentritt, ist aber eine echt
germanische und ich denke, wir haben in dein Gräberfeld die
ganze Zeit vertreten, während der sich germanische heidnische
Stämme, wenigstens seit dem Ende des fünften Jahrhunderts,
in dieser Gegend ausgehalten haben, die Zeit Garibalds,
Grinioalds, Tassilo I. rc. bis seit dem Ende des siebenten
Jahrhunderts zur Zeit der beiden Throdos die ganz all-
mähliche Bekehrung der bayerischen Volksstämme durch
Eustachius, Agilius und ihre Nachfolger vor sich ging.
Friesland, Friesen und friesische Sprache in den Niederlanden.
Von Johan Winkler. Haarlem.
III.
Friesland hat nach einer amtlichen Volkszählung vom
31. Dezember 1889 335 558 Einwohner, die auf einer
Flüche von 327480 ha, in elf Städten, in etwa 350 Dörfern
mit vielen Weilern (so viel Dörfer als Tage im Jahre sagt
das Sprichwort), und in vielen hundert zerstreut liegenden
Bauernhöfen, die unter dem Namen „Staten“ und „Säten“
bekannt sind, wohnen. Wiewohl als Bauernhöfe (friesisch
boei-epleatsen) jetzt nicht mehr von einander unterschieden,
ist eine State von jeher ein Edelsitz, eine Säte dagegen ein
Bauernsitz. Staten und Säten sind meist uralte Heim-
stätten der vielen, heute größtenteils ausgestorbcnen friesischen
altadeligen Geschlechter und der noch häufig bestehenden
Geschlechter von „eigenerfden“, der auf väterlichem Erbteil
als freiem Eigentum angesessenen Bauern. Diese Eigen-
erfden oder Euierden, — was dasselbe wie Erfeg8en
der Weserfriesen ist, der adeligen freien Bauern unter den
Wurstersriesen — sind ihrem alten Ursprünge nach nicht
von den friesischen Adeligen unterschieden und bilden noch
heute den ehrenfesten Urkern des friesischen Volkes, die
Standfriesen im besten Sinne des Wortes. Die Staten
und Säten tragen noch heute die Namen der alten Friesen-
geschlechter, in deren Besitz sie sich ursprünglich befanden:
Cammingha- State, Burmania-State, Dekaina - State,
Andringa-Sate, Botma-Sate, Feddema-Sate u. s. w.
Diese Bauernhöfe sind weit und breit über das Land zer-
streut, denn der friesische Bauer wohnt nicht Hans an Hans
dicht an einandergedrängt in enggebanten Dörfern. Er
wohnt, wie schon Tacitus (De situ et moribus Germa-
norum) von seinen Vorvätern und andern Germanen be-
richtet, abgesondert, jeder mit seinem Gesinde für sich allein,
auf seinem „Bleats“ inmitten seiner Ländereien, seiner
Äcker und Weiden.
Die friesischen Dörfer sind im allgemeinen klein, viele
sehr klein, sticht wenige, zumal im Norden, Westen und
der Mitte des Landes, bestehen nur — abgesehen von den
weitnmherliegenden Bauernhöfen — aus Kirche und Schule,
den Häusern des Geistlichen und Lehrers und einigen klei-
nen Arbeiterwohnungen. Bei andern kommen dazu noch
das Wirtshaus, die Häuser von einigen Krämern und
Handwerkern, Bäcker, Schneider, Schuster, Zimmermann,
Schmied n. s. w. Dagegen sind die großen Dörfer, nament-
lich im Bouhoek und einige tut Wasserland (Warga,
Gron, Oldeboorn, Heeg, Wondsend), sehr volkreich und
dem Äußern nach kleinen netten Städtchen gleichend. Im
allgemeinen, besonders im Norden, Westen und der Mitte
des Landes, liegen die Dörfer dicht beieinander, oft nur
eine halbe oder viertel Stunde voneinander entfernt.
Molkerei unb Viehzucht sind die HanpterwerbSquellen
der Friesen. Als Beweis von der Höhe, bis zu welcher die
Milchwirtschaft gediehen ist, die jetzt sich auf Kosten der
weniger lohnenden Landwirtschaft immer mehr ausbreitet,
kann die Thatsache dienen, daß der Viehstapel im Sommer
1890 nur beim Rindvieh die Zahl von 250 000 Stück
bereits erreicht hatte. An zweiter Stelle stehen der Landbau,
namentlich von Getreide und Olsaat, unb die Torfgräberei.
Es folgen Handel und Schiffahrt, natnentlich die binnen-
ländische; auch Ausfuhr zur See, namentlich Vieh, Butter
und Käse ans Harlingen nach England; Fischerei, von Prä-
sens (Moddergat) und Wiernm ans an der Nordsecküste be-
trieben, doch mehr ans den Binnengewässern, die einen sehr-
belangreichen Handel von Heeg, Gaastmcer und Worknnt
mit Aalen nach London erzeugt. Dazu ein wenig Wald-
bau; und etwas mehr Jagd, Entenfang in Vogelkojen u. s. w.
Industrie wird von den Friesen in geringem Maße betrieben.
54
Ioh a il Winkler: Friesland, Friesen und friesische Sprache in den Niederlanden.
Große Fabriken findet man überhaupt nicht; jedoch sind in
den letzten fünf Jahren viele kleine Bntterfabriken oder
Dampfmciereien errichtet worden.
Die meisten Friesen sind Protestanten und zwar Refor-
mirte, in drei kirchlichen Abteilungen. Unter den Katholiken,
deren Zahl durch Einwanderung, namentlich aus Westfalen
zunimmt, befinden sich nur wenige ans altfriesifchem Blute.
Die es aber sind, gehören gerade zu den ältesten friesischen
Geschlechtern, namentlich im Bauern- und Bauernarbeiter-
stand. Die Zahl der Mennoniten, Anhänger des friesischen
Reformators Menno Simons, früher sehr zahlreich,
nimmt fortwährend ab.
Der Hanptort Leeuwardcn (fr. Eio^erä, gespr. Ljou’t,
mit 30 433 Einwohnern) ist eine schöne blühende Stadt mit
viel Binnenhandel und starkem Verkehr, zumal an Markt-
tagen, wenn das Landvolk aus ganz Friesland hier zusammen-
strömt. Mitten im Lande gelegen, vertritt sie in jeder
Hinsicht die Stelle einer kleinen Hauptstadt, den Mittelpunkt
des Verkehrs auf verschiedenen Gebieten. Sneek (Luits,
11 469 Einwohner) zeigt das Bild der Hauptstadt im ver-
kleinerten Maße. Sic ist, wie Bolsward (ßoalswert, gespr.
Boalse’t, 6015 Einwohner), eine hübsche Stadt, die an
Reinlichkeit und freundlichem Aussehen noch alle andern frie-
sischen und niederländischen Städte im allgemeinen übertrifft.
Bolsward und Franeker (Echsantchor, 7198 Einwohner)
sind von altersher ansehnliche Städte. Bolsward, durch
seine ehemalige Lage an der Middelzee begünstigt, trieb im
Mittelalter ansehnlichen Handel und war Mitglied der
Hansa; Franeker hatte von 1584 bis 1811 eine be-
rühmte Hochschule. In beiden Städten sind noch einige
schöne alte Gebäude vorhanden, unter denen sich die Haupt-
kirchen und Rathäuser auszeichnen. Die Hanptkirchen, beide
St. Martinus geweiht, im gotischen Stile erbaut, stam-
men aus dem späten Mittelalter. Die wunderbar zierlichen
Rathäuser sind im Renaissancestil erbaut; das Franekersche
von 1591, das Bolswardsche von 1614. Außer diesen bei-
den schönen Rathäusern befindet sich auch noch zu Leeuwar-
den ein herrliches Renaissancegebäude ans dem Jahre 1571
mit dem Bilde Kaiser Karls V. auf dem hohen Giebel,
dem einzigen in den nördlichen Niederlanden; es ist dieses
die sogenannte Canselary, ursprünglich ein Gcrichtsgebäude.
An alten Kunstwerken, Architektur und Holzschnitzerei
weisen die zwei alten Bolswarder Kirchen, die Parochiekirchc
St. Martin und die nicht mehr benutzte Klosterkirche
(Brüderkirche, fr. Broarets^orko), viel schönes auf. Im
späten Mittelalter standen überhaupt in Bolsward die schönen
Künste in hoher Blüte; sie fanden dort Pflege und Ver-
ständnis. Auch Dokkum (4053 Einwohner), jetzt ein freund-
liches Landstüdtchen, ist ein sehr alter Ort; dort werden
Reliquien, von St. Bonisacius, d. i. Winfred dem
Friesenapostel, aufbewahrt, der in der Nähe Dokkums bei
Murmerwonde (fr. Noarmsrwalck, Mörderwald) im Jahre
755 von den heidnischen Friesen ermordet wurde. Harlingen
(fr. Harns, 10195 Einwohner), der wichtigste friesische
Hafen, besitzt Handel und Ausfuhr nach England. Staveren I
(fr. Stamm, Stearum, 820 Einwohner), die uralte friesische
Hauptstadt, vor dem Aufkommen Amsterdams im Mittel-
alter eine blühende Handelsstadt, berühmt als Sitz der
friesischen Herzöge und Könige in sagenreicher Vorzeit, ist
i) Die amtliche niederländische Schreibart dieses Orts-
namens, der man auch gewöhnlich in Deutschland solgt, ist
Stavoren; wobei jedoch der Ton nicht aus vo, sondern auf
Sta liegt. Diese Schreibart ist falsch. Sic beruht nur auf
der haltlosen Meinung der Stubengelehrten in der Perückenzeit,
die einen altfriesischen Götzen Stavo annahm, der in dieser
altfriesischen Hauptstadt besonders verehrt worden sein und ihr
den Namen gegeben haben soll.
jetzt ein kleiner, ganz unbedeutender Ort. Auch das be-
nachbarte Hindeloopen (fr. Hînljippen, 1030 Einwohner),
dessen Einwohner das Friesische in einer besonderen Mnnd-
art reden, und die bis in unser Jahrhundert eine eigene,
merkwürdige Tracht besaßen, ist von seiner ehemaligen
Größe und Wohlfahrt, die in Handel und Schiffahrt wur-
zelte, ganz herabgesunken. Workum (Woarkum, Warkom,
4245 Einwohner) treibt Handel und ist nicht oh-ne be-
lang; 4)lst (Drîlst, 1529 Einwohner) und Slotcn (Staat,
771 Einwohner) sind unbedeutende Landstädtchen.
Die friesischen Dörfer erstrecken sich über 30, rechnet
man die Inseln hinzu, über 32 Landgemeinden. Letztere,
dem Umfange nach größer lind volkreicher als diejenigen
der übrigen niederländischen Provinzen, führten — und
führen in der Volkssprache noch jetzt — den altfriesischen
Namen der Grietenyen, ebenso wie der vorgesetzte Rc-
giernngsbeamte Grietman hieß, jetzt niederländisch Burge-
meester. Im Jahre 1848 oder kurz darauf mußten auch
diese altfriesischen Benennungen der Centralisationswut der
Holländer, der Egalité der Umstürzler zum Opfer fallen.
Doch die alte Einteilung ist geblieben, ebenso der altfriesische,
jetzt taliter qualiter verholländerte Name der Grietenyen
Leeuwarderadeel (fr. Liowerteradiel), Menaldnmndecl, Tie-
tjerksteradeel, Wymbritseradeel, Doniawarstal, Hemelumcr-
Oldefert u. s. w. Sind die friesischen Städte im allgemeinen
klein, einige sogar sehr klein und nicht volkreich, so sind im
Gegensatze die Grietenyen meist größer und bevölkerter.
Opsterland hat 14 570 Einwohner in 14 Dörfern; Schoter-
land 14 094 Einwohner in 19 Dörfern; Tietjerksteradeel
13 949 Einwohner in 14 Dörfern; West-Stellingwerf
15 492 Einwohner in 20 Dörfern; Wonseradeel 12 844
Einwohner in 29 Dörfern; Wymbritseradeel 12 321 Ein-
wohner in 28 Dörfern.
Außer den elf Städten machen acht belangreiche und
blühende Flecken, die ebenso vielen kleinen netten Städten
gleichen, einen Schmuck des Fricsenlandes aus. Es sind dieses
Kollum, Drachten, Gorredyk, Heerenveen, de Joure, Balk,
de Lemmer und Makkum. Außer den beiden letzten an
der See, an der Süd- und Westküste des Landes gelegenen,
liegen die sechs übrigen Marktflecken alle in den schönsten,
waldreichsten Gegenden Frieslands, in der umuittelbarcn
Nähe von Beenklooster, Beetsterzwaag und Olterterp, des
Oranjewoud, Gaasterland (de Joure auch noch ans Wasser-
land grenzend), wo Natur und Kunst die lieblichsten Land-
schaften hervorbrachten. Diese Lage der friesischen Markt-
flecken steht im völligen Gegensatze zu jener der friesischen
Städte, die alle auf baumlosem Klei- und Moorboden stehen,
inmitten endloser Weiden. Und da nun die Fremden meist
die Städte aufsuchen, weit mehr als Flecken und Dörfer,
so ist dieses auch mit die Ursache gewesen, Friesland in den
ganz unbegründeten Ruf eines unschönen, prosaischen Landes
zu bringen. Große und schöne Dörfer, abgesehen von den
bereits oben genannten sind noch Bcrgnm (fr. Birgum),
Stiens, Hallum, Berlikum (fr. Beltsum), Dronrijp, Arum,
Witmarsum, Wolvega, Koudum, Gron, Akkrum n. a.
Das friesische Volk zeichnet sich durch viele Eigentüm-
lichkeiten aus. Wo fände ich ein Ende, wenn ich alle diese
Eigenheiten, wenn auch noch so oberflächlich, meinen Lesern
mitteilen wollte? Ich will mich daher auf eine Eigentüm-
lichkeit beschränken, auf die vornehmste und merkwürdigste,
auf die friesische Sprache. Doch kann ich dazu nicht über-
gehen, ohne noch vorher flüchtig den uralten, aus der Vor-
väterzeit stammenden Kopfschmuck der Friesinnen, die so-
genannten Ohreisen (fr. eariser, gesprochen ^erisck'r, niederl.
ooryzer) zu erwähnen. Es ist dieses ein metallener Bügel
Iohan Winkler: Friesland, Friesen und friesische Sprache in den Niederlanden.
55
(ursprünglich ein vollständiger, später durchschnittener Ring),
welchen die Frauen, das Hinterhaupt umschließend, tragen.
Er besitzt verzierte Enden, die zu beiden Seiten des Gesichtes
der Frau zwischen Ohr und Auge sitzen. Diese Ohreisen —
man findet sie noch in altgermanischcn Gräbern, nur die
Deutung der Altertumsforscher als Hals- und Bcinringe
ist unrichtig — waren, wie der Name schon andeutet, ur-
sprünglich von Eisen, später von Kupfer, heute wohl auch
aus vergoldetem Kupfer, meistens aber aus Silber und
Gold. Sie sind in sehr verschiedener Form, die von Gau
zu Gau, hier und da von Dorf zu Dorf wechselt, ein
besonderes Kennzeichen des friesischen Volkes, und daher
nicht nur bei den reinen Friesen zwischen Rekere und Flie,
zwischen Flie und Lauers, zwischen Lauers und Ems im
Gebrauch, sondern auch von alters her bis in die Hälfte
unsers Jahrhunderts — heute allerdings noch sehr selten!
— in Ostfriesland und Saterland (Oldenburg); sowie heute
noch allgemein bei allen andern gemischten Friesen, den sriso-
sächsischen und friso-srünkischen Volksstümmen in ganzNiedcr-
land, namentlich beim Landvolk in den beiden Provinzen
Holland und in Seeland bis nach Wcstflandcrn hin.
Vielleicht finde ich später noch einmal Gelegenheit, in
dieser Zeitschrift auf diesen merkwürdigen, uralt germanischen
Kopfschmuck zurückzukommen, der oft mit den schönsten Dia-
manten besetzt an der Stirn und vorn auf dem Kopfe der
Frau, zusammen mit den prachtvollen Spitzenhaubcn mit
in den Nacken herabhängendem, fächerförmig ausgebreitetem
Spitzcnschleier, noch massenhaft von tausenden und aber
tausenden Frauen und Mädchen in den niederländischen
Provinzen als herrliche Zierde getragen wird. Vorderhand
sei es mir gestattet, den sich dafür interessierenden Altcrtnms-
forscher und Volkskundigen auf meine eigene, die Sache aus-
führlich behandelnde Arbeit zu verweisen, die unter dem
Titel Haarringen, hoofdbeugels en ooryzers in meinem
Sammelwerk Oud Hederland, Haag 1888 erschienen ist.
Alle Friesen ohne Ausnahme haben früher und ur-
sprünglich die friesische Sprache gesprochen., Alle Friesen
haben ihre eigene Sprache, als die wichtigste Äußerung ihres
besonderen Volkslebens, sowohl körperlich- als geistig-natür-
lich gesprochen. Ebenso körperlich-natürlich wie friesisches
Blut durch ihre friesischen Adern rollt, ebenso geistig-natür-
lich wie friesische Gedanken in ihrem friesischen Gehirne
geboren werden. Ja, alle Friesen, gleichviel ob sie im
Haupt- und Stammlandc ihres Volkes, zwischen Flie und
Lauers wohnten, oder in den angrenzenden Gauen nach Ost
und West, ob sie weiter nach Nordost oder Südwest saßen,
bis zu den äußersten Marken ihres Gebietes.
Durch den starken und anhaltenden Einfluß von Frem-
den, wiewohl stammverwandten und benachbarten Völkern,
zumal Franken und Sachsen — im äußersten Norden auch
Jüten und Dänen — ist Frieslands Volk und Sprache zum
großen Teil verbastert (entartet) worden. Nicht im Stamm-
lande — es sei denn in ganz unbedeutendem Verhältnisse.
Aber — um die friesischen Gaue Deutschlands außer Betracht
zu lassen — westlich und östlich vom Stammlande, westlich
des Flie, östlich des Lauers. Im Westen erfolgte diese Ver-
basterung durch die Franken, so daß dort die reine friesische
Sprache zu einer sriso-fränkischen Mischsprache wurde, wie noch
heute die Bolksmnndart in den beiden Provinzen Holland,
in Seeland und Westflandcrn, also in dem ganzen Land-
striche, der sich entlang der Nordseeküstc von Texel und
de Helder im nördlichen Nordholland bis Dünkirchen am
Eingänge des englischen Kanals in Frankreich hinzieht.
Aus den friso-fränkischen Mundarten in diesen Gauen —
ble das Volk noch heute und sehr verschieden von der
Schriftsprache redet — hat sich nach weiterer Vermischung
mit dem reinen Fränkisch, das in Ostslandcrn und den
brabantischen Provinzen (Brüssel, Löwen, Antwerpen) die
Volkssprache bildet, in den südlichen Niederlanden (Belgien)
die vlamische Schriftsprache herausgebildet. Und in den
nördlichen Niederlanden, mit einer geringen Beimengung
von sächsischen Bestandteilen, aus den rein sächsischen Ganen
der Provinzen Gelderland (Zütfen) und Overijssel (Trente)
der nordniederländische dial6ctii8 communis des Nieder-
deutschen, woraus dann wieder und namentlich aus der be-
sonderen holländischen Form desselben, die heutige amtliche
niederländische Schriftsprache entstand. Das Vlamische und
das Holländische, oder besser das süd- und nordnieder-
lündische Niederdeutsch, die von Haus aus im Ganzen nur
wenig voneinander abweichen, nähern in der jüngsten Zeit
sich immer mehr und mehr, so daß jetzt nur noch von einer
einzigen allgemeinen niederländischen Schriftsprache die Rede
sein kann, die für ganz Nordniederland und die germa-
nischen (nicht wallonischen) Provinzen von Südniederland
(Belgien) gemeinschaftlich gilt.
Schon früh im Mittelalter, um die Jahre 800 bis
1000, muß das Aussterbcn der friesischen Sprache in ihrer
reinen Form, muß das Emporkommen der friso-fränkischen
Mischsprache als Vlamisch und Holländisch bei den westlich
und südwestlich wohnenden Friesen Platz gegriffen haben.
Dazu trug die Einführung und der Sieg des Christen-
tums, der in diesen Gauen meist durch fränkischen Einfluß,
unter fränkischem Schutze erfolgte, gewiß in großem Maß-
stabe das seinige bei. Länger aber hat sich die rein friesische
Sprache in dem Gau zwischen Rekere und Flie, unmittelbar
an der Grenze des Stammlandes, erhalten, wiewohl die dort
aus dem platten Lande sitzende Bevölkerung heute auch ihre
friesische Sprache mit der friso-srünkischen Mischsprache der
eigentlichen Holländer verwechselt hat, trotzdem sie in körper-
licher Beziehung wenig oder gar kein fränkisches Blut in sich
aufgenommen hat. Sie herrschte dort sicher noch im
14. Jahrhundert, ja noch viel später, sei es auch nur als Volks-
mundart. Zn jener Zeit schon hatten die Friesen westlich
vom Flie, die sich früher tapfer gegen den Einfluß und die
Herrschaft der Grafen von Holland widersetzt und gewehrt
hatten in manchem blutigen Streite, sich in Sprach- und
Volksleben langsam assimilirt mit dem Volke in den süd-
lichen Gauen Nordhollands (Kennemerland und Amstcl-
land) und Südhollands, das unter der Herrschaft der
spätern Grafen von Holland stand, die selbst ursprünglich
friesische Gangrafen unter fränkischer Oberhoheit gewesen
waren. Keine Urkunden, Gesetze, Sprnchproben noch andre
Stücke in friesischer Sprache in diesem Friesland westlich
des Flics geschrieben und verfaßt, sind uns erhalten oder
überliefert worden, aus denen wir erkennen könnten, sowohl
die Zeit, wann die friesische Sprache in reiner Form dort
noch lebte, als auch die besondre Form, in der sie dort
bestand. Wenn wir aber bedenken, wieviel friesisch noch im
heutigen sriso-fränkischen Dialekt — je nördlicher im Lande
desto mehr und rund um Schagen am meisten — übrig
geblieben ist, dann können wir daraus sicher schließen, daß
im nördlichen Nordholland noch bis zu den Jahren 1550
und 1600 die friesische Sprache in einigermaßen reinerForm
gesprochen wurde. Seit jener Zeit unter dem Einflüsse der
Reformation, die nicht mit der friesischen Sprache rechnete
und durch den engern, ja bald vollständigen Anschluß dieses
Westfrieslands an die südlicher gelegenen Gauen von Nord-
holland (Kennemerland und Amstelland) und an Süd-
holland, wo die Hauptmacht der Vereinigten Niederlande
ihren Sitz hatte, seit jener Zeit hat sich die friesische Sprache
dort verwandelt in die heute noch stark friesisch-gefärbte
Mischsprache, die dort heute als Volksmundart herrscht.
Auf einigen Inseln und an einigen abgelegenen Orten west-
lich vom Flic (Tepcl, Wieringen, Marken, Kolhorn) hat sich
56
Johan Winkler: Friesland, Friesen und friesische Sprache in den Niederlanden.
denn auch noch länger und später ein Überrest der altsrie-
sischcn Sprache erhalten, wenn auch je länger, desto unreiner
in der Form. So wird erwähnt, daß noch 1660 das
Friesische im nordholländischen Waterland gesprochen wurde,
also in der Strecke in dem Winkel vom 9) und Zuiderzee,
zwischen Amsterdam und Monnikcndam.
Aus der andern Seite des friesischen Stammlandes, nach
Osten zn, in den Gauen zwischen Bauers und Ems, wovon
oben schon die Rede war, blieb die friesische Sprache als
Landessprache im allgemeinen länger und namentlich kräftiger,
als westlich vom Flie. Sie war dort auch im Mittelalter
als Schriftsprache völlig im Gebrauche. Es sind uns
namentlich einige Urkunden, hauptsächlich aus alten Gesetzen,
Willküren und Verordnungen bestehend, erhalten geblieben
und überliefert worden, die in jenen Gauen verfaßt, und in
der damaligen friesischen Sprache geschrieben sind. Diese
Urkunden stammen aus dem 13. und 14. Jahrhundert
(soviel ich weiß, die jüngste von 1385); sie geben uns eine
völlig deutliche Anschauung von der Sprachart jener Zeit
und in jenen Gauen. Sie war damals noch rein friesisch,
hatte die ursprünglichen alten, vollen Formen und Aus-
gänge bewahrt und wich einigermaßen von jener friesischen
Sprache ab, wie sie damals im angrenzenden Stammlande
herrschte.
Dieses Altfriesische der Gaue zwischen Laucrs und Ems,
dies groningcrlandische Altfriesisch hat mit dem ostfriesischen
Friesisch ganz dasselbe Los geteilt. Seit dem Jahre 1400
ist cs langsam immer mehr und mehr mit dem Nieder-
sächsischen vermengt worden, und ist damit endlich ganz
verschmolzen zu derselben Form der friso-sächsischen Mund-
art, die noch heute sowohl im niederländischen Groninger-
land als im deutschen Ostsricsland herrscht. Zum großen
Teile ging diese Versachsnng vom Friesischen zwischen Lauers
und Ems aus, von der ansehnlichen und mächtigen Stadt
Groningen (fvttf. Grins) — nicht mit Gewalt, sondern aus
sehr friedlichem Wege. Die Stadt Groningen hatte schon von
altersher eine sächsische Bevölkerung: sie war stets eine nm-
manerte Veste und in einer solchen wohnten die „freien Friesen"
nicht gern. Sie blieben nach alter Volkssitte lieber aus dem
platten Lande, jeder Hausvater als Patriarch umringt von
Kindern, Kindcskindern und ledigen Verwandten ans seiner
State oder Säte, hier gewöhnlich Borg oder Burcht und
Heerd >) genannt. Doch war der Einfluß, den Groningen —
vom friesischen Landvolke zwischen Lauers und Ems noch
heute nur schlechthin „de Stad“ genannt — in allerlei Hin-
sicht ans das umliegende Land ausübte, stets sehr groß. Kultur
und Entwickelung, Ehre und Lehre kam den „Ommelanders“
— nämlich der Friesenbcvölkernng rund um „de Stad" —
stets von Groningen zu. Und seit Groningen am Ende
des 16. Jahrhunderts sich endgültig den Vereinigten Nieder-
landen anschloß, auch Herrschaft und Regierung. Der frie-
sische Geschichtsschreiber Ubb o Emm ins meldet, daß zn
seiner Zeit, am Ende des 16. und im Anfange des 17. Jahr-
hunderts „nur noch wenige in Groningen die friesische
0 Viele dieser Heerde bestehen noch heule unter ihrem
allen Namen, so qul wie die oben angeführten Stalen und
Sa'en im nachbarlichen Stammlande. I. B. Cleveringa-heerd,
zwischen den Dörfern Uskwerl und Uilhuizen. Das uralte
Geschlecht von erbgescsseuen freien friesischen Bauern, die diesen
Heerd als Stammsitz bewohnten, die Cleveringas — ursprüng-
lich wohl Klefhardinga, ein Pntronymikum in friesischer Form
vom altgermanischen Mannesuamen Klefhard, verlausen in
filetiert, wie Eberhard in Evert — besteht heute noch im Gro-
ningerland, auch als Kleveringa, Cleveriner und Klevering
und als Clavering in England, wahrscheinlich schon seit der
llbersiedelung der Friesen unter Hengist und Horsa (mit
Sachsen, Jäten, Angeln u. s. w.) nach Britannien im Jahre 419
dorthin gelangt.
Sprache verstanden, weil die Einwohner aus Drcnte, oder
Westfülingcr waren", also Sachsen. Und an einer andern
Stelle schreibt Ubbo: „Die friesische Sprache ist eine be-
schränkte, beinahe allen Städtern unbekannt." Hier spricht
er von den Ommclander Friesen und der Bürgerschaft der
Stadt Groningen.
Eine andre Ursache, die den Verlust der ursprünglichen
Reinheit der friesischen Sprache zwischen Lauers und Ems
zur Folge hatte, und deren Untergang in der heutigen.sächsisch-
friesischen Mundart verursachte, lag darin, daß die Bauern
in diesen Gegenden im 15. bis 17. Jahrhundert ihre Ge-
filde mehr und mehr mit hohen Deichen umgaben, eiupoldcrtcn
und vor den vernichtenden Sturmfluten der wilden Gewässer,
sowohl der Nordsee als der Ems und der kleinen Binncn-
slüsse, sicherten. Dadurch wurden ihre Ländereien ansehnlich
vergrößert und wertvoller. Die Bauern konnten nun weit
mehr Land mit dem Pfluge bestellen; dadurch aber hatten sie
zur Bearbeitung ihrer Äcker weit mehr Arbeitskräfte nötig,
als sie aus ihrem eigenen Volke entnehmen konnten, und diese
Kräfte fanden sie bei ihren Nachbarn, der sächsischen Be-
völkerung des nördlichen Westfalen. Diese Arbeiter müssen
sich in großer Zahl unter den groningcrlandschen Friesen
niedergelassen, wohl auch durch Heiraten mit ihnen vermischt
haben, wodurch dann die Reinheit des Blutes und der
Sprache bei den Friesen stark geschädigt wurde. Noch
jetzt dauert der stetige Zufluß von Arbeitern aus Nordwest-
falen (dem südlichen Oldenburg und der Umgegend von
Osnabrück und Lingen) nach den reich gesegneten friesischen
Fluren fort. Noch heute ziehen alljährlich zur Erntezeit,
und namentlich zur Heuernte, Hunderte und aber Hunderte
von Arbeitern, die sogenannten Hannekemaaiers (friesisch
Hantsjemieren), in Deutschland als Hollandgänger be-
kannt, in hellen Hansen nach den friesischen Provinzen an
Ems, Lauers und Flie. Jetzt allerdings ziehen diese Arbeiter,
nach Beendigung der Ernte, wieder in ihre Heimat zurück,
haben also keinerlei Einfluß mehr ans die Eingeborenen.
Aber in alter Zeit müssen diese Arbeiter sich auch dauernd
in den friesischen Gauen zwischen Lauers und Ems nieder-
gelassen haben, jedoch nicht zwischen Flie und Laucrs. wo
man, wie cs scheint, stets genug eigene Volkskräfte zur Arbeit
hatte. Heute noch ist für den Aufmerksamen und Sach-
kundigen der Unterschied zwischen den erbgescsseuen Bauern
und dem Bauernarbeiter in der Provinz Groningcrland gut
zn erkennen, da der erstere den friesischen Typus darstellt, auch
in seinem Gcschlcchtsnamcn, und der letztere den sächsischen.
Als Schriftsprache ist das Friesische im Groningerlande
seit dem Ende des 14. Jahrhunderts außer Gebrauch ge-
kommen und seit dem 15. Jahrhundert ganz verschwunden,
doch blieb es als tägliche Volkssprache noch anderthalb
Jahrhunderte lebendig. Die heutige friso-sächsische Mund-
art, im wesentlichen die gleiche wie die auch in Ostsricsland
gebrauchte, wechselt in den verschiedenen Gauen ein wenig;
hier ist sie mehr sächsisch, dort mehr friesisch. Letzteres zu-
mal und natürlich meist in den westlichen Strichen, die an
das friesische Stammland grenzen. Dort, vor allem in den
Dörfern Marum, Doesnm, Groote- und Lütje-Gast, Sibal-
dabnren n. s. w., wo die Mundart noch heute reichlich mit
rein altfricsischen Wörtern und Ausdrücken vermengt ist,
blieb ein mehr oder minder reines Friesisch, gestützt und ge-
stärkt durch die standfesten Friesen westlich der Lauers, noch
bis ins 17., ja bei einigen noch bis tief ins vorige Jahr-
hundert erhalten.
Wir wollen jetzt all die friesischen Gaue, wo die frie-
sische Sprache in ihrer reinen Form und als besondere
Sprache untergegangen ist, verlassen und uns zum friesischen
Stammlande wenden, der heutigen niederländischen Provinz
Friesland, wo die Sprache noch heute wie in den ältesten
57
Albert S. Gatschet: Oregonische Märchen.
Zeiten frei und froh lebt und webt, sowohl im Munde des
Bolkes, wie in der Feder des Schriftstellers.
Die friesische Sprache im friesischen Hauptgau, zwischen
Flie und Laners, herrschte natürlich vor alters dort völlig
unbeschränkt als einzige und ausschließliche Sprech- und
Schriftsprache des Bolkes. Dieses blieb so bis zum Ende
des Mittelalters, bis zum Jahre 1500. Bereits aber
zeigen sich in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts
einige Spuren, die aus einen späteren Verfall des Friesischen
als Schriftsprache hindeuten. Denn es sind einige Ur-
kunden (Testamente und derartige Schriften) aus jener Zeit
bekannt, die in Friesland verfaßt und niedergeschrieben, nicht
in rein friesischer Sprache, sondern in einer teils friesischen,
teils niedersächsisch-plattdeutschen, teils holländischen Misch-
sprache versaßt sind. Hierzu kann nur der Umstand ur-
sächlichen Anlaß gegeben haben, daß einige Leute, ans welche
diese Schriften Bezug haben, oder derentwillen sie ge-
schrieben wurden, keine Friesen waren, sondern andre, der
friesischen Sprache unkundige Niederländer, welche in Fries-
land wohnten.
Am Ende des 15. Jahrhunderts (1498) wurde den
durch innerliche Zwiste und Parteiungen, sowie durch blutige
Kriege erschöpften Friesen durch den deutschen Kaiser Maxi-
milian (als Vogt über seinen Sohn Philipp II., der Graf
von Holland war) ein deutscher Fürst, Herzog Albrecht von
Sachsen-Meißen, zum „Gubernator" gegeben I. Dieser
Fürst und seine ihm folgenden Söhne Heinrich und Georg
vermochten sich jedoch nicht lange bei den widerspenstigen
Friesen im Amte zu erhalten — sie regierten nur von
i) Merkwürdigerweise führte diese Ernennung des sächsischen
Herzogs noch einen letzten schwachen Versuch herbei, einige weit
auseinander liegende Teile Allfrieslands wieder unter einen Hut
zu bringen. Denn Herzog Albrecht wurde vom Kaiser zum
Gubernator ernannt von Östergau, Westergau und den Sieben-
wäldern (diese drei Gaue bilden mit dein später erwähnten
Stellingwers das heutige niederländische Friesland), von Gro-
ningen und den Ommclnnden (heutige niederländische Provinz
Groningerland), von Dithmarschen, von den Strandsriesen
(Nordsriesland), den Wursterfriesen (Land Wursten an der östlichen
Seite der Wesermündung in Hannover) und von Stellingwerf.
1496 bis 1515 —, aber diese Fremdlinge und ihre Unter-
statthalter, Kriegsobersten — denn die Friesen widersetzten
sich mit den Waffen in der Hand der Regierung der Sachsen
— und ihr weiterer Anhang, alle der friesischen Sprache
unkundig, schädigten doch sicherlich durch ihren Einfluß die
friesische Sprache als amtliche Schriftsprache. Seit dem
Jahre 1500 werden dann die offiziellen und offiziösen, ja
bürgerlichen Schriftstücke häufiger, die nicht mehr in rein
friesischer Sprache, sondern in einer besonders häßlichen Misch-
sprache aus Friesisch, Holländisch und Niedersächsisch-Platt-
deutsch (letzteres ans Groningerland und Ostfriesland ein-
geführt) geschrieben sind — ein Sprachungeheuer, das als
Schriftsprache allmählich im Verlaufe des 16. Jahrhunderts
reiner und reiner, mehr und mehr holländisch wird, um end-
lich inl allgemeinen Niederländisch sich zu verlaufen I.
i) Diese höchst unreine Schriftsprache ist im Verlauf des
16. Jahrhunderts auch als Sprechsprache in Gebrauch gekommen.
Anfangs nur bei den höheren Ständen, bei solchen, die durch
Amt oder Stand mit Fremden in Berührung kamen, zunächst
mit Deutschen und unter den nachfolgenden burgundischen und
spanischen Regierungen auch mit andern Fremden, zuletzt meist
mit holländischen und andern unsriesischen niederländischen Re-
gierungsbeamten. Dadurch kam durch reine Nachäfferei der
höheren Stünde die Bastardsprache auch bei den Bürgern und
niederen Volksklassen der friesischen Städte in Schwang. Diese
Mischsprache, die in sprachwissenschaftlicher Hinsicht ein stark friesisch
gefärbtes Friso-Fränkisch mit sriso - sächsischer Beimischung ge-
nannt werden muß, und die bereits im Jahre 1600 zu einer
gut abgerundeten, selbständigen Mundart geworden war, hat
die friesische Sprache aus dem Munde der friesischen Städter
verdrängt. Sie lebt noch heute als ungeschriebene tägliche
Volksumgangssprache in den sechs oder sieben größeren friesischen
Städten und ist unter dem falschen, zu Mißverständnissen An-
laß bietenden Namen des Stadt friesisch bekannt (friesisch
Stedsk-frisk, gewöhnlich in Stedsk, städtisch, verkürzt). Mehr
und mehr verläuft sie in der heute stets allgemeiner werdenden
holländisch-niederländischen Verkehrssprache, indem sie fortdauernd
rein friesische Wörter ausmerzt und dafür holländische aufnimmt.
Ja, sie zeigt jetzt im Munde einiger Pedanten nur noch sehr
wenig friesische Besonderheiten und unterscheidet sich von der
gewöhnlichen allgemein niederländischen Umgangssprache nur
noch durch den unverwüstlichen friesischen Accent, mit dem sie
geredet wird.
Gregonisch
von Albert 5. Ga
K' m u k a m t ch s Jagdabentener.
Nachdem der Weltenschöpser und Hauptgott K'mukamtch
die Erde erschaffen hatte, durchzog er das Land und erblickte
fünf Luchse auf Bäumen sitzend. Sein Kleid war ein alter,
durchlöcherter Hasenfellmantel, den er nun zerriß und weg-
warf mit den Worten: „Gelingt es mir, die fünf Luchse auf
den Bäumen zu erlegen, so kriege ich einen tvcit besseren
Mantel aus Fellen, als dieser alte da." Er las nun Kiesel
zusammen, doch als er mit einem derselben eines der Tiere
zu treffen suchte, verfehlte er sein Ziel und der Luchs kletterte
hinunter und weg war er. Unbeschreiblich traurig rief er
aus: „So kriege ich also auch diesmal keinen guten Über-
wurf!" Dann schleuderte er seinen zweiten Kieselstein nach
einem andern Luchse, verfehlte auch diesen, und die Jagdbeute
entwischte ihm auch dieses Mal. „Mein zukünftiger Mantel
ist jetzt noch kleiner geworden!" Die drei übrigen Luchse
fingen nun an, über den ungeschickten Gott zu spotten; noch
mehr dadurch angereizt, schmiß er einen weitern Stein nach
dem dritten, mit demselben Mißerfolge; nach dem vierten,
Globus LX. Nr. 4.
c Ul d r ch e n.
tschet. Washington.
fünften Luchse, ohne zu treffen. Als diese alle davongerannt
waren, rief K'mukamtch schmerzvoll aus: „Jetzt wird nicht
einmal ein Fell meinen Rücken bedecken." Indem er das
Liedchen vor sich hertrillerte:
loi lo’yan lo’yak, lo’-i lo’yan lo’yak,
las er die Stücke seines Mantels wieder zusammen, den er
eben zerrissen, heftete sie mit Holzsplittern aneinander, legte
das Flickwcrk um seinen Leib und setzte seinen Weg fort.
Eine kurze Strecke Weges hatte er zurückgelegt, als er
eine Antilope auffand, die an Zahnschmerzen litt, und ans
einem abgeholzten Landstück im Walde lag. Sofort legte er
seinen geflickten Fellmantel über das Thier und gab ihm
Fußtritte, um es blutrünstig zu machen. Um ein Stcinmesser
in der Nähe zu finden, um ihr das Fell abzuziehen, entließ
er die Antilope auf eine Weile ans seinem Griff; sie lief
natürlich davon und ging hinter seinen Rücken. Er drehte
sich um, sah sie laufen, und sagte: „Meine Antilope, die ich eben
erlegt, sieht gerade so ans!" Dann lief diese neben ihm
vorbei, und er sah seinen Mantel auf ihrem Rücken. Er
8
58
Albert S. Gatschet: Oregonische Märchen.
schrie: „Bteib doch stehen! Die Menschen werden ja über dich
lachen, wenn sie dich mit meinem erbärmlichen, zerfetzten
Mantel bekleidet sehen!"
Die Waldratte und die fünf Kaninchen.
Eine Waldratte, so erzählt man, lebte mit ihrer Mutter
und fünf weißschwänzige Kaninchen hatten ihre Wohnung
ganz in der Nähe. Eines Tages sagte die Ratte zu ihnen:
„Laßt uns einmal einen Zank anfangen." Als eins der
Kaninchen zu wissen wiiuschte, weshalb sie sich mit ihnen
zanken wolle, erwiderte die Ratte: „Es ist ja nichts weiter
dabei! wir wollen einmal Händel haben. Bist du es nicht,
der die bittern Blätter einer großen Kohlpflanze allem andern
vorzieht?" Das Kaninchen erwiderte hierauf: „Du bist
gewiß ein Dieb vom Handwerk! just gestern sah ich dich noch
überall herumstreichen, in der Absicht etwas zu mausen, mit
deinen breiten Ohren abwärts gebogen!" Hierauf sagte die
Ratte: „Und dich sehe ich überall mit deinen krummen Beinen
herumhüpfen, um die breiten Kohlblätter abzureißen!" Das
Kaninchen entgegnete: „Du bist ein Nichtswisser und ein alter
Narr; du bist zu nichts zu gebrauchen als um Löcher in den
langen Rock deiner Großmutter zn nagen. Das ist der
Grund weshalb du mich angreifst!"
Hierauf entfernte sich die Ratte eine Strecke weit, und
spannte dort ein Netz aus, um ihr Opfer zu fangen. Sie
ergriff sodann einen Stecken, stieß ihn in die Erdwohnung
des Kaninchens hinein und zwang dieses, hervorzukommen.
Als es heraus war, drängte sie es ins Netz hinein, und wie
es dort gefangen saß, schlug sie es tot.
Gleich darauf begann die Waldratte einen neuen Disput
mit einem zweiten Kaninchen, das dort wohnte. „Laß uns
einmal einen Zank beginnen!" „Warum sollen wir denn
Händel haben?" Und der Zank begann, weil das Kaninchen
der Ratte auf ihre Herausfordernng geantwortet hatte: „sie
sei nur gut, um in das Kleid ihrer Großmutter Löcher zu
nagen." „Du bist zn nichts zu gebrauchen, und ein alter
Narr, du Kohlblattfresser!" Das Kaninchen erwiderte:
„Wir alle wissen, daß du ein gemeiner Dieb und Plünderer
bist, der in einer alten baufälligen Holzhütte wohnt!" „Du
dummer Teufel", erwiderte sein Gegner, „du einfältiger
Sprößling von Eltern einer bessern Sorte, bedenke wohl
was du mir zufügen willst! Mach daß du fortkominst!"
Und die Ratte trieb das Kaninchen fort, rannte hinter ihm
drein und tötete es, brachte dann den Körper heim und fraß
ihn auf.
Auf dieselbe Weise machte sie dem Rest der Kaninchen-
familie den Garaus, getrieben von ihrer grausamen Gemüts-
art. Sie und ihre Mutter fraßen die Tiere samt und sonders
auf, und tanzten einen Medizintanz zum Schlüsse des blutigen
Aktes. Doch während dieses Tanzes wurde die Wohnung
der Ratte vom Feuer ergriffen, und da den beiden Inwohnern
der Rückzug abgeschnitten war, verbrannten sie beide elendig-
lich. — Soweit geht die Erzählung.
Die Waldratte und der Biber.
Ein Biber saß in seinem Einbaum und hatte zwei seiner
Jungen neben sich sitzen. Als er das Fahrzeug am Ufer
hinruderte, kam eine Waldratte zn ihm, fragend, was es
neues gebe. „Neuigkeiten weiß ich keine; wenn du welche
weißt, so sage mir gleich was du weißt!" erwiderte der
Biber. Die Waldratte sagte darauf: „Die Ratte hatte ihre
Mutter zur Frau; das ist alles, was ich von Neuigkeiten
weiß." Hierauf entfernte sich die Ratte, wartete auf das
Fahrzeug in einem Hinterhalte, schoß dann ans dasselbe, griff
es an und warf es um. Als die Insassen im Wasser lagen,
rettete sie die beiden Jungen, während der Biber selbst auf
den Grund hinabtauchte. Die Waldratte fürchtete die Rache
des Bibers, und floh daher schnell heim, um sich in der
Behausung ihrer Mutter zu verstecken. Der Biber kam
heran, entdeckte die Übelthäterin und wollte wissen, weshalb
sie davongelaufen sei. „Warum willst du dies wissen?"
Die Ratte entgegnete: „Ich wollte eine Perlenhalskette ab-
holen, um sie dir zu überreichen." Der Biber nahm die
Halskette zwar an, warf sie aber gleich ins Feuer mit zorniger
Geberde. Die darüber ungehaltene Ratte griff ihn nun
an und hieß ihrer Mutter in der Mitte des Lagerfeuers
einen Raum frei zu machen, damit sie den Biber dort
hineinwerfen könne. „Ich will das Tier in das Feuer
werfen; ist es drin, so decke es mit Erde zu!" Doch sie
hatte die Rechnung ohne den Wirt gemacht, denn der starke
Biber ergriff beide, Ratte und Mutter, und warf sie in den
Brand hinein. „Utntntu! wehe mir!" schrie die Ratte im
Feuer drin; „also bin ich es, die nachher in der Erde ver-
scharrt werden soll!" und rannte noch itt Verzweiflung im
Feuer herum, während schon ihre Borsten und Fleisch ab-
gesengt waren. Zn guterletzt hielt der Biber ihr noch eine
Strafrede betreffs ihrer Gemeinheit. „Gewiß nicht wegen
einer Kleinigkeit kam ich hierher; du wirst jetzt hart bestraft,
und wenn die Indianer sähen, wo du jetzt bist, würden sic
dich gehörig ausspotten. Nachdem dein elender Leib verkohlt
ist, wird kein Mensch das Verlangen äußern, an dir zu
riechen, sondern man würde dich ein stinkendes Aas neunen,
du nichtsnutziger Lümmel, der du nichts besitzest als ein Haus
von Holzstücken!" Z Der Biber legte nun obendrein noch
Feuer an die Holzwohnnng der Ratte und ihrer Mutter,
nahm seine zwei Jungen unter die Arme und kehrte nach
Hause zurück.
Amhnlnk, das Ungeheuer des Bcrgsees.
Amhnlnk beabsichtigte zuerst seinen Aufenthalt in den
Ebenen von Alfalati, Oregon, zu nehmen, sah aber bald ein,
daß dieselben für ihn nicht weit genug seien. Er fand auch
einen geräumigeren Ort und ist seither stets dort geblieben.
Alles Lebende, das ihn erblickt, ist dem Wassertode geweiht,
alle Bäume in der Nähe sind kopfüber mit dem Wipfel ins
Nasse gestürzt und viele andre Dinge sind in seinem Teiche
versammelt. Das Ungeheuer hat Hunde von mehreren Arten
auf seiner Seite und seine Schenkel scheinen ganz von Haaren
entblößt zu sein. Seine Hörner sind übergroß und tragen
Flecken an sich.
Drei Kinder gruben in der Erde, um die eßbaren Knollen
der Adschadsch-Pflanze zn suchen, als Amhnlnk in ihrer Nähe
aus der Erde stieg. Als die Kinder ihn sahen, riefen sie:
„Laßt uns seine Hörner benutzen, um Grabwerkzeuge daraus
zu schnitzen!" Doch das unheiinliche Wesen näherte sich
ihnen, und nahm zwei derselben auf die Hörner, während
das älteste Kind, ein Knabe, eiligst sich flüchtete. Überall,
wo derselbe seine Schritte hinlenkte, sank die Erde ein. Nach
Hause zurückgekehrt, erzählte er seinem Vater: „Ein gefähr-
liches Etwas hat sich uns genähert und meinen Bruder mit
Schwester entführt!" Er ging dann schlafen und als die
Eltern ihn während seines Schlummers betrachteten, merkten
sie, daß sein Leib voll Flecken war.
Hierauf gürtete sich der Vater und machte sich nach dem
Sattelberge (oder gegabelten Berge) auf, wo die Kinder in
dem Bergsee ertrunken waren. Die Fußstapfen fand er
') Bezieht sich auf den Umstand, daß Jndianerstämme der
Paciftcküste, wie z. B. die Shasti, Ratten und Feldmäuse unter
ihre Nahrungsmittel zählen, und sie gebraten verzehren. Diese
Tiere bringen nach ihren Wohnungen zusammengetragene
Holzstübchen, welche oft um ihre Erdlöcher herumliegen.
Albert S. Gatschet: Oregonische Märchen.
59
leicht und folgte ihnen; es waren die Fußspuren seines
zurückgekehrten Sohnes. Nach Umgehung der Berghöhe
fand er den Teich, und sah die Kinder daraus hervorragen.
Dann verschwanden sie, um wieder am andern Ufer des
Bergsees aufzutauchen. Dies Schauspiel wiederholte sich
fünfmal vor seinen Augen, und als er ganz nahe ans Ufer
getreten war, fand er die Stelle, wo das Monstrum sie auf-
gehoben und entführt hatte. Aus dem Bergsee erhob sich
Nebel, und mitten im Nebel sah er die Kinderreichen auf den
Hörnern des Tieres schwebend. Er winkte ihnen mit der
Hand, und sie erwiderten: „didei! didci! didei!" d. h. unser
Körper ist verwandelt!
Der Vater ergoß sich in Thränen und blieb die ganze
Nacht durch am Ufer. Des nächsten Morgens hob sich
der Nebel wieder soweit in die Höhe, daß er seine Kinder
wieder auf den Hörnern des Ungetüms scheu konnte. Noch-
mals machte er ihnen Zeichen mit der Hand und sie er-
widerten auch diesmal: „didei! didei! didei!" In Thränen
gebadet, konnte er sich nicht von den Kindern trennen und
blieb fünf Tage und Nächte am Platze, und jeden Tag
kamen die Kinder empor und versanken wieder in der trüben
Flut. Als sie nicht mehr cmportanchten, machte sich der
Mann auf den Weg nach Hause und sagte zu seiner Familie:
„Amhuluk hat die Kinder uns entrissen; sie sind am Sattel-
berge, im Bergsee, und dort sah ich sie ans den Hörnern
des Ungetüms; viele Bäume sind auch dort kopfüber ins
Wasser geworfen."
*
*
Die eben erzählten Produkte der mündlich fortgepflanzten
Volkslitteratur sind sämtlich oregonischen Ursprungs; die
ersten drei rühren von den Modoc-Jndiauern, das vierte von
den Kalapuya-Indianern des Millamet-Thales her. Zum
vollen Verständnisse sind einige Erläuterungen von nöten.
Die Modoc-Indianer bilden die südliche Gruppe des
Volkes der Maklaks- Indianer, während die nördliche, an
Zahl dreimal so starke Gruppe die der E-ukshikni (d. h. See-
anwohner) oder Klamath-Indianer ist. Die Modocs sind
jetzt an zwei Stellen angesiedelt, indem sie nach dem Aufstande
von 1872 bis 1873 gezwungen wurden, ihr bisheriges
Vaterland am Lost River, im südwestlichen Teile Oregons,
zu verlassen. Neunzig derselben wohnen im Jndiancr-Terri-
torium im Exil, während ebensoviel die obern Teile des
Sprague-Flusses auf der Klamath Reservation innehaben Z.
K'mnknmtch ist der Hauptgott in der Mythologie beider
Gruppen und repräsentiert meistens die Sonne des Winters
und des Sommers, aber auch zu Zeiten das Himmelsgewölbe.
Sein Name bezeichnet ihn als den „alten Mann der Vorzeit".
In den Mythen erscheint er als ein Dämon, unüberwindlich
an Kraft und List, tückisch und grausam seinem Sohne Aishish
gegenüber, mächtig als Schöpfer der Erde und des Weltalls,
aber auch die Zielscheibe des Witzes und Spottes aller ver-
götterten Dämonen und Tiere, sowie der mit ihm in den
mythischen Erzählungen in Verbindung tretenden Menschen.
In der ersten dieser „Fabeln" haben wir einen guten Nach-
ts Vergl. meinen Aussatz über diese beiden Stämme: Volk
und Sprache der Maklaks im südwestlichen Oregon;
im Globus 1879, Band 35, S. 167 bis 171, 187 bis 189.
weis dessen, was die Menschen, die die Geschichte erfunden,
von ihm gedacht haben. Die Zahl fünf hat in ganz Oregon
eine mystische Bedeutung, wie bei uns die Drei- und Sieben-
zahl; und erscheint mehrmals in den obigen vier Texten.
Die Worte lo-i loyan loyak scheinen aus einer Ver-
drehung des Verbalausdruckes lualui^a (verspotten) ent-
standen zu sein.
Die zweite und dritte dieser Tiergeschichten bilden treff-
liche Naturschilderungcn der betreffenden Tiere, bieten aber
keine besondern Anlässe zu sachlichen Erläuterungen.
Der Mythus von Amhuluk rührt von km Atfalati-
Stamme der Kalapnyas her, der auch Tualati und Wappatu-
Stamm heißt. Letztern Namen empfing er, weil die Ansied-
lungen desselben rings um einen See angelegt waren, dem
Gaston-See, an dessen Ufern das Pfeilblatt (oder die Sa-
gittaria) mit seiner eßbaren Wurzel in ungeheuren Quan-
titäten wuchs. Diese Wurzel heißt nämlich im Chinook-
Jargon : wapatu. Dieser Stamm ist jetzt bis auf etwa
fünfundzwanzig Indianer heruntcrgeschmolzen und lebt auf
der Grande-Ronde Reservation, zwischen Portlaud und dem
Stillen Meere. Seine Mythen, soviel ich ihrer habe sam-
meln können, zeugen von poetischer Anlage und die Sprache
dieser und aller verwandten Stämme ist wohllautend und
stark vokalisch, doch ist sie morphologisch ans einem sehr pri-
mitiven Standpunkte verblieben. Die Konjugation des Ver-
bums ist außerordentlich formenreich schon deshalb, weil das
direkte und das indirekte Personalpronomen in das Verbum
inkorporiert wird.
Die mythische Schöpfungsgabe dieses Volkes hat zwar
viele Tiere und Naturgcgenstäude anthropomorphisiert, aber
Hauptgötter, wie bei Germanen, Griechen, Indern u. s. w.,
hat dasselbe nicht geschaffen — denn alles mehr transzenden-
tale wird mit dem Namen Ayuthlme-i bezeichnet, was
„wunderbar, miraknlös, göttlich" bedeutet und ganz dem Dakota-
Worte : wakan. dem Chinook: itamannaok gleichkommt.
Die Götter des Himmels, der Erde, der Unterwelt und des
Wassers sind also hier nicht differenziert, alles ist Ayuthhne-i.
Die Sonne erscheint zwar in den Mythen als Flint-Boy Z,
doch ist sie als solcher nicht Gegenstand des Volksglaubens,
sondern erscheint eben nur in Mythen, deren wahre Be-
deutung kein dortiger Indianer «lehr versteht.
Die Ausmalung der düstern Landschaft, wo sich der
Bergsee befindet, ist von großer Naturwahrheit. Dieser See
und der „Sattelberg" befinden sich fünfzehn englische Meilen
westlich von Forest-Grove, das nur zwei Meilen vom Gaston-
See entfernt ist.
Eine andre Rezension dieses Märchens stellt das Unge-
tüm so dar, als ob dasselbe den Körper, nicht bloß die
Hörner, voll Flecken gehabt hätte. Die zwei ertrunkenen
Kinder hatten sich, als sie auf dem Wasser erschienen, in
einen Körper vereinigt, und Haare zeigten sich allerwärts
auf ihrer Haut. Ihr Vater suchte sie durch Schwimmen zu
erreichen, doch vergeblich.
Z Eigentlich „Quarz-Junge"; Quarz ist die Substanz,
woraus Pfeilspitzen gemacht wurden, und hier sind die Pfeil-
spitzen symbolisch als die durchdringende Kraft der Strahlen der
Sommersonne aufzufassen. Dr. Franz Boas hat 1890 diesen
Mythus in mehreren Versionen von den Chinook, Tillamuk
und Fraser-River Indianern erlangt.
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A. Scobel: Die streitigen Gebiete in Guayana.
Die streitigen Gebiete in Guayana.
Von A. Scobel.
Der Kaiser von Rußland entschied am 25. Mai dieses
Jahres den Streit zwischen Frankreich und den Niederlanden
zu Gunsten der letztern. Der Schiedsspruch sagt: „Der
Fluß Lama ist als Grenzfluß zwischen dem französischen und
niederländischen Guayana zu betrachten. Alles Land ober-
halb der Vereinigung der Flüsse Lawa und Tapanahoni soll
von nun an den Niederlanden zugehören." Die Flusse Lawa
und Tapanahoni begrenzen das bisher streitige Gebiet im
Osten und Westen und bilden nach ihrem Zusamnieuflusse
den Maroni, welcher als nördlichste Grenze zwischen dem
sranzösischen und niederländischen Guayana schon seit 1668
gilt. Ans beiden Seiten war man aber nicht einig über den
Grcnzansprüche und Grenzregelnng in Guayana.
Oberlauf des Maroni, also über die Bedeutung seines wich-
tigsten Quellflnsses als Grenzscheide. Die Franzosen wählten
den westlichen Tapanahoni, die Holländer natürlich den öst-
lichen Lawa. Das ganze Gebiet ist noch wenig bekannt.
Die Karten zeigen dort keine einzige Niederlassung von Euro-
päern; doch sind ausbcutnngswerte Goldfelder vorhanden.
Die Bewohner sind meist Abkömmlinge entlaufener Neger-
sklaven und nur zum kleinen Teile Indianer.
Der südamerikanische Kontinent war ursprünglich durch
den Vertrag von Tordesillas (7. Juni 1494) und eine Bulle
des römischen Stuhles (24. Januar 1506) ausschließlich
zwischen Spaniern und Portugiesen geteilt worden. Während
Portugal das heutige Brasilien erhielt, bekam Spanien das
ganze übrige Südamerika, von dem es den größten Teil in
Besitz genommen hat. Rings um Brasilien erwuchs ein
Kranz spanischer Kolonialstaateu, nur das Land im Norden
Brasiliens, das sogenannte Guayana, blieb von den Spaniern
unbesetzt. Andre europäische Nationen fanden dort einen
Tummelplatz für ihren Unternehmungsgeist. Ende des
16. Jahrhunderts bemühten sich die Holländer, kleine Hnudels-
faktoreicn zu gründen, wurden jedoch von den Spaniern,
welche Indianer zu Hilfe gerufen hatten, vertrieben. Die
Holländer gewannen im Anfang des 17. Jahrhunderts abermals
festen Fuß am Esseqnibo und fingen an, Negersklaven aus
A. Scobcl: Die streitigen Gebiete in Guayana.
61
Afrika zu holen, um Plantagen in Betrieb zu setzen. Die
von ihnen gegründeten Ortschaften wurden während der Kriege
im 17. Jahrhundert teils von den Engländern, teils von den
Franzosen geplündert und auch späterhin war die Kolonie
manchen Wechselfällcn ausgesetzt. Den Holländern blieb nur
ein Teil von Guayana, das sogenannte Surinam; den Fran-
zosen gehört Cayenne; und die drei englischen Koloniccn Deme-
rara, Essequibo und Berbice wurden 1831 vereinigt und
Britisch Guayana genannt.
Bis um das Jahr 1644 war die portugiesische Koloni-
sation längs der brasilianischen Ostküste nordwärts etwa bis
zunl Nordkap (Cabo do Norte) fortgeschritten, sie hatte dem-
nach beide Ufer und das Deltaland des Amazonas einge-
nommen. Anstatt nun aber weiter nordwärts vorzudringen,
ergoß sie sich landeinwärts in das Amazonasthal und über-
ließ Guayana andern europäischen Handclsvölkern. Den
Franzosen gelang es, sich zunächst der brasilianischen Grenze
festzusetzen. Nach Gründung der Kolonie Cayenne 1664,
die 1674 unter die unmittelbare Herrschaft der Krone Frank-
reichs gelangte, führte der Ehrgeiz die Franzosen bald weiter.
An der Mündung des Amazonas erschienen französische
Kauffahrer und versuchten die Stromauffahrt. Weit im
Hinterlande des Amazonasthales stießen die portugiesischen
Missionare auf Franzosen, welche dort mit den Wilden um
Judianersklaven handelten. Der damalige Gcneralkapitün
von Para erließ eine Beschwcrdeschrift, nach welcher „das
Deltaland mit beiden Ufern des Amazonas allein der portu-
giesischen Herrschaft, die Flußschiffahrt allein der portugiesischen
Flagge zustehe und den Franzosen untersagt bleibe" (Handel-
mann, Geschichte von Brasilien, Berlin 1860). Frankreich
ließ sich aber nicht so leicht abschrecken, sondern forderte das
nördliche Ufer des Amazonas und wollte den Lauf des Haupt-
stromes als Grenze und als gemeinsames Eigentum erkannt
wissen. Aus politischen Gründen aber (im Begriff, die
reiche Erbschaft der spanischen Krone für seinen Enkel Philipp
von Anjou in Anspruch zu nehmen, wäre es unklug gewesen,
sich das Nachbarland Portugal zu verfeinden) entsagte Lud-
:vig XIV. in dem Provisional-Traktat von: 4. März 1700
allen Ansprüchen auf Macapa und die nördlichen Uferlande
des Amazonas, und dieser Verzicht ward in dem Allianz-
Traktat vom 18. Juni 1701 nochmals erneuert. Aber auch
diese Verträge wurden in kurzer Zeit nichtig. Das Lissaboner
Kabinet gab den Bund mit Frankreich auf und trat der
Tripelallianz von England, Niederland und Österreich bei.
Dafür bedang es sich aus und erhielt von jenen drei Mächten
unter andern: eine Gewährleistung für seine Besitzungen an:
Cabo do Norte am 16. Mai 1703. An den: spanischen
Erbfolgekricge, der nunmehr entbrannte, hat Portugal nur
geringen Anteil genommen, und Brasilien hat davon nur in
einigen Freibenterzügcn gegen Rio de Janeiro eine kleine
Probe erfahren. Desto größer waren die Vorteile, welche
der endliche Frieden zu Utrecht an: 11. April 1713 brachte.
So ungern König Ludwig XIV. seinen großartigen süd-
amerikanischen Kolonisatiouspläncu entsagte, er mußte, von
England gedrängt, alle portugiesischen Forderungen bewilligen.
So hat Frankreich seine Ansprüche auf das nördliche Ama-
zonasufer, auf das Cabo do Norte in aller Form zu gunsten
Portugals aufgegeben und sich den weiter nordwärts gelegenen
Fluß Oyapock oder Vincent Pintón (Pinzón) als Südgrenze
von Cayenne, als Nordgrenze von Brasilien gefallen lassen.
Zu gleicher Zeit leistete die französische Krone ausdrücklichen
Verzicht ans die beanspruchte Amazonasschiffahrt und ver-
sprach, ihren Unterthanen jeden Verkehr nach den benachbarten
Hafen zu untersagen.
Die Auffassung dieser Bestimmungen war aber von beiden
Seiten eine sehr verschiedene. Portugal verstand diejenigen
Grenzlinien, welche von seiner Seite schon bei früheren Ab-
machnngen als gültige angesehen wurden; als den Fluß Japoc,
also den Oyapock. Frankreich meinte einen nördlichen Arm
des Araguary, der südlich der Insel Maraca mündete, und
beanspruchte ebenso das Land nördlich des Amazonas, während
cs den Portugiesen nur das nördliche „Ufer" des Flusses
überlassen wollte. Trotzden: hat aber der portugiesisch-fran-
zösische Frieden zu Utrecht, für den Großbritannien noch eine
besondere Garantie übernahm, bis zum Ende des 18. Jahr-
hunderts eine sichere völkerrechtliche Schutzwehr gebildet.
Kan: es auch zwischen beiden Mächten noch u:ehrn:als zu
ernsten Reibungen, so ist an der stipnlierten Abgrenzung nichts
geändert worden, so lange Könige ans den: Hanse Bourbon
auf Frankreichs Throne saßen. Erst die französische Repu-
blik hat die Vergrößernngspläne Ludwig XIV. wieder anf-
genouunen. Nach dem kurzen Kriege des Jahres 1801 er-
zwang sie in: Frieden von Madrid (29. September 1801)
eine Ausdehnung des französischen Guayana bis zum Cara-
panatuba; doch ist hierin bald eine Änderung eingetreten,
indem England, als es mit der französischen Republik zu
Annens am 27. März 1802 seinen Frieden schloß, zu gunsten
Portugals ansbedang, daß der Arauari (Arapnary) die Grenze
zwischen Brasilien und Cayenne bilden solle. Wenige Jahre
darauf wurde Portugal abermals von den französischen Waffen
heimgesucht und das Königshaus Braganxa mußte sich 1807
zur Übersiedelung nach Brasilien entschließen. Es gab damit
sein europäisches Erbland an Frankreich verloren, aber dafür
hat cs sich in Südamerika entschädigt. Ein vereinigtes englisch-
brasilianisches Geschwader segelte gegen die französische Nach-
barkolonie, die Hauptstadt Cayenne mußte 1809 kapitulieren,
und nun unterwarf sich ganz Französisch-Gnayana den Siegern,
welche dasselbe vorläufig dem brasilianischen Reiche einver-
leibten.
Erst in der Wiener Kongreßakte (9. April 1816) hat
das Kabinet von Rio de Janeiro, nachden: es selbst längst
in den Besitz Portugals wieder eingesetzt war, sich zu einer
Rückgabe Cayennes an die Krone Frankreich verstanden.
Nach einer mehrjährigen Verzögerung wurde die Grenzfrage
in der Konvention zu Paris an: 28. August 1817 dahin
erledigt, daß die Bestiinmnngen des Utrechter Friedensvcr-
trages wieder in Kraft treten sollten (Handclinann, 1. o.).
Dabei blieben freilich auch die frühern Streitpunkte über eine
genaue Abgrenzung bestehen. Nach der Unabhängkeitscrklärung
Brasiliens in: Jahre 1822 und während der Bürgerkriege
1834 bis 1837 war erst recht an endgültige Abmachungen
nicht zu denken. Erst 1855 bis 1856 wurde die Angelegen-
heit von Napoleon III. wieder aufgenommen. Frankreich
bestand auf seiner Auslegung der alten historischen Grenze:
Die Grenze wird gebildet vom Kanal von Carapaporis,
welcher die Insel Maraca von den an das Nordkap grenzen-
den Ländereien trennt, dann von dem Nordarn: des Flusses
Arauari, wenn dieser Arm offen ist, oder in: andern Falle
der erste Wasserlauf flußaufwärts gegen Norden, welcher unter
dem Namen Mannain oder Carapaporis bei 1" 45' Nord-
breite in den Kanal von Carapaporis mündet. Bon der
Küste ab folgt die Grenze den: Flusse bis zur Quelle und
zieht dann in gleichem Abstande von: Anmzonas westlich, bis
sie den Rio Branco erreicht (Verhandlung von: 1. Juli 1856;
nach Lull. Zoe. géogr., Paris 1890, 3, den: auch die Ab-
grenzungen der streitigen Gebiete ans unsrer Karte entnonuncn
sind). Unter dem Nordarn: des Araguary oder Arauari ver-
stehen die Franzosen heute den Fluß Jonrdon, den See Macari,
den Fluß Comprido, den See Novo und endlich dessen Ab-
fluß in den Arapnary. Der brasilianische Vertreter (der
schon 1855 erklärt hatte, eine annehmbare Abgrenzung sei
nur von den Quellen des Oyapock über die westliche Wasser-
scheide möglich) verzichtete auf eine Abgrenzung in: Innern
überhaupt und betonte die Schwierigkeit für eine Einigung,
62
Über Schneeverwehungen auf den Eisenbahnen in Rußland.
B. Sresnewskij:
die nur in der verschiedenen Auffassung des Vertrages von
Utrecht ihren Grund habe. 1840 hatte bereits Brasilien
auf dem linken Ufer des Arapuary einen Militärposten ge-
gründet und 1860 das Gebiet von Apurema zwischen den
Flüssen Arapuary und Tartarugal in Besitz genommen. Trotz
alledem erneuern heute die Franzosen ihre vermeintlichen
Ansprüche bis zum Arapuary und beanspruchen im Innern
alles Land nordwärts des Amazonas, von einer Entfernung
von 200 km vom Flusse ab gerechnet, bis westlich zum Rio
Branco. Coudreau schätzt die beanspruchte Küstenstrecke ans
400 km, also 60 km mehr als die Küstenlänge des bisherigen
französischen Gebietes. Das heutige französische Guayana
umfaßt etwa 105000qkm, während der von Brasilien be-
anspruchte Teil etwa 260000 qkm mißt, von denen ungefähr
100000 qkm Prärien sind. Das Klima der Prärien soll
trocken, gesund und demjenigen von Algerien ähnlich sein.
Die eingeborne Jndianerbevölkerung wird auf 100000 Seelen
geschätzt.
Auch der Streit zwischen England und Venezuela ist
neuerdings wieder in den Vordergrund getreten. England
hat hier stets alles Land nordwestlich bis zum Flusse Ama-
cura als sein eigen betrachtet. Die untern Klaffen der Grcnz-
bevölkerung sind aber noch heute sehr gereizt darüber, daß
England die Hand ans diese reichen Landschaften legte. Die
Grenzsrage vom britischen Guayana ist immer eine Aufregung
für den Venezuelaner, ein „Dorn im Herzen des Volkes",
wie sich der Präsident von Venezuela selbst ausdrückte. Augen-
blicklich lassen auch die Sicherheitsverhältnisse dort manches
zu wünschen übrig. Venezuela beansprucht die streitigen
Gebiete auf Grund der ehemaligen Besitzergreifung des spani-
schen Mutterlandes (!) und ist auch in handelspolitischer
Beziehung wenig entgegenkommend gegen England, da es
für britische Einfuhren einen dreißigprozentigen Zoll erhebt.
Vor kurzem wurden in den Goldfeldern des britischen Gua-
yana Diamanten entdeckt. Von 638 gesammelten Steinen
wurden in London nur fünf für wertlos erklärt, die übrigen
aber als reine Diamanten vom ersten Wasser. Ein Syn-
dikat zur Anlage und Ausbeutung von Diamantminen ist in
Bildung begriffen. Die britische Regierung sieht bereits eine
neue Wohlstandsguclle entstehen und wird darum umso-
weniger geneigt sein, gegen Venezuela irgend welche Nach-
giebigkeit zu zeigen.
Die Ansprüche Brasiliens auf einen Teil des briti-
schen Guayana scheinen sich auch nur auf sehr alte Ab-
machungen zu gründen. Der am 15. Januar 1750 zu Ma-
drid abgeschlossene spanisch-portugiesische Grenzvertrag (der den
Vertrag von Tordcsillas annullierte) legte mit lobenswerter
Mäßigung den damaligen faktischen Besitzstand zu Grunde.
Über die Nordgrenze zwischen spanischen und portugiesischen
Besitz giebt er folgende Einzelheiten: Voll der Mündung des
Flusses Aavari geht die Grenze entlang dem Amazonas, von
dem sie wieder nordwärts in die Mündung des Hyapura
einlenkt, um diesen Strom bis an seine Quelle zu begleiten.
So wird sie die Wasserscheide zwischen den Grenzen des
Amazonas und Orinoko erreichen und diese soll dann bis
nach Guayana hinein die politische Grenze zwischen dein
spanischen und portugiesischen Südamerika bilden. Eiil Zeit-
genosse sagt darüber: „Es war eine wahrhaft königliche lind
sehr sichtbare Linie, denn sie sollte durch Gebirgsketten und
tiefe Ströme, welche beide keinem Wechsel unterworfen sind,
dargestellt werden." In einer 1761 abgeschlossenen Kon-
vention wurde auch dieser schöne Grcuzvertrag wieder auf-
gehoben. So wenig wie Venezuela wird Brasilien die Eng-
länder vermögen, von ihrem Gebiete nur einen kleinen Teil
wieder abzutreten.
Über Schneeverwehungen auf den Eisenbahnen
in Rußland.
Von B. Sresnewskij.
Die Schneeverwehungen bilden für unsre Eisenbahnen
ernste Übelstäude, in Rußland nehmen dieselben schon einen
bedrohlichen Charakter an, der sich sowohl für die Ver-
waltungen der Eisenbahnen, wie auch für den Personen-,
Post- und Warenverkehr besonders fühlbar macht. Alan
braucht nur hinzuweisen ans die Stärke und Gefährlichkeit
der Schneestürme „Buran" im Winter, wie sie Dahl u. A.
schildern: „Menschen erfrieren in geringer Entfernung von
ihren Wohnhäusern, bisweilen sogar auf den Straßen der
Dörfer, ihrer Kräfte beraubt lind ohne sich zu rühren oder
beständig im Kreise herumirrend. Das Vieh rennt mit dein
Winde hunderte von Werst ohne anzuhalten, stürzt nicht
selten in Abgründe und kommt dabei um. Der Steppen-
Kaissak, welcher sonst wie bei Tage, so bei Nacht bereit ist
uns durch jede beliebige Einöde zu führen, weigert sich ent-
schieden, während eines solchen Bnrans den Führer zu
spielen; wird er aber unterwegs von ihm überrascht, so steigt
er vom Pferde, legt sich hin und bedeckt sich, wenn möglich
mit Schnee und wartet den Vorübcrgang des Sturmes ab"
— um zu erkennen, welche mißliche Wirkungen die in ihrer
Folge eintretenden Schneeverwehungen ausüben müssen. Es
waren beispielsweise zufolge des Schneegestöbers vom 1.(13.)
bis 3. (15.) März 1883 in Mittelrußland auf der Nikolai-
bahn 12 000 Arbeitstage erforderlich, und auf der Moskau-
Kursker Bahn 7000 Arbeiter thätig, um die Verkehrs-
störung zu heben. Ine europäischen Rußland ist der
Bahnverkehr im Winter bei aller Bequemlichkeit und
Schneelligkeit durch Schneewehen mehr gehemmt als der
Verkehr mit Pferden. Das reisende Publikum in Rußland
muß im Winter stets darauf vorbereitet sein, daß cs möglicher-
weise auf seiner Reise ausgehalten werden kann. Einzelne
Bahnverwaltungen haben deshalb die Notwendigkeit erkannt,
Maßregeln zu treffen, damit der eventuelle Eintritt von
Schneewehen vorhergesehen werden könne, um dann recht-
zeitige Maßnahmen treffen zu können. Die Morschansk-
Ssysraner Bahn hat ihren Beamten die Ausführung meteoro-
logischer Beobachtungen aufgetragen, um beurteilen zu können,
ob die bemerkten gefährlichen Winde Schneeverwehungen zu
verursachen drohen.
Das Departement für Eisenbahnen in Rußland zweifelte
ursprünglich daran, daß die Wetterprognosen denjenigen
Grad der Vollkommenheit besäßen, welche zn einer thatsäch-
Nutzanwcuduug für die Praxis erforderlich sei. Der wachsende
Erfolg der Sturmwarnungen für am Meere gelegene Gebiete
von Seiten des physikalischen Zentralobservatoriums in Peters-
burg veranlaßten jedoch Herrn B. Sresnewskij zur Unter-
suchung der meteorologischen Bedingungen, welche die Schnee-
verwehungen auf den Eisenbahnen verursachen. Die ersten
Resultate hierüber veröffentlichte H. Sresnewskij in den
Jahren 1886 und 1887 in verschiedenen Zeitschriften, deutsch
insbesondere in der deutschen Petersburger Zeitschrift. In
einer neuen, außerordentlich interessanten Studie „Über
Schneeverwehungen auf den Eisenbahnen in Rußland", welche
im Repertorium für Meteorologie, redigiert von D. H. Wild,
Bd. XIII, Nr. 6 enthalten ist und der wir alle hier mit-
geteilten Daten verdanken, untersucht H. Sresnewskij auf
Gründ eines reichen Materials über die stattgehabten Schuee-
verwehungen von den Eisenbahnlinien in Rußland in den
Jahren 1879 bis 1889 die einzelnen Fälle mit Hilfe der
synoptischen Karten des physikalischen Zcntralobservatoriums
und gelangt zu folgenden Ergebnissen:
„Die Schneeverwehungen sind Folgeerscheinungen starker
Aus allen Erdteilen.
63
atmosphärischer Störungen, welche von Schneefall oder
starken Schneewehen begleitet werden. Die Störungen der
Atmosphäre bei Schneeverwehungen stehen den Störungen bei
Stürmen auf dem Meere an Stärke nicht nach. An verschie-
denen Orten stimmt die Richtung des Windes, bei welcher
Schneeverwehungen entstehen, sehr nahe mit der vorherrschen-
den Windrichtung und der gewöhnlichen Richtung der Stürme
überein; also hat die Richtung der Eisenbahnlinie selbst im
allgemeinen keinen bestimmten Einfluß auf die Schneever-
wehungen der Bahnen. Die Störungen der Atmosphäre
werden durch Wirbel bewirkt, die am Rande der Maxiina
und im Gebiete der Minima des Luftdruckes auftreten. So-
wohl Schneeverwehungen, wie auch Stürme stehen im Norden
Rußlands vornehmlich mit den Minimis, int Süden aber
im gleichen Grade mit den Maximis und Minimis des
Luftdruckes im Zusammenhang. Die jährliche Periode der
Schneeverwehungen weist übereinstimmende Eigenschaften mit
der Periode der Windstärke auf. Die größte Zahl der
Schneeverwehungen fällt auf die Monate Januar und März,
in denen auch die Windstärke größtenteils ihr Maximum
erreicht. Im Februar macht sich ein Nachlassen in der
Häufigkeit der Schneeverwehungen und der Stürme bemerkbar.
Der jährliche Gang der Schneefälle weist eine bedeutende
Verschiedenheit gegenüber dem der Schneeverwehungen auf
und cs ist daher der Schluß berechtigt, daß der Schneefall
allein nicht die Schneeverwehungen bedingt. Die Zunahme
der Häufigkeit der Schneeverwehungen in der ersten Hälfte
des Winters erklärt sich aus der Zunahme der Mächtigkeit
der aus der Erde ruhenden Schneeschicht; das Nachlassen der
Häufigkeit der Schneeverwehungen im Februar und die
Steigerung derselben im März ist ans den entsprechenden
Schwankungen der Windstärke zu erklären". Es.
Aus allen
— DieDeutsche Anthropologische Gesellschaft hält
ihre diesjährige (22.) Versammlung nicht in Königsberg,
tute ursprünglich festgesetzt war, ab, sondern (wegen des am
18. Juni erfolgten Todes des erwählten Geschäftsführers
Dr. O. Tischler) in Danzig und zwar vom 3. bis 5.August.
Geschäftsführer ist Dr. Lissaucr in Danzig.
— Die transandine Eisenbahn macht nach neuern
Mitteilungen erfreuliche Fortschritte. Man bezeichnet damit
jene Strecke Eisenbahn, welche, iiber die südamerikani-
schen Andes führend, die Eisenbahnsysteme von Chile und
Argentina verbindet. Die Gcsammtstrecke der Bahn beträgt
240 lein, von denen 174 auf argentinischem Boden liegen
mit Mendoza (724 in) als Ausgangspunkt. Auf chilenischem
Boden liegen nur 66 Irin, ausgehend von dem chilenischen
Eiseubahnendpnnkt Santa Rosa (824 m). Die größte Höhe,
welche die Bahn erreicht, liegt in 3188 m, wo in einem
Tunnel die höchste Höhe des Gebirges, die den Tunnel
noch um 600 m überragt, durchsetzt wird. Im ganzen
werden acht Tunnels gebaut, die zusammen gegen 15 Irin
lang sind. Das Bohren dieser Tunnel ist deshalb ein
schweres Stück Arbeit, weil Brennmaterial wegen ungeheurer
Kosten nicht zugeführt werden kann und damit die Verwen-
dung von Dampfmaschinen ausgeschlossen ist; Wasserkraft ist
nicht nahe genug, um dieselbe unmittelbar zu verwenden;
man erzeugt daher erst mit deren Hilfe elektrische Kraft, die
zu den Bohrstellen geleitet wird.
— Die arktische Expedition Robert Pearys
(Globus, Bd. LIX, 240), welche von der naturwissenschaft-
lichen Akademie in Philadelphia unterstützt wird und zum
Ziele nicht die Erreichung des Nordpols, sondern nur des
nördlichsten Punktes von Grönland hat, ist begründet auf die
Erfahrungen Nordenskiölds und Nansens über das Binnen-
eis von Grönland. Peary wird sein Ziel mit Schlitten und
Schneeschuhen zu erreichen suchen und zwar auf dem Über-
landwege entlang uub int Innern der grönländischen Nord-
westküste, östlich mit Smithsuude.hin. Bereits 1886 hat
sich Peary auf Schneeschuhen in Grönland geübt. Unter
seinen fünf Begleitern befindet sich ein Schwede, Domn
Gracle; Ausgangspunkt ist Whale Sound, von wo aus all-
mählich an den verschiedenen in Nordwestgrönland einschneiden-
den Föhrden Niederlagen angelegt werden sollen, die bei der
Rückkehr benutzt' werden. Auf Pearys Karte sicht die Er-
reichung' of the nortlieru terminus of Greenland sehr
hübsch aus. Hoffen wir, daß das Werk gelinge.
Erdteilen.
— Ein Denkmal für Gustav Nachtigal ist am
28. Juni in Stendal in der Altmark enthüllt worden. Ver-
treten waren bei der Feier die Behörden der Stadt und
Provinz, die Geographischen Gesellschaften von Halle und
Berlin, die Berliner Anthropologische Gesellschaft. Der Vor-
stand der Kolonialabteilnng, Dr. Kayser, würdigte in seiner
Rede Nachtigal, dessen Verdienste als Gelehrter nndForschnngs-
reisendcr genugsam bekannt seien, namentlich in der Thätig-
keit als Beamter des Auswärtigen Amtes. Pflichttreue,
Umsicht und Sachkenntnis hätten ihn alle Schwierigkeiten
überwinden lassen, und so stehe er noch heute auch dort im
allerbesten Andenken. „So mischten sich in ihm die Elemente,
daß die Natur aufstehen konnte und der Welt verkünden:
das ist ein Mann". Übrigens sei ihm nicht nur die Un-
sterblichkeit beschieden gewesen, die der Dichter denen verheißt,
welche den Besten ihrer Zeit genug gethan. Nachtigal habe
das Glück gehabt, den Markstein für eine neue Entwicklung
des Volkes zu errichten. In Togo und Kamerun (wo Nachtigals
sterbliche Überreste bestattet liegen), um deren Erwerbung er
sich verdient gemacht, wird er stets unvergessen bleiben.
Deutschland werde die von Nachtigal mit eingeleitete Kolonial-
thätigkeit nie aufgeben, sondern kräftig fördern. Gustav
Nachtigal war übrigens, wie wir hier hervorheben wollen,
nicht in Stendal selbst, sondern am 23. Februar 1834 in
dem nahen Eichstätt geboren. Gestorben ist er am 20. April
1885 an Bord der „Möwe" gegenüber Kap Palmas, wo
zuerst seine Bestattung erfolgte. (Abbildung des dortigen
Grabes bei Büttikofer, Liberia I, 440.)
— Amerikanische Expedition nach Labrador.
Am 27. Juni ist auf dem Schoner „Decker" von Brunswick
in Maine aus eine kleine Expedition nach der Hamilton-
Einfahrt gesegelt. Die Hamilton-Einfahrt ist der große,
unter 540nördl. Br. westlich in den Landkörper von Labrador
einschneidende Fjord. Der Einfahrt lind eine große Zahl
Untiefen und Inseln vorgelagert. Der Eskiinoname für den
Fjord ist Jvuktok, welchen Namen auch die britische Admi-
ralitätskarte dem Hamilton-Jnlet beischreibt, darunter aber
auch noch die breite Erweiterung im oberen Teile der Ein-
fahrt, den Lake Melville, einschließt. Die Längserstreckung
dieses großen Fjordes beträgt drei Längengrade. Professor
Leslie-Lee hat die wissenschaftliche Leitung der Expedition;
ihm beigegeben sind 17 Studenten. Vier Mitglieder sollen
die Einfahrt aufwärts verfolgen, etwa 260 Irin, und dann
die Wasserfälle des Grand River untersuchen, denen eine
Überlieferung die fabelhaste Höhe von 600 in giebt, in welcher
64
Aus allen Erdteilen.
sie von bem Tafelland des innern Labrador herabstürzen
sollen. Die Indianer versichern, diese Fälle schon gesehen zn
haben und erzählen auch, daß früher schon ein weißer Mann
von der Hudsonbai aus dorthin gekommen sei. Die Sonder-
abteilnng wird später den „Decker" wieder in Hamilton-Jnlet
treffen. Die ganze Expedition wird dann der Küste entlang
nordwärts segeln bis Kap Chudleigh oder Chidley, unter
60° 30' nördlicher Breite, am Eingänge zur Hudsonstraße.
Wenn möglich, sollen die Missionsstationen der mährischen
Brüder an der Labradorküste, Rain und Oskak, besucht
werden. Am 15. September soll die Reise wieder in Maine
beendigt sein. Der Hauptzweck der Expedition ist die Samm-
lung ethnographischer Gegenstände und genaue Messung der
Eskimos. Zur Fixierung der Sprache und der Gesänge der
Eskimos soll ein Edisonscher Phonograph dienen. Über die
Wasserfälle im innern Labrador berichtete schon 1888 Holme
der Britischen Geograph. Gesellschaft. Danach unternahm
Mr. Maclean 1839 eine Flußfahrt bis zu den großen Fällen
des Grand oder Hamilton-River, oberhalb des Sees Wamini-
kapon. Holme selbst besuchte den südwestlichen Teil des
Melvillesees, den er Goosebai nennt, und von da aus die
untersten Fälle des Grand River, die er photographierte und
etwa 20 m hoch schätzte. Bon hier aus aufwärts überwand
er zahlreiche Stromschnellen und schätzte die Höhe des innern
Tafellandes auf 600 in, aber ans die Entfernung von etwa
50 Irin, von dem Lake Waminikapou bis zu den Grand Falls.
Die Höhe der letzteren ist bis heute unbekannt, cs sei aber
kein Zweifel, daß diese großen Fälle in Wassermasse und
Absturzhöhe kaum ihresgleichen in der Welt finden werden.
— Richard Henry Major, geboren 1818, start am
25. Juni 1891 zu London. Mit ihm ist der grosite Kenner
der Geschichte der Erdknude in England dahingegangen. Als
Sekretar der Hakluyt-Society hat er von 1849 bis 1858
vcrschiedene alte Reisewerke, sowie ansgewahlte Briefe von
Chr. Columbus herausgegeben. In seinem 1857 ver-
offentlichten Early Voyages to Terra Australis wies er
darauf hin, das; Australien schon im Beginne des 16. Jahr-
hunderts von den Portngiesen entdeckt lvorden war; anch
verdanken wir ihm cine Abhandlnng nbcr die Weltkarte des
Leonardo da Vinci. 1868 gab er sein bckanntes Werk uber
das Leben des Prinzen Heinrich, des Seefahrers, von Portu-
gal heraus, was ihm namentlich von Portugal ans grosie
Ehrenbezeugnttgcn eintrug. Zn semen spatern Werken
gehort die Herausgabe der Voyages of the Venetian
Brothers, Nicolo and Antonio Zeno. Major war bis
1880 Vorstand der Kartenabteilung des Britischen Museums
und von 1881 bis 1884 Vizeprasident der Londoner Geo-
graphischen Gesellschaft.
— Die Insel Peregil (Marokko). Diese wenig be-
kannte Insel wurde bisher allgemein als spanischer Besitz an-
gesehen, dies ist ein Irrtum, sie gehört vielmehr zu Marokko.
Don José Jilncno Agius bemerkt hierüber in seiner Schrift:
Territorio y población de España (Madrid, 1890) fol-
gendes : „Bis vor kurzem wurde auch die Insel Peregil oder
Eoral als spanische Besitzung betrachtet; sie liegt an der
Straße von Gibraltar, eine Seemeile von der Punta Ar-
lanza und in derselben Entfernung von der Punta Leone,
l1/a Kabel vom Fuße der Sierra Bullones. Sie besitzt
eine (See-) Meile Umfang, liegt 74 in über dem Meere und
hat nur zwei kleine Rheden — an der Südseite — auszuweisen.
Heute ist cs nicht mehr möglich, sie zum spanischen Ge-
biete zu zählen. Sie wird zwar in verschiedenen offiziellen
Publikationen als spanisch angeführt und in einer derselben
stützt man sich darauf, daß die spanische Regierung im Jahre
1746 den Befehl gab, eine Karte der Insel zu dem Zwecke
aufzunehmen, um eine Befestigung dort zn errichten und
sie in ein Presidio zn verwandeln, aber trotz alledem darf
man sie nicht mehr als spanisch betrachten, seitdem der
spanische Staatsminister im Unterhause der Cortes am
3. Dezember 1887 folgends gesagt hat: „ . . die Dokumente,
welche ich zitiert habe, und jene, welche ich der Kammer
vorlegen werde, bestätigen ans eine entscheidende Weise, die
keinen Zweifel gestattet, daß der Staatsminister durch Ver-
mittelung der spanischen Gesandtschaft zu Tanger die Insel
Peregil als Besitz und unterthäniges Gebiet des Kaisertums
Marokko anerkannt hat." B.
— Über die Chatham-Jnseln im Osten von Neusee-
land berichten die Deutschen geographischen Blätter Lindemans
nach einer australischen Quelle, daß sie neuerdings von einem
Neuseeländer, I. A. Robertson, besucht wurden. Die größere
der beiden Inseln, Warekauri, ist von Neuseeland mit dem
Dampfer in 40 Stunden zn erreichen. Sie hat eine Länge
von 38 und eine Breite von 25 Miles, erhebt sich im Süden
bis 300 in und senkt sich allmählich nach Norden hin, wo der
beste Hafen liegt, besser als die mehr besuchte Waitangubncht
im Süden. Größere Flüsse sind nicht vorhanden, dagegen
zahlreiche Seen. Der Boden ist teils noch mit Wald bedeckt,
der aber nur minderwertiges Holz besitzt, teils mit Torflagern,
die zwei Drittel der Oberfläche einnehmen. Mais und
Kartoffeln werden gebaut; Haupterwerb bietet die Schafzucht;
auch die Schweinezucht wird betrieben. Eine fernere Er-
werbsquelle ist der Fischfang. Die Ureinwohner, die Moriori,
nächste Verwandte der neuseeländischen Maori, sind im Aus-
sterben begriffen.
— Die Anlage von Kapitalien nach geogra-
phischen und ethnographischen Bedingungen be-
handelte G. Martin in einer Mitteilung an die Pariser
geographische Gesellschaft am 1. Mai. Die Franzosen ver-
borgen ihre Kapitalien meistens in Europa, weniger in
Amerika. Die Engländer geben der ganzen Welt Kredit; die
Deutschen legen auswärts ihre Kapitalien, namentlich in
Österreich-Ungarn, Rußland und den Vereinigten Staaten
an; die Holländer in ihren Kolonien, Rußland und Nord-
amerika. Martin teilt die Kulturvölker in borgende und
verborgende ein. Die größten Borger sind die Amerikaner
und unter ihnen namentlich die Nordamerikaner, welche au
Europa jährlich 500 bis 550 Mill. Francs Zinsen zahlen.
Kreditgebende Länder sind nur Frankreich, England, Deutsch-
land, Holland, Belgien und die Schweiz. Diese alle sind
in der Mitte und im Nordwesten Europas gelegene Länder;
sic bilden die geographische Gruppe, mit derem Gelde die
übrigen Länder arbeiten.
— Emin Pascha ist, nach Berichten aus Sansibar,
am 22. März von Kafurro in Karagwe nach Nordwesten
aufgebrochen. Kafurro liegt östlich vom Windermere-See,
nahe bei der Hauptstadt des Königs von Karagwe (früher
Rnmanika) und ist durch Speke und Stanley bekannt. Emin
hat daselbst einen Araber als Verwalter eingesetzt. Wenn
der Bericht sagt: Emin wolle nach dem „Hafen" Mpororo
am Albert-Edwardsee aufbrechen, so ist dieses wohl eine Ver-
wechslung mit der — wenig bekannten — Landschaft gleichen
Namens am Südende jenes Sees. Damit würde Emin die
deutsche Interessensphäre überschreiten und sich bereits in der
britischen bewegen. Weiterhin will Emin das auf der letzten
Stanleyschen Expedition entdeckte Schneegebirge des Rnwen-
sori näher erforschen und mit seinen früheren Untergebenen
in der ehemaligen Äqnatorialprovinz Fühlung suchen.
Herausgeber: Dr. R. And ree in Heidelberg, Leopoldstraße 27.
Druck von Friedrich View eg und Sohn in Braunschweig.
■
r st ii f tfi in i> t n Jährlich 2 Bände in 24 Nummern. Durch alle Buchhandlungen und Postanstalten jQO-f
iO II ] sl| Iu L l g. zum Preise von 12 Mark sür den Band zu beziehen. '
Albert Hermann p o st.
Von Th. Achelis.
Der Verfasser der „Ethnologischen Gedanken" in Nr. 19
des letzten Bandes dieser Zeitschrift ist wahrscheinlich den
meisten Lesern des „Globns" nicht mehr unbekannt; gehört er
doch in die erste Reihe der Forscher, welche unermüdlich bestrebt
sind, der großen sozialpsychologischen Perspektive, wie sie ja
ganz besonders klar in der vergleichenden Rechtswissenschaft
sich dokumentiert, eine immer breitere Basis und immer weit-
reichendere Gesichtspunkte abzugewinnen. Da die wissen-
schaftliche Thätigkeit des einzelnen nun zugleich ein mehr
oder minder getreues Abbild der herrschenden geistigen Stim-
mung ist, die darin zum Ausdruck gelangt, so verlohnt cs
sich vielleicht der Mühe, in diesem Reflex das Ziel der ethno-
logischen Untersuchung überhaupt einer kurzen Betrachtung
zu unterziehen, indem wir thunlichst unserm Gewährsmann
selbst die Entwicklung und Begründung seiner Lebensaufgabe
überlassen; von irgend einem Eingehen in das Detail kann
natürlich nicht die Rede sein. Beginnen wir mit den üblichen
biographischen Daten.
Post ist geboren in Bremen am 8. November 1839.
Nach Absolvierung des Gymnasiums besuchte er die Hoch-
schulen zn Heidelberg, Berlin und Göttingen, um Juris-
prudenz zu studieren, selbstverständlich in dem hergebrachten
römischen Sinne und nicht etwa in der durch die Völker-
kunde erst neuerdings bewirkten Erweiterung; in den Jahren
seines Universitütsanfenthaltcs (1859 bis 1863) war noch
von einer vergleichenden Rechtswissenschaft auf ethnologischer
Basis wenig in Deutschland zu spüren, jedenfalls aber am
wenigsten auf den Hochschulen. Nach Ablegung des juri-
stischen Examens bei dem damaligen Obcrappellationsgericht
in Lübeck, ließ er sich in Bremen zunächst als Anwalt nieder,
wurde 1866 zum Gerichtssekretär und am Anfang des
Jahres 1874 zum Richter am Landgericht in seiner Heimat-
stadt ernannt. Jede freie Zeit, die ihm seine überbürdete
Praktische Berufsthätigkeit übrig läßt, benutzt er, um das
lediglich durch eigenes hartnäckiges Studium errungene Ideal
seiner wissenschaftlichen Forschung immer voller auszugestalten.
Das ist in wenigen Worten der äußere Rahmen des Bildes,
Globus LX. Nr. 5.
suchen wir uns nun mit dem eigentlichen Inhalt näher ver-
traut zu machen.
Der Einblick in die Entstehung der ethnologischen Welt-
anschauung bei unserm Gewährsmann ist um so müheloser
zu gewinnen, als Post selbst uns überall die nötigen Auf-
schlüsse über die einzelnen Stufen dieser Entwicklung an die
Hand giebt, denen wir uns natürlich in unsrer Darstellung
anschließen. Wie die meisten andern Forscher seines Zeichens,
ist auch er von der landläufigen römisch-juristischen Vorbildung
ausgegangen, um dann erst durch den Umweg der National-
ökonomie ans den Standpunkt der vergleichenden Ethnologie
zu gelangen; daß auch philosophische und naturwissenschaftliche
Ideen bei diesem Prozeß wenigstens ein wichtiges Ferment
abgegeben haben, ist leicht begreiflich. Hören wir ihn selbst:
„Das Studium der herrschenden Rechtsphilosophie war für
mich durchaus unbefriedigend. Es befestigte sich täglich
mehr und mehr die Überzeugung in mir, daß die bisherigen
Fundamente der Rechtsphilosophie nicht im Stande sein
würden, den Bau der Rechtswissenschaft der Zukunft zu tragen,
und daß ein völlstündiger Neubau von unten herauf unum-
gänglich sein werde. Die ersten allerdings noch ganz em-
bryonalen Versuche zn einem solchen Neubau findet man in
dem von mir in den Jahren 1866 bis 1871 herausgegebenen
„Entwurf eines gemeinsamen deutschen und hansastadt-
bremischen Privatrechts auf Grundlage der modernen Volks-
wirtschaft" (drei Bände). Die dort entwickelten Gedanken
blieben für die juristische Wissenschaft schon um deswillen
unfruchtbar, weil sie gelegentlich der Behandlung eines Par-
tiknlarrechts zum Ausdruck gelangt waren. Die im ersten
Bande dieses Werkes niedergelegten Ideen fanden eine weitere
Bearbeitung in einer 1867 unter dem Titel „Das Natur-
gesetz des Rechts. Einleitung in eine Philosophie des Rechts
auf Grnndlange der modernen empirischen Wissenschaft" publi-
zierten Schrift. Beide Schriften lehnen sich noch stark an
die Kantsche und Schopenhauersche Philosophie an. Für
einen wirklichen Neubau der Fundamente der Rechtswissen-
schaft reichte das Material, ans welches sich dieselben stützten,
9
66
Th. Achelis: Albe
lange nicht ans. Der mächtige Aufschwung der Naturwissen-
schaften, wie er sich an den Namen Darwins knüpft, trieb
mich alsdann in das Studium von Gebieten hinein, welche
mir bis dahin ziemlich fremd geblieben waren und legten mir
die Verwendung der neugewonnenen naturwissenschaftlichen
Anschauungen im Gebiete des Rechts nahe. Das nächste
Resultat dieser Studien war eine kleine Schrift, welche 1872
unter dem Titel „Einleitung in eine Naturwissenschaft des
Rechts" erschien. Bald jedoch war mir auch der hier er-
öffnete weitere Gesichtskreis nicht mehr weit genug. Ich
kam zu der Überzeugung, daß die einzige haltbare Basis für
die Rechtswissenschaft der Zukunft in einer allgemeinen, aus-
schließlich auf Erfahrungsthatsachen gestützten Soziologie zu
finden sei, und so begann ich denn an der Hand der Ethno-
logie die Thatsachen des Rechtslebens bei allen Völkern der
Erde zu sammeln und ihren Ursachen nachzugehen. Diese
Arbeit ist niedergelegt in den Schriften: Die Geschlechts-
genossenschaft der Urzeit und die Entstehung der Ehe, 1875.
Der Ursprng des Rechts, 1876. Die Anfänge des Staats-
und Rechtslebens, 1878. Bausteine für eine allgemeine
Rechtswissenschaft auf vergleichend ethnologischer Basis, zwei
Bände, 1880, 1881. Da hier e.in vollständig jungfräu-
liches Gebiet vorlag, so handelte es sich zunächst um Herbei-
schaffung eines umfangreichen empirischen Materials. In
einigen dieser Schriften tritt infolge dessen der Gedankengang,
auf welchem dieselben beruhen, stark zurück. Es galt zunächst
nach Rechtsgebränchen bei allen Völkern der Erde zu suchen,
wo immer ich vermuten konnte, solche aufzufinden. Soweit
Rechtsbücher nicht aufzutreiben waren, blieb in dieser Be-
ziehung nichts übrig, als nach Rechtsgewohnheiten der Völker
in Reisewerken zu suchen. Es mußten unzählige Bände
solcher Reisewerke durchgesehen werden, um zu entdecken, ob
etwa dieser oder jener Rechtsbrauch in glaubwürdiger Art
und Weise in denselben berichtet sei. Diese Arbeit war müh-
sam, aber fruchtbringend und führte zu dem merkwürdigen
Resultat, daß eine Reihe von Rechtsgebränchen sich in auf-
fallender Weise bei den stammfremdesten Völkerschaften wieder-
holte. Es galt nun die so gesammelten Rechtssitten in einen
Zusammenhang miteinander zu bringen, die sozialen Jdeen-
kreise aufzufinden, denen die einzelnen Sitten angehörten.
Es gehörte ein jahrlang fortgesetztes Nachdenken dazu, bis
sich diese isoliert aufgefundenen Bruchstücke zu einem Eut-
wicklungsbilde vereinigten, in welches sie sich alle ohne Zwang
einreihten. In den „Bausteinen" konnte ich es bereits
wagen, aus dem gewonnenen Material einige allgemeinere
Schlüsse zu ziehen. Die vorliegende Schrift (es sind die
„Grundlagen des Rechts und die Grnndzüge seiner Ent-
wicklungsgeschichte") beabsichtigt, in kurzen Grundzügen dar-
zulegen, welche Konsequenzen meiner Ansicht nach ans dem
Material zn ziehen sind, welches in meinen frühern Schriften
aufgespeichert liegt. Da ich mir nicht verhehlen kann, daß
das Material, auf dem diese Schrift sich aufbaut, überall
ein unzureichendes und lückenhaftes ist, so kann es sich nur
um einen Versuch handeln, eine allgemeine Rechtswissenschaft
zn begründen, nicht darum, ein fertiges System aufzustellen,
welches allen Stürmen zu trotzen fähig wäre. Einen solchen
Versuch zu machen, schien mir aber nicht unfruchtbar für die
Wissenschaft. Selbst für den gelehrten Juristen wird es sehr-
schwer sein, sich dasjenige klar zn machen, was in einer im
wesentlichen nur aus Material zusammengesetzten Schrift, wie
z. B. „die Anfänge des Staats- und Rechtslebens" zwischen
den Zeilen zn lesen ist. Die hier berührten Jdeenkreise sind
der Rechtswissenschaft noch so fremd und unzugänglich, daß
es wohl gerechtfertigt erscheint, sie im Zusammenhange zu be-
leuchten. Man prüfe dann an der Hand weiteren ethnolo-
gischen Materials, inwieweit das entwickelte Bild verzeichnet
ist, und inwieweit dasselbe Richtiges enthält. Daß es ein
rt Hermann Post.
durchaus andres sein muß, wie das in den bisherigen rechts-
philosophischen Werken gegebene, ergiebt sich schon daraus,
daß diese im wesentlichen auf römisch-rechtlichen Anschauungen
beruhen, während sich meine Schrift ans die Rechtsanschaunngen
aller Völker der Erde stützt, soweit ich dieselben mir zugängig
machen konnte. Daß dieser erweiterte Gesichtskreis zn durch-
aus andern Anschauungen über das Wesen des Rechts führen
mußte, wie es die landläufigen sind, ist leicht einzusehen"
(Vorrede zu „Die Grundlagen", S. 3 ff.).
Das ist in kurzen Umrissen das Programm für die wissen-
schaftliche Thätigkeit unsres Gelehrten, dessen wesentlichsten
Elemente wir nun zu betrachten haben. Der erste und fast
allein ausschlaggebende Punkt ist die rückhaltlose Durchführung
des sozialpsychologischen Gesichtspunktes, wie er in allen
modernen soziologischen Wissenschaften (Statistik, National-
ökonomie, Völkerkunde u. s. w.) jetzt zum Durchbruch gelangt
ist. Post hat mit Rücksicht eben ans die fundamentale Wich-
tigkeit dieser Perspektive in einer eigenen Schrift diesen Ge-
danken ausführlich begründet („Einleitung in das Studium
der ethnologischen Jurisprudenz"), ans der wir hier einige
Ausführungen entlehnen. Zunächst muß gegen den in der
spekulativen Philosophie zu so trauriger Berühmtheit gelangten
Kultus des Ich und des individuellen Bewußtseins über-
haupt, als angeblich letzten Quellen alles organischen Werdens,
entschieden Protest erhoben werden, wenn man etwa denselben
fragwürdigen Faktor auch für die Ethnologie in Anwendung
bringen will. Bei genauerer Betrachtung (erklärt Post)
stellt sich heraus, daß nicht das individuelle Rechtsbewußt-
sein der Schöpfer des Rechtslebens ist, sondern daß viel-
mehr umgekehrt das individuelle Rechtsbewußtsein ein Pro-
dukt des Rechtes als eines sozialen Lebensgebietes ist. Nur
soweit das Rechtsbewnßtsein Bewußtsein ist, stoßen wir ans
eine biologische Grundlage, soweit es aber Rechtsbewußt-
sein ist, finden wir nur eine soziologische. Das mensch-
liche Bewußtsein hat in den Zentralorganen eine körperliche
Basis, aber man wird vergebens im menschlichen Körper
nach irgend einem Organ suchen, welches der Sitz des sitt-
lichen oder des Rechtsbewußtseins sein könnte. Ein isoliert
aufwachsender Mensch würde denken, weil er ein Gehirn be-
sitzt und er dieses im Kampfe mit der Natur ohne weiteres
anwenden würde. Von einem sittlichen Bewußtsein oder
einem Rechtsbewußtsein würde man bei einem isoliert auf-
gewachsenen Menschen gar nichts spüren. Beide sind ledig-
lich Produkt des geselligen Zusammenlebens der Menschen.
Sie entstehen erst durch die Anpassung an die geselligen Ver-
hältnisse, in denen der Mensch lebt. Erst durch diese füllt
sich das menschliche Bewußtsein unter unzähligen andern An-
schauungen auch mit sittlichen Anschauungen und Rechtsan-
schannngen. Daher läßt sich das Rechtsleben überhaupt nicht
aus der Natur des menschlichen Individuums, sondern nur
aus der Natur der sozialen Verbände erklären, in denen es
sich entwickelt und nur von hier ans wird auch das individuelle
Rechtsbewußtsein begreiflich. Obgleich das Rechtsbewnßt-
sein rein triebartig in uns wirkt, ist es doch das Erzeugnis
sozialer Faktoren und nicht individueller. Es ergiebt sich
dies auch schon daraus, daß es den individuellen Neigungen
entgegen wirkt. Wie will man eine biologische Basis für
zwei Seiten finden, welche miteinander in Konflikt kommen,
wenn das Individuum eine Missethat zu begehen die Neigung
spürt und sein Rechtsbewußtsein sich dagegen stemmt? Und
wenn keine biologische Basis da ist, so beruht die psycholo-
gische Anschauung, daß der Mensch durch die ihm angeborene
Vernunft seinen sinnlichen Neigungen Halt gebieten könne,
auf Phantasie. In der That ist das, was Halt gebietet, kein
biologischer oder individualpsychologischer Faktor, sondern ein
soziologischer und sozialpsychologischer. Der schärfste Beweis
aber dafür, daß das individuelle Rechtsbewußtsein kein biolo-
Th. Achelis: Albert Hermann Post.
67
gisches, sondern ein soziologisches Produkt ist, liegt darin,
daß es, abgesehen von den Variationen, die es dadurch er-
leidet, daß es überhaupt Bewußtsein ist (also durch Alter,
Geisteskrankheit u. s. w.), in seinem Inhalte durchaus be-
stimmt wird durch die Natur des sozialen Verbandes, in
welchem das Individuum lebt oder doch, in welchem es groß
geworden ist. Wäre dies nicht der Fall, so müßte das
Rechtsbewußtsein des auf gleicher intellektueller Bildungsstufe
stehenden Franzosen, Deutschen, Russen, Chinesen identisch
sein. Dies ist aber keineswegs der Fall; es deckt sich nur
so weit, als die soziale Organisation sich deckt (a. a. O., S. 19).
Deshalb muß auch für die strcug objektive Auffassung der
Ethnologie jede persönlich bedingte Wertschätzung, wie sie
uns noch immer im Blute steckt, völlig aufgegeben werden,
da es sich zunächst nur um die Feststellung der bezüglichen
Thatsachen und in zweiter Linie um die Auffindung der
maßgebenden Ursachen handelt. „Es giebt daher in der Ethno-
logie und speziell also auch in der ethnologischen Jurisprudenz
die Frage überhaupt gar nicht, ob irgend etwas gut oder böse,
recht oder unrecht, wahr oder unwahr, schön oder unschön sei,
sondern es giebt nur die Frage, ob irgend eine Sitte, irgend
eine Anschauung imVölkerleben existiert und weshalb sie existiert
oder weshalb nicht, ohne daß der individuellen Wertschätzung
einer solchen Sitte oder einer solchen Anschauung irgend ein
Gewicht beigelegt wird. Die individuelle Wertschätzung ist
ein ganz schwankender Faktor, welcher jede streng wissenschaft-
liche Behandlung des ethnologischen Gebietes unmöglich macht.
Sittliche Entrüstung darüber, daß ein Volk ehrlos lebt, daß
es dem Kannibalismus huldigt, daß es Menschenopfer bringt,
daß es seine Verbrecher spießt oder rädert oder seine Hexen
und Zauberer verbrennt, trägt gar nichts zur Lösung ethno-
logischer Probleme bei; sie verwirrt nur den Kausalzusammen-
hang der ethnischen Erscheinungen, dem der Ethnologe mit
deni kalten Auge eines Anatomen nachzuspüren berufen ist.
Wer im Stande ist, von unsinnigen Sitten und unsinnigen
Volksanschanungcu zu sprechen, der ist für die ethnologische
Forschung noch nicht reif (a. a. O., S. 52)". Daß aber
anderseits dem individuellen Rechtsbewußtsein nicht schlechter-
dings jede Bedeutung abzusprechen ist, daß insbesondere ein
letztes apriorisches Gefühl, Recht von Unrecht je nach den
gegebenen sozialen Bedingungen unterscheiden zu können, in
diesem ganzen Prozesse eine wichtige Rolle spielt, versteht sich
von selbst; nur muß in der Analyse dieser Entwicklung dies
Moment weder als das allein berechtigte betrachtet, noch über-
haupt an die Spitze der ganzen Untersuchung gestellt werden
(vergl. Aufgaben einer allgemeinen Rechtswissenschaft, S. 26).
Ein zweiter Gesichtspunkt, dessen Wichtigkeit bei dem
naturwissenschaftlich-empirischen Charakter der Ethnologie nicht
genug betont werden kann, ist der unmittelbare Anschluß an
die Erfahrung. Es kann hier natürlich nicht der ganze
kritische Apparat der Forschung Schritt für Schritt entwickelt
werden, wir begnügen uns mit einigen skizzenhaften An-
deutungen. Für die authentische Feststellung des Materials
kommen in Betracht: Persönliche Beobachtung (freilich im
weitaus geringsten Maße), Sammlung der vorhandenen Rechts-
bücher, Rechtsgewohnheiten und Aussprüche richterlicher Art,
endlich und vor allem die schrankenlose, über alle Völker und
Zeiten ausgedehnte Vergleichung analoger Erscheinungen im
Rechtsleben. Es ist bekannt, daß gerade diesem komperativen,
der gewöhnlichen chronologischen und topographischen An-
schauung schnurstracks zuwiderlaufenden Verfahren die ver-
gleichende Rechtswissenschaft auf ethnologischer Basis ihre,
überraschenden Aufschlüsse zu danken hat. Unser Gewährs-
x) Diese Verwahrung richtet sich besonders gegen den ab-
strakten Idealismus, wie ihn Lasson vertritt, der in den Rechten
der Naturvölker nur Barbarisches erblickt, Entartung und Ab-
normität und sie als Erzeugnisse brutalen Stumpssinns betrachtet.
mann bestimmt seine Aufgabe folgendermaßen: „Die ver-
gleichend ethnologische Methode hat ihren Ausgangspunkt
in der Vergleichung korrespondirender Rechtsinstitute und
Rechtsnormen bei allen Völkern der Erde. Sie sammelt
daher zunächst Parallelen. Parallelerscheinungen im Rechts-
lebcn des Volkes können natürlich nicht ohne weiteres zu der
Annahme gleicher Ursachen für dieselben führen, aber sie geben
die Punkte an, an denen man nach den Ursachen der Er-
scheinungen des Rechtslebens zu suchen hat. Die Parallelen
der ethnologischen Jurisprudenz ergeben folgende Grundzüge.
Es giebt bestimmte Rechtsinstitnte, welche sich so sehr bei
allen Völkern der Erde wiederholen, daß man sie als ein
Gemeingut der Menschheit betrachten darf. Andre finden
sich ebenfalls über die ganze Erde verbreitet, aber nicht bei
allen Völkern, sondern nur sporadisch; sporadisch aber wieder
bei ganz stammfremden Völkern. Andre sind beschränkt auf
bestimmte Völkergruppen, welche sie nicht überschreiten, andre
erstrecken sich nur auf ein einzelnes Volk, andre nur auf
einzelne Stämme oder noch engere ethnische Gebiete (Aufgaben,
S. 18)." Je mehr das Material anschwillt, desto unaus-
weichlicher stellen sich auch gegenüber einer ergiebigen Fülle
von sozialen Differenzierungen große, überall gültige soziale
Gesetze heraus, welche für die Entwickelung der gesamten
menschlichen Rasse entscheidend sind, und an diesem Punkte
ist sichtlich die Forschung aus dem Gebiete des rein That-
sächlichen in die freie Atmosphäre einer weltumfassenden philo-
sophischen Perspektive getreten. Aber eben wohl gemerkt,
nicht auf Grund beliebiger Spekulationen, sondern nur des
streng induktiv gewonnenen Materials; deshalb ist Post
manchen soziologischen Schlußfolgerungen gegenüber (so auf
dem Gebiete der Geschlechtsverfassuug) vorläufig noch recht
mißtrauisch, wenn er z. B. bemerkt: „Was in dieser Be-
ziehung jedoch bisher von der Wissenschaft geboten ist, gleicht
eigentlich nur einem großen Trümmerhaufen. Auf verhält-
nismäßig geringem ethnologischen Material sind die luftigsten
Hypothesen aufgebaut, welche von den jedesmaligen neuen
Bearbeitern des Gebietes mit großer Leichtigkeit wieder um-
gestürzt siud, uud es ist wohl nicht zu hoffen, daß die jüngsten
Arbeiten dem Schicksal der ältern entgehen werden." (Studien
zur Entwickelungsgeschichte des Familienrechts, S. 4). Und
anderwärts bezeichnet er die Verbannung der Metaphysik
ans der Wissenschaft geradezu als die Hauptaufgabe der Phi-
losophie der Zukunft (Bausteine II, 237), so daß in dieser
Beziehung die Warnung vor dem verhängnisvollen Über-
mut, der die bekannte Katastrophe im modernen Idealismus
heraufbeschworen hat, eindringlich genug an alle Beteiligten
ergangen ist.
Es kann nur als ein sehr erfreuliches Zeichen eines sich
zwar langsam, aber um so unaufhaltsamer sich vollziehenden
Umschwungs der wissenschaftlichen Kritik betrachtet werden,
wenn die Klagen unsres Verfassers über die Külte und vor-
nehme Zurückhaltung, die besonders die Fachgenossen seinen
Arbeiten gegenüber geraume Zeit beobachteten, mehr und mehr
verstummen; die Überzeugung, daß der landläufige individual-
psychologische Gesichtspunkt für das großartige Getriebe des
Völkerlebens schlechterdings nicht ausreicht, scheint sich somit
immer mehr Bahn zu brechen, und daran hat Post unzweifel-
haft einen guten Anteil. Möge cs ihm beschieden sein, den
vollen Triumph seiner Wissenschaft persönlich mit zu erleben,
einstweilen werden alle Gesinnungsgenossen die Hoffnung auf
einen ununterbrochenen Fortgang der Entwicklung mit ihm
teilen, der es in folgenden Worten Ausdruck giebt: „Auch die
Rechtsphilosophie könnte im stärksten Flor sein, wenn sie den
großen wissenschaftlichen Strömungen unsrer Tage folgte und
es nicht vorzöge, beim Altmodischen zu beharren. Man wird
die juristische Welt nicht mehr unter den Fahnen Herbarts
oder Hegels versammeln. Es sind ganz andre Strömungen,
9*
68
Bruno Stehle: Vom Odilienberg nach Zabern im Unterelsaß.
welche zur Zeit unser Leben beherrschen und dieÜbcrzeugungs-
treue, mit welcher unsere Rechtsphilosophen uns ihr altes
Erbgut als das Vortrefflichste des Vortrefflichen stets wieder
vorsetzen, wird nicht im Stande sein, unser Herz zu erwärmen,
Es wird auch die Rechtsphilosophie sich entschließen müssen,
auf neuen Bahnen zu wandeln. Ob es der Ethnologie ge-
lingen wird, die stolze Zwingburg derselben in 25 oder
50 Jahren zu Fall zu bringen, das wird lediglich davon
abhängen, wie viele Mitarbeiter sich für das Gebiet der
ethnologischen Jurisprudenz finden werden. Daß sie dereinst
fallen wird, dafür bürgt die Entwickelung der Ethnologie
und Soziologie unsrer Tage."
vom Odilienberg nach Zabern im Unterelsaß.
Von Bruno Stehle in Lolmar.
Odilienberg. Die Heidenmauer. Maursmünster. Zabern.
Der Wasgenwald übte zur Pfiugstzeit wieder seine alte
Anziehungskraft aus — diesmal war der Odilienberg das
Ziel der Reise. Er ist unstreitig der schönste Punkt der niedern
Vogesen und wird an Pfingsten nicht nur von Touristen,
sondern auch von Wallfahrern viel besucht, so daß auf der
sonst manchmal ruhigen und stillen Höhe ein buntbewegtes
Leben sich entlvickelt.
Schon von fern erblickt mau den mächtigen Gebirgsstock,
der jäh aus der oberrheinischen Tiefebene sich erhebt; in zwei
bis drei Stunden führt der Weg durch schattigen Wald auf
die Spitze des Berges zum schlichten Kloster. Von dem
Garten desselben genießt man eine herrliche Aussicht auf die
Rheiuebene und den Schwarzwald; die alten Klostergebände
umrankt ein dichtes Gezweig anmutiger Sagen und Legenden;
die Heidenmauer gehört zu den großartigsten Überresten von
Bauten längst entschwundener Tage. Gewiß Anziehungs-
punkte genug, um hier, fern von den Sorgen des Alltags
Ruhe und Erholung zu genießen und dabei den anziehendsten
Studien obzuliegen.
In seinem vortrefflichen Werke „Kunst und Altertum in
Elsaß-Lothringen", dem wir in den einzelnen Angaben folgen,
nennt Kraus diese Heidenmauer das vielberufenste antiquarische
Problem des Elsaß. Sie umfaßt die Bergfläche des Odilien-
berges vom Männelstein bis zur Ruine Hagelschloß und zeigt
nur da Lücken, wo natürliche Felsen sie ersetzen. Vom Hagel-
schloß bis zum Schaftstein sind es in der Luftlinie 3 km,
die Mauer umschließt einen Flächenraum von mehr als
1000 000 qm und hat einen Umfang von 10 500 m. Eine
Umwandrung der ganzen Mauer dauert drei volle Stunden.
Sie besteht ans Sandsteinblöcken von durchschnittlich
0,80 m bis 1,60 m Länge, 0,60 m Höhe und 0,80 m bis
1 m Breite. Die Blöcke sind roh, aber meist viereckig zuge-
hauen und ohne Mörtel aufeinander geschichtet. Zwischen
den großen Steinen sind kleinere eingefügt. Die Breite der
Mauer beträgt durchschnittlich 1,70 m, sie hat an manchen
Stellen eine Höhe von 3 m, für gewöhnlich eine von 2 m
bis 2,50 m; im vorigen Jahrhundert soll sie an manchen
Stellen eine Höhe von 4 m und darüber gehabt haben.
Schlösser und Klöster in der Umgebung des Berges gebrauchten
die Steine zu ihren Bauten. Um den Steinen in der Mauer
einen Halt zu geben, wurden sie durch die sogenannten
„Schwalbenschwänze", Verklammerungen aus Eichenholz, ver-
bunden. Die Einschnitte, welche diese Eichenklötze aufnahmen,
haben eine Länge von 0,20 m bis 0,25 m und sind noch au
vielen Stellen leicht erkennbar, wie sie auch auf unsrer Ab-
bildung deutlich hervortreten. Meistens sind diese Schwalben-
schwänze verfault, durch voreilige Sauunler sind sie zerstreut
und verloren gegangen, von Zeit zu Zeit findet man etliche
zwischen den mächtigen Quadern. Um diesen eigentümlichen
Ersatz für Zement auch spätern Geschlechtern aufzubewahren,
haben fürsorgliche Hände einige Exemplare in der Bibliothek
des Klosters niedergelegt.
Von wem ist die Mauer gebaut? welchen Zweck verfolgte
sie? Das sind Fragen, die eine Reihe von Gelehrten be-
schäftigten. Nach den einen soll der umwallte Platz gottes-
dienstlichen Verrichtungen gedient haben, nach andern wurde
sie zu militärischen Zwecken angelegt, bald wird sie für ein
Werk der alten Kelten gehalten, bald sollen die Römer die
Erbauer der mächtigen Umwallnng sein. Der Ansicht Jakob
Schneiders, die er in dem Buche „Beitrag zur Geschichte der
alten Befestigungen in den Vogesen, Trier 1844" nieder-
legte, wird heute größtenteils beigepflichtet. Die Zahl un-
zweifelbar römischer Bauten, welche aus solchen großen, vier-
eckig zugehauenen, durch Klammern untereinander verbunde-
nen Blöcken bestehen, ist nicht unbedeutend, während wir
weder von den Kelten ein Denkmal dieser Art besitzen, noch
dieses Volk nach unserm Wissen so zu bauen pflegte. Die
in Gestalt eines doppelten Schwalbenschwanzes geformten
Klammern erwähnt auch Vitruvius Archit. IV, 7, wo die-
selben den Namen subscus tragen 1). Innerhalb der Ring-
mauern sind römische Münzen aus dem 3. und 4. Jahr-
hundert gefunden; in die Umwallnng hinein führen dauerhaft
angelegte römische Straßen. Die ganze Anlage verrät hohe
Geschicklichkeit und tiefe Kenntnisse in der Kriegskunst, wie
sie damals nur einem Volke, den Römern, eigen war.
Der berufenste. Erklärer süddeutscher Befestigungsarbeiten
aus alter Zeit, von Cohausen, teilt Schneiders Ansicht voll-
ständig. In einer Zeit, als die in der fruchtbaren Ebene
zwischen Rhein und Gebirge lebende reiche Bevölkerung durch
die Waffen und das Ansehen der Römer nicht mehr geschützt
wurde, dienten die großen Steinwülle und Steinmauern,
welche die Höhen des Hardtgebirges und der Vogesen krönen,
als Zufluchtsorte. Ähnliche Befestigungen zeigt der Taunus
und der Hundsrück, dagegen fehlen sie im Odenwald und
im Schwarzwald. Natürlich, denn aus den Schluchten dieser
Gebirge stürmten die germanischen Schaaren und die Be-
wohner -der oberrheinischen Tiefebene konnten diesen doch nicht
ostwärts entgegenfliehen. Die Bewohner des rechten Rhein-
ufers versteckten sich in den zahlreichen Rheininseln oder
flüchteten sich auf das linke Ufer; die Bewohner dieses Landes
eilten vor den herankoutmenden Eindringlingen auf ihre be-
festigten Berghöhen, z. B. hinter die Heidenmauer des Odilien-
berges. Hierher trieben sie ihr Vieh, retteten ihre Habe.
Als die Einfälle immer häufiger wurden, die Kraft der Römer
dagegen immer schwächer, machte die Not diese Zufluchtsorte
zu bleibenden Wohnplätzcn.
Nach der Tradition des Mittelalters ist Kaiser Maximianus
Herknleus Erbauer der Heidenmauer; sicherlich ist ihre Ent-
stehung in die Zeit vom 3. bis ins 6. Jahrhundert zu setzen.
Odilienberg heißt der ganze Bergrücken, im engern
Sinne wird darunter auch nur das Kloster verstanden, das
U Schneider fand später solche schwalbenschwanzförmige
Verklammerungen auch in den Lavaquadern der römischen
Mofelbrücke zu Trier.
69
Bruno Stehle: Vom Odilienberg nach Zabern im Unterelsaß.
im 8. Jahrhundert unter dem Namen Altitona, später unter
dem Namen Hohenburg erscheint. So nennt es auch heute
noch das Volk. Schon zur Zeit Karls des Großen befand
sich hier ein Frauenkloster, das der heiligen Jungfrau Maria
und dem heiligen Petrus geweiht war. Eine Urkunde vom
Jahre 837, die Ludwig der Fromme ansstellte, durch die er
das Kloster in seinen Schutz nahm, befindet sich im bischöf-
lichen Archiv zu Straßburg. Irr dem berühmten Teilungs-
vertrag von 870 zu Mersen, in welchem die fränkischen
Lande bekanntlich nach Sprachverhältnissen zwischen Ludwig
dein Deutschen und Karl dem Kahlen geteilt wurden, kam die
Hohenburg zu dem Gebiete des erstern. Infolge der Ein-
fälle der wilden Ungarn im 9. und 10. Jahrhundert hatte
das Kloster vieles zu leiden, so daß 1049, als der aus dem
elsässischen Städtchen Egisheim bei Colmar gebürtige Papst
Leo IX. das Kloster besuchte, er wenig mehr vorfand und
gewissermaßen als zweiter Gründer anzusehen ist. Von den
nachfolgenden Äbtissinnen erlangte Herrad von Landsberg die
größte Berühmtheit. In einem Foliobaud von 648 Seiten,
der mit vielen Miniaturen geschmückt war, bekannt unter dem
Namen liortus deliciarum oder der Wonne- oder Lustgarten,
stellte sie alles zusammen, was die damalige Welt an wissen-
schaftlichen Schätzen besaß. Leider ist das wertvolle Buch,
ein beredtes Zeugnis deutschen Fleißes, bei dem Brande der
Bibliothek während der Belagerung Straßburgs zu Grunde
gegangen. Herrad arbeitete an ihrem Werke mehr denn
16 Jahre. „Wenn einer fragt, wann das gemacht wurde:
im Jahr 1159 nach der Menschwerdung Christi" lesen wir
Die Heidenmauer am Odilienberg. Nach einer Photographie.
an einer Stelle, und auf einem andern Blatte steht: „Gemacht
wurde diese Seite 1175". In der Vorrede vergleicht sie sich
selbst mit einem Bienlein, welches dieses Buch ans den ver-
schiedenen Blüten der heiligen und philosophischen Litteratur
zusammengetragen habe. Zum Inhalt hat das Buch den
Bericht der biblischen Geschichte von der Schöpfung bis zum
jüngsten Gericht; überall weiß sie aber, so oft sich Gelegen-
heit dazu bietet, das einzuflechten, „was die Philosophen
durch weltliche Weisheit, die aber auch der heilige Geist
inspirierte, erforscht haben": es sind Auszüge über Astro-
nomie, Geographie, Naturkunde, über Philosophie und freie
Künste. Was immer den Nonnen auf der hohen Burg zur
Belehrung dienen, was sie im Unterricht verwerten konnten,
ist hier mit seltenem Sammelfleiß zusammengetragen. Ein
Schulbuch sollte der lloitu8 delieiaruna sein, wie aus dem
Einleitungsgedicht deutlich hervorgeht, das in Woltmanns
„Kunst im Elsaß" in folgender trefflicher Übersetzung gegeben ist:
Hört, was Herrad zu Euch sagt,
Herrad, Mutter Euch und Magd,
Die im frommen Herzensdrang
Zu Euch singet diesen Sang.
Man nimmt auch allgemein an, daß Herrad nicht nur
die gelehrte Verfasserin dieses großartigen Litteraturwerkes,
sondern auch Schöpferin der zahlreichen Illustrationen war.
Ein Glück, daß das Buch schon früh in seinen: Werte er-
kannt und Text wie Zeichnungen durch Nachbildungen später»
Zeiten erhalten wurden.
Wie die Schicksale der Bücher, so sind auch die der
Klöster gar mancherlei. Wo ehedein Herrad von Landsberg
70
Bruno Stehle: Vom Odilienberg nach Zabern im Unterelsaß.
ihren lrortus clolioiarunr eigenhändig schrieb, wo die Hohen-
staufen auf luftiger Höhe gern weilten, wo Sibylle, des
Königs Tankred Witwe, in Haft gehalten wurde, zog bald
Zuchtlosigkeit ein, die guten Sitten aber zogen sich scheu
zurück, das Kloster ging seinem Verfall entgegen, ein Brand
legte seine Mauern nieder; die letzte Äbtissin entschied sich
für die neue Lehre. Im nächsten Jahrhundert nahmen
Prämonstratenser von den Ruinen Besitz und bauten das
Kloster bis zum Jahre 1696 so auf, wie es im großen und
ganzen noch heute besteht. Neue Gefahren brachte die fran-
zösische Revolution; es wurde als Nationalgut erklärt und
ging in verschiedene Hände über, bis 1853 der Straßburger
Bischof Naeß dasselbe kaufte und es seiner alten Bestimmung
überwies, indem er Klosterfrauen ans Rheinacker bei Zabern
berief. An ihrer Spitze steht die im ganzen Elsaß und über
dessen Grenzen hinaus wohlbekannte „Frau Mutter".
Unter den zahlreichen Gebäulichkeiten sind hervorzuheben
die Kirche, im Barockstil erbaut, die aus den Jahren 1687
bis 1692 stammt. Die Kreuzkapelle setzt Woltmann „Geschichte
der deutschen Kunst im Elsaß" in die Zeit der Äbtissin
Relindis, einer Frau von ungewöhnlicher Bildung, die eine
Verwandte Kaiser Friedrich Barbarossas war. Diese Kapelle
ist ein kleiner quadratischer Raum, von vier Kreuzgewölben
überdeckt, welche von einer Mittelsäule und vier an den
Wänden aufsteigenden Halbsäulen getragen werden. In der-
selben steht ein alter steinerner Sarg, der leer ist. Derselbe
soll bis ins 9. Jahrhundert hinaufreichen und ehedem die
Gebeine Etichos und der Bereswinde, der Eltern der heiligen
Die Klosterkirche zu Maursmünster. Nach einer Photographie.
Odilia enthalten haben. Über der Kreuzkapelle lag ehedem
eine zweite: der Olberg, die heute als Klosterbibliothek dient.
An der Nordseite des Klosters, angeblich an der Stelle, wo
die heilige Odilia die Sünden ihres Vaters beweinte, liegt
die Zährenkapelle mit romanischem Portal und romanischen
Fenstern. Auf dem äußersten Felsvorsprunge nach Nord-
osten „hängt" die Engelskapelle, von ihrer Lage auch „hangende
Kapelle" genannt. An sie knüpft sich die Sage, daß das
Mädchen, das neunmal die Kapelle umgeht, noch in demselben
Jahre einen Mann bekommt. Ältere Schriftsteller erzählen
auch vou einem Heidentempel, der ein auf sechs Säulen
ruhender Rundbau gewesen zu sein scheint. Heute ist er
verschwunden; schon 1734 soll er abgebrochen worden sein.
Von der heiligen Odilia selbst wurde nach der Sage die
Odilienkapelle zu Ehren des heiligen Johannes errichtet, wes-
halb sie auch Johanniskapelle genannt wird. Sie ist roma-
nischen Ursprungs, aber stark modernisiert. In derselben
steht das leere Grab oder Kenotnphium der heiligen Odilia;
die auf die Wände gemalten Bilder weisen auf nachfolgende
Legende der Heiligen.
Es war vor etwas mehr als 1200 Jahren. Da wurde
in Oberehnheim, einem kleinen Städtchen am Fuße des
Odilienbergcs, dem rauhen und gestrengen Herzog des Elsasses,
Attich, Etich oder Eticho mit Namen, ein Kindlein von Gott
geschenket. Doch der Vater wollte nichts von demselben
wissen: cs war ein schwaches Mädchen und noch dazu blind.
Der Grausame schwur, daß solch ein Wurm sein adlig Geschlecht
nimmer schänden dürfe, und er wolle es töten lassen. Aber
die liebende Mutter wußte Rat und rettete ihr Kind in das
Stift Palma, heute Beaume-les-Damcs genannt. Der Bischof
71
Bruno Stehle: Vom Odilienberg noch Zobern im Untcrelsoß.
Ehrhard laufte das Mägdlein, und während der heiligen
Handlung schlug es die Augen auf und war sehend.
Die Klosterfrauen erzogen ihren anvertrauten Schatz
sorgfältig, und bald erblühte Odilia zur lieblichen Jungfrau.
Nachdem sie erfahren hatte, welchen Standes sie sei, faßte
eine unwiderstehliche Sehnsucht nach der Heimat, nach der
lieben Mutter ihr Herz, und in einem Briefe wandte sic sich
an ihren Bruder Hugo, daß er ihr die Erlaubnis zur Rück-
kehr erwirken möge. Der Vater wollte davon nichts wissen.
Allein die Bruderliebe war mächtiger in Hugo als der kind-
liche Gehorsam, er schickte ihr einen Wagen und Geleite in
der sichern Hoffnung, daß der Vater seine Tochter nicht ver-
stoße, sobald er sie sähe. Vater und Sohn standen ans der
Höhe des Berges; von fern nahten sich die Bnrgmannen mit
dem Wagen. Hugo teilte seinem Vater die Ankunft Odi-
liens mit; doch kein Funke von Liebe glimmte in dem Väter -
Altes Hans in Zabern (Elsaß). Nach einer Photographie.
lichcn Herzen. Attich ergriff sein Schwert und stieß seinen
Sohn nieder.
Jetzt erst überlegte der Herzog seine rasche That; er eilte
Odilia entgegen und warf sich ihr reuig zn Füßen. Er
wollte alles wieder gut machen und den edelsten seiner Ritter
zu ihrem Gemahle erküren. Doch davon wollte seine Tochter
nichts wissen. Gott hatte ihr das Augenlicht geschenkt, ihm
wollte sie zeitlebens danken, eine reine Braut des Himmels
bleiben. Vor dem drängenden Vater entfloh sie über den
! Rhein, und als dieser mit dem Bräutigam sich ihr schon
! nahte, war wiederum Gott ihr Retter. Ein Felsen that sich
auf, und Odilia verschwand vor den Blicken ihrer Verfolger.
Heute noch trägt der Felsen ihren Namen; es ist der Odilicn-
berg bei Freiburg.
Das neue Wunder änderte den Sinn des Wüterichs-;
der heimkehrenden Odilia schenkte Attich die Hohenburg,
damit sic da ein Kloster errichte, und außerdem manche
Hufe Landes, manch prächtigen Wald, auch eine Anzahl
72
Bruno Stehle: Vom Odilienberg nach Zabern im Nnterelsaß.
Städte und Dörfer, die für den Unterhalt des Klosters zn
sorgen hatten.
Jetzt hatte sie das Ziel ihrer Wünsche erreicht. Sie führte
ein heiligmäßiges Leben, das nur den Werken der Barm-
herzigkeit geweiht war. Pilger kamen von fern und nah.
Als eines Tages ein armer Greis mit einem blinden Kinde
die steile Höhe hinanschritt, um bei der Gottgelicbten Hilfe
zu suchen, trat Odilia ihm entgegen, schlug mit ihrem Stabe
gegen einen Felsen, und ein rauschender Quell sprang aus
demselben. „Die Angen deines Kindes sind hell wie dieser
Brunnen", sprach sie — und das Kind war sehend. Noch
heute waschen sich die Gläubigen mit dem Wasser und suchen
Heilung kranker Augen.
Nach dem Tode ihres Vaters, der in tiefer Reue über
seine Siinden ans dem Leben geschieden war, betete und
weinte sie für seine Seelenruhe, „das von den Threnen, so
aus ihren Augen anff den Felsen getroffen seindt, ein tieff
Loch is worden." Arme und Kranke, Hilflose und Schwache,
Bresthafte und Aussätzige waren ihre Freunde. Ihr Ruf
zog viele Gleichgesinnte an. Sic wurde die erste Äbtissin
des Klosters. Als es zum Tode ging, erschien ein Engel
und brachte ihr in einem Kelch den Leib des Herrn. Lange
wurde der Kelch auf Hohenburg, später in Zabern gezeigt.
Gesegnet und tief betrauert von den Armen dieser Welt ent-
schlief sie unter dem Gebet ihrer Mitschwestern im Jahre 720.
Die nüchterne Kritik nahm der Heidenmauer den Charakter
eines keltischen Bauwerkes, zeigte, daß die angeblich von der
heiligen Odilia erbaute Johanniskapelle wenigstens 400 Jahre
jünger sei; schade, daß sie ihre Kraft auch an dieser duftigen
Erzählung erprobte, die auch ans Goethe ihren Eindruck nicht
verfehlte. „Unweit der Kapelle", so erzählt er in Wahrheit
und Dichtung, „wo sich die Wandrer erbauen, zeigt man ihren
(Odiliens) Brunnen und erzählt gar manches Anmutige.
Das Bild, das ich mir von ihr machte, und ihr Name
prägte sich tief bei nur ein. Beide trug ich lange mit mir
herum, bis ich eine meiner zwar späteren, aber nicht minder
geliebten Töchter damit ausstattete, die von frommen und
reinen Herzen so günstig aufgenommen wurde." Am schärfsten
ging gegen die Legende der Baseler Professor Roth in der
Zeitschrift „Alsatia" 1856 bis 1857 vor und suchte zn
beweisen, daß die Mönche von Ebersmünster die Urheber der
frommen Sage seien. Gegen ihn wandte sich der clsässische
Gelehrte L. Spach und suchte seinem Vaterlande Odilia und
Eticho zn retten. Krans will, wenn auch kein beglaubigtes
Dokument vor dem 11. Jahrhundert von Odilia spricht,
gleichwohl den Kern der Legende, nämlich die Gründung des
Klosters durch einen Herzog Ethico, Vater Odiliens, nicht
aufgegeben.
Es läßt sich das Bestreben nicht verkennen, die Gründung
des Odilienklosters, den Ban der einzelnen Kirchen und
Kapellen in möglichst ferne Zeiten zu rücken, um dadurch den
beliebten Wallfahrtsort um so ehrwürdiger, um so heiliger
erscheinen zu lassen. St. Odilien wird vielfach als das
älteste Heiligtum der ganzen Gegend angesehen. Viel älter
ist jedoch die Klosterkirche zu Maursmilnster, das an der
Eisenbahn von Oberehnheim nach Zabern, unweit dieses
Städtchens liegt. Die Fahnde dieser Kirche gehört zu den herr-
lichen Denkmälern der romanischen Baukunst, wie wir sie in
Schlettstadt, Rosheim, Gebweiler, Murbach finden. Manrs-
münster ist ein Städtchen von ungefähr 2000 Einwohnern.
Die Benediktinerabtei dahier ist die älteste des Elsaß.
Schon um das Jahr 590 gründete der heilige Leobardus,
ein Irländer, Schüler Columbans, an dieser Stätte eine
Einsiedelei; der fünfte Abt des Klosters, der heilige Maurus,
legte um 740 das eigentliche Kloster an. Ihre höchste
Blüte erreichte die Abtei im 12. Jahrhundert; in diese Zeit
füllt auch der Ban der turmreichen romanischen Faxade, an
welche sich eine große Kirche im frühgotischen Stile schließt,
die dem 13. Jahrhundert angehört. Auffallend sind an der
Fahnde die kleinen Fenster, die fast nur als Mauerschlitze
erscheinen, nur der Mittelturm hat größere gekuppelte rund-
bogige Fenster. Zwei Fenster am zweiten Stockwerk zeigen
reiche Ornamentik.
Das Elsaß kann mit seinen herrlichen Baudenkmälern mit
jedem andern deutschen Laude in die Schranken treten. Eine
Anzahl romanischer Bauten sind oben angeführt. Aus der
Zeit der Gotik Kirchen zn nennen, ist kaum nötig; ich er-
innere nur an die Münster zu Straßburg, Colmar, Rufach,
vor allem Thann im Oberelsaß. Andre Städte haben ihren
altertümlichen, mittelalterlichen Charakter völlig gewahrt; in
Türkheim wie in Reichenweier tritt man in das Innere
durch das Stadtthor, über dem ein gewaltiger Turm, aus
mächtigen Quadern erbaut, wie ehedem Wache hält. Auch
einzelne alte Häuser zeigen verschiedene Städte: So steht in
Colmar das Pfisterhaus, das Kammerrelische Haus in Straß-
burg. In dem von Maursmilnster nicht weit entfernten
Zabern findet sich ebenfalls eine Anzahl alter Häuser Unsre
Abbildung zeigt das schönste derselben. In der Mitte der
schmalen Giebelfront springt ein Erker in zwei Seiten eines
gleichschenkligen Dreiecks heraus. Das Schnitzwerk der
Balken ist schon ziemlich barock, aber die Hausthür ist noch
im Eselsrücken geschlossen, ein Beispiel, wie lange hier die
gotischen Motive nachwirken, denn zweimal, unter dem
Erker und über der Thiir, steht hier die Jahreszahl 1605
(Woltmann).
Zabern selbst gehört zu den ältesten Städten des Elsaß. Hier
lag einstens das römische Tabernä, eine Station an der
großen Römerstraße, welche Argentoratum oder Straßburg
mit Metz oder Divodurum verband. In jenem furchtbaren
Kriege, 'den der Alemannenfürst Chuodomar mit Julianus
dem Abtrünnigen führte, wurde Zabern 357 von den ger-
manischen Völkern zerstört; nach dem glücklichen Ansgange
der Schlacht stellte der römische Kaiser den Ort wieder her.
Zabern liegt am Ende der Zaberner Steige, jener Gebirgs-
straße, welche von Lothringen ins Elsaß führt. Hier kamen
alle die römischen Legionen durch, die ans dem Inneren
Galliens nach dem Rheine zogen; den Paß herunter stiegen
1439 12 000 Armagnaken, geführt von dem lothringischen
Ritter Johann von Finstingen; hier wurden im Bauernkriege
Anno 1525 18 000 wehrlose Bauern in einem furchtbaren
Morden hingemetzelt. Als Ludwig XIV., Herr der elsässischen
Lande geworden, von den Zaberner Höhen auf das reich-
gesegnete Tiefland niederschante, soll er voll Entzücken aus-
gerufen haben: (^uol I)6NU gnrckin! In der That ein
Garten, eines der lieblichsten Bilder des an Natnrschönheiten
in verschwenderischem Maße ausgestatteten Elsaß!
Johan Winkler
Friesland, Friesen und friesische Sprache in den Niederlanden
73
Friesland, Friesen und friesische Sprache in den Niederlanden.
Dem Iohan Winkler. Haarlem.
IV.
Indessen blieb in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts
die friesische Sprache nach wie vor die eigentliche Volks-
sprache. Und bei einigen Standfriesen, bei Adligen und
im allgemeinen bei den hervorragenden Leuten des Landes
blieb sie in dieser Zeit noch neben dem Niederländischen als
Schriftsprache im Gebrauch. So wurde z. B. noch das
Testament des Herrn Pieter van Cammingha, eines
hervorragenden Edelmannes aus allerültestem friesischem
Geschlechte, im Jahre 1521 zu Leeuwarden in altfriesischer
Sprache verfaßt. Noch eine andre Thatsache kann zur
Kennzeichnung des damaligen Zustandes der friesischen
Sprache dienen. Im Jahre 1542, unter der Regierung
Kaiser Karls V., wurde von allen Geistlichen in Fries-
land eine genaue Eingabe des Einkommens und Eigentums
gefordert, welches ihre Kirchen und sic selbst besaßen. Die
Regierung, die unter Frau Maria, des Kaisers Schwester,
in Brüssel ihren Sitz hatte, verlangte den Ausweis in
niederländisch-niederdeutscher Sprache. Damals aber gab
es nur wenig friesische Geistliche, die sich nur einigermaßen
gut in dieser Sprache ausdrücken konnten. Bei weitem
die meisten schrieben ihre Ausweise in einer abscheulichen
Mischsprache, worin das Friesische bei weitem überwog.
Einige, wahrscheinlich die älteren Herren, und die an ab-
gelegenen Orten wohnten, wohin noch das Niederländische
seinen Weg nicht gefunden hatte, schrieben einfach in altsrie-
sischer Sprache. Wieder andre begannen ihr Schreiben wohl
in der verlangten Sprache, fielen aber im Verfolg in ihre
friesische Muttersprache, in der sie ihren Ausweis dann auch
vollendeten I. Vor dem Jahre 1550 war cs dem Nieder-
deutschen nicht möglich, das Friesische als Schriftsprache
zu verdrängen; später aber gelangte cs zur Herrschaft und
verdrängte, wenigstens im offiziellen Sinne, das Friesische
ans der Feder der Friesen.
Die Reforination und der enge politische Anschluß
Frieslands an die übrigen niederländischen Provinzen haben
im 16. Jahrhundert, das für friesische Sprache und Eigen-
art im ganzen so schädlich war, schließlich der Sprache
ihren größten Stoß versetzt. Namentlich hat die Refor-
mation der friesischen Sprache nirgends Rechnung getragen,
in Deutschland so wenig wie in den Niederlanden. Und
doch hatten die Friesen ihren eigenen Reformator, wenn
auch anfangs Luther und später namentlich Calvin großen
Einfluß ans das resormationsfrenndlichc friesische Volk
hatten, und schließlich Calvin doch über den eigenen frie-
sischen Reformator triumphierte. Dieser, Menno Simons
nlit Namen, ein im Jahre 1496 in Witmarsum (Wit-
marshcim, in Wonseradeel, zwischen Harlingen und Bols-
ward) geborener Friese, als römisch-katholischer Priester
auferzogen, war 1524 Kapellan in dem benachbarten
Dorfe Pingjnm (Pingia-, Pinningaheim) und später Pastor-
in seinem Geburtsorte. So lange Menno Simons im
Dienste der römischen Kirche war, hielt er ohne Zweifel,
so wie alle seine Amtsbrüder, seine Predigten in frie-
sischer Sprache, wie er auch mit seiner Gemeinde in keiner
ft In bezug auf diese Sache vergleiche: Johan Winkler,
Opmerkingeu by het doorbladeren van de Beneficiaal-
boeken van Friesland, im Friesche Volksalmanak für
1889.
andern Sprache verkehrte. Auch nachdem er sich 1536
von der römischen Kirche abgewendet hatte, bediente er sich
gewiß keiner andern als der friesischen Sprache, um seine
! friesischen Landsleute mit der neuen Lehre vertraut zu
machen. Aber außerdem trat er auch außerhalb Frieslands
in andern niederländischen Gegenden und in ganz Nord-
deutschland als Lehrer auf, in Landschaften, wo die frie-
j fische Sprache ihm nichts nützen konnte. Selbst als Schrift-
: spräche bediente er sich bei der Verbreitung seiner Lehren
der halb holländischen, halb niedersächsisch-plattdeutschen
Mischsprache, die, damals in den nördlichen Niederlanden
gebräuchlich, das Friesische zu verdrängen begann. Er
that dieses natürlich, um auch von andern Niederländern
als den Friesen, und von den Niederdeutschen in Deutsch-
land verstanden und gelesen zu werden. Hätte nun Menno
Simons, um seiner Muttersprache zu dienen und sie zn
fördern — was ihm gewiß nicht in den Sinn kam, weil
man im ganzen in seiner Zeit die Volkssprachen wenig
achtete und ehrte — hätte nun Menno Simons die Bibel
ins Friesische übersetzt, wie Luther ins Deutsche, hätte
er so seine Landsleute von der Notwendigkeit befreit, das
Niederdeutsche in der vlamischen, holländischen oder nieder-
sächsisch-plattdeutschen Form sich anzueignen, um eine Ant-
werpener, Amsterdamer oder Emdener Bibel zu lesen —
hätte er bei dem Gottesdienst in friesischen Landen auch die
friesische Sprache eingeführt, so würde diese Sprache die
Krisis der Reformation und die ganze Entwickelung aus
geistlichem, materiellem und politischem Gebiete im 16. Jahr-
hundert höchst wahrscheinlich glänzend überstanden haben.
Sie wäre dann als amtliche Schriftsprache, als Bücher-
sprache in Allfriesland lebendig geblieben und infolgedessen
auch in manchem friesischen Gau als Umgangssprache nicht
untergegangen. Denn in der ersten Hälfte des 16. Jahr-
hunderts war die friesische Sprache in allen altfriesischen
Gauen außerhalb des heutigen niederländischen Friesland, in
allen Gauen an der Nordseeküste, an dem Flic und zwischen
Lancrs, Ems, Weser, Elbe, Eider und Jütland thatsächlich
noch in Herz und Mund der dortigen Bewohner noch lebendig
genug, um durch eine friesische Bibel lebendig erhalten zu
werden. Wäre das geschehen, die alte Landes- und Volks-
sprache hätte wie vor alters alle friesischen Gaue umfaßt
nnd zusammengehalten, auch in politischer Hinsicht. Wie
ganz anders würde jetzt die Karte von Nordniederland und
'Norddeutschland aussehen!
Eine jegliche Sprache ist im Wechsel der Zeiten der
Veränderung unterworfen. Fnmal in Zeiten belangreicher
Umwälzungen auf geistigem, gesellschaftlichem nnd politischem
Gebiete pflegen Schrift- wie Umgangssprache großen Ver-
änderungen unterworfen zu sein. Mit der friesischen Sprache
war dieses im starken Maße in dem unruhigen und nm-
wälzungsvollen 16. Jahrhundert der Fall. Durch den
Geist der Veränderung, der mit so vielen alten überlieferten
Formen brach, dann durch den Umstand, daß in der Hälfte
jenes Jahrhunderts die friesische Sprache, die als Schrift-
sprache noch ihre vollen alten Formen wesentlich erhalten
j hatte, gerade als Schriftsprache beinahe ganz außer Gebrauch
kam, und am Ende durch den Einfluß des ziemlich klang-
, armen besondern Holländisch-Niederländisch, das im Ver-
! lauf des 16. Jahrhunderts schon mehr und mehr in allen
GlobuZ LX. Nr. 5.
10
Iohan Winkler: Friesland, Friesen und friesische Sprache in den Niederlanden.
74
niederländischen Provinzen zur Geltung gelangte, mußte
auch die friesische Sprache viele ihrer alten, vollständigen
Formen und klangreichen Ausgänge, die gerade ihre Eigen-
art und Schönheit ausmachten, verlieren. Selbst ein Teil
ihres Wortschatzes ging verloren und an dessen Stelle
traten holländische Wörter. Sie verlief mehr und mehr
zu der Form, in welcher sie heute noch besteht. Das alte
Friesisch, in seinen alten Formen, starb ans oder vielmehr-,
es verjüngte sich durch die Übergangsform des 17. und
18. Jahrhunderts, die man das Mittelfriesische nennt,
zu dem (niederländischen) Neufriesisch unsers 19. Jahr-
hunderts.
Hätte die ehrenvolle eigenartige Festigkeit, die tüchtige.
Zähigkeit, die ein Kennzeichen des friesischen Volksgeistes
ausmacht, nicht bei dem Hauptstamm des Volkes sich in
starkem Maße geltend gemacht, so wäre leicht der friesischen
Sprache auch im Stammlande während des 16. Jahr-
hunderts der Todesstoß versetzt worden, wie dieses in andern
friesischen Gauen an Ems und Weser geschah. Aber
zwischen Flie und Lauers hielten die treuen Standfriesen
ihre alte Sprache noch wert und hoch und es waren immer-
noch einige, die sie, wiewohl sie doch eigentlich nur als
Umgangssprache lebte, noch als Schriftsprache gebrauchten
— meist aus Liebhaberei. Indessen den größten Anteil an
der Erhaltung der friesischen Sprache, sowohl als Schrist-
als auch als Umgangssprache, haben die friesischen Gelehrten,
Dichter und Prosaschreiber gehabt. Diese erhielten den
friesischen Geist int Volke lebendig, sie hüteten die Sprache,
namentlich in ihrer Reinheit, vor noch größerem Verfall und
gänzlichem Untergang. Unter diesen nimmt der berühmte
Dichter Gysbert Japicx (Holckema) die erste Stelle ein.
Dieser fronnne und einfache Mann, ein tüchtiger Stand-
friese, ein liederreicher Sänger, war Schullehrer in seiner
Vaterstadt Bolsward, wo er 1603 geboren wurde und
1666 starb. Er gab ein Bündel Gedichte heraus, nur
ein kleines Bündel, aber von den schönsten und lieblichsten,
zum Teil erhabenen, zum Teil echt volkstünllichen Gedichten
und Liedern, Psalmen u. s. w. Ü.
Seine Nachfolger, u. a. Simon und Jan Althuysen,
Vater und Sohn, in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts,
und einige andre, darunter der gelehrte Prof. E v. Wassen-
bergh zu Franeker, in der letzten Hälfte des vorigen Jahr-
hunderts, erhielten das Feuer der friesischen Dichtkunst,
andre das der friesischen Litteratur und Sprachwissenschaft,
wenn es auch nicht besonders hoch flammte, bis zum Be-
ginne unsers Jahrhunderts am Leben. Nach dem ersten
Jahrzehnt unsers Jahrhunderts und nach Abschüttelnng des
schmachvollen Jochs der Franzosen lebten auch die Friesen
gleich andern germanischen Völkern in ihrer Volksart Wieder-
aus. Damals begann in Pangermanien das eigene Volks-
leben wieder kräftig zu blühen. Namentlich auch in Fries-
land. Und besonders was die friesische Sprache betraf.
In jenen köstlichen Jahren des auflebenden germanischen
Volksbewußtseins traten die Gebrüder Halbertsma auf,
jetzt in Friesland als Dichter wie als Prosaschreiber so
berühmt: Dr. Joost Hiddes Halbertsma, ein Menno-
nitenprediger in Bolsward und Deventer, und Dr. Eeltje
Hiddes Halbertsma, Arzt in seinem Geburtsdorfe Grou;
der erste ein scharfsinniger Sprachforscher, der andre ein
lieblicher, süß singender Dichter. Im Jahre 1822 gaben
sie ihren ersten Band Gedichte und volkstümliche Schriften
x) Die Werke Gysbert Japicrs sind in diesem Jahrhundert
aufs neue herausgegeben von Dr. E. Epkema unter den: Titel
Friesche Rijmlerye, Leeuwarden 1821, in der alten Schreib-
weise des 17. Jahrhunderts, versehen mit einem Wörterbuche.
Im Jahre 1853 besorgte Waling Dykstra noch eine Ausgabe
zu Franeker in der heutigen Schreibiveise.
in Prosa unter dem Titel: DeLapekoer fenGabe Scroar
heraus l).
Es ist ein Werk, das für die friesische Litteratur von
größtem Einfluß wurde und eine Umkehr zum Besseren zur
Folge hatte und dem noch viele andre Werke von großem
litterarischen Werte von den Gebrüdern Halbertsma folgten.
Groß war die Zahl der Nachfolger der Halbertsmas.
Wenn unter diesen Nachfolgern, namentlich im Anfange,
auch manche die friesische Sprache und Litteratur bloß vom
Standpunkte des niederen Volkes auffaßten, so stellten sich
doch andre den Halbertsmas würdig zur Seite. Unter den
ersten und vor allen andern muß unter diesen Nachfolgern
Ninse Ri ns es Po st Humus, ein Zeitgenosse der Hal-
bertsmas, genannt werden, der einige Werke Shakespeares
ins Friesische übersetzte; Tiede Roelofs Dykstra und
Härmen Sytstra, die es sich vor allem angelegen sein
ließen, die heutige friesische Sprache von ihren holländischen
Beimischungen zu reinigen und die altfriesische Rechtschreibung
des Mittelalters wieder der Sprache anzupassen suchten,
ein ehrenvolles Streben, das aber wenig Nachfolge fand;
Waling Dykstra, der in seinen fließenden Gedichten
den rechten Volksgeist traf; Jan Gelinde van Blom,
Pieter Jelles Troelstra, gleichfalls verdiente Dichter
und viele andre. Die Reihen der friesischen Dichter und
Schriftsteller haben seit dem Beginne des zweiten Viertels
unsers Jahrhunderts keine Verminderung erlitten. Auch
erfreut sich bis in unsre Tage die friesische Sprache und
Litteratur des unverminderten Interesses des friesischen
Volkes. Beit vollem Recht kann die friesische Sprache sich
auf eine reiche Litteratur berufen, eine Litteratur, die sich
wohl fast ausschließlich auf Belletristik beschränkt, und die
nur sehr schüchtern hier und da einige Schritte auf wissen-
schaftliches Gebiet, gewöhnlich Sprachkunde und Geschichte,
thut — aber die eines Reichtums schöner Erzeugnisse sich
rühmen darf, wie sie kein andres Volk, das auf ein gleich
kleines Gebiet wie die heutigen Friesen beschränkt ist, aus-
zuweisen hat.
Zur Aufrechterhaltung der friesischen Sprache tragen
auch eigenartige Volksversammlungen an Winterabenden
bei, wo Gedichte und volkstümliche Schriften in Friesisch
vorgetragen werden; als Leiter solcher Volksvcreinigungen,
die unter dem Namen Winterjündenocht, Winterabend-
vergnügen, bekannt sind, haben sich Waling Dykstra und
Tjibbe Geerts van der Meuten einen Namen gemacht.
Auch kommen Theatervorstellungen für das Volk in friesischer
Sprache, meistens Stoffe auS dem friesischen Leben und in
friesischer Kleidung darbietend, der Erhaltung des Friesischen
zu gute. Tjeerd Ritskes Velstra und Sjouke Hylkes
Hylkema haben sich als Verfasser solcher Schauspiele einen
Namen erworben. Sowohl die „ Winterjundenochten“
als die „Toanielfoaistellingen“ entsprechen völlig dem
Geschmack des friesischen Volkes; sie finden nach Schluß
derselben ihre Fortsetzung in geselligen Bereinigungen, bei
denen friesische Lieder gesungen werden und ein friesischer
Tanz, der „Skotske-thrye“, den Beschluß macht. Mit Be-
geisterung wird denn auch, wie bei andern Volksfesten —
Wettrennen der berühmten friesischen Pferde, „Hirddra-
De Lapekoer, ein friesisches Standardwerk und noch
heute vom friesischen Volke mit „Vorliebe gelesen, erlebte ver-
schiedene Auflagen, auch eine Übersetzung ins Hochdeutsche:
Der Lappenkorb von Gabe Schneider aus Westfriesland
mit Zuthaten aus Nordfriesland, bearbeitet und herausgegeben
von K. I. Clement, Leipzig 1846. — Über den Einfluß,
den Hebel und seine allemannischen Gedichte auf die Halbert-
smas in ihrem Lappenkorb ausgeübt haben, siehe meine Ab-
handlung: Uebel end Halbertsma im Friesche Volks-
almanak für 1891.
Johan Winkler: Fricslond, Friesen und friesische Spreche in den Niederlanden.
75
veryen“, und Wettsd)littschuhlaufcn, „Hirdrideryen“, welche
die Friesen sehr lieben — das friesische Volkslied gesungen:
Frisk bloed, tsjoch op! wol nou ris brüse end siede
End bünsje tbroch üs leren om !
Flean op! Wy sjonge ’t beste land fenn’ ierde,
Det friske land, fol eure end rom.
Klink den end dawerje fier innatb rund,
Din älde eare, o Friske gründ 1).
Die friesischen Lieder, welche das friesische Volk einigen
verdienstvollen Dichtern zu danken hat — vor allem Eeltje
Hiddcs Halbertsma, Jan Gelinde van Blom, Waling
Dykstra u. a. — tragen auch reichlich das ihrige dazu bei,
die alte Volkssprache zu erhalten 1 2).
Einige friesische Jahrbücher [Swanneblommen 3 4), de
Byekoer] und auch einige Zeitschriften (Iduna, de Friske
Ilnsfrinnd, Forjit xny net, For hüs en liiern) er-
scheinen oder erschienen teilweise regelmäßig Jahr für Jahr
und bieten den friesischen Schriftstellern und Dichtern Ge-
legenheit, ihre Erzeugnisse dem Volke bekannt zu machen.
Auch hat man wiederholt Versuche gemacht, eine friesische
Zeitung ins Leben zu rufen, doch hatten diese Blätter keinen
Bestand und gingen nach einem kümmerlichen Dasein wieder
ein. Ankündigungen und Bekanntmachungen von Privat-
leuten, auch „Eingesandtes" und Feuilletons in friesischer
Sprache finden sich jedoch in allen Zeitungen Frieslands,
und werden unweigerlich darin aufgenommen.
In jüngster Zeit bedienen fid) auch einige Volksleiter
und Volksrcducr, die sich in Volksversammlungen über
gesellschaftliche und politische Fragen auslassen, der friesischen
Sprache. Und damit haben sie einen Schlüssel, der ihnen
die Herzen des Volkes öffnet — einen Schlüssel, den die
Kirche sehr zu ihrem eigenen Schaden verschmäht.
Denn in der Kirche hat die friesische Sprache kein
Bürgerrecht erlangt. Vor der Reformation, als noch keine
andre Sprache in Friesland bekannt war, haben natürlich
die friesischen Geistlichen der römisch-katholischen Kirche
ihre Volkspredigten ausschließlich in friesischer Sprache ge-
halten. Doch die Reformation führte hierin Veränderungen
herbei, wie weiter oben schon mitgeteilt wurde. Obgleich
man annehmen kann, daß auch noch einige protestantische
Pfarrer im 16. Jahrhundert in der friesischen Sprache ge-
predigt haben werden, so hörte dieses doch bald ans, als
die reformirte Landeskirche in geordnete Verfassung kam
und nur noch niederländisch-niederdeutsche Predigten ge-
stattete I. Wohl haben die Friesen ihr gereimtes friesisches
Psalmbttch zum singen — von dem aber kein Gebrauch
gemacht wird —, doch eine vollständige friesische Bibelüber-
setzung gehört noch zu den frommen Wünschen. Doch
hätte noch im verflossenen Jahrhundert eine solche friesische
Bibel wegen Unkenntnis der niederländischen Sprache Aus-
1) Friesisches Blut, ziehe auf (erhebe dich)! wolle
jetzt mal brausen und kochen
Und stark klopfen durch meine Adern!
Fliege auf, wir singen dem besten Lande der Erde,
Das friesische Land voller Ehre und Ruhm.
Klinge dann und dröhne weit ins Rund,
Deine alte Ehre, o friesischer Boden!
2) In reicher Auswahl findet man diese Lieder beisammen
in: I. van Loon und M. de Bo er, It Lieteboek. Frysce
Sang mei Pianolieding, Hearenfean (Heerenveen) 1876.
3) Die Swanneblom, Schwanenblume, die Blüte der Nvm-
phaea alba (Teichrose, weiße Wasserrose), ist die friesische Na-
tionalblume; ihre Blätter, friesisch pompebledden, kommen int
alten allfriesischen Wappen vor und stehen noch heute im Wappen
der Provinz Groningerland, und in der Friesischen Flagge.
4) Näheres über diese Frage der friesischen Sprache vom
kirchlichen Standpunkte bringt Johan Winkler, Ytlike
Bledsiden oer Friske Tael- end Skriftekennisse, Abhand-
lung in der Nieder!. Zeitschrift De Tijdspiegel 1891.
sicht auf Bestehen gehabt, was aber in unsrer Zeit, wo
wenigstens fünf Sechstel, wenn nicht alle Friesen des Nieder-
ländischen vollkommen mächtig sind, um die Predigt zu
verstehen und eine niederländische Bibel lesen zu können,
nicht mehr der Fall ist. Doch sind noch in unserm Jahr-
hundert die Übersetzungen von zwei Evangelien erschienen:
It Ewangeelje fen Mattbewes von Dr. I. H. Halbert-
fma, London 1858 und It Ewangeelje fen Lukas,
yn’e Fryske tael oerset tkroch G. Colmjon, Leeu-
warden 1879.
So wie aus der Kirche, ist die friesische Sprache auch ans
der Schule lind aus dem Gericht verbannt. In der ersten
Hälfte unsers Jahrhunderts wurden besondere Verkündigungen
von der Kanzel, die nicht den eigentlichen Gottesdienst (Ge-
sang, Gebet, Predigt) betrafen, hier und da in den Dorf-
kirchen noch friesisch verlautbart, bedienten sich altmodische
Schulmeister in den Dorfschulen noch allgemein der frie-
sischen Sprache beim Unterrichte und im Verkehr mit den
Kindern; sprach noch zuweilen ein altfricsischer Richter den
Beschuldigten friesisch an oder hörte die Zeugen in dieser
Sprache ab, wenn diese selbst friesisch sprachen, verkehrte auch
mancher Regierungsbeaniter amtlich, z. B. der Grietman
(oben S. 54) noch in friesischer Sprache mit dem friesischen
Volke. Seit dem Jahre 1848 hat sich das alles aber ge-
ändert, verholländert, durch die Regierung, die der friesischen
Eigenart keine Rechnung mehr trug und viele nicht friesische
Beamte nach Friesland versetzte. Doch kann man natür-
lich auch heute nicht den friesischen Angeklagten verhindern,
sich vor dem Richter in friesischer Sprache zir verteidigen,
oder den friesischen Zeugen, sein Zeugnis in der Landes-
sprache abzulegen, wie das auch vielfach geschieht. Auch
sehen sich die Volksschnllehrer in den Dörfern genötigt,
wenigstens mit den jüngsten Schulkindern in ihrer Mutter-
sprache zu reden, wie denn auch noch dieser oder jener alte
Landpfarrer, er sei Protestant oder Katholik, außerhalb der
Kirche im Umgänge mit seinen Gemeindegliedern die frie-
sische Sprache gebraucht. Auch hört man noch wohl einige
Standfriesen, die im Gemeinderat sitzen, bei den Verhand-
lungen desselben in friesischer Sprache reden. In der jüng-
sten Zeit begannen sogar einige friesische Dorfschulmeister
außerhalb der gewöhnlichen Schulstunden freiwillig ihren
Zöglingen der höheren Klassen, die solches verlangten,
Unterricht in der friesischen Sprache (Grammatik, Recht-
schreibung) zu geben oder den Sinn dafür zu erwecken.
Andre wieder lesen friesische Stücke mit ihnen und singen,
was nicht selten, mit ihnen friesische Lieder.
Hieraus ergiebt, wie nützlich und notwendig es ist, in
Friesland ausschließlich oder doch hauptsächlich friesische
Regierungsbeamte, Richter, Geistliche, Lehrer u. s. w. an-
zustellen. Auch wären friesische, die friesische Sprache
redende Ärzte, Notare n. s. w. hier am rechten Platze,
namentlich auf dem platten Lande, wo sic dadurch ihr Amt
viel besser und heilreicher für das Volk ausüben könnten. Der
nichtfriesische Bürgermeister (Grietman), Prediger, Lehrer,
Arzt, Notar u. s. w. ist in Friesland eigentlich ein Unding.
Doch liegt der Reichsregierung hieran nichts; sie versetzt
allerlei holländische und andere niederländische Beamte unter
das friesische Volk, zu dessen gegenseitigem Verdrusse und
mannigfachem Schaden ans vielen Gebieten.
Zur Kennzeichnung der Stellung, welche die amtliche
niederländische Sprache (von den Friesen gewöhnlich
„hollandsk“ genannt) gegenüber der friesischen Sprache in
Friesland, und naä) der naiven Auffassung der gewöhnlichen
Leute einnimmt, mag erwähnt werden, daß das friesische
Volk hier und da (z. B. in Opsterland) dieselbe bibelsk,
biblisch nennt, weil cs die Sprache ist, in der es die Bibel
liest, oder lesen hört; anderwärts, z. B. im Dorfe Holwerd,
10*
76
Vorgeschichtliche Spielkiesel.
nennt man die holländische Sprache wohl Sneinsk, d. h. sonn- letzten llO Jahre — seit auch in Friesland Eisenbahnen und
tägliche, von snein — Sonntag, also die Sprache, die nicht Pferdebahnen ihr Netz ausgedehnt haben, seit allerlei Bcr-
fllr den Werktag, das alltägliche Leben, sondern nur bei fest- ! kehrsmittcl auch die Friesen auf früher unbekannte, teilweise
licher, besonderer Veranlassung gilt. Dagegen bezeichnen die nichtfriesische, teilweise gar schädliche Wege geführt haben, und
Holländer und einige schlecht friesisch gesinnte, das Friesische 1 namentlich seit die Friesen so „gelehrt" (!), so „offiziell und
nicht redende Städter, die friesische Sprache wohl als ; niederländisch" wurden durch den nichtfriesischen, furchtbar
„Koeretriesell" (Bauernsriesisch)oderl-unäkriesell,Namen, ausgeschraubten Schulunterricht, den sie genossen (genossen!)
die einigermaßen geringschätzig lauten und daher im Ohre haben — vielerlei schädliche Folgen für den Bestand des
der opriuchten (aufrichtigen) Standfriesen einen häßlichen alten Friesentums auf mancherlei Gebieten herbeigeführt.
Klang haben. ; Doch lebt die alte Volkssprache noch heute, wie in der
Hat nun aber auch die friesische Sprache in Niederland uralten Vorzeit, frisch und froh im Munde und Herzen von
sowenig wie in Deutschland keinerlei Rechtsstellung, so thut tausenden und abertausenden Friesen und Friesinnen. Möge
dieses doch der Blüte derselben in litterarischer Beziehung dieses noch tausend Jahre so bleiben. Oder länger, wenn
oder als Volkssprache keinen Abbruch. Wohl haben die Gott will! —
Vorgeschichtliche Spielkiesel.
Die mit Beharrlichkeit fortgesetzte Arbeit des Spatens
vermittelt uns immer neue Kenutuisse über den Kulturzustand
vorgeschichtlicher Völker. Ihre künstlerischen Leistungen in
Gravierungen und Schnitzwerk, ihre Waffen und Geräte sind
mehr und mehr bekannt geworden; neue Entdeckungen, die
jetzt in Frankreich gemacht wurden, werfen auch Licht auf
deren Spiele und zeigen uns eine eigentümliche Bezeichnnngs-
weisc von Gegenständen, die mit den Uranfängen einer Art
Schrift sich zusammenstellen läßt.
Der wohlbekannte französische Urgeschichtsforscher Eduard
Piette hat sein besonderes Augenmerk seit dem Jahre 1887
der Grotte Mas d'Azil zugewandt, die am Ufer des Flüßchens
Bemalte vorgeschichtliche Spielkiesel aus der Grotte Mas d'Azil. l/% naturi. Größe.
Arize int Departement Ariege gelegen ist. Diese Grotten
zeigen Ablagerungen mit den Knochen des Rennticrs, des
Hohlenbaren und rilepllas primigenius, alle zusammen mit
Resten uuzwcifelhafter mcnschlichcr Thatigkeit, z. B. knocher-
nen Harpunenspitzen mit zahlreichen Widerhaken. Allcs bentct
auf eine palaolithische Zeit am Ende der Onaternarepoche.
Die wichtigsten Funde der Grotte Mas d'Azil, und bisher
an keinem andern Orte beobachtet, sind bemalte Flnßkiesel,
die dort in großer Anzahl vorkommen. Piette hat deren dort
über 200 gefunden, Cartailhac hat bei einem kurzen Besuche
neun Stück der Erde entnommen, der Geolog Boule u. A.
haben diese merkwürdigen Gegenstände eigenhändig den ur-
sprünglichen, unberührten Lagerstätten entnommen, so daß
über deren Echtheit keinerlei Zweifel aufkommen dürfen.
Das Klima Helgolands.
77
Alle diese Kiesel sind glatt, flach, länglich und keiner über
9 cm lang. Sie sind zmn Teil, wie die Abbildung zeigt,
mit einem gepulverten Minerale, wahrscheinlich Blutstein,
gefärbt. Die groben, breiter gehaltenen Zeichnungen sind
vielleicht einfach mit der in die Farbe getauchten Fingerspitze
aufgetragen; bei denjenigen, welche feinere Zeichnungen tragen,
hat man wahrscheinlich auch eine Art Pinsel benutzt. Die
Farbe war ursprünglich dick, aber heute hat sie keinen Zu-
sammenhang mehr mit den Kieseln, haftet nicht mehr und
verschwindet bei der geringsten Reibung. Das die aufge-
tragene Farbe aber bis heute sich erhalten hat, verdankt sic
nur dem Umstande, daß die Kiesel vollkommen ruhig in der
Erde eingebettet an ihrer ursprünglichen Lagerstätte gelegen
haben. Wie die Auftragung und Befestigung der Farbe auf
den Kieseln ausgeführt wurde, läßt sich heute nicht mehr
ausmachen, doch kann man annehmen, daß dazu Fett oder
Leim diente, organische Substanzen, die jetzt natürlich ver-
schwunden sind.
Bei den meisten Kieseln ist der Rand mit einer feinen
roten Linie eingefaßt, welche die Zeichnung umgicbt. Bei
einigen fehlt aber dieser Rand. Die Zeichnungen, wenn dieser
Name erlaubt ist, sind sehr einfacher Natur und machen
teilweise, wie schon bemerkt, den Eindruck, als seien sie mit
der Fingerspitze aufgetragen. Andre, bei denen zur Bemalung
ein Pinsel oder ein Hölzchen diente, bieten feinere Muster dar.
Cartailhac, dem wir diese belangreiche Nachricht verdanken
(L’Anthropologie 1891, 141), sagt, er würde sich hüten,
etwas über den Zweck zu sagen, den diese bemalten Kiesel im
Leben der wilden Bewohner der Grotte gespielt hätten. In-
dessen ist er wohl auf der richtigen Spur zur Deutung ge-
wesen, wenn er die heutigen Naturvölker zum Vergleiche
heranzuziehen versuchte. „Beim Studium der bewunderns-
werten Sammlungen aus Ostsibirien und Nordamerika in
Berlin und St. Petersburg", sagt er, „deren heutige Bevölke-
rungen ganz ähnliche Erzeugnisse besitzen, wie dieselben in
unsern vorgeschichtlichen Stationen vorkommen, habe ich ver-
geblich nach ähnlichen Kieseln gesucht".
Wenn ich hier eine Deutung dieser bemalten Kiesel ver-
suchen will, so kann diese nur auf dem von Cartailhac an-
gedeuteten Grundsätze beruhen, nämlich auf dem Vergleiche
mit ähnlichen Gegenständen der heutigen Naturvölker und da
glaube ich, liegen die Spiele mit deren Marken und Würfeln
mit nächsten. Gewisse Spiele der nordamerikanischen Indianer
werden mit bezeichneten Steinen, Fruchtkernen u. s. w. ge-
spielt, die man in einer Schüssel schwenkt oder mit der Hand
wirft. Je nach der Anordnung der Marken und Farben im
Wurfe wird verloren oder gewonnen. Im Washington-
Territorium haben die Weiber ein derartiges ihnen eigenes
Spiel, das mit besonders bezeichneten Biberzähnen gespielt
wird, die meli-ta-la heißen. Man wirft sie gleich Würfeln
und der Gewinn hängt davon ab, wie sie fallen (Gibbs in
Contribut. North American Ethnology 1877, I, 206).
Schoolcraft beschreibt uns im Pugasaing the game of the
bowl, etwas ganz ähnliches. Pugasaing bedeutet Wurfspiel.
Die geworfenen Gegenstände sind bereits über das erste
Stadium hinausgcschrittcn, es sind keine Steine, Kerne u. dgl.
mehr, sondern bereits roh zugeschnitzte Figürchen von Tieren,
Menschen u. s. w. Das ist offenbar ein Fortschritt und
unterscheidet den zu werfenden Gegenstand besser; an die
Stelle des Einschnitts in einen Zahn, einen Kern oder an
die rohe Färbung desselben tritt ein kleines Schnitzwerk
(Schoolcraft, The Indian in his Wigwam, New York
1848, 188). Die Irokesen in Delaware benutzten dazu
Pslaumenkerne, die auf der einen Seite gelb, auf der andern
schwarz gefärbt waren. (Loskiel, Mission der evangelischen
Brüder, Barby 1789, 136). Das Spiel scheint allgemein
amerikanisch, denn bei den Araukanern finden wir es als
Ava wieder, wo es mit markierten Bohnen gespielt wird
(Reue! Smith, The Araucanians, New York 1855, 322).
Greife ich nun nicht fehl, so sind die gefärbten Kiesel der
Grotte Mas d'Azil als Spielsteine ähnlich den erwähnten
indianischen zu deuten. Die aufgetragene rote Farbe be-
zeichnete vielleicht den Besitzer des Steines, welcher solcher-
gestalt gekennzeichnet wurde. Damit werden diese vorgeschicht-
lichen Kiesel sich wiederum mit den Eigentums zeichen be-
rühren, in denen man die Uranfänge einer Schrift erkennen
mag. Die Marke vertritt als Personcnzeichen (wie das
Kreuz) die Unterschrift und ist auch an Gegenständen ange-
bracht, die beim Wurfspiele benutzt werden. Dieses giebt
Anlaß, sie hier, wo es sich um die Deutung der bemalten
Kiesel von Maz d'Azil handelt, heranzuziehen. Daß die
alten Germanen die Stäbchen beim Losen mit Zeichen ver-
sahen, wissen wir durch Tacitus (Germania 10). Die vom
Baume abgeschnittenen Reiser wurden, zum losen, mit ge-
wissen Merkmalen versehen und dann ausgestreut, worauf
Deutung durch den Priester erfolgte. Wie sowohl Homcyer
als Liesch gezeigt haben, losen die Bauern in Mecklenburg
und Rügen mit Kaveln, Holzstückchen, auf denen die Haus-
marke eingeschuitten ist und die Kabylen benutzen nach
W. Kobelt (Reiseeriuncrungen aus Algerien und Tunis, 225)
bei der Fleischverteilung Losstäbchen, auf denen die Eigen-
tümszeichen eingeschnitten sind. Losen und Spielen decken
sich aber, wo es auf den Glückszufall ankommt und daher
dürfen die hier erwähnten markierten Lose bei Erläuterung
der vorgeschichtlichen bemalten Kiesel nicht außer Acht gelassen
werden. R. And ree.
Das Klima Helgolands.
Die Besonderheiten der meteorologischen Verhältnisse
Helgolands forderten zur sorgfältigen Untersuchung des Klimas
' des neuen deutschen Besitzes heraus. Herr Dr. V. Kremser
j hat unter obigem Titel (Ann. der Hydrographie, XIX. Jahrg.,
> Heft V und VI) ein mustcrgiltiges Klimabild des vorzüglich-
sten Repräsentanten des Seeklimas innerhalb des Deutschen
Reiches gezeichnet, ans dem wir nachstehendes mitteilen: Es
j ist bekannt, daß die deutsche Nordseeküste wärmer ist als das
übrige Norddcntschland in gleicher Breite. Helgoland ist
indessen wieder, wenn auch nur unbedeutend, wärmer als
die Küste auch in deren südlicher Erstreckung. Besonders
charakteristisch für Helgoland sind jedoch: die geringe Jahres-
schwanknng und die Verspätung im Eintreffen der extremen
Werte. Helgoland erfreut sich der kleinsten mittleren Jahres-
schwankung der Temperatur in ganz Deutschland. Ebenso
sind die Monats- und Tagcsschwanknng der Temperatur so-
wohl im Mittel wie in den Extremen kleiner als in irgend
einer andern Gegend Deutschlands. Der wärmste Monat
| ist August; der September ist wärmer als der Juni, der
kälteste Monat ist Januar und Februar. Helgoland stellt
unzweideutig und allgemein den wärmsten Punkt Deutsch-
lands dar; ja selbst die südlicher (um 8 Grade) gelegenen
klimatischen Kurorte Bozen, Meran, Montreux, Lugano
bleiben vom November bis Januar gegen Helgoland zurück,
j Dem warmen Herbst und milden Winter steht gegenüber ein
kaltes Frühjahr und ein kühler Sommer, so daß Helgoland
in Deutschland (mit Ausschluß der Gebirge) den kühlsten
Sommer hat. Fast dreiviertel Jahr hindurch (in den
kühleren Jahreszeiten) ist es um 6 Uhr früh wärmer, ebenso
lange (in den wärmeren Jahreszeiten) um 2 Uhr nachmittags
kühler als sonst in Deutschland. Die periodischen Temperatur-
verhältnisse erscheinen auf Helgoland in mildester Form von
allen deutschen Landestcilcn; rücksichtlich der aufeinander
folgenden unregelmäßigen Tcmpcraturschwankungcn ist Hclgo-
78
Bücherschau.
land der begünstigste Punkt von ganz Centraleuropa; denn
Helgoland zeigt nicht nur im Jahresmittel, sondern sogar in
jedem Monat die geringste Temperaturveränderlichkeit von
Centraleuropa, so daß es allen südlichen, maritim gelegenen
klimatischen Kurorten an die Seite gestellt werden kann. —
Helgoland gehört zu den feuchtesten Orten und hat auch die
stärkste Himmelsbedeckung in Deutschland. Die jährliche
und tägliche Schwankung der absoluten und relativen Feuchtig-
keit sind geringer als sonst in Norddeutschland. Helgoland
zeichnet sich im Gegensatz zum Binnenland durch ein ziemlich
nebelreiches Frühjahr und einen nebellosen Herbst aus.
Bezüglich der Größe des Niederschlages gehört Helgoland
zu den feuchtesten Gegenden des ebenen Deutschlands, bezüg-
lich der Häufigkeit der Niederschläge hat es im norddeutschen
Binnenlaude keinen Rivalen; die eigentliche Regenzeit bilden
Spätsoinmer und Herbst, die Trockenzeit das Frühjahr bis
Juni (einschließlich). Im Juni kommt auf drei Tage ein
Niederschlagstag, im Oktober zwei. Schneefälle sind seltener
als in Norddeutschland; am meisten schneit es im März,
der erste Schneefall verspätet sich. Die Windstärke zeigt einen
jährlichen Gang, sie erreicht ihr Maximum im Oktober bis
November, ihr Minimum im Mai bis Juni. Stnrmsicher
ist kein Monat, am seltensten stürmt es von April bis Juni,
am stürmischsten ist der Anfang Dezember. Bezüglich der
Windverteilung liegt Helgoland in der Mitte zwischen der
südlichen und östlichen Nordseeküste. Die Gewitter haben ihr
Maximum wie die Wärme im August; sie treten auch oft in
der kalten Jahreszeit auf. Der Schnee bleibt auch auf
Helgoland oft wochenlang liegen und seine Höhe kann bis zn
einem viertel Meter anwachsen. Dr. Gruß.
Düch erschau.
A. W. Schleicher, Afrikanische Petrefakten. Ein Ver-
such, die grammatischen Bildungen und Form-
wurzeln der afrikanischen Sprachen durch Sprach-
vergleichung festzustellen. Berlin 1891. 8. V. 93 S.
Die Tendenz dieser originellen Schrift ergiebt sich am
deutlichsten aus dem S. 92 stehenden Satze: „Im Studium der
hamitischen Sprachen in erster, und der Bantusprachen iu
zweiter Linie liegt das Heil für den semitischen Sprachforscher",
dessen ersten Teil wir unbedenklich unterschreiben und über
dessen zweiten Teil wir dann, wenn der erste erledigt ist,
diskutieren können. Die meisten der zünftigen Semitisten
werden freilich andrer Meinung sein; doch sind ja diese Herren
nicht insallibel. Ich erinnere mich noch sehr genau jener Zeit,
wo I. Oppert seine Entzifferungen der assyrischen Keilinschriften
veröffentlichte und aus dem Munde eines damals berühmten
semitischen Orakels hören mußte, alle diese Studien seien wert-
los, weil unrichtig und ein andrer großer Semitist bewies
haarscharf, daß die assyrischen Keilinschriften unmöglich eine
semitische Sprache enthalten könnten, da die Keilschrift zum
Charakter einer semitischen Sprache gar nicht passe. Doch
Oppert, seine Mitarbeiter, Schüler und Nachfolger haben sich
durch den Bannfluch der semitischen Oberpriester nicht irre
machen lassen, haben ruhig fortgearbeitet und heute gehört die
Assyriologie zu den bedeutendsten Disziplinen der semitischen
Philologie.
Nach unsrer Ansicht wird es der semitisch-hamitischen
Sprachvergleichung ebenso ergehen, wie es der Assyriologie er-
gangen ist.
Der Verfasser des vorliegenden Büchleins ist kein Semitist
vom Fach, auch von Grund aus kein Sprachforscher, sondern
Ingenieur. — Doch war E. W. West, der Gehilfe M. Haugs,
dessen Arbeiten über die Pahlawi- und Paxand-Philologie zu
den besten gehören, was wir haben, nicht auch Ingenieur?
Der Vers. versteht unter den „Petrefakten" das, was wir
die „Formelemente" nennen. Der Gedanke ist dem Sinne nach
nicht neu, sondern wurde schon lange von R. Lepsius in der
Einleitung zur nubischen Grammatik ausgesprochen.
Schleicher leitet die ganze einheimische Bevölkerung Afrikas,
Zwergvölker, Neger, Bantu und Hamiten — welche er als
primär, sekundär, tertiär und quartär bezeichnet, von Asien,
speziell von der mesopotamischen Ebene ab. — Er trennt die
Hottentotten von den Grenzvölkern, ohne ihnen eine bestimmte
Stellung einzuräumen und betrachtet die Fulbe als nahe An-
verwandte der Somali.
In den meisten dieser Dinge könnten wir dem Vers.
Recht geben, insofern er diese Völker voneinander trennt; wir
können ihm aber in Betreff der Herleitung aller dieser Stämme
oder richtiger Nassen aus Mesopotamien nicht folgen, da die
echten Afrikaner, zu denen wir die Zwergvölker, Hottentotten,
Bantu und Neger zählen, Afrika schon zu jener Zeit bevölkert
haben, wo die Konfiguration der Kontinente von der jetzigen
ganz verschieden war.
Was nun die sprachlichen Untersuchungen des Vers. an-
langt, so muß man sich stets vor Augen halten, daß ihr Ur-
heber auf dem von ihm betretenen Gebiet ein Neuling ist; er
hat aber einen sichern Blick und weiß das Wichtige von dem
Unwichtigen zu scheiden. So wird man z. B dem nieisten von dem
was S. 34 und 42 abgehandelt wird, beistimmen können, und
in den Bemerkungen über die Fulbe-Sprache ist manches sehr
Beachtenswerte enthalten. Die Bemerkung auf S. 86: „Die
Semiten und die große Mehrzahl der Afrikaner haben einerlei
Grammatik", ist gewiß richtiger und wissenschaftlicher als die
Arbeiten jener Sprachforscher, welche einen Zusammenhang der
semitischen Sprachen mit den indogermanischen nachzuweisen
unternahmen.
Wie wir zuversichtlich glauben, wird der Vers., der ein
vielgereister, reifer Mann ist, und ein zweiter Schliemann, in
voller Unabhängigkeit dem Studium der afrikanischen Sprachen
sich zu widmen gedenkt, bei fortgesetztem Studium seine Ansichten
klären und dann etwas wichtiges zu Tage fördern. Daß es
nicht seine Absicht ist über die von ihm behandelten Dinge nur
oberflächlich mitzureden, sondern auf Grund eines soliden
Wissens zu arbeiten, dies beweist der Umstand, daß er gegen-
wärtig in Wien weilt, um bei einem Kollegen, L. Rcinisch
hamitische Sprachen zu studieren und bei dem Kollegen
D. ,tz Müller seine Kenntnisse der semitischen Sprachen zu er-
weitern und zu vertiefen. Ein Mann, der sein selbsterworbenes
Vermögen zu solchen edlen Zwecken gebraucht und sich im reifen
Manncsalter noch auf die Schulbank setzt, verdient in der That
unsre volle Anerkennung und Hochachtung!
Wien, Juni 1891. Friedrich Müller.
Die freie und Hansestadt Lübeck, Ein Beitrag zur
deutschen Landeskunde, herausgegeben von einem Aus-
schüsse der Gcogr. Ges. in Lübeck. Mit 5 Karten und einer
geographischen Übersichtstafel. Lübeck 1890. Dittmarsche
Buchhandlung. 347 S.
Es ist eine wahre Freude zu sehen, welche Fortschritte die
Darstellung der Landeskunde in Deutschland gemacht hat, seit
sie 1882, auf Professor R. Lehmanns und Kirchhosfs Anregung,
namentlich von den geographischen Vereinen systematisch in die
Hand genommen wurde. Es sind meist gediegene Leistungen,
die da mit vereinten Kräften erzielt werden und die den: neuen
Standpunkte der geographischen Wissenschaft entsprechen, was
man sofort durch den Vergleich mit ältern tüchtigen Arbeiten,
wie z. B. die Bavaria, erkennen kann. Die vorliegende Landes-
kunde Lübecks, die mit großer Liebe und sehr ins Einzelne
gehend, einen kleinen Fleck deutscher Erde zur Darstellung bringt,
reiht sich den besten Arbeiten auf diesem Gebiete würdig an.
Als Bearbeiter, welche sich in die Aufgabe teilten, sind ge-
nannt die Herren I. Müller, P. Friedrich, W. Schaper,
H.Lenz, H. Gcnzken und G. Papst. Vortreffliche Karten
(iu 1:50000 und die deutsche Karte 1:100000, sowie ein
Plan) dienen zur Veranschaulichung der geologischen und poli-
tischen Verhältnisse, der Höhenschichten, der Bonitierung der
Äcker u. s. w.
Lübeck, der zweitkleinste deutsche Staat, besteht aus zehn
gesonderten Teilen, dessen größter die «stadt selbst umschließt.
Es ist eigentlich nur das Mündungsbecken der Trave, welches
Lübeck ausmacht, das in seinen orv- und hydrographischen Ver-
hältnissen im engsten Zusammenhange mit den zur nord-
deutschen Tiefebene gehörigen Nachbarstaaten steht. Die Gesamt-
fläche beträgt knapp 300cjtzm, wovon 200 auf den Hauptteil,
der Rest aus 9 Enklaven entfallen. Das Hauptgebiet, das wir
hier vorzugsweise berücksichtigen wollen, liegt in einer Obis 20 m
hohen Mulde des norddeutschen Landrückens und wird von der
Büch erschau.
79
Trave durchflossen, die als echter Tieflandfluß mit geringem
Gefälle beim Eintritt ins lübecksche Gebiet nur 1,6 in hoch liegt
und deren Wasserstand bei Travemünde nur 4 cm mehr als die
Ostsee zeigt. Der Travcmünder Winkel, der nordöstlichste Teil
des Gebietes, ein Stück des nordöstlichen Randes des baltischen
Höhenzuges, übertrifft an Höhe die übrigen hohen Boden-
anschwellungen Lübecks. Die Everskoppel mit 37,5 in ist dort
der höchste Punkt, sonst sind nur einige Stellen vorhanden,
welche eine Höhe von 20 irr erreichen. Für die Lage der An-
siedelungen erweisen sich die Berteilung von Wasser und Land,
die Abgrenzung von Alluvium und Diluvium bestimmend.
Wo letzteres sehr fruchtbar, trifft man die größten Ortschaften.
Die Hauptstadt selbst liegt an der bezeichnenden Stelle, wo die
seeartig erweiterte Wackenitz in die Trave mündet mit einem
höchsten Punkte von 16 m, aber immer noch 23 km von der
Ostsee entfernt. Daß Lübeck trotzdem sich zur ostseebeherrschen-
den Seestadt entwickeln konnte, verdankt es der söhrdenartigen
Erweiterung der Travemündung, welche selbst größer» Fahr-
zeugen gestattet, bis an die Stadt zu gelangen. Die Binnen-
lage selbst gewährt dagegen Schutz vor Angriffen von der See
und Verkürzung des Landweges.
Was die geologischen Verhältnisse betrifft, so tritt das
Diluvium mit Diluvial- und Moränenmergeln, Korallensand,
Blocklehm und sehr ausgedehntem Heidesand aus. Darüber das
Alluvium mit Moor, Tors, Wiesenmergel und Flugsandbildungen.
Eine eigentümliche Erscheinung sind die Süllen, kleine, kreisrunde,
mit Wasser gefüllte napfartige Löcher, ohne sichtbaren Zu- und
Abfluß, die auch in Mecklenburg häufig sind. Sie gelten als
Riesentöpfe oder Strudellöcher, die sich in der Abschmelzperiode
bildeten und einen Beweis für die einstige Vergletscherung
Norddeutschlands liefern. Innerhalb der Stadt ist Glimmer-
sand und bei 140 m Septarienthou erbohrt worden, beide zum
Tertiär gehörig.
Die meteorologischen Beobachtungen werden seit 1835
regelmäßig geführt und aus ihnen ergeben sich keine besonders
abweichende klimatische Erscheinungen; das Meeresklima herrscht
vor, jedoch weniger ausgesprochen als an der Nordsee. Die
tiefste beobachtete Temperatur im Januar 1861 betrug —24° (£.
Auch Flora und Fauna, in nichts abweichend von den
Nachbargebieten, finden liebevolle Schilderung, woran sich ein
Abschnitt „Zur Kunde der Bevölkerung" reiht, in welchem
zunächst die prähistorischen Vorkommnisse, Ringwälle, Dolmen,
Steinkammern, Gräber kurz erwähnt werden, alle sich den viel
durchforschten holsteinischen vorgeschichtlichen Denkmälern genau
anschließend. Eine anthropologische Schilderung der Einwohner
fehlt. Sie sind aus slavischer Grundlage durch niedersächsische
Kolonisation erwachsen, die hier im sächsischen Bauernhause und
dem echten, klciehaltigen Schwarzbrote ihre Anwesenheit verrät.
Da in Lübeck 1875 die Erhebungen über die Farbe der Haut,
der Haare und der Augen der Schulkinder stattfanden, so
hätten die Ergebnisse in dieser Landeskunde nicht fehlen dürfen.
Wir fügen deshalv hier hinzu, daß Lübeck in die entschieden
blonde Zone unsres Vaterlandes füllt, denn von 100 Schul-
kindern gehörten 38 deru blonden, nur 10 dem brünetten
Typus an, während 52 aus die Mischformen entfielen (Virchow
im Arch. für Anthropol., Bd. XVI). Erst durch die deutsche
Eroberung Wagriens, durch die Herbeiführung von nieder-
sächsischen Kolonisten und Verdrängung der Slaven, durch die
Errichtung eines Bijchossitzes unter Heinrich d. Löwen (1163),
wurde Lübeck zur meerbeherrjchenden Handelsstadt, zum Stapel-
platz für die Erzeugnisse des Nordens und Südens. Von der
ehemaligen Größe, die sie als Hauptstavt der Hansa besaß, ist
sie wohl stark zurückgegangen und das gaiize Gebiet zählt nur
76 500 Einwohner (18.J0), zumeist in der Stadt, aber trotzdem
blüht wieder frisches Leben dort und zeigt sich neuer Aufschwung
im Handel, dessen Einfuhren über 200 Millionen Mark im
Jahre betragen, wovon Zweidrittel zur See kommen. Holz und
Getreide sind die wichtigsten Einfuhrartikel. Eine sehr genaue
topographische Beschreibung der Stadt und der einzetnen Land-
gemeinden macht den Beschluß. Hervorzuheben sind die voll-
ständigen Litteraturangaben aus den einzelnen Gebieten.
R. And ree.
Kaarle Krohn, Mann und Fuchs. Drei vergleichende
Märchenstudien. Helsiugsors. I. C. Frenckell und Sohn 1801.
Kaarle Krohn der Jüngere, bekannt wie sein tüchtiger
Vater, Pros. Julius Krohn, durch seine Forschungen auf dem
Gebiete des finnischen Volkstums, zeigt in diesen Studien, wie
die Märchenforschung zu behandeln ist. Die Grimms betrachteten
bie Märchen als den letzten Bodensatz alter Mythen, Theodor
Bensey leitete sie aus litterarischen Quellen her und Andrew
Lange sucht in ihnen die Überreste uralter Vorstellungen und
Gebräuche. Krohn dagegen gesteht ihnen selbständiges wissen- I
schaftliches Material zu; die mythologischen Einschiebsel sind
zufällige Beigaben von nationalem Charakter. Das gemeinsam
internationale der Märchen besteht in der Schürzung und Auf-
lösung der Handlung, im ganzen Thema und dieses Grund-
thema muß von allem überflüssigen Beiwerke losgelöst werden,
damit eine internationale Wissenschaft der Märchen entstehen
kann. Die ost sehr verwickelte Handlung eines Märchens wird
von Krohn in einzelne Handlungen zerlegt, die nur aus einer
Schürzung und einer Auflösung bestehen und daran knüpft
er alsdann seine Untersuchung. Er löst die einzelnen Abenteuer
weiter aus, um die Urform zu finden, die sich gewöhnlich
nirgends rein erhalten hat. Nur durch die Fixirung der
ursprünglichen Form in jedem einzelnen Elemente der Handlung
ist die Urform eines Abenteuers zu finden. Und nur wenn
diese gefunden ist, kann man L-chlüsse auf den Ursprungsort,
die Nationalität, die Entstehungszeit, die ursprüngliche Ver-
bindung mit andern Abenteuern, die ihr zu Grunde liegende
allgemeine Idee ziehen. — Die Herausfindung der ursprüng-
lichen Form des Märchens ist aber nicht das wichtigste, was die
geographisch vergleichende Märchenkunde leisten kann. Noch
wichtiger ist die Erforschung der Veränderungen, welche die
Urform auf ihren Wanderungen erlitten hat. Krohn zeigt uns,
wie in dem bunten Gewebe der Märchen alle Veränderungen
nach bestimmten Gesetzen des Gedankens und der Phantasie
entstanden, und erläutert diese Gesetze an den vorliegenden
Märchen. Zeigt sich nun hier ein Gewinn für die Völker-
psvchologie, so ergiebt sich auch die große Bedeutung der
Märchen für die Kulturgeschichte. Indem sie uns die Wege
zeigt, auf welchen die Märchen von einem Volke zum andern
mündlich, nicht nur durch die Litteratur, gelangt sind, erhalten
wir sichere Beweise der Kultureinflüssc eines Volkes auf das
andre. Denn wie Krohn gezeigt hat, sind die Volksmärchen nicht
mit der Sprache, sondern mit der Kultur gewandert. Andrer-
seits sind ebenso wenig, wie unsre Kultur einer Rasse, einer
Nation zu verdanken ist, die Volksmärchen aus der GeisteS-
thüligkeit eines einzigen Volkes entstanden. Sie sind vielmehr
das durch vereinte Arbeit erworbene gemeinsame Eigentum der
ganzen mehr oder weniger zivilisierten Welt und somit ein
Gegenstand der internationalen Wissenschaft.
Dr. F. Carlsen.
Hans Witte, Zur Geschichte des Deutschtums in Loth-
ringen. Die Ausdehnung des deutschen Sprachgebietes im
Metzer Bistume zur Zeit des ausgehenden Mittelalters bis
zum Beginn des 17. Jahrhunderts. Dabei eine Karte.
Jnaugural-Dissertation. Aletz. Druckerei der Lothringer
Zeitung. 1890.
In dieser nach Materialien des Metzer Bezirksarchivs
verfaßten gewissenhaften Arbeit zeigt uns der Verfasser die
nationalen Zustünde und den Rückgang des Deutschtums in
Lothringen in der im Titel näher angeführten Zeit und Gegend.
Nach der Völkerwanderung erlitt das^deutjche Sprachgebiet
Lothringens keinen Zuwachs mehr; die Sprachgrenze gegen die
Romanen stand fest und erst mit der Zeit der französischen Herr-
schaft begannen die Rückschritte und Verluste, welche mit einem
Blick die Karte (1:300000) klar übersehen läßt. Im bald
breiteren (namentlich in Südwesten), lmld schmäleren Gürtel
zieht sich vor der heutigen deutschen Sprachgrenze bis nach
Luxemburg das seit dem 16. Jahrhundert französierte Gebiet
hin, nachdem bereits früher einzelne, durch besondere Farbe
kenntlich gemachte Vorposten (darunter Marsal) verwäljcht waren.
Welchen Anteil daran namentlich die Bischöfe von Metz hatten,
wird klar gezeigt. Unter dem deutschen Bischof Konrad Beyer
von Boppart (1415 bis 1457) wurde der Grundsatz eingejührt,
mit dem deutschen Sprachgebiete des Bistums deutsch, mit
dem französischen französisch zu urkunden und dieser gerechte
Grundsatz, für dessen Durchführung Beamte angestellt wurden,
die beider Sprache mächtig waren (und daher wohl vorwiegend
Deutsche) wurde auch unter seinem Nachfolger Georg von
Baden (1457 bis 1481) durchgeführt. Erst als der Franzose
Heinrich v. Lothringen )l484 bis 1505) den Bischofsstuhl bestieg,
begann die Ungerechtigkeit, und an deutsche Gemeinden und
Privatpersonen wird französisch geurkundet, nur Leute niederen
Standes im deutschen Sprachgebiete erhalten noch deutsche Zu-
schristen. Mit dem Eindringen der französischen Herrschaft
(1552) hört die deutsche Urkundensprache der Metzer Bischöfe
ganz auf. Marsal und Düse (Dieuze), ganz oder vorwiegend
deutsche Städte, wurden französiert, in Marsal 1548 schon durch
Bischof Johann v. Lothringen die deutsche Gerichtssprache ab-
geschafft. Indessen bis zum 30 jährigen Kriege erkennen wir
im allgemeinen noch die alte Sprachgrenze feststehend, wie sie
im Gefolge der Völkerwanderung entstanden war. Erst mit
jenem unseligen Kriege treten französische Familiennamen in
80
Aus allen Erdteilen.
den deutschen Ortschaften auf und beginnt die Französiern«^,
die zur Berwäljchung eines guten Teils des deutschen Sprach-
gebietes führte. Die forgfältige Beweisführung, Wittes für die
ehemalige deutsche Nationalität der verlorenen Örter stützt sich
auf die deutschen Beurkundungen von Ortsangehörigen, auf
Flurnamen, Grundbücher, Ortsnamen. Es ist eine lange Reihe
von Ortschaften, von der Luxemburger Grenze bei Husingen
(verwülscht Hussigny) bis zu den Saarquellen, die Wiste der
Reihe nach durchgeht und deren Berwälfchung an der Hand der
Urkunde er nachweist. Geschloffen schritt das Französische vor
und französische Sprachinseln sind für die Zeit des ausgehenden
Mittelalters bis 1000 im deutschen Sprachgebiete nicht nach-
weisbar. Erst die durch den 30 jährigen Krieg herbeigeführte
furchtbare Verwüstung des deutschen Bodens und die schon vor-
her begründete und beständig zunehmende Macht eines fremden
Staates in Lothringen, haben ein starkes Zuströmen französi-
scher Elemente in die ehemals rein deutschen Gebiete und damit
den eigentlichen Rückgang des Deutschtums dortselbst bewirkt,
als dessen Ergebnis wir die jetzige von der früheren erheblich
abweichende Gestalt der Sprachgrenze vor uns sehen.
Aus allen
— Hamburg!sche Amerikafeier. Hamburg ist ver-
möge seiner regen Beziehungen zu Amerika an erster Stelle
unter den deutschen Städten dazu berufen, den Tag (12. Okto-
ber 1892) festlich zu begehen, an dem vor 400 Jahren
Columbus die Neue Welt entdeckte. Infolgedessen ist auf
die Anregung der Geographischen Gesellschaft und deren
rührigen Schriftführer, Ludwig Friedrichsen, dort ein Fest-
komitee zusammengetreten, an dessen Spitze der „Verein für
Kunst und Wissenschaft" steht, welcher die Feier in die Hand
nehmen wird.
— Dr. Otto Tischler, Direktor der prähistorisch-archäo-
logischen Abteilung des ostpreußischen Provinzialmnseums zu
Königsberg, starb daselbst am 18. Juni im Alter von 48 Jahren.
Mit ihm ist, viel zu früh für die junge Wissenschaft der
Prähistorie, ein selten liebenswürdiger und bescheidener
Gelehrter dahingegangen, der mit zu den hervorragendsten
Männern seines Faches in Deutschland zählte. Die Er-
forschung der Gräber auf der kurischen Nehrung, solvie der
ostpreußischen Grabhügel überhaupt, veröffentlicht in den
Schriften der Physikalisch-ökonomischen Gesellschaft zu Königs-
berg, ist sein Werk und meisterhaft hat er es verstanden, die
Glanzperiode ostpreußischer Urzeit (1 bis 4 Jahrh.) aus
ihren Funden lvieder aufzubauen. Auf kulturhistorischem
Gebiete verdanken wir ihm eine Geschichte des Emails.
Tischlers Monographien sind meist in den Schriften der
genannten Gesellschaft erschienen; vieles bringen auch die
Verhandlungen der Berliner Anthropologischen Gesellschaft.
— Einer zum Zweck der naturwissenschaftlichen Erfor-
schung der Halbinsel Kola im Jahre 1887 von Finn-
land ansgesandten Expedition verdanken tvir folgende neuere
Erfahrungen über topographische Gestaltung und geologischen
Aufbau dieser Halbinsel. Das höhere Gebiet liegt im west-
lichen und südwestlichen Teile derselben, welcher durch bis
970 in hoch aufragende Gebirgsmassen und zahlreiche meist
flache, sumpfige Thäler bei weitem reicher gegliedert erscheint
als der östliche Küstenteil, nach welchem hin sich das Gebiet
allmählich senkt und einförmig plateanckrtig gestaltet. Am
Meere endet nach Ost und Nordost das Plateau mit steilem
Absturz, nur am Südrande findet allmähliche Verflachung statt.
Im allgemeinen vermißt man Schären. In geologischer
Hinsicht besteht die Halbinsel vorwiegend aus dem sogenannten
Grundgebirge, d. h. aus krystallinen, zum Teil metamorph
sedimentären, znm Teil metamorph-eruptiven Schiefern, die
steil aufgerichtete Komplexe bilden und östlich von horizontal
aufgelagerten Thonschiefern, Dolomit- und Sandsteinbänken
des Devon bedeckt werden. Ju der Mitte von Kola wurden
mächtige Massive von Nephelinsycnit mit parallel zur Bankung
eingeschalteten Diabasporphyriten entdeckt. Weite Flächen
des festen Gebirgsgrnudes findet man mit Moränenbildungeu
überschüttet, die in dem westlichen höheren Teile mächtiger
Erdteilen.
entwickelt sind, als in dem östlichen niedrigern. Die
Schrammung des Felsbodens ist zum Teil west-östlich, zum
Teil nord - südlich orientirt. Unter den Glacialbildnngen
scheint fast ausschließlich Grundmoräne vorzuherrschen, da
lveder marine Thone noch äsbildendes Geröll irgendwo beob-
achtet wurden, doch ist die Grundmoräne vielfach geschichtet
und wahrscheinlich früher unter Wafferbedeckung abgelagert
worden. Für beträchtliche Landhebungen sprechen die an
mehreren Punkten noch erkennbaren Strandlinien. Im
Kolafjord und an der vor dem Ausgange desselben liegenden
Insel Kildin wurden zusammen an drei Punkten Strand-
linien entdeckt, die nicht weniger als fünf übereinander
liegende Terrassen in 25 m, 52 in, 65 in, 82 m und 125 in
Höhe über dem Wasserspiegel des Kolafjord bilden. (Nach
Ramsay, Geologische Beobachtungen auf der Halbinsel Kola,
Fcnnia III, 7, S. 1 bis 52. Helsingfors 1890.) 8r.
— Neu-Guinea. Besteigung des Mount Pule.
Am 14. November 1890 verließ eine von der-Geographischen
Gesellschaft in Viktoria ausgerüstete Expedition unter
Herrn G. Belford Port Moresby, um den Mount Aule
zu ersteigen, einen der hervorragendsten Berge im Britischen
Neu-Guinea, dessen Höhe im Jahre 1846 von der Bramble-
Expedition zu 3060 m bestimmt worden war. Die Ersteigung
des Berges, der bei den Eingebornen Kovio heißt, ist auch
am Weihnachtstage des verflossenen Jahres geglückt. Das
Koviogebirge besteht ans einer Reihe vulkanischer Spitzen,
welche von der Bergkette des Mount Owen Stanley isoliert
sind. Mount Aule steht wieder für sich isoliert. Diese
Berge sind bis zu ihrer Spitze bewaldet uud erreichen nicht
3350 in, bieten daher auch nicht Erhebung genug, um jene
baumlosen und grasigen Hochebenen mit klarer, Trockner
Atmosphäre zu besitzen, welche das Owen - Stanley - Gebirge
auszeichnen. Am Abhang des Berges liegen viele Dörfer
der Eingebornen, deren Pfade auch bis zur Spitze empor-
führen. Am Südwestabhange fällt eine Reihe prachtvoller
Wasserfälle zu Thal; in der Ebene südwestlich von dem
Mount Aule entdeckte Belford einen See, km breit
und fast 8 km lang; zwischen Mount Drew und der Mekes-
Range fand man einen großen Fluß. Das Tierleben war
in den durchreisten Gegenden arm (Proceedings Geogr.
Soc., Juli 1891).
— Opium als Kleingeld. In der Gegend von
Hankau in China geht, nach einem neuen Konsularberichte,
Opium sehr viel als Kleingeld um, zumal auf dem platten
Lande, fern von den größeren Städten. Das Abschlagen
des Silbers von den Barren, um Kleingeld zu gewinnen
und das große Gewicht des Kupfergeldes machen beides für
den Verkehr unbequem. Daher tritt das Opium an die
Stelle des Kleingeldes; cs wird allgemein benutzt, ist sehr
leicht und läßt sich schnell in kleine Mengen teilen.
Herausgeber: Dr. R. Andrer in Heidelberg, Leopoldstraße 27.
Druck von Friedrich View eg und Sohn in Brnunschweig.
Bd. LX.
Nr. 6.
Brauns chweig.
Jährlich 2 Bände in 24 Nummern. Durch alle Buchhandlungen und Postanstaltcn
zum Preise von 12 Mark für den Band zu beziehen.
1891.
Die Halbinsel Istrien.
Lin geographischer Überblick von Friedrich v. Hellwald.
Obgleich dicht vor den Pforten der bevölkerten und stark
besuchten Hafenstadt Triest gelegen, zählt doch die Halbinsel
Istrien zu den wenigst bekannten und ungenügend gewür-
digten Teilen des österreichisch-ungarischen Kaiserstaates, ist
sie im gewissen Sinne ein Stiefkind des Weltverkehrs. Eng
begrenzt allerdings, vereinigt Istrien dennoch anziehende
Landschaftsgebilde so verschiedenartig, wie kaum manch weit
ausgedehnteres Land. Hohe, jähe, pflanzenarme, rauhe
Alpen, nackte, felsige Hochebenen wechseln mit den üppigsten
Fluren, mit rcben- und olivcnreichen Hügeln und frucht-
baren Flächen ab, ans welchen die Agave blüht, die Dattel-
palme ihre Krone wölbt und die würzige Myrte ihre immer-
grünen Wipfel in die milden Lüste sendet. Und dieselben
Gegensätze bieten auch die Bewohner und ihre Werke: hier
Wohlstand, Gesittung und Bildung, dort Dürftigkeit, Ver-
wahrlosung und Unwissenheit; hier die herrlichsten Denk-
mäler des Altertums, die ehrwürdigsten Tempel und präch-
tigen Gebäude, dort die niedrigsten und elendesten Hütten!
Istrien erstreckt sich südlich von Triest in dreieckiger,
oder auch, wenn man will, birnförmiger Gestalt weit in die
Adria hinein nach Süden, gleichsam eine natürliche Grenze
zwischen südslawischem und romanischem Volkstume, zugleich
ein Übergangsgebilde von Mittel- nach Südeuropa. Die
natürliche Abgrenzung der Halbinsel gegen das Festland
läuft in der lleichtung von Nordwrst nach Südost, etwa
260 km von Duino am Nordrande des Triester Meer-
busens über das Bergland von Sessana nach Herpelje-Cosina,
von da weiter herab über die Höhen, welche unter dem
Namen Tschitschenboden oder Tschitscherei bekannt sind, bis
zum Meer in der Nähe der Hafenstadt Fiume in Kroatien.
Bon Norden nach Süden, bis zu dem weit in die See vor-
springenden Vorgebirge Promontorc beträgt die Länge 315 kin.
Die steil und unvermittelt ins Meer abstürzende, daher
buchten- und hafenarme Ostküste bespült der inselreiche Golf
des Quarncro, dessen Fluten ostwärts an das ebenso hasen-
und buchtenlose Gebirgsuser Kroatiens schlagen, um weiter
südostwärts, zwischen und hinter den Inseln der gleichsam
GlvbuS LX. Nr. 6.
in Scherben zersprengten Strandküste Dalmatiens, dem ört-
lichen Verkehr tausend Ankerplätze und Schlupfwinkel, der
großen Schiffahrt jedoch nur wenige Häfen zu bieten.
Klippen, von welchen das Meer starrt, dann die nicht selten
verheerende Bora, dieser wilde, scharfe Nordostwind, machen
die fast gar nicht gegliederten Gestade am qnarnerischen Meer-
busen gefährlich, weshalb sic auch nur spärlich bevölkert sind.
Die Eilande des O.uarnero, worunter einige, wie Veglia,
Cherso und Lussin, ansehnliche Größe besitzen, haben ebenfalls
meist ganz steile Ufer nnd gehören politisch, zum Teil auch
omographisch wie geologisch zu Istrien. Voll von Natur-
schönheiten sind sie, obgleich mit den großen Lloyddampfern
begncm erreichbar, vom reisenden Publikum doch weniger
gekannt als das cisnmgürtete Spitzbergen oder die palmen-
geschmückten Atolle der Südsee.
Im Westen breitet sich das offene Sccbccken der Adria
ans dem gewaltigen Doppclbuscn von Triest und Nkonfal-
cone ununterbrochen hinunter bis in das italienische Flach-
land. Diese Westküste weist im Norden von Triest bis
Salvore, vom Sprachgebrauche selbständig als Oltra be-
zeichnet, zwei breite und tiefe Buchten mit dazwischen schroff
vorspringendem Vorgebirge auf. Balle di Muggia mit
Istriens Orte gleichen Namens heißt die obere, Volle di
Stagnon die untere mit der ehemaligen Hauptstadt des
Landes, Eapo d'Istria, das Vorgebirge dazwischen Pnnta
Grosso. Eapo d'Istria liegt auf einem Insclfelsen als
Labyrinth enger Güßchen zusammcngeknüuclt und ist mit dem
Festlande durch einen Steindamm verbunden. Seine frühere
venetianische Vornehmheit vermag cs nicht zu vergessen und
erinnert allenthalben mit dem geflügelten Löwen, besonders aber
mit den öffentlichen Gebäuden der Piazza daran. Seine nächste
Nachbarin, Pirano, scheint heute noch wie im grauen Alter-
tume, stolz, gebieterisch und malerisch auf schroff vorsprin-
gender Landzunge eine dahinter tief ansgerundete Bucht mit
ihren Zinnenmaucrn nnd Türmen zu schützen. Von Sal-
vore hinab bis Cap Promontorc giebt es nur mehr Baien
und Hafenplätze, letztere überwiegend italienisch, nnd italienisch
11
82
Friedrich D. Hellwald: Die Halbinsel Istrien.
sind auch Aussehen und Zuschnitt dieser Städte selbst. Sie
alle, wie die meisten Flecken und Burgen, sind auf steil an-
laufenden Bergkegeln, vorgeschobenen Hörnern oder andern
leicht zu verteidigenden Punkten angelegt und weisen fast
überall die venetianische Banart: enge Gassen und hohe,
nngetünchte Plätze darf man nicht erwarten, wohl aber jäh
ailfsteigende Straßen oder gar Stiegen, welche wie die Salite
in Genna aus den niedrigeren Stadtteilen in die höheren
führen.
Da die Halbinsel nach Südwesten zu abfällt, so ist diese
Küste naturgemäß die belebtere und für den Seeverkehr
wichtigere. Auch bietet sie mit ihrem bunten Wechsel rebcn-
nmkränzter Hügelreihen und Olivenhaine, ans denen ver-
stohlene Weiler und Dörfer hervorlugen, und trockenen, oft
schroffen Felsgehängen weit mehr Mannigfaltigkeit als die
ernste Ostküste. So zeigt sich, mit Rebgärtcn, Oliven und
Waldbüschen anmutig umstanden, Parcnzo, unter Byzanti-
nern und Goten des Landes stolze Kapitale, heute Bischofs-
sitz und Residenz des istrischcn Landtags, reich an Bauresten
aus altrömischer Zeit. Malerisch und halbmondförmig ans
einer vom stattlichen Dom gekrönten Landzunge lagert sich
dann tiefer im Süden das ruhige Rovigno, der Mittelpunkt
der istrischcn Fischerei. Die ganze Südhälfte der Halbinsel um-
ziehen dann tm mäßigen Abstande, gleich Trümmerstücken eines
versunkenen Vorsanmes die sogenannten Skoglien, bald riff-,
bald inselartige, bald einzelne, bald gruppenständige Eilande,
selten bebaut oder bewendet, öfter nur von Unmassen ekliger
Vipern bekrochen, oft auch nackte Steinklumpen, hier mit
seichtem, dort mit tieferem Zwischenwasser, manchmal aber
wohl auch mit mittelitalienischcr lieblicher Vegetation von
Myrten und Lorbeeren geschmückt. So zeigt sich uns die
massige Skogliengruppe der Brionischen Inseln, hinter
welcher die Hafenbncht von Pola sich öffnet, die zweckent-
sprechendste und sicherste vielleicht des ganzen europäischen
Festlandes. Über drei hintereinander erhöhte Hügel steigt
aus der ganzen Breite des Doppelhafens an einer schon im
Altertum gewürdigten Stelle, wofür das vorhandene römische
Amphitheater spricht, die Stadt empor bis zu der sie über-
gipfelnden Veste, welche frei und gewaltig ihre schinnnernden
Mauerbreiten vom tiefblauen Himmel abhebt. Das ist das
stark nnd wohlbefestigte Heini der österreichischen Seemacht!
Ganz Istrien gehört zuni Gebiete des Karst, dieser als
Jammerbild verrufenen Bodengestaltung, welche fast durch-
gehends aus Kalkstein besteht. Seiner Wesenheit nach ist
der Charakter des Karstes der nämliche wie jener der Kalk-
alpen überhaupt, doch treten in ihm die ungünstigsten Fak-
toren besonders in den Vordergrund. Der Boden ist häufig
von tiefen Furchen und Schlünden zerrissen, voll von Grotten,
Höhlungen, zufälligen Zerklüftungen und jenen eigentüm-
lichen trichterartigen oder muldenförmigen Vertiefungen, die
man gemeiniglich als „Dolmen" bezeichnet, obgleich der Name
an Ort und Stelle nicht gebräuchlich zu sein scheint. Der
bis ans Südende der Halbinsel sich erstreckende istrische
Karst bildet im allgemeinen ein Tafelland von 600 m
durchschnittlicher Erhebung, an das sich im Osten jedoch
Höhenzüge anschließen, die in mehrere Teile zerfallen. Von
der Furche von Fianona, welche in die Ostküste einschneidet,
bis zum Monte Maggiore, Istriens höchstem Gipfel, heißt
die Kette Caldiera bei den Italienern, liefst bei den Slawen.
Von da bis in die Gegend von Duino streicht nordwestlich
die Vcnakette, welche wiederum in zwei verschiedene Gruppen
zerfällt: der Hochwall des Tschitschenbodcns oder der Tschit-
scherci und der Triestiner Karst. Ersterer wird an seinem
Südostende von dem 1396 m hohen Monte Maggiore ab-
geschlossen, besitzt eine mittlere Erhebung von 550 m, gipfelt
im Slavnik mit 1273 m und reicht bis zur Bodensenke bei
Herpclje-Cosina. Die Tschitscherei, als deren Hauptort
Mune gilt, ist nur sechs Stunden lang und fünf Stunden
breit, und umfaßt den Landstrich zwischen Pinguente, Planik,
Mnne und Slavnik. Es ist der unfruchtbarste, steinigste
Teil des ganzen Karstes, kaum daß dürftiges Gras zwischen
den Steinen sprießt nnd ein Wachholderstrauch seine stach-
ligen Zweige entfaltet. Dabei herrscht große Wassernot,
weshalb Kaiserin Maria Theresia in Bigga einen großen
Wasserbehälter anlegen ließ. Nur im Frühjahr hat dieses
weiße Steinfeld einen etwas frischeren grünlichen Farbcnton
von würzigen Kräutern, die zwischen Kalkschcrbcn üppig
hervorsprießen. Im Hochsommer und Herbst aber flimmert
der ganze Kalkboden unter den sengenden Strahlen der
Sonne, in einem die Angen drückenden gräulichen Weiß.
Nur hin und wieder unterbricht eine Gruppe von nieder-
stämmigen, aber baumartigen Wachholdcrsträuchcn imb ganz
vereinzelt ein kleiner Bestand alter knorriger Eichen die öde
Kahlheit der Landschaft. Der andre Teil der Vena, der
Triestiner Karst, ist durchschnittlich nur mehr 475 m hoch
und darin ist der Tcrstcl mit 640 m der höchste Punkt.
Die ganze Höhenkette ist kahl und unfreundlich, bietet
aber dennoch hin nnd wieder wohlthuende Abwechselung in
anmutigen Thälern, welchen die Natur all ihre Gaben
in reichster Fülle spendet und die durch liebliche Landschafts-
gebilde erfreuen. Insbesondere ist eine Besteigung des
Monte Maggiore ungemein lohnend. Da in der Nähe des
Meeres absolute nnd relative Höhe fast zusammenfallen, so
ist immerhin eine beträchtliche Steigung zu überwinden, die
nlanchcn Schweißtropfen kostet. Von Lnpoglava, einer
Station der das Innere durchschneidenden Eisenbahn, wandert
man über den Paß Vela liefst auf der gegen Fiume führen-
den Fahrstraße znm Stefanien-Schutzhanse. das schon hübsche
Aussicht gewährt. Von da führt ein neuer Weg teilweise
durch schönen Wald auf den breiten Gipfelkamm. Die
Rnndsicht dort oben ist weit umfassend, Meer und Alpen
einbegreifend. Von Südost beginnen die Berge, die weit
im kroatischen Festlande drinnen liegen, zu Füßen der Golf
von Fiume mit seinen Schiffen, die Inseln des Quarnero
und ganz Istrien vom Meer umschlossen, während in der
Ferne die Veste San Michele auf der Insel Ugliano bei
Zara winkt und das Auge zur Küste von Ancona und
Venedig bis zu den Klagenfurter Karawanken schweift.
Außer den beiden Pässen von Vela, liefst und Herpel je,
welch letzteren auch die den Tschitschenbodcn kreuzende Eisen-
bahn von Triest nach der Hafenstadt Pola benutzt, ist keiner
mehr von Belang. Fußsteige führen jedoch häufig über das
Gebirge. Eine schräge Linie von der Reede von Pirano an
der Oltra über die Binnenplätze Buje und Eaufanaro zur
Mündung der Arsa an der Ostküste weist dann im An-
schlüsse an die Hauptkette ein stark gegliedertes Bergland,
die Regione Pedemontana, mit 300 bis 500 m hohen Er-
hebungen auf. Daran schließt sich süd- und südwcstwärts
gegen das Meer eine vielfach wellenförmige Hügelregion an,
die Regione Marittima, beide aber, das bergige wie das
flachere Istrien, sind in ihrer Beschaffenheit vielfach jener
des Karstes ähnlich. Das eigentliche Karstland bietet nur
kahle, vegctationsarme, schuttbedeckte, wasscrlose Flächen.
Durch die dünnen Humusschichten versickert das Rcgcnwasser
im Boden sehr rasch und sammelt sich dann in den unter-
irdischen Höhlen. Es fehlt in Istrien gänzlich eine Thaluug,
die als Pulsader für den Verkehr dienen könnte. Das Land
ist arm an fließenden Gewässern an der Oberfläche, hin-
gegen reich an unterirdischen Wasseradern. In trockener
Jahreszeit versiegen fast alle Bäche, steigen aber nach an-
haltendem Regen ganz außerordentlich rasch.
Der Flüsse, welche das Land in tiefen Rinnen durch-
schneiden, sind wenige. Hauptfluß ist der aus der Tschit-
scherei langsam zur Westküste hcrabsteigende Onieto. Den
Friedrich v. Hellwald: Die Halbinsel Istrien.
88
echten Typus istrischer Gewässer stellt aber der Wildbach
Foiba dar, welcher int Innern bei Pisino in einer ge-
waltigen Felsschlucht von 128 ui Tiefe verschwindet. Bei
normalem Wasserstande genügt er nur notdürftig zum Be-
triebe einiger kleiner Mühlen; sein Bett ist Voll Untiefen
und Felsspalten. Nach heftigem Gewitter oder anhalten-
dem Regen staut er sich jedoch in der genannten Schlucht
zu einer Höhe von zehn und mehr Meter auf. Mit
dem Namen Foiba bezeichnet man übrigens allgemein die
trichterförmigen, tiefen Schlünde, in welchen das Regen-
wasser zusammenfließt und sich dann unter der Erde Bahn
bis ans Meer bricht. In der Nähe von Pola sieht man sie
bei niederm Wasserstande gleich v artesischen Brunnen empor-
sprudeln. An Seen ist nur der Oepicsee südwestlich am Fuße
des Monte Maggiore zu erwähnen.
Aus dem bisher Gesagten geht hervor, daß Istrien kein
reiches Land ist. In der That sind die Bodenverhältnisse
ungünstig genug, daher auch alle Zweige der Rohproduktion
gering, obgleich die Vegetation stellenweise die mannigfachsten
Pflanzen in reicher Fülle spendet. Die unfruchtbarsten
Bodenstrecken sind natürlich die Karstgegenden. Ebenso ist
das südliche Istrien minder ergiebig, und die guarnerischen
Inseln zeigen zum Teil noch ungünstigere Verhältnisse, wo-
gegen im Norden besserer Boden herrscht. Mais und
Weizen, darunter ziemlich bedeutende Mengen Spelt, sind
die Hanptkulturen, Buchweizen nnd Cinquantino die Nach-
früchte; Roggen tritt in den Hintergrund. Obgleich Acker-
bau vorwiegt, reichen doch die Bodenerzeugnisse für den Be-
darf der Bewohner nicht aus und müssen durch Einfuhren
ergänzt werden. Von überwiegender Bedeutung sind Öl-
und Weinbau. Istriens Olivenöl, schon im Altertum be-
rühmt, bildet heute noch einen Ausfnhrgegenstand. Zwischen
Triest und Capo d'Jstria finden sich Olbttnme nur hin und
wieder, aber schon bei Pirano bedecken sie ganze Hügel und
Rovigno im Süden bildet beinahe mit seinem ganzen Ge-
meindebezirk einen wahren Olivenwald. Von dort bis zur
Südspitze nimmt die Zucht des Ölbaumes wieder merklich
ab. Wein wird, besonders bei Pisino und an der Westküste,
nicht wenig gezogen, nur darf man sich in der Regel keinen
guten Tropfen vorstellen. Zwar ist Wein Nationalgetränk,
aber die Kultur läßt noch viel zu wünschen übrig. Bloß
einige Sorten, wie Rifosko, Terrano und Ribolla, der bei
Äsola und Mnggia wächst und nur etwa noch vom Mar-
sanie und Rosenwein aus der Gegend von Dignano im Süden
übertroffen wird, sind von vorzüglicher Güte, halten sich
aber nicht lange.
Obstzucht gedeiht beinahe nur als Luxusbetrieb der
Liebhaberei, obschon das Klima die herrlichste Ausbildung
der Früchte begünstigt. In der Oltra wie im Bezirke
Volosca am guarnerischen Golf giebt cs ganze Kastanien-
und Rnßbaumwälder, Feigen, Pfirsiche, Aprikosen, Mandeln,
Mispeln, Quitten in Anpflanzungen, auch Kirschen nnd, in
den nördlichen Gegenden, Pflaunten, endlich Granatäpfel und
Maulbeeren, an welch letztere sich eine nicht unbeträchtliche
Seidcnzucht knüpft. Doch wird die Obstbaumkultur lange
nicht mit dem Eifer betrieben, den sie verdient. In Süd-
istrien, namentlich um Pola, kommt auch die Korkeiche in
mehreren tausend Stämmen vor und liefert einen nicht un-
erheblichen Ertrag an süßen Eicheln, welche gleich Kastanien
gebraten und genossen werden. Obgleich übrigens angeblich
der Wald eine große Flüche einnimmt, ist doch außer Dal-
matien kein Land Österreichs so waldarm wie Istrien. Was
davon vorhanden ist, besteht zum größten Teile aus Nieder-
wald. Am ausgezeichnetsten sind die Waldungen von Mon-
tona am Südflussc des istrischen Berglandcs. Aufsallender-
weise fehlt ihnen fast gänzlich die Tanne.
Wegen des wenigen nnd schlechten Graslandes ist auch
die Viehzucht gering. Die Pferde sind von gemeinem,
kleinem Schlage, phlegmatischen Temperaments und werden
znm Lasttragen wie zum Reiten benutzt, doch ersetzt man sie
mit Vorliebe durch Maultiere und besonders durch Esel.
Selbst in den Straßen Triests fallen die Menge eselbespannter
Landsuhrwerke auf, womit die Tschitschen ihre spärlichen
Erzeugnisse zu Markte bringen. Der Stand des Rindviehs,
das den größten Teil des Jahres im Freien weidet, ist un-
zureichend, die Schweinezucht von untergeordneter Bedeutung,
am beträchtlichsten jene der Schafe. Neben Ackerbau und
Viehzucht gewährt die Sec den Bewohnern weitere Hilss-
guellen. Wie in den nördlichen Meeren die Heringszüge,
so kommen hier die der Sardellen nnd Sardinen oder An-
schovis schon im Januar und Februar. Bald werden ihre
unermeßlichen Scharen von ebenso starken Massen der 30
bis 45 cru langen Skombri oder Seemakrelen, dem gewöhn-
lichsten Speisesische der Adria, in hitziger Verfolgung gejagt,
so daß die See oft stundenweit wie von einem Windstrich
aufgeregt erscheint — für den Fang die reichste Zeit. Im
Ouarnero und seinem Jnselgebiet blüht der Thunfischfang.
Die Züge der 60 cm bis 2 m langen und oft mehrere
Zentner schweren, keulenförmigen Thunfische halten sich
meist dicht am Ufer. Daneben bieten periodisch oder jeder-
zeit die Notbarbe, der Meeraal, die Seeäsche, Störe,
Tinten- und Schwertfische, besonders aber Hummern, Spin-
nen, Austern und andre Muscheln ebenfalls reiche Jagd-
beute. Nicht unerwähut bleibe endlich die Gewinnung von
Seesalz, wenngleich heute die Erzeugung geringer ist als
ehedem. Pirano und Capo d'Jstria an der Oltra haben
die Seesalzgewinnung fast ausschließlich in Händen. An
Produkten des Bergbaues ist Istrien arm, nennenswert bloß
der Gewinn von Braunkohlen, Alaun und Vitriol. Bei
Rovigno, Pola, Albona gewinnt man hydraulischen Kalk,
und von Belang ist auch hier und da der vortreffliche Bau-
stein, den man namentlich in den uralten Steinbrüchen von
Pola bricht.
Istriens Klima wird nicht selten ungesund genannt.
Dem ist indes keineswegs beizupflichten. Wahr ist: einzelne
Uferstädte wie Pola, Umago, Cittanovo, Parenzo haben
unter schädlichen Ausdünstungen, die Südspitze der Halbinsel
insbesondere an Malaria zu leiden; doch sind die häufig
auftretenden Wechselsieber die einzige endemische Krankheit,
und diese hängen mehr von der Lebensart der Eingebornen,
als von den klimatischen Einflüssen ab. Beim Vergleich der
Sterbelisten ergeben sich aber keine ungünstigen Verhältnisse,
ja ein großer Teil der Leute erreicht ein hohes Alter. So
darf man wohl im allgemeinen sagen, das Klima sei mild
und gesund, nur im gebirgigen Teile der herrschenden Winde
wegen rauh. An den Küstenplützen lassen sich die Jahres-
zeiten wohl unterscheiden, im Innern aber treten blos; Winter
und Sommer scharf gesondert auf, da ein allmählicher
Übergang fast völlig fehlt. Ans der Hochebene des Karstes
sind die Schwankungen der Temperatur oft ganz unvermittelt
und im Zeitraum von zwölf Stunden kann das Thermo-
meter 12 bis 16 und mehr Grad Unterschied answeisen.
Istrien liegt im Gebiete der Frühjahrs- nnd Herbstregen,
im Sommer ist die Niederschlagsmenge außerordentlich
gering. Ost vergehen Monate, ohne daß ein Regentropfen
die lechzende Erde netzt. Dann trocknen die Bäche völlig
aus nnd die Dürre wird im höchsten Grade peinlich. Häufig
hat man über Wassermangel zu klagen. Brunnen sind selten,
und sogar an der Bahn von Triest durch die Tschitscherei
sind es vielfach bloß Zisternen, welche die Lokomotive speisen.
Wasser bleibt Istriens oberste Lebens- und Kulturfrage.
Im Winter schneit es selten auf der südwestlichen Abdachung
des Gebirges; ans der nordöstlichen hingegen ist der Winter-
ziemlich lang und schncereich, doch wird selbst in den höher
n*
84
Johan Winkler: Friesland, Friesen und
gelegenen Gegenden der Schnee meistens von der Bora ver-
weht, so daß nur die Gipfel der Berge davon bedeckt er-
scheinen. Die Winde beeinflussen natürlich das Klima.
Die schlimmste Plage ist die trockne, kalte, vorzüglich im
Winter heftig wütende Bora, welche ans dem Karst die
Frachtwagen nmwirst, besonders stark die Hochebenen und
Mulden der Tschitscherei heimsucht und auf den Quarnero
meist in urplötzlichen Stößen (Rifolli) herniederfällt. Ihr
Gegensatz ist der meist im Frühjahr und Herbst wehende,
Mit gewaltigen Regengüssen eintretende, alles erschlaffende,
warme Südwind oder Sirokko, der nicht selten Kopfschmerzen
und Schlagflnß verursacht und wegen der damit zumeist
vereinten Springfluten von den Schiffern mehr noch als
die Bora gefürchtet wird.
Als ob nun die Natur daran erinnern möchte, daß
Istrien das Land der überraschenden Gegensätze sei, schuf
sie an den südöstlichen Gehängen des Karstgebirges, im
Schutz und Quellenbereiche des Monte Maggiore, im
nördlichsten Quarnero, einen gegen Bora und Sirokko
gefeiten Winkel und verlegte dahin ein hesperisches Paradies.
Dieser Erdenfleck von reizender Schönheit ist die Gegend von
Lovrano bis Bolosca, von Fiume aus in kurzer Fahrt er-
reichbar. An der halben Höhe des Berges thront in wald-
nnd mattenreicher Umgebung Castua auf einem hohen Fels
mit großartiger Aussicht auf den Busen von Fiume und
das südkrainische Bergland. Mehrere Schloßrninen in der
nähern und fernern Umgebung mahnen daran, daß es einst
friesische Sprache in den Niederlanden.
Hanptort des alten Libnrnien gewesen fein soll. Unmittel-
bar ain Meeresufer und Bergflnß liegt dann Bolosea, ein-
gebettet in die üppigste Vegetation voll italienischen Charak-
ters. Zierliche Villen steigen darüber mit Gärten voll
tropischer Pflanzenpracht empor. Noch weiter nach oben
umgrünt Kastanien-, Buchen- und Nadelwald den Bergleib.
Die Perle des Seenfers ist aber Abbazia, jetzt wohl Istriens
bekanntester Ort, umzogen von einem Lorbeerhain mit
Zypressen gemischt, mit wundervollem Ausblick auf. Fiume
und die durch eine Jnfelzunge von Cherso malerisch abge-
schlossene Hafenbucht. Betäubende Aushauchung von Lor-
beerkampher umfängt uns in Abbazia. Der Lorbeer, hier
so hoch wie unsre höchsten Fruchtbäume, verhindert allent-
halben das Durchdringen der Sonnenstrahlen auf den Boden.
Es riecht nach Meer und Lorbeer — der Boden ist unter
Grün versteckt. Der Wind weht die Blätter roter und
weißer Rosen umher, von denen manches Haus bis zum
Dache hinauf zugedeckt ist, denn die Rosen sind hier Bäume.
Mit Recht oder Unrecht hat man dieses istrische Gestade die
österreichische Riviera, Abbazia, wo seit mehr denn einem
Jahrzehnt eine Kolonie vornehmer Gasthöfe entstanden ist
und das sich zunehmenden Aufschwunges als Seebad und
Luftkurort erfreut, das österreichische Nizza genannt. Dar-
über läßt sich streiten, nicht aber über ein andres: Seebad
und Alpenluft vereinigt, das findet, wie Heinrich Noö, der
gründliche Kenner, treffend ausgeführt hat, der Gast nur
an diesem Strande, sonst nirgends in Europa.
Friesland, Friesen und friesische Sprache in den Niederlanden.
Oon Johan N) in kl or. Haarlem.
V.
(Sch
Was die Ausbreitung der friesischen Sprache zwischen
Flie und Lauers betrifft, so ist darin feit dem Jahre 1500,
namentlich aber seit 1600 keine oder nur wenig Veränderung
zu verzeichnen bis zum heutigen Tage. Im allgemeinen
kann man sagen, daß die friesische Sprache über die Provinz
Friesland verbreitet und von deren Grenzen eingeschlossen
ist. Es giebt aber Ausnahmen. Erstens sprechen die Be-
wohner der sechs größeren Städte, und die der Stadt
Workum teilweise, die oben erwähnte und beschriebene friso-
fränkische (die städtisch-friesische) Mischsprache. Weiter ge-
hören der Gau Stellingwerf, sowie die Landgemeinde Het
Bildt und zwei oder drei Orte in der Landgemeinde Kollnmer-
land und Nienw-Krnisland, nebst der Insel Ameland nicht
zum friesischen Sprachgebiete. Dagegen spricht die. Insel
Ter-Schelling, die staatlich nicht zu Friesland, sondern zu
der Provinz Nordholland gehört, friesisch.
Der Gau Stellingwerf, welcher die zwei Landgemeinden
Ost- und West-Stellingwerf, mit je 10 und 20 Dörfern
(Hanptdörfer Olde-Berkoop und Makkinga, Wolvega, Noord-
wolde, Oosterwolde und Appelsga) umfaßt, liegt im Süd-
osten von Friesland, umschlossen von dem Flüßchen Kuinre
(friesisch Tsjonger) und den Grenzen der Provinzen Over-
yssel und Drente. Durch seine Abgeschiedenheit von den übrigen
Teilen Frieslands, von dem cs durch einsame niedrige Moor-
strecken im Norden geschieden ist, und durch das anhaltende
Eindringen der Volkssprache der unmittelbar angrenzenden
Gauen Overyssel (Melgau) und Drente, die im Mittelalter
dem Bischof von Utrecht Unterthan waren und mit denen
Stellingwerf politisch abwechselnd wohl die gleichen Schick-
sale teilte, ist auch dieselbe friso-sächsische Mundart jener
uß.)
Gauen in Stellingwerf eingebürgert worden. Ursprünglich
jedoch haben die Stellingwerfer nur rein friesisch gesprochen,
wahrscheinlich noch um das Jahr 1500. Und wenn auch
hierfür keine anderweitigen Beweise vorlägen, so würde die
noch heute ziemlich stark friesisch gefärbte Mundart es be-
zeugen, ebenso wie die Dorfnamen, die typisch friesisch sind
und teilweise noch den altfriesischen Ansgang auf ga (frie-
sisch gea — Dorf) haben: Wolvega, Makkinga, Appelsga,
Pcperga, Spanga, Finkega. Das Flüßchen Tsjonger scheidet
die Stellingwerferfriesen von den übrigen rein friesisch
sprechenden Friesen; sie werden denn auch von diesen als
„Oertsjongsters“ (übertsjongerifche, überkninderische) ge-
kennzeichnet.
Die Landgemeinde Het Bildt, welche drei Dörfer,
St. Anna-Parochie (fr. Stannebüren, St. Annebüren),
St. Jakobi-Parochie (fr. 8t. Japik) und Onze-lieve-
Vrouwen-Parochie (fr. Froubüren) nebst einigen Weilern
und vielen sehr ansehnlichen, zerstreut liegenden Bauernhöfen
umfaßt, ein sehr fruchtbarer Kleiboden, liegt an der Stelle
der Mündung des ehemaligen Middelzees (oben S. 38).
Gleich nach Beginn des 16. Jahrhunderts wurde sie dem
salzigen Meere endgültig abgewonnen unb dann nicht mit
Friesen, sondern mit holländischen Bauern bevölkert. Ihre
"Nachkommen (friesisch Uilksi-Z) sprechen noch heute eine
altholländische (friso - fränkische) Mundart, die allerdings
ziemlich starke friesische Färbung erlitt.
Die friso-sächsische Mundart des Groningerlandes hat
an einer Stelle im Nordwesten Frieslands die alte Gau-
grenze, die Lauers, überschritten und.westlich von diesem
Flüßchen im Dorfe Bnrum und großenteils auch im nahe-
85
Johan Winkler: Friesland, Friesen und friesische Sprache in den Niederlanden.
liegenden Dörfchen Gerkesklooster mit dem friesischen Anteil
des Weilers Stroobos die friesische Sprache verdrängt.
Auch im naheliegenden Marktflecken Kollum wird heutzutage
nicht mehr rein friesisch, sondern die städtisch-friesische Mund-
art gesprochen. Doch ist in dieser nur halbfriesifchcn Mund-
art Kollums noch etwas mehr rein, sogar altfriesisch erhalten
geblieben, als in den friesischen Städten der Fall ist. Sie
beschränkt sich indessen ausschließlich auf den dicht bebauten
Teil des Fleckens, aus den sogenannten Kerkebnurt (friesisch
Tsjerkebüren). Gleich östlich von diesem spricht man in den
zerstreut liegenden Bauernhäusern schon die friso- sächsische
Mundart des angrenzenden Dorfes Burnm; und ebenso
gleich westlich davon herrscht wieder die rein friesische Sprache,
wie sie dem naheliegenden Dorfe Oudwoude, dem ganzen
Waldgau im allgemeinen eigen ist. Die Sprachgrenzen
verlaufen hier ganz scharf nebeneinander.
Die Insel Ameland, obwohl sie früher und wahrscheinlich
teilweise im vorigen Jahrhundert nur friesisch sprach, spricht
Die Sprachverhältnisse in den nördlichen niederländischen Provinzen. Von Johan Winkler.
jetzt eine frifo-frünkische Mundart, gleich dem Stadtfriesisch,
doch mit etwas mehr holländischer Färbung. Was Ver-
anlassung dazu gegeben hat, daß gerade auf Ameland die
reinfriesische Sprache ansgestorben ist, während doch die beiden
benachbarten Inseln Schiermonnikoog und Ter-Schelling, in
deren Mitte sie liegt, die alte Sprache so treu bewahrten,
ist nicht bekannt. Freilich nahm die Insel Ameland früher
eine besondere Stellung ein, war nicht mit dem friesischen
Festlande staatlich verbunden, sondern reichsunmittelbar unter
den Herren von Ameland aus dem uralten friesischen Ge-
schlecht derer van Cammingha. Vielleicht liegt in dieser
Sonderstellung der ursprüngliche Grund ihrer Abweichung
auf sprachlichem Gebiete. Zwar wird oftmals hervor-
gehoben, daß die Amelander Männer und Jünglinge auf
holländischen Schiffen vielfach als Seeleute dienen, doch
darin kann die Ursache nicht wohl liegen; denn dasselbe trifft
bei der männlichen Bevölkerung von Ter-Schelling und
Schiermonnikoog zu.
Die merkwürdige und schöne Insel Ter-Schelling (fr.
Skilinge, Schellingerfriesisch: Skilge und Skilje) dagegen
86
Iohan Winkler: Friesland, Friesen und friesische Sprache in den sNiederlanden.
spricht rein friesisch, obgleich sie zu der Provinz Nordholland
gehört, wo das rein Friesische sonst ausgestorben ist. Wenig-
stens zum allergrößten Teil, doch macht das mittelste Dorf,
Midlands (auch Midsland und Midland), eine Ausnahme,
da man dort die gewöhnliche friso-fränkische Mundart der
friesischen Städte redet, wie ans Ameland und Texel.
Diese sprachliche Abweichung des kleinen Dorfes ist noch
eigentümlicher als die Sonderstellung Amelands und mir
eigentlich gerade so unerklärlich. Falscher Weise ist die Insel
Ter-Schelling der Provinz Nordholland zugeteilt worden, denn
sie liegt östlich vom Flic, östlich von dieser alten Gangrcnze,
also zwischen Flie und Lauers (Friesland) und nicht zwischen
Flie mtb Nekere, wie die benachbarte Insel Flieland, die
denn auch nicht mehr friesisch, sondern eine ganz eigentüm-
liche Mundart spricht.
Die gesamte Bevölkerung der Provinz Friesland beträgt
335 558 Einwohner. Nach Abzug der nicht friesisch reden-
den Bevölkerung von Lecnwarden (30433), Sneek (11469),
Harlingen (10195), Franekcr (7198), Bolsward (6015)
und Dokknm (4053), von der kleinen Hälfte etwa der Ein-
wohner von Worknm (im Ganzen 4245, also 2000), von
Ost-Stellingwerf (9315), West-Stellingwerf (15492), Het
Bildt (8827), Ameland (2246), Burum, Kollum und
Gerkesklooster (berechnet auf 3550) zusammen 110793 und
mit Beifügung der 3430 friesisch redenden Ter-Schellinger
(die Insel zählt im ganzen 3730 Einwohner, von denen
die 300 nicht friesisch redenden Einwohner des Dörfchens
Midlands abgezogen werden müssen) kommt man zu einer
Anzahl von 224 765 friesisch sprechenden in Fricsland und
von 228195 friesisch sprechenden im ganzen Reiche der
Niederlande. Die Zahl derjenigen im ganzen Reiche, die
sriso-fränkische und sriso-sächsische Mundarten reden, zu be-
rechnen, ist nicht möglich, weil diese Gansprachen nirgends
genau begrenzt sind, sondern überall in die anstoßenden rein
fränkischen und rein sächsischen Mundarten übergehen.
Immerhin gehört bei weitem der größere Teil des nieder-
ländischen Volkes zu dem Gebiete dieser zwei weit verbreiteten
Gruppen niederländischer Gansprachen.
Bei der vorstehenden Berechnung der friesisch sprechenden
Friesen ist jedoch noch in Betracht zu ziehen, daß allerdings
unter diesen aus dem platten Lande in Friesland nicht
wenige Familien wohnen, die, als Holländer oder andre
Niederländer oder auch als friesische Städter, untereinander
wie auch im Verkehr mit friesisch sprechenden die friesische
Sprache nicht gebrauchen. Dem steht gegenüber, daß unter
der Bevölkerung der friesischen Städter, unter den Arbeitern
der Vorstädte und namentlich unter den Bauern, deren
Landhufen zuweilen in weitem Umkreise die eigentliche Stadt
umgeben und zu deren Verwaltung (fr. Steds - Klokslag)
gehören, sich auch viele befinden, die in ihrer Familie und
überhaupt im täglichen Leben nur friesisch reden. Die nicht
friesisch redenden auf dem Lande, die friesisch redenden, die
noch zur Stadtbevölkerung gerechnet werden, werden einander
der Zahl nach wohl die Wage halten; immerhin ist dabei
der Vorteil noch auf Seite der friesischen Sprache. Somit
ist die oben genannte Endzahl gewiß nicht zu hoch an-
genommen.
Unter den friesischen Städtern, die gewöhnlich im täg-
lichen Verkehr und in ihren Familien nicht rein friesisch,
sondern das sogenannte Stadtfriesisch reden, befinden sich
viele, namentlich beim männlichen Geschlecht — das in dieser
Beziehung konservativer als das weibliche ist, während sich
die Frauen in bezug auf die Tracht konservativer verhalten
— welche die friesische Sprache nicht nur vollkommen ver-
stehen und lesen, sondern auch sprechen und schreiben. In
erster Linie sind dieses diejenigen, die als größere und kleinere
Kaufleute, als Ladenbesitzer oder anderweitig mit friesisch
sprechenden um des Vorteils wegen vielfach in Berührung
kommen. Aber auch abgesehen von diesen giebt es nicht
wenige unter den friesischen Städtern, die ans National-
gefühl und Nationalstolz, die unter den Friesen sehr ver-
breitet sind, die alte Volks- und Landessprache lieben und
ihrer mündlich und schriftlich sich bedienen.
Man kann mit Sicherheit annehmen, daß beinahe alle
friesisch sprechenden Friesen die allgemein niederländische
Sprache vollkommen verstehen, und daß ferner der größere
Teil sie auch sprechen kann, mehr oder minder fließend und
mehr oder minder rein; lesen und schreiben auch je nach dem
Maße der Schulbildung. Kein einziger Friese spricht aber die
niederländische Sprache so aus, wie die eigentlichen Holländer,
die ihre besondre Anssprache zur amtlichen durchzudrücken
wußten, glauben, daß es sein müßte. Ihr Zungenschlag
(Accent), auch wenn sie sich mit aller Gewalt die holländi-
sche Aussprache anqnülen, ist unverwüstlich. Allzeit und
überall erkennt man den Friesen z. B. an seiner Aussprache
des g, das er wie der Engländer, Deutsche oder Franzose
in great, groß, grand spricht, während die Holländer diesen
Buchstaben tief ans der Kehle hervorholen und hcrausgnrgeln;
ferner an seinem sk statt des holländischen sali (dieses Letzte
wie in Westfalen ausgesprochen), und an seinem scharfen 8
und 1 im Anfange eines Wortes, wo die Holländer ihr äußerst
weiches z und v hören lassen. Umgekehrt bringt kein Holländer
und sonst nichtfriesischer Niederländer es so weit, gut Frie-
sisch zu sprechen, selbst wenn er cs überhaupt der Mühe wert
halten sollte, sich darauf zu verlegen, was nur ganz ausnahms-
weise vorkommt und wenn er auch inmitten einer friesisch
redenden Bevölkerung leben würde. Denn dann konnncn ihm
schon die Friesen mit ihrer halbholländischen Mischsprache
entgegen oder gar mit dem amtlichen Niederländisch; denn
die Friesen sind in dieser Beziehung in ihrem eigenen Laude
dem Fremden gegenüber gar zu gefällig. Im allgemeinen
hat die friesische Sprache sich außerhalb ihres Gebietes nur
wenig Beachtung zu erfreuen; man bekümmert sich nicht um
sie, ja, man verachtet sie oftmals. Der nichtfriesische Nieder-
länder, zumal der holländische Städter, hält das Friesische
einfach für eine verdorbene Bauernmnndart, während es doch
eine uralte, reine, schöne, edle Germanensprache ist. In den
letzten Jahren wird das Friesische jedoch auch von holländi-
.schen Sprachforschern, nach Vorgang deutscher und englischer
Sprachgelehrten, mehr und mehr nach Gebühr gewürdigt.
Es ist hier nicht der Ort, die friesische Sprache einiger-
maßen eingehend, und wenn es auch noch so oberflächlich
geschehen sollte, sprachwissenschaftlich zu behandeln. Wir
verzichten gänzlich darauf und können dem Deutschen, der
die friesische Sprache in ihrer gegenwärtigen niederländisch-
neufriesischen Gestalt näher kennen lernen will, nur die
jüngste, niederländisch abgefaßte, populäre Sprachlehre
empfehlen: Dr. Dü. van Blom, Beknopte Friesche
Spraakkunst voor den tegenwoordigen tijd; de Joure
1889. Es möge ferner hier genügen anzuführen, daß das
Friesische eine rein germanische Sprache ist, am nächsten dem
alt- (nieder-) sächsischen verwandt, und in vieler Beziehung
mitten innestehend zwischen den eigentlich niederdeutschen und
den nordischen Sprachen. Ans altsächsisch und altfriesisch,
und vielleicht noch einem andern kleinen altgermanischen
Sprachzweige, ist das Angelsächsische entstanden, aus dem
sich bekanntlich das heutige Englische entwickelt hat. Die
nahe Verwandtschaft des Friesischen mit dem Angelsächsischen
ist Ursache geworden, daß die Einführung des Christentums
bei den widerspenstigen heidnischen Friesen schließlich vor
allen den angelsächsischen Glaubensboten (Willebrord, Win-
fred oder Bonifazins, Willehad, Switbrccht) glückte. Denn
diese, in ihrer Muttersprache Predigend und sprechend,
konnten sich den Friesen, als Stammverwandte, fast wie
Johan Winkler: Friesland, Friesen und friesische Sprache in den Niederlanden.
87
Stainniesgenossen verständlich machen; sie gewannen dadurch
großen Einfluß. Darum schreibt auch Melis Stake, ein
althollündischer Chronist, zum Jahre 1305:
Inghels was Willibroert becant,
Gheboren van Noorthumberlant;
En want de Inghels sijn gewassen,
Als men leest, van Neder-Zassen:
Conste hi te bet de Yriesche tale;
Dit mach elcman proeven wale I.
Aber während das Friesische seine ursprüngliche Reinheit
noch bis zum Ende des Mittelalters bewahrte, verlies sich
das Angelsächsische durch starke Beimischung von fremden,
normannisch-französischen Bestandteilen, im 11. Jahrhundert,
zu der heutigen englischen Mischsprache. So kam es, daß
das Angelsächsische, als cs seit Jahrhunderten bereits in
England ausgcstorben war, tut Friesischen des späten Mittel-
alters noch gleichsam fortlebte. Der alte Staudfricse Tiletu a n
Dothias Wiarda bemerkt dieses in seiner „Geschichte der
alten friesischen Sprache, Aurich 1784", und fügt ganz
richtig hinzu: „So genau kommt noch das Friesische aus dem
13. und 14. Jahrhundert mit dem Angelsächsischen aus deut
6. Jahrhundert überein." Seit dem Jahre 1000 aber ist
einerseits daS Angelsächsische und Englische, anderseits seit
deut Jahre 1500 das Friesische, ein jedes seinen eigenen
Weg gewandert; sie haben sich in verschiedener Richtung
weiter entwickelt. Doch der alte Zusammenhang, die ur-
sprüngliche Einheit der beiden Sprachen, blickt heute noch
aus einer jeden hervor. Sowohl englische wie friesische
Sprachgelchrte haben dieses wiederholt erwiesen. Fast den
ganzen germanischen Bestandteil des heutigen Englisch, oft
in überraschender Übereinstimmung, findet man im Friesischen
wieder. Mit Recht sagt daher auch ein friesischer Geschichts-
schreiber: „Seit dem Verlaufe von so vielen Jahrhunderten
ist noch heute eine so große Sprachgleichheit zwischen bcm
Englischen und dem Friesischen, daß, wenn die friesischen
Wörter aus dem Euglischcn weggenommen würden, kaum
die Hälfte übrig bleiben würde" 2). In der jüngsten Zeit
hat auch ein deutscher Sprachgelehrter, Dr. Theodor
Siebs, ein Bremer, und dem Namen nach friesischer Ab-
stauunung, der sich durch die Erforschung der friesischen
Sprache unter den niederländischen Friesen selbst und
unmittelbar aus ihrem Munde viel Ruhnt erworben hat,
diese Sache näher beleuchtet in seiner sehr verdienstvollen
Arbeit „Zur Geschichte der englisch-friesischen Sprache",
Halle a. S. 1889. Int 17. Jahrhundert kam ein an-
gesehener Engländer, ein tüchtiger Sprachforscher, Francis
Inn ins, durch den Ruhm des friesischen Dichters Gysbert
Japicx (oben S. 74) angezogen, nach dessen Wohnort
Bolsward, um von ihn, die friesische Sprache zu lernen und
darin sich zu üben. Zwei Jahre lang blieb der Engländer-
in Bolsward als Schüler des Friesen, den er später hoch
rühmte. Im Beginne unsres Jahrhunderts kaut ein andrer
englischer Sprachgelehrter, Dr. John Bowring, ztt dem-
selben Zwecke nach Friesland, wo er namentlich unter der
Leitung des friesischen Sprachforschers uttd Dichters Rinse
R. Po st hum ns, reformierter Pastor in den Dörfern
Waaxens und Brantgum in Wcstdongeradeel, seine friesischen
Sprachstudien ntachte. Und noch heute beschäftigt man sich
vielfach in Ländern englischer Zunge eingehend mit der frie-
sischen Sprache. Selbst in Nordamerika, in Jthaka (New
Pork) erschien 1879 Hie Frisian language aud litera-
ture by W. F. Hewett.
Eiu cinziges Beispicl von der Ubereinstimmuug, die
zwischen Englisch und Friesisch bestcht, moge hier einen Platz
finden. Wahlen wir dazu, wie dieses auch schon andre vor
uns gethan, cine Stelle aus cinem friesischen Gcdicht von
Rinse R. Posthumus, mit desscn Ubcrsetzuug ins Alt-
englische durch John Bowring bearbeitet; friesisch und
englisch Zcilc fur Zcile:
Lik as Gods sinne swiet us wrald oerskint,
Like as Gods sun sweetly our world o’ershines,
Her warmtme end liacht end groed end libben skinkt,
Her warmth and light and growth and life sends,
Ink as de milde rein eltse eker finth,
Like as the mild rain each acre finds,
Sa docht ek det, hwet in us, minsken, thinks.
So does eke that, what in us, men, thinks.
Dy sprankel fen Gods si hr, in iis lein, jowt
That sparkle of God’s fire, in us laid, gives
Oeral ek liacht end freugde oan Adams team;
O’erall eke light and joy on Adam’s train;
Ilwer dy wenn’t, hulken eft paleisen bout,
Where they dwelt, hulks or palaces builds,
End fen hwet folk er is, ho ’t er him neam’.
And of what folk he is, how he him (self) names.
Jedoch nicht blosi bei den GeleHrtcn, sondcru auch bei
dcm eigentlichen Bolke in Friesland und England ist das
Bewuhtscin der ursprunglichen Zusammengchorigkeit, die
auch in der Sprache sich ausiert, uoch bewahrt geblicbcn.
Dafur spricht cin bereits in alter Zeit bei den Friescn um-
laufcndes Volksreimchen:
Enter, bread end griene t si is 1 i))
Is goed Ingelsk end goed Frisk.
In England gilt die Bolkssprache von Halifax, in
Yorkshire, als besondcrs nahe dcm Friesischen vcrwaudt.
Darum sagcn die Englander:
Good bread, butter and cheese,
Is good Halifax and good Freese.
In der Volkssprache von Halifax:
Guuid bred, boter en tshiiz
Iz guuid Elifeks en guuid Friiz.
Bezuglich dieser englisch-friesischen Sprachsache kann
man noch nahere Besonderheiten in dem Werke des grosten
euglischen Sprachforschers Alexander I. Ellis, On early
english pronunciation, London 1875 (4 Teile) uud zwar
im vierten Teile, Johan Winkler, On low German
and Friesian Dialects, S. 1396 ff. siudeu. Dort erkeuut
man u. a. die grosie Ubereinstimmung von Englisch und
Friesisch aus der euglischen und friesischen Ubersetzung des
Gleichnisses vom verlorenen Sohne (St. Lucas XV, 11
bis 33).
Neufriesisch.
30. Mar nou disse soan fen
Jou kommen is, dy jou
goed mei hoeren derthroch
brocht bath, nou habbe
Jou’t fet-mesle keal sor liirn
slachte.
31. Do sei de heit tsjin
him : Bern ! Dou bist altid
by my, end al hwet mines
is, is dines ek.
Alt englisch.
30. But now this son of
you come is, that your good
with whores there through
brought hath, now have you
the fat-masted calf for him
slain.
31. Then said the father
against him: Bairn! thou
be’st alltide by me, and all
what mine is, is thine eke.
1) „Bekanntlich war Willebrord englisch (ein Engländer),
geboren in Northumberland; lind da die Englisch (Engländer)
sind gewachsen (fortgekommen),- wie man liest, von Niedersachsen:
(so) konnte er um so besser die sriesischc Sprache; dies mag
jedermann wohl erproben."
ch Foekc S.ioerds, Algemeene Beschryvinge van
Oud- en Nieuw-Friesland; Leeuwarden 1765, I, 298, 299.
Das Friesische ist eine wohllautende und schöne Sprache
auch noch in seiner heutigen Form. Indessen hat es doch
zum großen Schaden seines Wohllauts viele seiner nrsprüng-
i) gi’iene tsjis, grüner Käse, der berüchtigte friesische
(texclsche) grüne Schafkäse.
Iohan Winkler: Friesland, Friesen und friesische Spruche in den Niederlanden.
88
liehen vollen Formen und seiner volltönenden Ausgänge auf
a und i und on verloren und zum tonlosen 6 abgeschwächt.
Trotzdem kann das Friesische noch mit vollem Rechte die
altertümlichste und edelste unter den germanischen Sprach-
formen genannt werden.
Eine merkwürdige Eigenheit der Friesen, die sich auf die
Eigenart der friesischen Sprache gründet, verdient noch im
hohen Maße die Beachtung der Deutschen, ja aller germa-
nischen Sprachforscher. Nämlich die N amen der Friesen,
sowohl ihre tausend und mehr verschiedene Mannes- und
Franentanfnamen, als die ebenfalls sehr zahlreichen Familien-
namen und die Ortsnamen der friesischen Städte, Dörfer,
Fluren und Gewässer, die alle einen besonderen friesischen
Charakter aufweisen. Alle sind eigenartig, alle ' uralt
germanisch. Die Taufnamen und die Ortsnamen findet
man in hunderterlei Formen und Abweichungen, hier
mehr, dort minder über das ganze friesische Land, über
All-Friesland in Niederland und Deutschland von der
Rekere in Nordholland bis Jütland verbreitet. Dagegen
sind die eigentümlichen, alle ans a endigenden Geschlechts-
namen auf das Land zwischen Flie und Weser beschränkt,
jedoch so, daß sie im friesischen Stammlande zwischen Flie
und Laucrs am häufigsten und allgemeinsten vorkommen,
und der Zahl nach abnehmen, je weiter man sich nach Osten
wendet; östlich der Weser findet man sie nicht mehr. Die
Namen zeigen vielerlei Formen und Ausgänge, die alle
eine besondere Bedeutung haben, ans einfaches a, auf inga
(enga, unga), ma, sma, sema, na, sna, sena, stra u. s. w.
z. B. Algra, Sohn des Alger, Adelger, Athalgar; Jorna,
Sohn des Jörn, zusammengezogene friesische Aussprache des
Mannesnamen Ebcrwin; ldserda, Sohn des Jdsart, Ed-
zard; Ferwerda, von dem Dorfe Ferwcrd, nördlich von
Leenwarden, abgeleitet; Deinuma, von dem Dorfe Deinum
westlich von Leenwarden; Smeda, Sohn des Schmieds;
Voorda, der Mann, der an einer Voorde, Furt, wohnt;
Abbinga, Mennenga, Boyunga sind Patronymica von den
Mannesnamen Abbo, Menno, Boy; Ottema, Bennema,
Brinkama, Jansma, Geertsema, Halbertsma, Bronsema,
Agena, Habbena, Tiadmersna, Sierksena oder Cirksena
bezeichnen: Sohn des Otto, Benno, Brinko (derninitivurn
von Brinio), Jan (Johannes), Gcert (Gerhard), Halbert
(Halbrecht), Bronno, Age, Habbo, Thiadmar (Dietmar),
Sierk oder Eirk (zusammengezogen ans Siegerik, Viktor).
Zum Schlüsse noch Ylstra nach dem Städtchen Wst;
Proelstra nach dem Dörfchen Per Oele in Doniawarstal;
Leekstra nach dem Dorfe de Beek in Groningerland;
Bykstra vom Deiche; Zijlstra von sil, syl (Schleuse), in
den Niederlanden verholländert zu zijl, in Deutschland hoch-
deutsch siel. (Tacozijl, Delfzijl, Blokzijl, in den Nieder-
landen ; Greetsiel und Hilgenriedersiel in Ostfricsland;
Ilooksiel in Jeverland.) Es bedeutet also Zijlstra —
von der Schleuse; Fkstra vom ik, eke, Eiche; 8t ran d-
stra, vom Strande n. f. w. in fast unendlicher Reihe. Alle
diese Namen sind sehr merkwürdig; sie liefern dem Sprach-
forscher, der sich eingehender damit beschäftigt, sehr über-
raschende Aufklärungen.
Abgesehen von vielen verschiedenen Abhandlungen in
niederländischen und deutschen Zeitschriften, worunter
namentlich Beachtung verdient: Karl Strackerjan, Die
jcverländischcn Personennamen unter Berücksichtigung der
Ortsnamen, Jever 1864, findet man noch einige nähere
Besonderheiten und ausführliche Namcnlistcn in der Arbeit
von Bernhard Brons jr., einem Standfriesen in Emden,
„Friesische Namen und Mitteilungen darüber", Emden
1877. Eine allgemeine Übersicht, mit vielfacher Erklärung
dieser friesischen Namen findet man in meiner eigenen
Arbeit: Be Nederlandsche Geslachtsnamen, in oor-
sprong, gescbiedenis en beteekenis. Haarlem 1885.
Für Fremde ist die friesische Sprache, wenn auch nicht
besonders schwer zu erlernen, doch gewiß recht mühsam aus-
zusprechen. Das letztere gelingt einem Fremden in der
That niemals vollständig. Das häufige Vorkommen eines
,j nach einem Konsonant oder nach Zusammenstellung von
Mitlantern verursacht dem Fremden am meisten Beschwerde:
bjiar, Bier; djür, teuer; fjüchtsje, fechten; Gjalt, ein
Mannesname; hjearing, Hering; kjitte, Kot; Ijeaf, lieb;
mjükse, schmutzige Sachen vermischen (in der friesischen
Mundart von Saterland, Oldenburg, ist najuks, Mist);
ns irre, Natter; pjükje, mit einer Pike stechen; rjü,
ziemlich viel; sjonge, singen; tjems, Sieb, wjük, Flügel;
snjillen, eine Art Rohr oder Schilf; spselde, Stecknadel;
st,jure, schicken; Swsüent, eine Art Ente, Pfeifente, Anas
Penelope; tsjerke, Kirche. Ferner noch dze, mit sanftem
holländischen oder französischen z, in widze, Wiege; dsje
in arbeidsje, arbeiten; hl in hlaitsje, lachen u. s. w.
Auf diese Eigenart der friesischen Sprache sind denn
auch einige Wörter und Sprüche begründet, die den Frie-
sen als Schibolet dienen. Gerade so wie die alten Vla-
nlingen im Mittelalter, nach der Feldschlacht, alle die
ihnen in die Hände sielen, die Worte Schilt! ende Vriend
sagen ließen, um zu erkennen, ob sie cs mit Wallonen und
Franzosen oder mit Vlamingcn zu thun hatten, so ließen
in jener Zeit die Friesen bei der Belagerung von Franeker
im Jahre 1500 ihre Feinde, die Kriegskncchte des Herzogs
Heinrich von Sachsen, folgenden Kennsprnch hersagen: Fson-
wer lotter Ideare ljiepaeyen op üs finneherne in
ien nest; d. i. Vier lauter helle (frische, unbcbrütete)
Kiebitzeier auf der Ecke unsrer Weide in einem Nest. Die-
jenigen, welche dieses nicht ganz fehlerfrei nachsagen konnten
und dadurch bezeugten, daß sie keine Friesen waren, wurden
ohne weiteres ins Wasser geworfen, wo sie ertranken. Auch
hatte man von alters her noch andre derartige Kennsprüche
im Gebrauch. Heute läßt man jemandem, um zu erkennen,
ob er ein Friese oder Fremdling ist, oder meistens um ihm
die Schwierigkeit deutlich zu machen, wohl nachsagen: sljucht
end rjuckt, schlicht und recht — ein friesischer Wahl-
spruch; oder noch schwieriger: njoggen-end-njoggentich
Frjeantsjerter ljiepewjükken, neunnndneunzig franeker sehe
Kicbitzflügcl. Das bringt kein Nichtsriese zu Wege. Merk-
würdig, daß dasselbe Wort nsoggen-end-nsoggentieli auch
bei den Saterlandsricscn in Oldenburg noch als Schibolet
dient *).
Wie es bei allen Sprachen der Fall, wird auch die
friesische Sprache in den Niederlanden in verschiedenen
Mundarten gesprochen. Doch weichen im allgemeinen die
friesischen Mundarten nicht so stark von einander ab, wie
dieses bei andern Sprachen vorkommt. Als Hauptmnndart
gilt die, welche man in der Mitte des Landes spricht, in
den Dörfern, die zwischen den Städten Leenwarden, Sncck,
Bolsward und Franeker liegen. Diese Mundart ist am
weitesten verbreitet und hat Geltung im Kern des Landes,
für einen großen und sehr bevölkerten Teil; denn sic erstreckt
sich mit sehr geringen Abweichungen auch über die Land-
striche nördlich von Leenwarden und Dokknm und rund um
Harlingen. Wiewohl sie keineswegs durch größere Reinheit
und altertümliche Formen über den andern friesischen
Mundarten steht, ja in dieser Beziehung wohl hinter andern
zurücksteht, ist sie doch wegen ihrer großen Verbreitung, als
Bialeetns communis des Friesischen, zur Schriftsprache er-
hoben worden. Die Gebrüder Halbertsma (oben S. 74),
die durch ihre Schriften in unserm Jahrhundert die srie- i)
i) Hettenia und Posthum ns, Onze reis naar Sagelter-
land; Franeker 1836, S. 203.
Iohan Winkler: Friesloud, Friesen und friesische Sprache in den Niederlanden.
89
fische Sprache zu neuem Leben erweckten, gebrauchten die
Mundart ihres Geburtsortes Grou, die vom Dialectus com-
munis auch nur iu ein paar ganz unbedeutenden Fällen ab-
weicht. Gewöhnlich nennt man diese friesische Hauptmundart
’t Frisk fenne Klaei, nach der Bodenart (Klaei, Klei), auf
der sic geredet wird. Nur sehr wenig abweichende Unter-
arten dieses Dialectus communis sind die Mundarten von
<le Bierumen (Landgemeinde Barradecl, die Dörfer Doster-
biermn, Pietcrsbierum und Sixbiernm, Tjummarum und
Minnertsga, nordöstlich von Harlingen umfassend), Bie-
rumer Frisk; und die von de Dongeradeelen (Land-
gemeinden Dst- und West-Dongcradccl, die Dörfer Holwerd,
Ternaard, Anjum, Ec u. s. w. nördlich von Dokkum um-
fassend, gewöhnlich de Dokkumer Kiaei genannt), Donger-
Frisk. Mehr aber weicht vom Dialectos communis die
Mundart ab, die man im Dstcn des Landes redet, südlich
von Dokkum und östlich von Leeuwarden und Grou, iu den
sogenannten 'Waiden (Wäldern) und die man daher Wáld-
frisk, Waldmanne-Frisk oder Waldtsjers-Frisk nennt.
Waldfriesisch spricht man in Ninsumagecst, Buitenpost,
Berguni, Drachten, Gorredisk und Umgegend, namentlich
aber am reinsten in Oudcga in Smallingerland. Waldfriesisch
ist eine reine und schöne Mundart. Sie übertrifft darin bei
weitem die Mundart, welche südlich von Sneek und östlich
von Heerenveen, südlich bis zu dem Flecken de Lemnicr ge-
sprochen wird. Diese Mundart nennt man gewöhnlich
Jouster Frisk, nach dem wichtigsten Orte dieses Gaues, dem
Flecken de Joure; oder auch Legewáldster Frisk, weil
dieser Gau de lege Waiden, die niedrigen Wälder heißt.
Mehr noch weicht die Umgangssprache im südwestlichen
Winkel des Landes vom Dialectus communis ab, in den
Landgemeinden Hcmelumcr - Dldefert und Noordwoldc und
im Gaasterland. In alter Zeit und noch im vorigen
Jahrhundert war dieses 8üdlioeksler Frisk, zumal in der
erstgenannten Grietcny (die Dörfer Kondum, Molkwcrum,
Warns) sehr wesentlich von der gewöhnlichen Form der
friesischen Sprache verschieden. Es war, und ist es auch
noch heute, ursprünglicher, hatte ältere Formen und Wörter
reiner bewahrt. Abgesehen von der täglichen Umgangs-
sprache des Fleckens Makkum und der Stadt Workum, die
auch noch einige besonders alte Wörter und Formen be-
wahren, ist namentlich die Mundart des Städtchens Hinde-
loopen vom sprachkundigen Standpunkte aus eigenartig und
merkwürdig. Und dieses gilt auch von dem Friesischen, wie
es auf dem schönen idyllischen Eilande Schicrmonnikoog
geredet wird. Dieses Schiermounikooger Friesisch weicht am
meisten vom Dialectus communis ab, es ist eine schöne,
klangvolle Mundart und bildet einen Übergang zu den alt-
ostfriesischen und nordfriesischen Gausprachen. Auch das
Friesische der Insel Ter Scheüing hat seine Eigenarten und
hat einige alte Wörter bewahrt, die anderswo nicht mehr
im Gebrauche sind, z. B. Hors = Pferd, in allen anderen
niederländisch friesischen Mundarten hinsder oder Linser.
Das Schell Niger Friesisch zerfällt wieder in zwei Unter-
abteilungen, die im östlichen und westlichen Teile der Insel
gesprochen werden, geschieden voneinander durch die friso-
fränkische Mischsprache von Midlands (oben S. 86). Im
allgemeinen verlieren sich alle diese Dialekte je länger je
mehr in der allgemeinen friesischen Schriftsprache; die von
Hiudeloopeu, Schiermonnikoog und Ter Schelling bleiben noch
am eigentümlichsten. Näheres über alle diese Eigentümlich-
keiten der friesischen Sprache kann man iu meiner Arbeit
finden: Algemeen Nederduitsch en Friesch Dialecticon,
’s Gravenhage 1874.
Zum Schlüsse und als Zugabe will ich hier noch ein
Paar Beispiele der niederländisch-friesischen Sprache aus den
drei Zeitperioden ihres Bestehens folgen lassen: Altfriesisch
Globus LX. Nr. 6.
bis zum Jahre 1500; Mittelsriesisch zwischen 1500 und
1800 und Neusriesisch aus unserm Jahrhundert, nach der
Einteilung von Dr. F. Buitenrust Hettema in dessen
Werk: Bloemlezing uitOnd-, Middel- en Nieuwfriesche
Geschritten, met Glo sarium, Leiden 1887. Diese
„Blumenlese" gibt eine gute und vollständige, nur in Bezug
aus das Neufriesische etwas zu kurze Übersicht der gesamten
friesischen Litteratur.
Altfriesisch: Dyo tredde need is. Als dat kind
is al stoenaken iei'ta huuslaes, ende dan di tiuestera
ne vil ende calda winter oen comt, so i'aert aller
manick oen syn hof, ende oen syn huis ende an wa-
ramme gaten. Ende da wiilda dier seket di in holla
baem, ende der birgha hlii, aldeer hit siin liif oen
bihalda mey. So weinet ende scryt dat onieriga
kind ende wyst dan syn nakena lyae, ende siin huus-
laes; ende syn fader deer bim reda schuld to ienst
dyn honger ende winter nevil cald, dat hi so diepe
end dimme mitta fiower neylen is onder eke ende
onder da cerda bisloten ende bitacht, so moet dio
moder her kindes eerwe setta ende sella, om dat hio
da behield liabbe ende biwaer, also lang so hit onie-
rich is dat hit oen forste ner oen honger naet
forfare H.
Mittelfricsisch:
Nu lit Y, Heer! iju free
Jon Tjienner d’yerdsche stee
Forlitte, ney Jon sizzen;
Nu, oermits mijn blier eag
Jon silligheyt oonseag
Ijn mijn klimm’ carmen lizzen.
Dy Y, for tijd in stuwn’,
Beschaet liabbe in mijld juwn
For al’t folck, om op t’eagjen;
Yen hijmmel-liedend stier
Fore Heydnen heyn in fier,
Yen Isrels glanz - op - deagjen -).
Neufriesisch:
It wier op ien simmerjiind,
Det siutsje stoe oppe gründ
Wol lieal in ne dawe wei,
Krekt as er in ’t wettir laei.
Sefkes end stil wier de wriild,
Det wettir laei sünder fald,
End ’t goudne sinnefiür
Spraette sin gleaunens d’r oer 3).
0 Die dritte Noth ist: Menu dos Kind ist ganz stocknockend
oder houstos, und bann der dunkle Nebel und falte Winter
o>ikommt, so fährt jedermonn in seinen Hof und in sein Haus
und in warme Löcher. Und dos wilde Tier sucht den hohlen
Baum und die Leeseite der Berge, olldo es seinen Leib erhalten
möge. So weint und schreit dos unjährige Kind und weist
dann feine nackenden Glieder und seine Hauslosheit und sein
Vater, der es retten sollte vor (gegen) dem Hunger und Winter-
nebelkälte, daß der so tief und verborgen mit vier Nägeln ist
unter Eiche (in einem eichenen Sarge) und unter der Erde be-
jchlvssen und bedeckt, so must die Mutter ihres Kindes Erbe
versehen und verkaufen, weil sie die Behütung und Bewahrung
hot, also lange als es unjährig ist, dost es durch Frost noch
durch Hunger nicht umkomme. — Altfriesische Gesehe, Londrecht
(Londriucht).
2) Gypbert Japicx, Lof-gesjoDg fen de ade
Symion, Mitte des 17. Jahrh. Eine deutsche Übersetzung des
bekannten Nunc demittis (St. Lueos II, 29 bis 38) ist liier
wohl nicht nöthig.
3) Es war auf einem Sommerabend; dos Sönnchen stand
auf dem Grunde (war bis zum Horizonte untergegangen) wohl
12
99
Dr. med. CH. Prieber: Die gegenwärtige Sage der Maori auf Neuseeland.
Und dann noch die letzte Strophe aus einem der be-
liebtesten friesischen Bolksliedcr:
Friesländ, Friesländ! dy forjitte
Seil ik imiath tsiüestere gref!
End din lieldenrom ütmjitte,
Sa lang as ik sikje kin !).
halb im Taue weg, gerade als ob es im Wasser lag. Sanft
und stille war die Welt, das Wasser lag ohne Falte, und
das goldene Sonnenfeuer breitete seine Glut darüber. I)r. E. H.
Halbertsma, It Marke (Die kleine See), 1822.
U Friesland, Friesland! Dich vergessen werde ich im
dunklen Grabe! Und deinen Heldenruhm ausmessen (ver-
breiten), so lange ich athmen kann. Dr. I. H. Halbertsma,
Friesland 1822.
Die gegenwärtige Lage der Maori auf Neuseeland.
Von Dr. med. Sh. Frieder, früher in New - Plymouth.
Das ritterliche und ausdauernde Poll der Maori, welches
so lange und zähe gegen die Übermacht der britischen Fremd-
linge für sein gutes Recht, für seinen heimischen Boden
kämpfte, ist heute in seinen geringen Resten nicht mehr zn
fürchten. Was von der Zivilisation der Flinten und Kanonen,
des Branntweins und der Blattern noch übrig geblieben
ist, hat seinen Frieden mit den
„Pakehas", den Weißen, ge-
schlossen, die „Könige" waren
herabgestiegen in die Küstenstädte
der Engländer, hatten sich unter-
worfen und Frieden gelobt.
Wiremu Kingi, William King,
einer der letzten streitbaren Maori-
häuptlinge, zeigte vor 16 Jahren
in meiner Gegenwart zu New-
Plymouth seine Unterwerfung an:
es war ein trauriges Schauspiel.
Ohne Gefahr kann man setzt
auch die Nordinsel durchwandern,
ruhig kann man am Tauposee
eine Billeggiatur beziehen, wo
sonst hinter Kaurifichten der tätto-
wierte Wilde lauerte und seine
Kugel auf den verhaßten Weißen
abschoß. Pflugschar, Art und
Grabscheit führt heute die Hand
des Maori statt der Kriegskenle,
und als Chausfeearbeiter haben
sie vorzügliches geleistet; viele
Landstraßen der Nordinsel sind
das Werk der Maori, sie haben
auch die Telegraphenpfählc einge-
rammt und abends Schaffleisch
und Kartoffeln geschmaust. Als ich einst einen Trupp Maori
bei solcher Arbeit und solchem Essen traf, da enthüllte sich
mir ein Stück Kolonialgeschichte! Wenn man weiß, mit
welcher Ausdauer die Maori gegen die Briten kämpften,
wie sie von ihren vortrefflich angelegten Kriegpahs herab
die wohlgezielten Kugeln in die Reihen der Rotjacken und
Kolonialmilizen sandten, dann muß ein solcher Umschlag der
Stimmung uns wundern. Aber die Maori waren gebrochen
und jeder fernere Widerstand nutzlos.
Die Abnahme der Maori ist ja oft statistisch nach-
gewiesen worden. Zn Cookes Zeit (1769) nahm man
etwas über 100000 an. Allein nach dem, was ich gesehen
habe, scheint dieses eine sehr geringe Schätzung gewesen zu
sein. Im Jahre 1859 wurde ihre Zahl zu 56 000 an-
gegeben, von denen 53 700 auf der Nord- und 2300 auf
der Südinsel lebten. Der Zensus von 1888 giebt noch
41969 an. Danach scheint es, als ob das 20. Jahr-
hundert ihr gänzliches Aussterben sehen wird. Dagegen
wohnen in Neuseeland schon 620 000 weiße Ansiedler.
Der Maori sieht, daß alles um ihn herum anders wird,
daß Städte erblühen, die Eisenbahn bis in die Berge
reicht, die heimischen Pflanzen vor den europäischen ver-
schwinden und daß Millionen Schafe in einem Lande
weiden, welches vor der Entdeckung durch die Europäer
kaum Säugetiere kannte. Was hat da noch der braune
Mann zn schaffen? Er tritt ab von der Bühne.
Als Hanptkrankheiten, die
zum Verfall der Rasse führten,
kann ich Schwindsucht, chroni-
sches Asthma und Skropheln be-
zeichnen; die erster« beiden sind
eine Folge des halb wilden, halb
zivilisierten Lebens gewesen, in
das die Maori hineingerieten; die
letzter« stammen von den Krank-
heiten, die ihnen seit der ersten
Berührung mit den Europäern
überbracht wurden. Trotzdem fand
ich im sogenannten King Coun-
try, im Südwesten der Nordinsel,
noch prachtvoll schöne Menschen
unter den Maori. Aber dieser
schöne Typus, diese großen Leute,
zuweilen noch mit tättowierten
Gesichtern, gehörten bereits dem
ältern Geschlecht an; sie waren
geistig und körperlich dem jüngern
überlegen, und diese Thatsache
läßt die Zukunft des Volkes im
trüben Licht erscheinen. Selbst
da, wo sich noch vergleichsweise
am meisten alte Lebenssitte er-
halten hatte, waren viele euro-
päische Gewohnheiten eingerissen
und Alt und Jung fröhnte dem Tabakrauchen und Brannt-
weintrinken in einer geradezu schädlichen Weise. Die Ehen
waren sehr wenig fruchtbar, selbst wo die Weiber noch
hübsch und kräftig waren. Als ich einst mit Pehi Hetan
Turoa, einem hervorragenden Häuptling im King Country,
über den Verfall seiner Rasse sprach, sagte dieser: „Früher
lebten wir anders. Jeder Stamm hatte seine Landschaft.
Wir lebten in Pahs hoch in den Bergen. Die Männer
beschäftigten sich mit dem Krieg, die Weiber und Kinder
bestellten die Felder. Damals waren wir stark und gesund.
Als aber die Pakeha (Weißen) kamen, da begann alles zn
sterben und sich zu ändern. Wenn wir früher unter
Bäumen standen, konnten wir uns kaum verstehen, so lärmten
die Vögel oben. Wir hatten Pigmoris und alles in Fülle.
Jetzt ist vieles fort. Damals waren die Felder wohlbestellt,
wir hatten zn essen und kleideten uns anders in Matten
und Federn. Die Missionare holten unsere Kinder von
den Feldern. Dann kam der Krieg mit den Pakeha, dann
kamen die zahllosen Ansiedler, die unser Land nahmen, die
uns rauchen und trinken lehrten und Kleider gaben. Wie
Maorisran lMischling) mit tättowiertem Kinn.
Nach einer Photographie.
Dr. me b. Ch. Prieber : Die gegenwärtige Lage der Maori auf Neuseelands
Öl
konnten wir widerstehen? Wir werden verschwinden wie
der Kiwi, und die Namen von Bergen und Flüssen allein
bleiben von uns übrig." Diese richtige Auseinandersetzung
des Häuptlings deckt sich ganz mit einem bekannten Ans-
spruch, den ein Maori gegenüber F. v. Hochstetter that.
Nach meinen Messungen ist die durchschnittliche
Höhe der Männer 5 Fuß 6J/2 Zoll englisches Maß, doch
ragen viele darüber hinaus, namentlich in der Umgegend
des Tauposees, wo man die schönsten Maori findet und
vergleichsweise das meiste Ursprüngliche sich erhalten hat.
Sicher bildeten die Häuptlinge die schönste Spielart der
Nasse und so ist es auch noch heute. Mo hi, der Häupt-
ling des Stammes Ngatimoharcta am Tauposee, war der
herkulischste Maori, den ich gesehen und gemessen habe. Er
maß 6 Fuß 4 Zoll. Auf ihn folgte der oben schon er-
wähnte Pehi Hetan Turoa, Häuptling des Stammes am
Whanganni, der 6 Fuß 3 Zoll maß. Brust und Schultern
waren bei diesen beiden, sowie bei einigen andern von mir
gemessenen Häuptlingen, ganz ungewöhnlich entwickelt. Die
kleinsten Maori fand ich in Ruakaka, im Thal des Whan-
ganni; sie lebten allerdings in der Tiefe. Auf die anthro-
pologischen Eigenschaften kann ich hier nur flüchtig eingehen
— wir haben darüber ja eine nicht kleine Litteratur —
aber berichtigen möchte ich doch die falsche, durch Abbildungen
(auch bei Hochstetter) verbreitete Ansicht, als ob die Maori
Adlernasen hätten, wie etwa die Rothäute. Dieses ist so
! wenig bei ihnen als bei den übrigen Polynesiern der Fall.
Das einst lang getragene, in einem Knoten auf dem Scheitel
geknüpfte Haar, wird jetzt nach europäischer Art geschnitten.
Schön, dunkel, ausdrucksvoll wie früher sind auch heute noch
die Augen der Maori, blendend weiß und gesund ihre Zähne.
Tättowierung in der bekannten Art, namentlich an den
Lippen und am Kinn, findet man noch, wenn auch ganz
tättowierte Gesichter heute schon zu den größten Seltenheiten
gehören. Doch ist eine genügende Anzahl solcher Tätto-
wiernngen uns in Photographien erhalten geblieben. Das
Benehmen habe ich meist höflich und ansprechend gefunden,
was den Ausdruck „Gentlemen der Südsee" für die Maori
i
Maorihaus (Kings Country). Mischung von altem Stil mit europäischem.
Nach einer Photographie.
wohl rechtfertigt. Sie altern schnell und sehen dann häßlich
und ausgemergelt aus.
Sollten nun auch die reinen Maori gänzlich aussterben,
so wird doch ihr Blut noch lange in den Adern der weißen
Bevölkerung Neuseelands rollen, wenn auch immer ver-
dünnter und verdünnter. Es ist nämlich mit der Zeit ein
Mischtingsgeschlccht von weißen Bätern und Maorimüttern
herangewachsen, das ein Bindeglied zwischen beiden Rassen
bildet und sich nicht nur durch schöne Körperbeschaffenheit,
sondern auch durch Intelligenz auszeichnet. Diese Mischungen
begannen bereits zur Zeit der ersten Ansiedelungen, als die
Europäer ohne Frauen einwanderten. Die Folge ist, daß
in Neuseeland nicht bloß Halbblut vorhanden ist, sondern
daß schon Terzerons und Qnarterons sich finden, bei denen
das Maoriblnt fast nur in den großen, schwarzen, glänzen-
den Angen noch erkennbar ist. Ich verkehrte in 9iew-Ply-
mouth viel in einer englischen Familie, wo die Frau
XU Maoriblnt in den Adern hatte. Sie stand in keiner
Beziehung hinter den übrigen Damen der Stadt zurück und
war die Mutter von fünf prächtigen Kindern, von denen
nur eins schwarze Augen und Haare hatte; die übrigen vier
waren blond und blauäugig. Diejenigen Mischlinge, welche
Halbblut sind, haben noch eine braune Färbung (oata au
lait) und zeigen manche Ähnlichkeit mit den Südspaniern.
Mischlinge von Maorivater und weißer Mutter habe ich
nicht kennen gelernt.
Der Untergang der Maori, der Verfall, welcher mit den
Europäern über die ganze Rasse gekommen ist, zeigt sich auch
deutlich in ihrem Geistesleben und in Kleidung, Sitte,
Kunst. Wohl sieht man noch Gestalten in Geflecht aus
dem heimischen Flachs (Phormium) gehüllt, aber europäische
Kleider und Decken überwiegen. Da sitzen sie zusammen-
gekauert in die bunten, schmutzigen Blankets, mit dem nie
fehlenden Pfeifenstnmmel im Munde und Schnaps begehrend.
Ist man glücklich, so findet man noch einige alte Nephrit-
stübchen in den Ohren oder sieht Tättowiernngen oder beob-
achtet den bekannten Nasengruß (Hongi), welcher mit der
ernsthaftesten Miene von alten Leuten noch ausgeübt wird,
während die jüngern schon den europäischen Kuß kennen.
Die Hütten sind zumeist der charakteristischen, schönen
12*
92
Die gegenwärtige Lage der Maori auf Neuseeland.
Dr. med. CH. Prieber:
Schnitzereien entkleidet, welche mühsam mit Mnscheln oder
Obsidian hergestellt wurden; nur einzelne zeigen noch an
den Balken und auf dem Giebel Schnitzerei und Figuren,
dabei aber auch schon Fenster. Ich habe keinen Maori
mehr getroffen, der noch die wunderbar schönen Schnitzereien
hätte anfertigen können, die einst die Geräte, Kanus, Häuser,
Bildstatuen schmückten und solche Exemplare von Statuetten,
wie sie in der vorliegenden Abbildung (nach einer Photo-
graphie) vorkommen, findet man wohl nur noch in den
Museen. Es sind diese sogenannten „Götzenbilder" oder
Tikis jetzt alle gesammelt, über das Meer fort in europäische
Museen gebracht, oder in denjenigen der Doppelinsel selbst
untergebracht worden. Nachgemacht werden sie nicht, wie
andre ethnographische Gegenstände. Bloße Kopien würde
man sofort erkennen. Aber wie schade, daß mit der Ein-
führung des Eisens das alte Stilgefühl der Maori geschwunden
ist! Wie mühevoll war das Schnitzen des harten Holzes
mit Obsidiansplittern oder Muschelschalen! Durchaus eigen-
tümlich und in sich geschlossen war der Charakter des Maori-
ornaments, sicher bei diesem Volke selbständig herausgebildet.
Sind auch Schnitzknnst und Stilgefühl bei andern Polynesiern
im reichen Maße vorhanden, zu der gleichen Höhe wie bei
den Maori erhoben diese sich nicht. Ein altes Maoriwerk
erkennt man sofort unter Hunderten von.andern polynesischcn
Schnitzereien heraus. Nur ganz bestimmte Motive wendete
der Neuseeländer an und unter diesen ragt die sich wieder
aufrollende Spirale vor allen übrigen hervor, die angewendet
wurde bei den Holzfiguren, beim Schmuck der Häuser, der
Maori aus dem Kings Country (heutige Tracht). Nach einer Photographie.
Geräte, der Kanuschnäbel und bei den Tättowierungen.
Gewiß, es ist ein großer Fortschritt, daß die Maori heute
keine Kannibalen mehr sind, daß sie lesen unb schreiben
können; aber Künstler sind sie auch nicht mehr und zn
Grunde gehen sie sicher.
Ain kennzeichnendsten ist der Verfall dieser intelligenten
Rasse — einzelne sind Parlamentsmitglieder geworden —
aus religiösem Gebiet, wo die Einführung des Christentums
ganz wunderbare Erscheinungen und eine geistige Zerrüttung
eigener Art herbeiführte. Der erste Missionar, Samuel
Marsden, begann 1814 sein wohlwollendes Werk. Römisch-
katholische und evangelisch-englische Missionare bekehrten
bald die weißen Maori, die aber zumeist nur dem Namen
nach Christen wurden und im King Country Heiden bis
auf unsre Tage blieben. Der gute Wille und die Thätig-
keit der aufopfernden Missionare soll damit keineswegs
geschmälert werden und cs giebt auch sicher Maori, die das
Christentum in unserm Sinne erfaßt haben — aber im
Durchschnitt ist dieses nicht der Fall. Es ereignen sich
und ereigneten sich früher noch häufiger, wunderliche Dinge
ans religiösem Gebiet. Dahin gehört die Erscheinung des
„Hau-Hauismns", die vor noch nicht zwanzig Jahren statt-
fand. Im April 1864 kam es in der Umgebung von
New-Plymonth zwischen englischen Truppen und den Maori
zum Kampfe, in dem ein Kapitän Lloyd fiel. Die Neusee-
länder schnitten ihm den Kopf ab und dieser wurde nun
zn dem Symbol ihres neuen Glaubens. Ein Maori, Te
Ua, trat als Oberpriester ans und verkündigte, daß er vom
Engel Gabriel Offenbarungen erhalten habe. Er ließ nach
alter Landessitte Lloyds Kopf räuchern und denselben weit
Dr. med. CH. Prieber: Die gegenwärtige Lage der Maori auf Neuseeland.
93
und breit durchs Land tragen. „Dieser Kopf", sagte er, „sei
fortan der Vermittler, durch welchen man im Verkehr mit
Iehovah bleibe." Die neue Religion ward Pai-marire,
d. h. gut und friedfertig, genannt und der Engel Gabriel
zum Beschützer derselben erkoren. Was England und die
Bibel lehrte, so erklärten die Anhänger der neuen Religion,
sei falsch; der Sabbath brauche nicht geheiligt zu werden
und Männer wie Frauen mußten gemischt durcheinander
leben, damit sie sich vermehrten wie Sand am Meer. Nach
dem neuen Glauben besaßen die Priester übernatürliche
Kräfte und konnten ihren Anhängern vollständigen Sieg
verleihen, wenn sie das Wort „Hau" recht kräftig ans-
sprachen. Das Volk, welches die neue Religion annahm,
würde binnen kurzem die Europäer vertreiben, die Heer-
scharen der Engel würden selbst vom Himmel herniedersteigen
und ihnen bei der Ver-
treibung der Weißen be-
hülflich sein, deren Künste
und Wissenschaften daun
auf die Maori übergingen.
Das Ganze war ein
rohes und wirres Durch-
einander von heidnischen
und christlichen Vorstellun-
gen und zeigte, wie das
Ehristentnm trotz aller Be-
mühungen der Missionare
keine Wurzel unter den
Maori gefaßt hatte. Lloyds
Kops, den die Priester
im geräucherten Zustande
durch die Insel schleppten,
that Wunder und redete
überall zu den Gläubigen,
daß sie ja an den Satzun-
gen festhalten sollten. Aber
das Wunder bei dieser
Geschichte verschwindet so-
fort, wenn man weiß, daß
unter den Maori sich ganz
vortreffliche B a u ch r e d n c r
befinden imb die braunen
Priester verstehen sich so
gut ans Täuschungen ihrer
Herde, wie anderwärts die
weißen. Lloyds Kops gebot
die Silbe „Hau" so aus-
zusprechen, wie wenn ein
Hund laut belle, sie solle
ein geheiligtes Erkennungs-
und Bnndeswort sein, wer es spreche, könne von keiner
Kugel eines Weißen getroffen werden. Mit dem Han-
Han-Gebell stürzten die Maori nun im national-religiösen
Eifer und Aberglauben auf die Weißen und schlachteten sie
ab; ehe sie in den Kampf zogen, ans dem sie unverwnndet
hervorzugehen hofften, tranken sie aber von dem geweihten
Wasser, in welches Lloyds Kops getaucht worden war und
leisteten einen Schwur, jeden Weißen ohne Unterschied des
Geschlechts zu vertilgen.
Einer der ersten, der diesen Fanatikern in die Hände
fiel, war unser Landsmann, der Missionar Bölkner, welcher
im Auftrage der Londoner Chnrch-Missionary-Society ans
Neuseeland arbeitete und in Opotiki eine christliche Maori-
gemeinde um sich versammelt hatte. Aber kaum war die
neue Lehre der Hau-Hans verkündigt worden, so fielen
Völkncrs Zöglinge über sein Eigentum her und plünderten
es aus. Ihm selbst band man ein Tuch um die Angen,
Tikis. Alte Maoriholzschnitzerei. Nach einer Photographie.
gestattete ihm einige Minuten zum beten und knüpfte ihn
dann unter diabolischem Gelächter an einem Baume ans.
Die Leiche wurde dann herabgenommen und neben die
Kirche gebracht, wo man ihr den Kopf abschnitt. So
widerwärtig das Nachstehende ist, muß cs doch verzeichnet
werden, da es charakteristisch für die Fanatiker und ihren
Aberglauben ist. Die Hau-Haus nah inen das Gehirn aus
dem Schädel, rissen die Augen aus und verzehrten beides;
Männer, Weiber und Kinder drängten sich heran, um das
Blut aufzulecken. Der Körper wurde vielfach verstümmelt
und den Hunden vorgeworfen.
Die Hauhaus sind dann jahrelang eine Plage für die
Insel gewesen; aber zu ihrem Fanatismus, ihrer Rachsucht
und zu den gräßlichen Ausschreitungen sind sie nur durch
die Weißen getrieben worden, die ihnen nicht nur ihr Land
nahmen, sondern sie auch
ans dem psychischen Gleich-
gewicht warfen. Das Alte
ist unwiederbringlich dahin
und das Nene vermögen
sie ihrer ganzen Beschaffen-
heit nach nicht zu bewäl-
tigen. Sie nehmen es an
und auf, aber es bleibt
ihnen innerlich ganz fremd,
und die europäische Zivili-
sation ist ihr Untergang.
Die bereits oben von
mir erwähnte Unterwerfung
des King William unter
den Kommissioncr für die
Angelegenheiten der Maori,
Mc Lean, die zur Zeit
meiner Anwesenheit in New-
Plymonth stattfand, be-
zeichnet das politische Ende
der letzten unabhängigen
Maori. Mit dem Reste
seines Stammes, 150 Aken-
scheu, und den gleichfalls
friedesnchenden Waikatos,
erschien der greise King,
halb in europäische Lumpen
gehüllt, halb noch in hei-
mischer Tracht und das
Korcro, die Verhandlung,
begann. Mac Lean sprach
ihm begütigend zu und der
King erkannte die Königin
Viktoria als Herrin an.
Nicht fern von New-Plymonth liegt an der Küste Waitara,
der Stammsitz König Wilhelms, von dem er geflohen war,
als der Krieg mit den Weißen ansbrach. Jahrelang hatte
er in den Wäldern gelebt und seinen alten „Pah", d. h.
seine Feste, nicht wieder gesehen. Jetzt erblickte er ihn
wieder und Thränen traten ihm in die Angen, als er zahl-
reiche weiße Arbeiter damit beschäftigt sah, ein großes Ge-
bäude ans dem ihm heiligen Boden zu errichten. „Ach",
rief Köllig Wilhelm seufzend gegenüber einem seiner Freunde
aus, „siehe da, meine alte Wiege, und nun verwandeln die
Pakehas (die Weißen) sie in einen Stall für ihre eisernen
Pferde, die in eincni Tage bis nach Wellington laufen
werden." — Aus König Wilhelms Kriegspah ist eine Eisen-
bahnstation geworden, nur der alte Maorikönig weint eine
Thräne darüber; das neue, weiße Geschlecht jauchzte aber
und freute sich ob der Errungenschaft. So stehen sich alte
und neue Zeit in Neuseeland gegenüber. Wir kennen die
94
Das Sargassomeer.
Bücherschau.
merkwürdige Grenze, wir erleben noch die Berührungen
zwischen Zivilisation und Wildheit und verzeichnen in unsern
Annalen die Thränen König Wilhelms, die er vergoß
beinl Anblick seines Kriegspahs, der in einen Bahnhof ver-
wandelt war.
Das Sargassomeer.
Über die nordatlantische Sargassosee veröffentlicht Prof.
Dr. O. Krümmel in Petermanns Mitteilungen (1891,
S. 129. Mit Karte.) eine sehr interessante Untersuchung.
Den Alten ist dieses Sargassomeer, wie Krümmel zunächst
nachweist, nicht bekannt gewesen; auch die mittelalterlichen
Schiffermärchen von einem geronnenen „Lebermeere", das die
Schiffe festhielt, sind nicht hierher zu ziehen. Der Entdecker
der Sargassosee ist vielmehr Kolumbus, der sie in seinen
Tagebüchern mit bewundernswerter Genauigkeit beschreibt.
Freilich ist er zugleich der Vater jenes Mythus von der
Ortsbeständigkeit einer großen Fuknsbank südwestlich von den
Azoren, einer Ansicht, die sich hartnäckig bis in unsre Tage
erhalten hat und in Humboldt ihren klassischen Vertreter-
sand. Letzterer, der die Erscheinung zilii: erstenmal eingehend
untersuchte, glaubte, daß diese Fuknsbank seit den Zeiten des
Kolumbus sich unverändert an demselben Platze erhalten habe
und ihre Entstehung einem unterseeischen Rücken verdanke,
von dem die Tange losgelöst würden. Daneben gedachte er
allerdings der Möglichkeit eines Einflusses des Golfstromcs.
Nun wiesen aber alle spätern Expeditionen in jene Gegenden
immer überzeugender nach, daß jene von Humboldt voraus-
gesetzten Untiefen im Atlantischen Ozean thatsächlich nirgends
vorhanden sind.
Infolgedessen stellte O. Knntze 1881 eine neue Theorie
ans, die der Humboldtschen diametral entgegengesetzt ist.
Nach Knntze kann von einer ortsbeständigen Fuknsbank im
Nordatlantischen Ozean keine Rede sein; cs giebt über-
haupt kein eigentliches Sargassomeer, denn treibendes Kraut
findet sich in allen Meeren. Das Sargassomeer im Atlan-
tischen Ozean stammt vom westindischen Strande, wo Knntze
es in situ beobachtet hat. Dort wird es von Stürmen los-
gerissen und durch den Golfstrom in den offenen Ozean hinaus-
geführt, wo es innerhalb weniger (dreier) Monate versinkt.
Zwischen diesen beiden Extremen nimmt nun Krümmel
eine vermittelnde Stellung ein. Er machte die Plankton-
Expedition im Sommer 1889 mit und hatte dabei Gelegen-
heit, reichlich treibendes Seekrant zu beobachten. In feiner
Untersuchung stellte er zunächst sorgfältig alle ihm zugäng-
lichen Schifferberichtc zusammen, berechnete danach die Häufig-
keit des Vorkommens von Sargassum für jedes Eingradfeld
in jedem Monat des Jahres und konstruierte dann Linien
gleicher Sargassofreqnenz (Jsophykoden). Daraus ergab sich
nun mit Rücksicht ans die beiden Hauptfragen als erste
nnbezweifelbare Thatsache, daß es wirklich im Nordatlantischen
Ozean ein Gebiet giebt, welches sich zu allen Jahreszeiten
durch reichliches Vorkommen von treibendem Tang auszeichnet,
ferner, daß dieser Tang vom Floridastrom ergänzt wird.
Das Ursprungsgebiet desselben aber sind vor allein die West-
indischen Inseln, wo nach Knntze die im Sargassomeer häufig-
sten Arten sämtlich im Brandungsbereich festgewachsen vor-
kommen. Hier werden im Sommer bei jedem Orkan große
Biengen desselben losgerissen, weshalb der Floridastrom
gerade im Sommer besonders reich an Sargasso ist. Im
Winter kommen vornehmlich die Küsten der nördlichen An-
tillen, sowie die Bahamariffe und die Anßenriffe der Ber-
mudasinseln in Betracht. Nicht wenige Monate bloß, wie
Knntze wollte, sondern einige Jahre lang können sich diese
Tange nach Krümmel im Meere treibend erhalten, wobei sie
jedenfalls noch weiter vegetieren. Eine Vermehrung durch
Sprossung scheint jedoch ausgeschlossen.
Die Frage, warum nur im Nordatlantischen, nicht auch
in den andern Ozeanen eine Sargassosee gefunden wird,
erklärt Krümmel dadurch, daß „nirgends sonst ein starker
und schneller Strom, durch die Konfiguration des Festlands
gezwungen, sich durch so zerstreute und durch Riffreichtum
dem Wüchse der Fukazeen günstige Jnselschwärme bewegt,
tute in Westindien der Kariben- bezw. Antillenstrom und
seine Fortsetzung als Floridastrom".
B ü ch e r s ch a u.
Der Darwinismus, eine Darlegung von der natür-
lichen Zuchtwahl und einiger ihrer Anwendungen,
von Alfred Wallace. Autorisierte Übersetzung von
D. Brauns, Dr. Phil, und med., Prof. extr. zu Halle a. S.
Braunfchweig, Druck und Verlag von Friedrich Vieweg
und Sohn, 1891, XVIII und 758 S. 8°. Mit einer Karte
und Holzschnitten. Preis 15 JL
Gewiß ist es nicht bloß der Name des Autors, eines der
bedeutendsten lebenden Schriftsteller auf biologischem und uament-
lich darwinistischem Gebiete, welcher uns die Eiusührung vorliegen-
den Buches in die deutsche Litteratur mit Genugthuung begrüßen
läßt, sondern auch die ganze Anlage und Tendenz des Werkes.
Wie schon der Titel besagt, und wie der Verfasser wiederholt
ausführt, ist der Hauptzweck eine Darlegung, Begründung und
allseitige Rechtfertigung der Lehre von der natürlichen Zucht-
wahl (theory of natural selection), welche eitert nach den
Ausführungen Wallaces recht klar als der eigentliche Kern des
echten Darwinismus erscheint. Das Buch hält sich den theore-
tischen Auseinandersetzungen, wie sie neben und gegen Darwin
neuerdings sowohl bei uns, als auch namentlich von der Schule
der neuern amerikanischen Evolutionisten veröffentlicht sind,
durchaus nicht fern, steht indessen durchweg aus dem eigentlich
Darwinischen Standpunkt noch fester als dies selbst Darwin in
seinen letzten Schriften that. Nur durch diese Lehre von der
Zuchtwahl der Natur ist ja auch, und zwar ganz gerechtfertigter
Weise, der große, im ersten Kapitel vorliegender Schrift
geschilderte Umschwung der Ansichten über die „Art" und deren
Ursprung möglich gewesen, welchen Darwin unleugbar seit etwa
einem Menfchenalter herbeigeführt hat, und nur so ist der Sieg
von der Lehre der „Evolution", d. h. der allmählichen Entwicke-
lung der Lebewesen mit Übergang einer Form in die andre
herbeigeführt.
