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DEUTSCHES JAHRBUCH
FÜR VOLKSKUNDE
Herausgegeben vom Institut für deutsche Volkskunde
an der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin
durch Wolfgang Steinitz und Hermann Strobach
Begründet von Wilhelm Fraenger
Zwölfter Band
Jahrgang 1966
AKADEMIE-VERLAG • BERLIN
REDAKTION
Dr. Karl Baumgarten, Rostock — Dr. Gisela Burde-Schneidewind, Berlin (Mitteilungen
und Berichte) — Dr. Wolfgang Jacobeit, Berlin (Besprechungen) — Prof. Dr. Paul Nedo,
Berlin — Dr. Reinhard Peesch, Berlin — Dr. Friedrich Sieber, Dresden — Prof. Dr.
Wolfgang Steinitz, Berlin — Dr. Erich Stockmann, Berlin — Dr. Hermann Strobach,
Berlin (Abhandlungen) — Herta Uhlrich, Berlin (Bücherschau) — Dr. Günther Voigt,
Potsdam
Deutsch» Akademie
der Wissenschaften
zu Berlin
Institut für rfvHitscho
VolV.St'lir,
~~ Eibüc, : k —
Herausgeber: Institut für deutsche Volkskunde an der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin, Schriftleitung: Prof. Dr.
Wolfgang Steinitz und Dr. Hermann Strobach, 108 Berlin 8, Unter den Linden 8; Fernsprecher: 200481. Verlag: Akademie-Ver-
lag GmbH, BerlinW 8, Leipziger Str. 3—4; Fernsprecher: Sammelnummer 220441. Telex-Nr. 011773. Postscheckkonto: Berlin
35021. Das Deutsche Jahrbuch für Volkskunde erscheint jährlich. Bestellnummer dieses Bandes: 1034/XII. VEB Druckhaus
„Maxim Gorki“, 74 Altenburg. Veröffentlicht unter der Lizenznummer 1313 des Presseamtes beim Vorsitzenden des Ministerrates
der Deutschen Demokratischen Republik. Karten 67/66 und 563/66
INHALTSVERZEICHNIS
ABHANDLUNGEN
Wolfgang Steinitz, Berlin: Arbeiterlied und Volkslied..... i
Hermann Bausinger, Tübingen: Folklore und gesunkenes Kulturgut. ... 15
Reinhard Peesch, Berlin: Das Gerät in der Arbeitswelt des Fischers. Zur
Tradierung von Gerät und Arbeitserfahrung............................. 26
Rudolf Weinhold, Dresden: Rebmesser und Kelter. Die mitteleuropäischen
Beziehungen zweier Geräte der Weinkultur, dargestellt an Museumsmaterial
aus der DDR..........................................................37
Siegfried Neumann, Rostock: Das Sagwort in Mecklenburg um die Mitte
des 19. Jahrhunderts im Spiegel der Mundartdichtungen Reuters und
Brinckmans...............................................................
Siegfried Neumann, Rostock: Arbeitserinnerungen als Erzählinhalt ....177
VladimIr Karbusicky, Prag: Das Volkslied in der Gegenwart. Eine mu-
siksoziologische Studie ..................................................
Doris Stockmann, Berlin: Das Problem der Transkription in der musikethno-
logischen Forschung...................................................207
Alfred Fiedler, Dresden: Ludwig Bechstein als Sagensammler und Sagen-
publizist ................................................................
Werner Radig, Berlin: Die Oberlauben an Stallgebäuden in Brandenburg . 267
Karl-Ewald Fritzsch, Dresden: Die Kleidung des erzgebirgischen Berg-
mannes im Urteil des 19. Jahrhunderts.................................288
Renate Winter, Greifswald: Zur bäuerlichen Butterbereitung im ehemaligen
Pommern. Eine Sach- und Wortstudie ...................................^Iz
MITTEILUNGEN UND BERICHTE
B. N. Putilov, Leningrad: Vladimir Jakovleviö Propp 70 Jahre ..........
Karl Baumgarten und Siegfried Neumann, Rostock, Manfred Bachmann, Dres-
den, Wolfgang Jacobeit und Hermann Strobacr, Berlin: Volkskunde-Kongreß
vom 26. bis 30. April 1965 in Marburg an der Lahn..........................
Hermann Strobach, Berlin: II. Internationales Symposium zur Erforschung des
Arbeiterliedes in Velenje (Jugoslawien) vom 12. bis 14. September 1965.......73
Blasius Nawka, Bautzen : Internationale Arbeitstagung „Die Ethnographie der Slawen
und das Werk Lubor Niederles“................................................74
Gisela Bürde-Schneidewind, Berlin: Ergebnisse der Zusammenarbeit tschecho-
slowakischer und deutscher Folkloristen auf dem Gebiet der Sagenkatalogisierung 76
Maja BoSkoviö-Stulli, Zagreb: Grimms Aufzeichnung des „Aschenputtels“ (Pepe-
ljuga) von Vuk Karadzic .....................................................79
Christel Heinrich, Bernau: Das Heimatmuseum in Wandlitz......................83
Herbert Peukert, Jena: Aus der Arbeit der jugoslawischen Folkloristen........334
Nikolaj Kaufman, Sofia: Die folkloristischen Traditionen und die Entwicklung des
revolutionären bulgarischen Arbeiterliedes..................................336
Roderyk Lange, Tonni: Der Volkstanz in Polen.................................342
Helmut Wilsdorf, Dresden : Bericht über eine Aufführung des Singspiels „Die Berg-
knappen“ ...................................................................357
Pertev Naili Boratav, Ivry/Seine: Zur Beziehung zwischen Märchen und Sage 361
Karl Baumgarten, Rostock: Tradierung im Werk des mecklenburgischen Zimmer-
mannes .....................................................................365
JenÖ Barabäs, Budapest: Stand der Arbeiten am Ungarischen Volkskundeatlas . . 367
BÜCHERSCHAU
Erich Stockmann, Berlin und Herta Uhlrich, Berlin: Volksmusikinstrumente und
instrumentale Volksmusik in deutschsprachigen Veröffentlichungen 1956 — 1965 85
BESPRECHUNGEN
Beiträge zur Sprachwissenschaft, Volkskunde und Literaturforschung. Wolfgang
Steinitz zum 60. Geburtstag am 28. Februar 1965 dargebracht. Hg. von A. V. Isaöenko,
W. Wissmann, H. Strobach (Gisela Bürde-Schneidewind) .......................102
Festschrift für Friedrich Sieber (Karl-S. Kramer)............................108
Werner Sellnow, Gesellschaft—Staat—Recht (Günther Voigt).......................110
Hans Mottek, Wirtschaftsgeschichte Deutschlands. Ein Grundriß (Rudolf Weinhold) 113
Jeno Barabàs, Kartogràfiai módszer a néprajzban (Die kartographische Methode in
der Volkskunde) (Béla Gunda)................................................114
Lietuvii} etnografi)os bruozai (Abriß der litauischen Ethnographie). Hg. von der Abt.
f. Ethnographie am Inst. f. Gesch. der Akad. d. Wiss. d. Litauischen SSR (Wolfgang
Jacobeit)...................................................................116
Aliise Moora, Peipsimaa etnilisest ajaloost. Ajaloolis — etnografiline uurimus eesti
— vene suhetest (Zur ethnischen Geschichte des Peipusgebiets. Historisch-ethno-
graphische Untersuchung der estnisch-russischen Beziehungen) (Ders.)..........118
Lynn White jr., Medieval Technology and Social Change (Ulrich Bentzien) . . . . 118
Gerhard Heilfurth, Das Heilige und die Welt der Arbeit am Beispiel der Verehrung
des Propheten Daniel im Montanwesen Mitteleuropas (Helmut Wilsdorf)...........120
Marta Hoffmann, The warp-weighted loom. Studies in the history and technology
of an ancient implement (John Gardberg).............................................
M. Seghers und R. de Bock, Schepen op de Schelde (Wolfgang Rudolph) .... 123
Lajos Takäcs, A dohanytermesztes Magyarorszägon (Der Tabakbau in Ungarn)
(Tamas Hoffmann)................................................................123
Jürgen Burkhardt, Bauern gegen Junker und Pastoren (Ulrich Bentzien).............125
Siegmund Musiat, Zur Lebensweise des landwirtschaftlichen Gesindes in der Ober-
lausitz (Wolfgang Jacobeit).....................................................126
Ulrich Planck, Der bäuerliche Familienbetrieb zwischen Patriarchat und Partner-
schaft (Wolfgang Jacobeit)......................................................128
Jakob Nussbaumer, Die Lebensverhältnisse der Bauernfamilien im Homburgertal
(Ders.).........................................................................128
Rudolf Dick, Die niedersächsischen Bauern und ihre berufsbildenden Schulen seit
Anfang des 19. Jahrhunderts (Ders.).............................................128
Josef Ruland, Nachbarschaft und Gemeinschaft in Dorf und Stadt (Ders.) .... 133
Heinz Schmitt, Das Vereinsleben der Stadt Weinheim an der Bergstraße (Ders.) . . 133
Stare i nowe w kulturze wsi Koszalinskiej (Altes und Neues in der Koszaliner Dorf-
kultur) (Paul Nowotny) .........................................................135
Theo Reintges, Ursprung und Wesen der spätmittelalterlichen Schützengilden (Jo-
hanna Jaenecke-Nickel)..........................................................138
Памятники русского фольклора. Главная редакция А. М. Астахова, В. Г. База-
нов, Б. Н. Путилов (Denkmäler russischer Folklore. Hg. von А. M. Astachova,
V. G. Bazanov, B. N. Putilov) (Erna Pomeranceva)...............................141
Jan Raupp, Sorbische Volksmusikanten und Musikinstrumente (Winfried Schrammek) 144
Predigtmärlein der Barockzeit. Hg. von Elfriede Moser-Rath (Siegfried Neumann) 147
Russische Volksmärchen. Hg. v. Erna Pomeranzewa (Oldrich Sirovätka)...............148
Gustav Grüner, Waldeckische Volkserzählungen (Siegfried Neumann)
Ostalpensagen. Hg. von Will-Erich Peuckert (Ingeborg Müller)
Kurt Pomplun, Berlins alte Sagen. Mit einem Beitrag von Richard Beitl (Gisela
Bürde-Schneidewind)................................................ ' j
Sprichwörter der Völker. Hg. von Karl Rauch (Siegfried Neumann)..............152
Alverdens ordsprog. Hg. von Bengt Holbek und Jorn P10 (Ders.)........... 152
Werner R. Schweizer, Der Witz (Ders.)...................................
Albert Hansen, Holzland-Ostfälisches Wörterbuch (Heinz Gebhardt)...............
Ingeborg Weber-Kellermann, Erntebrauch in der ländlichen Arbeitswelt des
19. Jahrhunderts auf Grund der Mannhardtbefragung in Deutschland von 1865
(Reinhard Peesch) ...............................................................156
Kustaa Vilkuna, Volkstümliche Arbeitsfeste in Finnland (Ders.) ..................x60
Hildegard Schlomka, Das Brauchtum der Jahresfeste in der westlichen Altmark
(Friedrich Sieber)...............................................................162
Hedi Lehmann, Volksbrauch im Jahreslauf (Ders.)...............................I($3
Otto Kampmüller, Mühlviertler Volksspiele (Ernst Burgstaller) ...................
Щ
А
Rudolf und Susanne Schenda, Eine sizilianische Straße. Volkskundliche Beobach-
tungen aus Monreale (Siegmund Musiat).........................................166
Martin Nowak-Neumann, Die Tracht der Niederlausitzer Sorben (Karl-Ewald
Fritzsch) ................................................................... 167
Axel Steensberg, Danske Bondemnbler ( Marta Hoffmann)..........................168
Ernst Schäfer, Der Thüringer Wald und sein Handwerk — Das Erzgebirge und
sein Handwerk — Mecklenburg und sein Handwerk — Die Lausitz und ihr Hand-
werk (Alfred Fiedler).........................................................169
Hans Soeder, Urformen der abendländischen Baukunst (Karl Baumgarten)...........170
Matthias Zender — Wilhelm Brepohl — Josef Schepers und Karl E. Mum-
menhoff, Beiträge zur Volkskunde und Baugeschichte (Ders.)....................171
Brandenburg. Hg. v. Karl Brunne (Werner Radig).................................173
Werner Emmerich, Siedlungsformen als Geschichtsquelle, erläutert an Beispielen aus
den oberen Main- und Naablanden (Bruno Benthien)............................174
Krzysztof Kwasniewski, Paleniska i piece w polskim budownictwie ludowym
(Feuerstellen und Öfen in polnischen Bauernhäusern) (Jözef Burszta)...........174
Wolfgang Jacobeit, Bäuerliche Arbeit und Wirtschaft. Ein Beitrag zur Wissenschafts-
geschichte der deutschen Volkskunde (Paul Nedo)...............................369
Jürgen Teller, Marx und Engels über die Volkskunst (Günther Voigt).............370
James Sydney Slotkin, Readings in early anthropology (Helmut Wilsdorf) . . . .372
Ernst Emsheimer, Studia ethnomusicologica eurasiatica (Erich Stockmann) . . . . 373
A magyar neprajztudomany bibliografiaja 1945 — 1954 (Ungarische Volkskundliche
Bibliographie 1945 — 1954). Flg. von Istvän Sändor (Herta Uhlrich)..............374
Adolf Waas, Der Mensch im deutschen Mittelalter (Rudolf Weinhold)................375
Georg Grüll, Bauer, Herr und Landesfürst. Sozialrevolutionäre Bestrebungen der
oberösterreichischen Bauern von 1650 bis 1848 (Hermann Strobach) ...............377
Karl Löber, Beharrung und Bewegung im Volksleben des Dillkreises (Kurt Kehr) . 378
Gustav Brachmann, Die oberösterreichischen Sensen-Schmieden im Kampfe um
ihre Marken und Märkte (Rudolf Forberger).......................................379
Emilia Horväthovä, Cigäni na Slovensku (Die Zigeuner in der Slowakei) (Slobodan
Zecevic)........................................................................381
Hans von Hentig, Vom Ursprung der Henkersmahlzeit (Ingeborg Weber-Kellermann) 383
Tekla Dömötör, Naptari ünnepek — nepi szinjätszäs (Die Festbräuche im Jahreslauf
und das Volksschauspiel) (Vilmos Voigt).........................................384
Fasnacht. Beiträge des Tübinger Arbeitskreises für Fasnachtsforschung. Hg. von
Hermann Bausinger unter Mitarbeit von Rudolf Schenda und Herbert
Schwedt (Klaus Beitl)...........................................................386
Jozef van Haver, Nederlandse Incantatieliteratuur (Johanna Jaenecke-Nickel) . . . 388
Monika Jaeger, Theorien der Mundartdichtung (Siegfried Neumann)....................390
Günter Bergmann, Das Vorerzgebirgische. Mundart und Umgangssprache im
Industriegebiet um Karl-Marx-Stadt—Zwickau (Helmut Schönfeld).............392
Friedhelm Hinze, Wörterbuch und Lautlehre der deutschen Lehnwörter im Pomora-
nischen (I-Caschubischen) (Ulrich Bentzien).....................................394
Jahrbuch für Volksliedforschung, io. Jg. hg. v. R. W. Brednich (Hermann Strobach) 395
Pfälzische Volkslieder mit ihren Singweisen, gesammelt von Georg Heeger und Wil-
helm Wüst. Neubearb. hg. v. J. Müller-Blattau (Doris Stockmann)...............396
Hartmut Braun, Studien zum pfälzischen Volkslied (Erich Stockmann).............399
Karl Veit Riedel, Der Bänkelsang (Brigitte Emmrich) ...........................400
С. Г. Лазутин, Русские народные песни (’S. G. Lazutin, Russische Volkslieder) (Er-
hard Hexeischneider)..........................................................401
Hej kenyer barna kenyer (Ach, Brot, braunes Brot). Hg. v. Antal Szatmäri und
Jözsef Pälinkäs (György Fejes)....................................................
Jan Ling, Levin Christian Wiedes Vissamling (Doris Stockmann)...................405
Richard M. Dorson, Buying the Wind. Regional Folklore in the United States (Gisela
Bürde-Schneidewind)...........................................................407
Westalpensagen. Hg. v. Will-Erich Peuckert (Christiane Agricola)................408
Oskar Schmolitzky, Volkskunst in Thüringen vom 16. bis zum 19. Jahrhundert
(Manfred Bachmann)............................................................4x0
Ernst Schlee, Schleswig-Holsteinische Volkskunst (Ders.).......................411
Franz Joachim Behnisch, Die Tracht Nürnbergs und seines Umlandes vom 16. bis zur
Mitte des 19. Jahrhunderts (Bernhard Schemmel)................................4x3
Viera Urbancovä, Navod na etnograficky vyskum slovenskeho pol’ nohospodärstva
(Einführung in die ethnographische Erforschung der slowakischen Landwirtschaft
(Jaroslav Kramarik)...........................................................4x4
Ivan Balassa, Földmüvelcs a Hegyközben (Der Ackerbau in der Hügellandschaft
Hegyköz) (Jeno Barabäs).......................................................4x4
Cl. Vanhoucke, De Folklore van de Hop in Vlaams-Belgie vroeger en nu (Wolfgang
Jacobeit).........................................................................
Axel Steensberg, A Bronze Age Ard Type from Наша in Syria Intended for Rope
Traction (Frantisek Sach)................................................... 416
Personenverzeichnis...............................................................
Autorenverzeichnis Band 1 — 12....................................................
(If ru H JY/Wwviy*«
ABHANDLUNGEN
Arbeiterlied und Volkslied*
Von Wolfgang Steinitz
Seit etwa anderthalb Jahrzehnten ist international ein steigendes Interesse für das
Arbeiterlied zu beobachten, das lange von derFolkloristik völlig vernachlässigt wurde.
Zwar sind einzelne Arbeiterlieder in vereinzelten Fällen in ältere Volksliedpublika-
tionen aufgenommen worden. Als besonderer Forschungsgegenstand tritt das Arbei-
terlied aber zuerst Anfang der 30er Jahre in der Sowjetunion (А. M. Astachova und
P. G. Sirjaeva* 1 u. a.) und in Deutschland (M. Nespital2) auf. Seitdem sind in der
Sowjetunion zahlreiche Arbeiten zum Arbeiterlied und der Arbeiterfolklore ver-
öffentlicht worden (V. Öicerov, A. Dymsic, M. Druskin, Je. Gippius, V. Öistov u. a.;
siehe auch unten). 1953 erscheint die erste zusammenfassende Monographie über
das Arbeiterlied eines Landes, die Arbeit von V. Karbusicky über das tschechische
Arbeiterlied,3 und seither beginnen auch in anderen Ländern (besonders in den
sozialistischen Ländern: Deutsche Demokratische Republik, Ungarn, Bulgarien, Ru-
mänien, Jugoslawien, aber auch in den USA, Bundesrepublik Deutschland, England
und Italien) Monographien — Materialpublikationen und Untersuchungen — zum
Arbeiterlied zu erscheinen.
Das internationale Interesse führte, auf Initiative der auf diesem Gebiet besonders
aktiven tschechischen Kollegen (V. Karbusicky, V. Pletka, O. Sirovätka), zur Ein-
berufung eines Internationalen Symposiums über die Erforschung des Arbeiterliedes
in Liblice, ÖSSR, im Frühjahr 1961, an dem Vertreter aus 11 Staaten Ost- und West-
europas teilnahmen und u. a. die Gründung eines Dokumentationszentrums in Prag
beschlossen wurde.4
Neben vielen anderen Fragen, die im Zusammenhang mit dem Arbeiterlied gestellt
werden können, ist im vergangenen Jahrzehnt insbesondere die Frage des Verhält-
nisses von Arbeiterlied und Volkslied im internationalen und im nationalen Maßstab
viel und z. T. leidenschaftlich diskutiert worden. Die Hauptfrage ist: gehört das
* Als Vortrag auf dem VII. Internationalen Kongreß der Anthropologischen und Ethno-
logischen Wissenschaften im August 1964 in Moskau gehalten und dort in russischer
Sprache veröffentlicht (В. Штейниц, Рабочая песня и народная песня. Изд. Наука,
Moskau 1964. 18 S.). Inzwischen auch deutsch erschienen: Arbeiterlied und Volkslied.
Sitzungsberichte der DAW zu Berlin, Klasse für Sprachen, Lit. und Kunst, Jg. 1965,
Heft 8. Berlin 1965.
1 А. M. Астахова и П. Г. Ширяева, Старая рабочая песня. Советская этнография.
(А. М. Astachova und Р. G. Sirjaeva, Das alte Arbeiterlied. Sovet. etn. 1934, 1—2, 201.
2 M. Nespital, Das deutsche Proletariat in seinem Lied. Diss. Rostock 1932.
3 V. Karbusicky, Nase dglnicka pisen (Unser Arbeiterlied). Praha 1953.
4 Demos 2 (1961) 230fr.
J Volkskunde
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IMifürL&&i\V ViAAkUi!ili l * I' f I Ürt I MUf kil i ПчЬЛ/<ЫИННИН*
2 Wolfgang Steinitz
ganze, von Massen der Arbeiter gesungene Arbeiterlied (einschließlich der Arbeiter-
hymnen vom Typ der „Internationale“) zum Volkslied oder kann nur eine besondere,
klar charakterisierbare Gruppe von Arbeiterliedern als „Arbeiter-Volkslieder“
bezeichnet werden?
Die tschechischen und deutschen Folkloristen, die sich mit der Erforschung des
Liedgutes der sozialistischen und kommunistischen Arbeiterbewegung ihrer Völker
befaßt haben, sind unabhängig voneinander und gleichzeitig (1958) auf Grund ihrer
detaillierten Untersuchungen zu dem Schluß gelangt, daß man zwei verschiedene
Arten von Arbeiterliedern unterscheiden muß: Arbeiterlieder folkloristischen Typs,
die ohne Zweifel zum Volkslied gehören (Arbeiter-Volkslieder), und Arbeiterheder
nichtfolkloristischen Typs, wozu insbesondere die Arbeiterhymnen („Internationale“
usw.) gehören, in Deutschland auch die Eisler-Lieder und andere Gruppen, die nicht
zum Volkslied zu rechnen sind. In seinem Bericht über das Symposium von Liblice
faßte V. Karbusicky zusammen: „Die lebhaftesten Auseinandersetzungen entwickel-
ten sich um Fragen der Klassifizierung und ergaben schließlich, daß dem spezifischen
Charakter des Arbeiterliedes folgende Einteilung am ehesten entspricht: Kunst-
lieder (vom Typ der Internationale, der Warschawjanka usw.), die zwar vom Kollek-
tiv auf genommen, jedoch nicht folklorisiert werden, und eigentliche Arbeiter v olks-
lieder, die sich in der mündlichen Überlieferung ähnlich wie die echten Volkslieder
verhalten.“4
In der Einleitung zu Band II meiner Deutschen Volkslieder demokratischen Cha-
rakters schrieb ich: „Der objektive Unterschied zwischen folklorisierten und nicht
folklorisierten Arbeiterliedern bleibt auch dann bestehen, wenn man (wie einige
Autoren in der DDR dies taten) den Terminus , Volkslied“ in einem sehr weiten Sinne
anwendet — als vom Volk, von den Massen gesungenes Lied, wobei Lieder des Typs
„Internationale“ usw. ebenfalls als Volkslied bezeichnet werden. Will man den Ter-
minus ,Volkslied“ in diesem weiten Sinne verwenden, so muß man für die Lieder
des folkloristischen Typs, z. B. ,Leunalied“, einen neuen Terminus schaffen.“5
In der Sowjetunion gibt es zahlreiche Vertreter sowohl dieses Standpunktes wie
auch des Standpunkts, das ganze Arbeiterlied sei zur Folklore zu rechnen. Es gibt
auch noch einen dritten Standpunkt, der z. B. in der Rezension von O. Alekseeva
über die 1962 erschienene Sammlung russischer Arbeiterlieder von A. Nutrichin so
formuliert wird: „Der Autor macht eigentlich einen gewissen Versuch, von der tradi-
tionellen Teilung der proletarischen Poesie in Folklore und in individuelle Schöpfung
wegzukommen. Gleichzeitig stellt er sich aber nicht eine der wichtigsten Aufgaben,
die bei der Erforschung des Materials einer solchen Sammlung unvermeidlich ent-
steht: die proletarische Massenpoesie als einen neuen Typ der Poesie zu erforschen, in
dem sich der Prozeß der Verschmelzung von individueller und kollektiver Schöpfung
vollzogen hat.“6
Das Arbeiterlied weist in seinen Quellen und seiner Geschichte bei den verschiede-
nen Völkern nationale Besonderheiten auf, die mit der Entstehung und Geschichte
der betreffenden nationalen Arbeiterklasse und Arbeiterbewegung in engster
5 W. Steinitz, Deutsche Volkslieder demokratischen Charakters aus sechs Jahrhunderten.
Bd. II. 1962, XXIII.
6 Русская литература (Russische Literatur) 1963 Heft 3, 256.
Arbeiterlied und Volkslied
3
Beziehung stehen. So spielten z. B. bei der Herausbildung der deutschen Arbeiter-
klasse und der organisierten Arbeiterbewegung seit Mitte des 19. Jahrhunderts die
Handwerksgesellen eine wichtige Rolle, wie sich dies auch in der Erhaltung vieler
damals von Handwerksgesellen gesungener Lieder im späteren deutschen Arbeiter-
lied dokumentiert. In der Geschichte der russischen Arbeiterbewegung und des
russischen Arbeiterliedes ist diese Komponente von geringerer Bedeutung.
Diese nationalen Besonderheiten spielen aber meines Erachtens für die Entschei-
dung der genannten Frage keine Rolle. Es handelt sich hier um die grundsätzliche
Frage des Unterschiedes von Folklore und „Literatur“ (wie ich in Ermangelung eines
allgemein anerkannten internationalen Terminus die „nichtfolkloristische Literatur
im engeren Sinne“ oder die sog. hohe oder Individual-Literatur der Kürze wegen
bezeichnen werde).
Ich begnüge mich mit der Anführung von Beispielen aus dem deutschen
Arbeiterlied, das mir am besten bekannt ist. Es ist auch nicht möglich, sich hier
explicite, direkt mit allen abweichenden Auffassungen auseinanderzusetzen. Implicite,
indirekt habe ich mich bemüht, insbesondere auch die reiche sowjetische Forschung
zu diesen Fragen zu berücksichtigen.
Als Beispiel eines deutschen folkloristischen Arbeiterliedes diene das in den revo-
lutionären Kämpfen nach 1918 entstandene sogenannte Leunalied, dessen erste beiden
Strophen zitiert seien:
1. Bei Leuna sind viele gefallen,
Bei Leuna floß Arbeiterblut.
Da haben zwei Rotgardisten
Einander die Treue geschworen.
2. Sie schwuren einander die Treue,
Denn sie hatten einander so lieb.
„Sollte einer von uns beiden fallen,
Schreibt der andre der Mutter ’nen Brief.“
Seine Quelle ist ein 19x4 entstandenes einfaches Soldatenlied „In Frankreich sind
viele gefallen“, das, ohne offiziell gefördert zu werden (es wurde z. B. nicht in
offizielle Soldaten-Liederbücher aufgenommen), doch ungeheure Verbreitung in der
deutschen und auch der österreichischen Armee auf allen Kriegsschauplätzen gewann
(mir sind bisher 45 Varianten bekannt). Sein Thema: von zwei guten Kameraden
fällt einer; der andere teilt, ihrer Verabredung gemäß, der Mutter den Tod ihres
Sohnes mit. In diesem Soldatenlied ruft der Tod des Kameraden kein feindliches
Gefühl gegen den Gegner hervor; es heißt: Da kam eine Kugel geflogen und Euren
Sohn hat ’ne Kugel getroffen, ohne jegliche Nennung des Feindes. Das gilt für alle
45 Fassungen des Soldatenliedes.
Die Umformung des Soldatenliedes zum revolutionären Arbeiterlied begann
gleichzeitig am Anfang und im Mittelteil: am Anfang, wo die handelnden Personen
— Kommunisten oder Rotgardisten — und der Ort der Kämpfe genannt werden
(Remscheid, Wesel in den Frühfassungen des revolutionären Liedes aus den Kämpfen
an der Ruhr 1920, Eisleben, Leuna in den Fassungen aus dem mitteldeutschen Auf-
1*
4
Wolfgang Steinitz
stand 1921 usw.); im Mittelteil, wo der verhaßte Feind neu eingeführt wird: „Euer
Sohn ist von der Schupo [= Schutzpolizei] erschossen“ (im Soldatenlied: Euren Sohn
hat ’ne Kugel getroffen) u. ä. Darüber hinaus wird auch die „Kugel“ mit einem festen
Beiwort versehen; statt: Da kam eine Kugel geflogen heißt es: „Da kam eine feindliche
Kugel“. Alle revolutionären Lieder enthalten diese Änderung im Anfang und Mittel-
teil, die sich anfangs zwar auf einige Worte beschränken und nicht das Reimschema
betreffen, die innere Umformung aber schon einleiten. Das Lied erzählt nicht mehr
passiv, leidenschaftslos vom Tod eines Soldaten, sondern stellt den gefallenen
Freund leidenschaftlich gegen den Feind.
Das ideologische Schwergewicht der Änderungen liegt aber in der Schlußstrophe,
die in allen Fassungen nunmehr ein Bekenntnis zur Sache der Arbeiterschaft enthält.
Der ideologischen Bedeutung entsprechend ist die Umgestaltung der Schlußstrophe
tiefgreifender und betrifft auch das Reimschema. Es gibt sehr verschiedene Formen
der Umgestaltung, von wenig bekannten, wie sie in den frühen Varianten von 1920
erscheinen: Da bedeckte die Fahne, die rote, Den Sohn, der gefallen in der Schlacht;
oder Denn mein Sohn, der mußte ja sterben, Weil er kämpfte für Freiheit und Recht’,
bis zu der späteren bekannten Schwurstrophe: Aber Schupo, dir schwören wir Rache
für vergossenes Arbeiterblut. Mit dieser Umgestaltung ist auch der enge und senti-
mentale familiäre Rahmen der Leidtragenden gesprengt (nur Mutter, Eltern in den
früheren Fassungen): gemeinsam mit ihnen trauern nunmehr die revolutionären
Arbeiter: „Wir schwören dir Rache.“
Die Umwandlung des passiven sentimentalen Soldatenliedes zum aktiven revolu-
tionär-kämpferischen Arbeiterlied ist nicht ein einmaliger Vorgang gewesen, sondern
ein lange dauernder Prozeß, in dem die revolutionär-kämpferischen Elemente des
Liedes allmählich immer mehr verstärkt wurden. Neben der stufenweisen Umfor-
mung der Schlußstrophe zeigt sich dies besonders klar in der Nennung des verhaßten
Feindes. Dieser wird zum ersten Mal in den Frühformen des Arbeiterliedes einge-
führt, und zwar im Vers: „Euer Sohn ist von der Schupo erschossen“, wobei später
die leidenschaftliche Anteilnahme durch schroffere Wortwahl (statt erschossen:
ermordet, ermeuchelt) oder angefügte Rufe wie pfui oder du Lump Ausdruck findet.
Im eigentlichen Leunalied wird der Feind noch ein zweites Mal genannt, in der
gleichfalls leidenschaftsgeladenen Schwurstrophe am Schluß, die bei Demonstrationen
das Eingreifen der Polizei hervorrief. In der Spätfassung schließlich tritt der Feind
noch ein drittes Mal auf, in Str. 3 mit dem wirkungsvollen Gegensatz Eltern/Feind
(Für die Eltern, da war es ein Kummer, Für die Schupo, da war es ein Scherz. — Im
Soldatenlied hieß es: Das war für die Eltern ein Kummer, Für sein Liebchen, da war es
ein Schmerz).
Neben dem Hauptfaktor, dem Bestreben, den Hoffnungen und Gefühlen der revo-
lutionären Arbeiter immer klareren und entschiedeneren Ausdruck zu geben, waren
es auch stilistisch-poetische Faktoren, die zu den im revolutionären Lied erscheinen-
den Veränderungen gegenüber dem Soldatenlied führten, insbesondere die Frage der
Reimwörter und der geeigneten Epitheta, worauf ich aber hier nicht eingehen will.
Mir lag daran, anschaulich zu zeigen, was folkloristische Umgestaltung bedeuten
kann (auch in unserer Zeit noch), und wie ideologisch-politische und stilistisch-
poetische Faktoren die Hauptlinien der Entwicklung dieses weit verbreiteten, mit
Arbeiterlied und Volkslied
5
innerer Anteilnahme und Leidenschaft gesungenen revolutionären Arbeiter-Volks-
liedes bestimmen.7
Die deutschen folkloristischen Arbeiterlieder des Typs Leunalied zeigen in Wort-
wahl und Satzbau einen ganz einfachen, mit dem gleichzeitigen Volkslied identischen
Stil; sie haben einen erzählenden Inhalt und appellieren vorwiegend an das revolutio-
näre Gefühl der Arbeiter; die Melodien zeigen den sentimentalen Charakter des neue-
ren deutschen Volksliedes. Der folkloristische Charakter dieser Lieder zeigt sich
sowohl in der Abwandlung von ganzen Versen und Strophen, wie auch in der tief-
gehenden ideologisch-funktionalen Umwandlung z. B. des sentimentalen klagenden
Soldatenliedes zum revolutionären kämpferischen Arbeiterlied. Das Resultat derarti-
ger vielfacher Wandlungen sind die verschiedenen, jeweils von verschiedenen Ge-
meinschaften gesungenen Varianten eines Liedes.
Für die Hauptgruppe der deutschen Arbeiterlieder („Internationale , „Warschau-
janka“ usw.) ist in textlicher Beziehung ein programmatischer, agitatorischer Inhalt
und ein hymnenartiger, pathetisch gehobener Stil charakteristisch, der mit der poli-
tischen Dichtung der letzten ioo Jahre verbunden ist, sich aber schroff vom Stil des
traditionellen Volksliedes unterscheidet. (So sind Wortwahl und Satzbau z. B.
der Verse der „Internationale“: Das Recht wie Glut im Kraterherde nun mit Macht
zum Durchbruch dringt im damaligen deutschen Volkslied undenkbar.) Diese Lieder
vertreten klar formulierte Ziele und Forderungen der sozialistischen Arbeiterbewe-
gung und appellieren ebensosehr an das Bewußtsein wie an das Gefühl der Arbeiter.
Auch die Melodien zeigen meist einen hymnenartigen Charakter. Es sind Lieder, die
in ihrer Textform nicht folklorisiert worden sind.
Wenn ausnahmsweise einmal z. B. in der „Internationale“ ein Wort anders gesungen
wird, so entsteht daraus keine neue, von einer Singgemeinschaft anerkannte Fassung, son-
dern die Abweichung bleibt individuell und wird durch gemeinsames Singen korrigiert.
Nach dem oben angeführten Zitat O. Alekseevas und nach vielen anderen For-
schern liegt der Hauptunterschied von Folklore und „Literatur“ im Charakter des
Schöpfungsprozesses, der in der Folklore kollektiv, in der „Literatur“ aber indivi-
duell sei.
Die Hervorhebung, ja sogar ausschließliche Berücksichtigung des Schöpfungs-
prozesses, des Entstehens, bei völliger Vernachlässigung des Tradierungsprozesses,
macht es meines Erachtens unmöglich, das Wesen der Frage zu verstehen. Alle Ver-
suche, das Volkslied vom unmittelbaren Schöpfungsprozeß her zu verstehen, sind
fruchtlos gewesen — das zeigt die Geschichte der Volksliedforschung. Es gibt z. B.
zahlreiche deutsche Volkslieder, deren Text auf dem Namen nach bekannte Ver-
fasser zurückgeht, die aber dann vom Volk aufgenommen und weitgehend umge-
staltet, folklorisiert worden sind. (So z. B. das antimilitaristische Invalidenlied „Mit
jammervollen Blicken“, das vonChr. F. D. Schubart verfaßt wurde, als er 1777-1787
in der Festung Hohenasperg eingekerkert war, und für das ich mehr als 60 Varian-
ten kenne.)8 Dasselbe ist bei anderen Völkern auch der Fall.
7 Ausführlich zur Geschichte des Leunaliedes siehe W. Steinitz, Deutsche Volkslieder ...,
II, XXXV—XL und 423—472; DJbfVk 4 (1958) 3fF.
8 W. Steinitz, Deutsche Volkslieder ... I, 1954, 45*ff-
6
Wolfgang Steinitz
Der entscheidende Unterschied zwischen einem f olkloristischen und einem nicht-
folkloristischen, „literarischen“ Erzeugnis liegt nicht im unmittelbaren Schöpfungs-
prozeß, sondern auf einer anderen Ebene, auf der Ebene der Tradierung. Die
„literarische“ Tradierung unterscheidet sich grundsätzlich von der folkloristischen,
wie schon vor 35 Jahren Pjotr Bogatyrev und Roman Jakobson in einem von der
Folkloristik kaum beachteten Aufsatz „Die Folklore als eine besondere Form des
Schaffens“9 gezeigt haben.
Ein Werk der Folklore existiert nur, wenn es von einer Gemeinschaft angenom-
men wurde; es existiert von ihm nur das, was diese Gemeinschaft anerkennt und
weitergibt. Wenn die Bedürfnisse der Gemeinschaft sich ändern, ändert sich auch ein
Volkslied (Beispiel: das sentimentale Soldatenlied des 1. Weltkriegs wird bei den
revolutionären Arbeitern nach 1918 zum revolutionären Lied). Dabei spielt es keine
Rolle, ob das ganze Lied oder eine neue Strophe von einem einzelnen oder einem
Kollektiv geschaffen sind. Es gibt, wie gesagt, genügend Beispiele, wo wir genau
feststellen können, daß ein Individuallied von der Gemeinschaft aufgenommen,
umgeformt und tradiert wurde. Wird aber ein Individuallied in einer Gemeinschaft
mit mündlicher Tradition nicht angenommen, so ist es zum Untergang verurteilt:
es wird nicht weitergegeben.
Ein „literarisches“ Werk, das einmal von seinem Autor schriftlich niedergelegt,
in neuerer Zeit auch gedruckt ist, existiert jedoch weiter, auch wenn es von der Ge-
meinschaft nicht anerkannt oder zu bestimmten Zeiten nicht geschätzt wird. Die Lite-
raturgeschichte kennt genügend Beispiele einer Renaissance vergessener literarischer
Werke, angefangen von der Renaissance der griechischen Literatur im späten Mittel-
alter. In den sozialistischen Ländern sind in den letzten Jahrzehnten viele interessante,
völlig vergessene Vorläufer oder frühe Vertreter der sozialistischen Literatur neu
entdeckt und herausgegeben worden. In einer schriftlosen Gesellschaft wären sie
spurlos untergegangen.
Das heißt: in der folkloristischen Tradition verschwindet ein Einzelwerk, das von
der Gemeinschaft nicht anerkannt wird, vollständig; in der literarischen Tradition
lebt es wenigstens potentiell unbegrenzt weiter.
Die Kollektivität der Folklore besteht also in der Aneignung, schöpferischen
Umformung und Tradierung durch die Gemeinschaft, nicht in der Frage des Autors
oder der unmittelbaren Schöpfung. Neben Volksliedern, deren ursprüngliche Ver-
fasser uns namentlich bekannt sind, gibt es z. B. im deutschen Arbeiterlied viele, um
1930 nachweisbar im Kollektiv geschaffene Agitproplieder, die zwar, von der Agit-
propgruppe gesungen, eine begeisternde Massenwirkung hatten, die aber durch
Text oder Melodie nicht für den Massengesang geeignet waren und bei der Arbeiter-
liedsammlung in der DDR nicht in einer einzigen (auch nicht in einer unveränderten)
Fassung aufgezeichnet worden sind.10 Sie sind also trotz der Kollektivität ihrer
Entstehung keine Volkslieder.
Das „literarische“ Werk existiert real, unabhängig vom Geschmack des Verbrau-
chers, des Lesers, und jeder nachfolgende Leser wendet sich wieder unmittelbar an
9 Donum Natalicium Schrijnen, Nijmegen-Utrecht 1929, 900 — 913.
10 Beispiele siehe „Lieder der Agitproptruppen vor 1945“. Leipzig 1959 (Das Lied — im
Kampf geboren 2).
Arbeiterlied und Volkslied
das gleiche, textlich festgelegte Werk. „Jeder hat schon erlebt, daß er in einem be-
stimmten Alter ein Buch gelangweilt wegwarf, das er auf einer anderen Lebensstufe
nicht mehr entbehren wollte. Oder beim Wiederlesen von einem Buch enttäuscht war,
das ihn früher erregt hat“ (Anna Seghers).11 Das Buch existiert in beiden Fällen
weiter.
Das folkloristische Werk kann nicht unabhängig vom Geschmack des Verbrau-
chers existieren — des Sängers bzw. Sängerkollektivs, bei epischen Liedern oder
Märchen des Hörers bzw. Hörerkollektivs, usw. Der spätere Sänger singt, der spätere
Hörer vernimmt nicht „das“ betreffende folkloristische Werk, die gleiche, textlich fest-
gelegte Form, sondern die in der betreffenden Gemeinschaft lebende Variante.
Zwischen Folklore und „Literatur“ gibt es in bezug auf Inhalt und Form keine
Prinzipiellen, für alle Perioden und Völker gültigen Unterscheidungsmerkmale. Das
einzige objektive spezifische Merkmal der Folklore, das sie prinzipiell und eindeutig
von der „Literatur“ unterscheidet und ihr in allen Perioden und bei allen Völkern in
allen ihren Gattungen eigen ist, ist die Variabilität,12 die schöpferische Veränder-
lichkeit oder Umgestaltung, die ein Ausdruck, ein Resultat der kollektiven münd-
lichen Tradierung ist, in der die Folklore lebt. Ein „literarisches“ Werk, das sein
Verfasser niedergeschrieben hat (Gedicht, Roman usw.), führt ein völlig anderes
Leben.
Im nichtfolkloristischen Arbeiterlied (z. B. der „Internationale“) verschmelzen
nicht zwei verschiedene Prinzipien des Schaffens (das individuelle und das kollektive)
oder zwei verschiedene Prinzipien der Tradition (das folkloristische und das „litera-
rische“), sondern das eine Prinzip, das „literarische“, das nichtfolklonstische, ist das
herrschende geworden. Das andere Prinzip, das folkloristische, geht gleichzeitig
Zurück, wird zur Randerscheinung oder stirbt ab.
Im Feudalismus steht die Folklore, d. h. die kulturelle Tradition des werktätigen
Volkes, der Kultur der herrschenden Kreise gegenüber. Es gibt zwar vielfältige
Wechselwirkungen, aber im wesentlichen führen beide eine verschiedene Existenz-
form. Das gilt voll für die bäuerliche Kultur, in gewissem Umfang aber auch für die
Kultur der Handwerker, auf deren Besonderheiten ich hier nicht eingehen kann.
Mit dem Verschwinden der antagonistischen Klassen im Sozialismus verschwindet
der Gegensatz zwischen den zwei Schichten innerhalb einer nationalen Kultur. Damit
schwinden auch die Voraussetzungen für das Bestehen des Unterschiedes zwischen
den beiden künstlerischen Existenz- oder Tradierungsformen, der folkloristischen
und der „literarischen“ Form. Das literarische Prinzip, das bisher für die Kultur
im Bereich der herrschenden Klasse charakteristisch war, wird nunmehr zum herr-
schenden Prinzip der Wortkunst. Das uralte folkloristische, mündlich-kollektive Prin-
zip mit seiner Variabilität, das seit den Frühzeiten der menschlichen Gesellschaft
(seitdem es sprachlich gestaltete Kunstformen gibt) existierte, verliert seine Not-
wendigkeit, wenn die Arbeiter und die anderen Werktätigen alle Möglichkeiten und
alle Unterstützung zur vollen Entfaltung ihrer kulturellen Fähigkeiten erhalten.
11 In: Die gebildete Nation. Beilage zu: „Neues Deutschland“ 18. 4. 1964.
12 H. Strobach, Bauernklagen. Berlin 1964, 374; ders. Thesen, „Variabilität und Variation
als Kategorien der Volksliedtradition“ (Vortrag auf dem VII. Internat. Kongreß für
Anthropol. und Ethnolog. Wissenschaften, Moskau 1964).
8
Wolfgang Steinixz
Dieser Prozeß verläuft in den verschiedenen Ländern auf Grund ihrer besonderen
historischen und gesellschaftlichen Entwicklung in verschiedener Weise und in ver-
schiedenem Tempo; aber die Richtung der Entwicklung ist z. B. in den sozialistischen
Ländern eindeutig.13
Von besonderer Bedeutung ist hierbei, wie früh die Entwicklung des Kapitalismus
in dem betreffenden Land begonnen hat. Schon im Kapitalismus ist nämlich ein
schroffer Rückgang der Folklore zu beobachten; in den Ländern mit starker kapita-
listischer Entwicklung schon im 19. Jh. begann dieser Prozeß früh, was sich im
Arbeiterlied in den berühmten Arbeiterhymnen des letzten Drittels des vorigen Jahr-
hunderts dokumentiert. Bei den im 19. Jh. kapitalistisch schwächer entwickelten
Ländern, mit starken feudalistischen Elementen im Dorf und reicher lebendiger
Folkloretradition, begann dieser Prozeß erst viel später und spielt sich z. B. in der
Sowjetunion, Rumänien, Bulgarien, Jugoslawien zum Teil erst in der Periode des
Sozialismus (mit verschiedenen Stufen) ab.
Man hat den Rückgang der Folklore im Kapitalismus mit der zerstörenden Kraft
des Kapitalismus erklärt: „Es ist bezeichnend, daß in den höchstindustrialisierten
kapitalistischen Ländern nur noch Reste [der Volkskunst] lebendig blieben. Die
erbarmungslose Ausbeutung schränkt die kulturelle Betätigung der Massen aufs
äußerste ein.“14 Ist das aber richtig? In der gleichen Periode entwickelt sich doch die
Arbeiterbewegung mit Partei und Gewerkschaften, mit Arbeiterbildungs-, -gesangs-,
-theater- u. a. Vereinen, in denen die kulturelle Betätigung der Arbeiter auf eine in
Form und Inhalt völlig neue Stufe gelangt. Die schöpferischen Fähigkeiten der
Arbeiter gehen im Kapitalismus nicht zurück, lassen sich nicht einschränken, son-
dern wachsen im Gegenteil im Klassenkampf in früher nicht gekannter Weise. Sie
äußern sich aber im wesentlichen nicht in folkloristischer Form und Tradierung,
sondern auf höherer bewußter Ebene: in der mit schriftlicher Bildung verbundenen
„literarischen“ Form. Die kämpfende Arbeiterklasse beginnt somit schon im Kapi-
talismus bewußt, den Bildungsstand anzustreben, den sie erst im Sozialismus voll
erreichen kann. Dies ist der Grund für den Rückgang und das allmähliche Ver-
schwinden der folkloristischen Formen in der Arbeiterklasse schon während des
Kapitalismus.
13 Hierfür seien auch einige Äußerungen sowjetischer und ungarischer Folkloristen und
Ethnographen angeführt: „Die alte Folklore — die Kunst der mündlichen Poesie — ver-
schwindet unwiederbringbar aus dem Volksleben und wird durch die Literatur ver-
drängt“: Erna Pomeranceva (Русский Фольклор [Russische Folklore] 6, 1961, 124).----------
„Die Menschen ziehen es heute [in der Sowjetunion] vor, ihre geistigen Fähigkeiten in
den nichtfolkloristischen Sphären anzuwenden . . . Die gegenwärtige Folklore besteht
aus allen heutzutage vorkommenden Folkloreerzeugnissen aller erhaltenen Gattungen.
Das Alte in ihr zeigt das Niveau des gesellschaftlichen Bewußtseins der Schichten, unter
denen es sich erhalten hat. Das Neue in der Folklore ist ein Ausdruck der Geschichte der
langdauernden Bewegung der breiten Volksmassen zur sozialistischen Kultur hin, die mit
anderen Mitteln und auf anderer Grundlage geschaffen wird“: Ju. I. Smirnov (Славянска
филология. Материали за V Межлунар. конгрес на славистите [Slawische Philologie.
Materialien zum V. Internationalen Slawistenkongreß] т. II. Sofia 1963, 260). — — „Es
gibt keine neue, sozialistische Volkspoesie“: I. Katona (Parasztsägunk eletenek ätala-
kulasa [Die Umwandlung im Leben der ungarischen Bauernschaft], Gyula 1962, 34).
14 W. Pollatschek, in: „Einheit“, Berlin 1959, 1719.
Arbeiterlied und Volkslied
9
Die folkloristische Form und Tradierung bestand aber in beschränktem Umfang
auch weiterhin in der Arbeiterbewegung, bis in unsere Tage, sogar in Ländern mit
alter industrieller Tradition wie England, Deutschland, Tschechoslowakei. Im
deutschen Arbeitervolkslied kann man wohl 5 Gruppen unterscheiden.
*• Bei den besonders ausgebeuteten und rückständigen, mit dem Dorf noch eng
verbundenen Erdarbeitern des 19. Jhs. (Kanal-, Straßen-, Eisenbahn-Arbeitern) und
anderen Gruppen erhielten sich noch lange Zeit einfache Lieder mit Protest- und
Elagecharakter, die sehr genaue Schilderungen der schweren Arbeitsbedingungen
geben, ohne jedoch Forderungen zu erheben (z. B. Der Schachtmeister soll sich
schämen, Daß er die Leut’ tut quälen).15
Eine 2. Gruppe sind von den fortschrittlichen Handwerksgesellen der Vormärzzeit
und von 1848 getragene allgemeine Freiheitslieder; sie gehen unmittelbar in die
organisierte sozialdemokratische Bewegung seit den 60er Jahren über, einige von
ihnen fließen sogar noch in die kommunistische Bewegung nach 1918 ein.16
Die 3. Gruppe bilden Lieder sozialen Protestes, insbesondere mit Streikkämpfen
zusammenhängende Lieder aus der Periode 1890—1914.17
Die 4. Gruppe bilden antimilitaristische Lieder aus den Jahren vor 1914 und Anti-
ktiegslieder aus dem ersten Weltkrieg.18
Die 5. Gruppe sind Neuschöpfungen der revolutionären Jahre nach 1918, Lieder
mit einem klar politischen, revolutionären Charakter.19 Einige Bemerkungen zu
dieser letzten Gruppe.
Revolutionäre Arbeitervolkslieder sind in Deutschland nur in den revolutionären
Jahren 1918 bis 1924 neu entstanden. Das letzte Lied dieser Art, „Der kleine Trom-
peter“, stammt von Anfang 1925. Von da an gibt es keine neuen, in der revolutio-
nären Bewegung weitverbreiteten Arbeiter-Volkslieder mehr. (Einzelne, lokal be-
schränkte Lieder sind nur in wenigen Fassungen belegt.) Das ist wohl kein Zufall.
Ena diese Zeit (1927/28) entfaltete sich in Zusammenhang mit dem großen Auf-
schwung der kommunistischen Bewegung in Deutschland die organisierte kommu-
nistische Kulturarbeit; es beginnt die Zeit der Agitproptruppen, die Zeit der engen
Zusammenarbeit mit linken Schriftstellern und Komponisten (Brecht, Eisler,
Weinert u. a.; „Kominternlied“ und „Roter Wedding“ entstanden 1929, das „Soli-
daritätslied“ 1931 usw.). Neben diesen Agitpropliedern, die schnell auf die Forde-
rungen des Tageskampfes reagierten, entstanden also keine Arbeiter-Volkslieder
j^ehr. Nach 1918 aber, als eine organisierte kommunistische Kulturarbeit noch nicht
Destand, halfen sich die revolutionären Arbeiter selber. Als ehemalige Soldaten be-
nutzten sie ihre ehemaligen Soldatenlieder, die sie im revolutionären Geist umzu-
orcnen begannen. So entstanden von unten her, spontan und aus den Bedürfnissen
W. Steinitz, Deutsche Volkslieder . . ., I, 295fr.
Ebda II, 28ff. (Polenlieder), 79ff. (\Vir sind keine Knechte, hoch leb’ die Republik!; War
u°hl je ein Mensch so frech wie der Bürgermeister Tschech), 296 fr. (Robert-Blum-Lied), u. a.
i8 Ehda II, 277fr. (Streiklieder).
Ebda II 3 31 f. (Ich hin Soldat, doch bin ich es nicht gerne); 339 ff. (Lieder gegen Krieg und
Hungerpolitik aus dem 1. Weltkrieg).
Ebda II, 42Iff.
10
Wolfgang Sxeinitz
der revolutionären Massen, die revolutionären Arbeiter-Volkslieder in einer ganz
speziellen, von aufwühlenden Ereignissen erfüllten Situation.
Die gleichen schöpferischen Kräfte der Arbeiterbewegung, die seit etwa 1926 in der
Agitpropbewegung systematisch angeleitet und zu künstlerisch und ideologisch
höher entwickelten Formen geführt wurden, waren in den Jahren nach 1918 spontan
in der Umformung früherer Volks- und Soldatenlieder zu revolutionären Arbeiter-
Volksliedern in Erscheinung getreten.
Die Gattungen (Genres) der Folklore verhalten sich in dem oben behandelten
Rückgangs- oder Schwundprozeß der folkloristischen Tradierung verschieden. So
haben sowjetische Forscher für die russische Folklore festgestellt, daß Zaubermär-
chen, Bylinen, Brauchtumspoesie wie Totenklagen, Brautklagen, Kalenderpoesie
u. ä. besonders stark zurückgehen, während andere Gattungen lebendig bleiben. Man
verweist hierbei mit Vorliebe auf die Tschastuschka (Vierzeiler). Flier ist aber zu
berücksichtigen, daß die Tschastuschka — wie der bei allen europäischen Völkern
noch lebendige, mündlich tradierte Witz — eine Kurzform darstellt, die durch die
Einfachheit von Melodie und Versbau ohne Mühe produziert werden kann. Die
Existenz solcher Kurzformen wie Witz, Tschastuschka u. ä. darf einerseits nicht über-
sehen werden; aber diese Formen stellen doch andererseits nur eine Randerscheinung
im kulturellen Leben der heutigen Werktätigen dar, die mit der Rolle der Folklore
in der Vergangenheit gar nicht verglichen werden kann.
Der sowjetische Folklorist V. Gusev äußerte vor kurzem, die slawische Folklore
sei eine lebendige Tradition, die sich auch in unserer Zeit weiter entwickle. In
seiner Arbeit über die Partisanenlieder der slawischen Völker während des 2. Welt-
krieges sagt er zusammenfassend : „Le développement intense de la poésie des parti-
sans chez les peuples slaves pendant la deuxième guerre mondiale témoigne le
procédé incessant de création collective, ce qui nous autorise d’affirmer que le
folklore est une tradition vivante, qui se développe.“20
Eine ähnliche Erscheinung lebendiger, sich weiter entwickelnder Folkloretradi-
tion stellen die zahlreichen deutschen revolutionären Arbeiter-Volkslieder aus den
Jahren 1918 bis 1925 („Leunalied“ usw.) dar. Ich habe jedoch nachweisen können,
daß dieses spontane Entstehen einer neuen folkloristischen Tradition in jenen Jahren
durch eine ganz besondere historische Situation hervorgerufen wurde, in der die
revolutionären Massen in ihrem plötzlich entstandenen Bedürfnis nach neuen, ihrer
Situation und revolutionären Stimmung entsprechenden Liedern auf sich selbst
angewiesen waren. Das gleiche kann man offenbar von der Partisanenfolklore sagen,
deren Neuentstehung also nicht zur Schlußfolgerung einer lebendigen Folklore un-
ter normalen Verhältnissen berechtigt.
Das folkloristische Prinzip bleibt als Randerscheinung und potentiell weiter beste-
hen. Wie es durch tiefste Erschütterungen zeitweilig aktualisiert wird, nach wenigen
20 В. Гусев, Партизанская народная поэзия у славян в годы второй мировой войны
(V. Gusev, Partisanen Volkslieder bei den Slawen während des Zweiten Weltkrieges). In:
История, фольклор, искусство славянских народов. Доклады советской делегации.
V Международный съезд славистов (Geschichte, Folklore und Kunst der slawischen Völ-
ker. Vorträge der sowjetischen Delegation. V. Internationaler Kongreß der Slawisten).
Moskau 1963, 342 — 343.
Arbeiterlied und Volkslied
11
Jahren aber wieder verschwinden kann, hat V. Bazanov in seiner Arbeit „Ооряд
и поэзия“ (Les rites et la poésie)21 an einem schönen Beispiel gezeigt: Der
russische Norden war berühmt für seine traditionell-improvisatorischen „Klagen“
(Totenklagen u. a.), die in der sowjetischen Zeit stark zurückgingen und vielerorts
verschwanden. Nach dem Hitlerüberfall auf die Sowjetunion wurden sie aber in
einigen Gegenden in erstaunlicher Weise wieder aktualisiert. Bazanov berichtet aus
eigener Anschauung, wie am Onegasee, einem berühmten Zentrum der russischen
Folkloretradition, in den ersten Wochen nach der Befreiung 1944 die älteren und
mittleren Frauen „Klagen“ über ihre umgekommenen Angehörigen und ihr eigenes
Schicksal während der Okkupation in traditioneller Weise, aber mit aktueller Schil-
derung improvisierten, elementar, um ihren Kummer zu erleichtern. Im folgenden
Jahr (1945) sowie 1957 untersuchte Bazanov dieselben Gegenden, um die Lebens-
fähigkeit der „Klagen“ festzustellen. Die gleichen brauen, die 1944 ihre Söhne und
ihr zerstörtes Heim beweint hatten, konnten nach 12 Jahren nur noch mit Mühe das
Schema und die allgemeinen Formeln reproduzieren, ohne sie mit konkretem Inhalt
füllen zu können. Die „Klagen“ sterben nunmehr auch in dieser Gegend aus, wie sie
in den meisten Gebieten des russischen Nordens schon vor 1941 völlig ausgestorben
waren.
Ich habe bisher nur über die literarische Seite, den Text der Lieder gesprochen.
Ich fühle mich nicht genügend kompetent, die musikalische Seite der Arbeiter-
li eder, 2. B. der Hymnen oder der Eisler-Lieder, zu analysieren. Ich meine jedoch, daß
auch auf dem Gebiet der Musik einerseits die Form des festgelegten „individuellen ,
Potentiell nicht untergehenden Werkes und andererseits die folkloristische Form
existiert.
Wenn es nun nach den Beobachtungen der Musikwissenschaftler auch bei den
Arbeiterhymnen oder den Eisler-Liedern öfters Melodievarianten gibt, so stellt das
ein besonderes Problem dar, das aber — soviel ich sehe — von echter Folklori-
sierung klar zu unterscheiden ist.
Die Befreiung der Arbeiterklasse im Sozialismus hat zu einer vollen Entfaltung der
kulturellen Betätigung der Arbeiter geführt - aber damit z. B. in der DDR, in der
Tschechoslowakei, in Ungarn nicht zu einer neuen Entfaltung der folkloristischen
Form. Die heutige Laienkunst geht in diesen sozialistischen Ländern nicht mehr nach
folkloristischen Gesetzmäßigkeiten vor sich, sondern nach nichtfolkloristischen,
»literarischen“. Die literarische Tätigkeit der Arbeiter und Bauern unterscheidet sich
heute, wenn sie die Möglichkeit und Anleitung zum Lernen, zur Weiterbildung
haben, im Prinzip nicht mehr von der des beginnenden jungen Schriftstellers und
enthält keinerlei Elemente folkloristischer Tradierung: es handelt sich um nieder-
geschriebene Werke eines bewußten Verfassers, der sich, wenn er begabt ist, zu
einem Schriftsteller entwickeln kann. Wenn auch in viel geringerem Maße, so hat es
solche Erscheinungen auch schon früher gegeben, so z. B. in der deutschen Literatur
die sog. „Naturkinder“ oder „Naturpoeten“ der Goethezeit, die Goethe selbst,
Herder u. a. gefördert haben (Ullrich Bräker u. a.). Das Werk solcher Verfasser zu
untersuchen, ist im wesentlichen Sache der Literaturwissenschaft.
В. Базанов, Обряд и поэзия (V. Bazanov, Brauch und Dichtung). Ebda 241, 249.
12
Wolfgang Steinitz
In entsprechender Weise gilt dies meines Erachtens auch für die Laienkunst auf
dem Gebiet der Malerei, der Bildhauerei, des Theaters usw.
Ich sagte zu Beginn, daß die Diskussion über „Arbeiterlied und Volkslied“ zum
Teil auch vom emotionellen und sentimentalen Standpunkt aus geführt wurde und
wird. Es gab z. B. in der DDR eine solche Argumentation: „Volkslied ist ein Ehren-
titel. Will man ihn dem Arbeiterlied vorenthalten?“22 Oder: „Die Arbeiter sind seit
der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts der wichtigste Teil des werktätigen
Volkes, wie kann man also sagen, daß ihre Lieder nicht Volkslieder sind?“
Es handelt sich hier nicht nur um einen (unfruchtbaren) Streit um Termini, son-
dern um Differenzen in der Sache. Wenn man den objektiven Unterschied zwischen
folkloristischen und nichtfolkloristischen, „literarischen“ Liedern nicht sehen und aus
emotionellen Gründen das ganze Arbeiterlied als Volkslied bezeichnen will, um die
Volksverbundenheit der Arbeiterhymnen oder von Eisler-Liedern hervorzuheben,
so bedeutet das nicht: „den traditionellen Volksliedbegriff erweitern“,23 sondern es be-
deutet, das qualitativ völlig Neue zu verwischen, das Lieder des Typs „Internationale“
sowohl in bezug auf Inhalt wie auf Form und Stil von Text und Melodie darstellen.
Die Arbeiterhymnen seit den 1870er Jahren, die sowjetischen Revolutionslieder nach
1917, die Brecht-Eisler-Lieder um 1930 haben in die Arbeiter kultur etwas Neues hinein-
getragen: neue sozialistische und revolutionäre Begriffe und Inhalte, neue wort-
künstlerische und musikalische Formen, die auf diese Weise weitesten Kreisen der
Arbeiterschaft vermittelt und lebendig gemacht wurden.
Die Annahme, das Volkslied werde z. B. in Deutschland von etwa 1850 an im
wesentlichen vom Arbeiterlied repräsentiert,24 diese Annahme bedeutet keine Hoch-
schätzung, sondern in Wirklichkeit eine völlige Unterschätzung der schöpferischen
Fähigkeiten der Arbeiterklasse.
In der Volkskultur der Bauern, Hirten und Fischer während des Feudalismus und
unter halbfeudalen Verhältnissen war die Volkskunst Ausdruck des gesamten geisti-
gen Lebens dieser Gruppen, angefangen von den Trachten, der Stickerei, der Töpfe-
rei, den künstlerischen Formen beim Hausbau und Hausrat bis zu der reichen Volks-
dichtung in Märchen, Sagen, Liedern, Sprichwörtern und Rätseln, den Volks-
tänzen, der Volksmusik usw. Diese Volkskunst war der geistige Reichtum der
Bauern usw., zugleich aber auch ihre Beschränktheit, da sie an den Schätzen der
Literatur, der Musik, der bildenden Kunst der „Hochkultur“ nicht teilnahmen und
nicht teilnehmen konnten.
Als sich die Arbeiterklasse in den verschiedenen Ländern Europas unter schwersten
Leiden und Kämpfen herausbildete, war es nicht ihre kulturelle Hauptaufgabe, an-
22 Vergleiche Ernst H. Meyer: „Obwohl er viele der Argumente von Steinitz einsähe, wolle
es ihm nicht in den Kopf, daß aus der Ehrenbezeichnung ,Volkslied4 das Arbeiterlied
herausgenommen werden sollte. Das Volk sei schöpferisch. Würden wir aber sagen, das
Arbeiterlied sei kein Volkslied, dann sprächen wir der Arbeiterschaft im Liedschaffen das
Schöpferische ab.“ Beiträge zur Musikwissenschaft 1964, 298: autorisiertes Referat über
die Diskussion zu einem Vortrag von W. Steinitz.
23 „Der traditionelle Volksliedbegriff muß beim Arbeiterlied erweitert werden.“ Inge Lam-
mel in: Kulturelles Leben 1957 Nr. 5, 23. — Siehe auch Inge Lammel, Das deutsche Arbei-
terlied. Leipzig—Jena—Berlin 1962, 7.
24 Ebda.
Arbeiterlied und Volkslied
13
stelle oder gleich der bäuerlichen Volkskultur eine Arbeitervolkskultur zu schaffen —
Arbeitervolkslieder, Arbeitermärchen, Arbeitervolkstrachten usw. Die kulturelle
Aufgabe der Arbeiterklasse bestand darin: sich aus tiefster Unwissenheit und Kultur-
losigkeit heraus die Kulturwerte ihrer Nation und der Menschheit anzueignen, sie zu
verarbeiten und dann der Träger einer neuen Kultur und die führende Kraft der
Nation zu werden. Das hat die Arbeiterklasse aus dem fürchterlichen Elend, in dem
sie zu Beginn dieser Entwicklung lebte und in dem der nackte Kampf ums Dasein
alle Energien in Anspruch nahm (man denke nur an die schlesischen Weber von
*844, an Die Lage der arbeitenden Klasse in England Friedrich Engels, 1845 ,
°der an M. Gorkijs Mutter) zuwege gebracht. Die Arbeiter schufen ihre Gewerk-
schaften, ihre Partei, ihre Genossenschafts-, Sport- und Kulturbewegung. In diesen
Leistungen liegt die schöpferische Kraft der Arbeiterklasse. Die Menschen, die
früher Träger der Volksliedüberlieferung, der Märchenüberlieferung, die begabte
Erzähler und Sänger waren, wurden in der Arbeiterbewegung zu Redakteuren, zu
Arbeiterschriftstellern, zu Leitern von Arbeiterchören und Theatergruppen und sind
heute in den sozialistischen Ländern in allen leitenden Funktionen des Staates und des
Kulturlebens tätig.
Wenn man den Unterschied zwischen der alten Bauernkultur, die im wesentlichen
folkloristisch ist, und der Arbeiterkultur, die im wesentlichen nichtfolkloristisch
ist, nicht sieht, wenn man auf dem Teilgebiet des Liedes z. B. Volkslied = Arbeiter-
lied setzt, kommt man — wie gesagt — zu einer völligen Unterschätzung der schöp-
ferischen Fähigkeiten der Arbeiterklasse. Im Vergleich mit dem Reichtum der Bauern-
folklore (Märchen, Sage, Lied mit vielen Gattungen usw.), der bildenden Bauern-
volkskunst, Trachten, Volkstanz usw. würde dann die kulturelle Leistung der Arbei-
terschaft arm erscheinen. So hätte die Arbeiterklasse in ihrem „Volkslied“ (Arbeiter-
lied = Volkslied) keine Liebeslieder, Kinderlieder usw. geschaffen, sondern nur eine
Thematik, den Kampf, gestaltet — diesen freilich auf einem qualitativ völlig neuen,
mit dem vorigen in Inhalt und Form nicht vergleichbaren Niveau.
Wenn man aber die Arbeiterfolklore als einen zwar sehr interessanten und nicht zu
übersehenden Teil des kulturellen Schaffens der Arbeiter ansieht, aber nur als einen
relativ kleinen und nicht den wichtigsten Teil, dann kommt man zu einer richtigen
Einschätzung der kulturellen Leistung der Arbeiterklasse, der Arbeiterkultur.
dasselbe gilt auch für die Einschätzung des heutigen künstlerischen Schaffens der
Werktätigen in den sozialistischen Ländern. Ihre schöpferischen Fähigkeiten sind
nicht nur lebendig geblieben, sondern sie entwickeln sich, aber nicht mehr in folk-
foristischer Weise.
Das bedeutet keineswegs, daß deshalb die Folklore, das Volkslied usw. heute keine
Existenzberechtigung, keine Bedeutung mehr hat. Das folkloristische Tradierungs-
prinzip ist — in den verschiedenen Ländern in verschiedenem Grade — im Rückgang
bzw. im Verschwinden bzw. wird zu einer Randerscheinung. Aber zahlreiche Erzeug-
nisse der Folklore, Volkslieder usw. gehören in allen Ländern heute zum klassischen
Kulturerbe. Sie leben jedoch nun in „literarischer“ Form und Tradierung weiter, d. h.
sie werden in Liederbüchern gedruckt und in dieser nunmehr festgelegten Form
organisiert gelernt und gesungen oder im Radio vorgetragen. Das Singen und das
Weiterleben solcher alten Volkslieder unterscheidet sich in unserer Zeit nicht mehr
14 Wolfgang Steinitz
vom Singen und Weiterleben von „Kunstliedern“, neuen Massenliedern usw. Man
hat diese Existenzform der alten Volkslieder auch als ihre zweite Existenz bezeichnet.25
Aber man muß sich darüber klar sein, daß es eine prinzipiell andere, eine „literarische“
Existenzform ist.
Wie schon gesagt, gibt es zahlreiche Wechselbeziehungen und Einflüsse zwischen
der Folklore und der nichtfolkloristischen „Literatur“. Es gibt auch Fälle, wo nicht
sofort zu entscheiden ist, wohin sie gehören; es gibt auch Übergangsfälle. Das besagt
aber nichts gegen die prinzipielle klare Unterscheidung der beiden Existenz-
formen. Der Unterschied zwischen Tag und Nacht ist sogar sprichwörtlich. Will
man aber zu seiner Erklärung von der Dämmerung ausgehen, so wird nichts dabei
herauskommen.
