Jacob Grimm und die slawische Volkskunde
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Die Göttingischen Gelehrten Anzeigen, in denen beide Rezensionen über die ser
bischen Lieder erschienen, hatten besonders seit der Zeit des berühmten Historikers
Schlözer einen sehr breiten Leserkreis nicht nur in der slawischen Welt, sondern auch
im Westen, so daß die Besprechungen Grimms ein breites Echo fanden.
Jahre hindurch drängte Grimm darauf, Vuk möge auch eine umfangreichere
Sammlung von Volksmärchen herausgeben, 19 aber erst 1853 erschien in Wien die
Grimm gewidmete Sammlung Srpske narodne pripovijetke (Serbische Volksmärchen),
der im Jahre 1854 eine deutsche Übersetzung mit dem Titel Volksmärchen der Serben
folgte. Dieser Übersetzung stellte Grimm eine Einleitung voran. 20 Darin wies er auf
die wachsende Zahl von Sammlungen, die die vergleichende Forschung erleichtern.
Die Märchen enthielten Trümmer von Mythen, was die Verwandtschaft zwischen
den zahlreichen Europa und Asien gemeinsamen Erzählstoffen erklären könne.
Diese Verwandtschaft sei nicht auf dem Wege einer willkürlichen Übernahme der
einzelnen Stoffe entstanden, es handle sich vielmehr um offensichtlich uralte Bezie
hungen und Nachklänge, wie sie in den Sprachen oder in der Poesie auftreten. Im
folgenden werden in der Einleitung einige Stoffe angeführt. Vor allem erwähnt
Grimm eine besondere serbische Gruppe: die Erzählungen von Wilen.
In Übereinstimmung mit Grimms umfassendem Begriff der Volksdichtung gab
Vuk noch eine Sammlung von Sprichwörtern heraus (1849), ferner das Werk Kov-
cezic za istoriju, jezik i obicaje narodne [Wegweiser zu Geschichte, Sprache und
Volksbräuchen] (1849); postum erschien das Buch Zivot i obicaji naroda srpskoga
[Leben und Brauchtum des serbischen Volkes] (1867). Vuk erfüllte ein Dewunderns-
wertes Programm der Sammeltätigkeit, und der Schöpfer der neuen Schriftsprache,
der große Erwecker, wurde auch zum Begründer der südslawischen Forschung über
die Volksliteratur.
Vuk starb im Jahre 1864. Sein Werk wurde Vorbild vor allem für die weitere
Sammeltätigkeit, ja man kann sagen, daß die Rückkehr zu Vuk für die südslawische
Folkloristik immer Fortschritt und Befreiung bedeutete; sie führte die Forschung an
das Volk und an das wirkliche Leben heran. Vuk war aus dem Volke hervorgegan
gen, deshalb stand ihm die Volksdichtung so nahe, deshalb war seine Beziehung zu
ihr so schlicht und realistisch. Er kannte die Volkslieder wie irgendein Sänger aus
dem Volke, er hatte sie selbst als Knabe gesungen, als er Schafe und Ziegen hütete,
und dieser Umstand bewahrte ihn vor einer Verzerrung der Wirklichkeit, vor phan
tastischem Mythologisieren und vor unbelegten Mutmaßungen über Alter und Ur
sprung der Lieder. Nach Vuk wurde bei allen Südslawen die Sammeltätigkeit fort
geführt, aber gegen die Zuverlässigkeit vieler Sammlungen wurden Einwände er
hoben (Vuk Vrcevic, Valjavec, Trdina, Rakovski und andere). Im Bereich der ver
gleichenden Volkskunde eröffneten eine neue bedeutende Periode bereits Franz
Miklosich und später vor allem Vatroslav Jagic, die beide noch Vuk persönlich ge
kannt hatten.
19 Vgl. Vukova prepiska, Bd. I, S. 150, 281 u. a. Vuk gab 1821 eine kleine Sammlung
heraus, die den Titel trägt: „Narodne srpske pripovijetke“ (Serbische Volksmärchen).
20 Die Übersetzung der Märchen ins Deutsche besorgte Vuks Tochter Wilhelmina. Den
Text der Vorrede vgl. bei Grimm: Kleinere Schriften, Bd. VIII, S. 386h
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