Alsdann wendet sich Wallace zu den ersten Vorbedingun-
gen der natürlichen Zuchtwahl, zu dem vielberufenen „Kampfe
ums Dasein" (Kap. 2 und 5), welcher thatsächlich zwischen den
verschiedenen Tier- und Pflanzenarten stattfindet, und die den
bestehenden Bedingungen schlechter angepaßten, daher den Un-
bilden der Elemente und der von allen Seiten herandrängen-
den Konkurrenz minder guten Widerstand leistenden Arten und
Individuen ausmerzt. Seine Tragweite ist wesentlich bedingt
durch die ungeheure Anzahl von Einzelwesen, welche Jahr für
Jahr vernichtet werden, indem stets nur ein sehr geringer
Prozentsatz der erzeugten Keime zur vollen Entfaltung kommt.
Da nun, im großen und ganzen genommen, diejenigen Tiere
und Pflanzen bei weitem bessere Aussicht haben zu überleben,
! welche den äußern Verhältnissen besser angepaßt sind, so kann
i sich in der Tchat mit der Zeit ein Stamm heranbilden, welcher
gewisse Eigenschaften besitzt, die den Vorfahren fehlten. Die
Möglichkeit davon liegt nun einmal in der großen, meist sehr
unterschätzten Veränderlichkeit aller Lebewesen ohne Ausnahme,
namentlich anch aller ivilden Tiere und Pflanzen, deren großen
Spielraum und deren Häufigkeit zugleich Wallace (in feinem
3. Kapitel) mit Hilse vieler Schemata und graphischer Dar-
stellungen nachweist. Zweitens liegt sie darin, daß solche Ver-
änderungen (variations) erblich werden und sich bei den
Nachkommen steigern und anhäufen; der Spielraum, den
z. B. die Flügellänge eines Vogels hat, wird allmählich im Lause
vieler Generationeu ein andrer, wenn es sich den gegebenen
Bücherschau.
95
Bedingungen gemäß als vorteilhaft herausstellt, daß eine solche
Verschiebung nach der einen oder andern Richtung hin stattfindet.
Daß nun die Eltern diese von Jugend auf ihre ver-
möge der „Variation" zu eigen gewordenen Eigenschaften ver-
erben können, das zeigt vor allem die „künstliche Zuchtwahl"
(Kapitel 4), welche der Mensch an allen gezähmten Tieren und
angebauten Pflanzen mit dein Erfolge geübt hat, daß in der
That vermöge derselben eine Steigerung der von ihm gewünschten
Eigenschaften stattgefunden hat. Diese Verhältnisse, bei denen
der Mensch natürlicherweise nur die in dem Wesen des Tieres
oder der Pflanze vorhandenen Anlagen benutzen konnte, haben
bei Tieren Veränderungen der Hautbildung, des Euters, der
ganzen Statur, ja der Intelligenz hervorgebracht, bei Pflanzen
Abänderungen der Blumen und Früchte, Blätter, Stengel und
Wurzeln; kein Teil des Organismus ist davon ausgeschlossen,
und gerade die wichtigsten Eigenschaften, nach welchen man
am meisten die Arten abzugrenzen pflegt, sind unter ihnen ein-
begriffen.
Eine besondere Widerlegung widmet der Vers. (Kap. 7)
den Einwänden, welche von jeher den Darwinisten aus Grund
der Erfahrung gemacht sind, daß die „Arten" sich nicht unbedingt
fruchtbar fortpflanzen, wenn sie gekreuzt werden, während die
„Rassen", d. h. verschiedene, einer Art zugehörige, aber stabil
gewordene Varietäten (z. B. solche von Hunden) dies unbedingt
thun. Eine sorgfältige Prüfung der Beobachtungen zeigt
nämlich, daß man sich vielfach dabei des sogenannten falschen
Zirkelschlusses schuldig gemacht hat; auch ist selten gebührendes
Gewicht darauf gelegt, daß zahme Tiere überhaupt eine große
Fruchtbarkeit besitzen und in den Funktionen ihrer Geschlechts-
organe weit weniger durch äußere Einflüsse behelligt werden,
als dies bei den gegen Störungen meist sehr empfindlichen
wilden Tieren der Fall ist.
Die Kapitel 8 bis II sind der Tier- und Pflanzensärbung
gewidmet, der hohen Bedeutung entsprechend, welche die organi-
schen Farben eben durch die Darwinsche Theorie und zugleich
als wesentliche Stütze derselben erlangt haben. Der Vers, hat
sich schon früher lebhaft und ohne überall mit Darwin überein-
zustimmen an der Ausstellung der Darwinschen Farbentheorie
beteiligt und dieselbe mit ihren Anhängseln, der Lehre von dem
Schmucke gewisser Tiere, zum Gegenstände eingehender Betrach-
tungen gemacht, so daß wir wohl erwarten dürfen, an seiner
Hand ein reichliches Verständnis dieses überaus anziehenden Ab-
schnittes der Biologie zu erlangen. Zunächst wendet sich Wallace
zu den einfachen Schutzfarben, d. h. der Bevorzugung solcher
Farben von Tieren und Pflanzen, welche mit der Umgebung
in Einklang stehen, und deren Entwickelung eine sehr allgemeine
Erscheinung ist; sie veranlaßt, daß im hohen Norden Weiß, im
Walde Grün (neben Grau und Braun), in der Wüste ein
bräunliches Gelb, im Sargassomeer ein eigentümliches Gelbgrün
die vorherrschende Tierfarbe ist, daß ferner die Raupe sich ihrer
Nährpflanze oft täuschend ähnlich zeigt und überhaupt die
sonderbarsten Nachahmungen solcher Art auftreten. Da, wo
Tiere jedoch Eigenschaften besitzen, welche sie ihren Gegnern gefähr-
lich oder sie als Beute ungenießbar und unzuträglich machen,
da ist es ihnen dienlicher, recht ausfällig zu sein, und hier zeigt
sich die Farbe nicht an die der Umgebung gebunden, sondern
im Gegenteil wie ein weithin sichtbares Warnsignal. Diese
„Trutzsarben" werden nun in merkwürdiger Weise von Tieren
nachgeahmt — nachgeäfft, wie man sagt •—, welche von jenen
gefährlichen, giftigen, oder doch ungenießbaren Tieren völlig ver-
schieden sind, aber doch ihnen äußerlich ähneln, so daß sie im
Fluge oder Laufe wohl niit ihnen verwechselt werden können.
Offenbar gewährt ihnen diese Ähnlichkeit in derselben Weise
Schutz, wie es die auffallende Trutzfarbe bei den von ihnen
nachgeäfften Arten thut. Die Klasse der Insekten und nament-
lich die Ordnung der Schmetterlinge ist sehr reich an Fällen
dieser Art, aber auch unter den Vögeln hat man wehrlose
Arten, namentlich Kuckucke, welche wehrhafteren, z. B. den
tropischen Drongo- Würgern, in ausfallender Weise ähnlich
gefärbt sind, wie ja auch unser Kuckuck dem Sperber ähnelt.
Ein Fall von Trutzfärbung ist von Wallace auch bei einem
Säugetiere, dem Skunk, beobachtet. Eine andre Ausnahme von
der Schutzfärbung wird durch das Bedürfnis der Tiere bedingt,
sich auf geringere oder größere Entfernung als gleichartig zu
erkennen, und in der That lassen sich hierdurch eine Menge der
seinen Unterschiede zwischen den einzelnen Arten erklären, welche
namentlich in gewissen Familien, z. B. der der geselligen Anti-
lopen, mancher Singvögel und Sumpfvögel, einen hohen Grad
erreicht haben. Dieser Umstand bildet auch für den Vers, den
Schlüssel zu den Geschlcchtsfarben, einem Kapitel, in welchem
Wallace sehr wesentlich von Darwin abweicht. Während dieser
der Auswahl und dem Schönheitssinne des umworbenen Weib-
chens den größten Einfluß auf die Entwickelung der Ornamente
des Männchens zuschreibt, weist jener (in seinem 10. Kapitel)
nach, daß eine solche Wahl, wenn sie überhaupt stattfände, der
gewöhnlichen Zuchtwahl der Natur unbedingt weichen müßte,
und setzt diese auch hier in ihr volles Recht ein, da ihr zufolge
ja die kräftiger entwickelten, daher auch stattlicheren Männchen
den Vorzug haben müssen.
Im 11. Kapitel werden die Pflanzenfarben erörtert, zu-
nächst die „Appetitsarben" der mit Fleisch versehenen Früchte
und der Nutzen, den diese Fruchtbildung für die Art hat; dem
gegenüber die Schutzfärbung der Nüsse: ferner die Blumen,
deren Bau, Gruppierung, Dust und Farbe, namentlich in
Beziehung zu den Insekten, welche eins der Hauptmittel der
Kreuzbesruchtung abgeben, deren Bedeutung nach jeder Richtung
hin kritisch beleuchtet wird.
In den nächsten Kapiteln wird eine kurze Darstellung der
Lehren gegeben, welche uns die Tier- uud Pflanzengeographie
und die Geologie und Paläontologie für den Darwinismus an
die Hand giebt. Auch in diesen Kapiteln ist ein umfassendes,
überaus lehrreiches Material enthalten, wie wir dies für die
Verbreitung der Tier- und Pflanzenarten auch seitens des Vers,
der „Oeo^rapbioai distribution of anitnals“ nicht anders
erwarten durften. Im 14. Kapitel folgen dann noch die not-
wendigsten Erörterungen über das Prinzip der Erblichkeit, hin-
sichtlich dessen der Bert, im wesentlichen auf dem Standpunkte
der namentlich durch Weismann vertretenen neuesten Forschung
steht, mit Hilfe deren er nicht nur den von Spencer ange-
nommenen einfachen Folgen des „Gebrauchs und Nichtgebrauchs
der Organe", sondern auch den von Geddes den Pflanzen zu-
geschriel'enen Wachstumsgesetzen, sowie dem „direkten Einflüsse
der Umgebung", dem bekanntlich selbst Darwin schließlich zu
große Konzessionen machte, und endlich dem Einflüsse des
Willens der Tiere selbst, aufs entschiedenste entgegentritt, um
ganz seinem Plane gemäß der Zuchtwahl der Natur ihr volles
Recht zu wahren.
Nach dieser Lösung seiner Hauptaufgabe geht indessen
Wallace noch in seinem Schlußkapitel zu einer Auseinander-
setzung der Beziehungen des Darwinismus zu dem Menschen
über. Hinsichtlich dieses Punktes würde es gewiß ungerecht
sein, wenn man nicht einem jeden einen Spielraum für seine
persönlichen Überzeugungen gewähren wollte, und so dürfen wir
auch Wallace nicht verargen, daß er bei aller Folgerichtigkeit,
mit der er den Menschen, körperlich genommen, durchaus als
der Tierwelt entsprossen hinstellt, doch seiner geistigen Natur
einen wesentlich andern Ursprung zuschreiben will. Bei dieser
mit seinem philosophischen Standpunkte eng verflochtenen Ansicht
entgehen ihm nun freilich alle die feinen Beziehungen, welche
Darwin zwischen den geistigen Leistungen der Tiere und denen
des Menschen mit solcher Meisterschaft nachgewiesen, es entgehen
ihm alle die Fäden, welche den Kulturmenschen zu dem Natur-
menschen und durch diesen niit seinen Mitgeschöpfen verknüpfen
und an Stelle davon finden wir nur einen Beweis, daß sich die
höheren Fähigkeiten des Menschen, seine Anlagen für Kunst
und Wissenschaft und seine moralischen Eigenschaften nicht nach
Darwinschen Gesetzen herausgebildet haben. Dies vollkommen
zugegeben, ist doch nicht zu verkennen, daß der Kern der Frage
von diesen Auseinandersetzungen nicht berührt wird, und daß
dieselben ein dem übrigen Inhalte des Buches nicht ganz
konformes Anhängsel bilden, das jedoch sowohl seinem Inhalte
als der Bedeutung des Vers, nach unser Interesse immerhin in
Anspruch nehmen dürfte.
„Was die Übersetzung anlangt, so bürgt wohl der Name
des Übersetzers — dem wir auch bereits die im nämlichen Ver-
lage erschienene Übersetzung der „Tropical Nature“ desselben
Vers, verdanken — dafür, daß der Sinn des Originals überall
aufs sorgfältigste wiedergegeben und jede Einzelheit aufs
sorgfältigste beachtet ist. Daß sie dabei bemüht ist, auch dem
Geiste der deutschen Sprache gerecht zu werden, darin dürste
ein gewisser Unterschied von manchen andern, wenn auch im
übrigen anzuerkennenden Übersetzungen ähnlicher Werke liegen,
bei denen man Satz für Satz an den fremden Ursprung erinnert
wird. Im Gegensatze dazu ist rühmend hervorzuheben, daß die
Lektüre vorliegenden Buches den Eindruck der eines deutschen
Originalwerkes macht.
96
Aus allen Erdteilen.
Aus allen Erdteilen.
— Die Quellen des Rio Aconcagua, welcher nörd-
lich von Valparaiso in den pazifischen Ozean mündet, haben
nicht, wie man bisher annahm, an dem gleichnamigen Berge
ihren Ursprung. Letzterer entsendet alle an seinen Abhängen
entspringenden Gewässer nach Argentinien. Dieses begrün-
dete Herr A. Herrmann in der Sitzung des deutschen
wissenschaftlichen Vereins zu Santiago vom 29. April 1891.
— Neue Ortsnamen in Algerien. Die Namen der
berühmten Franzosen Pasteur, Prevost-Paradol und Tocgue-
ville sind algerischen Ortschaften beigelegt worden und damit
ist ein neuer Weg der Ortsnamengebung dort betreten, ähn-
lich, wie er in Amerika herrscht, der aber schon unter dem
Königreiche (Nemours, Anmale) seine Vorgänger hatte. Herr
O. Reclus entwickelt in der Beilage zu Bonn du Monde,
das; dreierlei Gründe vorliegen, in Algerien die arabischen
und bcrberischen Ortsnamen durch französische zu ersetzen.
Die vorhandenen waren teilweise mit ihren schrecklichen Kehl-
lauten nicht anszusprechen, das sei ein Grund; dann zweitens
wiederholten sich zu viele berberische und arabische Ortsnamen
in Nordwestafrika, was zu Verwechslungen führe; außerdem
beginne die Hälfte mit Ai'n (Quelle). Endlich seien die vielen
Ortsnamen nach mohammedanischen Heiligen und Wunder-
doktoren besser der Vergessenheit anheimzugeben; man träfe so
viele Sidi-abd-el-Kader wie bei uns St.Johann, St.Mar-
tin u. s. w., wodurch auch nur Verwechslungen entständen.
— Die städtische Bevölkerung der Vereinigten
Staaten ist, wie die Ergebnisse des Census von 1890
zeigen, in einem fortdauernden Aufschwünge begriffen. In
der von Porter bearbeiteten vorläufigen Übersicht sind alle
Städte mit mehr als 8000 Einwohnern in betracht gezogen.
Beim ersten Census (1790) machte die Stadtbevölkerung
nur 3,35 Proz. der Gesamtbcvölkcrung aus und jetzt, nach
hundert Jahren, war dieselbe auf 29,12 Proz. gestiegen, so
das; beinahe ein Drittel in Städten über 8000 Einwohner
lebt. 1790 zählte man nur sechs Städte über 8000 Ein-
wohner, jetzt 443. Bei weitem die meisten liegen im Nord-
osten. Im Jahre 1870 zählte man erst 14 Städte mit
mehr als 100 000 Einwohner, jetzt ist deren Zahl auf 28
gestiegen. Von diesen haben New Uork, Chicago und Phila-
delphia über eine Million Einwohner. Am meisten ist
Chicago gewachsen, das 1880 erst 503 185 Einwohner hatte
und 1890 deren schon 1 099 850 zählte oder 119 Proz.
zunahm in zehn Jahren. In westlichen Städten wie Omaha,
Minneapolis, St. Paul und Denver ist die verhältnis-
mäßige Zunahme noch größer; sie beträgt 300 bis 200 Proz.
Auch in Amerika zeigt sich dasselbe wie in Europa; eine
Abnahme der ländlichen Bevölkerung in den alten, am meisten
kultivirten Staaten, Maine, Vermont, Massachusetts und New
Aork. Im Süden dagegen tritt das städtische Element stark
zurück; es beträgt in Mississippi nur 2,64, in Nordcarolina
3,87 und Arkansas 4,89 Proz. der Gesamtbevölkerung.
— Weitere Erforschung des Uelle. Dieser bekannte
rechtsseitige Nebenfluß des Kongo war in einigen Strecken
noch nicht befahren worden; diese Lücken sind jetzt durch die
Offiziere des Kongostaates, van Gèle und Milz, ausgefüllt
worden. Van Gele erforschte das Stück von Mokwangu
(das er jetzt Monunga nennt) bis Abdallah, welches Junker
1883 besucht hatte (ungefähr 23° östl. L. und 4° nördl. Br.i.
Auf dieser Strecke befinden sich verschiedene Stromschnellen
und Felsenbarren, welche die Schiffahrt hindern. Milz
nahm die noch weiter oberhalb liegende Strecke von Diabbir
(24° östl. L.) bis zum Einflüsse der Mbima in "den Helle
ans, gleichfalls bis zu einem im Januar 1883 von Junker
erreichten Platze. (Vergl. die Karte im Globus, Bd. 59,
S. 225.)
Nach van Gèle ist der Helle nicht der Hauptarm des in
den Kongo mündenden Ubangi, sondern nur ein Nebenfluß
des lctztern. Der Hauptquellfluß und obere Lauf des Ubangi
ist der von Norden kommende Mbomu, den van Gèle in;
August 1890 befuhr. Bei Aakoma unter 22° 40' östl. L.
findet die Vereinigung beider Arme statt. Ubangi mtb Uelle
zeigen nach van Gèle sehr verschiedenen Charakter. Der
Ubangi ist von den Fällen von Songo bis Pakome dicht mit
Dörfern besetzt, von Kähnen belebt; die Ufer des Uelle da-
gegen sind nur sehr dünn bevölkert; er ist tot, einförmig.
Ziegen, am Ubangi häufig, fehlen am Uelle. (Mouv. géogr.,
Juli 1891.)
— Der Kratersee Dschala am Ostabhange des Kili-
mandscharo, nördlich von Taweta, ist in; Frühjahr von einer
unternehmenden Engländerin, Mrs. French Sheldon, be-
sucht worden. Aufgefunden hat 1871 der Missionar New
diesen See, Wray gelangte 1886 zuerst an den See, dessen
Kraterwand er zu 300 rn angicbt. Frau Sheldon gelang
es mit Hilfe des Herrn Anstretter, Pontons auf den See zu
bringen, den sic so befuhr. Die Menge des Wassergeflügels,
die sich dort befindet, wird als ungeheuer geschildert; auch
Krokodile sollen zahlreich sein. Die Kraterwäude fallen meist
senkrecht ab und sind oben dicht bewaldet. Der See hat
eine Unterströmung, die die Zufuhr des Wassers bedingt —
ein Zufluß von außen ist nicht bemerkbar (Proceedings,
Juli 1891).
— H. Coudreaus Reisen in Guayana. Der be-
kannte Forscher, welcher 1889 —1891 Französisch-Guayana
bereiste und über den wiederholt im „Globus" berichtet
wurde, ist von seinen Reisen heimgekehrt. In seinem an;
15. Juni vor der Pariser geogr. Gesellschaft erstatteten
Berichte betonte er namentlich seine im verflossenen Jahre
unternommene Reise, die ihn in das Gebiet der Amazonas
führte. Er zog bis zu den Quellen des Ojapok, überstieg
die Tumuc-Hnmac-Kette und kam in das Land der Ruku-
jenne, wo die Flüsse bereits zum Jari, linker Nebenfluß
des Amazonas, fließen. Diese Indianer wohnen dort in
35 Dörfern mit je 25 bis 50 Einwohnern. Das Land ist
arm, mit dürftiger Vegetation, sandig oder sumpfig. Cou-
dreau erforschte den Mapaouy, einen Nebenfluß des Jari,
ging über die Tumuc-Humac-Berge zurück, dann die Lawa
(Maroni) entlang nach Norden bis zur Mündung des
Jninikriks in dieselbe (Januar 1891), darauf östlich durch
das Land der Emarillons zum Apornaguefluß, auf dem er
das Meer erreichte. Durch diese Reise sind bedeutende
Strecken von Französisch - Guayana uns näher bekannt ge-
worden. Die Aufnahmen Coudreaus umfassen 5000 km,
darunter 1000 km in ganz unbekannter Gegend. Seine
Karten sind in den großen Maßstäben von 100 000 und
25 000 gezeichnet. Er hat viel ethnographisch geforscht,
mehrere Jndianerwörterbücher aufgenommen und empfiehlt
die Ausbeutung der Kolonie in wirtschaftlicher Beziehung
durch große Handelsgesellschaften.
Herausgeber: Dr. R. Andrer in Heidelberg, Leopoldstraße 27,
Druck von Friedrich View eg und Sohn in Braunschweig.
Bd. LX
Nr. 7,
Brannschwei g.
Jährlich 2 Bände in 24 Nummern. Durch alle Buchhandlungen und Postanstaltcn
zum Preise von 12 Mark für den Band zu beziehen.
1891.
Padre Armentias Reise in der bolivianischen Provinz
Laupolican.
Von (Ohr. Nusser-Asport.
I.
Caupolican ist der Name eines durch seine Kampfe mit
den spanischen Eroberern berühmt gewordenen Kazikcn, und
eine Reise nach der gleichnamigen Provinz in der nordwest-
lichen Ecke von Bolivia gehört noch zu denjenigen Unter-
nehmungen, vor denen jeder zurückschreckt, der nicht durch
ganz besonderes Interesse zum Besuch jener Region bewogen
wird. Die Strapazen und Entbehrungen, welche Forscher,
Missionar und Spekulant zu erleiden haben infolge der un-
sagbar schlechten, stellenweise gefährlichen Wege, der durch das
Klima und die Verproviantiruugsnot bereiteten Schwierig-
keiten, sind so groß, daß ihnen thatsächlich nur die drei
genannten Kategorien die Stirn zu bieten geneigt sind.
Und auch die Zahl der Spekulanten, welche diese Route
wählt, um in die Distrikte zu gelangen, wo sie Chinarinde
schneiden, Gold suchen oder Kautschuk ausbeuten, ist sehr-
gering. Namentlich die Kautschukgewinnung ist es, welche
die Spekulanten in diese Distrikte führt; in der Regel
wählen sie aber den ganz entgegengesetzten Weg, um an die
die Ufer des Beni, Madre de Dios, Acre u. s. w. cin-
sünmenden Bestünde von Gummibänmen zu gelangen, was
so zu verstehen ist, daß statt mit dem Oberlauf jener
Flüße über den an die Flanken der Anden sich anlehnenden
Teil von Caupolican herabzusteigen, um das tropische Fluß-
gebiet zu erreichen, der Zusammenfluß des Beni mit dem
Mamorü der Punkt ist, von welchem ans sie flußaufwärts
die verschiedenen Wasserlänfe untersuchen, die auf jenem
ungeheuren Territorium gewissermaßen ein Netz mit weiten
Maschen bilden.
In welchem Verhältniß Caupolican zu den Landesteilen
steht, welche durch ihre kommerzielle und industrielle Regsam-
keit das Herz der Republik darstellen, geht daraus hervor,
daß politische Verbrecher nach dieser Provinz verbannt wer-
den, wo sie unter Aufsicht indianischer Alkaldes gestellt sind.
Globus LX. Nr. 7.
Auch manche andere Verbrecher suchen dort einen Zufluchts-
ort — sehr zum Mißbehagen der dünngesäten, alteingesessenen
Bevölkerung Canpolicans, welche, insoweit sie die aus wenigen
Mestizen und Weißen bestehende Dorfaristokratie betrifft, ur-
sprünglich naiv, zuvorkommend und gastfreundlich war, durch
das Eindringen schlechter Elemente nach und nach aber auch
ungünstig beeinflußt werden muß.
Die Indianer, d. h. die ansässigen, Ackerbau und Vieh-
zucht treibenden Indianer sind lenksam wie ihre Brüder der
andinischen Hochebene, nur muß man sie, wenn sie an den
kirchlichen Festen ihre Trinkgelage feiern, zu behandeln wissen.
Dieses Gebot der Klugheit außer Acht gelassen zu haben,
mußte ein uns befreundeter Korregidor im Jahre 1865 mit
dem Tode bezahlen. Mit der Verwaltung eines bedeutenden
Distriktes von Caupolican betraut, glaubte er mit den In-
dianern der Hochebene zn thun zu haben, die nur in größter
Bedrängnis zu offener Widersetzlichkeit sich hinreißen lassen.
Als er daher eines Tages die bei einer Festlichkeit sich streiten-
den betrunkenen Indianer auseinanderjagte und bestrafte, fiel
die ganze Bande über ihn her und schlug ihn mit Knütteln
tot. Die Regierung war, um ihre Autorität zu wahren, ge-
nötigt, eine militärische Expedition auszurüsten. Nach Mo-
naten kam letztere zurück und brachte einige Gefangene (wohl
kaum die Schuldigen) mit, welche dann in La Paz kricgs-
rechtlich erschossen wurden. Es war ein Anblick zum Er-
barmen, diese mit ihren leichten weißen Banmwollzeugen be-
kleideten, vor Kälte schlotternden Gestalten zum Tode gehen
zu sehen und die Veränderung zu beobachten, welche trotz
alledem das unabwendbare Geschick auf die Repräsentanten
dieser stoischen Rasse hervorbrachte: die braune Gesichtsfarbe
wich einem fahlen Gelbbraun.
Der kleine Ort Pelechnco, sagt der Padre Nie. Ar-
men tia, dessen Notizen aus seinen Reisen in den Jahren
13
98
Chr. Nusser-Asport: Padre Armentias Reise in der bolivianischen Provinz Caupolican.
1884 bis 1885 wir hier benutzen x), liegt in einer tiefen
Schlucht am Fuße des Gebirgsknoten von Cololo, am Rande
des durch dieselbe fließenden Gewässers. Obwohl klein, ist
dieser Ort doch eine bedeutende Handelsstation gewesen, da
alle Produkte der Provinz hier zusammenströmten und die
ganze Einfuhr für den Bedarf von Caupolican notwendiger-
weise über Pelechnco zu gehen hat. Seitdem aber die Aus-
fuhr der Chinarinde bedeutend gesunken ist, hat Pelechuco
viel von seiner früheren Wichtigkeit verloren. Die Häuser
sind aus unbehauenen, mit Lehm zusammengefügten Steinen
aufgeführt und haben ein ärmliches Aussehen. In der Um-
gebung werden Gerste und Kartoffeln angebaut; der Boden
ist nicht günstig. Das Klima ist feucht und kalt, wegen der
häufigen dicken Nebel, der Nachbarschaft der Schneebcrge und
der bedeutenden Höhe über dem Meere. Die Etymologie
von Pelechuco ist in Quichoa: Puyucucho, der Aufenthalt
des Nebels.
Die Hauptstadt der Provinz Caupolican ist Apolo bamba,
gemeinhin Apolo genannt. Um nach ihr zu gelangen, passiert
man zuerst das von Pelechuco vier Leguas entfernte Callean,
wo sich die Zollstätte für die Erhebung der Binnenlandzölle
befindet. Vier Leguas von Callean ist Quichara, neun Le-
guas weiter ein el Fuerte genannter Punkt, weil hier, in der
Flußecke zwischen dem Rio von Pelechuco und einem andern
der Cordillera entspringenden Flüßchen, ein steiler Felsen sich
erhebt, dessen Spitze früher befestigt war. Das Klima ist
hier schon so heiß, daß Zuckerrohr angepflanzt werden kann.
Eine Legua von dem Fuerte entfernt, am Zusammenfluß des
Amantala mit dem Pelechuco, liegt die Ortschaft Amantala.
Von diesem Punkte an nimmt der Fluß den Namen Tu ich i
an und ist schon von Bedeutung, kann aber wegen seiner
starken Strömung und der das Flußbett durchsetzenden Riffe
nicht befahren werden (die Schiffahrt auf dem Tuichi beginnt,
vermittelst Flößen, Balsas, erst bei Buturu, zwölf Leguas vor
San Jose de Uchupiamouos).
Ein Weg von sechs Leguas Länge führt von Amantala
nach dem Dorfe Pata, das auf einer von dem Ufer des
Piliapo zwei Leguas entfernten Anhöhe liegt. Die Ufer
des Piliapo sind sehr fruchtbar und bringen Orangen und
Limonen in Menge hervor. Die ziemlich zahlreiche Bevölke-
rung wendet sich hauptsächlich der Zuckerrohrkultur zu. Früher
am Piliapo selbst gelegen, wurde Pata wegen der am Fluß-
ufer beständig herrschenden Wechselfieber an seine jetzige Stelle
verlegt. Alljährlich am 15. August findet hier eiu Markt
statt, zu welchem die Indianer aus nah und fern herbei-
strömen. Sie bringen Chokolade, Tamarinden, Brasilnüsse,
Copnivabalsam, Faultier-, Fischotter- und Jaguarfelle zum
Verkauf und handeln einheimischen weißen Wollstoff, eng-
lische Baumwollzeuge, bunte Nastücher, Scheren, Messer und
andre Kleinigkeiten dafür ein.
Sieben Leguas von Pata ist das Dorf Santa Cruz de
Valle Ameno. Zwischen beiden Orten befindet sich der be-
rüchtigte Übergang von Tentación, auf welchem der Reisende
bei jedem Schritt Snmpfstellcn und riesige Sprungstaffeln
zu überwinden hat. Auf eine große Strecke ist der Weg
mit dicken Prügeln belegt, damit die Tiere nicht im Sumpf
stecken bleiben. In der Nähe von Santa Cruz wird der
nun glatte und gute Weg von bezaubernder Vegetation ein- i)
i) Nach dem „Tagebuch der Reise nach dem Madre de Dios,
unternommen von dem Padre Fray Nie. Armentia in den
Jahren 1884 bis 1885 in seiner Eigenschaft als Regierungs-
bcauftragter, um den Madre de Dios und seine Entfernung
vom Rio Acre zu erforschen und um einige Missionen unter
den Araconasindianern zu gründen". (La Paz 1890; in spa-
nischer Sprache.) Dieses Tagebuch enthält eine Fülle wichtiger
Einzelheiten, welche in Armentias Werke „El Madre de Dios"
nicht enthalten sind. Höhennngaben und Ortsbestimmungen
rühren von Armentia her.
gefaßt. Zwei Bäche mit ausgezeichnetem Wasser fließen an
dem wenig Einwohner zählenden Dorf vorbei. Die in der
Mitte letzten Jahrhunderts erbaute Kirche und Konvent der
Franziskaner stehen heute noch. Das 4^ Leguas von Santa
Cruz auf einer schönen, aber öden Fläche gelegene Apolo-
bamba (1700in über dem Meere) hat viel von seiner ein-
stigen Bedeutung verloren. In der Umgebung wird ein wenig
Kaffee und Mais angepflanzt. Die Landgüter aber, auf
welchen Kaffe, Coca, Mais u. s. w. im großen angepflanzt
werden, sind ziemlich weit entfernt. Von der Plaza aus sieht
man bei heiterm Wetter die Schneegipfel des Jllampu und
Huayua-Potosi. — In Apolo beginnen die eigentlichen Trans-
portschwierigkeiten. Um zum Rio Beni zu gelangen, ist man
für die Gepäckbeförderung auf indianische Träger angewiesen,
welche von dem weiter nördlich gelegenen Jsiamas bestellt
werden müssen.
Die erste Station auf diesem Wege ist das von Apolo
vier Leguas entfernte Mnchariapo (2100 ra über dem Meere),
ein kleines zerfallenes Estanziagebäude. Eine Legua vor
diesem Orte muß der Bach gleichen Namens überschritten
werden, welcher durch sein häufiges Anschwellen den Verkehr
erschwert. Die Ländereien der Umgegend scheinen für Vieh-
zucht sehr geeignet zu sein und ein Schweizer Namens Mer-
cier, der im Jahre 1824 nach Bolivia kam, hatte versucht,
Hornvieh hier aufzuziehen, mußte von seinem Versuch aber
wieder abstehen, weil ein Teil der Tiere durch Schlangenbiß
zu Grunde ging, die Weideplätze während der Trockenzeit
nur ungenügend Nahrung lieferten und das von dem viel
heißeren Reyes (Provinz Mojos) eingeführte Vieh sich nicht
gut akklimatisieren konnte. Es ist durch Erfahrung bewiesen,
daß das Hornvieh viel leichter den Übergang von der Kälte
zur Hitze als umgekehrt erträgt.
Nach Überschreiten des Turi und Turina, die wie der
Machariapo ihre Gewässer dein Tuichi zuführen, gelaugt man
nach Cuchiguani (2300 m über dem Meere), eine von Weide-
land umgebene Hütte. Auf dem Gipfel des Cuchiguani steht
in einer Höhe von 2480 m die Hütte des Indianers Mariano,
wo übernachtet werden kann. Ist der Paß überstiegen, so
befindet man sich an einem Pajonal de Peralta genannten
Punkte, wo die Montana, das bewaldete Gebiet, und mit ihr
die Qual abscheulicher Wege anfängt. Der Weg vom Pajo-
nal de Peralta bis nach San Josä de Uchupiamonos ist so
gefährlich, daß alljährlich eine große Zahl von Hornvieh, das
aus den Ebenen des Beni nach Apolo herausgetrieben wird,
in die Abgründe stürzt, an deren Rand der Weg sich zeitweise
hinschlängelt. Von Cuchignani zählt man acht Leguas nach
dem in einer Höhe von 1870 in gelegenen Mamakona.
Zwei Leguas vor letzterem Ort kreuzt man den berüchtigten
Sumpfboden des Palmital (in Tacauasprache Ldickuäuuu,
wegen der Menge von Palmbäumen, die hier wachsen). Zu-
erst muß eine tüchtige Strecke im Flußbett zurückgelegt werden,
was wegen der gewaltigen Fclsblöcke, mit welchen es besät
ist, besonders für die Tiere beschwerlich ist; danu kommt,
während 11/2 Leguas, sumpfiger Boden mit einem Unter-
grund von zahllosen sich kreuzenden Wurzeln, in deren
Maschen sich Tiere und Menschen verfangen und beinahe bei
jedem Schritt stürzen. Armentia brauchte 1871 zur Zurück-
legung dieser etwa drei Leguas langen Strecke acht Stunden.
Mamacona liegt am linken Ufer der Eramnsa oder
tiefen Flusses, der unterhalb der famosen Flußenge von Bäu
in den Beni einmündet. Er hat genügend Wasser, um nicht
durch eiue Furt überschritten werden zu können, sein Lauf
ist reißend, das Bett aber voller Felsblöcke, die selbst die
Schiffahrt auf Balsas zu einer Unmöglichkeit machen. So groß
ist die Zahl der an ihm sich aufhaltenden Tapire, daß es lohnen
würde, in den Monaten Juli, August und September Jagd
auf sie zu machen und ihr Fleisch zu trocknen. Der Ort ist
Chr. Nusser-Asport: Padre Armentias Reise in der bolivianischen Provinz Caupolican.
99
sehr feucht und von allen Seiten von hohen Bergen ein-
geschlossen. In der Umgebung von Mamacona stößt man auf die
Spuren eines alten Jnkaweges. Vier Leguas weiter liegt in
einer Höhe von 1920 m über dem Meere Macho -Atunari.
Nach Überschreitung des Gipfels des Atunari, des gefürch-
teten Chocal, der eine Stelle ist, wo die dornige Tacua
so dicht steht, daß es kaum möglich ist durchzukommen, und
wo Kleider sowohl wie die Haut in Fetzen gehen, nach Über-
windung des ebenfalls große Schwierigkeiten bietenden Mal
Paso (schlimme Passage) von Eslabon, so genannt von den
Feuersteinen, die hier in Menge gefunden werden, gelaugt
man an die Ufer des Eslabon. Vom Gipfel des Eslabon
(1800 m) sieht man in nördlicher Richtung ganz deutlich
San Jos« de Uchupiamonos und mit solcher Klarheit, daß
die Leute, die sich auf der Plaza ergehen, mit bloßem Auge
unterschieden werden können, obwohl bis dorthin noch ein
Weg von 9 x/2 Leguas, zuweilen mit Stufen, die häufig die
Höhe von einem Meter erreichen, zurückzulegen ist. Der
Übergang über den Fluß liegt in einer Höhe von 1500 m.
Die Zahl der armen Tacanas, die ans diesem schwierigen
Wege den Krankheiten, Entbehrungen und der Erschöpfung
erlegen sind, ist sehr groß. Beladene Tiere kommen hier
nicht durch und selbst von lose gehenden verunglücken viele.
Die ganze Ein- und Ausfuhr wird auf dein Rücken von
Indianern transportiert, welche für 60 spanische Pfund
3 Thaler von Jsiamas und Tumnpasa nach Apolo unb
6 Thaler für 50 Pfund nach Pelechuco erhalten. Es ist
dies die Hauptbeschäftigung der Tacana-Jndianer.
Die Tagreise nach San Jostz de Uchupiamonos ist
beschwerlich. Zuerst der Mal Paso und der Paß von Japa-
dava (1480 m), dann der Paß von Guayruru (1550 m),
dann 23 mal den Uchnpiamas zu passieren (die erste Furt
880m über dem Meere), bis man an die Ufer des Tuichi
gelangt (650 m), von welchen Sau Joso de Uchupiamonos
noch 3/4 Leguas entfernt ist. An einer der Furten des
Upuchiamas ist eine schreckhaft steile Wand von mehr als
6 Varas (— 5 m) Höhe, über welche sich die Tiere herab-
stürzen müssen. Es ist sicher, daß man nicht glauben würde,
Hornvieh sei imstande, solche Wege zu begehen, wenn man
sich nicht selbst durch den Augenschein davon überzeugen
könnte. Und dennoch haben mehr als 3000 Stück diesen
Weg in einem Jahre passiert, auf welchem auch ungefähr
700 Zentner Chinarinde und 200 Zentner Kakao alljährlich
befördert werden.
San Jo so de Uchupiamonos ist auf einem Plateau,
102 m über dem Zusammenfluß des Tuichi mit einem kleinen
Bach, gelegen, 14" 6' s. Br. Der Ort datirt vom Jahr 1844.
In bezug ans San Joso besteht eine sonderbare Legende.
Man erzählt, gegen Ende des vorigen Jahrhunderts habe
ein Padre Franziskaner namens Oropeza für die Mission
einen Christus (Santo Cristo) ans Holz in Lebensgröße
kaufen lassen, den seine Indianer von Pelechuco zu bringen
hatten. Er war in eine Kiste verpackt und die Indianer
hatten schwer an ihm zu schleppen. An einem der auf diesem
Weg so häufigen Abgründe stellten die Indianer die unförm-
liche Last, die sie so schwer drückte und ermüdete, auf den
Boden und fingen an, unter sich darüber zu diskutieren, was
diese Kiste wohl enthalten könne, um so entsetzlich schwer zu
sein. Sie kamen überein, sie zu öffnen, und beim Anblick
des Santo Cristo fragten sie sich erstaunt, zu welchem Zweck
der Padre diesen „vii'acocha“ (Herr, Fremdling) wohl nach
ihrem Dorfe bringen lasse. Es heißt, daß sie ihn mit ihren
Messern stachen, und daß den Stichen Blut Nachstoß. Die
Untersuchung endigte damit, daß sie den Santo Cristo in
den Abgrund warfen. Von diesem Augenblick an fühlten
sich die Urheber dieses Frevels von Blutdissenterie ergriffen,
an welcher der größte Teil unterwegs starb, und die andern
langten bloß in ihrem Dorfe an, um die Austeckmig weiter
zu verbreiten. Man nannte diese Krankheit, die beinahe alle
Einwohner dahinraffte, die Züchtigungspest.
Die Einwohnerzahl von San Jose beläuft sich auf etwa
200 Seelen. Die Sprache ist das Quichoa, obwohl die
meisten auch das Tacana sprechen. San Joso besitzt eine im
Jahre 1864 errichtete Kirche. Sie ist aus Holz, und die
zum Bau verwendeten Stämme kommen von einem Cuchi
genannten Baum, dessen rötliches, wohlriechendes, hartes Holz
so dauerhaft ist, daß es selbst unter der Erde der Fäulnis
Widerstand leistet. Die 3 m von einander entfernten Balken
werden 1m tief in die Erde eingerammt, die Zwischen-
rünme mit Stein und Lehm ausgefüllt und den so aufge-
führten Wänden durch Palmholzstreifen, die der Länge nach
auf 20 cm Entfernung angenagelt werden, Festigkeit gegeben.
Dann kommt ein Bewurf, der mit Kalk geweißt wird. Das
Dach besteht ans einem Gerippe von Bambusstäben, das
mit Palmblättern (vom Motacü oder Cusi) überdeckt ist;
es dauert 16 bis 20 Jahre. Diese Bauart findet man in
allen Missionen; in neuerer Zeit wird sie aber auch, wo
guter Lehm vorhanden ist, durch an der Luft getrocknete
Lehmziegel (ackolmo) ersetzt, was viel haltbarer ist. Die
Dächer sind immer aus Palmblättern. San Josä wird viel
von Fiebern heimgesucht, worunter hauptsächlich das Wechsel-
fieber, die Terciana, zu verstehen ist. Man pflanzt Zucker-
rohr, Kaffee, Mais, Reis, Bohnen, spanischen Pfeffer in ver-
schiedenen Sorten, Bananen, süße Kartoffeln (oamoteo),
Maniok (Yuca), Orangen, Limonen, Cidras, kurz alle mög-
lichen Tropengewüchse. Von hier an wächst der Kakao wild,
wird deshalb nicht angepflanzt.
Zwei Leguas von San Jostz de Uchupiamonos ist die
Höhe von Jnruma (920 m über dem Meere) zu überschreiten,
die ihren Namen von einer Art vom Zimmetbaum hat, der
Jnruma genaunnt und dort häufig angetroffen wird. Die
Indianer schreiben dessen Rinde Heilkraft zu und bedienen
sich derselben hauptsächlich gegen Fieber. 21/2 Leguas von
Jnruma ist der dem Tuichi zufließende Jariapo, an dessen
Ufern (630 m über dem Meere) früher Tumnpasa stand.
11/2 Leguas weiter stößt man auf den Limon genannten
Bach (710m), von dem ein 11;2 Leguas langer steiler An-
steig beginnt, dessen höchster Punkt 1010 m über dem Meere
ist. Auf der halben Höhe dieser Steige zieht sich der Weg
hart an dem Rande eines Guabudajaida genannten Ab-
grundes hin, 820 m über dem Meere. Dieser Weg wird
durch Graderias, natürliche Treppeubildung des Felsens, sehr
erschwert. Auf dem Gipfel selbst entspringt der Rio von
Tumnpasa, an dessen rechtem Ufer der Weg durch eine enge,
langgestreckte Schlucht zu der Ortschaft hinabführt, welche
den Augen des Reisenden verborgen bleibt, bis er zu seiner
angenehmsten Überraschung plötzlich vor ihren ersten Häusern
steht. Tumnpasa ist 740m über dem Meere, so daß es
die Ebenen, die sich in seinem Norden und Osten wenigstens
400 m tiefer ausbreiten, beherrscht. Der Ortschaft gegen-
über, auf eine Entfernung von acht Leguas, fließen die mäch-
tigen Wasser des Beni, dessen Lauf besonders in der Frühe
durch den Dunst, der von ihm aufsteigt, deutlich zu erkennen
ist. Von Mitternacht bis acht Uhr Morgens ist sein Wasser
wärmer, als die ihn umgebende Atmosphäre. Dadurch ent-
wickelt sich anscheinend eine bedeutende Wasserverflüchtignng,
welche in der Frühe emporsteigt, sich der Atmosphäre mit-
teilt als der starke Thau, der in dieser Region beobachtet
wird, niederfällt und das Wachstum und Leben der Pflanzen
während der fünf bis sechs Monate aufrecht erhält, in welchen
bei einer tropischen Hitze, die imstande ist, die riesigsten
Bäume auszutrocknen, kein Tropfen Regen fallt.
Die geographische Lage von Tumnpasa ist 14" 8' südl. Br.
und 700 40' tucfts. L. von Paris. Der Boden ist steinig.
13*
100
Dr. H. Schinz' Reisen in Deutsch-Südwestafrika.
Die Einwohnerschaft, deren Umgangssprache das Tacana ist,
beläuft sich auf 1200 Seelen und 265 Familien. Tumu-
pasa ist von Apolo 44 Leguas (220 Irin) entfernt. Um sich
einen Begriff von der Marschfähigkeit der dortigen Indianer
zu machen, sei erwähnt, daß einer derselben, Mateo Cordero,
diese Entfernung laut eingeschriebenem Brief in 22 Stunden
zurückgelegt hat. Die Bevölkerung wohnt sehr zerstreut ans
ihren Grundstücken. Viele Indianer leben beinahe immer
ans ihren Pflanzungen und betreten oft jahrelang die Ort-
schaft nicht, andre begeben sich bloß zu den hauptsächlichsten
Festen dorthin, erhalten demnach keinerlei Unterricht und ver-
bleiben in Unwissenheit.
Dr. D. SchinZ' Reisen in Deutsch-Südwestafrika.
-
Das Deutsche Reich umfaßt eine Fläche von 540 000
Quadratkilometer, unser Schutzgebiet in Südwestafrika wird
aus 810 000 Quadratkilometer berechnet, wonach man sich
eine Vorstellung von der Ausdehnung desselben machen
kann; es reicht im Norden noch über den 18., im Süden
über den 26. Breitengrad hinaus. Betrachtet man die Karte,
welche (im Maßstab 1:2534 400) Herr Dr. H. Schinz
seinem neuen Reisewerke x) beigegeben hat, so erkennt man
sofort, daß kein wesentlicher Teil des ausgedehnten Schutz-
gebietes von ihm unbesncht blieb; im Süden gehen die
Routen von Angra Pequeña bis zum Großen Fischfluß und
über diesen hinaus nach Osten; von da nach Norden, mitten
durch das ganze Gebiet bis zum Kunene und auf portu-
giesisches Gebiet mit Parallelreisen und Abstechern nach der
Walsischbai; im Osten bis zum Ngamisee nnd in die Kala-
hariwüste. Die Reisen erstreckten sich über die Jahre 1884
bis 1887 nnd Herr Dr. Schinz, ein bewährter Botaniker,
auch aus andern Gebieten vortrefflich vorbereitet und zu
Hanse, darf uns daher als ausgezeichneter Führer in Deutsch-
Südwestafrika dienen. Da er geborncr Schweizer ist, dem
deutscher Kolonialenthusiasmus fern liegt, so dürfen wir
auch mit Vertrauen aus sein Urteil in bezug auf koloniale
Dinge uns verlassen.
An einen halb vergessenen Mann, an den bei seinen
Kolonialbestrebnngen gescheiterten Bremer Lüdcritz, knüpft
die Reise an, denn dieser war es, der Dr. Schinz, zugleich
mit einer Expedition, aussandte. „So lange Deutschlands
Adler an fernen Gestaden weht, so lange darf auch der
Name Lüdcritz nicht vergessen werden", sagt uns der Schweizer-
in dankbarer Erinnerung an denjenigen, welcher mit Anstoß
zur Entstehung unsrer Kolonialreiche gegeben hat.
Keineswegs ist Deutsch-Südwestafrika das aussichtslose
Gebiet, als welches die Gegner der Kolonialentwicklnng es
uns hinstellen wollen. Ackerbauansiedlungen werden in
Groß-Namaland (im Süden) nnd im mittleren Hereroland
nur dann ans Erfolg rechnen können, wenn es gelingt, den
Bauern einen sichern Markt für ihre Erzeugnisse zu schaffen.
Jetzt fehlt dieser noch und er kann erst dann ins Leben ge-
rufen werden, wenn der Abbau der Erzlagerstätten begonnen
hat. Dann stellt sich das Bedürfnis nach Feldfrüchten von
selbst ein und im Verein damit auch ein Kern von acker-
bauenden Ansiedlern. Das ganze nördliche Hereroland,
Upingtonia und jene unermeßlichen Landstriche östlich von
Grootfontein bis gegen den Ngamisee hin sind nicht schlechter
als die besten Striche des Transvaal, unendlich viel besser
alö das nördliche und nordwestliche Kapland. Wasser ist
allerdings nicht überall vorhanden, in den gebirgigen Gegenden
aber sah Schinz reiche Quellen mit meterbreitem Laus in
der trocknen Jahreszeit. Unerschöpflich sind die Wasser-
Deutsch-Südwestafrika. Forschungsreisen durch die deut-
schen Schutzgebiete Groß-Nama- und Hereroland, nach dem
Kunene, dem Ngamisee und der Kala Xari. Mit einer Karte,
18 Vollbildern und vielen Textillustrationen in Holzschnitt.
Oldenburg, Schulzesche Hosbuchhandlung.
mästen in der Regenzeit und es kommt nur darauf an,
dieselben entsprechend zu sammeln. Bohrungen nnd Pump-
werke werden auch genügend Wasser liefern. Das Küsten-
gebiet ist von der Ansiedlnng ausgeschlossen; auch Groß-
Namaland kann, wie oben schon erwähnt, auf Einwanderung
von Ackerbauern keinen Anspruch erheben; geringer Regenfall
und spärliche Quellen bedingen dieses.
Abgesehen vom Bergbau läßt sich aber in der Zucht
von Schafen und Angoraziegen in Namaland eine Quelle des
Reichtums schaffen. Es ist hierzu gerade so gut geeignet
wie die Karrn südlich vom Oranjeflnß, wo die Zahl der
von den Farmern gezüchteten Merinoschafe auf 5 Millionen
geschätzt wird. Die Wollaussuhr der Kapkolonie, die im
Jahre 1830 bloß 3300 Psd. Sterl. betrug, ist fortwährend
im Steigen begriffen und ist schon heute als eine der sicher-
sten und reichsten Einnahmequellen dieses Landes zu be-
zeichnen. Im Jahre 1885 erreichte dieselbe nach der amt-
lichen Statistik bereits den Wert von 28^ Millionen Mark.
Eine solche Summe kann auch in Deutsch-Südwestafrika
verdient werden, denn klimatisch nnd in bezug auf den
Pslanzcnwnchs stimmt Groß-Namaland mit der Karrn
überraschend überein. „Was dem Kapfarmer aber in der
Karrn möglich ist, das sollte doch in Groß-Namaland mit
demselben Nutzen erzielt werden können. Daher frisch an-
gefaßt!" ruft Dr. Schinz aus. Auch die Anpflanzung von
Faserstoffen empfiehlt sich, weniger die Straußenzucht. Daß
dagegen die Viehzucht zu großer Blüte gelangen kann, bedarf
gar keines Beweises. Dafür genügt es, darauf zu ver-
weisen, das die Herero eines jener afrikanischen Völker sind,
bei denen das Rind, in gewaltigen Heerden gezogen, voll-
ständige Lebensbedingnng des ganzen Stammes geworden
ist. In einer Beziehung ist das südwestafrikanische Schutz-
gebiet und namentlich Hereroland viel günstiger als die
andern deutschen Kolonieen bedacht, indem dort nämlich nichts
weniger als Mangel an Arbeitskraft ist. „Ich habe", schreibt
Dr. Schinz, „den Bergdamara, der das gerade Gegenteil des
hochmütigen nnd arbeitsscheuen Herero ist, stets als zuver-
lässigen, ausdauernden und bescheidenen Arbeiter kennen ge-
lernt, der ohne viel Mühe zu jeder Beschäftigung angelernt
werden kann. Für jedes Unternehmen, groß oder klein,
wird es sich daher empfehlen, stets in erster Beziehung Berg-
damara heranzuziehen; durch freundliche Behandlung läßt
er sich, wie die Erfahrung zeigt, leicht gewinnen und erweist
sich dann als williger und mit dem geringsten Lohn zu-
friedener Knecht".
Solche Anssichten, wie sie hier nüchtern, an der Hand
der Thatsachen, gestützt ans dreijährige Landeskenntnis von
einem Schweizer entwickelt werden, sind allerdings nicht „glän-
zend", aber doch tröstlich, genügend und die Behauptungen
der Gegner entkräftend, Behauptungen, die aus Parteileidcn-
schaft, aber nicht ans Sachkenntnis entspringen.
Ein derartiges sicheres Urteil vermochte Dr. Schinz aber
nur abzugeben, weil er die natürlichen Verhältnisse des Schutz-
gebietes in wissenschaftlicher Weise erforscht hatte. Geologie,
Dr. H. Schinz' Reisen in Deutsch-Südwestafrika.
101
Klimatologie, Hydrographie, Fauna und Flora sind uns
jetzt so eingehend bekannt, daß wir aus Grundlage des Be-
kannten sichere Schlüsse ziehen dürfen.
Das Schutzgebiet bildet eine von der Küste aus erst
sanft, später rasch und steil aufsteigende Linie, die sich, nach-
dem sie die höchste Plateauerhebung erreicht hat, mit schwacher
Neigung nach Osten senkt. So einheitlich nnn aber auch
die allgemeine Gestaltung, die Rohform Südwestafrikas, die
in der hier dargestellten Profillinie zum Ausdruck kommt,
erscheint, so verwickelt ist doch der feinere Bau derselben.
Das Bild der orographischen Verhältnisse zeigen drei For-
mationen: 1) die Gneis- und Granitmassive, 2) die Sand-
steinplateans und 3) die Depression der Kalahari. Der
westliche Abfall, entsprechend den Gneis- und Granitmassiven,
ist vom Oranjefluß bis znm Kunene ein zusammenhängendes
Gebirgsland; unmittelbar nördlich der Kapkolonie beschränkt
sich diese Zone auf eine Breite von wenig mehr als 1001cm;
breitet sich aber nach Norden hin mehr und mehr aus.
Gneis und Granit sind schon aus großer Entfernung an
ihren charakteristischen Bergumrissen erkennbar. Nahe der
Küste verschwinden die Hügelzüge unter der beweglichen
Decke des Flugsandes, dort herrscht die Region wandernder
Dünen, die, aus lockerm Sand aufgebaut, bis 30 m Höhe
erreichen. Das ist der „große Sand", durch den sich, bei stets
wechselnden Wegen die Wagen von der Küste nach dem
Innern durcharbeiten müssen. Gneis überwiegt den Granit;
Quer- und Längenprofil durch Deutsch-Südwestafrika.
ersterer bildet die sogenannte Kopses, ein wüstes, zerklüftetes
Haufwerk von Blöcken. Der Granit dagegen zeichnet sich
durch seine schalige Plattenabsonderung ans und tritt in
Form mächtiger Schollen auf. Gneis und Granit führen
vielfach edle Erze, Graphit, Kupfer, Gold — bisher jedoch
nicht in abbauwürdiger Menge. Zu ganz besonderer Ent-
faltung kommt die Gneis- und Granitformation im Herero-
land, wo in den beiden Omatnko-Pyramiden (2250 m), die
sich als vereinzelte Kegel 1100m über die Ebene erheben,
die höchste Erhebung liegt.
Ostwärts lehnt sich an diese Urgesteine die Formation
der Tafelberge an, die in Groß-Namaland zur größern
Geltung gelangt und, von hier aus nach Norden zn sich
mehr und mehr vcrschmälcrnd, im Hereroland nur insel-
artig vorkommt. Ihr Charakter wird durch die Tafelberge
(umstehende Abbild.) bestimmt, durch Erosion hcrausmodel-
lierte Gerippe eines großen, ehemals zusammenhängenden
Hochplateaus sedimentären Ursprungs. Alle diese Berge
scheinen gleichsam der Thalsohle künstlich aufgesetzt zu sein.
Ihre Zusammensetzung ist keineswegs einheitlich, wie cs
nach der Form scheinen möchte, denn ein Teil besteht aus
quarzitischen Sandsteinen (z. B. auf dem Huibplateau), ein
andrer aus Schiefersandstein; als Decke des Sandstein findet
sich dolomitischer Kalk.
Die Kalaharidepression im Nordosten bildet endlich die
dritte Formation des Schutzgebietes. Es ist dieses das
trocken gelegte und mit Sand überdeckte Becken eines Systems
ehemals ausgedehnter Binnenseen, als deren Überreste wir
den Ngamisee und die zahlreichen, der gänzlichen Austrock-
nung nicht mehr fern stehenden Salzpfannen zu betrachten
102
Dr. H. Schinz' Reisen in Deutsch-Südwestafrika,
haben. Hanptgestein dieser Formation ist ein junger, weißer
Kalkstein.
Was das Klima betrifft, so besitzt die Küstenlandschast
abweichende Verhältnisse vom Hinterland. Das südwcst-
afrikanische Küstenklima zeigt eine verhältnismäßig niedrige
Temperatur, zahl-
reiche nächtliche
Nebel und geringe
Regenmenge. Die
Jahrestemperatur
von Walfischbai
(unter 24« s. Br.)
ist nur 17°. Der
heißeste Monat ist
dort der Februar
(20,3«) der käl-
teste der August
(14,3«). Höchste
Temperatur im
Mai 3 5«, niedrigste
im August -f 3«.
Unter Null sinkt
das Thermometer
nicht. Nur 21
Regentage! im
ganzen Jahr er-
gaben die geringe
Regenmenge von 44 mm, was für die Vegetation natürlich
ohne Belang ist. Die Kühle des Küstenstriches und die
ganzen klimatischen Verhältnisse desselben werden durch die
Deutsch-Südwestafrika. Tafelberge (Westabfall der Huibhochebenc).
kalte Strömung und kalten Südwestwinde bedingt. Breite
dieser Zone 50 bis 70 km.
Ganz anders ist das Klima des Hinterlandes, das sehr
extreme Temperaturen zeigt. Man unterscheidet eine heiße,
durch Zenithalrcgen ausgezeichnete Periode, Oktober bis
April, und eine
kalte Trockenzeit,
Mai bis Septem-
ber. In letzterer
sinkt das Thermo-
meter nachts bis
auf — 7«. Wäh-
rend derselben Zeit
aber giebt es nicht
selten Mittags-
tcmperaturcn von
+ 40«, somit Un-
terschiede von 33«.
Der Sonnenbrand
erreicht zur Winter-
zeit bei Tag für
Tag wolkenlosem
Himmel eine ge-
waltige Größe und
bewirkt Bodener-
wärmung bis zu
60". Es ist leicht
verständlich, daß bei der nachfolgenden starken Nachtkühle dann
die Felsen mit lautem Geknatter, wie von Gcwehrsalven,
springen, wofür die Herero einen besondern Ausdruck haben.
Deutsch-Südwestafrika. Westabfall des Tschirubgebirges in Groß-Namalaud.
Übergang der Euphorbienzone zur Binnenlandvegetation. Im Hintergründe die Sandregion. Born Aloe dichotoma.
Der Regen, der im Hererolande vorwiegend in die
Monate Dezember bis Februar fällt, wird gewöhnlich von
nordöstlichen Winden begleitet. Der Charakter des Regens
ist meist jener der Gewitterregen; in Hereroland ist die
Niederschlagsmenge größer als im Namalande. In beiden
aber kommt es vor, das gewisse, keineswegs kleine Landstriche
bis zu einem Jahrzehnt vollständig jeden Regens entbehren
müssen! Hagel und Reif sind in Groß-Namaland, wo
alljährlich vom Mai bis Juli die Bäche öfter zufrieren,
keine unbekannte Erscheinung. Ob Schnee fällt, ist noch
nicht sicher festgestellt.
Bezüglich der hydrographischen Verhältnisse sind der süd-
Dr. H. Schinz' Reisen in Dcutsch-Südwestafrika.
103
liche Grenzstrom (Oranje) und der nördliche (Knnene) nicht
schiffbar. Auch der Okavango im Nordosten nicht; er ist
ein sich zersplitternder Sumpfstrom, der in den Ngamisee
(besser Nchabi), schon im britischen Gebiet mündet. Charak-
teristisch für das Gebiet sind die Omuramba, lehmige
Flußbetten, die nur zur Regenzeit kotiges Wasser führen,
schnell kommen und ebenso schnell verschwinden; nicht in
ihrer ganzen Länge haben sie dann, einen oder zwei Tage
lang, Wasser, sondern nur an einer bestimmten Stelle, so
lange oberhalb derselben die Gewitter dauern. Sind die
Omuramba, deren Zahl sehr groß, nur klein, dann benennt
sie der Afrikaner mit dem holländischen Ausdruck Bley.
Wirkliche Quellen sind
im Süden sehr selten,
häufiger im Norden.
Dagegen ist das Grund-
wasser durch einen sehr-
großen Teil des Ge-
bietes verbreitet und auf
ihm, das künstlich zu
Tage gefördet werden
kann, beruht auch zum
großen Teil die wirt-
schaftliche Zukunft des
Landes.
Dem Klima entspre-
chend, zerfällt auch die
Pflanzenwelt des Ge-
bietes in eine Küstcn-
zone und eine Hintcr-
landzonc. Aber selbst
die traurige Küsten-
landschaft mit ihrem
Sonnenbrand, dem
Flugsand, dem fehlen-
den Grundwasser zeigt
noch Pslanzenwuchs und
stämmige Pelargonien,
harzige Sarcoeaulon,
Salzbüsche, Giesekicn,
namentlich Asklepia-
deen, alles Pflanzen,
deren anatomischer Bau
Wasseransammlung zu-
läßt und damit sie zum
Dasein in der Wüste
befähigt. Einjährige
Pflanzen fehlen dort
ganz, dagegen treiben
die vorhandenen das
ganze Jahr hindurch
Blüten, beides durch Hererofrauen in Felltracht,
klimatische Verhältnisse
verursacht. Jenseit der
Dünenzonen, wo das Grundwasser beginnt, bildet der Melk-
bosch (Milchbusch, Euphorbia) den Übergang von dcr
Küstenvcgetation zu jener des Binnenlandes. „Gleich Heu-
schobern auf einer großen Wiese, stehen diese dunkelgrauen,
1 Va bis 27a m hohen Büsche auf der weißen, sandigen Fläche
zerstreut. Die einzelnen Hauptäste eines solch rundlichen,
einem gewaltigen, verkehrt in den Boden gesteckten Besen nicht
unähnlichen Busches, entspringen einem kurzen Stammstück
und bilden in ihrer Gesamtheit eine dicht gedrängte, oben ab-
geflachte Buschmnsse". Es beginnt in den Ebenen der dem
Fußwanderer lästige Busch mit kleinen, sperrigen, oft scharf
bewehrten Sträuchern, endlich an der Grenze der Euphorbien-
zone tritt der erste, eigenartige Baum auf, die Jloa dicho-
toma (vcrgl. Abbildung). Akazien gesellen sich dazu, und
ausgedehnte Grasfluren, die im Frühjahr uiit entzückenden
Blumen bedeckt sind, schieben sich dazwischen, freilich um
bald wieder unter dem Einflüsse glühender Sonnenstrahlen
zu verschwinden. Namentlich der biologische Teil der Vege-
tationsschilderungen von Schinz ist ein Meisterstück des
Werkes; doch können wir hier auf die Pflanzenverbreitung
nicht weiter eingehen und erwähnen nur, daß die Südgrenze
der Palmen (Ilyphaene) im Schutzgebiet bei 19° 40' liegt,
etwas nördlicher davon die Südgrenze des Baobab.
Die Tierwelt bildet auch in unserm Schutzgebiete nur
noch „einen trüben Abglanz des frühern fabelhaften Tier-
reichtums^. Nashorn,
Büffel, Flußpferd^ sind
der Büchse gewichen,
selten ist der Elefant im
Nordosten. Auch den
Löwen, Leoparden ist cs
so ergangen.
Zum Schlüsse nur
noch wenige Worte über
die Menschen. Auch aus
ethnographischem Ge-
biet bewährt sich die
Tüchtigkeit und Sach-
kenntnis des Verfassers.
Seine eignen erwor-
benen Kenntnisse ver-
knüpft er mit den reichen
Erfahrungen früherer
Forscher und derjenigen
der rheinischen Missio-
nare, deren Thätigkeit
in jeder Beziehung, und
auf wissenschaftlichem
Gebiet ganz besonders, er
uneingeschränkt lobend
erwähnt. Im Süden
die Nama und Busch-
leute, im Norden die
zu den Bantunegern
gehörigen Herero, so
scheidet sich die Bevöl-
kerung des Schutzge-
bietes in zwei feindliche
Rassen. Im Süden hat
sich von weißen Vätern
und Hottentottcnfrauen
stammend, das mehr
und mehr an Bedeutung
gewinnende, nach Schinz
Nach einer Photographie. zukunftsreiche Volk der
Bastards herausgebildet,
„ausgestattet mit einer-
großartigen Fruchtbarkeit und einer daraus hervorgehenden
Expansivkraft". Es wird demnächst das Volk, von dem
es mütterlicherseits abstammt, beherrschen und eine Stütze
der deutschen Regierung werden. Hang zur Seßhaftigkeit
gepaart mit hottentottischem Umherstreisen, und Ackerbau
und Jagd, beide sind beim Bastard vertreten. Das Haar
hält in der Länge die Mitte zwischen dem beider Eltern
mit Neigung zur Wollbildung, so auch die wechselnde
Haarfarbe. Kennzeichnend für den Bastard sind runde
Nasenlöcher und zierliche, kleine Hände, beides Erbstücke
mütterlicherseits.
Die viehzüchtenden Ovaherero (sing. Omuherero), die
der deutschen Schutzherrschast widerstreben, was seit dem
104
Daniel Garrison Brinton.
kürzlich erfolgten Tode ihres Herrschers Kamaherero sich
ändern dürfte, sind häufig und eingehend von den rheinischen
Missionaren u. a. geschildert worden und es finden diese
Schilderungen in dem von Schinz Mitgeteilten Bestätigung
und Ergänzung. Eingehend schildert er die eigentümliche
Felltracht der Frauen, die in der Abbildung wiedergegeben
ist. Grundlage ist ein Leibchen (omutombe), das aus
30 bis 50 seitlich verbundenen Ketten besteht, die aus auf-
gereihten Scheibchen von Stranßeneicrn gebildet werden.
Sie sind mühsam herzustellen und haben daher den Wert
von ein bis zwei Ochsen. Mit dem vorschreitenden Aus-
sterben des Straußes verschwindet diese alte Tracht. Außer
der handbreiten Schamschürze ist der Unterkörper noch in
gegerbtes, breites Fell gehüllt, das beim Gehen hochgeschürzt
wird. Über dem Rücken hängt ein großer, bis auf den
Boden reichender, schmiegsamer Mantel aus einem Ochscn-
sell, dessen Außenseite vom Kopf an mit Schnüren von
Eiserperlen geschmückt ist. Die Kopfbedeckung wird durch
eine Lederhaube mit drei Flügeln gebildet, die mit feiner
Stickerei versehen wird. Das Ganze gleicht einem niittel-
alterlichen Helm und lvird nur von verheirateten Frauen
getragen.
Daniel Garrison Brinton.
Mit dessen Bildnis.
Vor reichlich 30 Jahren, als die amerikanische Archäo-
logie noch in den Windeln lag, erschien zu Philadelphia ein
Büchlein von 200 Seiten in Duodezformat, betitelt: „Be-
merkungen über die Halbinsel Florida". In seiner Vorrede
bemerkt der Verfasser desselben: „Das vorliegende kleine
Werk ist das teilweise Ergebnis müßiger Stunden, die ich
auf das Studium der Geschichte der Halbinsel Florida ver-
wandte." Ein „kleines" Buch war es allerdings nur, aber
zu gleicher Zeit doch ein
Werk von so hervorragender
Bedeutung, daß es noch heute
den besten Überblick über die
Archäologie dieser wunder-
baren Halbinsel bietet. Der
Verfasser dieses Büchleins,
der beiin Erscheinen desselben
erst 22 Jahre alt war, ist
heute eine der ersten Autori-
täten auf dem Gebiete der in-
dianischen Linguistik und Ar-
chäologie: Daniel Garri-
son Brinton.
Dr. Brinton wurde ge-
boren am 13. Mai 1837 zu
Thornbury, Chester County,
Pennsylvania, er stammt ans
altenglischer Qnäkerfamilie.
Das Interesse, mit dem
Brinton sich sein Leben lang
dem Studium der amerikani-
schen Indianer gewidmet hat,
mag zu nicht geringem Teile
dem Umstände zuzuschreiben
sein, daß ans seiner väter-
lichen Farm sich die Reste
eines alten Delawarenlagers
befanden. Manchen Tag ver-
brachte der Knabe damit, an diesem und ähnlichen Plätzen
die zerbrochenen Pfeilspitzen, die Steinäxte und Topfscherbcn
zu sammeln, welche an jene geheimnisvolle, ältere Rasse er-
innerten. Das Studium von Mac Clintocks Antiquarian
Researches, einem heute fast vergessenen Buche, befestigte
uud erweiterte diese Interessen. Das Werk jedoch, dem er
vor allen andern einen bildenden Einfluß auf seine jugend-
lichen Neigungen zuschreibt, war Humboldts Kosmos,
dessen englische Übersetzung im Alter von 15 bis 16 Jahren
seine Lieblingslektüre bildete.
Er absolvierte Aale College im Jahre 1858 und studierte
dann Medizin in Philadelphia, wo er 1860 zum Doktor
der Medizin promovierte. Nach einem Jahre, das er größten-
teils in Paris und Heidelberg zubrachte, riefen ihn die Kriegs-
ereignisse ins Vaterland zurück, und er trat als Wundarzt
in die Reihen der Freiwilligen ein. Nachdem er im Felde
eine zeitlang als Generalarzt des elften Armeekorps gedient
hatte, wurde er als Inspektor der Hospitäler nach Illinois
gesandt, wo er bis zum Ende des Krieges verblieb. 1867
wurde ihm die Stelle als Redakteur des Medical and Sur-
gical Reporter angeboten,
der in jener Zeit die einzige
medizinische Wochenschrift zu
Philadelphia war. Diesen
Posten hat er ununterbrochen
bis 1887 versehen.
Im Jahre 1884 wurde
er zum Professor der Ethno-
logie an der Academy of
Natural Sciences zu Phila-
delphia ernannt und 1886
zum Professor der amerikani-
schen Linguistik uud Archäo-
logie an der University of
Pennsylvania. An beiden
genannten Anstalten hält er
jeden Winter eine Reihe von
Vorlesungen, die sich der
allergrößten Beliebtheit er-
freuen, wie die zahlreiche Zu-
hörerschaft beweist.
Brinton begann seine
wissenschaftliche Thätigkeit,
wie gesagt, 1859 mit seiner
Abhandlung über die Insel
Florida, ihre Geschichte,
Jndianerstämme uud Alter-
tümer. Sein nächstes bedeu-
tenderes Werk waren „Hie
Mythos of the New World“, eine Arbeit über den
Glauben und die Mythologie der roten Raste Amerikas
(New Jork 1868, 2. Anst. 1876). Weitere Bücher aus
seiner Feder sind: „The Religious Sentiment, its Source
and Ahn“, eht Beitrag zur Religionswissenschaft (New
Jork 1876); „American Ilero Myths: a study in the
native religious of the Western Continent“ (Phila-
delphia 1882); „Essays of an Americanist“ (Phila-
delphia 1890); „Races and Peoples“; „Lectures on
the Science of Ethnography“ (New Pork 1890). Sein
neuestes Werk ist betitelt: „The American Race“, wel-
ches eine sprachliche Klassifizierung uud ethnographische Be-
Dr. W. Kobelt: Neue Forschungen über Korea.
105
schreibuug der eingeborenen Stämme von Nord- und Süd-
amerika liefert.
Von den ethnologischen Abhandlungen Briutous sind
die hervorragendsten: „Die Nationalsage der Chahta-Muskoki-
ftiimmc", „Bemerkungen über den Kodex Troano", „Die Längen-
maße der halb zivilisierten Nationen von Mexiko und Zeutral-
amerika", „Über die Tincaindianer von Guatemala" und „Die
Bücher von Chilan Balam". Dazu die speziell archäologi-
schen Schriften, wie: „On the Probable Nationality of the
Mound-builders“, worin der Verfasser die Theorie verficht,
daß jene Erbauer der rätselhaften Grabhügel im Ohiothale
demselben Stamme, wie die Choctaws, angehörten und wahr-
scheinlich deren Vorfahren waren; „On the Cuspidiform Pe-
tro glyphs, or Bird track Sculpture of Ohio“; und end lid)
seine Arbeit über die prähistorische Chronologie von Amerika.
Aull) mit Folklore hat siä) Brinton beschäftigt. „Die
Reise der Seele", eine vergleichende Studie über die Mytho-
logie der Azteken, Arier und Ägypter, sowie sein „Folklore
von Uukatan" sind die Früchte dieser Studien.
Diese stattliche Reihe von Schriften, ans welche jeder
Gelehrte stolz sein könnte, wenn sie das Resultat eines ganzen
Menschenlebens wäre, stellt doll) noch längst nicht Briutous
gesamte wisscnsä)aftlid)e und litterarische Thätigkeit dar. Er
ist ferner Herausgeber und Redakteur der „Bibliothek für
die eingeborene amerikanische Litteratur". Von den aeht
Bänden, die bisher in derselben erschienen sind, hat er selbst
die folgenden scä)s verfaßt: The Chronicles of the Mayas,
The Comedy-Ballet of Güegüence, The Lenápé and
their Legends, The Annals of the Cakchiquels, Ancient
Nahuatl Poetry und The Big Veda Americanus.
Alle diese Werke sind von unzweifelhaftem Wert. Trotz-
dem haben sie von verschiedenen Seiten die heftigsten kritischen
Angriffe erfahren. Bei der rückhaltlosen Art und Weise,
in der Brinton schreibt, kann man sich darüber nill)t wundern;
der Geschicklichkeit, mit welcher seine Schriften verfaßt sind,
thut diese Opposition keinen Abbruch; sie zeugt vielmehr
gerade von der großen Bedeutung derselben für die Förderung
und Klärung der Wissenschaft.
Auf dem Gebiete der Linguistik hat Brinton in den
letzten beiden Jahrzehnten erscheinen lassen: Eine neue Aus-
gabe von Rev. Cyrns Byingtons Grammatik der Choctaw-
sprache; Beitrüge zu einer Grammatik der Muskokisprache;
das alte phonetische Alphabet von Uukatan (Laudas sogenanntes
Mayaalphabet); die Arawacksprache von Guayana, worin der
Verfasser naä)weist, daß die Nationen, welche zur Zeit der
Entdeckung die Bahama- und Antilleninseln bewohnten, der
Arawackfamilie angehörten; diese Abhandlung enthält auch
eine Analyse der Sprad)e der Natä)ez auf Hayti, welche nach
der Ansicht des Verfassers nur ein Dialekt der Chata-Mus-
koki-Familie; ferner: die Namen der Götter, eine exegetische
Studie über das Popol Vuh, das nationale Buch der Quiches
von Guatemala; eine Grammatik der Cakchiquelsprache von
Guatemala; amerikanische Sprachen, und warum wir sie
studieren sollten; die wissenschaftliche Grammatik der amerika-
nischen Sprachen naä) Wilhelm von Humboldt, nebst der
Übersetzung eines unveröffentlichten Aufsatzes desselben über
das amerikanische Verbum; Bemerkungen über das Manque,
einem ausgestorbenen Dialekt, der früher in Nicaragua ge-
sprochen wurde; Taensa-Grammatik und Wörterbuch; Studie
über die Nahnatlsprache; die phonetischen Elemente in dem
graphischen System der Mayas und Mexikaner; der Begriff
der Liebe in einigen amerikanischen Sprachen; über die ikono-
matische Methode der phonetischen Sä)reibweise; und endlich
1889 ein Lenape-Englisches Wörterbuch, das er in Ver-
bindung mit Rev. Albert Segaqkind Anthony herausgab auf
Grund eines Manuskriptes aus dem letzten Jahrhundert,
welches in der Herrnhnterkirche zu Bethlehem, Pennsylvania,
aufbewahrt wird.
Ans dem Gebiete der allgemeinen Sprach lvissen-
schaft hat er verschiedene Aufsätze über die Möglichkeit einer-
internationalen Gelehrtensprache in den Verhandlungen der
Amerikanischen Philosophischen Gesellschaft veröffentlicht. Die
Hauptgedanken derselben wurden zusammengefaßt in einer
Broschüre über „die Ziele und Grnndzüge einer Weltsprache",
welche 1889 erschien.
Dr. Brintons wissenschaftliche Thätigkeit umfaßt ein so
weites Gebiet, daß es schwierig ist, ihm ans allen seinen
Streifzügen zu folgen. Aber wenn wir uns dem allgemeinen
Urteil der ethnologischen, archäologischen und linguistischen
Kritik anschließen dürfen, so hat er keinen Gegenstand berührt,
ohne neues Licht auf denselben zu werfen, Und jung an
Jahren, steht er heute noch da im Vollbesitz seiner geistigen
und körperlickien Kraft und bereitet sich vor ans eine Reihe
weiterer Arbeiten. Die amerikanische Wissenschaft und Litte-
ratur darf stolz sein ans solä) einen Mann. (Charles Abbott
in Populär 8cience Monthly.)
IT cue Forschungen über Korea.
von Dr. w. A ob eit.
Woodvillc Nockhill. — Staatseinnahmen. — Rechtspflege. — Tibetanische Einflüsse. — Dr. Koikes Forschungen. — Fusa». —
Unempfindlichkeit für abendländische'Einflüsse. — Volksmedizin. — Kastenartige Standesgruppcn. — Viehzucht. — Häuser. — Schmeltz über
ethnographische Gegenstände aus Korea. — Koreanische Totenurnen. — Das Klima.
Die Halbinsel Korea, der Teil Asiens, welcher es trotz
seiner Lage am Meer verstanden hat, siä) der europäischen
Zivilisation ain längsten zu verschließen, gehört noä) zu den
verhältnismäßig am wenigsten bekannten Teilen des Konti-
nents, und jeder Beitrag zu seiner genaueren Kenntnis muß
darum mit Freuden begrüßt werden. Die letzten Monate
haben einige recht schätzenswerte Arbeiten gebracht; Ameri-
kaner, Deutsche und Japaner sind um die Wette bemüht, die
Litteratur über Korea zu bereichern.
Ans Amerika erhalten wir eine Arbeit von W. Wood-
ville Rockhillft, welä)er das Material dazu während eines
b Notes on some of the Laws, Customs aud Super-
stitions of Korea. In the American Anthropologist,
Vol. IV, p. 177 (April 1891).
Globus LX. Nr. 7.
viermonatlichen Aufenthalts als amerikanischer Resident in
Söul teils ans dem Munde von Koreanern und Chinesen,
teils ans der einheimischen Litteratur gesammelt hat. Er ist
überrascht von der Ähnlichkeit des koreanischen Lebens mit
dem chinesischen, aber niä)t mit dem des China von heute,
sondern mit dem des Landes der Tang und Ming, des China
vor tausend Jahren. Damals hat Korea sich dem Einfluß
des hochzivilisierten Naä)barreid)es willig hingegeben, sich
aber nachher um so hartnäckiger gegen jede fremde Ein-
wirkung abgeschlossen. — Die Staatseinnahmen werden,
wie in China, hauptsächliä) in Natura erhoben. Die wich-
tigste Abgabe ist eine Art Grundsteuer, die vom bebauten
Land erhoben und alljährlick) dem Stand der Ernte ent-
sprcck>end festgesetzt wird, sie besteht natürlich der Hauptsache
14
106
Dr. W. Kobelt: Neue Forschungen über Korea.
nach in Reis, welcher in den Provinzialhauptstädten in
Magazinen angesaurmelt wird. Außerdem leistet noch jede
Provinz einen bestimmten Tribut entweder in Natura (Pferde,
Reis, Hanfgewebe, Papier, getrocknete Fische, Ginsengwurzeln)
oder deren Wert in Kupfergeld. Handwerker, Händler und
dergleichen zahlen ihre Abgabe in Hanfgewebe oder in Papier,
Fischer in getrockneten Fischen. Geld außer den kupfernen
Scheidemünzen kommt in den koreanischen Gesetzen heute noch
nicht vor. Trotzdem existieren jetzt zahlreiche Banken und
Geldwechsler, die unter behördlicher Aufsicht stehen und eine
Abgabe zahlen. — Eine wichtige Einnahme liefert der
Regierung das Monopol des Verkaufs der Ginsengwurzel,
welche nur in der Provinz Kuan-ting gezogen werden darf;
der Ertrag des Monopols wird auf 250 0D0 Dollars jähr-
lich geschätzt.
Die Rechtspflege ist ziemlich gut organisiert; es
bestehen Provinzialrichter, ein höherer Gerichtshof und als
höchste Instanz der König. Wer den letzter» anrufen will,
setzt sich mit einer Bittschrift in der Hand an das Thor des
Palastes ans eine Matte, oder er stellt sich an eine Straßen-
stelle, die der König zu passieren hat, und klopft, wenn derselbe
mit dem Hofstaat vorüberzieht, an ein leeres, metallenes Reis-
gefäß, in beiden Fällen kommt alsbald ein Beamter und nimmt
die Bittschrift in Empfang. Die Strafen sind Hinrichtung
durch Enthauptung, Prügel in verschiedenen Abstufungen und
Verbannung auf verschiedene Zeit und verschiedene Ent-
fernnng von der Hauptstadt; indes können viele Strafen ab-
gekauft werden und besteht dafür ein förmlicher Tarif: für
100 Stockhiebe sieben Unzen Silber oder zwei Stück Hanf-
tuch, und so fort. Vertretung vor Gericht ist nicht gestattet,
Anwälte giebt es nicht. Das Recht innerhalb der Familie
entspricht ganz dem chinesischen, der Vater hat unbedingtes
Recht ilber das Leben seiner Kinder, er kann sie auch als
Sklaven verkaufen. Der Herr kann aber seinen Sklaven
nicht töten ohne vorhergehenden gerichtlichen Prozeß. Kinder,
die eine Sklavin von ihrem Herrn bekommt, gehören diesem,
aber die Söhne werden, sobald sie großjährig sind, frei
(d. h. sie sind wohl gerade so gestellt, wie legitime Kinder auch).
Die Regierung thut gegenwärtig viel für die Entwickelung
der Hilfsquellen des Landes, das allerdings von der Natur
nicht sonderlich glänzend ausgestattet ist. Sie befördert nicht
nur die Anpflanzung von Obst- und Lackbäumen, sondern
auch die Wiederbewaldung der arg verwüsteten Küstenbergc
und hat zu diesem Zweck ausgedehnte Baumschulen angelegt.
Alle Arbeiten werden in Frohne ausgeführt; jeder männliche
Koreaner hat vom Beginn der Majorität bis zum 60. Jahre
eine bestimmte Anzahl von Tagen jährlich zu frohnen; die
Zahl wird nach dem Grundbesitz bemessen und beträgt sechs
Tage für je 8 Acres.
W. Rockhill hat es sich sehr angelegen sein lassen, seine
einheimischen Gewährsmänner über den Ursprung einiger
auffallender Gebräuche auszufragen; was ihm ilber die
Einführung der eigentümlichen Hutform, der weißen Ober-
kleidung und dergleichen ttlitgeteilt wurde, trügt vielfach den
Stempel der modernen Erfindung, während andre Notizen
für den Folkloristen hochinteressant sind. Bemerkenswert
sind auch seine Angaben über die Spuren tibetanischen Ein-
flnsses; die Gebräuche der Buddhisten in Korea weichen in
vieler Hinsicht von denen der Chinesen und Japanesen ab
und ähneln denen der Tibetaner; auch manche Feste sind
wohl in Tibet, aber nicht in den andern buddhistischen
Ländern bekannt.
Einen sehr wichtigen Beitrag zur Kenntnis von Korea
liefert der japanische Arzt Dr. Kolkes, der als Vorsteher
Z Zwei Jahre in Korea. Übersetzung des im Verlag der
militärärztlichen Gesellschaft in Tokio 1887 erschienenen Auf-
satzes im Internationalen Archiv f. Ethnogr. IV, Heft 1.
des von der japanischen Regierung für ihre Unterthanen in
Fusan errichteten Krankenhauses zwei Jahre lang in Korea
stationiert war. Völlig europäisch gebildet, sieht der geborene
Japaner die Koreaner doch mit ganz andern Augen und mit
einem ganz andern Verständnis an, als der Europäer, der
ihnen so unendlich viel ferner steht und dem selbst schon die
religiösen Vorstellungen der Japaner kaum faßbar sind.
Dr. Koike hatte außerdem als Arzt die allerbeste Gelegenheit,
den vornehmen Koreanern näher zu "treten, und ein ganz
besonderer Vorteil für seine Arbeit war, daß seine Frau, ob-
wohl Japanerin, mit vollem Verständnis daran teilnahm
und ihm den genauesten Aufschluß über vieles verschaffen
konnte, was die koreanischen Damen einem Manne nie ent-
hüllt haben würden. Auch hatte er in dem Ortsvorsteher
des 30 koreanische Meilen von Fnsan entfernten Fleckens
Torai, Kin Zenkin, einem Hauptvertreter der koreanischen
Fortschrittspartei, einen ebenso zuverlässigen wie sachverstän-
digen Gewährsmann für alle Korea betreffenden Fragen.
Die Umgebung der Hafenstadt Fusan ist öde und un-
fruchtbar, die Berge kahl, auf den Kämmen mit Kruminholz
(Pimi8 parviflora) bedeckt, nur nach Norden hin wachsen
wertvollere Nadelhölzer (Gryptomsria japonica, Chamae-
cyparis obtusa). Das Klima ist sehr gesund, obschon die
häufigen jähen Temperaturschwankungen leicht Katarrh her-
vorrufen; die angesiedelten Japaner gedeihen sehr gut. Dr.
Koike hat die Bekanntschaft der Koreaner schon gemacht,
als die große Gesandtschaft des Königs in die japanische
Residenz einzog. Sie haben ihm und andern Japanern da-
mals sehr imponiert durch den „echt chinesischen Ernst, womit
sie, jeder kleinlichen Neugierde bar, gegenüber dem Anblick
all dieser Herrlichkeiten ihre Fassung bewahrten. Nil ad-
rairari schien der Wahlsprnch der Koreaner zu sein. Alle
neueren, auf der technischen Nutzanwendung der Naturkräfte
beruhenden Einrichtungen, wie Telegraphen und Eisenbahnen,
Maschinenwerkstätten und Fabriken, vermochten auch nicht
den allergeringsten Eindruck auf sie zu machen." . Mit
großen Erwartungen ging er deshalb in das Land dieser
Philosophen, aber schon eine kurze genauere Bekanntschaft
genügte, um ihn gründlich zu enttäuschen. „Die nähere
Bekanntschaft mit dem Volk läßt bei mir keinen Zweifel
darüber aufkommen, daß lediglich Unempfänglichkeit für
äußere Eindrücke und dumpfe Trägheit zum Handeln
Hauptcharaktere sind. Erstere erklärt ohne Zwang jene von
uns fälschlicherweise bewunderte Gleichmütigkeit, welche mit
der Handlungsträgheit auch insofern zusammenhängt, daß sie
bewußte Teilnahme au dem großen ostasiatischen Kulturkämpfe
von vornherein ausschließt. — Nicht allein der fremden Kultur,
sondern auch der unmittelbaren Umgebung gegenüber ver-
halten sich die Koreaner vollkommen gleichgültig. In ihrer
schmutzigen Hülle von Kleidung, mit ihrem unreinen Trink-
wasser und erbärmlichen Mahl zeigen sie den höchsten Grad
confuzianischer Selbstzufriedenheit, ausgeartet einerseits, wie
sie anderseits die grausamste Tortur und den himmel-
schreiendsten Justizmord geduldig über sich ergehen lassen.
In ihrer Unempfindlichkeit setzen sie ihr Leben der äußern
Gewalt aus, als wäre es ein fremdes Gilt."
Dr. Koike giebt in streng wissenschaftlicher Form zunächst
eine Übersicht der Sitten und Gebräuche, welche mit dem
Leben des Koreaners von der Wiege bis znm Grab in Ver-
bindung stehen, der Feste und abergläubischen Zeremonien.
Die Volksmedizin ist natürlich krasser Aberglaube. Alle
Krankheiten entstehen durch den Zorn böser Sterne. Diesen
zu beschwichtigen, muß ein naher Verwandter des Kranken,
nachdein er kalt gebadet, um Mitternacht Gebete an die Sterne
richten; dann werden auch den andern Göttern Opfer ge-
bracht und endlich der Rock des Kranken an eine Stange
gebunden und nach den vier Himmelsgegenden geschwenkt.
Dr. W. Kobelt: Neue Forschungen über Korea.
107
Endlich wird der Rock an der Feststätte feierlich und tüchtig
ausgeklopft. Eine besondere Zeremonie findet bei genesenden
Pockenkranken statt. Die Ansteckungsfähigkeit dieser gefürchte-
ten Krankheit ist auch bei den Koreanern bekannt und Häuser,
in denen sie herrscht, werden durch ein ans Fichtenzweigen ge-
flochtenes Seil gesperrt. Ist die Krankheit erloschen, so muß
der Pockengeist noch einmal bewirtet und dann heimgesendet
werden. Dazu werden die Verwandten eingeladen, es wird
dann ein Pferd aus Stroh geflochten, diesem der für den
Geist bestimmte Anteil an den Speisen aufgeladen, und mit
ihm bis an die Dorfgreuze gebracht. Erst nach Erledigung
dieser Zeremonie darf das Seil entfernt und das Haus ge-
öffnet werden. — Täuschung der bösen Krankheitsgeister wird
auch hier und da versucht. Wer in das „verhängnisvolle
Lebensalter" tritt, bekleidet in der Nacht des vierzehnten
Tages im ersten Monat eine Strohpuppe mit seinen Kleidern
und trägt sie ans dem Hause; er muß dann aber am folgen-
den Tage eine bestimmte Diät beobachten und am Abend auf
einer Brücke den Aufgang des Mondes abwarten. Brücken
sind überhaupt gesegnete, von den bösen Geistern gemiedene
Orte; wer an dem genannten Tage, den man den Tag des
auf die Brücke Treteus nennt, sieben verschiedene Brücken
besucht, hat das ganze Jahr hindurch Glück.
Von der Justiz und Verwaltung ist der Japaner viel
weniger erbaut als der Amerikaner Rockhill. „Obgleich
die konfuzianisch-menzische Sittenlehre sich im koreanischen
Familienleben durchaus eigenartig wiederspiegelt, so vermag
sie doch nicht die grellen Mißtöue der Laster und Gebrechen
dieses garstig heruntergekommenen Volkes zu bedecken. Zur
Trägheit und Unempfänglichkeit für äußere Eindrücke, wovon
schon oben die Rede war, gesellen sich schrankenloser Hochmut,
Heimtücke, Genußsucht und Mangel an Ehrgefühl. Fast
allein Geschenke bewirken die Beförderung der Beamten und
die Erlangung eines günstigen Richterspruches. Trotz des
grausamen Strafverfahrens kommen Diebstahl und Unter-
schlagung sehr häufig vor, während jene chinesische Räuber-
romantik, die in Shwuy Hoo Chuen eine wirkungsvolle
poetische Gestaltung gewann, den Koreanern völlig fremd er-
scheint."
Die Koreaner zerfallen in vier kastenartig gesonderte
Standesgrnppen. Die erste umfaßt den Adel und die
meisten Beamten, und sie zerfällt in eine östliche oder Militür-
ttnd eine westliche oder Zivilabteilnng. Die zweite Kaste
umfaßt Gelehrte, Künstler und einige Beamte, auch die höheren
Ärzte, die dritte die Kaufleute, die vierte die Arbeiter, mit
denen die niederen Ärzte rangieren. Die Zahl der Hand-
werker ist eine sehr geringe, Weberei, Papierfabrikation und
Porzellanmannfaktur sind fast ausgegangen. Von den Priestern,
die seit Jinsos Zeit militärisch organisiert sind, wird eine
Art Examen verlangt; sie treiben übrigens ein Handwerk
nebenher und stehen in geringer Achtung.
Die Gesetze verpflichten den Koreaner zur Zucht von
Rindern, Schweinen, Hunden und Hühnern, die alle gegessen
werden; ferner von Pferden und Maultieren; Ziegen und
Schafe werden nur in wenigen Gegenden gehalten, die Bienen-
zucht ist wenig verbreitet, die Seideuzucht nur in der Provinz
Heiau stärker entwickelt.
Die koreanischen Häuser sind noch ärmlicher und weniger
komfortabel als die japanischen, aber sie haben einen großen
Vorzug, eine äußerst praktische Heizung, die wie in den
römischen Hypoknnsten unter dem Fußboden angebracht ist
und Sommer und Winter in Thätigkeit bleibt, im Sommer,
um die Bewohner vor Feuchtigkeit und Insekten zu schützen.
Diese Ontotsu oder Kntsnao genannte Vorrichtung wurde
unter der Regierung Shnkusos von dem Rat Kin Shiten
erfunden; sie erspart den Koreanern das Bett. Dr. Koike
hat auch in seinem Hospital Zimmer damit versehen lassen
und giebt eine ganz genaue Beschreibung der Anlage st. Der
Boden wird mit Papier überzogen, welches durch einen Über-
zug mit Toyeki, einer aus der Soyabohne, Perillaöl und Ei-
weiß bereiteten Flüssigkeit gegen Wasser unempfindlich ge-
macht worden ist. Mit der Reinlichkeit ist es in ganz Korea
nicht weit her und die Verwendung der Abfallstoffe zum
Düngen ist in Korea noch unbekannt. Nur Torai hat unter
seinem intelligenten Ortsvorstaude in dieser Beziehung Fort-
schritte gemacht und seine steißigen Bewohner holen sogar
die Fäkalien aus Fusan.
Der hier zur Verfügung stehende Raum gestattet nicht,
die Mitteilungen aus der Arbeit des japanischen Militär-
arztes weiter auszudehnen; das Vorstehende wird genügen,
um zu beweisen, welche reiche Fundgrube für die Kenntnis
Koreas seine Beobachtungen bilden.
Unmittelbar an die japanische Arbeit schließt sich in dem-
selben Bande des Intern. Archivs für Ethnographie eine um-
fangreiche und sehr reich ausgestattete Abhandlung des verdienst-
vollen Herausgebers dieser Zeitschrift, I. D. E. Schmeltz,
über die im Reichsmuseum in Leiden befindlichen Ethuo-
graphica aus Korea 2), welcher auch eine Übersicht der
neueren, die Halbinsel betreffenden Litteratur beigegeben ist.
Ein Eingehen auf Einzelheiten ist hier unmöglich; sie er-
gänzen Koikes Mitteilungen auf das Erfreulichste. Schmeltz
bemerkt, daß die Oruameutmotive der koreanischen Geräte
sich wohl sämtlich in der chinesischen, aber nur teilweise in
der japanischen Ornamentik wiederfinden. Korea empfing
seine Kultur von China und teilte sie an Japan mit, aber
in letzterem Lande fand eine reiche und selbständige Wcitcr-
entwickeluug statt, während Korea stationär blieb und lang-
sam wieder zurückging. Die Ursache dürfte auf anthropolo-
gischem Gebiet liegen. Japan hat neben den Ainos und
dem mougoloiden, den Chinesen und Koreanern ähnlichen
Stamm eine starke, den Malaien verwandte Beimischung,
welche Adel und Herrscherhaus geliefert hat; in Korea fehlt
dieses Element und die koreanische Kultur wurde zu Ende
des sechzehnten Jahrhunderts durch den verheerenden Einfall
der Chinesen unter Hideyoshi gebrochen. Die Porzellan-
manufaktur z. B., welcher das japanische Satsumaporzellan
entsproßte, ist seit der Zeit vollständig erloschen; in ganz
Korea wird kein Porzellan mehr bereitet, welches diesen
Namen verdient.
Wir haben endlich hier noch eine amerikanische Arbeit zu
erwähnen, welche die Schmeltzsche in einer Richtung ergänzt,
nämlich über Produkte alter koreanischer Töpferei, welche
jetzt nur noch in koreanischen Grabhügeln gefunden werden 'st.
Japanischer Sammeleifer hat zuerst ans den Inhalt der in
Korea massenhaft vorhandenen alten Grabhügel aufmerksam
gemacht. Diese Gräber, die in manchen Gegenden ein
Viertel der Oberfläche einnehmen sollen, werden von den
Koreanern sehr in Ehren gehalten und systematische Aus-
grabungen besonders seitens Fremder sind unmöglich. Doch
finden sich immer Eingeborene bereit, gegen eine geringe Be-
lohnung sie zu plündern und Jouy hat als Resident in Korea
eine reiche Sammlung zusammenbringen können, zum Teil * 1
_ ]) Es ist gewiß von Interesse, daß lange vor der Er-
schließung Koreas ein Ingenieur in Frantfurt, dessen Namen
mir leider entfalleil ist, sich eine Zimmerheizung konstruiert hat,
welche in allen Einzelheiten mit dem koreanischen Ontotsu
übereinstimmt Ko.
st Die Sammlungen aus Korea im ethnographischen
Neichsmuseum zu Leiden. In Intern. Archiv für Ethnographie
IV. 1 u. 2, S. 45 bis 65 und 3, S. 105 bis 138, mit Tafel
1 bis 3.
st Jouy, Pierre Louis, the Collection of Korean
Mortuary Pottery in the U. 8. National Museum in the
U. 8. National Museum. In Rep. Smithton. Institution
for the year ending June 30, 1888. Washington 1860.
PI. 83 — 86.
14*
108
Der Sternhimmel bei den Finnen.
sogar ans sehr alten Gräbern, mit steinernen Pfeilspitzen und
Dolchen zusammen und noch ohne Benutzung der Töpfer-
scheibe hergestellt. Die Gestalt und die Ornamentik ähneln
vielfach den ältesten südjapanischen Geschirren in den japa-
nischen Museen und Privatsammlnngen. Andre finden sich
mit Bronzcringen und Pferdegeschirren zusammen und so
fort in lückenloser Folge bis zur Neuzeit. Es würde bei
einiger Ausdauer nicht schwer fallen, die ganze Entwickelung
der koreanischen Töpferei von ihren ersten Anfängen an zu-
sammenzubringen und wir machen deshalb auf diese reiche
und kaum ausgebeutete Fundgrube noch einmal besonders
aufmerksam. Die Beigaben sind mit den Leichen in Stein-
kisten verwahrt und deshalb meist tadellos erhalten.
Zum Schlüsse wollen wir auf eine - Arbeit über das
Klima Koreas aufmerksam machen, welche in den Anna-
len für Hydrographie 1891, Nr. 1 sich befindet. Dieselbe
begründet sich auf regelmäßige meteorologische Beobach-
tungen in den Häfen Fnsan und Juensan an der Ostküste
und Tschimnlpo an der Westküste. Nach den dort vor-
genommenen dreijährigen Beobachtungen zeigt der Luftdruck
eine ausgesprochene jährliche Periode; er ist hoch vom No-
vember bis Februar und niedrig vom Mai bis September.
Die Lufttemperatur, die an der Westküste etwas kühler
als an der Ostküste ist, entspricht im Jahresmittel den auf
derselben Breite gelegenen Plätzen Nordamerikas. Während
der Sommer an den genannten drei Plätzen gleiche Wärme
zeigt, ist der Winter in Tschimnlpo- und Juensan strenger
als in Fnsan. Temperaturen unter Null Grad kommen
überall vor; die mittlere Lufttemperatur der wärmsten Mo-
nate (Juli, August) ist 26,2 bczw. 26,8^; der kältesten
(Januar, Februar) —4,4 bezw. — 5,1°. Der Wind zeigt
ausgesprochene Periodizität von fast monsnnartigem Charakter.
An der Nordostküste herrschte die östliche Richtung, an der
Westküste die südwestliche. Die Regenzeit fällt in den Som-
mer, die Trockenzeit in den Winter. Schneefälle kommen in
Fnsan nicht vor.
Der Sternhimmel
Es ist ganz natürlich, daß der glänzende Sternhimmel
während der langen Winternächte in Finnland Gegenstand
der Aufmerksamkeit und Beobachtung des Volkes gewesen ist.
Eher könnte man darüber in Erstaunen geraten, daß davon
verhältnismäßig wenig Spuren in der erhaltenen finnischen
Mythologie zu finden sind. Die Ursache scheint dafür doch
nur die zu sein, daß man bis in die letzte Zeit diese Seite
des Volkswissens nicht studiert hat. Doch hörte schon Dr. >
Reinholm im Kirchspiel Halikko unweit von Abo, daß die
„Sterne ehemals vergöttert gewesen sind".
Die erste Reihe von etwa zehn finnischen Namen der
Konstellationen und Sterne wurde von Gottluud in seinem
Werke „Otawa" veröffentlicht und einige neue wurden von
Lönnrot, Reiuholm und H. Laitinen aufgezeichnet. Sie
waren aber alle, wie es scheint, nur zufällig gefunden und
aufgeschrieben. Erst durch die Sammlungen von Dr. K.
Krohn sängt man an zu ahnen, wie bekannt die sichtbare
Sternwelt einst dem finnischen Volke gewesen ist. Auf seinen
Reisen in den Jahren 1884 und 1885 traf er nämlich in
dem Kirchdorf Karstnla, nordöstlich von Jyvüskylä, ein
Weib damit beschäftigt, die Sternbilder mit Spänen auf dem
Fußboden den Kindern zu veranschaulichen. „Jeder Stern",
erklärte das Weib, „hat seinen Namen, nur nicht die kleine
Puhkatähdet (Aschensterne)". Aus dem Munde dieses
Weibes zeichnete Dr. Krohn etwa 60 Namen von Konstella-
tionen, Fixsternen und Planeten auf. Die Anzahl dieser
Namen ist also gegenwärtig ungefähr hundert. Unter den
benannten Sternen kennt man, so weit sie bisher bestimmt
sind, nur vier Planeten, und da selbst die Wissenschaft — in
der die verschiedenen Sterne der Konstellationen mit Buch-
staben bezeichnet werden — kaum eine größere Anzahl Namen
für die Fixsterne des nördlichen Sternhimmels besitzt, so
kann man vermuten, daß das finnische Volk ebenso bewan-
dert in dieser Beziehung gewesen ist, wie die alten Völker,
ans deren Wissen die astronomische Wissenschaft sich all-
mählich entwickelt hat.
Leider sind die bisher aufgezeichneten Sternnamen noch
zum großen Teil unbestimmt; von vielen Benennungen weis
man nämlich nicht, welche Sterne sie bezeichnen. Dr. Krohn,
*) Vergl. Globus LIX, S. 313. Nach Uusi Suometar
1890 und Fennia I.
bei den Sinnen).
der die astronomischen Namen selbst nicht kannte, zeichnet
nur die Erklärungen des Weibes auf.
Das Weib wurde darum Ende April 1888 von
einem Sachverständigen, Herrn Petrelius, besucht. Wegen
der vorgerückten Jahreszeit konnten indessen nur etwa 50
Namen bestimmt werden, welche dann in der Zeitschrift der
geographischen Gesellschaft Finnlands „Fennia" veröffentlicht
z wurden.
Die größte Schwierigkeit bei der Bestimmung der Namen
machten die Planeten, die das Weib wenigstens von den
Fixsternen nicht gut unterscheiden konnte. So wurde voll
den Planeten in verschiedenen Zeiten Venus, bisweilen auch
Jupiter, Kointähti (Morgendämmerungssterne) und 111 a-
tähti (Abendstcrue) genannt; Mars, bisweilen auch die Fix-
sterne Regulus und Spica, Kuunseuraaja (Mondfolger);
Mars, wie auch die Fixsterne Vcga, LUrnäntäüti (Augen-
sterne); Satnrnns wurde bald Luomantähti (Stern der
Schöpfung), bald Ryönäntähti (Stern des auf das Ufer
geworfenen Meergewächses) genannt.
Es ist kaum anzunehmen, daß dieses Weib völlig das
Volkswissen der Finnen in bezug auf die Sterne ausgedrückt
hat. Sie hatte ihre Kenntnisse als Kind voll einem nahezu
hundertjährigen Weibe geerbt. Diese Kenntnis aber selbst
setzt eine genaue Beobachtung voraus, durch welche das Unter-
scheiden zwischen Planeten und Fixsternen verlangt wird.
Oikein Otavat kcäyvät, tähdet taiten taivo selka (Richtig
kreisen die Bärenkonstellationen, geschickt die Sterne am
Himmel), sagt das alte sinuische Sprichwort und beweist, daß
die feste Ordnung in dem Weltraum dem Volke bekannt war,
und ein anderes Sprichwort Aika vanbin, avaruus suurin
(am ältesten ist die Zeit, der Wcltraunl am größesteil) be-
weist, daß das Bild voll dem Schmieden des Himmels-
gewölbes und dessen Besetzen mit Sternen das Volk nicht
gehindert hat einzusehen, daß der Gesichtskreis in dem Welt-
raum begrenzt ist. Die wechselnde Stellung des Stern-
himmels bei Tag und Nacht und nach verschiedenen Jahres-
zeiten hat wahrscheinlich beim Volke die Begriffe von Maan-
sarana (die Angel der Erde) und Maailman napa (die
Achse der Welt) erzeugt, auf welche sich die beobachtete Ord-
nung gründet. Dahin deutet auch die Bencunung Maail-
manpolvi (das Gelenk der Welt), womit ein Stern, der
leider nicht bestimmt ist, von dem Weibe bezeichnet wurde,
Ein arabischer Bericht aus dem 10. oder II. Jahrhundert über verschiedene deutsche Städte.
109
wie auch Taivaanpolvi (das Gelenk des Himmels), die Be-
nennung für gewisse „sehr klare Sterne". Dieses Sternbild
kommt auch vor in einer Redensart beim frühen Aufstehen:
Taivaanpolvi ei ob vielä kaukana (das Gelenk des
Himmels ist noch nicht weit vorgeschritten).
In dem Kirchspiel Nurmijärvi erzählt man, daß die
Sterne vormals als Wegweiser benutzt wurden, wenn man
sich verirrte, und sicherere Wegweiser konnten natürlich weder
die Jäger in den ausgedehnten Urwäldern, noch die Schiffer
auf dem Meer oder auf den großen Seen finden. Noch
bedeutungsvoller war aber der Sternhimmel für die Zeit-
bestimmung. In Halikko benutzte man als Zeiger Otawa
(Siebengestirn, Ursa Major), Kolmoiset (ó', 8, \ Orionis)
und Seulaiset (die Plejaden). Besonders bekannt war Otawa,
das Siebengestirn. Die vordersten Sterne. dieses Stern-
bildes (oí und ß Ursae majoris) wurden die Augen des
Otawa genannt und die zwei Sternreihen vor denselben
L, X, -fr und o, l, x Ursae majoris) die Hörner des
O t a w a. „Das Otawa wendet seine Hörner in der Richtung
der Sonnenbahn gegen den Sonnenaufgang", sagte man, und
„von den Hörnern aus, die immer dem Polarstern folgen,
schwingt sich der Schweif des Otawa (die meisten Sterne
im Sternbild Bootes) in die Höhe". In Kalewala (XXIII,
121) wird davon gesagt:
„Stehen die sieben Sterne richtig
Mit den Hörnern nach Süden zu,
Mit dem Schweise gerade nach Norden,
Dann naht auch die Stunde für dich,
Aus dein Schlummer dich zu erheben,
Aufzustehn vom wärmenden Bett,
Feuer in der Asche zu suchen,
Funken in den Kohlen am Herd
Um zur Flamme sie anzufachen."
Uralt ist auch das Sprichwort: „Im Otawa hat der
Sklave sein Zeichen, weder in dem Mond, noch in dem
Hahn, noch in der Morgendämmerung". Nach dem Namen
Orjantähti (Stern des Sklaven Var. Kukontähti, Hahn-
stern) zu urteilen, ist auch Arcturus einst als Zeiger für
die Sklaven betrachtet worden. Aber in historischer Zeit
haben die Finnen keine Sklaven mehr gehabt, daher sprechen
jene Benennungen für ein hohes Alter. Das Siebengestirn
wird auch Lnornen Otawa (Otawa Finnlands) genannt
znm Unterschied von Lapin Otawa (Otawa Lapplands,
Ursa minor) und Wenäjän Otawa (Otawa Rußlands,
Kassiopcja).
Solche Sternnamen wie Kalewantähti (Stern des
Kalewa) für Sirius, Kalewan miekka (Schwert des
Kalewa) oder Wäinämöinen wikahde (Sense des Wüinä-
möinen) für ö, £, £ Orionis, Wäinämöinen virsu (Schuh
von Birkenrinde des Wäinämöinen) für das Haar der Bere-
nice, „Wäinämöinen tie (Weg des Wäinämöinen), Jouka-
haisen vyö“ (Gürtel des Joukahaiuen) und andre deuten
darauf, daß der Sternhimmel vormals mit mythischen Volks-
sagen erfüllt gewesen ist. Von solchen Sagen sind aber
gegenwärtig nur noch wenige bekannt. Wäinämöinen war,
wie alle übrigen Kalewidcn, laut der Sage, ein gewaltiger
Mäher. Einmal nahm er sich vor, eine ungeheure Wiese
irgendwo im Norden abzumähen und bei dem Mähen fiel
das Gras so weit, wie das Rauschen der Sense sich bei
jedem Schlag hörbar machte. Gegen Abend, da das Ende
der Wiese noch nicht zu sehen war, mähcte Wäinämöinen so
gewaltsam, daß die Sense schließlich aus seinen Händen flog
und an dem Himmel haftete, wo sie noch glänzt als das
schönste Sternbild desselben. Ein andres Mal wollte der
ermüdete Volksheld sich ans dem Ackerrain ansrnhcn, dabei'
schlenderte er den Schuh von seinem Fuß so heftig, daß
dieser erst am Himmel haftete und dort als Sternbild seit-
dem zu sehen ist. Es ist zu hoffen, daß auch diese Gruppe
der Volkssagen sich ergänzen läßt, da nun endlich die Auf-
merksamkeit sich darauf zu lenken beginnt. Auch andre volks-
tümliche Vorstellungen von den Sternbildern sind zu be-
achten. So ist in Halikko der Volksglaube aufgezeichnet
worden, daß Arcturus (Orjantähti) der Stern war, der die
drei Könige zu dem Heiland geleitete; die Milchstraße heißt
Linnunrata (Bahn der Vögel), weil die Zugvögel in der
Richtung derselben im Herbste wegfliegen.
Um einen Begriff von den übrigen Volksnamcn der
Sterne zu geben, sind einige Beispiele genügend. So heißen
« Andromedae Pöivätähti (Tagesstcrn), a und ß Persei
Vesitähdet (Wassersternc), ß und y Ursae minoris Lumi-
tähdet (Schneesterne), a und y Leonis Kulkutäkdet
(Wandelsterne), a Cygni Püritähti (Kreisstern), Co-
rona borealis Paivaanrukki (Spinnrocken des Himmels),
ß Cephei Ämmäntähti (Stern des Weibes) u. s. w.
Da das Volk den Mondwechsel ebenso genau kennt, so
muß man annehmen, daß diese große Kenntnis in der Welt-
ordnung auch zu chronologischen Zwecken benutzt wurde.
Leider ist aber diese Seite des Volkswissens in Finnland
von Fachleuten noch wenig erforscht, obgleich dazu ein be-
deutendes Material von Holzkalendern, die unter dem
Volke gesammelt wurden, vorliegt. Volkskalender dieser Art
kommen auch vor bei den Syrjänen und Ostjakcn, und ans
knöchernen Scheiben sogar bis zur Beringsstraße. Ein ver-
gleichendes Studium dieses Kalenderwesens, in dem sehr-
verschiedene Zeitrechnungen dargestellt sind, wäre sicher von
unberechenbarem wissenschaftlichen Wert. Bereits vor der
Reformationszeit erzählt Olans Magnus, wie die finnischen
Greise die Jünglinge diese einheimischen Kalender benutzen
lehrten und nur der vergleichenden Forschung ist cs vor-
behalten, nachzuweisen, wie weit diese chronologischen Tradi-
tionen sich erstrecken.
Ein arabischer Bericht aus dem 10. oder 11. Jahr-
hundert über verschiedene deutsche Städte.
Die neuesten Forschungen haben gezeigt, daß im frühen
Mittelalter eine verhältnismäßig reiche Litteratur über die
nordeuropäischen Länder in arabischer Sprache vorhanden
war. Doch ist dieselbe an dem mangelnden Interesse späterer
Geschlechter fast ausnahmslos zu Grunde gegangen. Ilm so
dankbarer müssen wir Herrn Dr. Georg Jacob in Berlin
sein für die belangreichen Mitteilungen über verschiedene
deutsche Städte, welche er aus einem arabischen Bericht des
10. oder 11. Jahrhunderts zum erstenmal in deutscher
Sprache veröffentlicht hat *)• Die Bruchstücke sind dem ara-
bischen Kosmographen Qazwiui entnommen, welcher im
13. Jahrhundert lebte. Qazwiui nennt als seine Quelle
zunächst einen gewissen Udri. Damit kann nur der spanische
Geograph Ahmad Um Omar el Udri gemeint sein, welcher
1003 bis 1085 lebte und aus Almeria stammte. Sein
Werk ist uns leider auch verloren gegangen. Außer al-Udri
nennt Qazwiui aber als seinen Gewährsmann noch einen
Tartus! (d. h. einen Mann aus Tortosa), und dieser Mann,
dessen Name sich nicht mehr feststellen läßt, war nach Jacob
Mitglied der bekannten maurischen Gesandtschaft, welche Otto
der Große im Jahre 973 zu Merseburg empfing, und bei
der sich auch Ibrahim ibn Jagnb, jener andre, in letzter
Zeit so viel genannte arabische Geograph befand. Als Greis
hat nach Jacobs Auffassung Tartus! dem jungen Udr! von
seinen Reisen erzählt.
b Ein arabischer Berichterstatter aus dem 10. oder 11. Jahr-
hundert über Fulda, Schleswig, Soest, Paderborn und andre
deutsche Städte. Von Dr. Georg Jacob. Berlin 1890,
Mayer & Müller.
110
Dr. Ludwig Wils er: Nochmals „Anthropologie und Geschichte".
Die Schilderung nun, welcheQazw!n! von den Ordalen,
Feuer- und Wasserproben der Deutschen entwirft, stimmt
fast aufs Haar mit der Darstellung überein, wie sie sich in
Grimms Rechtsaltertümern findet. Es zeugt das gewiß von
der Zuverlässigkeit seiner Mitteilungen bezw. seiner Quellen.
Mythologisch interessant ist die Bemerkung, daß vor dem
Zweikampf die Kämpfer in einiger Entferung voneinander
gegen Osten gekehrt beteten.
Deutschland wird bezeichnet als Rüm, ein Name, der ge-
wöhnlich für das oströmische Reich gebraucht wird, der hier
aber offenbar auf das „Heilige römische Reich deutscher Nation"
übertragen ist.
Von Fulda (Buida) heißt es: „Sie ist eine große
Stadt im Lande der Franken, aus Steinen gebaut. Sie
tvird nur von Mönchen bewohnt, und kein Weib betritt sie,
tveil ihr Märtyrer es so angeordnet hat." Rätselhaft ist der
Name dieses Märtyrers, welchen Qazwini als Bug 'lb an-
giebt. Derselbe soll vorher Bischof in Franken gewesen, aber
infolge eines Streites nach Fulda gekommen sein und das Kloster
gegründet haben. Fulda wurde bekanntlich von Sturmen,
dem Schüler des Bonifatius, gegründet. Tartus!, dem
Qazwini hier folgt, rühmt den außerordentlichen Reichtum
des Platzes an Gold und Edelsteinen. Höchst anschaulich
ist die Art und Weise, wie die Torfgewinnung in der
Gegend von Utrecht (’itrlit) geschildert wird. Sie kann
nur auf Beobachtung an Ort und Stelle fußen. Der Torf wird
dabei als Lehm bezeichnet; seine Gewinnung war , damals
schon genau die gleiche, wie heute noch. Schleswig (Slswiq)
wird eine sehr große Stadt genannt, deren Bewohner den
Sirius (!) anbeten, außer einer kleinen Anzahl, welche
Christen sind und eine Kirche besitzen. „Werden einem
von ihnen Kinder geboren, so wirft er sie ins Meer, um
sich die Ausgaben zu sparen." Das Recht der Scheidung
ist bei der Frau; sie scheidet sich selbst, sobald es ihr gefällt.
Den Gesang der Schleswiger nennt Tartus! „ein Gebrumm,
das herauskommt aus ihren Kehlen gleich dem Gebell der
Hunde, nur noch viehischer als dies"; er habe nie etwas
Häßlicheres gehört.
Mainz (Mganga) nennt er eine sehr große Stadt, von
der ein Teil bewohnt und der Rest mit Getreide besät ist.
Tartus! traf daselbst Münzen aus Samarkand vom Jahre
923 und 924 tt. Chr. Außerdem drückt er seine Ver-
wunderung darüber aus, daß es dort Gewürze, lote Pfeffer,
Ingwer, Gewürznelken, Spikanarde n. s. w. gebe, die nur
aus Indien eingeführt sein können. Diese Notizen sind ein
wichtiger Beleg dafiir, wie ausgedehnt in jener Zeit (im
Jahre 1000 n. Chr.) der Mainzer Handel schon gewesen
sein muß.
Soest (8us!t) wird als ein Kastell im Laude der Slawen
bezeichnet; die Bezeichnung Slawen wird von den Arabern
häufig auch auf die Germanen ausgedehnt. Es soll dort eine
Salzquelle sein, womit nach Jacobs Ansicht vielleicht die Salz-
quellen zu Werl und Sassendorf gemeint sein können. Pader-
born (Wáterbürüna) wird ebenfalls ein wohlbefestigtes
Kastell im Lande der Slawen genannt, in der Nähe von Soest.
Die arabische Namensform ist für die deutsche Etymologie
vielleicht von Interesse. Tr. I. Hoops.
Nochmals „Anthropologie und Geschichte".
Von Dr. Ludwig Wils er.
In den Nummern 13, 14, 17 und 18 des LIX. Bandes
vom laufenden Jahrgang dieser Zeitschrift hat Dr. F. Gunt-
ram Schultheiß einen Aussatz veröffentlicht, dem er, gewiß
unabsichtlich, die nämliche Überschrift gegeben, die auch eine
Arbeit von mir (Ausland 1890, Nr. 46 und 47) trägt.
Ich sehe mich dadurch veranlaßt, nochmals in Kürze auf den
Gegenstand zurück zu kommen. Wenn Herr Dr. Schult-
heiß die Ansicht ausspricht, daß die Geschichtsschreibung
sich nicht der Aufgabe entziehen könne, „die Ergebnisse der
anthropologischen Forschung mit der historischen Überlieferung
in Einklang zu bringen", so wird man ihm darin vollständig
recht geben müssen, und gerade aus diesem Gedanken ist
meine genannte Abhandlung erwachsen. In derselben sind
jedoch auch die Gründe auseinandergesetzt, warum dies bisher
nicht möglich war. Mit einer Wissenschaft, die selbst nicht
weis, was sie tvill, deren Ergebnisse so unklar und verlvorren
sind, wie sie sich auch in dem Schultheiß scheu Aufsatze
darstellen, konnten die Historiker nichts anfangen und sie
hatten ganz recht, „mit vornehmem Lächeln", wie ich mich
damals ausdrückte, auf dieselbe herabzusehen. Ganz anders
gestaltet sich die Sache, wenn man mit aller Bestimmtheit
nachweist, wo und wie eine wirkliche Verknüpfung von Ge-
schichte und Urgeschichte möglich ist. Diesen Nachweis zu
erbringen, habe ich mich angegebenen Orts bemüht. Von
allen europäischen Völkern sind es allein die Germanen, der
letzte unvermischte Kern des arischen Urvolkes, deren Ge-
schichte sich unmittelbar mit der Vorgeschichte in Verbindung
setzen läßt. Ist dies geschehen, so schließen sich die übrigen
Völker ganz von selbst an und auch auf die älteste Geschichte
der Deutschen fällt ein ganz neues Licht, cs zeigt sich, daß
die sogenannten „neuen Stämme", an deren Zurückführung
auf die urzeitlichcn Verhältnisse die hervorragendsten Ge-
schichtsschreiber verzweifelten (Mrgl. L. v. Ranke, Welt-
geschichte III, S. 36), keine „politischen" Verbände, sondern
die uralten verwandtschaftlichen Gruppen sind, die schon
Tacitus und Plinius bekannt waren und noch heute ihren
Einfluß ausüben. Die ältesten Überlieferungen der Gcrmanen-
stänune weisen übereinstimmend nach der skandinavischen
Halbinsel; von dort aus haben sich die germanischen Wander-
scharcu strahlenförmig über Europa verbreitet. Der skandi-
navische Boden hat außerdem durch die ihm entnommencn
Altertümer alle Zeugnisse geliefert für die ganze mehrtausend-
jährige vorgeschichtliche Entwickelung unsrer Vorfahren. Dort
also, nirgend anderswo, kann und muß angeknüpft werden.
Schultheiß selbst muß zugeben, daß durch die fortschreitende
Forschung der asiatischen Hypothese der Boden entzogen ist,
er kann sich jedoch nicht entschließen, den entscheidenden
Schritt ganz zu thun, bleibt zögernd auf halbem Wege stehen
und kaun deshalb an Stelle der alten nur eine neue „Hypo-
these" setzen. „Nehmen wir hypothetisch", sagt er, „das
Land von den Sudeten östlich, von den Karpathen nördlich,
das Gebiet, von dem große Ströme nach Osten und Norden
und eine niedrige Wasserscheide nach Süden den Weg weisen,
als den Ursitz der arischen Sprachgenossenschaft an." Ab-
gesehen davon, daß eine Menge geschichtlicher und archäolo-
gischer Thatsachen mit dieser Annahme unvereinbar sind,
macht sie ein einfacher naturwissenschaftlicher Grund ganz
unmöglich. Die Germanen waren in den ersten Jahr-
hunderten ihrer Geschichte nicht nur nach den übereinstimmen-
den Berichten der Augenzeugen, sondern auch nach dem durch
Hunderte von Grabfunden unzweifelhaft als einheitlich stst-
gestellten Knochenbau eine „reine Rasse". Erfahrungsgemäß
haben sich aber solche nur da erhalten, wo unüberstcigliche
äußere Hindernisse jede Möglichkeit einer.Rassenmischung aus-
schlössen. Das einzige Land aber, in Asien wie in Europa,
für das diese Voraussetzung zutrifft, ist Skandinavien; denn
das Nordmeer war im Altertum eine solche unübersteigliche
Völkerschranke, und nur dort haben sich auch Inseln völlig
rassereiner Germanen erhalten. Sucht mau ferner die arische
Urheimat anderswo, so muß man für Skandinavien, wie
dies auch Schultheiß thut, eine „vorgermanische Bevölkerung"
annehmen. Eine solche, die folgerichtig nur eine „nicht arische"
gewesen sein könnte, müßte sich notwendigerweise in Sprache
Das Zurückweichen der Nordgrenze der Eskimos.
111
und Körperbildung der Skandinavier bemerklich machen, was
nicht der Fall ist. Außerdem stellen die nordischen Alter-
tumsforscher, Monte!ins, Vedel u. a., auf Grund der
Funde jede Einwanderung eines neuen Volkes seit dem
Beginn der neueren Steinzeit in Abrede. Schultheiß wendet
sich besonders gegen Pcnka und de Laponge und sucht
die Forschungsergebnisse dieser scharfsinnigen Gelehrten durch
allerlei, oft etwas weit hergeholte Einwände zu entkräften.
Zugegeben, daß beide Forscher von einzelnen Einseitigkeiten
und Übertreibungen nicht ganz frei zn sprechen sind, so ist
doch die Schnltheißsche Darlegung keineswegs im stände,
deren Hauptsätze zu erschüttern. Beide Männer sind durch
ihre gelehrten und eingehenden Schriften die Hauptstützen
für die zuerst von mir im Jahre 1881 aufgestellte Lehre
von der skandinavischen Abstammung der sogenannten „arischen"
Rasse geworden und finden täglich neue Anhänger. Die
neue Lehre erweist sich als ungemein fruchtbar und gestattet,
außer der Verknüpfung von Geschichte und Urgeschichte, die
einfache Lösung einer Reihe von Streitfragen, über die sich
die Gelehrten bis jetzt nicht zu einigen vermochten (vergl.
meine Aufsätze und Vortrüge über den Ursprung der Bronze
und der Runen in den Nummern 18 und 20 des „Aus-
lands" 1890 und in den Veröffentlichungen des „Karlsruher
Altertnmsvereins" 1891). Über „die Genesis der alteuro-
päischen Bronzekultur" hat sich kürzlich Dr. M. Hoernes
(Globus LIX, Nr. 21) ansgelassen. ohne jedoch etwas Be-
stimmtes bieten zu können. Daß „verschleierte Bilder auf
die Zukunft vertrösten", glauben wir den Anhängern der
alten Lehre gern, daß es aber „einmal Licht werden wird
in der dunkeln Frage", ist für sie nur zn hoffen, wenn sie ihre
alte vorgefaßte, durch keinerlei wissenschaftliche Gründe ge-
stützte Meinung von der asiatischen Abstammung der Europäer
endlich aufgeben. Sonst müssen sie immer wieder in Wider-
sprüche verfallen, wie Hoernes, der den Ursprung der Bronze
in Ländern sucht, wohin das Zinn ans weiter Ferne durch
verwickelte Handelsbeziehungen gebracht werden mußte, der
die Bronzckultur als „glänzend entwickelt" anerkennen muß
in einem Lande, das, wie Skandinavien, von den hypothetischen
Ursprungsgebieten am weitesten entfernt ist. Was die Runeu-
frage anlangt, so ist durch die Forschungen Aspelins in
Sibirien, Glasers in Arabien, Flinders Petries in
Ägypten das phönikische Alphabet als Mntteralphabet für die
Buchstabenschrift unmöglich geworden. Auch dic Wimmersche
Ableitung der germanischen Runen ans der lateinischen
Schrift der Kaiserzeit ist nur unter Widersprüchen möglich,
die die ganze Hypothese von vornherein zu Falle bringen.
Auf Seite 120 der „Runenschrift" ist der völlig richtige
„Hanptgrnndsatz" aufgestellt, der „für die Ableitung zweier
Alphabete voneinander" gefordert werden muß, „daß die
Zeichen einander sowohl in Form wie Bedeutung entsprechen".
Auf der gleichen Seite aber leitet Wimmer die Wen-Rune
vom lateinischen Q ab, mit dem sie weder nach Form noch
Bedeutung etwas gemein hat. — Die Überschrift „Anthro-
pologie und Geschichte" führt der Schnltheißsche Aufsatz in-
sofern mit Unrecht, als eine Verbindung von Geschichte und
Urgeschichte, die von seinem Standpunkte ans ja auch unmög-
lich ist, nicht einmal versucht wird.
Das Zurückweichen der Nord grenze
der Eskimos.
Wiederholt haben die Nordpolfahrer Spuren menschlicher
Niederlassungen in Breiten entdeckt, die weit über die heute
bewohnten hinansrcichen. Während wir heute im allgemeinen
den 75. Grad nördl. Br. als die Nordgrenze menschlicher
Wohnungen ansetzen dürfen, welche nur von dem isolierten
Häuflein der Etah-Eskimos um wenige Grade überschritten
wird, sind Bessels, Nares und Greely noch unter dem
82. Parallelgrade auf zahlreiche Spuren gestoßen. In
einer größeren Arbeit (Petcrmanns Mitt., 1891, S. 141,
mit Karte) hat sich nun Dr. Kurt Hassert der Aufgabe
unterzogen, „die Nordpolargrenze der bewohnten und bewohn-
baren Erde" festzustellen.
Es zeigt sich hiernach zunächst ein Unterschied zwischen
Asien und Amerika. Während in Asien kaum eine Ver-
schiebung jener Grenze bemerkbar ist, läßt sich eine solche in
Amerika sehr deutlich erkennen. Es hängt dies mit der ver-
schiedenen Gestaltung der beiden Kontinente und der daraus
entspringenden verschiedenen Lebensweise der Bewohner zu-
sammen. Der breiten Masse Asiens sind nur wenige und
mit einer Ausnahme recht unbedeutende Inseln vorgelagert;
doch sind die großen Tiefebenen von mächtigen, fischreichen
Strömen bewässert, die frühzeitig aufbrechen. Dazu kommt,
daß der Wald hier bis über den Polarkreis vordringt. In-
folgedessen haben die nordasiatischen Völker eine Reihe ver-
schiedener Hilfsquellen für ihren Lebensunterhalt: sie sind in
erster Linie Nomaden, aber daneben auch Fischer und Jäger.
Ihre Nordgrenze fällt im ganzen mit der Baumgrenze zu-
sammen und hat sich wenig verändert, weil sie sich eben auf
irgend eine Weise immer genügenden Lebensunterhalt ver-
schaffen konnten.
Ganz anders in Nordamerika. Hier löst sich der
Kontinent bis hoch hinauf zum 80. Breitengrade in einer
Unmenge größerer und kleinerer Inseln auf, welche im Winter
vom Eise ringsum eingeschlossen werden. Wälder können
hier natürlich nicht mehr fortkommen, und es besteht dem-
entsprechend in der Neuen Welt eine tiefe Kluft zwischen den
indianischen Jägern und den fast ausschließlich auf die See
angewiesenen Jnnuit. Letzteren stehen nicht so viel Hilfsquellen
für ihren Lebensunterhalt zu Gebote, wie den nordasiatischen
Völkern. Sie leben fast ausschließlich vom Fischfang und
können sich deshalb nur da ansiedeln, wo dieser ihnen mög-
lich ist. Hieraus ergeben sich auch von selbst die Gründe,
welche diese Eskimos zum Zurückweichen nach Süden ver-
anlaßten. Man wird sie in erster Linie in klimatischen
Veränderungen zn suchen haben. Immer und immer
wieder machten die Hyperboreer Vorstöße nach dem Nordpol;
sie behaupteten sich auch eine Zeitlang; aber dann wurden
in strengen Wintern die Inseln und Buchten vereist und der
Fischfang unmöglich gemacht, so daß sie ihre Wohnsitze wieder
aufgeben mußten. Die Schrecken der langen Nacht, Krank-
heiten mit) die Ausrottung der nordischen Seefauna mögen
auch das Ihrige dazu beigetragen haben.
Überhaupt ist ja das beständige Umher streifen einer
der Hanptcharakterzüge dieser polaren Völker. Sie müssen
sich über eine möglichst große Fläche zerstreuen, wenn sie
überhaupt fortkommen wollen. Mit dieser Unstetigkeit des
Wohnsitzes hängt der zweite charakteristische Zug, die Un-
möglichkeit p o l i t i s ch e r G e b i l d e in unserm Sinne, zu-
sammen. Die Altersbestimmung der verlassenen Wohn-
stätten ist sehr schwierig. Zwar geben uns die Schätzung
der Bodeneindrücke und die Verwitterung des Baumaterials-
zwei Büttel an die Hand; doch können dieselben nur mit
großer Vorsicht verwendet werden. Manche der aufgefundenen
Wohnnugsreste sind nach Hassert jedenfalls über 1000 Jahre
alt. Ebenso lassen sich ans die Bevölkerungszahl jener
alten Niederlassungen ans der Zusammenhänfung der Dörfer
und der Menge der Gräber nur sehr unsichere Schlüsse ziehen;
in manchen Gegenden, ivie in Ostgrönland, werden z. B. die
Leichen ins Meer geworfen, weil der Boden zn hart ist.
112
Aus allen Erdteilen.
Aus allen
— Volkszählung und Magyarisierung in Un-
garn. Man wird mit Spannung auf die Ergebnisse der
Volkszählung in Ungarn gewartet haben, besonders so weit
sie die Stärke der verschiedenen Nationalitäten betrifft. Handelt
es sich doch bei der mit allen Mitteln betriebenen Magyari-
siernng hauptsächlich um die zwei Millionen Deutschen, deren
Minderung zur Stärkung des Magyarentnms gereichen soll.
Schon die ersten Mitteilungen wußten Staunen erregen, daß
die Bevölkerung im ganzen sich seit 1880 um 10 Proz. ge-
mehrt habe, daß die Mehrung in dem eigentlich magyarischen
Tiefland 13 bis 17 Proz. betrage, daß man triumphierend
8,2 Millionen Magyarischredender herausgcrechnet habe statt
6,5 bei der Zählung von 1880, so daß die absolute Mehr-
heit im Lande erreicht wäre. Man muß eine Aufklärung
abwarten: Die angebliche Zunahme des magyarischen Ele-
mentes um 1,7 Millionen übersteigt die gesamte Zunahme
der Bevölkerung (1,4 Millionen) rund um 300000. Darin
liegt eine Unwahrscheinlichkeit, die uns an Potcmkinische
Dörfer denken läßt. Die Ergebnisse der Zählung in der
Hauptstadt, wie sic der Vorstand des statistischen Amtes dem
Bürgermeister vorgelegt hat, scheinen einen besseren An-
halt zu bieten. Es heißt da: „Unter den erfreulichen Re-
sultaten der Volkszählung nehmen eine hervorragende Stelle
nachfolgende Thatsachen ein, die von der weitreichenden und
raschen Magyarisierung der Hauptstadt unseres Vaterlandes
zeugen. Vor zehn Jahren machte der magyarische Anteil
55 Proz., jetzt 68 Proz. der Bewohnerschaft aus, 1880
waren es 106 000, heute 329 000. Die Zahl der Deutschen
ist um 740 gesunken, mit 117 867 machen sie aber nur mehr
24 Proz. aus statt 33 Proz. im Jahre 1880. Die ge-
samte Zunahme um 131000 dient der Stärkung des magya-
rischen Elements. Im ganzen sind auf der Ofener Seite
54 Proz., auf der Pcster Seite an 71 Proz. der Einwohner
magyarisch." So der amtliche Bericht. Wenn wir auch
vom deutschen Standpunkt aus die rasche Magyarisierung für
weniger erfreulich halten müssen, so werden wir doch die
Thatsache, daß immer noch der vierte Teil sich offen zur
deutschen Muttersprache zu bekennen den Mut hat, betonen
dürfen. Gegenüber dem völligen M a u g el d e uts ch er S ch ul en
beweist sie, daß die gänzliche Aufsaugung der Deutschen in
Ungarn einen natürlichen Widerstand findet. Unter diesem
Gesichtspunkt kann man abwarten, wie das rasche Anschwellen
der magyarischen Bevölkerung in Ungarn sich im einzelnen
erklären wird, ob durch Verschiebung der nationalen Elemente
oder durch Geburtenzunahme innerhalb der Magyaren selbst,
oder durch Zuzug von außen her, z. B. durch galizische und
russische Juden oder durch die Nötigung, magyarisch zu lernen
und sich der magyarischen Umgangssprache zuzuwenden, wie
dies bei allen Beamten gewünscht wird. Sch.
— Ten Kates Reise auf Timor. Der niederlän-
dische Anthropolog Dr. Ten Kate, welcher im November 1890
Europa verließ, uni Forschungen im Ostasiatischen Archipel
anzustellen, traf im Februar d. I. ans Timor ein, wo er
verschiedene Ausflüge machte und die Eingeborenen studierte.
Unter denselben ist einer von Wichtigkeit. Von Atapupu an
der Nordostküste drang er ins Innere bis zu den Distrikten
Fialarang und Lamakenen vor, die schon nahe an der portu-
giesischen Grenze liegen, wobei er in Gebiete kam, die seit
zehn Jahren von keinem Europäer besucht worden waren.
Die Belos, welche jene Regionen bewohnen, sind von den
sonst verwandten Bewohnern Südtimors doch in mancher
Erdteilen.
Hinsicht verschieden. Sie sind vorherrschend gelblich, heftigen
Charakters, große Diebe und Krieger, bewaffnet mit Wurf-
speer, Bogen und runden Lederschilden, lvns sie von den
eigentlichen Timoresen unterscheidet. Das Tabu, hier Lulik
genannt, spielt eine große Rolle bei ihnen. Im Innern
fand Ten Kate keine große Wälder; Eucalyptus und Casna-
rinen waren häufig. Die höchste Stelle von Niederländisch
Timor, der Berg Lakan (etwa 2000 m), wurde bestiegen.
(Comptes rendus der Pariser Geogr. Ges. 1891, S. 346.)
— Das Bewüsscrungswesen im südlichen Kali-
fornien hat jetzt einen solchen Umfang genommen, daß die
Physiognomie uub Natur des Landes dadurch wesentlich ge-
ändert worden ist. Vor 30 Jahren begannen damit Deutsche,
welche da, wo jetzt das blühende Städtchen Annaheim liegt,
Grnud kauften, welcher der Acre zwei Dollars kostete und
jetzt 1000 Dollars lvert ist. Der wüste, dürre Boden
wurde sachverständig ans dem Santa Anaflnß berieselt und
so zu einem jetzt berühmten Wein- und Obstgarten um-
gestaltet. Das Beispiel der deutschen Pioniere hat gewirkt,
die Bewässerung ist so durchgeführt, daß in den „Bewässerungs-
Connties" Los Angeles, San Diego, San Bernardino,
Kern, Tulare, Fresno und Merced sich der Eigcntumswert
von Grnud und Boden in den letzten zehn Jahren vervier-
facht und versechsfacht hat. Das Erträgnis an Obst und
Trauben ist dort selten unter 100 Dollars per Acre.
Blühende Städte wie Fresno, Riverside, Bakersfield ver-
danken alle der Bewässerung ehemals dürrer, wüster Gegen-
den ihr Dasein. Von der Großartigkeit des Aufschwungs,
den die künstliche Bewässerung in neuesten Zeiten in Kali-
fornien genommen, kann man sich einen Begriff machen ans
dem Umstande, daß Fresno County allein gegen 1500 Miles
Wasserleitungen zählt, die Hälfte davon in Hnnptkanälen,
die andre Hälfte in Zweigleitungen. Sogar bis in die
Mojavewüste hinein schieben sich die lebenspendenden Ein-
richtungen vor uub der obere Teil der Coloradowüste ver-
wandelt sich zusehends in einen grünen Garten.
— Der Tschagos-Archipel im Indischen Ozean wird
wenig besucht. Willkommen ist daher der Bericht eines öster-
reichischen Flottenoffiziers in der Monatsschrift für den Orient
(Mai 1891), welcher mit dem Kriegsschiff Saida vor zwei
Jahren das bedeutendste südliche Glied des Archipels, den
typischen Atoll Diego Garcia, besuchte. Er zeigt Hufeisen-
form, mißt in der großen Achse 10 Seemeilen, in der kleinen
4H2 und ist nirgends über eine halbe Seemeile, an einer
Stelle nur 60 m breit. Die höchste Erhebung ist 6 m.
Korallenbänke, Korallensand und außerordentlich üppiger
Wald von Kokospalmen fügen das Bild des Atolls zusammen.
Es bestehen zwei Ansiedlnngen, East Point und Marianne
Point mit 400 Ansiedlern, alles Farbige, die von Mauritius
stammen. Unter ihnen leben nur 10 Weiße. Die fran-
zösische Sprache herrscht, trotzdem der Archipel britischer
Besitz ist, vor, eine Compagnie huiliere beutet die Kokos-
palmen aus. Die Einwohner sind alle Arbeiter der französi-
schen Gesellschaft; ihr Zustand ist ein ganz patriarchalischer.
„Magistrat" ist der Vertreter der Ölgesellschaft, er übt die
Polizeigewalt und verhängt Strafen. Es giebt keine Schule,
keinen Geistlichen (die Einwohner sind dem Namen nach
Katholiken) und keinen Arzt. Die Gesetze sind die in Mau-
ritius gültigen, eine Verquickung des Code Napoleon mit
dem englischen Gcsetzbnche.
Herausgeber: Dr. R. Andree in Heidelberg, Leopoldstraße 27.
Druck von Friedrich Vieweg und Sohn in Braunschweig.
Bd. LX
Nr. 8
Brauns chwei g.
Jährlich 2 Bünde in 24 Nummern. Durch alle Buchhandlungen und Postanstalten
zum Preise von 12 Mark für den Band zu beziehen.
1801.
Korsika').
Don Ir. Johannes Hoefer.
Trotzig, verwegen den Groll der Elemente herausfordernd,
vom Sturm gepeitscht und zerklüftet, die schneebedeckten Häupter
majestätisch zu den Wolken erhebend, den Fuß in ein para-
diesisches Pflanzenkleid gehüllt: das ist das seltsame Korsika.
Und seltsam und eigentümlich, wie das Land, ist das Volk,
welches es bewohnt; kühn, unbeugsam, freiheitsliebend, hat
es Jahrhunderte laug seine Unabhängigkeit gegen fremde Ein-
dringlinge behauptet, hat es bis in die Gegenwart Sitten
und Zustände bewahrt, die sonst nur einer grauen Vergangen-
heit angehören.
Korsika ist durch und durch ein Gebirgstand. Nur
an der Ostküste ziehen sich schmale Ebenen entlang, sonst ge-
wahrt man nichts als eine einzige gewaltige, hochrageude
Bergmasse, „von der sich nur die hellen Häuser der Ortschaften
und wie dunkle Flecken die großen Wälder des Innern ab-
heben". Die Richtung der Gebirge ist im wesentlichen die-
selbe wie in Sardinien, und die völlige Übereinstimmung
der beiden Inseln in ihrem innern Ban läßt ans eine ur-
sprüngliche Verbindung derselben schließen.
Aber wenn die Bergmasse Korsikas auf den ersten Blick
auch einen sehr kompakten Eindruck macht, so ist doch die ge-
wöhnliche Angabe, daß dieselbe ein einziges, die Insel in
mcridionaler Richtung durchziehendes System bilde, nicht ganz
richtig; es lassen sich nach Toeppen vielmehr deutlich zwei
Systeme unterscheiden, die in mehr als einer Hinsicht von-
einander verschieden sind. Das kleinere und niedrigere dieser
beiden Systeme nimmt den Nordosten ein, vom Kap Corso
bis zum Tavignano, das Hauptsystem den übrigen Teil.
Die Grenzlinie tritt scharf genug hervor; sie wird durch den
Lauf des Tavignano, einen Teil des Gololaufes und den
Lauf des Ostricoui bezeichnet. „Diese Linie bildet einen tiefen
i) Benutzt sind: Gregorovius, Corsica, 3. Aust., 1878.
Biermann, Die Insel Korsika, 1868. Hugo Toeppen, Kor-
sika; Mitteilungen der Geogr. Gesellsch. in Hamburg, 1882 bis
1883, S. 1 bis 25. Die Abbildungen stammen aus der Schilde-
rung Korsikas von Gaston Buillier im Tour du Monde,
LXI (1891).
Globus LX. Nr. 8.
Einschnitt, und ihre Meereshöhe bleibt selbst in den Jochen
von San Quilico und Pietralba, die die beiden Systeme ver-
binden, beträchtlich unter der mittlern Höhe der gesamten
Insel zurück, die nach Lcipolds Berechnung 676 m beträgt
(Toeppen)."
Aber die Scheidung ist keine bloß orographische; auch der
geologische Charakter der beiden Systeme ist gänzlich ver-
schieden. Das Hauptsystcm besteht, mit Ausnahme der süd-
westlichen Teile, im wesentlichen aus Granit, der im Nordlvesten
durch eine ziemlich umfangreiche Porphyrinsel durchbrochen
wird; das nordöstliche System dagegen gehört der primären
Formation an und besteht vornehmlich ans Glimmerschiefer,
Talkschiefer und kristallinischem Kalk, vielfach durchbrochen
von Serpentin und ähnlichen Gesteinen.
Das nordöstlichste Gebirgssystem wird durch den
untern Lauf des Golo in zwei Teile zerlegt. Es erreicht
in dem Monte San Pietro bei Orezzo mit 1766 in seine
größte Höhe. Im Norden endigt es in der Halbinsel des
Kap Corso, welche so vollkommen von ihm ausgefüllt wird,
daß der Raum für die Küstenstraße größtenteils durch Spren-
gung der Felsen gewonnen werden mußte.
Das granitische Hauptgebirge streicht im allgemeinen
von Süden nach Norden, mit einer Ausbuchtung nach
Westen; es entsendet zahlreiche, in der Hauptrichtung von 91D
nach SW verlaufende Seitenäste. Rauhe, himmelanstrebcude
Berge bilden die Wasserscheide, deren mittlere Höhe man
mindestens zu 1700 ui annehmen kann, und die an den
meisten Stellen fast unübersteigbar ist. Auch die Pässe, unter
denen der 2029 in hohe Coll' della Scaglia, westlich vom
Monte Rotondo, der höchste ist, werden mit Ausnahme des
Passes von Bizzavona (s. unten) nur von Saumpfaden über-
schritten. Die ganze Insel wird durch diesen Kamm deutlich
und scharf in eine östliche und westliche Hälfte geschieden.
Seit den ältesten historischen Zeiten wurde diese Scheidung
in das Land diesseits und jenseits der Berge vorgenommen,
und der gänzlich verschiedene Charakter der Landschaft wie der
Bewohner rechtfertigt dieselbe vollkommen.
15
114
Dr. Johannes Hoeser: Korsika.
Auf der West Hälfte steigen die hohen, bewaldeten Berg-
rücken unmittelbar ins Meer hinab und bilden eine fort-
gesetzte Reihe von schroffen Parallelthälern, deren Mündungen
den stürmischen Westwinden preisgegeben sind. Die Folge
davon ist eine ähnliche Formation, wie wir sie bei dem gleich
gebildeten Skandinavien finden: die Westküste ist reich an
Buchten und Fjorden, die sich weit ins Land erstrecken und
von malerischen, wild zerklüfteten Felsen und Vorgebirgen
umlagert werden. Die bedeutendsten dieser Golfe sind die
von Caloi, Porto, Sagoua, Ajaccio und Valinca, die sämtlich
wieder mit kleinern Buchten ausgestattet sind, denen aber
durchweg eine vorgelagerte Ebene fehlt. Überall erheben sich
die Felsen schroff aus dem Meere und machen dadurch
umfangreichere menschliche Niederlassungen unmöglich. Nur
bei Ajaccio ist eine kleine Küstenebene vorhanden, Campo
d'Oro, das Goldfeld genannt, und diese hat in Verbindung
mit dem hier mündenden Gravone, dessen Thal einen Ver-
kehrsweg ins Innere bot, der Stadt zu ihrer größcrn Be-
deutung verholfen.
Ganz anders die Osthälfte. Hier dacht sich das Ge-
birge sauft und allmählich ab; die Gebirgszüge und Thäler
reichen nicht bis ans Meer, sondern weichen ziemlich weit
ins Innere zurück und lassen weite Ebenen auib Niederungen
frei, die sich in einer Länge von gegen 100 km, aber meist
nur wenige Kilometer breit an der Ostküste hinziehen und
als Ebenen von Biguglia und von Aleria unterschieden wer-
den. Sie sind nur mit Heide und Gestrüpp bedeckt und
bieten dem Auge einen traurigen Anblick. So großartig
romantisch die Westküste ist, so melancholisch eintönig ist die
Ostküste. Vergebens sucht man menschliche Wohnsitze; fieber-
schwangere Lagunen und Sümpfe, welche die ganze Küste be-
gleiten, machen diese Niederungen zu Brutstätten von Krank-
heiten. Nur im äußersten Norden und Süden springt das
Gebirge wieder unmittelbar an die See vor, und gerade hier
finden sich die beiden einzigen größeren Hafenstädte: Bastia
und Porto Vecchio.
Und doch sind gerade diese Ebenen der Ostküste die frucht-
barsten Gebiete der ganzen Insel, und man brauchte mir
Kanüle anzulegen und die Sümpfe auszutrocknen, um die
ganze Gegend in einen herrlichen Garten zu verwandeln. Es
zeugt von dem Scharfblick der Römer, daß sie Aleria, ihre
einzige Kolonie auf der Insel, gerade mitten in diesem Be-
zirk anlegten, und man muß sich wundern, daß die französische
Regierung die Kolonisierung desselben nicht schon lange in
Angriff genommen hat; sie würde sich gewiß besser lohnen,
als so manche Kolouisatiousvcrsuche in Afrika.
Die Entstehung dieser Ebenen bereitet der Erklärung
einige Schwierigkeiten. Natürlich wird man den Hauptgrund
darin zu suchen haben, daß das Meer im Osten von Korsika
iin allgemeinen flacher und weniger bewegt ist als im Westen.
Dazu kommt, daß gerade hier die größern Flüsse münden,
und daß diese auf beträchtliche Strecken hin die leichter
angreifbaren Steine des nordöstlichen Gebirgssystems durch-
brechen. Nun haben wir es hier aber nicht nur mit Alluvial-
land zu thun, sondern wir stoßen streckenweise auch auf dilu-
viale und selbst tertiäre Formationen. Es müssen deshalb
wohl außer den heute erkennbaren noch andere, jetzt ver-
schwundene Ursachen zur Bildung der Ebenen mitgewirkt
haben. Da, wie wir gleich sehen werden, Korsika auch seine
Eiszeit durchgemacht hat, so wäre vielleicht an die Thätigkeit
alter Gletscher zu denken.
Wenn somit die Küstenentwicklung ans der Westseite eine
außerordentlich größere ist als ans der Ostseite, so zeigt auch
der angrenzende Meeresboden eine entsprechend verschiedene
Gestaltung auf beiden Seiten. Denn während man im
Westen die Fünfzigmeterlinie oft nur 500 m vom Ufer findet,
ist sie von der Ostküste bis zu 6^/zkrn entfernt.
Es hängt dies damit zusammen, daß die Ostküste von
Korsika durch einen unterseeischen Rücken, der sich
nirgends tiefer als 100 Faden senkt, mit dem italienischen
Festlande in Verbindung steht. Die toskanischen Inseln sind
die zu Tage tretenden Reste dieser einstigen Vcrbiudungs-
brücke. Dagegen ist die Insel nach Norden zu von der Pro-
vence durchweg durch Tiefen von über U000 Faden getrennt.
Korsika ist seiner geologischen Struktur, wie seiner geogra-
phischen Lage (zwischen 41^ und 43° nördl. Br.), seinem
Klima, seinen Produkten und der Sprache und Geschichte
seiner Bewohner nach ein italienisches Land.
Bei diesem innigen geologischen Zusammenhange mit
Sardinien, Toskana und der benachbarten Eiseninsel Elba
sollte man von Korsika denselben Metallreichtum erwarten,
der jene auszeichnet. Nun ist Korsika wohl eine unerschöpf-
liche Schatzkammer der seltensten Gesteine, eine wahre Fund-
grube für den Geognostcn, aber an Metallen ist es über-
raschend arm. Zwar hat man zahlreiche Anzeichen von
dem Vorhandensein metallischer Minen entdeckt, von Eisen,
Kupfer, Antimon, Mangan und andern Metallen, aber diese
Minen haben immer nur eine höchst unbedeutende Ausbeute
geliefert. Nur hier und da sind einige Bergwerke in Betrieb,
und in Bastia und Porto Vecchio haben sich die schwachen
Anfänge einer Eisenindustrie entwickelt. Aber selbst diese
verwertet zum Teil fremdes Material; so werden z. B. in
der Hütte Toga bei Bastia hauptsächlich Erze verarbeitet, die
von Elba herübergeschafft sind.
Die höchsten Erhebungen der Insel fallen alle in das
Gebiet des Hauptsystems, und zwar mehr in den nördlichen Teil
desselben. Es sind mächtige, rauhe Granit- und Porphyr-
spitzen, die einen großen Teil des Jahres mit Schnee bedeckt
sind. Fast genau im Mittelpunkt der Insel liegt der Monte
Rotoudo (2625m), ans dessen Abhängen ein Volk von
Ziegenhirten in homerischer Einfachheit sein Dasein fristet.
Von seinem Gipfel genießt man einen Rundblick, der weit
großartiger ist, als ihn selbst der Montblanc zu bieten ver-
mag. Über die Berge und Thäler der Insel, die man fast
nach allen Seiten hin überschaut, schweift der Blick hinaus
ans die blauen Mceresfluteu, hinüber nach den toskanischen
Inseln bis zum italienischen Festlande, während von Süden
her die Schwesterinsel Sardinien und von Norden die Berge
Toulons herüberwinken. Meere, Inseln, Alpen und Apennin,
alles schließt dies Panorama ein und wird so zu einem der
schönsten Europas.
Nach der älteren Aufnahme Korsikas, welche 1770 bis
1791 ausgeführt wurde, hielt man den Monte Rotoudo für
den höchsten Punkt. Eine neue Aufnahme, welche in den
sechziger Jahren dieses Jahrhunderts vorgenommen wurde,
deren Resultate aber erst wenig in Bücher übergegangen sind,
hat ergeben, daß diese Stelle dem nördlicher gelegenen Monte
Cinto gebührt, der sich bis zu einer Höhe von 2710m erhebt
(s. gegenüberstehende Abbild.). Der Grund, weshalb man den
Monte Cinto bis dahin sozusagen übersehen hatte, ist darin
zu suchen, daß er weiter von den gewöhnlichen Berkehrsstraßen
entfernt liegt, und daß er weniger über seine Umgebung her-
vorragt als der Monte Rotoudo. Dieser hat keinen einzigen
Nachbarn von über 2500 m, während der Monte Cinto von
sieben über 2500 m hohen Spitzen umgeben ist, die er somit
nur um 200 m überragt. Der Monte Cinto und seine Ge-
nossen sind die Spitzen jener oben erwähnten Porphyrinsel,
während der Monte Rotoudo und mit ihm die übrigen zen-
tralen Erhebungen aus Granit bestehen. Übrigens liegen
beide, der Monte Cinto wie der Monte Notondo, nicht auf
dein Hauptkamme, sondern nahe demselben auf Seitenästen,
wie dies ja auch bei andern Gebirgen, z. B. dem Kaukasus,
der Fall ist.
Südlich vom Monte Rotondo erhebt der majestätische
Dr. Johannes Hoefer: Korsika^
115
Monte d'Oro (2391 na) seinen breiten Rücken, der den
Ansblick von ersterm Berge auf den südlichen Teil der Insel
versperrt (s. Abbildung S. 116). Er galt bisher für den
zweithöchsten Gipfel, ist aber seit der Vermessung jener Por-
phyrspitzen des Nordwestens ganz bedeutend im Range herab-
gedrückt. Noch weiter südlich endlich sind zu bemerken der
Monte Reuoso (2357 m) und der treffend nach seiner Gestalt
(Ambos;) benannte Monte l'Jncudine (2131 in).
Diese Bergriesen sind sämtlich einen beträchtlichen Teil
des Jahres mit Schnee bedeckt, aber von ewigem Schnee
kann bei dem Gebirge Korsikas gleichwohl keine Rede sein.
Die Gipfelhöhe des Monte Cinto entspricht nur gerade der
durchschnittlichen Höhe der Schneegrenze in den Alpen; diese
liegen aber beträchtlich nördlicher und sind nicht dem fast
wolkenlosen Sommerhimmel des Mittelmeeres ausgesetzt.
Nur an den Nordabhängen der höchsten Berge finden sich be-
ständig bedeutendere Schneemengen, die nur dann schmelzen,
wenn ans trockne Winter besonders heiße Sommer folgen.
Die größten Schneemassen trägt der Monte Rotondo, während
die steileren Spitzen der Monte Cinto-Gruppe dem Schnee
weniger Fläche darbieten. Hierin dürfte ein weiterer Grund
für die oben erwähnte Überschätzung des Monte Rotondo
zu suchen sein.
Eine Besteigung der Gipfel Korsikas bietet natürlich
nicht die Schwierigkeiten dar, die in den Alpen alljährlich
eine Menge Opfer an Menschenleben kosten. Immerhin ist
es doch keine bequeme Wanderung, wie etwa in den deutschen
Mittelgebirgen. An steilen Abhängen und unübersteigbaren
Ealacuccia und der Monte Cinto (Korsika). Nach einer Photographie.
Bergwänden fehlt cs durchaus nicht, und die Punta Paglia
Orbe, eine dem Monte Cinto benachbarte Spitze, fällt z. B. nach
Osten 600 bis 700 m tief mit einer Neigung von 75 Grad
ab und bildet so eine Wand, wie sie selbst die steilsten der
Alpengipfel nicht aufzuweisen haben. Zudem muß man be-
denken, daß es nirgends Wegweiser, Schutzhütten u. dcrgl.
und nur sehr wenig gebahnte Wege giebt.
Korsika hat auch seine Eiszeit gehabt, wie die Unter-
suchungen von Pareto, Collomb, Pnmpclly, Grandsaignes
und Tocppcn übereinstimmend nachgewiesen haben. In ver-
schiedenen Thälern der Insel finden sich deutlich erkennbare
Gletscherschliffe, sowie erratische Blöcke und Stirnmoränen;
und bei Bastia (wie ans Sardinien) hat man fossile Über-
reste einer Lagomysart (Lagomys alpinus) gefunden, die
jetzt nur noch in Sibirien vorkommt.
In den höchsten Teilen des Hanptgebirgssystems fehlt es
nicht an Hoch geb irgsseen, aber sie sind alle sehr klein.
Sie scheinen zum Teil dadurch entstanden zu sein, „daß die
Schuttmassen größerer Thäler die Ansgänge kleiner Seiten-
thäler abschnürten" (Tocppen S. 7). Die bedeutendsten der-
selben sind der See von Nino, aus welchem der Tavignano
entspringt, und der See des Monte Rotondo, der 300 m
unterhalb des Gipfels liegt; aber auch dieser ist nicht größer
als etwa der Feldsee im Schwarzwald.
Aus der ausgesprochenen Gebirgsnatnr Korsikas erklärt
sich von selbst die Beschaffenheit seines Flußsystems. Die
Flüsse sind durchweg klein und eilen mit starkem Gefälle dem
Meere zu. Die meisten sind überhaupt nur Gebirgsbäche zn
nennen, die im Winter mächtig anschwellen, aber im Sommer
nicht selten ganz versiegen. Kein einziger 'ist schiffbar oder
15*
Der Monte d'Oro (Korsika). Nach einer Photographie.
Dr. Johannes Hoefer: Korsika.
117
auch nur flößbar. Die bedeutendsten sind auf der Westseite
der Gravo ne und Taravo, auf der Ostseite der Goto
(84 km) und Taviguano (75 km). Die letztem beiden
entwickeln sich da, wo das Gebirge am weitesten von: Meere
zurücktritt und Raum für die Ebenen läßt. Fast alle Fluß-
thäler sind tief ins Gebirge eingeschnitten und geben dadurch
Veranlassung zu den großartigsten Landschaftsbildern. Allen
voran steht in dieser Beziehung das Thal der Resto nica,
welche in der Nähe des
Monte Notondo entspringt
und sich bei Corte in den
Tavignano ergießt. Zwi-
schen mächtigen Granit-
blöcken rauscht sic dahin,
während die Felswände zu
beiden Seiten sich in un-
glaublicher Schroffheit 600,
800, ja 1000 m über den
Boden des Thales erheben
und dabei, wo immer sich
nur ein Plätzchen bietet,
mit wild anfragenden Tan-
nen bekleidet sind. Auch
der Golo bildet, nachdem er
das breite Hochthal Niolo,
das er in seinem Oberlaufe
durchfließt, verlassen hat,
eine Thalschlucht, die sich an
Wildheit mit der der Re-
stonica messen kann, wenn
sie ihr auch an landschaft-
licher Schönheit nachsteht.
Von besonderer Wichtig-
keit sind seit alten Zeiten
die Thäler des Gravone
und Golo gewesen, weil die
Hauptstraße von Ajaccio
nach Bastia, wie auch die
neuerdings angelegte Eisen-
bahn ihrem Laufe folgt.
Aber wie schwierig der
Verkehr im Innern ist,
niag daraus entnommen
werden, daß diese Straße
im Paß von Vizzavona, süd-
westlich vom Monte d'Oro,
eine Höhe von 1145 m
erreicht. Und die Straße,
die aus dein Golothal nach
dem Golf von Porto führt,
erhebt sich im Paß von
Vergio sogar zu einer Höhe
von 1532 m; sie wird ge-
wöhnlich „Calanchenstraße"
genannt (s. Abbildung) und
ist nicht nur ein Meister-
werk der Wegbaukunst, son-
dern auch von hervorragender landschaftlicher Schönheit. Eine
Nachtwandernng bei Mondschein durch diese wilden, phan-
tastisch zerrissenen Klippen, mit dem Blick ans den silber-
hellen Golf gehört zu dem Grausigsten und Schönsten, was
man sich denken kann.
Das Klima Korsikas ist, von der ungesunden, sieber-
reichen Ostküstc abgesehen, ein herrliches; durch die hohen
Gebirge und die frischen Seewinde wird die Sonnenglnt an-
genehm gemäßigt, und wenn im Winter auch manchmal plötz-
liche Witterungswechsel vorkommen, so sind die Temperatur-
schwankungen doch sehr gering. Die mittlere Jahrestemperatur
beträgt an der Küste 17 bis 18° C., also etwa soviel wie im
südlichen Italien. Man kann eigentlich nur zwei Jahres-
zeiten: Frühling und Sommer, unterscheiden; denn selbst in
den Wintermonaten sinkt das Thermometer selten unter Null
und dann auch nur für einige Stunden. Schnee fällt in
den Küstengebieten fast nie. Mit entsprechender Abnahme
der Temperatur finden sich dieselben Verhältnisse bis zu einer
Höhe von etwa 500 bis
600 m über dem Meer.
Die zweite Höhenzone, die
man am besten von da bis
zu den letzten menschlichen
Wohnungen, d. h. bis zn
1000 oder 1100 m, rechnet,
hat schon deutlich unter-
scheidbar vier Jahreszeiten
und erinnert in seinem
Klima an das mittlere
Frankreich. Die darauf fol-
gende Waldregion hat be-
reits einen rauhen, schnee-
reichen Winter, während
man auf den höchsten Spitzen
die klimatischen Verhältnisse
von Nordeuropa wieder-
findet.
Von ganz besonderer
Milde ist das Klima der
Westküste, vor allem von
Ajaccio, „wo sich die gün-
stigen Bedingungen der be-
rühmten Riviera in einer
um mehrere Breitengrade
südlicheren Lage wieder-
holen" (Toeppen S. 8). Bei
einer mittlern Jahrestem-
peratur von 17,7" C. be-
trügt hier die Durchschuitts-
temperatur im Sommer
24,5" und im Winter 11,2",
d. h. so viel, wie bei uns
etwa im Mai. Die täg-
lichen Tcmperaturschwan-
kungen sind äußerst gering,
die Lnft ist ganz staubfrei
und von außerordentlicher
Reinheit, heftige Winde
sind sehr selten, die Preis-
verhältnisse noch ziemlich
mäßig: alles das macht
Ajaccio zn einem Winter-
aufenthalt für Brustkranke,
welcher der Riviera weit
vorzuziehen ist und neuer-
dings auch ja immer mehr
in Aufnahme kommt.
Die jährliche Regenmenge beträgt in Ajaccio 631 mm;
in den Gebirgen nimmt sie der Höhe entsprechend zu. Doch
sind die Sommermonate hier, wie im ganzen Mittelmeergebiet,
außerordentlich regenarm; in Ajaccio z. B. fallen in den drei
Sommermonaten nur sechs Prozent der gesamten Regen-
menge, und nicht selten regnet cs monatelang überhaupt nicht.
Auch an Mineralquellen ist Korsika ungewöhnlich reich,
und zwar sind es ans dem westlichen Abhänge der Haupt-
gebirgskette hauptsächlich schwefelhaltige, im Osten eisen-
haltige Quellen. Unter jenen ist die Schwefelsodaquelle von
118
Dr. Johannes Hoefcr: Korsika.
Guagno, am Westfuße des Monte Rotoudo-Massivs gelegen,
die bedeutendste, unter diesen nimmt die Eisenquelle von
Orezza die erste Stelle ein; sie übertrifft die berühmtesten
Eisenquellen Mitteleuropas, die von Spa und Schwalbach,
fast um das Doppelte an Eisengehalt. Gleichwohl wird sie
fast nur von einigen reichen Korsen besucht.
Das vorzügliche Klima in Verbindung mit einem äußerst
fruchtbaren Boden hat eine Üppigkeit und Mannigfaltigkeit der
Vegetation entwickelt, die vielfach an die Tropengegenden
erinnert. Ein erfrischender, balsamischer Blütenduft erfüllt
die ganze Atmosphäre und strömt weit ans das Meer hinaus
dem Ankömmling entgegen. Mit Recht sagte daher Napoleon
auf St. Helena, als seine traurigen Gedanken zu seiner schönen
Heimatsinsel zurückkehrten: „Alles war dort besser, bis auf
den Duft des Bodens; am Wohlgernch allein würde ich mit
geschlossenen Angen Korsika erkennen!"
In der ersten Vegctationszone nehmen die immer-
grünen Gewächse einen sehr breiten Raum ein. Bis zu
einer Höhe von 500, 600, ja 800 m sind alle Berge damit
überzogen, außer wo sie künstlich ausgerottet sind. Macchia
(frz. maquis) nennen die Korsikancr diese Gewächse, und
wegen der hervorragenden Häufigkeit derselben auf der Insel
ist der korsische Name auf diese Vegetationsform überhaupt
übertragen worden. Diese Macchia ist ein fast undurchdring-
liches Gewirr aus allen möglichen Arten von Pflanzen:
Erdbecrbäume, wilde Feigenbäume, immergrüne Eichen, Bux-
banm, Myrte, Heidekräuter, Spartium, Cistusrosen, Ros-
marin, Geranium, Lavendel, Brombeerbüsche, Waldrebe,
Stechwinde und andre machen die Hauptbestandteile aus.
Gewöhnlich bilden sie ein niedriges Buschwerk, das man,
anfrcchtstehend, weithin überblicken kann; aber stellenweise
erreichen sie auch mehrere Meter Höhe. Die Macchia war
einstmals ein willkonunener Zufluchtsort der korsischen Ban-
diten, so daß „in die Macchia gehen" geradezu so viel hieß,
wie Bandit werden.
Heilte wird die Macchia mehr und mehr ausgerottet,
nild weite Gegenden an der Meeresküste sind bereits in herr-
liche Terrassengärten nmgewandelt, in welchen Feigen, Mandeln,
Aprikosen, Pfirsiche, Birnen, Granatäpfel, Citronen, Apfel-
sinen u. st w. reifen. Von besonderer Bedeutung ist die
Weinkultnr, die besonders stark auf Kap Corso betrieben
lvird. Der Wein hat Ähnlichkeit mit Malaga und einigen
französischen Sorten. Jährlich werden auf 15 000 Im Wein-
land 300 000lil Wein geerntet.
Auch Tabak wird viel gepflanzt, da das französische Tabaks-
monopol fiir Korsika keine Geltulig hat. Daneben kommen
die Korkeiche uub der Maulberbaum ziemlich häufig vor und
werden besonders von südsranzösischen Unternehmern verwertet.
Zahlreiche tropische Gewächse sind eingeführt uub gedeihen
vorzüglich. Cactus opuntia und die amerikanische Agave
wachsen überall an warmen felsigen Orten. Die Agrumen-
knltur hat in einigen Gegenden, z. B. bei Ajaccio uub in den
Thälern von Kap Corso, eine ziemliche Bedeutung gewonnen.
Auf den Felsen am Meeresstrand spielt die Fächerpalme
lnit den Seewinden, und selbst die Dattelpalme gedeiht hin
und wieder an den geschütztesten Stellen der Küste.
Der eigentliche Charakterbanm Korsikas aber ist der Öl-
baum. Alle Hügel und Thäler, welche sich nach dem Meer
hinziehen oder dem Einflüsse desselben offen stehen, silid mit
Olivenpflanzungen bedeckt, welche stellenweise, wie in der
Balogna, zu förmlichen Wäldern werden. Bis 700, ja
manchmal sogar bis zu 1100 m trifft man den Baum, und
selbst vorübergehender Schneefall schadet ihm nichts. Jähr-
lich werden aus diesen Olivenpflanzungen von 10000 lla
gegen 400000 kg Öi gewonnen.
Und wo der Ölbaum nicht mehr gedeiht, da tritt die
Edelkastanie an seine Stelle; sie ist der zweite, noch un-
gleich bedeutendere Charakterbanm der Insel. Schon bei
300 bis 400 m Meereshöhe tritt sie auf, gelangt aber erst
in der zweiten Zone zur eigentlichen Entwicklung und bedeckt
hier alle Bergabhänge, soweit das Auge reicht, teils in lichten
Beständen, teils in dichten Waldungen. Ihre Bäume er-
langen dieselbe gewaltige Höhe und denselben enormen Um-
fang, wie die schönsten auf dem Ätna oder dem Apennin.
Ihre Höhengrenze füllt ziemlich genau mit der der mensch-
lichen Wohnsitze zusammen; 1000.rn kann wohl als die
mittlere Höhengrcnze angesetzt werden. Die Kastanie ist aufs
engste mit dem Leben und der Beschäftigung des Korsen
verknüpft. Ihre Früchte ernähren einen großen Teil der
Bevölkerung; Weizenbrot wird nur selten gegessen. Im
Oktober werden die Kastanien geerntet, getrocknet und ge-
mahlen; aus dem Mehl werden dann die verschiedensten
Speisen bereitet, vor allem die Polenta, jener feste, bräun-
liche, stark sättigende Brei, der meist mit Eier- oder Fleisch-
speisen genossen wird.
Diese bequeme Ernährungsweise hat das Volk erklär-
licherweise von einer intensivern Bodenkultur abgehalten,
ja hat geradezu eine unüberwindliche Abneigung gegen die
mühselige Thätigkeit des Ackerbaues erzeugt. Der Korse
ist zu stolz, nur seinen Acker selbst zu bestellen; er überläßt
das den Lucchesen, d. h. italienischen Arbeitern, deren all-
jährlich an 10000 von Lucca herüberkommen, um auf diese
Weise ihr Brot zu verdienen. Weizen und Mais sind die
beiden Getreidearten, die am meisten gebaut werden; ersterer
liefert 18-bis 30fachen, letzterer bis lOOfachen Ertrag.
Der Ackerbau reicht ungefähr genau so weit hinauf, wie die
Kastanie, doch tritt er in den höheren Gegenden an Umfang
schon sehr zurück.
An die Kastanienregion schließt sich nach oben hin als
dritte Zone die Region der Nadelholzwälder, welche haupt-
sächlich von der Schwarzkiefer (Pinus laricio) und der
Meerkiefer (Pinus uaaritiinus) gebildet werden. Vor allem
der Schwarzkiefer, die unsrer Waldkiefer ziemlich ähnlich
sieht, verdanken die korsischen Wälder ihre hohe Bedeutung und
ihren wohl verdienten Rnf. Sie gelangt zu ihrer größten
Entwickelung in den unermeßlichen Waldungen von Aitone
und Valdoniello, wo sie meist eine Höhe von 25 bis 30 ui
bei einem Durchmesser von 1 ui und darüber erreicht. Diese
Riesenbäume werden über den ColP di Vergio nach der West-
küste geschafft und dort von dem kleinen Hafen Porto aus
nach Genua verschifft, um hier zum Schiffsbau verwendet
zu werden.
Übrigens schwinden diese prächtigen Urwälder, welche die
Insel ehemals so dicht bedeckten, daß sie die Kolonisations-
Versuche der Römer vereitelten, in neuerer Zeit immer mehr
dahin. Jedes Jahr stecken die Hirten beträchtliche Teile der
Waldungen in Brand, um im Frühjahr frische Weide zu
haben.
Die obere Waldgrenze schwankt zwischen 1500 und
1900 na. An manchen Stellen wird sie bereits von der
Schwarzkiefer und Meerkiefer gebildet; an andern treten über
diesen noch Edeltannen und Buchen auf. In der obersten
Zone endlich trifft man nur noch niedriges Gebüsch und
zwar ist es der Wachholder, der am höchsten hinaufreicht.
Bon der Tierwelt Korsikas ist wenig zu sagen. Von
den Haustieren und dem gewöhnlichen Wild (Hirsche, Wild-
schweine u. s. w.) abgesehen, ist nur das Wildschaf, der
Muflon, bemerkenswert, der in den höchsten Gebirgsregioncn
noch sein Wesen treibt, aber eben so scheu und selten ist, wie
die Gemse in den Alpen.
Unter den Haustieren spielen Schaf und Ziege bei
weitem die größte Rolle und bilden für die Mehrzahl der
Bevölkerung den wesentlichsten Besitz. Bei der gebirgigen
Natur des Landes eignen sie sich am besten zur Zucht und
Chr. Nusser-Asport: Padre Armcntias Reise in der bolivianischen Provinz Caupolican.
119
bevölkern im Sommer die Bergwiesen bis in die höchsten
Regionen. Die Ziegen sind von sehr schönem Schlag; die
grobwolligen Schafe sind meist schwarz und mit vier, auch
sechs Hörnern versehen. Rindvieh wird überhaupt nur zur
Bestellung der Äcker und zum Austreten des Getreides be-
nutzt, und Kuhmilch verwertet man nur in der Nähe der
größern Städte, wo der Fremdenverkehr ein bedeutenderer
ist. Alle Haustiere der Insel aber zeichnen sich durch auf-
fallende Kleinheit aus, was besonders stark bei den Pferden
und Eseln hervortritt, die oft geradezu zierlich zn nennen sind.
Padre Armcntias Reise in der bolivianischen Provinz
Laupolican.
Von Lhr. Nusser-Asport.
II.
Das System, die Jndianerdörfer in Caupolican halb
weltlich, halb geistlich zu regieren, besteht darin, daß die ans
verschiedenen Stämmen sich zusammensetzende Bevölkerung in
den öffentlichen Dienstleistungen wöchentlich je am Sonntag
abwechselt. Jeder Stamm hat seinen Alkalde, Kommissäre,
Alquazil (Gerichtsdiener), Katechisten, Fiskal, Alkalde für
Wasserverteilung, Sakristane, ferner einen Oberalkalde oder
Kaziken und Polizeivorsteher; die beiden letztern bilden die
oberste Autorität des Dorfes. Die Angehörigen eines Stammes
halten sich nicht für verpflichtet, im Dorf zu wohnen, sondern
bloß in der Woche, wo sie Dienst haben, und selbst in dieser
versuchen sie auf alle mögliche Weise sich zu entfernen. Sie
lieben das Waldleben über alles, ernähren sich von wilden
Früchten, den Produkten der Jagd und der Fischerei, ver-
schmähen aber auch Mäuse, Fledermäuse, Frösche, Würmer
und andre Tiere nicht. Wenn sie sich einige Monate im
Wald aufgehalten haben, kehren sie sehr aufgeblasen zurück,
mit bemaltem Gesicht und die Arme und Beine mit dem
violetten Saft eines Bi genannten Apfels gefärbt, wie wenn
sie große Thaten verrichtet hätten. Auf das Tanzen sind sie
sehr erpicht und ist dies das Einzige, was sie an gewissen
Hauptfesten: Ostern, Trinidad (das Patronatsfest) und Frohn-
leichnam nach dem Dorfe zieht. Diesen Festen ist die Fast-
nacht beizufügen, bei welcher kein einziger fehlt. Ihre Tänze
sind die gleichen wie diejenigen der zivilisierten Distrikte: der
Chachipnli und der Callagnaya, auch der Morenos (im all-
gemeinen Rnndtänze mit Verbeugungen). Diese Tänze haben
sie in Apolo und Pelcchuco gelernt, wohin sie oft gehen. Von
der Provinz Mojos haben sie den Macheteros eingeführt, bei
welchem das gleiche Individuum Rohrpfeife und Trommel
handhabt, während zwei Tänzer, mit den Füßen stark ans
den Boden aufschlagend, unaufhörlich Verbeugnngen machen.
Sie haben einen eigenen Baile de los Barbaros (Tanz der
Wilden) genannten Tanz, bei welchem ein Indianer der Rohr-
pfeife monotone Melodien entlockt, der andre die Trommel
schlägt. An diesem Tanz beteiligt sich wer will, mit Aus-
nahme der Weiber. Sie stellen sich dabei in eine Reihe auf,
springen, unaufhörlich hüpfend, vorwärts, indem sie diese
Ordnung beibehalten und sich in Schlangcnwindnngen drehen.
Für diesen Tanz schmücken sie sich mit Bälgen aller Arten
von Vierfüßlern und Vögeln und sehenswert ist es, wenn
sie hüpfend und springend, 20 bis 30 an der Zahl, eine
kleine Hütte betreten, jeder an seinem Platz, ohne die Ord-
nung zn unterbrechen. Beinahe alle blasen ans der Pinquillo
genannten Rohrpfeife, auf der sie eine Reihe von Melodien,
die sie in Mojos gehört haben, spielen.
Jeder Stamm hat seine Musiker, die wöchentlich für t>en
Kirchendieust abwechseln, gerade wie die andern Dienstpflich-
tigen. Ihre Instrumente sind Geigen, von denen einige im
Dorfe selbst angefertigt sind, Rohrpfcifen und Bässe, welche
in der Form von zwei Varas laugen Sprachrohren aus dem
Blatt der Cusi genannten Palme angefertigt werden; ihr
Hauptinstrument ist die Trommel (Bombo), ohne welche die
Musik keinen Wert für sie hätte. Ihre Hütten sind das arm-
seligste, was man sich einbilden kann. Die Alkaldes und
Sklaven (siehe weiter unten) ausgenommen hat niemand
Tisch oder Stuhl, und noch weniger Bettstellen oder Guarachas,
ans welchen man schlafen könnte. Alle schlafen auf dem
Boden, auf einer Art Matte von Charo oder Chnchio (Art
wilden Rohrs) und nicht alle besitzen eine Decke. Das Weib
kann den ganzen Hausrat in einem Korb forttragen, denn er
besteht bloß aus einem Kochtopf, um ihre Bananen zu kochen,
einer Spindel, um zu spinnen und einem Stiick weißer Erde,
um die Spindel damit einzureiben. Ihre Kleidung besteht
aus einem ärmellosen Hemd, das bei den Weibern bis auf
die Füße reicht, bei den Männern kaum bis zum Knie; das-
jenige der Weiber ist aus rohem, weißem oder bedrucktem
Baumwollstoff, das der Männer aus rohem BaumN'ollstoff
(Toeuyo), hier und da aus weißem Wollstoff, den die Weiber
anfertigen. Die Männer tragen keine Hosen. Die ursprüng-
liche Bevölkerung des schon vor 1756 gegründeten Tnmn-
pasa setzte sich aus Tacanas, Marcanis, Sapurunas, Pnmai-
nos, Toromanos, Araonas und Chilliuvos zusammen. Sie
glaubten an einen Gott, Schöpfer und Herr des Weltalls,
der den Berg Caquiahuaca vergöttlicht und einen Schutzgott
gleichen Namens darauf gesetzt hatte. Die Toromanos kamen
im Jahr 1780 von ihren Dörfern, um diesen Berg zu be-
suchen und schleppten bei dieser Gelegenheit ein „Edutzi" ge-
nanntes Götzenbild mit sich fort, damit es sie zur Glückseligkeit
geleite, denn Edutzi will sagen: der Führer. Die Tumupa-
cenos glaubten an die Unsterblichkeit der Seele, das jüngste
Gericht, die ewige Glückseligkeit und die Hölle. Gott heißen sie
Edutzi; Seele Enidu; jüngstes Gericht Ui pan zine lieatusu;
Glückseligkeit Piosu eaua (dies klingt aus Spanische an und
hat nichts primitives. Anmerk, von ))£. Armentia); Hölle
Ichaunasa cuati. Der Bidui paititi ist der Götze, welchen
die Tnmupacenos verehrten und von dem sie glaubten, daß
er am Tage des Gerichts komme, um zn belohnen oder zu
strafen. Diese Notizen sind dem alten 1756 angefangenen
Taufregister entnommen. — An ihren heidnischen Gebräuchen
und Vorstellungen hängen aber die Tumnpacenos noch heute.
Japurumabati will unter ihnen besagen: seine alten Gebräuche
befolgen.
Sie verlangen vorn Padre bloß, daß er sic mit Feierlich-
keit taufe, verheirate und begrabe und an den Hauptfcstcn
seinen Funktionen nachkomme, während sie sich mit Tanz und
Trinkgelagen dabei beteiligen. Armentia hat bei einer solchen
Gelegenheit mehr als 300 Krüge voll Chicha (Maisbier) ge-
zählt, jeder Krug etwa 60 Flaschen haltend, und alles dies
war innerhalb dreier Tage geleert. Obwohl sie nun viel und
starke Chicha trinken, berauschen sie sich doch nicht; in 21/2 Jah-
ren sah er nie eine Schlägerei infolge von Betrunkenheit.
120
Chr. Ausser-Asport: Padre Armentias Reise in der bolivianischen Provinz Caupolican.
Wenn einer stirbt, so versetzen sie, sobald der Leichnam
entfernt ist, die Thür an die andere Seite der Hütte, damit
sie der Verstorbene nicht mehr finde. Die Witwe muß während
acht oder vierzehn Tagen nach Mitternacht ausstehen, um die
Hütte zu umkreisen und um mit Jammergeschrei und Trauer-
gesängen alles, was dem Mann gehörte, zu zerstören und zu
vergraben. Sie glauben, daß, so lange der Leichnam nicht
in geweihter Erde ruhe, die Seele leidend im Feld umher-
irre. Sie unterwerfen sich deshalb allen Opfern und An-
strengungen, uni ihren Verwandten kirchlich Begräbnis zu
verschaffen, selbst wenn der Todesfall sich ans beträchtliche
Entfernung vom Dorfe ereignet hat.
Sie haben im Walde ihre heiligen Stätten, wo sie all-
jährlich verschiedene Male ihre alten Gebräuche feiern, ver-
heimlichen sie aber sorgfältig vor dem Missionar. Tänze
und Trinkgelage, die immer mit der krassesten Sittenlosigkeit
endigen, spielen dabei die Hauptrolle. Das Ganze wird vom
Baba geleitet, d. h. einem Indianer, welcher unter ihnen das
Amt eines Priesters versieht. Sie haben nie Götzen in der
Figur von Menschen oder Tieren gehabt, nur rohe Gegen-
stände aus Stein oder Holz, ebensowenig hat man Spuren
vom Sonnenkultus bei ihnen angetroffen, sie haben also in
dieser Hinsicht nichts mit den wahren von den Jncas be-
herrschten Peruanern gemein. Ihr Kultus richtet sich nicht,
wie sie sagen, an ein Wesen, das Gott ist, sondern an eines,
das mit Gott spricht und ihm alles anzeigt. Sie glauben
an Hexerei und Zauberei, man muß aber dabei nicht außer
Acht lassen, daß bei ihnen vergiften und behexen die gleiche
Sache ist. Häufig benutzen sie den Saft von Kräutern und
Pflanzen zu verderblichen Zwecken.
Es ist bedauerlich, daß diese Indianer, die doch auch mit
guten Eigenschaften begabt sind, sich gegen jede Art von Zivi-
lisation hartnäckig wehren. Wenn der Missionar sie ermahnt,
ihre Kinder in die Schule zu schicken, so antworten sie: Wie,
willst du, daß wir uns unserer Kinder berauben, um sie dir
zu schenken? Wenn er sie aufforderte, die Vorschriften der
Beichte in der Charwoche zu erfüllen, gaben sie lachend zur
Antwort: Der Padre möchte gern unsere Sünden kennen
lernen. Warum sollen wir sie ihn: auch gestehen?! Im
Übrigen sind sie stark und stink und lernen mit Leichtigkeit
lesen und schreiben, besitzen für Musik Geschmack und Anlage,
sind geschickte Maurer und Zimmerleute u. s. w. Die Weiber
spinnen und weben, fertigen auch Töpferwaren aller Art an,
für welche sie einen besondern Ataruru genannten Thon ver-
wenden, der mit Rindsfctt viel Ähnlichkeit hat. Die Nahrung
besteht hauptsächlich ans Maniok und Bananen.
Von Tnmupasa aus genießt man eine herrliche Rund-
sicht. Der Sonnenaufgang bietet ein Schauspiel dar, wie es
selten zu erblicken ist. Armentia sah häufig neun bis zehn
Gewitter an verschiedenen Punkten, während dazwischenliegende
Striche das heiterste klarste Wetter hatten. Aber diese Vor-
teile wiegen die Nachteile nicht auf, von denen sie begleitet
sind. Sein Klima ist gesund, aber zuweilen wehen starke
Winde, welche die Hütten zusammenreißen. Um das Dorf
zieht sich ein Pajonal (mit hohem Rohrgras bewachsene Fläche),
den man jedes Jahr abbrennen mußte, um ihn zu erhalten
und den wenigen Milchkühen und Maultieren der Ortschaft
Futter 31t gewähren. Die Furcht der Indianer vor den
öftern Feuersbrünsten, welche sie heimsuchten, ist aber so groß,
daß sie den Pajonal seit 1868 nicht mehr abbrennen lassen;
er nimmt daher fortwährend zu, und der Tag ist nicht weit,
wo das Gebüsch bis zum Dorf vordringt.
Die Padres sorgen, da die Kirche kein Vermögen besitzt,
für den Schmuck des Gotteshauses und die zum Kultus ge-
hörigen Gegenstände. Indianer, welche Sklaven genannt
werden, stellen die Beleuchtung; es sind ihrer 24, zwei für
jeden Monat. Um sich Wachs zu verschaffen, gehen sie in
Begleitung ihrer Familien und Verwandten auf vier bis fünf
Monate in den Wald, und wenn sie zurückkommen, lassen sie
das Wachs durch die Sakristane reinigen, welche sie während
zwei Tagen mit Essen und Trinken zu verköstigen haben.
Um die Kerzen zu machen, müssen sie die gleichen Sakristane
weitere zwei Tage mit Essen und Trinken versorgen, und
wenn sie schließlich die Kerzen nach der Kirche bringen, was
am Samstag vor dem ersten Sonntag im Monat geschieht,
halten sie am Samstag und Sonntag das ganze Dorf mit
Essen und Trinken frei. Hierfür ist ein Dutzend Weiber
schon vom vorhergehenden Mittwoch an thätig, indem sie
Chicha zubereiten; am Samstag früh aber stellen sie eine
Batterie von ungeheuren Kochtöpfen auf, in welche sie Fleisch-
stücke vom Affen, Jabali, Tatu oder Armadill, Tapir, Ameisen-
bären, in einem Wort von allen Vierfüßlern oder Vögeln
werfen, welche die Indianer einen Monat vorher auf der
Jagd erbeuten konnten. Diese Stücke werden, um sie haltbar
zu machen, gebraten.
Man füllt die Töpfe vollends mit Reis, Maniok und
Bananen an und läßt das Ganze bis Sonntag früh kochen.
Am Samstag werden die Kerzen mit Musik in die Kirche
gebracht, dann beginnen die Tänze, welche erst aufhören, wenn
auch der ganze Chichavorrat erschöpft ist, spät Sonntag abends.
Am Sonntag nach der Messe und Prozession kommen alle
Weiber mit großen Schüsseln, um von den zubereiteten Speisen
ihren Anteil zu erhalten und mit nach Hause zu nehmen.
Während dieser Zeit ist die Hütte der Sklaven voll von
Leuten. Diese halten sich für die Edelsten des Dorfes und
sind auf ihr Amt sehr stolz. Sie wenden das ganze Jahr
daran, ans unreinem Wachs eine Anzahl von Kerzen zu
fabrizieren, welche rauchen und glimmen, statt zu brennen
und zu leuchten. Es ist den Padres nie gelungen, diese Ge-
bräuche auszurotten. Die Indianer sind so faul und sorg-
los, daß es wenige giebt, welche Hühner oder Schweine auf-
ziehen, um für den Fall von Krankheit eine bessere Nahrung
zu haben. Ebensowenig pflanzen sic Reis au, und ihr Mais
ist bis Anfang Juni zum Frohnleichuamfeste in Chicha auf-
gebraucht.
Die herrschenden Krankheiten sind die Dysenterie, die
von Dezember bis März wütet; es hat Jahre gegeben, wo
allein mehr als 90 Personen in diesen vier Monaten an
dieser Krankheit gestorben sind; die Pocken, welche zuweilen
auftreten und viele Opfer fordern (ihr Erscheinen flößt den
Indianern den größten Schrecken ein); die Espundia, ein
Geschwür, an welchem diejenigen sterben, bei denen es Nase
und Mund ergreift. Wechselsieber kennt man in Tnmupasa
nicht. Lungenentzündungen und Lungensucht sind in der Zeit
der Südwinde, von Mai bis Juli häufig, ebenso Keuchhusten.
Achtzehn Legnas von Tnmupasa liegt die Ortschaft Jsia-
m a s. Die ersten zwölf Legnas ist der Weg sehr angenehm;
er führt am Abhang eines Hügelzuges hin und ist stets
schattig, weil er mitten durch den Wald geht. Beinahe von
Legua zu Legua stößt man auf Bäche kristallhellen Wassers,
welche, auf den Höhen entspringend, nach Osten dem Beni
zufließen. In der Regenzeit ist es eine mühsame Aufgabe,
diesen Weg zurückzulegen, wegen der sumpfigen Stellen, die
sich in der Nähe des Tarene bilden und der Gefahr, welche
das Überschreiten des Tarene, des Cunahuaca und des Tequeje
mit sich bringt. Jsiamas liegt unter 13° 32' südl. Br.
und 70° 53' westl. L. von Paris, 380 m über dem Meere
und wird bewohnt von Tacanas, Marcanis, Sapurnnas,
Wawayanas, Pariamas, Araonas und Toromanos, letztere
vom Madre de Dios stammend, den sie Mann eua nennen.
Die Ortschaft liegt in einer großen Ebene, zwei Legnas von
den Ausläufern des erwähnten Höhenznges auf dem linken
Ufer des Jtaca; zweihundert Familien mit 1000 Seelen be-
völkern sie. Die Sprache ist das Tacana. In der Umgegend
Chr. Nusser-Asport: Padre Armentias Reise in der bolivianischen Provinz Caupolican.
121
befinden sich viele für die Rindvieh- und Pferdezucht geeignete
Pajonales. Der Viehbestand auf den verschiedenen, drei bis
sechs Leguas von der Ortschaft entfernten Estancias mag sich
auf 5000 Kühe und Ochsen und 150 Pferde belaufen. Der
Jtaca stießt in den Tegneje, er kann aber nicht befahren
werden, obschon er ziemlich wasserreich ist, denn an einem ge-
wissen Punkt breitet er sich aus und bildet eine Art von
See oder Curichi voller Vegetation, welche die Boote nicht
dnrchläßt. Einige Leguas im Norden von Jsiamas ist der
Undumo wasserreicher als der Tegneje, aber auch nicht schiff-
bar, weil Palissaden (aufgeschwemmte Baumstämme) sein Bett
sperren und beide Ufer in der Gewalt der feindlichen Gua-
rapos sind. Die Jsiamenos müssen sieh daher ans dem
Tarene oder Enapnrera, drei Tagreisen von Jsiamas, ein-
schiffen. Die oberen Teile dieser beiden Gewässer sind durch
Palissaden gesperrt. An ihren Ufern wächst der Kakao im
Überfluß wild. Diese Frucht reift im Januar, und es ist
sehr sonderbar, daß sic an den Ufern des Beni, vom Madidi
bis zum Norden und am Madre de Dios drei bis vier Monate
später, im März und April, reift. Der größte Teil dieses
Kakao geht verloren oder es fressen ihn die Affen, denn die
Indianer sammeln höchstens 75 bis 100 Pfund für die
Familie davon ein.
Weder in Jsiamas noch in Tumupasa weiß man etwas
von Gold- oder Silberminen. Ein Franzose zwar, Namens
Rossignol, der vor Jahren in Tumupasa lebte und Expedi-
tionen an die Quellen des Enadere an den Fuß des erwähnten
Cagniahnaca machte (drei bis vier Leguas von Tumupasa),
soll dort Silbererze gefunden haben. Auf seinen Ausflügen
war er nur von zwei Indianern begleitet, die er stets an
einem bestimmten Punkt zurückließ. Eines Tages, als er
länger als gewöhnlich ausblieb, forschten die erschrockenen
Indianer nach ihm und fanden ihn, seine Flinte zu seinen
Füßen, tot mit einem Schuß durch den Kopf. Häufig das
Ende von Europäern in solchen von der Welt abgeschnittenen
Gegenden. Die Erinnerung an eine zivilisiertere Lebens-
weise, der Überdruß an einem verfehlten Dasein führen sie
zum Selbstmord. Der Arzt Coldwell ließ sich im Jahre
1871 von den beiden Indianern an die von Rossignol be-
suchte Stelle führen, fand zwar keine Spur von Silbererzen,
Waschgold dagegen überall, jedoch nur in so kleinen Mengen,
daß eine ernstliche Ausbeutung nicht lohnte.
Achtzehn Leguas südöstlich von Tumupasa liegt, ans dem
linken Ufer des Beni, San Buenaventura, 14026' südl. Br.
und 70" 24' westl. L. von Paris, etwa 300 m iibcr dem
Meer. Der Weg dahin führt durch Wald, am Abhang des
letzten Höhenzuges; auch hier begegnet man bei jedem Schritt
kristallhellen Bächen, die in den Verzweigungen des Höhen-
zuges entspringen und nach einem Lauf von vier bis zwölf
Leguas sich in den Beni ergießen, da letzterer von San
Buenaventura an mit den Gebirgsausläufern einen Winkel
bildet, dessen Scheitel in San Buenaventura selbst ist. Diese
Ortschaft wird von Indianern aus Tumupasa und Jsiamas
und zwei oder drei Honoratioren (Vecinos) bewohnt. In
ihrem Hafen finden sich häufig Mosetenes, Mojos und Taca-
nas ein, weil hier der wichtigste Transitpnnkt für die Ver-
bindung von Caupolican mit dem Beni ist.
Um die für eine Flußreisc nötige Verproviantierung zu
vervollständigen, ist man gezwungen, über den Beni zu setzen
nach dem ans dem rechten Ufer liegenden Rurenabaqne, welches
den Hafen des von ihm acht Leguas entfernten Repes vorstellt.
Repes liegt unter 14° 4' siidl. Br. und 70° 18' westl. L.
von Paris. Der Weg zwischen diesen beiden Punkten ist
recht schlecht und sumpfig. Nicht ungefährlich ist das Über-
schreiten der aus Holzstämmen angefertigten Brücken von
Suapi und Tnrncuru, welche eine große Lagune oder Curichi
durchschneiden. Die ersten fünf Leguas ziehen sich durch den 1
Globus LX. Nr. 8.
Wald hin, die drei andern über Pajonales. Das zu Anfang
des vorigen Jahrhunderts durch die Jesuiten gegründete
Repes liegt 330 m über dem Meer und ist von einem Cn-
richi umgeben, dessen Wasser zum Trinken benutzt wird, ob-
schou sich Menschen und Tiere darin baden. Die Einwohner
sind Maropasindianer, deren Sprache mit derjenigen von
Tumupasa und Jsiamas so verwandt ist, daß an einem ge-
meinschaftlichen Ursprung nicht gezweifelt werden kann. Die
indianische Bevölkerung ist ziemlich bedeutend, trotzdem viele
nach den Kantschukdistrikten ausgewandert sind. Auch die
Zahl der Honoratioren (Vecinos), deren Hauptbeschäftigung
die Viehzucht ist, ist beträchtlich. In letzterer vornehmlich
beruht der Reichtum des Ortes; unglücklicherweise ist die Aus-
fuhr sehr schwierig und da sich das Vieh so sehr vermehrt,
so lvird es gerade der Überfluß sein, der schädlich wirkt.
Heute, lvo es so viel Vieh giebt und keine Knechte zu haben
sind, um es zu hüten, fängt es an, sich zu verlaufen und zu
vermengen, da es nicht mehr möglich ist, den jährlichen Zu-
wachs zu verzeichnen. Zn diesen Übelständen gesellt sich ein
andrer, größerer. Im Jahr 1857 kam von Brasilien eine
Seuche, welche die Maultiere und Pferde erfaßte, hauptsächlich
die letzteren. Seither tritt sie alle drei bis vier Jahre im
Distrikt Mojos auf, wodurch alle Pferde unfehlbar zu Grunde
gehen, die doch so notwendig sind, um das Vieh zu umreiten
und zusammenzutreiben, das einzige Mittel, mit es zu zähmen
und zahm zu erhalten. Heute wird in den Estancias nicht
mehr gemolken, folglich giebt es keinen Käse, der zur Zeit,
als das Vieh seltener war, im Überfluß zu haben war. Äußer-
einigen Stücken, die jährlich nach Apolo ausgeführt werden
und einer Anzahl, die man schlachtet und trocknet (Charqne).
Für den Verbrauch in den Kautschukdistrikten des Beni und
Madre de Dios hat das Vieh absolut keine Verwendung.
Das Spinnen und Weben, in welchem sich früher alle
Ortschaften von Mojos so sehr auszeichneten, ist ganz ver-
schwunden. Kaum, daß einige Hängematten (Hamacas) für
den Hausgebrauch angefertigt werden und selbst der größere
Teil davon kommt aus Brasilien. Früher wurde auch sehr
guter Zucker in großen Mengen fabriziert, der billig (sechs
Mark für 25 Pfund) verkauft wurde. Diese Industrie ist
wie die andern aus Mangel an Arbeitskräften und infolge
der Erhöhung der Arbeitslöhne sehr zurückgegangen; jetzt ist
es schwierig, sich Zucker zu verschaffen und nie kostet er weniger
als 18 Mark die Arroba (25 Pfund).
Die Anwerbung von indianischen Ruderknechten ist trotz
des hohen Lohnes, den man ihnen heute bezahlen muß, mit
vielen Schwierigkeiten verknüpft. Einerseits gehen sie nicht
gern von Haus weg, andrerseits ziehen sie die gewinnbringendere
Arbeit in den Kantschukdistrikten vor. Es ist nnglanblich,
mit welchen Schwierigkeiten man für Spedition von Pele-
chuco nach dem Hafen von San Buenaventura zu kämpfen
hat. Bis Apolo gehen Maultiere mit sechs Arrobas Last.
Von Apolo zum Hafen geht alles auf dem Rücken von
Trägern, die sich nicht über zwei Arrobas aufladen (die In-
dianer von Apolo sind aus Furcht vor der Espundia nicht
nach Tumupasa zu bringen). Die Fracht wird durch das
tote Gewicht der Verpackung wenigstens um ein Fünftel ver-
teuert. Die Indianer von Tumupasa, ans die man so sehr-
angewiesen ist, verkommen jeden Tag mehr.
Nachdem Armentia mit vieler Arbeit und Geduld endlich
die nötige Mannschaft zusammengebracht hatte, schiffte er sich
in San Buenaventura ans einer einem Deutschen, Herrn
Fried. Clanssen (Vertreter des Hauses Braillard Fröres in
Arequipa), gehörigen, mit 16 Leuten bemannten Barke ein,
die eine Tragfähigkeit von 130 Zentnern hatte und ein Vara
tief im Wasser ging. Die Schiffahrt ans dem Beni
stößt in diesen oberen Regionen noch auf viele Hindernisse.
Schon nach \l/a Stunden saß die Barke zwischen den
16
122
Chr. Nusser-Asport: Padre Armentias Reise in der bolivianischen Provinz Caupolican.
Mündungen der Zuflüsse Calgene und Tuihuapa fest
und konnte den ganzen Tag. nicht flott gemacht werden.
Der Fluß hatte, wie Sondierungen ergaben, in der gan-
zen Breite nicht über dreiviertel Varas Tiefe. An der
Flußschnelle gegenüber der Mündung des Tnihnapa angelangt,
war man, nachdem mit dem Boot die ganze Flußbreite son-
diert worden war, genötigt, die Ladung ans Land zu bringen
und dort auf die Entfernung von einem Kilometer weiter-
znschaffen. Es ist dies die schlimmste aller Schnellen, denn der
Fluß breitet sich sehr aus und ist voller Baumstämme. Unter-
halb dieser Schnelle hört der Felsengrnnd auf. Dagegen
raunte sich an diesem Punkt die Barke ans einer Sandbank
fest und bei den Bemühungen, sie flott zu machen, ertrank
einer von der Mannschaft. Ans der linken Flußseite, einer
oberhalb des Hafens Salinas liegenden-Insel gegenüber,
wurde übernachtet. Am folgenden Morgen wurde der Hafen
Salinas nach 11/2 ftüubiger Fahrt erreicht.
Salinas liegt unter 14" 16' s. Br. und 70" 22' w. L.
(von Paris) nordwestlich von Reyes, von dem es 4^ Leguas
entfernt ist. Der Weg dahin geht zur Hälfte durch den Wald,
zur Hälfte durch Pajonales. Der durch den Wald führende
Weg ist sehr sumpfig, da die Sonne nie durchdringt, um die
Wasserlachen auszutrocknen. Bei großen Flußanschwellungen
wird er auf eine beträchtliche Strecke zwei Varas tief unter
Wasser gesetzt. Nach diesem Hafen, wie nach Rnrenabaque,
werden die Waren von Reyes auf Karren befördert, die elf
Zentner laden; oft ist es nötig, drei Paar Ochsen vorzuspannen,
um sie durch die aufgeweichten Wege zu bringen, wo sie zuweilen
bis an die Achsen einsinken. Die Fracht beträgt für ein
Arroba 60 Zentavos. Der Weg ist mit zerbrochenen Jochen,
Deichseln u. s. w besät, denn wenn ein Strick, was oft vor-
kommt, zerbricht, so muß es an Ort und Stelle ersetzt wer-
den; alle Stücke sind ohne Ausnahme aus Holz.
Nur die ersten fünf Leguas flußabwärts zurückzulegen,
waren 3‘/2 Tage nötig. Der Fall des Flusses von San
Buenaventura bis Atamaraui ist beträchtlich, ungefähr 15 m.
Bei jeder Biegung breitet sich der Beui auf eine Breite von
500 bis 600 irr aus, verteilt sich in verschiedene Arme, hat
eine sehr starke Strömung, die sehr veränderlich ist und ist
mit ungeheuren Baumstämmen besät. Die Fahrt ging ohne
Unterbrechung bis gegen Abend, wo auf dem rechten Fluß-
ufer genächtigt wurde. In der Nacht entflohen zwei Knechte;
es war überflüssig, die Zeit mit vergeblicher Verfolgung der
Ausreißer zu verlieren. Am 23. morgens war die Mündung
des Sayuva 130 58' südl. Br. erreicht. Saynva ist der
Hafen von Tumupasa, von dein er zehn Leguas entfernt ist.
Um 2 Uhr Nachmittags zeigte das Thermometer 36 Centi-
gradc im Schatten (in der Kajüte). Wieder entwich in der
Nacht ein Knecht, der ein feines Jagdgewehr mit Munition,
Eigentum Armentias, mitlaufen ließ. Da drei entflohen
waren und einer ertrunken, so mußte jetzt jedermann Boots-
dienste verrichten. Nach einstüudiger Fahrt war die Mün-
dung des Tareue erreicht; sowohl ober- als unterhalb dieses
Flusses breitet sich der Beni wieder bedeutend aus. Drei
Stunden wurden verloren, um die Barke, die aufgefahren
war, wieder in tieferes Wasser zu bringen. Auch am folgen-
den Tage wurden 11/2 Stunden verloren, um die Barke von
einer Untiefe weg zu bringen. Am 26. war die Mündung
des Enapurera Mittags 12 Uhr erreicht, am 27. diejenige
des Undumo. Dieser Fluß ist sehr wasserreich und könnte
auf einige Tagreisen mit Barken befahren werden zur Ver-
bindung mit Jsiamas, wenn die Schiffahrt nicht durch die
Guarapos verhindert würde, die im Besitz der beiden Ufer
sind, an welchen auch schon die Syplionia elástica in einzelnen
Exemplaren auftritt. Am 28. wurde die Mündung des auf
der rechten Seite zufließenden Rio Negro erreicht, der ver-
stopft war. Dieser Fluß, wenn er überhaupt diese Bezeich-
nung verdient, entspringt der Lagune Rogagua im Nordwesten
von Reyes, fließt parallel mit dem Beni und ergießt sich in
ihn unter 13° südl. Br. In seiner Nähe breitet sich der
Beni sehr aus, sein Grund ist sandig, weshalb er ohne Unter-
laß seinen Lauf verändert. Seine Gewässer waren voll-
ständig gestaut, obwohl der Beni sehr niedrig war.
Weiter den Fluß hinab standen die Pajonales an beiden
Ufern in Feuer, es war kein Zweifel, daß die Wilden sie
angezündet hatten. Auf dem linken Ufer halten sich Gnara-
yos auf, auf dem rechten lassen sie sich von niemand sehen,
man weiß daher nicht, welchem Stamm sie angehören. Am
30. war die Mündung des Vira erreicht, welche den Hafen
von Cavinas bildet. Ein furchtbarer Südstnrm mit Regen
zwang die Expedition ans der Weiterfahrt, am linken Ufer
anzulegen, wo sie frische Spuren von Wilden entdeckte. Der
folgende Tag bringt die Reisenden nach U/zstündiger Fahrt
nach Santa Rosa, wo in der ganzen Flußbreite eine Felsen-
bank ansteht, aber an beiden Seiten Kanäle offen läßt. Bon
hier bis zur Mündung des Madidi treten genug Felsenbänke
auf, hauptsächlich ans dem linken Ufer; aber sie sind nur ge-
fährlich, wenn der Beni sehr niedrig ist. Von San Buena-
ventnra bis zum Madidi zählt inan 67 Legnas. Die Expe-
dition legte sic in 13 Tagen zurück; wenn der Fluß hoch ist,
nimmt die Reise höchstens sechs Tage in Anspruch. Die
Mündung des Madidi liegt unter 12" 33' südl. Br. Nach-
einander werden Saguasepere, Todos Santos, wo wieder ein
Felsenriff sich durch den Fluß zieht, und Carmen passiert und
in San Antonio genächtigt. Hier tritt nochmals eine Stein-
bank auf, ist aber bloß bei niedrigstem Wasserstande sichtbar.
An der Lagune von Narnru, die in den Beni abfließt, stand
ursprünglich das Dorf Cavinas. Bei Natividad tritt wieder
eine Felsbank am rechten Ufer ans. An dem la Olla (der
Topf) genannten Punkt blieb die Barke stecken; es bedurfte
großer Anstrengungen, um sie flott zu machen. Nach Passierung
von Sinnsinn machte die Expedition auf dem sich breit aus-
dehnenden Flußufer de la Asunta Rast. Am 3. Oktober saß
die Barke bei San Inan eine Stunde lang fest, passierte dann
Santo Doiningo, California und San Lorcnzo, wo ein Süd-
sturm mit Regen zum Anhalten zwang. In San Franzisko
wurde übernachtet. Alle diese erwähnten Punkte sind Bar-,
racas, d. h. Etablissements, von welchen ans die Kautschuk-
gewinnung betrieben wird. Am 4. Oktober wird San Lorenzo
de la Barranca passiert, abends 5 Uhr die Mündung des
Biata erreicht und diesen Fluß aufwärts gefahren, um in
der Barraca von Franco das Nachtquartier aufzuschlagen.
Man war nahe am Ziel. Am 5. Oktober den Biata weiter
aufwärts bis zur Barraca von Clanssen, wo die Barke ent-
laden wird. Ein großer Teil der Ladung ist havariert oder
verfault, sowohl weil die Barke schlecht geladen, als weil sie
nicht wasserdicht war.
Am gleichen Tag fuhr Armentia im kleinen Boot den
Biata hinab in den Beni nach Mamorebey, wo er Antonio
Roca, den Erforscher des Rogo Aguado und des Mamore
aufsuchte. In Mamorebey durchzieht ein Felsenriff die
ganze Strombreite und läßt nur einen schmalen Durchgang
am rechten Ufer. In der Barraca Copacabana hielt er sich
bis zum folgenden Tag ans, an welchem an Exaltation vor-
bei Conception erreicht wurde. Am 8. Oktober !vird an der
Barraca von Salvatierra, der Mündung des Genesuaya
gegenüber (wie der Biata, ein Zufluß von der rechten Fluß-
seite, genannt wird), Halt gemacht und nach eingenominenem
Frühstück nach Carmen weitergefahren, in Cotoca aber, bei
dem 6 Uhr abends angelegt wird, genächtigt. Von Cotoca
am 9. Oktober um 51/2 Uhr morgens aufgebrochen, ist
Buen Jardin erst um 4 Uhr abends in Sicht. Nach einer
Stunde Aufenthalt, Weiterfahrt nach dem Jvon, wo das
Boot abends 8 Uhr eintrifft.
Die Sanskritstudien in Indien.
123
Von der Mündung des Madidi bis zn dem auf dem
rechten Ufer zufließenden Jvon zählt man 77 Leguas, die,
den Aufenthalt in Biata abgerechnet, in 61/2 Tagen zurück-
gelegt worden sind.
Die Fahrt von Buenaventnra bis Salinas war ab-
scheulich, von Saliuas bis zum Madidi schlecht, von letzterem
bis zum Jvon ziemlich gut; man muß dabei aber in Be-
tracht ziehen, daß voin Madidi aus der Fluß zu wachsen
anfing und Armentia diese Strecke sehr gut kannte, daß
dort ferner der Lauf weniger Veränderungen ausgesetzt ist.
In Jvon wurden die Vorbereitungen für die Erforschung
des Madrc de Dios getroffen. Elf Personen stark schiffte
sich die Expedition acht Tage später auf einer Barke ein
und befand sich nach zweistündigex Fahrt — die Distanz be-
trägt 5 Leguas — an der Mündung des Madre de Dios.
Auf dieser Strecke werden noch einige Felsenbänke im Bett
des Beui angetroffen. Seine Strömung wechselt viel, je
nachdem der an seiner Mündung 720 in breite Madre
de Dios angeschwollen ist oder nicht, denn wenn er groß
ist, pflegt er den Beni zu stauen, der dann bis zum Jvon
so glatt ist wie ein Teich, während der Beni, wenn das
Gegenteil stattfindet, nach Aufnahme des Madre de Dios
in starker Strömung dem nur noch wenig entfernten Ma-
more zueilt, mit welchem er nach erfolgter Vereinigung den
mächtigsten Zufluß des Amazonas, den majestätischen Ma-
deira bildet. (Schluß.)
Die Sanskrit st udien in Indien.
Der Aufschwung der Sanskritstudien in Europa hat seinen
wohlthätigen Einfluß auch auf die gebildeten Kreise Indiens
erstreckt und auch im Vaterlande dieser altehrwürdigen Sprache
eine wissenschaftliche Beachtung und Bearbeitung derselben
herbeigeführt, die schon zahlreiche hocherfreuliche Ergebnisse
zur Folge hatte. Dabei ist aber das Sanskrit in den ge-
lehrten Kreisen Indiens niemals ganz vernachlässigt gewesen.
In seiner klassischen Form hörte das Sanskrit schon vor dem
Anfkomnlcn des Buddhismus, ungefähr 500 v. Chr., auf,
die Umgangssprache zu sein, aber unter den Gelehrten behielt
es noch Geltung, wurde mehr benutzt, wie z. B. das Latei-
nische bei uns im Mittelalter, und kann auch nicht als tote
Sprache gelten, denn in Benares erscheinen heute noch im
Sanskrit gedruckte Zeitungen. Die Panditen greifen bei
ihren gelehrten Urteilen mit Vorliebe zn der alten Sprache,
nicht etwa zum Bengali oder Hindustani. Dazu kommen
Gedichte, Schauspiele, philosophische Abhandlungen, die alle
in so gutem Sanskrit geschrieben sind, daß man sie für Er-
zeugnisse der klassischen Zeit halten könnte. Ramanathas Ge-
dicht, „Der Triumph Wusudevas", erschien soeben in zweiter
Auflage in vollendeter Sanskritsprache. Wenn Kalidasas
Sakuntala, ein Stück, das vor 2000 Jahren geschrieben
wurde, heute aufgeführt wird, so ist sicher ein zahlreiches
verständnisvolles Publikum dafür vorhanden, wenn auch die
Schauspieler junge Studenten der Hochschulen von Kalkutta,
Boinbay oder Benares sind.
Von großem Nutzen für die Wissenschaft ist auch, daß
mehr und mehr die Schätze der alten Sanskritlitteratur, die
noch in Indien vorhanden sind, aus Licht gezogen werden.
Schnell sind neue Ausgaben der alten Werke vergriffen und
viele erleben mehrere Auflagen. Als mau in Europa sich
mit Sanskrit zu beschäftigen begann, glaubte man, daß das
Gesetzbuch des Mann, die Werke Kalidasas und einige phi-
losophische Abhandlungen alles enthielten, was ein Gelehrter
zu wissen brauche. Groß war das Erstaunen aber, als vor
ungefähr zwanzig Jahren die indische Regierung ein Ver-
zeichnis der noch in Indien vorhandenen Sanskrithandschriften
aufnehmen ließ. Die Kataloge der iu öffentlichen und Privat-
bibliothcken enthaltenen Manuskripte enthalten einen ganz un-
erwartet großen Schatz von etwa 10000 Handschriften. Zu-
mal erwies sich die Bibliothek des Maharadschah von Tandschnr
als ungemein reich an Manuskripten. Erscheint diese Zahl,
zu der noch 5000 Handschriften in der Bibliothek des India
Office, 1000 iu der Bodleian-Bibliothek, mindestens ebensoviel
in Berlin kommen, uns als sehr groß, so muß mau dem gegen-
über bedenken, daß Sanskrit mehr als 3000 Jahre die litte-
rarische Sprache Indiens war. Was erhalten ist, stellt nur
einen kleinen Teil des ursprünglich vorhandenen vor. Oft
findet man bei Schriftstellern, die vor 200 oder 300 Jahren
schrieben, Werke erwähnt, die wir heute umsonst suchen.
Dank der indischen Regierung und solchen Gelehrten, wie Bur-
uell, Bhandarkar, Bühler, Rajendralal Mitra, Peterson u. a.
besitzen wir jetzt ausgezeichnete Verzeichnisse der Sanskrit-
schätze, genug, um kommende Geschlechter noch lange wissen-
schaftlich zu beschäftigen. Dr. Peterson ist gerade jetzt mit
der Abfassung eines Generalverzeichnisses sämtlicher Sans-
krithandschriften Indiens beschäftigt.
Aber abgesehen von der Katalogisierung sind in Indien
zahlreiche Texte und Übersetzungen von Sanskritwerken er-
schienen. Dabei hat die Regierung äußerst freigebige Unter-
stützungen gewährt und sehr viel ist auch von Privatleuten
geschehen. Die Bibliotheca Indica bringt wertvolle Texte
in Sanskrit, Arabisch, Persisch und Tibetanisch mit gelegent-
lichen Übersetzungen. Die Herausgabe besorgt die Asiatic
Society of Bengal, die Kosten bestreitet die Regierung.
Letzteres ist wenigstens teilweise der Fall bei den Bombay
Sanscrit Serie«. Die Zeitschrift The Pandit, die in Be-
nares bei Lazarus u. Eo. erscheint, giebt alljährlich einen
Band Sanskritlitteratur heraus. Die Benares Sanscrit
Serie« werden von den Lehrern am Benares Sanscrit
College veröffentlicht, und unter dem Protektorate des Maha-
radschah von Visianagram erscheint die nach ihm benannte
Sammlung von Sanskritwerken unter der Redaktion von
Arthur Venis. Es ist derselbe indische Fürst, welcher Prof.
Max Müller die Mittel zur Herausgabe des Rig Veda hergab.
Unter dem Titel Usha (die Morgendämmerung) hat
Sattzavrata Samasrami eine Sammlung sehr seltener Sans-
krittexte iu Kalkutta begonnen. Mit welcher Begeisterung
und wie praktisch man bei der Ausbeutung und Förderung
der Sanskritstudien verfährt, kann das Beispiel des sehr
reichen Rechtsanwalts beim Obergericht in Bombay, Eh. Apte,
lehren, der in Puna bei Bombay ein großes Haus mit
Druckerei und Bibliothek errichtete. Es führt den Namen
Anandasrama, Stätte der Glückseligkeit, und gewährt bedürf-
tigen einheimischen Studenten freie Wohnung und Kost. Die
Bibliothek zählt 4000 Handschriften und monatlich erscheint
für äußerst mäßigen Preis ein Baud von 200 Seiten, der
sehr schön auf den Pressen des Hauses gedruckt wird.
Die meisten der neuen ans Licht gezogenen Sanskritwerke
beschäftigen sich mit Religion, Philosophie, Gesetzkunde und
Poesie. Doch vernachlässigt man darum keineswegs andere
Wissenschaften und auch mathematische, astronomische und
medizinische Werke in: Sanskrit sind aus alten Handschriften
schon veröffentlicht worden. Eolebrooke war der erste, der auf
den mehr als historischen Wert vieler Sanskrithaudschriften
hinwies. Es ist ein Verdienst Professor Thibauts, in seinem
16*
124
Pastor Pcchmann: Deutsche Einwanderer in Ria Grande da Sul (Brasilien).
großen Werke PanchasiddhLtikn 1889 darauf hingewiesen zu
haben, wie hoch die Astronomie bei den Brahmanen ent-
wickelt war und tvicviel die Griechen in dieser Beziehung
von den Indern geborgt haben. Auch die medizinischen Ko-
dices, denen man Aufmerksamkeit zu tvidmen beginnt, ver-
sprechen Ausbeute. Der Pandit Aviuash Chandra Kaviratua,
der Herausgeber einer medizischen Monatsschrift in Bengalen,
hat den Text des Snvruta mit einem Sanskritkommentar
sowie mit Bengali- und Hindiiibersetznng veröffentlicht. Noch
alter als Snvruta soll das medizinische Handbuch Charakas
sein, das der genannte Pandit ins Englische übersetzt hat.
Die medizinische Litteratur des alten und mittelalterlichen
Indien soll nach dem genannten einheimischen Gelehrten so
umfangreich sein, daß sie allein eine große Bibliothek füllen
würde. Charakas Name wird bei Avicenna erwähnt und es
ist kein Zweifel darüber, daß Griechen wie Araber viele ihrer
medizinischen Kenntnisse ans Indien erhielten.
Was hier mitgeteilt wurde, giebt nur einen schwachen
Begriff von der rührigen Thätigkeit auf litterarischem und
wissenschaftlichem Gebiete, die heute in Indien herrscht. Da-
bei kommt vielfach ein patriotisches Element nüt ins Spiel
und gerne tveisen die Indier darauf hin, wie hoch bei ihnen
die Wissenschaften schon entwickelt waren, als die sic be-
herrschendeil Engländer noch im Zustande der Barbarei ver-
harrten, Griechenland und Rom aber erst von der Morgen-
röte der Kultur beleuchtet wurden.
Deutsche Einwanderer in Rio Grande
do Snl (Brasilien).
Von Pastor Pechmann in Santa Maria da Bocca
do Monte Z.
Seit Anfang 1890 regt cs sich hier gewaltig, der Handel
blüht, tvie seit Jahren nicht — für Besserung unsrer Wasser-
und Landwege werden riesige Summen verausgabt. So wird
mit gewaltigen Unkosten die Barre bei Rio Grande, die stark
durch die Zuführungen der Lagoa dos Patos versandet ist, aus-
gebaggert und für die größten Seeschiffe zu jeder Zeit fahrbar
gemacht, ferner soll bei Torres ein neuer Hafen angelegt
werden, eine neue Bahn soll denselben mit P. Alegre ver-
binden. Bor einem halben Jahre hat man mit den Ver-
messungen der Bahn begonnen, die den Süden mit dem
Norden verbinden soll, die Bahn von St. Maria nach Jta-
rcire. Der Bau dieser Bahn soll bald beginnen. Wir hier
oben in St. Maria werden besonders von dem Wellenschlag
dieser Bewegungen berührt. Vor allen Dingen ist die so
gewaltige Einwanderung, die ilns hier nicht zu Atem kommen
läßt. Jiil Oktober 1890 kamen die ersten Züge Eimvanderer,
Deutsch-Russen aus Lodz und Tomaschow etwa 800 Köpfe,
hier an. Daml kamen 600, dann 300, 400, etwa 150,
alles Deutsch-Russen, Rheinländer-Westfalen. Endlich
kamen noch 600, dann 400 Polen. Diese massenhafte Ein-
wanderung hatte die Regierung nicht erlvartet. Man hatte
Kolonisten verlangt, und ehe Kolouieen vermessen waren, waren
schon Tausende gelandet. Wäre nun das Land bald ver-
messen gewesen, aber obwohl alles so sehr drängte, so ging
die Regierung doch damit sehr saumselig voran. Zu
Hunderten lagen anfangs (die ersten zwei Monate) die Leute
zusammen in großen zweistöckigen Holz- oder Steinhäusern.
Eine schreckliche Lust war in diesen Räumen — kein Wunder,
daß bald allerlei Krankheiten die Einwanderer heimsuchten.
Alles mußte dazu mit beitragen, das schlechte Wasser, der so
plötzliche Klimawechsel, man denke aus dem russischen Winter i)
i) Aus einem gütigst uns mitgeteilten Schreiben au Herrn
Prof. Kirchhofs.
in den brasilianischen Sommer, die veränderte Nahrungs-
und Lebensweise. In Rußland waren die Leute gewöhnt,
viel Speck zu essen, so hielt man es auch hier, aß nun da-
zwischen massenhaft Orangen rc., kein Wunder, daß Ruhr und
schleichende Krankheiten die Leute befielen, ja endlich der
Typhus seine schrecklichen Opfer forderte. Wie gern wäre
ich manchmal zn Hanse geblieben, um das Elend nicht sehen
zu brauchen, mußte ich doch den ganzen Tag von morgens
bis abends von einem Kranken zmm andern wandern —
überall dieselbe Klage. Wäre nun ein guter Arzt zur Hand
gewesen, aber leider hätte die Regierung, die sonst, das muß
man sagen, ihr möglichstes that, hier nicht energisch genug
gearbeitet. — Ich habe schon sieben Leichen auf einen Tag
gehabt — zwei Familien starben ganz aus, drei Männer
starben, hinterließen die Wittven und eine Schar kleiner
Kinder hilflos im fremden Lande. Von einer Truppe, die
viel hatte herumziehen müssen, vorher schon auf Caxias war,
starben allein von 300 Personen in drei Monaten über 80.
Man kann nicht sagen, daß die Regierung gefühllos diesem
zugesehen nnb wie es so vielfach heißt, die Leute schlecht ver-
pflegt — dies ist nicht der Fall, die Tagesgelder, die für
jede Familie ein halbes Jahr ausgezahlt werden, reichen bei
gutem Haushalt wohl aus, erhielt doch Mann und Frau —
900 Reis pro Tag, für jedes Kind je nach Alter 200 bis
300 Reis mehr. — Viele konnten und wollten sich an die
hier dienliche Kost, Bohnen, Mehl, getrocknetes Fleisch, nicht
gewöhnen.
Jetzt sind denn endlich alle Deutschen und Deutsch-Russen
auf ihren Kolouieen und alle haben vollauf mit Hans- und Wege-
bau zu thun. Wie oben schon bemerkt, zahlt die Regierung
ein halbes Jahr Subsidien, d. h. tägliche Unterstützung.
Nach dieser Zeit läßt dieselbe Wege bauen durch die Kolo-
nisten. Für diese Arbeit zahlt sie 1V2 Mil für Männer
und 1 Mil für Frau und Kinder. So fehlt es an Unter-
stützung und Hilfe der Regierung nicht. Im April 1891 habe
ich nun die Kolonisten auf der Kolonie Jjutry besucht. Diese
liegt 32 Meilen nördlich von St. Maria und kann man diese
Reise nur 31t Pferde machen. — Der Wald, der mit diesen
Deutschen besiedelt wird, liegt zwischen den Aroi dos Cone-
tzeai und dem Jjutry Grande, mag zirka 5 Meilen breit sein
und zieht sich an diesen Fliisseu entlang bis zu den großen
Wäldern am Uruguay. Hier ist das Gebiet der alten
Missionen, das Land, das der verstorbene von Koseritz so
gern mit Deutschen bevölkert wissen wollte. Ich habe hier
viele Wälder gesehen, kenne die Kolouieen bei Pelotas, St. Leo-
polds, St. Cruz und die Wälder um St. Maria. Doch
nirgendwo habe ich solchen mächtigen Urwald angetroffen,
schade, daß die Riesenbänme so nutzlos jetzt verbrannt werden
müssen. Der Boden soll auch vorzüglich für Weizenban sein,
ist nur leicht hügelig. Berge fehlen dagegen vollständig.
Reich ist jene Kolonie dagegen an Bächen und Flüssen. Ich
glaube, die Regierung hat in der Wahl dieser Kolonie einen
guten Griff gethan und dies ist um so besser, da gerade diese
Kolonie fast ausschließlich mit Deutschen besiedelt wird. Das
deutsche Element bekommt durch diese Kolonie einen starken
Hinterhalt, besonders kommt dies der deutschen Bevölkerung
in und um St. Maria zu Gute, die inmitten der Brasilianer
einen schweren Stand hat. Diese Deutsch-Russen sind in
Sprache und Wesen noch urdeutsch. Gott gebe, daß sie ihr
Deutschtum hier bewahren und pflegen. Damit dies möglich,
müssen wir hier das Unsrige thun. Nach meiner Rückkehr
von Jjutry war ich in S. Sebastian zur Synodalversammlung
der evangelischen Kirche dieses Staates. Ich habe dort über
unsre Einwanderung referiert und freue ich mich, daß ich
nicht vergebens diese Reise gemacht habe, indem die Synode
auf meinen Antrag verschiedene Maßregeln zum Schutze und
zur geistigen Förderung der Einwanderer ergriff.
Die deutsch-französische Sprachgrenze iin Schweizer Jura,
125
Inzwischen habe ich dem Inspektor der Kolonisation in
Porto Alegro Eingaben gemacht und dort persönlich nm
„Schulkolonieen" für die neuen Kolonieen gebeten, so zwar,
das; für je 80 Familien die Regierung eine Kolonie Land
als „Schulkolonie" reserviert. Um Erhaltung von deutschen
Schulen sind die Leute sehr besorgt, dafür möchten alle arbeiten.
Leider sind die Leute meist zu arm — überhaupt fehlt es
dort noch an so manchem nötigen. Im Laufe dieses Sommers
wird die Einwanderung, wenn nicht alles trügt, noch ge-
waltiger werden. Ist doch in der Nahe von St. Angclo
(Missionen) ein deutscher Ingenieur v. Kaldcn daran, Kolo-
nieen für 2000 Familien auszumesscn. Da es den Ein-
wanderern besonders an deutschen Büchern fehlt, so ist die
Gründung von Schulen schwierig. Und doch muß ich, damit
die deutsche Sprache auch hier oben erhalten bleibt und zu
Ehren kommt, sorgen, das; dem Mangel abgeholfen wird. Die
Sendung deutscher Bücher wird denen große Freude bereiten,
die blos; und leer dastehen, die darum die Heimat verließen,
weil die russische Regierung ihnen deutsche Sprache-, Sitte
und Glauben rauben wollte.
Die deutsch - französische Sprachgrenze im
Schweizer Jnra.
Dr. F. Zimmerli aus Basel, ein Schüler Moritz Heynes,
hat seit drei Jahren die Sprachgrenze der Westschweiz ein-
gehend an Ort und Stelle studiert und die romanischen Pa-
tois festgestellt. Seine auch in ethnographischer Beziehung
vortreffliche Arbeit H berücksichtigt überall die geschichtlichen
Verhältnisse und zeigt die mancherlei Verschiebungen, die in
der sprachlichen Abgrenzung zwischen Romanen und Ger-
manen in der Westschweiz vor sich gingen, bald zum Vorteil
der einen, bald der andern Nationalität. Merkwürdig viele
schweizerdentsche Wörter sind in die jurassischen Patois über-
gegangen, wie z. B. buob, gelrüeb, rieme, oblebank, geis,
gmües, krueg, brantwin, viele ans das Milchwesen bezüg-
liche Ausdrücke. Der Eisenbahnban und die Industrie, nament-
lich die Uhrmacherei, die über viele Ortschaften ausgedehnt
wurde und Herbeiziehnug fremder Arbeiter bedingte, haben
viel zur Sprachverschicbnug in dem einen oder andern Sinne
beigetragen, und so sehen wir denn eine große Anzahl ge-
mischter Ortschaften längs der Sprachgrenze, mehr Deutsche
auf französischer Seite als umgekehrt, wie überhaupt in der
Schweiz (vgl. Zemmrich, Das deutsche Element in der Schweiz.
Deutsche Rundschau für Geographie, Mai 1891) mehr Deutsche
im französischen Sprachgebiete wohnen als umgekehrt.
Das; die natürlichen Verhältnisse, Berge, Flüsse und Seen
im Schweizer Jura abgrenzend ans die beiden Sprachen
wirken, erkennen wir nur ausnahmsweise; im Gegenteil: die
geschichtlichen, politischen und wirtschaftlichen Beziehungen
sind hier weit mehr ausschlaggebend gewesen, und solches
mag warnend vor Überschätzung der Einwirkung physikalischer
Verhältnisse ans diesem Gebiete dienen. Indessen haben doch
auch zuweilen physikalische Verhältnisse schützend für die eine oder-
andre Sprache gewirkt, wie tut Bezirke Delömont, wo einzelne
deutsche Gemeinden gar keine Beziehungen 511 den nächsten
wälscheu Dörfern haben. „Der Höhenzug, welcher hier die
Sprachgrenze bildet, fällt zu beiden Seiten steil ab und kann
nur ans Fußwegen überschritten werden, die im Winter fast
ungangbar sind." Damit sind auch sprachliche Einflüsse her-
über und hinüber abgeschnitten.
Weit mehr, ja fast allein ändernd und verschiebend wirken
die Verkehrs- und industriellen Verhältnisse mit ihrem großen
Aufschwung in der Neuzeit. Die Eröffnung der Eisenbahn
b Die deutsch-französische Sprachgrenze. I. Die Sprach-
grenze im Jura. Nebst einer Karte. Basel 1891.
Basel-Delsbcrg (Dclomont) 1875 hat dem deutschen Elemente
tut welschen Jura viel Verstärkung zugeführt. So hat Soy-
hitzre, deutsch Saugern, früher ganz welsch, jetzt 54 romanische
und 38 deutsche Haushaltungen. Delömont ist zu drei
Siebenteln deutsch geworden; das Bahnhofsquartier ist dort
ganz deutsch; indem romanischen Courrendlin (deutsch Rennen-
dorf) derselben Gegend findet man jetzt 153 welsche und
43 deutsche Haushaltungen, doch ist die Mehrheit der stinun-
berechtigten Bürger deutsch. Cremine im Bezirk Balsthal
ist genau zur Hälfte deutsch und welsch und dieses erst seit der
Gründung einer Weberei in den sechziger Jahren. In dem be-
kannten Montier (Münster) steigt das Deutschtum fortwährend;
cs kommen dort schon auf 266 romanische 216 deutsche
Haushaltungen. Die Welschen gehen in die Industrie (Uhr-
macherei), der Deutsche nimmt die Felder. „Unsre Felder
würden brach liegen, wenn wir die Deutschen nicht hätten."
Am westlichen Ufer des Bielersees sind in der letzten Zeit eine
Reihe Dörfer germanisiert worden, so z. B. Ligerz (fr. Glo-
resse), das im vorigen Jahrhundert noch ganz romanisch war.
Bis 1656 war der Gottesdienst ausschließlich französisch,
von da bis 1843 abwechselnd französisch und deutsch, von
1843 an nur deutsch. Romanische Familiennamen der Eiu-
wohner, romanische Flurnamen weisen auf die ehemalige
nationale Zugehörigkeit hin.
Umgekehrt aber macht an der Hand von industriellen und
Verkehrsverhältnissen sich eine Romanisiernng in andern
Orten geltend. So in de»; hübschen Städtchen Biel, wo
1841 die Uhrenindustrie begründet wurde; damit beginnt
eine lebhafte Einwanderung in diese deutsche Stadt, so das;
1888 auf 2200 deutsche schon 925 welsche Haushaltungen
kamen. Die Straßennamen sind jetzt doppelsprachig; in beiden
Sprachen wird amtiert. In Biel (deutsche Gründung, Biihl-
Hügel) zeigt sich der Deutsche weniger konservativ als der
Franzose; er lernt französisch, während der Franzose nur
ungern deutsch lernt. Deutsche Geschäfts- und Wirtshäuser
zeigen oft nur französische Schilder. Was die deutschen
Minderheiten betrifft, die in französische Dörfer ziehen, so
romanisieren sich gewöhnlich schon deren Kinder. „Die deutsche
Sprache wird im Jnra nur so lange ihre jetzige Stellung
behaupten, als der starke Strom der Einwanderung anhält.
Diese Erscheinung erklärt sich zum Teil aus der relativen
Inferiorität der deutschen Mundart (d. h. des Schweizer-
deutsch) gegenüber der französischen Kultursprache, vor allem
aber ans dem Umstand, das; die Schulen fast ohne Aus-
nahme französisch sind." Wir finden bei Zimmerli viele
Beispiele, wie hier geradezu ungerecht gegen das deutsche Ele-
ment vorgegangen wird.
Wie sich im allgemeinen das praktische Bedürfnis zur
Verständigung für beide Teile au der Sprachgrenze gestaltet,
können wir an dem Beispiel des Dorfes Gänsebrunnen
(fr. St. Joseph), nordwestlich von Solothurn, erkennen. „Es
ist vollständig deutsch; auch tut Gasthanse können die Leute
nicht französisch, während in der vier Kilometer entfernten
welschen Ortschaft Crtzinine jedermann deutsch versteht." Hier
sind also die Welschen voraus, sonst aber herrscht fast aus-
nahmslos bei gemischten Gemeinden „Doppelsprachigkeit".
In ethnographischer Beziehung ist noch von Belang, das;
die Sprachgrenze (welche Zimmerli sowohl auf der deutschen
als französischen Seite von Dorf zu Dorf aufführt) im Schweizer
Jura mit der Scheidelinie zwischen dem kelto-romanischen
Hause, das für den welschen Jnra kennzeichnend ist, und dem
dreisässigen Hanse, das die ganze Nordschweiz beherrscht, zu-
sammenfällt. Auch diese Beziehungen sind neben dem sprach-
lichen Teile, namentlich den noch weniger erforschten Patois,
die vor der französischen Sprache zu weichen beginnen, von
Zimmerli ausführlich behandelt worden. R. And ree.
126 Einslutz des Waldes auf die periodischen Veränderungen der Lufttemperatur..— Bücherschau.
Einfluß des Waldes anf die periodischen
Veränderungen der Lufttemperatur.
Herr Professor A. Müttrich hat im Februarhest der
meteorologischen Zeitschrift eine sehr belangreiche Bearbcitnng
der auf den forstlich-meteorologischen Stationen Deutsch -
lands angestellten Temperatnrbcobachtungcn veröffentlicht.
Die Ergebnisse, welche über den Gang der täglichen Tenipe-
raturschwauknngen im Freien und im Walde abgeleitet worden
sind, lauten: Die Größe der täglichen Temperatnrschwan-
knngen nimmt auf freiem Felde anf allen Stationen
in den ersten Monaten des Jahres langsam, dann rascher
311 und erreicht auf den meisten Stationen im Juni, seltener
bereits im Mai ihr Maximnm. Die Abnahme erfolgt hierauf
zuerst langsam bis gegen den September, dann rascher bis
zum November und erhält schließlich im Dezember ihr Mini-
mum. — Die täglichen Tcmperatnrschwankungen im Walde
nehmen ebenfalls von Winter zum Sommer zn und dann j
wieder zum Winter ab, sind aber in allen Monaten und bei
allen Bestandcsarten kleiner als die im Freien. — Der
Gang der Demperatnrschwanknngcn im Laufe des Jahres.
hängt von der Art des Bestandes ab. Der Einfluß des
Waldes anf die tägliche Temperatnrschwauknng ist bei allen
Beständen in den Monaten Mai bis September (Oktober bei
Kiefernstationen) größer als in den übrigen Monaten, zeigt
aber im Laufe des Jahres bei deu verschiedenen Holz-
arten einen verschiedenen Gang; er ist ferner in den
Winter- und ersten Frühlingsmonaten absolut am
kleinsten im Buchenwald (0,8°), etwas größer int Kiefern-
wald (1,2°) und ant größten im Fichtenwald (2,3°). Anders
verhält es sich im Sommer und ersten Herbstmonat, wo der
Einfluß des Waldes ant größtem im Buchenwald (4,1°),
kleiner int Fichtenwald (3,7°) und noch kleiner int Kiefern-
tvald (2,8°) ist. — Die täglichen Temperatnrschwankungen
in der Baumkrone liegen ihrer Größe nach mit geringen
Ansuahmen zwischen denen des Erdbodens und denen auf
freiem Felde, komnten aber dem ersteren meistens näher als
deut letzteren. Im Buchenwald ist der Unterschied zwischen
den täglichen Temperaturschwanknngen in der Nähe des
Erdbodetls und in der Baumkrone während der Monate
Januar bis Mai und November bis Dezember meistens nur
gering. Von Inni bis Oktober sind die Temperatnrschwan-
knngen in der Baumkrone im Durchschnitt um 0,9° größer
als in der Nähe des Erdbodens und tun 2,5° kleiner als
anf freiem Felde. Im Nadelwald 'ist dagegen dieser Unter-
schied entweder sehr gering, oder derselbe zeigt nicht immer
denselben regelmäßigen Gang.
Der Einfluß des Waldes auf die Maxima- ititi)
Miuimatemperatnrcn besteht darin, daß die Maxima
erniedrigt und die Minima erhöht werden; der Gang des
Einflusses ist für die Stationen mit gleichartigem Waldbestand
im großen und ganzen derselbe, unterscheidet sich aber nach
den verschiedenen Formen des Bestandes. Der Einfluß ans
j die Maxima temperature» ist in den Sommermonaten für
alle Bestände größer als in den Wintermonaten und zwar
ist er im Sommer am größten im Buchenwald, kleiner im
Fichten- und am kleinsten im Kiefernwald, während er im
Winter seinen größten Wert im Fichtenwald besitzt und einen
kleineren im Kiefern- und Buchenwald (in beiden nahezu gleichen
Wert) erhält. Der Einfluß anf die Minimatemperatnren
ist ebenfalls für alle Bestände in den Sontmermonaten größer
als in den Wintermonaten, ist aber das ganze Jahr hin-
durch im Fichtenwald größer als im Kiefern- und Buchen-
wald. Der absolute Wert des Einflusses, den der Wald
anf den Stationen mit gleichartigem Waldbestand auf die
Maxima- und Minimatemperatnren besitzt, ist ein sehr ver-
schiedener und davon abhängig, ob der Wald durch einen
dichteren oder weniger dichten Bestand gebildet ist. — Die
Untersuchung über den Einfluß des Waldes anf die
Monats- und Jahresmittel der Temperatur bleibt wegen
derzeitigem Mangel an nötigen Daten einer späteren Zeit vor-
behalten. Dr. G. Gruß.
B ü ch e r s ch a u.
Dr. F. Freiherr v. Nettelbladt. Suahöli-Dragoman. Ge-
spräche, Wörterbuch und praktische Anleitungen zum Ver-
kehr mit den Eingebornen in Deutsch-Ostafrika. Mit einem
Vorwort von Hauplmanu C. Freiherrn von Gravcnreuth.
Mit einer Karte von Deutsch-Ostafrika. Leipzig, Brock-
haus. 1891. 16». XII, 256 S.
Das Suaheli, welches zu dem großen südafrikanischen
Bantu-Sprachstamm gehört, ist gleichsam die Hauptsprache, die
liugua franca von Deutsch-Ostafrika, jenem Laude, welches zwi-
schen dem Indischen Ozean und den drei Seen Viktoria Njanza,
Tanganjika und Njassa gelegen ist und im Süden vom Flusse
Rovuma begrenzt wird. Im Norden bildet eine von der Insel
Pemba über den Berg Kilima-Nd^aro gegen den Viktoria
Njanza gezogene gerade Linie seine Grenze. Das Wort Suaheli
ist aus dem arabischen sawähili „den Küsten an gehörig" ent-
standen, einem Adjcktivum, das von sawähil, dem Plural des
Wortes sähil „Küste" abstammt. Es wäre ganz verkehrt, das
Wort Suaheli sowie das Wort Sudan mit scharfem 8 (ss) zu
schreiben, wie der Verf. in der Vorrede S. VII lehrt, da dieses
88 leicht auf das arabische 8säck bezogen werden könnte, während
es doch 8lr ist.
Das Büchlein enthält so ziemlich alles, was einem Dcutsch-
Ostasrika betretenden Ankömmling zu wissen notwendig ist. Es
umfaßt,, eine Belehrung über Land und Leute mit einer ganz
guten Übersichtskarte des Landes, eine kurze, 12 S. süllende
Grammatik und reichhaltige Gespräche (70 S.) sowie ein Wörter-
buch (Suahöli-Dcutsch — 60 S. und Deutsch-Suaheli — 86 S.).
Nach unsrer Ansicht wäre das Büchlein viel brauchbarer
und nützlicher geworden, wenn der Verf. die Grammatik voran-
geschickt und anf den ersten 10 bis 15 S. des Sprachführers
die Gespräche mit einer getreuen Jnterlinearversion und kurzen
Anmerkungen versehen hätte. Dadurch wäre der Schüler in
die Lage gekommen, tu den Geist der Sprache einzudringen,
während er bei der Benutzung des Büchleins in der jetzigen
Form das Gedächtnis beinahe ausschließlich zu Hilfe nehmen muß.
Wien, Juli 1891. Prof. Friedrich Müller.
A. Schlatterer, Die Ansiedlungen am Bodensee in
ihren natürlichen Voraussetzungen. Stuttgart,
Engelhorn, 1891. (Forschungen zur deutschen Landes- und
Volkskunde, herausgegeben von A. Kirchhofs, 5. Bd., Heft 7.)
Verf., der längere Zeit in Konstanz gelebt und auf seinen
Wanderungen um den See die Gestaltung des Ufergebietes mit
seltener Sorgfalt beobachtet hat, giebt nach Aufstellung allge-
meiner Gesichtspunkte über Ansiedlungen an Scebecken einen Über-
blick über die Niederlassungen am Bodensee von den Pfahlbauten
der Steinzeit an bis zur mittelalterlichen Glanzzeit von Konstanz
und bis zum neuen Aufschwung in unserm Jahrhundert, um
dann die geographischen Voraussetzungen zu prüfen, unter denen
die einzelnen Orte rings um den See angelegt sind und unter
deren Einfluß sich ihre verschiedenartige volkswirtschaftliche und
historische Entwickelung vollzogen hat. Die geographischen Ver-
hältnisse sind aus das Eingehendste besprochen, die historischen
mehr angedeutet: was darin seine Berechtigung hat, daß die
ersteren noch niemals ausführlich und gründlich behandelt sind;
für letztere, soweit sie nicht, wie beispielsweise bei Reichenau und
Konstanz, in die allgemeine Kulturgeschichte der Deutschen hcr-
überrreichen und allgemein bekannt sind, konnte der Verf. die
„Schriften des Vereins für Geschichte des Bodcnsees und seiner
Umgebung", auf die hier gleichzeitig verwiesen sei, für viele
Einzelheiten ausgiebig verwerten. Leider unterstützt die bei-
gegebene Karte, welche ebenso jede Andeutung der Bodenforma-
Aus allen Erdteilen.
127
tion wie alle historischen Andeutungen (die Richtung der Römer-
straßen, Fundstellen von Pfahlbauten u. s. w.) beiseite läßt,
die anschauliche Darstellung des Vers, nicht. Daß derselbe das
selbst empfunden hat, sehen wir aus seinem Hinweis aus die
von oben genanntem Verein in Aussicht gestellte „Karte des
Bodenseegebietes", welche auch den hier maßgebenden Gesichts-
punkten Rechnung tragen soll und dadurch erst den Wert der vor-
liegenden verdienstvollen Arbeit in das richtige Licht setzen wird.
Karlsruhe. O. Kienitz.
Dr. Fisch, Tropische Krankheiten. Anleitung zu ihrer Ver-
hütung und Behandlung für Missionare, Kaufleute und
Beamte. Basel, Missionsbuchhandlung, 1891.
Das Wesen, die Verhütung und Behandlung der tropi-
schen Krankheiten, insbesondere der Malaria und der Dysenterie
(Ruhr), erörtert der schon seit langer Zeit als Missionsarzt an
der afrikanischen Goldküste wirkende Dr. Fisch in dieser sehr
belehrenden, auch dem Laien leicht faßlichen Schrift. Angesichts
der Thatsache, daß nach Fischs Erfahrung kein Europäer in den
Tropen aus die Dauer frei von Malaria bleibt, daß ferner die
Dysenterie wegen ihres qualvolle», jähre- und jahrzehntelanges
Siechtum nach sich ziehenden und sehr oft das Leben bedrohen-
den Verlaufs als die schrecklichste Geißel der Tropen gilt, er-
scheint es allerdings begründet, eine allgemeine Belehrung über
das Wesen und die möglichste Verhütung besonders dieser
Krankheiten zu geben; bedenken wir ferner, daß gar mancher
Europäer auf isoliertem Posten oder auf Reisen in den Tropen
auf ärztliche Hilfe in Krankheitsfällen nicht rechnen kann, so
müssen die dem Laien vollauf verständlichen Winke über die
Behandlung, besonders wenn Gefahr im Verzüge liegt, als
höchst wertvoll betrachtet werden. Das erwähnte Schristchen
verdient deshalb den Beifall jedes Menschenfreundes und ist
sicher allgemeiner Verbreitung auch unter unsern in den Kolonieen
thätigen Landsleuten wert.
Die aus den ausführlichen Erörterungen sich ergebenden
Regeln zur Erhaltung der Gesundheit in de» Tropen sind kurz
folgende: Rur gesunde, rüstige Leute, insbesondere solche mit
normalem Herzen und gesunden Nieren, sowie ohne nervöse
Anlagen, sollen in die Tropen gehen. Für zweckentsprechende
Kleidung ist zu sorgen, die Unterkleider müssen auch im feuchten
Zustande porös und schlechte Wärmeleiter sein; daher ist Barchent
und Flanell unzweckmäßig, dagegen Woll- oder Baumwolltrikot
zu empfehlen. Die Oberkleider sind für Arbeit im Hause hell,
im Freien, besonders in der Sonne, dunkel zu wählen (am besten
blaue, braune oder graue englische Serge). Man setze sich nie
ohne Schutz (Hut und Schirm) der Sonne aus und sei auch
gegenüber dem Mondschein vorsichtig (cs giebt in den Tropen
nicht nur Sonnen-, auch Mondstich). Tägliche, mäßige Körper-
bewegung ohne Überanstrengung, nötigenfalls durch Gymnastik,
sowie tägliche Bäder und sorgsame Hautpflege sind nötig. Tabak
und Spirituosen werden, weil die Herzkraft schädigend, am
besten ganz gemieden; leichte deutsche Biere sind in mäßigen
Mengen, bis zwei Flaschen am Tage, gestattet, ebenso x/.2 Flasche
leichten Weines. Trinkwasser ist nur filtriert und möglichst
gekocht zu genießen. Gemischte Kost nach europäischer Sitte ist,
wenn ausführbar, beizubehalten, daneben aber auch allmählich
einige der appetitanregenden Gerichte der Negcrkost (Vegetabilien
stark mit Pfeffer versetzt) in die Diät aufzunehmen. Zuviel
Konserven sind schädlich. Aufenthalt im Freien nach stärkerem
Regen muß vermieden werden, weil dann besonders die Malaria-
keime enthaltende Bodenluft aus dein Boden durch das ein-
dringende Wasser in die Atmosphäre gedrängt wird; ebenso
sind Orte zu meiden, wo der Boden zum erstenmale auf-
gebrochen wird. Jedes Jahr ist eine Zeitlang durch Aufenthalt
in den Bergen, oder durch eine Seereise Erholung zu suchen.
In bezug auf die Behandlung der Malaria spricht Dr. Fisch
einzig und allein dem Chinin in großen, einmaligen, recht-
zeitig vor einem ausgebildeten Anfall dargereichten Dosen
(1 bis 3 g) eine heilende, nicht bloß einzelne Krankheitssymptome
vorübergehend beseitigende Wirkung zu. Dr. D—r.
Dr. W. Siebers, Zur Kenntnis des Taunus. Mit einer
Karte. Stuttgart, I. Engelhorn, 1891.
Wenn auch wohl über den geologischen Bau des Taunus
und das Alter der ihn aufbauenden ältesten Schichten noch
immer nicht, trotz der umfassenden Arbeiten C. Kochs, das
letzte Wort gesprochen ist, so ist es doch von Wert, wenn das
bisher Erforschte und Geltendgemachte in klarer Weise zu-
sammenfassend dargestellt wird. Nachdem Vers, eine wenn auch
nicht vollständige Liste der auf den Taunus bezüglichen Litteratur,
wie er ihn versteht, vorausgeschickt, wendet er sich zum Bericht
über Bau und Entstehungsgeschichte nach Koch und Raiser.
Daß auf der Nordseite sich die älteren Tertiärablagerungen,
wie aus der Südseite ausdehnten, kann Res. nicht für zutreffend
halten. Die kurze Zusammenstellung der geologischen Ansichten
findet eine schöne Bereicherung durch den geographischen Teil,
in dem der Schwerpunkt der Sieversschen Arbeit liegt. Eine
natürliche Gliederung erscheint dem Vers, durch die Jdsteiner
Senke gegeben. In der Oberflächenplastik findet er mehrfache
Parallelen mit dem Erzgebirge. Besonders möchten wir auf
die sehr klare Darstellung des abnormen Verhaltens hinweisen,
daß im Taunus auch die Wasserscheiden der südlich fließenden
Büche mehrfach nördlich der Kammlinie liegen. Sievers weist
diesbezüglich besonders auf den Zusammenhang mit durch Quarz-
gänge angedeutete Störungen hin. Nicht minder anziehend ist
die eingehende Darstellung über die Anordnung der Wasserläufe
und Thalbildung. Eine Höhenschichtenkarte 1:263000 erleichtert
in hohem Maße das Verständnis. Von Interesse sind schließlich
auch die Studien über Kammhöhe und Waldbedeckung.
Frankfurt a. M. F. Kinkelin.
Aus allen
— Das archäologische Museum in Philadelphia.
In sehr erfreulicher Weise wachst in Amerika das Interesse
an der Urgeschichte und Ethnologie der Neuen Welt. Phila-
delphia , dessen Academy of natural Sciences sich seit
langem eines guten Namens in der wissenschaftlichen Welt
erfreut, besitzt seit zwei Jahren eine University Archaeolo-
gical Association, die unter dem Vorsitz des verdienten
Amerikaforschers Brinton bereits mehr als 200 Mitglieder
zählt, sowie ein rasch aufblühendes Museum of Ar-
chaeology and Palaeontology. Als Kurator des-
selben wirkt Ch. Abbot, der Entdecker der paläolithischen
Steingeräte im Flnßkies des Delaware, deren Auffinden die
Anwesenheit des Menschen in Amerika zurückweist bis in die
Eiszeit. Diese von Abbot gesammelten Stücke bilden einen
wertvollen Teil der Sammlungen des Museums; ihnen schließen
sich an die jüngeren präkolnmbischen Gegenstände aus Stein,
Kupfer, Bronze, Knochen, Holz und Thon. Zahlreich sind
die Funde aus den Mounds Ohios und den Steingräbern
Tennessees, deren Thongeräte eine hoch entwickelte Technik und
einen eigenartigen Formensinn erkennen lassen. Die Umgebung
des Oberen Sees hat eine größere Anzahl von Geräten,
Erdteilen.
Waffen und Schmncksachen ans Kupfer geliefert, das dort
gediegen in mächtigen Gängen vorkommt und von den In-
dianern noch vor der Entdeckung Amerikas in ausgedehntem
Maße bergmännisch gewonnen, aber auch im Gletscherschutt
erratisch gefunden und dann verarbeitet wurde. Trotzdem
kann von einer Kupferzeit Amerikas nicht in dem Sinne einer
europäischen Kupferzeit die Rede sein: in der Alten Welt
wurde das Kupfer geschmolzen und durch Guß in die be-
stimmten Formen gebracht, die Indianer am Lake Superior
dagegen hatten das Geheimnis noch nicht entdeckt, daß Kupfer
durch Schmelzen formbar sei; für sie lvar das gediegen ge-
fundene Kupfer nur ein Stein, her außer seiner schönen Farbe
noch die sehr schätzbare Eigenschaft besaß, daß er sich durch
Hämmern formen ließ. Weit verbreitet wurden die kupfernen
Geräte durch uralten Handel, man hat selbst in Florida
Schmuck ans gediegenem Kupfer gefunden, also in einem
Lande, in ivelchem außer Korallenkalk kaum ein Stein, ge-
schweige denn gediegen Kupfer vorkommt. Hier waren es
besonders Muschelschalen, die das Material zu den Geräten
der Indianer lieferten; das Museum in Philadelphia besitzt
eine stattliche Anzahl solcher Muschelgeräte. In Florida, wo
128
Aus allen Erdteilen.
an den gefährlichen Korallenriffen und Untiefen in der ersten
Zeit nach der Entdeckung Amerikas so viele europäische, be-
sonders spanische Schiffe strandeten, findet man auch verhält-
nismäßig am häufigsten Gegenstände europäischer Herkunft in
Mounds, ein Beweis, daß die Monndbuilders bis in die
Zeit nach der Entdeckung Amerikas hineinragten.
An diese Gegenstände aus den Vereinigten Staaten reihen
sich solche aus Mexiko (besonders zahlreich find die Terrakotta-
Köpfe aus San Juan Teotihnacan), dann ans Nicaragua,
den westindischen Inseln, Peru rc. Auch die europäische Ur-
geschichte ist durch typische Gegenstände vertreten. Für die
ethnologische Abteilung sind gleichfalls gute Anfänge vorhanden;
besonders wertvoll sind darunter die echten, schon in älterer
Zeit gesammelten Gegenstände ans Polynesien. Wir wünschen
dem Museum, dessen Katalog schon nach so kurzer Zeit mehr
als 20000 Nummern aufweist, aufrichtig ferneres Gedeihen.
S-t.
— Eine Frau als Nordpolarreiseude. Wir ver-
danken Herrn Dr. C. Steffen in New Aork die Übersendung
eines Bildnisses und die Übersetzung eines Briefes, welchen
die Frau des Ingen. R. Pcary, Frau Josephine Die-
bitsch-Peary bezüglich ihrer Beteiligung au der Nordgrön-
landfahrt ihres Mannes (vgl. S. 63 dieses Band'es) geschrieben
hat. Es heißt in dem Briefe: „Eine Frau als Mitglied
einer arktischen Expedi-
tion scheint auf den ersten
Blick eine Anomalie zu
sein und doch werden
gut Unterrichtete es nicht
als verkehrt ansehen. In
mehr als einem Falle
haben Frauen die Eigen-
schaften bewiesen, mit
mit Erfolg unter Ent-
behrungen und Gefahren
an der Erforschung von
Gegenden teilnehmen zu
können, die mehr Drang-
sale als die arktische
Region darbieten. Lady
Baker und Frau Holub
sind nur zwei Beispiele
unter mehreren Frauen, die nicht nur Monate, sondern
Jahre im unbekannten Innern Afrikas ansgedanert haben."
„In den arktischen Regionen hat mehr als einmal das
Weib eines englischen Walfischjägers überwintert in dem Fahr-
zeuge ihres Mannes. An der Westküste Grönlands bis nach
Upernavik wohnen dänische Beamte mit Frauen und Kindern,
deren hauptsächliches Ungemach ihre Vereinsamung ist. —
Nach eingehender Prüfung wurde entschieden, daß ich die
Expedition begleiten sollte. Ein Opfer, wie manche Mit-
schwester glauben wird, ist dieses für mich nicht; denn Wiß-
begierde und die Freude, meinem Manne hilfreich zur Seite
stehen zu können bei seinem Forschnngswcrke lassen mich die
Reise nicht als Opfer erscheinen. Ich bin stark und gesund,
gelte als gute Fußgängerin und fürchte keine Gefahr. Es
giebt dort nur Unbequemlichkeit, keine Gefahren, kein Fieber,
keine giftigen Reptilien u. s. w." (Folgt Beschreibung der
Ausrüstung.)
— Der Zensus Irlands vom 5. April d. I., dessen
vorläufige Ergebnisse jetzt bekannt geworden sind, spiegelt die
traurigen Zustände dies Landes deutlich wieder. Die Zensus-
direktoren sind bezeichnend genug alle Polizeibeamte gewesen.
Irland hatte 4 706162 Einwohner, das sind 468 674 oder
9,1 Prozent weniger als 1881. Im Jahre 1801 hatte
das Land noch 5 395 456 Einwohner, und die Bevölkerung
stieg bis 1841 auf 8 175 124. Dann trat der rasche Ver-
fall ein, der im letzten Jahrzehnt am größten gewesen ist.
Alle Provinzen sind zurückgegangen und. nur zwei Counties
zeigen eine Zunahme. Münster hat 12,2 und Connaught
11,9 Prozent der Bevölkerung verloren; cs sind die beiden
Provinzen, wo das keltische Element am stärksten vertreten
ist. In Ulster betrug die Abnahme 7,2 und in Leinster,
der am meisten englischen Provinz) 6,5 Proz. Aber auch
diese sind unter dem Einflüsse der allgemeinen Not stärker
zurückgegangen als im vorigen Jahrzehnt. Von den Eoun-
ties hat Dublin um 2,4 und Antrim um 1,4 Proz. zuge-
nommen. Dagegen beträgt der Rückgang in Monagham
16,2 Proz. Hauptsächlich ist die starke Auswanderung nach
den Vereinigten Staaten schuld au dem Rückgänge. Die Aus-
wanderung 1881—1891 wird aus 768 105 Köpfe berechnet;
der natürliche Zuwachs in derselben Zeit betrug nur 267 653.
Was die Verteilung nach der Religion betrifft, so sind
römisch-katholisch 3 549 745 oder 75,4 Proz.; 600 830 oder
12,8 Proz. episkopale Protestanten; 446 687 oder 9,5 Proz.
Presbyterianer; 55 235 oder 1,2 Proz. Methodisten. Die
Zahl der Juden beträgt 1798. Sie allein haben zuge-
nommen, sind in dem Jahrzehnt 1881—1891 um 1326
Köpfe oder 281 Proz. gewachsen, in einem der ärmsten
Länder Europas!
— Die Kultnrfortschritte in der Mission Karema
am Tanganjikasee, welche von den^„weißen Brüdern" des
Kardinals Lavigerie besetzt ist, werden in dem neuen Werke
von Jane F. Moir (.4 Lady’s Letters front Central
Africa, London 1891) als sehr bedeutend hingestellt.
Frau Moir begleitete ihren Mann, Direktor der afrikanischen
See-Gesellschaft, von den Schirehochlandcn bis Udschidschi.
Sie fand in Karema unter der Obhut von fünf Missionaren
mehrere hundert drei- bis fünfjährige, den arabischen Sklaven-
händlern abgekaufte Kinder. Man lehrt sie zunächst arbeiten,
seltener lesen, das erst später an die Reihe kommt, und
jedes Kind hat ein Stückchen Garten, das es bebauen lernt.
Da alle heimischen Einflüsse von den Kindern durchaus fern
gehalten werden, so wachsen sie ganz in christlichen An-
schauungen ans. Die Erwachsenen leben, nach Geschlechtern
getrennt, für sich; ebenso bilden die Verheirateten eine kleine
Kolonie für sich. Frau Moir sagt, dieses Missionssystem
bewähre sich vorzüglich.
— Der jüdische Fischtauz. Im Juni dieses Jahres
fand zu Sarajewo in Bosnieü unter genauester Beachtung
der bei den Spanjolen (spanischen Juden) üblichen her-
gebrachten Gebräuche die Trauung des Herrn Abraham Levi
mit Fräulein Simha Salmon statt, wobei die Honorationen
der Stadt zugegen waren. Nach dem Austausch der Ringe
fand in der Wohnung des Bräutigams der übliche Fischtauz
statt. Die Verwandten traten nacheinander vor die Braut
hin und jeder legte einen oder mehrere Fische, die am Kopfe
mit Blumen und am Leibe mit Rauschgold geschmückt waren,
zu den Füßen der Braut, die dann über jeden Fisch hinweg-
hüpfen mußte. An diesem Brauche, der den Wunsch der
Fruchtbarkeit symbolisiert, wird streng festgehalten (Allgem.
Ztg. des Judentums). Der ja in Erfüllung gehende Wunsch
nach Fruchtbarkeit zeigt sich auch in den Hochzeitsgebränchen
unsrer deutschen Inden, wenigstens da, wo an alter Sitte fest-
gehalten wird. Die Braut wird bei der Trauung unter dem
Baldachin zu diesem Zwecke mit Weizen beworfen und beim
Hochzeitsmahl (Chasma) wird ihr ein rohes Ei vorgesetzt,
damit sie so leicht gebären möge, wie eine Henne das Ei legt.
Frau Josephine Diebitsch-Peary.
Herausgeber: Dr. R. Andrer in Heidelberg, Leofoldstraße 27.
Druck von Friedrich View eg und Sohn in Braunschweig.
Braunschweig.
Jährlich 2 Bände in 24 Nummern. Durch alle Buchhandlungen und Postanstaltcn
zum Preise von 12 Mark für den Band zu beziehen.
1891.
Zur Geschichte der Ehe.
Von Dr. Dl. lvinternitz. Oxford.
Es ist in neuerer Zeit Mode geworden, von „Promis-
cuität“ oder „Hetärismns der Urzeit" und „Kommunalehe"
zu sprechen, als ob die Annahme, daß der Institution der
Ehe ein eheloses Zeitalter und der „individuellen Ehe" ein
Zeitalter der „Kommunalehe" vorausgegangen sei, keines
Beweises mehr bedürfte.
So glaubt Sir John Lubbock in der neuesten Auf-
lage seines berühmten Werkes „Tlle Origin of Civilisation
and the Primitive Condition of Man“ sagen zu können,
es sei nunmehr von den meisten Forschern zugestanden, daß
es eine Zeit gegeben habe, in der individuelle Ehe nicht
existierte und die Menschheit in einem Zustande lebte, den
man als Kommunalehe (eommnnal marriage) bezeichnen
könne1). Etwas vorsichtiger drückt sich P o st ans, wenn er
sagt: „Nach meiner Ansicht ist es wahrscheinlich, obgleich bis-
her nicht zu erweisen, daß die monogamische Ehe ursprüng-
lich überall aus der reinen Weibergemeinschaft durch die
Mittelstufen einer beschränkten Weibergemeinschaft, einer
polyandrischen und polygynischcn Ehe entstanden ist" 2).
Ploß äußert sich im ersten Bande seines Werkes „Das
Weib in der Natur- und Völkerkunde" über die von Lub-
bock, McLennan, Morgan, Post n.A. vertretene Hypo-
these noch vorsichtig genug, indem er sagt: „Es ist noch
zweifelhaft, ob die Untersuchungen dieser Männer den Schleier
von dem Geschlechtsleben in der grauen Vorzeit gehoben
haben, und ob ihre Theorie, daß in Vorzeiten vor Begründung
einer Familienzusammengehörigkeit die sogenannte Gemein-
schafts- oder Genossenschaftsehe überall geherrscht habe, den
Thatsachen entspricht." Jedoch lesen wir im zweiten Bande
desselben Werkes von Ploß: „Der Begriff der Ehe und
Familie ist allerdings ohne allen Zweifel kein dem Menschen
als Gattungswesen ein- oder angeborener; er ist vielmehr
ein mit der Kultur erworbener. Die tiefsten Nassen
kennen keine Bande, die wir als eheliche Ver-
bindungen bezeichnen könnten; sic sind mit dem
Eheverhältnis ebenso unbekannt, wic die Tiere.
Globus LX. Nr. 9.
I.
I Auch Honcgger hält in seiner allgemeinen Kulturgeschichte
dafür, daß es in der Urzeit nur einen sogenannten Hetäris-
mus gab, welcher jenen Gebräuchen vorausging, die dann
als Brantraub oder Brautkauf in der niedersten Form der
Erwerbung eines Eigentumsrechtes an einem Weibe sich bei
den Völkern einführten" 3).
In einer außerordentlich bedeutenden Dissertation über
den Ursprung der menschlichen Ehe — veröffentlicht als
der erste Teil eines größeren Werkes über die Geschichte der
Ehe — beschäftigt sich nun Weste r m ar ck I mit dem
Nachweise, daß die tiefsten Rassen, ebensowenig wie die
Tiere mit dem Eheverhültnis unbekannt sind, und daß die
Hypothese einer „Promiscuität" oder eines „Hetärismns
der Urzeit" jeder wissenschaftlichen Basis entbehrt.
Westermarck weist zunächst nach, daß die Institution der
Ehe — im weitesten Sinne des Wortes 5), in welchem es
nur ein mehr oder minder dauerndes Zusammenleben von
Männchen und Weibchen, das über den Fortpflanzungsakt
hinaus fortgesetzt wird, bedeutet — keineswegs ans den Men-
schen beschränkt ist. Unter den höheren Säugetieren finden
wir viele, bei denen Männchen und Weibchen auch nach der
Geburt eines Jungen zusammenleben, indem beide Eltern sich
in der Sorge um das Junge teilen. Dies ist namentlich
der Fall bei den Vögeln, deren eheliche Treue Brehm in
den beredtesten Worten geschildert hat. Es ist ebenso der
Fall bei den höheren Assen. Der Gorilla z. B. baut ein
Nest für seine schwangere Genossin und hält Wache über
Mutter und Junges. Ähnliches wird vom Chimpanse
berichtet.
Daß bei den niedrigsten Menschenrassen ein mehr oder
minder dauerndes Verhältnis zwischen Mann und Weib die
Regel ist, wird selbst von jenen Forschern zugestanden, welche
behaupten, daß einige Naturvölker mit der Institution der
Ehe unbekannt sind. Lubb ock stellt es allerdings als That-
sache hin, daß die niedrigsten Rassen keine Ehe haben M
Der vorsichtigere Post gesteht jedoch zu, daß sich der „Ur-
17
130
Dr. M. Winternitz: Zur Geschichte der Ehe.
zustand einer reinen Weibergemeinschaft" zur Zeit „nur
noch äußerst selten, vielleicht rein gar nicht mehr"
auf Erden finde* 3 4 5 * 7 8 *). Wir werden weiter unter sehen, wie es
mit den Thatsachen in dieser Beziehung bestellt ist. Daß
bei den weitaus meisten Völkern dieser Erde eheliche Bande
von größerer oder geringerer Festigkeit anerkannt sind, wird
selbst Lubbock nicht leugnen können.
Wenn nun diese Thatsachen darauf hinweisen, daß die
Institution der Ehe nicht erst ein Produkt der Kultur, sondern
im eigentlichsten Sinne des Wortes eine natürliche Ein-
richtung ist, die der Mensch von seinem anthropoiden Vor-
fahren überkommen hat, so fragt es sich, ob wir für eine
solche Annahme in bekannten Naturgesetzen eine Stütze
finden. Westermarck glaubt diese Frage im bejahenden Sinne
beantworten zu können, indem er auf das Prinzip der natür-
lichen Zuchtwahl hinweist. Während bei den niedern Tieren
die Natur ans andre Weise für die Erhaltung der Jungen
sorgt, ist in der höheren Tierwelt eine bessere Garantie für
die Erhaltung der Spezies gegeben, wenn Männchen und
Weibchen eine einigermaßen dauernde Verbindung eingehen,
und der Vater an. der Beschützung der Jungen teilnimmt.
Dazu kommen noch physiologische und psychologische
Thatsachen, welche die Hypothese der Promiscuità unwahr-
scheinlich machen. Maine hat darauf hingewiesen, daß
Promiscuitüt die Tendenz hat, Unfruchtbarkeit zu erzeugen,
und daß insbesondere bei kriegerischen Völkern Unfruchtbar-
keit Schwäche herbeiführt und zur Vernichtung führen muß.
Es ist auch aus diesem Grunde unwahrscheinlich, daß die
Menschheit jemals in einem dauernden Zustande von Pro-
miscuitüt lebte.
Das stärkste Argument jedoch gegen die Hypothese der
Promiscuità findet Westermarck in der psychologischen Er-
scheinung, daß sowohl bei den höheren Säugetieren als auch
bei den primitivsten Menschenrassen Eifersucht eine so
große Rolle im geschlechtlichen Leben spielt. Schon Dar-
win hat bemerkt, daß die über die Eifersucht der männlichen
Säugetiere bekannten Thatsachen gegen die Annahme sprechen,
daß regelloser Verkehr der Geschlechter im Naturzustände
geherrscht habe. Und was von den Säugetieren gilt, gilt
in erhöhtem Maße nicht nur von den rohesten Naturvölkern,
sondern vom Menschen überhaupt. Bei vielen der rohesten
Naturvölker, wie den Fenerländern, Australnegern, den Ved-
dahs auf Ceylon, sowie bei vielen Jndianerstämmen wachen die
Männer mit der größten Eifersucht über die Weiber, wir
finden bei vielen dieser Völker die grausamsten Strafen für
Ehebruch. Auf Eifersucht müssen wir auch die schauder-
hafte Sitte der Jnfibulation bei so vielen Völkern Afrikas I
zurückführen. Und nicht anders wird man das Verlangen
nach Virginität der Braut, welches bei den Völkern Asiens
und Afrikas zu den rohesten Bräuchen geführt hat "), er-
klären können. Wenn aber Westermarck das Mitsterben
der Frau bei dem Tode des Mannes, Witwenvcrbrcnnnng
und Mitbcgraben der Witwe, ans dem der Eifersucht ent-
springenden Wunsche, daß die Frau auch nach dem Tode
des Mannes keinem andern angehören solle, erklärt, so
scheint mir das zu weit zu gehen. Die Idee, welche der
Witwenverbrennung zu Grunde liegt, ist unzweifelhaft, daß
das Weib als ausschließliches Eigentum des Mannes an-
gesehen wird. Die Frau wird mit dem Manne verbrannt
oder begraben, sowie sein Pferd, sein Sklave oder andre
Eigentumsstücke des Mannes mit ihm bestattet werden.
Diese Idee des Eigentumsrechtes des Mannes über die Frau
hat jedoch mit Eifersucht nichts zu thun, sie entwickelt sich
naturgemäß ans der Raubehe. Es ist bezeichnend, daß in
Indien die Sitte der Witwenverbrcnnung sich am zähesten
bei der Kriegerkaste erhalten hat, und daß auch die Rstkshasa-
Ehe, d. h. die Ehe durch Raub, nach dem Gesetzbuche Manns10)
den Kshatriyas „gestattet" ist, was doch wohl nur heißt,
daß sie eben bei der Kriegerkaste besonders im Schwange
war. Das Verbot der Wiederverheiratung von Witwen,
das sich bei so vielen Völkern findet, ist wohl nur ein Über-
lebscl der älteren Sitte des Mitsterbens. Doch wäre cs
immerhin möglich, in dem Widerstreben, gegen Wiedcrverhcira-
tnng von Witwen Eifersucht über den Tod hinaus zu sehen.
Ein besonders mächtiger Faktor würde die Eifersucht
bei primitiven Völkern gewesen sein, wenn Westermarcks
Hypothese, daß es, wie bei den meisten Tieren, so auch
beim primitiven Menschen eine jährliche Paarungszeit ge-
geben habe, sich beweisen ließe. Ich glaube jedoch nicht,
daß diese Hypothese viel für sich hat. Die von Wester-
marck zur Stütze derselben angeführten Frühlingsbräuche,
welche mit geschlechtlichen Ausschweifungen verbunden sind,
scheinen mir vielmehr rein religiöse Feste zu sein.
Auf Grund aller der angeführten Thatsachen nun
kommt Westermarck zu dem Schlüsse, daß die Gemeinschaft
von Mann und Weib, Eltern und Kindern die früheste soziale
Einheit war, daß der Urmensch nicht in Horden, sondern
in Fanlilien lebte, daß der Vater stets einen integrierenden
Bestandteil der Familie ausmachte und in der Regel der
Beschützer von Mutter und Kind war, daß die Ehe daher
eine soziale Institution ist, die der Urmensch vom Anthro-
poiden überkommen hat.
Wie steht es nun mit allen den Argumenten, welche
von Bachofen, McLennan, Lubbock, Morgan, Post
und andern Forschern vorgebracht worden sind, um die
Hypothese einer Promiscuität oder einer Kommunalehe
der Urzeit zu erweisen? Westermarck hat den größeren
Teil seines Werkes einer eingehenden Kritik dieser Argu-
mente gewidmet. Ich will es versuchen, Westermarcks
Argumentation im Folgenden zu skizzieren. Ich werde
manches hinzuzufügen haben, das zu Gunsten von Wester-
marcks Annahme spricht, während ich in einigen Fällen (so
in der Frage nach dem Matriarchat) einen etwas abweichen-
den Standpunkt einnehme. Wir werden dann zum Schlüsse
sehen, inwieweit die Kritik Westermarcks berechtigt ist und
inwieweit seine eigenen Aufstellungen über die primitive
Fanlilie haltbar sind.
The Origin of Civilisation etc., 5th Ed., London
1889, p. 104: „ . . . and indeed it is now admitted by
most of those who have studied the subject, that there
was a time when individual marriage did not exist, and
when mankind lived in a state of what I have sugge-
sted we might call communal marriage“.
2) A. H. Post, Die Gefchlechtsgenossenfchstft der Urzeit and
die Entstehung der Ehe. Oldenburg 1875. S. 17.
3) H. Ptoh, Das Weib in der Natur- und Viilkerkunde,
2. Auflage von M. Bartels (Leipzig 1887) I, 327; II, 434.
4) The History of Human Marriage. Part I. The
Origin of Human Marriage. By Edward Westermarck,
Helsingfors 1889.
5) C. N. Starcke, The Primitive Family, London 1889,
p. 13: „In its widest sense, marriage is only a con-
nection between man and woman which is of more than
momentary duration, and as long as it endures they
seek for subsistence in common.“
e) „The lowest races have no institution of marriage“,
Lubbock, a. a. O., p. 69.
7) Post, a. a. O., S. 17.
8) Siche Plotz-Bartels, Das Weib, I, 154 ff.
») Ebend. I, 303 ff.
10) Mstnu, III, 24 und 33.
Dr. Johannes Hoefer: Korsika.
131
Korsika.
von Dr. Johannes Hoefer.
II.
Die Ureinwohner Korsikas waren höchst wahrscheinlich
iberischen Stammes; wenigstens fand Seneca, der eine zeit-
lang auf der Insel in der Verbannung lebte, ihre Sprache
derjenigen der Cantabrer sehr ähnlich. Aber frühzeitig hatten
auch die Etrusker Niederlassungen auf der Insel gegründet,
denen später phönizische und phocäische Kolonisten folgten.
Dann nahmen die Karthager das Land in Besitz, mußten
es aber nach dem ersten pnnischeu Kriege 238 den Römern
überlassen. Diese unterwarfen das tapfere Volk in langen,
blutigen Kämpfen und legten dann später unter Marius und
Sulla verschiedene Kolonien auf der Ostküste an, von denen die
bedeutendste Aleria war. Die Insel blühte jetzt rasch auf und
gelangte in der Kaiserzeit zu beträchtlichem Wohlstand. Aber
mit dem Zusauunenbrnchc des römischen Reiches ging auch für
Korsika eine Zeit der Unruhen an. Vandalen, Goten, Byzan-
tiner, Franken und Sarazenen herrschten nacheinander auf
der Insel, bis die Einwohner endlich 1077 Papst Gregor VII.
als ihren Oberherrn anerkannten, dessen Nachfolger Urban II.
dann die Verwaltung an die Pisaner übertrug. Damit be-
ginnt für das schwer geprüfte Land eine Periode des Friedens,
die aber leider nur zweihundert Jahre dauern sollte. Denn
1300 sahen sich die Pisaner gezwungen, Korsika an die Ge-
nuesen abzutreten, welche schon wiederholt Einfälle gemacht
hatten. Es folgten nun Jahrhunderte lange, ununterbrochene
Kämpfe gegen die verhaßte genuesische Gewaltherrschaft, die
mit ihrem oligarchischeu System die freiheitsliebenden Korsen
fortwährend zu Aufständen reizte. Ihren Höhepunkt er-
reichten diese Empörungen zuerst im 16. Jahrhundert unter
der Führung des großen korsischen Kriegshelden Jampiero,
den die Genuesen nach langen, verzweifelten Kämpfen endlich
durch Meuchelmord beiseite schafften, und dann nach einer
Periode der Erschöpfung und Ruhe aufs neue im 18. Jahr-
hundert, wo sich allmählich die jetzigen politischen Verhält-
nisse anzubahnen begannen.
Im Jahre 1735 landete Theodor von Neuhoff auf
Korsika, jener phantastische deutsche Baron, der nach langen,
abenteuerlichen Irrfahrten durch fast alle Länder Europas
nach Korsika verschlagen und von den Korsen zum König er-
wählt wurde, nur das Land von der Herrschaft der Genuesen
zu befreien. Zwar endete diese Tragikomödie schon nach
wenigen Jahren mit der Flucht des Abenteurerkönigs, aber
sie war nur das Vorspiel jenes großartigen Dramas, welches
nicht lange nachher, 1752, anhebt und sich um die Person
des größten korsischen Patrioten, Pas quäle Paoli, dreht.
Die Genueser konnten sich der heldenmütigen Korsen nicht
mehr erwehren und hatten von dem mächtigen Frankreich
Hülfe erbeten. Aber die Korsen unter ihrem großen Führer
blieben trotz alledem überall Sieger. Unter steten Kümpfen
gelang cs Paoli, ans demokratischer Grundlage eine muster-
hafte Staatsverfassnng zu schaffen, eine nationale Regierung
in Eorte einzurichten und durch Erbauung einer Kriegsflotte,
Hebung des Ackerbaus, Begründung von Schulen u. s. w.
den Grund zu einer selbständigen, hoffnungsvollen Entwickelung
der Insel zu legen. Da entschlossen sich die Genuesen, an
allem verzweifelnd, 1768 die Insel an Frankreich zu ver-
pfänden, und nun war es um die Freiheit der Korsen ge-
schehen. Zwar nahm der heldenmütige Paoli, im Vertrauen
auf engliche Unterstützung, den Kampf selbst gegen diese Über-
macht auf und schlug die Franzosen in mehreren Gefechten.
Aber die britische Hilfe blieb ans; eine große französische
Armee von 30000 Mann landete im folgenden Jahre auf
der Insel, und in der blutigen Schlacht bei Ponte Nuovo
am Goto wurde die korsische Freiheit zu Grabe getragen.
Paoli floh nach England, und sein Vaterland wurde eine
Provinz des französischen Reiches. Aber in demselben Jahre,
nur wenige Monate nach jener verhängnisvollen Schlacht,
wurde von einer korsischen Frau der Mann geboren, der in
einem Siegesläufe ohne gleichen sein Vaterland an den fran-
zösischen Eroberern rächen und zugleich durch Bezwingung
des gesamten Europas seine Mitbürger mit ihrem Schicksale
aussöhnen sollte.
Seitdem sind die Korsen gute Patrioten geworden, wenn
auch größtenteils mit bonapartistischer Färbung, und heute
fällt es keinem Mehr ein, nach Wiederherstellung der alten
Freiheit zu trachten oder etwa Anschluß an Italien zu suchen.
Soviel über die Geschichte der Korsen, von der Grego-
rovius uns in seinem Werke eine so meisterhafte Darstellung
giebt, daß dieser Teil sogar ins Französische und Italienische
übersetzt worden ist. In dieser Geschichte aber spiegelt sich
aufs lebhafteste der korsische Nationalcharakter wieder,
obwohl er anderseits jedenfalls durch die Geschichte erst seine
ausgeprägte Eigentümlichkeit gewonnen hat.
„Der Korse ist außerordentlich freiheitsliebend, kühn und
tapfer, hoher Begeisterung und poetischer Erregung fähig; er
ist von ritterlicher Gesinnung und liebt die schwere Arbeit
nicht; dabei hat er ein tiefes und leicht verletzbares Ehrgefühl,
ist leidenschaftlich, hartnäckig, jähzornig, leicht aufbrausend
und nachtragend; den Wert des Lebens schützt er gering.
Anderseits ist er offen, freundlich, gefällig, zuverlässig, mäßig
und außerordentlich gastfrei. Der Grundzug seines Charakters
ist ein ernster; daher ist er meistens schweigsam und liebt
nicht, viele Umstände zu machen. Er achtet fremdes Eigen-
tum hoch, und Diebstähle gehören zu den Seltenheiten. Falsch-
heit macht man dem korsischen Charakter wohl mit Unrecht
zum Vorwurf" (Toeppeu).
In der Körperbeschaffenheit stimmt der Korse im
allgemeinen mit den übrigen Romanen Südeuropas überein.
Er ist schlank, von mittlerem Wüchse, hat meist schwarzes,
leicht gelocktes Haar und dunkle Augen, die oft unruhig hin
und her gehen und dann einen unheimlichen Eindruck machen.
Sein Auftreten hat immer etwas Freies, Selbstbewußtes.
Dagegen haben die korsischen Frauen durchweg ein gedrücktes,
niedergebeugtes Wesen, was freilich nicht zu verwundern ist,
da sie von jeher die schwersten Arbeiten verrichten mußten
und auch heute noch eine sehr untergeordnete gesellschaftliche
Stellung einnehmen. Es ist das eine der Schattenseiten des
korsischen Lebens.
Von einer Nationaltracht ist in den verkehrsreicheren
Teilen der Insel nichts mehr zu bemerken; in den entlegenen
Gebirgsthälern dagegen, wie unter den Hirten des Monte
Rotoudo und Monte Cinto, findet man dieselbe noch ziemlich
häufig. Aber während in andern Ländern fast immer die
Frauen die Nationaltracht am längsten bewahren, ist dies auf
Korsika merkwürdigerweise nicht der Fall. Eine eigentliche
nationale Franentracht giebt es nicht mehr, wenn
auch bei festlichen Gelegenheiten vielleicht hier und da noch
die von Grcgorovius und andern beschriebene Faldetta an-
gelegt wird. Die Frauen tragen mit Vorliebe dunkle Farben
und haben regelmäßig ein dunkles Kopftuch um.
Dagegen hat sich unter den Männern die alte National-
tracht stellenweise noch erhalten. Sie besteht in einer-
weiten Hose und einem joppenartigcn Rock von einem sehr
17*
132
Dr. Johannes Hoefer: Korsika.
groben, dunkelbraunen Tuch, welches die korsischen Frauen
eigenhändig aus der Wolle der einheimischen Schafe ver-
fertigen; dazu kommt eine phrygische Mütze von demselben
Stoff und ein Paar kräftiger, stark benagelter Schnürschuhe.
Im Winter gewährt ein Mantel von demselben braunen
Tuch oder von Ziegenfell Schutz gegen die Kälte (f. bei-
stehende Abbildung). Auf Reisen nimmt der Korse regelmäßig
eine Kürbisflasche voll Wein mit, welche französisch gourde,
italienisch zucca genannt wird. Einen Stock trägt er ge-
wöhnlich nicht, zum Berg-
steigen verachtet er ihn sogar.
Dagegen ist das Waffen-
trageu noch sehr allgemein,
trotzdem es aufs strengste
verboten ist, verborgene
Waffen bei sich zu führen.
Übrigens geht der wohl-
habende Korse selten zu Fuß;
er reitet gewöhnlich. Auch
die Frauen sieht man oft zu
Pferde, und zwar rittlings
tvie Männer sitzend.
Unter den Sitten und
Gebräuchen des korsi-
schen Volkes ist natürlich
vor allem die Blutrache
oder Vendetta zu erwäh-
nen, weil Korsika immer
noch als klassisches Beispiel
für diese uralte, schreckliche
Sitte gilt. Allerdings ge-
hört dieselbe heute auch in
Korsika bereits der Ge-
schichte an, aber noch vor
40 Jahren, als Gregoro-
vius die Insel besuchte
(1852), war sie allgemein
verbreitet. Übrigens ist die
Blutrache durchaus keine
spezifisch korsische Eigentüm-
lichkeit, sie ist noch heute bei
vielen Völkern zu finden,
aber auf Korsika hat sic
unter günstigen Verhält-
nissen eine besonders aus-
geprägte Gestalt angenom-
men. Festes, solidarisches
Zusanlinenhalten der Fami-
lien uub Geschlechter bildete
ans Korsika, wie überall,
die Grundlage für die Ent-
stehung der Sitte; aber
der jähzornige, ehrgeizige,
leidenschaftliche Charakter
des Korsen in Verbindung
mit den gesetzlosen, anarchi-
schen Zuständen, die Jahr-
hunderte lang unter der Gennesenherrschaft obwalteten, trugen
in hervorragendem Maße zu ihrer Vertiefung bei. Streit,
Beleidigung, Eifersucht u. a. gaben Veranlassung zu einem
Morde; der Mörder floh ins Gebirge, in die Macchia, und
wurde Bandit, d. h. ein vom Gesetze Gebannter; er lebte
hier unter den Hirten oder bei Bekannten und war dem Arm
der Gerechtigkeit entrückt. Der Mord blieb also ungesühnt;
aber die leidenschaftliche Erregung der Hinterbliebenen des
Erschlagenen forderte Rache. An wen sollten sie sich da
halten, wenn nicht au die Familie des Mörders? So bc-
gann denn jetzt eine endlose Familienfehde, ein wechselseitiges
Morden, welches so lange dauerte, bis die Zeit die Leiden-
schaften abgekühlt hatte und wohlwollende Freunde durch ihre
Vermittelung den Frieden wiederherstellten. Jene Banditen,
welche in der Macchia oft fünfzehn bis zwanzig Jahre ein
scheues unstätes Leben führten, waren keine Räuber oder
Briganten, wie sie auf dem italienischen Festlande vielfach zu
treffen sind; ihr Feind war nur die Staatsgewalt und die
Verwandten der andern Familie; einem Fremden thaten sie
nichts zuleide. Noch heute
leben die Thaten mancher
dieser Banditen, wie jenes
Massoni, der vor 40 Jah-
ren un Kampf mit den Ver-
tretern der Obrigkeit fiel,
unter dem Volk in aller
Munde.
Unzählige Opfer muß
die Blutrache im Laufe der
Jahrhunderte gekostet haben.
Im 16. Jahrhundert schei-
nen jährlich gegen 1000
Personen der entsetzlichen
Sitte erlegen zu sein, und
noch in den Jahren von
1821 bis 1852 sind ihr
nicht weniger als 4000
Menschen zum Opfer ge-
fallen, obwohl bereits Paoli
heftig gegen sie vorgegangen
war, und obwohl die Fran-
zosen alles aufboten, um sie
zu unterdrücken. Erst dem
energischen Eingreifen des
dritten Napoleon gelang es,
das Übel gänzlich auszu-
rotten. Zwei Maßnahmen
waren es, die endlich eine
durchschlagende Wirkung er-
zielten. Einmal wurde im
Jahre 1853 ein Gesetz er-
lassen, welches aufs strengste
alles Waffentragen verbot,
ein Gesetz, das für ver-
borgene Waffen noch heute
Geltung hat; und dann be-
folgte die Regierung von
jetzt an die Praxis, sobald
der Mörder ins Gebirge
geflohen war, sich an die
Familie desselben zu hal-
ten. Bei dem außerordent-
lich ausgeprägten Familien-
sinn der Korsen war die
Folge davon die, daß der
Mörder sich meist selber
dein Gerichte stellte. Heute,
wie gesagt, gehört die Vendetta bereits der Vergangenheit
an, und nur die älteren Leute erinnern sich noch der Zeiten,
wo eine Familie vor der andern nicht sicher war und die
Banditen wie das Wild in den Bergen gejagt wurden.
Bei einem Volke, in dessen Schoße der Tod so reiche
und häufige Ernten hält, wie bei wenig andern, darf man
sich nicht wundern, wenn auch die Leichenfeierlichkeiten sich in
außerordentlicher Weise entwickelt haben. Zu den uralten
Gebräuchen der korsischen Nation gehören auch die Toten-
klagen. Anr frühen Morgen vor dem Leichenbegängnisse,
Mann von Calasima (Korsika). Nach einer Photographie.
Dr. Johannes Hoefer: Korsika.
134
Dr. Johannes Hoefer: Korsika.
wenn der Tote in den Sarg gelegt wird, kommt der Chor
der Klageweiber, von einer Frau, die Dichterin und Sängerin
zugleich ist, geführt, und nachdem sie von einem Weibe der
trauernden Familie zum Klagen aufgefordert sind, bilden sie
einen Kreis um den Toten und schwingen sich in wildem
Reigen herum, den Kreis lösend und wieder schließend, immer
mit Klageruf und den stärksten Zeichen des Jammers. In
den Bergen des Innern, vor allem im Niolo, haben sich
diese Pantomimen noch in ihrer ganzen altheidnischen Kraft
erhalten. „Ihre dramatische Lebendigkeit ist grauenvoll. Es
sind nur Weiber, welche tanzen, klagen und singen. Die
Haare aufgelöst und mänadenhaft um die Brust fliegend, die
Augen voll sprühendem Feuer, die schwarzen Mäntel flat-
ternd, so schwingen sie sich um, stoffen ein Klagegeheul aus,
schlagen die flachen Hände
zusammen, schlagen sich die
Brüste, raufen sich an den
Haaren, weinen, schluchzen,
werfen sich au der Bahre
nieder, bestreuen sich mit
Staub — dann schweigt das
Geschrei, und diese Frauen
sitzen nun still, den Sibyl-
len gleich ans dem Boden
der Totenkammer, tiefaus-
atmend, sich beruhigend. —
Schrecklich ist der Gegen-
satz zwischen dem wilden
Totentanz und dem Toten
selber, welcher starr ans der
Bahre liegt und doch diesen
Fnrientaumel regiert."
„Plötzlich springt aus
beut Kreise der Frauen eine
empor, gleich einer be-
geisterten Seherin hebt sie
ein Lied auf den Toten an.
Recitativisch trägt sie das
Lied vor, Strophe für
Strophe, und eine jede endigt
mit Weh! Weh! Weh! wel-
ches der Klagechor wieder-
holt, nach Weise der Tra-
gödie bei den Griechen.
Die Sängerin ist auch die
Chorführerin, welche das
Lied gedichtet hat oder im-
provisiert. In der Regel
werden diese Gesänge, Lob-
lieder oder Rachelieder, in
denen der Preis der Toten
mit der Klage um ihn oder
mit der Aufforderung zur Rache wechselt, auf der Stelle
gedichtet" (Gregorovius).
Einige dieser Dichterinnen gelangten zu hoher Berühmt-
heit und ihre Lieder waren vielbcgehrt; so im vorigen
Jahrhundert Mariola beite Piazzole und Clorinda Fran-
ceschi aus der Casiuca. Diese Totcnlieder (Voceri), von
denen Gregorovius eine ziemliche Anzahl in der Übersetzung
mitteilt, sind meist in trochnischem Versmaß mit drei-
fachem Reime geschrieben; es könnte keine bessere Form zum
Ausdruck des dumpfen Schmerzes gewählt werden. Der
Inhalt der Voceri aber giebt uns einen tiefen Einblick in
die leidenschaftliche Natur des Korsen. Bald in stiller Ver-
zweiflung den Tod des Dahingeschiedenen beklagend, bald
in wilden Ausrufen zur Rache auffordernd, wissen sie das
Furchtbare und Schreckliche in einen Hauch so wehmütiger
Schönheit zu kleiden, wie es sich fast in keiner Volkspoesie
wiederfindet.
Neben diesen Totenklagen und Totentänzen haben die
Korsen auch den Waffentanz, welcher seit den Kämpfen
der Christen mit den Mauren Morcsca genannt wird. Es
sind theatralische Aufführungen, welche stets eine Episode aus
den Kämpfen mit den Sarazenen und zwar mit besonderer
Vorliebe die Rückeroberung der korsischen Städte Aleria und
Mariana zum Gegenstände haben. Sie haben ans diese Weise
ein profan-religiöses und zugleich nationales Gepräge erhalten
und haben in den Zeiten der Volkserhebung wohl oftmals
dazu gedient, den Mut der Jugend an den Heldenthaten der
Vorväter zu entflammen. Die Moresca ist zugleich das
einzige Nationaldrama der Korsen und ist für die Geschichte
des Dramas von hohem
Interesse. (Vgl. Gregoro-
vius I, 287 ff.)
Das alte korsische Haus
erinnert in seiner Einrich-
tung noch lebhaft an die
Zeit der Blutrache. Es ist
ans Steinen gebaut, besteht
in der Regel ans dem Erd-
geschoß und einem Stock-
werk und macht mit seinen
kleinen, schießschartenähn-
lichen Fenstern, die im
Erdgeschoß oft sogar ganz
fehlen, einen festnugsartigcn
Eindruck. Die Bewohner
konnten sich ja auch jeden
Augenblick darauf gefaßt
machen, ihre Wohnung in
eine wirkliche Festung um-
wandeln zu müssen. Ost
genug ist es vorgekommen,
daß sich Leute 15 bis 20
Jahre in ihren Häusern
eingeschlossen hielten und
schließlich, wenn sie sich un-
vorsichtig ins Freie wagten,
doch noch der Kugel ihrer
Blutfeinde zum Opfer fielen.
Bequemlichkeit darf man in
den Häusern nicht suchen;
alles ist nur mit dem Not-
dürftigsten ausgestattet, und
nicht selten leben in wenigen
Räumen mehrere Familien
zusammen. Die Dächer sind
in dem Bereich des nordöst-
lichen Gebirgssystems viel-
fach mit Schiefer gedeckt, der dort häufig vorkommt; in der
Granitgegeud nimmt man Holzschindeln statt dessen. Die
Hütten der Hirten im Gebirge sind ans Steinen ohne Mörtel
erbaut; manchmal wohnen diese Hirten freilich auch in
Gruben, die sie mit einem Stein zudecken. In größeren
Ortschaften werden schon vielfach Backsteine und Dachziegel
verwendet; die Häuser sind hier meist mehrere Stockwerk
hoch und sehr einförmig, oft an den Felsen angebaut, so
daß man von der Rückseite in eins der oberen Stockwerke
eintreten kann.
Die korsische Sprache ist ein Absenker des Lateinischen,
von dem sie sich frühzeitig abgesondert hat. Untereinander
bedienen sich die Korsen fast ausschließlich dieser National-
sprache; nur in Bastia und Umgegend greift das Fran-
zösische schon mehr und mehr um sich; doch wird letzteres
Ghisoui und der Christe-Eleison (Korsika). Nach Photographie.
Dr. Johannes Hoefer: Korsika.
135
auf der ganzen Insel, selbst in entlegenen Gebirgsthälern,
verstanden, weil es Gerichts- und Unterrichtssprache ist.
Zudem werden die jungen Korsen fast ausnahmslos in fran-
zösische Regimenter gesteckt, damit sie von da die Liebe zu
Frankreich in die Heimat mit zurückbringen. — Außer dem
Korsischen und Französischen wird noch eine dritte Sprache
auf der Insel gesprochen, das Griechische, aber nur in
einem Orte auf der Westküste, Carghese, einer griechischen
Kolonie, welche die Genuesen im Jahre 1676 hier anlegten,
in der irrtümlichen Hoffnung, die Korsen durch diese fremden
Elemente zn zähmen.
Die Bevölkerungszahl Korsikas ist im Laufe der Jahr-
hunderte großen Schwankungen unterworfen gewesen. Während
nach den Berichten der korsischen Schriftsteller im 15. Jahr-
hundert 100 000 Familien, d. h. 400 000 bis 500000
Menschen, auf der Insel wohnten, schmolz die Zahl in den
folgenden Zeiten so stark zusammen, daß das Land zn Beginn
der französischen Herrschaft nur noch ungefähr 120 000 Ein-
wohner zählte. Seitdem hat sie sich allerdings wieder ge-
hoben, so daß sie 1886 sich auf etwa 278 000 belief; aber
Korsika ist trotz alledem immer noch schwächer bevölkert, als
alle andern französischen Departements außer dreien; auf
1 qkm kommen nur 32 Einwohner gegen 72 in ganz Frank-
reich und 88 in Deutschland. Am dichtesten bevölkert ist
das Land diesseits der Berge, d. h. der Nordosten und Osten,
während die öde Balagna im Nordwesten die geringste Dichtigkeit
ausweist. Die natürliche Vermehrung der Korsen ist eine
sehr große, wie man an dem außerordentlichen Kinderreich-
Weiße Büßer auf Korsika. Nach einer Photographie.
tum sieht; doch hält eine starke Auswanderung nach Italien,
Algier, Amerika und besonders nach Frankreich die Be-
völkernngszahl stets etwa auf dem gleichen Niveau.
Die Volksbildung nimmt trotz der über 600 Volks-
schulen nur sehr langsam zn. Bei der Zählung im Jahre
1876 fand man noch 42,8 Proz. Analphabeten unter den
über 6 Jahre alten Bewohnern, also fast die Hälfte. Freilich
ist die Volksbildung in einem großen Teile von Frankreich
selbst noch schlechter. Der Schulunterricht zielt vor allem
darauf ab, aus den jungen Korsen gute französische Patrioten
zu machen; aus ihrer eigenen vaterländischen Heldengeschichte
erfahren sie deswegen so gut wie nichts, während sie die
französische Geschichte ziemlich eingehend lernen.
Der Wohlstand Korsikas hat sich zwar unter der
französischen Regierung gehoben, ist aber noch immer sehr
gering. Die meisten Korsen begnügen sich mit einem Besitz
von ein paar Kastanienbäumen und einigen Ziegen, soviel
als ausreichen, um eine Familie zu ernähren. Doch ist die
Verteilung der Gitter eine sehr gleichmäßige. Es giebt weder
übertriebenen Reichtum noch große Armut ans der Insel,
und Bettelei kennt man — von Ajaccio, Orezza u. a. Fremden-
städten abgesehen — eigentlich gar nicht. Die Arbeitslöhne
sind sehr gering; man bedient sich deshalb mit Vorliebe der
genügsamen italienischen Arbeiter, welche zu Tausenden in
Steinbrüchen, bei Straßenbauten und der Ackerbestellung
verwandt werden.
Der Außenhandel ist im Verhältnis zn den natür-
lichen Hilfsquellen der Insel noch recht unvollkommen ent-
wickelt, da die Einfuhr fast 2^ mal so groß als die Ausfuhr
ist, was zum großen Teil auf dem äußerst niedrigen Zustande
der Industrie, zum Teil aber auch ans dem Charakter der
Einwohner beruht. Die Haupteinfnhrartikel sind dem ent-
136
Dr. Johannes Hoefer: Korsika.
sprechend Kolonialwaren und Jndnstrieprodukte, während
unter den Ansfnhrgegenständen Holz, Ol und Wein oben-
ansteheu.
Im Innern hat sich der Verkehr erst seit der Über-
nahme der Insel durch die Franzosen entwickelt. Straßen
gab es vorher noch gar keine; erst in den siebziger Jahren
des letzten Jahrhunderts wurde mit deren Erbauung begonnen.
Heute verbindet ein weitverzweigtes Netz wohlgepflegtcr
Straßen auch die entlegensten Ortschaften miteinander; nur
das Hochgebirge ist noch völlig unwegsam. Welche gewaltigen
Schwierigkeiten und Hindernisse man aber zu überwinden
hatte, ehe man zu dem jetzigen Zustande gelangte, das zeigt
am besten jene großartige Anlage der Calanchenstraße, welche
wir S. 117 bereits besprachen. Vor ein paar Jahren ist
endlich auch die erste Eisenbahnlinie eröffnet, welche die beiden
Hauptstädte Ajaccio und Bastia miteinander verbindet, und
schon beginnt sich das Netz weiter auszubreiten.
Der Fremdenverkehr ist noch sehr unbedeutend, wenn
man von den Kurgästen Ajaccios absieht. Das Innere wird
außer von Franzosen und Italienern fast nur noch von
Engländern bereist; Deutsche sind gänzlich unbekannt, auch
von Deutschenhaß weiß man nichts. Man reist jetzt in allen
Teilen des Landes vollkommen sicher und ziemlich billig;
Gasthäuser giebt es fast in jedem Ort, und wo keins ist,
darf man sich immer auf die Gastfreundlichkeit der Korsen
verlassen.
Die korsischen Ortschaften liegen fast sämtlich auf der
Kuppe von Hügeln und Bergen, nur ganz selten unten auf
dem Thalboden. Besonders malerisch nehmen sich diese An-
siedlnngen aus, wenn sie, wie Bonifacio oder wie Nonza an
der Westküste des Kap Corso, auf steilen Felsen gleich Adler-
horsten hoch über der brandenden See schweben.
Unter den Städten Korsikas nimmt Bastia mit etwa
20000 Einwohnern durch Größe und Bedeutung für Handel
und Verkehr noch immer den ersten Rang ein, trotzdem
Ajaccio, die nominelle Hauptstadt, ihm denselben schon seit
langem streitig macht. Bastia ist keine alte Stadt; es ver-
dankt seinen Namen und seine Entstehung der Bastei, welche
die Genuesen dort anlegten; noch heute ist die Stadt stark
befestigt. Sie liegt amphitheatralisch um einen kleineren
Dolmen von Cauria (Korsika). Nach einer Photographie.
Hafen herum, über welchem die hohen, dicht gedrängten
Häuser terrassenförmig aufsteigen. Weiter hinauf erheben
sich die grünen Berge mit verlassenen Klöstern und Oliven-
hainen und Fruchtgärten voll Orangen und Citronen. Das
Leben konzentriert sich auf eine lang gezogene Hauptstraße
und den Napoleonsplatz, welcher unmittelbar am neuen Hafen
gelegen ist und einen schönen Blick ans den toskanischen
Kanal mit den Inseln Elba, Capraja und Monte Christo
gewährt.
Außer Bastia und dem verödeten Aleria hat die Ostküste
nur noch einen bedeutenderen Hafenort, Porto Vecchio,
an dem geräumigen Golf gleichen Namens. Der Hafen
kann als Ankerplatz für die Flotte im Falle eines Krieges
mit Italien für Frankreich von Bedeutung werden. Zudem
ist die Umgegend auch hier sehr fruchtbar; aber so lange die
Sümpfe nicht trocken gelegt sind, wird an einen Aufschwung
des Platzes nicht zu denken sein.
Wenden wir uns weiter südwärts, so erreichen wir in
Bonifacio den südlichsten Punkt und zugleich den selt-
samsten Platz der ganzen Insel (s. Abbild. S. 133). Auf einem
steilen, 60 m hohen Kalkfelsen erbaut, ans drei Seiten vom
Meer umbrandet und mit starken Befestigungen versehen,
blickt dieses korsische Gibraltar herausfordernd nach dem
benachbarten Sardinien hinüber, die ganze Meerenge be-
herrschend. Ein steiler Pfad führt vom Gestade zu der Stadt
empor; durch zwei Zugbrücken und zwei alte Thore gelangt
man ins Innere. Die ganze Stadt liegt innerhalb der
Festung, und da infolgedessen der Raum sehr beschränkt ist,
mußten die Häuser sämtlich dicht aufeinander gedrängt und
möglichst hoch gebaut werden. Sie sind meist aus Kalksteinen
aufgeführt und daher ebenso weiß wie ihre Umgebung; auch
die Mauern und die stumpfen Türme sind weiß. Ein
dichter, unangenehmer Kalkstaub wird jeden Augenblick in den
engen, unentwirrbaren Gassen aufgewirbelt. Freie Plätze
oder breitere Straßen giebt es nicht, und von Menschenleben
und Verkehr ist deshalb wenig zu bemerken. Die Umgegend
ist im allgemeinen recht öde und melancholisch, aber stellen-
weise trifft man doch ans so üppige Olivenhaine und Frucht-
gärten, daß man staunen muß über den Fleiß der Bewohner,
der ans diesem trocknen Kalkboden eine so üppige Vegetation
hervorzuzaubern verstand. Unten am Meeresgestade aber
haben die Wellen phantastische Figuren in den Felsen ge-
Dr. C. Steffens: seebildung in der Coloradowüste.
137
graben und prächtige Grotten gebildet, deren eine sogar der
blanen Grotte auf Capri an die Seite gestellt wird.
Zwei Städte waren es, welche einstmals an dem all-
gemeinen Hasse der Korsen gegen die genuesische Herrschaft
nicht teilnahmen, sondern jederzeit treu zu derselben gehalten
haben und dafür auch mit manchen Vorrechten ausgestattet
wurden: Bonifacio und Calvi. „ITlmrtas!" steht deshalb
ans dem Wachtturme der einen Stadt, „Civitas Calvis
seiuper fidelis“ über dem Thore der andern. Calvi, am
entgegengesetzten Ende der Insel malerisch gelegen, da, wo die
Westküste sich nach Osten biegt, ist durch seine Schiffsverbin-
dung mit Frankreich und Genna noch heute die wichtigste
Stadt des Nordwestens.
Der natürliche Stütz- und Mittelpunkt für alle nationalen
Bestrebungen war von jeher Corte, die Hauptstadt im
Innern. Aus dem Tavignano, der sich hier mit der wilden
Restonica vereint, erhebt sich auf dem linken Ufer steil ein
100 rn hoher Felsen, dessen Gipfel die vielbestürmte Citadelle
krönt. Hier war der Sitz jener nationalen Regierung, die
Paoli eingesetzt hatte; hier hatte er sogar eine Universität
gegründet, die lange Zeit in ziemlicher Blüte stand; und noch
heute zeigt man das Haus, welches der große Patriot in den
Jahren 1755 bis 1769 bewohnte. Die Stadt zählt übrigens
nur etwa 5000 Einwohner und bietet heutzutage außer
ihren historischen Erinnerungen und ihrer wunderbaren
Lage dem Besucher kann: noch etwas Interessantes dar.
Corte ist die Hauptstation ans der Eisenbahn, die Bnstia
mit Ajaccio verbindet. Weiter südlich, in dem Col di Bizza-
vona, erreicht dieselbe ihren Höhepunkt, um dann wieder
nach Westen abzufallen. Wenn man sich von hier aus da-
gegen nach Osten wendet, so gelangt man in eine wilde, groß-
artige Gebirgsgegend, in welcher der Fium Orbo seinen
Ursprung nimmt. Hier, in weltentrückter Einsamkeit, liegt
der kleine Ort G h i s o n i, und in dessen Nähe erhebt sich
jener auffallend gezackte Berg (f. Abbildung S. 134), welcher
den seltsamen Namen Christe Eleison führt. In der
Revolutionszeit soll ein armer Priester hier in einer Grotte
Zuflucht gefunden und den Hirten der Umgegend gepredigt
haben, wofür diese ihn mit Lebensmitteln versorgten. Daher
habe der Berg seinen Namen erhalten.
Sartene (Sartona), die wichtigste Binnenstadt des
Südens, etwa von derselben Größe wie Corte, bietet wenig
Interessantes. Erwähnenswert sind nur die nächtlichen
Wallfahrten der weißen Büßer, welche alljährlich in der
Charfreitaguacht nach der kleinen Kapelle von San Bastiano
unternommen werden (s. Abbildung S. 135).