25 W. Wiora, Der Untergang des Volksliedes und sein zweites Dasein. Musikalische Zeit-
fragen 1959 Heft 7, 9 — 25.
l
11 f Kl *Xi v: \U\U ‘ * TA v V
Folklore und gesunkenes Kulturgut
Von Hermann Bausinger
In der deutschen Volkskunde fand der Begriff Folklore zunächst vor allem Ein-
gang über die Arbeiten aus dem Umkreis der finnischen Schule. Die meisten sind
gedruckt in der seit 1910 erscheinenden, inzwischen auf rund 200 Nummern ange-
"Wachsenen Reihe der Folklore Fellows’ Communications (FFC), dem Organ der im
Jahre 1907 von skandinavischen und deutschen Forschern begründeten Vereinigung
der Folklore Fellows. Auch in den Untersuchungen taucht ebenso oft wie die Einzel-
dezeichnungen Märchen, Schwank, Rätsel, Ballade usw. das Wort Folklore auf, das
als Sammelbegriff für all diese Formen der mündlichen Überlieferung fungiert. Die
Herkunft dieses Wortes läßt sich genau bestimmen, da es sich um ein Kunstwort
handelt: am 22. August 1846 verwendete es William John Thoms — er schrieb unter
dem Pseudonym Ambrose Merton — als Überschrift eines Artikels in der englischen
Zeitschrift The Athenaeum, in dem er Jacob Grimms Deutscher Mythologie hohes Lob
2ollte. Er spricht davon, daß es sich bei dem, was in England als „Populär Antiqui-
des“ oder „Populär Literature“ bezeichnet wird, eigentlich gar nicht um Literatur
handelt: „By the bye it is more a Lore than a Literature, and would be most aptly
designed by a good Saxon compound, Folk-Lore — the Lore of the People“. Schon
lrn Sommer 1847 drückt die Redaktion ihre Befriedigung über die rasche Aufnahme
dieses Begriffes aus: „In less than twelve months it has almost attained to the dignity
°f a household word“ — in weniger als einem Jahr war das Wort zum gängigen
Regriff geworden.1
Das Wort hat aber nicht nur diesen zeitlichen, sondern auch einen räumlichen
Rekord aufzuweisen: im Verlauf weniger Jahre oder doch Jahrzehnte fand es Ein-
§ang in den verschiedensten Sprachen und Sprachbereichen, was vielleicht gerade
deshalb möglich war, weil es sich um ein künstlich geschaffenes Wort handelte. Es
verbreitete sich nicht nur in der angelsächsischen Welt, sondern auch in einem Teil
der Romania, in Skandinavien, im slawischen Bereich und auch in außereuropäischen
Kontinenten. Daneben halten sich freilich andere Begriffe — so ist in Frankreich etwa
»arts et traditions populaires“ geläufig —, und der Umfang des Begriffes ist nicht
überall gleich. Im Englischen bezeichnet folk das Volk, die Leute — mit einem
gewissen sozialen Akzent auf den wenig gebildeten Schichten, aber im Gegensatz zu
People und erst recht zum deutschen Wort Volk ohne nationalen Gehalt; lore ist das
Wissen, die Erfahrung, die Lehre, die Überlieferung. Gelegentlich versteht man unter
Folklore den Gesamtbereich der Volkskultur — also alle Gegenstände der Volks-
Gustav Kossinna, Folklore. ZfVk 6 (1896) 188 — 192.
16
Hermann Bausinger
künde vom Bauernhaus bis zum Volkslied, vom Votivbild bis zur Tracht. Im allge-
meinen beschränkt sich der Begriff Folklore aber auf die geistige oder sprachliche
Überlieferung, und vielfach wird der ganze Bereich der materiellen Kultur einer
anderen Wissenschaft zugewiesen; so gibt es etwa in slawischen Ländern einerseits
die Folkloristik, andererseits die (regionale) Ethnographie.
In Deutschland ist der Begriff Folklore nicht heimisch geworden; es stellt eine
Insel dar, in welcher das Wort zumindest in seiner vollen Bedeutung kaum verwen-
det wird. Dabei spielt die wichtigste Rolle eine prinzipielle, ja teilweise geradezu
ideologische Abwehr. Als sich der Begriff Folklore gegen Ende des letzten Jahrhun-
derts in den benachbarten Ländern einbürgerte, wandte man sich in Deutschland
gegen das modische Fremdwort.2 Man stellte fest, daß die deutsche Entsprechung
„Volksüberlieferungen“ völlig genüge; aber dahinter stand sehr deutlich die Sorge,
daß mit dem Wort Folklore der nationale Gehalt der Volkskunde verlorengehen
könnte — die Chance, ein wenig von der Mehrdeutigkeit des Volksbegriffes abzu-
rücken, wurde nicht wahrgenommen.
Andererseits mag auch ein faktischer Unterschied dazu beigetragen haben, daß
sich das Wort im deutschen Sprachgebiet nicht ausbreitete. Bis zu einem gewissen
Grad hängt oder hing an dem Wort Folklore die Vorstellung, daß es sich dabei um
einen schlechthin außerliterarischen Bereich handle, um eine Überlieferung, die sich
weitgehend oder völlig unabhängig von Geschriebenem und Gedrucktem entwik-
kelt. Dieser Eigenbereich des oder der Folklore (das Wort war zuerst nicht Femi-
ninum) ist sicherlich keine reine Fiktion. Die finnische Kalevalaüberlieferung3 ist
ein Beispiel dafür. Noch 50 Jahre nach Lönnrots Aufzeichnungen konnte Kaarle
Krohn drei volle Tage lang die Geschichten eines Märchenerzählers auf schreiben,
der sich für Taglohn angeboten hatte.4 Der russische Forscher Mark Asadowskij
zeichnete aus dem Mund einer des Lesens und Schreibens unkundigen Erzählerin
während des Weltkrieges die schönsten sibirischen Märchen auf.5 Linda Degh fand
in den fünfziger Jahren in der alten Frau Palkö aus Kakasd eine hervorragende Erzäh-
lerin, die — Analphabetin auch sie — bei drei Viertel ihrer Märchen genau angeben
konnte, von wem sie diese zum erstenmal gehört hatte.6 Die Beispiele ließen sich
leicht vermehren, und gewiß gibt es auch Belege für den erstaunlichen Umfang der
mündlichen Tradition in der deutschsprachigen Überlieferung; mir liegt hier das
Beispiel des Ungarndeutschen Anton Krukenfeiner nahe, den ich nach der Umsied-
lung in einem kleinen schwäbischen Dorf entdeckte, der im Frühjahr 1955 meinem
Bruder und mir stundenlang erzählte, und den später Gottfried Henßen auf Grund
meiner Hinweise in den Mittelpunkt einer ungarndeutschen Sammlung stellte.7
Krukenfeiner erzählte aber neben Märchen auch etwa von Gregor am Stein und von
2 Ebda.
3 Kaarle Krohn, Kalevalastudien. Helsinki 1924 (= FFC 53).
4 Kaarle Krohn, Übersicht über einige Resultate der Märchenforschung. Helsinki 1931,
4 (= FFC 96).
5 Mark Asadowskij, Eine sibirische Märchenerzählerin. Helsinki 1926 (= FFC 68).
6 Linda Degh, Märchen, Erzähler und Erzählgemeinschaft. Berlin 1962, 186 — 222.
7 Gottfried Henßen, Ungardeutsche Volksüberlieferungen. Erzählungen und Lieder.
Marburg 1939.
Folklore und gesunkenes Kulturgut
17
Rinaldo Rinaldini, wobei er — ohne Zwischenträger — von literarischen Vorlagen
ausging: gegenüber der Annahme einer ganz ungebrochenen mündlichen Tradition
schien also zumindest Vorsicht geboten.
Ganz allgemein lag in Deutschland der Gedanke völlig unabhängiger und selb-
ständiger Folklore verhältnismäßig fern. Die Romantiker hatten mit ihrer Auffassung
der Naturpoesie, die auch Literarisches einschloß, programmatisch die Grenzen ver-
wischt. Im Lauf des 19. Jahrhunderts bestätigten zumal die Kinder- und Hausmärchen
das Ineinander von literarischer und mündlicher Tradition; manche landschaftliche
Märchensammlung bezeugt nicht nur die Anregung der Brüder Grimm auf die
Sammler, sondern auch ihren Einfluß auf die Erzähler. Aber auch dort, wo solch ein
unmittelbarer Zusammenhang nicht gegeben war, stellte sich doch immer wieder
die Frage nach weiträumigeren Verbindungslinien zur Literatur; Kenner des Mittel-
alters wie Johannes Bolte konnten oft ebenso komplizierte wie überzeugende litera-
rische Deszendenzen der Volksüberlieferung aufspüren. Diese Herkunftsforschungen
bedienten sich zwar weitgehend der finnischen Methode; aber sie hatten so viel mit
literarischen Varianten zu operieren, daß die Konzeption originärer und selbständiger
Folklore kaum eine Chance hatte.
In der deutschsprachigen Volkskunde entstanden vielmehr konträre Entwürfe.
Der Schweizer Eduard Hoffmann-Krayer formulierte 1903 : „Die Volksseele produ-
ziert nicht, sie reproduziert“.8 Damit knüpfte er an die Forschungen seines damaligen
Basler Kollegen John Meier an, die dieser 1906 unter dem programmatischen Titel
Kunstlieder im Volksmund zusammenfaßte. Danach hat auch jedes Volkslied einen
individuellen Verfasser, und viele Volkslieder sind in einem manchmal raschen,
manchmal auch langwierigen Prozeß aus der Kunstdichtung in den Bereich der
Volkspoesie eingedrungen. Gegen diese Rezeptionstheorie erhoben vor allem öster-
reichische Volksliedforscher — an ihrer Spitze Josef Pommer — Bedenken; sie
orientierten sich am alpinen Volksgesang mit seinen autonomen Improvisationen,
bei denen Variation und Neuschöpfung unmerklich ineinander übergingen. Für den
Hauptbestand volkstümlichen Liedguts aber waren John Meiers Feststellungen
unantastbar; und in dem von ihm 1914 in Freiburg gegründeten Volksliedarchiv
häuften sich bald die Unterlagen für die Erschließung weiterer Abstammungsreihen,
die fast immer zu literarischen Ahnen hinführten.9
Das eigentliche Schlagwort für die neu entdeckten Zusammenhänge zwischen
Hochkultur und Volkskultur lieferte unmittelbar nach dem ersten Weltkrieg Hans
Naumann: er sprach vom „gesunkenen Kulturgut“, das die Volksüberlieferung
charakterisiere: „Zu glauben, daß aus der Gemeinschaft der Fortschritt komme, ist
Romantik. Sie zieht herab oder ebnet mindestens ein. Volkstracht, Volksbuch, Volks-
lied, Volksschauspiel, Bauernmöbel usw. sind gesunkene Kulturgüter bis in die
kleinsten Einzelheiten hinein, und sie sind es nur langsam, in fast zu errechnendem
zeitlichem Abstand geworden. Mit anderen Worten: Volksgut wird in der Ober-
8 Naturgesetz im Volksleben? HessBllVk 2 (1903) 57 — 64; Neudruck bei Gerhard Lutz,
Volkskunde (Berlin 1958) 67—72, hier 70.
9 Vgl. Erich Seemann, John Meier (1864—1953). Sein Leben, Forschen und Wirken.
Freiburg 1954.
2 Volkskunde
Ä/r;*; ni Wkcv» w\ t rüEnN
18 Hermann Bausinger
Schicht gemacht“.10 Gleichzeitig skizzierte Naumann aber auch die gegenläufigen
Kräfte: „Die Kultur der gebildeten Oberschicht ist in allen ihren materiellen wie
ideellen Erscheinungen immer nur eine besondere Blüte auf dem Wurzelstock der
primitiven Gemeinschaft“; und an anderer Stelle: „Das Persönliche macht das Wesen
der höheren Kultur aus, aber deren Wurzeln liegen, dessen möge man sich bewußt
sein, in der primitiven Gemeinschaft, die ihr ewiger, tiefer und starker Mutterboden
ist“.11 Solche Sätze sind nicht ohne raunende Tiefe und ideologischen Anspruch;
allerdings tritt das Nationale, das wir darin mithören, für Naumann zurück. „Primi-
tive Gemeinschaftskultur“ ist für ihn nicht etwa eine im Rassischen begründete und
im , Völkischen' wurzelnde Sonderform; sie steht vielmehr der Welt der Elementar-
gedanken nahe und ist überall gleich oder ähnlich; ihre Domäne sind die Nahtstellen,
an denen die rein biologische, fast animalische menschliche Existenz in kulturelle
Formen übergeht, und jegliche Kultur gründet nach seiner Auffassung letztlich in
diesem Boden. Was uns aber als Volkskultur vor Augen steht, ist im allgemeinen
nicht etwa die Blüte, die unmittelbar aus diesem Boden herauswächst, sondern ist das
Ergebnis eines Kreislaufs: ausgeprägte Individualkultur zieht ihre Kräfte aus dem
„Mutterboden“ und vermittelt ihre Güter dann an die unteren Schichten.
Hinter dieser verallgemeinernden und gefährlich ,organischen' Metaphorik stehen
bei Naumann aber sorgfältig differenzierende Einzelbeobachtungen zur Geschichte
und zum Leben der einzelnen kulturellen Güter. Beim Märchen unterscheidet er
beispielsweise Märchen und Märchenmotiv — dieses betrachtet er als primitives
Gemeinschaftsgut, jenes als „eine kunstvoll und planmäßig erzählte Novelle, eine
absichtsvoll festgefügte Erzählung, aus dem Kopfe eines Individuums an bestimmtem
Orte und zu bestimmter Zeit entsprungen, der Wanderung fähig, aber auch des Zer-
sprechens fähig, wie das Volkslied des Zersingens, das Volksschauspiel des Zer-
spielens“.12 Unverkennbar handelt es sich für Naumann auch im wertenden Sinne
um eine absteigende Bewegung, die freilich wieder aufgefangen wird durch die be-
fruchtende Kraft des ,Primitiven', das ja nicht nur die Endstation des Absinkprozesses
ist, sondern auch der Anfang, der fruchtbare Boden höherer Kultur.
Es entspricht aber doch einigermaßen der Akzentverteilung in Naumanns Studien,
wenn im allgemeinen nicht das mehr oder weniger systematische Ganze seiner Kultur-
theorie im Bewußtsein ist, sondern vor allem die These vom gesunkenen Kulturgut.
Dies mag auch damit Zusammenhängen, daß diese These, die für Naumann einen
allgemeinen kulturellen Prozeß bezeichnete, ihre besondere Bedeutung und ihre
besondere Problematik hat für die jüngste Vergangenheit, in der die Industriali-
sierung mit all ihren sozialen Konsequenzen eine besonders intensive Durchdringung
der Volkskultur mit Gütern der Hochkultur hervorgebracht hat, in der also — um
den Blick auf unser engeres Thema zurückzulenken — Druckerzeugnisse aller Art
den Markt überschwemmen, eine ausgeprägte literarische Kultur praktisch allen
Schichten wenigstens prinzipiell zugänglich ist, die erweiterte Bildung die Tore der
sicherlich einmal geschlossener, wenn auch nicht geschlossen gewesenen Welt der
Folklore weit aufstößt. Es wird zu überprüfen sein, ob sich Konzept und Begriff der
10 Hans Naumann, Grundzüge der deutschen Volkskunde. Leipzig 1922, 5.
11 Ebda 4 und 6.
12 Ebda 142.
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Folklore und gesunkenes Kulturgut
19
Folklore in diesem in quirlige Bewegung geratenen kulturellen Feld noch halten
lassen.
Dabei dürfen freilich die Bestrebungen nicht übergangen werden, welche den
Begriff Folklore aus einer überwiegend genetischen Bestimmung zu lösen suchten, die
also das für die Folklore Charakteristische nicht in der Flerkunft der Güter, sondern
in den durch die Art der Tradierung bewirkten Formprinzipien sehen. In der deut-
schen Forschung gibt es hierzu mannigfache Ansätze, wenn auch der Begriff Folklore
dabei nicht auftaucht. John Meier etwa bezeichnete das „Herrenverhältnis“ des
Volkes zu dem von ihm übernommenen Liedgut als charakteristisches Moment der
Volksdichtung.13 Hans Naumann schrieb über das Volkslied: „Die ungestörte Volks-
läufigkeit äußert sich in einer fortschreitenden Anpassung an die primitive Gemein-
schaftspsyche. Wir nennen diesen Prozeß ,Zersingen4“.14 Einzeluntersuchungen
dieses Anpassungsprozesses stellten nicht nur den negativen Aspekt des Zersingens
usw., sondern auch die positiven Möglichkeiten der Vereinfachung und der „Selbst-
berichtigung“ heraus, die Walter Anderson als regelrechtes „Gesetz“ der Volks-
dichtung ansah.15 Anderson steht damit der skandinavischen Forschung nahe, die
sich verschiedentlich um die „epischen Gesetze“ der Volkspoesie bemühte; als Ver-
fasser sind neben den schon erwähnten Forschern vor allem noch Axel Olrik und
Moltke Moe zu nennen.
Weniger bekannt als diese skandinavischen Studien sind im allgemeinen die um-
fangreichen russischen Untersuchungen zur Folklore. An den Bylinen, den groß-
russischen Heldenliedern, entzündete sich ebenso wie an den Märchen die Frage nach
dem Wesen und den Grenzen der Volksdichtung. Die Diskussion dieser Frage ist
keineswegs abgeschlossen, und sie entwickelte sich naturgemäß nicht ganz unab-
hängig von zeitweiligen nationalen oder internationalen Strömungen. Angelpunkte
der Diskussion aber blieben die Merkmale der ,Kollektivität4, der Abschleifung im
Prozeß des mündlichen Umlaufs und der Variantenbildung. Dies erinnert unmittelbar
an manche Feststellungen John Meiers oder Hans Naumanns; doch wird man
gerechterweise sagen müssen, daß man sich bei uns fast ausschließlich um eine kultur-
geschichtliche Herleitung der Stoffe und Formen kümmerte, während sich die sowje-
tische Forschung entschiedener und detaillierter bemühte, Folklore als Folklore zu
verstehen.
Geistreich und präzise zogen der sowjetische Folklorist P. G. Bogatyrev und der
Sprachwissenschaftler Roman Jakobson 1929 die Summe aus den vorausgegangenen
Beobachtungen und Theorien.18 Sie weisen die genetischen Probleme zurück; die
Frage nach den Quellen der Folklore liegt für sie wesensgemäß „außerhalb der Folk-
loristik“.17 Statt dessen wenden sie sich der Tradierung und Realisierung der Folklore
13 Vgl. hierzu auch Seemann, a. a. O.
14 Grundzüge der deutschen Volkskunde 1x8.
lo Walter Anderson, Kaiser und Abt. Die Geschichte eines Schwanks. Helsinki 1923,
397—403 (= FFC 42).
16 Die Folklore als eine besondere Form des Schaffens. In: Donum Natalicium Schrijnen
Nijmegen-Utrecht 1929) 900 — 913. Prof. Wolfgang Steinitz hat mir freundlicherweise eine
Kopie dieses nur schwer zugänglichen Artikels vermittelt; darüber hinaus verdanke ich
Gesprächen mit ihm mannigfache Anregungen, wie ich hier dankbar vermerken will.
2*
zu, und anhand dieser Prozesse gelingt ihnen eine prinzipielle Abgrenzung der münd-
lichen Dichtung oder Folklore von der Literatur. Genetisch sind diese beiden Bereiche
auswechselbar; es kommt nicht darauf an, wo ein Werk letztlich herstammt. Der
Unterschied liegt vor allem darin, daß sich ein Werk der Folklore nur als sozialer
Akt verwirklicht, daß es im allgemeinen anderen mitgeteilt — mit anderen geteilt
wird. Diese fast banale Feststellung hat ihre Weiterungen: Weil Folklore diese soziale
Funktion hat, orientiert sie sich an den kollektiven Überzeugungen, an dem herr-
schenden Geschmack der jeweiligen Gruppe. Sie ist so im allgemeinen nicht gerade
avantgardistisch; sie unterliegt der „Präventivzensur der Gemeinschaft“.18 Die beiden
Verfasser erläutern den Sachverhalt an einem Vergleich aus der Sprachwissenschaft.
Man unterscheidet dort langue und parole; dabei ist langue die Sprache als über-
geordnetes und vorgegebenes objektives Gebilde, parole die in der langue begrün-
dete jeweilige Verwirklichung der Rede. In gleicher Weise ist auch die jeweilige Ver-
wirklichung von Folklore gebunden an ein traditionelles, außerpersönliches System;
was vom „Milieu“ nicht akzeptiert wird, „existiert als Tatsache der Folklore einfach
nicht, es wird außer Gebrauch gesetzt und stirbt ab“.19
Es fragt sich, ob der Vergleich glücklich ist: gerade von hier aus ließe sich der
Unterschied gegenüber der Literatur relativieren, die ja ihrerseits als sprachliches
Gebilde der jeweiligen langue verbunden ist. Doch ist die prinzipielle Unterschei-
dung, die von den beiden Forschern anvisiert wird, deutlich: im Gegensatz zur Folk-
lore hat Literatur ihre je individuelle Existenz; sie lebt aus der Privatheit des Dichters
und des Lesers — darüber können auch Hilfsbegriffe wie ,Lesergemeinde4 nicht hin-
wegtäuschen. Sie ist im Prinzip unabhängig von der Überlieferung, da sie in fester
Form niedergelegt ist. Folklore dagegen existiert nur in ihrer Funktion, in der jewei-
ligen Aktualisierung, als Teil der Überlieferung. Man müßte vielleicht korrekter-
weise hinzufügen: und in der Erinnerung; aber diese Erinnerung bildet nur dort eine
tragfähige Brücke, wo sie nach nicht allzu langer Zeit wieder aktualisiert, wieder in
Überlieferung transponiert wird. Dieser Existenzweise der Folklore entspricht die
äußere Form: nicht die feste Gestalt, sondern die Variabilität ist ihr wesensgemäß.
Für die Literatur dagegen ist die Einmaligkeit und Verbindlichkeit, die Authentizität
des Textes charakteristisch — und wo etwa bei Editionen die Authentizität umstritten
ist, beweist gerade die editorische Bemühung, daß der einmalige, fixierte Text die
literarische Erscheinungsform von Dichtung ist.
Solche Überlegungen bedeuteten — Bogatyrev und Jakobson stellten dies selber
fest — eine gewisse „Rehabilitierung der romantischen Konzeption“,20 freilich nicht
im Blick auf die Entstehung der Volkspoesie, wohl aber insofern, als für die Folk-
lore ein Eigenbereich kollektiver Prägung postuliert wurde. Nicht die „Rezeption“
und damit der oft komplizierte und verästelte Vorgang des Absinkens stand im Vor-
dergrund, sondern das „kollektive Schaffen“, das erst diesseits der Grenze zum Lite-
rarischen einsetzt, die Umformung im Bereich der mündlichen Überlieferung, die
,Folklorisierung‘. Ganz in diesem Sinn hat Wolfgang Steinitz beispielsweise seine
Unterscheidung zwischen „Arbeiterlied“ und „Arbeitervolkslied“ getroffen, wobei
Folklore und gesunkenes Kulturgut
21
er dieses auch als „folkloristisches Arbeiterlied“ bezeichnet. Während das Arbeiter-
volkslied sich in „verschiedenen, jeweils von verschiedenen Gemeinschaften gesun-
genen und damit anerkannten Varianten“ verwirklicht, haben die Arbeiterlieder ihre
genormte Gestalt; charakteristisch für sie ist „in textlicher Beziehung ein program-
matischer, agitatorischer Inhalt und ein hymnenartiger, pathetisch-gehobener Stil“.21
Ein Beispiel vermag den Unterschied zu klären. Die kommunistische Internationale
wird zwar, zumal in den östlichen Ländern, häufig gesungen; dabei steht aber stets
die authentische Gestalt im Hintergrund — wenn eine Abweichung in Text oder
Melodie vorkommt, so ist dies keine Variante, sondern ein Fehler, der sich an der
gedruckten Fassung leicht korrigieren läßt.
Als Gegenbeispiel hat Steinitz das sogenannte Leunalied herausgestellt,22 ein Kampf-
lied aus der Arbeiterbewegung nach dem ersten Weltkrieg, das sich auf die verlust-
reichen Kämpfe der Arbeiter im mitteldeutschen Industriegebiet im März 1921
bezieht. Das Lied beginnt oft mit dem Vers „Bei Leuna sind viele gefallen“; aber es
beginnt keineswegs immer so, denn schon die erste Zeile ist der Weiterbildung, der
Umformung, der Variation — eben der ,Folklorisierung‘ ausgesetzt, und unter den
50 aufgezeichneten Fassungen gibt es zwar eindeutige Verwandtschaftsbeziehungen,
aber keine Identität. Die Herkunft des Liedes ist für seine Zuweisung zum „Arbeiter-
volkslied“ nicht erheblich; doch sei sie hier angeführt, weil so das Prinzip der Folklo-
risierung gewissermaßen potenziert wird. Das Leunalied geht nämlich auf ein Sol-
datenlied zurück, das offenbar 1914 entstanden ist, aber nicht in den immer wieder
abgedruckten Kanon der Soldatenlieder einging, sondern seinerseits praktisch aus-
schließlich mündlich tradiert wurde, dementsprechend zahlreichen Umformungen
unterworfen war und viele Varianten bildete. Steinitz zeigt, wie der sentimentale
Ton des Soldatenlieds im revolutionären Arbeiterlied zwar nicht ganz beseitigt wird,
aber doch einen aggressiven Akzent erhält. Dies zeigt die Gegenüberstellung zweier
Strophen:
Eine Kugel, die kam nun geflogen, Da kam eine feindliche Kugel,
Sie durchbohrte dem einen das Herz. Die durchbohrte dem einen das Herz,
Das war für die Eltern ein Kummer, Für die Eltern, da war es ein Kummer,
Für sein Liebchen, da war es ein Schmerz. Für den „Stahlhelm“, da war es ein Scherz.
Ganz entsprechend leuchten in der letzten Strophe dieser Fassung des Soldaten-
lieds Mond und Sternlein „in den Friedhof hinein“, während das Arbeiterlied mit
einem Racheschwur gegen den , Stahlhelnff endet.
In solchen Beispielen ist also Folklorisierung nicht etwa nur negativ zu bestimmen
als zwangsläufige Folge des Fehlens einer verbindlichen (literarischen) Norm, sondern
positiv als aneignende Variation, die für eine definierbare Gruppe, für eine „Gemein-
schaft“ gilt. Der Gedanke liegt nahe, daß dieser Prozeß in unserer Zeit eine auffällige
21 Wolfgang Steinitz, Arbeiterlied und Arbeiterkultur. Beiträge zur Musikwissenschaft
6 (1964) 279 — 288, vgl. 280; ders., Arbeiterlied und Volkslied, in diesem Band 1 —14, vgl. 5.
22 Das Leunalied. Zu Geschichte und Wesen des Arbeitervolksliedes. DJbfVk 4 (1958)
3 — 52. Vgl. Steinitz, Deutsche Volkslieder demokratischen Charakters aus sechs Jahrhun-
derten. Bd. II (Berlin 1962) 423—472; außerdem Hermann Strobach, Variierungstendenzen
im deutschen Arbeitervolkslied. DJbfVk 11 (1965) 183 — 191.
Ausnahme darstellt, daß er sich nur in extremen Situationen einstellt, in denen die
vorübergehende Entfernung vom literarischen Angebot und das starke Engagement
der Gruppe die Ausbildung mündlicher Traditionen fördern. Steinitz’ Untersuchung
des Arbeiterliedes bestätigt also auf der einen Seite die Feststellung von Bogatyrev
und Jakobson, „auch einer vom Individualismus durchsetzten Kultur“ sei „das
kollektive Schaffen durchaus nicht fremd“;23 auf der anderen Seite stempelt sie die
heutige Folklore doch eher zur Ausnahme, versteht darunter eine im wesentlichen
historische Erscheinung. Viele Folkloristen glauben, daß das Ende dieser spezifischen
Überlieferungsform gekommen ist, und tatsächlich lassen sich Beispiele einer zuneh-
menden ,Literarisierung4 auch der volkstümlichen Kultur anführen, welche diese
Annahme wahrscheinlich machen.
Im Bereich des Volksliedes etwa zeigt es sich, daß — ganz im Gegensatz zu jenem
Vorgang freier und variierender Tradition — im allgemeinen die Omnipräsenz der
Vollform jegliche Veränderung unterbindet; wir sind gewissermaßen umstellt von
Liederbüchern und Notenblättern; Schallplatten halten die ,richtige4 Form jederzeit
bereit, und die Dirigenten der Gesangvereine orientieren sich ebenso wie die Lehrer
in den Schulen an der allgegenwärtigen fixierten und genormten Fassung der Lieder.
Entsprechendes gilt für das Märchen. Wo überhaupt Märchen erzählt und nicht vor-
gelesen werden, steht doch im allgemeinen die ausgeführte Fassung der Kinder- und
Hausmärchen gebietend im Hintergrund. Ein sicherer Beweis für das Ende der Folk-
lore scheint auch das Auftreten von „Märchenerzählerinnen“ zu sein,24 die in Einzel-
fällen sogar von dieser Tätigkeit leben wie einst die Erzähler einer im wesentlichen
unliterarischen Kultur, die aber ihre Stücke eben nicht der mündlichen Tradition
verdanken, sondern dem umfassenden weltliterarischen Angebot des Buchmarkts,
und die sich im allgemeinen auch ganz an die gedruckten Fassungen halten und diese
auswendig sprechen. Ihre Wirksamkeit beschränkt sich aber im wesentlichen auf
Schulstunden und auf Abendvorträge vor einem gehobenen, literarisch interessierten
Publikum; verschoben hat sich also nicht nur die Überlieferungsform, sondern vor
allem auch die soziale Funktion.
Dies mahnt zur Vorsicht gegenüber der pauschalen Behauptung vom Ende der
Folklore im alten Sinne; möglicherweise ist diese Behauptung die Folge davon, daß
sich unser Blick beim Stichwort Folklore oder auch Volksdichtung einseitig auf
bestimmte Gegenstände konzentriert, bei denen von freier Variation wirklich kaum
mehr gesprochen werden kann. Dies gilt für das Märchen; es gilt auch für das, was
heute im allgemeinen mit starrer Wertung als Volkslied verstanden wird. Dagegen
scheint sich die Folklorisierung in weniger auffälligen — vielleicht auch: weniger
„schönen“ — Gattungen gehalten zu haben; man denke nur an Kinderlieder, in
erster Linie an die Spiellieder, aber auch an Schlager, die zurechtgesungen und paro-
diert werden, an Fußballerlieder, die in keinem Buch erscheinen, an lustige oder
schreckliche Geschichten, die von Mund zu Mund gehen — und so fort.
Auch eine zweite Überlegung spricht dagegen, einen absoluten Unterschied
zwischen den heutigen und den einstigen Verbreitungsformen zu sehen. Variation,
23 A. a. O. 909.
24 Vgl. die Tagungsprogramme der Gesellschaft zur Pflege des Märchengutes der euro-
päischen Völker.
v, »vvv»j.,- r*.\r*V•’
Folklore und gesunkenes Kulturgut
23
das charakteristische Merkmal der Folklore, ist ja doch nicht beziehungslose Viel-
gestaltigkeit, sondern immer Variation eines Themas, einer Form und Gestalt. Auch
wenn wir von der Mystifikation einer ,Urform4 absehen, gibt es doch in der münd-
lichen Überlieferung Fixpunkte der Orientierung, an denen sich jede neue Aktuali-
sierung vorwärtsbewegt. Hermann Strobach hat gezeigt, daß in Zonen dichter Über-
lieferung die Liedvarianten „fest frieren“ zu einheitlichen landschaftlichen „Versio-
nen.“25 Diese Vereinheitlichung ist nicht nur eine quantitative Konsequenz; sie zeigt
vielmehr, daß es auch und gerade in der Folklore den Anspruch auf Richtigkeit und
Treue gibt. Walter Anderson hat im Zusammenhang mit seiner These von der „Selbst-
berichtigung“ darauf hingewiesen, daß jeder Erzähler, ehe er eine Geschichte in sein
Repertoire aufnimmt, sie im allgemeinen mehrfach hört; gerade diese Mehrgleisigkeit
der Überlieferung trägt also paradoxerweise nicht nur zur Variabilität, sondern auch
zur Begrenzung der Variationen bei.
Denkt man vollends an weniger komplizierte Formen, die im allgemeinen durchaus
zum Bereich der Volkspoesie gerechnet werden, wie Rätsel oder Sprichwörter, so
schrumpft die Variationsbreite auf ein Minimum zusammen. Wenn etwa ein Sprich-
wort variiert wird, so ist im allgemeinen gleichzeitig die „richtige“ Form gegenwärtig;
und nicht selten wird die Variante gar nicht mehr als solche verstanden, sondern als
Fehler — wie die Abweichung eines wenig geübten Gesangvereins von der textlichen
und musikalischen Vorlage. Das bedeutet aber doch wohl, daß die Variation offen-
bar nur ein sekundäres Merkmal ist, das freilich unmittelbar mit dem primären zu-
sammenhängt: mit der Gängigkeit und mit der Aneignung. Dieses primäre Merkmal
aber scheidet auch für literarisch fixierte, ja genormte Güter nicht automatisch aus;
und damit werden auch von diesen Gütern eine ganze Reihe von Fragen herausge-
fordert, die parallel zu den spezifisch ,folkloristischen‘ Fragen laufen: auch an das
Gesangvereinslied können etwa Fragen der Verbreitung, der Beliebtheit, des Stils der
Verwirklichung, der sozialen Funktion usw. herangetragen werden.
Gewiß lassen sich solche Fragen und Untersuchungen systematisch der Literatur-
soziologie oder der Musiksoziologie zuordnen. Aber es ist wohl kein Zufall, daß sie
von den Soziologen weitgehend der Volkskunde überlassen werden. Fehlt auch die
besondere folkloristische Verbreitungsform, das Nur-Mündliche der Tradierung, so
handelt es sich doch um den der Volkskunde vertrauten Geschmacksbereich und um
das vertraute — wenn auch fixierte — Material. Zugespitzt formuliert: ist Folklore
auch in einen unfolkloristischen Zustand mutiert, so ist diese Mutation doch nicht
ohne umfassenderes Verständnis der Ausgangsbasis zu analysieren.
Ein letztes Argument gegen die Annahme restloser Veränderung der Folklore muß
in einen weiteren Zusammenhang gestellt werden, kann aber unmittelbar an Boga-
tyrev und Jakobson anknüpfen, die in ihrem Aufsatz auf den Grenzfall der mittel-
alterlichen Literaturtradition hinweisen; der Abschreiber habe damals das Werk „als
ein der Umbildung unterliegendes Material“ behandelt;26 bis zu einem gewissen Grad
galten also Prinzipien der Folklore in der schriftlichen Überheferung. Nunmehr
scheinen wir am anderen Ende angelangt zu sein: in den mündlichen Überlieferungs-
25 Bauernklagen. Untersuchungen zum sozialkritischen deutschen Volkslied. Berlin 1964,
390.
26 A. a. O. 912.
bereich haben in so starkem Maße Erscheinungen und Prinzipien der Literatur
Eingang gefunden, daß man zunächst mit Recht das Zusammenschrumpfen des
selbständigen Folklore-Feldes konstatiert. Aber es handelt sich nicht um einen
ganz einseitigen Prozeß; Gesetzlichkeiten der Folklore werden durch die intensive
Berührung an die Literatur vermittelt. Die Literarisierung der Folklore wird ergänzt
in einer Gegenbewegung, die man beinahe als Folklorisierung der Literatur bezeich-
nen könnte — nicht in dem Sinne, daß Literatur in die mündliche Überlieferung
übergeht, wohl aber insofern, als bestimmte folkloristische Grundsätze der Tradie-
rung mehr und mehr auch den Bereich der Literatur bestimmen.
Zumindest für den immer größer werdenden Anteil der Konsumliteratur gelten die
im Gegensatz zur Folklore stehenden Überlieferungsprinzipien nur sehr bedingt. Die
Fixierung ist hier äußerer Zustand, nicht innere Notwendigkeit; es handelt sich ge-
wissermaßen um eine statistische, nicht um eine individuelle Einmaligkeit. Die
meisten Fleftreihen der Trivialliteratur sind nicht nur Variationen um die immer
gleichen Themen, sondern auch die Varianten ganz bestimmter Muster. Die häufigen
Urheberrechtsprozesse zwischen Schlagertextern und -komponisten bezeugen, daß
das Copyright in diesem Bezirk vielfach nur eine — freilich höchst lukrative —
Fiktion ist; und bei literarischen Kleinstformen wie den in Hunderten von Zeitungen
und Illustrierten abgedruckten Witzen entfällt der Urheberrechtsanspruch tat-
sächlich.
Für denjenigen, der sich mit solchen Formen befaßt, treten die prinzipiellen Unter-
schiede der Überlieferung fast völlig zurück. Es ist eine Frage der Definition, ob
auch die Erörterung solcher schriftlich fixierter Formen als „folkloristische“ Unter-
suchung bezeichnet wird, oder ob man von der Forderung ausgeht, daß die folklo-
ristischen Fragestellungen hier durch zeitungswissenschaftliche, literatursoziologi-
sche u. ä. ergänzt werden — sie sind jedenfalls bei der Untersuchung nicht zu trennen.
Das Diktat des realen Forschungsgegenstandes verwischt die systematischen Grenzen
wissenschaftlicher Optik: Folklore und Literatur rücken zusammen.
Dieses Zusammenrücken erweist sich auch darin, daß die früher für die Folklore
typischen Stoffe und Formen heute vielfach Gattungen der Literatur darstellen.
Volkslieder sind heute primär Bestandteil von Liederbüchern und Singheften. Mär-
chen sind in Sammlungen gebannt. Witze werden nicht nur weitererzählt, sondern,
wie eben schon erwähnt, auch im Druck verbreitet. Selbst die Sage, die ihrem
Namen nach unmittelbar zur mündlichen Überlieferung gehört, hat ihre literarische
Form gefunden, und manche Sagengeschichte hat — von den poetischen Bearbei-
tungen der Romantik bis zu den Schullesebüchern unserer Gegenwart — mehr
literarische als mündliche Variationen gefunden.
Es bedarf keines Beweises dafür, daß diese Sagen einen anderen Stil und eine
andere Aufgabe haben als das mündliche Erzählgut, daß ganz allgemein die Funktion
der Güter hier eine andere ist als im vorliterarischen Überlieferungsprozeß. Solche
Geschichten, Mären und Lieder gelten dem naiven Konsumenten als alt, schön und
ehrwürdig; die Kritik an ihnen hingegen entlarvt sie nicht selten als sentimentale
Entstellungen, als Volkskultur zweiter Hand. Es muß erwähnt werden, daß diese
Kritik in den geläufigen deutschen Begriff Folklore bis zu einem gewissen Grad ein-
gegangen ist: Folklore ist hier nur für einige wenige international orientierte Wissen-
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Folklore und gesunkenes Kulturgut
25
schaftler vorliterarisches volkstümliches Überlieferungsgut; im allgemeinen versteht
man darunter die pittoresken Darbietungen, die zwar oft lautstark als ursprüngliches
Volksgut proklamiert werden, die aber in Wirklichkeit weitgehend kommerziell
bedingt sind — das show-business heimatlicher Prägung also, das Hans Moser als
„Folklorismus“ kritisiert hat.27 Diese klare Abwertung des Begriffes Folklore scheint
es nur im deutschen Sprachgebiet zu geben, dem der Begriff vorher ohnedies relativ
fremd geblieben war. Sie ist einerseits zu bedauern, da sie die Verständigung er-
schwert, und da sie der Volkskunde unmöglich macht, was vor einem halben Jahr-
hundert wohl noch möglich gewesen wäre: den Ersatz des unscharfen und ideologie-
schwangeren Volksbegriffes28 durch ein neutrales und präziseres Wort. Auf der
anderen Seite aber hat diese terminologische Bedingung wahrscheinlich dazu beige-
tragen, daß hier Folklore erster und zweiter Hand allmählich kritisch — manchmal
fast schon zu kritisch! — unterschieden werden, während in vielen anderen Ländern
der sachliche Unterschied in ähnlicher Weise gegeben, aber noch sehr wenig erkannt
ist.
27 Hans Moser, Vom Folklorismus in unserer Zeit. ZfVk 58 (1962) 177 — 209; und ders.,
Der Folklorismus als Forschungsproblem der Volkskunde. HessBllVk 55 (1964) 9 — 57.
28 Vgl. Hermann Bausinger, Volksideologie und Volksforschung. Zur nationalsozialisti-
schen Volkskunde. ZfVk 61 (1965) 177 — 204.
r
Das Gerät in der Arbeitswelt des Fischers
Zur Tradierung von Gerät und Arbeitserfahrung*
Von Reinhard Peesch
Von allen Teilgebieten der Volkskunde hat nach dem Kriege besonders die Geräte-
forschung einen bemerkenswerten Aufschwung genommen, der in vielen neuen
Bestandsaufnahmen und Sammlungen seinen Niederschlag fand.1 Daß diese Sammel-
arbeit notwendig und dringlich ist, da die Sachgüter bei den älteren Sammelunter-
nehmungen und selbst bei dem größten Unternehmen der neueren Zeit, dem Atlas
der deutschen Volkskunde, nur unzulänglich bedacht wurden, wird allgemein aner-
kannt. Noch umstritten scheint dagegen die Frage zu sein, welcher Platz dem Sachgut
und seiner Erforschung in der Volkskunde zukommt. Endgültig vorbei ist wohl die
Zeit, da man den Sachgütern jedes Daseinsrecht in der Volkskunde abstreiten und sie
in ein anderes Fach verweisen oder ihre Erforschung allenfalls als eine Hilfswissen-
schaft der eigentlichen Volkskunde gelten lassen wollte. Aber auch heute noch fehlt
es nicht an Stimmen, die eine Geräteforschung nicht zu den zentralen Teilgebieten
unserer Wissenschaft zählen, sondern sie eher irgendwo am Rande plazieren möchten.
Andererseits darf die Gefahr nicht verkannt werden, daß wir uns selbst von der
Volkskunde entfernen, wenn wir die wissenschaftlichen Ziele ergologischer For-
schung von anderen Disziplinen entleihen wollten. Umso dringlicher erhebt sich
die Forderung, eine Zielsetzung zu suchen, die der Ergologie als einem volks-
kundlichen Forschungsgebiet gerecht wird.
Der im folgenden vorgelegte Versuch wurde angeregt von einem kleinen, bisher
wenig beachteten Aufsatz von Friedrich Sieber mit dem Titel Die bergmännische
Lebenswelt als Forschungsgegenstand der Volkskunde, der bereits 1959 erschienen
ist.2 Am Beispiel des erzgebirgischen Bergmanns zeigt Sieber, daß nicht nur das
Berufsleben mit dem Arbeitsgerät, mit den Arbeitsgesellungen und Kooperativen,
* Erweiterte Fassung meines Referats auf dem Deutschen Volkskunde-Kongreß in
Marburg 1965.
1 T. Gebhard, Möglichkeiten der Geräteforschung in Deutschland. ZfVk 56 (i960) 94flf.;
G. Wiegelmann, Zur Sachforschung im bäuerlichen Bereich. ZfVk 5 8 (1962) 99 fr.; R. Peesch,
Die Inventarisationsarbeiten des Instituts für deutsche Volkskunde an der Deutschen
Akademie der Wissenschaften zu Berlin auf dem Gebiet der materiellen Kultur. In: 4. Arbeits-
tagung über Fragen des Atlas der deutschen Volkskunde (Bonn 1964) 140 ff.; W. Jacobeit
und R. Quietzsch, Forschungen zur bäuerlichen Arbeit und Wirtschaft im Institut für deut-
sche Volkskunde Berlin. DJbfVk 11 (1965) 59fr. — Über die Rolle, die das einzelne Gerät
im bäuerlichen Tagewerk spielt, liegen die vorzüglichen Untersuchungen von E. Fel und
T. Hofer vor. Vgl. ihren neuen Arbeits- und Erfahrungsbericht „Über monographisches
Sammeln volkskundlicher Objekte“ in der Festschrift Alfred Bühler (Basel 1965) 77ff.
2 DJbfVk 5 (1959) 23 7ff.
Das Gerät in der Arbeitswelt des Fischers
27
mit dem Arbeitswissen und -brauchtum durch die spezifischen Bedingungen und
Arbeitsformen im Bergbau geprägt wird, sondern daß auch die schöpferische Tätig-
keit des Bergmanns in Sage, Lied, Spruch, Fest und bildnerischem Werk sowie sein
gesamtes Leben in der Familie, in der Gemeinde und in überlokalen Ordnungen von
seinen Arbeitserfahrungen und Arbeitserlebnissen her wesentlich bestimmt oder zum
wenigsten getönt werden. Wenn in einer solchen sich historisch wandelnden Lebens-
welt eines Berufs oder einer Berufsgruppe die Arbeit nicht einen beliebigen Sektor
unter mehreren anderen ausmacht, sondern die aktive Kraft ist, die sich in allen
Besonderungen und schöpferischen Leistungen äußert, so stellt sich uns die wichtige
Aufgabe, Charakter und Umfang dieses Sektors, den wir sinngemäß Arbeitswelt
nennen, volkskundlich darzustellen.
Weitere Anregungen für diesen Versuch ergaben sich aus der Diskussion, die seit
langem im Berliner Institut für deutsche Volkskunde um theoretische Fragen geführt
wird. Ihr Ausgangspunkt waren Thesen über den Volkslied-Begriff und über die
Prozesse des Übergangs vom mündlich tradierten Volkslied zur literarisch vermittel-
ten Wort- und Tonkunst, wie sie von Wolfgang Steinitz in seinen Abhandlungen
über das Arbeitervolkslied vertreten werden.3
I. Das Gerät als Objektivation gesellschaftlicher Arbeitserfahrung
und individueller Handfertigkeit
Ich möchte versuchen, an Beispielen aus der Fischerei Vorpommerns die Struktur
einer solchen Arbeitswelt in knappen Umrissen zu skizzieren, wobei die Frage nach
der Tradierung von Gerät und Arbeitserfahrung im historischen Ablauf der letzten
hundert Jahre im Vordergrund stehen soll. Diese Beispiele von Rügen, Hiddensee,
Usedom und vom Darß empfehlen sich deshalb, weil wir die Gerätegeschichte dieses
Gebiets von etwa 1850 bis zur Gegenwart gut überblicken können und hier noch
manche Erscheinung in einer sehr ursprünglichen Form vorfinden.
Betrachten wir den Gerätebestand dieses Gebiets, so fällt als erstes auf, daß neben
modernen Geräten noch immer sehr einfache und recht urtümlich anmutende Geräte
bis heute in Gebrauch sind. Befragen wir den Fischer, so hören wir, daß diese ein-
fachen Geräte ganz oder in ihren Hauptteilen von ihm selbst hergestellt werden.
Damit haben wir zweifellos einen sehr alten Zustand vor uns, den wir mit Torsten
Gebhard eine vorhandwerkliche Stufe nennen können.4 Ein Beispiel, das aus unserer
Inventarisation der Fischereigeräte und Boote im Gebiet zwischen Trave und unterer
Oder stammt, möge illustrieren, was gemeint ist.
Die Fischer von Loddin auf Usedom benutzen für die Fischerei mit Aalangeln im
Achterwasser flache hölzerne Mulden, die so eingerichtet sind, daß sie eine komplette
Angelleine mit 200 Haken und Hakenschnüren aufnehmen können. Sie sind ein
Arbeitsmittel, das dem Fischer zum Ordnen der einzelnen Haken dient, und gleich-
zeitig ein Transportgefäß, mit dem er die Leine vom Arbeitsplatz an Land zum Boot
3 Zuletzt in seinem Vortrag Arbeiterlied und Volkslied. DJbfVk 12 (1966) 1 —14.
4 T. Gebhard, Die Auswertung des Massivholzes in der volkstümlichen Sachkultur und
verwandte Erscheinungen. Bayer. Jb. f. Vk. 1962, 128ff.
28
Reinhard Peesch
transportiert und in dem er sie aufbewahrt, bis sie auf dem Wasser beködert und dann
ausgegeben wird. Jeder Fischer besitzt 12 bis 15 Stück, die von Zeit zu Zeit erneuert
werden müssen, da eine Mulde, wenn sie während der Fangsaison drei Monate lang
täglich benutzt wird, kaum länger als zwei Jahre zu verwenden ist.
Diese Mulden werden aus Kiefernholz gemacht. Hierfür wird sorgfältig ein Stamm
von 3 5 bis 40 cm Durchmesser ausgesucht, der schierklüftig sein muß. Das heißt, es
soll ein gerades Stammstück ohne Astansätze sein, das sich gut spalten läßt. Gleich im
Wald wird der Stamm in Abschnitte von etwa 80 cm Länge geschnitten, die sodann
entrindet werden. Die einzelnen Stücke karrt der Fischer auf seinen Hof, wo sie im
frischen Zustand gleich weiterverarbeitet werden. Zuerst wird jedes Stück mit der
Axt vierkantig gehauen, so daß man ein Kantholz in Stärke von etwa 12 mal 12 Zoll
erhält. Die nächste Arbeit verlangt zwei Mann, also eine Arbeitsgesellung, wie sie
auch im Wald zum Fällen und Sägen des Baumes erforderlich ist. Diese zwei Mann
stellen das Holz senkrecht zwischen sich auf und spalten von einer Seite eine drei Zoll
starke Bohle ab. Damit das Holz in gleichmäßiger Stärke durchspaltet, geht man
dabei in folgender Weise vor: Jeder Partner setzt zunächst seine Axt dicht an seiner
Seite an und zwar so, daß die Schneiden in einer geraden Linie liegen. Mit leichten
Schlägen treibt er sie dann ein, wobei eine zweite Axt als Schlegel dient. Sobald das
Holz zu reißen beginnt, lockern beide die Äxte wieder und ziehen sie heraus, um sie
in Verlängerung des Einschnitts auf den Partner zu ein zweites Mal anzusetzen. Hier
werden sie kräftig eingeschlagen, wodurch sich dann die Bohle richtig abspaltet. In
dieser Weise werden vier oder im günstigen Falle fünf sogenannte Kluften aus einem
Stück gewonnen. Sind alle Stücke gespalten, werden die rohen Spaltlinge sofort wei-
ter bearbeitet. Eine Kluft wird auf den Boden gelegt und mit Holzknütteln festge-
pflockt. Dann stellt sich der Fischer breitbeinig darüber und höhlt das Holz mit dem
Dexel der Länge nach aus. Hierbei achtet er darauf, daß an den Enden ein gehöriges
Stück stehenbleibt, damit das Holz später nicht reißt, und daß in der Mitte nicht
zuviel weggeschlagen wird, damit der Boden des Gefäßes die richtige Stärke erhält.
An den äußeren Abmessungen ändert sich jedoch nichts mehr. Sie sind durch die ersten
Arbeitsgänge bereits festgelegt: Die Länge der Mulde (75 —80 cm) durch die Länge des
Abschnitts vom Stamm, ihre Breite (2 5 — 30 cm) durch die Stärke des zurechtgehauenen
Kantholzes, ihre Höhe (5 cm) durch die Stärke der abgespaltenen Kluft. Nur die Ober-
fläche wird noch weiter bearbeitet. Das geschieht auf der Tochbänk, der Zugbank, wo
die Mulde mit dem Tochmetz, dem mit beiden Händen geführten Zugmesser, ausge-
putzt und geglättet wird. Die fertigen Mulden werden schließlich in einen Schuppen
oder an einen anderen schattigen Platz gestellt, wo sie einige Wochen liegenbleiben, bis
sie gut getrocknet sind. Bevor sie aber benutzt werden, versieht der Fischer j ede Angel-
moll noch mit einem Haselstecken, der an einem Ende der Höhlung knapp 2 cm
unterhalb des Randes in zwei Löcher gesteckt wird. Es ist der Stab, auf den dann die
Angelhaken einzeln eingehakt werden. Und zuletzt kerbt der Fischer mit dem
Taschenmesser am selben Ende sein Namenszeichen ein.
Unser Beispiel macht deutlich, daß die Herstellung eines Arbeitsgeräts auf der
vorhandwerklichen Stufe keineswegs eine so einfache oder gar primitive Angelegen-
heit ist, wie es auf den ersten Blick scheinen mag. Vielmehr sehen wir eine große
Zahl von einzelnen Arbeiten, die an mehreren Arbeitsplätzen einander folgen, mit
Das Gerät in der Arbeitswelt des Fischers
29
bestimmten Arbeitsabläufen und mit ganz verschiedenartigem Werkzeug. Diese
Arbeiten sind nun weder einmalig noch zufällig. Sie werden in gleicher Weise und in
gleicher Ordnung jedesmal wiederholt, wenn sich ein Bedarf an neuen Mulden ergibt.
Und nicht nur unser Gewährsmann hält sich an diese Ordnung, sondern alle Fischer
des Ortes. Sie arbeiten so, wie sie es von den älteren gelernt und erfahren haben. Mit
anderen Worten: Das Gerät wird in völlig traditioneller Weise hergestellt.
Und analysieren wir nun, was eigentlich tradiert wird, so finden wir: Es werden
tradiert
die Kenntnisse vom Rohstoff und von seinen Eigenschaften, aus dem das Gerät
geschaffen wird;
die Kenntnisse von der Bearbeitung des Rohstoffs (wozu die richtige Handhabung
von Säge, Axt, Dexel, Zugmesser und anderem Werkzeug gehört);
die Kenntnisse von der Arbeitsorganisation und der Arbeitsgesellung, die für die
Arbeit erforderlich sind;
die Kenntnisse von der Form des Geräts. Hierher gehört nun die Beobachtung aus
unserer Feldforschung, daß jeder Fischer alle Abmessungen eines Geräts in den her-
kömmlichen Längen- und Zählmaßen auswendig beherrscht, ohne auch nur den
Blick auf ein Exemplar werfen zu müssen. Und diese Abmessungen, die im wesent-
lichen die äußere Erscheinung eines Geräts ausmachen, bilden eben das, was
tatsächlich tradiert wird. Hinzu kommen Dinge, die durch ein Maß nicht aus-
drückbar sind, wie Rundungen, Kanten, Spitzen, Verbindungen und anderes
mehr, die aber der Fischer insofern beherrscht, als er weiß, wo sie hingehören
und wie sie gemacht werden. Tradiert wird demnach das Typische des Geräts:
seine rechte Abmessung und seine rechte Gestalt.
Tradiert werden schließlich die Bezeichnungen für das Werkzeug, den Arbeits-
vorgang und für den Arbeitsgegenstand in allen Stufen vom Rohstoff bis zum ferti-
gen Produkt. Die Bedeutung dieses Punktes wird unterstrichen durch die Erfah-
rung des Etymologen, „daß die Dinge der Natur nicht als solche, sondern in ihrer
Nutzbarkeit für den Menschen sprachlich erfaßt werden und daß dabei Arbeits-
vorgänge eine vordringliche wortspendende Rolle spielen.“5
Wollen wir nun alles, was wir eben als Gegenstand der Tradierung auf gezählt
haben, auf einen Nenner bringen, so können wir sagen: Es ist die gesellschaftliche
Arbeitserfahrung, die tradiert wird.6 Um ein Gerät zu bauen, tritt freilich zu dieser
Erfahrung noch etwas anderes hinzu: die Handfertigkeit, die jeder einzelne durch
Übung erwerben muß. Diese Handfertigkeit, gepaart mit persönlicher Geschicklich-
keit und Erfindungsgabe, bildet dann die unerschöpfliche Quelle, aus der den tradi-
tionellen Formen ständig Neues zufließt. Und zusammenfassend stellen wir fest:
5 J. Trier, Wald. In: Fragen und Forschungen im Bereich und Umkreis der germanischen
Philologie, Festschrift Frings (Berlin 1956) 26.
6 Wir folgen hier Sieber a. a. O., der sagt: „Die Gruppe ist Träger eines Arbeitswissens,
das als Erfahrung überliefert wird.“
30
Reinhard Peesch
Das Gerät, soweit es Gegenstand volkskundlicher Forschung sein kann, ist Objekti-
vation tradierter gesellschaftlicher Arbeitserfahrung und individueller Hand-
fertigkeit.
Wir versuchen nun, Umfang und Art der tradierten Arbeitserfahrung näher zu
bestimmen, indem wir die Plätze, an denen sich die Arbeit vollzieht, einzeln ab-
schreiten.
Der Platz, der in unserem Beispiel an erster Stelle genannt wird, ist der Wald. Was
er dem Fischer bedeutet, ist an seiner erstaunlich großen Kenntnis der verschiedenen
Baum- und Straucharten zu ermessen. Er kennt sie alle, jedoch nicht nur in ihren
botanischen Merkmalen, sondern vor allem in ihren Eigenschaften, die er für seine
Zwecke zu nutzen weiß. Jeder Art fallen dabei ganz bestimmte Verwendungszwecke
zu. Unser Gewährsmann von Loddin auf Usedom verwendet die Kiefer außer für die
Angelmulde auch für den Angelbock, die Pulsstange, den Riemenschaft, den Kesser-
stiel und die Reusenpfähle. Die Fichte nimmt er für den Mast und den Sprietbaum,
den Wacholder für Reusenbügel. Von den Laubbäumen finden Eiche (für Reusen-
bügel, Karrenbäume, Schlittenkufen) und Buche (für Riemenblatt, Garnsucher,
Netzpfähle) die häufigste Verwendung. An weiteren Laubbäumen und Sträuchern
kommen hinzu: Spindelbaum oder Pfaffenhütchen (,Evonymus europd für Netz-
nadeln, Knüttwocken), Weißdorn (für gabelförmige Stützen im Boot), Pappel (für
Wasserschaufel im Boot, Trageholz), Hasel (Stöcke für Netzfischerei zu Eis und für
andere Zwecke), Pflaumenbaum (für Schlegel zum Eintreiben der großen Reusen-
pfähle). In anderen Gebieten unserer Küste verwendet der Fischer auch Hainbuche,
Akazie, Esche und Holunder. Das landschaftliche Vorkommen der verschie-
denen Baumarten spielt bei der Auswahl die entscheidende Rolle. Diese Bäume werden
nun nicht nur genutzt, wenn sie in vollem Wuchs stehen, sondern oft schon als junger
Trieb oder als Stangenholz, wie es der jeweilige Zweck erfordert. Vom ausgewach-
senen Baum gebraucht man außer dem Stammholz auch die Äste, wobei bestimmte
Gabelbildungen, Knie- und Quirlbildungen besonders geschätzt werden, weil sie
gleich in ihrer natürlichen Form für einzelne Geräte oder Geräteteile verwendet
werden können. Hierzu gehört zum Beispiel auch, daß man für bestimmte Zwecke,
etwa für Schlittenkufen, krummgewachsene Bäume aussucht, deren Krümmung dann
dem gewünschten Winkel entsprechen muß. Die Kiefer, die in dieser Beziehung
besonders ergiebig ist, liefert außerdem in ihren langen Wurzeln ein vorzügliches
Bindemittel, das für hölzerne Aalreusen und Hältergefäße gern genommen wird.
Mit dieser Aufzählung sind die Verwendungsmöglichkeiten von Baum und Strauch
keineswegs erschöpft. Denn der Fischer im Dorf besitzt ja in der Regel eine kleine
II. Die Arbeits- und Traditionsbereiche als Ort der Tradierung
Das Gerät in der Arbeitswelt des Fischers
31
erschließt. Hiermit verbinden sich die Kenntnisse von den Arbeitsverfahren und von
der Arbeitsorganisation beim Holzschlag und bei der weiteren Bearbeitung des
Holzes, soweit die Arbeitsverfahren üblicherweise gleich im Wald geschehen. Und
diese Kenntnisse werden im Wald erworben. Von unseren Gewährsleuten erfuhren
wir öfters, daß sie in ihrer Jugend den Vater in den Wald begleiteten, wo sie nach
und nach alles lernten, was sie heute von der Waldarbeit wußten. Wir hörten aber
manchmal auch, daß sie die Kenntnisse von einem Partner erwarben, mit dem sie ge-
meinsam im Wald arbeiteten. Und oft waren Leute dabei, die sich in den Winter-
monaten durch Holzeinschlag als Lohnarbeit für die Forstverwaltung Geld ver-
dienten, so daß auch das Wissen des erfahrenen Waldarbeiters hier einfloß. Dat heww
ick mi allt afkeeken bi’t Toliooparbeiden inn Busch, berichtete einer unserer Gewährs-
leute. Das Wort afkieken, hochdeutsch abgucken, bezeichnet sehr anschaulich den
Vorgang des Tradierens: Der junge Mann arbeitet mit dem Älteren zusammen, dem
er die Kenntnisse abguckt und abhört, denn die mündliche Belehrung gehört sicher
dazu.
Es handelt sich hierbei also um die speziellen Kenntnisse, die an den Wald ge-
bunden sind und nur hier überliefert werden. Der Wald bildet demnach, so können
wir sagen, einen eigenen Arbeits- und Traditionsbereich,7 den wir in seinen
einzelnen Zügen genau charakterisieren, den wir in seinen Wortfeldern sprachlich
bestimmen und den wir auch toponymisch erfassen können.
Für unseren Fischer an der Ostseeküste lassen sich nun mehrere solcher Arbeits-
und Traditionsbereiche erkennen, die wir hier nur in aller Kürze charakterisieren
können.
Neben dem Wald steht als Bereich in diesem Sinne der kleine Acker, auf dem der
Fischer früher Flachs für das feine Netzwerk und Hanf für die groben Zugnetze und
für das Tauwerk anbaute. Der Acker erbrachte außerdem Kartoffeln und etwas
Futtergetreide. Zu mehr reichte es selten. Die Arbeit auf dem Acker war entsprechend
gering. Der Fischer besorgte das Pflügen, bevor im Frühjahr die Fangsaison begann,
und half bei der Ernte, wenn im Sommer die Fischerei unbedeutend war oder ganz
eingestellt wurde. Die meisten Arbeiten mit dem Flachs und dem Flanf fielen ohnehin
der Frau zu.8
Größere Bedeutung kommt dem Strand als Arbeitsbereich zu. Auch er liefert
bestimmte Rohstoffe, die der Fischer für sein Gerät benötigt: Rohr und Binsen, dann
Steine als Beschwerung für die Treib-, Setz- und Zugnetze. Vor allem aber ist der
Strand ein wichtiger Arbeitsplatz.9 Hier versammeln sich die Fanggemeinschaften,
um die Großgeräte zusammenzusetzen, zu ergänzen und für den Fang herzurichten
und um die gemeinsam gehaltenen Boote in Stand zu halten. Hier werden die Fische
7 Auch J. Dünninger verwendet in seiner zusammenfassenden Darstellung Hauswesen
und Tagewerk (Deutsche Philologie im Aufriß Bd. 3, 2866f.) den Begriff Arbeitsbereich,
ohne ihn jedoch zu erläutern oder näher zu bestimmen.
8 Welche bedeutende Rolle der Bereich des Ackers früher im Arbeitsleben der ostelbischen
Güter spielte, zeigt I. Weber-Kellermann in ihrer Habilschrift: Erntebrauch in der ländlichen
Arbeitswelt des 19. Jahrhunderts. Marburg 1965.
9 Vgl. hierzu meine Darstellung: Die Fischerkommünen auf Rügen und Pliddensee. Berlin
1961.
32 Reinhard Peesch
angelandet, sortiert und in Kisten gepackt. Hier liegen auch die großen Trocken-
plätze, wo am Ende des Arbeitstages die Netze zum Trocknen auf gehängt werden.
So bildet der Strand für die Fanggemeinschaft einen bedeutsamen Ort mit eigener
Arbeitsordnung und eigener Arbeitstradition.
Am Strand beginnt das Fischereigewässer als der eigentliche Arbeitsbereich
des Fischers. Was hierzu gehört, kann ich nur aufzählen: Kenntnisse des Gewässers
(Tiefen und Untiefen, Strömungen, Eisverhältnisse usw.), Kenntnisse der Fische
(Arten, Standorte, jahreszeitliche Lebensgewohnheiten, Laichzeiten, Laichplätze
usw.), Kenntnisse des Wetters (gerade die Witterung beeinflußt die Verhaltensweisen
der Fische sehr stark), Kenntnisse der Handhabung von Fahrzeug und Fanggerät,
Kenntnisse der zweckmäßigen Arbeitsgesellung und des rechten Arbeitsablaufes.
Das alles bildet für den Fischer einen innig miteinander verwobenen Komplex tradier-
ter Arbeitserfahrung, die für die Arbeit auf dem Wasser Voraussetzung ist.
Einen Bereich ganz anderer Art bildet der Markt in der Stadt, auf dem früher der
Fisch feilgeboten wurde. Hierfür wurden besondere Transport- und Hältergefäße
benötigt, außerdem Waagen, soweit manche Fischsorten nach Gewicht verkauft
wurden. Was diesen Bereich volkskundlich bedeutsam macht, ist der Umstand, daß
der Fischer oder vielmehr seine Frau, der in der Regel der Fischverkauf in der Stadt
oblag, hier aus dem ländlichen Milieu heraustritt und in Berührung mit der städti-
schen Welt gerät. Diese Kontakte beschränken sich in erster Linie auf die Sphäre des
Handels, die dem Fischer die im Kleinhandel geltenden Zählmaße, Gewichts- und
Geldeinheiten und dazu das hier übliche Geschäftsgebaren vermitteln, aber auch die
auf dem Markt herrschende städtische Umgangssprache. Doch dürfte auch für manch
andere Erscheinung der städtische Markt Vermittler zwischen Stadt und Land ge-
wesen sein.
Im Mittelpunkt dieser so verschieden gearteten Arbeits- und Traditionsbereiche
steht der Hof des Fischers. Topographisch gesehen ist er der kleinste Bereich, an der
Arbeit gemessen, die hier geleistet wird, zählt oder zählte er früher jedoch zu den
wichtigsten. Denn hier vollbrachte der Fischer den größten Teil seiner Winterarbeit:
das Aufbereiten des Flachses und Hanfes, das Knüpfen des in großer Menge benötig-
ten Netzwerks, das Schlagen der Reepe und Leinen, das Nähen der Segel, das Her-
stellen der hölzernen Geräteteile und schließlich das Einstellen und Zurichten des
Fanggeräts. Gewöhnlich besitzt jeder Fischer auch heute noch eine Gerätekammer,
in der er Fanggeräte und neue Geräteteile aufbewahrt und wo er auch das Werkzeug
hält, das er für seine Arbeit auf dem Hof benötigt: eine Zugbank, oft auch eine
Hobelbank, eine Knüttbank mit Knüttgabel, dazu Säge, Axt, Dexel, Hammer,
Zange, Bohrer, Schleifstein und anderes. Er besitzt in der Regel einen Kessel mit
Dreibein, in dem die neuen Netze geloht oder geteert werden. Der Fischer benutzt
aber auch die Einrichtungen des Hofes, die eigentlich für andere Zwecke bestimmt
sind, etwa den Backofen, in dem er die Eichenknüttel erhitzt, um sie dann als Reusen-
bügel oder Pfahlklampen in die passende Form zu biegen. So tritt der Fischerhof als
ein eigener Arbeitsbereich in Erscheinung, der für uns aus dem Grunde von beson-
derem Interesse ist, als hier die geschlechtliche Arbeitsteilung, wie wir sie aus klein-
bäuerlichen Verhältnissen ja kennen, volle Geltung besitzt.
Das Gerät in der Arbeitswelt des Fischers
33
III. Die Reduktion der traditionellen Arbeitswelt
Überblicken wir alle diese verschiedenartigen Arbeitsbereiche des Fischers, wie
wir sie uns vor hundert Jahren für unser Gebiet in vollem Umfang vorstellen müssen,
so entsteht das Bild einer einheitlichen Arbeitswelt. Sie ist noch einheitlich
insofern, als der Fischer alle Rohstoffe und natürlichen Gegebenheiten, die ihm die
Umwelt bietet, für seine Zwecke und auf seine Art zu nutzen weiß. Er überschaut, er
kennt und beherrscht seine Umwelt in allen Bereichen, die für sein Arbeitsleben von
Bedeutung sind. Auch im Vergleich zur Stadt und ihrer Arbeitsstruktur vor hundert
Jahren ist seine Arbeitswelt noch eine einheitliche Welt. Denn sie kennt noch nicht
die konsequente gesellschaftliche Arbeitsteilung, die für die Stadt in Handwerk und
Gewerbe charakteristisch ist.
Freilich ist auch zu jener Zeit der Fischer nicht autark in dem Sinne, daß er nun
sämtliches Gerät in allen Teilen selbst anfertigt. Er benötigt manches, was ihm die
Dorfhandwerker hersteilen. An erster Stelle ist hier der Schmied zu nennen. Um
welche Dinge es dabei geht, erfuhren wir vom Dorfschmied von Born auf dem Darß.
Es sind Aal- und Hechteisen, Aalhauen, Eisäxte, Piekhaken, Schlitten- und Boots-
beschlag, Anker, Dreibeine für den Teerkessel, Eissporen und Schlittschuhe. Die
meisten dieser Dinge sind eigentlich nur Geräteteile, die zum vollständigen Arbeits-
gerät erst vom Fischer komplettiert werden, indem er das Eisen mit einer hölzernen
Handhabe versieht, sei es nun ein Schaft, ein Stiel oder eine längere Führungs-
stange. Der Fischer ist also auch an der Herstellung dieser Geräte entscheidend be-
teiligt, wie er auch als Auftraggeber dem Schmied seine speziellen Wünsche angeben
und in dieser Weise die Formgebung beeinflussen kann. Und es ist sehr bemerkens-
wert, daß sich die Schmiedemeister im allgemeinen an die lokal tradierten Formen
halten, auch wenn sie, was häufig vorkommt, an einem entfernten Ort in die Lehre
gegangen sind, wo andere Formen üblich waren. Umgekehrt sind allerdings auch
Fälle bekannt, daß die Dorfschmiede Neuerungen eingeführt und durchgesetzt
haben.
Im Laufe des Jahrhunderts kommen andere Dorfhandwerker hinzu. Wie hier
stufenweise der Übergang von der Selbstherstellung zur handwerksmäßigen Anferti-
gung vollzogen wird, können wir am Beispiel des Bootsbaus gut verfolgen.10 Um
die Mitte des Jahrhunderts werden in den Dörfern der Odermündung und des Haffs
die Fischerboote allgemein noch von Fischern oder von Zimmerleuten hergestellt,
die diese Arbeit als Nebenerwerb oder Saisonarbeit betreiben. Erst gegen Ende des
Jahrhunderts treten einzelne zunftmäßig ausgebildete Bootsbauer auf, bis dann zwei
Jahrzehnte später Boote nur noch in Bootswerften gebaut werden, die von einem
Meister geleitet werden. Aber bis in die jüngste Zeit liefert auch die Werft das
Fischerboot in der Regel ohne Ausrüstung. Mast und Sprietbaum, Segel, Riemen,
Aufsatzgabeln zur Halterung der Geräte, Kahnschippe und anderes Zubehör baut
sich der Fischer selbst. Und ein besonders schönes Beispiel für die Beteiligung des
10 Ausführlich behandelt von W. Rudolph, Die Übergangsformen zwischen Einbaum und
Plankenboot an der südlichen Ostseeküste. Phil. Diss. Berlin 1965.
3 Volkskunde
34
Reinhard Peesch
Fischers liefert uns Rostock, wo zwar der Bootsbauer die großen eichenen Riemen
herstellte, der Fischer aber ihnen erst die richtige gekrümmte Form gab, indem er sie
selbst über offenem Feuer zurechtbog.