Aber in der Nähe von Sartene, bei dem kleinen Orte
Cauria befindet sich einer jener rätselhaften Dolmen, denen
wir ans Sardinien und den Balearen so häufig begegnen,
und welche der wissenschaftlichen Forschung noch immer so
große Schwierigkeiten bereiten (s. Abbildung S. 136).
Es bleibt uns jetzt nur jene Stadt zu erwähnen übrig,
welche als Geburtsort des ersten Napoleon einen welt-
geschichtlichen Ruf hat: Ajaccio. Wenngleich Bastia an
Größe nachstehend, ist sie doch nicht nur die politische Haupt-
stadt, sondern zugleich die schönste Stadt der Insel. „Sie
liegt am Nordnfer eines herrlichen, bergumrahmten, tiefblauen
Golfes, der einen Blick auf die meist schneebedeckten Häupter
des Monte Renoso, Monte d'Oro und Monte Rotondo ge-
währt; ihre Straßen und Plätze sind sauber, der leider ver-
kehrsarme Hafen ist schön eingerichtet. Den Glanzpunkt der
Stadt bildet der Diamantplatz, welcher unmittelbar am Meere
liegt, und ans welchem die beiden Hauptstraßen, Cours
Grandval und Cours Napoleon, ausmünden; ihn ziert auch
ein schönes Standbild, welches Napoleon I. zu Pferde als
römischen Kaiser darstellt, umgeben von seinen vier Brüdern"
(Toeppen, S. 25). Au napoleonischen Erinnerungen ist
Ajaccio natürlich so reich, wie keine andre Stadt; vor allem
die Casa Bonaparte ist voll der interessantesten Gegenstände,
die in irgend welcher Beziehung zu dem großen Eroberer
stehen. Über Ajaccios Bedeutung als klimatischer Kurort
haben wir schon oben gesprochen. Mögen, von Jahr zu
Jahr mehr Reisende und Kurgäste ihre Schritte hierher
lenken, um dem Genius des großen Korsen einen Tribut zu
zollen, sich in vergangene Zeiten und Sitten zu versenken
oder ihre geschwächte Gesundheit wieder herzustellen; sie
werden es gewiß nicht bereuen.
Der Korse aber darf mit Recht jedem Fremdling voll
Stolz und Selbstbewußtsein entgegentreten: eine Nation, die
Männer, wie Paoli und Napoleon erzeugt hat — von so
manchen andern gar nicht zu reden — hat sich ihren Platz
in der Weltgeschichte erobert. (Schluß.)
Seebildung in der Lol orado wüste.
Don Dr. (O. Steffens. New-tzork.
Die plötzliche Bildung eines großen Süßwassersees in
der Coloradowüste ist eine der interessantesten naturwissen-
schaftlichen Erscheinungen der Neuzeit. Die Sache hat nicht
nur vom wissenschaftlichen Standpunkte aus Interesse erregt,
sondern ist auch praktisch von Wichtigkeit, da es sich um
die Gefährdung der durch die Wüste führenden Bahn, sowie
um die Gewinnung fruchtbarer Ländereien an Stelle einer
großen wüsten Landschaft handelt. Ich will daher versuchen,
zusammenzustellen, was hier bisher über dieses- jedenfalls
wichtige Vorkommnis verlautet.
Die Wüste erstreckt sich im südlichsten Teile von Kali-
fornien bis nach der mexikanischen Grenze hin. Im Osten
reicht sie fast bis an den Coloradoflnß, im Westen ist sie von
den Jacintobergen begrenzt und im Norden verläuft sie in
das Coahnillathal am Fuße der St. Bernhardinoberge.
Dieses Thal bildet zusammen mit der Coloradowüste eine
der größten Depressionen unsrer Erde, die an ihrer tiefsten
Stelle, ungefähr im Mittelpunkt 90 m unter dem Spiegel
des Ozeans gelegen ist. Nach Süden und Norden zu hebt
sich die Depression wieder. Im Nordosteu, wo sie von der
Süd-Pacificbahn durchschnitten wird, hat sie noch eine durch-
schnittliche Tiefe von —70 bis —75 m. Ihren Namen
Wüste (Desert) erhielt sie wegen ihres trocknen, sandigen,
salzhaltigen (alkalischen) Bodens und ihres höchst dürftigen
Pflanzenwuchses. An manchen Stellen ist der Bodensand
so locker, daß er Berge von Triebsand bildet, an andern ist
er steinhart, mit einer harten, glatten Oberfläche, welche
das Licht wie aus einem Spiegel zurückstrahlt.
Zahlreiche Reste von Meerestieren weisen darauf hin, das;
die Wüste ehemals See war. Man nimmt an, daß der Golf
von Kalifornien einst weiter nach Norden gereicht hat wie
jetzt und daß der Coloradofluß allmählich so hohe Ufer an
seinem Laufe anspülte, welche schließlich einen Teil des Golfes
vom Meer abschnitten, ans welchem dann durch Verdunstung
des Wassers diese alkalinische Wüste wurde, welche allen
Passierenden Qualen durch Mangel an Schatten, durch furcht-
bare Hitze im Sommer und Külte und Schneetreiben im
Winter, und durch Mangel an Trinkwasser bereitet.
138
Dr. C. Steffens: Seebildung in der Coloradowüste.
Die von Los Angeles und San Bernardino kommende
und nach Fort Mma am Colorado führende Süd-Pacific-
Eisenbahn erreicht die Depression, nachdem sie den San
Gorgonio-Paß herabgefuhrt ist und zieht auf 80 km durch
die eigentliche Wüste hin.
Zuerst am Rande der Wüste herrscht noch an den Berg-
abhängen eine tropische Vegetation, die aber bald abnimmt
und dann der Kaktnspstanze Platz macht; etwa 50 Irin vom
Ansgange des San Gorgonioflnsses aber hört aller nnd jeder
Pflanzenwuchs auf. Hier wird der Boden flach wie ein
gedielter Zimmerflur, ohne jedes Leben von Pflanzen, Tieren,
Menschen, nur daß das Bahngeleise und die Telegraphen-
pfähle und Drähte vom Walten der letzteren Knude geben.
Wenn man den glatten, glänzenden Boden betritt, so
kracht dessen alkalinische Kruste ein, man versinkt bis zum
Knöchel in einen weichen und pulverartigen Grund. Sobald
sich ein Sturm erhebt, ist die Luft von fliegendem Sand, der
von den gelockerten Stellen fortgetragen wird, erfüllt, so daß
man nur zuweilen auf einige Dutzend Schritte sehen kann,
während man den Sonnenschein nicht sieht, aber durch eine
unerträgliche Hitze nur allzu sehr empfindet.
Die einzige Industrie, welche hier gepflegt werden kann,
ist die Gewinnung von Salz. An der Stelle, wo man das-
selbe in fast reinem Zustand findet, wurden die Salzwerke
von Saltón angelegt, deren Gruben jetzt unter Wasser stehen.
Daß man diese Ode bewässern und fruchtbar machen könne,
war schon die Idee und das Projekt der ersten Goldjäger,
welche 1849 vom Süden her nach Kalifornien kamen. Die
Nähe des Coloradoflnsses und eines kleinen Ablenkers des-
selben, des New River, der sich ans demselben in der Regen-
zeit mit Wasser füllt und einen Teil der Wüste durchschneidet,
schien die Ausführung eines solchen Projektes sehr leicht zu
machen.
Jetzt hat die Natur diese Projekte, die bereits 1849 von
dem Ingenieur Wozencraft aufgestellt wurden, selbst erfüllt.
Man war in jener von den Kultnrmittelpnukten entfernten
menschenarmen Gegend anfangs völlig im Unklaren, woher
die Wasser in der Depression kamen, und glaubte anfangs
es mit aufsteigenden Grnndwässern zu thun zu haben. Aber
der bereits im Februar ungewöhnlich hohe Stand des Colo-
radoflnsses ließ anderseits ein Überfluten desselben annehmen
und so wurden denn in dieser Richtung Expeditionen ent-
sendet, sowohl von der bedrohten Süd-Pacificbahu als von
dem in San Franzisko erscheinenden Blatte He Examiner.
Letzteres entsendete seinen sehr unternehmenden Korrespondenten
H. W. Pattou, der vom Coloradoflnsse aus ans dem durch-
brechenden Strom bis in den neuen See eine höchst gewagte
Bootfahrt unternahm, deren Schilderung ich, nebst der flüch-
tigen Karte Pattons, hier im Auszüge wiedergebe.
Patton verließ am Dienstag (7. Juli) mit einem wohl-
bemannten und mit Lebensmitteln versehenem Boote Anma
am Einflüsse des Gila in den Coloradoflnß nnd folgte dem-
selben 32 km abwärts, wo er ans die Stelle stieß, wo der-
selbe in unzähligen Kanälen über sein rechtes Ufer nach
Norden abfloß. Ursache war einmal der hohe Wasserstand
nnd dann eine qner durch den Fluß gehende Barre. Der
Abflußkanal war 1 a/2 km breit und 3'/2m tief. „Soweit
wir blicken konnten, war in der Abflnßrichtung nur Wasser
zn sehen, ans welchem Inseln mit Mesquitegesträuch empor-
ragten. Hier war ursprünglich ein gutes Weideland und
viel Rindvieh ist durch den Wassereinbrnch ertrunken.
Zwischen den Mesquitebäumen hindurch steuerte unser Boot
nach einer kleinen Insel, nw unser indianischer Führer leider
von'einer Klapperschlange gebissen wurde und zurückbleiben
mußte. Bald darauf sichren wir über die alte von Puma
nach San Diego führende Poststraße hinweg; sie stand jetzt
4y2m breit unter Wasser. Nachdem wir an den Stationen
Cooks Wells, Gardener u. s. w. vorübergefahren, sahen wir,
wie der Kanal, hier 200 ui breit nnd 5l/2m tief, gewaltig,
wie der Colorado selbst, dahinranschte. Am Sonnabend
kamen wir an Alamo Mncho vorüber, das auf der Straße
von Auma nur 83 km entfernt liegt, doch hatten wir, den
Umwegen des Wassers folgend, bis dahin mindestens 240 km
zurückgelegt. Bon hier segelten wir direkt nach Norden,
Die Völkerbeweguiig in Kamerun.
139
trafen einen gewaltigen andern Strom, der mit dem uusrigen
zusammenfloß rnid gelangten in den New River, der auf der
Karte verzeichnet ist und nun auch zum Bette des neuen
Coloradoabflttsses wurde.
Am Sonntag (12. Juli) gelangten wir durch 4 m tiefe
Kanäle, die zwischen 200 und 400 m breit waren, in ver-
schiedene aufeinander folgende große Seebeckcn. Unsre Rich-
tung war nun nach Norden, auf eine Reihe Saudhügel zu,
die sich dem ausbrechenden Strome in den Weg stellten.
Durch diese Sandhügel hat sich der Strom in einer Breite
von 200 m und mit einer Tiefe von 2 m einen Weg gebahnt
und von hieraus ergießt derselbe sich in die Wüste. Jenseit
des Durchbruches wird das Wasser seichter und breitet sich
weit ans; dann aber, etwa 5 km nördlich vom Durchbruche,
sammelt sich dasselbe abermals und stürzt in kleinen Fällen
in einem 9 m tiefen Kanal zusammen, dem wir folgten.
Weiterhin nimmt derselbe, gleich Nebenflüssen, andre Kanäle
auf. Rechts und links erhoben sich hier Sandberge, von
9 bis 120 m Höhe, die steil und senkrecht abfielen wie die
Palissaden des Hudson. Indem die Fluten diese Sandberge
unterwühlten, brachten sie dieselben hier und da zum Einsturz,
und ein 300 m langes Stück stürzte hernieder gerade als
wir die Stelle passiert hatten. Unser Boot tanzte mit schaukeln-
den Bewegungen ans den stürmischen Wassern dahin, so daß
ich hier seekrank wurde. In einem Wirbel litten wir fast
Schiffbruch und der größte Teil unsrer Nahrungsmittel j
Die Völkerbeweg
Die in jüngster Zeit mehrfach ausgeführten Expeditionen
in das Hinterland von Kamernm haben uns in erfreulicher
Weise über die noch unbekannten ethnographischen Verhält-
nisse im Innern der Kolonie aufgeklärt. Schon die ersten,
tiefer binnenwärts dringenden Forscher nahmen mit Erstaunen
wahr, daß die an der Küste sitzenden Bantnstämme nörd-
lich des Sannaga bald den Sudannegern, deren Aus-
breitung bis hierher niemand vermutet hatte, weichen müssen.
Nur im Süden vom Sannaga schieben sich die Bautu weiter
gen Osten vor; so leben bei der Jauude-Station, hart an
der Grenze des Gras- und Waldlandes, außer den Ja nude
selbst noch zahlreiche kleinere Volksgemeinden derselben Ver-
wandtschaft i). Ihnen folgen in der Gegend der Nachtigal-
Schnellcn des Sannaga die Upangwe oder Mpangwe
und die Mw elle, auch B a ko kos genannt, welche sich west-
wärts bis an den Abfall des Binnenplateans erstrecken. Der
Mittellauf des Njong mit den NcvewTu-Montz Fällen liegt
in ihrem Gebiet. Den Ufersaum haben die B atangas ùnte,
denen sich im Norden der BungmMündung, also im eigent-
lichen Kamcrnnbccken, die viel erwähnten Du all a anreihen.
Letztere stehen als verschlagene und eifersüchtige Zwischen-
händler bei den Europäern längst in schlechtem Geruch, ob-
schon sich ihr Einfluß gar nicht so w'eit von Kamerun nach
Osten ausdehnt. Der Handel scheint hier vielmehr den Wasser-
wegen^) und zwar in nordöstlicher Richtung zu folgen, wie
dies Premierleutnant Morgen auf der Nürnberger Haupt-
versammlung der Deutschen Kolonial-Gesellschaft kürzlich näher
erläutert hat3). Schon ist ein Teil dieser Sperre beseitigt, vor
allem ans dem Malimba-Fluß, wo die Firma Wörinann bis
an die Edea-Fälle vorgedrungen ist. — Desto weiter zieht sich
dafür der Batanga-Handel in das Innere hinein, der erst
am Sannaga, wo die Haussakaufleute den Strom derLandes-
Produkte zum Niger und Benutz ableiten, sein Ende findet.
Z Mitteilungen aus den deutschen Schutzgebieten, Bd. II
(1889), S. 61. — 2) A. a. O., S. 62. — 3) Deutsche Kolonial-
zeitung 1891, Nr. 8, S. 108 u. 109.
wurde fortgeschwemmt. Noch sollte uns eine Überraschung
bevorstehen. Schon von fern hörten wir ein gewaltiges
Getöse und als wir näher kamen, sahen wir unsern Kanal
einen Wasserfall von 5V2m bilden. Hier konnten wir nicht
weiter und zogen das Boot ans Land. Die Wasser wüteten
aber mit solcher Gewalt in dem sandigen Grunde, daß am
nächsten Morgen der Wasserfall fast 1 km rückwärts ge-
schritten war und wir unser Boot wieder in den Stromkanal
bringen konnten. Mit rasender Schnelligkeit schoß es dahin
und am Dienstag erreichten wir die Saltondepression, die
nicht fern vom Eintritt unsers Kanals ein zweiter großer
Strom (wahrscheinlich der Carresco - Creek) erreicht. Im
Salton Lake selbst stand das Wasser V3 bis 1,5 m tief.
Steigt dasselbe nur noch 1 m, so sind die Saltonwcrke ver-
loren; alle Maschinen sind schon jetzt entfernt.
Ich glaube, fährt Patton fort, daß der Verbindungskanal
zwischen dem Colorado und der Wüste durch die Naturkrüfte
nun fertig gestellt ist. Er wird immer Wasser führen,
höchstens dann nicht, wenn der Colorado seinen niedrigsten
Stand erreicht. Seine Durchbrnchstclle ist etwa 1,5 km
lang und das dort abfließende Wasser 3,5 m tief. Die
bedrohte Süd-Pacificbahn denkt daran das Loch zu stopfen —
das wäre ein gewaltiges Unternehmen! Ob aber je die
Wasser die Saltondepression ganz ausfüllen werden ist eine
Frage der Zukunft; wahrscheinlich werden dieselben vorher
zur Bewässerung des Landes verbraucht."
ung in Kamerun.
Ganz andre Verhältnisse walten in den trockenen Gras-
ebenen nördlich des Sannaga vor. Statt der Bantu woh-
nen hier Sudanneger, statt der Heiden gläubige Moham-
medaner. Der Boden ist teils von reinen Fullahs, teils
von den gemischten Grenzstämmen Adamauas, von den
Wutes, Balis und Bafuts, kolonisiert. Der von Westen
kommende Europäer sieht sich plötzlich in eine fremde Welt
versetzt, unter Völker *), die anders sprechen, anders sitzen,
sich anders kleiden, anders essen, andre Waffen tragen, die
kurz und gut fast in allen Stücken von den Stämmen an
der Küste gänzlich verschieden sind. Zwischen beiden droht
ein erbitterter Kampf nms Dasein, weil die Sudanneger
stetig nach Süden vordrängen. Die Wüte z. B. haben
nach „übereinstimmenden Aussagen früher viel nördlicher
gesessen"; sie sind jedoch von den Fullahs nach Süden ge-
schoben worden, so „daß ihre jetzige Nordgrenze etwa der
6. Grad nördl. Breite ist, während sie sich nach Süden bis
an den Sannaga, nach Westen bis an den Mbam und nach
Osten etwa bis an den 13. Grad östl. Länge von Gr. aus-
dehnen 2)." Die Wüte, ein starkes, krieggeübtes und mutiges
Volk, drücken ihrerseits wieder ans die benachbarten Bantu
in der Plateauregion zwischen Mbam, Sannaga und Njong.
„Die Völker, welche dies Gelände bewohnen" — schreibt
Premierleutnant Morgen in den letzten „Mitteilungen aus
den deutschen Schutzgebieten" — „haben seit dem Vorjahre
bereits eine Verschiebung erlitten, und zwar die Ngumba
und Jaunde eine solche nach Norden, die Kwolle und
Jctoni nach Westen und die Mwelle nördlich des Sannaga
nach Süden und Südwestcn. Auf die beiden ersteren drücken
dieMpangwe von Süden, auf diezweite Gruppe die Mwelle
von Osten und auf die letzten die Wüte von Norden her."
ü »Ich glaube kaum", sagt Morgen, „daß der Ethno-
graph ein interessanteres Feld seiner Thätigkeit findet, als es
ihm das Hinterland von Kamerun bietet." A. a. O., S. 108.
2) Mitteilungen aus den deutschen Schutzgebieten, Bd. IV
(1891), S. 149.
140
Die Eisenbahnen der Erde 1885 —1889. — Das scheitern der Expedition Crampels.
Ein großer Völkerkrieg steht hier bevor, und es ist kaum
zweifelhaft, daß er zu Gunsten der fremden Eindringlinge
ausfallen wird. Dieser Kampf bedeutet gleichzeitig ein
Ringen zwischen Islam und Heidentum; Mohammeds Lehre
erscheint an den Thoren der deutschen Kolonie, und damit
erwachsen uns neue Gefahren und neue Sorgen, denen einzig
durch eine schnelle und nachhaltige Machteutfaltung begegnet
werden kann. Wenn auch nach Morgens Beobachtungen
„der Jslain von der großen Masse lau aufgenommen wird,
so stellt sich doch der Häuptling als ein gläubiger Anhänger
derselben hinH."
Unlängbar tritt der Mohammedanismus unter den
Negern als Kulturförderer auf. Die Schwarzen müssen sich
an gewisse Reinlichkeits- und Speisegcsche gewöhnen, sie
lernen die Nacktheit verachten, und durch die Einführung des
Koran erweitert sich unbedingt ihr geistiges Fassungsver-
mögen. Das Grenzvolk der Wüte hat sich im fortgesetzten
Verkehr mit den Tibati auffällig über die benachbarten heid-
nischen Bantus hinausgearbeitet. Noch höher stehen die
Tibati (Fullahs) selbst, bei denen fast jeder Sklave eine
Tobe oder einen Burnus trägt. Ihre Häuser sind sorgfältig
hergerichtet und mit einer hohen Strohwand umgeben, um
die Bewohner und Bewohnerinnen derselben, insbesondere
die Geheimnisse des Harems, den Blicken Vorübergehender zu
entziehen ?).
Diesen Vorteilen stehen für uns ans der andern Seite
desto schwerer wiegende Nachteile entgegen. Statt der kleinen,
untereinander meist feindlichen heidnischen Staaten droht
uns die geschlossene disciplinirte Macht des mohammedani-
schen Fullahreiches Ad amana. Als Premierleutnant
Morgen dem Sultan von Tibati die deutsche Flagge über-
reichen wollte, wies der unserm Forscher sonst sehr freund-
schaftlich gesinnte jugendliche Häuptling dieses Geschenk mit
der Bemerkung zurück, daß er hierzu erst die Erlaubnis des
Oberherrn von Jola einholen müsse"3). Jola aber ist durch
die Londoner Grenzregulierung vom 27. Juli bis 2. August
1886 in die englische Interessensphäre gefallen, und der
Sultan von Jola empfängt außer andern schönen Sachen ein
jährliches Gehalt von 1000 Pfd. Sterl. aus britischer Tasche.
Unsre Widersacher in Kamerun sind nicht blos Heiden
und Mohammedaner! H. Seidel.
Die Eisenbahnen der Erde 1885—1889.
Das vom preußischen Ministerium der öffentlichen Arbeiten
herausgegebene „Archiv für Eisenbahnwesen" bringt im dritten
Hefte des Jahrgangs 1891 eine auf den besten Quellen
beruhende Zusammenstellung der Eisenbahnen der Erde von
1885—1889.
Wie die, soweit möglich und zum größten Teile nach
amtlichen, im übrigen auf sonstigen zuverlässigen Quellen
gefertigte Zusammenstellung ergiebt, haben die Eisenbahnen
am Schluffe des vorletzten Jahrzehnts unsres Jahrhunderts
eine Ausdehnung von 595 767 km erreicht — eine Aus-
dehnung, welche nahezu dem Fünfzchnfachen des Erdum-
fanges am Äquator gleichkommt und die mittlere Entfernung
des Mondes von der Erde um mehr als 200 000 km über-
trifft. Der Zuwachs, welchen die Eisenbahnen bis jetzt all-
jährlich noch erfahren, läßt erwarten, daß das Wachstum der
Eisenbahnlänge noch immer weiter fortschreiten werde. Am
Schluffe des achten Jahrzehnts, am 31. Dezember 1879,
betrug die Länge der im Betrieb befindlichen, in den ersten
vier Jahrzehnten des Eisenbahn-Zeitalters fertiggestellten
Eisenbahnen 350 031km, die Zunahme an Länge hat in i)
i) A. a. O., S. 148. — 2) A. a. O., S. 150. — 3) Deutsche
Kolonialzeitung 1891, S. 108.
einem einzigen, dem neunten Jahrzehnt unsres Jahrhunderts
also, 245 731km betragen. Nimmt man eine gleiche Zu-
nahme für das letzte Jahrzehnt an, so wird das Ende des
Jahrhunderts eine Eisenbahnlänge von mehr als 840 000 km
— mehr als das 21 fache des Erdumfanges und mehr als
das Doppelte der Entfernung des Mondes von der Erde —
im Betriebe sehen.
Übersicht der Entwickelung des Eisenbahnnetzes
der Erde vom Schlüsse des Jahres 1885 bis zum
Schlüsse des Jahres 1889:
Länder: Länge der im Be- triede befindlichen Eiscnbadnen am Ende des Jahres Es treffen Ende 1888 km Babn- längc auf je
1885 1889 100 10 000 Ein- w ebner
I. Europa. 1. Deutschland: Preußen 22 352 24 968 7,2 8,5
Bayern 5 087 6 421 7,1 9.8
Sachsen 2 203 2 380 15,9 7,1
Württemberg 1 442 1 500 7,7 7.4
Baden 1 331 1 432 9,5 8,8
Elsaß-Lothringen 1347 1 472 10,1 9,4
Übrige deutsche Staaten . . . 3 810 4 620 8,8 9,3
Zusammen Deutschland 37 572 41 793 7,7 8,6
2. Österreich-Ungarn cinschl. Bos- nien u. s. w 22 613 26 501 3,9 6,3
3. Großbritannien und Irland . 30 843 32 088 10,2 8,3
4. Frankreich 32 491 36 348 6,9 9,5
5. Rußland einsetzt. Finnland. . 26 847 30 140 0,6 3,1
6. Italien 10 484 13 063 4,4 4,2
7. Belgien 4 409 5 174 17,5 8,5
8. Nrcderland einsetzt. Luxemburg 2 800 3 037 8,5 6,4
9. Schweiz 2 854 3 104 7,5 10,6
10. Spanien 8 933 9 860 1,9 5,6
11. Portugal 1 529 2 060 2,3 4.8
12. Dänemark 1 942 1 969 5,1 9,0
13. Norwegen 1 562 1 562 0,5 7,9
14. Schweden 6 892 7 910 1,8 16,6
15. Serbien 385 526 1,1 2,5
16. Rumänien 1 682 2 543 2,0 4,7
17. Griechenland 323 708 1,1 3.2
18. Europäische Türkei, Bulgarien, Rumelien 1 394 1 765 0,6 2,3
19. Malta . • 102 110 —
Zusammen Europa 195 657 220 261 2,3 6,2
II. Amerika. 20. Verein. Staaten von Amerika 207 508 259 687 3,3 39,8
21. Britisch-Nordamcrika .... 16 330 21 439 0,3 48,8
Übrige Staaten 25 408 36 799 — —
Zusammen Amerika 249 246 317 925 — —
III. Asien. 22. Vritisch-Jndicn 19 308 25 488 0,7 1,0
23. Japan 559 1 460 0,5 1,0
Übrige Staaten 2 418 4 076 — —
Zusammen Asien 22 285 31 024 — —
IV. Afrika zusammen 7 032 8 635 — —
V. Australien zusammen 12 947 17 922 0,2 46,9
Zusammen auf der Erde . . . 487 197 595 767
Das Scheitern der Expedition Crampels.
Die Expedition des noch jungen und tüchtigen franzö-
sischen Reisenden Paul Crampel, die zum Zweck hatte, die
Landschaften zwischen dem französischen Kougolande und dem
Tsadsee zu durchreisen und unter den Einfluß Frankreichs zu
Die Einwanderung in die Vereinigten Staaten seit 1820.
141
bringen, ist leider durch die Ermordung des Reisenden und
zahlreicher seiner Gefährten gescheitert. Wenn wir auch den
Politischen Bestrebungen dieser Expedition, welche die Aus-
breitung des französischen Einflusses im Hinterlande von
Kamerun anstrebte und die Utopie einer Verbindung der
Besitzungen Frankreichs in Nordafrika mit jenen am Kongo
verfolgte, von unserm Standpunkt als Deutsche nicht freundlich
anschauten, so bedauern wir doch im Interesse der Wissen-
schaft den Untergang Crampels, denn seine Reise sollte durch
das letzte größere, noch unbekannte Stück Afrikas führen,
welches der Erschließung harrt. Ein großer weißer Fleck
liegt noch zwischen dem Hinterlande Kameruns, dem Ubangi
(dem größten rechten Zuflüße des Kongo) und dem Süden
von Bagirmi und Wadai, wo unsere Kenntnis einzig auf
den Erkundigungen von H. Barth n. G. Nachtigal beruht. Es
ist das Gebiet der Wasserscheide zwischen Ubaugi-Kongo und
dem Schari, welcher in den Tsadsee mündet.
Crampel, wiewohl er jetzt erst das 28. Lebensjahr erreicht
hat, war kein Neuling auf afrikanischem Boden. Im No-
vember 1886 wurde ihm vom Ministerium eine wissenschaft-
liche Sendung nach Französisch -Äqnatorialafrika anvertraut,
er begab sich zu Savorgnan de Brazza, welcher ihm den
Auftrag erteilte, von Madiville (oder Lastourville) am oberen
Ogowó im Lande der Aduma nach Norden zu durch die
Lande der Batokas und Pahuins vorzudringen und an der
Coriscobai wieder den Ozean zu erreichen. Am 12. August
1888 verließ Crampel Madiville und Ende Januar 1889
hatte er seine Aufgabe gelöst. Er bat dabei neue Gegenden
in die Karte eingetragen und im steten Kampfe mit den Ein-
gebornen gelebt, die mehreren seiner Gefährten den Tod, ihm
selbst verschiedene Wunden einbrachten. Zum Gelingen der
Expedition trug bei, daß er die neunjährige Tochter eines
Pahuinhäuptlings heiratete, die ihn treulich begleitete und
die er später in Paris erziehen ließ. Ans dieser Expedition
hat er auch die Zwergstämme im Norden des Ogowó kennen
gelernt (Globus DIX, S. 237). Die Expedition selbst ist
geschildert im Tour clu Mondo, T. LX, p. 321 (1890).
So vorbereitet erhielt Crampel vomEoinito de l’Afrique
française den Auftrag zu seiner neuen Expedition, welche
im März 1890 Frankreich verließ. Vorgeschrieben war,
daß sie den Ubangi aufwärts fahren und alsdann von diesem
ans nach Norden gegen den Schari und Tsad vordringen
solle. Am 15. August 1890 befand sich dieselbe zn Brazza-
ville am Stanleypool. Sie bestand, nachdem bereits unter-
wegs mehrere Mitglieder zurückgeblieben waren, aus Paul
Crampel als Führer, dem Ingenieur Lanziore, Nobout als
Führer der Träger, Biscarrat als Führer der aus 30 Sene-
galesen bestehenden Schutztruppe, dem arabischen Dolmetscher
Mohamed Ben Said und 250 Trägern. Die Fahrt den Kongo
aufwärts wurde am 16. August angetreten, dann den Ubangi
aufwärts und am 25. September war Bangui, der am
weitesten an diesem Strome nach Norden zu vorgeschobene
Posten unter 19° östl. L. und 4° 30' nördl. Br. erreicht.
Schon auf dieser Fahrt mit Ubangi hatte Crampel wieder-
holte Zusammenstöße mit den Eingeborenen und mußte „Frieden
herstellen", was nicht ohne Blutvergießen und Verluste ans
Seiten der Franzosen abging. Aber frisch und wohlgemut
brach er von Bangui nach Norden zu auf in das unbekannte
Innere, während von Frankreich aus seine Schritte voll
patriotischen Mitgefühls verfolgt wurden, in der Hoffnung,
daß Crampel in dem „Wettrennen um den Tsadsee" über
Deutsche und Engländer den Sieg davon tragen würde. Im
März 1891 war die zu Crampels Unterstützung ansgesandte
Expedition unter Dybowski bereits in Loango angelangt
(„Globus" Bd. 59, S. 368), und man sah bereits im Geiste
Algerien und Französisch-Kongoland durch Crampel mitein-
ander verknüpft, als die Hiobspost vom Untergange desselben
eintraf. Der Gouverneur von Brazzaville, Dolisie, meldete
unter dem Datum des 15. Juli, daß Crampel mit seinen
Begleitern am 9. April ermordet worden wäre; Nobout, der
Führer der Träger, entkam nach Bangui am Ubangi, von
wo er sich nach Brazzaville begab. Die Verfolgung der Ziele
Crampels ist jetzt Dybowski übertragen worden.
Die Einwanderung in die Bereinigten Staaten
seit 1820.
Der Vorsteher des statistischen Amtes in Washington hat
einen sorgfältigen Bericht über die Einwanderung in den
Vereinigten Staaten seit ihrem Bestehen zusammengestellt.
Wir geben davon das Folgende:
Bis zum Jahre 1820 liegen keine amtlichen Berichte
über die Einwanderung vor. Sachverständige schätzen sic
vom Schluß des Unabhängigkeitskrieges bis zn dem genann-
ten Jahre auf 225 000 Köpfe. Im nächsten Jahrzehnt
(1821 bis 1830) betrug sie 143 439, im folgenden (1831
bis 1840) 599 125, springt im nächsten (1841 bis 1850)
ans 1 713 251, im folgenden (1851 bis 1860) ans
2 598 214 und sinkt int Jahrzehnt 1861 bis 1870 auf
2 466 752, welche Abnahme auf Rechnung des Bürger-
krieges zu schreiben ist. Im Jahrzehnt 1871 bis 1880
steigt sie wieder ans 2 944 695, und im letzten Jahrzehnt
(1881 bis 1890) erreichte sie ihren höchsten Stand mit
5 176212.
Die Gesamt-Einwanderung der sieben Jahrzehnte von
1821 bis 1890 stellt sich somit ans 15641688. Davon
kamen ans:
Deutschland ..................................... 4 551 719
Irland........................................... 3 501 683
England.......................................... 2 460 034
Den englischen Besitzungen in Nordamerika .... 1 029083
Norwegen und Schweden............................ 943 330
Österreich-Ungarn................................ 464 455
Italien.......................................... 414 513
Frankreich....................................... 370 162
Nußland und Polen................................ 356 363
Schottland....................................... 329192
China............................................ 292 578
Schweiz.......................................... 174 333
Dänemark......................................... 146 237
Den übrigen Ländern.............................. 603 006
Die Einwanderung aus Deutschland steht hier an der
Spitze, da England und Irland getrennt aufgeführt werden.
Nimmt man die ganze englisch sprechende Einwanderung zu-
sammen, so überwiegt sie die deutsche um ein beträchtliches.
Im allgemeinen weist die Einwanderung aus allen Ländern
eine Zunahme auf. Nur Frankreich und China machen
davon eine Ausnahme. Die französische Einwanderung ist
von 73 301 im Jahrzehnt 1871 bis 1880 ans 51420 im
Jahrzehnt 1881 bis 1890 gefallen. Ohne Zweifel hängt
dies mit der geringen natürlichen Zunahme der Bevölkerung
Frankreichs zusammen. Die chinesische Einwanderung, die
eine Zeit lang sehr stark war, hat in der letzten Zeit infolge
der Ausschließnugsgesetze fast ganz aufgehört.
Nach Weltteilen (abgesehen von den Inseln) geordnet,
kamen in den letzten 20 Jahren: ans Europa 7 627 233,
Asien 220 977, Afrika 769, Amerika 896 668. Von den
Inseln im Atlantischen Ozean kamen 26 729, von denen im
Stillen Ozean 23 524, von allen anderen hierin noch nicht
eingeschlossenen Ländern und Gegenden 2 875.
Was wären die Vereinigten Staaten, wenn diese 151/2
Millionen nicht eingewandert wären? Diese Frage ist
den heutigen Knownothiugs zur ernstlichen Erwägung zu
empfehlen!
142
Bücherschau,
Bti cherscha u.
Friedrich Ratzel, Anthropogeographie. Zweiter Teil. Tie
geographische Verbreitung des Menschen. Stuttgart 1891.
XLII und 781 S. Mit 1 Karte u. 32 Abbildungen.
Vor nunmehr neun Jahren erschien der erste Band dieses
Buches. Der damals neue Name der Anthropogevgraphie er-
hielt durch den Ncbentitel „Anwendung der Erdkunde auf die
Geschichte" seine vorläufige Erklärung; die „Probleme des
geschichtlich-geographischen Grenzgebietes" sollten systematisch be-
handelt werden. Als Ausgangspunkt wurden die geistigen
Bedürfnisse von Studierenden des Lehrfaches für Geographie
und zugleich Geschichte bezeichnet. Nicht,, daß eigentlich die
Sache als etwas Neues hingestellt wurde, da es von Montes-
quieu einerseits, von Voltaire andrerseits wohl in keiner
namhasteren Geschichtsdarstcllung an solchen allgemeinen Be-
trachtungen gefehlt hatte. Neu war vielmehr nur der Name
und der darin liegende Anspruch auf dieses Grenzgebiet, auf
das allerdings die zünftige Geschichtsforschung so viel wie keinen
Wert zu legen schien. Als Menschengeographie sollte er der
Tier- und Pflanzengeographie zur Seite treten, doch sic über-
ragen an Vielseitigkeit der Aufgaben. Ausdruck und Auffassung
haben Verbreitung und Geltung gewonnen; beiläufig sei aber
daraus hingewiesen, daß der gefügcre Ausdruck Kulturgeographie
als Wechselbeqrisf sich Bd. I, S. 17 vorfindet. Mag die
Etikette des Wissenszweiges auf sich beruhen, mit Wesen und
Wert des Gebotenen hat sie bei Meister und Schülern kaum
etwas zu thun.
Einen gewissen Zusammenhang mit der Praxis, mit dem
fachmännischen Betrieb der Geographie hat auch der vorliegende
zweite Band. Gegenüber dem Vorwiegen der geologischen Richtung
innerhalb der geographischen Forschung und Wissenschaft betont
Ratzel, daß die auf Universitäten gelehrte Geographie vielfach
eine ganz andre sei als die Lernenden, soweit sie sich später dem
Lehrfach an mittleren Schlilen widmen, da brauchen können.
Der bisherigen Vernachlässigung der politischen, man könnte
sagen verwendbaren Geographie strebt Ratzel wissenschaftliche
Pflege angedeihen zu lassen. Nur in Bayern besteht dieser
Zwiespalt gar nicht, da es an den Universitäten noch keine Lehr-
kanzel für Geographie giebt, und somit die Annahme still-
schweigend herrscht, das; die Geographie als Lehrfach keiner all-
gemeinen wissenschaftlichen Vorbildung und keines weiteren
Gesichtskreises bedürfe. Aber richtig bleibt doch, daß die
Anthropogeographie an sich ebenso wenig in den Schulunterricht
hineinpaßt als die Philologie. Auch der Katechismus wird
stets etwas andres sein als die wissenschaftliche Theologie. Der
Prediger trägt keine Kirchengeschichte oder Bibelkritik vor.
Aber er würde zum Bonzen herabsinken, wenn er deshalb des
Zusammenhanges mit der Wissenschaft entraten wollte.
In dieser hier nur anzudeutenden Richtung kann und —
wird hoffentlich auch — das vorliegende Buch seine Bedeutung
und Wirksamkeit geltend machen; als Sonntagsbuch der Geo-
graphen, an die der Verfasser denkt, aber auch andrer Leute,
wie die kurze Angabe der behandelten Fragen erweisen wird.
Im Vergleich zum ersten Bande bietet der vorliegende eine Er-
gänzung und Vertiefung zugleich. Dort war, nach Ratzels
eigenen Worten, eine große Gruppe von Wirkungen der Natur
auf den Atenschen, deren Ergebnis ein Zustand, mit den Unter-
abteilungen Zustand der Einzelnen: Ethnographie, und Zustand
der Gesellschaft: Soziale und politische Wirkungen ausgeschieden.
Ihre Behandlung ist nur hier aufgenommen; für reichen Stoss,
für fesselnde selbständige Betrachtungen ist von vornherein Ge-
währ geboten. Tie Forderung einer allgemeinen Geographie
des Belebten, zu der die Anthropogeographie sich mit der
Pflanzen- und Tiergeographie zusammenschließen müßte, wird
begründet und belegt. Vom gesamterdlichen Augenpunkt aus
erscheint der Kampf ums Dasein in erster Reihe als Kampf
um den Raum, wie das glückliche Bild eines Schlachtfeldes in
der Enge oder Weite verdeutlicht.
Im ersten Abschnitt ist der Unterschied der Ökumene von
der gesamten Landfläche hervorgehoben. Es ist der wirtliche
oder bewohnbare Teil der Erde, die Männererde, das Mcnschen-
heim der altnordischen Kosmographen, dessen Begrenzung der
Vers. Ebenso eingehend feststellt, als die gelegentliche Scheidung
von Unbewohnt und Unbewohnbar und das Zurückweichen des
geistigen Horizontes für die Erdansicht seit den alten Zeiten
oder gegenüber den Naturvölkern. Das Hauptgewicht des Buches
füllt aber auf die drei folgenden Abschnitte. Das statistische
Bild der Menschheit (S. 145 bis 398) ist eine groß angelegte
Darstellung der Bevölkerung der „Wirtlichkeit" als Natur-
erscheinung, sowie der Gesetze ihrer inneren Bewegung als Aus-
druck oder Korrelat der Kultur. Den dritten Abschnitt „Spuren
und Werke der Menschen an der Erdoberfläche" könnte man eine
Naturgeschichte der Sicdelungsformcn nennen, wenn nicht eigene
Kapitel über die Wege und die geographischen Namen sich an-
reihen müßten. In diesen beiden Abschnitten ist cs eigentlich
die Zahl, die als lebendige Größe, als Ausdruck der Zustände,
als Übergang der Vergangenheit zur Zukunft erscheint: es ist
eine Anwendung der Geographie auf die Statistik. Ähnlich ist
der vierte Abschnitt „Geographische Verbreitung von Völker-
nierkmalen" und zwar sowohl des Körpers als des Kultur-,
besitzes, die Angliederung des allgemeinen Teiles der Völkerkunde
an die Geographie, hauptsächlich durch die Wirkung des Raumes
und der Bewegung durch ihn begründet.
Es ist im Nahmen einer Anzeige unmöglich, mehr als
dürftige Hinweise auf den reichen Inhalt zu geben, der auf
jeder Seite zum Nachdenken anregt, nicht nur die engeren Fach-,
genossen des Vers., sondern jeden, dem es um ein Verständnis
des Völkerlebens zu thun sein sollte, und nicht nur um die
Feststellung der Einzelheit. Daß in dem einen oder andern Punkt
die Prüfung von einem andern Standpunkt aus möglich und
vielleicht ersprießlich sein wird, das kann der Bedeutung des
Buches keinen Abtrag thun oder den schuldigen Dank für die
strenge Denkarbeit verringern.
Dr. Schultheiß, München.
I. Partsch, Philipp Clüver, der Begründer der histo-
rischen Länderkunde. Ein Beitrag zur Geschichte der
geographischen Wissenschaft. Wien und Olmütz 1891,
Ed. Holzel (Pencks Geogr. Abh. V, 2) 47 S.
Wenn es Pflicht jeder Wissenschaft ist, sich ihres Ent-
wickelungsganges immer bewußt zu bleiben und der Männer
nicht zu vergessen, denen sie ihre Fortschritte verdankt, so hat
die Erdkunde diese Pflicht einem ihrer Begründer gegenüber
bisher nur sehr schlecht erfüllt. Von Philipp Clüvers Leben
und Wirken haben wir bisher nur höchst unvollkommene
Darstellungen gehabt, und wir müssen es dem bewährten Vers,
umso mehr Dank wissen, wenn er uns in der vorliegenden Ab-
handlung ein gründliches, möglichst erschöpfendes Bild von dem
Streben und Entwickelungsgänge des großen Begründers der
historischen Länderkunde entworfen hat.
Clüver (1580 bis 1622) stammte aus einer alten bremischen
Patriziersamilie, von der ein Zweig frühzeitig in Preußen und
Livland seßhaft wurde. In günstigen Verhältnissen aufgewachsen,
auf dem Gymnasium seiner Vaterstadt Danzig erzogen, aing
der junge Clüver etwa 20 Jahr alt nach der rasch aufblühen-
den Universität Leiden und genoß hier den Unterricht und per-
sönlichen Verkehr eines Lipsius und Scaliger. Letzterer vor
allem wurde von entscheidendem Einfluß auf das Studium des
jungen Mannes. Er hatte eben die Ordnung der antiken
Chronologie vollendet und empfahl nun seinem Schüller als
Gegenstück dazu die Behandlung der geographischen Beziehungen
des antiken Kulturlebens. Mit Feuereifer machte sich Clüver
an dies Werk, das er zu seiner Lebensaufgabe erwählte. Aber
es sollte lange dauern, bis er dieselbe endlich erfüllte. Sein
Vater war mit dieser Richtung seiner Studien nicht einverstanden,
es kam zum Bruch zwischen Vater und Sohn, und nun begann
für den letzteren ein abenteuerliches Wanderleben. Unter harten
Entbehrungen trieb er sich in allen Ländern Europas herum,
hielt sich aber seit 1610 mit Vorliebe in England auf und
heiratete 1613 ein armes englisches Mädchen. Dadurch wurde
ihm der Kampf ums Dasein natürlich noch mehr erschwert.
Clüver war eine jener unglücklichen, unwirtschaftlich angelegten
Naturen, die nie auf einen grünen Zweig kommen.
Aber inmitten dieser Drangsale hatte er sein Lebensziel
nie aus den Augen verloren. Im Jahre 1616 erschien zu
Leiden sein gewaltiges Werk „Germania antiqua“, dessen durch-
schlagender Erfolg ihn fosort zu einem der ersten Geographen
und Altertumskenner seiner Zeit erhob und ihm die Stelle eines
Geofrraphus Academicus der Universität Leiden mit 600 Gul-
den Gehalt eintrug. Heute ist die Forschung über dieses erste
große Werk Clüvers allerdings schon ganz hinweggeschritten.
Dagegen ist sein letztes großes Hauptwerk, die Italia antiqua,
die er erst auf dem Totenbette vollendete, noch heute die unent-
behrliche Grundlage jeder topographischen Untersuchung auf dem
Boden Altitaliens. Ausgerüstet mit einer beispiellosen Kennt-
nis der antiken Litteratur und fußend auf seiner eigenen,
gründlichen Ortsanschauung, die er auf planmäßig durchgeführten
Aus allen Erdteilen.
143
Reisen gewonnen hatte, cntschcivet er alle streitigen fragen mit
einer Klarheit, die geradezu verblüffend auf feine Zeitgenossen
wirkte und uns heute noch mit der größten Bewunderung er-
füllt. Es ist schwer zu beklagen, daß sein vorzeitiger Tod all
seine andern großen Pläne vereitelte. — Pros. ParischS Ab-
handlung fei allen Freunden der historischen Geographie noch-
mals aufs wärmste empfohlen. Dr. Johannes Hvops.
G. E. Haarsma, früher. Jnspekt. der Deli-Mnatschappij in
Deli. Der Tabaksbau in Deli. Mit 9 Abbild, und
3 Grundr. Amsterdam, I. H. de Bussy, 1890. 240 S.
gr. 80. — Preis in elegant. Leinbd. 7,20 fl. holl.
Das vorliegende Werk ist von dem größten Werte nicht
nur für den Tabaksbauer und Händler, sondern auch für den
Kolonialpolitiker und Geographen. Ganz besonders erwünscht
wird dasselbe aber allen denen sein, die sich für die Verwertung
unsrer afrikanischen Kolonieen interessieren. Daß große Ge-
biete derselben, besonders in Ostafrika und Neu-Guinea sich für
den Tabaksbau eignen, ist von verschiedenen Seiten festgestellt
worden. Es handelt sich nun aber bei Anlage von Tabaks-
plantagen um eine sorgfältige Beobachtung zahlreicher scheinbar
unwichtiger Kunstgriffe und Hilfsmittel, welche durch die Er-
fahrung festgestellt worden sind. Eine sorgfältige Benutzung
und Berücksichtigung derselben ist die erste Vorbedingung für
das Gedeihen einer neuen Tabakskultur in bisher dazu nicht
benutzten Gebieten. Wir Deutsche können deshalb nur zu Dank
verpflichtet sein für die Übersetzung des vorzüglich ausgestatteten
Werkes. Sehr richtig wird in der Vorrede desselben gesagt:
„Wenn auch in andern Ländern und Himmelsstrichen die
näheren Einzelheiten der Tabakskultur teilweise andre sind
als in Deli, so werden die Grundlagen, wie die natürlichen
Bedingungen und die technischen Ausführungen nahezu dieselben
sein, und jedenfalls dürsten die in dem Buche niedergelegten
Prinzipien über Verwendung und Behandlung des Tabaks und
über Heranziehung der nötigen Arbeitskräfte überall ein
schätzenswertes Material bilden."
Die Angaben über die verschiedenen Arbeiten, ihre Reihen-
folge und Ausführung gelten nicht nur für die Provinz Deli, son-
dern für die ganze Ostküste von Sumatra. Die Arbeiterverhältnisse
sind dort schwierig. Es werden Eingeborne, Javanen, Chinesen
und Klings (aus Britisch Indien) verwandt. Die Verwalter
und Assistenten sind Europäer. Diese müssen etwas malaiisch
und chinesisch sprechen, wollen sie nicht den Vormännern der
Kulis, den Tamlils. einen zu großen Einfluß gewähren. Die
Wohnhäuser der Beamten und Arbeiter, ihre Lebensweise und
Gehälter, die Art der Kontrakte mit den Arbeitern, die an einen
Assistenten und Tabakspflanzer im allgemeinen zu stellenden
Ansprüche werden angegeben. Grundrisse für die Hauptgebäude
(Trockenscheuer, Fermentierschuppen, Kulihäuser) und photo-
graphische Ansichten der Pflanzungen und Gebäude, schmücken
das Werk.
Das Schlußkapitel ist ein historischer Abriß der Ent-
wickelung der Tabakskultur auf Sumatra mit Angaben über
die großen Vorteile, welche die verschiedensten Jndustrieen und
Bevölkerungsklassen in Holland durch diese Kultur in den letzten
20 Jahren erworben haben. 1894 kamen die ersten 50 Packen
ja 80 kg) Sumatratabak in Amsterdam auf den Markt und er-
zielten einen Preis von 48 Cents holländisch pro Pfund. Be-
reits 1865 zahlte man 149 Cents. Im Jahre 1888 wurden
168114 Packen im Werte von 33128 000 holländischen Gulden
auf den Markt gebracht, gleich 129 Cents pro Pfund. Dabei
wird mit stets wachsendem Eifer mehr auf die Qualität als
auf die Quantität der geernteten Blätter gesehen.
Dr. H. Polakowsky.
Strehl, Negative Strandverschiebungen im Gebiete
des westlichen Pacific, insbesondere auf Neu-
Guinea. (Weimar 1890, Ergünzungshest 3 der Zeitschr.
für wissensch. Geogr.)
Je größere Wichtigkeit der Frage der Hebungen und
Senkungen für einzelne Teile der Geophysik beigemessen wird,
um so wichtiger ist es, zuverlässige Beobachtungen über solche
Vorgänge zu besitzen, und um so erfreulicher, wenn für be-
stimmte Länderräume das Material kritisch durchgearbeitet wird.
Für die Küstengebiete des westlichen Pacific thut dies
Strehl in obengenannter Arbeit. Es handelt sich in diesem
Falle um Neu-Guinea und die umliegenden Inselgruppen, an
welchen Riffkalke in großer Mächtigkeit über dem Meeresspiegel
und zum Teil in bedeutender Höhe auftreten, welche die bis-
herigen Annahmen von 100 m Seehöhe um das Vier- bis Fünf-
fache übersteigt.
Der Vers, stimmt dafür, daß diese Niffkalke wohl mehr
durch die Wirkung hebender Kräfte als durch das mehrmalige
„Absinken des Meeresniveaus" zu solcher Höhe gelangt seien,
und bringt also gegenüber der Sueßschen Senkungstheorie die
Hebung wieder zur Geltung. Er geht jedoch noch weiter und
nimmt an, daß diese Risfkalke stets an den Außenzonen von
Insel- und Vulkanbogen liegen, von welchen die inneren Zonen
abgesunken sind. Dies wird hauptsächlich von dem nördlichen
Neu-Guinea behauptet, vor dessen Küste ein Vulkaninselbogen
liegt. Leider scheinen die Beobachtungen aber doch noch zu
lückenhaft zu sein, um in dieser Weise zu verallgemeineren.
Für die Frage nach der Entstehung der jetzigen Korallenriffe ist
die Untersuchung obiger Risfkalke ohne Belang, da sie teils
jungtertiär, teils nachtertiär zu fein scheinen. Hoffentlich erfüllt
sich bald die Hoffnung des Vers., daß das Innere und auch die
Küsten Deutsch-Neu-Guineas genauer wissenschaftlicher Er-
forschung unterzogen werden mögen. W. Sievers.
Aus allen
— Die russische Expedition nach Abessinien
unter Leutnant Maschkow, deren Abgang wir (Bd. 59,
S. 256) gemeldet haben, scheint nach ausführlichen Berichten,
welche die Times (25. und 28. Juli) enthält, weit mehr
politischer als wissenschaftlicher Art zu sein. Allerdings steht
dieselbe unter der geographischen Gesellschaft in St. Peters-
burg, allein der Hanptveranstalter ist der russische Kriegs-
minister Vauowsky und der Zweck soll kein geringerer sein,
als Abessinien zu einem russischen Vasallenstaat zu machen.
Vincent Maschkow war bereits früher in Begleitung des
Montenegriners Zlatytschaniu in Abessinien, wo er in Antoto,
der Residenz des Ncgus Menilek, von diesem als Gesandter
„seines Bruders, des Negus von Moskowien" empfangen
wurde. Menilek beklagte sich bitter über die Italiener und
ersuchte die Russen darum wieder zurückzukehren, nachdem
sie einen Brief und mündlichen Auftrag an den Zaren aus-
gerichtet hätten. Maschkow bewies damals schon die „Gleich-
heit des abessinischen und russischen Glaubens", nahm Teil
am abessinischen Gottesdienst und beobachtete alle Zeremonien
desselben. — Nach seiner Rückkehr im Winter 1889 auf
1890 übergab Maschkow einen ausführlichen Bericht dem
Erdteilen.
Kriegsminister; die sämmtlichen übrigen Minister empfingen
ihn und schließlich auch der Zar, der ihm den Wladimirorden
mit Schwertern verlieh. Die neue Expedition, die eine
wissenschaftliche genannt wird, kann nach unsrer Quelle kaum
darauf Anspruch machen, wenigstens nicht ihrer Zusammen-
setzung nach. Maschkow selbst war ein einfacher Leutnant
in einem kaukasischen Liuienregimente, sein Freund Zlatyt-
schanin, der allerdings drei Sprachen redet, kann nicht ordent-
lich schreiben; auch Maschkows Bruder besitzt keine besondere
Vorbildung. Der Mönch Tychon, dem eine Hauptaufgabe
zufällt, war ursprünglich Wundarzt; endlich Herr Bsevoloschky,
der als Jäger mitgeht. — Der russische Minister Giers er-
wirkte in Paris, daß die Expedition den französischen Be-
hörden in Obok empfohlen wurde; dem italienischen Gesandten
in Petersburg, Marocchetti, erklärte Giers, die Expedition
sei eine rein wissenschaftliche und Abessinien würde von Ruß-
land als durchaus unabhängiger Staat angesehen. In Obok
wurde von Seiten der Franzosen alles für die russische Expe-
dition vorbereitet und als Maschkow im April in Kairo eintraf
lvnrde er von einem Gesandten des Negus, mit Namen Jlioß,
in Empfang genommen. Maschkow überbringt goldene Siegel
144
Aus allen Erdteilen.
für den Negiis Menilek, außer zahlreichen andern Geschenken,
sowie Schreiben russischer Kircbeufürsten an den Abuna, das
geistliche Oberhaupt der abessinischen Kirche.
Infolge der Thätigkeit katholischer und evangelischer Missio-
nare in Abessinien, ist man dort gegen diese beiden Kirchen
feindlich gesinnt. Die Russen aber betonen das viele über-
einstimmende, was in den beiderseitigen Religionen liegt: die
Priester stehen hier wie da ans dem gleichen (niedrigen) Stand-
punkte; die Zahl der Feiertage ist eine gleich große; die Faste»
hier wie da lange und streng u. s. w. Dagegen sind viele
jüdische Satzungen, die bei den Abessiniern gelten, eine Scheide-
wand. Dahin gehören die Feier des Sabbats (neben dem
Sonntag), die Beschncidnug, die Speisegesetze (die Gans z. B.
ist bei den Abessiniern ein unreines Tier) 'u. s. w.
Wir nehmen von diesem Berichte der Times hier Kennt-
nis, da es sich um eine angeblich wissenschaftliche Expedition
handelt und lassen die weiteren daran geknüpften hochpolitischen
Betrachtungen (z. B. die geplante Abtretung des französischen
Gebietes an der Tadschnrrnbai mit Obok an Rußland) bei Seite.
— Dr. Karl Friesach, geboren 1821 zu Wien, starb
am 10. Juli zu Graz, wo er Professor der Astrophysik war.
Von 1855 bis 1860 unternahm er zum Zwecke von Stu-
dien in der physikalischen Geographie ausgedehnte Reisen in
Amerika und Australien. Zu demselben Zwecke besuchte er
später Ägypten und Kleinasien. Unter seinen wissenschaftlichen
Arbeiten ist hier hervorzuheben: Geographische und magne-
tische Beobachtungen in Nord- und Südamerika (Sitzungs-
bericht der Wiener Akademie 1858).
— Dr. Rajendralala Mitra, ein gelehrter indischer
Orientalist, starb im Juli zu Kalkutta. Über 40 Jahre hat
er an der Spitze der gelehrten Indier gestanden, die ihre
Beiträge zur Kunde des Landes und seiner Sprache in den
Verhandlungen der Asiatischen Gesellschaft von Bengalen
niederlegten. Unter seinen Abhandlungen sind hier zu er-
wähnen: Über griechisch -baktrische Überbleibsel in Rawal
Pindi (1862); über die griechische Kunst in Indien (1875);
die Darstellungen der Fremden in den Ajautafresken (1878).
Über Menschenopfer in Indien bringt die genannte Zeit-
schrift zahlreiche Aufsätze von ihm. Seine Hauptwerke sind:
Buddha Gaya, die Einsiedelei Sakjamnnis. Die Altertümer
Orissas (2 Bände, 1868—69). Die Indo-Arier (1881)
und die Buddhistische Sanskritlitteratur Nepals (1882).
— Fraulein Jo han na Mestorf, geboren 17. April
1829 zn Bramstedt in Holstein, hochverehrt wegen ihrer
ansgezeichneteu Kenntnisse auf dem Gebiete vorgeschichtlicher
Altertümer und bekannt als Übersetzcrin vieler gelehrter skan-
dinaviseher Werke, ist uach km Tode Pros. Handelmanns
zum Vorstande des Museums vaterlandischer Altertümer in
Kiel ernannt worden, an welchem sie schon lange in dcr
Stellnng als Kustodin thatig war. Jhre eigenen Forschungen
sind in gelehrten Zeitschriften zerstreut; von hohem Werte ist
ihr mit 62 Tafeln versehenes Werk „Vorgeschichtliche Alter-
tümer ans Schleswig-Hqlstein" (Hambnrg 1882). Zahl-
reiche Beitrage von ihr findcu sich anch in den alteren Jahr-
gangen des „Globus".
— Jjzermau's Zllg quer durch Sumatra. Der
holländische Ingenieur Jjzerman hat, etwas nördlich vom
Äquator, einen Zug durch die Insel Sumatra unternommen,
uin die Vorarbeiten zur Anlage einer Eisenbahn quer durch
die Insel zn machen. Sein Ausgangspunkt waren die
Padangschen Hochlande, von wo er mit den östlich wohnenden
unabhängigen Stämmen zunächst durch einen Araber, Ba
Usman, Unterhandlungen wegen des Durchzuges anknüpfte,
namentlich mit den Häuptlingen am Kwantan, der seine
Gewässer der Malakkastraße zusendet. Die Expedition selbst
rüstete der Leutnant im topographischen Dienst A. Bnckhnis
aus; sie bestand aus 250 Kulis, die, weil schwache Leute,
außer ihrem eigenen Gepäck nur 16 Kilo tragen konnten.
Die Nahrung derselben bestand ans der ganzen Reise ans
Reis, der auch zuweilen knapp wurde, so zwischen Logei und
Langgam. Die Fahrt in kleinen Kühnen ans dem strom-
schnellenreichen Kwantan wird als sehr gefährlich geschildert;
ein Vorgänger Jjzermans, de Greve, war auch in diesem
Flusse ertrunken und sein Grab wurde besucht. Bei den
feindlich gesinnten Talnkers — die sich als konw, d. h. Frau
und nicht, wie sonst ans Sumatra, nngku, Mann, anreden
lassen — verlor die Expedition ein Mitglied, van Raalten,
durch einen heuchlerischen Schuß ans dem Hinterhalt.
Je weiter die Reisenden uach Osten vordrangen und
namentlich im Gebiete der Ströme Kwantan iittb Kampar,
desto mehr nahmen Urwälder mtb Moräste zu, in denen
nur wenige elende Menschen lebten. Ungeheure Schwärme
von Stechmücken belästigten die Reisenden. Die Spuren
von Tigern, Elefanten, Rhinozerossen und Bären waren sehr
häufig, doch bekam man diese Tiere selbst nicht zu Gesichte.
Die Bäume der Urwälder zeigten meistens Meterdicke, er-
hoben sich kahl zu ungeheurer Höhe und breiteten dann erst
ihre dichten Kronen ans. Der Boden zwischen den beiden
Flüssen Kwantan und Kampar ist ein hohes Hügelland mit
zahlreichen Ausläufern, durchschnitten von tiefen Schichten.
Hier und da traf man ans Pflanzungen von Zuckerrohr.
Die Anlage einer Eisenbahn quer durch Sumatra auf der
erforschten Route wird sehr schwierig sein; die größten
Schwierigkeiten liegen indessen in jenen Gegenden, wo die
Holländer bereits herrschen, nicht auf unabhängigem Gebiete.
Durch die Kreidefelsen von Moko Moko muß ein Tunnel
geführt werden; im Osten bereiten die Sümpfe zwischen dem
Kampar und Siakflnsse Schwierigkeiten. (Nach einem Vor-
trag Jjzermans int königl. Ingenieurverein zu Batavia mit-
geteilt vom Java Bode).
— Statistik der evangelischen Missionen in
Südafrika. In den sämtlichen bis an den Kunene und
Sainbesi, also bis zum 17. Grad südl. Br. sich erstreckenden
Ländergcbieten des südlichen Afrikas, die von vielleicht
41/2 Mill. Eingeborneu bewohnt sind, hatten die evangelischen
Missionen auf 502 Haupt- und vielen Nebenstationen
1888 — 344 835 ein gebor ne Christen in mehr oder
weniger selbständigen Gemeinden. Fast zwei Drittel dieser
Summe 229 345 kamen ans die Kapkolonie, auf Natal
22 454, auf britisch Bassntoland 17 800, den Oranjefrei-
staat 15 098, die südafrikanische Republik 33 763, britisch
Betschnanenland 14 650; in Herero- und Namalaud gab cs
nur 6765, in Pondoland 3000 und im Zulu-, Swasi- und
Amatongagebiet 1960 eingeborne evangelische Christen. Von
deutschen Missiousgesellschaften sind in Südafrika vertreten
die Brüdergemeinde, die Rheinische, die Berliner und die
Hermannsburger Missionsgesellschaft mit zusammen zirka
67000 Heidenchristen. In dem benachbarten Madagaskar
beträgt die Gesamtzahl der evangelischen Heidenchristen 280000
bis 300 000. Ganz genau läßt sich die Summe nicht be-
stimmen wegen der Lückenhaftigkeit der Statistik der Londoner
Missionsgesellschaft, welche hier die Hauptarbeit thut. Katho-
lische Heidenchristen, nicht gerechnet die Zahl der ein-
gewanderten Katholiken, gab es 1888 in Südafrika
zirka 2000, ans Madagaskar 28 571. In den katholischen
Missionsstatistiken werden die eingewanderten Kolonisten, Kauf-
leute re. stets mitgerechnet, was verwirrend wirkt. W—k
Herausgeber: Dr. R. And ree in Heidelberg, Leopoldstraße 27.
Druck von Friedrich Vieweg und Sohn in Braunschweig.
Bd. LX
Nr. 10
Begründet 1862
von
Karl Andrer
Druck und 'Werkcrg von
Mer-M WMliile.
Herausgegeben
von
Richard Andrer.
ZsrredricH Uierveg & Sohn.
Brau n s chwei g.
Jährlich 2 Bände in 24 Nummern. Durch alle Buchhandlungen und Postaiistalten
zum Preise von 12 Mark für den Band zu beziehen.
1891.
Zur Kenntnis de
von Dr. R.
Durch die unter dem gleichen Titel erschienene Abhand-
lung (Archiv f. Anthrop. XX, S. 43, 1891) von Dr.
A. Schmidt (Altona) wird unsre Kenntnis dieser Miß-
bildung durch eine Reihe genau untersuchter Fälle abermals
erweitert. Unter Zwergen versteht man solche Menschen,
welche im Verhältnis zu ihrem Alter allzu erheblich unter
dem Mindestmaß ihres Stammes zurückbleiben. Die Über-
gangsformen zur gewöhnlichen Größe bezeichnet man als
„zwcrghafte Gestalten". Das Vorkommen der letzteren ist
ein verhältnismäßig recht verbreitetes. Ranke fand bei-
spielsweise unter 45 500 bayerischen Militärpflichtigen, die
im Jahre 1875 gemustert wurden, 43 zwerghafte Gestalten,
deren Körpergröße zwischen 1,15 bis 1,40 m schwankte.
Die Ursachen des Zwergtums sind fast vollständig dunkel.
Bei einzelnen deutet die Kleinheit bei der Geburt schon
darauf hin, daß eine Entwickelungsstörung, eine Hemmungs-
bildung, vorliegt. Bei andern gestalten sich die ersten Jahre
der Entwickelung durchaus normal; dann tritt plötzlich ein
völliger oder fast völliger Stillstand im Wachstum ein.
Sehr interessant sind die von Dr. Boveri festgestellten That-
sachen, daß es gelingt, bei künstlicher Befruchtung von See-
igeleiern Zwerglarven zu erzeugen, wenn kernlose Abschnitte
des Eies befruchtet werden; ferner, daß man bei künstlicher
Bebrütung von Hühnereiern durch Anwendung ungewöhnlich
hoher Temperaturen und durch mangelhafte Sauerstoffzufuhr
Zwergformen hervorbringen kann. Von Vererbung des
Zwergwuchses kann keine Rede sein, da Zwerge mit ver-
schwindend geringfügigen Ausnahmen unfruchtbar bleiben.
Wie bei einer großen Reihe andrer krankhafter Bildungen,
so mußte auch hier die Darwinsche Theorie über alle
Schwierigkeiten hinweghelfen: Man bezeichnete den Zwerg-
wuchs als Atavismus, als Rückschlag in die Körperform
unsrer Urvorfahren, der leibhaftigen Affenmenschen. Daß
der Affenmensch ein vollständig hypothetisches Gebilde ist,
welches nur in den Köpfen gewisser Menschen ein nebel-
haftes Dasein führt, von welchem in Wirklichkeit aber nie-
mals ein Knochensplitter aufgefunden wurde — das sind
Globus LX. Nr. 10.
s Zwergwuchses.
Neuhau ß.
Thatsachen, durch welche sich die Unterhaltungsblatt-Anthro-
pologen nicht beirren lassen. Klar denkende Forscher wie
Virchow betonen mit Recht, daß eine Hemmungsbildung nur
dann auf Atavismus beruhen könnte, wenn das betreffende
Individuum zur selbständigen Existenz und zur Erhaltung
seiner Art befähigt wäre.
Die Zwerge sind häufig Mikrocephalen; ihr Schädel hat
nur so geringe Ausdehnung, daß kaum der dritte oder vierte
Teil eines normalen Gehirns in demselben Platz findet.
Welcher Art jedoch die Wechselbeziehungen sind zwischen
dem Zurückbleiben im Wachstum der Schädelknochen, der
vorzeitigen Verknöcherung bestimmter Schüdelnühte und der
Wachstumshemmung der übrigen Skelettknochen, ist bisher
noch nicht aufgeklärt. Man neigt jetzt vielfach der Ansicht
zu, daß das krankhafte Zurückbleiben im Wüchse bedingt ist
durch ursprüngliche Hemmungsbildung des Großhirns.
In allen Teilen völlig ebenmäßige Formen mit gesunder
Hirnthätigkeit finden sich beim Zwergwuchs selten. Hierher-
gehört der gegenwärtig 28 jährige Zwerg Ulps mit einer
Körperlänge von 92 cm; ferner die sogenannte „Prinzessin
Pauline", die bei einer Größe von 53,4 cm durchaus wohl-
gebaut ist. In der Mehrzahl der Fälle ist der Kopf zu
groß oder zu klein, der Bauch ungewöhnlich dick, die Arme
und Beine verkürzt. Nur ausnahmsweise erreichen Zwerge
ein höheres Alter und erfreuen sich einer guten Gesundheit.
Aus nahe liegenden Gründen entzieht sich eine nicht
unbeträchtliche Anzahl von Zwcrggestalten der wissenschaft-
lichen Untersuchung. Zweifellos existieren jederzeit und in
jedem Lande bei weitem mehr Zwerge, als zur allgemeimn
Kenntnis gelangen. Unter den von Dr. A. Schmidt der
Vergessenheit entrissenen Fällen machen wir folgende namhaft:
Jakob Maier wuchs in den ersten sechs Lebensjahr« n
anscheinend normal; dann trat fast völliger Stillstand ein.
Seine geistigen Fähigkeiten blieben äußerst beschränkt; er
mußte gefüttert werden und erkannte aus seiner Umgebung
nur seine Mutter. Meist lag er ganz regungslos und horchte
nur beim Rufen seines Namens auf. Als er im Alter
19
146
Dr. R. Neuhauß: Zur Kenntnis des Zwergwuchses.
von 19 Jahren starb, maß er 930 nun, hatte also etwa
die Größe eines vierjährigen Knaben. Maiers Schädel war
ungewöhnlich klein, ohne den typischen Bau eines echten
Mikrocephalenschädels zu zeigen. Durch Vergleich mit
einem normalen Schädel (dem größeren auf den beigefügten
Abbildungen) werden diese Verhältnisse ohne weiteres klar.
Beim Anblick dieses Zwergschädels wird der Laie an den
Kopf des Gorilla oder Chimpanse denken. Und doch ist
in Wirklichkeit ein derartiger Vergleich vollständig haltlos.
Die starke Entwickelung der Zahnpartie und das Vortreten
der Kiefer finden ihre einfache Erklärung in der Entwicke-
lungshemmung der Schädclknochen und in der dadurch be-
dingten Verschiebung der Gcsichtsknochen. Maiers Schädel-
inhalt beträgt nur 590 vorn, bleibt also weit hinter dem
eines Knaben am Ende
des ersten Lebensjahres
zurück, dessen Schädel
700 com bis 1000 ccm
umfaßt.
Theres Fend mißt
bei einem Alter von
16 Jahren 1160 mm,
hat also die Größe
eines achtjährigen Mäd-
chens. Sie wuchs bis
zum achten Jahre in
normaler Weise. Der
Körperbau ist ein eben-
mäßiger, die Größe
des Kopfes der übri-
gen Körpergröße ent-
sprechend. Die geistigen
Gaben lassen nichts zu
wünschen übrig: die
Zwergin kann schreiben,
fließend lesen, etwas
rechnen und beantwortet
Fragen in vernünftiger
und freundlicher Weise.
Margareta Reis-
berger wuchs bis zum
fünften Jahre; dann
kam im Anschluß an
eine mehrwöchentliche
schwere Krankheit Plötz-
licher Stillstand im
Längenwachstum, wäh-
rend die Entwickelung
in die Breite fortschritt.
Im Alter von 26 Jah-
ren mißt sie 1083 cm,
hat also etwa die Größe eines siebenjährigen Mädchens.
Ihre geistigen Fähigkeiten blieben sehr gering; sie lernte
weder Lesen noch Schreiben, doch kann sic stricken, nähen
und andre leichte Handarbeit verrichten. Die Sprache ist
schwerfällig und unverständlich.
Sophie Pctersen zeigte im Alter von neun Monaten
deutliche Spuren von englischer Krankheit; gleichzeitig wurde
der Kops ungewöhnlich groß. Im zwölften Lebensjahre
maß sie 979 mm, hatte also die Größe eines fünfjährigen
Mädchens. Sprechen lernte sie früh und leicht; ihre
geistigen Fähigkeiten sind vorzüglich entwickelt; sie erhält in
der Schule die besten Zeugnisse. Wie aus nebenstehender
Abbildung ersichtlich, ist der Gesichtsausdruck ein intelligen-
ter. Auffallend sind die kurzen Arme und Beine. In
diesem Falle dürfte der Zwergwuchs auf Hcmmnngsbildung
des Skelettes im Anschluß an die englische Krankheit zurück- 1
zuführen sein. Von einer ursprünglichen Hemmungsbildung
des Großhirns ist wohl nicht die Rede.
Jakob Hoeppncr, ein 63jährigcr, geistig gesunder Mann,
hat eine Größe von 1263 mm, also diejenige eines Knaben
von neun bis zehn Jahren. Er wuchs bis zum Alter von zehn
Jahren, um dann plötzlich nicht mehr größer zu werden.
Er behauptet mit größter Überzeugung, daß dieser plötzliche
Stillstand im Wachstuni eine Folge von übergroßer, körper-
licher Anstrengung in seinen Knäbenjahren gewesen sei.
Von seinem neunten Jahre an habe er in einer Sägemühle
schwere Holzblöcke tragen müssen; aus kindlichem Ehrgeiz
suchte er sich stets die größten Blöcke aus. Ob dieser Grund
zutreffend ist, bleibt dahingestellt. Jedenfalls ist es That-
sache, daß z. B. Pferde, die man in früher Jugend über-
anstrengt, im Wachs-
tum zurückbleiben. Beit
35 Jahren heirathcte
Hoeppncr eine ebenfalls
sehr kleine Frau, seine
Kinder starben aber
kurz nach der Geburt.
Der Kopf des Zwerges
erscheint ziemlich nor-
mal ; der untere Ab-
schnitt des Rumpfes und
die Extremitäten sind
gleichmäßig verkürzt.
Peter Rose, 19 V4
Jahr alt, hat mit
1280 mm die Größe
eines zehnjährigen Kna-
ben. Der Gesichts-
ausdruck ist blödsinnig,
die Sprechsähigkeit fast
gleich Null, der Gang
mühsam und schlep-
pend, der Körperbau im
Ganzen proportioniert.
Heinrich Nisse er-
reichte mit 17 Jah-
ren die Größe eines
siebenjährigen Kindes
(1149 mm). Der Blöd-
sinn ist bei ihm ange-
boren, der Gang un-
sicher. Abgesehen von
einer geringen Kleinheit
des Kopfes zeigt der
Körperbau keine wesent-
liche Abweichung vom
Ebenmaß.
Wilhelm Wiükowsky mißt im Alter von 20 Jahren
1320 mm. Sein im übrigen proportioniert gebauter, ziem-
lich fetter Körper trägt einen Wasserkopf. Schon bei der
Geburt fiel der Kopf durch ungewöhnliche Größe auf. Die
früher ziemlich verständliche Sprache ging in letzter Zeit
fast gänzlich verloren.
Die Geschwister Strnß sind zwei ausgesprochene Mikro-
cephalen. Das Mädchen Minna hatte im elften Lebens-
jahre die Körperlänge eines fünfjährigen, der Knabe im
dreizehnten Lebensjahre diejenige eines sechsjährigen Kindes
erreicht.
Anna Oelrich mißt im Alter von 21 Jahren 1212 mm,
entspricht also der Größe eines neunjährigen Mädchens.
Sie leidet an Wasserkopf; ihre geistigen Fähigkeiten stehen
auf sehr tiefer Stufe. Charakteristisch ist die vorhängende
Unterlippe und die ungewöhnlich dicke, wulstige Zunge,
Schädel des Zwergs Jakob Maier verglichen mit einem
normalen Schädel.
Dr. R.Heuhauß: Zur Kenntnis jdcs Zwergwuchses.
14-
Sophie Petersen.
Kennzeichen, welche bei Kretins nicht selten sind. Zu
körperlicher Arbeit konnte sie nie angehalten werden.
Welsing, 15 y2 Jahr
alt, entspricht mit seiner
Körperlänge (1196 mm)
etwa der Größe eines
siebenjährigen Knaben.
Ein im dritten Jahre be-
ginnender und dann zwölf
Jahre anhaltender Darm-
katarrh ließ das Kind
zum Skelett abmagern.
Die Körperproportionen
sind gut, die geistigen
Fähigkeiten normal. Der
Kopf zeigt keine Miß-
bildung. Wahrscheinlich
hängt die Hemmnngs-
bildnng mit einem mäßi-
gen Grade von englischer
Krankheit zusammen.
Blicken wir aus die
soeben besprochenen Fälle
noch einmal zurück, so
muß vor allen Dingen
die große Verschiedenheit
in den geistigen Fähig-
keiten der Zwerge und in
den Proportionen ihres
Körpers auffallen. Wäh-
rend einige nur das Miniatnrformat des geistig und körper-
lich gesunden Menschen zu sein scheinen, springt bei an-
dern die Mißbildung des
Körpers, insbesondere des
Kopfes, sofort in die
Angen, und dementspre-
chend erheben sich die gei-
stigen Fähigkeiten nicht
über die Höhe derjenigen
eines nengeborncn Kin-
des. Niemandem aber
wird cs zweifelhaft sein,
daß bei der letzteren
Klasse von Atavismus
keine Rede sein kann.
Individuen wie Jakob
Maier, Wilhelm Will-
kowsky, die Geschwister
Struß u. A. konnten eben-
sowenig wie heute vor
Millionen von Jahren
ihren Unterhalt finden
oder gar ihr Geschlecht
fortpflanzen.
Über die Gründe dcr-
artiger Hemmungsbildung
werden wir erst einiger-
maßen sichere Hypothesen
aufstellen können, wenn
bei weitem mehr Einzel-
fälle als bisher zu unsrer
Kenntnis gelangen. Ein
Anna Oelrich.
jeder Gebildete kann das Werk fördern, indem er auf
Zwergbildungen ein aufmerksames Auge hat und ^Nach-
richten hierüber an geeigneten Ort gelangen läßt.
Die Windhvhle von Zavala (Hcrzogland).
Von Friede. S. Krauß.
Zu den Kennzeichen des Herzoglandes (Herccgovina) ge-
hören die zahlreichen Höhlen in den Gebirgen. Die wenig-
sten darunter sind bisher wissenschaftlich durchforscht worden,
aber soviel steht fest, daß viele von diesen Höhlen in grauester
Vorzeit und manche sogar bis in unser Jahrhundert hinein
Menschen als Wohnstätten dienten. Eine der seltsameren
Höhlen dieser Art ist die Vjetrenica (Windhöhle) bei dem
Dorfe Zavala im Popovo Poljc gelegen, vier Stunden vom
Orte Cjubinje und drei Stunden von Slani in Dalmatien
entfernt. Die erste ausführlichere Beschreibung dieser Höhle
liefert der Hegnmenos Christopher Mihajlovie im
Glasnik zemalj muzeja u Bosni i Hercegovini, Bd. I,
S. 18 bis 21 und Bd. II, S. 138 bis 143. Daraus
entnehmen wir folgende Mitteilungen.
Der Eingang in die Vjetrenica liegt nördlich 40 in
hoch über dem Niveau des Popovo Poljc. Der untere Teil
des Berges, durch welchen sich die Höhle hinzieht, heißt
Gradac (die kleine Burg), der obere Teil aber Klisura
(steiler Fels) oder Brekovac. Vor der Windhöhle sind
noch die Ruinen einer Burg zu sehen. Aus der Höhle dringt
ein schneidig kalter Wind heraus, der um so stärker ist, je
höher die Temperatur der äußeren Lnft steht. Im harten
Felsen vor der Höhle sind mehrere Jagdbildcr (Reiter und
Fußgänger) ausgehauen. Mihajlovie hält die Darstellungen
für römisch, aber er meint, sie könnten auch christlichen Ur-
sprunges sein, weil in einem Winkel auch ein kleines Kreuz
eingekerbt ist. Dazu ist zu bemerken, daß die christlichen
Jagddarstellungen aus der älteren slavischen Zeit eine ungleich
geringere Kunst zeigen als die vorliegenden. Das Kreuz
kann erst nachträglich angebracht worden sein.
Der Eingang ist kaum 1 m hoch und breit und 4 m lang.
Durch einen schmalen und niedrigen Gang mit drei Thoren
gelangt man in die geräumige Höhle, die Raskrsnica
(Kreuzweg). Vor dem Eingang ist ein Steinwall erbaut,
der zur Verteidigung des Inneren diente. Hier giebt es
genug sichtbare Spuren, daß die Höhle Menschen als Anfent-
haltsort gedient. Geschirrschcrben und Tierkuochen liegen
umher, auch sicht man die Spuren von Feuerstellen. Süd-
westlich erstreckt sich von hier in der Länge von 50 in
ein Gang, in welchem verschiedene Stellen die „Handmühle"
(zrvanj), die „Trommel" (Lmbanj) und die „Mühle" (lulin)
benannt sind. Durch eine Ritze im Felsen dringt ein Ge-
räusch hervor, das jenem einer mahlenden Handmühle ganz
ähnlich ist, ans einem Winkel tönt deutliches Getrommel.
Das Volk sagt, zu diesem Trommelspiel tanzen die Vilen,
welche im Berge hausen, ihren Reigen. Auch erzählt man,
es gebe Krieg, wenn einmal im Sommer das Getrommel
aufhöre. Im rechten Ausläufer dieses Ganges stößt man
auf das Mühlgerüusch, jenem der Handmühle ähnlich, doch
viel kräftiger.
Der Hauptteil der Höhle, der noch nicht ganz erforscht ist,
führt tief in die Erde hinab. 100 in vom ersten Eingänge
kommt man über Sandboden zu einem kleinen See, der
im Juni auszutrocknen pflegt. Hinter dem See beginnen die
wunderbarsten Tropfsteingebilde. 40 in weiter gelangt man
durch eine niedere Pforte zu einem hochgewölbtcn Raum, ge-
nannt Cejreci (Lammschinken), weil von der Decke Stalaktiten
herabhängen, die Schinken im. Rauchfange ähneln. Durch
einen Schlund dringt man ferner in einen mit Tellern
(pijali) bedeckten Raum. Die Teller sind vom Wasser aus-
gehöhlte Gebilde. Mihajloviö beschreibt noch den Arm bis
600 in Länge. Weiter war er nicht vorgedrungen.
19*
148
Dr. M. Winternitz: Zur Geschichte der Ehe.
Zur Geschichte der <L h e.
Von Dr. ITT. Winternitz. Oxford.
II.
Um die Hypothese der Kommunalehe zu stützen, hat
man sich gern auf die Nachrichten von Reisenden berufen,
welche von einigen Naturvölkern berichten, daß sie in einem
Zustande vollständiger Promiscuität leben. Es ist aber
ganz unglaublich, mit welcher Kritiklosigkeit einige der be-
deutendsten Forscher derlei Nachrichten als unumstößliche
Thatsachen hingenommen haben. Ganz vage Nachrichten
von Herodot und Strabo über Weibergemeinschaft bei ge-
wissen Völkern der Alten Welt hat man ohne Bedenken
als ethnographische Thatsachen hingenommen. Von moder-
nen Naturvölkern sind es besonders die Buschmänner und
Andamanesen, von denen behauptet wird, daß sie mit der
Ehe unbekannt seien.
Wood sagt von den Buschmännern, daß das Eheband
bei denselben ein sehr lockeres sei. Der Alaun habe das
Recht, die Frau nach Belieben fortzuschicken, während die
Frau kein Recht aus Scheidung habe. Es komme auch
nicht selten vor, berichtet er, daß, wenn ein Stärkerer an dem
Weibe eines andern Gefallen findet, er ihm dasselbe mit
Gewalt wegnimmt. Die Frau selbst wird in keinem Falle
gefragt, sie wird aufgegeben oder behalten, ohne Rücksicht
ans ihre Gefühle. Als eine merkwürdige Thatsache fügt
Wood hinzu, daß es in den verschiedenen Dialekten der Busch-
nlänncr kein Wort gebe, um ein unverheiratetes Mädchen
von einem Weibe zu unterscheiden u).
Der unbefangene Leser wird in dieser Schilderung,
welche, wie uns neuere Berichte lehren 12), etwas übertrieben
ist, keine Spur von Promiscuität sehen können. Die Busch-
männer sind ein Jägervolk. „Das erste und durchgreifende
Gesetz", wie Ratzel bemerkt, „ist auf dieser Kulturstufe
das Recht des Stärkeren, und die Folge dieses Gesetzes ist
die Herabdrückung des Weibes.... aus die Stufe der
Dienerin und sogar des Lasttieres." Die Folge dieses
Gesetzes ist es auch, daß die Festigkeit des Ehebandes von
der Willkür des Mannes abhängt, und daß die Rechte des
Eheherrn nur so lange anerkannt sind, als er dieselben gegen
Eingriffe Stärkerer verteidigen kann. So erklären sich die
von Wood angeführten Thatsachen. Und doch haben sich
sowohl Post wie Lubbock aus die Buschmänner, und ins-
besondere auf Woods Schilderung berufen, um ihre Hypo-
these zu begründen. So sagt Post13): „Die Buschmänner
in Südafrika leben fast gänzlich ohne Ehe." Und während
Post noch das Wörtchen „fast" einfügt, lesen wir bei
Lubbock") ganz einfach: „The Bushmen of Southafrica
are stated to be eutirely without marriage.“ Hierzu
bemerkt Westermarck: „Was die Buschmänner anbelangt, so
weiß ich nicht, wo Sir John Lubbock seine Angabe ge-
funden hat, daß sie „gänzlich ohne Ehe" sind, aber alte
Autoritäten, die ich zu Rate gezogen, behaupten einstimmig
das Gegenteil." Er führt Burchell und Barrow an,
nach deren Angaben die Buschmänner selten eine zweite
Frau nehmen, bevor die erste alt geworden, in welchem
Falle aber auch die alte Frau bei dem Manne bleibt, und
Dr. Fritsch, nach welchem die Familie die Hanptinsti-
tution ist, welche die Buschmänner kennen.
Westermarck hätte aber noch viel stärkere Zeugen anrufen
können. Wir sind ja, was die Buschmänner anbelangt,
nicht mehr aus bloße Reiseberichte angewiesen. Den Samm-
lungen Bleeks") verdanken wir einen Einblick in die
Ideenwelt der Buschmänner, in ihre Sagen, Märchen und
Fabeln, in ihre Mythologie, sowie in ihr Gefühlsleben, und
indirekt auch in ihre sozialen Institutionen. So finden
wir z. B. in den von Bleek veranstalteten Auszügen aus
den von ihm gesammelten Texten Auszüge wie die folgen-
den: „Die letzten Worte eines Sterbenden zu seiner Gattin,
in welchen er ihr Ratschläge giebt rc. — Die Klage einer
Witwe, in welcher sie sagt, daß sic sich zu Tode weinen
möchte, und daß sie keine Nahrung zu sich nehmen wolle.
Ihre Schwiegermutter tröstet sie. — Nach dem Begräbnis
des Verstorbenen kehrt die Witwe zu ihrem Vater zurück,
wo ihre Brüder sie freundlich aufnehmen. Sie teilt ihren
Kummer ihrer Familie mit und drückt ihre Absicht aus,
nicht wieder zu heiraten, aus Furcht, daß sie keinen Gatten
finden würde, der dieselben guten Eigenschaften hätte wie
der Verstorbene" u. s. w."). Und sollen wir von einem
Volke sagen, daß cs ohne Ehe lebe, welches solche Geschichten
erzählt, wie die folgende: „Buschmann-Frauen senden Krähen
aus, um zu erfahren, was aus ihren Männern geworden
sei, die nicht von der Jagd zurückgekehrt sind. Sie hängen
Fett um den Hals der Krähen, damit sie Futter für die
Reise haben. Daher kommt es, daß die Krähen weiße
Flecke auf Hals oder Brust haben" 17).
Sowohl Post als Lubbock weisen auf die von Wood
hervorgehobene Thatsache hin, daß die Buschmänner in ihrer
Sprache ein unverheiratetes Mädchen nicht von einer ver-
heirateten Frau unterscheiden können. Ratzel zieht die
Thatsache selbst sehr stark in Zweifel, indem er sagt"): „Es
scheint vor allem übertrieben zu sein, daß sie selbst in der
Sprache keinen Unterschied zwischen Jungfrau und Frau
machen sollten." Aber selbst, wenn es gar nicht übertrieben
wäre, würde das Fehlen eines Wortes auf keinen Fall be-
weisen, daß den Buschmännern der Unterschied zwischen
Verheirateten und Unverheirateten nicht zum Bewußtsein
gekommen ist. Post"') führt ja auch an, daß die spanischen
Missionare bei den Indianern in Altkalifornien kein Wort
für Ehe fanden, und daß die Keriahs in Zentralindien in
ihrer Sprache kein Wort für Ehe haben. Gewiß hat
Westermarck Recht, wenn er sagt, daß das Fehlen eines
Wortes nicht das Fehlen der Thatsache selbst beweist. Denn
wenn das der Fall wäre, so müßten wir den alten Griechen
nicht minder als den Altkaliforniern die Ehe absprechen.
Kein geringerer als Aristoteles sagt uns selbst, daß der
griechischen Sprache ein Wort für Ehe fehle (dvdvvfiuv
ydp rj yvvcuxdg ual uvÖQog övt,sv^ig2i))/ und Del-
brück hat gezeigt, daß cs in der indogermanischen Ursprache
wahrscheinlich kein Wort für Ehe gegeben hat.^). Und
doch ist nichts sicherer, als daß das indogermanische Urvolk
mit der Institution der Ehe bekannt war.
Von den Andamanesen ist behauptet worden, daß Mann
und Weib nur so lange beisammen bleiben, bis das Kind
entwöhnt ist. Dem gegenüber weist Westermarck aus das
Zeugnis von Man hin, der bei den Bewohnern der Anda-
maneu nicht nur Monogamie gefunden hat, sondern auch
hervorhebt, daß Ehescheidungen sehr selten und eheliche
Treue bis zum Tode die Regel bei ihnen sei'.
Ähnlich steht es mit andern Völkern, welche angeblich
die Ehe nicht kennen. Es ist aber nicht zu verhehlen, daß
hier ein wunder Punkt in unsrer Wissenschaft zu Tage tritt.
So lange ein Forscher sich ans diesen, ein andrer aus jenen
Reisebericht beruft, um eine Theorie zu erweisen, und so
Dr. M. Winternitz: Zur Geschichte der Ehe.
149
lange wir nur zwei oder mehrere sich widersprechende
Zeugen vor uns haben, werden wir zu keinen befriedigenden
Resultaten über die Urgeschichte der Menschheit kommen.
Alan wird gewiß Westermarck Recht geben, wenn er sagt,
niemand sollte sich in Spekulationen über Ursprung und
Entwickelung menschlicher Zivilisation einlassen, der die
Mühe scheut, sich durch eine ungeheure Masse ethnographi-
scher Litteratur hindurchzuwinden. Aber die Quantität allein
kann die Qualität nicht ersetzen. Was dringend not thut,
ist kritische Sichtung des Materials 22), um zu sicheren
Resultaten für jedes einzelne Volk zu kommen, bevor
wir Schlüsse auf primitive Zustände der Menschheit ziehen
können. Delbrück, der es unternommen hat, das Material
für eine, die indogermanische, Völkergrnppe kritisch zu
untersuchen, schließt seine Abhandlung23) mit den beherzigens-
werten Worten: „Illach meiner Ansicht kann es sich bei der
jetzigen wissenschaftlichen Lage nur darum handeln, bei einem
Volke oder einer durch gemeinsame Abstammung verwandten
Völkergruppe den Stoff, der sich aus die Gestaltung der
Familie bezieht, zu sammeln und mit kritischer Vorsicht
Schlüsse aus demselben zu ziehen."
Alan hat sich aber nicht damit begnügt, auf angebliche
thatsächliche Überreste von Promiscuität hinzuweisen, sondern
hat namentlich in einer Anzahl von Bräuchen, die sich auf
einer vorgeschritteneren Stufe der Entwickelung erhalten haben,
Üb erleb sel von Promiscuität oder Kommunalehe der Ur-
zeit sehen wollen.
So sieht Post24) ein Übcrlebsel ursprünglicher Weiber-
gemeinschaft darin, daß manche Völker zügellosen Verkehr
zwischen den Geschlechtern vor der Heirat gestatten, und
daß sie auf Jungfräulichkeit gar keinen Wert legen.
Westermarck weist nun zunächst darauf hin, daß Keusch-
heit bei Naturvölkern keineswegs eine seltene Tugend ist,
daß wir bei vielen rohen Völkern strenge Gesetze gegen
Unkeuschhcit finden, und daß bei vielen Völkern die Forderung
der Virginitä't bei der Heirat eine große Rolle spielt. Er-
führt schlagende Beispiele an, welche beweisen, daß in zahl-
reichen Fällen geschlechtliche Zügellosigkeit bei Wilden die
Folge von Bekanntschaft mit civilisierten Völkern ist. Das
würde nun freilich an sich nicht viel beweisen. Es könnten
die von Post angeführten Thatsachen noch immer Übcrlebsel
sein, wenn auch in den von Westermarck angeführten Fällen
diese angeblichen Übcrlebsel geschwunden wären. Viel stärker
scheint mir ein andres von Westermarck vorgebrachtes Argu-
ment zu sein. Er macht daraus aufmerksam, daß irreguläre
Verbindungen zwischen den Geschlechtern im allgemeinen
die Tendenz zeigen, mit dem Fortschritt der Civilisation
zuzunehmen. So sind nach Fritsch die Buschmänner strikter
in geschlechtlichen Dingen als ihre höher civilisierten ^Nach-
barn. Und die erschreckenden Ziffern der Moralstatistik
betreffend die Prostitution in den Städten der civilisierten
Welt weisen darauf hin, daß in unsrer Civilisation die
Wurzeln zu geschlechtlicher Zügellosigkeit gelegen sind, in-
sofern Prostitution und illegitime Geburten in demselben
Maße zunehmen, als die Zahl der Heiraten abnimmt. Ich
stimme daher mit Westermarck 2°') vollkommen überein, wenn
er bemerkt: „Marriage is, it seems to me, the natural
form of the sexual relations of man, as of his nearest
allies among the lower animals. Far from being
a relie from the primitive life of man, copulation
without cohabitation is, then, an anomaly, chiefly
owing to certain circumstances coherent with human
development.“
Diese Ausführungen über das Verhältnis von Civili-
sation nnd geschlechtlicher Moral mögen paradox und der
Evolutionstheorie zuwiderlaufend erscheinen. Ich erinnere
aber daran, daß die Civilisation, deren wir uns bcrühmen,
eine in vieler Beziehung einseitige ist, nnd daß bis vor
kurzem fast ausschließlich nur eine — die männliche —
Hälfte der Menschheit an dieser Civilisation Teil ge-
nommen hat.
Wie immer es sich damit verhalten mag, ans keinen
Fall können wir mit Post und Lubbock aus einem laxen
Verkehr zwischen Unverheirateten auf ehemalige Kommunal-
ehe zurückschließen. Dieser freie Verkehr ist bei den
Völkern, wo er nachweisbar ist, in der Regel ans Liebes-
paare beschränkt und führt häufig zu Heirat. Und selbst
wo das nicht der Fall ist, läßt sich diese Freiheit viel ein-
facher aus dem Wechsel der Anschauungen über sexuelle
Moral erklären; finden wir ja doch bei civilisierten Völkern
Beispiele genug, welche zeigen, wie sich in historischen Zeiten
die Anschauungen in dieser Beziehung ändern. Man be-
denke auch, daß rat civilisierten Europa eigentlich nur die
Frau nach einem strengen Moral-Kodex be- und verurteilt
wird, während dem Manne eine Laxheit zugestanden wird,
wie sie sich kaum bei den rohesten Naturvölkern findet.
Gewiß handelt es sich hier nicht um Überlebsel von primi-
tiver Kommunalehe.
Und wenn von einigen Völkern, z. B. den Aboriginern
Brasiliens, berichtet wird, daß Mädchen, welche viele Liebhaber
gehabt haben, für die Ehe vorgezogen werden, so wird tnan
wohl keinen Anstand nehmen, dies dem Wunsche zuzu-
schreiben, in Liebeskünsten bewanderte Frauen ztt haben.
Wir wissen, daß die ars amatoria bei einigen der rohesten
Naturvölker nicht minder ausgebildet ist, als in der römischen
Kaiserzeit oder in Indien zur Zeit Vatsyayanas 2G).
Lubbock hat auch in der Hochschätzung der Hetären bei
Griechen und Indern Nachklänge einer ehemaligen Kommunal-
ehc entdecken wollen27). Dagegen hat schon McLennan
bemerkt, daß man mit demselben Rechte in London oder
Paris Überlebsel von Kommunalehe suchen könnte. In der
That, es giebt Gründe genug, diese Hochschätznng zu er-
klären. Sowohl in Griechenland wie in Indien 2Z waren
die Hetären die einzigen Frauen, welche eine höhere Bildung
besaßen und deshalb eine besondere Anziehungskraft aus die
Männer ausübten. Man bedenke anch, daß bei der niedrigen
Stellung der Ehefrau der „freien“ Frau eine höhere
Achtung zukommen mußte. Während die Frau Sklavin
war, war die Hetäre „frei“, sic konnte verweigern, was die
Gattin gewähren mußte. Gänzlich ungerechtfertigt ist es
aber, von einer „Verehrung“ der Hetären in Indien zu
sprechen, und rein willkürlich ist die Behauptung, daß die
Hetären „ursprünglich die freien Töchter des Stammes“
sind 29).
Die mit dem Namen der „gastlichen Prostitution“ be-
zeichnete Sitte, welche fast über den ganzen Erdkreis ver-
breitet ist und darin besteht, daß die Frau dem einkehrenden
Gaste angeboten wird, ist ebenfalls zu den Überlebseln der
Kommunalehe gerechnet worden 3ü). Gewiß ist es einfacher,
diese Sitte als einen Akt roher Gastfreundschaft zu erklären.
Man könnte sonst, wie Westermarck treffend bemerkt, mit
demselben Rechte in der Sitte, Geschenke auszutauschen oder
überhaupt Gastfreundschaft zu üben, Zieste von Kommunis-
mus in Eigentum erblicken. Alan wird deshalb doch keines-
wegs mit Ploß-Bartelsdem beipflichten, was Adalbert
von Chamisso über diese Art von Gastfreundschaft sagt: —
„Der Hausvater erwartet am Wege den Fremdling und
zieht ihn unter sein Zelt oder sein Dach, daß er in seine
Wohnung den Segen des Höchsten bringe. Da macht es
sich leicht zur Pflicht, ihm sein Weib anzubieten, welches
dann zu verschmähen eine Beleidigung sein würde. Das
sind reine unverderbte Sitten.“ Wir werden viel-
mehr in dieser Sitte einen Ausfluß der Anschauung zu
sehen haben, wonach die durch Raub oder Kauf erworbene
150
Dr. M. Winternitz: Zur Geschichte der Ehe.
Frau Eigentum des Mannes ist und daher verliehen werden
kann, wie sie sa auch verschenkt und verkauft wird.
Auch in gewissen pH attischen Kulten, die sich jedoch nicht
bei Naturvölkern, sondern aus höheren Kulturstufen finden,
hat Lubbock Reste der Kommunalehe sehen wollen, indem
er sie als Sühnakte für die individuelle Ehe auffaßt. Ich
glaube aber, daß eine eingehendere Untersuchung dieser Kulte
den rein religiösen Eharakter dersetben zeigen würde. So
kann es keinem Zweifel unterliegen, daß es sich bei dem
indischen Feste der Salti um religiösen Mysticismus
handelt. Die Göttin Sakti ist die zeugende Naturkraft,
und es ist begreiflich, daß ihre Feste mit obscönen Kulten
verbunden sind32). Auch sind diese Kulte auf gewisse
Sekten beschränkt, und wir werden ihnen kaum mehr Be-
deutung zuschreiben dürfen als den heiligen Orgien, die
selbst bei gewissen christlichen Sekten gelegentlich vorgekommen
sind 33).
Auch bei dem sehr mit Unrecht sogenannten „Jus primae
noctis“ der Priester wird man mit der religiösen Erklärung
auskommen, soweit cs sich nicht um priesterliche Anmaßungen
handelt; während es sich bei dem ebenfalls mit Unrecht als
„jus“ bezeichneten „jus primae noctis“ von Häuptlingen
gewiß nur um Folgen von Despotismus und nicht um Über-
lebsel handelt. Es ist bekanntlich sehr viel Unfug mit dem
„jus primae noctis“ getrieben worden, trotzdem Karl
Schmidt in feiner Schrift „jus primae noctis“ (Frei-
burg 1881) viel zur Klärung der Thatsachen und zur Be-
seitigung von Mißdeutungen beigetragen hat. Auch das
Privilegium der Hochzeitsgäste in der Brautnacht, das sich
bei einigen Völkern nachweisen läßt, ist mit diesem Namen
bezeichnet worden, und auch „jus primae noctis“ wird von
Lubbock als „Sühnakt“ für die individuelle Ehe aufgefaßt.
Sehr ansprechend ist hingegen Westermarcks Auffassung,
wonach dieses Recht eine Art Entschädigung für die beim
Raube der Braut geleistete Hilfe wäre. Zn Gunsten dieser
Annahme spricht zum mindesten, was Mr. Brough Smyth
von gewissen Australiern berichtet, daß „in any case
where the abduction has tallen place sor the benefit
of seine one individual, each of the members of the
party Claims as a right a privilege which the intended
husband has no power to refuse 34)“.
Es handelt sich bei allen diesen Argumenten um eine
wichtige methodische Frage, nämlich inwieweit wir be-
rechtigt sind, Üb er leb sel anzunehmen. Es ist unstreitig
eines der größten Verdienste E. B. Tylors, zuerst hervor-
gehoben zu haben, daß Survivals oder Überlebsel für die
Geschichte der Civilisation dieselbe Bedeutung haben, wie
Rudimente für die Naturwissenschaft. Und es ist nicht
Tylors Schuld, wenn manche Gelehrte übers Ziel ge-
schossen haben und in der Annahme von Überlebseln zu
weit gegangen sind. Westermarcks Warnung ist daher
keineswegs überflüssig, daß man sich hüten solle, Gebräuche,
die sich ans andre Weise befriedigend erklären lassen, für
Rudimente zn erklären; obwohl es selbstverständlich scheint,
daß ein Brauch nur dann als Rudiment aufgefaßt werden
kann, wenn er ans den gegebenen Verhältnissen sich auf
keine Weise erklären läßt.
Zu welchen Mißbräuchen die Nichtbeachtung dieses
Grundsatzes führen kann, zeigt sich recht deutlich in den
Versuchen, welche gemacht worden sind, Überlebsel von
Kommunalehe im indischen Rechte nachzuweisen. Aurel
Mayr hat in seinem verdienstlichen Werke über „das indische
Erbrecht“ (Wien 1873) versucht, aus indischen Rechts-
institutionen Beweise für Lubbocks Theorien beizubringen.
Wie er dabei zn Werke gegangen ist, mögen die folgenden
Beispiele zeigen.
Im Kathaka, einem zum Najur-veda gehörigen sehr
alten Werke, begegnet uns folgende Stelle: „Unrecht thut
diejenige, welche, obwohl sie von ihrem Gatten gekauft ist,
sich mit andern abgiebt.“ Diese Stelle bezieht sich natürlich
auf Kaufehe und, will nichts andres besagen , als daß eine
rechtmäßig erworbene Frau Unrecht thut, wenn sie ihrem
Gatten untreu ist. Aurel Mayr behauptet jedoch, daß
diese Stelle aus dem Kathaka, „wonach eine gekaufte (also
nur d i e) unrecht thut, wenn sie mit andern als dein Käufer
umgeht“, auf „einstige Gemeinschaft der Weiber“ hin-
weist 35)ü
Einen ferneren Beweis für ehemalige Weibergemeinschaft
bei den Indern erblickt Mayr in der Erbfähigkeit eines
unehelichen Sohnes. Die indischen Gesetzbücher konstatieren
nämlich, daß in Ermangelung eines leiblichen
Sohnes oder eines geeigneten Stellvertreters (z. B. eines
Adoptivsohnes) im Notfälle auch der gudhaja, d. i. „der
heimlich geborne“ erben kann. Dieser gudhaja wird er-
klärt als ein Sohn, der heimlich im Hanse geboren, oder
doch der Sohn einer "mit ihrem Gatten lebenden Ehefrau
ist. Ein solcher ist nach Alaun als der Sohn des Ehe-"
mannes anzusehen, von dessen Weibe er geboren wurde.
Gewisse Kommenlatoren (nicht die Autoren der Rechts-
bücher selbst) fügen die Klausel hinzu, daß ein solcher
gudhaja, mit erbberechtigt zu sein, doch wenigstens sajâtîya
oder savarnaja sein müsse, d. l). wenn man auch nicht
wisse, wer der Vater sei, so müsse es doch außer Zweifel
sein, daß es ein Mann von derselben Kaste (varna jäti)
sei3Ö). Kein Sanskritist wird die Ausdrücke varna und
jäti hier anders als durch „Kaste“ erklären. Nicht so
Aurel Mayr. „Unstreitig“, behauptet er37), „bedeutet hier
jäti und varna eben nicht Kaste, sondern Stamm. Wir
erkennen demnach im gudhaja den Sohn des Stammes,
der, seitdem die Weiber in Besitz eines einzelnen übergingen,
demjenigen zugewiesen wird, dessen Gattin ihn gebar.“ Und
darin, daß die gudhajas bei allen Autoren zn den Erb-
berechtigten gezählt werden, liegt nach Mayr „eine An-
erkennung der Rechte der übrigen Stammesgenossen ans die
Ehegattin, und ist die Stellung derselben in der Familie
und der Sneeessionsordnung einer der schlagendsten Beweise
für die einstige Gemeinschaft der Weiber bei den arischen
Indern“.
Welch ein Wust von unwissenschaftlichen Behauptungen!
Die späteren indischen Kommentatoren, welche immer mit
Vorliebe auf die strenge Wahrung der Kasteneinteilung be-
stehen, finden es nötig, die Rechte des gudhaja zn be-
schränken, indem sie erklären, er müsse auf jeden Fall von
derselben Kaste sein. Mayr behauptet ohne jeden Versuch
eines Beweises, daß es nicht „Kaste“, sondern „unstreitig“
„Stamm“ heißen müsse. Und daraus leitet er „einen der
schlagendsten Beweise“ für die ehemalige Weibergemein-
schaft ab!
Daß der gudhaja, der uneheliche Sohn, nach den indi-
schen Rechtsbüchern unter Umstünden erbberechtigt ist, erklärt
sich vollkommen aus bestehenden indischen Rechtsideen, aus
denselben Ideen, welche auch zn einer Reihe andrer Ge-
bräuche — Niyoga, Leviratsehe, Adoption — geführt haben.
Seit den ältesten Zeiten galt es in Indien für die erste
Pflicht eines Hausvaters, einen Sohn zn erzeugen; und kein
größeres Unglück konnte einem Ae an ne zustoßen, als zn
sterben, ohne einen Sohn zu hinterlassen, der die Todten-
opser für ihn darbringen würde. „Durch einen Sohn,“
heißt es bei Manu (IX, 137), „besiegt man die Welten,
durch einen Enkel erlangt man Unsterblichkeit, aber durch
eines Sohnes Enkel gelangt man zum höchsten Gipfel der
Sonnenwelt.“ Wer keinen Sohn besitzt, fährt zur Hölle.
(Mann IX, 138.) Nach einer alten schon im Nchur-veda
erwähnten Lehre kommt jeder Brahmane mit drei Schulden
R. v. Lendenfeld: Der Ruapehu auf Neuseeland.
151
beladen auf die Welt. Er schuldet den Rischis, den Sehern,
ein frommes Leben im geistlichen Stande, das dem Studium
des Veda gewidmet ist; den Göttern schuldet er Opfer;
und den Manen ist er einen Sohn schuldig. Darum ist
derjenige schuldlos, der einen Sohn besitzt, der Opfer dar-
bringt und sich dem Studium des Veda hingiebt3S). So
heißt es auch im Gesetzbuch des Vishnu (XV, 45): „Der
Vater übertragt seine Schuld auf seinen Sohn und geht
zur Unsterblichkeit ein, wenn er das Antlitz eines lebenden
Sohnes erschaut."
Da es nun aber doch nicht jedem Vater gegönnt ist, das
Antlitz eines leiblichen Sohnes zu schauen, so haben die
indischen Gesetzgeber Vorsorge getroffen, daß ein solcher
Vater sich durch verschiedene legale Mittel einen Quasi-Sohn
anschaffen könne. Eines dieser legalen Mittel ist die Adop-
tion. Und es ist ganz unerfindlich, wie man selbst in diesen:
Brauche einen Überrest der Kommunalehe erblicken konnte 33).
Ein andres Mittel, sich einen Sohn zu verschaffen, ist der
Niyoga, welcher darin besteht, daß die Gattin von ihrem
Manne, der außer Stande ist, einen Sohn zu erzeugen,
autorisiert wird, zum Zwecke der Sohneserzcugung niit
ihrem Schwager oder einem andern Verwandten des Gatten
zu kohabitieren. Wenn der Gatte ohne männliche Nach-
komuienschast stirbt, kann der Niyoga auch von den Ver-
wandten des Mannes ausgehen. Mit großem Nachdruck
wird in den Gesetzbüchern, welche Vorschriften über den
Niyoga enthalten, hervorgehoben, daß cs sich hierbei nur
um die Erzeugung eines Sohnes handeln dürfe; sinnliche
Lust müsse ausgeschlossen sein, und das Verhältnis müsse
sofort gelöst werden, sobald der gewünschte Erfolg erzielt
sei. In diesem Zusammenhange erklärt es sich, wenn
Manu (IX, 143) sagt, daß der Sohn einer aniyuktä
(d. h. einer Frau, die nicht feierlich autorisiert ist, mit dein
Schwager zu kohabitieren) und der Sohn einer Frau, die
allerdings autorisiert (niyuktä) war, aber schon einen
Sohn geboren hat, nicht erben sollen; denn der erstere ist
als int Ehebrüche, der zweite als durch bloße sinnliche Lust
erzeugt anzusehen. Frühzeitig hat man schon an dem Niyoga
Anstoß genommen, und die Gesetzbücher, wenn sie ihn nicht
ganz verdammen, sind stets darauf bedacht, denselben mög-
lichst einzuschränken. Nur in der äußersten Not soll zun:
Niyoga gegriffen werden. Wenn daher von mehreren
Brüdern einer einen Sohn hat, so sind alle Brüder als
putrinas, d. h. als „sohnbegabt" anzusehen; in dem Falle
ist demnach Niyoga ausgeschlossen. (Mann IX, 182.)
Nichts andres als Vorsichtsmaßregeln gegen Mißbrauch
des Niyoga sind in diesen Regeln enthalten. Es ist daher
gänzlich ungerechtfertigt, wenn Mayr niit Berufung auf
diese Stellen (Manu IX, 143 und 182) behauptet: „Auch
die Verbote des Verkehrs der Frauen mit den Verwandten
ihres Gatten scheinen auf den Zustand des communal
marriage noch hin zu deuten, wie auch Stellen, nach welchen
der Sohn eines Bruders für den Sohn aller gelten soll'")."
Nur wenn man die betreffenden Stellen aus ihrem Zu-
sammenhange herausreißt, kann nian Spuren von Kommunal-
ehe in ihnen entdecken.
Soviel dürfte genügen, um zu zeigen, daß die Hypothese
der Promiscuität von indischen Rechtsinstitutioncn keine
Stütze erhält, sondern daß vielmehr Westcrmarcks Argu-
mentation gegen die Hypothese nur noch mehr gerechtfertigt
erscheint. (Schluß folgt.)
U) I. G. Wood, Natural History of Man I, (London
1868) 268 ff.
12) Siehe z. B. Rahcls Bolkcrkundc, S. 71 ff.
13) A. a. O.. S. 19.
") A. a. O.. S. 86.
is) W. H. I. Bleek, A Brief Account of Bushman
Folk Lore and other Texts. London 1875.
I6) Bleek, S. 19.
ii) A. a. £)., S. 15.
i8) Volkerkunde, S. 71. Vgl. Plost-Bartels I, 293.
I«) A. a. O., S. 19.
2C>) Politik I (Better 2, 1253 h.), citiert von B. Delbrilck.
Die indogermanischen Verwandtichaftsnamen (Abhandlungen der
Phil.-hist. Klasse der Kgl. Sachsischen Ges. der Wiss. Bd XI)
Leipzig 1889, S. 441.
21) Delbrilck, a. a. O., S. 440 ff.
22) „It must be taken for granted“, sagt Starcke in
der Einleitung zu seinem Werke The Primitive Family, p. 4,
„that we are not, in this case, bound to prove the trust-
worthiness of our material. Such proof, which is very
difficult, must be assumed to have been given
elsewhere.“ Das ware gewist ganz in der Lrdnung, wenn
der Beweis wirklich anderswo gegeben ware.
23) Die indogermanischen Berwandtschasisnamen, S. 593.
2i) A. a. O.'S. 29 sf.
25) Ebcnd. S. 85.
2«) Bergl. Plost-Bartels I, 310 sg.
2i) Origin os Oivilisation, pp. 133, 537 ss.
28) Lubbock selbst bemerkt a. a. O. S. 539: „Until recently
the courtezans were the only educated women in India.“
23) Aurel Mapr, Das Jndiiche Erbrccht (Wien 1873),
S. 73, solgt blindlings den AussiiHrungen Lubbocks, wenn er
sags, dah die „Verehrung“ der Hetaren in Indie» das n r
spricht, „das; wir in denselben die sreicn Tiichtcr des Stammes
zu erblicken haben“. Mit grenzenloser Zuvcrsicht, obwohl ohiic
jede andre Autoritat als die von Lubbock und Aurel Mayr,
behauptet Post a. a. O. S. 31: „Die indischen Huren werden
deswegen verehrl, Weil fie ursprunglich die sreien Tochter des
Stammes find, welche mit jedem srei verkehren konnen.“
30) Post, a. a. O. 34 ss. Bergl. Ploh-Bartels I, 329,
292 sg. Westermarck, S. 89.
31) I. 292.
32) Bergl. A. Barth, Tbe Religious of India (Trans-
lation) 2nd Ed. London 1889, p. 204 seq.
33) Bergl. Plost-Bartels I, 337.
3i) Westermarck, S. 92.
3b) Mayr, a. a. O. S. 162.
30) Der Kommentator zu Manu IX, 170 gebrancht den
Ausdruck sajatiya, wcihrend es im Kommcntar zu Pajnaval-
kya II, 129 savarnaja heistt.
37) A. a. O. S. 113.
38) Taittiriya-Samhita, VI, 3, 10, 5.
33) Z B. Lubbock, a. a. O. S. 95 ss.
I") Mayr, a. a. O. S. 163.
Der Ruapehu auf Neuseeland.
Don R. v.
In der Mitte der Nordinsel von Neuseeland liegt ein
See von beträchtlicher Größe, der Lake Taupo, 381.m über
dem Meere. Der südöstlich von diesem See gelegene Teil
der Insel besteht aus gefalteten Sedimentgesteinen paläo-
zoischen und mesozoischen Alters, welchen ziemlich ausge-
dehnte tertiäre Schichten in größtenteils ungestörter Lage an
mehreren Stellen discordant aufliegen. Die palüo- und
Lendenfeld.
mesozoischen Gesteinsschichten streichen völlig geradlinig von
SW nach NO. Im Nordosten taucht dieses ziemlich
niedrige Kettengebirge, eine Riasküste bildend, unter das
Meer und bildet ein ziemlich weit hervorragendes Kap.
Viel unregelmäßiger als dieses südöstliche Gebiet ist der
übrige Teil der Insel gebaut. Längere, gerade Faltenzüge
werden im mittleren und nordwestlichen Teile nicht angc-
. Lendenfeld: Der Ruapehu auf Neuseeland.
Dr. Joseph Grunzet: Die Ursachen der Unruhen in China.
158
troffen, und ans weite Strecken hin bildet vulkanisches
Gestein die Oberfläche des Landes. Hier stehen, besonders
in der Umgebung des Tauposees, zahlreiche, teils erst vor
kurzem erloschene, teils noch thätige Vulkane, und es fand
in dieser Gegend noch vor einigen Jahren eine große Erup-
tion statt.
In Neuseeland, besonders in der Nordinsel, werden
sehr zahlreiche Erdbeben beobachtet. Für einige von diesen
ist die Gegend des Tanposees der Mittelpunkt, andre, und
vielleicht die meisten, gehen von einem submarinen vulka-
nischen Zentrum in der Cook-Straße (zwischen Nord- und
Südinsel) aus.
Der höchste Berg der Nordinsel, welcher etwas südöstlich
des Tauposees liegt, ist der ans basischem, vulkanischem Ge-
stein bestehende Nnapehu, welcher eine Höhe von 3077 m
erreicht. Außer tut Ruapehu-Massiv selbst finden sich noch
am User des Tanposees einige Stellen, wo basisches vulka-
nisches Gestein vorkommt. Der weitaus überwiegende Teil
des vulkanischen Gesteins und besonders die große Fläche
nordwestlich vom Tauposee und das breite Massiv des
2499 m hohen Mount Egmont, welches in Form eines
Kaps über die Westküste vorragt, bestehen ans sauren vulka-
nischen Gesteinen.
In dem langen Landzipfel, welcher von der Insel in
nordwestlicher Richtung abgeht, finden sich Granit und kri-
stallinische Schiefer. Diese Gesteine fehlen ittt mittleren
und südwestlichen Teile der Insel. Außerdem werden hier
auch paläozoische und tertiäre Gesteine angetroffen. Meso-
zoische Bildungen fehlen fast ganz.
Der Bau der ganzen Nordinsel erinnert etwas an Süd-
italien.
Das vulkanische Massiv des Rnapehn selbst ist von
SWS nach NON langgestreckt und trägt drei hervor-
stechende Zipfel, von denen der südlichste der höchste ist.
Das Massiv ist etwa 40 km lang, 10km breit und über-
ragt das umgebende, ans pliocänen und recenten Bildungen
zusammengesetzte Tiefland, welches einen vollkommen ge-
schlossenen Ring in der Umgebung des Rnapehn bildet, tun
ungefähr 2 km, so daß dieser schneebedeckte Berg ein sehr-
stattliches Aussehen gewinnt.
Die Ursachen der Unruhen in Lhina.
Von Dr. Joseph Grunzel.
Das Iangtsethal, das bisher allein der abendländischen
Kultur einen Weg in das Innere des Landes bahnte und
gegenwärtig, wenn man den eben neu eröffneten Hafen
Tschungking mit in Betracht zieht, in einer Länge von
1250 Meilen von der Mündung des Jangtse-kiang dem
fremden Handel und Verkehr offen steht, war in jüngster
Zeit der Schauplatz von Unruhen, welche ein bezeichnendes
Streiflicht auf die derzeitigen Verhältnisse und Strömungen
in China werfen. Das Zeichen zu denselben gab am Abend
des 12. Mai ein Überfall ans die Gebäude der französischen
Jesuitenmission in Wnhu, einem kleineren Vertragshafcn.
Mit überraschender Schnelligkeit griff der Aufruhr, der sich
gegen die Niederlassungen der Fremden richtete, um sich, zer-
störte und plünderte an 20 Kirchen und Spitaler und er-
reichte am 6. Juni in dem Blntbade von Wusuch, in dem
zwei Engländer ihr Leben verloren, seinen Höhepunkt; erst
dem energischen Einschreiten der diplomatischen Vertreter und
der fremden Stationsschiffe gelang es, die Bewegung ein-
zudämmen und insbesondere die ausgedehnten und reichen
Niederlassungen der Fremden in Shanghai vor unberechen-
barem Unglück zu bewahren.
Ans den ersten Blick wäre man geneigt zu glauben, daß
dieser Ausbruch der Volksleidcnschaft nur ein Glied jener
großen Kette von Verfolgungen und Mißhandlungen sei, denen
die katholische Kirche seit jeher in China ausgesetzt war; und
dies um so mehr, als auch das Manifest, welches vier Tage
nach Ausbruch der ersten Feindseligkeiten in Wuhn von den
Anführern der Menge angeschlagen wurde, als den Grund
der Bewegung die verschiedenen barbarischen Verbrechen be-
zeichnet, deren sie die dortigen Missionare und Klöster
beschuldigt. Namentlich wird den Missionaren vorgeworfen,
daß sie die hergebrachte Moral und gute Sitte dadurch ver-
letze», daß sic den gemeiuschaftlichen Kirchenbesuch beider
Geschlechter dulden und daß sie Kinder in ihre Häuser locken,
um ihnen insgeheim die Augen und das Herz ausznschneiden.
Das Manifest führt eine Menge diesbezüglicher Fälle mit
genauer Angabe der Namen und Daten an. Ja selbst bei
gebildeten Chinesen soll der Glaube verbreitet sein, daß
Globus LX. Nr. 10.
Christen die Augen der einheimischen Kinder als Arznei-
mittel verwenden.
Nachdem der erste Sturm vorüber war, erkannte man
jedoch in den Kreisen der in China ansässigen Fremden, daß
diese Beschuldigungen nur als Mittel zum Zweck dienen
mußten, um die unwissende und abergläubische Menge zu
fanatisieren, und daß die Bewegung in Wirklichkeit von einer
der geheimen Gesellschaften geleitet werde, wie sie in
China seit undenklicher Zeit bestehen und auf die chinesische
Geschichte nicht selten einen bestimmenden Einfluß übten.
Gleich zu Beginn war die geregelte einheitliche Führung
sowie die roten Fahnen, welche als Abzeichen dienten und
bereits im Jahre 1883 in den Unruhen in Hankow eine
Rolle gespielt hatten, aufgefallen. Diesmal war es die aus
bewaffneten Leuten der Provinz Hunan anscheinend zum
Zweck gegenseitiger Hilfeleistung in Krankheits- und Todes-
fällen gebildete geheime Gesellschaft Ko-l'ao Hui. Dieselbe
bezog eine Unterstützung im Betrage von etwa 10 000
Pfd. Sterl. monatlich, welche der Bizekönig der Provinzen
Kiangsu und Nganhui seit der Unterdrückung der Taiping-
Rebellion im Jahre 1864 regelmäßig anszahlte, bis sie der
gegenwärtige plötzlich einstellte. Da friedliche Vorstellungen
nichts fruchteten, griff man zu Gewaltmaßrcgeln, und gerade
die beiden genannten Provinzen hatten unter den Unruhen
zu leiden. Man hoffte dadurch dem Vizekönig arge Ver-
legenheiten zn bereiten, denn in China wird der Beamte für-
alle Vorkommnisse, ja sogar für alle Elementarereignisse in
seinem Amtsbezirke verantwortlich gemacht; deswegen kommt
es häufig vor, daß er sich eines gefährlichen Feindes, der
ihm leicht seine Stellung kosten könnte, durch Zahlung einer
Summe oder Rente entledigt. In dieser Abhängigkeit von
der Volksgunst liegt auch der Grnud, weshalb sonst und
auch jetzt so viel über die Ohnmacht und den Mangel an
Energie bei den chinesischen Behörden geklagt wird; sehr oft
erfolgen einige Maßregeln nur zum Scheine, aus Furcht vor-
der Menge, die den betreffenden Beamten mißliebig finden
und leicht beseitigen könnte.
Daß die Bewegung, wie man anfänglich auch glaubte,
20
154
Die Sakit-Kanoes im Indischen Archipel.
auf den Sturz der Dynastie gerichtet war und zunächst den
Zweck hatte, die gegenwärtige Regierung in kriegerische Ver-
wickelungen mit dem Auslande zu bringen, ist wenig wahr-
scheinlich. Es herrscht zwar bekanntlich seit dem Jahre 1644
über China die fremde Mandschu-Dynastie, zudem sind in
der chinesischen Geschichte Dynastienwechsel keine Seltenheit,
jedoch bürste es nur einem kühnen Eroberer, an dem es
augenscheinlich fehlt, gelingen, die Massen hinzureißen und
den Thron in Peking ins Wanken zu bringen. Der im
Volke tief eingewurzelte und noch heute die politische und
wirtschaftliche Entwickelung des Landes bestimmende Fremden-
haß wäre wohl allerdings einer der ersten Hebel für eine
derartige Wandlung der Verhältnisse im großen Reiche der
Mitte.
Die Sakit-Nanoes im Indischen Archipel.
In der Sitzung der Cambridge Antiquariat! Society
vom 4. Mai zeigte S. I. Hickson verschiedene sogenannte
„Sakit"-Kanoes vor, die er ans den Nanusa-Jnseln er-
worben hatte, welche zwischen Celebes und Mindanao liegen.
Die Kanoes stammen aus einem Hanse in dem Kampong
Karaton, wo sie an einem Balken unter dem Dach der
Haupthalle desselben aufgehängt waren, während sich in der
Mitte ein dreieckiger Käfig befand, der eine kleine hölzerne
Figur enthielt. Die Eingebornen ließen sich erst nach langen
Verhandlungen überreden, Hickson die Kanoes samt dem
Götzcnkäfig zu überlassen. Durch weitere Nachforschungen
erfuhr Hickson, daß die Kanoes „Sakit-Kanoes" genannt
werden, und daß ihr Hauptzweck die Abwehr von Krank-
heiten ist.
Die meisten Malaien und unter ihnen auch die ans der
nördlichen Halbinsel von Celebes glauben an das Vorhanden-
sein einer großen Anzahl frei umherwandernder guter und
böser Geister. Es giebt Geister in den Bäumen, Geister
in den Felsen, Geister in Flüssen und Wasserfällen und
außerdem Haus- und Familicngeister. Diesen Geistern er-
richtet das Volk Altäre, auf welche sie Betel, Tabak, Speisen
und Wein legen. Sie nehmen sich sorgfältig in acht, daß
sie keinen von ihnen verletzen, weil sie fürchten, daß sonst die
bösen Geister sie mit Krankheiten heimsuchen und die guten
aufhören könnten, ihren Segen auf sie auszustreuen. Die Altäre
haben verschiedene Gestalt: bald sind sie kleine Häuser, bald
kleine Käfige, bald einfache glatte Steine oder Felsblöcke. In
einigen Füllen, wie z. B. unter den Tondanesen, werden kleine
Strickleitern, mit Kokosnnßblättern geschmückt, angefertigt, um
den Geistern das Herabsteigen von den benachbarten Bäumen
nach dem Altar zu erleichtern. Hickson hält es nun für sehr
wahrscheinlich, daß diese Kanoes ebenfalls solche Altäre
sind. Es sind Ruheplätze für die bösen Geister, und die
Eingebornen hängen sie in den Häusern auf, daß die Sakits
nicht böse werden und die Insassen heimsuchen. Auf vielen
Malaieninseln herrscht nämlich der Glaube, daß bei Krank-
heit der Geist des Patienten sich vorübergehend entfernt und
daß statt seiner ein Sakit so lange den Körper bewohne. So
werden z. B. in der Minahassa ans Nord-Celebes die Krank-
heiten geheilt, indem der Geist zurückgerufen wird. Es wird
ein Fest veranstaltet, Manempeh genannt, und die Priester
gehen hinaus in den Wald, oder wo sich sonst der Geist
ihrer Meinung nach aufhält, und rufen oder pfeifen ihm,
wie man einem Hunde pfeift. Sind Anzeichen vorhanden,
daß der Geist da ist, so wird er in einem Tuch gefangen
und dies Trrch wird dann über dem Kopf des Patienten
geöffnet.
In Pulang Mongondn, wo die Volksgebräuche mehr den
unter der Bevölkerung von Sangir herrschenden, als den-
jenigen der Minahasser gleichen, findet folgende Zeremonie
statt. Nach einem Wechselgesang zwischen den Priestern und
dem anwesenden Volk tanzen zwei Priesterinnen in den
Zimmern umher. Sie halten in ihren Händen farbige Tücher,
welche sie hin- und herschlagen. Einige Tücher sind an eine
Speerspitze gebunden, und darüber ist eine kleine Holzpuppe
angebracht. Diese wird von einer der Priesterinnen in die
Höhe gehalten, und wenn sie dann glauben, daß die Seele
da ist, d. h. daß sie sich ans die Figur gesetzt hat, so nähert
sich eine andre Priesterin ihr auf den Zehenspitzen und fängt
sie in einem farbigen Tuch. Wenn dies geschehen ist, begiebt
sie sich zu dem Patienten, hüllt sein Haupt in das Tuch und
bleibt einige Augenblicke mit einem sehr ernsten, ängstlichen
Ausdruck stehen, ihre Hand ans den Kopf des Patienten
legend. Sollte diese Zeremonie erfolglos sein, so nimmt
man an, daß der Geist des Patienten zu seinen Vätern
versammelt ist, und Ulan läßt den Kranken sterben.
Den Glauben an die Sakit-Kanoes treffen wir in
verschiedenen Formen auch aus andern Inseln des Archi-
pelagus. Unter den Dajaks werden, wie Hardeland berichtet,
den bösen Geistern, welche eine Frau während ihrer Schwanger-
schaft umschweben, Ziegen, Hühner, Tauben und kleine Häuser
und Boote geopfert, indem man sie vermittelst Erde und
Steinen im Flusse versenkt. Ähnlich giebt es auch unter
den Alfuren ans Halmaheira unsichtbare böse Geister, welche
es lieben, von Zeit zu Zeit eine Rnderfahrt auf dem Meere
zu machen. Das Volk fertigt daher kleine Kanoes für sie
an, füllt sie mit Nahrung und läßt sie treiben. Baeßler
erzählt, daß bei Krankheitsfällen auf den Wettar - Inseln
die Verwandten des Kranken ein kleines Kanoe zimmern,
Pomali-Prau genannt, welches sie in die See hinausstoßen
in der Meinung, daß auf diese Weise die Krankheit aus-
getrieben wird.
In Burn werden die Krankheiten durch männliche und
weibliche Suwanggi erzeugt, böse Geister, die oben im Ge-
birge, in dichten Wäldern oder in den Wipfeln der Bäume
wohnen, oder aber sie rühren von den Manen der Vorfahren
her, deren Geister noch nicht in Waidi zur Ruhe gekommen,
oder deren Gräber geschändet worden sind. Bei Epidemieen,
wie Pocken u. dergl., verfertigen die Eingebornen eine Pran,
6 m lang und Hz m breit, rüsten sie mit den nötigen Rudern,
Segeln und Ankern aus und bringen vorn und hinten eine
niederländische Flagge an. Der Rand der Pran wird mit
jungen Kokosnnßblättern geschmückt und in die Pran selbst
eine Matte gelegt, die mit einem Stück weißer Leinwand
bedeckt wird. Sodann wird eine endlose Menge von Speisen
herbeigeschleppt und in dem Boote aufgespeichert: ein gebrate-
nes Huhn, ein Rehkopf und ein Schweinekopf, gekochte
Fische, sieben Hühner- und sieben Megapodius-Eier, ein
Teller voll gekochten Reis, ein Teller voll gekochtes Korn,
verschiedene Früchte und Gemüsearten, eine Schüssel mit
Sago, ein Bambusgefäß voll Sagowein, ein Bambusgefäß
voll Wasser, eine Schale mit Kokosnußöl und endlich eine
Schüssel mit Sirihblättern, Betelnüssen und Tabak. Dann
werden einen ganzen Tag und eine Nacht lang die Trommeln
Dobinsons Reise im Hinterlande des Rigerdclta.
155
gerührt und die Gongs geschlagen, und das Volk springt
umher, um den Geist in die Pran zu treiben. Am folgen-
den Morgen wählt man zehn kräftige junge Leute ans, welche
einen lebenden Hahn mit indianischem Rohr an den Mast
der Pran binden, worauf sie letztere mittels einer andern
Pran weit anfs Meer hinausbugsieren. Hier angekommen,
lassen sie sic los, und einer von ihnen ruft: „Großvater-
Pocken, weiche von uns, weiche von uns für immer: geh
und suche dir ein andres Land, wir haben dir Nahrung für
die Reise bereitet; wir haben dir jetzt nichts mehr zu geben."
Nach der Rückkehr der Pran gehen die Männer, Frauen
und Kinder alle ans Gestade und baden sich in der See,
damit die Krankheit nicht zurückkehrt.
Auch in Amboina wird bei gewissen Krankheitsfällen
eine kleine Pran gezimmert und in dieselbe eine Schüssel und
ein Teller gestellt mit zehn Stücken Silber, einem Stück
weißer Leinwand, einer Anzahl brennender Kerzen und einem
weißen Hahn. Bevor man sie treiben läßt, muß der Körper
des Kranken von dem weißen Hahn gehackt werden, damit
der Sawano, d. i. der Krankheitsgeist, herausfährt.
Ähnlich verfährt man in Ceram. Entsprechende Zere-
monien finden sich auch im Gorong-Archipelagus, auf den
Watnbela-Jnseln, int Arn-Archipel, im Babar-Archipel, in
Wettar, ans Timor Laut und der Leti-Gruppe.
Dobinsons Reise im Hinter lande des
Nigcrd elta.
Wiewohl im Nigerdclta und am unteren Laufe des Niger
jetzt zahlreiche Faktoreien der englischen Nigergesellschaft liegen
und dort seit langem die europäischen Dampfer fahren, ist
doch abscit der Flußlüufe das Land wenig oder gar nicht er-
forscht und jeder kleine Beitrag zur Kenntnis desselben uns
willkommen. Einen solchen, für eine kurze Strecke des Ge-
bietes westlich vom unteren Nigerlauf unter 6° 10' nördl. Br.,
hat der Missionar H. H. Do bin so n durch einen im
Januar 1891 unternommenen Vorstoß geliefert. Es ergaben
sich dabei manche neue physikalische Züge des Landes.
Am 4. Januar früh setzte derselbe von seiner Station
Ouitscha am linken Nigeruser nach Asaba am rechten über,
stellte eine kleine Karawane zusammen und brach nach Westen
hin ans, in bisher völlig unbekannte Landschaften, wo noch
kein Weißer gesehen worden war. Der Weg führte durch
die weit ausgedehnten, vortrefflich bestellten Baumwollfelder
und Zuckerrohrpflanznngen von Asaba und dann durch ein
welliges mit dichten, schattigen Wäldern bestandenes Land,
in dem jedoch keinerlei Wasser zu finden war. „Wir ver-
ließen das Land des Wassers, mit in ein qnellenloses, stuß-
loses Land einzutreten." Etwa 14 km von Asaba wurde
die saubere Stadt Okpanam erreicht, in der herrliches Vieh
gezogen wird, wo man das letzte gute Wasser trank. Dann
9 km Marsch durch dichten Wald, in dein viele unregelmäßig
gepflanzte Kokosnußbäume standen. Über dem bisherigen,
dichten Unterwald stiegen ungeheure Baumriesen von 36 bis
45 m Höhe empor; die scharlachroten Blüten des Baumwoll-
baumcs lagen so massenhaft auf dem Boden, daß sie einen
roten Teppich bildeten, über den die Karawane hinzog. Beim
Austritt ans dem Walde befand sich Dobinson auf dem
Marktplatz von Jsele-Asaba, eine der drei großen Städte,
die unter dem Könige von Jsele stehen. Eine gewaltige
Menschenmenge war hier versammelt, die beim Anblick des
ersten weißen Mannes in Aufruhr geriet. Sofort war der
Markt beendet, mit Furcht starrte alles auf den Weißen, dem
man schreiend nach dem Häuptlingshause folgte. Wiewohl dieser
den Missionar zum Bleiben einlud, setzte er doch seinen Marsch
bis zum Einbrüche der Nacht fort, um in dem Dörfchen Obi
zu bleiben; doch dort wollte man ihn nicht haben und so
mußte er denn noch einen Nachtmarsch von 10 km machen,
um nach Ob oro zu gelangen. Hier war der Empfang trotz
der späten Nachtstunde ein gastlicher und in einer Hütte, deren
Wände ans fünf aufrechtstehenden Stämmen bestand, fand
man Unterkunft bei einem freundlichen Neger, der den Fremd-
lingen Uams und Palmölsuppc bereitete. Moskitos gab cs
hier nicht mehr — ein Zeichen des sparsamen Vorkommens
von Wasser. Das Wasser, das man zur Bereitung des Ge-
tränkes darreichte, war dunkelbraun und dick; cs gab keine
Quellen und Bäche und man behalf sich mit dem Sammeln
des Regenwassers in Zisternen von sechs bis zehn Nieter
Tiefe.
Am nächsten Morgen (6. Januar) predigte Dobinson vor
einer zusammengeströmten Menge von etwa 400 Menschen.
Dann zog er weiter nach Iscle, das nach einem Marsche
von 6 kni erreicht war. Große, gerade, saubere Straßen
zeigten sich schon beim Eingänge; es folgte dann die eigentliche
Stadtmauer, etwa 2 m hoch, verziert mit Figuren von Alli-
gatoren, Leoparden und andern Geschöpfen. Uber einen
schönen, weiten Platz führte der Weg zum Hause des Königs.
Hier sah man schöne Häuser ans rotem Thon, 3 bis 5 m
hoch, mit Bambus eingedeckt, darüber eine Lage Blätter.
Nachdem Dobinson eine halbe Stunde gewartet, erschien unter
Schellengeläute der König von Jsele, ein 30jähriger, schöner
Mann mit gepflegten Händen, in tadellos reinem Anzug, der
wie eine Krinoline von ihm abstand, Ordnung, Ruhe und
Höflichkeit herrschten in seiner Umgebung, die aus vielen
Häuptlingen u. s. w. bestand — ein wohlthuender Gegensatz
zu dem Treiben an den Höfen der Nigerkönige. Geschenke
wurden ausgetauscht und Dobinson erhielt dabei eine Kalebasse
mit reinem Trinkwasser, das ans aufgefangenem Regenwasser
bestand, ehe dicses den Boden berührt und so verunreinigt wird.
Der Rest des Tages und der folgende (7. Januar) wurden
der Mission gewidmet, auch der Königin-Mutter, die hier
wie in andern Negerländern eine Rolle spielt, ein Besuch
gemacht. Der Name des Königs ist Egbuna und dieses
Wort bedeutet in der dort gesprochenen Jbosprache „Töte
nicht!" Es stammt daher, weil drei ältere Brüder des Königs
gleich nach der Geburt starben und seine Mutter bei der
Geburt des vierten Sohnes, des jetzigen Königs, zu dem Gott
(Cnkn) betete: Egbuna, Töte nicht! Missionar Dobinson
knüpfte hieran Lehren über das fünfte Gebot, du sollst nicht
töten, und der König schien bereitwillig darauf einzugehen;
doch bemerkte Dobinson, daß er ihn getäuscht habe, denn bei
Begräbnissen und Festlichkeiten werden oft in Iscle Menschen
getötet. Auch Ehebruch wird mit dem Tode bestraft. Wahr-
scheinlich hat der König den Missionar für eine Art Albino
angesehen, die am unteren Niger nicht selten sind, wenig-
stens schließen wir dieses aus seiner an Dobinson gerichteten
Frage: „Giebt es bei Dir mehr als zwanzig Menschen
wie Du?"
Am 8. Januar wurde nach Onitscha-Ugbo aufgebrochen,
nicht zu verwechseln mit Onitscha am Niger. Dasselbe war
nach einem Marsche von 8 km erreicht. Auch hier waren
die Einwohner auf Zisternenwasscr angewiesen, trotzdem waren
alle sehr sauber. Der von Egbuna unabhängige Häuptling
empfing den Missionar freundlich, der auch hier predigte.
Nachdem er das Innere des mit Idolen vollgestopften Hänpt-
lingshanses gesehen, verließ jener Ugbo, um noch an demselben
Tage den Heimweg über Jsele anzutreten, das am Abend
desselben Tages erreicht wurde. Am 9. Januar wurde der
Heimweg nach Asaba am Niger angetreten, wo Dobinson
gegen Abend wieder anlangte. (Auszug aus dem 6kurok
Missionary Intelligencer, August 1891.)
20*
156 Eine Gesundheitsstation int Kamerungebirge. — Neue Forschungen über den paläol. Menschen rc.
Eine Gesnndheitsstation im Kamerun-
gebirge.
In den ersten Monaten des laufenden Jahres hat Dr.
Preuß sich in dem Dorfe Bwea an der Ostseite des Ka-
merungebirges aufgehalten, um dasselbe mit Rücksicht ans die
Anlage einer Gesundheitsstation zu prüfen. Nach seinem
Berichte (Mitteilungen aus dem deutschen Schutzgebiete IV,
128) ist Bwea das größte Dorf des Bakwiristammes und
liegt in 950 in Höhe. Es erstreckt sich 4 km lang und zahlt
1500 Einwohner. Unter den Eigentümlichkeiten der Be-
wohner bebt Dr. Preuß hervor, daß sie Röhren aus hohlen
Knochen in den Ohrläppchen tragen, in denen sie, leidenschaft-
liche Schnupfer, ihren Schnupftabak aufbewahren. Die
waffenftthigctl Männer, die meist mit Flinten versehen sind,
tragen Helme aus Flechtwcrk mit Fell überzogen, die den
alten bayerischen Raupenhelmen gleichen. Bei der Jagd be-
dienen sie sich der Hunde, welche hölzerne Glocken am Halse
tragen. „Jeder Mann erkennt seinen Hund an dem Tone
der Klapper." Selbst die Knaben treiben Vogeljagd, wobei
sie sich der Armbrüste mit hölzernem Laufe bedienen. Diese
Bemerkung des Herrn Dr. Preuß ist von Belang, denn die
Armbrust, eiue abendländische Erfindung, ist in Afrika selten.
Im Westen ist sie bisher nur vom Gabun bekannt gewesen,
bei den Fan. Der mehrstimmige, sehr richtige Gesang der
Bergbewohner wird von unserm Gewährsmann gelobt. Sie
sind große Viehzüchter, besitzen schönes Rindvieh, Ziegen,
Schafe, Schweine und Hühner.
„Das Klima von Bwea in der Trockenzeit ist, falls man
ans den Beobachtungen dreier Monate schon einen Schluß
ziehen darf, für den Europäer ein durchaus günstiges zu
nennen." Dr. Preuß fand ein mittleres Minimum von 15,9"
und ein mittleres Maximum von 25,3" C. „Es geht aus
diesen Beobachtungen hervor, daß die Temperaturverhältnisse
in den Monaten Februar und März, welche zu den heißesten
des Jahres gehören, für den Europäer durchaus keine un-
gewohnten sind, sondern ihm im Gegenteil angenehm sein
müssen. Ein Somtner in Deutschland mit diesen Tempe-
raturen würde kantn als besonders heiß empfttnden werden.
Dazu kommt, daß die Bewölkung ziemlich stark ist und man
von der Sonne wenig zu leiden hat." Der Schlaf und die
Eßlust sind dort oben größer als in der feuchten, ungesunden
Küstenatmosphäre. Das lästige Schwitzen hört auf und nach
einem Aufenthalt von fünf bis sechs Wochen fühlt man, daß
mit dem Körper eine gründliche Umwandlung vor sich ge-
gangen ist. In der ersten Zeit traten noch Fieber auf, zu
denen aber der Grund nicht in Bwea gelegt ist. Vielleicht
ist ein Aufenthalt in jener Höhe einem vierwöchentlichen
Aufenthalt auf den kanarischen Inseln gleichzusetzen. „Daß
die Sterblichkeit unter den Europäern in Kamerun, besonders
unter den Beamten, um einen hohen Prozentsatz verringert
werden würde, wenn denselben alljährlich Gelegenheit zu
einem zeitweiligen Aufenthalt in Bwea gegeben würde, unter-
liegt keinem Zweifel."
Die Verpflegung ist dort ausgezeichnet; frisches Fleisch
und Milch sind stets zu haben und die von Dr. Preuß ge-
säeten europäischen Gemüse gediehen schnell und prachtvoll.
Radieschen waren 24 Tage nach der Aussaat eßbar und er-
reichten später Faustgröße, grüne Bohnen und Kopfsalat nach
43 Tagen. Kartoffeln standen 17 Tage nach dem Legen
bereits einen Fuß hoch im Kraute. Am 15. Januar gelegt,
hatten einzelne Strecken am 3. April schon 20 Knollen, die
eßbar, wenn auch nicht reif waren. Man kann sich nach
diesen Erfahrungen in Bwea zu allen Jahreszeiten den Ge-
nuß guter frischer Gemüse täglich verschaffen.
„Obgleich aus den geschilderten Beobachtungen, da sie
kaum den Zeitraum von drei Monaten umfassen, bestimmte
Schlüffe nicht gezogen werden können, so scheint mir doch
Bwea ein so lohnender Platz zunächst für Versnchsplan-
tagen zu sein, wie er irgendwo im Kamerungebiete gefunden
werden kann."
Nene Forschungen über den paläolithifchen
Menschen in Nordamerika.
Nordamerika ist reich au Zeugnissen der Anwesenheit des
Menschen in vorkolmnbischcr Zeit, und es konnte nicht fehlen,
daß die oft sehr merkwürdig gestalteten, nach vielen Tausen-
den zählenden Erdwälle und künstlichen Hügel (Monnds)
schon frühe die Aufmerksamkeit der europäischen Ansiedler,
besonders in den fruchtbaren Nebenthälern des Mississippi, auf
sich zogen. Sehr zahlreich waren die Funde schön polierter
Steiuwerkzeuge und Waffen, kunstvoll geschnitzter Steiupfeifcu-
köpfe, aus gediegenem Kupfer gehämmerter Gerät- und Schmuck-
sachen, und ein lebhafter Sammeleifer führte in privaten
und öffentlichen Sammlungen stattliche Reihen prähistorischer,
d. h. präkolumbischcr Gegenstände zusammen. Man betrieb
eiue Art von Raubbau, die Sammlungen waren das letzte
Ziel, au Stelle kritisch-wissenschaftlicher Behandlung der Funde
wucherten wilde Phantasien und ganz in der Luft stehende
Hypothesen. Aber allmählich kam auch hier Besserung: in
die erste Reihe ernster Forschung stellte sich das Smithsonian
Institution (Bureau of Ethnology) in Washington und
das Peabody Museum in Cambridge (Mass.) mit seinem
thätigen, kritisch-klaren Direktor Pntuam. Die Fundobjekte
waren von nun an nicht mehr Selbstzweck, sondern nur
Mittel, die Urgeschichte, den Kulturzustand der Ureinwohner
Amerikas zu erforschen. Und da mußte bald das hohle Ge-
bäude eines einzigen, hochgebildeten Kulturvolkes, der Mound-
builders, auf welche früher alles Gefundene bezogen tvorden
war, in sich zusammenbrechen. Jetzt fanden aber auch die
unscheinbareren Funde, die früher kaum beachtet worden
waren, gerechte Würdigung. Ein einziges, äußerst roh ge-
arbeitetes Steinwerkzeug in den ungestörten glactalcn Schichten
des Delawarekieses (und Abbot, der amerikanische Boucher
de Perthes, fand deren viele Hunderte in jenen Schichten)
redete eine Sprache von weit bedeutenderer Tragweite, als
eiue ganze Sammlung der schönsten polierten Steingeräte,
wie sie sich in den Mounds fanden, und wie sie auch die
modernen Indianer herzustellen verstanden. Durch jenes
Vorkommen war der untrügliche Beweis geliefert, daß die
Anwesenheit des Menschen in Amerika in unabsehbare Zeit-
fernen zurückgerückt ist, und daß Amerika schon von Menschen
bewohnt wurde zu einer Zeit, tvo die Urbewohner Südfrank-
rcichs das Mammut und der Wilde an der Schnssenquelle
das Renntier jagte. So gewannen die unscheinbaren aufs
roheste behauenen Steingeräte eine früher nicht geahnte Be-
deutung. Kein Wunder, daß man ihnen jetzt auch ganz
andre Aufmerksamkeit zuwandte als früher. Nachrichten
von „paläolithifchen" Funden kamen aus Iowa, aus Wyo-
ming, aus Minnesota, Ohio (Flnßkies des Littlc Miamiriver),
aus Nevada rc., eine übergroße Menge solcher Steiugcräte
wurde tu der unmittelbaren Nähe der Reichshauptstadt selbst
gefunden. Wie tvcit über die ganze uordamerikanische Union
verbreitet solche rohe Steingeräte vorkommen, zeigte sich erst
recht, als das Smithsonian Institution im Januar 1888
cincu Fragebogen aussandte: ans 23 Staaten und Territorien
liefen Antworten ein, die von 6762 (und außerdem noch
viele, nicht speziell gezählte) Nummern solcher Objekte be-
richteten. Dazu kommen noch die im Nationalmuseum selbst
befindlichen „paläolithifchen" Geräte, so daß die Gesamtsumme
sich auf 8501 beläuft, eine stattliche Zahl.
Der Eidechsenglauben der Malayo-Polynesier. — Bücherschau.
157
Beweist diese weite Verbreitung „paläolithischer" Stein-
geräte, wie es Thomas Wilson, der Kurator der prähistorischen
Abteilung des Natioualmnseums, annimmt, daß der „paläo-
lithische" Mensch über das ganze Gebiet der Vereinigten Staaten
verbreitet war? Von vornherein ist dies ja sehr wahrschein-
lich, und die Funde von Steingcrät in ungestörten Kies-
schichten des Delaware, des Little Miami, bei Little Falls
in Minnesota rc. sprechen unzweifelhaft für seine weite Ver-
breitung. Aber Oberstächenfunde von „Paläolithischen" Ge-
räten sind kein so untrügliches Beweismaterial. Es heißt
allzusehr schematisieren, wenn man gewisse primitive Erzeug-
nisse der Menschen, die ihren Zweck mit der einfachsten Form
erreichen, ausschließlich den frühesten Vorzeiten zuschreiben
will. Warum soll sich nicht auch der fortgeschrittenere Mensch
neben der künstlichen auch einfacherer Gerätformen bedient
haben? Giebt cs doch auch in hochstehenden Kulturstaaten
noch Höhlenbewohner, baut sich doch auch der mit Central-
fenergewehr bewaffnete Jäger gelegentlich noch eine Reisig-
hütte, und bedient sich doch auch der Gärtner, der in raffi-
nierten Gewächshäusern tropische Pflanzen trotz einem rauhen
Klima kultiviert, noch des Grabstockcs, der sich in keinem
wesentlichen Punkte von dem des Australiers oder des Ulladen
der südindischen Berge unterscheidet. Man braucht für jene
Gerätformen die Bezeichnung „palüolithisch" nicht aufzugeben;
es gab sicher eine uralte Zeit, in welcher man Steingerät
nur in jenen Formen anfertigte. Aber umgekehrt ist der
Satz nicht gültig, daß jedes Steingcrät von jener rohen Form
einzig und allein in jenen Urzeiten hergestellt worden wäre.
Die Anwesenheit des paläolithischen Menschen in Amerika
ist durch Abbots Funde unzweifelhaft erwiesen, sehr wahr-
scheinlich ist seine weite Verbreitung über ganz Amerika, aber
wir können in Oberflüchenfnnden, die jene Formen aufweisen,
und mögen sie auch noch so verbreitet sein, keinen zwingen-
den Beweis für die weite Verbreitung des paläolithischen
Menschen erblicken. E. Schmidt.
Der Eidechscnglanbcn der Malasiv-
P o l y n e s i e r.
Die Darstellung der Eidechse kommt sehr hàufig aus Ge-
ràten, Waffen, Wcbstoffen, Matten der Volker von Sumatra
bis zur Osterinsel vor, ja die in der letzten Zeit bekanut
gewordenen sehr spitznasigen Masken der Eingebornen von
der Nordkuste Nen-Guineas erweisen sich mit der Eidechse
verknupft, demi die lange spitze Rase derselben entspricht dem
Schwänze einer der Maske aufgelagerten Eidechse. Prof.
G. A. Willen ist hierauf zuerst aufmerksam geworden und
hat in einer Abhandlung (I)e Hagedis in bet volksgeloof
der Malayo-Polynesier) in den Beiträgen zur Sprach-,
Land- und Volkskunde von Niederländisch-Jndien (1891) die
Sache weiter verfolgt. Die Eidechse findet sich auf den
Zauberstäben des Bataks von Sumatra und sonst noch auf
Schuitzwerken dieses Volkes; sie ist auf den Särgen der Dajaks
(Borneo), den Kleidern der Timoresen, namentlich auf Schil-
dern (Mcntaweiiuseln, Nordluzon, Salibabu) angebracht.
In Polynesien werden die Götter oft zoomorphisch gedacht
und der große Gott Tangaloa erscheint den Neuseeländern
in einer grauen Eidechse inkarniert. Auf den Hervey-Jnseln
erscheint der Gott Tongaiti in Gestalt einer schwarz- und
weißgefleckten Eidechse. Ersterer ist wesentlich Lichtgott, Gott
des schönen Wetters; Tongaiti aber Personifikation des Nacht-
himmels und dieser naturalistische Charakter der beiden Götter
spiegelt sich auch in den Eidechsen wieder, die ihnen geheiligt
sind. Die graue lebt im freien Sonnenlicht, die andre
schwarzgeflcckte in Höhlen; erstere wurde Lichtsymbol, letztere
Symbol der Finsternis. So Wilken. Auch ans den Samoa
wird der Kriegsgott Le Sa in Form einer Eidechse verehrt;
ans den Tonga-Inseln sind die höchsten Götter, die Ätnas,
in den Eidechsen verkörpert, nicht minder ans der Osterinsel.
Da auch persönliche Schutzgötter von den Polynesiern in
Gestalt von Eidechsen verehrt werden, so kann man wohl
sagen, daß die Verehrung dieses Tieres bei ihnen eine all-
gemeine ist. Andrerseits erscheint es als böser Geist und
als böses Omen, wenn man ihm begegnet. Das Vorkommen
der Eidechse in den mythologischen Erzählungen der Polynesier
ist nach dem angeführten selbstverständlich. Aus Mikronesien
berichtet uns Hernsheim, daß die Seelen Verstorbener auf
Pap in die Körper von Eidechsen übergehen, die daher ge-
achtet werden. Auch aus Melanesien erfahren wir wenig
über dieselben. Reichlicher sind wieder die von Wilken ans
Indonesien beigebrachten Beläge, die sich oft auf den Leguan
beziehen (und das Krokodil).
Danach kann es nicht Wunder nehmen, wenn religiöse und
profane Geräte in der ganzen malayo-polynesischeu Welt mit
Abbildungen der Eidechsen vorkommen. Als Orakeltier findet
sie an den Zauberstäben der Bataks ihre Stelle. Als Schutz-
geist uüd Kriegsgott erklärt sie sich in ihrer Anwesenheit auf
Schildern, ja Schilder von Süd-Nias sind ganz in der Form
von Eidechsen gearbeitet. Au den Masken Neu-Guineas
wird das Vorkommen der Eidechsen wohl aus ähnliche Ur-
sachen zurückzuführen sein.
B li ch c r s ch a u.
G. A. Wilken, Ehe- und Erbrecht bei den Völkern von
Südsumatra. (Over bet huwelyks- en erfrecht by
de volken van Zuid-Sumatra.)
Das Schriftchcn (87 S., Haag 1891) ist ein Sonder-
abzug aus den Beiträgen zur Sprachen-, Länder- und Völker-
kunde von Niederländisch Indien. Der Inhalt stützt sich haupt-
sächlich auf Mitteilungen und Beobachtungen, die an Ort und
Stelle für den Vers, im amtlichen Auftrag gemacht wurden,
um die Verbreitung des Matriarchats festzustellen. Schon
dadurch erhält die vorliegende Bearbeitung des Materials den
höchsten Grad von Zuverlässigkeit. Und der Belang solcher
Forschungen über das Familienrecht beschränkt sich ja keines-
wegs auf die juristischen Kreise, aus denen naturgemäß die
Pfleger einer allgemeinen Rechtswissenschaft hervorgehen; eine
historische Ethik, die sich an die Stelle des Geredes von an-
gcbornen Sittengesetzen, von sittlicher Wcltordnung setzen muß,
kann sie nicht mehr lange übersehen. Welch klares Licht fällt
jetzt z. B. auf den Unterschied der Motive in der deutschen und
der nordischen Nibelungensage; bei uns ist Kriemhild die
Rächerin ihres Gemahls an dem Bruder; dort ist es um-
gekehrt !
Bei der geringen Verbreitung holländischer Produktionen
in Deutschland wird somit eine summarische Aufführung der
Hauptergebnisse nicht ohne Interesse sein.
Zunächst orientiert der Vers, über den Bereich; cs handelt
sich um die Mittel-Malaien in Pnlembang und die Haupt-
masse von Bengkulcn, ein wichtiger Stamm von ihnen sind die
Pasemah; die Redjang im nordwestlichen Teil von Palein-
bang und im Norden von Bengkulcn; die Lampong in den
Lampongischen Distrikten und dem Süden von Bcngkulen.
Während in Mittelsumatra die mütterliche Organisation
der Familie vorherrscht, besteht in Südsumatra im all-
gemeinen die Vaterfamilie, wobei die Frau durch Kauf in den
Besitz des Mannes übergeht. Ausnahme ist die Ehe ohne
Brautkauf, wobei der Mann völlig in die Familie der Frau
Übertritt.
Nach der Annahme des Verf. bestand früher ohne Zweifel
allgemein die Exogamie; noch jetzt ist bei den Pasemah im
158
Bücherschau.
engern Sinne Ehe zwischen Angehörigen desselben Stammes
streng verboten. Außerdem ist aber auch der Stamm der
andern beiden Eltern ausgeschlossen. Anderwärts ist die Exo-
gamie ersetzt durch das Verbot der Verwandtcneheu, in ver-
schiedener Begrenzung z. B. vom Urgroßvater ab in Semendo,
während bei den Redjang in Bengkulcn sich die Analogie der
im „Globus" 1891, Bd. 59, S. 37 unten behandelten Übung
der Batak findet.
Ausführlich ist der Brautpreis, djudjur, behandelt — es
versteht sich von selbst, daß seine Höhe schwankt. Durch Be-
zahlung in überschätzten Waaren wird er fiktiv, ja der Mann
kann ihn auch schuldig bleiben und durch Verpfändung seiner
Arbeitskraft amortisieren, die Verpflichtung geht wohl auch noch
auf seine Nachkommen fort.
Die ursprünglich gültige, unbedingte Verfügung des
Mannes über die Frau bei der Kaufehe (terdjun pesuwi,
Hirschsprung, metaphorisch, weil diese Art, einmal versprengt,
nicht mehr zurückkehrt in die Berge) — ausgedrückt durch das
Recht des Verbots, die elterliche Wohnung wieder zu betreten —
ist gemildert bei Rückgabe eines Teils der Kaussumme, was
tali kulo heißt. Hingegen folgt aus der Unselbständigkeit der
Frau, daß sie beim Tode des Mannes an dessen Bruder über-
geht, und wenn dieser noch unreif ist, auf ihn wartet; cs ist
das Levirat des alten Testaments, hier mit Polygamie ver-
knüpft. (In der ja sehr späten Auszeichnung 5. Mos., 25, 5 ist
diese Spur verwischt.) Ehescheidung ist eigentlich nicht möglich,
wo der Wille der Frau nicht mitspricht; auch böswilliges Ver-
lassen bleibt außer Betracht. In neuerer Zeit scheint aber
Milderung zu bestehen; nach den von europäischem Einfluß
nicht unberührten Rechtsauszeichnungen (undaug undaug) in
Palembang wenigstens geben Impotenz, Erdbeerpocken, Miß-
handlungen der Frau das Antragsrecht. Ebenso sind die Kinder
Eigentum des Vaters, selbst wenn er den Brautpreis schuldig
geblieben ist; bei Nahrungsnot kann er sie in -L-klavcrei ver-
kaufen.
Eine durchaus andre Form der Ehe ist die ohne Kauf
geschlossene, wobei der Mann in die Faniilie der Fran übergeht,
so daß er wohl auch sprachlich als Frau bezeichnet wird,
während die Frau sich als Mann fühlt. Auch die Kinder
gehören ihr zu, setzen ihr Geschlecht fort. Es ist also das
Matriarchat, das nach dem Vers, durchaus das Ursprüngliche
ist; ein Übergang zum Patriarchat ist es, wo beide Ehesormen
neben einander stehen, so bei den Pasemah im engern Sinne,
wo die Mutterfamilie vorwiegt, zugleich Exogamie herrscht, also
der Mann in den Stamm der Frau ausgenommen wird.
Anderwärts steht die männliche Linie als die Fortsetzung der
Familie voran, was sich z. B. bei Ognn Ulu und Kvmerang
lllit in der größer:: Vornehinheit der Brudersöhne vor den
Schwestersöhnen zeigt; letztere müssen aus Ehrerbietung nicht
zulassen, daß die andern ihren Fruchtbnum besteigen, wertvollere
Geschenke geben als sie erhalten. Nur in Ermangelung von
Söhnen liegt es der Tochter ob, die Familie durch ihre Söhne
fortzuführen. In Lampong wird dieses Bedürfnis öffentlich
bekannt gegeben; man nennt es das Haus stützen oder aufrecht
erhalten. Diese Art Ehe findet sich auch sonst bei patriarchaler
Organisation, z. B. Indern und Griechen in alter Zeit, wobei
entweder die Tochter selbst in die vollen Rechte des Stammhalters
eintritt, sogar mit Annahme männlicher Nnmcnsform oder erst
ihre Söhne sie erhalten. In Südsumatra ist nun das erstere
der Fall. Vom Grund schweigt der Verfasser; es wird allenthalben
mit der Ahnenverehrung zusammenhängen.
Jedoch auch bei Armut des Mannes wird diese Ehcform
gewählt. Sic ist durchweg cajiitio deminatio für ihn, er
verliert das Recht, die eheliche Wohnung eigenmächtig zu ver-
lassen, wird sogar als Sklave der Frau bezeichnet, obgleich die
Bezeichnung der Ehe ambil onak eigentlich Kindesannahme
bedeutet. Mildere Formen sind cs denn schon, wenn dem
Vater das zweite und vierte Kind gehört, oder wenn er die
Rechte der von ihm aufgegebenen Familie wenigstens durch einen
Sohn fortführen darf.
Außer diesen beiden einseitigen Eheformen findet sich aber
doch auch schon die jüngere Form der kognatischcn, parentalen,
also zweiseitigen Ehe und Familie, so in Bengkulen in den
Hauptplätzen der Küste, während im Innern die alten Sitten
sich behaupten. Im Norden ist dabei eine kleine Anzahlung des
Mannes erhalten, sie dient aber zur Bestreitung des Hochzcits-
festes. Wie die Kinder beiden Eltern zugehören, so stehen sich
diese auf gleichem Fuße gegenüber.
Besonders interessant sind die Ausführungen, wie die
europäische Herrschaft sich bemüht hat, die alten Eheformen zu-
rückzudrängen, hauptsächlich aus Rücksicht auf die Bevölkerungs-
zunahme. Wegen der Höhe des Brautpreises gab es viele
Junggesellen; den Armring, das Abzeichen der ledigen Mädchen,
konnte man mit grauen Haaren sehen. Es erhellt nicht, ob die
gewöhnliche Folgeerscheinung von Heiratserschwerungen hier
vielleicht durch besondre Sittenstrenge ausgeschlossen blieben.
Das Verderbliche des Brautkaufs hatte früher schon ein Sultan
in Palembang eingesehen, ohne viel durchzusetzen; die holländische
Regierung verbot schließlich 1862 bei Strafe einen Brautpreis,
djudjur, zu fordern, was in die nnctang nndang Eingang
gefunden hat. Gleichwohl ist die alte Sitte so festgewurzelt, daß
sie unter der Hand, mit andern: Namen, fortdauert. Als ganz
erfolglos dürfte trotzdem das Verbot nicht bezeichnet werden.
Was die Behandlung des Erbrechts angeht, so zwingt die
Rücksicht auf den zur Verfügung stehenden Raun: zur Kürze. Es
besteht der Unterschied zwischen dem Erbgut und dem Erworbene».
Der unbewegliche Besitz gilt vielfach als Familiengut. Während
nun bei der Brautkauf-Ehe die Frau im allgenieinen selbst Eigen-
tum ist, mithin auch kein Eigentum haben kann, verliert run-
gekehrt bei der arudit anak-Ehe der Mann den Anspruch auf
den Besitz seiner Agnaten, sein Eingebrachtes bleibt wenigstens
in Kroe (Bengkulen) sein, sonst gehört auch gemeinsam Er-
worbenes ausschließlich der Frau. Hingegen bei der jünger»
Eheform ist es zu gleichen Rechten gemeinsam, und wird bei
Ehescheidung halbiert.
Wichtig sind dann noch die Analogien des Erstgeburts-
rechts, so bei den Lampong, im Zusammenhang mit der Poly-
gamie und bei Lebzeiten des Vaters. Die dritte Frau ist hier
der ersten untergeordnet, die vierte der zweiten, Nebenfrauen
allen vier. Dies drückt sich in den ihnen gebührenden Schlaf-
räumen aus. Heiratet nun der Stammhalter, in der Regel der
älteste Sohn der ältesten Frau, so verdrängt er sie und damit
den Vater der Reihe nach aus den Gemächern und schließlich
bis unter das Dach — in den Altenteil von Rechtswegen.
Hingegen findet sich ausnahmsweise in Bengkulen auch
die Erklärung des tüchtigsten Sohnes zum Nachfolger als
Geschlechtshaupt.
Bei Ermangelung von Söhnen ist die ohne Brautpreis
verheiratete Tochter natürlich Erbfolgerin; wenn es nur wegen
Armut des Mannes geschehen ist, so erbt sie wenigstens mit.
Bei Mangel an Kindern ist der nächste Agnat,, also der Bruder,
erbberechtigt, mit der Verpflichtung jedoch, in Leviratsehe den
Nachfolger des Verstorbenen zu erzeugen oder wo nicht, von
einer seiner eigenen Frauen einen zu stellen (Lampong). Wenn
dieser wieder reich genug ist, so nimmt er zwei Frauen, der
Sohn der erster:: ist Nachfolger des Großvaters, der Sohn der
zweiten der des Vaters.
Die weitern Angaben über Erbrecht können hier eher
übergangen werden als der wichtige Schlußabschnitt. Die
herrschenden Eheformen sind, wie gezeigt, die Vaterfamilie
begründende und die Heirat von Erbtöchtern als Häupter von
Mutterfamilien. Nur bei den eigentlichen Pasemah überwiegt
die Ehe ohne Brautkauf, die echte Muttersaniilie, innerhalb der
Übergangsstufe. Der Übergang zur Vaterfamilie ist hingegen
so ziemlich zurückgelegt in Leinatong Ulu, gleichfalls Pasemah,
bei denen die Ehe ohne Brautkauf Ausnahme ist. Merk-
würdigerweise sind aber ihre Nachbarn und Stammverwandten
in Semendo ebenso Pasemah und zwar Ausgewanderte, gleich-
falls :nit Aufgabe der Exogamie, aber mit Verbot des Braut-
kaufes völlig auf die Mutterfamilie zurückgegangen, und zwar
erst seit 6 Generationen. Hier gilt die älteste Tochter als
Stammhalter. Daß die Witwe nach dem Tode ihres Mannes
dessen Bruder heiratet, ist etwas ganz andres als das Levirat
in der Vaterfamilie.
Als Grund für diese jedenfalls ausfallende Umkehr ent-
scheidet sich der Verfasser, in: wesentlichen mit seinen: Gewährs-
mann übereinstimmend, den Einfluß des Islams anzunehmen,
der bei diesem Bruchteil eifrige Anhängerschaft gesunden hat.
Wenigstens habe er eine Forn: begünstigen müssen, welche den
in: Islam erzogenen Frauen gegenüber »»bekehrten Männern
das Heft in die Hand gegeben.
Damit schließt die interessante Abhandlung, die der Vers,
als verbesserte und vermehrte Umarbeitung der betreffenden
Abschnitte seines Buches „Über Verwandtschaft, Ehe- und Erb-
recht bei den Völkern malaiischer Rasse" bezeichnet.
Dr. Schultheiß.
Aus allen Erdteilen.
156
Aus allen Erdteilen.
— Die Ruinen von Simbabjc. Wie telegraphische
Nachrichten ans der Kapstadt vom Anfang August melden,
hat Theodor Bent seine im Aufträge der Londoner Geogr.
Gesellschaft unternommene Untersuchung dieser Ruinen im
Maschonalande ausgeführt. Die allgemeine Schilderung der-
selben stimmt ganz mit jener K. Mauchs überein, welche,
nebst Abbildungen, im Globus, Bd. 59, S. 13 veröffent-
licht wurde. Th. Bent zog mit der vorgefaßten Meinung
nach Südafrika, jene Ruinen seien persischen Ursprungs.
Von dieser haltlosen Ansicht scheint er abgekommen zu sein,
denn jetzt erklärt er sie für „phönizisch-arabisch". Die phöni-
zische Herkunft (und der Zusammenhang mit Ophir) ist keine
neue Hypothese und vor zwanzig Jahren von Petermann
und Manch vertreten worden.
Th. Bent erklärt Simbabje jetzt für einen phallischcn
Tempel. Neu sind ausgemauerte Höhlen, die er entdeckte.
Auch einen phallischcn Altar mit Skulpturen von Vögeln,
großen Schalen und einem Fries, der eine Jagdscene dar-
stellt, hat er gefunden. Es sind vier Quaggas dargestellt,
auf die ein Jäger, der einen Hund hält, ein Wurfgeschoß
sendet. Dahinter zwei Elefanten. Auch einige blaue und
grüne persische (?) Topfscherbcn, sowie eine goldplattiertc Kupfer-
klinge wurden gefunden. — Th. Beut bleibt noch einige Zeit
in den Ruinen, die uns durch diese neuen Funde immer
rätselhafter werden.
— Die wenig bekannten Alandinseln sind im ver-
flossenen Jahre von dem Geologen Professor Cohen be-
sucht worden, welcher in der Geographischen Gesellschaft zu
Greifswald darüber einen Vortrag hielt, aus dem folgendes
entnommen ist. Außer der großen Hauptinsel bestehen sie
aus einem Labyrinth kleiner Inseln und Klippen, in welche
die See überall Buchten eingewaschen hat, so daß eine Fülle
von Spitzen und Vorgebirgen entstanden ist. Die Gesamt-
zahl der Jnselchen dürfte 3000 betragen. Zusammengenommen
sind sie etwa halb so groß wie Rügen. Die Gesamtzahl
der Bewohner, lauter Schweden, beträgt 18 500, wovon
12 000 auf der Hauptinsel wohnen. Obgleich die Inseln
sich nirgends zu bedeutender Höhe erheben, zeigen sie doch
den Charakter einer Gebirgslandschaft; die meisten sind be-
waldet und besitzen nordischen Vegetationscharakter.
Der Hauptmasse nach bestehen die Inseln aus Granit,
der als Alandsporphyr, Alandsgrauit, Alands-Rapakiwi auf-
tritt. Nur im Osten findet sich altes, archäisches Gebirge,
Gneis, Hornblende und Schiefer. In der norddeutschen
Tiefebene, zumal in Pommern, finden sich außerordentlich
viele erratische Gesteine, welche mit den Gesteinen der Alands-
inseln oder benachbarter Gebirge identisch sind. Alle diese
Gesteine zeigen eine außerordentlich charakteristische Aus-
bildung, wie sie an andern skandinavischen Felsarten bisher
nicht beobachtet worden ist. Besonders gilt das von dem in
Pommern häufig vorkommenden Rapakiwi (Granit mit vielen
Feldspatkristallen), der sich außer auf Aland nur noch in Finn-
land und in der Gegend von Wiborg, sonst aber nirgends mehr
in Skandinavien findet. Der Rapakiwi verwittert sehr leicht
und hat daher seinen Namen „fauler Stein" erhalten. Auch
die andern Granitarten der Alandinseln finden sich in
Pommern u. s. w. häufig. Diese Findlinge sind mit dem
großen nordischen Gletscher zur Eiszeit in ihre heutigen
Fundstätten gebracht worden und da sie mit den Gesteinen
der Alandinseln identisch sind, so ergiebt sich, daß die Bewegung
des Gletschers in der Richtung von NNO nach SSW, also
in der Richtung von den Alandinseln oder von der Ostküste
Schwedens nach Rügen zu stattgefunden hat. Es wird diese
Annahme dadurch bestätigt, daß sich in der Gegend von
Greifswald auch Gestein von Gotland und Öland, Kalksteine
mit Versteinerungen, der Silnrformation angehörig, sowie
von Bornholm, Grünschiefer, kambrische Schiefer, Nexösand-
stcine, ferner Granite, Quarzite und Kreide in größerer Menge
finden. Gotland, Öland und Bornholm liegen aber in der
erwähnten Richtung, welche hiernach als feststehend für die
Gletscherbewegung erachtet werden muß.
— Magnetische Anomalien. Die russische geogra-
phische Gesellschaft ließ im Jahre 1889 unter Leitung des
Generals Alexis de Tillo die Gegend zwischen den Städten
Charkow und Kursk bezüglich der Verteilung der magnetischen
Elemente untersuchen, nachdem vom verstorbenen I. Smir-
uow für die Stadt Bjelograd eine außerordentlich große
magnetische Anomalie festgestellt worden ist. Das durch-
forschte Gebiet hat in der Richtung Nord-Süd eine Länge
von 35 km, in der Richtung Ost-West eine solche von 25 km.
Die magnetische Deklination variiert zwischen Nepchacvo
(st-48°) und Kissclevo (—38°) um 86°; die Inklination
zwischen Nepchacvo (st- 81°) und Bisloje (st- 52°) um 29°.
Die Entfernung beträgt kaum 12 km. Die normalen Werte
der magnetischen Elemente für die durchforschte Gegend sind:
Deklination —1°, Inklination st- 64°. Die geologische Be-
schaffenheit des Bodens, insofern sie bekannt ist, kann diese
außerordentlich große magnetische Anomalie nicht erklären.
(Grandes anomalies magnétiques au centre de la
Russie d’Europe. Par A. de Tillo. C. R. des séances
de l’académie des sciences, Tome 0X11, Nr. 13.)
Eine noch größere magnetische Anomalie weist die aus
dem 11. Jahrhundert stammende Gcorgskapelle auf dem
Basaltberge ' Rip (Gcorgsberg) bei Raudnitz in Böhmen.
Die Magnetnadel kehrt sich schon in der horizontalen Di-
stanz einiger Dezimeter vollständig um. Diese hier
durch den Basaltmagnetismus beeinflußten Richtungen
der Magnetnadel wurden auf Anregung des Entdeckers
H. Ritter v. Sterneck in den Steinplatten des Kapellen-
Fußbodens durch Einmeißeln von Pfcilstrichen bleibend
kenntlich gemacht. 6s.
— Katholische und e v a n g e l i s ch e Missionen
in Indien. Mit Bezug auf die S. 16 dieses Bandes
mitgeteilte indische Statistik erhalten wir von Herrn
Superintendenten Dr. Warn eck ein Schreiben, dem wir
nachstehendes entnehmen.
Erst seit 1886 erscheint jährlich unter dem Titel
„Missiones Catholicae“ eine von der Propaganda heraus-
gegebene offizielle römische Missionsstatistik, mit welcher die
im Globus angegebenen Zahlen nicht übereinstimmen. Nach
Marschall, der eine Hauptguclle bildet, gab es 1820 „mehr
als eine Million". Bis zum Erscheinen der „Mass. Cath.“
ist die römische Missionsstatistik sehr verworren; den ersten
einigermaßen sichern Anhalt gewährt der amtliche Regiernngs-
zensus, der folgende Zahlen bringt: 1861 815 519 Katho-
liken und 1881 963 058 Katholiken.
Nach den „Miss. Cath.“ gab es indische Katholiken:
1887 1 228253, 1890 1077016.
Auch diese Angaben geben zu Bedenken begründete Ver-
anlassung (vergl. „Allg. Miss. Z." 1891, August), ich unter-
lasse es jedoch, dieselben hier darzulegen, und bemerke nur,
daß nach dieser offiziellen Statistik die Zunahme der
Katholiken in Indien durchaus nicht als eine „sehr beträcht-
160
AuS allen Erd,teilen.
liche" bezeichnet werden kann. Die Vermehrung durch
Geburten beträgt allein auf die Million 12 000 pro Jahr.
In den letzten Jahren kommt die darüber hinausgehende
Vermehrung fast ausschließlich auf das Kolsgebiet. Selbst
katholische Missionsschriftsteüer geben zu, daß „sich die Katho-
liken Indiens mehr durch Geburten als durch Neubekehrung
Erwachsener vermehren".
In den „Miss. Catli.“ werden die — in den Tabellen
nicht mitgezählten — portugiesischen Katholiken nicht ans
470 000, sondern ctuf 300 000, und die — mitgezählten —
in Pondichery lebenden nicht ans J/2 Million, sondern auf
210 910 bestimmt. Ebensowenig stimmt die Zahl der
katholischen Missionare und die der Schulen mit den Angaben
der Propaganda. Nach dieser giebt es 705 kathol. Missionare
außer 194 Eingebornen nud 1338 Schulen, nicht 2200.
Die Zahl der Schüler (100 000) ist viel zu hoch angegeben.
Nach meiner Schätzung beträgt sie höchstens 75 000.
Zur Vergleichung mögen Sie mir noch die Mitteilung
der indischen evangelischen Missionsstatistik gestatten. Die
dortige evangelische Mission ist — die kleine dänisch-Hallesche
abgerechnet — noch nicht 100 Jahre alt und hat anfangs
mit ziemlich geringen Kräften gearbeitet. Nach den: offiziellen
Zensus gab cs in Indien 1861 213 370 evangelische
Heidenchristen, 1881 528 590 evangelische Heidenchristen.
Für 1891 ist der offizielle Zensus noch nicht erschienen;
vermutlich ist im letzten Jahrzehnt die Zahl ans über 700000
gestiegen. Nach diesen amtlichen Zahlen ist leicht zu er-
messen, auf welcher Seite der Prozentsatz der Vermehrung
größer ist. Auch die Schulthätigkeit der evangelischen Mission
ist nicht bloß relativ, sondern selbst absolut viel bedeutender
als in der viel ältern katholischen.
Die evangelische Mission zählte 1881 4175 Kuaben-
und 1452 Mädchenschulen mit zusammen 234 759 Schülern,
und seitdem ist sie wieder beträchtlich gewachsen.
— Totemismus auf den Salomonen. Ans den
Riffen verschiedener Inseln dieses Archipels bemerkte neuer-
dings der englische Naturforscher Charles M. Woodford
ganz eigentümliche Dorfanlagen. In der Uru-Bai, der Nord-
westbai und ans dem westlichen Küstenriff von Malaita sah
er jeden kleinen Fels', jeden trocknen Korallenfleck und jedes
Sandinselchen von den Wohnstätten eines armen Strandvolkes
besetzt. Der ursprünglich niedrige Grund war durch Zu-
häufung von Korallenblöckeu so weit erhöht worden, daß er
mindestens drei bis vier Fnß über die Flutlinie emporragte.
Auf dieser immerhin soliden Basis stehen dann die Häuser,
deren Insassen in ihrer Lebensführung fast an die vorgeschicht-
lichen Pfahlbanmenschen unsrer europäischen Seen erinnern.
Die Riffdörfler beschäftigen sich nur mit Fischfang und der
Herstellung des bekannten Mnschelgeldes, welches sie gegen
Nahrungsmittel und andre Produkte bei den Eingebornen
der Hauptinselu eintauschen. Etwa an jedem dritten Tage
findet auf einem geeigneten Platze der Markt statt. Wood-
ford besuchte einen solchen an der Nordwestbai, und soviel er
in Erfahrung bringen konnte, dürfen selbst Leute aus feind-
lichen Dörfern ungefährdet diese Märkte besuchen. Wenn
das der Fall ist, daun wäre also auch den Salomoiusulanern
der Begriff einer Marktfreiheit (oder eines Marktschutzes),
wodurch sonstige Fehden zeitweilig aufgehoben werden, nicht
mehr fremd. Es scheint uns aber nicht ausgeschlossen, daß
jene dem Feinde gewährte Schonung nur ein Ausfluß des
in der Gruppe verbreiteten Kastensystems ist. Diese
Kasten, besser „Totems" genannt, sind zur Zeit noch wenig
erforscht; ihre Bedeutung ist jedoch ungemein groß. Kein
Mann darf ein Mädchen desselben Totems ehelichen, genau
wie bei vielen andern Naturvölkern. Die Angehörigen eines
Totems sind nicht auf Stämme gleicher Sprache beschränkt,
sondern kommen ebensowohl unter verschiedensprachigcn Völker-
schaften vor. Einzig der Schutz des Totems ist Ursache, daß
gewisse Insulaner ruhig und sicher zwischen Stämmen, die
im offenen Kriege leben, verkehren können. Oft werden
von fremden Ankömmlingen etliche in Frieden beherbergt,
während man ihre Begleiter schroff von dannen schickt. Der
Name für die Kasten ist auf Gela oder Florida „Kema",
ans Savo „Ravn", und in Weisali ain Westende von Gna-
dalcanar gilt das Wort „Kna". Die größte und mächtigste
dieser Kasten ist die „Gambata" auf Gela und Gnadalcanar;
außer dieser nennt uns Woodford (A Naturalist among
the Ilead - Hunters, London 1890) noch die Totems
„Kiki", „Lakoli", „Kakau" und „Tanakindi". Er fügt hinzu,
daß es ohne Frage auf den Salomonen noch weit mehr
solcher „Kasten" gäbe und daß künftige Reisende wohlthnn
würden, ihr Augenmerk auf die Erforschung derselben zu
richten. H. 8.
— Die Einwohnerzahl Frankreichs beträgt nach
dem letzen Census jetzt 38095000, was gegenüber der Zäh-
lung vom Mai 1886 eine Zunahme von 208 000 Seelen be-
trügt. Diese Zunahme ist eine weit geringere als sämtliche
frühere Zählungen ergaben und entfällt wesentlich auf die städ-
tische Bevölkerung, während bei der ländlichen sich eine starke
Abnahme zeigt. Paris, ohne Vorstädte, hat um 167000 Ein-
wohner zugenommen, rechnet man die Vorstädte hinzu, so be-
trägt die Zunahme 249 000 oder 40 000 mehr als die
Gesamtzunahme Frankreichs beträgt. Von den Departe-
ments zeigen nur 28 eine Zunahme, aber 59 eine Abnahme.—
Die Anzahl der in Frankreich lebenden Fremden ist noch
nicht festgestellt. Dieselbe betrug im Jahre 1886 1126 000,
gegenüber der Zählung von 1881 eine Zunahme von 125 000
zeigend. Man kann daraus schließen, daß die Zunahme,
welche 1891 sich zeigt, zu drei Viertel den Fremden zuzu-
schreiben ist. Die eigentliche französische Bevölkerung ist so
gut wie zum Stillstände gekommen.
— Das Grab des Kaisers Iung-Lo, welches Herr
Caspari im Globus, Bd. LIX, S. 248 beschrieb, veranlaßt
Herrn Prof. G. Schlegel in Leiden zu einigen Bemerkungen
(in T'oung-Pao II, Nr. 2), die sich ans Mitteilungen des
Herrn Dr. de Groot stützen und die wir zur Berichtigung
und Ergänzung wiedergeben. Das Mausoleum, welches dicht
an den riesigen Tumulus anstößt, ist nämlich nicht, wie
Caspari anführt, „die eigentliche Grabstätte Jung-Los",
sondern dieser liegt, wie aus den Forschungen von de Groot
hervorgeht, im Tumulus selbst begraben, doch weis
man die Stelle in demselben nicht, auch nicht wie der Kaiser
beigesetzt wurde. Wozu, fragt Prof. Schlegel ganz richtig,
wäre denn der Tumulus aufgeworfen worden, wenn er nicht
selbst als Grabstätte gedient haben sollte?
— Zunahme der Geisteskrankheiten unter den
Eingebornen Australiens. Dieses traurige Kapitel,
welches in das Buch vom Aussterben der Naturvölker gehört
und des weiteren die schädlichen Einwirkungen der Kultur
auf dieselben beleuchtet, wird in einem Vortrage erläutert,
welchen Dr. Morton Manning, Inspektor der Irren-
anstalten von Nen-Süd-Wales hielt. Je mehr die Australier
mit der Kultur in Berührung kommen, desto mehr treten
Geisteskrankheiten und Wahnsinn bei ihnen ans. Seit 1868
fanden 18 Eiugeborue in den Irrenanstalten von Nen-Süd-
Wales Aufnahme, von einer Bevölkerung von nur 2500 Seelen,
die heute aber um die Hälfte geringer ist. Im Jahre 1881
rechnete man dort auf 1000 Eingcborne 2,83 Geisteskranke,
Ende 1885 aber schon 5. Wesentlich führt die Trunksucht
zu diesem traurigen Ergebnis.
Herausgeber: Dr. R. And ree in Heidelberg, Leopoldstraße 27.
Druck von Friedrich Vieweg und Sohn in Braunschweig.
Bd. LX.
Nr. 11.
Begründet 1862
von
Karl Andres.
Druck und Werbug von
Mer-M Wàìle.
Herausgegeben
von
Richard Andres.
IrieöricH Wierueg & Sohn.
25 Í st U U Í dl 1U C t st jährlich 2 Bände in 24 Nummern. Durch alle Buchhandlungen und Postanstaltcn j 891
^ ' ' '' zum Preise von 12 Mark für den Band zu beziehen. *
Die Lage in Deutsch-Südwestafrika.
Von Rektor Aleinschmidt aus Rehoboth.
Während man mit ganz besonderem Interesse die Vor-
gänge in Deutsch-Ostafrika verfolgt, ist die Teilnahme an
denen in Deutsch-SUdwestafrika so sehr gesunken, daß man
in den öffentlichen Blattern kaum noch irgend eine Notiz
über sie findet. Unsre deutschen Besitzungen in Südwest-
afrika haben schon gleich von vornherein eine etwas sehr stief-
mütterliche Behandlung erfahren. Zum Teil ja auch mit
Recht. Denn während Kamerun und Togo einerseits und
Ostafrika andrerseits, trotz ihres mörderischen Klimas, eine
gewisse sichere Aussicht ans gewinnbringende Benutzung der
verschiedenen Faktoren daselbst gewähren, bietet Südwest-
afrika wenig Sicheres, was den Kaufmann und Industriellen
veranlassen könnte, sein Geld gerade in dies Land zu stecken.
Die Goldfunde, welche vor einiger Zeit die ganze Welt in
Aufregung versetzten und die Bildung einer Reihe von
Handelsgesellschaften veranlaßten, haben sich als nicht abbau-
würdig erwiesen: eine Gesellschaft nach der anderen zog
sich und ihre Kapitalien aus dem Lande. Besonders auch
noch aus einem andren Grunde. Die politischen Ver-
hältnisse in Deutsch-Südwestafrika sind so trau-
rige, die Zustände dort so verwirrte und stellenweise gefähr-
liche, daß man es kaum jemand verdenken kaun, wenn er den
afrikanischen Staub von den Füßen schiittelt und mit Groll
nach Europa zurückkehrt. Mit Groll insbesondere gegen die
Ohnmacht und Thatenlosigkeit der deutschen
Reichsregierung. Mag man zu ihrer Entschuldigung
sagen, was man will, ihr ganzes Verhalten hat das deutsche
Ansehen in Südafrika schwer geschädigt.
Die politischen Verhältnisse Deutsch-Südwestafrikas sind
ja wirklich schwieriger Natur, schwierig, weil sie hervor-
gegangen sind aus einer Reihe von kleineren oder größeren
Fehden, besonders zwischen den beiden Hauptstämmen, der
Nama und der Herero.
Vor 50 und mehr Jahren war das große, weite Gebiet
in den Händen der (gelben) Nama. Sie zerfielen in eine
Anzahl von einzelnen Stämmen, deren einzelne Gebiete —
sie waren und sind noch Nomaden — sich niemals haben streng
abgrenzen lassen. Wie zu den Zeiten Abrahams und Lots
entstanden oft Streitigkeiten zwischen den Hirten der ver-
Klobus LX. Nr. 11.
schiedenen Stämme, die öfters zu blutigen Zusammenstößen
führten. Im allgemeinen war aber die Lage eine verhält-
nismäßig ruhige, sodaß die evangelische Mission während des
ganzen Jahrhunderts, sich in erfreulicher Weise entwickelte.
Die Sendboten der rheinischen Missionsgesellschafteu waren
meist aus dem Handwerkerstande hervorgegangen und so
waren sie denn auch praktisch genug befähigt, der Kultur des
Landes sich in der ausgiebigsten Weise zu widmen. Be-
kanntlich ist Südafrika nicht ein Land, „wo Milch und Honig
fließt", aber der zähe Fleiß der Missionare schuf mit der
Zeit eine Reihe von Stationen, Ortschaften, welche durch ihre
blühende Kultur zum Teil noch jetzt, so Bethanien u. a.,
zum Teil noch nach ihrer Zerstörung (-ft Hoach -ft finas) ein
beredtes Zeugnis ablegen für die erfreuliche Entwickelung des
Ackerbaues in jenen öden Gegenden, freilich wirkten diesen
kulturellen Bestrebungen eine Reihe ungünstiger Faktoren
entgegen. Es war zunächst der Mangel an regelmäßigen
Niederschlägen, der den Ackerbau hinderte. Die Einge-
bornen sahen und sehen sich infolge dessen noch heute ge-
nötigt, von Ort zu Ort zu ziehen, dahin wo Regen gefallen
ist, um ihren Rinder- und Schafherden Futter zu verschaffen.
Dieses Nomadenleben ist natürlich, weil weniger mit Arbeit
verbunden, dem fanllenzcndcn Nama viel mehr zusagend als
die stramme Arbeit ans dem Felde und im Garten. Und
doch haben sich eine ganze Anzahl von Leuten, verlockt durch
die schönen Erträge, welche die Missionare ernteten, sich eben-
falls dem Ackerbau gewidmet, der aus natürlichen Gründen
vielfach in den Betten der nur periodischen Flüssen betrieben
wurde. Kurz, der Zustand in den vierziger und fünfziger
Jahren war ein erträglicher, und mit Zufriedenheit konnte
man ans die Entwickelung europäischer Kultur in diesem von
der Natur recht vernachlässigten Lande blicken.
Da entstand aber den Nama plötzlich eine drohende Ge-
fahr und zwar von Seiten eines Volkes, das bisher nur
die Rolle von Sklaven gespielt hatte. Schon im Laufe der
vierziger, aber ganz besonders während der fünfziger Jahre
war vom Norden her immer zahlreicher das Volk der (dunkel-
farbigen) Herero in das Land gedrungen, nicht auf einmal,
sondern in einzelnen Trupps, und hatten sich zum Teil als
21
162
Rektor Kleinschmidt: Die Lage in Deutsch-Südwestafrika.
Knechte an die herdenbesitzenden Nama verdungen. Mit der
Zeit hatten sie sich aber bereichert und sich ausgedehnt. Es
kam zu Reibereien, Schlägereien und Kämpfen, in denen
anfangs die Nama unterlagen, bis diese den Jonker Afrikaner,
einen im Süden ansässigen Namahäuplling, zn Hilfe riefen.
Nicht mit Unrecht hat man ihn den „Napoleon des Südens"
genannt. Hochbegabt und ungewöhnlich klug und schlau,
wußte er im kurzen nicht nur die fremden Eindringlinge
zurückzuschlagen, sondern — er verlegte seine Residenz nach
dem Norden — sich die Oberherrschaft im ganzen Lande zu
sichern. Mit den Europäern, insbesondere mit den Missio-
naren stellte er sich auf verhältnismäßig guten Fuß, so daß er
auch von dieser Seite' nichts zu befürchten hatte. Den ein-
zelnen ©tstmiiie3i)ciii:ptltitgctt ließ er ziemlich freie Hand,
wachte aber eifersüchtig darüber, daß nicht etwa hinter seinem
Rücken irgend welche Machinationen vorgenommen wurden,
während er im Stillen alles that, um die einzelnen Macht-
haber gegeneinander zu hetzen. — 1861 starb er; in derselben
Nacht floh einer seiner Hirten, Katjamaha, mit einer großen
Anzahl der Herden Joukers zu seinen Landsleuten, den Herero.
Diese hatten sich in der Stille, angestiftet und angeführt von
zwei Europäern, dem bekannten schwedischen Reisenden und
Elefantenjäger Andersson und dem Engländer Gilen, ge-
sammelt und den Nama den Krieg erklärt. Wußten sie doch,
daß Joukers Sohn und Nachfolger Christian Afrikaner, in
jeder Beziehung seinem Vater unähnlich war. Die Schlacht
bei Otyimbinguo (Juni 1863) entschied sich zu gunsten der
Herero, an deren Spitze als Oberhäuptling der schlaue
Kamaharero, der Sohn jenes Katjamaha, sich stellte. Die
nächsten Jahre befestigten die Herrschaft der Herero im nörd-
lichen Teile, während Jan Afrikaner, der Nachfolger des
unfähigen Christian Afrikaner, sich noch immer die Supre-
matie über die andren Namahäuptlinge zu wahren wußte.
Eine Reihe von Kämpfen, unter denen natürlich besonders
auch die Missionsstationen litten, erfüllten die sechsziger Jahre.
Endlich wurde im September 1870 eine Art Friede ge-
schlossen, der insbesondere durch den um die Hereromission,
besonders aber um die Erforschung der Hererosprache hoch-
verdienten Missionar Dr. Hugo Hahn herbeigeführt wurde.
Der augenblickliche Besitzstand sowie die nationale Unabhängig-
keit der Herero wurde anerkannt und bestätigt.
Wir deuteten schon oben an, daß auch besonders die
Missionsstationen unten den Wirren gelitten hätten. Wieder-
holt hatten diese sich mit dringenden Bitten an die preußische
Regierung um Schutz gewandt. Es war, und das muß
mau ja beiden kriegführenden Teilen nachsagen, den Missio-
naren kein unmittelbarer Schade zugefügt worden, es hatten
sich im Gegenteil öfters erfreuliche Beweise von Rücksicht-
nahme gegen die Missionare und ihre Wünsche gezeigt —
aber dennoch hatten selbstverständlich der Krieg, oder besser
die einzelnen Kämpfe und Räubereien, denn darauf lief
meistenteils das Ganze hinaus, vielen Schaden angerichtet.
Die allgemeine Unsicherheit hinderte die fernere Entwickelung
der missionarischen Bestrebungen in kultureller Beziehung,
während die jahrelangen Kriegzüge besonders auch in sittlich-
religiöser Beziehung manches zerstörten, was bis dahin geblüt
hatte. — Aber die preußische Regierung, späterhin der Nord-
deutsche Bund und das neue Deutsche Reich hatten dazumals
ganz andre Dinge zu erledigen, als die Pacifizicruug von
Südwestafrika, und verwiesen deshalb wiederholentlich die
Barmer Mission, welche sich an die betreffenden Stellen ge-
wandt hatte, an die englische Regierung, bezw. an das Cape
Government. Dieses ernannte denn auch einen Kommissar
in der Person eines Mr. W. C. Palgrave, der aber im
Herero- und im Namalande eine ziemlich klägliche Rolle ge-
spielt hat. Sein Bestreben, das Land unter englischen Schutz
zu stellen, fand sogar unter den Häuptlingen Anklang, ganz
besonders aber natürlich bei den Europäern. Ja, sie erklärten
sich sogar bereit, Steuern zu zahlen, wofür ihnen daun
feierlichst der weitgehendste Schutz verheißen wurde. Um
dem Cape Government ein Bild von Land und Leuten geben
zu können, reiste Her Majesty's Commissiouer im Lande
umher und ließ überall Photographieen aufnehmen. Dadurch
hat er sich ein kleidendes Verdienst um das Land erworben.
Das war aber auch fast das Einzige, was er geleistet. Er
war ein „dear, good fellow“, wie ihn eine knpsche Zeitung
sarkastisch nannte — aber er unterschätzte die nationalen und
die Rassenleidenschaften, die in den beiden Völkern, insbesondere
aber in den Herero, schlummerten. Mitten im tiefsten Frieden,
Sommer 1880, entwickelte sich aus einer Prügelei zwischen
Nama - und Hererohirten ein Krieg, der in mehr als einer
Beziehung hoch dramatisch begann. Kamaharero ließ, wie
seiner Zeit Karl IX. in der Bartholomäusnacht die Hugenotten,
in einer Nacht alle Nama, die sich in seinem Dorfe befanden,
niedermetzeln und gab den Befehl, dasselbe im ganzen Lande
zu thun. Voller Wut griffen natürlich die Nama zu den
Waffen und Mr. Palgrave — die Flucht nach der Kapkolonie
und ließ die seinem Schutze anvertrauten Europäer in Stich.
Es brach ein mörderischer Krieg ans, der nicht nur die Nama
an den Rand des Verderbens brachte, sondern vor allem
schonungslos auch gegen Hab und Gut der Europäer wütete.
Der oben erwähnte Dr. Hahn, der unterdessen Pastor au der
deutschen Gemeinde in der Kapstadt geworden war, trat in
den Riß und versuchte im Namen und Auftrag des Cape
Government (1884) die kämpfenden Parteien zum Frieden zu
bewegen, aber ohne nachhaltigen Erfolg. Die Grausamkeiten
häuften sich, die gegenseitigen „Abschießereien" und Räubereien
nahmen so überhand, daß schließlich beide Parteien ganz er-
mattet waren. Jedenfalls war der Sieg auf Seiten der Herero.
Um diese Zeit war es, als Lüderitz einen Teil jener vom
Kriege verwüsteten Länder erwarb. Der traurige Ausgang
der Lüderitzschen Unternehmungen ist bekannt. Es wäre
nicht dazu gekommen, wenn man damals und später auf den
nunmehr verstorbenen vormaligen Missionsinspektor von
Barmen, Dr. Fabri, gehört hätte. Er warnte vor jeder
Überstürzung — aber umsonst. Im Namen des Deutschen
Reiches schloß Nachtigal Schutz und Trutzbüudnisse mit einigen
Negerhäuptlingen, späterhin der nunmehr auch verstorbene
deutsche Generalkonsul Bieber in Kapstadt mit Maharero.
Es würde uns zu weit führen, wollten wir ins Einzelne
gehen. So viel ist sicher, daß die deutsche Regierung sich
dem schlauen und gewissenlosen Maharero, dem Häuptling
der Herero, gegenüber manche Blöße gegeben hat. Maharero
hatte z. B. hinter dem Rücken der Deutschen mit dem Eng-
länder Lewis einen Separatvertrag abgeschlossen, der diesem
die weitgehendsten Rechte auf Land und Leute einräumte. So
sollte z. B. dieser allein das Recht ans Ausbeutung der Boden-
schätze haben, er befugt sein, Missionare ein- und abzusetzen und
sie des Landes zu verweisen u. s. w. Der deutsche Reichs-
kommissar Dr. Goering und sein Kanzler, Referendar Nels,
haben das Beste gewollt, haben aber eigentlich nichts ausgerichtet.
Die Instruktionen, welche sie vom auswärtigen Amte erhalten
hatten, banden ihnen völlig die Hände, so daß sie thatenlos
zusehen mußten, wie die Deutschen und die deutschen Inter-
essen den Launen und der Willkür eines Maharero und
seines Günstlings Lewis und der übrigen großen oder kleinen
Machthaber preisgegeben waren. Man schickte freilich eine
Schutztruppe von 25 Mann unter dem Befehle der Gebrüder
v. Frantzvis hin, aber auch diese sind thatsächlich pro nihilo
dort, da sie nichts zum Schutze der Deutschen thun, weil —
laut Instruktion — nicht thun dürfen. Das war um so trost-
loser, als unterdessen der Krieg von neuem losgebrochen war.
Den Nama war nämlich ganz plötzlich ein Erretter er-
standen und zwar in der Person des Hendrick Witbooi. Er
Dr. Max Uhle: Costaricanische Schmuckgeräte aus Gold und Kupfer.
163
war der Sohn des Häuptlings Moses Witbooi auf Gibeon.
Er war geistig so hoch begabt, daß ihn der Ortsmissionar
zum Statioualgehülfen, also zu einer Art Lehrer oder Hilfs-
Prediger ausbildete. Von schwärmerischer religöser Gemüts-
art, bildete er sich bald ein, daß Gott ihn zum Heiland und
Erretter seiner Stammesgenossen, der Nama, erwählt habe.
Infolge angeblicher Offenbarungen entschloß er sich zu einem
Rachekrieg gegen die Herero, der aber nichts andres war
als fortwährende Ranbzüge gegen das Hereroland, das in
der That schutzlos dastand, weil Hendricks unleugare Thatkraft
und Schlauheit fast überall den Sieg davontrug. Da hätte
die deutsche Regierung energisch eingreifen sollen. Was
Wißmann unter viel schwierigeren Verhältnissen in Ost-
afrika fertig gebracht hat, das hätte sie auch ohne große
Machtentfaltnng in Nama und Hereroland erreichen können.
Sie hat aber gleich von vornherein einen großen Fehler ge-
macht. Sie hätte, statt Männer, welche zwar vorzügliche
Beamte in heimischen Verhältnissen sind, aber keine blasse
Ahnung von Land und Leuten Südwestafrikas hatten, dorthin
zu senden, solche Männer zu ihren Bevollmächtigten ernennen
sollen, welche der verschiedenen Sprachen kundig und vertraut
waren mit all den schwierigen Verhältnissen, vor allem aber
eine genaue Personalkenntnis hatten. Es ist das wieder die
leidige deutsche Art, immer nur solche Personen an die be-
treffenden Stellen zu beordern, welche in folge eines Examens
Brief und Siegel haben, statt wie die Engländer und Hol-
länder, diese geborenen Kolonialpolitiker, jeden, der die Ver-
hältnisse genau kennt und das Herz auf dem rechten Flecke
hat. So aber dienen unsre deutschen Beamten und die ganze
deutsche Regierung nur zum Gespött der Engländer und der
Eingcbornen, welche auch nicht die geringste Spur von Ach-
tung vor uns Deutschen mehr haben. Maharero hat doch
recht gehabt, wenn er damals, als die Engländer und die
Deutschen sich um seine Gunst bewarben, höhnisch ausrief: „Da
kommen die Engländer und wissen nicht genug die Macht ihrer
Königin zu rühmen, und dann die Deutschen, welche ihren
Kaiser als den mächtigsten Herrscher der ganzen Welt preisen.
Das muß doch beides nicht wahr sein. Ich bin offenbar mäch-
tiger als sie beide, sonst würden sie mich doch nicht so anbetteln".
Er hatte recht, der alte Fuchs, wenigstens in bezug auf
den guten deutschen Michel, der sich lieber Fußtritte geben
läßt, als sich wehren.
Unterdessen plündert Hendrick ruhig weiter. Sein Rivale
Maharero ist in hohem Alter, am 7. Oktober 1890 gestorben.
Interessant ist es, daß bei seinem Begräbnis die verschieden-
artigsten Dornarten herbeigeschleppt und auf den Sarg gelegt
wurden. Man that das in Erinnerung an das Wort des
Verstorbenen, daß die Nama sich wie die Dornen stechen und
zerfetzen würden. Da das ja in der That der Fall ist,
legten die Herero den Worten eine weissagende Bedeutung
bei, und wollten, durch Häufung der Dornen auf des ver-
storbenen Häuptlings Grab, diesem die Möglichkeit geben,
auch nach seinem Tode die Feinde zu entzweien.
Der Nachfolger Mahareros ist sein Stiefbruder Kavazeri,
der aber besonders in politischer Beziehung so unfähig ist,
daß Samuel, der Sohn des alten Häuptlings, der schon bei
Lebzeiten seines Vaters an den Regiernngsgeschäften teilnahm,
der eigentliche Herrscher ist. Die Europäer erwarten auch
von ihm nicht viel Gutes. Deshalb sieht man mit großer
Sorge in die Zukunft, besonders, da, wie man hört, Hendrick
Witbooi sich mit englischer (privater) Hilfe (Munition u. s. w.)
anschickt, sich zum Herrn des ganzen Landes zu machen. Es
wird ihn niemand daran hindern können, falls sich die deutsche
Regierung nicht entschließt, seinem räuberischen Treiben ein
Ende zu machen. Das ist jetzt aber um so schwerer ge-
worden, als er von den Nama, wenigstens von einem großen
Teil derselben, als eine Art Nationalheros gepriesen wird,
wofür er sie nebenbei auch hier und da ausplündert.
So viel ist sicher, so lange diese ungesunden Zustände
dort herrschen, kann von einer fruchtbringenden Kolonisation
des Landes nicht die Rede sein. Und wenn die Zeitungen
neuerdings die Nachricht brachten, daß die deutsche Regierung
zur Unterstützung etwaiger Ansiedelungsversuche eine Summe
Geldes ausgeworfen habe, so will das nichts bedeuten. Erst
Ruhe im Lande, dann wird das andre sich schon finden.
Deutsch-Südwestafrika ist nicht so schlimm, wie sein Ruf.
Die Pioniere deutscher Kultur, die deutschen Missionare
haben blühende Stationen geschaffen, die zum Teil, trotz aller
Kriegs- und Raubzüge, noch jetzt das Staunen aller Reisen-
den hervorrufen.
Lostaricanische Schmuckgeräte aus Gold und Kupfer.
Von Dr. ^Nax Uhle.
Im Jahre 1889 veröffentlichte Herr Lüders (Der große
Goldfnnd in Chiriqni im Jahre 1859) 46 Bleizeichnungen
goldener Gegenstände, welche einem nahezu 1000000 Dollars
werten Fund antiker Goldgeräte entstammten, nach der Ab-
zeichnung aber sämtlich eingeschmolzen zu sein scheinen. Diese
Bleizcichnungen bilden sehr wichtiges Material für unsre
Kenntnis der zentralamerikanischen Metallurgie. Außerdem
bildete Herr Holmes in Ancient Art of tlie Province of
Chiriqui (Washington 1888) einige Goldarbeiten der Gegend
ab, an welchen man die Richtigkeit der von Herrn Lüders
veröffentlichten Zeichnungen ermessen kann.
„Globus" hat in Bd. LIX auch einige dieser Gegenstände
gebracht, so daß ich noch einige Abbildungen von Metall-
geräten der Gegend von Cartago in Costarica, welche sich im
Charakter jenen seltenen Abbildungen anschließen, hier unter-
gebracht zn sehen, mit Dankbarkeit begrüße.
Diese Metallgeräte bilden mit andern solchen einen
äußerlich wichtigen, an Umfang aber doch nicht so beträcht-
lichen Teil der wichtigen Sammlung Troyo, welche der
Haciendenbcsitzer dieses Namens auf seinem Grund und
Boden im Thal von Aguacaliente bei Cartago dem Erdboden
enthoben und dem Staate Costarica vermacht hat.
Die Notizen, welche die Beschreibungen geben, sind teils
den photographischen Reproduktionen (im Besitz von Herrn
Polakowsky), teils einem Cataloge der Goldgeräte dieser
Sammlung, Analog äol Alusoo nacioual de Costarica
1887, I, verfaßt von dem Direktor des Museums, Herrn
Alfaro, entnommen.
Fig. 1. Schmuckplatte (von Männern, namentlich im
Kriege, auf der Brust getragen). Dünnes Gold, gehämmert,
die den Rand einfassenden Buckel sind von der Rückseite ans
herausgehämmert. Gewicht 47 g. In der Mitte ein Affe
in laufender Bewegung, seinen in einen Schlangenkopf
endigenden Schwanz haltend. Die Figur ist in schwachem
Relief und mit Grabstichel-Gravüren von der Vorderseite
ans schärfer begrenzt.
Fig. 2. Schmnckplatte gleicher Art. Dünnes Gold,
gehämmert. Gewicht 30 g. Im Mittelteil ein von vier
Strahlen eingefaßtes Gesicht mit Stirnhaar, Ohren, Zeich-
nungen an Backen und Kinn und zwei vielleicht Lippen-
21*
164
Dr. Max Uhle: Costaricanifche Schmuckg'eräte aus Gold und Kupfer,
Fig. 1. Gold. y.¿ naturi. Größe.
Fig. 2. Gold. 1/2 natürl. Größe.
Fig. 3. Gold. Natürl. Größe.
Fig. 8. Gold.
Natürl. Größe.
Fig. 6. Gold. Natürl. Größe.
Fig. 4. Gold. Natürl. Größe.
Fig- 5.
Fig. 7. Vergoldetes Kupfer. Natürl.
Größe.
Gold. x/2 natürl.
Größe.
Dr. Max Uhle: Costaricanische Schmuckgeräte aus Gold und Kupfer.
165
schmuck andeutenden Linien am Munde. Das Bild ist nur
in erhöhten Konturen ausgeführt (Technik der Linien tute
die der einfassenden Punkte). Schmuckplatten gleicher Art
und Verwendung sind nach Süden zu bis über Coloinbia
verbreitet gewesen, wahrscheinlich auch über die Antillen.
(Ähnliche Schmnckplatten von Antioqnia, Colombia, bei den
Herren Stübel, Reist, Koppel, Kult, undJndustr. südam.
V. I, T. 23). Vergl. auch Jahresbcr. d. Ver. f. Erdkunde,
Dresden 1883, 123. Überraschend ähnliche goldene Brust-
platten werden auf Kiffer und Latti zwischen Celebes und
Neu Guinea (Belege in der Samml. Jacobsen im Berliner
Museum) getragen.
Fig. 3. Adler (als Gehänge). Wenig feinhaltiges Gold,
gegossen. Gewicht 34g. (Man vergleiche Herr Lüdcrs,
Nr. 40, 41, Herr Holmes, S. 33.)
Fig. 4. Pelikanartiger Vogel (als Gehänge), aus drei
Kettengliedern bestehend, beweglich. Gold, gegossen. Gewicht
27 g. Ein ähnlicher Vogel mit einem Fisch als Fräst bei
Herrn Lüders, Nr. 34.
Fig. 5. Vogel oder Insekt (als Gehänge). Die Zacken
der Flügel begünstigen die Deutung als Vogel, die Spiralen
am Kopf, wenn nicht ein blostcs Ornament oder einen Fraß
vorstellend, die als Insekt. Gold, gegossen, Gewicht 56 g.
Fig. 6. Paar Vierfüßler (als Gehänge), an den Klauen
einer Seite verbunden, mit symmetrischer Austcndrehung der
Köpfe. Gold, gegossen. Gewicht 50 g. Die Schwänze
enden in Schlangenköpfe. Die Tiere stellen vermutlich
Pumas dar (vergl. Herr Holmes, S. 45).
Fig. 7. Ungeheuer, halb Mensch, halb Tier (als Ge-
hänge) „Kupfer, vergoldet". Gewicht 20 g. Der Rumpf
der Figur scheint menschlich, doch laufen die unteren Extre-
mitäten in Schlangenköpfen aus, die Arme sind schlangen-
artig gebogen und Ausläufer in der Mitte stellen vielleicht
ein drittes und viertes oder ein fünftes und sechstes Tierbein
dar, zu dem Kopf, welcher der eines reißenden Tieres ist.
Der viereckige, zweiseitig klaffende Kopfschmuck stellt nur eine
an Kopf und Schwanz beköpfte Schlange dar, deren Köpfe
am linken und rechten Ende vortreten. Man vergleiche
Herr Holmes, S. 43, ein Gefäß von Hebejico in Colombia
mit ähnlicher Darstellung (im Berliner Museum) und zahl-
reiche ideell verwandte Darstellungen aus Peru.
Fig. 8. Kleiner Ring mit Tierfigur. Gold, gegossen.
Gewicht 5 g. Als Fingerring nicht sicher, da ein Aufhänge-
ring am stopf des Tieres ist.
Offenbar sind die Mehrzahl der Gegenstände Halsgehänge
gewesen. Sie hatten getvist mindestens zum Teil talis-
manische Bedeutung. Fig. 7 erweist das. Glaube an Ab-
kunft (zumal ganzer Stämme) von den Tieren und Glaube
an persönliche Schntzmacht von Tieren durchdrang in un-
endlich weiten Gebieten Amerikas das Denken der Volksseele.
Die merkwürdige „Vergoldung" von Fig. 7 kann nur
mit Kenntnis des Originals näher festgestellt werden (man
vergleiche auch Herr Holmes, S. 38 fg.). Sonst ist die
Technik eine doppelte: Hämmerung (resp. Gravüre) und
Guß. So stehen, und mit ganz ähnlichen Erzengnissen, anch
beide Techniken in Colombia nebeneinander.
Herr Holmes wundert sich über die Häufigkeit und
Mannigfaltigkeit der Legierungen von Gold und Kupfer.
Die Unreinheit der gegossenen Goldgegenstände vieler ameri-
kanischer Gebiete (besonders der minder zivilisierten) ist von
jeher aufgefallen. Sie hatte nicht zum Grund den Mangel
des Goldes (wie ich im Text zn der Herren Stübel, Reiß,
Koppel Werk, S. 62 für Cundinamarca geäußert hatte),
sondern den Vorteil des Besitzes des Kupfers. Kupfer hat
man in Costarica, ja anch bei Cartago.
Wo Kupfer fehlte, mußten sich die Goldschmiede meist
auf das Hämmern beschränken. Kupfer erleichterte die Guß-
technik. Reines Gold läßt sich vorzüglich hämmern. Das
Hämmerverfahren ist das einfachste, das primitivste. Es ist
bekannt, daß Gold schwer schmilzt, und Fachleute, deren Rat
für Ergründung des Gußverfahrens der Eingebornen zu
Hilfe gezogen wird, pstegen oft auf der Bedingung, daß die
Eingebornen Flußmittel kannten, zu bestehen. Gold schmilzt
bei 8290 R., Kupfer noch schwerer, bei 960" R., Kupfer
und Gold legiert, aber schmelzen leichter als beide. Es ist
bemerkenswert, daß die Eingebornen diese Kenntnis besaßen
und sich zn Nutze machten, sofern sie Kupfer hatten. Daher
die Güsse von wenig feinhaltigem Golde.
In einem costaricanischen Bericht von 1610 bei Herrn
Peralta, Costarica, y Colombia 1886, 27 heißt es: „Ihre
geringe Kunstfertigkeit zwingt sie, Kupfer zuzusetzen, um das
Gold zn gießen, weshalb dasselbe von geringem Gehalte ist.
Aber in den Schilden und Schaumünzen (als Hals- und
Brustschmuck gebraucht), bei denen sie das Gold nur durch
Schlagen ausdehnen, ohne die Notwendigkeit es zn legieren,
zeigt sich die Feinheit des Goldes, die bis zu 22 Karat beträgt."
Und in Walter Raleighs Bericht seiner Reise nach
Guiana 1595 (Richard Hnkluyt, Voyages, Navigation,
Trafiques, and Discov. 1600, III, 656) heißt es von den
Epuremei (anscheinend im östlichen Venezuela): „Er erzählte
mir, daß das meiste Gold, welches sie zn Schüsseln und Ge-
bilden benutzten, nicht aus dem Gestein gewonnen wurde,
sondern daß sie es am See von Manoa und in vielen andern
Flüssen in reinen Goldkörnern sammelten und in Stückchen,
so groß wie kleine Steine, und daß sic es mit einem Teil
Kupfer mischten, da sie es sonst nicht bearbeiten könnten und
sie benutzten einen großen irdenen Topf mit Löchern ringsum
denselben herum, und wenn sie Gold und Kupfer zusammen-
gemischt hätten, dann befestigten sie Rohre an die Löcher und
erhöhten durch Znblasen von menschlichem Atem das Feuer,
bis das Metall flüssig wurde und dann gossen sie es in
Formen von Stein und Thon und so machten sie jene Schüsseln
und Gebilde."
Daher also das Gold, wie Herr Andree, Die Metalle
bei den Naturvölkern 1384, 155 anführt, so häufig 12 oder
14 karätig.
Die verlorenen zehn Stämme Israels können nicht
zur Ruhe gelangen, sic bilden eine Art ethnographischer See-
schlange und sind nun bald bei allen Völkern gesucht worden,
bei solchen namentlich, wo Beschneidung, Spciseverbote, Levi-
ratsehe und krumme Nasen vorkommen, Dinge, die recht
häufig ans dem Globus bei einander sind. Den Anspruch auf
Neuheit hat jedenfalls eine Ansicht, die der bekannte Arabien-
reisende Dr. Eduard Glaser jetzt (Allgem. Ztg. des Juden-
tums, 7. August 1891) ausspricht. Er sucht ans Jeremias
nachzuweisen, daß die zehn Stämme „im Norden" wohnten
und das Nordland ist die Gegend nordlich von Medien, also
im allgemeinen der Kaukasns nùt Nachbarschaft. Von hier
aus entwichen die Gefangcnen in die Uferlànder am Kaspischen
nud Asowschen Mecre, „von wo aus der Wcg nach dcm iist-
lichen Europa bis Polcn und Litanen formlich vorgezeichnet
war". Der Handcl wies den Israeliten den Weg. „Also
mente A usi chi geht dahin, dast die ostcuropaischcn Jsraeliten,
d. h. die rnssischcn, deutschcn und osterreichischen, das Gros
der Nachkommcn der eigcntlichen Kinder Jsraels sind." Wir
sagcn dazn nnr Crollai Judaus Apella! A.
166
Dr. M. Winternitz: Zur Geschichte der Ehe.
Zur Geschichte der L h e.
Von Dr. DI. lVinternitz. Oxford.
III.
(Schluß.)
Eine ergiebige Quelle für Nückschlüsse auf primitive'
Gesellschaftsverhüttnisse glaubte man in der Nomenklatur
der Verwandtschaftsgrade bei den verschiedenen Völkern ge-
sunden zu haben.
L. H. Morgan hat die Berwandtschaftsnamen von nicht
weniger als 139 Völkern gesammelt und untersucht und
hat darauf weitgehende Schlüsse auf primitive Ehcverhült-
nisse gezogen. Er geht dabei von dem Gedanken ans, daß
die Verwandtschaftsnamen auf thatsächlichen Verwandt-
schaftöverhältnissen beruhen und daher zu Schlüssen auf
primitive Eheverhältnisse berechtigen. Wenn wir daher bei
den malaiischen Völkern finden, daß mit dem Namen „Vater"
auch die Brüder von Vater und Mutter bezeichnet werden
und daß es überhaupt nur Bezeichnungen für Verwandte
derselben Generation giebt ohne Rücksicht auf nähere oder
entferntere Verwandtschaft, so glaubt Morgan daraus schließen
zu können, daß bei diesen Völkern ursprünglich „Gruppen-
heirat" geherrscht habe, wo alle Brüder, Schwestern und
Geschwisterkinder derselben Generation eine „Kommunalehe"
bildeten, und daß man aus dieser Stufe einen Rückschluß
auf vorhergegangene Promiscuitüt machen könne.
Die Grundlagen von Morgans Theorien sind vielfach
angegriffen worden, am schärfsten wohl jüngst von Starcke 41),
der zu dem Schlüsse kommt, daß Morgans Hypothesen
gänzlich unwissenschaftlich und nur geeignet sind, wenn man
dieselben nicht gänzlich ignorirt, die Frage zu verwirren.
Starcke sucht seinerseits zu beweisen, daß die Berwandt-
schaftsnamen ursprünglich nicht auf Blutsverwandtschaft
hinweisen, sondern vielmehr die rechtlichen Beziehungen
zwischen den Mitgliedern einer Sippe zum Ausdrucke bringen.
Auch Westermarck bestreitet, daß die von Morgan an-
gezogenen Berwandtschaftsnamen von Anfang an Bezeich-
nungen für Blutsverwandtschaft waren. Er geht von etwas
allgemeineren Gesichtspunkten ans und macht es im höchsten
Grade wahrscheinlich, daß die Verwandtschaftsnamen aus
Ansprachen entstanden sind, und daß diese Ansprachen nicht
so sehr auf genaue Bezeichnung des wirklichen Verwandt-
schaftsverhältnisscs abgesehen waren, als auf Unterscheidung
von Geschlecht, Alter und den äußerlichen Verhältnissen, in
denen die Sprechenden zueinander stehen.
Es ist nachgewiesen worden, daß in den meisten Sprachen
die Bezeichnungen für Vater und Mutter aus Lallworten
wie „Papa" und „Mama" entstanden und aus der Kinder-
sprache in die Sprache der Erwachsenen übergegangen sind.
Und wenn Kinder diese Bezeichnungen nicht auf Vater und
Mutter beschränken, sondern auf männliche und weibliche
Verwandte derselben Generation ausdehnen, so kann man
doch gewiß darauf keine weitgehenden Schlüsse bauen. Wir
finden überdies, daß ganz allgemeine Ausdrücke wie Vater,
Mutter, Großvater, Großmutter auf alle Leute überhaupt
ausgedehnt werden, und man sollte cs kaum für nötig
halten, darauf hinzuweisen, daß Bezeichnungen wie „Väterchen"
und „Mütterchen" für alte Leute keine Schlüsse auf primitive
Ehcverhältnisse gestatten.
Sehr lehrreich sind in dieser Beziehung die Südslaven.
Wenige Völker haben ein so reich entwickeltes System von
Berwandtschaftsnamen aufzuweisen, wie es Krauß42) bei
den Südslavcn nachgewiesen hat. Und doch finden wir
auch bei den Südslavcn eine große Freiheit im Gebrauche
von Berwandtschaftsnamen im alltäglichen Leben. So wird
mit seko, „Schwesterchen", ein unverheiratetes junges
Mädchen angesprochen. Man sagt snallo, „Schnur", zu
einer jungen Frau, während mit strino „Frau des Vaters-
bruders" , „ein unbekanntes Frauenzimmer, das in den
mittleren Jahren steht" angesprochen wird. Ebenso werden
cica und striko, Bezeichnungen des Oheims, in der An-
rede an ältere Männer gebraucht. Die Frau nennt in
Serbien den ältesten Bruder des Gatten djever, während
die übrigen Schwäger Kosenamen erhalten, wie brato,
„Brüderlein". Ebenso wird die jüngste Schwägerin von
der Frau des Mannes mit seja, „Schwesterlein", ange-
sprochen. Geschwisterkinder reden sich gewöhnlich als Brüder
(braca) und Schwestern (sestre) cm43).
Aehnliche Beispiele für den vagen Gebrauch von Ver-
wandtschaftsnamen ließen sich von andren Völkern bei-
bringen, welche noch klarer zeigen würden, wie unhaltbar
alle auf die Normenklatur der Verwandtschaftsgrade ge-
stützten Hypothesen sein müssen.
Die Thatsachen, welche zur Hypothese des Matriarch ats
geführt haben, — daß bei zahlreichen Völkern die Kinder
nicht nach dem Vater, sondern nach der Mutter benannt
werden, und daß bei der Erbfolge nur die weibliche Linie
in Betracht kommt —, haben McLennan zu gleicher Zeit
als Stütze für die Hypothese der Promiscuität der Urzeit
gedient. Er nimmt nämlich an, daß Mutterfolge nur aus
Unsicherheit der Paternität erklärt werden könne, und daß
diese Unsicherheit auf einen Zustand von Promiscuitüt
hinweise.
Es ist hier nicht der Ort, näher auf die Hypothese
des Matriarchats u) einzugehen. Westermarck bemüht sich
zu beweisen, daß die Muttcrsolgc44) nicht bei allen Völkern
der Vaterfolge vorausgegangen sei, indem er eine große
Anzahl von Belegen für patriarchalische Zustände bei
vielen sehr primitiven Völkern anführt. Ich sehe aber
nicht recht, wozu diese Aufzählung dienen soll. Darüber
kann ja gar kein Zweifel sein, daß die Unterjochung der
Frau und der Übergang zum Patriarchat (wenn es einen
solchen Übergang gegeben hat), einer sehr frühen Kultur-
stufe angehören. Und es würde an und für sich gar nichts
gegen die Hypothese des Matriarchats sprechen, wenn wir
auch weniger Spuren von Mutterfolge fänden als es that-
sächlich der Fall ist. Wenn daher auch Leist in seinem
Werke „Altarisches Ju8 Gentium“ und Delbrück in seiner
Abhandlung über die indogermanischen Verwandtschafts-
namen sich neulich so viel Mühe gegeben haben, nachzuweisen,
daß bei den indogermanischen Völkern jede Spur von
Matriarchat geschwunden sei, so beweisen sie, glaube ich,
nur, was jedermann erwartet. Es kann keinem Zweifel
unterliegen, daß die Jndogermancn vor der Trennung durch
viele Stufen der Entwickelung durchgegangen und bereits auf
der Stufe einer patriarchalischen Familie angelangt waren.
Leicht nur die sprachlichen Thatsachen, wie Delbrück un-
widerleglich gezeigt hat, weisen darauf hin, sondern auch
die Hochzeitsgebrüuche. Eine Vergleichung der indogerma-
nischen Hochzeitsgebräuche läßt keinen Zweifel darüber, daß
das Urvolk bereits die Ehe durch Kauf kannte. Wenn da-
her von Matriarchat bei indogermanischen Völkern die Rede
ist, so kaun damit nur gemeint sein, daß es so weit in der
Urzeit zurückliege, daß wir nicht mehr als höchstens die
allerspärlichen Überlebsel erwarten dürfen. Daß Dargun
H. Seidel : Der König von Ann am.
167
in seiner Schrift über „Mutterrecht und Naubehe" gar so
viele Spuren von Mutterrecht bei Jndogermanen und
Germanen gefunden hat, genügt allein, uns gegen seine Ar-
gumente bedenklich zu machen. Und was von den Jndo-
germancn gilt, mag auch von andern Völkcrgruppen gelten.
Das Matriarchat gehört einer so frühen Kulturstufe an,
daß wir nicht mehr als spärliche Reste desselben zu finden
erwarten dürfen.
Wie immer cs sich aber mit der Hypothese des Matri-
archats verhalten mag, auf keinen Fall werden wir
McLennans Folgerung zugeben, daß Promiscuität dem
Matriarchat vorausgegangen sein müsse. Zunächst ist cs eine
ganz willkürliche Voraussetzung, daß von Haus ans der
Vater das Haupt der Familie sein sollte, und daß, wo er-
es nicht ist, der Grund darin zu suchen sei, daß man den
Vater nicht kennt. Ferner aber lassen sich Gründe genug
anführen, welche einen engeren Zusammenhang zwischen
Mutter und Kind als zwischen Vater und Kind erklären.
Es ist nicht einmal nothwendig, auf die Naturvölker
hinzuweisen, welchen die Mutterschaft durch den Geburtsakt
von Anfang an zum Bewußtsein kounnen mußte, während
die physiologische Thatsache der Vaterschaft keineswegs so
klar zu Tage trat; daß, wie Maine sich ausdrückt, Mutter-
schaft eine Sache der Beobachtung, Vaterschaft eine Sache
der Schlußfolgerung ist. Es ist auch kaum nötig, daran
zu erinnern, daß durch das Säugen, welches bei vielen
Völkern Jahre lang fortgesetzt wird"), sowie durch das
stete Zusammensein von Mutter und Kind in den ersten Lebens-
jahren ein engerer Zusammenhang zwischen Mutter und
Kind gegeben ist, als zwischen Vater und Kind. Hören
wir ja noch heutzutage von den Gegnern der Franen-
emancipation, daß die Familie zerfallen würde, wenn die
Frau an dem öffentlichen Leben teilnähme, wenn sie, wie
die Phrase lautet, der Familie entzogen würde. Hören wir
doch fortwährend, daß die Mütter fast ausschließlich für die
Erziehung der Kinder verantwortlich sind, als ob der Vater-
gar keine andre Verpflichtung hätte, als für Mutter und
Kind die Subsistenzmittel zu erjagen.
Daß Unsicherheit der Paternität Muttcrfolge bedingt,
wird aber auch durch die Thatsachen selbst widerlegt. Starcke
hat auf zahlreiche Völker hingewiesen, bei welchen wir
patriarchalische Zustände finden, trotzdem Vaterschaft ent-
schieden unsicher ist. So finden wir bei den in Polyandrie
lebenden Todas, daß die Kinder dem Vater gehören, trotz
der natürlichen Unsicherheit bezüglich der Vaterschaft. Ja,
wir finden Völker, bei denen die Kinder einem „Vater"
angehören, von dem es sicher ist, daß er nicht der Erzeuger
derselben war; so, wenn die Eskimos ihre Weiber dem
Angekok überlassen, um ausgezeichnete Kinder zu bekommen4si).
Auf der andern Seite ist Mutterfolge nicht immer aus
Matriarchat zu erklären. Starcke hat unter andrem darauf
hingewiesen, daß wir bei polygynischen Völkern häufig die
Sitte finden, daß jedes Weib mit ihren Kindern in einer-
separaten Hütte lebt. Nichts ist natürlicher, als daß in
solchen Fällen die Kinder auch nach der Mutter benannt
werden. Hier ist Polygynie die Ursache von Muttcrfolge.
In einer außerordentlich wichtigen Schrift* 42 * 44 * * 47 4"), welche
die Grundlage für alle künftigen Untersuchungen über den
Ursprung menschlicher Institutionen bilden muß, hat
E. B. Tylor daraus hingewiesen, daß in der Regel Mutter-
folge sich bei jenen Völkern findet, wo der Mann bei der
Heirat in das Haus der Frau übersiedelt; und er hat es
wahrscheinlich gemacht, daß die verschiedenen Sitten von
Mutterfolge und Vaterfolge wesentlich davon abhängen, ob
der Mann zur Frau ins Haus zieht, oder umgekehrt.
Freilich bleibt die Frage noch unentschieden, wodurch der Wohn-
ort der Neuvermählten bestimmt wird. Aber wie immer auch
diese Frage beantwortet werden wird, man wird jedenfalls
zugeben müssen, daß es bessere Erklärungen für die Mutter-
folge giebt als Unsicherheit der Paternität; wodurch aber
Me Leunans Schlußfolgerung von Mutterfolge auf vor-
hergegangene Promiscuität hinfällig wird.
Aus all den angeführten Gründen glaube ich, daß wir
mit Westermarck die Hypothese, wonach die individuelle Ehe
sich aus einem Zustand von Promiscuität entwickelt habe,
als wissenschaftlich nicht berechtigt bei Seite legen müssen.
Wenn es aber den Forschern, welche diese Hypothese auf-
gestellt haben, nicht gelungen ist, „den Schleier von dem
Geschlechtsleben in der grauen Vorzeit" zu heben, so werden
wir mit um so größerer Spannung den weiteren Unter-
suchungen Wcstermarcks entgegen sehen. Wird es ihm ge-
lingen, aufzubauen, wie es ihm gelungen ist, zu zerstören?
Wird cs ihm gelingen, das Dunkel zu erhellen, welches
noch immer über den ersten Anfängen der Raub- und
Kaufehe lagert, und Licht zu werfen auf jene in mehr als
einem Sinne dunkle Periode der Geschichte der Menschheit,
wo die Unterjochung der Frau ihren Anfang nahm?
The Primitive Family’ p. 171 ff.
42) ff. S. Krautz, Sitte und Branch der Sudslcwen.
Wien 1885, S. 1 bis 14.
4ft Krautz a. a. O. S. 7 ff., 12.
44) Jch bezeichne nut „Matriarchal" die Hypothese, wonach
die Mutter in der Urzeit das Haupt der Faniilie bildete, wah-
rend ich mit „Mutterfolae" die Thatsacheu der Benennunq nach
der Mutter und der Erbsolge in der weiblichcn Linie zu-
salumenfasse.
*5) Siehe Ploff- Bartels, II, 413.
46} Starcke a. a. O. S. 121 ff., 123, 126.
47j E. B. Tyler, On a Method of Investigating the
Development of Institutions; applied to Laws of Marriage
and Descent. (Journal of the Anthropological Institute,
February 1889, pp. 245 ff.) SieHc S. 258.
Der König von Anna in.
Von i). 5 ciò cl.
Die jüngsten blutigen Kämpfe der Franzosen mit den
tongkinesischcn Piraten lenken die allgemeine Aufmerksamkeit
von neuem auf die ostasiatischen Besitzungen der dritten
Republik. Wahre Schauernachrichten werden über die
Grausamkeit laut, mit welcher beide Teile, Eingeborne und
Fremde, gegen einander wüten. Am meisten leidet in diesen
Wirren das unglückliche Land, das nun seit einem Jahr-
hundert von Rüuberhordcn zerfleischt wird.
Diese Plage erschien im Gefolge der Revolution von
1773, als der Usurpator Nac aus Kui-Nhon die alt-
heimische L eh-Dynastie stürzte und sich zum Beherrscher
Tongkings erhob. Bald darauf fiel ihm auch Annam zur
Beute, dessen letzter angestammter König, N'Guyen-Anh,
nach Siam flüchten mußte. Dort knüpfte er durch Ver-
mittelung des Bischoffs Pigneaux de BéHaine mit dem
französischen Hofe Beziehungen an, die 1787 zu einem
förmlichen Bündnis führten4), dahin lautend, daß Frank-
4) Genaueres findet der Leser im Globus, Bd. LVII,
S. 261, „Land und Leute in Tvmzkiug III".
168
H. Seidel: Der König von Annam,
Sq. Seidel: Der dortig von AnnaM.
reich gegen Überlassung der Bai von Turan und der Insel
Pulo Kondor die N'Guyens in Annam restituieren sollte.
Die große Revolution ließ diesen Vertrag unerfüllt, so daß
der unternehmende Bischof für seinen Schützling nur private
Hilfe, bestehend in. Schiffen, Waffen und einem Dutzend
wagehalsiger Offiziere, ausbringen konnte. N'Gnhcn-Anh
erschien in seinem Vaterlande, schlug und tötete den Usur-
pator und eroberte das herrenlose Tongking, das von nun
ab ein Teil des annamitischen Reiches wurde. Der glück-
liche Sieger legte sich den Titel „Kaiser" und den Regenten-
namen Gia - Long bei.
Fortan blieben die N'Guyens ungestört in ihrem Erbe,
bis 1858 unter Tu-Dnc, dem Vater des jetzigen Königs,
der Krieg mit Frankreich ausbrach, der den Anuamitcn in
der Folge Kambodscha, Tongking und zuletzt die eigene
Unabhängigkeit kostete. Am 6. Juni 1884 wurde im Palais
des französischen Residenten zu Hue das kaiserlich-chinesische
Lehnssiegel feierlich zerstört und Annam unter das Protek-
torat der Republik gestellt. Tu-Dnc nahm sich diese
Niederlage derart zu Herzen, daß er in seiner Trauer selbst
den großen öffentlichen Umgang durch die Straßen der
Hauptstadt, eine der wichtigsten Handlungen im Leben der
N'Guycn - Fürsten, ganz unterließ. Erst der junge König
Dong-Khanh hat diese Gepflogenheit seiner Ahnen
wieder aufgenommen und zeigt sich jetzt alljährlich an einem
bestimmten Tage vor dem getreuen Volke.
Sonst ist es nicht Sitte, daß sich der Herrscher von
jedermann begaffen läßt; er sieht, ohne gesehen zu werden,
indem er sich im Palais hinter dünne Vorhänge begiebt
oder durch die Jalusien blickt, welche seinen Palankin oder
die Fenster in den Staatskabinen seiner Schiffe verschließen.
In seiner Lebhaftigkeit und Wißbegierde beachtet Dong-
Khanh oft scheinbar geringfügige Vorfälle. Ein neuer
französischer Arzt, der die Citadelle von Hue, worin der
König residiert, zu sehen wünscht, interessiert ihn derart,
daß er ihn und seinen älteren Kollegen zur Audienz be-
fiehlt i). Dr. Hocquard photographiert; Dong-Khanh
hat davon gehört, vielleicht auch heimlich zugeschaut, als
der Fremde im Palaste seine Aufnahmen machte. Jetzt
muß er die. Bilder vorlegen.
Dong-Khanh ist noch jung, nicht über 27 Jahre
alt und völlig bartlos, von regelmäßigen Zügen und matter
Gesichtsfarbe; seine Augen sind schwarz und munter, seine
Lease für einen Anuamitcn ausnehmend wohlgcbildet, nur
sein Mund ist etwas groß. Er weis sich bei feierlichen
Anlässen niit erstaunlicher Würde und Majestät zu bewegen.
Im Verkehr mit Europäern pflegt er die Hofetiqnette gern
außer acht zu lassen; seine Landeskindcr bleiben jedoch bis
znm Minister hinauf allen Geboten des Zeremoniels streng
unterworfen. Fortwährend stehen Mandarinen vom ersten
bis zum dritten Range in einem benachbarten Palais zur
Verfügung des Königs. Nur zu häufig erscheint ein
Eunuch und ruft diesen oder jenen der graduierten Herren
zur Dienstleistung ans. Zwanzig Schritt vor dem Herrscher
fällt der Gerufene auf die Kniee uiib beugt das Haupt,
indem er das Abzeichen seines Standes, ein kleines Elfen-
beinsceptcr, gerade vor das Gesicht hält. In dieser Stellung
verharrt er, bis Dong-Khanh ihn näher befiehlt; dann
erhebt er sich, um dicht vor der Majestät von neuem in die
Kniee zu sinken und mit leiser Stimme die gewünschten
Antworten zu erteilen.
Der König arbeitet in der Regel an einem zierlichen
Schreibtisch, der in einem mit kostbaren Waffen geschmückten
i) Es ist der Oberstabsarzt Dr. Hocquard, bekannt durch
seine Artikel „Trente mois au Tonkin“ in der Zeitschrift
üe Tour du Monde 1891, Nr. 1586 u. 1587.
Gtobus LX. Nr. 11.
16tz
Saale aufgestellt ist. Sein jüngerer Bruder oder ein Man-
darin legt ihm die Zuschriften und Berichte vor, die er ent-
weder liest oder, wenn er ermüdet ist, von einigen der ge-
schicktesten Frauen des Harems sich vorlesen läßt. Geheime
Depeschen und sonst vertrauliche Meldungen kommen aller-
dings nicht in die Hände der Schönen. Dong-Khanh
hat sehr viel zu thun; früh'um 5 Uhr verläßt er sein Lager
und bringt den größten Teil des Tages mit NegiernngS-
geschüften zu, denn die Zahl der einlaufenden Rapporte ist
Legion. Der König schreibt stets mit roter Tinte, richtiger
mit roter Farbe, da er nach Landessitte einen kleinen Pinsel,
nicht eine Feder benutzt. Seine Wünsche, die er in Gestalt
von Anmerkungen den Berichten zufügt, werden sofort den
betreffenden Ministern zur Nachachtung übermittelt. Den
Wacht- und Eilbotendienst versehen die Krongarden oder
Thi-ve; in den Seitenräumen der Gänge und Säle halten
sich Polizeiposten verborgen.
Des Königs gewöhnliche Erholung ist ein mehrstündiger
Spazierritt auf seinem munteren schwarzen Leibroß. Auch
dem Theater ist er nicht abhold, was schon daraus hervor-
geht, daß er gelegentlich selbst ein Stück für die aus 45 weib-
lichen Personen bestehende Hoftruppe schreibt. Auswahl
und Unterricht dieser Künstlerinnen überwacht die Königin-
Bcutter. Sie hält anch den königlichen Harem in Obacht,
der immer ziemlich reichlich besetzt ist. Tu-Dnc z. B. hatte
nicht weniger als 104 Frauen. Sie zerfallen in neun
Klassen, jede verschieden betitelt und besoldet, ja sogar ihre
Kleidung richtet sich nach der Klasse, welcher sie angehören.
Ihren Unterhalt bestreitet der Staat; die erste Frau, also
die eigentliche Königin „Hoang-gui-phi" empfängt jährlich an
Geld 1000 „Schnüre" I oder 800 Franks, dazu 250 Maß
schwarzen und 50 Maß weißen Reis und 60 Stück Seiden-
zeug zu ihrer Toilette. Recht kärglich sind die Frauen
9. Ranges gestellt; sie erhalten 33 Sapekenschnüre, 180 Maß
schwarzen, 36 Maß weißen Reis und 12 Stück Seidcnzeug.
Über die Haremsschönen wacht eine bestimmte Zahl älterer
Weiber, denen zugleich der Oberbefehl über die Hunderte
von uniformierten Dienerinnen (nucong) zusteht. Alle
Morgen wählen sie die für den König und seine Mutter-
erforderlichen Frauen und Dienerinnen aus. Letztere sind
mit einem großen Säbel bewaffnet und hüten sorgfältig die
Eingänge zu den königlichen Privatgemächern.
Für die Hoftafel sorgt ein Heer von 100 Köchen; da-
neben sind 500 vong-tranh oder Jäger angestellt, die das
größere Wild zu beschaffen haben, und ferner noch 50 Mann,
die als königliche Vogelschützen amtieren. Selbstverständlich
giebt es auch königliche Fischer und Salanganensncher, je
50 an der Zahl, und schließlich kommen noch die 50 tuong-
travien, d. h. Theeanrichter, dazu, so daß das Kuchen-
personal des annamitischen Herrschers im ganzen 800 Per-
sonen umfaßt. Außerdem hat jede Provinz verschiedene
Tafelspenden in Natura zu leisten; so lieferte Kochinchina
das bei Dong-Khanh sehr beliebte Kaiman-Fleisch; in
Hue wird der königliche Tafelreis, eine besonders feine Art,
gezogen; Tongking muß die ersten reifen Letschi-Früchte
senden; die Provinz Ba-Tuc giebt Fische, Krabben und
Mangnsten. Natürlich suchen die Beamten bis zum
Finanzminister hinauf von diesen Tafeltrilmten einen Anteil
für sich beiseite zu schaffen. Um etwaigen Vergiftnngs-
versuchen vorzubeugen, wird über die Speisen des Königs
die peinlichste Aufsicht geführt. Sein Vater Tu-Dnc
rührte keine Schüssel an, von der nicht einer seiner Leib-
H Die landesüblichen durchlöcherten (Zink-) Sapeken wer-
den zu je 500 auf Rohrseile gezogen und machen dann einen
„Faden" oder eine „Schnur" aus. Näheres im „Globus",
Bd. LVIT, S. 267.
22
170
P. 1). Stenin: Das Gewohnheitsrecht der Samojeden,
ärzte zuvor gekostet hatte. Er benutzte auch nie andre als
einfache Bambnseßstäbchcn, die obendrein jeden Tag erneuert
werden mußten.
So lebt der Fürst, umgeben von seinen Frauen und dem
endlosen Troß der Beamten und Diener ziemlich abgeschieden
von der Welt in dem weitläufigen Palaste, den sein Vorfahr
Gia-Long inmitten der Citadelle von H.us erbauen ließ.
Die Festung zerfällt in einen äußeren, für die Mandarinen
und Soldaten bestimmten Teil und in einen inneren, welchen
ausschließlich der König bewohnt. Der Zugang zn letzterem
erfolgt durch die Pforte N’go-Mou. Ihr gegenüber weht
auf hohem Mast die gelbe königliche Standarte, denn Gelb
ist die Farbe des Herrschers. Rechts vom Thor beginnt
die „Ministerstraße", früher das belebteste Viertel im Bereich
der königlichen Ringmauer, jetzt still lind verlassen, wie der
entzückende Lustgarten, dessen kühlen Schatten Dong-Khanh
nicht mehr aufsucht. Er meidet selbst die Bäder in der
Bai von Thnan-An, einst das Bajä Annams, wo sich all-
jährlich in der heißen Zeit der Hos und die vornehme Welt
der Hauptstadt einfand.
Im Schloßgarten sehen wir ferner die Königl. Druckerei,
in der unter auderm auch der aunamitische Kalender mit
Hilfe zahlreicher, sauber ausgearbeiteter Holzplatten hergestellt
wird. Tiefer im Park liegt die Königl. Münze, das be-
rühmte Institut, darin der Fürst außer den üblichen Gold
und Silberbarren noch die mit Drachenbildnissen und philo-
sophischen Sprüchen gezierten Ehrenmedaillen für die ver-
dientesten Würdenträger prägen läßt. Durch die Citadelle
zieht sich in ihrer ganzen Länge ein von reizenden chinesischen
Holzbrücken überspannter Kanal; an seinen Ufern erheben
sich prächtige Ahnen-Pagoden, namentlich zeichnen sich die
unter Tu-Duc für seine Vorväter Gia-Loug und Tieu-
Tri errichteten Tempel durch architektonische Schönheit und
reichen Jnnenschmuck ans.
Nicht weit von der Reitbahn, wo Dong-Khanh täglich
sein Pferd tummelt, dehnt sich ein quadratisches, von einer
niedrigen Mauer umfriedigtes Feld aus. Dasselbe wird
Tich-Dien oder „Acker des Königs" genannt, weil der
Herrscher jedes Jahr an einem bestimmten Tage hier mit
eigener Hand etliche Furchen pflügt. Der Akt geschieht im
Beisein des ganzen Hofes und unter feierlichen Opfern, um
dem Volke anschaulich darzuthun, daß der Ackerbau unter
allen Beschäftigungen des Menschen die höchste und edelste ist.
Eine wahrhaft blendende Pracht entfaltet der König bei
Gelegenheit der großen öffentlichen Audienzen. Dann sitzt
er auf dem roten, vergoldeten Throne, seine Füße stützen
sich auf kunstvolle Drachen, sein gelbes Seidengewand strahlt
von Diamanten und kostbaren Steinen. In der Hand führt
er das Elfenbeinscepter seines Geschlechts, aus der Brust
leuchten die mystischen Zeichen des Glücks, die chinesischen
Worte „Tausend Jahre und tausend Leben". Perlen und
Brillanten schmücken sein Haupt, kostbare Stickereien das
Kleid und vor ihm liegt im Staube das Heer der Manda-
rinen und Diener, die je nach Amt und Würden in seltsam
verzierten Röcken erscheinen. Auf den Gewändern der
Offiziere drohen goldene Tigerkopse, aus dem Leibrock des
Zivilbeamten schillert das Fabeltier Phong').
Allein des Königs Jahre mehren sich; er altert, krankt
und wird gebrechlich, bis das letzte Übel naht. Die Knust
der Ärzte ist vergebens, das Räucherwerk dampft nutzlos
ans den Hausaltären seines Volkes, kein Opfer hilft und
kein Gebet. Der König stirbt. Mit ernster Sorgfalt
werden alle Bräuche nach dem Totcnkultus Annams mit
dem Entschlafenen vorgenommen. Eine stolze Nekropole
kündet sein Gedächtnis; hier bringt der Erbe auf dem Thron
dereinst am Feste Nam-Giao dem Himmel seine Spenden
dar. Doch ruht des Fürsten Leib nicht unter jenem Riesen-
stcin mitten in dem Grabgebäude. Die N'Gnyens halten
seit der Rebellion des Nac die letzte Stätte ihrer Toten
sehr geheim. Als damals Gia-Long nach Siam flüchten
mußte, schändeten die Europäer selbst den Leichnam seines
Vaters, indem sie den Sarg aus der Erde risse» und die
Gebeine des Königs in den Fluß verstreuten. — Deshalb
macht jetzt der große Leichcnzug am Außcnthor der Nekro-
pole Halt, — nur etliche erprobte Diener betreten mit dem
Sarg den inneren Raum und senken an verborgener Stelle
ihren Herrn zur Gruft. * S.
I Der Phong, ei» dem Adler ähnlicher Vogel, gehört zu
den vier heiligen Tieren der Annamiten, Globus, Bd. LV1I,
S. 248 „
2) Über den Tolenrilus vergl. Globus, Bd. LVII, S. 249 ff.
und Bd. LVIII, S. 278 bis 280.
Das Gewohnheitsrecht der Samojeden.
von p. v. Stenin.
I.
Das Volk der Samojeden, welches im Norden des russi-
schen Kaiserreiches bis nach Lappland hin nomadisiert itnb
dessen Spuren der berühmte finnische Forscher M. A. Ea-
strem noch am Oberlaufe des Jenissei am ^chemischen Ge-
birge verfolgen konnte, interessierte die Ethnographen und
Linguisten zu allen Zeiten, das geht schon daraus hervor,
daß seit dem Erscheinen der klassischen Werke Castrdns,
„Die russischen Samojeden" und „Reisebriefe aus dem nörd-
lichen Rußland", eine Masse ethnographischen und ethno-
logischen Stoffes über die Samojeden sich aufgehäuft hat.
Eine gediegene Arbeit lieferte in jüngster Zeit die in ethno-
graphischen Kreisen einen guten Ruf genießende Frau
A. Efimenko unter dem Titel: „Juriditscheskije obyt-
sclia'i Loparei, Korelof i Qaniojedof“ (die Rcchts-
gebräuche der Lappländer, Korelier und Samojeden *). Wir
I In den „8api8ld der Kaiserl. russischen geographischen
Gesellschaft", Sektion für Ethnographie. Bd. VIII.
werden auf Grund dieser und einiger andrer Arbeiten in
folgendem das Gewohnheitsrecht der Samojeden des Gou-
vernements Archangelsk, d. i. derjenigen, welche ans dem
Raume zwischen dem Flusse Meseü, dem Uralgcbirge, dem
nördlichen Eismeere und der Grenze des Gouvernements
Wologda wohnen, zu schildern suchen.
So lauge die Samojeden noch Heiden waren, beob-
achteten sie streng die Sitte, sich Frauen nie aus demselben
Geschlechte in männlicher Linie zu nehmen, denn eine solche
Ehe war nach ihrer Ansicht eine Blutschande, dagegen durfte
inan die Schwester seiner eigenen Mutter zur Frau nehmen
oder zwei Brüdern war es erlaubt, zwei Schwestern zu
heiraten. Diese Sitte beobachtete in der Mitte unsers
Jahrhunderts Jsslawin unter den heidnischen Samojeden
der Bolschescmelskaja Tundra -). Auch herrscht bei den
2) W. Jsslawin, Die Samojeden in ihrem häuslichen und
öffentlichen Leben. 1817.
P. d. Stcnin: Das Gewohnheitsrecht der Samojede»
171
heidnischen Samojeden das Levirat: Der Bruder ist bei
ihnen sogar verpflichtet, die Witwe seines Bruders zur
Frau zu nehmen'). Der Vater hält sich in der Regel für
verpflichtet, seine verwitwete Schwiegertochter zu heiraten.
Weder der Vater noch der Bruder brauchen dabei den
Brantpreis zu bezahlen und bekommen noch obendrein die
ganze Aussteuer der Witwe. Sehr richtig bemerkt daher
der Akademiker Schrenck, daß zur Entstehung dieser Sitte
ebensowohl die Sorge um die Witwe und ihre Waisen, als
auch die billige Erwerbung der Frau beigetragen haben-).
Die Samojeden heiraten meistens sehr junge Weiber,
beinahe Kinder, und nie kommt es bei ihnen vor, daß ein
18- bis 20 jähriger Jüngling ans Gewinnsucht eine 60 jäh-
rige Frau heiratet, wie das bei den Lappländern so oft der
Fall ist I. Eaströn beschreibt eine samojedische Hochzeit,
der er beigewohnt hat und bei welcher die Braut nur
13 Jahre alt war2 * 4 * *), ja Schrenck schreibt sogar, daß Mütter
von 12 Jahren keine Seltenheit sind. Doch soll cs auch
vorkommen, daß bei den Heiden unmündige Knaben mit
erwachsenen Mädchen oder ganz kleine Mädchen mit Män-
neril im besten Mannesaltcr verheiratet werden I. Trotz-
dem bei den heidnischen Samojeden die Vielweiberei ge-
stattet ist, sieht man nur bei den Neichen zwei oder mehrere
Frauen, da das Heiraten mit großen Ausgaben verknüpft
ist. Die griechische Kirche, zu der die Mehrzahl der Samo-
jeden sich bekennt, hat noch wenig Einfluß aus das Leben
des Volkes, so z. B. feiern die getauften Samojeden die
Hochzeit nur dann, wenn sie recht viel Branntwein besitzen,
ohne Rücksicht darauf, ob es Fastenzeit oder andre nach
dem kanonischen Rechte der griechischen Kirche zum Heiraten
verbotene Zeit ist. Kirchlich werden die Brautleute nur
dann getraut, wenn sich in der Nähe eine Kirche befindet.
Nicht selten muß vor der Trauung der Eltern ihr Kind
getauft werden.
„Die Unentbehrlichkeit der Einwilligung der Eltern bei
der Ehe", sagt Frau Esimenko, „erklärt sich ans dem ganzen
Wesen der Eheschließung, welche von einer Seite Kauf, von
der andern Verkauf ist. Es ist klar, daß der junge Mann,
welcher in materieller Hinsicht von seinem Vater abhängig
ist, nicht ohne dessen Einwilligung die Ehe eingehen darf;
die Braut dagegen ist im vollen Sinne des Wortes eine
Ware"•'). Doch berichtet Wladimir Jsslawin, daß, wenn
auch selten, Fälle vorkommen, wo das Mädchen mit ihrem
Geliebten entflieht, wodurch ihre Eltern des Brautpreiscs
verlustig gehen 7 I). Der Vater des Bräutigams wählt
^'wohnlich ein Mädchen für seinen Sohn und schickt zu
ihren Eltern einen Heiratsvermittler (ewu, analog dem
ywat der Russen), in der Regel einen Verwandten. Der
Heiratsvermittler hält in der Hand einen Ladestock oder
einen Haken, an dem der Kessel im Tschnm (Zelte) hängt.
Im Tschnm des Vaters der Anserwählten angekommen,
legt er demselben das Fell eines roten oder dunkelbraunen
Fuchses, je nach den Mitteln des Bräutigams, in den
Schoß. Ist der Vater des Mädchens gewillt, seine Tochter
dem Betreffenden zur Frau zu geben, so behält er das Fell,
widrigenfalls sendet er sofort dasselbe zurück. Hat der
Vater der Braut das Geschenk behalten, so begiebt sich der
0 Archiinandrit Benjamin, Die Samojeden von Meseü.
161!).
2) Schrenck. Reise nach dem Nordosten des Europäischen
Rußlands durch die Tundren der Samojeden.
Archangelskija gubernskija wjedomosti. 1861.
Ne. 39.
4) Castro», Tie russischen Samojeden.
6) Akademiker Lepechin, Reisetagelnich.
"j A. I. Esimenko, Die Rechtsgebräuche der Lappländer,
Kvrelicr und Samojeden.
7) W. Jsslawin, Die Samojeden rc.
Heiratsvermittler mit dem Bräutigam zu demselben. Der
Bräutigam betritt den Tschnm seines künftigen Schwieger-
vaters so lange nicht, bis der Heiratsvermittler den Brant-
preis mit dem Vater des Mädchens festgestellt hat; bei
diesem Handel wird kein Wort gesprochen, sondern der
Heiratsvermittler überreicht dem Vater des Mädchens einen
mitgebrachten Kerbstock; der letztere macht darauf so viele
Einschnitte, wie viele Renntiere, Polarfuchsfelle rc. er für-
feine Tochter verlangt und giebt ihn dem Heiratsvermittler-
zurück. Übersteigt das Vorschlagen die Mittel des Bräuti-
gams, so schneidet der ewu einige Einschnitte ab. Beharrt
der Vater bei seinem Preise, so geht er hinaus und pflegt
mit dem Bräutigam Rat. Sind die beiden Parteien end-
lich einig, so legen sie ihre Stempel auf den Kerbstock ans
und spalten denselben in zwei Teile, von denen die eine
Hälfte der künftige Schwiegervater, die andere der Bräuti-
gam erhält. Nach dem Abschluß des Handels betritt der
Bräutigam den Tschnm seiner Braut; ist der Handel nicht
zustande gekommen, so entfernt er sich, ohne sich dem Vater
des Mädchens gezeigt zu haben I. Als Aufgeld giebt dcr
Bräutigam seinem Schwiegervater einige Renntiere. Wenn
der Bräutigam ans irgend welchem Grunde das Mädchen
nicht heiratet, geht das Aufgeld für ihn verloren; wenn da-
gegen der Vater des Mädchens ihm seine Tochter verweigert,
muß derselbe für eine solche Beschimpfung dem Bräutigam
das doppelte Aufgeld zurückerstatten. Einige Zeit daraus
fährt der Vater der Braut znm Bräutigam, um den Braut-
preis in Empfang zu nehmen. Der Bräutigam giebt ihm
jedoch nicht alles, sondern nur die Hälfte oder zwei Drittel
von der anöbednngencn Summe, der Rest bleibt bis znr
Übersiedelnng der Braut in seinen Tschnm.
Die Hochzeitsgebränche der Samojeden sind sehr einfach
lind bestehen im wesentlichen in einem gewaltigen Trink-
gelage. Ohne Branntwein ist eine samojedische Hochzeit
undenkbar. Beim Freien wird gewöhnlich ausgemacht, wie-
viel Branntwein jede Partei zu geben hat. Ärmere Leute
kaufen nicht mehr als zwei Eimer Branntwein, itub dabei
sind 10 bis 15 Gäste, die Reichen dagegen stellen 10 und
mehr Eimer auf. Alle ohne Unterschied des Geschlechts
trinken Branntwein und sehr bald artet das Fest in eine
allgemeine Schlägerei ans. So ungefähr beschreibt Eastreu
einen samojedischen Hochzeitsschmaus: Bei unsrer Ankunft
im Hochzei.tstschum waren einige Gäste schon besinnungslos
betrunken, einige lagen draußen auf dem Schneehaufen ohne
Mützen und der Schnee bedeckte ihre Gesichter. Da kam
ein Betrunkener ans dem Tschnm heraus und suchte seine
Frau, bis er sic fand und, neben ihr sich aus den Schnee
niederlegend, schlief er bald ein. Ein andrer Samojede lief
suchend mit einer Kaffeekanne umher; er fand zuletzt seine
total betrunkene bessere Hälfte und goß ihr aus der Kaffee-
kanne etwas Branntwein in den Mund hinein. Der am
meisten Betrunkene unter der Gesellschaft war der Bräutigam
selbst. Als ein Renntier geschlachtet war, wurde ihm der
Banch aufgeschlitzt und es auf den Rücken gelegt. In seinem
Innern schwammen im warmen Blute Stücke von Lnnge,
Leber und andre Leckerbissen. Die Hochzeitsgäste stürzten,
mit langen Messern bewaffnet, auf den Kadaver und ver-
schlangen die noch bluttriefenden Fleischstücke mit wahrer
Gier; Blut floß ihnen am Bart und Halse hinab. Während
dieses scheußlichen Mahles sangen die Mädchen samojedische
Lieder von schönem poetischen Inhalt, der Melodie nach aber
an das Quaken der Frösche erinnernd. Plötzlich erschien
ein fremder Samojede, der auch am Feste teilnahm, doch
auf den Wunsch des Gastgebers vor die Thür gesetzt wurde.
Augenblicklich entstand eine riesige Schlägerei, wobei der
I Al. A. Custren in der Zeitschrift „Qowremennik“ 1845.
22*
172
P. v. Si enin: Das Gewohnheitsrecht der Samojeden.
Vater des Bräutigams sich mit dem Heiratsvermittler
prügelte. Überall sah man zerbrochenes Geschirr und Leute,
welche einander an den Haaren rissen und mit Fäusten, ab-
genagten Knochen re. einander wacker bearbeiteten. Sobald
der Branntwein zu Ende ist, endigt auch die Feier und die
Hochzeitsgäste mit blangeschlagcnen Augen und verstümmelten
Gesichtern begeben sich noch Hause H.
Die Hochzcitsbränche der Samojeden beschreibt der Aka-
demiker Lepechin folgendermaßen: „Der Bräutigam begiebt
sich mit seinen Freunden und Verwandten zu seiner Braut.
Alle gehen in den Tschum unter Verantritt des Heirats-
vermittlers hinein. Die zu beiden Seiten des Eingangs
sitzenden Weiber versuchen ihnen den Eingang zu verwehren.
Der Heiratsvermittler beschenkt sie mit Tnchfetzcn und andern
Kleinigkeiten, worauf sie ihn und seine Begleiter hereinlassen.
Alle setzen sich nieder und das Fest beginnt. Der Haus-
wirt erdrosselt ein Renntier, sein Fleisch wird gekocht und
seine Haut erhält der Heiratsvermittler. Alle Anwesenden
werden reichlich mit Branntwein bewirtet; der erste Becher
gebührt dem Heiratsvermittler, dann bekommen die Braut-
leute und alle übrigen Gäste nach dem Range und Ansehen.
Einige Fleischstücke werden gemeinschaftlich von den Braut-
leuten verspeist. Nach dem Essen fahren alle nach Hause,
nur der Bräutigam bleibt mit der Braut zusammen, ohne
jedoch von seinen ehelichen Rechten Gebrauch zu machen.
Am folgenden Tage begiebt er sich in seinen Tschum und
schickt seine Mutter oder die älteste unter seinen weib-
lichen Verwandten nach der Braut. Die Eltern derselben
bespannen zwei zusammengebundene Schlitten mit Renn-
tieren (je einem von jeden 10 Stück des Brantpreises), ein
Renntier noch besonders für den Kessel, den der Bräutigam
ihnen zugeschickt hat, zugebend, legen ans die Schlitten die
Aussteuer ihrer Tochter und fahren die Schwiegermutter
und die Braut zu dem Bräutigam. Sobald sie dem Tschum
des letzteren sich nähern, müssen sie zwischen zwei Reihen der
weiblichen Verwandten und Bekannten des Bräutigams
fahren. Diese eilen zum Schlitten der Braut und rufen
ihr zu: „Warum liegst du? Sitze gerade: dein Vater
lebt und deine Mutter lebt!“ Dann berühren sie ihr
Gesicht mit den Worten: „Das Gesicht ist hübsch!"
Aus diese Weise umkreisen sie mit der Braut den Tschum
dreimal, dann führt die Schwiegermutter die Braut dem
Sohne zu und damit erreicht die Hochzeit ihr Ende. Von
nun an schlafen die Eheleute zusammen, natürlich, wenn sie
schon erwachsen sind, sonst müssen sie die Geschlechtsreife
abwarten 1 2).
Ein andrer moderner Kenner der Samojeden, W. Is-
st awin, beschreibt die Hochzeitsbränche etwas anders: „Nach
dem Feste, wenn die Dunkelheit eintritt, verlassen die Hochzeits-
gäste den Tschum, darin nur den Bräutigam mit seiner Braut
zurücklassend. Nach Mitternacht verläßt auch der Bräutigam
den Tschum, wobei er unbemerkt seinen Schlitten anspannen
und abfahren muß. Am andern Tage setzen der Heirats-
vermittler und der Vater der Braut den Tag der Hochzeit
fest. Am bestimmten Tage fahren der Bräutigam und seine
Freunde zu der Braut, in deren Tschum ihre Verwandten
schon versammelt sind imb die Thür von innen halten, da-
durch den Angehörigen des Bräutigams den Eintritt ver-
wehrend. Der Heiratsvermittler muß den Eintritt in den
Tschum mit dem Felle eines gewöhnlichen Fuchses oder eines
Polarfuchses, je nach dem Reichtum des Bräutigams, er-
kaufen. Im Tschum lassen sich alle nieder und der Bräuti-
gam neben der Braut. Nach der Bewirtung mit rohem
Nenntiersleisch und Branntwein setzt sich die Braut in
0 Castrvn in „Qowremennik“ 1846.
2) Lepechin, Das Reisetagebuch.
einen mit buntfarbigem Teppich bedeckten Schlitten, an
welchen mehrere andre mit ihrer Aussteuer angebunden
werden, und führt zuerst um den Tschum ihrer Eltern, dann
dreimal und möglichst schnell um den ihres Bräutigams,
wobei seine weiblichen Verwandten und Bekannten, welche
sich in zwei Reihen aufgestellt haben, sie mit Freuden-
geschrei begrüßen. Die Schwiegermutter führt daraus die
Braut dem Sohne zu und damit ist die Hochzeit zu Ende" ').
Der Brautpreis ist immer sehr bedeutend und richtet
sich natürlich nach dem Reichtum des Bräutigams lind nach
den Vorzügen und der Schönheit der Braut. Nicht ohne
Einfluß auf die Höhe des Brantpreises ist selbstverständlich
die Schönheit der Braut. Als Ideal der weiblichen Schön-
heit wird in einem samojedischen Liede ein Mädchen besungen,
welches „kleine Äuglein, breites Gesicht mit der an die
Morgenröte vor dem Gewitter erinnernden Röte, gerade
Nase und nach auswärts gekehrte Füßchen" hat. Die
Reichen zahlen für die Braut 100 bis 200 Renntiere,
100 bis 200 Felle von Polarfüchsen, 1 bis 2 Felle von
dunkelbraunen Füchsen oder 10 von Rotfüchsen, 21 Fuß
feines rotes, blaues oder gelbes Tuch, und einen kupfernen
Kessel, die Armen dagegen 10 bis.20 Renntiere oder bares
Geld zwischen 7 und 15 Rubel. Eine Witwe, die sich zum
zweiten Male verheiratet, wird nicht so hoch geschätzt.
Als Ersatz für den Brautpreis bekommt die. Braut von
ihren Eltern eine Aussteuer, welche ans einem Tschum mit
Zubehör, Kleidern, Brot, Butter, Nenntiersleisch, Betten,
Decken re. und außerdem Renntieren, je einem von jedem
„Zehner" -) des Brantpreises besteht. Der Bräutigam er-
hält von seinem Schwiegervater zwei Schlitten mit Kleidern
und Jagd- und Fischercigerütcn zum Geschenk. Auch hat
die verheiratete Tochter das Recht, am Ende eines jeden
Jahres von ihren: Vater ein Renntier zu verlangen. Die
Anssteuer gehört nicht der Frau, sondern dem Manne.
Stirbt die Frau kinderlos, so wird ihre Aussteuer ihrem
Vater oder denjenigen Verwandten, welche ihre Vormünder
waren, zurückgegeben, der Brantprcis wird aber dem Mann
zurückerstattet. Hinterläßt die verstorbene Frau Kinder, so
bleibt ihre Aussteuer dem Manne, damit er sie ernährt und
erzieht. Die verheirateten Frauen haben äußerst wenig
Eigentum; nur die Renntiere, welche der verheirateten Frau
ihr Vater zum Geschenk macht, gehören ihr und ihr Stempel
wird ihnen eingebrannt. Bei reichen Männern darf die
Frau manchmal die Haut eines jungen Renntieres, von ihr
selbst verfertigte Schuhe (pimy) oder die Haut von den
Füßen eines Renntieres (kamussy) verkaufen und das dä-
dnrch gewonnene Geld für sich behalten. Dabei arbeitet die
Frau am meisten.
Die heidnischen Samojeden betrachten die Ehe als eine
temporäre Verbindung, welche jeder Zeit ans den Wunsch
eines der Eheleute leicht gelöst werden kann. Sobald der
Blaun seine Fran der Untreue verdächtigt oder ans irgend
welchem Grunde mit ihr unzufrieden ist, schickt er sie einfach
zu ihren Eltern zurück, manchmal verfolgt er seine Fran,
bis dieselbe zur Verzweifelung gebracht, sich unter Mitnahme
ihrer Aussteuer zu ihren Eltern flüchtet. Hat sie keine
Eltern, so zieht sie in solchem Fall von einem Tschum zun:
andern, sich durch Bettelei ernährend. Schickt der Mann
seine Frau ihren: Vater zurück, so behält der Vater der
Frau die als Brautpreis bezahlten Renntiere; verläßt da-
gegen die Fran ihren Mann aus freien Stücken, so muß
ihr Vater dem Schwiegersohn die von ihm erhaltenen Renn-
1) W. Jsslawin, Die Samojeden rc.
2) Es sei hier nebenbei bemerkt, daß der Samojede immer
nach 9 rechnet, wenn er auch von 10 redet, so bedeutet
z. B. 10 x 10 — 81 (9 x 9) und nicht 100. (A. Efimenko,
Die Rechtsgebräuche rc.)
P. v. Stcn in: Das Gewohnheitsrecht der Samojeden
173
ticre zurückerstatten *). Doch bleibt die Aussteuer der Frau
in beiden Fällen von rechtswegen bei ihrem Gatten -). Die
getauften Samojeden kennen keine Ehescheidung, weil dieselbe
in der griechischen Kirche mit großen Schwierigkeiten ver-
knüpft ist. Der Chef der Uralexpedition, Hoffmaun, berichtet,
wie er oft angegangen wurde, die ehelichen Zwistigkeiten zn
schlichten, so bat z. B. eine von ihrem Manne verstoßene
Samojedin, welche bei ihren Verwandten am Flusse Kara
wohnte, den Begleiter des Reisenden, den Syrjanen Tschnp-
rofs, Hoffmaun zn ersuchen, diese heikle Familienangelegenheit
zu regeln. Unter Androhung, daß, falls er dem Befehle
des Reisenden nicht unbedingt gehorcht, er leicht die Bekannt-
schaft des Gefängnisses in Niesen machen wird, wurde der
samojedische Don Inan dazu gebracht, seine neue Geliebte
zu entlassen und seine verlassene Gattin mit ihren Kindern
wieder zu sich zn nehmen. Am Flusse Oio trat vor Hoff-
mann eine getaufte Samojedin und bat ihn um Erlaubnis,
sich von ihrem Manne scheiden zu lassen, da er ein notorischer
Dieb und Schuft sei, und sie und die Kinder beständig miß-
handle, außerdem, fügte die samojedische Schöne hinzu, wolle
sie schon lange ein andrer Mann zur Frau nehmen, llber-
hanpt schreibt dieser Forscher die große Abneigung der
Samojeden gegen das Christentum der Furcht zu, unauflös-
bare Ehen schließen zn müssen, ilc'och vor der Ehe ist der
Verkehr der beiden Geschlechter zügellos und ein Mädchen,
welches keine Kinder hat, wird mit Mißtrauen betrachtet3).
Die heidnischen Samojeden haben weder Familien- noch
Taufnamen, sondern nur Beinamen, welche die Eltern nach
den Eigenschaften oder Gebrechen des Kindes, nach den
Ereignissen bei dessen Geburt rc. ihrem Kinde geben, so
z. B. die männlichen Beinamen: Atschekan (das Kind),
Nentschyiko (der Mensch), Tarko (der Behaarte), Barmi
(der Schwarze), Watalja (der Überflüssige), Njaruei (der
Weiße), Jargad (der Greiner), Chanju (der Frierende),
Tagana (der Kränkliche), Carmik (der Wolf), Teneko
(der Fuchs), Mjus (der Wagenzng), Paiga (die Moräne,
salmo corregonus), Nemsja (der Deutsche 4), u. s. s. Die
weiblichen Beinamen sind: Qolone (die Dumme), Njukze
(das Kindchen), Njeko (die Dirne), Piribtje (die Jungfrau),
Maida (die Lahme), Jantschei (die Schielende) n. s. w.
Die getauften Samojeden tragen in der Regel zwei Namen,
den christlichen Taufnamen und den einheimischen Beinamen.
Der heidnische Samojede, wenn er reich ist, rechnet es sich zur
hohen Ehre von einem Russen einen Namen zn erhalten, er
hält denselben für seinen Taufpaten und macht ihm jedes
Jahr das beste Renntier seiner Herde zum Geschenks. In
offiziellen Papieren werden die getauften Samojeden meist
nur mit dem Taufnamen und dem Patronymikum, manch-
mal mit dem Familiennamen und sogar nach dem Geschlecht
oder der Horde genannt, z. B. Iwan Wassiljefs, Peter
Michailoff Ardejeff, Grigorij Wassiljefs ans dem Wyntschei
geschlechte, Sawwa Chatansci — Tißji, Logeiskaja (d. h. aus
dem Logeigeschlecht).
Die Samojeden leben gewöhnlich vereinzelt, und, wenn
auch häufig die Eltern mit ihren Kindern nur eine Familie
bilden, was die Ernährung, gemeinsame Arbeit, Renntiere
anbelangt, bewohnen sie doch besondere Tschnms. Sehr
selten hört man von einer so zahlreichen beisammen-
wohnenden Familie, wie P. Esimcnko berichtet, die aus
l 1 Personen bestand: aus dem Manne und seiner Frau,
1) Lcpechin, Das Reisetagebuch.
2) Schrenck, Reise rc.
ch Hoffmaun, Der nördliche Ural und das Küstengebirge
Pos-Choi.
4) 'Dem finnischen Gelehrten Caströn zu Ehren, welcher
im Petschoragebict für einen Deutschen galt.
5) W. Jsslawi», Die Samojeden rc.
seinem Schwager mit der Frau, seiner Schwester mit
ihrem Manne und den Kindern l). Die Eltern genießen
bei den Samojeden große Verehrung 2), sie sitzen im Tschnm
auf dem Ehrenplätze zur Rechten des Feuerherdes, die
Kinder dagegen links von demselben 3). Der Vater ver-
waltet in der Regel das gesamte Familienvermögen, doch
besitzen auch die noch nicht abgefundenen Söhne ihr Privat-
eigentum, welches sie vollkommen nach ihrem Gutdünken
verwenden können4). Nach dem Ableben des Vaters geht
die Herrschaft in der Familie auf den ältesten Bruder über;
versteht derselbe die Wirtschaft nicht zn führen, so geht die
patria potestas auf einen der jüngeren Brüder über, der am
meisten Fähigkeit gezeigt hat. Wie oben schon betont wurde,
arbeitet bei den Samojeden am meisten das Weib. Sie
muß den Tschnm aufstellen, Erde und Moos oder Schnee
rund um den Tschnm legen, den Boden in demselben mit
Matten aus geflochtenen Birkenruten bedecken und darüber
Nenntierhäute ausbreiten, das Essen zubereiten, Brenn-
material sammeln, Wasser tragen, Renntierhäute bearbeiten,
Pelze und Kleider nähen, ja sogar ihrem Manne bei der
Seehundsjagd und dem Fischfang behilflich sein5 6). Die
Männer dagegen verbringen ein paar Wochen im Sommer
ans der Gänsejagd und mit dem Fischfang, im Winter
revidieren sie ab und zu die von ihnen für Polarfüchse auf-
gestellten Fallen, die übrige Zeit bringen sie vor dem Feuer
sich wärmend im dolce far niente zn(i). lind trotzdem
das Weib am meisten zum Wohlstände der Familie beitrügt,
genießt sie gar kein Ansehen. Die samojcdischen Weiber
sind die unglücklichsten und Verachtetesten Geschöpfe, sie
gelten für unrein und müssen sich vielen lästigen Verboten
fügen, so dürfen sie den Qhtifut (die heilige Stätte der
Thür gerade gegenüber, wo das Götzenbild sich befindet) nie
betreten, sonst geschieht irgend ein Unglück, und der Cintfitt
muß dann gereinigt werden, indem man dahin eine glühende
Kohle wirft, denn das Feuer reinigt nach der Ansicht der
Samojeden alles7). Sie dürfen auch nicht das Feuer über-
schreiten und überhaupt jede Sache, über welche ein Weib
schreitet, wird unrein und muß mit Renntierfeit oder Haide-
krant beränchert werden. Kommt einem heidnischen Samo-
jeden, welcher auf seinem Schlitten Götzenbilder fährt, ein
Weib entgegen, so kehrt er um und macht lieber einen Um-
weg. Das Bett, worauf das Weib schläft, und sogar der
Schlitten, worauf dasselbe fährt, gelten für unrein, so er-
zählt von Middendorfs, daß, als er ans Versehen seinen
Kompaß aus einen Weiberschlitten legte, der Samojedenfürst
entsetzt ausrief: „Ein Weiberschlitten! du sündigst furchtbar
gegen deinen Götzen" 8). Seine samojedische Erlaucht hielt
den Kompaß für eine fremde Gottheit. Das Weib darf
nicht durch ihre Gegenwart den Tschnm entweihen, in welchem
der Tadibei (Schamane) seine Schellentrommel (penser)
verfertigt. Sie darf nicht einem Opfer beiwohnen oder
vom Fleische des Opfertieres essen, ebenso darf sie nicht das
Götzenbild berühren und das Fleisch derjenigen Tiere genießen,
welche die Samojeden für heilig halten, wie z. B. des Bären.
4) P. E. Esimcnko, Sammlung der Rcchtsgebräuche des
Gouvernements Archangelsk.
2) Ganz vereinzelt steht der Fall da, das; 1837 ei» Samo-
jede seine alte und schwache Mutter ermordete und aufgefressen
hat, wofür er in die Arrestantenkompagnie in Tobolsk eingereiht
wurde. (Schaschkosf, Die Samojeden von Archangelsk und die
Syrjanen 1873.)
3) Eaströn in „Qowremennik“ 184(1.
4) Caströn in „yowremennik“ 1845.
5) Lcpechin, Das Reisetagebuch; Jsslawi», Die Samojeden.
6) Schrenck, Reise rc.
7) Jsslawi», Die Samojeden rc.
8) v. Middendorfs, Die Reise nach dem Norden und Osten
von Sibirien.
174
Nicolaus Cujas Karte von Deutschland 1401. — Eine Mailänder Hexcngeschichte 1801.
Geht das Weib der heidnischen Samojeden durch einen
heiligen Hain, so bringt sie für solche Entweihung des
Heiligtums Sühneopfer dar, indem sie einen Fetzen von
ihrem Kleide, einen Knopf oder eine andre Kleinigkeit an
einen Baumast aufhängt.
Für besonders unrein gilt die Wöchnerin. Für sie wird
ein besonderer Tschum (cjamai mjadiko = das unreine
Zelt) aufgestellt. Diesen Tschum darf kein Mensch außer
der Wöchnerin und der erfahrenen alten Frau, welche die
Rolle der Hebamme spielt, betreten. Die Wöchnerin und
die Hebamme dürfen nicht eher diesen Tschum verlassen, bis
sie sich mit der Lange aus Birkenschwämmcn gewaschen
haben. Sind die Leute nicht imstande, einen besondern
Tschum für die Wöchnerin zu errichten, und sie kommt in
dem gemeinsamen Tschum nieder, so muß dann die Hebamme
den ganzen Tschum und alte Bewohner desselben mit der
Lauge aus Birkenschwäinmen besprengen. Acht Wochen
lang nach der Niederkunft wird die Wöchnerin für so unrein
gehalten, daß sie nicht einmal mit ihrem Mann zusammen
speisen darf. Nach acht Wochen wird sie mit Renntierfett
oder Haidekrant berttuchert und dadurch gereinigt. Kommt ein
Weib unterwegs auf einem Schlitten nieder, so wird derselbe
verbrannt, die vorgespannten Renntiere werden geschlachtet und
deren Fleisch wird den Hunden vorgeworfen I. Wird ein
Renntier geschlachtet, so essen zuerst die Männer sich satt,
und, wenn noch Fleisch übrig geblieben ist, so dürfen cs die
Weiber essen 2). Als Castro» einer samojedischen Hochzeit
beiwohnte, gelang es ihm nur nach langem Zureden, den
Gastgeber dazu zu bringen, die Begleiterin des Reisenden,
die Frau eines Pfarrers, zum Thee einzuladen ch. Wenn
der Mann Branntwein trinkt, muß seine Frau, welche eben-
falls leidenschaftlich den Branntwein liebt, ruhig zusehen und
geduldig abwarten, bis der Mann ihr ein paar Tropfen von
diesem Nektar zukommen läßt. Hat ein heidnischer Samo-
jede mehrere Frauen, so müssen sie ihn abwechselnd bedienen,
obgleich die erste Frau einen gewissen Vorzug hat. Die an
der Reihe befindliche Frau muß den Tschum in Ordnung
bringen, die Betten aufmachen, ihren Herrn und Gebieter
an- und auskleiden, seine Schuhe (ljupty) trocknen rc. Die
Zeit, daß eine Frau an der Reihe ist, dauert gewöhnlich
eine Woche H.
Nicolans Cusas Karte vvu Deutschland 1491.
Nicht bloß das britische Museum, sondern auch das ger-
manische Museum in Nürnberg bewahrt ein Exemplar dieser
als Beilage zu Nr. 1 des „Globus" gebrachten ersten Karte
von Deutschland. Sie ist dort, wie ich mich bei meinem
letzten Besuche des Museums überzeugt habe, im ersten Stock,
den alten Globen gegenüber, ausgestellt, und trägt zwar die
allgemeine, für die Mnsenmsbesuchcr berechnete Bezeichnung
„Deutschland 1491", aber ohne den Namen Cnsas zu er-
wähnen. Das Blatt ist wunderbar schön erhalten, voll
kommen rein und klar im Stich, so daß ich nur bedanre,
von dem Vorhandensein dieses Exemplares so spät erst Kennt-
nis erhalten zu haben. Eine Kopie nach diesem Blatte
wiirde wert schmucker ausgefallen sein, als die nach dem unter
der Last der Jahre und des Staubes schwarz gewordenen
englischen Exemplare gelieferte. Auch die nach meinem Auf-
sätze im „Globus" noch vermißte, von Pentinger besorgte
Kopie hat sich inzwischen gefunden. Durch eine Mitteilung
in der Beilage zur „Allgemeinen Zeitung" (1891, Nr. 192, * 2 * 4
9 Lcpechiii, Das Reisetagebuch.
2) Jtzslawin, Die Samojeden rc.
s) Castran in „Qowremermik“ 1846.
4) Nach dem Berichte der Kommission zur Ersorschung des
Petschoragebiets.
Beilagenummer 160) aufmerksam gemacht auf die karthogra-
phischen Schätze der Plankammer in München, fand ich im
Katalog des Hauptkonservatorinms der Armee zu München
(München 1832) auf S. 123 folgende Karte beschrieben:
Germania . tota . tabella . communi . erudit . utilitati .
Chuonradus . Peutinger . Augustan . jure . cons . arche-
typum . aen . pecimia . sua . emptum . Joan . Burgk-
mai r . pictori . muDicipi . suo . et . de . S . E . B . M .
imprimend . concessit. Quod picta est parva etc.
Eystat 1491. Daraus ist ersichtlich, daß Pentinger sein
käuflich erworbenes Exemplar der Originalkarte durch Hans
Burgkmair kopieren und neu stechen ließ. Münsters Ver-
mutung, daß der in meinem Aufsätze genannte schweizer
Buchdrucker die Kopie besorgt habe, bestätigt sich danach nicht.
Es ist erfreulich, daß sich von Cusas Karte sowohl
Original als Kopie in Deutschland erhalten haben.
R u g e.
C'lne Mailänder Hexengeschichte 1891.
Da Sie im „Globus" wiederholt auf Volkskunde bezüg-
liche Nachrichten gebracht haben, übersende ich Ihnen hier
die Schilderung einer Hexengeschichte, welche in diesem Sommer
sich hier ereignete und viel Aufsehen erregte. Es genügt
tvohl die einfache Anführung der Thatsache, zu der jeder sich
selbst leicht den Kommentar machen kann.
Im vierten Stock eines bescheidenen Hauses der Via
Ñipa Porta Ticinese Nr. 61 wohnte der Anstreicher Mulatera
Franeiosi mit seiner Frau Virginia, einer Handschuhmacherin
und deren zwei Kindern, von denen das eine schon längere
Zeit krank war. Eine Nachbarin, die vorgab, von Krank-
heiten etwas zu verstehen, erklärte, daß das Kind behext sei.
Priester und Arzt konnten hier nichts mehr helfen; nur allein
die Entdeckung der bösen Hexe würde das Kind von seinen
Qualen befreien und hierzu wisse sie Rat. Folgendes riet
sie den Eltern: „Nehmt die Kleider des kranken Kindes,
legt sie in einen großen Kessel voll Wasser und kocht sic darin.
Sobald das Wasser zu kochen beginnt wird die Hexe durch
unsichtbare Kraft angezogen werden, sic muß erscheinen und
ihr habt die Übelthäterin."
Die Eheleute Franeiosi befolgten sofort den Rat, in der
Hoffnung, ihrem kranken Kinde damit zu helfen. Da wollte
es der Zufall, daß gerade, als das Wasser im Kessel zu kochen
begann, eine gewisse Angela Micheletti, 34 Jahre alt,
ivvhnhaft Via Tortona Nr. I I, die Frau eines Handarbeiters
und damals im siebenten Monate schwanger, bei den ihr be-
freundeten Franeiosi vorsprach, um sich nach dem Befinden
des Kindes zu erkundigen. Ihr Erscheinen versetzte die Ehe-
leute Franeiosi, welche sofort in der Micheletti die gesuchte
Hexe erkannten, in Wut und trotzdem diese ihre Unschuld be-
teuerte und die Leute zu besänftigen versuchte, begannen sie zu
brüllen: Zur Hilfe, wir haben die Hexe! Sofort
war die ganze Nachbarschaft auf den Beinen und ohne weiter
zu fragen, stürzten alle sich über das arme Weib Micheletti
her, das geschlagen und getreten wurde und sieh flüchtete,
„llalli alia strega“ (braus, gebt es der Hexe) — mit diesem
Rufe stürzte die Menge hinter dem gehetzten Weibe her,
welches sich in die Kirche Santa Maria bei Naviglio flüchtete,
wohin ihr die Wütenden folgten, um sie zu zerreißen. Das
unglückliche, am Hochaltar kniecnde Weib flehte um Gnade —
umsonst, die wütenden Megären rissen ihr das Haar aus,
traten sie und schlugen sie, bis der Priester herbeikam, der
aber auch umsonst sich den Tobenden entgegenstellte und selbst
bedroht wurde und sich zurückziehen mußte. Der Haufen
ergriff nun die Micheletti und schleppte sie unter fortwähren-
dem Schreien und Schlagen zur Wohnung der Franeiosi
zurück, die vier Treppen hinauf zu dem kranken Kinde. Was
Aus allen Erdteilen.
175
hier mit ihr geschehen sein würde, läßt sich nicht sagen;
aber zum Glück erschien noch die Polizei mit dem Delegaten
Omodei an der Spitze, um die halbtot Gemißhandelte zu
befreien, die dann schwer krank zu Bette lag. Außer dem
gerichtlichen Nachspiele hatte diese Geschichte noch ein andres:
Die Weiber, welche in der Kirche der Micheletti die Haare
ausgerauft hatten, verbrannten dieselben unter besondern
Beschworungsgesängen, wodurch dem kranken Kinde geholfen
sein sollte.
Mailand, 1. August 1891. F. Bürkli-Wyß.
Ans alten
— Birma. Der kleine Shanstaat Kaiamtschaing
ist, wie der Mandalay Herold meldet, unter britische Ober-
hoheit gestellt worden. Derselbe dehnt sich zu beiden Seiten
des Mekong aus und über den östlichen Teil behauptete bis-
her Siam Hoheitsrechte zu besitzen.
— Statistik der evangelischen Missionen (1889):
I. Asien.
Vorderasien.... Britisch Indien . . Nieder!. Indien . . China Japan 43 000 Heidenchristen *) 700000 185 000 75 000 45 000
II. Afrika: Sa. 1 048 000
Nordafrika .... Westafrika .... Südafrika .... Ostafrika Afrik. Inseln . . . 6 500 Heidenchristen 115000 355 000 6 000 300 000
III. Ozeanien: Sa. 782 500
Australien .... Neuseeland .... Melanesien .... Mikronesien.... Polynesien .... 800 Heidenchristen 25 000 18 500 10 000 228 000
IV. Amerika: Sa. 282 300
Grönland ». Labrador Nordain. Indianer . Westindien .... Centr.-u. Südamerika 10 000 Heidenchristen 130 000 407 000 140 000
Sa. 687 000
Gesamtsumme 2 799 800
Ans die deutschen Missionen kommen von dieser Gesamt-
summe 232 714. Die Zahl der sämtlichen evangelischen
Missionare (ordinierte und nicht ordinierte) beträgt zirka
4000, die der selbständigen weiblichen Mitarbeiterinnen zirka
1400. Deutsche Missionare sind 561. Die Gesamt-
einnahmen der evangelischen Mission betragen zirka
40 Mill. Mark. Die Hanptbeiträge kommen auf England
und die Vereinigten Staaten. Deutschland liefert zirka
3 Mill. (inkl. Schweiz).
Mitarbeiter ans den Eingeborncn (Pastoren, Evange-
listen, Katechisten, Lehrer) zählt die evangelische Mission
zirka 30 000; Schulen aller Grade 14000; Schüler
und Schülerinnen zirka 750 000. W—k.
Z Die evangelische Mission zählt nur die aus den E i n -
geborncn (Heiden) gewonnenen Christen; die katholische giebt
stets die katholische Bevölkerung (also inkl. Kolonisten rc.).
Erdteilen.
— Die Jndianerstämme Guayanas. „Es giebt
fast keine Indianer in Guayana mehr", ist ein häufig gehörtes
Wort. Dagegen wendet sich jetzt (Bull. Soc. de geogr.
1891, p. 116) der gründliche Kenner des Landes, H. Con
drean. „Für mich", sagt er, „giebt es heute in unsrer.Kolonie
(Französisch-Guayana), wenn nicht mehr, doch sicher ebenso
viele Indianer als zur Zeit der Entdeckung. Kein einziger
Stamm ist ganz ansgestorben; nur die alten Völkerschaften
haben sich mehr oder minder untereinander verbunden; sie
haben sich vermischt, wieder zersetzt n. s. w., haben mit einem
Wort im Verlauf von drei Jahrhunderten die verschiedensten
ethnographischen Wandlungen durchgemacht, aber sie sind nicht
verschwunden. Sich selbst überlassen, haben sie Zeit gehabt,
ihre Kriege untereinander auszufechten und einander zu ver-
zehren; aber sie verringerten sich nicht an Zahl; denn die Ver-
mehrung bei den Siegern glich den Verlust bei den Besiegten
ans. Nur die Stämme, die sich vor den fremden, weißen
Eindringlingen an der Küste zurückziehen mußten, haben sich
in die Gebirge im Innern und an die oberen Zuflüsse der
Hauptströme zurückgezogen. Das alles und ein zweijähriges
Reiseleben, der Besuch von 30 Stämmen, sowie das Studium
der alten Quellen bestätigen mich in meiner Ansicht."
Condreau zählt 53 Stämme in Französisch-Guayana ans,
von denen 16 an der Küste und 37 im Innern lebten und
leben. Heute sind davon noch 18 bekannt, in denen die
übrigen aufgegangen sind. Sie wohnen zwischen dem Äquator,
dem Maroni - Tapanahoni, dem Meere und dem 58. Grad
westl. L. von Paris. Ihre Zahl schätzt Condreau ans 50000.
— Die Sterblichkeit unter den indischen Mekka-
pilgern ist eine ganz ungewöhnlich hohe; über ein Drittel
der Pilger, welche Bombay verlassen, kehrt nie wieder zurück.
Von 1885 bis 1890 verließen 64 638 Pilger Bombay und
22 449 kamen nicht wieder. Diese große Anzahl der Fehlen-
den geht an Seuchen, Hunger und, tote die „Times of Jndia"
sagt, durch Ermordung zwischen Dschedda und Mekka zu
Grunde. Schon ans den überfüllten Schiffen, sowohl ans
dem Hin- als dem Rückwege, starben viele, denn der Raum,
der für einen Pilger zur Verfügung steht, beträgt an Bord
nicht mehr als 6 Fuß in der Länge und Fuß in der
Höhe. Die indischen Gesnndheitsbeamten schreiten jetzt gegen
diese Zustände ein, welche der Verbreitung der Cholera nur
zu günstig sind.
— Die Jntcrglacialzcit in Rußland. Der Block-
lehm, welcher ganz Mittelrußland bedeckt, ist nach der Ansicht
der russischen Geologen nur die Grnndmoräne der Eiskappe,
welche sich in der Glacialzeit von Skandinavien und Finn-
land im Norden bis zur Breite von Kiew und 'Poltawa im
Süden erstreckt. Professor Pawlow, der mit der geologischen
Aufnahme der Gegend von Nischni-Nowgorod beschäftigt war,
wies zuerst vor einigen Jahren Spuren einer Jnterglacialzeit,
einer mildern Periode, zwischen den Glacialablagernngen jenes
Gouvernements nach. Ähnliche Ablagerungen wurden aus
den Gouvernements Poltawa und Tschernigow nachgewiesen.
Weitere Bestätigungen hat neuerdings N. Krischtafowitsch
176
Aus allen Erdteilen.
beigebracht. Nach einer gründlichen Untersuchung der quater-
nären Ablagerungen von Troitzkoje an der Moskwa, westlich
von Moskau, gelangte er zu der Ansicht, daß diese Ablage-
rungen einer Jnterglacialzeit angehören, während welcher
Mittelrußland eine Flora und Fauna besaß, welche der
heutigen ganz ähnlich waren; doch war das Mainmut vor-
handen. Die von Krischtafowitsch beschriebenen Schichten
sind laeustriucu Ursprungs; sie sind mit zweifellosen Eiszeit-
ablagerungen überdeckt und liegen wiederum aufGlacialsanden
mit nordischen Blöcken. Eine nähere Untersuchung, namentlich
mit Rücksicht ans die Schwankungen, das Vor- und Rück-
wärtsgehen der Eiskappe, wie wir es in Grönland und bei
unsern Gletschern beobachten, ist noch notwendig, um festzu-
stelleu, daß es sich um eine wirkliche Jnterglacialzeit handelt
(Nature).
— Das Gebirgsland an Olekma und Witim, zwei
mächtigen rechten Zuflüssen der Lena in Ostsibirien, ist im
verflossenen Jahr von dem russischen Geologen V. A. Ob-
rutschew untersucht worden. Die Proeeedings der Londoner
Geographischen Gesellschaft (1891, S. 506) berichten darüber
Folgendes. Die Region, welche jährlich 15000 bis 18000
Pfund Gold liefert, war bisher nur oberflächlich bekannt
und ist jetzt durch Obrntschew auch in orographischer Be-
ziehung näher erforscht worden. Alan wußte, daß der Witim
etwa 56 km oberhalb seiner Vereinigung mit der Lena aus
einer Schlucht hervortritt, die in ein 80 bis 110 km breites,
sich von SW nach NO erstreckendes Hochland eingeschnitten
ist. Kropotkin hatte dieses das Patom-Plateau genannt Es
erreicht eine mittlere Höhe von 1200 m, besteht aus Granit
und Gneis, ist in verschiedene Rücken getrennt, die mit ab
gernndetcn Höhen von ungefähr 1500 m Höhe besetzt sind.
Obrntschew hat jetzt gefunden, daß an den westlichen
Ausläufern der Patom-Hochlande nach WNW hin sich eine
Anzahl Parallelrücken mit Höhen von 1000 bis 1200 m
hinziehen. Er unterschied mindestens fünf solcher Ketten, die
sich auch weiter nach Osten verfolgen lassen und so eine Reihe
von Erhebungen darstellen, welche das Hochland fast recht-
winkelig kreuzen. Der wichtigste dieser Rücken, den Obrntschew
nach Kropotkin benannte, trägt den Wyetkin Pik (1370 m), den
Nakatami Pik (1280 m) und den Kremnevji Pik (1430 m).
Alle diese Parallelrücken entstanden durch Faltung der unter-
silurischen und vorsilnrischen (cambrischen?) Schichten.
Hiernach scheint, daß in Ostsibiricn sich die gleichen Ver-
hältnisse finden, die Maschketow in Turkestan beschrieben hat,
nämlich, daß, abgesehen von massiven Erhebungen, die in
nordöstlicher Richtung streichen, parallel der Grenze des
großen mittel- und ostasiatischen Hochlandes, eine Reihe späterer
Erhebungen in senkrechter Richtung zu derselben (uordivestlich
oder westnordwestlich) staltfanden und somit eine überraschende
Gleichheit in der Struktur in dem ganzen Alpengürtel be-
steht, der im Nordwesten das große zentralasiatische Platean
umgiebt. — Obrntschew hat auch die Erscheinungen der Eis-
zeit in den Patomhochlanden studiert. Seine zahlreichen
Beobachtungen über die goldführenden Schichten geben znm
erstenmal einen Einblick in den Zusammenhang derselben mit
den glacialen und nachglaeialen Ablagerungen.
— Australische Eisenbahnen. Die Regierung der
Kolonie Südanstralien hat am 25. Mürz 1891 mit einem
Syndikat englischer Geldmünncr ein wichtiges Übereinkommen
getroffen. Das Syndikat übernimmt den Ban einer ungefähr
850 km langen Eisenbahn von Port Augnsta westlich nach
Port Eucla, und erhält anstatt Barzahlung ausgedehnte, durch
weitere Verhandlungen festzustellende Landkomplexe zu Seiten
des Bahnkörpers entlang als freies Eigentum. Port Augnsta
mit 760 Seelen ist eine Hafenstadt an der Spitze des Spencer-
Golfs und Port Eucla ein unbedeutender Ort auf der Grenze
der Kolonie Süd- und Westaustralien an der großen austra-
lischen Bucht. Dasselbe Syndikat hat sich gleichzeitig mit
der Regierung der Kolonie Westaustralien über den Ban einer
ungefähr 1125 km langen Eisenbahn von Albany nach Port
Eucla unter ähnlichen Bedingungen geeinigt. Albany ist
eine Hafenstadt mit 1200 Seelen am King Georges Sound
an der Südküste von Westaustralien.
Das von diesen beiden Bahnen zu bestreichende Land hat
allerdings wenig Wert. Es ist, soviel darüber bekannt, meist
an Wasser armer Sandboden mit viel Scrub (Gestrüpp),
vielleicht existieren Mineralien. Da Albany durch eine 550 km
lange Eisenbahn mit Pcrth, der Hauptstadt Westaustraliens,
verbunden ist, so werden nach Vollendung beider Bahnen,
worüber aber wohl acht Jahre vergehen mögen, die Haupt-
städte der australischen Koloniceu, also Perth, Adelaide, Mel-
bourne, Sydney und Brisbane, durch Eisenbahn verbunden sein.
Die große transkontincntale Eisenbahn der Kolonie Sird-
anstralien, welche von Port Adelaide ans durch Zcntral-
anstralien nach Port Darwin an der Nordküste des Kontinents
laufen soll, ist jetzt in der Länge von 1188 km bis Angle
Pool oder Mount O'Halloran in 27° 30' sildl. Br. und
135° 25' östl. L. von Greenwich fertig. Da der Kolonie
die Geldmittel für den Weiterbau fehlen, so verhandelt die
Regierung jetzt ebenfalls mit einem Syndikat englischer Kapi-
talisten, welches, gegen Überweisung beträchtlicher Landslächcn
auf Seiten des Bahnkörpers, den Ausbau der Bahn über-
nehmen will. Greffrath.
— Die Bevölkerung Serbiens. Die vorläufigen Er-
gebnisse der Volkszählung vom 31. Dezember 1890 sind
veröffentlicht worden: Danach gab es im Königreiche 71
städtische und 1199 Dorfgemeinden. Bei der Zählung der
Häuser und der ans dieselben entfallenden Einwohnerzahl ergab
sich die Thatsache, daß in der Stadt 5,8, ans dem Lande
6,5 Bewohner auf ein Haus entfallen. Dieses in den
übrigen europäischen Staaten umgekehrte Verhältnis erklärt
sich durch die Hansgeuossenschaft (Zadrnga), das kommuni-
stische Beisammenleben großer Familien. Die Gesamt-
bevölkerung, welche vor 6 Jahren 1 901 736 betrug, ist auf
2 172 814 Seelen gewachsen, was einer jährlichen Zunahme
von 2,37 Proz. entspricht. Die städtische Bevölkerung allein
ist um 19,86 Proz. gewachsen, wobei auf die Hauptstadt
Belgrad der Löwenanteil fiel. Sie stieg von 35 483 Ein-
wohnern in 1884 auf 54 458 Einwohner. Über 10 000
Einwohner haben nur noch Wranja (11591), Kragujewatz
(11 932), Risch (19 970), Pirol (10 108), Po/arewatz
(11216), Leskowatz (12 264). Die größte Dichtigkeit zeigt
der Donaukrcis mit 80 Einwohner auf den Onadratkilomcter
(wegen der Hauptstadt). In der Krajina leben nur 28
Menschen auf dem Quadratkilometer.
— Bevölkerung der Kanalinseln. Der Census für
dieselben vom 5. April 1891 liegt vor. Danach hat die
Insel Jersey eine städtische Bevölkerung von 28 953 Ein-
wohnern, sie zeigt gegen das Jahr 1881 eine Zunahme von
933 Seelen. Was Guernsey betrifft, so sind die Ziffern
schon vollständig angegeben und danach zählt die Insel
35 218 Einwohner. Anregny (so ist die amtliche Schreibart)
hat 1843, darunter eine englische Besatzung von 451 Mann,
Sercq 572, Herrn 38 und Jethou nur 6. Herrn gehört
dem Fürsten Blücher vorr Wahlstatt. Mit Ausnahme von
Guernsey, welches um 2839 Einwohner seit der letzten Zäh
lnirg zunahm, haben die Inseln an Einwohnerzahl abgenommen.
Die Stadt Saint-Pierre-Port zählt 17 041 Einwohner.
Herausgeber: Dr. ili. Andree in Heidelberg, Leopoldstrabe 27.
Druck von Friedrich Vie weg und Sohn in Braunschweig.
Braunschweig.
Jährlich 2 Bände in 24 Nummern. Durch alle Buchhandlungen und Postanstaltcn
zum Preise von 12 Mark für den Band zu beziehen.
1891.
Versuch einer Geschichte der Ureinwohner von
Rio Grande do 6ul.
Von Dr. H. v. Ehering in Rio Grande do Aul.
Über die Geschichte Brasiliens und der La Platastaaten
liegen so zahlreiche und gediegene Arbeiten vor, daß es nie-
mand schwer fallen kann sich darüber zu unterrichten. Anders
aber steht es um die Kenntnis der Urbewohner, ihrer
Geschichte und Kultur. In historischen Werken sind den-
selben nur wenige dürftige Worte gewidmet, die vielleicht
kaum vom Standpunkte jener Studien aus genügen mögen.
Heutigen Tages aber kann eine so einseitige Behandlung nicht
mehr befriedigen; Anthropologie und Ethnologie haben sich
als ebenbürtige Schwestern der Geschichtsforschung zur Seite
gestellt, und wie dieselben aus dem Studium der Naturvölker
wertvolle Schlußfolgcrnugcu für die Urgeschichte menschlicher
Kultur ableiten, so erheischen sie andrerseits auch eine Neu-
bearbeitung der älteren Geschichte dieser großenteils erloschenen
oder halb zivilisierten Stämme, durch welche das ältere unvoll-
kommene Bild allseitig ergänzt und ausgeführt werden muß.
Bon diesem Gesichtspunkte aus ist hinsichtlich der Urein-
wohner Brasiliens noch sehr viel zu thun übrig. Unver-
mittelt stehen einander die alten Schilderungen aus der Zeit
der Conquista und die linguistischen und ethnologischen Dar-
legungen neuerer Reisenden gegenüber, Prähistorie und Ethno-
logie sind völlig getrennte, aufeinander trotz der Einheit des
Untersuchungsobjektes nicht Rücksicht nehmende Gebiete,
während die historischen Forschungen wieder ihrerseits ganz
einseitig vorgehen. Bon vielen Stämmen Brasiliens wissen
wir wenig mehr als die Namen und einige dürftige Angaben
über Wohngebiet und Beschäftigung, dazu günstigsten Falles
eine kleine Wörtersammlung; wie viel unbefriedigender erst
stellt sich das Verhältnis für jene jetzt erloschenen Stämme,
von denen uns wenig mehr als Name und Wohngebiet über-
liefert worden ist! Hinsichtlich der älteren Geschichte der Ur-
bewoher von Peru und Mexiko haben alle die verschiedenen
oben genannten Disziplinen einander in die Hände gearbeitet
und auch für Venezuela und für Nordamerika ist in dem
Globus LX. Nr. 12.
I.
von mir angedeuteten Sinne schon viel geschehen. Nicht
so in Brasilien. Eine ganz besonders wertvolle Förderung
hat die Ethnologie Brasiliens durch die Nnguexpeditionen
v. d. Steinens erfahren, aber die älteste Geschichte dieser
Stämme bleibt uns dunkel.
Wesentlicher Fortschritt in dieser Richtung dürfte wohl
nur durch fortgesetzte Studien im Lande selbst zu erzielen sein,
ivelche für die betreffenden Regionen sowohl die geschichtlichen
und prähistorischen Überlieferungen sammeln und zu kombi-
nieren suchen, als auch die Herkunft der noch vorhandenen
Jndianerelemente zu enträtseln bestrebt sind. Ich habe in
diesem Sinne seit Jahren mich um die Geschichte der Ur-
bewohner von Rio Grande do Sul bemüht, auch einzelne
kleine bezügliche Mitteilungen veröffentlicht, die aber teilweise
von am La Plata wirkenden Forschern beanstandet werden.
Es ist ja ganz wohl denkbar, daß wir in Brasilien zu teil-
weise andern Ergebnissen gekommen sind als die Gelehrten
am La Plata, dann kann ja aber eine Klarlegung der Diffe-
renzen nur dienlich sein. In der deutschen Litteratur vollends
fehlt es ganz an einschlägigen Arbeiten und da die zum Teil
sehr wenig verbreiteten, in portugiesischer Sprache gedruckten
Werke brasilianischer Autoren dort kaum besonders bekannt
sein dürften, so wird eine Zusammenstellung dessen, was uns
zur Zeit als bekannt und richtig erscheint, gewiß von Nutzen sein.
In Rio Grande do Sul leben zur Zeit wenig mehr als
1000 Indianer. Dieselben wohnen am oberen Uruguay in
einer Anzahl kleiner staatlich beaufsichtigter „Aldeamcutos"
und werden als „Corvados" bezeichnet. Sie haben, wie
schon R. Hensel hervorhob, offenbar keine besondere Be-
deutung gehabt in der Geschichte von Rio Grande, denn
keinerlei Ortsbenennungen, Pflanzen- oder Tiernamen sind
ihrer Sprache entnommen. Sie scheinen erst in relativ später
Zeit von San Paulo her gen Süden verdrängt oder ein-
gewandert zu sein, was ich weiterhin besonders nachweisen
23
178
Dr. H. v. Jhering: Versuch einer Geschichte der Ureinwohner von Rio Grande do Sul.
will. Daß aber ein guter Teil indianischen Blutes mit in
die brasilianische Landbevölkerung aufgegangen ist, davon habe
ich mich in der Bevölkerung, in deren Mitte ich wohne, an
der Mündung des Rio Camaquam in die Lagoa dos Patos
zur Genüge überzeugen können. Auch ihre alten Industrien
und die dabei üblichen Namen, und unzählige Bezeichnungen
der Tiere, Pflanzen, Orte rc. haben diese alten Bewohner
des Landes uns überliefert. Alle diese Wörter sind der
Guaranisprache entnommen, ebenso auch am La Plata und
ihr also müssen auch diese in die heutige Bevölkerung über-
gegangenen Stämme angehört haben. Wenn uns berichtet
wird, daß zu Anfang des 16. Jahrhunderts Spanier wie
Portugiesen an der ganzen Küste des östlichen Südamerika,
vom Orinoko bis znm La Plata, die verschiedenartigen Stämme
im Besitze einer gemeinsamen, von den Eroberern Guarani
genannten Sprache antrafen, so würden wir auch, ohne von
solchen Angaben Kenntnis zu haben, mit Notwendigkeit doch
zur gleichen Erkenntnis kommen, wenn wir die identischen
Bezeichnungen für bestimmte Tiere und Pflanzen an so weit
voneinander entfernten Orten uns zu erklären versuchen wollten.
1. Geschichtliche Überlieferungen.
Bevor wir auf die Geschichte dieser Stämme eingehen
können, wird es ratsam sein, die Geschichte der Entdeckungen
dieser Länder kurz zu berühren. Das Gebiet der früheren
Provinz, des jetzigen Staates von Rio Grande do Snl,
bildete nicht, wie jenes der andern Provinzen Brasiliens, von
Anfang an eine jener Capitanias, die teils an hervorragende
Edelleute vergeben, teils als Staatseigentum verwaltet wurden.
Erst sehr spät überhaupt hat sich Portugal um Rio Grande
do Sul bekümmert, und dasselbe dann der Generalcapitania
von Rio de Janeiro unterstellt. Erst 1807 wurde eine selbst-
ständige Generalcapitania San Pedro do Rio Grande do
Sul geschaffen, zu welcher anfangs auch St. Catharina noch
gehörte. Da sich lange Zeit hindurch weder Spanien noch
Portugal um diese Gebiete bekümmerten, so unterlagen sie
während des 17. und im Anfang des 18. Jahrhunderts
überhaupt keiner Verwaltung. Beide zivilisierende Mächte
erhoben darauf Anspruch, doch blieben die Spanier Herren
der Küste und so kam es, daß beide südlichste Provinzen
Brasiliens anfangs dem Governador von Paraguay unter-
stellt waren. Gay bemerkt hierüber (S. 15), daß zwischen
1530 bis 1534 Kämpfe stattfanden zwischen Portugiesen
und den Spaniern unter Ruy Garcia Mosqueira, wobei
letztere die portugiesische Kolonie S. Vicente, d. h. also die
Küste von S. Panlo, besetzten und sich dann in St. Catharina
niederließen. 1540 nahm der spanische Governador von
Paraguay, Alvar Nunes Cabe^a de Vacca, Besitz von Ca-
nanea an der Küste von Parana und hier befand sich dann
die nördliche Grenze von Paraguay. Cabe§a de Vacca zog
dann zu Land von St. Catharina nach Paraguay.
Man schreibt in Brasilien die Entdeckung dieses Landes
allgemein dem Portugiesen Cabral zu, obwohl schon einige
Monate früher, schon im Jahre 1499 zwei Spanier die
Küste erreichten. Erst neun Jahre später, 1509 entdeckte
Solis den La Plata, an dessen Gestaden ihn später die
Charruas erschlugen. Damit war im wesentlichen die künftige
Trennung der Kolonisationsgebiete gegeben, nnr die Grenz-
gebiete Uruguay und Rio Grande do Sul blieben zunächst
streitig, wie sie denn ja auch noch bis in unser Jahrhundert
hinein für zahlreiche kriegerische Verwickelungen als Zankapfel
den Anlaß bildeten. Obwohl nun die Portugiesen schon 1680
durch Gründung der Colonia do Sacramento in Uruguay
ihre Interessensphäre ostentativ bis an die Mündung des
La Plata vorschoben, so nahmen sie doch erst 1715 effektiv
Besitz von Rio Grande do Sul, indem sie von Laguna in
St. Catharina aus zwei Expeditionen nach Rio Grande aus-
rüsteten. Die eine derselben mißlang, die andre erreichte
glücklich den La Plata und stieß auf dem Rückwege auf eine
andre in gleicher Absicht von den spanischen Jesuiten aus-
gesandte, aus zivilisierten Indianern bestehende Expedition.
Dieses Zusammentreffen und die daran sich anschließenden
Reklamationen der Portugiesen hatte die Folge, daß die
Jesuiten, welche bereits auf riograndenser Gebiete, also am
linken Ufer des Uruguay, sieben Missionen gegründet hatten,
sich nicht weiter nach Osten hin auszubreiten trachteten, da-
gegen verblieben ihre Missionen zunächst unter spanischer
Oberherrlichkeit. Erst 1737 begann die militärische Okku-
pation von Rio Grande durch portugiesische Streitkräfte.
Wie Handelmann (Geschichte von Brasilien, Berlin
1860, S. 490) angiebt, ist indessen schon im 17. Jahrhundert
Rio Grande teilweise von S. Paulo aus besiedelt worden,
auch gelang es den Kaufleuten von Santos einen vorteilhaften
Handel mit den eingeborenen Stämmen zu unterhalten; ihnen
folgten Missionare und so waren schon um 1680 auf dem
Gebiete von Rio Grande einige kleine Ortschaften gegründet.
Jedenfalls haben aber wohl außer diesen uns bekannten
Handelsbeziehungen schon im 16. Jahrhundert solche auch
mit den Bewohnern von Rio Grande bestanden. In alten
Begräbnisplätzen oder Wohnstätten der Indianer, und zwar
im Urwaldgebiete von Rio Grande do Sul haben wir schon
mehrfach farbige, sogenannte Aggryperlen gefunden, welche,
wic Tischlers an einer besonders großen und schönen von
mir erhaltenen nachwies, ihrer Technik nach altvenetianischen
Ursprungs sind. Sicher sind derartige Perlen in Venedig
am Ende des 15. und Anfang des 16. Jahrhunderts her-
gestellt worden, ob auch noch später ist nicht bekannt und
wegen der anderweiten dann in Mode kommenden Verfahren
nicht wahrscheinlich. Zu solchen älteren Importartikeln zähle
ich auch die sparsamen Funde einzelner als Zierat dienender
Plättchen von Silber und Kupfer, welche hier und da, zum
Teil in Graburnen, aufgefunden wurden. Die Indianer
Rio Grandes haben in bezug auf industrielle Leistungen stets
einen sehr niedrigen Rang eingenommen, und es nur zur
Fabrikation von groben Urnen, Steinwaffen rc. gebracht, so
daß wir nach allem was uns bisher von Altertümern vor-
liegt, solche Metallstückchen selbst dann als importierte Handels-
artikel ansehen müßten, wenn wir nicht in jenen venetianischen
Perlen viel beredtere Zeugen besäßen.
Außer den kurz geschilderten Unternehmungen der Spanier
und Portugiesen waren es vor allem auch die Beziehungen
zu den Jesuiten, welche die Geschicke der Indianer von Rio
Grande und der angrenzenden La Platagebiete bestimmten,
und wir müssen auch auf sie hier um so eher eingehen, als
gerade die mancherlei meist in Guaranisprache gedruckten Ver-
öffentlichungen oder Manuskripte der Jesuiten zu den wert-
vollsten Quellen gehören, die wir über die Jndiancrstämme
unsres Gebietes besitzen. Natürlich beabsichtige ich hier nicht
die bekannte Geschichte des Jesuitenreiches in Südamerika zu
wiederholen, sondern neben kurzem Hinweis auf die speziell
für Rio Grande wichtigen Momente diejenigen Thatsachen
mitzuteilen, welche bisher nicht oder kaum mitgeteilt wurden.
Ich halte mich dabei vorzugsweise an das Werk des Paters
I. P. Gay, Umtoria da Republica jesuitica do Para-
guay, Rio de Janeiro 1863. Da Gay lange Jahre in
S. Borja, in der Gegend also dieser alten Missiones lebte
und vielerlei nngedruckte Guaranimanuskripte der Jesuiten
benutzen konnte, und gerade diese offenbar den wertvollsten
Teil seines Buches bilden, so ist sein Werk wenigstens für
Rio Grande do Sul offenbar die wichtigste Quelle zum Studium
der Geschichte und Kultur der Eingeborenen.
Z O. Tischler, Über Aggryperlen. Sitz. Ber. phys.-ök. Ges.
Königsberg, XXVII, 1886.
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Dr. H. v. Jhering: Versuch einer Geschichte
Joño Dias de Solis, welcher 1509 die Mündung
des La Plata entdeckt hatte, kehrte 1515 dorthin zurück. Bei
St. Luzia traf er am nördlichen Ufer des La Plata, in geringer
Entfernung von Montevideo, auf Indianer, mit denen er in
Verkehr treten wollte, welche aber ihn und einen Teil seiner
Mannschaft erschlugen. Es waren dies Charrúas, ein um-
herstreifender Stamm, welcher damals die Gegend zwischen
dem Uruguay und Maldonado bis etwa 30 geographische
Meilen landeinwärts und gen Norden besetzt hielt. Auch
Solis Nachfolger, Gab oto, schildert um 1530 die Guarani-
stamme des La Plata als kriegerisch, stolz, grausain und hinter-
listig. So kam es, daß die Spanier 1539 ihre kurz zuvor
gegründeten Niederlassungen bei Buenos Ayres aufhoben
ilnd von da ab bis 1580 nur in Paraguay Niederlassungen
gründeten, weil dort die Wilden im allgemeinen friedfertiger
waren. Hier erzielten dann die Spanier rasch gute Erfolge
und traten nach mancherlei Wechsclfällen in gute Beziehungen
mit den Indianern. So lagen die Verhältnisse als 1610
die Jesuiten nach Paraguay kamen, wo sie zumal in der
Provinz Guayra eine so ersprießliche Thätigkeit in der Zivili-
sierung der Wilden entfalteten, daß sie 1631 dort 31 Reduk-
tionen hatten. Trotzdem konnten dieselben nicht gedeihen,
weil die in S. Paulo ansässigen Portugiesen in Verbindung
mit den Tupyindianern Paraguay als günstigstes Ziel für
ihre auf Erlangung von Sklaven berechneten Raubzüge an-
sahen. Diese als „Mameluccos" bezeichneten Panlistas raubten
nach d'Orbigny allein während der Jahre 1028 bis 1631
aus den Reduktionen der Jesuiten über 60000 Menschen.
Sehr wahr sagt daher das brasilianische Sprichwort: Nicht
der Teufel fügt dem Menschen Übles zu, sondern ein Christ
dem andern.
Unter diesen Umständen entschloß sich der Pater Mazeto
mit dem Reste seiner Gläubigen Paraguay zu verlassen und
1200 km weiter südlich zu ziehen, wo zwischen dem Uruguay
und Parana bereits zahlreiche andre Missionen bestanden und
somit eher Hoffnung auf erfolgreiche Verteidigung gegen die
Mameluken war. Dieser Zug mit über 15 000 Menschen
durch das Dickicht der Urwälder gehört zu den großartigsten
Leistungen, welche die Geschichte in dieser Art kennt. Nicht
Tenophon mit seiner tapfern Schar, nur Aloses, der ein ganzes
Volk ans der ägyptischen Sklaverei der Heimat wieder zu-
führte, kann dem wackern Pater Mazeta verglichen werden.
Nach vieler Mühsal gelangte der Zug an den Salto de
Guayra, die großen Katarakte des Parana, wo die ganze
Masse des großen Stromes plötzlich von 4500 m auf 66 m
sich eingezwängt sieht, tosend etwa 18m tief abfällt und noch
auf 30 Meilen hin mit Wasserfällen weiter stürzt, einen
Lärm erzeugend, den man auf acht geographische Meilen hin
hört. In der Gegend dieser Fülle gingen die Lebensrnittel
zu Ende, welche ans dem Rücken mitgeschleppt wurden und
von denen man nicht hinreichenden Vorrat mitnehmen konnte,
weil die Weiber ihre Kinder, viele Männer aber Greise und
Kranke, trugen. So verteilten sich die Männer in die Wal-
dungen um Nahrung zu schaffen, wobei selbst Schlangen und
andres Ungeziefer nicht verschmäht wurde, was neue Er-
krankungen und Todesfälle zur Folge hatte. Viele starben
so unbeachtet in der Wildnis, willkommene Beute für die
zahlreichen Raubtiere, welche, wenn es ihnen an Leichen fehlte
auch unter den Lebenden große Verheerungen anrichteten.
Pater Mazeta war der Verzweiflung nahe, als Gott seine
heißen Gebete erhörte und ein großes Bot leer ans Ufer an-
trieb, mit dessen Hilfe unter Hinzunahme von Flößen alle
glücklich am andern Ufer landeten. Zwar waren sie hier
nun ihren auf den Fersen ihnen folgenden Peinigern entzogen,
allein die Bewohner der Gegend fingen von den nach Nahrung
uinherstreifenden Leuten noch mehr als 2000 ab. Endlich
kam man in Loreto, dem Reiseziele an, wo bereits eine
der Ureinwohner von Rio Grande do Sul.
Mission bestand und Rindvieh in großer Menge vorhanden
war. Da aber die ausgehungerten Indianer im Fleischgenusse
zu unmäßig waren, brach die Ruhr ans, so zwar, daß über
40 Personen täglich starben, bis die neuangelegten Pflanzungen
heranreiften. Mit den noch übrig gebliebenen 12 000 Menschen
begannen nun 1631 die Jesuiten am Parana und Uruguay
neue Reduktionen anzulegen.
Es ist bekannt, wie glücklich in der Organisierung und
Verwaltung ihrer Missionen nunmehr die Jesuiten waren,
und wie auch sieben solcher Missiones ans riograndenser Ge-
biete angelegt wurden. Nie späterhin wieder haben Spanier-
oder Portugiesen cs verstanden, irgendwo die Eingeborenen
auf eine solche Höhe der Entwicklung zu bringen als die
Jesuiten in den reichgesegneten Ländereien. Nicht nur, daß
Ackerbau und Viehzucht reiche Erträge gaben und das materielle
Wohl ihrer Pfleglinge gesichert war, selbst zu großartigen
Kunstleistungen waren diese anstelligen Wilden zu brauchen.
Welch ein Gegensatz! Heute eine ungebildete, halbverkommene
arme Bevölkerung, wo vor 150 Jahren die Jesuiten beim
Baue stolzer Kathedralen alles mit indianischen Arbeitern
und Künstlern fertigten, von den Steinmetz-, Zimmerer-
arbeiten re. bis zu den Glocken, Orgeln, Altargemälden und
den in eigenen Druckereien hergestellten Büchern! Auch nach
der militärischen Seite traf die Voraussicht der Jesuiten ein.
Als die Panlistas auch über St. Catharina und Rio Grande
ihre Raubzüge nach dem neuen Missionsgebiete ausdehnten,
trafen sie schon im Matto Castelhano die Wachen der Jesuiten,
welche sich zur Warnung eilig zurückzogen, und als die Räuber-
heere am Ziele anlangten, trafen sie auf einen wohlbewaffneten
starken Feind, der sie mit blutigen Köpfen heimschickte.
Diese Waffentüchtigkeit wurde bekanntlich, wie wohl mit
geringerem Erfolge auch im 18. Jahrhundert bethätigt in
den Kümpfen, durch welche der Jesnitenstaat der Ausführung
des Traktates von 1750 sich widersetzte, doch waren und
blieben die Jesuiten so sehr die geistigen Urheber und Leiter
der neuen Zivilisation, daß diese in sich zusammenbrach als
1768 der Governador von Buenos Ayres das zuerst 1759
in Portugal, dann 1767 auch in Spanien erlassene Aus-
weisungsgesetz gegen die Jesuiten zur Ausführung brachte.
Die Patres stellten sich willig und wurden nach Italien ein-
geschifft. Ihre Schutzbefohlenen, über 100000 an Zahl,
verkamen rasch unter der nachlässigen, unfähigen Verwaltung
der Spanier; die mancherlei kriegerischen Verwicklungen der
Missiones, auch die Blattern rc. thaten das Übrige. Die
sieben Missionen ans Rio Grandes Gebiete waren in ihrer
Bevölkerung von ungefähr 30 000 Seelen zur Zeit der
Jesuiten schon 1801 ans 14000 und 1825 ans 1847 Seelen
zurückgegangen. Die nun folgenden drei Kriegsjahre zer-
streuten diesen Rest vollends; ein Teil derselben vereinigte
sich mit den Charrúas und nur wenige Familien dieser In-
dios inissoneii'os haben sich noch in der Aldea de S. Vicente
erhalten.
Bei dieser Sachlage ist es sehr begreiflich, daß unsre
Nachrichten über die Ureinwohner von Rio Grande wenigstens
bezüglich des 16. Jahrhunderts überaus dürftig sind, oder-
vollkommen fehlen. Selbst über die La Plataindianer sind diese
älteren Quellen schon um deswillen sehr unvollkommen, weil
die Conquistadores nur in feindliche Berührung mit ihnen
kamen. Dagegen ist für den Anfang des 17. Jahrhunderts,
zumal durch die Jesuiten, die Litteratur eingehender und ich
stelle hier zunächst nach Gay das Bezügliche zusammen, wobei
ich ans die nächst angrenzenden Gebiete mit Rücksicht nahm,
nicht aber auf die weiter entlegenen.
1) Guaranis. Zwischen den Flüssen Parana und
Paraguay und zwischen ersterem und dem Uruguay war die
überwiegende Mehrzahl der Bewohner aus Guaranis gebildet.
Obwohl wesentlich von Jagd und Fischfang lebend, trieben
23*
180
Dr. H. v. Jhering: Versuch einer Geschichte der Ureinwohner von Rio Grande do Sul.
sie teilweise doch auch etwas Ackerbau. Sie waren auch eher
wie die meisten andern Stämme geneigt mit den europäischen
Bewohnern der benachbarten Ortschaften sich zu vermischen.
Diese Einteilung ist ungeschickt, da auch fast alle folgenden
Stämme Guaranis sind.
2) Guayanas. Dieselben unterschieden sich in Sprache
und Lebensweise wenig von den übrigen; sie lebten in der
Nähe des Salto Grande do Parana. Hiermit sind wohl
identisch die Guaycanans der Campos von Vaccacahy.
3) Tapes. Ein großer Volksstamm, welcher ansässig
war im Centrum von Rio Grande do Sul, zwischen dem
Meere, dem Uruguay und der Serra dos Tapes in Rio
Grande do Sul. Sie waren groß von Statur, aber bösartig
und grausam. Die Toten beerdigten sie mit ihren Hänge-
matten, Pfeilen und andern Waffen. Die Jesuiten gewannen
einen Teil von ihnen der Zivilisation. Die Reste von ihnen,
welche etwa noch bestehen, sind in der Bevölkerung von Rio
Grande und Uruguay aufgegangen. Auf sie weisen außer
der Serra dos Tapes noch eine Landzunge und eine Insel am
westlichen Ufer der Lagoa dos Patos hin, welche auch den
Namen Tapes oder Taipes, wie es andre aussprechen, führen.
4) Minuanos. Zur Zeit der Conquista bewohnten sie
die nördlichen Ebenen am Parana, sowie das Territorium
zwischen Parana und Uruguay bis zur Höhe der Insel St. Fs.
Bedrängt von den Eonquistadores und den Jesuiten, über-
schritten sie den Uruguay und beherrschten die Region im
Norden und Westen von der Lagoa Mirim und der Lagoa
dos Patos. Als die Portugiesen sich in Rio Grande aus-
breiteten, zogen sich die Minuanos nach Westen gegen die
Flüsse Vaccacahy und Cacequi zurück. Sie errichteten aus
Stangen und Matten ihre Hütten. Jedes Dorf bestand aus
50 von einem Chef regierten Familien. Sie waren kor-
pulenter und resoluter als die Tapes. Ihre Waffen waren
Pfeil und Bogen. Sie waren geschickt in der Zähmung von
Tieren und gute Reiter. Nach Azara waren die Minuanos
an der Gründung von S. Borja im Jahre 1690 beteiligt,
wogegen der Visconde de S. Leopolds diese Mission
der Jesuiten aus Charrnas bestehen läßt. Möglicherweise
haben beide Recht, da die Minuanos von den Portugiesen,
die Charrnas von den Spaniern zurückgedrängt, beide in eine
Art von Allianzverhältnis traten, das Territorium zwischen
dem Rio Negro und dem Rio Jbicuhy besetzt haltend, wobei
die ersteren mehr am Jbicuhy, die Charrnas mehr am Rio
Negro sich hielten. Sie nahmen nahezu die gleichen Ge-
wohnheiten an, so daß manche Autoren sic sogar konfundieren.
Der Autor der Cosmographia Brazilica sagt, daß kurz vor
der Erbauung der Missiones durch die Portugiesen die Mi-
nnanos in der Reduktion von S. Borja einfielen, da vielen
Schaden anstiftend. Gegenwärtig sind sie wie die Tapes
alle zivilisiert. Die Minuanos waren es, die Joao de Guaray,
einen der ersten Conquistadorcs, töteten.
5) Charrnas. Dieser volkreiche Stamm, welcher den
Entdecker des La Plata, I. de Solis tötete, grausam und
kriegerisch war, herrschte zwischen der Lagoa Mirim und dem
Uruguay bezw. dem La Plata. Von den Paulistas beunruhigt,
die, so viele sie ihrer nur erlangen konnten als Sklaven ver-
kauften, zogen sie sich zum nördlichen Ufer des Rio Negro
und in die Gegenden der Missiones zurück, sich mit den Mi-
nuanos alliierend. Im Kriege bedienten sie sich außer Pfeil
und Bogen auch der Lanzen und Schlendern, in deren
Handhabung sie sehr geschickt waren. Diese Schleudern sind
nun offenbar nichts andres als die Bolas, auf deren Ge-
brauch wir noch zurückkommen. Noch heute bezeichnet der
riograndenser Campbewohner diese ab und zu aufgefundenen
Schleudersteine der Indianer als Bolas de Charrua. Da
Charrnas auch noch in den Revolutionsjahren Rio Grandes,
von 1835 bis 1844, als Hilfstrnppen teilnahmen, so sind
sie vielen der älteren Bewohner noch wohl in der Erinnerung,
und geschichtliche Überlieferung und Tradition stehen daher
hier in Einklang, ebenso auch die Archäologie, die uns gerade
in Rio Grande, zumal in den Kampos die Schleudersteine
jener Charrnas nachweist, welche sonst in Brasilien nicht an-
getroffen werden. Es ist mir aber sehr wahrscheinlich, daß
auch die Manuanos, vielleicht auch noch andre riograndenser
Stämme von den Charrnas den Gebrauch der Bolas annahmen.
Ich glaube daher, daß Gay irrt, wenn er (S. 56) sagt:
Die letzten Charrnas verschwanden durch das Blutbad, das
D. Fructuoso Rivera durch seine Expedition von 1828 unter
ihnen anrichtete. Es müssen vielmehr versprengte Teile der-
selben sich noch ein Dezennium länger erhalten haben. Einiges
über sie findet man bei Azara in der Memoria historica
soln a provincia de missoes von 1785. Es wird darin
von einem Caziquen Miguel Caray berichtet. Sie nehmen,
heißt es da, in ihren Zelten alle Guaranis auf, welche aus
den Niederlassungen fliehen und bei ihnen leben wollen, unter-
halten auch gute Beziehungen mit den Spaniern und Portu-
giesen, denen sie gegen Geschenke die Erlaubnis erteilen, Vieh
aus ihren Campos wegzutreiben. Sie widersetzen sich daher
auch der Ansiedlung in Reduktionen weniger aus Abneigung
gegen die christliche Religion, als aus Widerwillen gegen den
Zwang, den ihrer Lebensweise die Ansiedlung in Missionen
auferlegen würde.
6) Tupys. Vor ihnen, welche bei Entdeckung Brasiliens
die ganze Küste in Besitz hatten, wohnten die Carijos von
S. Paulo bis zur Insel St. Catharina. Ein Stamm der-
selben erschien zuweilen bei den riograndenser Missionen, ohne
aber auf friedlichen Verkehr sich einzulassen. Sie lauerten
lote Tiger auf die etwa isoliert in die Waldungen sich wagen-
den Indianer der Missionen und wenn dieselben daher Mate
aus den Wäldern holen wollten, mußten sie sich hüten, sich
von ihren Gefährten zn trennen. Die Guaranis haben
daher eine überaus große Angst vor den Tupys, welche ihre
Phantasie mit unglaublichen Eigenschaften ausstattete; so
glaubten sie z. B., daß die Tupys keine Zehen an den Füßen
hätten, sondern zwei Fersen, weil aus ihren Fußspuren nicht
ersichtlich sei ob sie gingen oder kamen.
7) Bugres. Von S. Paulo über St. Catharina bis zum
oberen Uruguay in Rio Grande und Corrientes verbreitet.
„Einige durchbohren die Unterlippe wie die Botokuden, andre
unterscheiden sich durch die in Art einer Krone geschnittenen
Haare. Sie errichten ihre Hütten aus Pfosten und bekleiden
sie seitlich wie oben mit den Blättern der Anäpalme, die sie
Guaricanga nennen." Die Uricanapalme des Hochlandes
von Rio Grande do Sul ist Geonomma gracillima.
Mit diesen Bugres irrt nun Gay. Alan bezeichnet in
Rio Grande alle wilden Waldindiauer als Bugres, im Gegen-
satze zu den seßhaften Indios, oder den Campindianern
(Charrnas und Minuanos). Es sind daher die „Bugres"
nicht etwa eine Nation, sondern ein Sammelbegriff für Coroa-
dos, Botocndos und andre isolierte Waldindianer, zumal
der Crens.
Nächst diesen für Rio Grande in Betracht kommenden
Stämmen gab es im 16. und 17. Jahrhundert noch mehrere
am Uruguay hausende Stämme, die teils wie die Chanas
sich mit den Spaniern verbanden und vermischten, teils wie
die Jaros und Jarris von den Charrnas vernichtet wurden.
Vergessen aber hat Gay in seiner Liste die
8) Patos. Dieses Fischervolk hauste nicht nur an der
Lagoa dos Patos und zwar, wie ich denke, vorzugsweise an
deren östlichem Ufer, sondern wahrscheinlich längs der ganzen
Kette kleiner Binnenseen au der Küste von Rio Grande
zwischen der Lagoa dos Patos und St. Catharina. Man
findet in geographischen Werken zwar allgemein angegeben,
die Lagoa dos Patos habe ihren Namen von den Enten, die
I. I. M. de Groot: Die Hochzeitskleider einer Chinesin.
181
an ihr so massenhaft vorkämen. Nun ist aber pato nicht
Ente (marecca), sondern die türkische Ente (cairina moschata),
welche an der Lagoa dos Patos nicht gemein ist, es wohl auch
nie gewesen ist, da sie waldige Flußufer rc. vorzieht. Es
könnte sich also nur um den schwarzhalsigen Schwan handeln,
den man auch Pato arminho nennt, und der früher wenigstens
häufig an diesem großen See vorkam, der aber eben doch
keine Ente ist, sondern ein Schwan. Wenn ich nun be-
haupte, daß die Lagoa dos Patos nicht von Enten ihren
Namen hat, sondern von den Pato sind innern, so bestärkt mich
darin der Umstand, daß in der ältesten Litteratur St. Catharina
nicht unter diesem Namen vorkommt, sondern als „Porto dos
Patos", womit also, da dort Meer und nicht ein „entenreicher
Binnensee" den Hafen bespült, doch wohl auch wieder die
Patosindianer gemeint gewesen sein dürften. Auch der Hafen
Laguna heißt anfangs Laguna de los Patos.
Endlich finde ich noch erwähnt die Guanaos, welche in
der nördlichen Hälfte von Rio Grande, sowie in St. Catharina
wohnten, und über deren teilweise Bekehrung ein vom Jahre
1683 stammender Brief des Paters Garcia berichtet. Da er in
ihrer Sprache sich mit ihnen unterhielt, sind sie offenbar
ebenso wie alle die andern bekehrten Stämme Angehörige der
Gnaranigruppe gewesen. Ihre Hütten waren aus Matten
von langem Stroh oder Schilf errichtet, bei Tranerfällen
schnitten sie sich ein Fingerglied ab. Dies sind wahrscheinlich
die von Paraguay bekannten Guanas.
Zur Ergänzung dieser Angabe füge ich noch einige Notizen
bei, die Gay einem 1612 verfaßten Werke entnahm. „Der
Rio de Prata hat im Süden das Cabo branco, im Norden
Cabo de St. Maria bei den Jlhas dos Castilhos an seiner
Mündung. Nördlich vom letzeren Kap dehnt sich die spanische
Herrschaft auf 200 Leguas weit aus bis Cananea. Diese
Küste ist flach und bis zur Insel St. Catharina auch ohne
Schutz. Der zweite Hafen ist jener von Rio Grande, in
70 Leguas Entfernung vom Rio da Prata. Seine Einfahrt
bietet große Schwierigkeit wegen der großen Strömung mit
der dieser Fluß ins Meer fällt. Ist man aber eingelaufen,
so ist das Wasser ruhig und dehnt sich aus wie ein See.
Die Einfahrt ist verborgen durch eine sie verdeckende
Insel Z. An seinen Ufern wohnen mehr als 20000 Gua-
Z Diese Insel existiert nicht mehr. Es hat sich also in
den letzten 280 Jahren hier die geographische Konfiguration der
Küste wesentlich verändert.
raniindianer, welche man dort Arachanes nennt, nicht etwa
weil sie in Sprache oder Gewohnheit von den übrigen Gna-
ranis sich unterscheiden, sondern weil sie das Haar aufgetürmt,
nach oben gekämmt tragen. Es sind wohlgeformte kräftige
Leute, die häufig im Kriege liegen mit den Charruas vom
La Plata, oder mit den im Innern wohnenden Guayanas,
ein Name, den man allen Indianern beilegt, die nicht Guaranis
sind und keine besondere Bezeichnung führen."
„Der Hafen von Rio Grande liegt unter 32°; an der
Küste nordwärts giebt es noch einige Niederlassungen derselben
Stämme. Das ganze Territorium enthält ausgezeichnete
Weiden für Vieh. An der nicht weit abgelegenen Cordillera
bemerkt man Zuckerrohr- und Banmwollenpflanzungen, auch
Gold und Silber soll da vorkommen."
„Unter 28VzO folgt der Hafen Lagnna de los Patos mit
schwieriger Einfahrt 40 Legnas von Rio Grande. Es
wohnen da über 10000 zahme Guaranis, die Freunde der
Spanier sind. Zehn Legnas weiter folgt die Insel St. Catha-
rina, die sieben Legnas lang und vier Legnas breit ist und
einen vortrefflichen Hafen bietet. Sie hat Berge und große
Waldungen. Sie war von Guaranis bevölkert, ist jetzt aber
verlassen, da die Eingeborenen sich auf das Festland zurück-
gezogen haben. Am oberen Uruguay wohnen Guayanas,
Bates, Chovas und Chovaras die alle fast einerlei Sprache
reden."
Es wäre denkbar, daß die als im Innern Rio Grandes
wohnhaft bezeichneten Guanaos oder Gnanoas mit diesen
Guayanas identisch sind, und auch der Gnaranigruppe An-
gehören, trotz obiger gegenteiliger Versicherung. Der Um-
stand, daß Pater Garcia mit ihnen gleich in ihrer Sprache
reden konnte, weist darauf klar hin. Von den echten Guanas
aber versichern d'Orbigny, Martins u. A., daß sie ihrer
Sprache nach nicht zur Gnaranigruppe gehören.. Überhaupt
sind in Südbrasilien wie am La Plata und in Paraguay
offenbar die Mehrzahl der zahmen, resp. der Zivilisierung
leichter zugänglich und in größeren Ansiedlungen lebenden
Völkerschaften Guaranis gewesen. Sehr richtig bemerkt
Varnhagen, daß gerade diese relativ weitgehende Überein-
stimmung in der Sprache bei den Tupys der brasilianischen
Küstengebiete wie bei ihrer Südgrnppe, den Guaranis, welche
zur Bezeichnung derselben als Lingua gerat Anlaß bot, in
so hohem Grade den Portugiesen die Ausbreitung in dem
immensen Reiche erleichterte.
Die Hochzeitskleider einer (Chinesin.
Von J. 3- 2U. de Groot H.
(Mit einer Tafel.)
Von allen in China getragenen Trachten ist keine vom
ethnographischen Standpunkte ans so belangreich, als jene,
in welcher die Braut in das Haus des Mannes gesendet
wird, welcher von nun an der Gefährte ihrer Freuden und * I.
U Mit Zustimmung der Redaktion übersetzt aus dem
„Internationalen Archiv für Ethnographie" IV, S. 182, wo der
bekannte Sinologe dieses Hochzeitskleid nach einem Stück aus
seiner Sammlung beschreibt. Es freut uns, bei dieser Gelegen-
heit wiederholt aus das jedem Fachmanne unentbehrliche, von
I. D. E. Schmeltz mit großer Umsicht geleitete „Internationale
Archiv für Ethnographie" (Leiden, Verlag von P. W. M. Trap)
hinweisen zu können. Die Ausstattung ist trotz des geringen
Preises von 21 Alk. eine außergewöhnlich schöne und gediegene,
wofür die heute dem Globus beigegebene, uns von dem Ver-
leger überlassene Tafel beredtes Zeugnis ablegt.
Der Herausgeber.
Leiden sein soll. Von dem Augenblicke an, wo sie die
Schwelle ihres Bräutigams überschreitet, ist cs ihr haupt-
sächlichster Berus, eine zahlreiche männliche Nachkommenschaft
zu erzeugen, welche ihren Mann einer endlosen Reihe von
Nachkommen versichern, die getreulich die vorgeschriebene
Verehrung und die Opfer für die Ahnen vollführen. Diese
Nachkommen sollen aber auch glückliche Nachkommen sein,
reich beglückt durch kaiserliche Gunst in Gestalt von amt-
lichen Titeln und Würden, die in China der sicherste und
kürzeste Weg zu einem großen Vermögen und hoher Achtung
sind. Gleichzeitig sollen es Nachkommen sein, begabt mit
der Eigenschaft, ein hohes Alter zu erreichen; kurz, die Braut
soll auf die zahlreichen Kinder, mit denen sie ihren Eheherrn
einst erfreuen soll, die drei größten Güter übertragen, welche
der Chinese kennt, nämlich: fub, Glückseligkeit, luh, kaiser-
182
I. I. M. de Groot: Die Hochzeitskleider einer Chinesin.
liche Gunst und Einkommen mit amtlicher Stellung ver-
bunden und scheu, langes Leben.
Wie aber dieses anstellen? Als das beste Mittel hierzu
gilt, daß man die zukünftige Mutter an ihrem Hochzeitstage
in einer Weise kleidet, welche durch den Stoss, den Zuschnitt
und die Verzierungen alle die eben genannten Glücksgüter
vorstellt. Dadurch wird sie befähigt, die gewünschten Dinge
in ihr neues Haus einzuführen; die wohlthätigen, durch die
Tracht auf sie übergehenden Einflüsse werden sich alsdann
durch natürliche Vererbung der Eigenschaften aus ihre Söhne
übertragen. Hieraus können wir aber ersehen, daß die
Chinesen noch nicht weit genug in der Kultur vorgeschritten
sind, um zwischen Symbolen und dem, was solche in Wirk-
lichkeit vorstellen sollen, klar zu unterscheiden. Die Unfähig-
keit, zwischen dem Schein und der Wirklichkeit zu unter-
scheiden, ist sehr natürlich bei einem Volke, dessen Zivilisation
noch keine bestimmte Grenzlinie zwischen dem möglichen und
unmöglichen, zwischen dem natürlichen und unnatürlichen
ziehen lehrt.
Die Abbildung des Brautanzuges, wie er in Amoy und
dem ganzen Süden der Provinz Fuhkieu getragen wird, ist
auf der beigefügten Tafel gegeben. Diese Tracht wird von
allen Klassen des Volkes getragen, selbst von den ärmsten,
die dieselbe allerdings nicht kaufen können und sie deshalb
in einem Laden gegen ein geringes für den Hochzeitstag leihen
müssen oder sonstwie auftreiben. In der nachfolgenden
Beschreibung sind die einzelnen Teile in der Aussprache von
Amoy wiedergegeben.
Der Unterrock ist von grüner glänzender Seide. Er
heißt bong kün oder „Drachenunterrock", weil (siche Fig. 2)
er vorn und hinten mit einem Drachen gestickt ist, der sich
aus den Wogen erhebt und landeinwärts fliegt, um sich auf
die Felder und Wiesen in Gestalt befruchtenden Regens
niederzulassen; denn der Drache gilt in China seit undenk-
lichen Zeiten als die Hauptgottheit, welche Regen- und
Nahrungsfülle verleiht. Jeder Drache ist von gestickten
Figuren umgeben, welche Wolken vorstellen. Zur Rechten
und Linken eines jeden Ungeheuers ist eine Fledermaus ein-
gestickt, weil die Fledermaus das Zeichen der Glückseligkeit
ist und zwar wegen der Klangähnlichkeit ihres Namens fuh
mit dem Worte t'nll, Glückseligkeit; mtd) kehrt dasselbe
chinesische Element
IUI _
l-H
Fülle, in der geschriebenen Form
eines jeden der beiden Worte wieder. Endlich steht unter
jedem Drachen ein Hirsch, eine Schildkröte und ein Kranich
aus nachstehenden Gründen.
Der Hirsch gilt allgemein als das Zeichen des Alters,
der Freude und des Geldgewinns. Der berühmte Philo-
soph Liu Hiang, der im ersten Jahrhundert vor unsrer
Zeitrechnung lebte, stellt in seinen „Serien von Überliefe-
rungen über die Ünsterblichcn" (Lieh-sien-ch’wen) fest,
daß dieses Tier nach 1000 Jahren blau wird; und Koh
Hung, der berühmte taoistische Autor aus dem vierten
Jahrhundert nach Christus, erzählt in seinem Werke „Der
Philosoph Pao P'oh" (?ao P’oh-tsze), daß es 1000 Jahre
leben könne und nach 500 Jahren weiß werde. Der Hirsch
ist auch ein Symbol der Freude und des Gedeihens, weil
sein Name lu.li gleich einem Schriftcharakter ist, welcher
„Vergnügen" bedeutet, gesprochen wird und gleich einem
Symbol, welches bedeutet „ein großes, aus einer amtlichen
Stellung bezogenes Einkommen".
Die Schildkröte angehend, so haben die Chinesen, die
wissen, daß dieses Tier in der That recht alt wird, sich
immer gern über deren Langlebigkeit verbreitet und es sind
immer verschiedene hierauf bezügliche Wundergeschichten er-
zählt worden. Der berühmte Liu Ltg an, aus dem zweiten
Jahrhundert vor Christus, giebt in seinen „Auseinander-
setzungen über das große Licht" (Hung-lieh-kiai) an, daß
sie 3000 Jahre leben könne. Der Kranich oder Storch
endlich ist ein Symbol des langen Lebens, weil er, „wenn
1000 Jahre alt, blau, und wenn doppelt so alt, schwarz
wird." Diese weise Lehre wird gepredigt in den „Kouuuen-
tarien über das Vergangene und Gegenwärtige" (Ku-
kin-chu), einem Werk aus dem vierten Jahrhundert.
Liu Ngan sagt auch in seinen „Auseinandersetzungen über
das große Licht", daß der Kranich 1000 Jahre lebt.
Seine Stellung als Vogel von glücklichem Einflüsse ver-
dankt er namentlich dem Umstande, daß sein Name bok
oder hob in vielen Mundarten des Reiches ein Synonym
oder nahezu ein solches des Wortes für „Glückseligkeit,
Gedeihen" ist.
Das Hauptstück der in Rede stehenden Tracht ist aber
ein hellroter Seidenmantel, genannt bong o oder Drachen-
mantel. Er hat aus der Brust einen breiten Aufschlag,
der an der rechten Körperseite befestigt wird. Auf Brust
und Rücken befindet sich ein großer Drache, der sich eben-
falls aus den Wellen erhebt und landeinwärts bewegt,
außerdem aus jedem der sehr weiten Ärmel ein kleinerer
Drache.
Jedes dieser Ungeheuer sucht die Sonne zu verschlingen
und ist von Wolken und Fledermäusen umgeben. Außerdem
ist der Mantel beiderseits verziert mit Fischen, Blumen und
Sternen, desgleichen mit Phönixen (Fig. 4), die in China
das Symbol ehelicher Treue sind.
Über diesen Mantel kommt ein sogenanntes he poe oder
„Wolkenmäntelchen" von schwarzer Seide. Es besitzt keine
Ärmel und wird auf der Mitte der Brust befestigt. Auf
der Brust und auf dem Rücken ist ein großes Viereck von
Seidenstoff befestigt, gestickt mit dem Vogel oder Vierfüßer,
welcher das Emblem des amtlichen Ranges ist, und unter
jedem Viereck sind ein Paar einander zugewandte Drachen,
welche die zwischen ihnen befindliche Sonne zu verschlingen
suchen. Auch diese Ungeheuer sind als aus den Wogen auf-
steigend dargestellt und umgeben von Wolken (Fig. 5),
Fledermäusen (Fig. 3) und Phönixen, während das Kleid
an den Schultern aufgerafft und um den Nacken mit Blumen
verziert ist. Sowohl vorn wie hinten befindet sich hier eine
lange seidene Franse von verschiedenen Farben, die von einer
Art seidenen Netzwerkes herabhängt.
Älle Figuren an diesem kostbaren Kleidungsstücke sind
gestickt, die Drachen meist mit hellgelbem und dunkelgrünem
Golddraht in geschmackvoller Abwechslung, die übrigen mit
verschiedenfarbiger Seide und Dank der Kostbarkeit dieses
Anzuges soll die Braut Söhne gebären, die wohlhabend
genug sind, Kleider zn tragen entsprechend der geschilderten
reichen Tracht; außerdem haben dadurch ihre Söhne Äussicht
Mandarinen zu werden, da der Anzug nur eine Nachahmung
der amtlichen Kleidung der Mnndarinenfrauen ist. In der
That haben nur vornehme Frauen unter gewöhnlichen Um-
ständen das Recht, Drachen auf ihren Kleidern zu tragen,
denn diese Ungeheuer sind, wie allgemein bekannt, das
Wappen des Sohnes des Himmels und die Insignien der
Würde seiner Mandarinen, seiner Regierungsstellvertretcr
in den verschiedenen Provinzen des Reiches. Es sind jetzt
noch einige Worte über die zugehörigen Stücke des Anzuges
zu sagen.
Ein sogenannter Irak toä, oder „Horngürtel" von
Bambus, bedeckt mit roter Seide und verziert mit kleinen
viereckigen Rähmchen, die jedes ein Stück echten oder nach-
gemachten Nephrit enthalten, hängt von dem roten Mantel
herab, nur lose und nicht eng anschließend den Oberkörper
umgebend. Zu dieser Tracht gehören auch ein Paar kleiner
roter Seidenschuhe (Fig. 6), die sich dicht an die verkrüppelten
Gustav Schulz: Ein Besuch auf den Falklandinseln.
183
Füße der Dame anschließen und fast bis zur halben Wade
reichen. Der Kopf ist bedeckt mit der hong koau oder
„Phönixkappe" genannten Brautmütze (Fig. 7). Diese
merkwürdige Kopfbedeckung kann als das Viertel von einer
Kugel ans dünnem, geflochtenem Draht geschildert werden,
bedeckt an der Außenseite mit Blättern, Blüten, Schmetter-
lingen u. dergl., alle ans dünnem, vergoldetem Kupferblech
gefertigt. Vier über den andern hervorstehende Blätter sind
mit chinesischen Charakteren versehen, welche zusammen den
Spruch ergeben: „Ich habe eine amtliche Bestimmung vom
Himmel erhalten", d. h. von der kaiserlichen Regierung.
Ein breites Band ans roter Seide wird mit dieser Mütze
zusammen getragen; an diesem Bande sind Kupferfiguren
der acht Hanptwesen, die zur Unsterblichkeit gelangten, be-
festigt, die sogenannten pah Sien, welche den Zweck der
Tracht, langes Leben den zukünftigen Söhnen der Braut zu
verleihen, noch fördern. Endlich geht durch die Haartracht
eine silberne Nadel mit einem Edelstein als Knopf (Fig. 8);
eine solche wurde schon im frühesten Altertum als unum-
gänglich nötig bei der Hochzeitsfeier angesehen.
Noch haben wir eine belangreiche, mit dem geschilderten
Brautkleide zusammenhängende Thatsache zu erwähnen,
nämlich, daß es sehr häufig als Totenkleid benutzt wird.
Es ist bekannt, daß das ganze chinesische Volk davon über-
zeugt ist, daß die Seelen beim Leichnam im Grabe bleiben
und von da aus Segen auf ihre Nachkommen verbreiten.
Aus dieser Vorstellung entstand eine andre, daß nämlich das
Schicksal einer Familie vollständig von den Gräbern ihrer
Vorfahren abhänge und daß von allen glückverheißenden
Dingen, welche sie innerhalb dieser Gräber säen, sie die
Frucht in Gestalt wirklicher Segnungen ernten werden.
Infolgedessen kleiden Söhne ihre verstorbene Mutter sehr
gern in ihr Hochzeitskleid, das die drei Segnungen fuh,
luh und scheu repräsentiert, indem sie nun überzeugt sind,
aus diese Art die drei Glückseligkeiten sich und ihren Nach-
kommen zu sichern.
Lin Besuch aus den Falklandinseln.
Von G u st a v 5 ch u l Z H.
Der Verkehr mit den abseits im Südatlantischen Ozean
gelegenen Falklandinseln wird von der deutschen Dampf-
schiffahrtsgesellschaft „Kosmos" unterhalten, deren Schiffe in
Dartmonth und Antwerpen anlaufen. Der Anblick, den
die Inseln bei dem Näherkommen gewähren, ist ein sehr
wilder und keineswegs verlockender. Über den Felsklippen
des Gestades erheben sich hohe Gipfel, und etwas öderes und
weniger Einladendes als diese zerrissenen Küsten kann man
sich kamn vorstellen. Überall prallen die von weißen Kämmen
gekrönten Wogen gegen die Riffe und Felsen und wenn das
Auge nach dem Innern zu blickt, sucht es vergeblich nach
einem Baume, der die Felsenciuöde unterbricht. Wo es auf
Vegetation trifft, hat diese nur ein braunes, sturmzcrrissenes
Ansehen, das nur noch mehr den Anblick der Wildheit steigert.
Hier und da leuchten gcspcnsterhast weiße Quarzitfelsen aus
den Flanken der Berge hervor — so ist der erste Eindruck,
den wir beim Landen empfangen.
Der Verkehr unter den einzelnen Inseln und an den
Küsten wird in Booten unterhalten und in einem solchen
habe ich auch die Küsten umfahren. Zwischen der Küste
von Patagonien und den Inseln dehnt sich ein untermeeri-
sches Plateau aus, welches im Mittel nur 100 Faden tief
liegt. Die Inseln liegen auf dem östlichsten Ende dieses
Plateaus, so daß weiter nach Osten hin das Meer ungleich
viel tiefer als im Westen derselben ist. Im Südwcsten
finden wir eine tiefe und enge Rinne im Plateau, durch die,
von Feucrland her, ein starker Strom führt, welcher viel
Treibholz mit sich führt, eine willkommene Erscheinung in
diesem baumlecren Lande.
Die Ufer sind überall tief von Buchten und Föhrden
zerrissen, die weit ins Land hineinführen, so den Verkehr
erleichternd. Bald nachdem wir Port William (den Hafen
x) Herr Gustav Schulz hat seit dem Jahre 1875 große
Reisen unternommen, die ihn nach Südafrika, Südamerika, nach
dem Fcuerlande, wo er die Mincrallager untersuchte, und durck
Patagonien und Brasilien sührtcn. Am sruchtbarsten ist wohl
sein einjähriger Auscnthalt aus den Falklandinseln gewesen, die
verhältnismäßig wenig besucht werden. Er hat, wie aus allen
seinen Reisen, auch hier vortresflichc Photographieen ausge-
nommen, die in seinem Album „Falkland-Jslands" (London,
G. Groß & Co.) veröffentlicht wurden. Herr Schulz kehrte
im verflossenen Jahre nach Europa zurück. A.
von Stanley) verlassen haben, gelangen wir nach Port Fitz-
roy, benannt nach dem Kapitän des Beagle. Es folgt
Choiseul Sund, in dem Darwin, der zweitgrößte Ort,
gelegen ist. Dieser und der gegenüberliegende Brenton
Sund trennen die Ostinsel in zwei Hälften. Zwischen
beiden liegt ein nur wenig über 2 hm breiter Isthmus.
Weiterhin folgt Adventure Sund, mit der davor liegenden
Breaker-Insel, die ihren Namen von den sich an ihr brechen-
den Wogen erhielt. Überall dieselbe zerrissene Küste, die
trübe Färbung der Felscnberge, der unwirtliche Eindruck des
Landes! Felsen, Klippen, große Massive bleiben sich stets
gleich. Kap Meredith, der südlichste Punkt der Ostinsel,
ist 240 m hoch; die drei Kronen bei Port Stephens erreichen
140 m; Fanning Head 180 m. Im Norden dagegen zeigen
die Küsten einen andern Charakter. Hier ist das User flach
und von einem etwa 2 hm weit ans See befindlichen Schiffe
kann man nur eine wolkige Linie bemerken, über der sich
verschwommen die Wickhamhöhen erheben.
Von dem Innern der Inseln war vor dem Jahre 1833,
als Fitzroy und Darwin dieselben besuchten, wenig bekannt.
Vieles hat sich seitdem geändert und Buchten, die damals
öde und menschenleer waren, zeigen heute blühende Farmen.
Wie schon erwähnt, ist die Ostinsel durch den Choiseul-
und Brentonsund in zwei Hälften zerschnitten. Im nörd-
lichen Teile liegen die bis 680 m hohen Wickhamberge,
von Ost nach West verlaufend, scharf abfallend, mit
Thälern, die mit Quarzblöcken übersäet sind. Im Süden
derselben ist das Land vergleichsweise flach, mit wenigen
bis 60 m hohen Hügeln. Fast in jedem Thale findet man
kleine Süßwasserseccn und versiegende Bäche, eine Haupt-
gefahr für den Reisenden, denn sie machen den Boden
sumpfig, so daß man leicht versinkt. Im Norden und Osten
der Wickham-Bcrge ist das Land bergiger, mit dem Mount
Simon, 480 m, und dem Mount Usborne, 653 m. Am
letzteren wird Kalkstein gefunden und Dachschiefer gebrochen. —
Die Westinsel ist noch felsiger als die Ostinsel; ihre ganze
Küste wird von Bergen umsäumt, die im Norden in Adams-
berge am Byron Sund mit 705 m gipfeln, während die
dem Falklandsuud (zwischen beiden Hauptinscln) Parallel
laufenden Stornby-Berge eine mittlere Höhe von 580 m
erreichen. Das Land gleicht hier den schottischen West-
184
Gustav Schulz: Ein Besuch auf den Falklandinseln.
eilanden. Der Mariaberg im Hintergründe von Port Howard
ist 670 na hoch.
Das Klima der Inseln ist, bei vorwiegend westlichen
Winden, ein gesundes, doch ungemein wechselndes. Es ist
hier niemals sehr heiß, doch auch nicht sehr kalt. Dezember
und Januar sind die heißesten Monate, wo die mittlere
Temperatur zwischen 40 und 65° %. schwankt mit einem
Mittel von 47" F. Sie schwankt dagegen in den beiden
Wintermonaten zwischen 30° und 50° F. mit einem Mittel
von 37° F. Das Klima ist daher ein keineswegs extremes.
Im Sommer weht von früh 8 Uhr bis nachmittags 6 Uhr
ein starker Wind, der um Mittag seinen Höhepunkt erreicht.
Wenn starke Stürme eintreten, so beginnen sie gewöhnlich
nach Mittag und wehen drei Tage lang ohne Unterbrechung.
Süd- und Südwestwinde sind die vorherrschenden. Der
Südwind, stets kalt, bringt selbst im Sommer nicht selten
Schnee und Hagel; der Ostwind bringt Regen. Dank dem
warmen Brasilstrom ist das Klima der Inseln Würmer als
jenes Patagoniens. Der jährliche Regenfall betrügt 20 Zoll.
Der einzige trockene Monat ist der November. Nebel sind
häufig, leichter Regen sehr häufig, aber heftige Regen mit
Gewitter sind unbekannt. Der Himmel ist meistens bedeckt
und man zählt 200 Regentage 'im Jahre. Trotzdem ist,
wegen der ständigen Winde, die Luft nicht übermäßig feucht
und daher gesund. Im Winter erreicht die Eisdecke selten
eine größere Stärke als 1/2 oder 1 Zoll; Schnee verschwindet
schnell.
Der Verkehr auf den Inseln im Innern ist ein sehr
Steinstrom (Falklandinseln).
schwieriger, da Straßen nicht vorhanden sind, sondern nur
Saumpfade, die sich zwischen den Sümpfen und Morästen
hinziehen und zu den Farmen führen. In der Viehzucht
beruht jetzt die Bedeutung der Falklandinseln; sie wurde im
größeren Maßstabe zuerst 1845 von einem Fellhändler aus
Buenos Ayrcs, Lafone, eingeführt und wird in noch größerem
Umfange seit 1851 durch die Fnlklandinsclgescllschaft mit
dem Sitze in London, betrieben, welche viele Schaffarmen an-
legte und jetzt ein blühendes Geschäft betreibt. Die eigent-
liche Kolonisation der Inseln wurde 1840 von der englischen
Regierung in die Hand genommen. Im Jahre 1847 lebten
erst 270 Menschen auf der Ostinsel; die Westinsel war ganz
unbewohnt; hier ließen sich erst zwanzig Jahre später An-
siedler nieder. Im Jahre 1887 betrug die Bevölkerung
1853 Seelen, von denen 650 in dem Hauptorte Port
Originalphotographie von G. Schulz.
Stanley lebten. Die ersten Ansiedler waren 1820 dorthin
von Buenos Ayres eingeführte Sträflinge und Argentinien
erhob Ansprüche auf die Inseln, die aber 1833 von den
Engländern in Besitz genommen wurden.
Der Handel begann mit der Ausfuhr der Häute des
verwilderten Rindviehs; dann mit Seehundsfellen und Pin-
guinfedern. Die Vernichtung der zuletzt genannten beiden
Tiere nahm einen solchen Umfang an, daß man ihre Ausrottung
befürchtete und ein Schongesctz erlassen werden mußte. Eine
weitere Ouclle der Einnahmen bildet die Jagd auf Wal-
fische, die bei der Westinsel früher häufig waren. Aber erst
mit der Einführung der Schafzucht begann die Handelsblüte
und Wolle und Talg bilden jetzt den Haupthandelsartikel.
Auch gefrorene Schafe hat man, nach australischem Muster,
schon nach England mit Erfolg verfrachtet. Die Einfuhren
Gustav Schulz: Esu Besuch auf den Falklandinseln.
185
von England erreichten im Jahre 1887 die Summe von
1357 000 Mark; die Ausfuhr 2 027000 Mark.
Die Falklandinseln sind eine englische Staatskolonie.
Hauptort ist das 1844 begründete Port Stanley an der
Nordostecke der Ostinscl mit dem Hafen Port William.
Hier wohnt der Gouverneur und ist der Sitz der Regierung.
Die etwa 700 Einwohner sind fast nur Engländer, doch
finden sich auch Deutsche dort. Es bestehen drei gute Schulen,
darunter eine katholische, eine englische Kathedrale und eine
katholische Kapelle. Selbst zwei Gasthöfe sind vorhanden
und es erscheint allmonatlich eine Zeitschrift Ille Falkland
Island Magazine. Die Hauptbeschäftigung der Einwohner
ist der Handel und was damit zusammenhängt. Der zweit-
größte Ort ist Port Darwin im Ehoiseul Sund, eine
Ansiedlung schottischer Schäfer, die hier in 30 Häusern
wohnen und eine kleine aus Eisen erbaute Kirche besitzen.
Bon den kleineren Inseln ist Keppel-Island im Nord-
westen von West-Falkland am Eingänge des Keppelsundes
die wichtigste, denn hier hat die südamerikanische Mission
eine blühende Anstalt errichtet, in welcher die Kinder von
Feuerländern (vom 4)aghanstamme) unterrichtet werden, die
man von der Missionsstatiou Uschuwia im südlichen Feuer-
lande hierherschickt. Sie kehren, nachdem sie hier eine christ-
liche Erziehung erhalten haben, wieder in ihre Heimat zurück.
Die geologischen Verhältnisse der Falklandinseln
sind sehr einfache. Das niedere Land besteht aus Thon-
schiefer und Sandstein und die Berge aus weißem, körnigem
Quarzfelsen, welcher unmerklich in Sandstein übergeht. Im
Tussock-Gras (Falklandinseln).
Sandstein und Thonschiefer sind zahlreiche Versteinerungen,
Terebrateln, Encriniten und Trilobiten, enthalten, welche der
Silurformation angehören und den entsprechenden euro-
päischen Petrefakten sehr nahe stehen. Von den Gesteinen
wird der Schiefer gebrochen und zur Dachdeckung verwendet.
Sonst gewinnt man noch Kalk (am Mount Usborne), während
andre nutzbare Mineralien fehlen; doch hat man Zinkerze
entdeckt. An der Nordwestküste der Westinsel ist ein 100 m
breiter und 48 km langer Strom von basaltischer Lava auf-
gefunden worden.
Die interessanteste geologische Erscheinung der Inseln
sind die sogenannten Stein ströme, die von Darwin
folgendermaßen beschrieben werden: „In vielen Teilen der
Insel ist der Boden der Thäler auf eine außerordentliche
Weise mit Myriaden von großen, eckigen Stücken von Quarz-
Originalphotographie von G. Schulz.
fctfcn bedeckt. Jeder Reisende, seit der Zeit von Pernetty,
hat ihrer mit Erstaunen gedacht. Man kann das Ganze
einen Steinstrom heißen. Die Blöcke wechseln zwischen der
Größe eines Manuesrumpscs bis 10- oder 20mal diese
Größe und zuweilen sind sie noch viel größer. Ihre Ränder
sehen nicht aus, als wenn sie durch das Wasser abgerundet
wären, sondern sind nur etwas abgestumpft. Sie kommen
nicht in unregelmäßigen Haufen vor, sondern sind in gleiche
Schichten oder großen Strömen ausgebreitet. Es ist un-
möglich, sich eine Vorstellung von ihrer Dicke zu machen,
aber man hörte das Wasser von kleinen Strömen viele Fuß
tief unter der Oberfläche der Steine rieseln. Ihre wirkliche
Dicke ist wahrscheinlich viel größer, denn die Spalten zwischen
den unteren Bruchstücken müssen seit langem mit Sand aus-
gefüllt und das Bett des Baches muß auf diese Weise ge-
186
P. v. Stenin: Das Gewohnheitsrecht der Samojeden.
hoben worden sein. Die Breite dieser Ströme wechselt
zwischen einigen hundert Fuß bis zu einer Meile. Aber
der Torfboden drängt sich von den Rändern immer weiter
vor und bildet selbst Inseln, wo zufällig einige Trümmer
nahe bei einanderliegen. Die geringe Neigung ist der merk-
würdigste Umstand bei diesen Steinströmen. An der Steile
der Hügel bemerkte ich, daß sie in einem Winkel von zehn
Graden sich gegen den Horizont neigten; aber in einigen
von den flachen, breitgrundigen Thälern ist die Neigung nur
so, daß man sie eben noch bemerken kann. An einigen
Stellen erstreckte sich ein zusammenhängender Strom dieser
Trümmer ein Thal hinauf, selbst bis zum Kamm der Berge.
Ans diesem Kamme schienen ungeheure Massen, die größer
als ein kleines Haus waren, in ihrem Lause plötzlich auf-
gehalten worden zu sein: dort lagen auch die gekrümmten
Schichten der Gewölbe über einandergehäuft, wie die Ruinen
einer ungeheuren Kathedrale."
Was die Entstehung dieser Steinströnle betrifft, so hat
Whyville Thompson in seinem Berichte über die Challenger
Expedition eine Ansicht ausgesprochen, die sich der Wahr-
heit nähern dürfte. Die harten Quarzitschichten wurden
durch die Auflösung der weicheren Schichten bloßgelegt.
Da ihnen so die Stütze fehlte, brechen sie in der Richtung
ihrer natürlichen Gliederung und die Bruchstücke fallen den
Abhang hinunter aus den vegetabilischen Boden. Dieser
Boden ist schwammig und — da er abwechselnd trocken
unb naß ist und sich infolgedessen ausdehnt und znsammen-
zieht — gestattet so den schweren Blöcken durch ihr Eigen-
gewicht in das Thal hinabznrntschen, wo sie sich aufschichten
und wo die Thalwässer später den Boden über oder zwischen
ihnen entfernen. Das einzige, was hiergegen spricht, ist
aber, daß der Boden sich nicht von den Steinströmen ent-
fernt, sondern im Gegenteil in dieselben hineinwächst, daß
die Temperaturunterschiede hier sehr gering sind und endlich,
wenn diese Bildung sich so hier ereignet hat, warum nicht
anderweitig auch?
Was die Begetationsverhültnisse betrifft, so fällt
zunächst die gänzliche Abwesenheit von Bäumen auf, die
doch ans den Inseln Feuerlands unter ähnlichen Verhält-
nissen gut gedeihen. Anpflanzungsversnche sind bisher
mislungen. Die schöne Senecio candicans, eine weiß-
blühende Kompositee, ist die größte Pflanze der Inseln, die
über meterhoch wird. Veronica decussata wird fast ebenso
hoch; doch fand ich sie nur an einigen Plätzen der Westinsel.
Nicht so hoch werden das gleichfalls buschförmige Chilio-
trieum amelloides und Permettia empetrofolia. Myrtus
nummulifolia ist eine kriechende Myrte mit holzigem Stamme
und süßen Beeren, deren Blätter die Schäfer als Thee be-
nutzen. In den Ebenen und auf den Torfgründen herrschen
Vor Caltha appendiculata, Astelia pumila, Giamardia
australis, Bostkovia grandiflora, Juncus grandiflorus
und Vor allem Empetrum rubrum, welches die Hälfte der
Torfbildung mit ihren holzigen Wurzeln ausmacht. Als
gutes Brennmaterial dienen die holzigen Stengel des harz-
reichen Bolax gummifer. Ohne diese Pflanze kann man
kaum Feuer in dem regnerischen Lande im Freien erhallen.
Gras ist kurz und häufig; Moose und Flechten sind massen-
haft vorhanden.
Die beiden botanischen Merkwürdigkeiten der Inseln
sind die Balsambogs und das Tussockgras. Erstere
wurden anfangs für Steine gehalten, auf denen Gras und
Flechten wuchsen, bis man erkannte, daß es eine harzaus-
schwitzende Doldenpflanze, die Bolax glebaria sei; es ist
eine verfilzte und verwachsene Staudenmasse, die so hart
wird, daß man kaum mit dem Messer Stücke von ihr ab-
schneiden kann. Gleich großen Steinblöcken stehen die
massiven Büsche über den Boden verbreitet, an heißen Tagen
ein blaßgelbes Harz ausschwitzend. Das charakteristische
Tnssockgras (Dactylis caespitosa) bildet 2 bis 3 m hohe,
ausgebreitete Garben von gedrängtem, schilfartigcm Wüchse,
gleichsam Hügel. Die Schafe und das Rindvieh fressen
dieses Gras außerordentlich gern bis aus die Wurzel ab,
so daß es in einigen Gegenden schon ausgerottet ist. Beide
Pflanzen kommen auch aus dem südamerikanischen Fest-
lande vor.
Mit einigen Bemerkungen über die Tiere der Inseln, die
besonders die Aufmerksamkeit von Darwin erregten, will ich
schließen. Die Geier, Enten, Gänse, Pinguine, der Alba-
tros sind noch immer in großer Menge vorhanden. Bon
Reptilien findet man nur eine Eidechse; Kröten und Frösche
fehlen. Insekten sind nicht häufig in dem feuchten Lande;
die Hausstiege kommt vor und 1887 führt das Schiff
„Selembria" auch die blaue Schmeißfliege ein. Die einst
so zahlreichen Kaninchen sind nur noch auf Lively- und
Sannders-Jsland vorhanden. Der berühmte Falklandfuchs
oder Wolf (Gauls autaretkms), das einzige einheimische
Säugetier, ist jetzt vollständig ausgcstorben. Auch die wilden
Pferde, von den 1764 von den Franzosen eingeführten Exem-
plaren stammend, sind fast ganz verschwunden und das gleiche
ist mit dem schönen wilden Rindvieh der Fall, das ich nur
noch zweimal antraf. Man hat es der Häute wegen getötet.
Statt der Pferde und Rinder herrscht das nutzbringende
Schaf. Bekannt sind die Seelöwen der Falklandinseln.
In neuer Zeit hatte ihre Vernichtung so zugenommen, daß
sie unter ein eigenes Schongesetz gestellt wurden und dasselbe
ist mit den Pinguinen der Fall gewesen.
Das Gewohnheitsrecht der Samojeden.
Von £>. v. Stenin.
II.
Nach dem Tode des Mannes, wenn minderjährige Kinder
zurückgeblieben sind, vertritt die Mutter die Stelle des
pater familias, verwaltet das Vermögen, mietet zu der
Jagd und dem Fischfang Arbeiter und so fort. Die außer-
ehelichen Kinder genießen dieselben Rechte, wie die ehelichen,
doch kommt es auch vor, daß der Mann seine Frau mit
dem Kinde zu ihren Eltern unter dem Vorwände zurück-
schickt, daß das neugeborne Kind nicht von ihm sei. Die
Sorge für die Waisen übernehmen gewöhnlich die Ver-
wandten, sie kleiden und ernähren die Kinder auch dann,
wenn sie gar kein Eigentum besitzen; haben dagegen die
Waisen ein Vermögen, so verwalten es die Vormünder mit
der größten Rechtschaffenheit und geben cs ihnen, sobald sie
großjährig sind, mit dem Zuwachs an Geld und Vieh her-
aus. Sind die Verwandten nicht in der Lage die Waisen
zu sich zu nehmen, so geben sie dieselben irgend einem Be-
kannten mit der Bedingung ab, ihm für den Unterhalt der
Kinder eine bestimmte Anzahl Renntiere jährlich zu zahlen.
Da die Samojeden keine Schrift besitzen, so befindet sich
eine jede Familie im Besitze eines Stempels, welcher von
einer Generation auf die andre vererbt wird. Die Samo-
jeden der Kanin-Halbinsel und der Malosemelskaja oder
P. v. Stcnin: Das Gewohnheitsrecht der Samojeden.
187
Timan-Tundra, welche im lebhaften Verkehr mit den Russen
stehen, gebrauchen anstatt früherer phantastischer Stempel
heutzutage schon Stempel mit den Anfangsbuchstaben (in
russischer Schrift) ihrer Namen. Die Samojeden drücken
ihre Stempel amtlichen Papieren, Bittschriften k. auf. Als
Schuldschein gilt ein Kerbstock mit dem aufgedrückten
Stcnipel des Schuldners, auch das getötete Wild wird so
gestempelt auf der Tundra liegen gelassen und niemand
wagt cs anzurühren *). Doch hauptsächlich sind diese
Stempel beim Aufbrennen der Zeichen bei den Renntieren
im Gebrauch. Die Reichen brennen ihre Stempel den
Renntieren auf den Rücken, die Armen auf die Ohren.
Stiehlt jemand ein Renntier, so ist seine erste Sorge, seinen
Stempel ihm aufzubrennen, so machten es z. B. die samo-
jcdischen Hirten der Bauern von Pustosersk und Ust-Zylma,
welche ihren Herren Renntiere stahlen und an ihre Lands-
leute zu Spottpreisen verkauften. Die Syrjanen nehmen
in der Regel den Samojeden nicht nur ihre Weide fort,
sondern vertreiben sie auch gewaltsam von fischreichen
Flüssen und Seen, worin ihnen die russischen Bauern von
Mesen und Pustosersk eifrig nachahmen. Der Finder einer
Sache bekommt bei den Samojeden selten eine Belohnung,
höchstens bietet man ihm ein Glas Branntwein an. Findet
ein Samojede ein getötetes Tier, so kann er die Hälfte da-
von beanspruchen.
Die Samojeden sind sehr freigebig und beschenken recht
gern, so herrscht z. B. die Sitte, daß der Mann der Wöch-
nerin ein Renntier schenkt ft. Ein heidnischer Samojede
schätzt sich zur Ehre, wie schon oben erwähnt ist, von einem
Russen einen Namen zu bekommen und macht ihm jährlich
ein Renntier zum Geschenk, aber meistens erwartet er ein
Gegengeschenk, ja verlangt es geradezu, so erzählt Castren,
daß eine Samojedin ihm einen Fisch zum Geschenk brachte
und dafür seinen Siegelring verlangte. Bei der großen
Vorliebe der Samojeden für geistige Getränke ist cs selbst-
verständlich, daß kein Handel ohne reichlichen Schnapsgcnuß
abgeschlossen werden kann. Die russischen Händler (promy-
schlenniki) und die Syrjanen ft nutzen diese verderbliche
Leidenschaft der armen Nomaden aus und betrügen die be-
trunkenen Samojeden aufs Schamlosesteft. Ein Samojede
beschrieb folgendermaßen den Genuß, total betrunken zu
sein: „Der Schnaps schmeckt besser als das Fleisch. Wenn
man betrunken ist, fühlt man sich reich. Man hat viele
Renntiere und wähnt sich ein Kaufmann zu sein. Kommt
man aber zu sich, so sieht man, daß man arm ist und sein
letztes Renntier vertrunken hat" ft. Ebenso wie den Brannt-
wein lieben die Samojeden Tabak zu kauen und für eine
Handvoll starken Blättertabak geben sie oft ein Polarfuchs-
fell hin ft.
Anstatt Gehalt bekommen die samojedischen Arbeiter
häufig von ihren Herren, den Russen und Syrjanen, nur
Nahrung (gidjat na jedomje, wie der terminus technicus
in der Bolschcscmelskaja Tundra lautet), welche nicht gerade
besonders gut und nahrhaft zu nennen ist, denn sie besteht
aus verendeten oder von Wölfen zerrissenen Renntieren,
verfaultem Fisch und einem geringen Quantum Brot.
Seltener schon übernimmt der Herr für den Samojeden den
Jassak (Tribut, 1 Rubel pro Mann jährlich) zu zahlen oder
Archangelskija gubernskija wjedomosti 1870, Nr. 22.
ft Jsslawin, Die Samojeden rc.
ft Zur Ehre der Samojeden jei hier erwähnt, daß keiner
von ihnen mit Fufel Handel treibt: eine traurige Ausnahme
macht ihr Gemeindeschreiber, ein Mischling, welcher lange in
Archangelsk gelebt hat (nach den Mitlcilungcn des Pfarrers
Joseph Cinzoff.)
4) Archangelskija gubernskija wjedomosti 1850, Nr. 18.
ft Schaschkvff, Die Samojeden von Archangelsk rc.
ft C. W. Maximvss, Ein Jahr im Norden.
bezahlt ihm jährlich einen kleinen Gehalt (uach Jsflawin
etwa 15 bis 18 Rubel.) Sehr oft gerät der Samojede
in eine Art Leibeigenschaft zu seinen Kreditoren ft, den
Russen und Syrjanen, und zwar nicht nur für seine eigenen,
sondern auch für die Schulden seiner Eltern und Ver-
wandten, von denen er oft keine Ahnung hat. Die Ein-
wohner von Pustosersk bezahlen ihre samojedischen Knechte
noch ziemlich gut (sie geben ihnen Essen und zirka 50 Rubel
jährlich), verlangen aber von ihnen dafür, daß sie nicht nur
ihre Renntiere hüten, sondern auch für ihre Rechnung Pelz-
tiere jagen und Fischfang treiben ft. Auch werden die
Samojeden von den Einwohnern von Mesen und Pustosersk
zur Jagd auf der Insel Kolgujesf gemietet, wobei sie mit
Waffen, Renntieren ttttb Kleidern ausgerüstet im Frühjahr-
auf der Insel gelandet werden und dort überwintern, See-
hunde, Polarfüchse, Eisbären und Gänse jagend und Eider-
dunen sammelnd ft. Meistens bekommen sie dafür einen
Anteil an der Bente. Auch bei ihren reicheren Landsleuten
haben es die armen Samojeden nicht viel besser; am günstigsten
sind diejenigen Knechte gestellt, welche von ihrem Herrn
einen Gehalt von fünf bis zehn Rubeln jährlich bekommen
oder für welche derselbe den Jassak zahlt und sie mit Kleidern
und Nahrungsmitteln versieht. Die Weiber vermieten sich,
Gras zu mühen oder Pelze aus Renntierhäutcn zu nähen,
worin sie große Kunstfertigkeit besitzen. Die reicheren
Samojeden halten sich für verpflichtet, ihre armen Lands-
leute zu unterstützen, indem sie ihnen Renntiere schenken
oder unentgeltlich leihen, da ihre Herden, wie sic sagen, das
Moos auf der Tundra, dem gemeinsamen Eigentum aller
Samojeden, abweiden. Weigert sich ein reicher Samojede,
seinem armen Landsmann ein Renntier zur Ernährung zu
geben, so hat der Arme das Recht, dcui Reichen eins oder-
einige Renntiere wegzutreiben, ohne daß der letztere ihn
gerichtlich belangen darf ft. Jetzt jedoch verstehen sich auch
die Samojeden ans Zinsen, so verlangen sie für 10 Rubel
jährlich einen Rubel Zinsen oder für eine geliehene Reun-
tierkuh auch ihre in dieser Zeit geworfenen Jungen. Natür-
lich zu solcher gewissenlosen Ausbeutung der ärmeren Samo-
jeden, wie es die Syrjanen und Russen thun, haben cs die
reichen Samojeden noch nicht gebracht. Wie cs einem
Samojeden ergeht, wenn er in die Hände solcher verworfenen
Wucherer gerät, schildert sehr gut W. Jsflawin: ein Samo-
jede nahm bei einem russischen Händler in Mesen zwei
Sack (a 400 Pfund) Mehl aus Kredit. Nach Ablauf der
Frist erpreßte von ihm der Wucherer zuerst zehn Rubel an
baarem Geld und dann nahm er mit Hilfe der Polizei ihm
noch sechs Renntiere ab, welche er zu drei Rubel das Stück
schätzte, während in Wirklichkeit ein Renntier nicht uuter
fünf Rubel kostet. Auf diese betrügerische Weise bekam der
Händler für einen Sack Mehl, welcher gewöhnlich nur
fünf Rubel kostet, 20 Rubel ft. Merkwürdig ist dabei die
Thatsache, daß die Samojeden ohne Widerspruch Schulden
ihrer Väter und Großväter anerkennen, wenn der Krcditor
auch gar keine Beweise für die Wahrheit seiner Behaup-
tungen aufzubringen vermagß). Recht charakteristisch ist
ein Gespräch mit einem Samojeden, welches der Akademiker
Schrenck mitteilt: „Höre mal, Hochwürden", sprach zu unr-
ein Samojede, welcher diese Titulation wohl aus dem Ver-
kehre mit den russischen Missionaren gelernt hat, „wie denkst
ft Im Norden des russischen Reiches mit dem speziellen
Namen „Kabala" bezeichnet.
2) Nach dem Berichte der Kommission zur Erforschung des
Petscboragebietes.
3) Archangelskija gubernskija w jedomosti 1850, Nr. 18.
ft A. Efimenko, Die Rechtsgebräuchc rc.
ft Jsslawin, Die Samojeden rc.
ft Archangelskija gubernskija wjedomosti 1867, Nr. 82.
24*
188
P. v. Stenin: Das Gewohnheitsrecht der Samojeden.
du darüber, daß mein Wirt mich nicht entlassen will?"
„Warum will er denn dich nicht entlassen?" fragte ich.
„Die Leibeigenschaft (Kabala) hindert ihn daran." „Aber
heutzutage giebt cs keine Leibeigenschaft mehr." „Ich kann
darüber nichts sagen, aber ich befinde mich in derselben."
„Wie lange dienst du deinem Wirt?" „Zwei Jahre."
„Wieviel bekommst du jährlich?" „DerWirtsagt: 20 Rubel."
„Wie oft bekommst du dein Geld?" „Geld bekomme ich
niemals." „Warum nicht?" „Das ist eben die Leibeigen-
schaft." „Wie kamst du dazu?" „Ich weiß es nicht; ich
habe keine Schuld daran, aber mein Wirt sagt, daß meine
Mutter und mein verstorbener Bruder bei ihm Schulden
gemacht hätten." „Warum arbeitest du denn Schulden ab,
welche du niemals gemacht hast? Vielleicht betrügt dich
dein Wirt." „Ich weiß cs nicht, aber der Wirt sagt, ich
müsse ihm dienen, das Gesetz verordne es so, da meine
Mutter und mein Bruder bei ihm Schulden gemacht hätten."
„Wie hoch belaufen sich diese Schulden?" „Wie kann ich
es wissen? Der Wirt weiß es besser als ich, bei ihm sind
sie notiert" *). Auch beim Tauschhandel übervorteilen und
betrügen die Händler den Samojeden, so verlangen z. B.
die Syrjanen von Jshma für 20 Pfund Salz, welche etwa
40 Kopeken kosten, eine Rennticrhaut oder ein Fell von
einem weißen Polarfüchse, also 1 Rubel bis 1 Rubel
15 Kopeken; für 40 Pfund Mehl (86 Kopeken) drei Polar-
füchse (3 Rubel); nicht minder unverschämt sind die
Russen in Pustosersk, so verlangen sie für 40 Pfund Roggen-
mehl 80 Pfund Thran (3 Rubel 60 Kopeken); für drei
Pfund Blättertabak zwei weiße Polarfüchse (2 Rubel
20 Kopeken); für ein Pfund Pulver und etwas Blei
20 Pfund Thran; für 40 Pfund gebackenes Roggenbrot
zwei schwarze Renntierkälbcr (das Stück 1 Rubel 25 Ko-
peken) oder zehn Kreuzfüchse (etwa 4 Rubel). Es ist
natürlich, daß bei solchem Tauschhandel die Samojeden mit
jedem Tage mehr und mehr verarmen. Schon in den
vierziger Jahren fand man, daß unter 5000 Samojeden
im Gouvernement Archangelsk 1400 keine Renntiere be-
saßen und 1200 Bettler waren* 2).
Die Samojeden zeigen große Vorliebe für das Genossen-
schaftswesen, ähnlich den russischen Artels. Oft vereinigen
sich zwei bis zehn Samojeden zu einer Genossenschaft, welche
Jagd auf Polarfüchse oder wilde Renntiere oder Gänse
treibt und die Beute in gleiche Teile teilen soll. Diejenigen
Genossenschaften, welche auf der hohen See dem Seehunds-
fang obliegen, bestehen je nach der Größe und Tragfähigkeit
des Fahrzeuges aus fünf bis acht Mann. Die Jagdbeute
wird auch hier in gleiche Teile geteilt, doch wird ein Teil
für das Jmstandhalten des Fahrzeuges bestimmt, so daß
bei fünf Teilnehmern der Jagdertrag in sechs gleiche Teile
geteilt wird. Jeder Teilnehmer muß 60 bis 80 Pfund
Roggenmehl, 40 Pfund gebackenes Roggenbrot oder 20 Pfund
Schisfszwieback, vier Pfund Butter, 120 Pfund Renntier-
fleisch oder gesalzene Fische, und etwas Pulver und Blei
beisteuern. Gewehre giebt es zwei bis vier auf dem Fahrzeuge
und sic gehören meist dem Steuermanne, welcher in der
Regel ein ausgezeichneter Schütze und häufig der Besitzer
des Fahrzeuges ist3 * * * 7). Es giebt aber auch Genossenschaften,
welche aus einem reichen Patron und mehreren Armen be-
stehen, denen der Reiche Nahrungsmittel, Kleider und Jagd-
geräte leiht und einen Anteil an der Jagdbeute gewährt,
meistens auf solche Weise, daß, falls die Genossenschaft aus
ihm und sieben ärmeren Teilnehmern besteht, er 41/2 oder
3V2 Teile bekommt, und die übrigen je y2 oder Va-
Der Samojede ist selten eines Verbrechens fähig, weil
x) Schrenck, Reise rc.
ch Schaschkosf, Die Samojeden von Archangelsk rc.
3) Archangelskija gubernskija wjedomosti 1867, Nr. 82.
sein Charakter friedfertig, gesellig und sanft ist. Der Ein-
fluß der Russen und Syrjanen wirkt sehr nachteilig auf die
Samojeden und es kommt vor, daß sie abgefeimte Spitz-
buben werden, so z. B. verkaufte ein Samojede einem
russischen Händler in Pustosersk Kreuzsuchsfelle, wobei
natürlich tüchtig getrunken wurde; der Russe unterlag im
Trinken und schlief ein; der schlaue Samojede nahm das
Geld und die schon verkauften Felle, verkaufte sie wieder
einem andern Händler und verschwand mit dem Erlös spur-
los in der Tundra. Ein andrer Samojede spannte vom
Schlitten eines betrunkenen Händlers, welcher gefrorene
Fische nach Pinega brachte, zwei Renntiere ab I. Todschlag
kommt bei den Samojeden verhältnismäßig oft vor, weil
sie im Zustande der Trunkenheit immer Streit suchen,
welcher bald in eine großartige blutige Schlägerei ausartet,
vorsätzliche Morde dagegen sind selten und ein Raubmord
kam bis jetzt nur einmal vor2). Selbstmorde sind nicht
selten, wobei Männer sich erschießen, Weiber sich erhängen,
als Hauptmotiv kann man unglückliche Familienverhältnisse
betrachten. Der sonst sehr ehrliche Samojede, welcher sein
Hab und Gut nur dem Schutze des hölzernen Götzenbildes
überläßt und weit davon mit seiner Familie der Jagd und
dem Fischfang obliegt I, stiehlt häufig Renntiere, was er
gar nicht als ein Verbrechen, sondern als eine Art Jagd
betrachtet, deshalb erklärt sich die eigentümliche Thatsache,
daß, wenn ein Samojede dem andern zehn Renntiere ge-
stohlen hat, der Bestohlene keine Klage darüber beim Gericht
erhebt, sondern noch mehr Renntiere dem Diebe wegzutreiben
sucht, als der bei ihm gestohlen hatH. Namentlich sind die
Samojeden, welche ihr Nomadenleben aufgegeben haben und
ansässig geworden sind, durchtriebene Diebe, so sind z. B.
die Bewohner des Kirchdorfes Kolwa berüchtigte Renntier-
diebe y. Findet ein nomadisierender Samojede in der
Tundra Häute der von einem andern Samojeden auf der
Jagd erlegten Tiere, welche mit dessen Stempel versehen
sind, so nimmt er, falls er welche braucht, einige Häute mit
und läßt einen Kerbstock mit so vielen Einschnitten zurück,
als er Häute mitgenommen hat, und drückt auf denselben
seinen Stempel. Dieser gestempelte Kerbstock gilt dann als
Schuldschein *0. In der Kanin - Tundra übten die er-
bitterten Samojeden nicht selten Lynchjustiz an den scham-
losen russischen Händlern, indem sie dieselben überfielen,
ihnen ihren ganzen Branntweinvorrat abnahmen und sie
aus der Tundra vertrieben, unter Androhung, nächstes Mal
sie dem Gerichte zu überliefern2).
Nach dem Archimandriten Benjamin lehren die Tadibei
(Schamanen) den Heiden folgende Moralregeln:
1. Ehre deinen Vater und deine Mutter. 2. Ehre
und achte ältere Personen. 3. Klage keinen Menschen ohne
Grund an und spotte nie über einen andern. 4. Du
sollst nicht uwrdcn und stehlen. 6. Liebe deine Frau und
trage nie Verlangen nach einer fremden. 6. Sei nicht
stolz. 7. Betrinke dich nicht. 8. Rede keinen Unsinn.
9. Gieb einem Bittenden, damit er nicht ohne eine Unter-
stützung dich verläßt; dafür wird Gott dir noch mehr geben 8).
U Maximoff, Ein Jahr im Norden.
2) Archangelskija gubernskija wjedomosti 1868,
Nr. 28 u. 29.
3) Schrenck, Reise rc.
I Nach einer Mitteilung de? russischen Pfarrers Joseph
Cinzosf.
Hosfmann, Der nördliche Ural und das Küstenaebirac
Pae-Choi.
0) Archangelskija gubernskija wjedomosti 1870, Nr. 22.
7) Tie russische Regierung Hat eigentlich die Einfuhr von
Branntwein in die Tundra der Samojeden streng untersagt.
Wie diesem Befehle die russischen Händler nachkommen, ersieht
der Leser aus dieser Abhandlung.
8) Archim. Benjamin, Ethnograph. Sannnl., Bd. IV.
P. v. Stenin: Das Gewohnheitsrecht der Samojeden.
189
Die Gemeinde (hier rod — das Geschlecht) übt einen
sehr großen Einfluß auf das ganze Leben der Samojeden,
namentlich bei denjenigen in der Bolschesemelskaja Tundra.
Schrenck teilt alle Samojeden in ethnographischer Hinsicht
in drei Stämme (samojedisch: taenz1): Lagae, Wanoita
und Harnzi (Karatschei) ein. Diese Stämme zerfallen in
Geschlechter (samojed. jerkar) und Zweige (russisch: pokol-
jenija), z. B. der Stamm Lagae besteht aus den Geschlechtern:
1. Ilaetynzei, 2. Paganzei (die Bewohner des Meer-
busens, von der Bai Haejodepaedaera so benannt),
3. Taiwori, 4. Tysyi, welches in zwei Zweige: Hohotysyi
(Polarfuchstysper) und Wonakaiia (Hundeschlitten) zerfällt,
5. Hoho (Polarfüchse), 6. Sadaei, 7. Paedraeggasowo
(die Waldsamojedcn), 8. Gyivai, 9. 8eda und 10. Waerae.
Der Stamm Wanoita zerfällt in folgende Geschlechter:
1. Wyutschi, welches die Zweige Laptander und Lamdui
umfaßt, 2. Walei, 3. Pyrirky, 4. Ilude, 5. Horolo,
6. Saeraedaeta, 7. Gokdaeta, 8. Jaeptik, 9. Myd,
10. Jabene, welches in zwei Zweige: Apizyn und Waraet-
syn zerfällt. Die Samojeden erzählen verschiedene Sagen
von der Entstehung der Namen dieser Geschlechter und
Zweige, so leitet das Geschlecht Seda seinen Namen von
einem Häuptling ab, welcher kindisch geworden war und den
seine Enkel in den Schlaf singen mußten. Waerae leitet
seine Abstammung von einem Samojeden ab, welcher aus
der Bolschesemelskaja nach der Nalosernelskaja (Timan-)
Tundra eingewandert war, und wenn man von ihm sprach,
so hieß es: „xvaeraeta jagghamy“ (bei ihm jucken die
Fußsohlen* 2 3). Lamdui betrachtet als seinen Ahnherrn einen
Mann von sehr kleinem Wuchs, welcher deshalb „lamdo“
(klein von Wuchs) hieß. Als Ahnherr des 8aeraedaeta
gilt ein Mann, welcher weiße Renntiere (8ar — weiß, ta =
Renntier) und als derjenige des Gokdaeta, welcher sehr
viele Renntiere (gok — viel, ta — Renntier) besaß.
Der Ahnherr des Wonakana kam einst aus dem Ost-
jakenlande her, wo man Hundeschlitten (wonka — Hnnd,
han — Schlitten) benutzt. Andere Kenner der Samojeden,
wie W. Jsslawin und der Archimandrit Benjamin, teilen
alle Samojeden in sechs Geschlechter ein: 1. lyssyi mit
den Zweigen ,jarn (jam — Meer), laptander (aus den
Moosinseln — lapta hausend), nogo (nogo — Polar-
fuchs), pagancjeda (paga — Meerbusen, ejeda — Vulkan),
ciu-ejeda (von ciu — sieben und ejeda — Vulkan),
2. Logei mit den Zweigen cjadei (cja — Berg, icjadei =
Bcrggötzc), uanakan (uan — Hund), vylka, pyrerka
(pyre — Hecht), 3. Wyut8ehi (Biber), 4. Ghatan8ei,
5. Walei und 6. Wanoita3). Im Gouvernement Archan-
gelsk giebt es unter den Samojeden keine Fürstengeschlechter,
welchen solche hochangeschencn kriegerischen Häuptlinge ent-
sprießen, wie Wauli Piettomin und Mairi Chadhk, die
1841 einen förmlichen Aufstand unter den sibirischen
Samojeden organisierten, die Ostjakenhauptstadt Obdorsk
mit bewaffneter Hand eroberten und den Ostjakenfürstcn
(kn,ja8ek) absetzten4), sondern nur eine Geldaristokratie,
welche sich allmählich zu den höchsten Ämtern in den Tundren
aufgeschwungen hat und erblich geworden ist3). Heutzutage
besetzen diese Aristokraten regelmäßig alle öffentlichen Ämter
unter den Samojeden. Die Samojeden von Archangelsk
werden nämlich von zwei Häuptlingen (8tar8ehina) regiert,
taenz heißt im samojedischen Volk, z. B. Lut8ae-taenz
= die Russen, Habij-taenz = die Oft jäten. Schrenck, Reisen re.
2) Daher heißt bei den Samojeden der Tschcrnaja-Fluß,
an welchem er angeblich einst kampierte, Wara.
3) Jsslawin, Die Samojeden rc. Archimandrit Benjamin,
Die Samojeden von Mesen.
Schaschkofs, Die, sibirischen Samojeden 1879.
5) Werestschagin, Übersicht des Gouvernements Archangelsk.
unter einem stehen die Horden in der Malosemelskaja oder
Timan - Tundra und ans der Kanin-Halbinsel, unter dem
andern diejenigen der Bolschesemelskaja Tundra; der
letztere hat zwei Gehilfen: einen in Ust-Zylma, den andern
in Jshma. Diese Beamten werden von der Gemeindever-
sammlung auf drei Jahre gewählt. Diese Versammlungen
werden selten zusammenbcrnfen, nur die Samojeden der
Kanin-Halbinsel halten alljährlich zwei Versammlungen ab,
eine im Herbst am Flusse Gnbenicha, die andre im Dorfe
Nessj, wo ihr Gemeindeschreiber wohnt und eine samojcdische
Kirche sich befindet. An der Spitze des Geschlechtes steht
ein h'otskij (der Vorgesetzte über hundert Mann), welcher
den Jassak eintreibt und den Polizeidienst versieht, sein Amt
ist erblich I. Außer dem Jassak -) beschränken sich die
Verpflichtungen der Samojeden dem Staate gegenüber nur
auf die Unterhalung der Postvcrbindung zwischen Nessj und
fliömsha. Welche beinahe abergläubische Furcht die Samo-
jeden vor einem russischen Beamten haben, schildert Castren,
welcher unterwegs einen Samojeden traf. „Wohin?"
fragte der Reisende. „Nach der nächsten Branntweinschenke!"
war die Antwort. Castren erklärte dem Samojeden, daß
er ein reisender Beamter wäre, und erkundigte sich nach der
Zahl seiner Renntiere. Der Samojede riß sich augenblick-
lich die Mütze vom Kopfe, warf sich ans die Kniee vor dem
Reisenden und flehte ihn um Gnade an3).
Die samojedischen Schamanen (Tadibei) sind zugleich
Wahrsager und Arzte. Ihr Amt ist erblich in einer Fa-
niilie, denn niemand darf Tadibei sein, ohne aus einer
Tadibcifamilie abzustammen. Tadibei kann sowohl ein Mann
als auch ein Weib werden, das letztere aber nur dann, wenn
kein männlicher Erbe in der Familie existiert4).
Nicht nur die heidnischen Samojeden, sondern auch die
getauften und die Russen im Gouvernement Archangelsk
glauben an die übernatürliche Macht der Tadibei und ihren
Verkehr mit den bösen Geistern. Maximoff schreibt der
Kurpfuscherei der Tadibei die große Sterblichkeit unter den
Samojeden zu, welche selten das fünfzigste Lebensjahr er-
reichen 5). Für ihren Opferdienst oder ihre Zauberei (wofür
bei den Russen des Nordens ein terminus technicus: „bitj
kudessa“, eigentlich Gaukeleien schlagen, existiert) werden
die Tadibei mit Renntieren und andern Sachen beschenkt,
doch nur dann, wenn ihre Mühen von Erfolg gekrönt
werden, wenn ihre Prophezeiung nicht eintrifft, oder der
Tod des Kranken erfolgt, müssen sie die erhaltenen Geschenke
zurückgeben 6). Der Tadibei erhält auch ein Renntier für
Absolution einer Wöchnerin von der Sünde der ehelichen
Untreue, welcher die Samojeden schwere Geburten zu-
schreiben 7). Nach dem Buchstaben des Gesetzes entscheidet
der Häuptling in allen Gerichtssachen, mit Ausnahme des
Aufstandes gegen die kaiserlichen Behörden, des Mordes, des
0 Nach dem Berichte der Kommission zur Erforschung des
Petschora-Gebietes.
2) Beim Steuereintreiben haben die russischen Händler
wieder ein Mittel gesunden, die Samojeden zu betrügen, indem
sie für eine geringe Geldsumme von den Beaniten sich das
Recht erkaufen, den Jassak einzutreiben und anstatt des fest-
gesetzten Tributes von nur einem Rubel pro Mann je nach ihrem
Gutdünken 2 bis 2 Rubel 50 Kopeken von den unwissenden
Nomaden erpressen. (Maximoff, Ein Jahr im Norden.)
3) Castren in der Zeitschrift „Cowremennik“ für das
Jahr 1845.
4) Archangelskija gubernskija wjedomosti 1849, Nr. 12.
5) Maxim off, Ein Jahr im Norden. Dabei übersieht er
die für die Gesundheit des Volkes schrecklichen Folgen der
Trunksucht, die Syphilis und den Skorbut, welche auch ohne
die Tadibei die Zahl der Samojeden von 70000 Seelen auf
etwa 5600 zu reduzieren vermochten.
3) Arehangeiskija gubernRkija wjedomosti 1849, Nr. 12.
7) v. Poschmann, Beschreibung d. Gouverneur. Archangelsk.
190
Büchcrschau.
Raubes, der Notzucht und der Falschmünzerei, jedoch de
facto teilt er seine richterliche Gewalt mit der Gemeinde-
versammlung, welche eigentlich die entscheidende Stimme hat.
Statt des Eides nimmt der getaufte Samojede ein Heiligen-
bild (ikona) von der Wand und legt sich dasselbe auf den
Kopf mit den Worten: „Möge Gott mich totschlagen, wenn
ich schuldig bin." Die heidnischen Samojeden halten noch
an der alten Form des Eides (rotta) fest, indem sie ein
aus Schnee oder Erde verfertigtes Götzenbild entzwei-
schneiden und dabei sagen: „Möge ich ebenso entzwei-
geschnitten werden, wenn ich eine Unwahrheit gesagt habe,
und daß ich morgen nicht aufstehe, sondern wie ich schlief,
ewig liegen bleibe!" oder sie benagen die Haut oder die
Schnauze eines Bären mit dem Ausruf: „Möge mich das
Tier so benagen, wie ich jetzt es benage^)!" Castrcn
i) Otetschestwennyja Sapiski 1830. Fin irländisch er Bote
1845, Nr. 4.
berichtet, daß bei den Samojeden noch folgende Eidesformel
existiert: Ein Götzenbild aus Stein, Holz, Erde oder Schnee
wurde verfertigt, vor ihm ein Hund geschlachtet und dabei
rief man dem Angeklagten zu: „Wenn du gestohlen hast, so
wirst du wie dieser Hund sterben!" Dieser Eid wird von
den Samojeden sehr gefürchtet und jeder Verbrecher gesteht
lieber feine Schuld ein, als daß er sich diesem Eide unter-
zieht. Auch giebt cs noch eine Art feierlichen Eid, welcher
darin besteht, daß alle Beteiligten sich ganz nackt ausziehen,
mit Andacht die Worte: „Möge Gott uns bestrafen, die
Erde uns verschlingen und reißende Tiere unsre Körper zer-
fleischen!" sprechen, einen schwarzen Hund schlachten, dessen
noch zuckendes Herz sowie die Schnauze eines Eisbären ver-
zehren und mit dem Blute des geschlachteten Tieres ihre
thöncrnen Götzen beschmieren *)•
]) Archangelsks a gubernskija wjedomosti 1846,
Nr. 11.
Büchcrschau.
Philipps»«, Alfr., Der Peloponnes. Versuch einer
Landeskunde auf geologischer Grundlage. Nach Ergeb-
nissen eigener Reisen. Nebst einer geologischen und einer
topographisch-hypsometrischen Karte mit Isohypsen (in je
vier Blättern, Maßstab 1:300000), einer Profiltafel und
40 Profilskizzen im Text. Herausgegeben mit Unterstützung
der Geselljchast iür Erdkunde in Berlin, Abt. I (B. 1 bis
272). Berlin. N. Friedländer u. S., 1891. 8". Preis pro
kompl. 45 Mk.
Wir besaßen über die Peloponnes — leider haben die
Namen Peloponnes und Moreas in den meisten modernen
Sprachen ihr Geschlecht vertauscht — ziemlich viele geographische
Arbeiten, aber kein zusammensassendcs Werk aus neuerer Zeit.
Aus dem Fonds der Karl Ritter-Stiftung war Herr Dr.
Philippson in den Stand gesetzt worden, auf mehreren Exkur-
sionen 1887 und in den folgenden drei Jahren die ganze Pelo-
ponnes nach den verschiedensten Richtungen hin zu bereisen und
zu durchsorschen. In zahlreichen Monographieen gab er von
den Resultaten seiner Beobachtungen Kenntnis. Auch diese Zeit-
schrift brachte im Jahrgang 189t) aus seiner Feder eine Studie
über die Volkswirtschaft der Griechen.
Nunmehr hat Herr Philippson, der übrigens auch in
Nord- und Mittelgricchenlnnd geologische Forschungen anstellte,
die Ergebnisse seiner peloponnesischen Studienreisen in einem
Werke zusammengefaßt, dessen hier angezeigter erster Teil eigent-
lich ein ausführlicher Kommentar zu der beigegebenen geologi-
schen Karte ist.
Als seine Hauptaufgabe betrachtete der Verfasser die geo-
logische Erforschung des Landes „als die wichtigste Grundlage
für alle andern Zweige der Geographie und als dasjenige
Wissensgebiet, in dem hier noch alles zu thun war". Er kam
nämlich bei seinen Untersuchungen, namentlich was Tektonik
und Stratographie betrifft, zu andern Ergebnissen als die Geo-
logen von der exped. scient. de la Moree. Sein Verfahren
bei der Schilderung der einzelnen geologischen Gebiete ist fol-
gendes: zuerst werden die Reisetage und die Reiserouten kurz
angegeben, dann eine topographische Übersicht geliefert, die
Einzclbeobachtungcn mitgeteilt und endlich die Resultate zu-
sammengefaßt. In der vorliegenden Abteilung behandelt der
Verfasser nachstehende Haupt- und Unterabschnitte: A. Das
ostpeloponnesische Gebirge: I. Die Landbrücke zwischen Mittel-
griechenland und der Peloponnes und zwar 1. den Jsthmos
von Megara, der zum größeren Teil aus jungtertiären Ge-
bilden ausgebaut ist, 2. das Geraneiagebirge, das a) aus
grauem Kalk, b) Serpentin, c) Nudistenkalk, d) Quarztrachyt,
e) Ncogenmergel und Konglomeraten besteht. Er geht dann in
der Beschreibung nach Süden zur (II.) sedimentären Halbinsel
Argalis, die er in folgende Unterabteilungen zerlegt: 1. in das
neogene Schollenland von Chiliomodion, 2. in das Kalk-
gebirge von Cheli lfvlgendermaßen geschichtet: a) Sandstein,
b) Kalk von Cheli sheller, gelblicher bis grauer, dichter bis halb-
kristallinischer Kalkstein an der unteren Grenze der griechischen
Kreideformation), c) Schiefer. Serpentin u. f. w., d) Kalk von
Epidauros (Krcidcformation), 6) cocäner, schwarzer, niassigcr
oder grob geschichteter Nummulitenkalk (Tripolitzakalk), f.) Flysch-
Sandstcin und -Thonschiefer, g) Neogenablagerungen an den
Säumen). 3. das Kalkgebirge von Phanüri und das
Schicfergebirge Aderes. 4. Das Gebirge von Nau-
plia: a) untere Kalketage, b) Schiefersandsteinformation mit
Serpentin, c) obere Kalkctage. 5. Alluvial-Tiefebene von
A r g o s.
U. Das zentralpcloponncsische Gebirge: I. das arkadische
Gebirgsland: 1. Das argolisch-arkadische Grenzgebirger
a) Glimmerschiefer, b) Tripolitzakalk, c) Kalkschiefer und Sand-
stein, d) Olonoskalk (ein Heller, dichter Plnttenkalk ohne Fossi-
lien, nach einem 2224 m hohen Gipfel des archäisch-arkadischen
Grenzgebirges genannt fält Erymanthos)). 2. Das ähnlich an-
geordnete arkadische Gebirgsland in engerem Sinne und
die ostarkadische Hochebene. II. Die Hochgebirge und das
Stusenland des östlichen Achaïa, der Sikyonia und Phliasia
in zwei scharf gesonderten Schichtgruppen, nämlich einer stark
gefalteten und steil aufgerichteten Vvrneogenen Schichtreihe (Siria
(geologisch besonders interessant) und Chelmüs (hier Vergletsche-
rungsspuren)) und nicht gefalteten, sondern horizontal oder flach
gelagerten, bis zu sehr bedeutender Meereshöhe ansteigenden
Neogenablagerungen, die im Osten unmittelbar mit dem Schollen-
land von Chiliomodion verwachsen. III. Das Parnongebirge mit
stark zusammengefalteten kristallinischen Schieferschichtgruppen
mit darüberliegenden mächtigen Kalkmassen von der Tripvlitza-
stufe, die wieder zuerst von Flysch und darauf von Olonoskalk
überlagert werden. IV. Der Taygetos, die mächtigste Auffal-
tung der Peloponnes, ein kristallinisches Zentralmassiv, darüber
der Tripolitzakalk; das Neogen tritt in marinen und unterplio-
cänen Binnensee-Sedimenten auf. Nordwestlich von dem durch
einen großen Querbruch ausgezeichneten Nordende des Taygetos
tritt das kristallinische Grundgebirge in dieser Richtung auf
griechischem Boden nicht mehr zu Tage. V. Das Becken von
Megalopolis: blauer Mergel, darüber Alluvium.
6. Das wcstpeloponnesische Gebirge: I. Der Woïdiâs:
Flysch, darüber stark zusammengefalteter, sehr dichter Platten-
kalk; der Hornsteinkalk bildet die unmittelbare Fortsetzung der
plattigen Hornsteinkalke der ätolischen Kalkalpen und verbindet
sich ohne Unterbrechung mit den Olonoskalkcn; ebenso ist der
Flysch Mittelgriechenlands und Achaïas identisch. Hier bricht
die erste Abteilung mitten im ersten Buch (speziellen Teil) ab.
Ein allgemeiner Teil ist in Aussicht gestellt.
Der erste Teil enthält die Resultate außerordentlich vieler
Peilungen. Die Höhen wurden mittels Aneroidbarometern
gemessen, deren Korrektion nicht mit genauester Sicherheit be-
stimnit werden konnte (S. Zeitschrift der Gef. f. Erdk. zu Berl.
1889, S. 331 ff.). Die so gewonnenen Höhenkoten weichen
von den Zahlen der Carte de la Grèce im allgemeinen er-
heblich ab. Die Arbeit macht den Eindruck großer Zuverlässig-
keit. Herr Philippson ist so offen, auf die Punkte, die ein-
gehenderer Erforschung bedürfen, hinzuweisen.
Zwischen der eingehenden geologischen Beschreibung finden
sich zahlreiche dankenswerte Notizen über Windgang, Klima,
Pflanzendecke, Vegetationsbcdingungen, über die Bewohner, die
Aus allen Erdteilen.
191
Besiedelungsbedingungen und die Siedelungsgeschichte in Alter-
tum und Jetztzeit, über die wirtschaftlichen Verhältnisse einge-
streut. Auch der Reste aus dem Altertum wird öfters gedacht.
Die unterseeischen Ruinen bei Ptitra (Bursian: Pulitra) in
der Bucht von Xyli werden der Aufmerksamkeit der Archäo-
logen empfohlen. Wenn die Toponomastik, die gelegentlich be-
rücksichtigt ist, im zweiten Teil etwa im Namensvcrzeichnis
eine besondere Behandlung erführe, wäre das für diesen Wissens-
zweig der Geographie um so erfreulicher, als er für die östlichen
Mittelmecrgebiete noch nicht recht gefördert ist. Nicht jeder
Geograph weiß z. B., daß Myjesswrissis Fliegenguelle be-
deutet. Daß in einein umfangreichen Buch, das so viele Namen
und Zahlen enthält, Inkonsequenzen, unrichtige Schreibungen
und Acceutuierungen zuweilen vorkommen, ist zu entschuldigen.
Es möge nur auf ein Versehen hingewiesen werden, das sich
von der „Bemerkung über die Schreibweise der Ortsnamen" an
durch den ganzen Teil hinzieht und unter dem auch die Namen
auf der Karte leiden: Dem Text wurde die landesübliche Aus-
sprache zu Grunde gelegt. Für av ist als Schreibweise nur
uv, für ev nur ev angegeben, so das also Avgo und Navplion
geschrieben wird. Nun scheiden aber alle in der Jetztzeit
griechisch redenden Stämme ganz scharf zwischen der Aussprache
von ((v, sv und i]v vor Liquiden und sogenannten weichen Kon-
sonanten und zwischen der Aussprache, wenn dieselben Silben
vor (neun) sogenannten harten Konsonanten stehen. Bor ersteren
lauten dieselben uw, ew, iw, vor letzteren aber af, es, if, mit
scharf ausgesprochenem H-Laut; a lautet am Anfang, in der
Mitte und wen» es am Ende der Wörter überhaupt ausge-
sprochen wird, wie 88 in Messe.
Das Lltteraturverzeichnis wird erst der zweiten Abteilung
beigegeben werden. Wenn Bursians Geographie von Griechen-
land ein trockenes Buch genannt wird, so möge die Bemerkung
gestattet sein, daß die allerwenigsten Verfasser gelehrter Hand-
bücher die glückliche Gabe eines E. Curtius oder V. Hehn be-
sitzen und daß es bei einem wissenschaftlichen Werk vor allem
aus den Inhalt ankommt. Was das betrifft, daß die Griechen
nicht selbst die Erforschung ihres Landes in die Hand nehmen,
so inöchte das in etwas damit entschuldigt werden, daß die
Pflege der Naturwissenschaften auf griechischen schulen ganz
jungen Datums ist und daß gerade die genannten Wissenschaften
nur nach langjährigem, sorgfältigen Betrieb sich gedeihlich ent-
wickeln.
Die Profilzeichnuugen im Buche sind übersichtlich und
deutlich. Ebenso die Karte, die aus Grund der Karte der
französischen Morea-Expedition mit streckenweiset Zuhilfenahme
der einschlägigen Küstenkarten des britischen Hydrographie
Office entworfen ist. Nur wird die Übersicht über die Iso-
hypsen auf den Gebieten, die mit gestrichelten geologischen Be-
zeichnungen bedeckt sind, einigermaßen gestört. Indes wird ja
die topographisch-hypsometrische Karte auch wieder die Isohypsen
bringen.
Hoffentlich wird der zweiten Abteilung, der wir mit
Spannung entgegensehen und deren Inhalt die weitesten Kreise
der Geographen anziehen dürste, ein recht umfängliches Namen-
und Sachregister beigegeben werden. — Jeder, der unter ähn-
lichen Umständen Forschungsreisen im östlichen Mittelineergebiet
unternommen hat, weiß, wie vielen Beschwerden, Entbehrungen,
ja sogar Gefährdungen sich der Reisende unterziehen muß und
wird dem Verfasser für seine Arbeitsleistung Bewunderung
und Dank zollen. L. Bürchner.
Aus allen
— Pearys Nordpolarexpedition (vergl. S. 63
dieses Bandes) ist im Beginn von Mißgeschick betroffen wor-
den. Der Whale-Sund, wo man landen wollte, war durch
Eis versperrt und die Expedition war daher gezwungen, in der
M'Cormick-Bai des Murchison-Snndes ans Land zu gehen.
Das Durchfahren der Melville-Bai war des Eises wegen mit
großen Schwierigkeiten verknüpft, so daß man drei Wochen zur
Bewältigung von 160 km gebrauchte. Peary hatte dort das
Unglück, daß durch das Zurückschlagen der eisernen Ruderpinne
ihm das Bein unter dem Knie zerbrochen wurde; doch ging die
Heilung gut vor sich. Der arktische Dampfer „Kite", welcher
diese Nachricht nach Neufundland überbrachte, verließ Peary
am 30. Juli. Er bringt verschiedene nordische Produkte
mit, auch einen 300 Pfund schweren Meteoriten. Peary
beabsichtigt im Herbste den Humboldtgletscher zu erforschen
und alsdann nach dem Nordende Grönlands aufzubrechen.
— Der Zensus des Dominion of C'anada 1891
ergab eine Einwohnerzahl von 4823 344 gegenüber 4324 810
im Jahre 1881. Diese Zunahme von rund 500000 beträgt
11,52 Prozent, aber gegenüber dem Jahrzehnt 1871 bis 1881
eine Abnahme, denn damals betrug die Zunahme 18,97 Pro-
zent. Die östlichen, am Meere gelegenen Teile, zumal Neu-
Schottland, Neu-Braunschweig, Prinz-Edward-Jnsel sind im
Stillstände, während westlich von Ontario sich eine starke
Zunahme zeigt. Manitoba zeigt eine Zunahme von 148 Pro-
zent, die Nordwestprovinzen von 140 und Britisch Eolumbia
von 87 Prozent. Die Provinz Ontario hat jetzt 2 112 989,
die Provinz Quebek 1 488 586 Einwohner.
— Mrs French Sheldon gehört zu den Frauen, die,
ohne besondere wissenschaftliche Ausbildung, doch daran Freude
finden, große Reisen zu unternehmen. Sie ist etwa von dem
Schlage unsrer Jda Pfeiffer und hat den Kilimandscharo
allein, ohne einen weißen, männlichen Begleiter, besucht und
ist zu dem dort am Ostabhange gelegenen Kratersee Dschala
hinabgestiegen. Es lag ihr, so erzählte sie ans der britischen
Erdteilen.
Natnrforscherversammlnng in Cardiff, nur daran, die Sitten
primitiver Menschen kennen zu lernen; sie stellte sich in San-
sibar eine Trägerkarawane von 130 Mann zusammen, die
sie selbst führte und der sie ganz allein gegenüberstand, da ihre
weiße Dienerin erkrankte. Alle die vielen Mühseligkeiten
und Widerwärtigkeiten, die mit den Trägern durchzumachen
sind, hat auch Frau Sheldon erlebt, hat sie bemeistert und
gelegentlich hat sie die Peitsche gebraucht. Manchmal, so sagt
sie, hätte sie Lust gehabt, den einen oder andern Träger nieder-
zuschießen. Sie hat auf dem Marsche alles ertragen, was
harten Männern schwer angekommen ist und wurde von den
Eingeborenen als woman master bezeichnet, ja, sie wurde,
weil sie es verstand mit den Negern zu verkehren, „wie eine
Fürstin" von diesen behandelt. Ihrer Weiblichkeit, so er-
zählt Frau Sheldon, habe sie auf der Reise nichts vergeben
und als einst eine Schar Krieger vollkommen nackt in ihrem
Lager erschien und dieses ihr nicht angenehem war, merkten
die feinfühligen Schwarzen die Sache und waren am andern
Tage hübsch verhüllt. Der gelungene Besuch des Kratersees
Dschala durch Mrs Sheldon ist in diesem Bande S. 96 ge-
schildert worden.
— Große Höhlen sind in Oregon im Josephine
County in der Nähe von Kirby entdeckt worden. Sie liegen
im Kalkstein und sind durch zwei schmale Öffnungen zugängig.
Die Gänge, Kammern, Dome, alle mit herrlichen Stalaktiten
geschmückt, sollen an Ausdehnung und Schönheit noch die be-
rühmte Mammuthhöhle in Kentucky übertreffen. Nahe dem
Eingänge wurden Überreste von Bären aufgefunden.
— Die deutsch - ostafrikanische Küste ist durch Ver-
ordnung des Gouverneurs vom 9. April in folgende fünf
Bezirke eingeteilt worden. 1) Tanga mit Pangani; 2) Baga-
mojo mit Saadani; 3) Dar - es - Salaam, im Norden durch
den Bezirk Bagamojo, im Süden durch die nördliche Rnfidschi-
Mündung begrenzt; 4) Kiltva, derselbe reicht von der nörd-
lichen Rufidschi-Mündnng bis zu einem Punkt, welcher in der
192
Aus allen Erdteilen.
Mitte zwischen den Orten Kisiwaui und Kiswere liegt;
5) Mgan, begrenzt im Norden durch den Bezirk Kilwa, im
Süden durch den Fluß Rowuma. Eine genaue geographische
Abgrenzung dieser Bezirke soll noch erfolgen.
— Die Verteilung der Bevölkerung der Union
nach der Höhenlage ergiebt sich aus einem Berichte des
„Geographen des Zensusamtes", Henry Gannett. Über
ein Sechstel der Bevölkerung lebt in einer Höhe bis zu
100 Fuß, eine Stufe, welche im allgemeinen die Meeres-
gestade und die alluvialen und sumpfigen Regionen des
Südens umfaßt. Mehr als Dreiviertel leben unter 1000 Fuß.
In große Höhen ist die Bevölkerung noch nicht oder doch
sehr wenig vorgedrungen. In der Area unter 500 Fuß
lebt die ganze Bevölkerung, welche Handel und Industrie
treibt, sowie diejenige, welche der Banmwoll-, Reis- und
Zuckerknltur obliegt. Die Stufe von 500 bis 1500 Fuß
umfaßt den größten Teil der Präriestaaten und der Getreide-
banenden Rordweststaaten. Im Osten des 98. Meridians
zeigt die Höhenlinie von 1500 Fuß die Grenze der Be-
völkerung an; darüber hinaus ist das Gebirge unbewohnt.
Die zwischen 2000 und 5000 Fuß seßhafte Bevölkerung findet
sich hauptsächlich am Abfall der großen westlichen Ebenen.
In dieser Region ist die Stufe zwischen 2000 und 3000 Fuß
der streitige Boden zwischen dem trockenen Plateau der Felsen-
gebirge und den feuchten Landschaften des Mississippithales.
Über 3000 Fuß ist, wenn Ackerbau ermöglicht werden
soll, fast überall eine künstliche Bewässerung nötig. Zwischen
4000 und 6000 Fuß steigt die Bevölkerung wieder und
ist dichter als in der zunächst unter 4000 Fuß liegenden
Stufe. Der Grund hierfür ist die Ansiedelung am östlichen
Abfalle der Felsengebirge und in den Thälern ain Großen
Salzsee, Regionen, die zwischen 4000 uub 6000 Fuß liegen.
Die über 6000 Fuß wohnende Bevölkerung in Colorado,
Ren-Mexiko, Nevada und Californien lebt einzig und allein
vom Bergbau.
In allen Höhenstufen nimmt die Bevölkerung absolut zu.
Je höher aber, desto mehr wächst sie relativ und dieses
relative Wachstum ist am größten in der Stufe zwischen
1000 iiitb 6000 Fuß. Am dichtesten wohnen die Nord-
amerikaner in dem an den Meeresgestaden sich hinziehenden
schmalen Striche, wo auch die meisten großen Städte liegen.
Die Dichtigkeit vermindert sich allmählich bis zur Höhe von
2000 Fuß, wo dieselbe äußerst dünn wird. Abgesehen von
Alaska betrügt die mittlere Höhe der Vereinigten Staaten
2500 Fllß. Die Durchschnittshöhe der ganzen Vereinigten
Staaten, in welcher Menschen wohnten, betrug im Jahre
1870 erst 687 Fuß; sie rückte 1880 auf 739 Fuß vor und
stieg 1890 auf 788 Fuß.
— Erforschung des Kebbi-Benutz. Die Wasser-
verbindung zwischen Benutz und dem Tsadsee scheint nach
einem Reiseberichte des Majors Claude M. Macdonald nicht
zu existieren. Bisher nahm man an, daß die Snmpfland-
schaft Tuburi, bis zu welcher 1854 der deutsche Reisende
Dr. Vogel vordrang, nicht nur mit dem Flußgebiete des
Schari, also mit dem Tsadsee, in Zusammenhang stehe, sondern
daß auch ans dieser Snmpflandschaft der Kebbi fließe, der
oberste Nebenfluß des Benutz. Macdonald, der britische
Oberkommissär für das Gebiet der Ölflüsse, erstattete über
seine Reise der Britischen Geographischen Gesellschaft genaue
Mitteilungen (Proceedings 1891, VIII), welche über die
Hydrographie des oberen Benutz ganz Neues bringen. Bei
Tepe (Tatzpe) am oberen Benutz, an der Barthschen Reise-
route von 1851, mißt der Strom 270 m Breite bei einer
Tiefe von 30 ui. Weiter aufwärts liegt Garua (Gurua),
die am weitesten vorgeschobene Station der Britischen Royal
Niger Company, wo der Strom 600 ui breit ist, und 10 bis
12 ui tief. Es ist zweifellos, daß die Benutzquellen südlich
in der Nähe der Bnbandjiddaberge zu suchen sind. Die
englische Karte giebt diesen Teil nur als ungewiß
in gestrichelten Linien, trotzdem über die Quell-
flüsse die Flcgelschen Beobachtungen in der hübschen
Verarbeitung von Kiepert vorhanden sind sMit-
teilungen der Afrikanischen Gesellschaft in Deutschland, Bd. V,
Tafel 8). Flegel überschritt sämtliche Qnellflüsse, von denen
der nördliche 15 rn breit ist, auf seiner Reise nach Ngaundere.
Die Wasserscheide liegt hier etwa 1260 iu hoch und der süd-
lichste Quellbach, nach Angabe der Eingeborenen der eigent-
liche Benutz, bildet im obersten Teile Stnrzbäche von ungefähr
300 iu Fall.
Der Kebbi war bisher von einem Weißen noch nicht be-
sucht worden. Macdonald fand ihn bei seiner Einmündung
in den Benutz 230 m breit, aber nur 3 iu tief, und zwar
im August 1890 bei sehr hohem Wasserstande. Der Fluß
bewässert ein gut kultiviertes und bevölkertes Land. Zwischen
bergigen, bewaldeten Ufern, über welche einige Wasserfälle
herabstürzen, wurde der Ort Kakn erreicht. Hier breitet sich
der Fluß zn einem seeartigen Sumpf, Nabarat, aus, der aber
in der Trockenzeit nur ein Viertel seines größten Umfanges
hat. Im Süden sah man bewaldete Berge, das Land nörd-
lich und östlich war offen und leicht gewellt, Nordöstlich
vom Nabarat liegt die 6000 Einwohner zählende Stadt
Bifara oder Bifare. Hier war die Schiffahrtslinie nur noch
7 iu breit und 1 ur tief bei schnellster Strömung. Nicht
weit davon war der Reisende zur Umkehr gezwungen, da hier
nur 60 cm Wassertiefe war und die Breite des Flusses nur
noch 5 bis 7 iu betrug. In trockener Jahrezeit kann er hier
durchwatet werden. Macdouald schließt hieraus, daß die
Quelle des Kebbi nur etwa 5 1cm weiter zn suchen sei. Von
Dana, dem fernsten Punkte der Vogelschen Reise, wäre dies
aber noch 50 km entfernt, und deshalb könne man eine
Wasferverbindung nach Osten hin nicht mehr festhalten.
— New Nursia, die Kolonie westaustralischer
Eingebornen, etwa 1101cm von der Hauptstadt Pcrth
entfernt gelegen, hat sich nach Mitteilungen von Miß Clarke
auf der Eordiffer Versammlung der britischen Naturforscher,
ausgezeichnet entwickelt. Die Kolonie wurde im Jahre
1846 von zwei spanischen Benediktinern, den Patres Serrn
und Salvado, begründet, die es verstanden das Vertrauen der
Schwarzen zn gewinnen und sie allmählich zu fleißigen und
ordentlichen Menschen heranbildeten. New Nursia besteht
ans einem Kloster, einer Kirche, Schule, einem Dorfe von
50 Hütten, in welchem ebenso viele christliche schwarze
Familien wohnen, verschiedenen Werkstätten und ist von
weiten, gut bestellten Feldern umgeben. Ein dort erzogenes
schwarzes Mädchen hat von der westaustralischen Regierung
eine Anstellung beim Post- und Telegraphenamte erhalten.
Die Knaben entwickeln sich gut, lernen leicht und werden
gute Diener und Arbeiter. Jedenfalls ein Fortschritt gegen-
über den ursprünglichen kannibalischen Gewohnheiten dieses
immer mehr dahinschwindenden australischen Stammes.
— Eine Volkszählung in Afghanistan ist neuer-
dings vom Emir für das ganze Land angeordnet worden.
— Tasman See ist der neue Name, welcher von der
britischen Admiralität dem Meere zwischen dem australischen
Festlande und Neuseeland beigelegt worden ist. Die An-
regung hierzu war von der australischen Naturforscherver-
sammlnng ausgegangen.
Herausgeber: Dr. R. And ree in Heidelberg, Leopoldstrabe 27.
Druck von Friedrich View eg und Sohn in Braunschweig.
®eparat-Abdruck aus: „Internationales Archiv für Ethnographie” Bd. IV. 1891.
4-.
6*-coli
auet.
Beilage zum Globus. Bd. LX. 1891.
EW.MT.cxc.
Braunschweig Fr. Vieweg & Sohn.
CHINESISCHES BRAUTKOSTÜM.
Bd. LX
Nr. 13
Braunschweig.
Jährlich 2 Bände in 24 Nummern. Durch alle Buchhandlungen und Postanstaltcn
zum Preise von 12 Mark für den Band zu beziehen.
1891.
George Alexander willen.
Der vorstehenden Worte ist cs nötig, sich zn erinnern,
wenn wir es unternehmen, den Lesern dieser Blätter zu be-
richten von einem Manne, der gestern hier, 44 Jahre alt,
sein Leben beschloß, viel zu früh für seine Familie, für
seine Freunde, für die ethnologische
Wissenschaft. Der Tod Willens ist
einem Blitz aus heiterm Himmel,
einem Unglück für das Studium der
Ethnographie Niederländisch - In-
diens gleich zu achten; er läßt eine
Lücke hinter sich, die nur schwierig
wieder auszufüllen sein wird. So
sei cs uns denn gestaltet, einen nur
kurzen Abriß seines Lebens und seines
Wirkens als einen Schcidegrnß aus
sein Grab zn legen.
Willen wurde am
1847 zn Tomohon (Celebes) ge-
boren als Sohn des deutschen Mis-
sionars P. N. Wilkcn, aus Hannover
stammend, der sich ebenfalls durch
gründliche Arbeiten auf ethnologi-
schem Gebiete vorteilhaft bekannt ge-
macht, und mit einer inländischen
Christin aus der Minahassa ver-
ehelicht war. Er besuchte) die höhere
Bürgerschule zn Delft und hernach
die Vorlesungen der sogenannten
Indischen Schule am selben Orte,
um sich zum Beamten bei der Regie-
rung Nicderländisch-Jndiens auszu-
bilden. Nach abgelegtem Staatsexamen wirkte er an ver-
schiedenen Plätzen in Indien als Beamter, erreichte den Rang
eines Kontroleurs erster Klasse und benutzte schon derzeit
seine Freistunden zn eifrigen Studien ans ethnologischem
Gebiete. Gelegentlich eines ihm erteilten Urlaubes legte str
Globus I.X. Nr. 13.
Seine Laufbalm war kurz, sein Lauf
schnell, doch lange leben ist nicht viel leben. —
Und wenn viel denken allein viel leben ist,
so war seiner Jahre nur für uns zn wenig.
Lessing.
in Leiden das Admissionsexamen für das Studium und
später das eines Kandidaten der Jurisprudenz ab; sich gleich-
zeitig in Leiden niederlassend, wo er dann zum Lektor an
der städtischen Anstalt für die Ausbildung indischer Beamten
ernannt wurde, welches Amt er bis
zur Aufhebung derselben Anstalt
im Juni dieses Jahres, zlilctzt seit
sechs Jahren, sogar unbesoldet aus-
füllte. Dabei war er immer be-
strebt, an seiner weiteren Ver-
vollkommnung zu arbeiten und
hatte sich darin der Hilfe von
Männern, wie de Goejc und Kern
zn erfreuen, die noch heute der
Leidener Universität zu hoher
Zierde gereichen. Schon bald be-
gann Wilkcn Beweise zu geben, daß
der ausgestreute Same bei ihm
auf fruchtbaren Boden gefallen und
lenkte die Aufmerksamkeit der Ethno-
logen seiner Heimath und Indiens
sowie der Fremde durch eine Reihe
mustergültiger Arbeiten aus sich.
Es kann denn auch kaum Wunder
nehmen, daß die litterarische Fakul-
tät der Universität ihn schon am
1. Dezember 1884 zum Doctor
lionoris causa der Sprnchen-
nnd Litteraturknnde des Indischen
Archipels ernannte; worauf schon
schnell, am 27. April 1885,
seine Ernennung zum Professor der Geographie und Ethno-
graphie des Indischen Archipels als Nachfolger des berühm-
ten P. I. Beth, der noch jetzt in Arnheim lebt, erfolgte;
welches Amt er am 16. September 1885 mit einer Rede über:
„Die Druckst der Ethnologie für die vergleichende Rcchts-
25
Mit dessen Bildnis.
194
Dr. H. v. Jhering: Versuch einer Geschichte der Ureinwohner von Rio Grande do Sul.
Wissenschaft", antrat. Mit rastlosem Eifer wirkte Willen
in diesem Amte, arbeitend an dem, was er sich zu einer
Lebensaufgabe gestellt hatte, nämlich beizutragen zu einer-
besseren Kenntniß jener schonen Inseln, die Niederlands
Scepter unterstellt. Stets bereit, mit seinem Wissen anderen
jüngeren Kräften beizustehen, streute er bei seinen Schülern,
meist für den Beamtendienst in Indien bestimmt, Saaten
aus, die dereinst sicher reiche Früchte tragen werden.
Bei alledem fand er noch Zeit zur Abfassung weiterer
zahlreicher Arbeiten, alle zeugen von der Gelehrsamkeit,
außerordentlichen Belesenheit und vorzüglichen Beobach-
tungsgabe des Verfassers, den trotz aller ihm gezollten
Anerkennung große Bescheidenheit kennzeichnete. Im gesell-
schaftlichen Leben beschränkte sich Willen nur auf den Vcr- j
kehr mit Wenigen; die einzige Erholung, die er sich sonst
gönnte, war die des Hörens guter Musik und der Besuch
klassischer Schauspiele, sobald sich für letzteres hier oder in
den benachbarten Städten infolge des Auftretens Possarts,
Barnays, u. A. die Gelegenheit dafür bot; im übrigen ge-
hörte seine ganze Zeit von des Morgens früh bis spät in
die Nacht hinein seiner Wissenschaft. Von den vielen durch
ihn publizierten Arbeiten erwähnen wir hier u. a. als die
hauptsächlichsten folgende: Over ä6 Verwantschap en
het Huwelijks- en Erfrecht bij de Volken van den
Indischen Archipel (Leiden 1883). — Het Matriarchaat
by de Oude Arabieren (Amsterdam 1884). — De Be-
snijdenis bij de Volken van den Indischen Archipel
(Haag 1885). — De betrekking tusschen Menschen-,
Dieren- en Plantenleven in het volksgeloof (Amster-
dam 1884). — Het Animisme bij de volken van den
Indischen Archipel (Amsterdam 1884—1888). — Über
das Haaropfer und einige Trauergebräuche bei den Völkern
Indonesiens (Amsterdaru 1886 bis 1887). — Jets over
de betekenis van de Ithyphallische beeiden bij de
volken van den Indischen Archipel (Haag 1886). —
Plechtigheden en gebruiken bij verlovingen en liuwe-
lijken by de volken van den Indischen Archipel (I,
Haag 1886; II, 1889). — Het Shamanisme bij de
volken van den Indischen Archipel (Haag 1887). —
De convade bij de volken van den Indischen Archipel
(Haag 1889). — Jets over de Schedelvereeriug bij de
volken van den Indischen Archipel (Haag 1889). —
Albinos in dem Indischen Archipel (Haag 1890). —
Struma en Cretinisme in den Indischen Archipel (Haag
1890). — Over het huwelijks- en erfrecht bij de vol-
ken von Zuid Sumatra (Haag 1891). — Over Kinder-
huwelijken enz. (Tijdschrift voor Strafrecht, Deel V.) —
De Hagedis in het volksgeloof des Malayo-Polynesiers
(Haag 1891) rc. rc.
Schon diese immerhin noch unvollständige Aufzählung
der Arbeiten Willens dürfte ein Bild geben, wie sehr durch
ihn unsre Kenntnis der Völker des Indischen Archipels ge-
fördert wurde. Und wieviel wäre noch von ihm, der nun
so jung heimgegangen, zu erwarten gewesen; zumal wäre
sein Lieblingswunsch in Erfüllung gegangen, nämlich der,
noch einmal die Inseln, wo er einen Teil seiner Kindheit
und später einen Teil seiner Jünglingsjahre zugebracht, wieder
besuchen zu dürfen. Große Hoffnungen baute man auf die
Ergebnisse dieser Reise Willens.----
Es sollte aber anders kommen! Im Frühling dieses
Jahres wurden bei Willen die ersten Spuren eines krank-
haften Zustandes der Atmuugsorgane bemerkt, die derart
zunahmen, daß Willen seit Beginn des Juni das Bett hüten
mußte, bis ihn nun gestern ein sanfter Tod von hinnen
rief. — Ein gut angewandtes Leben liegt abgeschlossen vor
uns! Mögen andre ein Beispiel daran nehmen und in Willens
Fußstapfen treten.
Nachschrift. Am 1. September wurde Willen unter
zahlreichem Geleite seiner Kollegen, Fachgenossen, Freunde
und Bekannten auf dem Groensteegs-Kirchhofe zur letzten
Ruhe bestattet. Einfach war sein Leben dahin gegangen,
einfach und prunklos war auch seine Beerdigung. Reicher
Kranzesschmuck deckte seine letzte Wohnung und nachdem
der Sarg oberhalb des offenen Grabes aufgestellt wär, trat
Professor de Goeje, als Dekan der litterarischen Fakultät, zu
demselben heran und schilderte zum letztenmal in kurzen,
kernhaften Worten den Dahingeschiedenen, der sich aus
eigener Kraft infolge ernsten Strebens emporgearbeitet und
so dahin gekommen war, sich einen weit über die Grenzen
seines Vaterlandes klingenden Namen zu erwerben, der der
Universität zu dauernder Ehre gereichen und bei ihr nie
vergessen sein werde. In ergreifenden Worten nahm de Goeje
Abschied von dem Heimgegangenen und nun trat Dr. jur.
T. H. de Kinderen hervor, um int Namen des vollzählig er-
schienenen Vorstandes des Königlichen Institutes für Sprach-,
Landes- und Volkskunde von Nicdcrlüudisch-Jndien im Haag
den Toten zu ehren und ihm in kurzer Weise zum letzten-
mal zu danken für Alles, was der Verstorbene durch seine
Arbeiten beigetragen zum Ruhme des Institutes, zum Besttu
jenes schönen Indiens, für das sein Herz so warm geschlagen.
Nach einem Daukeswort für die erwiesene Teilnahme seitens
eines der Verwandten, trennte sich die Trauerversanunluug
in tief bewegter Stimnmng.
Leiden, 28. August 1891. I. D. E. Schmcltz.
versuch einer Geschichte der Ureinwohner von
Rio Grande do Sul.
Von Dr. H. v. Jhering in Rio Grande do Sul.
II.
2. Heutige Uberreste der Jndianer in Rio Grande.
Weuden wir uns nun ben heute uoch tu Rio Grande
lebeuden Jndianern zu, so siud, wie schon bemerkt, die meisten
Stàmme, von dcucn sich Reste erhalten haben, in der ubrigen
Bevolkerung aufgegaugen. Tasi sie alle ben Guarauis zu-
gehorten, gcht daraus hervor, dasi alle die zahllosen Orts-
uamcn, Tier- uud Pflanzennamen re., welche von ben
Eingeboreuen Rio Grandes ubernommen wurden, der Guarani-
sprache angehoreu. Jm Gegeusatze dazu haben die eiuzigen
noch uuvermischt erhaltenen Indianer Rio Grandes, die
Coro ad os, mit ihrer Sprache keine derartige Erfolge erzielt.
Hensel, dem wir darüber eine vortreffliche Abhandlung 0
verdanken, erklärt diesen Umstand offenbar ganz richtig aus
einer erst relativ späten Einwanderung nach Rio Graude.
Das Gros dieser Coroados wohnt in Corrientes und in der
D N. Hensel, Die Coroados der brasilianischen Provinz
Rio Grande do Sul. Zeitschr. f. Ethnol., Bd. I, 1869, S. 124
bis 135.
195
Dr. H. v. Jhering: Versuch einer Geschichte der Ureinwohner von Rio Grande do Sul.
Provinz Parana. Es ist mir aus dem Vergleiche des Voka-
bulares der Corvados von Hensel mit jenem der Camos,
welches Martins mitteilt, gelungen, festzustellen, daß beide
Stamme identisch sind. Wir haben somit in den riograndenser
Corvados nichts andres vor uns, als nach Suden verdrängte
Camos. Beide, Camus wie Corvados, stellt Martins zu
den Crens, zu welchen auch die Botoknden gehören. Diese
Camus werden auch Bugres genannt.
Die Corvados und Botoknden sind von allen Crens die
einzigen, welche bis in die südlichsten Provinzen Brasiliens
vorgedrungen sind. Die Botoknden haben noch bis in die
letzten Dezennien vielfach Unheil in den deutschen Kolonieen
von St. Catharina angerichtet. Auch nach Rio Grande do
Sul sind sie von da ans zeitweise gekommen. So giebt
O. Cannstadt an, sie am oberen Uruguay getroffen zu haben
(Brasilien, Land und Leute. Berlin 1877, S. 82), und
die drei von ihm gesehenen Leute hatten Holzscheiben in Unter-
lippe und Ohrläppchen gehabt und eine Haarschnur rings um
den Kopf. Während es sich bei diesen Leuten nur um einige
von St. Catharina ans in die angrenzenden Waldungen Rio
Grandes vorgedrungene Botokndos handelt, giebt dagegen
Hensel (1. u., p. 125) an, daß im Norden der Provinz
sich Botoknden vorfänden, „die sich dadurch von den nörd-
lichen Botoknden unterschieden, daß sie in der Unterlippe nur
eine kleine Öffnung ohne Holzpfloñ besaßen, deren sie sich
zum Pfeifen bedienten. Sic waren ihrer Wildheit wegen sehr
gefürchtet und haben noch die ersten deutschen Kolonisten im
Urwald viel belästigt". Ferner meint Hensel, am oberen
Taquary und zwischen ihm und dem Cahy scheinen noch voll-
ständig wilde Corvados vorzukommen. Das ist aber für die
Zeit, in welcher Hensel hier lebte (1864 bis 1865), nicht
mehr richtig gewesen, wohl aber war cs noch in den vierziger
Jahren dieses Jahrhunderts der Fall, wo eine von Mabille
geführte Expedition zur Eröffnung eines Weges von Vaccaria
nach S. Leopoldo mit ihnen in freundlichen Verkehr trat.
Danach hörten die räuberischen Überfälle fast ganz auf, denn
der letzte, vom Jahre 1852, ging nicht direkt vom ganzen
Stamiil aus, sondern von einer kleinen Bande, die sich von
ihrem Caziqnen Dobre abgetrennt hatte und von diesem
deshalb später vernichtet wurde. Ich glaube daher auch nicht
an die von Hensel erwähnten Botoknden, die schon wegen
des angeblichen Pfeifens durch das kleine Loch in der Unter-
lippe verdächtig sind. Es ist ja möglich, daß auch die Corva-
dos resp. Camös ehemals den Lippenschmuck besaßen und daß
als Erinnerung daran bei den von Hensel als Botokndos
gedeuteten Wilden noch die Durchbohrung der Unterlippe bei-
behalten wurde, so etwa wie zu Hensels Zeit die Corvados
die Tonsur schon aufgegeben hatten und nur noch einmal bei
den Kindern sie scherten. Da die Durchbohrung der Unter-
lippe ja auch bei Guaranis und Tupys weit verbreitet vor-
kam, so ist es sogar fraglich, ob diese Hensel'schen Boto-
kndcn überhaupt zu deren Verwandtschaft gehörten. Jedenfalls
haben Botoknden, wenn sie noch zeitweise von St. Catharina
ans nach dem Norden von Rio Grande gekommen sind, doch
nie eine erhebliche Rolle in Rio Grande gespielt. Dagegen
waren die heute in wenigen Dörfern noch überlebenden Corva-
dos des Alto Uruguay im Anfange dieses Jahrhunderts noch
weit über Rio Grande bis an die Costa da Serra verbreitet.
Ob sie erst während der letzten hundert Jahre in Rio Grande
einwanderten, oder ob sie schon zur Zeit der Jesnitenmissionen
am oberen Uruguay hausten und daun mit einem der früher
aufgezählten, nur dem Namen nach bekannten Stämme identisch
waren, bleibt noch zu ermitteln. Ich beabsichtige an andrer
Stelle näher auf diese Corvados zu sprechen zu kommen.
Die einstige Anwesenheit der Botoknden ans dem Hochlande
von St. Catharina bestätigt auch Avü - Lallement (Reise
durch Südbrasilien. Leipzig 1859, Bd. II, S. 82). Er
berichtet von einem ausgeführten räuberischen Überfalle der
Botoknden 1854 bei Rio Bonito, in der Nähe von Lages
und erzählt, daß zu seiner Zeit im Oberland von Lages noch
Botoknden hausten, also in St. Catharina und in den Greuz-
gegenden von Rio Grande und St. Catharina.
3. Prähistorische Altertümer.
Werfen wir nun einen Blick auf die Altertümer, welche
wir in Rio Grande do Sul antreffen. Ani häufigsten sind
Steinwaffen und zwar behauene wie geschliffene, doch über-
wiegen letztere. Zu Pfeilspitzen zumal hat man gehauene
Kiesel, Achate und andre Steine benutzt, wogegen die größeren
Äxte re., in der Regel ans Diorit bestehend, poliert sind.
Sehr gemein sind daneben Urnenscherben, alle sehr roh, durch
übereinander gelagerte wurstförmige Ringstücke hergestellt,
bald mit Eindrücken verziert, bald mit weißen und roten
Thonerden bemalt und mit linearen Ornamenten geschmückt.
Solche Urnen findet man in allen Größen, kleinere, offenbar
zum Küchengebrauch bestimmte, und ganz große bis zu acht
Sack (à 80 Liter) Frucht fassende, sogenannte Jgacabas. In
ihnen wurden die Leichen bestattet in hockender Stellung und
zwar mit abwärts gerichteter Öffnung der Urne. Als in
den sechziger Jahren Riograndenser als Soldaten zum Uru-
guay und weiter gen Paraguay marschierten, trafen einige
von ihnen, Söhne deutscher Kolonisten, wie sie mir erzählten,
einmal in der Nähe des Uruguay einen so bestatteten Indianer-
leichnam. Andrerseits erzählt Hensel, daß die Coroados
ihre Toten nicht in Urnen, sondern in einen Poncho eingehüllt
in die Erde bestatteten. Die häufigen Funde solcher Lcichen-
urnen in allen Teilen von Rio Grande stehen daher ganz
in Einklang mit der weiten Verbreitung der Guaranis in
diesem Staate, und diesen Guaranis müssen wir daher auch
die Beerdigung in Jgacabas zuschreiben.
Die vollendetsten und in Form mannigfachsten Produkte
ihrer keramischen Thätigkeit treffen wir in den Pfeifenköpfen.
Zuweilen sind dieselben in Form eines Kopfes ausgearbeitet,
immer ist der kegelförmige Behälter sehr klein, das in der
Regel rechtwinkelig abgehende kurze Zngrohr sehr eng. Es
bleibt noch ganz dahingestellt, ob nicht alle diese sogenannten
Caximbos neueren Datums sind, d. h. also, ob nicht erst die
Europäer den Guaranis das Rauchen und vermutlich auch
selbst die Kenntnis des Tabaks beibrachten.
Von Schmucksachen findet man durchbohrte Zähne, zu-
weilen auch Meeresschnecken. Über die mancherlei importierten
Schmucksachen sprach ich schon. Als besondere Seltenheiten
sind zu erwähnen: polierte Mörser, öfter findet man Stein-
keulen, die wohl als Stößer für Mörser dienten. Rinnen
in Sandsteinstücken haben wohl zum Schleifen gedient, rätsel-
haft sind runde oder würfelförmige Steine mit einem oder
mehreren Eindrücken von der Größe einer Fingerspitze,
Näpfchensteine, wie sie auch in Europa vorkommen und auch
dort in ihrer Bedeutung noch unverstanden scheinen.
Die Steinwaffen sind entweder nach hinten einfach ge-
glättet, oder wie wohl selten mit einer Rinne zur Befestigung
am Hinteren Ende versehen. Sehr selten sind Äxte mit halb-
mondförmiger Schneide, sogenannte Ankeräxte, die auch in
andern Teilen Brasiliens vorkommen. Dagegen ist, soweit
wir bis jetzt wissen, auf Rio Grande, St. Catharina und
Parana eine andre höchst merkwürdige Form von Steiuwaffen
beschränkt, polierte, scheibenförmige, in einen scharfen Rand
auslaufende und in der Mitte durchbohrte Äxte, tuie sie ähn-
lich auch in Europa vorkommen. Es wird von großer
Wichtigkeit sein, die sonstige Verbreitung dieser durchbohrten
Äxte zu erforschen, da sie bei ihrer beschränkten Verbreitung
doch wohl ein Charakteristikum eines einzelnen bestimmten
Stammes darstellen.
An der Meeresküste von Rio Grande trifft man Sam-
25*
198
Dr. H. v. Jhering: Versuch einer Geschichte der Ureinwohner von Rio Grande do Sul.
baquys a), meist von geringer Mächtigkeit und größtenteils aus
den Schalen einer Muschel (Mesodesma mactroides Desh.)
bestehend, welche heute noch an der Küste aus dem Sande
gegraben und gegessen wird. Die in ihnen gemachten Funde
sind in mehrfacher Hinsicht interessant. Pfeifen, Bolaskugeln
und durchbohrte Äxte fehlen. Die Steinäxte sind poliert,
wie es scheint ans .einem sonst nicht verbreiteten Materiale
gefertigt, und am hinteren Ende mit ringförmiger Vertiefung
für die Befestigung am Stiele. Die im Waldgebiete von
Rio Grande gefundenen Äxte besitzen diese Rinne nicht, wohl
aber findet man gleiche Waffen in St. Catharina und Parana.
Vielleicht gehörten sie den in vermutlich gleicher Ausbreitung
einst seßhaften Patos. Außerdem hat man zwei Tembeta-
steine gefunden, also den Zierat der Unterlippe, woraus
C. v. Koseritz den Schluß zog (Bosqueijos ethnologicos,
Porto Alegre 1884, p. 61), daß diese Sambaguys Botokuden
zugeschrieben werden müßten. Dies ist falsch. Tembeta ist
ein Wort der Tupysprache, und bei Tupy und Guarany kam
offenbar dieses Tembeta weit verbreitet vor. Es ist ein
zilindrischer polierter Stein, dessen oberes in der Unterlippe
befestigtes Ende knopfförmig erweitert ist. Dagegen heißt die
Holzscheibe in der Unterlippe der Botokuden Betö, und sie ist
stets ans einem sehr leichten Holze gefertigt. Es ist somit
sicher, daß die Sambaqnyindianer keine Botokudos waren.
Hinsichtlich der Litteratur über prähistorische Altertümer von
Rio Grande verweise ich noch ans folgende Mitteilungen in
den Verhandlungen der Berliner Gesellschaft für Anthropologie:
H. v. Jhering, Die Verbreitung der Ankeräxte in Brasilien
(26. Mai 1888, S. 217 ff.) und zur Urgeschichte von Uruguay
(16. November 1889, S. 655 ff.); sowie Kunert, Rio
Grandenser Altertümer (11. Jan. 1890, S. 31 ff.).
Besonders merkwürdig erwies sich ein Sambagny bei
Conceigao do Arroio, welcher etwa iy2 Legua von der
heutigen Meeresküste entfernt liegt. v. Koseritz mißt dem-
selben deshalb ein Alter von ungefähr 6000 Jahren bei.
Der Umstand aber, daß in einer der dort aufgefundenen
Urnen auch Schmuckstücke aus Silberplatten angetroffen wurden,
läßt sich meines Erachtens nur so erklären, daß diese Metall-
stücke, ebenso wie an andern Stellen Kupferplättchen und alt-
venetianische Perlen, oft auch eiserne Messer, Bügeleisen-
bolzen u.s.w. den Indianern von den Spaniern oder Portugiesen
geschenkt wurden oder als Tauschobjekte oder Beute in deren
Hände kamen. Die große Entfernung von ungefähr 10 km,
tu welcher diese Sambaquys von der jetzigen Meeresküste
entfernt liegen ist gar kein Beweis für hohes Alter, denn
diese ganze Gegend ist flach. Ein von den Ingenieuren der
Barrakommission vorgenommenes Nivellement ergab zwischen
der Lagoa dos Patos und dem Ozeane eine Niveaudifferenz
von 8 6m. Jedes neue Nivellement wird vermutlich andre
Zahlen ergeben, da der Wasserstand auf 20 bis 25 cm
Differenz vom Winde beeinflußt wird. Wir haben nicht den
mindesten Grund zur Annahme, daß die vielen nach Norden
an die Lagoa dos Patos sich anschließenden Seen ein wesent-
lich höheres Niveau einnehmen. Es kommt hinzu, daß
erwiesenermaßen die Küste von Rio Grande in Hebung be-
griffen ist* 2). Wenn diese Erhebung nur 1 Fuß ans 100 Jahre
ausmacht, so kann seit der Zeit jener Sambaquys die be-
treffende Gegend schon um 3 bis 34/2 Fuß gehoben sein,
was vollständig genügt, um die seichten Buchten in Binuen-
0 Vgl. Th. Bischofs, Über die Sambaquys in der Provinz
Rio Grande do Sul. Zeitschr. f. Ethnologie, Bd. 19, 1887,
S. 176 bis 198, Taf. V, sowie H. v. Jhering, Zum Vor-
konnnen von Kürbiskernen in Sambaquys. „Ausland", 1891,
Nr. 8, S. 149 ss.
2) Am eingehendsten ist die ganze Frage der Hebung dieser
Küste behandelt in meiner Abhandlung „Die Lagoa dos Patos".
Deutsche geographische Blätter, Bremen, Bd. VIII, 1885,
S. 190 bis 196.
seen abzuschließen. Das Übrige besorgte dann der Treibsand
mit seinen Dünenketten. Diese Ansicht wird bestätigt durch
die Thatsache, daß die Muscheln, welche jene Sambaquys
bilden, ganz dieselben sind, welche auch heute im seichten
Wasser der Uferzone an der Küste leben, jene obengenannte
Mesodesma nämlich. Daß in der kurzen Zeit von 200 bis
300 Jahren die Küsten von Rio Grande schon wesentliche
Änderungen erfahren haben, geht ja auch hervor ans dem
oben erwähnten Umstande, daß im Jahre 1612 die Einfahrt
in den Hafen von Rio Grande durch eine Insel verlegt war,
welche wahrscheinlich unterdessen ein Teil des Festlandes ge-
worden ist. So wird es auch begreiflich, daß ich bei Rio
Grande, d. h. der Stadt, ungefähr 8 km von der heutigen Barre,
Sambaquys fand, welche aller Wahrscheinlichkeit nach ebenfalls
an einem Teile der Meeresküste lagen, als sie noch den alten
Bewohnern jener Gegend zur Wohnstätte dienten. Jetzt aber
wechselt an jener Stelle Meerwasser und Süßwasser die Herr-
schaft, so daß Meermuscheln einwärts der Barre nicht leben.
Es ist mir sehr wahrscheinlich, daß die von Azara labiata
gebildeten Sambaquys von St. Catharina, welche auch heutigen
Tages weit von der Küste entfernt liegen, in ähnlicher Weise
zu erklären sein werden. Alle Behauptungen, die ohne Rück-
sicht auf die minimale Niveaudifferenz zu nehmen lediglich
ans der jetzt beträchtlichen Entfernung vom Ozeane ein sehr
hohes Alter der Sambaquys voraussetzen, halten vor gewissen-
hafter Kritik, soweit bisher ersichtlich ist, nicht Stand. In
Rio Grande wenigstens haben wir keinerlei prähistorische
Altertümer oder Kulturstätten, die wir als präkolumbisch an-
sehen müssen, wohl aber setzen die Änderungen, welche die
Topographie der Küste in den letzten Jahrhunderten erlitten
hat, uns in den Stand, die entfernter von der Küste liegenden
Sambaquys als mehrere hundert Jahre alt zu bezeichnen.
Von besonderer Wichtigkeit sind bei den Altertümern aus
Rio Grande die Bolaskngeln. Der Campbewohner ver-
wendet noch heute neben der Lassoschnur zum Einfängen
flüchtigen Viehes auch die Bolas. Es sind das aus Eisen
oder Stein gefertigte Kugeln von nahezu der Größe eines
Hühnereies, welche in Leder eingewickelt an einem Riemen
befestigt sind. Solcher ungefähr zwei Meter langen Riemen sind
drei durch einen Knoten zusammengebunden, und zwar ist eine
der Kugeln etwas kleiner als die andern beiden. Mit dieser
kleineren Kugel faßt der Viehhirt die Bolas, sie im Kreise
ums Haupt schwingend und daun plötzlich in der Richtung
gegen das zu erlangende Stück Vieh loslassend, welches, sobald
die Kugeln und Riemen sich um seine Beine schlingen, ge-
fesselt zu Boden stürzt. Die Campbewohner fertigen sich
noch heute diese Kugeln ans Stein an — der letzte Rest der
Steinzeit. In 100 Jahren wird wohl auch er mit samt
den Bolas der Geschichte angehören; schon jetzt nimmt ihr
Gebrauch sehr ab gegenüber jenem des Lasso.
Die Charrúas, welche in den Revolutionsjahrcn 1835
bis 1844 in Rio Grande do Sul zeitweise an den Kämpfen
Teil nahmen, waren noch mit Bolas bewaffnet, deren sie
aber nur zwei an einem ungefähr vier Meter langen Riemen
befestigt hatten. Die Kugeln waren ans Stein gefertigt
und nicht in Leder gehüllt, sondern mit einer kreisförmigen
Rinne zur Befestigung der Schnur versehen. Diese heute
noch von den älteren Bewohnern der Campos von Rio Grande
„Bolas de Charrúa" genannten Steinwaffen werden nun in
Rio Grande noch häufig gefunden, auch an der Seeküste, aber
nicht in den Sambaquys. Vereinzelt trifft man sie auch im
Waldgebiete, ein Zeichen, daß die berittenen Stämme zeit-
weise auch Waldgebiete betraten, denn im Wald ist natur-
gemäß diese Waffe nicht brauchbar. Man findet die Bolas-
kngeln auch nicht im mittleren oder nördlichen Brasilien, sondern
nur tu den Campos von Rio Grande do Sul und in den
angrenzenden Gebirgen. Wenn wir annehmen dürfen, daß
Dr. H. v. Jhering: Versuch einer Geschichte der Ureinwohner von Rio Grande do Sul.
197
die in der Serra dos Tapes gefundenen Bolaskngeln von
den Tapes herrühren, so crgiebt sich, daß außer den Charruas
und Minnanos auch noch andre Stämme in Rio Grande
von den Charruas den Gebrauch der Bolas annahmen. Die
Funde von marinen Schnecken bei S. Sebastian do Cahy wie
in der Kolonie S. Louren^o weisen uns darauf hin, daß auch
diese Gebirgsindianer zeitweise in den Campos bis zur See-
küste umherstreiften, es kann daher nicht überraschen, wenn sie
auch mit den Waffen der Camposindianer sich befreundeten.
4. Zusammenfassung.
Wir vermögen somit in Rio Grande aus den prähistorischen
Kulturresten mindestens drei verschiedene Volks- und Kultur-
elemente nachzuweisen. Es sind das die Reste von:
1) einem Fischervolk, welches an der Küste und deren
Buchten Seefische und solche Arten, die gern Flußmündungen re.
aufsuchen, erbeutete und auch andre Meerestiere, zumalMuscheln,
genossen. Ich habe aus den angetroffenen Gehörsteinen, die
allein erhaltenen größeren Arten bestimmen können. Es sind
zumal Pogonias chromis, Arius Commersonii und Micro-
pogon ixndulatus L., alles Arten, die noch heute von den
Fischern derselben Gegend vorzugsweise erbeutet werdenJ).
Daneben weisen Reste von Säugetieren, Rehe re. darauf hin,
daß zeitweise auch die Jagd für den Lebensunterhalt ein-
treten mußte. Auch Menschenknochen finden sich in ganz
derselben Weise wie andre Knochen unter den Küchenresten.
Diese Sambaquybewohner kannten weder Pfeifenköpfe noch
Bolas, waren aber, wie so viele Stämme der Tnpy-Gnarani-
grnppe in der durchbohrten Unterlippe mit dem Tembetastcine
geschmückt. Eigenartig war ihnen die Ausstattung der Stein-
waffen mit kreisförmigen, au deren oberem Ende angebrachten
Rinnen zur Befestigung am Stiele, welche Befestigungsweise
sonst in Rio Grande und am La Plata fehlt, aber im übrigen
Brasilien nicht selten ist, vielleicht den Tupys zukommt.
2) Waldbewohnern. Auf sie bezieht sich vorzugsweise
unsre obige Schilderung. Hier treffen wir die Pfeifenköpfe,
die Ankeräxte und die durchbohrten Wirtelsteine, ferner die
großen Graburnen. In bezug auf letztere kommen mancherlei
Unterschiede vor, da man außer umgestülpten auch solche an-
trifft, die aufrecht stehen und mit einem Deckel versehen sind
(Kuncrt).
3) Campindianer. Sie bieten in ihrer Kultur nichts
dar, was nicht auch im Estado Oriental sich fände. Charakte-
ristisch sind vor allem ihre Bolaskngeln.
Wir sehen hieraus, daß sich die Ergebnisse der prä-
historischen Forschung recht wohl in Einklang bringen lassen
mit den Daten, die uns Ethnologie und Geschichte über die
alten Bewohner Rio Grandes liefern.
Die Sambaguys an der Lagoa dos Patos und an der
Küste bis St. Catbarina werden wir dem Fischervolk der
Patos zuschreiben dürfen, um so eher als auch die alten
Namen von Laguna (dos Patos) und von St. Catharina als
Porto dos Patos dafür sprechen, daß die Patos nicht auf
die Lagoa dos Patos beschränkt waren, sondern längs der
Küste bis St. Catharina ihre Wohnsitze hatten, an den zahl-
reichen fischreichen Seen dieser Zone.
Hinsichtlich der Waldbewohner sind unsre Kenntnisse ja
sehr dürftig, doch wissen wir immerhin die Namen einer
Anzahl dieser größtenteils der Guaranygruppe zugehörigen
Stämme. Ob neben ihnen auch schon iu älterer Zeit Creus
vorkamen, welche heute in den Coroado-Camäs und einigen
Botokudcnhordcn in dem Gebiete von Corrientes bis St. Catha-
rina ihre äußersten südlichen Repräsentanten besitzen, bleibt
i) Die Trivialnamcn derselben sind iu gleicher Reihenfolge:
Miraguaya, Bagre, Corvina.
noch zu erforschen; vermutlich wird der Fortschritt in der
Archäologie uns hier weiter helfen. Unter den von der Expe-
dition Mabille mitgebrachten Sachen der Coroados sollen sich
auch Exemplare von jenen durchbohrten Äxten befunden haben,
von denen ich oben sprach. Wenn dies richtig ist, so stellt
sich vielleicht heraus, daß wir diese Äxte den Camös und
Crens zuzuweisen haben.
In den Campindianern endlich, deren Bolaskngeln in
Rio Grande und Uruguay angetroffen werden, können wir
mit Bestimmtheit die Charruas und Minuanos, sowie wohl
auch die Tapes und andre in der Nachbarschaft der Charruas
lebende Stämme wieder erkennen. Die vereinzelten Bolas-
kugeln, welche auch im angrenzenden Waldgebiete gefunden
wurden, zeigen nur aufs Neue, daß auch Wanderungen vor-
kamen.
Hiernach eröffnet sich uns die Perspektive, der Reihe nach
eine ganze Anzahl von eigenartigen Typen südamerikanischer
Altertümer auf bestimmte geographische Regionen beschränkt
zu erkennen, und so bald dies geschehen, wird auch ihre ethno-
logische Erklärung leichter werden. Es ist sehr wahrscheinlich,
daß wir in dieser Art wohl zwischen Tupy- und Guarany-
altertümern später Unterschiede nachzuweisen in die Lage
kommen werden. So ist z. B. bisher nur ein einziges Mal
eine Ankeraxt in Rio Grande do Sul angetroffen worden.
Diejenigen, welche Ladislao Netto int 6. Bande der Archi-
ven do Musea nacional beschreibt, stammen vom mittleren
und nördlichen Brasilien und von ebendaher stammt eine
noch im Stiel eingefaßte Ankeraxt, welche zur Zeit der hollän-
dischen Herrschaft in Nordbrasilien nach Holland gelangte
und auf welche jetzt Schmeltz Z die Aufmerksamkeit lenkte.
Vermutlich wird sich somit aus der Verbreitung dieser Anker-
äxte entnehmen lassen, ob man sie den Tupys zuschreiben
kann. Aull) auf die mehr dem Norden zukommende, aber
auch dort nicht allgemeine Verbreitung der ringförmigen
Rille in den polierten Äxten, behufs deren Befestigung am
Stiele, wäre in dieser Art zu achten. Namentlich aber wird
sich dies Studium der durchbohrten wirtelförmigen Äxte und
ihre Verbreitung wichtig erweisen. Ladislao Netto giebt an,
daß Florentino Ameghino dieselben anch vom La Plata
abbilde, leider kenne ich das betreffende Werk noch nicht.
Sehr bemerkenswert scheint mir, daß in dem alten Mound
ans der Marajoinsel in der Amazonasmündung nach L. Netto
gleichfalls wie in den hiesigen alten Sambaguy die Caximbos
noch fehlen.
Es ist selbstverständlich, daß ein erster Versuch zur Lösung
der hier behandelten Fragen nur unvollkommen ausfallen
konnte, aber ermutigend scheinen mir die gewonnenen Ergeb-
nisse immerhin zu sein, und wenn in gleicher Weise, wie es
hier geschehen, einmal sämtliche Staaten Brasiliens und die
angrenzenden Gebiete durchforscht und erklärt sein werden,
so wird auch für die Beurteilung der alten Kulturen Rio
Grandes eine zuverlässigere Grundlage gewonnen sein. Allzu
sanguinischen Hoffnungen freilich wird man sich nach dieser
Richtung hin nicht hingeben dürfen. Die Brasilianer fördern
derartige Unternehmungen sehr wenig, und alle diejenigen,
welche in Rio Grande do Sul an der archäologischen Forschung
sich beteiligt haben (v. Koseritz, v. Jhering, Th. Bischofs,
A. Knnert, P. A. Schupp) sind eingewanderte Deutsche.
Daß die deutsche Kolonisation auch nach der wissenschaftlichen
Seite Brasilien nützlich geworden, wird überhaupt Niemand
verkennen können, der einen tieferen Einblick in die bezügliche
Litteratur zu gewinnen sucht.
Rio Grande do Sul, Mai 1891.
i) Jniernalion. Archiv s. Ethnographie. Leiden, Bd. III,
1890, S. 195, Taf. X V, Fig. 3.
198
Der Domplatz zu Pisa.
Der Dompl
Einsam um den Domplatz gereiht, liegen am äußersten
Nordwestende von Pisa jene vier erhabenen Meisterwerke
der Baukunst, denen die Stadt in erster Linie ihre Berühmt-
heit verdankt. In heiliger Stille stehen sie nebeneinander
ans der weiten, grünen Ebene und zeugen wie ein monnmen-
taler Friedhof von der ehemaligen Größe Pisas. Überall
pflegt sonst die Kathedrale im Mittelpunkte der Stadt zu
liegen, sie ist der Kern, um den sich nach nnd nach Häuser
und Straßen herumkristallisieren. Pisa macht hiervon eine
merkwürdige Ausnahme. Man könnte versucht sein, diese
eigentümliche exzentrische Lage des Domes Verschiebungen
in der topographischen Gestalt der Stadt zuzuschreiben;
aber daran ist nicht zu denken. Als Pisa im zwölften
Jahrhundert (1155) mit Mauern umgeben wurde, zog man
dieselben schon unmittelbar an der Kathedrale vorbei, ein
atz zu Pisa.
Beweis, daß dieselbe damals bereits am Ende der Stadt
gelegen war.
Diese Verbannung der natürlichen Verkehrsmittelpunkte
an die äußersten Grenzen der Stadt hat mehr als irgend
eine andre Ursache dazu beigetragen, Pisa seine düstere
Physiognomie, seinen Charakter einer toten Stadt zu ver-
leihen. Aber eben diese Abwesenheit von Geräusch, diese
imposante Ruhe und die Nachbarschaft der weiten, grünen
Ebene erhöhen nur noch die eigentümliche Wirkung jener
heiligen Gebäude.
Der Domplatz bildet ein unregelmäßiges, mit grünem
Rasen bewachsenes Rechteck. Wenn man aus der Stadt
kommt, hat man zur Rechten den Campanile, im Zentrum
den Dom, zur Linken das Baptisterium und im Hinter-
gründe den Campo Santo, hinter welchem die Zinnen der
Bronzethür des Bonnano im Dome zu Pisa. Nach einer Photographie.
alten Stadtmauern sichtbar sind. Keine Kaufbnde, kein
Baum stört die Aufmerksamkeit, welche sich vollständig auf
die vier mächtigen Denkmäler beschränkt. Aus prachtvollen
Blöcken weißen Marmors errichtet, denen die Zeit einen
wundervollen gelblichen Schimmer verliehen hat, heben sich
dieselben mit außerordentlicher Schärfe von dem Blau der
Berge, welche man über die Stadtmauern hinaus gewahrt,
und von dem reinen Azur des Firmamentes ab. Es ist
ein Anblick, der selbst das kühlste Herz zu andächtiger Be-
wunderung hinreißen muß.
Der Dom. Die Grundlegung des Domes knüpft sich
an eine der ruhmvollsten Thaten der pisanischen Republik.
Es war im Jahre 1003: die Pisaner hatten einen sieg-
reichen Zug gegen die Sarazenen von Palermo unternommen;
sie hatten den Hafen erobert und sich sechs großer, mit Reich-
tümern beladener Schisse bemächtigt. Fünf derselben über-
gaben sie den Flammen, das sechste verkauften sie, und der
Erlös wurde zum Bau dieses Heiligtums bestimmt.
Als Bauplatz wurde die Stelle gewählt, auf der sich
eine Basilika des vierten Jahrhunderts, „Santa Reparata
in Palude", erhob; diese selbst war die Nachfolgerin von
warmen Bädern gewesen, welche Kaiser Hadrian hier ange-
legt hatte. Die sumpfige Beschaffenheit des Terrains recht-
fertigt den Beinamen „in Palude" nur zu sehr; sie erklärt
die zahlreichen Verschiebungen nnd Senkungen, die sich am
Dom wie am Campanile gezeigt haben.
Der Name des Baumeisters ist Buschetto. Inmitten
eines barbarischen Zeitalters, in dem die Persönlichkeit des
Künstlers nur selten zur Geltung gelangte, tritt seine Phy-
siognomie eigentümlich scharf hervor. Man weiß nicht
genau, welches sein Heimatland war; die meisten nehmen
Griechenland als solches an; in diesem Falle wäre die alte
pisanische Schule eine Tochter der byzantinischen. Jedenfalls
ist Buschetto eine hervorragende Erscheinung; wegen einer
Reihe bedeutender Erfindungen ward er der Düdalus seiner
Zeit genannt.
Die Arbeiten an dem Dome wurden mit außerordent-
licher Schnelligkeit ausgeführt. Dem Meister selbst war cs
allerdings nicht vergönnt, die letzte Hand an sein Werk zu
legen; sein Schüler Rainald ns vollendete cs im Jahre 1100,
kaum 40 Jahre nach der Grundsteinlegung; aber erst 1118
wurde das neue Gotteshaus durch Papst Gelasius II. geweiht.
199
Der Dompl
Der Dom von Pisa hat die Form eines Kreuzes; er
ist in fünf Teile geteilt, mit einer Kuppel über dem Tran-
sept. Seine größte Länge beträgt 95 in, die Totalbreite
der fünf Schiffe 32 ^/zm, die Höhe des Mittelschiffes
etwas über 33 m. Die Fassade besteht aus fünf Etagen;
58 Säulen steigen in vier Reihen übereinander in Galerien
über den Blendbogen des Portalgeschostes auf. Nur die
oberen Etagen sind von Fenstern durchbrochen. Der präch-
tige Marmor ist aus den benachbarten Steinbrüchen ge-
nommen; doch ist vielfach antikes Material verwendet wor-
den, was besonders in der Apsis bemerkbar ist. Eine Menge
Säulen aus Granit, Porphyr oder numidischcm Marmor,
die einen glatt, die andern kannelliert oder spiralförmig ge-
wunden, stammen augenscheinlich von altrömischcn Gebäuden.
Man hat sich nicht einmal die Mühe genommen, sie zu
ordnen; die Kapitäle sind nicht nur von verschiedener Gattung,
sondern auch ganz ungleich in der Größe. Korinthischer
und ionischer Stil gehen wirr durcheinander.
Das Äußere des Domes ist arm an Skulpturen, be-
sonders an Statuen. Die ernsten Architekten der romanischen
Schule müssen diese Art Ornamente zu frivol und profan
gefunden haben. Nur die Fassade macht einen reicheren
Eindruck. Die beiden stolzen Säulen mit den verzierten
Schäften, welche das Hanptportal einfassen; die beiden Löwen,
welche aus diesen Säulen ruhen; die Grimassenköpfe, die auf
allen Pisanischen Bauwerken so häufig sind; die fünf Statuen
aus der Schule des Giovanni Pisano, endlich die (modernen)
Mosaiken der Thürlünettcn verleihen dem Ganzen ein recht
lebhaftes Aussehen.
Zahlreiche Sarkophage und Skulpturen, welche einst zu
den architektonischen Schönheiten noch ein historisches Inter-
esse hinzufügten, sind längst nach dem Campo Santo hinüber-
geschafft. Der Dom hat nur den Sarkophag behalten, in
dem sein Gründer Buschetto ruht; derselbe ist in der Nähe
des linken Portals eingelassen.
Der Hauptschmuck der Fassade sind die drei Bronze-
thüren, welche von Gianbologna entworfen und von seinen
Schülern Francarilla, Tacca, Susini u. A. modelliert wurden.
Die alten Thüren, ein Werk des Bonnano (12. Jahr-
hundert), waren 1596 durch Brand beschädigt worden.
Nach wenigen Jahren angestrengter Arbeit waren die neuen
vollendet; es ist ein reizendes Werk der Spätrenaissance
(1602). Auf den Feldern des Hauptportals ist das Leben
Mariä, auf denen des linken Seitenportals die Geschichte
Christi bis zum Einzug in Jerusalem, auf denen des rechten
die Leidensgeschichte dargestellt. Diese Szenen sind unver-
kennbar denjenigen auf den Thüren des Baptisteriums zu
Florenz nachgeahmt; aber wie schnell ist der Verfall seit
dem 15. Jahrhundert vorgeschritten! Es war jedenfalls
sehr unklug von Gianbologna, durch die allgemeine Anlage
wie durch die Einzelausführung zu einem Vergleich mit dem
Meisterwerke Ghibertis herauszufordern.
Eine andre Bronzethür von hohem Alter befindet
sich im rechten Kreuzschiffe, dem schiefen Turm gegenüber.
Sie wird von verschiedenen Archäologen dem Bonnano
zugeschrieben, demselben, der auch jene zerstörten Thüren des
Hauptportals verfertigt hatte. Die Reliefs, das Leben
Christi darstellend, zeigen trotz der grotesken, unproportio-
nierten Behandlung doch schon ein erwachendes Formgefühl
(s. Abbildung).
Treten wir jetzt in das Innere ein. Der erste Ein-
druck ist Staunen und Bewunderung. In ganz Italien
haben nur San Marco in Venedig, die Kathedrale von
Siena und die St. Paulsbasilika bei Rom eine derartige
Pracht auszuweisen. Da ist zuerst der Reichtum des auf-
gewandten Materials, die 24 gewaltigen monolithischen
Säulen des Mittelschiffes und die unzähligen andern Säulen
atz zu Pisa.
von Marmor oder Granit, die ringsum in den übrigen
Schiffen zerstreut stehen; dann der malerische Wechsel von
schwarzem und weißem Marmor; daun die Sauberkeit und
Kraft der Anordnung, die Größe der Proportionen — das
Transept allein ist so umfangreich, wie eine Basilika —,
endlich der harmonische Glanz der Koloratur, deren Wirkung
noch erhöht wird durch ein geheimnisvolles Halbdunkel, eine
majestätische Dämmerung. (Der Dom wird von über
100 Fenstern erleuchtet, aber dieselben sind klein und sehr
hoch angebracht.) Mit dem Säulenwald wechseln jene in
der pisanischcn Schule so beliebten Blendbögen ab.
Prächtig ist der Durchblick von der Kreuzung aus durch
die lichten Arkaden in beide Querschiffarme und ebenso präch-
tig die Durchsichten der oberen Pfeilerhallen. Zwei Treppen
zwischen Sakristei und Presbyterium führen zur Galerie
hinaus. Über dem Transept erhebt sich, von zwei gewaltigen
Bögen aufstrebend, die etwas längliche Kuppel. Der Fuß-
boden unter derselben ist mit kostbarer Mosaikarbeit ge-
schmückt.
Die zwölf Altäre der Seitenwände, in karrarischem
Marmor von Stagi da Pietrasanta einfach, aber geschmack-
voll ausgeführt, sind wahrscheinlich von Michelangelo ent-
worfen, als er 1629 zu Pisa die Arbeiten an der Citadelle
leitete. Die Räume zwischen den Altären sind mit 23 großen
Leinwandbildern von Manieristen des 17. und 18. Jahr-
hunderts angefüllt. Sehr schön ist auch der 1744 errichtete
Hochaltar mit einem Bronze-Christus darüber von Giau-
bologna. Berühmt ist endlich jene hübsche, im Mittelschiff
hängende Bronzclampe (s. Abbildung), deren Schwingungen
Galilei zur Entdeckung des Jsochronismus der Pendel-
schwingungen veranlaßt haben sollen. Aber auch ihr künst-
lerischer Wert ist bedeutend. Sie ist ein Werk von seltener
Eleganz und Harmonie und macht ihrem Schöpfer, dem
Pisaner Vincenzo Possenti (1587), alle Ehre.
Das Baptisterium. Der Hauptfassade des Domes
gegenüber liegt die Taufkirche, 11 Ilattistsrio, welche 1153
von dem pisanischen Architekten Biotisaloi begonnen, aber
infolge von Geldmangel erst 1278 vollendet wurde. Es
ist ein gewaltiger Rundbau in noch viel edlerem, strengerem
Stil als der Dom, von einer 54^/z m hohen, birnförmigen
Kuppel überragt. Verschiedene gotische Zuthaten am Außen-
bau erhöhen noch den malerischen Eindruck, den dieses ehr-
würdige Bauwerk macht. Vier kreuzweis gestellte Portale,
reich geschmückt, führen ins Innere. Hier lenkt zuerst ein
gewaltiges achteckiges Becken die Blicke auf sich, welches im
Mittelpunkt des Gebäudes auf einem Fundament mit drei
Stufen ruht. Durch seine Dimensionen, wie durch seine
Gestalt, versetzt uns dieses Taufbecken in die Zeit, wo die
Taufe noch durch Untertauchen besorgt wurde. An vier
Ecken des Octogons sind kleinere Aushöhlungen angebracht,
welche, wie berichtet wird, für die Taufe von Kindern be-
stimmt waren. Die drei Stufen und die acht Seiten des
Beckens sind von Bigarelli (Como, 1246) mit feinen Orna-
menten und eleganten, sauber ausgeführten Dekorationen
versehen.
Wenige Schritte von dem Taufbecken erhebt sich, isoliert
von allen Seiten, die herrliche Marmorkanzel, das
Meisterwerk des Niccolo Pisano (1260), die Perle des
Baptisteriums und eins der bedeutendsten Werke der Kunst
überhaupt. Über neun Säulen, von denen mehrere auf
denl Rücken von Löwen ruhen, erhebt sich die sechseckige
Brüstung, deren Felder mit vorzüglichen Reliefs geschmückt
sind. An den Ecken über den Säulen sind allegorische
Figuren als Träger der Kanzel angebracht, während die
Bogcnzwickcl durch die Gestalten der vier Evangelisten und
sechs Propheten ausgefüllt werden.
Diese Marmorkanzel des Pisaner Baptisteriums ist
Der Domplatz zu Pisa. Nach einer Photographie
201
Der Domplatz zu Pisa.
nicht bloß das Meisterwerk eines großen Künstlers: sie be-
zeichnet einen Abschnitt in der Geschichte der Skulptur. Letztere
befand sich im Stadium der tiefsten Erniedrigung zu der
Zeitz als diese herrlichen Bauwerke in Pisa entstanden. Es ist
schwer, sich plumpere, rohere Schöpfungen vorzustellen, als
die der damaligen Skulptur. Jedes Verständnis für die Ver-
hältnisse der nienschlichcn Gestalt ist verschwunden; die Körper
sind ungeheuerlich, der Gesichtsansdruck stupide. Man kann
das an den Fratzenköpfen beobachten, die in allen Kirchen
Pisas auf den Kapitälen, an den Biegungen der Gewölbe,
wie auch auf der Bronzethür des Domtransepts, die Bonnano
zugeschrieben wird, im Überfluß vorhanden sind.
Das Innere des Domes zu Pisa. Nach einer Photographie.
Die allgemeine Tendenz der romanischen Schule War-
dein Studium der Natur keineswegs günstig. Da sie nur
abstrakte Kombinationen verfolgte, so waren Regelmäßigkeit
und Harmonie ihre Hauptzwecke; unter der Herrschaft
solcher Grundsätze ordnete sie die menschliche Figur der
Gesamtwirkttng, welche dieser oder jener Teil eines Ban-
Globus LX. Nr. 13.
Werks hervorrufen mußte, vollkommen unter; ebenso trat
für sie die Symbolik an die Stelle der Darstellung
realer Formen. Ein Stamm mit drei Blättern stellte
einen Baum dar, einige summarisch angedeutete Zinnen
eine Stadt. Endlich beherrschten die düstersten, traurigsten
Ideen die Einbildungskraft der Künstler, wie der Glüu-
26
202
Der Domplatz zu Pisa.
lügen. Am Eingänge der Kirchen scheinen ungeheure
Löwen bereit, die Schuldigen zu verschlingen; aus der
Fassade starren uns lange Reihen fabelhafter Tiere, Basi-
lisken, Drachen, Greife an und lagern wie ein Alp ans
der Einbildungskraft. Finstere Ideen und barbarischer
Stil: das ist mit einem Worte der Charakter dieser ältesten
Schule in Italien.
Plötzlich erscheint eine jener außerordentlichen Künstler-
gestalten, welche im ersten Anlauf das Ziel erreichen, ja bis-
weilen sogar überholen, und welche mehr mit der Nachwelt
als mit ihren Zeitgenossen zu leben scheinen. Niccolo
Pisano ist ein Reformator nach der Art eines Brunellesco,
Donatello oder der Brüder van Eyck, er ist einer jener
Meister, die es verstehen, sich so hoch zu heben, daß
ihre Nachfolger mehrere
Generationen hindurch außer
stände sind, ihnen gleichzu-
kommen, geschweige denn sie
zu übertreffen.
Im Studium der Antike
hat Niecolo Pisano jene Kunst
der Verhältnisse, des Rhyth-
mus und des edlen Aus-
drucks wiedergefunden, deren
Geheimnis seit Jahrhunder-
ten verloren war. Das Stu-
dium der Antike hat ihm den
Stoff und die Anregung ge-
geben, die formlosen Ver-
suche seiner Vorgänger durch
einen ebenso neuen wie voll-
kommenen Stil zu ersetzen.
Mit Verwerfung der Vor-
bilder der bisherigen christ-
lichen Kunst hat er zum
erstenmale wieder die Kunst
des antiken Rom, von der
gerade in Pisa noch so viele
Überreste erhalten waren,
mit vollem Verständnis in
die Kirchen eingeführt.
Der Campanile. Hin-
ter dem Dom erhebt sich,
frei von allen Seiten, der bc-
rüh inte schiefe Glocken-
türm, C a m p a n i l e ge-
nannt. Er wurde 1174 von
Bonnanus v. Pisa begonnen
und 1350 von Tommaso
da Pisa vollendet. Während
die deutsche und französische
Architektur Glockenturm und Kirche zu künstlerischer Ein-
heit zu vereinigen strebte, waren dieselben in Italien unter
dem Einfluß der antiken Überlieferung gewöhnlich getrennt
und wurde jedes als selbständiges Bauwerk behandelt.
In acht Geschossen steigt der zilindrische Campanile
empor, von geometrisch regelmäßigen Arkaden reizvoll um-
rahmt. Unten ist er durch 15 starke Wandsäulen gestützt,
und darüber laufen sechs luftige, heitere Kreisbogenloggicn
mit 180 meist antiken Stützen um den Turm herum,
während oben das Glockengeschoß ein wenig zurücktritt.
Über den Grund der schiefen Richtung des Turmes ist
viel gestritten worden. Wahrscheinlich hat sich der Turm
während des Baues trotz aller Vorsichtsmaßregeln auf dem
sumpfigen, Erdbeben unterworfenen Boden stetig gesenkt,
ist aher trotzdem in großen Zwischenräumen allmählich zu
Ende geführt worden, indem die Differenzen regelmäßig
ausgeglichen wurden. Dadurch ist er allerdings zugleich
krumm geworden; die Konvexität der Südseite beträgt im
Mittel gegen 30 in. Der oberste Punkt der Achse hängt
gegen den untersten etwa 4Hz m nach Süden über! Die
Aussicht von der Plattform ist prachtvoll. Auf der einen
Seite, nach Lucca zu, gewahrt man die Appenninen, auf
der andern die weite Fläche des Meeres, aus welcher zur
Rechten, wie ein isoliertes Gebirge, die Insel Gorgom auf-
steigt; nach links hin folgen der Reihe nach Capraja, fern
am Horizont Korsika und endlich die Insel Elba, von der
nur das eine Ende hinter dem Monte Nero südlich von
Livorno sichtbar wird.
Die Schiefe des Turmes benutzte der 15jährige Galilei,
indem er Kugeln von gleichem Durchmesser und verschiedener
Dichtigkeit niederfallen ließ,
zur Begründung der Fall-
gesetze. Eine Gedenktafel er-
innert an diese berühmten
Experimente.
Der Campo Santo.
Noch berühmter ist der nörd-
lich vom Dorn gelegene
Campo Santo, der Fried-
hof, ein edler gotischer Bau
voll Poesie und Würde.
Einer Inschrift zufolge ist er
1278 von Giovanni Pisano
begonnen und im 14. Jahr-
hundert gleich dem schiefen
Turm von Tommaso, dem
Schüler des Andrea Pisano,
vollendet.
Erzbischof Ubaldo de Lan-
franchi von Pisa, der An-
führer der Pisancr Truppen
im dritten Kreuzzuge (1189
—1192), hatte nach der
Schlacht von Ptoleniais hei-
lige Erde vom Kalvarien-
berg aus Palästina nach Pisa
gebracht, um sie zur Anlage
eines Friedhofes in seiner
Vaterstadt zu verwenden. Auf
diesem Friedhof erhob sich
dann später jener monumen-
tale Bau, den wir noch
heute bewundern. Der Campo
Santo, der parallel mit dem
Dom und dem Baptisterium
gelegen ist, bildet ein läng-
liches Viereck von 127 m
Länge und 52 m Breite. Bis 1771 war er allgemeiner
Begräbnisplatz; seit der Zeit werden nur noch außerordent-
lich verdiente Personen dort bestattet. Die Westfassade
ist, wie der Dom, der Campanile und das Baptisterium,
durch 44 Pilaster mit Kreisbogen gegliedert, welche die
Wirkung der langen nackten Mauern mildern und beleben.
Die Bogenverbindungen sind mit Köpfen von seltsamem
Stil und Ausdruck geschmückt.
Öffnungen sind fast keine vorhanden, als ob das Hei-
ligtum ohne Verbindung mit der Außenwelt bleiben sollte.
Nur zwei Thüren führen ins Innere. Das Thor des
Haupteinganges ist von einem Baldachin überdacht, den
sechs Statuen zieren, darunter eine Madonna von Gio-
vanni Pisano.
Die Wirkung beim Eintritt in den heiligen Raum ist
eine tief ergreifende und wird durch die Einfachheit des
Die Befestigung und Ausbreitung der französischen Herrschaft im westlichen Sudan.
m
Äußern nur noch erhöht. Wohl selten hat der stille Ernst
des Friedhofs einen so hehren, überwältigenden Ausdruck
gesunden. Der Anblick ist einer der fremdartigsten und
eigensten, die Italien uns bietet. Die Führer empfehlen,
den Eampo Santo des Nachts bei schönem Mondschein zu
besuchen, nnd sie haben nicht unrecht; um derartige Schau-
spiele voll zu genießen, bedarf es nicht bloß einer besonderen
Scclenstimmnng, sondern auch einer übernatürlichen Be-
leuchtung.
Anfangs entspricht der Campo Santo von Pisa nicht
ganz der Vorstellung, die man sich von einem derartigen
Bauwerk macht. Man erwartet, einen geräumigen Fried-
hof zu finden, der von engen Galerieen umgeben ist, wie zu
Mailand, Bologna nnd Genua. Die Verhältnisse sind
aber gerade umgekehrt, und vom künstlerischen Standpunkt
aus ist das sicherlich nicht zu beklagen. Der Kirchhof ist
nur winzig, um so gewaltiger aber sind die Hallen, welche
ihn einschließen. Giovanni Pisano hat sich hier als genialen
Architekten bewiesen; der Krcnzgang sollte einfach, aber zu-
gleich großartig sein und würdig der Schätze, die er aufzu-
nehmen bestimmt war. Ein Korridor teilt die Arkaden
und den Friedhof in zwei Hälften.
Von eigentlichen Gräbern, von Kreuzen und Grab-
symbolen keine Spur; nur Gedächtnissteine und Sarkophage
haben einen Platz in dieser idealen Nekropolis. So ist der
Campo Santo trotz seines Namens und seiner ursprüng-
lichen Bestimmung viel mehr das Pantheon des pisanischen
Ruhmes als eine Ruhestätte. Da herrscht kein Klagen nnd
keine Trauer, und nichts erinnert an das schließliche Ende
alles Seienden. Die Toten stellen sich uns nur in ihrer
unvergänglichsten Hülle, im Gedächtnis großer Thaten,
glänzender Entdeckungen und Geistesschöpfnngen dar.
Welch außerordentliche Vereinigung von berühmten Ge-
denksteinen: von demjenigen der Gräfin Beatrix, Mutter
der berühmten Markgräfin Mathilde, bis zum Grabmal
des Historikers Fabroni, vom Sarkophag Kaiser Heinrichs VII.
bis zu dem des Polygraphen Algarotti, der auf Kosten
Friedrichs des Großen errichtet wurde! Und dann die welt-
berühmten Freskobilder, die sich an den Wänden hinziehen!
Es ist eine Fülle, ein Reichtum von Kunstwerken, die in
der Einfachheit ihrer Anordnung ganz unvergleichlich ist.
So stehen diese vier altehrwürdigcn Gebäude in hehrem
Frieden beisammen. Fern vom Getöse der profanen Welt
haben sie schon Jahrhunderte mit Bewunderung erfüllt und
werden noch späten Jahrhunderten zeugen von dem Glanz
und der Macht des mittelalterlichen Pisa.
Die Befestigung und Ausbreitung der französischen Herrschaft
im westlichen Sudan.
Am oberen Senegal und Niger hat Frankreich neuerdings
durch den Kriegszug des Oberstleutnants Archinard über
zwei der gefährlichsten Gegner einen großen Erfolg errungen.
Der Sultan von Segn, Achmadu, ein Sohn des Fanatikers
Omar, ist völlig niedergeworfen und hält sich als Flüchtling
in Massina auf, nnd ebenso hat der Tyrann Samori, bekannt
aus Bingcrs Schilderungen, vor der Schärfe der französi-
schen Waffen das Feld räumen müssen.
Von Achmadus Herrschaft ist vor der Hand das wichtige
Kaarta, gerade nördlich von der Strecke Medine-Badumbe,
der Senegal-Kolonie eingefügt worden, die dadurch einen an-
sehnlichen Zuwachs empfängt. Das Land grenzt im Süden
und Südwesten an den Ba-uls, im Norden an die Sitze der
maurischen Dnaisch, int Osten an Bakhunu und im Südosten
an Beledugn. Das Ganze ist ein Schieferplatcau, von ein-
zelnen Hügelreihen durchzogen, die wieder der allbekannte
afrikanische Laterit überdeckt. — Ursprünglich wohnten hier
die Soninkö, ein Mischvolk aus Mandingos und Fulbes,
die, von Osten kommend, vor etwa 400 Jahren das Reich
Galam bis in die Gegend von Bakel überschwemmten. Ihnen
folgten im vorigen Säkulum die Bamba rras ans der Berg-
region von Kong und besetzten nacheinander Segu, Beledugn,
Kaarta und den Bezirk um Nioro. Zuletzt, von 1855 bis
1860, erschien an der Spitze seiner Toncouleurs (einem
Fulbe-Stamm) der Schwertapostel des Islam, El Hadschi
Omar, und bemächtigte sich unter gräulichem Blutvergießen
all der genannten Länder.
Allein die mohammedanischen Eroberer machen trotz fort-
gesetzten Nachschubes noch heute die Minderzahl der Bevölke-
rung aus; sie sind fast durchweg auf die Städte beschränkt,
während die Hauptmasse des Bodens sich in den Händen der
heidnischen Bambarras nnd Soninkss befindet. An Flächen-
raum mißt Kaarta gegen 55 000 qkm mit höchstens 300 000
Einwohnern. Die Residenz des Sultans ist Nioro, ein leb-
hafter Handelsplatz, hart an der nördlichen Grenze, wo bereits
der arabische Einfluß überwiegt.
Frankreich hatte in den unterjochten heidnischen Völkern
längst seine stillen Bundesgenossen, die sehnlichst auf die Er-
lösung von der Despotie Achmadus warteten. Ihnen erschien
Oberstleutnant Archinard als willkommener Befreier; sein
Sieg bedeutet zugleich den Sieg des Heidentums, richtiger:
des zivilisierten Europa über den Halbmond. Für die
Mohammedaner fällt diese Niederlage um so schwerer ins
Gewicht, weil Achmadu im westlichen Sudan allgemein als
der „Beherrscher der Gläubigen" galt. Dabei ist dieser
„Eckpfeiler des Islam", wie ein weiterer Ehrentitel des
Sultans lautet, ein erbärmlicher Feigling, der noch nie seine
Soldaten persönlich ins Feuer geführt hat. Bei den Kämpfen
vor Auri, auf dem Wege nach Nioro, floh der große Held
nach den ersten Schüssen mit seinen Weibern in ein sicheres
Versteck. Als die Hauptstadt fiel, hatte er längst die Grenze
gewonnen. Sein Sturz erhöht das Ansehen und die Macht
der Franzosen in ganz besonderein Maße nnd öffnet ihnen,
wenn nicht inzwischen ein unberechenbarer Ans-
bruch des Fanatismus erfolgt, den Weg nach Tim-
buktu. Allein bei der gefährlichen religiösen Erregbarkeit
der Massen dürfte ein Aufruf zum „heiligen Kriege" kaum
Wunder nehmen, und damit würden die jüngst erstrittenen
Vorteile sämtlich in Frage gestellt. — Die Empörung des
Marabut Lamine in 1887 liefert den besten Beweis, wie
der Fanatismus jedes andre Gefühl bei den Anhängern des
Propheten überwuchert. Noch im vergangenen Jahre haben
Schwarze, die vorher lange Zeit als Aufseher und Hand-
werker in französischen Diensten standen, einen Teil der
Eisenbahnstrecke zwischen Kayes und Bafulabe zerstört und
Schwellen, Waggons und Telegraphenstangen verbrannt.
Äußere Ruhe und scheinbarer Glcichinut sind trügerische
Zeichen, hinter denen sich oft genug ein Abgrund von Rach-
sucht, Blutgier und Intoleranz verbirgt.
Ungleich friedlicher und milderen Gemüts ftttb die
Fetischdicner, die sich auch viel leichter einer fremden Herr-
schaft anbequemen. Sie würden sicher in größerer Zahl zum
204
Die Verwendung der Photographie für Kartendarstellungen.
Christentum übertreten, wenn dieses nicht ihrer altgewohnten
Vielweiberei so feindlich entgegenstände. — In richtiger Er-
kenntnis der Sachlage haben deshalb die Franzosen in den
neu erworbenen Gebieten eine Reihe kleiner heidnischer Neger-
herrschaften ins Dasein gerufen und sie zum Teil mit Ab-
kömmlingen der alten, von Omar verdrängten Königs-
gcschlechter besetzt. So residiert jetzt in Koniakary ein
Nachfolger jenes Sambala, der während der Belagerung
von Medine 1856 auf Seiten der Franzosen stritt. In
Gemn ist ein früherer Häuptling, der greise Dama, den
Achmadu 1874 vertrieben hatte, wieder an die Spitze gestellt.
Noch wichtiger erscheint die Regentenfrage für Segn selbst,
wo Archinard bald nach der Eroberung des Landes einen
geschworenen Feind des Sultans auf. den Thron erhob.
Ebenso unterstützen die Franzosen, um Samory von Osten
her im Schach zu halten, dessen Gegner Tieba — einen
Mohammedaner — in Kenedugu. Bei dem Mangel an
Offizieren müssen diese Vasallenfürstcn im Kriege zugleich als
Truppenführer dienen.
In den letzten Januartagen dieses Jahres hatte Archi-
nard die Unterwerfung Kaartas beendigt und wandte sich
nun ohne Zögern zum oberen Niger. Am 24. Februar
schlug er die aufrührerischen Baninkos bei Diena, so daß
Samory, eingeschüchtert durch den Fall dieses Platzes, mit
seinem Heere den Rückmarsch nach Süden antrat. Oberst-
leutnant Archinard folgte ihm und besetzte am 7. April das
in kommerzieller Beziehung hervorragende Kan kan, während
ein fliegendes Korps dem zurückweichenden Feinde auf den
Fersen blieb.
Etwa zur selben Zeit durchzog die Expedition des Kapi-
täns Brosselard-Faidherbe das südwestliche Senegambien
von Benty an der Mündung der Mallecory (Mellacoree) bis
nach Kaknnja an der Grenze von Samorys Reich. Der
Marsch ging im Thale der großen Scarcie über die Berge
nach Wausso, der Hauptstadt von Tamisso, hinauf, wo der
Führer mit dem Häuptling einen Schntzvertrag abschloß.
Gleiche Vertrüge wurden in Kaknnja und in Kamuke, das
Herr des Michels, ein Begleiter des Kapitäns, aufgesucht
hatte, mit den Landesfürsten unterzeichnet. Frankreich sieht
also anet) nach dieser Seite hin sein Gebiet und seinen Ein-
fluß vergrößert; natürlich treten infolgedessen mancherlei neue
Anforderungen heran, zunächst die dringlichste nach einer
besseren und schnelleren Verbindung der Küste mit dem Hinter-
lande. Kapitän Brosselard-Faidherbe schlägt eine Bahn-
linie vor, die von Maunduö an der Mallecory in der Länge
von 312 Irin um Futa-Djallon zum Niger geführt werden
soll. Mit noch mehr Nachdruck tritt der Oberstleutnant
Humbert im Bulletin der Pariser Geographischen Gesell-
schaft (1891, Heft 2, S. 233 ff.) für den Weiterbau der
schon vorhandenen Senegalbahn bis Bammako ein. Zur
Zeit bestehen 132 km Eisenbahn mit 1 in Spurbreite zwischen
Kayes und Bafulabe; daran schließen sich 40 Irin mit i/.2 in
Spurbreite von Bafulabe nach Diubeba, ehe der Überland-
weg mit seinen beiden Ästen nach Bammako über Knndu
einerseits und nach Sigirri über Niagassola andrerseits be-
ginnt. Die Bedeutung dieser Nigerbahn in politischer, mili-
tärischer und kommerzieller Hinsicht wird von Humbert
gründlichst erörtert, so daß wir uns hier mit einem Finger-
zeig ans die Quelle begnügen müssen.
Nicht minder notwendig ist eine Verstärkung der Streit-
kräfte, die gegenwärtig derart beschäftigt sind, daß der Oberst-
konrmandierende im Sudan kaum 400 europäische und etwa
800 bis 1000 schwarze Soldaten zur Verfügung hat. Da-
mit kann ein Land vom halben Umfang Frankreichs unmög-
lich in Ruhe und Ordnung gehalten werden. Überdies sind
die wenigen Truppen noch in 15 Militärposten zerstreut, die
im Durchschnitt je 100 kni voneinander entfernt liegen, und
von denen nur elf durch den Telegraph in Verbindung stehen,
Nach dem Fall von Segu-Sikorro und Nioro hoffte ein
französischer Autor durch Verlegung starker Garnisonen nach
diesen Plätzen die vorgenannten, oft beschwerlichen Senegal-
Niger-Posten ganz oder teilweise entbehrlich machen zu können
(Vergl. Le Tour du Monde, Nouvelles géographiques
1891, p. 27). Der in militärischen Dingen maßgebliche
Oberstleutnant Humbert sagt aber von einem solchen Plane
nichts; es ist auch kaum einzusehen, wie Frankreich ohne
eine weitverteilte Macht seinen Absichten im Sudan gerecht
werden soll. Diese Absichten zielen vor allen Dingen dahin,
der fortschreitenden Entvölkerung des Landes par les luttes
entre les noirs et eontre les noirs ein Ende zu machen,
den Sklavcnjagden zu steuern H, das Wohl und die Bedürf-
nisse der Eingeborenen zu heben und damit dem französischen
Handel ein neues, kaufkräftiges Absatzfeld zu erschließen.
Ein an Naturprodukten so reiches Gebiet wie der franzö-
sische Sudan, verdient es unbedingt, daß seine Entwickelung
in jeder Weise gefördert werde. H. Seidel.
Die Verwendung der Photographie für Kartcn-
darstellnngen.
Dieselbe wird heute mehr und mehr vervollkommnet und
dem wissenschaftlichen Reisenden dadurch ein bequemes Hilfs-
mittel geschaffen. Es ist hier nur die Rede von der photo-
graphischen Naturaufnahme für geographische Zwecke, nicht
von der Reproduktionstechnik, welche meist ohne alle geistige
Arbeit Kartenmaterial reduziert oder „entlehnt", von der
Generalstabskarte angefangen bis hinunter zu den einfachsten
Schulkarten. Der reisende Forscher jedoch ist jetzt imstande,
die Hauptpunkte seines Weges im Bilde festzuhalten, was
allein schon für die Konstruktion der Reiseroute von großem
Werte sein kann. Über diese Photogrammetrie oder An-
wendung der Photographie bei Vermessungen wurde schon in
der Osterwoche dieses Jahres im Deutschen Geographentage
zu Wien Bericht erstattet. In den letzten Tagen befaßte
sich damit auch die Jahresversammlung der Britischen Gesell-
schaft für Förderung der Wissenschaften zu Cardiff. Hier
wies Herr Thomson auf die Bedeutung der Photographie
hin, die schon vielfach von Reisenden und Ingenieuren in
Europa und Amerika angewandt wird, im allgemeinen aber
noch wenig in England. „Bei der Routenaufnahme und
dem Festhalten von Landschaftsbildern ist die Photographie
von unschätzbarem Werte. Eine allgemeine wissenschaftliche
Anwendung wird bei der Geologie stattfinden (Erosion der
Bergketten, Deltabilduug, Uferformen), bei der Botanik und
für militärische Zwecke. Man kann annehmen, daß die
Landesaufnahme der Zukunft photographisch vom Fessel-
ballon aus arbeiten wird. Der Ballon würde von den
Winkeln eines gleichseitigen Dreieckes ans an drei Stricken
verankert sein und seine Bewegungen würden mittelst eines
künstlichen Horizontes reguliert werden, bis die Kamera über
dem Mittelpunkte des zu photographierenden Raumes zu
stehen kommt. Eine Reihe solcher Aufnahmen würde z. B.
einen genauen Plan einer Stadt geben und könnte direkt ohne
Nachhilfe eines Zeichners oder Stechers für die Druckpresse
fertig gemacht werden (?)." Colonel Tanner von der Indian
Survey berichtete über die Verwendung der Photographie
von solchen Teilen des Himalaja, die von Europäern noch
nicht besucht wurden, die aber in Karten niedergelegt werden
sollen. Die Resultate sind zufriedenstellend, wenn man die
großen Entfernungen (bis 160 km) berücksichtigt und die
Höhe der Aufnahmegebiete (bis 6000 m). Dies Verfahren
Z Dagegen wird man die Haussklaverci, ähnlich wie
die Polygamie, wohl oder übel noch dulden müssen.
Lord Lamingtons Reise in den Schan-Staaten. — Die indischen Landesaufnahmen 1890.
205
kommt jetzt bei Herstellung einer Karte von Nepal zur An-
wendung. — Die ersteren Angaben erscheinen uns doch etwas
zu sanguinisch. Sollen die Ballonaufnahmen brauchbar sein,
so dürfen nur verhältnismäßig kleine Teile des Landes auf-
genommen werden. Es bleibt aber die Voraussetzung be-
stehen, daß als Grundlage stets ein sicheres trigonometrisches
Netz vorhanden ist, in welches erst die Aufnahmen einzupassen
wären. Schon ans diesem Grunde kann meines Erachtens
von einer direkten Reproduktion der gewonnenen photogra-
phischen Originalaufnahme gar keine Rede sein. Es ist ferner
die nach den Plattenrändern hin meist vorkommende Verzerrung
in Rechnung zn stellen. Der Ballon müßte auch ohne jede
Schwankung bleiben, denn um eine proportionale Wiedergabe
zu erzielen, muß Objekt und Bildfläche durchaus parallel sein
und senkrecht zur Objektivaxe stehen. Bis zu weiterer Ver-
vollkommnung des Verfahrens wird man also gut thun, die
Photographie (aber auch ohne Ballon) als ein ganz vor-
treffliches Hilfsmittel zu betrachten, aber nichts weiter. Wie
viel hier schon gewonnen wurde, geht ans den Aufnahmen
im Hochgebirge hervor, die der topographischen Karte manches
wertvolle Detail liefern. Und nur durch spezielle photo-
graphische Aufnahmen ist es einem Simon möglich gewesen,
die topographischen Aufnahmen dahin zu ergänzen, daß er
imstande war, das prächtige Relief der Jungfraugruppe zu
schaffen, welches bei der Ausstellung des Geographen-Kon-
gresses in Bern so viel bewundert wurde. A. Scobel
Lord Lamingtous Reise in den Schan-Staaten.
Vor der geographischen Abteilung der Britischen Natur-
forscher Versammlung in Cardiff hielt jüngst Lord Lamingto n
einen höchst anziehenden Vortrag über seine Expedition in den
Schan-Staaten an der siamesischen Grenze. Der Reisende
wanderte von Schieng-Wai, am Me-Ping im nordwestlichen
Siam gelegen, zunächst an diesem Flusse hinauf bis zur Ein-
lanfstelle des kleineren Me-Teng. Das Land erschien durch-
weg sehr fruchtbar und wohl dazu angethan, um eine dichte
Einwohnerschaft zu ernähern; vorausgesetzt, daß bessere Ver-
kehrswege und geordnete Zustände ins Leben gerufen werden.
Dann führte der Weg über die Wasserscheide in das Thal
des Me-Hang, der bereits dem Saluen zugehöhrt, durch ein
fremdes Gebiet nach Mnng Tuen, wo eben die britischen
Teilnehmer der anglo-siamesischen Grenzkommision eingetroffen
waren. Die Länderscheide entbehrt gerade in diesem Bereich
noch immer der endgültigen Regelung. Außerordentlich
lohnend gestaltete sich ein Besuch der Durchbruchsschluchten
des Me-Hang, der sich in einem selbstgegrabenen Tunnel
unter Hügelreihen fortwindet. Mit der Kommission mar-
schierte Laming ton über Mnng Sät ans mühseligen
Dschnngelpfaden an den Me-Khok, einem kleinen Tributär
des Me-Khong. Drei Wochen laug sah man keine bewohnte
Stätte; die wenigen Dörfer und Häuser an der Route lagen
infolge der ewigen Kriege zwischen den einzelnen Schan-
Staaten in Asche und Schutt. Desto erfreulichere Bilder
entfalteten sich in der Ebene von Schieng-Seen, südlich der
Konfluenz des Me-Khok mit dem Me-Khong. Statt der
Dschungeln und Berge überschaute man ein blühendes Frucht-
gefild von 100 englischen Meilen Länge bei 10 Meilen
Breite, — ein Land, so schön und verlockend, daß die prak-
tischen Engländer gleich an die Herleitung einer Eisenbahn
dachten. Der Plan einer solchen — im Me - Khong - Thale
hinauf — ist schon im Werke; es gilt nur, für das Gedeihen
der Anlage ihre Weiterführung durch die reichen Distrikte
von Sibsong-Pana und womöglich bis in das Mnnan den
Engländern zn sichern. — In Hongluk, einem Schandorfe
ain Nordende der Ebene, verließ der Lord die Kommission,
um sich allein nach Tongking zn begeben. In vier Tagen
traf er bei Kyang-Lap auf den Me-Khong, der jetzt in der
Trockenzeit nicht mehr als 120 Ijards breit, aber noch sehr
tief war. Das Hochwasserbett mißt reichlich 600 I)ards.
Die erst seit fünf Jahren begründete Hauptstadt von Kyang-
Kheng fand der Lord in erfreulichem Aufblühen. Der Ort
liegt in einer großen, dicht bevölkerten Ebene von solcher
Fruchtbarkeit, daß die indische Regierung wohl thun würde,
den ganzen Bezirk unter ihre Schutzherrlichkeit zu nehmen.
Solchen Winken pflegt man in England meist bereitwillig
nachzukommen. Nnn aber sitzen drüben in Annam die
Franzosen und geben als gute Nachbarn scharf Obacht auf
alle britischen Annektionsgelüste in Siam. Ein ungeschickter
oder voreiliger Schachzug gegen dies Reich könnte leicht zn
weitgreisenden Gegenmaßregeln Anlaß geben, besonders, weil
die Franzosen aus vielerlei Gründen längst nach dem Besitz
des linken Me-Khong-Ufers (mit Luang-Prabang) trachten.—
Kyang-Kheng war früher tributpflichtig an Kyang-Tnng, das
jetzt unter englischem Protektorate steht; es sagte sich aber
rechtzeitig von dieser Verbindung los und begab sich in den
Schutz des nördlichen siamesischen Grenzstaates Nan. Seit
dem Besuch der britischen Grenzkommission in der Haupt-
stadt Mnng-Sing scheint der Fürst von Kyang-Kheng indes
geneigt, in sein altes und allein berechtigtes (!) Verhältnis
zurückzukehren. Damit wäre natürlich die Einverleibung
seines Landes in die anglo-indische Machtsphäre so gut wie
vollzogen.
Die indischen Landesaufnahmen 1890.
Die indischen Landesaufnahmen wurden im Anfange des
Jahrhunderts begonnen, sind aber heute noch weit davon ent-
fernt vollständig zu sein; trotzdem ist man hier viel weiter,
als in irgend einem andern asiatischen Lande, Palästina aus-
genommen. Der letzte Report of the Indian Survey für
das Jahr 1890 zeigt abermals bedeutende Fortschritte, trigo-
nometrische, topographische und Katastervermessungen, sowie
geographische Aufnahmen in den Nachbargebieten, in Belnd-
schistan, Persien, Birma u. s. w.
Einer der wichtigsten aufgenommenen Distrikte ist der
von Kyaukse im Norden des Distrikts von Mandalay, der
von dem schönen und dicht bevölkerten Myitngeflusse bewässert
wird. Zahlreiche Kanäle, deren Ursprung man in das Jahr
1065 (427 der birmanischen Ära) zurückverlegt, gehen von
diesem Strom ab in das fruchtbare Land. Noch sind die
Ruinen der alten Hauptstadt Myinzourg sichtbar, die zu jener
Zeit von König Nawyate erbaut wurde. Die Einwohner
des Distrikts sind reine Birmanen mit wenig Schanbei-
mischung.
Unter dem durch seine Reisen bekannten Ney Elias und
Kapitän H. M. Jackson ging eine Expedition zur Aufnahme
der englisch-siamesischen Grenze ab. Sie wurde in
drei Abteilungen zerlegt, welche sich über das Trnnssalwin-
land, Schau und die Karenenstaaten verbreiteten. Ihre Auf-
nahmen umfassen 9620 Miles, niedergelegt in Karten von
y4 Zoll auf die Mile.
Eine kriegerische Expedition ging von verschiedenen Seiten
in das Land der Tschin-Luschai, zwischen Bengalen und
Oberbirma. Zwei Heeresabteilungen rückten aus, die eine
von Tschittagong am Golf von Bengalen, die andre vom
Myitthaflusse (Nebenfluß des Chiudwin) in Birma, um in
dem wilden Berglande im Süden von Manipur zusammen-
zutreffen. Die westliche (indische) Abteilung durchzog ein
bergiges Land mit engen Thälern, deren Abhänge bis zu
1500 m Höhe dicht bewaldet waren. Nachdem der Kaladyne-
flnß erreicht war, änderte sich der Anblick des Landes, das
dichte Unterholz verschwand, eine freie große Landschaft er-
öffnete sich und eine nordische Vegetation mit Fichten, Eichen
206
Geologische Geschichte des Ohioflusses. — P. H. Brincker: Südafrikanische Etymologien.
und Rhododendron trat an die Stelle des Dschungels und der
Bambusdickichte. Die Triangulation dieser Abteilung er-
streckte sich bis Haka an der Grenze Birmas und die topo-
graphischen Aufnahmen umfaßten 6000 Squaremiles. Was
die östliche, von Birma aus aufgebrochene Abteilung betrifft,
so wurden die Aufnahmen von Leutnant Benny Tail-
your geleitet. Sie erstrecken sich über 3000 Squaremiles
bisher völlig unbekannten Landes.
Beludschistan, immer noch sehr ungenügend bekannt,
hat auch in seinen Aufnahmen Fortschritte zu verzeichnen.
Hier waren fünf Abteilungen teils mit trigonometrischen, teils
mit topographischen und geographischen Aufnahmen beschäftigt,
unter Oberst H o l d i ch thätig. Eine dieser Abteilungen
wurde der Expedition Tandem ans in das Zhobthal ange-
schlossen; während eines einmonatlichen Aufenthalts in Apozai
wurde die Triangulation nördlich und westlich bis an die
Ufer des Kandar- und Gomnlflusses ausgedehnt. Leutnant
Mackenzie gelang es, einen der hohen Berge im Westen der
Tacht-i-Solimankette zu ersteigen und von hier aus einen
Ueberblick über die Gestaltung des Landes bis nach Afgha-
nistan zu gewinnen. Für die nach Beludschistan sich aus-
dehnenden indischen Eisenbahnen wurden ganz spezielle Auf-
nahmen gemacht. Andre Abteilungen triangulirten in Lus
Beyla, Pischin, dem Toba-Plateau, in der Gegend von
Pandschgur und an der Grenze von Persien. Der allgemeine
Eindruck, der bei allen diesen Aufnahmen gewonnen wurde
ist der, daß Beludschistan ein recht unfruchtbares Land ist.
Was Persien betrifft, so hat man sich hier zu Auf-
nahmen der Hilfe eines eiugebornen intelligenten Mannes,
des Jusnf Scharif Khan Bahadur bedient, der dem
Oberst Sartorius beigeordnet wurde, welcher im Sommer
1889 mit einer Sendung nach Persien betraut war und im
Oktober vorigen Jahres zurückkehrte. Jusnf nahm nicht
weniger als 25 000 Sqnaremiles im Maßstabe von acht
Miles auf den Zoll auf, allerdings ohne eine trigono-
metrische Basis. Vergleicht man seine Arbeit mit einigen
durch Oberst St. John gut bestimmten Orten, so erscheint sie
vertrauenswert.
Oberst Tauner, der nach 28jähriger ehrenvoller Thätig-
keit jetzt in den Ruhestand getreten ist, hat sich im verflossenen
Jahre nochmals um den Himalaja verdient gemacht, den
niemand besser als er kennt. In einigen aufgenommenen
Seitenthälern zwischen Plach und Bajaura steigen die mit
Dschungel bedeckten Berge so steil an, daß er nur mit Mühe
einen Platz erreichte, auf dem die Instrumente aufgestellt
werden konnten. Unter solchen Thälern zeichnet sich das im
Juni 1890 aufgenommene Tirtanthal ans; seine reichen
Wälder geben vortreffliche Ausbeute.
In dem diesjährigen Bericht des Surveyor-General, von
dem das Mitgeteilte nur ein kurzer Überblick, fehlen die sonst
soviel Aufsehen erregenden Expeditionen der einheimischen
Pandits gänzlich, was als ein Zeichen aufgefaßt werden kann,
daß die noch nicht untersuchten Landstriche friedlicher und
Angängiger geworden sind.
Geologische Geschichte des Ohioflusses.
Der Ohio entsteht aus den beiden Quellflüssen, dem
Monongahela und Alleghany, von denen ersterer in den
wildesten Teilen der nördlichen Appalachen, die von der
Kultur kaum berührt sind, entspringt, während letzterer ans
einer flachen, reizlosen Gegend kommt und wahrscheinlich in
einer früheren Periode dem Eriesee zugeflossen ist. Im Ge-
biete des Alleghanyflttsses liegt die eigentliche Olregion Penn-
silvaniens. Beide vereinigen sich bei Pittsburg. Das Alter
des Ohio ist jedenfalls ein sehr hohes, es fällt in den Schluß
der Karbonzeit, da die Auffaltung des appalachischen Systemes
beendet war. In der langen Periode bis zu Beginn der
Diliwialzeit furchte er sich ein breites tiefes Bett aus und
war nahe an den Schluß seiner erosiven Thätigkeit angelangt;
er mündete jedenfalls direkt in den nordwärts bis zum
Staate Illinois vordringenden Nebenarm des Mexikanischen
Meerbusens. In der Diluvialzeit aber wurde der Lauf des
Ohio durch die bis in sein Gebiet vordringende Eisbarre
beträchtlich gestört und abgelenkt. Aus dem Nachweise alter
Flußlänfe nördlich von Cincinnati hat sich ergeben, daß der
Fluß ehedem in einem weit größeren Bogen bis zur Stadt
Hamilton floß, mit dem Big Miami sich hier vereinigte und
erst bei Lawrenceburg in den heutigen Lauf einlenkte. Nördlich
von Cincinnati überschritt also die Eisbarre das alte Ohiothal,
bildete eine riesige Thalsperre und veranlaßte so die Ent-
stehung eines großartigen, 400 mls. thalaufwärts reichenden,
bis 200 ml8. breiten, bis 600 Fuß tiefen diluvialen Ohio-
sees, der z. B. bei Pittsburg noch 300 Fuß tief war. Neuer-
dings wurden alte aus Sand-, Lehm- und Thonschichten
bestehende Terrassen bei Morgentown im oberen Ohiogebiete
nachgewiesen, die überaus mächtig, 75 bis 275 Fuß über
der Thalsohle gelegen als Strandbildungen dieses Diluvialstes
gedeutet werden. Längs der Barriere hatte sich inzwischen
der Abfluß des Sees eingegraben. Oszillationen des Gletscher-
endes führten zu temporären Entleerungen des Sees. Letztere
führten ungeheure Schnttmasfen in das südlich von: Gletfcher
gelegene Ohiothal und erhöhten dessen Sohle mehr oder
weniger, so daß später, als das Eis dauernd zurückging, sich
der Fluß von neuem ein Bett und zwar in diese Schotter-
massen eingraben mußte, welche jetzt den Flußlauf als höher
gelegene Terrassen begleiten. Auch jetzt noch zeigt der Ohio
ein recht extremes Verhalten hinsichtlich der Wasserführung,
er ist bald hoch geschwollen, sein Bett bis zum Rand erfüllend,
bald so sticht, daß ihn ein Knabe durchwaten kann. Dafür
macht I. James, und mit Recht, den Menschen mit seiner
rücksichtslosen Waldvcrwüstung verantwortlich, welcher aus
jeden Fall Einhalt gethan werden müsse. (I. James in
Uopnlnr Science Monthly. April 1891.)
Südafrikanische Etymologien.
Von Missionar P. H. Brincker.
Stellenbosch, 4. August 1891. Die etymologische Be-
deutung des jetzt vielgenannten Simbn-bje scheint „Metall"
zu sein, oder „Metallgräbereiort"; es deutet auf bantnistischen
Ursprung. — Der Name Ovaherero ist bei den nördlichen
Stämmen Ova-shlmba (= siiutm), d. h. Erdfruchtgrüber, wie
die armen Erdfrüchte ausgrabenden Ova-Herero Ovat-tjiinba —
Ova-shimba und das Erdferkel Ondjlmba heißen. Ob hier
nicht noch ein ethnologisches Rätsel vorliegt? So ist der
Name des jetzt so geschriebenen Flusses Zambesi bei einigen
Stämmen 'Shimbaffi und Tjimbn-si.
Das Wort Ma-shona ist wohl eine Korruption von
Ma-tjaöna — Ba-tjüona, woraus man endlich Be-chunua
geformt hat. Es ist erstaunlich, wie die richtigen Namen von
Stämmen, Orten, Personen der Eingeborenen im Munde des
Europäers geradezu verhunzt werden.
Die Vorgänger der Ama-sulu- (— Zulu) und Ba-
tjuona-Stämme südlich des Zambesi, die schon die Urein-
wohner roter Nation mehr nach Westen und Südwesten ge-
drängt, scheinen Va-mbüri, als Volk Shi-mbüri (ohne
Nominalpräformativ MbLri, auch dialektisch Mbiri) geheißen
zu haben, und sollen nach alten Sagen, wovon ich noch Brnch-
stücke von sehr alten Ovaherero vor etwa 25 Jahren vernahm,
ein gewaltiges und äußerst kriegerisches Volk gewesen sein.
Daher nannten die Ovaherero noch zu jener Zeit einen feind-
lichen Angriff der Khoikhoiu (Hottentotten) mit Feuerwaffen
Otji-mbari, welcher Ausdruck jetzt ganz obsolet und durch
Aus allen Erdteilen.
207
ovita ersetzt worden ist. Ob die in Pfahlbaudörfern, im
Okavango und in den Morasten des Kuando-Tshobe-Flusses
(die West-Bantn nennen den Okavango Om im eit ge) wohnen-
den Va-mbangara (für die ich, wenn ich nicht sehr irre, von
jenen alten, nun längst verstorbenen, fast hundertjährigen
Ovaherero auch den Namen Ovambari — Va-mbari nennen
hörte), die eigentlich gar nicht in den Rahmen der West-Bantn
passen, vielleicht noch Reste jener großen Nation sind, lasse ich
vorläufig dahingestellt. Möglicherweise waren jencVa-mbari
(Ba-mbari = Ba-mbiri) ein mohrischer Stamm mit
Kultur, etwa der derVa-ganda gleichstehend, die Handel nach
der Ostküste hin trieben, etwa mit phönizischen, Persischen re.
Kaufleuten. Was nun den Untergang dieser mächtigen Stämme
verursacht, — ob etwa die hereinbrechenden Horden der Zulu-
Vorväter, ob innere Zersetzung, liegt und bleibt wohl im
Dunkeln.
Aus allen
— Südafrikanische Eisenbahnen. Seit die britische
Südafrikagesellschaft das Maschonaland besetzt und die dortigen
Goldfelder in Angriff genommen hat, liegt cs ihr daran, die
Eisenbahnen inöglichst weit in das Innere nach Norden hin
zn bauen. Das erste Stück derselben, von Kimberley nach
Vrybnrg im Bctschuanalande, 190 km lang, ist von der Kap-
regierung übernommen worden; die Fortsetzung nach Norden
bis Mafeking, 157 km, ist stark im Ban begriffen und soll
noch im laufenden Jahre vollendet werden. Die Bahn wird
dann bis 26" südl. Br. reichen. Die fernere projektierte
Linie geht alsdann über Molopolole und Tati nach Gubulu-
wayo im Matebeland unter 20° südl. Br. Von Mafeking
ans sind bis hierher noch über 700 km zu bauen.
— Die Vulkan-Inseln (Voleano Islands) find nach
einem Berichte endgültig von Japan in Besitz genommen worden.
Sie liegen im Süden der Bonininseln unter 25" nördl. Br.
und zwischen 141" und 142" östl. L. Die Nordinsel heißt
St. Alessandro, die Südinsel S. Agostino und die mittlere
und Hauptinsel Sulphur Island. Entdeckt wurden sie von
den Spaniern, näher bestimmt 1799 von King und Gore,
den Gefährten Cooks. Dr. Marburg aus Hamburg, der sie
vor kurzem besucht, fand die Schwefelablagcrungen auf der
196 m hohen Vulkaninsel nur gering; die Vegetation auf
dem kahlen Eilande, meist Farne, war unbedeutend, so daß er
nur dreißig Arten sammeln konnte. Koloiiisationsversuche,
damals unternommen, schlugen fehl (Verhandl. Ges. für Erd-
kunde zu Berlin, XV11I, 267). Neue Berichte aus Japan
melden jetzt, daß die Schwefellager doch bedeutend seien,
einzelne darunter von vier engl. Acker Größe und von aus-
gezeichneter Gute, so daß direkte Verschiffung stattfinden könne.
Es wohnen jetzt 24 Japaner auf Voleano Island und mit
den Bonininseln ist ein regelrechter Schiffsverkehr eingerichtet
worden.
— Deutsch - Neu - Guinea. Der Dabaksbau beginnt
dort sich sehr erfreulich zu entwickelt und das bisher erzielte
Erzeugnis, welches in Bremen auf den Markt gelangte, hat
sich besser als die so beliebten Sumatratabake erwiesen. Die
diesjährige Tabakernte bei Stephausort hatte einen Wert
von etwa 100000 Mark und wurde schnell verkauft. Für
das nächste Jahr wird eine achtfache Menge erwartet. Neben
der Nen-Gninea-Kompanie, welche diesen Tabak lieferte, hat sich
eine Astrolabe-Kompanie gebildet, deren Pstanzuugett in der
Jombacbcne beim Friedrich-Wilhclmshafen angelegt werden.
Die Pffanznngcn werden nach Art jener in Sumatra betrieben.
— ZumKlima von Bangala am mittleren Congo.
Herrn M. A. Ho bist er, Agent der belgischen Congo-
gesellschaft, verdanken wir eine meteorologische Bcobachtnngs-
reihe von Bangala (1" 33' nördl. Breite, 18" 40' östl.
Länge von Greenwich), welche sich von Februar 1888 bis
Erdteilen.
April 1889 erstreckt. Die Beobachtungen beweisen, daß
das Klima sehr gesund ist und eine leichte Acclimati-
sation der Europäer gestattet; die Salubritätsverhältnisse
der Eiugebornen und Europäer sind vortrefflich; in den
Jahren 1887 bis 1890 starben nur vier Weiße. Die mittlere
Monatstemperatur beträgt 26" und variirt zwischen 24 und
28". Die außerordentliche Gleichmäßigkeit der mittleren
Monatstemperaturen fällt sofort auf. Der wärmste Monat
ist Februar (28"), der kälteste Oktober (24"). Die extremen
Temperaturen 34,5 als absolutes Maximum und 20" als
absolutes Minimum bezeichnen die Grenzen der Tempe-
raturunterschiede. Angenehmes, hübsches Wetter, das wochen-
lang anhält, wechselt mit stürmischen und regnerischen
Wetter ziemlich regelmäßig ab, zuweilen stellt sich jedoch
kühles Wetter ein, ähnlich den Novembcrtagen Belgiens.
Bangala hat keine ausgesprochene Regenzeit, die Regen
verteilen sich auf alle Monate, sie treffen in ziemlich regel-
mäßigen Pausen ein, sind mitteldicht und von kurzer Dauer.
Im Mittel beträgt die Regenzeit zwei bis drei Stnuden an
Regentagen; öfter regnet es jedoch auch sechs bis sieben
Stunden. Regentage zählte »tan im Januar 15, Februar 4,
März 10, April 14, Mai 11, Juni 15, Juli 14, August 15,
September 11, Oktober 16, November 14 und Dezember 8.
Februar und März siud also Monate der Trockenzeit.
Gewitter kommen durchschnittlich sechsmal im Monate vor,
die wenigstens weisen Januar und Februar auf. Vor-
herrschende Winde giebt es in Bangala nicht, nur Windstöße
von 10 bis 20 Minuten Dauer, die den Tornados voran-
gehen oder ihnen folgen. Die Temperatur des Congostromes
ist um zwei bis drei Grad höher als die der Lufttempe-
ratur. — Die Beobachtungen, deren Resultate wir hier mit-
teilen, sind enthalten im Journal „Oe Mouvement Géo-
graphique“, 23. August 1891. Gs.
— Die hygienischen Zustände in Indien. In
einer besonderen, den Fortschritten des Sanitätswesens in
Indien gewidmeten Sitzung des Londoner Kongresses für
Hygiene und Demographie kanten am 14. August d. I. drei
Abhandlungen von eiugebornen Indiern zur Verlesung,
welche ein grauenhaftes, aber leider nicht übertriebenes Bild
von den hygienischen Verhältnissen in den Dörfern und
Städten Indiens entwerfen. Surgeon Major K. R. Kirtikar
schildert diese Zustände (in welchen nenn Zehntel aller indischen
Eingeborneu leben) in folgender Weise: Man stelle sich eine
Gruppe niedriger, meist mit Stroh und Gras gedeckter
Hütten vor, in welchen das Vieh Seite an Seite neben den
menschlichen Bewohnern angebunden ist. Es sind Kühe,
Ochsen, Büffel, gelegentlich auch Schweine, Esel, Ziegen und
Hühner. Während des Tages leben diese Bewohner der
Hütte in der freien Luft, in der Nacht liegen sie neben ihrein
Herren, dessen Frau und Kindern auf dem Fußboden; ein
Fenster oder sonst eine Oeffnnng für Lufterneuerung kommt
kaum vor. Der Mist der Viehes bleibt auf dem Boden
208
Aus allen Erdteilen.
liegen. Eine gemeinsame Düngergrube in der Nähe der
Hütten existiert freilich in jedem Dorf; sie werden jährlich ein-
mal gereinigt und der Dung auf die Felder gebracht. Diese
Düngergrube liegt nicht allzuweit ab vom Brunnen, und die
flüssigen Bestandtheile der Düngergrube verunreinigen das
Wasser im Brunnen. Dicht bei den letzteren werden Tag
für Tag Kleider (oft nur schmutzstarrende Lappen) ohne Seife
und ohne Desinfektionsmittel gewaschen, ebenso die Thiere
und auch die Menschen waschen sich hier. Hat das Dorf
einen Teich oder einen Brunnen mit Treppenstufen, auf
welchen man zum Wasser selbst hinabsteigen kann, so wäscht
man sich im Wasser selbst. Der Mann geht erst mit seinen
Füßen ins Wasser, dann taucht er die Hände ein; weiter
schlürft er einen Mund voll Wasser ein, um ihn wieder in
das Wasser zurück zu speien. Dann wird der Körper ge-
waschen, das Tuch um die Hüften gewechselt und schließlich
auch dies gewaschen. Geht eine Frau zum Bade, so bringt
sie ihr gliurra (irdenes Gefäß) behufs Wasserversorgung zum
Kochen, Trinken und für andere häusliche Zwecke mit, und
trägt später dasselbe Wasser sorglos nach Hause. Auch
menschliche Exkremente findet man nicht weit von der Wasser-
quelle; in kleinen Dörfern giebt es weder im Haus noch
außer demselben Abtritte. In einem Lande, wie Indien, ist
die Sonne während acht Monaten im Jahre sehr wirksam: sie
trocknet stark aus und vermindert so in bedeutendem Maße
die Übelstände, die ein Fehlen aller Einrichtungen zur Un-
schädlichmachung der Abfälle und Auswurfsstoffe mit sich
bringt. Das gilt besonders für kleine Dörfer mit sehr ge-
ringer Einwohnerzahl; aber in großen Orten, wo die Exkre-
mente von Gesunden und Kranken im Verunreinigungsbereich
der Wasserbrunnen und Quellen sich anhäufen, ist die Gefahr
für die Gesundheit natürlich groß. Das ists, was in Zeiten
von Cholera-Epidemieen alle Mühen der Ärzte ver-
eitelt, was die Intensität des Krankheitsgiftes erhält, was
die Epidemie zu einer Gefahr für Alle macht, indem sie
Familien rettungslos hinrafft, ohne Unterschied von Reichen
intb Armen, von Jungen und Alten, von Schwächlichen und
Kräftigen. So sieht es in den indischen Dörfern ans.
— Der Kohlenreichtum des neuen Staates
Washington am Stillen Weltmeer stellt sich immer mehr
als ein ganz gewaltiger dar. Für die im mächtigen Auf-
schwünge begriffene nördliche Pacificbahn und für den eben
so gewaltig sich entwickelnden Dampferverkehr im nördlichen
Großen Weltmeer ist dieses von außerordentlicher Wichtigkeit.
Dort liegt jetzt das Durchgangslaud und die schnellste Ver-
kehrsstraße zwischen Europa und Ostasien. Die Kohlenfelder
liegen hauptsächlich zwischen dem Cascadegebirge und den
Küstengebirgen; die am Westabhang des Cascade sind am
besten aufgeschlossen und liefern den größten Ertrag. Es
sind bituminöse Lignite, welche man abbaut und die zur Ver-
koakung, wie zur Gasbereitung und zum Heizen gleich gut
sich eignen. Bei Cowlets Paß tut Maquina County sind
auch Anthrazite gefunden worden. Die bedeutendsten Berg-
werke befinden sich in der Nähe des Pugetsuudes, in King-,
Pierce- und Thurston-Connty. Die Kohlenfelder gelten als
geradezu unerschöpflich uyd ihre Lage nahe dem Weltmeere
erhöhen ihre Bedeutung. Nach einem Bericht des britischen
Konsuls in Port Towusend, der dieser Notiz zu Grunde
liegt, betrug die Gesamtkohlenausbeute des Staates Washing-
ton im Jahre 1889 schon 911000 Tonnen, stieg 1890 aber
ans 1350000 Tonnen.
— Ursprung der Flora Grönlands. Nachdem
Hooker auf Grund sorgfältiger Untersuchungen zu dem Er-
gebnis gelangt war, daß die Flora Grönlands mehr zur
europäischen als zur amerikanischen neige, glaubte neuerdings
E. Warming das Gegenteil erweisen zu können. Diese Ver-
schiedenheit der Ansichten hat nun den bekannten Paläon-
tologen und Botaniker A. G. Nathorst veranlaßt, sich auch
seinerseits mit dem Gegenstände eingehend zu beschäftigen.
Seine Untersuchungen ergaben mit Bezug auf Verteilung der
östlichen und westlichen Pflanzenformen, daß an der Island
nahe gelegenen Küstenlinie europäische Formen fast wesentlich
vorherrschen, au der Südküste noch überwiegen, während die
dem amerikanischen Kontinente zugekehrte Seite westliche
Pflanzen fast allein aufweist. Im großen und ganzen ist
jedoch der europäische Charakter überwiegend. Während man
früher die Davisstraße für die Grenze zwischen der amerika-
nischen und europäischen Pflanzenproviuz erklärte, fand War-
ming, daß die Däuemarkstraße dafür anzusehen sei. Nathorst
wies jedoch darauf hin, daß amerikanische Formen selbst bis
nach Island anzutreffen seien. Warming glaubt, daß die
Hauptmasse der gegenwärtigen Flora Grönlands den Grund-
stock einer spezifischen Glacialflora bildete, welche befähigt ge-
wesen wäre, auf eisfreien Punkten die Eiszeit zu überdauern.
Nathoest macht dagegen geltend, daß die eisfreien Spitzen zu
hoch lagen, um die Existenz von Phanerogamen zu ermög-
lichen. Demnach ist anzunehmen, daß die westliche wie öst-
liche grönländische Flora in postglacialcr Zeit von Amerika
und Europa her einwanderte, ohne daß eine Landverbindung
nötig war, da Eisschollen mit Bodentheilen, Vögel u. s. w.
die Ueberführung von Samen von den Kontinenten ermög-
lichten. Hinsichtlich seiner Flora befindet sich England in
einem ähnlichen Abhängigkeitsverhültnis zum Festlande wie
Grönland, cs weist eine südliche Flora Frankreich gegenüber
auf, eine germanische an der Ostküste, eine lusitanische im
Südwestteile und am äußersten Westrande zwei anderweitig
in Europa unbekannte amerikanische Pflanzen.
Am Schluß der Tertiürzeit war die britische Flora eine
fast subtropische, diese verschwand; es wanderte eine arktische
Flora ein, deren Ueberreste im Liegenden der diluvialen
Grundmoräne noch im Südteile von Norfolk nachzuweisen
sind; daun bedeckte das Inlandeis alles und mit Rückzug
desselben wanderte wiederum arktische Flora ein; denn in
Schichten über dem Blocklehm wurden in Edinburgh und
Devonshire Ueberreste von Salix reticulata, 8. polaris,
Betula nana gefunden. (Nature.)
— Die Heimat der Bronze ist trotz vieler Unter-
suchungen noch keineswegs bekannt, wenigstens nicht jene der
europäischen und asiatischen Bronze. Virchow verspricht die
Angelegenheit neuerdings durch Anhäufung beglaubigter That-
sachen wieder in Fluß zu bringen. Zu diesem Zwecke hat
er nordkaukasische und assyrische Bronzen chemisch unter-
suchen lassen. Erstere zeigten eine ganz nngewöhliche Mannig-
faltigkeit der Zusammensetzung (I. 96,6 Kupfer, 3,4 Arsen,
II. 93,1 Kupfer, 6,8 Zinn. III. 77,2 Kupfer, 12,0 Zink,
7,1 Blei, 2,9 Zinn. IV. 99,8 Kupfer, 0,2 Schwefel. V.
75,0 Kupfer, 21,9 Zinn, 2,8 Blei), so daß der Name Bronze
kaum zulässig erscheint. In dem Gräberfeld von Koban im
Kaukasus, welches Virchow untersuchte, fand er dagegen häufig
die klassische Bronze (9 Kupfer, 1 Zinn). Die neuerdings
untersuchten „Bronzen" zeigen aber fast nur reines Kupfer-, Zink-
und Arscuikbronzeu. — Die assyrische Bronze stammte von
dem berühmten Bronzethor von Balawat (unter Salmanassar II,
859 bis 824 v. Chr.). Die Analyse ergab 92,14 Kupfer
und 7,92 Zinn, also eine der klassischen Bronze nahe stehende
Mischung, was sich auch bei andern früher analysierten assy-
rischen Bronzen gezeigt hat. (Verhandlungen Berliner An-
thropolog. Ges. 1891, 354.)
Herausgeber: Dr. R. Andree in Heidelberg, Leopoldstraße 27.
Druck von Friedrich View cg und Sohn in Vrannschwcig.
ro r tì it tt s rfi hi p t «t Jährlich 2 Bände in 24 Nummern. Durch alle Buchhandlungen und Postanstaltcn jonj
Anilin] Uj w L i JJ* zum Preise von 12 Mark für den Band zu beziehen.
Lin Besuch bei den M'pangrves am Muni.
Don Heinrich Hart er t.
Im vergangenen Jahre hielt ich mich längere Zeit in
Gegenden auf, welche meines Wissens seit langem nicht von
Forschern bereist wurden und gegenwärtig wohl nur wenigen,
meist jüngeren Kaufleuten und vereinzelten französischen und
spanischen Seeoffizieren oberflächlich bekannt sind, welch
letztere, an ihre Fahrzeuge gebunden, eben nur die Flüsse,
soweit sie schiffbar sind, kennen.
Diese Flußläufe gehören sämtlich zum Flnßsystem des
Muni, welcher unter ca. 1° nördl. Br. seine Fluten in
die Coriscobai, jenen innersten Winkel des großen Meer-
busens von Guinea, ergießt. Der Muni ist nun an und
für sich kein eigentlicher Fluß zu nennen, sondern er ist ein
meerbusenartig erweitertes Sammelbecken für die Wasser-
massen einer ganzen Anzahl größerer und kleinerer Flüsse,
deren Mehrzahl noch ans beträchtliche Strecken stromaufwärts
für Fahrzeuge mit geringem Tiefgänge, bis etwa zu fünf
Fuß, schiffbar sind. Von links, d. h. von Süden und Süd-
osten münden in dieses Becken die untere und die obere Noya,
fast ganz aus Osten kommt der weit im Innern entspringende
Utamboni, von Nordosten der Utonga mit seinen Nebenflüssen
Totje und Banse, von Norden kommt endlich der Congwe
oder O'congwe mit seinem langen, ebenfalls weit im Innern
entspringenden Nebenfluß, dem Manjane, dem „9ito de
Mangiani" der Spanier.
Der Charakter dieser Gebiete ist im allgemeinen der
eines einzigen ungeheuren, waldbedeckten Sumpfes, da der
Muni und die Unterläuft aller seiner Nebenflüsse träge
Wasserstraßen sind, die sich zwischen einer Unzahl von großen
und kleinen Inseln und Eilanden während des größten
Teiles des Jahres langsam dahinwälzen, und nur während
und kurz nach der Regenzeit stärkere Strömungen besitzen.
Diese eben erwähnten Inseln sind mit wenigen Ausnahmen
nichts als Schlauunablagerungen, auf denen sich Mangrove
und Pandanus angesiedelt haben, welche auch zum größten
Teil die Ufer der Flüsse und die Ränder der zahllosen Creeks,
welche diese untereinander in verschlungenem Gewirr ver-
binden, bedecken. — Je weiter den Mündungen, d. h. dem
Globus LX. Nr. 14.
Muni zu, desto mehr überwiegt die Mangrove, bis sie end-
lich allein übrig bleibt und erst am sandigen User der See
einer andern Flora weicht. — Am Muni und Utamboni
öfter, seltener nur an den andern Flüssen wird das dunkle
Grün der Mangroven von einem helleren Schimmer unter-
brochen, welcher das Vorhandensein einer Bananenpflanzung
und somit das eines Dorfes, einer „town“, wie man zu
sagen pflegt, anzeigt. Kommt der Reisende nun näher, so
sieht er, daß am Ufer die Bäume niedergehackt sind und einem
breiten Streifen schwärzlichen, übelriechenden Schlammes
Platz gemacht haben, in dem einige mehr oder weniger
primitive, oft auch defekte Kanus ruhen. — Nach Durch-
waten dieses Streifens, der meist auch als Dorfkloake be-
nutzt wird, gelangt man in eine einfache, hügelanstrcbcnde
Doppelreihe von niedrigen Hütten, deren etwa mannshohe
Seitenwände meist ans brettartig ausgedehnter Baumrinde,
seltener ans Bambù und nur vereinzelt ans etwa armdicken
Stümmchen bestehend, ein Rechteck bilden. Gedeckt sind
diese Hütten ausnahmslos mit kunstlosen Palmblattmattcn,
welche dachziegelartig übereinanderliegcn und so eine voll-
kommen wasserdichte Bedachung bilden.
Ost genug findet man jedoch Hütten, deren Wände nur
durch ein ziemlich wackeliges Gerüst aus Knüppeln, bekleidet
mit eben erwähnten Matten, gebildet werden. Der Schutz,
den eine so gebaute Hütte den Bewohnern gewährt, ist
naturgemäß ein sehr geringer, und so brennt denn auch
während der ganzen Nacht das Feuer in derselben, um den
Insassen, welche sich möglichst dicht um die Kohlenglut
lagern, wenigstens einen notdürftigen Schutz gegen die in
diesen Gegenden besonders empfindliche Nachtkühle zu ge-
währen.
Das Meublement einer solchen Hütte, deren äußere Er-
scheinung bei allen nahezu dieselbe ist, besteht aus einem oder
mehreren etwa fußhohen Schlafgestellen, die, wie ich ans
Erfahrung sagen kann, nicht zu den bequemsten Einrichtungen
dieser Art gehören. Das beständig in den Hütten unter-
haltene Feuer aus halbtrockenem oder wieder naßgewordenem
27
210
Heinrich Harter!: Ein Besuch bei den M'pangwcs am Muni.
Holz entwickelt einen unausstehlich beißenden Rauch, der
zwar nahezu absoluten Schutz gegen die Mosquitos gewährt,
aber dem hieran nicht gewöhnten Europäer das Schlafen
recht erschwert.
Bewohnt werden diese Hütten von mehreren Völkern,
deren wichtigstes und entschieden alle andern umwohnenden
Völker und Stämme an Zahl und Kraft weit überragendes
die M'pangwcs sind.
Die äußere Erscheinung dieses in jeder Beziehung kraft-
vollen Volkes ist eine außerordentlich wilde, so wild, wie ich
sie noch bei keinem der zahlreichen mir bekannten Negervölker
gesehen habe. — Meist über mittelgroß, breitschultrig und
muskulös gebaut, zeigt ihr Gesichtstypus eine anfangs
geradezu erschreckende Wildheit.
Dieser Eindruck, den jeder bei seiner'ersten Begegnung
mit M'pangwcs empfängt, wird größtenteils wohl durch
die spitz zugefeilten, vielfach auch spitzgewachsenen (?) Schneide-
zähne, sowie durch eine eigentümliche Haartracht hervor-
gerufen, die fast jeder freie erwachsene Krieger trägt. Dieser,
nur dem Stamme der M'pangwes eigene Kopfputz besteht
ans dem eigenen Haar des Trägers, welches zu diesem
Zweck erst vorbereitet werden muß, indem man es möglichst
lang wachsen läßt, dann die krause Wolle mit dem Kamme
zu möglichster Länge ausdehnt, in kleine Zöpfe flicht und
diese mit großer Mühe und Sorgfalt in die ungefähre Form
eines bayerischen Raupenhelmes zusammenfügt. — Der
hintere Rand dieses Helmes steht ab wie die Nacken-
krempe eines Südwesters. Festigkeit erhält dieses Machwerk
durch eine Unmenge von Kaurimnscheln, die den Kopf wie
mit einem Panzer bedecken, aber die über die Mitte des
Kopfes laufende Raupe freilassen, welche meist mit einer
Anzahl Messingringe durchzogen wird. — Von den Seiten
hängen fußlange Schnüre von farbigen Glasperlen herunter,
welche im Verein mit wohlriechenden Laub- und Kränter-
büscheln das Groteske der Erscheinung vollenden helfen.
Bon der Mühe, welche die Anfertigung eines solchen Helmes
erzeugt, macht man sich einen Begriff, wenn man bedenkt,
daß zu einem einzigen Helm etwa 300 bis 350 Kauri-
mnscheln gehören, abgesehen von einigen zwanzig Perlschnüren.
Welch einen Ungezieferherd mag ein solcher Kopfschmuck
bilden, der niemals abgenommen werden kann, da er buch-
stäblich mit dem Träger verwachsen ist, der auch stets ein
spitzes Notholz- oder Knochenstäbchen bei sich führt, um die
allzu lästig werdenden Insekten hiermit zur Ruhe zu ver-
weisen! — Der Hals der „Dandies" ist mit einem breiten,
eng anliegenden Bande von Messing und Kupferdraht ver-
sehen, der kunstvoll aneinander befestigt wird; eben solchen
Schmuck weisen auch Unter- und Oberarm auf, während
die Knöchel der Männer selten mit mehr als einer einfachen
Spange ans dünnem Kupfer oder Messingdraht belastet sind.
Im Gegensatze hierzu sind die Beine der Weiber und
Mädchen in einer für die armen Geschöpfe bedauernswerten
Weise mit dicken, meist massiven Messingringen überladen,
welche die untere Hälfte der Wade bis zu den Knöcheln
hinab bedecken, auch direkt unterhalb des Kniees werden
meist einige Ringe angebracht, und nicht selten sieht man
auch oberhalb des Kniees einen breiten Ring. Der Unter-
arm ist ebenfalls fast bedeckt mit Messingringen, auch
Oberarm und Hals zeigen diesen schweren Schmuck. — Oft
genug habe ich kleinere Mädchen, welche die schweren Metall-
lasten noch nicht lange trugen, bitterlich weinen sehen, wenn
die ganze Haut unter denselben blutig gescheuert war; zumal
scheint der Halsschmuck besonders lästig zu werden, da er
ein Wenden des Kopfes unmöglich macht.
Der Haarschmuck ist bei den Weibern meist ähnlich wie
bei den Männern, gewöhnlich aber hängen hinten noch
einige lange, mit Kaurimuscheln besetzte Schnüre herunter,
die je nach Vermögen immer länger gemacht werden, bis sie
bis auf die Fersen herabhängen. Dieser weitläufige, reich-
haltige Schmuck ist der Hauptbestandteil der Kleidung; beide
Geschlechter gehen bis auf sehr kurze Schurze um die Hüften,
die manchmal ans selbstverfertigtem Baststoff, in der Regel
jedoch aus geringwertigem europäischen Baumwollstoff be-
stehen, vollständig nackt. Kinder tragen gewöhnlich nur
einen Bindfaden um das Handgelenk oder den Hals mit
irgend einem Amulett; Häuptlinge sind meist im Besitz
irgend eines europäischen Kleidungsstückes, einer Jacke oder
eines Hutes; hosentragende M'pangwcs habe ich nicht ge-
sehen. — Ein mir wohlbekannter Häuptling zeigte sich mit
Vorliebe in einem langen, überaus schmutzigen Damenhemdc;
wie dasselbe in seinen Besitz gekommen, habe ich nie auf-
klären können.
Der äußeren Erscheinung entspricht der Charakter voll-
kommen, über den ich nur wenig lobenswertes sagen kann.
Der M'pangwe ist zwar recht tapfer, aber treulos und ver-
räterisch, grausam, tückisch und hinterlistig, raub- und hab-
gierig, er lügt und betrügt zum Vergnügen und betrachtet
das Stehlen als Sport.
Die Kriegsgefangenen werden zwar meist binnen kurzer
Zeit als Stammesgenossen betrachtet, aber vorher und wenn
sie sich nicht fügen wollen, grausam behandelt. Sklaverei
scheint nicht zu bestehen.
Die Stellung der Frau ist bei den M'pangwcs eine
weit freiere als bei den meisten andern mir bekannten Neger-
völkern, und nur selten kommt es vor, daß Frauen hart be-
handelt werden. Trotzdem aber bildet das Weib stets nur
ein Kauf- oder Tauschobjekt. — Lobend hervorzuheben ist
bei den M'pangwes ein in Afrika nicht eben allzu häufiger
Charakterzug, der der großen Sittenreinheit, und will ich
hierbei auch hervorheben, daß mir kein Fall von Polygamie
bekannt ist, während ihnen solche Beispiele täglich vor Augen
stehen, da die meist aus dem französischen Gabon stammen-
den Händler der Mehrzahl nach wenigstens zwei Frauen
haben, mögen sie Heiden oder sogenannte Christen sein.
Die Hauptbeschäftigung der Frauen besteht im Ackerbau
und der Herbeischaffung und Zubereitung der Speisen, welch
letztere, da der Herr Gatte eigentlich immer hungrig ist und
zu jeder Tages- und Nachtzeit essen kann und mag, sehr
viel Zeit in Anspruch nehmen. Der Ackerbau beschränkt
sich meist auf Kassawa und Bananen und zwar von letzterer
die wohl größte, aber weniger schmackhafte Art, die sogenannten
Plantains, welche selbst ein M'Pangwemagen nicht roh ver-
dauen kann. — Die eigentliche süße Banane kommt nur
äußerst selten vor und wird erst an der Küste häufiger, ohne
sich jedoch auch dort einer besonderen Wertschätzung zu er-
freuen. Hin und wieder giebt es, nahe der Küste, auch
Bataten, sowie eine Koko genannte Knollenfrucht (Colocasia
esculenta Schott.), ab und zu eine melonenartige Frucht,
deren Kerne zerstampft eine sehr ölreiche, aber nicht üble
Zuspeise zu der täglichen Kassawa bilden. — An Fleisch
verzehren die M'pangwes alles, was nur entfernt auf diesen
Namen Anspruch machen kann, mit großer Vorliebe, sie
halten Hühner und Ziegen in Menge, Enten sieht man an
den Flüssen nicht eben selten, weiter im Innern kommen
Schafe, die einer großen, glatthaarigen Nasse angehören, welche
etwas zur Buckelbildung neigt, in kleinen Herden überall
vor. Alle Sorten von Wild, deren man nur irgendwie
habhaft werden kann, werden genossen, auch selbst Tiere, die
wir in Europa nicht als zur menschlichen Nahrung geeignet
zu bezeichnen pflegen, als da sind Eidechsen, Schlangen,
allerhand Kerbtiere u. s. w. — Krabben und Fische bilden
große Leckerbissen und werden von den Frauen bei niedrigem
Wasserstande mit kleinen Handnctzen in Menge gefangen,
auch existieren überall an den Flußufern an geeigneten
211
Heinrich Harter!: Ein Besuch
Stellen Fischfänge, die bei Flut geöffnet werden; bei oder
vor Eintritt der Ebbe geschlossen, bleiben nachher die Fische
hinter den niedrigen Schilfzäunen zurück und können mühe-
los durch die Kinder eingesammelt werden. Werden zur
Laichzeit größere Mengen Fische gefangen, so räuchert man
dieselben an ziemlich scharfem Feuer so, daß dieselben durch
und durch hart werden und sich in diesem Zustande lange
aufbewahren lassen. Die Bevölkerung vieler ärmerer Ge-
birgsorte zieht zu diesem Zweck alljährlich an die Flüsse
hinab, um an bestimmten Plätzen, wo provisorische Hütten
errichtet werden, zu fischen und den Ertrag mitzunehmen in
die heimatlichen Berge.
Daß bei einem Volke, welches, wie ich gezeigt, noch auf
einer außerordentlich niedrigen Stufe steht, von einer Religion
in unserm Sinne nicht die Rede sein kann, wird jeder-
mann einsehen, und so sind denn auch die Anzeichen, welche
vielleicht für das Vorhandensein einer solchen bei denM'pang-
wcs sprechen könnte, außerordentlich geringe. Ein Glaube
an übernatürliche Kräfte, an höherstehende Wesen, an böse
Geister und an Zauberei ist aber vorhanden, dafür sprechen
schon allein die Unzahl von Amuletten verschiedenster Art,
die, meist sehr einfacher Natur, den Kindern und Kriegern,
seltener erwachsenen Frauen angehängt werden, und ent-
weder mit einem schmutzigen Bastsaden oder mit einem zu-
sammengedrehten Zcnglappen am Handgelenk oder Oberarm,
bisweilen auch im durchlöcherten Ohrläppchen getragen wer-
den. Es sind mir jedoch auch zwei Fälle vorgekommen,
die den Fetischglauben so zur Evidenz beweisen, daß ich nicht
umhin kann, dieselben hier zu erwähnen.
Vor meiner Station in Kododo am Utamboni stand
ein mächtiger Rotholzbaum, der mir mit seinem ungeheuren
Stamme und dem ihn umgebenden Strauchwerk die Aus-
sicht auf den Flnß arg beeinträchtigte.
Um diesem Übelstande ein Ende zu machen, befahl ich
meinen Leuten, welche jedoch nicht zum M'pangwestamme,
sondern zu dem der Bassckis gehörten, den Platz von allem
Baum- und Strauchwerk zu säubern. Kaum hatten jedoch
meine Leute, die übrigens mit sichtlichem Unbehagen an die
Arbeit gingen, gleichwohl aber keinen Widerspruch wagten,
die ersten Axtschläge gethan, als sich die bis dahin ruhig
zuschauenden M'pangwes diesem Vorhaben so energisch und
wütend widersetzten, daß ich nur durch meine Dazwischcn-
kunft mit dem Revolver die erhitzten Köpfe auseinander-
bringen und vom Blutvergießen abhalten konnte.
Zu meinem großen Erstaunen hörte ich nun, daß der
Baum ein Dorfsetisch sei und das Wohlergehen und die
Existenz des ganzen Ortes, also auch meiner eigenen Faktorei
von dem Baume, beziehungsweise von dem ihm innewohnen-
den Geiste abhängig sei. — Eine sichtbare Verehrung dieses
Dorfgottcs, etwa durch Darbringung eines Opfers oder
dergleichen habe ich nie bemerkt. — Noch manche Woche
hindurch hat mir der Baum die Aussicht versperrt.
Einige Wochen nach diesem Vorfall, nach dem ich natür-
lich noch schärfer als vorher auf irgend eine Religions-
äußerung achtete, kam ich nach einem vor mir wohl kaum
von Weißen besuchten, sehr abgelegenen Ort, in dem ich
vor einer Hütte einen Mann mit Anfertigung einer etwa
fußhohen sitzenden Menschenfignr beschäftigt fand, die er,
nicht ohne einigen Geschmack, aus Notholz schnitzte. Ans
einen einladenden Wink des bejahrten Mannes trat ich in
seine Hütte und sah dort etwa acht bis zehn groteske Holz-
signren, die, wie cs schien, alle seit kurzer Zeit erst fertig
geworden. Meist in sitzender Gestalt, konnte man an allen
deutlich erkennen, welche Figuren Männer, Frauen oder
Kinder darstellen sollten. Der Nabel war durchgehends
durch einen weißen Porzellanknopf bezeichnet. Arme und
Beine waren stets fest anliegend, die Augen, wie bei den
bei den M'pangwes am Muni.
Statuen der Alten, geschlossen. Auf einem rohen Pfosten
in der Ecke der Hütte stand eine augenscheinlich schon recht
alte, vom Gebrauch und Rauch gelbbraun gebeizte Gestalt,
vor welcher zu meinem Erstaunen kleine Fruchtstückchcn,
einige selbstverfertigte eiserne Glöckchen, kleine Tabaksstücke
und dergleichen Kleinigkeiten lagen, scheinbar also eine Art
Opfer dargebracht war. In andren Hütten dieses Ortes
fand ich auch ähnliche Figuren, deren Herkunft augenschein-
lich dieselbe war.
Meine Bemühungen, die eine oder andre dieser Götzen-
bilder, als solche fasse ich dieselben auf, zu erwerben, stießen
auf heftigen Widerstand, und zwar nicht bei dem Anfertiger,
sondern bei den übrigen Bewohnern, die von dem Augen-
blicke an, daß der Wunsch geäußert, eine Figur zu erwerben,
argwöhnisch und feindselig wurden.
Für nicht ausgeschlossen halte ich es, daß die großartigen
Tänze, welche zu Zeiten die Bevölkerung mehrerer Ort-
schaften an einem Platze versammeln, einen religiösen Hinter-
grund haben. Nicht selten geschieht cs, daß Tänzerinnen
aus weit entfernten Orten geholt werden, um dann fast die
ganze Nacht im Takte der Trommeln und im Scheine hoch-
lodernder Feuer zu tanzen, bewundert und angestaunt von
einer zahlreichen Volksmenge, die jede Bewegung der Tänzerin
nach- oder mitmacht, und besonders schwierige und schöne
„Pas" mit frenetischem Beifall lohnt.
Palmwein und Rum wird bei solchen Gelegenheiten in
erstaunlichen Quantitäten getrunken.
Die Sendlingc des Islam sind zum Glück noch nicht
zu den M'pangwes gelangt, denn die wenigen Händler,
welche als Soldaten von Senegambien nach Gabun gebracht
werden und später nach Vollendung ihrer Dienstzeit im
Munigebiet als Händler Verwendung finden, sind meist so
schlechte Mohammedaner, daß ihnen alles andre näher liegt
als eine Bekehrung der Ungläubigen, die sic aber trotzdem
tief verachten.
Die Christenmissionen haben unter den M'pangwes
bisher noch so gut wie gar keine Erfolge auszuweisen gehabt.
Eine französische Missionsgesellschast, die auch in Bata eine
große Station besitzt, versuchte im vorigen Jahre am Utam-
boni Fuß zu fassen, wurde aber überall von den M'pangwes
abgewiesen; bezeichnenderweise mit dem Bemerken, daß ihnen
die frommen Väter weder Handel noch sonst irgend welchen
Nutzen brächten, sondern nur kämen, um ihnen ihre Hühner
und Ziegen aufzuessen.
Am Unterlaufe des Muni, gegenüber der französischen
Faktorei Botika, in nächster Nähe des ständigen Ankerplatzes
französischer Kanonenböte, ist mittlerweile mit der Säuberung
eines Platzes für die viel weiter oben geplant gewesene
Mission begonnen, und inzwischen wird wohl die Mission
schon entstanden sein.
Die spanische Mission aus der Insel Klein-Eloby hat
nur sehr wenige M'pangweknabcn, etwa 95 Proz. der Zög-
linge gehören zu den Küstenbewohnern oder stammen von
den vorgelagerten Inseln Groß-Eloby und Coriseo.
Nicht ganz so ablehnend, wie den Missionaren gegenüber,,
haben sich bisher die M'pangwes zu den Kaufleuten ver-
halten.
Das Vorrücken der Weißen ins Innere wird zwar noch
sehr ungern gesehen, und Thatsache ist, daß die Sierra
do Cristal, die man bei klarem Wetter vom unteren Utam-
boni aus deutlich sehen kann, seit der Lenz'schcn Expedition
im Jahre 1874 nicht von Weißen überschritten ist. In
den Vorbergen derselben bin ich wohl mehrfach und an
mehreren Stellen längere Zeit gewesen, zu meinem Bedauern
hat es mir aber während der ganzen Zeit meines dortigen
Aufenthaltes an Zeit und Mitteln gefehlt, diese Bergkette
zu überschreiten.
27*
212
R. Andree: Die
Der Widerstand der Bevölkerung, die überall ziemlich
dicht zu sein scheint, der mir in einzelnen Fallen entgegen-
gesetzt wurde, war stets, freilich meist erst nach längeren
„Palavern", zu überwinden. Der Erfolg einer Expedition,
deren Ausgabe die Überschreitung der Sierra do Cristal
wäre, würde sowohl in wissenschaftlicher, als auch in mer-
kantiler Hinsicht hin keinesfalls ausbleiben, da das stand
reich ist an Schätzen aller Art, wie Elfenbein, Kautschuk rc.,
von billigeren Produkten, deren Transportkosten den Ge-
winn aufzehren würden, gar nicht zu reden. Es dürfte nicht
ganz allgemein bekannt sein, daß alle Produkte durch den
Zwischenhandel eine ganz ungeheure Verteuerung erleiden,
die einzig und allein durch Gründung von mit Weißen be-
setzten Stationen am Fuße der Gebirge, oder an der Grenze
der Schiffbarkeit der Flüsse zu vermeiden ist. Der M'pangwe
selbst handelt viel lieber mit Weißen als mit den meist be-
trügerischen Händlern aus dem Gabunstamme.
Die M'pangwes sind in einem beständigen Vorrücken
an die Küste begriffen, unaufhaltsam drängen sie vorwärts,
alle sich ihnen entgegenstellenden Stämme und Völker in
sich aufnehmend und sie, falls sie dem widerstreben, ver-
nichtend, indem sie sie in die Sümpfe jagen, wo ihr Unter-
gang nur eine Frage der Zeit ist. Fieber und Mangel an
Nahrung helfen dort die von den M'pangwes begonnene
Arbeit vollenden. Die Zeit, in welcher an all jenen Stellen,
Masken in Afrika.
an denen jetzt noch Bassekis, Balengis, Jtämus rc. friedlich
ihre Plantains bauen, der M'pangwe herrschen wird, ist
nicht mehr fern, zumal unter den Balengis, die noch am
ersten widerstandsfähig sein dürften, die Pocken in furchtbarer
Weise aufräumen.
So sind z. B. am Congwe innerhalb eines Jahres weite
Länderstrecken ausgestorben und verlassen worden, den leer
gewordenen Raum nimmt natürlich der M'pangwe sofort
in Besitz.
Nicht nur in den hier beschriebenen Gegenden dringt der
Stamm der „Fan", d. h. „Menschen", wie sich die M'pang-
wes selbst nennen, siegreich vor, auch weiter im Norden am
Benitofluß erscheint er schon, wenn auch nicht in Massen.
In Bata und Batanga, wo er bis vor wenigen Jahren
eine noch unbekannte Erscheinung, gehört er nicht mehr zu
den Seltenheiten.
Ob die M'pangwes von einem mächtigeren Volke aus
ihren ursprünglichen Wohnsitzen verdrängt werden und sich
fliehend der Küste nähern, habe ich nicht feststellen können.
Es hat den Anschein, als ob dem so wäre, es steht aber
dieser Hypothese der Umstand entgegen, daß nach allen über-
einstimmend lautenden Nachrichten die nächsten Nachbaren
der M'pangwes nach dem Innern zu die inncrafrikanischen
Zwergvölker sind, von denen mir auch zweimal Vertreter
zu Gesichte gekommen sind.
Die Masken in Afrika.
Von R. Andres.
Die weite Verbreitung der Masken durch Afrika wird
uns erst neuerdings an der Hand der Reiseberichte bekannt.
Sie sind bei den Sudannegern und Bantu häufig, scheinen
aber bei den Hottentotten zu fehlen. Es
liegen bereits sehr alte Nachrichten über
dieselben vor, auch wenn wir von den
altügyptischcn Masken absehen wollen, die
von den Priestern getragen wurden und
über den Mumiengesichtern (als Leichcn-
maskcn) sich finden oder auch — aus
buntbemalter steinwand bestehend — das
Gesicht einer altügyptischcn Ballerina
schmückten (Flinders Petrie, Kahun, Guro-
bani Hawara, Taf. VIII). Schon der
arabische Reisende Jbn Batuta, der im
14. Jahrhundert Afrika durchreiste, fand
tut Negerreiche Melli tut Sudan, daß die
Sänger und Possenreißer in Maskenklei-
dern, welche Vögel vorstellten, erschienen
(Ausgabe Desremery et Sanguinetti,
IV, 413) und je weiter heute unsre ethno-
graphischen Kenntnisse gedeihen, desto mehr
sehen wir die Masken bei den zu fröh-
lichen Festen und Geheimbünden geneig-
ten Negern in Anwendung. Diese beiden
Formen der Masken, als Spiel- und
Tanzmasken und als Justizmasken, sind
hauptsächlich in Afrika vertreten; auch als
Kriegsmasken, den Feind zu schrecken,
kommen sie vor, während die anderweitig
weit verbreiteten Formen der Leichcnmas-
ken zu fehlen scheinen. Die Kultusmasken endlich berühren
sich allenthalben mit den Tanzmaskcn. Oft fehlt in den
Schilderungen die genauere Bestimmung und Bedeutung,
wir sehen nur das Äußerliche, können über den tieferen Sinn
uns aber nicht leicht klar werden. Dazu gehört weiteres
Eindringen, Kenntnis der Sprachen, mehr als von einem
das Land schnell Durchreisenden verlangt werden kann oder
was wir einem Sammelstück unsrer Museen
ablauschen können.
In die Klasse der Justizmasken ge-
hören die von verschiedenen Gehcimbünden
in Afrika getragenen Masken. An der
stoangoküste besteht der erbliche Bund der
Sindungo, dessen Mitglieder Holzmasken
tragen und in Blättergewinde gehüllt
sind. Sie bilden eine Art Vehme und
üben Haberfeldtreiben, ziehen Schulden
von säumigen Zahlern ein oder strafen
solche durch Zerstörung seiner Bananen-
felder und Töten des Viehes (Bastian,
stoangoküste I, 222). In Kalabar treibt
der Jdem-Efik sein Wesen, der im Zu-
sammenhang mit dem Gehcimorden der
Egbo steht. Mit schwerem Visier vor
dem Gesicht, in Matten, Zweige, Felle
gehüllt, strafen die Mitglieder des Ordens
Missethäter. Jeder hat das Recht, die
Hilfe des Ordens anzurufen, dessen Mit-
glieder unter dem Schutze der Maske
unerkannt bleiben (Bastian, Rechtsver-
hältnisse 402). Die maskierte Figur
des Mumbo-Jumbo bei den Mandiugo
hat das Geschäft, Ordnung, Ruhe und
Frieden unter zankenden Weibern zu
stiften. Maskiert und mit dem Stabe
der Gerechtigkeit versehen, greift er die Schuldigen her-
aus und züchtigt sie (Mungo Parks Reise, Hamburg
1799, 46). In Kamerun besteht der Geheimbund der
Ekongolo, d. h. „Erschütterung des Gemüts durch schreck-
Kitschitänzer-Maske. Nach Holub.
Umzug der Du. Nach einer Skizze von Binger.
Der maskierte Sowa (Häuptling) der Ganguela vor seinen Unterthanen tanzend (aus Serpa Pintos Reisewerk).
214
R. Andrer: Die Masken in Afrika.
hafte Fratzen", deren Masken Büchner (Kamerun 26)
erwähnt.
In den Staaten Tiobas, im Bereiche des oberen
(schwarzen) Wolta, lernte Binger eine Art von Masken
kennen, die an die Justizmasken uns mahnen und die ihrem
Äußeren nach dem bekannten Dnk Dnk in Neu-Pommern
(Melanesien) ähnlich sind. Es sind dieses die Du, welche
er bei den Kotedugu (11" n. Br.) beobachtete. „Die Du",
schreibt der französische Offizier (Tour du Monde, T. LXI,
p. 110), „sind lächerlich verkleidete Gesellen, welche Kleider
tragen, die man mit Dafn, einheimischem Hanf, benäht hat
und mit Fasern von den Blättern der Danpalme. Als
Kopfbedeckung tragen sie eine Kappe gleichfalls aus Hanf,
aus der oben eine mit Ocker rot bemalte Holzzierrat hervor-
steht oder an der auch
ein aus Holz geschnitzter
Bogelschnabel angebracht ist.
Zwei Löcher sind für die
Augen freigelassen. Diese
Du werden von der sie be-
gleitenden Bevölkerung frei-
gebig mit Dolo (heimischem
Bier) getränkt. Tag und
Nacht durchschwärmen sie
den Ort, die Felder, prügeln
die Jungen und oft die
Erwachsenen durch, wenn
letztere Furcht'vor ihnen zei-
gen. Tüchtig eingemummt,
in der großen Hitze umher-
laufend und gehörig Dolo
trinkend, sieht man diese
Gesellen wütend betrunken
die Leute mit Knüttelhicben
behandeln. Bei den Bobo
(den dortigen Negern) ist
es Sitte, bei einbrechender
Nacht und am frübcn Mor-
gen den Du zu folgen und
im Chor mit vollen Lungen
eine ernste, nicht unharmo-
nische Weise zu singen, die
allerdings von Gebrüll wie
von wilden Tieren unter-
brochen wird. Dieser Um-
zug der Du findet nur sel-
ten statt; ich glaube aber
versichern zu können, daß
diese Gebräuche namentlich
beim Beginn der Winter-
zeit stattfinden. Die Um-
züge haben vielleicht den
Zweck, die bösen Geister zu
verscheuchen zur Zeit, wenn die Feldarbeit beginnt oder mehr
noch den Regen herbeizulocken."
Eine solche Verschenchung böser Geister, übler Einflüsse
oder von Krankheiten durch Maskenträger kommt mehrfach
in Afrika vor. Die ganze übelwollende Geisterwelt, die dem
Neger feindlich gegenübersteht, wird mit Hilfe der Masken
bekämpft und getäuscht. In Kibokwe, südlich von Biho,
schwärmen die Wälder vollmächtigen Teufeln, die unterein-
ander eifersüchtig sind. Trifft ein solcher Teufel in seinem
Gebiet einen andern Dämon, so ärgert er sich dermaßen
darüber, daß er fortzieht, um sich einen andern Bezirk zu
suchen, über den er die unbestrittene Herrschaft ausüben
kann. Deshalb stellen die schlauen Neger „Scheinteufel"
her, die sie in die Reviere der echten Teufel schicken, bannt
letztere davonlaufen. Sie tragen Masken, sind bezahlt lind
angesehene Leute (Cameron, Quer durch Afrika II, 162).
Wie hier der übernatürliche Feind durch Masken ge-
schreckt und vertrieben wird, so auch der menschliche, der
vor dem grimmen Gesicht der Maske zurückschreckt. Wir
haben dann die Kriegsmaske. Mandaras Krieger am
Kilimandscharo tragen absonderliche Kleidung, augenschein-
lich dazu bestimmt, dem Feinde Furcht einzuflößen „und nicht
wenige hatten am Kopfe Masken von abscheulicher Häßlich-
keit befestigt, die mit einem doppelten Gesicht nach vorn und
hinten schauten" (Johnston, Der Kilimandscharo. Deutsche
Ausgabe, 162). Cameron (Quer durch Afrika I, 259)
sah einen Eingebornen von Kinjari am Tanganjikasee mit
einer häßlichen Kriegsmaske von Zebrafell ausgestattet.
Mit dem Kultus hän-
gen die Masken zusammen,
welche von den Fetisch-
Priestern getragen werden.
Reinlich lassen sich dieselben
nicht überall ausscheiden und
der Nganga, der Fetisch-
doktor, trägt und benutzt
die Maske oft zu verschiede-
nen Zwecken. So hat Güß-
feldt (Zeitschr. f. Ethno-
logie 1876, S. 207) die
Trauer m a s k e n der
Ganga Mkissi (Fetischdok-
toren) in Loango geschil-
dert, die bei Todesfällen
getragen werden: Kolossale
Masken aus leichtem Holz
mit Federkronen und einem
über den ganzen Körper-
fallenden Gewände von
grauen Adlersedern. Ver-
wandt damit ist die belang-
reiche Doppelmaske aus
Kabinda (Westküste, 5" südl.
Br.), welche sich im Leide-
ner Museum befindet und
der Dr. Serrurier eine be-
sondere Abhandlung (Jntcr-
nation. Archiv für Ethno-
graphie I, 154) gewidmet
hat. Doppclmasken, als
Kriegsmasken, habe ich sonst
nur vom Kilimandscharo
erwähnt gefunden. Es ist
die Maske aus Kabinda,
ein januskopfartiges, regel-
mäßig geschnitztes, voll-
ständiges menschliches Ge-
sicht mit Öffnungen für Augen und Mund, ringsum mit
schönen abstehenden Vogelfedern besetzt und mit beiderseits
nach unten zu sich anschließenden Federkragen. Gemalt
sind die Gesichter mit Weiß, Grau und Gelb. Serrurier
stellt sehr geistvoll die Hypothese auf, daß die eine Seite die
trockene, die andre die nasse Jahreszeit vorstellen solle,
letztere symbolisiert durch Regentropfen darstellende Fleck-
chen auf dem Gesicht. Bei den Beziehungen der Fetisch-
priester zum Regen erscheint eine solche Hypothese nicht
grundlos.
Bei der Bey im Hinterlande von Liberia hängen die
Masken mit den Gebräuchen der Beschneidung und Mann-
barkeitserklärung zusammen. Sie werden von den Sobah,
d. h. Teufeln, getragen, die in Blättermäntel gehüllt sind und
::§!
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Der Mokho Misst Kn im Reiche des Samori. Nach einer
Zeichnung vou Biuger.
Dr. Zechlin: Das Fürstentum Kammin.
215
die helmartige, den ganzen Kopf bedeckende hölzerne Masken
tragen. Diese Sobah stehen mit den Geistern der Ver-
storbenen in Verbindung und können Schaden verursachen,
wenn man sich nicht freundlich zu ihnen stellt. Die Masken
heißen I)6vi1ll6ack8, Teufelsköpfe, find aus einem Stück Woll-
baumholz geschnitzt und werden über den Kopf gestülpt. Durch
ein paar Löcher kann man bequem sehen. Die Masken find
männlich oder weiblich, dann die Frisur genau nachahmend,
meist schwarz gebeizt oder auch weiß und rot bemalt').
Direkt nach unten zu schließt sich der große, die ganze
Gestalt verhüllende Blättermantcl an. „Es sind", sagt
Büttikofer, „wie ich glaube, reine Spielmasken ohne irgend
welche höhere Bedeutung, da sie auch bei andern Festen
und besonders an den Gedenktagen Verstorbener getragen
werden" (Büttikofer, Liberia II, 307 ff.). Ähnlich in
Sierra Leone, wo bei der Mannbarkeitserklärung der Mäd-
chen die Bundumasken getragen werden, welche häßliche
Tenfelssratzen darstellen (Grisfith in Journ. Anthrop. Jnstit.
XVI, 309).
Weit verbreitet sind die Tanz- und Spielmasken der
Possenreißer und Lustigmacher, wie sie schon Ilm Batuta
kennen lernte; sie scheinen in den 6OO Jahren, die seitdem
vergingen, sich kaum verändert zu haben. Der Sowa
(Häuptling) der Ganguela im zentralen Südafrika tanzt bei
hohen Festen maskiert vor seinem Volke. Sein Kopf steckt
in einem großen schwarz und weiß bemalten Kürbis, sein
Körper in einem Rahmenwerk aus Weidengeflecht, das mit
Zeug überzogen ist. Ein Rock aus Haaren und Tier-
schwänzen vervollständigt seinen Anzug und so springt er
i) Die farbig bemalten Holzmasken aus Dahomv, die sich
öfter in unfern Museen finden, bei denen auch die Frisur nnch-
geahmt ist und die groß genug sind, um über den Kopf gestülpt
zu werden, ähneln in vieler Beziehung der von Büttikofer ab-
gebildeten Maske, dienen daher vielleicht auch bei ähnlichen
Gelegenheiten.
wie toll vor seinen Unterthanen umher (Serpa Pintos Wan-
derung. Deutsche Ausgabe I, 219).
Im Reiche des Samori (im südlichen Leigerbogen) fand
der schon erwähnte französische Reisende Binger Masken-
tänzcr, die unter der Bezeichnung Mokho Misst Ku als Lnstig-
macher dienten. Ein solcher war in ein enganliegendes Gewand
ans rotem Baumwollenzeug gekleidet und trug eine Mütze mit
borstigen Kuhschwänzen geschmückt. Von der Mütze hing ein
Stück Stoff herab, welches das Gesicht verdeckte und in welchem
Öffnungen für die Augen und den Mund angebracht waren,
besetzt mit Kaurimuscheln. In einem umgehängten Täsch-
chen führte er Schellen und allerlei Eisenkram bei sich;
unten an den Beinen waren Glöckchen angebracht und in
den Händen schwang er einige Kuhschwünze. Rach Bingers
Bericht (Tour cku Noncks, T. LXI, p. 37) scheint es sich
hier um einen bloßen Maskentänzer zu handeln, der dafür
angestellt war, die Krieger im Lager durch seine Künste zu
unterhalten.
Bei den obscöncn Kitschitünzcn der Marutse (inneres
Südafrika) treten maskierte Tänzer aus, maskiert, weil sie
der Unschicklichkeit des Tanzes sich wohl bewußt sind (Holub,
Sieben Jahre in Südafrika II, 197). Weiter sind zu er-
wähnen die Tänzer der Baschilangc am Lulua (südlicher
Congozufluß), die nach P. Poggc (Mitt. Afrikan. Ges. IV,
255) nichts mit dem Fetischwesen zu thun haben, sondern
nur zur Unterhaltung des Volkes dienen. Der Alukisch
trägt Maske und aus Baumfasern gefertigte Gewänder.
Masken kommen am oberen Eongo bei Molaka oberhalb
Bangala vor (Jnternation. Archiv für Ethnogr. II, 53), in
welche Kategorie dieselben zu rechnen, ist noch unbestimmt.
Eine „Fetisch-Maske aus Holz geschnitzt, bei festlichen Ge-
legenheiten vom Vortänzer getragen", bei den Bakuba am
Lulua, bildet Ludwig Wolf ab (Wißmanu, Wolf, Francois,
Müller, Im Innern Afrikas, 255).
Leichenmasken kann ich in Afrika nicht nachweisen.
Das S ü r st e n t u m L a m m i n.
Historisch-topographisch dargestellt von Dr. Zechlin.
I.
Das Fürstentum Kammin erstreckt sich von den Ge-
staden der Ostsee bis an die Grenzen Westpreußens, wo
dasselbe im Süden an den Kreis Schlochau und an den
pommerschen Kreis Neustettin stößt. Im Osten grenzt es
an die Kreise Rummelslmrg und Schlawe, im Westen an
die Kreise Belgard, Schivclbein und Greifenberg. Den
Grund zu dem Fürstentume legte der Bischof Wilhelm von
Kammin im Jahre 1248, welcher die östliche Hälfte des
Landes Kolbcrg von dem Herzog Barnim I. gegen das Land
Stargard eintauschte. Äls nun derselbe Herzog an den
Bischof Hermann 1276 und 1277 auch den westlichen Teil
des Landes Kolberg abtrat, gelaugten die Bischöfe in den
Besitz des ganzen Gebietes, welches nach dem Hanptsitze der
Bischöfe Stift Kammin genannt wurde und dessen Ost-
uud Südgrenzen seit 1321 dieselben geblieben sind. Es
war ein ansehnlicher Distrikt, welcher dem Bischof gehörte:
Vom Kampschen bis zum Buckowschcn See an der Küste
und dann südlich vom Gollenberg bis au das Gebiet des
Hochmeisters, machte es im Reformationszeitalter fast den
sechsten Teil Pommerns aus, so daß die Einkünfte des
Bischofs 40000 Gulden betrugen '). Durch die Einführung
der evanglischen Lehre war die Existenz katholischer Bischöfe
unmöglich geworden und die Herzöge von Pommern besetzten
mit ihren jüngeren Familienmitgliedern den Bischofssitz.
Unter den Bischof-Herzögen bestand das Stift Kammin
unter besonderer Verwaltung und mit selbständigen Ständen.
Nach dem Tode des letzten Greisenherzogs Bogislav XIV.
(st 1637) erhielt das Stift Kammin in dem Herzog Ernst
Bogislav von Kroy bis 1643 noch einmal einen eigenen
Bischof, kam aber infolge des westfälischen Friedens an
Brandenburg. Im Jahre 1654 hob der große Kurfürst
die besondere Verwaltung des Stiftes Kammin ans und
vereinigte dasselbe mit den übrigen Teilen Pommerns. Es
hieß seitdem das inkorporierte Land, bis es im Jahre 1669
den Noamen Fürstentum Kammin erhielt Bei der Reor-
ganisation des Regierungsbezirkes Köslin (1816) blieb der
Kreis Fürstentum in seinen alten Grenzen; außer den
Dörfern des Kolberger Domkapitels wurden ihm noch einige
Ortschaften des Greifenberger, des Osten-Blücherschcn und
des Borckschen Kreises, welche weiter unten namhaft gemacht
werden, hinzugefügt. Da der Kreis 43,29 Quadratmeilen *)
*) Hoyer, Territorialgeschichte des Kösliner Regierungs-
bezirkes, S. 11.
*) ©eil, Geschichte des Herzogtums Pommern, II, 293.
216
Dr. Zechlin: Das Fürstentum Kammin.
oder 2383 qkm groß war, wurde er 1872 in drei Teile
geteilt und zwar in den Bublitzcr (südlich), 705 qkm groß,
in den Kösliner (östlich), 748 qkm groß, in den Kolbcrg-
Körliner (westlich), !)29 qkm groß. Die Einwohnerzahl
des ersteren betrug 1881 21 865, davon 4734 in Städten,
des Kösliner 46 390, davon 16 834 in Städten, des
Kolbcrg-Körliner 52 016, davon 19 328 in Städten. Auf
die Qnadratmeile betrug die Einwohnerzahl in den drei
Kreisen 1882 bezüglich 1881 , 3313 und 3251 gegen
1560 Einwohner im Jahre 1832.
In geologischer Beziehung sind häuptsächlich alluviale
und diluviale Schichten vertreten: Lehmlager, Mergel mit
Sandschichten wechselnd, Sand und Geschiebe, reiche und
ansgedehnte Lager von Torf. Im Bublitzcr Kreise hat sich
das Diluvium unter bewegten Verhältnissen abgesetzt, hier ist
besonders der Sand mächtig entwickelt, auch viele erratische
Blöcke finden sich namentlich im südlichen Teile des Kreises.
An silnrischen Kalksteinen ist die Umgegend von Drawehn
reich. Das Bodenrelief bietet mit seinen Wäldern, Seeen und
Mooren viel Abwechselung und ist stellenweise sehr toupiert.
Die Wasserscheide des pommerschen Landrückens geht durch
den südlichen Teil des Kreises, dessen Gewässer der Netze
tributär sind. Die höchsten Erhebungen des Landrückens
finden sich am Papenziner-See, der selbst 176 m über dem
Ostseespiegel liegt und dessen östliche Bergknppen, der Pfingst-
berg und der Lilicnberg, 225 bezw. 230 m hoch sind, während
der Gollenberg nur eine Höhe von 144 m hat. Bon roman-
tischen Punkten ist außer den eben erwähnten Seeen noch der
Virchowsee bei Wurchow zu bemerken. Im nördlichen Teile
des Fürstentums Kammin ist das Terrain eben, es dacht
sich allmählich von Süden nach Norden ab, leidet aber in der
Nähe der Küste an der Schwierigkeit der Entwässerung.
Hier bildet der Gollenberg, dessen bewaldete, in blauen Duft
gehüllte Gipfel an Thüringens Wälder erinnern, die einzige
nennenswerte Erhebung. Etwas bergiger wird wieder der
westwärts von der Persante liegende Teil unsres Gebietes.
Den Glanzpunkt dieser Gegend bieten die lieblichen Umge-
bungen des durch Berge und Wald vor östlichen und nörd-
lichen Winden geschützten Kämitzsee. „Hier, wo waldige
Anhöhen mit anmutigen Thalgründen und freundlichen Durch-
sichten auf den klaren Wasserspiegel wechseln, wehen lauere
Winde, sprießt eine südlichere Vegetation I." Auch dieZn-
sammcnsetznng des Diluviums wird an der Küste besser,
namentlich ist der Strich zwischen Köslin und Kolberg aus
Thon, Mergel und Sand zusammengesetzt, so daß der gute
Lehmboden bei weitem überwiegt, welcher schönen Weizen
liefert, während ans dem Landrücken der leichte und kalte
Boden nur Roggen hervorbringt. Ebenfalls leichter ist der
Boden westwärts der Persante und zwar je weiter man sich
von der Küste entfernt, desto weniger ergiebig. Hier erregte
an der Stettin - Danziger Heerstraße das sogenannte große
Heideland schon vor hundert Jahren die Aufmerksamkeit der
fremden Reisenden. Von alluvialen Bildungen sind die
großen Moore zwischen Kolberg und der Kreisgrenze, die
Wiesenkalklager am Kämitz- und Lübtowsee zu bemerken.
Tertiäre Schichten (z. B. Glimmersand) zeigen sich am Gollen-
berg und am Nestbach; auch die Soole, welche bei Kolberg
dem Erdboden entquillt, gehört wohl hierher. Von älteren
Formationen kommt nur der Jurakalk bei Bartin, südlich
von Kolberg vor. Daher besteht das Bodenareal des Fürsten-
tums Kammin ans 310 qkm Lehm- und Thonboden, etwa
1000 qkm sandigem Lehm und lehmigen Sand, ans fast
ebenso viel reinem Sandboden, aus 69 qkm Moorboden und
0 B nhrdt, Beiträge zur Kenntnis der klimatischen und
Vegetationsverhältnisse von Kolberg. Kolberg 1854. Doch
übertrieben.
ebenso vielen Wasserflächen. Größere Seeen sind der Ja-
mnndcr-, der Lübtow- und der Virchowsee. Von den drei
Kreisen hat die größte Ackerfläche der Kolberg - Körliner,
nämlich 599 qkm oder 63,9 Proz. der Gesamtfläche; er
wird in dieser Beziehung im Regierungsbezirk nur vom
Schivelbeiner um ein weniges (64,2 Proz.) übertroffen.
Der Kösliner Kreis benutzt 386 qkm zur Ackerfläche
(51,6 Proz.); der Bublitzcr 347 (49 Proz.). Die Haupt-
frucht ist der Roggen, von welchem in allen Kreisen ziem-
lich gleich viel, nämlich 26 Proz. der Ackerfläche, bebaut
wird; dagegen wird Weizen am meisten im Kösliner Kreise,
nämlich 26 qkm oder st>,8 Proz. der Ackerfläche, gebaut,
womit sich der Kreis an die Spitze aller andern des Regie-
rungsbezirkes stellt; im Kolberger Kreise wird nur wenig
(1,5 Proz.), so gut wie gar keiner (0,3 Proz.) im Bublitzcr
Kreise produziert. In den beiden ersten Kreisen ist das
Wiesenverhältnis ein sehr günstiges, nämlich 11,4 Proz.
und 10,4 Proz. der Ackerfläche (das geringste Wiesenver-
hältnis hat Dramburg, 4,6 Proz. der Ackerfläche). Forsten
finden sich am meisten im Kreise Bublitz, 214 qkm oder
30,5 Proz. der Gesamtfläche, 142 qkm im Kreise Köslin
gleich 19 Proz. und 99 qkm gleich 10,7 Proz. im Kreise
Kolberg. Der Grundstenerreinertrag betrügt in: Durchschnitt
pro Morgen 21 Sgr., und ist der Morgen 1. Klasse zu
120 Sgr., der der 8. zu 3 Sgr. eingeschätzt. Die Zahl
der Rittergüter beträgt 167.
Ohne Zweifel ist unser Gebiet von allen Teilen des
Regierungsbezirkes zuerst germanisiert worden. Die Nähe
des Klosters Belbuck, die Gründung der beiden deutschen
Städte Kolberg und Köslin und die Stiftung verschiedener
Klöster in denselben lockten viele Deutsche herbei, wovon
noch die Reihe der Hagcndörfer zwischen Köslin und Kolberg
Zeugnis ablegt, wie denn der Gollenberg längere Zeit
deutsches und wendisches Wesen schied. An der Persante
wird zuerst von Dörfern Zwielipp 1159, östlich von dem-
selben zuerst Rützow, an der Straße von Kolberg nach
Köslin, 1182 genannt; um 1250 existierten die meisten
Ortschaften dieses Distriktes, während der Bublitzcr Kreis
erst 50 bis 100 Jahre später in Kultur trat.
Die klimatischen Verhältnisse sind im nördlichen Teil des
ehemaligen Fürstentumerkreiscs durch die See beeinflußt.
Spät, erst Ende April, beginnen mildere Tage eines allzu
kurzen Frühlings, häufig noch unterbrochen und verkümmert
durch stürmisches Rcgcnwetter und scharfe Seewinde. Da-
her sind diese Teile den kalten nördlichen, besonders nord-
westlichen Luftströmungen ausgesetzt. Jedoch kommen diesen
Landstrichen auch die Niederschläge zu statten, welche die
Ausdünstungen der Sec herbeiführen und deren Vorteile
für die Vegetation nicht gering ins Gewicht fallen. Wenn
auch die Ernte am Strande später eintritt, wie auf dem
südlichen Landrücken, so reifen dafür am Strande auch
manche Früchte, z. B. Walnüsse, welche im Bublitzcr Kreise
gewöhnlich in der Blüte erfrieren.
Die Frühjahrstemperatur beträgt in Köslin 4,64° N.;
in Kolberg 4,82° R. Die Wintertcmperatnr in Köslin
— 1,13°, in Kolberg —0,59°. Die jährliche Regenmenge
in Köslin 63,1 6m. Es regnet also in Köslin und Um-
gegend mehr als in den übrigen Teilen des Kreises, nament-
lich als im Bnblitzer Kreise, da der Gollenberg eine Wetter-
scheide bildet. Überhaupt beträgt die jährliche Regenhöhe
für die Küste von Swinemünde bis Stolp fast 60 6m, sie
ist in diesem Teile Pommerns größer als in dem südlicheren
Pommern. Im Bereich des hinterpommerschen Landrückens
beträgt beispielsweise die jährliche Regenmenge in Konitz
48,7 6m (Wintertemperatur dort — 2,09° R.).
Nach dieser allgemeinen Schilderung gehen wir nun zur
Einzclbetrachtung über.
Dr. Zechlin: Das Fürstentum Kammin.
217
1. Der Kreis Bublitz.
Der südliche Teil des Kreises gehört dem Flußgebiet
der Küddow an und liegt also auf dem südlichen Abhänge
des Landrückens. Die Ansiedlungen sind weit voneinander
entfernt, und kümmerlich ernährt sich der kleine Landmann
von seinem Acker. Durch diesen Teil des Landes geht die
Landstraße von Neustettin nach Baldenburg. Nachdem man
Sparsee im Neustcttiner Kreise passiert hat, wandert man
in gerader, nordöstlicher Richtung immer bergauf und berg-
ab, ohne einem menschlichen Wesen zu begegnen, in der
Ferne hier und da eine einsame Ansiedlung entdeckend; am
Wege findet sich selten Getreide, in der Tiefe Moore, auf
der Höhe einzelne Fichtkusseln. Ich bin als Neustettincr
Gymnasiast oftmals nach Baldenburg zu Fuß gewandert,
aber immer mit dem Gefühle der Einsamkeit und Ver-
lassenheit. Auch die Post, welche früher diese Landstraße
fuhr, verunglückte an der baumlosen Landstraße im Winter
häufig oder blieb im tiefen Schnee stecken. Durch zwei
Seen klemmt sich die Landstraße, bis man endlich das
schmutzige und ärmliche Dorf Bischofstum erreicht. Es
war ein altes Amtsdorf des Amtes Bublitz und hat fast
nur Boden siebenter Klasse. „Die Bauern dieses Dorfes
sollen von gedrungenem Körperbau, noch unter mittlerer
Größe und mit dicken Köpfen und harten Schädeln ver-
sehen sein. Der Bauer wohnt meistens noch in elenden
Lehm- oder Holzhütten, hier und da mit ungedieltem oder
höchstens mit Steinen gepflastertem Fußboden und seine
täglichen Mahlzeiten sind die der ärmsten Klassen andrer
Gegenden. Selbst von dem Nationalgetränk des deutschen
Bürger- und Bauerntums, dem Bier, ist bei ihm noch
keine Rede — es ist ihm viel zn kalt und schal — er liebt
nur den feurigen Schnaps *).“ Das Fehlen mancher Sing-
vögelarten in diesem Landstrich schreibt Karl Ruß dem
Einfluß der eigentümlichen Witterung auf der hochgelegenen
Wasserscheide, und zwar hauptsächlich den rauhen Ost- und
Nordostwindcn zn, die das Gedeihen einer großen Anzahl
von Tier- und Pflanzenarten unmöglich machen. Denn
von Pflanzenfamilien fehlen hier die Linde, die Walnuß,
Akazie, Edeltanne und Fichte und eine große Menge andrer
Gewächse. Vom Laubholz gedeihen eigentlich nur die Buche,
Eiche, Birke, Erle, Haselnuß, und vom Nadelholz die Kiefer
und der Wachholdcr, alle übrigen, welche etwa noch einzeln
vorkommen, sind angepflanzt und fristen ein kärgliches Da-
sein. Dasselbe ist auch mit den feinen Obstarten der Fall,
welche nur mit Mühe zu ziehen und zn erhalten sind.
Ebenso fehlen von Vögeln die Nachtigall, obwohl Fliederbüsche
und kleine Bäche genugsam vorhanden sind. Es fehlen die
gelbe Bachstelze, der Ortolan, die Fliegenschnäpper-, Laub-
vögelchen und Schilfsängerarten, sowie die schwarze (Saat-)
Krähe und die Dohle. Einzelne andre, die sich in andern
Gegenden fest ansiedeln, lassen sich hier nur als Strichvögel
blicken.
Nördlich von der eben erwähnten Landstraße liegt
Kasimirshof. Bei diesem Dorfe entspringt aus mehreren
Rinseln die Küddow. Brüggemann läßt sie aus dem jetzt
abgelassenen See Billerbeck entspringen. Sie fließt dann
in westlicher Richtung durch sumpfiges und wiesiges Ter-
rain, aus welchem seit langer Zeit viele Kiefernstubben
und Wurzeln heransgcgraben werden. Im vorigen Jahr-
hundert lag nahe bei dem Dorfe ein von Wasser, Wiesen
und Gebüsch umgebener Wall, ans welchem man noch die
Mauerstücke und Grundsteine eines fürstlichen Schlosses er-
blickte *). Der Name weist ans Bischof Kasimir hin. Jetzt
1) Karl Ruß. Auf der Grenze van Hinterpommern und
Westpreußen. Globus, Bd. VI, S. 24.
2) Brüggemann, n. a. O. S. 643.
Globus LX. Nr. 14.
ist der Wall abgekarrt und ans die Wiesen gebracht I.
Nachdem die Küddow den großen Studnitzsee durchflossen
hat, durchbricht sic die schmale Landzunge, welche diesen von
dem benachbarten, größeren und romantischeren Virchowsee
trennt. Beide Seen liegen 141 in hoch. Auf der Land-
zunge liegt der Wuhrberg (auch Wnrtsberg oder Würtberg
genannt; Berghaus, Landbuch von Pommern, Bd. I, S. 293)
der steil zum Virchowsee abfüllt. Auf demselben, der jetzt
mit Eichen und Buchen bestanden ist, stand früher eine
Burg. Der See hat die Gestalt eines Dreiecks, an seiner
nördlichen Seite gehen zwei Halbinseln in ihn hinein, von
denen die eine den Namen Bnrgwall führt. Diese Halb-
insel war ursprünglich eine Insel, zu der ein ungefähr
600 Schritt langer Damm führte. Auch auf dieser Insel
stand eine Burg. Zwischen beiden Burgen, welche durch
den 1000 m breiten See getrennt sind, spielt eine ähnliche
Sage wie die griechische von Hero und Leander * 2 3).
Südlich vom Virchowsee liegt Sassenburg, nördlich
Grumsdorf. Namentlich ist der Boden südlich vom Vir-
chowsee leicht.
Grumsdorf, ein altes Somnitzsches Lehen, wurde von
Peter von Somnitz, auf einer wüsten Feldmark, welche er
von den Herzögen von Pommern gekauft hatte, erbaut; öst-
lich dehnt sich die Forst Zuberrow aus, in welcher der kleine
fischreiche Kölpinsee liegt, westlich davon und nördlich von
Grumsdorf zieht sich eine große Müsse, fast 7 km lang, bis
Porst hin, hier, zwischen dem Kölpin- und dem Priebssce
liegt ein Burgwall, der auf der alten Generalstabskarte noch
als alter Schloßwall bezeichnet ist. Das Dorf Porst liegt
an der Chaussee von Bublitz nach Baldenburg. Es ist ein
ziemlich großes, doch unsauberes und unfreundliches Bauern-
dorf mit meist recht alten Häusern. Eine neue massive
Kirche mit ziemlich hohem Glockenturm ist dort erbaut.
Das Land ist sehr bergig und steinig, und teilweise wenig
tragbar, der Boden gehört überwiegend der 6. und 7. Klasse
an. Die Einwohner leben meist in dürftigen Verhältnissen.
Dicht am Dorfe liegt der Klewesee mit steilen Usern 152 m
hoch. Aus der Landzunge im See liegt ein merkwürdiger
Wall ■'). Die Porst sehe Mühle liegt an der Gotzel und
somit kommen wir zum Oncllgebiet der Radüe, des größten
Nebenflusses der Persante.
Sie entspringt bei einem zu Kleinkarzenburg gehörigem
Vorwerk, Friedrichshof, unter einem Berge aus einer starken
Quelle, der Soodsche Brunnen genannt, allerdings noch
unter andrem Namen, und nimmt erst 8 km nördlich,
nachdem sie den Niedersee verlassen hat, den Namen Radüe
an, welcher zuerst 1159 erwähnt wird. Ostwärts von den
Ouellen der Radüe ist das Terrain toupiert und hoch; eine
Anzahl von Seen, von denen der größte, der teilweise zum
Schlawer Kreise gehörige Papenziner ist, belebt das Boden-
relief. Derselbe ist von hohen Uferründern eingeschlossen
und an seiner östlichen Seite erheben sich die in der Ein-
leitung erwähnten Berge. ' Eine Halbinsel, aus der eine
nicht mehr im Betriebe befindliche Glashütte steht, geht auf
derselben Seite in den See. Südöstlich liegen eine Menge
kleiner ausgebauter Besitzungen, welche auf Waldboden an-
gelegt sind und zu Hölkewiese gehören. Hölkewiese hat
kalten Boden. Nachtfröste finden überaus häufig statt, und
verhindern die Obstkultur. Wiesenkalk, Mergel, Rasenstein-
crz kommen in Menge vor. Von den vielen Steinen daselbst
und dem Namen des Dorfes wird eine Sage erzählt 4).
Hölkewiese gehört kirchlich zu Großkarzenburg, welches west-
0 Baltifche Studien IV, S. 153.
2) Baltische Studien XXV, S. 32.
3) Baltische Studien III, S. 202.
4) Knoop, Volkssagen, Erzählungen im östlichen Hinter-
pommcrn. Posen 1885.
28
218
Dr. Zechliii: Das Fürstentum Kammin.
lich davon liegt. Letzteres ist ein großes, freundliches Dorf
mit vielen Bauern und Eigentümern und einem großen
Gute. Der Boden ist schlecht, sehr bergig, steinig und
wenig tragbar. Das Dorf liegt au der Chaussee, welche von
Drawehn in die Bublitz-Baldenburger hineingeht. Nach
Baldenbnrg zu wird der Boden immer geringer, und liegt dort
noch viel steiniges Heideland nnbeackert. Die Bauern können
dem Boden nicht viel abgewinnen und leben in ärmlichen
Verhältnissen. Der Gntsacker ist indes — dank der Wohl-
habenheit der Besitzer — in hoher Kultur und trügt ein
schönes Korn, ein Beweis, daß der Sandboden noch eine
Zukunft hat, wenn nur das nötige Anlagekapital vorhan-
den ist. Übrigens ist derselbe schon viel kulturfähiger ge-
worden, als im vorigen Jahrhundert,-wo derselbe nicht
einmal Roggen trug. 3 km davon liegt das kleine Dorf
Kleinkarzenbürg, unsauber und ärmlich, größtenteils Bauern
und Eigentümer enthaltend. Die Kirche ist alt und be-
steht aus Fachwerk. In diesem, wie in andern benach-
barten Dörfern haben die kleinen Besitzer vielfach keine
Kühe, sondern Ziegen, und man sieht häufig Kühe und
Ziegen zusammen auf der Weide. Auch werden die Kühe
häufig zum Ziehen benutzt und müssen die Stelle des Pferdes
ersetzen. Kleinkarzenbürg hat nebst einigen Stranddörfern
des Kösliner Kreises den geringsten Grundsteuerreinertrag
pro Morgen, nämlich drei Silbergroschen.
Westlich voul Dorfe der Schloßberg, auf welchem sich
früher eine Landwehr befand. Die Chaussee führt von
Gr. Karzenburg in nordwestlicher Richtung nach dem über
8 km entfernt liegenden Dorfe Drahwehn. Südlich von
derselben liegt die Oberförsterei Oberster ans 13 913 Morgen
Wald bestehend. In derselben sind wiederholentlich Hünen-
gräber ausgegraben worden. Drawehn ist ein großes Dorf,
in welchem sich zwei Chausseen kreuzen. Es macht einen
sauberen, freundlichen Eindruck. Die Kirche besteht aus
Fachwerk und ist vor etwa 20 Jahren ausgebaut. Das
Land ist sehr bergig und teilweise reich an Steinen. Der
Boden ist hauptsächlich sogenanntes Grandland, ein trag-
barer Mittelboden. Es ist das Stammhaus derer von Lettow
und scheint 1492 zum erstenmale genannt zu werden.
Brüggemann spricht von einem hier vorkommenden Kalk-
gebirge (wohl Kalklager), dessen Kalk weit verfahren wird
und von Eisenstein, daher hier auch ein Eisenhammer ge-
gewesen ist, an den noch der kleine Hammerbach erinnert.
Bernstein wird in großen Stücken ans dem Lande und in
Morästen gefunden. Zn Drawehn gehört das sogenannte
Köslinsche Gut, welches ehemals ein Klostergut war und
dein Kösliner Magistrate gehörte. Beim Mühlenkamp be-
findet sich aus einem steilen Berge eine alte, mit starken, von
Geschieben ausgeführten Wällen, und mit tiefem Graben ver-
sehene große Schanze, welche das Schlößchen heißt, und ehemals
als Landwehr gegen die feindlichen Einfälle der Polen gedient
haben soll. Nachdem die Nadüe den Niederste verlassen
hat, bildet sie 3 km weit die Grenze zwischen dem Bnblitzer
und Schlawcr Kreis, hier kommt ihr von der linken Seite
der Mühlenbach vom Dorfe Gervin zu. Hier lag die wüste
Feldmark Nessekow oder Nesselkow. Die Feldmark hat sehr
konpiertes Terrain; der Wiesenkalk wird in einer Kalk-
brennerei verwertet. Nun tritt die Radüe in den Kreis
und bildet ein weites Thal, dessen bewaldete Abhänge weit
zurücktreten. Auf hohem und steilem Rande des Thales
liegt Zeblin an der Landstraße von Bublitz nach Pollnow.
Christian Ewald von Kleist erblickte hier am 7. März 1715
das Licht der Welt, 1735 verkaufte das Gut der Vater des
Dichters an den Hauptmann Hans von Humboldt, den
Großvater des berühmten Bruderpaares Wilhelm und
Alexander von Humboldt. Dicht dabei an derselben Seite
am Radüerande liegt das Kirchdorf Kurow, 1288 genannt,
mit neuer Kirche auf einer Hochebene, welche nördlich und
nordöstlich schroff ins Radüethal abfällt und von der man
einen hübschen Blick in dasselbe hat. Das Plateau selbst
hat Lehmboden. Das Trinkwasser wird von der Radüe
geholt, in deren Thal die Landstraße von Westpreußen nach
Köslin entlang geht. In der Nähe des Dorfes liegt eine
hübsche Bnchenholzung.
Am rechten Radüeuser, ungefähr in derselben Entfernung,
liegt Lubow, am Endpunkte eines Höhenzuges, der von
vielen tiefen Schluchten zerschnitten nach Nordwesten geht
und die Zetthnncr Forst begrenzt. Von den Bergen, welche
verschiedene dt a men haben, heißt der eine zwischen Zetthun
und Karzin Schloßberg; mehrere kleine Bäche rinnen ins
Radüethal. Lubow selbst hat ein Kalklager, welches durch
einen Kalkofen verwertet wird. Der Boden ist sehr leicht.
Nördlich von diesem Höhenzuge liegt Zetthun fast unmittel-
bar an der Kreisgrenze aus dem Abhange einer Bergplatte,
welche plötzlich 16 m abfällt und an deren Fuß sich am
Gutsgarten ein runder klarer See, 25 ha groß, von einem
Bergkranz umgeben, befindet. Westlich von Zetthun, an
der Grenze des Kreises, liegt Reckow an einem Bache, der
aus dem bewaldeten Nitzminersee kommt. Das Gut in
hügeliger Umgebung, zuerst 1485 genannt, hat überwiegend
Boden 8. Klasse. Dies und das benachbarte Karzin ge-
hören seit 1762 der Familie von Hellermann. Karzin ist
das größte Gut im Kreise, 2824 ha mit 24 309 Mark
Grundsteuerreinertrag. Namentlich gehört zu dem Gute
viel Wald, etwa 2000 ha, welcher sich nordwostwärts aus-
breitet, regelrecht verwaltet wird und viel Schwarzwild
enthält. Karzin, an der Chaussee von Brückenkrng nach
Drawehn, war zwar nicht das älteste, aber doch ein bedeuten-
des Boninsches Lehen, da es das Stammhaus des einen
Zweiges der Familie Bonin wurde. In der dortigen alten
Kirche befinden sich mannigfache Erinnerungen an die Familie,
auch das Boninsche Erbbegräbnis bestand bis Anfang der
sechziger Jahre dort, zu welcher Zeit das Gewölbe einstürzte ').
Von Kurow wendet sich die Radüe nach Westen; ihr
Thal ist bis zur Aufnahme der Gotzel breit und zeichnet sich
durch scharfe Thalründer aus, dann verengert sich dasselbe,
sie fließt fast fortwährend durch Fichtenwälder; bei Brücken-
krug, wo sich eine Dampfschneidemühle befindet, geht die
Chaussee von Köslin nach Bublitz über dieselbe, hier zweigt
sich auch die Chaussee nach Karzin ab; dann tritt sie in den
Kösliner Kreis, bildet unterhalb Roßnow wiederum die
Kreisgrenze unb hält dann in weiterem Laufe die Grenze
zwischen dem Belgarder und Kösliner Kreis. Ans der
linken Seite nimmt die Radüe zuerst die Gotzel auf. Die-
selbe entspringt 4 km südöstlich von Bublitz an der Porster
Mühle und fließt dann durch ein Wiesenthal längs der
Bublitz-Baldenburger Chaussee. An ihrem sanft ansteigen-
den Thalrande auf ihrem rechten User liegt Bublitz. Der
höchst gelegene Teil der Stadt wird Oberstadt genannt.
Die lange Straße führt von der Baldenburger Chaussee
ans den Markt, an dem das Rathaus steht; dabei die
St. Johanniskirche, welche ganz neuen Datums ist. In der
Oberstadt befindet sich die Jrvingianer Kirche. Fünf
Chausseen nach verschiedenen Richtungen gehen von der
Stadt ans. Das frühere landesherrliche Amt lag an der
nördlichen Seite der Stadt. Zn dem Amt gehörte die so-
genannte Schloßfreiheit. An der südlichen Seite der
Chaussee nach Bärwalde liegt ein Bnrgwall, von welchem
sich einige Promenaden an die Baldenburger Chaussee heran-
ziehen. Von industriellen Unternehmungen ist eine Dampf-
spinnerei an der Gotzel und einige Mühlen zu erwähnen.
i) Geschichte des Hinterpommerschen Geschlechts v. Bonin,
Berlin 1864.
Dr. Zechlin: Das Fürstentum Kammin.
219
Bublitz ans dem Personennamen dollolieo, d. h. Sohn
des Bobola (Rundbauch), wird zuerst 1262 genannt *), aller-
dings in einer Urkunde, welche der Vers. des pommercllischen
Urkundenbuches (Perbach) beanstandet. Im Jahre 1339
kaufte Bischof Friedrich von Kammin von den Geschlechtern
von Wedelt, von Spcming und von Sanitz deren Anteil
an Schloß, Flecken und Land Bublitz für 1850 Mark landes-
üblicher Pfennige. Im nächsten Jahre wandelte der Bischof
den Flecken in eine deutsche Stadt um (1340). Um 1411
griff Herzog Bogislav VII. die stiftische Burg und Stadt
Bublitz mit gewaltsamer Hand an und hielt sic bis 1418
in seinem Besitz. Die Bischöfe von Kammin verkauften sie
oder Anteile von ihr an verschiedene adelige Familien.
1531 verkaufte Bischof Erasmus Vogtei, Schloß und
Städtchen an Martin Puttkamer. Von letzterem kaufte
Jürgen Massow Stadt und Schloß. 1561 nennt sie sich
selbst ein armes Städtlcin und 1577 verkauften die von
Massow das ganze Städtlein und Haus Bublitz an den
Bischof Herzog Kasimir, worauf die Stadt dem Amte
Bublitz als Amtsstädtlein einverleibt wurde. Nach der
brandenburgischcn Besitznahme (1653) wurde Stadt und
Amt dem Herzoge Ernst Bogislav von Kroy auf Lebenszeit
überlassen und nach seinem Tode (1684) wieder eingezogen.
Die Stadt hatte 1782 1091, 1880 4734 Einwohner,
so daß die Zunahme bedeutend ist. Aus 100 Einwohnern
des Jahres 1782 sind 433 des Jahres 1882 geworden.
Südlich von Bublitz dehnt sich der Bublitzer Stadtwald
aus, vor diesem Walde wurde nach vorgenommener Rodung
ans Vorschlag des Fürsten Moritz von Anhalt -Dessau das
Dorf Neudorf 1753 angelegt.
3 km nordwestlich von Bublitz, nicht weit von der
Gotzcl, liegt Goldbeck, hier treffen die von Köslin und von
Gr. Tychow kommenden Chausseen zusammen. Das Gut
liegt am nördlichen Anfang des Dorfes und hat einen
schönen Park. Die Feldmark ist von vielen Bächen und
kleinen Seen durchschnitten. Boden 6. und 7. Klasse.
Südlich von Goldbeck liegt Dorfstädt, mehrere an Stelle eines
ehemaligen Dorfes neu angelegte Buschkaten. Unmittelbar
an der rechten Seite der Gotzcl liegt Ubedel, welches am
Abhange des zur Gotzcl steil abfallenden Plateaus liegt, so
daß der von der Chaussee Kommende eine hübsche Aussicht
ans das Dorf hat; es ist ein altes Bublitzer Amtsdorf mit
viel fünfklassigem Boden und wird feines Namens wegen
vielfach verspottet, dort bellen die Hunde mit dem Schwänze.
Früher bestand cs aus den Dorfstüdten Uberdcre und Ubercde,
welche campi yillarum das Kloster Bukow dem Bischof
Hermann von Kammin 1288 abtritt. Ein Teil der Ge-
meinde ist altlnthcrisch, welche auch hier ein gottesdienstliches
Gebäude hat. Christian Kranz ans Ubedel, Panzerreiter in
Friedrichs II. Leibwache, wurde in einer Schlacht des sieben-
jährigen Krieges, wahrscheinlich bei Lowositz, wo das Regic-
mcnt heldenmütig focht, verwundet. Indem er sich von
der Wahlstatt fortschleppen wollte, wurde er vom König
gesehen, der an ihn herantritt und ihm sein spanisches Rohr
schenkte, um sich damit besser fortzuhelfen. Auf dem Bauern-
höfe der Familie Kranz zu Ubedel wurde die kostbare
Reliquie aufbewahrt, bis sie der Prinz von Preußen (Kaiser
Wilhelm) ankaufte und der Königl. Kunstkammer überwies* 2).
Östlich von Ubedel liegt das große Amtsdors Gnst mit
über 1000 Einwohnern. Die Gotzcl fließt dann im nörd-
lichen Lauf mitten durch das Gut Schloßkämpen und mündet
unterhalb desselben in die Radüe. Schloßkämpcn wurde
auf den Ländereien des zerstörten Schlosses Bevenhusen
1) Prümers, Pommersches Urkundenbuch, IX. Bd., S. 92.
2) Nicht bei Zorndorf, wie Bcrghaus, Handbuch III, Bd. I
S. 300, angiebt, vergl. „Bär", 1887, Nr. 46.
oder Bevernhusen angelegt. Es war ein altes Kastrum,
welches die Bcvernhnsen besaßen. Das Geschlecht kommt
1256 vor und verschwindet 1463 aus der Geschichte.
1565 war das Schloß noch vorhanden. Nach dem allmäh-
lichen Verfall und Untergang des Kastrums Bevcrnhnsen
während des dreißigjährigen Krieges entstand ans den dazu
gehörigen Schloßäckern das Vorwerk Schloßkämpen, während
die Mühle die ursprüngliche Benennung beibehielt. Das
Schloß oder der Burgwall, Bcvcrnburg genannt, liegt in
einer snmpfigcn, fast unzugänglichen Gegend, von Wiesen
umgeben. Nur auf der Westseite fanden sich (1830)
Spnren eines Fundaments. In den fünfziger Jahren
unsres Jahrhunderts entstand auf den Ländereien der auch
nicht mehr vorhandenen Mühle die kleine Ortschaft Bcvcrn-
hnfen I.
Ein fernerer linksseitiger Nebenfluß ist ein kleiner Bach,
der an der Belgarder Kreisgrenze auf der Feldmark des
kleinen von Wald umgebenen Dorfes Jatzthnm entspringt.