Ähnliche Übergänge beobachten wir bei der Herstellung anderer Geräte. Wenn
z. B. die Fischer von Usedom beim Stellmacher einen Schlitten oder eine Karre be-
stellten, so war es bis in die jüngste Zeit üblich, dem Handwerker das krummgewach-
sene Eichenholz in die Werkstatt zu liefern, das er für die Schlittenkufen bzw. für die
Karrenholme benötigte. Offensichtlich handelt es sich hier um Erscheinungen, die
wir für die Periode des Übergangs als charakteristisch ansehen müssen.
Wenn, wie diese Beispiele deutlich machen, die Arbeitsteilung durch das Dorf-
handwerk sich nur partiell und nur sehr langsam durchsetzte, so bewirkte sie doch
eine allmähliche Reduktion der Arbeitsbereiche unseres Fischers. Der Charakter der
dörflichen Arbeitswelt wurde hierdurch jedoch nur geringfügig verändert.
Ganz andere Kräfte waren es, die dann ihre schnelle Umwandlung verursachten.
An erster Stelle ist hier zu nennen: die industrielle Produktion von Arbeitsmitteln,
die für die Fischerei im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts einsetzt. Die Mechanische
Netzfabrik von Itzehoe, 1873 gegründet, produzierte als erstes Unternehmen dieser
Art in Deutschland Netzwerk für alle Zwecke in den verschiedensten Garnstärken
und Maschenweiten aus Flachsgarn wie aus dem neuen Baumwollgarn. Diese Fabrik
ebenso wie die später gegründeten Unternehmen lieferten dem Fischer nicht nur
Netzwerk in Standard-Ausführung, das er selbst zurechtschneiden und einstellen
mußte, sondern boten ihm sogar komplette Spezialnetze in den landschaftlich üblichen
Abmessungen an. Trotzdem übernahm der Fischer nur sehr langsam diese Neuerung.
Noch 1886 klagte die Netzfabrik von Itzehoe in ihrem Geschäftsbericht: „In Deutsch-
land selbst ist der Konsum an mechanisch gewirkten Netzen noch immer ein sehr
geringer. Das wird nicht allein der Abneigung unserer Fischer gegen Neuerungen,
sondern auch ihrer dürftigen Lage zugeschrieben.“11 Tatsächlich erfolgte der Über-
gang in zwei Etappen. Bis um 1900 etwa setzte sich in unserem Gebiet das industriell
gefertigte baumwollene Netzzeug für die feineren Treib- und Setznetze durch, bis
um 1920 dann auch das grobe Netzwerk für Zugnetze und Kammerreusen.
In den zwei Jahrzehnten vor 1900 gingen die Fischer dazu über, auch das Tauwerk
von den Fabriken zu beziehen, nachdem die städtischen Reepschlägermeister, die vor
allem den großen Bedarf der Segelschiffahrt befriedigten, die Stadtfischer auch schon
früher mit Reepergut belieferten. Zugleich verwendete man jetzt auch industriell her-
gestellte Angelhaken, die zuerst aus England und Norwegen bezogen wurden, bevor
in Deutschland die Produktion von Angeln aufgenommen wurde. Erheblich später
begann dagegen die Motorisierung. 1910 wurde der erste Motor in einem rügischen
Fischtransportboot installiert, dem bis zum ersten Weltkrieg nur wenige folgten.
Erst nach 1924 fand der Motor in Fischereifahrzeugen der Küste und der Binnen-
gewässer schnellen Eingang, wobei zuerst Glühkopfmaschinen aus Dänemark und
Schweden überwogen. Mitte der 30er Jahre hatte sich die Motorisierung dann so weit
durchgesetzt, daß in der Regel auch neue Boote gleich mit einem sogenannten Motor-
steven ausgestattet wurden.
11 Mitt. d. Sect. f. Küsten- u. Hochseefischerei 1887, 183.
Das Gerät in der Arbeitswelt des Fischers
35
Im engen Zusammenhang mit dem Eindringen dieser technischen Neuerungen
standen Bestrebungen, die Fischereiproduktion durch Aufklärung und Weiter-
bildung der Fischer zu heben. Diesem Zweck dienten die Fischereivereinigungen, die
im selben Zeitraum entstanden. In Berlin wurde 1870 der Deutsche Fischerei-Verein
gegründet, seit 1885 mit einer „Section See- und Küstenfischerei“. Ihm folgten
Provinzialvereine und landwirtschaftliche sowie lokale Vereine, die sich als korpo-
rative Mitglieder dem allgemeinen Verein anschlossen, wie in unserem Gebiet der
Fischerei-Verein für das pommersche Haff zu Wollin, der schon 1878 gegründet
wurde, und viele andere. Die lokalen Vereine sahen ihre Aufgabe darin, das Fischerei-
wesen zu verbessern, z. B. durch Einrichtung und Unterhaltung von Brutanstalten,
Einsatz von Jungfischen, Beseitigung von Fischräubern und andere Maßnahmen,
sowie die Interessen der Fischereiberechtigten in den häufig vorkommenden Streit-
sachen wahrzunehmen. Da diese Vereine jedoch zumeist von Grundbesitzern, Groß-
pächtern, Großfischern und Fischhändlern beherrscht waren, hielt sich die Masse der
Kleinfischer abseits.
Stärkeren Einfluß auf den Fischer gewannen dagegen die Zeitschriften, die von
diesen Vereinigungen herausgegeben oder redaktionell gefördert wurden, wie das
in unserem Gebiet sehr populäre Wochenblatt Deutsche Fischerei-Zeitung, das
bereits seit 1878 in Stettin erschien, und die Fischerei-Zeitung, ebenfalls ein
Wochenblatt, das seit 1898 in dem bekannten Verlag Neumann in Neudamm heraus-
gegeben wurde. Diese Blätter machten sich dem Fischer nützlich, indem sie regelmäßig
die Verordnungen und Ankündigungen der Behörden und Mitteilungen aus den
Vereinen veröffentlichten. Sie bildeten aber auch das Organ, in dem nun Biologen,
Wirtschaftswissenschaftler und Fischereipraktiker in allgemeinverständlichen Auf-
sätzen neue Ergebnisse der Forschung und neue Erfahrungen in der praktischen
Arbeit bekannt machten. Hinzu kamen Berichte über die Fischereiverhältnisse in
anderen Ländern, wobei auch Schilderungen aus fernen exotischen Ländern nicht
fehlten. Mit diesen populären Fachzeitschriften trat eine ganz neue Art der Vermitt-
lung von Arbeitskenntnissen, nämlich die Vermittlung auf literarischem Wege,
neben die mündliche Tradierung der Arbeitserfahrung. Und es besteht kein Zweifel,
daß hierdurch nun auch die Einführung der industriellen Neuerungen erheblich be-
schleunigt wurde, wobei der Umstand nicht unerwähnt bleiben darf, daß die Fabri-
ken ihre neuen Produkte in den genannten Blättern Woche für Woche auf den Annon-
censeiten anpriesen.
Der Übergang vom selbstgefertigten zum industriellen Produktionsmittel, der im
letzten Drittel des 19. Jahrhunderts zögernd begann und erst nach der Jahrhundert-
wende schneller vorankam, fand um 1930 einen gewissen Abschluß. Der Fischer ver-
wendete jetzt hauptsächlich nur noch Geräte und Geräteteile, die die Fabriken fertig
lieferten. Und schließlich entwickelte die Industrie ganz neuartige Stoffe, ich denke
hier an die Perlon- und Dederonfäden, die auch die Form und Verwendungsweise
des Geräts revolutionierend beeinflußten. In dem Maße, in dem sich diese gesell-
schaftliche Arbeitsteilung in der Fischerei allmählich durchsetzte, veränderte sich
gleichzeitig auch die traditionelle Arbeitswelt des Fischers. Denn die Arbeit, die er
zusammen mit seiner Familie vor 100 Jahren noch für die Herstellung seiner Arbeits-
mittel aufwenden mußte, verringerte sich im gleichen Maße. Der Umfang seiner
3*
36
Reinhard Peesch
Arbeitsbereiche schrumpfte zusammen, bis letzten Endes nichts weiter übrig blieb als
ein Bereich: die eigentliche Fischerarbeit auf dem Wasser, während sich die anderen
Bereiche nur noch in Relikten erhielten und auch dies nur in wenigen abgelegenen
Gebieten.
Hiermit ist die Reduktion der Arbeitswelt unserer Fischer jedoch noch nicht abge-
schlossen. Die letzte Stufe wird erreicht, wenn die Fischer zur modernen Kutter-
fischerei übergehen, ein Vorgang, der in unserem Gebiet erst im letzten Jahrzehnt
in größerem Umfang zu beobachten ist.12 In diesem Augenblick erfolgt dann eine
weitere und für die jüngste Periode sehr charakteristische Arbeitsteilung. Auf dem
Kutter führt nicht mehr jedermann jede anfallende Arbeit aus, sondern einer widmet
sich ganz der Nautik (als Kutterführer), ein anderer der Wartung der Kraftmaschine
(als Maschinist), während die übrigen (als Bootsleute) die Fanggeräte bedienen. Wie
sich auf größeren Fangschiffen die Arbeitsteilung weiter vervollkommnet, brauche
ich nicht auszuführen. Auf eine andere Erscheinung in diesem Zusammenhang muß
ich jedoch hinweisen, da sie auch die volkskundliche Fragestellung berührt. Zugleich
mit dieser jüngsten Arbeitsteilung verändert sich nämlich die Ausbildung des Fischers
in entscheidender Weise. Der Junge besucht jetzt eine Fachschule, wo ihm die fach-
lich-theoretischen Grundlagen und die Kenntnisse moderner Technik vermittelt
werden, ohne die er in einer technisierten und teilweise schon automatisierten Arbeits-
welt seinen Beruf nicht mehr ausüben kann. Und diese Fachausbildung auf litera-
risch-wissenschaftlicher Grundlage löst schließlich die alte, nur mündlich tradierte
Arbeitserfahrung völlig ab, die, wie wir sahen, ohnehin schon stark reduziert war.
In dieser Zeit der Umwandlung alter gesellschaftlicher Ordnungen fällt dann der
Volkskunde die Aufgabe zu, mit ihren Mitteln die Formen und Prozesse des Über-
gangs aufzunehmen und festzuhalten, bevor das Neue die endgültige Herrschaft an-
tritt.
12 Auf kapitalistischer Grundlage setzt jedoch die moderne Hochseefischerei mit Fisch-
dampferbetrieb in Hamburg-Altona, Cuxhaven, Bremerhaven und anderen Orten der Nord-
seeküste bereits im letzten Drittel des 19. Jhs ein.
Rebmesser und Kelter
Die mitteleuropäischen Beziehungen zweier Geräte der Weinkultur,
dargestellt an Museumsmaterial aus der DDR
Von Rudolf Weinhold
Fast dürfte es etwas vermessen erscheinen, wenn man das Thema des Weinbaus
und — als spezielles Anliegen — der damit verbundenen Erscheinungen der Volks-
kultur in einem geographischen Bezirk aufgreift, der heute nur selten zu den bekann-
ten Rebgebieten gerechnet wird. Die Weinbaufläche an Elbe, Saale und Unstrut ist
klein. Sie beträgt nach neuesten Berechnungen knapp 300 ha.1 Freilich ist dieses
Areal nur der Rest eines ehedem großen Anbaugebietes, das in seiner besten Zeit
etwa 10000 ha umfaßt haben dürfte (Abb. 1). Im 14., 15. und 16. Jahrhundert brei-
teten sich Weingärten und -berge an Saale und Unstrut, im Thüringer Becken (mit
Konzentrationen um Erfurt, Arnstadt und Gotha) sowie im Tal der Elbe zwischen
Pirna und Meißen. Weitere, kleinere Vorkommen lagen verstreut im sächsischen
1 Genau 295 ha. Statist. Jb. der DDR 1965, Berlin 1965, 247.
38 Rudolf Weinhold
Flachland, in den Lausitzen, nördlicher um Belzig, Wittenberg, Jessen und Schwei-
nitz, aber auch noch an der Havel und im Harzvorland. Über das Schicksal dieser
Kulturen sei so viel gesagt, daß sie durch ökonomische und soziale Veränderungen
im 17. und 18. Jahrhundert sowie durch die Reblauskatastrophe nach 1880 dezimiert
wurden, beinahe erloschen und seit der Jahrhundertwende einen erfreulichen Regene-
rationsprozeß auf schmaler, aber solider Basis erleben.
Urkundliche Nachrichten informieren uns über die Herkunft dieses Weinbaus aus
weiter westlich gelegenen Territorien. Er dürfte zwischen dem 10. und 12. Jahrhun-
dert von Mainfranken her in unseren Landschaften Fuß gefaßt haben. Daß er bei
seinem Einzug bereits auf eine ältere, vom Südosten geprägte slawische Rebkultur
stieß, ist mitunter behauptet, aber nie bewiesen worden. Spätere Einflüsse aus dieser
Richtung — im wesentlichen von Ungarn her — beschränken sich nach bisherigem
Wissen auf die Einfuhr von Setzlingen. Vom Westen wiederum kamen aus Württem-
berg und Franken im 17. und 18. Jahrhundert Winzer, die gelegentlich auch fremdes,
neues Gerät mit sich führten.
Leider ist vom Werkzeugbestand des Weinbauern, der seine Arbeit im Dienste
bzw. im Pachtverhältnis weltlicher oder geistlicher Grundherren, seltener als freier
Mann verrichtete, in den Museen wenig erhalten geblieben. Nennenswerte Samm-
lungen befinden sich in Meißen und Hoflößnitz an der Elbe sowie in Freyburg an der
Unstrut. Sie umfassen Geräte der Berg- und Kellerwirtschaft: Hacken, Karste,
Spaten, Messer, Senkhaken, verschiedene Arten von Hohlgefäßen, die beim Trans-
port von Trauben, Most und Wein Verwendung fanden, sowie Keltern, Preßbeile
u. a. m.
Abb. 2. Römisches Rebmesser (Weinmuseum Speyer). Die Vorlagen zu den Abbildungen
2 bis 11 zeichnete Ursula Berger, Dresden
Die Erkenntnisse der Agrarethnographie zeigen, daß es in gewissen Grenzen mög-
lich ist, aus der Gestalt eines Gerätes Aussagen abzuleiten über seine Funktion, aber
auch über seine genetischen Beziehungen. Für den Bereich des Weinbaus ist eine
solche Einsicht erstmalig durch Friedrich v. Bassermann-Jordan gewonnen worden,
der die antiken Winzermesser, die in der Pfalz gefunden worden waren, in solche mit
bzw. ohne Securis — einen beilartigen Fortsatz am Rücken des Werkzeuges,
der zum Abschlagen von Astwerk und Wurzeln diente — aufgliederte2 (Abb. 2
und 3). Er nahm für die erste Form einen griechischen, für die zweite einen italischen
Ursprung an. Die Anregung zu einer Differenzierung hat später Istvän Vincze
bei seiner Untersuchung der ungarischen Rebmesser aufgegriffen und damit recht
2 F. v. Bassermann-Jordan, Der Weinbau der Pfalz im Altertum. Speyer 1946, 6/7.
Rebmesser und Kelter
39
aufschlußreiche Ergebnisse erzielt.3 Es gelang ihm, auch den reichen Formenbestand
der ungarischen Keltern auf einige Grundtypen zurückzuführen und diese morpho-
logisch-genetisch einzuordnen.4 Er gewann seine Einsichten durch jahrelange Stu-
dien der Weinkultur des Karpatenbeckens, im
transkarpatischen Rumänien, in Bulgarien, in
der Krim und in Transkaukasien.5 Setzt man
seine Feststellungen in Beziehung zu den Hypo-
thesen v. Bassermann-Jordans, so ergeben sich
— Erkenntnisse.
Das Messer mit Securis dürfte ehedem vor
allem in den östlichen Mittelmeerländern, im
südwestlichen Kleinasien, an der Schwarzmeer-
küste westlich der Donaumündung, in Gallien
sowie im linksrheinischen Germanien verbreitet
gewesen sein. Weiter nach Osten hin, aber auch
in der Moldau, Oltenien und der Dobrudscha,
kannte und kennt man es wenig oder gar
nicht. Das Gebiet seines Vorkommens läßt
darauf schließen, daß es im griechischen Kulturkreis entstanden ist. Es ist ein Gerät,
das sich besonders für die Bearbeitung der am Stock erzogenen Rebe eignet — eine
Methode, die die Griechen bereits im Altertum mit großem Erfolg ausbildeten. Mit
der griechischen bzw. hellenistischen Rebkultur gelangte dieses Messer nach Osten,
Norden und dem westlichen Mittelmeer. Vom phokäischen Massalia aus fand es im
Laufe der weiteren Ausbreitung des Weinbaus seinen Weg rhoneaufwärts nach
Gallien, von dort ins Moseltal, in die Pfalz und zum Rhein. Sein Vorkommen auf
dem heutigen deutschen Gebiet belegen eine Reihe von Bodenfunden.6
Die Form des Messers ohne Securis läßt auf seine ursprüngliche Verwendung zur
Arbeit an Kletterpflanzen schließen. Noch heute wird die Rebe an Bäumen rankend
in armenischen und grusinischen Landschaften gezogen, also in jenen Gebieten, die
man mit großer Wahrscheinlichkeit als Ursprungsland ihrer Kultur bezeichnen darf.
Von Transkaukasien aus wurde das Messer ohne Securis, wohl auch mit den spezi-
fischen Anbauweisen (als Ranken an Bäumen oder auf pergolenähnlichen Konstruk-
tionen), westwärts verbreitet. Wir finden es, neben dem Typ mit Securis, in ganz
3 I. Vincze, Rebmesser in Ungarn. Acta Ethnographica 7 (Budapest 1958) 61—95.
4 Ders., Ungarische Weinkelter. Acta Ethnographica 8 (Budapest 1959) 99 — 129; ders.,
Verfahren und Geräte der Weinkelterung unter besonderer Berücksichtigung des Wein-
gebietes von Nordostungarn. Acta Ethnographica 10 (Budapest 1961) 295 — 326. Eine aus-
gezeichnete zusammenfassende Darstellung für Westeuropa lieferte Charles Parain in seiner
Studie: Vorindustrielle Pressen und Keltern und ihre Verbreitung in Westeuropa. DJbfVk
8 (1962) 338 — 350.
5 Zusammenfassend erstmalig dar gelegt in einem Referat beim VII. Internationalen Kon-
greß der Anthropologischen und Ethnologischen Wissenschaften, Moskau August 1964:
Vergleichende geschichtlich-volkskundliche Untersuchungen des osteuropäischen Wein-
baus.
6 Zusammenfassend neuerdings bei F. Sprater, Rheinischer Wein und Weinbau. Heidel-
berg 1948, 22/23.
folgende — vorläufige
Abb. 3. Römisches Rebmesser mit
Securis (Weinmuseum Speyer)
40
Rudolf Weinhold
Europa bis zur Iberischen Halbinsel.7 Ungeklärt bleibt vorläufig weithin, in welchem
Verhältnis die durch diese zwei Messertypen repräsentierten Kulturzüge zueinander
stehen, also die Wege ihrer späteren Verbreitung, ihre Träger, ihre historischen
Beziehungen und Durchdringungen. Diesen Fragen wird sich die ethnographische
Forschung in den kommenden Jahren widmen müssen.
Nach diesem historisch-ethnographischen Exkurs soll versucht werden, die skiz-
zierten methodischen Ansätze auf ihre Verwendbarkeit an den in der DDR zur Ver-
fügung stehenden musealen Belegen von Rebmessern zu überprüfen.
Dabei fällt sofort auf, daß das alte winzerliche Schnittgerät nach Ausweis des bis
jetzt greifbaren Materials nur in einer der beiden in Mitteleuropa existierenden For-
men auftritt, nämlich als einfaches Krummesser. Die jüngsten Stücke (Abb. 4)
— dieses Werkzeug wurde in Deutschland um die Jahrhundertwende fast überall von
Abb. 4. Unten Klappmesser („Hippe“) L. 23 cm (Museum Werder), oben Rebmesser L. 18 cm
(Museum Freyburg/Unstrut)
Abb. 5. Doppelmesser („Knief“) L. 28 cm (Museum Werder)
der Schere abgelöst — sind verhältnismäßig klein. Die mehr oder weniger stark ge-
bogene Klinge steht fest oder läßt sich in den Griff einklappen. Eine Sonderbildung
ist das Doppelmesser (Abb. 5), dessen eines Blatt zum ziehenden Schnitt von Holz
und Trauben eingerichtet war, während das andere mit schiebendem Druck geführt
werden konnte. Ältere Belege des Rebmessers sind vorläufig sehr selten (Abb. 6).
Zwei Stücke aus einem wahrscheinlich mittelalterlichen Bodenfund befinden sich
im Museum Kölleda, stammen also aus dem alten thüringischen Weinbaugebiet. Sie
7 F. Galhano, Mais alguas notas sobre ferramenta agricola. Trabalhos de Antropologia e
Etnologia 18 (Porto i960) Heft 1 — 2, i52ff.
Rebmesser und Kelter
41
zeigen die typische breite Halbmondgestalt, die fast unverändert aus dem provinzial-
römischen Gebiet überliefert wurde. Ihre Anwendung führt eine Zeichnung aus dem
Hausbuch der Mendelschen Zwölfbrüderstiftung vor, die im 15. oder 16. Jahrhun-
dert entstanden ist (Abb. 7). Nicht ganz ohne Bedeutung dürfte die Tatsache sein,
daß der Umriß des Messers iden-
tisch ist mit dem Schneidgerät, das
man bis in die jüngste Vergangen-
heit in Armenien beim Weinbau
gebrauchte.
Eine zweite, im Rheingebiet und
Süddeutschland ehedem verbreite-
te Abart des Messers ohne Securis
ist bei uns bisher nicht nachzuwei-
sen. Es dürfte ebenfalls schon
zu römischer Zeit existiert haben
und läßt sich im Mittelalter sowohl
durch Bodenfunde (Abb. 8) als
auch auf Bildern (Abb. 9) belegen.
Charakterisiert wird es durch eine
Klinge, deren unterer Teil gerade
verläuft, während die spitz zulau-
fende Oberpartie sichelartig vor-
springt. — Für den anderen Haupt-
typ des alten winzerlichen Schnitt-
gerätes, das Messer mit Securis,
fehlen die Belege in Sachsen und
Thüringen vorläufig ebenfalls.
Diese eigentümliche Situation
— man muß freilich in Rechnung
stellen, wie sehr unsere diesbezüg-
lichen Kenntnisse noch lückenhaft
sind — mag vielleicht darauf zu-
rückzuführen sein, daß die Grund-
form des Rebmessers ohne Securis
in unseren Landschaften wohl
schon bei der Einführung des
Weinbaus vorlag. Ein indirekter
Beweis dafür ist seine volkstümli-
che Bezeichnung als Hippe. Man
versteht im Ostmitteldeutschen un-
ter diesem Wort ein Werkzeug
etwa sichelartiger Gestalt, das in
Wald- und Gartenwirtschaft
Abb. 6. Zwei mittelalterliche Rebmesser. Sehnen-
länge der Klingen 14 cm (unten), 13 cm (oben)
Museum Kölleda
der
Verwendung fand,
und sein Gewicht
Seine Größe
schwankten:
Abb. 7. Weingärtner. Hausbuch der Mendelschen
Zwölf brüderstiftung (Nürnberg, etwa zwischen
1400 und 1550)
i nsiOii/Mi
42 Rudolf Weinhold
man spricht von ihm als Messer, aber
auch als gekrümmtem Handbeil.8 In
dieser Bedeutung kennt man das Ge-
rät unter dem Namen Heppe, Hcipe,
Hepe, Heben, Happe in Franken, am
Oberrhein, im Schwäbischen und in
der Schweiz. Grundlage ist ahd. heppa,
happa: „Sichel, Sichelmesser, Sichel-
beil“, nach Frings ein Ausdruck der
alten fränkischen Holzwirtschaft, das
sich in mhd. hepe, heppe: „krummes Handbeil zum Abhacken dürrer Äste, langge-
stieltes Gartenmesser“ wandelt. Der Form nach dürfte es also dem in Abb. 8 und 9
gezeigten Werkzeug nahe gestanden haben. Die — neuhochdeutsche — obersächsi-
sche Form Hippe ist durch Luthers Bibelübersetzung in die Schriftsprache gelangt.9
So läßt sich aus der Breite des Bedeutungsfeldes, das dem Worte eigen ist, ablesen,
daß das Rebmesser nur eine Variante aus der Fülle der Anwendungsmöglichkeiten
des Werkzeuges ist. Diese Feststellung gilt, vom Morphologischen her, auch für
die antiken Rebmesser der sog. italischen Form.
Während sich im Ostmitteldeutschen die umfassende Bezeichnung Hippe für das
Schnittgerät des Weinbauern gehalten hat, sind in anderen Bezirken des deutschen
Sprachgebietes Sonderbenennungen zu beobachten. So heißt das Rebmesser in der
Rheinpfalz Sesel, ein Wort, dessen ahd. und mhd. Vorform sehselin lautet und das
Diminutivum zu sahs „langes Messer“ darstellt. Dazu gehört das in einigen Gebieten
des Elsaß übliche sächsla, sachsla für den gleichen Gegenstand. In Südtirol spricht
man vom Rebmesser oder Reber, am Bodensee vom Schnittmesser, in der Schweiz
stellenweise vom Schni(b)messer, an der Mittelmosel vom Krummeß, in Tirol auch
vom Raggaun, ein Lehnwort des Mittelalters, dem entweder das italien. roncolo oder
das rätorom.-friaul. ronkone (= Rebmesser) zugrunde liegen wird. Alle diese spezi-
fischen Termini sind in Landschaften üblich, in denen der Weinbau wenigstens seit
dem Frühmittelalter, also länger als in Thüringen und Sachsen, heimisch ist. Der
Schluß liegt nahe, daß die relativ späte Einführung dieses Zweiges der Boden-
kultur in unsere Gebiete, noch dazu aus dem hinsichtlich des Wortes Heppe, Hippe
bedeutungsmäßig gleicherweise undifferenzierten Franken, terminologische Sonder-
prägungen verhinderte. Dagegen standen ein schon vorhandenes Sachgut und seine
Bezeichnung. Zu ergänzen wäre, daß keine der hier aufgeführten Bezeichnungen auf
die Gestalt des Messers eingeht.
8 Zum Sprachlichen s. u. a. Kluge, Etymologisches Wörterbuch, 18. Aufl. i960, 309;
Müller-Fraureuth, Obersächsisches Wb. 1911, 513; Grimm, Deutsches Wörterbuch 4,2,
1877, 471, 999, 1552; Weigand, Deutsches Wörterbuch 5, 1909, 896; Alanne, Die deutsche
Weinbauterminologie in althochdeutscher und mittelhochdeutscher Zeit, 1950, 27, 30, 96,
101; ders., Das Fortleben der mhd. Ausdrücke für den Weinberg, Weinbergsarbeiten und
Weinsorten am Oberrhein, 1957, 37f.; ders., Die Stellung der Weinbauterminologie in den
westgermanischen Hauptdialekten, 1963, 32.
9 Offenb. 14, 17 — 19.
Abb. 8. Rebmesser, bei Rüdesheim aus dem
Rhein geborgen. Wahrscheinlich mittelalterlich
Rebmesser und Kelter
43
Abb. 9. Winzer aus dem Codex
Falkensteiniensis (11. Jh.)
Dem einfachen Kleingerät sei — im gleichen
Verfahren der Analyse — der komplizierte Mecha-
nismus der Kelter gegenübergestellt. Ausge-
gangen werden soll dabei wieder von morpholo-
gisch-genetischen Erwägungen.
Vincze hat mit Recht darauf hingewiesen, daß
bei der Untersuchung des Vorganges der Trauben-
saftgewinnung dem einfachen Austreten der Bee-
ren bisher zu wenig Aufmerksamkeit gewidmet
wurde. Man legte das Hauptgewicht dieser Stu-
dien auf die Erforschung des viel komplizierteren
Preßvorganges mit der mechanischen Kelter,
deren allgemeiner Gebrauch — wenn auch in
unterschiedlichen Formen — in der europäischen
Weinkultur stillschweigend vorausgesetzt wurde.
Das einfache Treten ohne nachfolgendes maschi-
nelles Keltern wurde als veraltetes, nur im bäuer-
lichen Kleinbetrieb noch gelegentlich übliches
Verfahren angesehen.
Man muß im Widerspruch zu dieser Annahme
feststellen, daß das Verfahren des Entsaftens der
Trauben lediglich durch Austreten mit den Füßen
bis heute seine Bedeutung nicht ganz verloren
hat. Noch in jüngerer Vergangenheit war es sogar in großen Weingütern üblich.
Ein Territorium, in dem diese Methode vorherrschte, erstreckte sich östlich und
südöstlich der Karpaten und umfaßte die zahlreichen Weinbaubezirke vom Balkan
bis Transkaukasien. Dieser Bereich deckt sich in etwa mit den Landschaften, in
denen für den Rebschnitt seit alters her das Messer ohne Securis verwendet wurde.
Demgegenüber scheint die Verbreitung der einfacheren mechanischen Kelter, der
Hebel- oder Baumpresse ursprünglich im großen und ganzen dem Vorkommen des
Messers mit Securis zu folgen. Sie fand und findet sich westlich des eben charakteri-
sierten Gebietes, in dem das Treten dominiert. Eine Ausnahme bildeten dabei im
westlichen Grusinien die Landschaften Imeretien und Gurien. Hier arbeitete man
mit primitiven Baumkeltern, die morphologisch an bestimmte Pressen Siebenbürgens
erinnern. Andererseits war in den süd- und westeuropäischen Weinlandschaften bis
fast in die Gegenwart vielerorts die Saftgewinnung allein durch Treten üblich.
Dabei drängt sich geradezu die Vorstellung einer Parallele zum gleichzeitigen Vor-
kommen beider Typen des Rebmessers in diesen Ländern auf. In Deutschland scheint
diese Methode nach Ausweis ikonographischer Belege ehedem gleichfalls üblich
gewesen zu sein. Daneben existierten jedoch mit Sicherheit seit dem Mittelalter
Baum- und Schraubenkeltern. Das Austreten hat sich neben dem andernorts geübten
Stampfen der Beeren mit Kolben oder ähnlichen Geräten bis ins erste Viertel unseres
Jahrhunderts als Einleitung des Preßvorganges gehalten. Danach schließlich wurden
die Trauben durch mechanische Kräfte ausgequetscht. Erst die Traubenmühle er-
übrigte das urtümliche Verfahren endgültig.
44 Rudolf Weinhold
Der Verfall des Weinbaus und seine Neubelebung auf der Grundlage moderner
Technik haben auch auf dem Gebiet der DDR zum völligen Verschwinden des alten
Preßgerätes geführt. Erhalten blieben, weil sie rechtzeitig unter Denkmalschutz
gestellt oder von Museen erworben wurden, eine Reihe von Schraubenkeltern. Sie
variieren in ihrer Größe und der Zahl ihrer Preßschrauben.
Am leichtesten zu bedienen war die Einspindelkelter (Abb. io), bei der der Schrau-
bendruck von oben her zentral auf die Preßmasse wirkte. Neben den Großgeräten
Rebmesser und Kelter
45
Abb. ii. Oberständige kleine Einspindelkelter, H. 70 cm (Museum Freyburg/Unstrut)
findet man mitunter auch sehr kleine Stücke, die landarmen Weinbauern gehört
haben mögen. Bei unserem hier vorgeführten Beleg (Abb. 11) hat der Preßkasten eine
Breite von 62 cm. — Eine entwickeltere Form ist die Doppelspindelkelter (Abb. 12).
Ihre Ingangsetzung erforderte besondere Vorsicht und Aufmerksamkeit, da die
Schrauben bei der Arbeit gleichmäßig angezogen werden mußten, um das gründliche
Auspressen zu sichern. Der Wirkungsgrad lag selbstverständlich höher als bei nur
einer Spindel. Man hat aus diesem Grund auch Keltern mit vier Schrauben gebaut
(eine davon stand in den Domanialweinbergen nordwestlich Dresdens). Aber die
Bedienung dieser Großgeräte mag so viele Schwierigkeiten mit sich gebracht haben,
daß man von ihrer Verwendung bald Abstand genommen hat.
Wesentlich einfacher zu handhaben, aber dabei von gleichem Nutzeffekt, waren die
gewaltigen Baumkeltern. Sie arbeiteten, wie schon angedeutet, nach dem Hebel-
pnnzip, das mitunter durch einen Schraubenzug am Kopf des Preßbalkens unter-
stützt wurde. — Leider ist keine Kelter dieser Art auf dem Gebiet der DDR erhalten
um mm * i a i amiam l
46 Rudolf Weinhold
geblieben,10 doch zahlreiche Nachrichten in Urkunden und Akten sprechen von
ihnen. Wir können sie also mit Sicherheit als ehedem weit verbreitet voraussetzen.
Damit ergibt sich die Frage nach einer möglichen unterschiedlichen Verteilung
beider Typen in dem zur Diskussion stehenden Territorium, einer Zuordnung
Abb. 12. Unterständige Doppelspindelkelter, H. 287 cm (Weinböhla, Köhlerstraße 11)
bestimmter Formen etwa zu bestimmten Landschaften oder regionalen Einheiten.
Nach vorläufiger Kenntnis ist dies nicht zu erreichen. Vielmehr scheint es, als ob
beide Typen lange Zeit nebeneinander existiert haben, wobei die Baumkeltern auf
großen Besitztümern und in Grundherrschaften mit umfangreichem Weinbau — zum
10 Sehr schöne Stücke finden sich in den Museen der BRD (z. B. Koblenz, Rüdesheim,
Speyer). Für das ehemalige Vorkommen auf dem Gebiet der DDR finden sich u. a. Belege
in Hoflößnitz bei Dresden (Grundriß des Kelterhauses mit Baumkelter; Hoflößnitzer
Manual — LHA Dresden Loc. 32453, fol. 55ff.), in Erfurt (Th. Th. Neubauer, Zur Ge-
schichte des mittelalterlichen Erfurt. 1914, 63) und in Süptitz (F. G. Leonhardi, Erd-
beschreibung der Churfürstlich und Herzoglich Sächsischen Lande, Bd. 2, 1803, 573).
Rebmesser und Kelter
47
Teil mit einem Kelterbann ausgestattet — bevorzugt wurden. Dagegen dürften die
weniger Raum beanspruchenden Schraubenpressen vor allem in bäuerlichem Besitz
gewesen sein. In der Verteilung beider Typen offenbart sich also wahrscheinlich eine
soziale Differenzierung der Weinbautreibenden.
Etwas lückenhaft und daher unübersichtlich ist das sprachliche Bild. Im Ober-
sächsischen weit verbreitet dürfte für die Kelter der Terminus „Presse“ gewesen sein.
Es ist die heute übliche Bezeichnung, die sich aber auch in Flur- und Wegenamen
sowie aus Akten und Druckschriften nachweisen läßt. In Thüringen ist der Wort-
schatz des Winzers bisher kaum aufgenommen worden. Es scheint aber, daß beson-
ders im Westen der Landschaft für unser Preßgerät der Name „Kelter“ bekannt
und üblich war. Unter „Presse“ verstand man die Kartoffelquetsche und die Stroh-
presse.
Ehe wir auf diesen Unterschied eingehen, noch einige Anmerkungen zu „Presse“.11
Dieses Lehnwort zeigt eine noch größere Bedeutungsbreite als Hippe. Das zu lat.
premere (drücken) gehörende mlat. pressa taucht zuerst bei Notker Labeo (um 1000)
mit verschobenem Anlaut als fressa auf und steht für lat. pressura (Druck). Die
übertragene Verwendung in diesem frühesten Beleg setzt eine ältere Kenntnis des
Geräts und seines Gebrauchs voraus. Wahrscheinlich wurde das Wort in althoch-
deutscher Zeit aus Nordgallien übernommen. Als Bezeichnung für die Kelter existiert
es heute in Obersachsen und Österreich. Nach Ungarn ist es, wohl durch deutsche
Vermittlung, als prés vorgedrungen.12 Dagegen ist es am Mittelrhein nur für die
Obstpresse — im Gegensatz zur Weinkelter — in Verwendung. Diese Feststellung
führt in das weite Bedeutungsfeld des Wortes, das vielerlei Arten dieses Mechanis-
mus von der Öl- und Zuckerpresse bis hin zur Druckerei umfaßt und schließlich —
im Verlauf wiederholter Übernahmen aus Frankreich — zur Bezeichnung der Gesamt-
heit unserer Tageszeitungen wurde.
Demgegenüber bleiben die anderen Namen der Weinkelter — analog etwa der
Verteilung der Benennungen für das Rebmesser — auf die älteren, westlich gelegenen
Weinbaugebiete im deutschen Sprachbereich beschränkt. Am Bodensee, in Tirol und
in Teilen der Schweiz spricht man vom Torkel, eine Bezeichnung, deren Wurzel das
lat. torculum ist. In der Oberrheinischen Tiefebene regiert Trotte, das als Lehnüber-
setzung des lat. calcatorium interpretiert wird. Dieser Terminus wiederum, nach
Frings ein Reliktwort des am mittleren Rhein ausgestorbenen Lateinischen, gab die
Grundlage für „Kelter“, das im Mosel-, Rhein- und Mainfränkischen sowie in West-
thüringen fortlebt. Weiter östlich wird es, wie wir sehen, durch „Presse“ abgelöst.
Indirekt dürfte auch diese Konstellation ein sprachliches Zeugnis für das verhältnis-
mäßig geringe Alter und eine dementsprechende schwache Intensität des Weinbaus
östlich des Thüringer Waldes sein. Man übernahm in diesen Landschaften das Kelter-
gerät unter einer recht umfassenden Bezeichnung. Es war, vor allem in der Form der
Spindelpresse, nur eine Variante der üblichen Druckmechanismen und gelangte,
11 Angaben über die Benennung der Kelter u. a. bei Kluge, Etymologisches Wb. 565;
Grimm Wb. 7, 1889, 2i03f.; Trübner, Deutsches Wörterbuch 5, 1954, 201; Alanne, Wein-
^auterminologie, 1950, 77, 147; ders., Stellung der Weinbauterminologie, 1963, 19.
12 Vincze, Weinkelter ioiff.
48
Rudolf Weinhold
entsprechend der allgemeinen wirtschaftlichen Position des Weinbaus, unter ihnen
zu keiner ausgesprochen vorrangigen Stellung.
Abschließend sollen einige Erkenntnisse aus dieser vorläufigen Analyse (neue
Belege werden das Bild erweitern und ergänzen, möglicherweise auch verändern)
zusammengefaßt werden.
Durch ethnographische und wortkundliche Befunde wird die geschichtlich erwie-
sene späte Einführung des Weinbaus östlich des Thüringer Waldes und nördlich des
Erzgebirges bestätigt. Dabei zeigt sich, daß eine historisch-morphologische Unter-
suchung nur dann zu brauchbaren Resultaten führt, wenn sie sich die Ergebnisse
sprachwissenschaftlicher Forschung erschließt. Zu einer exakten Interpretation des
Stoffes ist es weiterhin nötig, das Material in seinen wirtschafts- und sozialgeschicht-
lichen Zusammenhängenzu sehen. Schließlich fordern Komplexität und Vielschichtig-
keit des Themas (die begründet sind in der fremden Herkunft der Weinkultur sowie
in ihrer Ausbreitung in mehreren, sich wahrscheinlich überlagernden Wellen) den
breit angelegten Vergleich und somit eine internationale Zusammenarbeit von Volks-
kundlern, Sprachwissenschaftlern, Urgeschichtlern und Historikern.
Das Sagwort in Mecklenburg um die Mitte
des 19. Jahrhunderts im Spiegel
der Mundartdichtungen Reuters und Brinckmans
Von Siegfried Neumann
Der Benutzer niederdeutscher Dialektwörterbücher1 stößt immer wieder darauf,
daß als Beispiele für die Verwendung der einzelnen Mundartausdrücke in festen
sprachlichen Wendungen ein oder mehrere Sagwörter2 (Wellerisms3) angeführt sind.
Vor allem in dem wohl besten seiner Art, dem Mecklenburgischen Wörterbuch* das
über die Darbietung des lexikalischen Bestandes hinaus „das heimische Volkstum in
der Sprache zu erfassen“5 versucht, finden sich solche Fälle derart häufig,6 daß zu-
weilen der Eindruck entsteht, früher habe man in Mecklenburg geradezu „in Sag-
wörtern gesprochen“. Das ist sicher übertrieben. Aber die Belege7 stellen heraus,
daß das Sagwort dem in dieser Landschaft gebräuchlichen Sprichwortgut das kenn-
zeichnende Gepräge gab und daher vorrangig untersucht zu werden verdient8 —
1 Schleswig-Holsteinisches Wörterbuch. Hg. von Otto Mensing. 5 Bde. Neumünster
1927 — 1935; Rheinisches Wörterbuch. Bd. 1—6 hg. von Josef Müller, Bd. 7f. hg. von
Karl Meisen. Bonn/Berlin 1928 ff.
2 Diese Sprichwortgattung besteht in ihrer vollständigen Form aus drei Teilen, einem
sprichwortartigen Ausspruch, dem charakteristischen Mittelteil, in dem der Sprecher ge-
nannt wird, und einem Schlußteil, der die Situation kennzeichnet, in welcher dieser Aus-
spruch „gesagt“ wird, z. B. „Aller Anfang ist schwer“, sagte der Dieb und stahl zuerst
einen Amboß, weshalb sie meist Apologisches Sprichwort oder Beispielsprichwort genannt
wird. Gegenwärtig setzt sich in der deutschen Sprichwortforschung jedoch der von
Friedrich Seiler (vgl. Anm. 10) geprägte Terminus Sagwort immer mehr durch (vgl. Anm. 9),
dem wir uns daher schon aus praktischen Erwägungen anschließen.
3 Nach der Figur des Samuel Weller in Dickens’ Pickwick Papers, der diese Art von
Sprichwörtern ständig im Munde führt. Die auf Archer Taylor zurückgehende Bezeichnung
Wellerism hat sich durch dessen für die internationale Sagwortforschung bahnbrechendes
Werk The Proverb (1931, 2. Auf!. Hatboro/Copenhagen 1962) weltweit eingebürgert.
4 Mecklenburgisches Wörterbuch. Hg. von Richard Wossidlo und Hermann Teuchert.
Bd. iff. Neumünster (ab Bd. 2: und Berlin) 1942 ff.
5 Ebda Bd. 1 (1942) V.
6 Bei einzelnen Stichworten wie Afkat, Buer, Düwel, Fru usw. sind es ganze Zusammen-
stellungen.
7 Der weitaus größte Teil des mecklenburgischen Sagwortguts, das vor allem gegen Ende
des 19. und zu Beginn des 20. Jhs gesammelt wurde, befindet sich noch unpubliziert in ca.
200 Kästen und Mappen verstreut im Archiv der Wossidlo-Forschungsstelle sowie —
ähnlich verteilt — im Archiv des Mecklenburgischen Wörterbuchs (beide Rostock), weshalb
vom Autor dieser Studie gegenwärtig eine Edition vorbereitet wird, die alles bisher ge-
druckte und ungedruckte Material — insgesamt wohl annähernd 10000 Belege — zusammen-
fassen soll.
8 Vgl. schon Richard Wossidlo, Oewer den Humor in de meckelbörger Volkssprak.
Wolgast 1924, 23. Gerade Mecklenburg eignet sich auf Grund seines reichhaltigen Materials
für eine landschaftliche Untersuchung in besonderem Maße. 4
4 Volkskunde
50
Siegfried Neumann
ein Befund, der sich im wesentlichen nicht von dem in anderen Gebieten des nieder-
deutschen Sprachraums unterscheidet.9 Selbst Friedrich Seiler, der mit besonderem
Nachdruck betonte, daß Sagwörter „nicht. . . eine speziell niederdeutsche Domäne“10
seien, räumte ein: „Doch ist auch, wie es scheint, das Sagwort bei der plattdeutsch
redenden Bevölkerung von jeher besonders beliebt gewesen.“11 Nur hegt dieses
„von jeher“ noch fast völlig im Dunkeln und weist auf ein ebenso weites wie infolge
der schlechten Quellenlage schwieriges Forschungsfeld.12 So ist auch der im folgen-
den unternommene Versuch, das Bild des ersten durch Belege dokumentierten
Abschnitts der mecklenburgischen Sagwortgeschichte zu erhellen, nicht ohne metho-
disches Experiment möglich.
I
In Mecklenburg setzte die bewußte Sammlung des heimatlichen Sprichwortguts —
soweit sich nach weisen läßt — erst im 18. Jahrhundert ein. Der eifrige Publizist
Ernst Mantzel veröffentlichte in seinen Bützowschen Ruhestunden eine ansehnliche
Kollektion von 310 Sprichwörtern und Redensarten13 und nahm dabei auch
10 Sag Wörter auf, die das Vorkommen dieser Sprichwortgattung zu jener Zeit
bezeugen.14 Es dauerte jedoch bis ins 19. Jahrhundert, bis man sich mit dem
Sagwort beschäftigte und eine spezifische Form des Sprichworts in ihm er-
kannte.15 Seitdem findet es sich in nahezu allen Sammlungen, wenn auch zunächst
nur spärlich. So bieten zwei kleine Sprichwortmitteilungen zu Beginn der vierziger
Jahre unter insgesamt 50 Beispielen 4 Sagwörter,16 eine daran anschließende 5 unter
9 Vgl. Paul Bartels, Das apologische Sprichwort im Niederdeutschen und Dänischen.
NdZfVk 8 (1930) 223 — 250; als erste landschaftliche Spezialuntersuchung: Winfried Hof-
mann, Das rheinische Sagwort. Siegburg 1959 (dazu meine Rez. DJbfVk 7, 1961, 328h).
10 Friedrich Seiler, Die Entwicklung der deutschen Kultur im Spiegel des deutschen
Lehnworts. Bd.8, Teil 4: Das deutsche Sagwort und anderes. Halle 1924, 23.
11 Ebda 18.
12 Vgl. dazu Friedrich Latendorf, Agricola’s Sprichwörter, ihr hochdeutscher Ursprung
und ihr Einfluß auf die deutschen und niederländischen Sammler. Schwerin 1862, 16 ff;
Friedrich Seiler, Deutsche Sprichwörterkunde. München 1922, 66 — 112; Taylor, Proverb
(1962) 206fl", (s. Anm. 3).
13 Bützowsche Ruhestunden. [Hg. von Ernst Jo. Friedrich Mantzel.] 1 ff. Bützow 1761fr.;
5 (1762) 30—40; 6 (1762) 69 —77; 13 (1764) 49 —56; 14 (1764) 68 — 78; 18 (1765) 14—22;
20 (1765) 26 — 33; 24 (1766) 51—66.
14 Aus dem benachbarten, sprachlich nahezu gleichartigen vorpommerschen Gebiet
finden sich bei Johann Carl Dähnert, Platt-Deutsches Worter-Buch nach der alten und neuen
Pommerschen und Rugischen Mundart, Stralsund 1781 nur 2 Sagwortbelege.
15 Vgl. Joh. Friedr. Schütze, Apologische Sprüchwörter der niedersächsisch-holsteini-
schen Volkssprache. Neuer Teutscher Merkur, hg. von С. M. Wieland. Weimar 1800,
Bd. 3, 112 — 115.
16 J[ohann Jacob Nathanael] Mussäus, Plattdeutsche Redensarten und Sprichwörter.
Jbb. des Ver. f. meklenburgische Gesch. u. Alterthumskunde 5 (1840) 120 —122; [J. Chr.
Fr.] Günther, Plattdeutsche Redensarten und Sprichwörter, eine Fortsetzung zu der Samm-
lung von J. Mussaeus. Ebda 8 (1843) 198 — 201.
Das Sagwort im Spiegel der Mundartdichtungen Reuters und Brinckmans
51
57.17 Außerdem liegen aus der revolutionären Zeit um 1848 zwei anonym erschie-
nene, als Kalender aufgemachte Pamphlete vor, in denen jeder Woche ein Sprich-
wort als Motto vorangestellt ist.18 Diese Heftchen können zwar nicht direkt als
Sammlungen angesprochen werden, aber das Titelblatt des ersten trägt den ausdrück-
lichen Hinweis, es sei „mit vielen . . . landüblichen Sprichwörtern aufs herrlichste
gezieret“, und die in beiden enthaltenen 104 Belege, die zum Teil von sozialkritischer
Schärfe sind, entstammen wahrscheinlich auch mündlicher Überlieferung. Das gibt
den 20 Sagwörtern unter ihnen denselben Belegwert wie denen der genannten frühe-
ren Veröffentlichungen.
Aus dem folgenden Jahrzehnt existieren zwei interessante, in ihrer regionalen
Begrenzung lokalisierbare Sammlungen. Die eine aus dem südöstlichen Mecklen-
burg, die anscheinend ein Dr. Sanders aus Neustrelitz für das Monumentalwerk
Germaniens Völkerstimmen zur Verfügung stellte, enthält 16 Sagwörter neben 131
anderen Sprichwörtern und Redensarten.19 In der zweiten, die der Dichter John
Brinckman aus der Rostock-Güstrower Gegend zusammentrug und auf die noch
näher einzugehen sein wird, stellt sich das Verhältnis 28 zu 236.20 Diese Zahlen be-
zeugen schon ein verbreitetes Vorkommen des Sagworts. Unter dem gesamten von
beiden Sammlern aufgezeichneten Spruchgut macht es prozentual allerdings kaum
mehr aus als in den kleinen Zusammenstellungen der vierziger Jahre.21
Demgegenüber weisen die Sagwörter in den beiden erwähnten Kalendarien,22 die
rund ein Fünftel der dortigen Sprichwortbeispiele darstellen, auf einen höheren
Anteil des Sagworts am volkstümlichen Sprichwortgut dieser Zeit hin. Der größte
Teil von ihnen wurde in die von Wilhelm Raabe herausgegebene Anthologie Allge-
meines plattdeutsches Volksbuch23 aufgenommen, unter deren 227 Sprichwörtern, die
im wesentlichen wohl aus dem mecklenburgischen „Volksmund“ geschöpft sind,
mit 75 Belegen sogar jedes dritte ein Sagwort ist — ein Prozentsatz, der wieder höher
sein dürfte, als er es im lebendigen Sprichwortbestand tatsächlich war. Die in solcher
Fülle bisher nicht ermittelten Sagwörter dieses kleinen Büchleins, das keinerlei wis-
senschaftliche Ansprüche erhebt, machen es jedoch zu einem wichtigen Quellenwerk.
17 — r., Plattdeutsche Redensarten und Sprichwörter. Fortsetzung der in den Jahrbüchern
V und VIII des Vereins für meklenburgische Geschichte und Alterthums künde gegebenen
Sammlung. Meklenburg. Ein Jahrbuch für alle Stände [3] (1847) 205—211.
18 Der wahrhaftige Meklenburgische Prophet für alle Tage des gemeinen Jahres 1847.
Lübeck [1847]; Der wahrhaftige Meklenburgische Prophet für alle Tage des Schaltjahres
1848. 2. Jg. Lübeck [1848].
19 Johannes Matthias Firmenich, Germaniens Völkerstimmen. Sammlung der deutschen
Mundarten in Dichtungen, Sagen, Mährchen, Volksliedern usw. Bd. 3. Berlin 1854, 70 — 74.
20 Vgl. A. Römer, Eine Sammlung plattdeutscher Sprichwörter und Kernsprüche nebst
Erzählungsbruchstücken von John Brinckman. Jb. des Ver. f. niederdt. Sprachforschung 31
(1905) 20 — 35. Die oben angegebenen Zahlen berücksichtigen nicht die verstreuten Notizen
Brinckmans.
21 Vgl. Anm. 16 und 17.
22 Vgl. Anm. 18.
23 H[einrich] Ffriedrich] Wfilhelm] Raabe, Allgemeines plattdeutsches Volksbuch. Samm-
lung von Dichtungen, Sagen, Märchen, Schwänken, Volks- und Kinderreimen, Sprich-
wörtern, Räthseln usw. Wismar, Ludwigslust 1854, 7—10, 23—25, 75 f., 81 — 83, 103 f., 135 f.,
184—187.
4*
52
Siegfried Neumann
Gleichzeitig ist Raabes Anthologie das erste beredte Zeugnis für die Vorliebe,
welche die Sammler der lange vernachlässigten Sprichwortgattung jetzt entgegen-
zubringen begannen. Schon ein Jahr später erschien Edmund Hoefers Sammlung
Wie das Volk spricht,24 die nur noch Sagwörter enthielt und eine vermehrte Auflage
nach der anderen erlebte, zu denen der Parömiologe Friedrich Latendorf ständig
Beiträge aus Mecklenburg beisteuerte. Mir liegt die 5. Auflage zur Einsicht vor, in
der Latendorf als einziger der „treusten Mitsammler“ namentlich genannt ist.25 Sie
enthält 162 Sagwörter mit dem Vermerk „Mecklenbg.“, und der Mundart nach
könnte noch eine größere Anzahl als mecklenburgisch angesprochen werden. Ein
Teil von ihnen ist anscheinend den schon besprochenen gedruckten Sammlungen
entnommen, das meiste jedoch wohl unmittelbar dem Sprachgebrauch. Dasselbe
gilt für die Materialsammlung zu dem von Ernst Boll unternommenen Versuch, vor-
nehmlich anhand von Sagwörtern über Tiere eine „Charakteristik des niederdeut-
schen Volkes“ zu geben,26 und anderen Veröffentlichungen der Zeit, die von beson-
derem Interesse für das Sagwort zeugen.27
Die beachtliche Zahl der Sag worttypen und ihrer Varianten, die durch all diese
sporadischen Bemühungen zutage gefördert wurden, läßt darauf schließen, daß die
Sammlungen aus dem Vollen schöpften. Sie geben einen — wenn auch sicher nicht
umfassenden — Eindruck von der thematischen Vielfalt und dem Formenreichtum
des Sagwortguts in Mecklenburg um die Mitte des 19. Jahrhunderts und lassen
dessen Volkstümlichkeit zumindest ahnen. Aus den gedruckten Aufzählungen der aus
ihren sprachlichen Zusammenhängen herausgelösten Sagwörter ist jedoch selten zu
ersehen, welcher Sinn ihren oft drastischen Aussagen untergelegt wurde und welchen
Gebrauch man von ihnen machte.
In der Frühzeit der Sammeltätigkeit interessierten sich die Aufzeichner noch dafür
und gaben in ihren Veröffentlichungen knappe Hinweise darauf.
So finden sich bei Mantzel wenigstens zu 3 seiner Sagwörter derartige Erläuterungen:
„Bringt my hen, wo Lüde sind“, segt de Blinde („Bringt mich hin, wo Leute sind“, sagt der
Blinde): „So sprechen sie, wenn jemand die Einsamkeit zu sehr beliebet“; „Dat Ooge wil
00k wat hebben“, seed de Blinde, aß he de schone Fruw nahm („Das Auge will auch etwas
haben“, sagte der Blinde, als er die schöne Frau nahm): „Wird in mancherley Spott-Fällen
gebrauchet“;28 „Veel tho kloock“, segt de Narr („Viel zu klug“, sagt der Narr): „Gehet auf
Leute die sich so weise düncken, alles bezweifeln und immer alleine reden“.29 — Bei Mus-
säus und Günther folgt den Beispielen jeweils eine kurze Erklärung: „Wat buten wol för
Weder is“, seggt de Foß un sitt hinner ’n Marlhalm („Was draußen wohl für ein Wetter ist“,
sagt der Fuchs und sitzt hinterm Schachtelhalm): „d. h. du prahlst mit Kleinigkeiten“;
24 Stuttgart 1855.
25 5. Aufl. Stuttgart 1866, XV.
26 Globus. 111. Zs. f. Länder- und Völkerkunde 8 (1865) 175 — 178, 213—215, 272 — 275.
27 Karl Schiller, Zum Thier- und Kräuterbuche des mecklenburgischen Volkes. Heft 1 — 3.
Schwerin 1861 — 1864; Cjaesar] W[ilhelm] Stuhlmann, Das Weib im plattdeutschen Sprich-
wort. Globus 29 (1876) 173 —175, 189 — 192. — Den Anschluß an diese Sammlungen bilden
vor allem: Richard Wossidlo, Mecklenburgische Volksüberlieferungen. Bd. 2: Die Tiere
im Munde des Volkes. Wismar 1899, 29—42; Bd. 3: Kinderwartung und Kinderzucht.
Wismar 1906, 130 —142.
28 Bützowsche Ruhestunden 18 (1765) 14 (vgl. Anm. 13).
29 Ebda 24 (1766) 57.
Das Sagwort im Spiegel der Mundartdichtungen Reuters und Brinckmans
53
„Half Busch, half Rock“, segt de Scheper un sitt hinner ’n Knittelsticken („Halb Busch, halb
Rock“, sagt der Schäfer und sitzt hinter der Stricknadel): „d. h. du brüstest dich mit gerin-
gen Dingen“; „Wo Rok is, is ok Füer“, seggt de Foß un schitt up’t Is („Wo Rauch ist, ist auch
Feuer“, sagt der Fuchs und scheißt aufs Eis): „d. h. du prahlst mit Vorzügen usw. und es ist
nichts dahinter“;30 „Dat is man ’n Äwergang“, seggt de Voß, wenn em ’t Fell äwer de Uhrn
trocken wart („Das ist nur ein Übergang“ sagt der Fuchs, wenn ihm das Fell über die Ohren
gezogen wird): „d. h. man muß zum bösen Spiel eine gute Miene machen“.31 — In der
gleichen Art erklärt der anonyme Fortsetzer seine „ironischen Sprichwörter“: „Frie man
ihrst“, sär dei Scheper tau sin’n Köter, „saßt ’n Stiert woll hengen laten“ („Heirate nur erst“,
sagte der Schäfer zu seinem Hund, „wirst den Schwanz wohl hängen lassen“): „d. h. die
Ehe macht zahm“; „Dat liest drapen“, sähr dei Kräpel, as em dei Hund in ’t holten Bein
bäten har („Das hast du getroffen“, sagte der Krüppel, als der Hund ihm ins hölzerne Bein
gebissen hatte) oder „Dat is ’n anner Kurn“, seggt dei Möller, un bitt up ’n Muskätel („Das
ist ein anderes Korn“, sagt der Müller und beißt auf ein Stück Mäusekot): „d. h. schlecht
getroffen“; „De ihrst Noth möt kiehrt warden“, sär de oll Fru, dei ’n Bakeltrog in twei haut
un ’t Sürwate heit makt („Die erste Not muß abgewendet werden“, sagte die alte Frau, die
den Backtrog entzweischlug und das Wasser zum Säuern heiß machte): „d. h. erkaufe nicht
kleine Hülfe für großen Schaden“ sowie „Dat wil’k doch seihn“, seggt dei Blin, „woans dei
Lahm danzen kann“ („Das will ich doch sehn“, sagt der Blinde, „wie der Lahme tanzen
kann): „d. h. du erhoffst Unmögliches“.32
Aus diesen Hinweisen geht hervor, was mit einigen der anscheinend gebräuchlichsten
Sagwörter — zumindest in der Umgebung der Aufzeichnenden — ausgedrückt zu
werden pflegte, sofern die zum Teil überraschenden Sinngehalte nicht manchmal nur
in den Inhalt hineingelesen sind. Dabei unterstreicht der Unterschied zwischen der
wörtlichen Aussage dieser Beispiele und ihrer angedeuteten Aussage im Sprach-
gebrauch, wie wenig von dem wörtlichen Sinn des Sagworts auf seine Funktion
in der Anwendung geschlossen werden kann. In den fünfziger und sechziger Jahren
wurde jedoch selbst auf solche Andeutungen verzichtet. Die ausdrucksvolle Sprich-
wortgattung an sich übte einen derartigen Reiz aus, daß man sich gewöhnlich mit der
Aufzeichnung der originell verdichteten sprachlichen Form begnügte; daneben ließ
sicher das Vertrautsein mit diesem Sprachgut häufig Vermerke über Art und Häufig-
keit seines Gebrauchs überflüssig erscheinen.
So steht der heutige Volkskundler, der nach der Lebenswirklichkeit der volks-
tümlichen Gattungen in der mündlichen Überlieferung fragt, vor dem Dilemma, zwar
einen Teil des überlieferten Sagwortguts aus der aufzeichnungsfreudigen Zeit um die
Mitte des 19. Jahrhunderts schwarz auf weiß zu besitzen, aber gleichzeitig aus direk-
ten Quellen nicht erschließen zu können, wie es tatsächlich in der Sprache „lebte“,
d. h. wie häufig oder sporadisch, in welchen Gesprächszusammenhängen, wie spon-
tan unbewußt oder gewollt, mit welcher Absicht und von wem Sagwörter in das
Gespräch des Alltags eingestreut wurden. Hieraus erhellt aber erst die „Funktion im
sozialen Miteinander der Sprecher“,33 in deren Erfassung wir das Ziel parömiolo-
gischer Forschung sehen.
30 Jahrbücher... 5 (1840) 120 (vgl. Anm. 16). 31 Ebda 8 (1843) 200. 32 Vgl. Anm. 17.
33 Mathilde Hain, Sprichwort und Rätsel. Deutsche Philologie im Aufriß. Hg. von
Wolfgang Stammler. Bd. III. 2. Aufl. Berlin, Bielefeld, München 1962, 2727 — 2754, 2730;
vgl. dies., Sprichwort und Volkssprache. Eine volkskundlich-soziologische Dorfunter-
suchung. Gießen 1951; Gertrud Burk, Das Sprichwort in einer oberhessischen Bauernfamilie.
Diss. (masch.-schriftl.) Frankfurt/Main 1953.
wma immni i i m
54 Siegfried Neumann
II
Hier bietet sich in der zwischen 1850 und 1870 entstandenen, in Mundart ver-
faßten Dichtung Fritz Reuters34 (1810 —1874) und John Brinckmans35 (1814—1870)
eine indirekte Quelle zur Befragung an. Das schriftstellerische Anliegen dieser Klassi-
ker der niederdeutschen Literatur war die volksverbundene Darstellung der mecklen-
burgischen Dorf- und Kleinstadtverhältnisse, und es gelang ihnen, ein nahezu ge-
schlossenes Bild des Volkslebens ihrer Zeit zu geben.36 Dabei schöpften beide vor
allem aus eigenen Erlebnissen und Beobachtungen und ihrer Kenntnis der sprach-
lichen Volksüberlieferung. So griffen sie wiederholt Stoffe der Volkserzählung auf
und gestalteten sie novellistisch aus37 oder legten sie ihren Gestalten in den Mund.38
Am häufigsten finden sich jedoch die volkstümlichen Kleinformen, Sprichwörter
und sprichwörtliche Redensarten, die sich naturgemäß am einfachsten in den Fluß
der Darstellung oder in die Dialoge einfügen ließen.39
34 Reuters Werke. Nach der in Gemeinschaft mit Conrad Borchling und Ernst Brandes
besorgten Ausg. neubearb. u. ergänzt von Wilhelm Seelmann und Heinrich Brömse. 12 Bde.
Leipzig [1936]. — Bd. 1: Läuschen un Rimels; Bd. 2: De Reis’ nah Bellingen; Kein Hüsung;
Bd. 3: Ut de Franzosentid; Hanne Nüte un de lütte Pudel; Bd. 4: Onkel Jakob und Onkel
Jochen; Schurr-Murr: Wat bi ’ne Äwerraschung ’rute kamen kann; Haunefiken; Abend-
teuer des Entspekter Bräsig; Von’t Pird up den Esel; Meine Vaterstadt Stavenhagen;
Bd. 5: Ut mine Festungstid; Bd. 6 — 8: Ut mine Stromtid; Bd. 9: Dörchläuchting; De
Urgeschicht von Meckeinborg; Bd. 10: De Reis’ nah Konstantinopel; Bd. 11: Kleine
Schriften: Briefe des Herrn Inspektors Bräsig; Memoiren eines alten Fliegenschimmels;
Wenn’t kümmt, denn kümmt’t mit Huupen; Woans ick tau ’ne Fru kämm u. a.; Bd. 12:
Einleitungen, Anmerkungen usw.
35 John Brinckmans Plattdeutsche Werke. Hg. von der Arbeitsgruppe der Plattdeutschen
Gilde zu Rostock. 7 Bde. Wolgast, ab Bd. 2: Greifswald 1924—1934. — Bd. 1: Vagei Grip;
Bd. 2: Kasper-Ohm un ick; Bd. 3 : Kleine Erzählungen I: Dat Brüden geiht üm; Höger up;
Mottche Spinkus un de Pelz; Peter Lurenz bi Abukir; Bd. 4: Kleine Erzählungen II: De
Generalreeder; Ummer prompt un praktisch; Ut den Doemelklub; Snider Beyer, Snider
Meyer un Snider Dreyer; De leew Gott hett narsch Kostgängers in disse Welt u. a.; Bd. 5:
Uns Herrgott up Reisen; Bd. 6—7: Von Anno Toback un dat oll Ihrgistern.
36 Vgl. Hans Joachim Gernentz, Der demokratisch-oppositionelle Gehalt in Fritz Reuters
literarischem Schaffen. In: Fritz Reuter. Eine Festschrift zum 150. Geburtstag (Rostock 1960)
23—40; Kurt Batt, Die Beziehungen von Sprachgestalt und Erzählhaltung in Fritz Reuters
Prosawerken. Ebda 130 —145; Gisela Schneidewind, Die Volkserzählung bei Fritz Reuter.
Ebda 156 —170. — Ulrich Bentzien, Ländliche Sozialstruktur und bäuerliche Lebenswelt
im Werk John Brinckmans. Wiss. Zs. des Päd. Inst. Güstrow, Fachbereich Deutsch-Russisch,
2 (1963/64) 19 — 21; Kurt Batt, Der Erzähler John Brinckman. In: Festschrift zum 150. Ge-
burtstag von John Brinckman (Güstrow 1964) 7 — 20; Erwin Schulz, Der volkskundliche
Gehalt der plattdeutschen Werke John Brinckmans. Diss. Rostock 1937.
37 Reuter vor allem in seinen Versschwänken Läuschen un Rimels (vgl. Richard Wossidlo
und Siegfried Neumann, Volksschwänke aus Mecklenburg. 1963, 3. Aufl. 1963, Vllf.),
Brinckman in seinen Erzählungen Dat Brüden geiht üm, Höger up, Peter Lurenz bi Abukir.
38 Schneidewind, Volkserzählung (i960) 157ff. (vgl. Anm. 36).
39 Als erste Darstellungen dazu liegen vor: Carl Friedrich Müller, Der Mecklenburger
Volksmund in Fritz Reuters Schriften. Leipzig (1901); Siegfried Neumann, John Brinckman
und das mecklenburgische Sprichwort. Festschrift zum 150. Geburtstag von John Brinck-
man (Güstrow 1964) 21 — 25.
Das Sagwort im Spiegel der Mundartdichtungen Reuters und Brinckmans 55
Brinckman wurde bereits als Sammler von Sprichwörtern erwähnt. Als Sohn
eines Kapitäns im Hafenviertel Rostocks mit der Mundart als Muttersprache aufge-
wachsen, begann er als junger Lehrer in Güstrow, sich besonders ausdrucksvolles
Sprach- und Spruchgut zu notieren, das ihm in der Unterhaltung begegnete oder aus
eigener Erinnerung gegenwärtig war. Die offenbar ersten flüchtigen Vermerke ent-
hält sein Schulnotizbuch vom Winter 1850/51. Ein halbes Jahrzehnt später war seine
Sammlung so angewachsen, daß er daran dachte, eine Auswahl von 264 charakteri-
stischen Beispielen als „Mecklenburgischen Volksspiegel aus plattdeutschen Sprich-
wörtern und Kernsprüchen“ zu veröffentlichen.40 Bei dieser Sammelarbeit leitete ihn
neben der Freude an der Bildhaftigkeit und Ausdruckskraft der lebendigen Volks-
sprache das Interesse an dem Gehalt und der Funktion der Sprichwörter, denn hinter
dem Aufzeichner stand der Dichter. So begnügte sich Brinckman nicht damit,
abstrakte Sentenzen zu notieren oder sich zu merken, sondern er erfaßte mit dem
Spürsinn eines Volkskundlers die Sprichwörter in der Gesprächssituation, und diese
Beobachtungen gingen — neben seinem eigenen Sprichwortgebrauch — ins dichte-
rische Werk ein.41 — Reuter, der ebenfalls plattdeutsch aufgewachsene Bürger-
meisterssohn aus Stavenhagen, widmete dem Sprichwort nicht diese bewußte Auf-
merksamkeit, hatte aber ein vielleicht noch unmittelbareres Verhältnis dazu. „War
er doch von Jugend auf mit dem Denken und Empfinden, dem Thun und Treiben,
der Schreib- und Sprechweise seines Volks aufs innigste verwachsen, und bildete
doch in seinem wechselvollen Lebensgang gerade das Decennium seiner anscheinend
unfruchtbaren und zwecklos verbrachten ,Stromtid‘42 dank seinem unmittelbaren
Verkehr mit kleinen Leuten und allerlei fahrendem Volk die Zeit der reichsten Be-
fruchtung seines Geistes.“43 Was ihm an besonders prägnanten volkssprachlichen
Wendungen begegnete, schrieb er nicht auf, sondern behielt es mehr unbewußt als
bewußt im Gedächtnis, um es bei passender Gelegenheit aus aktivem Sprachbesitz
wieder von sich zu geben. Er dichtete auch in seiner Mundart fast so unbekümmert,
wie er sie sprach, und ähnlich spontan liefen ihm dabei seine Sprichwörter unter.
Aber nicht nur bei Reuter, auch bei Brinckman läßt der ungezwungene Stil, der
sich trotz der Verwendung von Nebensätzen auffällig der gesprochenen mundart-
lichen Rede anpaßte, erkennen, wie sehr seine Kunst im mündlichen Erzählen wur-
zelte. Reuters überragendes Erzähltalent lebte sich am ungezwungensten in seinen
autobiographisch gefärbten Romanen aus. Brinckman wählte das Mittel des Erzähl-
rahmens, der es ihm gestattete, seinen Stoff einem fiktiven Erzähler in den Mund zu
legen, um auf diese Weise die Nähe zum mündlichen Sprechen zu betonen, deren die
Mundart bedarf, weil sie nur als gesprochene Sprache existiert.44 Beide — Reuter mehr,
Brinckman weniger — modellierten ihre Gestalten „von ihren vitalen Kräften und
ihrer sozialen Lebensform her“,45 wobei die Charakterisierung durch die Mundart,
40 Römer, Sammlung (1905) 22 — 31 (vgl. Anm. 20).
41 Vgl. dazu Neumann, Brinckman (1964) 21 f. (vgl. Anm. 39).
42 Gemeint sind seine „Wanderjahre“ als Landwirt (1841 —1850) im Anschluß an seine
siebenjährige politische Haft.