An der Chaussee nach Tychow liegt Dubbcrtcch, früher
Dubbertcck genannt, in bergiger Gegend mit knlkgründigem
Boden. Den Namen führt der Bach nach dem Amtsdorf
Glicnke, welches in einiger Entfernung von ihm liegt.
Dann folgt das Kirchdorf Klannin; an der östlichen Seite
des Dorfes fließt ein Rinnsel mit scharfen Uferrändern,
welches den Glicnker Bach verstärkt. Unmittelbar am
Glienker Bach liegt Alt-Griebnitz an der Chaussee von
Köslin nach Bublitz. Der Acker ist wegen des undnrch-
lasscnden Untergrundes, der aus Schlick und Eisenocker be-
steht, drainirt. In der Gricbnitzer Forst, die sich nördlich
vom Dorf hinzieht, fließt das Bächlein in die Radüe.
Auf der Feldmark von Schwellin entspringt der Funken-
bach. Das Dorf liegt an der Landstraße von Bublitz nach
Belgard auf einer Anhöhe in ebener Gegend und hat leichten
Boden. Eine Kalkbrennerei gehört zum Gut. Unmittelbar
am Funkenbach, der hier auch Krampnitz genannt wird,
liegt Krampe mit schönem Herrenhause und Park, seit dem
15. Jahrhundert dem aus Schweden gekommenen Geschlecht
von Versen2) gehörig. Ein Rettnngshaus für 12 körperlich
und sittlich verwahrloste Kinder weiblichen Geschlechts ist
von der Gutsherrschaft erbaut. Dann fließt der Funkenbach
durch waldiges Gebiet an Kursewanz vorbei und mündet
oberhalb Roßnow in die Radüe. Kursewanz (Kurtzewanska)
war ein altes Münchowsches Lehen, welchem Geschlecht es
seit 1523 bis in unser Jahrhundert gehörte. Etwa zehn
Minuten vom Dorfe, im Walde versteckt, liegt der Kirchhof.
Die Grenze mit dem Belgarder Kreis bildet der Kautel-
bach, der nur bei Neu-Buckow auf Bublitzer Kreisgebiet
übertritt. Von seiner Quelle bis Mündung gehören zu
seinem rechtsseitigen Gebiet nachstehende Dörfer: Wogenthin,
unmittelbar am Kautelbach, der hier in einer tiefen, qncll-
reichen Schlucht entspringt, hat ein schönes Schloß mit
weithin sichtbarem Turm und einen schön angelegten Park,
der sich eines großen Rufes erfreut. Vom Schloß hat man
eine sehr schöne Aussicht. Überhaupt sind die Baulich-
keiten im guten Zustande. Ein Mausoleum liegt ans einer
Halbinsel in einem tiesgelcgcncn Teiche des Kautelthales.
Das Waldterrain ist toupiert, die Feldmark eben, nur der
Mixberg, der drei bis vier Meilen weit sichtbar ist, erhebt
sich auf derselben. Überhaupt ist die Gegend romantisch,
so daß sie häufig als hinterpommerschc Schweiz bezeichnet
wird. Namentlich gewährt das Kantelthal, das von steilen,
1) Berich V. Jahresbericht der Gesellschaft für pommerschc
Geschichte S. 58. Über die Vögel in der Umgegend von
Schloßkämpen, deren Ankunst und Brütezeit, siehe Hintz, Journal
für Ornithologie, XIV. Jahrg. 1866.
2) Ein Dominus Johannes de Versen wird 1301 genannt,
Perlbach a. a. O., S. 527.
28*
220
Dr. Grabow: Slovenische Forschungen über Tirol.
bewaldeten Höhen eingefaßt ist, eine Reihe hübscher land-
schaftlicher Bilder. Ebenfalls unmittelbar am Kautelbache
liegen Alt- und Neu-Bukow, beide alte Mnnchowsche Lehen
mit überwiegend fünf- und sechsklafsigem Boden. Neu-
Bukow liegt hübsch im Thal des Kautelbaches; die Häuser
des Dorfes zerstreut; das herrschaftliche Wohnhaus stößt
dicht an den Wald, so daß sich das Wild bis zu den Fenstern
des Hanfes nähert. Das Terrain ist eben, nach Dubbcrow
ist die Landstraße fest, nach Nottow sehr sandig. Die
Kirche ist alt (1594); am Seitcnchor zwölf Wappen von
Patronen der Kirche. Hinter der Kanzel wird als Reliquie
ein Hut und Degen, wahrscheinlich eines Generals aus der
Zeit Friedrich des Großen, aufbewahrt. Es war vor
der Reformation eine Ecclesia parochialis H. Ferner
Kl. Satspe, in flacher, bruch- und waldreicher Gegend, mit
schönem Park, feit einem halben Jahrtausend im Besitz des
Münchowfchcn Geschlechts; östlich davon die Zabelsberge,
die steil abfallen. Hier liegt das Gut Zabelsberg, welches
zu Zerrhene gehört. Zabelsberg gilt als Stammhaus der
Familie von Münchow, welche auf Zerrhene seit dem
Mittelalter saßen. Kl.-Satspe hat einen Eisenhammer,
Seeger eine Glashütte. Nach dem Nadüethal zu wird die
Gegend anmutig. Unterhalb der Zcrrhencr Feldmark er-
gießt sich der Kautelbach in die Radüe.
i) Klempin, Diplomat. Beitr. z. Gcsch. Pommerns, S. 118.
Slovenische Forschungen über Tirol.
Von Areisschulinspcktor Dr. Grabow. Bromberg.
Im Globus, Bd. LIX, Nr. 19 und 20, giebt Professor
lehnt und hängt mit platschen = platzen, mit Schall anf-
Bidermann eine „Übersicht der Slavcnreste in Tirol", ent-
haltend Bemerkungen über Sprache, Gebräuche, rechtsgeschicht-
liche Überlieferungen und Rasseutypus seiner Beuwhner. Es
ist das eine Zusammenstellung der Ergebnisse, zu welchen
Forscher wie Dr. Val. Hintner, Pfarrer Davorin Trstenjak,
L. Hübner n. A. gekommen sind. So anregend auch einzelne
Ausführungen, namentlich die über Miethäuserei, Hausvater
(gospodar) und Hausgenossen sind, so werden doch auch That-
sachen angeführt, die an und für sich recht wenig beweisen,
so z. B., daß es in Tirol auch slavisches Vieh gäbe. In andern
Gegenden Deutschlands giebt es z. B. viel holländisches Vieh,
aber darf mau daraus Schlüsse auf teilweise holländische Ab-
stammung seiner Bewohner machen? — Trstenjak führt mehrere
den Kühen beigelegte Kosenamen wie Rumel, Mnschga, Zncka,
Nizza als slavisch ans; aber abgesehen davon, daß diese viel-
leicht richtiger aus dem Romanischen abzuleiten sind, wird
damit doch gerade soviel bewiesen, als wenn man aus den
anderswo gebräuchlichen Kuhnamen Bella, Life, Lotte u. a.
Schlüsse auf italienische, hebräische oder französische Herkunft
der Kühe oder ihrer Besitzer machen wollte.
Bei der Aufnahme sprachlicher Beweismittel hat Bider-
manu seinen Gewährsmännern, obwohl er ausdrücklich er-
wähnt, daß sie manches falsch gedeutet haben und geneigt
seien, slavische Klänge als Beläge für slavische Niederlassungen
zu deuten, doch mehr Vertrauen geschenkt, als sie verdienen.
Von Trstenjak z. B. werden außer obigen Kosenamen noch
19 andre Wörter als slavisch aufgeführt, die zum größten
Teil falsch erklärt werden, so z. B.:
1. „Bisen, beslen — Rennen des von Bremsen gestochenen
Rindes (slov. bez — ate, biz — ati)". Der gelehrte
Pfarrer hat übersehen, daß das Wort nicht nur in Tirol,
sondern auch in der deutschen Schweiz und in ganz Deutsch-
land gebräuchlich ist in Gegenden, die niemals mit Sloveucn
in Berührung gekommen sind. Aus dem slavischen Wort-
schatz sind ja allerdings einige wenige Wörter, wie Grenze,
Petschaft, Zeisig, Stieglitz in das Deutsche eingedrungen, aber
doch nur aus dem Tschechischen und Polnischen, während es
bisher noch keinem wirklichen Sprachforscher ernstlich in den
Sinn gekommen ist, allgemein verbreitete deutsche Wörter
aus dem Slovenischen abzuleiten. Im Polnischen heißt die
Bremse, welche das Bisen veranlaßt, gies und gzik, das
Bisen selbst gzic sie; aber keines dieser Wörter ist ins
Deutsche übergegangen.
2. „Plüschen, Bleschen-Schlagcn, daß es schallt (slov. plesk
— ati)". — Das gleichbedeutende polnische plaskac, ein
plätscherndes Geräusch machen, ist ans dem Deutschen ent-
treffend fallen, zusammen.
2. „Brenta-Kufe, Bottich (slov. brenta)". — Trstenjak
will offenbar nicht wissen, daß das auch bei Rosenblut vor-
kommende „prenta" im Jtal. und Mittellat. brenta, im
Piemont, brinda heißt, also romanischen Ursprungs ist.
4. „Britsch-ffaches Scheit zum Plattschlagen des Düngers
(slov. peric, peraca)". — Die Pritsche, Britsche oder Britze
als Schlaginstrument heißt poln. trzepaczka, und nur der
Sitz hinten am Rennschlitten heißt prycza (spr. Pritscha),
das offenbar eine Entlehnung aus dem Deutschen ist. Wenn
auch unsre sehr vorsichtigen deutschen Forscher den Ursprung
des Wortes Pritsche für dunkel erklären, so steht doch soviel fest,
daß es mit den schallnachahmendcn Wörtern pratschen, bratsch
zusammenhängt. Ans dem Altslav. könnte höchstens die Wurzel
prati — schlagen, treten, waschen hierhcrgezogen werden.
5. „Gumpe-Kretin (slov. gninpec von gnrnp —Kropf)".
— Im Poln. heißt der Kropf wole oder wolak; eine all-
gemein slavische Wurzel gump — Kropf giebt es gar nicht;
das von Trstenjak für slavisch gehaltene Wort könnte also
ebenso gut deutschen Ursprungs sein. Da es sich um dialek-
tische Wörter handelt, so können nur ähnliche Wortbildungen
der Dialekte verglichen werden, z. B. rappeln und rumpeln,
Lappen und Lumpen. Wie stapfen, stampfen und stumpf,
auch Stempel zusammen gehören, wie hochd. Zapfen und
niedcrd. Zumpel, so kann ans althochd. kapfen, nicderhochd.
gaffen sich wohl ein dialektisches gump entwickeln mit der
Bedeutung: offenen Mundes vor sich hinstierend, blödsinnig.
6. „Törcher — Vagabund (slov. derhal— Gesindel)". —
Wo Trstenjak eine allgemein slavische Wurzel derb gefunden
hat, weiß ich nicht. Wäre sie vorhanden, so müßte das
abgeleitete deutsche Wort offenbar Derchel heißen. Vielleicht
hat der gelehrte Forscher sich verhört und irgend ein andres
Wort, etwa „Durchgeher" mit etwas gutem slavischen Willen
als Törcher aufgefaßt.
7. „Kander — Werg (bei den karantan. Slaven coder)".
— Auch dies Wort ist durch ganz Deutschland verbreitet,
dagegen dürften nur wenige Deutsche wissen, wo derSlaveu-
stamm zu suchen sei, dein Alldentschlaud dieses Wort zu ver-
danken haben soll. Im Poln. kommt das Wort nicht vor;
gut hochdeutsch ist es auch nicht; in den Dialekten aber
finden sich Anhaltspunkte genug, um es mit deutschen Wörtern
in Beziehung zu setzen. So heißt in Norddcutschlaud ein
Wischlappen, namentlich zum Abwaschen, ein Kodder. Kuder
bedeutet in Süddeutschlaud Werg, Hede, Hadern, aber auch
den Bodensatz von Flüssigkeiten. Zwei Sprachwurzeln
scheinen also in den Bedeutungen des Wortes zusammen-
Dr. Grabow: Slovenische Forschungen über Tirol.
221
zutreffen: 1. Althochd. „oliuzjan = umhüllen, bedecken,
dazu die Bedeutung Werg als äußere grobe Hülle des Flachs-
stengels; vielleicht auch das Wort Kotze — grobes Gewand,
altfranz. cokc; 2. „Althochd. quak — böse, schlecht, dazu die
Bedeutung Bodensatz. Mit quät hängt ja bekanntlich auch
das neuhochd. Koth zusammen.
8. „Schmöchen ^ fortglimmcn (slov. smolla — eiu
schwer entzündbares Tannengeäste)". — Auch smoha ist kein
allgemein slavisches Wort: im Poln. kommt es nicht vor;
dagegen ist die deutsche Abkunft von schmauchen, schmocken,
schmöken (Schmauchfeuer zum Räuchern von Fleisch und
Fischen) längst erwiesen.
9. „Schurimuri — übereilt, ungeschickt (slov. curimuri)".
— Ob Trstenjak die Bedeutung des Wortes vollständig und
richtig angicbt, erscheint mir zweifelhaft. Eine slavische
Sprachwnrzel, auf welche curimuri bezogen werden könnte,
giebt cs nicht, wohl aber hat Fritz Reuter ein Buch „Schurr-
murr" geschrieben:
„Wat tausamen is schrapt nt de hochdütsche Schöttel,
nt den plattdütschcn Pott nn den messingschen Ketcl".
Der Zusammenhang dieses Titels mit dem Wnrzelwort
„scharren" ist offenbar. Sollte die von Trstenjak angegebene
Bedeutung richtig sein, so könnte das Wort einen Menschen
bedeuten, der planlos allerlei zusammenscharrt, selbst das,
was zur Erreichung eines bestimmten Zieles nicht erforder-
lich ist. Das Reimwort Schurrmurr erinnert an ähnliche
Bildungen wie: Hackmack, Ruckediguck, Papperlapapp, Hiukc-
piilke, Hullerbullcr und ähnliche, die im Deutschen ungemein
häufig, in den slavischen Sprachen äußerst selten sind.
10. „Tschogkl — Holzschuh (slov. cokel)". — Die Schreib-
weise Tschogkl ist seltsam, weder slavisch noch deutsch, noch
selbst slovenisch. Denkt man sich an Stelle des Tsch ein
bloßes Sch, an Stelle des gk ein ch, so erhält man ein
leichtverständliches Schuchel — Schuh. Sollte Trstenjak das
Wort mit slovenischen Ohren gehört haben? oder hat gar unser
deutsches Wort Schuchel oder Schuckel mit der slavischen
Schreibung cokel Eingang ins Slovenische gefunden?
11. „Tschore — Närrin (slov. cura)". — Im Poln.
kommt ein Wort czurylo = Schwindelmacher vor. Eine
zwingende Notwendigkeit, das Wort Tschore aus dem Slov.
abzuleiten, kann doch aber nur dann anerkannt werden, wenn
die Ableitung aus dem Deutschen unmöglich ist; Schurre
aber ist ein in vielen deutschen Dialekten, z. B. auch im
Berliner, vorkommendes Wort, das ein weibliches Wesen be-
deutet, welches beim Gehen nicht die Füße hebt. Daß man
in andern Gegenden diese Vorstellung auf die Geistesver-
fassung eines solchen Menschen überträgt und ihn damit als
närrisch bezeichnet, kann nicht wunder nehmen.
So sind denn von den 19 vermeintlich slavischen Wörtern
11 ganz entschieden nicht slavisch; die übrigen richtig zu
stellen, kanu ich um so eher unterlassen, als ich sehe, daß auch
die außer Trstenjak angeführten Forscher mit recht leichtem
Rüstzeug und mit sehr unzuverlässigen Mitteln sich an ihre
Arbeit gemacht haben müssen. So will Dr. Val. Hintner
„Pol (Pöllc)" für Hügel mit einer abschüssigen Wand von
slav. polje = hügelige Gegend ableiten. Welches Wörter-
buch mag dieser Forscher benutzen?! polje hat im Altslav.
diese Bedeutung gar nicht, sondern heißt das flache Feld,
und dieselbe Bedeutung hat auch das entsprechende russische
und polnische Wort; ja die Polen haben davon ihren Namen
als Bewohner des Flachlandes erhalten. Hat also Poll,
Pölle wirklich die ihm zugeschriebene Bedeutung, so kann es
unmöglich mit polje, Feld, zusammenhängen, eher müßte man
vermuten, daß es eine dialektische Nebenform zu puhil,
althochd. Bühl — Hügel, sei, wenn nicht die Erwägung,
daß unser slav. Forscher vielleicht nicht richtig gehört oder
geschrieben habe, zur Vorsicht mahnte.
Braucht man somit, wie Trstenjaks und Dr. Hintners Bei-
spiel beweisen, keine gründliche Kenntnis der slavischen Sprachen,
um derartige Sprachforschung zu treiben, so beweist uns ein
andrer von Bidermann erwähnter Schriftsteller, L. Hübner,
daß man sogar ohne Kenntnis der deutschen Grammatik alls-
kommen kann. Ans S. 294 heißt cs nämlich wörtlich:
„Zu Ende des 18. Jahrhunderts waren im unmittelbar
an die Jselregion grenzenden Nachbarlande noch Ausdrücke
wie: Fempitzen für Flimmern, Gamitzen für Gähnen, Garitzcn
für Wimmern, Maulitzen für Zanken, Narritzen für Foppeü,
Napfitzen für Schlummern, Rankitzen für Jammern — gang
(so!) und gäbe. Ist gleich die Wurzel dieser Wörter nur
ausnahmsweise slavisch, so verrät doch die Endung große
Vertrautheit mit slavischen Sprachformen und die Hinneigung
zum Gebrauche derselben".
Hier wird also die in den verschiedenen slav. Sprachen
vorkommende Infinitiv-Endung — iti, ic (itsch) u. s. w. für
die Ouelle der deutschen Endung — itzcn gehalten, während
man sich aus Grimms Grammatik II, S. 216 ff. leicht
überzeugen kann, daß — itzcn eine urdcutsche Endung ist, im
Got. — atjan, im Althochd. —azan, Neuhochd. —zcn oder
—ßen, ill den verschiedenen neuhochd. Volksmnndarten —atzen,
oder — itzcn heißt und zur Verstärkung des der Wurzel an-
haftenden Begriffes dient. So entsteht neuhochd. drucksen
aus druckizen, ächzen aus althochd. achazan, später acliizau.
Ebenso sind gebildet grunzen, krächzen, schluchzen, schmatzen,
und Grimm führt Grammatik II, S. 219 mehr als 40
solcher Wörter aus den verschiedensten Gegcliden Deutsch-
lands an, selbst aus solchen, wo man slavische Wörter gar-
nicht aussprechen kann.
Also Maulitzen, Narritzen, Napfitzen, (Verstärkungswort
zu napfen, südd. — schlummern) u. s. w. verraten durch ihre
Endung keine Vertrautheit mit slav. Sprachformen, auch
keine Hinneigung zum Gebrauch derselben, und der Versuch
der slov. Forscher, zu beweisen, wie tief das Tiroler Deutsch
mit slav. Wörtern durchsetzt sei, ist gründlich fehlgeschlagen;
ja wenn wir von ihren Voraussetzungen aus rückwärts
schließen, kommen wir sogar zu einem für die Herren viel-
leicht sehr wenig angenehmen Ergebnis: sie sagen selbst, daß
die Wörter Bisen, Pieschen, Britsch, schmöchen, Kauder u. s. w.
in dem Slovenischen, das an den Grenzen Tirols gesprochen
wird, vorkommt. Da nun diese Wörter nicht slavischer,
sondern deutscher Abkunft sind, so haben die Herren Trstenjak,
Hintner und Hübner bewiesen (was allerdings jeder Sach-
kenner längst wußte), daß das Slovenische mit deutschen
Wörtern stark durchsetzt ist. Für die Herbeischaffung der
sprachlichen Beweismittel fühlen wir uns den genannten
Forschern zu Dank verpflichtet.
Zum Schluß sei noch eine Bemerkung über slavische
Musik gestattet. Auf S. 312 wird nach einer Veröffent-
lichung Anton Auers als typisches Merkmal slavischer Be-
völkerung deren „melancholische Gruudstimmung, die sich im
Molltou der von ihnen gesungenen Melodien offenbare", an-
gegeben. Das Charakteristische der slavischen Musik liegt
aber noch vielmehr im Rhythmus und in der Hinneigung
zu weiblichem (d. h. jambischem) Schluß der Strophen.
Das steht im Zusammenhange mit den Betonungsgesetzen.
Die deutsche Sprache zieht, ihrem männlichen Charakter-
gemäß, die männlichen, d. h. mit der betonten Silbe
schließenden Reime vor, daher haben auch die meisten dcutscheu
Lieder wenigstens am Schluß der Stellen oder des Abgesanges
männlich schließende Reimworte, wechseln in einem Gedichte
männliche und weibliche Reime ab, z. B. Befiehl du deine
Wege — kränkt, so stehen fast immer die männlichen Reime
an den geraden Stellen 2, 4, 6 u. s. w. Die dazu gehörigen
Melodien endigen natürlich mit dem sogenannten guten (d. h.
betonten) Taktteil. Als Beispiele führe ich nur an: „Heil
222
Bücherschau.
dir int Siegerkranz", „Steh ich iu finstrer Mitternacht",
„Deutschland über alles", deren letzteres die männlichen
Schlüsse nur an den oben genannten Abschnitten hat. Die
slavischen Sprachen dagegen haben wenig Reimsilben mit
männlichem Schluß; die gepflegteste und litterarisch bedeutendste
derselben, die polnische, verlegt den Ton aller Wörter sogar
iimner auf die vorletzte Silbe. Natürlich folgen die Melodien
und Tanzweisen dieser Betonung und lassen so beim Schluß
der Verse auf die betonte Silbe immer noch eine unbetonte
folgen, d. h. sie bevorzugen in der Dichtung weibliche Reinte,
in der Musik Schlüsse mit dem unbetonten Taktteil. Dies
zeigt sich nicht nur in den Volksmelodien, z. B. „Noch ist
Polen nicht verloren", sondern auch in den Tänzen: der
Krakoviak, die Mazurka und die Polonaise haben in allen
Teilen und Gliedern stets weiblichen Schluß. Ebenso haben
die mir vorliegenden polnischen und oberschlesischen weltlichen
Gedichtsammlungen, Kirchenlieder, Kolcnden n. s. w. fast nur
weibliche Reinte. Daraus lassen sich Schlüsse ans den
Charakter derjenigen Völker thun, welche solche Sprachen ge-
bildet haben, und die von Anton Auer angegebenen Charakter-
eigenheiten der Bewohner des Jselthalcs, „in sich gekehrtes,
zu mystischer Richtung geneigtes Seelenleben, rascher Wechsel
entgegengesetzter Affekte, melancholische Grnndstimmung",
würden sehr wohl mit dem weiblichen Charakter der slavischen
Sprachen übereinstimmen. Ob dieselben aber im Jselthale
wirklich so vorhanden sind, wie Auer es angiebt, daß läßt
sich mit viel größerer Sicherheit aus dem Rhythmus der
Volkslieder als aus dem Mollton der Melodien entnehmen,
denn Melodien in Moll kommen auch bei unsern deutschen
Kirchenliedern vor, z. B. bei den Buß- und Passionsliedern,
da deren Inhalt diese Tonart erfordert; aber kein deutsches
Sieb der Freude kann eine mit dem unbetonten Taktteile
schließende Melodie haben. Kommt einmal zufällig ein der-
artiges Lied etwa in einem Kommersbuche vor, wie z. B.
Arndts „Ans Feuer wird der Geist geschaffen" mit der
Melodie des Lahrer Kommersb. S. 152, so kann man fast
mit Sicherheit darauf schließen, daß die Melodie slavischen
Ursprungs ist , auch wenn sie, wie diese, ans einer Durton-
art geht. Der schwungvolle Text und die weinerliche Melodie
passen herzlich schlecht zu einander. Sängen die Bewohner des
Jselthals nur solche Lieder, so würde das für den slavischen
Charakter seiner Bewohner beweiskräftig sein. Da es aber,
wie ich selbst beobachtet habe, nicht der Fall ist, so hat wohl
der slavische Charakter, falls er überhaupt vorhanden sein
sollte, gerade an der entscheidenden Stelle sich zu bethätigen
vergessen.
L ü ch e r s ch a u.
A. F. W. Schimper, Die indo-malaiische Strand-
flora. Mit 7 Textfiguren, 1 Karte und 7 Tafeln. Jena,
G. Fischer, 1891.
Diese wertvolle und belangreiche Arbeit bildet den dritten
Band von des Verf. botanischen Mitteilungen aus den Tropen,
deren erstes Heft die Wechselbeziehungen zwischen Pflanzen und
Ameisen enthält, während das zweite die epiphytische Vegetation
Amerikas zum Gegenstand hat.
Schon in einem in den Sitzungsberichten der Akademie
der Wissenschaften in Berlin, Bd. VIl, 1880, erschienenen Auf-
sätze „Uber Schutzmittel des Laubes gegen Transpiration, be-
sonders in der Flora Javas", hat Vers, den Inhalt des ersten
Kapitels in abgekürzter Form veröffentlicht und in demselben
eine für die Pflanzengeographie höchst interessante Ansicht aus-
gesprochen, daß nämlich „die Eigentümlichkeiten der europäischen
Hochgebirgsfloren ebenso wie diejenigen der javanischen aus die
durch Luftverdünnung und stärkere Insolation bedingte größere
Transpiration und die dadurch erschwerte Wasserversorgung"
zurückzuführen sei. Bisher hat man die geringe Größe der
alpinen Pflanzen, ihre bedeutende Wurzelbildung, ihre Dick-
blütterigkeit und Behaarung lediglich als Folge der niederen
Temperatur aufgefaßt. Da diese Eigenschaften der alpinen
Gewächse aber in ähnlicher Weise bei einer nahezu konstanten
Temperatur in Java auftreten, so müssen noch andre Gründe
für dieselben maßgebend sein. Diese liegen nach Ansicht des
Vers, in den Schutzmitteln gegen Transpiration.
Nun ist cs bekannt, daß viele Meeresstrandpflanzcn
(Halophyten) durch ihren fleischigen Wuchs uud ihre starke
Behaarung den Alpenpflanzen ähnlich sind, und daß die Strand-
flora eines Landes oft mit der alpinen Flora desselben manche
Arten gemeinsam hat, welche den Zwischcnrcgionen fehlen.
(Nach des Vers. Beobachtung in Südamerika und Südasicn
verhalten sich auch die tropischen Epiphytcn wie die alpinen
Pflanzen.) Sie zeigen daher dieselbe gemeinsame EigcntUmlich-
keit; sie haben nämlich durch ihre ungünstige Wasserversorgung
(bie Strandpflanzen infolge des Salzgehaltes) wesentlich gleiche
Schutzmittel gegen die Transpiration erworben und können in-
folge dieser Eigenschaft sowohl den Mceresstrand, wie die
Alpenregion bewohnen.
Daß Pflanzen trockener Standorte gegen Wasserverlust
geschützt sind (;. B. durch geringe Oberfläche, wenig Jnter-
zellularrüume, tiefe Spaltöffnungen, starke Behaarung, Wachs-
und Harzüberzüge, holzige Stengel und fleischige Stempel und
Blätter) ist bekannt; es ist aber das große Verdienst des Verf.,
nachgewiesen zu haben, daß solche Schutzmittel allen Pflanzen
zukommen, welche dauernd oder periodisch gegen erschwerte
Wasserversorgung zu kämpfen haben, möge die Ursache der
letzteren in Trockenheit der Atmosphäre und des Bodens, wie
bei den Steppen- und Wüstenpflanzen, in kräftiger Insolation
und Lustverdünnung, wie bei ben Alpenpflanzen, in Salzreich-
tum des Substrates, wie bei den Strandpflanzen oder in zu
niederer Temperatur zu suchen sein. Diese Beobachtungen uud
Entdeckungen des Verf. sind für die Pflanzengeographie von
größtem Interesse und von weitragender Bedeutung.
Es ist hier nicht der Ort, die zahlreichen Beobachtungen
und Versuche des Verf. näher darzulegen, welche zeigen, daß
der Salzgehalt des Bodens eine Abnahme der transpirierenden
Oberfläche, eine Verdickung der Blätter und eine Verkleinerung
der Jnterzellularräume iu den Pflanzen bewirkt; wir können
auch auf den Charakter der im zweiten Abschnitt des Buches
behandelten indo-malaiischen Strandformatiouen nicht näher
eingehen (Mangrove-, Nipa-, Barringtonia-, Pescaprae-
Formation), von denen vorzüglich die dritte durch die weite
geographische Verbreitung ihrer Formen ausgezeichnet ist,
während die vierte durch das Vorkommen von Salsola kali
und Portulaca oleracea eine Ähnlichkeit mit unsrer euro-
päischen Strandformation zeigt.
Die im dritten Abschnitt gegebene systematische Zusammen-
stellung der indo-malaiischen Strandflora enthält 337 Arten.
Unter ihnen befinden sich keine Kryptogamen. Verf. bemerkt
ganz richtig, daß die Moose salzfeindlich sind. Da wir aber
in Europa ein entschieden halophylcs Moos, die Pottia Heimii
Fftrnr. besitzen, welches außer am Meeresstraude auch an den
Salinen des Binnenlandes, sowie in den Alpen bei 1800 in,
ferner in Nordamerika und am Kap Horn vorkommt, so dürften
vielleicht auch noch weitere halophyle Moose in den Tropen zu
finden fein.
Die Verbreitungsweise der indo-malaiischen Strand-
gewächse ist im vierten Abschnitt behandelt. Verf. findet die
Thatsache bestätigt, daß viele Strandpflanzen große Areale
bedecken. Dies ist mit 89 Arten, also einem Viertel der indo-
malaiischen Strandflora, der Fall und findet seine Erklärung
in der leichten Verteilungsweise der Früchte und Samen bei
den betreffenden Arten. Vögel und Wind tragen nur wenig
zur Ausbreitung derselben bei, desto mehr die Meeresströmungen.
Die Früchte und Samen der betreffenden Pflanzen erhalten
nämlich durch große, luftführende Hohlräume, oder durch
schwammige Samenkerne, oder durch luftführendes Schalen-
gewebe eine große Schwimmfähigkeit, so daß sie oft Monate
lang im Wasser liegen und von Meeresströmungen fortgetragen
werden können. So kommt es, daß nicht nur die ostasiatische
Strandflora vom Golf von Bengalen durch den malaiischen
Archipel bis zur Nordostküste von Australien große Ähnlichkeit
zeigt, und daß neuentstehcnde Inseln sehr bald mit derselben
bedeckt erscheinen; die Früchte und Samen werden selbst durch
die westliche Meeresströmung an die Küste des tropischen West-
afrikas und nach Madagaskar geschwemmt, so daß daselbst
29 Arten der indo-malaiischen Strandflora vorkommen, und
223
Büch
vorzüglich die Mangroven beider Landstriche sehr ähnlich er-
scheinen, wie dies auch in bezug auf die Strandflora von West-
afrika und Westindien der Fall ist.
Im fünften Abschnitt: „Zur Entwickelungsgeschichte der
indo-malaiischen Strandflora" bespricht Vers, den wechselseitigen
Austausch zwischen halophytischcn und nichthalophytischen For-
mationen, den abgesonderten Charakter der Mangrove und das
Kolonisieren der übrigen Formationen durch Binnenlandformen
und zeigt die Bedeutung der Anpassung für die Entstehung
und Differenzierung der Sippen. Auch auf diesem Gebiete
bringt der Vers, neues, indem er zeigt, daß die durch eine
besondere Struktur erzeugte Schwimmfähigkeit der Früchte und
Samen, sowie die Reduktion des Pappus der Strandkompositen
als Anpassungen aufzufassen sind. Da die Meeresströmungen
ein ungleich wirksameres Verbreitungsmittel für die betreffenden
Pflanzen sind als der Wind, so erscheinen diese Eigentümlich-
keiten als Anpassungen, die für die Pflanzen von großem
Nutzen sind und die weite Verbreitung derselben erklären.
Darmstadt. Dr. I. Roll.
Wilhelm Götzingcr, Die r o m a n i s ch e n O r t s n a m e n d e s
Kantons L>t. Gallen. Freiburger Dissert., St. Gallen
1891. 91 S. Mit Karte.
Der Vers, der vorliegenden Arbeit hat sich nicht bloß auf die
etymologische Seite der Ortsnamcnforschung beschränkt, sondern
bei seinen Untersuchungen auch allgemeine Gesichtspunkte im
Auge behalten; dadurch ist seine Untersuchung für den Geographen
und Historiker wie für den Romanisten von gleichem Interesse.
Der Kanton St. Gallen gehört heute seinem ganzen Um-
fange nach dein deutschen Sprachgebiete an. Das war aber
vor einem Jahrtausend anders; in den ersten Jahrhunderten
unsrer Zeitrechnung bildete Graubünden, die Umgebung des
Walensees und das St. Gallische Rheinthal bis zum Bodcnsee
mit dem größten Teil von Bayern und Tirol die römische
Provinz Rätien. In Graubündeu hat sich die rätoromanische
Sprache bis aus den heutigen Tag behauptet; aber im 9. Jahr-
hundert wurde sie selbst noch im Vorarlberg geredet, und in
der Gegend des Bodensees und von St. Gallen hat sie, wie
Adolf Holtzmann und Gaston Paris nachwiesen, bis ins 10. Jahr-
hundert fortgelebt.
Zuerst wurden naturgemäß die Flußthäler und Niederungen
von den vordringenden Alemannen besetzt; das rätische Ge-
ll irgsland stand noch im 0. Jahrhundert unter römischer
Herrschaft, und hier haben sich demgemäß die romanischen Orts-
namen am zahlreichsten erhalten. Aus der sorgfältig aus-
geführten Karte, welche der Arbeit Götzingers beigegeben ist,
geht dies hervor. Murg-, Tamina- und Calfeisenthal weisen
40 bis 50, das Gebiet der Grauen Hörner und das westlich
davon bis zur Glarner Grenze sogar 50 und mehr Prozent
romanische Ortsnamen auf. Je weiter wir aber nach Norden
kommen, um so spärlicher werden sie. Eine sehr scharfe Grenze
bildet in dieser Beziehung der Kamm der Kurfirsten; nördlich
derselben nimmt die Zahl der romanischen Ortsnamen plötzlich
sehr stark ab. Als nördlichste Grenze im Rheinthal ist der
Hirschensprung bei Rüti anzusehen; im Nordwesten bildet der
Alpstein eine natürliche Scheide.
Einen Beweis für die ursprünglich romanische Bevölkerung
dieser Gegenden liefern auch die Namen Walensee, Walen-
stadt u. a. m., welche mit dem ahd. mhd VValh, Walch —
Wülscher, Romane zusammenhängen. Freilich kann ich der An-
sicht des Vers, nicht veistimmen, wonach „zur Zeit der Gründung
dieser Ansiedelungen das Bewußtsein im Volke noch deutlich
vorhanden war, daß hier einst Romanen gesesseil hätten"
(S. 83). Es dürfte doch wohl wahrscheinlicher sein, daß diese
Orte ihre Namen von den germanischen Nachbarn empfingen.
Die deutschen Anwohner des Züricher- oder Bodensees nannten
jenen mitten im wälschen Gebiete gelegenen See Walensee und
die anliegende Stadt Walenstadt, und als sie später die Romanen
hier verdrängten, blieven die Namen an den Plätzen haften.
Bei seinen etymologischen Untersuchungen stützt sich der
Vers, nicht bloß auf die alten Urkunden und die topographische
Karte, sondern vor allem auch auf den persönlichen Augenschein
der Gegend und das Hören der Namen aus dein Munde der
Eingcborneu. Das sollte bei allen derartigen Forschungen noch
viel mehr beachtet werden als es meist geschieht. Von den
410 Namen, welche der Vers, ctyinologisch untersucht hat, seien
hier nur einige der bekanntesten genannt. Die zahlreichen
Schweizer Bergnamen mit Furka, Furkla, Fuocla, Furgglen,
Furkelen u. s. w. gehen sämtlich auf lateinisch furca, furcula
(rätoromanisch fuorcla) zurück, welches „Bergsattel, Engpaß"
bedeutet; vergleiche die t'urculac Caudmae, den bekannten
Engpaß in Samnium (S. 25 f.). Ragaz, der Name des viel
rschau.
besuchten Kurorts, stammt entweder aus runcatia, mucama
von runcus „Reute", (in welchem Falle es dem deutschen Roda,
Rüti, Rütli entspräche), oder aus rucalia von ruca — Raute,
wo es also Rautenfeld bedeuten würde (S. 43). Das benach-
barte Bad Pfävers wird dementsprechend vonkabaria „Bohnen-
feld" (von f'aba Bohne) abgeleitet (S. 70). Der Name der
Kurfirstenkette hat natürlich mit Kurfürsten nichts zu thun,
sondern bedeutet die Firsten gegen Kurwelschland (S. 53).
Davos (in Urkunden Davos casas) ist ein häufiger Orts- und
Flurname in Graubünden und wird abgeleitet von de abvor-
sum = hinter, hinten (S. 53). Der Name Säntis geht auf
ein älteres Sämbtis zurück, und dieses ist aus den urkundlich
bezeugten Formen alpi8 Sambatina (1155), mons Sambiti
(808) entsprungen. Ein Alpgut im Säntisgebirge heißt noch
heute Sämbtis (S. 74). Uralt ist der Name des Flüßchens
Sar. Er ist nicht romanisch, sondern gemein-indogermanisch
und jedenfalls identisch mit dem deutschen Saar. Es scheint
ein altes Wort für Fluß zu sein. Der Name findet sich noch
in den zusammengesetzten Ortsnamen Sarbach, -boden, -fall,
-gans, -mühle. In Sargáns möchte Götzinger den zweiten
Teil mit dem lateinischen campus zusammenbringen, welches
in rätoromanischen Ortsnamen sehr häufig als gams auftritt
(S. 74 ff.). Die Tamina erscheint in den ältesten Urkunden
als Tuminga, Tumin, Tymminen. Der Name dürste wohl
mit der Wurzel tu-, lateinisch tumere — schwellen zusammen-
hängen (S. 79 f.). Belangreich sind die Namen der Ortschaften
Prüms ch, Seguns, Terzen, Quarten, Quinten am
oder in der Nähe des Walensees. Die Zahlenbenennungen
beginnen von Osten, von der Gegend von Flums her. Wahr-
scheinlich dienten sie zur Benennung der Besitzungen eines
weltlichen oder geistlichen Grundherrn zu einer Zeit, als diese
Gegenden noch unbenannt und nicht mit Häusern besetzt, sondern
unbebaute Weideplätze waren. Möglich, daß sie der Abtei
Pfävers angehörten, in der noch im 12. Jahrhundert ausschließlich
romanisch gesprochen wurde (S. 392 f.).
Soviel aus dieser gründlichen nnd gewissenhaften Arbeit,
die auch in ihrer äußeren Ausstattung einen sehr vorteilhaften
Eindruck macht. Es wäre jedenfalls lohnend, wenn der Verf.
in einer weiteren Arbeit seine Untersuchung auch auf die
übrigen rätoromanischen Gebiete der Schweiz ausdehnen würde.
Dr. I. Hoops.
L. Friederichseu, Die deutschen Seehäfen. Ein praktisches
Handbuch für Schiffskapitäne, Rheder, Assekuradeure, Schiffs-
makler, Behörden re. Hamburg 1889 und 1891.
Die Absicht des Herausgebers, ein Handbuch über die
deutschen Seehäfen zu schaffen, welches als Ergänzung des
Werkes von Jülss und Balleer: „Die wichtigsten Seehäfen der
Erde", dienen könne, ist in ganz ausgezeichneter Weise erreicht
worden. Der erste Teil des Werkes erschien bereits 1889 und
enthält die Häfen, Lösch- und Ladeplätze an der deutschen Ost-
seeküste; der 1891 erschienene zweite Teil bringt dieselben Nach-
weise für die deutsche Nordseeküste. Vorangestellt wurden die
gesetzlichen Bestimmungen, welche auf alle Seehäfen des Deutschen
Reiches Anwendung finden und internationales Interesse haben,
darunter auch Angabe der Wettersignale und ein Verzeichnis
der Rettungsstationen an den deutschen Küsten. Es sind ferner
die Wasserstandssignale angegeben. Die Beschreibung der Häfen,
angefangen von den nördlichsten Häfen in Schleswig und daun
fortlaufend einerseits bis zur russischen Grenze, andrerseits zur
holländischen Grenze, ist eine äußerst sorgsame. Außer der An-
gabe von geographischer Breite und Länge, sowie der Einwohner-
zahl des Wohnplatzes ist der Schiffsbestand und der Schiffs-
verkehr genau verzeichnet, ferner treffliche Mitteilungen über die
hydrographisch-nautischen Verhältnisse, über Lootjeuwesen, zoll-
amtliche Behandlung, Schleppdienst, Hafenreglement, Schiffs-
unkosten, Anstalten für Schiffsreparaturen, Konsulate, Schiffs-
makler uitd Seeversicherungsgesellschasten. Die besten offiziellen
Quellen liegen der fleißigen Arbeit zu Grunde, das Heranziehen
vieler Daten erforderte jedoch außerdem eine sehr ausgedehnte
Korrespondenz und auch vielfach Studien an Ort und Stelle.
Als Seehäfen, Lösch- und Ladeplätze wurden sämtliche in den
letzten Jahren in der amtlichen Statistik der Seeschifffahrt ver-
zeichneten Ortschaften aufgenommen. ~ Plätze, welche in den
letzten Jahren von keinem einzigen Seeschiffe besucht worden
sind, wurden fortgelassen. Von den beigegebenen Plänen und
Karten bieten besonderes Interesse die Üversichtskarte der Elbe
von Bunthaus bis Cuxhaven 1:150000; der Plan des Hamburger
Hafens 1:10 000; Karte der Unterweser von Bremen bis
Bremerhaven 1:100000. Das Werk ist gleich wertvoll für alle
Verkehrsbeteiligten und Beamten, aber auch dem Geographen
>vird es ein schätzenswertesNachschlagebuch sein! A. Seobel.
224
Aus allen Erdteilen.
Aus allen
— Über die geheimnisvolle Expedition der eng-
lischen Nigergesellschaft nach Kllka 511111 Sultan von
Bornn ist jetzt ein Bericht erschienen („Times", 14. Sept.),
welcher sich durch eine ganz ungewöhnliche Unkenntnis
afrikanischer Forschungsgeschichte auszeichnet. Wenn uns
dort erzählt wird, „daß das Land zwischen Bornn und dem
Tsadsce völlig unbekannt ist" und wir hören müssen, „daß
seit Barth in Kuka kein Europäer wieder gesehen worden
sei", so vermögen wir die Geographen der Royal Niger
Company nur mitleidig zu belächeln.'
Was die Gesandtschaft zum Sultan von Bornn anbetrifft,
von der es heißt: scientific ofiservations of tlie country
were taken on tlie way, so wurde dieselbe von Herrn
Charles Macintosh geführt und bestand aus 300 Trägern.
Ausgangspunkt war Ribago am Benne, von wo die Karawane
im Oktober 1890 aufbrach und in nördlicher Richtung nach
Kuka am Tsadsee gelangte, dessen Einwohnerzahl auf 120 000
angegeben wird (Nachtigal, der 1870 dort war, giebt ihr nur
60 000). Die „Gesandtschaft" wurde gnädig vom Sultan
empfangen, wiewohl infolge des mahdistischen Aufstandes
und der Einwirkungen der Senussim der mohammedanische
Fanatismus stark entstammt war und Furcht vor den Euro-
päern herrschte. Dieses machte die Unterhandlungen schwierig,
der Sultan schickte alle Geschenke, die er anfangs ange-
nommen, zurück und bat die Engländer, abzureisen. Dieses
geschah auch, der Vertrag, den Macintosh dem Sultan vor-
gelegt hatte, wurde nicht unterschrieben. Die Royal
Niger Company tröstet sich mit den gewonnenen Erfahrungen.
— In Dentsch-Ostafrika haben die Küstenplätze seit
der Besitzergreifung durch Deutschland durchweg ein andres
Gepräge erhalten und cs sind dort so bedeutende K ul tur-
fortschritte zu verzeichnen, daß nur ein Blinder sie nicht
begreift: „Niemand, der die früheren Verhältnisse in Ost-
afrika gekannt, wird jenen Männern die höchste Achtung versagen
können, welche in dem kurzen Zeitraum von einem Jahre
ein so bedeutendes Kulturwerk geleistet haben." Diesen Aus-
spruch thut der ebenso erfahrene als nüchterne Dr. Oskar
Baumann in seinem neuen Werke „Usambara" und er zeigt
dieses an den Zuständen des nördlichsten deutschen Hafens,
Tanga, wo schon 25 bis 30 Europäer wohnen. Das deutsche
Fort dort mit bequemer Treppe zum Strande hin, ist mit
steinernen Vorwerken versehen und hat eine mit Geschützen
besetzte Umfassungsmauer. Im Innern erheben sich zwei
größere Gebäude, eines davon für die Offiziere bestimmt,
„ein prächtiges, in geschmackvoll maurischem Stile erbautes
Hans mit luftigen Zimmern und einer schönen Veranda,
von welcher man einen herrlichen Blick ans die Tangabai
mit den reizenden Jnselchen genießt. Ein besonderer Glanz-
punkt ist die Messe, ein freundlicher mit Flaggen und male-
rischen Palmwedeln geschmückter Raum. Wer dort einmal
mit den liebenswürdigen Offizieren an weißgedeckter Tafel vor-
trefflich gespeist und mindestens ebensogut getrunken hat, der muß
zugeben, daß es sich unter solchen Umstünden auch in Afrika
leben läßt. Freilich der Dienst muß auch hier strenge ein-
gehalten werden. Beim ersten Strahl der Sonne hört mau
den Hornisten die Tagewache blasen und bald darauf rückt
ein Offizier mit den Suaheli- und Sudanesensoldatcn auf
den neben der Station gelegenen Exerzierplatz oder ins Freie
hinaus zu Gefechtübnngen, oder aber nach dem unweit der
Stadt errichteten Schießstand. In den Morgenstunden ver-
läßt auch der Stationschef das Fort und begiebt sich nach
Erdteilen.
einer Palmengruppe, wo ihn schon der arabische Bali des
Ortes und meist zahlreiche Eingeborene erwarten. Dort wird
oft bis in den hellen Mittag hinein regiert, d. h. in Streit-
fällen entschieden, Gericht gehalten und in politischen Fragen
die Entscheidung gefüllt. Missethäter werden in den Arrest
gesetzt oder bekommen meist kurzer Hand ihre wohl verdiente
Tracht Prügel."
Wie überall in neuen Kolonieen, tauchen auch hier schon
fragwürdige Gestalten und Glücksjäger auf, welchen die
Heimat nichts mehr bietet. Selbst „Goldgräber" sind dort
schon ausgetreten. Der Typus des deutschen Weltbummlers
in Tanga ist der Kilimandscharoschuster, der schon alle
Länder und Meere befahren hat und nun nach dem Kilima-
ndscharo wandern und dort Pflanzungen anlegen wollte.
Dazu kam er aber nicht und er blieb in Tanga, wo er die
Stiefel der Sudanesensoldaten flickt und sich gar nicht schlecht
dabei steht. Daß an einem Orte, wo über 20 Deutsche
leben, auch ein Bierwirt nicht verhungern würde, war an-
zunehmen. Die Bierwirtschaft nahm dort ein Grieche in
die Hände, denn seit 1888 begann dieses betriebsame Volk
sich auch über Ostafrika auszudehnen. Der Grieche trat
sein Geschäft an einen Deutschen ab, der auch schon viel in
der Welt mitgemacht, bevor er in den Bierhafen von Tanga
eingelaufen. Unter der Veranda seiner Lehmhütte kann man
oft die Unteroffiziere fröhlich beisammen sehen, während die
Honoratioren ihr Bier meist in einer Laube im „botanischen
Garten" trinken.
— Gold in Korea. Der britische Konsularbeamte
Campbell hat größere Reisen in Korea gemacht und dabei
auch die Goldfelder des Landes besucht, über deren Vorhanden-
sein wir bisher nur durch die Ausfuhr von Goldstaub unter-
richtet waren. Nach seinem Bericht sind dieselben sehr zahl-
reich ; sie werden aber in sehr unvollkommener Art nach alter
Weise bearbeitet. Campbell meint, daß dieselben, nach neuer
Methode ausgebeutet, zu einer der reichsten Goldqnellen der
Erde gemacht werden können.
— Eisenbahnen in Japan. Die Hauptinsel Hondo
ist jetzt fast ihrer ganzen Länge nach von Eisenbahnen durch-
zogen, denn am 16. August d. I. wurde die letzte Bahnstrecke
nach Norden hin zum Hafen Aomori eröffnet. Nur an dem
südwestlichen Ende der Insel, in der Provinz Sanjodo, sind
noch einige Strecken zu vollenden und die Lokomotive durch-
läuft dann die ganze Hauptinsel. Welche bedeutende Leistung
dieses ist, erkennt man daran, daß von der Hauptstadt Tokio,
die so ziemlich iu der Mitte der Ostküste liegt, der Zug
24 Stunden nach Norden und 24 Stunden nach Süden
braucht, um das Nord- oder Südende von Hondo zu erreichen.
Ans der Nordinsel Jesso giebt es schon seit längerer Zeit
eine Bahn und auf der Südinsel Kiuschiu ist eine solche im
Bau begriffen.
— Britisch - Nordborneo erfreut sich einer günstigen
Handelsentwickelung. Die iu der Hauptstadt Sandakan er-
scheinende amtliche Zeitung brachte kürzlich die Einfuhr- und
Ausfuhrlisten der letzten sechs Jahre, die eine große Steige-
rung aufweisen. Die Einfuhren im Jahre 1885 betrugen
648 319 Dollars; sie stiegen 1890 auf 2 018089 Dollars.
Die Ausfuhren stiegen in denselben Jahren von 401641
Dollars auf 901290 Dollars. Eingeführt wurden besonders
> Stoffe, Reis und Geld; ausgeführt Tabak, Nutzhölzer und Geld.
Herausgeber: Dr. R. Andrer in Heidelberg, Leopoldstraße 27.
Druck von Friedrich View eg und Sohn in Braunschweig.
Bd. LX
Nr. 15
Braunschwei g.
Jährlich 2 Bände in 24 Nummern. Durch alle Buchhandlungen und Postanstaltcn
zum Preise von 12 Mark für den Band zu beziehen.
1891.
Zu Virchorvs siebzigstem Geburtstage.
Von Dr. R. Neuhauß in Berlin.
Am 13. Oktober dieses Jahres feiert Rudolph Virchow
seinen siebzigsten Geburtstag. Geboren 1821 zu Schievcl-
bcin in Pommern, stn-
dierte er in den Jahren
1839 bis 1843 zu Berlin
Arznciwissenschast, wurde
1844 Frorieps Assistent,
zwei Jahre später dessen
Nachfolger und habili-
tierte sich 1847 an der
Berliner Universität.
Wegen seiner Beteiligung
an den politischen Un-
ruhen des folgenden Jah-
res wurde er gezwungen,
sein Lehramt niederzu-
legen; er folgte 1849
einem Rufe an die Uni-
versität Würzburg. Jener
Zeit entstammt ein Bild,
welches in nebenstehender
Zinkätzung wiedergegeben
ist. Dasselbe wurde von
dem bekannten Maler
und Kunstkritiker Ludwig
Pietsch, nach einer Da-
guerreotypie ans den Stein
gezeichnet. Obgleich 42
Jahre darüber hingingen
und das Fehlen des Bar-
tes befremdet — Virchow
trug damals, wie er
jüngst scherzend bemerkte,
die bartlose Tracht der
Demokraten —, so sind
doch die Züge des Greises in denen des jungen Mannes
unschwer zu erkennen, vor allem der fein geschnittene Mund,
die charakteristisch gebogene Nase und die hohe Stirn.
A
Rudolf Virchow int Jahre 1849.
1856 kehrte Virchow als ordentlicher Professor und
Direktor des neu errichteten pathologischen Instituts nach
Berlin zurück. Seitdem
gehört er ununterbrochen
dem Lehrkörper der Ber-
liner Universität an. Es
ist nicht unsre Aufgabe,
die einzelnen wissen-
schaftlichen Arbeiten des
Jubilars aufzuzählen und
nach ihrem Verdienste zu
würdigen. In der Natur
der Sache liegt es, daß
die Mehrzahl dieser Ar-
beiten sich auf dem Ge-
biete der Medizin, vor-
wiegend der pathologischen
Anatomie bewegt. Ge-
hört doch auch hierher
sein bedeutendstes Werk,
die Cellularpathologie, in
der er die pathologische
Forschung auf das letzte
Formclement aller leben-
digen Erscheinung, auf
die Zelle, als ihr Ziel
hinwies.
Obgleich diese Werke
so umfangreich sind, daß
sie vollauf genügten, ein
langes, arbeitsames Leben
auszufüllen, so erstreckte
sich doch der Wirkungs-
kreis des Gelehrten weit
über die Grenzen seines
eigentlichen Berufes hinaus. Er entwickelte auf verschie-
denen andern Gebieten der Wissenschaft eine so rege und
von reichsten Erfolgen gekrönte Thätigkeit, daß es schwer
Globus LX. Nr. 15.
29
226
Dr. N. Neuhauß: Zu Virchows siebzigstem Geburtstage.
hält zu sagen, wo seine Erfolge die größten waren. Eine
Hauptanziehungskraft übte auf ihn der Mensch in seinem
Urzustände, wie er noch heute an vereinzelten, entlegenen
Teilen unsers Planeten wohnt, oder wie ihn der Staub von
Jahrhunderten und Jahrtausenden deckt. Wir erinnern nur
an seine Schriften über die Pfahlbauten, an die endlose
Reihe von Untersuchungen vorgeschichtlicher Gräber und
Fundstätten, an die mit genauesten Messungen einh ergeh en-
den klassischen Beschreibungen der Vertreter unzivilisierter
Völkerstämme, welche im Laufe der letzten Jahrzehnte nach
Europa gebracht wurden.
Virchow besitzt in seltenem Maße die Fähigkeit zu sehen.
Wer aufmerksam seine Arbeiten verfolgt, erstaunt über den
Scharfblick, mit welchem er die scheinbar nebensächlichsten
Dinge gewahrt und bei der Abgabe des Gefamturteils ver-
wertet. Nicht ohne Komik war die Verblüfftheit der
schweizerischen Altertumsforscher, als er zu Marpnch das
älteste schweizerische Haus mit der Jahreszahl 1346 ent-
deckte. Wie viele mit zwei Augen behaftete Schweizer und
Ausländer niögen wohl vor ihm an diesem Hause vorüber-
gegangen sein, ohne die so merkwürdige Zahl zu sehen?
Virchow legte nicht allein selbst überall Hand an, wo
es galt, Verborgenes ans Licht zu ziehen und das Vor-
handene nach allen Seiten hin zu Prüfen. Er verstand es
auch, wie wenige vor ihm, andre zum Forschen anzuregen.
Sein bedeutsamstes Werk in dieser Richtung war die Be-
gründung der Berliner Gesellschaft für Anthropologie, Ethno-
logie und Urgeschichte (1869). Er zog einen Kreis gleich-
gesinnter Männer herbei, die sich zufammenthaten, um das
in allen Weltgegenden zerstreute Material zu sammeln und
allerwärts den Anstoß zu weiteren Untersuchungen zu geben.
Die gegenwärtig über 600 Mitglieder zählende Gesellschaft,
welcher Namen vom besten Klange aus allen Zweigen der
Wissenschaft angehören, häufte unter Virchows Leitung in
ihrer Zeitschrift ein unglaublich umfangreiches Material an.
Beim Durchblättern der Jahrgänge sehen wir mit Staunen,
was ein einzelner Mann auf einem Gebiete zu leisten ver-
mag, das er der Natur der Sache nach nur in seinen Muße-
stunden bearbeitet. Da ist kein Band, welcher nicht die
reichste Fülle von selbständigen Abhandlungen, Referaten,
Kritiken und allen möglichen längeren und kürzeren Be-
merkungen von Virchow enthält.
Von größter Bedeutung war des Gelehrten Einfluß
auf die deutschen wissenschaftlichen Reisenden, welche in den
letzten Jahrzehnten in ferne Länder auszogen. Die über-
wiegend größere Mehrzahl von ihnen verließ die Heimat
nicht ohne seine spezielle Unterweisung, und ohne von ihm
auf besonders dankbare Felder der Untersuchung in den zu
bereisenden Gegenden aufmerksam gemacht zu sein. So blieb
Virchow der geistige Sammelpunkt der im Auslande weilen-
den deutschen Gelehrtenwelt, und diesem Umstande haben wir
es mit zu danken, daß gegenwärtig das Museum für Völker-
kunde in Berlin in bezug auf Mannigfaltigkeit der vor-
handenen Gegenstände in der ganzen Welt unerreicht dasteht.
Durch die Vielseitigkeit seiner Kenntnisse, durch den
regen Verkehr mit Reisenden und Gelehrten aller Länder,
ist Virchow in gewissem Sinne eine wissenschaftliche Central-
stelle für die ganze Welt geworden, so wie es ehedem in
demselben Sinne Alexander von Humboldt war.
Wie entscheidend Virchows Einfluß in einzelnen Gebieten
der Altertumskunde wurde, beweist Schliemann und seine
Ausgrabung in Kleinasien. Als die Kunde nach Europa
drang, daß das homerische Jlios wieder aufgefunden sei,
verlachte und verhöhnte man den unermüdlichen Gräber.
Teils trug daran die Schuld Kurzsichtigkeit unsrer Fach-
gelehrten, welche dem ehemaligen Krämer aus Mecklenburg
solche Thaten nicht zutrauten, teils jedoch Schliemann selbst,
welcher die Schilderungen der homerischen Gesänge allzu
wörtlich genommen hatte. Es ist schwer zu sagen, was
daraus geworden wäre, wenn hier die vermittelnde Hand
unsers Virchow nicht eingriff. Auf Schliemanus Ein-
ladung begab sich Virchow an den Ort der Ausgrabung.
Auf seine Berichte hin verstummten die Spötter und cs
währte nicht lange, bis Schliemanns Verdienste von allen
in gerechter Weise gewürdigt wurden. Schliemanns Dank
war eine Freundschaft, die bis zum Tode währte, und die
Prachtvolle Sammlung aus Troja als Geschenk an das
Berliner Museum. Ohne Virchow wäre dieselbe in London
verblieben, wo sie bereits Bewunderer und eine Heimstätte
gefunden hatte.
Die Gründlichkeit der Forschungen Virchows wird am
besten gekennzeichnet durch seine Stellung zum Darwinismus.
Als die darwinische Lehre ihren Siegeszug um die Erde
hielt und man allgemein annahm, daß nunmehr der Stein
der Weisen gefunden sei, durch den sich alles in der Schöpfungs-
geschichte erklären lasse, gehörte Virchow zu den wenigen,
welche die Sache nüchtern betrachteten. Das in der neuen
Lehre liegende Gute und Wahre anerkennend, warnte er
immer wieder vor dem leichtfertigen Hinwegsetzen über die
größten Hindernisse. In vielen Füllen konnte er nach-
weisen, daß sich die Dinge auch ganz anders erklären ließen,
als sie Darwin und seine Nacheiferer erklärten, daß man
ferner vieles für Merkmale von Affenühnlichkeit angesehen
hatte, was in der That krankhafte Bildung ist. Besonders
unbarmherzig verfuhr er mit jener Klaffe von Feuilleton-
Anthropologen, die in Sonntagsblüttern vor der großen
Menge ihr Wissen und Nichtwissen auskramten.
Der Standpunkt, den Virchow der neu auftauchenden
Darwinschen Lehre gegenüber einnahm, ist derjenige, auf
dem heute so gut wie alle Gelehrten stehen, diejenigen
natürlich ausgenommen, welche, um nicht zu verhungern,
stets phantasievoll schreiben müssen.
Als unvergleichliche Beispiele wissenschaftlicher Behand-
lung des Stoffes im Gegensatze zu den oberflächlichen Fase-
leien andrer nennen wir Virchows Abhandlungen über den
Neanderthal-Menschen und den Kiefer von la Nanlctte. Wie
viele hunderttausend Jahre hatte man dem armen Neandcr-
thaler nicht aufgebürdet und was für ein Ungetüm sollte
der einstige Inhaber jenes rätselhaften Kiefers gewesen sein!
Virchow wies darauf hin, daß die ungewöhnliche Länge des
Neanderthal-Schädels keineswegs einen Schluß auf besonders
hohes Alter zulasse; denn im Kopenhagcncr Museum befinde
sich ein moderner Schädel von einem bekannten dänischen
Edelmanne, welcher in bezug auf Länge, Bildung der Stirn-
teile und mächtige Entwickelung der Augcnhöhlcnrändcr die
auffallendste Ähnlichkeit mit demjenigen aus bcm Neander-
thal aufweist. Auch die Absonderlichkeiten der erhaltenen
übrigen Skeletteile lassen sich zwanglos als krankhafte Er-
scheinungen erklären, ohne daß man gezwungen wäre, von
Affenähnlichkeit zu sprechen. Virchow schließt, daß ein
Individuum, welches trotz überstandener englischer Krankheit,
trotz mehrerer, äußerst schwerer, aber gut verheilter Schädel-
verletzungen, trotz später sich einstellender Gelcnkcntzüngung,
welche den linken Arni unbrauchbar machte, dennoch ein
hohes Greisenalter erreichte, niemals im Zustande affen-
ähnlicher Wildheit, niemals ohne sicheren Familicnverband
und ohne gewisse Seßhaftigkeit gelebt haben kaun.
In gleicher Weise zerrannen unter Virchows Händen
die ungezählten Jahrtausende, welche man dem Kiefer von
la Naulette zugedacht hatte. Der Gelehrte bewies, daß die
angeblichen Merkmale von Affcnähnlichkcit dieses Kiefers
zum Teil bei Affen überhaupt nicht vorkommen, zum Teil
auch recht häufig sich bei andern Menschenkindern finden.
Um falsche Behauptungen mit einer Sicherheit widerlegen
Dr. W. Kobelt: Ghardaja und die Mozabiten.
227
zu können, wie es unser Forscher besonders auf dem Gebiete
der Urgeschichte oft gethan hat, dazu gehört allerdings ein
Wissen, wie es allein Virchow besitzt.
In vorliegender flüchtiger Skizze können wir aus dem
unermeßlich arbeitsvollen Leben des Jubilars nur einiges
Wenige herausgreifen. Der Biograph, welcher des Gelehrten
Schaffen und Wirken einst in seinem ganzen Umfange zur
Darstellung bringen soll, wird bei der Mannigfaltigkeit des
Stoffes einen schweren Stand haben. Bedenken wir, daß
gegenwärtig das Verzeichnis der königlichen Bibliothek in
Berlin nicht weniger als 40 selbständige, zum Teil recht
umfangreiche Arbeiten von Virchow auswerft, daß die von
ihm redigierten oder unter feiner Beihilfe herausgegebenen
Zeitschriften und Archive ein nicht minder reiches, von seiner
Hand herrührendes Material enthalten; bedenken wir ferner-
hin, daß ein großer Teil der Arbeitszeit durch die Thätig-
keit als Universitätslehrer, als Politiker, als Vorsitzender
verschiedener wissenschaftlicher Gesellschaften verbraucht wird,
so staunen wir über die Arbeitskraft, die so Vieles voll-
bringen konnte, und über den Arbeitswillen, der stets mit
neuem Mute an die Lösung neuer Ausgaben ging; wir
begreifen, daß keiner unter den jetzt Lebenden imstande ist,
seinen Platz auszufüllen, und daß man von ihm, wie von
wenigen andern sagen darf:
Es wird die Spur von seinen Erdentagen
nicht in Äonen nntergehn.
GH ardasa und die Mozabiten.
von Dr. w. Aobelt.
Wer jemals Algerien nnd besonders die Provinzen Algier
und Konstantine besucht hat, dem sind neben den Arabern,
den Kabylen und den cingcbornen Israeliten die klugen
Händler aus der Wüste aufgefallen, die auch dem kleinsten
Dorfe nicht fehlen und von denen allein er im Innern die
notwendigsten Bedürfnisse der
Zivilisation erhalten kann,
die Bcni M'zab, oder wie
sie gewöhnlich genannt wer-
den, die Mozabiten. Aus
dem Herzen der Sahara, ans
dem gefürchteten „Lande des
Durstes" kommend, rastlos
arbeitend, um möglichst bald
als wohlhabende Leute dort-
hin zurückkehren zu können,
eine zäh unter sich zusammen-
haltende, cnggeschlossenc Ge-
nossenschaft bildend, die allen
andern Völkerschaften ableh-
nend gegenübersteht und ihnen
doch unentbehrlich ist, auf
Gewinn im höchsten Grade
erpicht, aber auf kaufmän-
nische Ehre haltend, haben
sie sich seit Jahrhunderten in
Nordafrika behauptet, den
Kleinhandel und manche Ge-
werbe geradezu monopoli-
siert; nnd dabei sind sie ihren
Landgenossen jederzeit rätsel-
haft und als Ketzer unheim-
lich geblieben. Nur äußerst
selten ist cs einem Fremden
gestattet worden in die Ge-
biete vorzudringen, wo sie,
gestützt auf ein ausgezeichnetes
Milizsystem, in ihren festen,
ummauerten „Usors" die
Araber wie die gleich räube-
rischen Tuareg in Respekt zu
halten verstanden. Den Deys als Geschäftsleute unent-
behrlich, nnd von ihnen gegen den Fanatismus der Recht-
gläubigen geschützt, haben sie sich durch alle Stürme der
letzten fünf Jahrhunderte behauptet; nach der Eroberung
Algiers haben sic sich alsbald den Franzosen angeschlossen
und mit ihnen als Freiwillige gegen Abd el Kader gefochten,
aber sie haben dabei stets ihre Unabhängigkeit bewahrt und
erst in der neuesten Zeit, als französische Truppen die be-
nachbarten Oasen besetzten, haben sie sich dazu verstanden,
auch in ihrer Heimat die französische Schutzherrschaft an-
zuerkennen, einen kleinen Tribut zu zahlen und vorüber-
gehend französische Truppen
in ihre festen Städte aufzu-
nehmen. Erst 1883 haben
infolge eines blutigen Bürger-
krieges die Franzosen das
Mozabitenland wirklich anck-
tiert, französische Beamte
wohnen in Ghardaja, fran-
zösische Naturforscher find
mehrfach dorthin entsandt
worden, und nach und nach
beginnt sich das Dunkel zu
lichten, das Herkunft und
Wesen des eigentümlichen
Stammes seither umhüllte.
Diese Forschungen sind um
so wichtiger, als die Beni
M'zab im Gegenteil zu den
andern Bewohnern der Wüste
eine sorgsam gepflegte Tra-
dition haben, welcher fast die
Bedeutung einer geschriebenen
Ueberlieferung beigelegt wer-
den kann, und welche für die
Völkergeschichte der Wüste
seit der zweiten arabischen
Invasion von großer Wich-
tigkeit ist.
Die neueste Zeit hat zwei
Arbeiten über die Mozabiten
gebracht, deren interessantem
Inhalte das Nachfolgende
entnommen ist, die eine, von
Dr. Chr. Amat H, stützt
sich auf eigene Beobachtungen
während eines sechsmonat-
lichen, dienstlichen Aufenthaltes in Ghardaja nnd auf die
Übersetzung der Chronik des Abu Zakaria durch Mas-
0 Les Beni - M’zab in Revue d’Anthropologie 1884,
p. Gl7. Die fast gleichzeitig mit meinen „Rcisecrinnerungen"
erschienene Arbeit war mir damals leider noch nicht in die
Hände gekommen.
Ein Mozabite. Nach einer Photographie.
29*
W. Kabelt: GH ardaja und die Mozabitcn.
&
Ansicht von Ghardaja. Nach einer Photographie.
229
Dr. W. Kobelt: Ghardaja und die Mozabiten.
queren.); dem Autor stand außerdem die Unterstützung des
offiziellen Interpreten am Bureau Arabe zu Ghardaja,
des M. de Motylinsky, zur Verfügung. — Die andre ist
der Reisebericht des von der Regierung zu ethnographischen
Forschungen in die Sahara entsandten Mr. E. Zeys, der
mit zahlreichen Abbildungen geschmückt in Io Tour du Monde
Livr. 1583 und 1584 erschienen ist.
Fragt man einen Mozabiten nach der Abstamnlung
seines Volkes, so wird er, wenn er sich überhaupt auf die
Frage einläßt, antworten, daß sie von den Moabitern ab-
stammten, die, vor den einbrechenden Juden aus Kanaan
geflüchtet, an die Syrien angesiedelt und später von den
Arabern in die Wüste gedrängt worden seien. Die Chronik
des Abn Zakaria zeigt uns eine andre Abstammung. Sie
bringt die Mozabiten in Verbindung mit den ersten Waha-
biten, die, gleich unzufrieden mit Ali wie mit Moaurah, die
wörtliche Anwendung des Korans erlangten. Sie empörten
sich gegen Ali, wurden aber von ihm in der Schlacht bei
Nahruan geschlagen und fast vernichtet; nur zehn sollen
entkommen sein, welche die Lehre weiter verbreiteten. Lange
als Ketzer (Kharedjiten) verfolgt, eine zeitlang nur als
Geheimbund existierend, gelang es fünf Maghrebinern, die
als Schüler des Scheiks Abn Obeida in den Wahabiten-
glanben eingeweiht worden waren, die unterdrückten Berber
Nordafrikas zum Freiheitskampfe zu begeistern. In einem
mörderischen Kampfe, in welchem nach Jbn Khaldun 365
Schlachten geschlagen wurden, mußten die Araber Nord-
afrika räumen und die Berber, von denen sie trotz der Be-
kehrung den Fünften, wie von Christen, erpreßt hatten,
waren wieder frei. Die Sekte der Wahabiten hatte sich
schon vorher in zwei Abteilungen gespalten, von denen die
eine den Lehren des Abdallah den Jbad, die andren denen
des Abdallah den Soffar folgten. Die Apostel des Maghreb
gehörten beiden Abteilungen an und sie teilten sich friedlich
in das Land; die Soffariten wandten sich nach Marokko,
die Jbaditen unter Abn el Khottab besetzten Tripolis und
eroberten von dort ans 777 Kairuan und Tunis. Durch
eine arabische Armee vertrieben, bauten sie Tiaret und dräng-
ten von dort aus die Araber in langen! Kampfe wieder
zurück. Da aber die ibaditischen Jmame sich auch denFati-
miden widersetzten und überhaupt keine Khalifen anerkennen
wollten, erschien ein fatimidisches Heer vor Tiaret, eroberte
und verbrannte die Stadt und zwang den Imam Pacub
mit seinen fanatischesten Anhängern in die Wüste zu flüchten,
während die ibaditischen Berberstämme durch die grausamste
Verfolgung gezwungen wurden, die schiitische Lehre anzu-
nehmen. Imam Pacub siedelte sich zunächst am Ued Mia
in der Nähe von Wargla an und baute dort verschiedene
feste Städte, aber die Leute von Wargla, denen die auf-
keimende Macht in ihrer Nähe nicht gefiel, vertrieben ihn
von dort. Die Jbaditen fanden Zufluß auf dem nördlich
von Wargla gelegenen von Schluchten zerrissenen Plateau
Schebka, wo nur einige schwache Berberfamilien wohnten,
die sich ihnen anschlossen. Hier gründete Khalfa ben Abror
1013 die älteste Mozabitenstadt, den Ksor el Ateuf. Die
Gründung von Ghardaja erfolgte später an dem Grabe
eines marokkanischen Heiligen ans der Scheriffamilie Pahia,
wo sich Bruchteile verschiedener Fraktionen ansiedelten, deren
'Nachkommen sich heute noch getrennt halten. 1407 wurden
BnNura und Bcni Jsgnen gegründet, 1350Melika, 1589
Gnerrara und 1720 Bcrrian, alle diese Gründungen ver-
anlaßt durch innere Streitigkeiten, welche die unterliegenden
Minoritäten zur Auswanderung zwangen.
Die genannten sieben Städte sind heute noch die Wohn-
sitze der Beni M'zab. Der zweite Einbruch der Araber in
den Maghreb und besonders das Eindringen der Beduinen-
stümme in die Sahara zwang sie, von ihren Zwistigkeiten
abzusehen und eine geschloffene Konföderation (Thakebilt)
zu bilden, wie sic ja auch anderweitig in Berberländern vor-
kommen. Ihr religiöser Fanatismus verhinderte jede
Mischung mit den Arabern, wie sie selbst in den cntlegcnt-
stcn Bergthälern der Aures und des Dschnrdschura unver-
meidlich war, und so können wir die heutigen Mozabiten
als die reinsten Repräsentanten des Berbertypus betrachten,
denen sich höchstens die freien Amafirgh im hohen Atlas
als ebenbürtig an die Seite stellen können.
Das Gebiet der Mozabiten trägt den Namen Sebkha
oder Schebka, Netz, und hat denselben erhalten wegen seines
wildzerrissenen, verworrenen Reliefs. Es liegt südöstlich
von Laghuat, zwischen dieser Oase und Wargla, und ist
neuerdings insofern an die Zivilisation angeschlossen worden,
als cs Diligenceverbindung mit der erstgenannten Oase und
also über Dschelfa und Boghar mit der Küste hat. Der
Segen der Konkurrenz inacht sich hier bereits in ungewöhn-
licher Weise fühlbar; es haben sich zwei Unternehmer für
den Diligence gefunden und die Mozabiten werden für
1V2 Francs von Laghuat nach Ghardaja, eine Entfernung
von beiläufig 180 Um, spediert. Die Billigkeit ist freilich
der Hauptvorzug der Route, denn an Wegcbanten hat man
noch nicht gedacht, und Brücken über die tief eingeschnittenen
Ravins sind ein unbekannter Luxus. Von Laghuat aus
hat man zunächst für zirka 115 kni das eigentümliche Gebiet
der Dayas zu überschreiten, eine nahezu ebene Fläche ohne
eingeschnittene Wasserläufe, in welcher sich der Ueberschuß
der Winterregen in kleinen Vertiefungen sammelt und diese
feucht erhält, ohne doch dauernd stehende Wasserflächen zu
bilden. Die Feuchtigkeit genügt indessen, um das ganze
Jahr hindurch einige Vegetation in diesen Dayas zu unter-
halten; in den größeren findet man das ganze Jahr hin-
durch Trinkwasser. Ihr Charakterbaum ist der Belum
(Pistacia atlantica Desf.), welcher unter seiner dichten
Krone kaum eine andre Vegetation duldet und selbst die
genügsame Dent du Chien (Ziziphus lotus L.), den ersten
Ansiedler an allen feuchten Stellen, an den Rand der Daya
drängt. Die ausgedehnteste Daya ans der Route nach dem
Mozabitenland ist die von Tilremt, welche ungefähr 100
Bäume enthält. Hier wird übernachtet und einige Stunden
weiter läßt man die Region der Dayas hinter sich und er-
reicht ein höher liegendes, von unzähligen Schluchten zer-
rissenes Plateau, den Rand der Sebkha. Hier, am Oued
Settafa, hat die Regierung eine Baumschule angelegt, die
von zwei Soldaten mühsam erhalten wird, aber bis jetzt
noch keine besonderen Erfolge zu verzeichnen hat.
War der Weg durch die Dayas beschwerlich, so wird
er in der Sebkha geradezu gefährlich, so daß die Regierung
nicht umhin gekonnt hat, hier einige Straßenbauten durch
Militärsträflinge ausführen zu lassen. In unzähligen Win-
dungen zieht sich die Straße durch das Labyrinth von
Schluchten; noch sieht man überall die Steinhaufen, welche
einst den Karawanen als Wegweiser dienten. Die Gegend
ist unbeschreiblich öde, keine Pflanze, kein Tier, kein Tropfen
Wasser in den tiefen Flußbetten. So dauert es mehrere
Stunden, während der Weg innner ansteigt. Endlich biegt
er um einen Felsen herum, und ganz unvermittelt liegt vor-
dem Reifenden die erste Mozabitenstadt, Bcrrian, umgeben
von einer dreifach übcreiandcr geschichteten Masse des üppig-
sten Grün, oben die Kronen der Dattelpalmen, darunter
die Fruchtbäume, ain Boden die zarte junge Gerste; nur
das Weiß der Mandelblüte und das leuchtende Rot der
Granate unterbrechen das Grün.
Bcrrian ist wie oben erwähnt, die jüngste unter den sieben
Mozabitenstädten, kaum älter als 200 Jahre. Dank ihrer
günstigen Lage zählt sie trotzdem 5200 Einwohner, darunter
eine jüdische Gemeinde von 190 Seelen, die ein Stadtviertel
230
Dr. W. KoLelt: Ghard
für sich bewohnt, und eine Anzahl Araber, welche früher
als Söldner zur Verteidigung der Stadt dienten. Sic
sind jetzt überflüssig geworden, denn seit 1883 die Franzosen
ihre Hand aus das ^anb der Mozabiten gelegt haben, laßt
die Sicherheit nichts mehr zu wünschen übrig und haben
auch die blutigen Bürgerkriege der Parteien (^ofs) auf-
gehört. Die Mozabiten haben sich als praktische Kaufleute
durch die erhöhte Sicherheit und die andern Errungenschaf-
ten der Zivilisation — sogar ein Telegraph führt in ihre
Städte — für den Verlust ihrer Unabhängigkeit trösten
lassen und zahlen gern die Kopfsteuer, welche seit der
Annexion 4 Fres. 40 Ets. für die Familie beträgt.
Die Oase von Berrian enthält zirka 28000 Palmbäume,
welche ans 274 Brunnen bewässert.werden. Sie ist ein
ja und die Mozabiten.
weit vorgeschobener Posten, den eine Einöde von 50 Um
Durchmesser von den andern Ksors trennt. Diese liegen
ziemlich dicht beisammen, um eine Ebene herum, welche der
Ued M'zab durchsließt, festungsartig am Abhange von stei-
len Hügeln zusammengedrängt. Die beifolgende Abbildung
giebt eine ausgezeichnete Darstellung von Ghardaja, der
Hauptstadt, daneben Melika und weiter zurück Bcni-
Jsguen, die Ansicht ist von dem kleinen Fort aus ausge-
nommen, in welchem die französischen Behörden wohnen.
Eine kleine Militärmacht genügt, um die Ordnung aufrecht
zu erhalten, denn die Mozabiten wissen sehr wohl, daß sie
vollständig von der französischen Regierung abhängen, welche
jeden Aufstand sofort mit einer Sperrung des Handelsver-
kehrs beantworten würde. Nur die Tolba, die Schrift-
'■’t# WH
Ein Friedhof bei Ghardaja.
Nach einer Photographie.
gelehrten, bleiben unversöhnlich, weil ihr oft tyrannisches
Regiment von den Franzosen gebrochen worden ist. Sie
sind indes nicht mehr zu fürchten, so streng der Mozabite
auch an seiner Religion festhält.
Bekanntlich wird der Mozabite von dem orthodoxen
Moslim des Maghreb, sei er nun Malekite oder Hanesite,
nicht als rechtgläubig anerkannt, und nicht mit Unrecht;
denn wenn auch der Mozabite als echter Nachfolger der alten
Wahabiten und Jbaditen den Koran als seine einzige Richt-
schnur betrachtet und in allen seinen Vorschriften aufs
peinlichste befolgt, hat er doch als Berber zäh an den demo-
kratischen Traditionen seiner Rasse festgehalten und erkennt
vor allen Dingen keinen gebornen Oberherrn, keinen Chalifen
über sich an. Die Heiligenverehrnng, welche bei den maghrc-
binischen Rechtgläubigen eine so sehr große Rotte spielt, ist
ihm ein Greuel, Tabakrauchen, das freilich auch der Marok-
kaner nicht gern sieht, eine Sünde, Kaffeetrinken eine wenig
löbliche Handlung; äußeren Schmuck verschmäht er. Da-
neben haben sich eine ganze Anzahl berberischer Gebräuche
erhalten, welche der Rechtgläubige nicht kennt, und welche
ihre Wurzeln in der vorislamitischen Zeit haben, so die
Zeitrechnung nach dem julianischen Kalender mit den römi-
schen Monatsnamen und vor allem der Kirchenbann (tel>ria).
Wer sich eines Vergehens gegen die Religion schuldig macht,
oder wer sich weigert, die von den Tolba, den schriftgelehrten
Richtern, ans Grund des unveränderlichen Herkommens,
des Kannn, verhängten und im Falle der Appellation von
der Gemeindeversammlung, der Djenioa, bestätigten Strafen
zu erleiden, gegen den wird diese Strafe verhängt. Sie
bedeutet den bürgerlichen Tod genau wie bei den Christen
des Mittelalters; der Gebannte darf nicht am Gebet teil-
nehmen und niemand hat die geringste Genieinschaft mit
Dr. W. Kobelt: Ghardaja und die Mozabiten.
231
ihm. So wird wenigstens im Mozabitenlande jeder Wider-
stund ohne Gewaltanwendung rasch gebrochen, und der Ge-
bannte betritt den einzigen Weg der ihn rehabilitieren kann
und unterwirft sich der öffentlichen Kirchenbuße genau in
denselben Formen, wie der gebannte Christ im Mittelaller.
Zum Teil kommt es wohl vor, daß ein Starrkopf, auf seinen
Reichtum vertrauend, der Tebria zu trotzen wagt; dann
wird alle Geschäftsverbindung mit ihm abgebrochen, er wird
von seinen Landsleuten geschädigt wo cs möglich und ist
bald ruiniert. Gegen den Mißbrauch dieser furchtbaren
Waffe schützt den einzelnen indes die Genossenschaft, welcher
er angehört; ist diese überzeugt, daß ihm Unrecht geschieht,
so steht sic zu ihm trotz des Bannes; die endlosen Bürger-
kriege in der Mozabitcnkonfödcration und die Gründung der
meisten jüngeren Ksors sind durch solche Zwistigkeiten her-
vorgerufen worden. Die Franzosen mischen sich verständiger
Weise nicht in diese Streitigkeiten ein; sie haben die Tolba
cl Kadis und Imams anerkannt, lassen die Gemeinde-
vcrsammlung ruhig fungieren und begnügen sich damit, Blut-
vergießen zu verhindern. Dem Amin der ganzen Konföde-
ration haben sie den Titel eines Baschaga verliehen, ein
harmloses Vergnügen, so lange sie nicht den Versuch machen,
diese Stelle einem Nichtmozabiten zuzuteilen. Sic werden
das aber schwerlich thun und werden es überhaupt der Zeit
und deul gesteigerten Verkehr überlassen, die Sonderstellung
der Mozabiten zu brechen. Die Friedhöfe der Mozabiten
sind wüst und baumlos, wie alle in Nordafrika r), wo man
die schöne Sitte der Türken, sic mit CyPressen zu bepflanzen,
nicht kennt. Eine Anzahl unbehauener Steine decken die
Grabstätten; nur hier und da erhebt sich eine kleine ungc-
weißte Kubbah, die Ruhestätte eines Taleb oder eines Vor-
nehmen bezeichnend. Zwischen den Steinen stehen überall
zerbrochene Wassergefüße nach uralter, noch unerklärter
Berbersitte.
Ghardaja umschließt in seinen Mauern, die ein ziemlich
gleichseitiges Dreieck von 500 bis 600 in Scitenlänge bilden,
etwa 13 000 Einwohner, welche drei scharf geschiedene
Gruppen bilden, die Mozabiten, weitaus die Mehrzahl, die
Madabia, arabische Söldner, welche seiner Zeit von den
llled Ami Aisoa in einem Bürgerzwist gegen die Uled Ba
Sliman gedungen wurden, und Juden, welche die durch
eine Mauer abgetrennte Ostecke bewohnen. Nur die Moza-
biten dürfen, dem alten Berberrechte entsprechend, Grund-
eigentum außerhalb der Stadtmauer besitzen. Ihnen ge- !
hören die 64 074 Palmbäume — man kennt die Zahl so
genau, weil jede Dattelpalme, sobald sie so hoch ist, daß ein
Esel unter ihrer Krone hindurchgehen kann, Steuer zahlen
niilß —, welche aus 1240 Brunnen bewässert werden. Die
Wasserhcbung aus einer Tiefe von 60 in erfolgt auch hier
noch mit den einfachen Schläuchen, welche durch einen Esel
cmporgezogen werden und sich von selbst füllen und aus-
leeren. Das beistehende Bild zeigt einen solchen „B!r".
Es ist merkwürdig, daß die sonst so regsamen Mozabiten
die spanische Norm, die sie doch aus dem Tell genau
kennen, noch nicht in ihre Heimat eingeführt haben. Die fran-
zösischen Behörden haben indeß alsbald nach der Annexion
im Bett des Ued Mzab eine großartige Barrage angelegt,
I Nur die Friedhöfe von Algier, der Janitfchnreiistadt,
machen darin eine Ausnahme.
232
Dr. Zechlin: Das Fürstentum Kammin.
welche eine sehr erhebliche Vermehrung der Palmen, nnd der
Einwohnerzahl gestattet.
Die zweite Stadt der Konföderation ist Beni-Jsguen,
die heilige Stadt par excellence, in welcher kein Nicht-
mozabite die Nacht hindurch bleiben darf. Sic hat nur
5000 bis 6000 Einwohner, ist aber wohlhabender und besser
gehalten als Ghardaja, und stark befestigt. .Ihre 25 874
Dattelpalmen sind in ausgezeichnetem Stande, da der zur
Verfügung stehende unterirdische Wasservorrat dank der Ver-
einigung der lteb N'cissa mit dem Ued Mzab sehr reichlich ist.
Wenig weiter liegt auf dem Rücken eines steilen Felsen-
hügels Melika, die frühere Hauptstadt der Konföderation,
welche die Bevorzugung Ghardajas. durch die Franzosen
nicht verwinden kann. Ihre Bedeutung wird bedingt durch
die uneinnehmbare Lage, welche den in der Moschee auf-
bewahrten Bundesschatz vor jedem Angriff sicherte, und
durch das Grab des Si Aissa, des einzigen Heiligen, dessen
Andenken die Mozabiten ehren. Ihre Einwohnerzahl be-
trägt nur 1200, die der Dattelpalmen 2685. — Auch
elAtenf, die älteste Stadt, ist im Vergleich zu Ghardaja nur
unbedeutend, hat etwa 2400 Einwohner und 16000 Dattel-
palmen. Ebenso ist Bu-Nura im Rückgänge, zur Hälfte
zerfallen, seine Einwohnerzahl kaum größer, als die von
Melika. Das etwa 90 km nach Nordosten gegen die Schotts
und Biskra vorgeschobene Guerrara zählt 4000 Ein-
wohner und 28000 Dattelpalmen.
Über die Sitten und Gebräuche der Mozabiten ist schon
so viel geschrieben worden, daß wir hier nicht weiter darauf
einzugehen brauchen, besonders da die benutzten Quellen
nichts sonderlich neues bringen. Sie haben eben die alten
Berbcrsitten in voller Reinheit bewahrt. Von dem Inter-
preten M. de Motylinski ist ohnehin in einiger Zeit eine
sehr eingehende Schilderung ihres Lebens zu erwarten.
Hätte es noch einer Bestätigung ihres rein berberischen Ur-
sprunges bedurft, so würde derselbe durch die von Amat in
seiner Praxis an 50 Mozabiten vorgenommenen Messungen
erbracht. Die Haarfärbung ist braun, mitunter heller,
nie schwarz. Der Kopf ist subdolichoeephal mit auffallend
breiten Jochbeinen; die Größe bleibt etwas unter mittel,
besonders sind die unteren Extremitäten kurz. Auch die
Sprache ist ein echtes Berberidiom; von einem Alphabet ist
keine Tradition mehr vorhanden, obwohl wir aus Ilm
Chaldun wissen, daß bei der Invasion die Berber eine
Schrift hatten, deren letzte schwachen Reste sich im Tisinar
der Tuareg erhalten hat.
Ich möchte bei dieser Gelegenheit auf eine wenig be-
achtete Arbeit von Camille SabatierB) aufmerksam
machen, in welcher dieser genaueste Kenner der Kabylcn
neben zahlreichen andern eigentümlichen Ansichten über die
Einwanderung der Stämme nach Nordafrika auch eine
neue Erklärung des Namens Berber giebt. Er verwirft
die Ableitung von dem griechischen Barbarei gänzlich und
bringt ihn in Verbindung nicht nur mit den Sabarbares,
die Diodor und Strabo unbekannt sind, aber bei Plinius
auftauchen, sondern auch mit dem Berabiscb in der Sahara,
den Mördern des Majors Laing, mit Berbería in Ober-
Bornu, mit Berber am Nil, den Berabra in Nubien, den
Berbera an der Somalküste und in letzter Linie mit der
Landschaft Berbermtan, die Firdusi östlich von Persien
nennt und deren Hauptstadt Cheri-Berber nach Vambcry
zwischen Kabul und Herat liegt. Die genannten Stationen
bezeichnen ihm den Weg, auf welchen: die Berber von
Berberistan bis an den Maghreb vorgedrungen sind. Daß
die Berber an der Straße von Gibraltar nicht Halt ge-
macht, beweisen ihm die Iberer und der Ebro, deren Namen
von demselben Wurzelwort Ber abstammen.
Von den überlieferten Völkernamen hat Maure weder
mit [MVQog, noch mit dem semitischen maburin (West-
leute, im Gegensatz zu scharikhin, Ostlcute, Sarazenen) zu
thun, sondern heißt kabylisch iommauren, Bergbewohner.
Den Gegensatz dazu bildet Getuler, vom kabylischen Igoudal,
Schäfer. Die Maxyer sind Imaziren, die Ackerbauer, die
Ataranten wieder Jaderaren, die Bewohner der aderar,
der Berge. Die Garamantcn sind „Gara amedden“, die
Hirten von den Garas, wie der Targi heute noch die
Felsenberge der Wüste nennt. Numider und Nosamoncn
lassen sich aus der kabylischen Sprache nicht deuten. Libyer
scheint dagegen auch kabylisch zu sein und mit Ellib, Berg,
zusammenzuhängen; es ist also synonym mit Mauri.
B Essai sur l’Ethnologie de l’Afrique du Nord in
Revue d’Anthropologie 1884, p. 404.
Das Fürst e n t u m Ji a in in i n.
Historisch-topographisch dargestellt von Dr. Zechlin.
II.
2. Der Köslincr Kreis.
Betrachten wir zuerst die Pertincnzen der Radüe.
Unmittelbar in ihrem Thale liegt Rosnow, das größte Gut
im Kreise, 2500 ha, während Parnow und Strippow den
größten Grundsteuerreinertrag haben; cs ist ein altes Gla-
senappsches Lehn mit leichtem Boden; in den Rosnowcr
Fichten mehrere kleine Seen. Auch bis zu dem 8 km ge-
legenen Nedlin fließt die Radüe durch Kiefernwald. Bei
Nedlin ist guter Lachs- und Aalfang. Das Dorf wurde
1227 von Barmin I. nebst 12 andern mit dem Nonnenkloster
zu Treptow vereinigt. Sie bildet, indem sie sich nach
Norden wendet, die Grenze zwischen dem Köslincr und
Belgarder Kreis. Hier liegt Barzelin an der Landstraße
von Belgard nach Köslin, ein altes Münchowschcs Lehn
mit ebener Feldmark; beim sogenannten Krähenkruge führt
eine Brücke über die Radüe. Etwas weiter von dem Fluß
liegt Thunow, Haltestelle der Stettin -Danziger Eisenbahn,
in ebener Gegend mit moorigen und sandigen Flächen, 1278
urkundlich erwähnt. Die Radüe, nach Westen umbiegend,
tritt nun auf eine kurze Strecke in den Köslincr Kreis und
fließt durch das Dorf Nassow, 1364 Nassenburg genannt.
Es gehörte um diese Zeit nebst noch andern Dörfer dem
angesehenen Kolberger Patriziergeschlccht Holk, teilweise
auch den Kamekcs *). Das feste Schloß wird noch 1438
genannt. Nassow hat besseren Boden mit vielen Wiesen;
die Chaussee von Körlin nach Köslin führt an der nörd-
lichen Seite des Dorfes vorüber; der Bahnhof liegt auf
Belgarder Fundum. Andre Dörfer liegen bis zu ihrer
Einmündung in die Persantc nicht mehr an derselben, doch
nördlich von ihr noch folgende Dörfer, deren Feldmark teil-
weise an den Fluß stößt, auf welchem viel Holz geflößt wird.
Bitziker an eben erwähnter Chaussee in ebener und flacher,
aber fruchtbarer Gegend; es gehörte zu den Besitzungen des
I Niemann, Kolberg, S. 183.
Dr. Zechlin: Das Fürstentum Kammin.
vorher erwähnten Patriziergcschlcchts Holk, von denen das
Schloß Nassow den Mittelpunkt bildete; später war es ein
Lehn der Kranksporn, die 1373 aus der Priegnitz kamen
und am Schluß des 16. Jahrhunderts ausstarben. Etwas
nördlich von der Chaussee Kratzig ein altes Kamekeschcs
Lehn, 1565 urkundlich, aber ohne Zweifel schon länger int
Besitz der Familie. Das Wohnhaus ist im alten Stil ge-
baut: großer Flur, von welchem zwei bogenförmige Treppen
nach oben gehen, an den Flur stoßen dann einige große
Gemächer, während durch Anbau für kleinere Zimmer ge-
sorgt ist. Das Patronat der Kirche in Crasnich wird 1278
dem Jungsernkloster in Köslin übertragen. Es folgen
Parsow und Schwemmin. Parsow, mit herrschaftlichem
Wohnhaus, hatte früher eine selbständige Pfarre und wurde
1741 zu Schwemmin cingcpfarrt. Die Gürten sind zum
Teil parkähnlich eingerichtet und starker Obstban wird ge-
trieben. Ans der Feldmark findet sich ein mehrere Fuß
mächtiges Kalkmcrgellager. Parsow wurde 1227 von
Herzog Barmin an das Jungsernkloster zu Treptow ■ ver-
schenkt. Beide Dörfer waren alte Pnrsowsche Lehen, welche
Familie man dort seit 1393 findet. Der letzte dieses Ge-
schlechts starb 1654. Seit 1765 im Besitz der Familie
von Gerlach. Von dem Hofgerichtspräsidenten von Gerlach
wurde 1806 Parsow und Schwemmin zu einem Fideikommiss
nach dem 9 rechte der Erstgeburt erklärt. Die Gerlachschc
Familie gehört nicht zu den alt eingesessenen Geschlechtern
Pommerns, sondern wurde erst 1755 in Pommern ansässig.
Ihr Adelstand wurde 1735 von Friedrich Wilhelm I. an-
erkannt. Beide Güter haben fruchtbaren Acker, der zur
Hälfte mit Weizen bestellt werden kann. Zu Parsow gehört
der an der Chaussee gelegene Danzkrng, in welchem die
hinterlassene Witwe Georg 1., Margarethe, nachdem sie mit
einem Knecht davon gelaufen, gewohnt haben soll I. Gleich
hinter dein Danzkrnge beginnt der Kolbcrg-Körliner Kreis.
Während im östlichen Teil des Kreises die Wasserscheide
zwischen Radüe und Ostsee bis 2 km an die Nadüe heran-
tritt, tritt sie westlich von Manow und Bonin weit nach
Norden vor, denn die ganze Gegend, 5 bis 6 Irin südlich
von Köslin, wird vom Schwarzbach, einem rechtsseitigen
Nebenfluß der Radüe entwässert. An seiner Quelle, wo er
Moorbach heißt, liegt Zewelin, er fließt dann durch eine
niedrige Gegend, deren Ränder von niedrigen Hügeln ein-
gefaßt sind. Dicht dabei Mersin. Zu beiden Seiten der
gepflasterten Straße Kastanienbänme. Das herrschaftliche
Wohnhaus zweistöckig und von Gärten umgeben. Ebenfalls
auf der linken Seite des Baches Schwessin an der Land-
straße von Belgard nach Köslin, früher Kösliner Amtsdorf.
Auf der rechten Seite fehlt teilweise die Wasserscheide, hier
findet nach der alten Generalstabskarte durch den Radecke-
bach (auch Radösche genannt) eine Bifurkation zwischen
Mühlenbach und Schwarzbach statt. Ungefähr in der Mitte
der Radöschen Niederung liegen Konikow und Augustin
beide gegenüber, letzteres auf ziemlich steilem Thalrande.
Beide Dörfer waren Kösliner Amtsdörfer und produzieren
viel Tors, ersteres ist Kirchdorf; Gräberfelder sind bei dem-
selben aufgedeckt worden. Bei Gieskow, westlich von Koni-
kow, geht die Wasserscheide weit nach Norden noch über die
Körliner Chanssee hinaus bis Datjow, dessen See durch
einen längeren Graben abgeleitet ist. Am Datjower See
liegt ein Burgwall.
Wenden wir uns nun zu den Bächen, welche direkt der
Ostsee zufließen. Daß der Küstenstrich fruchtbar ist und
in demselben viel Weizen gebaut wird, wurde schon in der
Einleitung erwähnt. Die Bauern sind wohlhabend, halten
aber mehr an ihren einfachen Gebräuchen und Sitten als
233
die Bauern auf dem Höhcnzuge, die sich mehr städtischem
Wesen nähern. Der 9c est dach entspringt auf der Grenze
des Kösliner und Schlawer Kreises, fließt dann an der
östlichen Seite des Gollenbergcs immer durch waldiges
Revier, einige kleine Bäche strömen ihm zu. An der
Chaussee nach Pollnow liegt hier das langgestreckte städtische
Eigentnmsdorf Mocker, früher zum Nenstettincr Kreise ge-
hörig. Mockcr gelangte 1287 durch Schenkung an das
Nonnenkloster zu Köslin, wurde 1718 von der Stadt
erworben und hat leichten Boden. Dann Steglin an der
Grenze des Schlawer Kreises, zu welchem noch ein Teil
gehört, ebenfalls 1718 von der Stadt erworben; beide für
13 500 Thaler; die Kirche mit spitzem und schlankem Turm.
Viel Wald ist in der Nähe, auch Fischteiche sind hier ange-
legt. Nördlich von Vangerow erstreckt sich der Hammerwald
bis zur Kreisgrenze und bis zur Chaussee nach Zanow. An
derselben liegt Kluß, dicht an der Grenze, welche hier der
Ncstbach bildet, 1614 erbaut, im siebenjährigen Kriege ver-
wüstet und 1764 wieder aufgebaut und in ein Wollspinnerei-
dorf verwandelt, welche Industrie aber nicht gedieh. Dann
folgt Gohrband, d. h. am Berge wohnend, am nordöstlichen
Abhange des Gölten, freundlich im Grünen gelegen. In
Gohrbaud war ein festes Schloß, welches Peter Swcnz,
Palatinus von Pommern, dem Kösliner Magistrat 1308
für 100 Mark (—2400Mark) verkauftes. In derselben
Entfernung vom Gollenberg die Kolouiedörser Mehrungen
und Schwerinsthal, beide im Jahre 1749 auf Köslinischcm
Grunde durch Rodung von Buchen und Eichen neu angelegt.
Ersteres nach dem General Meycring genannt und mit
Kolonisten aus Mecklenburg besetzt, letzteres nach dem General-
feldmarschall Schwerin genannt und mit 18 württembergi-
schen Familien besetzt, welche alle bis aus zwei wieder fort-
liefen, an ihre Stelle traten Leute aus Jamund. Große
Müssen ziehen sich von diesen Dörfern nach Norden zum
Nestbach hin, der in der östlichen Bucht des Jamnnder Sec
zwischen Labus und Wusseken mündet.
An der östlichen Grenze des Kreises sind noch einige
Dörfer zu erwähnen: Schübben, Bahnhof der Stadt Zanow,
1265 genannt, Züchen, in niedriger Gegend, ebenfalls 1275
genannt, 1565 als Lehen der Heidebrccks erwähnt; Kleist,
wahrscheinlich 1518 angelegt, Repkow, 1309 erwähnt, letztere
beiden gehören zum Güterkomplep von Wusseken.
„Jetzt werden meine Leser ein Herz fassen, mit mir auf
den Gollenberg zu gehen, welcher wegen seiner ehemaligen
Heiligkeit und Gottlosigkeit den Auswärtigen das größte
Denkmal von Hinterpommcrn gewesen ist s).“ Derselbe
liegt westlich von Nestbach zwischen den Städten Köslin und
Zanow und heißt Berg. Er hat die Gestalt einer Ellipse
und gehört der Stadt Köslin. Mit derselben wird er
zuerst 1214 erwähnt, den östlichen Teil, zu Schloß Gohr-
land gehörig, erwarb die Stadt 1313. Wenn er auch
nicht, wie Mikracl schreibt, bis an die Karpathen reicht,
sondern wirklich vereinzelt gegen das flache Küstenland steil
emporsteigt und gegen Zanow sich in tiefe Schluchten
spaltet, so galt er doch bis zum Jahre 1836 für den
höchsten Punkt im Pommernlande, zu welcher Annahme
wohl seine isolierte Lage das meiste beitrug. Der mit
Wald bewachsene, in blauen Duft gehüllte Berg erhöht den
Eindruck eines kleinen Gebirges. In Wirklichkeit ist er
nach Berghans 423 Fuß (133 m) hoch; auf der alten
Generalstabskarte wird die Höhe des Fahnenberges ans
458 Fuß, die Höhe des Schiefenberges ans 460 Fuß
(144 m) angegeben. Wie er selbst einen hübschen Anblick
I Perlbach, Poinmerellische Urkunde, S. 581.
2) iemali il, S. 175.
3) Haken, Diplomatische Geschichte von llöslin, S. 33.
30
H Barthold, IV, 1, 245.
GlobuS I.X. Nr. 15.
234
Dr. Zechlin: Das Fürstentum Kammin.
gewährt, so hat man auch von seinen höchsten Spitzen eine
schöne Aussicht auf das umliegende Land. Bor uns die
Stadt Köslin, zn beiden Seiten lugen einzelne Dörfer, von
üppigen Saaten umgeben, aus dem Grünen hervor. Das
Auge schweift über den Jamunder See, der durch einen
schmalen weißen Streifen von der See getrennt ist, auf die
im weiten Bogen den Horizont begrenzende Flut, an deren
östlichem und westlichem Ende die Kirchtürme von Kolberg
und Rügenwalde sichtbar sind. Auch innerhalb schöne
Spaziergänge, so nach der beliebten Försterei von Schröder
und nach dem Treppensteig, der Trepp ans, Trepp ab bis
zum Hammerwald führt, der seinem Namen nach einen
Eisenhammer haben soll. Auf dem nördlich von der Chaussee
nach Zanow liegenden Fahnenberge stand eine Bergkapelle,
welche ein hochberühmtes Bild der unbefleckten Jungfrau
Maria einschloß, nach der 1378 von Rom ans gewallfahrt
wurde, 1533 ging dieselbe in Flammen aus. Im sieben-
zehnten Jahrhundert (1667) wurde an derselben Stelle eine
Stange mit eiserner Wetterfahne und einem Kreuz errichtet.
Im Jahre 1829, 3. August, wurde von den pommerschen
Kreisen ans dem Fahnenberge ein Denkmal errichtet, welches
ans einem 42HI Fuß hohen, von Eisen gegossenen Kreuze
besteht, zur Erinnerung an die in den Freiheitskriegen
gefallenen pommerschen Landsleute. Vor Zeiten war der
Gollenberg wegen der in seinen Thalschluchten verübten
Räubereien und Mordthaten sehr verrufen, auch hat sich
wirklich der Name Mördergrube als Bezeichnung eines
verdächtigen Orts in demselben erhalten J). So erzählt
Hanncke -), daß in dem Dorfe Kluß bei Zanow der Postwagen
vier Stunden liegen bleiben mußte, weil die Passagiere —
drei Juden, die viel Geld bei sich führten — die Nacht
nicht durch den verrufenen Gollenberg hätten fahren wollen.
Der Mühlenbach, der in seinem Ursprung auch Seidel-
bach genannt wird, entspringt nordöstlich vom Dorfe Seidel
an der Grenze der Karziner Forst. Hier liegt das Dorf
Seidel mit leichtem Boden, seit dem 14. Jahrhundert
ein Glasenappsches Lehen, bei demselben wurden 1878
2000 Münzen gefunden. Der Bach fließt nun in nörd-
licher Richtung an mehreren kleinen Seen vorbei in den
Achtersee. Südlich davon an der Chaussee nach Bublitz
Mauow, durch welchen Ort auch die sogenannte südliche
Straße nach Pollnow führt; es ist ein altes Glasenappsches
Lehen, 1375 erwähnt, mit schloßartigem Herrenhaus.
Augenblicklich gehört cs dem Fürsten Karl Anton vonHohen-
zollern-Sigmaringcn. Viele Wiesen (gegen 1000 Morgen)
gehören zn dem Gute, außerdem große Torfmoore, Kalk-
nnd Mcrgelgruben. 1760 befand sich Tottlebens Hanpt-
gnartier hier. An der östlichen Seite des Achtersees
Wisbnhr, 1240 urkundlich erwähnt, in einer bergigen
Gegend, östlich an die Ausläufer des Gölten stoßend. Der
Boden ist guter Roggenbodcn, früher war ein Eisenhammer
hier. Der Ausfluß des Achtersees geht dann in den
größeren Lübtowsce, der diesen Namen nach dem kleinen
Dorfe Lübtow führt, früher Boninsee genannt. Die
Fischerei in demselben ist ziemlich bedeutend. Zur Stift-
zeit gehörte Stagnnm Bonyn mit allen seinen Ufern und
Erzeugnissen zn den Tafelgütcrn des Bischofs der Kammin-
schen Kirche. An denselben sind bedeutende Wiesenkalklager.
Mitten durch den See führt der sogenannte Tcufclsdamm,
der seinen Namen davon erhalten hat, weil ein Ritter seine
Seele dem Teufel verschreiben wollte ch. In der Nähe des
Teufelsdamm stand eine Burg, von welcher man 1870 ver-
schiedene Überreste von Baulichkeiten und altertümlichen
ch Benno, Geschichte der Stadt Köslin S. 207, wo auch
einige Mordthaten angeführt werden.
2) Pommerfche Skizzen S. 64.
ch Näheres bei Knoop a. a. O. S. 122.
Geräten gefunden hat. An seiner westlichcn Seite das
Dorf Bonin, niedrig gelegen. DaS Dorf ist das Stamm-
haus des Geschlechts Bonin, welches 1288 zuerst genannt
wird und in dessen Besitz cs sich 1301 befand. Später
kam das Dorf an das Nonnenkloster in Köslin. Etwa
1500 Schritt vom Dorfe, an der Pollnower Straße, liegt die
sehr alte Kirche des Dorfes auf den Boniner Kirchbergen,
seit 1846 geschlossen. Ohne Zweifel lag die Kirche in der
Mitte des Dorfes, welches erst später näher an den See
gelegt ist. Der Ausfluß des Lübtowsce nimmt jetzt den
Namen Mühlenbach an und fließt nach Norden zwischen den
städtischen Eigentumsdörfern Kretmin und Dörsenthin, auch
Dirsenthin 1284 genannt. Einen kleinen Arm, die Radösche,
entsendet er, wie erwähnt, nach Westen. Wcndland J)
berichtet, daß die Radösche ihren Ursprung im Boninschcn
See gehabt habe und an den Dörfern Geritz und Thunow
vorbei in die Radüe gegangen. Später sei der alte Gang
verstopft und die Radösche auf die Stadt geleitet und mit
dem Mühlenbache um der Mühlen willen konjnngiert worden.
Diese Ansicht des Chronisten wird durch zwei in den Ur-
kundenbüchern gedruckte Urkunden bestätigt; 1274 gestattet
Bischof Hermann der Stadt Köslin, den Bach Radesse in
den Jamnndschen See abzuleiten. Dieser entsprang im See
bei Wisbnhr (Achterste), denn es heißt zum Jahre 1289:
„quod a stagno, qui dieitur Wissebuhr, usque in
stagnum Jamene dictum“. Es folgt Rogzow, unmittel-
bar an Köslin stoßend, an der Chaussee nach Pollnow mit
villenartigen Gebäuden. Rogzow (Rokesonwe) wird 1284
dem Nonnenkloster in Köslin geschenkt. So kommen wir
von den städtischen Eigcntumsdörfern zur Stadt Köslin
selbst: Das Dienergefolge kündet die Herrscherin an.
Köslin liegt auf der linken Seite des Mühlenbachcs auf
einer ebenen Fläche 45 m über dem Ostseespiegel. Vom
Bahnhof führt die neue Thorstraße auf den großen Markt.
Hier das Rathaus (1827 gebaut) mit der Wache. Auf
dem Markt das Denkmal Friedrich Wilhelm I., 1724 errichtet,
zum Andenken an die Wohlthaten, welche er der Stadt nach
dem Brande von 1718 zukommen ließ. Vom Markt führt
weiter östlich die Bergstraße bis zum Wall, beide eben er-
wähnten Straßen sind die Hauptverkehrsadern der Stadt.
Dann führt eine Brücke über den Mühlenbach, dessen mit
Bäumen umsüumtes Wiesenthal einen hübschen Anblick
gewährt, zu der Friedrich-Wilhelmstadt. Dieselbe nach
Friedrich Wilhelm III. so genannt, wurde 1816 ans dem
sogenannten Ziegelberge angelegt. Hier das große Post-
gebäude, vor demselben das Kriegerdenkmal, dann das
Seminar (1816 gegründet, 1828 gebaut). Hinter der
Gabelung der Straßen, welche schöne und belebte Spazier-
gänge sind, an der Straße nach Zanow das Gymnasium
(1821 gegründet, 1877/79 gebaut). Vom Markt südlich
die Hohe Thorstraße nach dem Holzmarkt, senkrecht auf der-
selben die Regiernngßstraße, bei Haken Schmorrenhägcr und
Heilige Geiststraße genannt, mit dem Sitz der Regierung,
nördlich vom Markt die Mühlenstraße, parallel mit ihr von
der Bergstraße aus die Jnnkcrstraße, welche zur Schloßkirche,
zum Gerichtsgebände und zur Loge führt. An die innere
Stadt schließen sich außer der Friedrich - Wilheluistadt drei
Vorstädte an.
Die Stadt ist nach dem großen Brande größtenteils in
holländischem Baustil aufgeführt, regelmäßig gebaut und
eine der freundlichsten Städte Pommerns. Eine Menge
Gärten befinden sich in der Stadt, von denen der Lütkcsche
Garten, den man nach Überschreiten des Mühlenbachcs tief
im Grunde liegen sieht, und der Schützengarten besonders
zn erwähnen ist. Sie war mit einer Ringmauer umgeben,
0 Bei Benno S. 207.
Dr. Zechlin: Das Fürstentum Kammin.
235
von der noch einige Stücke erhalten sind, an Stelle der
Wälle sind hübsche Promenaden angelegt. Dein Schöpfer
derselben, dein Präsidenten Feilsche, ist ans dem kleinen
Walle ein Denkmal errichtet worden (1851). Seit 1737
hat die Stadt Wasserleitung ans einer Quelle im Gollen,
2000 m von der Stadt. Der nahe Gölten bietet überhaupt
dem Köslincr leicht Gelegenheit, Waldcsluft und Waldes-
srische einzuatmen.
Bon öffentlichen Gebäuden ist die Marienkirche zwischen
der Großen und Kleinen Papenstraße zu bemerken. Sie
gehört dem gothischen Stile des 14. Jahrhunderts an und
hat niedrige Seitenschiffe. Urkundlich wird ihrer zuerst
im Jahre 1331 gedacht. Über das Schnitzwerk am Hoch-
altar siehe Kuglcr, Pommersche Kunstgeschichte, S. 213.
Außer der noch zu erwähnenden Schloßkirche sind noch die
katholische und die Jrvingiancr Kirche zu nennen.
Vier Kapellen dienten ehemals zu gottesdienstlichen
Gebräuchen, von welchen jetzt nur noch die St. Gertruds-
kapelle ihrer äußeren Gestalt nach vorhanden ist. In dem
Gcbäudckomplex, wo jetzt das Gerichtsgebündc (1825), die
Loge und die Schloßkirche steht, stand das Kloster. Dasselbe
wurde 1568 abgebrochen und von Johann Friedrich ein
Schloß erbaut. Sein Nachfolger vollendete und vergrößerte
den Ban, legte Lustgarten und Stechbahn an. Auf einer
Anhöhe gelegen, sah es stattlich ans, vor ihm dehnte sich ein
weiter Teich aus, der jetzt in ein Wiesenthal umgewandelt
ist. In demselben residierten die Bischof-Herzöge ans dem
Pommerschen Grcifengeschlecht. Auch das Schloß ist ver-
schwunden; neuerdings ist in der alten Mauer eine Tafel
angebracht mit den Worten: Hier stand das durch Feuer
zerstörte Resideuzschloß der pommerschen Herzöge, Kasimir,
Franz und Ulrich, Bischöfe von Kammin 1574 bis 1622.
Den letzteren Bischof besuchte Johann Sigismund von
Brandenburg ans dem Schlosse (1619). Aus der Kloster-
kirche. welche lange wüste gelegen, entstand die Schloßkirche,
sie wurde 1609 eingeweiht, brannte ebenfalls 1718 ab,
1724 wieder ausgebaut, 1839 restauriert. Ans derselben
habe, erzählt man, wie fast in allen Städten, ein unter-
irdischer Gang nach der Wallfahrtskapelle im Gölten geführt.
Köslin ist eine wohlhabende Kommune, die über 16000
Morgen Forst besitzt. — Gollenberg 9000 Morgen groß,
daher ist das Schulgeld in der Elementarschule erlassen, im
übrigen ist sie wesentlich Beamtenstadt, Sitz verschiedener
Behörden (Regierung, Landgericht, Oberpostdirektion u'. s. w.).
Von industriellen Unternehmungen sind zu nennen, eine
Papierfabrik, Eisengießereien, Mincralwasserfabrik, Öl-
raffinerie, Bierbrauereien, Wollspinnerei und einige Mühlen.
Daher hat sich die Bevölkerung wesentlich vermehrt, aus
2933 Einwohnern des Jahres 1780 sind 16834 des Jahres
1880 geworden, so daß ans 100 Einwohnern des ersten
Jahres 574 des letzteren geworden sind. Nächst Stettin
hat Köslin die bedeutendste Zunahme von allen pommer-
scheu Städten auszuweisen.
Fragen wir uns nun, warum sich gerade an dieser
Stelle eine verhältnismäßig bedeutende Stadt entwickelte.
Obgleich die Stadt im Sinn des Mittelalters nicht sehr-
fest war, so lag sie doch an einem Fluß, der mit der Ostsee
in Verbindung stand, so daß sie Seehandel treiben konnte.
Man baute die Schuten vor dem Köslincr Thor und fuhr
sie ans Wagen nach dem Jamundschen See, der zu diesem
Zwecke einen schiffbaren Abfluß zwischen Deep und Laase
hatte; noch 1859 bestand die Köslincr Rhcderci aus sechs
Schiffen. Ferner lag sie an der äußersten Grenze des
bischöflichen Gebietes; der Bischof mußte großes Interesse
daran haben, seine Ostgrcnze zu schützen. Am Fuße des
Gollenberges gelegen, beherrschte und sicherte sie die gefähr-
liche Passage durch denselben und schied lange deutsches und
wendisches Wesen, wie denn den Köslinern noch 1516 ver-
boten wurde, von den wendischen Leuten mit wendischen
Sprachen zu kaufen. Aus der Slavenzeit stand eine Burg
an dieser Stelle. Daher zeugt es von dem praktischen Blick
des Bischofs, gerade hier ein starkes Gemeinwesen zu gründen.
Das Dorf Kossalitz, adj. poss., vom Personennamen
Kosla, d. h. Krnmmbeiu, schenkte Bogislav II. nach einer
allerdings angezweifelten Urkunde 1214 dem Kloster Belbcck.
Am 23. Mai 1266 gründete Bischof Hermann die deutsche
Stadt Köslin, 1277 stiftete er das Cistercienscr Nonnen-
kloster aus der Insula s. Mariae. Um 1447 ]) fand eine
Fehde zwischen Köslin und Kolberg statt, in welcher die
Kolberger von den Köslinern geschlagen wurden. Eine
interessante aber nicht gerade angenehme Episode der
städtischen Geschichte ist die, als Bogislav X. 1480 von
den Köslinern in Zanow überfallen und gefangen nach
Köslin geführt wurde. Der nähere Hergang ist in Kürze
folgender. Kaufleute und Krämer aus Köslin fuhren an
Zanow vorüber mtb das Hofgesinde des Herzogs nahm
ihnen ohne Wissen desselben ihre Waren fort. Die Kös-
liucr machten mut großes Geschrei in der Stadt und zogen
in hellen Hansen vor das Zanower Schloß. Der Herzog
suchte sie zu beruhigen und befahl ihnen, Namen zu nennen.
Da sie aber keinen der Übelthäter kannten und heftig ans
die Burg drangen, erhob sich ein allgemeiner Tumult, in
welchem viele verwundet wurden. Ein Köslincr hob eine
Hellebarde gegen den Herzog auf, um sie ihm auf den Kopf
zu treiben, und hätte ihn erschlagen, wenn nicht Adam Pode-
wils, der Hauptmann von Zanow, dazwischen gesprungen
und den Bürger niedergeworfen hätte. Zuletzt wurde der
Herzog gefangen und im Triumph nach Köslin geführt.
Der Stadtdiener ritt voran und rief den Bürgermeistern,
die aus dem Markte standen, zu: „All gewnnncu, all
gewunneu." Aber die Bürgermeister erschraken aus die
Nachricht von der Gefangennehmung des Herzogs, gingen
ihm vors Thor entgegen und baten ihn um Verzeihung.
Der Herzog Bogislav ließ die Köslincr nicht so leichten
Kaufes davon und legte ihnen harte Bedingungen auf.
Etliche tausend Gulden war er ihnen schuldig, von welchen
weiter nicht die Rede war, dazu mußten sie noch 3000 Gulden
geben und einen goldenen Becher. Wenn er nach Köslin
käme, sollten sie ihn und seine Gemahlin mit 200 Pferden
stattlich verpflegen, das Thor niederreißen und ihn zum
Zeichen der Unterwerfung darüber reiten .lassen; ferner
sollten sie ihm mit der ganzen Klerisei, den Jungfrauen
aus dem Kloster, entgegengehen, ihm einen Fußfall thun und
ihn nur Vergebung bitten, schließlich noch seiner Gemahlin
ein Kleinod mit 200 Goldguldcn geben. „Und von dieser
Geschichte ist entsprungen das Sprichwort, daß man saget,
daß die Koslinschen wohl eine Thorheit thun dürfen und
dürfen sie auch wohl bezahlen-)." Auch bei Einführung
der Reformation fanden Tumulte statt. Ein angetrunkener
Barbier störte mit einer schreienden Ente unter dem Arme
den Gottesdienst. Er wurde zur Strafe in einen Sack
gesteckt und ersäuft. Daher sagt Kantzow von Köslin:
„Köslin ist auch eine ziemliche Stadt, nicht weniger denn
Auklam, ausgenommen, daß cs keine Seefahrt hat, hat eine
Pfarre und ein Jnngfrauenklostcr. Gehört auch dem Bischof
von Kamin; treibt auch nicht selten Aufruhr und Mutwillen,
welches sie denn gemeiniglich hoch verbüßen. In kurzen
Jahren haben sie eine unmenschliche That begangen an einem
Balbier. Item, ein Sprichwort ist: mus Köslin." Wegen
des ihnen von den Bischöfen bestätigten Rechtes der freien
Seeschiffahrt gerieten die Köslincr 1510 mit Kolberg und
0 Vergl. Niemann, S. 225.
ch Kantzow, Ausgabe von Kosegarten II, S. 195.
30*
236
Dr. Zechlin: Das Fürstentum Kammin.
Rügenwalde in Streit. Zur Erinnerung an die Zeit der
bischöflichen Herrschaft Prangt noch heutigen Tages Uber dem
Eingänge des Rathauses die Insul im Wappen der Stadt
über der Schüssel mit dem abgeschlagenen Haupt Johannis
des Täufers und ihm zu Ehren wird noch jetzt alljährlich
der St. Johannistag in dem nahe gelegenen Buchwalde —
schon 1266 genannt — durch ein altes herkömmliches
Volksfest gefeiert. Wie schon erwähnt, brannte das Schloß,
die Schloßkirche, das Rathaus und 297 Häuser 1718 ab.
Friedrich Wilhelm I. gründete das Köslincr Hofgericht.
Im siebenjährigen Kriege hatte die Stadt von den Russen
viel zu leiden. 1764 wurde hier ein Königl. Kriegs- und
Domänenkammer-Deputations-Kollegium gegründet. 1816
wurde die Stadt der Sitz der Regierung. Sie ist der
Geburtsort des Hans Lütkeschwager (Johannes Micraelins),
gest. 1658, eines Pommerschen Geschichtsschreibers.
Von berühmten Persönlichkeiten besuchte König Friedrich
Wilhelm 1. öfters Köslin und übernachtete dann in dem
Hause des Kreisphysikus und Bürgermeisters Rüglin.
1717 passierte Peter der Große die Stadt. 1726 logierte
die Landgräfin von Hessen Darnistadt mit ihren Töchtern
und dem Freunde Goethes, Merck, im Hanse des Depntats-
kollegium '). 1776 besuchten Prinz Heinrich, Bruder
Friedrich des Großen, und der nachherige Kaiser Paul 1.
die Stadt. . 1786 logierte Friedrich Wilhelm 11. beim
Kaufmann Zettwach ane Markt. 1798 kamen Friedrich
Wilhelm III. und Königin Louise in die Stadt, sic bestiegen
den Gölten; letztere übernachtete beim Kaufmann Berdinetti.
1817 passierten Prinzessin Charlotte und Prinz Wilhelm
auf der Reise nach Petersburg die Stadt. 1818 Friedrich
Wilhelm 111. auf der Rückreise von Petersburg. 1834 end-
lich der damalige Kronprinz Friedrich Wilhelm IV. und
seine Gemahlin Lndovika.
Von Köslin fließt der Mühlenbach in nördlicher Richtung,
begrenzt ine Osten den Bnchwald und ergießt sich zwischen
Jaulund und Puddemsdorf in den Jamnnder See.
Betrachten wir nun die Küste und die an ihr oder nicht
weit von ihr liegenden Dörfer. Eine flache Waldniederung
trennt den Buckower See von dem Jamnnder. An der
Nordostecke desselben, bei Beginn der Nehrung, liegt das
Fischerdorf Laase (1278 genannt). Von demselben zieht
sich die Nehrung 10 lern südwestlich hin ungefähr bis zum
Fischerdorfe Nest. Dieselbe ist etwa 500 bis 750 m breit '-I.
Die Dünen sind ans der Nehrung nur kümmerlich bewachsen.
Ungefähr in der Mitte ist der Abfluß aus dem Jamnnd-
scheu See, welcher nach Brüggemann 1640 entstand, durch
welche eine wegen des Sogsaudcs gefürchtete Furt geht,
östlich davon das ärmliche Fischerdorf Deep. Hier in der
"Nähe fuhren die Köslincr mit ihren Schuten ins Meer, wo
die sogenannte Bollwcrksdüne liegt. Am Westrande der
Nehrung liegt das Fischerdorf Nest, 1278 urkundlich erwähnt,
in welchem Jahre dem Nonnenkloster in Köslin die Taberne
im Dorfe Benest verliehen wurde. 1281 war das Kastrnm
Nest im Besitz des Ritters Johann Nomele. Bis vor
kurzem führte ein sandiger Weg von Moellcn dorthin. Es
wurde im Jahre 1552 bei der großen Sturmflut zerstört
und nachher bei seinem Wiederaufbau au die frische See
verlegt, vor der Ostsee durch eine 18 m hohe Düne geschützt.
Das Weideland, welches ehemals reichlich vorhanden war,
ist versandet. Im Sommer haben die Fischer durch Bade-
gäste, welche sich hier zahlreich aufhalten, einen reichlichen
Verdienst.
Hinter der Nehrung liegt der Jamundsche See, 2 bis
3 m tief, 24 qkm groß, 10 km lang, zwei Halbinseln
I Das Nähere bei Hannecke, a. a. O. S. 68.
2) Lehmann, Das Küstengebiet Hinterpommerns 1881.
ragen auf der südlichen Seite in denselben hinein, welche
drei Buchten bilden. Zwei mächtige erratische Blöcke
liegen in demselben. An der Ostscite unmittelbar am See
Wusscken, überwiegend Boden vierter Klasse. Die Kirche
war ein berühmter Wallfahrtsort, da in demselben eine
geweihte Hostie gezeigt wurde, aus der Blut herausquoll.
Wendland berichtet darüber. Bei Austeilung des Sakra-
mentes kamen viele Gläubige herbei, unter andern sei auch
eines Hirten Frau hinzugetreten und zwar vor der Edel-
srau, nämlich vor Ritter Paul Bulgrins Ehcgenossin. Diese
habe das arme Weib zurückgestoßen, worüber aber die kon-
sekrierte Hostie dem Priester nicht allein aus der Hand auf'
die Erde gefallen, sondern auch gedachte Ehefrau knietief in
die Erde gesunken sein soll. Der Snffragan hob die Hostie
unter dem Vorgeben, daß sie blute, von der Erde ans und
ein großer Wallfahrtsort wird bis 1534 errichtet. Auch
ihr Ehemann, Paul Bulgrin, scheint ein sehr sündhafter
Mensch gewesen zu sein, denn die Priester legten ihm eine
Wallfahrt nach Santiago de Eompostella aus. Als er aber
von den dortigen Priestern nach dem viel gnadenreicheren
Maricnbilde auf dem Gölten verwiesen worden war, fluchte
und wetterte der gottlose Ritter bei seiner' Rückkehr nach
Wusscken, 1416, über die Gewissenlosigkeit seines Pfaffen,
der ihn habe 400 Meilen reisen lassen, da er doch den Ort
der Gnade vor seiner Thür und seines Vaters Ochsen sehr
oft daselbst gehütet habe. Auch in der Kirche des benach-
barten Jamund wird ein Kruzifix gezeigt, welches inwendig
hohl ist und ans Verlangen Blut schwitzen konnte. Wusscken
war der Sitz eines alten slavischen Geschlechtes, dessen
urkundlicher Ahnherr der schwarze Ritter Bartus war und
nach dem sich das Geschlecht Bartuskewitz, später Bulgrin,
nannte. Südlich von der Kirche am See hatten sie ein
festes Schloß erbaut, welches noch auf der alten General-
stabskarte angegeben ist. Auf dem östlichen Vorsprunge liegt
Labus, dann folgt südwestlich Jamnnd, schon 1224 urkundlich
genannt, gehörte zu den 13 Dörfern, welche 1227 dem Nonnen-
kloster zu Treptow geschenkt wurden, seit 1331 im Besitz der
Stadt Köslin, es ist ein wohlhabendes Bauerndorf mit gutem
Acker. Hier wirkte 22 Jahre lang der Pastor Wilhelm
Haken (1749 bis 1771), der sich um die pommcrsche Lokal-
geschichte verdient gemacht und die Geschichte der Stadt
Köslin und Stolp veröffentlicht hat. Auch über die Lage der
Jomsburg hat er eine Arbeit herausgegeben, welche noch
dazu von der dänischen Akademie der Wissenschaften mit
einem Preise gekrönt ist. Er verlegte dieselbe in die Um-
gegend von Jamnnd *). Auch eine Bibliothek in der Kirche
hat er gestiftet. Die Bewohner Jamunds und Labus haben
ihre eigentümliche Tracht und Sitten treuer bewahrt als
die Nachbardörfcr. In beiden Dörfern kommen nur sieben
Familiennamen seit mehreren Jahrhunderten vor: die
Lassahn, die Lemken, die Lüttschwager, die Mallow, die
Blanken, die Marpe und die Otten, und ebenso nur wenige
Vornamen. Den Anzug hat Benno, a. a. O. S. 186 aus-
führlich geschildert, nur den Brautstaat einer Jamnnderin
wollen wir nach demselben Autor hervorheben. Die Jamnn-
derin trägt als Braut einen feinen schwarzen Anzug nach
alten: herkömmlichem Schnitt, der von einem mit Silber
und Goldtressen reich besetzten Leibgürtcl zusammengehalten
wird, um den Hals einen bis an das Kinn reichenden
Faltenkragen, nn: die Schultern einen kurzen Tnchmantel,
auf den Händen schwarzlederne, blankgestickte Handschuhe.
Der Hauptschmuck ist immer der sogenannte Pfeil, eine selt-
sam geformte hohe Brautkrone, auf einem metallenen Bügel,
i) Haken, historisch kritische Untersuchung sämtlicher Nach-
richten von der ehemaligen, auf der pommcrsche» Küste befind-
lich gewesenen und so hoch berühmten Seestadt Jomsburg, 1776.
Dr. Zechlin: Das Fürstentum Kaminin.
237
worüber sich andre Bügel sphäroidisch erheben, die sämtlich
mit Knistergold, vielen silbernen Flittern und sonstigen Zier-
raten prangen. Seit 1817 ist dieser Schmuck noch durch
eine goldene Halskette vermehrt worden. Am 15. Juni
1817 passierte die nachmalige Kaiserin Charlotte, Gemahlin
des Kaisers Nikolaus, Tochter Friedrich Wilhelm III., den
Gölten, wo sie von einer Schar junger Mädchen begrüßt
wurde. Alle erschienen in ihrer eigentümlichen" Tracht,
nur die Führerin namens Anna Lassahn im vorbeschriebenen
Brautstaat. Sie begrüßte die Königstochter mit einem
Gedicht und erhielt zur Belohnung eine goldene Kette,
welche noch heute jede Braut an ihrem Ehrentage trägt.
Ebenfalls verdienen die Gilden, das sind Zusammenkünfte,
erwähnt zu werden. Sie werden zu Jamund im Monat
Mai oder Juni gehalten. Dieselben fangen Mittwoch an
und endigen Sonnabend. In jedem der dazu bestimmten drei
Höfe versammeln sich Mittwoch nachmittags 12 Familien.
Während Knechte und Mädchen im Borhause tanzen, unter-
halten sich die Hausväter in den Stuben oder spielen Karten.
Es wird nebenbei feines Weizenbrod und Butter verabreicht.
Am folgenden Tage nimmt die Gilde schon vormittags
wieder ihren Anfang; der Hauswirt sorgt für ein reichliches
Frühstück, aus Fischen, Butterschnitten und Branntwein
bestehend; des nachmittags wird ein eigens für diese Tage
gebrautes starkes Bier gegeben, so gehts bis Sonnabend.
Die Gildewirte benutzen dafür zugleich als Entschädigung
ein Grundstück, die Gildewiese genannt, wovon jeder un-
gefähr drei Fuder Heu erhalten mag.
In derselben Entfernung vom See Nenenhagen mit
fruchtbarem Acker. Dicht dabei Groß- und Klein-Streitz am
Basterkanal, der in den Jamunder-See führt, ersteres ein altes
Schmelingsches Lehen. Unmittelbar hinter den Dünen Groß-
und Klein-Möllen. Groß-Möllen 1288 genannt; 1333 ver-
kaufte es der Kolberger Patrizier Henning Schlief an einen
Damitz, ebenfalls Bürger von Kolberg; in dem Besitz dieser
Familie befand es sich über 400 Jahr. Beides sind frennd-
liche Dörfer, in ersterem sind einige hübsche Häuser zu
Badewohnnngen eingerichtet, hier endet die Ehanssee von
Köslin, welche hinter Jüdenhagen sich gabelt, und deren
westlicher Arm nach Kolberg führt. Jüdenhagen ist ein
langgestrecktes, freundliches Dorf, nördlich vom Buchwald
gelegen, ein altes (1368) Schmelingsches Lehen mit gutem
Acker. Mit ihm beginnt die Reihe der langgestreckten
Hagendörfer. Den Namen leitet Berghans vom slavischen
Ehüdo, d. h. schlechter Hagen ab. Dann führt die Chaussee
an dem Amte Kasimirsbnrg vorbei znm Dorfe Bast.
Kasimirsbnrg ist eine fruchtbare Domäne. 1592 legte der
Fürst-Bischof Kasimir IX. eine Stuterei an und ließ ein
Schloß bauen und einen schönen Garten anlegen an den
lustigen frischen See (dem abgelassenen Baster). Dem
Schlosse gab er seinen Namen und verlegte hierhin den
Sitz seiner Beamten. Seit dieser Zeit wurde das Amt
Kasimirsbnrg genannt, welches früher Bast hieß. Bei dem
Gntshofe wurde eine römische Münze gefunden. Dicht da-
bei Bast am Ostrande des Baster See, der in den siebziger
Jahren des 18. Jahrhunderts trocken gelegt und durch einen
Kanal in den Jamundcr See abgelassen ist. Die Kirche
ist ein gut erhaltenes gothisches Gebäude mit einem Oucr-
schiffe auf der Südseite und vielen auf Glas gemalten
Wappen an den Fenstern aus dem Ende des 16. Jahr-
hunderts. In derselben hängt das Bildnis Kasimirs,
außerdem ein Gerippe von einem Walfisch, der 1590 in
der Ostsee gefangen wurde. Bastland oder Bestland (indago
Bast) wurde 1277 Eigentum des Jungfrauenklosters zu
Kolberg. 1288 wurde das Dorf an das Kloster Dargun
verliehen. Der Wende Milota hatte noch um das Dorf
einen Streit mit dem Kloster, welchen der Buckowcr Abt
schlichtete I. Das Dorf hatte früher die Marktgerechtigkeit,
welche Märkte 1733 nach Köslin verlegt wurden. Dicht
dabei Todtcnhagen (d. h. der Hagen des Tod) mit dem
größten Grnndstenerreinertrag, nämlich 85 Sgr. vom Morgen
Ackerland. Ebenfalls unmittelbar am Strande liegen die
Ortschaften Bancrhufen und Sorenbohm, ersteres ein freund-
liches Fischerdorf, in welchem im Sommer viele Badegäste
ein geselliges Leben führen, durch eine Düne, welche am
westlichen Ende hoch ist und eine steile Böschung hat, geschützt.
Ein tiefer Sandweg, wenn man nicht einen großen Umweg
durch fruchtbares Feld vorzieht, führt zu dem benachbarten
Sorenbohm, tvelches unmittelbar am Strande liegt, so daß
die Gürten an den dünenlosen Strand stoßen. Hier hat dir
See viel Land weggerissen. Die Kirche, 1856 gebaut, ist
von freundlichen Bäumen umschattet. Westlich davon Funken-
hagen, 1288 genannt, ein langes Dorf, eben und fruchtbar;
das Gut verkauft viel Gemüse an die Badeörter. Es war
wie das benachbarte Parpart ein Damitzsches Lehen. Die
Kirche, welche 1490 als ecclesia parochialis unter dem Pa-
tronat des Nonnenklosters zu Köslin erwähnt wird, hat die
Ostsee hinweggcrissen. Der Leuchtturm ist weithin sichtbar.
Westlich von Pleushagrn, dem Geburtsorte des Kriegsministers
Roon (gest. 1879), mündet die Wonne in dir Ostsee.
Der rote Bach oder die Wonne ist der Abfluß des
Parnowcr Sees, welcher in gerader Linie 12 Km von der
Ostsee entfernt ist. Am östlichen Ufer des Sees liegt Tessin,
urkundlich 1227 erwähnt, in welchem Jahre das Dorf
Tessin von Barnim I. dem Nonnenkloster zu Treptow
geschenkt wurde, mit frnchtbarem Acker und schloßartigrm
Wohnhaus. Hier fand, wie schon erwähnt, das Tressen
zwischen Kolbergern und Köslinrrn statt. An der andren
Seite des Sees Parnow, 1288 genannt. Dann folgt am
linken Ufer des kleinen Baches Barchim, 1288 genannt,
mit altertümlichem Hrrrenhansr, es hat strengen Lehmboden.
Seit 1410 im Besitz der Kamele. In dem zu Barchim
gehörigen Gehölz liegt ein kleiner Burgsee, der seinen
Namen nach dem dabei gelegenen Burgwall führt. Westlich
davon ein großes Torfmoor. An derselben Seite liegt das
lange und große Dorf Kordcshagen, d. h. Knrtshagen,
hauptsächlich eine Straße bildend. Eine Apotheke befindet
sich in demselben. Wo der Weg nach Strippow abgeht,
liegt die Kirche, welche 1497 durch einen Sturm umgerisscn
wurde2). Die Fortsetzung des Dorfes bildet das hoch-
gelegene Hohenfelde mit Schloß und daran schließendem
schönen Park. Friedrich Wilhelm I. besuchte seinen Etats-
minister Ernst Bogislaw von Kaineke in Hohenfelde. In
dem Park wird noch eine Bertiefnng gezeigt, wo der König
sich aufhielt, und welche noch das Königsthal heißt. Später
fiel derselbe in Ungnade (gest. 1726). Jetzt gehört es dem
früheren Kriegsminister von Kaineke. Das Gut scheint
erst Ende des 16. Jahrhunderts angelegt zu sein. Es
hat guten Weizenboden, wenn sich auch in trockenen Jahren
ein großer Wassermangel fühlbar macht. Die Wonne
macht hier einen großen, nach Norden gerichteten Bogen,
der sich bis Kiepersdorf erstreckt. Gerade über Hohenfelde
durch das Wonnethal getrennt, liegt Borkenhagen mit gutem
Acker. Bon hier wandert man bis an die Küste durch lang-
gestreckte Dörfer, wie denn hier die Ansiedelungen viel zahl-
reicher sind als ans dem Landrücken. Unmittelbar an Borken-
hagen schließt sich Schnlzenhagen an. An mehreren Gütern
(z. B. Bosterbcrg), an fruchtbaren Feldern und schönen Gärten
vorbei zur einfachen Kirche, bei der der Weg nach Kalten-
hagen (Grnndstenerreinertrag 77 Sgr.) führt. Der südliche
Weg führt durch Wiesen, und mehrere Brücken durchs Wonnc-
U Pcrlbach, S. 168.
Zeitschrift für preußische Geschichte, Bd. V, S. 583.
238
Die Entdeckung vorgeschichtlicher Felsenbilder in Südindien.
that, an deren linken Seite Timmenhagen liegt, mit fruchtbarem
Boden, 1399 im Besitz der Familie Weyer, dann Lappen-
hagen, endlich Lassehne, beide mit fruchtbarem Acker. Zwischen
beiden Dörfern mündet der Strachminsche Mühlenbach.
Die Kirche, in welcher viele Schiffe hängen, ist von hübschen
Bäumen umschattet. Die Häuser sind einfach gebaut und
die Bevölkerung hält am althergebrachten. Am (nördlichen)
Ende des Dorfes das Schloß mit schönem Park, der, da
lange der Besitzer gefehlt hat, etwas verwildert war.
Urkundlich seit 1564 ein Kamekesches Lehen, wechselten in
der Folge häufig die Besitzer. So war unter andren Otto
von Schwerin, der Erzieher des ersten Königs von Preußen,
Besitzer von Lassehne. Im vorigen Jahrhundert war der
Feldmarschall Adrian Graf von Borcke im Besitz des Gutes
und seine Nachkommen. In unsrem Jahrhundert wurde
cs ein v. Arnimsches Lehen. Als der Kammerherr von
Arnim mitte der sechziger Jahre, ohne Söhne zu hinter-
lassen, starb, gelangten nach langen Prozessen die Güter in
Besitz der Familie Wedelt-Schwerin. Hohe Dünen (21 in)
schützen das Dorf vor der See. Westlich werden noch einige
Feldmarken zur Wonne hin entwässert, dieselben liegen an
der alten Landstraße von Köslin nach Kolberg. Zuerst
Strippow mit einfacher Holzkirche, am (östlichen) Anfang
des Dorfes das Gut mit schwerem und nassem Boden.
Etwas westlich davon Strachmin. Der Ort liegt kreis-
förmig um eine Wiese, die früher ein See war, ans einer
Anhöhe, ist also noch eine wendische Niederlassung. Auf
der gegen Süden gelegenen steil abfallenden Höhe steht die
alte Dorfkirche, auf der nördlichen Seite der Wiese die herr-
schaftliche Hoflage mit altem Wohnhaus, welches zu Ansang
des 18. Jahrhunderts von Paul von Kamele, Großmeister
der Gewänder (gründ maitre de la luaison royale, gest.
1717) gebaut wurde. Seine Gemahlin, geb. von Brünnow,
Gouvernante des Kronprinzen Friedrich II., welcher ihre
Kinder in den Grafenstand hob. An ersteren erinnert noch
ein Grabdenkmal, bestehend ans Sandstein und weißem
Marmor, oben die Büste desselben. Er selbst ruht in einem
Gewölbe neben der Kirche. Außerdem hängen in der Kirche
zwei Porträts als Brustbilder farbig ans Stein in halb-
erhabener Arbeit, den Statthalter Paul von Damitz und
dessen Frau darstellend. In Strachmin tritt die Familie
von Kamele zuerst in Hinterpommern ans, nachdem der
erste Ahnherr des Geschlechtes ans der Insel Usedom zuerst
in einer Urkunde 1263 erwähnt wird. In Hinterpommern
wird ein Petrus von Kamele 1299 genannt. Es ist ein
altes wendisches Geschlecht, von welchen! allein i>n sieben-
jährigen Kriege 41 Mitglieder (19 fielen) die Schlachten
Friedrichs des Großen mitfochten.
Die Entdeckung vorgeschichtlicher Felsenbilder in Südindien.
Bellari liegt im südlichen Indien unter 15° nördl. Br.
an der großen, von Madras nach Goa führenden Eisenbahn.
Seine Nachbarschaft ist schon seit einiger Zeit als Sitz eines
Steinzeitvolkes bekannt gewesen, das, nach den vorhandenen
Überresten zn urteilen, hier einst sehr dicht angesiedelt war.
Vor einigen Jahren hat der indische Geolog Bruce Foot
(Journal of the Asiatic Soc. of Bengal, vol. LVI, 1887)
gezeigt, daß der etwa 8km nordöstlich von Bellari gelegene Berg
Kapgal eine bedeutende Werkstatt, ein „Atelier" der indischen
Steinzeit gewesen war, die dort durch paläolithische und
ncolithische Geräte vertreten ist. Außer diesen Steingeräten
aber entdeckte er kleine Terassen an den Abhängen des Berges
ans roh znsammengehänften Steinen und gewaltige Kjöken-
möddinger von Asche, zerbrochene Topfscherbcn, Geräte, die
als nutzlos in den Abfall geworfen waren, zerbrochene Rinds-
knochen u. s. w. Auch kleine, durch Abdämmung eines Baches
entstandene Teiche scheinen von dein Volke der Steinzeit her-
zurühren, ebenso ausgehöhlte Blöcke von Granit und Gneis,
in denen man die Geräte Angeschliffen zu haben scheint.
Letztere bestanden namentlich in Celten von verschiedener
Form und in allen Stadien der Vollendung; überall lagen
die beim Schlagen entstandenen Steinspäue in großer Menge
umher. Der Stoff zu den Steingernten besteht aus einer
Art Grünstein (Diorit?), welcher in unregelmäßigen Bändern
am Nordabhange des Kapgal vorkommt. Bis hinauf ans
die Spitze des Hügels kann man massenhaft diese Geräte
sammeln, Steinbeile, Mahlsteine, Schaber, Kornquetscher,
Meißel in allen Formen, bald roher, bald besser ausgeführt,
die meisten aber zerbrochen, dazwischen zerbrochenes Töpfer-
geschirr, teilweise gut glasiert.
Dieser für die Vorgeschichte Indiens wichtige Hügel ist
nun neuerdings (im Juni dieses Jahres) von F. Fawcett
besucht worden, welcher darüber in der Orientalistenver-
sammlnng zu London im September berichtet hat. Ihm ist
es gelungen, dort eine neue wichtige Entdeckung zu machen,
nämlich Felsenbilder, die er den vorgeschichtlichen Be-
wohnern ane Kapgal zuschreibt. Seit wir die künstlerischen
Leistungen des prähistorischen Menschen in der Dordogne
und Thayingen kennen, seit wir mit den vielfachen Felsen-
bildern niedrigstehender Völker, lvie z. B. der Buschmänner,
bekannt sind, hat es an und für sich nichts auffallendes, auch
in Indien prähistorische Felsenbilder zu finden.
Fawcett war überrascht, als ihm an einer senkrechten
Fläche des Felsens das erste Bild entgegentrat, das noch kein
Europäer gesehen hatte und von dem er sich gleich die Frage
vorlegte, ob es dem Steinzeitvolke sein Dasein verdanke?
Die Stelle war in der oben angegebenen Weise terrassicrt
und zahlreiche Steingeräte lagen ringsumher. Die Felsen-
bilder, offenbar sehr alt, schienen zu verschwinden, wenn man
sich ihnen näherte und waren am besten in einiger Entfernung,
etwa ans 5 bis 8 in zn erkennen. Bei zweien sah Fawcett
Figuren, welche Bogen und Pfeil zur Jagd brauchten. Er-
legte sich die Frage vor, wie die Spitzen der Pfeile beschaffen
seien, denn bisher sind in Südindicn (nicht südlicher als
Tschntia Nagpur) keine steinerne Pfeilspitzen gefunden worden
und auch am Kapgal kommen sie nicht vor. Die Urvölker
haben hier gewiß nur Spitzen aus hartem Holz benutzt, wie
das noch heute bei den Kani von Trawancor der Fall ist.
Diese kleinen, zu den Drawidas gehörigen Kani benutzen
allerdings eiserne Messer und sonstige Geräte aus Eisen,
aber ihre Jagdpfeile sind mit Holzspitzen versehen. Eiserne
Pfeilspitzen kommen auch in den südindischen Cromlechs vor,
die aber aus späterer Zeit stammen; steinerne jedoch fehlen.
Fawcett bemerkt, daß er leider keine Zeit gehabt habe, die
Fclsenbildcr näher zn untersuchen. Viele von ihnen sind
über älteren Bildern hergestellt, die fast ganz verschwunden
sind. Daß aber die Bilder dem prähistorischen Volke zuzu-
schreiben sind, welches am Kapgal hauste, ergiebt sich aus
mehreren Gründen. Zunächst der Ort mit seinen reichen
Funden aus der Steinzeit. Die Hindu in der Umgegend
Die Überwinterung Aossilows aus Nowaja Semlja.
239
schreiben dieselben einem Gotte mit Namen Vitlappa zn und
schon dieser iibernatiirliche Ursprung deutet auf hohes Alter.
Ein Bild, welches den Gott Vitlappa darstellt, mag dem
prähistorischen Volke so heilig gewesen sein, wie es heute den
Hindu der Umgegend ist. Es ist die einzige Figur ungefähr
in Lebensgröße und die bei weitem am besten gezeichnete, an
einem abfallenden, gegen Osten zn gelegenen Felsen, der beim
Aufgange der Sonne von dieser beschienen wird. Der Kopf
der Figur ist mit einer harten, pechartigen Substanz bedeckt,
deren Entfernung die Verehrer Vitlappas beleidigt haben
würde. Man glaubt von ihm, daß er Regen spenden und
Seuchen abwenden kann. Vielleicht war auch die Schlangen-
fignr an demselben Felsen heilig. Von dem Hanpte derselben
gehen sieben Strahlen aus. Schlangendienst ist in Südindien,
wie wir durch Fergnsson wissen, etwas gewöhnliches, und er
durchdringt dort die Religion. Im Bellaridistrikte sind Steine
mit darauf abgebildeten Schlangen eine häufige Erscheinung
bei den Quellen. Wie bei allen ans den Fclsenbildern dar-
gestellten Figuren ist auch Vitlappa unbekleidet und dieses
allein schon deutet darauf hin, daß das Bildnis Vitlappas
aus der Vorhinduzcit stammt, denn niemals ist ein Hindn-
gott unbekleidet dargestellt worden. Gegen Hindumachwerk
spricht auch der ganze Charakter des Bildes, der Mangel
konventioneller Formen, zn schweigen davon, daß die darge-
stellten Tiere nicht genau die jetzt dort im Lande vorhandenen
wiedergeben. Die Darstellungen von Fußtapfen, obwohl sie
jenen in den ältesten Hindudarstellnngen gleichen, sind nicht
im konventionellen Stile. Neben den alten Bildern finden
sich aber auch moderne, die wahrscheinlich den Hirtenjungen
der Gegenwart ihre Entstehung verdanken und nicht leicht
verwechselt werden können, denn die Technik ist eine andre;
die modernen Bilder sind mehr abgesplittert vom Felsen, die
alten durch Pochen der Oberfläche entstanden. Hunde,
Hyänen, Ochsen, Antilopen, Leoparden, Elefanten und ihnen
ähnelnde Geschöpfe kommen in Felsenbildern vor, aber das
Pferd fehlt. Ans den ältesten Skulpturen Südindiens, denen
von Amravati, sowie ans den Hindubildnissen kommt das
Pferd vor. Die Häuptlinge auf den alten Steinbildern im
Bellaridistrikte, die dort sich in fast jedem Dorfe finden, sind
gewöhnlich zn Pferde dargestellt und da diese Heroenbilder sehr
alt sind, so fällt der Mangel des Pferdes unter den Stein-
bildern des Kapgal auf; vielleicht war es zn jener Zeit, als
die Felsenbilder geschaffen wurden, dort noch unbekannt. Viele
der Felsenbilder liegen ans Blöcken, mit der Bildfläche nach
unten ans der Erde, viele sind so hoch angebracht, daß sie
nicht ohne die Herstellung eines Gerüstes gefertigt werden
konnten. Auch das letztere spricht stark dagegen, daß die
Bilder von Hindus ausgeführt worden, die niemals sich die
Mühe gegeben haben würden, an den steilen Felsen emporzu-
klettern, dort Gerüste zu bauen und dann die Bilder einzu-
klopfen. Nirgends auch Spuren von Szenen ans dem Hindu-
leben und der Hindnreligion.
Fawcett, dem wir diesen unvollkommenen, aber anregenden
Bericht verdanken, weist noch darauf hin, daß am Fuße des
Kapgal noch merkwürdige Mounds liegen, daß Südindien
überhaupt der prähistorischen Forschung ein großes, dankbares
Feld darbiete. Der Orientalistcnkongreß berief einen Aus-
schuß, der die bei Bellari gemachten Entdeckungen weiter ver-
folgen soll.
Die Überwinterung Nossilo Ws auf
Nowaja Semlja.
Herr K. D. Nossilow, der bereits früher zweimal
ans Nowaja Semlja iiberwinterte, ist von seiner dritten llber-
winternng 1890/91 zurückgekehrt. Dieser letzte Winter-
aufenthalt 1890/91 war erfolgreicher als der frühere, sowohl
in betreff der Untersuchungen als auch der Lebensbedingungen.
Hierüber berichtet die russische „Nene Zeit" (No wo je
Wjrcmä, Nr. 5565 voni 27. Aug.), 8. Scpt. des letzten
Jahres, wie folgt.
Nossilow verließ Archangelsk im Sommer des vorigen
Jahres nnd er führte ein besonders konstrnirtes, nach seinen
Plänen eingerichtetes Haus und einen meteorologischen Pavillon
mit. Das Haus wurde am westlichen Eingang des Ma-
to tschkin Scharr (der Meerenge) aufgestellt, am Ufer des
Hafens, wo früher bereits andre Expeditionen gelandet
waren. Innerhalb zweier Wälle hatten die Begleiter Nossi-
lows, darunter drei Samojeden, alles geordnet nnd die ge-
wöhnlichen Arbeiten konnten beginnen.
Die erste Stelle in der Reihe der täglichen Beschäftigun-
gen nahmen die meteorologischen Beobachtungen ein.
Zu diesem Zweck begnügte sich Nossilow nicht mit der Grün-
dling einer einzigen meterologischen Station: er errichtete
eine zweite Station südlicher als die erste am Müller-Bnsen
in der Kolonie Kormokuli. — Bis znm November unter-
nahm Nossilow wiederholte Ausflüge in einem Bote durch
die Meerenge in das Karische Meer hinein. Er sammelte
Sängethiere, Vögel, machte Tiefenmessungen und Küstenanf-
nahmen. Im November begannen Fröste — die Polarnacht
brach ein — die Beobachter blieben ans ihrer Station. Der
Winter zeichnete sich durch ungewöhnlich heftige Stürme ans;
das Meer blieb die ganze Zeit bis zum Frühjahr frei von
Eis, auch tief einschneidende Buchten froren nicht zu. Be-
sonders viele Stürme gab es im Dezember und im Januar
1891; gleichzeitig traten ungewöhnliche Temperatnr-
schwankungen ein: die Temperatur sank bis ans — 35° C.
und stieg im Verlauf einiger Stunden bis auf -j- 3° C.
Dabei fielen solche Regenmassen, daß sich — mitten im Winter —
seeartige Wasseransammlungen bildeten und die Flüsse auf-
gingen. Viele Seevögel, die sonst nicht auf Nowaja Semlja
zn überwintern Pflegen, hielten sich den ganzen Winter da-
selbst auf — wahrscheinlich waren sie durch die Stürme da-
hin getrieben. Sie kamen in großen Massen durch die
Kälte um — bei der Dunkelheit der Polarnacht verirrten
sie sich in den Bergen. Auch viele Renntiere und Polar-
füchse gingen durch Hunger zu Grunde: infolge des Regens
bedeckte sich die Oberfläche der Insel mit einer solchen Eis-
kruste, daß die armen Tiere sich nur mit großer Mühe ihre
Nahrung suchen konnten. Sogar die Meertiere litten durch
die schrecklichen ununterbrochenen Stürme, hunderte von
Seehunden erfroren auf dem Eise; Fische lagen haufenweise
am Ufer — alle waren durch die Wasserwogen heraus-
geschleudert. Es schien, als wollte der Winter alles Lebendige
vernichten.
Innerhalb der Station ging das Leben während des
ganzen Winters ruhig dahin; niemand erkrankte an Skorbut,
der bei allen Reisen im hohen Norden so sehr gefürchtet
wird; die wissenschaftlichen Beobachtungen konnten regel-
mäßig gemacht werden. Der Frühling war keineswegs
milder, er war kälter als die früher durchlebten und auch
reich an Stürmen. Erst gegen Ende des Mai wurde es
wärmer. Nach dem ungewöhnlichen Winter nnd Frühling
folgte ein so rauher Sommer, wie sich die Samojeden, die
schon 17 Winter auf der Insel verlebt hatten, keines ähn-
lichen erinnern konnten. Bis gegen Ende des Juli stieg die
Temperatur nicht über -\- 5° 6. Nebel, Regen, Frost,
Schnee wechselten ununterbrochen miteinander ab. Zahllose
Vögel, die hier nisten wollten, wurden im Juni in ihrer
Brutstätte von Schnee bedeckt nnd gingen zn Grunde, weil
sie kein Futter fanden. Als der Reisende im Juli die
Station verließ, war etwa noch die Hälfte des Wintereises
vorhanden und die Seen waren noch mit Eis bedeckt; ebenso
die Meerenge und viele Buchten.
240
Aus allen Erdteilen.
' Der Reisende hat eine umfangreiche zoologische Samm-
lung mitgebracht. Diese Überwinterung — die dritte — soll
die letzte auf Nowaja Semlja sein, der Reisende bcgiebt sich
zur Erholung in den Kaukasus und in die Krim; im Herbst
wird er nach Moskau zurückkehren, um sich mit der Bear-
beitung der gesammelten Materialien zu beschäftigen.
Die nächste Reise wird Nossilow nach der Halbinsel
Jal mal machen. — a.
Ans allen
— Eine Zwergrasse in Marokko ? Auf dem Markte
von Tanger lernte R. G. Halibnrton einen Eseltreiber
kennen, der nur 4 Fuß 6 Zoll englisch groß war. Er-
forschte weiter und horte, daß der Klcsne einer „Rasse" von
Zwergen im Süden Marokkos angehöre. Man sagte ihm,
sie wohnten in Akka, hießen Taata Tajakants und verständen
es, verlorenes Geld wieder aufzufinden. Der Eseltreiber war
von rötlicher Farbe, wohlgebildet, hatte Augen, welche an
jene der Chinesen erinnerten und stammte nach seiner An-
gabe ans den Wadi Nun. Sein Volk, so sagte er, jage Strauße
und reite ponyartige Pferde, auch besuche es die Märkte
von Sus und Tazzerult (südwestliches Marokko). Caillü,
lvelcher durch Akka kam, berichtet auch von Zwergen, die er
dort traf. Halibnrton erfuhr von Europäern, die längere
Zeit in Marokko gelebt hatten, daß sie auch wiederholt Zwerge
in Fez, der Hauptstadt Marokkos n. s. w. gesehen hatten.
Diese Nachrichten, welche Halibnrton ans der Oricnta-
listenvcrsammlung in London gab, erhielten durch Walter-
Harris Bestätigung. Er sah zu Fez einen Zwerg, 4 Fuß
2 Zoll hoch, dunkelbraun, der ihm sagte, sein Stamm,
mohammedanisch, lebe in Zelten und Höhlen im Südosten
des Wadi Draa, zöge mit seinen Ziegenheerden umher und
spräche sowohl arabisch wie berberisch. — Jedenfalls ist hier
noch näher zu erforschen, ob es sich um einen wirklichen
Zwergstamm oder nur um einzelne Zwerge, wie sie überall
vorkommen, handelt. Die zerstreute afrikanische Zwergrasse
ist bisher nur im Siideu vom Äquator bis zu den oberen
Nilländern, gefunden worden. Rohlfs, Lenz und andre
Reisende, die in jene Gegenden südlich vom Atlas gelaugt
sind, wissen nichts von einer Zwergrasse dort zu berichten.
— Die deutsche Expedition zum Victoria-Njansa,
welche, ausgerüstet durch die Mittel der Antisklavereilotterie,
den See auf seine Schiffbarkeit durch den Wißmanndampfer
luitersnchen soll, hat am 16. September Hamburg verlassen.
Der Dampfer besitzt einen Tiefgang von 2 in und es ist
fraglich, ob derselbe überall, wenigstens an den Küsten, ver-
wendbar ist. Die Expedition soll den See wissenschaftlich
erforschen, astronomische Ortsbestimmungen vornehmen, meteo-
rologische und ethnographische Beobachtungen anstellen und
dabei praktische Fragen (Anlage von Häfen, Stationen, Unter-
drückung des Sklavenhandels re.) nicht außer Auge lassen.
Zn den Vermessnngen ans dem See führt die Expedition
zwei zerlegbare hölzerne Bote mit, sowie die nötigen Instru-
mente. Leiter ist der Baninspektor Emil Hochstettcr; bei-
gegeben sind ihm als freiwilliges Mitglied der österreichische
Oberleutnant v. Fischer, Offizier Ludwig Meyer als Führer
der Träger und Soldaten, Steuermann August Blett als
Führer des Botes.
— Prter Iw anow itsch Pasch ino, bekannt als Orient-
reisender, starb am 5./17. September 1891 in St. Peters-
burg. Geboren am Ende der dreißiger Jahre im Gouver-
nement Kasan, besuchte er das Gymnasium zu Kasan, und
studierte dann an der Universität daselbst. Zu Anfang der
siebzigcr Jahre unternahm Paschino eine Reise nach Indien
und machte sich sehr schnell mit allen Eigentümlichkeiten jenes
Lrdteilen.
Landcs bekannt. Nach seiner Rückkehr vcroffentlichte er im
„Golost" über Judien cine Reihe von Anfsntzen, die spatcr
in Form cines Buches heransgegeben, einen austcrordentlichcn
Erfolg hatteu. Dcr Ñame des Berfassers wnrde bald bekannt;
cine knrze Zeit gab Paschino ein Journal, „Dcr asiatischc
Bote", heraus. Ansterdcm verfastte er cine Anzahl kleinerer
Abhandlnngen, die zum Tcil in dcr „Nowoje Wrjema" ver-
offentlicht siud. (Nowoje Wrjema.)
— Kapitän Lugard in Uganda. Der in Diensten
der britischen ostafrikanischen Gesellschaft stehende Kapitän
Lugard, dessen Reisen im Hintcrlande von Mombas wir
schon erwähnten (Globus, Bd. LIX, S. 159), befand sich
gegen Ende des verflossenen Jahres in dcr Landschaft Ki-
Kujn am Kenia, beschäftigt mit der Errichtung einer Station,
als er den Auftrag erhielt, nach Uganda am Viktoria-Njansa
vorzudringen, um mit dessen wankelmütigem Könige einen
Vertrag abzuschließen. Mit 300 Trägern und Soldaten,
sowie mit einer Maximkanone zog er über den Baringosee
nach Usoga ans dem Wege, den auch Dr. Peters marschiert
war. Usoga schildert er als den Engländern freundlich, als
schönes Plateauland von 1500 bis 2400 m Erhebung mit eiuer
Vegetation von Heidelbeeren, Klee, Disteln, Nesseln und
Vergißmeinnicht. Am 13. Dezember 1890 kreuzte er den
Nil an seinem Ausflusse aus dem Viktoriasee und fünf Tage
später befand er sich zu Mengo am Nordufer des letzteren,
wo der Ugandakönig Mwanga residiert. Er fand das Land
noch verkommen und durch die Parteikümpfe zwischen Katho-
liken und Protestanten zerrissen, dabei warteten die in: Norden
stehenden Anhänger des Mahdi nur aus günstige Gelegenheit
zu einen: Einfall, nn: Uganda an sich zu reißen. Die Katho-
liken zeigten sich gegen Lugard, der sich auf einem Hügel
verschanzte, sehr feindlich und thaten alles, um den König von
einen: Vertrage abzuhalten, welcher alle Handelsrechte in die
Hände der Briten gab. In der That war Mwanga ein
Spielzeug in der Hand der Katholiken und erst nach längeren:
Zögern unterzeichnete dieser einen Vertrag, welcher ihn, jedoch
n.ur auf zwei Jahre, den Engländern verpflichtet. Käine,
so sagte er später, einmal ein stärkerer, so würde er diesem
sich fügen. Offenbar hielt der König sich noch gegenüber
Dr. Peters verpflichtet und er hatte Boten nach Dentsch-
Ostafrikn gesandt, um zu erfahren, wie die Lage dort stände.
Ohne das bekannte britisch-deutsche Abkommen würde heute
sicher Uganda unter deutschem Einflüsse stehen.
Was die Ausbeute von Uganda und Usoga betrifft, so
glaubt Lugard, daß nur durch eine Eisenbahn dem Handel
aufgeholfen werden kann. Der Transport eines Zentners
Ware nach dcr Ostküste kostet jetzt noch 40 Mark und dabei
ist kein Handel inöglich. Die Eisenbahn von Mombas ans
(deren Bau begonnen hat) wird sich durch den Salz Handel
bezahlt machen, denn Salz ist in jenen Gegenden ein großes
Bedürfnis und wichtige Handelsware. Die Berechnung, die
Lugard anstellt, sieht ans den: Papiere sehr gut ans. Er
nimmt fünf Millionen Abnehmer an, die jeder jährlich
14 Pfund Salz gebrauchen, und damit siud die Kosten ge-
deckt und für Cheshire, welcher das Salz liefern soll, springt
noch ein ansehnlicher Gewinn heraus.
Herausgeber: Dr. R. Andrer m Heidelberg, Lcopoldstrape 27.
Druck von Friedrich View cg und Sohn in Bmunschwcig.
Bd. LX
Nr. 16
Begründet 1862
von
Karl Andree.
Arruck urrö Werkcrg von
Jänler-imi) Meckmile.
Herausgegeben
von
Richard Andrer.
IrieöricH °Diewec; L Sohn.
N v rt it f sfi hi i> t ft Jährlich 2 Bände in 24 Nummern. Durch alle Buchhandlungen und Postanstaltcn a qqj
iO i u 11II I u) lu L l y* zum Preise von 12 Mark für den Band au benetzen.
Das serbisch-türki
Von 11
Weder dem gebildeten Zeitnngsleser, noch im Unterricht,
ja nicht einmal für den Geographen von Fach bieten sich
die Gebirge der Balkanhalbinseln in wohl unterscheidbaren
Systemen dar. Es gehört namentlich zu den ungelösten
orographischen Aufgaben, bezüglich dieses Landes eine unter-
scheidende Übersicht über die sämtlichen Gebirge des Westens,
insbesondere zwischen der Adria und dem Rilodagh zu ge-
winnen. Denn es wird ja eine solche Übersicht nicht nur
einfach und einleuchtend, sondern vor allem der Wirklichkeit
verlässig angepaßt sein müssen.
Wie für die südliche Hälfte Bosniens, so erweist sich
die Schwierigkeit, fraglicher Anforderung zu genügen, noch
mehr für die angrenzende Zrnagora, wenngleich die groß-
artige Gruppe der Kombergc sich als eine beherrschende und
gleichsam stützende Gipfelmasse eindrucksvoll zur Geltung
bringt. Eine Lösung dieser Aufgabe, wie sie der Kaiserl.
und Königl. Oberst v. Stecb, ein vorzüglicher Kenner der
Halbinsel, in den „Mitt. d. Geogr. Gesellsch.", Wien 1889,
bringt, nach welcher so schluchtartige Flußstreckcn, wie z. B.
der Westlauf des Drin, desgleichen der östlichen oder bi-
naekischen Morava unterhalb Branja, als Grenzen des von
ihm so benannten „Jllyrischen Gebirgslandcs" zur Verwen-
dung kommen, kann vor allem dann Bedenken veranlassen,
wenn diesseits und jenseits einer solchen Flußspaltc weder
die Bodengestalt noch die geognostische Beschaffenheit sich
ändert. Einwandfreier erscheint die Scheidung des Westens
dieser Gesamtheit durch eine Tiefenlinie vom Skutarisee
durch das Moraeathal über den Predelecsattel zum Lim und
ans dessen Thal in das der Drina bis nahe ihrer Mündung.
Immerhin wird man angesichts der vorhandenen Schwierig-
keiten sich auch mit dem Verfolgen von engen Thalgrenzen
behelfen müssen, um Abschnitte von mäßiger Ausdehnung
zu gewinnen. Als ein solches zusammengehöriges Gcbirgs-
ganzcs fassen wir die Rücken, welche von dem untersten Lim
bis zur oberen binaokischen oder „bulgarischen" Morava
als Hochbodcn der Staatsgrenze des jungen Königreiches
Serbien eine besondere Wichtigkeit gefunden haben.
Globus LX. Nr. 16.
sche Grenzgebirge.
). Gätz.
Dieser Zug findet auf den Übersichtskarten eine sehr-
verschiedene Darstellung. Während ihn z. B. die öster-
reichische Karte von Mitteleuropa im Maßstab 1:300000
ziemlich unklar als sanft profilierte, unkräftige Rücken sich
abheben läßt, werden sie in Stielers Handatlas so scharf
markiert wiedergegeben, daß man die Richtigkeit dieser Form
zu bezweifeln bestimmt wird.
Aber auch abgesehen hiervon, wird es bei den fortdauern-
den ethnographischen Schwankungen im Innern der viel
beunruhigten Halbinsel für wissenswert genug gelten, ob der
serbische Staat und seine Bevölkerung mit einiger natürlicher
Berechtigung an der fraglichen Gebirgsgrenze eine Schranke
erhalten haben. Für die Antwort hierauf wird man fast
nur die Gestalt des Ganzen derselben zu Rate ziehen
müssen.
Das Ganze.
Vor allem beachten wir den fast ohne alle Unterbrechung
ans rund 250 lun Länge festgehaltenen Zusammenhang des
Zuges. Denn es hat ja sich auch der Jbar, obwohl er bis zu
einer Seehöhe von nur 427 in cingeschnitten ist, größeren-
teils nur mit einer Furche ohne alle Thalsohle hindurch-
gearbeitet, so daß in seinem, über große Geröllsteine rasch
dahineilenden klaren Wasser die Kopaonikmasse ihren Fuß
netzt, während gegenüber die ausgezeichnete Chaussee nach
Kraljevo in die Böschung des Abhanges eingeschnitten wer-
den mußte (s. Abbildung S. 244).
Lassen sich auch, wie wir alsbald erkennen, drei Haupt-
abteilungen in dem südöstlichen Verlauf unterscheiden, so er-
weist doch Profil und Höhe das Ganze als ein einheitliches
Gebirge. Vor allem tritt dies in der Art der Abdachung
entgegen, indem dasselbe von seinem „Kamme" (freilich fast
immer stumpf) aus nach Südwesten, Süden und Westen
sich viel rascher als nach Serbien hin und meist ohne Zweige
zu Thal neigt. Durch die Nähe der Tiefenlinie, welche von
den Städten Nova Varos (Neustadt), Sjenica (Augapfel)
und Novipasar (Neumarkt) punktiert erscheint, haben wir
31
242
W. Götz: Das serbisch-türkische Grenzgebirge.
eine unmittelbare Veranschaulichung der erwähnten That-
sache. Sie gestaltet die Aussicht nach Süden, während man
auf dem Grenzgebirge vorwärts geht, stets genußreich, da die
südlich parallelen massiven Erhebungen sich um so impo-
santer darbieten, wenn auch allenthalben wenig gegliedert
und meist kahl.
Auch das Längsprofil des Gebirgskammes ist dadurch
gleichartig, daß es überall sanfte oder doch nur selten leb-
haftere Konturen zeigt, mit Ausnahme des mittleren Teiles,
des Kopaonik. Nach der Nord- oder Nordostscitc vollzieht
sich die Abdachung zumeist in vielen kurzen Rücken, welche
vom Hauptznge im rechten oder andern Winkeln abgehen,
durch die Erosionsarbeit zahlreicher Bäche aus der einstigen
Gesamtmasse herausmodelliert. Ihr Querschnitt würde
nicht wie der eines stumpfen Kegels aussehen, indem wir
da zumeist Gewölbe vorfinden, die sich aus einer untersten,
sanft geneigten Stufe erheben. Von dieser aus geht es beim
Mangel gewundener Wege steil aus die eigentliche Höhe,
welche aber dann nur in schwacher Steigung zu dem obersten
Rücken hinleitet. Von dem Verlaufe der Haupterhebungen
geben wir hier eine allgemein gehaltene Skizze.
Die Seehöhes odann sichert unsrem Grenzgebirge zweifel-
los eine besondere Stellung gegenüber Serbiens sonstigem
Reichtum an Bergland. Denn in letzteren Gebieten pflegen
sich nur einzelne stumpfe Kuppen um etwa 500 bis 600 rn
über die benachbarten Thalsohlen zu erheben, die Gebirgs-
rücken aber um 300 bis 500 m. An der Südgrenze aber
steigt man von den meisten Thalpunkten, wenn sie durch-
schnittlich 15 km von der Mittellinie des Kammes entfernt
angenommen werden, um 600 bis 900 m empor, wenigstens
vom Lim bis zum Jbar; dann freilich folgt mit alpiner
Hochentwickelung und andrer Kammrichtung der Kopaonik,
abgesehen von seinen Gipfeln, 1000 bis 1100m höher als
die nahen Thalsohlen; der Südosten aber erhebt sich gleich-
falls 500 bis 600 m über die vielgewnndenen nahen Bach-
einschnitte, deren Sohle 400 bis 600 m über dem Meere
zu sein pflegt.
Es beherrscht so unser Grenzgebirge fast allenthalben
durch eine Höhe von 1000 bis 1600 m seine beiderseitige
Umgebung; oft steigen kurze Abschnitte noch etwas höher.
Man bewegt sich also dort ans Höhen, welche denjenigen
vielgenannter bayrischer Alpenberge gleichkommen, Nur
im äußersten Westen und südlich von Kursumlje sinkt der
Rücken unter 900 m (Kursumlje hat 381 m Seehöhe; die
Einsattelung des Straßenüberganges nach Pristina in
Türkisch-Serbien 874 m).
Derartig stattliche Gebirgszüge, durch einzelne stumpfe
Gipfel noch überragt, sucht man im Innern und in den
westlichen zwei Drittteilen Serbiens vergebens; nur dessen
Osten wird durch die letzten Zweige des Balkansystems zu
einem mit ähnlich gehobenen Zügen stark profilierten Grenz-
gebiete.
Teile.
Doch nötigt immerhin Höhe und Unterbrechung der
Richtung von Seiten des wiederholten Kopaonik, dazu einige
Veränderung der Gestalt, das Ganze in drei wohl unter-
scheidbare Teile zu gliedern. Diese sind:
1. Das Gebiet des Westens vom Lim (oder Drina)
bis zum Jbar. Es besteht natürlich aus verschieden be-
nannten Teilen, ohne daß deren gegenseitige Abgrenzung in
der Gestalt sich deutlich ergicbt. Wir fassen es nach dem-
jenigen Gewässer zusammen, welches als wichtigster Sammel-
kanal der Abflüsse dieses Einzugsgebietes erscheint. Es ist
die Moravica, d. h. der obere Teil der westlichen Morava,
auf den Karten vorwiegend als serbische bezeichnet; daher
W. Götz: Das serbisch-türkische Grenzgebirge.
243
haben wir die westliche Hauptabteilung als Moraviea-
b erg land vor uns.
2. Der Kopaonik am Ostuser der Jbar, ein sonder-
lich geformtes Hochgebirge, unterbricht die Streichungsrichtung
des Grcnzrückens, indem er sich vorwiegend nördlich wendet,
mit ausgestreckter Auszweigung nach Südsüdost.
3. Die beträchtlich südlicher gerichtete Gebirgsmasse
links der obersten östlichen Morava, der binaökischeu, auf
den meisten Karten als bulgarische benannt, erfährt ihre
beträchtlichste Wasserabfuhr durch die Jablanica, welche
in der mit Hanf- und Tabakfeldern reich bebauten Fläche
des ausgedehnten, behäbigen Leskovac mündet. Natürlich
haben auch die Einzelstrecken des Jablanicagcbirgcs ört-
liche Namen.
Das Besondere dieser drei Hanptteile in ihrer äußeren
Erscheinung ist etwa dies:
Das Moravicagebirge gleicht in seinem Grundriß
am meisten von den genannten drei Teilen einem einseitig
gefiedert-gelappten Blatte, welches eine sehr starke Mittel-
rippe besitzt, deren Fiebernerven meist noch sehr kurze Seiten-
nerven abzweigen lassen. Dies fehlt auf der Südseite, wo
nahe der Böschung die Folge der drei Thalsenken einschncidct,
in welchen innerhalb armseliger Vegetationsnmgcbnng reich
an Gärten und Baumgruppen die schon erwähnten Städtchen
Nova Varos, Sjcnica und Novipasar einladend lagern.
Nach Norden setzen sich, höher als der Hauptzug ansteigend,
hauptsächlich drei Seitenrücken an, welche Parallel den
niedrigeren Zweigen als stumpfe, duukelbewachsene Massen
an so vielen Aussichtspunkten sich bemerkbar machen. Am
hellsten, weil von bräunlichem Gestein und Boden, thut
dies der Slatibor (— Goldföhre), ein sanfteres Gewölbe
nahe der Limmündung. Dann biegt an der Westseite des
etwa 1590 m hohen Basilji Vrch (= Königsgipfel) der
trotzige Muöanj (1605 m) ab; er hat eine schärfere Kuppen-
bildung und ist düster bewaldet. Nahezu eben so massig,
aber einförmiger macht sich am Ostende des Gebirgsteiles
Golja, der dünn mit Bäumen und Gebüsch bestandene Erni
Vrch (Schwarzer Gipfel) geltend.
An den Hängen und auf den Mittelstufen der Thälchen
der nördlichen Gebirgsglieder ist häufig Raum für die in
weitverteilten Häusergruppen entstandenen Ansiedelungen,
welche auf der serbischen Seite weit häufiger — wenn auch
immer noch spärlich genug — die nötige Weide- und Wald-
voraussetzung finden. Gegen den Jbar hin treten schärfere
Formen der Bodengestalt aus, da hier die vorhandenen
Serpentinmasscn der Verwitterung und Erosion auffallend
geringen Widerstand leisten.
Östlich des Jbar sodann ragt der Kopaonik als ein
gewaltiger Bau aus quarzitischen Schiefer- und aus Eruptiv-
massen empor. Schon die hiermit angedeutete unruhige
Vergangenheit dieses Hochgebirges zeigt eine größere Mannig-
faltigkeit der Formen au, weil gewaltsamere Emporhebungen
und ungleiche Verwitterung. Die Streichungsrichtung zweier
innerhalb Serbiens von der Grenzlinie an unterscheidbarer
Züge geht in Nordnordwesten, und diese Züge entstanden,
weil eine enipordrängendc Syenitgraniteruption das ehe-
malige Gesamtmassiv zwiespältig auseinander warf. So
entstanden zwei parallele Gipfelreihen, zwischen denen eine
Mulde eingelagert ist. Im Nordwesten wird diese durch
eine mächtige Bergpyramide (Jedovuik) abgeschlossen, wie
im Süden durch das nahe Aneinanderrücken des 2030 m
hohen Subo Nudiste und seines südwestlichen Nachbar-
berges (Treska). So ruft der Anblick des inneren Kopaonik
(Ravni Kopaonik — ebener Kopaonik) den Eindruck einer
Umrandung, eines riesigen Kratergebildcs hervor, während
es sich in der That nur um eine mit reichlichem Verwitte-
rungsboden bedeckte Spalte handelt, deren Seiten durch die
Gipfel und Kammstrecken der weit langsamer verwitternden
Quarzitschiefer in verschiedenartiger Gestalt gebildet sind.
Namentlich im Osten zeigen sie besondere Felsformen, an
die Auswitterung kleiner, fast senkrechter Karrenselder der
Kalkalpen erinnernd; aber cs trifft sich dies nur an einzelnen
Hängen. Große und reiche Blicke gewährt jede Kuppe oder
„Spitze", wenn man jene stumpfen Gipfel so bezeichnen
darf. Reich sind sie schon durch die vielerlei Erscheinungen
des Kopaonik selbst. Da ragen imposant die steinbedcckten
leeren Kuppen hellfarbig in die Lüfte, bis zur höchsten Zone
mit absterbenden Grasbüscheln und dann mit den anfangs
verzettelten, etwas abwärts aber zusammenhängenderen
Flecken des dichten, kurzgeschorcncn Juniperusteppiches be-
standen. Dieser macht allerdings beträchtliche Strecken
ebenso ungünstig für den Anstieg, als dichteres Gras, auf
dessen trockenen und zähen Halmen man bei jedem Schritte
gleitet. Im Inneren des Kopaonik gedeiht aus üppigem
Untergründe mächtiger Wald, nur in allergeringstem Maße
zur Holznutzung verwendet: eine Baumlciche fällt über die
andere; Wölfe treiben sich in Menge umher, auch Bären
sind noch anzutreffen. Zahllos sind die Raubvögel; man
nimmt sie auf jeder Strecke in Lust und Wald wahr. Aber
das weitaus Großartigste bleibt immer der Umblick von den
Hauptgipfeln, besonders dem Subo Nudiste, in das nächste
Vor- und Nachbargebiet des Kopaonik und in die Ferne.
An hellen Tagen tritt im Norden noch der bescheidene, aber
bestimmt Profilierte Zug der Fruska Gora jenseit der
Donau vor dem Auge empor, und der Nilo Dagh im Osten
zeigt seiner dunklen Abstürze oberste Lagen. Aber auch ohne
solche Gunst der Beleuchtung ist ein ausgedehntes Gesamt-
relief der Gebiete des serbischen Volkes vorgelegt, welches
auch bei hochgespannter Erwartung dem Betrachter Ent-
zücken und erhebenden Genuß bereitet. Der zu 2030 m
Höhe von uns gemessene Subo Nudiste ist ohne alle Mühe
zu besteigen, da weder ein steiler Gipfel, noch jähe Wände
zu bewältigen sind; ein Hirtenanwesen wird in einer Stunde
nach Nordwesten hin erreicht, wenn man dessen Lage im
Walde kennt.
Nach Süden ist freilich das Gebirge noch fast gar nicht
erkundet oder dargestellt. Man kann nur das Bedauern
aller Freunde der Balkanhalbinsel ausdrücken, daß in diesen
und den weiter südlich und westlich gelegenen Gebieten des
türkischen Staates die Persönliche Sicherheit eines jeden, von
welchem die Landesbewobner vermuten, er habe manches für
sie wertvolle in seinem Gepäck oder in seinen Kleidern,
ebenso oder noch mehr gefährdet ist, als in den bedenklichsten
Strichen Afrikas, wo man wenigstens durch Beziehungen
zu den Häuptlingen sich vor den Raubmordgelüstcn der
einzelnen sichern kann. Aber soweit Arnantcn und arnau-
tisierte Serben hausen, betreibt am Vardar, Jbar und Drin
jeder das Schnapphahngeschäst mit freiester Selbstbestimmung.
Die Soldaten der türkischen Regierung greifen nicht ein,
so lange nicht strenge Befehle von oben her, mindestens vom
Mali und Pascha selbst erfolgen. Verfasser hat in Raska
nächtlich erlebt, wie eine türkische Halbkompagnie fast neben
ihren Wohngebäuden ein nächtliches Feuergefecht zwischen
wenigen Räubern und zwei Angegriffenen trotz mehr als
hundert gefallener Schüsse völlig teilnamslos sich voll-
ziehen ließ.
Allerdings wird man in diesen südlichen Kopaonikgegen-
den, uw sich nach einer Senkung des Hochkopaonik der
Hauptrücken unter dem Namen des 8al nach Pristina
hin fortsetzt, keine so anmutig stattliche Kette als radialen
Zug des Hochgebirges vorfinden, wie sie von dem Subo
Nudiste nach Südostcn und von den Ostkuppen des Ko-
paonik nach Ostnordosten abgehen. In letzterer Richtung
bauen sich als deutliche, regelrechte Ketten der Lepcnac und
31*
244
W. Götz: Das serbisch-türkische Grenzgebirgc.
östlich der ihn begrenzenden Jankova Klissura der mächtigere,
dunkle Jastrebnc aus, um zur Ebene um Ni8 niederzugehen;
beide erlangen nur eine Mittelgebirgshöhe von 900 bis
1200 in. Nach Süd osten streicht vom Hochkopaonik in
lebhaftem Profil eine dichte Bergkette mit dem hohen End-
gipfel Pilatovica; dieser steigt zu 1705 m auf.
Der dritte Teil endlich, der Südosten jenseits des Über-
ganges von Knrsumlje, wird plump und massig und regel-
los; es sind die Gebirge der Jablanica (auch der
Veternica), wie man solche ähnlich im südlichen Bosnien
und östlich des Rilo erschaut. Wenn man von beut lebhaft
aufblühenden Br an ja aus durch ein düsteres Schlnchtthal
zwischen Gneisschiefer aufsteigt und die einst groß und im-
posant ausgebaute Sperrveste Markovokale in ihren male-
rischen Ruinen beiderseits der Straße hinter sich hat, gelangt
man über häufiges ab und auf zu einer ungleichförmigen
Kuppe der graubraunen Felscnmasse bei Dobroscvo 1258 m
hoch. Der Überblick ist weit und wirkt eindrucksvoll. Aber
letzteres thut doch wesentlich die Gleichartigkeit und das
Massenhafte der überall 1000 bis 1200 m emportretenden,
durch Thatcher: und immer gewundene Tiefenlinien gegliederten
Plateaus, welche, wie in Verwirrung aneinander gedrängt,
bald grün bestanden, bald öde und braun, als ein Heer von
Individuen angedeutet werden. Nur nach Nordwesten hin,
nach der nur 440 bis 410 m hohen Ebene des schon oben
genannten Leskovac, neigt sich das Ganze ersichtlich, wie ja
bei dieser Stadt auch die genannten beiden Hauptgewässcr
des Gebirges münden.
So erinnert denn von den drei Hauptabschnitten unsres
Gesamtgcbirges der südöstliche in seiner Gestalt an die Er-
hebungen Südbosniens, wie der Kopaonik an den Rilo und
Ditos, das Moravicabergland an die Balkangegenden etwa
beiderseits des 8ipka. Gleichwohl wird die morphologische
Beschaffenheit des 250 km durchmesscnden Gebirges vom
Lim bis Branja dadurch bemerkenswert, daß die Böschungen
nur sehr wenig den petrographischen Unterschied und die ab-
wechselungsvolle Herkunft dieser Rücken anschaulich machen,
vielmehr auffallend gleichartig erscheinen. Darin haben wir
West Ibar Ost
Der Jbardurchbruch am Westfuße des Kopaonik; bei Raska. Nach einer Skizze von Prof. W. Götz.
eines der vorhandenen Zeugnisse von der überaus durch-
greifenden Verwitterungsarbeit, welche in diesem Lande die
Niederschlüge und Temperaturwechsel verrichten. Denn an
und für sich treffen wir ja gründlich verschiedene Gesteins-
massen gemäß deren Entstehung an. Im Westen greift aus
Bosnien Bnntsandstein herüber, an welchen sich Kalke der
Trias anschließen, von Spatadern viel durchzogen. Auch
der Vasilji Vrch ist aus solchem Kalk errichtet. Dann
machen schwer verwitternde Thonschiefer die Erhebung des
Javor und seiner Seitenzüge aus. Tieferen Boden trifft
man meistens in dem eisenhaltigeren Schiefer des Golja
und bis zu den Serpentinmassen, deren arme Hänge einige
Stunden westlich des Jbar beginnen und ihn noch über-
schreiten, um die westlichen Glieder und Hänge des Hoch-
kopaonik zu bilden, von stattlichen Trachytmassen zweimal
unterbrochen. Beiderlei Gestcinslagen streichen nordwestlich,
wie die Hanptrücken dieses Gebirges selbst. Granitsyenit,
gnarzitische und Thonschiefer mit wenig und mit sehr viel
Glimmer, schließen sich östlich und nördlich an, von Kalk-
einlagerungen, auch von Serpcntinlagen unterbrochen. Tief
nach Serbien hinein setzen sich diese Erscheinungen fort,
während auf türkischem Staatsgebiet westlich des Jbar alte
Sandstcinbildungcn zur Geltung kommen, was im Jbar
und in der Raskn herbeigesührte Steine darthun.
Wie schon durch Andeutung des bald tiefergründigen,
bald nahezu mangelnden Bodens gesagt ist, finden wir die
Vegetation sehr verschieden auf dem Kamme des Gcsamt-
gcbirges, während sie auf den Abhängen nahezu einförmig
überall auf serbischem Gebiete die gleiche Farben- und Ge-
staltensolge zeigt. Ans die Höhen und stuinpsen Kuppen
steigen zu 1100 bis 1300 m die Bestände von Eichen
minderer Größe, in der oberen Zone nur hier und da von
Fichtenwäldchen abgelöst. Aber ausgedehnter ist das Auf-
treten niedriger Baumgruppcn, das man nicht mehr als
Waldbcstand bezeichnen kann, inmitten von Wachholderflecken
und langweilig werdenden Farrn- und Sambucusflächen, die
das Gras so überwuchern, daß schon deshalb das Laub der
Bäume als Hauptfutter vom Groß- und vom Kleinvieh
immerzu abgerissen.wird. Weiter unten sind Ackerkomplexe,
wo der Abfall dem Pflug, der in Serbien eiserne Schar zu
245
W. Götz: Das serbisch-türkische Grenzgebirge.
führen Pflegt, nicht hinderlich wird. Hoch oben auf den:
Hauptrücken aber ist gar oft in den Einsattelungen und am
Kamme herrliches Fichtengehölz, besonders westlich des Jbar
und im Kopaonikinnern. Es verwesen in letzterem un-
gezählte gewaltige Stämme, vom Sturme entwurzelt, während
außerhalb dieses Striches durch die unglaubliche Roheit, die
lebenskräftigsten größten Bäume unten anzuzünden, um sich
zu erheitern, jährlich tausende von Kubikmetern Holz und
zugleich so viele Schutzbäume vernichtet werden. Daß aber
hier oben die schönsten und stattlichsten Exemplare gedeihen
können, wo der Boden nicht weggeschwemmt wird, mag schon
daraus hervorgehen, daß man noch in Höhen von rund
1500 m Getreideäcker antrifft, freilich nur sehr wenige.
Aber es hat dies wohl seinen Hauptgrund in dem ge-
ringen Bedürfnis nach solchen: die Bevölkerung ist überaus
spärlich verteilt. Immer und immer wieder wird der
reisende Mittelcnropüer in Serbien, Mazedonien und Bul-
garien staunen und fast schmerzlich berührt sein bei dem
Anblick der weiten Flächen und ausgedehnten Bezirke, in
welchen er so oft im Bereich mehrerer geographischer
Quadratmeilen nur wenige ganz kleine Dörfer sieht. Man
möchte einigermaßen neidisch werden im Hinblick auf das
übervölkerte Drängen bei uns, welches den Leuten so vielen
schweren Konkurrenzkampf anszwingt. Auf serbischem
Staatsgebiete ist es übrigens noch immerhin etwas minder
menschenöde als auf türkischem, wo uns freilich auch die
Entwaldung und Steppendürre der Plateaushänge beträcht-
lich trostloser entgegensieht, als von den nur strichweise ver-
armten Bergrücken Serbiens her. Es mag aber mit der
geringen Dichte der Ansiedelungen zusammenhängen, daß
der Menschenschlag in diesen Gegenden diesseits und jenseits
der Grenzlinie hinsichtlich der Männer vorteilhaft und an-
mutig in Gestalt, Kops- und Gesichtsbildung wie in den
Bewegungen sich zeigt. Die Frauen allerdings leiden auch
hier offenbar durch den Druck vieler und nicht selten auch
schwerer Arbeit; man trifft unter ihnen sehr selten eine zu-
gleich lebensvolle und anmutige Erscheinung. Doch ver-
bleibt ihnen im Durchschnitt ein gutmütiger und freundlicher
Serbische Karaula (Grcuzwachthans).
Sinn, wie letzteren die Männer unschwer zu Tage treten
lassen, wenn nicht ihr Verlangen nach Geld und Nahrung
sie daran hindert. Anspruchslos leben sie natürlich im
Gebirge selbst, wo sie fast ausschließlich mit der Milch und
dem Fleisch der Schafe sich ernähren und den Ertrag ihrer
Herden als einzige Einnahmequelle besitzen. Auch die Grenz-
wächter (Erauieari) in ihrer meist nur kegelförmigen
Hütte (siehe Skizze) leben fast nur von den gleichen Pro-
dukten, aber zufrieden und pflichttreu, meist vier bis acht in
jenen etwa 3 bis 4 km von einander entfernten Karaulas
stationiert. Sie sind es, welchen natürlich zunächst das
sicherste Geleit eines Reisenden an der Grenze obliegt, und
in deren Behausung er sein Nachtlager aus etwas erhöhter
Erd- und Brettlage neben dem erwärmenden Feuer findet.
Denn die Nächte lassen im August ans jenen Höhen das
Thermometer zumeist auf 8° und 7§C., auch aus weniger
herabsinken, während überdies nicht selten Regen abkühlen,
welche in diesen Konfinien des Mittelmeer- und des euro-
päischen Kontinentalklimas (pontische Einflüsse) naturgemäß
eine beträchtliche Wassermenge herabführen.
Nach einer Skizze von Prof. W. Götz.
Aber wenn auch nach diesem allen unsre Gebirgssolge
als ein zusammengesetzter langer Rücken eine beherrschende
Höhe gewissermaßen besitzt, so ist damit eine ethnographische
Grenze noch nicht empfohlen, daher auch die politische nur
äußerlich berechtigt. Denn es wird überhaupt von der ge-
faulten Völkergeschichte, mag sie ethnographische oder politische
Grenzlinien in Betracht ziehen, die Ansicht, die Gebirgs-
kämme seien Naturgrenzen der Völker, ungleich mehr widerlegt
als gestützt. Man betrachte die Völkergeschichte beiderseits
des Hindukusch, die sibirischen Rücken im Süden, den Ural,
transsilvanische Alpen und Waldkarpaten, den böhmischen
Gebirgsrand, die Uralpenketten, den Balkan u. s. w.: man
wird vorwiegend finden, daß Längsgebirgsrücken, besonders
in nicht meridionaler Richtung mehr als festigende Hochwälle
des betreffenden Volkstums im Innern seines Gebietes be-
trachtet und benutzt wurden, denn daß man sich mit der
einen Seite derselben hätte begnügen wollen.
Allein die besonderen Gebirgsformen Serbiens, welche
minder hohe Rücken und bei aller Gliederung und Aus-
prägung doch fast nur sanfte Profile zeigen — sie werden
246
Dr. Zechlin: Das Fürstentum Kammin.
ohne Zweifel durch unser Lim-Moravagebirge nach Süden
hin beendet. Gleichwohl beginnt erst an der Wasserscheide
des oberen Jbar, d. h. an den Massivs von Nordalbanien,
und mit dem Schardagh ein andres Gebiet der Bodengestalt
in bezug auf Berg- und Thalbildung. Mit diesem hört
dann auch das Volkstum der ungemischten Serben auf, und
namentlich nach Süden, am Schar und jenseit dessen wohnen
dann die alten Slaven der Balkanhalbinsel, zu welchen von
der Morava her wie auch aus Nordosten, vom Bulgarcn-
volke, die Thäler der Archipelaguszuflüsse Wege boten.
Das Fürstentum Ra m m i u.
Historisch-topographisch dargestellt von Dr. Zechlin.
III.
3. Der Kolbcrg-Körliwer Kreis.
Der größte Teil des Bodenreliefs dieses Kreises gehört
der Persante an. Wir besprechen zuerst ihr rechtsseitiges
Gebiet. Sie tritt bei Körlin in den Kreis, wo sie, nachdem
sie die Nadüe aufgenommen hat, ihre nordöstliche Richtung
anfgiebt und sich direkt nach Norden wendet. Am Zusam-
menfluß beider liegt Körlin, südlich und westlich von den-
selben begrenzt, unmittelbar an der Kreisgrenze, so daß,
wenn man über die Brücke, die über die Radüe führt, ge-
treten ist, man im Belgarder Kreise steht. Voni Bahnhof
geht der Weg am Kirchhof vorbei durch die 1859 abge-
brannte Vorstadt auf den Markt. Hier das Rathaus.
Dicht dabei die thurmlose Michaeliskirche, 1510 gebaut;
1685 durch Feuer beschädigt, verlor sie ihre beiden Merk-
würdigkeiten, nämlich das in Lebensgröße gemalte Bildniß
des Bischofs Martin, der hier begraben ist, und die Tafel,
auf welcher das Gastmahl des Herodes und die Enthauptung
des Johannis gemalt war. Nach Süden führt eine kurze
Straße bis unmittelbar zur Nadüe, nach Osten die Kol-
berger Straße, da hier die alte Landstraße nach Kolberg
führte, während die spätere Chaussee sich östlich von der
Kösliner abzweigt, zum Schloß. Dicht unterhalb der Bel-
garder Brücke führt ein Mühlengraben aus der Radüe in
die Persante, welche die Stadt aus der Ostseite unmittelbar
umgicbt, so daß die Straßen und Gärten bis an den Graben
heranreichen. Eine Brücke führt in östlicher Richtung durch
vorher erwähnte Straße zum Schloß, welches auf einer
Insel lag, die durch die Radüe, Mühlengraben und Persante
gebildet wurde. Vom Schloß ist nichts mehr vorhanden,
nur einige Wirtschaftsgebäude rühren noch aus alter Zeit
her. Mauern und Thore existieren nicht mehr. Am Karls-
bcrg, dem Abhange des Mühlengrabens sowie am Ritter-
kruge an der Chaussee nach Plathe sind Anlagen angelegt.
Vom Karlsbcrg hat man eine hübsche Aussicht auf das
Persantethal.
Körlin lag ehemals an der großen Straße von Berlin
nach Ostpreußen, so daß hier ein lebhafter Post- und Fracht-
verkehr stattfand, denn hier zweigten sich die Straßen nach
Kolberg, Belgard und Neustettin u. s. w. ab. Dieser Ver-
kehr hat seit 1859 durch Eröffnung der hinterpommerschen
Bahn aufgehört und Körlin ist ein stilles Städtchen ge-
worden. Nur Getreide- und Holzhandel wird noch ge-
trieben. Außer einigen Mühlen und Maschincnbananstalt
ist von Industrie nichts vorhanden. Die Stadt hatte 1782
894, 1880 3301 Einwohner, so daß aus 100 Einwohnern
des ersten Jahres 369 des letzteren geworden sind. Körlin
adj. poss. vom Personennamen Chornta (krank) war eine
königl. Mediatstadt. Veranlassung zu ihrer Gründung gab
ohne Zweifel das alte Kastrum, das, durch Flüsse geschützt,
einen vorzüglichen Platz zur Vertheidigung bot. Urkundlich
wird der Ort zuerst 1299 erwähnt, in welchem Jahre ein
oivi3 Horn in Körlin genannt wird, es scheint schon 1308
deutsche Stadt gewesen zu sein. Sicher wird sie 1385
Stadt genannt. Das Körliner Schloß war für die Stifts-
lande von großer Bedeutung und schon seit der zweiten
Hülste des 14. Jahrhunderts residierten hier mehrere Bischöfe.
1409 wurde das Schloß von Bogislav VIII. angegriffen,
und 1484 von den Kolbergern und Köslinern besetzt. Das
Vorwerk Hühnerheide soll an der Stelle aufgebaut sein, wo
Adelheid, Gemahlin Bogislav V., 1324 ein Cistercicnser
Kloster angelegt hatte.
Die Persante strömt zunächst 15 km in nördlicher
Richtung, dann biegt sie nach Südwesten um; das Thal
derselben ist eng und mit Holz bewachsen, in ihrem Thale
liegen keine Niederlassungen. Die Gegend ist zunächst ein-
förmig, leichter Boden mit Fichtknsseln und Moor wechseln
ab. So um Dassow. An der Chaussee nach Kolberg das
kleine Putzernin, 1363 erwähnt. Aus der Feldmark mäch-
tige Kalklager, die aber durch fortwährendes Mergeln be-
deutend abgenommen haben. Weiter von der Persante liegt
Alt-Marriu, Kirche, zu ihr gehört seit 1741 die Kirche zu
Parsow als Ecclesia vagans. Im Jahre 1278 wurde das
Patronat der Kirche dem Jungfraucnkloster zu Kolberg
überwiesen, es ist ein altes Münchowsches Lehn, welches
über 300 Jahre im Besitz dieser Familie war. In Marrin
befand sich ein Kaspel oder Kuhgericht, das einzige im Re-
gierungsbezirk Köslin I. Es bestand im ganzen aus vier-
zehn Personen und wurde gebildet aus dem Pfarrer, den
Kirchenvorstehern und den Schulzen von sechs umliegenden
Dörfern. Der Rechtsumfang desselben beschränkte sich ledig-
lich auf Streitigkeiten zwischen den Gemeinden und den
Eigenthümern des Viehs mit den Hirten. Der Ort des
gehegten Gerichtes war vor dem Altar der Kirche. Nach
dem Gottesdienst trat der Pfarrer vor den Altar, die
Schöffen stellten sich von beiden Seiten neben ihn, die Par-
teien gegenüber. Ort der Berathung des Gerichts war die
Sakristei. Die Sache war stets in einem Termin beendet,
Appellationen nur an ein andres Köhrgericht zulässig.
Diese Gerichte scheinen bis zu Anfang unsres Jahrhunderts
bestanden zu haben. Ferner das Kirchdorf Fritzow, Bahn-
hof der Belgard-Kolberger Zweigbahn, Kirchdorf, urkundlich
1240 erwähnt, mit Weizenboden. Ans dem Gute wurden
schwere Pferde französischer Race gezüchtet. Östlich davon
Schötzow, 1276 genannt. Es war aus den Ortschaften
Gansekov, Zombowa, Zelitiz und Sweprow zusammen-
gelegt I 2), wie denn die slavischen Dörfer bedeutend kleiner
waren. Auf der Feldmark, die ebenen aber fruchtbaren
Acker hat, entspringen mehrere kleine Bäche, darunter der
Pauskenbach. In der Nähe desselben Wiesenkalk. Die
Gegend macht einen einförmigen Eindruck, namentlich um
Jaasde, Amtsdorf; nach der Persante zu hügeliger und
sandiger Boden, 1288 dem Jungsrauenkloster in Kolberg
geschenkt. Westlich von Jaasde mündet der Pauskenbach,
I Haxthausen, Die Kaspel- und Köhrgerichte in Pom-
mern, 1840.
2) De quibus facta villa Schotsow, Prümers Urkunden-
buch, II, S. 320.
247
Dr. Zechlin: Das Fürstentum Kammin.
der bei Rützow entspringt. Rützow hat die Ehre, als eine
der ersten von allen Ortschaften jenseits der Persante er-
wähnt zu werden, nämlich 1182. .Es war damals Eigen-
tum des Klosters Stolp an der Peene. Es liegt im Thäte
und hat einen großen schönen Park (43 Morgen), ein altes
Damitz'sches besten.
Durch die Berge bei der Mündung des Panskenbaches
gezwungen, wendet sich die Persante scharf nach Südwesten,
ungefähr 7 km, und dann erst wieder nach Norden, fo daß
ihr Laus einen rechten Winkel bildet, dessen Hypotenuse die
Ehaussee nach Kolbcrg bildet. An dieser Ehaussee liegt
Degow, zugleich Bahnstation, 1276 genannt, ehemaliges
Kapitelsdorf. Mitten durch das Dorf fließt der Ellerbach
in die Persante. Die Kirche ist alt, und viel Torf wird
hier produziert. Nördlich davon Stoikow. Das Dorf
wurde nach einer Urkunde von 1224 von Anastasia, der
Witwe des Herzogs Bogislav I., dem Nonnenkloster zu
Treptow, 1288 aber dem Jungfrauenkloster zu Kolbcrg
überwiesen. Der Acker ist kalt. Dicht dabei Quetzin, 1220
urkundlich erwähnt, in unmittelbarer Nähe viel Bruch und
Moor. Das Kolbergcr Amtsdorf ging von den Damitz
in die Hände des Jungfrauenklosters zu Kolbcrg über.
Nördlich von diesen beiden Dörfern dehnt sich der Kolbergcr
Stadtwald aus. An der Küste liegt noch das langgestreckte
Henkenhagen, teilweise dicht am Strande, Seebad, über-
wiegend Acker 3. Klasse. Das Ufer ist 10 bis 12 in hoch.
Aus der Westecke ein Wäldchen mit stattlichen Buchen. Im
Dorf wechseln freundliche Häuser und ärmliche Katen, welche
zwischen Kastanien, Eschen, Dornen und Fliederbüschen
zerstreut liegen, ab. Der Ulrichshof wurde von dem Herzog
Ulrich angelegt. Im Jahre 1673 wurden ans Henkenhagen
sechs Hexen verbrannt. Westlich vom Dorf der Kolbergcr
Stadtwnld. Zwischen demselben und der See liegt auf
einer Anhöhe an der Ostsee das auf einer Rodung im
Kolbergcr Stadtwald 1753 angelegte Bodcnhagen. Kehren
wir zur Chaussee zurück. Hier liegt noch Tramm, 1276
genannt, vormaliges Kolbergcr Kapitelsdorf. Im sieben-
jährigen Kriege wurde das Dorf dem Erdboden gleichge-
macht, auch während der Belagerung von 1807 hatte Tramm
sehr zu leiden. Hier war das französische Hauptquartier,
in welchem der kommandierende General Tenlie starb.
In dem Winkel, welcher von Persante und Chaussee ge-
bildet wird, liegen noch folgende Ortschaften, meistens wohl-
habende Bauerndörfer, die früher zum Amt oder Domkapitel
Kolbcrg gehörten. Unmittelbar an der Persante Mechcntin,
dessen Feldmark sich platcauartig über dem Persantethal er-
hebt, urkundlich zuerst 1281 genannt. Dicht dabei Bartin,
an der Chaussee von Poploth nach Degow, dem Bischof von
Kammin von Gottfried Winde 1309 geschenkt. Der
Bischof Friedrich verkaufte dieses Dorf sowie das benach-
barte Darmgard 1332 für 1600 Mark Pfennige an das
Kapitel zu Kolbcrg. Damgard, 1281 genannt, wurde
17«; 1 von den Russen dem Erdboden gleich gemacht und
wieder aufgebaut. Ans dem Wege nach Damgard liegt ein
kleiner mit Fichtenholz bewachsener Hügel, in welchem sich
zwei Brüche befinden. Die oberen Schichten dieser Brüche
bestehen aus Kalkstein, welcher dem von Fritzow (Kreis
Kammin) gleicht. Darunter liegt ein weißer, fein oolithi-
scher, stark abfärbender Kalkstein, welcher sehr arm an orga-
nischen Resten ist I. Etwas westlich von der alten Land-
straße von Körlin nach Kolbcrg liegt Zwielipp, Suelube in
der Urkunde von 1159 als Eigentum des Klosters Grobe
genannt, cs ist somit das zuerst erwähnte Dorf östlich der
i) E. Ribbentrop, Zeitschrift) für Geologie, Bd. V, S. 618
und 666 und in derselben Zeischrist Bd. XVII, S. 651 :
Sadebeck, Über die oberen Jurabildungen in Pommern.
Persante. Hier wurde schon damals ein Zoll über die
Brücke (theloneum de poute) erhoben; es war dies eine
Fährbrücke mit zwei Fährkrügen, deren Zoll einst Eigentum
des Kolbergcr Jungfrauenktostcrs war. Auf Befehl des
Kommandanten Loncadon wurde die Brücke 1806 abgebrannt
und nicht wieder ausgebaut, wodurch die Kommunikation
sehr erschwert wurde. Durch den Bau der Chaussee nach
Kolberg 1836 verödete die Passage. Auch hat sich in
Zwielipp lange die Tradition erhalten von einer alten Fahr-
straße, die jetzt mit Haidekraut bewachsen ist. Ums Jahr
1830 sah man einen Burgwall unfern des Flusses auf
einer niedrigen Wiese. Ludwig Gieselrecht ist geneigt, diesen
Wall für die Burg zu halten, deren Martinns Gallus im
11. Jahrhundert gedenkt I. Am Thalrande der Persante
das einzige adelige Dorf dieses Dreiecks, Pustar, 1281 ge-
nannt. Die Äcker dieser Dörfer sind meistens abgekalkt
und dadurch recht ertragsfähig geworden. Dann Bogentin,
1194 der Kolbergcr Marienkirche (auf der Altstadt) zuge-
eignet. Das Dorf war ehemals nach Kolberg cingepsarrt.
Als aber die Wallensteinschen Truppen die Brücke im Jahre
1630 abgebrochen hatten, wurde das Dorf der Kirche zu
Zernin beigelegt. Bei dem Dorf lag der untergegangene
Ort Goreszow. Mitten durch Bogentin fließt ein Bächlein,
an welchem auch das benachbarte Wobrodt liegt, welches
1288 von Bischof Hermann dem Kloster geschenkt wurde.
Östlich von beiden Zcrnin, niedrig gelegen, aber mit gutem
Boden. Die Kirche wird schon 1281 erwähnt, von Bischof
Hermann der Stadt Kolberg geschenkt. Dabei lag das im
dreißigjährigen Kriege untergegangene Dorf Koikow, 1277
erwähnt, 1506 noch vorhanden. Es stand im Ruf eines
Raubnestes. Wer einem andren etwas Böses wünschen wollte,
sagte: ich wollte, du säßest auf Koikow* 2). Endlich noch
Necknin in dem Winkel, welchen Chaussee und alte Land-
straße bilden, seit 1287 im Besitz der Stadt Kolberg. Im
siebenjährigen Kriege dem Erdboden gleichgemacht und nach
dem Frieden regelmäßig in einer Straße wieder aufgebaut.
Ehe wir zum linken Persanteufer übergehen, betrachten
wir die einzigen bedeutenderen Nebenflüsse, welche an der
südlichen Kreisgrenze in die Persante gehen. Der größte
ist das Krumme Wasser, welches zwar kleiner als die Radüe,
aber mit derselben korrespondiert. Es tritt unterhalb Bier-
hof in den Kreis, an demselben liegt Stolzenberg, 1291
genannt, ein ansehnlicheres etwas zerstreut liegendes Dorf
an der Chaussee von Schivelbein nach Kolberg, in dieselbe
mündet die von Bclgard kommende bei dem dortigen Gast-
hof. Der Fluß treibt hier mehrere Mühlen. Die Dampf-
schneidemühle steht jetzt still. Erhebliche Torfmoore sind in
der Nähe. Die Bewohner nähren sich von Ackerbau und
Holzfällen. Auch ein größeres Handelsgeschäft befindet sich
am Orte. Stoltenberg oder Stolzenberg wird noch 1628
bis 1644 als Städtlein aufgeführt, doch schon 1606 werden
die Blankenburgs mit dem Orte belehnt. Das Krumme
Wasser bildet unterhalb Stolzenberg bis zu seiner Mündung
die Kreisgrenze, cs fließt in einem tiefen bewaldeten Thale.
Die Dörfer liegen 1 bis 2 km von ihm entfernt. Zunächst
Leppin mit viel Wald und leichtem Boden, die Glashütte
ist eingegangen. Mächtige Linden stehen im Garten,
unter denen nach einer lokalen Tradition Friedrich der
Große, als er sich in Leppin zum Besuch aufhielt, gesessen
haben soll. Hinter dem Garten ein kleines Gehölz, durch-
flossen von einem leise rieselnden Bach. Dann Rogzow
mit leichtem Boden. Zum Dorf gehört das Gut Ncugasthof
an der Chaussee von Schivelbein nach Kolberg mit neuen
1) Bergt. I. und III. Jahresbericht der Gesellschaft für
pommersche Geschichte, S. 26 bezw. 51. Auch Baltische Studien
XI, S. 23.
2) Riemann, Kolberg, S. 66.
248
Dr. Zechlin: Das Fürstentum Kammin.
Wirtschaftsgebäuden. Dasselbe hieß früher Postgasthof,
denn an demselben führte früher die Poststraße von Berlin
nach Preußen vorbei, dieselbe wurde durch den Bau der
Chaussee 1828/35 nördlicher gelegt. Sie ging über
Schwartow und Dmnzin unmittelbar nach Roman durch
das große Heideland. Der Gasthof ist verschwunden, aber
der Name ist geblieben. Daun Dmnzin, auch Danmitzin
genannt, ist das Stammhaus des Damitzschen Geschlechts,
welches Gerhard Damitz schon 1243 besaß. Burg Dumtzin
wird 1353 erwähnt. Die Familie war bis 1780 im Besitz
des Gutes. Schwartow auf der Höhe des zum Teil ber-
gigen Terrains, welches ziemlich steil gegen das Krumme
Wasser abfällt, altes Podewilsches Lehen, im freundlichen
Thal desselben Garchen, unterhalb welchen Dorfes es sich
in die Persante ergießt.
Unmittelbar darauf nimmt die Persante den viel kleine-
ren Mühlenbach auf, der aus der Feldmark des Dorfes
Ramelow zusammenfließt. Es ist ein freundliches Dorf
mit neuer Kirche, hat mittelguten Boden mit Kies, Mergel
und Kalk durchsetzt. Mehrere Altlutheraner. Ramelow
verdankt seine Entstehung dem Geschlecht von Ramel, einer
deutschen Familie, welche zu den ersten Einwanderern Pom-
merns gehört. Wahrscheinlich baute der Ritter Johannes
Ramelow Ende des 13. Jahrhunderts die Burg Ramelow.
In der Folge kam die Burg an die Familie Adebar, welche
auch zum älteren Adel gehörte. Kaspar Adebar war der
Letzte seines Namens um 1530. Dann Karwin, unmittel-
bar an der Chaussee und niedrig gelegen zwischen dem
Mühlenbach und einem andern, die sich bald daraus zu
einem vereinigen. Malnow, 1276 genannt, ebenfalls an
der Chaussee in hügeliger Gegend mit kaltem Boden, aus
welchem sich südwärts der Schießenberg hervorhebt. Im
Garten werden viel Zwiebeln, Mohrrüben und Kohl gebaut,
sowie auch Obst. Malnow ist ein altes Podewilsches
Lehen. Endlich Koseger (Koseeger) in hügeliger Gegend,
mitten durch das Dorf fließt der Mühlenbach. Schloß mit
hübschem Park, beide Güter mindestens seit Anfang des
16. Jahrhunderts im Besitz der schloßgesessenen Familie
von Podewils.
Auf dem linken Persanteufer liegt 3 km von Kortin
an der Chaussee nach Gr. Jestin das reiche Bauerndorf
Kowanz, dann in derselben Entfernung von der Persante
Lübchow, 1276 genannt, in welchem sich seit 1707 eine
Kapelle befindet. Das Gut hat einen schönen Park. Es
war seit 1737 der Wohnsitz des Regierungsrats Loeper,
eines der vorzüglichsten Forscher und Kenner der pommer-
schen Geschichte. In Emmathal bei Lübchow sind römische
Münzen gefunden worden. Dann Klaptow, 1276 genannt,
auf der Höhe, und ebenfalls mit schönem Park, beide Dörfer
liegen hübsch, da hier die Persante ein liebliches Thal bildet,
von letzterem Dorf führt eine Fuhrt nach Fritzow. Klaptow
war der Geburtsort des russischen Generalleutnants und
Ritter vom Orden des heiligen Alexander Newsky von
Bauer, eines Bauern Sohn aus dem Dorfe. Es folgen
Peterwitz und Lustebnhr, bei ersterem, welches 1319 ge-
nannt wird, sind Kegelgräber aufgedeckt worden; letzteres
auf einem Plateau, das sich gegen die Persante und den
Loßbach steil abdacht, ein altes Ramelsches Lehen (1381
bis 1738). Südlich von diesen vier letztgenannten Dörfern
zieht sich ein schmales, langes Moor hin, in welchem zuletzt
eben genannter Bach in die Persante fließt. Südlich von
dem Moor geht die alte Landstraße von Körlin nach Kol-
berg. An derselben Kerstin, ein reiches Dorf, 1276 ge-
nannt, seit 1764 inl Besitz der ostprenßischen Familie
Gaudecker. 3 km östlich Gr. und Kl. Poploth an der
Chaussee nach Jestin, zwischen beiden Dörfern zweigt sich
eine andre Chaussee nach Dcgow ab. Sie werden 1159
genannt als Eigentum des Klosters Grobe auf Usedom und
liegen in einer einförmigen welligen Ebene, aus der sich einige
Bergkuppen hervorheben. An einem tief eingeschnittcnen
linksseitigen Bach der Persante liegen Moltow und Krüne.
Höhen, Thäler und Niederungen wechseln ab mit anmutigen
Partien und Aussichtspunkten auf die Persante. Ersteres
hat ein Schloß und gehört seit 1798 der Familie Braun-
schweig. Dieselbe stammt aus Braunschweig, welches einige
Familienmitglieder 1248 verließen und nach Osten wander-
ten; in Pommern finden wir sie 1256, sie gehörte zu den
angesehensten Patrizierfamilien in Kolberg, ihr Adel wurde
1570 von König Sigismund August von Polen erneuert.
Krüne, urkundlich 1270 genannt, war 1306 ein wüstes
Dorf und gelangte 1494 in Besitz des Manteusfelschen
Geschlechtes.
An der Biegung, welche die Persante nach Norden macht,
empfängt sie zur linken Hand einen Bach, der von Mötzelin
kommt; letzteres 1236 urkundlich erwähnt, 1309 an das Dom-
kapitel zu Kolberg verkauft. An demselben Bache liegt auch
das große Dorf Gr. Jestin an der Chaussee von Schivelbein
nach Kolberg, in welche hier die von Körlin kommende mündet,
fruchtbaren Bodens. Arzt, Apotheker und Schützcngilde am
Ort. Urkundlich 1236 genannt, wurde das Dorf 1290
vom Kloster Dobberan erworben. Auch die Johanniter
hatten 1238 Besitzungen in demselben. 1347 kaufte es der
Kolberger Magistrat. Im 18. Jahrhundert erbaute der
Pfarrer zu Gr. Jestin, Lukas Kundenrcich, von der reichen
Kolbergschcn Familie dieses Namens die Küsterwohnung
und ein Armenhaus und errichtete auch 1749 ein Kornmaga-
zin. Auch bei der Belagerung von Kolberg durch die Russen
blieb das Dorf ganz verschont. Der dortige Prediger Namler,
ein Bruder des Dichters, imponierte den Kosaken durch seine
Bestallung, die er ihnen stets mit dem drohenden Worte
„Ukas" vorhielt. Der Gr. Jestiner Wald stößt an das
Persantethal. Unmittelbar am Rande desselben liegt Sem-
mcrow. Im siebenjährigen Kriege wurde dies Kolberger
Eigentumsdorf abgebrannt, nachher aber wieder aufgebaut.
Dicht dabei Seefeld und Garrin. Der Boden ist hier
leichter. Garrin 1219 genannt und 1220 von Jngardis
der Kirche der heiligen Jungfrau zu Kolberg geschenkt, ehe-
maliges Knpitelsdorf. In der Mitte zwischen Persante
und Spicbach, zwischen Garrin und Nassin, befindet sich,
durch eine schmale sumpfige Wiese vom Spicbach getrennt,
ein langgestreckter wüster Höhenzug, nur mit Heidekraut
bewachsen; auf demselben viele Steinkistengräber. Trotz
der nicht günstigen ökonomischen Lage nimmt die Bevölkerung
zu, so daß 1859 ein zweites Schulhaus erbaut wurde.
Seefeld, welches früher Wolnosna genannt wurde H, 1270
genannt, gelangte 1280 in den Besitz des Kolberger Dom-
kapitels. In der Fehde zwischen der Kolberger Bürgerschaft
und dem ersteren wurde es wiederholentlich verwüstet
(namentlich 1462) und erst allmählich wieder aufgebaut.
In Seefeld, dem Mittelpunkt der Alllutheraner in dieser
Gegend, befindet sich eine altlnthcrische Kirche. Wiederum
unmittelbar an der Persante Rossenthin, 1288 urkundlich
genannt. Das Dorf wurde 1302 von dem jetzt nicht mehr
in Pommern ansässigen, aber früher sehr angesehenen Ge-
schlecht von Ramel an Kolberger Bürger für 400 Mark
verkauft, welche dasselbe nach und nach dem Domkapitel
vermachten. Unterhalb Rossenthins dehnt sich eine moorige
und ebene Fläche bis zur Ostsee entlang. An der Chaussee
nach Kolberg noch Sellnow, welches der Magistrat 1286
von dem Ritter Bork kaufte. Im siebenjährigen Kriege
wurde es zerstört und nach dem Wiederaufbau mit polni-
schen Familien besetzt.
U Prümers Urkundbuch, S. 320.
Dr. Zechlin: Das Fürstentum Kammin.
249
So kommen wir denn zur Stadt Kolberg am rechten
Persanteufer, 1 llm vom Strande gelegen. Wer kennt
nicht die Geschichte der ruhmreichen Ostseeseste, wer hat nicht
gehört von dem Landes- und Opfermut ihrer Bürger?
Bon der Zeit an, wo sie aus dem Dunkel ins Licht der
Geschichte tritt bis in die neueste Zeit wird ihr Name ge-
nannt und gepriesen von allen deutschen Stämmen und
Gauen. Freilich änderte sich im Laufe der Jahrhunderte
das Obsekt ihres Ruhmes. Zuerst als Salzquelle aufgesucht
und genannt — schon Thietmar von Merseburg nennt sie
im Jahre 1000 salsa civitas Colbergiensis — lag sie
am Ende einer großen Handelsstraße; zahlreiche Karawanen
von und nach Polen brachten das Geschenk der Natur ins
Innere des Landes. Später Mitglied der Hansa, wurde
sie der Sitz eines streitbaren Bürgertums. Die Kämpfe
der Kolberger Patrizierfamilien Adebar und Schliessen sind
ja bekannt und noch heute erinnert eine Straße, die Schliesfcn-
straße, an das streitbare Bürgermeistergeschlecht. Dann
wurde sie durch ihre Lage und durch Fürstengunst eine kleine,
aber mächtige Festung und durch vier Belagerungen, welche
sie tapfer aushielt, stattete sic den Fürsten den Tribut ihrer
Dankbarkeit ab. Jetzt stehen die Salzkoten still, die
Festungswerke sind geschleift, die Wälle abgetragen, aber
die Soole, die der Erde entquillt, bringt Tausenden Linde-
rung und Erleichterung, und die See, aus der einst stolze
Handelsschiffe in den Kolberger Hafen fuhren, erquickt und
kräftigt das nervöse Geschlecht des 19. Jahrhunderts.
Besichtigen wir zunächst die Stadt. Bon dem Bahnhof,
der auf der Münde liegt, geht cs über einen nach rechts un-
fertigen Platz, auf dem 1881 die Gewerbeausstellung statt-
fand, durch die Münderstraße in die Stadt. Rechts füllt
uns die schöne Marienkirche in die Angen, von der hier
nur dasjenige, was für Pommern ein Unikum ist, hervor-
gehoben werden soll. Sie stammt aus dem 14. Jahrhundert
und ist die einzige Kirche in Pommern, welche fünf Schiffe
hat, von denen die drei mittleren gleich hoch sind. Ebenso
eigentümlich ist der bühnenartige Bau, welche den Chor
von dem Schiff der Kirche trennt; es ist ein sogenannter
Lettner. Ferner sind die Malereien am Gewölbe bemerkens-
wert, sie stammen aus dem 14. Jahrhundert und sind in
dieser Ausdehnung einzig in ihrer Art. Das ganze gc-
räumige Mittelschiff wird von ihnen ausgefüllt. Es sind
im Ganzen 32 Hauptdarstellungen und 40 Nebendarstel-
lnngcn, welche Szenen aus dem alten und neuen Testament
enthalten, und zwar so, daß die ersten prophetische Andeu-
tungen der letzteren sind I. Als Kuriosum mag bemerkt
werden, daß auf der First des kupfernen Kirchendaches der
junge Nettelbeck seine ersten Reitversuche machte.
Das der Marienkirche gegenüberliegende Gebäude, in
welchem sich augenblicklich die Postsche Buchhandlung be-
findet, trägt eine Gedenktafel mit der Inschrift: Hier wohnte
N. von Gncisenau im Jahre 1807. Durch eine früher
enge Straße gelangen wir nach wenigen Schritten zum
Markt, der nur klein ist und in dessen Mitte das in den
zwanziger Jahren erbaute Rathaus steht. Benutzt wird
dasselbe von den städtischen Behörden und dem Königlichen
Amtsgericht. Bor dem Rathaus steht die eherne Bildsäule
Friedrich Wilhelms III., von Drake in Berlin modelliert.
Sie wurde zum Andenken an die Belagerung des Jahres
1807 errichtet und am 2. Juli 1864 in Gegenwart des
Kronprinzen eingeweiht. Sie trägt die Inschrift: Dank-
barkeit, Liebe und Treue sollen unsre Stadt erfüllen und
eine Wahrheit bleiben immerdar. Am Markt befinden sich
auch die Geburtshäuser des Patrioten Nettelbeck und des
0 Ausführliches siehe bei Kugler, Pvimnerfche Kunst-
geschichte 1840 und Riemann, Kolberg, S. 457.
Globus LX. Nr. 16.
Dichters Ramler, beide mit Inschriften versehen, Nettel-
becks Grab liegt von einer einfachen, epheuuniwachsenen
Säule bezeichnet auf dem Münder Kirchhof, ein ähnlicher
Denkstein schmückt die Ruhestätte des im Jahre 1807 ge-
fallenen Vizekommandanten von Waldenfells. In der Ver-
längerung der Münderstraße geht die Sattlerstraße; von
hier an der Ecke der Baustraße konnte man die drei Thore
der Stadt, von denen keines mehr steht, sehen. Denn die
Stadt ist durchaus regelmäßig angelegt, die Straßen schneiden
sich rechtwinkelig, von diesen gelten die ailf die Persante
stoßenden als Hauptstraßen, die übrigen als Querstraßen.
Früher galt als die vornehmste die erste, die jetzige Proviant-
straße, welche nach dem Patriziergeschlecht Landesband
Laudesbandstraße hieß. Hier liegt die reformierte Kirche,
1663 vom großen Kurfürsten erbaut. Dann folgt die
Klausstraße. An derselben liegt die Klosterkirche, welche
1481 gebaut wurde, als das Kloster in die Stadt verlegt
wurde; das jetzige Gebäude (seit 1863) dient zugleich als
Garnisonkirche. Parallel mit dieser die Lindenstraße, deren
nördliche Fortsetzung die Wendestraße ist. Hier wohnten
nach Gründung der Stadt viele Wenden. Länger als in
der Stadt fristete ans benachbarten Dörfern die wendische
Sprache ihr Dasein, um 1300 liegt auf der Kolberger
Feldmark an der Maßnitz (Matze) eine Ortschaft Rosglem,
die als eine Behausung der Wenden bezeichnet wird I. Jetzt
liegt in der Wendestraße das Gymnasium, aus der Dom-
schule hervorgegangen; zu demselben wurde 1859 in Gegen-
wart des Kaisers Wilhelm der Grundstein gelegt. Ferner
das Kundenreichstift, dessen Anfänge bis 1421 zurückreichen.
Es folgt die Schliefsenstraße nach dem Patriziergeschlecht
der Schliessen so genannt. In derselben das Haus mit
Inschrift, in welchem Schill gewohnt hat. Als letzte
Parallelstraße ist die Baustraße zu nennen. Das nördliche
Ende derselben führt zur Lauenburger Vorstadt, aus welcher
die Chaussee nach Körlin und Köslin geht. Hier liegt
die Georgskirche. Aus dem südlichen Ende der Baustraße
geht cs über die Persante und den Holzgraben nach der
Geldervorstadt. Beide bilden eine langgestreckte Insel, auf
deren nördlichem Teil der Salzbcrg liegt. Westlich der
Schweineauger und das Siederland, d. h. Niederland.
Wenden wir uns nun wieder zurück und verlassen die
Stadt durch das frühere Münderthor in nördlicher Richtung,
so kommen wir nach dem Hafen und der Straudstadt, Kol-
bergermünde genannt. Man passiert zuerst die älteste Vor-
stadt Kolbergs, die erste Pfannschmiede; in dieser Straße
liegen an der rechten Seite die früher Behrendschcn Sool-
bäder, ferner die zweite Pfannschmieden und dann gelangt
man an der neuen Nikolaikirche vorbei durch die Hafen-
straße zum Hafen, der durch die Persante gebildet wird und
der durch zwei lange Molen geschützt ist. Er gelangte 1831
in Besitz des Staates und hat ein Fahrwasser von ungefähr
14 Fuß. Ungefähr in der Mitte der Hafenstraße führt
links ein kleiner Promenadenweg zur Schiffbrücke nach der
Maikuhle. Dieselbe war früher eine Birkenniederung und
stammt aus dem Anfang des 17. Jahrhunderts. Brügge-
mann nennt sie einen Kienenwald. Zur Zeit der Belage-
rung 1807 wurde sie viel genannt. Zahlreiche schattige
Gänge führen hier umher; der schönste Platz in demselben
ist der Königssitz, von dem man eine herrliche Aussicht auf
das Meer hat.
Von der Nikolaikirche führt die Schillstraße direkt nach
dem Strandschloß. Östlich von derselben dehnt sich die so-
genannte Strandstadt ans, in welcher sehr viele Badegäste
wohnen; auch das Theater befindet sich hier. Die ganze
Münde liegt eigentlich im Grünen; vor den Häusern, deren
i) Riemann, S. 35.
32
250
Dr. Zechlin: Das Fürstentum Kammin.
viele aus Holz gebaut sind, befinden sich Lauben oder
Veranden, schattige Promenadenwege verbinden die Pfann-
schmieden mit der Strandstadt. Von derselben erreicht man
in einigen Minuten den Strand; auch hier dehnen sich vom
Hafen bis zur Waldenselsschnnzc Anlagen aus, deren Schöpfer
der Stadtrat Glagau ist, dem auch ein Denkmal in diesen
Anlagen errichtet. Den Mittelpunkt dieser Anlagen bildet
das schon vorher erwähnte Strandschloß, unmittelbar vor
demselben ist ein großer Perron, auf welchem sich die Bade-
welt versammelt; hier finden auch mehrmals in der Woche
Konzerte statt. In die offene See führt ein 110 ui langer
Steg, rechts davon das Herrenbad, links das Dameubad;
die Badeanstalten sind seit 1875 städtisch.
Die Münde verdankt ihr Entstehen wesentlich der Ver-
einigung von Sool- und Seebad. In vergangenen Jahr-
hunderten war die Gegend einförmiger als jetzt, eine Wasser-
fläche bedeckte einen Teil des Münderfeldes, auch auf der
Merianschen Zeichnung (1652) sind nur ein paar Häuser-
chen an der Mündung der Persante zu sehen; zu Nettelbecks
Jugendzeit wurde die Gegend von Wölfen unsicher gemacht.
Und jetzt ein Seebad ersten Ranges von 6000 bis 7000
Badegästen besucht; bis zur Eröffnung der hinterpommer-
schen Bahn (1859) war die Benutzung aber eine wesentlich
lokale und überstieg nicht das erste Tausend; von da an
hat sich der Besuch des Bades von Jahr zu Jahr vermehrt.
Und wunderbares Zusammentreffen: Als die Saline still-
stand und aufhörte eine Quelle des Erwerbes zu sein, trat
das Seebad an ihre Stelle. Allerdings sucht die Stadt allen
Anforderungen der Neuzeit gerecht zu werden; erst in jüng-
ster Zeit ist nüt großen Kosten eine Wasserleitung an-
gelegt, um einem wesentlichen Mangel abzuhelfen. Auch
der Handel, wenn er auch nicht mehr so bedeutend ist wie
früher, ist einem Teile der Bewohner ein Erwerbszweig.
1843 waren 200 Schisse, 1867 447, 1876 229 Schiffe
eingelaufen und ungefähr ebenso viel ausgelaufen; die
Einfuhr besteht hauptsächlich aus Eisen, Materialwaren
und Fischen, die Ausfuhr aus Holz und Getreide. Von
Industriezweigen sind einige Kalköfen, Eisengießerei,
Zigarren- und Seifenfabrik und verschiedene Mühlen zu
erwähnen. 1740 hatte Kolberg 5027, 1782 4006, 1880
16 027 Einwohner, so daß aus 100 Einwohnern des Jahres
1780 400 des Jahres 1880 geworden sind.
Veranlassung zur Gründung der Stadt waren unzweifel-
haft die Salzquellen. Ursprünglich lag die alte Burg
Kolberg, d. h. am Ufer, in der Nähe des jetzigen Ritterguts.
Altstadt 2 km südlich von der Stadt. Hier fiel der
Burgberg mit steilerer Böschung als jetzt zur Persante
herab, beherrschte den Fluß und war durch die weitere Ent-
fernung vom Meer eher gegen plötzliche Überfälle von
Seeräubern gesichert. Der Burgwall hat sich noch lange
erhalten. Dann trug dieser Berg das Jungfrauenkloster,
welches 1277 von Bischof Hermann gegründet wurde.
1468 in die Stadt verlegt, 1545 endgültig in der Stadt
blieb und jetzt ein evangelisches Jungfrauenstift ist. Die
Kirche bei dem Kloster lag noch 1222 in der Stadt, 1360
wie heute in der Mitte wogender Ährenfelder. 2 bis 3 Irin
von dieser Stelle, auf feuchtem Moor und Wiefengrund in
der Nähe des Quellbezirks, siedelten sich die freien Arbeiter
des Salzberges an, zu ihnen gesellte sich der deutsche Händler
und bald übertraf die neue Ansiedelung die alte an Größe
und Ansehen. So wurde das neue Kolberg am 23. Mai
1255 deutsche Stadt und bald noch mehr von deutschen
Einwanderern, welche durch den Gewinn angelockt waren,
bevölkert. Die Sage erzählt I: Die Gegend, wo Kolberg
liegt, war Wald und Morast, wo man Kohlen brannte und
Jagden abhielt. Als nun eines Tages die Nachbarn ein
großes Treibjagen auf die zahlreichen Wölfe, die gefährlichen
Feinde ihrer Herden, anstellten, stürzte einer der Hunde
auf dem Zillenberge in eine Pfütze. Ein aus sein Geheul
herbeieilender Jäger zog ihn heraus und bemerkte dabei, als
er sich von der Arbeit erhitzt durch einen kühlen Trunk aus
dem Wasser laben wollte, an dem Geschmack, daß hier eine
Salzquelle aus der Erde sprudele. Er bewahrte sein Ge-
heimnis, bis der Fürst des Landes ihn, der durch die Offen-
barung des Erdsegens schon von den Göttern begnadet war,
auch mit der Freiheit begnadet hatte, die Quelle für sich
und feine Freunde und Verwandten ausnutzen zu dürfen.
Sie bauten zusammen Hütten in der Nähe des Salzberges
und nannten den Ort zum Gedächtnis, daß einst an der
Stelle, wo sich später Kirche und Rathaus erhob, die Meiler
der Kohlenbrenner geschwelt hatten, Kohlenbcrg oder Kol-
berg. Das Wohl der Stadt beruhte auf der Saline und
Jahrhunderte lang wurde die Siederei auf beiden Ufern der
Persante getrieben. Die Hauptquelle war aber immer die-
jenige auf dem Salzberge, welche 4^ Proz. Salz enthält.
Ein lebhafter Handel entwickelte sich nach Polen und nach
Schweden und Norwegen. Noch nach 1700 kamen zu Zeiten
Züge von 200 Wagen zugleich in Kolberg an. Allmählich
verfiel die Saline, hauptsächlich durch der Besitzer Schuld,
1801 kaufte sie der Staat, 1860 hörte der Betrieb auf.
Es kann hier nicht der Ort fein, auf die reiche Geschichte
der Stadt näher einzugehen und verweisen wir auf das ein-
gehende Buch von Niemann, nur einiges wollen wir hervor-
heben. Da ist vor allem für die Auffassung des Mittel-
alters charakteristisch der Anlaß zu der bitteren Feindschaft
der beiden mächtigsten Geschlechter Adebar und Schliessen.
Es sind lange Jahre, erzählt Kantzow, zwei Geschlechter die
gewaltigsten in Kolberg gewesen, die Schliessen und die
Ädcbare. Davon sind ungefähr vor 60 Jahren oder mehr
(er. 1485) zwei junge Bürger gewesen, Benediktus Adebar
und Niklas Schlieff. Dieselben hielten sich wie Brüder
untereinander. So begab es sich einmal, daß sie samt
andrer Gesellschaft aus einen Abend zusammen gezecht
hatten und Schlieff guter Zeit heimging und sich zu Bette
legte, und etwa eine Stunde danach Adebar ihm folgte und
an seine Thür klopfte. So hörte Schlieff, daß ers war
und stand selbst auf im Hemde und wollte ihn einlassen. So
hörte Adebar, daß er kam und stach mit seinem Schwerte
durch die Thür und wollte Schliessen erschrecken, und wie
Schlieff im Finstern zulief, daß er die Thür ausmachen
wollte, lief er ins Schwert. So machte er dennoch auf
und schrie laut über Adebaren, daß er ihn so fast erstochen
hätte. So erschrak Adebar hart und verstopfte ihm von
Stund an die Wunde und führte ihn zum Arzt und ent-
schuldigte sich sehr, daß er es aus keinem bösen Gemüte,
sondern aus Fürwitz gethan. So ließ sich Schlieff verbin-
den, aber befand sich sehr übel. Darum warnte er Adebar,
daß er möchte weichen, denn er getraute sich nicht, lebendig
zu bleiben, wo ihn dann seine Freundschaft erhaschte, müßte
er sterben, welches er ihm nicht gern gönnte. Adebar mühte
sich fort (grämte sich sehr), sonderlich, daß er wider seinen
Willen seinen guten Gesellen in Todesgefahr und sich auch
in Sorge gebracht und versteckte sich, denn er konnte in der
Nacht nicht aus der Stadt kommen. Schlieff starb bald
danach, darum suchte Schliessens Freundschaft so fleißig
nach Ädcbar, daß sie ihn fanden und ins Gefängnis setzten.
Die Freundschaft Adebars gab sich nun viel Mühe, daß sie
ihr Mitglied gegen gebührende Genugthuung frei bekamen.
Das wollten die andern nicht, sondern ließen Adebar zum
Gericht bringen und zum Tode verurteilen. Als er aber
verurteilt war, da wollte ihn Schlieffens Freundschaft los-
gcben, damit man sage, sie hätten ihm das Leben geschenkt.
i) Riemann, S. 115.
Dr. Zechliu: Das Fürstentum Kammin.
251
Das wollten die Adebare nicht annehmen, denn sie ließen
sich bedünkcn, ein Verurteilter wäre weiter zu leben nicht
wert. Darum ging Adebar freien Mutes hin und sagte:
er wolle lieber bei seinem guten Gesellen und Bruder, dem
erschlagenen Schlieff, sein, als länger zu leben. Aber damit
er nicht wie ein Missethäter geführt würde, durfte ihn der
Nachrichter und feine Diener nicht anrühren, sondern er-
ging selbst gutwillig, und der Rat und die ganze Stadt
begleiteten ihn und betrübten sich seinethalben. So hatte
Adebar eine Schwester im Jungfranenklostcr zu Kolbcrg,
die war Äbtissin. Dieselbe ergriff ein Kruzifix und trat
vor ihm her und stärkte ihn und sagte: er solle auf Gott
trauen und in seinem Glauben sterben. Also kam er außer
der Stadt; da wurde ihm gegönnt, daß er auf einen Kirch-
hof ging, daselbst ließ er sich abhauen. „Von der Zeit an
erstund ein ewiger grul zwischen den beiden geschlechtcn."
Nachdem Kolberg brandcnburgisch geworden, wurde es
Sitz der hinterpommerschen Regierung, welche 1668 nach
Stargard verlegt wurde, auch eine Ritterakademie war von
1654 bis 1716 hier. Peter der Große kam zur See von
Königsberg nach Kolberg und reiste von da weiter x). Der
Dichter Karl Wilhelm Ramler wurde 1725 in Kolberg
geboren. Friedrich der Große erließ von Kolberg aus in
Begleitung seines Neffen Friedrich Wilhelm II. das berühmte
aber wieder zurückgenommene Edikt über die Leibeigenschaft
1763. 1782 (27. Januar) starb zu Kolberg die Mark-
gräsin Leopoldine, Tochter des alten Dessauer und der Anna
Luise Föhsc, getrennte Gemahlin des Markgrafen Heinrich
Friedrich von Schwedt, nachdem sie 31 Jahre in der Ver-
bannung in Kolberg gelebt hatte. Gnciscnau traf am
29. April 1807 ein. Der Stadt wurde die Kontribution
von 180 216 Thalern erlassen. Professor Iahn langt 1819
in Pommern an unter strenger polizeilicher Aufsicht. 1824
starb Ncttelbclbeck im 86. Jahre seines Lebens. 1825 bis 1830
saß Arnold Rüge auf dem Lauenburger Thor als Gefangener.
Westlich von Kolbcrg ziehen sich im allgemeinen niedrige
Dünen bis zur Kreisgrenze hin, einige Stubben ragen aus
dem Strand hervor; hinter den Dünen erstreckt sich 4 kin
landeinwärts ein mooriges Gebiet, welches jetzt entwässert
worden ist und teilweise fruchtbaren Acker hat. Hier liegen
die früheren Kämmereiortschaften Alt- und Neuwerder,
ersteres ein aus der sumpfigen Niederung sich inselartig er-
hebender Werder, welcher 1287 noch nicht mit Husen
besetzt war. 1863 ist in demselben Orte eine Parochie
errichtet worden. Ebenso das Kämmereidorf Alt-Bork an
einem kleinen Sec niedrig gelegen, wohl von dem letzten
wendischen Kastellan Bork angelegt, 1260 ein kleines
Wendendorf, vom Kloster Dobberan um 1280 gekauft und
germanisiert; 1337 an die Stadt Kolberg verkauft. Neu-
Bork wurde 1775 angelegt und mit 24 Wollspinnerfamilien
vom Kolbcrgcr Magistrat besetzt, welche mit der Zeit Land-
leute geworden sind. Dicht am Strande Kolberger Deep.
Der Boden ist sehr schlecht und der Ackerbau unsicher.
Eine Fähre geht über den Ausfluß des Kamper-Sees und
vermittelt den nächsten Weg zwischen Kolberg und Treptow.
In den Kamper-See, der zum Greifenberger Kreise
gehört, fließen noch einige Bäche, welche den westlichen Teil
des Kolberg - Körliner Kreises entwässern. Zunächst der
Spiebach, der ans dem langgestreckten, romantischen Kämitz-
Sce entspringt, der von steilen und bewaldeten Ufern ein-
gefaßt ist. Auf dein höchsten Berge, hart am See gelegen,
ein alter Burgwall. Ans der Höhe ein großes Plateau mit
tausendjährigen Eichen, an drei Seiten ein Wall aus er-
ratischen Blöcken mit Erde bedeckt, zu dessen Höhe eine
Steintrcppc führt. Die Seite nach dem See zu geht ganz
steil hinunter, ein kleiner Fußsteig, wie in Felsen gehauen,
führt zu demselben hinunter. Die ganze Anlage ist groß-
artig gehalten und mit Tischen und Bänken versehen. Sie
erinnert an den Hertha-See in Rügen. Man genießt von
diesen Punkten wundervolle Aussichten auf den Kämitz-See,
die Forsthäuser zu Kämitz und Eickstedtswalde, sowie auf
Eickstedtswaldc selbst. Dasselbe an der Ostscite wurde 1829
angelegt mit stattlichem, herrschaftlichem Wohnhause. Der
Gründer von Eickstedtswalde, Freiherr von Eickstcdt, hat im
Jahre 1853 aus seinen eigenen Mitteln ein Waisenhaus und
eine Veteranenanstalt für 24 Kinder und 2 Veteranen gestiftet.
Im Jahre 1834 wurde in dem neu angelegten Garten ein
seltener Fund gemacht, bestehend ans Schmucksachen und
deutschen und arabischen Münzen. Der Besitzer des Gutes
schenkte den Fund dem Kronprinzen Friedrich Wilhelm (I V.),
der ihn dem alten Museum überwies. Dort werden sie
unter einem Glaskasten mit der Überschrift: Gefunden zu
Eickstedtswalde bei Kolberg, 18. Juli 1834, verwahrt.
Nördlich davon Plauenthin, auf einer Hochfläche mit
grundigem Boden, die gegen das rechte Ufer des Spicbaches
steil abfällt. Auf dem linken Ufer Ncurese, auf der Höhe
über dem Spiebach, der hier ein weites Wiesenthal, welches
ohne Zweifel früher See gewesen ist, bildet. 1226 über-
ließ der Bischof Hermann v. Kammin das Dorf dem Kloster
Dargun. Das benachbarte Nessin hat leichteren Boden;
hier verengert sich das Spicthal. 1269 verkaufte Bischof
Hermann v. Kammin das Dorf dem Abt des mecklenburgischen
Klosters Dargun. König Friedrich Wilhelm IV. nahm im
Jahre 1850 ein von der Gemeinde zum Zeichen ihrer Anhäng-
lichkeit und Treue überreichtes Gemälde an, und gründete dafür
eine Stiftung für dortige Witwen und Waisen mit einem
Kapital von 100 Friedrichsdor. Es liegt an der Verbindungs-
chaussee, welche über Garrin, Simötzel, Baldekow u. s. w.
sich an die große Staatschaussee anschließt. Unmittelbar am
Spiebach die Kolberger Eigentumsdörfer Nehmer und Spie-,
1276 erwähnt, ersteres 1606, letzteres 1368 vom Rat zu
Kolbcrg gekauft. Nehmer ging 1761 zu Grunde bis auf
die Kirche, und eine Zeitlang wurde diese Parochie mit der
Garriner verbunden. Letzteres an der Chaussee von Kolberg
nach Treptow. Auf der sich nach Westen fortziehenden
Verlängerung des Kauzenberges liegt Prettmin, urkundlich
1223 erwähnt, in welchem Jahre cs dem Kloster Mogilno
verliehen wird. Unterhalb der Chaussee beginnt die Niede-
rung, durch seine westliche Richtung nähert er sich dem
Grenzbach, das heißt dem Kreiherbach. Auf der Wasser-
scheide dieser beiden Bäche liegt Naugard, vielleicht das 1228
genannte Necore, 1320 Klein Naugord genannt, seit 1855
ein Bauerndorf, dann das langgestreckte Papenhagen, welches
fast von einem Bach zum andern reicht, wahrscheinlich vom
Kloster Belbuck gegründet, beide ehemalige Lehen der aus-
gestorbenen (1741) Familie Güldenklce. Durch moorige
Niederungen ergießt sich der Spiebach in den Kamper-See.
Die nordwestliche Kreisgrenze bildet der Kreiherbach,
der zuerst unter verschiedenen Namen aus mehreren Rinnseln
entsteht, welche an der großen Chaussee von Plathe nach
Körlin bei Lestin und Damitz entspringen. Südlich von
diesen Dörfern zieht sich das große Heideland hin, welches,
noch teilweise unbeackcrt, notdürftig Kiefern oder kümmer-
lichen Roggen hervorbringt. Ein Vorwerk wird im Volks-
munde der rote Strumpf genannt, angeblich weil alle
Besitzer auf den Strumpf kommen. Lestin ist ein altes
Manteusfelschcs Lehen. Auf dem schön bewaldeten Höhen-
rücken, an dessen Fuß das Gut liegt, ist ein Erbbegräbnis
dieser Familie; ein Granitblock mit bezüglicher Inschrift
bezeichnet den Zweck des eingefriedigten Platzes. Das ein-
fache Wohnhaus, von hohen Bäumen umschattet, liegt
getrennt von dem Gehöft; in der Nähe desselben, mitten in
32*
fl Brückner, Peter d. Gr., S. 147.
252
Dr. Zechlin: Das Fürstentum Kammin.
den Rieselwiesen, ein Burgwall, von dem noch das Gemäuer
sichtlich ist und der jetzt abgefahren wird. Nördlich davon
liegt Drosedow, d. h. Drosselort, 1170 urkundlich erwähnt
und dem zu gründenden Kloster Belbuck geschenkt, von
welchem Orte der Bach eine Strecke den Namen führt in
konpierter Gegend, vor 1816 dem Greifenberger Kreise ge-
hörig. Der Parochie der Kirche Drosedow wird 1494 Er-
wähnung gethan. Am Wege nach Roman ein hoher, steiler
Burgwall. Gegenüber am rechten Ufer des Baches Trienke.
In den Wiesen steht ein Kalklager an, welches ausgebeutet
wird. Es war ein altes Manteuffelsches Lehen, das später
in den Besitz des Kabinetsrates Beyme kam, eines unter der
Regierung Friedrich Wilhelm III. sehr einflußreichen Mannes,
der, 1798 Chef des geheimen Kabincts, 1816 geadelt wurde.
Auf derselben Seite liegt Simötzel am deande des Baches,
der hier ein größeres Wiescnthal bildet, 1297 urkundlich
genannt, 1456 an die Stadt Kolberg verkauft. Bei diesem
Dorfe sind wendische, bei Schwedt römische Sachen gefunden
worden. Letzteres liegt hart an der Kreisgrenze und gehörte
bis 1816 zum Greifenberger Kreise, 1224 wurde das Dorf
von Anastasia, Witwe des Herzogs Bogislav I., dem Kloster
Belbuck geschenkt, 1462 kam das Dorf durch Tausch an Jost
Wachholz, in dessen Geschlechte das Gut mit geringen Unter-
brechungen bis in die sechziger Jahre unsres Jahrhunderts ge-
blieben ist. Dann Gandelin, ebenfalls hart an der Kreisgrenze
auf einer Anhöhe am Kreiherbach, welcher die Kreisgrenze
bildet und sich dann ebenfalls in den Kamper-See ergießt.
Eine kleine westliche Ecke des Kreises gehört zum Fluß-
gebiet der Regn. Der größte Teil dieses Gebietes ist erst
1816 zum Fürstentümer Kreise gelegt. Südlich von dem
vorher erwähnten großen Heidelande liegt das Dryhnbruch,
an dessen Nordrande in einsamer Lage die Kolonie für die
Bagabonden- Meierei liegt; das Bruch wird jetzt urbar-
gemacht durch die sogenannte Rimpaukultur. In diesem
Bruche entspringt der schwarze und der auf der alten General-
stabskarte fälschlich so genannte Molstowbach. Nach Ver-
einigung beider fließen sie in östlicher Richtung, hier liegt
Petershagen mit leichterem Boden, das größte Gut im
Kreise, 2629 Hektar; dagegen hat Trienke bei 800 Hektar
den größten Grundsteuerreinertrag. Der Acker stößt im
Norden an das große Heideland, Hünengräber sind hier
aufgedeckt worden. Dann bildet der Schwarze Bach die
Grenze zwischen dem Kolberger und dem Schivclbeiner Kreise,
reich an Forellen; derselbe ergießt sich in die Molstow, welche in
nördlicher Richtung fließt. Hier sind wenig Ansiedelungen,
erst an der Chaussee von Körlin nach Plathe, dicht an der
Molstow, Reselkow am Winkelbach, der sich hier in die
erstere ergießt, 1227 urkundlich erwähnt, bis 1816 zu dem
Ostenschen Kreise, zum kleineren Teile zum Greiscnbcrgcr
Kreise gehörig. Die Feldmark ist bergig und hat leichteren
Boden. Früher bedeutende Poststation. Schmuckentin,
westlich vom Molstowbach, leichten Bodens; altes Man-
tensfelsches Lehen; noch westlicher die alte Mantcuffelburg
Kölpin an einem kleinen See in hügeliger Gegend, ein
Stammhaus dieses Geschlechtes, wo bedeutende Bronzcfunde
gemacht worden sind. Viele Güter gehörten demselben,
so daß man im Mittelalter von cincul Lande Kölpin sprach.
Ein Dominus, Johannes Manduvel, wird 1299 genannt als
Zeuge einer Urkunde, in welcher Bogislav dem Kloster
Buckow neun Häuser in Bulgrin verleiht. Wie ihre Burg
zerstört wurde, wollen wir nach Kantzow H erzählen: „Um
diese Zeit haben in Pommern die Manduvels von Kölpin
viel Raub und Mords gegen den wandernden Mann und
I ed. Kosegarten II, 36.
die armen Bauern gebraucht und sonderlich gegen die
Klostersleute von Belbuck. Darum hat der Abt von Belbuck
am Tage Petri und Pauli im Jahre 1432 alle sein Leute
aufgebracht und sie vor Kölpin geschickt. So haben sic cs
berannt und zuletzt gewonnen und haben Heinrich Manduvel
erwürget und die andren gefangen, und mit allem, was sie
darauf gefunden, mit sich weggeführt und dem Abte gebracht.
Und um dieser Viktoria willen hat man hernach im Kloster
Belbuck alle Jahre auf St. Petri- und Paulitag das te deum
laudamus gesungen und 12 Arme gespeist." Die mündliche
Tradition fügt noch hinzu, daß es den Rittern nicht gelingen
wollte, die Burg zu erstürmen, bis endlich die Amme des
jüngsten Sprößlings von Queren aus Liebe zu ihrem Säug-
ling und um mit demselben nicht umzukommen, dem Abte
unter der Bedingung, daß er ihr und dem Kinde Leben und
Freiheit schenke, einen durch das Gebüsch bis dahin ver-
borgenen Eingang in die Burg entdeckte, wo dieser mit
seinen Kriegern bei Nacht in die Burg drang und sämt-
liche Bewohner mit Ausnahme der Amme und des Kindes
niedermachten. „Von diesen Manduweln", fährt Kantzow
fort, „ist eine gemeine Sage, daß ihre Voreltern geheißen
haben die Herren von der Queren und sind so boshaft ge-
wesen, daß man gesagt auf pommersch: ji sind man Düwel,
das ist soviel als: das sind nur Teufel und keine Menschen,
davon sollen sie den Namen haben, daß sie Mandüwel
heißen. Und hernach sind daraus Michel Mandüwel samt
seinen Brüdern und Vettern arge Räuber gewesen. Doch sei
cs wie cs wolle, es sind sonst viele andre ehrliche Männer und
Frauen in dem Geschlecht gewesen, die solche Bosheit ungern
gedacht, viel weniger gethan hätten und bei unsren Zeiten
weiß man von solcher Bosheit von ihnen nicht, sondern es
ist ein gar ehrlich Geschlecht, daraus auch jetziger Bischof
von Kammin, Erasnms Mandüwel, ist, der durch seine Lehr-
und Geschicklichkeit zu dem Stande gekommen ist."
Die Molstow empfängt an der Kreisgrenze bei der Köl-
piner Mühle aus der rechten Seite noch den kleinen Ückcr-
bach, der in den Bergen zwischen Lcstin und Roman entspringt;
letzteres an der Chaussee von Körlin nach Plathe mit schloß-
artigem Wohnhaus, 1240 urkundlich erwähnt, desertum
quod vocatur Riman, bis 1816 zum Kreise Greifenberg
gehörig. Syrupfabrik. Es war ein Manteuffelsches Lehen,
woselbst das Geschlecht zwei Burgen hatte, deren Lage man
sowohl in Roman als im Buchwaldc an den Überresten von
Wällen und Gräben noch deutlich erkennen kann. Der
nördliche Teil der Feldmark ist hügelig mit steil absetzenden
Höhen, unter denen gegen Westen hin der Ficrberg bedeutend
hervorragt, von dessen Gipfel der Blick bis an die Türme
von Greifenberg und Kolberg schweift. Mehrere kleine
Bäche bewässern das Gutsgcbict, das auf der Abdachung
zum Molstowfluß liegt. Die sechste Klasse hat die größte
Morgenzahl aufzuweisen. Ein anstehendes Kalkflötz wird
in geringer, Wiesenkalk in großer Menge benutzt. Der
jetzige Besitzer Andrae hat im Jahre 1853 ein Asyl für
entlassene Sträflinge errichtet. Von hier fließt der Ücker-
bach in nördlicher Richtung, biegt dann südlich von Gervin
nach Westen um. Letzteres 1224 urkundlich erwähnt und
von Anastasia dem Kloster Belbuck geschenkt, bis 1816
zum Kreise Greifenbcrg gehörig, in flacher Gegend an der
Verbindungschaussee von Reselkow nach Kolberg. Die Kirche
ist 1647 gebaut. Vor der Thür des Herrenhauses große
Kastanieubäumc. Knochenmehlmühle. Zwischen Ückerbach
und der Molstow liegt noch Sternin, ebenfalls bis 1816
zum Kreise Greifenbcrg gehörig, mit leichterem Boden, ein
altes, zum Lande Kölpin gehöriges Manteuffelsches Lehen,
seit 1315 im Besitz der Familie. (Schluß.)
Adrian Iacobsen:
Nordwestamerikairische Totempfeiler.
253
llordwe st amerikanische Totempfeiler.
Von Adrian Jacobson.
Von alten, berühmten Geschlechtern abzustammen, gilt
auch bei den Indianern Nordwestamerikas als ein hoher
Vorzug, ja viele Häuptlinge leiten sogar ihren Ursprung
geradeswegs, wie einstmals die griechischen und römischen
Helden, von einer Gottheit her. Wer nicht eine derartige
edle Abkunft nachzuweisen vermag, sucht den Rang eines
Häuptlings oder sonst eine
hervorragende Stellung un-
ter seinen Stammesgenossen
durch Heirat oder Adoption
zu erreichen. Um nun ihren
Nachbarn oder Untergebenen
ihre Familiengeschichte und
Herkunft vor Augen zu fuh-
ren, errichten sie die soge-
nannten Totempfeiler.
Man versteht darunter einen
oft von oben bis unten 6N
rklisk geschnitzten Baum-
stamm von 3 bis 20 m Höhe
und darüber.
Die oberste Spitze dieses
Pfeilers nimmt der Stamm-
vater des Geschlechtes ein;
bei den Haida- und Tschim-
sianstämmcn meist in Ge-
stalt eines Raben, Adlers,
Wolfes oder Bären, während
im Norden bei den Tlin-
kitcn und den Kwakjntl im
Süden neben Walfischen und
andern Tieren, sich auch
häufig menschliche Figuren
als Stammhalter vorfinden.
Die Familienübcrliefe-
rnng lautet bei allen diesen
Stämmen so, daß ehemals
Götter bald in Gestalt der
oben erwähnten Tiere, bald
auch in Menschengestalt sich
mit den Urahnen der In-
dianer verheiratet haben und
ans diese Weise Ahnherrn
des betreffenden Geschlechtes
wurden.
Man unterscheidet bei
den Haida- und Tschim-
sianindianern dreierlei
Pfeiler: 1. Solche, welche
die oben erwähnten Familicn-
traditioncn darstellen und
häufig noch bei Lebzeiten von
dem Familienoberhaupte auf
den Sohn oder Schwieger-
sohn vererbt werden. In diesem Falle wird jedoch ein neuer
Stammbaum errichtet und das neue Oberhaupt fügt seine
eigene Geschichte mutterseits in Gestalt der sie repräsen-
tierenden Figuren hinzu. 2. Solche Pfähle, die für einen
berühmten verstorbenen Häuptling errichtet werden. Diese
sind gewöhnlich kurz und durch eine große Tafel am Ende
des Pfahles gekennzeichnet, oder sic werden in Gestalt eines
Fig. 1. Totempfeiler der Tlinkiten. Nach einer Photographie.
Walfisches oder eines andern Tieres einfach vor dem Hause
des Verstorbenen auf die Erde gelegt. Pfeiler dieser Art
kommen vornehmlich bei den Haidastämmen in Anwendung.
3. Solche Pfeiler, welche die Dachbalken deß Hauses stützen,
gewöhnlich vier an der Zahl; sie finden sich am häufigsten
bei den Ahts und Kwakjntl, und ich habe oft bemerkt, daß,
wo diese Art Totempfeiler
innerhalb des Hauses ge-
braucht wird, selten noch
außer dem Hause ein Pfeiler
errichtet ist.
Die schönsten und am
besten ausgeführten Stamm-
bäume findet man in den
Haidadörfern, auch scheint
die Auffassung der betreffen-
den Stammtiere hier weit-
aus klarer zu sein, wie bei
den weiter südlich oder nörd-
lich wohnenden Völkern. —
Merkwürdigerweise stimmt
bei allen Küstenbewohnern
die Sage darin überein, daß
berichtet wird, die Sitte der
Totempfeiler fei durch einen
auf dem Meeresgrunde hau-
senden Gott den Indianern
gebracht worden und es be-
haupten beispielshalber die
Haida, bei heiterem Himmel
und ruhiger See auf denn
Meeresgrunde ganze Dörfer
mit solchen Stammbäumen
gesehen zu haben.
Die Stammbäume wer-
den zuweilen (besonders bei
den Haida) unmittelbar an
der Hauswand befestigt, so
daß der Totempfeiler den
Giebel des Hanfes überragt.
Zuweilen richtet der Holz-
schnitzer die unterste Figur
des Pfeilers so her, daß der
Mund der betreffenden Ge-
stalt als Eingangsthür be-
nutzt werden kann, was
denn auch, jedoch nur bei
besonders festlichen Gelegen-
heiten, geschieht. Für den
täglichen Gebrauch ist rechts
oder links von: Stamm-
baum in der Hanswand eine
Thür angebracht. Die mei-
sten Stammbäume werden
in einer Entfernung von 3 bis 4 m vor dem Hanse auf-
gestellt, so daß zwischen den Stammbäumen und den Häu-
sern sich eine Straße bildet. Bei den Haida finden sich
auch an den untersten Dachbalken kleine Stammbäume, die
Bezug haben aus den großen Stamm.
Soll ein neuer Stammbaum errichtet werden, so beruft
der Betreffende den Holzschnitzer und einigt sich mit diesem
254
Adrian Jacobsen: Nordwest amerikanische Totempfeiler,
über den Preis. Ein jeder Häuptling hat je nach seinem
Range das Recht auf eine gewisse Höhe des Pfeilers. Nach-
dem die Größe desselben festgestellt ist, wird die Familien-
überlieferung den Schnitzern erklärt. Die Ausführung der
Arbeit wird unter die einzelnen Arbeiter verteilt und einer
führt dabei die Oberaufsicht. Da die Indianer gewohnheits-
gemäß oft längere Zeit auf Jagd und Fischfang abwesend
find, so widmen sie sich nicht beständig solcher Arbeit und
über die Herstellung
des Pfahles vergehen
oft Jahre.
Die Stämme sind
halbrund und wer-
den auf der vorderen
Seite en reitet be-
handelt. Die Rück-
seite wird ausgehöhlt,
da es sonst unmög-
lich wäre, einen Pfahl
von 20 m und höher
mit den dortigen ein-
fachen Hilfsmitteln
aufzurichten. Zum
Einsetzen des Pfahles
wird ein Loch von
2 bis 4 m Tiefe
gegraben, und der
Pfahl, dessen unteres
Ende nicht geschnitzt
ist, durch Rollen
hineingeschafst. Nun
werden starke Taue
aus Cederbast an dem
Baume befestigt und
durch Stützen und
Ziehen von Hunder-
ten Männern und
Weibern das Richten
des Pfeilers vorge-
nommen. — Jeder
Pfahl wird mit einem
Namen belegt.
Die hier nach Pho-
tographiecn abgebil-
deten drei Totcm-
pfeiler stammen von
den Tlinkliten, spe-
ziell von Port Wrän-
get, zwischen 5go und
570 uördl. Br.
Die Fig. 1 zeigt
oben einen Vorfahren
des Errichtcrs des
Stammbaumes *).
Derselbe ist ein ge-
waltiger Medizin-
mann gewesen; das
lange Haar, welches bis auf den Rücken herabfällt, bezeugt
dies * 2). Das Haupt des Mannes schmückt ein hoher Holz-
*) Die Gesichter der Ahnen werden stets mit kleinem, der
Größe des Gesichts angemessenem Munde dargestellt, während
die Gottheiten, die bald Tier- bald Menschengestalten annehmen,
ost mit einem tierischen Munde versehen sind.
2) Nur den Medizinmännern ist es bei den meisten Stämmen
gestattet, langes Haar zu tragen, während das Volk die Haare
wie unsre Artisten trägt und es durch ein Kopstuch oder einen
Kopsring aus dem Gesicht hält.
Hut. Diese Hüte werden von den nördlich wohnenden In-
dianern häufig bei Gefchcnkfesten oder bei Errichtung von
Totcmpfeilern gebraucht I. Der obere Teil des Hutes zeigt
eine Reihe Holzringe, die den Rang des Trägers andeuten;
bei einigen Stämmen soll auch wohl die Zahl der von
dem Besitzer veranstalteten Gefchcnkfeste dadurch angezeigt
werden. An dem Hute (häufig besitzt schon der Hut selbst
die Gestalt eines Tieres) befindet sich das Stammtier oder
ein diesem dienendes
Tier, das entweder
aufgemalt oder als
Relief angebracht ist.
(Das auf unserm
Bilde en relies ge-
schnitzte Tier ist nicht
cptt erkennbar, es
stellt wahrscheinlich
einen Fisch dar.)
Die zweite Figur
zeigt einen Geist oder
eine Gottheit, die
wohl der dienende
Geist des über ihr
befindlichen Medizin-
mannes ist. Solche
dienende Geister be-
sitzt der Schamane
mehrere, und ist das
Gesicht des Geistes,
falls er einen Ahnen
darstellt, stets blau
bemalt; doch können
nur die Familicn-
uütglieder die Über-
lieferung desselben
genau kennen.
Die dritte Abtei-
lung des Stamm-
baumes zeigt einen
Mann, dessen Ge-
sicht und Hände aus
dem Rücken eines
Wales hervorragen.
Dieses dürfte der
oben am Stamme
befindliche Medizin-
mann sein, wie er sich
entweder in einen
Walfisch verwandelt,
ein Glaube, der sich
namentlich bei den
Walfisch fangenden
Stämmen findet 2),
oder der Wal gilt als
sein Totemtier. Bei
verschiedenen Stäm-
men, wie beispiels-
weise bei den Kwakjutl im Süden, vertritt häufig ein die-
nendes Tier die Stelle des obersten Stammtieres. Bei
den Haida ist der große Walfisch das dienende Tier des
J) Bei den Bella - Coolas sitzt der Gott Mes-mes-salamc
häufig oben aus dem Stammbaume und stets hat er auf dem
Kopse einen Holzhut, der mit vielen Rangstufen versehen ist.
2) Bei den Haida z. B. verwandelt sich der Medizinmann
oder die Medizinfrau in einen weiblichen Walfisch, sie locken
dann den männlichen Walfisch in seichtes Wasser, wo er strandet
und den Küstenbewohncrn als Nahrung dient.
Fig. 2 u. 3. Totempfeilcr der Tlinkiten. Nach einer Photographie.
Aus allen Erdteilen.
255
Adlers, da der Adler die an die Küste antreibenden Wal-
fische verzehrtl). Sonach stammen in unserm Falle die
Ahnen des Besitzers des Pfeilers vom Adler ab.
Die unterste Figur am Stammbaum dürfte den Stamm-
vater mütterlicherseits darstellen. Bei den Tschimsian und
Haida ist es streng verboten, daß Angehörige ein und desselben
Stammtieres sich verheiraten, da eine solche Ehe als Blut-
schande betrachtet wird. Daher findet man fast auf jedem
Stammbaume zwei der Haupttotemtiere und etliche ihnen
untergebene angebracht. Die erwähnte unterste Figur zeigt eine
Gottheit, die eine Gestalt annahm halb Bür halb Mensch.
Der Sage nach entführte die Gottheit aus dem einen
Stamme Jünglinge, aus dem andern Mädchen und wurde
somit Stammvater von ganzen Geschlechtern.
Der Errichter dieses Baumes scheint demnach ans einer
außerordentlich berühmten Familie zu stammen. Das über
den Kops hervorragende Gesicht soll wohl einen Walddämon
vorstellen. Ein ähnliches Gesicht findet man fast stets bei
den Bella-Coolastammbäumen. Der Geist soll der Er-
zählung nach im Walde schwangere Frauen überfallen und
ihnen die Leibesfrucht nehmen.
Fig. 2. Dieser Stammbaum ist weniger interessant
als der vorige. Die Hauptfigur desselben stellt einen in
Jndianerweise sitzenden Vorfahren dar. Auf dem Kopfe
trägt er den oben erwähnten, bei Gcschcnkscsten und Er-
richtung von Pfählen gebrauchten Hut. Derselbe repräsen-
tiert sein Totemtier und zwar den Schwertwal (Delphinus
Orca oder Gladiator). Der vordere und hintere Teil des
Hutes zeigt den Kopf und die Finne des Tieres; zwischen
den Finnen sieht man drei Ringe, welche die Rangstufe des
Besitzers andeuten. Da der Schwertwal das dienende Tier
des Raben ist, so ist mit Bestimmtheit zu entnehmen, daß
der Mann der Rabenfamilie angehört. Die unter dem
Manne sich befindende Figur scheint ein Biber zu sein.
Da nun der Biber dem Adler untergeben ist, so stammt der
Errichter des Pfahles mütterlicherseits von: Adler ab* 2).
!) Über Stammtiere und die ihnen untergebenen Tiere,
siehe „Globus' Bd. LIX, Nr. 11.
2) Nicht immer wird der Biber als untergebene Stamm-
gottheit allein auf den Baum geschnitzt, denn bei den Bclla-
Coolas sah ich ihn einmal am Fuße eines Stammbaumes,
Da der untere Teil des Baumes ohne weitere Schnitzereien
ist, so läßt sich daraus schließen, daß das Geschlecht kein
altes und berühmtes gewesen ist.
Fig. 3 ist meines Erachtens ein Totcmpfahl, der zur
Erinnerung an einen berühmten Verstorbenen von dessen
Verwandten errichtet wurde. Der auf der Spitze befindliche
Bär dürfte die Abstammung des Verstorbenen angeben.
Die Bedeutung der an dem Stammbaume angebrachten Fuß-
stapfen ist nur den Verwandten des Toten bekannt, die mit
der Familienüberlieferung bekannt sind. Eine andre Deutung
wäre die, daß der Verstorbene auf der Bärenjagd ums
Leben gekommen und dieser Pfeiler gewissermaßen ein Keno-
taphium ist; wenigstens habe ich bei den nördlicher wohnen-
den Eskimos Ähnliches gesunden.
Keines der auf den Abbildungen sichtbaren Häuser ge-
hört zu dem Stammbaume, da dieselben wie die Bauart
zeigt, aus neuerer Zeit als die Stammbäume sind.
Um eine vollständige Erklärung der Stammbäume geben
zu können, müßte ich, wie oben bereits erwähnt, vollständig
mit den Orts- und Familienüberlieferungen vertraut sein und
cs würde z. B. selbst der beste Holzschnitzer der Bclla-Coola-
Jndianer keine genügende Erklärung eines Tlinkitenbaumes
geben können.
Da die drei Stämme, die hauptsächlich die schönsten
Totempfeiler fertigen, namentlich die Tschimsian, Haida und
Tlinkiten, meist zum Christentum bekehrt sind, so hört das
Herstellen der Stammbäume allmählich auf. Statt der
20 m langen Häuser mit den stolzen Stammbäumen findet
man heutzutage fast überall kleine, Villen ähnliche Häuser,
die nach amerikanischem Muster gebaut sind und nur von
einer Familie bewohnt werden. Auch durch Heiraten der
Totcmverwandteu, die seit der Einführung des Christentums
stattfinden, verwirren sich allmählich die früheren klaren
Begriffe der Abstammung. So ist es auch auf diesem
Felde der Ethnographie die höchste Zeit zu sammeln und
die Deutung der Nachwelt zu überliefern.
ohne jeden Zusammenhang mit dem oberen Stammtiere. Auf
meine diesbezügliche Frage wurde mir erklärt, daß der Er-
richter des Pfahles durch vielen Fang von Bibern reich ge-
worden und dadurch in den Stand gesetzt sei, einen Baum zu
entrichten.
Aus allen
— Russische Expedition nach den Ruinenstädten
der Mongolei. Die Lage der alten Hauptstadt der Mon-
golenchane, Karakorum, die uns der mittelalterliche Reisende
Plan Carpin beschrieben hat, ist lange streitig gewesen. Plan
Carpin war päpstlicher Gesandter und 1246 im „Goldnen
Zelte" des Großchans. Seine Nachfolger dort waren Andreas
von Lonjumcl (1249) und der bekannte Gesandte Ludwig des
Heiligen, Ruysbrock (1253). Die Frage nach der Lage
Karakorums schien 1873 durch den russischen Reisenden
P ad er in gelöst, der die Ruinen im Thale des Toglocho-
Tologol da auffand, wo Abel Rämusat sie bereits vermutet
hatte. Der russische Orientalist Jadrintsew bestätigte durch
seine Reisen 1889 diese Anschauungen und entdeckte zugleich
die Ruinen verschiedener anderer mittelalterlicher Mongolen-
städte im Flußgebiete des Orchon (Qnellfluß der Selcnga).
Die Akademie der Wissenschaften in St. Petersburg hat
die Summe von 12 000 Rubel zur weiteren Erforschung der
Ruinen bewilligt und die Expedition, welche unter Leitung
des Professors Wilhelm Radloff steht, ist am 15. Mai
von Petersburg aufgebrochen und hat glücklich ihr Ziel erreicht.
Erdteilen.
Außer Radloff nahmen daran Teil dessen Sohn, der Reisende
Jadrintsew, ein Botaniker und ein Topograph. Neben den
archäologischen Forschungen wurden auch geographische und
meteorologische ausgeführt, welche dort ein ergiebiges Feld
boten. Die Expedition ist noch weiter in die Landschaften
südlich vom Changaigebirge vorgedrungen. Jadrintsew begab
sich mit den gemachten Sammlungen (darunter zahlreiche
Bilderschriften) nach Kiachta zurück, während Radloff die
Rückreise über Peking antrat.
— Die amerikanische Labradorexpedition
(oben S. 63) unter Prof. Leslie-Lee hat eine ihrer Haupt-
aufgaben, die Feststellung der Wasserfälle des Grand
River unter 53° nördl. Br. erreicht. Zwei Mitglieder der
Expedition, Coles und Cary, machten sich zur Entdeckung der
als fabelhaft hoch angegebenen Fälle auf den Weg und laugten
am 8. August am Waminikapou-See an, der eine Erweiterung
des Grand River ist. (Vergl. Karte von Holme in den
Proceedings 1888.) Die Wälder, durch welche sie kamen,
waren fast undurchdringlich, und Moskitos und schwarze
256
Aus allen Erdteilen.
Fliegen setzten ihnen ununterbrochen zu. Nach einem drei-
tägigen Fußmarsch wurde ihre Ausdauer endlich belohnt.
Schon aus der Ferne vernahmen sie betäubenden Donner
und bald darauf breitete sich ein herrliches Schauspiel vor
ihnen aus. Eine Wolke blendendweißen Gischtes und
Schaumes stieg vor ihrem Auge in die Höhe, welche minde-
stens auf 30 km sichtbar war. Unter furchtbarem Ungestüm
ergießen sich die Fluten durch eine Schlucht, an deren Seiten
sich die Felsen, von düsterem Wald bedeckt, bis zu einer Höhe
von 150 m erheben. Was die Höhe des Wasserfalls an-
betrifft, so ist dieselbe arg übertrieben. Dieselbe mißt in
senkrechter Linie nur 60 m. Oberhalb des Wasserfalles be-
trügt die Breite des Flusses 450 m, dagegen an dem Fall
nur 45 m, von welcher Stelle das Wasser sich mit furcht-
barem Getöse über die Stromschnellen herabstürzt. Nachdem
sie einige Photographien aufgenommen, begaben sich die beiden
unternehmenden Entdecker auf den Rückweg, ans dem sie noch
schreckliche Leiden ausstehen mußten, da sie Boot, Zelt und
Proviant verloren hatten. Unter Anstrengung der letzten
Kraft gelang es ihnen, wieder zu ihren Geführten zu stoßen.
— Der Saltonsee in der Coloradowüste, dessen
Bildung oben S. 137 ausführlich besprochen wurde, hatte
Ende August eine Fläche von 156 Quadratmiles einge-
nommen. Gespeist wurde derselbe burd) zwei Kanäle, den
New-River und einen zweiten, kleineren. Der Zufluß des
Wassers hat mit dem Sinken des Coloradoflusses bedeutend
abgenoinmen und seit Mitte Juli hielt die Verdunstung dem
Zuflusse die Wage, so daß kein Steigen des Sees mehr be-
merkbar war. Man nimmt daher an, daß der See durch
Austrocknen wieder verschwinden, aber beim nächsten Hoch-
wasser des Colorado wieder entstehen werde.
— Die Nunivakinsel, unter 60° nördl. Br. an der
Küste Alaskas im Beringsmeer belegen, ist im laufenden
Jahre von dem Agenten der Vereinigten Staaten, Iwan
Petr off, besucht worden. Er giebt die Zahl der Ein-
gebornen (Eskimo) zu 600 an. Sie führen ein sehr arm-
seliges Dasein und sind vollständig auf Walroßfleisch ange-
wiesen. Die Zähne des Walrosses bilden den einzigen
Handelsartikel der selten besuchten Insel.
— Die russische Expedition unter Maschkow nach
Abessinien (Globus LX, S. 143), welche im Juni in dem
französischen Hafen Obok eingetroffen war, hat im Beginn
des Juli ihre Reise über Harrar nach Schon angetreten.
Vor der Abreise waren zwischen dem Leiter der Expedition
und dem Mönche Tychon Streitigkeiten entstanden, infolge
deren der letztere heimkehrte.
— Ein Denkmal des französischen Generals
L. Faid herbe wurde am 27. September 1891 zu Ba-
paume im nördlichen Frankreich errichtet. Galt dieses auch
zunächst dem tapferen Feldherrn, der bei jener Stadt 1870
gegen die Deutschen unter General v. Göben gekämpft hatte,
so ist damit doch auch der hervorragende Mann der Wissen-
schaft geehrt worden, dessen auch wir hier bei dieser Gelegen-
heit kurz gedenken wollen. Faidherbe ward 1818 in Lille
geboren und starb 1889 in seiner Vaterstadt, nachdem er
noch zuvor seinen Schädel und sein Gehirn der Pariser
Anthropologischen Gesellschaft zur wissenschaftlichen Unter-
suchung vermacht hatte. Seine wiederholte militärische Thätig-
keit in Algerien und am Senegal waren die Ursache, daß er
eingehend sich mit der Völkerkunde und den Sprachen Nord-
afrikas befaßte. In den Bulletins der Pariser Anthropolo-
gischen Gesellschaft, deren Präsident er 1874 war, veröffent-
lichte er in den Jahren 1869 bis 1874 Abhandlungen über
die megalithischen Gräber und die Dolmen in Nordafrika;
über die blonden Libyer, über die Ethnographie Nordafrikas,
über die Beziehungen der Libyer zu den alten Ägyptern, über
den künstlichen Prognathismus bei den Mauresken am Senegal,
über die Ethnologie der Canarischen Inseln und über die
Tamahu. Mit Topinard gab er 1874 die Instructions
sur ¡’anthropologie de l’Algérie heraus; sein linguistisches
Hauptwerk Collection des inscriptions numidiques er-
schien 1870 zu Lille. Desgleichen hat er die Grammatik der
Fulbcsprache bearbeitet.
— Max Quedenfeldt, Premierlentnant a. D., starb
am 18. September 1891 zu Berlin. Derselbe hat sich durch
seine vortrefflichen ethnographischen Arbeiten über Marokko,
das er nach den verschiedensten Richtungen hin bereiste, um
die Wissenschaft verdient gemacht. Seine Hauptarbeit ist die
„Einteilung und Verbreitung der Bcrberbevölkernng in Ma-
rokko", erschienen in der Zeitschrift für Ethnologie 1888 und
1889 nebst Karte (1: 3800000).
— Der amerikanische Meteorolog William Ferret
start) zu Kansas City im September. Er war 1817 in
Pennsylvanien geboren, sett 1857 Mitherausgeber des
amerikanischen Nautical Almanac und seit 1882 bei der
Kustenvermessung angestellt; auch die Beobachtnng der Tiden
war ihm speziell anvertraut. Unter semen Werken find hier
folgende zu nennen: Notions of Fluids and Solids rela-
tive to the Earth’s Surface (1859). Determinations
of the Moon’s Mass from Tidal Observations (1871).
Tidal Researches (1874), Meteorological Researches
(1875 bis 1881) und Temperature os the Atmosphere
and the Earth’s Surface (1884).
— Altägyptische Schöpfungsgeschichte. Maspero,
der bekannte französische Ägyptologe, stellte die verschiedenen
altägyptischen Schöpfungsberichte zusammen. Die Berichte
aus der Zeit der zwölften Dynastie (2460 bis 2260 v. Chr.)
zu Hermopolis erzählen alle, daß die Schöpfung durch wieder-
holte Reden oder Jneantationen der Götter bewirkt wurde.
So soll z. B. Hermes sechsmal gelacht haben und bei jedes-
maligem Lachen entstand ein Wesen. Die Erde, welche den
Laut hörte, stieß einen Schrei aus, beugte sich vorwärts und
drei Flüsse begannen zu fließen. In einer andern alt-
ägyptischen Stadt, Heliopolis, wo schon sehr frühzeitig sich
eine theologische Schule gebildet hatte, entstand eine von der
hermopolitanischen ganz verschiedene Schöpfungsgeschichte.
In Hermopolis war es die Stimme der Götter, welche
schaffend wirkte, in Heliopolis aber schuf die materielle Kraft.
Jedenfalls aber, so zeigte Maspero, war die Schöpfung
durch die Stimme der Gottheit („Und Gott sprach") eine
uralte ägyptische Überlieferung, ähnlich jener der Bibel.
— Die John Crow Berge ans Jamaika sind von
Herbert Thomas zuerst gekreuzt worden. Sie liegen im öst-
lichen Teile der Insel und bilden eine Abzweigung des großen
Zentralgebirges. Von Port Antonio an der Nordküste ver-
laufen sie südöstlich bis in die Gegend von Bath, machen
dann eine scharfe Biegung nach Osten, die Nordgrenze der
als Plantain Garden bekannten Alluvialebene bildend, und
endigen bei Quaw Hill am Meere. Der höchste Punkt liegt
992 m über dem Meere. Der höchste Teil ist ein zerrissenes
Kalksteinplateau mit Baumfarnen und Mangrovegebüsch. Die
von dort zur Küste gehenden Flüsse sind nur in der Zeit
heftiger Regen gefüllt, doch stauen sie an gewissen Orten, wie
z. B. Cudjoe Hole, Wasser auf. (Proceed., Sept. 1891.)
Herausgeber: Dr. R. Andree in Heidelberg, Leopoldstraße 27.
Druck von Friedrich Vieweg und Sohn in Braunschweig.
Bd. LX
Nr. 17
»
Brauil s chweig.
Jährlich 2 Bände in 24 Nummern. Durch alle Buchhandlungen und Postanstaltcn
zum Preise von 12 Mark für den Band zu beziehen.
1891.
Über Tagewählerei bei den Mohammedanern.
Bon Dr. Goldz
„Dies aegyptiaci“ (in quibus nulla opera incipere
debes) heißen im römischen Kalendarium die Tage, denen
man ungünstige Natur zuschrieb ’). Bereits Paul Ernst
Jablonski hat in seinen Opuscula (ed.lc^Vater, Leiden 1806,
II, S. 274 bis 308) aus dieser Benennung gefolgert, daß
der Ursprung der Vorstellung von Glücks- und Unglückstagen
auf das alte Ägypten hinweist. Die seither entdeckten kalen-
darischen Papyrusse* 2) haben die Vermuthung Jablonskis be-
kräftigt. „Wenn so die Ägypter die Grundlagen unsres
Kalenders geschaffen haben, so haben sie andrerseits vermut-
lich auch einen starken Anteil an dem Aberglauben, der sich
an den Kalender knüpft, au der sogenannten Tagewählerei"
(Erman, Ägypten und ägyptisches Leben im Altertum,
S. 469).
Dies kann natürlich nur für die von Ägypten in kultureller
Beziehung mehr oder weniger abhängigen Völkergebiete
gellen. Ganz unabhängig von solchem Einflüsse findet sich,
wie Richard Andree im ersten Bande der „Ethnographischen
Parallelen" nachgewiesen hat, derselbe Aberglaube bei ver-
schiedenen Schichten 3) von Natur- und Kulturvölkern. Unter
den verschiedensten mohammedanischen Völkern ist die Tage-
wählerei sehr verbreitet. Wir glauben nicht, daß dieselbe
bei ihnen unter dem Einfluß des Islam zuerst entstanden
sei; vielmehr ist es wahrscheinlich, daß bereits die Araber
*) Vergl. Mommsen in Corp. Inscr.-Lat. I, p. 374 und
eine daraus bezügliche Abhandlung des Budapester Professors
Emil Thewrewk im Philologiai Közlöny 1879, S. 111 ff.
2) Beispielsweise: der Leidener Papyrus 346 (worüber
Brugsch in der Zeitschrift der deutschen morgenländischen Gesell-
schaft 1852) und besonders Papyrus Sallier 4 (Llaspero, Le
coûte du prince prédestiné, Jouru. asiat. 1878, I, p. 341 ff.).
3) Ein Datum über Schul!-Neger bietet Felkin (Uganda
und der ägyptische Sudan, II, S. 39): „Als die Leute hörten,
daß wir von Tvwejra bis hierher sechs Tage unterwegs gewesen,
und ich mir das Bein verrenkt hatte, schrieben sie unser Miß-
geschick dem Umstande zu, daß wir an einem Dienstag abgereist
waren." „Montag, Donnerstag und Samstag sind die besten
Reisetage, aber Sonntag, Dienstag und Freitag sind Unglücks-
tage, so daß man, wenn die Reise nicht unumgänglich nötig ist,
am besten thut, sich dem Vorurteil zu fügen u. s. w."
Globus LX. Nr. 17.
i h c r. Budapest.
der heidnischen Zeit, bei welchen auch hinsichtlich des
„Angangcs" und andrer teratologischer Momente ein buntes
System von abergläubischen Vorstellungen heimisch war ft,
auch die Tagewühlerei trieben. Einer der berühmtesten Dichter
der vorislamischen Zeit, Zuhejr (6. Jahrhundert) spricht
von „ominöser" und „glücklicher" Zeit (Stunde). Diwan,
eck. Ahlwardt, 3, 30. — Der Koran (Sure 41, V. 15)
erwähnt im Sinne der Heiden ajjam nahisat, d. h. unglück-
bringende Tage; ein Beweis dafür, daß diese Vorstellung
den arabischen Heiden geläufig war. Vor dem Islam — so
berichten wenigstens mohammedanische Schriftsteller — wurden
bei den Arabern im Monat Schawwal keine Ehen geschlossen.
Damit, daß Mohammed die 'Atsch a in diesem Monat heiratete,
wollte er andeuten, daß er mit der Zeitenwählerei der heid-
nischen Araber gebrochen habe. Auch die Tagewählerei in
bedninischen Kreisen ist als Rest der heidnischen Art der
Tagewählerei zu betrachten. Von den 'Aneze-Beduinen be-
richtet Bnrckhardt, daß sie am 6., 16. und 21. Monatstage
sich des Kriegführens enthalten; ebenso scheuen sie den Mitt-
woch, weil sie glauben, daß sie an diesem Tage notwendig
unterliegen müßten (Voyage en Arabie, Paris 1835, III,
p. 107).
Wie viele andre vorislamisch - heidnische Anschauungen
und Übungen ist auch die Tagewählerei in den volkstümlichen
Islam eingedrungen und hat sich in dieser neuen Verbindung
in die Form mohammedanischer Vorstellungen gekleidet. Die
glückliche oder unglückliche Natur einzelner Tag- und Jahres-
zeiten wird mit biblischen und koranischen Motiven begründet
und in dieser Form wird der Glaube daran, trotz der Kritik
der Theologen, auch innerhalb des Islam lebensfähig gestaltet.
Wie man leicht voranssctzen kann, herrscht in den speziellen
Einzelheiten dieser Tagwählerei keine Einhelligkeit bei den
Anhängern des Islam. Die Schwankungen hinsichtlich dem
den einzelnen Tagen zugeschriebenen Charakter kommen auch
i) Wellhausen hat in seinem „Reste altarabischen Heiden-
tums" (Berlin 1887) S. 146 sf. bas dahingehörige Material
gesammelt und erläutert.
33
258
Dr. Goldziher: Über Tagewählerei bei den Mohammedanern.
in den litterarischen Angaben über diesen Volksglauben zur
Erscheinung. Al-Dsahiz, ein berühmter mohammedanischer
Philolog und Freidenker (gest. 869), der in seinen zahlreichen,
bisher nur aus Handschriften und Citaten bekannten Werken,
viel Material zur Kenntnis des arabischen Volksaberglanbens
zusammengetragen hat, liefert hierüber folgende Mitteilung:
„Der Sonnabend ist ein Tag des Betruges und der List,
der Sonntag ist günstig für Pflanzungen und Bauten, der
Montag, um Reisen zu unternehmen und seinen Lebensunter-
halt zu besorgen, der Dienstag für das Schröpfen, der Mittwoch
ist ein unglückbringender, ominöser Tag, der Donnerstag ist
günstig für Wallfahrten, der Freitag ist für die Moschee, die
Frauen (Eheschließung) und gottesdienstliche Übungen (Hand-
schrift der Wiener Hofbibliothek, Mixt. Nr. 94, Fol. 175 a).
In einer die Wochentage behandelnden arabischen Mono-
graphie, „Al-Sub ’ijjät" (gedruckt in Tunis 1863, Kairo 1875,
1887) vonAbuNaßr-al-Hamadani wird folgende Überlieferung
mitgeteilt: Gott schuf Himmel und Erde am ersten Tage:
wer daher pflanzen und bauen will, der thue dies am Sonn-
tag; Sonne und Mond wurden am zweiten Tage erschaffen,
diesen Kreaturen ist die fortwährende Bewegung eigentümlich:
daher beginne man seine Reisen am Montag; Tier und Vieh
schuf Gott am Dienstag: dieser Tag ist demnach besonders
für die Kriegführung günstig (die Tiere sind nämlich da, um
geschlachtet zu werden); am Mittwoch schuf Gott die Meere
und Flüsse: dieser Tag ist daher für den Gebrauch von Heil-
mitteln günstig; Paradies und Hölle wurden am Donnerstag
erschaffen: daher ist dieser Tag speziell berufen, daß man an
demselben Gott seine Bitten vortrage; am Freitag wurde das
erste Menschenpaar erschaffen: dieser Tag ist daher besonders
für das Schließen von Ehebündnissen günstig; der Sonnabend
wird (ohne besondere Motivierung) als Jagdtag empfohlen.
Wir wollen hieran noch einige ans der mohammedanischen
Litteratur zu schöpfende Angaben hinsichtlich einzelner Tage
anschließen. Der Sonntag, welcher, in den soeben mitgeteilten
Überlieferungen unbedingt als dies faustus gilt, wird, ohne
Zweifel auf Grund allgemeinen Volksglaubens, bei einem
späteren Schriftsteller, Al Zamachschari, (gest. 1144), in
seinem belletristischen Buche „Frühling der Frommen" (Rebi
al-abrar) in folgender Weise charakterisiert. „Wir rufen
Gott um Schutz an, vor den Listen dieses Tages, dessen
Schärfe der Schärfe des Schwertes gleicht." Von demselben
Tage, welcher nach der einen der angeführten Überlieferungen
besonders für Heilkuren günstig ist, berichtet ein neuerer
Reisender bezüglich Syrien: „Kein Arzt geht am Mittwoch
zum Patienten" (Die heutigen Syrer, XXVIII. Bd. der
Cottaschen Reisebeschreibnngen, S. 143). Im allgemeinen
überwiegt der oben von Al-Dschahiz angeführte Volksglaube,
daß der Mittwoch „ein unglückbringender, ominöser Tag" ist.
Rach Al-Mas-'ndi (gest. 957) wird jeder Mittwoch, der mit
dem vierten oder einem andern Monatstage, der mit der
Zahl vier in Zusammenhang steht (z. B. mit dem 24., viert-
letzten u. a. m.) zusammenfällt, als dies infaustus betrachtet
(Les prairies d’or, Pariser Ausgabe, Bd. III, S. 422).
Weitere Angaben hierüber sind bei Tha 'alibi (gest. 1038)
zu finden (Lata if al-ma’ärif, ed. De Jong, p. 59). Nach
einer bei Al-Zamachschari angeführten Überlieferung ist der
Mittwoch ohne Rücksicht auf den entsprechenden Monatstag
ein „fortwährender Unglückstag" seit uralten Zeiten. Am
Mittwoch ^war es, daß Gott den Pharao ins Meer ver-
senkte, die'Aditen und Thamuditen vernichtete und andre Straf-
gerichte vollzog. Den ominösen Charakter dieses Tages, den
die Araber „den unbeweglichen *) Mittwoch" nennen, drückt i)
i) „Unbeweglich" heißt dieser Tag als der mittlere in der
Reihe der Wochentage. Wenn man Sonntag-Sonnabend, Mon-
tag-Freitag, Dienstag-Donnerstag, also je einen Tag vom An-
auch das alte arabische Sprichwort aus: „athkal min arba' ä’
lâ ta dm*“, d. h. schwerer als der unbewegliche Mittwoch
(Al-Mejdani, ed. Bulak, I, S. 139). In diesem Zusammen-
hange kann noch folgende Mitteilung des Chevalier Chardin
angeführt werden: „Was ihre (der Perser) schwarzen
Tage anbetrifft, so haben sie deren mehrere; am gewöhnlichsten
wird der letzte Mittwoch des Monats Safar, den sie „Mitt-
woch des Unglücks" nennen, als solcher betrachtet; aber im
allgemeinen ist der Mittwoch ein we-ißer Tag, weil, wie sie
sagen, das Licht an diesem Tage erschaffen wurde. Man
beginnt daher seine Beschäftigung mit Studium und Wissen-
schaften immer an diesem Tage" (Voyages en Perse, ed.
Amsterdam 1711, T. II, p. 152).
Ebensolches Schwanken kann auch in Bezug auf den
Dienstag erfahren werden. Eine Tradition nennt ihn „den
Tag des Blutes", au welchem der Brudermord Kains verübt
wurde, an welchem auch viele Propheten von ihren Feinden
getötet wurden. Es wird daher diesem Tage ominöse Be-
deutung zugeschrieben. Hingegen beginnt der persische Dichter
NizLmi den vierten Teil seines „Heft Pejker" mit einer Lob-
preisung des Dienstags als „des liebsten aller Wochentage"
(Erdmann, Die Schöne des Schloßes, S. 8). Darin ist der
Einfluß jüdischer Volksanschauung zu erkennen. Bei den
Juden ist seit alter Zeit der Glaube verbreitet, daß der Diens-
täg der günstigste Wochentag sei. Jüdischen Einfluß können
wir auch in der Stellung des Montags und Donnerstags
bemerken. Diese Wochentage, welche seit alter Zeit in der
synagogalen Gottesdienstordnung besonderer Auszeichnung
teilhaft sind, hat auch der Islam als privilegierte Tage be-
handelt. Aus den vielen zur Verfügung stehenden Stellen
der mohammedanischen religiösen Überlieferung wollen wir
hier nur eine anführen. In der Traditionssammlnng des
Muslim (in fünf Bänden, Kairo, Bd. V, S. 236, vergl.
Bd. III, S. 120) heißt es: „Es werden geöffnet die Thore
des Paradieses alle Montag und Donnerstag und es werden
die Sünden vergeben jedem Menschen, der Gott nichts zu-
gesellt, mit Ausnahme des Menschen, der mit seinem Bruder
in Feindschaft lebt." Viele günstige Ereignisse ans dem
Leben der Propheten und Patriarchen werden auf diese Tage
verlegt, um den glückbringenden Charakter derselben zu er-
weisen. Darum bestreben sich auch fromme Mohammedaner
diese Tage gottesdienstlichen Übungen, Fasten u. s. w., zu
weihen. „Zu den vorzüglichsten Wochentagen", lehrt der
große Theologe Al-GazLli (gest. 1111) in seiner „Wieder-
belebung der Religionswissenschaften", „gehören der Montag
und Donnerstag, an welchen die Handlungen der Menschen
dem Allmächtigen vorgelegt werden... Gott nimmt es wohl-
gefällig auf, wenn man an diesen Tagen fastet und recht
viele gnte Werke übt, damit der Lohn für dieselben, infolge
der segensvollen Eigentümlichkeiten dieser Tage, verdoppelt
werde". Die Überlieferung führt aus dem Leben Mohammeds
viele Ereignisse an, um die glückbringende Natur dieser Tage,
namentlich des Donnerstages, zu erweisen. Seine Reisen soll
der Prophet am liebsten am letzteren Tage angetreten habenl).
Im allgemeinen,können wir jedoch nicht behaupten, daß
die Tagewählerei von den Religionslehren des Islam be-
günstigt worden sei. Man hat ihr, wo man derselben Kon-
zessionen machte, wie das letztere Beispiel zeigt, ihren Kreis
gern im rituellen Gebiete angewiesen, jedoch nicht gern ge-
sehen, wenn man nach heidnischer Art für alltägliche Unter-
fang und je einen vom Ende der Woche zusammenstellt, so bleibt
der Mittwoch unbeweglich; freilich beziehen einige Philologen
diese Bezeichnung auf den Mittwoch der letzten Monatswoche.
Z Damnas (La vie arabe et la soeiété musulmane,
Paris 1869, p. 80) erwühnt als algierischen Volksaberglauben:
„Heureux lui qui prend la route un samedi. Pourquoi?
Parce que le prophète prêterait ce jour à tous les autres.“
Die SB eft lüfte Irlands.
259
nchmungen Omina suchte. Aber ebenso wie der Kirchenvater
Chrysostomos und einige Kirchenversammlungen des Mittel-
alters (Augsburg 1548, Bordeaux 1583) die Tagewühlerei
des Volkes streng verpönen >), so haben auch mohammedanische
Theologen den volkstümlichen Aberglauben mit den Dogmen
des Islam unvereinbar gefunden. Viele Stimmen erhoben
sich gegen die auf glück- und unglückbringeuden Charakter ein-
zelner Tage bezüglichen Volksanschauuugen. Von dem gegen
den Mittwoch gehegten Vorurteile sagt der andalusische Theologe
Abu Bekr ibn al-'Arabi (gest. 1148) : „daß kein Muslim darauf
achten und sein Gemüt darauf wenden dürfe" (Al-Makkari,
Analects I, p. 488 f.), und ein türkischer Theologe des
16. Jahrhunderts urteilt in folgender Weise: „In der vor-
islamischen Zeit hielt inan den Monat Safar für einen un- 1
1) Man sindet darüber sehr intéressante Daten in Joh.
Bapt. Thiers Traité des superstitions qui regardent les
sacremens. 4. Aufi., Avignon 1777, T. I, p. 248 bis 270.
glückbringenden Monat; der Prophet bekämpfte dies Vorurteil.
Dennoch halten viele unsrer Zeitgenossen an demselben fest
und scheuen sich, in diesem Monat Reisen zu unternehmen,
Ehen zu schließen u. a. m. In dieselbe Reihe gehört auch
die Ansicht, daß gewisse Tage ungünstigen Charakter haben.
Zeit ist der Ausdruck für eine Größe, welche nach der Be-
wegung der Sphären und der Sterne gemessen wird; sie ist
also in allen ihren Teilen gleicher Natur und man kaun von
ihr nicht sagen, daß sie als solche Glück oder Unglück bringt,
sie thut dies nur, insofern der Mensch in ihr Gutes oder
Sündhaftes übt... Glück oder Unglück bringt in der That
der Gehorsam und die Widerspenstigkeit, nicht aber die Zeit"
(Handschrift der Wiener Hofbibliothek, Mixt. Nr. 154,
Fol. 126 ff.). Wir ersehen hieraus, wie unrichtig es wäre,
zu behaupten, daß die mohammedanische Lehre der Tage-
wählerei Vorschub leistet. Allerdings sind es aber nicht die
Theorien der Theologen, welche im Denken und Leben der
Völker ihren Ausdruck finden.
Die Westküste Irlands.
Während die schottischen Hochlande und Wales auch von
Reisenden aus dem Kontinent ziemlich häufig besucht werden,
ist dies weniger der Fall mit Irland, welches lange nicht so
bekannt ist, wie es verdiente. Freilich finden wir hier weder
die Reize alpiner Hochgebirge, noch auch die der von Gletschern
und hohem Lande umgebenen Fjorde Norwegens, noch auch
die blendenden Lichteffekte des Südens. Und doch bietet die
Natur, namentlich an den Küsten Irlands, eine Reihe von
Landschaften dar, welche wegen ihrer Großartigkeit und Eigen-
tümlichkeit vielen landschaftlich berühmten Gebieten Europas
an die Seite gestellt werden können. Weithin bekannt sind
ja die Seen von Killarney im Südwesten der grünen Insel,
am Fuße der höchsten Erhebungen derselben. Das ist aber
auch fast die einzige Lokalität Irlands, welche größeren Ruf
im Auslande besitzt. Wir wollen daher hier auf die Küsten-
gebiete aufmerksam maä)en, welche sich denen Schottlands
würdig anschließen.
Während der Osten und Süden Irlands vielfach flache
Küsten besitzt, welche sich ziemlich einförmig ohne starke Ein-
schnitte und ohne Jnselbildung von Bedeutung der stärker
gegliederten englischen und schottischen Küste gegenüber er-
strecken, tragen die westliche und nördliche Küste Irlands
die Spuren heftiger Veränderungen in jüngerer geologischer
Zeit, welche sich in den tief eingeschnittenen Buchten, den
zerrissenen Umrissen, den scharf vorspringenden Halbinseln
mit Fjordcharakter und den zahlreich vorgelagerten Inseln
aussprechen.
Wir wissen, daß Irland fick) auf demselben Sockel erhebt,
welcher auch England und Schottland trägt, und sich unter
der Nordsee bis nach Dänemark, Deutschland, Holland,
Belgien und Frankreich fortsetzt, während er von Norwegen
durch eine tiefe Rinne getrennt wird.
Dieser Sockel setzt sich auch westlich von Irland noch auf
eine beträchtliche Entfernung hin fort, bis er endlich in
steilerem Absturz zu den größeren Meerestiefen hin abfällt.
Irland ist daher der äußerste vorgeschobene Posten des
europäischen Landgebietes, mit welchem es, wie auch Schott-
land und England, vor dem Einbruch der diese Länder um-
gebenden Meere zusammenhing. Irlands Gebirgsbau kann
daher nur durch Vergleichung mit dem des übrigen Groß-
britanniens und des Festlandes verstanden werden.
Man unterscheidet in Irland zwei Gebirgssysteme, welche
durch ihr Streichen voneinander abweichen. Das ältere
nördlichere, den größeren Teil der Insel einnehmende, wird
als Fortsetzung des sogenannten kaledonischen Systems von
Schottland und Nordwales betrachtet, und zeichnet sich durch
nordöstliches Streichen ans, während der südliche mit Süd-
wales und Südengland, sowie dem nördlichen Frankreich
einen zweiten Gebirgszug bildet, welcher westöstliches Streichen
verfolgt, und nach der Bildung des nördlichen Gebirges
Faltungen erlitten hat, und der amorikanische Bogen genannt
worden ist. Die Grenze zwischen beiden Gebirgssystemen
bildet eine Linie von der Mündung des Shannon nach Wex-
ford. In ihrer Zusammensetzung sind dieselben übrigens
ähnlich: kristallinische Schiefer und paläozoische, besonders
silurische und devonische Ablagerungen setzen sie zusammen;
eine weite Tafel von Kohlenkalk dehnt sich über Mittelirland
aus und repräsentiert hier die jüngsten sichtbaren sedimentären
Ablagerungen.
Beide Gebirgssysteme, das nördliche kaledonische sowohl
wie das südliche amorikanische, sind nach ihrer Bildung einer
langen Periode der Zerstörung und Abschleifung ausgesetzt
gewesen. Der Zusammenhang mit Schottland, England,
Wales wurde unterbrochen, die Küsten der immer mehr zur
Insel gewordenen irischen Landscholle beträchtlick) abgetragen,
das Innere so stark abgehobelt, daß zwischen Galway und
Dublin eine weite Ebene liegt, welche der Shannon und
große Kanäle durchziehen.
Die Abrasion des Meeres hat im Laufe der Zeit die
irische Westkiiste immer mehr zerbröckelt, und dieser und
der Nordküste jenes zerrissene Ansehen gegeben, welches den-
selben jetzt eigen ist. Die Thätigkeit der Meeresbrandung
dauert auch jetzt noch an und zerstört in Verbindung mit
Regen und Sturm die felsigen Gestade von Jahr zu Jahr
mehr. Die auf Südwestirland fallende Regenmenge von
etwa 150 cm im Jahre gehört zu den größten in Europa.
Nur die Westküsten des übrigen Großbritanniens, Norwegens,
Spaniens, sowie die höheren Gebirge des Festlandes empfangen
eine gleich hohe Regenmenge. Gleichzeitig wälzen die fast
das ganze Jahr hindurch wehenden Südwest-, West- und
Nordwestwinde, teilweise von stürmischem Charakter, die
Wogen gegen die West- und Nordküste. Der Tropfen höhlt
den Stein, die Niederschläge lockern das Gefüge der Fels-
massen, das Meer unterzieht dieselben und zerstört sie mit
33*
260
Die Westküste Irlands,
der Zeit, und so entstehen die vielfach höchst bizarren Gebilde
der irischen Küsten.
Wir betrachten hier zunächst die Westküste. Die West-
küste Irlands zerfällt in vier große Abschnitte, von denen der
letzte bereits der Nordküste zugezählt werden kann.
Der südlichste Abschnitt wird von dein amorikanischcn
Gebirgsbogen, dem südlichen Gcbirgssystem gebildet, erhebt
sich in den Carrentuohöhen westlich des Sees an Killaruey
zur höchsten Höhe der Insel, 1046 rn, dem geringen Reste
des ehemaligen großartigen Hochgebirges der Vorzeit, und
läuft in einer Reihe von Vorsprüngen aus, zwischen denen
Buchten von fjordartigem Charakter, die Bantry, Long Island,
Dnnmanus, Kenmare, Ballinskellig und Dingle-Bai tief ins
Land einschneiden.
Die weite trichterförmige Mündung des Shannon trennt
den südlichsten Abschnitt von dem folgenden, anders gebauten,
weniger hohen, der Grafschaft Cläre, welche der tiefen Ein-
buchtungen ermangelt, aber durch mauerförmigen Verlauf
der Küste ausgezeichnet ist.
Nach Überschreitung des Busens von Galway, welcher
gegen das offene Meer durch die Araninseln abgesperrt ist,
folgt der dritte Abschnitt der Westküste, wiederum, mit
tiefen fjordartigen Buchten, welche landeinwärts in lang-
gezogene Seeketten übergehen, während zahlreiche Inseln, dar-
unter die große Insel Achill, der Küste vorgelagert sind.
Die Clew-Bai teilt diesen vielfach bergigen Abschnitt in
zwei Teile.
Jenseits der Halbinsel Mollet öffnet sich die große Done-
Felsbildung an der Clareküste (Westirland). Nach einer Photographie.
gal-Bai, welche den vierten Abschnitt der Westküste abtrennt,
welcher jedoch besser zur Nordküste gerechnet wird, und durch
die gewaltigen Basaltsäulen von Giants-Canscway bekannt ist.
An der Hand der beifolgenden kennzeichnenden Abbil-
dungen betrachten wir zunächst den zweiten Abschnitt der
Westküste, die Grafschaft Cläre.
Die Schönheiten der Landschaft liegen in Cläre, wie im
Westen Irlands überhaupt, au der Küste, sind aber noch
wenig aufgeschlossen. Am besten erreicht man dieselben von
Kilkee aus, wohin von Kilrush au der Mündung des Shan-
non eine Eisenbahn führt. Bon Kilkee gegen Südwesten
erstreckt sich die lange mit dem Kap Loop Head endende Land-
zunge, welche die Mündung des Shannon im Norden
begleitet. Von hier ans bietet die Küste nordwärts stets
denselben Anblick. Gewaltige Einschnitte, Wirklingen der
Brandung, schroffe Abstürze, natürliche Brücken, Pfeiler,
Säulen, Höhlen, Gänge ulid Schlunde, in welche das Meer
donnernd einströmt, wechseln miteinander ab. Vor der
Küste stehen als Reste des früheren Steilufers Säulen und
Felsgipfel, welche den Wogen des Meeres allmählich zu er-
liegen drohen. Eine der bedeutendsten dieser Felseninseln ist
die Insel des ausgehungerten Erzbischofs, welche Steinnischen
trägt, die bereits, vor 1200 Jahren von keltischen Cönobiten
bewohnt wurden. Auf der Höhe der Küste ist die Vegetation
sehr gering, Biische und Bäume fehlen fast ganz, nur salziges
Kraut kriecht am Boden.
Einer der interessantesten Teile der Küste ist das nahe
Kilkee gelegene, nach diesem primitiven Badeorte genannte
Felsamphitheater, eine terrassenförmig aufsteigende Fclsmasse,
deren gewaltige Stufen in schwarzen und lveißen Farben
Das Klippengestade von Moher (Irlands Westküste). Nach einer Photographie.
262
Die Westküste Irlands.
wechseln und nicht schwer zu passieren sind, so daß man die
anscheinend unbeschreitbare Treppe ziemlich bequem bis dicht
an den Strand herabsteigen kann, dessen glatte Felsplatten
mit Seegras bedeckt sind.
Ein weiterer Punkt von landschaftlicher Schönheit und
Großartigkeit an der Westküste ist Miltown Mal-Bay mit den
benachbarten Steilwänden von Mo her. Das ist eine
ans mehrere Meilen Entfernung fortlaufende Mauer, aus
schwarzem Gestein, mit Moos und Flechten bedeckt, häufig
fast 200 na hoch steil ans dem Meere aufsteigend, mit Bastionen
und Vorsprüngen wie an einer Festung, unterhöhlt durch das
Meer, mit zahllosen Nischen versehen, in welche die Brandung
hineinschäumt und umkreist von dichten Schwärmen von
Seevögeln, welche kreischend ihre Nistplatze aufsuchen.
An wenigen Stellen erlaubt eine aus Erde aufgeschüttete
Kunstwehr die Annäherung an die äußerste Kante des Strand-
randes, und den Blick in das unmittelbar darunter in der
Tiefe schäumende Meer. An diesen Klippen sollen 1588
Teile der spanischen Armada zu Grunde gegangen sein und
die vorspringende Spitze, Spanish Point, südlich von Miltown
Mal-Bay, erinnert an dieses Ereignis.
Zwischen den Moherklippen und Miltown Mal-Bay schiebt
sich die Bucht von Liscannor ein, welche einen Ruhepunkt in
dem wilden Schauspiel des Angriffs des Meeres auf die
Küsten darbietet. An die Stelle des tosenden Sturmes der
Brandung tritt hier die Ruhe und Bläue des geschützten
Meerbusens, und die Bai liegt da wie eine ruhige Lagune
zwischen den hochstrcbenden Felsen, umgeben von Weiden und
Pappeln und hier und da von kleinen, unscheinbaren An-
siedelungen der Viehzucht treibenden Bevölkerung umschlossen.
Zwischen der Bai von Liscannor und der von Galway
breitet sich ein weites Hochland ans, welches in großartigem
Maßstabe amphitheatralisch zur Höhe von 300 in ansteigt
und auf seiner Fläche das durch eisenhaltige Quellen aus-
gezeichnete Städtchen Lisdoonvarua trägt. Von allen Seiten
stürzen Gießbäche über die Schieferstufen herab, in welche sie
sich tief eingegraben haben; cm andern Stellen sind auch hier
Höhlen, Nischen und Grotten eingeschnitten, alte Ansiedelungs-
Plätze der Cönobitcn aus der Zeit des heiligen Colnmban,
zum Teil noch mit Resten alter Bauwerke und uralten Bild-
werken versehen. Auch hier fehlt die Vegetation fast ganz;
das Auge schweift nur über Steinplatten und gewaltige Ab-
stürze, über Felsblöcke und Haufwerke, die der Verwitterung
entspringen. Nur gegen die Bucht von Galway hin trifft
man auf einzelne Oasen in dieser Steinwüste, nnt ver-
krüppeltem Baumwuchs, durch den Seewind umgebogenen
Stämmen und knotigen Strünken dicker Dornbüsche, unter
welchen sich die niedrigen Behausungen der Bewohner, meist
nur durch den aufsteigenden Ranch angedeutet, befinden.
Die Bucht von Galway selbst ist ohne Zweifel die schönste
an der irischen Westküste. Sie verdankt ihre Entstehung
einem gewaltigen Einbrüche des Meeres in die Küste, welche
sich früher von den Moher Cliffs über die Araninseln nach
Connemara hinzog. Jetzt sind die Araninseln die zerstückelten
Reste derselben und zugleich die Schanzen der Bucht von
Galway, welche die Hauptmacht der Meeresbrandung brechen.
Die Bucht von Galway dehnt sich in der Breite von 15 bis
30 km zwischen den hohen Tafelländern von Burren im
Süden und Jarconnaught im Norden aus, während gegen
Osten, nach dem Innern Irlands zu, niedriges Land sichtbar
wird. Hier liegt, an der Mündung des Abflusses des Lake
Corrib in die Bucht Galway, eine historisch interessante, aber
wirtschaftlich heruntergekommene alte Stadt, der Endpunkt
der Eisenbahn ans dem Osten.
Bei Galway beginnt der dritte große Abschnitt der iri-
schen Westküste, der Westen der Grafschaft Connanght, die
zerklüftete Küste von Galway, Connemara und Mayo, durch
die Clew-Bai in zwei annähernd gleich große Hälften zerlegt.
Man erreicht die Küste von Galway an auf der Poststraße,
welche am westlichen Ufer des Sees Corrib über Hügel mit
Föhrenwald und Taxusbeständen, mageren Wiesen und
Ruinen oder wenigen Dörfern nach Clifdcn führt. Zahl-
reiche kleine Seen erfüllen hier das Land zwischen dem Corrib-
see und der Küste, während 700 in hohe Berge über ihnen
aufsteigen. Eine Reihe von Buchten, Kilkieran, Birterbug,
Ballycouelly, Mannin und andre greifen ins Land ein, und
werden durch Seen im Lande fortgesetzt, von denen der See
am Ballinakinch mit einem Schlosse auf einer Insel der
schönste ist.
Weiter nördlich ist die Bucht von Killary am bekanntesten,
da sie am meisten den Charakter eines Fjords trägt. Ruhig
wie ein See, von gewaltigen Felswänden umgeben, die mit
rosa Heidekraut und grüngrauen Flechten bedeckt sind, zieht
sie siel, weit ins Land hinein. An der Mündung des Erriff
in das Ostende dieser Bucht liegt das kleine Dorf Leenane.
Einen ganz andern Charakter tragt die Clew-Bai, welche
zwischen der oben genannten Landschaft und Mayo eingreift.
Sie zeichnet sich durch außerordentlichen Reichtum an kleinen
Felseninseln aus und wird durch die Insel Cläre gegen das
Meer zu abgeschlossen, welche sämtlich Reste des der Brandung
zum Opfer gefallenen Küstenlandes sind.
Während trotz der vielen Inseln die Umgebung der Clew
Bai an romantischem und pittoreskem Reiz der Grafschaft
Cläre nachsteht, beginnt nördlich derselben wieder ein außer-
ordentlich zerrissenes und sonderbar zerklüftetes, an land-
schaftlichen Schönheiten reiches Land, von verwickelten topo-
graphischen Verhältnissen. Vor der Küste liegt, durch die
Kraft der Brandung abgerissen, die Insel Achill, aber auch
einige noch Halbinseln gebliebene Landstücke gehen dem Schick-
sal der Jnselwerdnug rasch entgegen; mehrere von ihnen, wie
Curraun und Mullet, sowie kleinere hängen mit dem Fest-
lande nur noch durch ganz schmale, fast brückenartige Engen
zusammen; gewaltige Felsenmassen drängen sich überall gegen
die Küste, und entbehren auch hier fast völlig der Vegetation.
600 m hohe Berge, wie der Slieve More und der Croaghan
auf der Insel Achill, wechseln unvermutet mit niederem Lande
und geben dem Ganzen einen wilden und ^romantischen
Anstrich.
Zu den großartigsten landschaftlichen Erscheinungen der
ganzen Westküste gehören die 300 m hohen Felsen von
M een ane am Ende der Insel Kcel westlich vor der
Insel Achill. Diese Felsen von Meenane sind bekannt unter
dem Namen der Kathedralen von Meenane, da gewaltige
Nischen und Grotten durch das Meer ausgewaschen und den
Portalen von großen Kirchen nicht unähnlich sind. Es sind
natürliche Bogengänge, welche den Eindruck erwecken, als ob
man sich an der Schwelle einer Kathedrale befände, von wo
ans die großartigen Bogengänge der Kirche am besten zu
übersehen sind. Auch an diesem Felsen von Meenane scheiterte
1588 ein Teil der spanischen Flotte.
Die Blacksod-Bai trennt die Insel Achill von der Halb-
insel Mnllett, welche den äußersten Nordwesten dieses Teils
der Küste bildet. Von hier beginnt bicfelbe gegen Osten
zurückzuweichen und zieht nun immer noch in schroffem Ab-
fall und mehrfach von 300 m hohen Bergen begleitet ziemlich
geradlinig einher. Größere Einschnitte erfolgen nur an der
Killala-Bai, in welche der Moyfluß mündet und an derjenigen
von Sligo. Hier beginnt wieder eine tiefe Einbuchtung in
die Insel Irland einzugreifen, welche unter dem Namen
der Donegal-Bai bekannt ist.
Von hier aus lassen wir die Nordküste beginnen. Die
verschiedenen Formen der Küste werden besonders durch den
Wechsel der Gesteine hervorgerufen. Zwischen der Shannon-
mündung und der Bucht von Galway liegt der flach gelagerte
Die Kathedralen von Meenane (Irlands Westküste). Nach einer Photographie.
Die Westküste Irlands.
2G4
Dr. Joseph Grunzel: China als staatlicher Organismus.
Kohlenkalkstein, während nordwärts von Galway Granite,
kristallinische Schiefer vorwalten. Die leichter zerstörbaren
Kalksteine der Kohlenforination sind vorn Meere rascher be-
seitigt worden, so daß dasselbe hier jetzt am weitesten in das
irische Schollenland eingreift; eine bogenförmige, aber wenig
ansgczackte Küstenlinie war das Ergebnis. Im Norden da-
gegen setzen die festen Granite und kristallinischen Schiefer
stärkeren Widerstand entgegen. Die Küste springt daher noch
weiter gegen das Meer vor und ist schärfer ausgezackt und
von Jnselschwärmeu belagert; die Höhe der Berge ist bedeuten-
der, der Absturz steiler wie beim Croaghan, und die groß-
artigsten Steilküsteubildnngen sind die Folge.
LH ina als st a atti
Von Dr. Zos
Die Urform eines jeden Staatswesens, gewissermaßen
die Zelle, aus welcher sich der staatliche Organismus auf-
baut, ist die Familie. In weiterem Wachstum führt die
Familie naturgemäß zu einer Abzweigung neuer Familien,
die sich durch das gemeinsame Band gleicher Abstammung,
Sprache und Sitte geeint fühlen und zum Bolke gliedern.
Erst das Moment der Seßhaftigkeit, die innige Verbindung
der Familien mit dem Grund und Boden eines bestimmten
Territoriums, ermöglicht die Entstehung eines Staatswesens
in unserm Sinne. Damit tritt auch schon ein bedeutender
Wendepunkt in dem inneren Werdeproceß des Volkscharakters
ein, denn mit der Oecnpation eines bestimmten Gebietes
ergiebt sich eine größere Abhängigkeit des Menschen von
Klima und Boden, sowie die Notwendigkeit eines höheren
Schutzes nach innen und außen. Die Konsolidierung der
sozialen Verhältnisse zeigt sich insbesondere darin, daß der
Grund und Boden als alleiniger Wertmesser des Kapitals
besondere Vorrechte erlangt und als Träger der Rechte und
Pflichten gilt, welche die an ihn geketteten Individuen dem
Staate gegenüber haben. Erst in weiterer Entwickelung,
wenn infolge gesteigerter Kulturbedürfnisse Handel und
Gewerbe in den Vordergrund treten, verschwindet die Prä-
ponderanz von Grund und Boden, und das mobile Kapital
— das Geld — übernimmt zum größten Teil seine Funk-
tionen in sozialer Beziehung. Hand in Hand damit geht
eine andre Erscheinung. Die Familie, welche ursprüng-
lich ein kleines Gemeinwesen für sich war und einen weit-
reichenden Einfluß in religiöser, rechtlicher und sozialer
Richtung entfaltete, erleidet durch die Erstarkung der Staats-
gewalt eine Lockerung und es verbleibt ihr nur noch eine
privatrechtliche und ethische Bedeutung. Der Staat besteht
nicht mehr ans Familien, sondern aus einzelnen Indivi-
duen — aus Staatsbürgern.
So stellt sich das Schema des natürlichen Entwickelungs-
ganges dar. Trotzdem dasselbe bei seiner Anwendung auf Ehina
keine wesentliche Änderung erleidet, so tritt dabei doch eine
Eigentümlichkeit des chinesischen Staatswesens scharf hervor.
Bei keinem zweiten Volke, mit Ausnahme der Juden, welche
frühzeitig versprengt ans die Gemeinschaft der Familie an-
gewiesen waren, hat sich der öffentlich-rechtliche Charakter
der Familie so erhalten, wie bei den Chinesen H, obwohl
man nach den zahlreichen und gewaltigen Umwälzungen,
welche China bestand, auf keine schwache Staatsgewalt
schließen darf. Die hauptsächlichste Stütze' dieser streng
konservativen Institution liegt in der Agrarverfassung des
Landes. Das Grundeigentum (tion-ti) gehört dem Staate
als dem Repräsentanten der Gesamtheit des Volkes, nur
das Nutznießungsrecht (tien-mien) ist ein individuelles und
kann frei veräußert und erworben werden, mit Ausnahme
eines jeder Familie zustehenden unveräußerlichen und unver-
i) Bergt. „Das Familienrecht der Chinesen im Vergleiche zu
dem der andern Völker". Globus, Bd. LYIII, Nr. 14 u. 17.
cher Organismus.
eph Grunzel.
letzlichen Erbgutes x). Aber auch die politische Einheit
bildet in China die Familie, indem sie durch einen Man-
datar, gewöhnlich das älteste und angesehenste Mitglied,
nach außen vertreten wird und nur korporativ an den Poli-
tischen und staatsbürgerlichen Rechten teilnimmt. Für An-
gelegenheiten innerhalb der Familie gebührt dem aus allen
Mitgliedern, Männern wie Frauen, zusammengesetzten
Familienrate eine fast ausschließliche Kompetenz. Hat ein
Mitglied der Familie, sei es durch Alter oder Heirat, seine
Mündigkeit erlangt, so kann cs Lösung von der Gemein-
schaft verlangen und einen eigenen Familienstand gründen,
kann aber auch weiterhin in der Familie verbleiben. Wie
zähe diese Familienverbindung wirkt, beweist am besten der
Umstand, daß die ins Ausland oder in die Kolonien Aus-
gewanderten deshalb, weil keine Blutsverwandtschaft unter
ihnen besteht, sich wenigstens als künstliche Familie zu rekon-
struiren bemüht sind, indem sie einen Rat wählen und diesem
alle Funktionen eines natürlichen Familien-Oberhauptes
übertragen.
So sehr man auch auf den ersten Blick versucht wäre,
China eine in orientalischer Despotie gipfelnde Fürsten-
Souveränität zu imputiren, so ersieht man bei näherer
Beleuchtung eine fast an Volks-Souveränität grenzende
Staatsform. Die sehr alten und die größten Männer des
eigenen Landes zu ihren Vertretern zählende Litteratur über
Regentenpslichten und Volksrechte stellt durchwegs in dieser
oder jener Form den Grundsatz ans, daß das Volk über
dem Fürsten stehe, daß der Fürst nur für das Wohl seines
Volkes da sei und für seine Gebahrung einst dem Himmel
verantwortlich werde. Ein Philosoph des 12. Jahrhunderts,
Tschu-hi, spricht in seinem Kommentar zu Ta-His dem
Volke sogar das Recht zu, einen Fürsten, der seine Rcgcnten-
pflichten nicht erfülle, zu entfernen. Und dieser Kommentar
zählt zur klassischen Litteratur! Aber nicht nur in der
Stellung des Fürsten zeigt sich diese Bedeutung der Volks-
rechte, sondern auch in einer gewissen Volks-Repräsentanz,
welche als Gegengewicht gegen die staatliche Beamtcn-
Hierarchie wirkt und mit derselben in wohlthuender Weise
ineinander greift.
Das Reich ist nämlich administrativ in 18 Provinzen,
182 Kreise (fu), 544 Bezirke (tschen), 1293 Distrikte
(hien) und eine unbestimmte Zahl von Gemeinden, an
deren Spitze ein freigewählter Bürgermeister (yang-yo)
steht, eingeteilt. Diese administrativen Abteilungen, von
der Gemeinde auswärts bis zu den Provinzen, werden durch
eine Bürgerversammlung repräsentiert, welche, so oft es die
Bürger für nötig erachten, ohne jede Einberufung, Ge-
nehmigung oder Kontrolle seitens der Regierung zusammen-
treten kann. Aus der Mitte dieser Versammlung werden
Räte gewählt, deren Amt ein Ehrenamt ist und drei Jahre
U Bergt. „Die Landwirtschaft in China". Globus, Bd.
L1V, S. 193 flg.
Scylla und Charybdis.
26Ñ
währt. Nach Ablauf dieser Periode sind die abtretenden
Räte wieder wählbar, andrerseits können sie aber auch noch
vor Ablaus dieser Zeit abberufen werden, denn das freie
Versammlungsrecht und die freie Meinungsäußerung über
alle Tagesfragen bleibt den Bürgern unbenommen. Die
Wirkungssphäre der gewählten Räte ist vorwiegend admini-
strativer Natur und bezieht sich auf die Verteilung und
Einhebung von Steuern, aus die Anlage und Konservierung
öffentlicher Bauten und Einrichtungen, auf die Polizei u. s. w.
In denjenigen administrativen Abteilungen, wo ein Staats-
beamter an der Spitze steht — in Gemeinden nie —, bilden
die Räte eine der staatlichen Behörde zur Seite stehende
beratende Körperschaft, welche das Vermittelungsorgan der
Behörde mit der Bürgerschaft bildet und letztere bei allen
neu zu ergreifenden Maßnahmen vertritt.
Dieses von unten aufsteigende System der Volks-Reprä-
sentanz findet seine natürliche Begrenzung in dem von oben
nach unten divergierenden System der Staatsämter. Die
Central-Regierung in Peking besteht aus einer Anzahl von
Reichsbehörden, unter welchen hervorragen: 1. das Mini-
sterium des kaiserlichen Hauses (tsung-jin-fu), 2. der
Staatsrat (nei-ko), vorzugsweise Exekutivorgan für die zu
publizierenden Gesetze; 3. der Geheimrat (kinn-ki-tsohon),
dem die Vorberatung und Berichterstattung über die neu zu
erlassenden Gesetze überwiesen ist. Außerdem bestehen noch
sechs Ressort-Ministerien, nämlich 1. für die Civilümter
(li-pu), 2. für die Finanzen (hu-pu), 3. für das Äußere
(li-pu) mit dem tsong-li ya-men, 4. für Krieg (ping-pu),
5. für Justiz (hing-pu) und 6. für öffentliche Arbeiten
(kong-pu), welche aus zwei Präsidenten, vier Vize-Präsi-
denten und 24 Räten bestehen und zur Hälfte mit Chinesen,
zur Hälfte mit Mandschu besetzt sind. Weiter steht an der
Spitze der Provinz ein Vize-König (toong-tn), doch sind
manchmal auch zwei Provinzen nur einem unterstellt, so
daß es für die 18 Provinzen nur 11 solcher Beamten giebt.
Ebenso steht auch in den Kreisen, Bezirken und Distrikten
ein Beamter (tsche-fu, tsche-tschen, tsclie-hien) an der
Spitze der gesamten Administration und Jurisdiktion,
immer unter Vorbehalt des Appellationsrechtes von der
niederen Instanz zur höheren. Älle Staats-Beamten (und
auch die Offiziere der Militärmacht) sind in neun durch die
Farbe und das Material der Knöpfe auf den Mützen unter-
schiedene Rangklassen eingeteilt, deren jede wieder aus einer
oberen und unteren Abteilung besteht. Alle, vom niedersten
Beamten bis zum höchsten, zum Kaiser, sind verantwortlich,
und zwar erstreckt sich ihre Verantwortlichkeit nicht nur auf
ihre öffentlichen Handlungen, sondern aus alle wie immer
gearteten Vorfälle in ihrem Verwaltungskreise, ja sogar auf
Naturereignisse. Eine Überschwemmung oder Trockenheit
kostet dem Beamten des dadurch betroffenen Gebietes sehr
oft die Stelle, in den meisten Fällen für die Bevölkerung
allerdings nur ein willkommener Anlaß, sich eines miß-
licbig gewordenen Beamten auf möglichst einfache Weise zu
entledigen.
Eine ganz eigentümliche Auffassung herrscht in China
in bezug auf das Wesen und das Zustandekommen eines
Gesetzes. Während nach unsrer Anschauung das Gesetz im
Gegensatze zu dem in Brauch und' Sitte des Volkes lebenden
Rechte das von der Staatsgewalt gesetzte Recht bedeutet,
stellt das Gesetz in China in Wirklichkeit nur das kodifizierte
Gewohnheitsrecht dar. Hat nämlich ein Beamter in irgend
einer Provinz die fortgesetzte Übung eines Ncchtssatzes beob-
achtet, von dem er glaubt, daß seine offizielle Publikation
und allgemeine Anwendung Vorteil bringen könnte, so
bringt er ihn im Dienstwege zur Kenntnis der Central-
Regierung in Peking. Dort wird derselbe der kaiserlichen
Akademie der Wissenschaften (lian-hin-yuen) zur Über-
prüfung zugewiesen und im Falle der Genehmigung in alle
Provinzen zur probcweisen Einführung übersendet. Erst
wenn der Entwurf durch die allgemeine Praxis sozusagen
sanktioniert wurde, wird er als Gesetz in das Gesetzbuch ein-
getragen, eine Formalität, welche nur bei der Thronbesteigung
eines Kaisers stattfindet. In Wahrheit teilt sich somit in
die gesetzgebende Gewalt in China das Volk und die durch
die Akademie der han - lin repräsentierte Gelehrtenwclt.
Namentlich der Einfluß der letzteren ist ein sehr großer und
ihre Stellung eine völlig unabhängige. Die 232 Mit-
glieder, aus welchen dieselbe besteht, erhalten von der Regie-
rung ein Haus mit einem Garten zur Nutznießung, ferner
einen Gehalt, und haben das Recht, bei Vakanzen sich selbst
zu ergänzen.
Eine weitere merkwürdige Institution, welche höchstens
in Japan, aber in keinem europäischen Staate eine Änalogie
findet, ist das Censorat (tu-tsohä-ynen), welches alle
Staatsbeamten, ja auch den Kaiser selbst nicht nur im
öffentlichen, sondern auch im privaten Leben zu überwachen
und bei Übertretungen zu mahnen und zu strafen hat. Daß
dieses dem Souverän gegenüber gewährte Recht kein fiktives
ist, beweisen mehrere Beispiele aus der Geschichte. Als im
Jahre 1860 die alliirte fränzösische und englische Armee
gegen die Hauptstadt vordrang, beabsichtigte der Kaiser, unter
dem Vorwände einer Jagd nach Gchol, in die Mongolei zu
entfliehen. Die Censoren widersetzten sich jedoch diesem Vor-
haben in sehr entschiedener Weise. „Wollen Eure Majestät",
heißt cs in einer Denkschrift, „die ererbten Pflichten von
sich wälzen, wie ein abgetragenes Kleid? Was wird die
Geschichte der kommenden Jahrhunderte dazu sagen? Noch
nie hat man einen Herrscher den Moment der Gefahr und
des Üuglücks zu einer Jagd wählen sehen" u. s. w.
So sehen wir denn in China ein ganz eigenartiges und
doch in sich selbst vollendetes Staatengebilde, das des Stu-
diums um so mehr wert erscheint, als sich in nicht allzu
ferner Zukunft die Notwendigkeit ergeben wird, in die völker-
rechtliche Gemeinschaft Europas auch Ostasien aufzunehmen.
8 c p l l a und
Ebbe und Flut machen sich nur an wenigen Stellen des
Mittelländischen Meeres bemerkbar; den Seeleuten der alten
Welt waren sie so wenig vertraut, daß die geheimnisvollen
Erscheinungen des Tidcwcchsels, wo sie entgegentraten, Furcht
erregten und abergläubische Erklärungen wachriefen. Durch
die Schilderung Homers und seiner Nachfolger am meisten
bekannt ist die Fabel von der Scylla und Charybdis, jenen
Seeungehcnern, welche in der sizilianischen Meerenge uner-
bittlich den Schiffen ihre Opfer entreißen. Diese Schreck-
Globus LX. Nr. 17.
Lharybdis.
gestalten galten den ältesten Seefahrern als eine Verkörpe-
rung der Gefahren der gesamten Meerenge, für die man erst
später bestimmte Örtlichkeiten suchte. Als Sitz der Scylla
nahm man den steil aus der Meeresbrandung aufragenden
Gneisfels an, den heute auf der calabrischen Seite das
Städtchen Scilla krönt, während der Name Charybdis aus
die Strudel am Hafen von Messina bezogen wurde. Auch
heute noch ist die Straße von Messina für unsre Fahr-
zeuge, wenigstens für kleinere Segelboote, keineswegs un-
34
266
Scylla und Charybdis.
gefährlich, wenn ihre Leitung nicht kundigen Händen anver-
traut ist.
Wenig wahrscheinlich erscheint es, daß seit den Tagen
des Altertums die natürlichen Verhältnisse der Straße —
durch die Arbeit des Meeres und vulkanische Einwirkungen
— sich verändert haben. Die Kenntnis, wie sie heute be-
schaffen sind, verdanken wir einer Untersuchung des Wasser-
bauinspektors Keller in Rom (Annalen der Hydrographie,
1891, Heft 8), welcher die folgenden Auszüge entnommen
sind. Die Strömungen der Meeresenge hängen in erster
Linie von Ebbe und Flut, aber auch gleichzeitig vom Winde
ab. Letzteres geschieht als unmittelbare Beschleunigung oder
Verzögerung durch den augenblicklich herrschenden östlichen
Wind und als Verstärkung oder Abschwächung durch die
Verschiedenheit der Wasserstände des ionischen und tyr-
rhenischen Meeres.
Daß die Tideströmungen in der Straße von Messina
überhaupt so mächtig auftreten, erklärt sich aus der Ver-
schiedenheit der Hafenzeiten in den nächstgelegenen Häsen
jener beiden Meeresteile: nahezu sechs Stunden. Im ionischen
Meere herrscht Niedrigwasser, während das tyrrhenische
Meer Hochwasser hat und umgekehrt. Die Flutgröße be-
trügt zur Zeit der Syzygien durchschnittlich nur 33, höchstens
45 cm, zur Zeit der Quadraturen durchschnittlich 20,
mindestens 5 cm. Auch die Schwankungen des mittleren
Wasserstandes sind nicht erheblich. Der größte Abstand
zwischen Hoch- und Niedrigwasser mißt etwa 80 ein.
Charakteristisch ist das rasche Aufsteigen der Flutkurven in
ein bis zwei Stunden und ihr langsames Abfallen in zehn
bis elf Stunden.
Für die Stärke der Tideströmungen in der Meerenge
bieten die Flutkurven des Hafens von Messina ein getreues
MaJJstaJb 1 '• 300. OOO f " V—y Kilometer
Spiegelbild. Je bedeutender die Flutgröße, um so bedeuten-
der sind die ein- und ausgehenden Ströme in der ganzen
Straße. Der eingehende Strom (rema scendente) ist
von Norden nach Süden gerichtet, der ausgehende Strom
(rema montante) umgekehrt; diese Bezeichnungen sind nur
für die geographische Richtung gültig und dürfen nicht, wie
fälschlich geschieht, mit Ebbe und Flut übersetzt werden.
Gerade im Gegenteil entspricht.soondonte (herabkommend)
dem Flutstrom und montante (hinaufsteigend) dem Ebbe-
strom. Jene erhöht, diese erniedrigt den Pcgclstand. Ebenso
unrichtig ist die Anschauung, als ob neben diesen Tide-
strömungen noch andre Meeresströmungen vorhanden seien.
Dagegen steht fest, daß infolge der schroffen Wechsel in der
Gestaltung des Strombettes vorübergehend sich seitliche Gegen-
strömungen und Unterströmungen ausbilden.
Die Strömungen sind im einzelnen durch die Gestalt
des Strombettes bedingt. Die calabrische und sizilianische
Küste lausen im spitzen Winkel aufeinander zu und bilden
bei Messina einen 7 Ion breiten Trichter. Zwischen Pnnta
bet Pezzo und Santa Agata zieht sich ein 3,7 km langer
Felsrücken unterseeisch durch die Straße, dessen tiefste Ein-
sattelung nur 120 m betrügt. Trotz seiner geringen Breite
ist der benetzte Querschnitt des Strombettes am Kap Peloro
dreimal größer als der Querschnitt an jenen: Felsrücken.
An den Küsten ragen zahlreiche Klippen und Felsspitzen
empor und bei Messina finden die Strömungen ein Hinder-
nis in der sichelförmigen Halbinsel des Hafens, welche einst-
mals der Stadt ihren Namen Zankte, Sichel, verliehen hat.
Der Verlauf der eingehenden und ausgehenden Strömung
ist durch die Pseile der beiden Kärtchen (ersichtlich gemacht.
Die von den Messinesen rstdli, von den Neapolitanern
garafoli genannten Wirbelbildungen treten am heftigsten
auf, wenn die Strömungen am stärksten sind. Mit merk-
licher Gefahr verknüpft sind jedoch nur:
1) der Strudel im Norden des Hafens von Messina,
besonders zur Zeit der Syzygien bei starken Südostwinden,
die das Wasser aus dem ionischen Meere in die Straße
treiben;
Fourneau und Gaillard am Sangha.
267
2) die Strudel am Dorfe Faro, welche öfter Boote auf
den Strand geschleudert oder von den Ankern los in die
Querströmung gerissen haben.
Keineswegs ist der Scyllafclscn die bedenklichste Stelle
jener Küste und nur seiner auffallenden Erscheinung ist es
nach Keller zu danken, daß ihm in später Zeit jener Name
beigelegt wurde, der sich auf die gefahrdrohenden Wirbel-
erscheinungen bezieht.
Unter Scylla versteht man daher nach Keller die Strudel
und Querstromungen am Ansgange der Meerenge, unter
Charybdis die Strudel vor dem Hafen von Messina. Zwischen
diesen beidcn Stellen besitzen die Stromungen ihre grohte
Geschnnndigkeit und wechseln am hausigsten ihre Richtung.
Nur unter knndiger Fuhrung kann cin Scgelboot die Strahe
von Messina sicher durchsahren, wcnn Tiden und Winde die
Strome und Strudel machtig erregen. Fur den unkundigen
Seefahrer gilt dann anch heute noch: Ineillit iu
<^ui vult vitare Ollar^txlim.
Fourneau und Gaillard am Sangha.
Im „Globus" (Bd. LIX, S. 58) ist bereits der franzö-
sischen Sangha-Expeditionen Cholcts gedacht worden. Jetzt
liegen seit Fourneaus Verunglückter Reise znm Tschad zahl-
reiche Ergänzungen der früheren Daten vor, und außerdem
ist jüngst ein Bericht des Administrators Gaillard, der sich
auf dem Begleitdampfer befand, veröffentlicht, worin uns der
nördliche Abschnitt des Sangha noch viel über Cholets fernsten
Punkt hinaus eingehend beschrieben wird.
Gaillard fuhr am 11. Januar dieses Jahres mit den
Kanonenbooten „Djoup", „Ubanghi" und der Dampfschaluppe
„Ballay", das Personal wie die Ausrüstung der Mission
Fourneau an Bord, von Brazzaville den Congo und später,
von Bonga ab, den Sangha stromauf und erreichte schon am
3. Februar die Mündung des großen Nebenflusses N'Goko.
Bei dem Häuptling Mniganga in dem Jnseldorfe Uoso oder
Wassn wurde längere Zeit Halt gemacht, einmal, um sich der
Hilfe dieses mächtigen Negerfürsten zur Unterstützung der
Expedition zu versichern und zum andern, um auf einem
geeigneten Platze des linken Ufers einen befestigten Posten
anzulegen. Die Lage desselben und damit der Zusammen-
fluß des Sangha und N'Goko ward von Kapitän Husson
astronomisch zu 1" 36' nördl. Br. bei 15° 34' 44" östl. L. v. Gr.
bestimmt i). Cholet hat im Vorjahre diesen Platz beinahe
bis 2° 30' hinaufgerückt, wohingegen er jetzt nur wenig nörd-
lich von dem Orte Ekunda unsrer Skizze aus Band UI zu
suchen wäre. Der Sauf des Sangha würde also mit dem
des Lekoli oder Ndschua der Choletschen Karte ungefähr zu-
sammenfallen.
Am 7. März brach Fourneau zu Fuß nach Norden ans,
indem er zunächst dem linken Ufer des N'Goko folgte. Tags
darauf steuerte das Kanonenboot „Djoup", welchem sich zwei
Handelsdampfer angeschlossen hatten, denselben Fluß aufwärts
und erreichte bei Molendo. dem Muleudo Cholets, am Ein-
tritt der Nebenadern Bumba und Lobi, fast genau im zweiten
Parallel, den nördlichsten Punkt des N'Goko, der sich jetzt
nach Südwesten kehrt, bald aber durch Felsbarren so gesperrt * 1
ft Gaillards zahlreiche und mit Anspruch auf große Ge-
nauigkeit auftretende Ortsbestimmungen wiederholen wir in
sehr beschränkter Auswahl, da uns der Bericht des Autors nur
in dem Abdruck des Mouv. Géogr. vom 20. September vor-
liegt und wir berechtigte Zweifel an der richtigen Wiedergabe
(beziehungsweise Umwandlung) der Positionswerte hegen. Zum
Beweise dessen möge man versuchen, den Lauf des N'Goko nach
folgenden Bestimmungen zu konstruieren:
1. Uoso oder Wassu 1» 36'Lat. N. 15» 34'44" Lg. O. Grw.
2. Molondo (Mulendo) 2° 03' Lat. N. 15» 54' 14" Lg. O. Grw.
sttzerr A. I. Waut er8 schreibt gar: 15» 54' 14" est cke
Paris, was ganz unmöglich ist.)
Bon Molondo ab soll der N'Goko südwestlich gerichtet sein
bis zum fernsten Punkte Gaillards in 1» 58' Lat. N. und
13» 08' 14" Lg. O. Das kann aber keinesfalls Greenwicher
Länge sein, trotz der von Herrn Wau ter s auf Seite 91,
Note 2 behaupteten Verwandlung der Pariser Längen; 15»
28' 30" Lg. O. Grw. dürste die Position heißen. H. 8.
wird, daß sich Gaillard in Kürze am Ende der Schiffbarkeit
sah. Die Quelle des N'Goko glaubt der französische Forscher
auf dem durch Fourneaus und Crampels westafrikanische
Reisen bekannten Massiv des Jvindo suchen zu müssen. Für
das Bestehen von Handelsverbindungen zwischen den Okotas
oder Bakotas am oberen Ogowe und den Anwohnern des
N'Goko sprechen die bei letzteren entdeckten europäischen Waren,
wie sie in der Umgegend von Franceville im Verkehr sind,
und die nur ans dem Wege vom Ogowe durch den Jvindo
und dann zu Lande an den N'Goko hinübergebracht sein
können.
Die Expedition Fourneau hatte inzwischen den N'Goko
verlassen und war zum Sangha marschiert, und da mittler-
weile das Wasser in letzterem gegen Ende des März um
50 ein stieg, so dampfte Gaillard am 3. April mit Kapitän
Husson in der Schaluppe „Ballay" den Fluß thalauf. Noch
am selben Tage traf man auf Cholets fernsten Punkt, der
bei dem höheren Flutstande glücklich passiert wurde, ja, man
konnte trotz der eiligen Fahrt bis zum 9. April die Reise
fortsetzen und hatte die Freude, bei dem Jnseldorfe N'Dongo
(3° Lt. N. und 15» 30' 14" Lg. O. Gr.) ans Fourneaus
Karawane zu stoßen. Diese wanderte bereits auf dem linken
Ufer des Sangha unter Benutzung einheimischer Handels-
pfade, weil das rechte Ufer wegen seiner Sümpfe und Moräste
nicht mehr passierbar war. Nach drei weiteren Reisetagen ge-
langte der „Ballay" unter 3ftz» nördl. Br. (15» 20'Lg. O. Gr.)
in das Land der Bakotas, wo sich der Sangha, seit dem
N'Goko auch Massa genannt, in zwei größere Adern teilt,
in den von Nordwestcn herkommenden Massioba oder Massipa
und in den Likelle, der ans Norden dem vorigen zuströmt.
Beide sind nach Gaillards Untersuchungen nur bei Hochwasser
und auch dann nur auf einige Meilen schiffbar.
Fourneau mußte von nun an auf eigene Hand vorgehen.
Bis znm 1. Mai blieb er am Likelle oder Ekel«; dann kam
der Sodi in Sicht, und zugleich änderte sich das so lange
freundliche Benehmen der Eingebornen. Sie überfielen die
Begleitmannschaft, vorläufig ohne besondern Schaden anzu-
richten, bis mit dem 8. und 9. Mai die feindlichen Scharen
immer größer und drohender wurden, so daß stündlich ein
ernster Angriff zu befürchten stand. Am 10. Mai lagerte
Fourneau in den: Dorfe N'Saure, dessen Häuptling Frieden
und Freundschaft erheuchelte, dann aber in der Frühe des
11. Mai zwischen 4 und 5 Uhr mit erdrückender Übermacht
die Expedition anfiel. Von allen Seiten prasselten die Speere
und Pfeile hernieder; das Jammern der Sterbenden und
Verwundeten mischte sich mit dem gellenden Kriegsgeschrei
der Feinde, die wütend auf die wenigen Fremden eindrangen.
Die Zelte waren bald wie Siebe durchlöchert. Dicht neben
Fourneau stürzte sein Gefährte Th irret gräßlich verstümmelt
zu Boden; gleich darauf wurde Herr Blom getroffen, und
zur selben Zeit enrpfing anch der Führer einen schweren
Lanzenstoß. Nur das Schnellfeuer der Seuegal-Tirailleure,
34*
268
Dr. W. Fischer: Der Weg des steinzeitlichen Bernsteinhandels.
die allein im Getümmel Stand hielten, trieb die Wilden
endlich zurück. Aber 7 Tote und 28 Schwerverwundete be-
deckten den Platz; die einzige Rettung lag in schleuniger
Flucht. Das Lager, die überflüssigen Sachen und vor allem
die Leichen wurden verbrannt, und dann gings unter steten
Kämpfen mit den Eingebornen zum Ekola hinab, wo sich
die Expedition aus schnell eroberten Booten einschiffte und
die gefährliche Thalfahrt antrat. Am Ufer drohten die
Schwarzen mit ihren langen, gezähnten Pfeilen, die noch auf
100 in Entfernung häßliche Wunden erzeugten. Im Strome
tauchten bald Wirbel und Schnellen auf, zuletzt die Wasser-
stürze von Bania, deren Passage neue Verluste nach sich zog,
bis man die Dörfer der befreundeten Mokolos erreichte und
Ruhe, Nahrung und Pflege fand.
Am 14. Mai lief die Expedition aus-dem Ekola in den
Massisba ein und ruderte mit Aufbietung der letzten Kräfte
immer stromab, um den Posten Wassn am Sangha zu er-
reichen. Am 17. Mai traf man den Dampfer „Ballay",
und tags darauf um 7 Uhr früh zogen die Flüchtlinge auf
der Station ein. Der Gesamtverlust seit dem 1. Mai be-
trug 15 Tote und 30 Verwundete ohne den gefallenen
Thiriet und die Verwundeten Blom und Fonrneau.
Trotz des unglücklichen Ausganges hatte die Expedition
wichtige Erfolge zu verzeichnen. Hauptsächlich fällt ins Ge-
wicht die Bestimmung des Sangha-Laufes bis 6° 30', nach
andrer Lesart sogar bis 7° nördl. Br. und in einer Aus-
dehnung von 800 km Luftlinie. Die Wasserscheide des
nördlichen Congobeckens rückt hoch gen Norden hinauf, min-
destens bis zum 7. Parallel, vielleicht noch weiter. Der
obere Sangha scheint unfern des Logone, jenes großen links-
seitigen Nebenflusses des Schari, fortzuziehen, und das beweist
von neuem, welch vorzügliches Eingangsthor zum Sudan
wie zum Tschadsee in dem Thalwege des Sangha gegeben
ist. Das Ende der Schiffbarkeit liegt unter gewöhnlichen
Verhältnissen auf dem N'Goko an der Einlaufstelle des
Bumba in 2° 03' Lat. N. und in der Hauptader bei dem
Dorfe Ewo unter 3° 91/2' Lat. N. Oberhalb dieses Ortes
beginnen allerhand Schwierigkeiten; am gefährlichsten sind
die Schnellen von Lipa, wo der Fluß in einem scharfen Knie
durch beiderseits herantretende steile Felsmassen auf einen
nur 30 m breiten schäumenden Kanal zusammengedrängt wird.
Die Siedelungen sind durchweg — am oberen wie am
unteren Sangha — auf Inseln angelegt; diejenigen, welche
ausnahmsweise am Ufer ihren Stand haben, werden durch
einen starken Palissadenzaun gegen feindliche Überfälle geschützt.
Die Bevölkerung scheint am Sangha selbst recht dicht zu sein,
desgleichen die Zahl der bestellten Felder, so daß es nirgend
an Lebensmitteln gebricht. Die Eingebornen besitzen viel
Elfenbein, kennen aber noch nicht den bedeutenden Wert dieses
Artikels. Fast jeder Häuptling hat in seinem Dienste eine
oder mehrere Familien der innerafrikanischen Zwergjägcr,
hier Babingas genannt, die als schweifende Nomaden im
Urwalde hausen und dort mit ihren langen Speeren unter
Entwickelung großer Geschicklichkeit der Elefantenjagd obliegen.
Die Babingas bleiben im Wuchs unter Mittelgröße zurück;
Messungen, wie sie Schweinfurth, Wißmann, Wolf
und Andre bei den Zwergen vorgenommen haben, werden uns
durch Gaillard nicht berichtet. An sonstigen Völkerschaften
sind vom Posten Wassn (Uoso) ab nach Norden folgende zu
merken: 1. die Bomassas (21/2° Lat. N.), 2. die Bayaugas
(bis 31/2" Lat. N.), 3. die Bondjikolas (31/4° Lat. N.),
letztere ein Räuberstamm, der gleich den Pahuins am Ogowe
seine Dörfer in schwer zugängliche Hinterhalte versteckt, am
liebsten gerade oberhalb beschwerlicher Flußpassagen, wo die
Fremden ihre Kanus aufs Land ziehen müssen und dabei den
Piraten zum Opfer fallen.
Europäische Waren sind jenseits des N'Goko noch un-
bekannt; erst die Bakotas am Likelle und Massiäba, nördlicher
als 3y2 Grad, empfangen durch Zwischenhandel ans dem
mohammedanischen Norden gegen Elfenbein ihre Steinschloß-
gewehre, Pulver und Perlen. Am untern Sangha und
N'Goko besorgen dagegen die Afnrns den Vertrieb unserer
Erzeugnisse, wie dies auch von Cholct bereits angemerkt ist.
H. Seidel.
Der weg des steinzeitlichen Bernsteinhandels.
Von Dr. ZV. Mischer. Bernburg.
Viele Gräber der Steinzeit Skandinaviens und Mittel-
europas haben Bernstein enthalten, und dieser würde noch
häufiger gefunden sein, wenn die Erde solcher Gräber jcdes-
mal durchgesiebt wäre. Oft hat der Bernstein, welcher
2000 und 1500 v. Chr. in das Grab gelegt ist, ein Aus-
sehen angenommen, das ihn schwer von der Erde unter-
scheiden läßt, so daß er leicht übersehen wird, wenn die Auf-
merksamkeit des Gräbers nur den Urnen und Steinwaffen
zugewandt ist.
Der Bernstein war also überall verbreitet. Asiatische
oder afrikanische Händler trafen ihn an den Küsten des Mittel-
ländischen oder Schwarzen Meeres an, erkundigten sich nach
seiner Herkunft, und gelangten, ihm nachgehend, in sein
Heimatland. Natürlich schlugen sie dabei den Landweg ein;
aber wenn dieser auch durch barbarische Bevölkerungen führte,
so haben wir ihn uns durchaus nicht als gefährlich vorzu-
stellen. Wissen wir doch, daß die Hansa von den rohen
Völkerschaften des Nordens zuerst mit offenen Armen empfangen
wurden und daß ein Weißer von Negern, die noch nicht mit
Weißen in Berührung gekonunen sind, nichts zu fürchten hat,
wenn er unbewaffnet unter sie tritt.
Wenn die Phöniker später, wo die Lage des Bernstein-
landes bekannt geworden war, den kostbaren Stoff auch zu
Schiffe holten, dann bekamen sie ihn nicht in der Ostsee, wo-
von jetzt nicht mehr ernstlich die Rede sein kann, souderil von
der deutschen Nordseeküste, den friesischen Inseln oder Schles-
wig-Holstein, wo er noch jetzt, namentlich in der Nähe der
Eidermündung, häufig gefunden wird.
Für die Gefahrlosigkeit des Landweges spricht auch eine
dunkle Sage von einem Pfade des Herakles, die noch in
aristotelischer Zeit lebte. Dieser über die Alpen führende
Pfad sollte unter dem Schutze der Amvohner stehen und
diese für jede Unbill verantwortlich sein, die einem Reisen-
den zugefügt würde. Die nach dem Bernsteinlande reisen-
den Kaufleute konnten aber auch den von ihnen besuchten
Bevölkerungen sehr wohl durch das, was sie ihnen brachten,
als Wohlthäter erscheinen. Sie konnten ihnen neue Fertig-
keiten, z. B. für die Bearbeitung des Thones, und die Ver-
zierung der Gefäße, sowie für die Anfertigung von Stein-
waffen mitteilen, konnten ihnen Haustiere und Sämereien
bringen, und namentlich tauschten sie den Bernstein auch gegen
Bronze und Gold ein. So konnte cs kommen , daß der
Ackerbau, die Haustiere und gewisse Thongefäße Skandina-
viens mit denen Norditaliens und der dazwischen liegenden
269
Dr. W. Fischer: Der Weg des
Länder mir Ende der Steinzeit eine unverkennbare Überein-
stimmnng erhielten, so daß sich für alle diese Lander auch
eine gleiche Kulturstufe ergicbt.
Das Ende der Steinzeit aber wurde herbeigeführt durch
die Bronze, welche der Bernstein nach dem Norden zog.
* *
*
Tischler unterscheidet drei gesonderte Gebiete des stein-
zeitlichen Bernsteins: 1) das ostbaltische, Westpreußen und
was östlich davon liegt, 2) das westbaltische, von Hinter-
pommern bis Holland und alles, was nördlich davon liegt,
3) das britannische. Die Verschiedenheit in der Bearbeitung
des Bernsteins, welche diese drei Gebiete charakterisiert, deutet
zugleich an, daß sie höchstens geringe Berührungen mitein-
ander hatten oder wenigstens geringen Einfluß aufeinander
ausübten. In der That ist auch das ostbaltische Gebiet in
den Bernsteinhandel später hineingezogen als das wcstbaltische.
Wir haben es hier nur mit dem letzteren zu thun.
Nun stellt Monte!ins für Skandinavien vier Perioden
der jüngeren Steinzeit auf: 1) noch keine Steingräber,
2) freistehende Dolmen ohne Gang, 3) Ganggräber und
4) Steinkisten, von welchen wieder die mit Erde bedeckten
die jüngeren sind.
Während der Bernstein in den Gräbern der dritten
Periode in großer Menge vorkommt, findet er sich in denen
der vierten, also der letzten nur spärlich. Aber dafür treten
jetzt als neue Erscheinungen Bronze- und Goldsachen auf.
Bei einer Prüfung der beglaubigten Grabfunde der cimbrischen
Halbinsel fand Olshanseu in keinem Grabe Gold und Bern-
stein zusammen, und wenn auch früher wohl bei den Gra-
bungen weniger auf Bernstein geachtet ist, so traf derselbe
Forscher doch auch bei seinen eigenen Grabungen auf Amrum
an der Westküste Schleswigs in Gräbern mit keinem oder
wenigem Bernstein dreimal je zwei- und einmal sogar drei
goldene Fingerringe aus spiralig gewundenem Draht. Er-
schließt sich dem Ausspruche Engelhardts, „daß in Däne-
mark die einheimische Verwertung des Bernsteins aufhörte,
so bald dauernde Handelsverbindungen mit dem Süden an-
geknüpft waren" an, wenn auch mit der Einschränkung, daß
geringe Mengen von Bernstein auch noch den Gräbern der
ganzen Bronzezeit beigegeben sind.
Neben goldenen Gefäßen aus sehr dünnem Blech und
goldenen sogenannten Eidringen sind von besonderer Bedeutung
die schon erwähnten Spiralfingerringe.
Schon Sophus Müller bemerkte, daß von dänischen
Funden solcher Ringe die meisten da gemacht wurden, wo
sich der Bernstein an Ort und Stelle vorfand und schloß aus
dem Umstande, daß neben 100 ganzen Ringen noch eine
viel jgrößere Zahl von Ringbruchstücken gefunden wurden,
daß diese Bruchstücke absichtlich und zu dem Zwecke hergestellt
seien, als Zahlungsmittel zu dienen, wie ja auch später aus
gleichem Grunde das Hacksilber entstand.
Olshausen fand nun, daß die Goldspiralen nur auf
einem Gebiete gesunden werden, dessen westliche Grenze
sich längs der unteren Weser und Aller, die Altmark ein-
schließend, nach der Elbe zieht, die Saale und Unstrut
hinaufgeht, bis zum Meridian von Erfurt und sich von da
nach Mainz hinüberwendet. Ostwärts sind sie nicht über die
Persante hinaus gefunden. Der Hauptstrom dieser Gold-
spiralen, die aus Doppeldraht gefertigt sind, hat sich nach
Olshausens eingehenden Untersuchungen durch die östliche
Hälfte des Elbethales nach der cimbrischen Halbinsel bewegt
und kam wohl aus Österreich-Ungarn, wo diese Spira-
len und die besondere Art der goldenen Noppenringe eine
so große Rolle spielen. — Die Noppenringe entstehen aus
st ein zeitlichen Bernsteinhandels.
Draht, der in Weisen gebogen ist, von denen diese Figuren
<------—...--------
einige Beispiele geben.
Wenn im Östbaltiknm nach Tischler und Lissaner-
vo r der römischen Zeit gar kein Gold vorhanden war, dann
liegt der Schluß nahe, daß diese Gegend sich auch erst zur
Zeit der römischen Kaiser an dem Bernsteinhandel beteiligte.
Der die Elbe hinauf geführte Bernstein gelangte wohl
über Böhmen nach dem späteren Noricum und, zur Umgehung
der Alpen, durch Pannonien an die Küste des Adriatischen
Meeres, wohin auch die Sagen des Altertums das Vater-
land des Bernsteins verlegen.
Den von Olshausen zum Beweise des Landhandels-
weges angeführten zahlreichen Funden können als Bestätigung
für den Weg an der Saale noch drei Funde angereiht wer-
den, die bei Bernburg, also an der unteren Saale gemacht
sind. Im Anfange dieses Jahrhunderts ist eine halbe Meile
von der Stadt in einem der Beschreibung nach steinzeitlichen
oder frühbronzezeitlichen Grabe ein goldener Spiralring ge-
funden. Im Jahre 1882 aber fand man bei Bernburg
selbst an der Saale ein idolartiges Beriisteinstück und zwar
unter dem angeschwemmten Lehm, mit welchem die Kies-
aufschüttuug des Saalethales dort bedeckt ist. Tischler hat
es als steinzeitlich anerkannt; aber die vier Durchbohrungen
sind in einer Weise angebracht, wie bei keinem Stücke des
Ostbaltiknms. Nicht weit davon entdeckte man im Acker eine
Urne mit Muschelsachen, zwei Armringen, zwei brochenartige
Schalen und über 170 Perlen, von Taubenei- bis Erbsen-
größe und der Länge nach in steinzeitlichcr Weise durchbohrt.
Die mit drei vertieften Voluten und drei kleinen Höckern ver-
sehene, fast halbkugelige Urne scheint nigends ihresgleichen
zu haben, wenn sich nicht unter den cyprischcn Sachen ähnliches
findet. Nach den wiederholten Untersuchungen von Martens
stammen die Schalen von Spondylus, wahrscheinlich aus dem
Roten Meere, die andern Sachen aber von Tridacna gigas,
aus dem Indischen Meere. Dieser Fund dürfte ebenso, wie
die goldenen Spiralringe ans Ungarn hinweisen, da bisher
nur dort ähnliche Sachen vorgekommen sind. Zwar ist der
Fundort der Muschel-Perlen und Ringe des Museums zu
Pest, die den Bernburgern gleichen, nicht bekannt; aber neuer-
dings hat Wosinsky in einem steinzeitlichen Grabfelde bei
Lengyel in Südungarn ganz ähnliche Muschelperlen entdeckt,
und auch sie sind von Much der Tridacna zugewiesen.
Wenn Klopfleisch die fremdartigen Zeichnungen des
Merseburger Grabes ans semitische und ägyptische Zeichnungen
und Vorstellungen zurückführte, so sträubte man sich gegen
den Gedanken, daß Phöniker oder andre Semiten während
der Steinzeit vom Meere her bis zum Mittelläufe der Saale
vorgedrungen sein sollten. Aber durch den nachgewiesenen
Landweg erhalt die Sache ein andres Ansehen. Auch ein
bei Kruse (1827) beschriebenes Grab nicht weit von Halle
enthielt Zeichnungen, die in Stein geritzt waren und unter
diesen ein semitisches Zeichen. Übrigens fand sich in letzterem
Grabe auch einiger Bernstein.
Da nun, wie schon oben erwähnt wurde, von Skandina-
vien bis zur nördlichen Küste des Mittelmeeres ein und
dieselbe Kultur herrschte, indem dieselben Haustiere, Getreide-
arten und Thongefäße im Gebrauch waren und eine gewisse
Art von Thongefäßen sich sogar bis nach Cypern verfolgen
läßt, so kann die nordische Steinzeit der Ganggräber füglich
als gleichzeitig mit der norditalischen Steinzeit angenomntcn
werden, und da die Bronzezeit Italiens und Mitteleuropas
zwischen 2000 und 1500 v. Chr. begann, so ist ihr Anfang
für Skandinavien etwa um 1500 v. Chr. anzusetzen.
270
Büchcrschau.
Bücherscha u.
Dr. Oskar Baumann, Usambara und seine Nachbar-
gebiete. Allgemeine Darstellung des nordöstlichen Deutsch-
Ostafrika und seiner Bewohner. Aus Grund einer im Auf-
träge der deutsch-ostssrikanischen Gesellschaft im Jahre 1890
ausgeführten Reise. Mit 21 ethnographischen Abbildungen,
2 Textplänen, 8 Originalkartenbeilagen und 4 Notenseiten.
Berlin, Dietrich Reimer, 1891.
Dieses ist ohne Zweifel die genaueste und beste Beschrei-
bung, die wir von irgend einem größeren Teile der deutschen
Kolonieen besitzen. Baumann war durch seine verschiedenen afrika-
nischen Reisen und gründliche Vorbildung der geeignete Mann zu
dieser Forschung und, als Österreicher, auch ein unparteiischer
Zeuge, wo es daraus ankam den kolonialen Wert zu bestimmen.
Sei es nun nach der geographischen, ethnographischen oder
kolonialpolitischen Seite hin — er hat überall Vorzügliches
geleistet. Seine Hauptaufgabe war die Herstellung der Karte und
eine solche im großen Maßstabe von 1:300000 in vier Blättern
mit Nebenkarten, technisch und wissenschaftlich eine vortreffliche
Leistung, liegt dem Buche bei. Man fühlt sich, ander Hand Bau-
manns, hier aus sicherem Bode», während in andern Gegenden
Deutsch-Ostasrikas der kartographische Grund noch sehr schwankt.
„Wer etwa aus einem Luftschiffe auf den nordöstlichen
Teil von Deutsch-Ostasrikn herabblicken könnte, der würde aus-
gedehnte rotbraune Flächen wahrnehmen, aus welcher sich
größere und kleinere Partieen mit vielgezackten, aber stets
scharfen Rändern hervorheben. Die rotbraunen Teile sind die
Steppen, die dunklen Gebirge oder, besser gesagt, die Gebirgs-
inscln, die der Ebene schroff und unvermittelt entsteigen." So
charakterisiert Baumann mit einem Schlage das Land, dessen
Ebene allmählich ansteigt und dessen Hauptfluß der Pangani
ist. Das Platcauland Usambara und das Paregebirge sind die
schroffen Inseln, die aus Ebenen (der Nyikasteppe) emporsteigen.
Während Usambara uns bereits durch die frühere Expedition
Meyer - Baumann bekannt war, werden wir mit dem Pare-
gebirgc erst jetzt näher bekannt. Es besitzt ausgesprochene
Längenentfaltung und zerfällt in Süd-, Mittel- und Nordpare,
durch Einsattelungen im Kamme völlig voneinander getrennt.
Unter Nordpare versteht Baumann das bisher als Ugueno be-
kannte Gebirge, da es orographisch, geologisch und ethnographisch
zu Pare gehört.
Der geologische Ausbau (erläutert durch eine Neben-
karte) zeigt den schematischen Ausbau, welcher für die Küsten-
gebiete Mittelafrikns in Ost und West bezeichnend ist. An der
Küste erst die schmalen rezenten Korallenkalkhänke, dann etwas
breitere, harte, lichtgraue Kalke, dem Jura zugehörig, mit Ammo-
niten. Dahinter meridional streifende Thonschiefer, und wieder
hinter diesen Gneis und kristallinischer Schiefer bis zu jener
gewaltigen Bruchlinie, der die mächtigen Eruptivbildungen des
Kenia und Kilimandscharo entstiegen sind.
Das meteorologische Bild kann Mangels genügender
Beobachtungen noch nicht sicher festgestellt werden. Aus über-
mäßig feuchte» Landstrichen kann man schnell in ganz trockene
Gegenden gelangen. Das Gebirge regenreicher als die Küste;
die Temperatur nicht so drückend, als allgemein angenommen
wird; die mittlere Jahrestemperatur an der Küste und im
Vorland 250 bis 280(1., im Gebirge 18° bis 21? C. Die
Extreme sind -s- 360 C. und -s- 50 C.
Ein sehr großer Teil des Landes ist von der wiederholt
geschilderten Steppe (Nyika) eingenommen, andre Gebiete, zu-
mal die Gebirge, weisen tropische Waldmasscn auf; Galerie-
wälder an den Flüssen. Ausgedehnt ist, wie schon ein Blick
auf die Karte lehrt, die Kulturlandschaft mit Anbau von Sorg-
hum, Mais, Bohnen, Maniok, Bananen.
Wie die geographische Schilderung eingehend und aus-
führlich, so auch die ethnographische. Verschiedene Bantustämme
bilden den Grundstock; sie sind Ackerbauer. Spätere Eindring-
linge, hamitischcn Stammes, sind die Wakuafi und Massai,
Jäger und Hirten. Wer sucht, wird viele belangreiche Mit-
teilungen aus ethnographischem Gebiete bei Baumann finden;
auch die schwierige Frage der Volksdichtigkeit hat er durch
mühsame Aufnahmen der Lösung nahe gebracht. Etwas ähn-
liches besitzen wir, von der Küste abgesehen, in Ostafrika nicht.
Das auf der Karte dargestellte ständig bewohnte Gebiet umfaßt
etwa 20000 qkm, auf denen 150000 Menschen leben, d. i. 7,7 aus
den Quadratkilometer; dazu ein Steppengebiet von 26 500 qkm
mit nur 5500 Bewohnern oder 0,2 auf den Quadratkilometer.
Für das ganze Land ergeben sich 46 000 qkm mit etwa
156 000 Bewohnern oder 3,4 Menschen auf den Quadratkilo-
meter. So dünn ist das Land bevölkert und diese Zahlen von
bewohntem Kulturlande und kaum bevölkerter Steppe sprechen
auch laut den wirtschaftlichen Wert jener Nordostecke, im all-
gemeinen wenigstens, aus.
Wir erfahren durch Baumann viele in ethnographischer
Beziehung wichtige Einzelheiten, von.denen einige kurz berührt
werden sollen. Die Wabondei im Vorlaude besitzen eine Art
Trommelsprache, ähnlich jener in Kamerun, doch nicht so aus-
gebildet und da durch Wißmann u. A. derlei Signale auch aus
dem Innern bekannt sind, so dürfen wir schließen, daß dieses
Verstündigungsmittel von Ost bis West reicht. Mag immer-
hin die Schnapseinsuhr als unsittlich zu verdammen sein, so
ändert dieses doch nichts daran, daß viele, sehr viele Neger
schon von Haus aus Säufer sind, die in nationalen Getränken
sich berauschen und nicht erst auf den europäischen Fusel
warten. Die Wadigo „leisten im Tumbo- (Palmwein-) trinken
geradezu Unerhörtes und betreiben dieses förmlich systematisch".
Die Weiber, die zu den öffentlichen Kneipereien nicht zugelassen
werden, ergeben sich unterdessen dem häuslichen Suffe. An
die Alpen gemahnt, was Baumann von der Nindvichzucht im
Paregebirge erzählt, wo schöne Buckelrinder auf den grünen
Matten der Hochweideregion umherziehen und die eisernen Glocken
des Viehs wie in der Schweiz erklingen. Dort (wie am Kilima-
ndscharo), versteht man es auch, die Flüsse und Bäche mit wasser-
dichten Steinmauern abzudämmen und das so gesammelte
Wasser in halbmeterbreiten Kanälen aus weite Strecken an den
Hängen hin zu führen, um die Felder zu bewässern.
Wie ist der wirtschaftliche Wert des Landes beschaffen?
Baumann darf uns da wohl als ein gerechter und unparteiischer
Zeuge gelten, denn Kolonialenthusiast ist er nicht; er ist dabei
Österreicher, der also nicht direkt interessiert erscheint und seine
Routen gehen, wie die Karte zeigt, kreuz und quer durch das
ganze Land. Die Kautschukerzeugung, die sich noch sehr steigern
wird, und das Elfenbein, sagt er nnt Recht, bilden nur Episo-
den im wirtschaftlichen Leben Mittelafrikas. In absehbarer
Zeit werden beide verschwinden. Er befürwortet die Zähmung
der afrikanischen Elefanten und beklagt, daß in dieser Beziehung
noch nichts geschah. Die erste Stelle nehmen im Handel die
landwirtschaftlichen Erzeugnisse ein. Die Kopra ist wichtig und
die Kokospalme gedeiht vortrefflich, die Ölpalme kann ein-
geführt werden. Das Mineralreich verspricht nichts und wenig
Hoffnung ist auf die Entdeckung von Kohlenlagern zu setzen.
Vermehrung der Bevölkerung, Unterdrückung der ewigen kleinen
Kriege sind Vorbedingungen für größere Ausnutzung der Vieh-
zucht und des Ackerbaues, letzterer zu heben durch Einführung
neuer Kulturpflanzen, denn die Zukunst des Gebietes liegt im
Plantagenbau, wofür namentlich das Küstengebiet und Usambara
in Betracht kommt. Sehr hoffnungsreich lauten die Schilderungen
der Tabakspflanzung Lewa. Baumann giebt viele beherzigens-
werte praktische Winke. Vor allem muß aber die jetzt gesicherte
Eisenbahn von der Küste nach Usambara zur Erschließung
des Gebietes erbaut werden. Der Vers, hat die Linie fest-
gestellt. Sie führt in der Länge von 90 km vom Hafen Tanga
nach Korogwe (320 m) südlich vom Usambaragebirge am
Panganiflusse. Die Steigung ist unbedeutend, etwa 3 m auf
den Kilometer betragend und die technischen Schwierigkeiten
sollen unbedeutend sein. Schwierigkeiten bieten nur die An-
werbung und Erhaltung der cingebornen Arbeiter. In der
Zukunft sieht Baumann ein der Kultur erschlossenes Usambara.
Wissenschaftliche Anhänge des Werkes beschäftigen sich
(bearbeitet von Fachmännern) mit den Getreidearten, Bohnen,
Schmetterlingen und Schädeln des Landes; den Sprachen der
Wassegeju und Wapare, sowie mit den Melodiecn der Ein-
gebornen. R. And ree.
M. Besler, Die Ortsnamen des lothringischen Kreises
Forbach. I. Teil: Die Ortsnamen im engeren Sinne.
Forbach 1888. II. Teil: Die Namen der Flüsse, Bäche,
Quellen und Weiher, der Berge und Hügel, der Wälder
und Forstbezirke und der Gewannen. Forbach 1891.
Die Forschungen Uibeleisens über lothringische Ortsnamen,
die in den Jahresberichten des Vereins für Erdkunde in Metz
niedergelegt sind, nahm in jüngster Zeit M. Bester auf, der
die Ortsnamen des lothringischen Kreises Forbach in
den oben angeführten Programmarbeiten behandelte.
Neben der etymologischen Erklärung der Namen zieht er
aus ihnen auch Schlüsse auf die Urbevölkerung und kommt
hinsichtlich des lothringischen Kreises Forbach im zweiten Teil
Aus allen Erdteilen.
271
S. 48 zu folgendem Ergebnis: Im historischen Rückblicke des
ersten Teiles sahen wir, daß aus Grund der Namen der be-
wohnten Orte unsres Kreises ein Überschuß obersränkischcr
Benennung sich ergab, woraus gefolgert.wurde, daß der ober-
fränkische Stamm der Bevölkerung das Übergewicht über den
alemannischen hatte. Betrachten wir aber die „Ortsnamen im
weiteren Sinne", besonders die Wald- und Flurnamen, so
kommen wir zu dem Ergebnisse, daß dieselben zum größeren
Teile alemannischen Ursprunges sind. Eine Erklärung dafür
ist leicht gegebeir. Gegen Ende des dritten Jahrhunderts n. Chr.
waren Alemannen in die von den Römern besetzten keltischen
Gebiete Lothringens eingewandert. Sie besetzten die Thäler der
Flüsse und die fruchtbaren Niederungen, wo sie reuteten durch
Sengen und Brennen und teilweise die von den Römern und
Galliern bewohnten Stätten zu ihrem Heim machten. Man
ersieht das aus den ältesten Namen der Flüsse des Kreises,
der Saar, Albe, Nied, Rossel, in denen die uralte alemannische
Endung aha (ach) enthalten ist. Die Alemannen sind es ge-
wesen, die den meisten Bergen und Wäldern, den Fluren um
ihre Höfe die Namen gegeben haben.
Die um die Mitte des fünften Jahrhunderts durch die
Thäler der Mosel und Nahe in Lothringen einwandernden Ober-
sranken nahmen, da sie die Flußthäler von Alemannen bereits
besetzt vorfanden, die höher gelegenen Gebiete ein, wo die Bäche
entspringen; daher sind denn auch die meisten Bachnamen frän-
kischen Ursprungs. Sie verkehrten zunächst wohl freundschaftlich
mit den Alemannen und rodeten mit Beil und Axt, woher die
vielen Namen auf -rock, -rat, -rockcr stammen. Nach dem im
Anfange des sechsten Jahrhunderts stattgcfundenen Zusammen-
stoße der Franken und Alemannen aber und nach der Unter-
werfung der letzteren durch Chlodwig blieb ein Teil der Ale-
mannen in Lothringen zurück als Untergebene der Franken.
Diese rückten in die von den Alemannen früher besetzten und
ihnen genommenen Gebiete ein, wobei sie die alten Berg-,
Wald- und Flurnamen wohl teils mit übernahmen, teils auch
neue fränkische Benennungen einführten. So ist es gekommen,
daß in Lothringen, ganz besonders aber im Kreise Forbach in
sämtlichen Gemeinden, auch wenn diese rein fränkische Namen
führen, durchweg alemannische und..fränkische Namen sich kreu-
zen; erstere finden sich jedoch in der Überzahl in der Niederung,
letztere auf den Höhen. Der herrschende Stamm wurden die
Franken, und sie sind es auch wohl, deren Nachkommen heute
noch die Hauptbevölkerung des Kreises bilden, wenn auch zuge-
geben werden muß, daß viele alemannische Elemente sich heute
noch zäh erhalten haben.
Colmar (Elsaß). Stehle.
Aus allen
— Daß Gletscher und Glescherspuren in den West-
gebirgen des amerikanischen Doppelkontinentes eine
weit größere Verbreitung besitzen, als man sonst anzunehmen
geneigt ist, ersieht man recht deutlich aus einer Zusammen-
stellung aller darauf bezüglichen Nachrichten, wie sie kürzlich
von G. Schwarze im „Auslande" (Nr. 11, 12, 1891) mit-
geteilt wurde. Reiß, Stübel und besonders Whimpcr wiesen
in Ecuador zahlreiche Gletscher nach, die bedeutendsten am
Cayambe, Sara urcu, Antisana und Chimborazo, die sich
von den alpinen kaum unterscheiden; am Südfuße des letzteren
begegnet man Spuren früherer ausgedehnterer Vergletscherung.
In Kolumbia sind Gletscher z. B. am Pan de Azucar mit
tiefer gelegenen halbkreisförmigen Endmoränen, in Venezuela
fehlen Gletscher, doch scheinen Anzeichen älterer Vergletsche-
rung vorhanden zu sein; kleinere Gletscher und zahlreiche
Spuren alter Vergletscherung mit Rundhöckerbildung, Stirn-
und Seitenmoränen traf man in der Sierra de Santa Marta,
nur Anfänge von Gletscherbildnng in der Kordillere von
Mexiko (Jxtaccihuatl). In den Schneebergen Nordpcrns
dürften Gletscher nicht fehlen; genauere Angaben hierüber
stehen jedoch noch ans; südwärts können in der Westkordillere
Gletscher wegen allzu großer Trockenheit sich nicht entwickeln,
dagegen sind in der feuchten Ostkordillere Gletschcrbildnngen
nicht selten, besonders an den Bergricsen der bolivianischen
Kette. In den nördlichen chilenisch-argentinischen Anden
fehlen entweder die klimatischen oder die topographischen Be-
dingungen zur Bildung zusammenhängender Gletscher; nur
in dem Cajon de los Cipreses fand Güßfeldt einen Gletscher
erster Ordnung. Weiter südlich (363/4° südl. Br.) trifft
man häufiger auf Gletscher, zuerst ans jenen des Vnlkanes
Chillan, dann folgen die Gletscher des Antnco, der Sierra
Belluda, des Tronador, an dessen Ostscite die Eismassen be-
reits bis 550 in herabgehen. Je weiter nach Süden, um
so niederschlagsreicher gestaltet sich das Gebiet, um so zahl-
reicher werden die Gletscher. In 461/2° südl. Br. er-
reicht in 100 in mächtiger Stirnwand der Rafaelgletscher
das Meer; zahlreich sind die Gletscher im Gebiete der Magel-
haensstraße und des Feuerlandes. In Nordamerika trifft
man in den mittleren und nördlichen Breiten ans zahlreiche
Spuren ehemaliger ausgedehnter Vergletscherung. In der
südlichen Hälfte der Rocky Mountains kommen mehrfach noch
jetzt kleine Gletscher vor, so auch im nördlichen Montana.
Erdteilen.
Die südlichsten Gletscher in der Sierra Nevada, überhaupt
in den Vereinigten Staaten gehören den Bergen der Merced -
gruppe an (3500in hoch); daran schließen sich weiter nörd-
lich die Gletscherbildungen des Mt. Shasta (44^0 nördl. Br.).
Im südlichen Teile des Cascadengebirges fehlen Gletscher,
im nördlichen werden sie beträchtlich, z. B. am Mt. Rainier
(463/4° nördl. Br.), von welchem drei mächtige Gletscher bis
16 km. lang und 2,5 km breit mit bis 150 m mächtigem
Eiswalle an der Stirnseite Herabkommen. In dem nördlichen
Felsengebirge sind Gletscherbildnngen häufig, sie mehren sich
in dem Maße, als man weiter nach Norden sich bewegt; in
Alaska nehmen sie gewaltige Dimensionen an und steigen
bereits im Gebiete der Mt. Eliasalpen bis nahe ans Meer
herab. 8r.
— Die Eisenbahn von Mombas nach dem Innern
Ostafrikas, die von der englischen ostafrikanischcn Gesell-
schaft gebaut wird, ist in Angriff genommen. Sie führt
von der auf einer Insel gelegenen Stadt etwa 5 km lang
über die Insel und überschreitet alsdann den nur 300 m
breiten Meeresarm, welcher die Insel vom Festlande trennt,
ans einer (noch nicht gebauten) Brücke. Railway Point ist
der Ausgangspunkt auf dem Fcstlande, von wo aus nach
dem Innern zu bereits 5 km Bahn vollendet sind, ans der
schon zwei Lokomotiven laufen. Das ideale Ziel der Bahn
ist der Viktoriasee.
— Die Ausländer in China. In der in Tientsin
erscheinenden chinesischen Zeitung Schibao findet sich eine
Notiz über die Zahl der in offenen chinesischen Häfen lebenden
Ausländer. Im ganzen leben in diesen 21 den Fremden
geöffneten Häfen 8107 Fremde in 552 Handlungshäusern,
darunter 3317 Engländer in 327, 1153 Amerikaner in 32,
883 Japaner in 29, 648 Deutsche in 80, 618 Portugiesen
in 5 und 131 Russen in 12 Häusern.
Gleichsam, um die Chinesen darüber zu beruhigen, daß
die Menge der Fremden doch nur eine sehr geringe ist, wird
unmittelbar darauf auch die Anzahl der in jenen Häfen
lebenden Chinesen berichtet. An den 21 Orten leben
5 630000 Chinesen, darunter in Kanton 1600000, in
Tientsin 915 000, in Han-kou 800000, in Fn-tschou
630000, in Schanghai 380000.
272
Aus allen Erdteilen.
Es ist nicht ohne Interesse, die Zahl der in China aus
kaufmännischem Interesse lebenden Russen (131) zu ver-
gleichen mit der Zahl der auf russischem Gebiet lebenden und
handeltreibenden Chinesen. So z. B. leben in Blagovesch-
tschensk (am Amur) beständig mehr als 900 Chinesen, außer-
dem halten sich daselbst stets viele Kansleute aus der Stadt
Aigun und aus dem Dorfe Groß Sachalin auf.
In allen Städten Transbaikaliens, auch in den kleinsten
Ansiedelungen leben Chinesen; überall sind einige chinesische
Berkaufslädeu vorhanden, deren Inhaber ungehindert Handel
treiben; in China dagegen dürfen die europäischen Kaufleute
nur in festgesetzten Orten handeln und sind dabei in voll-
kommener Abhängigkeit von den Chinesen. (Wostotschnoje
Obosrjenie 1891, Nr. 30.)
— Gold im Gebiet von Semiretschensk (Turkestan).
Seit den sechziger Jahren dieses Jahrhunderts wird im Fluß-
gebiet des Ala-Knl an dem Flüßchen Archaity und an
den beiden Tenteky Gold gefunden: hier im Kreis Sergiopol
sind alte chinesische Goldwäschen. Die beiden Tenteky
kommen aus den Schluchten des nordöstlichen Ausläufers des
Alat au. Gold ist ohne Zweifel hier vorhanden, jedoch nur in
geringer Menge; trotzdem ist hier zu verschiedener Zeit Gold
gewaschen worden. Im Jahre 1871 wurde vom 13. August
bis zum 10. Oktober etwa 52 500 Pud (840000 kg) Sand
ausgewaschen und darin 1 Pfund 32 Solotnik (530 g) Gold
gefunden. — An vielen Stellen in den Vorbergen des Alatau,
besonders in der Dschungarei, bestehen alte verlassene chine-
sische Goldwäschen; jedenfalls waren die Eingebornen im-
stande, hierbei ihre Vortheile zu finden, deshalb sind die
russischen Goldwüscher, ungeachtet des geringen Goldgehaltes
des Sandes, noch voller Hoffnung. Die eifrigsten Gold-
sucher sind die Bekler (Baigüsch), die sich mit dem aller-
geringsten Gewinn begnügen. (Turkestansche Zeitung.)
— Die Amerrique Indianer in Nicaragua, von denen
Marcon fälschlich den Namen „Amerika" ableitete, sind von
dem Geologen I. Crawford besucht worden, welcher der
Bostoner Naturwissenschaftlichen Gesellschaft über dieselben
Bericht erstattete. Sie bewohnen einen goldreichen Teil des
Distriktes La Libertad, in welchem man noch durchbohrte Gold-
schmucksachen aus vorspanischer Zeit fand. Sie sind nach
Crawford wohlgebildete, gesunde Leute, 6' 6" bis 6' 8" hoch,
sterben aber rasch ans. Gegenwärtig beträgt ihre Zahl noch
gegen 300. In den dichten Wäldern gewinnen sie Kautschuk,
den sie nach Rama oder an die Mündung des Matagalpa
auf weitem Wege zum Verkaufe bringen. Hier und da haben
sie im Walde kleine Flüchen urbar gemacht, wo sie Mais
bauen. Crawford fand bei ihnen einen Messias glauben.
Einst stand an ihrer und der befreundeten Stämmen Spitze
ein mächtiger Prophet, der plötzlich im Lande erschienen war,
dessen nebelhafte Gestalt alte Indianer auf der Spitze der
Mesa Totumbla umherwandeln gesehen haben wollen. Er
liegt in einer tiefen Höhle dieser Mesa begraben, kehrt daraus
zurück und zeigt durch Geberden den Indianern an, daß er
eines Tages eine große Armee sammeln wird, die er zum
Siege führen will. Crawford fand die bezeichnete Höhle
und darin drei Skelette, sowie einige rohe Perlen ans vor-
spanischer Zeit (Nature).
— Die ehemalige Land Verbindung zwischen
Amerika und Europa war das Thema eines Vortrages,
den E. Blanchard in der Pariser Akademie der Wissen-
schaften hielt, in welchem er durch zahlreiche Thatsachen der
Tier- und Pflanzengeographie das ehemalige Vorhandensein
einer Landverbindung zwischen Nordeuropa und Amerika
nachzuweisen sucht. Die Orkneys, Färöer, Island, Grön-
land u. s. w. sind nach ihm als Reste der Brücke anzusehen,
welche die beiden Kontinente einst verband. Der botanische
Nachweis stützt sich auf eine vollständige Liste jener Pflanzen,
die das nördliche Europa und das nördliche Amerika gemein-
sam besitzen, zusammengestellt von dem Botaniker O. Franchet.
Bezüglich der Fauna wird namentlich hingewiesen auf
die zahlreichen Käferarten, welche der Norden beider Welt-
teile gemeinsam beherbergt, dann auf die Schmetterlinge
(Vanessa antiopa, Y. polychloros, Y. urticae, Y. Ata-
lanta, Argynnis Freya, A. Frigga) sowie, als besonders
beweisend, auf die gemeinsamen Spinnen. Ferner führt
Blanchard als Zeugen seiner Ansicht den Edel- und Stein-
marder, das Hermelin, den Biber, den Lemming und das
Renntier an. Als Süßwasserfische, welche beiden Faunen
gemeinsam sind, bezeichnet er Perca fluvescens (Spielart
von P. fluviatilis), den Hecht und Cottus gobia. (Mitt.
Wiener Geogr. Ges. 1891, 408.)
Mit diesen Ausführungen stellt sich Blanchard auf die
Seite jener Geologen, welche bereits früher das Vorhanden-
sein einer Landbrücke zur Miocen- und Pliocenepoche zwischen
Europa und Amerika nachzuweisen gesucht haben, so Jukcs
Browne (Tbe building of the british Isles 1888) und
Spencer (Geolog. Mag. 1890, 208).
— Der Geschmack außereuropäischer Völker ist
uicht mit unsrem Maßstabe zu beinessen und dieses hat zu
seinem eigenen Schaden mancher Kaufmann erfahren müssen,
welcher europäische Waren ausführte und dieselben nicht ab-
setzen konnte. Es ist aber uicht der bloße Geschmack allein,
der hier in Betracht kommt, oft spielen der Aberglaube und
religiöse Vorurteile eine Rolle, die berücksichtigt werden müssen.
So macht Professor Schlegel darauf aufmerksam, daß bei
den Chinesen die verschiedenen Farben eine große Rolle
spielen, daß manche bei ihnen glückbringend sind, andre aber
Unglück bedeuten, daß also europäische Waren mit Unglücks-
farben niemals auf Absatz in China rechnen können. Eine
Ware in braunes Papier verpackt, wird anstandlos bei uns
genommen, in China aber zurückgewiesen, weil Braun zu den
Unglücksfarben gehört. Europäische Nadeln, die weit besser
als die chinesischen sind, werden dort aber nicht gekauft, weil
sie meist in schwarzem Papier verpackt sind und Schwarz auch
eine Unglücksfarbe ist. Eine unternehmende europäische
Firma hatte jahrelang Japan mit Kalendern versehen, die
guten Absatz fanden. Um die Sache recht schön zu machen,
druckte dieselbe den Kalender einmal auf grünes Papier —
und uicht einer wurde verkauft.
— Der Vulkan Poas in Costarica, 30k,n nord-
westlich von der Hauptstadt Santiago gelegen, ist im ver-
flossenen Jahre von Dr. Pittier erforscht worden. Er fand
denselben aus verschiedenen Erhebungen bestehend, deren jede
einen eigenen Krater gebildet hatte. Von den drei heutigen
Kratern liegt der älteste in 2560 m Höhe noch 76 m unter
dem Gipfel; er ist jetzt mit Wasser gefüllt von -s-150C.
und hat einen Durchmesser von 450 m. Das Wasser hat an
der Nordwestecke des Kraters seinen Abfluß zum Rio Angel.
Der zweite Krater ist fast ganz bei der Bildung des dritten
zerstört worden, welch letzterer der gegenwärtig thätige ist.
Dieser Krater ist sehr tief mit fast senkrechten Abfällen, aus-
genommen an zwei Stellen, wo der Abstieg unternommen
werden kann. Auch am Boden dieses Kraters liegt in
2277 m Höhe ein kleiner See vou 76 m Durchmesser mit
heißem Wasser, dessen nördliches Ufer in Zwischenräumen
mit heftigen Wogen aufbraust uud heiße Dämpfe ausstößt,
die einige hundert Meter hoch steigen.
Herausgeber: Dr. R. And ree in Heidelberg, Leopoldstraße 27.
Druck von Friedrich View eg und Sohn in Braunschweig.
Bd. LX
B ra uns chw eig.
Jährlich 2 Bände in 24 Nummern. Durch alle Buchhandlungen und Postanstalten
zum Preise von 12 Mark sür den Band zu beziehen.
1891.
Die westindische
Reiseerinnerungen von Dr. med.
Seit der Aufhebung der Sklaverei und der Entwertung
des Rohrzuckers sind die kleinen Antillen in ihrer wirt-
schaftlichen Bedeutung und ihrem Wohlstände sehr zurück-
gegangen, manche Insel kann man ohne Übertreibung geradezu
verkommen nennen. Eine rühmliche Ausnahme macht Bar-
bados, und es ist deshalb von Interesse, die natürlichen
und wirtschaftlichen Verhältnisse dieser Insel einer Betrach-
tung zu unterziehen.
Barbados ist von Norden nach Süden fast W/z deutsche
Meilen lang und von Osten nach Westen etwas über drei
Meilen breit; der größte Teil der Insel ist nicht über
100 m hoch, nur im Nordosten erreichen einige Punkte fast
400 m Höhe. Nähert man sich der im Südwesten ge-
legenen Hauptstadt Bridgetown von der See her, so sieht
man am User Fabrikschornsteine, Lagerhäuser und kleine,
gelbe oder graue Wohnhäuser mit lattenumzäuntem Hof
oder Garten. Weiter landeinwärts stehen große, mehr-
stöckige Gebäude mit schwarz- oder rotgefärbten Dächern.
Dazwischen ragen einige Kirchtürme ans, der eine spitz, der
andre zinnengekrönt nach englischer Art. Alle diese Ge-
bäude erscheinen von zahlreichen, dichtbelaubten Bäumen und
Palmen umgeben. Der Hintergrund der Stadt ist ansteigen-
des Hügelland: Alles grüne Felder, dazwischen Häuser- und
Baumgruppen und einzelne Windmühlen. Stellenweise
fällt das Hügelland mit einer steilen weißen Wand ab
gegen das flache Vorland, ans welchem die Stadt erbaut ist.
Ferner findet sich etwas Vorland an der Südostküste, wo
sich vor dem steilen Userabhange des Kalkgesteins ein schmaler,
sandiger Streifen hinzieht, der in Buchten Anfänge von
Dünenbildnng ausweist. Ein vorliegendes Korallenriff
mildert die Brandung, und da es außerdem die Haifische
abhält, so hat man in dieser Gegend ein Seebad angelegt
(Eranc-Hotel). Auch im Nordosten ist etwas Vorland, meist
aber bespült die See den Fuß des Steilufers.
Die Stadt Bridgetown hat nur wenige Straßen mit
zweistöckigen Steinhäusern, das sind die Straßen, in denen
die Weißen ihre Geschäfts- und Verkaufslokale haben. Hier
sind einige recht gute Restaurationen, in Westindien meist
Glnlni? LX. Nr. 18.
Insel Barbados.
, Ernst H. £. Arause in Xitel.
„Eishäuser" genannt, weil alle Getränke auf Eis gekühlt
oder mit Eis gemischt sind. Ihre Wohnhäuser haben die
Weißen in einigen Vorstadtgegcndcn oder auch weiter land-
einwärts im Hügellande. In der östlichen Vorstadt, Hastings
mit Namen, liegt die Garnison, weiße und schwarze Truppen-
teile. Die ziemlich kleinen Detachements bewohnen ein ver-
hältnismäßig ausgedehntes Areal, denn der englische Berufs-
soldat hat oft Familie, und kann daher nicht so kaserniert
werden, wie deutsche Mannschaft. In der Nähe von
Hastings, schon an der Südküste der Insel, liegt das Marine-
Hotel, eine angenehme Sommerfrische. Pferdebahn geht
von der Mitte der Stadt nach drei Richtungen so weit, wie
sich zusammenhängende Straßen erstrecken.
Den größten Teil der Bevölkerung in Stadt und Land
machen die Neger ans. Sie wohnen in äußerst bescheidenen
Häuschen. Einige niedrige, aus unbehauenen Steinen er-
richtete Grundpfeiler tragen eine Bretterbude, deren Länge
und Tiefe etwa 5 m, die Höhe etwas weniger beträgt. Das
abgeschrägte Dach ist mit Schindeln gedeckt. Meist sind
außer der Thür ein oder zwei Fenster vorhanden, welche
durch hölzerne Läden oder Jalousien geschlossen werden.
Aus solchen Bauwerken bestehen alle Nebenstraßen Bridge-
towns. Nur selten sind diese Häuschen mit Grund und Boden
fest verbunden, dann wird die Diele aus Kalksteinen gebildet.
Die Bevölkerung der Insel ist dicht, fast übermäßig
dicht, darauf beruht ihre Kultur. Der Neger muß nicht
nur Bretter und Schindeln zum Bau seiner Hütte, sowie
Kleidung erwerben, er muß auch die wenigen Lebensmittel,
deren er bedarf, durch Viehzucht oder Gartenbau gewinnen
und durch Lohnarbeit die Mittel zum Pachten des nötigen
Landes verdienen. Ödtändereien, deren Naturprodukte der
Neger verwerten kann, giebt cs auf Barbados nicht. In-
folge des Arbeitsbedürfnisses und der Dichtigkeit der Bevöl-
kerung sind die Löhne niedrig, so daß die Schwarzen nicht
nur gelegentlich, sondern regelmäßig (wenn auch nicht täglich)
arbeiten müßen.
Barbados hat seine Bedeutung hauptsächlich als Handels-
platz. Alle Segelschiffe — meist norwegischer Nationalität —,
35
274
Dr. nied. Ernst H. L. Krause: Die westindische Insel Barbados.
welche von Westindien Fracht suchen, erwarten Angebote
auf der Rhede von Bridgetown. Die Lage von Barbados
im Osten der Antillenreihe macht es möglich, bei dem herr-
schenden Passatwinde von hier aus jede andre Insel zu
erreichen. Außerdem hat die Regierung durch Einführung
billiger Hafengebühren und Zollsätze zur Hebung des Ver-
kehrs wesentlich beigetragen. Früher war St. Thomas der
Zentralpnnkt aller Schiffahrt zwischen den westindischen
Inseln, jetzt hat der Segelschiffsverkehr sich ganz nach Bar-
bados gewandt.
Neben dem Handel blüht aus Barbados der Landbau.
Die Benutzung des Bodens ist verschieden in den beiden
Landschaften der Insel, dem niedrigen Lande des Südens
und Westens und dem hohen Lande im Norchosten.
Der südliche Teil und der Westrand bilden das Unter-
land der Insel. Es ist im allgemeinen eben, etwa 40 rn
hoch, einige Hügel erheben sich bis 80 m und mehr. Der
Boden besteht aus Korallenkalk, welcher an der Oberfläche
zu fruchtbarer Ackererde verwittert ist. Stellenweise wird
die Ackerkrume künstlich erzeugt, indem man Löcher in den
Kalk schlügt, diese mit Dung und Erde füllt und da hinein
das Zuckerrohr Pflanzt. Der Kalkboden ist überall sehr
durchlässig für Wasser. Die Wasserläufe sind tief cingc-
schnitten, ihre steilen, zerklüfteten Abhänge sind oft 20 m und
mehr hoch. Es giebt aber auch einige stehende Tümpel, deren
Seerosenvegetation anzeigt, daß sie dauernd Wasser führen.
Ein Teil des in den Kalk einsickernden Wassers kommt
erst im Meere wieder zum Vorschein. Beträchtliche Süß-
wasserguellen sind in einer Bucht westlich von Bridgetown.
Diese Bucht wird von den Eingebornen zur Zeugwäsche
benutzt.
In denl Gebiete des Unterlandes führt der Weg nur
selten längere Zeit durch häuserlose Strecken, überall trifft
man größere und kleinere Gruppen von Hütten der schwarzen
Arbeiter. Auch die Guts- oder Pachthöfe liegen nicht gar
weit voneinander — bei weitem nicht so zerstreut wie etwa
in Mecklenburg. Diese Gehöfte sind meist von Mauern
umgeben; neben einigen weißen Steinhäusern erhebt sich
regelmäßig ein hoher Schornstein und eine Windmühle.
Hier und da trägt eine Kirche zur Belebung des Landschafts-
bildes bei. Die Fahrstraßen sind durchweg gut; eine Eisen-
bahn führt durch das Unterland von Bridgetown nach der
Ostküste.
Das Haupterzeugnis des Bodens ist Zuckerrohr. Die
Ernte füllt in den Dezember und Januar. Die Verarbeitung
des Rohres ist eine sehr primitive. Die Windmühle preßt
den Saft aus, dieser wird dann in großen Pfannen ans-
gesotten. Als Feuerungsmaterial dient das ausgepreßte
Rohr der vorigen Kampagne, welches neben jedem Hof in
großen Diemen aufgeschichtet liegt. Der ungereinigte Zucker
wird nach den Vereinigten Staaten verschifft.
Von Getreidearten wird Mais („indian corn“) für
den Bedarf der Bevölkerung gebaut.
Wichtiger sind die Knollengewächse, von denen in erster
Linie die Batate zu erwähnen ist. Es werden weiß- und
rotblühende, breit- und schmalblätterige Rassen gezogen.
Meist werden diese Knollen im Überschuß gewonnen und
dann nach Demarara und Trinidad ausgeführt. Neben
der Batate wird auch die Jgname („yams“) kultiviert.
Die Knollen dieser Jridacee sind außerordentlich haltbar,
bleiben bei einigermaßen sachgemäßer Aufbewahrung ein
ganzes Jahr gut. Gekocht, schmecken sie wie trockene und sehr-
mehlige Kartoffeln und werden von den Europäern meist
den süßen Bataten vorgezogen. Es werden drei voneinander
beträchtlich verschiedene Jgnamenrassen auf Barbados gebaut,
Pflanzzeit ist für alle der Oktober, Erntezeit Januar. Sehr-
interessant war mir, zu hören, daß sich die Neger beim
Pflanzen und Ernten dieser Knollen nach dem Stande der
Plejaden richten. Wenn das Sternbild nach zeitwciliger
Unsichtbarkeit wieder am Abendhimmel erscheint, ist cs Zeit,
die Jgname zu pflanzen, wenn es seinen höchsten Stand er-
reicht hat, sind die Knollen reif. — Der Plejadenaufgang
war den alten Römern das Zeichen zum Säen des Winter-
korns. — Außer den beiden genannten wird als Knollen-
gewächs noch Ealocasia („addar“) öfter angebaut. Selten
ist dagegen Maniok („cassawa“), die unedelste, aber ver-
breitetste der tropischen Hackfrüchte.
An Hülsenfrüchten ist in erster Linie die Straucherbse
(pigeon pea — cajanus) zu erwähnen, sie stammt aus
Ostindien. Ferner werden ziemlich viel Bohnen gebaut, und
zwar zwei Arten, ein unsrer Krupbohne ähnlicher, weiß-
blühender Phaseolus („bean“) und Lablab („bonavis“).
Bei allen drei Hülsenfruchtarten bemerkte ich im Dezember
und Januar viele reife Früchte neben Blüten. Die Hülsen-
früchte umgeben oft saumartig die Zuckerrohrfelder, oder sie
wachsen mit den großen Gräsern (Mais und Panicum máxi-
mum) durcheinander. Außer den zum Gebrauch des Men-
schen bestimmten Kulturpflanzen wird Viehfutter seldcrwcise
gebaut. Paspalum conjugatum („sour grass“) ist ein halb-
meterhohes Gras, welches einen etwas lückenhaften Rasen
bildet. Große Strecken sind damit bewachsen. Sie werden
gemäht und danach als Triften benutzt. Oft sind auch die
Wegränder des Ackerlandes mit diesem Grase besät. Ein
zweites Fnttergras ist Panicum máximum („corumeet“),
eine hohe, stark verzweigte Pflanze mit breiten Blättern und
großen Früchten. Man baut es wie Mais mit dem Erbsen-
strauch durcheinander auf demselben Felde.
Damit sind die Feldfrüchte aufgezählt. Mancher wird
die Baumwolle vermissen, heißt doch die amerikanische Baum-
wollpslanze in der Wissenschaft Go88ypium barbadense!
Dieser Strauch ist hier in früheren Zeiten massenhaft
kultiviert, am meisten blühte dieser Zweig der Landwirt-
schaft zur Zeit des nordamerikanischen Bürgerkrieges. Jetzt
sieht man nur ganz vereinzelte Sträucher in Gürten. Von
wildwachsender Baumwolle ist keine Spur zu bemerken.
Angenehme Abwechslung bringen in die Landschaft
größere Gruppen oder kleine Wälder von Mahagonibäumen,
welche hin und wieder in der Nähe der Höfe gepflanzt sind.
Manchmal führt eine Allee von Kohlpalmcn zu einem Hofe,
dann und wann trifft man einzelne Brotfrucht- und
Melonenbäume und Gruppen von Bananenbüschen.
Die Reste ursprünglichen Pflanzcnwuchses sind ganz
unbedeutend und nicht anders als durch vergleichend-geo-
graphische und historische Untersuchungen von den Resten
ehemaliger Kulturen und von eingeschleppten Unkräutern zu
unterscheiden.
Die Düne an der Südostküste ist mit Kokospalmen be-
wachsen, zwischen deren schlanken Stämmen Coccoloba uvi-
fera („sea grap“) dichtes Gesträuch bildet. Einige kleine
Sträucher aus der Familie der Rubiaceen wachsen dazwischen.
Auf dem Sandstreifen, den die Palmen am Meere frei-
lassen, treibt eine windenartige Pflanze ihre langen Aus-
läufer, dazwischen gedeihen niedrige Wolfsmilch- und Phyl-
lanthusarten, der gemeine Portulak und kleine, teppigartig
wachsende Korbblütler. Stellenweis breitet sich ein Rasen
von Gräsern und Seggen aus. Zwischen diesen niedrigen
Gewächsen erhebt 6alotropi8 proeera ihre weißlichen, dicht-
belaubten Zweige. Diese Pflanze ist afrikanischen Ursprungs,
bekannt unter dem Namen 08cbui-, sie ist vor Zeiten zur
Gewinnung von Baumwolle zum Anbau empfohlen. Ob
in Westindien solche Versuche gemacht sind, weiß ich nicht
zu sagen.
Am Userabhange, in den Klüften des Kalkes, fristen
struppige Sträucher der Bignonia Leucoxylon („white
Dr. med. Ernst H. L. Krause: Die westindische Insel Barbados.
275
cedar“) ihr kümmerliches Dasein. Die immergrünen
Blätter ähneln denen der Orange, die weißen Blumen denen
des Fingerhntcs. Zwischen diesen stehen, ebenfalls ver-
kümmert, Sträucher der erwähnten Coccoloba mit großen,
runden, dunkelgrünen, rotgcaderten Blättern. Dazwischen
ranken einige Winden. Diese Formation kann man für
den Rest des Waldes ansehen, der ehemals Barbados Küsten
bedeckte und der Insel den Namen der bärtigen eintrug
(die Romanen nennen sie Barbada). Oben, am Rande
des hohen Ufers trägt die Flora einen ruderalen Charakter:
da wächst ein Feigcnkaktus, einige heilkräftige Sträucher aus
der Wolfsmilchfamilic (Phyllanthus epiphyllanthus und
Croton flocculosus) n. a. m., sämtlich amerikanische Arten
zwar, aber wahrscheinlich nicht alle auf Barbados inländisch.
Binnenlands findet man wildwachsende Pflanzen in
größerer Menge nur an den zerklüfteten Abhängen der
Wafferrisse. Dort finden sich allerlei Sträucher, Kräuter
und Farne, aber Bäume sind nur wenige dazwischen. Unter
diesen erreicht eine ansehnliche Größe nur der Seidenwoll-
baum („silkcottontree“'). An den Wegen wachsen zwischen
dem „Sourgrass“ eine Reihe meist weit verbreiteter Un-
kräuter, da ist Argemone mexicana, deren Blätter denen
der Mariendistel ähneln, während die gelbe Blume mohn-
artig erscheint, da ist eine Lobelie niit langen, weißen Blumen
(Icotoma), verschiedene Schmetterlingsblütler, Acantha-
cecn u. s. w. Die Seerosen der wenigen Tümpel erwähnte
ich schon.
Vom südlichen Teile der Insel aus erscheint der Gesichts-
kreis nach Norden eingeschränkt durch einen Höhenzug von
durchschnittlich 100 bis 150 in Meereshöhe. Die Insulaner
nennen ihn die Voralpcn („forealpes“). Er bildet die
Südgrenze des gebirgigen Nordostcns von Barbados, welche
Gegend auf der Insel als „Scotland“ oder „the high-
land“ bezeichnet wird. Dies Gebiet erreicht indessen die
eigentliche Nordspitzc der Insel nicht, indem sich das niedrigere
Land der Westküste weiter nach Norden erstreckt als das
Bergland des Ostens. Das Hochland ist am höchsten an
seinem Westrande, so daß die Zugänge von dieser Seite
durch beträchtliche Steigung unbequem werden. Der Ver-
kehr aus diesem Bezirk geht zur Ostküste hinab, längs welcher
die erwähnte Eisenbahn bis zum Ansgang des nördlichsten
der Hanptthäler fortgeführt ist. Die durchschnittliche Höhe
der Hauptbergkette, welche sich nördlich von den „Voralpen“
von Ost nach West erstreckt und dann in der Mitte der
Insel nach Norden umbiegt, beträgt 350 m, der höchste
Punkt wird zu 1100 Fuß englisch angegeben. Der Boden
dieser Landschaft ist einem zähen Lehm vergleichbar, Regen-
güsse machen die Wege für Fuhrwerk ganz, für Fußgänger
fast unpassierbar. Unter dem Lehm treten stellenweise
raseneisen- und sandsteinähnlichc Gebilde und ein blaues,
weiches, tonigcs Gestein zu Tage. Die Formation gilt hier
für vulkanisch, was sic auch sein mag. Kalkschichten sind
jedenfalls auch vorhanden, denn es giebt Ccmcntsabrikcn,
und am Meere stehen Kalkklippen am Tage. Interessant
ist das Gebiet durch zweierlei Quellen. Leicht unbeträchtlich
an Zahl sind solche, welche grünen Theer („green tar“)
liefern. Eine grüne, petroleumartige Masse schwimmt auf
dem aus der Tiefe quellenden Wasser. Die Neger sckiöpfcn
dieses Produkt ab und genießen cs mit Wohlbehagen, weil
cs sehr heilkräftig sei. In vergangenen Zeiten hat man
dies Landcsprodukt durch Ausfuhr nach Rußland besser ver-
wertet. Die andre Art Quellen ist nur in Einzahl vor-
handen, es ist die sogenannte kochende Quelle („holling
spring“) im Turncrshallwalde. Hier steigen in einer
Pfütze von der Größe einer gewöhnlichen Wasserschüsscl fort-
während große Blasen eines brennbaren, übelriechenden
Kohlcnwasserstoffgases auf. Die anwohnenden Neger sind
bei Ankunft von Weißen gleich bei der Hand, das aufsteigende
Gas über einem umgedrehten Trichter in Brand zu setzen
und dafür Trinkgelder einzusammeln.
Aus den Feldern wird im Hochland das Zuckerrohr
nicht so häufig angetroffen wie im Unterland. Mais ist
etwas häufiger. Auf einigen Feldern sah ich zwischen den
sehr weitläuftig stehenden, blühenden Maispflanzen frisch
gepflanzte Stecklinge des Zuckerrohres. Maniok ist eben-
falls etwas häufiger, und ein dem Unterland fehlendes
Knollengewächs kommt hinzu, nämlich die Pfeilwurz („arrow
root“ — Maranta indica). Bohnen sind häufig. An
Stelle des Paspalurn tritt als Futtcrgras vielfach das
„parrow grass“ der Insulaner. Ich habe weder Blüten
noch Früchte davon gesehen, halte es aber für Panicum
barbinode, das „paragrass“ der Nordamerikaner. Ein
andres Kulturgras, welches sich im Unterlande wohl in
Gärten, im Oberland aber auch auf Äckern findet, ist das
„cuscus“, welches seiner süßen Wurzelknollen wegen zum
Export nach den Vereinigten Staaten gebaut wird. Ich
habe es bisher nicht bestimmen können. Einzeln sieht man
auch Kürbisse auf den Feldern.
Die Bodennutzung ist im Hochland nicht so intensiv wie
im Unterland. Die Wegränder werden zur Grasgewinnung
kaum herangezogen. Hier wächst überall der Guavcstranch.
Es ist dies eine Myrtacee, deren Früchte in der Form
Birnen und Äpfeln gleichen, über den Geschmack sind die
Ansichten sehr verschieden. Man gewinnt ein Gelee daraus,
das dem Vogelbeergelee nicht unähnlich schmeckt. Unter den
Kräutern der Wegränder sind altweltliche, auch der ge-
mäßigten Zone entstammende Arten vertreten, z. B. ein
Senf und der große Wegerich („cnglish plantain“). Man
zeigte mir im Hochland auch eine wüste Stätte, die einzige
auf der ganzen Insel; Gras und Guavegestrüpp bedeckte die
verlassenen Felder. Auch einen Wald giebt cs dort noch,
er bedeckt ein schmales Thal in der Nähe des Hofes Turners-
hall, in ihm ist die erwähnte Snmpfgasquelle. Der Wald
besteht aus sehr verschiedenartigen Bäumen, die Stämme
sind meist schlank, dünner als man erwarten sollte. Die
häufigste Baumart bezeichnen die Eingcborncn als „spanish
oak“, sie ist durch hohen Wuchs und dunkelgrüne, unpaarig
gefiederte Blätter ausgezeichnet. Ihrer Früchte wegen inter-
essant sind der „sandbox tree“ (Hura crepitans) und
„jack in the box“ (Hernandia sonora), beide haben
Blätter von der Form derer der Linde. Hura gehört in
die Wolfsmilchfamilic, die Früchte bestehen aus 12 bis 18
um eine Mittelsäule angeordneten Fächern, welche je einen
Samen enthalten. Bei der Reife springen die Fächer mit
lautem Krachen auseinander und schleudern ihre Bruchstücke
nebst den Samen fast 10 in weit. Hernandia ist den Lorbeer-
gewächsen verwandt, ihre knapp haselnußgroße, gerippte
Frucht steht frei im Grunde eines kugelig aufgeblasenen, leb-
haft gelb gefärbten Kelches. Ein kleiner schlanker Baum
mit äußerst scharf gesägten langen Blättern wird als
„poison-tree“ gefürchtet, aus seiner Rinde fließt schon nach
oberflächlichem Ritzen eine reichliche Menge Milchsaft ans.
Bemerkenswert ist, daß viele Baumarten eine stachelige
Rinde haben. Die Palmen erreichen im allgemeinen nicht
die Höhe der Laubhölzer, die Kohlpalme ist die größte unter
ihnen. Eine kleinere Art zeichnet sich durch lange, dünne,
aber sehr kräftige Stacheln des Stammes und der Blatt-
nerven aus. Lianen habe ich in diesem Walde nicht ge-
sehen, nur einige Farnkräuter klettern nach Ephcuart an den
Baumstämmen. Öfter sind die Zweige mit Orchideen be-
setzt. Sträucher, vorwiegend Rubiaceen'und Acanthacecn,
bilden ein lichtes Unterholz, welches nur am Rande des
Bestandes durch Hinzutritt von Guaven und den rankenden
Abrus precatorius dichter wird. Abrus ist ein ursprüng-
35*
276
Dr. A. Sauer: Das Delta des Nil.
lich altweltliches Gewächs mit Wickenblüten, seine fast
erbsengroßen Samen sind rot mit einem schwarzen Fleck
und werden im Ausland wie in Europa zum Verzieren von
allerlei Nippessachen gebraucht. Den Boden des Waldes
bedecken Kräuter, Gräser und Farne, unter welch letzteren
Gymnogramme calomelanos („silverfarn“) durch ihre
silberweißen Sporenhaufen bemerkenswert ist.
Nachdem Feld und Wald der Insel geschildert sind,
bleibt noch einiges über die Gärten zu bemerken. Bei den
Häusern der kleinen Leute sieht man Mango, Brotfrucht,
Mammei (Lucuroa), Kaschu, Granatapfel, Limonen und
Sternapfelbäume, ferner Papai, Bananen, Ricinus und
Agaven. Aus dem Bast der letzteren werden Gewebe ge-
fertigt. Die Kokospalme ist auf das sandige Meeresgestade
beschränkt. In den großen, oft parkartigen Gärten der
Europäer sieht man Palmen, Mahagoni-, Weißceder-,
Tamarinden-, Baniancn-, Sandbüchscn-, Bayrum- und
viele andre Bäume, ferner Teooina stans, Braya Ebenus
(„brown ebony“), Persea gratissima („alligator pear“),
Tamarisken, Casuarinen, Kalebassenbäume (Crescentia),
den Flamboyant, Plumeria [„frangipan“] *), Melia,
Croton in zahllosen Formen, Hibiscus, Rosen u. s. w.
Unter den Banmfrüchten giebt cs „eberries", „apples",
„goosberries" u. dgl., aber es sind ganz andre Arten, als
die, welche in England mit diesen Namen bezeichnet werden.
An Gemüsen sind noch zu erwähnen: Okra (Hibiscus
esculentus), Kohl und Mohrrüben.
Der Baumwuchs ist selbst an der Westküste von dem
herrschenden Passatwinde beeinflußt, alle Baumkronen haben
eine größere westliche und eine kleinere östliche Hälfte.
Die Tierwelt ist, den Anbauverhältnissen entsprechend,
vorwiegend durch Haustiere repräsentiert: Schwarze
Schweine, Puter, Hühner, Perlhühner und Tauben treiben
sich bei den Hütten herum; hier und da trifft man einzelne
Kühe grasen; Pferde, Maultiere und Ochsen weiden in
kleinen Herden auf den Grasseldern. An wilden Säugetieren
giebt es einige Affen, welche den Kulturen manchmal argen
Schaden thun und deshalb verfolgt werden. Sie sind
jedenfalls hier nicht inländisch, sondern nur verwildert.
Unter den Vögeln ist sehr häufig der Am, ein ganz schwarzes,
unserm Kuckuck entfernt verwandtes Tier von der Größe
einer Elster. Kolibris kommen nicht häufig vor. Unter
den Amphibien ist ein kleiner Frosch bemerkenswert. Man
sieht ihn tagsüber zuweilen am Wege, aber wie übermäßig
häufig er ist, bemerkt man erst nach Eintritt der Dunkelheit.
Dann ertönt die ganze Insel von seinem Lärmen, welches
indes von, dem Gequak und Geschnatter der europäischen
Arten gänzlich verschieden ist und vielmehr dem Gezirp der
Grillen gleicht. Diese Froschart ist nach Erzählung der
Insulaner erst vor etwas mehr als zehn Jahren auf Bar-
bados eingeschleppt. Echt amphibisch leben hier wie in allen
heißen Ländern einige Vertreter der Krustentiere. Zahl-
reiche Krabben (Taschenkrebse) treiben nicht nur am Strande
O Auf andern Inseln „Pansipan“.
ihr Wesen, sondern leben massenweise in Erdlöchern oben
auf dem hohen Ufer.
Insekten giebt es nicht wenige auf der Insel, Fliegen
fallen manchmal lästig, Stechmücken sind dagegen selten.
Libellen sah ich viel, Schmetterlinge nur einzeln fliegen.
Erwähne ich nun noch das ziemlich häufige Vorkommen von
asselartigen Tausendfüßern, so ist von der Tierwelt des
Landes alles berichtet, was dem Nichtzoologen ausfällt.
Von größerer Wichtigkeit für die Insulaner und von
größerer Mannigfaltigkeit ist die Tierwelt des Wassers.
Die Rhede von Bridgetown wimmelt von kleinsten
Fischlcin, sic haben die Farbe des Meeres und werden von
Unaufmerksamen gar nicht gesehen. Nahe der Wasser-
oberfläche treiben sich Hornhechte umher, schlanke, grüngraue
Tiere mit hellblauen Flossen und rötlicher, schnabelförmiger
Schnauze. Diese Raubfische fahren oft mit geöffnetem
Rachen zwischen die kleinen; sie schnappen auch mit großem
Geschick nach allerlei Schiffsabfällen, die auf dem Wasser-
treiben. Häufiger als die Hornhechte sind mehrere Arten
aus der Makrelenfamilie. Sie gleichen in der Größe einem
guten Brachsen und sind höher und kürzer von Gestalt als
die eigentlichen Makrelen, mehr der Gattung Lampris sich
nähernd. Einige von ihnen sind blau und grün, schillernd,
zum Teil gestreift, haben blaue oder braune Flossen, häufig
ist eine braune Art mit grünem Schwanz. Diese Makrelcn-
fische zeigen sich meist in kleinen Schwärmen von 6 bis 12,
schwimmen sehr behend, viel schneller als die Hornhechte,
und springen oft ans dem Wasser. Wie es scheint, fahren
sie auf kleine Beutefische von nuten her los mit solcher Ge-
walt, daß sic über die Wasseroberfläche hinausschießen. Sie
gehen auch an treibende Abfälle und an die Angel. Abends
schwimmen große, dunkelbraune Rochen mit fast unglaub-
licher Geschwindigkeit an der Meeresoberfläche umher.
Fischerei wird von der Insel aus eifrig betrieben. Zu
Markt gebracht werden in größter Menge Flugfische. Die
Tiere werden von den heimkehrenden Fischern am Strande
ausgenommen und entgrätet und kommen so vorbereitet auf
den Markt. Neben den Flugfischen werden Makrelen von
mehr als Meterlänge („kingfisb“) ausgeboten. Lediglich
von den Farbigen gegessen wird eine große Seeschnecke, die
zerschlagenen Schalen findet man oft auf der Insel.
Zahlreiche schön präparierte Scetiere findet man in dem
Museum eines Kuriositätenhändlers bei Bridgetown. Leider
ist das Institut ohne jede wissenschaftliche Beihülfe ein-
gerichtet, und von vielen Präparaten wird sich die Herkunft
kaum feststellen lassen. Des Besitzers Stolz ist, elf
„specimens“ zu besitzen, die dem Britishmuseum in London
fehlen. Etiquettiert sind von der ganzen Sammlung nur
zwei Prachtexemplare von Pentacrinus Mülleri Oested,
welche in 60 Faden Tiefe bei Barbados gefischt wurden.
Auch das Pflanzenleben ist tut Meere ein üppiges. Ane
Ufer sind die Kalkklippcn mit grünen Algen dicht be-
wachsen, und massenhaft angetriebene rotbraune Tange be-
zeugen, daß auch in einiger Tiefe noch reichliche Vegetation
vorhanden ist.
Das Delta des Nil.
Von Dr. A. Sauer.
Daß es bisher nicht gelang, ein durchaus befriedigendes
Gesamtbild vom Aufbau und der Bildungsweise des Nil-
delta zu entwerfen, so oft dasselbe auch von den Zeiten
Hcrodots bis auf unsre Tage Gegenstand wissenschaftlicher
Untersuchung war, lag wohl in der Hauptsache mit daran,
daß man einseitig allzu großes Gewicht auf die rein topo-
graphischen Verhältnisse des Gebietes legte, die geologischen
aber kaum gebührend berücksichtigte. Geologische Beob-
achtungen im Nildelta verdanken wir wesentlich der Neuzeit;
die aüerncucsten verdanken wir Dr. Johann Jank6, der
Dr. A. Sauer: Das Delta des Nil.
277
die in geologischer Hinsicht noch sehr wenig bekannte nörd-
liche Userlinie bereiste. Die Ergebnisse seiner Arbeitx) sind
reich an Einzelheiten und enthalten viele kritische Betrach-
tungen über ältere Angaben bczw. Lage und Ausdehnung
des Deltas, Verlauf der Arme, Ausdehnung der Seen u. s. w.
Gleich hinsichtlich der Ausdehnung und Umgrenzung des Del-
tas gingen die Ansichten sehr auseinander; die Einen nennen
. Delta ausschließlich den zwischen den beiden Hauptarmen ge-
legenen Teil der Niederung, die Andern das Gesamtgebiet des
in Kultur befindlichen Landes, Dritte das Gebiet der sluvia-
tilen Ablagerungen. Mit keiner dieser Bezeichnungen ist aber
das Gebiet richtig umgrenzt. Wie der Araber sagt, wenn
der Nil steigt, das Wasser reiche von einem Berge zum
andren, so läßt sich auch in Übereinstimmung mit seiner-
geologischen Anlage das Deltagebiet als dasjenige aller der
am unteren Nil gegen Ost, Süd und West durch älteres
Tertiär abgegrenzten Qu artärabla gerungen bezeichnen.
So sind auch die Angaben über die Länge der Deltarändcr
Maßstab 1 '• 200.000 ?--J,... ■-i_^____%' Kilonveter
recht schwankend. Für die geradlinige Grenze gegen Norden
berechnet Ianko 285 km, gegen Westen 185 km, gegen Osten
174 km Länge, während die thatsächliche Länge etwa 380,
bezw. 260, bczw. 230 km beträgt. Das ganze Delta-
gebiet gliedert er in die Spitzenrcgion von Gizch bis zum
gegenwärtigen Teilungspunkt des Nil, bis Batn el Bakara,
in die Region des Kanalnetzcs, die Secnrcgion (mit den
i) Das Delta des Nil. Geologischer und geographischer
Aufbau. Mitteilungen aus dem Jahrbuch der Königl. unga-
rischen geologischen Anstalt, Bd. VIII. Budapest 1890.
Seen Mariut, Abukir, Edku, Burlus und Menzaleh) und die
Müudungsregion. Es ist sehr wahrscheinlich, daß die älteste
Südspitze des Deltas, d. h. der Punkt, wo in allerfrühestcr
Zeit sich die Gabelung vollzog, nicht noch oberhalb Gizch
zu suchen ist, wo das Bett auffällig eng und gleichförmig
wird. Unter dem Memphis, wohin die Alten die erste
Gabelung verlegten, wäre demnach Gizch zu verstehen.
Eine genaue vergleichende Betrachtung aller Niveauvcr-
hältnisse im Delta läßt erkennen, daß dasselbe als Ganzes
sich schwach nach Westen hin senkt. Demzufolge wurde
278
Dr. Hernrrch v. Wlislocki: Handarbeiten der ungarischen Zeltzigeuncr.
dasselbe auch hauptsächlich von Ost nach West fortschreitend
ausgefüllt und die frühesten Alluvionen des Nil dürften im
östlichen Teile zu suchen sein; diese reichen ostnordöstlich bis
an das Dschcncsf-Gebirge heran. Bekanntermaßen wird auch
der Isthmus in seiner ganzen Breite, wo ihn der Kanal durch-
schneidet, ans Alluvial- und Ouartärablagerungen gebildet
und zwar sind es in der Mitte fluviatile Süßwasserschichten,
welche gegen Süd in die marinen Ablagerungen des Noten
Meeres, gegen Nord in die des Mittelländischen Meeres
übergehen. Diese Anordnung erklärt sich am ungezwungensten
mit der Annahme, daß in frühester Zeit der Nil in der
Mitte des jetzigen Isthmus das Meer erreichte und mit
seiner großen Menge süßen Wassers die seichte Meerenge
derart erfüllte, um eine Scheide zwischen beiden Meeren
und deren Faunen bilden zu können. Das gesamte Gebiet
des heutigen Delta stellte ehedem einen Meerbusen, ein
sogenanntes negatives Delta dar, welches im Norden durch
zwei ziemlich übereinstimmende Richtungen verfolgende Insel-
reihen gegen das offene Meer abgegrenzt wurde, den Zug
Abuschir-Abukir und Rosette - Damiette. Der Kern der
Uferstreifen besteht aitg einem zoogcnen, brecciöscn, sandigen
Kalkstein, der zum Teil von Düncnsanden verhüllt ist. Die
von Westen kommende Meeresströmung gelangte bei Abnkir
in das ruhige Wasser des Busens, lenkte die von Süd ein-
strömenden Nilwässer gegen Ost ab und bewirkte, daß die
Sedimentation sich vorwiegend in den östlichen Teilen des
Meerbusens zuerst vollzog. Die Verschlammung der Land-
enge von Suez ging nach den gleichen Gesetzen vor sich, die
noch heute die Entwickelung der Arme und Mündungen im
Nildelta bestimmen. Darum lagerte sich der größte Teil
des Schlammes am südlichen oder rechten Ufer ab; neue
Überschwemmungen hoben die Ablagerungen höher und die
schließliche Verschlämmung der Urmündung bewirkte, daß
sich der Nil nach Norden wandte. Es entstand hiermit die
Pelusiummündung; im Laufe der Zeit wurde diese durch
westlicher gelegene ersetzt, erst durch den Damiette-, dann
durch den Rosettearm. Gegenwärtig fließt die Hauptmasse
des Wassers nach Nordwest, während zu Beginn der Delta-
aufschüttung die Richtung ostnordöstlich war.
Die auf die Kanalregion nach außen folgende Sccnzone
verdankt nicht, wie man mehrfach glaubte, ihre Entstehung
ausgedehnten Senkungen und Einbrüchen des Meeres.
Erstere konnte Iankó im Gebiete nicht nachweisen. Große
Strecken des Kulturlandes waren bei früherer starker Über-
völkerung eingedeicht; mit Aufhören der Kultur wurden
solche Gebiete wieder, was sie früher waren, Sümpfe und
Moräste. Bodensenkungen dürfen aber aus solchen Wand-
lungen nicht abgeleitet werden.
Und so sind die Seen am Nordrande des Deltas ledig-
lich als die durch Nilalluvium noch nicht verdrängten Über-
bleibsel des alten Meerbusens zu betrachten. Ini Großen
und Ganzen baut der Nil sein Delta noch nicht in das
Meer hinaus, noch bleibt die alte Userlinie nahezu unver-
ändert; nur bei Damiette und Rosette hat die Ablagerung
die Barrière überschritten und hier liefert der Nil für seine
landbildende Thätigkeit besonders interessante Belege, wo
die Neubildungen ziemlich rasch vorschreiten und wir zudem
in der Lage sind, durch vorhandene Kartenskizzen aus früheren
Jahrhunderten den Gang der Landbildung in seinen Fort-
schritten ziemlich genau zu verfolgen.
Ein schönes Beispiel hierfür liefern die verschiedenaltcrigcn
Aufnahmen der Rosettemündung. Die beistehenden Kärtchen
stellen dieselbe nacheinander dar: 1) aus dem Jahre 1687
(nach Razaud); 2) aus dem Jahre 1800 (nach der franzö-
sischen Aufnahme); 3) aus der ersten Hälfte dieses Jahr-
hunderts (nach Linant de Bellefonds); 4) aus der Gegen-
wart (nach der englischen Admiralität und eigenen Ausnahmen
Jankös).
Bandarbeiten der ungarischen Zeltzigeuner.
Von Dr. Heinrich v. Wlislocki.
In den folgenden Zeilen, die uns einen Einblick in das
geistige Leben der Zigeuner thun lassen, uns mit ihrer
Schaffenskraft und ihrem Kunstsinn bekannt machen, habe ich
zum größten Teil nur solche Handarbeiten aufgenommen, die
mit dem religiösen Brauch und Volksglauben der Zigeuner
mehr oder weniger zusammenhängen. Die Abbildungen sind
genau nach den Originalen, wenn auch verkleinert, gezeichnet
worden, sowie ich diese auf meinen häufigen „Zigeunerfahrten",
besonders im Laufe dieses Jahres in Süd- und Mittclungarn,
zu sehen Gelegenheit hatte.
Neben der Verfertigung von Backtrögen, Holzlöffeln, Besen,
Kesseln, Hufeisen und Nägeln u. s. w. verfertigen die Zigeuner
Südungarns zur Sommerszeit aus kleinen Kürbissen
Flaschen, die sie mit verschiedenen Zeichnungen versehen.
Fig. 1 stellt eine solche Flasche dar und zwar mit den
verbreitetsten Zeichnungen; im obersten Kreis bedeuten die
Kreuze — wie mir ein Zigeuner erklärte — „Sei du glück-
lich!" (Ae tu bagtales); in der zweiten Kreisfläche sind
schlängelnde Linien eingebrannt, die Schlangen darstellen
sollen, und ihre Bedeutung ist: „Habe du keine Feinde!"
(Na hin tute binarodos!); die Kreise in der dritten Fläche
bedeuten: „Habe du stets Geld!" (Hin tute taysa lova!);
die Zickzacklinien endlich der letzten Fläche bedeuten: „Bleibe
du gesund!" (Ae tu Laote-?!). In diesen Kürbisstaschen
halten nämlich die Zigeuner Branntwein und wenn sie ihren
Gast bewillkommnen, so spricht der, welcher zuerst trinkt:
„Sei du glücklich!", worauf der zweite, bevor er trinkt, sagt:
„Habe du keine Feinde!" u. s. w.
Große Geschicklichkeit bekunden die südungarischen Zelt-
zigeuner bei der Verfertigung dieser Kürbisflaschen. Die
jungen Kürbisse werden einige Tage in Salzwasser gelegt,
dann wird am spitzen Ende ein kleines Loch gebohrt und
durch dasselbe mittelst eines feinen greifzaugenförmigcn In-
strumentes das Innere des Kürbisses bis auf die äußerste
harte Schale ausgehöhlt; dann wird in den Kürbis eine
starke Salzlösung gegossen und derselbe in die nächste Nähe
des Feuers gestellt. Nach einigen Tagen wird er so weich,
daß man ihm eine beliebige Form geben kann. Nachdem
dies geschehen, wird er am Feuer — und zwar ohne daß sich
eine Flüssigkeit darin befindet — getrocknet und nach kurzer
Zeit er ist so hart, daß er, selbst auf den Boden geworfen, nicht
so leicht zerspringt oder zerbricht. Auf eben diese, selbstver-
ständlich viel leichtere Weise (was nämlich die Aushöhlung
anbelangt) werden Näpfe, Kannen , Becher, Krüge, ja selbst
Löffel und Messerscheiben verfertigt.
Aus Kürbissen verfertigen sich die südungarischen Zelt-
zigcunerkinder eine Art Drehorgel, die heute leider immer
mehr aus dem Gebrauche kommt. Der Kürbis wird in
zwei gleiche Hälften zerschnitten, beide Teile ausgeweidet uud
daun auf die oben beschriebene Weise behandelt. Sind die
uapfähulichen Schalen gehörig getrocknet, so werden durch die
Mitte beider Hälften je fünf Drahtseiten von verschiedener
Dr. Heinrich v. Wlislocki: Handarbeiten der ungarischen Zeltzigeuner.
279
Dicke angebracht und zwar so, daß je eine dünne Saite einer
Kürbishälfte je einer dickeren der andern Hälfte gegenüber
zu stehen kommt. Nun werden beide Teile aufeinander ge-
paßt und ein Loch geschnitten, jedoch so, daß die eine Hälfte
des Loches je einer Kürbishälfte zu Teil wird. Durch dieses
Loch wird ein aus Holz verfertigter „Schläger" (cingardo)
angebracht und befestigt. Das Ende dieses Schlägers, das
sich im Innern des Kürbisses befindet, hat die Gestalt eines
kleinen Hammers. Wird nun dieser Schläger um seine Achse
herum gedreht, so berührt er die Saiten und ein ganz
jämmerlicher Ton wird vernehmbar. Zum Verfertigen und
besonders bei der Befestigung des Schlägers muß man eine
besondere Kunstfertigkeit und Übung besitzen.
Zierliche Spa zier stocke verfertigen die Zeltzigeuner der
Douauländer. Gewöhnlich find diese Stöcke von ihrem
oberen Ende, vom Griff bis ungefähr zur Mitte mit Zeich-
nungen versehen, die zwar keinen Anspruch auf „Kunst" er-
heben können, immerhin aber für den Volksforscher von
besonderem Belang sind. Diese Zeichnungen werden ohne
Vorlage, ohne vorher auf dem Stocke angedeutet zu werden,
aus freier Hand mit einem glühenden, spitzen Eisenstab in
den Stock so geschickt eingebrannt, daß sie überall gleichförmig,
d. h. keine Erhöhungen und Vertiefungen bemerkbar sind;
ebenso die Farbe der Zeichnung überall eine gleichmäßige,
d. h. an keiner Stelle Heller oder dunkler ist. (Fig. 2.)
In Fig. 3 ist die Zeichnung nur nach ihren Konturen
eingebrannt und stellt eine Schlange dar, der als Anhängsel
Kleeblätter und drei Halbmonde mit je einem Stern bei-
gefügt sind. Solche Stäbe, eigentlich Stäbchen führen die
sogenannten Zauberfrauen mit sich, über die wir („Globus",
Bd. LIX, S. 259) bereits gesprochen haben. Solche Stäbe
heißen „Zauberstäbe" (covalyakri kopalori). Fig. 4 stellt
die Zeichnung dar, die sich auf dem Stäbchen der berühmten,
über 80 Jahre alten Zanbcrfrau, namens Mara Tekako,
aus dem südungarischen Wanderzigeunerstamme Dckai, be-
findet. Drei Schlangen, ein „Haus", ein Halbmond vor
einem Kreuze und schließlich wieder drei Schlangen bilden
die Zeichnung, die auf beiden Seiten, d. h. zweifach auf dem
Stäbchen zu sehen ist, nur die Konturen der einzelnen Figuren
sind eingebrannt, und umschlingen das Stübchen also nicht.
Die drei oberen Schlangen bedeuten drei „gute Urmen"
(Schicksalsfeen, die dem neugeborenen Kinde sein zukünftiges
Schicksal bestimmen), das „Haus" soll die Geburtsstätte ver-
sinnbildlichen, während der Mond das „Unglück" (bibagt)
und das Kreuz das „Glück" (bagt) des jeweiligen Kindes
bedeutet, zu dessen Geburt die Zauberfran gerufen wird; die
drei unteren Schlangen stellen „böse Urmen" dar, die dem
Kinde im Leben Unheil bereiten.
An dem mit einem großen Silbcrknopf versehenen Stocke
des Wojvodeu des obengenannten Wauderzigennerstammes,
namens Milivoj Saruvoj, befinden sich rings um den Stock
je drei zunehmende und je drei abnehmende Monde — jeder
mit je drei Sternen — eingebrannt, Fig. 5. Der Besitzer dieses
Stockes erklärte mir die Bedeutung dieser Zeichnung also: Der
Wojvodenstock bringe über die Untergebenen je nach Verdienst
Glück oder Unglück. Die zunehmenden Monde und die drei
Sterne bedeuten das Glück (bagt) und drei „gute Urmen";
die drei abnehmenden Monde und die drei Sterne bedeuten
das Unglück und drei „böse Urmen".
Über den Stab erzählen sich die südungarischcu Zelt-
zigeuner folgende Sage, die ich in genauer Verdeutschung
hier mitteilen will: Als Gott die Welt erschuf, war im
Anfang nur ein großes Wasser. Da warf Gott seinen Stab
in das Wasser und ein großer Baum wuchs daraus hervor,
von dessen Ästen die ersten Menschen auf die Erde herab-
fielen, die Gott ans dem Sande des Wassers geformt hatte.
Und Gott verbot daun den Menschen Stöcke zu tragen, indem
er sagte: „Ihr dürft nie einen Stock in die Hand nehmen;
sobald ihr dies thut, so schlagt ihr euch und dann kommt
Not und Elend über euch!" Die Menschen befolgten auch
lange Zeit hindurch Gottes Gebot; da aber traf es sich, daß
ein Ehepaar in Unfrieden lebte. Der Mann konnte mit
seiner Frau nichts anfangen, denn sie war ein gar böses
Weib. Einmal zankte die Frau wieder mit ihrem Manne
und dieser ging dann traurig hinaus in den Wald, wo er
sich unter einem Baume niedersetzte. Da kam der oberste
Teufel, der Teufelskönig (legbareder beng) heran und sprach
also zu ihm: „Ich weiß, warum du so traurig bist und ich
will dir helfen! Mache dir aus einem Baumast einen Stock,
geh nach Hause und prügle damit deine Frau; dann wird
sie dir schon folgen!" Der Mann erwiderte: „Ob sie den
Stock auch fühlen wird?" — „Ob nicht!" versetzte der Teufels-
könig und schnitt sich schnell einen Stock, mit dem er auf den
Mann losschlug. Dieser schrie vor Schmerz laut auf. Da
sprach der Teufelskönig: „Siehst du, auch die Menschen
spüren die Stockschläge! Nimm den Stock, geh nach Hause
und prügle Dein Weib!" Der Mann that also und von
der Zeit an ward seine Frau gehorsam und zankte mit ihm
nicht mehr. Als dies die andern Menschen sahen, thaten
sie auch also und mit der Zeit hatte fast jeder Mensch einen
Stock in der Hand. Bald kam es zu allgemeinen Schläge-
reien. Da erschien einmal der „große Gott" (baro devla)
unter den Menschen und sprach: „Ich habe euch verboten
Stöcke zu tragen und ihr habt es doch gethan! Bis jetzt
habt ihr ohne Mühe und Arbeit gelebt, von nun an könnt
ihr euch mit Stöcken schlagen, aber ihr müßt in Not und
Elend leben und mühselig arbeiten, um leben zu können!"...
Die ungarischen Zigeuner nennen den Stock neben kopal und
kopalori daher auch oft „Teufelswerkzeug" (bongo8kro ser-
samo). In einem unedierten Liede meiner Sammlung
heißt es:
Beugeskro sersameha marelas Mit dem Teufelswerkzeug schlug
Andasoste gogayipe Für so manchen Lug und Trug
Lute roma romnake; Seine Frau so mancher Mann;
Alegioh, megish the janel; Doch was Hilsts! wo sie nur kann,
Save romni hei! romes Jede Frau den Mann betrügt,
Tavel mindig te bengea! Und den Teufel selbst belügt!
Einen in vielfacher Beziehung höchst interessanten Stock
besitzt die Zeltzigcnnersippe Garic in Südungarn, den der
Großvater des jetzigen Vorstandes verfertigt hat und von dem
wir in Fig. 6 eine genaue Abbildung geben.
Der eigentliche Stock ist dreikantig und hat einen ungefähr
V2 cm dicken und 3 cm hohen Aufsatz, der oben mit einem
Messingring versehen ist, welcher den Griff des Stockes bildet.
Wie ans. Fig 6 ersichtlich ist, so ist der Aufsatz zu beiden
Seiten geschnitzt und zeigt Stirn, Nase, Mund und Kinn
zweier Frauenköpfe, deren übriger Teil auf die Holzplatte auf
beiden Seiten eingebrannt ist. Zwischen und unter beiden
Frauenköpfen befindet sich je eine Schlange; beide Köpfe sind
durch eine Schaar von Fröschen miteinander gleichsam ver-
bunden. Was nun die beiden Frauenköpfe anbelangt, so
sollen beide die Königin des Keschalyis (Waldfeen), die Ana,
darstellen, welche nach zigeunerischem Volksglauben die neuen
Krankheitsdämonen zur Welt gebracht hat. Die Keschalyis
wohnen hoch oben im Gebirge, wo sie je zu dreien auf
einem Felsen sitzen und ihr meilenlanges Haar weit hinab
in die Thäler flattern lassen, wodurch der Nebel entsteht.
Ihre Königin, die Ana, wohnt in einem schwarzen Palaste
und durchstreift gar oft die Welt in der Gestalt eines Frosches.
Die Frösche, Kröten und Schlangen sind ihre Lieblingstiere.
Ihren Namen Ana hat sie daher, daß, wenn sie jemandem in
ihrer natürlichen Gestalt begegnet, demselben zuruft: „Ana!"
(zig. — bring'!). Wer die Bedeutung dieses Zurufes ver-
steht, bringt der Keschalyi-Königin sogleich einen Frosch, eine
280
Dr. Heinrich v. Wlislocki: Handarbeiten der ungarischen Zeltzigeuner.
Kröte oder eine Schlange oder auch nur im Notfall ein
Insekt, und wird dann von der Ana reichlich belohnt; wer
ihr aber ans diesen Zuruf hin nichts bringt, der wird von ihr
mit einem Fclsstück zerschmettert oder im besten Falle wird
er von schwerer Krankheit heimgesucht.
Dieser Stab, der — wie gesagt — dreikantig ist und also
drei Seiten hat, enthält in der Mitte auf der einen Seite
das Wort: Sastyar (Hilf), auf der andern: Amenge (uns)
und auf der dritten Seite das Wort: Aua. (Ana). Die
Worte sind mit einem spitzen Instrument, etwa einer erhitzten
Nadel, eingebrannt und zwar von einer sehr ungeschickten
Hand, denn die Schrift läßt sich kaum entziffern. Diesen
Stock verfertigte der Großvater der genannten südungarischen
Zeltzigeunersippe (gakkiya), als ihm zu Anfang dieses Jahr-
hunderts sechs Kinder im Laufe einer Woche an der Cholera
starben. Er hatte nur noch ein Söhulein und um dieses
vom Tode zu retten, schnitzte er diesen Stock, gleichsam als
Bersöhnnngsopfer für die Keschalyi-Königin Ana, die Mutter
der Krankheitsdämonen. Das Söhnlein blieb am Leben,
wuchs und gedieh; seit der Zeit gilt dieser Stab in der
Familie für ein Abwehrmittel von Krankheiten und wird
jedem Familienmitgliede im Krankheitsfälle zu Häupten in
den Erdboden eingesteckt.
Allster Stöcken, Pfeifenrohren und dergleichen lnehr ver-
fertigen die ungarischen, namentlich die südungarischen Zelt-
zigeuner auch Spielwaaren; primitiv geschnitzte Tiere, Puppen,
Karren und dergleichen, mit welchen Sachen sic hausierend
das Land durchstreifen.
Die nordungarischen und siebenbürgischen Wanderzigeuner
beschäftigen sich weniger oder besser gesagt, höchst selten mit
der Verfertigung von dergleichen Sachen, indessen schnitzen
die nordungarischen Zeltzigeuner reißende Tiere, die sie
ihren ansässigen Stammgeuossen verkaufen. Diese Tiere gelten
für ein Opfer für die reißenden Tiere, deren Anzahl in den
Nordkarpathen eine große ist. Die geschnitzten Abbildungen
oder Darstellungen heißen dapen (etwa: Gabe), und werden
von den ansässigen nordungarischen Zigeunern beim ersten
Schneefall in ein Gebüsch geworfen, im Glauben, dadurch
sich und etwa auch ihren Viehstand vor den betreffenden
reißenden Tieren, deren Gebilde sie eben in den Busch ge-
worfen, geschützt zu habe«. Hier haben wir zu bemerken,
daß diese „Gaben" stets Tiere weiblichen Geschlechtes mit
stets auffallend hervortretenden Saugwarzen und Geschlechts-
tcllen sind. Warum keine Gebilde von männlichen Tieren
Dr. Heinrich t>. Wlislocki: Handarbeiten der ungarischen Zeltzigeuner.
verfertigt werden,.— darüber konnte mir kein Zigeuner Auf-
klärung geben. Es hieß stets: „Es ist so bei uns Brauch!"
Bei dein großen Vogelreichtuni der Nordkarpatenabhänge
beschäftigen sich die nordungarischen Wandcrzigeuner im Herbste
auch mit dem Fang von Drosseln, Krammetsvögeln u. dgl. m.
Solche Vogelsteller pflegen dann im Herbste auch eine „Gabe"
zu schnitzeln und sie ins Gebiisch zu werfen, um Glück beim
Vogelfang zu haben.
Eine solche „Gabe" eines Vogelstellers zeigt aus einem
kleinen Gestell ein ausgeholtes, beckenartiges Holzstück, an
dessen Rande roh geschnitzte Vögel (gewöhnlich vier) befestigt
sind. Solche „Gaben" werden von jedem zigeunerischen
Vogelsteller — sobald er den Vogelfang beginnt — in ein
Gestrüpp geworfen, damit er „recht viele Vögel fange".
Rohgeschnitzte Pferde- und Ochsenköpfe werden von den
ungarischen Wanderzigennern ebenfalls den ansässigen Stainm-
genossen verkauft, welche diese Gebilde am Christabend in Er-
mangelung eines wirklichen Pferde- oder Ochsenschädels in
ihrer Hütte oder Stallung vergraben, damit das ganze Jahr
hindurch „die Hexen sie nicht besuchen sollen" (holyipa na
Fig. 10. Fig. 13.
th’aven). — Wenn nun die Holzschnitzereien der ungarischen
Zeltzigcuncr auch keinen Anspruch ans einen höheren Kunst-
sinn, auf eine ausgebildete Kunstfertigkeit erheben können, so
gilt dies in noch geringerem Maße von der Malerei. So
wie die auf Holz eingebrannten Figuren recht primitiv sind,
so sind auch die mit Farben auf enthaarte, aber ungegerbte
Tierfelle aufgetragenen Gestalten und Figuren recht primi-
tiver Art.
Fig. 7 zeigt uns in verkleinertem Maße einen ans
Hasenfell gemalten Krankheitsdämon (mise§ — Böser); das
Gesicht desselben ist mit hochroter Farbe gemalt; Augen,
Augenbrauen, Nase und Mund durch schwarze Striche an-
Globus LX. Nr. 18.
gegeben; die das Gesicht umgebenden „Stacheln", womit eben
der Dämon im Leibe des Menschen Schmerzen verursacht,
sind mit ockergelber Farbe ausgemalt. Ties also bemalte
Fell wird Kranken unter die Lagerstätte gelegt. Fig. 8 ist
in natürlicher Größe ein Buchenholztüfelchen, ans dessen
einer Seite der „oberste Teufel, der Teufelskönig" (legba-
reder l>eng) abgemalt ist. Das Gesicht und die in der
Zeichnung weißen Stellen des Leibes sind rot bemalt, die
schwarzen Stellen aber mit einer erhitzten Nadel ins Holz
eingebrannt. In der rechten Hand halt der Teufel eine
„Kette", in der linken eine dreizackige Gabel. Unter dem
Haupte der Figur befindet sich ein Loch, durch welches ein
, 30
282
Dr. Heinrich v. Wlislocki: Handarb
Lederriemen gezogen ist, womit man dies Täfelchen Irr-
sinnigen an den Leib zu binden pflegt, um den „Teufelshauch"
(purdipen bengoskro) aus dem Körper des Geisteskranken
zu treiben.
In den serbischen Gegenden Südnngarns malen die an-
sässigen Zigeuner mit blauer Farbe solche Teufclsgestalten ans
die äußere, gegen die Straße gekehrte Seite ihrer Hütten.
Die Wand ist weiß übertüncht und unmittelbar über dem
Erdboden bis zn einer Höhe von 1/2 m ist ein Teil durch
einen schwarzen Strich abgegrenzt; innerhalb dieses Striches
befinden sich diese Tenfelsgestalten. Im Herbste vorigen
Jahres (1890) sah ich in Hodsag an der Frontseite einer
Zigeuucrhütte folgende Malerei, von der ich in Fig. 9 eine
genaue, wenn auch verkleinerte Abbildung gebe.
Nach je einem Teufelsbild, folgt das Bild der Ana, der
Kefchalyi Königin, und ein Pferdekopf. Die einzelnen Ge-
stalten sind durch die oben auch angedeuteten Striche vonein-
ander abgetrennt. Nur die Konturen sind mit blauer Farbe
ausgeführt. Diese Malerei, erklärte mir der Besitzer der
Hütte, beschütze ihn, seine Familie und seinen Viehstand vor
bösen Geistern und müsse jedes Jahr am Charfreitag er-
neuert werden_____
Sowie die Handarbeiten der Zigeuner für den Bolks-
forscher in vielfacher Beziehung von bedeutendem Werte sind,
so stehen auch die Handarbeiten der ungarischen Zeltzigeune-
rinnen denen der Männer an Wert nicht nach, wenn auch
dieselben in mancher Richtung primitiv zu nennen sind, so
zeugen sie doch von Geschmack und Kunstsinn und können,
trotz ihrer Fehler und Mängel, gar oft mit den feinen Hand-
arbeiten der Salondame zu ihren Gunsten einen Vergleich
aushalten.
Neben der Verfertigung von männlichen und weiblichen
Kleidungsstücken, beschäftigen sich die Zeltzigeunerinnen Ungarns
und Siebenbürgens auch mit dem Flechten von Schnüren aus
Ziegenhaaren, Schafwolle, Lein oder Hanf, die sie den Bauern
verkaufen, welche diese Schnüre auf ihre Beinkleider und
Röcke als Zierrat nähen lassen. Auch in der Verfertigung
dünner, weißer Schnüre besitzen die Zeltzigeunerinnen eine
große Fertigkeit. Diese Schnüre, dem ungarischen Bauern
unter dem Namen „Prem“ bekannt, sind ein vom Landvolk
sehr gesuchter Handelsartikel der Zeltzigeunerinnen in Ungarn
und Siebenbürgen. Sie schlagen einen Stab in den Erd-
boden , befestigen am oberen Ende des Stabes die einzelnen
Fäden, an deren Enden kleine Stäbchen (Klöppel) befestigt sind,
und indem sie diese Stäbchen mit einer staunenswerten Ge-
schicklichkeit hin und her werfen, verfertigen sie in kurzer Zeit,
in zwei bis drei Stunden, 10 bis 15 m lange Schnüre.
Über die Erfindung der Nähkunst lautet eine
unedierte Sage der südungarischen Wanderzigeuner in beinahe
wörtlicher Übersetzung also:
„Vor vielen, vielen hundert Jahren waren die Menschen
sehr glücklich. Sie gingen nackt herum, denn es war damals
stets Sommer; es gab keine Kälte, keinen Schnee und Frost
und keinen Wind. Selbst der Regen war stets warm. Als
aber die Menschen den „großen Gott" (baro devla) beleidigt
hatten, da kam Not und Elend über sie. Schnee und Frost,
Kälte und Wind entstanden, und die armen nackten Menschen
starben schaarenweise dahin, sowie die Mücken in großem
Regen. Selbst die Teufel froren und kamen zu den Menschen,
um sich Feuer zu holen. Aber die Menschen sprachen: „Wir
geben euch kein Feuer, denn das hat uns der große Gott
vom Himm cl herabgeschickt!" Der Tenfelsköuig
erwiderte: „Gebt uns nur einmal Feuer und dann werden
wir schon sorgen, daß cs uns nie erlischt. Wenn ihr uns
Feuer gebt, so lehren wir euch zwei Künste, durch welche ihr
euch vor der Kälte schützen könnt!" Und die Menschen
willigten ein und gaben den Teufeln von ihrem Feuer. Da
eiten der ungarischen Zeltzigeuner.
lehrten die Teufel die Menschen das Schmiedehandwerk und
die Nähkunst. Nun verfertigten sich die Menschen Kleider,
die sie vor der Kälte schützen. Weil aber die Ntthkunst ein
Teufelshandwerk ist, so wurden die Weiber mit der Zeit
stolz und hochmütig und machen sich heute verzierte Kleider,
damit sie auch den Teufeln gefallen sollen___"
Unter den Näharbeiten der ungarischen und siebcnbürgi-
schen Zeltzigeunerinnen sind besonders die Stickereien auf
einfache Leinwand hervorzuheben, mit denen sie ihre bau-
schigen Hemdärmel und Schürzen zieren. Von der Achsel bis
zum Handgelenk läuft ein solcher gestickter, eigentlich mit
Wolle ausgenähter Streifen den Hemdärmel entlang. Weil
nun alle Zigeunerinnen Ungarns zu einzelnen Näharbeiten
stets dieselben Farben gebrauchen, so liegt die Vermutung
wohl nahe, daß die Handarbeiten seit Jahrhunderten eine
angeerbte Kunst der Zigeunerinnen bilden.
Im folgenden will ich einige dieser Stickarbeiten, wenn
auch in verkleinerter Form, mit allen ihren Fehlern und
Mängeln in genauer Abbildung geben. Das weitverbreitetste
Muster für Stickerei auf Hemdärmel ist Fig. 10, das bei
den ungarischen Wanderzigeunerinnen unter dem Namen
„Hans" (ksr) bekannt ist. Die schwarzen Streifen der
Figur sind mit dunkelgrüner, die weißen Stellen mit hoch-
roter Wolle, die kleinen Quadrate mit gelber Wolle oder mit
Gold- und Silberfäden ausgenäht. Solche Streifen nähen
sich nur ältere, verheiratete Zigeunerinnen in die Hemdärmel,
während erwachsene, heiratsfähige Mädchen Fig. 11 ge-
brauchen, die unter dem Namen „biribari“ (etwa: Allerlei)
bekannt ist. Die schwarzen Streifen sind mit dunkelgrüner,
die mit 4- bezeichneten Stellen mit hochroter und die mit
versehenen Streifen mit gelber Wolle oder mit Gold-
oder Silberfäden ausgenäht. Auf die mit einem Punkt (-)
bezeichneten, winzig kleinen Quadrate werden glänzende Glas-
perlen genäht, gewöhnlich sogenannte Goldperlen, wenn näm-
lich zu den erwähnten (x^x) Streifen Silberfäden gebraucht
werden; dagegen Silberperlen, wenn Goldfäden verwendet
wurden. Die unbezeichneten, weißen Stellen bleiben un-
benäht.
Auf den unteren Rand der Schürzen nähen sich ältere
Frauen das Muster von Fig. 12, das „Schlange" (oap)
heißt. Die mit -f- bezeichneten Stellen werden mit hochroter,
die weißen Stellen mit gelber Wolle ausgenäht und in die
mit einem Punkt versehenen kleinen Quadrate glänzende
Perlen angeheftet. In der Mitte befindet sich eine Schlange,
deren Leib mit grüner Wolle ausgeuäht ist, und das Auge
ist durch eine glänzende Perle angedeutet.
Das Muster von Fig. 13, „Stern" (cerban) genannt,
wenden die Maide bei Stickereien, sowohl auf Hemdärmel,
als auch auf Schürzen an, ja selbst ans Schaffellen ver-
fertigte, kurze, an den Leib anschließende Frauenpelze werden
bisweilen mit solcher Stickerei versehen. Die weißen Stellen
sind mit grüner oder gelber, die schwarzen Streifen darin
mit hochroter Wolle ausgenäht; das Quadrat in der Mitte
bleibt weiß, das heißt wird nicht ausgenäht und enthält ge-
wöhnlich eine Perle.
Neben diesen Stickereien auf Hemdärmel und Schürzen,
tragen in manchen Gegenden Ungarns, besonders in serbischen
Gegenden, die Zeltzigeunerinnen reich bestickte Gürtel. Fig. 14,
„Kreuz" oder „Glück" (kruco, bagt) genannt — das Kreuz
ist nämlich das Zeichen des Glückes —, ist das genaue Abbild
einer Stickerei auf einem Gürtel, den schwangere Weiber um
den Leib geschlungen zu tragen pflegen. Die schwarzen Kreuze
sind mit grüner, die mit -s- bezeichneten Flächen mit roter
und die weißen Stellen mit gelber Wolle ausgenäht. An
diesen Gürtel werden auch einige Bärenklanen und Kinder-
zühne oder auch nur Hascnpfoten angehängt sind, damit das
betreffende Weib ein gesundes, starkes und flinkes, lebhaftes
B. W. Segel: Jüdische Volksmärchen.
283
Kind zur Welt bringe. Zu bemerken ist, das die Leibgürtel
der ungarischen und siebenbürgischen Zigeunerinnen gewöhn-
lich aus einem 11/2 bis 2 m langem, grobem Leinwand-
streifen bestehen, selten aus weich gegerbtem Kalbsleber. Tie
Breite eines solchen Gürtels ist gewöhnlich V4 m.
Fig. 15, „Burg" (varos) genannt, wird auch auf Gürtel
genäht. Die schwarzen Streifen sind mit hochroter Wolle,
die mit einem versehenen Flächen aber mit Goldfäden
ausgcnäht, in den mit einem Punkt (-) bezeichneten kleinen
Quadraten ist eine Glasperle, gewöhnlich von grüner oder
blauer Farbe, eingenäht. Gürtel mit solcher Stickerei, die
sich ganz nett ausnimmt, kommen gar selten vor, und nur
die Töchter der Wojvoden können sich solchen Luxus gönnen,
nachdem die Goldfäden „gar teuer sind" (may kuces hin),
wie sich eine Zigeunerin ausdrückte.
Die sogenannten „Zauberfrauen" (covalyi) der Zelt-
zigeuner, auch „gute Frauen" (laci romni) genannt, die als
Heilkünstlerinnen bei ihren Stammgenosscn in großem Rufe
stehen, besitzen Leinwandbentcl, die mit Stechapfelsamen gefüllt
sind, welchem Samen im zigeunerischen Volksglauben eine
geheime Zauberkraft zugeschrieben wird. Diese Beutel, mit
denen die Zauberfrau den Körper des betreffenden Kranken
bei ihrem ersten Besuch einreibt, um sich gleichsam in magi-
schen Rapport mit dem Krankheitsdämon (inisox — Bösen)
zu setzen, den sie eben ans dem Leibe des Leidenden zu ver-
treiben hat — diese Beutel sind auch mit Stickereien und
zwar mit Streifen der Länge nach (von oben nach unten
gehend) versehen. Fig. 16 zeigt die Abbildung einer solchen
Stickerei. Diese Form wird auch (s. Fig. 12) „Schlange"
(sap) genannt, und soll eben Schlangen darstellen, deren
Kopf (in der Figur schwarz) mit grüner, der Leib mit hoch-
roter Wolle ausgenäht ist. Die Augen der Schlangenköpfe
sind mit Silberfäden ausgenäht; der Halbmond, den die
Schlange im Maule hält und der Stern aber aus gelber
Wolle.
Fig. 17 ist die Abbildung einer Stickerei — der „Turm"
(toroilis) genannt — gleichfalls auf einen Beutel aufgetragen,
welchen die „Zauberfran" vor das Lager der Mutter und
des nengebornen Kindes in der Nacht zu legen Pflegt, in
welches die Urmen (Schicksalsgöttinnen), die eben nur von der
Zauberfran gesehen werden — erscheinen, um das zukünftige
Schicksal des Kindes zu bestimmen. Die schwarzen Stellen
sind mit grüner, die weißen mit roter Wolle und die mit
einem Punkt (-) bezeichneten Flächen mit Silberfäden ans-
genäht. In diese Beutel steckt die Mutter nach der Nacht,
wo die Urmen ihr Kind besucht haben sollen, ein Geldstück
für die „Zauberfran", die in dieser Nacht allein im Zelte
oder in der Erdhöhle der betreffenden Frau verweilen darf
und Zauberformeln heruntermurmeln muß.
Aus obigem ersehen wir, daß, was die Farben der
Stickereien anbelangt, so die grüne und rote Farbe vorherrscht,
nebenbei die gelbe. Braun, schwarz, grau, blau u. s. w. wird
nirgends angewendet. Sind nun die Handarbeiten der unga-
rischen Zeltzigeuner in mancher Beziehung recht primitiv, so
kann man doch, schon dieser Arbeiten wegen, ihnen nicht allen
Sinn für das Kunsthandwerk absprechen.
Jüdische Volksmärchen.
Von B. kV. Segel. Lemberg.
I.
Ich habe diese Märchen aus dem Gedächtnis aufge-
schrieben, insoweit ich mich derselben aus den Erzählungen
meiner Mutter und meiner Schulkameraden, aus der Zeit
meiner Kindheit erinnern konnte. Aber den größeren Teil
meiner Saminlung habe ich in der Weise gewonnen, daß ich
mich mit Personen aus den verschiedensten Schichten der
jüdischen Bevölkerung in Verbindung setzte, und mir von
ihnen ihre Geschichten erzählen ließ. Ich wandte mich aber
durchweg nur an solche Personen, bei denen ich den Mangel
jedes andern Einflusses, als den der rein jüdischen Kultur-
sphäre, vorauszusetzen genügenden Grund hatte; so besonders:
„Melamdim“, Bibel- und Talmudlehrer, die kein Wort
einer modernen Sprache verstehen, „Behelfer", Ammen,
Dienstmädchen, Fuhrleute, Handwerker und wandernde Bettler.
Nicht minder aber setzte ich mich mit Leuten einer höheren
Bildungsstufe in Verbindung. Man darf aber dieses Wort
durchaus nicht im modernen Sinne nehmen. Denn die
„höhere Bildung" dieser Leute besteht nur in einer ausge-
dehnteren Kenntnis des Talmud und der jüdischen Theologie,
seltener der Kabala. Volkslieder besitzt nicht nur die Jugend
dieser Schichten, auch ältere Frauen singen zuweilen gern,
seltener ältere Männer. Eine lokale Gruppierung der jüdi-
schen Märchen und Sagen, ist durchaus unstatthaft; ich habe
sehr häufig eine und dieselbe Geschichte von Personen aus
den verschiedensten Gegenden Galiziens und Rußlands gehört;
freilich mit ganz unbedeutenden Variationen; eine Erscheinung,
die bei dem regen Verkehr unter den Juden, die überwiegend
vom Handel leben, bei der gemeinsamen Grundlage ihrer
Kultur und ihrem gleichartigen Lose, nicht überraschen darf.
Einen großen Anstoß zur Bildung und Verbreitung der
jüdischen Volksmärchen gab der, in der Mitte des vorigen
Jahrhunderts in Polen und Litauen unter bett Inden
auftretende Chassidismus. Diese mystifizierende Richtung
des jüdischen Volksglaubens regte die Phantasie der Massen
lebhaft an, und deren Häupter, die sogenannte „Zadikim",
wörtlich Gerechte, welche zugleich die Erneurer der „Kabbalah
m’assith“ (praktische Kabbalah) wurden und viele Wunder
thaten, wurden der Mittelpunkt ganzer Sagenkreise. Diese
Wunder nun, wie sie einerseits für deren Hervorbringer die
Quelle ganz beträchtlicher Einnahmen wurden, bildeten
andrerseits einen sehr reichen Sagenstoff, welcher bei den
Zusammenkünften der Anhänger, „Chassidim“ (Frommen)
ausgesponnen wurde. Die Chassidiur pilgern aus den
weitesten Gegenden zu ihrem jeweiligen Zaddik, und bringen
die „gesehenen" oder vernommenen Wunderthaten nach allen
Richtungen der Windrose. Diese und ähnliche Märchen und
Sagen werden nun von den Juden bei gemütlichen Zusammen-
künften, wie Hochzeiten, Beschneidungen, „Wachnächten", das
heißt die Nacht vor der Beschneidung, wo Männer zusammen-
kommen und bei der Wöchnerin „Wache" halten, erzählt. Es
fehlt auch nicht an zahlreichen Schnurren, Possen und andern
Produkten des Volkshnmors, der da zum besten gegeben wird.
Aus meiner zahlreichen Sammlung, die vorläufig noch
ungeordnet ist, und sich täglich vermehrt, greife ich die folgen-
den fünf Märchen heraus. Ich glaube damit ein bislang
fast ganz nnbetretenes Gebiet zu eröffnen.
1. König David.
Es war in Krakau. Eines Abends versammelten sich
die Juden auf offenem Platze, um den Neumond zu be-
36*
284
A. Fourneaus Reise vom Ogowe zum Campo.
grüßen'), und dabei riefen sie, wie es vorgeschrieben, dreimal:
„David, König von Israel, lebe auf ewig!" — Da ging der
Kaiser vorüber, und hörte dieses Gebet. Er ließ sofort die
Gemeindevorsteher zu sich rufen und erklärte ihnen: „Wenn
Ihr mir beweisen könnet, daß Euer König David noch lebe,
ist es gut; sonst aber laß ich Euch alle töten". Die Ge-
meinderegierer baten um eine Frist von drei Monaten,
welche ihnen gewährt wurde. In der Gemeinde herrschte
große Trauer und Verzweiflung. Die Rabbinen verordneten
Fasttage und Gebete; man besuchte die Gräber der Ver-
storbenen'^). Gesandte wurden nach allen Städten und Ge-
meinden der Welt ausgeschickt, man befragte alle großen
Rabbinen um Rat, wie man sich aus dieser Klemme helfen
könnte. Aber niemand konnte einen Rat ausfindig machen.
Auf dem Rückwege hörten die verzweifelten Gesandten, daß
in einem entlegenen kleinen Städtchen ein steinalter Greis
lebe, ein zusammengeschrumpftes Männlein, das man in einer
Wiege schaukle, weil er vor Alter sich nicht mehr bewegen
könne. Aus Neugierde fuhren die Gesandten dorthin. Wie
sie zu dem Greise kamen, fragte er sie, woher sie kämen.
Darauf erzählten sie ihm alles. Das alte Männlein aber
sagte: „Ich habe gehört erzählen von meinem Urgroßvater, es
gebe in einem wilden Walde, nicht weit von hier, einen aus-
gehöhlten Baum, und in diesem Baume liege ein goldener
Schlüssel; dem Schlüssel gegenüber befinde sich eine Thür
uiib der sie öffne, gelange durch diese Thür zu dem König
David". Die Gesandten gmgen in den Wald. Sie gingen
drei Tage Wald ans Wald ein, und kamen endlich zu dem
bezeichneten Baume. Alles traf richtig zu, wie es der Greis
erzählte. Sie fanden den Schlüssel, öffneten damit die Thüre,
und kamen in ein Zimmer von lauter Gold. Dort sahen
Ter Neumond wird durch besondere Gebete und Hymnen
begrüßt.
H In besonders wichtigen Fällen werden die Gräber der
Verstorbenen besucht, und es wird an denselben gebetet.
sie eine weitere Thür, und über derselben stand geschrieben,
daß man durch dieselbe nur kommen kann, wenn man zuvor
ganz Thillim (die Psalmen) gesagt hat. Und wie sie Thillim
gesagt hatten, that sich vor ihnen die zweite Thür ans, und
sie kamen in ein weiteres Gemach, welches noch viel prächtiger
war als das erste. Dort bemerkten sie eine Thür, über
welcher geschrieben stand, daß man durch dieselbe nur kommen
kann, wenn man zuvor dreimal ganz Thillim gesagt hat.
Die Leute setzten sich nieder und sagten ganz Thillim dreimal.
Darauf öffnete sich die Thür, und sie traten in einen Saal
dessen Glanz ihre Angen blendete. Aber da bemerkten sie
eine weitere Thür, über welcher geschrieben stand, daß man
sie nicht eher passieren kann, als bis man siebenmal ganz
Thillim gesagt hat. Die Gesandten begannen das Vorge-
schriebene zu thun. Das erste Mal ging es gut von Statten,
aber als sie das zweite Mal die Psalmen zu sagen begannen,
mußten sie ans Müdigkeit und Schwäche unterbrechen, und
blieben schier ohnmächtig sitzen. Drinnen aber erbarmte
man sich ihrer, und ein Mann mit grauen Locken und langem
weißem Bart öffnete die Thür. Wie die Thür geöffnet
wurde, blieben sie erstarrt, ein so großes und starkes Licht
strömte ihnen von innen entgegen. Sie erblickten König
David mit der Krone auf seinem Throne sitzend; in der einen
Hand hielt er das Thiüim'l (Psalmenbuch), in der andern
die Harfe. Der alte Mann aber, welcher ihnen geöffnet hatte,
sagte zu ihnen: „Geht heim; es wird schon alles gut werden".
Nach einigen Tagen hörte man in der Stadt erzählen, daß
dem Kaiser in der Nacht König David erschienen sei. Er
habe über ihm einen Riemen geschwungen, und zu ihm
gesagt: „Du wolltest nicht glauben, daß ich lebe, nun, so mußt
Du es fühlen. Und damit Du es nicht für Zeinen Traum
hälft, lasse ich Dir drei Zeichen am Leibe zurück. Und Du
sollt die Regierer rufen lassen, und ihnen erklären, daß Du
sie fortan in Ruhe läßest." — So geschah es, er rief die
Juden und sagte ihnen, „daß sie ruhig schlafen können".
A. Lourneaus Reise vom Ggowe zum Lampo.
Nicht ohne eigene Schuld haben die Franzosen in dem
Gebiete zwischen dem Kongo und dem Tschadsee neuerdings
zwei größere Expeditionen verloren, auf deren Gelingen die
weitgehendsten Hoffnungen gesetzt waren. Der noch jugend-
liche Forscher Paul Crampel ist, wie bereits im Globus
gemeldet, auf dem Wege von Bangui in das unbekannte
Innere nebst mehreren seiner Begleiter ums Leben gebracht.
Gewissermaßen parallel mit dem Verunglückten sollte sich
A. Fourneau am Sangha hinauf nach dem Sudan be-
wegen; aber auch er ist, schon hart am Ziele, in 7" nördl.Br.
einem Angriffe der Eingebornen zum Opfer gefallen, wie
ausführlich auch bereits im „Globus" (oben S. 267) aus-
einandergesetzt wurde.
Derselbe Fo urne au hat kürzlich einen Bericht I über
seine Reise vom Ogowe zum Campo veröffentlicht, eine
Reise, die noch insofern beachtenswert ist, als auch sic ein
Parallelunternehmen darstellt, und zwar zu Paul Crampels
etwas früherer Tour von Lastourville durch das Land der
Batokos und Pahnins bis zur Coriscobai.
Gerade einen Monat nach Crampels glücklicher Rück-
kehr brach Fourneau im Mai 4889 von Libreville in Gabun i)
i) Vergl. Bulletin de la Société de Géographie de
Paris 1891, p. 190—215 mit einer Übersichtstafel, der Jtinerar-
sartc und zwei Profilen,
nach Aschuka ans, einem Posten im Okandalandc und am
linken User des Ogowe gelegen. Die Anwerbung der Be-
gleitmannschaften verursachte, wie gewöhnlich, viel Zeitverlust,
so daß Fourneau erst im August mit einer bunt gemischten
Karawane von Pahnins, Bangowes, Schales, Adumas,
Bakales und Okandas den Ogowe überschreiten konnte.
Sein Plan war, der Wasserscheide zwischen dem Jwindo
und Jkoni, die durchweg nach Norden streicht, zu folgen.
Beide Flüsse fallen nicht weit voneinander in das rechte
Ufer des Ogowe, nur ist der Jwindo ansehnlicher als sein
Nachbar, der jedoch trotz seines kürzeren Laufes eine große
kommerzielle Bedeutung zu haben scheint. Alle Waren,
die von N'Djole und Lambarene ins Innere gehen und
umgekehrt, folgen dem Jkoni und seinen Tributären. —
Bereits am 6. August, zwei Märsche vom Ogowe entfernt,
betrat Fourneau den Urwald und sollte ihn nicht früher
als kurz vor der Mündung des Campo wieder verlassen.
Der 9. August brachte die Expedition zu einem Jägerlagcr
am Feniaflusse. Allerwärts zeigten sich Wildgruben in
Gestalt senkrechter Löcher von 2'/2 bis 4 m Tiefe, oft mit
spitzen Pfählen am Grunde. Den Tag über liegen die
Männer mit Hund und Flinte der Jagd ob, während die
Frauen in den fischreichen Waldbüchen nach Beute haschen
oder abends, nach Heimkunft der Männer, das Räuchern
des Fleisches betreiben.
Franz Kraus: Zur Hydrographie des Karstes.
285
Bon den Pahuins oder Bctschi-Fans entwirft Four-
neau ein abschreckendes Bild; sie sind rohe, lästige Gesellen,
Fetischdiener der niedrigsten Sorte, dabei der Anthropophagie
ergeben, was sie selbst keineswegs laugnen. Jedes Gewerbe,
jede Industrie ist ihnen fremd; ein paar Blatter machen
ihre ganze Bekleidung aus, wenn sie es nicht vorziehen,
völlig nackt zu erscheinen. Natürlich ist Vielweiberei, merk-
würdigerweise aber nicht die Sklaverei, an der Tagesord-
nung. Die Männer sind allgemein mit Flinten bewaffnet
und tragen diese Schutzwehr auch jederzeit bei sich, da sie in
ihrem status naturalis, ubi homo homini lupus, nicht
ohne Grund in jedem andern Menschen einen Feind erblicken.
Sic greisen einen Gegner oder einen Fremden niemals offen,
sondern stets aus dem Hinterhalte an. Kein Versprechen
wird gehalten; man kann sich bei ihnen auf nichts verlassen.
Ihr ganzes Thun und Trachten geht dahin, durch die Jagd
oder durch den Verkauf von Elfenbein und Kautschuk mög-
lichst viele Weiber zu erwerben. Nur mit Mühe konnte
Fourneau den Häuptling Bekaló in Suamejong zum Ab-
schluß eines Vertrages bewegen, da der zukünftige Unter-
than der Republik trotz eines langen Palawers gar nicht be-
griff, um was es sich eigentlich handle.
Am 13. August wanderte die Expedition über Asombe,
N'Djo-Abiane und Fobondjo auf ziemlich ansteigendem
Gelände nach dem bedeutenden Dorfe Malene, das bereits
1100 m Seehöhe aufweist. Von dort ging es tagelang durch
einen dichten, in trübes Halbdunkel gehüllten Urwald, wo
die Gummiliane in erstaunlicher Menge wuchs, durch die
Orte Falcsale und Hondnre zum Berge Tembo (1200 m),
von dem der Temboni gen Norden zum Muni eilt. Die
Quellader stürzt in einer Reihe herrlicher Kaskaden den
Abhang hinunter; das Gestein ist durchweg granitisch, selbst
der Urwald ist erfüllt von einer Legion zerstreuter Granit-
blöcke. Im September stellten sich die ersteren stärkeren
Regen ein; die Flüsse, besonders der Temboni, stiegen unb
setzten die Uferregion auf breite Strecken unter Wasser, so
daß sich Fourneau zu einer schnellen Schwenkung nach
Westen entschließen mußte. Am 14. erreichte man eine
Stelle, wo sich der Temboni in eine Menge von Kanälen
mit Klippen und Inseln dazwischen auflöst, ein buntes
Gewirr, dessen Passage erhebliche Mühen verursachte. Drei
Tage später standen die Reisenden am Kome, der sich von
Norden her in den Temboni ergießt, und zwar rastete
Fourneau an demselben Platze, den wenige Monate vorher
Paul Crampcl zur Lagerstatt erwähnt hatte. Ohne Fähr-
lichkeiten ward der Fluß überschritten, und man betrat nun
ein noch immer bergiges, aber gut bebautes Land. Bald
kam auch der Lope (oder Loppe) in Sicht, ein fernerer
Tributär des Temboni, und am letzten September der statt-
liche und wasserreiche M'Wila. Der Grund zeigte sich
ungemein zerrissen, voll von Spalten und jäh aufragenden
Wänden und Felsen, über die in schäumendem Sturze ein
Heer von Bachen und Flüssen zur Tiefe raste.
Am 3. Oktober tauchte der letzte rechtsseitige Nebcn-
arm des Temboni, der Mehum, vor den Wanderern ans;
bei seiner Mündung, etliche Märsche südwärts, hat sich die
Hauptader schon nach Südwcsten gekehrt und behält diese
Richtung von nun an längere Zeit bei. Der Name Tcm-
boni ändert sich bald in Utamboni, um später im Ästnarium
dem bekannteren Titel Muni Platz zu machen. Den Rio
Benito I faßt A. Fourneau trotz andrer gegenteiliger An-
sichten als einfachen Küstenfluß auf, und man wird zugeben,
das ihm hierin die Erfahrungen Loon Guirals mindestens
nicht widersprechen ft.
*1 Über die Mündung rc. dieses Flusses vergl. Annalen
der Hydrographie 188t, S. 494.
ft Bergt. Petermanns geogr. Mitteilg. 1885, S. 227.
Das gesamte Operationsfeld des Reisenden hat übrigens
lange Zeit ein Streitobjekt zwischen Deutschland, Spa-
nien und Frankreich gebildet, und eben deshalb ist cs auch,
allerdings mehr im Bereich der Küste, des öfteren von
politischen Expeditionen durchzogen worden. Der unver-
geßliche Nachtigal hat hier gearbeitet und später noch
Hugo Zöllcrft; von den spanischen Forschern sind vor
andren Jradier, Montes de Oca und Dr. Osorio zn
erwähnen, deren umfängliches Reisewerk eine Fülle geogra-
phischer, wie historischer Daten über das Uferland vom
Muni bis zum Campo enthält ft. Letzteren Fluß haben
die Spanier am weitesten verfolgt, bis 12" östl. L. von
Greenwich, ohne jedoch seinen Ursprung zu entdecken. Diesen
fand Fourneau als nicht fern von dem großen Dorfe Ebia-
mejon belegen, in einem zerrissenen, granitischen Hochlande,
dessen Abhänge der Fluß in einer fortgesetzten Kette von
Stürzen und Schnellen überwinden muß. ■— Der Marsch
zog sich an dem allein passierbaren rechten User entlang, an
den Quellen des Waterfall River vorbei, der bei Klein-
Batanga auf deutschem Boden mündet, bis hinab zum fran-
zösichen Posten am unteren Campo. — In 67 Tagen
hatte die Expedition über l 000 km ohne Verlust an Men-
schenleben und ohne Gefechte mit den Eingeborncn zurück-
gelegt; viel neues war erbracht, namentlich in bezug auf
die Hydrographie der durchschrittenen Länder. Die gcog-
nostische Zusammensetzung des Bodens, durchweg granitisch
oder basaltisch mit vereinzelten Kalkiuseln, entspricht den
früheren Vorstellungen ft, ebenso die Tier- und Pflanzenwelt
mit ihren Urwäldern und menschenähnlichen Affen. Bei
den Eingeborncn überrascht die erhebliche Zahl von Albinos
beider Geschlechter, wie nicht minder die schreckliche Verbrei-
tung des Aussatzes. ,,La lèpre cancéreuse règne aussi
dans toute son horreur: nous avons vu des sujets
atteints, êtres vivantes en complète putréfaction.“
H. Seidel.
Zur Hydrographie des Karstes.
Von Franz Kraus.
Färbungsversuche des Reka Wassers. Die
Stadt Triest hat die Feistriz-Quellen käuflich zu dem Zwecke
erworben, um dieses vortreffliche Triukwasser nach der Stadt
zu leiten. Infolge dieses Ankaufes entstand ein Wasser-
rechtsstreit zwischen der Gemeindevertretung und den Besitzern
des Auresina-Schöpfwerkes, weil letztere behaupteten, es werde
ihnen das auf unterirdischem Wege zufließende Wasser, auf
welches sie ein Recht besitzen, entzogen. Man entschloß sich
daher die Identität des Wassers durch einen Färbuugsversuch
zu erproben. Das aus den Quellen zusammenfließende
Wasser bildet den Feistritz- oder Reka-Flnß (slavisch: Bistrica).
Nächst Ober-Urem verliert sich jedoch ein Teil des Fluß-
wassers in Spalten, und diese Menge soll nach der Meinung
der Ingenieure der mitbeteiligten Südbahngeseüschaft den
Anresina-Quellen zufließen. Es wurde daher gegen die Ab-
leitung dieses Wassers Verwahrung eingelegt, und die Ge-
meindevertretung von Triest schlug hierauf die Färbuugs-
versuche mit 22 hg Fluorescei'n vor, welche Menge aber
von der Regierung auf 10 hg Herabgemindert wurde. Der
Versuch fand am 12. Juni 1891 um 8^ft Uhr abends statt.
Es wurden die 10 hg Farbstoff mit 6 hg Ätznatron anf- * I
ft Mitteilungen der Deutsch - Afrikanischen Gesellschaft,
Bd. I V, S. 409 ss.
2) Petermanns Mitteilungen 1888, S. 285 und a. a. O.
ft Die geologische Karte von Westafrika von Dr. O. Lenz
Petermanns Mitteilungen 1882, Taf. I bezeichnet allerdings
I diese Region als Gneis gebiet und läßt den Granit erst
! erheblich tiefer binneuwärts auftreten.
286
Moderne Heiden im nördlichen Italien.
gelöst und, mit Wasser verdünnt, in den Fluß geschüttet, der
sofort eine stark grüne Färbung annahm. Vom nächsten
Morgen um 6 Uhr an, bis am Abend desselben Tages um
6 Uhr, also durch 12 Stunden, beobachteten Kommissionen
das Wasser in der Lindnerhöhle bei Trebich, an den Aurcsina-
Quellen, und an jenen des Timave, ohne auch nur die
mindeste Färbung nachweisen zu können.
An diesen mißlungenen Versuch knüpft der bekannte
Höhlenforscher Müller aus Triest Betrachtungen in den Mit-
teilungen des Alpenvereins. Vor allem hält er die ver-
wendete Menge für zu gering in Anbetracht der gewaltigen
Wassermenge, welche in den secartigen Weitungen im unter-
irdischem Flußlaufe angesammelt sind. Auch die Beobachtung
selbst dürfte nicht ganz entsprechend ausgeführt worden sein,
weshalb das Ergebnis als ein zweifelhaftes betrachtet werden
muß, welches die Frage in keiner Weise zur Entscheidung
bringt. Belangreich sind die gemachten Wahrnehmungen
über das Fortschreiten der Färbung im Flnßlaufe, worüber
leider nur einzelne karge Daten veröffentlicht wurden. Leider
hat die Kommission das Fortschreiten der Färbung im 6,7 Ir NI
langen oberirdischen Flußlaufe nicht beobachten lassen. Das
vom Alpenverein entsendete Mitglied zeigte jedoch, daß sich
der See in der großen Doline von St. Canzian erst um
63/4 Uhr morgens färbte, und daß die Färbung den zweiten
Wasserfall im nahen Rudolfsdome nicht vor 8 Uhr erreichte,
also volle 12 Stunden für einen Weg brauchte, der etwa
V5 des Weges bis zu den Timave-Quellen beträgt. Nach
dem Programme hätte die Beobachtung an den drei Stationen
nur durch 12 Stunden erfolgen sollen. Infolge des tele-
graphisch angezeigten langsainen Vorschreitens, entschloß man
sich aber, noch an zwei weiteren Tagen die Beobachtungen
fortzusetzen. Ob dies fortwährend oder nur während der
Tageszeit geschah, ist ans dem Berichte nicht zu ersehen. Da-
gegen hatte die Società alpina délia Giulie in aufopferungs-
voller Weise in der von ihr gepachteten Lindnerhöhle durch
eine ganze Woche einen ununterbrochenen Dienst freiwillig
errichtet, ohne eine Färbung feststellen zu können.
Die Färbungsversuche dürften auf Grund der gewonnenen
Erfahrungen nunmehr wiederholt werden müssen, und es wird
dann möglich werden, Schlüsse zu ziehen, die verläßlicher sind
als jene, die ans dieser Probe sich ergeben. Aber auch jetzt
schon ist es sehr wahrscheinlich geworden, daß mindestens der
Wasserlauf in der Lindnerhöhle bei Trebich von der Reka
unabhängig ist, wie es wiederholt betont, aber niemals ge-
glaubt wurde, denn schon Liudner selbst hielt diesen Wasser-
lauf für einen Arm der Reka, und diese Ansicht ist auch
heute noch maßgebend. Mit Hilfe geringer Räumungs-
arbeiten in der Lindnerhöhle ließe sich übrigens das dortige
Wasserbecken leicht tiefer legen, wodurch ein Vordringen in
die flußaufwärts gelegenen Räume möglich würde. Die
Hydrographie des Karstes ist noch so unklar, daß jede Auf-
klärung erwünscht sein sollte. Kann man sich nicht zu
Räumuugsarbeiten in der Lindnerhöhle entschließen, so sollte
wenigstens dort ein Färbungsversuch gemacht werden, der
vielleicht eher einen Effekt an den Auresina-Quellen zeigen
würde als jener des Rekawaffers. Würde sich dadurch zeigen,
daß die beiden Wässer identisch sind, so wären die erwähnten
Räninungen jedenfalls nachträglich zu empfehlen, um das
eigentliche Niederschlagsgebiet der Auresina-Quelle auffinden
zu können.
Moderne Heiden im nördlichen Italien.
Nur wenig Leute wissen, wie außerordentlich der Aber-
glauben, einschließlich der Zauberei und des Hexenwesens,
im nördlichen Italien verbreitet ist. Im ganzen übrigen
Europa giebt es keine Gegend, in welcher alte Sitten und
Überlieferungen sich in solchem Maße erhalten haben, als
bei den Bauern in der bergigen Landschaft zwischen Forli
und Ravenna. So urteilte C. G. Leland am 5. Oktober
auf dem Internationalen Folklorekongreß und er führt dieses
folgendermaßen weiter ans. Jene Gegend heißt die Romagna
Toscana und die dort geredete Sprache ist eine altertümliche
Form des Bolognesischen. Es giebt dort Familien, in
welchen Zauberei besonders kultiviert wird und in diesen
findet man die Überlieferungen und die Namen alter Götter
am getreuesten aufbewahrt. Man hält dort zehnmal so viel
vom Aberglauben als von der katholischen Religion. Befindet
sich jemand in Not und Sorgen, so wendet er sich allerdings
zuerst an die Heiligen, schließlich aber, und, wie er glaubt, mit
mehr Erfolg,, an Hexen und Geister. Die Grundlage des
dortigen Kultus ist ein eigentümlicher Polytheismus, eine
Verehrung der Folletti. genannten Geister. Diese Geister
tragen die nur wenig veränderten Namen etruskischer Götter
oder der kleineren römischen Feldgötter. Da ist zuerst Tiuia,
der Folletto des Donners, Blitzes und Sturmes. Mit
diesem Geist wird ein Tigna genanntes Kraut identifiziert;
man benutzt es unter besonderen Zaubergesängen, um Tinia
ans den Ernten, die er schädigt, herauszuholen. Belang-
reicher ist aber noch der toskanische Geist der Weinberge,
Keller und des Weines. Dieses ist Faflon, dessen Name
nur wenig verändert ist aus Fuflnns, dem altetruskischen
Bacchus. Er wird als bezaubernd schön und gutmütige
Possen spielend geschildert. Sammelt der Winzer seine
Trauben, so kommt Faflon unsichtbar und schüttet alles
aus den Tragkörben aus; nimmt man dieses gemütlich hin,
so bringt er das Zerstreute wieder an Ort und Stelle, wo-
bei man sein lautes Gelächter hört. Zuweilen verliebt er
sich und seine Bewerbungen sind immer von Erfolg. Da
war ein Bauer, der eine sehr schöne Tochter hatte, und zu ihm
kam Faflon, als hübscher sterblicher Jüngling verkleidet, der
nach dem Mädchen verlangte. Doch kurzer Hand wies man
ihn ab. Was war die Folge? Drei Jahre lang trugen die
Reben des Bauern keine Trauben und ging er in seinen
Keller, so fand er eine Gesellschaft lustiger Teufelchen, aus
deren Mund Feuer quoll und die folgendermaßen sangen:
„Gieb Faflon die Tochter dein oder du hast nie wieder
Wein!" Natürlich willigte er ein und das Mädchen ver-
schwand, er aber hat nun Wein in Menge.
Als Gott der Kaufleute, Diebe, Boten und jetzt auch der
Brieftauben gilt Ter amo, das ist der altetrnskische Tnrmus,
der Stellvertreter Merkurs. Er hilft den Dieben; doch
wollen diese Mord begehen, dann durchkreuzt er ihre Pläne.
Ala so oder Mas ist Mars, doch nicht der Kriegsgott, sondern
sein etruskisches Prototyp, ein Naturgott, Gott der Ernten
und der Fruchtbarkeit. Zuletzt kommt Diana, die sich
bis heutigen Tages in Italien als Königin der Hexen be-
hauptet hat. Mittelalterliche italienische Schriftsteller geben
übereinstimmend an, daß die italienischen Hexen nicht den
Satan, sondern Diana und Herodias verehrten und die
christliche Anschauung von der Hexerei, daß die Betreffenden
einen Bund mit dem Teufel machten, war in Italien un-
bekannt. War die Hexe bei ihrer Arbeit und verlor dabei
nur einen einzigen Tropfen Blut, so war alle ihre Macht
dahin. In Florenz glaubt man, daß keine Hexe sterben kann,
wenn sie nicht vorher ihre Zauberkraft abgeschüttelt hat. Ohne
daß es jemand merkt, kann die Hexenkraft auf ihn übergehen.
Eine sterbende Hexe sagt z. B.: „Ich habe etwas zu vererben;
willst Du es haben?" Antwortet die Gefragte „ja", so ist sie
sofort in eine Hexe verwandelt und die andre kann sterben.
Von den 100 magischen Kuren, die der Hofarzt des Kaisers
Honorins, Marcellus von Bordeaux, im vierten Jahrhundert
unter alten Weibern und Bauern gesammelt hatte, konnte
Leland noch die Hälfte als heute im Gebrauche nachweisen, ja
Bücherschau.
Aus allen Erdteilen.
287
einige davon in noch vollkommenerer Gestalt, als Marcellus sie
beschreibt. Bei all diesem Aberglauben findet man als durch-
laufenden Faden, daß Unglück, Krankheit, Widerwärtigkeit
verschiedenster Art durch Zauberei verursacht werde, und
daß zur Heilung christliche Heilige oder heidnische Zauberer
angerufen werden müssen, vorzüglich aber letztere. Beschwö-
rungsformeln sind weit verbreitet und besonders belangreich
sind die an den Tod gerichteten. Ist ein naher Verwandter
schwer krank, so begiebt sich der ihm zunächst stehende zu einer
Hexe, die er folgendermaßen anreden muß: Der Tod will
meinen Freund mir nehmen, drum erkläre mir, was man
thun oder was man sagen muß. Der Tod erscheint der
Hexe nun im Traume und kündigt den Tag an, an dem der
Kranke ihm angehören wird. Die Hexe nimmt an jenem
Tage einen Kürbis, in den sie Augen und Nase macht und
ans dem durch zwei Bohnenschoten die Hörner dargestellt sind.
Naht der Tod heran, so macht die Hexe das Zeichen der
Hörner und wiederholt eine Anrufung.
B ü ch e r s ch a u.
I. Howard Gore, Geodesy. London. William Heineinann,
1891, IX, 218 S. 8°.
Das elegant ausgestattete Büchlein eines amerikanischen
Gelehrten erscheint als der vierte Band von „Iieinemann’s
Scientific Haudbooks“. Es ist, wie schon der geringe Umsang
ersichtlich macht, nicht etwa ein Lehrbuch der Geodäsie in dem Sinne,
in welchem man dieses Wort bei uns in Deutschland gewöhnlich
gebraucht, sondern eine gedrängte Übersicht über die Bemühungen
zur schärseren Bestimmung der Erdgröße und Erdgcstalt. Der
Gang öer Darstellung ist demgemäß der geschichtliche. Mit den
abenteuerlichen Vorstellungen des Altertums und Mittelalters
beginnend, deren Wesen er auch durch Zeichnung anschaulich
zu machen sucht, erörtert der Vers, sodann die Erdmessungs-
methoden der Griechen, Araber und der Geographen vor
Snellius und geht dann zur Schilderung der Gradmessungen
über, deren Ansangsstnvien er sehr eingehend charakterisiert.
Alle Grundmessungen werden registriert, mit besonderer Vor-
liebe natürlich die neuesten amerikanischen, welche in einer
Arbeit des Prof. Harkneß ihren vorläufigen Abschluß gefunden
haben. Hiernach wäre die Erdabplattung — 1/300,2 zu setzen,
und auf den Meridianquadranten entfielen 10001816m.
Als ein Mangel des Buches muß es freilich bezeichnet
werden, daß es seinen Leser in dem Glauben läßt, die Erde
sei wirklich ganz genau ein Umdrehungsellipsoid. Die Lehre
vom Geoid, die Anwendung der Potentialtheorie auf die höhere
Geodäsie, das sind Dinge, von denen gar nicht die Rede ist,
und damit steht es auch im Zusammenhange, daß von den so
ungemein erfolgreichen Arbeiten der europäischen Gradmessungs-
Kommission nur ganz vorübergehend Notiz genommen wird.
Einem Schriftsteller der Alten Welt wäre eine solche Unter-
lassung freilich noch mehr zu verübeln, und ein solcher würde
wohl schwerlich auch den folgenden Satz haben drucken lassen
(L>. 15): „Man weiß, daß die Chaldäer die ersten waren,
welche die Größe des Erdumfanges zu schätzen versuchte», allein
man würde vergeblich die im Sanskrit, in der wissen-
schaftlichen Sprache Chaldäas geschriebenen Schriften
nach einem Berichte über diese Schätzung, welcher vielmehr einzig
bei Arabern und Griechen zu finden ist, durchsuchen". An
diesem Satze ist leider kein einziges Wort richtig.
München. S. Günther.
Merkel, Fr., Jacob Heule, Ein deutsches Gelehrten-
leben. Nach Aufzeichnungen und Erinnerungen erzählt.
Mit einem Porträt in Holzstich. Braunschweiq, Fr. Vieweq
und Sohn, 1891. 410 S.
Der Göttinger Anatom war zwar weder Geograph »och
Ethnolog und auch seine anthropologischen Vorlesungen behandeln
nicht die Anthropologie in dem Sinne, wie sie den Lesern des
Globus geläufig ist. Trotzdem aber verdient das Buch eine
rühmende Erwähnung an dieser Stelle, denn es schildert ein
bedeutendes Menschenleben aus einer Kulturperiode, die, ob-
schon kaum verflossen, schon der Vergangenheit angehört und
die jüngere Generation fremdartig genug anmuten wird. Da-
bei ist cs ungemein fesselnd geschrieben und kein Leser wird es
bereuen, ihm ein paar Stunden gewidmet zu haben.
Kobelt.
Aus allen
— Über die künstliche Regenerzeugnng des Generals |
Dyrenfurth in Texas durch Explosionen in hohen Luftschichten
mittelst gaserfüllter Ballons, und die etwas verdächtig reklame-
haft gefärbten Berichte von den Erfolgen dieser Experimente,
bemerkt die „Science" (New Z)ork, 18. August): es sei eine
schon seit Plutarch aufgekommene Ansicht, daß die bei großen
Schlachten häufig sich ereignenden Regengüsse mit diesen
in Zusammenhang zu bringen seien. Edw. Powers habe
für die Periode des Rebellionskrieges nachgewiesen, daß
158 Schlachtentage desselben zugleich auch Regentage gewesen
seien. Doch beweise das für den angedeuteten Zusammen-
hang gar nichts, da Powers nicht auch angegeben habe, an
welchen Schlachtentagen es nicht geregnet habe. In diesem
Kriege haben aber nicht weniger als 2200 größere und
kleinere Kämpfe stattgefunden. Zn gunsten der Auffassung,
daß durch Lufterschütterung Regen erzeugt werde, spräche
allerdings der Umstand, daß beim Bau der Central Pacific
über die Sierra Nevada, wobei durch großartige Sprengungen
gewaltige Lufterschütterungen erzeugt wurden, starke Regen-
ströme in einer sonst so gut wie regenlosen Gegend nieder-
gegangen seien. Zwei Versuche des Generals unter den bisher
angestellten seien gar nicht beweisend, da sich für diese
aus den Wetterkarten erkennen lasse, daß für Texas natür-
licher Regen im Anzuge gewesen sei. — „Nature“ (17. Sept.
1891) meint, es sei schon denkbar, daß durch Explosionen Regen
Erdteilen.
herbeigeführt werden könne, insofern als durch diese ein
Strom aufsteigender Luft erzeugt werde. Die warme Luft
der tieferen Schichten könne aber für diese trocken sein, in
höhere, kältere Regionen gelangt, aber Regen geben. Dringend
wünschenswert sei es, daß die bisherigen vagen Angaben
über den Zustand der Atmosphäre vor dem Experiment durch
exakte ersetzt würden. 8r.
— Mit Dr. Jakob Eduard Polak, der im Alter von
71 Jahren am 8.Okt. 1891 zu Wien starb, ist einer der vor-
züglichsten Kenner und Erforscher Persiens dahingegangen.
Dr. Polak begab sich im Jahre 1851 nach Teheran, wo er eine
Anstellung als Lehrer an der medizinischen Schule erhalten
hatte und, nachdem er die Sprache vollständig bemeisterte,
eine segensreiche Thätigkeit entfaltete. Er schrieb mehrere
medizinische Leitfäden für seine Zöglinge in persischer Sprache
mit) rückte trotz vielfacher gegen ihn gerichteten Ränke zum
Leibarzt des Schahs vor, der ihm ein großes Vertrauen be-
wies. Polak besuchte einen sehr großen Teil Persiens und
wurde während eines neunjährigen Aufenthaltes daselbst mit
dem Lande und Volke genau vertraut. Im Jahre 1860
kehrte er nach Wien zurück und schrieb sein zweibändiges
Werk „Persien, das Land und seine Bewohner" (Leipzig 1865),
noch immer eine der besten und zuverlässigsten Quellen über
die Perser, „deren Ruhm zwar in den Thaten der Vergangen-
288
Äus allen Erbteilen.
heit liegt, die aber, noch nicht gealtert, berufen scheinen, in der
Welt- und Kulturgeschichte der Zukunft eine nicht unwichtige
Rolle zu spielen". Polak ist stets mit Persien und persischen
Verhältnissen in enger Beziehung geblieben; er hat das Land
auf besondere Einladung des Schahs nochmals besucht und
alle jene, die später Persien besuchten, mit Rath und That
unterstützt, wie er denn ein überaus gefälliger und dabei
bescheidener Gelehrter war. Sowohl die Mitteilungen der
Geographischen wie der Anthropologischen Gesellschaft in
Wien enthalten wertvolle ans Persien und seine Altertümer
bezügliche Beiträge aus Polaks Feder.
— Die deutsche Grönlandexpedition unter Dr. von
Drygalski (vergl. oben S. 15), welche als Vorbereitung für
eine größere Expedition im nächsten Jahr unternommen
wurde, ist am 18. September wieder in Kopenhagen ge-
landet und am 10. Oktober erstattete der Leiter darüber Be-
richt in der Berliner Gesellschaft für Erdkunde. Am 3. Mai
fuhren die Herren von Drygalski und Baschin (Meteorolog)
von Kopenhagen ab und langten am 16. Juni in Jakobs-
havn in Westgrönland an, von wo sic den nach dem Ort
benannten Gletscher, der durch die große Oscillation seines
Randes bekannt ist, besuchten. In einem Umiak fuhren sie
sodann nach Ritcnbenk, das nahezu unterm 70. Grad nörd-
licher Breite auf einer Insel im Vaigat-Fjord liegt, und von
da um die Halbinsel Nugsuak herum in den Umanaks-Fjord
nach Umanak. Von dort, bezw. von Jkerasak wurden
Rekognoszierungsfahrten zum Festlandc, und zwar zu dem
Karajak-, Sermilik- und Jtivdliarsuk-Gletscher unternommen,
welche Gelegenheit gaben, das Inlandeis und die mit dem-
selben in Zusammenhang flehenden Gletscher zu besichtigen,
während ein Abstecher nach Kome ans Nugsuak das Beispiel
eines lokalen, vom Binnenlandeis getrennten Gletschers bot.
Der Karajak-Gletscher im Innern des gleichnamigen Fjords,
der den innersten Winkel des Umanak-Fjords bildet, wurde
für die Anlage der Beobachtungsstation in Aussicht genommen.
Die Rückkehr des Dampfers zwang die Reisenden, Umanak
bereits am 29. Juli zu verlassen. Die Beobachtung der
Gletscherbewegung ist am besten am Sermilikgletscher aus-
geführt worden. Zu letzterem wurde am 7. Juli der Aufstieg
über ein Plateau unternommen. Kein fließendes Wasser
war zu sehen, nur Eisfelsen durch Wasserfälle miteinander
verbunden. Von der Plateanhöhe ans war kein Zeichen der
Bewegung zu verspüren. Am 13. Juli gelangte unser
Reisender an den Gletscherrand. Hier führten ihn vor-
genommene Messungen, für welche sechs Eisspitzen zu Halt-
punkten genommen wurden, zu der Feststellung der Bewegung;
er konnte in einzelnen Fällen eine Geschwindigkeit von 6 bis
7 m innerhalb 24 Stunden, bei der mittleren Eisspitze so-
gar die von 16 m beobachten. Durch das Fernrohr ge-
sehen, tritt die Bewegung mit ganz deutlicher Wahrnehmbar-
keit hervor.
— Die ehemalige Verbindung zwischen Australie n
nnd Neuseeland. Wie neuere Entdeckungen in posttertiären
Ablagerungen ans der Lord Howe-Insel auf eine ehemalige
weitere Ausdehnung des australischen Kontinentes nach dieser
Richtung schließen lassen, so sind die zu verschiedenen Zeiten
gemachten Fossilfunde von Moa-artigen Tieren in Australien
geeignet, die Vermutung von der ehemaligen Verbindung von
Neuseeland und Australien nahe zu legen. Die ersten dieser
Funde (hiervon einer in Drift 50 m unter der Oberfläche)
wurden von Owen einer neuen, zwischen Emu und Moa stehen-
den Gattung, Dromornis, zugewiesen. Vor einigen Jahren
wurde abermals ein fossiler Vogelrest gefunden, welcher keine
Übereinstimmung mit Casuar, Emu, Rhea oder Strnthio
zeigt, wohl aber vollständig dem Moa gleicht. Auffällig ist
die Seltenheit dieser Überreste in Australien. Vielleicht
erklärt sich dieselbe daraus, daß der Wohnort der Tiere haupt-
sächlich den von der Drift nicht erreichten Teilen des Konti-
nentes angehörte. Sr.
— Indischer Ozean. Nach dem Berichte der indischen
Meeresaufnahme für 1890 bis 1891 hat das Schiff „Jn-
vestigator", Kapitän Hoskins, unter 9034' nördl. Br. und
850 43' östl. Länge bei 1997 Faden die Grundproben ge-
wonnen, welche bis jetzt die aus der größten Tiefe des Indi-
schen Ozeans erhaltenen sind. Wie der an Bord befindliche
Naturforscher Alcock angiebt, traf man bei dieser Tiefe auf
den Globigerinaschlamm und Stückchen Bimsstein. Gefunden
wurden noch Kieselschwämme, Stacheln von Hyalonema,
eine lachsfarbene Scemiamone mit roten Tentakeln, die
briftngartige Kreyella benthopbila, ein neuer Hyphalaster,
ein Marsipaster, zwei Ophiuriden, drei Holothurien, eine
große Amphipode, ein blinder Crangonid, drei großschwünzige
Krebse, ein 86ap6llum, leere Anelidenröhren. („Nature“.)
— Dr. Richard Rackwitz, Redakteur in Bochum,
früher Oberlehrer in Nordhausen, bekannt durch seine For-
schungen ans dem Gebiete thüringischer Volkskunde und
Mythologie, starb am 18. September, 41 Jahr alt. Von
seinen Arbeiten sind hier zu erwähnen: „Zur Volkskunde
von Thüringen, insbesondere des Helmegaus", mit Karte, 1884
und im Verein mit K. Meyer „Der Helmegau" 1888. Beide
in den Mitteilungen des Vereins für Erdkunde zu Halle.
— Aberglauben in Rußland. In Samara kam vor
einiger Zeit bei Gelegenheit eines gerichtlichen Prozesses ein
merkwürdiger Aberglaube an das Tageslicht. Einige Kilo-
meter von Samara wurde von den Wogen der Wolga ein
Sarg mit einer weiblichen Leiche ans Ufer geworfen, am
Halse der Leiche waren zwei Steine befestigt. Die Leiche
wurde als die der Bäuerin Anna Baranowa erkannt, die, an
den Folgen der Trunksucht erkrankt, gestorben war. Man
ermittelte nun, daß vier Bauern des Dorfes Kuromtrcho
(Kreis Stawropol, Gouvernement Saratow) auf Anordnung
des Dorfältesten Parfenow den Sarg mit der Leiche aus-
gegraben und in die Wolga gelegt hatten. Es war damals
im Frühjahr sehr trockenes Wetter und im Dorfe herrschte
der Aberglaube, daß die Bestattung eines Säufers oder eines
Gemordeten auf dem Dorfkirchhof die Ursache eines regen-
losen Frühjahrs sei; die Bauern beschuldigten nun die Leiche
der begrabenen Anna Baranowa, die Dürre des Frühjahrs
verursacht zu haben. — Um diese Ursache zu beseitigen, holten
vier Bauern den Sarg mit der Leiche aus dem Grabe und
versenkten ihn in die Mitte des Stromes. Die angeklagten
Bauern bekannten offen ihre That und die Veranlassung zu
derselben. — Aus ihren Worten ging hervor, daß sie in
ihrem Vorgehen nichts Tadelnswertes erblickten, im Gegen-
teil eine Heldenthat sahen und sie im Interesse des allgemeinen
Wohls ausgeführt hatten, — sie hatten die drohende Folge
der Trockenheit vorausgesehen und hofften durch ihr thätiges
Eingreifen die Gefahr abzuwenden. — Die Verteidigung suchte
nachzuweisen, daß die Angeklagten aus Unwissenheit so ge-
handelt hatten, in der sicheren Überzeugung, etwas Gutes zu
thun, dennoch wurden die vier Bauern und ihr Ältester zu
zwei bis vier Monat Gefüngnishaft verurteilt.
(Nowoje Wrjcmä, 5494.)
— Eine Eisenbahn in Tongking von Phu-lang-
Thuong nach Lang Son wurde am 21. Juni dem Verkehr
übergeben.
Herausgeber: Tr. R. Andrer in Heidelberg, Leopoldstraße 27.
Truck von Friedrich View eg und Sohn i» Vraunschweig.
Bd. LX
Nr. 19
Begründet 1862
von
Karl Andrer.
Druck urrö Werkcrg
Wer-M Mecklllie.
Herausgegeben
von
Richard Andrer.
brich D'ieweg & Sohn.
ro r n it it f rfi tu p t n Jährlich 2 Bände in 24 Nummern. Durch alle Buchhandlungen und Postanstaltcn 16 <41
^ 1 1111 U I ^ ,U ^ 1 ö* zum Preise von 12 Mark für den Band zu beziehen.
Zur Kenntnis der religiösen Anschauungen der Bataks.
Von L. M. pieyie U)zn,
Konservator des ethnographischen Museums der König!. Zoologischen Gesellschaft Natura artis magistra in Amsterdam.
Obwohl über die Religion der Bataks auf Sumatra schon
ziemlich viel geschrieben ist — wir nennen hier z. B. die
treffliche Abhandlung von Prof. Dr. G. K. Nicmann in
Delft und die Stellen aus dem bekannten „Animisme“ des
vor kurzem in Leiden verstorbenen Prof. Tr. G. A. Wilken —,
bleiben immer noch einige religiöse Anschauungen für eine
mehr eingehende Besprechung übrig, die wir in den folgenden
Zeilen liefern wollen.
Es sollen hier einige Gegenstände näher untersucht
werden, welchen der Batak früher göttliche Verehrung gezollt
hat, und einige andre, welche er sich noch heute als mit
übernatürlicher Macht ausgerüstet denkt. Weil aber eine
Beschreibung dieser nicht wohl möglich war, ohne einige
seiner religiösen Anschauungen zu berühren, war es nötig,
einzelne Hauptpunkte seiner Religion, insofern sie sich auf
die zu besprechenden Gegenstände beziehen, mit in Betracht
ziehen zu müssen. Hierdurch wurde unsre Abhandlung ein
wenig ausführlicher, als wir beabsichtigt hatten, aber die
Gegenstände, wovon die Rede sein wird, sind, wenigstens
unsrer Meinung nach, von so großer Bedeutung für die
Erklärung einiger religiöser Handlungen der Bataks, daß
wir geglaubt, uns nicht auf eine einfache sachliche Beschreibung
beschränken zu müssen, um so mehr nicht, weil die zu erwäh-
nenden Gegenstände zum größten Teile Unica sind, welche
nur im hiesigen Museum vorgefunden werden.
Die Gegenstände, die wir im weiteren Kreise bekannt
zu machen uns erlauben, sind:
I. Ein hölzernes Hühncrbild „Manuk-Manuk“ aus
Silindung.
II. Ein Kleid der Seele „Ulos ni tondi“ von Pan-
galoan.
III. Einige Amulette „ Pagar“.
IV. Ein paar hölzerne Ahnenbilder „Debata idup“.
V. Ein hölzernes Bild „Si Patulpak“.
VI. Eine Zauberdose „Mangayang-ayang“.
VII. Eine Maske „Toping“.
Globus LX. Nr. 19.
I.
Diese sieben Gegenstände wurden unter andern Sachen
vom Missionar Herrn van Asselt während seines Aufenthalts
in den Batakländern gesammelt und später von Herrn Pr. für.
I. Sillem in Amsterdam, der sie von Herrn van Asselt ge-
kauft, dem Ethnologisä)eu Museum der Königlich Zoologischen
Gesellschaft „Natura Artis Magistra“ daselbst als Geschenk
übergeben, wo sie bis jetzt eine Zierde der Bataker Samm-
lungen ausmachen.
I. Der Manuk-Manuk1), Fig. 1.
Nach Angabe von Herrn van Assclt wurde diesem Bilde
von der Bevölkerung von Silindung längere Zeit als Haupt-
gott gehuldigt. Das Bild selber ist ans einer leichten, ziem-
lich weichen Holzart angefertigt. Kopf, Schwanz, Flügel und
Beine sind lose am Rumpf befestigt, welcher massiv und mit
einer Aushöhlung im Rücken versehen ist, die mittels einer
Klappe verschlossen werden kann. In dieser Aushöhlung be-
findet sich der halb vertrocknete Kadaver eines Huhnes, das,
nachdem ihm der Hals abgeschnitten und es verblutet war,
in das hölzerne Bild verschlossen wurde, damit es seine Seele
demselben übertragen konnte. Das Abbild selbst stellt das
Huhn in fliegender Stellung dar, wie ans der Haltung der
ausgespreizten Flügel hervorgeht. Letztere, wie das ganze
Bild sind braunrot angestrichen, und mit schwarzen Linien
und sonstigen Figuren, die wohl Federn andeuten sollen,
mittelst eines groben Pinsels bemalt. Das Bild war
mittels einer Schnur von Jdjuh (Arengafasern) in der
Wohnung des Radjas von Silindung aufgehängt. Hier
hing es auch während der Zeit, daß Herr van Assclt die
christliche Lehre in den Batakländern predigte. Zu Zeiten
von Krieg, Hungersnot und Epidemieen, also lautet eine
diesem Hühnerbildnis hinzugefügte Notiz, wurde der Ma-
nuk-Manuk zu Rate gezogen; auch wurden Reinigungs-
eide vor dem Bilde geleistet. War z. B. jemand eines
Verbrechens angeklagt, das begangen zu haben er leugnete, so
wurde er vor das Bild geführt, welchem er zunächst ein
37
290
C. M. Pleyte Wzn: Zur Kenntnis der religiösen Anschauungen der Bataks.
wenig Reis als Opfergabe darbringen mußte. Danach sprach
er es an wie folgt: „Wenn ich schuldig bin, wessen ich an-
geklagt wurde, mögen meine Nachkommen von den Hühnern
verzehrt werden, o Großvater Manuk - manuk! Wenn ich
aber unschuldig bin, erbitte ich Euren Segen. Laßt mich
durch Eure Macht reich werden und über meine Feinde
herrschen." Warum die Bataks das Hühnerbild verehrten,
waren sie während Herrn van Asselts Aufenthalt unter
ihnen sich nicht mehr bewußt. Er selber giebt denn auch
keine nähere Auskunft darüber. Jedoch glauben wir dafür
einen Grund gefunden zu haben, zum besseren Verständnis
ist es aber nötig, zuerst auf die Schöpfungsgeschichte einzu-
gehen, wie sie heutzutage unter den Bataks. von Silindung
erzählt wird.
„Im Anbeginn", fängt diese Erzählung an, „waren im
Himmel ein Vater und eine Mutter. Der Vater hieß Um-
pang Guru Diatas, die Mutter Butara Diatas. Sie
hatten drei Söhne: Tuan
Banua Kolieng, dieser
war der älteste, Tuan
Samsah Hinei, dieser
war der zweite, und Tuan
Paduka Niadji, welcher
der jüngste war. Eines
Tages fragte der Vater sei-
nen ältesten Sohn: „Was
wünschest du?" Da antwor-
tete er: „Ich wünsche Ta-
war" (die Heilung aller
Krankheiten). Darauf fragte
der Vater seinen zweiten
Sohn: „Und was möchtest
du haben?" Dieser er-
widerte: „Puminakan be-
ganding toa“ (Bilsenöl zu
einem Zaubermittel, die Er-
hörung aller seiner Gebete,
Unverwundbarkeit im Krieg).
Schließlich fragte der Vater
seinen Jüngsten nach seinem
Begehr. Dieser bat um
Rergkabak kabak (die
Macht, den Wind herbeizu-
rufen).
Alle Wünsche wurden
vom Vater gewährt. Nicht
lange danach, fragte der Vater
seinen ältesten Sohn wieder:
„Wo willst du wohnen?"
Die Antwort lautete: „Ich bin der älteste, also bleibe ich
int Himmel." Nun fragte er den zweiten Sohn, wo er sich
niederlassen wollte. Er wählte sich die Mitte, die Erde, um
dort eine Stadt zu erbauen. Darauf hing der Vater seinen
zweiten Sohn auf, damit er nicht herunterfallen konnte.
Doch es kamen Winde ans dem Osten und dem Westen, so daß
der Knabe heftig zu schwanken anfing. Dieser nahm darauf
sein Ol, und rief seinen Vater zur Hilfe, welcher wehklagend
ausrief: „Ach, mein Kind hat keine Stelle, um auszuruhen."
Darauf warf er eine Handvoll Erde entlang dem Seile, an
welchem der Knabe hing, die, unten angekommen, einen
ganzen Topf füllte, so daß der Knabe sich darauf setzen konnte.
Nun fragte der Vater seinen jüngsten Sohn: „Und du, wo
willst du leben?" Dieser sagte: „Im Batang di toruli“
(in der Unterwelt).
Kaum war dieser hier angelangt, als er, nach oben blickend,
bemerkte, daß er seinen Vater nicht mehr sehen konnte, weil
die Erde zwischen ihnen war. Er flehte deshalb seinen Vater
an, die Erde zu zerstreuen. Die Winde wurden aufgeboten
und zerstreuten die Erde.
Darüber weinte aber der zweite Sohn, so daß der Vater
fragte: „Warum weinst du?" Und nach unten blickend sah
er, daß die Erde verschwunden war. Jetzt sandte er wieder
eine Hand voll Erde hinunter, welche alsbald eine Schüssel voll
bildete. Nachdem sich dies siebenmal nacheinander wieder-
holt hatte, war die Erde so beschaffen, wie sie jetzt ist. Als
nun der jüngste Sohn zum achten Male die Erde wieder
zerstören wollte, wurde der zweite böse; er nahm ein Eisen
und durchstach seinen Bruder mit soviel Kraft, daß es durch
die Erde in die Unterwelt eindrang, so daß die Erde feststand.
Darauf steckte er acht Quereisen durch den aufstehenden Stab,
worauf er große Steine legte, die er mit Erde bedeckte (die
verschiedenen Erdlagen) und als er damit fertig war, kamen
Regen und Wind. Einige Zeit danach dachte er, ich will ein
Haus erbauen, und er nannte es Selindung Buah. Zu-
fällig kam auch ein Weib
herbei, von wo sie kam,
wußte er nicht, doch er
machte sie zu seiner Frau.
Eines Tages, als er auf
der Treppe seiner Wohnung
saß, sich in der Sonne zu
erwärmen, sah er, wie ein
Huhn geflogen kam und sich
ans sein Haus niedersetzte.
Seine Frau sah es auch;
nahm eine eiserne Stange
und schlug das Huhn tot.
Dieses Huhn hieß Manuk
Kredjan-Kridjan. Der
Kopf des Huhnes wurde
ein Götzenbild, der Schnabel
eine Goldschmiedzange, der
Kopf eine Goldwage, der
Magen Gold und Silber
(oben Gold, unten Silber),
die Federn Bäume, Blätter
und allerlei Pflanzen, der
Schwanz Zuckerrohr, die
Eingeweide Gewächse, weil
das Huhn allerhand Futter
gefressen hatte, seine Federn,
die Flügel und Pfoten wur-
den heilsame Kräuter, das
Fleisch Erde, das Blut
Wasser. Damit war die
Erde vollständig ch".
Kehren wir jetzt zu unserm Hühnerbilde zurück. Im
Zusammenhang mit der oben mitgeteilten Überlieferung scheint
es uns, daß die Verehrung dieses Hühnerbildes nur als ein
Überbleibsel der Verehrung des Manuk Kredjan Kridjan, der
Erde, angesehen werden kann. Und dies wohl um so mehr,
weil das Huhn, welches unter dem Namen Manuk Kredjan
herangeflogen kam, nach seinem Tode die Erde erst zur Erde
machte. Erde, Wasser, Gold, Gewächse, kurz alles, was der
Mensch zu seinem Unterhalt bedarf, wurde durch das Huhn
geschaffen. Es entstand die bebaute Erde, mit Pflanzen und
Gewächsen, mit nützlichen Mineralien und den Geräten zur
Bearbeitung derselben. Die eben geschaffene Welt, öde und
steinig, war plötzlich nach dem Tode des Huhnes zur mensch-
lichen Ernährung fähig. Nach unserer ans der Sage ab-
geleiteten Ansicht ist der Manuk Kredjan-Kridjan nur eine
Personifikation der Erde, die ehemalige Verehrung des Hühner-
bildes, die Verehrung des Manuk Kredjan-Kridjan. Ziehen
wir hierbei in Betracht, daß bei dem Bilde Reinigungseide
Fig. 1. Nautik -Mamik.
C. M. Pleyte Wzn: Zur Kenntnis der religiösen Anschauungen der Bataks.
291
abgeleistet wurden, dann tritt dies noch um so deutlicher
hervor. Wir wissen auch, daß es bei verschiedenen indonesischen
Stammen Sitte ist, bei einem feierlichen Eide die Erde an-
zurufen. Bei den Redjangern und den Bewohnern der
Lampongschen Distrikte, um uns auf Sumatra zu beschränken,
wird noch heute bei der Erde geschworen. Sie wird zum
Zeugen aufgerufen dadurch, daß sie ihre Hände darauf legen,
daß der, welcher den Schwur leistet, nur die Wahrheit sagt ch.
Dasselbe geschah vor dem Manukbilde. Welchen Zweck, fragen
wir also, konnte sonst das Schworen bei dem Manuk haben,
wenn nicht dabei ursprünglich an eine Personifizierung der
Erde gedacht wurde?
Um so mehr verdient diese Frage Aufmerksamkeit, weil, so
weit unsre Kenntnis über die religiösen Anschauungen der
Indonesier reicht, mehr und mehr deutlich wird, daß eine
Verehrung der Erde beinahe bei allen Stämmen stattge-
funden hatZ.
II. Der Ulos-ni-tondi, Fig. 2.
Der zweite Gegenstand, über welchen wir einiges mit-
teilen möchten, ist ein länglich-viereckiges, gestreiftes Seiden-
tuch, am schmalen Rande abwechselnd mit
roten, weißen und schwarzen Glasperlen be-
näht.
Die Bataks von Pangaloau, ein Stamm
im Tobagebiet, haben diesem Kleide mehr
als zwei Jahrhunderte lang göttliche Ver-
ehrung gezollt, weil es, ihrer Meinung nach,
einer gar mächtigen Seele (tondi) zur Woh-
nung diente. Tondi, dies sei allererst be-
merkt, ist der allgemeine Name für Seele,
einerlei ob sie einem Menschen, einem Tiere,
einer Pflanze oder einer Sache angehört.
Der Begriff Tondi ist für alle Bataks
derselbe; die Auffassung ihres Wesens läuft
aber ein wenig auseinander.
Die menschliche Tondi, um hiermit zu
beginnen, stellen die Bataks der nördlichen
Teile des noch unabhängigen Gebietes sich
dreifach vor. Dr. Hagen berichtet darüber
folgendes: „Ich habe stets nur von drei
Seelen gehört, von denen zwei beständig
im Körper bleiben, während die dritte stets außerhalb
des Körpers, aber trotzdem im innigsten Zusauuncnhange
mit ihm verbleibt. Diese drei Seelen heißen: Tondi
Siguliman oder Sipar Gongom, Tondi Sian-
tahara und Tondi Sichorchor. Diese letztere ist
die außerhalb des Körpers verweilende. Stirbt dieselbe, wo
sie sich auch gerade befinden möge, so ist auch der Mensch
noch in der nämlichen Stunde tot. Die zwei im Körper
befindlichen Seelen werden frei, und steigen als Sumangot
vom Niedergang der Sonne, vom Westen her, den Pfad
empor zu Debatas Wohnung, wo sie ein paradiesisches Leben
in ewigem Wohlergehen und Lustbarkeit genießen. Das
ist das Leben des guten Menschen nach dem Tode. Ist der
Mensch jedoch ein böser, und das Maß seiner Übelthaten ge-
füllt, so wird seine Tondi Sichorchor im Westen verbrannt,
worauf auch der Mensch sofort tot niedersinkt. Die zwei
andern Seelen können den Pfad, der zu Debata führt, nicht
finden, sondern müssen ebenso wie die Seelen der Genwrdeten
und Gefallenen unstüt auf Erden umherirren, fahren bald in
den Körper reißender Tiere, bald in Baumstämme, bald in
Felsen oder Wasser, sie führen ein sozusagen ahasverisches
Dasein, niemandem zur Freude, allen zuin Leid, da sie auch
die Macht besitzen, den Menschen zu schaden. Die Seelen
derjenigen, welche weder gut noch böse gelebt haben, wohnen
auf Baumwipfeln rc., aber nicht für immer und ewig, sondern
nachdem Debata „siebenmal die Form, in welche die Seele
gefahren, zerbrochen hat", können auch sie zu der ewigen
Freude eingehen" Z.
Die mehr südlich wohnenden Stämme, namentlich die,
welche bei und im Stromgebiet der Pane- und Bilaflüsse
ansässig sind, glauben an sieben Seelen, von denen eine eben-
falls im Himmel wohnt und den Namen Tondi si djung-
djung führt. Von zweien konnte Herr Neumann, dessen
Aufsatz diese Angabe entnommen ist, den Namen nicht er-
fahren, die andern dagegen heißen Tondi margo mg om,
Tondi andarasi, Tondi palokpalok und Tondi
andaruhur. Diese sieben Seelen beherrschen des Menschen
Wandel. Welchen Wirkungskreis jede besondere Seele zu
erfüllen hat, weiß der Batak aber nicht. Sie glauben aber,
wie ihre Brüder im Norden, an einen siebenfachen Tod.
Weil auch bei ihnen die Vorstellung besteht, daß die Seele
den Körper nach Belieben verlassen kann, sind sie immer
darauf bedacht, bei Gelegenheiten, wobei man die Seele am
meisten nötig hat, ihrem Entwischen zuvorzukommen. Bei
Gastmahlen z. B. wird man die ganze Wohnung geschlossen
finden, damit die Tondi gezwungen wird, an der Freude teil-
zunehmen und von allen Leckerbissen, welche
aufgetragen werden, mitessen kann. Im
Krankheitsfälle nimmt man Arzneien ein,
damit die Tondi zu ihrer Genesung davon
Gebrauch machen soll, ausgenommen, wenn
man glaubt, daß sie den Körper verlassen
hat. Ist dies der Fall, hat sie die Flucht
ergriffen, was nur durch Einstuß von bösen
Geistern der Fall sein kann, die sie ver-
scheucht und ihre Stelle eingenommen haben,
um den Menschen zu quälen, dann muß
man bestrebt sein, diese mit allen Mitteln
auszutreiben und die Tondi wieder zurück-
zurufen. Kommt sie aus eigenem Antriebe
zurück, dann ist der Kranke bald wieder
gesund, bleibt sie aber weg, dann muß er
sterben6).
Das hier oben Ausgeführte gilt .aber
ausschließlich für die höher Stehenden, wie
z. B. die Häuptlinge und Priester; das ge-
meine Volk weiß hiervon so gut wie nichts.
Letzteres kennt nur eine Tondi, von der man glaubt, daß sie
ans dem Haupte ihren Sitz habe Z.
Alle Bataks aber, vornehme wie geringe, denken sich
die Seele als eine Schutzfrau des Körpers. Bei gegenseitiger
Berührung sagen sie u. a. „turkis do hamu, turkis do
tondimu“, d. h. „sei gesegnet und ich dabei, heil sei deiner
Seele", während sie bei Verfluchungen einander zurufen:
„tondirnn alomu“, „meine Seele sei Dein Feind"8).
Außer dem Menschen erkennt, wie wir sck)ou oben
erwähnten, der Batak auch Tieren, Pflanzen und leb-
losen Gegenständen eine Seele zu. Unter den Tieren sind
es besonders Tiger, Schlangen, Eidechsen rc., welche als
beseelt betrachtet werden, während unter den Pflanzen der
Reis hier in Betracht kommt. Die Bataks von Sipirok z. B.
opfern, sobald als der Reis in die Ähren zu schießen beginnt,
der Toudi ni eme, der Seele des Reises, weil sie sonst
fürchten müssen, leere Ähren zu ernten8).
Von dem Dogma endlich, das auch leblose Gegenstände
eine Seele haben können, finden wir ein Beispiel in der Er-
zählung Si Djohana. Ans dieser geht hervor, daß ein
Handwerker, ein Schmied, seine Werkzeuge und sein Eisen als
Opfer spendet, damit seine Arbeit ohne Verzögerung verlaufen
kann io). Ein andres Beispiel liefert die Verehrung der
Udos ni tondi. In Kriegszeiten oder wenn Epidemieen die
Bevölkerung mit Untergang bedrohten, wurde es ans einem
37*
292
Dr. A. Sauer: Die Ursachen der Oberflächengestaltung des nordischen Flachlandes.
Kasten, worin es aufbewahrt war, hervorgeholt und unter
Darbringung von Opfern gebeten, den Krieg oder die Seuche
abzuwenden. Das Opfer bestand aus Reis, mananti11).
1) v. d. Tunk, Holl. Bataksch Woerdenboek, i. v.
manuk.
2) Dr. Haan, Yerslag eener reis in de Bataklanden.
Yerhandl. v. het. Bat. Gen. v. K. en W. Th. XXXVIII,
S. 14 ff.
3) Willen, Het Strafrecht by de Yolken van het Malei-
sche ras. S. 54.
4) Willen, Het Animisme by de Yolken van den Oost
Indischen Archipel, Teil I, S. 149—158. Siehe auch unsere
Notiz: Nadja Bralt Indische Gids 1891.
°) Hagen, Beiträge zur Kenntnis der Battareligion. Tyd-
schrift v. Ind. T. L. en Vk. Teil XXVIII, S. 514 — 515.
6) Neuniann, Hel Bane- en Bila-stroomgebied op het
eiland Sumatra. Tydschrift v. het Kon. Ned. Aardryksk.
Nachdem die Zeremonie vorüber war, wurde es wieder sorg-
fältig aufgehoben.
Gen., II. Serie, Th. IH, Abteilung: Mehr ausgedehnte Auf-
sâtze Nr. 2, S. 300 ff.
7) v. d. Tuuk, Bataksch-Hollandsch XVoerdenboek, i. V.,
tondi.
з) Neumann, o. c., S. 301 ; v. d. Tunl, o. c., i. v.
tondi.
ch Niemann, Bydrage tot de Kennis van den Gods-
dienst der Bataks. Tydschrift v. Nederlandsch Indie,
1879, Teil I, S. 294.
10) Niemann, Mededeelingen omirent de Literatuur der
Bataks. Bydragen t. d. T. L. en Vk. van Ned. Indie,
3. volgreeks, Teil I, S. 118.
и) v. d. Tuuk, o. c., i. v. santi. Wilken, Het Ani-
misme by de Yolken van den Oost lndischen Archipel,
Teil I, S. 33.
Die Ursachen der Gberflächengestaltung des
norddeutschen Flachlandes.
Von Dr.
Unter obigem Titel bringt das erste Heft des vierten
Bandes, S. 1 bis 166, der Forschungen zur deutschen Landes-
und Volkskunde (herausgegeben von A. Kirchhofs) von Dr.
F. Wahnschaffe eine recht vollständige zusammenfassende
Darstellung über die Beziehungen der glazialen Ablagerungen
der norddeutschen Tiefebene zur Oberflächengestaltung. Eine
derartige Veröffentlichung von zuständiger Seite wird das
größere geologische und geographische Publikum um so mehr
mit Freude begrüßen können, als die in den letzten zwei
Jahrzehnten schnell zu großer Entfaltung gelangte Diluvial-
geologie sich schon so beträchtlich in Einzelheiten vertieft hat,
daß es dem Fernstehenden nicht leicht wird, den Fortschritten
dieses Teiles der Geologie zu folgen. Es dürfte darum
auch den Lesern dieser Zeitschrift nicht unwillkommen sein,
durch eine ausführlichere Besprechung das Wesentlichste des
reichen Inhaltes obiger Abhandlung kennen zu lernen. Der-
selbe gliedert sich in folgende drei Hauptteile: a) Beziehungen
zwischen dem Untergründe des Quartär und der Oberfläche;
b) Einfluß der Eiszeit auf die Oberflächengestaltung; c) Ver-
änderungen der Oberfläche in der postglazialen Zeit.
Die nach Osten allmählich in das große russische Tiefland
verlaufende norddeutsche Tiefebene, deren spitzwinkelig drei-
eckige Umrißformen durch die Streichrichtung der sie be-
grenzenden Mittelgebirge einerseits und durch den Verlauf
der Küste andrerseits im wesentlichen bedingt ist, läßt sich
etwa von Süd nach Nord in folgende Zonen zerlegen:
1. An den Rand der mitteldeutschen Gebirge schließt sich
das snbsudetische, sächsische und subherzynische Vorstufenland,
ein wellig-hügeliges Bergland und Hauptverbreitungsgebiet
des Löß.
2. Dann folgt durch eine mehr oder weniger breite, flache
Senke getrennt, die Zone der südlichen Höhenrücken (die
Trebnitzer Berge 311 m, Katzenberge, das Niederlausitzer
Hügelland, der nach Süden steil abfallende, nach Norden sich
allmählich verflachende Fläming, die Lüneburger Haide), ein
durch die Thalzüge der nach Norden strömenden Gewässer
vielfach durchschnittenes Gebiet, das durch reichliche Sand-
ablagerungen ausgezeichnet ist, während Blocklehm als Ober-
flächenbildner sehr zurücktritt. (Die Sandablagernngen dieser
Zone scheinen ganz allmählich in die Lößbildungen über-
zugehen, wenigstens im Bereiche Nordsachsens. D. Res.)
A. Sauer. .
3. Der mittlere Teil des norddeutschen Flachlandes, eine
mannigfach zerschnittene Hochfläche darstellend, die von großen,
breiten, in der Unterelbe sich vereinigenden, mit Thalsand,
Moor und Schlick erfüllten Diluvialthälern durchzogen wird.
Seen fehlen hier noch auf dem Plateau. Ganz allmählich
steigt dieses nach Norden zu in:
4. den baltischen Höhenrücken an, jene charakteristische,
auf der jütischen Halbinsel beginnende, parallel zur Küste
umbiegende und in nordöstlicher Richtung durch Mecklenburg,
die Uckermark, Pommern bis Danzig streichende Bodenwelle,
welche hier im Turmberge mit 331 m ihren höchsten Punkt
erreicht. In ihrem Bereiche waltet Geschiebemergel vor und
ist der Reichtum an geschlossenen Einsenkungen und Seen
charakteristisch. Die preußische Seenplatte setzt etwas südlicher
ein, besitzt aber dieselbe Streichrichtung.
5. Nach der Küste zu flache Sandebenen, Moorgebiete
und horizontale Geschiebemergellandschaften, ähnlich gestaltetes
Niederungsgebiet westlich der Aller: das Gebiet der unteren
Weser, Hunte und Ems.
Vielfach und schon in sehr früher Zeit hat man die
Oberflächengestaltung der norddeutschen Tiefebene, den Verlauf
der Bodenerhebungen und Vertiefungen, die Richtung der
Thäler u. s. w. mit den tektonischen Hauptlinien des die an-
grenzenden deutschen Mittelgebirge beherrschenden Aufbaues
in Verbindung gebracht; besonders glaubte man folgende
drei Richtungssysteme wesentlich beteiligt: das erz-
gebirgische (SW bis NO), das herzynische (SO bis NW)
und das rheinische (N bis S).
In manchen Füllen werden solcherlei Beziehungen wohl
kaum geleugnet werden können, wenn man berücksichtigt, daß
es E. Geiuitz allein für Mecklenburg gelang, nicht weniger
denn sieben SO bis NW streichende, nahe an die Oberfläche
tretende Züge von Flötzgebirge festzustellen. Die auf Helgo-
land zu Tage tretenden Gebirgsglieder (Buntsandstein,
Muschelkalk, Jura, Kreide) treffen in ihrer südöstlich ver-
längerten Streichrichtung genau ans die Muschelkalk- und
Kreideschichten bei Lüneburg. In Ost- und Westpreußen ist
Kreideformation 27 mal erbohrt worden. Bekannt ist die
Muschelkalkklippe bei Rüdersdorf; die Dyasformation durch-
ragt das Diluvium, ohne daß tektonische Beziehungen zwischen
diesen Punkten sich auffinden ließen, bei Husum, Seegeberg,
Dr. A. Sauer: Die Ursachen der Oberflächengestaltung des norddeutschen Flachlandes.
293
Stade, Lüneburg, Sperenberg. Die mutmaßlich großen Un-
ebenheiten des älteren Gebirgsnntergrnndes wurden jeden-
falls beträchtlich durch die sich auflagernden Schichten der
Tertiärformation ausgeglichen, neue Niveaudifferenzen aber
durch die vorwiegend in der jüngeren Tertiärzeit (Miozän)
sich energisch kundgebenden Gebirgsstörungen geschaffen, die
sicher das Gebiet der norddeutschen Tiefebene nicht unbeein-
flußt gelassen haben, da diese Dislokationen sich viel weiter
Rundhöcker aus Granit in der Spittelforst bei Kamenz in Sachsen. Nach einer Photographie von Dr E. Weber.
erstrecken, als man sonst glaubt und nach v. Könen z. B. ein
Zug derartiger Störungen sich kontinuierlich von Osnabrück
über Koburg bis Linz verfolgen läßt.
Nicht unwahrscheinlich ist es, daß diese Bewegungen der
Erdrinde bis in die Diluvialzeit sich fortgesetzt haben, wie z. B.
aus Profilen an der Ostseesteilküste geschlossen werden muß,
Geröllzug von Neu Rosow bei Stettin. Nach einer Photographie von Dr. Luttermann.
wo Kreide und älteres Diluvium in sehr deutlichen Ver-
werfungen aneinander grenzen. So sicht auch A. Jentsch
die Oberslächenformcn Ost- und Westpreußens im wesentlichen
durch relativ jugendliche Gebirgsstörungen bedingt. Doch
muß, wie der Verfasser sicher glaubt, der diluvialen Jnland-
eisbedecknng und deren Begleiterscheinungen der bedeutendste
Einfluß auf die Obcrflüchengestaltung der norddeutschen Tief-
ebene zugeschrieben werden. Um die fremden Geschiebe im
sogenannten Schwemmlande auf einheimischem Boden zu
erklären, hielt L. v. Buch ein Herüberschleudern der Blöcke
294
Dr. A. Sauer: Die Ursachen der Obcrflächengestaltung des norddeutschen Flachlandes.
von skandinavischer Seite nicht für unmöglich, nahm Sef-
ström eine gewaltige Rollsteinflut an und ließ Lyell die
schwedischen Fremdlinge, auf Eisbergen verfrachtet, zu uns
gelangen. Doch alle diese Anschauungen vermochten keine
befriedigende Erklärung des Diluvialphänomens zu geben, erst
der Jnlaudeistheorie gelang es, das Rätsel zu lösen.
Nach dem gegenwärtigen Stande der Wissenschaft muß man
annehmen, daß die in der Diluvialzeit die ganze norddeutsche
Tiefebene und die angrenzenden Mittelgebirge noch bis in
ihre Vorstufen hinauf bedeckende Jnlandeismasse eine große
Mächtigkeit besessen haben muß, die in den nördlichen Teilen
1000 ni erreicht, wenn nicht überschritten hat. Daß einer
solchen auf nahezu horizontaler Unterlage fortschreitenden
Eismasse soviel Bewegnngsfühigkeit innewohnen konnte, um
gelegentlich sogar bergan zu schieben, darf nicht mehr be-
zweifelt werden. Die Ostsee war bereits vorhanden, als die
gewaltige Eisbarre vorschob, sie ausfüllte und überschritt.
In vieler Hinsicht bietet Grönland, dessen ungeheure Land-
fläche gegenwärtig sicherlich bis zum 75 Grad nördl. Br. unter
einer fast horizontal gelagerten Jnlandeisdecke, begraben liegt,
Analogien für die diluviale Vergletscherung. Zn den wichtig-
sten Zeugnissen dieser gewaltigen Gletscherinvasion gehören
die charakteristischen Beeinflussungen der damaligen Ober-
fläche : G l a z i a l s ch r a mm e n und -Schliffe auf air-
st e h e n d c m F e l s, sowie Schichtenstörungeu und Anfpressnngen
des Untergruildes. Abschleifnngen von Felskuppen trifft man
besonders häufig im südlichen Randgebiete, wo Felsklippen
das Diluvium häufiger durchragen. Referent möchte hier
ganz besonders darauf hinweisen, daß bereits im Jahre
1847 C. F. Naumann echte Glazialschliffe an den Porphyr-
kuppen der Hohbnrger Berge beobachtetes, 1875 entdeckte
Torell solche an den Muschelkalkkuppen von Rüdersdorf.
Letztere Beobachtung gab den bedeutungsvollen Anstoß, welcher
dazu führte, die ehemalige Vergletscherung der skandinavischen
Halbinsel sich über die ganze nördliche Tiefebene fortgesetzt zu
denken. Glazialstreifen ans anstehendem Fels wurden im
Bereiche der norddeutschen Tiefebene bisher beobachtet bei
Osnabrück, Velpke (nordwestlich von Magdeburg), bei Magde-
burg und Gommern, Rüdersdorf, Landsberg, Halle, Taucha,
Beucha, Wurzen (Hohbnrger Porphyr), Oschatz, Lüttichau,
Kamenz, Lommatsch, Groß Schweidnitz, Strehlen. Eine aus-
geprägt glaziale Rundhöckerbildung zeichnet die Grauitkuppen
bei Kamenz ans. Umstehende Abbildung, nach einer von dem
sächsischen Geologen Dr. E. Weber aufgenommenen Photo-
graphie hergestellt, läßt unschwer die charakteristische Form
der roch68 moutonnées erkennen.
Weite Verbreitung besitzen Schichtenstauchnngen im
alten Gletscheruntergrunde; sie sind wohl verständlich,
wenn man berücksichtigt, daß es nicht eine etwa mit unsern
alpinen Gletschern vergleichbare, sondern Hunderte von Metern
mächtige Eismasse war, die sich auf einem etwas unebenen,
meist aus nachgiebigen Schichten bestehenden Untergründe
fortbewegte. So konnte z. B. eine tiefgreifende Aufpressnng
der Tertiärschichten in nach Süden umgelegte Falten im
Grünbergcr Höhenzuge stattfinden, oder es konnten wallartige
Anfstanchungen im Hintergründe der mit Beginn der Eiszeit
an der holsteinischen Küste schon vorhandenen Föhrden hervor-
gerufen werden, welche gegenwärtig die Eider zwingen, in die
Nordsee zu münden. Das Produkt des diluvialen Einschubes
ist die überaus bezeichnende, weit verbreitete, noch z. B. in
Sachsen bis 20 m mächtige G rund moräne, eine thonig-
grandige Trümmerablagerung, in welcher ohne Ordnung, nach
Größe und Schwere das verschiedenste Gesteinsmaterial bei
einander liegt; solches aus dem skandinavisch-baltischen Ge-
is Hier, wie auch bei Halle, weisen vie anstehenden Felsen
neben Glazialstreifung auch Sandschlisse auf.
biete wiegt meist vor. Die größeren und kleineren Gesteins-
bruchstücke (Geschiebe) sind fast immer gerundet, oft ausge-
zeichnet geschrammt. Es ist sehr wahrscheinlich, daß der
diluvialen Jnlandeismasse, ebenso wie gegenwärtig der grön-
ländischen, eine sogenannte Oberflächemnorttne gefehlt hat.
Die Frage, ob die diluviale Vereisung eine einmalige oder
sich wiederholende war, muß gegenwärtig dahin beantwortet
werden, daß die norddeutsche Tiefebene sicherlich der Schau-
platz einer zweifachen Vereisung war, welche, wie die
zwischen unterer und oberer Moräne liegenden Bildungen
(Süßwasserschichten, Diatomeenlager, Torflager, marine
Schichten mit Cardium edule noch 82 km von der Ostseeküste
landeinwärts) beweisen, durch eine längere Jnterglazialperiode
getrennt war. Überdies fehlte es auch nicht au lokalen
Oszillationen, die besonders am Südrande während der ersten
Vergletscherung eintraten und sich in einer mehrfachen Wechsel-
lagerung von Grundmorüne (Geschiebelehm) mit Flußschotter
zu erkennen geben.
Der Einfluß der Ablagerungen des unteren Diluviums
auf die Oberflächengestaltnng des norddeutschen Flachlandes
wird auch deshalb nicht so bedeutend, weil unmittelbar vor
und nach dem unteren Geschiebemergel gleichzeitig geschichtete
Bildungen abgelagert wurden, welche beide das ursprüngliche
Relief veränderten und verhüllten. Über diesen Bildungen
der ersten Vereisung, deren Oberflächenformen wieder durch
die Flüsse der Jnterglazialzeit vielfache Veränderungen erlitten,
wurden die Ablagerungen der zweiten Vereisung
ausgebreitet, die im mittleren und nördlichen Teile des
norddeutschen Flachlandes unmittelbar die Oberflächenform
bedingen, während sie im Bereiche und südlich vom südlichen
Höhenrücken, bis wohin die zweite Vergletscherung nicht
reichte, fehlen. Der obere Geschiebemergel, die Grundmoräne
der zweiten Vereisung, bildet ausgedehnte Flächen im östlichen
Teile von Schleswig-Holstein, Mecklenburg, Brandenburg,
Pommern, Posen, Ost- und Westpreußeu, scheint jedoch schon
westlich der Elbe, wie Klockmann nachgewiesen hat, zu
fehlen. Zwei verschiedene Oberflächenformen herrschen in
ersterem Gebiete, ebene plateauartige Flächen, welche von
nordsüdlich gerichteten, wahrscheinlich durch diluviale Schmelz-
wässer hervorgerufene Rinnen durchfurcht werden und ver-
einzelte oder zu Reihen angeordnete Pfuhle oder Sülle, die
alten glazialen Strudcllöcher, aufweisen (Gegend von Berlin,
Posen—Gnesen—Jarotschiu, Königsberg—Eydtkuhnen, Küsten-
gebiet von Vor- und Hinterpommern). Am südlichen Rande
seines Gebietes geht der obere Geschiebemergel in Geschiebe-
sand über; dieser überzieht öde, eintönige, wenig gegliederte
Hochflächen (Lüneburger Haide und die südöstlich angrenzenden
Gebiete der Altmark). Ob dieser Geschiebe führende Sand
ein Auswaschungsprodukt des Geschiebelehmes durch Gletscher-
wässer darstellt, wie der Verfasser glaubt, oder ob er zum
großen Teil als ein Ausblasungsrückstand dieses Geschiebe-
lehmes zu betrachten ist, worauf die zahlreichen Kanten-
geschiebe im Sande hinweisen, wurde bisher anscheinend
nicht näher geprüft. Die andre Art der Oberslächenbildung
im jüngeren Geschiebemergel ist nach dem Verfasser im eigent-
lichsten Sinne als Grund Moränenlandschaft zu be-
zeichnen.
Auf geringe Entfernungen weist diese einen raschen Wechsel
der Höhenunterschiede ans; zahllose Küppchen und Boden-
wellen wechseln schnell und in ganz unregelmäßiger Verteilung
mit flachen Einsenkungen, die sich als meist mit Torf und
Moor erfüllte rundliche Pfuhle und größere, mehr oder
weniger unregelmäßig gestaltete Moore und Seen darstellen.
Dieser typische Charakter der Grundmoränelaudschaft ist vor-
wiegend dem baltischen Höhenrücken eigen; sie wurde nach
dem Verfasser im großen und ganzen durch das vorrückende
Inlandeis der letzten Glazialzeit ausgebildet, während sie
Dr. A. Sauer: Die Ursachen der Oberflächengcstaltung des norddeutschen Flachlandes.
295
beim Rückzüge desselben, als ein Stillstand auf dem baltischen
Höhenrücken eintrat und zur Bildung von Endmoränen Ver-
aulassung gab, nur unwesentliche Veränderungen erlitt. Ganz
besonders muß aber gerade auch in diesem Gebiete das Inland-
eis, welches nach Ausfüllung des Ostseebcckens gegen die Süd-
und Westküste desselben heranflutete, infolge des Widerstandes,
den die den Rand des Beckens bildenden älteren Schichten
boten, eine zertrümmernde, abtragende und zusammenschiebende
Wirkung ausgeübt haben. Auf Grund der geographischen
Verteilung läßt sich ferner schwer die Vermutung unter-
drücken, daß zwischen der Seenplatte und dem Ostseebecken
Beziehungen vorhanden sind, welche sicher in der Eiszeit
wurzeln. Eine weitere topographische Eigentümlichkeit im
Bereiche des baltischen Landrückens sind weithin verfolgbare,
in der Breite zwischen 100 bis 400 m schwankende Ge-
schieberücken, dichte Anhäufungen von chaotisch aufeinander
getürmten, mit Sand vermischten Geschieben, Aufragungen,
welche bis zu 400 in über die Umgebung sich erheben und
welche man gegenwärtig mit ziemlicher Sicherheit ans End-
moränen glaubt zurückführen zu können. Gut bekannt ist
bereits die uckermärkische, von Eberswalde bis Fürstenwerder
verfolgbare Endmoräne. Das Vorland derselben stellt ein
sandiges, von schmalen Wasscrlänfen und vcrtorften Rinnen
durchzogenes Terrain dar, welches seine Modellierung durch
die dem Eisrande entströmenden Schmelzwasser erhielt; von
der Endmoräne einwärts gelangt man in die unruhige, viel-
gestaltige Landschaft der Grundmoräne. Endmoränen haben
sicher noch eine größere Verbreitung, als man bisher über-
sehen kann; nachgewiesen wurden solche noch durch Berendt
östlich von der Oder bei Schwiebus; eine große Entfaltung
gewinnen sie nach Keilhack auf dem Höhenrücken Hinter-
pommerns, sie sind in Mecklenburg und Schleswig-Holstein
gleichfalls vorhanden. Auch in Pommern bildet die der
Endmoräne sich vorlagernde Haidesandlandschaft einen schroffen
Gegensatz zur Morünelaudschaft. Ihrer äußeren Erscheinungs-
form auch der Entstehung nach, nicht aber in der inneren
Struktur schließen sich den Endmoränen Bildungen an, die
aus einzelnen oder in langer Linie angeordneten Hügeln,
selbst ans langgezogenen Kämmen bestehen, in der Uckermark,
Mecklenburg. Vorpommern und Ostpreußen verbreitet sind
und als D u r ch r a g n n g s z ü g e deswegen bezeichnet werden,
weil sie vorwiegend aus fluvio - glazialen Ablagerungen be-
stehend beim Rückzüge oder während einer langen Periode
des Stillstandes vor dem Gletscherende emporgepreßt wurden.
Unsere zweite Abbildung auf S. 293 veranschaulicht nach
einer Photographie von Lattcrmann einen derartigen
endmoräne- artigen Durchragnngszug.
Die diluviale Eisbedeckung übte naturgemäß auf die
hydrographischen Verhältnisse einen sehr bestimmenden
Einfluß aus. Schon längst wissen wir, daß der gegenwärtige
Lauf der norddeutschen Hauptströme beträchtlich von der
Richtung der diluvialen Stromthäler abweicht, doch erst in
der Neuzeit war es möglich, diese Flußläufe im Detail zu
verfolgen. Die Richtung der alten Urströme war haupt-
sächlich eine westliche bis nordwestliche; im Gebiete der Unter-
elbe flössen sie zusammen, um sich vereint in die Nordsee zu
ergießen. Das nördlichste dieser Thäler, das alte Weichsel-
thal, lenkte ab über Bromberg nach Küstrin, folgte Netze und
Warthethal, der Finnowniederung nach der Elbe zu; das
alte Oderthal ging die Bznra und Ner entlang, in das
Warthethal, das Obrabruch zur heutigen Oder, von da durch
die Spreeniederung über Berlin—Spandau—Nauen—Friesack
und Ferbellin mit dem alten Weichsclthale zusammentreffend.
Ein südliches, altes Parallelthal, ist das Glogau—Baruther-
thal, welches bei Gcnthin in das alte Elbthal einmündet.
Das letztere verläuft längs der schwarzen Elster bis Hoyers-
werda, am Südrande des Fläming bis Aken, nordwestlich
nach Magdeburg, zuletzt mehr nordöstlich. Die weitere west-
liche Fortsetzung des Urstromes führte wahrscheinlich die
jetzige Ohre entlang, durch die Aller, zur Weser. Durch das
System der großen diluvialen Hauptthäler hat das mittlere
Gebiet des norddeutschen Flachlaudes eine deutliche Gliederung
erhalten. Die Thäler bildeten nach Berendt, der sich um
Erforschung gerade dieser Erscheinungen sehr verdient gemacht
hat, beim Rückzüge des Eises die großen Sammelrinnen,
welche quer vor dem Eisrande entstanden und mit ihm sich
allmählich nach Norden verlegten. Dadurch, daß die südlichen
Hauptströme unter Benutzung toter nordsüdlicher Schmelz-
wasserrinnen nach dem parallelen, nördlich gelegenem Thale
durchbrachen oder auch nur Versuche zu solchen Durchbrüchen
machten, erhielten die zwischen den großen Thälern liegenden
Dilnvialhochflächcn eine weitere sehr komplizierte Gliederung.
Während das Eis auf den Hochflächen abschmolz und durch
die Einwirkungen der Schmelzwässcr die Geschiebe führenden
Sande als Rückstand der Moräne liegen blieben, sammelten
sich die Wasser in den Rinnen und sonderten hier das mit-
geführte Material, so daß man nach dem Plateau zu an-
steigend immer gröber werdende Sedimente findet. Die aus-
gedehnten Thalsande, welche in völlig ebener und nur durch
spätere Moorbildungcn unterbrochener Fläche die zum Teil
11/2 Meilen breiten Thäler erfüllen, geben denselben einen
ganz besonders eintönigen Landschaftscharaktcr, so daß der
Reisende, welcher das norddeutsche Flachland mit den Eisen-
bahnen durchquert, über die außerordentliche Einförmigkeit
erstaunt ist. Der Grund hierfür liegt darin, daß die Haupt-
eisenbahnlinien die großen diluvialen Längsthäler und die sie
verbindenden Durchbrüche benutzten. Gerade der Thalsand
ist es, der so recht eigentümlich mit seinen geraden, tiefen
Sandwegen in endlos scheinender Perspektive die Mark
Brandenburg ihres Sandes halber in Verruf gebracht hat.
Die große Fricdrichstraße in Berlin verdankt ihre fast genau
eine halbe Meile lange, vollkommen gerade und zugleich
horizontale Linie in erster Reihe dem Thalsaude, auf welchem
sie in der Hauptsache erbaut ist.
Im Bereiche des an die norddeutsche Tiefebene an-
grenzenden Vorstufcnlandes breitet sich der Löß aus, welcher
hauptsächlich im südlichen und südwestlichen Randgebiete am
besten bekannt ist, den fruchtbarsten Kulturboden liefert, und
so auch die Fruchtbarkeit der gesegneten Magdeburger Börde
bedingt, hier aber offenbar nicht ganz typisch entwickelt ist, da
ihm die sonst in jedem typischen Lößgebiete häufigen Löß-
schnecken fehlen. Verfasser hält den Löß der Magdeburger
Börde und damit auch den Löß im ganzen Bereiche der nord-
deutschen Tiefebene für fluviatil. Die Gegengründe des Refe-
renten, welche für die äolische Entstehung des Löß sprechen,
werden vom Verfasser nur fragmentar mitgeteilt. Auf einer-
unrichtigen Beobachtung beruht auch die Angabe, daß die den
Hauptbestandteil des Löß ausmachenden Quarzkörnchcn eckig-
scharfkantig seien. Sie sind in allen mitteldeutschen Lössen
den Bördelöß eingerechnet, die Referent zu untersuchen Ge-
legenheit hatte, deutlich kantengerundet.
Es ist eine bekannte Erscheinung, daß Gebiete alter Ver-
gletscherung reich an Seen sind. In der norddeutschen Tief-
ebene sind diese auch vorhanden, doch nicht überall; dicht
gedrängt liegen sie nur auf dem baltischen Höhenrücken bei
einander, westlich der Elbe fehlen sie überhaupt gänzlich.
Über ihre Entstehung ist man sehr verschiedener Ansicht;
Berendt hält sie für Teile von Schmelzwasserrinnen, Klock-
mann unterscheidet für Mecklenburg Falten- und Erosions-
seen (also Rinnenseen), Jentsch erinnert an die mächtigen
unterglazialen, von Nansen beobachteten ^Ströme und glaubt,
daß auch diese Ursache der Seenbildung gewesen sein können,
endlich denkt sich Geinitz viele Seen durch die Thätigkeit der
herabstürzenden Schmelzwässer ausgekolkt. Verfasser dagegen
296
B. W. Segel: Jüdische Nolksmärchen.
hält die Mehrzahl der Seen für einfache Wafferansammlungen
im Bereiche der an flachen Einsenkungen reichen, mit schwer
durchlässigem Untergründe versehenen Grundmoränenlandschaft.
Dafür sprechen Ergebnisse von Lothungen wie auch das un-
gestörte Herabgehen des oberen Geschiebemergels von der Höhe
bis in das Niveau des Sees. Bei Joachimsthal finden wir
eine seltene Art echter Stauseen, die durch die festgepackte
Endmoräne erzeugt sind.
Eine kurze Besprechung der noch in die Gegenwart
hereinreichenden Bildungen der alluvialen Schlickabsätze, der
Torfmoore, und jugendlichen Dünen bildet den Schluß der
Arbeit.
Jüdische Volksmärchen.
„ Von B. XD. Segel. Lemberg.
II.
2. Der Adler.
Es waren einmal zwei Freunde, die besuchten zusammen
das Cheder H. Der eine, Abraham, lernte sehr gut, der
andre aber, Israel, der Hebamme Sohn, wollte gar nichts
lernen. Aber was Elias, der Prophet, ihn im stillen Walde
lehrte, davon wußte niemand, denn er war ein Baal-Haschem 2),
nur sollte er erst im 32. Lebensjahre weltbekannt werden.
Dem Abraham begann man schon Partieen vorzuschlagen^),
er heiratete; und sein Chcder-Genosse Israel war indessen
verschwunden. Wie aber das 32. Jahr erfüllt wurde, da
wurde er berühmt, und die ganze Welt begann zu ihm zu
wallfahren, und sein Name war heilig. Abraham hatte keine
Kinder; wie sein Weib von dem berühmten Gottesmann ver-
nahm, bat sie ihren Mann, er solle zu ihm fahren, und seine
Fürsprache bei Gott erbitten, daß er ihr einen Sohn schenke.
Der Mann that ihr zu lieb, fuhr dorthin, und als er ankam,
erkannten sich die gewesenen Kollegen. — „Israel, was machst
du Gutes?" „Was hört man?" — Der Baal-Haschem ant-
wortete : „Du wirst gewiß bei mir Sabbat halten" (den
Samstag über bleiben). Jener sagte: „Nein, ich muß auf
Samstag nach Hause fahren." Er war aber ein sehr heiliger
Mann, und er that ein Wunder, daß jener über Samstag
bleiben mußte. Der Heilige hat wegen der Anwesenheit des
Gastes, sich anders betragen als sonst; er betete, benschte4)
und ging zu Bette, ganz wie gewöhnliche Menschen. Abraham
sah, daß der große Baal-Haschem ganz den gemeinen Leuten
gleiche, er verlor deshalb das Vertrauen zu seiner Wunder-
kraft, und trug ihm die Bitte gar nicht vor. Wie er nach
Hause kam, fragte ihn seine Frau, was der Heilige geant-
wortet habe. „Gott wird schon helfen!" war seine Antwort —
sagte Abraham. Die Frau merkte jedoch, daß er ihr sehr
kalt antwortete, sie drang deshalb in ihren Mann, daß er
noch einmal hinfahre. Er mußte ihr willfahren, und so
fuhr er nochmals zum Heiligen. Jetzt trug er schon dem
Heiligen seine Bitte vor; dieser antwortete: „Einen Sohn
wirst Du bekommen, aber zur Strafe für Dein Mißtrauen
an Gottes Wundermacht wird Dein Sohn keinen Siwug
(Ehehälfte 5) haben. Abraham reiste nach Hause und erzählte
es seiner Frau. Diese freute sich sehr und sagte: „Was soll
ich mich jetzt bekümmern, was nach 20 Jahren geschehen wird! 1 2 3
1) Cheder — untere Schule für Bibel und Ansangsgründe
des Thalmud.
2) Baal-Haschem, wörtlich: Mann von Namen; so nannten
sich die ersten frommen und heiligen Wunderthäter, die im
Anfange des vorigen^Jnhrhunderts auftauchten, und die Partei
der Chassidim begründeten. Heutzutage nennen sic sich „Rebbe",
verdorben von Rabbi; mit letzterem Namen verbindet nian den
Begriff Thalmud-Gelehrter, was das Wundertun und den
Mysticismus ausschließt.
3) Die Juden verheiraten ihre Kinder sehr früh. Die
Eltern wählen für ihre Kinder mit Hilfe eigener Ehevermittlcr.
4) benschen — das Gebet nach dem Mahle sprechen.
5) Siwug, heißt sowohl ein Gemahl als eine Gemahlin.
Ich bin froh, daß ich einen Sohn haben werde." Der Segen
ging auch bald in Erfüllung. Des Abraham Weib hatte,
sobald ein Jahr vorüber war, einen Sohn. Dieser Sohn
wuchs heran, und mit ihm wuchsen seine Vorzüge und
Kenntnisse. Kurz, er kannte 70 Sprachen und allerlei
Weisheiten. Wenn man ihm von einer Partie sprach, wollte
er gar nicht darauf hören. Einmal kam ein Onkel dorthin
und sagte ihm, er sollte mit ihm fahren; denn er war ein
Kaufmann, und wollte ihn in eine große Stadt mitnehmen.
Der Junge reiste mit, und sein Vater gab ihm mehrere
Fuhren Getreide, damit er sie in jener großen Stadt, unter
dem Auge des Onkels verkaufe; denn er sagte, es ist schon
Zeit, daß du auch irgend ein Geschäft lernst, um später dein
Auskommen zu haben. Wie sie in die Stadt kamen, ver-
kaufte der Onkel seine Ware, und sagte zum Neffen: „Ver-
kaufe auch Du Deine Ware, und dann wollen wir heim-
fahren." Dieser aber sagte: „Ihr könnt, lieber Onkel, glücklich
reisen, ich werde noch hier bleiben, denn wann werde ich
zum zweitenmal Gelegenheit haben eine so große und schöne
Stadl zu sehen?" Der Onkel reiste also heim, und der
Junge blieb in der Stadt. Einmal stand er am offenen
Fenster und sah einen Packenträger (Bücherhausierer) vorüber-
gehen, den fragte er: „Wie viel könnt Ihr die Woche ver-
dienen?" „Zwei Gulden, und wenn Gott hilft auch drei
Gulden", sagte der Packeuträger. Der Junge sagte: „Ich
gebe Euch drei Gulden die Woche, und Ihr werdet mit mir
herumgehen in der ganzen Stadt, und mir alles Merkwürdige
zeigen." Denn allein fürchtete er sich zu gehen, um sich nicht
zu verirren. Wie sie so alle Tage gingen, kamen sie einmal
in eine schmale Gasse mit einer Reihe hoher Mauern au
jeder Seite, so, daß es finster war. In der Höhe hing ein
Kasten au zwei Ketten an den zwei Mauern befestigt. Da
fragte der Junge; „Was bedeutet dieser Kasten?" Antwortete
der Packenträger: „Bei uns ist es Sitte, wenn ein Kauf-
mann stirbt, und Christen Geld schuldig bleibt, so muß man
ihn in diesen Kasten hineinlegen; an der Seite desselben be-
findet sich eine Büchse, und jeder Jude, der vorübergeht, wirft
soviel hinein, als sein gut Herz will, und erst wenn in der
Büchse die betreffende Summe gesammelt ist, kann man dem
Leichnam ein jüdisch Grab bereiten." Der Frenide fragte, ob
sein Führer nicht wisse, wieviel der Verstorbene schuldig ge-
wesen sei; antwortete dieser, er könne die Gemeinderegierer
fragen. Diese sagten, die Schuld betrage 2000 Gulden.
Der Junge zahlte die Summe und ließ die Leiche ehrlich be-
statten. Nach einigen Tage begannen die Regierer sich sehr
darüber zu ärgern, daß sic sich von einem wild fremden
Jungen eine so große Mizwoh (gottgefällige That) hatten weg-
schnappen lassen. War doch der Kaufmann ihr Freund und
Genosse gewesen, und sie hatten nicht so viel Einsicht gehabt,
das Geld selbst zu bezahlen, damit die arme Lerche zur Ruhe
gelangte. Dazu waren sie doch reiche Leute; und ließen sich
von einem fremden Jungen beschämen! Sie ließen daher
B. W. «Kegel: jüdische Volksmärchen.
297
den Fremden rufen und forderten ihn auf, sein Geld zurück-
zunehmen. Aber dieser wollte nichts davon hören. Man
schickte nun eine Bitte zum Kaiser, daß dieser dem Fremden
befehlen solle, sein Geld zurückzunehmen. Aber der Kaiser
willigte nicht ein, sondern ließ den Jungen zu sich kommen.
Der Kaiser kannte auch 70 Sprachen, und saß auf einem
Thron von 70 Stufen. Der Junge gefiel dem Kaiser sehr,
und er ließ ihn täglich eine Stufe höher steigen, bis er end-
lich zum Kaiser gelangte. Dann führte ihn der Kaiser in
allen Schatzkammern herum, und bot ihm an, er solle sich
etwas von den Schützen auswählen. Der Junge wollte aber
gar kein Geschenk. Da ging der Kaiser mit ihm in den
Lustgarten spazieren; dort sah er, wie ein Offizier umherging,
und hinter ihm zwei sehr schöne Mädchen, die Hände in
goldenen Kettchen. Fragte er den Kaiser, was das bedeute;
antwortete ihm der Kaiser, er habe einmal Krieg geführt mit
einem andern Kaiser, und habe diese Mädchen gefangen; er
halte sie hier im Spaziergarten, und schone sie sehr, nur
müßten sie goldene Ketten tragen. Der Junge bat bcu
Kaiser, er solle ihm die beiden Mädchen schenken; der Kaiser
schenkte sie ihm, und er reiste mit ihnen heim. Auf dem
Wege schrieb er nach Hause, daß man ihm entgegen reisen
solle, denn er komme bald heim. Die Eltern waren über
diese Nachricht sehr erfreut, reisten ihm entgegen, aber wie
sie die beiden schönen Mädchen sahen, fragten sie: „Was be-
deutet das", er aber antwortete: „seid ruhig, cs ist so recht."
Nun ließ er die beiden Mädchen zum Judentum bekehren, und
heiratete die eine, die andre heiratete sein Geschwisterkind.
Das Ehepaar lebte lange sehr glücklich und zufrieden.
Das junge Weibchen aber bekam große Sehnsucht nach ihren
Eltern. Einmal sagte sie zu ihrem Manne, er solle nach
England fahren und zwei Schiffe Flachs mitnehmen, denn
dort sei Flachs sehr teuer. Sie gab ihm ein Schnupftuch
mit, welches mit goldenen Buchstaben bestickt war, die konnte
niemand lesen als die kaiserliche Familie von England. Und
sie sagte zu ihm: „Dieses Tüchelchen wird Dich von allen
Nöten retten." Er ist gefahren, und wie er dort ankam,
fragte man ihn: „Was hast Du in Deinen Schiffen." Er
antwortete: „Flachs." Man ergriff ihn, und schleuderte ihn
in eine tiefe Gruft, denn Flachs durfte man dort nicht ein-
mal zeigen. Man gab ihm in die Gruft ein Stück Brot
und ein Krügelchen Wasser, und wie dieser Vorrat zu Ende
war, sollte er Hungers sterben. Da begann er jämmerlich
zu weinen und zu klagen. Da ging eine arme alte Frau
vorbei und hörte das Weinen, sie trat näher, und fragte, wer
dort sei. Er bat sie sehr, sie solle ihn nicht vor Hunger
sterben lassen, und band an eine Schnur, welche sic herunter-
ließ, ein Goldstück. Die arme Frau brachte ihm dafür
Nahrungsmittel; so machte sie es einige Zeit; und ging immer
auf einem verborgenen Weg zu ihm, denn wer dorthin ging,
war des Todes. Als der Gefangene kein Geld mehr hatte,
gab er ihr seinen Tolub (Pelzmantel), und die arme Frau
verkaufte den Mantel und brachte ihm dafür Brot. Jetzt
hatte er nichts mehr, und begann sehr zu klagen über sein
Unglück. Da erinnerte er sich des Tüchleins, welches ihm
sein Weib gegeben hatte, und das ihn aus allen Nöten retten
sollte. Er band es an die Schnur und die Alte zog es
hinauf. Sie ging damit zu einem Goldschmied, um es zu
verkaufen. Der Goldschmied aber sagte: „Ich muß es zuerst
dem Kaiser zeigen lassen, ob er auch so eins hat." Er schickte
es dem Kaiser, und wie es der Kaiser sah, ward er ohn-
mächtig; und wie es die Kaiserin sah, ward sie auch ohn-
mächtig. Man rief die Alte, und sagte zu ihr: „Wo hast
Du das Tuch hergenommen?" Die Alte sagte: „Wenn Ihr
mir schwöret, mich nicht zu strafen, will ich Euch die Wahr-
heit sagen." Dieses geschah, und nun erzählte die Alte die
ganze Geschichte. Man ließ nun den Gefangenen aus der I
Globus LX. Nr. 19.
Gruft ziehen, und er erzählte die ganze Wahrheit, daß sein
Weib ihm dieses Tuch gegeben habe, wobei sie gesagt habe,
es könne ihn aus jeder Not retten. Sagte der Kaiser: „Du
bist also mein Schwiegersohn", und er umhalste und küßte
ihn, und weinte und freute sich, und die Kaiserin auch. Der
Kaiser beschloß nach seiner Tochter zu schicken. Dort war
aber ein Minister, der war in des Kaisers Tochter verliebt,
aber niemand wußte darum, und er suchte sie schon 12 Jahre.
Wie der Kaiser um seine Tochter schickte, lvollte der Minister
auch mitfahren. Er ist mitgefahren, und wie sie in die
Heimat des Mannes kamen, verkauften sie dort alle Sachen,
setzten sich in ein Schiff und fuhren zum Kaiser. Unterwegs,
auf dem Meere, machte der Minister den Eidam des Kaisers
trunken und ließ das Brett im Abort ausschneiden, daß jener,
wenn er hineinginge, ins Wasser falle. Es war auch wirk-
lich so, er ging hinein und fiel ins Wasser. Die Frau saß
und wartete und wartete. Es war schon eine Viertelstunde
vergangen, schon eine Stunde, und er war noch nicht wieder
da. Sie ging hinein und sah, daß das Brett ausgeschnitten
und ihr Mann verschwunden war. Da begann sie sehr zu
weinen, und wollte nicht aufhören, aber der Minister tröstete
sie, und das Schiff schwamm indessen weiter, bis sie nach
England in des Kaisers Palast kamen.
Der Mann war aber nicht ertrunken, sondern ein Fisch
verschlang ihn, und spie ihn am Ufer wieder aus. Das
Ufer war wüst und einsam. Er weinte sehr und sagte: „Gott
gerechter, wozu hat mich der Fisch ausgespieen? Wäre eS
nicht besser für mich gewesen zu sterben, als hier allein ohne
mein Weib zu sein? Und wer weis, was mit meinem Weib
geschehen ist?!" Plötzlich sah er, wie ein großer Adler zu
ihm herabflog; da begann er noch mehr zu weinen. Der
Adler aber sagte: „Schah! still! Setze Dich auf meine Flügel,
und ich werde Dich zu des Kaisers Palast tragen. Dort
wirst Du einen Koch weinen sehen, denn die Tochter des
Kaisers will nicht von seiner Küche essen." Der Kaiser aber
hatte gesagt, wenn er bis zum dritten Tage nicht so gekocht
haben wird, daß die Prinzessin davon essen kann, so soll er
hingerichtet werden. Melde Du Dich also als Koch, dann
lvird sie essen. Und der Adler trug ihn dorthin, und er fand
alles bestätigt; der Koch weinte. Er sagte zu ihm: „Kaufe
andres Gerät und ich will statt Deiner kochen, dann wird sie
essen. Er bereitete alles zu, und schrieb ans ein Stückchen
Papier: Koscher (rituell zubereitet), und die Prinzessin aß.
Der Kaiser aber wurde aufgebracht, und sagte: „Du konntest
kochen, wie es meine Tochter will, und hast sie doch so lange
geplagt, dafür will ich Dich töten. Da antwortete der Koch:
„Nein, Herr König, es ist ein andrer Küchenmeister da, der
kocht, was Deine Tochter ißt." Der Kaiser ließ dem neuen
Koch ein besonderes Zimmer einräumen. Einmal um Mitter-
nacht ging die Prinzessin beim Mondschein spazieren, da hörte
sie, wie jemand Chazot Z abhielt. Sie erkannte sofort die
Stimme ihres Mannes, schritt ans die Thür zu und pochte.
Der Mann öffnete ihr, und sie sagte ihm: „Wisse, daß in
zwei Wochen meine Hochzeit mit dem Minister sein soll.
Auch ist ein chinesischer Prinz zur Hochzeit eingeladen, der
aber nicht kommen wird. Nimm also dieses Geld und fahre
nach Ehinesen (China), kleide Dich wie der chinesische Prinz
und kaufe ein sehr kostbares Geschenk, und komm dann ans
die Hochzeit. Denn bei uns ist Sitte, wenn jemand auf der
Hochzeit sich ein Vergehen zu schulden kommen läßt, so geht
man zu dem, der das schönste Geschenk gebracht hat, und
überläßt ihm das Urteil. Nach der Trauung wird doch
mein Bräutigam mich zum Tanze auffordern, ich aber werde
0 Chazot, wörtlich Mitternacht, übertragen — mystische
Gebete. Klagelieder und Psalmen über die Zerstörung und über
den Messias.
38
293
Dr. I. Hoops: Neue Straßen des Weltverkehrs.
ihn abweisen, und bald wird ein Gerede entstehen: Die
Braut will mit dem Bräutigam nicht tanzen; man wird
dann die Hochzeitsgeschenke aufsuchen, und da Deines das
Schönste sein wird, so wird man das Urteil über mein Ver-
gehen Dir überlassen, und Dich fragen, was soll mit der
Braut geschehen, wenn sie mit dem Bräutigam nicht tanzen
will? Du aber wirst wohl schon wissen, was Du zu ur-
teilen hast."
Der vermeintliche Koch reiste nun nach Chinesen (China),
kleidete sich wie der chinesische Prinz und kam zur Hochzeit.
Nach der Trauung lud der Minister die Braut zum Tanze
ein, aber diese stieß ihn mit dem Fuße von sich. Es entstand
nun ein Murren unter den Gästen; die Braut wollte mit
dem Bräutigam nicht tanzen! Man begann die Geschenke
zu untersuchen, und fand, daß des chinesischen Prinzen Ge-
schenk das Schönste sei. Man begab sich zu ihm, und fragte
nach seinem Urteil. Dieser aber fragte dagegen: „Und was
kommt demjenigen zu, der ein Brett ausschnitt, und ihren
Mann ins Wasser stürzte?" Darauf erblaßte der Minister,
und sank zu Boden. Der Kaiser war über die Sache
erstaunt, und erkundigte sich nach der ganzen Angelegen-
heit. Alles kam nun an den Tag, und die Prinzessin
blieb bei ihrem ersten Manne. Der Minister aber wurde
aufgehängt.
Einmal, um Mitternacht, hört das wieder vereinigte Paar,
daß an das Fenster gepocht wurde; wie sie öffneten, kommt
ein Adler hinein, und sagt mit schrecklicher Stimme: „Eins
von Euch muß mit mir fort!" Da sagte die Frau: „Ich
will mit ihm gehen"; aber auch der Mann rief: „Nein, ich
will mit ihm gehen!" Da sagte der Adler: „Nein, bleibt
beide zu Hause, ich wollte nur sehen, ob Ihr Euch wirklich
lieb habt. Ich aber werde mich hier ausstrecken, und am
Morgen werdet Ihr mich zu Grabe bringen. Ich bin näm-
lich die Seele, welche Du einst aus dem Kasten erlöst hast,
und wie ich auf jener Welt gehört habe, daß Du keinen
Siwug hast, habe ich sehr vor Gott geklagt, warum soll ein
so guter Mensch keinen Siwug haben? Da haben sie Dir
einen Siwug beschieden. Als Du später ertrankst, ärgerte
man mich und sagte: Sieh, wie Dein Schützling unglücklich
ist. Da mußte ich mich in einen Fisch verwandeln, um Dich
zu retten; und später mußte ich ein Adler werden, um Dich
auf meinen Flügeln zu Deinem Siwug (deiner Frau) zu
bringen." Und der Adler streckte sich aus und verschied.
Am zweiten Tage brachten sie ihn zur Ruhe.
Neue Straßen des Weltverkehrs.
Von Dr. 3- Hoops.
Ein eigenartiges Gefühl beschleicht uns, wenn wir heute
Behms vortreffliche Schrift über „Die modernen Verkehrs-
mittel" lesen, welche 1867, also vor einem Vierteljahrhundert,
erschienen ist. Mit Bewunderung weist der Verfasser darin
ans die unerhörten Fortschritte des Weltverkehrs hin; er macht
darauf aufmerksam, von welch eminenter kulturgeschichtlicher
Bedeutung das Jahr 1866 ist, weil „in ihm der Gürtel der
Postdampferlinien um die Erde und die telegraphische Ver-
bindung der Alten mit der Neuen Welt vollendet wurde";
und mit Freude verzeichnet er es als einen „Triumph unsers
Jahrhunderts", daß man nun „in wenig mehr als einem
Vierteljahr den Erdball mit Dampf umkreisen" könne.
Fast will uns diese Bescheidenheit ein überlegenes Lächeln
abringen. Was würden wir sagen, wenn wir heute zu den
damaligen Zuständen zurückkehren sollten? Welche Riesen-
fortschritte hat die Technik der Verkehrsmittel seitdem wieder
gemacht! Die Überfahrt von Southampton nach New-Aork,
die damals 12 Tage beanspruchte, wird heute in der halben
Zeit ausgeführt; die Strecke vom Kap der guten Hoffnung nach
Southampton, zu der ein Dampfer damals durchschnittlich
34 Tage brauchte, hat das Packetboot „Scot" der Union
Steam Ship Company (London) soeben in 14 Tagen
16 Stunden zurückgelegt; und die Dampferfahrt von England
nach Indien, welche vor 25 Jahren um das Kap herum
68 Tage dauerte, ist seit der Eröffnung des Suezkanals
(1869) auf ein Viertel dieser Zeit abgekürzt!
Die erste Pacific-Linie, welche von den Ufern des Atlan-
tischen Ozeans durch den amerikanischen Kontinent hindurch
nach dein Stillen Ozean führte, war damals noch im Ban
begriffen. Heute umspannen bereits vier Linien die gewaltige
Ländermasse, und die Fahrzeit, die zuerst 14 Tage betrug,
ist neuerdings auf wenig mehr als drei Tage reduziert
worden! 54 Tage dauerte damals die Fahrt von Jokohama
nach Southampton: das neueste Experiment, das soeben die
Canacka Pacific Company angestellt hat, beweist, daß wir
heute dieselbe Strecke in 22 Tagen durchmessen können.
Und wenn Jules Vernes berühmte „Reise um die Welt in
80 Tagen" vor einem Vierteljahrhundert noch ein frommer
Wunsch der Zukunft war, so hat man berechnet, daß ein
Postsack heute im günstigsten Falle die Erde in nicht mehr
als 43 Tagen „umwirbeln" könnte; d. h. die Dauer einer
Reise um die ganze Erde ist im Laufe von 25 Jahren um
mehr als die Hälfte verringert.
Und damit ist das Endziel noch keineswegs erreicht.
Noch harren verschiedene Projekte der Ausführung, durch
welche der Weltverkehr wieder um ein Beträchtliches be-
schleunigt werden wird; und amerikanische Optimisten tragen
sich bereits mit der Hoffnung, daß sie in nicht allzu ferner
Zeit von irgend einem Punkte Amerikas ganz mit der Eisen-
bahn nach Petersburg, Berlin, Paris und London werden
fahren können.
Auf diese neuen Verkehrswege und Projekte soll jetzt
etwas näher eingegangen werden.
Die Kanada-Paeifie-Bahn, deren Verdienst die
oben erwähnte Abkürzung des Postverkehrs zwischen Japan
und England auf 22 Tage ist, wurde am 28. Juni 1886
vollendet. Sie führt von Quebec über Montreal am linken
Ufer des Lorenzstromes aufwärts, wendet sich bei der Station
Brockville scharf nach Norden, schlängelt sich am nördlichen
Ufer des Huron- und Oberon-Sees entlang und läuft dann
gerade westlich über Winnipeg parallel mit der amerikanischen
Grenze an den Fuß der Rocky Mountains, übersteigt dieselben
in großem Bogen und mündet endlich zu Vancouver in
Britisch-Kolumbia.
Die Gesellschaft hat sich aber nicht ans die Erbauung
dieser Bahn beschränkt, sondern auch eine subventionierte
Dampferlinie von Vancouver nach Japan eingerichtet. Auf
dieser Linie hat sie in letzter Zelt drei Schnelldampfer ein-
gestellt, die „Empress of India“, „Empress of China“
und „Empress of Japan“ ; es sind dreimastige Dampfer,
welche etwa die Größe der älteren Hamburger transatlan-
tischen Dampfer und die Geschwindigkeit der neueren Bremer
haben. Einer dieser Schnelldampfer, die „Empress of
Japan“, ist es, dem die Gesellschaft in Verbindung mit
dem äußerst schnellen Postzngc ihrer Eisenbahn den jüngsten
Triumph verdankt.
Dr. I. Hoops: Neue Straßen des Weltverkehrs.
299
Die „Lmpreoo of Japan“ hatteJokohama am 19. August
gegen Mittag verlassen. Mit einer Geschwindigkeit von durch-
schnittlich 430 englischen Meilen am Tage oder 18 Knoten
in der Stunde durchkreuzte sie den Stillen Ozean und langte
am 29. August kurz vor Mittag in Vancouver Island an.
Sie hatte die 4334 englische Meilen betragende Entfernung
von Jokohama nach Viktoria ans Vancouver in 4 Stunden
21 Minuten weniger als 10 Tagen gemacht.
In Vancouver war mittlerweile durch einen Betriebs-
direktor der kanadischen Pacificbahn, der sich gerade dort
befand, ein Extrazug eingestellt worden. Kurz nach 1 Uhr
mittags, am 29. August, verließ derselbe Vancouver. Nur
eine Lokomotive, einen Personen- und einen Postwagen stark,
legte derselbe die 2802 englische Meilen bis Brockville am
Lorenzstrom in 76 Stunden 55 Minuten zurück, d. h. mit
einer durchschnittlichen Geschwindigkeit von etwas über
36 Meilen die Stunde, einschließlich allen Aufenthaltes.
Inzwischen hatte man sich telegraphisch mit der New-
Aorker Postdirektion und der Direktion der Vanderbiltschen
New-Aorker Zentraleisenbahn in Verbindung gesetzt, die auch
bereitwilligst ihre Mithilfe versprachen. Von Brockville
wurde nun die Post per Dampffähre auf das andre Ufer
des Lorenzstromes geschafft, wo bereits ein Extrazug der
Vanderbiltschen Bahn ihrer wartete. In sieben Stunden
zwei Minuten, d. h. mit einer Geschwindigkeit von über
51 Meilen die Stunde, durchmaß dieser die 360 Meilen bis
New-Uork und kam gerade noch rechtzeitig an, um die Post
dem englischen Jmnan - Dampfer „City of New York“ zu
übergeben, der sie dann am 9. September in Liverpool landete.
Natürlich war dies eine Kraftleistung. Wenn auch
36 Meilen die Stunde im Vergleich zu den Schnelligkeiten auf
englischen und andern Eisenbahnen nicht sehr viel ist, so ist es
doch für die kanadische Pacificbahn, welche die Cordilleren zu
übersteigen hat, eine ziemlich starke Leistung. Außerdem
stehen der Post für gewöhnlich keine Extrazüge zur Verfügung,
und daß die Anschlüsse überall so genau passen, wie in dem
vorliegenden Falle, ist mehr als unwahrscheinlich. Wir
werden deshalb diese Fahrt von Jokohama nach London in
22 Tagen nicht als Durchschnitts-, sondern als Minimal-
wert betrachten müssen, während wir die nunmehrige durch-
schnittliche Fahrzeit auf etwa 2 5 Tage festsetzen dürfen.
Aber ein erreichtes Minimum ist mehr als ein bloßes Ideal;
cs zeigt, was in Fallen dringender Not geleistet werden kann.
Jedenfalls wird die Angabe des englischen Posthandbnches,
wonach die ungefähre Zeit der Postverbindung zwischen London
und Jokohama ans 31 Tage über Vancouver und 43 Tage
über Suez geschätzt wird, jetzt für die erste Linie verbessert
werden müssen. Briefe nach Jokohama werden in Zukunft
auf dem Wege über Vancouver in wenig mehr als der halben
Zeit befördert werden, die sie über Suez gebrauchen, während
Briefe nach Hongkong auf beiden Linien etwa gleich schnell
ans Ziel gelangen.
Und neben dieser Bedeutung für die Postverbindungen
hat die neue Linie auch einen hervorragenden handels-
politischen Wert. Durch die kanadische Pacificbahn ist
das Dominion in den Jnteressenkreis des Stillen Ozeans
gerückt; dem kanadischen Handel ist ein Ausgangsthor nach
Westen geöffnet, während andrerseits dem ostasiatischcn und
australischen Handel ein neuer Weg nach Nordamerika und
von dort nach Europa gewiesen ist.
Es ist ein merkwürdiges Zusammentreffen, daß gerade
jetzt in dem an Britisch Kolumbia angrenzenden amerikanischen
Staate Washington jene gewaltigen Steinkohlenlager
entdeckt wurden (Globus LX, 208), was für den Betrieb
der Eisenbahn wie der Dampfschiffahrt von gleicher Be-
deutung ist. Auch kommt es der kanadischen Bahn zu gute,
daß sie trotz ihrer nördlichen Lage weniger unter Schnee-
fall zu leiden hat, als die südlicheren amerikanischen Pacific-
bahnen.
Aber von ungleich größerer Wichtigkeit als diese posta-
lischen und handelspolitischen Vorzüge dieser neuen Route, ist
für England der Nutzen, den sie in politischer und strate-
gischer Hinsicht gewährt. Die englische Politik hat sich
immer durch kluge, weitausschauende Vorausberechnung und
geschickte Benutzung aller wichtigen strategischen Punkte aus-
gezeichnet, welche als Stützen für eine Handels- und Kolonial-
politik in großem Stile dienen könnten. Seit sic sich der
Reichtümer des alten Zauberlandes Indien bemächtigt und
in Australien neue, blühende Reiche gegründet, ist das ganze
Streben der Engländer darauf gerichtet gewesen, den Weg
nach diesen Tochterstaaten militärisch zu schützen. Als der
Suezkanal noch nicht existierte, dienten ihm St. Helena, das
Kapland und Mauritius als solche Stützpunkte; aber schon zu
Anfang dieses Jahrhunderts sahen sie die Möglichkeit eines
Durchstiches der Landenge von Suez voraus: daher die
Annexion von Gibraltar, von Malta und Aden, denen neuer-
dings Cypern folgte.
Aber so lange Ägyten und Arabien sich in fremden Händen
befindet, bleibt auch dieser Seeweg nach den östlichen Kolouiccn
immer gefährdet. Das Streben der englischen Staatsmänner
war deshalb darauf gerichtet, eine neue, völlig gesicherte
Etappenstraße zu erlangen.
Eine solche bot nun der Überlandweg durch Nordamerika.
Kürzer als die Suezroute für alle Plätze östlich von Hongkong,
kürzer als die Route ums Kap für alle asiatischen und austra-
lischen Kolonieen, ist diese Straße zugleich die sicherste, weil
sie durchweg durch britisches Gebiet führt. Sollten sich
Schwierigkeiten in Ostasien oder Indien erheben, so ist Eng-
land nunmehr militärisch unabhängig von allen Verwicklungen,
die ihm etwa in der Snezstraße erwachsen könnten. In
sieben Tagen können Mannschaften und Kriegsmaterial in
schweren Lastzügen bequem von einem Weltmeer durch den
amerikanischen Kontinent zum andern geschafft und in weiteren
10 bis 14 Tagen an die ostasiatische Küste geworfen werden.
Darin liegt die große strategische Bedeutung der kanadischen
Pacificbahn. Durch sie wird die militärische Etappenstraße,
welche alle britischen Besitzungen miteinander verbindet, zu
einer geschlossenen Kette, welche die ganze Welt von Ost nach
West und von West nach Ost umspannt.
Das Bindeglied zwischen Kanada und dem Mutterlande
aber ist New Fo und land, von dem schon Lord Chatham
sagte: „Lieber wollte ich Plymouth als New Foundland einer
fremden Macht übergeben." Daher auch kürzlich noch der
heftige Streit mit Frankreich wegen der Hoheitsrechte an der
Küste dieser Insel.
Die strategischen Stützpunkte der Bahn und des „Domi-
nion" überhaupt bilden im Osten der Kriegshafen Halifax
und weiterhin die „überfestigten" Bermuda-Inseln mit ihrer
überaus günstigen geographischen Lage und ihren schützenden
Korallenriffen. Im Westen bietet vor allem Esquimalt einen
vorzüglichen Stützpunkt, in dessen Hafen die ganze englische
Flotte bequem Platz fünde. Die ungeheuer lange Binnen-
grenze gegen die Vereinigten Staaten zu schützen, ist für Eng-
land ein Ding der Unmöglichkeit; es hat sich auf maritime
Operationen zu beschränken; aber hier bieten die langen, un-
geschützten Küsten und die reichen Handelsplätze der amerika-
nischen Republik einen vorzüglichen Angriffspunkt für die
britischen Geschwader.
Übrigens ist für die nächste Zeit bereits eine Erweiterung
der kanadischen Pacificbahn geplant. Der Seeweg zwischen
Europa und Amerika läßt sich noch abkürzen; denn die großen
amerikanischen Landungsplätze liegen bekanntlich längst nicht
an dem östlichen Punkte des Festlandes. Es hat sich deshalb
eine englische Gesellschaft gebildet, die sich Terminal City
38*
300
Professor Sievers' La
Company nennt und den Zweck hat, eine neue Endstation
für den transatlantischen Postverkehr zu gründen. Dieser
Hafen soll den Namen Terminal City führen und
man hat bereits einen ausnehmend günstigen Punkt dafür
ausgesucht, der an der Cansostraße auf Neu-Schottland ge-
legen, vom Meere und vom Binnenlande ans vortrefflich zu-
gänglich ist und einen ausgezeichneten Hafen besitzt. Die
Regierung von Neu - Schottland hat der Gesellschaft acht
Miles Kohlenlandes am Kap Breton bewilligt und den Bau
einer neuen Eisenbahn voll dem neuen Hafen nach Port
Mulgrave unterstützt, und die Regierung der Vereinigten
Staaten hat versprochen, daß die europäische Post über die
neue Linie befördert werden soll, vorausgesetzt, daß die Ent-
fernung zwischen Terminal City und dem gewühlten englischen
Hafen 600 Miles kürzer ist als von New-Iork. Die Eisen-
bahn ist bereits im Bau, und der erste Dampfer soll bald
seine Probefahrt antreten.
Noch ist dieser Plan nicht ausgeführt, und schon wird
von einem weiteren Projekt geredet: dem Bau einer Eisen-
bahn von Quebec nach der St. Charles-Bay an der Ost-
küste von Labrador. Dieser Punkt liegt Europa am
nächsten, und von hier aus können die Postdampfer ihre
Fahrten nach dem andern Ufer des Atlantischen Ozeans, in
vier Tagen machen.
Nächst der kanadischen Pacificbahn wird vor allem die
große sibirische Bahn von Bedeutung für den Weltverkehr
werden, sobald sie erst in ihrem ganzen Umfange vollendet ist.
Dieselbe läuft vom Ufa zunächst nach Irkutsk, wo sie sich in
zwei Arme teilt. Der eine führt durch die Amurprovinz
nach Wadiwostock und vielleicht auch nach Peking; die andre
soll von Irkutsk aus nördlich nach Jakutsk und von da in
nordöstlicher Richtung, teilweise längs des Ochotskischen
Meeres nach der Beringstraße gehen.
Die erstere südlichere Linie wird für die Verbindung
Europas mit Ostasien wichtig werden, die zweite für die
Verbindung Ostasiens mit Nordamerika. Im Anschluß an
die sibirische Bahn nach der Beringstraße wird nämlich
weiterhin auf amerikanischer Seite eine Bahn durch Alaska,
ndeskunde von Afrika.
Britisch-Amerika nach Vancouver, Tacoma und Portland
geplant, wo sie sich an die Canadian, die Northern und
Southern Pacific Railway anschließt; und amerikanische Phan-
tasten tragen sich bereits mit der Idee einer Überbrückung der
Beringstraße, wodurch denn eine direkte Eisenbahnverbindung
zwischen Europa, Asien und Amerika hergestellt wäre. Das
sind natürlich noch nebelhafte Zukunftsträume, und wir
dürfen vorläufig froh sein, wenn die sibirische Bahn im Lauf
der nächsten Jahre wirklich zur Vollendung gelangt. Bei
dem bekannten Zustande der russischen" Finanzen ist das noch
eine sehr fragliche Sache.
An die sibirische Bahn reiht sich die sogenannte Central-
Asiatische-Linie, welche von den französischen Ingenieuren
Cottard und Lesseps geplant wird. Sic soll von Orenburg
durch Westsibiricn nach Taschkend, Turkestan, Samarkand,
Kabul und Peschawär in Oberindien führen und hier An-
schluß an das ostindische Eisenbahnnetz finden. Trotz der
ungeheuren Wichtigkeit dieser Bahn sowohl in kommerzieller
als auch in politischer Beziehung wird es bei dem gespannten
Verhältnisse zwischen England und Rußland mit ihrer Aus-
führung vorläufig wohl noch weite Wege haben. Zudem wird
Lesseps nach dem Scheitern des Panama-Kanal-Projektes
kaum mehr imstande sein, diesen Plan selbst durchzuführen.
Besser dürften die Aussichten für eine andre Linie sein, die,
weiter südlich durch die Türkei, Persien und Beludschistan ver-
laufend, ebenfalls Europa in direkte Verbindung mit Indien
setzen soll. Sie wird von Konstantinopel bezw. Skutari zu-
nächst durch Kleinasien nach Bagdad führen, von dort das
Tigris-Thal abwärts sich längs des Persischen Golfes an das
Arabische Meer ziehen und weiterhin durch Beludschistan nach
Salkar laufen, wo sie den Anschluß an das englisch-ostindische
Bahnnetz erreicht. Diese Bahn ist thatsächlich schon in Angriff
genommen; doch infolge des chronischen Geldmangels im
türkischen Staatsschatz sind bisher nur 90 englische Meilen
von Skutari nach Ada-Bazaar fertig gestellt. Wie schon bei
so vielen früheren orientalischen Unternehmungen wird es
wohl auch in diesem Falle deutschem oder englischem Kapital
vorbehalten sein, diese hochwichtige Linie zu vollenden.
Professor Sievers' Landeskunde von Afrika.
Es sind jetzt 400 Jahre darüber verflossen, daß Kolumbus
die Neue Welt fand und heute wohnen etwa 130 Millionen
Menschen europäischen Ursprungs in Amerika, das nur als
ein Ableger, ein frischer grüner Zweig des altweltlichen
Baumes angesehen werden kann. Wenig mehr als ein
Jahrhundert ist darüber hingegangen, seit die erste englische
Strafkolonie in Australien errichtet wurde, jetzt hat dieser
jüngste Erdteil auch über vier Millionen weiße Bewohner.
Afrika aber hat weit längere Zeit gebraucht, um ganz in den
Bann Europas gezogen zu werden und trotz dreitausend-
jähriger Berührung mit demselben an seinem Nordgestade,
trotzdem seine Umschiffung fast so alt ist wie die Entdeckung
Amerikas, ist doch erst unserm Jahrhundert, ja der letzten
Halste desselben es vorbehalten geblieben, den schwarzen
Kontinent an das alte Europa zu fesseln. Sieben Jahre
erst sind verflossen, seitdem sozusagen der „Ausverkauf"
Afrikas stattfand und der Erdteil unter die Völker Europas
getheilt wurde. Wer mit einem Schlage übersehen will,
wie allmählich das Kartcnbild Afrikas sich entwickelt und
ausgestaltet hat, der möge einen Blick auf die „älteren Ver-
suche afrikanischer Kartographie" werfen, die Heinrich Kiepert
1874 in der Berliner Zeitschrift für Erdkunde veröffent-
lichte, eine Arbeit, die von Späteren öfter kopiert wurde.
Überraschend ist dagegen, was wir aus einer neuen Karte
Afrikas ablesen können, welche den Standpunkt unsrer
heutigen Kenntnisse vertritt. Eine wenig übriglassende
Politische Abgrenzung und Teilung des Besitzes unter die
europäischen Mächte und eine kartographische Festlegung der
Gebirge und Flüsse im Rohen, die laut verkündigt, daß die
Zeit der großen Entdeckungen auch hier vorüber ist und der
Ausbau im einzelnen beginnt. Man bedenke nur, daß erst
1877 Stanley den Congo hinabfuhr und daß heute schon
30 Dampfer auf ihm laufen. Handels- und Missions-
stationcn in großer Zahl sind tief im Innern errichtet
worden und von verschiedenen Seiten wird die Fessel der
Eisenschienen dem schwarzen Erdteil angelegt, um ihn fester
denn je mit der Zivilisation zu verknüpfen. Zwar wird
Afrika niemals eine Heimat des weißen Mannes werden,
wie Amerika und Australien, wer aber glaubt, daß vorüber-
gehende Mißerfolge die Strömung hemmen werden, welche
jetzt die europäischen Kulturvölker nach Afrika treibt, der
versteht weder den Zug der Zeit noch die Kolonialgeschichtc.
Afrika mußte jetzt in Angriff genommen werden, die Lawine
wälzt sich fort, unbekümmert um eine kurzsichtige Parlaments-
rede.
In solcher Periode, wo wir am Abschlüsse der großen
afrikanischen Entdeckungen stehen und die Kulturgeschichte
des Erdteils in eine neue Epoche tritt, ist cs sicher am
Professor Sicvers' Landeskunde von Afrika.
301
Platze gewesen, ein zusammenfassendes Bild derselben zu
entwerfen. Das Bedürfnis nach einer Gefamtdarstellung
ist entschieden vorhanden; vom buchhändlerischen Stand-
punkte aus hat das Bibliographische Institut in Leipzig
V-i li,' > >
Kap Gardasui. Nach einer Photographie
dieses begriffen und Prof. Wilhelm'Sievers in Gießen
gewonnen, um dem Gedanken Ausführung zu verleihen.
302
Bücherschau. — Aus allen Erdteilen.
die „Reise in der Sierra Nevada de Santa Maria" (1887)
als Geograph und Naturforscher längst wohlbekannt und
hat mit Feuereifer sich der gestellten Aufgabe unterzogen.
Das Werk führt den Titel: Afrika. „Eine allgemeine
Landeskunde" (Leipzig und Wien, Bibliographisches
Institut 1891). Es umfaßt 468 Seiten, enthält 159 Ab-
bildungen im Text, 12 Karten und 16 Tafeln in Holzschnitt
und Farbendruck, sowie ein ausführliches Register. Die
Ausstattung ist, gleich den großen Werken des Bibliographi-
schen Instituts, wie Brehms Tierleben, Rankes Mensch,
Ratzels Völkerkunde u. s. w., durchweg eine vortreffliche
und wenn auch eine Anzahl der Abbildungen aus den
übrigen Werken der Verlagshandlung entnommen wurde,
so ist doch die Mehrzahl neu nach guten Vorbildern gezeich-
net, wovon wir hier zwei als Probe mitteilen: das Kap
Gardafni, den östlichsten Punkt Afrikas und die gewaltige
Brandung (Calema), welche an der Guineaküste in be-
kannter Weise auf Hunderte von Meilen hin die Landung
erschwert.
Schwer würde es gewesen sein eine allgemeine Landes-
kunde Afrikas ganz aus den Quellen herauszuschreiben und
bei der Vielseitigkeit der Kenntnisse, die zu einem solchen
Unternehmen nötig wären, würde kaum die Kraft eines
Einzelnen ausgereicht haben. Sievers hat sich daher mit
Recht auf eine Reihe vortrefflicher zusammenfassender Vor-
arbeiten gestützt, welche die Entdcckungsgeschichte, die Klima-
tologie, Pflanzen- und Tiergeographie, sowie die Völker-
kunde umfassen. Am meisten tritt sein Verdienst in den
Abschnitten hervor, welche die Oberflächengestalt Afrikas
behandeln und mag man auch im einzelnen zu kritischen
Bemerkungen Anlaß haben, über die Auswahl des als
typisch hingestellten verschiedener Ansicht sein, so läßt sich
doch nicht der beherrschende Blick und die harmonische Ge-
staltung des Ganzen verkennen. Es ist namentlich die Öko-
nomie des Werkes zu loben, auf dessen Einzelheiten wir selbst-
verständlich hier nicht eingehen können. Dasselbe ist überall
bis auf die neueste Zeit fortgeführt, enthält die nötigen
statistischen Angaben und beschäftigt sich ans fast 100 Seiten
mit den europäischen Kolonieen, so daß es hier auch prak-
tischen Bedürfnissen gerecht wird. Für die große Zahl
jener, die heute sich mit Afrika beschäftigen und mehr wissen
wollen als in ihren geographischen Handbüchern steht, ist cs
ein verläßlicher Führer, der auf der Höhe der Wissenschaft
steht und zwar der einzige seiner Art, da wir ähnliche
zusammenfassende Arbeiten über Afrika in deutscher Sprache
nicht besitzen. A.
Dücherschau.
Sir I. William Dawson, The Geology of Nova Scotia,
New-Brunswick and Prince Edward Island; or Aca-
dian Geology. Fourth edition. With a map, illustra-
tions and two Supplements. London. Macmillan and
Co. 1891.
Die Geologie dieses Gebietes ist im ganzen etwas mannig-
faltiger als sonst im östlichen Kanada, doch immerhin noch ziemlich
lückenhaft in der Entwickelung der Flötzformationen zu unterscheiden;
von oben nach unten sind iolgende Bildungen zu unterscheiden: An
den Küsten der Fundy-Bay, die durch ihre Gezeiten mit einem
Unterschied von 20 m zwischen Ebbe und Flut bekannt ist, trifft man
ausgedehnte submarine Wälder, welche auf säkulare, anscheinend
noch gegenwärtig fortschreitende Senkung hindeuten. Die nächst
ältere'Bildung ist das Diluvium. Dieses besteht aus Geschiebe-
mergel, der oft direkt aus geschrammtem Felsuntergruud aufliegt,
und aus gefchichtcten Ablagerungen mit marinen Molluskenüber-
resten. Dawson hält in der Diluvialzeit die Jnlandeisbedeckung
Nordamerikas nicht für eine gleichförmig-einheitliche, sondern
glaubt dieselbe in eine Anzahl größerer Zentren zerlegen zu
sollen; fo kam z. B. Nowa Scotia eine solche Lokalvergletscherung
zu. Dabei ist zu beachten, daß die Verbreitung mitteldiluvialer
Thone mit Leda pernula und andern marinen Fossilien aus
eine zeitweise Senkung von nicht weniger als 200 m hinweist.
Zwischen diesen und den nunmehr folgenden Ablagerungen ist
eine gewaltige Lücke in der Schichtsolge, das ganze Tertiär, die
Kreide- und Juraformation fehlen; erst die Trias ist vertreten,
aber auch nicht in marinen Ablagerungen. Fossilien sind
spärlich, ein einziger Dinosaurier und wenige Pflanzen wurden
bisher gesunden. Dann folgen zum Perm zu rechnende
Komplexe von roten Sandsteinen mit Pflanzenresten. Ein
großes Gebiet sowohl in New-Brunswik wie auch auf Nova
Scotia nehmen die Carbonbildungen, in der unteren Abteilung
mit Kalksteinen, in der oberen mit Kohlenflötzen, ein. Die
letzteren haben eine große kommerzielle Bedeutung erlangt (Süd-
Joggins, Pictou, Richmond, Kap Breton), sind aber auch in
paläontologischer Hinsicht berühmt geworden, nicht bloß ihres
Pflanzenreichtums wegen, sondern durch das Vorkommen von
eidechsenähnlichen Amphibien, welche in den meisten Fällen
innerhalb von Stammhöhlungen ausrecht stehender Bäume sich
fanden, wo sie offenbar Unterschlupf suchten. Auch größere
schwimmende Amphibien sind vorhanden. Mollusken sind durch
Landschnecken vertreten, eine Pupa, von der lebenden kaum zu
unterscheiden, wurde ebenfalls in einem hohlen Stamme ent-
deckt. Noch vor kurzem konnte man diese für die ältesten Ver-
treter der Landschnecken halten. Jetzt aber, da es geglückt ist,
Landschnecken auch im Devon von St John (Acadia) nach-
zuweisen (Strophites grandaeva), muß man das Erscheinen
dieser Tiergruppe auf der Erde für noch viel älter halten, als
bisher geschehen. Überdies führt dieses Devon auch zahlreiche
Pflanzenreste. Dann sind Silur und Cambrium vertreten,
unter diesen folgt die huronische Schichtengruppe mit mächtigen,
wenig veränderten Eruptivmassen, die Basis aber aller bilden,
dem Laureutian Kanadas entsprechend, Gneise und andre kri-
stalline Schiefer. 8.
Aus allen
— Ersteigung des Mount Elias durch Professor
Russell. Die Washingtoner Geographische Gesellschaft hat
vereint mit dem Gcological Survey in diesem Sommer eine
Expedition zur genaueren Untersuchung uitb Besteigung des
Mount Elias (Alaska) ausgesendet, über dessen Höhe schwan-
kende Angaben vorlagen, von 13 500 bis 15 350 Fuß. Diese
Expedition hat ihre Aufgabe gelöst und darüber vorläufigen
Bericht erstattet. Russell drang durch die Jcy-Bay und
64 km landeinwärts zum Fuße des Berges vor, wo ein
Lager errichtet wurde, in dem man zwei Monate lang mit
geologischen und meteorologischen Beobachtungen beschäftigt
verblieb. Die Ersteigung des Mount St. Elias wurde bis
zu 14 500 Fuß (4420 m) durchgeführt, wobei man mit der
Erdteilen.
Eisaxt Stufen schlug, bis schließlich feiner Pulverschnee die
weitere Besteigung unmöglich machte. Bis zu 10000 Fuß
verlief die ant 3. Juni unternommene Bestciguttg ohne jeg-
liche Schwierigkeit. Dann begannen die Gletscher. Der
Berg selbst ist noch nahezu 500 Fuß höher als der höchste
von Russell erreichte Punkt.
Nach der Besteigung kehrte die Expedition zur Küste
zurück, um die 60 km tief ins Land eindringende Disent-
chantmcnt-Bay zu vermessen, was am 17. September voll-
endet war. Unterdessen war der Zollkutter „Bear" für den
12. September nach der Pakitat-Bay bestellt worden, wurde
aber von dem im Innern des Landes arbeitenden Prof.
Russell verfehlt, der dadurch vielen Beschwerlichkeiten ans-
Aus allen Erdteilen.
303
gesetzt wurde. Er wurde schließlich vou dem Dampfer „Pinta"
am 2. Oktober iu der Kakitat-Bay aufgenommen und glücklich
nach Sitka gebracht. Sechs Begleiter Rnssells sind an der
Jcy-Bay gestorben. Die Alaska-Indianer zeigten sich gast-
frei und förderlich.
— Die Biber an der Elbe. Die Biber, einst über
die nördlichen und mittleren Lander Europas mit verbreitet,
sind schon vor 600 Jahren in Großbritannien ausgestorben.
In Livland wurde der letzte 1841 geschossen und in den
östlichen Strömen Rußlands ist er ausgerottet oder sehr-
selten geworden. Auch im Donaugebiet ist er verschwunden;
vor mehr als 20 Jahren wurden die letzten Exemplare an
der Salzach eine Bente der Wilddiebe und der letzte Biber
an der oberen Moldau ging 1883 ein. Ein aus dem Ruhr-
gebiet stammender Biber wurde 1877 erlegt und damit schließt
die Geschichte der Biber in Westdeutschland.
Diese Data hat Dr. H. Friedrich iu Dessau zusammen-
gestellt (Mitt. d. Ver. für Erdkunde zu Halle 1891) und im
Anschlüsse daran hat er die Elbe zwischen Wittenberg und
Magdeburg mit Hilfe der Förster genau untersucht, und ist
zu dem Ergebnisse gelangt, daß dort der Biber noch weit
zahlreicher vorhanden ist, als man bisher annahm. In seiner
mit einer Karte versehenen Abhandlung giebt Dr. Friedrich
sehr schätzenswerte Nachrichten über das Leben und die
Lebensbcdingungen der Biber und führt die einzelnen Bane
an der Elbe, ihren Altwassern und Nebenflüssen (Mulde,
Saalemündnng, Ruthe) an. Gegenwärtig beträgt der Biber-
bestand zwischen Wittenberg und Magdeburg mindestens
200 Stück; es ist in den letzten Jahren eine Vermehrung
eingetreten, was dem Schutze, den sie genießen, zuzuschreiben
ist. Der gefährlichste Feind des Bibers ist das Hochwasser,
zumal wenn es mit Treibeis vereint ist und die Verwand-
lung der hoch und trocken liegenden Elbinseln in ertrags-
fähige Wiesen. Ein Aussterben des Bibers anch an der Elbe
ist wohl schwer zu verhindern.
— Pater Schynses Reise am Südwestufer des
Viktoria Nyansa, vom 29. Januar bis 9. März 1891,
hat manches zur besseren Kenntnis dieses Sees und seiner
erst von Stanley entdeckten südwestlichen Ausbuchtung bei-
getragen, wie Schynses Beschreibung und Karte 1:1250000
(Petermanns Mitteilungen 1891, Tafel 16) zeigen. Sein
Ausgangspunkt war Bukumbi am Ostufer des südlichsten bis
30 südl. Br. reichenden Zipfels des Sees. Außer der von
Stanley entdeckten Bucht von Bnkuma fand Schynse östlich
von derselben noch eine kleinere, die Bucht von Ngulnla, die
bis 20 47' südl. Br. reicht. Dem westlichen Seeufer folgend,
marschierte der Pater direkt nach Norden, erreicht Bukoba, die
Station Emin Paschas (1° 20' südl. Br.) und drang noch
sieben Tagereisen nördlich davon vor, wobei er den Kagera,
den Grenzfluß zwischen dem deutschen und englischen Gebiete,
überschritt und in Bnyuga (0" 31') seinen nördliihsten, bereits
in Uganda gelegenen Punkt erreichte. Was die Bevölkerung
am Südwestufer betrifft, so traf Schynse zuerst auf die Ba-
sindja, die früher ein, jetzt in kleine Stämme zerfallenes
Reich bildeten. Unter ihnen wohnen, eingesprengt an der
Ngululabucht, die Balougo (Schmiede). Ans die Basindja
folgen von 20 10' an bis zum Kagera die Basiba. — Das
Land bis zur Basibagrenze ist flach von Granitrücken durchzogen,
nur an der Ngululabucht sind höhere Berge bis 600 in.
Das Land der Basiba ist Bergland mit flachen, parallel zum
See verlaufenden, unbewohnten Thälern, während die Höhen
stark bevölkert sind. Die Höhen zum See fallen steil ab.
Am Kagera endigt das Bergland und an diesem Flusse ist
noch Urwald, während das Land südlich davon abgeholzt ist.
Das Land von Bukoba ist fruchtbar, gut bewässert, dicht be-
völkert und die Einwohner züchten langhörniges Rindvieh
ohne Buckel, während sonst in der Umgegend nur das
Buckelrind gefunden wird.
— Eine wissenschaftliche Expedition zur Erforschung
des größten Süßwassersees Afrikas, des Ukerewe oder
Victoria Nyansa, ist in Leipzig ausgerüstet worden. An
ihrer Spitze steht Dr. Hans Grüner, welcher sich bereits
durch eine hydrographische Arbeit bekannt gemacht hat. Die
Mittel zu der Expedition fließen aus verschiedenen Quellen,
aus der Königl. sächsischen Gesellschaft der Wissenschaften, von
der Leipziger Karl Ritterstiftung und der Dr. Hans Meyer-
schen Stiftung für Erforschung Ostafrikas. Dazu kommt eine
Unterstützung ans Reichsmitteln.
Gleichzeitig mit dieser Expedition wird die unter Ingenieur
Hochstetter stehende (oben S. 240) thätig sein, neben der
jedoch diejenige Gruners noch vollauf Beschäftigung finden
wird, denn der See, dessen Größe ungefähr jener des König-
reichs Bayern gleichkommt und der zur Hälfte (im Süden
von 1° südl. Br.) im deutschen Gebiete liegt, bietet außer-
ordentlich zahlreiche Aufgaben für die Erforschung. Alan
kann bei seiner Größe Gezeiten, Spiegelschwankungen und
Strömungen erwarten, abgesehen von den Erscheinungen,
welche seine Tiefe bietet, deren Auslotung durch die Expe-
dition anfangs nur an den Küsten erfolgen soll. Die See-
temperatnren sollen bestimmt und namentlich auch die Klima-
tologie der Seeregion gefördert werden. — Der See umfaßt
nach der neuesten Messung 74365 qkm, wovon 38214 qkm
in das englische und 36151 qkm in das deutsche Gebiet
fallen.
— Joseph Thomson über den Bangweolo - Sec.
Der Reisende Thomson ist im Oktober aus Ostafrika zurück-
gekehrt, nachdem er mit Herrn Grant (einem Sohn von
Spekes Reisegefährten) das Plateau zwischen dem Niassa
und Bangweolo-See durchkreuzt hatte, wobei die Häuptlinge
zum Abschlüsse von Verträgen mit der britischen südafrika-
nischen Gesellschaft veranlaßt wurden. Die bisherigen karto-
graphischen Darstellungen des Bangweolo-Sees (die auf Living-
stone und Girand beruhen), erklärt Thomson für ungenügend;
der See ist nach ihm nur ein Stauwasser des Tschambesi,
des eigentlichen Quellflusses des Congo, der im Westen
als Luapula wieder heraustritt. Selbst in der Regenzeit
erreicht der See keine größere Tiefe als 7 m. Thomson
lagerte in waldreicher Gegend, die auf den Karten als See
dargestellt ist; doch ist dieser Wald zur Regenzeit überschwemmt.
Er fand anch den Baum, in welchen Livingstones Begleiter
den Bericht über den Tod des großen Reisenden eingeschnitten
hatten und traf noch Eingeborne, die sich Livingstones er-
innerten.
— Über die Bedeutung der tschechischen Sprache
giebt die Times vom 6. Oktober 1891 ein Urteil ab, welches
zwar nicht neu ist, aber den Vorzug hat, aus unparteiischem
Lager zu stammen. Sie sagt: „Die Tschechen wünschen eifrig
die Deutschen aus Böhmen zu vertreiben, oder, wenn dieses
nicht geht, die Deutschen zu zwingen, das Tschechische zu sprechen
und zu schreiben. Palacky, der böhmische Geschichtsschreiber,
welcher ein Tscheche war, schrieb sein Werk in deutscher Sprache
ans dem anerkannten Grunde, well seine Muttersprache für
litterarische Zwecke hinter dem Deutschen zurückstand. Jan
Nernda, einer der volkstümlichen tschechischen Schriftsteller,
der vor kurzem starb, schrieb gleich gut und schön in deutscher
und tschechischer Sprache und wählte nur mit Bedacht die
weniger bekannte Sprache als litterarisches Mittel. Seine
hübschen Erzählungen würden nur eine sehr beschränkte Leser-
zahl gehabt haben, wären sie nicht auch deutsch erschienen.
304
Aus allen Erdteilen.
Doch so absurd es auch erscheint, ein Buch in tschechischer
Sprache zu schreiben, wo es nur einige hundert Leser haben
kann, statt in deutscher, wo die Leser nach der Million zählen,
so ist diese Absurdttät doch den Tschechen nicht allein eigen.