43 Müller, Reuter (1901) V (vgl. Anm. 39).
44 Vgl. dazu Monika Jaeger, Theorien der Mundartdichtung. Tübingen 1964.
45 Batt, Reuter (1960) 137 (vgl. Anm. 36).
56
Siegfried Neumann
vor allem im Sprachporträt, etwas unabdingbar Notwendiges war. Das Geheimnis,
warum es ihnen gelang, ihre Bauern und Tagelöhner, Bürger und Seeleute so lebens-
echt zu zeichnen, liegt jedoch wohl zum wesentlichen Teil darin, daß sie selbst emp-
fanden oder zumindest sprachen wie die meisten Gestalten, die sie darstellten,
was sich auch in der Verwendung des Sprichworts und speziell des Sagworts aus-
drückte.
Dieser Umstand erleichtert die folgende Untersuchung, bei der es nicht um das
Sagwort als Stilmittel in der Dichtung,46 sondern um Art und Ausmaß der dichte-
rischen Verwendung von Sagwörtern als Widerspieglung ihres Gebrauchs und
ihrer Funktion in der Umgangssprache des Alltags geht, wobei die besonderen
Bedingungen ihres Einbaus in den größeren Rahmen individueller Sprachkunst-
werke nur in Rechnung gestellt werden können. Eine solche volkskundliche Inter-
pretation hat gewiß ihre Gefahren.47 Aber beim Sprichwort kommt es im Grunde gar
nicht darauf an, daß die Dichter sich bewußt um eine möglichst genaue Wiedergabe
des tatsächlichen Sprachgebrauchs bemühten. Wenn sie mit der Mundart als Mutter-
sprache aufgewachsen waren und sie — wie Reuter und Brinckman — täglich hörten
und sprachen, genügt schon eine ähnlich spontane Verwendung wie im Gespräch,
um aus der Dichtung Gebrauch und Funktion der verwendeten Sagwörter im All-
tag herauslesen zu können.
Beide haben das Sagwort recht häufig und sehr differenziert verwendet. Brinck-
man unternahm es mehrfach, seine Dichtungen originell damit einzuleiten,48 streute
es aber in seinen Erzähltext relativ selten ein.49 Bei Reuter dagegen findet es sich oft
im Fluß des Erzählens. Besonders in die Schilderung seiner Erinnerungen an die
„Festungstid“ fügte es sich wiederholt zwanglos ein, z. B. als Zusammenfassung
seines ersten Eindrucks von einer neuen Festung, in die er eingeliefert wurde:
„... kort, ,de irste Anblick was nich slicht‘, as Adam säd, as hei Eva tau sein kreg“,50
zur Umschreibung seiner dortigen Gefühle: „... un wenn dat schöne Frühjohr nich
kamen wir, ,denn wir ick jo woll dor ganz musikalisch mang worden", as oll Jakobsch
in Stemhagen säd, as ehr Mann wegen de Schapfellen inspunnt was“,51 oder, wenn er
auf seine Selbstbescheidung zu sprechen kam: „. . . Na, ,all Bott helpt‘, säd de Mügg,
46 Vgl. Wolf gang Lindow, Das Sprichwort als stilistisches und dramatisches Mittel in der
Schauspieldichtung Stavenhagens, Boßdorfs und Schureks. Jb. des Ver. f. niederdt. Sprach-
forschung 84 (1961) 97 — 116. Grundlage des Aufsatzes ist Lindows masch.-schriftl. Diss.,
Volkstümliches Sprachgut in der neuniederdeutschen Dialektdichtung. Teil 1: Das Sprich-
wort. Kiel i960.
47 Vgl. dazu Leopold Schmidt, Volkskundliche Beobachtungen Adalbert Stifters.
Adalbert-Stifter-Almanach für 1953, 86 —108; Ingeborg Weber-Kellermann, Theater und
Nationalfestspiel bei Gottfried Keller. DJbfVk 3 (1957) 145 —168.
48 Bri. Bd. 5, Titelblatt, wo es als Motto gebraucht ist; Bd. 4, 75, 201. Anklänge bei Reu.
Bd. 5, 3.
49 Bri. Bd. 4, 127; Bd. 5, 175L; Bd. 7, 139.
50 Reu. Bd. 5, 133 („. . . kurz, ,der erste Anblick war nicht schlecht", wie Adam sagte, als
er Eva zu sehen bekam“).
51 Reu. Bd. 5, 242 („. . . und wenn das schöne Frühjahr nicht gekommen wäre, ,dann wäre
ich dazwischen ja wohl ganz musikalisch [für: melancholisch] geworden", wie die alte Frau
Jakob in Stavenhagen sagte, als ihr Mann wegen der Schaffelle eingesperrt war“).
Das Sagwort im Spiegel der Mundartdichtungen Reuters und Brinckmans
57
un spuckt in den Rhein . . . un einer sali Gott för allens danken“.52 Hier war der erste
Teil des Sagworts stets wörtlich gemeint, während es als Ganzes humoristisch auf-
lockern sollte.53 Daneben diente es ihm zu hintergründiger Bekräftigung: „. . . Na,
’t was jo ganz einerlei . . .: ,Ei is en Ei', säd de Köster, hei langt äwer nah’t Gaus’ei“,54
zu anschaulichem Vergleich: „De irste Not was kihrt; äwer hei hadd’t makt as jenne
olle Fru, hei hadd’t Süerwater mit den Backeitrog heit makt“55 oder zur bloßen Über-
leitung: „Äwer allens hett sine Tid, un oll Scheper Köpk säd: ,den nägten Dag krigen
de jung’n Hun’n ok Ogen‘“.56 In allen diesen Fällen,57 die den Dichter unmittelbar
als Sagwortsprecher charakterisieren, bildet das Sagwort ein organisches Glied des
beschreibenden oder erläuternden Textes, in dem es nicht anders gebraucht sein
dürfte als in der lebendigen Umgangssprache.
Interessanter jedoch ist die Verwendung des Sagworts im Sprachgebrauch der
einzelnen Gestalten. Hier begegnet es im Selbstgespräch, in der Unterhaltung und in
der Erzählung oder im Bericht.
Im Selbstgespräch formte es sich am zwanglosesten aus dem Gedächtnis heraus,
denn hier diente es lediglich als Medium der Selbstverständigung, zu der man
unbewußt auf vorgeprägte Formulierungen zurückgriff. Ein anschauliches Beispiel
dafür bietet die folgende Stelle aus den Überlegungen des verwitweten Konrektors
Äpinus: „. . . satt bün ick jo noch ümmer worden, un up Wollewen steiht min Sinn
nich — na, wenn ’t einer beter hewwen kann, Sün’n is ’t ok nich — ,äwer de Tung is
man en kort En’n, wo ’t gaud smeckt‘, seggt Sadler Fabe, un de Mann hett recht, nahsten
is’t ganz egal. Äwer dat Öller! Dat möt kamen un ward kamen, un denn so ganz
allein. . . ,“58 — Welches Ausmaß dieser Gebrauch des Sagworts sicher annehmen
konnte, illustriert Brinckman an seiner vermenschlichten Gestalt des Teufels, der
seine Selbstbetrachtungen förmlich mit Sagwörtern spickt und seine Zuversicht mit
einem „,Dat will wi noch mal ierst eins seihn(, seggt Johann Rosenow“,59 seine Befrie-
digung durch ein „,So möt ’t kamen‘, seggt Neumann“,60 seine Voraussicht mit einem
52 Reu. Bd. 5, 152, ebenfalls 260 („. . . Na, ,jede Kleinigkeit hilft [weiter]', sagte die Mücke
und spuckte in den Rhein . . . und man soll Gott für alles danken“).
53 Vgl. auch Reu. Bd. 6, 71; Bd. 8, 209.
54 Reu. Bd. 5, 129 („. . . Na, es war ja ganz einerlei . . .: ,Ei ist Eic, sagte der Küster, er
langte aber nach dem Gänseei“).
65 Reu. Bd. 6, 95 („Die erste Not war abgewendet, aber er hatte es so gemacht wie jene
alte Frau, er hatte das Wasser zum Säuern mit dem Backtrog heiß gemacht“); ebenfalls
gebraucht in Bd. 3, 95 und Bd. 9, Teil 2, 55. Vgl. auch Bd. 7, 58.
56 Reu. Bd. 7, 96 („Aber alles braucht seine Zeit, und der alte Schäfer Köpke sagte: ,am
neunten Tag bekommen die jungen Hunde auch Augen' “). Vgl. auch Bd. 1, 147.
57 Außerdem finden sich Beispiele, daß das Sagwort eine der handelnden Personen zur
Sagperson hat: Reu. Bd. 1, 170; Bd. 5, 103 und 240.
58 Reu. Bd. 9, 244L („. . . satt bin ich ja noch immer geworden, und auf Wohlleben steht
niein Sinn nicht — na, wenn man es besser haben kann, Sünde ist es auch nicht — ,aber die
Zunge ist nur ein kurzes Ende, wo es gut schmeckt', sagt Sattler Fabe, und der Mann hat
recht, hinterher ist es ganz egal. Aber das Alter! Das muß kommen und wird kommen, und
dann so ganz allein. . . .“).
59 Bri. Bd. 5,52, 99,144 („ ,Das wollen wir doch erst einmal sehen', sagt Johann Rosenow“).
90 Bri. Bd. 5, 57, 100 („,So muß es kommen', sagt Neumann“); ebenfalls gebraucht in
Bd. 6, 137 und Bd. 7, 25 sowie Reu. Bd. 4, Teil 1, 73 und Bd. 9, 125.
58
Siegfried Neumann
„,Oewer Krüz holt duwwelt‘, hadd de Pierdjung seggt, hadd Speck up das Smolt leggt“61
und seinen Ärger durch das drastische „ ,Dit is jo rein taum Swanzutriten‘, hadd de
Voß seggt, dünn hadd hei mit de Fahn inn Schwanenhals säten“62 auszudrücken oder
zu unterstreichen pflegt. — In solcher Selbstverständigung erfüllte das Sagwort vor
allem eine sprachliche Funktion, obwohl seine Verwendung, wie die Beispiele zeigen,
emotional getönt sein konnte. Sie setzte voraus, daß es zum selbstverständlichen
„Vorrat“ an Redewendungen gehörte.
In der Unterhaltung wurde das Sagwort zum sprachlichen Ausdrucksmittel
einem Gesprächspartner gegenüber, dem es nicht in gleichem Maße geläufig zu sein
brauchte, aber meist doch so weit vertraut war, daß die von anderen Äußerungen
auffällig abweichende Formulierung ohne weiteres „einging“. Hier fing sich —
stärker noch als im gewöhnlichen Sprichwort63 — die Unmittelbarkeit mundartlicher
Sprechweise in einer schon fertigen Sprachprägung auf, die durch ihre ausdrucks-
volle Verdichtung inmitten ungebundener Rede einen besonderen Akzent erhielt. —
So berichtet Reuter z. B. von einer Gesprächsszene auf dem Transport in eine andere
Festung.64 Man trat in ein Gasthaus, und er bestellte für sich und einen Mitgefangenen
sowie für die beiden freundlichen Gendarmen, die sie begleiteten, ein Mittagessen.
Einer von ihnen widersprach: „Ne, man twei Potschonen! — Prütz un ick hewwen
all eten, wi eten nich mit.“65 Reuter wies das zurück: „Na, dat wir nett! — Ne, ,dat
Brüden geiht üm‘, seggt Trohls. — So du mi, so ick di; hewwen wi Sei dat Frühstück
vertehren helpen müßt, sälen Sei uns bi’t Middag bistahn.“66 Die Suppe wurde auf-
getragen, und man ließ sie nicht kalt werden. Da verlangte Reuter unter Hinweis
darauf, daß er noch Privatgeld habe, eine Flasche Wein dazu. Wieder wehrte sich der
Gendarm: „Ach, du lei wer Gott! Dat is jo äwerst insigelt, un dat möt ick jo an de
Kummandantur tau Gr . . . afliwern.“67 Doch wieder stimmte Reuter ihn um, indem
er bemerkte: „Laten Sei man, ,dat treckt sick all nah’n Liw‘, as de Snider seggt.“68
Und man trank auch zusammen den Wein aus, der Gendarm brach den versiegelten
Brief auf, und Reuter bezahlte. — In diesem Dialog wurde an entscheidender Stelle
jedesmal ein Sagwort gebraucht, das der eigenen lapidaren Feststellung den ge-
wünschten Nachdruck verlieh, indem es sie in geläufige, eingängige Formulierungen
kleidete.
Gleichzeitig besaß wohl die Nennung einer Gewährsperson, sofern man ihr eine
anerkannte Lebenserfahrung in den Mund legte, ohne diese in einem Schlußteil
01 Bri Bd. 5, ioi („,Über Kreuz hält doppelt', hat der Pferdejunge gesagt, hat sich Speck
auf das Schmalz gelegt“).
62 Bri. Bd. 5, 142 („,Dies ist ja rein zum Schwanzausreißen', hat der Fuchs gesagt, da hat
er mit dem Schwanz in der Falle gesessen“).
03 Vgl. Hain, Sprichwort und Volkssprache (1951) 32ff. (vgl. Anm. 33).
64 Reu. Bd. 5, iz6f.
65 („Nein, nur zwei Portionen! — Prütz und ich haben schon gegessen, wir essen nicht
mit.“)
66 („Na, das wäre nett! — Nein, ,das Foppen geht reihum [wechselt ab]', sagt Trohls. —
Wie du mir, so ich dir; haben wir Ihnen das Frühstück verzehren helfen müssen, sollen Sie
uns beim Mittag beistehen.“)
67 („Ach, du lieber Gott! Das ist ja aber versiegelt, und das muß ich ja an die Komman-
dantur zu Gr. . . abliefern.“)
08 („Lassen Sie nur, ,das zieht sich alles nach dem Leib', wie der Schneider sagt.“)
Das Sagwort im Spiegel der Mundartdichtungen Reuters und Brinckmans
59
komisch zu relativieren, eine gewisse Suggestivkraft.69 Man verkürzte deshalb Sag-
wörter gern oder fügte einer Redewendung einen Sprecher hinzu, was auch Reuter
zu tun pflegte. Nach der Ankunft auf der Festung klagte ihm sein Mithäftling, er
habe sich für die nächste Zeit zu viel Milch bestellt. Reuter wußte Rat und meinte:
„Weitst wat, Kapteihn? ,Ümmer praktisch!‘ säd de Düwel. Wi wilFn bottern un Kes’
maken“70, wobei er das Sinnvolle seines Vorschlags durch ein vorangestelltes Sag-
wort unterstrich, dessen Aussage eine ähnliche Assoziation herausforderte. — Den
gleichen Rückgriff auf eine geläufige Sprachformel zeigt das Beispiel eines Tagelöh-
ners, der seine Meinung über das Schicksal seines durch den Aufenthalt im Irrenhaus
völlig gebrochenen Gutsherrn in die Worte zusammenfaßte: „Ja, Vadder, ’t is en
Leiden\ seggt Lemk, vordem so un nu so!“71 — In solchen Fällen mischte sich das
Sagwort ähnlich unmittelbar zwischen die eigenen Worte wie im Selbstgespräch.
Gelegentlich wurde sein Gebrauch durch eine besondere Situation ausgelöst. In der
Franzosentid findet sich ein Aufbruch beschrieben, den die Verhältnisse sehr erschwer-
ten. Als endlich die Pferde gesattelt werden konnten, trat der Müllerknecht Friedrich
zu seinem Kameraden in den Stall und rief ihm zu: „Hinrich, ,aller Anfang is swor‘,
hadd de Düwel seggt un hadd sich mit Mählenstein dragen, äwer . . .“72 — da erblickte
er einen Ratsherrn aus der Stadt und unterbrach sich, um ihm noch ein Anliegen
vorzutragen. — Allgemein üblich in mißlichen Situationen — hier bei Sturm an
Bord zu einem Seekranken gesagt — war offenbar der Trost: „Lat du dat man sin,
Franz, dat giwwt sick allens; ,dit’s en Äwergang‘, säd de Voß, as sei em dat Fell äwer
de Uhren trocken.“73
Oft bedurfte die Verwendung eines Sagworts jedoch erst eines Stichworts von
seiten des Gesprächspartners,74 das dann in der Antwort auf genommen wurde, —
wie in diesem Wortwechsel zwischen Amtmann und Müller: „Ruhig, Möller Voß!
De Prozeß kümmt jo ok en mal tau En’n, denn hei is jo in vullen Gang.“ — „In’n
Gang, Herr Amtshauptmann? Ne, ,hei ’s in’n Swungc, as de Düwel säd, dünn hadd
hei Gottswurt in de Pietsch bunnen un swenkt’t sick üm den Kopp rüm.“75 Die Steige-
rung „Schwung“ gegenüber „Gang“ bot hier Veranlassung, das ganze Sagwort zu
zitieren, das nicht nur den eigenen Standpunkt zu dem Verlauf des Prozesses aus-
drückte, sondern auch dessen Unerfreulichkeit an sich andeutete, so daß der Amtmann
nur bestätigen konnte: „Wohr, Möller Voß, wohr is’t.“76
69 Vgl. unten S. 65.
70 Reu. Bd. 5, 231 („Weißt du was, Kapitän? ,Immer praktisch!', sagte der Teufel. Wir
wollen buttern und Käse machen.“).
71 Reu. Bd. 10, 32 („Ja, Vater, ,es ist ein Leiden', sagt Lemke, vorher so und nun so!“).
72 Reu. Bd. 3, 205 („Hinrich, ,aller Anfang ist schwer', hat der Teufel gesagt und hat sich
ttiit Mühlensteinen getragen, aber ...“); ebenfalls gebraucht in Bd. 4, Teil 2, 215.
73 Reu. Bd. 10, 151 („Laß es gut sein, Franz, das gibt sich alles; ,dies ist ein Übergang',
sagte der Fuchs, als sie ihm das Fell über die Ohren zogen.“); ebenfalls gebraucht in Bd. 1,
81.
74 Vgl. Reu. Bd. 1, 282.
75 Reu. Bd. 3, 7L („Ruhig, Müller Voß! Der Prozeß kommt auch einmal zum Ende, denn
er ist ja in vollem Gange.“ — „Im Gange, Herr Amtshauptmann? Nein, ,er ist in Schwung',
"wie der Teufel sagte, da hatte er Gottes Wort [die Bibel] an die Peitsche gebunden und
schwenkte es sich um den Kopf herum.“). Vgl. auch Bri. Bd. 6, 169.
76 („Wahr, Müller Voß, wahr ist es.“)
60 Siegfried Neumann
Häufiger wurden solche Stichworte wohl aufgegriffen, um sie im Sagwort direkt
ad absurdum zu führen. So schildert Brinckman z. B. den folgenden Disput im An-
schluß an die Erzählung eines tollen Jugendstreichs.77 Einer der Zuhörer wandte
sich an den Erzähler: „Na, nehmen Se mi dat nich oewel, Kaptein, ’n richtigen Riten-
dal sünd Se Ehr Tit oewersten wäst! Kreg de Pullezei dat denn nich rate?“78 Der
sah den Frager scharf an und meinte dann: „Ja, dat sali wohr sin, Harr Avkat!
Richtige Rackers wiren wi, un ne düchtige Dracht Släg hadd üns dorför tostahn, un
de hadden wi ok sacht upladen müßt, wenn se üns man krägen hadden. De Harm
Avkatens, de seggen twors iimmer: ,Dat will wi woll kriegen!‘ Man ümmer kriegen s’
dat doch nich, wenn se ok man dat Geld meenen. . . ,“79 Das benutzte Sagwort, provo-
ziert durch die Frage und den Beruf des Fragenden, unterstrich nicht nur die Zurück-
weisung des Einwurfs, sondern ermöglichte gleichzeitig einen kleinen persönlichen
Seitenhieb. — Ähnliches zeigt ein Gespräch zwischen dem hartherzigen Gutsherrn
Pomuchelskopp und seiner noch raffgierigeren Frau.80 Sie schauten beide begehrlich
nach dem Nachbargut hinüber, und er sagte: „Wer weit? — Wenn mi Gott dat
Leben lett, un ick in Pommern alles gaud verköfft krig, un de Tiden bliwen gaud, un
de oll Kammerrat is dod, un de Sähn makt Schulden . . .“81 Aber sie fiel ihm spöttisch
ins Wort: „Ja Muchel, ja, grad so as oll Strohpagel säd: ,wenn ick teihn Johr jünger wir
un ick hadd den fulen Bein nich, un ick hadd min Fru nich — denn süllt ji mal seihn,
wat ick för’n Kirl wir!‘“82 Der angeführte Vergleich drückte die Ablehnung solcher
lediglich spekulativen Überlegungen bissiger aus, als es eigene Worte vermocht
hätten. — Interessant ist in diesem Zusammenhang auch ein Ausschnitt aus dem
Dialog zweier streitender Tagelöhnerfrauen: „. . . Un denn will’k di man wat seggen,
Wulfleffsch! Ein Düwel näumt den annern Düwel ümmer Scheilog, un wenn denn
uns Herrgott den Schaden besüht, scheilen s’ all beid.“ — „Na, dat warst du weiten,
Kastensch! ,Ein Düwel is ümmer oewer den annern Düwel‘, hadd de Köster tau den
Paster seggt, as de Suprendent int Dörp kämm.“83 Auch hier bestand die ganze Ant-
77 Bri. Bd. 2, S. 141.
78 („Na, nehmen Sie mir das nicht übel, Kapitän, ein richtiger Ritendal [einer, der alles
zerreißt] sind Sie zu Ihrer Zeit aber gewesen! Kriegte die Polizei das denn nicht heraus?“)
79 („Ja, das soll wahr sein, Herr Advokat! Richtige Racker waren wir, und eine tüchtige
Tracht Prügel hätte uns dafür zugestanden, und die hätten wir auch wirklich aufladen
müssen, wenn sie uns nur bekommen hätten. Die Herren Advokaten, die sagen zwar immer:
,Das wollen wir wohl kriegen!“ Nur, immer kriegen sie das doch nicht, wenn sie auch nur
das Geld meinen. . . .“)
80 Reu. Bd. 6, 101.
81 („Wer weiß? — Wenn mir Gott das Leben läßt, und ich in Pommern alles gut verkauft
bekomme, und die Zeiten bleiben gut, und der alte Kammerrat ist tot, und der Sohn macht
Schulden . . . “)
82 (»Ja, Muchel, ja, gerade so wie der alte Strohpagel sagte: ,wenn ich zehn Jahre jünger
wäre, und ich hätte das lahme Bein nicht, und ich hätte meine Frau nicht — dann solltet ihr
schon sehen, was ich für ein Kerl wäre!““)
83 Bri. Bd. 5, 112 („. . . Und dann will ich dir nur etwas sagen, [Frau] Wulfleffin! Ein
Teufel nennt den anderen Teufel immer Schielauge, und wenn dann unser Herrgott den
Schaden besieht, schielen sie alle beide.“ — „Na, das wirst du wissen, [Frau] Kastenin!
,Ein Teufel ist immer über dem anderen Teufel“, hat der Küster zu dem Pastor gesagt, als
der Superintendent ins Dorf kam.“); ebenfalls gebraucht in Bd. 4, 80.
Das Sagwort im Spiegel der Mundartdichtungen Reuters und Brinckmans
61
wort im Grunde nur aus einem durch das Stichwort „Düwel“ assoziativ ins Ge-
dächtnis gerufenen Sagwort, das die Behauptung der Gesprächspartnerin über-
trumpfte. Aber es setzte gleichzeitig den Schlußpunkt des ganzen Wortstreits, indem
es das „Thema“ erschöpfte.
Nicht immer jedoch standen die Sagwörter, die man auf irgendeine Assoziation
hin vorbrachte, in solchem deutlichen Sinnzusammenhang mit dem übrigen Gesagten.
So heißt es z. B. in einer Bemerkung des Teterower Bürgermeisters, der gerade drei
Handwerksburschen kurzerhand hatte ins Gefängnis werfen lassen: „. . . woll dem
Lande, das eine prompte Justiz hat, un wo de Magistrat nich ierst lang fackeln deit,
man de Fingerhannschen fuurts uttreckt un dat heit Isen denn ok recht en bäten fast
anfött. ,Dor geiht nicks oewer de richtige Diagnossäd oll Doktor Zipoll, un hadd sin
eigen oll Grotmudder noch Sittoersaat wedder de Wörm gäwen. Sei weiten jo woll noch,
Herr Ziktorivus, dünn hadd oll Doktor Zipoll noch läwt.“8i Dieses von dem selbst-
gefällig schwadronierenden Stadtoberhaupt ad hoc hinzugefügte Sagwort — offenbar
als Bekräftigung gemeint — relativiert sein Gerede nur vollends. — Noch deutlicher
ist dieses Danebengreifen in einer Ansprache, die nach Reuters sarkastischer Ur-
geschicht ein mecklenburgischer Fürst an seine aufbegehrenden Untertanen hielt:
„. . . Snurrerwohr, meint ji, ick heww nicks anners tau dauhn, as jugen Drähnsnack
antauhüren? — Dor seiht mine braven Krakow’schen Börgers an; sei verdeinen ehr
Brod ihrlich un erfreu’n dat ganze Land mit ehre Örgel un ehren Gesang; und ,wo
man singt, da laß dich ruhig niederc, säd de Düwel un set’t sick in’n Immenswarm. —
Doch dat wull ick nich seggen, ick wull seggen: worüm nem ji nich ok ’ne Dreih-
örgel . . .“84 85 Sicher war das Sagwort hier besonders deutlich Stilmittel der Dichter
und wurde deshalb nicht ohne Grund Vertretern der Obrigkeit in den Mund gelegt.
Aber es kam sicher auch im Alltag häufig vor, daß man eine Formulierung ge-
brauchte, die den Anfang eines gängigen Sagworts bildete, sich seiner Assoziation
hingab und das Sagwort ganz anführte, ohne Rücksicht darauf, ob es in den Zusam-
menhang paßte oder nicht.
Das gilt nicht nur für den Gebrauch des Sagworts im schnellen Wechsel von Rede
und Gegenrede, sondern ebenso für die Fälle, in denen man es in Erzählung oder
Bericht mit einflocht, obwohl es dort auch bei spontaner Verwendung bis zu einem
gewissen Grade zu einem volkstümlichen Stilmittel werden konnte. Das läßt sich
vor allem bei Brinckman beobachten, dessen Eigenart, seine Geschichten in zwang-
loser Runde von einer seiner Gestalten erzählen zu lassen, eine starke Anlehnung an
84 Bri. Bd. 5, 78 („. . . wohl dem Lande, das eine prompte Justiz hat, und wo der Magistrat
nicht erst lange fackelt, sondern die Fingerhandschuhe sofort auszieht und das heiße Eisen
dann auch recht ein bißchen fest anfaßt. ,Da geht nichts über die richtige Diagnose4, sagte
der alte Doktor Zipoll, und hat seiner eigenen alten Großmutter noch Beifuß gegen die
Würmer gegeben. Sie wissen ja wohl noch, Herr Sekretarius, da hat der alte Doktor Zipoll
noch gelebt.“).
85 Reu. Bd. 9, Teil 2, 97 („. . . Bettlerzeug, meint ihr, ich habe nichts anderes zu tun, als
euer Gewäsch anzuhören? — Da seht meine braven Krakower Bürger an; sie verdienen ihr
Bfot ehrlich und erfreuen das ganze Land mit ihrer [Dreh-] Orgel und ihrem Gesang; und
,v° man singt, da laß dich ruhig nieder4, sagte der Teufel und setzte sich in einen Bienen-
schwarm. — Doch das wollte ich nicht sagen, ich wollte sagen: warum nehmt ihr euch nicht
auch eine Drehorgel. . .“).
.a, n ii pi
62 Siegfried Neumann
die Erzählweise des Volkes möglich machte. Hier begegnet das Sagwort in den ver-
schiedenartigsten Gedankengängen, und zwar am häufigsten als bekräftigendes Füll-
sel: „Nee, dat is nich moeglich! ,Is nicli!‘ hett dat Wuurt, ,un all wat nich is, dor sali
eener ok nicks ut maken(, seggt Kastens“86; „,Na, denn helpt dat nicli, seggt Toppstädt,
denn möt ick mi jo woll man gäwen . . .“87 usw.88 Hier führte man stets eine Art
Kronzeuge an. Wurden dagegen verschiedene Möglichkeiten genannt, unterstrich
das ein unverbindliches „,Oewer ’t Water oder ünner ’t Water , hadd de Krickaant
seggt, ,is mi all egaZ/'“89 — Auch zur gedanklichen Überleitung diente das Sagwort
öfter: „,Besinnen is ’t Best an ’n Minschen, hadd de Koeksch seggt, un as se sick
ierst richtig besunnen hadd, dünn fünn se den sülwern Läpel in de Dranktunn werrer un
würr ehr nicks nich von ’t Lohn aftreckt. Ick wüßt dat woll, dor müßt noch wat sin, wat
mi tostünn. Mit eens föll mi dat bi. . .“90 oder — nach trügerischen Hoffnungen —
„,0ewer nimm di nicks vor, denn sleiht di ok nicks fähl!c hadd den Schulten sin Fru
seggt, as se de Stieg Eier sülm utsitten wullt hadd, wur de Kluck von afgahn wir, un se
nah vierteihn Dag:’ frot würr, wat se an to stünken füngen“91 bzw. ganz knapp
„Je, ,wat kosten , seggt Wegner“92. Selbst zwei Sagwörter unmittelbar hintereinander
finden sich.93 94 Dabei fällt auf, wie weit das vollständig zitierte Sagwort mitunter von
den überleitenden Worten im ersten Teil, auf die es ankam, gedanklich wieder weg-
führte.
Solche Vergleiche in Sagwortform, die auch zur Illustration oder bloßen Auflocke-
rung im Fluß der Erzählung angeführt wurden, wirkten meist durch das Beispiel, das
sie enthielten: „Wenn Not an Mann is, ... man ümmer gedüllig gradut, — toletzt
kümmt eener doch in Osten an, wenn he strikt westlich seilt, un ,denn so is dat ne
vergüten Krankheit, as de jung Fru säd, as se nah de Wochen Kirchgang höll.“9i Der
im Sagwort ausgedrückte Vergleich konnte jedoch auch wörtlich gemeint sein wie
86 Bri. Bd. 6,69 („Nein, das ist nicht möglich! ,Ist nicht!' heißt das Wort, ,und alles, was nicht
ist, da soll man auch nichts daraus machen', sagt Kastens“); ebenfalls gebraucht 178.
87 Bri. Bd. 2, 19 („Na, ,dann hilft es nichts', sagt Toppstädt, dann muß ich mich ja wohl
drein geben“); ebenfalls gebraucht in Bd. 6, 14.
88 Vgl. Bri. Bd. 6, 102, 104, 160; Bd. 7, 226; Bd. 3, 179.
89 Bri. Bd. 6, 79 („ ,Ober Wasser oder unter Wasser', hat die Krickente gesagt, ,ist mir alles
egal!'“).
90 Bri. Bd. 6, 54 („,Besinnen ist das Beste beim Menschen', hatte die Köchin gesagt, und
als sie sich erst richtig besonnen hatte, da fand sie den silbernen Löffel in der Drangtonne
wieder, und es wurde ihr nichts vom Lohn abgezogen. Ich wußte das wohl, da mußte noch
etwas sein, was mir zustand. Mit einmal fiel mir das ein . . .“).
91 Bri. Bd. 6, 228 („,Aber nimm dir nichts vor, dann schlägt dir nichts fehl’, hat die Frau
des Schulzen gesagt, als sie die Stiege [20 Stück] Eier selbst hatte aussitzen wollen, wovon
die Glucke ab gegangen war, und nach vierzehn Tagen gewahr wurde, daß sie anfingen
zu stinken“).
92 Bri. Bd. 7, 123 („Ja, ,etwas gehustet', sagt Wegner“); ebenfalls gebraucht in Bd. 3, 175.
93 Bri. Bd. 6, 66.
94 Bri. Bd. 6, 48 („Wenn Not am Mann ist, . . . nur immer geduldig geradeaus, — zuletzt
kommt einer doch im Osten an, wenn er strikt westlich segelt, und ,dann ist das eine ver-
gessene Krankheit', wie die junge Frau sagte, als sie nach den Wochen Kirchgang hielt“).
Vgl. auch Bd. 6, 169 und Bd. 7, 216. Solche Vergleiche häuften sich mitunter geradezu,
wobei das Sagwort die letzte Steigerung bringen konnte (vgl. Bd. 4, 80).
Das Sagwort im Spiegel der Mundartdichtungen Reuters und Brinckmans
63
in der Prophezeiung: „. . . ward du man ierst Kajütenwächter, denn geiht di dat
noch so, as de Jung to Phylaxen an Buurd säd: ,Wur geiht Uns dat, Uns armen Rostocker
Stadtkinner! Ick krieg Släg, un du möst Knaken fräten/‘“95 Hier ersetzte das humor-
volle Sprichwort knapp und prägnant eigene Worte für den gemeinten Sachverhalt —
wie man wohl überhaupt im alltäglichen Erzählen, das Brinckman in seinen Rahmen-
erzählungen nachzugestalten bemüht war, weitgehend formelhafte sprachliche Wen-
dungen benutzte.
Unter ihnen ließ die Form des Sagworts einen auffälligen Spielraum für individuelle
Variationen im funktionellen und sprachlichen Gebrauch. Selbst ein und derselbe
Sagworttyp konnte trotz gleichbleibenden „Inhalts“ völlig verschiedene Aufgaben
erfüllen, je nachdem, bei welcher Gelegenheit und wie man ihn anführte. So wurde
das Beispiel „ ,Dat treckt sick all nah’n Liwc, hadd de Snider seggt, hadd de Ärmels an de
Rockstaschen sett’t“96 zunächst einmal in seiner wörtlichen Bedeutung als Aussage
über pfuschende Schneider oder schlechtsitzende Kleidung verwendet und faßte
dann gewissermaßen alles zusammen, was darüber zu sagen war, wobei sowohl
Bitterkeit oder Schadenfreude als auch ein humorvolles Über-den-Dingen-Stehen
mitschwingen konnte. Daneben wurde diesem „Dat treckt sick all nah’n Liw“ jedoch
der übertragene Sinn „Das renkt sich mit der Zeit alles ein“ untergelegt, und wenn
man dann das vollständige Sagwort in seiner Normalform anführte, stand dahinter
heitere Gelassenheit gegenüber Vergangenheit oder Zukunft oder ein Vergnügen
an der Hintergründigkeit, die das Beispiel nun durch das Bild der an die Rocktaschen
genähten Ärmel erhielt.97 Ließ man diesen parodistischen Schlußteil fort, der dem
Sagwort seine erheiternde Wirkung gab, dann benutzte man es ähnlich wie ein
gewöhnliches Sprichwort, um den auf Lebenserfahrung gründenden Trost „Es wird
alles wieder gut“98 oder die Zusicherung „Das geht schon in Ordnung“99 auszu-
drücken. Aber selbst wenn das vollständige Sagwort angeführt wurde, konnte es
trotz seines komischen Gehalts eine ernste Aussage enthalten, wie in der folgenden
Rückschau auf ein Versäumnis: „Ji wunnert juch woll, Kinnings, wur so wat oewerall
minschenmoeglich is, dat een so wat ok man eenen eenzigsten Ogenblick verdoesen
kann. Man de hastigen Lüd is dat ümmer noch so in de Welt gähn . . . se neigen de
Ärmels an de Rockstaschen, as jenn Dörpsnider, man nah’n Liw treckt sick dat achterher
doch nich, paß du den Kittel an, wur du em wist.“100 Hier diente das Sagwort dazu,
echte Lebensweisheit zu vermitteln. Es wurde dabei jedoch im Grunde nicht mehr
95 Bri. Bd. 2, 63 („. . . werde du nur erst Kajütenwächter, dann geht dir das noch so, wie
der Junge zu Phylax [dem Hund] an Bord sagte: ,Wie geht uns das, uns armen Rostocker
Stadtkindern! Ich kriege Schläge, und du mußt Knochen fressen!“1).
96 Bri. Bd. 4, 185 („,Das zieht sich alles nach dem Leib‘, hat der Schneider gesagt, hat die
Ärmel an die Rocktaschen gesetzt“).
97 Bri. Bd. 2, 97.
98 Reu. Bd. 4, Teil 1, 67.
99 Reu. Bd. 5, 127. Vgl. oben S. 58.
300 Bri. Bd. 7, 216 („Ihr wundert euch wohl, Kinder, wie so etwas überhaupt menschen-
möglich ist, daß man so etwas auch nur einen einzigen Augenblick vergessen kann. Aber den
hastigen Leuten ist das noch immer so in der Welt ergangen ... sie nähen die Ärmel an die
Rocktaschen, wie jener Dorfschneider, nur nach dem Leib zieht sich das hinterher doch nicht,
paß du den Kittel an, wie du ihn willst.“).
64 Siegfried Neumann
„zitiert“, sondern ging in der Formulierung des Sprechers, die den Bildgehalt über-
nahm, völlig auf — ein Zeichen, wie vertraut es war.101 So dürfte mit diesen Möglich-
keiten des Gebrauchs die tatsächliche Verwendungsskala des Sagworttyps längst
nicht erschöpft gewesen sein, und ähnlich vielseitig wurde bestimmt auch eine Reihe
anderer Sagwörter in alltäglicher Rede benutzt.102
Neben der Verwendung der Kurzform, die oft voraussetzte, daß die vollständige
Form des betreffenden Sagworttyps bekannt war, sowie der Auflösung von Sag-
wörtern im Sprachgebrauch zeugen auch die Art, wie der Sagwort„inhalt“ als Bei-
spiel angeführt wurde, oder die Selbstverständlichkeit, mit der man etwa Tiere nicht
nur als Sprecher im Sagwort hinnahm, sondern sie selbst wiederum ganze Sagwörter
zitieren ließ, für die Geläufigkeit der Gattung im Sprachleben der Zeit. So lauten z. B.
in dem Tiermärchen Dat Brüden geiht üm, das der Schneider und Schulmeister Jürrn
auf einer Austköst (Erntefest) erzählte, die Überlegungen des Fuchses, als bei Gefahr
Entschlüsse zu fassen sind: „. . . Unglück slöppt nich! Ick will dat doch man leiwer
sau maken as de Fläuh, de säd: ,Ost unWest, tauHus is ’t bestV un sprüng ut Vader
sinen Smärstäwel in Moder ehren Unnerrock. Ick gah nu tau Hus“103 oder „Nu mak
ick dat sau, as de Maikäwer säd, as he den Sparling achter de Schün piepen hürt: ,Nu
burr ’k a/7£“104 Diese Beispiele zeigen auch besonders deutlich, wie stark das Beispiel-
hafte von Ausspruch oder Verhalten der angeführten Sagperson in einer bestimmten
Situation empfunden und für die eigene Aussage herangezogen wurde. Zwar ist
einzuräumen, daß man offensichtlich vor allem die zwanglose Unterhaltung oder die
behaglich ausgesponnene Erzählung mit Sagwörtern zu würzen pflegte,105 wobei leicht
eine spielerische Reflektion mit einfloß, etwa wenn es im Erzählfluß hieß: „. . . Min
lütt Rittmeister . . . ret den Jäger dat Gewehr von de Schüller un rep: ,Täuw, Kar-
nallj’, wie sünd noch nich utenanner!‘ as de Kuhnhahn tau de Daumaddik säd, as sei em
üm den Snabel spaddelt, un wull den Schimmel dod scheiten“,106 das Sagwort also nur
einem Einfall folgend ganz angeführt wurde. Aber meist deutete dieses „as . . . säd“
wohl auf die Bewußtheit des Sprechenden hin, im Augenblick so zu sprechen oder zu
handeln wie die genannte fiktive oder echte Gewährsperson in Sagwort oder Leben.
101 Vgl. dazu Robert Petsch, Spruchdichtung des Volkes. Halle 1938, n8f.
102 Vgl. Anm. 55, 60,72, 83, 86ff. Bei Reuter noch „,Doch horch an’t En’n!‘ seggt Kotel-
mann“ („,Doch warte das Ende ab‘, sagt Kotelmann“): Bd. 1, 91; Bd. 7, 208, 236; Bd. n,
184.
103 Bri. Bd. 3, 22 („. . . Unglück schläft nicht! Ich will das doch lieber so machen wie der
Floh, der sagte: ,Ost und West, zu Hause ist es am besten!4 und sprang aus Vaters Schmier-
stiefel in Mutters Unterrock. Ich geh nun nach Hause“).
104 Bri. Bd. 3, 27 („Nun mache ich das so, wie der Maikäfer sagte, als er den Sperling hinter
der Scheune piepsen hörte: ,Nun fliege ich los!‘“).
105 So findet sich z. B. in dem von religiösem Ernst durchtränkten, knappen Lebensbe-
richt, den Brinckman den Kapitän Heuer im Generalreeder geben ließ, kein einziger
Beleg; dagegen erweist sich die stark erweiterte, breit ausholende Neufassung Von Anno
Toback, in der die ersten Stationen desselben Lebens mit verklärendem Humor noch einmal
geschildert sind, als eine wahre Fundgrube.
106 Reu. Bd. 4, Teil 2, 119 („. . . Mein kleiner Rittmeister . . . riß dem Jäger das Gewehr
von der Schulter und rief: ,Warte, Kanaille, wir sind noch nicht auseinander!4 wie der Trut-
hahn zum Regenwurm sagte, als er ihm um den Schnabel zappelte, und wollte den Schimmel
totschießen44).
Das Sagwort im Spiegel der Mundartdichtungen Reuters und Brinckmans
65
Man wies dann den Angesprochenen auf diesen Zusammenhang hin — teils spontan-
mechanisch, teils betont oder entschuldigend.107
Diese Neigung, sich auf jemand zu berufen, trug anscheinend nicht nur wesentlich
zur Lebendigkeit des Sagworts bei, sondern brachte es auch mit sich, daß ständig
neu sagwortähnliche Wendungen aus dem Leben heraus entstanden. Man „zitierte“
irgendeine aus dem Rahmen des Alltäglichen fallende Redensart und nannte gleich-
zeitig denjenigen, von dem man sie ständig zu hören gewohnt war, z. B. „. . . Dor
stek ick mi nich mang. Sin Vader kümmt hüt, un ,dat is de Negste dortau, as de Fru
Pastern seggt“.108 Solche Floskeln, soweit sie stereotyp wurden, machten einen nicht
unerheblichen Teil der gebräuchlichen Sagwörter aus.109 Wie sehr man auch hier
das Beispiel für sich sprechen ließ, deutet die folgende Stelle aus einem knappen
Bericht an:,,. . . Dat wir binah so kamen, as de Lüd’ sick verteilen, dat Klempner
Belitz tau unsern Herrn Paster seggt hadd: ,Herr Paster, Sei slagen Ehr bru, un ick
slag min Fru, un Släg’ möten s’ oh hewwen, äwer wat tau dull is, is tau dull ; Nahwer
Schult hett sin dod slagen/“110 Dabei unterstrich in diesem Fall noch das rückver-
sichernd-hinleitende „as de Lüd’ sick verteilen“ die herausgekehrte persönliche
Distanz und das Bestreben, sich nicht festzulegen, die offenbar häufig hinter derartiger
gleichnishafter Aussage standen.
So mischten sich nach Ausweis der Verwendung bei Reuter und Brinckman zu
ihrer Zeit beim Gebrauch des Sagworts spielerische oder ernste Reflektion, die ihre
offenkundige Aussage oft unbewußt oder bewußt hinter einer vorgegebenen Formu-
lierung „versteckte“, und ein Gefallen an drastischer, bildhafter Ausdrucksweise.
Besonders dort, wo eine Meinungsäußerung Anstoß erregen konnte, griff man gern
auf das Sagwort mit seinem meist umschreibend-verhüllenden Bild- und Sinngehalt
zurück. So ließ z. B. Reuter einen Bräutigam über seine Klubkameraden klagen:
„. . . un Geschichten verteilten s’ sick, wat de vor de Hochtid seggt hadd, un wat de
nah de Hochtid seggt hadd, un wat de Scheper tau sinen Hund seggt hadd;111 un wenn
ick denn falsch würd un frog, wat sei dormit seggen wullen, un wat dat Spitzen up
mi sin süllen, denn säden sei all: ,Gott bewohre! Wi meinen man.4“112 In dieser knap-
pen Wiedergabe einer für den betreffenden Sagworttyp sicher typischen Gebrauchs-
situation dürfte das Charakteristische des Sagwortgebrauchs überhaupt eingefangen
107 Reu. Bd. 5, 243 (ebenfalls gebraucht in Bd. 2, 193); Bd. 5, 240; Bd. 8, 203f.
108 Reu. Bd. 7, 45; ebenfalls gebraucht in Bd. 6, 104; Bd. 7, 83, 140; Bd. 8, 168, 214
(„. . . Dazwischen stecke ich mich nicht. Sein Vater kommt heute, und ,das ist der Nächste
dazu4, wie die Frau Pastor sagt“). Vgl. auch Reu. Bd. 8, 108, 146, 177.
109 Vgl. oben S. 59.
110 Reu. Bd. 4, Teil 2, 220 („. . . Das wäre beinahe so gekommen, wie die Leute sich er-
zählen, das Klempner Belitz zu unserem Herrn Pastor gesagt hat: ,Herr Pastor, Sie schlagen
Ihre Frau, und ich schlage meine Frau, und Schläge müssen sie auch haben, aber was zu stark
ist, ist zu stark: Nachbar Schult hat seine totgeschlagen.4“).
111 Vgl. oben S. 53.
112 Reu. Bd. 11, 313 („. . . und Geschichten erzählten sie sich, was der vor der Hochzeit
gesagt hat, und was der nach der Hochzeit gesagt hat, und was der Schäfer zu seinem Hund
gesagt hat; und wenn ich dann wütend wurde und fragte, was sie damit sagen wollten,
und ob das Spitzen auf mich sein sollten, dann sagten sie alle: ,Gott bewahre! Wir meinen
nur.4 “).
5 Volkskunde
66 Siegfried Neumann
sein. Und in solcher Verwendung als wirkungsvolles Medium für eine eigene Aus-
sage, die sich — wie die Beispiele andeuteten — auf alle zwischenmenschlichen Be-
ziehungen erstrecken konnte, erfüllte das Sagwort zweifellos eine wichtige sprach-
liche und soziale Funktion.
Die angeführten Beispiele belegen zwar nicht mehr als einige verschiedenartige Mög-
lichkeiten des Sagwortgebrauchs um die Mitte des 19. Jahrhunderts. Aber da sowohl
von Reuter als auch von Brinckman angenommen werden kann, daß sie das Sagwort
— ob spontan oder als Stilmittel — wie der zeitgenössische „Volksmund“ in Mecklen-
burg benutzten, zumindest jedoch jeden Gebrauch vermieden hätten, der ihnen
unecht vorgekommen wäre, ist ihre Mundartdichtung, die diesen „Volksmund“
gewissermaßen konservierte, diejenige Quelle, aus der sich sowohl das umfassendste,
als sicher auch getreueste Bild vom „Leben“ dieser Sprichwortgattung zu ihrer
Zeit113 gewinnen läßt. Die Art ihrer Verwendung des Sagworts gibt insbesondere
Hinweise darauf, daß es damals kein Ausdrucksmittel bestimmter sozialer Gruppen,
sondern den Mundartsprechern aller Schichten der Bevölkerung aktiv geläufig war,
obwohl es trotz seiner reichen sprachlichen und funktionellen Variationsmöglich-
keiten offenbar seltener im Munde geführt wurde als das einfache Sprichwort.
Diese Befunde, die das Sagwort im Ausschnitt eines knappen Vierteljahrhunderts
landschaftlichen Sprachlebens volkskundlich greifbar werden lassen und die in einer
größeren Untersuchung in das Bild der norddeutschen Gesamtüberlieferung einzu-
fügen sein werden, beantworten sicher viele Fragen gar nicht oder nur halb und
bieten deshalb lediglich einen unvollkommenen Ersatz für die Ergebnisse direkter
Beobachtung des Sprichworts im umgangssprachlichen Gebrauch. Da dies aber für
die Vergangenheit nicht nachzuholen ist, scheint der hier eingeschlagene Umweg
über die erzählende Literatur die einzige Möglichkeit, über die Auffindung oder
Zusammenstellung früher Belege hinaus der Sagwortforschung aus volkskundlicher
Sicht historische Tiefe zu geben, mag der vorliegende Versuch auch deutlich die
Problematik eines solchen Bemühens demonstrieren.
113 In Reuters Dörchläuchting und Brinckmans Uns Herrgott up Reisen spielt die Hand-
lung zwar im 18. Jh.; der Sagwortgebrauch in diesen Romanen läßt jedoch Rückschlüsse
selbstverständlich nur auf die Zeit der Abfassung zu.
MITTEILUNGEN UND BERICHTE
Vladimir Jako vi evie Propp 70 Jahre*
Am 29. April 1965 feierte der bekannte sowjetische Gelehrte Prof. Dr. Vladimir Jakov-
levic Propp seinen 70. Geburtstag. Seine wissenschaftliche Tätigkeit von mehr als 40
Jahren richtete sich fast ausschließlich auf die Untersuchung der Volksdichtung. Mit seinen
Arbeiten auf diesem Gebiet hat sich V. Propp als einer der profiliertesten Vertreter der
sowjetischen Folkloristik internationale Anerkennung erworben und sich im hohen Maße
um die wissenschaftliche Definition der Folkloristik, um die Ausarbeitung ihrer Methodo-
logie und die Untersuchung wichtigster historisch-folkloristischer Probleme verdient
gemacht.
V. Propp wurde 1895 in Petrograd geboren. 1918 beendete er das Studium der
Germanistik, Slawistik und Russistik an der Petrograder Universität. Einige Jahre lang
unterrichtete er deutsche und russische Sprache und Literatur an höheren Schulen, seit 1926
Deutsch an Leningrader Hochschulen und später an der Universität. Bis heute beschäftigt
er sich wissenschaftlich mit der deutschen Sprache. In den zwanziger und dreißiger Jahren
führte Propp neben seiner Lehrtätigkeit Forschungsarbeiten an mehreren wissenschaftlichen
Institutionen Leningrads durch, und zwar am Institut für Kunstgeschichte, am Institut für
Ethnographie und am Institut für russische Literatur. Von 1938 bis heute bildet seine Pro-
fessur an der Leningrader Universität den Schwerpunkt seiner Tätigkeit. Hier hält er Vor-
lesungen über russische Folklore und führt Spezialseminare zur Folklore durch. Im Verlag
der Universität sind auch die meisten seiner Arbeiten in den vierziger bis sechziger Jahren
erschienen. Außerdem arbeitet V. Propp mit der Abteilung Folklore am Institut für russische
Literatur zusammen und hat z. B. durch populärwissenschaftliche Ausgaben von Bylinen,
Märchen und Liedern weite Kreise mit den Erkenntnissen der Folkloristik bekannt gemacht.* 1
Im Schaffen jedes großen Gelehrten, wie vielseitig seine Arbeit auch sein mag, sind stets
einige besonders charakteristische Seiten hervorzuheben. Mit dem Namen V. Propps ver-
binden sich in erster Linie grundlegende Untersuchungen über das Märchen, das Heldenepos
und über volkstümliche Feste, sowie Studien allgemein-theoretischen Charakters — über das
Wesen, das künstlerisch Spezifische und die historischen Besonderheiten der Folklore als einer
Kunstgattung. Die Arbeiten Propps zur Geschichte der Volksdichtung oder zu einzelnen
Gattungen zeichnen sich dadurch aus, daß der Autor stets bemüht ist, die für die Folklore
bestimmter historischer Epochen charakteristischen künstlerischen Gesetzmäßigkeiten
h erauszuarbeiten.
In seinem ersten Buch Морфология сказки (Morphologie des Märchens), 1928, hat
Propp die charakteristischen strukturellen Besonderheiten für eine bestimmte Gruppe von
Märchen entdeckt, die, wie sich gezeigt hat, mit absoluter Folgerichtigkeit in den Märchen
Zahlreicher Völker wieder kehren. Zu seinen Schlußfolgerungen gelangte der Autor durch die
Untersuchung der Funktion der handelnden Personen im Zaubermärchen. Er stellte fest, daß
die Zahl der Funktionen, die im Zaubermärchen Vorkommen, begrenzt ist, daß die Reihen-
folge der Funktionen beim Erzählen stets die gleiche bleibt und daß alle Zaubermärchen
ihrem Bau nach den gleichen Typ zeigen.
* Eine Liste d. Veröffentlichungen V. Ja. Propps bei M. Ja. Mel’c, Russkij Fol’klor 10
(1966).
1 Vgl. Rcz. in DJbfVk 9 (1963) 408 — 412 (Anm. d. Red.).
68 В. N. Putxlov
Die Ergebnisse dieser Arbeit wurden zunächst nicht genügend gewürdigt; die Perspek-
tiven einer weiteren Untersuchung dieser Erscheinungen waren nicht ganz klar, und die
Kritik neigte dazu, in dem Buch rein formale Schlußfolgerungen zu sehen. In letzter Zeit
ist mit der Entwicklung der strukturellen Untersuchungen auf linguistischem, literatur-
wissenschaftlichem und folkloristischem Gebiet das Interesse an diesem frühen Buch Propps
beträchtlich gewachsen. Es wurde in mehrere Sprachen übersetzt,2 und einige neue Rezen-
sionen erschienen. Außerdem versuchte man, weitere Erscheinungen der Folklore im Sinne
von Propp morphologisch zu untersuchen. Der Autor selbst gab jedoch eine klare Antwort
auf die Frage nach Zielen und Perspektiven seines ersten Buches, indem er seine Untersu-
chungen fortsetzte und sich um eine historische Erklärung für die von ihm festgestellten
Gesetzmäßigkeiten bemühte. Als Ergebnis seiner Forschungen veröffentlichte er ein zweites
Buch, das eng an das erste anknüpft und gleichsam seine Fortsetzung darstellt: Истори-
ческие корни волшебной сказки (Historische Wurzeln des Zaubermärchens), 1946. Die-
sem Werk ging eine Reihe von Zeitschriftenartikeln voraus. Der Autor weist darin nach, daß
die strukturelle Einheit der Zaubermärchen und die Einheitlichkeit ihrer Motive aus der
Genese dieser Gattung resultieren: der ältesten Schicht in den Zaubermärchen liegen nach
Propp Initiationsbräuche und Vorstellungen vom Tode zugrunde, wie sie in verschiedenen
Perioden der Vorklassengesellschaft auftraten. Indem er das Märchen genetisch eng mit dem
Brauchtum verband, bemühte sich Propp gleichzeitig zu zeigen, daß das Märchen eine Erschei-
nung der Kunst ist, und daß ein komplizierter, langwieriger Prozeß der Herausbildung
dieser Kunstgattung unter Einwirkung bestimmter Gesetzmäßigkeiten und Traditionen
stattgefunden hat. Das Buch hat eine lebhafte Diskussion entfesselt und vielfachen Wider-
spruch hervorgerufen. Jedoch muß man anerkennen, wie paradox die Theorie Propps auch
scheinen mag, es ist ihm gelungen, mit ihrer Hilfe zahlreiche Probleme der Gattung Märchen
zu lösen und seine Auffassungen glänzend zu begründen. Es ist bezeichnend, daß viele seiner
Schlußfolgerungen inzwischen durch andere Forscher auf Grund der Untersuchung der
Folklore mehrerer Völker bestätigt wurden.
Unmittelbar danach wandte sich Propp dem Studium der russischen Byline zu und schrieb
die grundlegende Arbeit Русский героический эпос (Das russische Heldenepos), 1955,
2. Aufl. 1958. Hier wird an Hand reichen Materials die Entstehung und Entwicklung des
Heldenepos als Gattung eingehend dargestellt und der Platz der russischen Byline in der
historischen Entwicklung der epischen Dichtung aller Völker bestimmt. Auf Grund einer
vergleichend-historischen Analyse kommt Propp zu wichtigen Schlußfolgerungen über die
Frühformen des Volksepos: Seiner Meinung nach entsteht das Epos beim Zerfall der Gentil-
ordnung und besitzt bei den verschiedenen Völkern einen typologisch ähnlichen Charakter
hinsichtlich Ideologie, Sujets und poetischen Mitteln. Daraus ergibt sich die Möglichkeit,
die Frühformen des russischen Epos zu rekonstruieren, was Propp in seinem Buch auch mit
großer Meisterschaft tut. Eine weitere wichtige Errungenschaft dieses Buches besteht in der
Feststellung der außerordentlich komplizierten Wechselbeziehungen zwischen Epos und
Geschichte. Propp hat gezeigt, daß die russischen Bylinen nicht als eine Widerspiegelung
der in den Chroniken enthaltenen Fakten und einzelner Ereignisse entstanden sind, sondern
als ein künstlerisch verallgemeinerter Ausdruck der Vorstellungen des Volkes, die für ihre
Herausbildung Jahrhunderte benötigten. Die dritte grundlegende These des Buches besteht
darin, daß der eigentliche Prozeß der Schaffung von Bylinen in hohem Maße spezifisch sei
und nicht mit dem Schöpfungsakt eines literarischen Werkes verglichen werden dürfe. Es
sei daher unmöglich, die Bylinen zu datieren, sie seien vielmehr als Resultat kollektiven
Schaffens innerhalb einer ganzen Epoche zu betrachten. Propp bietet mit dieser Arbeit seine
eigene Geschichte des russischen Bylinenepos. Durch das erneute Studium der Bylinen
vermochte er Sinn und Inhalt ihrer Stoffe zu deuten.
2 z. B. Morphology of the Folktale. Ed. with an introduction by Svatava Pirkovä-
Jakobson. Bloomington 1958. Wir führen im folgenden die im DJbfVk erschienenen Ar-
beiten von Propp an: Vladimir Ivanovic Cicerov zum Gedächtnis 3 (1957) 481 f.; Rez. 4
(1958) 57off.; Rez. 5 (1959) 479fr.; Rez. 6 (i960) 492fr.; Märchen der Brüder Grimm im
russischen Norden 9 (1963) 104—112; Rez. 9 (1963) 4i2ff. (Anm. d. Red.).
Vladimir Jakovlevic Propp 70 Jahre
69
In seinem bisher letzten Buch Русские аграрные праздники (Die russischen Agrarfeste),
1963,3 stellt Propp fest, daß die Elemente der Volksbräuche und -feste sich gesetzmäßig
wiederholen. Diese Elemente werden eingehend untersucht: Gedenktage für Verstorbene,
brauchtümliche Speisen, Glückwunsch- und Beschwörungslieder, Pflanzenkult, Begräbnis-
spiele, die Rolle des rituellen Lachens, Wahrsagen, Possen, Erotisches sowie verschiedene
Aberglaubensvorstellungen, brauchtümliche Vergnügungen, Reinigungsbräuche usw. Alle
diese Elemente erhalten in Propps Buch eine materialistische Erklärung: Der Autor zeigt die
Verbindung der Volksbräuche mit der landwirtschaftlichen Arbeit und den Interessen des
Bauern.
Mit besonderer Aufmerksamkeit hat sich Propp Fragen der wissenschaftlichen Methodo-
logie gewidmet. Von den allgemeinen marxistischen Prinzipien in bezug auf Geschichte,
Kultur und Volksschaffen ausgehend, hob er stets die Notwendigkeit hervor, für jede kon-
krete Forschung eine besondere wissenschaftliche Methodik zu entwickeln und die methodolo-
gische Richtung der Arbeit zu bestimmen. Er selbst schreibt in einem seiner Bücher: „Wenn
diese Richtung richtig ist, so können auch die Einzelheiten richtig gedeutet werden. Stimmt
die Richtung jedoch nicht, so wird auch die zutreffende Lösung gewisser Einzelfragen die
Untersuchung nicht vor fehlerhaften und falschen Schlußfolgerungen in grundlegenden Din-
gen bewahren.“ Da Propps Arbeiten sich durch Einheitlichkeit und Geschlossenheit auszeich-
nen, sind sie als ein Resultat der folgerichtigen Anwendung dieser Forderungen zu werten.
In allen seinen Untersuchungen geht Propp von der Auffassung aus, daß die Werke
der Volkskunst eigene, unverwechselbare Besonderheiten und Gesetzmäßigkeiten besitzen.
Problemen des Spezifischen in der Folklore und Besonderheiten der Ästhetik einzelner
Gattungen widmete er mehrere Spezialarbeiten, von denen hier nur eine der letzten
— Фольклор и действительность (Folklore und Wirklichkeit), 1963 — genannt werden
soll. Von der materialistischen Erkenntnis ausgehend, daß jedes Erzeugnis der Volks-
dichtung auf dem Boden der Wirklichkeit entsteht, untersucht Propp mit besonderer Auf-
merksamkeit die komplizierten Beziehungen und Verbindungen der verschiedenen Gattungen
mit der Wirklichkeit und die Rolle des künstlerischen Bewußtseins und der folkloristischen
Traditionen, in denen das Volk seiner Lebenserfahrung dichterischen Ausdruck gibt. Diese
Auffassung erlaubt es ihm, zahlreiche Erscheinungen der Folklore auf neue Weise zu sehen
und komplizierte historische Fragen der allgemeinen Folklore zu lösen (vgl. zum Beispiel
den 1945 erschienenen Aufsatz Эдип в свете фольклора [Ödipus im Lichte der Folklore]).
Damit verbunden ist auch das große Interesse Propps an der vergleichend-historischen
Untersuchung der Volksdichtung. Es interessiert ihn dabei weniger die einfache Feststellung
von Ähnlichkeiten oder Unterschieden oder auch nur ihre Erklärung. Eine Ähnlichkeit im
Stoff dient ihm zur Ermittlung historischer, in einzelnen Stadien verlaufender Beziehungen
und zur Aufdeckung allgemeiner Gesetzmäßigkeiten bei der Schaffung von Märchen, Epen
und Liedern sowie zur Deutung verschiedener Rätsel und Unklarheiten, an denen die Er-
zeugnisse der Folklore so reich sind.
In seinen Arbeiten zeigt sich Propp als souveräner Meister der folkloristischen Analyse,
die mit den Mitteln der philologischen Methode, bereichert durch wesentliche Elemente der
ethnographischen Wissenschaft, vorgenommen wird. Propp teilt die Meinung vieler Gelehr-
ter, daß die komplizierten Fragen der Genese, Geschichte und künstlerischen Eigenart des
Volksschaffens von der Folkloristik nur auf dem Wege einer Definition der eigenen Wissen-
schaft und der Erarbeitung eigener methodologischer Prinzipien mit einiger Aussicht auf
Erfolg in Angriff genommen werden können — Prinzipien, die dem Charakter und der
Natur des Gegenstandes entsprechen, insbesondere durch Herstellung enger Beziehungen
zur Ethnographie. In zahlreichen Arbeiten hat Propp überzeugend die fruchtbringenden
Möglichkeiten der Anwendung ethnographischer Daten und — vor allem — ethnographi-
scher Methoden demonstriert.
Propps Arbeiten haben fast immer rege Diskussionen hervorgerufen, und die in ihnen
enthaltenen Konzeptionen, das System ihrer Argumente und Schlußfolgerungen haben in
wissenschaftlichen Kreisen manchen lebhaften Meinungsstreit entfesselt. Die Polemik, die
3 Vgl. Rez. in DJbfVk 10 (1964) 196 —199 (Anm. d. Red.).
70
Baumgarten — Neumann — Bachmann — Jacobeit — Strobach
viele seiner Arbeiten entfachte, die enthusiastische Unterstützung oder energische Bekämp-
fung der in ihnen dargelegten Ideen sind in erster Linie ein Ergebnis der Tatsache, daß er
stets wesentliche, aber ungeklärte Gebiete unserer Wissenschaft behandelt, wenig begangene
Pfade beschritten und kühne, ungewöhnliche Lösungen der Fragen angeboten hat.
Propp hat sich nicht nur als Forscher, sondern auch als glänzender Pädagoge und Erzie-
her junger Wissenschaftler große Verdienste erworben.
Seinen -jo. Geburtstag beging Propp in voller schöpferischer Kraft. Die Feiern, die zu
diesem Anlaß an der Leningrader Universität und im Puschkinhaus stattfanden, haben erneut
gezeigt, welche Hochschätzung seine Tätigkeit in weiten Kreisen der wissenschaftlichen
Öffentlichkeit in der Sowjetunion und im Ausland genießt.
B. N. Putilov
Volkskunde-Kongreß vom 26. — 30. April 1965
in Marburg an der Lahn
Von Karl Baumgarten und Siegfried Neumann, Rostock, Manfred Bachmann,
Dresden, Wolfgang Jacobeit und Hermann Strobach, Berlin
Diesem westdeutschen Volkskunde-Kongreß war 1963 in Münstereifel die Umbildung des
seit 1905 existierenden „Verbandes der Vereine für Volkskunde“ in die „Deutsche Gesell-
schaft für Volkskunde“ vorangegangen als einer „wissenschaftlichen Gesellschaft, die den
Zweck hat, volkskundliche Probleme in Wort und Schrift zu erörtern, an der Vertiefung der
volkskundlichen Forschung mitzuwirken und sich an der Klärung von Fach- und Studien-
fragen der Volkskunde zu beteiligen.“ Der Kongreß in Marburg spiegelte diese
wissenschaftliche Zielsetzung der Gesellschaft: Ein wissenschaftliches Generalthema, Die
Bedeutung der Arbeit für den Menschen, sollte in Arbeitsgruppen (Sektionen), die der
traditionellen Gliederung der Volkskunde entsprachen, in Referaten und Diskussionen
erörtert werden. Die Anziehungskraft einer solchen Konzeption zeigte sich in der großen
Teilnehmer zahl und vor allem auch bedeutenden internationalen Beteiligung von Fach-
kollegen aus Ost und West. Auf Einladung der Kongreßleitung nahmen 9 Referenten aus
der DDR als Delegation der Sektion „Völkerkunde und deutsche Volkskunde“ an der
Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin unter Leitung von Wolfgang Steinitz
teil.
Der Vorsitzende der Gesellschaft und Initiator des Kongresses, Gerhard Heilfurth, umriß
in seinem Eröffnungsvortrag Die Arbeit als volkskundlich-kulturanthropologisches Problem
Bedeutung und Grenzen des gestellten Themas für die volkskundliche Forschung in ihrer
Gesamtheit, verfolgte seine Behandlung in der Forschungsgeschichte unseres Fachs,
skizzierte die vielschichtigen Aspekte der Beziehung zwischen Arbeit und Volkskultur vor
allem im Verlauf der industriellen Revolution sowie der ökonomischen und gesellschaft-
lichen Wandlungen in der Gegenwart und weitete aus dem Ansatz dieses Themas den Blick
über die traditionellen Gebiete der Volkskunde insbesondere für den sozialen Bereich des
Volkslebens. Die interessanten und anregenden Ausführungen hätten die Grundlage für
eine notwendige Diskussion abgeben können, der Kongreß ging jedoch danach auseinander
in die Sektionen, von denen je vier an jedem der beiden Sitzungstage gleichzeitig arbeiteten.
Unmittelbar schien das Generalthema des Kongresses dem Anliegen der Sektion Geräte-
forschung zu entsprechen. Das Interesse an ihren Beratungen war groß. Mit über 130 Per-
sonen war sie die stärkste Sektion des Kongresses.
Wilhelm Hansen (Detmold) verstand es als Sektionsleiter sehr geschickt, die von Rein-
hard Peesch (Berlin; s. o. S. 26ff.) und Günter Wiegelmann (Bonn) vorgetragenen theore-
tischen Erörterungen mit den praktischen Forderungen, die Arnold Lühning (Schleswig)
und Wolfgang Jacobeit (Berlin) vertraten, durch seine eigenen Ausführungen zu verbinden.
Volkskunde-Kongreß vom 26.— 30. April 1965
71
Sein Vorschlag, eine Kommission für Arbeitsgeräteforschung zu begründen, wurde von
der Sektionsversammlung unterstützt. Diese Kommission unter der Leitung von Wilhelm
Hansen, Günter Wiegelmann, Arnold Lühning und Günther Franz — letzterer als Ver-
treter der Agrargeschichte — stellt sich zunächst die Aufgabe, die Arbeitsgeräteforschung in
Westdeutschland zu koordinieren sowie verbindliche Ordnungsprinzipien für eine Dokumen-
tation des entsprechenden Materials auszuarbeiten. Im Frühjahr 1966 soll eine erste Arbeits-
konferenz stattfinden, auf der über die Möglichkeit einer allgemeinen Inventarisation der
bäuerlichen Arbeitsgeräte in den westdeutschen Museen, über eine gemeinsame Systematik
für eine Dokumentation und den Materialaustausch zwischen den betreffenden Instituten
beider deutscher Staaten gesprochen werden soll.
Für die Sitzung der Sektion Haus- und Siedlungsforschung waren von der Veranstaltungs-
leitung sieben Referate vorgesehen worden, die in ihren Themen von der ur- und früh-
geschichtlichen Zeit bis in die Gegenwart hinein reichten. Damit waren von vornherein die
Möglichkeiten einer fruchtbaren Diskussion zeitlich sehr beschränkt. Das war im Hinblick
auf die von Gerhard Eitzen (Kommern) entschieden vorgetragene Ablehnung jeder wirt-
schaftsgebundenen Hausgenese ganz besonders bedauerlich. Hier wäre eine klärende Aus-
sprache über die Bedeutung wirtschaftlicher Prozesse für die Entwicklung bestimmter Haus-
formen unbedingt erforderlich gewesen. Und da überdies für den vorgesehenen, jedoch
erkrankten Diskussionsleiter (Adelhart Zippelius) kurzfristig ein nunmehr über die Vor-
besprechungen nicht orientierter Kollege (Bruno Schier) einspringen mußte, war das Ergeb-
nis der fast siebenstündigen Sitzung, die sich weitgehend im Anhören der ohne Frage sehr
interessanten Referate erschöpfte, nicht voll befriedigend.