Es ist nicht lange her, daß die Macher welscher Beschwerden
sich darüber beklagten, daß die parlamentarischen Blaubücher
nicht ebenso in welscher wie in englischer Sprache gedruckt
werden. Es giebt einen vielgelesenen lebenden Dichter, der
ein Eingeborner von Wales ist: hatte er seine Verse in
welscher Sprache veröffentlicht, so würde er einen Leser für
jedes Tausend, das er jetzt hat, gehabt haben. Der Ein-
wohner Böhmens, der nur eine auf einem sehr beschränkten
Gebiete gültige Sprache versteht, ist ebenso- zu bemitleiden,
wie der Welsche, der sich ans seine alte Sprache beschränkt
und es vermeidet, teilzunehmen an der weltverbreiteten eng-
lischen Sprache.
— Sarawak, der unabhängige, unter der englischen
Dynastie Brooke stehende Staat an der Nordwestküste Borneos,
erfreut sich, wie wir aus einem Berichte des englischen Konsuls
in Bruni ersehen, einer gedeihlichen Entwickelung. Der Konsul
besuchte zuerst Muka, den Hauptsitz der blühenden Sago-
indnstrie, alsdann Kutsching, die Hauptstadt, deren große
Ordnung und Reinlichkeit gelobt wird; sie besitzt verschiedene
Schulen, ein sehr gutes Krankenhaus und ein Museum. In
Bnsoh befinden sich ausgedehnte Antimonwerke und in Paku
in Obersarawak betreiben Chinesen in den dortigen Quarz-
riffen Goldban mit vielem Erfolge. In Obersarawak hat
die Regierung vielversprechende Musterpflanzungen von Pfeffer,
Thee und Kaffee angelegt, während der Tabak nicht gut ge-
deiht. Die Bergwerke von Sadong führen Kohlen ans.
Sibu, nahe der Mündung des großen Redschangstromes, ist
ein wichtiger Ausfuhrplatz, der Handel meist in den Händen
der Chinesen; es erhält seine Bedeutung durch den Redschang,
der für 2 m tiefgehende Schiffe 250 km weit aufwärts
schiffbar ist. Die Zahl der Eingebornen, vorwiegend Dajaks,
wird auf 70000 angegeben. Die Beamten sind meist Eng-
länder, welche sich sehr gut stehen. Die Staatseinnahmen
betrugen 1690 413 112Dollars, die Ausgaben etwa 50000
weniger. Abgaben werden von Opium, Arrak, Spiel- und
Pfandhäusern erhoben. Der gesummte auswärtige Handel
betrug 1890 rund 4Hz Millionen Dollars. Hanptausfuhren
sind Sago, Guttapercha, Pfeffer, Rotangrohr, Gambier; Haupt-
einfuhren Reis und Zcugstoffe.
— Die Familiennamen der Helgoländer hat Dr.
G. Dierks an der Hand des Adreßbuches untersucht. Das-
selbe zeigte im ganzen 552 Namen und zwar verteilt ans
nur 134 verschiedene Familiennamen (bei 2000 Einwohnern).
Es erscheint der Name Aenckens 22, Bartz 11, Bode 11,
Bother 15, Dreyer 11, Franz 10, Friederichs 32, Haas 11,
Hamckens 10, Hornsmann 13, Kröper 11, Krüß 18, Loren-
zen 12, Michels II, Nickels 9, Ohlsen 11, Ohlrichs 9,
Ralfs 9, Reimers 11, Rickmers 28 mal. Diese 21 ver-
schiedenen Namen verteilen sich auf 290 Familien, d. h. bei
weitem die größere Hälfte der ganzen Bevölkerung, während
die kleinere Hälfte, 262 Familien, 113 verschiedene Namen
ausweist.
— Edgar A. Smith hat das Verhältnis der
Mollnskenfanna von Suez zu der des Mittelmeeres
noch einmal eingehend geprüft und kommt zu der Ansicht,
daß von einer Verbindung des Roten Meeres mit dem
Mittelmeere seit Beginn der Tertiärzeit keine Rede sein
könne. Von den 15 Arten, welche der letzte Bearbeiter der
Frage, A. H. Cooke, als gemeinsam anerkennt, sind drei
sicher falsch bestimmt, vier weitere von den Mittelmeerarten,
mit denen sie vereinigt wurden, zwar nahe verwandt, aber
doch nicht identisch. Die übrigen acht Arten sind sämtlich
solche, welche durchaus nicht auf das Rote Meer und das
Mittelmeer beschränkt, sondern sehr weit meist über alle
wärmeren Meere verbreitet sind. Sie können also gerade so
gut ans dem Atlantischen Ozean in das Mittelmeer gelangt
sein und beweisen durchaus nicht einen ehemaligen Zusammen-
hang.
— DieInden in Holländisch-Guayana sind, wie
Prof. Joest in einem Vortrage vor der Berliner Gesellschaft
für Erdkunde ausführte, dort völlig die Herren des Landes
und Surinam ist heute eine jüdische Kolonie. Der Gouverneur
der Kolonie ist ein Holländer, aber die ganze Verwaltung
der Kolonie liegt sonst in den Händen der Juden, welche die
Plantagen besitzen und durch Neger und Kulis bearbeiten lassen.
Die Kolonialtruppe (Schutterij) hat vom Kommandanten bis
zum jüngsten Leutnant nur jüdische Offiziere und in dem
Surinamer Parlament (KolonialeStaten) sitzen unter ^Mit-
gliedern 13 Juden, die sämtlich der Opposition angehören.
Diese Juden stammen nur zum geringsten Teile aus Deutsch-
land, die meisten derselben sind Nachkommen portugiesisch-
amerikanischer Juden, die im Jahre 1644 aus Brasilien
ausgewiesen wurden und unter Führung eines gewissen
Naffy nach Surinam kamen. In der Jndensavanne an-
gesiedelt, wo sie sich besonderer Vorrechte erfreuten und eigene
Gerichtsbarkeit hatten, entwickelten sie sich rasch und besaßen
1750 schon 115 Plantagen, auf denen 9000 Negersklaven
arbeiteten. Sie waren wegen der Härte, mit der sie ihre
Sklaven behandelten, wenig beliebt. Die Jndensavanne, in
der noch die Ruinen der Synagoge stehen und wo alte, streng-
gläubige Juden sich noch begraben lassen, ist heute verödet.
Dagegen ist Paramaribo, das seit 20 Jahren von den Hol-
ländern infolge der Aufhebung der Sklaverei verlassen wurde,
eine vorherrschend jüdische Stadt geworden. Die Juden
blieben in Surinam, kauften und parzellierten die Plantagen,
die sie an Neger verpachteten und wurden durch Fleiß,
Nüchternheit und Sparsamkeit Herren des Landes, wiewohl
ihre Zahl nur 1400 beträgt. Sie haben den ganzen Handel,
die Ausbeutung der Goldfelder, die wichtigsten Stellen in
der Hand.
— Farbenblindheit bei Indianern. Vor dem
Franklin-Institut in Philadelphia entwickelte Dr. L. Webster
Fox seine Ansicht, daß die Farbenblindheit viel mehr unter
den Kultur- als den Naturvölkern vorkomme. Er unter-
suchte in dieser Richtung 250 indianische Kinder,,darunter
100 Knaben. Während er nun unter letzteren nicht einen
einzigen Farbenblinden fand, zeigte er, daß unter 100 weißen
Knaben aus verschiedenen Gegenden der Bereinigten Staaten
wenigstens fünf farbenblind waren. Unter 250Andianer-
knaben, die er bereits vor mehreren Jahren auf Farbenblindheit
untersucht hatte, fand er zwei farbenblinde, anch ein niedriger
Prozentsatz im Vergleiche mit den weißen Knaben. Die
untersuchten Jndianermädchen lieferten nicht ein farbenblindes.
Es kann dieses nicht überraschen, da Farbenbliudheit beim
weiblichen Geschlechte weit geringer vertreten ist als beim
männlichen. Auf 1000 weiße Mädchen finden sich nur
zwei farbenblinde.
— Meerschaumlager in Neumexiko sind in beträcht-
lichem Umfange im nördlichen Teile des Staates am Sapello-
creek, 37 km nördlich von Silver City, entdeckt worden.
Amerikaner loben die Güte desselben, die dem des klein-
asiatischen Meerschaumes gleich kommen soll.
Herausgeber: Dr. R. Andrer in Heidelberg, Leopoldstraße 27.
Druck von Friedrich Vieweg und Sohn in Braunschweig.
Bd. LX.
Nr. 20.
Begründet 1862
von
Karl Andres.
Druck uttö ^ ex Za a,
Mkr-M MMilile.
Herausgegeben
von
Richard Andres.
brich Mieweg & Sohn.
Braunschweig.
Jährlich 2 Bünde in 24 Nummern. Durch alle Buchhandlungen und Postanstaltcn
zum Preise von 12 Mark für den Band zu beziehen.
1891.
Die Robbenjagd im Beringsmeer.
Seit einigen Jahren sieht sich England in einen Streit
mit den Vereinigten Staaten verwickelt, der in jedem Früh-
jahre von neuem ausbricht und jedenfalls schon lange zu
Flottendemonstrationen und Feindseligkeiten geführt hätte,
wenn John Bull nicht gegenüber Bruder Jonathan einen
ganz andern Grad von Geduld und Selbstüberwindung an
den Tag legte, wie gegen schwächere Nationen, mit denen er in
Streit gerät. Es ist eine harmlose Robbe, um die sich zu-
nächst die Zwistigkeiten drehen, die Pelzrobbe, Callorhinus
ursinus; die Pelzrobbe giebt freilich nur den Vorwand ab
für die Entscheidung der völkerrechtlich sehr wichtigen Frage,
ob das Beringsmeeer, also das Meer zwischen der Kette der
Aleuten und der Beringsstraße, ein niaro clausum, ein
amerikanisches Privatmecr ist, oder ob es außerhalb der
Küstengewässer den Schiffen aller Nationen ebenso offen
stehen muß, wie jedes andre Meer. Amerika behauptet das
erstere, England das letztere, aber während England zögert
und den Klagen seiner nächst interessierten Bürger, der Be-
wohner von Viktoria, das Ohr verschließt, haben die Ameri-
kaner, angetrieben durch die einflußreiche Alaska-Kompanie,
alsbald zugegriffen; ihre Zollkutter kreuzen, sobald die Saison
beginnt, im Beringsmeer und erklären, jeden englischen Robben-
jäger, den sic antreffen, nebst seiner Ladung für gute Prise.
Die englische Regierung hat, wie schon gesagt, bis jetzt sich
ans wirkungslose Proteste beschränkt, aber ihre Unterthanen
sind nicht gesonnen, sich noch länger zu geduldigen, und es
wäre nicht unmöglich, daß sie der Gewalt Gewalt entgegen-
setzten und dadurch ernsthafte Verwickelungen herbeiführten.
Die von den Amerikanern gezeigte Thatkraft ist, wie schon
gesagt, ausschließlich auf Rechnung der Alaska-Kompanie zu
setzen, und diese hat ein so großes Interesse an der Ab-
sperrung des Beringsmeeres besonders deshalb, weil sie die
Pelzrobbe gewissermaßen zu einem Haustiere gemacht hat, das
sich freilich den größten Teil des Jahres im freien Meere
herumtreibt und keine Füttcrungskostcu verursacht, aber zur
bestimmten Zeit an einem bestimmten Platze erscheint, so daß
die Kompanie sich eine durch das Gesetz bestimmte Anzahl
auswählen kann, und diese schlachtet, und ihre Pelze in den
Handel bringt. Dieses in der ganzen Welt wohl einzig da- ,
stehende Verhältnis wird dadurch bedingt, daß die Robben
Globus LX. Nr. 20.
im ganzen weiten Beringsmeer nur zwei kleine Inseln ge-
funden haben, auf denen sie ihrem Fortpstanzungsgeschäft ob-
liegen können, die Pribylow-Inseln, St. Paul und
St. George. Einzeln findet man sie ja das ganze Jahr
hindurch überall an der Küste von Alaska, südlich von
580 u. Br., ferner längs des Prince William Sound, an
der Ostküste der Halbinsel Keuai, an Alaska und den Aleuten,
im Frühjahr auch an der Fuca-Straße, an Vancouver und
Queen Charlotte Islands, aber die Hauptmasse wandert im
Mai nordwärts zwischen den Aleuten durch und sucht die
beiden einsamen Inseln auf, wo die Schlächter ihrer warten.
Warum sie so zäh an diesen Inseln festhalten, ist schwer zu
erklären; ähnliche flache Felsengcstade ohne stehendes Wasser
und ohne Sand, den die Robben meiden, weil ihn der Wind
ihnen in die weitgeöffneten Augen treibt, fänden sich wohl
noch mehr am Gestade des Beringsmeeres, auch die
klimatischen Verhältnisse würden dort nicht wesentlich anders
sein; aber trotzdem ist es Thatsache, daß die sorgfältigsten
und eingehendsten Nachforschungen sowohl der Russen, wie
neuerdings der Amerikaner nie einen andern „breeding
ground“ für die Roben haben auffinden können, als die
„rookeries“ auf den Pribylow-Jnscln. Wo die Tiere sich
im Winter aufhalten, ist heute noch ein ungelöstes Rätsel.
Die letzte 1873 ausgesandte Expedition des Schoners „John
Bright" hat südlich der Aleutcn einige Bänke nachgewiesen,
welche den Robben als Weidegründe zu dienen scheinen, aber
dieselben sind durchaus nicht so ausgedehnt, daß sie die
Hnnderttausende von großen Tieren ernähren könnten, diese
müssen entschieden viel weiter südlich in den Stillen Ozean
hineingehen, für so ausgezeichnete Schwimmer keine allzu
weite Reise.
Die Pelzrobbcnjagd ist bereits von den Russen in ein
vernünftiges System gebracht worden, das einen regelmäßigen
Betrieb für alle Zeiten sichert; seine Vorteile sind so in die
Augen fallend, daß sogar die Amerikaner sich entschlossen
haben, eine Ausnahme von dem sonst überall befolgten Raub-
bansysteme zu machen und jährlich nur eine bestimmte Anzahl
Robben zu töten. Als Pribylow 1783 die Inseln, die seinen
Namen tragen, entdeckt hatte und die Kunde von dem Reichtum
an Pelzrobben nach Sibirien brachte, wurden in einem Jahre
39
306
Die Robbenjagd im Beringsineer.
500 000, nach Weniaminow sogar 2 Millionen Tiere dort
getötet; wenige Jahre fortgesetzt, würden diese Schlachtereien
die Pelzrobbe so gut ausgerottet haben, wie die berühmte
Stellcrsche Seekuh. Das sahen die Leiter der russisch-amerika-
nischen Gesellschaft zum Glück noch rechtzeitig ein; schon 1805
gab Rezenow strenge Verordnungen, die wunderbarerweise
auch befolgt wurden, und als Alaska in die Hände der
Amerikaner überging, war die Zahl der Robben schon wieder
so groß geworden, daß auch die Massenschlachterei während
des Interregnums sie nicht wesentlich vermindern konnte.
Der Kongreß verpachtete die beiden Inseln an die Alaska-
Kompanie unter der Bedingung, daß jährlich nur 100 000
Robben getötet werden dürften, und diese Vorschrift ist bis
jetzt strengstens aufrecht erhalten worden, wenn schon die
englischen Zeitungen behaupten, daß die Amerikaner es mit
der Zahl nicht immer so genau nehmen.
Alljährlich im Mai beginnt es in den sonst so stillen
Gewässern an den Pribylow- Inseln lebendig zu werden,
riesige, unförmliche Kolosse erscheinen und entsteigen dem
Wasser. Es sind die alten Männchen, die „bulls“. Jedes
nimmt einen festen Standort möglichst dicht am Ufer und
verteidigt diesen wütend gegen seine Nebenbuhler, bis der
ganze Strand von den stärksten Männchen in Besitz genommen
ist; schwächere Neuankömmlinge müssen sich durchschleichen
und ihren Standpunkt weiter nach innen nehmen. Kein
Männchen verläßt seinen Platz, auch nicht einmal um Nahrung
zu sich zu nehmen, die Tiere zehren buchstäblich von ihrem
eigenen Fette. Mitte Juni kommen die viel kleineren Weib-
chen und die jüngeren Tiere. Erstere werden von den
Bullen sehr unsanft begrüßt, mit den Zähnen im Nacken ge-
faßt, in das Standquartier geschleppt imd hier eifersüchtig
behütet. Freilich kann es die größte Wachsamkeit nicht ver-
hindern, daß die am weitesten landein lagernden Weibchen,
während ihr „legitimer" Herr neue Ankömmlinge begrüßt,
von den ins Innere getriebenen schwächeren Männchen weiter
fortgeschleppt und ihrem Harem einverleibt werden. Die
jungen, fünf- bis sechsjährigen Männchen können an Ehe-
freuden noch nicht denken; sie müssen sich zwischen den älteren
durchschleichen und ihre Lagerstätte ganz im Innern der
Insel nehmen. Die Weibchen kommen alle hochträchtig an
und werfen kurz nach der Ankunft Junge, die sie bei sich
behalten und sorgsam behüten. Sie gehen während ihres
Aufenthaltes, der etwa zwei Monate dauert, täglich ins
Meer, um Nahrung zu suchen, bleiben aber immer nur
kurze Zeit aus.
Nach dem oben erwähnten Gesetze dürfen Weibchen und
Junge überhaupt nicht getötet werden; auch die alten Männ-
chen werden geschont, da ihr Pelz, meist von unzähligen
Narben zerrissen, wertlos ist. Das Schlachtvieh wird aus-
schließlich unter den sechs- bis siebenjährigen, noch unbeweibten
Männchen, den „bnobelors" ausgewählt. Die Aleuten,
aus denen die Robbenschläger bestehen, drängen sich zwischen
die innerste Reihe der Familienväter und die Junggesellen
und sondern die letzteren in Herden von 2000 bis 3000 Stück;
sie treiben dann eine dieser Scharen nach der andern ins
Innere zum Schlachtplatz. Die unbehülflichen Tiere lassen
sich gutwillig von wenigen Leuten treiben. Freilich darf
man ihnen nicht mehr als fünf bis sechs Miles im Tage zu-
muten, da sonst der Pelz durch die Erhitzung leidet. Nachts
umstellt man sie mit Wachen; werden sie unruhig, so genügt
ein Pfiff, um sie einzuschüchtern. Sollte zufällig einmal ein
wärmerer, Heller Tag eintreten, so muß Rast gemacht werden,
denn jede Erhitzung schadet dem Pelz. Ist der Schlachtplatz
erreicht, so wird die Herde in kleine Trupps von 20 bis
30 Stück geteilt und das Schlachten beginnt. Vorher wird
aber jedes einzelne Tier genau untersucht, ob sein Pelz auch
von genügender Qualität und unbeschädigt ist; wenn nicht,
wird es ausgesondert und kann sich den Weg zum Meere
zurücksuchen. Die tauglich befundenen erhalten von den nur
zu diesem Zwecke angestellten aleutischen Robbenschlügern einen
Schlag mit der Keule vor den Kopf; ein zweiter Aleute', sticht
dem betäubten Tiere ein Messer ins Herz; dann folgen die
Abbalger und unmittelbar hinter diesen Karren mit Maul-
tieren bespannt, welche die Häute so rasch als möglich in die
Magazine schaffen, dort werden sie einfach eingesalzen und
scharf zusammengepreßt und schließlich, je zwei und zwei zu-
sammengebunden, verschifft. Die abgehäuteten Körper ver-
fallen den Frauen der Ansiedler, welche den Speck für die
Haushaltungen verwenden.
Für die Bezahlung der Arbeiter gilt noch das Artelwesen,
wie es die russischen Promyschleniks eingeführt haben. Es
wird die Gesamtsumme des Arbeitslohnes nach der Zahl der
eingelieferten Felle festgestellt und verteilt, wobei Kirche,
Schule und Invaliden ihren bestimmten Anteil bekommen.
Die aktiven Arbeiter sind in drei Klassen geteilt, deren Lohn-
höhe verschieden ist. Auf St. Paul erhielt nach Petroff im
Jahre 1879 ein Arbeiter erster Klasse 410 Dollars.
Die Alaska-Kompanie zieht aus ihrem Monopol natürlich
einen sehr erheblichen Gewinn und ist nicht gesonnen, sich
denselben von Konkurrenten schmälern zu lassen. Umgekehrt
sehen natürlich die Bewohner von Viktoria und Vancouver
nicht ein, warum sie die Pelzrobben an ihren Küsten und
zwischen den Aleuten-Inseln nicht auch jagen sollen, und sie
schicken in jedem Frühjahre eine Anzahl kleiner Schoner dazu
aus. Bis 1866 überließen sie die eigentliche Jagd den
Küstenindianern und tauschten von diesen die erbeuteten Felle
ein. In dem genannten Jahre gingen die ersten englischen
Schiffe selbst auf die Jagd aus, und seitdem hat das Geschäft
von Jahr zu Jahr an Umfang zugenommen. So lange die
englischen Schoner südlich der Aleuten blieben, konnten die
Amerikaner nichts gegen sie machen, aber seit 1878 begannen
sie auch au den Aleuten selbst und nördlich derselben zu jagen,
und seit 1883 suchten sie dort hauptsächlich ihre Beute. Die
Engländer behaupten natürlich, daß sie nur im offenen Meere
jagen und die Dreimeilenzone längs der Küste sorgsaul ver-
meiden; wo Räubereien in der Küstenzone vorgekommen sind,
waren die Thäter keine Engländer, sondern^Kalifornier oder-
gar Deutsche, Engländer sind für so etwas viel zu ehrlich;
die Amerikaner dagegen bestreiten das Letztere entschieden, und
werfen außerdem den Robbenjägern vor, daß sie die Robben
ohne Unterschied von Alter und Geschlecht töten und nur in
die Beringssee kommen, weil sie südlich davon die Robben
schon fast ausgerottet haben. Die Alaska-Kompanie setzte
ihren ganzen Einfluß ein und sparte die Dollars nicht, und
1886 fingen die amerikanischen Zollkntter an, die englischen
Schoner anzuhalten und wegzunehmen, sobald sie im Bcrings-
meer betroffen wurden. Im Anfang scheinen die Beamten
ziemlich auf eigene Faust gehandelt zu haben, denn eine Ver-
fügung des Staatssekretärs Bayard, hob das in Sitka gefüllte
Urteil gegen vier im Jahre 1886 weggenommene Schiffe ans,
aber es gelang der Alaska-Kompanie, die Ausführung dieser
Verfügung bis 1888 hinzuhalten und die Schiffseigentümer
zu ruinieren. In den folgenden Jahren waren durchschnitt-
lich 20 bis 25 englische Schiffe auf der Robbenjagd und
machten reiche Bente; die Zollkntter verhielten sich verschieden,
aber die amerikanische Regierung erhob den Anspruch ans den
Alleinbesitz des Beringsmecres. Im Jahre 1889 kam es
vor, daß die Mannschaft einiger genommener Schoner ihre
Wächter überwältigte und mit diesen in Sitka ankam, frei-
lich ohne Ausbeute. Im Jahre 1889 gingen 29 Schoner
ins Beringsmeer und brachten für eine halbe Million
Dollars Felle nach Viktoria, ohne belästigt-worden zu sein,
und im Jahre 1891 sind 49 Schiffe mit 1082 Leuten aus-
gelaufen. Vorsichtshalber behalten sie aber nicht ihre ganze
Bruno Stehle: Graufthal und Lichtenberg im Unterelsaß.
307
Jagdbeute an Bord, sondern liefern von Zeit zu Zeit an
bestimmten Punkten ab, wo sie ein Dampfer aus Viktoria
in Empfang nimmt.
Die englischen Robbenjager sind kleine Schiffe von 60 bis
120 Tonnen mit 20 bis 30 Mann Besatzung. Sie laufen
gewöhnlich anfangs März aus und fahren den von Suden
kommenden Robben entgegen. Die Robben ziehen einzeln
oder höchstens in ganz kleinen Trupps; sie können auf dem
offenen Meere nur bei guten: Wetter gejagt werden und die
Jagd ist nicht leicht, denn die Pelzrobbc ist im Wasser äußerst
gewandt und scheu und taucht beim geringsten Geräusch
unter; trifft sie die Kugel nicht tödlich, so ist sie meistens
verloren. Die Jagd erfolgt von kleinen Böten aus, und
mancher Jäger geht in dem unruhigen Meere und bei dichtem
Nebel zu Grunde. Die Schoner folgen den Robben, wie
diese den ihnen zur Nahrung dienenden Fischen, und erreichen
im Mai die Aleuten, wo sie die Frühjahrsjagdbeute abliefern.
Die Gesamtausbente der Engländer beläuft sich in guten
Jahren auf 25 000 bis 30 000 Felle, also nur auf ein
Viertel der Schlachtungen auf den Pribylow- Inseln; das
allein beweist schon, daß die Klagen der Alaska-Kompanie
über die englische Räuberei übertrieben sind. Nimmt die
Zahl der Robben in den Rookeries wirklich merklich ab, so
werden wohl die Herren Amerikaner selbst Schuld daran sein
und wohl thun, die Schlachtungen unter schärfere Aufsicht
zu stellen. Die Küstenindianer jagen die Robbe noch in der
alten Weise; sie suchen mit ihrem Canoc dicht an die schlafend
dahintreibenden Robben heranzukommen und harpunieren sie.
Die Zahl der von ihnen getöteten Tiere kommt gegenüber
der Ausbeute der europäischen Schiffe nicht in Betracht.
Nach den neuesten Nachrichten hat die englische Regierung
sich entschlossen, vorläufig den amerikanischen Forderungen
nachzugeben und ihre Unterthanen aus dem Beringsmeer
zurückzuhalten. Eine Schonzeit ist in Aussicht genommen
und eine Kommission ist von Viktoria nach den Pribylow-
Jnseln abgegangen, um sich von dem Stand der Rookeries
zu, überzeugen. Sie ist freilich erst dort angekommen, als die
Robben wieder zum größeren Teile weg waren, aber den
Kausteuten in Viktoria kann jetzt doch vorgehalten werden,
daß etwas für ihre gefährdeten Interessen geschehen sei, ohne
daß der Hauptabnehmer Englands gekränkt worden ist, und
das ist auch schon etwas wert.
Graufthal und Lichtenberg im Unterelsaß.
Von Bruno Stehle in (Lolmar.
Früh morgens verließen wir das reizend gelegene Städt-
chen Zabern, um das Graufthal und weiterhin die Feste
Lichtenberg zu besuchen. Unser Weg führte uns auf die
bekannte Zaberncr Steige, die Gebirgsstraße, welche,
den Kamm der Vogesen durchquerend, das Elsaß mit Loth-
ringen verbindet. Schon 1427 wurde die Kunststraße an-
Lichtenbcrg im Unterelsaß.
gelegt und im Jahre 1616 wesentlich ausgebessert. Lassen
wir über das Werk selbst unsern Altmeister Goethe sprechen,
der es mit folgenden Worten schildert:
„Von der aufgehenden Sonne beschienen, erhob sich vor
uns die berühmte Zaberncr Steige, ein Werk von unüber-
dcnklicher Arbeit. Schlangenweise über die fürchterlichsten
Felsen ausgemauert, führt eine Chaussee, für drei Wagen
nebeneinander breit genug, so leise bergauf, daß man es
Nach einer Photographie.
kaum empfindet. Die Härte und Glätte des Weges, die
geplatteten Erhöhungen an beiden Seiten für die Fußgänger,
die steinernen Rinnen zum Ableiten der Bergwasser, alles
ist so reinlich als künstlich und dauerhaft hergerichtet, daß
es einen genügenden Anblick gewährt."
Auf der Höhe der Zaberncr Steige liegt links ein steiler
Fels, Karlssprung genannt. Er führt seinen Namen von
einem lothringischen Herzoge, welcher in der Hitze des Jagens
39*
308
Bruno Stehle: Graufthal und Lichtenberg im Unterelsaß.
mit seinem Pferde über den Fels hinabgesprungen und
unverletzt im tiefen Abgrunde angekommen sein soll. Noch
zeigt man am Felsen die Spuren der Hufeisen des Pferdes.
Nach einer halben Stunde ist die Berghöhe und damit
auch das lothringische Plateau erreicht; doch verfolgen wir
nicht den Weg nach Pfalzburg, sondern wenden uns rechts
hinunter in das elsässische Zinzelthnl, nach dem Oberhof
und dem Graufthal oder Graufel.
Unser Holzschnitt giebt uns ein getreues Bild von dem
wundersamen Örtchen. Wundersam, weil hier in der That
noch Höhlenbewohner hausen. Aus dem linken Ufer der
Zinzel erheben sich majestätisch gewaltige, senkrecht abstürzende
Felskolosse, aus buntem Sandstein gebildet. Der die Thal-
sohle zunächst berührende Fuß des Felsens ist durch Aus-
waschung ausgehöhlt, und diese natürlichen Höhlen haben
sich die genügsamen Bewohner in Wohnungen umgewandelt.
Als wir uns einer dieser armseligen Hütten näherten, sahen
wir einige halberwachsene Mädchen mit Strickarbeiten be-
schäftigt vor der Thüre sitzen. Gegen ein kleines Entgelt
führten sie uns gern in ihr ärmliches Heim. Die Wohnung
zeigt im Innern den natürlichen, nackten Stein; nach außen
schließt sie eine Ziegelwand ab, in welcher ein paar kleine
Fenster und die Thüre sich befinden. Einige Häuser haben
sogar ein zweites Stockwerk; eine Sandsteinplatte, die der
Verwitterung widerstand, bildet die Decke des Erdgeschosses
und den Fußboden des oberen Stockes. Das Dorf zählt
ungefähr 250 Einwohner, arme Leute, die sich durch Wald-
arbeit, Fisch- und Froschfang, durch Stricken und Anferti-
Granfthal im Unterelsaß. Nach einer Photographie.
gnng von Strohflechtereien (Strohhüte) und von Schwefel-
holzschachteln ihr kärgliches Brot verdienen.
Arm ist die ganze Gegend, und doch war der einsame
Erdenwinkel schon in frühester Zeit besiedelt. Sigebald,
Bischof von Metz, der von 707 bis 742 den Krumm-
stab führte, stiftete hier ein Frauenkloster. Im Anfang
des 12. Jahrhunderts war der Bau so gewachsen, daß
er bis zu 100 Nonnen aufnehmen konnte. Während des
Bauernkrieges wurde das Kloster hart mitgenommen, und
es hat sich seit der Zeit nicht wieder erholt. 1523 kam
der Ort an das kurfürstliche Haus von der Pfalz, und es
mag nicht unerwähnt bleiben, daß cs Güter der 1554
aufgehobenen Abtei Graufthal waren, welche vom Papst
Clemens VIII. dem Pfalzgrafen im Tausche für die Güter
gegeben wurden, mit denen dieser die Universität Heidelberg
ausstattete.
Vom Graufthal führt der Weg über Neuweiler, Ing-
weiler nordwärts nach Lichtenberg, eine der kleinen
Festungen, welche zur Franzosenzeit den Übergang über die
Vogesen zu wehren hatten. Bis zum Jahre 1870 lag in
der Feste eine kleine französische Besatzung. Nach der
Schlacht bei Wörth wurde das Schloß einige Stunden von
den Württembergern beschossen, bis es seine Thore öffnete.
Kasernen, Türme, Brustwehren sind arg beschädigt, Lichten-
berg ist eine Ruine. Trotzdem ist cs noch immer ein herr-
licher Blick, wenn man aus dem Waldesdunkel heraustritt
und auf hochragender Bergeskuppe die aus rotem Sandstein
erbauten Türme und Mauern des Schlosses, durch die
Strahlen der goldenen Morgensonne beleuchtet, hernieder-
glünzen sieht. Dann versteht man auch, warum der Berg
gerade der lichte Berg oder Lichtcnberg genannt wurde.
Unsre Altvordern waren bei der Namengebung viel fein-
Bruno Stehle: Grnusthal und Lichtenberg im Unterelsaß.
309
fühlender als unsre heutige Zeit mit ihrer „Amalienruh,
Leopoldsblick" n. a. Im Jahre 1862 schrieb Lehmann eine
„Urkundliche Geschichte der Grafschaft Hanau-Lichtenberg",
in welcher er die Festung, wie sie vor 30 Jahren noch stand,
folgendermaßen beschreibt:
„Die ursprüngliche Burg ist noch größtenteils vorhanden,
und sie ruht auf einem Felsen, der die Höhe eines Berges
krönt, den man von Ingweiler aus in ungefähr anderthalb
Stunden erreicht. So wie man auf der Höhe ans dem
Walde tritt, wird man durch den Anblick derselben über-
rascht, und wir entdecken sogleich den Umfang der alten
Burg mit dem breiten, dunkeln Hanptturme in der Mitte
und um sene herum die neueren Terrassen, Festungswerke
und Wälle. Ehe wir dahin gelangen, kommen wir durch
das vor derselben gelegene
gleichnamige Dörfchen, und
dann zieht sich rechts auf
der Südseite der steile
Pfad hinan zur Festung,
in welcher gegenwärtig eine
kleine französische Garnison
liegt. Bei der zweiten
Zugbrücke beginnt der alte
hohe und gewölbte Ein-
gang zur Burg, rechts in
den Felsen gehauen und
links mit mächtigen Qua-
dern gemauert; und durch
denselben erreichen wir auf-
steigend den ehemaligen, jetzt
mit neueren Verteidigungs-
werken flankierten Burghof.
Eine breite Treppe führt
ins Hauptgebäude, das sich
an den festen Turm an-
lehnt, von dessen Höhe man
eine weite Aussicht genießt;
nach Westen hin auf die
mächtigen Vogesen, gegen
Südost in die Gegend um
Hagenau und über den
Rhein auf den Schwarz-
wald. Südlich schweift das
Auge nach Straßbnrg mit
seinem erhabenen Münster-
turme, d.ssen Obcrvögte
die Herren von Lichtenberg
waren, und endlich in der
Nähe, ebenfalls nach Sü-
den, auf Buchsweiler und
dessen Umgebung hin, so
daß also unsre Dynasten von diesem ihrem Sitze, gleichsam
wie von einer Hochwacht ans, den größten Teil ihres
ursprünglichen, schönen und mit allen Erzeugnissen des
Bodens reichlich gesegneten Gebietes überschauen konnten.
Unter der obersten oder höchsten Plattform des Turmes
befindet sich das berüchtigte Gefängnis, die Hölle geheißen,
das in den Zwisten der Lichtenberger Brüder eine so grau-
sige sagenhafte Rolle spielt, und in welchem gegenwärtig
die Pulvervorräte aufbewahrt werden. Neben demselben,
in der Mitte eines freien Platzes, ist ein Brunnen, der nie
versiegt, neben andern beträchtlichen Quellen, welche die
Hauptveranlassnng zur Erbauung der hohen Lichtenbnrg auf
diesem Felsen gewesen sein sollen. Unten im Hofe sieht man
noch, neben neueren Gebäuden und Wohnungen, wie die alte
Burg später, besonders im 16. Jahrhundert, erweitert und ver-
ändert wurde, kenntlich an Balkönen, Thürgestellen im Re-
naissancestil. Auch die alte kleine Kapelle ist an der Süd-
seite des Hauptturmes noch unversehrt vorhanden."
So weit Lehmann über den Ban der Burg. Was den
Zwist der Lichtenberger Brüder betrifft, erzählt uns die
Sage folgendes: Auf der Bergfeste Lichtenberg hansten
zwei Brüder, die hegten schrecklichen Haß gegen einander.
Der eine schwur, seinen Feind vor Durst, der andre, ihn
Hungers sterben zu lassen. Nachdem sich jener des letz-
teren bemächtigt hatte, ließ er ihn in ein tiefes, unter-
irdisches Gemach werfen, wo man ihm täglich nur ein
trockenes Stück Brot reichte. Der Unglückliche fristete sein
elendes Leben dadurch, daß er die trockene Rinde mit der von
den Wänden herabträufelnden Flüssigkeit netzte. Allein er
wurde verraten und in eine den Sonnenstrahlen ausgesetzte
Kammer gebracht, wo er
bald darauf starb. Der
unnatürliche Bruder stürzte
sich mit dem Burgkaplan,
der ebenfalls um den Mord
wußte, vom Turm herab.
An der äußeren süd-
lichen Mauerseite eines der
Schloßtürme, wo sich das
Pulvermagazin befand, zeigt
man einen in Stein ausge-
hanenen Kopf, der angeblich
den Verdursteten darstellen
soll. In einem unteren
Gemache zeigt man drei
Köpfe, von welchen immer
einer schmächtiger ist als
der andre, und welche den
immer schmächtiger werden-
den Gefangenen vorstellen
sollen.
Wie Lehmann in seinem
Werke mitteilt, giebt uns
eine alte Chronik als Haupt-
veranlassnng zu dem Bau
der Burg folgende Sage
an: „Als die Herren von
Lichtenberg das Haus Lich-
tenberg bauen wöllen, als
sie an dem Gebirg einen ge-
legenen Platz ersucht, (sollen
sie) durch einen Hirten ge-
wiesen und ihnen geraten
worden sein, ihr Wohnung
auf den Lichtenberg zu
einem Brunnen, so ans
einem Felsen geronnen, zu
bauen, dem sie gefolget, wie dann das Haus Lichtenberg, ob es
wohl auf einem solchen hohen Berg liegt, daß man das untere
Gebirg alles übersehen kann, so ist doch auf gemeltem Hans,
welches ein besonder Mirakel, kein Mangel an Wasser, sondern
hat eine stattliche Brunnenguellen und Wassergruben."
Im Oberelsaß ist die spezielle Landestracht verschwunden;
nur im Münsterthal tragen die Frauen eine aus früheren
Zeiten beibehaltene Kopfbedeckung, eine kleine schwarze Kappe.
Ganz anders im Unterelsaß. Bei einer Wanderung durch
dieses Gebiet fällt vor allem die treue Anhänglichkeit der
weiblichen Bevölkerung an ihre alte Tracht auf. Das
blendendweiße Hemd mit den weiten Ärmeln, das kurze
Mieder mit gesticktem Vorstecker, das dunkelfarbige, geblümte
seidene Brusttuch, der farbige Rock mit Bändern verziert,
die reiche seidene Schürze sind die charakteristischen Teile der
kleidsamen elsässischen Tracht. Vervollständigt wird dieselbe
Tracht im Unterelsaß. Nach einer Photographie.
310
C. M. Pleyte Wzn: Zur Kenntnis der religiösen Anschauungen der Bataks.
durch die Kopfbedeckung, eine seidene Schleife oder Schlupf,
bald aus schwarzem, bald aus farbigem breitem seidenen
Band verfertigt. In manchen Gegenden tragen die Katho-
likinnen rote, die Protestantinnen grüne Röcke.
Es scheint dieses zähe Festhalten an der alten Tracht
ein Erbteil aus früheren Zeiten zu fein; denn schon Mosche-
rosch freut sich der Treue feiner Zeitgenossinnen, wenn er
sagt: „Zu loben und hoch zu rühmen ist das Weibsvolk zu
Straßburg. So nahe als sic den a 1a mode vor der Thüre
haben, so wenig achten sie ihn. Sie bleiben bei ihrer
uralten Tracht, in Schurz und Pelz, in Kapp und Banern-
hut, in Übermieder und Leibchen; und sollte es den thörichten
ä la mode zu Tode verdrießen; in welcher Standhaftigkeit
sie auch die Männer selbst übertreffen."
Zur Kenntnis der religiösen Anschauungen der Bataks.
Von <L ITT. pleyte wzn,
Konservator des ethnographischen Museums der König!. Zoologischen Gesellschaft Natura artis magistra iit Amsterdam.
II.
III. D ie Pag ar.
Pagar bezeichnet im allgemeinen Amulett, jedoch zu
gleicher Zeit den Geist, der damit verbunden erachtet wird.
Kein Batak, der nicht seinen Pagar hat, welchen er als Gott-
heit verehrt st. „Jedem Menschen", sagt Dr. Hagen, „begegnet
mindestens einmal in seinem Leben ein Schutzgeist, Pagar,
sei es in Forin kleiner Steinchen, welche in einem Wasser-
strudel umeinander tvirbeln, oder in Fornt eines eigentümlich
geformten Stückes Holz, einer Wurzel re. re. Erkennt nun
der Mann dies, oder vermutet er einen Pagar darin, so be-
utächtigt er sich des Gegenstandes und bringt ihn zum Guru
(Priester), um von ihm Gewißheit zu erhalten. Nun begiebt
sich der Guru damit auf den heiligen Platz des Dorfes, nimmt
eine gehörige Mahlzeit zu sich, und macht den Geist in den
betreffenden Gegenstand hineinfahren unter mancherlei Zere-
monien, wobei das Waschen mit Limonensaft die Haupt-
rolle spielt. Daiuit ist der Pagar fertig und der glückliche
Finder nimmt ihn mit nach Hause, wo er ihm einen eigenen
Platz, gewöhnlich zu Häupten der Lagerstatt des Hausherrn,
anweist, und ihm allmonatlich einmal (am Vollmond) oder hier
und da auch zweimal Reis und ein rotes Huhn opfert. Der
Guru beobachtet daun, ob er Appetit hat oder das Essen ver-
schmäht. Hier und da bekommt der Pagar auch anßeretats-
mäßigcn Hunger und teilt dies dem Guru mit, worauf der-
selbe dem Betreffenden sagt: Dein Pagar ist hungrig und
verlangt dies und das als Opfer."
Der Pagar bleibt in der Familie erblich. — Wird dem
Pagar sein Opfer nicht richtig, oder etwa gar nicht dargebracht,
so rächt er sich durch Entsendung von Krankheit, Wahttsiuu
oder Tod in der Familie. Wird er aber gut gepflegt, so
fährt er zu gewissen Zeiten in Familienglieder, teilweise auch
in Fremde, zu diesem Zweck bezahlte Leute, meistens jedoch
in die Hausfrau, welche dann unter Gontangschlägen und
Gesang der Umstehenden in einen Zustand der Verzückung
gerät (natürlich unter Assistenz des Guru), mit starrem Blick
eine Zeitlang steif dasitzt, und schließlich augiebt, welche Opfer
au schönen Kleidern (für die Frau) und Eßwaren (für sich
selbst) der Geist verlangt. Verspricht oder erfüllt der Manu
sofort dies Verlangen, so giebt der Pagar durch sein Medium
Orakel von sich, indem er z. B. den Ausgang gewisser Ge-
schäfte voraussagt oder angiebt, wo Geld vergraben sei, ob
eine Epidemie naht oder feindlicher Einfall 511 befürchten
steht re. re.2).
Aber nicht nur Gegenstände, welche auf diese oben er-
wähnte Weise gesnuden werden, können ein Pagar sein, man
kann sich auch selber einen zurechtmachen. Solche trägt man
daun bei sich in ausgehöhlten Bären- oder Schweinezähnen,
oder in Tigerkrallen, auch wohl in kleinen silbernen oder
goldenen Köchern, die in die Falten des Hanpttnches gesteckt
werden st.
Bisweilen bedient man sich zum Aufbewahren des Pagars
auch zinnerner Bildchen, Käst tejas (zinnerner König st, wie
die Seite 312 (Fig. 3 und 4) abgebildeten. In diesen Bildchen,
welche als Kunstprodukte einen sehr geringen Wert haben, wird
der Pagar befestigt, entweder in der Nabelgegend oder auf dem
Kopfe. Wird erstere Methode befolgt, dann wird der Nabel
ausgebohrt, der Pagar in dies Loch gebracht und dies wieder
verschlossen; wird er aber ans den Kopf gelegt, dann wird
der Adje mit einem turbanartigen Kopfputz von Getah pertjah
versehen, der den Pagar verbirgt. Andre wieder bewahren ihren
Pagar in mit Getah pertjah umklebten Schachteln, die nicht
selten die Form eines Tieres zeigen. Abbildung 5 stellt
einen solchen Pagarbchälter vor in Form eines Karaban
(Büffel-)kopfes, wobei die Hörner mittels Krokodilzähnen, die
Augen (eins ist verloren gegangen) mittels Kaurischnecken und
die Ohren mittels Glasperlen dargestellt sind, und einige
kupferne Nägel die krausen Kopfhaare bilden. Der ganze
Gegenstand ist an einer Kette befestigt, um ihn um den Hals
befestigen zu können.
Beabsichtigt der Batak, den Pagar als Schutzgeist des
Hauses zu benutzen, dann stellt er ihn in der Form eines
Holzbildes dar, das einen Platz ans der Veranda des Hattses
bekommt. Meistens giebt er diesen Bildern eine hockende
Haltung und bewaffnet sie mit Schwert oder Keule, um ihnen
ein drohendes Aussehen zu geben. Solch ein Bild heißt
alsdann Porpagaran st, das ist Träger eines Abwehr-
mittels. Dergleichen Bilder werden auch am Eingänge des
Dorfes aufgestellt.
Die Verehrung der Pagar hängt gänzlich von Umständen
ab. Im täglichen Leben werden sie sehr wenig gepflegt.
Geht es aber zum Streite, daun wird ihnen reichlich geopfert,
damit ihre Wirknug eine recht kräftige sein soll. Die Adji
tejas haben dann sehr schwierige Pflichten zu erfüllen, denn
sie müssen nicht nur ihren Träger unverletzbar machen, sondern
ihn auch zum Sieg führen st.
IV. Die Debata idup. X- ro x "VX T \
Die Religion der Bataks ist, obwohl sie die Verehrung
eines höchsten Wesens nicht ausschließt, der Hauptsache nach
eine derjenigen, welche die nette Religionswisseuschaft Ani-
mismus nennt. Die Verehrung der Geister, mehr speziell
der Seelen des Verstorbenen, spielt deshalb auch in fast
allen ihren religiösen Anschauungen eine Rolle.
Alle Geister, darunter auch die Seelen der Abgeschiedenen,
werden von ihnen Debata (Geist) genannt. Mit diesen
letzteren wollen wir uns jetzt beschäftigen. Bei der Beschrei-
bung des Ulos ui toudi haben wir schon gesehen, daß die
Seelen, welche im Körper ihren Sitz haben, nach dem Tode
frei werden und als Geister zum Himmel emporsteigen ttnd
dann Snmangot heißen, welches Wort am besten mit
„Individualität" zu übersetzen ist. Außer den Snmangot
C. M. Pleyte Wzn: Zur Kenntnis der religiösen Anschauungen der Bataks.
311
kennt der Batak aber noch zwei andre Geisterarten, die
Silaon und die Sombaon.
Von diesen drei Kategorieen wird die der Sumangot
am höchsten geehrt, weil ihnen auch die Seelen der vor kurzem
verstorbenen Verwandten angehören, während die Silaon, die
Geister schon längst abgeschiedener Familienglieder, von denen
man selbst den diamen nicht mehr kennt, nur mäßig beachtet
werden. Die Sombaon endlich, die Seelen von ehemaligen
Dorfhäuptern, alten Königen, Stiftern von Gemeinden und
Vornehmen, werden mehr gefürchtet als geehrt, jedoch kommt
der Batak nur gar selten mit ihnen in Berührung, weil sie
sich nur auf Berggipfeln, besonders Vulkanen, aufhalten.
Junghuhtt z. B. berichtet: „Ich selbst habe einen solchen
Sumangot (lies Sombaon) auf dem Lubu Radja (dem höch-
sten Berge der Batakläuder) getroffen. Ich hatte anfangs
viel Mühe, die Bataks zur Ersteigung dieses Berges zu be-
wegen, und überwand ihre Abneigung (außer, daß ich mich
selbst für einen metamorphosirten Sumangot erklärte) nur
dadurch, daß ich mich verpflichtete, voranzugehen. Darüber
wurde erst eine feierliche Beratung im Soppo (Gemeindehaus)
gehalten und beschlossen, daß man mir folgen wollte. Auf
dem Gipfel wurde erst mit Benzoe geräuchert und eine feier-
liche Anrede an den Geist gehalten." Auch Dr. Hagen hatte
bei seinen Bergzügen im Tobagebiet dieselbe Furcht der
Bataks zu beseitigen. „Als ich einst den Vulkan Gunung
Tipaiak besteigen wollte", erzählt er, „weigerten sich die Leute,
mich zu begleiten, da sie sich zu sehr vor den dort be-
heimateten Sombaons fürchteten; nur wenn ich verspräche,
oben ein weißes Huhn zu schlachten, wollten ein paar Be-
herzte folgen?)."
Weder von dem Sumangot noch von den Sombaon
werden Bilder angefertigt. Dies geschieht nur für den
Silaon, unter welcher Gestalt alsdann die Urahnen kollektiv
gepflegt werden. Solche Ahnenbilder tragen den Namen
Debata idup. Gewöhnlich, wie ans Fig. 6 und 7 (folgende
Seite) hervorgeht, stellen sie ein paar Menschen vor in gerader
Haltung, ein männliches und ein weibliches Individuum, die
mit den Händen auf die Genitalien zeigen, um die Nach-
kommen daran zu erinnern, daß die Erhaltung des Geschlechts
ihnen vor allen auferlegt ist. Unfruchtbare Frauen opfern
deshalb emsig den Debata idup, damit sie von ihnen
Kindessegen erlangen. Die Debata idup haben ihren festen
Platz in der Behausung. Meistens werden sie in der Nähe
des Herdes, an den Dachrippen festgebunden, am Unterleibe
bedeckt mit einer Matte, die nur in dem Augenblick, wenn
man ihnen Opfer darbringt, entfernt wird8).
V. Si Patulpak, Fig. 8.
Si Patulpak begu, wie sein vollständiger Name lautet,
ist eine hölzerne Menschenfigur, die am Eingänge von jedem
Dorfe vorgefunden wird, einmal als Ruhestätte für den
Schutzgcist des Dorfes, andrerseits als Medium, um stch mit
ihm in Verkehr setzen zu können. Gewöhnlich haben diese
Holzstatuen eine drohende, abwehrende Haltung, die mit Lanze
oder Schwert ausgerüstet sind, um sich besser zur Wehr stellen
zu können. Das hier dargestellte Bild ist ohne diese Waffen,
dafür aber an der Unterseite mit einem nach vorn gerichteten
Schweinekicfer versehen, welcher mittels 16) all Tau daran
befestigt ist, dem Überreste des letzten ihm dargebrachten Opfers.
In früheren Zeiten wurde bei diesen Bildern auch ge-
schworen. Heutzutage findet dies aber nicht mehr statt. Sie
dienen nur noch, um das Huta, Dorf, robu, d. i. unzugäng-
lich für böse Einflüsse zu machen 9).
VI. Der Mangayang-ayang10), Fig. 9.
Der jetzt zu besprechende Gegenstand ist eine flache, cylin-
drische, von Rotan geflochtene und mit einer netzförmig ge-
knüpften Schnur umwickelte Schachtel, mit kegelförmigem
Deckel. Drei Seile, die oben zusammengeknüpft sind, am
Boden der Schachtel in regelmäßiger Entfernung befestigt, er-
möglichen es, sie um ihre Achse drehen zu lassen. In der
Schachtel befinden sich zwei braune, baumwollene Teilchen,
beide an ihrem Ende mit einem ans Getah pertjah ange-
fertigten Schlangenkopf versehen, während an den einen Draht
noch eine Anzahl von Perlen ans demselben Stoffe angeklebt
sind. Mit dieser Schachtel und den beiden Schlangen wird
geweissagt durch einen Priester, der aus der Lage der Schlangen
die Zukunft verkündigt. Nicht jeder Priester ist aber im
Stande, diese Rombu siporhas (Blitzseile), wie sie genannt
werden, zu benutzen. Er muß eine Datu pangarombu,
d. h. ein gelehrter Datu (Priester) sein u). Um durch die
Schachtel ein Orakel geben zu lassen, verführt er folgender-
maßen. Zuerst wickelt er die Rombu siporhas unter
Gebetmurmeln rund um seine Finger, und legt sie dann
nebeneinander in die Schachtel. Dann wird diese mit großer
Sorgfalt geschlossen. Er faßt nun die zusammengeknüpften
Enden der Seile, woran die Schachtel hängt, mit seiner Rechten
und setzt die Dose mit seiner Linken in drehende Bewegung,
bis die Seile ganz ineinander gedreht sind. Nun entfernt
er seine linke Hand, so daß die Dose sich zurückzudrehen
anfängt, und zählt bis sieben. Dann hält er die Dose schnell
wieder fest und öffnet sie schnell unter Gebeten. Sieht er nun,
daß die Köpfe der Schlangen gegen ihn zugewandt sind, so
ist dieses ein sehr übles Zeichen, liegen sic aber in entgegen-
gesetzter Richtung, dann steht dem, was unternommen werden
soll, ein guter Erfolg bevor 12).
Ehemals spielte der Rombu siporhas eine weit be-
dentendere Rolle. In dem Bericht über eine Reise der beiden
Baptistcn-Missionare Burton und Ward, 1824 unternommen
im Auftrage von Rafflcs nach dem Gebiete der Bataks, wird
eine Weissagung mittels der Blitzseile als die „einzige reli-
giöse Zeremonie" beschrieben. Damals wurde hierbei auch
ein wenig verschieden von der heutigen Art verfahren. „Die
einzige religiöse Zeremonie", so lesen wir, „wozu das ganze
Dorf sich versammelt, ist diejenige, welche stattfindet am Abend,
ehe die Feindlichkeiten anfangen sollen. Wenn der Datu den
dazu bestimmten Tag bestimmt hat, wird eine temporäre
Scheune mitten im Dorfe aufgerichtet, worin alle Dorf-
bewohner zusammentreffen. In der Mitte, auf dem Boden,
breitet der Datu ein grünes Tuch, Dios, aus, in dessen Mitte
zwei Seile von zwer'DMß Länge mit Menschenköpfe dar-
stellenden Wachsknöpfen versehen befestigt sind. Diese beiden
Seile stellen die beiden miteinander Krieg führenden Par-
teien dar. An mehreren Stellen der Seile befinden sich
Perlen, welche die verschiedenen Mitglieder der Gemeinde
darstellen. Die ersten bedeuten die Häuptlinge, die zweiten
die Krieger rc. rc.
Nachdem die Versammlung sich nun mit Trommeln,
Musizieren und Tanzen unterhalten hat, nimmt der Datu
die Roinbu siporhas angesichts des ganzen Volkes ans
und ruft den Zorn der Götter und der Ahnen auf die Feinde
herab; er begehrt von beiden, daß sie durch die Rombu si-
porhas offenbaren sollen, ob es erlaubt sei, das ihrem Lande
angethane Unrecht zu rächen. Darauf läßt er die Seile fallen,
und zeigt dann aus ihrer Lage und andern Anzeichen, ob ein
guter Erfolg zu erwarten sei. Ist dies der Fall, dann werden
die Feindlichkeiten sogleich angefangen^)."
VII. Der 1 o p i n g , Fig. 10.
Dr. Hagen erwähnt in seinem schon mehrfach angeführten
Aufsatz „Beiträge zur Kenntnis der Battarcligion", dort, wo
er die prunkvollen Leichenbegängnisse der Orang Tcnior be-
schreibt, daß bei dem sogenannten Kuda-huda- und Toping-
spiel zwei Masken in Verwendung kommen, deren eine einen
312
C. M. Pleyte Wzn: Zur Kenntnis der religiösen Anschauungen der Bataks.
Rhinozcrosvogcl, deren andre aber ein menschliches Antlitz
darstellt. In der Nabelgegcud des einen Tänzers ist eine
lange bewegliche Stange angebracht, an deren Spitze der Kopf
eines Rhinocerosvogels (Buceros rhinoceroides) befestigt
und mit zwei Schnüren versehen ist, welche der Spieler in
der Hand hält, um damit die Stange und den Vogelkopf zu
lenken. Hinten hat sich der Spielende einen alten Lappen
als Schwanz befestigt, so das; die ganze Figur in etwas an
einen Rhiuozerosvogel erinnert. Der andre, der Toping-
spieler, stülpt sich einfach einen Flaschenkürbis mit zwei
Augenlöchern über den Kopf. Der Topingspielcr heißt das
Männchen, der andre das Weibchen 14j. Auch wurde Dr.
Hagen, als er die Orang Tenio besuchte, gesagt, daß beim
Topingspiel anstatt der Kürbisschale eine geschnitzte Holz-
maske vorgebunden würde, der man so gut als möglich
die Züge des Verstorbenen zu verleihen sucht. „Wenn", so
Fig. 3-
Fig. 5.
Fig. 9.
Fig. 3. Ádji tejas. -Zinnerner König. — Fig. 4. Adji tejas. Zinnerner König. — Fig. 5. Amulett in Gestalt eines
Büffelkopfs. — Fig. 6. Debata idup (männlich). — Fig. 7. Debata idup (weiblich). — Fig. 8. Si patulpak begu.
Dorfschutzgeist. — Fig. 9. Zauberdose, Mangayang ayang, und dazu gehöriges Blitzscil, rombu siporhas. — Fig. 10.
Toping, Maske, mit dazu gehöriger Haud.
sagt er weiter, „die gewöhnlichen Feierlichkeiten beim Tode
eines Radja vorüber sind, und der Sarg vor dem offenen
Grabe angekommen ist, so bezeichnet der neue Radja zwei
Sklaven, welche die Verkleidungen des Toping uud der Kuda-
huda anlegen uud vor dem Grabe noch einmal Possen treiben
müssen. Plötzlich ergreift man sie und schneidet ihnen samt
der Verkleidung den Hals ab. Die Leichen legt man zu
unterst ins Grab, gegenüber am Kopf- und am Fußende,
und stellt den Sarg darauf lr’)."
Als Dr. Hagen später wieder einmal eine Reise durch
diese Gegenden machte, erblickte er, als er in den Balé bale
von Rangasaribtt eintraf, an der Wand dieses Gebäudes einen
kurzen Stock, worauf, mit Fädeu umwickelt, der getrocknete
Kopf eiucs Rhiuozerosvogels steckte, welchem man ein Paar
Pferdeohren angesetzt hatte. Diese Kuda-kuda war schon vor
langer Zeit beim Tode des vorigen Radja gebraucht worden.
Auf seine Nachfrage gelang es auch, das Seitenstück hierzu,
die Maske Topiug, zu finden, welche als Wertstück im Radja-
B. W. Segel: Jüdische Volksmärchen.
313
Hause aufbewahrt wurde. Sie war ein Geschenk des Radja
von Bangusaribu au den Radja von Nangasaribu, sehr sauber
aus Holz geschnitzt, mit Menschenhaaren verziert und deutlich
mit alten, eingetrockneten Blutflecken bespritzt, was in mir
den wohlbegründeten Verdacht erweckte, es sei das Blut der
bei der Leichenfeier geschlachteten Sklaven ich. Leider war
dies hochinteressante Stück dem Radja nicht feil, obwohl Dr.
Hagen ihm zuletzt den hohen Preis von 15 Dollars bot.
Nachdem er es berechnet und gezeichnet hatte* 12 13 * 15 16 17 *), mußte er
cs zurückgeben, wonach sich die kleinen Buben ein Vergnügen
daraus machten, die Maske aufzusetzen, Possen damit zu
treiben und insbesondere die Weiber damit zu erschrecken,
welche beim Anblick derselben schreiend auseinander stoben.
Wir könnten aus dieser Mitteilung schließen, daß der
Doping nur als Tanzmaske verwendet wird, besonders bei
den Begräbnissen der Radjas. Dies ist jedoch nicht der Fall.
Die Maske, wovon Fig. 10 eine Abbildung gegeben wird,
ebenfalls Doping genannt, ist ein bei den Bataks sehr viel
gebrauchtes Mittel, um sich mit den Seelen ihrer Abgeschiedenen
in Verbindung setzen zu können. Will man sich z. B. mit
einem verstorbenen Verwandten unterhalten, dann bindet man
einem Stammesgenossen eine Holzmaske vor und ein Paar
hölzerne Hände au, in welchem Putze er alsdann im Dorfe
erscheint, und durch seine Familie angebeten wird. Folgende
Notiz, die wir von Herrn van Asselt mit der Maske em-
pfingen, dürfte hier zur Bestätigung dieser Angabe einen
Platz finden.
„Die Maske, wozu die beiden Hände gehören, und die mit
natürlichen Haaren verziert ist, stellt einen Knaben vor, der
durch einen frühzeitigen Tod seiner Familie entrissen wurde.
Die Ehe blieb nach seinem Verscheiden kinderlos, deshalb
wünschte die Mutter ihren Sohn zu sehen und zu sprechen,
um von ihm Kindersegen zu erbitten. Sie richtete nun, um
ihren Sohn aufs beste empfangen zu können, mit ihren
Verwandten eine große Mahlzeit an. Als alles in Ordnung
gebracht war, wurde ein Knabe, im gleichen Alter, wie der
1) Willen, Animisme, S. 121.
2) Hagen, o. c., D. 526 ss.
3) Witten, o. c., S. 122.
4) v. d. Tunk, 0. 6., i. v. tejas. ^
6) v. d. Tunk, o. c., i. v. pagar und Tafel 1. nebst Er-
klärung derselben.
0) Nieinann, o. c., S. 295.
7) Hagen, o. c., S. 528.
8) v. d. Tunk, o. c., i. v. idup.
0) v. d. Tunk, 1. v., tulpalr. Neumann, o. c., S. 301 ff.
lu) v. d. Tunk, o. e., i. v. ayang. '-^-^■^>8
Verstorbene, vor das Dorf geführt, wo man ihm die Maske
anlegte und die Hände auf seine Hände band. Dann be-
richtete man der Mutter, daß ihr Sohn gekommen sei. Um
ihn bald zu sehen, setzte sie sich auf die Treppe ihrer Woh-
nung, so daß sie den Eingang des Dorfes übersehen konnte.
Ans ein gewisses Zeichen wurde nun der Knabe hineingeführt.
Kaum hat die Mutter ihr angebliches Kind gesehen, als sie
schon die Treppe hinuntereilt, um es zu begrüßen. Sie giebt
dem Knaben die schönsten Titel, als: mein Sohn, meine
Seele, mein König, mein Gott! Bei solch einer Begegnung
ist es herzzerbrechend, die arme Frau zu sehen. Sie über-
deckt die Maske mit Küssen und Thränen und freut sich laut
über die Rückkehr ihres Kindes. Auf einmal übermeistert sie
aber das Gefühl des Schmerzes. Sie hält ihm seine Undank-
barkeit vor und seine geringe Liebe, da durch ihn ihre Herzens-
adcr durchgeschnitten sei und er sie zurückgelassen habe, wie
ein vereinzeltes Blatt ans einem einsamen Baume, mit dem
die Wurde spielen, und der Schande zur Beute. Endlich
aber tritt die Familie zwischen beide und verhindert die
Frau, in dieser Weise fortzufahren. Sie geben ihr den
Rat, lieberden Geist ihres Sohnes anzubeten und ihn um
Segen zu bitten. Dieses giebt sie endlich zu, worauf eine
Mahlzeit, zur Ehre der Seele des Kindes, die Zeremonie ab-
schließt."
Neben den beiden Masken Toping und Kuda Knda ist
noch eine dritte bei den Bataks in Gebrauch, die Dongol
Dongol heißt. Sie werden, nach v. d. Tunk, bei Leichen-
festen benutzt und sind mit einer Vorrichtung versehen, um
künstliche Thränen hervorzubringen. In: Innern der Maske
befindet sich nämlich feuchtes Moos, auf welches der Träger
drückt, damit aus den Augenhöhlen das Wasser gleich Thränen
hervorquillt.
Hiermit sind wir am Ende unsrer Notiz angekommen.
Möge sie ein Beitrag sein zur Vermehrung der Kenntnis der
Ethnologie des Batakschen Stammes.
la) Willen, Het Shamanisme by de Yolken van den Oost
Indischen Archipel, S. 56, Note 162.
12) Nach Mitteilung von Herrn van Asselt.
13) Burton und Ward, Verslag etc. Bydragen tot d. T.
L. en YK. van Ned. Ind. (1856), S. 293 ff.
u) Hagen, o. c., S. 517.
15) Hagen, o. c., S. 519.
16) Hagen, Rapport über eine im Dezcinber 1883 unter-
nommene wissenschaftliche Reise an den Toba-See. Tydschrift
v. Ind. T. L. en VK., Teil XXXI, S. 350. v. d. Tuuk,
i. v., toping. XX ~ (3
17) Vergleiche die Abbildung o. c.
Jüdische Volksmärchen.
Don B. 1V. Segel. Lemberg.
III. (Schluß.)
3. Das Vögele.
War einmal ein sehr reicher Mann, der hatte keine
Kinder. Aber er unb sein Weib sehnten sich sehr nach einem
Kinde. Da fuhr er zum RebbeJ). Sagt der Rebbe, er
werde einen Sohn bekommen, aber nur bis zum 13. Jahre2)
werde derselbe leben, dann müsse er sterben. Der Mann
1) Siehe Sinnt. 2) zu „Der Adler".
2) Das 13. Lebensjahr ist bedeutungsvoll, weil in dem-
selbeu der Knabe die Verantwortlichkeit für seine Sünden, die
bis dahin auf dem Vater lasteten, selbst übernimmt. Eine Art
Konfirmation bezeichnet diese Wendung; mitunter werden Hoch-
zeit und Konfirmation an einem Tage begangen.
Globus LX. Nr. 20.
war damit zufrieden, dachte aber, ich verberge es vor meiner
Frau. Er kommt nach Hause, und erzählt, der Rebbe hat
mir gewünscht (mich gesegnet), daß Du, mein Weib, einen
Sohn haben wirst. Nach Jahresfrist genas die Frau eines
Knaben. Das Weib war sehr erfreut, der Mann aber blieb
traurig. Fragt sie ihn: „Warum freust Du Dich nicht?"
antwortet der Mann: „Man mnß den Dingen ihren Lauf
lassen." Das Kind wurde groß, und cs wuchs zu einem
Ga6n I heran. Er war ein großer Lamdan 2). Der Vater
aber blieb traurig, denn er wußte, daß diese Herrlichkeit
a) Gaon — Titel der großen Rabbinen.
2) Thalmudkenner.
40
314
B. W. Segel: Jüdische Volksmärchen.
nicht von langer Dauer sei. Indessen dachte er, ich werde
ihn in ein kinderreiches Haus hinein verheiraten, vielleicht
bleibt er mir doch leben. Der Knabe wurde verlobt, und
bald kam der Hochzeitstag. Man machte zu demselben große
Vorbereitungen, denn die Mutter wollte ihrem Sohne eine
glanzende Hochzeit bereiten. Alles freute sich und war voller
Hoffnung, der Vater allein blieb traurig. Es kam die
Trauung; der Bräutigam stand schon unter dem Baldachin,
und man ging die Braut abzuholen. Und als man mit
der Braut zur Chuppah (Baldachin) kain, war der Bräutigam
verschwunden. Die Mutter beginnt zu weinen und zu
schreien: „Wo ist mein Sohn, mein einziger, mein goldener!"
Sie sagte: „Ich werde gehen, von Stadt zu Stadt, von Dorf
zu Dorf, und von Wald zu Wald, bis ich. meinen Sohn
gefunden habe."
Zuerst aber ging sie zum Rebbe. Wie sie zum Rebbe
kam, da sagte dieser: „Du sollst gehen, wohin Dich Deine
Augen tragen; Du wirst kommen zu einem eisernen Berg, zu
einem gläsernen Berg; und wenn Du die beiden Berge über-
stiegen haben wirst, dann findest Du Deinen Sohn." Die
Mutter ging und ging; da traf sie den eisernen Berg; den
überstieg sie; dann traf sie den gläsernen Berg, sie will hinauf,
kann aber nicht, denn der Berg ist schlüpfrig. Sie setzt sich
hin aus einen Stein, und beginnt bitter zu weinen. Da
erbarmt sich Gott ihrer und schickt ihr einen Vogel, der trägt
ein spitzes Beil in seinen Klauen. Sie ergreift das Beil,
beginnt damit kleine Vertiefungen in den Glasberg zu hauen,
die ihr als Stiegen dienen, und so kommt sie endlich auf die
andre Seite des Berges. Dann geht sie weiter und geht und
geht, bis sie endlich in der Nacht ein Licht schimmern sah.
Sie ging weiter und bemerkte eine Hütte, aus welcher das
Licht kam. In die Hütte trat sie, und aus Furcht vor
Räubern, welche in derselben wohnen könnten, versteckte sie
sich unter dem Bett. In der Nacht sah sie, wie ein Vogel
geflogen kommt; an der Thür wirft er von sich die Federn,
und es setzt sich ein prächtiger Jüngling an den Tisch, um zu
lernen. Die Mutter erkennt in diesem ihren Sohn. Denkt
sich die Mutter, wenn er weggehen will, trete ich auf ihn zu,
nnd nehme ihn heim. Bis sie sich entschließt, ist der Jüng-
ling wieder in einen Vogel verwandelt, und schon davon-
geflogen. Die Mutter beschließt nun, die zweite Nacht abzu-
warten. Der Vogel kam wieder, that von sich die Federn,
nnd machte • sich ans Lernen. Da trat die Mutter leise an
die Thür und schloß dieselbe. Nachdem er gelernt hatte und
ans die Thür zuging, sagte die Mutter zu ihm: „Sohn,
mein teurer, mein herziger, wenig habe ich um Dich Kummer
gelitten! Komm doch mit mir heim!" Sagt der Sohn:
„Komm, ich nehme Dich auf meine Flügel, und trage Dich
weit, weit fort; daun wirst Du noch weiter gehen, und wirst
sehen einen großen Palast, und drinnen sitzt ein Mann und
sammelt um sich die Vögel, und streut ihnen Futter. Dar-
unter wirst Du ein blaues Vögele bemerken, mit weißen
Streifen; das ergreife dann schnell, stecke es in deinen Busen,
und mache Dich rasch davon."
Dann nimmt er sie auf seine Flügel, und trägt sie weit,
weit. Da sagt die Mutter: „Fühlst Du nicht, Kind, wie
heiß es hier ist?!" Sagte der Sohn: „Tief, tief unten ist
die Hölle." Sie flogen weiter. Sagte die Mutter: „Fühlst
Du nicht, Kind, wie schön es hier duftet." Antwortet der
Sohn: „Da ist das Paradies, und es duftet so schön." Er-
ließ sie nieder und sie gingen weiter, weiter; kam sie in einen
großen Palast, und sah wie einer saß und alle Vögel zu-
sammenrief, und ihnen Futter streute. Da erkannte sie ihr
blaues Vögele mit den weißen Streifen; sie ergreift es
schnell und läuft davon mit dem Vögele. Glücklich kommt
sie nach Hause, da entwischt ihr plötzlich das Vögele, und sie
fällt in Ohnmacht. Als sie aber wieder ans der Ohnmacht
erwachte, da hörte sie die frohe Kunde, daß der Sohn schon
unter der Chuppah stehe. Man hielt Hochzeit und es war
große Freude.
4. Wie der Vater seine Tochter fand.
Es war einmal ein großer, gelehrter Rabbi, schrieb ein
gelehrtes Buch, und von den Anfangsbnchstaben des Titels
nannte man ihn kurz „Schach"^. Dieser Schach hatte eine
einzige Tochter, ein Kind von sechs Jahren. Einmal sollten
durch die Stadt die Tataren kommen. Die Tataren durften
töten, wen sie wollten, und man konnte ihnen nichts thun.
Der Schach fürchtete für das Leben seiner Tochter; seine
Frau war schon längst tot. Da ging er in einen tiefen Wald,
erbaute sich dort eine Hütte, und gedachte dort mit seiner
Tochter zu bleiben, bis die Gefahr vorüber sei. Einmal
ging der Rabbi in die Stadt, um Nahrungsmittel für Sams-
tag einzukaufen, und ließ seine kleine Tochter allein in der
Hütte zurück. Da fuhr ein Poritz (Herr) vorbei, machte vor-
der Hütte Halt, trat in dieselbe, ergriff das Kind und trabte
davon. Der Rabbi kehrte bald heim und findet seine Tochter
nicht. Er durchstöberte den Wald, suchte in jedem Winkel,
hinter jedem Busch, rief ihren Namen laut, daß es von
Baum zu Baum wiederhallte, alles umsonst.
Sobald der Samstag vorüber war, sagt der Rabbi zu
sich: „Ich werde gehen von Wald zu Wald, von Stadt zu
Stadt, und von Dorf zu Dorf, und werde nicht ruhen, bis
ich meine Tochter wieder habe." Er schnürte fein Bündel,
legte einige Hemden hinein, nimmt Talith nnd Tephillin
(Gebetmautel und Gebetriemen) nnd einige Seforin (Bücher)
und macht sich auf den Weg. — Was war inzwischen ans
der Tochter geworden?
Der Herr, welcher sie geraubt, hatte eine Tochter im
gleichen Alter; er hielt nun das kleine Judenmädchen mit
seiner Tochter in einem besonderen Zimmer; denn bei den
großen Herren wohnen die Kinder in einem besonderen
Zimmer; und er hielt sie gut, eben wie ein großer Herr.
Später gedachte er sie schmadden (taufen) zu lassen. So oft
man ihr zu essen gab, kain eine alte Frau, welche von
niemandem als von dem Judenkinde gesehen werden konnte,
und vertauschte ihr die Speisen mit andern, welche sie mit
sich brachte. Denkt sich das Kind, das muß meine tote
Mutter sein; denn sie wußte ganz gut, daß sie die Tochter
des Schach war; die Mutter bringt mir Speisen, damit ich
nicht Trefoth (unrituelle, verbotene Speisen) esse. So blieb sie
am Hofe des Herrn bis zum zehnten Jahr. Wie sie 10 Jahre
alt war, wollte sie der Herr in eine Kirche bringen, um sie
schmadden zu lassen. Alles war schon vorbereitet, aber das
Mädchen hatte keine Furcht. Da kam einmal um Mitter-
nacht die Mutter zu ihr, weckte sie und sagte: „Komm mit
mir." Sie nahm die Tochter auf die Schultern nnd trug
sie weit, weit fort; dann ließ sie sie nieder, vor der Thür
eines Hauses, und verschwand. Das Mädchen begann sehr
zu weinen, und man hörte es drinnen. Sagt die Frau zu
ihrem Manne: „Steh nur auf und sieh zu, wer da so laut
weint." Der aber sagte: „Ich habe Furcht." Das Weib
aber sagte: „Wenn ich nicht krank wäre, würde ich selber
hinausgehen." Da ging der Mann und brachte das Mädchen
hinein. Und es war ein sehr schönes Mädchen, ihr Gesicht
war blaß nnd die Augen leuchteten. Man gab ihr Er-
frischung, und brachte sie zu Bett. Am Morgen sagte die
Wirtin zu ihr: „Kind, ich weiß nicht, wer Du bist, und woher
Du bist, wer Dein Vater ist, und wer Deine Mutter ist,
aber ein jüdisch Kind bist Du, bleibe bei mir, ich werde Dich
i) Es ist üblich, die Verfasser berühmter Werke mit dem
Namen, der aus den Anfangsbuchstaben ihres Werkes gebildet
ist, zu bezeichnen, unter diesem Namen sind sie häufig eher
bekannt, als unter ihrem Eigennamen.
Land und Leute in Uhähä.
315
halten wie ein eigen Kind." Das Mädchen blieb bei der
Wirtin. Diese war krank, und starb bald darauf. Vor dem
Tode rief sie den Mann zum Lager und sagte ihm: „Du
bist noch jung, heirate deshalb das fremde Mädchen; ich habe
an ihr gut gehandelt, so wird sie auch an meinen Kindern
gut handeln." Nach Schlochim (30 Trauertage) heiratete
der Witwer das Mädchen.
Unterdessen zog deren Vater, der Schach, von Wald zu
Wald, von Stadt zu Stadt, vou Dorf zu Dorf, und suchte
überall seine Tochter. Er blieb in keiner Stadt länger als
einen Tag, er hat nur immer gesucht und geforscht; er dachte,
ich werde suchen, mein ganzes Leben werde ich suchen die
Tochter, bis ich sterbe. Er ging und ging, bis er in die
Stadt gekommen ist, wo seine Tochter wohnte. Er kam in
das Haus seiner Tochter und fragte: „Werde ich Sabbath
halten können?" Antwortete die Wirtin: „O, warum denn
nicht?" Sagt der Rabbi: „Ich brauche ein besonderes
Zimmer zum lernen und zum beten." Sagt sic: „Ja!" —
Sie hört ihn lernen, sagt sie zu sich: „Ei, das kann nur
mein Vater sein, die Stimme ist so ähnlich!" Sie hört <hn
beten: „Punkt (genau) wie mein Vater! Er hielt Sabbath,
seine Aufführung ist Punkt die meines Vaters!" Sonntag
früh will der Gast fortgehen, so läßt ihn die Wirtin nicht
fort und sagt: „Bleib hier noch einige Tage, Ihr könnt
bei mir noch sein sogar acht Tage, ich behalte Euch gern."
Sagt er: „Ich darf nicht sitzen, ich muß weiter gehen."
Sagt sie: „Was ist's?" Sagt er: „Was könnt Ihr mir helfen,
selbst wenn ich cs Euch erzähle; ich hatte eine einzige Tochter,
die hat man mir gestohlen; die suche ich nun schon 20 Jahre,
und ich werde sie suchen, bis ich sterbe." „Mein süßer
Vater", sagte sie, „mein Vater, herziger, bist Du der Schach?!
Ich bin Deine Tochter!" Sie erzählte ihm, was ihr ge-
schehen war, daß beim Herrn ihr die Mutter die Speisen zu
vertauschen pflegte, damit sic nicht Trefoth esse, und wie sie
dann geheiratet hat. Der alte Rabbi blieb nun bei seiner
Tochter, und war sehr glücklich.
5. Eine Reise nach dem Messias.
Es waren einmal zwei Jünger, die lernten gemeinsam in
der Jeschiba (höhere Thalmudschule). Sic waren gute Lerner
(tüchtige Thalmndisten) und sehr fromm. In späteren Jahren
begegneten sie sich in einer Stadt, und der Eine sagte zum
Andern: „Weist Du, laß uns Fasten und Buße thun, und
zu Gott beten, damit der Messias komme, denn die Welt ist
sehr verdorben, man hört nur von großen Aberoth (Sünden,
Verbrechen) und Krieg *). Sie begannen nun sich zu
plagen, und zu peinigen, sic aßen nicht und tranken nicht,
sondern beteten und lernten unaufhörlich, suchten die Einsam-
keit auf, und sonderten sich von der Welt ab* 2), kurz, sie
thaten Buße, um den Messias zu bringen. Sie wanderten
von Ort zu Ort, gingen und gingen, bis sie einmal einem
alten Jüdlein begegneten, das war Elias, der Prophet. Dieser
sagte ihnen: „Geht nur weiter, dort findet Ihr ein Stübchen,
in diesem Stübchen könnt ihr ausruhen." Sie gingen und
gingen, bis sie zum Stübchen kamen. In das Stübchen
traten sie ein, fanden aber niemand drinnen. Sie setzten sich
lernen, da überwältigte sie die Müdigkeit und sie schliefen
ein. Im Traume sahen sie zwei weiße Tauben, die im ■
Stübchen umherflogen; die Tauben neigten sich zu ihrem
Ohr, und sagten: „Fastet noch 40 Tage und 40 Nächte, und
dann wandert weiter, bis Ihr zu einem sehr großen eisernen
Thor gelanget. Das Thor hat sechs Schlösser, jedes Schloß
Z Solche Asketen und Büßer waren einst eine sehr häufige
Erscheinung unter den Juden.
2) Manche Büßer suchen die Einsamkeit auf (Jichud). Andre
dagegen machen sich zur Aufgabe, unter die Leute zu gehen und
sic von schlechten Thaten abzuhalten.
sechs Schlüssel. Das Thor schließet auf, und tretet ein."
Wie sie erwachten, fanden sie wirklich ein Bund von
36 Schlüsseln vor. Sie erhoben sich und gingen von dannen.
Unterwegs begegnete ihnen nochmals Elias, der Prophet.
Der gab ihnen einen Stab in die Hand und sagte: „Wie Ihr
das Thor öffnet, werdet Ihr zu beiden Seiten zwei lange
Reihen von Menschen sehen, die mit gekrönten Häuptern
dasitzen und lernen. Dann gehet weiter, und Ihr findet
einen gläsernen Berg, den müßt Ihr übersteigen. Ihr
wandert weiter und treffet ein kleines, ganz abseits gelegenes
Stübchen; in das Stübchen tretet ein, Ihr findet dort den
Jecer-ha-Rü (Geist des BösenJ). Da habt Ihr, nehmet,
diese eiserne Kette, fesselt ihn, und bringt ihn her, ich erwarte
Euch hier. Sobald das geschehen ist, ist die Welt gerettet, und
der Messias kommt bald; aber hütet Euch, dem Jecer-ha-Rü
unterwegs etwas Nahrung zu reichen, denn er reißt sich bald
los, und Eure ganze saure Mühe ist vergebens."
Unsere jungen Leute wanderten und kamen an das Thor;
sie erschraken, wie sie das ungeheuer weite Thor erblickten,
und dachten, wer wird so ein Thor öffnen; sie gingen ans
Werk, aber das Thor öffnete sich leicht, und sie traten ein.
Ihnen strömte eine große Helle entgegen, und zu beiden
Seiten saßen zwei Reihen Menschen mit gekrönten Häuptern,
und lernten; in der Luft herrschten balsamische Düfte, und
von oben, ganz, ganz hoch oben, kam eine leise, sanfte Musik.
Und die Helle war so stark, daß man glaubte, sie fassen zu
können mit den Händen. Die Wanderer ergriffen auch eine
Handvoll Licht, und thaten es in die Tasche. Sie gingen
weiter, weiter, und kamen zum gläsernen Berg, sie wollten
hinauf, es geht nicht! Da begauncu sie zu beten, und Buße
zu thun, und kamen endlich hinüber. Sie gingen durch
Wüsteneien und Oden, und es war sehr finster, nur das
bißchen Licht, das sie von jenseits des Berges mitgenommen
hatten, leuchtete ihnen, und ermöglichte ihnen den Weg. Die
Finsternis war so groß, daß man sie mit Händen greifen
konnte; sie ergriffen eine Handvoll Finsternis und steckten sie
in die Tasche. Sie gingen weiter und kamen zum kleinen
Stübchen. In das Stübchen traten sie, trafen dort den
Jecer - ha -Rü, ergriffen ihn, schlugen ihn in Fesseln und
schleppten ihn fort. Sic waren sehr erfreut, denn schon sollte
der Messias kommen. Sic gaben dem Jecer-ha-Rü keine
Nahrung und ließen ihn hungern. Da begann der geplagte
Geist zu bitten und zu weinen: „Gebt mir wenigstens
etwas, daß ich mein Leben erhalte!" „Nein, Du bekommst
nichts, nicht ein Stückchen." Der Jeccr-ha-Rü weinte und
bat, und warf sich zur Erde, da erbarmte sich einer von den
beiden Wanderern und reichte ihm eine Erquickung. Wie
sich der böse Geist gelabt hatte, riß er sich los und lief davon.
Die beiden waren verzweifelt, wir haben so viel und so länge
gehorowit (mühevoll gearbeitet), und am Ende ist nichts
daraus geworden. Da hat sich der Eine schmadden (taufen)
lassen, und der Andre ist bald darauf gestorben.
0 Im Menschen kämpfen zwei Geister, der Jecer-Ha-Tov,
der zum Guten, und der Jecer - ha-Rü, der zum Bösen neigt.
Letzterer besonders wird als ein böser Engel personifiziert, der
auch den Menschen vor Gott verleunidet, und dann bei Gericht
den Zeugen macht.
Land und Leute in Uhähä.
Die Landschaft Uhähä, welche jüngst durch den Verlust
der Expedition Zelewskis eine traurige Berühmtheit erlangt
hat, gehört zu den mindest erforschten Distrikten unsres ost-
afrikanischen Schutzgebietes. Zuverlässige Nachrichten gaben
in neuerer Zeit zuerst die Briten Elton und Cotterill ans
ihrer Reise vom Nyassa nach Ugogo 1877, wobei sie das
mächtige Kondi-Gebirge entdeckten und den westlichsten Ab-
40*
316
Land und Leute in Uhähä.
schnitt des kühlen, herdenreichcn Hochplateaus am oberen
Ruaha kreuzten l). Ihnen folgte im August 1879 der
Geologe I. Thomson (To the Central African Lakes
and bak, Yol. I) und dann in den Märztagen 1883 der
Franzose Viktor Giraud, dessen Schilderungen von unsrer
Zeitschrift ziemlich ausführlich wiedergegeben sind (Globus
1888, Bd. kill). Noch später berührte Paul Reichard,
der letzte Überlebende der deutschen Ostafrika-Expedition, im
Sommer 1885 den nördlichen Abschnitt dieses Gebietes, und
endlich kamen, gegen Ausgang desselben Jahres, die Sendlinge
der Deutsch-ostafrikanischen Gesellschaft, GrafJoachim Pfeil
und Leutnant Schlüter, zu denWahähä am Ruaha und er-
warben durch Vertrag vom 29. November 1885 die ganze Region
für ihre Auftraggeber (Kolonial-Politische Korrespondenz 1886,
Seite 30 und 38). Ein Aufsatz Schlüters, worin diese
Reise nebst den gemachten Wahrnehmungen anschaulich be-
schrieben wird, erschien im Juni 1886 in der Kolon.-Polit.
Korrespondenz (a. a. O., Bd. II, Seite 138 und 139).
Dieser Aufsatz bildet, samt einem Vortrage, den der Afrika-
forscher Paul Reichard am 16. Oktober er. vor der deut-
schen Kolonial-Gesellschaft hielt, den Grundstock unsrer
Kenntnis Uhähäs * 2). Außerdem hat das amtliche Kolonial-
Blatt in seinen Nummern vom l.und 15. Oktober einige Nach-
richten über das Land der Wahähä gebracht, auch eine, aller-
dings nur skizzenhafte Übersichtskarte dem Texte beigefügt.
Uhähä wird im Norden von Ugogo und Usagara, im
Osten von Chutn und im Süden von Mahenge begrenzt;
nur im Westen scheint eine bestimmtere Grenzlinie zu fehlen.
Veranlaßt durch seine Zugehörigkeit zum zentralafrikanischen
Hochplateau, zeigt es bei der mittleren Erhebung von mehr
als 1000 in ein beständig kühles, ja kaltes Klima, so daß
man sich, stets umbraust von heftigen, mit Sand beladenen
Winden, gar nicht in einem tropischen Laude glaubt. Der
östliche Abschnitt allein ist gebirgig, sofern er noch in die
südliche Fortsetzung der Usagara-Berge hineinragt; sonst stellt
sich Uhähä als eine ausgedehnte, wellige, mit Latent und
wüsten Geröllmassen überlagerte Ebene dar, aus welcher ab
und zu rundliche Gneiskuppen nur mäßig hervorschauen. Das
hinlänglich bewässerte Gebirge trägt lichten Wald, über
1800 bis 2000 m gute Weidegräser. Galeriewaldungeu
kommen lediglich an den Flüssen vor, aber bei dem Wasser-
mangel der Plateaugestieße selten ans längere Strecken. Selbst
der Ruaha, die Hauptadcr Uhähäs, mit Quellen im nörd-
lichen Nyassagebirge, führt nicht immer das ganze Jahr-
Wasser. Die Savanne bekleidet neben einer erträglichen
Grasnarbe der öde, vorherrschend ans Dornen gebildete,
krüppelhafte Buschwald, durch den sich, wie verlorene Spuren
des Lebens, breitgetretene Rhinozcrospfade zwängen. Von
größeren Tieren erscheint noch der Elefant, aber spärlich, —
die Giraffe, das Gnu und das Zebra; Strauße zeigen sich
wenig, öfter Gazellen und vielerlei Antilopen. Es tritt da-
her bei stärkeren Karawanen häufig empfindlicher Mangel an
Nahrungsmitteln ein. Dazu denke man sich den ewigen
Sandwiud und die excessivcn Gegensätze der Temperatur
zwischen Tag und Nacht, den schwülen Sonnenbrand in ge-
schützten Thälern, den rauhen Zug auf der freien Hochebene,
die überraschende Abkühlung mit Anbruch der Dunkelheit.
Destoweniger ist aber von Krankheiten zu fürchten; ja
Leutnant Schlüter glaubt, daß Miasmen überhaupt nicht
vorkommen, da während des mehrwöchentlichen Aufenthaltes
U Peterm. Mittlgn. 1878, S. 338 und 339 mit Tafel 19
und das Neisewerk: A. L. Cotterill and J. Fr. Elton, Travels
and researches among the lakes a. mountains of Eastern
a. Central Africa. London 1879.
2) Da die Ausfprache des Namens — Uhcihci, nicht Uhchc,
lautet, nehmen wir keinen Anstand, das Wort phonctisch zu
schreiben.
im Lande niemand von der Expedition einen Fieberanfall
hatte und vorher leidende Personen hier gesundeten.
Die Bewohner Uhähäs, die Wahähä, sind den Euro-
päern noch recht unbekannt; auch die Daten über ihre Ge-
schichte, wenn von einer solchen gesprochen werden darf,
reichen kaum an 30 bis 40 Jahre zurück. Damals waren
die Wahähä noch ihren Nachbarn tributpstichtig, befreiten sich
aber unter der Führung kriegstüchtigcr Häuptlinge von dem
fremden Joch und erlangten allmählich selber Gewalt und
Ansehen. Vor einem halben Jahrzehnt waren sie nahe daran,
ganz Ugogo in ihre Hand zu bringen. Die Wahähä stehen
nach Reichard — weniger nach Thomson — auf einer
sehr niedrigen Bildungsstufe, obschon sie äußerlich, die Häßlich-
keit abgerechnet, durch ihre schlanke, kräftige Statur und
körperliche Gewandtheit günstig auffallen. Ihr Schritt ist katzcn-
artig leicht und elastisch; ihre harten Gesichtszüge deuten auf
unbezwinglichen Starrsinn und passen trefflich zu der rauhen
Würde, die sie in Gang und Haltung offenbaren. Das Haar
wird kurz oder in Pndellocken getragen; den Bart zwicken
dir Männer sorgfältig aus. Kleidung ist so gut wie gar nicht
üblich; doch hüllen sich neuerdings die Weiber unterhalb der
Arme in drei zusammengenähte Taschentücher ein. Die
ursprünglich gebrauchte Lederschürze hat Leutnant Schlüter
(Kol.-Pol. Korr. II, S. 139) genauer beschrieben. Amulette
fehlen und mit ihnen fast jeder Aberglaube. Die Frauen
altern sehr schnell; schon die kleinen Kinder zeigen nichts von
der Niedlichkeit und Hübsche, die andre Negersprößlinge so
oft besitzen. Der Säugling bringt die erste Lebenszeit bis
zum Gehen in einem Fell auf dem Rücken der Mutter zu,
und er bleibt in diesem Futteral, auch wenn die Alte tanzt
und Korn stampft.
Der Ackerbau der Wahähä beschränkt sich auf die Kultur
von Sorghum, Mais, Kürbis, Gurken und einer für Euro-
päer ungesunden Wassermelone. In der Ernte ist ganz
Uhähä im Rausch; jung und alt schwelgt in Hirsebier, und
zwar in einer Weise, daß Fremden der Aufenthalt unter
diesen trunkenen, schwarzgrauen, ewig tobenden und wüsten
Gesellen aufs ärgste verleidet werden kann. Das scharfe
Urteil Girauds über die Wahähä wird sofort erklärlich,
wenn wir sagen, daß er gerade zur Sorghumreife im Lande
weilte. Für den Häuserbau halten sich die Wahähä an die
Tembeform; sie konstruieren meist recht solide und schmücken
ihre Gebäude mit rohen Gemälden von Schlangen und
Krokodilen. Die Feldarbeit liegt den Sklaven ob; die freien
Männer betrachten nur die Viehzucht, Jagd und Krieg als
ihrer würdige Beschäftigungen. Man erblickt im Lande nach
Tausenden zählende Rinderherden, die jedoch ihren Eignern
kaum Nutzen bringen. Die Bntterbereitung liegt sehr im
Argen; zum Genuß wählt man kranke oder durch Raubzeug
verwundete Stiere, andernfalls auch gelte Kühe, die nicht
mehr kalben. Stark im Schwange ist die Hundezüchterei;
die roten, langohrigen, mit Fuchsgesichten begabten Kläffer
bilden eine beliebte Speise. Die Schwanzhäute dienen zur
Befestigung des Speereisens mit dem Schaft. Der rauhe
Charakter des Landes, die fortwährenden Feldzüge, sowie der
häufige Mangel an Nahrung haben die Wahähä ungemein
abgehärtet und sie zur Ertragung von Hunger, Durst und
Müdigkeit gewöhnt. Mit den winzigsten Rationen legen sie
mehrere Tagereisen im Trabe zurück, und so erklärt sich auch
ihr plötzliches Auftauchen und Verschwinden. Jeder Waffen-
fähige ist zur Hceresfolge verpflichtet und kann sich diesem Gesetz
bei der diktatorischen Macht der Häuptlinge, namentlich tu mili-
taribus, keineswegs entziehen. Ihre Wurf- und Stoßlanzen,
ihre Bogen und Pfeile und ihre großen Schilde wissen die
Wahähä meisterhaft zu gebrauchen. Von Gewehren bevor-
zugen sie sehr richtig die Vorderlader, für welche sie leichter
Munition beschaffen können, und dann sollen sie nach
Die zweite Durchquerung von Wcstflores. — Bücherschau.
317
P. Reichard lieber mit Posten, gehacktem Blei re., als mit
Kugeln schießen, um die Zufallstreffer zu erhöhen. Im
Angriff sind die Wahähä überaus stürmisch; die größte Ge-
fahr liegt eben, wie schon berührt, in ihrem plötzlichen Er-
scheinen, und zwar meist ans einem für Europäer ungünstigen
Gelände, wo an die Entfaltung der Streitkrüfte zum offenen
Kampfe nicht zu denken ist. Ein Marsch durch ihr Land
erheischt die äußerste Vorsicht bei Tag und Nacht; vor allem
einen streng gehandhabtcn Sicherheitsdienst, dem keine Be-
wegung im Terrain entgeht. Daraus ergiebt sich von selbst,
ohne daß es vieler Worte bedarf, eine Kritik derZelews-
kischen Expedition. H. Seidel.
Die zweite Durchquerung von Wcstflores H.
Wie bekannt, gelang es Albert Colfs im Jahre 1880,
Westftorcs oder Manggarai von Süden nach Norden zu
durchziehen. Bald nach seiner Rückkehr erlag er in Bata-
via einer Krankheit, womit die wissenschaftlichen Ergebnisse
seiner Reise zu Grabe gingen. Nur sein Tagebuch wurde
später herausgegeben, das aber nur dürftige Auskunft über
seine Erfahrungen enthält. Dieses Tagebuch war die erste
Arbeit, welche seit 1843 über Wcstflores erschien, denn da-
mals hatte der Makassarische Kaufmann Freyst seine Er-
lebnisse in Wcstflores veröffentlicht. Wiederum sollten zwölf
Jahre vergehen, bevor wir neue Mitteilungen über Westflores
erhielten, diesmal aber vollständigere. Herr I. W. Meer-
burg, Kontroleur von Bima (Sumbawa) trat im April
1891 eine Reise nach Manggarai an und zwar nach der
Nordküste zu dem Zweck, von hieraus nach Süden vorzu-
dringen. In Reo schiffte er sich ans und trat von dort den
Zug nach Nanga Ramo an. Alsbald stellte sich heraus, i)
i) Tydscbrist voor Indische Taal, Land- en Volken-
kunde, T. XXXIV, 5. liv., p. 434 — 484.
daß ganz Manggarai ein Gebirgsland ist, mit Ausnahme
der Südküste zwischen Nanga Boro und Nanga Ramo.
Wohl trifft man im Inland hier und dort auf welliges
Land, wie bei Potjo, Rea und Lika, welches durch Aus-
läufer der Berge gebildet ist. Der übrige Teil ist aber
völlig mit hohen Berggipfeln bedeckt, die durch tiefe Schluchten
geschieden, durch welche die Bergströme dann gen Süden hin
eilen.
Die Bevölkerung dieser Gegend, ungefähr 4000 bis 5000
Köpfe, gehört zur malaiischen Rasse, sie ist sanftmütig und
den Reisenden nicht feindlich gesinnt. Sklaverei und Pfand-
lingschaft sollen unbekannt sein. Der Boden ist gemein-
schaftliches Eigentum, darf deswegen nicht verkauft oder ver-
liehen werden. Steuern im eigentlichen Sinne des Wortes
sind unbekannt. Nur werden von Zeit zu Zeit Matten den
Häuptlingen (Deckn) und dem Sultan von Bima, zu dessen
Reiche Westflores gehört, ebenso Gelbholz und Kancl, darge-
bracht. Die Sprache hat viel Übereinstimmung mit der
Bimanesischen, die Wortfügung ist die Malaiische. Animis-
mus ist auch hier das Hauptdogma der Religion, welche aber
die Verehrung eines höchsten Wesens, Mori Kraöng (Herr-
Fürst), nicht ausschließt. Tatnirung ist unbekannt. Die
Heiratsform ist die patriarchale; Heiraten zwischen Vetter
und Kousine sind vorgeschrieben, zwischen Onkel und Tante
und Onkel und Kousine aber verboten; die Erbschaft geht in
die männliche Linie über. Feste kennt man nur wenige.
Die wichtigsten sind das Ernte- und Vermühlungsfest. Toten-
feste werden nicht abgehalten, der Tote wird liegend beerdigt.
Als Recht gilt das 4ns talionis. Die Lebensweise ist sehr
einfach, die Kost hauptsächlich eine vegetabilische. Als Be-
kleidung dient eine kurze blaue Hose für die Männer, die
Frauen tragen Sarongs. Das Hausgerät ist ebenso dürftig,
während die Häuser selbst kegelförmig sind. Ackerbau, Vieh-
zucht, Handel und Industrie sind ebenso wenig entwickelt wie
die Musik, die Zeitrechnung und Medizin.
B ü ch e r s ch a u.
Dr. J. I. von Tschndi, Kulturhistorische und sprach-
liche Beiträge zur Kenntnis des alten Peru. (Denk-
schriften der Kaiser!. Akademie der Wissenschasten in Wien.
Bd. 39.) Wien, Tempsky, 1891.
Im Jahre 1846 erschienen des Verfassers „Rciseskizzen
aus Peru", welche nicht nur durch ihre schöne Form, sondern
auch durch die Gelehrsamkeit ausfielen, mit welcher die geschicht-
lichen und naturwissenschaftlichen Seiten des Landes beleuchtet
wurden. Tschudi ist später wieder in Peru gewesen und hat
abermals in seinem Werke „Reisen in Südamerika" (Leipzig,
1866 sf.) neue wichtige Beiträge zur Kenntnis des alten Kultur-
landes geliefert. Unaufhörlich hat er mit dessen Sprachen und
Geschichte sich beschäftigt, so daß er jetzt, 53 Jahre nachdem er-
den Boden der Inka zuerst betreten, uns mit dieser reifen
Frucht seiner Studien beschenken konnte. Und diese Arbeit ist
um so dankbarer und freudiger hinzunehmen, als gerade bezüg-
lich peruanischer Kulturgeschichte sich ein nicht rastender trauriger
Dilettantismus breit macht, der in: Wetterpropheten Falb
seinen Gipfel erklommen hat.
Als Quellen für seine Darstellung dienen dem Vers.,
neben der eigenen Anschauung und den Ausgrabungen, die
ihre beste Leistung in den Arbeiten von Reiß und Stübel aus-
zuweisen haben, die bezüglichen meist spanischen Werke des
16. bis 18. Jahrhunderts, die einer scharfen Kritik unterzogen
werden und unter denen der bekannten, 1553 zuerst in Sevilla
gedruckten Chronik des Cieza aus Leon die Krone zuerkannt
wird. Volle Wahrheit und Klarheit Uber das altperuanische
Reich vermögen die bisher eröffneten Quellen aber nicht zu
geben, doch ist es tröstlich, zu vernehmen, daß später einmal aus
den reichen, noch nicht veröffentlichten handschriftlichen Schätzen
der spanischen Regierung noch Dokumente publiziert werden
dürsten, welche über manche zweifelhafte Punkte neues Licht
verbreiten können.
Auf sicherer sprachlicher Grundlage vorgehend, nimmt
Tschudi in der vorliegenden Akademieschrist einzelne kultur-
i geschichtlich wichtige Erscheinungen in alphabetischer Reihenfolge
s durch, wobei das Stichwort in Khetschua als Titel vorangesetzt
wird. Eine Charakteristik der Inkas und ihres Volkes
dient als Einleitung und über beide lautet das Urteil weniger
günstig, als wir es seit Prescott und durch die Darstellungen
popularisierender Schriftsteller gewöhnt sind. Als Staats-
männer standen die Inkas freilich hoch, aber von ihren mensch-
lichen Eigenschaften ist wenig Günstiges zu berichten; sie waren
nicht die in den landläufigen Geschichtswerken auftretenden
Väter des Volkes, sondern weit mehr gefürchtet als geliebt.
Ihr tyrannisches Rcgicrungssystcm hatte traurige Zustände und
sittliche Verwilderung des Volkes zur Folge. Wie weit die
Tyrannei ging, ersieht man daraus, daß die Inkas die Indianer
Bausteine von Kusko nach Quito über 2000 km weit schleppen
ließen, ohne irgend einen andern Zweck, als um das Volk vom
Müßiggänge abzuhalten! Weit höher als die Jnkaperuaner
standen die Mexikaner, der Vergleich, den Tschudi zieht, fällt
durchaus zu Gunsten der letzteren aus. Heute, nachdem die
Spanier fast vier Jahrhunderte in Peru geherrscht, sind die
christlichen Indianer noch viel verwilderter als zur Zeit der
Inkas. „Der prähistorische Barbarisnius der peruanischen
Völker war ein siegreiches Ringen der Kulturansänge; der
inkasche Despotismus war die Glanzperiode dieser Nationen;
der spanische Monarchismus hat sie verdummt, versumpft, ent-
menscht, moralisch zerstört; der auf diesen aufgepfropfte repu-
blikanische Nationalismus vollendete das Werk des Monarchis-
mus. Das Schicksal der reinen indianischen Bevölkerung
liegt klar vor uns; sie wird und muß mit mathcmatischer
Gewißhcit zu Grunde gehen, sei es um ein Jahrhundert
früher oder später. Die Zukunft des Landes gehört den
Mischrassen."
318
Bücherschau.
Tschudi steht auf dem Standpunkte der originalen Kultur-
entwickelung der amerikanischen Völker und weist die meist durch
Scheingründe gestützten Annahmen von Übertragung asiatischer
Kultur nach Amerika wiederholt zurück. Er zeigt uns die geo-
graphische Einteilung Tawantinsuyus, des Jnkarciches, dessen
heimischer Name als „alle vier Provinzen oder Stämme" ge-
deutet wird und führt die verschiedenen Sprachen und Nationen
auf, die in demselben unter einem Zepter nach und nach ver-
einigt waren.
Von hoher Bedeutung, und einen klaren Einblick ge-
während, sind die unter verschiedenen Stichwörtern verteilten
Nachrichten über die Religion der Jnkaperuaner, die mit vor-
trefflicher Kritik gesichtet, sich hier vor uns vielfach anders als
bisher dargestellt entrollt. Mit Ausnahme von Wirakotscha,
Patfchakamach und Jati hatten die Peruaner nur sehr wenige
hervorragende Gottheiten, die in eigenem Kult verehrt wurden,
höchstens ist Katechil noch zu nennen. Daß-dem Patfchakamach
Menschenopfer gebracht wurden, ist richtig. Die Opfer-
gebräuche (arpha) finden eine ausführliche Schilderung und
cs ergeben sich da überraschende Ähnlichkeiten mit den Opfer-
zeremonien monotheistischer Völker der Alten Welt. Und wie
die Opfer, sind dort auch die Fasten (sasi) in sehr ausgebildeter
Weise vertreten gewesen. Von Salz, spanischem Pfeffer, vom
Beischlaf u. s. w. hatte man sich bei kleinen oder großen Fasten
streng zu enthalten. Fügen wir hinzu, daß auch die Beichte
(itselluri), wozu besondere Priester angestellt waren, fault der
Absolution bekannt waren. Besondere Stätten an Flüssen,
analog dem Beichtstuhl, waren dazu ausersehen; das Schuld-
bekenntnis und das Ausfragen seitens des Priesters folgte und
nach vollendeter Beichte erhielt der Beichtende einige Schläge
auf die Schulter, mußte dann ins Gras spucken, der Beichtiger
warf ein Bündel Gras ins Wasser, bittend, daß das Gras mit
den Sünden ins Meer gelange, damit sie dort für imnier be-
graben seien. Solche Analogieen mit abendländischen Religions-
gebräuchen, deren wir noch viele antreffen, haben für den Kundigen
nichts Überraschendes und dürfen nimmer auf Entlehnung
gedeutet werden.
Die Religion des Jnkarciches, wie sie die Spanier vor-
fanden, war nur eine Verschmelzung einer Anzahl von Religionen
und Kulten ganz verschiedener Volksstämme. Es entsprach'dieses
der mit eiserner Konsequenz durchgeführten Institution der Inka,
staatlich, sprachlich und religiös alle abweichenden Einrichtungen
und Verhältnisse der eroberten Länder auszugleichen. Von
keiner der übersinnlichen Gottheiten wissen wir mit Bestimmt-
heit, unter welcher körperlichen Form sie sich dieselbe dachten;
zur Ehre Gottes wurde von den spanischen Eroberern alles
zerschlagen und verbrannt, so daß hier eine empfindliche Lücke
in unserm Wissen besteht; denn es ist durchaus nicht zu be-
zweifeln, daß die Jnkaperuaner für die nieisten ihrer Götter
konventionelle Formen hatten, aber ihre Deutung fehlt uns
und so vermögen wir zahlreiche Idole aus Stein, Thon,
Silber, Gold nicht zu erklären.
Priester gab es in verschiedenen Klassen, und der hohe
Priester war nach dem Inka die angesehenste Person im ganzen
Reiche. Die eigentlichen Opfer- und Äugurenpriester waren die
Wilka, daneben die Umu, was etwa mit Medizinmann, Zauberer,
Regendoktor wiedergegeben werden kann, die Mosoch oder
Traumdeuter und die Wisah oder Zauberer, Kurpfuscher
niedrigster Sorte, hervorgegangen aus der faulenzenden Hefe
des Volkes. Vieldeutig schiebt sich in die Religion der Inka-
peruaner das Wort Waka (Huaca meist geschrieben) ein, ein
Wort, das Garcilasso am besten erläutert hat; es bedeutet
Gaben, der Sonne dargebracht, Figuren von Menschen, Tieren,
Bügeln aus Metall und Holz, aber auch jede andre der Sonne
gemachte, heilige Opfergabe. Man übertrug das Wort auf die
Gräber und deren Inhalt, auf alles, was vor dem Alltäglichen
sich auszeichnet. Fein erläutert bei dieser Gelegenheit Tschudi,
wie es dann komme, daß die peruanischen Bildner bei ihren
technisch so vorzüglich durchgeführten Figuren fast stets den
Sinn für das Fratzenhafte und Häßliche bewährten? Er findet
die Ursache im Wakakult, dem die Verehrung für alles Ab-
weichende, Verzerrte zu Grunde lag und das Gefühl für das
Schöne und Natürliche unterdrückte. „Da von Anfang an der
religiöse Kult in einer Anbetung der Naturkräfte bestand und
dieselbe stets einem sichtbaren Gegenstände galt, so wurde
irgend ein Symbol von ihm zum Gegenstände der Anbetung
gemacht, und es entstanden nach und nach die plastischen Dar-
stellungen der Götter. Ob nun dieselben dem Original ähnlich
sahen, war gleichgültig, nur mußten dieselben scheußlich aus-
sehen. Die traditionelle Festhaltung an dieser Darstellungs-
weise der anthropomorphischen Götter hatte bei den peruanischen
Plastikern jeden Trieb nach Vervollkommnung, jedes Streben,
Schönes zu schaffen, gewaltsam darniedergehalten."
Unter den Tempeln ragte Korikantscha, der Goldhof in
Kusko, hervor, ein Gebäudekomplex, dessen überschwängliche
Schilderungen bei den Chronisten Tschudi nicht anzweifelt.
Wir haben keinen Begriff von solch massenhafter Verwendung
von Gold zu Bauzwecken, wie cs bei diesem Tempel verwendet
wurde. Aber „das Gold war zur Jnkazeit in Peru keine
Handelsware, kein allgemeines Tauschmittel, es spielte im Ver-
kehr des täglichen Lebens keine Rolle". Man liebte das Gold
wegen seiner Farbe, seiner Verarbeitbarkeit, seines plastischen
Effekts. So konnte es zum Beziehen der Mauern, zahlreicher
Werkstücke, ja zur Darstellung von Brennholzscheiten benutzt
werden. Von der Architektur der Inka hat unser Vers, keine
hohe Meinung, denn der Sonnentempel bot trotz der fein
behauenen Steine des Sockels, trotz der goldenen Kranzleiste
und trotz der mit edlem Metall belegten Mauern, doch mit
seinem dicken, unschönen Strohdache nichts weniger als einen
imposanten Anblick. Tschudi lobt, wie andre, die wunderbar
fein bearbeiteten, genau passenden, kolossalen Steinbauten der
Inka, leider aber geht er auf die technisch wichtige, noch ungelöste
Frage nicht ein, wie und mit welchen Geräten diese behauen
wurden. Hostmann hat bekanntlich noch kurz vor seinem Tode
die zurückzuweisende Ansicht ausgesprochen, daß die Jnkaperuaner
im Besitze des Eisens gewesen wären und mit diesem ihre
Bauten ausgeführt hätten.
Wir erfahren auch in bezug auf das materielle Leben
der Jnkaperuaner manches Neue und Aufklärende bei Tschudi.
Es ist so viel von der Branntweinpest jetzt die Rede, welche
die Europäer fremden Völkern bringen. Aber ohne im geringsten
die moralische Verwerflichkeit des Branntweinhandels leugnen
zu wollen, muß doch darauf hingewiesen werden, daß der
Älkoholgenuß sehr vielen Völkern nicht erst von Europäern
gelehrt worden ist. Wer die Schilderungen der Afrikareisen-
den verfolgt, wird häufig darin Säufern und ganzen in
Hirsebier berauschten Dörfern begegnen. Nicht frei sind in
dieser Hinsicht die Jnkaperuaner zu sprechen. Ünter Akha
verstand man das Maisbier, welches die Spanier Tschitscha
benannten, und das in Unmassen bei langen Festen getrunken
wurde, „so daß sie", wie Betanzos sagt, „jede Nacht mit Chicha
zugedeckt waren, denn ihre größte Glückseligkeit ist, gut zu
trinken". Auch die Herrscher waren unmäßig im Biertrinken
und hätte die Akha einen größeren Alkoholgehalt gehabt, als
sie besitzt (1 bis IH^Proz.), so hätten zwei Drittel der Jnka-
peruaner an Alkoholismus zu Grunde gehen müssen. Die
Trunksucht hat aber die Bevölkerung doch geistig und physisch
im hohen Grade geschwächt. Man trank auch viel bei andern
als bei religiösen Gelegenheiten. — Ein Hauptnahrungsmittel
war die Kartoffel (papa), über die Tschudi ein sehr aus-
führliches Kapitel bringt. Die Spanier fanden sie von Quito bis
Chile in zahlreichen Spielarten angebaut; die Heimat der wilden
Art ist das Gebirge von 2000 irr und darüber. Die Sprachen
der verschiedenen Völker sind ungemein reich an Bezeichnungen
für die wichtige Knollenfrucht, die Tschudi sorgfältig anführt;
erstaunlich ist die Zahl dieser Wörter in Aymara. — Was den
Tabak betrifft, welcher den Namen sairi führt, so wurde er
nur geschnupft, nicht geraucht. — Um noch einige Bemerkungen
über Erzeugnisse des Mineralreiches hier anzufügen, seien die
Smaragde (mit dem allgemeinen Worte für Edelstein umina
bezeichnet) hier erwähnt. Man verstand, sie „mit primitiven
Instrumenten" zu .durchbohren, in Formen zuschneiden und
schön zu polieren. Über das Wie? bleiben wir leider auch hier
im Unklaren. Auch überraschend schön polierte Nephrite
kannten die Jnkaperuaner. wenn auch ini ganzen selten. „Für
dieses Mineral scheint Venezuela der Hauptsundort gewesen zu
sein, denn die aus demselben angefertigten Götzen, Beile u. s. w.
werden hauptsächlich im ehemaligen Kolumbien gefunden. Den
Geologen wäre vorzüglich die Durchforschung des Parime-
gebirges nach Nephrit zu empfehlen." Auch Klingplatten aus
Nephrit kommen in Nordperu vor und Tschudi glaubt bestimmt
an deren heimischen Ursprung. Daß der Vers, der ch'auna
peruana auch auf die Haustiere näher eingehen würde, war
vorauszusehen, und so möge denn hier nur noch auf die Ab-
schnitte über den Hund und das Lama verwiesen werden.
Zum Schlüsse will ich hervorheben, daß diese inhaltreiche
Schrift auch für die Freunde des Folklore vieles bringt. „Der
Mann im Monde" ist bekanntlich von Oskar Peschel be-
handelt und als ein gemeinsames Besitztum der Menschheit er-
kannt worden (Abhandlungen zur Erd- und Völkerkunde II, 327);
er erwähnt aber die Jnkaperuaner nicht und deshalb möge hier
die betreffende Stelle nachgetragen werden. Der Fuchs (atoeh)
verliebte sich in den Mond und stieg in den Himmel, wo er
dessen Scheibe durch sein Küssen und Umarmen so beschmierte,
daß sic noch fortwährend schwarze Flecken zeigt. Der Koni eten-
glaube der Peruaner deckt sich auch mit demjenigen andrer
Aus allen Erdteilen.
31Ñ
Völker. Sie hießen tapia Koylus, Unglücksstern, und waren
von schlimmer Vorbedeutung. Da hätten wir also abermals
*) In China gilt der Komet für eine besondere Warnung des
Thrones, und ein hervorragender Beamter hat das gefahrdrohende
Ereignis dem Kaiser mitzuteilen (H. Giles, Chinesische Skizzen, 129).
Der Komet, aus einem Teufel und einem gewöhnlichen Sterne zu-
sammengesetzt, bringt der Menschheit Unglück nach dem Glauben der
Niasser (v. Roscnberg, Malaiischer Archipel, 175). Todverkündend ist
der Komet für die Australier (Wilhelmi, blanners of the Austral.
Natives., 32). Den Mexikanern brachte der „rauchende" Stern,
citlalinpopoca, Seuchen, Dürre, Tod des Fürsten. Den gleichen
Namen „rauchender Stern", yacitata tatatibae, hatte er bei den
Guarani, und er war ihnen der Verkündiger von Unglück, desgleichen
bei den Abiponern, wo er neyac hieß (Dobritzhoffer II, 108). Als der
eilte Analogie Z, welche Schnellschließeuden einen asiatischen
Ursprung der Peruaner gewährleistet! N. Andree.
Komet von 1858 am Himmel stand, fürchteten die Dinka (ant weißen
Nil), daß er Krankheiten und Tod bringen werde und brachten Rinder-
opfer dar (Mitterrutzner, Die Dinkasprache, 56). Bei den Chaldäern
wurde gelehrt, daß beim Erscheinen des Kometen die Stadt des Fürsten
in Feindeshand fallen werde (Lenormant, Geheimwissenschaften Asiens,
442). „Im Jahre 989 erschien ein Komet, welcher Seuchen und schwere
Verluste vorher verkündigte" (Thietmar v. Merseburg IV, 8). Gwezda z
pruton, Der Komet, bedeutet Krieg bei den Wenden (v. Schulenburg,
Wendisches Volkstum, 167). Und so fort durch die Völker und Zeiten,
denn die Römer z. B. hatten die gleiche Anschauung. Ist nun eine
solche Anschauung bei einem Volke, oder in einem Gehirne entsprungen
und dann gewandert und entlehnt worden? Die Antwort ist leicht.
Aus allen
— Oskar Baum an ns neue Reise n a ch Ostafrika.
Herr Dr. Oskar Baumann schreibt uns vom Bord der
„Maria Teresa", 24. Oktober: „Ich bin, wie Sie sehen,
wieder unterwegs und zwar soll ich im Aufträge der Deutsch-
Ostafrikanischen Gesellschaft eine Expedition ins deutsche
Massaigebiet unternehmen. Es sind in demselben sehr wenig
bekannte Landschaften vorhanden, die sich zwischen Kilima-
ndscharo und Viktoria-See einerseits, und der englischen Grenze
und Ugago andrerseits ausdehnen. Ich werde in Sansibar
und an der Küste meine Mannschaft anwerben und hoffe An-
fang Januar von Tanga aufbrechen zu können. Ich soll
nicht nur die Möglichkeit und die Vorteile der verschiedenen
Bahnprojekte nach dem Innern studieren, sondern auch, wenn
möglich, eine direkte Karawanenstraße nach dem Viktoriasee
erschließen. Meine Hauptaufgabe sehe ich auch diesmal
wieder darin, das Gebiet kartographisch festzulegen, ich werde,
da es ziemlich ausgedehnt ist, wohl ein reichliches Jahr zu
streifen haben, um dieses Ziel zu erreichen."
— Der Vulkan Ollagna, an der Grenze Chiles und
Bolivias, ungefähr auf 21° 20' südl. Br. und 68° 10'
westl. L. gelegen, ist am 15. September 1888 von dem
deutschen Ingenieur Hans Berger unter großen Beschwer-
den glücklich erstiegen worden. Seinem Berichte in „Peter-
manns Mitteilungen" 1891, S. 241, nebst Abbildung, ent-
nehmen wir das Nachstehende. Nach Bergers trigonometrischer
Messung ist* der Ollagna 5855 m hoch (die neue Karte
Chiles von Opitz und Polakowsky hat 5890 m), während
der Krater in 5500 m Höhe liegt. Die den Vulkan um-
gebende Pampa liegt 3700 m über dem Meere, so daß der
Ollagna sie noch um 2155m überragt. Durch eine hohe,
weiße Rauchsäule zeichnet sich der schön geformte Berg aus,
der außer dem Hanptkrater noch erloschene Nebenkrater an
seinen Abhängen besitzt. In einer Höhe von 4600 m liegen
die Manchas de Azufre, reiche Schwefellager in den Rissen
des Bodens, dicht besetzt mit Schwefelkristallen, die bereits
früher, wahrscheinlich von bolivianischen Eingebornen benutzt
worden waren. Bis hierhin kann man mit Maultieren
gelangen und in dieser Region zieht sich auch, in sonst ganz
vegetationsloser Gegend, ein l/2 km breiter Vegetationsgürtel
um den Vulkan herum, bestehend ans mannshohem, dürrem
Gras, verkrüppelten Kiefern und Säulenkaktus. Von Tieren
kommen hier eine den Boden unterwühlende Feldmaus
(clmllu) und das Viseacha, sowie einige Käfer und kleine
Insekten vor.
Die Besteigung, wobei verschiedene Längsschluchten durch-
quert werden mußten, wurde infolge der Luftverdünnung und
damit verbundener Atemnot sehr schwierig, aber mit großer
Thatkraft durchgeführt. In 5360 m wurde ewiger Schnee
und eine kleine Gletscherbildnng gefunden, deren geringe
Erdteilen.
Ausdehnung ans die Seltenheit der Niederschläge in jener
Gegend zurückzuführen ist. Nach Überwindung des Schnee-
feldes hörte man das dumpf brausende, aus dem Krater
stammende Geräusch, welches bei der Annäherung an dem-
selben immer heftiger wurde. Der Krater, den Herr Berger
photographierte, erwies sich als bestehend aus einer Gruppe
zahlreicher Risse und Spalten in dem steil ansteigenden felsigen
Terrain, ans dem weiße Schlvefeldämpse mit großer Gewalt
geräuschvoll emporquollen. Alle Felsen des Kraters sind
mit hellgelben Schwefelkristallen überzogen. Außer in
Dampfform entströmt dem Krater auch Schwefel als dick-
flüssiger Brei, der in Pansen aus den Hauptspalten 50 bis
80 m weit am Abhange hinabfließt, bis er allmählich erstarrt.
Lava konnte Berger nicht entdecken und nur Schwefeldämpfe,
kein Rauch entströmten dem Krater.
— Die größte Tiefe im Mittelmeer ist nicht
mehr, wie noch vor kurzem (oben S. 48) festgestellt wurde,
der Abssio Magnaghi im Jonischen Meere (4067 m), sondern
liegt nach den im Sommer 1891 vorgenommenen Tiefsee-
messungen des österreichischen Schiffes „Pola" zwischen Malta
und Kandia unter 35° 44'20'' nördl. Br. und 21" 44'50"
östl. L. mit 4404 m.
— Die Landschaft Ogaden im Innern des Somal-
landes, nur unvollständig bisher bekannt, ist vou dem italie-
nischen Kapitän Baudi de Vesme glücklich erreicht worden.
Er brach im Februar von Berbern, in Begleitung des
Kapitäns Candeo ans, zog über eine wasserlose Hochebene
nach Milmil in Ogaden und besuchte dort verschiedene Somal-
stämme. Von Galadnrra (Galdoa) aus gelangten die Reisen-
den in die Landschaft Jme am oberen Webi, wo sie leider
am weiteren Vordringen in das unbekannte Innere verhindert
wurden. Den Rückweg nahmen sie über Harar, wo der dort
gebietende Vertreter der Negus Menilek von Schon, ihnen
alle Aufnahmen und Sammlungen abnahm und sie answies.
Am 22. Juni erreichten die Italiener Aden wieder; die Er-
gebnisse ihrer wichtigen Reise sind jedoch durch den räuberischen
Eingriff des abessinischen Statthalters verloren (Petermanns
Mitteilungen).
— Tönender Sand in Kansas. Etwa 8km nord-
westlich von Piedmont in Kansas liegen die Flint Hills in
einer trostlosen, wüsten, weit und breit unbewohnten Gegend,
die ans einem langgestreckten Zuge Sanddünen bestehen. Die
nächste Farm ist Jasper Newton und die Bewohner derselben
hörten in der letzten Zeit, nachdem einige leichte Erdbeben-
stöße bemerkt worden waren, in der Gegend der Flint Hills
nächtlicherweile eigenartige musikalische Töne, über deren
Ursprung sie sich nicht klar wurden. Die Töne kamen,
320
Aus allen Erdteilen.
schwollen an und nahmen langsam wieder ab, bis alles still
war und begannen dann wieder von neuem. Am ehesten
ließen sie sich mit der Musik einer Äolsharfe vergleichen.
Mit Ausnahme von regniger Zeit ließen die Töne sich
in jeder Nacht hören. Um die Ursache zn erforschen, lagerten
eine Anzahl junger Leute ans Jasper Newton in der Gegend,
ans welcher die Töne zn kommen schienen; doch diese ver-
schwanden stets, sobald man der mutmaßlichen Ursprnngs-
stelle nahe trat. Offenbar stammten sie ans dem Saude und
waren Folgen der Bewegung desselben. Diese Bewegung
wurde auch durch angebrachte Zeichen festgestellt. „Der
Sand", so sagt ein Bericht aus Piedmont vom 6. September,
„arbeitete, als ob etwas unter ihm koche. Er bewegte sich in
konzentrischen Kreisen und durch das Reiben der einzelnen
Sandteilchen aneinander entstand die merkwürdige Musik.
Der vom Regen genetzte Sand konnte dieselbe natürlich nicht
hervorbringen."
Die Erscheinung von tönendem Sande ist durchaus nicht
neu, und auffallend ist nur, daß er verhältnismäßig wenig be-
obachtet wird. Ans der Sinaihalbinsel ist bereits im An-
fange unsres Jahrhunderts durch U. I. Seetzcn am Dschebel
Nakns (Glockenberg) tönender Sand nachgewiesen worden,
der dort durch die Verwitterung des Sandsteines entsteht
und von dem Brummen eines Brummkreisels bis zum starken
Dröhnen übergeht. Seetzen hatte auch die richtige Erklärung
gefunden, daß nämlich die Musik von dem in Bewegung be-
findlichen Saude herrühre, ohne Mitwirkung des Windes.
Er verglich die bewegte Sandschicht mit einem Violinbogen,
der über die rauhe Unterlage herabstreicht und in tönende
Schwingungen versetzt wird. Noch näher begründete Ehrenberg,
der 1823 den Dschebel Nakns besuchte, das Phänomen.
Endlich hat der Afrikareisende O. Lenz auf seiner Reise
nach Timbuktn 1880 im Süden von Marokko tönenden
Sand angetroffen. Südöstlich von Tenduf, etwa unter
26" nördl. Br., hörte er in den Sanddünen der Jgidiregion
sekundenlange Töne wie von einer Trompete aus dem Innern
der Sandbcrge hervorkommen, die in der totenstillen, menschen-
leeren Wüste einen unheimlichen Eindruck machten. Der
reine, durch das heiße Klima ausgetrocknete, klangfähige
Qnnrzsand befindet sich hier auf Rntschflächen und die Er-
scheinung, die sich bis zu donnerähulichen Tönen steigern
kann, wird durch die Störung der Ruhe hervorgebracht, in
welcher sich die Quarzkörner befinden, hier durch die tief in
den Sand eintretenden Kamele der Karawane.
— Altmexikanischer Federschild in Ambras. Die
Überreste der berühmten altmexikanischen Federarbeitcn, welche
das Erstaunen der spanischen Eroberer hervorriefen, sind sehr !
gering. Am bekanntesten ist die durch Hochstetter beschriebene
Standarte geworden, welche sich jetzt im Wiener ethnogra-
phischen Museum befindet. Es ist das Verdienst der Frau
Zelia Nuttall ans Cambridge in Massachusetts, welche
schon wiederholt über diese Federarbeiten schrieb, jetzt noch
eine solch altmexikanische Reliquie und zwar im Schloß
Ambras bei Innsbruck entdeckt zu haben. Sie beschreibt
(Verhandl. d. Berliner Anthropol. Ges. 1891, S. 485) das
gut erhaltene Federmosaik, welches schon 1596 in dem alten
Ambraser Inventar folgendermaßen geschildert ist: „Ein
Rundet von roten Federn, darinnen ist gestickt von grober
Arbeit ein blauer Drache mit goldenem Blech besetzt." Es
ist das schöne Stück ein kreisrunder Schild ans geflochtenen
Rohrstäbchen, auf der Vorderseite mit Federmosaik besetzt, ein
Ungeheuer darstellend, dessen Konturen mit Streifen von
Goldblech eingefaßt find. Früher war der Schild mit
kostbaren Quetzalfedern besetzt, die bis auf geringe Reste ver-
schwunden sind. Frau Nuttall verspricht eine eingehende
Beschreibung „dieses kostbarsten nnd historisch interessantesten
altmexikanischen Federschildes, welcher noch existiert". Runde,
altmexikanische Schilde in Federmosaik befinden sich auch im
Stuttgarter Museum (abgebildet 1884 durch von Hochstetter).
Daß die Indianer Guatemalas, speziell in Quetzaltenango,
noch heute schönen Federschmuck herstellen nnd dabei die
goldiggrünschimmernden, prachtvollen Schwanzfedern des Quetzal
(Pharomacrurus mocinna) benutzen, berichtet Stoll in
seinem Werke über Guatemala.
— Über die schlammigen, im ewigen Wechsel befindlichen
Küsten von Guayana hat Prof. W. Joest in der Berliner
Gesellschaft für Erdkunde (4. Juli 1891) belangreiche Mit-
teilungen gemacht. Die mächtigen Ströme führen dem Meere
ungeheure Erdmassen zu, welche an der Küste weite Alln-
vialzonen bilden und weit in das Meer hinaus Modder-
banken mit seichtem Fahrwasser enthalten. Die Frage, ob die
heute noch vom Meere bedeckte Küste Guayanas infolge der
Erosionsthätigkeit der Flüsse sich unter dem durchschnittlichen
Niveau des Ozeans in demselben Verhältnis hebt, wie der
Saum des früheren Festlandes vor der Gewalt des Meeres
zurückweicht, wagt Prof. Joest nicht zu entscheiden, er giebt
aber für das Zurückweichen des Festlandes sogar an
der Mündung eines großen Stromes und für die Erhebung
des untermeerischen Bodens zwei kennzeichnende Beispiele ans
Surinam.
Ander Mündung des Nickeri in den Atlantischen Ozean
bestand bis 1860 ein gleichnamiger Ort, der heute ver-
schwunden ist. Wo früher blühende Plantagen, Fabriken,
Gebäude, ein Kirchhof u. s. w. standen, schwimmen jetzt
Bojen, welche den Schiffer vor der 2 bis 4 m tiefen Schlamm-
bank unter dem Meere warnen. Die Bewohner, welche sich
vor dem Meere zurückgezogen, gründeten 1 Irrn weiter strom-
aufwärts ein neues Heim, Nieulv-Rotterdam, welches bis
1879 bestand, aber inzwischen auch wieder vom Meere ver-
schlungen worden ist. Dr. Joest sah im verflossenen Jahre
noch die Pfähle, aus denen vor 10 Jahren die Kirche,
die Schule, ein Klub u. s. w. von Nickeri Nr. 2 gestanden
haben, hinter denen sich aber heute noch weit ins Land hinein
die trüben Fluten des Ozeans wälzen. Ohne beit Mut zn
verlieren, haben die Holländer zum dritteumale ihr
Nienw-Nickeri, diesmal am linken Ufer, 5 km stromaufwärts
erbaut.
Anders ist die Umgestaltung der Küste zwischen 560 und
560 30' westl. L. v. Gr., wo nicht das Meer das Land
verschlingt, sondern eine etwa 50 km lauge und bis 15 km
breite unterseeische Sand- und Schlammbank von der Mün-
dung des Coppename sich nach Westen zn bildet, und welche
die Küste zu einer fast unnahbaren gemacht hat. In Port
Coronie z. B. pflegten die Schiffe früher dicht an das Land
anzulegen, jetzt müssen Menschen und Waren erst ans Brettern,
wie ans Schlitten durch eine weite Schlnmmschicht trans-
portiert werden; dann werden sie von Negern, die bjs den
Hüften im Kot waten, nach kleinen Booten, ans diesen in
Schoner und von diesen in die weit vom Lande abliegenden
Dampfer gebracht.
— In seinen Beiträgen zur Kenntnis des Neogen
in Griechenland (Zeitschrift der Deutschen Geolog. Gesell-
schaft 1891) kommt Dr. P. Oppenheim zn einem Schlnsse,
der für den Geographen von großem Interesse ist, nämlich,
daß die heutige Binnenmoüuskenfauna Nordamerikas direkte
Nachkommen der europäischen Pliocänmollusken darstellt,
daß aber die Überwandernng nicht über eine Atlantis, sondern
durch Ostasien nnd über das Beringsmecr stattgefunden habe.
Ko.
Herausgeber: Dr. R. Andrer in Heidelberg, Leopoldstraße 27.
Druck von Friedrich View eg und Sohn in Braunschweig.
Braunschweig.
Jährlich 2 Bände in 24 Nummern. Durch alle Buchhandlungen und Postanstalten
zum Preise von 12 Mark für den Band zu beziehen.
1891.
Die Daupttypen der natürlichen Seehäfen.
Dem Prof. Dr. £). ‘Krümmel in Kiel.
I.
Seehasen sind natürliche Einschnitte der Küsten, dazu ge-
eignet, den Seeschiffen möglichst bequemes und sicheres Ankern
zu gewähren, vorzugsweise zu dem Zwecke, daß sie in ge-
schützter, ruhiger Lage Ladung einnehmen oder löschen können.
Erstes Erfordernis für diese Zwecke ist also Untergrund,
d. h. zunächst eine mäßige Wassertiefe, die jedenfalls über
10, aber nicht wohl mehr als 100 m betragen darf, da cs
sonst Schwierigkeiten haben würde, genügend lange und halt-
bare Ankcrketten zn beschaffen; denn damit die Arme oder
Haken des Ankers wirklich in den Boden einfassen und das
Schiff festhalten, muß das Tan oder die Kette möglichst in
spitzem Winkel hinabführen. Nicht minder wichtig ist, daß
der Boden selbst das Eingreifen des Ankers begünstigt, also
nicht aus hartem Fels oder ans lockerem, nachgiebigem Sand
bestehen darf. Hinter Felsen hakende Anker gehen leicht
verloren; auch besteht die Gefahr, daß die auf den scharfen
Steinkanten aufliegende Kette oder das Tan bei längerem
Aufenthalt sich durchscheuert und das Schiff dann Plötzlich
ins Treiben gerät. Damit in Zusammenhang steht die
weitere Anforderung, daß der ganze Ankerplatz frei von
Riffen oder Bänken sei, damit die Schiffe bequem auf ihm
manöverieren und auf der Strömung hin und her schwaien
können. Weicher, zäher Lehm ohne alle Steine, gilt als
der beste Ankergrund.
Solche Bedingungen können nun freilich selbst in großer
Entfernung vom Lande gegeben sein und dazu führen, daß
in der That wenigstens Fischerfahrzeuge alsdann vor Anker
gehen, um mit Hilfe der kleinen Beiboote Netze auszubringen
oder Angelleinen an den Grund zu versenken. So kann
man schon mitten in der Nordsee Fischerkutter und größere
Fischdampfer zu Dutzenden in der wogenden See ankern sehen.
Noch kühner sind vielleicht die kanadischen Fischer auf den
Großen Bänken östlich von Neufundland, wo häufige Stürme
und Nebel oder die Gefahr, mit den rücksichtslos darauf los-
fahrenden Schnelldampfern zu kollidieren, ihr Leben stetig
bedrohen und den Fischereiberuf zu einem höchst mühseligen
machen.
Globus LX. Nr. 21.
Allein die fast immer die Meeresoberfläche beherrschende
Dünung gestaltet selbst den Verkehr zwischen dem Fifcher-
schuner und seinem Beiboot äußerst schwierig, ein über-
nehmen schwerer Lasten wäre auch hier ausgeschlossen.
Es ist also, neben der Gewährung eines guten Anker-
grundes, die Abwesenheit einer erheblichen Wellenbewegung
eine zweite wichtige Bedingung. Hohe Wellen entstehen
aber nur auf großen Wasserflächen, so daß sich weiter von
selbst ergiebt, daß irgendwie abgeschlossene, kleine, aber von
der offenen See leicht erreichbare Wasserflächen das bequemste
Ankern gestatten: seien es Küsteneinschnitte mit vorgelagerten
Halbinseln oder auch eine Gruppierung von Inseln, wenn
nur zwischen ihnen ein geschütztes Wasserbecken zugänglich
bleibt. Solche Gebilde erhalten dann den Namen der
natürlichen Seehäfen.
Der Schutz des Landes ist also, wie man sieht, ein
mittelbarer. Was vermieden werden soll, ist nicht der
starke oder stürmische Wind an sich (der geht auch über das
Land hinweg mit kaum geminderter Kraft), sondern seine
Wirkung ans die Wasseroberfläche, der Seegang oder die
Dünung. Einen Tropenorkan im Hafen vor Anker liegend
abzuwettern, vermeidet der Seemann, wenn er irgend kann,
er sucht lieber die freie See auf, wo die Aussichten, das
Schiff ohne große Beschädigung zu erhalten, besser sind als
im Hafen, da kein Anker stark genug ist, gegenüber dem
kolossalen mechanischen Druck, den der Orkan auf den
Schiffskörper ausübt, Stand zn halten. Darum kommen
in solchen Orkanen viel häufiger Schiffe im Hafen zu
Schaden als während der Fahrt selbst auf hoher See.
Freilich hat ein örtlich besonders ausgeprägtes Bedürfnis
des Handels auch nicht eben selten dazu geführt, zn ankern
und zu verkehren an gänzlich hafcnloser Küste auf völlig un-
geschütztem Ankergrund. Die meisten der sogenannten west-
afrikanischen „Häfen", welche die Wörmannschen Dampfer
berühren, so u. a. die Küstenplätze von Togoland (Lome,
Bagida, Porto Seguro (sic!), Klein Popofl oder von Süd-
kamcrnn (Malimba, Batanga) sind keine Häfen, sondern
41
322
Prof. Dr. O. Krümmel: Die Haupttypen der natürlichen Seehäfen.
offene Reeden I, und wenn daselbst in unsern Sommer-
monaten die ans den hohen südatlantischen Breiten heran-
rollende Dünung heftiger auftritt, kann bisweilen der
Dampfer auch nach tagelangem Warten weder Post noch
Passagiere, geschweige denn Ladung austauschen und muß
unverrichteter Sache weiter fahren. — Ein weiteres Beispiel
liefert Batavia und in noch höherem Grade Madras,
welches letztere, wie jede Karte zeigt, an ganz glatt ver-
laufendem Gestade liegt. Generationen hindurch haben hier
die Seeschiffe eine Seemeile vom Strande entfernt in der
offenen See ankern müssen, die Ladung wurde auf großen
Leichterschiffen, den sogenannten Massulahbooten, befördert,
welche 10 bis 12 m lang, 2 m breit, ohne Kiel mit flachem
Boden gebaut waren und nicht genagelt/ sondern nur mit
Kokosbast gebunden sein durften, um die Zone der Roller und
Brecher am Strande passieren zu können, ohne zerschlagen oder
umgeworfen zu werden. In Tagen besonders aufgeregter See
ist sogar der Verkehr ausschließlich auf primitive Floßboote an-
gewiesen gewesen, die sogenannten Katamaran, die, aus zwei
oder drei flach behauenen und zusammengebundenen Baum-
stämmen bcste-
hend, wenigstens
Passagiere und
Gepäck, wenn
auch übel durch-
näßt, zwischen
Land und Schiff
befördern konn-
ten. Erst seit
dem Jahre 1875
ist durch gewal-
tige Molenbau-
ten, die 1885
tut wesentlichen
vollendet wur-
den, ein künstlich
geschützter Ha-
fenraum herge-
stellt. Immer-
hin ist auch eine
solche künstliche
Nachhilfe nicht
geeignet, auf die
Dauer den An-
sprüchen zu genügen, wegen starker Versandungen, die im
Innern eines so umgrenzten Beckens notwendig eintreten und
schließlich auch den Eingang verbauen.
In vielen ähnlichen Fällen gelingt es auch überhaupt
nur unvollkommen, den erwünschten Schutz wirklich zu er-
reichen. So haben die kolossalen Summen, welche durch
zwei Jahrhunderte von den Franzosen für die Herstellung
des Hafendammes von Cherbourg verwendet sind, es doch
nicht zu Wege gebracht, die Reede wirklich zu einer geschützten
zu machen: bei starken Westwinden schüttelt die Dünung
auch die dort ankernden Kriegsfahrzeuge in höchst fataler
Weise. Ein Vorschieben des westlichen Endes des Dammes
aber ist, abgesehen von dem Kostenaufwand, aus mannigfachen
Gründen nicht ratsam; einmal würde eine solche Verengung
des Eingangs den Schlickfall in der so abgeschlossenen Bucht
verstärken und damit die Wassertiefen noch mehr vermindern,
und zweitens würden beim Aus- und Einsegeln die Schiffe
i) Das Wort „Reede", noch bei Olearius „Neide" ge-
schrieben, hat mit „bereit" dieselbe Wurzel, bedeutet also eigent-
lich einen Ort, wo inan das Schiff nach Einnehmen der Ladung
für die Seereise fertig macht, überhaupt die letzte Hand daran
jegt. Das setzt freilich immer voraus, daß das Schiff während-
dem vor Anker gelegt werden kann.
allzu leicht in Gefahr kommen, durch den vorbei streichenden,
sehr kräftigen Gezeitenstrom gegen die Molenköpfe getrieben
zu werden (vergl. beistehendes Kärtchen).
Indes soll hier nicht von künstlichen Bauten, sondern
von natürlichen Hafenbildnngen gesprochen werden, als von
einer speziellen Küstenform, welche Vielartigkeit und Selbst-
ständigkeit genug besitzt, daß sich eine Reihe von Typen
unterscheiden lassen.
Natürliche Hafenbecken können doch nur auf dreierlei Art
entstanden gedacht werden: zunächst dadurch, daß die Natur
durch irgend welche Aufschüttungen schützender Wälle vor der
Küste einen Teil des Meeres absondert. Zweitens dadurch,
daß Einbrüche des Meeres in das Festland erfolgen, und
Teile des letzteren überschwemmt werden. Endlich drittens,
indem mächtige Süßwasseradern ans dem Lande ins Meer
treten und den Seeschiffen auch in umgekehrter Richtung den
Zugang gewähren, wie das bei Flußmündungen der Fall ist.
Als reine Typen würden wir also erhalten: Auf-
schüttungshäfen, Einbruchs Häfen und Mündungs-
häfen. Allerdings sind Beispiele für die reinen Typen, wie
wir sehen wer-
den, verhältnis-
mäßig selten, um
so häufiger aber
unter den be-
rühmten See-
häfen Kombi-
nationen ans
zweien oder
dreien.
Unter den
Aufschüttungs-
Häfen würden
eine einfache,
aber wenig lei-
stungsfähige
Form diejenigen
liefern, welche im
Schutz von Neh-
rungen, in Lagu-
nen oder Haffen
gelegen sind.
Die vorgelagerte
Nehrung schützt
das dahinter befindliche Becken zwar vortrefflich, aber
läßt dieses leicht versanden, oder schließt sogar die Lagune
vollständig von der See ab, sobald nicht das Laguncn-
wasser, durch gut gefüllte Flüsse gespeist, einen stetigen
Abfluß wenigstens an einer Stelle der Nehrung offen zu
halten vermag. Im letzteren Falle aber haben wir schon
eine Kombination des dritten mit dem ersten Typus, wie
z. B. in Memel oder in Pillau, oder auch bei Rio Grande
do Sul am Ansgange der von drei größeren und einem
Dutzend kleinerer Flüsse gespeisten Laguna de Patos; oder-
endlich bei der berühmtesten der Lagunenstädte, Venedig.
Eine von kurzem, gebogenem Sandwall abgesonderte Hafen-
bucht aufzufinden, welche irgendwie für den Welthandel Be-
deutung hätte, dürfte kaum gelingen, denn in dem so ge-
schützten Wasserraum werden die Tiefen für den Verkehr der
Seeschiffe nicht ausreichend sein.
Energischere Aufschüttung bewerkstelligen die vulkani-
schen Kräfte. Eine breite, offene Bucht kann durch vor-
gelagerte Vulkaninseln gegen das Eindringen der ozeanischen
Dünung vortrefflich geschützt werden, wie z. B. Auckland
aus Neuseeland, dessen Hafenlmcht freilich auch Anzeichen
von einem hier wirksamen Eindringen des Meeres ins Land
I zeigt, also auch zum zweiten Typus Verwandtschaft verrät
Prof. Dr. O. Krümmel: Die Haupttypen der natürlichen Seehäfen. 323
(vergl. die Karte im neuen Sticlerschen Handatlas Nr. 74).
Nicht reiner durfte der Typus in der Fonseca-Bai an der
Ostküste von Zentralamerika vertreten sein, wo von Süd-
osten her 'der vulkanische Coseguina einen mächtigen Vor-
sprung vor die Bai lagert, während von der andern Seite
der imposantere Conchagua ebenfalls eine schützende Halb-
insel bildet; doch bleibt trotzdem noch ein 15 Seemeilen
breiter Eingang zwischen beiden Kegelbergcn übrig, der
dann von drei kleine-
ren Vulkaninseln un-
terbrochen wird (vgl.
Berghaus' Char.t of
the World). Auch
hier könnte ein Ein-
bruch des Meeres,
verbunden mit einer
Absenkung des Lan-
des, vorangegangen
sein, und die tiefe
Bucht erst gebildet
haben, so daß aber-
mals eine Kombina-
tion mit dem zweiten
Typus der Häfen
nicht ganz ausge-
schlossen wäre, lin-
zweifelhaft Hand in
Hand stehen aber in
umgekehrter Folge
wirksam vulkanische
Aufschüttung und
Einbruch des Meeres in den zahlreichen Fällen, wo der
Kraterwall einer Vulkaninsel seitlich geöffnet und so ein huf-
eisenförmig umbauter Hafen zustande kommt: ein bekanntes
Beispiel ist Santorin, dessen alter Kraterwall in die halb-
mondförmige Hanptinsel Thcra im Osten und die kleineren
InselnTherasia undAspra sich zerteilt hat. Nach Doclters
sehr einleuchtender Meinung ist auch der sehr besuchte Hafen
von Porto Grande auf der Kapverden-Jniel St. Vincent (vgl.
beistehendes Kärtchen) nichts andres als ein nach Nordwesten
geöffneter Krater, dessen Boden, zum Teil überschwemmt,
den hier zur Auffüllung ihrer Kohlenvorräthc einlaufenden
Dampfern ein bequemes Ankern gestattet, zumal die in
einigen Seemeilen
Abstand der Öffnung
vorgelagerte große
Insel St. Antonio
auch weiteren Schutz
gewährt. Noch be-
rühmter ist der öst-
liche oder alte Hafen
der Stadt Aden, wo
der Kraterrand nach
Osten durchbrochen
ist und, als stehen
gebliebener Rest, die
kleine Insel Sira
beim Nordostmonsun
nur unvollkommen
Deckung gewährt.
Infolge dessen hat
der bei allen Winden
geschützt liegende
West- oder Marine-
hafen den Verkehr
gegenwärtig fast voll-
ständig an sich gezogen, zumal er auch erheblich geräumiger
ist. — Ein andres Beispiel liefert Port Clarence oder Santa
Isabel aus Fernando P6o, wo ein sichelförmiger Kraterwall,
nach Nordwesten geöffnet, einen leidlich guten, kleinen Hasen
liefert (bcistehendc Abbildung nach Dr. O. Baumanns Auf-
nahme).
Minder bekannt, aber noch typischer ist der Kraterhafen
der Zsla Colibre, einer dem kleinen vulkanischen Archipel
der Columbretcs (gegenüber der Provinz Valencia) im
Mittelmeer angehörigen Insel J). Zur Zeit, als die Bar-
baresken noch das Mittelmeer unsicher machten, diente dieser
Die Abbild, nach Smyth im Journ. R. Geogr. Soc. I,
1831, p. 53. Die Insel ist wahrscheinlich nach den zahllosen
auf ihr gefundenen Schlangen (culebra, span.) benannt.
kleine Hafen als vorzügliches Versteck und der hohe Kratcr-
rand zum Ausguck auf vorbeikommende Segler, die dann
unversehens überfallen wurden. Ähnliche Gestalten finden
sich noch öfter, ohne daß sie indes zu Hafenzwccken wirklich
benutzt würden; so Dcception Insel, einer Insel der Süd-
shetlandgruppe (vergl. Sticler, Bl. 7, c.), oder die Insel
St. Paul im Indischen Ozean (vergl. Sticler, Bl. 7, m),
welche nur für Boote zugänglich ist, oder die Ritter-Insel
nahe der Küste von Kaiscr-Wilhelms-Land in der Dampier-
straßc, die erst im März 1888 ihre Hufeisenform nach einer
vulkanischen Explosion angenommen hat u. a. m.
41*
324
Prof. Dr. O. Krümmel: Die Haupttypeil der natürlichen Seehäfen.
Ähnliche Ringinseln werden indes auch durch die stille,
aber ergiebige Thätigkeit der Korallen erzeugt: fast sämtliche
Atolle, namentlich alle größeren, haben in ihren Binnen-
lagunen vorzüglich geschützte, wenn auch oft nur in gewun-
dener enger Fahrstraße den großen Seeschiffen zugängliche
Häfen. Jede Karte der deutschen Marschall-Jnseln oder der
Paumotugruppe wird Beispiele hierfür darbieten (vgl. im
neuen Stieler Blatt 76, Mangarewa).
Aber auch in der Form der Strand- oder Wallriffe
eine Küste umsäumend, liefern die Korallen gelegentlich
sehr leistungsfähige Häfen: überall nämlich, wo ein Bach
oder Fluß seine Mündung hat und das Seewasser ober-
flächlich ansüßt oder seine trübenden Sedimente an Regen-
tagen noch weiter in die See hinausführt, sterben die
Korallen ab und lassen im sonst zusammenhängenden Wall-
riff eine Lücke, die einen schmalen Zugang zu dem zwischen
Küste und Riff gelegenen, in solchen Fällen aus der gleichen
Ursache auch fast korallenfreien Binnenfahrwasser darbieten.
Auch wo keine regelmäßigen Regenzeiten die Bäche füllen
oder das Regenwasser die See nicht oberflächlich, sondern
nur als Grundwasser erreicht, sind solche Hafeneinschnitte
zu finden. So im Roten Meer, besonders reichlich und ge-
sellig auftretend an der afrikanischen Seite. Viele Häfen
der hohen Inseln in der Südsee gehören zu diesem, zu einer
Kombination des ersten mit dem dritten Typus hinneigen-
den Bildungen: Honolulu, Apia und Papiti (Tahiti) mögen
als bekanntere Beispiele genannt werden (vgl. wieder Stieler
Bl. 76).
Ungleich häufiger und vielgestaltiger sind die Häfen vom
zweiten Typus, die Einbruchs Häfen. Während bei der
vorigen Klasse wesentlich die aufbauenden Kräfte der See
und ihrer Bewohner in Betracht kommen, sind es hier die
zerstörenden. Die Brandung nagt an allen Küsten, man könnte
sagen, an den steilen und felsigen mit mehr Erfolg als an den
flachen und sanft einfallenden. Dazu tritt dann die mächtige
Wirkung der Gezeiten, welche in Küstennähe nicht nur an Höhe
gewinnen, sondern auch an Kraft und Ausdehnung insbe-
sondere des Gezeitenstromes, der zweimal in 24 Stunden in
entgegengesetzter Richtung in die Buchten hinein- und wieder
hinausspült: auf dem letzteren Wege als Ebbestrom sich mit
Sedimenten beladend, welche der brandende Seegang während
des Hochwassers dem Festen abgewonnen hat, um sie im
tieferen Wasser dann abzuscheiden. Hierbei mag, da diese
Bedeutung der Brandung genugsam bekannt und gewürdigt
ist, nur noch auf die nicht immer richtig verstandene
Wirkung der Sturmfluten im Vorübergehen hingewiesen
werden. Diese verwüsten flach gelegene Landgebiete nicht bloß
durch Überschwemmung, sondern die an ihr Auftreten ge-
knüpften dauernden Wirkungen beruhen auf dem eigentüm-
lichen vertikalen Stromsystem, von dem sie notwendig be-
gleitet sind. An der Oberfläche treibt der auf das Land
gerichtete Wind das Wasser vor sich her auf die Küste, aber
gleichzeitig strömt das so aufgestaute Wasser in der Tiefe
wieder seewärts ab, hierbei den Boden tief aufwühlend, alles
Lockere lösend, und alles Gelöste mit sich in die See hinaus
tragend. Am mächtigsten wirken alle diese Kräfte dort, wo
noch ein dritter Vorgang sie unterstützt: eine Senkung der
Küste.
In allen diesen Fällen aber wird die erzielte Leistung
sehr wesentlich abhängen von der Beschaffenheit der fo an-
gegriffenen Gesteine, also andere Formen schaffen an harten,
widerstandsfähigen Küsten, als an weichen nachgiebigen.
An den harten Küsten, die aus anstehendem Gesteine
bestehen, ist durch Verschiedenheit des inneren Baues die
Widerstandsfähigkeit nicht überall die gleiche. An der Süd-
westküste Irlands, einer sogenannten Querküste, laufen ans
dem Innern des Landes parallele Falten nach Südwesten
zur See aus, wo sie steil abbrechen. Hier sind nun die
Mulden, aus wenig haltbarem Kohlenkalk bestehend, stark
ausgewaschen und tief ins Land hinein überschwemmt, wäh-
rend die Sättel, in denen der harte Olck-reck-Sandstein im
Meeresnivean und darüber auftritt, sich als vorspringende
Halbinseln gut gehalten, höchstens an ihren Spitzen in Inseln
sich aufgelockert haben. Und Rütimeycr hat uns von der
Bretagne berichtet, daß dort überall am innersten Ende der
bisweilen reich verzweigten Hafenbuchten, die er nach den
identisch gebildeten Trichterhäfen der spanischen Küste als
Rias bezeichnet, allemal eine weiche Feldspatader im sonst
sehr festen kristallinischen oder Paläozoischen Gestein zu
finden sei. Der ausgezeichnetste Ria-Hafen der Bretagne ist
Brest. Fast alle Flußmündungen der Südküste von Eng-
land und von Wales zeigen ebenso ganz verwandte Bil-
dungen, hier und da vollständige überschwemmte Thalsysteme
mit reicher Verzweigung landeinwärts, wie z. B. Pem-
broke. Aber auch Plymouth und Falmouth sind
hierher zu rechnen, wie weiter im Norden auch Liverpool,
das seine weltumfassende Handelsstellung vor der benach-
barten Trichteröffnung des Dee River darum erringen konnte,
weil der Merfey-Fluß gerade an seiner Mündung, also zwischen
Liverpool und Birkenhead, eine besonders harte Gesteins-
schicht durchbrechen mußte, die er, verbündet mit dem Gc-
zeitenstrom, nur in schmaler Gasse anszusurchen vermochte,
während die weichbordigen Mündungsränder des Dee
schnell ausgeweitet mit treibenden Sandbänken und Watten
sich anfüllten. Freilich kämpft die Seeschiffahrt von Liver-
pool mit einer bei starken Westwinden und entsprechend
hohem Seegang zeitweilig lästig zu passierenden Barre, die
überall entsteht, wo die vom Ebbestrom hinausgeführten
Sedimente von der entgegenkommenden Dünung gefällt
werden. Aber der starke Hub der Gezeiten bringt wenig-
stens beim Hochwasser auch die tiefgehenden Seedampfer
darüber hinweg. Daß die Fahrrinne vor Liverpool sich so
günstig tief erhält, ist'dem binnenwärts sich schnell ver-
breiternden Mersey-Ästuar zu verdanken: die Flut, welche
cs füllen, die Ebbe, welche cs entleeren muß, sorgen für-
kräftige Spülung des schmalen Zuganges, und die große
Kraft der abströmenden Wassermasse zur Ebbezcit bewirkt,
daß die Barre erst ziemlich weit im See hinaus zur Ab-
lagerung kommt.
Ein besonders großartiges Beispiel eines überschwemmten
Thalsystems liefert der wichtigste Hafen Australiens:
Sydney. Freilich liegt auch hier am Eingänge zu dem
20 einzelne Hafenbuchten vereinigenden Hauptbecken eine
Barre, die auch bei Niedrigwasser noch 7 in Tiefe besitzt,
wozu dann noch 1 bis 2 m Fluthöhe kommen können.
(Leidlich gute Kartenbilder bei Stieler 72 und auf Berg-
haus' Weltkarte.)
Unter der fast unerschöpflichen Zahl verschiedener Ge-
staltungen dieser Einbruchshäfen mögen hier nur wenige
herausgegriffen werden. Überschwemmte Thalgebilde, an
deren gegenwärtiger Form meiner Meinung nach die Kräfte
des Meeres Lvenig oder gar nicht beteiligt sind, liefern die
Fjorde und Schären, unter Umständen bekanntlich aus-
gezeichnete Häfen stellend, wie Bergen, Christiania, Gothen-
burg, Stockholm, Boston in Amerika u. a. m. Die eigent-
lichen Fjorde aber sind der Regel nach in ihren innnercn
Buchten so tief, daß keine Kette lang genug wäre, dort dem
Anker Halt zu gewähren: dies ist nur an denjenigen spärlichen
und wenig geräumigen Stellen des Gestades der Fall, wo
ein Gcbirgsflüßchen oder ein Bach aus kurzem Thal heraus
einen Schuttkegel oder ein kleines Delta in die tiefe wasser-
gefüllte Schlucht hineingebaut hat. Die für den Welthandel
wichtigsten Hafenplätze in der Westküste Norwegens liegen
an den äußeren, von Schären umgrenzten Eingängen der
Die Australneger Queenslands.
325
Fjorde; Drontheims Hafen, der scheinbar eine Ausnahme
bilden würde, ist aber bekanntlich durch die Mündung des
Nidflusses gegeben.
An Bruchrandküsten gewährt die Durchdringung von
Längs- und Querbrüchen dem Meere mannigfaltigen Zu-
tritt ins feste Land. Wo eine Küstcnkette teilweise ab-
gesunken ist, finden sich im Schutz der erhaltenen Vorsprünge
meist leidlich geschützte Häfen,
zumal, wo die Windrichtung
eine nicht allzu wechselnde bleibt,
mit großer Regelmäßigkeit an
der Leeseite. So liegen die
Häfen der algeriner Küste, bei
dem vorherrschenden Nordwest-
wind mit Vorliebe in der west-
lichen Ecke der flach cinge-
schnittencn Bucht Deckung
findend. Im Monsungebiet, wo
in einem Halbjahr der Wind
entgegengesetzte Richtung besitzt
wie im andern, kommt cs ge-
legentlich zur Ausbildung von
einander ahlöscndcn „Semester-
häfen", wie man sie wohl ncn-
könntc. M a l tz a n de-
nen
schreibt uns ein solches Zwil-
lingspaar von der südarabischen
Küste in Bir Ali und Mcg-
daha (14« nördl. Br., 48V2°
östl. Länge). „Beide Namen",
sagt er, „bezeichnen kleine Städte
und Hafenorte, der eine im Osten, der andre im Westen
einer etwa acht Seemeilen weiten Bucht gelegen, jeder
hinter einer schützenden Landzunge, aber nach der andern
Seite offen, so daß sic nur zu einer Saison, und zwar Bir
Ali im Sommer, wo die Westwinde vorherrschen, Megdaha
im Winter, der Zeit der Ostwinde, Schutz gewähren. Aber
zusammen ergänzen sie sich. Diese Hafenbeschasfcnheit be-
stimmt alle Gewohnheiten des Volkes. Je nach der Saison
wandern Sultan, Regierung, ja fast alle Einwohner von
Bir Ali nach Megdaha und umgekehrt, so daß man sie zu-
sammen als die Hauptstadt des Ländchens (der Wahidi)
bezeichnen kann."
Im Kalkgcbiet schaffen kleinere oder größere einstürzende
Hohlräume oft sehr interessante Hafengebilde, wie die gc-
geräumige Bocclie di Cattaro oder noch mehr der kleine,
aber äußerst praktisch von der Natur konstruierte Hafen von
Malta zeigen mögen: letzterer
besitzt neben großen Wassertiefen
doch ein halbes Dutzend sehr
geschützte, wie von natürlichen
Kajen i) begrenzte Teilbecken,
die den englischen Kriegsschiffen
sehr bequemes Liegen gestatten.
Ältere und größere Korallen-
inseln, die aus aufgehäuftem
und dann verfestigtem Dünen-
sand (sogenanntem äolischen Ko-
rallensandstein) bestehen, unter-
liegen, wie alle andern Kalk-
gebiete, gleichfalls solcher Höh-
lenbildnng, die aber hier unter
dem Mecresniveau sich voll-
zieht und beim Einbrechen
der Gewölbe alsbald leicht zu-
gängliche oder vom Gezciten-
strom bald besser geöffnete Ha-
fenbuchten liefern kann. In
dieser Weise ist, wie I. Rein
richtig beobachtet hat, der Hafen
von St. Georges auf den Ber-
mudas-Inseln entstanden, und andre Häfen im tropischen
Korallengebiet erwecken ganz den Anschein ähnlicher Bildung,
wie z. B. das unglückliche Finschhafen an der Küste von
Kaiser-Wilhelms-Land, oder Massaua und Suakin im Roten
Meer.
i) Das alle deutsche Wort, in dieser Form, neben „Kajung",
von unsern Seeleuten noch immer gebraucht, ist leider den so-
genannten gebildeten Teutschen nur in der französischen Gestalt
Quai bekannt!
_ Die Australnege
Die Reisen des norwegischen Naturforschers Dr. Karl
Lumholtz in der australischen Kolonie Queensland liegen
zehn Jahre zurück, aber erst jetzt ist der Reisebericht desselben
in verschiedenen Sprachen erschienen. Die deutsche Über-
setzung *) würde auch ohne den Aufsehen erregenden Titel
ihren Weg gemacht haben, da sie anziehend geschrieben ist und
reichen, wissenschaftlichen Stofs birgt. Freilich, die Erdkunde
geht so gut wie ganz leer aus, dagegen wird der Zoologe viel
Wichtiges über das Tierleben Queenslands finden, denn
Lumholtz reiste dort namentlich als zoologischer Sammler
und fand manche neue Art. Als eine äußerst ergiebige
Quelle wird aber das Buch stets für den Ethnographen von
Bedeutung bleiben, denn auf seinen jahrelangen Streifzügcn
in der Tropenwildnis Queenslands ist Lumholtz nur von
Eingcbornen begleitet gewesen, deren Sprachen er erlernte
und in deren Lebensgcwohnheiten und Anschauungen er tief
eindrang. Zwar können wir uns aus dem Werke keine
Vorstellung von den zahlreichen Reisen des Naturforschers
Dr. Karl Lumholtz, Unter Menschenfressern. Eine vier-
jährige Reise in Australien. Mit 107 Abbildungen, zwei Karten
und dem Bildnisse des Verfassers. Hamburg. Verlagsanstalt
1891.
r (Queenslands.
machen, da weder Entfernungen noch Richtungen angegeben
sind, doch zeigt uns die Karte drei Routen; einuial unter
dem Wendekreise von Rockhampton nach Westen bis 142«
westl. L., dann eine kurze Route bei Port Mackay ins
Innere und endlich das Hauptgebiet der Forschung im
Norden am Herbert-River (18« südl. Br). Hier hat Lum-
holtz unter den Schwarzen, die er meist kurzweg „Neger"
nennt, gleich einem der Ihrigen gelebt, und nur gelegentlich
ist er nach der Station Herbert Vale zurückgekehrt. Aus
die dortigen Eingcbornen beziehen sich auch die meisten
Schilderungen des Werkes, die zerstreut in demselben ent-
halten sind und aus denen wir versuchen wollen ein Gesamt-
bild auszubauen.
Während sonst die Eingcbornen Australiens überall
stark zusammengeschmolzen sind, lebten sic in den schwer
durchdringlichen Wäldern am Herbert-Flusse, wo weder Gold
noch Schätze zu finden sind, noch „in großer Anzahl".
Auch dort sind sie in viele kleine Stämme zersplittert,
welche gegenseitig ihre Stammesgrenzen achten. „Wehe
dem Australneger, der sich in das Land eines fremden
Stammes hineinwagt; er wird wie ein Stück Wild verfolgt
und wie dieses getötet und verspeist." Der Hanptstamm
326
Die Australneger Queenslands,
am Herbert, der wieder in viele Familienstämme geteilt war,
besaß ein Areal von 40 Meilen Länge nnd 30 Meilen
(wohl englische) Breite. Noch waren zur Zeit, als Lum-
holtz sie besuchte, die Eingebornen Queenslands nicht physisch
entartet. Am Diamentina-River fielen sie ihm durch wohl-
genährten, großen Körperbau auf. Einzelne Weiber
dort waren sogar „monströs groß". Auch am Herbert sah
Lumholtz einen Schwarzen von 1,95 m. „Die Lippen sind
rötlichblau, das Kinn ziemlich kurz und zurückgedrängt. Die
Muskelentwickelung ist im allgemeinen gering, besonders
dünn sind Arm und Wade. Die Weiber sind stets schief-
beinig, was man auch im geringen Grade bei den Männern
findet. Die gewöhnlich sehr großen Füße hinterlassen eine
Spur, die seitwärts oder geradeaus geht. Sie sind sehr-
geschickt mit den Zehen Spieße oder andre Gegenstände von
der Erde aufzunehmen, ohne sich zu bücken. Obgleich der
Australneger dünngliedrig ist, hat er doch große Gewalt
Uber seinen Körper: man könnte ihn um den Anstand und
die Leichtigkeit beneiden, mit der er sich bewegt, als sei er
der Herr der Schöpfung. Das Weib, das fich wie eine
Königin hält, hat ein weniger wildes Aussehen als der
Mann." Die Bemerkung von Lumholtz über die Art und
Weise, wie die Eingebornen stehend ausruhen, nämlich indem
sie die Sohle des einen Fußes an die Innenseite des Ober-
schenkels des andern Beines anlehnen und dabei einbeinig
stehend sich auf den Speer stützen, erinnert uns an die Neger
am Weißen Nil (Bari, Niam-Niam), wo diese Ruhestellung
auch von Harnier, Schweinfnrth u. A. beobachtet und ab-
Mann aus Queensland.
gebildet wurde. Schneeweißes Haar sah unser Beobachter-
ost an alten Leuten, aber nie fand er einen Albino (vergl.
Globus, Bd. NIX, S. 32). Trotz der chokoladebraunen
Farbe konnte man Gemütsbewegungen in der Gesichtsfarbe
erkennen: ältere Leute wurden aschgrau, jüngere erröteten.
Die Neugebornen sind bei der Geburt hellbraun, nehmen
aber mit ein bis zwei Jahren die Farbe der Eltern an. Ihr
Geruchsinn ist im hohen Grade entwickelt; „sie brauchen
nur den Finger in die Erde zu stecken, vm zu wissen, in
welchem Lande sie sich befinden". Ausgeprägt ist ihre Gabe
Spuren zu finden. Hervortretend und von Lumholtz ganz
entschieden betont ist der besondere Geruch, den die Schwarzen
besitzen nnd der Hunde und Pferde schon in der Ferne stutzig
macht. Es finden sich noch zahlreiche in anthropologischcr
Bcziehung wichtige Mitteilungen in dem Werke, doch müssen
wir dieses Thema hier verlassen und erwähnen nur, daß
Frau aus Queensland.
nach Lumholtz die Eingebornen Queenslands bereits mit
Papuablut gemischt sind (S. 288).
Über die geistigen Fähigkeiten und die Anlagen der Queens-
länder urteilt der Verfasser nicht ungünstig, wiewohl er, was
den Charakter derselben und ihre Zukunft betrifft, zn einem
sehr absprechenden Urteil gelangt. Manche Erfindung und
Fertigkeit muß unser Staunen erregen. Dahin gehört das
Auswässern giftiger Früchte durch die Weiber, um sie gesund
und eßbar zu machen, also ein Seitenstück zu der bekannten
Maniokbereitung. Auch das Zeichengeben oder, wenn man
will, telegraphieren mit Hilfe von einer Anzahl Rauchsäulen,
auch anderweitig in Australien beobachtet, hat Lumholtz ge-
sehen. Ebenso hat er die merkwürdigen Botenstöcke ge-
funden, welche als der Uranfang einer Art schriftlicher Mit-
teilung, als symbolische Briefe aufgefaßt werden müssen.
Diese Message sticks, auf denen Figuren eingeritzt sind, sind
Dr. F. Guntram Schultheiß: Rasse und Volk.
327
10 bis 15 cm lang und 2 bis 3 cm breit; einige sind flach,
andre rnnd und oft mit verschiedener Farbe bemalt. „Der
hier abgebildete Stock ist von Zentralguecnsland. Die eine
Seite stellt einen Zann um ein Stuck Land dar; int Zaun
ist eine Öffnung angebracht und die Punkte stellen Gras
und Schafe dar. Auf andern Botenstöcken sind wiederum
ganz regelmäßige Muster eingeritzt, wie aus einer Stickerei
und dies hat auf die Vermutung geführt, daß die Stöcke
nur als Legitimationskarte für den Boten anzusehen fütb“ ft.
Boteustöcke aus Queensland.
Auch int Zeichnen üben sich die Queensländer. Lumholtz
fand in einer Höhle Darstellungen von einem Mann, einer
Frau und einem Kinde mit Kohle und roter Erdfarbe,
allerdings roh, aber symmetrisch gemalt. Etwas überrascht
hat uns die Bemerkung: „Ich zeigte den Schwarzen einmal
eine Photographie, aber sie hatten keine Idee, was dieselbe
vorgestellt oder wie sie sic halten sollten" (S. 197). Dieses
widerstreitet im allgemeinen der gut beglaubigten That-
sache, daß Naturvölker schnell Zeichnungen erkennen, doch
finden sich Ausnahmen, wie denn Oldfield dasselbe, wie
Lumholtz von den australischen Watschandis (Transact.
Ethnol. Soc. New Series 111, 227) und James Jameson
Ähnliches von den Negern am Aruvimi, einem Congozuflusse,
sagt (Jameson, Forschungen im dunkelsten Afrika. Ham-
burg 1891, S. 267). Am Wichtigsten bezüglich der Kennt-
nisse scheint uns die Bestätigung der durch Miklncho Maclay
bekannt gewordenen seltsamen Mikaoperationen. Ge-
sehen hat Lumholtz die Operation nicht, „welche die Fort-
pflanzung verhüten soll," allein er erhielt ein Stcinmesser
vom Georginavirer, mit welchem dieselbe ausgeführt wird
und dieses gleicht ganz dem von M. Maclay abgebildeten
(Zeitschrift für Ethnologie 1882, S. 26).
Unter den körperlichen Fertigkeiten hebt Lumholtz be-
sonders das Klettern der Queensländer hervor. Es giebt
da verschiedene Arten bei den Naturvölkern, die oft darauf
angewiesen sind ihre Nahrung von hohen Bäumen zu holen,
sei dieses nun Honig oder eine Frucht oder ein Tier. Die
wenigsten klettern in der Weise wie wir Europäer, sondern
bedienen sich der Seilschlingen in verschiedener Art. Am
Herbert-River erkletterten mittels eines bis 6m langen
ft Über diese australischen Botenstöcke giebt es schon eine
kleine Litteratur. Vcrgl. ßrough 8myth, The Aborigines
of Victoria. Melbourne 1878, I, 354. — Verhandl. d. Ber-
liner Anthropol. Gesellschaft 1880, S. 250 und 1882, S. 33. —
Journ. of the Authropological Institute XIII, p. 288 und
XVIII, p. 314.
Seiles aus Rohrpalmcn die Schwarzen die höchsten Gummi-
bäume schnell und sicher. Wie bei allen Australiern fehlen
Bogen und Pfeil am Herbert-River; diese Waffen treten
dagegen an der Nordspitzc, bei Kap Jork auf und sind
hier von Neuguinea eingeführt. Dagegen haben sic Speere
(nie vergiftet), welche mit Hilfe des bekannten Wurfstockes
geworfen werden.
Wiewohl Lumholtz uns über die Heiraten, den Franen-
raub und die Stammesbeziehungen der Quecnsländer manches
berichtet, was auch sicher gut beobachtet ist, so fehlt doch die
Erklärung dazu und es scheint uns, als ob er nicht in die
mannigfachen Beziehungen der „Gruppenehen", des „Tote-
mismus" und der „Exogamie" eingedrungen ist, über welche
wir jetzt durch australische Ethnologen eingehende Forschungen
besitzen.
Der Tabak ist das hauptsächlichste Reizmittel der Oneens-
länder, er ist für sie Geld und Lumholtz bestritt damit seine
Ausgaben; er wird selbst von kleinen Kindern geraucht, die
frühzeitig von der Mutter dazu angeleitet werden. Belang-
reich ist die Mitteilung, daß in Zentralqueensland ein
narkotisches Blatt von Duboisia Hopwoodii von den
Schwarzen gekaut wird. Es wird weithin in geflochtenen
Säcken verhandelt und soll wie Opium oder Tabak wirken.
Den Aufsehen erregenden Titel „Unter Menschenfressern"
führt das Buch nach den anthropophagen Gewohnheiten der
Queensländer. Die Thatsache steht fest, doch hat Herr
Dr. Lumholtz sie nicht mit eigenen Augen beobachtet, wie-
wohl er genug Bestätigungen dafür sammelte. Ein gefallener
Feind gilt als der größte Leckerbissen; am Herbert-River
werden kleine Kriegszüge zur Erlangung des Talgoro
(Menschenflcisch) unternommen, wobei außer der Freßsucht
noch der Aberglaube seine Rolle spielt, denn durch das
Verzehren desselben, namentlich der Nieren, glauben sie die
Stärke des Verzehrten in sich aufzunehmen.
Über den Charakter und die Zukunft der Australneger
urteilt unser Gewährsmann keineswegs günstig. Sie seien
verräterisch und unzuverlässig — das ist ein durch das
ganze Buch gehender Zug. Dankbarkeit sei ihnen unbekannt,
dazu sind sie trüge. Als einziger edler Zug wird hervorge-
hoben, daß sie ihre Kranken gut Pflegen und nicht von ihnen
weichen. Ohne Sympatie ist daher Lumholtz von den
Schwarzen, unter denen er so lange gelebt, geschieden. Die
Eingeborncn kennen keine Vergangenheit oder Zukunft und
leben nur den flüchtigen Augenblicken der Gegenwart. Die
Berührung mit der Zivilisation wirkt auf sie schädlich und
vernichtend. Syphilis und Kindermord nehmen zu und die
Frauen gebären nicht mehr, da sie sich der Prostitution hin-
geben. Wie die weißen Ansiedler über die Eingeborncn
denken, erkennt man daraus, daß ein solcher Lumholtz anbot,
einen Schwarzen zu erschießen, damit dieser den Schädel
präparieren könne! Um die Summe der vernichtenden Ein-
flüsse voll zu machen, haben eingewanderte Chinesen die
Schwarzen mit dem Opium bekannt gemacht und so sind
sie auch diesem Laster verfallen. Ein Glück für die Wissen-
schaft, daß Männer wie Lumholtz uns noch urkundliches
Material über diese bald vom Erdboden verschwundenen
Stämme gesammelt haben. R. And ree.
Rasse und Volk.
Dem Dr. Guntram Schultheiß.
Glücklicherweise ist die Völkerkunde in allen ihren
Zweigen für ihr rasches Fortschreiten nicht von der Festsetzung
von Definitionen und Grenzbestimmungen abhängig. Gleich-
wohl ist die Wichtigkeit der systematischen Übersichten und
Klassifikationen nicht zu unterschätzen, insofern sie Klarheit
und Ordnung in die Masse der Einzelheiten bringen können.
Mit diesem Anspruch tritt auch Ratzels Anthropogeographie
(II. Bd.) uns entgegen: im gesamten IV. Abschnitt, der die
328
Dr. F. Guntram Schultheiß: Nasse und Volk.
geographische Verbreitung von Völkermerkmalen darstellt,
handelt es sich im wesentlichen um den Begriff von Volk
und Rasse, um die Gewinnung solcher Merkmale, die eine
geographische Klassifikation, eine Erfassung durch die Karte
möglich machen sollen. Nach der Vorrede soll die geogra-
phische Methode innerhalb der Ethnographie den besten Weg
zeigen, auf dem ins Innere der Erscheinungen vorzudringen ist.
Die körperlichen Unterschiede der Menschheit fallen zuerst
ins Auge. In der Auseinandersetzung mit der Anthropologie
knüpft der Geograph an Blumenbachs Einteilung an, die
ja recht eigentlich geographisch war. Genügen die fünf
Rassen, mit dem Kaukasier au der Spitze noch jetzt dem
Geographen? Die Anthropologie ist ja nach Breite und
Tiefe fortgeschritten.
Wie aus einem Gefühl der Enttäuschung heraus, klingt,
was Ratzel über deren Ergebnisse sagt. Die anthropologischen
Merkmale sind ihm nicht tiefgehend genug und zerschneiden
nicht das Ganze der Menschheit (S. 579), sie sind unklar
und gebrochen (S. 587); die Unterschiede liegen nicht in den
inneren Eigenschaften, die den Gang des Lebens beein-
flussen, sondern in Haut und Haar, also an der Oberfläche.
Hier kommen nicht einmal Arten, nur Rassen zur Ausbildung
(XXXVI). Der Schädel — in weiteren Grenzen ver-
änderlicher (584) — scheint ihm weniger brauchbar zur
Klassifikation (776). Die Hoffnung, in der Erde gefundene
Knochen auf bestimmte Völker beziehen zu können, hat ebenso
getäuscht, wie der Traum eines deutschen Schädels, selbst
eines äthiopischen oder amerikanischen (579). So Ratzel.
Es war übrigens kein Geringerer als Kollnrann, derDolicho-
cephale in Pfahlbauten kurzweg für Germanen hielt.
Was ist der Grund dieses Fiaskos? Es giebt keine
reinen Rassen mehr, weil die Mischung entgegenwirkt. „Es
ist wesentlich für die körperlichen Eigenschaften durch Mischung
verändert zu werden" (586). Anderwärts aber spricht sich
Ratzel auch wieder für die Veränderlichkeit speziell des Schädels
ans (oben, S. 585 und 681).
Den von Ratzel so stark hervorgehobenen Anteil der
Mischung haben aber auch andre Ethnographen auf Karten
schon in Rechnung gebracht und die Zeit vor den großen
Entdeckungen dargestellt. Keineswegs gedenkt Ratzel auf die
Rassenkarte zu verzichten. Die tiefsten Unterschiede liegen
ihm trotz der Nivellierung iin Körperlichen (735). Wieder-
holt spricht er von den zwei oder drei ältesten Gruppen oder
großen Rassen (586 und 737). Die beigegebene klassifi-
katorische Karte der Menschheit vermeidet den Ausdruck
Rasse und unterscheidet durch die Schraffierung das pazifisch
amerikanische, das nordwestatlantische, das indoafrikanische
Gebiet, zeigt aber im letzten die Mittel- und Südafrikaner,
die Australier und Ostneger als Unterabteilung zusammen-
genommen. Also drei oder vier Gruppen, die nur gegenüber
Blumenbachs Benennung nach Erdteilen (S. 664) zu den
Meeren in Beziehung gesetzt werden.
Sollen dies nun die ältesten zu erreichenden Rassen sein?
Es scheint so! In einer Ausführung über die „Tiefe der
Menschheit" (S. 614) spricht sich Ratzel gegen die Theorien
vom Eingreifen geologischer Katastrophen in die Verbreitung
der Völker ein: gleich darauf sind Atlantis und Lemuria
als wissenschaftliche Utopien bezeichnet (S. 619). Wahr-
scheinlicher seien immer die Hypothesen, die ein bestehendes
Volk an ein andres bestehendes knüpften. So die negroiden
Madagassen; wegen deren man an frühere Jnselbrücken im
Kanal von Mosambique gedacht hat, die sich aber aus einigen
Tausend eingeführter Sklaven entwickeln konnten (S. 620).
So richtig dies ist, so kann man doch nur finden, daß
Ratzel die Frage nach dem Verbreitungszentrum seiner ältesten
Rassen recht eigentlich ins Wasser fallen läßt oder aus der
Geographie hinausweist. Und doch liegt in dieser Frage ein
ganz ausgesprochen geographisches Moment. Wie durchaus
ungeographisch ist der Gedanke, daß die Arier in der Urzeit
von Skandinavien aus auf das norddeutsche Festland über-
gesetzt seien, wohl gar auf Einbäumen und von da ihre
Wanderungen angetreten hätten. Und warum? Nur weil
man dafür den richtigen Gedanken einer geographischen Iso-
lierung der Rassenherde oder Zentren durch die Hinein-
tragung moderner Bedingungen von Abgelegenheit überspannt!
Es ist dieselbe Vorliebe für Extreme, wenn man — was
historisch-psychologisch nicht angeht — in den Erinnerungen
der asiatischen Arier an rauhere Vorsitze gleich das Gedächtnis
an Skandinavien sucht.
Nun ist allerdings der Geograph nicht verpflichtet, da
sein Blick doch zunächst auf die gegenwärtige Verbreitung der
Völker sich richtet, ans die Frage der Bildung und Heimat
der Rassen einzugehen, die für ihn das Gegebene sind. Doch
wird er es kaum völlig umgehen, dazu Stellung zu nehmen.
So auch zur Frage, ob ein oder mehrere Menschenarten.
Ratzel stellt den Satz auf: „Die Einheit des Menschen-
geschlechtes hat die Arteinheit zur Grundlage" (S. 585). Der
Sinn ist etwas dunkel; der folgende: „Spätere Versuche, die
Menschheit in engere Arten zu zerlegen, sind gescheitert," läßt
nicht ersehen, ob das Scheitern endgültig ist. Wenigstens
heißt es S. 586: die heutige Menschheit kann zeitlich in der
Mitte zwischen einer Menschheit der Vergangenheit von
größeren inneren Unterschieden, vielleicht Artnnterschieden,
und einer Menschheit der Zukunft von geringeren inneren
Unterschieden gedacht werden.
Andrerseits wird sich aber doch schon ergeben haben, daß
die Anthropogeographie Ratzels und die anthropologische
Forschung verschiedene Wege wandeln, auch da, wo sie beide
das Wort Rasse gebrauchen. „Es paßt nicht ans den ganzen
Inhalt, den wir ihm bei der heutigen Klassifikation der
Menschheit zu geben haben," lesen wir S. 739: „es sinkt zu
einem Sammelbegriff provisorischen Wertes herab." „Das
erste Bemühen der Anthropologie sei auf die Bestimmung
der Qualität der Verschiedenheiten und deren Größe ge-
richtet; nach der Herkunft zu forschen sei dem Ethnographen
überlassen, der jeder Rassenverschiedenheit innerhalb einer
Völkergrnppe mit der Hoffnung entgegentritt, in ihr eine
Wirkung nachweisbarer Berührung mit einer andern Völker-
gruppe oder geographischer oder sozialer Absonderung unter
verschiedenen äußeren Einflüssen zu finden." So Ratzel 734.
Diese Abgrenzung wird kaum allgemein gebilligt werden.
Der Anthropologie fällt es zunächst zu, die Verbreitung des
Menschen über die Erde und zwar als bloßen Naturwesens
zu ermitteln; geologische Änderungen in Betracht zu ziehen,
wird sie sich nicht scheuen. Ratzel schreibt denn auch der
Geologie (oder Paläontologie) die Aufgabe zu, jene tieferen
auseinander strebenden Wurzeln der Menschheit bloßzulegen
(S. 615), das sind also nicht nur etwaige niedrigere, tier-
ähnlichere Übergangsstufen als sic vorläufig gefunden sind,
sondern auch Belege der uranfünglichen Typen menschlicher
Bildung; gleichviel ob man Arten oder Rassen erwartet. Wer
an einen Schöpfnngsmittelpunkt glauben will (S. 20), für
den ist die Frage der Umbildung und Auszweigung a priori
entschieden; die einzelnen Phasen zu belegen, Übergänge
zwischen Lang- und Kurzköpfen herbeizubringen, nachdem
diese schon in der Tertiärzeit nebeneinander stehen sollen,
könnte nur ans einem Gebiet zu hoffen sein, wo die Mischung
völlig unmöglich wäre. So lange man diese immer wieder
heranzieht, um thatsächliche Verschiedenheiten des Typus zu
erklären, und die Mischung selbst nicht nachweist, ist es ebenso
ein Spiel mit Begriffen, als wenn man die Variabilität des
menschlichen Organismus von innen heraus auf irgend eine
frühere Epoche begrenzt. Ans diesem logischen Dilemma
führt nur ein Ausweg: Die Frage nach den Bedingungen,
Dr. F. Guntram Schultheiß: Rasse und Volk.
329
unter denen die Variabilität wirksam werden, zur Aus-
prägung einer neuen Abart oder Rasse fuhren kann. Es
ist eine geographische Verwendung des Rassenbegriffs, wenn
man ihn als übergeordnet zum Volksbegriff gebraucht. Ratzel
übersieht dies keineswegs, er giebt zu, daß die 16 Tasmanien-,
die es 1860 noch gab, die eigentümliche Unterabteilung der
australischen Rasse darstellten (S. 722), aber er will dann
doch den Schluß aus wenigen Schädeln ans eine Rasse als
Fehlschluß hinstellen, der richtig nur auf einen Clan oder
. eine Familie führe. Allerdings, aber in jeder Familie liegt
der Keim einer Raffe; eine Frage der Lebensumstäude, des
Raumes, der Zeit ist es, wie weit sie sich verzweigt. Quatre-
fages nimmt unbedenklich in der Definition der Art die Ab-
stammung von einem Paare auf. Das muß wohl nicht
immer der Fall sein — aber jedenfalls braucht die Rasse
nicht von Anfang an Massenerscheinung zu sein, worauf jede
Erklärung oder Zurückführnng auf klimatische Einflüsse mehr
oder weniger hinausläuft; etwas andres ist die Anpassung
ans Klima. Aber die Frage nach der Zahl der Rassen ver-
liert jede Bedeutung; es ist Sache der Erfahrung und Über-
einkunft, zu bestimmen, welche Rassen sich ausgebreitet haben,
welche sich rein zu erhalten vermochten, welche ausgestorbcn
sind, welche sich näher stehen. Die körperliche Vererbung
inuß hierbei leiten; ob die Einteilung nach den konventionellen
Grenzen der Lang-, Mittel- und Kurzköpfe das Wesen kom-
plizierter Organismen, die Beziehungen des Wachstums und
der Lebensverhältnisse richtig scheidet, kann der Laie nicht
ansfinden. Vielleicht würde auch heute noch Blumenbach die
gleichen Zweifel über die Wichtigkeit der Grade und Winkel
anszusprechen wagen, wie 1795: quo major mihi con-
suetudo cum collectione mea craniorum, eo minus
possibile mihi videtur varietates hasce gentilitias ad
gradus et angulos generalis cujusdam regulae reducere.
(De generis humani varietate nativa, 1795, p. 203.)
So viel ist wenigstens sicher, daß die Einteilung der Mensch-
heit in Rassen nur sehr bedingten Wert für die Erkenntnis
des geneologischen Zusammenhanges der Völker hat, daß die
Konstruktion der ursprünglichen oder relativ frühesten Rassen-
verteilnng nall) anthropologischen Gesid)tspunktcn ein Bild ge-
währen wird, das von geographischer Klassifikation stark ab-
weiä)t, das weit mehr eine uralte Vergangenheit, als die
lebendige Gegenwart spiegelt.
Dem Bedürfnis einer ins einzelne gehenden Klassi-
fikation der Völker der Gegenwart entspricht nun unbestritten
am meisten das Merkmal der Sprache. Dies erkennt natür-
lich auch Ratzel unumwunden an. „Ungleich der Anthropologie
ist die Sprachwissenschaft bewährte Gehilfin der Ethno-
graphie" (593); er erinnert an den ihr verdankten Nachweis
der indogermanischen, uralaltaiischcn und malaio-polyne-
sischen Sprachenfamilie; er hebt den engen Zusammenhang der
Sprache mit den geistigen Unterschieden der Volksart oder
des Kulturstandes hervor. Aber im einzelnen stellt sich doll)
das Verhältnis zur Sprache etwas formell und äußerlich;
Ratzel tritt nach seinen eigenen Worten ungern an alles
heran, was mit den Sprachen sich berührt; er ist nicht der
Meinung, daß die Ethnographie hier erst anfange (S 727).
Es fragt sich nur, ob die Arbeitsteilung bis zur gegenseitigen
Vernachlässigung führen darf. Die Übertragbarkeit einer
Sprache von einem Volk auf das andere (S. 593) besagt
an sich niä)t soviel, wenn es sich nur um Klassifikation handelt;
aber das ursprüngliche Verhältnis üon Sprache und Rasse
streift der nachfolgende Satz, dessen wörtliche Anführung
erlaubt sei (S. 596). „In der Unmöglichkeit, sprachlich zu
assimilieren, ohne Rassenmischung in irgend einem Grade zu
vermeiden s? statt zu vollziehen?), liegt die Berechtigung,
hinter Sprachübertragung auch Blutübertragung zu ver-
muten. Es ist aber durchaus nicht gesagt, daß die eine
Globus LX. Nr. 21.
Übertragung ohne die andere undenkbar sei und besonders ist
es ganz falsch, aus der Spraä)e einen Schluß auf die Rasse
zu ziehen, wie wir ihn bei Gerland finden. „„Fremde
Mischungen haben die Polynesier, wie ihre Sprache aus-
weist, nicht erfahren."" Millionen von Negern, welä)e eng-
lisch sprechen, haben keine Mischung erfahren?" So weit
Ratzel. Der Sinn ist nicht so deutlich ausgedrückt, als die
Bedeutung der Sache wünschen ließe. Die Polynesier, sollen
wir wohl verstehen, können recht gut gemischter Rasse sein,
ohne daß ihre Sprache die Spuren der Mischung zeigt. Die
englisch sprechenden Neger sind unter Engländer oder Ameri-
kaner gemischt, ohne daß man ans ihrer jetzigen Sprache auf
ihre Rassen schließen darf. Nur ist hier freilich Mischung
in sehr verschiedenem Sinne gebraucht. Das Englisch der
Neger wird aber auch den Einstuß der früheren Sprache
keineswegs immer so abgestreift haben, daß die Übertragung
versteckt sein könnte, wie bei den Polynesiern.
Die Tragweite einer rein sprachlichen Klassifikation der
Menschheit ist doch ganz wesentlich davon bedingt, wie sich
Rasse und Sprache verhalten. Nach der allgemeinen Ethno-
graphie von Friede. Müller (1873) trifft allerdings die^Ein-
teilung der Rassen nach der Haarform und die der Völker
in Sprachfamilien, indem Haar und Sprache viel konstanter
als der Schädel sich zu vererben pflegen (daselbst S. 13), so
reinlich und ohne Rückstand zusammen, wie es nur irgend
ein System bieten kann. Dazu kommt noch die Beständigkeit
der Rassenmerkmale, während die Mischung nicht in allen
Fällen ein dauerndes Produkt liefert (S. 48). Aber auch
in Peschels Völkerkunde erschienen die Sprachfamilien analog
den Rassen oder als Unterabteilungen. Unbestritten ist
jedenfalls der Polygenismns der Sprachentwickelung, auch
für solche, die wie Müller oder Peschel streng am Mono-
genismus des Menschen als Art festhalten. Konseqnenter-
weise gilt für Müller die mittelländische Rasse als solche
für sprachlos; erst ihre vier Unterabteilungen schufen sich
selbständig die Sprache. Rasse und Sprache decken sich nicht
(S. 33). Der entgegengesetzten Meinung, daß die Sprache
ein Naturprodukt der Rasse und ihrer Gehirnorganisation
sei, fehlt cs nicht an Anhängern, so Penka, oder Chavtze (nach
Topinard, Anthropologie, Deutsch von Neuhanß, 424). Beide
Meinungen gehören ebenso der Spekulation an, als wenn
Brittton (the language of palaeolithic man, Philadelphia
1888, bespr. Kevne d’ethnographie VIII, 298) dem
Menschen der alten Steinzeit eine Sprache ohne Flexion und
ohne Fürwörter u. s. w. zuschreiben, oder andre nach den
anatomischen Merkmalen der wenigen zu Gebote stehenden
Schädel der sogenannten Kannstattrasse die Sprache ganz ab-
sprechen. Das ist freilich ganz haltlos, so lange die be-
treffenden Schädel und Reste nicht als zweifellos normal
oder wenigstens zahlreich sich darstellen.
Aber je jünger die Anfänge der Sprache, desto wichtiger
werden die Erfahrungen aus der Gegenwart oder kurzen
Vergangenheit als Analogieen. Was Hollrnng (Globus,
Bd. LIV, S. 340) von Neuguinea berichtet, daß auf einer
Küstenausdehnung von 36 km 12 grundverschiedene Sprachen
im Gebrauch seien, von denen manche nicht über 50 An-
hänger zählen, was Ratzel selbst S. 739 nach Martins von
Brasilien anführt, daß gelegentlich unter 20 Ruderern nur
drei oder vier sich verständigen konnten, das ist nicht, wie
es da heißt, „eine auffallend rätselhafte Erscheinung", sondern
es ist der Naturzustand der Sprachbildung überall, wo eine
dünne Bevölkerung in weiten Räumen zerstreut ist. Die
Möglichkeit, die Verwandtschaft einer Reihe von Sprachen
nachzuweisen, beruht nur in Ausnahmefällen auf dem Wort-
schatz wie bei den arischen oder den Wurzeln in den poly-
nesischen Sprachen; sonst tritt die Erwägung des Sprachen-
baues ein, ob ein- oder mehrsilbig, ob Präfixa oder Suffixa,
42
330
Dr. F. Guntram Schultheiß: Rasse und Volk.
oder Einverleibungen u. dergl. Solche Untersuchung kann
freilich nur bei weitgediehener Arbeitsteilung Erfolge haben,
oft mag der Wunsch eines Ergebnisses dessen wirklichen Be-
lang übertreiben. Die so gefundenen Sprachtypen könnten
vielleicht als Erbteil von Rassenanlage angesprochen werden;
aber immer bleibt eine Vielheit von Sprachstämmen, auch
bei anthropologisch nahen Völkern. Nur die völlige räum-
liche Isolierung der Sprachenherde macht dies erklärlich;
denn unzweifelhaft sind die Sprachen, selbst wenn der Bau
und die Anlage tiefere Ableitung haben sollte, nach ihrem
thatsächlichen Gebrauchswert der Ausdruck der Lebensgemein-
schaft im einzelnen, der Horden oder Familien und in
weiterer Verbreitung der Völker. Je fester und dauernder
die Grundzüge von Sprachen sich beweisen und in Dialekte
und jüngere Sprachstufcn übergehen, auf desto längere Dauer
eines ursprünglichen Zusammenlebens muß geschlossen werden;
desto mehr ist ein Urvolk anzunehmen, dessen Teilung all-
mählich vor sich ging, ein sozialer Organismus, nicht eine
Rasse, die von Naturschranken beherrscht und bestimmt ist.
Die Malaio-Polynesier sind deshalb eine Analogie der Arier.
Die dazu gerechneten Völker bilden wohl sprachlich eine Ein-
heit, nur daß die Polynesier auf einer früheren Stufe der
Sprache sich trennend im Wortschatz noch stärker unter-
scheiden, als Rassen aber sind beide nur ungenau zu be-
zeichnen, obgleich je eine anthropologisch faßbare Rasse in
ihnen aufgegangen zu sein scheint, hier die blonden Dolicho-
eephalen, dort die eigentlichen Malaien. Auch bei den
Malaio-Polynesiern scheint der jüngere Ursprung der einheit-
lichen Sprachentwickelung gegenüber der Rassenbildung wahr-
scheinlich gemacht werden zu können. Ihre Urheimat sucht
man in Tibet, von wo sie den hinterindischen Flüssen ent-
lang die Richtung ihrer späteren weiten Verbreitung gefunden
hätten (Topinard, 474). Der Kern der Sprachbildnng, die
sich nach Südosten und der Inselwelt verbreitete, liegt nun
sehr wahrscheinlich ans den Sundainseln oder den Aus-
läufern des Festlandes (Peschel, Völkerkunde, 5. Ausl. 347),
dort erwuchs das eigentlich malaiische Urvolk. Die Rasse
aber, der es zugehörte, war auch landeinwärts verbreitet, die
Aborigincr oder frühesten Einwohner Hinterindiens sollen
noch jetzt große Ähnlichkeit mit den Malaien haben (Fr. Müller,
Ethnographie, 364). Hätte die malaiische Ursprache sich auch
nach dieser Seite hin ausdehnen können, so würden wir dort
dasselbe Verhältnis finden, wie es sich durch den späteren Ur-
sprung der arischen Ursprache an dem geographisch wahr-
scheinlichsten Punkte der Verbreitung der blonden nordeuro-
päischen Rasse der Eiszeit ergiebt. Sprache und Rasse
können für diesen Fall als exzentrische Kreise aufgefaßt werden;
die Bevölkerungen von Norddentschland und Skandinavien
mögen anthropologisch den Ariern oder einem Teil derselben
nahe gestanden sein, ohne an der arischen Ursprache teil-
zunehmen. Wenn die Vistnla der Westfluß ist und die
früheste Grenze der Germanen nach Westen bezeichnet, so
sind die übrigen westlichen Bevölkernngsteile erst durch die
Ausbreitung der Germanen germanisiert worden, aber anthro-
pologisch ohne Spuren verschmolzen. Der Ausdruck arische
Rasse aber enthält eine Auticipatio. Den Beweis dafür, daß
die Ausbreitung des Germanischen über vorgermanische Horden
in der Sprache sich zeigen müsse, wird man nicht im einzelnen
führen wollen, wenn man die oben angeführte Analogie der
Sprachzersplitterung in andern Waldländern erwägt. Übrigens
ist ein namhafter Teil des germanischen Sprachgesetzes nur
germanisch und nicht gemeinarisch, nach Förstemanu, Geschichte
des deutschen Sprachstammes I, 452 flg. 1l78 Wörter
gegenüber 1235 mit andern arischen Sprachen gemeinsam
bewahrten. Über Art und Ursprung ihrer Bestandteile giebt
aber die Sprache in andern Fällen vielleicht nur der ein-
gehendsten Sprachforschung, vielleicht gar nicht Aufschluß.
Wenn z. B. Wharton (vgl. Globus LIII, 223) von 2740
griechischen Wurzeln 1160 als nichtarisch erklärt, so ist da-
mit noch gar nicht gesagt, daß sie auf ein vorderasiatisches
Kulturvolk zurückgehen müßten, auch wenn in Mykcnä und
Tiryns Spuren seiner Kultureinslüsse, vielleicht seiner Kolo-
nisation vorlägen.
Es sind hiermit schon die Grenzen berührt, innerhalb
deren die Frage zu behandeln ist, mit welchem Rechte die
Einteilung nach den Rassen sich in eine Unterabteilung nach
Sprachgruppen fortsetzt. Ratzel selbst läßt diese Bedenken
freilich ganz beiseite; er setzt den körperlichen und sprachlichen
Einteilungsgründen als die eigentlich ethnographischen Merk-
male ganz andre entgegen. Es ist nach S. 579 die Gesamt-
heit des Knlturbesitzes, religiöse Vorstellungen, Einrichtungen
des politischen und sozialen Lebens, Künste und Fertigkeiten,
Baustile, Waffen und Geräte, Trachten, Tättowierungen und
andre Verunstaltungen. Sie also sollen der Abgrenzung der
geographischen Methode innerhalb der Ethnographie als
Grundlage dienen, und zwar gegenüber der psychologischen.
Es scheint ihm denn zunächst nur um eine Klassifikation zu
thun zu sein. Die Verbreitung einer Waffe z. B. (lesen tvir
S. 597) ist leichter darzustellen, als die eines Volkes. Es
ist im wesentlichen der Inhalt der ethnographischen Museen,
um den es sich in der weiteren Ausführung handelt, Nicht
daß er diese ethnographischen Merkmale überschätzt wissen
wollte. Gerade weil sie nicht tief gehen, sind sie für die
Völkerscheidung und Charakterisierung so wichtig (S. 753),
er verwahrt sich gegen den Schluß von ethnographischen Merk-
malen auf Stammverwandtschaft (S. 607); die Ethnographie
führt auf Kulturgemeinschaft (643). Wer sollte dieser wiffen-
schaftlichen Thätigkeit, die man mit Recht eine Museums-
wissenschaft genannt hat, nicht eine solche Pflege wünschen, wie
sie bei Ratzels staunenswerter Kenntnis der Einzelheiten vor-
auszusetzen ist, oder wer wollte nicht gerne die Ergebnisse auf-
nehmen, die sie bringt? Naturgemäß sind diese einzeln oder
Analogien. Der besseren Übersicht und größeren Menge
ethnographischer Gegenstände wird die geographische Methode
es verdanken, wenn sie darin mehr finden kann als bloße
Beispiele für die Entwickelungsgeschichte menschlicher Künste,
wobei sich (S. 747) Klemms Kulturgeschichte beruhigte. Für-
Ratzel ist die Verbreitung der Ausdruck des Weges. Als
Grundsatz gilt ihm, daß der Gegenstand mit seinem Träger
wandert (634). Ein gutes Beispiel für die Tragweite dieser
Auffassung findet sich S. 760: Da Völker mit großer Zähig-
keit an ihrer eigenen Bewaffnungsweise festhielten, so verberge
sich vielleicht unter da oder dort zwischen Speer- und Schild-
trägern zerstreuten Bogenträgern ein Rassenelement, das die
Anthropologie noch nicht berücksichtigt hat.
Muß aber das Vorkommen des gleichen Gegenstandes
durch Verbreitung von einem Punkt der Erfindung erklärt
werden oder kann derselbe Gegenstand an verschiedenen Orten
selbständig erfunden sein? Dies ist die psychologische Auf-
fassung innerhalb der Ethnographie. Als Völkergedanke, als
geistige generatio aequivoca lenkt sie vom Studium der
geographischen Verbreitung ab (S. 707), sie hat noch nie
ans einen lichten Punkt geführt (S. 726). Mit diesen und
ähnlichen Sätzen erklärt sich Ratzel gegen diesen Standpunkt;
er spricht S. 766 von den ans Zitaten geistlos zusammen-
gekehrten Werken über Ethnographie Z und führt die weite
Verbreitung von Sprachen gleichen Stammes als Analogie
der zerstreuten Verbreitung ethnographischer Gegenstände an
i) Möge hierzu die Gegenbemerkung erlaubt sein, daß das
Zurücktreten des Zitaten- und Belegewesens bet Ratzel zwar
den Eindruck einer originalen Leistung steigert, aber doch der
Bezeichnung als Handbuch einigermaßen widerspricht. Noch
mißlicher ist der Mangel eines Registers, der die vielen Einzel-
heiten erst nutzbar machen würde.
Dr. F. Guntram Schultheiß: Rasse und Volk.
331
(728). Die Fruchtbarkeit des geographischen Prinzips hat
Ratzel für so vieles Einzelne erwiesen; aber was er selbst
als Gemeinbesitz anführt (S. 693), genügt zur Rechtfertigung
der so scharf angegriffenen Richtung, die, wenn wir sie richtig
verstehen, das Hauptgewicht auf die wesentlich gleichartige
Funktion des menschlichen Gehirnes legt. Einfluß, Ent-
lehnung, Übergang wird dadurch wohl nicht ausgeschlossen
sein sollen.
Man kann nicht finden, daß diese Unangreifbarkeit eines
Axioms, wie man wohl sagen darf, auch dem geographischen
Standpunkt Ratzels innewohne. Alle Ergebnisse seiner
Knlturgeographie werden mit größter Mühe einem doch
ziemlich unsichern Boden abgewonnen; mehr als die Möglich-
lichkeit der Sache scheint den Unbefangenen kaum zu erweisen,
obgleich alles in dogmatischer Sicherheit auftritt. Das Wie
der Übertragung, die Fäden des Zusammenhanges entziehen
sich selbst der umfassendsten Kenntnis; Künste und Fertigkeiten
sind wohl anch bei sogenannten Naturvölkern Sache indi-
vidueller Begabung, oder sind alle solche Zufälle und Sprünge
der Erfindungen auszuschließen? Man zieht es schließlich
doch vor, allen Zweifeln, ob die geographische Methode, nach
der Verbreitung der Geräte zn fragen, wirklich ins Innere
der Erscheinungen führe, auszuweichen und sich lieber an
das Einzelne zu halten, an den Menschen, das Volk, an seine
Sprache, und von der Zukunft den Aufschluß zu erwarten,
wo die Gegenwart die Antwort schuldig bleibt.
Wenn die Merkmale der Rassen unklar und schwankend
sind, so kaun uns doch die Anthropologie mit einiger Sicher-
heit sagen, welcher Typus, welche Ausnahmen dem Volk, der
Horde zukommen. Von diesem festen Punkt aus ist die Rasse
eine Abstraktion der Individuen; man fühlt sich auf sicherem
Boden, wenn z. B. Topinard kurzweg die Völkertypen vor-
führt. Es sind ihrer freilich viel mehr, als wenn man die
Rassen als die höheren Einheiten vieler Völker aufzählt und
nicht weis, wohin man z. B. die Aino thun soll. Erscheinen
dann anch die Völker als ans mehreren Rassen zusammen-
gesetzt, so können doch die Verhältniszahlen einen Blick in
ihren Aufbau gewähren. Für die Ethnographie gilt der
Satz, den Wietersheim anssprach, ohne noch von der heutigen
Anthropologie zu wissen: „Nicht auf der Einheit des Ur-
sprungs, sondern der Entwickelung beruht das Leben und
die Identität der Völker." Die so oft betonte Dauerhaftigkeit
der Rassen gegenüber den steigenden und sinkenden Völkern
sagt nichts andres, als daß jeder Typus die Fähigkeit be-
sitzt, sich so lange und so oft zu wiederholen, als die Paarung
mit dein gleichen, das Klima und die Möglichkeit der Er-
nährung gestattet; die Möglichkeit einer Mischung bedeutet
noch keineswegs das Fallen aller Schranken. Selbst in
Deutschland war noch vor kurzem, vielleicht noch jetzt meist,
die Heirat aus einem Dorf ins andre sehr selten, und wenn
konfessionelle oder territoriale Schranken bestanden, so gut
wie untersagt. Es ist nicht recht zu begreifen, wenn Ratzel
die Neger in der Union als das große Fragezeichen hinter
allen hochfliegenden Erwartungen von der Entwickelung eines
neuen besseren Europa bezeichnet (S. 684). Auch ohne
räumliche Trennung ist hier der Unterschied zwischen den
Rassen zn groß, als daß man an die Entstehung eines Misch-
volkes denken könnte, in dem einst Weiße und Neger so
künstlich zu trennen wären, wie bei Deutschen oder Franzosen
Lang- und Kurzköpfe. Anders mögen die Verhältnisse und
Aussichten in Südamerika sein, aber man wird besser thun,
wenn man cs ablehnt, die Rassen als chemische Elemente zu
betrachten. Man verläßt zn leicht den sickeren Boden der
Induktion. Wenn der Name der Ethnographie ihre Aufgabe
bezeichnet, so wird sic auch darauf angewiesen sein, von den
empirisch gegebenen Völkern auszugehen, deren erstes Merk-
mal immerhin die Sprache ist, weil sie eben eine Schranke
bildet. Insofern die Kulturvölker besser zu übersehen sind,
wird cs geraten sein, von ihnen auszugehen, nicht aber sie
auszuschließen. Es erscheint als unnötig und irreführend,
wenn Trolle seine Schrift über das italienische Volkstum und
seine Abhängigkeit von den Naturbedingungen (Leipzig 1885)
als einen anthropogeographischcn Versuch bezeichnet. Es ist
gerade das, was für jedes einzelne Volk als Grundlage zn
wünschen wäre. Wenn von Naturvölkern oder Horden
weniger Wissenswertes beizubringen ist, so entspricht das nur
dem verschiedenen Wert. Es ist ja richtig, daß eine ethno-
graphische Karte, die bloß die Sprachgrenzen darstellt, kein
zutreffendes Bild der Völkerbeschaffenheit giebt, wie R. Andree
(Ethnographische Karten, Mitteilungen des Vereins für Erd-
kunde zu Leipzig 1885, S. 176 flg.) hervorhebt; aber mit
dem Beisatz, daß sie eben zur Zeit noch das einzig mögliche
sei. Er wünscht, daß die Elemente, welche allmählich zur
Bildung eines Volkes beitrugen, in Betracht gezogen würden-—
was aber leichter gesagt als gethan sei. Weit über diese
Betonung des anthropologisch-historischen Mangels einer-
bloßen Sprachenkarte geht Ratzel, wenn er in der Eintragung
der Arier Indiens auf der ethnographischen Karte Asiens von
Vincenz von Haardt es bemängelt, daß hier der Gegensatz
der Wüste Tharr und des Fruchtlandes des Indus, der des
Nomadismus und des ansässigen Lebens, des Islams und
des Brahmanismus, der rein arischen [?] und der turanisch-
skythisch gemischten Bevölkerung, der persischen und indischen
Einflüsse nicht dargestellt ist (S. 738). Man muß doch da-
gegen sagen, daß bei all diesen Begriffen die Verbreitung im
Raum, die allein auf der Karte dargestellt werden konnte,
das Äußerliche ist!
Aber anch die anthropologisch-historische Sprachenkarte
hat ihre Grenzen. Die anthropologische Forschung ergiebt
für Süditalien einen starken Anteil langköpfiger, dunkler Be-
völkerung , für die man ohne weiteres an die Urbevölkerung
appelliert. Nun stammten aber die Sklaven der römischen
Latifundien überwiegend aus dem semitischen Vorderasien;
sollte das nicht fortgewirkt haben? Andrerseits war die
Romanisierung Westeuropas möglich, ohne daß man an eine
Einwirkung des römischen Typus — so weit es einen solchen
überhaupt gab — zu glauben braucht. Die Einrichtungen
und die Zeit erklären hier die Übertragung einer Kultur-
sprache durch zahlreiche Medien. Von einer lateinischen Rasse
heutzutage zu reden, statt von einer romanischen Völkergruppe,
ist eine Irreführung. Über die Rasse kann hier nur die
anthropologische Forschung Aufschluß geben, aber über die
geistigen Kräfte der Volkseinheit ausschließlich die Kultur- und
Staatengeschichte. Ebenso müßte man in England nach der
Sprache allein eine römische oder französische Beimischung
vermuten, während doch die Normanen nur sprachlich roma-
nisiert waren. Solche Analogieen sind freilich geeignet, gegen
die sprachliche Klassifikation von Naturvölkern noch mehr miß-
trauisch zu machen, wenn sie die anthropologische mit ein-
schließen sollen. Zu einer andern Erwägung giebt die ver-
hältnismäßig rasche Germanisierung der linksrheinischen
Gebiete durch die Franken Anlaß. Hier hatten sich immer
wieder Germanen, einzeln und in Haufen, als Kriegsgefangene
und Kolonen niedergelassen; selbst romanisiert könnten sie
von den Germanen absorbiert worden sein, ohne anthro-
pologische Spuren zu hinterlassen. Ebenso verhält es sich
mit etwaigen Resten germanischer Stämme unter den Slaven
in Ostdeutschland. Überwiegend hat man sich dagegen aus-
gesprochen, wie auch wieder Wcinhold (die Deutschen in
Schlesien), weil allerdings der Nachweis mangelhaft ist. Aber
was z. B. Müllenhoff (Deutsche Altertumskunde II, 373)
als unhaltbar hinstellt, daß sie sich doch in der Sprache nicht
hätten parallel den deutschen Stämmen entwickeln können,
um dann später rasch und leicht in ihnen aufzugehen, das
42*
332
Büch er sch au.
wird gar niemand behaupten wollen. Es handelt sich dann
eben nur eine Regermanisierung.
Es ist hier nicht möglich, mehr als die wichtigsten Be-
ziehungen von Rasse, Sprache und Volk zu berühren, aber
gerade so naheliegende Beispiele mögen dienlich sein, um an
ihre Vielfältigkeit zu erinnern. Ratzel setzt sie wegen der rein
geographischen Methode ziemlich zurück. Aber so lange die
Völkerkunde den Kreis der Probleme, wie ihn etwa Peschcl
umschrieben hat, auszufüllen den Anspruch erhebt, wird sie
auch andre Richtungen und geringere Kräfte als die
Beherrschung der Stilunterschiede der Bogen und die Er-
mittelung ihres Ursprungs nötig macht, von der Teilnahme
nicht ausschließen, sei sie nun bloß entgcgcnuchmend oder
mitthätig.
Bücherschau.
Sycd Ameer Ali, The Life and Teachings of Mo-
hammed or the Spirit of Islam. London,
W. H. Allen, 1891.
Alle die bedeutenden Arbeiten, die wir über Mohammed
und den Islam besitzen, von Sprenger, Muir, Nöldecke,
v. Kremer u. A., stehen auf dem Standpunkte des Abendländers,
der christlichen Kultur und sind, bei allem Streben nach unpar-
teiisch geschichtlicher Darstellung, keineswegs frei von dem
Banne, in welchen unsre Erziehung und Anschauung die Ver-
fasser gezwungen haben. Was Mohammedaner über ihren
Religionsstiftee geschrieben haben, reicht nicht hinein in die
weiten Schichten europäischer Leser und überschreitet schon wegen
der Sprache kaum die Fachkreise, die sich mit Arabisch be-
schäftigen. Jetzt kommt ein hoher indischer Beamter, Richter
am höchsten Gerichtshöfe von Bengalen, ein Mann, der mit
der ganzen Fülle unsrer abendländischen Wissenschaft vertraut
ist, und der zu den hervorragendsten und aufgeklärtesten An-
hängern des Islam gehört, um für diesen eine Lanze zu brechen,
ihn gegen Vorurteile der Christen zu verteidigen und denselben
uns von seinem Standpunkte aus nahe zu bringen. Daß es
dabei nicht ohne Vorwürfe gegen viele Ereignisse in der Ge-
schichte des Christentums, die auch bei uns nicht überall Ver-
teidiger finden, abgeht, mag nebenbei bemerkt werden und ist
in einem teilweise apologetischen Werke auch natürlich.
Der gelehrte Richter vergleicht den Islam und das
Christentum bezüglich des sittlichen, sozialen und politischen
Fortschrittes, er stellt sie dem Glauben nach, als Quelle er-
habener Ethik, als Leiter durchs Leben nebeneinander und be-
handelt deren humanitäre und zivilisierende Einflüsse. Nach
ihm hat sich „der Islam Mohammeds mit seiner scharfen Dis-
ziplin und strengen Moralität als die einzige praktische Religion
bewährt, welche niedrige Naturen vom Untergange in einem
zuchtlosen Materialismus zu erretten vermag." Vor allem und
sehr oft nicht ohne Geschick und Erfolg streitet Ameer Ali
gegen die im Abendlande verbreiteten Ansichten, daß Mohammed
und seine frühesten Anhänger ihre Religion auf die Spitze des
Schwertes stellten, daß der Islam unduldsam sei, daß er
Sklaverei und Vielweiberei begünstige, das Weib in niedriger
Stellung erhalte, ein rein sinnliches Paradies predige, daß er
eine Religion des Fatalismus sei und politische wie moralische
Versumpfung zur Folge habe. Es ist dieses mit allen unsern
Vorstellungen im direkten Widerspruch, wie derselbe sich löst
oder nicht löst, mag der Leser selbst beurteilen. Jedenfalls giebt
der Vers, zu, daß es schwer für ihn ist, zwischen den erhabenen
Lehren und der Moralität des ursprünglichen Islam und dem
verknöcherten Formalismus, in welchen er heute verfallen ist,
den versöhnenden Ausgleich zu finden. Seine eigene „fort-
schrittliche^ Schule, zu der die tüchtigsten Köpfe gehören, ist
ohne Einfluß aus die breiten Massen. „Ich habe versucht",
schreibt er, „in diesem Werke den philosophischen und ethischen
Geist des Islam darzustellen, in der Hoffnung, daß es dazu
beitrage, daß die Moslems in Indien ihre geistige und sittliche
Wiedergeburt unter dem Schutze der großen europäischen Macht
bewerkstelligen, welche nun ihre Geschicke lenkt. Für die Sucher
nach Wahrheit im fernen Abcndlande wird hoffentlich dieses
Buch von einigem Nutzen sein." F. Carlsen.
Dr. G. Pfeffer, Versuch über die erdgeschichtliche Ent-
wickelung der jetzigen V er br eitun g s v erh äl t-
nisse unsrer Thierwelt. Hamburg, Friederichsen, 1891.
62 S. 8«.
Es ist eine nicht an Umfang, wohl aber an Inhalt be-
deutende Arbeit, welche hier vorliegt; sie wendet sich auch nicht
an die Fachleute allein und entbehrt deshalb alles gelehrten
Ballastes an Fnunenverzeichnisscn, Zitaten u. dgl. Der Autor
hebt zunächst hervor, daß für die Verbreitung der Landtiere in
erster Linie allerdings die topographischen Verhältnisse maß-
gebend sind, und zwar um so mehr, je unabhängiger eine Tier-
klasse von Süßwasser ist, daß aber für die Tiere des Meeres
die klimatographischen Verhältnisse entschieden größere Bedeutung
haben. Wir sehen deshalb die Meerestiere mehr zonenweise
verteilt. Dabei tritt nun die merkwürdige Thatsache hervor,
daß die am weitesten voneinander entfernten Zonen, die arktische
und die antarktische, eine ausfallende Ähnlichkeit miteinander
haben, die so weit geht, daß Gattungen und Familien identisch,
die vikariierenden Arten oft nur bei sorgsamer Vergleichung zu
unterscheiden sind. Da ein direkter Verkehr zwischen beiden
Zonen durch die zwischenliegenden Tropenmeere unmöglich ge-
macht wird und es undenkbar ist, daß zwei aus verschiedenen
Wurzeln entsprungene Faunen in so weit getrennten Gebieten
eine andre als divergante Entwickelung genommen haben sollten,
bleibt nur eine Erklärung möglich: beide Faunen müssen aus
einer gemeinsamen Wurzel stammen. Sämtliche Meere müssen
in der vortertiären Zeit eine und dieselbe gleichmäßige Fauna
gehabt haben, also auch gleichmäßig warm gewesen sein. Als
dann das Klima sich "änderte, die Polarmeere sich abkühlten,
wanderten die empfindlicheren und wärmebedürstigeren Tiere
den Wendekreisen zu, die härteren blieben zurück, und zwar an
beiden Polen ungefähr dieselben, und unter den gleichmäßigen
Verhältnissen blieben sie bis in die Jetztzeit einander ähnlich.
Es bleibt zunächst die höhere Temperatur der Polarmeere
zu erklären, Pfeffer verwirft die Veränderungen in der Schiefe
der Ekliptik, ebenso die der Erdachse, letztere ohne die neueren
Forschungen der Phytopalüontologen, insbesondre Nathorsts,
die einen Teil seiner Einwände entkräften, zu erwähnen; er
lehnt auch die Erklärung durch kosmische Ursachen und durch
die fortschreitende Abkühlung der Erde ab; es bleibt ihm somit
nur die Annahme größerer Intensität der Sonnenwärme, ver-
bunden mit feuchter, die Wärme besser leitender Atmosphäre
und durch Kontinente nicht behindertem Abströmen der Tropen-
gewässer nach höheren Breiten. Dafür fehlt aber jeder Beweis,
und diese Ursachen würden auch wohl schwerlich genügt haben,
eine völlige Gleichmäßigkeit in der Temperatur aller Meere
hervorzurufen. Mir scheint, schon die lange Polarwinternacht,
welche Pfeffer an dieser Stelle nicht in Rechnung zieht, müßte
genügen, um eine zeitweise nicht unerhebliche Abkühlung des
Wassers an den Polen hervorzurufen. Dann sank aber' auch
das kältere Wasser in die Tiefe und strömte nach den tieferen-
Stellen der Tropenmeere zurück. Somit kann, was Pfeffer
konsequenter Weise in Abrede stellt, damals sowohl an den
Polen wie im Tieswasser eine eigene, von der Tropenfauna
nicht unerheblich verschiedene Fauna existiert haben und der
Satz: „Bis zur alttertiären Zeit gab es aus Erden keine zonen-
artigen Faunen, sondern nur eine einzige, über die ganze Erde
verbreitete allgemeine Fauna", erscheint mir darum denn doch
nicht so ganz unanfechtbar, wie seinem Autor. Daß die einst
über die ganze Erde verbreiteten, jetzt spezifisch arktischen oder-
antarktischen Gattungen in den Tropenmeeren fehlen, erklärt
Pfeffer dadurch, daß sie von den wärmebedürstigeren und den
Bedingungen der Tropenmeere besser angepaßten Arten, ins-
besondre den Risfkorallen und den von diesen abhängigen, über-
wuchert und verdrängt wurden.
Mit der Scheidung der Klimate begann auch die Scheidung
der Faunen, und zwar scheint dieser Vorgang in der frühen
Tertiärzeit stattgefunden zu haben. Die Stammfauna war nach
Pfeffer, dem ich darin unbedingt beistimmen muß, im wesent-
lichen eine litorale; die pelagische Fauna ist nicht, wie Moseley
will, die Stammmutter, die Küstenarten sind nicht seßhaft
gewordene Hochseetiere, sondern umgekehrt, die pelagischen Tiere
sind, wenn nicht Larven der Küstentiere, so doch vielfach selb-
ständig gewordene Embryonen, die trotz der Geschlechtsreife viel-
fach noch embryonale Züge tragen: sie sind dünn, muskelschwach,
pigmentlos ; ihre Chitin- und Knochenverhältnisse sind kümmer-
lich ausgebildet. Auch die Tiefseesauna ist nicht die Stamm-
mutter der Faunen, sie ist vielmehr zum weitaus größten Teile
nur die arktische resp. antarktische Litoralfauna, welche in die
Bücherschau.
333
Tiefe hinabstieg, als das Wasser dort kalt und sauerstosfreicher
wurde, und ihr durch die lange Konservierung der herabsinken-
den Tierlcichcn ausreichende Nahrung bot. (Eine Ausnahme
bildet wahrscheinlich die Fauna des durch Bodenschwellung ab-
geschnittenen Antillenmeeres und wahrscheinlich auch die noch
unerforschten des Roten und des Mittelländischen Meeres.)
Eine notwendige Folge der geschilderten Vorgänge ist die
Circumpolarität der einzelnen Faunen. Dieselbe ist am schärfsten
ausgeprägt vorhanden in der arktischen, etwas weniger scharf in der
antarktischen, aber auch in der tropischen Fauna, obschon hier die
westamerikanische und die westafrikanische Sonderstellungen ein-
nehmen, besonders charakterisiert durch den Mangel der Risskorallcn
und alles dessen, was von ihnen abhängt. Viel weniger merk-
lich ist sie in der borealen und in der südlichen gemäßigten, der
notialcn Zone; doch sind auch hier noch zahlreiche Züge, welche in
diesem Sinne gedeutet werden müssen. Deutliche Spuren der alten
Universalsauna finden wir aber auch in der Brakwasserfauna,
die freilich heutzutage vorwiegend aus die Tropen beschränkt ist,
und vor allem in der Süßwasserfauna, deren Gattungen selbst
in einer sonst so gut lokalisierten Klasse, wie die Mollusken,
fast ausnahmslos eine universelle Verbreitung haben. Gewöhn-
lich erklärt man diese ausfallende Erscheinung durch Verschleppung,
durch Veränderungen in Stromrichtungen u. dgl. Pfeffer sieht
in ihr die natürliche Folge der Entstehung aus der alten Uni-
versalfauna, aus der überall dieselben besonders geeigneten
Gattungen in daS Brakwasser und aus diesem in das Fluß-
wasser einwanderten. Er nimmt sogar für die erst in der
mittleren Tertiärzeit aufgetauchten Inseln Polynesiens nicht
eine Einschleppung der Süßwasserfauna, sondern eine direkte
Einwanderung aus dem umgebenden Meere an. So besonders
für die Neritinen und die Melanien. Hier dürfte sich manche
Einwendung erheben, denn marine Melanien giebt cs nicht,
und die weit verbreiteten Arten von Neritina sind auch nicht
marin, wenn schon sie marine Verwandte haben. Ihre Ein-
wanderung aus dem Meere wäre somit eine nochmalige Ent-
wickelung schon vorhandener Formen, und das will mir nicht
recht einleuchten. Dagegen hat Pfeffer entschieden recht, wenn
er hervorhebt, daß das Süßwasser uns manchen alten Tier-
typus aufbewahrt hat, der aus dem Meereswasser ganz ver-
schwunden ist oder nur noch in den höheren Breiten lebt, so
die Ganoiden und Dipnöer unter den Fischen, die Astaciden
und Aselliden nebst den Gammariden unter den Krustern.
Die obigen kleinen Einwendungen können übrigens kaum
in Betracht kommen gegenüber den großen Vorzügen der
Pfesfcrschcn Arbeit. Es ist nun Sache der Spezialisten, die
Lehre von der vortertiären Universalfauna an den verschiedenen
Tierklassen zu prüfen, eine Arbeit, die niehr als eine Forscher-
generation erfordern wird. Ko beit.
M. Brosc, Repertorium der Deutsch-kolonialen Litte-
ratur von 1884 bis 1890. Berlin, Georg Winckel-
mann, 1891.
Der Vers., Bibliothekar der Deutschen Kolonialgesellschaft,
hat sich der ungemein dankenswerten Mühe unterzogen, in dem
vorliegenden Repertorium die Hochflut unsrer Koloniallitteratur
möglichst vollständig zu vereinigen und nach bestimmten Kate-
gorien zu ordnen. Vor allem war er bestrebt, die in Zeit-
schriften, sagen wir genauer: in deutschen Zeitschriften er-
schienenen einschlägigen Aufsätze in ihrer Gesamtheit zu
registrieren — gewiß eine ebenso schwierige wie nützliche
Arbeit. Des „historischen Interesses wegen ist auch die
Litteratur über das Kolonialunternehmen des Großen Kur-
fürsten und das frühere deutsche Schutzgebiet Witu be-
rücksichtigt worden". — Das Repertorium gliedert sich in
die Kapitel: Allgcnieines, Togo, Kamerun, Südwest-
afrika, Ostafrika, Witu, Neu-Guinea und Bis-
marckarchipel, M a r f ch a l l i n s e l n. Jedes dieser Kapitel
zerfällt wieder in die Unterabteilungen. 1) Abgrenzung,
Amtliches, Gesetze, Rechtsverhältnisse, Verfügungen,
Verordnungen, Verträge; 2) Erforschungen, Fauna
Flora, Landeskunde, Reisen; 3) Handel, Schiffahrt,
Statistik, Wirtschaftliches; 4) Geologie, Hydro-
graph! c, Hygiene, K l i m a t o I o g i e. Meteorologie;
5) Mission; 6) Anthropologie, Ethnographie,
Sprachen; 7) Karten. — Man sicht, es ist kein irgend
bedeutender Gegenstand außer acht gelassen worden, so daß
jeder, der sich mit Arbeiten über koloniale Fragen beschäftigt,
in Broses Buch unbedingt die nötigen Litteraturnachweise
findet. Der Vers, verspricht, alljährlich die erforderlichen Nach-
träge erscheinen zu lassen und bittet zu dem Zwecke um die
Mithilfe der beteiligten Kreise. Das bestimmt uns, an dieser
Stelle einige Wünsche bezüglich der letzten Kapitel, also Neu-
Guinca und die Bismarckinseln, laut werden zu lassen. Zu-
nächst müssen neben Kaiser - Wilhelmsland die nördlich be-
gleitenden kleineren Inseln, wie Rook-, Long-, Rich-,
Dampier-, Vulkaninsel und ähnliche besonders genannt
werden, da über sie bereits mehrfache Publikationen vorliegen.
Dann kommen, natürlich unter eigener Überschrift, die
Bismarckinseln zur Sprache, dann ebenso die Admiralitäts-
inseln, die Brose gar nichts!) aufführt (vgl. Report of the
scientific résulta of H. M. 8. „Challenger". Narrative.
Yol. I, part 2, p. 696 — 773, London 1885 und' verschiedene
andre Quellen), und dann die, meist zu den vorigen gerechnete
Purdygruppe (vergl. „Globus", Bd. LIX, S. 303). Auch die
Einsiedler-, Schachbrett- und Hermitinseln suchen wir
vergeblich. (Deutsche Admiralitätskarte Nr. 94 nebst Berichten
in den „Annalen der Hydrographie" 1876, S. 217; 1883,
S. 282, 516, 576; 1887, S. 269 rc.) Daß die Salomo -
i.nseln von Brose ohne weiteres unter Neu-Guinea rubri-
ziert werden, ist geographisch unthunlich, trotz des Be-
schlusses der Lnndcshauptmannschast vom 22. Juli 1887, wonach
die Salomoinseln dem Gcrichtsbezirk Bismarckarchipel zuge-
legt wurden. Die Gruppe verdient ohne Frage ihre eigene
Überschrift. Außerdem fehlen mit einer winzigen Ausnahme die
Litteraturangaben über die lange R'eihe der östlichen Atolle
von Ongtong-Jawa oder Liuniuwa bis zum Lyrariff.
(Vergl. „Globus" LIX, S. 247, „Das Atoll Nissan und seine
Nachbarn".) Da das Repertorium bei Afrika mehrfach auf
ältere Werke zurückgreift, z. B. S. 61, 62, 65 re., so muß cs
überraschen, daß dies bei den Südseebesitzungen nicht
geschieht; wir vermissen vornehmlich Prof. Dr. K. Meinickes
Hauptwerk: „Die Inseln des Stillen Ozeans", das bis heute
seinen großen Wert behält, nicht zuni mindesten durch seine
reiche Litteratur. Dann vermissen wir E. C. Rye, Biblio-
graphie von Neu-Guinea in den Supplementary Papers of
the R. Geographical Soc., London 1884, I, Nr. 2, im Ver-
zeichnisse mit weit über 1000 Nachweisungcn (vergl. Peter-
manns Mitteil. 1884, S. 354.) Unvollständig ist ferner die
Litteratur über die Salomo in sein ; es fehlt Woodfords
erster Aufsatz in den Proceed. Roy. Geogr. Soc. 1888,
Withrington, The Salomon Islands in den Proceed. of
the Queensland Branch of the Roy. Geogr. Soc. of
Australia, Vol. III, 1887/88, Mager, Les îles Salomon in
der Revue de Géographie, Februar 1888 und noch so
manches andre; doch können wir hierauf nicht weiter eingehen,
werden aber in einer jetzt vorbereiteten Abhandlung über diese
Inseln auch das betreffende Quellcnmaterial publizieren.
Es steht zu erwarten, daß der Vers, im Interesse seiner
so verdienstlichen Arbeit den hier ausgesprochenen Wünschen
Rechnung trägt; jedenfalls sehen wir den Fortsetzungen seines
Repertoriums mit Spannung entgegen. Dann wird auch das
große Reisewerk der „Gazelle" nach Gebühr ausgenutzt werden,
und die englischen Seekarten finden wir hoffentlich gleichfalls.
Berlin. H. Seidel.
E. Richter, Geschichte der Schwankungen der Alpen-
gletscher. (Separatabdruck a. d. Zeitschr. d. Deutsch, u.
Östr. Alpenvereins 1891.)
Diese neueste Publikation des bekannten Alpenglacialisten
in Graz bildet eine wichtige, ja notwendige Ergänzung der
von Brückner für die Klimaschwankungen beigebrachten Beweise.
Denn Brückner selbst hat die Gletschcrschwankungcn und ihre
Geschichte nicht näher behandelt, obwohl er durch die sie be-
treffenden Arbeiten Forels u. A. auf das Thema der Klima-
schwankungen gebracht worden war. Er hat das damit begründet,
daß die Veränderung und Ausdehnung,, der Gletscher zeitlich
ein zu wenig sicherer Anzeiger für die Änderungen der Wärme
und des Niederschlages seien. Das ist aber nicht richtig, denn
in dieser Hinsicht sind Gletscher nicht viel anders zu beurteilen
als Seen, welche auch eine Verzögerung ihrer Hochstände gegen-
über der feuchten Witterung, welche sie hervorruft, erfahren.
Schon Sonklar hat darauf hingewiesen, daß die Wirkung
eines schlechten Jahres auf den Anwuchs der Gletscher sich
bereits in zwei oder drei Jahren zu äußern beginne, später hat
Forel aus der Gleichzeitigkeit des Vor- und Rückgehens der
Gletscher geschlossen, daß es sich nicht um Jahrhunderte, sondern
nur um Jahrzehnte umspannende Perioden dabei handelt.
Lang ist zu ähnlichen Resultaten gelangt und auch Heim findet,
daß klimatische Perioden an den Gletschern mit Verzögerungen
von nur fünf bis sechs Jahren sich äußern. Damit find aber
Klimaschwankungen und Gletschcrschwankungcn so nahe an-
einander gerückt, daß der Parallelismus der Kurven noch leicht
erkennbar bleibt. Fällt aber dieses Bedenken gegen die Ver-
wertung der Gletscherschwankungen als Klimaanzeiger, so wird
man zugeben müssen, daß dieselben an Bestimmtheit und Zu-
verlässigkeit fast alle andern Arten von Nachrichten (z. B. solche
334
Aus allen Erdteilen.
über wechselnde Wasserstände, Regenmenge k.), aus welchen auf
Klimaveränderungen geschlossen wird, bei weitem übertreffen.
Der Umstand, daß die geschichtlichen Überlieferungen, welche
Schwankungen der Alpengletscher betreffen, durch häufige Wieder-
holung mehr und mehr an Ursprünglichkeit und Genauigkeit
einbüßten und zuin Teil ganz phantastische willkürliche Äus-
schmückungcn,,erfahren, sei die Ursache gewesen, daß es Brückner
nicht gelang, Übereinstimmung zwischen den Gletscherschwankungen
der letzten Jahrhunderte und den von ihm aufgefundenen
Klimaperioden aufzufinden. Indem aber der Vers. auf die
ursprüngliche Quelle der Nachrichten zurückgeht, den Original-
text dcrfelben wieder herstellt und besonders die reichlichen
chronikalischen Auszeichnungen über Gletscherveränderungen in
der Ostschweiz kritisch sichtet, findet er, daß dieselben auch im
17. und 18. Jahrhundert in ganz bestimmten Perioden und
zwar in den ganzen Alpen gleichzeitig auftreten und mit den
von Brückner ermittelten Klimaschwanku-ngen vollkommen zu-
sammenfallen oder in ihren Cyklus ergänzend sich einfügen.
Die Gletscherstöße wiederholen sich in Perioden, deren Länge
zwischen 20 bis 45 Jahren schwankt und im Mittel der drei
letzten Jahrhunderte genau 35 Jahre betrug. Doch sind die
Vorstöße nicht von gleicher Intensität und auch nach der Art
ihres Verlaufes nicht ganz gleichmäßig. Von manchen Glet-
schern scheinen, wenigstens für die oberflächliche Beobachtung,
einzelne Perioden ganz übersprungen zu werden, indem ent-
weder ein Rückgang oder ein Vorstoß so schwach angedeutet
wird, daß eine Hochstand- oder Schwindperiode von scheinbar
doppelter Länge hervorgeht. Die Gletscherschwankungen stimmen
im ollgenieinen mit den von Brückner ermittelten Jahreszahlen
der Klimaschwankungen der drei letzten Jahrhunderte überein;
der Vorstoß macht sich bereits noch während der feuchtkühlcn
Zeit bemerkbar, flür die vielfach verbreitete Volksmeinung,
daß im allgemeinen die Gletscher früher kleiner und die Passe
wegsamer gewesen seien, ließ sich bei kritischer Prüfung der
Überlieferungen keinerlei Anhalt finden, sie dürste wohl durch
die Erinnerung an die regelmäßigen Gletscherschwankungen und
die dadurch hervorgebrachten Veränderungen der Wegsamkeit
beeinflußt sein. Dr. A. Sauer.
Aus allen
— Die Abgrenzung zwischen den französischen
und englischen Besitzungen in Westasrika ist folgender-
maßen durch die Grenzkommission bewirkt worden: Die
Grenze geht zwischen den Flüssen Mellacori und dem Großen
Scarcie hindurch, ersteren an Frankreich, letzteren bei England
belassend, dann weiter zwischen Bunah und Jam Bakka,
wobei Talla englisch und der Tamisso französisch wird. Von
hieraus steigt die Grenze znm 10. Grad nördl. Br. auf, das
Land der Houblons in der französischen Zone und Sulima
mit Falaba den Engländern belassend.
— Georg Rosen, bekannter Orientalist, geb. 21. Sep-
tember 1821 zu Detmold, starb am 4. November 1891
in seiner Vaterstadt. Nachdem er orientalische Sprachen
studiert, bereiste er, unterstützt von der preußischen Regierung,
im Verein mit Koch 1843 bis 1844 den Orient. Früchte
seiner Reise waren die Abhandlung über „Die Sprache der
Lazcn" (Lemgo 1884) und die „Ossetische Grammatik"
(das. 1846). Er lvar dann Konsul in Jerusalem und Bel-
grad, bis er 1875 in den Ruhestand trat. Außer seinen
sprachlichen und geschichtlichen, den Orient betreffenden Ar-
beiten, lieferte er auch in der Zeitschrift der Deutschen Morgen-
ländischen Gesellschaft Beiträge zur Topographie Jerusalems
und die zur Kenntnis des Räubcrwesens in der Türkei
wichtige Schrift „Die Balkan-Haidukcn" (Leipzig 1878), in
welcher sich zahlreichcProben der bulgarischen Haidukcnpoesie
befinden.
— Die Nasen flöte. In dem Werke von Williams
„Fiji and the Fijians“ sieht man (voi. I, p. 163) eilt
Mädchen abgebildet, welches die Nasenflöte spielt. Solche
etwa 60 ein lauge, aus Bambusrohr bestehende, mit ein-
gebrannten Kreuzlinicn und Sternen verzierte Instrumente
finden sich jetzt genug in unsern Museen. Ganz ähnliche
Naseuflöten sind auch von den benachbarten Tongaiuscln be-
kannt. Man spielt diese mit fünf Schalllöchern versehenen
Flöten, indem man die Öffnung an das eine Nasenloch setzt
und hiueinbläst, während das andre mit dem Daumen der
einen Hand geschlossen wird.
Diese Inseln (und vielleicht noch einige andre in der
Südsee, über die uns augenblicklich die Belege fehlen) galten
als das hauptsächlichste Verbreitungsgebiet der Nasenflöte, die
aber auch von Borneo bekannt war. C. W. Plcyte Wzn
hat jetzt nachgewiesen (Do Indische Gids 1891, p. 1465),
daß das Hauptverbreitungsgebiet der Nasenflöte
jedoch im Malaiischen Archipel zu suchen ist.
A. B. Meyer bildet sie (Publikationen aus dem Königl.
Erdteilen.
Ethnogr. Museum in Dresden, 8. Teil, Tafel 14) von
Nordlnzon ab, Modigliani hat sie auf der Insel Rias bei
Sumatra gefunden; unter den Instrumenten der Punams
auf der Wasserscheide zwischen Mahakam und Kapuas in
Borneo ist die Nasenflöte vertreten; bei den heidnischen
Stämmen auf Celebes heißt sie Latowe, und wird von ver-
liebten Jünglingen bei Serenaden und von den Zauber-
Priestern bei Anrufung der Geister der Ahnen benutzt. Sehr-
verbreitet ist sie auf den Philippinen. Herr Pleyte hat nach
dieser Zusammenstellung recht, wenn er sagt, die Nasenflöte
sei viel mehr ein indonesisches als ein polynesischcs Musik-
instrument.
— Ostprcußische Lippowancr. Die amtliche Moh-
rnnger Kreiszeitung vom 23. April schreibt: In einer
Waldblöße der Johannisburger Forst liegen zwei ansehnliche
Dörfer, welche sich von den ärmlichen Dörfern Masnrens
vorteilhaft unterscheiden. Die Bewohner, Filipponcn oder
Lippowancr, sind ihrer Abstammung nach Russen, ihrer Reli-
gion nach Raskolniken (Ketzer, Abtrünnige) der griechisch-
orthodoxen Kirche, und wahrscheinlich Ende vorigen Jahr-
hunderts aus Rußland vertrieben und hier angesiedelt worden.
Sie scheren weder Haupt- noch Barthaar, genießen nur
gewisse Speisen und verschmähen Wein und Branntwein.
Sie leben streng zurückgezogen und zeichnen sich vor den
Masuren durch Fleiß und Ordnungsliebe aus, sind aber
fanatisch, abergläubisch, hegen Verachtung gegen das irdische
Leben und neigen infolgedessen zum Selbstmord. Es sind
schlanke, stattliche Leute im langen, blauen Rocke mit spitzen,
grauen Mützen, welche getzne Proselyten machen. Ihre
Rcligionsvorschriften sind meist geschrieben. Soweit der in
den Verhandlungen der Berliner Anthropologischen Gesell-
schaft 1891, S. 434 abgedruckte Bericht, dem wir hinzu-
fügen, daß cs auch in der Bukowina Lippowancr giebt.
Diese, etwa 3000 Seelen, hat F. v. Goehlert 1863 in der
Wiener Geographischen Gesellschaft geschildert. Sie sind von
1774 bis 1784 aus der Moldau und Bessarabien ein-
gewandert und gründeten fünf Ortschaften in der Bukowina.
Als Goehlert sie besuchte, hatten sie sich noch nicht zur An-
nahme bleibender Familiennamen bequemt, sie zerfielen in
zwei Sekten (priesterliche und pricstcrlosc) und gelten auch
als ehrliche, tüchtige Leute. Nach Goehlert gehörten sie zu
den Altgläubigen (Starowicrzen).
— Der Kuckuck spielt auf Madagaskar eine ähn-
liche Rolle im Volksglauben, wie bei uns und andern
Völkern. Es giebt dort 14 Arten, und wenn der blaue
Aus allen Erdteilen.
335
Kuckuck ruft, wird der Tag trübe und naß nach der Ansicht
der Howas. Am gewöhnlichsten ist der Kankafotra oder
grauköpfige Kuckuck, der, wenn die warme Jahreszeit naht, in
den höheren Regionen seinen Schrei Kau kau hören läßt, und
dieses ist für die Malgaschen ein Zeichen, mit der Bestellung
des Bodens für den Reisbau zu beginnen. Nach der Volks-
meinnng kündigt er auch den „Wechsel des Jahres" an.
Wie sein europäischer Better, legt er seine Eier in die Nester
andrer Vögel und läßt sie von diesen ansbrüten und auffüttern.
Kinderreime besingen diese Schmarotzercigenschaft des Kuckucks,
mit Anspielung darauf, daß er die Jungen eines Singvogels
(Cisticola madagascariensis) gern aus den: Neste wirst,
um für seine Eier Platz zu schaffen. Das Liedchen lautet:
Kao Kao Kukuk,
Tot ist der kleine Sänger,
Kao Kao Kukuk,
Ich begrub ihn schon gestern,
Kao Kao Kukuk,
Jetzt riecht er schon schlecht.
(Kolk Koro. Sept. 1891.)
— Vererbung des Zwergwuchses. Von Herrn Dr.
G. Busch an erhalten wir folgende Zuschrift: Gegenüber
der Angabe in dem Artikel „Zur Kenntnis des Zwerg-
wuchses" (oben S. 145), daß von einer Vererbung dieser
Anomalie keine Rede sein könne, gestatten Sie mir, zur Be-
richtigung auf einen Fall aufmerksam zu machen, der ans
der diesjährigen Anthropologenversammluug zu Danzig vor-
gestellt wurde. Aus der Ehe zwischen einem männlichen
Zwerge und einer normal gebauten Frau entsproßten eine
Anzahl Kinder, von denen eines gleichfalls Zwergwuchs aus-
wies. Die andern Kinder waren von normaler Große.
— Cliffdweller Behausungen, also altindianische
Klippcnwohnuugen, sind von dem Geologen Clement
L. Walker in bedeutender Anzahl in einer wüsten Gegend
der Mogollonberge, an den oberen Zuflüssen des Rio Gila
(Arizona), gefunden worden. Eines dieser Klippendorfer liegt
ans hohem Felsen an dem Canon eines Gilanebenstusses,
war sehr gut erhalten und bestand ans 28 Gemächern. Man
fand darin Stoffe aus Agavefaser, Weidengeflecht, Sandalen,
Schnüre, Federarbeiten, Zwirnknäule, Menschen- und Tier-
knochen, Steingcräte, große Mengen Mais, Bohnen, Topfe
und die vollständige Mumie eines Kindes, die eng in eine
Menge groben Stoffes aus Agavcgcwebe eingewickelt war.
— Die Omorika-Fichte der Balkanhalbinsel
(Picea Omorica) ist in pflanzcngcographischer Hinsicht eine
der interessantesten Bäume Europas, und erst seit 1876 durch
Pancic im südwestlichen Serbien bei Zaovina und Radiste
entdeckt. Wettstein hat sie im verflossenen Jahre auch in
Ostbosnien entdeckt und endlich ist sie bei Bellova im Rhodope-
gebirge gefunden worden. Es sind mithin zwei sehr kleine
Verbreitungsbezirke, auf denen dieser Baum vorkommt. Er
zeigt graugrüne Benadelung, sehr geraden, dünnen, weit hin-
auf astlosen Stamm und schmale, pyramidale Kronen. Bei
100- bis 120jährigen Bäumen fand Wettstein eine Hohe
von 32 bis 42 m, Stammdicke am Grunde 60 bis 70 cm;
Länge vom Boden bis zum untersten noch lebenden Aste
14 bis 18 m. Die Omorika gehört einer Artenreihe an, die
im östlichen Asien und westlichen Amerika heimisch ist
(P. Ajanensis und P. Glehnii), ist aber morphologisch mit
unsrer gemeinen Fichte verwandt. Die ausführlichen Unter-
suchungen von R. v. Wettstein über diesen Baum (Sitzungs-
berichte der Wiener Akademie der Wissenschaften 1890,
Bd. 99, S. 503) haben ergeben, daß derselbe einst eine
größere Verbreitung besessen haben muß und nun im Aus-
sterben begriffen ist; der Name Omorika ist noch weit auf
der Balkanhalbinsel bekannt, die Pflanze ist wenig lebens-
kräftig und wird auch ans ihren inselartig übrig gebliebenen
beiden Verbreitungsbezirken verschwinden. In der Tertiär-
zeit war sie einst stark verbreitet; in der interglaeialen
Höttinger Breeeie (Nordalpen) sind die Reste einer ihr ganz
nahestehenden Fichte gefunden worden und ebenso im Bern-
stein. Picea Omorica gehört einem Typus an, der im
Tertiär von Mitteleuropa bis Ostasien und der Nordwestküste
Amerikas verbreitet war. Die bedeutenden klimatischen Ver-
änderungen, welche am Ende der Tertiärzeit durch Ver-
gletscherung eines großen Teiles von Europa einerseits,
durch die Änderungen in der Gestaltung des Festlandes
andrerseits und endlich durch das Auftreten des osteuropäischen
Steppengebietes hervorgerufen wurde, bewirkten ein Aus-
sterben des tertiären Typus in Nord- und Mitteleuropa, wie
in Nord- und Mittelasien; als Reste derselben finden sich heute
noch Picea Omorica im südöstlichen Europa, P. Ajanensis
in Ostasien und P. Sitkaensis in Nordwestamerika.
— Die Pferdeplage in Queensland. Ein einiger-
maßen brauchbares Pferd kostet bei uns immer noch ein
paar Hundert Mark und es hat beim Roßschlachter noch
immer seinen Wert, wenn es zur Arbeit untüchtig geworden
ist. In Queensland, Australien, sind die Pferde aber zu
einer Plage geworden und eben jetzt ist ein Gesetz in Be-
ratung, welches die Hengste hoch besteuert, damit der massen-
haften Vermehrung Einhalt gethan werde. In Brisbane
erzielen gewöhnliche Pferde ans dem Innern jetzt nur noch
einen Preis von etwa 7 bis 8 Mark das Stück.
Einst freilich, als die Kolonieen sich zu entwickeln be-
gannen, standen Pferde dort hoch im Preise. Man brauchte
sie in den Goldfeldern und in der Zuckerindustrie und wer
Land besaß, begann Pferde zu züchten, die nach dem Innern
gingen. Die Znckerindustrie ist im Verfall, die Goldfelder
sind stationär und da, wo man sonst Pferde einführte, züchtet
man sie selbst massenhaft. Das ganze Land ist mit unver-
käuflichen Pferden überfüllt, die nicht wie Schafe und Rind-
vieh gegessen werden. Eine große Leimfabrik, die zur Ver-
wertung der Pferde erbaut wurde, machte bankerott, nachdem
sie 50000 Stück verarbeitet hatte.
Das Pferd ist in seinem halbwilden Zustande im Innern
geradezu zur Plage geworden und wird dort mit 40 bis
50 Mark das Dutzend verkauft. Im Innern von Neu-
südwales hat man einfach durch Erschießen sich von der
Plage befreit. Am Barronflnsse wurden innerhalb der letzten
beiden Jahre 50000 bis 60000 Stück erschossen. Queensland
hat seine Marsupials Destruction Act, das zur Vernichtung
der Kängurus erlassene Gesetz; aber die Haut dieser Tiere
bringt in Brisbane noch immer 12 Mark das Stück, was
bei Pferden nicht der Fall ist. Man stellte Berechnungen
an, ob nicht die Verschiffung nach Kalifornien möglich sei,
aber 30 Dollars Eingangszoll macht dies unmöglich.
— Die Ethnographie des afrikanischen Osthorns
ist von Prof. Ph. Panlitschke in einer wichtigen Abhand-
lung (Mitt. d. Wiener Geogr. Ges., Bd. 34, S. 468, 1891)
klargestellt worden, wenigstens so weit dieses nach Maßgabe
der bisherigen Forschungen möglich ist. Beigegeben ist eine
Karte im großen Maßstabe von 1:4000000, auf welcher
der Verbreitungsbezirk der. Gallavölker vom nordöstlichen
Abessinien bis nach Mombas hin, nebst deren zahlreichen
Unterabteilungen ersichtlich ist, an welche sich dann nach Osten
hin die Somal anschließen. „Die Semiten" im Norden, also
die Äthiopier, sind von der Karte ausgeschlossen und mit
Recht hebt Panlitschke hervor, daß der hamitische Typus hier
vorherrsche, wiewohl eine semitische Sprache gilt. In dieser
336
Aus allen Erdteilen.
Hinsicht erkennen wir Robert Hartmanns Untersuchungen
(in seinen Nigritiern, I) immer noch als maßgebend an, welcher
Semiten dem Körper nach nur in sehr verdünntem Maße in
Abessinien annimmt. Getrennt von den Somal führt
Paulitschke am Abfall der abessinischen Gebirge bis zum
Meere die Danakil (Afar) an, deren zahlreiche Stämme er
einschreibt. Mischungen und eingesprengte, oder auf alter
Lagerstätte verbliebene Volksreste sind neben den drei Haupt-
abteilungen durch besondere Farben bezeichnet. Von Belang
sind die Nebenkärtchen, deren eines das Vordringen des
Islam und die christliche Insel Abessiniens zeigt, ein andres
die Verbreitung der hamitischen Physis, zum Teil in In-
kongruenz mit der Sprache darstellt. Auf dem Kärtchen die
Völkerablagerung vor 400 Jahren, wird das Vordringen der
Somal und Zurückweichen der Galla und Äthiopier sofort
sichtbar.
Die wichtige Abhandlung des Herrn Paulitschke ist leider
durch ein Übermaß entbehrlicher Fremdwörter nicht zu ihrem
Vorteil ausgezeichnet. A.
— Aberglauben der Javanen. Vor dem Landraad
zu K., Resideutie Surabaya, wurde nach dem „Surabayasch
Handelsblad" folgende Sache verhandelt, wobei 24 Zeugen,
deren Erklärungen übereinstimmten, und zwei Angeklagte ver-
hört wurden.
Die zwei Angeklagten hatten vorgegeben, in Beziehung zu
stehen zu Njai Blorrong, einem weiblichen Geiste, welcher
in einer Wasserleitung H wohnte, und sowohl den Willen als
die Macht hatte, Menschen, welche dieses verlangten, reich zu
machen. Die Zeugen hatten diese Mitteilung geglaubt und
sich zum ersten Angeklagten begeben. Nachdem sie einige
Zeit in seiner Wohnung verblieben waren, wurden sie abends
gegen zehn Uhr nach der Wasserleitung gebracht, wo sie, wie
sie sagten, nichts sahen, aber wohl etwas hörten.
Eine Stimme, die aus der Wasserleitung kam, fragte:
„Rono (dies war der Name des ersten Angeklagten), was
willst du von mir!" Rono erwiderte: „Eure Kinder und
Enkel sind hier zusammengekommen, um Reichtum von Ihnen,
Njai Blorrong, zu erbitten."
Njai Blorrong: „Es ist gut, aber sage ihnen, daß ich
ihnen wohl Reichtum geben kann und es auch gern thun
will; aber diejenigen, welche Reichtum von mir empfangen,
können nur noch zwölf Jahre leben. Jedoch es giebt ein
Mittel, um auch ein längeres Leben zu erlangen; sie müssen
mir 20 oder 30 Gulden opfern." Dies geschah, das Geld
wurde dem ersten Angeklagten übergeben, der es nun (nach
seiner Aussage) der Njai Blorrong opferte, indem er es ins
Wasser warf.
Nach Ablauf dieser Zeremonie gab der erste Angeklagte
jedem ein silbernes Geldstück, wobei er bemerkte, daß dies ein
Talisman sei von Njai Blorrong, den sie gut aufbewahren
und beweihräuchern müßten, damit es sich vermehrte. Deshalb
werde jeden Freitag Njai Blorrong zu ihnen auf Besuch
kommen.
Um sie in passender Weise empfangen zu können, müßte
eine Mahlzeit bereitet werden von Blohok (Reissuppc mit
Zucker), Pisaug, Rudjak degen (junge Kokosnuß mit Zucker),
javanischer Zucker oder Ampo (eßbare Erde, welche gebacken
wird). Blumen und Benzoe zum Räuchern dürften dabei
nicht fehlen. Die Zeugen befolgten auch diese Anordnungen,
aber Njai Blorrong erschien nicht; statt ihrer aber die Polizei,
welche sich der Sache angenommen hatte. Njai Blorrong
wurde aufgesucht und entdeckt in der Gestalt der zweiten An-
J) Offene, ziemlich breite Kanäle, welche zur Bewässerung
der Reisfelder dienen.
geklagten, welche sich in der Wasserleitung versteckt hatte.
Sie und ihre Handlanger wurden verhaftet und zu drei
Jahren Zwangsarbeit verurteilt.
— Neue romanische geographische und ethno-
graphische Litteratur. Als Grundlage für Namenkunde
und Ortsgeschichte der einzelnen Distrikte Romäniens giebt
die Geographische Gesellschaft in Bukarest sehr ausführliche
Ortsverzeichnisse heraus, von denen bis jetzt diejenigen der
Distrikte Arges von Lohovari, Jassy von Chirita, Romanati
von Locusteanu, Tutova von Condrea und Vasluiu von
Chirita erschienen sind. Die topographische Sektion des
romänischen Gcueralstabes unter General Falcoiann, veröffent-
lichte eine aus 60 Blättern bestehende Karte der Dobrudscha
in 1: 50000, die auch in vier Blättern verkleinert (1:200000)
erschienen ist. Oberst Bratiauu behandelte in den Mit-
teilungen der Romänischen Geographischen Gesellschaft (1888)
die älteren romänischen und österreichischen Karten des Landes.
Joannescu-Gion schrieb in derselben Zeitschrift über die
ältesten Karten Romäniens. Die geologische Karte, welche
die geologische Landesanstalt heransgiebt, ist unter Stefanescns
Leitung bis Blatt 24 vorgeschritten. Nicht ohne Interesse
ist die Reisebeschreibung Milescus von Tobolsk nach China,
die 1675 im Aufträge des russischen Zaren Alexis Michailowitsch
ausgeführt und jetzt von der romänischen Akademie veröffent-
licht wurde.
Sehr rührig ist man in Romäuien auf dem Gebiete der
Volkskunde. Mangiuca handelte über die Colinda, Weihnachts-
lieder und deren astronomische Bedeutung; Thcodorescu gab
eine reiche Sammlung dieser Colindcu heraus (Bukarest 1885,
719 Seiten) und ebenso befaßte sich Prof. Sbiera in Czeruo-
witz mit diesen mythologisch-christlichen Hymnen (Czernowitz
1888, Erzbischöfliche Druckerei, 109 Seiten), die au ver-
schiedenen Festtagen von Haus zu Hans gesungen werden.
Die romänischen Volksexorzismen bilden einen besonderen
Zweig der Volkspoesie, der wegen der altertümlichen Sprach-
formen und des darin enthaltenen Volksglaubens Beachtung
verdiente. Einige sind eigentliche Zauberformeln (incanta-
tiones), andre haben nur den Zweck, die schlechten Wirkungen
des Zaubers zu vernichten. Darum heißen die Excorzismen
Descantece; sie sind in einer besonderen Sammlung auf Kosten
der Akademie von Prof. Marianu herausgegeben worden.
Demselben eifrigen Forscher verdanken wir eine zweibändige
Ornithologia porporona, ein Werk, welches alle auf die
Vögel bezüglichen Legenden und Lieder bringt. Bnrada hat
sich mit den Volksgebräuchen bei Begräbnissen befaßt und die
Klagelieder gesammelt. Von Märchensammlungen aus neuer
Zeit liegen jene Jspirescus, Sbieras und Reteganuls vor.
— Eine archäologische Karte von Java. Die Ver-
handlungen der Bataviaschen Gesellschaft für Künste und
Wissenschaften (Teil 46) enthält eine Liste der vornehmsten
Überbleibsel aus der Hiuduzeit auf Java, nebst einer archäolo-
gischen Karte, welche die Lage der Fundorte von Tempelruinen,
Statuen re. andeutet. Die Karte ist zweiteilig. Der erste
Teil, drei Bogen, umfaßt West- uub Mitteljava, der zweite,
zwei Bogen, Ostjava mit einer Spezialkarte des Dieng-
plateaus und Prambanan.
Beide Werke, Liste und Karte, wurden zusammengestellt
von Herrn Dr. R. D. M. Verb eck, einem in der indo-
nesischen Litteratur schon ausgezeichnet bekannten Ingenieur.
Eine wahre Lücke wird hiermit ausgefüllt. Denn auf den
meisten bisherigen Karten war es nicht möglich, die genaueren
Stellen, wo Altertümer vorkamen, aufzufinden. Wünschens-
wert ist es auch, daß für die andern Inseln des Malaiischen
Archipels ähnliche Karten entworfen werden. P.
Herausgeber: Dr. R. Audree in Heidelberg, Leopoldstraße 27. Druck von Friedrich Vieweg und Sohn in Braunschweig.
Hierzu eine Beilage von Dietrich Reimer (Höfer und Vohsen) in Berlin.
Bd. LX.
Nr. 22.
Begründet 1862
von
Karl A irdre e.
Druck un b ^ ex Cet g
Herausgegeben
von
Richard Andree.
örich Hkieweg & Sohn.
m r rt it it f rii hi i» t it Jährlich 2 Bände in 24 Nummern. Durch alle Buchhandlungen und Postanstalten 1891»
fO l U U u ] u) U) e l g» zum Preise von 12 Mark sür den Band zu beziehen.
Die Nurhagen Sardiniens.
Von Dr. Lrmling.
Die Abbildung des öfter erwähnten Nurhagens von
Torralba stellt einen recht guten Durchschnittstypus dieser
Baulichkeiten dar, die ich aber keineswegs mit dem noch
immer geläufigen Ausdruck „rätselhaft" belegen möchte;
wenigstens nicht, was ihre Bestimmung betrifft, wenn auch
die Erbauer uns für alle Zeiten unbekannt bleiben dürften.
Der Vergleich hilft hier wenig und einzig und allein die
Talayots l) aus den Balearen (Menorca), welche den Nur-
hagen sehr ähnlich sind, können hier herangezogen werden.
Bei der geographischen Nachbarschaft Sardiniens und der
Balearen ist es wohl zulässig, auf ein und dasselbe Volk
zu schließen, welches dort die Nurhagen, hier die Talayots
erbaute.
Wenn ich das Wort „rätselhaft" bezüglich der Be-
stimmung dieser noch in sehr großer Anzahl vorhandenen
prähistorischen Bauten ablehne, so geschieht das mit Rück-
sicht auf die nun schon vor fast 40 Jahren erschienene
Arbeit des verstorbenen Kanonikus Spano, des am meisten
um die Archäologie der Insel verdienten Mannes, mit der
ich die Frage nach der Bestimmung der Nurhagen für
abgeschlossen erachte. Seine Schrift: Memoria sopra i
Nurhagi di Sai’degua (1. Auflage, Eagliari, 1854) ist
immer noch das Beste und Vollständigste was wir über
diese vorgeschichtlichen Bauten besitzen und von allen Späteren
mehr oder minder stark benutzt worden.
Die Beschäftigung mit den Nnrhagen und die falsche
Deutung derselben begann bereits im 17. Jahrhundert,
als der Jesuit Giacomo Pintns in einem 1644 zu Lyon
veröffentlichten Werke sie für Gräber der alten Bewohner
Sardiniens ausgab, die etwa nach Art der Pyramiden für
hervorragende Könige, Helden u. dcrgl. errichtet wurden.
Seitdem hat die Gräbertheorie fortgespukt, nur mit dem
Unterschiede, daß bald Griechen, Tyrrhcner, Thermier,
Karthager, Etrusker, Ägypter, sogar Kanaaniter darin
bestattet fein sollten. Man sieht, cs fehlt nicht an Aus- i)
i) Über diese vergi. Globus, Bd. 59, S. 230. Der Heraus-
geber.
Globus LX. Nr. 22.
wähl und der eine Autor hatte so gute Gründe wie der
andre H.
Neuerdings hat Dr. Gillebert d'Hercourt, welcher
Sardinien bereiste (Société d’Anthropologie de Paris,
20. April 1882), wieder eine Theorie hervorgeholt, welche
übrigens nicht neu, sondern schon vor langer Zeit von einem
Sardinier, Giampaolo Nurra, vertreten worden war. Nach
ihm sind die Nurhagen von den Einwohnern erbaut worden,
um im Falle unvorhergesehener Angriffe Zufluchtsstätten zu
besitzen für sich und ihre Herden, namentlich aber um als
Signaltürme, Semaphoren zu dienen, von denen man sich
im Falle von Angriffen Zeichen telegraphischer Art geben
konnte. Gegen Gillebert d'Hercourt kann aber derselbe Ein-
wand gelten, den man bereits vor langer Zeit feinem Vorgänger
Nurra machte, nämlich, daß die Nurhagen haufenweise bei
einander stehen und zwar fast alle im Innern der Insel
und nur sehr wenige am Meere, von wo aus man doch,
im Falle eines feindlichen Einbruches, „telegraphiert" haben
müßte.
Dagegen haben andre sich Spanos Ansichten angeschlossen,
so Freiherr von Maltzan in seiner bekannten „Reise ans
der Insel Sardinien" (Leipzig 1869).
Die Nurhagen waren nach Spano einfach Wohnstätten
und Zufluchtsorte der ältesten Bewohner Sardiniens; sic
folgten, dafür spricht ihr cyklopischcr Bau, gleich ans die
Zeit der Troglodytcn, denn an alten Höhlenwohnungcn ist
ans Sardinien kein Mangel, namentlich im tertiären Kalk-
stein, der teils natürliche Grotten bot, teils leicht bearbeitet,
beziehungsweise erweitert werden konnte. Das Bedürfnis
des gemeinschaftlichen Wohnens führte die alten Sardinier
0 Man vergleiche hierzu folgende, jetzt allerdings überholte
Schriften: Mim aut, La Sardaigne ancienne et moderne,
•- ----- „„„ AT._i______’
Bresciani, Costumi di Sardegna, Neapel 1850. Alle er-
kennen die Nurhagcn für Gräber und ebenso La Marmorn
in seinem großen Werke.
43
338
Dr. Ermling: Die Nurhagen Sardiniens.
zusammen und so errichteten sie die gruppenweise bei einander
vorkommenden Nurhagen. Sie liegen fast durchweg in den
fruchtbarsten Gegenden, die Gruppen meist getrennt von-
einander durch weite und gewöhnlich unfruchtbare Land-
striche. Spano hat einige Hundert Nurhagengruppen, gleich-
sam Nurhagenstädte, nachgewiesen, deren wichtigsten die von
Macomer, Torralba, Bonorva, Iglesias, Paulilatino sind.
Sie alle liegen in sehr fruchtbaren Landstrichen, nur die
Gruppe von Nurra in einer unfruchtbaren Gegend.
Daß die Nurhagen nicht Gräber sein konnten, ergiebt
sich vor allem daraus, daß in ihnen keine Skelette, keine
Reste von Leichenbrand gefunden wurden. Allerdings sind
in seltenen Fällen dieselben zu Bestattungen benutzt worden,
aber dann ließ sich mit Sicherheit nachweisen, daß die
Leiche einer weit späteren Zeit angehört und lange nach der
Erbauung des von den früheren Bewohnern verlassenen
Nurhag dort beigesetzt wurde. So z. B. in dem Nurhag
von Jselle bei Bono. Die Grabbeigaben, ein Eber aus
Bronze, Ringe, deuteten aus eine spätere Epoche, etwa auf
die karthagische Zeit und standen in keiner Beziehung zu
dem Bau selbst. Neuerdings ist durch Hirten in der 8a
bidda de sa budde genannten Lokalität, inmitten von
vier Nurhagen in der Nähe von Tcti, ein Depotfund von
Bronzegegenständen gemacht worden, die in das Museum
des Herrn Gouin in Cagliari gelangten. Unter den Resten
eines dieser Nurhagen zog sich ein mit Asphalt verschlossener
Graben hin und darin fand man verschiedene kleine Bild-
werke, Schwerter, Lanzenspitzcn, Bronzebeile und einige
Nurhagen von Torralba (Sardinien). Nack) einer Photographie.
Kupfer- und Bleikuchen. Herr Gouin, ein Franzose, der
schon lange auf Sardinien lebt, hat die Gegenstände analy-
sieren lassen und bei den kleinen Statuetten eine andre Zu-
sammensetzung der Bronze als bei den Beilen gesunden.
Die Statuetten bestanden aus Kupfer 90,3, Zinn 7,4 und
Eisen 2,1. Die Beile aus Kupfer 87,4, Zinn 12,0,
Blei 0,5 und Eisenspuren.
Gegen die Annahme, die Nurhagen seien Grabstätten
gewesen, spricht ferner: Sardinien ist überreich an Gräbern
aus der Steinzeit, die „Riesengräber" des Volkes, die meist
mit einfachen Monolithen versehcü sind oder nach Art des
Cromlechs hergestellt wurden. Dieses waren die Gräber
der alten Sardinier, nicht die Nurhagen.
Sehen wir uns nun die Beschaffenheit der Nurhagen
näher an, wobei wir zunächst die einfachste Form derselben
betrachten wollen. Die Nurhagen sind massive Gebäude
von abgestumpfter Kegclform und ohne Mörtel oder andres
Bindematerial aus gewaltigen Steinblöcken errichtet, die in
regelmäßigen und horizontalen Schichten übereinander auf-
getürmt sind, ohne die Spuren von Bearbeitung zu zeigen.
Das Innere besteht aus ein, zwei, sehr selten drei über-
einander liegenden Kammern, so daß der Nurhagen ein bis
drei Stockwerke zeigt oder zeigen kann. Die unterste Kammer
ist gewöhnlich die höchste und hat durchschnittlich eine Breite
von 5 in bei 7 m Höhe. Diese Kammern sind von eiförmigem
Durchschnitt; la Marmorn hat Recht, wenn er sie mit einem
der Länge nach durchschnittenen Ei vergleicht. Oben endigen
die Nurhagen in einer Terrasse. Die Eingangsthür unten
ist stets äußerst niedrig und ich habe beim Besuche des
Innern der Nurhagen mich, um hineiuzugelangen, nicht nur
stets tief bücken müssen, sondern ich war wiederholt gezwungen,
geradezu hineinzukriechen. Ein spiralförmiger Korridor, der
Friedrich v. Hellwald: Die „Gleichheit" der Menschen im Lichte der Wissenschaft.
339
anfangs wagerecht verläuft und in dem massiven Mauer-
werk ausgespart ist, führt nach der ersten Kammer hinauf
und dann weiter nach den oberen, falls solche vorhanden
sind. Statt des einfachen Ganges findet man oft ebenso
roh konstruierte Treppen. In jeder Kammer sieht man
zwei, auch drei in das Mauerwerk einge-
lassene Nischen; als etwaige Schlafstätten
können dieselben nicht gedient haben,
denn sie sind zu klein, um den Körper
eines Menschen aufnehmen zu können.
Das Innere der Nurhagen ist düster,
denn meist füllt das Licht nur von unten
durch die niedrige Thür, oder von oben,
von der Terrasse her, wo die Treppe
endigt, ein; aber in die Kammern selbst
dringt dieses wenige Licht kaum und so
ist man genötigt, beim Besuche des
Innern Kerzen anzuzünden. Der bei-
gegcbcnc Grundriß und Durchschnitt des
Nurhagens von Santinn bei Torralba
macht die eben gegebene Beschreibung
deutlicher.
Gewiß war das Wohnen in einem
solchen Gebäude nicht angenehm. Fenster
und Rauchfänge fehlen. Bei einzelnen
Nurhagen hat man anch Cisternen ent-
deckt, durch welche die Frage, woher die
Bewohner ihr Wasser nahmen, gelöst
wird; dabei fand man die Bruchstücke sehr-
roher Thongefäße. Daß diese Wohntürme, wie man die
Nurhagen auch nennen kann, gut zu Berteidigungszweckcn
dienten, liegt auf der Hand. Man brauchte bloß die kleine
Thür zu vermauern und war vor Verfolgung sicher. Die
Größe der Nurhagen ist sehr verschieden und einzelne dienten
für hundert und mehr Menschen zum Aufenthalt. Der von
v. Maltzan besuchte Nurhag von Santa Barbara bei Ma-
comer „besaß einen Saal im Erdgeschoß von so großartigen
Verhältnissen, daß er gewiß hundert Menschen zu beherbergen
vermochte".
Wie schon bemerkt, liegen die Nurhagen selten vereinzelt,
gewöhnlich aber in Gruppen zusammen, meist zu drei und
fünf und sehr oft sind dieselben noch mit gemeinsamen,
einfachen oder doppelten Umwallungen
umgeben, von denen noch die Reste nach-
weisbar sind. Es hat viel Kraft und
Geschicklichkeit dazu gehört, um diese
Nurhagen zu errichten, deren Gesamt-
zahl auf Sardinien zu 3000 und mehr-
angegeben wird. Die Regelmäßigkeit
ihrer Form, die Wölbung der Kammern
deuten darauf hin, daß die Erbauer über
die ersten Kulturstufen bereits hinaus
waren. In ihrer Nähe findet man stets
Gräber, und wenn die alten Sardinicr
außer diesen Stcinbauten noch andre
Wohnstätten einfacher Art besaßen, so
sind diese jetzt verschwunden; sie lagen
dann wohl im Schutze der Nurhagen, die
den Umwohnern Zuflucht gewährten.
Außer den einfachen, hier abgebil-
deten Nurhagen gab cs aber auch zu-
sammengesetzte, bei denen sich um ein
höheres, dreistöckiges Hauptgebäude ver-
schiedene kleinere mit ihren durch Gänge
und Treppen verbundene Nurhagen mit
nur einem Erdgeschosse gruppierten. Da-
hin gehört der jetzt zerstörte Nurhagen von Orcu, den la
Marmorn in den zwanziger Jahren noch sah und anch in
seinem bekannten Werke abbildete.
Als Erbauer sind so ziemlich alle Mittelmeervölker der
alten Zeit nacheinander mit rechten und schlechten Gründen
aufgeführt worden. Wir wissen darüber nichts, und da
ist cs das Einfachste, die Nurhagen den „Urbewohnern"
Sardiniens zuzuschreiben.
Nurhagen im Grundriß und
Durchschnitt.
Die „Gleichheit" der Menschen im Lichte der Wissenschaft.
von Friedrich v. Hellwald.
Eine junge, richtiger gesagt jugendliche Wissenschaft ist
die Gesellschaftslehre, wie das Fremdwort Soziologie viel-
leicht am passendsten zu übersetzen ist. Gallische Denker
nennen sie mitunter auch Science politique. Ungeachtet
ihrer Jugend, ruht doch dieser Wissenszweig schon auf festen
Grundlagen und seine Forschungsergebnisse besitzen Anspruch
auf die höchste Beachtung. Britische und französische Denker
und Forscher, Herbert Spencer, Francis Galion, der Schweizer
De Candolle, die Franzosen Dr. Charles Letourneau, De la
Pongc u. A. sind die Schöpfer des neuen Wissenzweiges, von
dem die deutsche Gelehrtenwelt vorerst bloß einige Kenntnis
genommen hat. Sein Ziel ist kein geringeres als die allge-
meinen Forschungen und Gesetze aufzudecken, wonach die
Entwickelung der Menschheit sich bisher vollzogen hat und
auch künftighin sich vollziehen wird. Die Soziologie ist
demnach jene Wissenschaft, welche die Äußerungen des mensch-
lichen Gesamtlebens ergründet und dessen Gesetzen nach-
spürt. Sie umfaßt also zunächst die Völkerkunde, das Studium
der einzelnen Völker in bezug sotvohl auf die physische Natur
als auf die Sitten, und zwar im ganzen wie in den Einzel-
bestandteilen eines jeden von ihnen. Sie umfaßt ferner die
Geschichte in: modernen Sinne dieses Wortes mit all deren
Hilfswissenschaften, wie Altertumskunde, Statistik u. s. w.
Insbesondere umfaßt sie endlich das vergleichende Studium
der Einrichtungen und Religionen mit Einschluß der Theo-
logie und Gesetzgebungen der Gegenwart. In solcher Um-
grenzung ist das Feld der Gcsellschaftslehre schon unermeßlich,
wollte ich es aber erschöpfen, so müßte ich es noch viel weiter,
ausdehnen. Natürlich gehört ihm ausnahmslos alles an,
was die Entwickelung der Gesellschaften betrifft.
Nach dem Vorangesandtcn wird cs begreiflich, daß die
Gesellschaftslehre erst entstehen konnte, nachdem die Be-
dingungen der Entwickelung, die Gesetze der Vererbung,
des Atavismus, des Rückschlages und der Erzeugung, d. h.
also, nachdem die von Darwin begründete Umbildungs- und
Entwickelungslehre mit allem, was drum und dran hängt,
bekannt geworden war. Aufs innigste ist die neue Disziplin
anch verwachsen mit dem ebenso jugendlichen Aufblühen der
Anthropologie, welche seither schon die reichsten Früchte ge-
trieben hat. Die Anthropologie in ihrer heutigen Gestalt ist
es, welche im Vereine mit den urgeschichtlichen Forschungen
und den Lehren der Biologie die Grundlage zu unsrer
43*
340
Friedrich v. Hellwald: Die „Gleichheit" der Menschen im Lichte der Wissenschaft.
Kenntnis der mannigfaltigen Menschenrassen und Völker der
Erde, sowie deren Vergangenheit bildet. Freilich muß mit
manchem alten Wahne aufgeräumt werden, in erster Reihe
mit den hergebrachten Anschauungen über die Verwandtschaft
der europäischen Nationen. Hier hatte bekanntlich die Ent-
deckung der nahen Verwandtschaft zwischen den Sprachen der
meisten Europäer und jenen mancher Völker Asiens, insbe-
sondere der Perser und Hindu, zur Annahme auch einer be-
sonderen Rasse, der sogenannten Arier, geführt. Nun ist aber
alles dies, wie schon der treffliche italienische Anthropologe
Paolo Mantcgazza bemerkte, nichts als ein geschichtlicher
Roman, schön, poetisch, verführerisch, aber doch eben bloß
ein Roman. Sprachverwandtschaft beweist nämlich nichts,
gar nichts für Blutsverwandtschaft. Es giebt keine indo-
germanische Rasse, keine arischen Völker. Die Nationen,
welche indogermanische Sprachen reden, sind, wie sich ergeben
hat, sehr verschiedenartigen Ursprungs und untereinander
kaum oder gar nicht verwandt. Nichts als bloße Sprach-
ähnlichkeit herrscht zwischen Anglosachsen und Deutschen, zwischen
Portugiesen und Franzosen. Wir kennen überhaupt kaum ein
Volk von wirklich reiner Rasse oder das man dafür halten
könnte. Im allgemeinen sind alle Völker, nicht bloß unseres
Erdteiles, Zusammenballungen von Menschen mehr oder weniger
homogener, oft aber auch sehr heterogener Rasse. Überall, in
jedem Volke begegnet man den abweichendsten Körpertypen:
wie Kurz- und Langköpfen, dunkelhaarigen und blonden mit
allen erdenklichen Zwischenstufen. Von einer Einheitlichkeit
des Typus, der Rasse, ist nirgends die Spur. Je nach dem
Lebensraume gestaltet sich vielmehr das Geschick der einzelnen
Typen. So ist z. B. in Frankreich das blonde Element erdrückt
worden. Sehr zahlreich noch in gallischer Zeit, hat es stetig
abgenommen und sich nur noch in den Familien der Aristokratie,
sowie in gewissen Bevölkerungskreisen erhalten. Sonst ist es
heute fast ausgemerzt durch das Vorwiegen des dunklen
kurzköpfigen Typus bei den Kreuzungen und Dank den Wir-
kungen des Lebensraumes, welcher eben die Kurzköpfigcn be-
günstigt. Das gerade Gegenteil hat sich in England ereignet
und die Kurzköpfe von ehemals sind dort beinahe ver-
schwunden. Der unbewußte Kampf der Rassen erklärt fast
die ganze Geschichte der beiden genannten Länder. Auf
einem gewissen Schauplatze und unter andern Bedingungen
ist dieser nämliche Wettkampf den Blonden günstig, und die
militärische und wirtschaftliche Oberherrschaft ruht in den
Händen der blonden Langköpfe Norddeutschlands, Englands
sowie der Vereinigten Staaten.
Wie die Anthropologie in dem hier näher erörterten
Falle, so haben nun die mit ihr enge verbundenen und ver-
bündeten Wissenszweige die angeblichen Grundlagen der ge-
sellschaftlichen Einrichtungen rasch hinweggespült und als
tausendjährige Illusionen und Irrtümer, die nur vorgeblich
ans gesunden Menschenverstand sich stützen, aufgezeigt. Und
ebenso verschwinden die aprioristischen Prinzipien der Sozial-
wisscnschaft vor dem ausdrücklichen Widerspruche der biolo-
gischen Forschungen und Entdeckungen. So ist eine auf das
Gewissen allein sich aufbauende Moral unerträglich mit der
nunmehr gewonnenen Erkenntnis, wonach die moralischen
Ideen nachgewiesenermaßen durch andauernden, fortgesetzten
Zwang und Vererbung erworben werden. An dem Ge-
wissen haben wir das Ergebnis der Kulturarbeit von Jahr-
tausenden zu achten, es ist aber nichts als eine besondere
Form des Instinktes, und der Instinkt wiederum bloß eine
vererbte Gewohnheit. Damit erklären sich sehr einfach die
oft so widerspruchsvollen Gewissensvorschriften bei verschiedenen
Rassen, deren Entwickelung eben inmitten verschiedener Lebens-
räume sich vollzog. Unsre gesamten Moral- und Rechts-
begriffe verdanken wir den Umständen, welche die Entwickelung
unsrer Voreltern bedingt haben, und selbst jene gesellschaft-
lichen Satzungen, welche öffentliche Meinung und Gesetz am
strengsten billigen, haben an sich doch nur genau den Wert
der Regeln in einem Kartenspiele.
Diese Sätze, Ergebnisse der vergleichenden Forschung, stehen
in schroffem Widerspruche zu einer Menge herkömmlicher,
teils alter, teils jüngerer Meinungen, welche der Mehrzahl
unsrer Vorurteile in politischen und- gesellschaftlichen Dingen
zu Grunde liegen. Dazu gehört in erster Reihe die Lehre
von der Gleichheit der Menschen. „Freiheit, Gleichheit und
Brüderlichkeit", dies die drei großen Worte, mit welchen vor
einem Jahrhundert die gewaltige französische Revolution sich
als Befreierin der Gesellschaft von jahrtausendelangem
Sklavenjoche anpries, die Worte, welche seither als Evange-
lium durch die Welt rollen, die Worte, deren erstes unser
Schiller in einem begeisterten Gedichte verherrlicht hat und
von welchem er urteilt:
„Dem Menschen ist nimmer sein Wert geraubt,
„So lang er noch an die drei Worte glaubt."
Das Dogma von der Gleichheit der Menschen, womit
gemeiniglich deren Gleichwertigkeit gemeint ist, zu bestreiten,
dazu gehört immerhin nicht wenig Kühnheit, seltsamerweise
geschieht es aber, und zwar in nachdrücklichster Weise, eben
in dem Lande selbst, welches diese Lehre geboren und am
heftigsten in die Welt geschleudert hat. Gewiß ist es über-
raschend, daß eben in Frankreich, im republikanischen Frank-
reich unsrer Tage, die neue Soziologenschule erstehen und er-
wachsen konnte, welche dagegen die vernichtendsten Gründe
ins Treffen führt. Die Meinung, alle Menschen seien ein-
ander gleich, ist metaphysischen wie auch mystischen Ursprungs.
Metaphysisch begegnet man ihr, wenn auch ein wenig ver-
worren, schon in der antiken Philosophie; sie ist eine uralte
Vorstellung, jedenfalls weit älter als das Christentum. Mit
diesem aber hat sie sich mystisch in dem Grade ausgebildet,
daß sie geradezu in der christlichen Lehre sich verkörpert.
Danach sind alle Menschen Geschöpfe desselben Gottes, der
sie ans dem nämlichen Erdenkloß geformt hat, alle Nach-
kommen desselben Paares, alle den gleichen göttlichen Vor-
schriften unterworfen, alle zum ewigen Leben berufen!
Sklaven und Könige, Reiche und Bettler, sie werden die-
selbe Hymne zu Ehren des Schöpfers anstimmen oder im
nämlichen Kessel höllische Qualen erdulden. Dies das christ-
liche Dogma. Weiter lehrte der Erlöser, daß alle Menschen
gleich und Brüder seien; er hat sogar hinzugefügt, daß die
Ersten die Letzten und die Letzten die Ersten sein werden.
Endlich hat er auch gesagt, daß, wer des Schwertes sich be-
diene, durch das Schwert umkommen werde, und gründete
seine erhabene Lehre ausschließlich ans die Milde. Die
wissenschaftlich unzulänglich gebildeten Denker des verflossenen
Jahrhunderts, welche die französische Revolution einleiteten
und vorbereiteten, fanden nun für gut, den Heiland zwar zu
entthronen, zugleich aber, widerspruchsvoll genug, alle dem
Christentum entquellenden, gesellschaftlichen und politischen
Folgerungen anzunehmen und beizubehalten.
In der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts be-
herrschte nämlich eine ganz eigene Gemütsstimmung, die
niemand treffender als unser Altmeister Oskar Peschcl in
wenigen Worten zusammengefaßt hat, das denkende Europa.
Eine Art von Zivilisationsekcl, sagt er, ein inneres Miß-
behagen, ein Trübsinn, von dem man sich nicht Rechenschaft
geben konnte, hatte sich der besten Köpfe in Deutschland, Eng-
land und Frankreich bemächtigt und trieb sic hinaus aus der
Wirklichkeit in eine Welt voll ungesunder Ideale. Diese
eigentümliche Gemüthskrankheit spiegelt sich ab in den Schriften
I. I. Rousseans, sie kam teilweise zum Vorschein in manchen
politischen Regungen bei der Befreiung der Vereinigten
Staaten Amerikas, sie wirkte fort in den blutigen Schwärme-
Friedrich v. Hellwald: Die „Gleichheit" der Menschen im Lichte der Wissenschaft.
341
reicn der französischen Revolution, sie hat Friedrich Schillers
Gedichten ihren Stempel aufgedrückt, während Goethe durch
feine „Leiden des jungen Werther" diesen Sentimentalitäts-
schwindel abzustreifen und den Krankheitsstoff auszuscheiden
versucht. Unter dem Einflüsse dieser ungesunden Stimmung
haben die Ideologen des achtzehnten Jahrhunderts nichts
andres gethan, als alten Wein in neue Schläuche gegossen,
als die alte, in der Religion begründete Formel von der
menschlichen Gleichheit einfach ins Weltliche übertragen. Da-
mit meinten sie Wunder was geleistet zu haben. In den
Massen, durch die langen Jahrhunderte christlicher Denkweise
zur Genüge darauf vorbereitet, machten nun diese Theorien
ihren Weg und zwar mit solchem Erfolge, daß das weltliche
Gleichheitsdogma der Grundgedanke und Eckpfeiler der
modernen Anschauung geworden ist. Unsre heutige, neuere
Litteratur ist davon voll. Diese aprioristischen Lehren haben
nun der Menschheit sehr viel Gutes und sehr viel Übles
gethan. Hielten sie sich im Bereiche der Theorie, so wäre
der Schaden wohl nicht groß. In Wirklichkeit aber stiften
sie unsägliches Unheil, weil sie in jedem Lande sich in ver-
derbliche Gesetze, nach außen hin in unnütze Gewitter, die
Blei und Stahl hageln, umsetzen. So oft man ein apriori-
stisches Ideal zu verwirklichen versucht, kann man im Voraus
sicher sein, auf das Unmögliche zu stoßen. So hat denn bei
uns die Glcichheitslehre die nämlichen tötlichen Folgen gehabt,
wie in Asien der Buddhismus. Gleichheit, als Gleich-
wertigkeit aufgefaßt, ist ein Traum oder eine Lüge.
Wahrheit allein ist die Ungleichheit, die natürliche
und angeerbte Ungleichheit.
Im Grunde seines Herzens ist davon wohl auch jeder-
mann überzeugt; denu cs giebt kaum einen unter uns,
welcher im Stillen sich nicht auch Höheren und Größeren
ebenbürtig und einer ganzen Menge Mitmenschen überlegen
erachtete. Dieser liebenswürdige Wahn, eigentlich nur eine
innere Ahnung des Wahren, überhebt uns für einen Teil
unsrer Behauptung schon des Beweises. In der Praxis
beruft man sich eben auf die Gleichheit, hat man es mit
einem geistig oder gesellschaftlich höheren zu thun, auf die
Brüderlichkeit, falls man eines Dienstes bedarf. Aber
immerhin, wir wollen die Sache einmal genauer be-
trachten.
Was heißt gleich und ungleich, wenn vom Menschen die
Rede ist? Der Stoff, so sagt man — woraus die Natur
den Menschen formt — sei dieser Knecht oder Fürst — ist
unbedingt derselbe. Unbedingt? Die Wahrheit ist: wir
wissen es nicht, wir glauben cs bloß. Wenigstens ist dieser
Stoff bei den verschiedenen Individuen und Rassen auch sehr-
verschieden organisiert. Gleich sind wir, so heißt es weiter,
insofern uns jeden unsre Mutter mit Schmerzen geboren hat.
Auch dies ist jedoch bekanntlich bloß für den hohen gesitteten
Teil der Menschheit wahr und findet auf sehr viele Natur-
völker keine Anwendung. Gleich sollen wir endlich sein
insofern, als wir Hunger und Durst, Kälte und Hitze, Leid
und Weh, Freude und Lust alle gleich empfinden. Die
Völkerkunde belehrt uns indeß, daß von einer gleichen
Empfindung keine Rede sei und die Menschen, je nach dem
Ausbildungsgrade ihrer physischen und psychischen Organe,
gegenüber Hunger und Durst, Hitze und Kälte, Lust und
Schmerz sich ungemein verschieden verhalten. So kann man
denn sagen: Gleich sind wir bloß darin, daß wir alle unser
Dasein einem mächtigen Naturtriebe verdanken, daß wir alle,
ob auf schmutziger Streu, ob im schwellenden Daunenbette
gleich hilflos in die Welt gesetzt werden; endlich auch darin,
daß wir alle eines Tages von dannen müssen, weil kein Kraut
gewachsen ist gegen den heilsam geschäftigen, raumschaffenden
Gärtner, den wir statt als den Befreier für der Übel Größtes
zu betrachten gelehrt werden.
In allen andren Dingen sind wir aber bekanntlich
durchaus ungleich und daran zweifelt auch niemand. Unter
den Milliarden Menschen, welche vor uns ans Erden gewandelt
sind, und unter den Hunderten von Millionen, die sie heute
bewohnen, gab und giebt cs nicht zwei mit ganz gleichen
Gesichtern, obgleich alle die nämlichen Bestandteile haben:
Augen und Nase, Mund und Kinn. Dieselbe Verschieden-
heit herrscht hinsichtlich des Körperbaues, der Hände, Füße,
Finger, Nägel bis auf die Beschaffenheit des Zellengewebes
und die Ausbildung des Nervensystems. So folgerichtig
führt die Natur das Gesetz der Verschiedenheit in ihren Er-
zeugnissen durch, daß nicht ein Sandkorn — der Natur-
forscher sagt, nicht ein Atom — dem andern gleicht. Daraus
folgt naturnotwendig, daß die den geistigen und moralischen
Wert jedes einzelnen bestimmenden psychischen Eigenschaften,
weil durchaus von der Beschaffenheit des physischen Organis-
mus abhängig, der gleichen unbegrenzten Verschiedenheit
unterliegen. So wenig es also zwei Gesichter giebt, die
völlig gleich wären, ebenso wenig giebt es zwei Menschen, die
gleich denken und fühlen, deren Geisteskräfte, Neigungen und
Leidenschaften durchaus die nämlichen wären. Im Gegen-
teil ist die Ungleichheit unter den Menschen ungeheuer, weit
größer als alles, was man sich vorstellen kann. Und daraus
ergiebt sich wiederum mit zwingender Notwendigkeit die Ver-
schiedenheit menschlicher Schicksale, das ist der Verhältnisse,
in welchen die Menschen zu einander stehen.
Wohin wir auch blicken, nirgends nehmen wir Gleichheit,
will sagen Gleichwertigkeit, wahr. Unter den Rassen exi-
stiert sie nicht. Keineswegs menschliche Laune, sondern die
Natur schlügt durch die Macht der Vererbung zahlreiche
Rassen und Stämme mit Inferiorität, und liefert sie der
Ausbeutung durch die überlegenen Völker aus. Die Ver-
erbung ist es, welche uns alle niederdrückt und zermalmt.
Es giebt von Hans aus Stämme, worin einzelne Indivi-
duen eine Zeitlang ans eine gewisse Höhe gebracht werden
können, die Gesamtmenge aber stets unzivilisierbar bleibt.
Ja, nicht selten fallen die zur Gesittung erzogenen wieder
in die ursprüngliche Wildheit zurück. Die Völkerkunde kennt
zahlreiche Beispiele dieser Art. So brachte z. B. Charles
Darwin einen Pescheräh aus dem Feuerlande nach Europa,
und dieser, Jemmy Button, der eine Zeitlang in vornehmen
Gesellschaften gehätschelt wurde, trug in England stets Hand-
schuhe und blankgeputzte Stiefel, erlernte auch das Englische.
In seine Heimat zurückgeführt und mit seinen Verwandten
vereinigt, ward er aber alsbald wieder der frühere, nackte,
ungewaschene und ungekämmte Wilde. Ein talentvoller
Botokudenkuabe, der, sorgfältig erzogen, cs zuletzt so weit
brachte, daß er an einer medizinischen Fakultät in Brasilien
das Doktordiplom sich erwarb, dann aber plötzlich verschwand,
ward nach längerer Zeit unter einer Botokudenhorde in
seinem ursprünglichen Naturzustände wiedergefunden. Dr.
Max Büchner berichtet gleich Ergötzliches von dem in Eng-
land erzogenen Sohne des bekannten King Bell in Kamerun.
Leicht lassen diese Beispiele sich vermehren.
Sehen wir nach ganzen Völkern, Stämmen und Rassen,
so bleiben z. B. die Australier von Generation zu Generation
tief unter den Engländern, die Neger tief unter den
Chinesen. Über die Kulturfähigkeit der Neger wird heute
viel Tinte verschrieben und viel Papier verdorben. Gewiß,
die Neger stehen noch lange nicht am tiefsten, und dennoch
müßte ein Völkerkundiger erröten — falls er nicht selbst ein
Schwarzer wäre — die Gleichheit ihrer Rasse mit der unsrigen
zu behaupten. Ein verdienstvoller Neger — und es kann
deren geben — mag in Übereinstimmung mit manchen Weißen
sagen, die Ungleichheit liege nur in der Zeit, alle Rassen
folgen der nämlichen Entwickelung und die Uferbewohner des
Congo würden auch einmal an die Reihe kommen. Ich be-
342
Prof. Dr. D. Krümmel: Die Haupttypen der natürlichen Seehäfen,
zweifle es, denn seit Jahrtausenden leben Schwarze Afrikas
in steter, aber fruchtloser Berührung mit der Gesittung.
Beredt und deutlich genug sprechen die Beispiele von Hayti,
besonders seit Niedermetzelung der Mulatten, von Sierra
Leone mit seinen freien Negern, den französischen Antillen,
deren Neger zwar Bürger geworden, aber nnzivilisierbar ge-
blieben sind. Einzelne Individuen mögen sich zum Durch-
schnitte der Europäer aufschwingen, die Masse niemals. Giebt
es doch in Europa selbst Völker, wie die Lappen, welche
allen Gesittungsversuchen unzugänglich bleiben.
Gleichheit existiert ferner nicht unter den einzelnen Ge-
sellschaftsklassen und existiert auch nicht unter den Familien.
Die Natur schafft verdammte, dem Verbrechen und Elend
geweihte Familien, Familien von Entarteten, Rachitischen,
Neurotischen und Irrsinnigen. In andern dagegen blüht
das Talent kraft eines Gcburtsrechtes wie die Gesundheit,
Stärke und Schönheit. Die Familien, in welchen diese
Eigenschaften sich vereinigen, sind dann, was die Franzosen
mit einem sehr glücklichen, leider treffend fast unübersetzbaren
Ansdrucke die „Eugenen“ nennen; ich möchte sagen, die
Wohlgearteten, Gutgcrateneu, Gelungenen, der geistige und
körperliche Adel der Menschheit, kurzum die Tüchtigsten.
Daneben lebt eine Menge Normaler. Der eugenen Familien
sind wenige, sie aber liefern in großer Proportion und fast
regelmäßig die auserlesenen Geister. Ihnen entstammen fast
immer hervorragende Männer, welche der Menschheit Bahn
brechen und ihr als Leuchte auf dem Wege des Fortschrittes
dienen. Dank ihrer Masse liefern auch die normalen Familien
eine gute Anzahl auserlesener Menschen, diese erscheinen jedoch
vereinzelt inmitten zahlloser Mittelmäßigkeiten und Nullen.
Gleichheit existiert endlich auch nicht unter den Indivi-
duen. Ein Normaler mag scheinbar den nämlichen Wert
besitzen wie ein Eugener; er kann eben so groß, so schön, so
energisch, so intelligent wie dieser sein. Und dennoch keine Gleich-
heit. Die Eugener Nachkommen haben die größte Wahr-
scheinlichkeit für sich, dessen Eigenschaften zu erben, falls nicht
etwa durch Mißheirat, wohlverstanden nicht im bürgerlichen,
sondern im anthropologischen Sinne, das Blut gelitten hat. Die
Kinder des Hochverdienten aus dem Kreise der Normalen kehren
dagegen gewöhnlich zur Durchschnittshöhe zurück, welche der
Engländer Francis Galton recht bezeichnend tlle level of
mediocrity, das Niveau der Mittelmäßigkeit genannt hat.
Die Daupttypen der natürlichen Seehäfen.
Von Prof. Dr. £). Krümmel in Kiel.
II. (Schluß.)
Jnselgefchützte Buchten geben eine sehr beliebte Abart
der Einbruchshäfen. Das alte Alexandrien, mit der be-
kanntlich im Altertum noch nicht wie heute landfesten Insel
Pharos, wie die vordem in der Glanzzeit der Phönizier
als Jnselhäfen
blühenden Städte
Tyrus und Si-
don, beide eben-
falls jetzt durch
Ansandungen
aufs Trockne ge-
bracht, geben eben-
so wie das ans
dem peloponnesi-
schen Kriege be-
kannte kleine,
durch die Insel
Sphaktcria ge-
schützte Hafen-
becken von Ptztos-
Navarino leicht
verständliche Bei-
spiele (vergl. die
beistehcndenKärt-
chen), denen Hong-
kong , Bombay
u. a. leicht beizu-
fügen sind. Eine
extreme Form die- Das heutige
ses Typus könnte
man im norwegischen Hafen Christiansund finden, wo sich
vier Inseln um ein rundes Hafenbecken schützend legen, das
nach'vier verschiedenen Himmelsrichtungen gehende Ausgänge
besitzt. Schon wo nur eine Insel die Hafenbucht deckt und an
beidenlSeiten leicht passierbare Ausgänge liefert, gewährt sie
dem Segler den Vorzug, miti jedem Winde ein- und auslaufen
zu können. Ein solcher Jdealhafen mag dem homerischen
Dichter vorgeschwebt haben, als er (Odyssee IV, 846 f.) die
dem Telemach auflauernden Freier nach Astcris segeln läßt:
AaiEQii; ov utyühs huirtg <T in rav/.oyoi avtfj
Tfi zövye (utvov hoftocorzeg’J/caol.“
Dieses „zwei-
fach zugängliche"
Hafengcbilde hat
man aber bislang
in der Nähe von
Jthaka nirgends
wiederfinden kön-
nen. Ein Pracht-
exemplar niit
wahren hiixtveg
u[i(pidv[i(u ha-
ben die Englän-
der in der Hafen-
schar nordwärts
der Insel Wight,
mit den von
Schissen wim-
melnden Reeden
vonSpithead und
Solent, und dem
daran schließen-
den Riahafen von
Southampton;
ganz ähnlich ist
das benachbarte
Portsmouth mit
Langston und Chichester (vergleiche Stieler, Blatt 37, a).
Wo nur eilte einfache Küstenkette irgendwie durchbrochen
ist, kann durch Überschwemmung des dahinter gelegenen
Landes eine weite Bucht als Hafen geschaffen werden. Das
ist der Fall bei zweien der bedeutendsten amerikanischen
Häfen, Rio de Janeiro und San Francisco (vgl. Stieler 95,
und noch besser Berghaus' (hart of the World).
Alexandria.
Prof. Dr. O. Krümmel: Die Haupttypen der natürlichen Seehäfen.
343
Die Küstenkette von St. Paulo (Zerrn do Mar) löst
sich in ihrem weiteren Verlaufe nach ONO teilweise in
Inseln aus, welche in der Jlha Grande und der schmalen
Marambaia die Streichungsrichtung deutlich verraten, die
dann noch östlicher in den kleinen Felseilanden Redonda und
Raza ihre Fortsetzung findet. Gerade hier ist die Küsten-
kette am meisten zerstört und hier öffnet sich der gewundene
Eingang zu der breiten Bucht von Rio de Janeiro (vergl.
beistehendes Bild von Keller -Leuzinger, den Blick vom
Corcovado auf den Hafen darstellend). Harte, archaische
Schiefer bilden die Ränder der Bai, wie sie auch die Inseln
zusammensetzen; selbst die große, im Norden der Bai gelegene,
Eingang der Bai von Rio de Janeiro.
ziemlich flach erscheinende Jlha do Gobernador besteht nach
Hartt aus Gneis. Eine Küstensenkung und Hand in
Hand damit gehende Zertrümmerung der Gebirgsketten,
deren schroff abgebrochene Formen im Corcovado oder im
Das heutige Tyrus (Soür).
über einer so tief ausgeprägten Physiognomie geltend zu
machen.
Auch das „Goldene Thor", der Zugang zu dem ge-
räumigen Hafenbecken von San Fancisco, ist ein Durch-
bruch in der kalifornischen Küstenkette: aber mutmaßlich ein
früheres Ouerthal, die alte Mündung des Sakramentostusses.
Das Festland muß sich hier gesenkt haben, wofür zweifache
Anzeichen vorhanden sind, einmal die einige Seemeilen nörd-
(Bom Corcovado aus gesehen.) Nach Keller-Leuzinger.
Zuckerhut das Hafenbild von Rio zu einem so malerischen
gestalten, sind hier als maßgebende Ursachen erkennbar, und
die gegenwärtig wahrnehmbaren Anzeichen einer neuerlichen
Hebung des Landes vermögen sich zunächst noch nicht gegen-
Das heutige Sidon (Saida)
lich vom Golden Gate auf besseren Karten bemerkbaren
Buchten der Bodega- und Tomales-Bai, wo die Küsten-
kette, wie versuchsweise, angeschnitten und das erste schmale
Längsthal inundiert ist, und zweitens ebenso der versumpfte
Süden der San Francisco-Bai und die mit Wasser im-
prägnierten Ränder der hieran sich nordöstlich anschließenden
San Pablo- und Suisun-Bai, in welche letztere der Sakra-
mento gegenwärtig mündet. Freilich liegt dem Goldenen
344
Prof. Dr. O. Krümmel: Die Haupttypen der natürlichen L-eehäfen.
Thor eine Barre seewärts vor, welche die von der stetigen
Westdünung anch hier aus dem Ebbestrom ausgefällten
Sedimente ansammelt; doch bildet sie kein wesentliches
Hindernis für die Einfahrt.
Betrachtet man auf den Handkarten nunmehr die Bucht
von Tokio und Jokohama, so sieht dieser Hafen sehr nahe
verwandt aus mit den beiden eben behandelten amerikanischen
Welthandelsplätzen. Die bergige Uraga-Halbinsel umgrenzt
den relativ schmalen Zugang im Westen, das Bergland der
Halbinselprovinzen Awa und Kadzusa im Osten. Aber
Edmund Naumann erklärt die jüngsten geologischen
Schicksale dieses Teiles der japanischen Hanptinsel in andrer
Weise, so nämlich, daß keine frische Küstensenkung die Ver-
bindung zwischen Uraga und Kadzusa-unterbrochen, sondern
im Gegenteil eine allgemeine Hebung des Landes in Ver-
bindung mit großartigen Anschwemmungen des Tons- und
Snmidagawa den Norden von Kadzusa, einer früheren
Insel, mit der Hanptinsel Nippon vereinigt hat. In der
Nähe der Tonsmündung gelegene zahlreiche und große
Strandseen mit Reliktensauna sind ebenso als Reste einer
ehemaligen Meeresstraße aufzufassen, wie die Bai von Joko-
hama. Ein hartnäckiger Kritiker könnte aber immer noch
gegen Naumann einwenden, daß, wenn anch Nippon in
dieser Weise gewachsen ist und dabei der vortreffliche Hafen
entstand, doch wenigstens in einer früheren Periode der geo-
logischen Entwickelung die Insel'Awa-Kadzusa einmal vom
Hanptkörper Nippons abgelöst gewesen, mit dessen gegenüber-
liegenden Teilen sie durch ihre alten, zum Teil über kristalli-
nischem Massengestein lagernden Schiefer, nahe Verwandt-
schaft verrät.
Maßgebend für seine gegenwärtige Form sind auch
Senkungsvorgänge oder Vordringen des Meeres, wenn man
das lieber will, für den schönen Hafen von Neu-Aork, der
allerdings allerlei Komplikationen ausweist, deren kommerziell,
Das Lister Tief.
nicht morphologisch wichtigste die Mündung eines so wasser-
reichen Stromes wie der Hudson ist, liefert (vergl. Stieler,
Bl. 85 und Berghans' Chart of the World). Das
eigentliche Neu - Port liegt bekanntlich auf einer Insel,
begrenzt von dem Hudsonfluß im Westen, dem Harlem-
River im Norden und Nordosten, dem East-River im Süd-
osten und Süden. In den beiden letztgenanntem „Flüssen"
liegen mehrere felsige Inseln und Klippen, und die benach-
barten Ufer mit Gesteinsabstürzen von großer Festigkeit und
bis zu 80 m aufsteigend bezeugen ganz deutlich, daß es sich hier
nicht um eine Deltabildnng handeln kann.! Südöstlich, gegen-
über Neu-Pork, liegt Brooklyn aus dem großen Long-Jsland,
dessen dem Ozean zugewendetes Gestade alle Anzeichen eines
Vormarsches der See ins Land darbietet: versumpfende
Bäche, abgespülte Ufer und ein sogar den ständigen Besuchern
der hier gelegenen Seebäder sehr auffälliges Zurückweichen
der Strandlinie. Besonders merkwürdig ist eine anscheinende
Auflösung des niedrigen Südrandes der ganzen Insel zu
allerlei kleinen, von flachem Wasser umspülten Eilanden,
wie sie in schärenartigem Gewimmel mit reichlichen Sand-
bänken beispielsweise die sogenannte Jamaika-Bai erfüllen.
Anch aus der andern Seite des Hudsonflusses ganz ähnliche
Bildungen! Zunächst die lange Bergen-Halbinsel, im
Westen durch die geräumige Newark-Bai begrenzt, die im
Kill van Kull, einem tiefen, von stellenweise hügeligen Usern
begrenzten Kanal nach Osten hin zum Hudson Verbindung
hat. Südlich von diesem Kill van Kull und gegenüber
Long-Jsland liegt Staaten-Jsland; beide Inseln nähern sich
in den „Engen" bis aus 1500 in mit steilen Ufern. Von
hier aus seewärts beginnt dann ein Gebiet von flachen ver-
änderlichen Bänken, zwischen denen die Fahrstraße mit vier-
maliger Kursänderung unbequem genug in Sec hinausführt.
Von Süden her ragt zuletzt die Dünenzunge von Sandy
Hook in diese „Untere Bai" hinein, und sie soll an ihrem
Nordende nach Bache jährlich an die 100 m wachsen, was
auf einen sehr kräftigen Seeschlag und Küstenstrom hin-
weisen würde, wenn anch jene ziffernmäßige Angabe sich als
etwas übertrieben herausstellen dürfte. An diesem inter-
Prof. Dr. O. Krümmel: Die Haupt typen der natürlichen Seehäfen.
345
efsanten Hafengebilde sind also Vordringen des Meeres,
Anschwemmungen und eine Flußmündung gleichzeitig wirk-
hier an letzter Stelle
sam beteiligt. Freilich ist der Fluß
zu nennen, wie denn auch Hendrick
Hudson bis nach den Catskillbergcn
hinauf das Flußbett mit Salzwasser
gefüllt und gezeitenbewcgt gesunden
hat, und erst dort nach der sehr be-
zeichnenden, wenn auch wenig wahr-
scheinlichen Sage gemerkt haben soll,
daß er sich nicht in der vermuteten
nordwestlichen Durchfahrt, sondern in
einem Flusse befand. Die Stadt
Eatskill liegt aber 160 llm oberhalb
Ncu-Ljorks, d. h. weiter als Wesel
oberhalb Rotterdam.
Einbruchshäfen an weichen Küsten
sind selten recht brauchbar. Eine
Ausnahme muß aber gleich von vorn-
herein zugestanden werden für die
schönen Föhrdehäfen der westlichen
Ostsee, deren Entstehungsart im ein-
zelnen freilich noch gar viel dunkles
darbietet. Wenn auch H. Haas in
seiner kleinen, scharfsinnigen Unter-
suchung über den eigentümlichen Laus
Die Emsmündung vor dem 13. Jahrhundert.
Aus Menso Altings Notitia Germaniae
Inferioris, Amstelaedami 1679.
der oberen^ Eider es
sehr plausibel gemacht hat, daß der Eisstrom der zweiten
Eiszeit, die Kieler Föhrde hinauf
dringend, bis zur gegenwärtigen
Wasserscheide die Ablagerungen
des unteren Diluviums aufgestaut
und gestaucht hat, so ist eine ähn-
liche Ausbildung wohl für die
Eckernföhrdcr- und Apenrader-
Bucht ebenso leicht zuzugeben wie
schwierig verständlich für die ver-
wickelte Form der Flensburger
Föhrde. .Haas' Andeutung, daß
für den Eisstrom alte Thalfurchen
dort wie hier den Weg vorge-
schrieben haben, wird wohl in Zu-
kunft einmal aus die richtige Fährte
uiib zu einer befriedigenden Er-
klärung der Föhrdcn nicht nur,
sondern auch der Bodden im Be-
reich der dänischen Inseln und
Rügens führen.