Allgemein standen die Themen der vorgetragenen Referate mit dem Gesamtthema des
Kongresses, „Die Bedeutung der Arbeit für den Menschen“, in nur loser Beziehung. So
wurde durchweg die Frage „Das Haus als Stätte der Arbeit“ in den einzelnen Ausführungen
kaum berührt. Vielmehr waren, gemäß vorheriger Absprache, die Referenten überwiegend
bemüht, den Relationen zwischen Haus und Wirtschaft nachzugehen (W. Haarnagel—Wil-
helmshaven, G. Eitzen—Kommern, W. Sage—Aachen, G. v. Schönfeldt—Frankfurt a. M.)
bzw. die Eigenarten gewisser Hausformen als Wohngebäude werktätiger Menschen aufzu-
zeigen (K. Baumgarten—Rostock, H. Schilli—Freiburg, I. Lange Krefeld). Doch wäre
es, wie wir meinen, durch eine veränderte Themenstellung sicherlich möglich gewesen, zur
Klärung der mit dem Grundthema des Kongresses verbundenen Probleme auch aus haus-
kundlicher Sicht einiges beizutragen. — Für die Tätigkeit der Sektion \rolkskunst, die unter
dem Vorsitz von Torsten Gebhard (München) tagte, war das Generalthema des Kongresses
kein absolut neuer Gesichtspunkt. Die wissenschaftliche Behandlung des bildnerischen Volks-
schaffens berührt ja stets den Bereich der Arbeit (Aufbereitung des Werkstoffes, Techno-
logie der Herstellung, Arbeitsorganisation der Produzenten usw.).
Gislind Ritz (München) referierte über den Begriff Feiertagsarbeit, der in der süddeutschen
Volkskunstforschung einen festen Platz hat. Sie untersuchte vor allem die verschiedenen Ab-
stufungen im Arbeitsverhalten des Handwerkers und dessen Beziehungen zur Freizeit. Die
Vorträge von Torsten Gebhard (München) über Primitivmöbel, Paul Stieber (München)
über Die statistischen Möglichkeiteti der Bestimmung und Einordnung von Töpferorten und
Christa Pieske (Lübeck) über Hersteller religiöser Kleingraphik verstärkten die Forderung
nach exakten Methoden für die Ergründung historischer volkskundlicher Tatbestände.
Das Referat von Manfred Bachmann (Dresden), Die Widerspiegelung des Bergbaues in
der traditionellen Holzschnitzerei des Erzgebirges, nahm direkten Bezug auf das Kongreß-
thema. Es unterschied sich von den anderen in der Sektion vorgetragenen Referaten durch
die Einbeziehung von Problemen der „angewandten“ Volkskunde auf dem Gebiet der
gegenwärtigen Volkskunstpflege. Der Vortrag von Ernst Schlee (Schleswig) fiel wegen
Erkrankung des Referenten aus. Die Sektion beauftragte Torsten Gebhard und Ernst
Schlee mit dem Aufbau der Kommission Volkskunstforschung der Gesellschaft.
In der Sektion Erzählforschung kam das Thema „Arbeit“ folgerichtig vor allem als Motiv
in den traditionellen Erzählgattungen zur Sprache. Lutz Röhrich (Mainz) verfolgte in einer
kurzen Einführung die Berufe des Schmieds und des Müllers durch die einzelnen Genres
bis hin zum Sprichwort. Elfriede Moser-Rath (München) zeigte an Beispielen die ethische
72
Baumgarten — Neumann — Bachmann — Jacobeit — Strobach
Aufwertung der Arbeit in Märchen und Legende gegenüber den alten Mythen, wies auf die
sozialen Spannungen um die Arbeit im Schwank hin und beleuchtete Arbeitsverbot und
Arbeit als Strafe in der Sage. Ihr Vortrag wurde ergänzt von Herbert Weisser (Göttingen),
der aus der Sage die Einstellung der „unterbäuerlichen Schicht“ zur Arbeit herauszulesen
versuchte. Karl Haiding (Stainach) öffnete den Blickwinkel zur Biologie dieser Gattungen
hin, indem er aus eigener Anschauung heraus sehr lebendig schilderte, welche Rolle sie
zuweilen beim Erzählen am Arbeitsplatz spielten. — Gegenüber diesen aus der Sicht her-
kömmlicher Erzählforschung im Rahmen des Kongreßthemas naheliegenden Beiträgen, in
denen zumeist das Motiv „Arbeit“ als Randerscheinung aus alten, fest verdichteten Erzähl-
typen herauspräpariert wurde, zeigte Siegfried Neumann (Rostock) die Bedeutung der
Arbeit als ständig aktuelles Thema der Volkserzählung und untersuchte Inhalt, Form und
Funktion der bislang nahezu unbeachteten Erinnerungserzählungen aus dem Berufsleben,
die noch in der Gegenwart das lebendige Erzählen maßgeblich bestimmen. Dabei ging es
ihm darum, den weiten Umkreis der Problematik Arbeit und Volkserzählung abzustecken
wie auch die eingefahrenen Gleise der Spezialwissenschaft zu weiten — Bemühungen,
die in der nachfolgenden lebhaften Diskussion vor allem von Hermann Bausinger (Tübin-
gen) nachdrücklich unterstützt wurden. — So bestand das Ergebnis der Zusammenkunft vor
allem darin, daß Ansätze zur Behandlung einer Reihe fruchtbarer Probleme gezeigt und
diskutiert wurden, mit denen man sich in der Erzählforschung bisher kaum beschäftigt hat.
Zwei Vorträge der Sektion für Lied-, Musik- und Tanzforschung fielen leider aus (Anton
Anderluh und Jürgen Dahl), ein dritter wurde im Thema abgeändert. So blieben nur 3 Refe-
rate zum Problem des Kongresses. Über die Rolle der Musik zur Arbeit — heute sprach
Ernst Klüsen (Bonn). Am Beispiel von Umfragen des Instituts für musikalische Volkskunde
an der Pädagogischen Hochschule Neuß in 5 Betrieben verschiedener Branchen testete er
durch eine Kombination volkskundlicher, soziologischer und arbeitspsychologischer
Fragestellungen Lebensmöglichkeiten von Volksmusik in der gegenwärtigen Arbeitswelt.
Eine historische Vertiefung dieser Gegenwartsaufnahme versuchte Wolfgang Suppan (Frei-
burg) in einem sehr gedrängten geschichtlichen Abriß, Die Beziehung zwischen Volkslied,
Schlager, Jazz und Arbeit. Auf einem Spezialgebiet prüfte Erich Stockmann (Berlin) die
Möglichkeiten des Kongreßthemas in einer abgerundeten, das Material nach funktionalen
Gesichtspunkten gliedernden Studie über Musikinstrument und Arbeit (s. DJbfVk 1965,
245 ff.): Das Problem wurde in Einzelaspekten, noch nicht aber umfassend (wie beispielsweise
beim Volkslied) behandelt, es ergibt durchaus fruchtbare Ansatzpunkte einer integrierenden,
funktionalen Zuordnung, wenngleich nur eine Seite und ein Teil des Stoffgebiets damit
erfaßt werden können. — Hermann Strobach (Berlin) suchte, in Abänderung seines Themas,
Gesetzmäßigkeiten und Bedingungen der Variabilität in der Volksliedüberlieferung mit stati-
stisch-linguistischen Methoden zu fixieren und dadurch eine seit den Arbeiten John Meiers
häufig diskutierte theoretische Frage klärend weiterzuführen. — Ein Vorteil des verkürzten
Sitzungsprogramms: Es blieb Zeit zur Diskussion, die das Auditorium, von Rolf Wilhelm
Brednich mit zurückhaltender Umsicht geleitet, in interessierter und durchaus anregender
Weise nutzte.
Zweifellos konnte das Kongreßthema für manche Teilgebiete der Volkskunde zu neuen
und fruchtbaren, das Wesen der Dinge treffenden Fragestellungen führen, wie z. B. in der
Brauchforschung, die dadurch nicht nur eine oftmals noch anzutreffende idyllisierende Ein-
engung auf Festtagsbrauchtum überwinden, sondern durch Beziehung des Festbrauches selbst
und des brauchtümlichen Festes auf das Arbeitsleben und Arbeitsjahr neue Erkenntnisse
gewinnen kann. Friedrich Sieber (Dresden) schritt in seinem grundlegenden Beitrag über-
legen gliedernd und systematisierend den Umkreis dieser Beziehungen zwischen Arbeit und
Brauchtum ab; Ingeborg Weber-Kellermann (Marburg) und Karl-S. Kramer (München)
demonstrierten überzeugend in methodisch sicheren Analysen einzelner Brauchkomplexe,
auf der Grundlage umfassender historischer oder archivalischer Quellen, die Bedeutung des
Themas Arbeit für bestimmte brauchtümliche Erscheinungen.
Für andere Teilgebiete der Volkskunde (wie z. B. die Volksliedforschung) mußte der mit
dem Kongreßthema gegebene Ansatz nicht neuartig und weniger zentral erscheinen. Vor
allem hätte es — vielleicht vor der Aufsplitterung in Sektionen — der zentralen, die Spezial-
IL Internationales Symposium zur Erforschung des Arbeiterliedes
73
gebiete in dieser Fragestellung und ihren integrierenden Möglichkeiten zusammenführenden
und damit auch wieder die Spezialdiskussionen befruchtend orientierenden Generaldebatte
bedurft. Der Kongreß in seiner Gesamtheit trat jedoch nur in der Eröffnungs- und Schluß-
sitzung in Erscheinung, und auch da nur passiv, als Zuhörer. Schließlich hätte vielleicht das
Kongreßthema nicht in einer so allgemeinen, in dieser Form eigentlich für alle Gesell-
schaftswissenschaften möglichen Weise gestellt werden sollen, sondern in einer bereits spezi-
fisch volkskundliche Fragestellungen intendierenden Formulierung.
Trotz dieser Einschränkungen war die Arbeit des Kongresses in vieler Hinsicht frucht-
bar und anregend. Neue Methoden und neue Gesichtspunkte, denen sich die Volkskunde
vor allem auf Grund der Wandlungen des gesellschaftlichen und kulturellen Lebens in der
Gegenwart zu erschließen hat, sind durch das Thema Arbeit und Arbeitsleben, das zu Wesen
und Ursachen dieser Wandlungen — nicht nur in der Gegenwart — zu führen geeignet ist,
in verschiedenen Bereichen und Spezialgebieten der Volkskunde vorgestellt und diskutiert
worden.
II. Internationales Symposium zur Erforschung
des Arbeiterliedes in Velenje (Jugoslawien)
vom 12. —14. 9. 1965
Von Hermann Strobach
Das erste Symposium zum Arbeiterlied vor vier Jahren in Liblice (CSSR) hatte nicht nur
zahlreiche und fast alle aktiven Forscher auf diesem noch jungen Gebiet aus vielen euro-
päischen Ländern zusammengeführt, sondern im Elan jener gelungenen, arbeitsreichen
Tagung waren auch konkrete Beschlüsse für eine organisatorische Festigung und thematische
Zielsetzung der geforderten internationalen Zusammenarbeit gefaßt worden (siehe DJbfVk
8, 1962, 137 —140). In der Zwischenzeit sind zahlreiche Publikationen zum Arbeiterlied
erschienen, in manchen Ländern (wie z. B. in Ungarn) wurden auf Anregung jenes ersten
Kongresses die Forschungen zum Arbeiterlied neu aufgenommen oder verstärkt betrieben,
und es fanden auch einige erfolgreiche internationale Tagungen statt (in Berlin, Moskau,
Swerdlowsk und Niksic, Jugoslawien). Dennoch ist die internationale Zusammenarbeit
leider nicht so erfolgreich verwirklicht worden, wie es der gute Beginn in Liblice hoffen
ließ. Zum Teil wird die Ursache dafür in dem Umstand zu suchen sein, daß das in Liblice
vorgeschlagene Internationale Zentrum, welches auf Grund der außerordentlichen Ver-
dienste der tschechischen Wissenschaftler um die Erforschung des Arbeiterliedes (ins-
besondere V. Karbusickÿs, V. Pletkas und O. Sirovatkas) in Prag errichtet wurde, nicht in
genügendem Maße arbeitsfähig war. So stand vor dem II. Symposium die wichtige Auf-
gabe, eine organisatorische Festigung der internationalen Beziehungen anzustreben.
Auf Einladung des Verbandes der Vereine jugoslawischer Folkloristen hatten sich etwa 30
Teilnehmer aus 9 Ländern an diesem II. Symposium in der jungen, modernen Bergarbeiter-
stadt Velenje versammelt. 19 Referate behandelten hauptsächlich vier Themengruppen:
Theoretisch-methodische Probleme der Arbeiterliedforschung, Berichte über Stand und
Aufgaben der Forschung in einzelnen Ländern, spezielle Studien zum Arbeiterlied oder zu
einzelnen Liedgruppen, ästhetische Probleme der Arbeiterfolklore.
Einen ausführlichen, kritischen Überblick über die bisherige Diskussion zu theoretischen
Fragen des Arbeiterliedes und die verschiedenen Standpunkte gab Dusan Nedeljkovic
(Beograd) in seinem Eröffnungsvortrag La chanson ouvrière de masse et le folklore ouvrier.
M. Druskin (Leningrad) referierte in einem grundsätzlichen Beitrag über Methoden zur
Erforschung der Melodik des Arbeiterliedes. Auf der Grundlage einer Analyse von Herkunft
und Quellen des frühen deutschen Arbeiterliedes behandelte Piermann Strobach (Berlin) das
Verhältnis zwischen Arbeiterlied und Volkslied. Zum gleichen Problem sprach Radoslav
74
Blasius Nawka
Hrovatin (Ljubljana) in seinem Vortrag La source des chansons ouvrieres. Interessante Dar-
legungen zur Rolle und Funktion des Arbeiterliedes in der historischen Entwicklung brachte
Friedrich Vogl (Wien) in seinem Vortrag über das Arbeiterlied in Österreich.
Der gegenseitigen Information dienten Berichte über die Situation des Arbeiterliedes und
die Arbeiterliedforschung in einzelnen Ländern, u. a. von Nikolaj Kaufman, der in seinem
Bericht über Das revolutionäre Lied in Bulgarien Beispiele für eine Folklorisierung von
Arbeiterliedern gab; Niko S. Martinovic (Cetinje): Arbeiten zum Arbeiterlied und zur
Arbeiterfolklore in Jugoslawien; Boris Putilov (Leningrad) Russische Arbeiterfolklore und
künstlerische Tradition; Georghe Ciobanu (Bukarest) berichtete über die rumänische Arbeiter-
liedforschung. Das Repertoire eitles Arbeitersängers aus der epischen Tradition in Serbien
untersuchte Dragoslav Antonijevic (Beograd).
Eine Gruppe von Vorträgen galt dem Bergarbeiterlied. Adolf Dygacz (Katovice) gab einen
interessanten Überblick über Das Berg- und Hüttenarbeiterlied in Polen; Ljubica Droppova
(Bratislava) referierte über die Ergebnisse der Untersuchungen zum Bergarbeiterlied in dem
traditionellen Bergwerksgebiet von Banska Stiavnica und gab wichtige methodische Hinweise.
Zum ästhetischen Problem des Arbeiterliedes und der Arbeiterliedforschung sprachen
Vaclav Pletka (Prag), der historische und funktionale Kriterien zur Ästhetischen Bewertung
des Arbeiterliedes entwickelte, und Inge Lammel (Berlin), die in ihrem mit eindrucksvollen
Tonbeispielen ausgestatteten Vortrag, Die ethische Funktion des deutschen KZ-Liedes, deutsche
Lieder, die in faschistischen Konzentrationslagern und Zuchthäusern entstanden, unter-
suchte.
In vielen Referaten und in den Diskussionen wurde zum Ausdruck gebracht, daß die
internationale Zusammenarbeit verstärkt werden sollte. Die auf dem ersten Symposium
gegründete Ständige Kommission legte daher den Teilnehmern eine Reihe von Vorschlägen
vor, die als Resolution des Kongresses formuliert wurden. Sie betreffen vor allem die Arbeit
des Internationalen Zentrums, für das eine Verlegung nach Ungarn an das Bartök-Archiv
(Budapest) empfohlen wurde, ferner die Präzisierung der Aufgaben der Ständigen Kom-
mission, sowie die Vereinbarung der gemeinsamen internationalen Publikationen, die in den
nächsten vier Jahren verwirklicht werden sollen: eine Anthologie der besten Lieder der
internationalen Arbeiterbewegung unter der Redaktion von A. Szatmari (Budapest) und
eine internationale Bibliographie zum Arbeiterlied unter Federführung von Vaclav Pletka
(Prag). Als Tagungsort für das III. Symposium, das in vier Jahren stattfinden soll, wurde
Berlin vorgeschlagen.
So konnte auf diesem Symposium die internationale Verbindung zwischen den in vielen
Ländern auf dem Gebiet des Arbeiterliedes tätigen Forschern wieder gefestigt werden. Der
Dank dafür gilt in erster Linie den Veranstaltern und Gastgebern, dem Verband der Vereine
der jugoslawischen Folkloristen und insbesondere Radoslav Hrovatin und Dusan Nedelj-
kovic, die durch ihre Initiative und durch ihre wissenschaftliche und organisatorische Lei-
tung dieses II. Symposium zusammengerufen und zu einer erfolgreichen Arbeit geführt
haben.
Internationale Arbeitstagung
„Die Ethnographie der Slawen und das Werk Lubor Niederles“
Von Blasius Nawka
Aus Anlaß des ioo. Geburtstages von Lubor Niederle, dem bedeutendsten tschechischen
Gelehrten seiner Zeit, berief das Institut für Ethnographie und Folkloristik der Tschecho-
slowakischen Akademie der Wissenschaften eine Konferenz nach Liblice bei Prag ein, die
vom ii. bis zum 13. Oktober 1965 unter dem Thema „Die Ethnographie der Slawen und
das Werk Lubor Niederles“ tagte.
Internationale Niederle-Tagung
75
Der Direktor des Instituts, Jaromir Jech, konnte Gäste aus Frankreich, Italien, Jugosla-
wien, Österreich, Bulgarien, Polen, der Deutschen Demokratischen Republik und der
Bundesrepublik Deutschland begrüßen.
Bereits als Gymnasiast hatte sich L. Niederle vorgenommen, das gewichtige Werk P. J.
Wafariks, Slooanske starozitnosti (Slawische Altertümer) aus dem Jahre 1837, neu zu bearbeiten,
zumal es infolge widriger Umstände ohne einen kulturhistorischen Teil geblieben war.
Diese Arbeit führte den Historiker, Archäologen und Anthropologen Niederle zur Volks-
kunde. Er war ein namhafter Synthetiker und bemühte sich eifrig um die Anwendung neuer
Forschungs- und Arbeitsmethoden. Als Prüfstein für sein großes Lebenswerk diente ihm
seine nach der Rückkehr von einem einjährigen Studienaufenthalt in Westeuropa heraus-
gebrachte Arbeit LidsWo v dobe pfedhistoricke, se zvlästnim zfetelem na zeme slovanske (Die
Menschheit in prähistorischer Zeit, mit besonderer Berücksichtigung der slawischen Länder),
Praha 1893, 760 S. Dabei ging es ihm besonders um die Einführung der sich erst entwickelnden
Archäologie. Diese Publikation erschien bereits 1898 in russischer, später auch in polnischer
Übersetzung und war in Rußland jahrelang das begehrteste Handbuch für das Studium
europäischer Altertumskunde.
Die Geschichte und Kultur der alten Slawen erforschte Niederle nicht nur anhand der
Geschichtswissenschaft, sondern ebenso der Archäologie, Anthropologie, Ethnographie
und Philologie. Für spezielle Forschungsdisziplinen zog er sich Fachleute heran. Fünfzehn
Jahre lang sammelte er sein Material und besuchte hierbei auch noch den Balkan (1898) und
Rußland (1900). Er war überzeugt, daß die Wissenschaft den objektiven Gegebenheiten
Rechnung tragen und der Lösung strittiger Fragen unparteiisch Beistand leisten muß. Diese
konsequente Haltung kostete ihn manche alte Freundschaft, so z. B. die mit Prof. Cvijic
wegen der politischen Zuordnung Mazedoniens. Seinem hohen Verantwortungsbewußtsein
entsprechend traf er eine sehr kritische Auswahl der volkskundlichen Literatur, um allen
romantischen Darstellungen zu begegnen, und erhob so die Ethnographie zu einem echten
historischen Wissenschaftszweig, weshalb man ihn zu den hervorragendsten slawischen
Ethnographen zählt.
So hat L. Niederle die gesamte tschechische Wissenschaft wesentlich bereichert und ein
solides Fundament für weitere Forschungsarbeiten gelegt. Auf seine Vielseitigkeit und bei-
spielhafte Methodik wiesen wiederholt einige Referenten der Konferenz hin und ergänzten
seine Darstellungen auf verschiedenen Teilgebieten der Ethnographie durch eigene For-
schungsergebnisse. Mit umfassenderen Vorträgen traten u. a. auf: M. Gavazzi, Zagreb,
Der allgemeine Charakter der urslawischen Kultur, besonders anhand neuerer Ergänzungen zu
Niederles „Slawische AltertümerBr. Meriggi, Mailand, Über den Forschungsstand auf dem,
Gebiete der heidnischen Religionen; A. Haudricourt, Paris, Die Rolle der Slawen bei der Aus-
breitung des Gespanngeschirres-, K. Zawistowicz-Adamska, Lodz, Familiensysteme in
slawischen Ländern unter bestimmten gesellschaftlichen Bedingungen; V. Prazäk, Prag, Zur
Problematik des Ursprungs von Stube und Flur im Wohnhaus der Tschechoslowakei und deren
Beziehungen zur altslawischen und fränkischen Hauskultur. Diskussionsmöglichkeiten sowohl
in Plenar- als auch in Sektionssitzungen boten Gelegenheit zur Klärung aufgeworfener
Probleme.
Nach der Tagung, am 14. Oktober, konnten die ausländischen Gäste unter fachkundiger
Führung auserlesene Baudenkmale von Prag besichtigen, darunter Kellerräume eines erst
kürzlich entdeckten romanischen Geschäftshauses in der Nähe des Altstädter Marktplatzes.
In der Ethnographischen Abteilung des Historischen Museums des Nationalmuseums war
eine instruktive Ausstellung zu Ehren L. Niederles vorbereitet, die anschaulich über sein
Leben und Wirken informierte und eine willkommene Ergänzung zur Konferenz bildete.
76 Gisela Bürde Schneidewind
Ergebnisse der Zusammenarbeit tschechoslowakischer und
deutscher Folkloristen auf dem Gebiet der Sagenkatalogisierung
Von Gisela Burde-Schneidewind
Seit 1959 besteht ein Abkommen über die wissenschaftliche Zusammenarbeit zwischen
dem Institut für Ethnographie und Folkloristik (Üstav pro etnografii a folkloristiku =
ÜEF) der Tschechoslowakischen Akademie der Wissenschaften zu Prag und dem Institut
für deutsche Volkskunde der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin (IfVk).
Während sich die Zusammenarbeit im Bereich der Erzählforschung in den ersten Jahren des
Abkommens zunächst auf gegenseitige Information (z. B. über die von beiden Instituten
unternommene Sammlung und Publikation der antifeudalen Sagen) und einen Erfahrungs-
austausch in der Feldforschung (z. B. über die Aufnahme interethnischen Erzählgutes
im deutsch-tschechischen Grenzgebiet) erstreckte, nahm sie 1960/61 — nach dem Inter-
nationalen Erzählforscherkongreß in Kiel und Kopenhagen — konkrete Formen an. Hier
war in der Mitgliederversammlung beschlossen worden, mit der Ausarbeitung nationaler
Sagenkataloge im Hinblick auf einen internationalen Katalog zu beginnen; als verant-
wortlich bzw. als Koordinator der regionalen und nationalen Verzeichnisse im Raum
von Mitteleuropa wurde seinerzeit Will-Erich Peuckert benannt.
Bereits auf einer ersten Zusammenkunft deutscher Sagenforscher, die 1961 unter dem Vor-
sitz von Peuckert im IfVk Berlin stattfand und an der auch eine Mitarbeiterin des ÜEF Prag
(Dagmar Klimovä) teilnahm, zeigte sich eine weitgehende Übereinstimmung bzw. Ähnlich-
keit zwischen dem bis zu jenem Zeitpunkt im Hinblick auf einen Katalog gesichteten deut-
schen und teschechischen Material. Von deutscher Seite hatte Ingeborg Müller versucht,
den von ihr verwalteten Sagen-Nachlaß Richard Wossidlos nach dem System Lauri Simon-
suuris zu ordnen, das er für die finnischen mythischen Sagen aufstellte. Dieser Gliederung
ließ sich auch ohne große Schwierigkeiten das von D. Klimovä registrierte Material der
tschechischen abergläubischen Erzählungen anpassen, dessen Stichwortliste die Teilnehmer
der Zusammenkunft gemeinsam ins Deutsche übersetzten. Jene Besprechung ergab für die
allgemeinen Prinzipien der Katalogarbeit folgende Vorschläge: 1. nur wirkliche Sagen, keine
sagenartigen Memorate sollten in den jeweiligen Katalog aufgenommen werden; 2. Ord-
nung des Materials nach Themengruppen; 3. Klassifizierung innerhalb der Themengruppen
nach Großmotiven (Peuckert), Typen bzw. Sujets oder Themen; 4. Numerierung mit
laufenden Zahlen (ohne Dezimalstellen) mit genügenden Zwischenräumen für Ergänzungen;
5. keine Systematisierung nach Gestalten bzw. Personen, sondern nach dem Hauptmotiv,
der Sagenthematik.
Im August 1962 traten die tschechischen und deutschen Fachwissenschaftler erneut zu-
sammen, um anhand der inzwischen vorgenommenen Ordnungsversuche die Anwendbar-
keit der obigen 5 Prinzipien zu überprüfen. Es ergaben sich ein Abänderungs- und ein
Ergänzungsvorschlag. Zu Punkt 1: Bei den von D. Klimovä und I. Müller probeweise aus-
gearbeiteten Ordnungssystemen innerhalb der mythischen Sagen sowie auch bei den von
G. Schneidewind im Band Herr und Knecht veröffentlichten antifeudalen Sagen handelt es
sich zu einem großen Teil um sagenhafte „Memorate“ mit vielen deutschen bzw. tschechi-
schen Entsprechungen. Häufig kommt es vor, daß sich eine vollständige Sage („Fabulat“) bei
dem Nachbarvolk nur selten oder nur in Memorat- bzw. Restform findet. Das kann bedeu-
ten, daß die Sage hier im Schwinden begriffen ist oder daß ihre Aufzeichnung eine zufällige war,
daß sich dagegen in einer von Folkloristen unerforschten Gegend des betreffenden Landes noch
die vollständige Form bewahrt hat. Nimmt man solche „Memorate“ oder auch Restformen
nicht in den jeweiligen Katalog auf, so ergibt sich kein reales Abbild der tatsächlichen regio-
nalen oder nationalen Überlieferung; vor allem aber wird der internationale oder inter-
ethnische Vergleich unmöglich. Vorschlag: Auch Restformen, einmotivische Sagenberichte
und Sagenmemorate sollten in den Katalog aufgenommen werden ohne Regesten);
Zusammenarbeit tschechoslowakischer und deutscher Folkloristen
77
wenn sie der einzige Beleg für einen sonst bekannten Typ sind, sollten sie auch eine
Nummer erhalten. — Zu Punkt 5 : Der Entschluß, die Sagen grundsätzlich nur nach Groß-
motiven (Typen, Sujets oder Themen) zu systematisieren, kann nur für den internationalen
Katalog gelten, für regionale Systeme ist er nicht realisierbar. Denn im Bereich der mythi-
schen und zauberischen Vorstellungen, z. B. bei den tschechischen Wassermann- und den
deutschen Zwergensagen, aber auch im Bereich der historischen, z.B. bei den sozialkritischen
Sagen, kann ein Vergleich vollständiger, auch nach Gestalten geordneter regionaler Systeme
zu interessanten folkloristischen und ethnographischen Ergebnissen führen. Vorschlag: Jeder
regionale oder nationale Katalog sollte neben dem nach Themen oder Typen gegliederten
Ordnungssystem auch eine Klassifizierung nach Gestalten und Personen vornehmen, zu-
mindest in Form eines Registers.
Die gemeinsam erarbeiteten Änderungsvorschläge wurden der 1962 in Antwerpen tagen-
den International Society for Folk-Narrative Research (ISFNR) in Referaten unterbreitet und
bildeten mit die Diskussionsgrundlage für eine 1963 nach Budapest einberufene Arbeits-
tagung der Sagenkommission der ISFNR.
Das wichtigste Ergebnis der Budapester Tagung war die Aufstellung eines internationalen
Rahmenkatalog-Vorschlages mit den Themenkomplexen: I. Aitiologische und eschatologische
Sagen, II. Historische und kulturhistorische Sagen, III. Übernatürliche Wesen und Kräfte
{mythische Sagen), IV. Religiöse Sagen {religious legends). An der zur Ausarbeitung von der
Mitgliederversammlung bestimmten Arbeitskommission waren Vertreter des ÜEF (Oldrich
Sirovätka) und des IfVk (G. Bürde-Schneidewind, I. Müller) beteiligt.
Auf Grund dieses Rahmenvorschlages erhob sich für die Fachwissenschaftler in beiden
deutschen Staaten die Notwendigkeit der Absprache über das zunächst zu bearbeitende
Material und die Katalogisierungsmethoden. Es wurde vereinbart, daß Ina-Maria Greverus
(Universität Marburg) die Arbeiten für die III. große Kataloggruppe (mythische Sagen)
anleitet, koordiniert und zur Publikation vorbereitet und Gisela Burde-Schneidewind
(IfVk Berlin) die gleichen Aufgaben für die Gruppe II. (Historische Sagen) übernimmt.
I. Müller wird zu jeder in Arbeit genommenen Untergruppe das entsprechende Wossidlo-
Material systematisieren. — In der tschechisch-deutschen Zusammenarbeit ergaben sich nun
konkrete Absprachen über gemeinsame Katalog-Unternehmen bzw. über einen Erfahrungs-
austausch zu den besonderen Arbeitsvorhaben der Institutionen auf diesem Gebiet. Die
„Sagenkatalogisierung“ wurde als spezielles Forschungsthema in das Abkommen beider
Akademien bzw. Institute aufgenommen (1963).
Im Rahmen dieser Vereinbarung fanden bisher 4 Zusammenkünfte statt, jeweils unter
Teilnahme einiger für die Sagenforschung maßgeblicher ausländischer Wissenschaftler: 1964
in Rostock unter Beteiligung von I.-M. Greverus (Marburg), F. Harkort (Göttingen) und
C. H. Tillhagen (Stockholm) sowie in Tupadly unter Beteiligung vonL. Röhrich (Mainz);
1965 in Tupadly unter Beteiligung von I.-M. Greverus sowie in Rostock unter Beteiligung
von E. Pomeranzewa (Moskau), Zwetana Romanska (Sofia), P. N. Boratav (Paris) und L.
Röhrich (Mainz). An den beiden letztgenannten Arbeitstagungen in Tupadly und Rostock
nahmen auch slowakische Wissenschaftler teil und erklärten sich zur Mitarbeit bereit.
Neben den oben erwähnten, gemeinsam erarbeiteten Prinzipien (Aufnahme von Fabulat
und Memorat; Ordnung nach Themen und Gestalten in regionalen Katalogen) zeitigten die
Zusammenkünfte folgende Ergebnisse: 1
1. Bei der Bearbeitung einzelner Gruppen des Budapester Rahmenvorschlages ergaben
sich sowohl von tschechischer als auch von deutscher Seite entsprechend den praktischen
Erfahrungen Änderungsvorschläge, die der nächsten Versammlung der internationalen
Sagenkommission vorgelegt werden. U. a. stellte Libuse Pourova (ÜEF) auf Grund der von
Jhr systematisierten tschechischen Lokalsagen eine Überschneidung der Gruppen II. A und
E fest {Entstehung von Kulturorten und Kulturgütern — Sagen um Lokalitäten)', G. Burde-
Schneidewind schlägt — nach gemeinsam diskutierter Konzeption — eine Änderung der
Gruppe II. F vor, und zwar Verstoß gegen eine Ordnung in Vergehen und Strafe, da in der ersten
Eormulierung vor allem der Terminus „Ordnung“ mehrdeutig ist bzw. vom jeweiligen
Katalogbearbeiter subjektiv verschieden interpretiert werden kann.
■; ? i /V’,:;;'; v,’.v i i ,u, no( ay, ^ i
78 Gisela Burde-Schneidewind
2. Die von I. Müller anhand des Wossidlo-Materials ausgearbeitete umfangreiche Katalog-
gruppe der Totensagen wurde auf ihre Verwendbarkeit für den tschechischen Sagenbestand
geprüft, diskutiert, verbessert und als Grundlage für eine Systematisierung des entsprechen-
den, noch nicht katalogisierten Materials übernommen.
3. Folgende SystematisierungsVorschläge wurden mehrfach besprochen, mit dem jeweili-
gen ethnischen Material verglichen und in Übereinstimmung gebracht: Von der Gruppe der
historischen Sagen: die Lokalsagen (Bearbeitung L. Pourova — ÜEF), innerhalb der Gruppe
Vergehen und Strafe die Sagen der sozialen Kritik (G. Burde-Schneidewind — IfVk). (Die
Katalogisierung dieses Materials geht Hand in Hand mit einer Publikationsreihe Deutsche
Sagen demokratischen Charakters, hg. vom IfVk. Für den 3. Band, der vorwiegend Sagen aus
Mitteldeutschland1 enthalten soll, wird Karel Dvorak freundlicherweise das im Besitz des
Lehrstuhls f. Ethn. u. Folklore der Karls-Universität befindliche Material des Jungbauer-
Nachlasses der Auswertung zur Verfügung stellen.) Ferner liegt ein Entwurf vor für die
Gruppe Kriege (Christiane Agricola — IfVk). — Von der Gruppe der mythischen Sagen: die
abergläubischen Sagen, vorwiegend Naturgeister (D. Klimova — ÜEF) — hier ist eine enge
Zusammenarbeit mit I. Müller (IfVk) geplant — und die Krankheitsdämonen (Ch. Agricola
- IfVk).
4. Im Hinblick auf einen internationalen Katalog wurden verschiedene Ordnungssysteme
zu speziellen Themen oder Gestalten, wie die Bergmannssagen (O. Sirovätka, ÜEF Brünn;
I.-M. Greverus, Marburg), die Sagen über Räuber (Viera Gasparikovd, NÜ Bratislava),
u. a., als monographische Kataloge bezeichnet, d. h. sie bilden eine Grundlage für die mono-
graphische Untersuchung des entsprechenden Themas. Für einen regionalen bzw. inter-
nationalen Katalog müßten sie auch nach den entsprechenden Themengruppen bzw. Typen
oder Sujets aufgegliedert werden.
5. Die Arbeitstagungen brachten wertvolle Anregungen und Vorschläge — auch Ergeb-
nisse — zur Diskussion theoretischer Probleme und zur Fachterminologie. Als besonders
dringlich wird der ISFNR die Erörterung und Klärung von Gattungsbegriffen der Volks-
erzählung vorgeschlagen. Auf Anregung von Jaromir Jech (ÜEF) erzielte die letztge-
nannte gemeinsame Veranstaltung in Rostock Einvernehmen über den Inhalt der Termini:
regional — national — interethnisch. Das Ergebnis soll ebenfalls der ISFNR anläßlich der
nächsten Arbeitstagung in Prag (September 1966) unterbreitet werden.
6. Fördernd für die Arbeitssitzungen beider Institute hat sich die Teilnahme anderer aus-
ländischer Fachkollegen erwiesen. Sie erweiterte die gegenseitige Information über gleiche
und ähnliche Unternehmungen in anderen Ländern, gab fruchtbare Anregungen für die
eigene Arbeit und führte zu neuen Möglichkeiten und Perspektiven der internationalen
Zusammenarbeit. Dabei zeigte sich gerade der kleine Rahmen der internationalen Beteili-
gung als günstig. Diese Gepflogenheit soll auch in Zukunft beibehalten werden.
Im Rahmen des Abkommens zwischen dem tschechoslowakischen und dem deutschen
Akademie-Institut nehmen folgende Wissenschaftler an der Zusammenarbeit auf dem Gebiet
der Sagenkatalogisierung teil:
Dr. Jaromir Jech, Dr. Dagmar Klimova, Frau Libuse Pourova (ÜEF Prag), Frau Gabriela
Sokolovä (Slezskij üstav Opava), Dr. Oldrich Sirovätka (ÜEF Brno), Dr. Viera Gaspari-
kovä (NÜ Bratislava), Dr. Karel Dvorak, Dr. Eva Vrabcovä (Karls-Universität, Prag).
— Dr. Gisela Burde-Schneidewind, Frau Christiane Agricola, Frau Gisela Griepentrog
(IfVk Berlin), Frau Ingeborg Müller, Dr. Siegfried Neumann (IfVk Rostock). 1
1 Thüringen, Sachsen und benachbarte Gebiete.
Grimms Aufzeichnung des „Aschenputtels“ von Vuk Karadzic
79
Grimms Aufzeichnung des „Aschenputtels“ (Pepeljuga)
von Vuk Karadzic*
Von Maja BoSkoviGStulli
Im Brüder-Grimm-Museum1 in Kassel wird der Besucher gleich in der ersten Vitrine
einen Handzettel Jacob Grimms mit folgendem Text bemerken:
Züge aus einem serb. märchen das mir Vuk St. erzählte
(Wuk nr. 32, Gr. nr. 21)2
Die waise wird von der Stiefmutter hartgehalten, sie soll alle schwere arbeit thun und
daneben eine menge flachs spinnen. Sie bricht auf der wiese in laute thränen aus, eine kuh
grast da, sie fragt was weinst du mein töchterchen ? ach, ich soll soviel spinnen und kann
unmöglich damit fertig werden. Das wollen wir schon einrichten sagte die kuh, trag mir
deinen flachs her, ich will ihn kauen, so kannst du das garn aus meinem ohr haspeln. Das
mädchen machte es so und haspelte aus dem ohr der kuh, und brachte das schönste garn heim
mehr als ihm aufgegeben war. Die Stiefmutter mit ihrer tochter pasten nun dem mädchen auf
und sahen endlich, wies mit dem garn hergieng, sie berathschlagten und beschloßen endlich
die kuh zu schlachten. Das mädchen hörte aber ihre worte, gieng betrübt zur kuh und sagte:
nun wirds bald all mit dir sein, sie wollen dich schlachten. Die kuh sprach: wenn ich ge-
schlachtet werde, samle sorgsam alle meine knochen, leg sie auf einen häufen und wenn du
zu den knochen gehst und sie schüttelst, wirst du das kleid haben das du dir wünschest.
Es geschieht alles so, das mädchen geht nach gethaner arbeit in den prächtigsten kleidern
auf den ball wo es der königssohn sieht und mit ihr tanzt, sie verliert ihren schuh und der
könig schickt nun den schuh herum und läßt alle füße im reich probieren. Keiner ist klein
genug. Endlich kommen sie auch in das haus der Stiefmutter, die stopft das mädchen unter
den backtrog, daß es die leute nicht erblicken sollen. Ein hahn setzt sich auf den trog und
kräht: kikeriki, die rechte braut sitzt unterm trog.
Das ist nur einzelnes, es sind noch daneben viel andere umstände.
Ich sah die Aufzeichnung im Herbst 1964. Der Museumsdirektor Dr. L. Denecke über-
sandte mir liebenswürdigerweise eine Fotokopie sowie eine Information darüber. In einem
Brief vom 16. Dezember 1964 teilte mir Dr. Denecke über den Ursprung dieser Aufzeich-
nung mit, daß sie sich als Beilage in einem Exemplar des 3. Bandes der 2. Aufl. der Märchen
der Brüder Grimm (vom Jahre 1822) befunden habe, das Wilhelm Grimm als Handexemplar
zur Vorbereitung späterer Auflagen benutzte. Die nachfolgende Auflage des 3. Bandes
erschien erst 1856, „so daß die Spanne, in der das Blatt eingelegt sein kann, recht groß ist.
Ich möchte glauben, daß die Aufzeichnung bei einem von Vuks Besuchen erfolgte.“ Soweit
die Mitteilung Deneckes.
Ich bin nicht imstande, genauer anzugeben, wann diese Aufzeichnung entstanden sein
könnte. Es ist möglich, daß sie bereits aus dem Jahre 1823 stammt, als Vuk Karadzic Jacob
Grimm während eines Besuchs in Kassel kennenlernte; Vuk widmete Jacob Grimm seine
Ausgabe der Serbischen Volksmärchen von 1853, und in der Widmung heißt es: „Außerdem
haben Sie schon 1823, als ich das Glück hatte, Sie in Kassel zu sehen und kennenzulernen,
* Dieser Artikel erscheint in serbokroatischer Sprache in der Zeitschrift Narodno stvara-
lastvo-Folklor 16 —17 (Festschrift Grafenauer). Vgl. auch DJbVk 9 (1963), 214—228.
1 Brüder-Grimm-Museum in der Murhardschen Bibliothek der Stadt Kassel und Landes-
bibliothek.
2 Die Anmerkung in Klammer stammt von anderer Hand.
80 Maja Bo§kovic-Stulli
mir gleichzeitig zugeredet und mich ermahnt, etwas aus den serbischen Volkserzählungen
zu drucken.“3
Es ist jedoch auch möglich, daß die Aufzeichnung aus dem Jahre 1843 oder 1844 stammt,
als Vuk mit dem Fürsten Mihail Obrenovic die Brüder Grimm in Berlin besuchte, denn Jacob
hat bei dieser Gelegenheit in einem Brief an seinen Freund Dahlmann erwähnt, daß ihn der
Fürst viel weniger angezogen habe als sein Begleiter, und daß Vuk außerordentlich lebendig
und angenehm zu erzählen wisse.4 Vielleicht hat Vuk die Pepeljuga Jacob Grimm aber auch
bei anderer Gelegenheit erzählt. Was uns hier in erster Linie interessiert, ist nicht der Zeit-
punkt der Aufzeichnung — obgleich auch dieser manches zu klären vermöchte —, sondern
vielmehr der Originaltext der Grimmschen Aufzeichnung der Pepeljuga.
Bevor wir zur Analyse des Textes übergehen, möchten wir noch auf einen ungewöhnlichen
Umstand hinweisen: Obgleich Jacob die Pepeljuga nach Vuks Erzählung aufgezeichnet
und Wilhelm diese Niederschrift in seinem Handexemplar aufbewahrt hat, wurde sie, wie es
scheint, von beiden vergessen. In der dritten Auflage des 3. Bandes der Kinder- und Haus-
märchen schreibt Wilhelm Grimm in einer Anmerkung zu dem Märchen vom Aschenputtel
(Nr. 21), das im Sujet der serbokroatischen Pepeljuga entspricht: „Serbisch mit eigenthüm-
lichen und schönen Abweichungen bei Wuk Nr. 32. Schottky bemerkt ausdrücklich (Bü-
schings wöchentl. Nachrichten 4,61) daß die Serbier ein dem deutschen ähnliches Märchen
von Aschenbrödel haben.“5 Grimm denkt hier an eine Erwähnung Julius Schottkys, der —
nach Vuks Erzählung — in der Zeitschrift Wöchentliche Nachrichten für Freunde der Ge-
schichte, Kunst und Gelährtheit des Mittelalters bereits 1818 eine Übersetzung des
Märchens Mededovic. (Bärensohn) veröffentlichte und in einem Begleitbrief an die Redak-
tion anführte — offenbar auf Grund von Vuks Mitteilung —, daß man 10 Bücher mit ser-
bischen Erzählungen füllen könne und daß es auch Märchen über Aschenputtel gäbe, die
mit den deutschen fast identisch seien.6 Und so beruft sich Wilhelm auf das Zeugnis Schott-
kys über die Pepeljuga und erwähnt nicht die Aufzeichnung seines Bruders, die ihm unmittel-
bar zur Verfügung stand.
Jacob Grimm spricht in seinem Vorwort zur deutschen Übersetzung der Vukschen
Erzählungen (die 1854 erschien) — erstaunt über die Originalität und Frische ihrer Motive
— auch von der Pepeljuga und führt aus: „Aschenputtel, hier Aschenzuttel verdeutscht,
heiszt Pepeljuga, doch sehr eigen und anziehend ist, dasz die mutter in eine kuh verwandelt
wird, die dem armen mädchen seinen flachs kaut und sich aus dem ohr die fertigen faden
ziehen läszt.“7 Auch er selbst erwähnt also mit keinem Wort seine eigene Aufzeichnung.
Die Grimms vergaßen bzw. vernachlässigten die Jacobsche Aufzeichnung der Pepeljuga
wohl deshalb, weil sie sich der Unvollständigkeit und Ungenauigkeit derselben bewußt
waren und nach dem Erscheinen des vollständigen Textes des Vukschen Märchens kein
Interesse mehr für ihr Fragment hatten. Jacob interessierten die Märchen als künstlerisches
Ganzes und ihre Motive, nicht aber ihre Variantenbildung oder die Gegenüberstellung
geringfügiger Abweichungen der einzelnen Fassungen.
Heute jedoch, da sowohl die Brüder Grimm als auch Vuk — nicht zuletzt wegen ihrer
Märchensammlungen — in der Kulturgeschichte zu Begriffen geworden sind, kommt ihren
„Werkstattgeheimnissen“ besondere Bedeutung zu. Wenn man außerdem der Geschichte
der Texte, den Relationen zwischen den einzelnen Fassungen und den detaillierten Nuancen
3 Vuk St. Karadzi6, Srpske narodne pripovijetke (Serbische Volkserzählungen). Wien
1853.
4 Briefwechsel zwischen J. u. W. Grimm, Dahlmann und Gervinus, hg. von Eduard
Ippel, I. Berlin 1885, 494 (hier zitiert nach Miljan Mojasevic, Srpska narodna pripovetka
u nemackim prevodima [Die serbische Volkserzählung in deutschen Übersetzungen]. Beo-
grad 1950, 36).
5 Kinder- und Hausmärchen. 3. Aufl. 1856, Bd. III, 39.
6 Ljub. Stojanovic, 2ivot i rad Vuka St. Karadzica (Leben und Werk Vuk St. Karadzi6s).
Beograd 1924, 652.
7 Volksmärchen der Serben. Gesammelt u. hg. von Wuk Stephanowitsch Karadschitsch.
Ins Deutsche übersetzt von dessen Tochter Wilhelmine. Berlin 1854, X.
Tafel i
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Grimms Aufzeichnung des „Aschenputtels“ von Yuk Karadzic
81
erneuter folkloristischer Aufzeichnungen eine größere Aufmerksamkeit zuwendet, so ge-
winnt jene kurze Niederschrift eines Vukschen Märchens durch Grimm an Gewicht und
Interesse.
Der Text ist wegen der beiden Akteure — des Erzählers und des Aufzeichners — inter-
essant. Es heißt hin und wieder von Vuks Sammlungen, daß ihr Stil, trotz seiner stilistisch-
sprachlichen Eingriffe, durchweg authentisch volkstümlich sei, da er ein Mensch aus dem
Volke war. Daß das nicht in jeder Beziehung ganz genau stimmt und daß die gedruckten
Texte der Vukschen Erzählungen vielmehr stilistisch — wenn auch noch so fein — ver-
bessert und gereinigt worden sind, ist seit langem festgestellt worden, und wir wollen uns
hier bei diesem Problem nicht aufhalten.8 Doch Vuk war sicher auch ein Volkserzähler,
und das im wahrsten Sinne des Wortes. Das bestätigen sowohl Schottkys Aufzeichnung des
Mededovic (Bärensohns) und nun auch Grimms Niederschrift der Pepeljuga (Aschenputtels).
Würden Vuks Erzählungen statt in gekürzten und ungenauen Aufzeichnungen in Deutsch
auf Tonband in seiner Muttersprache vorliegen, so hätte man eine ausgezeichnete Quelle, um
ihn als Volkserzähler einerseits und als Schriftsteller andererseits kennenlernen zu können.
Welche Möglichkeiten ergäbe dies für einen Vergleich zwischen der authentischen münd-
lichen Volkserzählung und dem literarisch bearbeiteten Text, um so mehr, als es hier um ein
Märchen geht, das Vuk, als echter Volkserzähler, noch aus seiner eigenen Kindheit in
Trsié kannte. Aber das sind nur Wünsche — Grimms Aufzeichnung bietet für derartige
Forschungen nicht die geeignete Grundlage, sie ist zu skizzenhaft und vom Originaltext zu
weit entfernt. Dagegen beleuchtet diese Niederschrift freilich Grimms Verhältnis zum Text
der Erzählung.
Die Umstände bei der Aufzeichnung waren offenbar ungünstig, und Grimm konnte aus
diesem Grunde nur Fragmente einer Volkserzählung bewahren, worauf er übrigens selbst
am Ende des Handzettels hinweist. Es ist durchaus möglich, daß er nicht alles richtig ver-
standen oder daß Vuk wegen sprachlicher Schwierigkeiten im Deutschen manches fehler-
haft interpretiert hat; die Aufzeichnung selbst ist wahrscheinlich unmittelbar nach Vuks
Weggang aus dem Gedächtnis vorgenommen worden. Daraus ließen sich einige Unter-
schiede zwischen dieser Pepeljuga und jener, die Vuk selbst veröffentlicht hat, erklären.
Wenn wir nun untersuchen, worin die Unterschiede und Abweichungen bestehen, so
werden wir feststellen, daß sie recht charakteristisch sind. Wir werden hier eine Erscheinung
finden, die wir aus der mündlichen Volkstradition bereits kennen — daß das Unbekannte und
Unverständliche durch Bekanntes und Näherliegendes ersetzt, und das, was nicht den eigenen
heimischen Traditionen entspricht, ausgelassen wird, d. h. das Märchenmilieu wird der
eigenen Umwelt angeglichen. Das alles geschieht unbewußt, unwillkürlich, oft als Folge des
Vergessens und Nichtverstehens des Gehörten.
Eine Abweichung im Text geht wahrscheinlich auf Vuks ungenaue deutsche Wiedergabe
Zurück: Aschenputtel spinnt auf der Weide Flachs statt Hanf.9 Die übrigen Unterschiede
rühren offensichtlich von Grimm her. Er hat ein Motiv nicht festgehalten, das ihn später in
Vuks gedrucktem Aschenputtel so in Erstaunen versetzen sollte, nämlich das Motiv, daß
8 Siehe z. B. die folgenden Beiträge zu dieser Frage: Lj. Stojanovic, a. a. O. 651; M. Moja-
sevic, O Vukovoj stilizaciji srpskih narodnih pripovedaka (Zu Vuks Stilisierung serbischer
Volkserzählungen). In: Zbornik Etnografskog muzeja u Beogradu 1901 —1951 (Sammel-
band des Ethnographischen Museums in Belgrad) (Beograd 1953) 300 — 315; M. Boskovic-
Stulli, O narodnoj prici i njezinu autenticnom izrazu (Zum Volksmärchen und seiner
authentischen Wiedergabe). Slovenski etnograf 12 (1959) 107 —120; dies., Die Volks-
erzählungen Vuk Karadzics als Einschätzung der serbokroatischen Märchen (Referat, ge-
halten auf dem IV. Internationalen Kongreß für das Studium der Volkserzählungen in
Athen 1964 und in etwas veränderter Form auf dem Kongreß des Verbandes der Folkloristen
Jugoslawiens in Novi Vinodolski 1964, jetzt im Druck in der Zeitschrift Laographia in
Athen); Miodrag Popovic, Vuk Stef. Karadzic. Beograd 1964, 425—434 passim.
9 Denselben Fehler, d. h. die Übersetzung des Wortes kudelja (Hanf) durch das deutsche
Wort,Flachs1 finden wir auch in der Übersetzung der Pepeljuga von Mina Karadzic (Volks-
märchen der Serben. 1854, 188).
6 Volkskunde
í^/í75is^- W tWf'/yf.tüfif ¿ JÚ JL' lili A<íírí fWrU. ii*i i ÁiliMM
82
Maja Boskovic-Stulli
die Mutter sich in eine Kuh verwandelt. Deshalb finden wir in Grimms Aufzeichnung —
offenbar infolge Nichtverstehens — die Anrede „Töchterchen“, mit der sich die Kuh an das
Mädchen wendet, nur als stilistische Formel, während in Vuks Erzählung dieses Verhältnis
wörtlich aufzufassen ist. Andererseits bestätigt gerade dieses Wort in Grimms Aufzeich-
nung, daß Vuk beim Erzählen das Motiv der Kuh als Mutter nicht weggelassen hat.
In Vuks Erzählung rät die Kuh der Tochter, ihre Knochen in der Erde unter Steinen zu
begraben und, wenn sie in Not gerate, zu ihrem Grab zu kommen, während in Grimms Auf-
zeichnung das Mädchen die Knochen zu einem Haufen Zusammentragen soll, bei dessen
Schütteln sie ein schönes Kleid bekommen werde. Es ist jetzt schwer festzustellen, wie es zu
dieser Divergenz gekommen ist, jedenfalls ist die Stelle in Vuks Erzählung logischer und
harmonischer; das Kleid wird in der Grimmschen Aufzeichnung ohne Verbindung mit dem
Kontext erwähnt, und die aufgehäuften Knochen sind kein Grab und würden bald in alle
Winde zerstreut werden. In diesem Teil der Aufzeichnung liegt folglich eine nichtassimilierte
Stelle vor, im Gegensatz zu dem vorhergehenden Beispiel, wo sich das nicht richtig erfaßte
Motiv von der Tochter der Kuh dennoch in den neuen Text einfügt.
Einige andere Abweichungen sind noch viel charakteristischer. In Vuks Aschenputtel
gehen die Stiefmutter und deren Tochter — wie in vielen anderen serbokroatischen Märchen
— am Sonntag zur Kirche; sie kleiden und schmücken sich für den Kirchgang, denn die
Kirche ist das Zentrum des Gemeinschaftslebens und der gemeinschaftlichen Unterhaltung,
und dort stellt sich auch der Sohn des Zaren ein, der während der „leturdija“10 seine Braut-
schau hält. In Grimms Aufzeichnung wickelt sich das alles, übrigens analog zum bekannten
Märchen Aschenputtel (das die Brüder Grimm in der ersten Version bereits in ihrer Märchen-
ausgabe von 1812 veröffentlichten), auf einem Ball ab, auf dem Aschenputtel, prächtig ge-
kleidet, mit dem Prinzen tanzt. In Vuks Pepeljuga geht der Zarensohn selbst von Haus zu
Haus, durch das ganze Reich, mit den Pantoffeln des Mädchens, und sucht den Fuß, dem der
Pantoffel paßt, aber „einer ist er zu lang, einer zu kurz, einer zu eng, einer zu weit“. In
Grimms Aufzeichnung hingegen läuft der Prinz nicht selbst durch die Welt, sondern er
schickt seine Leute, die den Schuh umhertragen müssen, und es zeigt sich, daß kein einziger
Fuß klein genug ist.
Vergleichen wir den Gottesdienst in der Dorfkirche mit dem Hofball, und den Zarensohn,
der selbst von Dorf zu Dorf geht, mit den königlichen Sendboten, das vage Nichtpassen des
Pantoffels mit den plebejisch übergroßen Füßen, so werden wir spüren, daß das Milieu nicht
unwesentlich umgestaltet wurde und sich von einem dörflich-volkstümlichen einem vor-
nehmen, höfischen Milieu genähert hat, wie es ganz typisch für einen Teil des west- und
mitteleuropäischen Märchens ist.
In diesem Sinne können wir, obgleich es sich nur um eine kleine, indirekte Aufzeichnung
handelt, die für Grimm typische Intonation erkennen. Stellen wir nur den Dialog der Kuh
und Aschenputtels einer analogen Szene in Grimms Märchen Rumpelstilzchen gegen-
über:
Rumpelstilzchen: Grimms Aufzeichnung der Pepeljuga:
. . . und trat ein kleines Männchen herein
und sprach: „Guten Abend, Jungfer
Müllerin, warum weint sie so sehr?“ —
„Ach“, antwortete das Mädchen, „ich
soll Stroh zu Gold spinnen und versteh
das nicht.“11
. . . eine kuh grast da, die fragt was
weinst du mein töchterchen? ach ich soll
soviel spinnen und kann unmöglich
damit fertig werden.
Als die Not am größten ist und das Mädchen weint, erscheint der wunderbare Helfer und
fragt in beiden Fällen mit fast denselben Worten nach dem Grund des Weinens, die Heldin
aber antwortet ebenso gleichlautend und beginnt ihre Erwiderung jeweils mit dem Wört-
chen „ach“.
10 Volkstümliche Entstellung des Wortes liturgija (Liturgie), d. Übers.
11 Brüder Grimm, Kinder- und Hausmärchen. i.Bd.,hg. von Friedrich von der Leyen.
Düsseldorf— Köln 1962, Nr. 2 (= Nr. 55 der Grimmschen Ausgabe).
Das Heimatmuseum in Wandlitz
83
Diese Ähnlichkeit der beiden Situationen und die Stilisierung, für die Vuks Erzählung
keinen Grund bieten könnte, sagt viel über Grimms Verfahren bei der Stilisierung der
Märchen aus, die ungewollt und sicher unbewußt vorgenommen und einem Modell fest-
gefügter stilistischer Formeln angepaßt wurde.
Wenn wir vorher davon sprachen, daß Grimm die Umwelt des Pepeljuga-Aschenputtel-
Märchens dem vornehmen höfischen Milieu anpaßte, so handelte es sich dabei gleichfalls um
unbeabsichtigte Veränderungen. Es geht ja hier nicht um die Frage einer Stilisierung und
Verbesserung des Textes für den Druck, nach einem bestimmten ästhetischen Ideal, sondern
um eine ganz unprätentiöse Aufzeichnung — eine Skizze —, die nach einer mündlichen
Erzählung vorgenommen wurde und die der Autor für so unwichtig hielt, daß er sie später
gar nicht mehr beachtete. Es handelt sich hier um unbewußte Veränderungen, um das eigene
innere Erleben der Märchengestalt, dem dann jedes neuaufgenommene Märchen angepaßt
wurde.
Zu Beginn dieses Artikels wollten wir gewisse Besonderheiten des Stils Vuk Karadzics,
von seiner eigenen mündlichen Erzählung ausgehend, aufzeigen. Wir konnten jedoch keine
Anhaltspunkte für die Klärung dieser Frage finden, statt dessen hat in diesem Falle Jacob
Grimm als Auf Zeichner ein Verfahren angewandt, das den Schaffensgesetzen jedes echten
Volkserzählers entspricht.
Übersetzt von Wilfried Fiedler, Berlin.
Das Heimatmuseum in Wandlitz
Von Christel Heinrich
Mit diesem Beitrag soll die Reihe der Berichte über die Arbeit im Bereich der wissen-
schaftlichen Heimatforschung fortgesetzt werden. Gegenstand der Betrachtung ist heute
das Fleimatmuseum Wandlitz, Kreis Bernau. Im Jahre 1963 wurden in Wandlitz vorgeschicht-
liche Ausgrabungen durchgeführt, und bei dieser Gelegenheit wurde Walter Blankenburg
angeregt, mit der Sammlung des für die Heimatgeschichte wertvollen Materials zu beginnen.
Walter Blankenburg stammt aus einer Bauernfamilie. Er wollte in seiner Jugend zunächst
Lehrer werden; als jedoch sein älterer Bruder, der den Hof des Vaters erben sollte, im ersten
Weltkrieg gefallen war, unterbrach B. seine Ausbildung und übernahm die Landwirtschaft.
Um auch seinen anderen Interessen nachgehen zu können, schloß er sich einer Gruppe
junger Menschen an, die sich wöchentlich einmal im Dorf zu einem Bildungszirkel ver-
sammelte. Die Teilnehmer hielten im Wechsel kurze Vorträge zu bestimmten Themen,
beschäftigten sich mit gemeinsam ausgewählter Literatur, veranstalteten kleinere Theater-
aufführungen und unternahmen jährlich eine Reise. Bereits damals war es die Geschichte
seiner engeren Heimat, der B.s besondere Neigung galt. So ging er bald daran, eine Orts-
chronik zu schreiben, doch fiel das abgeschlossene Manuskript den Wirren des zweiten
Weltkrieges zum Opfer. Im Jahre 1946 begann B. erneut die Aufzeichnung der Geschichte
von Wandlitz. Als er sich 1953 dazu entschloß, Gegenstände für ein zukünftiges Museum
zu sammeln, war es eine gute Ausgangsbasis für seine Arbeit, daß er im Dorf überall bekannt
war.
Zwar war es den Dorfbewohnern zunächst nicht bewußt, daß sich in ihren Häusern und auf
ihren Höfen museumswürdiges Gut befand. B. konnte sie jedoch bei seinen Besuchen vom
Gegenteil überzeugen, und bereitwillig wurde ihm dann das Material übergeben. So wuchsen
die Bestände von Monat zu Monat an. Heute, so erzählte uns B., vergeht fast kein Tag, an
dem sich nicht irgend jemand bei ihm einfindet und ihm einen Gegenstand für das Museum
anbietet.
Zur Popularisierung der Museumsarbeit tragen zu einem nicht unbeträchtlichen Teil,
die Lichtbildervorträge bei, die B. gemeinsam mit seiner Frau durchführt. Für diese Zwecke
stehen ihm 2500 selbst erarbeitete Diapositive zur Verfügung. Sie dienen der Veranschau-
lichung der Dorfgeschichte, der Flora und Fauna der Umgebung und alter Arbeitsprozesse,
6*
äLüTTtM/wafrtf vtif/Mm i Mßr t it sAimuun i MiMü i
84
Christel Heinrich
wie zum Beispiel des Eisfischens. Die Veranstaltungen werden regelmäßig im örtlichen
Kulturhaus, in Betriebsferienheimen und in der Jugendherberge durchgeführt und verfolgen
das Ziel, die Menschen für die Arbeit des Museums zu interessieren und sie für die Mithilfe
zu gewinnen. Vorträge in der Mundart des Ortes dienen zur Auflockerung des Programms.
Das Museum verzeichnet heute eine Besucherzahl von jährlich rund 5000 Personen, die
zu einem großen Teil aus Berlin kommen. Darunter befinden sich viele Schüler- und
Jugendgruppen, auch aus dem Hause der Jungen Pioniere in Berlin-Lichtenberg. B. macht
es sich nun zur Aufgabe, die Führungen durch sein Museum so zu gestalten, daß den Be-
suchern nicht nur die Gegenstände schlechthin gezeigt werden, sondern daß sie ein leben-
diges Bild von der Rolle vermitteln, die sie ehemals im Leben der Menschen gespielt haben.
Er ist bestrebt, die Exponate möglichst in einem funktionsfähigen Zustand darzubieten, so
daß zum Beispiel mit dem Arbeitsgerät tatsächlich gearbeitet werden kann. Hierbei kommen
ihm im reichen Maße die eigenen beruflichen Erfahrungen zugute. Zur Unterbringung der
Exponate stellte B. die Gebäude seines früheren Landwirtschaftsbetriebs zur Verfügung und
ließ sie auf eigene Kosten zweckentsprechend herrichten.
Neben seiner Tätigkeit im Museum hat B. sich dem Brandenburg-Berlinischen Wörter-
buch als mundartkundiger Gewährsmann zur Verfügung gestellt und bearbeitet außerdem
die volkskundlichen Fragebogen des Berliner Volkskunde-Instituts für seinen Heimatort.
Die Bestände des Museums gliedern sich in folgende Sachgruppen: Geologie, Ur- und
Frühgeschichte, Flora und Fauna der Umgebung von Wandlitz, Ortsgeschichte, Geschichte des
Handwerks, Geschichte des Verkehrswesens, Brauchtum, Trachtenwesen, Möbel und bäuerliche
Arbeit und Wirtschaft. Die Gründung der LPG und der damit verbundene Übergang zu
einer neuen Wirtschaftsweise veranlaßten B., sich besonders für die Bergung des alten
landwirtschaftlichen Arbeitsgeräts einzusetzen. So bietet sich heute im Wandlitzer Museum
für den gerätekundlich interessierten Ethnographen eine wahre Fundgrube: zahlreiche
Geräte zur Bodenbearbeitung, wie hölzerne und eiserne Pflüge, Grubber, Wuchten, Eggen,
mit Eisen beschlagene Flolzspaten, Erntegeräte, Geräte zur Milchverarbeitung, Gegen-
stände aus dem bäuerlichen Hausrat, Geräte zur Flachsbearbeitung, zum Transport und
zur Anschirrung usw. Ganz besonders erwähnenswert erscheint uns eine für diese Gegend
sehr seltene hölzerne Hirsestampfe mit hölzernem Stößel. Die Sammlung umfaßt darüber
hinaus auch landwirtschaftliche Maschinen älteren Typs. B. ist ständig bemüht, seine Expo-
nate zu vervollständigen und im Gespräch mit älteren Bewohnern des Ortes Hinweise und
Auskünfte über die Funktion der einzelnen Geräte einzuholen. — Es wäre wünschenswert,
wenn die aufopferungsvolle und beispielhafte Arbeit B.s die gebührende Anerkennung und
wirksame Unterstützung fände.
BÜCHERSCHAU
Volksmusikinstrumente und instrumentale Volksmusik
in deutschsprachigen Veröffentlichungen
195 6—1965
Von Erich Stockmann und Herta Uhlrich
1. Das Akkordeon. Autorenkollektiv.
Leipzig, Fachbuchverlag, 1964. 199 S.
2. Alexandru, Tiberiu, Tilinca. Ein
uraltes rumänisches Volksinstrument.
In: Studia memoriae Bélae Bartok
sacra (Budapest 1956) 107 —121,
i Taf., Notenbeisp.
3. Alker, Hugo, Die Blockflöte. Instru-
mentenkunde. Geschichte, Musizier-
praxis. Wien, Geyer, 1962. 76 S.
(= Wiener Abhandl. zur Musikwiss.
und Instrumentenkunde 1).
4. Alphornbläser in Hindelang. Sänger-
und Musikantenzeitung 4 (1961) 1x9.
5. 16 altbayerische Volkstänze für Blas-
musik. Hg. von Georg v. Hof-
mann. München, Bayerischer Land-
wirtschaftsverlag. 96 S.
Rez. Tiroler Heimatbll. 36 (1961)
128 (K. Horak).
6. Anderluh, Anton, Brauchtumsmusik
in Kärnten. Für vier Instrumente
(zwei Violinen, Viola und Gitarre)
gesetzt. Klagenfurt, Verlag des Kärnt-
ner Heimatwerkes, 1958.
Rez. JbÖVlw 7 (1958) 117 (Zoder).
7- Ders., Volkslied und Volksmusik der
Gegenwart. In: Tanz und Brauch
(Klagenfurt 1959) 39—49.
8. Ders., Volkstanzmusik aus Kärnten für
zwei Geigen, Viola und Gitarre
gesetzt. Klagenfurt, Kollitsch, [1961].
24 S., Notenbeisp.
9- Ändert, Werner, Die Hummel, ein
vergessenes volkstümliches Instru-
ment der Oberlausitz. Volkskunst 6
(1957) Heft 2, 35—36, 2 Abb.
IO- Apkalns, Longin, Die lettische Volks-
musik aus der Sicht der kulturhisto-
rischen Gegebenheiten des baltischen
Raumes. Anthropos 54 (1959) 761 bis
795, 3 Abb., Notenbeisp.
u.Arro, Elmar, Das Ost-West-Schisma
in der Kirchenmusik. Über die Wesen-
verschiedenheit der Grundlagen kul-
tischer Musik in Ost und West.
Musik des Ostens 2 (1963) 7 — 83.
Die äthiopischen Lithoplione 70—75;
die ostslawischen Dendrophone 76—79,
1 Abb., Notenbeisp.
12. Ders., Hauptprobleme der osteuro-
päischen Musikgeschichte. Musik des
Ostens 1 (1962) 9—48, Notenbeisp.
13. Auer, Hannes, Die Geigenbaukunst
in Schleswig-Holstein. Schleswig-
Holstein 9 (1956) 8 — 9, 3 Abb.
14. Bachmann, Werner, Die Anfänge
des Streichinstrumentenspiels. Leip-
zig, VEB Breitkopf u. Härtel, 1964.
206 S., 97 Abb. auf Taf.
15. Bär, Ludwig, Erzgebirgische Berg-
musikanten. Der Anschnitt 8 (1956)
22 — 24, 1 Abb.
16. Baines, Anthony, Volkstümliche
Frühformen. In: A. B., Musikinstru-
mente. Die Geschichte ihrer Ent-
wicklung und ihrer Formen (Mün-
chen, Prestel-Verlag, 1962) 223 — 263,
31 Abb.
17. Barthel, R., Das Scheitholz. Kontakte
1958, 287 — 288.
18. Bartök, Bela, Volksmusik und neue
Musik. Übersetzt von Peter Cso-
badi. Österreichische Musikzeit-
schrift 16 (Wien 1961) 158 — 163,
Notenbeisp.
19. Becker, Heinz, Studien zur Ent-
wicklungsgeschichte der Rohrblatt-
instrumente. Habilschr. Hamburg
1961. Masch.schr.
20. Ders., Zur Spielpraxis des griechischen
Aulos. In: Bericht über den Inter-
nationalen musikwissenschaftlichen
Kongreß Kassel 1962 (Kassel, Bären-
reiter, 1963) 300 — 302, 1 Taf.
Erich Stockmann — Herta Uhlrich
21. Berchtold, Robert, Lustige Lieder
zur Gitarre. Gesungen und gesammelt.
Innsbruck, Tiroler Graphik, [i960].
54 S., Notenbeisp.
Rez. JböVlw 10 (1961) 156.
22. Berendt, J. E., Das neue Jazzbuch.
Frankfurt/M. 1959.
23. Berner, Alfred, Gutachten über die
Musikinstrumenten-Sammlung von
Dr. Dr. h. c. Ulrich Rück, Nürnberg,
im Hinblick auf die beabsichtigte
Übergabe an das Germanische Natio-
nal-Museum. Instrumentenbau Zs. 17
(1962/63) 290 — 293.
24. Besseler, Heinrich, Spielfiguren in
der Instrumentalmusik. Dt. Jb. der
Musikwiss. 1 (1956) 12 — 38, 8 Abb.
auf Taf., 18 Notenbeisp.
25. Bibliographie der Schriften über Musik
aus der Deutschen Demokratischen
Republik 1945 — 1955. 1. Teil. Bei-
träge zur Musikwissenschaft 1959
Heft 3, 51-75.
26. Bose, Fritz, Die Fabrikation der nor-
dischen Bronzeluren. In: Bericht über
den Internationalen musikwissen-
schaftlichen Kongreß Kassel 1962
(Kassel, Bärenreiter, 1963) 298 — 300.
27. Brandlmeier, Josef, Handbuch der
Zither. München, Süddeutscher Ver-
lag, 1963. 316 S., Abb., Notenbeisp.
28. Bredl, Michel, Das Allgäu pflegt sein
Alphorn wieder. Sänger- und Musi-
kantenzeitung 2 (1959) 67 ff.
29. Brockpähler, Renate, Volkstümliche
Instrumente und Lärmzauber. West-
fälischer Heimatkalender 1963, 35 bis
38, 7 Abb.