Während hier die große Schwie-
rigkeit besteht, die Erosionswirkung
des Eises, sei es mit oder ohne
Beihilfe des fließenden Wassers,
lediglich ans schwachen und stritti-
gen Indizien oder Analogieen zu
rekonstruieren, sind wir über Art
und Eingreifen der für die Küsten-
konsiguration der stachen Nordsee-
küste maßgebenden Kräfte weniger
in Zweifel. Es sind die Gezeiten-
ströme, welche verschulden, daß
sich hinter den durch Küstensenkung
und Sturmfluten durchbrochenen
Düneninseln nur unzugängliche
Häsen befinden. Denn seewärts vor einem jeden Thore
zwischen je zwei dieser friesischen Inseln wird, in der Art,
wie oben bereits dargelegt, vom Ebbestrom eine halbmond-
förmige Barre ausgebaut, welche nur eine ganz geringe
Wassertiefe über sich läßt, so daß selbst flach gehende Küsten-
Glvbas LX, Nr. 22.
Die Emsmündung um 1590.
Waghenaers Thressor der Zeevart.
fahrer nur mit günstiger Gezeit sie passieren können. Nur
wo ein Fluß für kräftigere Spülung sorgt, wie Ems, Weser
und Elbe, oder wo ein größeres landeinwärts gelegenes
Becken von der Flut aufzufüllen, von
der Ebbe zu entleeren ist, bleibt die
Zugangstiese eine günstige. Letzteres
ist in hervorragendem Maße bei der
Jade der FallJ, und es war eine
durchaus notwendige Maßregel, wenn
in dem Gesetz über die Reichskriegs-
häsen alle Bestrebungen, aus den
Watten des Jadebusens durch Ein-
deichungen Marschland zn gewinnen,
ausdrücklich untersagt und demgemäß
auch die begonnenen Anlandungswerke
wieder entfernt wurden, da sonst die
Oberfläche des Busens und damit das
spülend wirksame Wasservolum ver-
mindert worden wäre. Die Gefahr
war hier um so drohender, als bei
den ohnehin geringen Wassertiefen es
eigentlich nur die große Fläche ist,
die das erwünschte Wasserquantum
aufzunehmen vermag. Würden die
Watten rings um die Jade einge-
deicht und landfest, so wäre ein schnelles Berschlicken der
Reede von Wilhelmshafen unausbleiblich. — Minder brauch-
bar ist schon das Listerties, welches
von den großen Wattenflächen
zwischen Sylt und Röm einerseits,
und der schleswigschen Küste an-
drerseits her offen gehalten wird:
hier reicht der Wasserdruck bei
Ebbe und Flut doch nicht aus, die
Barre ganz zn beseitigen, welche
allerdings auch bei Niedrigwasscr
noch 51/2 m Tiefgang erlauben
würde, wenn nicht alsdann bei
den herrschenden Westwinden ein
stetiger hoher Seegang gerade über
dieser flachsten Stelle die ein-
laufenden Schisse in die Gefahr
brächten, beim „Dnrchstampfen"
dennoch den Grund zn berühren.
Immerhin gewährt eine Hafen-
anlage an irgend einer Stelle des
Listertiefs unter den zahlreichen für
die schleswigsche Küste aufgestellten
Projekten die beste Aussicht auf
technische Ausführbarkeit. Wenn
sie nicht schon ins Leben gerufen
ist, so liegt das nur an der Frage
der Rentabilität einer jedenfalls
kostspieligen Anlage, die gerade
kein besonders handelskräftiges
Hinterland auszuschließen hat.
So kommt es, daß an den
Flachküsten eigentlich ganz aus-
schließlich der dritte Hafentypus in
Gestalt der Mündungshäfen
dominiert. Diese sind aber keines-
wegs nur auf Schwemmland,
Sand- und Düneuküsten beschränkt, wie schon das Beispiel
von London, Bristol, Havre, Oporto, Lissabon, Quebec * 44
Nach Lucas
Leyden 1592.
0 Ter italienische Kriegshafen von Venedig oder richtiger
von Malamocco bietet mannigfache Ähnlichkeiten dar.
44
346
Prof. Dr. O. Krümmel: Die Haupttypen der natürlichen Seehäfen.
und vielen andern mehr, sofort beweist, da ja natürlich auch
an höheren Küsten mit hartem, anstehendem Gestein Flüsse
münden.
Bei dieser Kategorie von Häsen kommt es wesentlich
daraus an, daß die Wassermenge beim Austritt in das
Meer sich nicht zersplittert und in Deltaäste auslöst, sondern
zusammenbleibt und kräftig genug auftritt, um die Barre
möglichst weit in See hinaus zu verschieben. Der delta-
bauende, stark zerfaserte Niger hat an keiner seiner Mün-
dungen, auch nicht in Akassa, einen den größeren See-
dampfern zugänglichen Hafen; bei andern ist nur dann die
Mündung passierbar und der Unterlauf erreichbar, wenn
durch künstliche Regulierung der Strom veranlaßt wird,
sein Rinnsal stetig rein zu spülen. So in der Sulina-
mündung der Donau, und, seit Bollendung der Leitdämme am
„Südpaß", auch die Mississippimündung. Das an letzterer
gelegene Neu-Orleans litt vordem gewaltig unter der
Launenhaftigkeit, mit welcher der Ricseustrom seine Bänke
an den Mündungen verlegte, so daß deshalb im April 1874
die Bremer Lloyd-
dampfer die regel-
mäßige Fahrt
nach Neu - Or-
leans ganz einge-
stellt haben. Seit
Ansang der acht-
ziger Jahre ist
aber in jenem
„Passe" eine
Wassertiese von
7,3 in glücklich
erreicht und seit-
dem nicht nur
dauernd erhalten
geblieben, sondern
noch in lang-
samem Wachsen
begriffen.
In ^tropischen
und subtropischen
FlüsM, deren
Einzugsgebiet
eine ausgeprägte
Trockenzeit be-
sitzt, ist länger
als ein halbes
Jahr die spülende Kraft des Stromes nicht ausreichend,
die Barre offen zu halten. Das giebt dann Anlaß,
au irgend einem Nebenarm, der wesentlich vom Gc-
zeitenstrom allein beherrscht wird, den Haupthafen zu
errichten, an welchen weiterhin auch die Flußschiffahrt an-
knüpfen kann. Das geschieht beispielsweise in Uangnn für
den Jrawadi, in Saigon für den Mekong, in Kalkutta
am Hngli für den Ganges -Megna. Es ist das aber nicht
der Fall in Shanghai am Wusung für den Pnng-tse, dessen
Mündung und Unterlauf leicht auch größeren Seeschiffen
zugänglich ist, eher schon für den Amazonenstrom in
Para. Shanghai ist lediglich durch die chinesische Handels-
politik, nicht durch die Gunst seiner keineswegs vortrefflichen
Lage am engen Wusungslnsse zu dem größten ostasiatischen
Emporium geworden; da wäre Tschinkiang oder Nanking
in jeder Weise noch günstiger gelegen zu nennen.
Beim Amazonenstrom sind in der That natürliche Hinder-
nisse vorhanden, welche seine eigentliche Mündung dem Welt-
handel gegenwärtig noch verschließen. Wie jede bessere Karte
zeigt, hat dieser größte Strom der Welt zwei Mündungs-
arme, die durch die Insel Caviana getrennt sind: den Kanal
do Sul, der zwischen dieser Insel und Marajo nach Osten
herausführt und noch in südlicher Breite mündet, und den
Kanal do Norte, der in nordöstlicher Richtung verläuft und
an seiner rechten Seite von einer niedrigen Jnselreihe, an
der linken vom Festlande eingefaßt ist. Der „Kanal des
Südens" ist nun seewärts durch zahlreiche flache Bänke
versperrt, so daß nur ein schwer aufzufindender Zugang x)
von der offenen Sec aus in ihn hineinführt, während der
Nordkaual noch weniger tief, wenn'auch leichter anzusegeln
ist, aber durch die berüchtigte Sprungwelle (Pororoca), der
auch sehr stark gebaute, mit kräftigen Maschinen ausgerüstete
Seedampfer nicht ohne Gefahr entgegengehen dürfen, zur
Springzcit regelmäßig unzugänglich gemacht wird. Diese
gewaltsame Form der Flutwelle verändert überdies auch
stetig das Fahrwasser in nicht vorher zu sehender Weise.
So kommt es, daß beide Hauptmündungen nicht für den
großen Seeverkehr benutzt werden, sondern die Dampfer
den Umweg durch den Rio Para und die zum Teil gewun-
denen, aber unter kundiger Führung leicht passierbaren
Wasseradern,
welche südlich die
Insel Marajo
umgeben, über
Breves zum
eigentlichen Ama-
zonas. vorziehen,
auf dem sie dann
ohne Schwierig-
keiten bis nach
Manaos am Rio
Negro, das ist
1400 km von der
Mündung ent-
fernt, hinauf ge-
langen können.
Manaos steht ans
diese Weise in
regelmäßiger
Danipferverbin-
dnng mit Liver-
pool und Rio.
In einigen Fäl-
len aber ist das
Mündungsgebiet
dem Seeverkehr
so wenig günstig,
daß die den Handel beherrschenden Hafenplütze ganz seit-
wärts vom Delta abrücken, wie Karatschi vom Indus,
Alexandrien vom Nildclta, oder wie Barranquilla vom
Magdalenenstrom.
Am besten funktionieren die Flußmündungen für den
Seeverkehr, wo energische Gezeiten die Tiefe der Fahrrinne
um den Betrag der gesamten Flutgröße überhöhen, so daß
mit der steigenden Flut oder bei Hochwasser einkommende See-
schiffe die schwierigen Bänke ungefährdet überschreiten können.
Was wären London, Bristol, Rotterdam, Amsterdam, Ham-
burg ohne Äe hohen Gezeiten! Und in Havre und South-
ampton tritt dann noch eine abnorme Ausbildung der Flnt-
knrve höchst vorteilhaft hinzu: in beiden Orten dauert das
Hochwasser nicht nur wenige Minuten, sondern 31/2 bis
4 Stunden an, so daß in Havre ein Dutzend großer See-
dampfer während dieser Zeit höchsten Wasserstandes durch i)
i) Durch genügende Ausstattung mit Leuchtfeuern und See-
zeichen wäre hier wohl nachzuhelfen, doch liegen nur allere
Aufnahmen (von 1868) dieses ganzen Teiles der Küste vor,
welche gegenwärtig bei der großen Beweglichkeit des stachen
Schlamm- und Sandbodens kaum mehr zutreffend sein dürften.
Prof. Dr. O. Krümmel: Die Haupttypen der natürlichen Seehäfen.
347
die Schleusen gehen kann. Auch der Gezeitenstrom selbst
befördert den Verkehr, wie jeder weis, der in Hamburg auf
dem hohen User der Elbe stehend den mit dem Strom ein-
hertreibendcn Leichterschiffen und Schuten oder den gegen
ungünstigen Wind aufkreuzenden Küsten- und Fischerfahr-
zeugen eine Weile zugeschaut hat. Andrerseits aber wird
man sich auch erinnern, daß in einem solchen Hafenbilde die
Baggermaschine als ein regelmäßiger, wenn auch keineswegs
malerischer Charakterzug aufzutreten pflegt, da die ewig und
immer wieder sich verschiebenden Sande und namentlich der
Schlickfall nahe der Mündung stetiges Eingreifen des Menschen
nötig machen. In den Mündungshäfen höherer Breiten,
wie in denen der Ostsee oder im Nordmeer, stört im Winter
und Frühling dann noch das Standeis und der Eisgang,
während in waldreichen Gegenden, namentlich in den Tropen,
treibende Baumstämme eine nicht unerhebliche Gefahr für
die Seeschiffahrt, wie im Orinoco, Amazonas, Para, Congo
und in andern Flußmündungen abgeben.
Eine Hauptgefahr aber droht den Mündungshäfen durch
die Verlegung des Flußlaufes selber, der gelegentlich wie der
Hwangho in weiter Ferne sich eine neue Mündung suchen,
oder doch durch eine keineswegs beträchtliche Verschiebung
seines Bettes schon eine Mündungsstadt zu einer Binnen-
stadt, und so einen Großhaudelsplatz zu einem kleinstädtischen
Gemeinwesen degradieren kann. Wir haben in Deutschland
ein solches tragisches Beispiel in der alten Stadt Emden.
Im Mittelalter floß die Ems mit einem Bogen von kurzem
Radius unmittelbar an der Stadt vorüber: die Seeschiffe
konnten vor ihren Thoren ankern. (Vergl. vorstehendes
Kärtchen aus Menfo Attings Notitia Germaniae Infe-
rioris, Amstelaedami 1697.) Als aber um das Jahr 1277
eine gewaltige Sturmstnt den Dollart überschwemmte, da
durchschnitt der hoch aufgestaute Fluß die Halbinsel Nesser-
land und machte diese zur Insel. Die Folge war, daß die
Gezeitcnströme das nunmehr gerade gelegte Flußbett bevor-
zugten und die seitwärts gelegene Stromschlinge, das
Emdener Fahrwasser, mangelhaft spülten, so daß dort ein
fataler Schlickfall die Wassertiefen rasch und stetig ver-
minderte. Emden aber stand damals, im 15. und 16. Jahr-
hundert, unter den blühenden und weithin berühmten Hansa-
städten vorn in erster Reihe, was es dem Vorzüge verdankte,
daß die Schiffahrt aus der unteren Ems niemals durch
Eis behindert wird; der Tuchhandel nach England und die
nordische Fischerei aus Wale und Heringe beschäftigten über
600 große Seeschiffe, und an Unternehmungsgeist und Reich-
tum übertraf es unzweifelhaft das damalige Hamburg und
Bremen. Der noch heute viel bewunderte Rathausbau ent-
stammt dieser verlorenen goldenen Zeit. Als am Ende des
16. Jahrhunderts die Wassertiefen im alten Flußarm den
keineswegs hohen Ansprüchen der damaligen Seeschiffahrt
nicht mehr genügten, schritten die Emdener zu einer Radikal-
kur. Sie beschlossen, den alten Zustand vor jener verhängnis-
vollen Sturmflut von 1277 wieder herzustellen, die Ems
einheitlich in das alte Bett zurückzuleiten, die Insel Nesser-
land wieder zur Halbinsel zu machen. So entstand in den
Jahren 1583 bis 1590 das damals weithin berühmte
„Nessmer Höst", ein 1000m langer, von einer doppelten
Reihe eichener Pfähle gestützter Damm, der den neuen,
geraden Flußarm bei Pogum abschnitt und in der That
seinen Zweck erreichte: Die Ems gehörte wieder ganz und
ungeteilt den Emdenern. (Vergl. vorstehende Darstellung der
Emsmündung aus dem Jahre 1590 nach Lucas Waghenaers
Thresoor der Zeevaert, Leyden 1592.) Freilich kostete
nicht nur der Bau selbst, sondern auch in der Folge seine
Unterhaltung alljährlich Bedeutendes; um so verhängnisvoller
aber war es für die Emdener, daß sie in den dynastischen
Fehden und religiösen Zwistigkeiten, die sie mit den benach-
barten Fürsten im Anfang des 17. Jahrhunderts auszu-
kämpfen hatten, wiederholte Verluste erlitten, so daß die Mittel
bald nur ungenügend, und zuletzt gar nicht mehr vorhanden
waren, das Nessmer Höst in Stand zu erhalten. Es ver-
fiel rasch und seit dem Jahre 1632 wurde cs ganz auf-
gegeben. Die Folge war, daß der Fluß abermals das
geradeaus führende Bett aufsuchte und mehr und mehr ver-
tiefte, während er das alte vor Emden vorbeiführende bald
mit seinem Schlick anfüllte. Heute liegt Emden dreiviertel
Stunden von der Ems entfernt und ist nur durch einen
kümmerlichen Schiffahrtskanal mit ihr verbunden. Nur der
alte Deich von Borssum über Emden nach Larrelt mit seinem
absonderlich gekrümmten Zuge (vergl. das Kärtchen) verrät
noch heute die ehemalige Ufergrenze der ungetreuen Ems,
deren altes Bett kaum mehr in der nun Generationen hin-
durch verfestigten Marsch wieder zu erkennen ist. In den
stromaufwärts gelegenen Orten Leer und Papenburg ver-
kehren größere Seeschiffe als in Emden. Der durchschnittliche
Tonnenraum der in diesen drei Emshäfen verkehrenden See-
schiffe nämlich hat in den letzten Jahren betragen: in Emden
50, in Papenburg 80, in Leer 100 Registcrtons. Heute
ist Emden eine Kleinstadt, während Bremen und Hamburg
Welthandelsplätze ersten Ranges geworden sind I.
Ein ähnliches Schicksal befürchtete in diesem Jahrhundert
einmal vorübergehend noch ein andrer deutscher Hafenplatz,
ein ehedem gleichfalls wichtiges Glied der Hansa, dessen
Handel nicht minder an die Mündung eines großen Flusses
gebunden ist: Danzig. Bis zum 1. Februar 1840 mündete
bekanntlich die Weichsel an Danzig vorüberfließend bei Ncu-
fahrwasser. An jenem Tage aber war, nachdem eine Eis-
stopfung unterhalb der Stadt den Fluß gesperrt hatte und
ein Bruch der Deiche jede Minute befürchtet wurde, der
Strom durch die schmale, über. 30 m hohe Düne bei
Neuführ hindurchgebrocheu. Ein dichter, die ganze Nicde-
ruug überlagernder Nebel hob sich erst am Abend des
1. Februar und zeigte den in Spannung harrenden Danzigcrn
neben der Sicherheit der unmittelbaren Rettung eine schwere
Bedrohung für die Zukunft in Gestalt der neuen Mündung,
die, wie sic fürchteten, ihnen nun die Weichsel gänzlich ent-
ziehen würde. Bei näherer Überlegung aber erwies sich die so
veränderte Situation eigentlich nur vorteilhaft. Die Stadt
und der Hafen hatten fortan wenig oder gar nicht von den
treibenden Sünden und dem gefürchteten Eisgang des Stromes
zu leiden, andrerseits blieben auch merkliche Schlickablage-
rungen in diesem nunmehr toten Arm des Flusses aus; und
wenn die Barre vor Neufahrwasser jetzt minder gut gespült ist,
so kann doch im guten Schutz der Halbinsel Hela den größten
Teil des Jahres hindurch ein Dampfbagger dort arbeiten
und das Hindernis nicht übermäßig anwachsen lassen. Seit-
dem namentlich die neue Mündung an der Trennungsstelle
kurz oberhalb Neufähr durch eine Schleuse gegen das alte
Bett abgesperrt ist, sind die Danziger vor Überraschungen
durch die Weichsel leidlich gesichert, Hochwasser und Eis-
gang müssen jetzt den kürzesten Weg durch die neue Mündung
bei Neufähr in die Ostsee einschlagen.
Wenn nun auch sämtliche Mündungshäfen mehr oder-
weniger durch die Launenhaftigkeit. der Flußläufe stetigen
kleinen Plagen und gelegentlich tragischen Katastrophen aus-
gesetzt sind, so haben sie doch vor den Häfen der andern
Typen einen sehr gewichtigen Vorteil voraus: die Lage an
0 Ohne mit den Technikern rechten zu wollen, kann ich
doch den Gedanken nicht unterdrücken, daß die Lage des jetzigen
Emdener Schiffahrtskanals, fast rechtwinkelig gegen die Haupt-
hahn der Flutwelle, fehlerhaft gewählt ist; eine dem alten Ems-
deich mehr folgende, dem tiefen Wasser beim Knock zustrebende
Fahrrinne würde zwar länger werden, aber der Flutwelle em-
gegen sich öffnen und auch den größten Seeschiffen den Zugang
ermöglichen. Der gegenwärtige Zustand ist und bleibt hoffnungslos.
44*
348
Dr. Edmund Goeze: Die Pflanzenwelt von Britifch-Beludschistan.
einer ins Binnenland oft tief hineinführenden Wasserstraße.
Was wäre Hamburg ohne den Handel auf der oberen Elbe,
Havre ohne die Seine, Buenos Ayres ohne den Laplata,
Neu-Orleans ohne den Mississippi! Aber diese kommerziellen
Gesichtspunkte hier weiter zu verfolgen liegt nicht in dein
Nahmen unsrer Aufgabe, die nur einen Streifzug durch
dieses wohl begrenzte und an interessanten Thatsachen reiche
Gebiet der Morphologie der Erdoberfläche beabsichtigen
konnte. Denn eine erschöpfende Darstellung des Problems
durfte nicht wohl an dieser Stelle geplant werden, da cs
leicht wäre, über jeden der drei Hafentypen ein ganzes
Buch zu schreiben.
Die Pflanzenwelt von Britifch-Beludschistan.
Don Dr. Edmund Goeze.
Über dieses Thema fanden wir in der letzten Nummer
des „Linnean Society’s Journal“ (Botany, vol. XXVIII)
eine sehr eingehende und interessante Arbeit die wenigstens
int Auszuge weiteren Kreisen bekannt zu werden verdient.
Während die im Jahre 1879 an England abgetretenen
Distrikte von Sibi und Peshin zuerst als „Assigned Districts
of Southern Afghanistan“ bezeichnet wurden, nennt man
jetzt das ganze zur „Baluchistan Agency“ gehörige Land
Britisch -Beludschistan, von welchem nur die Bolán- und
Quetta-Thäler, für deren Okkupation and) eine Abgabe an
den Khan von Kelat gezahlt wird, zum eigentlichen Belud-
schistan gehören. In diesem Lande nun hielt sich der Haupt-
verfasser dieser Schrift von 1885 bis 1888 ans und legte
in einem etwa 7000 englische Quadratmeilen umfassenden
Gebiete botanische Sammlimgen an. Andre waren zu
gleichen Zwecken früher schon hier thätig gewesen, so Griffith,
als er 1839 die militärische Expedition nach Afghanistan be-
gleitete; Dr. Aitchison, welcher 1884 bis 1885 der „Afghan-
Dclimiuination-Kommission" beigegcbcn war, und Dr. Stocks,
der 1850 bis 1851 von Sind aus mehrere Ausflüge
nach dort unternahm. Herrn Lace war es aber vorbehalten,
die Flora dieser Region gründlich zu erforschen und über die
dortigen Vegetationsverhältnisse sich genauer zu unterrichten.
Wir haben cs hier mit zwei durch eine Wasserscheide ge-
trennten Gebieten zu thun, von welchen das bei weitem
kleinere, nach Westen gelegene, von dem Peshin-Lora (Lora ist
die lokale Bezeichnung für Fluß) bewässert wird. Das nach
Osten sich hinziehende Gebiet wird durch kalkhaltige Hügel-
reihen ttnb Bergketten in viele Thäler zerlegt und münden
die dort auftretenden Gewässer in den Nari-Fluß, dessen
Wassermassen zur künstlichen Bewässerung des Landes aus-
gebeutet werden, um dann in der Wüste zu verlaufen. Sibi
liegt am nördlichen Ende des „Pat", d. h. der Wüste, etwas
darüber hinaus zeigen sich die ersten Hügel, machen sich bald
10 000 Fuß hohe Bergketten bemerkbar, zwischen welchen
hochgelegene Thäler eingebettet sind. Viele Flußbetten, eine
Menge von Wasserläufen durchziehen das Land, meistens sind
solche aber ausgetrocknet oder in kleine Bäche verwandelt, die
freilich nach anhaltendem, heftigem Regen zu reißenden
Strömen ausarten können. Kreidefelsen walten vor, die
höchsten und ausgedehntesten Höhenzüge sind aus hartem
Kalkstein, gelegentlich aus Konglomerat gebildet, im Khwája-
Amrán-Höhenzuge dagegen findet sich Schieferthon. Die
niedrigeren Hügelreihen werden durch Sandstein und Mergel
gekennzeichnet und sind jene bei Khattan, wo Petroleumquellen
auftreten, reich an Fossilien. Auch noch anderswo stößt man
auf Petroleum, das insbesondere für Eisenbahnarbeiten beim
Khojak-Tunnel gebraucht wird, häufig haben aber die Boh-
rungen wegen der vielen heißen Mineralquellen wieder ein-
*) A Sketch of the Vegetation of British Baluchistan
with Description of New Species. — By J. H. Lace,
Deputy Conservator of Forests in India, assisted by
W. B. Hemsley, Principal Assistant at the Herbarium,
Royal Gardens, Kew.
gestellt werden müssen. Verschiedenartige Salze sind nament-
lich dem Peshin-Distrikt eigen, und nach dem Winterrcgen oder
wenn das Land künstlich bewässert wurde, effloreszieren einige
ans der Oberfläche. Hier und da findet sich auch Steinkohle
in kleinen Lagern und wird bei Khost und bei Gandak ge-
wonnen.
Das Klima von Beludschistan zeichnet sich durch seine
Extreme, die plötzlichen Temperaturwechsel aus, ist bei einer
Höhe von 3000 Fuß und darüber wesentlich strenger als
am Himalaya unter gleichen Höhenverhültnissen. Es dürfte
dies wohl zum größten Teil ans die spärliche Pflanzenwelt,
die kahlen Hügel und den fast absoluten Mangel an Wäldern
zurückgeführt werden. Der Regensall kann hier, als in der
trockenen Zone, nur ein geringer sein, so schwankte derselbe in
Qnetta von 1878 bis 1888 zwischen acht und neun Zoll, in
Peshin war das Quantum ein noch viel kleineres und fällt
in Sibi bisweilen nicht einmal ein Zoll Regen im Jahre.
Die braunen, dürren Hügel und Ebenen bieten nur im
Frühlinge, vom März bis zum Mai, ein frischeres Bild dar,
wo die schön gefärbten, wenn auch nur kleinen Blumen unzäh-
liger Pflanzen zur Entwickelung gelangen, gelbe mid purpurne
Schattierungen in den Vordergrund treten. Ganz besonders
reich ist die Familie der Kreuzblütler vertreten, auch Tra-
gantsträucher zeichnen sich durch Artenmenge aus. Höchst
charakteristisch sind die vielen stacheligen Gewächse, unter
welchen die Korbblütler und Astragalusarten den ersten Platz
einnehmen; selbst angebaute Pflanzen, beispielsweise die ge-
meine Aprikose, werden stachelig, sobald sie längere Zeit von
Dürre zu leiden haben. Die zahlreichen Gräser gehören der
Mehrzahl nach zu den einjährigen Arten, welche bei zu-
nehmender Wärme bald verdorren; gute Futtergräser zählen
zu den Seltenheiten und ist Andropogon laniger die ein-
zige Art, welche weite Flächen überzieht. In der Nachbar-
schaft von Sibi zeigt der Pflanzenwuchs manche Überein-
stimmung mit dem der Punjab- Ebene und Siuds, hier wie
da bilden Prosopis spicigera, Salvadora oleoides, Cap-
paris aphylla auf unbebautem Boden ziemlich dichte Jungles.
In den niedrig gelegenen Gegenden wachsen vorzugsweise
Tamarix gallica und T. articúlala, denen sich neuerdings
eine Pappel, Populus euphratica, zugesellt hat. Ein hübscher
Strauch mit fleischiger, scharlachroter Frucht ist Zizyphus
nummularia, ein andrer, Calotropis procera, liefert in
seinem Holze ein vorzügliches Material für die Schwert-
scheiden der Eiugebornen. Durch massenhaftes Auftreten,
hohen Wuchs und reiche Belaubung fällt hier auch Alhagi
Camelorum ins Auge und Cassia obovata, von welcher
die Senuesblätter des Handels gewonnen werden, gehört zu
den gemeinen Kräutern. Aus der Reihe der Salzpflanzen
sei auf Ilaloxylum recurvum hingewiesen, weil sie zur
Gewinnung von Soda verwertet wird, während andre Ver-
treter der Salsolaeeen ein treffliches Futter für Kamele
abgeben. In Panicum antidótale, dem „Gum“ der Ein-
gebornen, lernen wir das wichtigste Futtergras kennen, in
Zizyphus Spina-Christi dagegen den einzigen, um die
Dr. Edmund Goezc: Die Pflanzenwelt von Britifch-Beludfchistan.
319
Dörfer hcrnm angepflanzten Bann:. — Schlägt man die
Hurnai-Eisenbahn-Straße ein, erscheinen die äußeren Hügel
fast jeden Pflanzenwuchses entblößt und in den zu beiden
Seiten des Nari-Flusfes gelegenen Thälern machen sich eben-
falls nur vereinzelte Bäume und Sträucher von dürftigem
Aussehen bemerkbar. Zwischen Spiutangi und Sunerai wird
der Kenschbaum, Vitex Agnus Castus, beobachtet, mit einer
hohen Aristida und Saccharum ciliare zu den charakte-
ristischsten Pflanzensormen der steinigen, trockenen Wasserlänfe
gehörend. Ein für die Kamele überaus giftiger Oleander-
strauch, Nerium odoruiu, hat dagegen an den Ufern fließen-
der Gewässer bis zu 6000 Fuß sein Heim aufgeschlagen, und
eine mächtige Schlingpflanze, Periploca aphylla, überzieht
das umherliegende Geröll in voller Dichtigkeit, liefert den
Kamelen Futter, in ihrem Holze den Bewohnern ein mäßiges,
aber dennoch höchst willkommenes Brennmaterial. Der
Olbaum, sowie der weiße Maulbeerbaum werden bei Hurnai
angepflanzt. Hier fängt auch eine Zwergpalme, Nannorrhops
liitcliiePna, ent, Dickichte zu bilden, die bei Shahrag viele
Morgen Land für sich allein okkupieren. Alljährlich werden
ungeheure Quantitäten ihrer Blätter geschnitten, um Matten,
Taue u. s. w. daraus anzufertigen. Selten nur wird hier
die Dattelpaline angetroffen. Sobald das 4000 Fuß hoch
gelegene Plateau von Shahrag erreicht ist, macht sich ein
Wechsel im Klima fühlbar, — die Sommer sind sehr heiß,
im Winter fällt aber gelegentlich Schnee, und viele Pflanzen
erreichen dort ihre Nordgrenze. Bei 5200 Fuß lenkt die
Eisenbahn, nachdem der zwei Meilen lange Ehappar-Paß hinter
einem liegt, in das Mangi-Thal ein, wo unter manchen andern
Pflanzen vereinzelte Büsche unsrer gemeinen Brombeere und
des Kappernstrauches, Capparis spinosa, sichtbar werden. —
Etwa fünf Meilen in nordöstlicher Richtung von Hurnai
führt die Militärstraße durch eine der so häufigen Engpässe
nach dem Bori-Thal, welches eine wenigstens für Beludschistan
überaus artenreiche Pflanzenwelt beherbergt, was wohl in
erster Linie dem ergiebigeren Regenfall zuzuschreiben ist, wenn
auch über die Regenmenge selbst keine zuverlässigen Berichte
vorliegen. Die steilen, den Paß einsäumenden Hügel sind
mit Oelbänmen dicht besetzt, auch eine strauchige Form des
Mandelbaumes ist ziemlich häufig und insofern bemerkens-
wert, weil sie Blüten und Blätter zu gleicher Zeit entwickelt.
Zeitig im Frühling gehört Prunus eliuruea zu den am
meisten ins Auge fallenden Sträuchern, dessen fleischrote
Blüten mit den silberglänzenden Zweigen prächtig kontra-
stieren. Unter den Kräutern sei auf Euphorbia osyridea
hingewiesen, deren Milchsaft zum Gewinnen der Milch Ver-
wendung findet. — Nachdem die Torkhan- und Dilküua-Pässe
hinter einem liegen, führt die Straße allmählich bis zu
700 Fuß hinan, dann geht es abwärts ins Smalan-Sinjdwi-
Thal, wo die Myrte in seltener Kraft und Üppigkeit prangt.
Dichte, fast 15 Fuß hohe Myrtengebüsche breiten sich über
verhältnismäßig weite Flächen aus, sind aber hier und da,
wo sie der Kultur Platz machen sollten, bedenklich gelichtet
worden. — Das sich direkt nach Nord und Süd hinziehende
Quetta-Thal ist bei einer Länge von 15 Meilen in seiner süd-
lichen Hälfte etwa vier Meilen, am nördlichen Ende fast noch
einmal so breit und wird gegen Osten hin von Murdar, im
Norden vom Takatu-, im Westen vom Ehihiltan-Höhenzuge
begrenzt. Nur am Fuße des letztgenannten wachsen Pistazien
in ziemlicher Menge, sonst sind. die das Thal einschließenden
Hügel alles Baumwnchses beraubt, da es den dortigen Be-
wohnern an genügendem Brennmaterial fehlt. Dagegen
zaubern Kräuter aus den Ordnungen der Erueiferen, Legn-
minosen, Eompositen, Boragineen und Liliaeeen einen bunten
Frühlingsschmuck hervor. Zahlreiche Obstgärten hat man in
der Nähe der Dörfer angelegt, häufig sind dieselben von
hohen Lehmmauern eingeschlossen und außerdem noch durch
einen Gürtel von Pappeln oder Maulbeerbäumen umringt,
um den Aprikosen-, Mandel-, Pfirsich-, Birn- und Äpfel-
bänmen gegen die heftigen Winde Schutz zu bieten. Granat-
äpfel und Feigen bilden in diesen Gärten das Unterholz, und
wird die Weinrebe entweder in tiefen Gräben gezogen oder
ihr zum Emporklettern an hohen Bäumen volle Freiheit ge-
lassen. Eine einheimische Frucht von recht fadem Geschmack
ist die „Sinjit", Elaeagnus angustifolia, welche aber tut
Lande selbst sehr geschätzt wird, auch machen die Blätter dieses
Baumes im Herbste ein gutes Schaf- und Ziegenfutter aus.
Das Klima der Qnetta- und Peshin-Thäler eignet sich vorzüg-
lich. für den Obstbau, dessenungeachtet wird nur der Apri-
kosenbaum in größerer Zahl angepflanzt und dienen seine
kleinen getrockneten Früchte zum Winterbedarf, auch führt
man sie nach Indien aus. Bessere Fruchtsorten wurden
neuerdings von England eingeführt, auch haben die dortigen
englischen Behörden es sich angelegen sein lassen, die Land-
straßen und die freien Plätze in den Ortschaften mit Pappeln,
Platanen und Weiden zu bepflanzen. Ein gesellig wachsender
Strauch aus der Familie der Korbblütler, Othonnopsis
intermedia, der „Gungu“ der Eingebornen, trägt wesentlich
zur Physiognomie dieses Thales bei, leider wird er wegen
seiner sehr giftigen Eigenschaften den Kanteten oft verderblich,
doch dient er als Volksmedizin und wird aus seiner Asche
ein mit Baumwolle vermengter Zunder angefertigt. — Der
Takatu-Höhenzug, dessen höchste Spitze 11400 Fuß mißt,
trennt das Quetta-Thal vom Kakar Lora- oder Gwal-Thale, wo
der Pflanzenwuchs schon manchen Wechsel zeigt. Im eigent-
lichen Thale treten namentlich Artemisien und Alhagi
Camelorum hervor, letztere das bekannte Kantelfutter liefernd,
welches von den Bewohnern im Herbste abgeschnitten und
eingesammelt wird, indem sie das dornige Buschwerk zu
Haufen tragen, dann zu kleinen Stücken zerschlagen, etwas
worfeln und dann für den Winter aufspeichern. Weiter
nach Gwal hin finden sich viele Morgen Land mit Ephedra
pachyclada überzogen, stellenweise wird dieser Strauch aber
von Schafen und Ziegen derart abgeweidet, daß er nur eine
Höhe von etlichen Zoll aufweist. Ein andrer, sehr charak-
teristischer Strauch hat seinen Standort zwischen Ulgai und
Gwal; von steifem, dornigem Habitus, erreicht Stocksia bra-
liuica eine Höhe von 6 bis 12 Fuß, belaubt sich nur spärlich
und entwickelt im April bis Mai einen Reichtum gelber
Blumen. Seine erbsengroße Frucht wird in einem aufge-
blasenen Sack von glänzend roter Farbe eingeschlossen. —
Da es sich hier nur um einen Auszug der Laeeschen Schrift
handelt, muß selbstverständlich davon abgesehen werden, in
die Vegetationsbilder der hier vorgeführten Länderstriche
weiter einzudringen. — Das Peshin-Thal, welches von Osten
nach Westen eine durchschnittliche Länge von 36 Meilen und
eine Breite von 15 Meilen aufweist, wird von Wasserläufen
durchzogen, die von senkrechten, oft 50 bis 80 Fuß hohen
Ufern eingeschlossen sind, aber, außer bei Überschwemmungen,
nur wenig Wasser enthalten. Zwischen diesen Wasserläufen
liegen weite Ebenen, die aber zum großen Teil aus Mangel
an Wasser unbebaut sind. Zwei neuerdings fertig gestellte
Jrrigationssysteme haben jedoch mehrere Tausend Morgen
Land unter Kultur gebracht, welche früher nur gelegentlich
nach ergiebigem Regenfall verwertet werden konnten. Der
größere Teil des Thales wird aber immer aus diesem Grunde
oder auch wegen der im Boden auftretenden Salze im un-
fruchtbaren Zustande verbleiben. Viele dieser Ebenen sind
meilenweit mit Büschen von Artemisia und Ilaloxylon
Grifsithii bedeckt, deren Wurzelstöcke als Feuerungsmaterial
ausgebeutet werden, im Sommer dagegen werden die laub-
losen Zweige der Haloxylon vom weidenden Vieh abgenagt.
Der Rauch des Artemisienholzes soll den Augen sehr schädlich
sein, aus dem Holz der letztgenannten Art wird eine gute
350
Dr. Edmund Goeze: Die Pflanzenwelt von Britisch-Beludfchistan.
Holzkohle gewonnen. Im westlichen Teile des Thales finden
sich Tausende von Morgen mit Tamarix gallica besetzt;
jedes zweite oder dritte Jahr schlagen die Bewohner diese
halb strauch- halb baumartige Vegetation herunter, sei es, um
sie zur Feuerung zu benutzen, oder auch Matten daraus an-
zufertigen, mit welchen die Häuser gedeckt werden. Die
jungen Triebe einer Seggenart, welche sich vorzugsweise auf
torfigen Plätzen angesiedelt hat, werden von Ziegen und
Schafen gern gefressen, später im Jahre fällt diese Carex
physodes durch ihre großen aufgeblasenen, braunen Fruchte
sehr ins Auge. Der im Westen des Peshin-Thals gelegene
Khwäja Amranhvhenzug wird fast ausschließlich ans Thon-
schiefer zusammengesetzt. Bäume, wie Pistacia murica var.
cabulica, ziehen sich zu beiden Seiten desselben hin und
Prunus eburnea, Caraganen, Cotoneaster re. bilden ein
ziemlich dichtes Unterholz, zwischen welchem buntfarbige
Tulpen und mancherlei Kräuter es sich wohl sein lassen. —
Die mit Wachholder besetzten, zwischen 7000 bis 10 000 Fuß
liegenden Landstriche begreifen die Gegend um Ziarat herum,
den Pil-Höhenzug und jenen in der Nähe von Quetta. Hier
tritt Juniperus rnacropoda, der „Obusht“ oder „Appurz“
fast als Alleinherrscher ans, wenn es ihm auch durch das
erbarmungslose Abschlagen seiner Zweige nur selten gestattet
wird, eigentliche Baumhohe zu erreichen. Diese Zweige
müssen als Viehfutter dienen und scheinen Wachholderbeeren
einen besonderen Leckerbissen auszumachen. Die niedrigen
Sträucher sind in vielen Arten, in unzähligen Exemplaren
vertreten, dazwischen treten schöne Liliengewächse ans, die im
Frühlinge diesen Gegenden einen besonderen Reiz verleihen.
Auch an Gräsern herrscht kein Mangel und mehrere derselben
besitzen einen hohen Futterwert, namentlich eine Agropyrum-
art, von den Eingeborneu „Wijz“ genannt, und mehrere
Penuissetum- und Stipa-Arteu. Ein andres Gras, Nelica
Jacquemontii, soll dagegen giftige Wirkungen hervorrufen,
und werden Kamele, wenn sie von der „Lawanai butaey“
gefressen haben, von einer Lähmung ergriffen, die nicht selten
tödlich endigt. Heilkräftige Eigenschaften werden einer Salbei-
pflanze, der Salvia Hydrangea, zugeschrieben, die sich über-
dies durch ihre großen, magentafarbigen Blumen empfiehlt.—
Irr der Nähe von Ziarat, etwa 60 Meilen in östlicher Rich-
tung von Quetta, stoßen wir endlich ans eigentliche Wälder,
die über 200 Qnadratmeilen einnehmen und in welchen der
Juniperus macropoda obenan steht; Bäume von 20 Fuß
im Durchmesser und 70 Fuß Höhe gehören nicht zu den
Seltenheiten. Das Holz ist leicht, besitzt wenig Stärke und
verbrennt rasch; zu Bauzwecken, namentlich zu Sparren wird
es vielfach benutzt. Die ungeheuer dicke Rinde dient zum
Dachdecken und aus den Beeren, welche auch gegen Haut-
krankheiten empfohlen werden, wird ein — „Doshah“ ge-
nanntes Getränk bereitet. Der Baum zeigt ein sehr lang-
sames Wachsthum und wenn er sich auch durch Samen
fortpflanzt, gehen die meisten der Sämlinge infolge ungün-
stiger klimatischer Bedingungen wieder ein. Der Wachstums-
modus dieses Wachholder ist ein recht eigentümlicher; ge-
meiniglich vom Boden ab verzweigt, nehmen die untersten,
mit Blattabfällen oft dicht bedeckten Zweige an ihren Spitzen
eine Richtung nach aufwärts an, und gewinnt es dadurch den
Anschein, als ob der alte Baum von einer Menge junger
umgeben wäre. In den phantastischen Gestalten treten uns
die Stämme häufig entgegen, ihre knorrigen, ineinander ver-
schlnngenen Äste sind nach allen Richtungen hin gedreht, und
nehmen sie, nachdem die Hanptäste mehrere Fuß vom Boden
abgehauen sind, eine kandelaberartige Form au. Auf dürren,
steinigen Hügeln, in trockenen Wasserläufen zwischen 4000 bis
7500 Fuß, so beispielsweise bei Gwal, bei D6zan im Bolan-
Passc, am Fuße der Chihiltan- und Mashalak-Höhenzüge n. s. w.
ist Pistacia mutica var, cabulica sehr gewöhnlich, wächst
gesellig beisammen oder tritt in Zwischenräumen mehr zer-
streut auf, bildet aber nie eigentliche Wälder. Der Baum
erlangt eine Höhe van 20 bis 25 Fuß, mißt 6 bis 10 Fuß
im Umfang und bildet eine weite, runde Krone. Das sehr harte,
dunkle, seingeäderte Holz liefert das beste Brennholz des Landes.
Jedes dritte Jahr ist der Frnchtertrag dieser Pistazia ein
außerordentlich ergiebiger und werden die — „Schnee“ ge-
nannten Früchte vom Volke ungemein geschätzt. Der gemeine
Ölbaum, welcher sich über noch weitere Flächen ausdehnt als
dies bei der Pistazia der Fall ist, wachst ebenfalls gesellig
beisammen und herrliche Haine finden sich von ihm nament-
lich im Zhob-Thale. In einem eigentümlichen Gemisch von
Arten tritt uns der Baumwuchs zwischen dem Wampasse
und Hurnai bei einer Meereshöhe von 3500 Fuß entgegen,
bildet dort undurchdringliche Jungles, aus welchen Dalbergia
Sissoo zumeist sichtbar wird und setzt sich das Unterholz ans
mannigfaltigen Sträuchern zusammen. — Nach diesen kurzen
Bemerkungen über die Wälder, gehen wir jetzt zu dem Ab-
schnitt der in diesem Lande vorwaltenden Kulturen über. Daß
dieselben seit der englischen Okkupation bedeutend zugenommen,
auch mannigfaltiger geworden sind, unterliegt keinem Zweifel,
dessenungeachtet läßt sich die Thatsache nicht ableugnen, daß
alle Anbauversuche infolge der spärlichen Wasscrzufuhr be-
schränkte bleiben müssen, in vielen Gegenden ist es überdies
Sitte, das Land ein oder zwei Jahre brach liegen zu lassen.
Weizen, Gerste und einige Hirsearten, namentlich Panicum
miliaceum, machen die wichtigsten Getreidearten aus, von
Hurnai bis.Durgai wird auch ziemlich viel Reis angebaut,
in den höhergelegenen Thälern trifft man aber fast nur Gerste
au, deren Ertrag ganz und gar vom Regeufall abhängig ist.
Bei Quetta herum gedeiht Mais vortrefflich und wird eine
sehr zwergige Form dieses Korns, welches einen wesentlichen
Bestand der Volksnahrnng ausmacht, noch zwischen 5000 und
9000 Fuß angetroffen. Wo die Felder gut bewässert und
reichlich gedüngt werden, gewinnt man von der Luzerne äußerst
ergiebige Ernten; hier und da kommt auch der Anbau der
Baumwollenstaude in Betracht und gelegentlich zeigen sich
einige, mit ölhaltigen Samen bestellte Flächen. Zn Färbe-
zwecken schenkt man der Krapp-Pflanze in etlichen Lokalitäten
Beachtung. Viele Varietäten von Melonen, Wassermelonen
und andren Früchten mehr lassen in Quantität und Qualität
fast nichts zu wünschen übrig. Eins der wichtigsten Desi-
deraten für Beludschistan bleibt das Futter, da Gräser im
größeren Teile des Landes nur spärlich angetroffen werden,
das Vieh hauptsächlich auf das Stroh der Cerealien ange-
wiesen ist. Um hierin Wandel zu schaffen, wurde kürzlich
eine Futterfarm auf einem Terrain angelegt, welches mit
einem der Jrrigationssysteme im Peshin-Thale in direkter Ver-
bindung steht, doch infolge der klimatischen Bedingungen
dürfte diese Anlage erst mit der Zeit nutzbringend werden.
Unter den einheimischen, zur Nahrung benutzten Pflanzen
sei, soweit solche nicht bereits erwähnt wurden, auf folgende
hingewiesen: Die jungen Blätter von Eremurus auran-
tiacus, Lepidium Draba und Chenopodium Botrys
dienen als Gemüse, auch die Zwiebeln einiger Tulpenarten
und einer Schwertlilie, Iris Stocksii, werden gegessen, des-
gleichen die frischen Wnrzelstöcke von Trogopogon gracile
und Scorzonera mollis. Oliven werden hauptsächlich als
Medikament verspeist, dagegen machen die Früchte respektive
Samen von Prunns eburnea, Berberis vulgaris, Ber-
chemia lineata, Sageretia Brandretbiana und jene von
Astragalus purpurescens, „Palez“ genannt, eilt eigent-
liches Nahrungsmittel aus. In gewissen Jahren wird eine
Art von Manna auf Ootoneaster nummularia gesammelt,
dessen Früchte, wie die von Salvadora oleoides gegessen
werden. Auf den höheren Berglaudschaften wird Kümmel-
samen in großen Massen eingesammelt.
G. E. Fritzsche: Der unterseeische Vulkanherd von Pantellaria. — Aus allen Erdteilen.
351
Die Zahl der medizinisch wichtigen Pflanzen ist eine
ziemlich große, so werden beispielsweise gegen Fieber Salvia
Hydrangea, 8. spinosa, Thymus Serpyllum, Iphiena
persica und Peganum Harmala empfohlen, Tanacetum
gracile und Euphorbia Heyneana gelten als kräftige Ab-
führmittel und gegen rheumatische Affektioncu wird ein Auf-
guß von Othonnopsis intermedia und Ilhazya stricta
verordnet. Auch für die Veterinärheilkunde liefert die
Pflanzenwelt Beludschistans wirksame Mittel; wenn wir
damit abschließen, dürfte auch hier dem Verfasser, Herrn Lace,
für seine eingehenden Untersuchungen der dortigen Vegetations-
Verhältnisse ein Anerkennungstribut gezollt werden.
Der unterseeische Vulkanherd von Pantellaria.
Mitteilung von G. E. Fritzsche in Rom.
In: Jahre 1831 erhob sich unerwartet eine vulkanische
Insel aus dem Meere zwischen Sizilien und Pantellaria,
welche von den Neapolitanern, zu Ehren des bonrbonischen
Königs Ferdinand, „Ferdinanden" benannt wurde. Jedoch
so unversehens die Insel entstanden war, so unversehens ver-
schwand sie auch wieder nach wenigen Monaten. Zu Ende
des Jahres 1881 wurde Pantellaria von einem Erdbeben
erschüttert, und eine neue Insel wurde auf der Meeres-
oberfläche sichtbar, einige Tage hindurch konnte ein Ranch-
und Aschenregen beobachtet werden, doch wieder nach wenigen
Wochen war auch diese Insel verschwunden. Die Herbst-
monate dieses Jahres haben uns mit den Anzeichen einer
vermehrten vulkanischen Thätigkeit in Sizilien wieder und
zum drittenmal in diesem Jahrhundert die merkwürdige
Insel aus dem Meeresgrunde heraufgezaubert, doch auch
diesmal nur für kurze Zeit.
Am 18. Oktober 1891 erhob sich die Meeresflüche fast
genau 3 km westlich von Stadt und Insel Pantellaria zu
hohen Wasserbergen, Rauchsäulen brachen sich Luft und es
bildete sich in Nord-Süd-Erstreckung eine schwimmende Aschen-
insel von beinahe Kilometerlänge, durchwühlt von Steinaus-
brüchen und Rauchblasen. Der rührige Direktor des Ita-
lienischen MeteorologischenZentralbüreaus, Prof. P. Tacchini
in Rom, beorderte sofort den Prof. Ricco, Vorsteher des
meteorologischen Observatoriums in Catania, sich auf einem
bereitwilligst vom Marine-Ministerium zur Verfügung ge-
stellten Torpedoboote nach Pantellaria einzuschiffen. Derselbe
gelangte rechtzeitig ans den Schauplatz des unterirdischen
Vulkanausbruches, und von den aus den Wassern empor-
geschleuderten Auswurfsbomben, die zum Teil in der Luft
zerplatzten, ist sogar ein Matrose der Besatzung noch gefährlich
verwundet worden. Prof. Ricci, hat vom Schiffe aus
mehrere Photographieen des merkwürdigen Phänomens auf-
nehmen können, welche dem Berichte desselben beigegeben
werden sollen, der in kürzester Zeit in den Annalen des
Meteorologischen Zentralbüreaus erscheinen wird, im
Verein mit den Nachrichten über die Erdbebenerscheinungen,
welche diese Eruption begleiteten. Inzwischen verdanken wir
der Liebenswürdigkeit des Prof. Tacchini die Mitteilung,
daß nach Aufhören der vulkanischen Thätigkeit auf dem
Meeresgrunde auch die Ausbruchserscheiuungen bereits ihr
Ende erreicht haben, und nur noch eine große Anzahl
schwimmender Answurfsmassen sichtbar ist. Die Tiefe-
messungen ergaben, daß der unterseeische Krater mehrere
Hundert Meter unter dem Meeresspiegel gelegen ist. Die
Insel Pantellaria hat sich auf der der Eruption zugewandten
Seite sichtlich gehoben, sowie schon eine analoge Hebung auch
bereits tut vorigen Jahre beobachtet worden ist.
Aus allen Erdteilen.
— Die Konfessionen und die Ausländer in
Berlin. Vor kurzem sind die „einstweiligen Ergebnisse der
Volkszählung vom 1. Dezember 1890 in der Stadt Berlin"
erschienen, denen wir die nachstehenden wichtigen Zahlen ent-
nehmen :
Berlin zählt 1 356 648 Evangelische, 135031 Katho-
liken und 79 286 Juden, wobei zu beachten ist, daß gegen-
über der durchschnittlichen Bevölkerungszunahme Berlins um
20 Proz. die Zunahme nach Konfessionen sich folgender-
maßen verteilt: Bei den Evangelischen um 18,4 Proz., bei
den Katholiken um 36,1 Proz., bei den Juden um 23,2 Proz.
Es kommen ans 1000 Einwohner 859 Evangelische, 86 Katho-
liken und 50 Inden. Im Vergleich zu 1880 giebt das auf
1000 Einwohner 2 Juden und 15 Katholiken mehr als vor
10 Jahren. Die Katholiken wohnen am dichtesten in der
Gegend der katholischen Hedwigskirche, die Juden in sämt-
lichen Stadtgcgenden, in denen der Handel überwiegt (Span-
dauer Viertel söstlicher Teils, westlicher Teil des Stralauer
Viertels und Alt-Berlin), am seltensten sind sic in den öst-
lichen Arbeitervierteln.
Für die Mischehen innerhalb der Hanptkonfessions-
grnppen ergeben sich folgende Zahlen: Evangelisch-römisch-
katholisch 26 083, evangelisch-jüdisch 1175, römisch-katholisch-
jüdisch 118. 42 Personen gaben an, sie seien Atheisten. Die
Zahl der gebornen Berliner betrug 306 308 männliche
und 336 325 weibliche Personen, gegenüber 453 315 männ-
lichen und 462 846 weiblichen außerhalb Gebornen.
Ausländer giebt es in Berlin 17 866, darunter
7295 Österreicher, 920 Ungarn, 2416 Russen, 1462 Nord-
amerikaner, 1173 Engländer, 397 Franzosen. Etwas anders
I gestaltet sich das Verhältnis der Fremden, wenn man die
j Sprache zum Maßstab nimmt. Danach reden 526 nieder-
deutsch, 1067 dänisch, 551 schwedisch, 2251 englisch, 1084
französisch, 589 italienisch. Der größte Teil der Fremd-
sprachigen aber gehört der slawischen Sprachgrnppe an, im
ganzen 18 245 Personen, von denen 15 857 polnisch reden.
Der Konfession nach verteilen sich die Fremdsprachigen haupt-
sächlich auf die Nichtevangelischen; 15 707, also fast 3/6, sind
Katholiken, 2576 Juden, deren Anteil am größten unter
denen mit angeblich rumänischer Muttersprache ist (62 Proz.),
dann unter denen mit angeblich russischer (48,5 Proz.) oder
magyarischer (40 Proz.) oder türkischer (30 Proz.) Mutter-
sprache.
— Über die Gletscher des Kaukasus bringen die
Verhandlungen der Berliner Gesellschaft für Erdkunde folgende
Mitteilung nach den Forschungen des Russen Dinnik.
Ihrem allgemeinen Charakter nach nehmen die Gebirge des
Kaukasus die Mitte zwischen den Gebirgen Zentralasiens und
Zentraleuropas ein, wobei die östliche Hälfte des Kaukasus
mehr an Asien, die westliche mehr an Europa erinnert. Der
Hanptkamm des Gebirges erstreckt sich in einer Ausdehnung von
1500 km, von welchen nur 300 km mit ewigem Schnee
bedeckt sind. Die ersten Gletscher im Westen liegen ans
dem Oschtengipfel. Zwischen ihm und den Quellen des
Maruch finden sich nur wenige und kleine Gletscher. Der
Gletscher von Maruch ist der erste große im Westen. Die
größten Gletscher finden sich auch auf dem Hauptkamme, zwischen
dem Elbrus und dem Adai-Choch einschließlich. Im Osten
vom Adai-Choch und bis zum Kaspischen Meere giebt es ans
352
Aus allen Erdteilen,
dem Hauptkamme fast keine Gletscher. Die größten Gletscher
des Hauptkammes gruppieren sich nicht um den Elbrus und
Kasbek, sondern in den Gebirgslandschaften von Bising, Bal-
karien und Digorien. Auf dem Südabhange liegen die
großen Gletscher (wenig erforscht) in Swanetien, diejenigen
mittlerer Größe jedoch an den Quellslüssen des Rion. Die
Grenzlinie des ewigen Schnees liegt im Kaukasus etwa
1500 m hoch. Nur ein Gletscher, der Karagom, geht bis
unter 1800 m herab, nicht weniger als fünf bis unter
2100 m. Tiefer als die andern gehen die in Digorien,
dann in Swanetien, Ossetien und im Bezirk Naltschik. Der
größte Gletscher des Kaukasus ist der von Bisingi; er ist
18 km lang; dann folgen der Dychsy und der Karagom.
Nach dem Umfange und der Größe der Gletscher steht
der Kaukasus hinter dem Himalaja, Karakorum und den
Alpen zurück; er übertrifft aber die übrigen Gebirge Europas
und Asiens. Die Oberflächengröße des bedeutendsten Kaukasus-
gletschers steht kaum derjenigen des größten Alpengletschers
nach.
Zn Ende der vierziger Jahre sind die Kaukasusgletscher
größer geworden, wahrend in den sechziger Jahren der um-
gekehrte Prozeß stattfand, der sich bis in die achtziger Jahre
fortsetzte. Die Gletscher der Eiszeit haben im Kailkasus
sehr viele Spuren zurückgelassen. Sie haben bis zu etwa
600 m über dem Meeresspiegel hinabgereicht und sind bis
in die Ebenen gedrungen, haben sich aber hier nicht aus-
gebreitet.
— Zur Kennzeichnung der Deutschen. Fr. Pecht
schreibt in der Beilage zur Allgemeinen Zeitung (9. Nov.)
folgende zutreffende Ansicht über unser Volk: „Das kleinliche
Wesen, das nun einmal ein ebenso unverlierbarer Charakterzng
ist als die in allzu großer Gewissenhaftigkeit wurzelnde Nei-
gung zur Pedanterie, lmd eine gewisse Vorliebe für das Häß-
liche wie auch Harte und Eckige, welche derselben Quelle
entspringt, stoßen den Fremden immer bei uns ab. Wenig-
stens bis er merkt, daß jene Kleinlichkeit mit der Wärme und
Tiefe des deutschen Gemüts eng zusammenhängt, wie die
Pedanterie mit jener angcbornen Ehrlichkeit, in der wir
auch heute noch allen Nationen der Welt überlegen sind,
wie in der Gerechtigkeit. Nicht minder stört aber auch eine
gewisse, mit unsrer einstigen Armut zusammenhängende Ge-
nauigkeit, die wie Knauserei aussieht." Vieles ist da besser
geworden, zumal seit wir ein einiges und wohlhabendes Volk
geworden sind. Wer oft in der Fremde reist, kann aber
noch immer bemerken, wie der Deutsche äußerlich in seinem
Auftreten nicht immer den vorteilhaftesten Eindruck macht.
Der Württembergcr Paulus hat das einmal in bezug auf
die Deutschen in den Museen Italiens in folgende Verse
gefaßt:
Wer mit stillverzücktcm Ahnen
Bor den Bildern sich bcscheidet,
Ist vom Stamme der Germanen
Und ist meistens schlecht gekleidet.
— Ein semitisches Museum ist in Verbindung mit
der Harvard llniversitüt in Massachusetts errichtet worden. Ein
reicher Nen-Uorker Jude spendete 10 000 Dollars für die
ersten Anfänge des Museums, welches alles in sich vereinigen
soll, was Bezug auf Kultur und Religion der Semiten hat.
Professor Lyon bereiste Europa und kaufte hier jüdische
Altertümer, hebräische Manuskripte, babylonische, assyrische
und phönikische Inschriften und Kunstwerke in Originalen
oder Abgüssen zusammen. Die Eröffnung fand ain 13. Mai
dieses Jahres statt und der Präsident Elliot meinte in seiner
Einweihungsrede folgendes: „Die Universität ist entzückt bei
dem Gedanken, daß durch das Judentum die Kultivierung,
Verfeinerung, Eindrucksfähigkeit überall hin verpflanzt wird,
wo immer eine Nation Gelegenheit hat, Juden zu ihren
Mitbürgern zu zählen." Die Allgemeine Zeitung des Juden-
tums, der wir dieses entnehmen, berichtet auch darüber, daß
das Museum sehr reich an Photographicen, syrischen, arabi-
schen und hebräischen Manuskripten ist und eine schöne
Sammlung von alten Grabsteinen aus Kairo mit kufischen
Inschriften besitzt.
— Der Völkergedanke im Ornament. Wenn
Schmecker und Liebhaber ans dem Gebiete der Völkerkunde
darüber in Staunen geraten, daß an zwei weit voneinander
getrennten Orten bei ganz verschiedenen Völkern genau das-
selbe Ornament, dieselbe Zeichnung auftaucht, so sind sie auch
rasch mit der Folgerung bei der Hand, daß die beiden Völker
einander nahe verwandt seien und aus der „Urheimat" jenes
Ornament mitgebracht haben. Oder die billige Entlehnuugs-
thcorie wird aufgestellt, und nicht zum wenigsten den Amerikanern
gegenüber, die ihre Verzierungen und vieles andre der Alten
Welt entlehnt haben sollen. Wie? Wann? Auf welchem
Wege? — das macht jenen ethnographischen Schmeckern wenig
Sorge.
Es ist nun erfreulich, zu sehen, wie ein Mann, der zu-
gleich Künstler, mit feiner Kenntnis der Ornamente vertraut
und Völkerkundiger ist, nämlich Prof. Alois Raimund
Hein, in einer vorzüglichen Schrift: „Mäander, Kreuze,
Hakenkreuze und nrmotivischc Wirbelornamente in Amerika"
(Wien, Hölder, 1891), eingehend an der Hand zahlreicher Bei-
spiele und Abbildungen zeigt, daß es bei dem Vorkommen
der genannten Ornamente in Amerika sich nirgends mit Ent-
lehnung handelt, sondern, daß sie selbständig ans dem Geiste
des Volkes heraus in der Neuen Welt entstanden sind nach
dem Gesetze des Völkergedankens, der dort wie in der Alten
Welt gleich thätig ist. „Der Mäander, das Zinnenband,
das Zickzackband und die verschieden gestalteten Kreuz- und
Hakenkreuzformen gehören zu den häufigsten Erscheinungen
der prähistorischen Ornamentik und man kann das Auftreten
eben derselben Typen in der Verzierungskunst der Natur-
völker unmöglich als ein Spiel des Zufalls betrachten. Der
primitive Dekor ruht überall, wo die auf das Ästhetische
gerichteten Bestrebungen sich aus elementaren Anfängen zu
entwickeln beginnen, ans verwandten Voraussetzungen. Gleicher-
weise wie das Verlangen nach Schinnck und künstlerischer
Beteiligung sich schon mit den ersten Regungen der Kultur
im Leben der Völker als eine unabweisliche Naturnotwendig-
keit äußert, wird auch die Übereinstimmung in den frühesten
Schöpfungen, welche dem Kunsttriebe ihre Entstehung ver-
danken, auf die Organisation des menschlichen Geistes
zurückgeführt werden müssen."
— Moundansgrabungcn in Ohio und Indiana, die
Prof. Putnam ausführte, haben eine solche Menge von
Feuersteingeräten zu Tage gefördert, wie sie ähnlich noch
niemals vorgekommen sind. Man könnte da von einem
vorkolninbischen Zeughause reden. In einem Mound bei
Anderson Station in Indiana sind allein 7232 Speerspitzen
und Messer aus Feuerstein ansgegraben worden. Sie lagen
einen Fuß dick übereinander auf einem Raum von etwa
30 Fuß Länge.
— Die Höhe des Montblanc wird neuerdings in
italienischen alpinen Schriften zu nur 4807 in angegeben.
Die Franzosen behalten jedoch die älteren Cote von 4810 in
bei. Erstere Zahl ist wahrscheinlich die von den italienischen
Mappeurs berechnete Cote.
Herausgeber: Dr. R. Andree in Heidelberg, Leopoldstraße 27.
Druck von Friedrich Vieweg und Sohn in Braunschweig.
Bd. LX.
Nr. 23.
Begründet 1862
von
Karl Andrer.
D^uck rrrrö We^tcrg v
Mer-M Mecknile.
Herausgegeben
von
Richard Andrer.
brich 'Wieweg & SoHn.
«i r rt it n f rfnii 0 t rt Jährlich 2 Bände in 24 Nummern. Durch alle Buchhandlungen und Postanstalten 4M
<7 l n U II1 DJ W C I g. zum Preise von 12 Mark sür den Band zu beziehen. " *
Über einige Dochzeitsbräuche.
Von Dr. Alb. Herm. JDoft.
Je tiefer der Mensch in die Schöpfungen des Volksgeistes
eindringt, desto gewaltiger wirken sie auf ihn zurück. Mit
unheimlicher Sicherheit treten überall die Marksteine des
Menschentums hervor, umrankt von einer tropischen Fülle
seltsamster Schlingpflanzen, welche das Auge stets aufs neue
durch ihren ungemessenen Formen- und Farbenreichtum be-
zaubern. Der gewaltige Rahmen des Allgemeinmenschlichen
zeigt uns überall die durch die Natur gezogenen Grenzen
unsres Lebens und Wesens, und innerhalb desselben sehen wir
eine überschwängliche Bethätigung eigenartiger Volks- und
Stammesbildung, welche bis zur Originalität des einzelnen
Individuums hinabsteigt. Dies Bild ist überall dasselbe,
wohin wir im Völkerleben auch unsre Blicke richten. Es
tritt aufs klarste auch hervor im Gebiet der Hochzeitsbräuche.
Die Hochzcitsbränche, soweit sie charakteristische Formen
annehmen und nicht in bloßen Schmausereien und Festlich-
keiten bestehen, symbolisieren das eheliche Leben in seiner
Entstehung und in seinem Bestände, und cs hat der Volksgeist
in dieser Beziehung alle harten und alle zarten Seiten dieses
Verhältnisses in üppigster Fülle zur Darstellung gebracht.
Das umfangreichste und über die ganze Erde noch heute
verbreitete Gebiet der Hochzeitsbräuche stellen die Ranb-
zeremonieen dar, welche die auf bestimmten Kulturstufen bei
allen Völkern der Erde vorkommende Entstehung der Ehe
durch Raub der Braut seitens des Freiers symbolisieren.
Bald sind es mehr oder minder ernstliche Scheingefechte,
welche zwischen den Geschlechtern der Braut und des Bräu-
tigams ausgesochtcn werden, bald widersetzt sich die Braut
dem Bräutigam und er muß ihr Widerstreben durch Gewalt
brechen: er muß sie mit den Armen oder ans dem Rücken
fortschleppen, und kann er ihr Widerstreben nicht brechen,
so verliert er wohl sein Anrecht aus sie. Oder die Braut
entflieht vor ihm zu Pferde oder zu Schiff und er muß sie
einholen. Sie versteckt sich vor ihm im Walde: findet er-
ste nicht, so muß er von der Werbung abstehen. Oder es
wird dem Bräutigam bei der Hochzeit der Zugang durch
die Verwandten der Braut oder andre Personen versperrt,
so daß er sich denselben oft durch Geschenke erkaufen muß.
Globus LX. Nr. 23.
Oder es werden ihm auf dem Wege zur Braut allerhand
Hindernisse bereitet, die er beseitigen muß. Diese Bräuche
sind so allgemein verbreitet und bekannt, daß hieraus ebenso
wenig eingegangen zu werden braucht, wie auf die bekannte
Symbolik der Kausche.
Es giebt aber auch sonst noch eine Menge symbolischer
Hochzeitsgebräuche, welche allgemeinere Völkergedanken wider-
spiegeln.
Viele Hochzeitsgebräuche symbolisieren die häusliche Ge-
meinschaft der Ehegatten. Namentlich ist es ein ganz
universeller Brauch, daß die Ehegatten aus einer Schüssel
essen und aus einem Gefäße trinken. Er erstreckt sich von
Madagaskar bis über alle Inseln des malaiischen Archipels 0,
von Neuguinea2) bis zu den Fidschi-Inseln. Er findet
sich in Indien D so gut wie in Thüringen und im Erz-
gebirge 4) und bei Indianer-Völkern -I. Wie bei den Tagbanüas
aus der Insel Palawan (Philippinen) sich die Brautleute
bei der Hochzeit gegenseitig eine aus Reis hergestellte Kugel
in den Mund stopfen ch, so wird bei den Tamulen auf
Eeylon Reis unter den Brautleuten geteilt7), und wie die
Brautleute bei den Chinesen aus einem Glase oder Becher-
trinken 8), so trinken sie in Japan neunmal abwechselnd aus
der Sakeschale9), so trinken sie ans den Manahiki-Inseln
aus einer Kokosnuß 10) und bei den Samojeden verspeisen
sie gemeinsam einige Fleischstücke").
Andre Hochzeitsbrüuche symbolisieren die Vereinigung
der Ehegatten. So ist es sehr gebräuchlich, daß die Kleidcr
der Brautleute zusammengebunden, -geknotet, -gesteckt oder
-genäht werden. So namentlich im indischen Völkergebiete12).
Oft wird auch ein Kleidungsstück über beide geworfen. So
bei vielen Völkern des malaiischen Archipels, z. B. bei den
Niasern, den Batak auf Sumatra, in Palembang, bei den
Dajaks, den Makassarcn und Bugincsen, aber auch im
indischen Völkergebiete, z. B. bei den Bhillalas und in
Dekkan, bei den Chewsuren im Kaukasus und bei den Finnen
und Esthen ^). Oft werden auch die Brautleute mit einem
Faden umwunden oder es werden ihnen Schnüre und Zweige
um die Handknöchel gewunden u).
45
354
Dr. Alb. Herm. Post: Über einige Hochzeitsbräuche.
Häufig werden als Symbol der Vereinigung die Hände
der Brautleute zusammengelegt, wie bei der dextrarum
junctio der Römer, Griechen und Inder, welche sich bei
vielen Stämmen Indiens noch heute finbet1;s), aber auch
ebenso bei den Papuas von Neuguinea 16), den Orang Berma
von Malakka, den Masern und Timoresen und auf Tahiti17).
Es werden auch die kleinen Finger eingehakt, z. B. bei
indischen Stämmen 18), oder bei den Endenesen von Flores 19),
oder es werden die kleinen Finger mit einem Faden ver-
knüpft, wie bei den Kandiern aus Ceylon 2U).
Auch die Symbolik des Ringaustansches, welcher sich bei
den Germanen und Slawen, aber auch in Gor im Hima-
laja^) und in Gnrgaon im Pendschab.22) findet, scheint
hierher zu gehören. In Dekkan greifen beide Teile in einen
Reisnaps und holen einen Ring herauf23).
Sehr viel derber ist das Zusammenstoßen der Köpfe
der Brautleute, wie cs sich aus Mas, im Babar-Archipel,
bei den Dajaks, den Orang-Lom 24) und in Sindh in der
Provinz Bombay 25) findet.
Auch die zur Herstellung einer künstlichen Verwandtschaft
vielfach verwandte Blutmischung findet sich als Hochzeits-
zeremonie. Bei indischen Stämmen ritzen sich die Braut-
leute blutig, und bestreichen sich mit dem Blute oder statt
dessen mit Rötel2Ü) und auch bei den Papuas von Neu-
guinea ritzen sich dieselben gegenseitig an der Stirn 27).
Andre Hochzeitsbräuche symbolisieren die geschlechtliche
Seite der Ehe. Dahin gehört namentlich das symbolische
Beilager, bei welchem die Brautleute sich bekleidet vor den
Hochzeitsgästen auf das hochzeitliche Lager legen, wie es sich
beispielsweise bei den Germanen, den Südslawen, den
Bucharen, den Jakuten findet28). Andre Bräuche geben
dem Wunsche nach Fruchtbarkeit der Ehe Ausdruck 2J. Es
wird z. B. bei den Masern, den Indern, Finnen und Esthcn
der Braut ein Kind oder ein Knabe aus den Schoß gesetzt,
damit sie fruchtbar werde oder Knaben gebäre30). Dem-
selben Wunsche wird Ausdruck gegeben und zugleich die
Einwirkung böser Geister abgehalten dadurch, daß die Braut-
leute mit Korn bestreut werden, wie bei den Juden und
vielerwärts noch heutzutage in Deutschland, Frankreich,
Siebenbürgen, England, Schottland, Sizilien, Korsika, Polen
und Rußland, oder mit Reis, wie vielfach aus Sumatra,
z. B. in den Ranaudistrikten, in Kikim, bei den Menang-
kabauschen Malaien, den Karo-Karo, bei Dajakstämmeu
ans Borneo, auf Ambon und den Aliasen, bei den Makas-
saren und Buginesen, den Sundanesen 34), dann wieder bei
indischen Stämmen in Dekkan 32) und in der Provinz Bom-
bay 33).
Andre Hochzeitsbräuche symbolisieren den Übergang der
Braut in die Familie und in die Mundschaft des Mannes.
Sie finden sich nur bei vaterrechtlicher Familicnorganisation,
bei welcher die Frau durch die Heirat aus ihrer Familie
austritt und in die Hausgenossenschaft ihres Mannes über-
geht. Die alten geschlechterrechtlichen Hausgenossenschaften
sind nicht bloß wirtschaftliche und rechtliche Gemeinschaften,
sondern namentlich auch religiöse, durch einen gemeinsamen
Ahnenkult zusammengehaltene. Die Frau wird daher in die
Sakralgemeinschaft des Hauses des Mannes ausgenommen.
Es wird das heilige Herdfener angezündet, welches sie mit
ihrem Ehemanne umwandelt, mit den berühmten sieben
Schritten (saptapadi) des indischen Rechtes, welche überall
in Indien, auch bei den Urvölkern, in unzähligen Formen
variiert werden 34), aber auch noch heutzutage bei den Osseten
und Pschawen im Kaukasus, bei denen bei dieser Gelegen-
heit auch die Ehegatten zusammen Brot und Honig essen,
welche die Mutter des Mannes anbietet35), wie sie ebenso bei
den alten Griechen und Römern gemeinsam den Opferkuchen
verzehrten33). Gänzlich universell ist die feierliche Über- I
führung der Braut in das Haus des Bräutigams. Sic
findet sich nicht bloß im griechischen, rönlischen und indischen
Rechte87), sondern auch bei vielen Völkern Afrikas38), bei
den Turkestanen39) und in China 40).
Der Übergang des mundschaftlichen Rechtes auf den
Ehemann findet ebenfalls einen oft sehr energischen Aus-
druck. Bei den Peulhs und den Somali versetzt der Bräu-
tigam der Braut symbolisch Schläge;- beiden Baren, Kunama
und Bogos schreitet er über die am Boden liegende Braut
weg44). Bei den polyandrisch lebenden Todas in Indien
wird die Braut in das Haus ihrer künftigen Ehemänner ge-
bracht, wo sie sich niederbeugt, damit ihr jene der Reihe nach
zuerst den rechten und dann den linken Fuß auf ihren Kopf
setzen42). In Deutschland43) und bei den Esthen tritt der
Bräutigam die Braut aus den Fuß; ebenso bei den Mundas
und Uraons in Bengalen44) und nach Leo Africanus auch
bei den Marokkanern43). Bei den Redjangern auf Sumatra
drückt der Bräutigam mit seinem großen Zeh denjenigen der
Braut zum Zeichen der Besitznahme, und in Lampong legt
er sein linkes Knie über die beiden Kniee der Braut43).
Ein andrer seltsamer Gedanke ist der, daß der Mann
nicht heiraten darf, ehe er nicht einen Menschen umgebracht,
einen Kopf geschnellt hat47). Zum Teil handelt cs sich
dabei um Schädelverehrung48), zum Teil um eine Opfer-
idee, indem man den Geistern ein andres Leben opfert,
um das eigene zu erhalten. Aus demselben Gedanken opfert
man bei Hochzeiten auch einen Teil des eigenen Körpers,
namentlich das Haar oder einen Finger49). Auch das
Zahnausbrechen, später das Zahnabfeilen als Hochzeits-
brauch 39) gehört in diesen Jdeenkreis. Das Haarabschneiden
findet sich beispielsweise als Hochzeitsbrauch bei den
Javanern34), das Ausbrechen von Zähnen auf Engano "'-'),
das Zahnabfeilen bei den Rotinesen, im Riouw - Lingga-
Archipel, aus Bali, in Bengkulen und Padang, auf den
Aru-Jnseln, in der Luang-Sermata-Gruppe, auf Leti,
Moa und Lakor 33). Es ist möglich, daß in diese Gruppe
von Vorstellungen auch die Tötung eines Jagdtieres vor der
Hochzeit gehört. Die Kayukuns von Alaska glauben, daß
derjenige kein Kind bekommt, der nicht vorher ein Rotwild
getötet hat, und bei den Betschuanen und Kasfern muß der-
jenige, welcher heiraten will, vorab ein Rhinozeros getötet
haben 34). Unsern modernen Anschauungen liegt cs aller-
dings näher, in einer Waffenthat eines Mannes einen Be-
weis von Mut und ein Zeichen erreichter Männlichkeit zu er-
blicken und scheint auch dieser Gedanke hier und dort in der
That vorzukommen. Er lehnt sich dann an die Stand-
hastigkeitsproben an, mit denen vielfach die volle Mannes-
würde und damit auch die Heiratsfühigkeit sich verknüpft.
Dies werden so ziemlich diejenigen Hochzeitsbräuchc sein,
welche eine universellere Bedeutung haben.
Zum Schlüsse möge hier noch eine ganz seltsame Gruppe
von Hochzeitsbrüuchen erwähnt werden, welche anscheinend
lediglich Indien zum Vaterlande haben, und welche uns durch
die vortrefflichen Arbeiten Köhlers über die indischen Ge-
wohnheitsrechte bekannt geworden sind. Es sind dies die
symbolischen Verheiratungen mit Bäumen, Pflanzen, Tieren
oder leblosen Gegenständen. Es finden diese Ehen da statt,
wo eine einzugehende Ehe nach strenger Sitte als unerlaubt
gilt. Es entsteht dann aus einer solchen Ehe Unglück und
dieses Unglück wird auf den Gegenstand, mit welchem die
Scheinehe eingegangen wird, abgeleitet. Bei manchen Völkern
ist es Sitte, daß die jüngere Tochter nicht vor der älteren
heiraten darf. Will daher in Südindien die zweite Tochter
heiraten, ehe die erste geheiratet hat, so hat letztere einen
Baumzweig zu heiraten. Eine andre Anschauung geht dahin,
daß die individuelle Ehe etwas Sittenwidriges sei; daher
geht bei den Kurmis in Manbhnm der wirklichen Ehe eine
H. Seidel: Handel und Wandel in Nani-dinh (Tongking).
355
Ehe mit einem Baume voran 55). Anderswo verstößt eine
mehrmalige Wiederverheiratung gegen die Sitte. Daher
muß in Kamaon, wer eine dritte Frau heiratet, vorab eine
Scheinehe mit einer Arkapflanze vornehmen 5Ü) und bei den
Ramoshis in Puna heiratet die Frau, die in eine vierte
Ehe treten will, zuerst einen Hahn57). Tanzmädchcn,
welche sich der Prostitution ergeben wollen, verheiraten sich
mit einem Gotte oder mit einem Mädchen, das als Mann
verkleidet ist (Llleo-Ehc 5S) oder mit einem Bambus 59). In
Kamaon im Himalaja vermählt sich derjenige, der sich aus
irgend einem Grunde nicht verheiraten kann, mit einem
irdenen Gefäße, so daß der Hals des Knaben oder des
Mädchens mit dem Hals des Gefäßes zusammengebunden
wird 60). Wahrscheinlich liegt hier die Anschauung zu
Grunde, daß jeder unbedingt verheiratet werden muß. Bei
den Kadva Kambis in Baroba, bei denen nur alle 10 bis
12 Jahre geheiratet werden kann und nur Witwenehen
immer möglich sind, heiratet ein Mädchen, welches zu der
betreffenden Zeit keinen Mann bekommt, einen Blumenstrauß.
Welkt derselbe, so ist sie Witwe 61)
J) Willen, plechiigheder en gebruiken bij verlovingen
en huwelijken bij de volkin van den indischen Arch. 1889,
p. 88, 94-105.
2) Köhler in der Ztschr. f. vergl. Rsw. VII, S. 372.
3) Bihar, Bengalen, Köhler a. a. €>. VIII, S. 91, IX,
S. 329, 330.
4) Wuttke, T eutscher Volksaberglaube, S. 560.
5) S. meine Studien zur Entwickelungsgesch. d. Familien-
rechts, S. 235.
6) Blumentritt, Globus, Bd. 59, S. 168.
7) Köhler, Rechtsvergl. Studien, S. 217.
__-— * 2 3 4 5 6 7 8 9 * * 12 * * * * * 18 * 20 * 22 23 * * * * 28 * 35 * * * 39 * 4 * * * * * 47 * 49 50 * 52 * *) Doolittle, the social life of the Chinese I, p. 85—87.
9) Weipert in den Mittl. der Deutsch. Gesellsch. für Ratur-
u. Völkerkunde Ostasiens in Tokio, Heft 43, Bd. V, 1890,
S. 98.
10) Turner, Samoa, p. 276.
n) v. Stenin im Globus, Bd. 60, S. 172.
12) Köhler in der Zeitschr. s. vergl. Rsw. III, S. 347,
VII, S. 234: VIII, S. 91, 113; IX, S. 329; X, S. 110.
13) Wilken, 1. c., p. 106, 107; Köhler in der Zeitschr. f.
vergl. Rsw. VIII, S. 87, 113.
") Indische Stämme, Köhler a. a. O. X, S. 110.
13) Ceremonie Hastamela bei den Jainas, Köhler a. a. O.
VIII, S. 103; Panigrahana bei vielen Stämmen in Bombay,
Köhler a. a. O. X. S. 107.
i«) Köhler a. a. O. VII, S. 372.
17) Wilken, 1. c., p. 108.
18) Köhler in der Ztschr. s. vergl. Rsw. III, S. 347;
IX, S. 329.
10) Willen, 1. e., p. 109.
20) Köhler, Rechtsvergl. Studien, S. 231.
21) S. meine Studien zur Entwickelungsgesch. des Familien-
rechts, S. 236.
22) Köhler in der Ztschr. s. vergl. Rsw. VII, S. 232.
23) Köhler a. a. O. VIII, S. 113.
2i) Wilken, 1. o., p. 110, 111.
2ch Köhler a. a. O. X, S. 109.
26) Köhler in der Zeitschr. s. vergl. Rsw. IX, S. 330.
2i) Köhler a. a. O. VII, S. 372.
28) S. meine Schriften: Anfänge der Staats- u. Rechts!.,
S. 45. Bausteine I, S. 128. Studien zur Entwickelungsgesch.
des Familienrechts, S. 236.
20) Makassaren, Batak; Wilken, 1. c., p. 115.
30) Wilken, 1. c., p. 114.
31) Wilken, 1. c., p. 115—118.
32) Köhler in der Zeitschr. f. vergl. Rsw. VIII, S. 113.
33) Köhler a. a. O. X, S. 105 ff.
3i) Köhler, Zeitschr. f. vergl. Rsw. VIII, S. 91; Pend-
schab das. VII, S. 234; Jainas das. VIII, S. 103; Dekkan das.
VIII, S. 113; Bengalen das. IX, S. 328; Bombay das. X,
S. 108, 109. ,
35) Kovalevsky, tableau des orig, et de l’évolution de
la famille et de la propriété, Skrifter utgivna as Lorénska
stifteisen Nr. 2, Stockholm 1890, p. 43.
3«) Fustel de Coulanges, la cité antique 1880, p. 45, 46.
3?) S. meine Grundlagen des Rechts., S. 239, 241.
Z8) S. meine Asrik. Jurispr. I, S. 388; Grundlagen, S. 240.
39) S. meine Grundlagen, S. 240.
40 Köhler in der Zeitschr. s. vergl. Rsw. VI, S. 366.
4i) S. meine Asrik. Jurispr. I, S. 391.
i2) Muller, All g. Ethnographie 1.873, S. 422.
*3) Weinhold, Deutsche Frauen un Mittelalter I, S. o/2.
") Köhler in der Zeitschr. sur vergl. Rsw. IX, S. 331.
451 Dniticke Volkslieder aus Oberhe en Ernl.,
S. XLVI.
4Z Wilken, 1. 0. p. 113. . oï E„ v lo
47) Vergl. darüber meine Schriften: Anfange der Staats-
und Rechts!., S. 73; Grundlagen, S. 258 n. 1.; Studien z.
Entwickl. des Familienrechts, S. 252; Wilken, 1. 0., p. 128,
' 48) Wilken Jets over de schedelvereering by de volk.
v. d. Ind. Arch. Bijdr. tot de T. L. en Volkenkunde v.
Nederl. Indie, 5 Volgr. IV, p. 98 sq.
49) Wilken, liber das Haaropfer und emige andre Brauche
bet den Volkern Jndonesiens, S. 68 71. ... ,
50) Wilken, lets over de mutilatie der tanden^ bij de
volken v. den Ind. Arch. Bijdr. tot de 1. L. en Volk. v.
Nederl. Indie, 5 Volgr. Ill, p. 486 sq.
3i) Wilken, plechtigh. en gebr., p. 130.
52) Wilken, 1. c., p. 134.
33) Wilken, 1. c., p. 133, 134.
34) Westermarck, the history of human marriage 1889,
p 24 25
35) Kohler in der Zeitschr. f. vergl. Rsw IX, S. 331.
36) Kohler, Zeitschr. s. vergl. Rsw. IX, S. 331. 3o2.
37) Kohler a. a. O. X, S. 120.
5S1 Ke liter a a O. X, Si. 120, 121.
59 Kohler m a. O. IX, S. 331 (Bagra in Bengalen).
60) Kohler a. a. O. IX, S. 331.
61) Kohler a. a. O. X, S. 120.
Handel und Wandel in
Die Lebensader Tongkings, der Songka oder der Rote
Fluß, teilt sich bald nach seinem Eintritt in die Ebene unter-
halb der Stadt Sontay in zwei größere Arme, die, immer
südöstlich gerichtet, säst parallel nebeneinander herlaufen.
Der nördliche und bei weitem stärkere behält bis zur Mün-
dung den alten Namen bei, während der kleinere südliche als
Lach-day in den Karten verzeichnet ist. An ihm liegt
Nin-binh und das christliche Keso, berühmt durch seine
prächtige Kathedrale, die den Ort schon von ferne als den
Hauptpostcn der katholischen Mission in Tongking kenntlich
macht. Der monumentale Bau erhebt sich von einer An-
höhe über die niedrigen Strohhütten des benachbarten Dorfes
wie über die ungleich größeren Häuser der Station. Man
blickt erstaunt zu dem stattlichen Werke empor, das der
Nam-dinh lLongking).
Bischof von Tongking, Monseigneur Puginier, ganz allein
nach selbstentworfenen Plänen mit seinen annamitischcn
Christen aus einem festen, marmorartigen Kalkstein auf-
geführt hat I. Ringsumher grünen ausgedehnte Reisfelder,
sämtlich Eigentum des bekehrten Landvolkes, dessen Weiler
und Gehöfte zahlreich in der fruchtbaren Ackerfläche zerstreut
liegen.
In das tongkinesische Delta fällt bei Dap-Can noch der
tiefe und kräftige Thai-binh, der sich, je weiter thalab, gleich
dem Roten Flusse selbst, in eine Menge von Seitenarmen
und Kanälen auflöst, die wieder mit den Ästelungcn des
i) Vergl. Dr. Hocquard, Trente mois au Tonkin in
sour du Monde 1890, T. I, p. 116.
45*
356
H. Seidel: Handel und Wandel in Nam-dinh (Tongking),
Songka in vielfältiger Verbindung stehen. Wo die natür-
lichen Wasserwege nicht hinreichen, hat die arbeitsame Be-
völkerung längst für künstliche Aushilfe gesorgt, so z. B. in
dem 55 km langen „Stromschnellenkanal" J), der von der
Hauptstadt Hanoi direkt zum Thai-binh durchgclegt ist. Eine
ähnliche Schöpfung begegnet uns für das untere Delta in
dem Bambuskanal zwischen Hong-Yen, Phu-ninh-giang und
dem wichtigen Haiphong. Aus dem Songka zum Lach-day
laufen die Kanüle von Phuly und von Nam-dinh, der
erstere nördlich, der andre südlich, um die Erzeugnisse der
blühenden Provinz Ninh-binh möglichst schnell nach den
großen Handelsstädten fortleiten zu können.
Der Kanal von Nam-dinh ist für Kanonenboote und
Seebarken schiffbar. Der Ort, dessen Namen er trägt, steht
auf dem westlichen, d. h. dem Lande zugekehrten Ufer und
nur wenige Kilometer vom Noten Flusse entfernt. Die
Häuser scharen sich um eine Hauptstraße, die am Kanal
entlang zieht und gelegentlich von schmalen Quergassen unter-
rechtem Winkel geschnitten wird. Den: Fremden repräsen-
tiert sich Nam-dinh beim ersten Anblick recht einladend.
Die Gebäude sind meist in Backstein ausgemauert und mit
Ziegeln gedeckt; den Kanal beleben Hunderte von Fahr-
zeugen aller Art, von der schweren Dschunke bis hinab zum
flinken, leichten annamitischen Sampan oder den eigentüm-
lichen Rohrschiffchen, die uns in Ermangelung der Fähr-
boote binnen kürzester Frist von einem Ufer zum andern
befördern. Alle sind mit Wimpeln und bunten Flaggen ge-
schmückt, während die Insassen, also die Eigner und Führer,
Die katholische Kathedrale in Keso (Tongking). Nach einer Photographie.
desto weniger auf Kleidung sehen und oft halbnackt vor
jedermanns Augen auf ihrem Schisse umherlungern oder
schlafen. Aus den Quais drängt sich eine geschäftige Menge;
denn Nam-dinh, das allein schon 40 000 Einwohner zählt,
treibt mit Annam und dem südlichen China einen beträcht-
lichen Handel in Reis und Seidcnzeugen. Das Geschäft
liegt hier, wie in Hanoi und Haiphong, ausschließlich in
chinesischen Händen. Das Heer sonnverbrannter Kulis, die
wir am Kanal trotz der drückenden Hitze so emsig arbeiten
sehen, steht im Dienste der „Himmlischen". Zierlich ge-
putzte Kommis mit Schirm und Fächer, mit seidenen Röcken,
gestickten Hosen und leichten Babuschcn überwachen die Kulis
und geben Acht, daß die Rcissäcke und Baumwollenballen
ja recht praktisch und sicher in die Dschunken verstaut werden.
i) 35 er gl. die Karte im „Globus", Bd. LVII, S. 261.
Die wenigen europäischen Kaufleute, falls solche wirklich am
Orte sind, schauen verwundert dem regen Treiben zu; sie
sind trotz aller Bemühungen nicht imstande, mit den ge-
riebenen Chinesen zu konkurrieren; er kommt ihnen überall
zuvor. Anfänglich erzielten zwar die weißen Händler in
Tongking recht gute Erfolge; aber, siehe da, bald wurden
neben ihren Magazinen chinesische Läden eröffnet, in denen
man scheinbar dieselben Waren zu fabelhaft billigen Preisen
haben konnte, alles natürlich entweder gefälscht oder schlecht.
Die französischen Häuser, einer derartigen Konkurrenz nicht
gewärtig, sahen sich in kurzem gezwungen, ihre Hallen zu
schließen, und damit kam nun auch für Tongking die
Chinesenfräge in Fluß. Die Klagen der Geschädigten
steigerten sich, je länger, desto mehr; es fehlte selbst nicht an
Beschwerden über die Regierung, daß sie die Chinesen durch
Zulassung bei den Submissionen unterstütze. In weiten
358
H. Seidel: Handel und Wandel in Nam-dinh (Tongking).
Kreisen verlangte man geradezu eine Austreibung der Zopf-
träger oder mindestens eine Sperre, wie sie in Australien
üblich ist.
Aber nicht bloß Europäer fühlen die chinesische Kon-
kurrenz; das schlimmste ist, daß der Kleinhandel Tongkings
ganz in die Gewalt der Fremden geraten ist, und diese
beuten die Eingcbornen rücksichtslos aus. Das Geld, das
der genügsame, immer fleißige, aber ebenso unsittliche
und betrügerische Chinese zusammenscharrt, bleibt nicht im
Lande, sondern wandert mit ihm, wenn er sich reich genug
glaubt, nach der alten Heimat fort. Dabei brüsten sich die
Zopfigen den Annamiten gegenüber gern als die bevorzugte
Rasse, nennen sich stolz die „älteren Brüder" jener und be-
tonen es immer wieder, daß die südlichen Bölker ihre Sitten
und Gebräuche, ihre
Bildung, Wissen-
schaft und Tracht aus
China entlehnt haben.
In der That ist der
„Himmlische" gei-
stig, geschäftlich und
körperlich seinen
Nachbarn auf der
Halbinsel viel über-
legen, und deshalb
erweisen ihm diese
eine für den Euro-
päer kaum verständ-
liche Hochachtung.
Die französische Ne-
gierung hat lange ge-
zögert, ehe sie sich
entschloß, ihre anna-
mitischen Tirailleure
gegen die Chinesen
ins Feuer zu schicken;
man besorgte nicht
umsonst, daß die
Truppe vor dem fast
abergläubisch gefürch-
teten Feinde versagen
würde und erprobte
es zunächst mit klei-
neren Abteilungen,
und erst, als diese
sich bewährt, wurden
stärkere Massen auf
den tongkinesischen
Kriegsschauplatz ge-
führt.
Die französische
Regierung hat mit den chinesischen Kaufleuten einen schwie-
rigen Stand; sie muß ihnen wohl oder übel manches zu gute
halten, wie sie nämlich die vielgcwandtcn Herren nur zu oft
braucht, hauptsächlich, wenn cs sich um die Beschaffung von
Lebensmitteln für militärische Unternehmungen handelt. Die
Proviantierung ist in Tongking von jeher sehr beschwerlich
gewesen, da das Land kein Getreide, keinen Wein, kein nach
unsern Begriffen schlachtbarcs Rindvieh und gar keine Schafe
erzeugt. Sämtliche Versuche, die Schafzucht einzuführen, sind
bis jetzt fehlgeschlagen, wahrscheinlich, weil das feuchte Klima
und der ewig nasse Boden den Tieren nicht zusagt. Euro-
päische Zufuhren können bei der gewaltigen Entfernung nie-
mals diesen Mangel ersetzen; vornehmlich bleibt der Bedarf
an frischem Fleisch und Gemüse völlig ungedeckt.
Dem in der Fremde üblichen Brauche entsprechend, bilden
die Chinesen in Tongking mehrere Gilden oder Verbindungen,
Chinesische Handlungsgehilfen in Nam-diuh. Nach einer Photographie.
die einem gemeinsamen Vorsteher gehorchen. Mit ihren Lands-
leuten umher, ganz gleich in welcher Gegend sie wohnen,
unterhalten sie die genauesten Beziehungen, wissen sich über
alles zu informieren und demgemäß ihre Geschäfte zu regeln.
Nam-dinh besitzt wie jede tongkinesische Stadt, eine
umfangreiche Citadelle, früher ein tüchtiges Werk von mehreren
Kilometern Seitenlänge, jetzt aber wüst und verfallen, so
daß für die hier einquartierten französischen Truppen be-
sondere Bambushüttcn aufgeschlagen werden mußten. In
der königlichen Pagode residiert der General mit seinem
Stabe, weniger vor allerlei Ungeziefer, als vor den boshaften
Luftgeistern geschützt! Denn die Vormauer der Pagode
wird gerade in der Front von einem wandschirmartigen Auf-
sätze überhöht, der mit allerlei Gemälden und Skulpturen ge-
schmückt ist. Da die
tückischen Kobolde
stets nur in gerader
Linie sich bewegen
dürfen, so ist cs ihnen
nicht möglich, durch
die Thüren und Fen-
ster eines derart ver-
wahrten Gebäudes
einzudringen, und die
Menschen haben kei-
nerlei Teufelsstreiche
zu befürchten. Sonst
nmß man sich vor
diesen Unholden wohl
in acht nehmen; denn
sie können dem harm-
losen Wanderer man-
cherlei Schaden zu-
fügen; vor allem
trachten sie danach,
das Gleichgewicht
zwischen „Warm und
Kalt" im Körper zu
stören, worauf allein
die Gesundheit be-
ruht. Die annami-
tischc Heilkunde stützt
sich hauptsächlich auf
die Lehre von diesen
beiden Prinzipien,
dem kalten und dem
warmen, und die Auf-
gabe des Arztes ist cs,
bei Krankheiten für
die Wiederherstellung
des Gleichgewichtes
Sorge zu tragen. Dazu dient in erster Linie eine angemessene
Diät, weil manche Speisen nur das warme, andre wieder
das kalte Prinzip verstärken. So behauptete ein einheimischer
Äskulap gegen den Oberstabsarzt Dr. Hocquard, die Ur-
sache der häufigen Krankheitsfälle bei den Franzosen sei
einzig ihre verkehrte Ernährung; sie äßen zuviel Rindfleisch
und „erhitzten" sich damit über die Maßen.
Die annamitifchen Ärzte schöpfen ihre Weisheit aus
chinesischen Quellen, zunächst aus dem Buche Y-hoc, worin
die Arten und Erkennungszeichen der Krankheiten, sowie die
Verschiedenheit der Temperamente behandelt sind; dann aus
dem berühmten Ban-thao oder der großen Pflanzcntafcl,
die in allen Ländern des äußersten Ostens das höchste Än-
sehen genießt. Das Werk enthält eine Fülle von Rezepten
und giebt Nachricht von den Wirkungen und der Präparation
der Arzneipflanzen.
359
H. Seidel: Handel und Wa
Die Mehrzahl der gebräuchlichen Medikamente kommt
gleich fertig aus China; nur die annamitischen Haus-
mittel greifen mit Vorliebe zu Landcsprodukten. Aber,
ganz wie bei uns, stehen diese Altweiberrezepte bei den
nach chinesischem Muster gebildeten Ärzten in schlechtem
Ruf; man lacht über sie und hält sich streng an die
teuren importierten Drogen. Natürlich ist der Ver-
brauch an solchen und demgemäß ihre Einfuhr aus dem
himmlischen Reiche sehr stark. Alljährlich werden mehrere
hunderttausend Francs an die bezopften Importeure ge-
zahlt. Der Apotheker oder Drogist, fast durchweg ein
Chinese, ist in jedem Orte eine angesehene Person. Die
el in Nam-dinh (Tongking).
Fächer seines Ladens füllen dickbauchige Gefäße der ver-
schiedensten Art und Größe, alle sorgfältig etikettiert
und vollgestopft mit wunderlichen Pillen, Pomaden und
Salben. Auch gefährliche Gifte werden frei an jeder-
mann verkauft, und sicher giebt es auch hier jene sonder-
baren Mittel, von denen Professor Blumentritt erzählt H.
Eins derselben ist imstande, den Menschen beinahe sofort
aufzublähen, während ein andres die Schwellung ebenso
rasch wieder hebt. Im Hintergründe des Ladens steht der
Altar des „Schutzheiligen der Medizin", bei Lebzeiten ein
chinesischer Hippokrates, der sich durch seine Kuren, wie
durch sein ärztliches Wissen und seine Entdeckungen die
Drogen-Handlung in Nam-dinh. Nach einer Photographie.
Dankbarkeit der Nachwelt errungen hat. Pharmaceuten und
Ärzte feiern sein Andenken zu gewissen Tagen des Jahres
durch Gebete und Opfer und verehren in ihm den Vater
der chinesischen Heilkunst.
Neben den reichen Apotheken haben oft die annami-
tischen Spezereihändler ihren bescheidenen Stand. Unser
Bild zeigt einen solchen mit seinem ganzen buntscheckigen
Zubehör. Die getrockneten Blätter sind in Bündel ge-
rollt, die Wurzeln in dünne Scheiben geschnitten, die
Mineralien, die Körner, die Früchte stehen in geräumigen
Rohrkörben bis auf die Straße hinaus zum Verkauf.
Anuam und Tongking erzeugen eine Menge drogistisch
verwertbarer Pflanzen, die ölreichen Erdnüsse, den Betel,
den Indigo, Cunao, Kardamomen, Tabak, Zuckerrohr,
Sesam, Rizinus, Gummigutt, Kautschuk, Pfeffer, Zimmct,
Mohn (Opium) und Stcrnanis. In den Bergwäldern
gedeiht ein Heer der nützlichsten Bäume, teils berühmt wegen
ihres prachtvollen Holzes, tells wegen ihres harzreichen
Saftes oder ihrer ätherischen Öle -).
Vielleicht interessiert es, wenn wir von den beiden
wichtigsten Farbkräutern Jndochinas, vom Indigo und vom
Cunao zum Schluß noch einige Worte sagen. Der erstere
wird hauptsächlich in Kambodscha und in Tongking gezogen,
allerdings nirgends in bedeutender Menge, auch ist der
extrahierte Farbstoff meist so ungenügend zubereitet, daß er
sich für den Export nach dem Auslande nicht eignet. Die
Annamiten bedienen sich dieses Indigos zum Färben ihrer
selbstgewebten oder aus Vorderindien oder Europa ein-
geführten Baumwollenzeuge. In Kambodscha sind bereits
Vergl. „Globus", Bd. LVII, S. 99, Die Chinesen
Manilas.
2) De Lenes sän, L’Indo- Chine française, Paris 1889,
Cap. IV, état de l’agriculture dans l’Indo-Chine fran-
çaise, p. 265 — 306.
360
Friedrich v. Hellwald: Die „Gleichheit" der Menschen im Lichte der Wissenschaft.
Anläufe zur Verbesserung der Jndigokultur gemacht, jedoch
ohne rechten Erfolg, und obendrein ist Indigo gegen früher
sehr im Preise gesunken. — Ungleich stärker wird der
unscheinbare Cunao angepflanzt, ein Knollengewächs, das
besonders in den Wäldern der Provinzen Nghe-anh und
Than-hoa zu Hause ist und den zur Werktagskleidung
üblichen geringeren Stoffen ihre unschöne braue Färbung
verleiht. Je nachdem die eine oder die andre Seite der
Junge Kohlenhändler in Nam-diuh. Nach einer Photographie.
Gewänder während des Färbens dem Sonnenlichte aus-
gesetzt wird, bringt man eine hellere oder dunklere Tönung
hervor. Auf dem röthlichen Lehmboden der Reisfelder oder
an den schokoladebraunen Flüssen sind.die Annamiten in
ihren vom Regen verwaschenen, von der Sonne verbrannten,
weiten Rocken kaum von dem gleichsarbigen Gelande zu
unterscheiden I. H. Seidel.
i) A. I. Gouin, Le costume annamite, im Bulletin
de la Société de Géographie de Paris 1891. H est 2,
Seite 245 uni) 246.
Die „Gleichheit" der Menschen im Lichte der Wissenschaft.
Von Friedrich v. Hellwald.
II. (Schluß.)
Wenn von Überlegenheit unter Menschen gesprochen wird,
so kann der Maßstab dafür wohl nur in den Geisteskräften
und in der Gesittung gesucht werden. Eine genaue Be-
trachtung lehrt nun, daß alle Menschen oder alle Gruppen
von Menschen sich mehr oder weniger einem der vier großen
Geistestypen einreihen oder angliedern lassen, die ich sogleich
kennzeichnen will.
Der erste dieser Typen ist jener der Geistesfürsten, der
Entdecker neuer Wahrheiten, der Erfinder, der Pioniere,
welche der Menschheit durch das Gebiet des Unbekannten
hindurch neue Bahnen eröffnen und sie auf diesen mit sich
fortreißen. Kühn und unruhig, mit zum mindesten mittleren
Verstände begabt, fühlt ein Mensch dieses Schlages sich nicht
heimisch auf den ausgetretenen Pfaden, worin die Alltäglich-
keit sich gefällt und ans denen er bloß aus Notwendigkeit
verweilt. Er liebt neue Forschungen, Gedanken und Er-
findungen, und hängt ihnen airch sofort mit Eifer an. In-
duktiv findet er deren praktische Seite heraus, bemüht er sich,
dieselben zu verwirklichen und wenn er kann, bringt er sein
Leben mit beständigen Neuschöpfungen zu. Alles, was da
neu ist, nicht in der Form, sondern im Wesen, alles was
das Antlitz der Zivilisation verändert und einen plötzlichen
Ruck nach vorwärts verursacht, verdanken wir solchen forschen-
den Geistern, und die gesamte Entwickelung der Gesellschaft
ist ihr Werk. Diese Menschen sind selten, meist zwingen die
Umstände sie mit untergeordneten Dingen sich zu befassen,
und die geringe Anzahl derer, welche durchdringen, ist weit
entfernt, die ganze Summe von Diensten zu leisten, die sie
leisten könnte. Diese Unternehmenden sind übrigens keines-
wegs alle sogenannte Genies, aber die Menschen von wahrem
Genie zeigen insgesamt, und zwar im höchsten Grade den
geschilderten Typus.
Der zweite ist jener der verständigen und geistreichen
Leute ohne eigenen Schaffenssinn, welche die Gedanken und
Erfindungen der ersteren hernehmen, beschneiden, bearbeiten
und vervollkommnen. Menschen dieser Art gelangen, indem
sie den Dingen neue Gestaltungen verleihen, zu Ergebnissen,
welche mitunter über deren Wert täuschen, und oft utuß man
genau zusehen, um zu bemerken, daß sie bloß ausgearbeitet
haben, ohne das Material zu schaffen. Der erste und dieser
zweite Typus ergänzen sich. Erstere treten mit ihren Ent-
deckungen gewöhnlich zu ungeschlacht hervor, die anderen
können also bloß auf Grund der fremden Entdeckungen
arbeiten.
Der dritte Typus umfaßt wenig, mittelmäßig oder auch
sehr begabte Menschen, welche indes ein gemeinsamer Charakter-
Friedrich v. Hellwald: Die „Gleichheit" der Menschen im Lichte der Wissenschaft.
361
zug vereinigt. Gallon nennt ihn treffend den „Herdengeist".
Leuten dieser Denkweise ist jede nicht landläufige Idee, jede
neue Erfindung, jede neue Wahrheit ein Gegenstand des
Mißtrauens oder des Spottes. Dringt aber der neue Ge-
danke, die Erfindung durch, so ergreifen sie hartnäckig deren
Verteidigung gegen die Förderer weiterer Fortschritte. Sind
solche Menschen verständig, so zeigen sie sich mehr denn alle
anderen der Belehrung zugänglich. Ohne eigene Gedanken
und unfähig, solche zu erzeugen, eignen sie sich desto leichter
jene andrer an. Alles, was man sie lehrt, prägt sich ihrem
Geiste mit Leichtigkeit und auch so tief ein, daß es bald un-
möglich wird, etwas daran zu ändern. Nicht nur sind sie
unfähig, die erworbenen Ideen zu verarbeiten und daraus
scheinbar neue Verbindungen zu gestalten, sondern jede Neue-
rung, welche mau ihnen vorschlägt, verursacht ihnen ein
moralisches Unbehagen. In der festen Überzeugung, daß sie
im Besitze der offiziellen Wahrheit sind und das letzte Wort
der Vollkommenheit darstellen, setzen sie jeglichem Fortschritte
den Widerstand entgegen, welcher unter allen der gefährlichste
ist: die Unthütigkeit der Massen. In den Köpfen dieses
Schlages wächst die Trägheit mit abnehmendem Verstände,
so daß bei den untersten und zahlreichsten Individuen unbe-
dingte Gleichgültigkeit an Stelle des hartnäckigen aber be-
dachten Widerstandes tritt.
Der vierte Gcistestypus, zugleich der niedrigste von allen,
ist endlich unfähig, nicht bloß zu gruppieren und zu schaffen,
zu entdecken und zu kombinieren, sondern sogar durch Er-
ziehung das bescheidenste Maß von Gesittung zu erwerben.
Es liegt auf der Hand, daß die Menschen, wie sie leben,
nicht alle genau in diese vier Kategorien untergebracht wer-
den können. Diese Typen stellen vielmehr gewissenmaßen
bloß die Mittelpunkte von Gruppierungen dar, von welchen
jeder einzelne mehr oder weniger entfernt steht. So wenig
wie in der übrigen Natur giebt es unter den Menschen
scharfe Grenzen, abgeschlossene Gruppen. Übergänge sind
überall mannigfach vorhanden. Man errät jedoch, daß was
die Überlegenheit einer Rasse oder eines Volkes bedingt, eben
im Besitze einer mehr oder weniger großen Verhältniszahl
von Menschen der ersten und zweiten Kategorie beruht. Die
anderen Typen kommen erst in zweiter Reihe in Betracht,
denn die geistige Physiognomie eines Volkes verkörpert sich
bloß in einer geringen Anzahl von Individuen.
Ein Beispiel soll dies veranschaulichen. Ich wähle zu-
erst England. Dort wird unser erster Typus etwa durch
ein paar hundert Köpfe vertreten sein, worunter einige von
anerkanntem Genie, viele von unbestrittenem Talent und
auch viele, deren wirklicher Wert keine Gelegenheit gefunden
hat, sich geltend zu machen. Der zweite Typus wird gewiß
mehrere Hunderttansende umfassen, die nach Millionen zählende !
Masse dem dritten Typus angehören und der vierte endlich
eine oder auch ein paar Millionen begreifen. Wir werden
demnach sagen: Die Bevölkerung Englands steht sehr hoch.
Damit ist offenbar nicht ausgedrückt, daß jeder Brite ein
überlegener Mensch sei, im Vergleiche zu irgend welchem
Deutschen, Franzosen, Chinesen oder Brasilianer. Nein!
Jeder Engländer, wie hoch immer auch sein Wert sein möge,
wird gewiß leichtlich seinesgleichen oder sogar einen höheren
auf einem andern Punkte der Erde treffen. Ferner ist da-
mit auch nicht gemeint, daß die Mehrzahl der Engländer
überlegene Menschen sind und Mittelmäßigkeit oder schlimmer
bei ihnen die Ausnahme bilde. In der Wirklichkeit sind der
Tüchtigen, der Eugenen, eine verschwindende Minderheit in
dem großen Meere der Massen, aber ihre Zahl ist immer
noch beträchtlicher als durchschnittlich bei andern Völkern
und — was schwer ins Gewicht füllt — zugleich schon mit
den unteren Schichten durch eine imposante und dichte Gruppe
andrer verbunden, welche sie verstehen und ihnen nachahmen,
Globus LX. Nr. 23.
während die Massen selbst, vom Beispiele angespornt, in die
offene Bahn geschleudert werden. In einem Eisenbahnzuge
besitzt bloß die Lokomotive eigene Bewegung. Hinter ihr
folgt eine lange Reihe an sich träger Wagen, welche durch
ihr Gelvicht, ihre Reibung zum Teil die Kraft der Maschine
abnutzen und deren Lauf verlangsamen. Nichtsdestoweniger
rollen die trägen Wagen eben so rasch wie die Lokomotive.
Der ihnen mitgeteilten Bewegung beraubt, würden sie sofort
stehen bleiben. Stände jedoch die Lokomotive plötzlich still,
so würde die von den Wagen erworbene Kraft sie noch einen
Augenblick vorwärtsschieben. Dies das Bild eines über-
legenen Volkes: die Lokomotive muß die Wagen ziehen können,
und je kräftiger die Maschine, desto leichter, desto schneller
rollt der Zug.
Betrachten lvir nun einmal im Vergleiche dazu ein
andres Land, z. B. Mexiko. Dort glänzt unser erster Typus
durch völlige Abwesenheit, der zweite ist viel weniger ver-
treten als in England, der vierte, unterste, umfaßt aber
ein Drittel oder ein Viertel der Gesamtbevölkerung. Wir
werden daher dem Volke Mexikos nur geringe Tüchtigkeit
beimessen. Bei einem Negervolke, das man zu zivilisieren
versucht hat, bei den Schwarzen Haytis, ist die zweite unsrer
Kategoriecn gar kaum vertreten, und die vierte strebt die
dritte zu überflügeln. Sein Wert ist also noch geringer als
jener der Mexikaner. Wenden wir uns endlich zur ganz
tief stehenden Gruppe der Feuerländer, Australier, Busch-
männer und ähnlicher Stämme, so gehört fast deren Gesamt-
heit zum vierten Typus und die daraus hervorgehenden
Menschen können höchstens auf ein bescheidenes Plätzchen
innerhalb unsrer dritten Kategorie Anspruch erheben. Darunter
giebt es nichts mehr, außer die Tierheit.
Die eingangs erwähnten anthropologischen Forschungen
haben nun sowohl für die Vergangenheit als auch noch für
die Gegenwart die ausgedehnte Verbreitung eines Schlages
blonder, d. h. hellhäutiger, langköpfiger Menschen ergeben,
welche den Kurzköpfen und Brünetten sich als überlegen er-
wiesen. Fast alle großen Männer der Geschichte waren von
diesem Schlage, sogar dann, wenn sie Völkern von ganz andern:
Körpertypus entsproßten. Allem Anscheine nach bildeten die
blonden Langköpfe die leitenden Klassen in Ägypten, nament-
lich auch in Chaldäa, dann in Assyrien. Für Persien und
Indien ist die Sache fast sicher, während ihre Rolle in der
hellenisch-römischen Zivilisation keinem Zweifel unterliegt.
Hub sogar in unsern Tagen steht die Abstufung der Kultur-
nationen in ziemlich genauem Verhältnisse zu der Menge
blonder, langköpfiger Elemente, welche an der Zusammen-
setzung ihrer leitender Klasse beteiligt ist. Ich habe nun
nichts dagegen, wenn man anthropologisch diese blonden
Langkopfe als eine besondere Rasse, und zwar als die vor-
nehmste, auffassen und wegen ihres Vorherrschens in unserm
Erdteile die europäische nennen will, möchte es aber, weil
sinnverwirrend, vermeiden, auf sie den Namen Arier zu
übertragen, wie eine Reihe von Forschern thut.
Nächst ihr darf man wohl als die tüchtigste die semitische
Rasse bezeichnen, insbesondere den Zweig der europäischen
Juden, welche eine gelungene Kreuzung mit den blonden
Langköpfen darzustellen scheinen. Ihnen folgen die Mittel-
länder und namentlich deren Vettern und Nachbarn, die alten
Kuschiten, die Begründer der babylonisch-assyrischen Gesittung.
Damit ist aber die Liste der, aktiven, der thätigen Rassen
geschlossen; den ganzen Rest der übrigen Menschheit darf man
kühnlich unter die passiven Rassen verweisen.
Durch sehr langwierige und mühevolle statistische Unter-
suchungen über Herkunft und Geburtsort der großen Männer
Europas in den letzten Jahrhunderten ward nun ermittelt,
daß dieselben auf einem Raume sich zusammendrängen, dessen
46
562
Friedrich v. Hellwald: Die „Gleichheit" der Menschen im Lichte der Wissenschaft.
Achse eine von Edinburgh in Schottland ausgehende und in
der Schweiz endende ideale Linie wäre. Minder deutlich
läßt sich eine andre Achse erkennen, welche etwas unterhalb
der Seinemündnng beginnt und in gebrochener Linie nach
dem Baltischen Meere läuft, indem sie bei Paris die erste
Achse schneidet. Die Verbreitung des Genies in Europa
stellt sich aus der Landkarte wie ein etwas verschwommener
Rhombus dar und außerhalb desselben trifft man hier und
da über ganz Europa, mit Ausnahme von Rußland und der
Balkanhalbinscl, mehr oder weniger vereinzelte Flecke zer-
streut. Solche Nebenzentren des Geistes weisen unter
andern Ober- und Mittelitalien, das Rhonethal, Süddeutsch-
land und Österreich auf.
Vergleicht man eine solche Karte der Verbreitung geistiger
Kraft mit einer, welche die Verbreitung der blonden Lang-
kopfe darstellt, so bemerkt man mit Überraschung, daß beide
einander nahezu decken. Ähnliche Karten hat man für die
Verbreitung der Geister zweiten Ranges hergestellt, und diese,
welche naturgemäß weit dichter und ausgedehnt ist, fällt nicht
mehr mit der Dichtigkeit des blonden, langköpfigen Elementes,
sondern mit jener der allgemeinen, typisch verschiedenen Bevölke-
rung Europas zusammen. Auf diesem mühevollen Wege ist man
auch dahin gelangt, annähernd die verhältnismäßige Tüchtig-
keit von Rassen, Völkern und Stämmen durch Ziffern zu
bestimmen. In einer Menschengruppe, deren Gesamtsumme
im Laufe zweier Jahrhunderte 100 Millionen Köpfe betrug,
hat man z. B. 100 Geister ersten und 10000 solcher zweiten
Ranges ermittelt. Die Tüchtigkeit dieses Volkes läßt sich
also abgekürzt durch die Ziffern 1 und 100 ausdrücken. Bei
einem andern findet man die Zahlen 7 und 40, und es ist
klar, daß, obgleich ärmer an Köpfen zweiten Ranges, dieses
Volk dem vorigen überlegen ist.
Ans diesen Untersuchungen springt zunächst der ungleiche
Wert der Menschen hervor. Eine Nation wäre buchstäblich
enthauptet, wenn ein paar Hundert ihrer Geistesspitzen auf
einmal umkämen, während der Verlust einiger Millionen aus
den unteren Verstandskreisen bloß einen wirtschaftlichen Not-
stand für eine gewisse Zeitdauer nach sich zöge. Unter allen
hervorragenden, großen Männern stehen nun als Förderer
jeglichen, auch des materiellen Fortschrittes, jene der Wissen-
schaft, die Gelehrten, oben an. Die gesamte Entwickelung
des Handels, der Industrie, der Heilkunde ist das Ergebnis
ihrer Forschungen und Entdeckungen, und ohne sie hätten wir
vor den Chinesen nichts voraus. Es ist nun von Interesse
nachzuspüren, welchen Gesellschaftsklassen die Gelehrtenwelt
zunächst entstammt. Einen Anhaltspunkt gewähren dafiir
die sorgfältigen, umfangreichen Untersuchungen, welche zn
diesem Behufe Alphonse De Candolle betreffs der aus-
wärtigen, also nichtfranzösischen Mitglieder der Pariser
Akademie der Wissenschaften für die Zeit des 18. und
19. Jahrhunderts angestellt hat. In diesen Männern darf
man wohl mit Fug und Recht die höchsten Geistesspitzen er-
kennen, welche das nichtfranzösische Europa im Laufe von etwa
sieben Vierteljahr-hunderten hervorgebracht hat. Nach De
Candolles Untersuchungen entfielen nun davon 41 Proz. auf
den Adel, 52 Proz. auf den Mittelstand und bloß 7 Proz.
ans die unteren Schichten. Weitere Ermittelungen lehrten, daß
man auf den Adel etwa 1 Proz., die Mittelklasse auf 9 Proz.,
die niederen Volksschichten aber auf 90 Proz. der Gesamt-
menge von Menschen veranschlagen dürfe, welche seit 200 Jahren
in Europa außerhalb Frankreichs lebten. Es hat also der
Adel 451/2 Proz. und der Mittelstand 5,7 mal mehr, die
untere Klasse aber 13 mal weniger an Gelehrten geliefert
als sie hätte sollen, wenn kein Unterschied im Werte der
Menschen, wenn Gleichheit unter ihnen bestände. Seit dem
vorigen Jahrhundert hat sich nun die Kopfzahl der höchsten
Stände um ein Drittel oder die Hälfte verringert, jene der
Mittelklasse aber verdrei- oder vervierfacht und auch die der
untersten Klasse leicht vermehrt. Der Beitrag der Mittel-
stände, welcher im vorigen Jahrhundert 33 Proz. betrug, hat
sich im gegenwärtigen indes bloß auf 47 Proz. gehoben, ist
also bloß um ein Viertel ihrer Prodnktionskraft gestiegen.
Man darf demnach das heutige Bürgertum in geistiger Hin-
sicht um reichlich zwei Drittel unter jenes des 18. Jahr-
hunderts stellen. Die Ursachen dieser Erscheinung führen
im letzten Grunde wieder auf anthropologische Phänomene
zurück. Die Kurzköpfe nehmen immer mehr überhand und
ihnen gehören die Massen an. Wo der Adel sich thunlichst rein
erhalten hat, sind aber in ihm die blonden Langköpfe noch am
reichlichsten vertreten: so in Frankreich und sogar in Ruß-
land, wo die von den skandinavischen Erobern entstammenden,
regierenden Klassen über ein knrzköpfiges Volk herrschen. In
hohen: Grade trifft dies in Deutschland und England zu, und
damit erklärt sich auch, wie das politische und wirtschaftliche
Übergewicht eben bei diesen beiden Nationen ruht, in welchen
die blonden Langköpfe die meiste Verbreitung besitzen.
Wie n:an sieht, stellen die Ergebnisse der soziologischen
Forschungen die landläufigen Meinungen geradezu auf den
Kopf. Sie lehren nicht bloß die Hinfälligkeit der behaupteten
Gleichheit der Menschen, sondern daß vielmehr eben die Un-
gleichheit die treibende Ursache alles Fortschrittes, aller Ent-
wickelung ist. Sie predigen die Reinerhaltung des Blutes
und die Verderblichkeit der gemeiniglich gepriesenen Mischung
der Rassen und verkünden auf Grund der Erfahrung, daß
jede Kreuzung mit geistig und körperlich Unebenbürtigen,
mögen diese sonst den höchsten oder niedrigsten Ständen an-
gehören, nicht nur keine „Auffrischung" des Blutes, sondern
einfach Besudelung ist. Kein Fachmann bezweifelt heilte
mehr, daß strenge Inzucht, die man bislang als unheilvoll
zn schildern liebte, kraft der Macht der Vererbung zur
schärfsten Ausprägung des Typus mit allen seinen geistigen
und seelischen Eigenschaften führe, somit das einzige Mittel
ist, die Eugenen, die Tüchtigen zu erhalten. Kreuzungen
dagegen zerstören die Typen. Verhehlen wir es uns nicht
länger: die Natur selbst ist die ärgste Aristokratin.
Damit fällt auch helles Licht auf den Wert der Demo-
kratie, welche auf Gleichheit fußt und Kreuzungen erstrebt
und begünstigt. Proudhon hat sie treffend eine Tochter des
Neides genannt. Vielleicht ist sie auch dessen Mutter. Neben-
bei bemerkt, hat es eine Demokratie im wahren, strengen
Sinne des Wortes niemals gegeben, noch wird oder kann
cs je eine solche geben. Das ganze Altertum, auf das man
so gern hindeutet, hat davon kein Beispiel aufzuweisen, wie
schon aus dem Herrschen der Sklaverei in den antiken Staaten
hervorgeht. Die Demokratie, wie wir sie geschichtlich bis auf
die neueste Zeit kennen, war und ist nichts anders als eine
Oligarchie der ersten besten anstatt einer Oligarchie der besten,
d. h. mehr oder weniger Auserlesenen. Doch sind dies Ans-
blicke, die ich nur gestreift haben will. Die Lehren der
Soziologie sind freilich, ich kann es nicht leugnen, hart, un-
beugsam, unerbittlich. Was thuts jedoch, wenn sie nur
wahr sind! Die Zeit der blendenden, sentimentalen Irr-
tümer, wozu auch die Gleichheitslehre zählt, sind vorüber.
Dogmen sterben, die Wissenschaft allein ist unsterblich.
Dr. Walter Hoffman: Ein Befuch bei ben Ojibwa im nördlichen Minnesota.
363
Lin Besuch bei den Gjibwa im nördlichen Minnesota.
Von Dr. Walter I. Hoffman. Washington.
Im Verfolg meiner seit 1871 begonnenen ethnologischen
Forschungen besuchte ich kürzlich wieder den Staat Minne-
sota, um meine Untersuchungen über die piktographische
Schrift fortzusetzen, und um die geheime Stammesgescllschast
genauer zu studieren, die unter dem Namen „Granel Medi-
cine“ obéi- Me-dé-win bei den Ojibwa-Nationcn bekannt ist.
Diese Organisation ist von Reisenden häufig erwähnt wor-
den, doch kein einziger derselben konnte uns eine genaue
Kenntnis des geheimen Wirkens der Medizinmänner oder
Schamanen (Me-dé in Ojibwa) oder die Art, wie sie zu
dieser Stellung gelangen, vermitteln.
Als die Ojibwa-Nation noch näher mit ihrem Haupt-
stamme, dem Algonquin, verbunden war, wohnte sie in dem
Lande am Sanlte St. Marie zwischen dem Michigan- und
Huronsee im nördlichen Michigan. ' Sie begannen nach
Westen zu wandern und endlich erreichte der Stamm die
südwestliche Spitze des oberen Sees, die als la Pointe be-
kannt ist. Hier war ein dicht mit Fichten bewaldetes Land,
jenseit dessen die Sioux oder Dakota, die alten Feinde der
Ojibwa, wohnten.
Bei la Pointe entwickelte sich der Stamm gedeihlich
und der heilige Orden der Me-dé-win erreichte seinen höch-
sten Glanz. Der Me-dé oder Schamane wurde hier in
allen Künsten unterrichtet, welche Gesundheit und langes
Leben verleihen können, oder welche die Jagd erfolgreich
machen und Sieg in der Schlacht verleihen.
Es ist in der Geschichte der Ojibwa während ihres
Aufenthaltes in la Pointe ein unaufgeklärter Punkt, welcher
schließlich ihren Fortgang von dort verursachte. Die Über-
lieferung berichtet, daß aus einer Insel bei la Pointe die
Anthropophagie in sehr ausgedehnter Weise betrieben wurde.
Aber die Geister der Toten kehrten zurück und quälten die
Indianer so unausgesetzt, daß ihres Bleibens dort nicht
mehr war. Infolgedessen unternahmen sic Ausflüge in die
westlich gelegenen Landschaften bis zum Mississippi hin, be-
siegten und vertrieben die dort ansässigen Dakota, deren
Land jetzt im Besitze der Ojibwa ist.
Die Landansprüche der Indianer sind jetzt bedeutend
eingeschränkt worden, denn sie sind jetzt nur im Besitze von
einigen Reservationen, welche die Regierung ihnen zuge-
standen hat. Diese Reservationen sind so gelegen, daß die
Indianer sowohl im Besitze von Prärie als auch von Wald
sich befinden.
Es ist ein geographischer Charakterzug Minnesotas, daß
es in zwei durchaus voneinander verschiedene Hälften ge-
schieden ist: der Osten ist ganz mit Wald bedeckt, während
im Westen die Prärie vorherrscht. Der Waldgürtel ver-
läuft in einer scharf begrenzten Linie nordwärts über drei
Viertel des Staates hin, wendet sich dann nordwestlich nach
Pembina am Red-River zum 49. Breitengrade, welcher die
Grenze zwischen den Vereinigten.Staaten und dendritischen
Besitzungen bildet. Der Westen dagegen besteht, wie be-
merkt, ans Prärieland, das sich bis zu den Felsengebirgen
ausdehnt. Im östlichen Teile verteilen sich die Bäume je
nach der Bodenerhebung. Es ist eine leicht wellenförmige
Region, in welcher jede tiefe Stelle entweder einen See
oder Sumpf enthält, um den der Zuckerahorn (Acer Sac-
charinum L. Maple), Tamarak (Larix americanum),
verschiedene Eichen, Eschen u. s. w. gedeihen. Auf den Höhen
der Hügel und Kämme stehen Kiefern (Linus strolms,
L. mitis). Nach Norden ist der Zuckerahorn in diesem
gewaltigen Walde sehr häufig und diese Stellen werden
jährlich von den Indianern aufgesucht, um Zucker zu ge-
winnen, der an Händler verkauft wird, die ihn weiter nach
den großen Städten bringen.
Im Zusammenhange mit dem wellenförmigen Charakter
des Landes findet man viele Einsenkungen in den Boden:
schöne Thäler mit romantischer Landschaft und reinen Seen,
in denen Fische verschiedener Art sehr häufig sind und den
Umwohnern zur Nahrung dienen. Von Säugetieren leben
hier das Elen (Moose), Renntier, der Hirsch und Bär, doch
nicht häufig, während cs von kleinerem Getier wimmelt
und ebenso von jagdbaren Vögeln aus dem Geschlechte Tetrao.
Im Herbste stellen sich wilde Gänse und Enten zu tausen-
den ein.
Abgesehen von dem Ahornzucker sammeln die Indianer
große Menge der Schlangenwurzcl (ArÍ8tolochia serpen-
taria L.) und die Früchte der Hucklebccren (Gaylussacia
resinosa J. und G.). Die Familien begeben sich in die
Lichtungen, wo diese Vorkommen und lassen die Kinder im
Lager, während alle Erwachsenen, versehen mit Körben aus
Weidengeflecht oder Birkenrinde, dem Beerensuchen nachgehen.
Die Ernte wird in Tonnen voll frischen Wassers entleert
und so zur Niederlassung gebracht, wo sie auf diese Weise
sich eine Woche lang frisch erhält.
Die Ojibwa sind, seit die französischen Reisenden zuerst
in die Gegend an den Seen vordrangen (1669 und 1670),
im allgemeinen gut bekannt gewesen. Aber abgesehen hier-
von lebt am Red-Lake noch eine Abteilung Ojibwa, die nach
ihren Angaben hier seit 300 Jahren ansässig ist und sich
noch vollständig ihren primitiven Zustand bewahrt hat und
noch Töpfe und Steinwaffen fabriziert. Dieser Stamm
zählt noch 460 Seelen und wiewohl er freundlich gegen
die Weißen gesinnt ist, hält er sich doch von ihnen ganz
fern. Sie haben sich gegen die Erbauung einer Kirche
gewehrt und drohen jedes Gebäude zu zerstören, das bei
ihnen erbaut werden sollte. Infolgedessen leben sie ganz
vereinsamt.
Red-Lake besteht aus zwei Abteilungen klaren süßen
Wassers, jede 20 bis 25 Miles lang und verbunden durch
eine enge Straße. Der untere (südliche) See schickt seine
Wasser zum Red-Lake-River, welcher einen Zufluß des Red-
River bildet, den er nach einem Laufe von 70 Miles er-
reicht. Die Niederlassung liegt im Osten an der die Seen
vereinigenden Straße. Im Sommer fischen die Indianer,
wobei sie sich der Boote bedienen, die ans Birkenrinde her-
gestellt werden. Diese sehr leichten Boote sind nur für
einen Menschen berechnet und messen 2 bis 3 m in der
Länge; doch giebt es auch größere von 5 bis 6 m Länge, in
denen größere Mengen von Gegenständen verfrachtet werden.
Die Voyageurs des Nordwestens, gewöhnlich Söhne euro-
päischer Väter und indianischer Mütter, verstehen außer-
ordentlich gut, darin Waren zu transportieren. Viele
Indianer sprechen französisch, doch ist es so mit Ojibwa-
wörtern gemischt und in den Lauten verderbt, daß man es
anfangs nur sehr schwer versteht.
Die Regierung des Stammes führt ein Häuptling, dem
ein ausführender Rat von Unterhüuptlingen zur Seite steht.
Der Me-dé oder Schamane ist eine sehr einflußreiche Person,
der vor der Ausführung irgend einer Unternehmung gehört
wird, um sich über den Erfolg derselben zu vergewissern.
Tritt Dürre ein, so muß er „Regen machen“; er versorgt
46*
564
Biddulphs Reise durch die Persische Salzwüste.
die Jäger und Fischer mit Erfolg bringenden Fetischen und
vermittelt Liebesgeschichten.
Der „Jossakeed" oder „Böse Medizinmann" versteht es,
Unglück oder Tod über die Feinde zu bringen, und kann
allerlei Taschenspielereicn ausführen, um die, deren Treue
wankend ist, festzumachen.
Wenn ein Me-dé oder Jossakeed in seinen Voraussagen
oder bei seinem Exorcismus Erfolg hatte, so wird dadurch
seine Stellung natürlich noch eine einflußreichere. Ein
Beispiel von Eintreffen durch Zufall kann uns zeigen, wie
ein Jossakeed von der White Earth Agency zu hohem An-
sehen gelangte. Ein Indianer daselbst hatte einen Feind,
dessen Tod er herbeiwünschte und der in -einem entfernten
Lager lebte. Ihn zu töten fürchtete er sich aber wegen der
gesetzlichen Folgen. Er suchte daher die Hilfe eines Jossa-
keed nach und nachdem er diesem eine bestimmte Summe
gezahlt, zeichnete der Jossakeed die Gestalt eines Mannes
auf ein Stück Birkenrinde, malte einen roten Fleck auf die
Brust der Figur und durchbohrte diesen mit einer Nadel,
zum Zeichen, daß das Herz des Feindes durchbohrt sei und
dieser infolge dessen sterben müsse. Der Jossakeed fastete
nun drei Tage lang und stimmte seine Zaubergesänge an,
um den Erfolg sicher zu machen, damit der Feind innerhalb
von vier Monaten sterbe.
Diese Zeremonie wurde im Herbste ausgeführt und der
Mann, dessen Verderben man herbeiführen wollte, starb im
nachfolgenden Frühjahr infolge einer Krankheit, die er sich
durch Erkältung im vorangegangenen Winter zugezogen
hatte. Natürlich versicherte der Jossakeed, daß er diesen
Todesfall vorurfacht habe und da niemand imstande war,
diese Behauptung zu widerlegen, so sicherte ihm sein Erfolg
einen weit größeren Ruf, als er vorher besessen hatte.
Den Ursprung und die Einrichtung der Me-dé win oder
„Großen Medizin" will ich in einem andern Artikel erläutern.
Biddulphs Reife durch die persische Salzwüste.
C. E. Biddulph verließ am 7. April Teheran in Begleitung
des Kapitäns Vaughan, um die ungenügend bekannten, auf
den Karten als Sumpflandschaft bezeichneten Strecken zwischen
Teheran und Kaschan zu durch-
reisen, in welche der Schar Rud
und andere Gewässer sich er-
gießen. So kurz die Reise war
und so nahe das Gebiet bei der
Hauptstadt Persiens liegt, hat
dieselbe doch zu einer starken
Veränderung der Karte geführt.
Biddulph berichtete darüber in
den Proceedings der Londoner
Geogr. Gesellschaft (Nov. 1891)
und bringt eine Kartenskizze, die
wir verkleinert hier wiedergeben.
Sowohl in bezug auf die Lage
als die Natur des angeblichen
Sumpfes fanden die Reisenden
die bisherigen Karten ungenau
und an seiner Stelle teilweise
Hochland mit zerstreuten Dör-
fern. Der „Sumpf" selbst liegt
nicht im Norden, sondern im
Süden von Sia-Kuh und zer-
fällt in zwei verschiedene, durch
trockenes Land getrennte Teile.
Der größere Teil, Darya-i-
Namak oder Salzsee genannt,
erstreckt sich, soweit das Auge
reicht, im Süden des Sia-
Kuh-Gebirges; der zweite,
wesentlich kleinere, eine Neu-
bildung, liegt nordwestlich vom
vorigen. Seine Grenzen sind,
bei felsigem Grunde, meist scharf
umschrieben und nur im Osten
sumpfig. Sein Wasser ist völlig
klar und ohne Anzeichen von
starkem Salzgehalt.
Ein Blick auf die beigegebene Karte zeigt sofort die Lage
der beiden Seen zu einander. Drei Flüsse kreuzen den Weg
zwischen Teheran und Kum und verlieren sich nach Osten zu
in der Wüste. Es sind dieses der Kuinfluß, der Karatschai,
neuen See bilden, drittens der Schar Rud und ein vierter'
bei Hasanabad vorbeifließender Fluß. Die beiden letzteren
fließen in den Salzsee Darya-i-Namak. Letzterer ist, wie
man vom Sia-Kuh aus be-
merken kann, zum großen Teil
mit einer dicken, Jahrhunderte
alten Salzkruste bedeckt.
Die Salzablagerungen der
persischen Wüste, wie sie der
Darya-i-Namak zeigt und die-
jenigen, die anderweitig unter
dem Namen Kavir bekannt sind,
erscheinen durchaus verschieden.
Was ans den meisten Karten
als große persische Salzwüste
angeführt wird, ist keineswegs
durchweg mit Salz geschwän-
gerter Boden! es ist auch viel
salzloser dabei, dem nur wegen
Wassermangel der Pflanzcn-
wuchs fehlt. Und selbst jetzt
trügt er nach der Schneeschmelze
in den höheren Bergen einen
dürftigen Grasteppich, auf
welchem Herden weiden.
Die unter dem örtlichen
Namen Kavir bekannten Salz-
auswitterungen überziehen nur
Teile der Wüste und nicht bloß
die niedrigen Stellen, denn sie
sind nicht Reste von verdun-
steten Salzgewässern, sondern
stammen aus dem Boden selbst.
Solche Salzauswitterungen von
Papierstärke sind auch in Sind,
Beludschistan und im Pandschab
häufig. Der Darya-i-Namak
dagegen bildet eine ausgehöhlte
Mulde mit einer Salzkruste,
die an verschiedenen Stellen
mehrere Fuß stark ist und zu ihrer Bildung eine lange Zeit
gebrauchte.
Die Reise wurde am 8. April angetreten und führte bis
Mirza-Jafir durch kultiviertes Land; dabei wurden die Ruinen
die sich in ihrem Unterlauf vereinigen und wahrscheinlich den der altpersischen Stadt Beramin besucht, die von orthodoxen
Pjewtsows Reise im Kwen Lun 1889 bis 1891.
365
Mohammedanern zerstört worden ist, doch steht noch ein schöner,
mit Inschriften bedeckter Thurm aus der Zeit der Feueran-
beter, der indessen auch dem Untergange geweiht ist, da man
au seinem Fuße die schönen, inschriftreichen Ziegel auszu-
brechen beginnt. Im nächsten Orte, Kalabnland, wurden
Kamele, Maultiere und Vorräte gekauft und nun begann der
Ritt durch die Wüste, die nur noch einmal durch die Oase
Karim Kanch unterbrochen wurde.
Es traten nun Gebirge auf; im ersten derselben bot die
Quelle Gul Chasm den Reisenden noch einmal frisches
Wasser. Diese Bcrgzüge bestehen aus einer eigentümlichen
Mergelbildung von schön blauer oder grüner Farbe, die ihren
Grund in einer sehr geringen Beimengung von Kupfersalzen
hat. Bis zum Fuße des Sia-Kuh folgte nun eine 32 km
breite wüste Ebene. Beim Durchzuge durch dieses Gebirge
traf man auf Wanderstämme der Jlyats und verschiedene
Karawanserais, jetzt in Ruinen, die der große Schah Abbas
angelegt hatte; auch eine Quelle, Hauz Mohammed, war vor-
handen. Das Gebirge Sia-Kuh hat nach Biddulph eine
Höhe von 1500 in über der Ebene und die letztere liegt selbst
900 bis 1200 m über dem Meere, so daß es sich hier also
um eiu sehr ansehnliches Gebirge handelt. Es kommen in
demselben Stcinböcke vor.
Vom Gebirge aus hat man einen prachtvollen Blick über
den im Süden vorgelagerten Darya-i-Namak, der wie ein
ungeheurer gefrorener See erschien. Die Salzkruste glänzte
in der Sonne wie ein Spiegel. Die Jlyat-Nomaden, die
hier als Führer dienten, erzählten allerlei Wuudergeschichten
von den Gefahren beim Überschreiten des Salzsees. Nur
ein einziger Pfad führe hinüber, rechts und links von dem-
selben ginge jeder zu Grunde, der den Versuch machte, den
Darya-i-Namak zu überschreiten. Die Übergangsstelle lag
24krn vom Gebirge entfernt: ehe man zum See kam, war
eiu sumpfiger Thonboden zu durchschreiten, in dem die Gerippe
von Lasttieren auf die mit dem Passieren verbundenen Ge-
fahren hindeuteten.
Am Rande war das Salz noch weich und mit Erde ver-
inischt; je weiter man aber vordrang, desto fester und stärker
wurde es, so daß es das Ansehen von starkem Eis annahm.
Doch war die Oberfläche nicht so eben, wie bei einem ruhig
zugefrorenen See, sondern glich mehr der Oberfläche von ge-
schmolzenem und wieder gefrorenem Eis. Auch war die
Salzfläche in zahllose vicleckige Blöcke gespalten. So stark
aber war diese Salzschicht, daß sie keinerlei Schwankung beim
Übergänge der vielen Kamele und Maultiere zeigte und der
Versuch, sie zu durchbrechen, mißlang; für die Geräte der
Reisenden war das Salz zu hart und nur kleine Stücke
von rein weißer Farbe konnten mitgenommen werden. Nach
Aussage der Maultiertreiber war das Salz etwa 3 in dick
und lag über einem stehenden Wasser oder einem Sumpfe.
Biddulph nimmt an, daß das Salz im Laufe der Jahr-
hunderte von den Bergen in die Niederung als Auflösung
herabgeschwemmt wurde, wo durch die Sommerhitze das
Wasser verdampfte und die Salzkruste zurückblieb.
Die Salzkruste, welche etwa 30 km breit war, wurde in
acht Stunden überschritten. Am jenseitigen Räude sanken die
Pferde bis zum Bauche in die dort geschmolzeuem Schnee
gleichende Masse ein und man war froh, als man wieder
festen Boden unter den Füßen fühlte. In der kleinen Oase
Marinjab, wo einige Bäume Schatten spendeten, erholten sich
die Reisenden einen Tag lang.
Am 19. April wurde wieder aufgebrochen und zunächst
am Brunnen Chah Taghi gerastet; dann folgte eine 20 bis
25 km breite hügelige Sandwüste, nach deren Dnrchschreitung
die Stadt Kaschan erreicht wurde. Von hier aus gingen die
Reisenden nach Jspahan. Nach einem Monat kehrten sie
nach Kaschan zurück, um den westlichen Rand des Darya-i-
Namak zn erforschen. Allein diese Absicht zerschlug sich, da
die Maultiertreiber fürchteten, daß dabei ihre Tiere zu
Grunde gehen würden. Biddulph folgte nun der Straße
nach Knin in nördlicher Richtung durch kultiviertes Land.
Bei Mubarakabad begann wieder Wüste, die bis in die Nähe
von Knin anhielt. Am westlichen Rande des Neuen Sees
entlang, der vom Darya-i-Namak getrennt und verschieden ist,
kehrten die Reisenden nach Teheran zurück.
Pjewtsows Reise im Kwen Lun 1889 bis 1891.
In einer außerordentlichen Sitzung der Russischen Geo-
graphischen Gesellschaft am 14. Oktober berichtete General
Pjewtsow über seine Reisen im Norden Tibets. Nachdem er die
Hauptkette des Thian-Schan durch den Bedel-Paß überschritten
hatte, wandte er sich durch die enge Schlucht der Kara-teke-
Kette weiter südlich; dieselbe war nur 10 bis 12 m weit und
mit 200 m hohen Felswänden eingefaßt. Das erste kasch-
garische Dorf war Kalpyn, von wo sich die Reisenden nach
Jarkand begaben; von hier zogen sie auf der großen Chotan-
Landstraße in die nördlichen Ausläufer des Kwen Lun. In
Tochtahon blieben sie in einer Höhe von 3000 in etwa
40 Tage, während der Geolog der Expedition, Bogdanowitsch,
einen Ausflug in die Gegend zwischen dem Jarkand - Flusse
und dem Tyznan machte. Am 13. September 1889 ver-
ließen sie die Hochlande und kamen nach dreiwöchentlicher
Reise in der Oase Chotan an, deren 120 000 Einwohner als
sehr gewerbsthätig geschildert werden. Von hier ans zogen sie
östlich nach Kerija, dann nach Nija, wo sie das überflüssige
Gepäck zurückließen und nach dem Kwen Lun aufbrachen,
um einen guten Paß nach Tibet aufzufinden. Nicht weit
vom Kloster Mindschinlinchanum wurde an den Quellen des
Tillan-Hadschi ein solcher entdeckt. Den Winter brachte
man in Nija zu. Die Arbeit wurde am 7. Mai 1890
wieder aufgenommen und zunächst nach dem Dorfe Kara-sai
gereist. Von hier ging Roborowsky durch den vorher ent-
deckten Saryk-tuz-Paß und erreichte die Quellen des Kerija-
Flusses auf dem Plateau von Tibet. Sie liegen in 5000 m
Höhe in einer vollständigen Wüstenei. Mangel an Pferde-
futter zwang Roborowsky zur Rückkehr nach Kara-sai; auch
ein zweiter Versuch zum weiteren Vordringen nach Süden
mißlang. Gleichzeitig überschritt Koslow das Grenzgebirge,
indem er dem Bastan-tigrak-Flnsse 160 km weit aufwärts
folgte. Er kam am Daschikul - See vorbei und ging dem
Flusse nach, der von Osten her in den See fließt, inmitten
einer 4300 m hohen Wüste. Aber auch er mußte nach
Kara-sai zurückkehren. — Den nächsten Versuch unternahmen
alle drei Reisenden gemeinschaftlich, begleitet von vier Russen
und wenigen Eingebornen. Sie gingen den Aksu-Fluß auf-
wärts und befanden sich bald auf einer 4500 in hohen Hoch-
ebene, die fast ganz ohne Pflanzenwuchs war und in der
Anfang Juli fürchterliche Schneestürme tobten. Äußer-
einigen Antilopen und einer Lerche sah man keine Tiere.
Da auch hier kein Futter für die Pferde vorhanden war, so
mußte auch diese Expedition umkehren.
Man brach nun nach Tschertschen auf und vereinigte sich
in Atschan wieder mit Bogdanowitsch, der unterdessen die
Geologie der beiden Pässe Saryk-tuz und Aksu studiert hatte.
Nach einem kurzen Aufenthalte in Mandalyk, wo gute Weide-
gründe zur baldigen Erholung der Pferde beitrugen, kreuzte
die Expedition abermals durch den Muzlik-Paß (4700 m) den
Kwen Lun, worauf dieselbe sich teilte. Roborowsky zog nach
Südost, Pjewtsow, dem kleinen Flusse Uluksu folgend, nach
Süden. Letzterer erwies sich als die Quelle des Tschertschen.
Sie erreichten hier ein ungeheures, 6000 in hohes Kalk-
gebirge, das durch ein weites, nach Südwest ziehendes Thal
vom Kwen Lun geschieden ist. Bei einem kleinen See,
366
Die Mündung der Gironde und ihre Änderungen. — Bücherschau.
Uamil Kul, am Fuße dieses Gebirges, erreichte das Vordringen
der Expedition sein Ende. Von den in einer Schlucht des
Gebirges mit Goldwäschen beschäftigten Eingeborncn erfuhren
sie, daß dieses Gebirge Akka-Tai heiße, und daß seine
Gipfel mit ewigem Schnee bedeckt seien. Die Rückreise
wurde über den Lobnor, Karaschar und Urnmtschi durch
bekannte Gegenden angetreten. Am 15. Januar 1891 er-
reichte Pjewtsow den russischen Grenzposten am Saisan
(Nature). Ist cs nun auch dem Nachfolger Prschewalskis
nicht gelungen, nach Tibet einzudringen, so hat seine Expedition
doch viel zur Kenntnis des mittleren Kwen Lun beigetragen.
Die Mündung der Gironde und Ihre Änderungen.
Der frühere Hafenkommandant von Bordeaux, Schiffs-
leutnant Hautreux, giebt im Bulletin der Handelsgeogra-
phischen Gesellschaft in Bordeaux (Juni und Juli 1891) eine
wertvolle Studie über die Gironde. Die Angelegenheit hat
eine um so größere Bedeutung, als das Gedeihen der Handels-
stadt Bordeaux von der Stromtiefe der Gironde abhängig
ist. Das Ästuarium der Gironde, wie alle größeren Astua-
rien zeitweise vom Meereswasser durchfurcht, erleidet viele
Veränderungen, welche teils in Verrückungen, teils in Ver-
größerungen oder Verkleinerungen der Tiefen bestehen. Hierzu
kommen noch massenhafte Alluvionen, welche von der Garonue
und der Dordogne abwärts getragen werden. Die Mün-
dungen einiger Flüsse wie Schelde, Clyde oder Mersey, bilden
mehr golfähnliche Öffnungen, in deren oberen Teile nur
Wasserläufe von schwachen Volumen münden. Anders ist
dies bei der unteren Garonnc und der Gironde. Die Rei-
bung zwischen dem abwärts strömenden Flußwasser und dem
täglich zweimal wieder zurückdrängenden Meerwasser ist hier
eine weit stärkere. Auch die Massen von Schlamm und
Saud sind bedeutend, welche vom Wasser flnßanfwärts oder
meerwärts bewegt werden. Flußtiefen, welche früher für die
kleineren Segelschiffe ausreichend waren, sind für große
Dampfer unzulänglich. Und gerade in einer Zeit, in der
wir tiefere Fahrwässer nötig haben, wird unverständige Ab-
holzung getrieben und dadurch bei größerer Abschwemmung
die Beständigkeit der Flußbetten aufgehoben.
Hautreux belegt seine Arbeit mit acht Karten, deren
älteste von 1590 stammt, die übrigen von 1677, 1708,
1751, 1798, 1812, 1875 und 1690. Die Sammlung
umfaßt also drei Jahrhunderte. Besonders lehrreich ist die
Karte vom Jahre 1708, auf der über der schwarzen Original-
darstellung in roter Farbe die heutige Flußtrace gegeben ist,
wodurch ein Vergleich des heutigen Flußlaufes mit dem alten
ermöglicht wird. Sieht man von Einzelheiten ab, so sind
aus dieser Vergleichung zwei große Thatsachen zu erkennen.
Die Sandbänke, welche sich meerwärts verlängerten und im
ganzen Astuarium zerstreut waren, scheinen sich jetzt zu einer
festeren Masse zusammen zu gliedern. Von 1812 bis 1890
kann man das fortschreitende Anwachsen dieser Verlängerung
an der weitesten und gefährlichsten dieser Bänke, „tu Mau-
vaise“, beobachten, welche sich an die Pointe de Graves und
das Riff von Cordonan anlehnt, und sich langsam vorschiebt
bis zur Pointe de la Coubre, auf-diese Art den ganzen Golf
der Gironde ausfüllend.
Flußaufwärts ist die Bildung einer großen Anzahl von
Inseln in der Mitte des Flusses nachzuweisen und zwar in
der Verlängerung der Landspitze, welche die Garonne von der
Dordogne trennt. Noch hier sind die Schwesterflüsse stärker
als die aufsteigende Meerflut und suchen durch Ablagerung
von Schwammmaterial ihren Zusammenfluß nordwestlicher
vorzuschieben, um jeder für sich ein besonders Bett zu bilden.
Wenn man den Laus der unteren Garonne zwischen der
Gironde und Bordeaux verfolgt, so bemerkt man, daß durch
vielfache Uferbauten die Flußbreite schmaler geworden ist,
so daß sie an gewissen Punkten schwerlich mehr erreicht, als
die Hälfte der Flußbreite im Jahre 1812. Dieselbe Wasser-
masse ist also gezwungen, heute in einem viel schmaleren
Kanäle abzuströmen, wodurch eine allmälige Vertiefung des
Flußbettes zu erhoffen war. Die Hoffnung hat sich aber
nicht erfüllt. Mit der verminderten Breite hat die Vertie-
fung nicht Schritt gehalten, denn die Abschwemmungen der
Flüsse verlängern sich meerwärts.
Der Ingenieur Labat, der diese Frage ebenfalls ein-
gehend studierte, fand, daß die aufsteigende Meerflut den
Grund des Flußbettes wie eine Pflugschar angreift, aber nur
so lange, als der abwärts fließende Strom an der Oberfläche
schnellere Bewegung hat als auf dein Grunde seines Bettes.
Daraus erklärt sich für die Gironde, und im besonderen
auch für die untere Garonne, daß die Schlammwirbel, welche
in dem Moment des Aufsteigcns der Flut sich erheben iinb
stromaufwärts richten, von dem sechs Stunden später wieder
meerwärts dringenden Flußwasser zurückgeführt werden. Die
verengte Garonne widersetzt sich also dem Eindringen des
Meerwassers und begünstigt die Ablagerung von Alluvionen.
Je weiter das Meer flußaufwärts drängt, umsomehr sucht
es einen wirklichen Golf zu bilden. Nimmt diese Thätigkeit
aber ab bis zum völligen Verschwinden, so werden die An-
schwemmungen des Flusses im Golfe bleiben und ihn all-
mählich ansebenen. An Stelle der tiefen Mündung wird der
Fluß in einem Delta endigen. Ohne Zweifel wird die
Gironde nicht zu einer Camargue werden. Man muß aber
bei einer Vertiefung des Flußbettes danach streben, die Ab-
strömung des Flußwassers zu erleichtern.
Büch erschau.
Dr. Sigmund Günther, Prof. a. d. tech». Hochschule in München.
Lehrbuch der physikalischen Geographie. Mit 169 in
den Text gedruckten Holzschnitten und 3 Tafeln in Farben-
druck. Stuttgart. Ferdinand Enke, 1891.
Vorliegendes Lehrbuch ist in erster Linie für Studierende
bestimmt; es soll ein Kompendium sein und in kürzerer Form
den Inhalt des vor einigen Jahren von demselben Vers, ver-
öffentlichten zweibändigen Handbuches der physikalischen Erd-
kunde wiedergeben.
Wir leben in einer Zeit allgemein regeren Interesses für
die geographischen Forschungen. Das gilt namentlich für die
physikalische Erdkunde, welche gerade in den letzten Jahrzehnten
wesentliche Bereicherungen ihres Inhaltes erfahren hat. Somit
darf nicht bezweifelt werden, das; ein wirkliches Bedürfnis nach
einer zusammenfassenden Darstellung auf diesem Gebiete vor-
liegt, zumal wir außer dem im Jahre 1884 erschienenen Buche
von Supan keine andre Zusammenfassung dieser Art besitzen.
Allerdings fällt ein nicht unbeträchtlicher Teil, wenn nicht die
Hauptmasse der in der physikalischen Erdkunde behandelten
Materie in das Gebiet der allgemeinen Geologie, so die Geo-
tektonik, die Bewegungen der Erdkruste, Niveauschwankungen
des Meeres, vulkanische Erscheinungen, Erdbeben, zerstörende
und aufbauende Thätigkeit der Gewässer und des Windes,
Glazialerscheinungcn u. s. w. und wird daher mit dieser er-
ledigt, allein andre wichtige Teile der Physik der Erde, wie die
meteorologischen und magnetischen Erscheinungen, Ozeano-
graphie u. s. w. sind leider herkömmlicherweise von dem Be-
trachtungskrcis der allgemeinen Geologie ausgeschlossen. Indem
nun die physikalische Erdkunde diese Lücke ergänzt und den
geologischen Teil mit dem rein physikalischen Teile zu einem
harmonischen Ganzen verbindet, leistet sie auch vielen Geologen
willkommene Dienste. Darum haben auch diese ein Interesse
an dem Zustandekommen eines guten Lehrbuches der physikali-
schen Erdkunde. In wie weit es nun dem Vers, gelungen ist,
ein solches zu liefern, mag in aller Kürze folgende Besprechung
lehren.
Aus allen Erdteilen.
567
Der jehr reiche Inhalt des Buches wird durch 169 Holz-
schnitte und 3 Tafeln Abbildungen illustriert; diese wie auch
die sonstige Ausstattung des Buches sind gut. Das gleiche gilt
für die Anordnung des Stoffes. Derselbe gliedert sich in
17 Kapitel, nämlich folgende: 1. Kosmophysikalische Ein-
leitung. — 2. Gestalt und Größe der Erde; Gravitations-
eescheinungen. — 3. Erdtemperatur und Erdinneres. — 4. Geo-
gnosie und Stratigraphie. — 5. Bau und Entstehung der
Gebirge. — 6. Hebungen und Senkungen. — 7. Vulkanische
Erscheinungen. — 8. Erdbeben. — 9. Das magnetische und
elektrische Verhalten der Erde. — 10. Die Atmosphäre und die
in ihr sich vollziehenden Bewegungen. — 11. Klimatologie. —
12. Das Meer im Ruhezustände (ozeanische Statik). — 13. Das
Meer im bewegten Zustande (ozeanische Dynamik). — 14. Die
Gewässer des Festlandes. — 15. Schnee und Gletschereis. —
16. Die zerstörenden Kräfte au der Erdoberfläche. — 17. All-
gemeine und spezielle Morphologie der Erdoberfläche.
Daß der Vers, danach strebte, seinen Gegenstand ent-
wickelungsgeschichtlich darzustellen, sowie jeweils immer auf die
Lücken in unsrer Kenntnis desselben hinwies und die wichtigeren
Erfahrungssätze in prägnante Form gekleidet durch Cursivschrift
hervorhob, kommt der Übersicht des Buches ungemein zu statten.
Von der gewiß richtigen Ansicht ausgehend, daß die Geologie
die wichtigste Grundlage der physikalischen Erdkunde bildet, hat
der Verf. den üblichen Lehrstoff der letzteren überdies noch um
ein Kapitel (4): „Geognosie und Stratigraphie" vermehrt. Es
mag gewagt erscheinen, den Inhalt einer so umfangreichen
Wissenschaft, wie die Geologie mit samt der Petrographie dar-
stellt, auf 33 Druckseiten einzuengen, und Verf. bezeichnet es
selbst richtig als eine Art „Schnelldressur", dieses dem angehen-
den Geographen an Stelle einer ihm leider gewöhnlich mangeln-
den „tüchtigen, mineralogisch-geologischen Propädeutik" zu
bieten, allein in geschickter Form ausgeführt, war es immer ein
Ersatz, der dankbar anzunehmen war. Einen solchen gedrängten
Überblick einer Wissenschaft zu geben, ist aber keine leichte
Sache; sie verlangt große Erfahrung und vollkommenste Be-
herrschung des Gegenstandes. Beides war aber von vornherein
vom Verf. nicht zu erwarten; und so ist denn auch dieses
Kapitel als vollständig mißglückt zu bezeichnen. Leider ent-
hält es viele irrige Anschauungen und fundamentale Irrtümer,
welche dazu angethan find, geradezu den Wert des ganzen
Buches in Frage zu stellen. Auch in den übrigen. Teilen des
Buches finden sich mancherlei schlimme Dinge. Gleich im
ersten Kapitel bei Besprechung der Meteoriten S. 4 heißt es:
man trifft in den Meteoriten vielfach diejenigen Mineralien
an, welche beim Aufbaue unsrer Erdgcbirge eine hervorragende
Rolle'spielen, wie Quarz. Augit.. (Gerade das Fehlen von
Quarz ist aber für die Meteoriten charakteristisch!) — übertrieben
ist cs, L>. 63, Steinsalz einen felsbildcnden Stoff im emi-
nentesten Sinne zu nennen. — Auf gar nicht chemischer An-
schauung beruht folgender Satz auf S. 66: bringt man Dolo-
mit mit erhitzten Säuren in Berührung, so scheidet sich die
ihm beigemengte Kohlensäure ab. — Auf eigentümlicher
geologischer Vorstellung beruht das auf S. 67 über Gang-
gesteine Gesagte, welche zylindrische Hohlräume ausfüllen sollen. —
Die Sedimentgesteine zerfallen nach Verf. in zwei wesentlich
verschiedene Gruppen, je nachdem für sie Schieferung oder
Schichtung bestimmend ist. — Besonders aber folgender Satz
möchte ungeschrieben geblieben sein: „Wenn Schichtung und
Schieferung einen von Null erheblich abweichenden
Winkel bilden, so spricht man von diskordanter
Parallelstruktur. Ein Beispiel hierfür bildet der
Buntsandstein von Nebra" (S. 69). — Von Konkretionen
oder Geoden kann keine Rede sein, da man unter letzteren
Blasenräume versteht (S. 70). — Beachtenswert ist auch das
S. 70 über Mandelsteinstruktur Gesagte: „Durch Blasenräume
charakteristisch, ist diese gut zu verfolgen an den bekannten
Schlacken, Steinbrocken, welche kleine Mengen Erz in sich ent-
hielten und diese durch den Prozeß der Ausschmelzung ver-
loren haben. Die Hohlräume sind alsdann deutlich erkennbar.
— Im Kapitel über Terrainformen heißt es S. 411: „Ein in
mancher Hinsicht den Lehmpyramiden ähnliches Denudations-
gebilde sind die sogenannten Afar in Schweden und Finnland
(hier Rapakiwi genannt)"! Faktisch versteht man unter Asar
steile, langgezogene, Rücken bildende, fluvio-glaziale Geröll-
ablagerungen, und unter Rapakiwi einen für Finnland überaus
charakteristischen Hornblendegranit. Über die Entstehung der
Erdfälle heißt es S. 467: Gipslager wurden ausgelaugt und
der im Liegenden befindliche Dolomit stürzte nach. — Die
Salzwasserseen werden vollkommen ausgesüßt, teils durch Ab-
fuhr, teils durch Verduustung (S. 326). Noch mancherlei
wäre zu beanstanden, doch dürften diese Beispiele genügen, um
unser Endurteil über das Buch als hinreichend begründet er-
scheinen zu lassen. Es lautet dahin, daß vorliegendes Lehrbuch
von den Geübteren mit Vorsicht zu benutzen, einem Anfänger
aber keinesfalls in die Hand zu geben ist.
Dr. A. Sauer.
Aus allen Erdteilen.
— Sind die Winter im Norden wärmer ge- j
worden? Der berühmte russische Geograph und Meteorologe
Professor A. Woeikof hat iin Septcmberhefte der meteoro-
logischen Zeitschrift einen wichtigen Beitrag zu der oben er-
wähnten interessanten kl imatolo gischen Zeit- und Streit-
frage geliefert, dem wir folgende Ergebnisse entnehmen.
Nach den Untersuchungen von Glaisher sind in England
die Winter milder geworden, in Nord- und Zentral-
rußland ist allgemein die Volksmeinung verbreitet, daß auch
hier die Winter milder geworden sind, in der Krim, dem
Kaukasus und Turkestan hingegen wird über kalten Winter j
geklagt. Um über die Frage einiges Licht zu gewinnen, hat ;
Woeikof die lange Reihe der Temperaturbcobachtnngen in
St. Petersburg (1744 bis 1890) bezüglich der sehr kalten ^
Tage nutersncht, die Reihe ist zwar keineswegs homogen,
auch weist sie Lücken auf, indessen ist sie zum Studium der
vorliegenden Frage hinreichend. Die Beobachtungen zeigen,
daß die Zahl der sehr kalten Tage im großen und ganzen
recht erheblich abgenommen hat, daß niedrige Tcmpera-
raturen in der Periode (1828 bis 1890) seltener sind, daß
sie in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts im Vergleich
gegen das vorige Jahrhundert und den Anfang des 19. Jahr-
hunderts noch seltener wurden (um fast 50 Proz.). Warme
Perioden von sechs bis 18 Jahren alternierten mit kalten, die
kältesten fielen auf die beiden letzten Dekaden des 18. und die
zwei ersten Dekaden des 19. Jahrhunderts. Auch während der
kalten Periode 1867 bis 1877 war die Zahl der kalten Tage
viel kleiner als in den früheren kalten Perioden. Auch die
Eisverhältnisse des Hudson fl usses in Albany, Vereinigte
Staaten (unter 42" 39' nördl. Br.), bestätigen die Vermutung,
die Winter seien in niedrigen mittleren Breiten strenger
geworden, wie Woeikof ans den ihm zur Verfügung ge-
stellten Daten des Herrn Daniel Dr aper, Direktor des
Zentral Park Observatory, Neu-Uork, über das Gefrieren
des Hudsonflusses nachgewiesen hat. Während außerhalb
hoher Gebirge die Flüsse unter gleicher Breite nur in der
turanischen Ebene und in Ostasien gefrieren, gefriert der
große Hudsonflnß länger als drei Monate. Es.
— Über die Beziehungen zwischen den Höhen der
Vulkane und ihrer Entstehung hat Daubräe, der
bekannte französische Gelehrte und Verfasser der Experimental-
geologie, beachtenswerte Ansichten ausgesprochen. Innerhalb
gewisser Gebiete besitzen die höchsten vulkanischen Erhebungen
nahezu gleiche Höhe. Die überhaupt höchsten Vulkankegel
: mit 6000 bis 7000 m Höhe sind in der Kordillere von
Peru und Bolivia vereinigt. Weiter nördlich, in der
Republik Ecuador, drängen sich 16 Vulkanriesen zusammen
mit einer Höhe von 5300 bis 5900 m. In Nordamerika
finden wir an der pazifischen Seite im Kaskadcngebirge die
Gruppe des Pike Hood (3421 m), Mt. St. Helen (4000 m),
Rainier (3766 m), Baker (3383 m). Eine andre Gruppe
bilden der Mt. Hooker (4784 m), Brown (4876 m) und in
Britisch - Kolnmbia der Fair Wcather mit 4482 m, der
368
Aus allen Erdteilen.
Eliasberg mit 4568 m. In der Alten Welt fallen die zu-
sammengehörigen Vulkanberge: der Savalan 4814 m, der
Kasbek 5043 m, der Elbnrs 5647, Ararat 5157 m, Dema-
vend 5665 m durch sich nähernde Höhen auf. Die Vulkan-
berge Javas halten Höhen zwischen 3000 bis 3600 m inne.
Vier Vulkane Sumatras erheben sich zwischen 930 bis
717m. Die beiden großen Vulkane der Sandwich-Inseln
auf Hawai sind nahezu gleich hoch, der Mauna Loa steigt
zu 4463 m , der Manna Kea zu 4303 m Höhe auf. Auf
Island ist der Skaptar Jöknl 1947 m, der Hekla 1634 m,
der Beerenberg ans Jan Mayen 2139 m hoch. Im böhmi-
schen Mittelgebirge liegen die "höchsten Gipfel um 700 m
herum. In Frankreich ist der Mt. Dore 1886 m, das
Nachbarmassiv, der Mt. Cantal, fast gleich hoch, nämlich
1858 m; der 30 km davon entfernte Mezenc 1754 m. Nicht
das verschiedene Niveau des Austrittes der Eruptivmassen
in einem Gebiet darf verwundern, da seitliche Spaltenbildnngen
für Austritt der Gase, Verstopfungen der Kanüle und ähn-
liche Zufälligkeiten die verschiedensten Abweichungen herbei-
führen können, vielmehr das immer nahezu übereinstimmende
Niveau der höchsten Kegel. Diese letzteren verkörpern gewisser-
maßen die Maximalleistung des Druckes in den unter-
irdischen Vulkanherden. Indem sich nun Daubree dieselben
gesondert denkt, können die Effekte natürlich sehr verschieden
groß sein. Die aufeinander folgenden Eruptionen erhöhen
den Vulkankegel mehr und mehr, aber nur so lange, als der
unterirdische Druck stark genug ist, um die Lavnmasse an der
Spitze zum Ausfluß zu bringen. Reicht der Druck dazu nicht
mehr ans, so wird naturgemäß der Kegel aufhören, sich zu
erhöhen. Der gleiche Fall wird eintreten für benachbarte
Kegel, die unter gleichen Bedingungen von demselben unter-
irdischen Herde gespeist werden. (Comptes rendus, Sitzg.
vom 21. Juni 1891.)
- f/^ uuuu r ^ v u v v um 11 uj u im -
gebirge. Im Jahrbuche des Schweizer Alpenklnb (Jahr- ,
gang XXVI) berichtet A. de Claparède über den neuen, rein
wissenschaftlichen Zwecken dienenden Alpengarten der von:
Comité international du jardin botanique alpin de la
Linnea à Boung St. Pierre verwaltet wird, dessen Sitz sich in
Genf befindet. Dieses Komitee ist nicht zu verwechseln mit
der schon seit 1883 bestehenden Association pour la pro-
tection des plantes, deren Gärten in Genf sowohl wissen-
schaftlichen als Handelszwecken dienen. Die Beobachtung,
daß viele Pflanzen wegen Mangel der entsprechenden Lebens-
bedingungen entarten, hat zu Versuchen geführt die in den
letzten Jahren nächst dem Weißhornhotel (über 2000 m), in
Sion (512m), in Zermatt (1620m) und am Großen
St. Bernhard (2472 m) angestellt wurden. Ans Anregung
der Association pour la protection des plantes und unter
Mitwirkung ausländischer Vereine wurde im Jahre 1889
zn Bourg St. Pierre in einer Höhenlage von 1693 m ein
rein wissenschaftlichen Zwecken dienender alpiner botanischer
Garten angelegt. Die Kultur der europäischen (insbesondere
der schweizer) Hochgebirgspflanzen und event, auch der außer-
europäischen, sowie alle hierauf bezüglichen wissenschaftlichen
Studien und Beobachtungen sind die Zwecke, welche verfolgt
werden sollen. Als Direktor wirkt H. Correvon, welcher
gleichzeitig auch Präsident der Association ist. Der Garten
ist in Terrassen angelegt, von denen jede die Pflanzen eines
bestimmten Gebietes enthält, so z. B. der Zentralalpen, der
Pyrenäen, der Tiroler Alpen, der Karpaten, des Kaukasus re.
— Ertrag des Fremdenverkehrs in Tirol. Ähn-
lich wie es für die Schweiz geschehen ist, wurde von dem
Tiroler Landesverbände für Fremdenweseu eine Ertrags-
statistik des Fremdenverkehrs aufgestellt, die natürlich keine
vollständige Genauigkeit, sondern nur annähernde Ergebnisse
liefern konnte. Zusammengestellt wurde dieselbe ans Grund
von Fragebogen, die au 200 Gemeinden von Deutsch-Tirol
verschickt worden waren. Dieselben beziehen sich auf die
reisenden Fremden, sowie auf das Erträgnis für Lohnkutscherei
und Bergfuhrdienst. Danach ergiebt sich für das Jahr 1890
ein Erträgnis aus dem Fremdenverkehr für Deutsch-Tirol
von 7 015 000 Gulden, wovon 1 329 000 auf Innsbruck;
1 340 000 auf Bozen mit Gries; 2 137 000 auf Meran
mit Ober- und Unter-Mais entfielen. Für Welsch-Tirol
steht eine ähnliche Statistik in Aussicht; bekannt ist, daß
1890 die Ertragsziffer des Kurortes Arco 810 000 Gulden
betrug.
— Die Gradmessung des Eratosthenes und die
neueste Berechnung des griechischen Stadiums waren der
Gegenstand einer Mitteilung des Herrn Dr. Oberhummer
an die Geographische Gesellschaft zn München im November.
Redner erläuterte zimächst das von Eratosthenes für seine
Berechnung des Erdumfanges angewandte Verfahren und
besprach sodann kurz die bisherigen Versuche zur Bestimmung
der Länge des Stadiums. Dieselben sind jetzt in eine neue
Phase getreten, nachdem kürzlich Dr. Dörpfeld in Athen auf
Grund seiner an altgriechischen Bauten gewonnenen Neu-
berechnung des üginäisch-attischen Fußes zu 0,328 m zur
Aufstellung eines gemeingriechischen Stadiums zn 500 Fuß —
164 m gelangt ist. Hiernach würde der von Eratosthenes
bei seiner Erdmessung begangene Fehler, welcher bisher
gewöhnlich auf 13 bis 14Proz. veranschlagt wurde, sich auf
21/2 bis 3 Proz. vermindern, eine Genauigkeit, welche aller-
dings weniger ans die Schärfe des Verfahrens als auf die
gegenseitige Ausgleichung mehrerer Fehlerquellen zurückzu-
führen ist.
— Die Kupferwerke in Französisch-Congo werden
in einem amtlichen Berichte von Destrain als äußerst er-
giebig und zukunftsreich geschildert. Sie liegen im Quell-
gebiet der Lndima-Niadi, ungefähr zwei Tagereisen südlich
von Stephanieville. Ihr Name ist M'Boko Song ho.
Das Präfix M'Boko bedeutet Lehen, Songho in der Fiote-
sprache Kupfer. Der Bergbau auf Malachit, denn in dieser
Form kommt das Kupfer dort vor, ist natürlich ein arger
Raubbau und wird von etwa 350 Negern in der ursprüng-
lichsten Art betrieben. In einer Aushöhlung von 200 Fuß
I Länge, 100 Fuß Breite und 30 Fuß Tiefe graben die
Arbeiter mit einfachen Stöcken aus hartem Holz kleine Löcher
von 3 Fuß Durchmesser und doppelt so tief in die Erde,
wo sie gewöhnlich auf die Malachitlager treffen. Der Malachit
wird am Boden zerschlagen und in kleinen Körben an die
Oberfläche gebracht. Diese Löcher oder kleinen Schachte sind
rund und liegen dicht bei einander und die zwischen ihnen
stehen gebliebene Erde wird später auch abgetragen, so daß
man schichtweise weiter in die Tiefe vordringt.
Die Verhüttung findet in kleinen Thonöfen mit dem
allgemein üblichen Gebläse statt. Zu den Berg- und Hütten-
leuten gesellt sich noch der Köhler, der in den Wäldern die
Kohlen brennt und zur Hütte bringt. Der Malachit wird
pulverisiert und mit Holzkohlen geschichtet in einen Tiegel
gebracht, der im Ofen steht und dem Gebläse ausgesetzt ist,
das tüchtig (durch Düsen) aus die Holzkohlen im Ofen ge-
richtet ist. Ist das Metall reduziert und geschmolzen, dann
wird der Tiegel mit zwei als Zange dienenden Bambus-
röhren herausgenommen und das Kupfer in Sandformen
ausgegossen. Die ganze Gegend ist dort sehr knpferreich und
in der Lndima findet man häufig Malachitknolleu im Gerölle.
Herausgeber: Dr. R. And ree in Heidelberg, Leopoldstraße 27.
Druck von Friedrich Vieweg und Sohn in Braunschweig.
Bd. LX
Brauns chwei g.
Jährlich 2 Bände in 24 Nummern. Durch alle Buchhandlungen und Postanstaltcn
zum Preise von 12 Mark sür den Band zu beziehen.
1891.
Die „Moros" der Philippinen.
Versuch einer Arktik von p)rof. F erd. Blumentritt.
Als die Spanier den Archipel der Philippinen entdeckten
und in Besitz nahmen, fanden sie heidnische und mohamme-
danische Eingeborne vor, erstere benannten sie nach amerika-
nischen Reminiscenzen „Indier", letztere, in Erinnerung der
spanischen Mauren, „Moros", beide Namen haben sich bis
auf den heutigen Tag erhalten, wenn auch in der Gegenwart
unter „Indier" (indio) schlechtweg nur mehr der zivilisierte
und christliche „Indier" verstanden wird. Da in den ver-
gangenen Jahrhunderten die Völkerkunde im wissenschaftlichen
Sinne des Wortes nicht existierte, so darf es uns nicht Wunder
nehmen, daß man die philippinischen „Moros" nicht nur als
Glaubensgenossen, sondern als Blutsverwandte der spanischen
Mauren annahm und hinstellte. Viel schlimmer ist es (wenn
auch bei der geringen Vorliebe der modernen Spanier für
gründliche ethnographische Studien uns sehr erklärlich), wenn
am Schlüsse des 19. Jahrhunderts die Ansicht von der
arabisch-maurischen Abkunft der philippinischen Moros selbst
in den Kreisen spanischer Philippinisten weiter gehegt und ge-
predigt wird — höchst vereinzelte ehrenwerte Ausnahmen ab-
gerechnet. Es ist aber hier nicht der Ort, über diese ethno-
graphische „Ketzerei" der Spanier sich mehr zu verbreiten,
denn die Leser dieser Zeitschrift brauchen erst nicht über die
malaiische Abkunft der philippinischen Moros unterrichtet
zu werden.
Wichtiger ist es, daß man auch in ethnographisch unter-
richteten Kreisen des Auslandes die Moros der Philippinen
als einen einzigen Volksstamm ansieht, was auf die ein-
fachste Weise sich dadurch erklären läßt, daß die Sitten und
Bräuche der verschiedenen Morosstämme durch den Ein-
fluß des Islam ein gemeinsames, einheitliches Gepräge auf-
gedrückt erhielten, die Moros also, wenn auch nicht ihrem
physischen Habitus nach, so doch in den andern Beziehungen
als ein einheitliches Ganzes sich repräsentieren. Hierzu tritt
noch der Umstand, daß das Joloano (spr. Holoáno),
d. h. das Sulu-Idiom nicht nur im eigenen Sprachgebiete,
sondern (ähnlich dem Französischen im nichtgallischen Europa)
in den Ländern der philippinischen Moros allgemein ge-
sprochen wird, besonders im Verkehr mit Fremden, weshalb
Globus LX. Nr. 24.
leicht geglaubt werden kann, daß alle „Moros" einen einzigen
Sprachstamm bildeten. Nicht minder verbreitet ist das
Magnindanao-Jdiom, das von vielen mit dem Sulu-Idiom
verwechselt wurde.
Es werden freilich den Moros verschiedene Namen ge-
geben, aber man hielt sie zumeist für Namen, welche mehr
einen lokalen oder sozialen, als ethnographischen Charakter
besäßen, was aber in den meisten Fällen nicht stattfindet, wie
wir dies gleich im einzelnen nachweisen wollen, zuvor aber
sei cs uns gestattet, sämtliche Namen, welche den Moros
gegeben werden, in alphabetischer Reihenfolge anzugeben.
Diese Namen sind folgendes: 1. Burneyes (sprich:
Bnrnejes) si; 2. Calibuganes; 3. Camneones oder
Camocones ch; 4. G nimbas oder Gnimbajanos, Guim-
bahanos, Gninbajanos (sprich: Gimbas, Gimba-
hanos u. s. w.); 5. Jllanos (Jlanos) oder Jllanun,
Jlanum; 6. Jaeanes (sprich: Hakanes); 7. Joloanos
(sprich: Holoanos), es ist dies der spanische Name für die
Sulus; 8. Lañaos; 9. Lanun; 10. Laut; 11. Lntan-
gas; 12. Lutayas oder Lutayos, Lntaos; 13. Ma-
guindanaos (sprich: MagindLnaus); 14. Malanaos;
15. Mardicas st; 16. Mindanaos; 17.n) Moros,
U) Moros-Jslames; 18. Moro-Malayos; 19. Orang-
Islam; 20. Orang-Laut; 21. Quimpanos; 22. Sá-
males oder Moros - Sámales oder Sámales-Laut;
23. Sameacas; 24. Sanguiles (sprich: Sangiles);
25. Tirones si; 26. Pacanes (sprich: Jakanes).
Von diesen Bezeichnungen können wir sofort Nr. 21 aus-
scheiden, denn es ist eine durch einen Druckfehler entstandene
und durch leichtfertige Nachschreiber vervielfältigte Verun-
staltung des Namens der G nimbas (Nr. 4). Ebenso sind
zu streichen die Nrn. 171», 18 und 19, denn Moros-Js-
lames ist eine Art Tautologie, Moro - Malayos ist der
spanischen Unkenntnis der Völkerkunde zu danken, nach welcher
nur die Moros als Malaien angesehen werden und was i)
i) Die mit einem f versehenen Namen sind heute nicht
mehr gebräuchlich.
47
370
Prof. Ferd. Blumentritt: Die „Moros" auf den Philippinen.
Orang-Jslam anbelangt, so ist dies nur eine malaiische
Bezeichnung, gleichbedeutend mit Muselmann. Überdies
ist Nr. 9 nur eine andre Schreibung für Nr. 7; ferner
ist Nr. 8 die abgekürzte Form für Nr. 14; wie Nr. 16 für
Nr. 13. Endlich ist Nr. 6 eine falsche Schreibweise für
Nr. 26.
Von allen diesen Namen ist der verbreitetste: Moros,
er dient als Sammelname für alle philippinischen Malaien
mohammedanischer Religion und verdient vollkommen, in
dieser Bedeutung in der ethnographischen Litteratur und
Nomenklatur beibehalten zu werden, zumal in der deutschen,
da wir doch die spanischen „Moros" in unsrer Sprache
„Mauren" nennen.
Von den übrigen Namen sind es folgende, welche mehr
die Heimat als die Stammeszugehörigkeit kennzeichnen:
1. Burneyes, mit diesem Namen bezeichnete mau früher
die Mohammedaner der Insel Borneo, welches im älteren
Spanisch Burney hieß. — 2. Camucones, so nannte
man jene Piraten, welche die zwischen Borneo und Tawitawi
gelegenen Eilande und Inselgruppen bewohnten. Wir können
heute nicht mehr entscheiden, ob diese Camucones der alten
Chronisten zu den Sulnanern gehörten oder zu einem andern
Stamme. — 3. Ebenso scheint mit der höchsten Wahrschein-
lichkeit der Name Jllanos mehr eine Landsmannschaft als
einen eigenen Stamm zu bedeuten, denn nach den Angaben
der Jesuitenkarten bilden dieJllanos, welche das sogenannte
Mrritorio illano der Insel Mindanao bewohnen, mit
ihren südlichen Nachbaren, den Maguindanaos, einen
einzigen Stamm. — 4. Lañaos oder Malanaos ist der
Name jener Jllanos, welche die Ufer des Sees Làncio
(Malänao oder Dänao) bewohnen. Es scheint, daß auch
der Name Jllanos, wie dies schon aus der Nebenform
Lanun hervorgeht, von dem Namen dieses Sees herzu-
leiten ist. — 5. Lntangas ist der Name jener Calibu-
ganes (von diesen wird weiter unten die Rede sein), welche
die Insel Olutanga und die derselben gegenüberliegenden
Gestadelandschaften der Insel Mindanao bewohnen. —
6. Orang - Sulu will soviel heißen als Sulu-Mensch,
da aber auf Sulu nicht allein eigentliche Suluaner (Joloa-
nos), sondern auch andre Stämme wie Gnimbas, Sämales-
Lant u. s. w. wohnen, so kann der Name Orang-Sulu
nicht als Völkername, sondern nur im landsmannschaftlichen
Sinne aufgefaßt werden. Es ist ein Name, der gänzlich
ans der philippinischen Völkerliste zu streichen ist. — 7. Unter
Tirones verstanden die philippinischen Mönchschronisten
jene Piraten, welche ans dem Landstriche Tirón (Tedon,
Tidong) von Borneo und den vorgelagerten Eilanden kamen.
Schwer ist es zu entscheiden, ob Sanguiles (besser:
Moros Sanguiles) auch nur einen „laudsmannschaft-
lichen" Sinn besitzt. Die Sangnil-Moros, welche die Süd-
küste von Mindanao bewohnen und vom Vulkane Sangnil
den Namen erhalten haben, unterscheiden sich zwar durch mildere
Sitten und laxe Beobachtung der Koranvorschriften von den
Maguindanaos, aber dies begründet nicht, ihnen eine ab-
gesonderte Stellung von diesen zuzuweisen, denn wie wir
weiter unten sehen werden, existiert durch die Sklavenjagden
der Moros kein einheitlicher Typus auch innerhalb eines und
desselben Sprachstammes. Bei der großen Variabilität des
physischen Habitus und der Sitten innerhalb eines Stanunes
ist nur das sprachliche Moment das einzige maßgebende, und
leider gerade hierüber ist bezüglich der Sanguiles nichts be-
kannt. Wir wissen über ihre Sprache gar nichts, obwohl
die Vermuthung gerechtfertigt erscheint, daß sie kein eigenes
Idiom besitzen.
Positiv erwiesen als eigene, selbständige Sprachstämme
sind jene der Suluaner (Joloanos), der Mcanes, der
Maguindanaos und der Sümales-Laut, denn die jetzt
im Sulu-Archipel und ans Mindanao thätigen Jesniten-
missionare bemerken ausdrücklich, daß die Sprachen der hier
erwähnten vier Morosstämme voneinander ganz verschieden
wären. Das Sulu-Idiom (el Joloano) bildet die Mutter-
sprache der Mehrzahl der Bewohner der Inseln Sulu, Tawi-
tawi und Cagaym-Snlu und einer nicht unansehnlichen Zahl
der Moros der Insel Palawan (und wahrscheinlich auch der
Insel Baläbak). Außerdem ist, wie schon erwähnt, die
Kenntnis des Snlu-Jdioms auch unter den übrigen Moros-
stämmen sehr verbreitet, weil Sulu das religiöse Zentrum
der mohammedanisch-philippinischen Welt ist, dort liegt das
Grab eines ihrer größten Heiligen, zu dem zahlreiche Pilger-
wällen, von Sulu, das mit Mekka in Verkehr steht, kommen
die meisten Panditas (Priester) der Moros von Mindanao.
Das Uakan-Jdiom ist die Muttersprache jener Moros,
welche das Binnenland der Insel Basilan bewohnen. Zn
diesen Iacanes gehören auch die Moros, welche östlich von
Zamboanga ihre Sitze haben. Auf der Insel Sulu finden
sich auch Aacanes vor.
Das Manguindanao-Jdiom bildet die Muttersprache
der Moros, welche den Unterlauf des Rio Grande de Min-
danao bewohnen, und der Jllanos, obwohl letzteres nicht über
alle Zweifel erhaben ist. Zu diesen Maguindanaos gehören
noch die am Meerbusen von Davao und auf den Sarangani-
Jnseln seßhaften Moros.
Das Samal-Jdiom (das wir sehr wohl von einem
zweiten philippinischen Sa mal- Idiom, jenem der heid-
nischen Bewohner der im Golfe von Davao gelegenen
Insel SLmal unterscheiden müssen) ist die Muttersprache der
Moros - Sämales oder Sämales - Laut, welche die
zwischen Snln und Basilan gelegenen Inselgruppen, dann die
Küstengegenden von Basilan bewohnen. Auch auf Sulu
und Tawitawi sind sie in beträchtlicher Anzahl vorhanden.
Es ist auch sehr wahrscheinlich, daß jene Moros, welche
die Westküste der Halbinsel Sibugney (Mindanao) zwischen
Dapitan und Zamboanga bewohnen, zu den Sämales - Laut
zu zählen sind.
Zn diesen vier Sprachstämmen wäre als fünfter Sprach-
stamm jener der Gnimbas hinzuzufügen, doch bereitet der
Uinstand uns eins Schwierigkeit, daß die Gnimbas uns
oft im Zusaminenhange mit den rätselhaften Sameacas ge-
nannt werden. Man sagt, daß die Guiinbas die ursprüng-
liche Bevölkerung der Insel Sulu gebildet hätten, welche, be-
siegt von den einwandernden Moros, sich in das Innere der
Insel zurückgezogen hätten. Ähnliches wird bezüglich der
Insel Basilan von den Sameacas erzählt. Der P. Jos»
Fernandez Cuevas aber identifiziert Gnimbas und Sameacas,
womit die Nachricht bei Moya übereinstimmt, nach welcher
die Gnimbas die Urbewohner von Sulu und Basilan wären.
So können wir heute gar nicht entscheiden, ob Gnimbas und
Sameacas zwei verschiedene Namen eines und desselben
Stammes waren oder nicht. Hierbei darf nicht unerwähnt
bleiben, daß mir über die Religion der Sameacas gar nichts
positives bekannt ist, weshalb es eigentlich von mir sehr ge-
wagt ist, ihren Namen in die Morosliste einzufügen.
Die Calibnganes kann man nur ihrer Religion nach
unter die Moros rangieren, denn sie sprechen das Jdioin
der Subanos, wie sie denn nichts andres als mit Moros-
blnt versetzte Abkömmlinge von Subanos sind, welche den
Islam angenoinmeu haben.
Was den Namen Mardicas anbelangt, so gab man ihn
den von den Molukken und Celebes (Mangkassar) stammenden
Söldnern (17. Jahrh.). Dieser Name ist heute verschollen.
Interessanter ist der Name O rang -Laut oder Laut
schlechtweg. Er wird in den Philippinen nicht nur jenen
unter diesem Namen bekannten „Marinen", „Zigeunern" der
malaiischen Inselwelt, gegeben, ohne Rücksicht auf die Stammes-
Die basaltische Nordtüste Irlands.
371
art, sondern speziell auch den Wad sehn, welche von Celebes
her die Häfen der Moros besuchen, aber im Lande selbst
nicht seßhaft sind. Mitunter scheint man auch die Säma-
le s-L aut mit den Orang-Laut zu identifizieren.
Viel Schwierigkeit bereitet der Name Lutayas oder
Lutaos. In den alten Chroniken entspricht dies Wort
bald dem „Orang-Laut", bald dem „Jllanos". Die modernen
Autoren erwähnen die Lutaos nicht mehr und wir sind
daher nicht in der Lage, zu bestimmen, zu welchem der Moros-
Sprachstämme diese zu zählen wären. Jedenfalls dürfte ihr
Name von Laut abzuleiten sein. Da die Lutaos besonders
in der Geschichte Zamboangäs häufig genannt werden, so
könnten sie sehr gut für Sämales-Laut angesehen werden.
Mit Ausnahme der Guimbas (Sameacas) sind alle
Morosstämme Mischrassen. Ihre Vorfahren kamen von
zwei Seiten her in den Archipel, der eine Strom von den
Molukken, der andre von Borneo her, beide Ströme kamen
auf der Insel Sulu zusammen. Schon diese ersten Ein-
wanderer vermengten sich mit den ursprünglichen Landes-
bewohuern. Da Piraterie und Sklavenrazzias die Haupt-
beschäftigung der Moros (bis in die Gegenwart) bildeten,
und die Zahl der Sklaven die überwiegende Hauptmasse der
Bevölkerung bildete, so ist in den Ädern des heutigen Moros
nur ein verschwindend geringer Bruchteil des Blutes der ersten
Eroberer vorhanden. Wenn immer von arabischer Blut-
mischung die Rede ist und selbst ernste spanische Autoren sie
als arabisches Halbblut ansehen, so muß dem gegenüber be-
tont werden, daß die Zahl der Araber, welche in die hier in
Frage kommenden Gebiete einwanderten, eine verschwindend
geringe war; die Spanier haben 50 mal mehr arabisches
Blut. Schon die Sprache der Moros beweist die Gering-
fügigkeit des arabischen Elementes, nur im religiösen Sprach-
schatz finden sich arabische Worte, die übrige copia ver-
Die basaltische IT
Am Lough Fohle, der bei Londonderry tief ins Land
einschneidet, ändert sich die Beschaffenheit der Irischen Küste
und des dieselbe bildenden Gesteines. An Stelle der stark
ausgefurchten, zerrissenen Küstenlinie treten nach Osten gerad-
linige Strecken, und das archäische Gestein des Nordwestens
wird durch wundervolle Basaltbildnngen des Nordostens
ersetzt. Dieselben erreichen ihre großartigste Ausbildung in
der Giants Causeway, dem Riesendamme an der Nordspitze
der Grafschaft Antrim, deren Name Land der Höhlen bedeutet.
Man erreicht diese Gegenden am besten mit der Eisenbahn
von Belfast nach Colcraine und der von dort nach der Nord-
küste führenden Fortsetzung Coleraine Port Rush.
Die stark vulkanische Grafschaft Antrim ist als eine
Fortsetzung der gegenüberliegenden Schottischen Küste und
ihrer Eruptivgesteine zu betrachten, welche sich von Port
Rush bis Belfast erstrecken. Die Nordostküste ist, wie die
Nordküste, ebenfalls im Gegensatz zu der Nordwest- und West-
küste recht arm an Einschnitten: nur die Red-Bai springt
hier gegen den 480 m hohen Trostan ein und gegen den
großen Busen von Belfast, den Belfast Lough, hier befindet
sich die durch den Larne Lough' von dem Festlande abge-
trennte Mayce-Halbinsel. Höhen von 200 bis 400 m
bilden die Oberfläche der Grafschaft, deren höchste
Punkte der erwähnte Trostan und der Knocklcyd bei Bally-
castle sind. Gegen den vom Lough Neagh, dem größten
Binnensee Irlands, in nördlicher Richtung nach Coleraine
fließenden Bann-River senkt sich das Land und wird hier-
von der Eisenbahn Belfast-Coleraine durchzogen, während an
der Küste nur bis Larne am Larne Lough Schienenstränge
boriim ist malaiischen oder Sanskrit-Ursprunges, über
die Mischungsverhältnisse kann folgendes mitgeteilt werden:
Die Moros der Insel Palawan sind mit Tagbauua- und
Bisaya-Blut versetzt, die Suluaner und Sämales-Laut mit
Bisaya-, Bicol- und tagalischem Blut, die Jllanos mit taga-
lischem, Bicol-, Bisaya-, Snbanon-, Bukidnon- und Manobo-
Blnt, die Maguiudanaos mit Bisaya-, tagalischem, Bicol-,
Tiruray-, Manobo- und AtL-Blut, die Moros Sanguiles
mit Bilan- und Tagabeli-Blut, die Moros des MB. von
Dävao endlich mit Tagucaolo-, Atä-, Guianga-, Bagobo- und
Mandaya-Blut.
Das Resultat unsrer Studie ist folgendes:
Mit voller Sicherheit ist anzunehmen, daß die philippi-
nischen Moros in mindestens fünf Sprachstämme oder
Nationen zerfallen, als: 1. Suluaner; 2. Sämales-Laut;
3. Iacanes; 4. Maguiudanaos; 5. Guimbas. Es ist über-
aus wahrscheinlich, daß die Jllanos zu den Maguiudanaos
zu zählen sind und nicht unwahrscheinlich ist es, daß zu den
letzteren auch die Moros Sanguiles gehören. Zu welchem
dieser Sprachstämme die Moros von Balabak und Palawan
gehören, ist unsicher; wenn sie nicht Borneaner sind, so gehören
sie zu den Suluanern. Die Calibnganes und Lutangas sind
aber zu den Subanos zu weisen, gehören also streng ge-
nommen nicht in die Morosliste.
Jede der fünf genannten Nationen besitzt eine eigene
Sprache, die Kreuzungen mit fremden Sklavinnen bewirkten
aber, daß (insbesondere bei den Maguiudanaos) ein einheitlicher
Rassentypus bei jedem dieser Stämme nicht vorhanden ist.
Also: 1. zum mindesten fünf Stämme, fünf Sprachen,
2. eine einheitliche Kultur auf Grundlage des Islam, aber
3. große Verschiedenheit im Habitus, abhängig von lokalen
„Faktoren der Kreuzung" und unabhängig von der Nationa-
lität oder Sprache.
ordküste Irlands.
reichen. Die Wasserscheide liegt meist nahe der Küste, und
von ihr stammen die Wasser in westlicher Richtung zum
River-Bann ab.
Dieses ebene bis hügelige Land wird von alten kristalli-
nischen Schiefern eingenommen, daun folgen darüber Buut-
sandstein und Kreide, und endlich über dieser eine basaltische
Decke, welche bis an die Küste herantritt und hier die groß-
artigen Erscheinungen zeigt, welchen dieser Aufsatz vorwiegend
gewidmet sein soll.
Schon Portrush, der Endpunkt der Eisenbahn, steht auf
wilden zerklüfteten Basaltfelsen, hat aber sandigen Strand
und Dünenreihen dahinter und ist daher als Badeort beliebt.
Gleich östlich von Portrush kann man die Ueberlagerung der
Kreide durch den Basalt gut erkennen. „Ueber den blendend-
weißen, senkrechten Wänden der Kreide", sagt von Lasaulx
(Aus Irland, S. 143), „lagert die mächtige kohlschwarze
Decke des Basaltes. Wie die Oberfläche der Kreideschichten
bald höher aufwärts steigt, bald abwärts im Bogen einsinkt,
so folgt allen Wellen der Oberfläche genau die Unterfläche
des Basaltes." Die Kreidcklippen sind bis zu 30 m hoch,
vom Meere stark zernagt und bestehen aus weißer Schreib-
kreide, welche von dem Basalt vielfach durch einen Feucr-
steinlehm getrennt sind, welcher der Erosion der Wasser auf
der Oberfläche der Kreidefelsen vor Ueberdeckung durch den
Basalt ihre Entstehung verdankt.
Der Basalt erscheint in Antrim in Form einer großen
Anzahl von Strömen und Decken, welche übereinander ge-
flossen sind und sich in ihrer petrographischen Zusammensetzung
voneinander unterscheiden. Die Ausbruchsstellen dieser
47*
Die basaltische Nordküste Irlands.
^ ^ V » m V -—îT'
Die „Schornsteine" (Nordküste Irlands). Nach einer Photographie.
02
02
Die basaltische Nordküste Irlands.
374
Die basaltische Nordküste Irlands.
Basaltmaffen sind nur znm Teil bekannt und die alten Aus-
bruchskegel sind fast völlig vernichtet, nur ihre durch Erosion
und Denudation bis zu den -Grundfesten abgetragenen Reste
ragen noch auf. Der Basalt setzt in Antrim die höchsten
Gipfel, wie den Trostan, Dinaldshill, Benbrudagh und
Hievenance, zusammen, nur die Umgebung von Benmore Hcad
und Ballycastle besteht aus alten, kristallinischen Schiefern,
devonischem roten Sandstein
(Old. red) und Kohlenge-
birge. Den Eindruck eines
Plateaus von Basalt machen
eigentlich nur die steilen
Ränder der Decke, welche
nach der Küste abbrechen,
während das Binnenland
schon zu sehr denudiert ist,
als daß der Deckencharakter
auch in den Oberflächen-
formen hervortrete.
Im ganzen ist eine Drei-
teilung des Basaltplateaus
zu machen, in welchem drei
durch tiefe Einschnitte ge-
trennte Teile vorhanden sind,
indem nach Lasaulx drei
Linien von Ausbruchs-
punkten in nordsüdlicher Basaltsäulen am Riesendamm.
Richtung nebeneinander
lagen, welche auch jetzt noch in drei nordsüdlich .sich er-
streckenden Kegelberglinien erkennbar sind.
Um Portrush östlich wandernd, passiert man das völlig
isoliert auf gewaltigen Kreidefelsen liegende, durch eine Brücke
mit dem Festlande verbundene kahle und öde Schloß Dunluce
Castle und eine Unzahl von Höhlen in dem Kreidegebiet,
welche Antrim den Namen verschafft haben, und gelangt nun
nach einer Wanderung von etwas mehr als 3 km nach dem
berühmten Basaltgebiet der Giauts Causeway. Hier tritt
der Basalt an das Meer selbst hinab, wohl infolge einer
starken Verreibung, welche die Kreideschichten samt der dar-
über liegenden Basaltdecke
zum Sinken brachte.
Die Giants Causeway,
irisch die Treppenstufe der
Piraten, jetzt der Damm
der Riesen, wird aus auf-
recht stehenden Basaltsäulen
gebildet, welche sich in drei
Halbkreisen der Küste ent-
lang ziehen. Diese besitzt
demnach drei Ausbuchtun-
gen, zwischen welchen zwei
Vorsprünge sich ins Meer
erstrecken; einer dieser ist
eben der Riesendamm. Die
Buchten steigen in Form
von Amphitheatern auf. Die
Bai von Portuashaw wird
^ ^ , ,. durch die Klippen der Stoo-
Nach eurer Photographie. cairns von Port Goumay
getrennt, dieses durch den
Riesendamm von Port Natter und dahinter folgt nochmals das
Roveran Valley Head, welches Port Natter von Port Na Spain
scheidet, das von dem Untergange mehrerer Schiffe der spani-
schen Armada an dieser klippenreichen Küste den Namen hat.
Basaltsäulen am Riesendamm.
Der Giauts Causeway erschien Lasaulx mehr als ein
Basaltpflastcr, denn als ein Damm; aus demselben heraus
ragen dagegen drei wirkliche Dämme, welche selbst bei hoher
Flut aus dem Wasser hervortauchen, der kleine, der mittlere und
der große Causeway; die Länge des größten unter ihnen beträgt
bis gegen 200 m, die der andern kaum 100 m. Besonders
anziehend sind aber die Säulenformen, welche sich hier zeigen,
und die in den hier beigegebencn Abbildungen gut erkennbar
Nach einer Photographie.
sind. Sie sind fast ausschließlich sechsseitig, selten sieben-
seitig, fünfseitig, aber auch sogar drei-, vier-, acht- und nenn-
seitig. Diese Säulen sind nun durch das zwischen sie zu
Zeiten einströmende Meer in großartiger Weise herausge-
bildet, indem das leichter lösbare Bindematerial zwischen den
einzelnen Säulen weggewaschen wurde, die starken Widerstand
leistenden Säulen selbst aber stehen blieben. Im ganzen sind
es etwa 40 000, meist von ganz dichtem Basalt gebildet,
L. Bürchner: Mitteilungen über die Insel Samos.
375
während accessorische Mineralien von schönster Form und
Größe besonders bei Port Natter auftreten.
Der Giants Causeway steigt, wie bemerkt, amphithca-
tralisch vom Meere gegen das Innere auf und besteht dann
auch aus verschiedenen Basaltströinen, welche in der horizon-
talen Richtung geflossen sind, so daß sich eben die Säulen in
vertikaler Richtung bilden konnten. Er besteht ans vier über-
einander liegenden Strömen, dem untersten Basalt, welcher
unmittelbar auf dem Grünsand der Kreide ruht, dem darüber
lagernden unteren Säulenbasalt, dein massigen und dem oberen
Süulenbasalt, auf welchem nach oben zu noch der doleritischc
Mandelstein folgt.
Im Westen des Giant Causeway erhebt sich das Amphi-
theater von Port Natter mit scharf abgegrenzten Stufen der
eben erwähnten Reihenfolge und der Riesenorgel, im Osten die
sogenannten Schornsteine, von denen wir hier ebenfalls eine
Abbildung geben. Fünf gewaltige Stufen bilden das Roveran
Valley Head, welches den Riesendamm von dein Port Na
Spain trennt.
Eine ausgezeichnete Straße führt von den Küstenplätzen
in der Nähe des Riesendammes nach Belfast; sie hält sich
fortgesetzt nahe der Küste und bietet eine Fülle von Natur-
schönheiten, während ein älterer Saumpfad 200 m höher
über die Felsen führt, in welche die neue Straße eingesprengt
ist. Einige kleine Dörfer liegen zwischen den Vertiefungen
der hügeligen Landschaft, von zerstörten Schlössern überragt,
fortwährend entzückt das Auge der Blick auf das Meer,
welches einzelne Teile der Küste zu Inseln isoliert hat; auf
einer solchen isolierten Klippe steht das durch eine schwanke
Brücke mit dem Festlaude verbundene Schloß Carrik-a-Rede,
selbst ans Basalt gebaut.
Östlich von Ballyeastle beginnt der Basalt auf eine kurze
Strecke durch die erwähnten älteren Schiefer und Sandsteine
abgelöst zu werden, welche den nordöstlichsten Vorsprung Ir-
lands, Kap Benmore Head, bilden. Vom Lande aus zeigt
dasselbe sanft ansteigende Wiesenflüchen, während es zum
Meere fast lotrecht hinabstürzt. Höhlen durchziehen die Felsen
des Vorgebirges, vor welchem sich im Norden die Insel
Rathlin zeigt, während im Nordosten die Küste Schottlands
aufsteigt. Es ist die ebenfalls mit Eruptivgesteinen durchsetzte
Halbinsel Cantire, welche hier ihren Arm nach Irland hin-
überreicht.
Die ganze Strecke der irischen Küste von Ballyeastle bis
Cushendall ist voll von Naturmerkwürdigkeiten. Felsenthore,
fremdartige Grotten, tiefe Thäler durchfurchen hier das Hügel-
land, letztere durchflossen von neun Bächen, welche aus dem
Innern desselben zur Küste herabeilen. Teilweise sind es
wilde Schluchten, in welche die Wildbäche tosend herab-
stürzen, wie die Gleneriff-Schlucht, welche zwei Wasserfälle
besitzt.
Die Rote Bucht, Red-Bai, führt ihren Namen mit Recht,
indem hier der rote Sandstein unmittelbar au die Küste tritt,
dicht durchzogen mit Höhlen; über die Straße selbst führt ein
freilich künstlich ausgehaltener Thorbogen. In dieser Gegend,
der Heimat Ossians, wird auch das Grab des Sängers gezeigt.
Der Farbenreichtum der Nordostküste Irlands wird in
hohem Maße gerühmt.
Am Fuße bestehen die Felsen aus blendendweißer Kreide,
darüber liegt schwarzer Basalt und auch roter Sandstein
kommt vor. Das Kolorit des Meeres, ein durchsichtiges,
glänzendes Blau, spannt sich über diese Farbenunterschiede.
Oft liegt auch ein violetter Schimmer über der Küste. Dazu
kommt die Blumenpracht der Wiesen und Gärten. Nord-
irland, auch Westirland, sind die Länder der Fuchsien, und
zahlloser andrer Blumen, Rosen zeigen sich hier ans den Hügeln,
während Bäume überall ziemlich spärlich und an den Fluß-
läufen zusammengedrängt sind. Auch die Behausungen der
Bewohner tragen zur Erhöhung des Farbenreichtums bei;
sie sind weiß angestrichen, die Thüren und Fenster bald grün,
bald lebhaft rot- dann wieder kobaltblau, braunrot, die
Mauern überwuchert von Fuchsien, Rosen und Winden.
Noch zwischen Carrickfergus und Belfast tritt der Basalt,
mit tiefen Höhlen ausgestattet, nahe an die Küste heran und
bildet das Nordufer des Lough Belfast; am bekanntesten ist
hier der Cave Hill.
Hier endet derselbe und damit begrenzen auch wir diesen
Aufsatz, welcher den Zweck hatte, ans die eigenartigen Bil-
dungen der Irischen Küsten aufmerksam zu machen.
Mitteilungen über die Insel Samos.
Von £. Bürchner.
Unter den asiatischen Sporaden, voil denen manche, wie
z. B. Leros, in der jüngsten Zeit einen ungeahnten Aus-
schwung nahm, ist vielleicht keine der Aufmerksamkeit der
Geographen so wert, wie das verhältnismäßig kleine (nur
zirka 468,3 qkm große) Samos.
Es ist bekannt, daß diese Insel seitdem 10. Dezember 1832
an das türkische Reich nur durch ein ganz loses Band der
Abhängigkeit geknüpft ist. Der Großsultan ist Souverän,
erhält den jährlichen Harlldsch von 400 000 Grüsch und
ernennt den christlichen Statthalter (bisher stets griechischer
Abkunft). Gegenwärtig ist es der vom Berliner Vertrag
her bekannte Alsxandros Karatheodoris Pascha, der seit sieben
Jahren die Insel verwaltet und schon vieles für sie gethan
hat. Auf dem Boden der Insel dürfen sich vertragsmäßig
keine türkische Truppen aufhalten. Zwei Kompagnien bilden
die Besatzung des im Hafen von Math/ vor Anker liegenden
kleinen türkischen Kriegsschiffes. Wenn man Griechen, die
von andern türkischen Inseln des Archipelagos kommen, nach
den Zuständen von Samos fragt, heben sie als Grund des
Wohlbefindens der Samier namentlich die gute Gerichts-
ordnung und die Verwaltung ausschließlich durch Griechen
hervor.
In ethnographischer Beziehung bietet die gegenwärtige
Bevölkerung dadurch Interesse, daß sie, obwohl durchaus
griechisch, verhältnismäßig sehr gemischt ist. Nachdem nämlich
im Mittelalter die Insel infolge der Gewaltthätigkeiten der
Seeräuber fast völlig unbewohnt war, wurde sie um das
Ende des 15. Jahrhunderts auf Veranlassung des Killdsch
All Pascha, eines türkischen Kapndan Paschas (— Admirals),
bevölkert und Kolonisten durch Gewährung von zeitweiliger
Steuerfreiheit ans allen Teilen der Levante angezogen. Da
kamen Griechen von den Küsten Kleinasiens, Griechen und
Albanesen aus dem griechischen Festland, von der Peloponnes.
Manche Ortschafksnameu erinnern noch an die Namen der
Stammdörfer in der früheren Heimat der Besiedlcr. In
den Freiheitskümpfen der Griechen thaten sich die Samier
durch Unerschrockenheit hervor. Keinem türkischen Flotten-
führer gelang eine nachhaltige Landung.
Gegenwärtig sind die Behörden ans der Insel ans das
eifrigste bemüht, den Wohlstand zu fördern. Man opfert
376
L. Bürchner: Mitteilungen über die Insel Samos.
große Summen für Hafenbauten, für Anlegung von Straßen,
Errichtung gemeinnütziger Bauten und Anstalten. 1888
ging man daran, eine neue Stadt, die den Namen 'Hqcuov
bekam, zu gründen. Ja, in jüngster Zeit tauchte ernstlich
das Projekt auf, durch die Insel unter Vermeidung allzu
gebirgiger Strecken eine Eisenbahn zu führen. Durch Tele-
phon und Telegraph sind alle wichtigeren Platze schon seit
einiger Zeit verbunden.
Über alle die volkswirtschaftlichen, wie nicht minder die
historischen Verhältnisse geben die von dem langjährigen und
verdienten Staatssekretär der Insel Epaminondas, I. Stama-
tiüdis, in ununterbrochener Folge herausgegebenen, sorgfältig
gearbeiteten hTtsT/riQiÖeg, die Staatskalender des Fürsten-
tums Samos, den genauesten Aufschluß. Besonders iuter-
essaut sind für den Statistiker die Zahlen, welche auf die
Bevölkerungsbewegung, die Ein- und Ausfuhr sich beziehen.
Aus verschiedenen bekannten Gründen sind die Zahlen, welche
aus andern Teilen des türkischen Reiches über diese Ver-
hältnisse bekannt werden, ziemlich unzuverlässig. Für Samos
aber liegen in den genannten Jahrbüchern zuverlässige und
ausführliche Statistiken vor, deren Resultate den Geographen
des Westens bekannt zu werden verdienen. Wir dürfen
sicher annehmen, daß die Zahlen über Geburten, Heiraten
und Todesfälle, über die Handels- und Verkehrsverhält-
nisse von H. Stamatiadis aufs gewissenhafteste registriert
werden. Nur durch seine Arbeiten war Zur Helle
von Samo in den Stand gesetzt, in den „Mitteilungen
der Kaiser!, und König!. Geographischen Gesellschaft in
Wien" 1878 gerade iiber Samos zuverlässige Notizen zu
bringen, während er über die Verhältnisse der Inseln des
Vilajets der Inseln des Weißen Meeres nur beschränkte
und höchst ungenaue Angaben bringen konnte. Es sollen
nun nach den Staatskaleudern des H. Stamatiadis
einige kurze statistische Reihen mitgeteilt werden.
Bevölkerung.
1702 betrug die Zahl der Bevölkerung zirka 12 000 Indi-
viduen, 1828:27 125 Bewohner, davon 13 775 männlich,
13 350 weiblich. Über 15000 Saurier sind gegenwärtig
im Ausland verstreut; in den Vereinigten Staaten von Nord-
amerika leben allein 300 auf Samos geborene Griechen.
a) Bevölkerungszahl:
Jähr Hànscr Familien Seelen Männer Kinder davon
Weiber mannt. weibl.
1887 9886 9804 43117 9259 9993 23865 12437 11428
1890 10845 10509 16361 10098 10326 25937 12970 12967
Das Zunehmen der Individuen weiblichen Geschlechts,
das z. B. sich in der Rubrik der weiblichen Kinder besonders
zeigt, deutet aus Knlturfortschritt hin.
Jahr Ge- lid) 1 ich Hei- Todes- fälle lid) lid) Knaben Mäd-
1887 1608 841 767 330 740 149 181 219 191
1890 1631 849 782 317 703 163 205 178 157
Die meisten Heiraten fallen in die Monate Januar und
Februar; demgemäß fallen die meisten Geburten in die letzten
Monate des Jahres oder den Anfang des nächsten.
Jahr Monat nnd Zahl Monat nnd Zahl Monat nnd Zahl Greise über Greisinnen über
der meisten Geburten der meitten Heiraten der meisten Todesfälle 100 I. 110 I. 100 I. 110 I.
1887 Nov.: 186 Jan. : 54 Dez.: 90 1 5
1890 Dez. : 186 Jan. : 64 Juli: 88 2 — 2 —
Die jüngsten Bräutigame sind durchschnittlich (aber selten)
15 Jahre, die jüngsten Bräute durchschnittlich 14 Jahre alt
(ausnahmsweise jünger, z. B. 10 Jahre). — Schon älteren
Reisenden ist es aufgefallen, daß es ans Samos unverhältnis-
mäßig viele Leute giebt, welche über 100 Jahre alt werden.
Meistens sind es nun freilich Weiber, welche z. B. 120 Jahre
erreichen. Von den Männern obliegen eben so manche ge-
fährlichen und nicht selten lebcnsabkürzenden Berufsarten,
z. B. der Schwammfischerei. Die meisten Samicr aber sind
Ackerbauer und darum treffen auf diese Berufsklasse die
meisten Toten eines Jahres.
Eine ziemlich genaue Übersicht über Handel und Wandel
der Samier, ihre Kulturstufe, ihre Industrie, die Eigenart
des Bodens der Insel und die Lebensmittelpreise gewährt
uns eine statistische Zusammenstellung der Ein- und Ausfuhr,
wobei ich nur das wichtigste anführe.
Jahr Mehl Oken Slein- u. Holz- kohlen in Piasi. Unbearb. Häute in Piasi. Zucker Verschied. Sdilachtvieh
Oken Preis in Piasi. Stück Wert in Piasi.
1887 1890 733368 556390 25612 394394 1201249 860000 43396 94386 104094 236647 13892 17011 1133482 1069665
Die Oka hat 1040 g, der Piaster gilt etwa 18 Pfennig,
das Kantárion hat 56 kg, eine Last 100 kg.
Das Mehl und der Zucker kommen aus der Türkei, aus
Rußland und Österreich-Ungarn, die Häute aus Ägypten
und Bulgarien, die Steinkohlen ans England.
Jahr Zigarettentabak Kaffee Gerste Kilo Faden- gespinnste in Piasi. Bauholz in Piasi.
Oken Piaster Oken Piaster
1887 107978 819870 11625 127654 13587 628019 424691
1890 134596 1041985 33270 252533 15139 614050 499666
Der Zigarettentabak wird aus der Türkei und von
Griechenland, der Kaffee ebendaher und aus Österreich be-
zogen.
gleis Hülsen- Gesalz. Weizen Sprit Tnmbckl Käse
Jahr in fr lichte Fische in in in in
Oken in Oken in Oken Kilo Oke» Oken Oken
1887 57940 183033 82721 125378 17193 13066 31259
1890 96976 168547 86381 179170 832401 17615 35366
Der Reis koinmt ans der Türkei, aus Italien und Öster-
reich-Ungarn, der Sprit ans Österreich-Ungarn, Frankreich
und Rußland, der Tumbeki (Blättertabak zum Rauchen aus
der Wasserpfeife) aus der Türkei, der Käse ans der Türkei
und von Griechenland. An der ganzen Einfuhr ist Deutsch-
land nur bei den Artikeln: „Kleiderstoffe", zusammen mit
der Türkei (1891 um 59475 Piaster), „bearbeitetes Eisen",
Dr. A. Vollmer: Der „weite Westen" von Neu-Süd-Walcs.
377
zusammen mit der Türkei und Griechenland (1891 mit
14 207 Piaster) und „verschiedene Glaswaren", zusammen mit
der Türkei und Österreich-Ungarn (1891 um 34050 Piaster)
beteiligt ist. Bei allen diesen Zahlen für Einfuhrartikel muß
berücksichtigt werden, daß die Waren, welche ans türkischen
Häfen kommen, hier nicht einbegriffen sind.
b) A usfn h r:
ff? Biegen« baute in Piastern Mandeln Oken Antimon Tonnen Bearbeitete Häute i» Piastern Öl von Oliven in Oken Zwiebeln Kautarie»
1887 27 547 3 125 ? 1 CD 1 339 756 29 110 9 815
1890 32 483 243 — 1 054 849 106 906 6 707
Die Ziegenhäntc, Mandeln, die Töpferwaren und Zwiebeln
gehen nach der Türkei, das Antimon wurde nach England
gebracht.
Jahr Zitrouen u. Pviue- N o t w e i u e Pi u skat >v eine gl e z i n a t w eine
Stück Lasten Piaster Lasten Piaster Lasten Piaster
1887 419 670 7 635 684 302 45 784 6 495 055 84 7 194
1890 382 470 2 345 221 931 67 027 7 814 042 2 064 177 385
Die Wein- und Weinbeerenausfuhr- bildet den Hanpt-
ausfnhrartikel von Samos. Besonders berühmt ist der
oLvogiioö'icczog (hochgriech. ¿v&oöfiias). Dieser Artikel
war durch Erhöhung der Steuern auf vins cks liqueur von
einer ernsten Krisis bedroht, die von der Insel wohl ab-
gewendet wird. Auf der Gartenbauausstellung in Köln
wurde auch den samischeu Weinen der erste Preis in einer
silbernen Medaille mit zuerkannt. Die Rezinatweine — der
weiße Wein wird mit Pinienharz versetzt — werden, wie cs
scheint, jetzt immer eifriger hergestellt, nachdem das Absatz-
gebiet für die Muskativeine sich verringert hat. Sie werden
nur ans türkisches Gebiet ausgeführt. .
Jahr Weingeist Oken Weinbeeren, rot R o si ii e n Sultaninen
Kantar. Piaster Kantar. Piaster Kantar. Piaster
1887 1890 126 728 115 982 48 427 37 707 2 988 157 7 881 287 71 29 100 4 267 25 3 338
c) Gegenüberstellung der Werte für
Ein- und Ausfuhr:
1881 Einfuhr: 17 649108 Piaster, Ausfuhr: 15 893 645
1882 14072403 „ 12 607 979
1883 „ 15 683128 „ 13 938 656
1884 „ 15 548643 „ 13160074
1885 „ 17 431887 „ 15 256 201
1886 „ 17 548643 14885 019
1887 „ 17 530689 19 167 160
1888 „ 17 401 151 11850212
1889 „ 20 407 963 „ 17 846 931
1890 „ 20 722 270 „ „ 17 134413
Hier sind bei den Zahlen für die Einfuhr auch die Werte
der Waren, welche ans türkischen Häfen kommen und in
Samos von Zoll befreit find, sowie die Werte für die Feld-
früchte, welche die samischen Erntearbeiter von den Acker-
bauern der gegenüberliegenden kleinasintischen Gebiete zum
Lohn erhalten, veranschlagt.
Der „weite westen"
Von Dr. A
Dem Australier ist der weite Westen seines Kontinents resp.
seiner Kolonie meist ebenso sehr eine torra incógnita, wie
es der weite Westen Amerikas dem Uankee war vor dem Bau
der großen transkontinentalen Eisenbahnen. Erst in neuester
Zeit haben allerlei Umstände, wie der Vorschlag eines Eisen-
bahnbaues von Nyngan nach Broken Hill und nach der süd-
australischen Grenze, die Fortschritte der Kaninchcnplage und
ein Besuch des Landministers von Neu-Südwales im
Hinterlande wieder die Aufmerksamkeit ans jene gewaltigen
Länderstrecken gerichtet, wo einzelne Besitzer Land inne haben,
das sich an Größe mit deutschen Fürstentümern messen kann,
wo Millionen Ackers reichen, chokoladefarbigen Bodens des
Aufbruches und der Kultur warten, durch deren Mitte der
zweitgrößte Fluß Australiens, der Darling oder Barwanftuß
läuft, und durch das der Weg führt zum größten und reichsten
Silberdistrikt der Welt, nach Broken Hill. — Ein Bericht-
erstatter des „Sydney Morning Herald", der diesen für die
Zukunft so wertvollen Besitz bereiste, gab in diesem Jahre
eine sehr anziehende Beschreibung des Landes, seiner Vorzüge
und seiner großen Schattenseiten, dem das Folgende ent-
nommen ist.
Der beste Ausgangspunkt zum Besuche des weiten Westens
ist Nyngan an der nach Bourke und Darling führenden
westlichen Eisenbahnlinie. Als Nyngan noch Endpunkt, die
Linie nach Bourke noch unvollendet war, war cs ein Mittel-
punkt des Handels, wohin von allen Stationen innerhalb
eines Radius von 100 Meilen die Wagen kamen, und
Globus LX. Nr. 24.
von Neu-Süd-wales.
. Vollmer.
I Händler und Gastwirte gedenken noch mit Bedauern über ihre
! gegenwärtige Lage der Zeit, wo Viehzüchter, Treiber, Fuhr-
I lento tagelang in der Stadt oder ihrer Umgebung sich anf-
! zuhalten und wie Fürsten ihr Geld auszugeben pflegten.
Denn jetzt ist alles verändert. Fuhrleute kommen nicht viel
mehr hin, Viehzüchter und Treiber bleiben meist nur wenige
Stunden oder Minuten bis zum abfahrenden Zuge.
Dies Aufblühen und die Fortschritte Nyngans und des
umliegenden Landes wird erst gesichert sein mit der Lösung
der Wasserfrage, wenn das reiche Land umher durch hin-
reichende Bewässerung einer strebenden Bevölkerung von Bauern
und Landwirten ergiebige Heimstätten bieten wird; bis dahin
besteht Nyngans Bedeutung in der Thatsache, daß es als
Umsteigestation und Umladepunkt nach Cobar und dem
Westen dient.
Sobald der Reisende die Eisenbahnlinie verläßt, findet
er sich ans dem Wege nach Broken Hill via Cobar und
Wilcannia, in einem Lande und einem Klima, die völlig
verschieden sind von dein auf der Ostseite des Wellington-
distrikts gewohnten. Die Luft ist klar und trocken, die Ober-
fläche des Landes meist flach, der Boden ein reicher chokolade-
farbigcr Lehm, die meisten Bäume und Sträucher verschieden
von den in den alten Ansiedelungsdistrikten. — In günstigen
Jahren soll sich das Land zwischen Nyngan und Cobar gut
für landwirtschaftliche Zwecke eignen. In Halls Farm auf
Hermitage Plains wächst der Weizen 4V2 Fuß hoch und giebt
im Durchschnitt 27 Bushels (1 Bnshel — 35,2 Liter)
48
378
Dr. A. Vollmer: Der „weite Westen" von Neu-Süd-Wales.
pro Acker. — In der Umgegend von Cobar blühten in den
Gürten sogar Erdbeeren nnd nahebei Luzernefelder, die den
besten Farmen am Hunter Ehre machen würden. Doch
beziehen sich alle diese Thatsachen nur ans Jahre mit reichem
Regenfall. Wie sehr dieser im weiten Westen abwechselt,
zeigen folgende offizielle Angaben:
Die Regenmenge betrug: 1887 1888
Cobar...................19,14 Zoll.... 9,08 Zoll
Paddington-Station.... 24,0 „ .... 7,0 „
Neckarboo-Station.......25 „ .... 4,2 „
Kew-Station............. 27,77 „ .... 4,29 „
Wilcannia...............21,90 „ . . . . 3,22 „
Im Jahre 1888, dem Jahre der größten, sonst kaum
erlebten Dürre, war es unmöglich, Landban zu betreiben ohne
Hilfe künstlicher Bewässerung, und diese könnten sich nur die
leisten, die glücklich genug waren, ihre Niederlassungen in der
Nahe ständigen Wassers zu haben. In den Zeiten der
Dürre wird der Distrikt fast so graslos wie eine makadami-
sierte Landstraße. Die Oberfläche des lehmigen Bodens
verwandelt sich in roten Staub, der sich bei jedem darüber
hinstreichenden Windzüge erhebt; die ganze Gegend sieht
verödet ans. Zum Glück für die Vieheigeutümer zwischen
Nyngan und Cobar giebt es viele Sträucher, mit denen sie
ihre Schafe füttern können, wenn sie kein Gras haben. So
sind die Vichverluste durch Dürre hier verhältnismäßig
gering im Vergleiche zu andern Plätzen. Die Landwirte
behaupten, daß der Landban sich doch bezahlt mache, da drei von
vier ausgesäeten Ernten sicher reifen und die Preise, die sie
in guten Jahren erzielen, sie reichlich für die während der
trockenen Jahre erlittenen Verluste entschädigen. Dennoch
ist der Landbau eine gewagte Sache in diesen Gegenden, was
durch die Thatsache bewiesen wird, daß das bepflügte Land
selten 20 Ackers überschreitet und die meisten Ernten zu Vieh-
futter verwandt werden.
Budds Gap ist eine Art Thor durch die einzige Boden-
erhebung zwischen Cobar und Nyngan, und den ebenen
Charakter der Straße kann man daran ermessen, daß trotz
dieses Hindernisses die Hauptstcignug für die neue Eisenbahn
zwischen Cobar und Nyngan nur 1:100 beträgt. Vor
kurzem entdeckte man bei Bndds Gap Kupfer an einer Stelle,
die den hochtönenden Namen „Neu Burra-Bnrra" erhielt. —
Nahe jenem Thor ist Florida-Station nnd die Grenz-
linie zwischen den zentralen und westlichen Distrikten läuft
nur zwei Meilen davon entfernt auf der Seite nach Nyngan
zu. Die Stadt Cobar liegt zirka 12 Meilen von Bndds
Gap. Es ist eine gut gebaute Stadt und rühmte sich früher
einer Bevölkerung von nahe 4000 Seelen. Doch entzog die
zeitweise Schließung der „Great Cobar Kupfermine" vielen
Menschen ihre Beschäftigung, und diese haben seitdem andre
Plätze aufgesucht, so daß die Bevölkerung auf zirka 1500
gesunken ist. Cobar ist ein reicher Zentralpnnkt für Berg-
werke. Die oben genannte Mine sandte in ihrer Glanzzeit
jährlich 3200 Tons Kupfer nach Sydney. Doch scheint der
Kostenpunkt, die hohe Fracht zu nnd von dem Bergwerke der
Hauptgrund gewesen zu sein, weshalb die Great Cobar ihre
Operationen einstellte; nun, da die Eisenbahn von Nyngan
bis dicht an das Bergwerk heran nahezu vollendet ist, denkt
man an Wiedereröffnung desselben, und mit der Rückkehr der
Bergleute und ihrer Familien wird auch die Stadt wieder
aufblühen, wo man inzwischen mit der Ausbeutung einer
Reihe von Goldriffen in einem hügeligen Gelände nahe
der Stadt den Niedergang derselben zu bekämpfen suchte. —
Außerdem beziehen die umwohnenden Landbesitzer ihre Vor-
räte von Cobar und senden ihre Wolle hin, so daß immerhin
das Geschäft lebhaft ist. Den Wert des umliegenden Gras-
landes kennzeichnet die Thatsache, daß im Jahre 1891
2 Block Landes von je 64 000 Ackers für 5000 Pfd. Sterl.
verkauft, kurz darauf für 10 000 Pfd. Sterl. wieder ver-
kauft wurden.
In gewöhnlichen Jahren eignet sich der Cobardistrikt gut
zum Weideland. Die für das Vieh genießbaren Sträucher,
wie Mulga, Emubusch, Berrigan, Leopardbanm, sind reichlich
vorhanden. Baumwolle nnd Salzbusch nicht so viel wie
früher, da ihr Anbau nicht systematisch betrieben wird und
sie sehr durch die Kaninchen leiden. Auch Krähenfnß blüht
an vielen Stellen. Durch Ausroden hat das Land viel
gewonnen. In vier Jahren, 1884 bis 1888, wuchs der
Viehstand des Cobardistrikts um 704144 Schafe, 3173 Rin-
der, 371 Pferde. Die Kaninchenplage hemmt das Anwachsen
des Viehstandes und gegen sie suchen sich die Viehzüchter
durch Drahtnetze und andere Mittel zu schützen; erst wenn
dieser Feind überwunden ist, werden die Pachtungen in jenen
Gegenden größeren Wert gewinnen. Der andre Feind des
Viehzüchters, die regenlose Trockenheit, trifft besonders die
Gegend zwischen Cobar und dem Darlingflusse; durch die-
selbe starben im Jahre 1888 auf einer Station allein 50 000,
auf einer andern 60 000, auf einer dritten 19 000 Schafe,
abgesehen von dem unter günstigen Umständen zu rechnenden
Zuwachs. — In der Nähe von Cobar schützt man sich gegen
den Wassermangel durch Teiche nnd Dämme. — Im Jahre
1885 gab es 47 Regentage, 1886 48, 1887 66, 1888
aber nur 24. — Die mittlere Regenmenge betrug für diese
vier Jahre 15,64.
Zwischen Cobar und Wilcannia giebt es keine durch-
gehende Poststraße nnd der Reisende muß auf eine passende
Gelegenheit warten. Die Post befährt nur ein Drittel der
Entfernung nnd so giebt es nur wenige Gasthäuser unter-
wegs. Erreicht der Reisende des Abends keins, ist er aus
die Gastfreundschaft der oft meilenweit landeinwärts wohnen-
den Viehzüchter oder auf Schutzhäuser re. angewiesen. —
Hinter Cobar berührt die Straße die Schafstationen (runs)
Meryula und Bulgoo. Im Frühling eines günstigen Jahres
gleicht das ganze Land einem prächtigen Park. Das Gras
steht fast drei Fuß hoch, fein bronzegriin und mit schönen
Blumen vermischt; die Bäume und Sträucher sehen hell und
frisch aus. Stundenlang dehnt sich die holperige Straße
aus und die einzige Abwechslung in diesem Grasozean bietet
ein Emu, ein Känguruh, ein Truthahn oder das überall
gegenwärtige Kaninchen. Am Horizont sieht man einige
kleine Erhebungen, wie die Bulloo Ranges, sonst meilenweit
dasselbe flache Land. Endlich, 28 Meilen von Cobar, wird
die Straße besser, bald zeigt sich ein Haus und angebautes
Land und der Wagen hält vor dein Double Gates-Hotel auf
der Bulloo-Station. 16 Meilen weiter erreicht er das
Sandy Creek-Hotel, die gewöhnliche Übernachtungsstation.
Die Häuser sind ans Cypressenfichten gebaut, die längs der
ganzen Straße sich finden, und deren Holz der weißen Ameise
widersteht. Hier ist auch die Grenzlinie des Handels. Bis
zum Double Gates-Hotel senden die Stationen ihre Wolle
nach Sydney via Cobar, die eben genannten handeln mit
Melbourne mittels der Dampfer zwischen Echuca und Hay. —
Kommerziell und finanziell macht sich hier der Einfluß
Viktorias geltend, wenige Meilen weiter der Adelaides, da
die Graziers ihre Wolle nach Wilcannia senden und mit der
Hauptstadt Südaustraliens Handel treiben.
Außer den oben genannten Tieren sieht man nur noch
die unter dem Namen der „Zwölf Apostel" bekannten, kleinen,
niedlichen Vögel, die meist zu zwölf zusammen sind, da
die Henne meist 10 Eier legt, die Jungen nach der Brutzeit
bei den Alten bleiben. — Kibitze, Strandpfcifer, wilde Enten,
Neuntöter sind zahlreich in den kleinen Seen und Pfützen.
Aber die Spuren, „bunnys“, des Kaninchens bemerkt man
allüberall an der drei bis vier Fuß hoch angefressenen Rinde
der Leopardbäume und andrer Sträucher. Aber kein schwarzer
Dr. A. Vollmer: Der „weite Westen" von Neu-Süd-Walcs.
370
Eingeborner ist zu sehen zwischen Nyngan und Wilcannia
und nur in den Ansiedelungen sicht man als Reliquien der
Rasse Bumerangs, Speere, Womeras, nur die wohlklingen-
den Namen, die sie einst den setzt von ihren Besiegern
bewohnten Gegenden gaben, sind ein Zeugnis ihres einstigen
Daseins. — Bei windigem Wetter bietet sich oft ein seltsames
Schauspiel auf den westlichen Ebenen. In der Entfernung
glaubt der Reisende eine Zahl Büffel umherspringen und mit
dem Winde gehen zu sehen. Beim Näherkommen entdeckt er
jedoch, daß die Büffel nichts andres als große Hansen trockenen
Reisigs und Gras sind, die der Wind sammelt und meilen-
weit umherrollt, sogenannte „Rolly Polys", die in Banden
von 20 bis 30 Stück gleichzeitig umhergewirbelt werden.
Der Weg von Cobar nach Wilcanuia führt durch die
Paddington-Station, eine der größten Pachtungen in
jenen Gegenden, die in guter Zeit über 100000 Schafe
zählt. Hier erkennt man deutlich die Schwierigkeiten, die
große Herdenbesitzer in diesem Landesteile zu gewärtigen
haben. Die Kaninchen sind zahlreich und verheerend und
während der letzten Dürre starben zirka 30 000 Schafe ans
den Stationen. Sind die Flüsse befahrbar, wird die Wolle
von Paddington ans Wagen nach Hay versandt, 180 Meilen
weit, was 7 Pfd. Sterl. 10 Schill, auf die Tonne Kosten
macht. Von Hay bringt der Dampfer die Wolle nach Echuca
und weiter nach Melbourne für 3 V2 Pfd. Sterl. pro Tonne.
Ans dieser Station befinden sich Hütten und Maschinen zum
Reinigen der Wolle. Das Land ist wellenförmiger als das
ans Cobar zu und weniger von Buschwerk gesäubert. — Bei
starkem Rcgcnfalle wächst Weizen gut, und in einem Garten
beim Thurmungya-Hotel, wenige Meilen hinter Paddington,
zog man Kohl, Lattich, Wurzeln, Rüben, Rhabarber, Kartoffeln,
Erbsen, Kürbisse, Wassermelonen, Gurken rc., blühten Pfirsiche,
Aprikosen, Äpfel, Maulbeeren, Quitten, Feigen, Trauben.
Beim Belaraboon-Hotel erreichte der Weizen eine Höhe von
4. Fuß 0 Zoll, ergab der Acker 2 Tons Heu, so daß der
Reichtum des Bodens jegliches Wachstum zu gestatten scheint,
lvenn das nötige Wasser da ist. Die Teiche und Dämme
müssen bei der Tiefe des Bodens oft 12 Fuß tief angelegt
werden, ehe fester Stein gefunden wird.
Über Nekarboo und Futham Runs erreicht der Reisende
die Kew-Station, eine der größten und bestangelegtesten
des Westens. Der Eigentümer hat sein Pachtgut in einen
schönen Besitz umgewandelt, mit den Kaninchen einen er-
barmungslosen Krieg geführt, 315 000 getötet, oft 24 000
in einem Monat, sie ausgeräuchert, Tausende von Pfunden
für Drahtnetze ausgegeben, die Teiche mit Drahtnetzen zur
Sommerzeit umzäunt, so daß die Kaninchen zwar zum Wasser
hinein, aber nicht herauskommen konnten, Kohlen in ihre
Löcher mit Maschinen hineingestoßen und die Kohlen an-
gezündet; auch die Dürre kam ihm zu Hilfe und dezimierte
die Kaninchen der Kew-Station. Salzbusch, Banmwollen-
stranch, Krähenfnß, Mnlga, Rosenholz, Pnnty, Wilga, Kurra-
jong, Ballarbäume, diese eßbaren Pflanzenarten ließ er in
der Dürre schneiden und erhielt so seine Schafe. — Die
nächste Station, Cultowa Run, liegt am Ponpooloe-See, der
in nassen Jahrensrccht umfangreich, in andern beinahe trocken
ist. — Der Salzbusch macht sich mehr geltend und der
Charakter des Landes wird grauer, ärmlicher. Bei der Mnrtee-
Station kommt man über den Tallywalka, einem Neben-
arm des Darling, sumpfige Gegend und 16 Meilen weiter
erreicht man den Darling an einer Biegung des Flusses. —
Noch einige Meilen längs dem Flußufer südwärts und die
malerische Stadt Wilcanuia ist mittels einer Fähre erreicht.
Wilcanuia steht auf dem Westufer des Darlings und ist
der Mittelpunkt des Handels für Paroo, Mount Browne,
und den südwestlichen Teil von Queensland. — 583 Meilen
nordwestlich von Sydney ist cs auch der Kreuzungspunkt
für das Vieh aus Queensland und dem Hinterlande für die
Märkte Melbournes, ferner Hanpthasen am Darling, und
daß sein Handel nicht unbedeutend ist, beweist die Thatsache,
daß in dem einen Jahre 1887 218 Schiffe mit 36 170 Tons
einliefen, 222 mit 26 552 Tons ausliefen, der Wert der
Einfuhr 283 387 Pfd. Sterl., der der Ausfuhr 1098 543
Pfd. Sterl. betrug nach den Angaben des Wilcannia-Zoll-
amtes. Größtenteils ans Quadersteinen erbaut, dehnt sich
die Stadt eine Meile weit längs dem Flusse ans. Die
Straßen sind mit Pfefferbäumen bepflanzt, Hotels zählt man
mehr als ein Dutzend, außerdem drei Banken, Brauerei,
Seilerwerkstätten, Seife- und Wollfabriken, und wenn auch
die Stadt durch das Emporkommen von Broken Hill und
durch die letzte Dürre, der eine Million Schafe erlagen, stark
gelitten hat, prophezeit man ihr doch eine glänzende Zukunft,
daß sie einst dem Darling das sein werde, was S. Louis
dem Mississippi. Da sie aber einstweilen nur 1200 Ein-
wohner hat, wird dies wohl noch etwas dauern. — Kom-
merziell steht die Stadt ganz unter dem Einflüsse von Adelaide,
das auch den Handel beherrscht. — Mit Neu-Südwales sind
die einzigen Beziehungen, abgesehen von der Regierung,
zwei Posten nach Bourke und Booligal. Der Darling,
die große Verkehrsader in diesem Teile der Kolonie, ohne
den kein Ansiedler hätte Fuß fassen können, hat auf der Strecke
von Wentworth nach Wallgett eine Länge von 1129 Meilen,
und ist ganz schiffbar, obschon seit Vollendung der Bahn nach
Bourke die Dampfer vom Murray selten über Bourke
hinausfahren. Von Wentworth den Murray abwärts bis
Goolwa, von wo die Wolle nach Port Victor verschifft wird,
beträgt die Entfernung 617 Meilen, so daß die Dampfer
früher den Verkehr über eine Entfernung von 1746 Meilen
zu besorgen hatten; seitdem aber die südanstralischen Eisen-
bahnen bis nach Morgan, dem alten North West Bend, aus-
gedehnt sind, 388 Meilen von Wentworth, wird viel Möllere,
hier umgeladen. Die Schiffahrt auf dem Darling ist etwas
gefährlich wegen der Felsen, besonders bei Murtee, Mara Is-
land, Curranyalpa nnd Touralee; einige dieser Felsen sind vier
Meilen lang und oft müssen die Dampfer bei niedrigem
Wasserstande monatelang hierbei liegen bleiben. Der Darling
hat einen sehr gewundenen Lauf, der oft einer 8 ähnelt; in-
folge von starken Zuflüssen im Quellgebiete und der Neben-
flüsse fand im Juni und Juli 1886 ein starkes Anschwellen
statt. Am 6. Juni fing der Fluß in Bourke an zu steigen,
am 17. Juni in Wilcanuia, am 3. Juli nachts erreichte die
Hochflut erst Wentworth, also 28 Tage nach ihrem Erscheinen
in Bourke. Da die Entfernung von Bourke bis Wilcanuia
391 Meilen, von da bis Wentworth 505 Meilen, zusammen
also 896 Meilen beträgt, durchlief das Hochwasser demnach
32 Meilen den Tag, oder 1 x/2 Meilen die Stunde; im
Sommer brauchte cs 5 bis 6 Tage mehr wegen der stärkeren
Verdunstung rc. Wilcanuia ist Entrepot für kleinere Ort-
schaften, besonders Mount Brown, Menindie, Milparinka,
Tibooburra, Wanaaring rc. Das erste ist ein Goldfeld,
160 Meilen entfernt nach Nordwesten, mit einer zerstreuten
Bevölkerung von 800 Personen. Menindie mit ungefähr
400 Einwohnern liegt 188 Meilen flußabwärts Wentworth
zu, während die Entfernung zu Lande nur etwa 90 Meilen
beträgt, und rivalisiert mit Wilcannia hinsichtlich des Handels
mit Broken Hill und der Silbergegcnd, der es näher liegt.
Ausgedehnte Seen westlich von Menindie werden später wohl
noch zu Berieselungen und Wasserversorgung benutzt werden.
Trauben, Orangen, Nektarinen, Pfirsiche, Birnen gedeihen
gut in Menindie und auch Landbnn wird nahebei betrieben.
Hinter Wilcannia hört die Zivilisation wieder auf. Auf
der 120 Meilen langen Strecke bis Broken Hill bemerkt
man nur vier Häuser. Der Weg windet sich durch die
Stationen Onter Netaille, Winterega, Glcnlyon, Topar,
48*
380
Sir Thomas Elders australische Expedition.
Mount Gipps. Es ist der richtige „wilde Westen", die
Wüste des Innern. Beim Halteplätze „Caulkers Wells"
glaubt man sich in die arabische Wüste oder in die Sahara
versetzt. — Zwei andre Ruheplätze tragen die merkwürdigen
Namen „Browns Folly", da ein Regicrnngsteich an verkehrter
Stelle angelegt ist, und „Burkes Caves", die Stelle, wo die
unglückliche Expedition von Burke und Wills im Jahre
1860 bis 1861, von der drei Mitglieder, Burke, Wills,
Gray, nach glücklicher Durchquerung des Kontinentes bis zum
Carpentaria - Golf auf der Rückkehr im Juni 1861 bei
Coopers Creek vor Entbehrungen starben, und King am
Leben blieb, gelagert hatte. — Salzbusch bildet die Haupt-
nahrung der Schafe, doch auch hier ist der Boden bei günstigem
Regenfall ein guter. Der Boden ist meist flach, nur einige
Erhebungen finden sich bei Glenlyon und Sandsteinberge bei
Burkes Caves. Der Wagen versinkt oft in die tiefen Geleise,
die Reisenden müssen nachhelfen und zu Fuße folgen.
Ein schnell fließender Strom, der Aancowinna, hälr
den Reisenden oft 24 bis 48 Stunden auf. — Nach weiteren
sechs Stunden ist der „Gorge" bei Stevens Creek erreicht,
17 Meilen von Broken Hill und daher ein Lieblingsplatz
für Ausflüge von diesem neuen Eldorado aus, wohin die
junge Welt Broken Hills an Fest- und Feiertagen auf Drags
und Bnggies mit vollbepackten Tragkörben fahrt. — Die am
westlichen Horizonte auftauchenden Barrier Ranges verkünden
die Nähe des Silbcrlandes, die Häuser werden zahlreicher,
Schornsteine und andre Zeichen der Mineuindnstrie zeigen
sich, die Kutsche rasselt auf festerer Straße zum Postgebände von
Round Hill, einer Vorstadt von Willy am a, dem offiziellen
Namen von Broken Hill, jetzt der zweitgrößten Stadt von
Neu-Südwales mit ungefähr 26000 Einwohnern, während
die sogenannte Barrier, die die Stadt, Silvcrton, Pinnacles,
Acäcia Dam, Purnamoota, Apollyon Valley, Corona, Round
Hill re. umfaßt, im ganzen 32 000 Einwohner zählt. —
Über Entstehung und jetzige Einrichtung der Stadt, die
mit ihren schönen Straßen, stattlichen Hotels und Läden,
Theater, Rollschuhbahn, Versammlungshallen, elektrischem
Licht, hübschen Kirchen ganz das Aussehen einer Großstadt
hat, ist schon berichtet N'orden, so daß wir uns kurz fassen
können. — Nach den Mitteilungen des „Barrier Miues Direc-
tory" belief sich die Produktion der Hauptmine „Proprietnry
Mine" bis zum 30. November 1890 ans 20 769 306 Unzen
Silber, 83412 Tons Blei, im Gesamtwerte von 3782963
Pfd. Sterl. Die Besucher zahlen fünf Schilling Eintritts-
geld, welches dem Hospital zufließt, da 5000 Bergleute im
Broken Hill beschäftigt werden. — In dem 15 Meilen süd-
westlich von Broken Hill gelegenen Silvcrton, wo nur die
Umberumberka Mine noch von Bedeutung ist und dessen Ein-
wohnerzahl von 3000 auf 1500 zurückgegangen ist, hat die
Heilsarmee ihre Thätigkeit entfaltet und viele Gesellschaften
und Klubs haben sich sowohl hier wie in Broken Hill ge-
bildet, und der Trade-Unionismus, die Gewerkvereine, stehen
in hoher Blüte, da Maurer, Pflasterer, Treiber, Feucrleutc,
Schmelzer, Dienstboten, Tramwayleute u. s. w. sämtlich ihren
Verein haben. — Das vorteilhafteste Unternehmen nach der
Proprietary Mine an der „Barrier" ist die Silvcrton Tram-
way Company. Außer der großen Fracht aller Art verkehren
täglich etwa 900 Passagiere auf den Tramways. Unter
diesen Umständen überrascht cs nicht, daß die Kompany
50 Proz. Dividende bezahlt; der Tramway, eine Schmalspur-
bahn, ist 35 Meilen lang, verbindet Broken Hill mit Cock-
burn an der südanstralischen Grenze und steht so mit dem
südaustralischen Eisenbahnnetze in Verbindung. Auch zu den
Marmorbrüchcn und Eisensteingrnben von Tarrawingee ist
ein 40 Meilen langer Tramway iit fünf Monaten erbaut.
Die Frage, die sich jedem Besucher aufdrängt, ist natür-
lich die, wie lange die Herrlichkeit an der Barrier dauern
wird? Kundige Leute sind der Ansicht, daß die Minen-
industrie daselbst noch in ihren Anfängen sich befindet, daß
sich noch viele andre und größere „Proprietary"-Minen iic
jenen weiten Landstrccken entwickeln ließen, daß der Distrikt
noch 40 Jahre blühen, die Bevölkerung in fünf Jahren auf
50000 steigen wird, da außer Silber auch Asbest, Gold,
Eisen, Zinn, Marmor gewonnen werden, die bis jetzt be-
kannten Silbergruben noch lange nicht ausgebeutet sind. —
Das Wahrscheinliche ist, daß es dieser Gegend ähnlich so er-
gehen wird, wie so vielen australischen Ortschaften. — Dem
unruhigen Minenleben wird eine ruhigere Zeit folgen, in
der die Zurückgebliebenen sich auch nach andern Beschäftigungen
umsehen. — Ackerbau ist so lange ausgeschlossen, als nicht
durch Bohrungen artesische Brunnen hergestellt sind. Der
an sich gute Boden bedarf nur des Wassers zu jeglichem
Wachstum, denn acht Zoll Regen, davon drei bis vier Zoll
einmal und dann monatelang keiner, im Jahresdurchschnitt
ist zu wenig. — Herdenbetricb ist aus demselben Grunde
schwierig, obschon Salz- und Blaubusch reichlich vorhanden
ist und es nur einer regelmäßigen Futterversorgung in trocke-
nen Jahren bedarf. Wenn daher in kürzerer oder längerer
Zeit man gezwungen sein wird, dort im weitesten Westen
von Neu-Südwales wieder in der Schafzucht einen Ersatz
zu suchen für den augenblicklich so ungeheuren Reichtum an
Mineralien, so sind doch gerade durch diesen in den letzten
sechs bis sieben Jahren Straßen und Eisenbahnen geschaffen,
die höchstwahrscheinlich auch später bleiben werden, und Will-
yama oder Broken Hill wird auch fernerhin ein Mittelpunkt
des Handels für die Barrier und die dortigen Distrikte sein,
wenn das Tosen der Maschinen aufgehört und der Bergmann
gleich dem Araber sein Zelt zusammengefaltet und sich ebenso
ruhig davon gemacht haben sollte.
Sir Thomas Elders australische Expedition.
Boi: der aus Kosten Sir Th. Elders ausgerüsteten Expe-
dition soben S. 31) zur Erforschung des unbekannten Mittel-
australiens vom 15. bis 30. Grade südl. Br., das zwischen
den früheren Expeditionen von Forrest, Giles, Warburton
und Gosse liegt, und zur Anfsnehnng der Spuren des
seit 1848 verschollenen Ludwig Leichhardt, trafen am
14. Oktober Nachrichten in Perth und Adelaide ein. Der
aus früheren Reisen wohlbekannte Führer Lindsay tele-
graphierte von der an der Südkiiste Westanstraliens (33° 50'
südl. Br., 120° 55' östl. L.) gelegenen Esperance-Bay,
einer Station des Überlandtelegraphen zwischen Süd- und
Westanstralien an den Präsidenten der Geograph. Gesellschaft
in Südanstralien, Sir Sam. Davenport, folgendes: „Ich
habe die Ehre zu berichten, daß wir am 2. Juni Jll Billie
erreichten; wir wurden durch Regen aufgehalten und verloren
Kamele. Wir zogen in westlicher Richtung bis zur Berg-
kette, fanden gutes Wasser, untersuchten die Gegend südlich
von Tictkins Spur („1875", richtiger wohl 1889 ?), kehrten
zurück und marschierten weiter gen Westen. Der Feld-
messer Wells machte einen Abstecher nach SW. bis 28» 15',
fand aber kein Wasser. — Wir zogen bis 130» L., 27» 15' Br.
und fanden viele gute Hügel- und Felslöcher. — Wells
machte einen neuen Abstecher nach SW. bis 28» 20' und
fand zwei gute Felslöcher. Er stieß wieder zu uns bei
Skirmish Hills, Blyth Ranges, die nur wenige vereinzelte
Granitdiorirhügel sind. Die Eingebornen waren wenig zahlreich
und freundlich. Das Land wurde jetzt schrecklich trocken; es
war sehr schwierig, Futter und Wasser für die Kamele zu
finden, denn Müllers Barlee-Ouelle war trocken. — H. Lecch
untersuchte die Gegend bei Block 14, doch fand sich keine
Spur von Gibson, der bei Giles Expedition verloren ging.
Ich durchsuchte westlich die Warburton Ranges nach Wasser,
Sprachverschiebungen in der Schweiz.
381
aber ohne Erfolg. Wells fand 120 Meilen südwestlich von
Mount Squires ein Felsenla-ch, ZOO Gall. Wasser enthielt;
ans demselben Hügel fand ich ein schönes Felsloch, das zwei
Monate vorher durch Regen angefüllt war. Die Eingcbornen
waren zahlreich; es war unmöglich, mit ihnen in Verkehr zu
treten. Es wurde entschieden, daß die Alexandriaquelle
trocken sein müsse; ich schickte nach Wasser 25 Meilen süd-
westlich, füllte alle Gefäße und tränkte die Kamele. Wir
brachen Sonntag 30. August ans, einige Kamele waren
leidend. Am 1. September erhielten sie je drei Gallonen,
am 4. und 20. drei Gallonen aus einem Felsloche. Die
Eingcbornen griffen Wells an; es gelang uns, ohne zu den
Feuerwaffen zu greifen, in freundschaftliche Beziehungen zu
ihnen zu treten, indem wir ihnen verschiedene Geschenke
machten. Am 7. September erreichten wir Wells Felsenloch,
wo eine Schar Eingeborner lagerte, fanden nur 90 Gallonen
Wasser, 30 Kamele erhielten je drei Gallonen. Spinifex-
sandhügel und mit Mulga bedeckte Sandsteinberge zogen sich
bis nach derQueen-Viktoria-Quelle, die wir am23.SePt.
erreichten, nachdem ein Kamel drei Meilen davon an Gift
starb. Die Quelle war trocken, wir gruben 15 Fuß tief im
Thonbett, erhielten nur 60 Gallonen, die mit 40 aus
den Fässern an die Kamele verteilt wurden. Wir zogen gen
SW., 25. September, kreuzten einen von Newmann be-
schriebenen (Salz-) Wasscrlauf, wandten uns südlich nach
Fraser Range. Alles Land litt unter anhaltender Dürre,
Futter war spärlich und ärmlich, nur dichter Busch und
Spinifex, prächtige Malleewälder. Am 3. Oktober erreichten
wir die Station, vollendeten so eine Reise von 550 Meilen
in 34 Tagen, wobei jedes Kamel nur acht Gallonen Wasser
gehabt hatte. Alle Kamele kamen wohlbehalten an, nur
schrecklich ermüdet und abgetrieben, mit blutenden Füßen und
lahm vom Gestrüpp. Müssen mindestens drei Wochen Ruhe
haben. Die Absicht war, von Viktoria Springs nach Norden
bis 27° 30' zu marschieren, dann gen NW. auf Forrests
Spuren, dies ist aber jetzt unmöglich wegen der Dürre.
Wir können nicht darauf rechnen, anderweitig zufällig Wasser
zu finden und mit den Kamelen sobald eine neue trockene Reise
zu unternehmen. Wir schlagen vor, durch Hampton Plains
zu ziehen, und — finden wir kein Wasser — westwärts.
Findet sich Wasser, werden wir quer über Giles Spur,
Alullaring und Forrests Spur am Mount Jda nach Hopes,
via Cruickshanks Station, ziehen. Von Winditch Spring
wollen wir in südöstlicher Richtung bis 28° Br. marschieren,
so die Untersuchung von Block A. vollenden. Wir ließen ein
Kamel krank zurück in Jllbillie, eins starb in Barrow Range,
Gesamtverlust drei. Der Gesundheitszustand der Gesellschaft
ist vortrefflich. Ich schicke Gwynne nach Adelaide mit Photos
und Proben. Hoffe Weihnachten Hopes zu erreichen. Kain
hierher zu Pferde, kehre Sonntag — in vier Tagen — zum
Lager zurück."
Die aus den Herren Lindsay, Leech, Geometer Wells,
Mediziner Dr. Elliot, Geolog Streich, Naturforscher Helms,
H. Ramsay und zwei Begleitern bestehende Expedition hat
also ihre Mission infolge des schrecklichen Wassermangels nur
teilweise ausführen können.
Sprachverschiebungen in der Schweiz.
Gelegentlich eines Besuches in Bern hatte Friedrich von
Hellwald die richtige Bemerkung gemacht, daß in dieser
deutschredenden Stadt gegen früher die französische Sprache
auffallend zugenommen habe. Von schweizerischer Seite ist
diese Bemerkung aufgegriffen worden und in der „Neuen
Züricher Zeitung" vom 12. Sept. 1891 hat ein sachkundiger
Mitarbeiter über die betreffenden statistischen Verhältnisse sich
wie folgt ausgelassen. Stellt man die Ergebnisse der letzten
Zählung, die in der Schweiz — im Jahre 1888 — stattgefunden
hat, jenen der ihr zunächst vorangegangenen von 1880 gegen-
über, so ergiebt sich, wenn auch nicht ein Vorrücken des
welschen Elementes überhaupt, so doch ein solches speziell des
französischen, und dieses dann ganz deutlich. Von 1880
bis 1888 ist nämlich die deutschsprechende Bevölkerung in
der Schweiz ihrer Verhältniszahl nach gleich geblieben. 1880
wie 1888 waren 71,3 Prozent der Schweizerbevölkerung
deutsch. Dagegen ist die Ausdehnung des italienischen und
romanischen Sprachgebietes auffallend zurückgegangen: jenes
des italienischen von 5,8 und 5,3, das des romanischen von
1,4 auf 1,3 Prozent, und in diese Lücke ist nun die franzö-
sische Bevölkerung eingerückt, die 1880 mit 21,4, 1888 mit
21,8 Prozent in der Gcsamtbevölkernng vertreten war.
Gern würden wir diesen Daten für die Gesamtschweiz
solche für unsre größten Städte anreihen. Leider giebt
aber darüber die bisher veröffentlichte Statistik keine Aus-
kunft. Spezielle Ziffern teilt sie nur für die Kantone mit.
Da erfährt man denn aber im besondern für den Kanton
Bern, daß von 1880 ans 1888 die deutsche Bevölkerung
dort unwesentlich zurückgegangen ist — deutschredende Berner
gab es 1880: 452039, 1888: 451 927 — die französisch-
redende dagegen von 78 640 ans 85 535 gestiegen ist. Die
Bevölkerungs-Vermehrung in diesem stärkstbevölkerten Kan-
ton der Schweiz gehört also ganz den Französischredendeu; denn
daß es 1888 auch um 240 mehr Italiener im Bernischen
gab als 1880, will ja nichts sagen. Zugewachsen sind,
wenn man von diesen Italienern absieht, während des ab-
gelaufenen Jahrzehnts nur die Französischsprechenden. Um
7000 ist ihre Zahl angewachsen. Klar ist aber, daß von
diesen 7000 Plus ein Teil, und wahrscheinlich der größere,
aus Familien deutscher Nationalität hervorging. Diese junge
Mannschaft hat, statt deutsch zu bleiben, das Französische zur
Muttersprache angenommen.
Bern steht mit dieser Entwickelung übrigens nicht ver-
einzelt da. Geht man über die Berner Grenze ins Neuen-
bnrgische hinein, dann findet man noch tveit bezeichnendere
Ziffern als die vorgenannten. Denn hier ist allerdings von
1880 ans 1888 die deutschredende Bevölkerung von 24 489
ans 22 782 zurückgegangen; die französischsprechende Be-
völkerung dagegen ist von 77 525 ans 84367 gestiegen.
Nirgends sonst ist in den deutsch-französischen Kantonen die
Verschiebung eine so starke gewesen wie hier. Mau zählte:
Deutschredende
Französischredende
1880 1888 1880 1888
Zn Freiburg . . 35705 37315 79316 81808
» Waadt . . . 21692 25011 212164 219615
-> Wallis . . . 31962 32299 67214 68676
„ Genf . . . . 11500 12795 86414 89763
Hier ist also überall eine gewisse Vermehrung auch des
deutschen Elementes festzustellen, in der Waadt sogar in auf-
fallendem Umfang. Immerhin wächst aber, das spricht die
Gesamtziffer für die Schweiz aus, die Beteiligung der
Französischsprechenden an der Gesamtbevölkernng gegen-
wärtig rascher als jene der deutschen.
Wollen wir nun dem bereits Gesagten noch ein paar
weitere Beincrknngen anfügen, so wäre vielleicht darauf auf-
merksam zu machen, daß die französische Kolonie auch im
Kanton Zürich im stärkeren Anwachsen begriffen ist als
sonstwo ans deutschem Sprachgebiet. 1880 hatte der Kanton
Zürich 1471, 1888 bereits 2024 Französischredende. In
Baselstadt hat sich die Zahl der Französischredenden in viel
geringeren: Maße, nämlich von 1901 ans 2045 vermehrt.
Zürich und Baselstadt haben von deutschen Kantonen heute
die zahlreichsten französischredenden Kolonieen. Weit mehr
als Französischredende ans deutschem Sprachgebiete trifft man
! bekanntlich Deutschredende aus französischem Boden an.
382
Dr. I. Höfer: Zurückweichen des angelsächsischen Elementes in Nordamerika.
Was die Jtalienischrcdenden betrifft, so ist ihre Zahl im
Tessin, wie die Bevölkerung dieses Kantons überhaupt,
zurückgegangen: von 129409 auf 124903, während gleich-
zeitig die Zahl der Deutschsvrechenden hier von 1054 auf
1942 und die der Französischredenden von 212 auf 241
gestiegen ist. In Graubünden stehen gegenwärtig 13 957
Jtalienischrcdcnde neben 37 077 Romanen und 44272
Dentschredenden. Hier vermehren sich die Jtalienischrcdenden
verhältnismäßig am stärksten, die Zahl der Romanen geht
zurück. 1880 zählte man ihrer noch 37 794 gegen die
37 077 von heute.
Von den Ursachen in der Sprachvcrschiebnng erwähnt der
Verfasser des oben stehenden Artikels der „Neuen Züricher-
Zeitung" nur eine, und zwar eine für die Deutschen wenig
erfreuliche, nämlich den Übergang deutschsprechcndcr Schweizer
zur französischen Sprache. Viel einflußreicher aber als diese
eine Ursache für die Sprachvcrschiebnng ist in der Schweiz
eine andere: Die Einwanderung herüber und hinüber in-
folge der gesteigerten und erleichterten Verkehrsverhältnisse
uub der Industrie. Hier zeigt sich nun ein starker Zug der
dentschredenden Schweizer in die französischredcndcn Kan-
tone und die Zahl der ersteren ist weit bedeutender in den
französischen Kantonen als umgekehrt. Von 2O92 52O
deutschen Schweizern wohnten 94 760 oder 4,5 Prozent im
Jahre 1888 in der Französischen Schweiz und die Zahl der
Deutschen in derselben ist in der letzten Zeit ganz gewaltig
gewachsen, zumal in den Städten Genf, Lausanne, Vevey,
Neuchâtel, La Chaux des Fonds, le Locle sowie im Schweizer
Jura. Wir verweisen in dieser Beziehung auf die von einer
Karte begleitete statistische Abhandlung von Dr. Zemmri ch:
„Das deutsche Element iu der Bevölkerung der Französischen
Schweiz" (Deutsche Rundschau für Geographie und Statistik.
Wien, Mai 1891).
Zurückweichen des angelsächsischen Elementes in
Nordamerika.
Von Dr. I. Höser.
Je mächtiger die nordamerikanische Republik in die Welt-
händel eingreift, desto nachdrücklicher weisen die Engländer
darauf hin, daß es das sogenannte angelsächsische Element
sei, welches der Kultur diese ungeheuren Gebiete erschlossen
und der Neuen Welt den Stempel seines Geistes aufgedrückt
habe. Matthew Arnold, Goldwin Smith, Edward Fillman,
James Anthony Fronde und all die andern englischen Chau-
vinisten verfechten diese Idee aufs eifrigste; und iu Amerika
selbst, in Kanada wie in den Vereinigten Staaten, findet
diese Auffassung Anhänger, — aber freilich auch ebenso viele
Gegner.
In Kanada weisen die Regiernngsbcamten bei jeder
Gelegenheit auf die enge Verwandtschaft zwischen den Angel-
sachsen des Mutter- und Tochterstaates hin. Und doch ist
cs Thatsache, daß eben diese Politiker selbst fast sämtlich ans
keltischen oder französischen Familien stammen; schon die
Namen beweisen dies. Fast ein Drittel der Bevölkerung ist
französisch, ein Drittel sind Engländer und der Rest verteilt
sich auf Irländer, Deutsche und andre Nationalitäten. Es
ist also falsch, daß in Kanada die Majorität der Bevölkerung
angelsächsisch ist.
Allerdings wird in den Vereinigten Staaten wie in
Kanada die englische Sprache fast allgemein gesprochen, aber
sie wird von den eingebürgerten Deutsch-, Irisch- und Fran-
zösisch-Amerikanern ebenso oder fast so gut wie von den
Anglo-Amerikanern gesprochen. Zudem sprechen auch sechs
bis sieben Millionen Neger und Farbige englisch, von denen
niemand behauptet, daß sie Angelsachsen seien. Wenn auch
zur Zeit, als England die Oberherrschaft über den nicht-
spanischen Teil Nordamerikas gewann, das angelsächsische
Element bei weitem vorwog , so ist dasselbe seitdem doch
durch und . durch mit so allsten Hunderttausenden von
Deutschen, Iren, Spaniern und Franzosen durchsetzt worden,
daß es sich wohl einmal der Mühe lohnt zu untersuchen,
wie groß denn heute der angelsächsische Teil der Bevölkerung
thatsächlich ist.
Bei der ersten Volkszählung in den Vereinigten Staaten,
im Jahre 1790, belief sich die weiße Bevölkerung auf
3172006. Nehmen wir an, von diesen drei Millionen
seien rund zwei Millionen angelsächsischen Ursprungs gewesen
(jedenfalls eine hohe Schätzung); nehmen wir ferner an, diese
zwei Millionen hätten keinen Zuwachs von außen erhalten,
so fragt cs sich: Zn welcher Zahl würden dieselben z. B. bis
zum Jahre 1890 angewachsen sein? Angesichts der ge-
waltigen Einwanderung läßt sich diese Frage natürlich nicht
direkt und statistisch genau beantworten; wir müssen deshalb
zu einein Analogieschluß unsre Zuflucht nehmen.
Es giebt ein Element in den Bereinigten Staaten, welches
keinen nennenswerten Zuwachs durch Einwanderung erhalten
hat, und das ist das afrikanische. Im Jahre 1790 betrug
die Zahl der Neger, Sklaven und Freien 757 208 und im
Jahre 1880 6 580 793, was einen Zuwachs von 770 Pro-
zent in 90 oder 855 Prozent in 100 Jahren bedeutet.
Wenn sich nun jene zwei Millionen Angelsachsen in demselben
Maße vermehrten, so würde ihre Zahl 1880 auf 15400000
und 1890 auf 17 100 000 angewachsen sein. Thatsächlich
hat sich aber die schwarze Bevölkerung außer in der aller-
neuesten Zeit verhältnismäßig stärker vermehrt, als die mittel-
ländische Rasse.
Es fragt sich nun weiter: in welchem Maße ist das
angelsächsische Element durch Einwanderung ans dem Mutter-
lande verstärkt worden? Die genauen statistischen Anfzeich-
nttugcn beginnen erst mit dem Jahre 1820. Für den Zeit-
raum von 1789 bis 1820 wird die Gesamteinwandernng
in die Vereinigten Staaten ans 250000 geschätzt, wovon die
Angelsachsen aus naheliegenden politischen Gründen nur einen
sehr geringen Prozentsatz bildeten. Von 1820 bis 1889 sind
15199 179, also rund 15 Millionen Menschen eingewandert.
Von diesen 15 Millionen kamen: 4462 000 aus Deutschland,
3 455000 aus Irland, 2 739 000 ans Großbritannien,
913 000 ans Schweden und Norwegen, 398 000 ans
Österreich-Ungarn, 289 000 ans China n. s. tv. Unter den
2 739 000 Einwanderern aus Großbritannien sind die kelti-
schen Schotten einbegriffen; aber weil wir noch einen Bruch-
teil jener 250 000 Einwanderer in den Jahren 1789 bis
1820, sowie einen Teil der Einwanderung ans Kanada be-
rücksichtigen müssen, so wollen wir die Zahl der von 1789 bis
1889 ein ge wanderten Angelsachsen auf 2 800 000
ansetzen.
Wenn tvir nun die natürliche Vermehrung dieser
2 800 000 eingewanderteu Angelsachsen berechnen, dürfen
wir nicht vergessen, daß nrehr als eine Million von ihnen
erst in dem Jahrzehnt 1879 bis 1889 eingewandert ist.
Eine natürliche Vermehrung um vier Millionen dürfte des-
halb schon eine sehr hohe Schätzung sein.
Fügen wir diese 6 800 000 oder rund sieben Millionen
zu den oben gefundenen 17 Millionen, den Nachkommen der
urausässigen Angelsachsen, hinzu, so erhalten wir für den
heutigen Tag 2 4 Millionen Angelsachsen als günstigste
Schätzung. Da die Gesamtbevölkerung der Vereinigten
Staaten nach der neuesten Zählung von 1890 rund 63 Mil-
lioucn beträgt, so würde das angelsächsische Element mithin
etwa 8/2i oder 38 Prozent, d. h. wenig mehr als ein
Drittel der Gesamtbcvölkcrnng ausmachen.
Aus alledem geht hervor, daß nicht England, sondern
ganz Europa die eigentliche Mutter der Bevölkerung Amerikas
Bier und Hopfen in der Völkerkunde. — Büch erschau. — Aus allen Erdteilen.
383
ist. Doch darf man auf der andern Seite nicht vergessen,
daß bei aller Verschiedenheit die amerikanische Litteratur, das
Staatswesen und öffentliche Leben doch im wesentlichen ein
angelsächsisches Gepräge ' Die Angelsachsen haben cs,
obwohl in anthropologischer Beziehung thatsächlich in der
-Minderheit, verstanden, den übrigen Nationalitäten nicht nur
ihre Sprache, sondern auch ihre Sitten und Einrichtungen
aufzudringen, wozu vor allem wohl die Einfachheit der eng-
lischen Sprache mitgewirkt hat.
Bier und Hopfen in der Völkerkunde.
In der Sitzung des Münchener Anthropologischen Vereins
vom 30. Oktober 1891 hielt Prof. Dr. Branngart (von
der Brauerschnle Weihenstephan in Frcising) einen Vortrag
über Herkunft und Verbreitung des Hopfens: Er sprach aus-
führlich über die von slawischen Schriftstellern verfochtene
Behauptung, daß der Hopfenzusatz von den Slawen aus sich
verbreitet habe, wofür besonders die reiche Entfaltung einer
Wurzel chmel angeführt wird, deren Ableitungen im
Russischen, Tschechischen, Polnischen Wörter für Bier, Zechen,
Rausch, Trunkenbold bilden. Besonders interessant waren
Mitteilungen über die Osseten und ihre einheimische Brauerei
nach Angaben und Ermittelungen eines in Tiflis ansässigen
deutschen Bierbrauers, der selbst, ebenso wie seine Söhne, in
Freising ihre fachmännische Ausbildung gesucht hatten. Die
Ähnlichkeit ihres Verfahrens mit dem unsrigen vor der Ein-
führung der Maschinen war dem Fachmann zugleich mit
andern Übereinstimmungen in Hausban, Sitten und öffent-
lichen Einrichtungen der Beweis, daß die heutigen Osseten
im nächsten Zusammenhang mit den Germanen stehen mußten,
daß bei ihnen, am Südabhang des Kaukasus, die Verwendung
des Hopfens erfunden worden sei und mit ihren Nachbarn,
den Goten, während der Völkerwanderung sich verbreitet
habe. Anderes sei übergangen. In der angeregten Debatte
führte Professor Kuhn ans, daß allerdings die Osseten un-
zweifelhaft Reste der Alanen seien, deren Splitter mit
Goten und Vandalen nach Westeuropa gelangt seien; doch
seien sie den Jraniern zuzuzählen. Trotzdem spräche für den
slawischen Ursprung des Hopfenznsatzcs manches. Der
Name humulus für Hopfen trete doch erst lange nach der
Völkerwanderung auf, franz. houblon, deutsch Hopfen gehe
darauf zurück. Ihm sei cs auch unzweifelhaft, daß das
deutsche Wort Bier, dem slavisch pivo entspricht, ein Lehn-
wort sei, weil sonst dem p ein germanisches f entgegenstehen
sollte, nach der Analogie andrer Gemeinwörter. Es scheine,
daß der germanische Name olas (engl, ale, nordisch öl), auch
litauisch, den ungehopften Gerstentrank bedeute, Bier das
jüngere, gehopfte Getränk. Die frühe und weite Verbreitung
eines bierähnlichen Getränkes, das vielleicht dem jetzigen
Weißbier entspräche, in Ägypten, wo Pelnsium dadurch be-
rühmt war, in Persien, in Thracicn und Jllyrien (zyton),
in Gallien (cerevisia) und Spanien, und Germanien habe
also mit dem Hopfen nichts zu thun. Genauere Nachweise
über das Auftauchen des Wortes humulus seien zu wünschen,
aber die Meinung slawischer Schriftsteller, wie Hausdorf und
Miller, sei nicht von vornherein zu verwerfen. Die Frage
nach der Heimat der Hopfenpstanzc wurde dabei nicht berührt,
aber doch von andrer Seite betont, daß ein babylonischer
Name des Hopfens noch nicht sich ergeben habe. Loh.
B ü ch e r s ch a u.
C. Opitz und Dr. H. Polakowsky: Napa de la Repú-
blica de Chile. 1:2500 000. Edición corre,jida 1891.
Editor Hugo Kunz, Santiago (Frankfurt a. M., Karl Jügels
Verlag).
Gegen die erste 1888 erfolgte Ausgabe zeigt die Karte
jetzt ein überall berichtigtes Bild und ist nach den besten Quellen
wieder auf den neuesten Standpunkt gebracht worden. Die
Veröffentlichungen der chilenischen Marine haben hier eine voll-
ständige Benutzung erfahren. Völlig anders zeigt sich auf der
neuen Karte der Archipel südlich des Golfes de la Pena, ebenso
die Inseln am Kap Hoorn nach den Aufnahmen des französischen
Schisses „Romanche". In Feuerland brachte neues die Expedi-
tion Popper und die Ergebnisse der Reisen von Serrano, ferner
die Aufnahmen der Kapitäne Latorre, King, Fitzroy und
Mahne, sowie die Bertramsche Kolonisationskommission. Im
Norden Chiles sind im Salpeterdistriktc mehrere Korrekturen
vorgenommen. Für die argentinischen Teile der Karte wurden
die Arbeiten von Seclstrang und der neue Atlas von Bracke-
busch ebenfalls benutzt. Es mag noch erwähnt werden, daß auch
Proviuzgrenzeu und Ortsnamen berichtigt und ergänzt sind.
In der Nebenkarte wurden noch die Ausiedlungen der
Eingebornen zwischen Rio Cholchol und Rio Cautin eingetragen.
Weniger befriedigend ist dagegen die Behandlung der Ver-
kehrswege, denn abgesehen von den eigentlichen Landstraßen
vermißt man die Einzeichnung von verschiedenen Eisenbahn-
linien, die teils lange fertig gestellt, teils im Bau begriffen
sind, z. B. die 1889 eröffnete Linie von Tocopillo nach Toco,
die Linie von Caleto Buena. Unvollständig und teilweise
unrichtig ist der Ferro Carril de Autofagasta. Auch die Linie
Los Andes-Mendoza ist mangelhaft. Trotz dieser kleinen Aus-
stellungen ist die Karte in ihrer neuen Ausgabe als ein vor-
treffliches Hilfsmittel zum Studium der chilenischen Landes-
kunde, sowie für Kaufleute durchaus zu empfehlen.
A. Scobel.
Ans allen
— Rydcrs Expedition nach der grönländischen
Ostküste. Am 7. Juni 1891 verließ die Expedition, deren
Abgang, Ausrüstung und Pläne „Globus", Bd. EX, S. 13
ausführlich gemeldet wurden, Dänemark. Über den ferneren
Verlauf melden Petermanns Mitteilungen: Ein erster Ver-
such, am 20. und 21. Juni die Eisschranke unter 71° und
68° nördl. Br. zu durchbrechen, scheiterte au deren Dichtigkeit.
Seit dem 29. Juni sind keine Nachrichten nach Dänemark
gelangt, das Expeditionsschiff des Dampfwalers Hekla, Kapitän
Knndsen, ist nicht zurückgekehrt. Nach Mitteilungen eines
Robbcnjägers ist jedoch anzunehmen, daß Ende Juli der
Expedition der Durchbruch durch die Eismassen gelungen ist
und die Ostküste unter 71,1/2° N. erreicht wurde, so daß noch
Erdteilen.
zwei Monate zur Aufnahme der Küste verwendet werden
konnten. Wohl durch die Eisverhältnisse gezwungen, bat
Leutnant Ryder das für diesen Fall mit Lebensmitteln,
Kohlen u. s. w. versehene Expeditionsschiff zurückbehalten.
Ausgeschlossen ist natürlich auch nicht die Gefahr, daß das
Schiff die Ostküste gar nicht erreicht hat, sondern im Packeise
eingeschlossen nach Süden treibt.
— Das Erdbeben von Gifn in Japan. Nach
dieser am meisten betroffenen Stadt kann man wohl das
große Erdbeben bezeichnen, welches Ende Oktober Japail
heimsuchte und sich über 31 Provinzen des Reiches erstreckte.
Seinen Mittelpunkt hatte dasselbe im Distrikte Mino, der
384
Aus allen Erdteilen.
Hanptinsel, wo cs die größten Zerstörungen anrichtete; aber
auch in den Nachbarprovinzen Ezozi und Owari waren die
Verwüstungen kaum minder groß. In diesen drei Provinzen
rechnet man 43000 zerstörte Häuser und 3400 durch das
Erdbeben getötete Menschen. Der erste, am 25. Oktober zu
Gifn (östlich von dem großen Biwasee) gespürte Stoß war
mit einem mächtigen unterirdischen Getöse begleitet; die Erde
wurde dort gespalten und aus den bis meterbreiten Rissen
drangen vielfach Schlamm und vulkanische Asche an die Ober-
fläche. Gifn selbst wurde in einen Trümmerhaufen ver-
wandelt, desgleichen das benachbarte Kano. Schon nach den
ersten Stößen konnte man bemerken, daß der Boden sich ge-
senkt hatte; in Gifn selbst brach Feuer aus, welches die zer-
störte Stadt völlig vernichtete. In Gobo stürzte ein Tempel
ein, welcher 50 Besucher erschlug; in Nagario brach eine
christliche Kirche während des Gottesdienstes zusammen, wobei
auch Menschen ums Leben kamen. In Nagoja, siidlich von
Gifn, nach dem Meere zu, verloren 800 Menschen das Leben
und hier zählte man vom 25. bis 30. Oktober nicht weniger
als 368 bestimmte Erdstöße. Die Gewalt derselben ist teil-
weise so groß gewesen, daß die Schienen der Eisenbahnen
gebogen und eiserne Brücken zerstört wurden; gemauerte
Flnßufer stürzten ein uub die Fluten ergossen sich über die
Felder. Am Fuße der Huknsanberge bei Gifn bildete sich
ein See von über 500 in Länge und 50 in Breite. Aus
den tiefen und breiten Spalten, die sich hier bildeten, strömte
Wasser hervor, während die Brunnen und Quellen sich färbten
imd ungenießbar wurden. Große Erdsenkungen kamen auch
im Distrikte Mortosn vor, und am heiligen Berge Fusijama
bildete sich nahe dem Gipfel eine ungeheure Spalte.
— Chinesische Hetzlitteratnr gegen die Weißen.
In den gegenwärtigen Unruhen in China, die auf Vertreibung
der fremden „rothaarigen Teufel" abzielen, spielen Schmäh-
schriften, die das Volk gegen die Europäer aufhetzen, eine
große Rolle. Im Laufe des Sommers waren zu Nanking,
der wichtigsten Stadt am Jangtsekiang, 17 000 chinesische
Studenten aus verschiedenen Teilen des Reiches versammelt,
mn dort ihre Staatsprüfungen abzulegen. Unter ihnen
wurden öffentlich die Hetzschriften verbreitet, welche teils bloß
gedruckt, teils mit Abbildungen versehen waren und die man
selbst an der Prüfungshalle anschlug. Der Inhalt ist teil-
weise sehr schmutziger Art und läßt sich nicht ganz wieder-
geben. Eine derselben lautet folgendermaßen:
„Die römisch-katholische Religion hat ihren Ursprung von
Jesus, wird von allen westlichen Völkern geiibt und von
ihnen andern Völkern gelehrt. Der Gründer derselben wurde
von bösen Menschen am Kreuze getötet. Das Haupt ist der
Papst. Wenn die Mitglieder heiraten, so gebrauchen sie keinen
Vermittler und machen zwischen Alt und Jung keinen Unter-
schied. Mann und Frau kommen nach Belieben zusammen,
doch müssen sie erst dem Bischof ihren Gehorsam beweisen
und zu Schaug Ti (Gott) beten. Die Braut muß stets zuerst
bei ihrem Beichtvater schlafen__ Zwei Weiber darf man nicht
nehmen, weil Schang Ti zuerst einen Mann und ein Weib
schuf. Stirbt ein Mann, so heiratet sein Sohn die Mutter,
die ihn geboren. Stirbt ein Sohn, so kann der Vater dessen
Witwe heiraten, ja selbst seine eigene Tochter. Alle nahen
Verwandten, selbst Geschwister, heiraten einander. Tschaug
Shau t'sai war ein Botzieher am Hun Ho; ein Mann
Namens Lin lehrte ihn, daß, wenn er kleine Kinder raube
und er ihnen die Herzen und Augen ansrisse, er 50 Taels
(240 Mark) für ein Sortiment derselben verdienen könne.
Ein fremder Teufel vergiftete im Kanton nachts die Brunnen.
Alles erkrankte und konnte nur von den fremden Ärzten ge-
heilt werden. Viele starben. Als der Präfekt die Ursache
fand, wurden 30 verhaftet und getötet. Wenn diese fremden
Teufel ihre Kirchen öffnen, geben sie den Weibern erst eine
Pille ein, die dazu dient, dieselben zu hintergehen.... ist das
geschehen, dann stimmt der PMster seine Gesänge an. In
Tientsin entführte man regelmäßig junge Mädchen, um ihnen
Augen und Herz auszureißen. Aber die Einwohner merkten
dieses, zerstörten die Häuser der Fremden und fanden darin
ganze Hänfen von Leichen der geraubten Kinder. Seid vor-
sichtig, daß uns nicht gleiches widerfährt! Vereinigt Hände
und Herzen, um das Übel zu verjagen, ehe es uns über-
windet."
„ — Ungleiche Vermehrung der Nationalitäten in
Österreich. Die Volkszählung von 1890 hat in der west-
lichen Hälfte der österreich-ungarischen Monarchie eine ge-
ringere Vermehrung ergeben als in der östlichen; 7,9 Proz.
im sogenannten Cisleithanien, 10,82 Proz. in Translei-
thanien. Aber auch in den einzelnen Kronländern ist die
Zunahme sehr ungleich und daraus ergiebt sich eine Ver-
schiebung des Anteils der Nationalitäten, die für den Politiker
wie für den Geographen von Belang ist. Voran steht
Niederösterreich mit 13,8 Proz. Zunahme seit 1880, wegen
der Anziehungskraft von Wien eine Ausnahme; dann folgt
die Bukowina mit 13,1 Proz., Galizien 10,4 Proz., Schlesien
6,5 Proz., Mähren 5,5 Proz., Böhmen 5 Proz.; die Alpen-
länder 3,2 bis 3,6 Proz., Tirol aber nur 0,9 Proz. Ein
Aufsatz des Statistikers v. Rcinöhl in der Wiener Deutschen
Zeitung (4. November 1891) berechnet nun die verschiedene
Zunahme der Nationalitäten seit 1880: Die Polen stehen
voran mit 15 Proz. (1880 14,86 Proz., 1890 15,87 Proz.
der Gesamtbevölkerung), Serbokroaten 14 Proz., Rnthencn
11 Proz., Deutsche 5,66 Proz. (36,75 Proz. 1880, gefallen
auf 36,04 Proz.), Tschechen 5,65 Proz. (von 23,77 Proz.
gefallen auf 23,32 Proz.), Slowenen 3,18 Proz. (von 5,23
auf 5,01 Proz.).
Italiener nicht ganz 1 Proz.; sie haben in Dalmatien von
37000 tut Jahre 1880 abgenommen auf 16000. Ebenso
zählen die Deutschen in Galizien mit 96 736 weniger als
1880, in Görz um 464, in Kram um 1000 (28000 statt
29 000). Diese Verschiebungen spiegeln nur die wechselnden
Einflüsse der Politik, während die stärkere Zunahme der
dünnbevölkerten Nordkarpathenländer, die langsame der Alpen-
länder sich anders erklärt. Heimatsberechtigt im Aufenthalts-
ort waren 1869 noch 79 Proz., 1880 70 Proz., 1890 nur
64 Proz.; dies giebt die Aussicht ans fortschreitende Mischun-
gen. In Niederösterreich wohnten 1890 93481 Tschechen
statt 61257 inl Jahre 1880.
— Über die Art der Verbreitung und das Vorkommen
der böhmischen Granaten (Pyropen) erfahren wir aus
den Verhandlnngen der Kaiserl. Königl. Reichsanstalt vom
30. September 1891 durch F. Katzer folgendes: Diese be-
kanntesten von allen Edelsteinen Böhmens finden sich in
Diluvialschottern uiitElephas primigenius und Rhinoceros
tichorhinus über ein Gebiet von etwa 70 qkm im böhmi-
schen Mittelgebirge zwischen Chodolitz, Chrastian, Semtzsch,
Schelkowitz u. s. w. verbreitet. Reichlich ist diesen Schottern
kretaceisches Material der turoncn Teplitzer und senoncn
Priescner Schichten, häufig in Form wohlerhaltener Ver-
steinerungen, beigemischt. Die 1 bis 2 in mächtigen Pyrop-
führcnden Schotter sind meist von diluvialem Lößlehm über-
lagert. Das Abbangebiet zählt 142 Eigentümer von Granat-
feldern und 362 bei der Gewinnung beschäftigte Arbeiter.
Der jährliche Bruttoertrag beläuft sich auf 80 000 fl. Kleine
Körner mit 500 auf 1 Lot werden am häufigsten gefunden,
größere Pyropen sind schon seltener. 8r.
Herausgeber: Dr. R. Andree in Heidelberg, Leopoldstrabe 27.
Druck von Friedrich View cg und Sohn in Braunschweig.
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Bd. LX.
-
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Nr. 1.
. Begründet 1862
'•* V0N
. . - Andres.
Druck urtò "gier ta g von
Là'M Wàîle.
Herausgegeben
von
Richard Andres.
Iriebrich 'Dierveg & Sohn.
Jährlich 2 Bände in 24 Nummern. Durch alle Buchhandlungen und Postanstalten j qqj
V l U U U ] aj 10 e l g. zum Preise von 12 Mark für den Band zu beziehen.
Inhalt. Emil Schmidt, Leipzig, Ein Ausflug in die Anaimalai-Bcrge (Südindien). I. Mit zwei Abbildungen.
— Prof. Dr. S. Rüge, Ein Jubiläum der deutschen Kartographie. Mit einer Karte als Sonderbeilage. — H. Seidel,
L. G. Bingers Reife vom Niger zur Oberguinea-Küste. Mit drei Abbildungen. — Heinrich Martens, Die dänische Expedition
nach Lstgrönland. — Alfred Sharpes Reife nach Katanga. — Aus allen Erdteilen. — Schluß 15. Juni 1891.
Eingegangene Neuigkeiten,
die hier kurz angezeigt werden oder deren Besprechung im Hauptblatte vorbehalten bleibt.
M. von Chlingensperg-Bcrg, Das Gräberfeld von Rei-
ch enhall in Oberbayern. Mit 1 Karte u. 40 Fundtafeln
in Lichtkupferdruck. Reichenhall, Verlag der H. Bühler'schen
Buchhandlung, 1890.
Prof. Dr. H. Nabert, Karte der Verbreitung der Deut-
schen in Europa. Im Aufträge des deutschen Schul-
vereins und unter Mitwirkung von R. Böckh. Maßstab
1 :925 000. In 8 Sektionen. Preis der Sektion 3 M.
Die Freie und Hansestadt Lübeck. Ein Beitrag zur deutschen
Landeskunde. Herausgegeben von einem Ausschüsse der
Geographischen Gesellschaft in Lübeck. Mit 5 Karten in
6 Blättern und einer graphischen Übersichtstafel. Lübeck,
Dittmer, 1890. 345 S.
Dr. G. Jacob, Ein arabischer Berichterstatter aus dem 10.
oder 11. Jahrh, über Fulda, Schleswig, Soest, Paderborn
und andre deutsche Städte. Aus dem Arabischen über-
tragen, kommentiert und mit uner Einleitung versehen.
Berlin, Mayer u. Müller, 1890. 20 S. Preis 1 M.
Dr. G. Jacob, Welche Handelsartikel bezogen die Araber oes
Mittelalters aus den nordisch-baltischen Ländern? 2. Aufl.
Berlin, Mayer u. Müller, 1891. 83 S. Preis 2,50 M.
Hans Witte, Zur Geschichte des Deutschtums in
Lothringen. Die Ausdehnung des deutschen Sprach-
gebietes im Metzer Bistum zur Zeit des ausgehenden Mittel-
alters bis zum Beginne des 17. Jahrh. Mit einer Karte.
Metz 1890.
Déport of the Secretary of Agriculture 1890. Wash-
ington 1890. 612 S.
Herausgegeben von I. M.Knak, Secretary of Agriculture,
und reich ausgestattet mit Abbildungen, Farbentafeln und
Karten. Letztere veranschaulichen die Ausbreitung und den
Ertrag des Maises, Weizens und der Baumwolle in den Ver-
einigten Staaten. »,
A. Seidel, Praktische Grammatik der Suaheli-
Sprache, auch für den Selbstunterricht. Mit Übungs-
stücken, einem Lesebuche und einem Dcutsch-Kisuaheli-Wörter-
buche. Wien, Hartleben, ohne Jahreszahl. 162 S.
Das Kisuaheli hat nicht nur in Ostafrika, namentlich im
deutschen Kolonialbesitz, Geltung, es wird von den Sansibariten
mit den Karawanen weit ins Innere zu den verwandten Bantu-
stämmen getragen und findet mehr und mehr im Inneren
als Verstündigungssprache Geltung. In unserm Deutsch-Ostafrika
ist es aber unentbehrlich und jeder, der dort hingeht, wird
in diesem praktischen Werke des verdienten Schriftführers der
deutschen Kolonialgesellschaft einen sehr brauchbaren Sprachlehrer
finden, zugleich mit einem Wörterbuche von 4000 Suaheli-
wörtern.
A. R. Wallace, Der Darwinismus. Eine Darlegung der
Lehre von'der natürlichen, Zuchtwahl und einiger ihrer An-
wendungen. Autorisirte Übersetzung von Prof. D. Brauns.
Mit einer Karte und 37 Abbildungen. Braunschweig,
Fr. Vieweg u. Sohn, 1891. 758 S. Preis 15 M.
Stewart Culin, The Gambling Games of the Chinese in
America. Philadelphia 1871. (Publications of the
University of Pennsylvania.) 17 S.
Annual Report of the Board of Regents of the
Smithsoniaii Institution for the year ending
June 30, 1880. Washington 1888. 876 S. Zahlreiche
Abbildungen.
Aus dem Inhalte heben wir hier hervor: Niblack, Die
Küstenindiancr im südlichen Alaska und nördlichen Br. Ko-
lumbia. — Hippisley, Katalog einer chincs. Porzellansamm-
lung und Geschichte der Keramik in China. — Lucas, Expe-
dition nach Funk-Island und Geschichte des großen Alk. —
W. Hough, Feuermachapparate im Washingtoner Museum. —
P. L. Jouy, Koreanische Totentöpfe. — Th. Wilson, Stu-
dien über prähistorische Anthropologie. — Th. Wilson, Alt-
indianische Matten. — Th. Wilson, Die Existenz des Menschen
während der paläolithischen Zeit in Amerika.
Dr. H. Pröscholdt, Der Thüringer Wald und seine nächste
Umgebung. (Forschungen zur deutschen Landes- und Volks-
kunde.) Stuttgart, I. Engelhorn, 1891. 51 S. Preis 1,70.$.
Dr. W. Sievers, Zur Kenntnis des Taunus. Mit einer
Karte. (Forschungen zur deutschen Landes- u. Volkskunde.)
Stuttgart, I. Engelhorn, 1891. 55 S. Preis 3,60 Jt.
Prof. Dr. R. Lehmann, Das Kartenzeichnen im geographi-
schen Unterricht. Mit 1 Tafel u. 3 Figuren. Halle, Tausch
u. Grosse, 1891. 201 S.
Pros. V. Hensen, Die Plankton-Expedition und Hückels
Darwinismus. Mit 2 Tafeln. Kiel, Lipsius u. Tischer, 1891.
87 S. Preis 3 A
i?
Verlag von Friedrich Vieweg & Sohn in Braunschweig.
Naturwissenschaftliche Bundschau
Wöchentliche Berichte über die Fortschritte auf dem (xesammt-
gebiete der Naturwissenschaften.
U n t e r
Mitwirkung der Professoren Dr. J. Bernstein, Dr. W. Ebstein, Dr. A. von Koenen,
Dr. Victor Meyer, Dr. B. Schwalbe und anderer Gelehrten
herausgegeben von
Br. W. JSklarek
in Berlin W., Magdeburgerstrasse Nr. 2 5.
Wöchentlich eine Nummer von iy2 bis 2 Bogen. — Durch alle Buchhandlungen und Postanstalten zu beziehen.
(In der deutschen Zeitungs-Preisliste, 1891, unter Nr. 4277 aufgeführt.)
Chemie. Le Bel: Ueber die Substitutionsproducte des
Chlorammoniums. — Derselbe: Ueber die Unsym-
metrie und die Erzeugung von Drehungsvermögen bei
den Alkylderivaten des Chlorammoniums. 8. 325.
Physik. G. van der Mensbrugghe: Ueber" eine merk-
würdige Eigenthümlichkeit der Wasserläufe und über
eine Ursache der plötzlichen Hochwasser. S. 328.
Zoologie. T. H. Morgan: Die verwandtschaftlichen Be-
ziehungen der Pycnogoniden („Sea-Spiders“). — Der-
selbe: Mittheilungen über die Entwickelung der
Pycnogoniden. S. 329.
Kleinere Mittheilungen. K. L. Hagström und A. Falk:
Wolkenmessungen in dem Jemtland- Gebirge im Som-
mer 1887. 8. 331. — P. Drude: Ueber'die Grösse
der Wirkungssphäre der Molecularkräfte und die Con-
stitution von Lamellen der Plateau' sehen Glycerin-
Seifen-Lösung. 8. 331. — Carlo Cattaneo: Ueber
die Wärmeausdehnung der leicht schmelzenden Legi-
rungen im flüssigen Zustande. S. 332. — Berthelot
und G. André: Ueber den eigenthümlichen Geruch der
Erde. 8. 332. — K. de Kroustchoff: Künstliche Dar-
stellung von Hornblende. 8. 332. — W. Beyerinck:
Ueber die photogene und die plastische Nahrung hel-
leuchtenden Bactérien. 8. 333. — Prillieux: Der
Taumelroggen. 8. 333.
Der II. internationale ornithologische Congress in
Budapest. 8. 334.
Vermischtes. Erdbeben in Norditalien. — Abwesenheit
einer Breiten - Aenderung in Paris. — Erklärung der
Kundt’sehen Staubfiguren. — Physikalische Eigen-
schaften der Elemente. — Ein verwundeter Höhlen-
bär.— Amerikanische Nordpol - Expedition. — Perso-
nalien. 8. 335.
Bei der Redaction eingegangene Schriften. 8. 336.
Astronomische Mittheilungen. 8. 336.
Gedenktafel zur Geschichte der Mathematik, Physik
und Astronomie. 8. 336.
Berichtigung. 8. 336.
Inhalt von Nr. 26.
Das
gesunde Haus und die gesunde Wohnung.
Von Dr. J. von Fodor,
Professor der Hygiene an der Universität Budapest.
Drei Vorträge aus dem Cyclus der durch die könig-
lich ungarische naturwissenschaftliche Gesellschaft in
Budapest veranstalteten populären Vorlesungen, geh alten
am 16. und 23. Februar, und am 2. März 1877.
Aus dem Ungarischen übersetzt.
Mit 14 Holzstichen, gr. 8. geh. Preis 1 JL 80 H
Hygienische Untersuchungen
über
Luft, Boden und Wasser,
insbesondere auf ihre Beziehungen zu den epidemischen
Krankheiten. Im Aufträge der ungarischen Akademie
der Wissenschaften ausgeführt und verfasst von
Dr. Josef Fodor,
Professor der Hygiene an der Universität Budapest.
Aus dem Ungarischen übersetzt. Mit Tafeln und
Abbildungen, gr. 8. geh.
Erste Abtheilung: Die Luft. Preis 4 JL
Zweite Abtheilung: Boden und Wasser. Preis 11 JL
Briefe eines Arztes
an eine junge Mutter.
Von Dr. Wilhelm Plath.
Sechste verbesserte Auflage herausgegeben von
Dr. med. Aug. Rossmann.
8. Gebund. mit Goldschnitt. Preis 3 J5. 75 H
Gesundheitslehre
für Haus und Schule.
Allgemein verständlich ausgearbeitet von
Dr. med. Ey dam,
prakt. Arzt in Braunschweig.
Mit sieben Abbildungen. 8. Preis geh. 90 %, gel). 1 M.
Hygieinische Abhandlungen.
Beiträge zur praktischen Gesundheitspflege von
Dr. E. Hornemann,
Professor der Medicin an der Universität zu Kopenhagen.
Autorisirte deutsche Ueber Setzung von
Eugen Liebich.
gr. 8. geh. Preis 8 JL
Radicale Heilung* des Stotterns
Anwendung der Respirations - und Sprach - Gymnastik.
Von Prof. Jos. Lehwess,
Spracharzte in Berlin.
Mit 24 Figuren, gr. 8. geh. Preis 2 JL
Die Gesundheitslehre der Stimme
in Sprache und Gesang
nebst einer Gebrauchsanweisung der Mittel zur Behand-
lung der Krankheiten der Stimmorgane.
Von Dr. L. Mandl,
Professor der „Hygiène de laVoix“ am Conservatorium der Musik
zu Paris, Kitter der Ehrenlegion, Mitglied der Akademie der Wissen-
schaften von Neapel, Pest etc.
Vom Verfasser besorgte deutsche Original-Ausgabe.
Mit Holzstichen, gr. 8. geh. Preis 4 J5. 80 H
Brauns chwei g.
Jährlich 2 Bände in 24 Nummern. Durch alle Buchhandlungen und Postanstaltcn
zum Preise von 12 Mark für den Band zu beziehen.
1891.
Inhalt. Prof. Ferd. Blumentritt, Die „Moros" der Philippinen. — Die basaltische Nordküste Irlands. Mit
vier Abbildungen. — L. Bürchner, Mitteilungen über die Insel Samos. — Dr. A. Vollmer, Der „weite Westen" von Ncu-
Süd-Wales. — Sir Thomas Elders australische Expedition. — Sprachverschiebungen in der Schweiz. — Dr. I. Höfer,
Zurückweichen des angelsächsischen Elementes in Nordamerika. — Bier und Hopsen in der Völkerkunde. — Bücherschau. — Aus
allen Erdteilen. — Schluß 7. Dezember 1891.
Eingegangene Neuigkeiten,
die hier kurz angezeigt werden oder deren Besprechung im Hauptblatte vorbehalten bleibt.
B. Stehle, Volkstümliche Feste, Sitten und Ge- ; und 203 Abbildungen im Text. 2 Bände. Leipzig,
brauche im Elsaß. Aus: Jahrbuch für Geschichte, ! Th. Griebens Verlag, 1891. 575 und 684 Seiten. Preis
Sprache und Litteratur Elsaß-Lothringens 1892. 24 Jk
Direktor B. Stehle, ein fleißiger Sammler aus dem î C. Hahn, Aus dem Kaukasus. Reisen und Studien. Bei-
Gebiete der Volkskunde, bietet hier wiederum eine reiche Saunn- träge zur Kenntnis des Landes. Leipzig, Duncker u.
lung echt deutscher Vvlksbräuche aus dem Reichslande. Humblot, 1892. 299 Seiten. Preis 6 Jk '
Dr. Gustav Weigand, Vlacho-Meglcn. Eine ethnographisch-
philologische Untersuchung. Mit vier Lichtdruckbildern.
Leipzig, Joh. Ambros. Barth, 1692. 78 S. Preis 3 JL 60 L
Paul Reichard, Deutsch-Ostafrika. Das Land und seine
Bewohner, seine politische und wirtschaftliche Entwickelung.
Mit 86 Vollbildern nach Originalphotographieen. Leipzig,
Otto Spanier, 1892. 524 S. Preis 8 Jk
Ein bewährter Reisender, vorurteilsloser Forscher und
namentlich aus wirtschaftlichem Gebiete erfahrener Mann wie
P. Reichard, der zugleich fesselnd zu schreiben vermag, bietet
uns hier in einer Reihe von Einzeldarstellungen ein Gesamt-
bild von Deutsch-Ostafrika, welches hoch über den zahlreichen
Kompilationen steht, die über unsere dortige Kolonie veröffent-
licht werden. Sind über einzelne Gegenden auch umfassendere
Monographieen (lote z. B. von H. Meyer, Baumann u. a.)
erschienen, so ist doch kein Buch vorhanden, welches ein besseres
Gesamtbild uns gäbe. Besonders weise» wir noch aus die
vorzüglichen Auseinandersetzungen über die Sklaverei hin. ■
Dr. Otto Ule, Die Erde und die Erscheinungen ihrer
Oberfläche, nach E. Reclus. Zweite umgearbeitete Aus-
lage. Mit zahlreichen Buntdruckkarten, Vollbildern und
Textabbildungen von Dr. Willi Ule. Lieferung 1 — 9.
Braunschweig, Otto Salle, 1891. Preis der Lieferung 60 L
Das weit verbreitete Werk des verstorbenen Vaters setzt
der Sohn desselben, Privatdozent der Geographie in Halle, in
pietätvoller Weise hier fort, indem er die seit der ersten Aus-
lage nötig gewordenen Umarbeitungen und Veränderungen dem
heutigen Stande der Wissenschaft gemäß durchführt. Das Werk,
eine streng wissenschaftliche Grundlage festhaltend, wendet sich
an einen weiten Leserkreis.
Dr. H. Ploß, Das Weib in der Natur uud Völker-
kunde. Anthropologische Studien. Dritte umgearbeitete
und stark vermehrte Auflage. Nach dem Tode des Ver-
fassers bearbeitet und herausgegeben von Dr. Max Bar-
tels. Mit 10 lithogr. Tafeln, dem Bildnis des Dr. Ploß
j R. Gr. Haliburton, The Dwarfs of Mount Atlas.
With Notes as to Dwarfs and Dwarf Worship.
London, David Nutt, 1891. 41 S.
Der Verfasser wiederholt hier die vagen Nachrichten von
einer Zwergrasse im südlichen Marokko (vergl. Globus LX,
| S. 240.)
' Dr. P. Ehrenreich, Beiträge zur Völkerkunde Bra-
siliens. Mit 15 Lichtdrucktaseln und einer Farbenskizze.
lVerösfcntlichungen aus dem kgl. Museunr für Völkerkunde.
II. Band, 1. u. 2. Heft. Berlin, Spemann, 1891.
Sophus Rüge, Christoph Kolumbus. Mit Kolumbus
Bildnis und einer Karte. Dresden, L. Ehlermann, 1692.
163 S. Preis 2 Jk
Greografiska Föreniugens Tidskrift. Dritter Jahrgang
1891, Nr. 4. Redigiert von Dr. R. Hult.
Diese Zeitschrift der finnischen geographischen Gesellschaft
in Helsingfors enthält an größeren Abhandlungen: R. Hult,
Flugsand aus dem Inneren von Finnland. — Derselbe, Die
anthropogcographische Bedeutung der Vegetation. — Dr. A. O.
Heitels Reisen im Sajanschen Gebirge. (Schluß.) —
O. Alcenius, Hatte Schweden eine finnische Urbevölkerung? —
Blytt, Nordischer Kalktusf.
L. v. Hörmann, Volkstümliche Sprichwörter und
Redensarten aus den Alpenlanden. Leipzig,
A. G. Liebeskind, 1891.
Wieder eine reizende Elzivierausgabe, deren vortrefflicher
! Inhalt dem schönen Gewände entspricht. Diese Alpensprich-
wörter bieten viel Neues und es ist dem Verfasser zu danken,
daß er sie nicht in usum Delphini bearbeitet hat, sondern
frisch und derb, wie das Volk sic gebraucht und mitteilt. Eine
herrliche Lebensweisheit spricht aus ihnen. Hör mann nennt
sie „das Kleingeld, in dem das Volk seine innersten Anschauungen,
seine Gedanken und Empfindungen ausspricht. Sie sind aber
auch der nicht kodifizierte Sittenspiegcl des Volks, nach dem es
I lebt und handelt". .
Aus dein Verlage vom Friedrich lieweg & Sohn in Brapscliweig für Weihnachten empfohlen:
Robinson der Jüngere.
Ein Lesebuch für Kinder von
Joachim Heinrich Campe.
Illustrirte Tracht-Ausgabe. 109. Auflage, gr. 8. geh.
Preis 4 Jk 50 Elegant geb. 6 Jk
Kleine illustrirte Ausgabe. 115. Auflage. Mit 37 Illu-
strationen in Holzstich nach Zeichnungen von Ludwig
Richter. 8. Elegant geb. Preis 3 Jk.
Wohlfeile Ausgabe. 114. Auflage. 8. Elegant geb.
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Die Entdeckung von Amerika.
Ein Unterhaltungsbuch für Kinder und junge Leute
von Joachim Heinrich Campe.
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von 1) r. Ad a m P f a f f,
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Illustrirte Ausgabe. 25. Auflage. Mit Illustrationen
nach Zeichnungen von Ludwig Löffler, einem Planiglob
und 5 Karten. 8. Gart. Preis 5 Jk 50 L
Wohlfeile Ausgabe. 26. Auflage. Mit einem Planiglob,
1 Tafel und 5 Karten. 8. Gart. Preis 4 Jk 50 L
Hermann und Dorothea
von J. W. von Goethe.
Illustrirte Prachtausgabe. Mit 19 Abbildungen in
Holzstich nach Zeichnungen von B. Vautier.
Zweite Auflage. Imperial - Octav. geh. Preis 5 Jk
Swinegels Reiseabenteuer.
Ein lustiges Bildermährchen für fröhliche Kinder.
Von Gr. S ii s.
Mit 12 Illustrationen. 4. Gart. 3. Abdruck. Preis 1 Jk
Die Mähr von einer Nachtigall.
Mit ihrem Frühlingszauberschall, In dunklen, grünen
Zweigen.
Von Gr. SitS.
Mit 15 Illustrationen. 4. Gart. 3. Abdruck. Preis 1 Jk
Der Fürst aus David's Hanse
oder drei Jahre in der heiligen Stadt.
Eine Sammlung von Briefen, welche Adina, eine Jüdin
aus Alexandrien, während ihres Aufenthaltes in Jeru-
salem zur Zeit des Herodes an ihren Vater, einen reichen
Juden in Egypten, schrieb, und in denen sie als Augen-
zeugin alle Begebenheiten und wunderbaren Vorfälle aus
dem Leben Jesus’ von Nazareth von seiner Taufe im
Jordan bis zu seiner Kreuzigung auf Golgatha
berichtet.
Von Prof. J. H. Ingraham.
Aus dem Englischen übersetzt von A. Uenze.
Siebente Auflage. Mit 9 Illustrationen in Kupferstich.
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Nach Aufzeichnungen und Erinnerungen erzählt von
Fr. Merkel.
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Carl Vogt.
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gebunden. Preis 4 Jk 20 $
Technologisches Wörterbuch
in englischer und deutscher Sprache.
Die Wörter und Ausdrucksweisen in Civil- und Militär-
Baukunst; Schiffsbau; Eisenbahnbau; Strassen-, Brücken-
und Wasserbau; Mechanik und Maschinenbau; Technolo-
gie ; Künste; Gewerbe und Fabrikindustrie; Landwirth-
schaft; Handel und Schifffahrt; Bergbau und Hüttenkunde;
Geschützwesen; Physik; Chemie; Mathematik; Astronomie;
Mineralogie; Botanik etc. umfassend.
In Verbindung mit P. R. Bedson, O. Brandes, M. Brütt,
Ch. A. Burghardt, Th. Carnelly, J. .1. Hummel, J. G.
Lunge, J. L ii roth, G. Schaffer, W. H. M. Ward, W. Car-
leton Williams, bearbeitet und herausgegeben von
Gustav Eger,
Professor an der grossh. hessischen technischen Hochschule zu Darm-
stadt und beeidigtem Uebersetzer der grossherzogt. Ministerien.
In zwei Theilen. Lexicon-Octav.
Erster Theil. Englisch. - Deutsch. Technisch durchge-
sehen und vermehrt von Otto Brandes, Chemiker. Preis
geh. 9 Jk, geb. 10 Jk 50 H
Zweiter Theil. Deutsch - Englisch. Technisch durchge-
sehen und vermehrt von Otto Brandes, Chemiker. Preis
geh. 11 Jk., geb. 12 Jk 50 L
Handwörterbuch
der
griechischen Sprache.
Von Dr. W. Pape,
weit. Professor am Berlinischen Gymnasio zum Grauen Kloster.
In vier Bänden. Lexicon-Octav. geh.
Erster und zweiter Band. Griechisch-Deutsches Wörter-
buch. Dritte Auflage. Bearbeitet von M. Sengebusch.
Preis 20 Jk.
Dritter Band. Wörterbuch der griechischen Eigennamen.
Dritte Auflage. Dritter Abdruck. Neu bearbeitet von
Dr. Ben sei er. Preis 18 Jk.
Vierter Band. Deutsch-Griechisches Wörterbuch. Dritte
Auflage. Zweiter Abdruck. Bearbeitet von M. Senge-
busch. Preis 9 J6.
Müller-Pouiliet’s
Lehrbuch
der Physik und Meteorologie.
Bearbeitet von
Dr. Leop. Pfaundler,
Professor der Physik an der Universität Innsbruck.
Drei Bände. Mit gegen 2000 Holzstichen, Tafeln, zum
Theil in Farbendruck, und 1 Photographie, gr. 8. geh.
Erster Band. Mechanik, Akustik. Neunte Auflage.
Preis 12 Jk.
Zweiter Band. Optik, Wärme.
(Neunte Auflage in Vorbereitung.)
Dritter Band. Elektr. Erscheinungen. Neunte Auflage.
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Globus.
Illustrierte
^cïiféÿvïft fut ücütôcv* uuô Dolferiunòe
Begründet 1862 von Ü rt r l Ä N i» r k e.
Herausgegeben von
R i ch ñ r d Andre c.
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Friíh*r. Oui L
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