30. Brost, Oskar, u. Peter Wiepert,
Gebastelte Musikinstrumente. Die
Heimat, Zs. f. niederrhein. Pleimat-
pflege 67 (i960) 29, 2 Abb.
31. Buchner, Alexander, Musikinstru-
mente im Wandel der Zeiten. Prag,
Artia, 1956. 50, VI S., 323 Abb.,
davon 24 farbig.
32. Ders., Vom Glockenspiel zum Pianola.
Prag, Artia, 1959. 111S. Text, 174
Abb., 8 Farbtaf.
33. Burgenländische Gastlichkeit bei Laci
Bäcsi. Der Seewinkel 1 (1962) Folge 4,
7 — 9, 1 Abb.
u.a. über den „Tdrogatö“, ein klari-
nettenähnliches Volksmusikinstrument.
34. Burgenländische Tamburizzakapelle im
Fernsehen. Volk und Heimat 11
(Eisenstadt 1958) Nr. 9, 28.
35. Busse, Burkhard, Eine Ordnung für
Wismars Spielleute aus dem Jahre
1343. Natur und Heimat 10 (1961)
338-339.
36. Buzga, Jaroslav, Die soziale Lage
des Musikers im Zeitalter des Barocks
in den böhmischen Ländern und ihr
Einfluß auf seine künstlerischen Mög-
lichkeiten. In: Bericht über den
Internationalen musikwissenschaft-
lichen Kongreß Kassel 1962 (Kassel,
Bärenreiter, 1963) 28 — 32.
37. Christiansen, Willi, Gebastelte „Mu-
sikinstrumente“. Die Heimat, Zs f.
niederrhein. Heimatpflege 65 (1958)
108.
38. Ders., De Kiewitt (Zu „Gebastelte
Musikinstrumente“). Die Heimat, Zs.
f. niederrhein. Heimatpflege 65 (1958)
362, 1 Abb. ,
Vgl. Nr. 81.
39. Ders., Zu: Gebastelte Musikinstru-
mente. Die Heimat, Zs. f. niederrhein.
Heimatpflege 66 (1959) 20, 2 Abb.
Vgl. Nr. 81.
40. Commenda, Hans, Oberösterreichi-
sche Volksmusik im Jahre 1724. Jb.
des Oberösterr. Musealvereins 101
(T956) 275-282.
41. Ders., Aus dem Notenbüchl vom Urähnl.
Volksmusik aus Bad Ischl. JböVlw 6
(1957) 8 — 15, Notenbeisp.
42. Ders., Der Postillon und sein Horn.
JbÖVlw 7 (1958) 73—77, Notenbeisp.
43. Ders., Volkstümliche Musikinstru-
mente in den Alpen. Zu dem gleich-
namigen Buch von K. M. Klier
(Kassel 1957). Oberösterr. Heimatbll.
12 (Linz 1958) 74—79.
Ergänzungen aus Oberösterreich.
44. Ders., Vom Jahresbrauch in der Strit-
schitzer Sprachinsel. Oberösterr.
Heimatbll.13 (Linz 1959) 397—402.
Lärminstrumente.
45. Ders., Volkskunde der Stadt Linz an
der Donau. 2. Bd. Linz 1959. 389 S.,
40 Taf.
Musik in Kap. B „Geistige Volks-
güter“.
Rez. JbÖVlw 9 (i960) 152 —153
(Klier).
Volksmusikinstrumente und instrumentale Volksmusik
87
46. Ders., Österreichische Volksmusik.
Musica 16 (1962) Heft 3, 137 — 138.
47. Corazza, Rupert, Volksmusik aus
dem Ultental [Südtirol]. JböVlw 7
(1958) 66—72, Notenbeisp.
48. Dauer, Alfons M., Der Jazz. Seine
Ursprünge und seine Entwicklung.
Kassel, Erich Röth-Verlag, 1958.
285 S., 28 Taf., Notenbeisp.
Rez. Anthropos 54 (1959) 608
(W. Graf); DLZ 80 (1959) 1118 —1119
(H. J. Moser).
49. Ders., Jazz, die magische Musik.
Bremen 1961.
50. Derschmidt, Hermann, Der „Stein-
häuser Landl“. Ein Beitrag zur Land-
lerforschung in Oberösterreich.
JböVlw 9 (i960) 77 — 92, Notenbeisp.
51. Deutsch, Walter, Tanzform und
Tanzweise, österr. Musikzs. 18
(Wien 1963) 518 — 525, Notenbeisp.
52. Deutsche Volkstänze für zwei Geigen
ausgewählt und gesetzt von Erich
Doflein. Kassel u. Basel, Bären-
reiter-Verlag, o. J. Heft 1 u. 2
(= Bärenreiter-Ausg. 1613 u. 1614).
Rez. JböVlw 10 (1961) 158 (F.
Schunko).
53. Dieck, Alfred, Die Wandermusikan-
ten von Salzgitter. Ein Beitrag zur
Wirtschafts- und Kulturgeschichte
des nördlichen Harzvorlandes im
19. Jahrhundert. Göttingen, Reise,
1962. 511 S., 12 Taf.
Rez. DLZ 85 (1964) 433—435
(W. Salmen); ZfVk 60 (1964) 130 bis
131 (W. Suppan); DJbfVk 11 (1965)
459-460 (J. Raupp).
54- Dreo, Harald, Burgenländische Volks-
lieder und Volkstanzweisen. Wien-
München, Österr. Bundesverlag, 1959.
24 S.
Rez. JböVlw 9 (i960) 151 (Klier).
5 5- Ders., Volksmusik aus dem Seewinkel.
Eine Ländlersammlung aus dem Jahre
1849. JböVlw 11 (1962) 167 — 180,
Notenbeisp.
56. Droysen, Dagmar, Die Saiten-
instrumente des frühen Mittelalters.
Diss. Hamburg 1959 (1961). Masch.
sehr. IV, 218 Bl.
57- Dies., Die Darstellungen von Saiten-
instrumenten in der mittelalterlichen
Buchmalerei und ihre Deutung für die
Instrumentenkunde. In: Bericht über
den Internationalen musikwissen-
schaftlichen Kongreß Kassel 1962
(Kassel, Bärenreiter, 1963) 302 — 305.
58. Duthaler, Georg, Die Melodien der
Alten Schweizermärsche. SAVk 60
(1964) 18 — 32, Notenbeisp.
59. Egg, Erich, Das kirchliche Musik-
leben im alten Schwaz. Tiroler Hei-
matbll. 37 (1962) 41 — 50, 4 Abb.
60. Eisenschink, Alfred, Der Jäger und
sein Horn. München-Solln, F. C.
Mayer, 1963. 46 S., Notenbeisp.,
x Schallplatte: Deutsche Jagdsignale.
61. Eldersch, Ludwig, Der böhmische
Musikant vom Spittelberg. Alois
Drahanek, ein Wiener Original.
Neues Österreich 8. Sept. 1962,
19, Abb.
62. Elsner, Jürgen, Internationale Ar-
beitstagung für die Erforschung
der Volksmusikinstrumente Europas.
Beiträge zur Musikwissenschaft 4
(1962) 304 — 306.
63. Emsheimer, Ernst, Studia ethno-
musicologica eurasiatica. Stockholm
1964. 107 S. (= Musikhistoriska
Museets Skrifter 1).
64. Ders., Ein finno-ugrischer Flötentypus?
In: Beitr. z. Sprachwissenschaft,
Volkskunde und Literaturforschung.
Wolfgang Steinitz zum 60. Geburts-
tag am 28. Februar 1965 dargebracht
(Berlin, Akademie-Ver lag, 1965)
78 — 86, 3 Abb., 2 Taf., Notenbeisp.
65. Ders., und Erich Stockmann, Vor-
bemerkungen zu einem „Handbuch
der europäischen Volksmusikinstru-
mente“. DJbfVk 5 (1959) 412—416;
auch in Acta Musicologica 32 (i960)
47-5°-
66. Dies., Handbuch der europäischen
Volksmusikinstrumente. Hg. vom
Institut für deutsche Volkskunde
Berlin in Zusammenarbeit mit dem
Musikhistorischen Museum Stock-
holm. Leipzig, Deutscher Verlag für
Musik, 1966 ff.
67. Engel, Hans, Musik und Gesellschaft.
Berlin und Wunsiedel, Max Hesse,
i960. 384 S., Abb.
Rez. HessBllVk 53 (1962) 157 — 158
(W. Salmen).
68. Eras, Rudolf, Die Kniefiedel — ein
Entwicklungsinstrument. Volkskunst
5 (1956) Heft 2, 30 — 31, 2 Abb.
88
Erich Stockmann — Herta Uhlrich
69. Erdmann, Hans, Zur musikalischen
Praxis des mecklenburgischen Volks-
tanzes. DJbfVk 2 (1956) 212 — 225,
Notenbeisp.
70. Ders., Wesen und Form des Fichtel-
barger. In: Ber. über den Internatio-
nalen musikwiss. Kongreß Hamburg
1956 (Kassel, Bärenreiter, 1957) 90 bis
91.
71. Es wird geblasen in St. Blasen. Die
Landjugend 10 (i960) Folge 1, 4—5,
Abb.
Musikpflege in einem steirischen
Dorf.
72. Federhofer, Helmuth, Musikleben
in der Steiermark. In: Die Steiermark
— Land, Leute, Leistung (Graz 1956)
223 — 250, 32 Bildtaf.
Rez. JbÖVlw 6 (1957) 226 (Zoder).
73. Feldhütter, Wilfried, Volksmusik
und Rundfunk. 30 Jahre Volksmusik
im Bayr. Rundfunk. Sänger- und
Musikantenzeitung 2 (1959) 19 — 20.
74. Feilerer, Karl Gustav, Musik und
Musikleben in Westfalen. In: Der
Raum Westfalen. Bd. IV, 1. Teil.
Münster, Aschendorffsche Verlags-
buchhandlung, 1958. XVI, 390 S.,
Abb., Karten.
Rez. Rhein.-westf. Zs. f. Vk. 6
(1959) 116 —118 (B. Nonte).
75. Fellner, Sepp, Salzburgerisch. Lieder
und Ländler. Wien, Eberle-Verlag,
[1956]. 4 S. (— Volksmusik aus
Österreich 4).
76. Fiedler, Alfred, und Felix Hoer-
burger, Beiträge zur Aufnahme-
technik und Katalogisierung von
Volksgut. Leipzig, Hofmeister, 1956.
39 S.
Rez. JbÖVlw 6 (1957) 224.
77. Finscher, Ludwig, Deutsch-pol-
nische Beziehungen in der Musik-
geschichte des 16. Jahrhunderts.
Musik des Ostens 2 (1963) 184—192.
Auch Volksmusik; fahrende Musi-
kanten; Instrumente.
78. Flechsig, Werner, Ostfälische Mu-
sikinstrumentenmacher des 18. und
frühen 19. Jahrhunderts. Braunschwei-
gische Heimat 48 (1962) 89 — 96; 49
(1963) 42—48, 89 — 96, 109 —113,
1 Abb.; 50(1964)9 — 14,53 — 59, 3 Abb.
79. Frei, Walter, Schalmei und Pommer.
Ein Beitrag zu ihrer Unterscheidung.
Die Musikforschung 14 (1961) 313 bis
316.
80. Frühling, Louis, Die Musik im Elsaß.
In: Das Elsaß. Geschichte. Wirtschaft.
Kultur (Berlin, Dietz-Verlag, 1958)
214—236.
81. Gebastelte Musikinstrumente. Die Hei-
mat, Zs. f. niederrhein. Heimat-
pflege 65 (1958) 287 — 288, 335,2 Abb.
82. Geering, Arnold, Ein tütsche Musica
des figurirten Gsangs 1491. In: Fest-
schrift Karl Gustav Feilerer (Regens-
burg, Gustav Bosse Verlag, 1962)
178 — 181, 2 Abb.
Lehrbuch für die Berner Stadtpfeifer.
83. Geramb, Viktor, Ein Leben für die
Anderen. Erzherzog Johann und die
Steiermark. Aus dem nachgelassenen
Ms. bearb. von Oskar Müllern.
Wien, österr. Bundesverlag, 1959.
200 S., 14 Taf.
119 ff. Bemühungen Erzherzogs
Johann um Pflege und Sammlung des
Volksliedes und der Volksmusik.
Rez. JbÖVlw 10 (1961) Klfier],
84. Giebel, Adolf, Vom Instrumentalen
in der Volkstanzmusik. Volkskunst 6
(1957) Heft 1, 17 — 19, 4 Abb.
85. Ders., Die Dreiklangmelodik in der
deutschen Volkstanzmusik. Volks-
kunst 7 (1958) Heft 2, 14—16, 2 Abb.,
Notenbeisp.
86. Grad,Ton, Die Blasmusik im katholi-
schen Brauchtum. Schönere Heimat 46
(I957) 359 — 362-
87. Graf, Walter, Musikethnologie und
Quellenkritik. In: Die Wiener Schule
der Völkerkunde. Festschrift anläß-
lich des 25jährigen Bestandes des
Institutes für Völkerkunde der Uni-
versität Wien [1929 — 1954] (Wien,
F. Berger, 1956) m —124.
88. Ders., Zur Quellenkritik beim münd-
lich überlieferten Musikgut. Wiener
völkerkundl. Mitt. 6 (1958) 3 —12.
89. Ders., Katalog der Tonbandaufnahmen
B 1 — B 3000 des Phonogrammar-
chives der Österreichischen Akademie
der Wissenschaften in Wien. Wien,
Hermann Böhlaus Nachf., i960. VI,
211 S. (= 81. Mitt. der Phonogramm-
archivs-Komm. der österr. Akad. der
Wiss.).
Rez. JbÖVlw 10 (1961) 153 (Klier).
Volksmusikinstrumente und instrumentale Volksmusik
89
90. Gronhoff, Johann, Dorfmusikanten.
Die Heimat 64 (Neumünster 1957)
106.
91. Gwacharija, Washa, Zu Fragen der
grusinischen Musik. Beiträge zur
Musikwiss. 4 (1962) Heft 2, 131 — 151,
Notenbeisp.
92. Habicht, Günter, Die Blasinstru-
mente im Volksinstrumentenorche-
ster. Volkskunst 5 (1956) Heft 4, 33
bis 34, Notenbeisp.; Heft 5, 36 — 37,
Notenbeisp.
93. Hadzi-Manov, Vasil, und 2irko
Firfov, Volksinstrumente und in-
strumentale Volksmusik Mazedoniens.
Journal of the International Folk
Music Council 13 (1961) 77 — 78.
94. Häusel, Robert, Ein Trompeter-
Lehrbrief aus Auma. Jb. des Kreis-
museums Hohenleuben-Reichenfels 6
(1957) 43—45, 1 Abb. auf Taf.
95. Häusler, Alexander, Neue Funde
steinzeitlicher Musikinstrumente in
Osteuropa. Acta Musicologica 32
(Basel i960) 151 —155, 4 Abb. auf
Taf.
Auch in: Wiss. Zs. der Martin-
Luther-Univ. Halle-Wittenberg. Ges.-
und sprachwiss. Reihe 9 (1960) 321 bis
331, 5 Taf.
96. Haid, Wolf gang, Zwei Bergmusikan-
ten. In: Zum Leobener Bergmannstag
1962 (Leoben 1961) 15 — 19, 1 Abb.
96a. Hammerstein, Reinhold, Die Mu-
sik der Engel. Untersuchungen zur
Musikanschauung des Mittelalters.
Bern, München, Francke, 1962. 303 S.,
96 Taf.
97- Hamza, Ernst, Der Ländler. Wien,
Verlag d. Ver. f. Landeskunde v.
Niederösterreich u. Wien, 1957. 7° S.,
3 Taf., Notenbeisp. Forschungen
zur Landeskunde von Niederöster-
reich 9).
Rez. Schönere Heimat 48 (1959) 51
(F. Karlinger); ÖZfVk 61 (1958)
350 — 351 (K. M. Klier).
98. Hoerburger, Felix, Einiges über die
Zwiefachen in Bayern. Volkskunst 5
(1956) Heft 12, 11 —13, 2 Abb., No-
tenbeisp.; 6 (1957) Heft 1, 14 — 15, 19,
Notenbeisp.
99- Ders., Die Zwiefachen. Gestaltung und
Umgestaltung der Tanzmelodien im
nördlichen Altbayern. Berlin, Aka-
demie-Verlag, 1956. X, 195 S., Tabel-
len, Skizzen, synoptische Tabellen,
Notenbeisp. (= Veröff. des Inst. f. dt.
Vk. an der Dt. Akad. der Wiss. zu
Berlin 9).
Rez. DJbfVk 3 (1957) 530 — 531
(J. Raupp); JböVlw 6 (1957) 226
(Z[oder]) ; HessBllVk 48(1957)131 bis
132 (P. Rübsam); Musik u. Gesell-
schaft 7 (1957) Heft 7, 29 — 30 (K.
Schwaen); Journal of the Folk Musik
Council 10 (1958) 79 — 80; SAVk 56
(i960) 38 — 39 (A. Geering).
100. Ders., Wechselhupf-Schustertanz-
Klatschtanz-Winker. Ein Beitrag zur
systematischen Ordnung von Volks-
tänzen. In: Alfred Fiedler, Felix
Hoerburger, Beiträge zur Aufnahme-
technik und Katalogisierung von
Volksgut (Leipzig, Hofmeister,
1956) 16 — 38, Notenbeisp.
101. Ders., Griechische und albanische
Volksmusik. Musica i960 Nr. 2,
113 f.
102. Ders., Tanz und Tanzmusik im Bereich
der Albaner Jugoslawiens unter
besonderer Berücksichtigung der
Musik und Schalmei und Trommel.
Plabil. Schrift Erlangen-Nürnberg
1963.
103. Ders., Spurenelemente freier Musizier-
kunst. Bayer. Jb. f. Vk. 1963, 217 bis
218, Notenbeisp.
104. Ders., Gestalt und Gestaltung im
Volkstanz. Studia Musicologica 6
(Budapest 1964) 311— 316.
105. Ders. und Wolfgang Suppan, Die
Lage der Volksmusikforschung in
den deutschsprachigen Ländern. Ein
Bericht über die Jahre 1945 — 1964.
Acta Musicologica 37 (1965) 1 —19.
106. Holy, Dusan, und Otakar Pokor-
ny, Über die Anwendung der
graphischen Dynamik und Rhyth-
musaufzeichnungen bei der Unter-
suchung der Musikfolklore. In:
Sbornik Praci Filosofìcké Fakulty
Brnenské University 12 (Brno 1963)
107 —116.
Rez. Journ. of the Intern. Folk
Music Council 17 (1965) 67 (B. Netti).
107. Horak, Karl, Volkstänze aus Unken
im Lande Salzburg. JbÖVlw 6 (1957)
61—72, Notenbeisp.
IмШам'
90
Erich Stockmann — Herta Uhlrich
108. Ders., Die Schwegelpfeife in Südtirol.
Sehlem 31 (1957) 376 — 379, 2 Abb.,
Notenbeisp.
Rez. JböVlw 7 (1958) 117.
109. Ders., Die Mazurka als österreichischer
Volkstanz. In: Tanz und Brauch
(Klagenfurt 1959) 95 — 115, Noten-
beisp.
110. Ders., Volkstänze aus dem oberen
Mühlviertel. JböVlw 8 (1959)
143 —167, Notenbeisp.
111. Ders., Volksmusik aus Wilmesau.
JbÖVlw 9 (i960) 114—122, Noten-
beisp.
112. Ders., Der Schuhplattler in Tirol.
JbÖVlw 10 (1961) 106 —123, Noten-
beisp.
113. Ders., Tiroler Volksmusik. Überliefe-
rung und Fortleben. JböVlw 11
(1962) 181 — 187, Notenbeisp.
114. Ders., Der Volkstanz im Burggrafen-
amt. JböVlw 12 (1963) 73—93,
1 Karte, Notenbeisp.
115. Ders., Der einfache Dreher. Der fröh-
liche Kreis Mai-Juli 1963, 29L,
Notenbeisp.
116. Hrovatin, Radoslav, Bordun-
Zither in Slowenien. Dt. Zusammen-
fassung. In: Rad VII—og kon-
gresa savesa folklorista Jugoslavije i
Ochridu (Ochrid 1964) 305—307
[301 — 305, 1 Abb., 1 Notenbeisp.].
117. Huber, Kurt, Was ist ein Zwiefacher?
Zur Struktur und Herkunft der
bairischen Zwiefachen. In: K. H.,
Volkslied und Volkstanz (Ettal,
Buch-Kunstverlag, [1959]) 31—43,
Notenbeisp.
118. Husmann, Heinrich, Jaap Kunst
zum Gedächtnis. Die Musikfor-
schung 14 (1961) 257 — 258, 1 Portr.
119. Ders., Grundlagen der antiken und
orientalischen Musikkultur. Berlin,
Walter de Gruyter und Co., 1961.
213 S., 85 Abb., 3 Taf., Tabellen,
Notenbeisp.
Rez. Beiträge zur Musikwissen-
schaft 4 (1962) 319 — 326 (P. Schmie-
del); dazu G. Knepler 326 — 327.
120. Ivancan, Ivan, Zwei istrianische
Holzblasinstrumente. Dt. Zusammen-
fassung. In: Rad VII—og kongresa
savesa folklorista Jugoslavije i Ochri-
du i960 (Ochrid 1964) 259 — 260
[253 — 259, 3 Abb., Notenbeisp.].
121. Jahnel, Franz, Die Gitarre und ihr
Bau. Frankfurt/Main, Verlag Das
Musikinstrument, 1963. 250 S.
122. Jalovec, Karel, Enzyklopädie des
Geigenbaues. 2 Bde. Praha, Artia,
1965. 491 S., 423 S., zahlr. Abb.
123. Jankovic, Slavko, Die Verwen-
dung der Tambura zu pädagogischen
Zwecken und zu orchestralem Zu-
sammenspiel. In: Rad VII—og
kongresa savesa folklorista Jugosla-
vije i Ochridu (Ochrid 1964) 372 bis
373 [369-372].
124. Jöde, Fritz, Die Volksmusikinstru-
mente und die Jugend. Wolfen-
büttel, Möseler Verlag, 1956. 179 S.,
Abb.
125. Jülg, Hermann, Tänze unserer Hei-
mat. 3. Teil: Aus Bayern, Franken,
Odenwald, Österreich und dem
deutschen Osten. Innsbruck, Eigen-
verlag, 1958. Notenheft 41 S.
126. Kacarova-Kukudova, Raina,
Verbreitung und Varianten eines
bulgarischen Volkstanzes. In: Studia
memoriae Belae Bartok sacra (Buda-
pest 1956) 69 — 87, 10 Notenbeisp.
127. Karlinger, Felix, Kliers „Volks-
tümliche Musikinstrumente in den
Alpen“. Schönere Heimat 46 (Mün-
chen 1957) 362 — 363, 366.
128. Ders., „Launeddas.“ Skizze eines
Kultinstruments. Musica Sacra 1958
Heft 2, 42—49.
129. Karmann, Rudolf, Volksmusik aus
Griechenland. Musica Schallplatte,
Zs. f. Schallplattenfreunde 2 (Kassel
1959) 28-30.
130. Karstädt, Georg, Laßt lustig die
Hörner erschallen. Eine kleine Kul-
turgeschichte der Jagdmusik. Ham-
burg und Berlin, Verlag Paul Parey,
1964. 136 S., Abb., Notenbeisp.
131. Kauert, Kurt, Die Musikinstrumen-
tenindustrie des Kreises Klingenthal.
Geogr. Berichte 9 (1964) Heft 2.
132. Kaufmann, Georg v., Das blaue
Notenbüchl. Bad Aibling/Ober-
bayern, Hesinger, 1957. Mappe.
Volksmäßige Instrumentalmusik.
Rez. JböVlw 7 (1958) 118 (Zoder).
133. Kiräly, Ernö, Ungarische Volks-
instrumente in Vojvodina — Die
Zither. Dt. Zusammenfassung. In:
Volksmusikinstrumente und instrumentale Volksmusik
91
Rad VII—og kongresa savesa folk-
lorista Jugoslavije i Ochridu (Och-
rid 1964) 316 —317 [309 —316,4 Abb.,
Notenbeisp.].
134. Kirnbauer, Franz, Musikanten,
Kapellmeister und Orgelbauer in
einem „Betrugs-Lexikon“ des Jahres
1721. JbÖVlw 9 (i960) 101 —107.
135. Kiss, Lajos, Über den vokalen und
instrumentalen Vortrag der unga-
rischen Volksweisen. Journal of the
International Folk Music Council 15
(1963) 74 — 79, Notenbeisp.
136. Klier, Karl M., Volkstümliche Mu-
sikinstrumente in den Alpen. Kassel,
Bärenreiter-Ver lag, 1956. 107 S.,
118 Abb., 36 Notenbeisp.; Lit-V.
Rez. SAVk 53 (1957) Heft 4,
242 — 243 (R. Wildhaber); Die Musik-
forschung 10(1957) Heft 4, 570 — 571
(W. Salmen); ÖZfVk 61 (1958)
275 — 279 (L. Schmidt); Journal of
the Intern. Folk Music Council 10
(1958) 77-78-
137. Ders., „Linzer Geiger“ und „Linzer-
Tanz“ im 19. Jahrhundert. Histori-
sches Jahrbuch der Stadt Linz 1956,
1 —31, Notenbeisp.
Rez. JbÖVlw 6 (1957) 225
(Z[oder]).
138. Ders., Der graphische Schmuck der
älteren Linzer Liedflugblätter. Hist.
Jb. der Stadt Linz 1959, 416—430,
Taf.
139. Ders., Das Alphorn am Chiemsee.
JbÖVlw 9 (i960) 125, 1 Abb.
140. Ders., Musizierende Tiere. Österr.
Musikzeitschrift 20 (1965) 106 —110,
Abb.
141. Ders., Von den Volksinstrumenten der
Südslawen. Österr. Musikzeitschrift
20 (1965) 531—538, 8 Abb., Noten-
beisp.
*42. Klima, Josef, Die Paysanne in den
österreichischen Lautentabulaturen.
JbÖVlw 10 (1961) 102 —105, Noten-
beisp.
*43- Ders., Tabulaturen als Quelle der
Volksmusik alter Zeiten. Journal of
the International Folk Music Council
13 (1961) 32-33.
I44- Ders., Österreichs älteste Tabulatur.
Kulturberichte aus Nieder Österreich
1962, 7, 1 Abb.
145. Ders., Gitarre und Mandora. Die
Lauteninstrumente der Volksmusik,
österr. Musikzeitschrift 18 (1963)
72 — 77 [Sonderheft 24—29], Abb.,
Notenbeisp.
146. Koch, Adalbert, Die Tiroler
Schützenschwegel. Marschweisen für
Schwegel und Trommel, meist aus
der Zeit der Tiroler Freiheitskriege.
Innsbruck, Edition Helbling, 1959.
68 S., Abb., Zeichnungen im Text,
4 Bildtaf.
Rez. JbÖVlw 8 (1959) 193 (Klier);
ÖZfVk 62 (1959) 159 —160 (L.
Schmidt); Tiroler Heimatbll. 34
(1959) 116 (Klier).
147. Kodaly, Zoltan, Die ungarische
Volksmusik. Budapest, Corvina,
1956. 181 S., 10 Taf., Notenbeisp.
Rez. Journal of the International
Folk Music Council 9 (1957) 81
(M. S.).
148. König, Adolf, Ländliche Spielmusik
aus Nordböhmen. Landsberg/Lech,
Heinrich Hohler Verlag, 1958. 23 S.
149. Komma, Karl Michael, Das
böhmische Musikantentum. Kassel,
J. P. Hinnenthal-Verlag, i960. 212 S.
(— Die Musik im alten und neuen
Europa 3).
Rez. HessBllVk 51/52 (1961),
2. Teil 93—95 (W. Salmen); Die
Musikforschung 14 (1961) 348 bis
3 5 o (W. Salmen); Journal of the Inter-
national Folk Music Council 17
(i965) 25 (J- Mar kl).
150. Korda, Viktor, Volkstänze aus aller
Welt. Für zwei Blockflöten in C, oder
andere Melodie-Instrumente gesetzt.
Wien, Weltmusik, [1956]. 24 S.
151. Ders., Die neunte Jahreskonferenz
des Internationalen Volksmusikrates
(International Folk Music Council).
JbÖVlw 6 (1957) 212 —213.
152. Ders., Volksmusik aus dem Wiener-
wald. JbÖVlw 9 (i960) 108 —113,
Notenbeisp.
153. Ders., Volksmusik und volkstümliche
Musik. Die Volksmusik 17 (1962) Nr.
4—6, 6 — 8.
154. Ders., und Karl M. Klier, Volks-
musik aus Vorarlberg für zwei
Melodie-Instrumente. Wien, Verlag
Döblinger, 1958. 20 S.
92
Erich Stockmann — Herta Uhlrich
Rez. ÖZfVk 62 (1959) 160 (L.
Schmidt); JböVlw 8 (1959) 193 bis
194 (J. Bitsche).
155. Koschier, Franz, Die Gailtaler
Burschenschaft und ihr Lindentanz.
JböVlw 6 (1957) 79 — 87, 5 Abb.,
1 Karte, Notenbeisp.
156. Ders., Kärntner Hochzeitstänze. In:
Tanz und Brauch (Klagenfurt 1959)
116 —136.
157. Ders., Der Hüttenberger Reif tanz
i960. Kulturnachichten aus Kärnten
5 (i960) Heft 6/7, 2.
158. Ders., Kärntner Volkstänze. 2 Teile.
Mit 2 Beiheften „Tanzweisen“ von
Anton Anderluh. Klagenfurt,
Landesmuseum f. Kärnten, 1963.
75 S., Abb., 43 S. Notenbeisp.;
56 S., Abb. u. 45 S. Notenbeisp.
159. Kraft, Günther, Von Volkssängern
und Wandermusikanten. Zur sozia-
len und ökonomischen Stellung des
deutschen Spielmannstumes. Musik
und Gesellschaft 9 (1939) Heft 1,
20 — 24.
160. Kretzenbacher, Leopold, Der
Büllhäfen geht um. Steirischer Bau-
ernkalender 1957, 53 — 55.
161. Ders., Gudalo-dudalo, vugas, Büll-
häfen und Verwandtes. Ostalpine
Lärmgeräte als Brauchtumsrequisiten
und ihre Stellung unter den europä-
ischen Varianten vom Typus „Rum-
melpott“. Slovenski Etnograf 10
(1957) 125 —156, 2 Abb.
162. Ders., Altsteirischer Bergmannstanz.
Knappenfeier und Landesrepräsen-
tation im Schwert- und Reiftanz-
spiel. Anschnitt 11 (1959) Heft 3,
20 — 24, 4 Abb.
163. Ders., Totentänze in der südostalpinen
Volkskultur. In: Rad kongresa
folklorista Jugoslavije u VaraXdinu
1957 (Zagreb 1959) 299 — 309, No-
tenbeisp.
164. Künzig, Johannes, Volkslied, Reim-
und Spielgut der Kinder, Brauch-
tumsspiele, Volkstanz und Volks-
musik im schlesischen Stammesbe-
reich. Salzburg 1956. 61 S.
165. Küppers-Sonnenberg, G. A.,
Ornamente und Symbole südslawi-
scher Bauernlauten (Guslen). Zs. f.
Ethnologie 84 (1959) 88 — 109,
22 Abb.
166. Kumer, Zmaga, Die Panflöte in
Slowenien. DJbfVk 7 (1961) 141 bis
144, 2 Abb., 2 Notenbeisp.
167. Dies., Die Panflöte in Slovenien. Dt.
Zusammenfassung. In: Rad VII—
og kongresa savesa folklorista Jugo-
slavije i Ochridu (Ochrid 1964) 266
bis 267 [261 — 266, 1 Abb., 1 Karte,
Notenbeisp.].
168. Kundegraber, Maria, Österreichi-
sche Volksmusikinstrumente, österr.
Musikzeitschrift 18 (1963) 68 — 71,
[Sonderheft 20 — 23] Abb.
169. Kunerth, Josef, 2 Ländler aus Neu-
haus—Burgenland, für 1 oder 2
Akkordeon. Wien, Eberle-Verlag,
1957 (— Volksmusik aus Österreich
27)-
170. Kunz, Ludvik, Die Bauernfideln.
DJbfVk 6 (i960) 134 —153, 9 Abb.
171. Kusserow, Ernst, Die Balginstru-
mente und ihre Stellung in der musi-
kalischen Entwicklung. Volkskunst
5 (1956) Heft 2, 33 — 35, 4 Abb.
172. Lager, Herbert, Kaiserlandler. Der
fröhliche Kreis Jan.—April 1963,
17L, Notenbeisp.
173. Layer, Adolf, Die Anfänge der
Lautenbaukunst in Schwaben. Die
Musikforschung 9 (1956) 190 —193.
174. Ders., Die Trompetenmacher von
Osterberg. Das obere Schwaben.
Vom Illertal zum Mindeltal Folge 4
(Oktober 1957) 302 — 304, 1 Abb.
175. Leeb, Josef, Die Blasmusik in
Österreich. Jb. f. Volksmusik i960
(Tuttlingen) 110 —in.
176. Lehmann, Dieter, Atlas der Musik-
instrumente der Völker der UdSSR.
Beiträge zur Musikwissenschaft 4
(1962) 307 — 309.
177. Lipp, Franz, Volkskunst und Hand-
werk der Gegenwart in Österreich.
Wien, Österr. Bundesverlag, 1957.
80 S., 27 Abb. im Text, 24 Taf.
Abschnitt „Volkstümliche Musik-
instrumente“
178. Ders., Bergmännisches Brauchtum im
Salzkammergut. Anschnitt 11 (1959)
Heft 5, 9 — 16, 5 Abb.
Knappentanz.
179. Löscher, Stephan, Über den Volks-
tanz in Oberösterreich, Steiermark
und im Burgenland. Aus der Feld-
forschung des Phonogramm-Archivs
Volksmusikinstrumente und instrumentale Volksmusik
93
der Akademie der Wissenschaften im
letzten Jahrzehnt. JböVlw 9 (i960)
66-76.
380. Lovrencevic, Zvonko, Die ein-
fache und die doppelte Pfeife. Dt.
Zs.fassung. In: Rad VII—og kon-
gresa savesa folklorista Jugoslavije
i Ochridu i960 (Ochrid 1964) 236 bis
237 [223 — 236, 4 Abb., 4 Noten-
beisp.].
181. Maier, Rudolf Albert, Zu den
neolithischen Tontrommeln Mittel-
europas. Germania 38 (i960) 424ff.
182. Maierbrugger, Matthias, Bauern-
hochzeit im Nockgebiet. In: Tanz
und Brauch (Klagenfurt 1959) 70
bis 78.
183. Ders., Das Reiftanzfest in Hüttenberg.
Die Kärntner Landsmannschaft
Nr. 10 (Oktober i960) 52.
184. Malecek, Anton, Beiträge zur Ge-
schichte der Wiener Lautenspieler.
Jb. des Vereines für Gesch. der Stadt
Wien 13 (1957/58 [1958]) 63-92,
Notenbeisp.
185. Manga, János, Die Harfner der
Plattenseegegend. Acta Ethnogra-
phica 11 (1962) 191 —203, 6 Abb.
Rez. Demos 5 (1965) 68 — 69
(Autorref.).
186. Maurer, Walter, Die Volksmusik-
instrumente im Wandel der Zeiten.
Neue Volksbildung 14 (1963) 542 bis
549-
187. Mayer, Hans, Der Ulmer Fischer-
marsch. Ulm und Oberschwaben
35 (1958)257 — 272, Notenbeisp.
188. Mayr, Franz, Volkskundliches aus
dem Gadertal. Das Alphorn im
Wallfahrtsort Heiligkreuz. Ver-
zierungen in den Stadelverschalun-
gen. St. Nepomuk vom Fontanella-
Hof (Wengen).Der Schiern 33 (1959)
431—432, 2 Abb., 2 Taf.
*89. Meer, John Henry van der, Typo-
logie der Sackpfeife. In: Anzeiger
des Germanischen Nationalmuseums
1964, 123 —146, Abb.
x9°- Michel, Paul, Thüringer Stadtmusi-
kanten im 19. Jahrhundert. Zur Lage
und Ausbildung der Orchester-
musiker. Thüringer Heimat 3 (1958)
12—J22, 3 Abb.
j 191. Ders., Hof- und Flurtrompeter in
Thüringen. Thüringer Heimat 3
(1958) 75 — 84, 2 Abb.
192. In Mönchhof wird nicht mehr getrom-
melt. Der Seewinkel 1 (1962) Folge 8,
4—5, 2 Abb.
193. Moißl, Gustav, Alte Musikinstru-
mente im österreichischen Plirtenlied
und Flirtenspiel. Singende Kirche 10
(1962/63) 50-51, 56.
194. Mooskirchner Tänze. Altsteirische
Tanzweisen, auf verschiedenen In-
strumenten zu spielen, gesetzt von
Walter Kainz. Graz, Steirisches
Volksbildungswerk, 1959. 12 S.
195. Moser, Hans, Die Pumpermetten.
Ein Beitrag zur Geschichte der Kar-
wochenbräuche. Bayer. Jb. f. Vk.
1956, 80—98.
196. Moser, Oskar, Von Tanzburschen
und Tanzschaffern. Einige Beiträge
zur Geschichte der Tanzsitten und
des Volkstanzes in Kärnten. In:
Tanz und Brauch (Klagenfurt 1959)
137 —172, 1 Abb.
197. Müller, Friedrich Ernst, Die
Musikinstrumente in der Freiberger
Domkapelle. Archiv f. Musikwiss. 14
(i957) 193 — 200.
198. Ders., Alte Instrumente am Frei-
berger Dom. Natur und Heimat 9
(i960) 583 — 584, 5 Abb.
199. Die Musik in Geschichte und Gegen-
wart. Allgemeine Enzyklopädie der
Musik. Hg. von Friedrich Blume.
Kassel-Basel, Bärenreiter Verlag,
1949 ff.
Siehe die Stichworte: Albanien;
Alpenmusik; Aufführungspraxis;
Balginstrumente; Baltikum; Basken;
Bayern; Blasinstrumentenbau; Blas-
musik; Böhmen und Mähren; Bo-
gen; Bulgarische Musik; Cobla;
Country Dance; Cymbala; Däne-
mark ; Deutschland; Drehleier;
Elsaß; Etrurien; Fagott; Fidel;
Finnisch-ugrische Musik; Finnland;
Flöteninstrumente; Furiant; Geige;
Germanische Musik; Gesellschafts-
tanz ; Gitarre; Glocken; Glocken-
spiel; Griechenland; Gusle; Hack-
brett; Harfe; Harfenmusik; Harmo-
nika; Heterophonie; Horninstrumen-
te; Hornpipe; Instrumentenkunde;
Instrumentensammlungen; Irische
94
Erich Stockmann — Herta Uhlrich
Musik; Island; Italien; Jagdmusik;
Jazz; Jig; Jodeln; Jüdische
Musik; Jugendmusik; Jugoslawien;
Kapelle; Klappern; Klarinette;
Kontrabaß; Krakowiak; Krumm-
horn; Ländler; Lappen; Leier;
Mandola; Mandora; Mandoline;
Marsch; Maultrommel; Mazur und
Kujawiak; Mechanische Musikin-
strumente ; Militärmusik; Mono-
chord; Moresca, Moriskentänze;
Musette; Musiker; Norwegen;
Oberek, Obertas; Oboe; Or-
chester; Orgel; Platerspiel; Polen;
Polka; Polonaise; Pommer; Posaune;
Psalterium; Rassel; Rotta; Ruß-
land; Schalmei; Schlaginstrumente;
Schottland; Schraper; Schweden;
Schwirrholz; Sistrum; Soziologie
der Musik; Spanien; Stabspiele;
S treichinstrumentenbau; Syrinx;
Tanz; Tarantella; Temperatur und
Stimmung.
200. ioo Jahre Musikkapelle Neuhaus am
Klausenbach. Volk und Heimat n
(Eisenstadt 1958) Nr. 12, 6.
201. Nagele, Hans, Mehr Kapellen als
Gemeinden. Jb. f. Volksmusik i960
(Tuttlingen) 105—109.
202. Nettl, Paul, Die Moresca. Archiv f.
Musikwiss. 14 (1957) 163 —174,
Notenbeisp.
Tanz und Weise.
203. Nieminen, Eino, Finnisch Kantele
und die damit verbundenen Namen
baltischer Musikinstrumente. Studia
Fennica 10 (1963) Heft 2, 1—43.
204. Nissen, Robert, Silberne Boten- und
Spielmannsabzeichen und ihre Trä-
ger. Westfalen 36 (1958) 167 —191,
31 Abb.
205. Nowak, Leopold, Ländler, Walzer
und Wienerlieder im Klavierbuche
einer preußischen Prinzessin.
JbÖVlw 6 (1957) 133 — 148, Noten-
beisp.
206. Obradovic, Milica, Die klangvollen
Spielzeuge der Dorfkinder in Bosna
und Herzegovina. Dt. Zusammen-
fassung. In: Rad VII—og kongresa
savesa folklorista Jugoslavije i Ochri-
du (Ochrid 1964) 368 [363 — 368,
15 Abb.].
207. Otto, Eberhard, Die Musiker in der
Oberpfalz. Oberpfälzer Heimat 5
(i960) 105 — 110.
208. Paul, Ernst, Österreichische Jagd-
musik. Österr. Musikzeitschrift 12
(1957) 230, 2 Abb., Notenbeisp.
209. Ders., Klassische österreichische
Volksmusik. Österr. Musikzeitschrift
14 (1959) 146 —151, Notenbeisp.
210. Ders., Jagd und Musik. Musiker-
ziehung 15 (1961/62) 174 —177.
211. Pemmer, Hans, Wiener Harfenisten.
Wiener Geschichtsblätter 11 (1956)
Nr. 3, 49—60.
212. Peters, Hans, Die Dorfmusikanten.
Heimat und Volkstum. Jb. f. bre-
mische niedersächsische Volkskunde
1957, 106 —109.
213. Petrei, Berti, Vazierende Musikan-
ten. Versuch einer Typenkunde und
Bestandsaufnahme. In: Tanz und
Brauch (Klagenfurt 1959) 59 — 69,
1 Abb.
214. Plickovä, Ester, Der Klopfturm.
Ein Beitrag zum bergmännischen
Arbeitsbrauchtum. DJbfVk 5 (1959)
301 — 306, 2 Abb. im Text, 3 Abb.
auf Taf., Notenbeisp.
215. Pomsel, Edwin, Die alten Kieler
Stadtmusikanten. Mitt. der Ges. f.
Kieler Stadtgeschichte 1956 Heft 1/2,
I23 — I45-
216. Prautzsch, Ludwig, Das Soester
Gloria und die Turmmusik auf St.
Petri. Soest, Mocker u. Jahn, 1958.
72 S., Abb., Notenbeisp.
217. Pydde, Alfred, Zur Bearbeitung der
Volkstanzmusik. Volkskunst 5 (1956)
Heft 5, 17 — 19, 4 Abb.
218. Quoika, Rudolf, Die Musik der
Deutschen in Böhmen und Mähren.
Berlin, Verlag Merseburger, 1956.
161 S.
219. Raupp, Jan, Sorbisches Musikschaf-
fen. Musik und Gesellschaft 9 (1959)
Heft 11, 20 — 22, 1 Abb.
220. Ders., Die elbslawisch-sorbische
Problematik als Gegenstand der
musikalischen Ostforschung. Beitr.
z. Musikwiss. 2 (i960) Heft 3/4,
94-103.
221. Ders., Das Krahlsche Geigenspiel-
buch als deutsche Volksliedquelle.
Letopis Reihe C 5 (1961/62) 128 bis
47-
Volksmusikinstrumente und instrumentale Volksmusik
95
222. Ders., Sorbische Volksmusikanten und
Musikinstrumente. Bautzen, Domo-
wina-Verlag, 1963. 247 S., Noten-
beisp. (= Schriftenreihe des Inst. f.
sorbische Volksforschung in Bautzen
bei der Dt. Akad. der Wiss. zu
Berlin 17).
Rez. Demos 5 (1964) 69—70
(W. Fiedler).
223. Regner, Hermann, Musik in den
Bergen. Gedanken und Bericht über
die Wiedereinführung des Alphorns
im Allgäu. Das schöne Allgäu 21
(1958) 113 —117, 1 Abb., Noten-
beisp.
224. Reinhard, Kurt, Zur Quellensitua-
tion der Musikethnologie in Deutsch-
land. Die Musikforschung 9 (1956)
196 —199.
225. Ders., Beitrag zu einer neuen Syste-
matik der Musikinstrumente. Die
Musikforschung 13 (i960) 160 —164.
Rez. Journal of the International
Folk Music Council 13 (1961) 142.
226. Ders., Trommeltänze aus der Süd-
Türkei. Journal of the International
Folk Music Council 13 (1961)19 — 26,
Notenbeisp.
227. Ders., Türkische Musik. Berlin,
Museum für Völkerkunde, 1962.
94 S., Notenbeisp. (= Veröff. des
Mus. f. Völkerkunde N. F. 4).
Rez. Journal of the International
Folk Music Council 16 (1964) 132 bis
133 (D. S.).
228. Ders., Zu den Theorien über die Be-
ziehungen zwischen Musikstil und
Umwelt. Zs. f. Ethnologie 89 (1964)
85-89.
Rez. Journal of the International
Folk Music Council 17 (1965)
67 — 68 (F. Bose).
229. Reiser, Tobi, Wie das Flackbrett zu
neuem Leben kam. Sänger- und
Musikantenzeitung 2 (1959) 5I —5 3-
230. Ders., Dieersten 25. Salzburger Volks-
musik. Salzburg, Eigenverlag Salz-
burger Heimatwerk, i960.
Rez. Schönere Heimat 49 (i960)
271 (F. Karlinger).
231 • Eine rumänische Musikinstrumenten-
kunde. Instrumentenbau Zs. 11
(1956/57) 141 —142, 2 Abb., Noten-
beisp.
Zu Tiberiu Alexandru, Instrumén-
tele muzicale ale poporului romin.
Bukarest 1956.
232. Rost, Martin, Psalterium und Hack-
brett. Instrumentenbau Zs. 17 (1962/
1963) 315—316, 1 Abb.
233. Rubardt, Paul, Führer durch das
Musikinstrumenten-Museum der
Karl-Marx-Universität Leipzig. Mit
einem Vorwort von Walter
Serauky und einem Bilderanhang.
2. Aufl. Leipzig, Breitkopf und
Härtel, 1964. 64 S. u. 16 S. Abb.
234. Rubi, Ch., Das Trychlen im Ober-
hasli. SVk 47 (1957) 17 — 27, 3 Abb.
Umzüge mit Läutegeräten in der
Altjahrswoche.
235. Rudorf, Reginald, Der amerikani-
sche Jazz und die Volksmusik. Volks-
kunst 5 (1956) Heft 12, 36 — 37,
2 Abb.; 6 (1957) Heft 1, 36 — 37,
2 Abb.; Heft 2, 36 — 37, 3 Abb.
236. Rumänische Volkskunst zu Gast. Pan-
flöte, Kobsa, Zimbel. Volkskunst 5
(1956) Heft 10, 30 — 32, 7 Abb.
237. Sachs, Curt, Vergleichende Musik-
wissenschaft — Musik der Fremd-
kulturen. Heidelberg, Quelle und
Meyer, 1959. 76 S. (— Musikpäd-
agogische Bibi. 2).
Rez. JbÖVlw 10 (1961) 157 (Ho-
rak).
238. Ders., Real-Lexikon der Musikin-
strumente zugleich ein Polyglossar
für das gesamte Instrumentengebiet.
Hildesheim, Georg Olms Verlags-
buchhandlung, 1962. XVII, 442 S.,
200 Abb. (Reprografischer Nach-
druck der Ausgabe Berlin, Max
Hesse, 1913).
239. Salmen, Walter, Mittelalterliche
Totentanzweisen. Die Musikfor-
schung 9 (1956) 189 — 190.
Leipziger Lautenbuch 1619; Lieder-
u. Lautenbuch des Petrus Fabricius
v. 1605.
240. Ders., Die internationale Wirksamkeit
slawischer und magyarischer Musiker
vor 1600. In: Syntagma Friburgense.
Historische Studien Hermann Aubin
dargebracht zum 70. Geburtstag am
23. 12. 1955 (Lindau und Kon-
stanz, Jan Thorbecke Verlag, 1956)
235 — 242.
mmmizpzms
mr* m un I UMîmiurn mm
96 Erich Stockmann — Herta Uhlrich
Rez. Die Musikforschung u (1959)
524.
241. Ders., Deutsche Wandermusikanten
im Ausland. Schweizerische Musik-
zeitung 97 (1957) 352ff.
242. Ders., Die Wirkungsweite fahrender
bayerischer Spielleute im Mittel-
alter. Bayer. Jb. f. Vk. 1957, 126 bis
128.
243. Ders., Schutzpatrone der Spielleute.
Musica 11 (1957) 53.
244. Ders., Erste Konferenz der wissen-
schaftlichen Kommission des Inter-
national Folk Music Council. Die
Musikforschung 10 (1957) Heft 1,
150—Di-
Freiburg 21.—24. Juli 1956.
245. Ders., Zur Verbreitung von Einhand-
flöte und Trommel im europäischen
Mittelalter. JbÖVlw 6 (1957) 154 bis
161,4 Abb.
246. Ders., Die Beteiligung Englands am
internationalen Musikanten verkehr
des Mittelalters. Die Musikforschung
11 (1958) 315-320.
247. Ders., Neue Beiträge zur Geschichte
des Spielmanns in Westfalen, 2. Teil.
Westfalen 36 (1958) 58 — 59.
Vgl. Beitrag des Verfs. zum gleichen
Thema in Bd. 33 (1955) a. a. O. 210 f.
248. Ders., Bemerkungen zum mehrstim-
migen Musizieren der Spielleute im
Mittelalter. Revue belge de musico-
logie 10 — 12 (1956 — 1958) 17 — 26.
249. Ders., Quellen zur Geschichte „fröm-
der Spillute“ in Nördlingen. Die
Musikforschung 12 (1959) 474—478.
250. Ders., Der fahrende Musiker im
europäischen Mittelalter. Kassel,
Johann Philipp Hinnenthal Verlag,
i960. 244 S. (= Die Musik im alten
und neuen Europa 4).
Rez. DJbfVk 10 (1964) 208 — 209
(Z. Falvy); HessBllVk 54 (1963)
642—644 (A. Quellmalz) ; ZfVk 60
(1964) 297 — 299 (M. Zingel); Jour-
nal of the Intern. Folk Music Coun-
cil 16 (1964) 129 —130 (R. H.).
251. Ders., Volksinstrumente in West-
falen. Studia Musicologica 3 (Buda-
pest 1962) 271 ff. (= Kodäly-Fest-
schrift).
252. Ders., Geschichte der Musik in West-
falen bis 1800. Kassel, Bärenreiter,
1963. 266 S., 12 Taf.
Besonders Kap. 2—4.
Rez. ZfVk 61 (1965) 139 —141
(W. Suppan).
253. Sârosi, Balint, Die ungarische Flöte.
Acta ethnographica 14 (1965) 141 bis
163, 13 Abb., 5 Notenbeisp.
254. Ders., Die Volksmusikinstrumente
Ungarns. In: Handbuch der europä-
ischen Volksmusikinstrumente
(Leipzig, Deutscher Verlag für Mu-
sik) I. Bd. 1. Lief, im Druck.
255. Schaal, Richard, Verzeichnis
deutschsprachiger Musikwissen-
schaftlicher Dissertationen 1861 bis
i960. Kassel, Basel, London, New
York, Bärenreiter, 1963. 167 S.
256. Schäfer, Rudolf, Volkstänze aus
Deutschland und Österreich. Für
zwei Geigen gesetzt. Heft 1,2. Wien,
Wiesbaden, Döblinger, [1956]. 24 S.
u. 24 S. Notenbeisp.; Heft 3, 4.
A. a. O. 1958. 24 S. u. 24 S. Noten-
beisp.
257. Schäffer,Franz,Musikantensprache.
Das Waldviertel 11 (1962) 102 —106.
258. Schenk, Erich, Österreichisches im
Klavierbuch der Regina Clara Imhoff,
1629. JbÖVlw 6 (1957) 162 —167,
Notenbeisp.
259. Schickhaus, K. H., Hackbrett-Fibel.
Eine Unterweisung für das Spiel auf
dem chromatischen Hackbrett mit
Beiträgen von Tobi Reiser, Wastl
Fanderl u. Georg v. Kaufmann.
München, Musik-Verlag Josef
Preissler, 1962. 40 S.
260. Schmidt,Leopold,Die„Klempern“.
Zur Verbreitung des eisernen Bau-
erngongs in Obersteiermark. Bll. f.
Heimatkunde 31 (Graz 1957) 43 —50,
1 Karte.
261. Ders., Verbreitungskarten von Volks-
lied, Volkstanz und Volksschau-
spiel in Niederösterreich. JbÖVlw 8
(1959) 124-134.
262. Ders., Ergebnisse der Ringstock-Um-
frage (Nachrichten aus dem Archiv
der österr. Volkskunde 12). ÖZfVk
62 (1959) 224—226, 2 Abb.
263. Ders., Der Ringstock der Hirten im
Burgenland und in der Dreiländer-
ecke. Aus der Arbeit am Atlas der
burgenländischen Volkskunde. Bur-
genländische Heimatblätter 21 (1959)
207 — 218, 1 Karte.
Volksmusikinstrumente und instrumentale Volksmusik
97
264. Ders., Die Ringelstecken des Lavant-
tales. Carinthia I, 149 (1959) 879 bis
884.
265. Ders., Die alte Volkskultur des Bur-
genlandes. In : R. Hansham, Burgen-
land. Grenzland im Herzen Europas
(Wien, Hammer, 1961) 77 — 104.
u. a. Tanzmusik, Musikinstru-
mente.
266. Ders., Der Büllhefen als brauchtüm-
liches Lärminstrument im Burgen-
land. Burgenländische Heimat-
blätter 24 (1962) 60—70.
267. Ders., Die Jagd in der österreichischen
Volkskunst. Österr. Weidwerk. 111.
Monatshefte f. Jagd, Fischerei u.
Naturschutz 1963, 101 —106, Abb.
268. Schmiedl, Hausa, Die Schwegel.
Greifenburg/Kärnten 1957. 4 S.
269. Dies., und Anton Anderluh, Heili-
genbluter Sternsingerlieder. Bd. 1.
Für Blasinstrumente gesetzt. Klagen-
furt, Selbstverlag des Heimatwerkes,
1956. 23 S., Notenbeisp.
270. Schneider, Marius, Bemerkungen
über die spanische Sackpfeife. In:
Musikerkenntnis und Musikerzie-
hung, Festgabe für Hans Mersmann
(Bärenreiter, Kassel und Basel, 1957)
129 —130.
271. Schrammek, Winfried, Über Ur-
sprung und Anfänge der Musik.
Leipzig, Breitkopf u. Härtel, 1957.
79 S. (= Musikbücherei für Jeder-
mann 15).
272. Ders., Elfte Jahreskonferenz des
International Folk Music Council in
Lüttich 1958. DJbfVk 56 (1959)
127 —130.
273. Ders., 12. Jahreskonferenz des Inter-
national Folk Music Council in
Rumänien 1939. DJbfVk 7 (1961)
190 —194.
274. Ders., 13. Jahreskonferenz des Inter-
national Folk Music Council in
Wien i960. DJbfVk 8 (1962) 141 bis
143.
275. Ders., Birkenblattblasen. In: Fest-
schrift für Heinrich Besseler (Leipzig,
Deutscher Verlag für Musik, 1962)
7 — 14, 2 Abb. auf Taf., Notenbeisp.
276. Ders., Internationale Arbeitstagung
für die Erforschung der Volksmusik-
instrumente Europas. DJbfVk 9
(1963) 328 — 333.
277. Ders., Internationale Arbeitstagung
für die Erforschung der Volksmusik-
instrumente Europas in Berlin 1962.
Demos 4 (1963) Sp. 121 —124.
278. Schützenberger, Erna, und Her-
mann Derschmidt, Spinnradi.
Unser Tanzbuch. Landsberg/Lech,
Heinrich Hohler Verlag, o. J. 1. Fol-
ge 44 S., davon 20 S. Tanzmusik;
2. Folge 50 S., davon 28 S. Tanz-
musik; 3. Folge 48 S., davon 23 S.
Tanzmusik.
279. Schuffenhauer, Gerhart, Die
tschechoslowakische Volksmusik
und ihr Einfluß auf die Opern Fried-
rich Smetanas. Diss. Berlin F. U.
1957. 94 S.
280. Schunko, Franz, Der Spatzentanz.
JbÖVlw 10 (1961) 124—129, Noten-
beisp.
281. Ders., Vom Ratschen in Nieder-
österreich. JbÖVlw 12 (1963) 29—46,
8 Abb. auf Taf., Notenbeisp.
282. Schwaen, Kurt, Die ungarische
Volksmusik. Ein bedeutendes Buch
von Zoltän Kodäly über dieses
Thema. Musik und Gesellschaft 7
(1957) Heft 1, 16 — 19, 2 Abb.,
Notenbeisp.
283. Schwaiger, Willi, Das Wurzhorn in
Alm (Salzburg). JbÖVlw 9 (i960)
123 —124, 1 Abb.
284. Seewald, Otto, Hallstattzeitliche
Flöteninstrumente in Österreich.
Oberösterr. Heimatblatt 14 (Linz
i960) 181 — 187, 5 Abb.
285. Seidel, Hans, Mein Volksmusik-
Sammelwerk. Erinnerungen eines
bayerischen Praktikers. JbÖVlw 12
(1963) 94—104, Notenbeisp.
286. Seitlpfeife und Maultrommel. Der An-
schnitt 8 (1936) Heft 2, 21, 1 Abb.
287. Sieber, Siegfried, Die Erzgebir-
gische Blechkompanie. Heimatkundl.
Bll. des Bezirkes Dresden 3 (1937)
225 — 231, 2 Abb.
288. Simon, Josef, Das Osterratschen —
ein halbvergessener Volksbrauch.
Volk und Heimat 15 (Eisenstadt
1962) Nr. 5, 5—6, Abb.
289. Sirola, Bozidar, Die Volksmusik der
Kroaten. In: Studia memoriae Belae
Bartök sacra (Budapest 1956) 89 — 106,
Notenbeisp.
7 Volkskunde
98
Erich Stockmann — Herta Uhlrich
290. Sieger, Hugo, Die Rotte. Studien
über ein germanisches Musikinstru-
ment im Mittelalter. Deutsche Vier-
teljahresschrift für Literaturwissen-
schaft und Geistesgeschichte 35
(1961) 96-147.
291. Steglich, Rudolf, „Manierliches
Musizieren“ [aus der Stadtkirche und
vom ländlichen Tanzboden]. In: 50
Jahre Gustav Bosse Verlag (Regens-
bürg 1963) 133 —138, Notenbeisp.
292. Steirisches Musiklexikon. Im Auftr.
des Steirischen Tonkünstlerbundes
mit Benutzung der „Sammlung
Wamlek“ bearb. u. hg. von Wolf-
gang Suppan. 1. — 5. Lief. Graz,
Akad. Druck- u. Verlagsanst., 1962
bis 1965. 480 S. Text, Taf.
Rez. Zs. des Hist. Ver. f. Steier-
mark 54 (1963) 141 —142 (G. Legat).
293. Stepanov, Stjepan, Schalmei und
Trommel in der Banija. Deutsche
Zusammenfassung. In: Rad VII —
og kongresa savesa folklorista Jugo-
slavije i Ochridu (Ochrid 1964)
295 — 296 [283 — 295, 5 Abb., Noten-
beisp.].
294. Stockmann, Erich, Achte Jahres-
tagung des International Folk Music
Council in Oslo. DJbfVk 3 (1957)
205—207.
295. Ders., Internationaler Musikwissen-
schaftlicher Kongreß Wien 1956.
DJbfVk 3 (1957) 207 — 208.
296. Ders., Tagung für Volksmusikfor-
schung in Freiburg. DJbfVk 3 (1957)
488—489.
297. Ders., Volksmusiksammlung in Alba-
nien 1957. DJbfVk 4 (1958) 185 bis
186.
298. Ders., Albanische Volksmusikinstru-
mente. In: Bericht über den Inter-
nationalen Musikwissenschaftlichen
Kongreß Wien. Mozartjahr 1956. Hg.
von Erich Schenk (Graz-Köln,
Verlag Böhlaus Nachf., 1958)
612—615.
299. Ders., Siebenter Kongreß der Inter-
nationalen Gesellschaft für Musik-
wissenschaft in Köln 1958. DJbfVk 5
(1959) 126-127.
300. Ders., Zur Sammlung und Untersu-
chung albanischer Volksmusik.
Acta Musicologica 32 (i960) 102
bis 109.
301. Ders., Klarinettentypen in Albanien.
Journal of the International Folk
Music Council 12 (i960) 17 — 20.
302. Ders., Zum Terminus „Volksmusik-
instrument“. Forschungen und Fort-
schritte 35 (1961) 337 — 340.
303. Ders., 15. Jahreskonferenz des Inter-
national Folk Music Council in der
CS SR. DJbfVk 9 (1963) 333-335.
304. Ders., Die europäischen Volksmusik-
instrumente. Möglichkeiten und
Probleme ihrer Darstellung in einem
Handbuch. DJbfVk 10 (1964) 238 bis
253.
305. Ders., 16. Jahreskonferenz des IFMC
in Jerusalem. DJbfVk 10 (1964) 323
bis 324.
306. Ders., Skandinavische Volksmusik
auf Schallplatten. DJbfVk 10 (1964)
348-352.
307. Ders., Volksmusikinstrumente und
Arbeit. DJbfVk 11 (1965) 245—259,
11 Abb., 4 Notenbeisp.
308. Ders., VII. Internationaler Kongreß
für Anthropologie und Ethnologie
in Moskau 1964. III. Volksmusik-
forschung. DJbfVk 11 (1965) 318 bis
319.
309. Ders., Jahreskonferenz des IFMC in
Budapest 1964. DJbfVk 11 (1965)
325-336.
310. Suppan, Wolfgang, Das musika-
lische Leben in Aussee. Bll. f. Heimat-
kunde, Graz 1961, 86 ff.
311. Ders., Grundriß einer Geschichte des
Tanzes in der Steiermark. Zs. des
Hist. Ver. f. Steiermark 54 (1963)
91 —116, Notenbeisp.
312. Ders., Volkskundliches im „Ästhe-
tischen Lexikon“ von Ignaz Jeittetes,
Wien 1835/37. HessBllVk 56 (1965)
75-85.
u.a. Volksmusikinstrumente, Tanz-
musik, Volkstänze.
313. Ders., Vergangenheit und Gegenwart
unserer Blasmusik. AllgemeineVolks-
musik-Zeitung 15 (1965) 201—204.
314. Szabolcsi, Bence, Bausteine zu
einer Geschichte der Melodie. Buda-
pest, Corvina, 1959. 317 S., Noten-
beisp.
Rez. HessBllVk 51/52 (1961)
2. Teil 95—96 (W. Salmen); Journal
of the International Folk Music
Council 14 (1962) 105 —106.
Volksmusikinstrumente und instrumentale Volksmusik
99
315. Ders., Bêla Bartok. Leben und Werk.
Leipzig, Reclam, 1961. 96 S. (= Re-
clam Universalbibliothek 8923).
316. Tanz und Brauch. Aus der musika-
lischen Volksüberlieferung Kärn-
tens. Klagenfurt, Verlag des Landes-
museums f. Kärnten, 1959. 176 S.,
Abb., 1 Taf. (= Kärntner Museums-
schriften. 19).
Rez. JbÖVlw 8 (1959) i92;ÖZfVk
62 (1959) 156 (L. Schmidt); ZfVk
56 (i960) 275—276 (F. Hoerburger).
317. Thebs, Gerhard, Besuch in der In-
strumentensammlung Moeck. Instru-
mentenbau Zs. 17 (1962/63) 320.
318. Tiefenbacher, Thomas, 150 Jahre
Musikkapelle Maria Luggau. Kärnt-
ner Landsmannschaft 1963 Nr. 7,
5 f., Abb.
319. Tzermias, Pavlos, Die volkstüm-
liche Musik Griechenlands. Kulturel-
le und soziologische Aspekte. Zürich,
Stuttgart, Flamberg, 1962. 23 S.
32c. Vargyas, Lajos, Die Wirkung des
Dudelsacks auf die ungarische Volks-
tanzmusik. In: Studia memoriae
Bélae Bartok sacra (Budapest 1956)
503 — 540, 40 Notenbeisp.
321. Vogl, Franz, Volkstanzfeste. In:
Tanz und Brauch (Klagenfurt 1959)
20—27.
322. Volksmusik und Rundfunk. JbÖVlw
13 (1964) 149-150.
Bericht über die 8. Arbeitstagung
Vokskunde und Rundfunk, veranstal-
tet vom Studio Bern des Landessenders
Beromünster u. der Schweizer. Gesell-
schaft für Volkskunde.
323. Wachsmann, Klaus P., Die primiti-
ven Musikinstrumente. In: Anthony
Baines, Musikinstrumente. Die Ge-
schieht e ihrer Entwicklung und
ihrer Formen (München, Prestel,
1962) 13 — 51.
324. Wagner, Hans, Jägerbrauch. Dessen
Wiege, Wesen, Wert und Wandel.
Wien, österr. Jagd- u. Fischerei-
Verlag, 1957. 124 S., Abb., Noten-
beisp.
Enthält auch Jagdsignale.
325. Wallroth, Willy, Die Schalmeien-
kapellen in der Tradition der deut-
schen Arbeiterbewegung. Volks-
kunst 6 (1957) Heft 10, 25—27,
3 Abb., 1 Notenbeisp.
326. Walter, Hans, Volkslied und Volks-
tanz. In: Ilg, Landes- u. Volkskunde
3. Bd. (Innsbruck 1961) 223 — 248.
327. Weidenflöten. Die Heimat, Zs. f.
niederrhein. Heimatpflege 66 (1959)
129, 1 Abb.
328. Wenzel, Leopold, Vom Anfang der
Blasmusik, deren Entwicklung bis
zur glanzvollen Höhe. Österr. Blas-
musik 10 (1962) 117 —121.
329. Wille, Louis, Altharzer Musik- und
Signalinstrumente. Volkskunst 6
(1957) Heft 1, 30 — 31, 2 Abb.
330. Wiora, Walter, Europäische Volks-
musik und abendländische Tonkunst.
Kassel, Hinnenthal, 1957. 230 S.
331. Ders., Volks- und Kunstmusik in der
griechisch-römischen Antike. In:
Atti dei Congresso internazionale di
musiche popolari (Palermo, Tip. de
Magistris, 1959) 91—94*
332. Ders., Die vier Weltalter der Musik.
Stuttgart, W. Kohlhammer Verlag,
1961. 185 S. (= Urban-Bücher 56).
Rez. Journal of the International
Folk Music Council 15 (1963) 104
bis 105 (P. Collaer).
333. Wünsch, Walther, Der Brautzug des
Banovic Michael. Stuttgart, Ichthys-
Verlag, 1958. 11 S., 12 Abb. auf Taf.,
Notenbeisp.
334. Ders., Die Streich. Geigenmusik aus
alten steirischen Spielmannsbüchern
ausgewählt, für Streichquartett und
obligate Gitarre gesetzt von Karl
Frießnegg. Graz, Steirisches
Volksbildungswerk, 1959. IV, 8 S.
in Mappe.
Rez. JbÖVlw 9 (i960) 156 (Klier).
335. Ders., Über Schallaufnahmen südost-
europäischer Volksepik in der Zeit
von 1900 bis 1930. In: Bericht über
den Internationalen musikwissen-
schaftlichen Kongreß Kassel 1962
(Bärenreiter 1963) 317 — 318.
336. Zavarsky, Ernest, Beiträge zur
Musikgeschichte der Stadt Kremnitz
(Slowakei). Musik des Ostens 2
(1963) 112—125.
Die Kremnitzer Stadtpfeifer 118
bis 125.
337. Zoder, Raimund, Volkstanzauf-
zeichnungen von Karl Reiterer.
JbÖVlw 5 (1956) 88—92.
7*
100
Erich Stockmann — Herta Uhlrich
338. Ders., Österreichische Volkstänze.
Gesammelt u. hg. Neue Ausg.
2. veränderte Aufl. Teil 1. Wien,
österr. Bundesverlag, (1958). 54 S.
Text, 39 S. Notenbeisp.
339. Ders., Kleine Beiträge zur Volksmu-
sikforschung. JbÖVlw 7 (1958)
62—65, Notenbeisp.
340. Ders., Alte Volkstanzmelodien aus
Kärnten. In: Tanz und Brauch
(Klagenfurt 1959) 91 — 94, Noten-
beisp.
Nachtrag
341. Baumgartner, Gustav, Burschen-
tänze. Der fröhliche Kreis 15 (1964)
Jan.-März Heft, 9 — n.
342. Biedermeier-Tanzweisen aus Eisen-
stadt, ausgewählt von K. M. Klier;
dreistimmig für Blockflöten oder
andere Instrumente eingerichtet von
Walter Unger. Zeitschrift für Spiel-
musik Heft 303, Celle 1964, 12 S.
343. Bose, Fritz, Rhythmusprobleme in
instrumental begleiteter primitiver
Musik. In: Bericht über den 7. Inter-
nationalen Musikwiss. Kongreß
Köln 1958 (Kassel 1959) 72 — 73.
344. Bredl, Michl, Lieder und Tänze für
die Volksharfe (Tiroler Harfe).
München 1964. 30 S.
345. Christensen, Dieter, Heterogene
Musikstile in dem Dorfe Gabela
(Herzegovina). In: Bericht über den
7. Internationalen Musikwiss. Kon-
greß Köln 1958 (Kassel, Bärenreiter,
1959) 79-82.
346. Costa, Othmar, Musik in Tirol. In:
Tiroler Jungbürger buch (Innsbruck
1963) 396—426, Abb., Notenbeisp.
347. Deiser, Fidelius, Zum Brauch und
Glauben im Lavanttal. Kärntner
Landsmannschaft 1963 Nr. 1, 3L,
1 Abb.
Büllhäfen
348. Deninger, Irmtraud, Die verschie-
denen Verfahren des Dreschens in
Niederösterreich (sprachlich und
volkskundlich betrachtet). Wien
1964. 79 S. Masch.schrift.
349. Gassmann, Alfred Leoni:, Was
unsere Väter sangen. Volkslieder u.
Volksmusik vom Vierwaldstättersee,
aus der Urschweiz und dem Entle-
buch. Nach dem Volksmund in
Wort u. Weise aufgezeichnet. Basel,
Krebs, 1961. VI, 342 S. (— Schriften
der Schweizerischen Ges. f. Vk., Bd.
42).
350. Geitner, Wolfgang und Herbert
Lager, Die Landler des Ibbsfeldes.
JbÖVlw 14 (1965) 118 — 125, Noten-
beisp. Karte.
351. Grad, Toni, Volkslied und Volks-
musik in der Lehrerbildung. Schöner e
Heimat 47 (1958) 532 — 5 35-
352. Gruber, Werner, Das Liedlaufgeben
bei der Kärntner Bauernhochzeit.
JbÖVlw 14 (1965) 62 — 68, Notenbsp.
353. Heilfurth, Gerhard, Der erzge-
birgische Volkssänger Anton Gün-
ther. Leben und Werk. Frank-
furt/M. 1962. 272 S., 34 Abb. 6. ver-
änderte Aufl.
Mitt. über wandernde Musikanten;
Abb. v. Musikanten und ihren Instru-
menten.
Rez. JbÖVlw 13 (1964) 169
(Klier); HessBllVk 54 (1963) 640 bis
641 (B. Martin).
354. Höller, Berta, Schule für die Volks-
harfe (Tiroler Harfe). München 1963.
42 S. Anhang: 28 Spielweisen.
355. Hoerburger, Felix, Deutsch-sla-
wische Wechselbeziehungen im
Volkstanz. Volkskunst 5 (1956)
Heft 7, ii —13, Notenbeisp.
356. Ders., Volkstanzkunde. Probleme der
systematischen Betrachtung, Samm-
lung, Ordnung und Erforschung von
Volkstänzen. Teil 1 u. 2. Kassel,
Basel, Bärenreiter, 1961—64 (=
Mensch u. Tanz 3, 4).
357. Horak, Karl, Deutsche Volkstänze
aus dem Donauraum. Kassel —
Basel — London — New York,
Bärenreiter, 1961. 32 S. (= Deutsche
Volkstänze, Heft 44/45; = Bären-
reiter-Ausg. 1277).
Volksmusikinstrumente und instrumentale Volksmusik
101
Rez. JbÖVlw ix (1962) 224
(Kl[ier].
358. Ders., Deutsche Volkstänze aus dem
Karpatenraum. Kassel — Basel —
London — New York, Bärenreiter,
1961. 32 S. (= Deutsche Volkstänze,
Heft 48/49; = Bärenreiter-Ausg.
1278).
Rez. JbÖVlw 11 (1962) 224
(Kl[ier]).
339. Ders., Deutsche Volkstänze aus dem
Weichselraum. Kassel, Bärenreiter
Verlag, 1962. 32 S., Notenbeisp.
(= Dt. Volkstänze, 32/53).
Rez. ÖZfVk 66 (1963) 130
(L. Schmidt).
360. Ders., Hochzeitswalzer aus dem Ziller-
tal. Sänger- und Musikantenzeitung
7 (1964) 70 f. und 73, Notenbeisp.
361. Ders., Die Notentruhe eines Lechtaler
Musikanten. JbÖVlw 14 (1965)
131 —145, Notenbeisp.
362. Hornof, Peter Paul, Volkstümliche
Raffele-Schule (Urzither). Innsbruck,
Selbstverlag, 1963. 68 S.
363. Jernek, Josef, Bericht über die
Sonderausstellung „Das Volkslied
in Niederösterreich“. JbÖVlw 14
(1965) 154-155, 2 Abb.
364. Klier, Karl M., Die Maultrommel
in Vorarlberg. ,,D’ Sunntagstubat“
1964 Nr. 16, 61.
365. Ders., Vom Dudelsack in Vorarlberg.
,,D’ Sunntagstubat“ 1964 Nr. 26,101.
366. Ders., Das Trummscheit im ale-
mannischen Raum. ,,D’ Sunntag-
stubat“ 1964 Nr. 37, 146.
367. Ders., Eine Kalamaika aus Eisenstadt.
JbÖVlw 14 (1965) 126 —130, Noten-
beisp.
368. Künzig, Johannes, Das Musikan-
tentum in der ehemaligen deutschen
Sprachinsel Iglau. Pro Musica 1959.
369. Mayer, Eugen, D’ Ratschenbubn von
Lackenbach. Volk und Heimat 17
(1964) Nr. 6, 3L, 2 Abb.
370. Nettl, Paul, Tanz und Tanzmusik.
Tausend Jahre beschwingter Kunst.
Freiburg i. Br., Herder, 1962. 192 S.
(— Herder-Bücherei 126).
Rez. JbÖVlw 13 (1964) 173
(Klier).
3?t. Oberweger, Herbert, Aus Volks-
liedern entstanden die Tiroler
Märsche. Die Militärmusik Tirols
pflegt eine reiche Tradition. Österr.
Blasmusik 11 (1963) 85 f.
372. Paul, Ernst, Jagd und Musik. In:
Jagd in Österreich (Wien 1964)
452—462, Abb.
373. Pichl, Lies, Vom Harfenspieler Josef
Höpperger und vom Tiroler Harfen-
spiel im allgemeinen. Sänger- und
Musikantenzeitung 7 (1964) 83 — 87.
374. Plechl, Pia Maria, „Herrn Laci-bacsi,
Burgenland, Österreich“. Der Rüster
Weinbauer Ladislaus Wenzel be-
herrscht die Kunst der Tarogato. Die
Presse 8./9. Sept. 1964, 7, 1. Abb.
375. Reiser, Toni, Filzmoser Schottisch.
Sänger- und Musikantenzeitung 7
(1964) 90 — 91.
376. Schenk, Erich, Der Langaus. Studia
musicologica 3 (Budapest 1962)
301 — 316.
377. Schilder, Manfred, Die Ratschen-
buben von Deutsch-Wagram.
JbÖVlw 14 (1965) 56—61, Noten-
beisp.
378. Schmidt, Leopold, Die Weihnachts-
krippe von Rinn in Tirol und ihre
Bergmusik. Wien, Montan-Verlag,
1964. 29 S., 9 Abb. (= Leobener
Grüne Hefte 76).
379. Szabolcsi, Bence, Über Form und
Improvisation in der Kunst- und
Volksmusik. In: Bericht über den
7. Internationalen Musikwiss. Kon-
greß Köln 1958 (Kassel, Bärenreiter,
1959) 257-259-
380. Szendrey, Erika, Lieder und Bräu-
che der Köhler und Kohlenfuhrleute
in Niederösterreich. Wien 1964. 57 S.,
Abb. Maschschrift.
381. Valentin, G., Volksmusik — ein wirk-
lich heikles Thema. Pro Musica 1959.
382. Viidalepp, R., und H. Tampere,
Volksdichtung und -musik. In:
Abriß der estnischen Volkskunde
(Tallinn, Estnischer Staatsverlag,
1964) 275-300.
383. Vogl, Franz, Ein hohes Fest der
Volksmusik. Vom Pfeifertag im
Salzkammergut 1964. Der fröhliche
Kreis 15 (1964) August-November-
Heft, 11 f.
384. Wenzl, Leopold, Epochen der
österreichischen Militärmusik,
österr. Blasmusik 11 (1963) 101 bis
103.
BESPRECHUNGEN
Beiträge zur Sprachwissenschaft, Volkskunde und Literaturforschung. Wolfgang Steinitz zum
60. Geburtstag am 28. Februar 1965 dargebracht. Hg. von A. V. Isaöenko, W. Wissmann,
H. Strobach. Berlin, Akademie-Verlag, 1965. 455 S. (=Veröff. d. Sprachw. Komm. 5).
Weitgespannt wie der Titel des außerordentlich inhaltsreichen Sammelbandes ist das
Schaffen und wissenschaftliche Werk Wolf gang Steinitz’. Den Herausgebern der Festschrift
gelang es, Autoren zu gewinnen, deren Arbeiten durch dieses vielseitige Werk und die
Persönlichkeit des Gelehrten angeregt wurden, oder aber zumindest in einer wissenschaft-
lichen Beziehung eng mit ihm verbunden sind.
Da die Beiträge in alphabetischer Reihenfolge der Verfasser geordnet wurden und ein
— in ähnlichen Publikationen meist vorhandenes — Stichwortregister fehlt, möge die Rezen-
sion des Sammelbandes nach einer sachlichen Gliederung erfolgen.
Sprachwissenschaft
Am Beginn der akademischen Laufbahn Wolfgang Steinitz’ stand die Philologie, vor-
nehmlich die Beschäftigung mit den sprachlichen Äußerungen finno-ugrischer Völker.
Noch in diesem Jahr erscheint die 1. Lieferung des Ostjakischen Wörterbuchs, nachdem eine
über drei Jahrzehnte währende Erforschung von Sprache, Literatur und Kultur des sibi-
rischen Volkes der Ostjaken den Boden für dieses große Unternehmen bereitet hat. Deshalb
ist es nur natürlich, w'enn die überwiegende Zahl der Festschriftartikel diesem Werkab-
schnitt des Jubilars gewidmet ist.
Die Mehrzahl der Aufsätze befassen sich — in Würdigung der grundlegenden Forschungs-
ergebnisse Steinitz’ über die ostjakische Grammatik (1938ff.) und die Geschichte des finnisch-
ugrischen Vokalismus (i944ff.) — mit grammatischen und phonologischen Erscheinungen
finno-ugrischer Sprachen. Ihre Rezension, wie auch die anderer spezieller Beiträge, sei der
zuständigen Fachwissenschaft Vorbehalten: Robert Austerlitz: Zur Statistik und Morpho-
logie der finnischen Konjugationstypen; Péter Hajdu: Morphologische Beiträge zur Kenntnis
der samojedischen Sprachen; V. I. Lytkin: Voprosy akcentuacii permskich jazykov (Akzen-
tuierungsfragen bei den Permsprachen); Bo Wickman: Ein lappischer Umlaut fall und
seine Bedeutung für die lappische Vokalgeschichte; Wolfgang Schlachter: Der Gebrauch des
Duals im Malâlappischen; B. A. Serebrennikov : Ob otnositeVnoj chronologii pojavlenija
tiekotorych grammaticeskich form 0 uraVskich jazykach (Zur relativen Chronologie der
Erscheinungen einiger grammatischer Formen in den uralischen Sprachen) ; David R. Fokos-
Fuchs: Die Türdm-Mutter der Irtysch-Ostjaken — Zusammensetzung oder Parallelismus?;
Gerhard Ganschow: Die kopulativen Verbindungen in den von W. Steinitz auf gezeichneten
Prosatexten des Serkal-Ostjakischen; Bohuslav Havränek : Die verba impersonalia der
Naturerscheinungen und ihr stilistischer Wert; Wilfried Fiedler: Zum Genus im Alba-
nischen; Emil öhmann: Hyperkorrekter Umlaut im Deutschen-, Matti Liimola: Wogu-
lische Etymologien; Bêla Kalman: Etymologisches aus dem Gebiete der ugrischen Sprachen;
György Hazai: Urkunde des Friedensvertrages zwischen König Matthias Corvinus und dem
türkischen Sultan 1488; Gert Sauer: Zur Suffigierung einiger syrjänischer Lehnwörter im
Ostjakischen; J. Németh: Ein ungarisches Lehnwort in Byzanz im 10. Jh.; Paul Ariste: He-
Besprechungen
103
bräische Wörter im Estnischen; Eugen Seidel: Zur Problematik des Sprachbundes; Wolfgang
Mötsch, Renate Schädlich: Die Grundstruktur schwedischer Verbalphrasen; Rudolf Rüziöka:
Zur Präzisierung und zum Begriff der Passiotransformation im Russischen; Manfred Bier-
wisch: Über die Rolle der Semantik bei grammatischen Beschreibungen; Hans-Joachim Schäd-
lich: Über ,,terminale“ Intonation im Deutschen; M. Alexandre Rosetti: A propos du son-type
et du phonemc; Jean Fourquet: La „grande lacune“.—Comment la reduireP; Marcel Cohen:
SynchronieP. — Es ist ein Kennzeichen der meisten Arbeiten des Sammelbandes, vorzüg-
lich der sprachwissenschaftlichen, daß sie sich auf wissenschaftliches Neuland begeben bzw.
für ihren Forschungsbereich zum Teil bedeutende und neuorientierende Entdeckungen vor-
legen — ein Charakteristikum, das auch den Publikationen Steinitz’ eigen ist.
Aus den allgemeineren Beiträgen zur Sprachwissenschaft seien einige charakteristische
Beispiele ausführlicher besprochen. Der Aufsatz von J. Kurylowicz (Zur Vorgeschichte des
germanischen Verbalsystems) zeigt anhand eines Vergleichs der Präteritorialformen der
starken und schwachen germanischen Verben mit entsprechenden Paradigmen anderer indo-
germanischer Sprachen die relative Chronologie bzw. sukzessive, in den einzelnen germa-
nischen Dialekten voneinander unabhängige Verschiebung des Verbalsystems, die von der
mit herkömmlichen Methoden arbeitenden Indogermanistik als eine für große Sprachfami-
lien einheitliche und gleichzeitige Umwälzung auf gef aßt wird.
Von den Untersuchungen zu Etymologien des finnisch-ugrischen Wortschatzes möchten
wir besonders die Abhandlung K. Vilkunas über den finnisch-estnischen Schultheiß kupias
kubjas nennen. Hier werden neben sprachwissenschaftlichen auch volkskundlich-soziolo-
gische Untersuchungsmethoden angewandt. Das bereits im 14. Jh. in Personennamen belegte
finnische Wort kupias (estn. kubjas) bezeichnete ursprünglich einen dörflichen Vertrauens-
mann, einen Dorfschulzen; seit dem 16. Jh. kann es — neben dieser weiterbestehenden
Bedeutung — für Burgvögte, Schreiber und Ortsrichter verwendet werden, für Vertrauens-
leute also im Dienste der Feudalherrschaft. Mit dieser Funktion des „Aufsehers“ entwickelte
sich das Wort zu einer Bezeichnung für den Fronvogt, den Aufseher der Arbeiter, und
besonders in Estland wurde es während der seit dem 15. Jh. andauernden Leibeigenschaft
allgemein ein Ausdruck für den Bauernschinder und -antreiber. Sprachlich und ethnogra-
phisch interessant ist die von V. auf gezeigte Parallelentwicklung des Wortes mit der germ.
Wortfamilie varde, deren ins Finnische und Estnische entlehnten Glieder vartija/oardja
»Wächter“, „Wärter“ Synonyme zu kupias/kubjas bilden. Im ältesten Sprachgebrauch
bezeichneten beide ein weithin sichtbares Gerät, ein Mal, einen Wächter, z. B. das Schwimm-
holz an Fischnetz oder Reuse. Auch in dieser Sachbezeichnung leben beide Sprachstämme bis
heute im skandinavisch-ostseefinnischen Raum weiter. — Trotz der bei Kluge-Götze-Mitzka
(Etymolog. Wb. d. dt. Sprache, 19. Aufl.) anders begründeten Etymologie der im deutschen
Sprachgebiet verbreiteten Bezeichnung Schubiack für einen niederträchtigen Menschen,
einen Schuft (Rez. kennt aus dem westpomm. Plattdeutsch jemand schubjacken — jemand
quälen, antreiben), scheint Rez. hier doch eine Bedeutungsverwandtschaft oder, auf Grund der
Wortähnlichkeit mit finn. (estn.) kupias, eine Bedeutungsübertragung, wenn nicht gar eine
Entlehnung vorzuliegen, zumal auch das deutsche Wort — im Norden von Holstein bis
zum ehern. Ostpreußen — ein Gerät, einen weithin sichtbaren Pfahl auf baumloser Weide
(nach Kluge: damit sich das Vieh daran reiben [schubben] kann) bezeichnet. — Vgl. zu
einem ähnl. Problem R. Peesch, Ein altslawisches Relikt der materiellen Kultur im Gebiet
zwischen Elbe und Oder. DJbfVk 11 (1965) 137ff.
Mit dem prägenden Einfluß des Kulturraumes befaßt sich die Abhandlung von E. Seidel
über die Problematik des Sprachbundes, ausgehend von der Frage „Erbwort — Lehnwort“
in der idg. Sprachfamilie. Auf der Suche nach Kriterien und Bedingungen für gleiche
Lehnbildungen bzw. -prägungen — z. B. auch im Bereich der Syntax — bei historisch zu
unterscheidenden Nachbarsprachen, stieß er auf eine gemeinsame Eigentümlichkeit bei den
Völkern des Balkansprachbundes (Rumänen, Bulgaren, Albaner, Griechen), die den abstrak-
ten Infinitiv durch Nebensatz-Konstruktionen ersetzen. Die Ursache für die Formierung
dieses Sprachbundes sieht er im strukturverändernden Einfluß der jeweiligen Nachbarspra-
chen auf die durch transhumante Hirtenkultur verbundenen Balkanvölker. Der verändernde
Einfluß geht nach S. stets von bilinguistischen Kontaktzonen bzw. Volksgruppen aus,
104 Besprechungen
und ist nur durch vergleichende Sprachstudien zu erfassen. Daher endet der Aufsatz mit
einer Aufforderung an die „ Strukturalisten“ unter den Philologen, in jedem Falle verglei-
chend zu arbeiten.
Dieser Forderung wird der Festschriftbeitrag A. V. Isacenkos gerecht, der seiner Unter-
suchung über kontextbedingte Ellipse und Pronominalisierung im Deutschen die entsprechen-
den Beispiele bzw. Möglichkeiten der englischen und der Syntax slawischer Völker voran-
stellt. Was den Aufsatz I.s auszeichnet und die Meisterschaft des Erfahrenen verrät, ist die
Verständlichkeit seiner Ausführungen über ein selbst für den Sprachforscher im allgemeinen
schwieriges Gebiet, während die Mehrzahl der Festschriftartikel mit ähnlicher Thematik
infolge zu starker terminologischer Komprimierung und abstrakter Darstellung stellen-
weise wie ein Mysterium wirken, verständlich nur dem Eingeweihten.
Die Grundlage und Ausgangsbasis aller modernen Sprachwissenschaft, die Mundart-
forschung, ist Gegenstand einer Abhandlung von E. Zwirner. Unter der zweiten Epoche
der deutschen Mundartforschung versteht er die Entwicklungsgeschichte der „Forderung“
nach synchronischer, phonologischer (durch Schallträger) und statistischer (heute struktu-
reller) Fixierung und Erforschung der lebenden, gesprochenen Mundarten, beginnend mit
den bahnbrechenden Arbeiten Schmellers und Wenkers, gefolgt von v. Raumer, H. Paul,
v. d. Gabelentz, und gipfelnd in den berühmten Genfer Vorlesungen de Saussures. — Im
Sinne dieser Gelehrten und ihres wissenschaftlichen Zieles, die Sprache als Organismus
zu betrachten und bei Aufnahmen die Gesamtsituation der Sprecher zu berücksichtigen,
ist man seit 1955 im Deutschen Spracharchiv zu Braunschweig (in ähnlicher Weise auch
im Inst. f. dt. Spr. u. Lit. der Dt. Ak. d. Wiss. zu Berlin, d. Rez.) darangegangen, das
Ergebnis von 6000 Tonbändern mit freier Unterhaltung in der Umgangssprache — jeweils
Sprecher aus drei Generationen in jedem Aufnahmeort — wissenschaftlich auszuwerten.
Daß dies nicht ohne ein Teamwork von Vertretern verschiedenster Disziplinen möglich
sein kann, ist eine dem ebenfalls synchron und historisch-diachron arbeitenden Volks-
kundler sehr verständliche Schlußfolgerung und Forderung.
Liter aturforschung
Die Beschäftigung mit der Sprache eines in seinen historischen Entwicklungsstadien
besonders interessanten Volkes mußte einen so vielseitigen und aufgeschlossenen Forscher
wie Wolfgang Steinitz notwendig zur Beschäftigung mit den sprachkünstlerischen Werken
und Traditionen, zur Beschäftigung mit dem Leben und der Kultur dieses Volkes führen.
Seine in FFC 115, 1934, abgedruckte Dissertation über ein literarisch-ästhetisch, sprach-
wissenschaftlich und ethnographisch gleich wichtiges Phänomen, den Parallelismus in
der finnisch-karelischen Volksdichtung, war und blieb für Steinitz’ wissenschaftlichen Lebens-
weg sowie für seine anregende Wirkung auf Literaturforschung und Volkskunde bestim-
mend.
Eine nahezu klassische Entsprechung jener Arbeit — vor allem in methodischer Hinsicht
— bilden die Untersuchungen Victor Schirmunskis zu syntaktischem Parallelismus und
rhythmischer Bindung im alttürkischen epischen Vers. Bedingt durch die Identität der
Endungen in agglutinierenden Sprachen, entwickelte sich im alttürkischen Versepos (z'ir)
— bei Wortwiederholung oder -Variation und silbenzählendem Rhythmus — als beson-
deres Stilmittel der syntaktische bzw. grammatische (meist verbale) End- oder auch Binnen-
reim. Am Beispiel der ältesten Sujets alttürkischer Heldendichtung, einem oghuzischen
Sagenzyklus, der im 9. —10. Jh. wahrscheinlich in der Form von Heldengesängen tra-
diert wurde und unter dem Sammeltitel Das Buch von Dede Korkut in zwei türkischen
Prosahandschriften des 16. Jhs erhalten ist, zeigt Sch. das jahrhundertelange Weiterleben
jenes Stiles — bis in die gegenwärtige Überlieferung. Denn wie in „Dede Korkut“,
so lassen sich auch in neuesten Aufzeichnungen bei allen sibirisch-türkischen Völkern
aus den Heldenmärchen mit archaischen Stoffen noch unschwer archaische Formen rhyth-
misch und durch Parallelismus verschiedenster Art gebundener Verse herauslösen, und
zwar vorwiegend in den Reden der Helden oder im Dialog.
Besprechungen
105
Wie Schirmunski, so geht auch R. Jakobson in seiner umfangreichen Untersuchung zum
grammatischen Bau des Gedichts von B. Brecht „Wir sind sie“ von Steinitz’ grundlegender
Arbeit über den Parallelismus in der Volksdichtung aus. Aufschlußreich ist seine Feststellung,
daß Brecht alle von St. dargestellten Aspekte des Parallelismus anwendet und dabei, wie er
1928 selbst ausführt, hier wie in anderen Werken sehr stark vom altbiblischen Vers beein-
flußt war. „Kanonischen, wahrlich biblischen Parallelismus“ besitzt nach dieser Studie der
den Strophen „Wir sind sie“ folgende Chorteil „Lob der Partei“, mit strenger gramma-
tischer und lexikalischer Symmetrie und dreifacher Wiederholung des Klanges in jedem
Vers. In minutiöser und zugleich kongenialer Arbeitsweise holt der Verf. aus der Dichtung
die ganze, von Brecht bewußt gestaltete Dialektik des Inhalts heraus, die dieser sowohl durch
Semantik, Grammatik, Syntax und Poetik auszudrücken vermochte.
Von den weiteren interessanten literarhistorischen Beiträgen kann hier aus Raummangel
nur die Problematik genannt werden. Das Autoren-Kollektiv Kärpati, Szent-Ivanyi, Tarnai
hat eine eingehende Analyse unter kulturgeschichtlichem Gesichtspunkt des sog. Stamm-
buches von Michael Rotarides vorgenommen, eines 1747 in Wittenberg jung gestorbenen
ungarischen Philologen, der durch Studien an verschiedenen Universitäten und Bibliotheken
das von David Czvittinger begonnene ungarische Autorenlexikon fortsetzen wollte. — Eine
vergleichende Inhaltsstudie zwischen den Romanen The Upword Spiral von Dilip Kumar
Roy und Die Brüder Karamasoff von F. M. Dostojewski widmet der Indologe W. Rüben
dem Jubilar. Obgleich die Entstehung beider Werke 70 Jahre auseinanderliegt und obgleich
beide auf einem historisch zu unterscheidenden gesellschaftlichen Boden wuchsen, vereinen
sie nach Aleinung des Autors doch gleiche Wesenszüge, nämlich Ablehnung des sozialen
und nationalen Fortschritts, die besonders in der Flucht des jeweiligen Helden in eine
egozentrische, weltverneinende Liebe zu Gott zum Ausdruck kommt. — Vladimir Karbu-
sickys Darlegungen über die Beziehungen zwischen der älteren tschechischen und der germa-
nischen Epik, demonstriert am Beispiel der bei Kosmas in seiner Chronik der Böhmen ent-
haltenen epischen Stoffe (Lutschanerkrieg und Ursprung der Pfemysliden), als deren Grund-
lage er ein vom germanischen Epenstoff über Ermanerichs Tod beeinflußtes böhmisches
Heldenlied von Vlastislavs Tod ansetzt, wirken bestechend. Für die sicher sehr notwendige
und nützliche weitere Erforschung des Themas wünscht man sich noch gründlichere und im
allgemeinen breitere Berücksichtigung auch der neuesten Literatur zur mittelalterlichen
Epenforschung und zur häufig von K. zitierten deutschen Spielmannsdichtung.
V olkskunde
An den Beginn dieses Abschnitts stelle ich drei Aufsätze zum Volkslied, die ihrem Inhalt
nach zwar heterogen sind, zusammengesehen aber drei wichtige Aspekte der von Steinitz
vertretenen Volksliedforschung behandeln.
J. Horäk — bewundernswert die geistige Leistungsfähigkeit des Einundachtzigjährigen —
bringt mehr, als der Titel Humor, Witz und Satire im slowakischem Volkslied ankündigt. Er
gibt eine Übersicht und Inhaltsgliederung des gesamten slowakischen Liedgutes. Die wich-
tigsten Themen sind Liebe, Ehe, Sozialsatire, Militärdienst (hier werden auch die für die
Slowakei typischen Lieder der „outlaws“, der aus sozialen Gründen Verstoßenen, der Wa-
lachen und Räuber behandelt), die Geistlichkeit.
Angeregt von W. Steinitz’ zweibändiger Ausgabe der Deutschen Volkslieder demokra-
tischen Charakters aus sechs Jahrhunderten, begannen die ungarischen Ethnographen 1962 mit
der Sammlung und Systematisierung der Arbeiterlieder ihres Landes. G. Ortutay referiert
darüber in seinem Beitrag Einige Bemerkungen zur Dichtung der ungarischen Arbeiterklasse:
En wesentlichen geht die ungarische Arbeiterfolklore, die Lieder des Agrarproletariats, der
Erd- und Grubenarbeiter, auch einige Lieder der ehern, wandernden Industriearbeiter,
aus der bäuerlichen Folklore hervor, da die genannten Arbeiterberufe noch sehr lange mit
dörflichem Besitz und Milieu verbunden blieben. — O. greift die von St. in seinen theo-
retischen Aufsätzen entwickelten Gedanken über das Verhältnis von Arbeiterlied und
Arbeitervolkslied sowie das Wesen der Folklorisierung nicht auf. Das literarische und
das mündlich tradierte Arbeiterlied bezeichnet er gleicherweise von ihrer Funktion her
106
Besprechungen
als Arbeiterfolklore. Nach einer endgültigen Ordnung des Materialbestandes werden die
ungarischen Volkskundler aber auch zu theoretischen Untersuchungsergebnissen auf dem
Gebiet des Arbeiterliedes gelangen.
Von ihrem schon aus mehreren Arbeiten mit ähnlicher Thematik bekannten, objektiven
und antichauvinistischen Standpunkt aus, gibt Ingeborg Weber-Kellermann eine Zusammen-
fassung der Ergebnisse bei der Erforschung interethnischer Beziehungen im Liedgut des von
Deutschen, Slowaken und Ungarn bewohnten Dorfes Mözs in der „Schwäbischen Türkei“
(Probleme der interethnischen Beziehungen am Beispiel des Volksliedbestandes in einem
deutsch-ungarischen Dorf). Während die sog. Sprachinselforschung vorwiegend nach dem
„Urbesitz“ in der Volkskultur einer ethnischen Minderheit, nach dem heimatlichen Erbgut
sucht, gelingt es W.-K. anhand von 300 selbstaufgezeichneten und umfassend ausgewerteten
Liedtexten der Deutschen in Mözs, diesen Urbesitz als eine Fiktion nachzuweisen. Das hier
vorhandene ältere Volksliederbe ist für das 19./20. Jh. — wie auch in den deutschen Land-
schaften — gering und untypisch. Die verschiedensten Einflüsse der ethnischen und sozialen
Umwelt vereinen sich im Liedrepertoire der vorwiegend jugendlichen Sänger, die, wie
überall, aktuell, d. h. „modern“ sein wollen. Interessant ist die Feststellung, daß keine Ver-
mischung mit dem anderssprachigen Liedgut stattfand, sondern daß z. B. die ungarischen
Lieder in ihrer unveränderten Gestalt in das deutsche Repertoire aufgenommen wurden,
wofür die Verf. den Grund in der völlig verschiedenen Rhythmik und Tonalität sieht. Die
Untersuchung gipfelt in der Erkenntnis, daß in der neuen Umwelt ein ethnisch, sozial und
kulturell neues Gebilde entstand, das nicht mehr mit dem der Herkunftslandschaft verglichen
werden kann.
Schwierig zu rezensieren sind K. Horaleks Bemerkungen zur Theorie des Märchens. Nach
einem übersichtlichen Forschungsbericht zum Problem der Gesetzmäßigkeiten im Aufbau
epischer Sujets mißt H. auch der Erklärung für die Existenz von identischen oder ähnlichen
Märchenerzählungen bei verschiedenen Völkern durch identische oder ähnliche gesell-
schaftliche Verhältnisse Bedeutung zu, wendet sich jedoch — mit Recht — gegen eine
Überbetonung dieser Deutungsweise. Bei dem folgenden Versuch, verschiedene voneinander
unabhängige parallele Modifikationen schon bestehender Stoffe in regional verschiedenen
Gebieten zu interpretieren, zerfließt die Darstellung leider. H. demonstriert seinen Versuch
am Beispiel des nach seiner Meinung in zwei Weltversionen, einer westlichen und einer
östlichen, vorkommenden Märchens vom Typ Anup und Bata (Zweibrüdermärchen).
Abgesehen von einigen Unkorrektheiten hinsichtlich der Zitierung der benutzten Literatur
usw., scheint der Rez. das Beispiel des Zweibrüdermärchens für die Veranschaulichung von
H.s Theorie ungeeignet zu sein.
Zwei weitere Festschriftbeiträge befassen sich mit den kleineren Formen der Volksüber-
lieferung. J. Krzyzanowski berichtet in sehr aufschlußreicher und informierender Weise
über das große Werk Samuel Adalbergs, das 800 Seiten starke Lexikon der polnischen Sprich-
wörter sowie seine derzeitige Ergänzung, Weiterführung und Neufassung. Adalberg hat das
Schrifttum aus 4 Jahrhunderten mit 5100 Stich Worten und 30000 Grundfassungen ausge-
wertet und zum erstenmal in der Geschichte der polnischen Parömiologie mit modernen
Methoden unter historisch-philologischem Aspekt bearbeitet. Notwendig mußten einem
Einzelverantwortlichen bei solch gigantischem Werk Fehler unterlaufen. Diese auszumerzen
(z. B. das aufgenommene Material bis zur Gegenwart zu führen, eine scharfe Unterscheidung
des Haupttyps von den Varianten zu treffen, die internationalen Züge des polnischen Sprich-
worts aufzuzeigen und die Mißverständnisse A.s bei der Inhaltsdeutung zu beseitigen),
haben sich die Herausgeber, in erster Linie K. selbst, zur Aufgabe für das geplante, viermal
umfangreichere neue Lexikon des polnischen Sprichwortes gestellt. — Der Artikel
Bogatyrevs, Ausrufe von Austrägern und wandernden Handwerkern als Reklamezeichen,
breitet in der Form des Berichtes ein volkskundlich hochinteressantes, in der Sowjetunion
bisher noch kaum untersuchtes Material aus. Das Spezifische der „Anpreisungen“ wandern-
der Handwerker, Krämer und Händler, Trödler und Lumpensammler, Rattenfänger und
Aufkäufer, Schuhputzer und Zeitungsverkäufer, ist — bei einer begrenzten Typisierung —
ihre individuell variable Bezogenheit auf das jeweilige Publikum, den einzelnen Käufer, ein
Dorf oder ein größeres Gebiet. Für die von B. häufig als absoluter Gegensatz erwähnten
Besprechungen
107
Reklameslogans der Fabriken und Handelsunternehmen hätte sich der Leser mehr Beispiele
und Vergleiche gewünscht.
Dem aktuellen und von der heutigen Volkskundeforschung diskutierten Problem „Lite-
ratur — Volksdichtung“ wendet sich Paul Nedo zu {Die Bedeutung von Schrift und Schrift-
tum für die sorbische Volksdichtung im Spätfeudalismus). Das seit Jahrhunderten von Sorben
bewohnte Gebiet, die Heimat des Autors, eignet sich infolge seiner territorialen, sozialen
und ethnischen Überschaubarkeit gut für eine derartige Untersuchung. Allerdings muß N.
feststellen, daß der literarische Einfluß auf den sprachlichen Teil der Volkskultur sehr gering,
zumindest aber extrem einseitig war. Das darf den Volkskundler jedoch nicht dazu verleiten,
dieses Ergebnis schlechthin für das Verhältnis von Literatur und Volksdichtung zu verall-
gemeinern. N. beweist u. a., daß das Fehlen bestimmter literarischer Gattungen auch ein
Fehlen der entsprechenden volkskünstlerischen Formen zur Folge haben kann, für die
Sorben z. B. des Schwankes, des Novellen- und des Legendenmärchens oder des in deutschen
Gegenden im Volksmund vorhandenen literarischen Sprichwortes. Die Ursache dafür sieht
N. in einem bis in die kapitalistische Periode reichenden Analphabetentum der vorwiegend
im System der Gutsherrschaft lebenden sorbischen Bevölkerung. Zwar schufen nach der
Reformation sorbische Geistliche eine Bibel in ihrer Muttersprache und in begrenztem
Rahmen auch eine kirchliche Literatur — und die Aera des Pietismus brachte sorbische
Fassungen der sog. Erbauungsliteratur in größeren Auflagen —, aber diese religiösen Werke
blieben bis 1800 die einzigen Wirkkräfte und Anknüpfungsmöglichkeiten für das sorbische
Laienschaffen. Die Volksdichtung bleibt in der Ober- und Niederlausitz in besonderem
Maße eine eigenschöpferische Leistung mündlicher Tradition.
Der Aufsatz E. Emsheimers über einen finno-ugrischen Flötentypus führt zum engeren
Forschungsgebiet des Jubilars zurück. E. stellt sich das Ziel, durch historisch vergleichende
Methode „archaische Restbestände einer frühzeitlichen Kultur finno-ugrischer Provenienz
(zu) erweisen.“ Gegenstand der Untersuchung ist die Zungen- oder Lippenspaltflöte, bis
heute vorwiegend ein Hirteninstrument bei verschiedenen Völkern. Die Musikforschung
konnte sie bisher für Nordfinnen und Tscheremissen belegen, E. deckte ihren Zusammen-
hang auf mit ähnlichen Instrumenten bei den Csango, bei den Wotjaken, Syrjänen sowie
bei den Altaiern (mit altem samojedischem Substrat).
Ebenfalls durch die Arbeiten Steinitz’ wurde der Artikel von E. Winter angeregt, worin
er Dokumente aus dem Archiv der Franckeschen Stiftungen und dem Francke-Nachlaß in
Tübingen mit Nachrichten schwedischer Kriegsgefangener über die Ostjaken veröffentlicht. Es
handelt sich um Mitteilungen von schwedischen Pietisten, die als Kriegsgefangene im Auf-
träge Peters I. (Nordischer Krieg) nach Sibirien reisten und dort ihre Beobachtungen über das
Leben, die Religion, die Sitten und Bräuche jener sibirischen Völker anstellten, von denen
W. hier speziell solche über die religiösen Zeremonien und die Vorgänge bei der Taufe des
ostjakischen Jägervolkes behandelt. — Im Halleschen Material der Franckeschen Stiftungen
harrt noch manches ähnlich interessante Dokument der Auswertung durch die Ethno-
graphen.
Einen Bericht über lebendiges Brauchtum seiner Heimat schrieb M. Pop {Bräuche, Gesang
und Spiel zu Neujahr in der heutigen rumänischen Folklore). An drei Beispielen: 1. den beim
weihnachtlichen Heischeumzug gesungenen, auf episch-heroischen Texten und alten Tanz-
rhythmen beruhenden Colindaliedern; 2. dem aus altem Agrarritus hervorgegangenen
Umzug zu Neujahr mit geschmücktem, von vier Ochsen gezogenem Pflug und langen
Sprüchen über die Landarbeit; 3. den lustig-derben Maskenspielen, die den Wunsch für ein
heiteres Jahr ausdrücken wollen, zeigt P. allgemeine Entwicklungstendenzen und Daseins-
formen brauchtümlicher Überlieferung auf, von der Antike bzw. den Gesellschaften mit
roagischem Weltbild bis in die funktionsverändernde Gegenwart.
Reste eines magischen Weltbildes sehen wir auch in den von Will-Erich Peuckert zusam-
mengestellten Sagenbelegen über das Tabu der Mittagszeit. In der Antike galt während dieser
Tagesstunde für die mittelmeerischen Völker das Tabu des Schweigens, der Ruhe. Aber
auch im europäischen Norden, vorwiegend in der Überlieferung des deutsch-slawischen
Grenzgebietes, bedeutete ein Stören der Mittagszeit für den Menschen unangenehme
Begegnung mit bestimmten Geistern. P. vermutet hier einen historisch-sozialen Hintergrund,
nMLMtU
108 Besprechungen
nämlich das Bedürfnis des schwer arbeitenden, ausgebeuteten ostelbischen Landarbeiters,
die Mittagsstunde eingehalten zu wissen, wobei er sich, um dieses Bedürfnis durchzusetzen
der Glaubensüberlieferung bediente.
Nicht ohne Absicht haben wir die Arbeiten über Volksmotive in der bildenden Kunst
an das Ende des volkskundlichen Teiles der Festschrift gestellt, bilden sie doch hinsichtlich
ihres Gegenstandes Grenzfälle der Volkskunde-Forschung. In beiden Aufsätzen wird die
enge Verflechtung des Künstlers mit der heimischen Tradition gezeigt, — eine Erscheinung,
die wir in den Kunstwerken aller Jahrhunderte antreffen und die wir nur mit Hilfe verschiede-
ner wissenschaftlicher (kunstgeschichtlicher, historisch-soziologischer, sprach- und literatur-
wissenschaftlicher und nicht zuletzt volkskundlicher) Methoden erkennen und interpretieren
können. Typisch für die Zeit des 15./16. Jhs, aus der beide Themen stammen, ist die Ver-
wendung der Volksmotive als Allegorie, eine Möglichkeit, die ihnen von ihrer symbol-
tragenden Funktion im Volksleben her bereits innewohnt. — W. Fraengers postum ver-
öffentlichter Widmungsbeitrag (Eine medizinische Allegorie Jörg Ratgebs), stellt ein Kapitel
aus seiner großen, fast vollendeten Arbeit über Jörg Ratgeb, den Maler des deutschen
Bauernkrieges dar. — Die „Penaten“ um den Bergmann in frühhumanistischer Darstellung,
und zwar auf dem Titelholzschnitt des Judicium Jovis von Paulus Niavis (um 1495, zur Zeit
des Einbruchs frühkapitalistischer Wirtschaftsformen in die agrarische Welt entstanden),
deutet F. Sieber als Schutzgeister der Bergleute und als „Bergmännel“ der Montanorte,
die hier dem Menschen gegenüber den um die Schätze der Erde bangenden Göttern bei-
stehen. Er weist die bildnerische und dichterische Gestalt dieser auch in anderen Bildquellen
teils als Seelenkinder, teils als Hauskobolde aufgefaßten Penaten bereits in Kirchenplastiken
des 12. Jhs und in Literatur und Illustrationen des 13. und 14. Jhs nach. Daneben gehören
sie zu den häufigsten und lebendigsten Wesen der Volksdichtung und Volkskunst bis in die
jüngstvergangene Zeit.
Den Herausgebern der Festschrift gebührt Anerkennung für die interessante Zusammen-
stellung und vorzügliche Redaktion der insgesamt 48 Beiträge, die das vielseitige wissen-
schaftliche Wirken des Jubilars gleichsam widerspiegeln.
Gisela Burde-Schneidewind, Berlin
Festschrift für Friedrich Sieber. Bautzen, Domowina Verlag, 1964. 340 S., 47 Abb. auf Taf.,
Skizzen und Karten (= Letopis. Jahresschrift des Inst. f. Sorbische Volksforschung
Reihe C 6/7, 1963/64).
Die von dem Redaktionskollegium des Letopis zusammen mit Siegfried Kube, Alfred
Fiedler und Helmut Wilsdorf heraus gegebene Festschrift für den hochverdienten ehemaligen
Leiter der Dresdener volkskundlichen Arbeitsstätte, Friedrich Sieber, enthält 32 Beiträge,
die insgesamt die Spannweite der Forschungen des Jubilars widerspiegeln. Namenkundliche
und topographische Themen stehen neben Untersuchungen über Brauchtümliches, Volks-
kunst, Haus und Hof, Steinkreuze, Volkslied, Märchen, Sage, Schwank und Witz. Wissen-
schaftsgeschichtlich bedeutsam sind die Aufsätze von Paul Nedo, Czorneboh und Bieleboh,
zwei angebliche slawische Kultstätten in der Oberlausitz, und Wolfgang Jacobeit, Anregungen
zu einer allseitigen Betrachtung der Volkskultur bei Jacob Grimm.
Wenn die vorliegende Anzeige nicht in einer Wiedergabe des Inhaltsverzeichnisses stecken-
bleiben will, muß sie sich notgedrungen auf einen der oben genannten Themenkreise kon-
zentrieren. Ich wähle dafür die Beiträge zum Brauchtum, und zwar aus dem Grund, weil dies
das Sachgebiet ist, das in den Arbeiten des Jubilars eine hervorragende Stellung einnimmt.
Nicht zufällig weist Wolfgang Steinitz in seiner Ansprache zur Feier des 70. Geburtstages, die
dem Band vorangestellt ist, auf Siebers jüngste Beiträge zur Brauchforschung hin. Ich
denke aber auch an seinen höchst gewichtigen, wenn auch nur wenige Seiten umfassenden
grundsätzlichen Aufsatz Aspekte der Brauchforschung (Wiss. Annalen 5, 1956, 497fr.) und an
seinen Vortrag vor dem Deutschen Volkskunde-Kongreß 1965 in Marburg über Bezieliun-
Besprechungen
109
gen zwischen Arbeit und Brauchtum, die beide methodisch und terminologisch von großer
Bedeutung sind.
Mit dieser Wahl sollen die übrigen Festschriftbeiträge keineswegs gering geachtet werden.
Sie sind durchwegs von hohem Interesse, ob sie sich nun, wie der von Karl Baumgarten
{Wesen und Aufgabe der Gefügeforschung) mit grundsätzlichen Fragen oder mit kleineren
Spezialthemen befassen. Namen wie Leopold Schmidt {Zöblitzer Serpentingefäße im Öster-
reichischen Museum für Volkskunde), Reinhard Peesch (Matschop), Manfred Bachmann
{Ein Oberlausitzer Malerpoet. Zum Schaffen von Max Langer, Niederoderwitz), Rudolf Wein-
hold {Die „Zittauer Schüsseln“ im Staatlichen Museum für Volkskunde) bürgen zudem für
wissenschaftliches Gewicht.
Am Anfang der Brauchtumsbeiträge steht Blasius Nawka, Über Sinn und Ursprung der
Lausitzer Vogelhochzeit. Es handelt sich um ein für das obersorbische Sprachgebiet typisches
Kinderfest, für das als bisher älteste Nachricht ein Bericht aus dem Jahre 1848 vorliegt. N.
versucht nun, verwandte Brauchformen aus benachbarten Landschaften aufzuspüren, wobei
die angeführten Belege jedoch nicht ganz zu überzeugen vermögen. Hypothetisch wird
(nach Siebers Terminologie) eine „Glaubensform“ der Vogelhochzeit rekonstruiert, deren
Sinn in der Sicherung einer guten Ernte bestanden haben soll. Was an Belegen greifbar
wird und bis heute üblich ist, sei eine „Spielform“, die die Kinder zu Vogelfreunden erzie-
hen und zugleich die Freude an der wiedererwachenden Natur und dem Schenken wecken
soll. Gelegentlich werde sogar eine „Veranstaltungsform“ — als letzte Stufe — sichtbar.
Das Fatale ist freilich der völlige Mangel an historischen Nachweisen, so daß die Annahme
einer ursprünglichen Glaubensform faktisch in der Luft hängt und man viel eher an eine
Entstehung im Zeitalter der Aufklärung, vielleicht durch Umformung schon bestehender
Brauchelemente zu pädagogischen Zwecken denken möchte. Gerade im Bereich des Kinder-
festes hat die Aufklärung manches Neue geschaffen, das in seiner Ausstrahlungskraft örtlich
beschränkt blieb. Die vorsichtigen Bemerkungen von Edmund Schneeweis {Feste und Volks-
bräuche der Sorben, S. 117L) stehen noch immer zu Recht.
In seinem Aufsatz Entwicklungstendenzen der obersorbischen Fastnacht irn IS. und 19. Jahr-
hundert stellt Siegmund Musiat einige literarische Berichte zur Fastnacht zusammen, die von
ca. 1690 bis ca. 1880 reichen. In einer kurzen Auswertung werden die darin sichtbaren Wand-
lungen vor den Hintergrund der sozialen und ökonomischen Veränderungen im gleichen
Zeitraum gestellt. Von Interesse ist das Vorkommen des Schleifrades, das sowohl im Brauch-
tum der Fastnacht wie der Kirchweih als auch an anderen Terminen und Anlässen weit ver-
breitet ist. Von Mannhardt und seinen Epigonen als Symbol des laufenden Sonnenjahres
gedeutet, entstammt dies Brauchrequisit möglicherweise dem rechtlichen Bereich (Vgl.
Karl-S. Kramer, Bezeichnungen und Formen des Richtfestes in Franken, in: Bayer. Jb. f. Vk.
1961, S. iooff. u. Abb. 9).
Siegfried Kube bringt unter dem Titel Die Lausitzen zwischen Sliep-Rule und Schmeck-
oster ein neues Kapitel zu seiner großangelegten Untersuchung über den Schlag mit der
Lebensrute (vgl. dazu DJbfVk 7, 1961, i2iff. und neuerdings 11, 1965, io8ff.). Der land-
schaftlich an verschiedenen Terminen übliche Brauch hat mannigfache örtliche Bezeich-
nungen hervorgerufen. K. geht in diesem Aufsatz der Lage der Lausitz im Kartenbild dieser
Bezeichnungen nach. Mit einem schmalen Zipfel reicht die südliche Lausitz in das „Schmeck-
ostergebiet“ hinein, während nördlich das Gebiet des „Osterstiepens“ liegt. Die sorbischen
Landschaften sind also im Süden und Norden von zwei Bereichen begrenzt, in denen der
Ostertermin üblich war. Im Westen herrschen Weihnachten und Fastnacht als Termine vor.
Die Lausitzen bilden auf dieser Karte (S. 66) einen auffallend leeren Raum. Nur in der
Niederlausitz findet sich ein inselartiges Aschermittwochgebiet, das an der mittleren Elbe
eine Entsprechung hat. Die geographische Methode erweist sich hier als außerordentlich
aufschlußreich. Man darf auf weitere Veröffentlichungen K.s zu diesem Fragenkreis ge-
spannt sein; freilich wäre es am wünschenswertesten, seine Untersuchungen in einer Mono-
graphie vorliegen zu haben.
Maskenwesen in Thüringer Frühlingsbräuchen behandelt Ingeborg Weber-Kellermann.
Auch hier ist auf frühere Arbeiten der Verfasserin zu verweisen, vor allem auf Laubkönig
und Schößmeier (DJbfVk 4, 1958, 366ff.). Im vorliegenden Aufsatz werden die verschie-
110 Besprechungen
denen Maskengestalten Thüringens in der genannten Jahreszeit zusammengestellt. Während
in einer für protestantische Gegenden durchaus typischen Weise die Fastnacht völlig in den
Hintergrund getreten ist, beherrschen die Stroh- und Laubgestalten von Lätare bis Pfing-
sten das Bild. Sommergewinn, Todaustreiben, Schößmeier und Laubkönig sind die domi-
nierenden Brauchformen. Außerdem werden einige Einzelformen erwähnt, die jedoch nur
örtlichen Charakter haben.
Interessantes Material bringt der Beitrag von Johanna Jaenecke-Nickel über Das Osterei
im wissenschaftlichen Schrifttum der Barockzeit. Es handelt sich um einen Ausschnitt aus
einer größeren Arbeit über österliches Brauchtum im deutschen Barock, zeitlich und räum-
lich auf die Forschungsbereiche Siebers abgestimmt. In den Schriften Philip Großgebauers,
Tobias Kraskes, Johann Friedrich Mickels, Johann Friedrich Gottlieb Erdmanns und Chri-
stian Wildvogels werden folgende Funktionen des Eies zum Ostertermin sichtbar: a) Zinsei,
b) Eiersammeln von Küstern, Schulmeistern, Hirten, Fährleuten, Pförtnern, Nachtwächtern
und ähnlichen Bediensteten als hergebrachtes Recht, c) Eiersammeln („Heischen“) der
Jugend, d) Eiergeschenke der Taufpaten, e) Eiergeschenke unter Erwachsenen, f) Weihe
von Eiern am Ostertag. Das entspricht in etwa den Verhältnissen, wie sie aus süddeutschen
Quellen der gleichen Zeit belegt sind (vgl. dazu Hans Moser, Osterei und Ostergebäck.
Brauchgeschichtliches aus bayerischen Quellen, in: Bayer. Jb. f. Vk. 1957, 67ff.). Eindeutig
ins Mittelalter lassen sich nur die, gelegentlich bereits als „Ostereier“ bezeichneten Zins-
eier zurückverfolgen, von den Sammelrechten der Bediensteten läßt sich dies sicher ver-
muten. Die von manchen der erwähnten Autoren zitierten Abschnitte aus Kirchenordnun-
gen des späten 16. und 17. Jhs machen einmal mehr die Notwendigkeit deutlich, den ganzen
Bestand an territorialen und kirchlichen Ordnungen dieses Zeitraumes systematisch auf
ihren volkskundlichen Gehalt und auf die verwirrenden gegenseitigen Abhängigkeiten zu
untersuchen.
Es fällt auf, daß alle Beiträge zur Brauchforschung sich mit der ersten Hälfte des Jahres,
vor allem mit Vorfrühling und Frühling befassen. Auch dies ist eine, vielleicht ungewollte
Huldigung an den Jubilar, dessen — zusammen mit Siegfried Kube verfaßte — Mono-
graphie über deutsch-slawische Frühlingsbräuche wir in Kürze erwarten dürfen.
Karl-S. Kramer, München
Werner Sellnow, Gesellschaft — Staat — Recht. Zur Kritik der bürgerlichen Ideologien
über die Entstehung von Gesellschaft, Staat und Recht. Von der bürgerlichen Aufklärung
bis zum, deutschen Positivismus des 19. Jahrhunderts. Berlin, Rütten & Loening, 1963.
876 S.
An den charakteristischen Beispielen von 112 zumeist deutschen Vertretern der verschie-
densten Fachgebiete — der Philosophie, Staats- und Rechtslehre, Soziologie, Geographie,
Anthropologie, Psychologie, Ethnologie und politischen Ökonomie — beschreibt Werner
Sellnow den Weg der bürgerlichen Gesellschaftswissenschaft vom „Beginn bis zum Verfall“,
d. h. von der Frühaufklärung bis zu den positivistischen Schulen des 19. Jhs oder, mit
genauen Jahreszahlen: von der 1576 erschienenen Res publica des französischen Natur-
rechtlers Jean Bodin bis zu Joseph Kohlers Lehrbuch der Rechtsphilosophie (1917). Dabei
konzentriert der Verf. sein Interesse auf die Vorstellungen, die sich jene 112 Gelehrten von
dem Hervorwachsen der Klassengesellschaft, des Staates und des Rechts aus der Urgesell-
schaft gemacht haben. Ihre mehr oder weniger zutreffenden Hypothesen mißt er an den
Prinzipien eines „Schemas zur Entstehung von Gesellschaft, Staat und Recht“, das er in
Anknüpfung an die Urgesellschaftsforschung von Marx und Engels, z. B. an des letzteren
Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staates, entworfen und im Schlußkapitel
seines Buches zusammenfassend dargestellt hat.
Nach S. hat sich die Urgesellschaft zunächst aus dem „vorgentilen“ Zustand einer „Hor-
dengemeinschaft“ zur „Gens“ entwickelt. Diese formierte sich auf ihrer ersten Stufe als
blutsverwandtschaftliche Organisation, um sie in der folgenden Periode nach und nach durch
Besprechungen
111
eine politische Verfassung zu ersetzen. Aus der auf der naturwüchsigen Kooperation aller
Mitglieder der Horde bzw. Gens beruhenden urkommunistischen Gleichheit war zuletzt
soziale und politische Ungleichheit geworden und damit der Übergang zum Sklavenhalter-
system oder zum Frühfeudalismus, d. h. zur antagonistischen Klassen- und Staatsgesell-
schaft mit ihren an die Stelle der bisherigen traditionellen Lebensregeln tretenden, von oben
diktierten Rechtssatzungen, vollzogen. Die Ursachen für einen so tiefgreifenden Wandel
bildeten die fortschreitende Arbeitsteilung, die Entfaltung der Warenproduktion und die
Ablösung des Gemeineigentums an den Hauptproduktionsmitteln durch das auf eine herr-
schende Minderheit beschränkte Privateigentum an denselben sowie, in der einen oder
anderen Form, am Menschen.
Im Unterschied zu einer derartigen entwicklungsgeschichtlichen Betrachtungsweise
waren die allgemeinen Vorstellungen der Aufklärer über die Urgemeinschaft weitgehend
unhistorisch, indem sie in diese entweder, wie z. B. die Idealisten Bodin, Grotius, Rousseau
und Kant, die Utopie einer „harmonischen“ bürgerlichen Welt oder, wie der Skeptiker
Hobbes, die unversöhnlichen Klassengegensätze des Kapitalismus projizierten. Von diesen
beiden Konzeptionen überwog in den verschiedenen Ländern die erste während der Auf-
stiegsperiode der Bourgeoisie, die andere seit der Etablierung ihrer ökonomischen und
politischen Herrschaft. In Deutschland ist Hegel, der Vollender der klassischen deutschen
Philosophie, noch einmal als Wortführer der aufklärerisch-humanistischen Alternative
hervorgetreten und hat sich der Illusion hingegeben, die Widersprüche des bürgerlichen
Staates aufheben und die „Harmonie“ dadurch herstellen zu können, daß er die allgemeinen
Interessen der Bourgeoisie mit dem Privatinteresse des einzelnen Bürgers vereinigte.
Nach 1848 sind die bürgerlichen deutschen Ideologen in der Mehrzahl der Intention von
Hobbes gefolgt, und zwar am entschiedensten mit dem Beginn des Imperialismus in Deutsch-
land.
S. setzt sich besonders mit den Modifikationen auseinander, welche die zwei Grundtypen
bei den einzelnen Theoretikern erfahren haben. Von deren Ansichten sind zunächst die-
jenigen interessant, die als Vorwegnahmen von Detailzügen des durch den Verf. aufgestellten
Schemas gelten können. Wenn S. z. B. von Rousseau berichtet, er habe eine Urgemeinschafts-
ordnung der gesellschaftlichen Gleichheit angenommen, in der Privateigentum und Aus-
beutung, Klassen sowie Staat und Recht fehlten, aus der dann jedoch ein politischer Zustand
und damit die Ungleichheit sowie alle diese Erscheinungen hervorgegangen seien (72);
wenn der Verf. auf Kants Unterscheidung zwischen zwei Naturorganisationen hinweist, einer
älteren, die auf „Prinzipien“, und einer jüngeren, die auf „Rechtsverhältnisse“ gegründet
war (99 f.); oder wenn er die Erkenntnis Hegels hervorhebt, daß der gesellschaftlichen Arbeit
der Menschen die ausschlaggebende Rolle bei der Bildung einer politischen Gesellschaft
Zufälle (139L): so handelt es sich bei dergleichen Feststellungen stets um Aspekte, deren
tationeilen Kern S. seinem Schema einverleibte, wenn er sie auch historisch und begrifflich
uoch näher bestimmte. Hier zeigt sich übrigens, daß die Abfassung des Buches S. als Vor-
arbeit und zugleich zur Selbstverständigung gedient hat, wie denn eine von ihm angekün-
digte weitere Abhandlung das zunächst allgemein gehaltene Schema auf der Grundlage
eigener ethnographischer Materialsammlungen mit speziellen lokalgeschichtlichen und
ökonomischen Momenten anreichern soll.
Während S. von den sich grundsätzlich in fortschrittlichen Geistesbahnen bewegenden
Aufklärern manche Anregungen empfing, konnte er von den verschiedenen Schulen in der
zweiten Hälfte des 19. Jhs und um die Jahrhundertwende kaum einen gleichen Nutzen
ziehen. Sie konfrontiert er vielmehr in umfassender Kritik außer mit den Prinzipien seines
Schemas gerade auch mit den Auffassungen der Naturrechtler und Hegels. Aus den sozio-
logischen bzw. ethnologischen Richtungen seien zunächst Gumplowicz und Bastian als Ver-
treter besonders reaktionärer Tendenzen herausgegriffen.
Gumplowicz ging als Anhänger des Sozialdarwinismus von der Behauptung aus, daß die
zAhl der auf der Erde lebenden Menschen eine bestimmte Menge nicht überschreiten
dürfte und daß deshalb die Vermehrung der einen Menschengruppe die gewaltsame Dezi-
mierung der anderen nach sich ziehen müßte. Dieser Theorie zufolge sollte schon die Ur-
§erneinschaft durch andauernde Sippenfehden charakterisiert gewesen sein, die jeweils ent-
ä'MK i ujStimtiiWt i3S(M ]
112 Besprechungen
weder zur Ausrottung oder Versklavung des schwächeren Stammes durch den stärkeren
führten. So wäre im Sinne einer Naturnotwendigkeit der Krieg als „ewiger Kampf um Herr-
schaft“ zur „bewegenden Kraft der Geschichte“ geworden, mit dem Ziel, „sich des Feindes
als Mittel zur Befriedigung eigener Bedürfnisse zu bedienen“. S. urteilt, daß die Übertragung
der kapitalistischen Wolfsmoral auf die Gesamtentwicklung der Gesellschaft selten „so ein-
deutig und gleichzeitig so falsch und demagogisch“ vorgenommen wurde wie durch Gum-
plowicz. „Die imperialistische Expansion sollte als objektives Gesetz auch für die Urgeschichte
gelten.“ (455)
Auch Bastian ordnete seine wissenschaftliche Tätigkeit ganz den Profitinteressen der
deutschen Bourgeoisie und dem Machtstreben des Kaiserreiches unter. Als Ethnologe wollte
er für den Überseehandel und die Kolonialpolitik die theoretischen Unterlagen liefern. Seine
Ratschläge zielten allein auf die rationellste Ausnutzung der Arbeitskraft der „Einge-
borenen“ ab. Dagegen verwarf er jegliche soziale oder ökonomische, hygienische oder kul-
turelle Verbesserung des Lebens der Kolonialvölker unter dem Vorwand, ein Wandel der
urgesellschaftlichen Verhältnisse würde ihren physischen Ruin heraufbeschwören. (5 32 ff.)
Schließlich soll noch auf S.s Darstellung der sog. Historischen Rechtsschule um Savigny
und ihrer Nachwirkungen bei dem Ethnologen Bachofen und den positivistischen Psycho-
logen Lazarus und Steinthal eingegangen werden.
Gewiß war die Themenstellung der Historischen Rechtsschule: die Herausbildung der
Nationen, verdienstvoll. Aber infolge ihrer romantischen, anti-aufklärerischen und konser-
vativ-feudalen Tendenz waren Savigny und seine Anhänger nicht imstande, die Entstehung
des bürgerlichen Staates als einen mit dem Kapitalisierungsprozeß des 18. und 19. Jhs
zusammenhängenden Vorgang zu deuten. Statt auf die Entwicklung der bürgerlichen
Produktionsverhältnisse bezogen sie sich auf einen die Nationen angeblich von innen her
„organisch“ erzeugenden „Volksgeist“. Eine so mystische Theorie förderte nicht nur nicht,
sondern unterband geradezu die exakte sozialhistorische Erforschung der Nationalstaaten.
Ebensowenig vermochte sie zur Aufhellung des Ursprungs des Rechts beizutragen. (15 8 ff.)
Auch der Basler Jurist und Ethnologe Bachofen behauptete, das Recht und der Staat
hätten von jeher auf der „Volksnatur“ bzw. der „Natur des Menschen“ beruht, und erklärte
mit dieser Begründung die Herrschaftsinstitutionen des Schweizer Patriziats für sakrosankt,
um sie vor der Revolution zu schützen. Ein Ausfluß seiner reaktionären Anschauungen und
Absichten war seine Schrift über das Mutterrecht, das in der Urgesellschaft dem „Vater-
recht“ vorangegangen sein sollte. Nun bezeugen zwar, was S. einräumt, „Regelungen wie
Erbgang in matrilinearer Folge, Matrilokalität, Namensgebung nach Mutterfolge, Sippen-
haftung und Sippenschutz den mütterlichen Verwandten gegenüber“, daß „den Frauen in
ihrem Bereich Gewalt“ gegeben war. Aber bei solchen Festlegungen handelte es sich allen-
falls um „matrisoziale Regeln“, die einen Teil der traditionalen, dem urwüchsigen Prinzip
entstammenden Normen, keineswegs aber ein „Mutterrecht“ bildeten, so daß Bachofens
Begriff unbrauchbar und seine Ableitung des positiven Rechts aus dem „Anfang des Volks-
lebens“ eine Fehlkonstruktion ist. (562L)
Lazarus und Steinthal sind die Begründer der „Völkerpsychologie“. Als Ideologen des
Nachmärz verzichteten sie auf eine echte historische Grundlegung ihrer Wissenschaft. Sie
reduzierten die Geschichte auf eine „Geschichte der Ideen“, die nach ihrer Meinung allein
den „Wert der Gesellschaft“ bestimmten und die sie daher als „die eigentliche Historik“ be-
trachteten. Sie klammerten die politisch-sozialen Aspekte aus und ließen nur noch die kultu-
rellen Eigenarten der Völker gelten. Jedes Volk sollte eine charakteristische „Kulturseele“
verkörpern und in „geistiger Verwandtschaft“ existieren. Nach Lazarus und Steinthal wurde
daher ein Volk auch nicht durch objektive Verhältnisse wie z. B. die gemeinsame Ab-
stammung hervorgebracht, sondern durch die „subjektive Ansicht der Glieder des Volkes,
welche sich alle zusammen als ein Volk ansehen“. So verwandelte sich der von der „Histo-
rischen Rechtsschule“ immerhin noch entwicklungsgeschichtlich verstandene „Volksgeist“
in die abstrakte „Idee des Volkes“. In ihr kamen schließlich auch die sozialen Unterschiede
zur Aufhebung: An die Stelle gesellschaftlich und historisch klar fixierter Klassen traten
psychologisch nach verschiedenen „Lebensarten“ und „Arbeitsgewohnheiten“ nur vage
gekennzeichnete Menschengruppen. (3270".)
Besprechungen
113
Soweit die Beispiele aus S.s Buch. Sie machen deutlich, daß sich dasselbe in erster Linie
an Ethnologen, Rechtshistoriker, Staatswissenschaftler und Soziologen wendet. Für den
Volkskundler ist die Darstellung im allgemeinen weniger aus stofflichen als methodischen
Gründen interessant. In dieser Hinsicht aber enthält sie zahlreiche Anregungen für eine
künftige Geschichte der deutschen Volkskunde. Unmittelbar berührt S. die Volkskunde nur
in den Ausführungen zur Theorie vom Volksgeist. Besonders die Skizze, die S. von dem
desorientierenden Einfluß der unhistorischen, psychologistischen und undifferenzierten
Anschauungen der „Völkerpsychologen“ Lazarus und Steinthal auf die Volkskunde ent-
wirft (333), setzt Maßstäbe für eine umfassende Kritik an ihren Fehlleistungen in Vergangen-
heit und Gegenwart.
Günther Voigt, Berlin
Hans Mottek, Wirtschaftsgeschichte Deutschlands. Ein Grundriß. Bd. 1: Fon den Anfängen
bis zur Zeit der Französischen Revolution. 4. Aufl. Bd. 2: Von der Zeit der Französischen
Revolution bis zur Zeit der Bismarckschen Reichsgründung. Berlin, VEB Deutscher
Verlag der Wissenschaften, 1964. 376 u. 296 S.
In unserer Zeit, die durch ein sprunghaftes Wachstum wissenschaftlicher Fakten charak-
terisiert wird, ist ordnende Sammlung der vorhandenen Kenntnisse als Voraussetzung
weiterführender Studien stets geboten. Ergebnis dieser Bemühungen sind — unter anderem
— zahlreiche systematische Übersichtswerke auf vielen Sachgebieten. Wenn nun ein solcher
Grundriß, wie die vorliegende zweibändige „Wirtschaftsgeschichte Deutschlands“, zwischen
1957 und 1964 viermal aufgelegt werden muß, so ist das ein Beweis dafür, daß dieses Werk
weit über den Kreis von Wissenschaftlern hinaus, deren Einsichten es vermittelt und denen
es zur Selbstverständigung dient, Bedeutung und Anerkennung gewonnen hat.
M. gliedert seinen Stoff, der marxistischen Periodisierung entsprechend, in eine Reihe von
Hauptteilen (mit zahlreichen Unterkapiteln). Nach einer vor allem theoretischen und metho-
dischen Fragen zugewandten Einleitung wird in Band I zunächst die Wirtschaft in Zentral-
europa zur Zeit der Urgemeinschaft, also etwa bis zum 5. Jh. unserer Zeitrechnung, geschil-
dert. Die Aufmerksamkeit der Volkskundler verdienen hier besonders die Abschnitte über
den Wandel der Eigentumsverhältnisse. Der zweite Hauptteil behandelt die Wirtschaft
Deutschlands zur Zeit der Ausformung des Feudalismus (5. —10. Jh.), der dritte zeichnet
ein Bild dieser Wirtschaft in der Epoche der Entfaltung der Ware-Geld-Beziehungen, also
während der Herausbildung des Bürgertums im Rahmen der Feudalordnung (11. —15. Jh.).
Der Periode, in der sich die kapitalistische Produktionsweise — noch innerhalb des feudalen
Systems — vorbereitete (Beginn des 16. bis Ende des 18. Jhs), gelten die Betrachtungen des
vierten Hauptteils. In diesen Kapiteln ist jener Stoff komprimiert, den der Volkskundler
kennen muß, wenn er sich mit der Interpretation von Materialien aus älterer Zeit befaßt.
Ganz besonders gilt das für die Erforschung der materiellen Volkskultur. Ein Blick in das
Stichwortverzeichnis beider Bände belegt das übrigens recht überzeugend hinsichtlich
Agrarethnographie (z. B. Axt, Brandwirtschaft, Dreschflegel, Dreschstock, Feldsysteme,
Flurzwang, Getreidebau, Hacke, Pflug, Sense, Sichel, Stall, Transport) und Montanethno-
graphie (so Bergbau, Bergregal, Bergwerk, Eisen-, Kohlen-, Kupfer-, Silbererzgewinnung,
Gebläse, Goldgewinnung, Hämmer, Hüttenwerk, Metalle, Pumpenanlagen, Saiger, Silber-
bergbau, Zinn), um nur einige Spezialzweige zu nennen. Doch auch weitere Bereiche unserer
Wissenschaft vermögen hier zu profitieren. Verwiesen sei nur auf die sehr übersichtliche
und in der sachlichen, fundierten Kritik früherer Hypothesen vorbildliche Darstellung des
Handwerks (Bd. I, S. 105 ff., iyoff., 197fr.). Diese Einschätzung gilt auch für andere volks-
kundlich relevante Gruppen und Tätigkeiten, so das Kaufmannswesen, Fischerei und Jagd.
Überall kann man sich mit schnellem Griff über die wirtschaftsgeschichtlichen Aspekte des
jeweiligen Gebietes orientieren.
Band II des Werkes ist der kapitalistischen Epoche gewidmet. Dabei werden die Grund-
ige der Entwicklung der wirtschaftlichen und auch der sozialen Struktur Deutschlands bis
i Beginn der siebziger Jahre des vorigen Jahrhunderts charakterisiert. Das abschließende
8 Volkskunde
114
Besprechungen
Kapitel beschreibt Ausbildung und Ausbreitung der Arbeiterklasse und ihrer Partei bis etwa
1870. Auch hier kann der Volkskundler Einsicht nehmen in eine Reihe von Prozessen und
Zusammenhängen. Zweifellos wird dabei die Beurteilung von Bewegungen, die sich
zwischen Land und Stadt etwa um 1850 vollzogen, sowie deren ethnographische und folk-
loristische Konsequenzen an Klarheit gewinnen.
Beide Bände besitzen einen umfangreichen Apparat von Anmerkungen, die auf gedruckte
Quellen verweisen, welche der Verf. benutzte. Sie sind (hier sei eine Bemerkung in eigener
Sache erlaubt), was den Sektor des Weinbaus betrifft, nicht immer auf dem neuesten Stand.
So wären bei Schilderung der mittelalterlichen Ausbreitung unserer Rebkultur (Bd. 1, S. 69)
neben der zitierten Untersuchung von Inama-Sternegg mit Vorteil auch heranzuziehen ge-
wesen die Studie Helmut Hahns „Die deutschen Weinbaugebiete, ihre historisch-geogra-
phische Entwicklung und wirtschafts- und sozial geographische Struktur“, Bonn 1956,1
(vor allem S. 17 ff.) und eine der letzten Arbeiten F. v. Bassermann-Jordans.2 Zur Sache
wäre noch zu ergänzen, daß neben den Bannwein (Bd. 1, 104) mit sicher gleicher öko-
nomischer Bedeutung der Kelterbann tritt.
Bei weiteren Auflagen, die zweifellos zu erwarten sind, lassen sich solche kleinen Ergän-
zungen leicht anbringen. Den außerordentlichen Wert des Werkes, auch für die Volks-
kunde, beeinträchtigen diese geringen Mängel nicht.
Rudolf Weinhold, Dresden
1 (— Bonner geographische Abhandlungen, Heft 18).
2 Bassermann-Jordan, F. v.: 2000 Jahre Weinbau in Deutschland, in: Das Buch vom
Deutschen Wein, Mainz 1954, 27—34.
Jenö Barabäs: Kartogräfiai mödszer a neprajzban (Die kartographische Methode in der
Volkskunde). Budapest, Akademiai Kiadö, 1963. 189 S. Dt. Res.
Zur gleichen Zeit mit den Arbeiten am schwedischen und deutschen ethnographischen
Atlas wurde der Gedanke eines Ungarischen Ethnographischen Atlas (UEA) aufgeworfen.
Inzwischen ist dieser Gedanke verwirklicht worden: Die ungarischen Ethnologen sammeln
das Material zu ihrem Atlas mit Hilfe eines aus 350 Problemkomplexen bestehenden Frage-
bogens aus 280 Orten, wobei es sich im wesentlichen um Dörfer handelt. Die Material-
sammlung wird bald abgeschlossen sein.
In Verbindung mit dem UEA zeigte sich ein großes Interesse sowohl in theoretischer wie
auch in methodischer Hinsicht für die kartographische Methode. Als ein Dokument dieses
Interesses gilt das Buch von Jenö Barabäs, das meiner Meinung nach auch im europäischen
Rahmen anregend sein kann.
B. geht von dem Prinzip aus, daß die regionale Verbreitung aller kulturellen Erscheinun-
gen nicht als Ergebnis zufälliger Entwicklung, sondern als Folge gewisser Gesetzmäßig-
keiten aufzufassen sei. Dieses Prinzip wurde schon im vorigen Jahrhundert von den Ver-
tretern der europäischen Ethnologie entdeckt. Wilhelm Mannhardt gliederte die Ergebnisse
seiner mythologischen Forschungen auch geographisch. Es werden von ihm zwar noch
keine Karten gezeichnet, aber unabhängig davon spielt seine Methode in der Entwicklung
der volkskundlichen Kartographie eine wichtige Rolle. Seit Mannhardt wurde von mehreren
bekannten Forschern die Bedeutung der kartographischen Methode betont, und heute gibt
es schon eine ganze Reihe ethnographischer Atlanten, die fertiggestellt wurden oder sich
kurz vor dem Abschluß befinden. Alle diese Bestrebungen lassen nach B. aber keine Zuge-
hörigkeit zu irgendeiner ethnologischen Schule erkennen. Sigurd Erixon, von dem die
soziologische Betrachtungsweise so sehr betont wurde, ist genauso ein Anhänger der Atlas-
bestrebungen, wie es der Ethnogeograph Wilhelm Pessler war. Kartographische Prinzipien
wurden von Leo Frobenius ebenso geltend gemacht, wie von dem nach dem Prinzip der
„Wörter und Sachen“ arbeitenden Ethnologen Kustaa Vilkuna. Von welchem Gesichts-
punkt aus man sich auch immer der Erklärung der kulturellen Eigenheiten nähert, stets muß
man die räumliche Verbreitung berücksichtigen.
Besprechungen
115
Die räumliche Verbreitung kann für große Teile der Kultur identisch, d. h. gleich sein,
sie kann aber auch unterschiedlich sein. Hieraus kann man auf die verschiedene Entwick-
lung und auf den Charakter der Kulturen schließen. Die identische oder annäherungsweise
identische Verbreitung erweist, daß die Kultur von keiner zufälligen oder ungeordneten
Anhäufung von Erscheinungen gebildet wird, sondern daß die Elemente der Kultur in
irgendeiner organischen Einheit Vorkommen, in einer bestimmten Ausprägung realisiert
werden. Die so erscheinenden Elemente haben eine spezielle Wirkungskraft. Sie verbreiten
sich im Raum, können sich aber auch zurückziehen. Die Differenzierung im Raum läßt sich
aus verschiedenen Gründen erklären. Nach B. ist die Art und Weise, wie die Produktion der
materiellen Güter stattfindet, von Bedeutung. Die räumliche Gliederung wird auch durch
den Klassencharakter der Volkskultur beeinflußt. — In demselben Raum muß die Verbrei-
tung der Kulturgüter nicht identisch sein. Sie hängt in großem Maße von den geographischen
Verhältnissen und von den Institutionen und Ideen der Gesellschaft ab. Auch das Ethnikum
selbst übt eine Wirkung aus. Man muß berücksichtigen, daß sich ethnische Eigenheiten in
der Kultur entwickelt haben, bevor sich die Nationen bildeten. Das Ethnikum bewirkt in
hohem Maße, daß sich örtliche spezielle Eigenheiten innerhalb eines großen Kulturraumes
entfalten. Die Gesellschaft eines einzigen Dorfes kann schon als Schöpfer, Träger und Be-
wahrer spezieller örtlicher kultureller Eigenheiten gelten. Man muß aber auch mit den psychi-
schen Eigenschaften der Menschen bei der landschaftlichen Gliederung der Kulturgüter in
hohem Maße rechnen. — Mit großer Eindringlichkeit wird vom Verf. dargelegt, daß sich
die lokale Gestaltung der Kultur in den Einzelsiedlungen und Dörfern, wo Landwirtschaft
betrieben wird, unter ganz anderen Bedingungen vollzieht wie in der Nachbarschaft von
Industrieanlagen.
In der räumlichen Differenzierung der Kultur spielt die Zeit eine große Rolle. Gewisse
räumliche Unterschiede sind nichts anderes als zeitliche Unterschiede. Eine bestimmte Periode
bedeutet nicht überall dieselbe Intensität in der Entwicklung der Kultur. Auch im gleichen
Ort kann man verschiedene Tendenzen in den verschiedenen wirtschaftlichen und gesell-
schaftlichen Kategorien innerhalb einer Zeitperiode beobachten. Es gibt keine mechanische
räumliche Kulturbewegung, behauptet der Verf. Jede Bewegung und Änderung ist eigent-
lich die Folge der gesellschaftlichen Entwicklung. Das Bewahren archaischer und das
Erscheinen neuer Elemente lassen sich durch die Berücksichtigung der gesellschaftlichen
Bedingungen erklären. Darum ist es notwendig, die Richtung der gesellschaftlichen Ent-
wicklung der verschiedenen Gebiete bei der Untersuchung der räumlichen Verbreitung der
Kulturelemente und Kultur komplexe zu untersuchen. Die räumliche Analyse ermöglicht uns
auch, die zeitlichen Schichten der Kultur zu erschließen. Das ist einmal vom Gesichtspunkt
der kulturgeschichtlichen Forschung aus wichtig, fördert aber auch den Erfolg der funk-
tioneilen Methode. Der Ethnologe darf nie vergessen, daß die Gegenwart nicht nur den
Schlüssel zur Vergangenheit bildet, sondern daß auch sie nur durch die Vergangenheit
erklärt werden kann. — B. wirft auch die Frage der Grenzen der räumlichen Verbreitung
auf. Diese werden häufig durch die Möglichkeiten des menschlichen Zusammenlebens be-
stimmt, die sehr breit und vielfältig sein können.
Durch Anwendung der kartographischen Methode lassen sich Übereinstimmungen in
verschiedenen Gebieten der Kultur feststellen, aus denen man historische Schlüsse ziehen
kann. Diese Schlüsse weisen aber nicht notwendigerweise auf historische Verbindungen
^wischen verschiedenen Räumen hin. — Auch das Problem wird vom Verf. aufgeworfen, ob
sich die kulturellen Erscheinungen, deren aktive „Besitzer“ nur einige Personen sind, viel
schneller und weniger gehindert verbreiten als jene, die einer ganzen Gemeinschaft ange-
hören. Daher kann man an die gleiche Bewertung dieser zwei Erscheinungsgruppen nicht
denken. Das gemeinsame Vorkommen des Blockziehens oder die gleiche Art der Kuh-
Anspannung in Ungarn und Österreich bezeugen eine engere Beziehung zwischen den Bauern
beider Länder, als die Identität eines Liedes oder einer Anekdote, weil sich diese ohne eine
intensive gesellschaftliche Verbindung verbreiten können.
Bei der Verbreitung der Kulturgüter spielt das Problem der Rezeptivität, die von den
wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Verhältnissen und von der Ideologie der dörflichen
Gemeinschaft abhängt, eine große Rolle. Die Übernahme des Neuen kann durch psychische
8*
mtgtmsBzzi'i
116 Besprechungen
Faktoren erschwert oder erleichtert werden und ermöglicht die Entstehung der Variationen.
Im allgemeinen kann behauptet werden, daß die räumliche Differenzierung durch gesell-
schaftliche und natürliche Faktoren hervorgerufen werden, die ihre Wirkung immer im kon-
kreten geographischen Raum ausüben. Bei der Feststellung der räumlichen Verbreitung ist
also nicht nur die Form der Erscheinungen und Elemente zu berücksichtigen, sondern auch
zu beachten, in welcher sozialen Kategorie sie sich befinden. Weiterhin sind auch die Frage
der Funktion, die zeitlichen Probleme, die speziellen Umstände des Vorkommens (z. B. ob
die landwirtschaftlichen Arbeitsgeräte an Ort und Stelle angefertigt wurden oder nicht) und
die mundartliche Terminologie zu untersuchen.
Die kartographische Darstellung der Kulturerscheinungen ist eigentlich die Systemati-
sierung des Materials nach bestimmten Gesichtspunkten. Man soll die Zusammenhänge der
einzelnen Angaben erkennen, und in diesem Falle bietet die kartographische Methode unbe-
schränkte Möglichkeiten und eine breite geschichtliche Grundlage zu den vergleichenden
Untersuchungen. Das eingehende Studium aller dieser Fragen wurde durch sorgfältig vorbe-
reitete Fragebogen für den UEA ermöglicht.
Ich habe bisher versucht, den Gedankengang und die Probleme des vorliegenden Buches
aufzuwerfen und darauf hinzuweisen, daß hier ein sehr bedeutendes theoretisches, vom
Gesichtspunkt der Kulturanthropologie bestimmtes Werk vorliegt. Die europäische Konzep-
tion des Buches beweist die hohe Stufe der ungarischen Volkslebensforschung und die Viel-
seitigkeit des wissenschaftlichen Anspruchs des Verfs. Der Rez. stellt mit Freude fest, daß
das Buch als ein Dokument der in der kulturhistorischen Richtung arbeitenden Volkslebens-
forschung gilt — wenn auch diese ethnologische Schule von B. sehr angegriffen wird. Zu
seinen kritischen Anmerkungen möchte ich nur eine Frage aufwerfen: Warum ist der Ter-
minus „Urkultur“ (S. 53) ein abstrakter Begriff? Wenn der „Urmensch“ und seine Gemein-
schaft keine Abstraktion darstellen, wenn sich die einzelnen menschlichen Rassen aus dem
Urmenschen entwickeln konnten, warum soll man die Kultur der urmenschlichen Gemein-
schaft und die Entwicklungsmöglichkeiten dieser Kultur verneinen? Ohne Kultur gibt es ja
keinen Menschen und keine Gemeinschaft!
Durch das Aufwerfen dieser Fragen möchte ich nur den Wert der vielseitigen Konzeption
des Verfs noch mehr hervorheben.
Bela Gunda, Debrecen
Lietuviu etnografijos bruozai (Abriß der litauischen Ethnographie). Hg. von der Abtg. f.
Ethnographie am Inst. f. Gesch. der Akad. d. Wiss. d. Litauischen SSR). Vilnius 1964.
681 S., 286 Abb., 16 Taf. Dt. u. russ. Res.
Zu gleicher Zeit wie der Abriß der estnischen Volkskunde (DJbfVk n, 1965) erschien ein
Abriß der litauischen Ethnographie. Der Unterschied zwischen beiden Werken liegt darin,
daß die estnische Veröffentlichung sämtliche Bereiche der Volkskultur behandelt, während
sich die litauische auf den bäuerlichen, materiellen Bereich sowie das Familien- und Gemein-
schaftsleben beschränkt. Es ist bedauerlich, daß die Veröffentlichung nur in litauischer Sprache
erfolgte und so nur einen sehr kleinen Prozentsatz interessierter Forscher erreichen kann.
Das immerhin über 50 Seiten zählende deutsche Resümee kann bei weitem nicht die Pro-
blematik des riesigen, wertvollen Materials widerspiegeln, das die litauischen Forscher hier
ausbreiten. Es muß sich notgedrungen auf eine Faktenaufzählung beschränken, die natürlich
nicht befriedigen kann.
War der estnische „Abriß“ als historischer Querschnitt durch die gesamte Volkskultur
Estlands von der Vorzeit bis in die Gegenwart angelegt, konzentriert sich die litauische Dar-
stellung im wesentlichen auf die letzten hundert Jahre. Sie will vor allem den Umwand-
lungsprozeß seit dem Ende des 19. Jhs bis in die Gegenwart zu erfassen suchen. — Das
Material wurde von den Mitgliedern des Autorenkollektivs während zahlreicher ethno-
graphischer Expeditionen gesammelt und durch Museumsbestände sowie Literaturangaben
ergänzt.
Besprechungen
117
Nach einem Überblick über die Forschungsgeschichte der litauischen Ethnographie, die
erst nach dem zweiten Weltkrieg systematisch betrieben wurde — vordem galt das Interesse
der Forscher mehr der Folklore — beginnt die Darstellung mit der Anbauwirtschaft. Das
Schwergewicht wird auf die Arbeitsgeräte gelegt, die bis weit ins 19. Jh. aus Holz bestanden.
Soweit es möglich war, wurden die modernen Geräte nach eigens gekauften Mustern von
den Bauern und den Dorfhandwerkern nachgebaut. Interessant ist auch die Tatsache, daß
sich in Litauen bis in unser Jahrhundert hinein die von Tieren gezogene Dreschwalze als
offenbar recht nützliches Gerät halten konnte. — Das Kapitel über die Viehwirtschaft be-
schäftigt sich u. a. stärker mit dem Hirtenwesen und dem Brauchtum um den ersten Austrieb
und dem Hirtenfest (samboriai) im Sommer. — Bei der Fischerei konzentrieren sich die
Autoren auf die Binnengewässer mit ihrem großen Fischreichtum. Interessant ist hier die
Ausbildung von Fanggemeinschaften (sog. Artels) bis zu 23 Mann, die gemeinsame Groß-
fanggeräte besaßen, später aber unter der Leitung von Händlern oder Gutsbesitzern stan-
den. — Im Abschnitt über die Bienenhaltung ist der bis ins 19.JI1. gemeinschaftliche Besitz
von Bienenstöcken besonders zu erwähnen. Die Teilhaber bezeichneten sich als Freunde und
unterhielten fast verwandtschaftliche Beziehungen. — Unter den ländlichen Gewerben ist das
Holzhandwerk hervorzuheben, das seine Produkte nicht nur überall im litauischen Gebiet,
sondern auch nach dem inneren Rußland, Polen und Deutschland verkaufte. Die Gewerbe-
treibenden waren z. T. im Nebenberuf Bauern oder mußten ein Handwerk erlernen, weil der
väterliche Hof sie nicht ernähren konnte. — Der Abschnitt über die Bauernsiedlungen und
Bauernhöfe beschreibt die für Litauen typischen Anlagen : Haufendörfer, Straßendörfer, sog.
Doppeldörfer und Einzelhöfe. — Die Wohnhäuser, meist mit offenem Herd, lassen sich nach
landschaftlichen Typen einteilen. Unter den Wirtschaftsgebäuden sind Speicher bzw. Vor-
ratskammer, Stall, Scheune und Badestube zu erwähnen, die z. T. mehrere Funktionen zu
erfüllen haben. — Die alten Gewebe aus Hanf, Flachs und Wolle wurden seit Ende des 19.JI1S
immer mehr durch Baumwolle ersetzt. Die Geräte zur Herstellung des Garnes zeigen gegen-
über den mitteleuropäischen keine Besonderheiten. In der Kleidung — Arbeits- wie Fest-
tagstracht — äußern sich soziale, altersmäßige und lokale Eigenheiten. Behandelt werden
das lange Leinenhemd der Frauen, Rock, Schürze, Mieder, Gürtel für Mann und Frau,
Mäntel, Kopfbedeckung, Haartracht, Schmuck, Schuhwerk usw. — Es folgt ein Kapitel
über das Nahrungswesen, worin sich bekanntlich der Wandlungsprozeß der Volkskultur seit
dem 19. Jh. besonders deutlich offenbart. — Eine Darstellung über das Transportwesen, das
interessante Einflüsse und Vermischungen aus Mittel- und Osteuropa aufweist, schließt den
ersten Teil des Buches über die materielle Volkskultur Litauens ab.
Der folgende zweite Teil über Familien- und gesellschaftliches Leben enthält ein sehr
umfangreiches Kapitel über das Familienbrauchtum mit detaillierten Darstellungen über die
Hochzeit, Kinderbetreuung und -erziehung, Taufe, Geburts- bzw. Namenstag und Begräb-
nis. Viele der alten Bräuche sind in Vergessenheit geraten, manche sind aber auch in das
Familienbrauchtum der neuen sowjetischen Gesellschaft — freilich unter bestimmten An-
gleichungen — übernommen worden. Das gleiche gilt auch für das Jahresbrauchtum,, das in
einem nächsten Abschnitt behandelt wird. — Unter der Überschrift Bildung neuer sowjetischer
Traditionen werden vor allem die öffentlichen Feste behandelt, wie sie in allen sozialistischen
Ländern an bestimmten Tagen des Jahres gefeiert werden „unter schöpferischer Auswertung
der besten Elemente alter Traditionen“. Ergänzend hierzu wird in einem Schlußkapitel auf
die Veränderung der Verhaltensweisen der Bevölkerung in den Kolchoswirtschaften, auf die
Herausbildung neuer Formen der Arbeitsteilung, der gehobenen Stellung der Frau in
Familie und Wirtschaft, auf das wachsende kulturelle Bedürfnis hingewiesen; alles neue
Erscheinungen, durch welche die Menschen in den Dörfern der litauischen SSR charakteri-
siert werden können.
Wolfgang Jacobeit, Berlin
118 Besprechungen
Aliise Moora, Peipsirnaa etnilisest ajaloost. Ajaloolis — etnografiline uurimus eesti —vene
suhetest (Zur ethnischen Geschichte des Peipusgebiets. Historisch-ethnographische
Untersuchung der estnisch-russischen Beziehungen). Tallinn, Eesti riiklik kirjastus,
1964. 367 S., 35 Abb., 20 Taf. Dt. u. russ. Res.
Die Verf. führt uns in ein Gebiet, in dem sich schon seit vorgeschichtlicher Zeit verschie-
dene ethnische Gruppen begegneten und vermischten. Daraus resultierten starke gegensei-
tige kulturelle Beeinflussungen, besonders auf dem Gebiet der Landwirtschaft, der Fischerei
und des Handwerks.
In der Landwirtschaft entspricht der Gerätebestand bis zum 19. Jh. den frühfeudalen Ver-
hältnissen Mitteleuropas: Vorherrschend waren die symmetrisch arbeitenden Bodenbau-
geräte (vorwiegend die Zoche), die Sichel für den Getreideschnitt, Straucheggen usw., die
entweder russischen oder lettisch-litauischen Einfluß zeigen. Die Entwicklung zum Kapi-
talismus im 19. Jh. prägte sich auch in der Landwirtschaft des Peipusgebiets aus: Eiserne
Geräte verbreiteten sich rasch, die Sichel wurde endgültig von der Sense verdrängt, Maschi-
nen rationalisierten die landwirtschaftlichen Arbeiten in den Hauptanbaubezirken und führ-
ten in immer stärkerem Maße zur Marktproduktion. Unter russischem Einfluß begann ein so
ausgedehnter Gemüseanbau, daß das Peipusgebiet als nordwestlicher Ausläufer des russi-
schen Gemüseanbaus bezeichnet werden kann.
Die Nähe russischer Städte führte schon im 16./17. Jh. zur Berufsfischerei. Die dabei ver-
wendeten Geräte, Formen der Arbeitsteilung usw. werden in aller Ausführlichkeit behandelt.
Das estnische Handwerk im Peipusgebiet konzentrierte sich auf die Herstellung von Holz-
gegenständen, wobei Formen und Methoden einer gewissen „Urproduktion“ große Bedeu-
tung erlangten. Die Gegend von Awinurme entwickelte sich zu einem Zentrum der Holz-
verarbeitung, dessen Produkte im ganzen Land guten Absatz fanden. Die eigentlichen
Handwerker (z. B. Maurer, Zimmerleute) waren jedoch Russen, und aus Rußland kamen
auch manche handwerklichen Anregungen, die nach und nach von den Esten übernommen
wurden (z. B. Fellbearbeitung, Tuchdruckerei). Ein eigentliches Handwerk scheint sich
bei den Esten des Peipusgebiets erst spät herausgebildet zu haben. Das, was die Verf. als
Handwerk bezeichnet, ist wohl eher als bäuerlicher Hausfleiß und Heimindustrie zu bezeich-
nen.
Waren Landwirtschaft, Fischerei und Gewerbe die hauptsächlichen Tätigkeiten der Bevöl-
kerung des Peipusgebietes, so spielten doch auch Beschäftigungen wie Flößerei, Fuhrwesen,
Wanderarbeit, Handel eine nicht unbeträchtliche Rolle.
Das Peipusgebiet nimmt im estnischen Raum eine Sonderstellung ein, weil sich gerade
hier die interethnischen Beziehungen zwischen Esten und Russen besonders stark ausgebildet
haben. Für Untersuchungen in anderen Räumen, in denen sich ebenfalls Elemente verschie-
dener Volkskulturen begegenen, kann die vorliegende Untersuchung ein methodisches
Beispiel sein.
Wolfgang Jacobeit, Berlin
Lynn White jr., Medieval Technology and Social Change. Oxford, University Press, 1962.
Reprinted 1963. First issued in Oxford Paperbacks 1964. X, 194 S., 10 Taf.
Das Buch des nordamerikanischen Mediävisten, das in rascher Folge drei Auflagen erlebte,
verspricht eine Untersuchung des Einflusses der Technik auf die Gesellschaftsstruktur des
europäischen Mittelalters. Wie fruchtbar eine solche Themenstellung sein kann, wird neben
dem Volkskundler auch jeder Historiker zugeben, der Wirtschafts- und Sozialgeschichte
nicht nur als bloße Hilfswissenschaft betreibt.
In drei Kapitel hat der Verf. seine Darstellung auf gegliedert. Sie behandeln nacheinander
die Kriegstechnik, die Agrartechnik und die Maschinentechnik, wobei jedesmal nur repräsen-
tative Beispiele ausgewählt sind. Im ersten Teil wird der Versuch unternommen, die Heraus-
bildung des Rittertums als einer tragenden Institution der Feudalgesellschaft aus der Über-
Besprechungen
119
nähme bestimmter neuer Kampftechniken abzuleiten. Dabei ist es nach W. besonders der
Steigbügel, der den europäischen Ritter des Mittelalters gegenüber anderen Streitern zu
Pferde kriegstechnisch gleichsam emanzipiert hat. Hier liege die Wurzel für alle sozialen
Folgeerscheinungen. „Few inventions have been so simple as the stirrup, but few have had
so catalic an influence on history.“ So apodiktisch formuliert wird sich diese — übrigens
nicht ganz neue — These freilich nicht durchsetzen, auch wenn man die Rolle der Kriegs-
technik bei der gesellschaftlichen Entwicklung hoch einschätzt.
Nur kurz hingewiesen sei auf den letzten Teil, der maschinelle Erfindungen und Wieder-
erfindungen des Mittelalters behandelt; dazu gehören Wind- und Wassermühlen, Feuer-
waffen, Schwungräder, die mechanische Uhr u. a., kurz, ein Befund, der im ganzen das noch
immer negative Bild von den Produktivkräften des Mittelalters wesentlich zu korrigieren
geeignet ist. Der Verf. glaubt in ihnen bereits die Wurzeln des künftigen Kapitalismus zu
entdecken.
Im Mittelpunkt der Untersuchung steht die Agricultural Revolution of the Early Middle
Ages. Diese „Revolution “ hat nach W. den rapiden Bevölkerungsanstieg des Hochmittel-
alters überhaupt herbeigeführt. Ihre Grundlagen, die wiederum aus technischen Neuerungen
bestehen, sind: der Beetpflug, das Arbeitspferd, die Dreifelderwirtschaft. Der Beetpflug
(oder Pflug im engeren Sinne) als das wichtigste Produktionsinstrument ist nach W. im
frühen Mittelalter — kaum vor dem 6. Jh. — nördlich der Alpen entwickelt und durch die
verschiedensten Völker und Stämme, zunächst insbesondere durch die Slawen, in Mittel-
und Nordeuropa verbreitet worden. Die britischen Inseln haben ihn erst als dänische, nicht
schon als angelsächsische Einfuhr erhalten. Funktionale Merkmale des Beetpfluges sind:
asymmetrische Schar, Sech, einseitiges Streichbrett und Radvorgestell. Im Zusammenhang
damit wird die zunehmende Bevorzugung des Pferdes als Arbeitstier gesehen. Sie hat
parallel zur Anwendung des Hufbeschlages und des Sielengeschirrs bereits im Frühmittel-
alter eingesetzt; später, „by the end of the eleventh Century the plough horse must have been
a common sight on Europe’s northern plains“, während in England entsprechend dem
vorläufigen Fehlen des Beetpfluges noch Ochsen dominierten. Die Wirtschaft mit Pferden
wiederum hat auf die Herausbildung einer ertragreicheren Ackerrotation stimulierend
gewirkt, indem die Pferdehaltung einen größeren Bedarf an Futterkorn, besonders Hafer,
hervorrief; so sei die Dreifelderwirtschaft entstanden.
Diese „Agricultural Revolution“ hat nach W. bedeutsame Folgen gehabt. Sie ermöglichte
den Übergang von kommunalen zu individuellen Ackerwirtschaften, beförderte anderer-
seits auch die frühe Wüstungsperiode, die nichts weiter ist als eine Siedlungsballung der nun-
mehr Pferde haltenden Bauern, die nicht mehr gezwungen sind, mit Rücksicht auf ihre
Arbeitsochsen unmittelbar bei ihren Feldern in Weilern zu wohnen. Und weiter wird ge-
schlußfolgert: „This 'urbanization’ of the agricultural workers laid the foundation for the
change in the focus of Occidential culture from country to city.“ Am eindeutigsten setzten
sich die agrartechnischen Fortschritte mit ihren weitreichenden Folgen im Karolingischen
Reich und seinen Nachfolgestaaten durch; das mittelalterliche England verlor vorübergehend
den Anschluß an diese bedeutsame Entwicklung. — Eine zusammenfassende Einschätzung ist
wie folgt formuliert: „No more fundamental change in the idea of man’s relation to the soil
can be imagined: once man had been part of nature; now he became her exploiter. ... Man
and nature are now two things, and man is master.“
Derartige Schlußfolgerungen wecken natürlicherweise das Mißtrauen des Kritikers,
wenngleich die zugespitzte Diktion des Autors durch einen nüchtern und sorgfältig gearbei-
teten Anmerkungsapparat teilweise wieder aufgewogen wird. Hier ist eine Fülle von —
zumeist europäischer — Spezialliteratur verarbeitet. Freilich zerstört auch diese Tatsache
nicht zwei grundsätzliche Bedenken. Zunächst darf von einer geschichtswissenschaftlichen
Publikation erwartet werden, daß bei Erörterung der Genesis des Feudalismus neben den
Kriegs- und Produktionsinstrumenten auch die herrschenden Eigentumsverhältnisse we-
nigstens erwähnt werden. Neueste Forschungen der DDR-Mediävistik (Müller-Mertens
u. a.) konnten White wohl noch nicht bekannt sein. — Ferner sind in den speziell technik-
geschichtlichen Partien einige Ansichten enthalten, welche die Vertreter der einzelnen Fach-
disziplinen auf den Plan rufen werden. So hat bereits ber Altmeister der schwedischen Pflug-
120 Besprechungen
forschung, Ragnar Jirlow, auf dem 7. Kongreß der Ethnologen in Moskau 1964 dem Autor
widersprochen und nachgewiesen, daß der Beetpflug nicht erst mit den Dänen nach England
gekommen ist. Weiterhin gilt es keineswegs als erwiesen, daß Klima und Boden entscheidende
Faktoren bei der Entstehung des Beetpfluges gewesen sind, daß der Beetbau zu Drainage-
zwecken betrieben wurde oder daß das Sech primäre Beetpflugfunktion besitzt.
Trotzdem darf dem Autor in diesen letzten Punkten kein Vorwurf gemacht werden. Er
hat eine Synthese auf einem Gebiet gewagt, wo noch die Forschungsmeinungen aufeinander-
prallen, und wohl kein Spezialist — etwa von Seiten der Pflugforschung — hätte sich auf
dieses weite Feld begeben. So legt der Volkskundler am Ende dankbar ein Buch aus der Hand,
dessen fast essayhaftem Schwung er sich über Seiten und Kapitel nicht entziehen konnte.
Ulrich Bentzien, Rostock
Gerhard Heilfurth, Das Heilige und die Welt der Arbeit am Beispiel der Verehrung des
Propheten Daniel im Montanwesen Mitteleuropas. Marburg, N. G. Eiwert, 1965.
2. Aufl. 31 S., 20 Taf.
Zum zweitenmal legt H. seine Studie vor, die schon bei ihrem ersten Erscheinen starken
Anklang fand. Aus dem Beispiel einer konkret konturierten Thematik konnte vor allem die
Volkskunde methodologischen Gewinn ziehen. Die ikonographische Wiedergewinnung
der nahezu verlorengegangenen Heiligenlegende vom Erzfinder Daniel setzte ein lang-
jähriges Sammeln, glückliches Aufspüren und kenntnisreiches Interpretieren voraus. Damit
hat H. ein Paradigma für die Rekonstruktion von verschiedenen verschwundenen volks-
läufigen Ideologien erbracht. Es ist begreiflich, daß dieser Nachweis lebhaftes Interesse nicht
nur im Bereich der Volkskunde, sondern auch in dem der Geistesgeschichte, der Kunstwis-
senschaft und der Theologie fand.
Neben der allgemeinen Volkskunde profitiert auch die spezielle Montanethnographie von
dieser Arbeit, denn sie kann nun Verständnis dafür finden, daß die Lehrhaftigkeit der „Ge-
schichte von Daniel, der Erzfinder“ ein Prototyp für die Gestalt des Lehrmeisters (Daniel)
abgab, der den mit der Bergarbeit beginnenden Bergjungen (Knappius) im Bergwesen unter-
weist. Allerdings muß man geltend machen, daß der bergverständige Daniel weitab von
der Volksreligiosität im „Lehrbuch“ des Freiberger Stadtarztes, Bürgermeisters und Gym-
nasiumsgründers Dr. med. Ulrich Rülein von Calw aus dem Anliegen humanistischer Päd-
agogik literarisch langlebig und weittragend wirksam geworden ist. Abgesehen von diesem
nicht ganz zu Ende interpretierten Komplex gewinnt die Montanethnographie vor allem
vertiefte Einsicht in die Motivkreise der Bergmanns sagen. Am Einzelbeispiel „Daniel“ wird
dieses besonders diffizile und weitschichtige Gebiet aufgeschlossen.
Auch die Kultursoziologie erhält durch die Aufdeckung einer Darstellung im Zentrum
des „Niederungarischen“ Erzgebirges Aufschlüsse. Die Daniellegende wählte kein Geringerer
als der allgewaltige Neusohler Montanherr Johannes Thurzö von Bethlenfalva zum Schmuck
seiner Hauskapelle. Die Danielverehrung erreicht also nicht nur die Knappen auf der Ebene
der Arbeit — sondern auch die Montanunternehmer auf der Ebene des dem biblischen Da-
niel (vgl. Dan. 6. 4) beschiedenen „fürstlichen“ Aufstiegs. Da H. als erster die Motive der
Daniellegende unter den Fresken im Thurzö-Hause erkannte, gelang ihm der Nachweis der
Ausdehnung dieser volksläufig-bergmännischen und unternehmerisch-humanistischen
Danielvorstellungen bis in das Slovenske rudohorie — und damit konnte er einen montan-
ethnographisch wichtigen Raum einbeziehen, der sowohl im kulturellen Bereich wie auch
im soziologischen durch die mannigfachen interethnischen Beziehungen von erhöhter
Bedeutung ist. Diese wird erhärtet durch den Hinweis auf die Statuette des Heiligen mit
einer Erzstufe in der Hand aus der Sammlung. Untermyer-New York, deren vermutlich
burgundische Provenienz eine bisher noch etwas isolierte Ausdehnung nach dem Westen
andeutet.
Obschon sich die Interpretation vom Daniel als „Bergspeisgeber“ nicht bewährt hat,
kompensieren neue Funde den Ausfall dieses einen Belegs: Im Alpenland ist die Daniel-
Besprechungen 121
Verehrung in der Welt der Arbeit ebenso gesichert wie im Erzgebirge. Die Bedenken, die H.
mit Fug und Recht gegen einige unbewiesene Thesen in einer Dissertation von Eberhard
Neubert geltend macht, zerstreuen eine voreilige Skepsis gegen die Übereinstimmung in der
Daniel-Vorstellung zwischen den beiden führenden Montanrevieren an der Wende vom
15. zum 16. Jh.
Wiederum für die Volkskunde wichtig ist die Feststellung über den Verlust und das Aus-
laufen der (bergmännischen) Danielvorstellungen im Barock. Damals ist der „Prophet“
wieder aus der Welt der Arbeit herausgelöst und unter die prangenden und prunkenden
„Glaubenshelden“ versetzt worden, wohin er der biblischen Tradition zufolge gehört.
Helmut Wilsdorf, Dresden
Marta Hoffmann, The warp-weighted loom. Studies in tlie history and technology of an an-
cient implement. Oslo, Universitetsforlaget, 1964. 425 S., zahlr. Abb. (=Studia Norve-
gica 14).
Wie unnatürlich es in der Volkskunde ist, geistige und materielle Kultur voneinander
abgrenzen zu wollen, zeigt sich besonders klar in der Textilgeschichte. Die Weberkunst
gehört an sich zur materiellen Kultur, und der Textilforscher kann nicht ungestraft die Struk-
tur des Gespinstes und der Garnqualitäten oder den Bau der Webgeräte übersehen. Was
aber den Gehalt und die Spannweite seiner Untersuchung schließlich bestimmt, das ist die
Erfassung der fruchtbaren Gedanken derer, die durch Jahrtausende mit Spindel und Web-
stuhl gearbeitet oder mit ihren Händen Fasern zu Nutzen und Schmuck der Menschen
zusammengeflochten haben. Die Geschichte der Gewebe zeigt, wie nahe die Entwicklung
einer Fertigkeit mit dem ganzen wirtschaftlichen Leben und den sozialen Belangen einer
Bevölkerung zusammengehört und wie tief sie, besonders in ästhetischer Hinsicht, auf ihr
Geistesleben zurückwirkt.
Gedanken über solche Zusammenhänge regen sich spontan, wenn man mit Marta Hoff-
manns The warp-weighted loom Bekanntschaft macht. Das Buch schildert einen nun fast aus-
gestorbenen Webstuhltyp von großer historischer Bedeutung, dessen Kette von einem
Querbaum niederhängt und mit mehreren befestigten Steinen oder Tonklötzen gespannt
wird. Mit gebührender Vorsicht hütet sich die Verf. vor der Behauptung, daß dieser Typus
der absolut älteste wäre, denn er fehlt in der ägyptischen Webkultur; er ist aber nach einer
frühen vorgeschichtlichen Entwicklung lange der hauptsächliche sowohl westeuropäische
als auch griechische und vorderorientalische Webstuhl gewesen. Seit dem Ende der Wikin-
gerzeit wurde er durch den neueren, mit waagerechter Kette und Trittvorrichtung versehenen
Webstuhl allmählich verdrängt. Von dem alten, stehenden Webstuhl bewahren verschiedene
Museen Skandinaviens Exemplare aus Island, von den Färöern, aus dem westlichen und
nördlichen Norwegen und aus der Lappmark Finnlands.
In den Landschaften um Bergen und Tromsö hat H. die einzigen noch bestehenden Relikt-
gebiete dieses Webstuhls aufgesucht und dessen Anwendung gründlich studiert. Neben
anderen wertvollen Erfahrungen findet sie, daß durch die Art und Weise, wie die Kette am
Querbaum befestigt wird, der obere, zuerst gewebte Rand ein spezielles, auch bei vielen von
den Archäologen angetroffenen Gewebestücken, erkennbares Aussehen erhält. Die Verf.
fiat ferner 1955 in einem Museum in Helsinki die Arbeit zweier skoltlappischer Weberinnen
verfolgt, die eigens geholt worden waren, um die Anwendung einer östlichen Variante des
betreffenden Webstuhls studieren zu können. Durch diese Forschungen in der Praxis — H.
versteht es auch, selbst zu weben — und auf Grund einer soliden wissenschaftlichen Schulung
und sicheren Urteilskraft vermag die Verf. eine ganze Anzahl bisher noch ungelöster Pro-
bleme zu klären. Sie berichtigt eine Reihe von Irrtümern von Stubengelehrten, die sich ohne
Zureichende Erfahrung mit den Fragen des Webstuhls beschäftigt haben; sie macht auf
behler in der Einrichtung der Webstühle in einigen Museen aufmerksam und prüft die Echt-
heit der ausgestellten Gewebemuster. Mit Kennerblick untersucht sie die abgebildeten
Webstühle sowohl bei griechischen Vasenmalern als auch bei jüngeren Zeichnern, erklärt
1муа»Г1ШШт1 u/rti/лШш i
122 Besprechungen
die Gebärden der Weberinnen und scheidet die echten Züge des Gerätes von zufälligen
Mißverständnissen und künstlerischen Vereinfachungen. Doch verzichtet sie beschei-
den auf definitive Antworten, wenn die Belege nicht ausreichen. Und wie oft sie auch genö-
tigt ist, kühne Mutmaßungen der mit dem Weben weniger vertrauten Forscher zu berich-
tigen, so ist sie stets bereit, das, was sie durch die Arbeit anderer direkt oder indirekt gelernt
hat, dankbar anzuerkennen. Für sie ist die Wissenschaft ein Zusammenwirken der Generati-
onen und der Zeitgenossen, nicht ein Kampfgefilde, wo des einen Mißlingen des anderen
Triumph ist.
Wo der „kettenbeladene“ Webstuhltyp bis in unsere Tage fortlebt, hat man, soweit die
Erinnerung reicht, darauf nur Bettdecken gewebt, für deren Breite die gewöhnlichen Web-
stühle ungeeignet sind. Da in isländischen Urkunden Lodenzeug von über 20 Ellen Länge als
Ausfuhrware genannt wird, hat H. die Brauchbarkeit des „stehenden Webstuhls“ für so
lange Gewebstücke erprobt, und sie benutzte mit Erfolg einen im Osloer „Norsk Folke-
museum“ aufgestellten Webstuhl aus Vestlandet. Hierdurch bewies sie auch die Möglichkeit,
auf diesem Gerät Köper zu weben, jenes vierschäftige Gewebe, das in kunstreichen Variatio-
nen bei archäologischen Ausgrabungen an verschiedenen Orten in Europa zutage kam, vor
allem aber in Dänemark, wo die Leistungen des Webstuhls mit beladener Kette von neoli-
thischer bis zu historischer Zeit durch eine Reihe von schönen Funden bezeugt ist.
Sehr bemerkenswert sind die Textilfunde aus Birka, der bedeutenden Stadt Schwedens
in der Wikingerzeit. Ihre erstaunlich hohe Qualität läßt uns annehmen, daß sie von einem
Ort mit berufsmäßig entwickelter Industrie eingeführt wurden, und man hat an die Friesen
gedacht, deren Gewebe im karolingischen Kulturraum eine Rolle gespielt haben. Da die
technische Art des Köpers aus Birka auf den stehenden Webstuhl hinweist, wird das Auf-
spüren des Ursprungs dieses Gewebes ein Problem ersten Ranges. Für dessen Lösung
benützt die Verf. kenntnisreich alle zugänglichen literarischen und archäologischen Quellen,
muß aber doch feststellen, daß keine sichere Antwort möglich ist. Das negative Ergebnis ist
großenteils dadurch bedingt, daß man in vielen Ländern die Berichte über archäologische
Textilfunde ohne Gewebediagramme gegeben hat, die aber eine unerläßliche Voraussetzung
für die Kenntnis der Webetechnik und — in diesem Fall — für jede komparative Forschung
sind.
Die weiteste Perspektive gibt das Buch im Schlußabschnitt, in dem die Webstuhltypen
der Mittelmeerländer behandelt wurden. Spuren des Webstuhls mit beladener Kette sind
Funde von Steinen oder Tonklötzen, die infolge einer Feuersbrunst ihre ursprüngliche
Anordnung behalten haben; daß die Reihe oft doppelt ist, beweist, daß „Schäfte“ eingerich-
tet waren. Ein Fund dieser Art gehört zu Troja II. um 2500 v. d. Z.; später sind sie aus
Gordion in der Türkei und aus Qumram in Palästina, in deren Nähe auch Gewebstücke mit
den obengenannten typischen Merkmalen gefunden wurden.
Nebst dem Webstuhl behandelt das Buch auch die kleineren Geräte, die beim Weben
Bedeutung hatten und durch welche die Verbreitung des behandelten Typs eine ergänzende
Beleuchtung erhält: die Brettchen für Bandweben, mit welchen der oberste Streifen des
Gewebes hergestellt wurde, Haspel und Garnwinde, die für die Berechnung und Handhabung
des Garnes nötig sind, Schwerter, womit der Einschlag festgedrückt wurde.
Die Beschreibung des sozialen und wirtschaftlichen Hintergrunds der Textilkultur ver-
dient des Lesers besonderen Dank. Hauptsächlich waren es die Frauen, die den Webstuhl
mit beladener Kette benutzten, wogegen der neuere mit waagerechter Kette durch männliche,
berufsmäßige Weber bedient wurde. — Gilt es, das Alter des Webstuhls bei einem Volke,
z. B. bei den Skoltlappen zu untersuchen, gibt sich die Verf. nicht mit weniger zufrieden,
als daß sie auch die Geschichte der dortigen Schafzucht klarstellt. Und gilt es die Anwendung
der Gewebe zu untersuchen, so vertieft sie sich gern in die Wohnungs- und Bekleidungs-
weise des betreffenden Volkes, in dessen Kulturverhältnisse und Handelsbeziehungen. So
gibt die Darstellung ein Gesamtbild des menschlichen Lebens in verschiedenen Umgebungen.
Der Gesichtskreis des Buches ist in erster Linie skandinavisch bestimmt, zeigt aber stets für
die Zusammenhänge mit anderen Ländern einen offenen Blick.
H. zeigt uns noch manche Probleme, die einer Lösung harren, und wir hoffen, daß sie
selbst einen Teil von ihnen in den kommenden Jahren lösen wird. Unsere Erwartungen aber
Besprechungen
123
dürfen nicht die Tatsache beeinflussen, daß dieses Buch die Kenntnis von der Textilgeschichte
beträchtlich erweitert hat. Es darf einen besonderen Platz in der Fachliteratur beanspruchen.
John Gardberg, Karis
M. Seghers und R. De Bock, Schepen op de Schelde. Binnenvaartuigen en vissersschepen
op de Schelde omstreeks 1900. 3. Auflage. Antwerpen, de Sikkel N. V., 1962. 79 S., 40 Taf.
Für vergleichende historisch-volkskundliche Forschungen über volkstümliche Boote und
kleine Schiffsfahrzeuge fehlt es einstweilen noch sehr an guten Dokumentationen, schlichten,
sauberen Materialdarstellungen im Stile von Inventarwerken; ganz im Gegensatz zur Fülle
jener sich „bootskundlich“ gebenden Publikationen, deren Autoren — unbekümmert um
fehlende lokale Detailkenntnis der Gegenstände — kontinentale Übersichten zurecht schnei-
dern oder fröhlich in der Entwicklungsgeschichte der Boote und Schiffe herumhypotheti-
sieren. Über das Fehlen ergologischer Fakten vermögen dann auch die Tafeln mit den
sorgsam errechneten Linienrissen der Rekonstruktionen nicht hinwegzutäuschen.
Um so mehr verdient es unsere Aufmerksamkeit, wenn jetzt in Flandern bereits in dritter (!)
Auflage ein Dokumentarband über die um 1900 dort vorhandenen Küstenfahrzeuge der
Schelde erscheint. Die 1942 herausgebrachte Erstauflage dieses von The Mariner’s Mirror
als „unusually attractive“ bezeichneten Buches rechnet heute bereits zu den bibliophilen
Raritäten.
Maurice Seghers, ein Antwerpener Künstler, verstorben 1959, setzte mit seinem Werk
die Tradition eines Pieter Brueghel, Wenceslaus Hollar, Reinier Nooms und P. le Comte
fort. Man nennt seine Graphiken mit Recht „het sluitstuk van de iconografie van onze zeil-
scheepvaart.“ Der Herausgeber (R. de Bock) wählte 40 der Seghersschen Schiffszeichnungen
zur Publikation aus und schrieb einen guten, knappen Begleittext zu diesen herrlichen Dar-
stellungen der Tjalken, Aaken, Schuten, Klipper, Otter, Pleiten, Hengste und Penichen. Wenn-
gleich auch nicht als wissenschaftliche Abhandlung angelegt, erweist sich das Buch als außer-
ordentlich wertvoll für volkskundliche Schiffahrtsforschung. Denn nicht das Zufällige,
sondern das Typische wurde hier wiedergegeben, besonders im Bereich der Takelung dieser
Fahrzeuge. Somit erweist sich der Band als ungleich wertvoller denn alle jene „künstlerischen“
Foto-Bildwerke von Gewässern und Landschaften an Strom und Meer, die in den letzten 20
Jahren in Deutschland erschienen sind. Wenn sich der Wissenschaftler für diesen Band etwas
Zu wünschen hätte, dann wäre es eine verbesserte Gliederung des Materials nachtypologischen
Merkmalen (Bugform, Beplankungstechnik) sowie eine Ergänzung durch zweifelsohne vor-
handene Detaildarstellungen, wie sie der andere, 1943 erschienene (und seither leider nicht
■wieder aufgelegte) Seghers-Band De lautste Visschersschepen an de vlaamsche Kust enthielt, —
dort z.B. als Tafeln 2, 3, 6, 22, 25. Das deutsche Resümee ist bedauerlicherweise von man-
chem sprachlichen Fehler belastet.
Wolfgang Rudolph, Berlin
Lajos Takacs, A dohänytermesztes Magyarorszägon (Der Tabakbau in Ungarn). Budapest,
Akademiai kiadö, 1964. 463 S., 81 Abb.
Die Geschichte des Tabakbaus, der zusammen mit den übrigen aus Amerika stammenden
Pflanzen eine bedeutende Rolle beim Zerfall der traditionellen Landwirtschaft unseres Kon-
tinents gespielt hat, hat eine umfangreiche Literatur. T.s Werk wird darin — trotz der
Machteile für die europäische Verbreitung eines Buches, das in ungarischer Sprache geschrie-
ben ist — einen wohlverdienten Platz finden. Es sei den ungarischen agrarethnographischen
und agrargeschichtlichen Forschern zur Ehre gesagt, daß sie binnen weniger Jahre den
wichtigsten Hackfrüchten und ihrer Bedeutung für die heimische Landwirtschaft grund-
legende Monographien widmen konnten, nicht zu sprechen von den Zeitschriftenaufsätzen
124 Besprechungen
(Ivan Balassa, Der ungarische Mais, Budapest i960; Sändor Bälint, Der Szegeder Paprika,
Budapest 1962; Denes Penyigey, Die Verbreitung des Tabaks und die Herausbildung seiner
Landesproduktion, Budapest 1957.)
T.s Buch hat nicht bloß durch seine Thematik unser Interesse verdient, sondern auch
durch die methodischen Analysen, in denen er die Belange des Botanikers, des Agraröko-
nomen, des Kulturhistorikers, des Philologen, des Ethnographen und des Agrarhistorikers
zu vereinigen weiß. Sein Wissen ist vielseitig, und er kann seine Behauptungen auch stets
beweisen, seine Erläuterungen verdichten sich zu einer agrarhistorischen Monographie.
Der Band besteht aus vier Teilen. Im ersten Teil untersucht T. die ungarische Betriebs-
organisation des Tabakanbaus bis zur Aufhebung der Leibeigenschaft 1848, ferner die recht-
liche, wirtschaftliche und soziale Lage derjenigen Gesellschaftsschicht, die sich auf den Tabak-
anbau spezialisierte. Der zweite Teil führt den Leser in die kapitalistischen Verhältnisse bis
zur Jahrhundertwende. Im nachfolgenden Kapitel können wir über die Geschichte der
Arbeitsmethoden des Tabakanbaus lesen und schließlich im letzten vierten Kapitel über das
Rauchen und den anderweitigen Gebrauch des Tabaks (z. B. als Medizin). — Der Bedeutung
des Werkes entsprechend hätte das zu knappe deutsche Resümee (4 Seiten!) stark erweitert
werden müssen.
Aus der Einteilung des Werkes ist ersichtlich, daß der Verf. fast bei jedem Abschnitt aus
verschiedenen Quellen schöpfen mußte. Die Daten des ersten und zweiten Kapitels entnahm
er in den meisten Fällen den Archivalien, dem dritten Abschnitt liegt das Ergebnis seiner
ethnographischen Sammeltätigkeit zugrunde und im letzten Kapitel haben sich seine kultur-
historischen Forschungen als wesentliche Stützen erwiesen. Diese Mannigfaltigkeit des
Quellenmaterials zeigt, daß in vielen Details wesentliche Vorarbeiten zum Thema überhaupt
fehlten, und der Leser hat mancherorts — hauptsächlich im ersten und zweiten Kapitel —
den Eindruck, daß T. über die Grenzen seiner Thematik hinaus auch die Lösung solcher
Aufgaben auf sich nehmen mußte, die eigentlich schon längst von der lokalen Geschichts-
schreibung hätten in Angriff genommen werden müssen. Dadurch wurde das Buch in man-
chen Partien mit Erörterungen belastet, die zwar für das Verhältnis des Ganzen notwendig
sind, jedoch am Rande des Themas stehen. Wir wollen den Verf. darum nicht kritisieren,
vielmehr müssen wir ihm dankbar sein, daß er uns neues Material zur ungarischen Agrar-
geschichte erschlossen hat. Andererseits bedauern wir, daß im dritten Abschnitt — bei der
ergologischen und historischen Analyse einzelner Arbeitsmethoden — der Text stellenweise
zu kurz gefaßt wurde. Die Entwicklung der tausendjährigen und immer weiter vervoll-
kommneteren Arbeitsmethoden des Gartenbaus auf unserem Kontinent hätte eine ausgiebi-
gere und eingehendere Erörterung verdient.
Hauptsächlich im ersten und zweiten Abschnitt versucht T. die Geschichte der ungarischen
Agrarstruktur nachzuzeichnen, soweit sie für den Tabakanbau relevant ist. So zeigt er einer-
seits das Vordringen des Tabakbaus in der Dreifelderwirtschaft, andererseits stellt er dar, wie
der Tabak sich als Monokultur in der von der türkischen Besetzung befreiten, sich extensiv
entwickelnden Agrarwirtschaft eingebürgert und stabilisiert hat. Die äußerst genaue Nach-
forschung dieses zentralen Problems ist um so erfreulicher, als sie nicht nur die bereits
erwähnten Lücken der lokalen Geschichtsschreibung schließt, sondern den Leser auch mit
solchen Zusammenhängen bekannt macht, welche die Verfasser der Monographien, die die
Geschichte der aus Amerika stammenden Kulturen beschrieben, außer acht gelassen haben.
T. aber nähert sich seinem Thema nicht nur von der ökonomischen Seite, sondern über-
nimmt auch die Aufgabe des Sozialhistorikers, indem er eine historische Darstellung der
Tabakzüchter gibt, bei denen es sich im Gegensatz zu den Wein- und Obstzüchtern, um
eine Facharbeiterschicht handelt, die über spezielle Kenntnisse verfügt. Diese Facharbeiter-
schicht ging aus den Häuslern und Tagelöhnern der feudalen ungarischen Latifundien-
wirtschaften hervor, in deren Bereich sich der Tabakanbau vor allem entwickelte.
Bei der Darstellung der im Tabakanbau üblichen Arbeitsvorgänge und den ergologischen
Untersuchungen ist T. bestrebt, das durch Feldforschungen erworbene Material sowohl
mit dem der agrarhistorischen Literatur, als auch mit den Resultaten der internationalen
agrarethnographischen Forschung in Korrelation zu bringen. Seine Aufmerksamkeit richtet
sich auch auf das Entstehen der Arbeitsorganisation und hauptsächlich auf die Probleme
Besprechungen
125
der Familienarbeit der Tabakzüchter. — Das, was in diesem Abschnitt dargestellt wird, ist
ein Musterbeispiel der ungarischen agrarethnographischen Forschung und kann berechtig-
terweise auch mit einem internationalen Interesse rechnen.
Die untersuchten Arbeitsgeräte und Arbeitsmethoden haben sich nicht im Rahmen des
Tabakbaus entfaltet, sondern sie entwickelten sich in der tausendjährigen Praxis des Garten-
baus, um von hier in die Feldwirtschaft übernommen zu werden. Dieser Vorgang kann nicht
als alleinstehend betrachtet werden. Die neuen Kulturen haben in allen Fällen ähnliche
Erscheinungen gekannt. Diese anbautechnischen Änderungen, die in der Entwicklung der
kontinentalen Landwirtschaft einen so wichtigen Wendepunkt bedeutet haben, wurden
bisher aber weder von der Agrarethnographie noch von der Agrargeschichte beachtet. T.
ist zweifelsohne einer der ersten, die sich als Entdecker in dieses sehr wichtige Gebiet der
agrarischen Vergangenheit gewagt haben. Sein Buch ist ein beträchtlicher Gewinn nicht nur
für die ungarische, sondern auch für die internationale Forschung.
Tamäs Hoffmann, Budapest
Jürgen Burkhardt, Bauern gegen Junker und Pastoren. Feudalreste in der mecklenburgischen
Landwirtschaft nach 1918. Berlin, Akademie-Verlag, 1963. XIX, 192 S. (— Sehr, des
Inst. f. Gesch. an der Dt. Akad. der Wiss. zu Berlin II/7).
Dieses in einer landesgeschichtlichen Reihe erschienene Buch gewinnt aus gutem Grund
das Interesse des Volkskundlers. Zunächst vermittelt es ihm Daten und Fakten aus der
jüngeren Agrar- und Sozialgeschichte, die nun einmal die Grundlage für jede Erforschung
der Volkskultur darstellt.
Der Verf. untersucht hauptsächlich die nach 1918 fortlebenden Feudalen Pachtverhältnisse,
ferner Feudale Dienstleistungen und schließlich Feudale Kirchenabgaben. Staat, Gutsbesitzer
und Landeskirche hatten es in Mecklenburg verstanden, sich den elementarsten Forderungen
der bürgerlichen Revolution zu entziehen. So wurde aus dem Erbpachtbesitz des durch-
schnittlichen Bauern kein freies Eigentum — er war im ritterschaftlichen Bereich juristisch
noch nicht einmal vor willkürlicher „Legung“ geschützt! —; vielmehr dauerte die Zahlung
des sog. Kanons, einer ihrem Ursprung nach rein feudalen Rente, weiter fort. Ebenso erhiel-
ten sich zweifelhafte Dienstverpflichtungen scheinbar öffentlichen Charakters auf Grund der
Gemeindeordnung von 1920. Besonders anachronistisch aber wirken die Kirchenabgaben,
die trotz Einführung der regulären Kirchensteuer in zahlreichen Dörfern weiter zu zahlen
Waren, etwa die Observanz und der Vierzeitenpfennig.
All diese Rechtsabnormitäten, die trotz demagogischer Bauernpropaganda der Nazipartei
erst nach 1945 vollständig abgeschafft wurden, wären nun für den Volkskundler zweifellos
Weit weniger bemerkenswert, wenn nicht gerade sie den Nährboden für kritische und
satirische Auseinandersetzungen etwa in den Volkserzählungen der Landbevölkerung abge-
geben hätten. Und so mag zum Lobe des vorliegenden Buches festgestellt sein, daß es in
vielerlei Hinsicht den neuesten volkskundlichen Werken zur Sozialkritik im mecklenbur-
gischen Erzählgut (zuletzt S. Neumann: Der meckl. Volksschwank, 1964) wie auf den Leib
geschneidert erscheint. Übereinstimmung und Parallelen ergeben sich auf Schritt und Tritt.
Stellenweise wird die Darstellung sogar zur Quelle für mittelbares Schwankgut, das der
Verf. freilich besser nicht ins Hochdeutsche übertragen hätte. Ich zitiere gegenüber Burkhardt
S.119 wörtlich aus dem Protokoll der Landtagssitzung vom 2. Dez. 1932, in der ein Abge-
ordneter die bewegte Klage eines Bauern schwankhaft wiedergibt: „Flerr Rechtsanwalt, ik
^öt i672 Schäpel Hawer an den Köster in dat Nahwerdörp liefern, dat hei jeden Sünndag
up’n Asel tau Kirch herrieden kann, un nu denken S’ mal an: Ierstens hett hei keen Asel,
rieden kann de Kierl ok nich, un hei kümmt blot alle vierteihn Dag!“
Uber den Gesamtwert des Buches mögen die Fachhistoriker urteilen. Der Titel ist nach
Meinung des Rez. unangebracht reißerisch, zumal weniger Kampf der Bauern als vielmehr
die Auseinandersetzungen im Mecklenburg-Schwerinschen Landtag referiert werden. — An
Versehen sind anzumerken: Das „ritterschaftliche Gebiet“ bestand nicht allein aus „Adels-
126
Besprechungen
besitz“ (S. XIII); „Erbleihebauern“ (S. 4) hat es auch nach 1918 noch gegeben (vgl. LHA
Schwerin, Rep. 142, Gutsarchiv Mühlenbeck, Nr. 7). Fritz Reuter sollte man nicht als
„bekannten mecklenburgischen Heimatdichter“ (S. 120) bezeichnen. Retzow, Niex, Naschen-
dorf und Kublank liegen nicht im „Kreis Schwerin“ (S. 89) usw.
Ulrich Bentzien, Rostock
Siegmund Musiat, Zur Lebensweise des landwirtschaftlichen Gesindes in der Oberlausitz.
Bautzen, VEB Domowina-Verlag, 1964. 184 S. (= Schriftenreihe des Inst. f. sorbische
Volksforschung in Bautzen bei der Dt. Akad. d. Wiss. zu Berlin 22).
Die vorliegende Arbeit ist von zwei Seiten her bedeutsam: Sie beschäftigt sich a) mit
einer Gruppe des werktätigen Volkes, die von der Volkskunde bisher kaum beachtet worden
ist und dies b) in einer Periode, dem 19. Jh., die wie kaum eine andere die Volkskultur nach-
haltigst beeinflußt hat, gleichfalls aber das Interesse bisher nur weniger Volkskundler fand.
M. stößt mit seiner Untersuchung also in doppelter Hinsicht in Neuland vor. Er hat dafür,
wie es bei der gegenwärtigen Forschungslage auch gar nicht anders möglich ist, ein geo-
graphisch begrenztes Gebiet gewählt, das Bautzener Land, das nicht nur die Entwicklung
und den Übergang zur kapitalistischen Wirtschafts- und Lebensweise anschaulich offenbart,
sondern auch als sorbisch-deutsche Kontaktlandschaft eine Rolle spielt. Der Zeitraum wird
durch zwei für die Geschichte des Gesindes im 19. Jh. wichtige Ereignisse bestimmt: Die
erste kapitalistischen Verhältnissen angepaßte sächsische Gesindeordnung (1835) und die
Aufhebung sämtlicher Gesindeordnungen im Verlauf der Novemberrevolution (1918). So
einleuchtend — und für die Untersuchung günstig — der von M. festgelegte Zeitabschnitt
auch ist, so wäre doch ein kurzer Überblick über die volkskulturellen wie wirtschaftlich-
sozialen Verhältnisse des Bautzener Landes im Spätfeudalismus angebracht gewesen, um so
das Besondere des Übergangs zur kapitalistischen Landwirtschaft besser herausheben zu
können. Wie sich die Verhältnisse dann nach 1918 weiterentwickeln, darüber wird uns
hoffentlich in nicht allzu ferner Zeit das Ergebnis der großen Komplexuntersuchung in
dem sorbischen Dorf Radibor — durchgeführt vom Institut für sorbische Volksforschung in
Bautzen — Aufschluß geben.
Zur Quellenlage ist wichtig zu erwähnen, daß der Verf. nicht allein die bisher unedierten
einschlägigen Akten, publizierte Gesetzessammlungen und die Berichte von Gewährsleuten
benutzt, sondern auch mit großem Erfolg zeitgenössische Tageszeitungen, Buchkalender
und Zeitschriften herangezogen hat. Er hat uns damit überzeugend auf eine Quellengattung
hingewiesen, die bisher noch in viel zu geringem Maße von der Forschung benutzt worden
ist, aber gerade im 19. Jh. besonders reich und ergiebig ist.
Die Arbeit erhebt nicht den Anspruch einer Monographie. Sie will unter steter Beach-
tung sozial-ökonomischer, historischer, geographischer und ethnischer Aspekte die Lebens-
weise des Gesindes im Bautzener Land darstellen, weil sich gerade hier der Einfluß des
in die ländliche Welt einbrechenden kapitalistischen Denkens besonders augenfällig wider-
spiegelt. — M. versteht unter Lebensweise „Wohnung, Nahrung, Kleidung, Gemeinschafts-
leben unter teilweiser Berücksichtigung von Landwirtschaft und Gesindearbeit, sozialer
Lage, Gesundheitswesen, Hygiene, Bildung und Kultur“ (S. 5). Die übrigen Bereiche der
Volkskultur klammert der Verf. bewußt aus, die entsprechenden Fachleute aber ausdrück-
lich auf die Notwendigkeit von Paralleluntersuchungen hinweisend. Wie weit M.s Begriff
der „Lebensweise“ noch zu ergänzen oder abzuwandeln wäre, darüber soll hier nicht die
Diskussion eröffnet werden. Erkenntnismäßig wichtig scheint dem Rez. allein die Tatsache,
daß der Verf. unter Lebensweise gewisse Bereiche auch subsumieren kann, die in tradi-
tionellen volkskundlichen Untersuchungen bisher kaum auf getaucht sind. Wie aufschlußreich
sie aber für die „Lebensweise“ sind und wie gerade in ihnen das Neue, das sich Wandelnde
offenbar wird, das zeigt das zahlreiche Material, das M. vor uns ausbreitet, mit großer Ein-
dringlichkeit.
Besprechungen
127
Die Untersuchung ist so angelegt, daß zuerst die sich ändernden Verhältnisse in der Land-
wirtschaft dargestellt und dann im einzelnen die Auswirkungen auf die Lebensweise des
sorbischen Gesindes im Bautzener Land aufgezeigt werden. Diese Darstellung ist trotz ihrer
Knappheit außerordentlich instruktiv. Es ist M. gut gelungen, die wichtigsten Merkmale
der landwirtschaftlichen Verhältnisse im 19. Jh. zusammenfassend zu charakterisieren: ver-
stärkter Arbeitskräftebedarf, Rationalisierung, Technisierung, stärkere Differenzierung der
dörflichen Bevölkerung nach ihrem Besitz (u. a. „Agrarkapitalisten“), Aufhebung der frühe-
ren Gemeinsamkeiten zwischen Bauer und Gesinde (gemeinsamer Tisch, gemeinsame Arbeit)
usw. Hervorzuheben ist, daß auch das Gesinde entsprechend dem sozialen Status des Arbeit-
gebers differenziert werden kann und demzufolge auch die Lebensweise verschieden ist. Bei
künftigen Untersuchungen über das Gesinde in anderen Landschaften sollte unbedingt
überprüft werden, ob sich M.s Einteilungsprinzip (Rittergutsgesinde, Bäuerliches Gesinde,
Unternehmergesinde) verallgemeinern läßt.
Ein Kapitel Soziale Lage behandelt zunächst die juristischen Mittel der Unternehmer, mit
denen sie das Gesinde ausbeuten konnten. Gesindeordnungen, welche im wesentlichen die
Pflichten, aber weniger die Rechte von Knecht und Magd festlegen, gibt es bekanntlich nicht
erst seit dem 19. Jh. Neu sind auch nicht die Gegenmaßnahmen gegen Ausbeutung und
Unterdrückung. Aber unter den kapitalistischen Verhältnissen bekommt alles einen ver-
schärfenden Akzent: Der Arbeitgeber, stärker denn je auf die lebensnotwendige Steigerung
der Arbeitsproduktivität bedacht, verstärkt den Druck auf das Gesinde. Dieses aber, zu
erweiterter Gleichberechtigung strebend und gewillt, am „besseren“ Leben teilzuhaben,
greift zu den Mitteln des Streiks, entzieht sich durch „Kontraktbruch“, verläßt das Dorf usw.
Gesundheitswesen und Hygiene sowie die Wohnverhältnisse entsprechen der geschilderten
Lage zwischen Gesinde und Unternehmer. Da eine ärztliche Betreuung erst seit dem Kran-
kenkassengesetz von 1888 garantiert werden kann, ist bis dahin der Kurpfuscherei Tür und
Tor geöffnet. Ein ernstes soziales Problem ist die Mutterschaft lediger Mägde. — Die Wohn-
verhältnisse des Gesindes sind außerordentlich primitiv. Die Schlafstelle befindet sich zu-
meist im oder über dem Stall, und erst später werden besondere Bodenkammern eingerichtet.
Das Rittergutsgesindc scheint im allgemeinen besser untergebracht gewesen zu sein. Wichtig
ist, wie schon erwähnt, die Aufhebung der Wohngemeinschaft zwischen Bauer und Gesinde.
Es werden eigens separate Aufenthaltsräume geschaffen, eine Einrichtung, die an die
„Kasernen“ der „Sachsengänger“ erinnert.
Dem ausführlichen Kapitel über die Nahrung liegt ebenso wie den vorher genannten in
seiner Fülle z. T. verwirrendes Material zugrunde. Die Gesindekost — z. T. aus Natural-
deputat bestehend — ist mengenmäßig vielleicht ausreichend, in der Qualität aber schlecht.
Die Arbeitgeber — ihr eigenes Essen immer mehr der Stadt angleichend — verwenden zur
Herstellung der Gesindemahlzeiten meist minderwertigere Lebensmittel. Der Alkohol-
verbrauch nimmt stark zu. Die Zwangsbewirtschaftung im ersten Weltkrieg führt zu einer
gewissen Nivellierung der bestehenden Unterschiede.
Die Kleidung ist von M. — obwohl ihm auch hier ein großes Material zur Verfügung
stand — vielleicht etwas zu kurz behandelt worden. Denn die eingetretenen Wandlungen
Essen sich mit der Frage des Trachtentragens, mit dem immer stärker werdenden Wunsch
nach moderner, städtischer Kleidung, der sich ändernden Geschmacksrichtung sehr gut
belegen.
Recht aufschlußreich ist das Kapitel Gemeinschaftsleben, in welchem die Spinte, das Mai-
baumwerfen, Schnitter- und Drescherbräuche, Hochzeitsoorfeier und Landtag untersucht
werden. Entsprechend der eingetretenen Trennung zwischen Bauer und Gesinde werden
die Spinnstuben nicht mehr gemeinsam von den Töchtern der Besitzer und den Mägden be-
schickt, sondern es kommt schon um 1835 zu getrennten Spinnabenden, wobei die der
'^lägde eine besondere Rolle spielen und sehr bald Argwohn und Verfolgung durch die
Behörden ausgesetzt sind. Vorkapitalistisches bäuerliches Brauchtum übernimmt das
Gesinde, wandelt es um und erfüllt es mit neuen Wertkategorien (z. B. das Werfen des
»Alten“ zum Abschluß des winterlichen Handdreschens wird „entmagisiert“ und mehr mit
sportlichen und wettkampfartigen Elementen versehen). Was Ingeborg Weber-Keller-
ttiann (siehe die Rez. ihres Werkes in diesem Band, S. i56ff.) für die Landarbeiter in ostelbi-
128
Besprechungen
sehen Gutsbezirken festgestellt hat, kann M. in ähnlicher Weise für das sorbische Gesinde
erweisen.
Ein letzter Abschnitt Bildung und Kultur zeigt, wie das meist sorbisch sprechende Ge-
sinde sich immer mehr die deutsche Sprache aneignet. Die gebildete sorbische Welt, stark
katholisch beeinflußt, hat es nicht verstanden, es mit geeigneten Mitteln in ihrem Sinne zu
beeinflussen. Das dörflich-kulturelle Leben spielt sich weniger in den bäuerlichen Vereinen
als vielmehr in den Spinten ab. Gelesen wird relativ wenig.
Wir geben M. Recht, wenn er in einer Schlußbetrachtung die Auffassung vertritt, daß
sich in dem von ihm untersuchten Zeitraum eine „auffällige Schrumpfung der traditionellen
volkskundlichen Forschungsthematik“ feststellen läßt. Das ist für diese Zeit des Umbruchs,
der radikalen Veränderungen auch kaum anders zu erwarten. Wir möchten jedoch ausdrück-
lich auch die Feststellung des Verfs zu unserer eigenen machen, daß es notwendig sei, noch
weitere Untersuchungen durchzuführen, aus denen dann erst sichtbar werden wird, „was
unter entwickelten kapitalistischen Verhältnissen als ethnographisch einzuschätzen ist“.
Wolfgang Jacobeit, Berlin
Ulrich Planck, Der bäuerliche Familienbetrieb zwischen Patriarchat und Partnerschaft.
Stuttgart, Ferdinand Enke-Verlag, 1964. IX, 167 S., 3 Abb. (= Soziologische Gegen-
wartsfragen NF. 20).
Jakob Nussbaumer, Die Lebensverhältnisse der Bauernfamilien im Homburgertal. Eine agrar-
soziologisch-betriebswirtschaftliche Untersuchung. Liestal, Kantonale Drucksachen- und
Materialzentrale, 1963. 179 S. (= Quellen u. Forschungen zur Gesch. und Landes-
kunde des Kantons Baselland 6).
Rudolf Dick, Die niedersächsischen Bauern und ihre berufsbildenden Schulen seit Anfang des
19. Jahrhunderts. Hildesheim, August Lax-Verlag, 1963. 251 S.
Untersuchungen über die bäuerliche Familie werden — ganz gleich von welcher Fach-
richtung sie ausgehen — stets das Interesse des Volkskundlers finden. In einem noch stärke-
ren Maße wird das bei einer Arbeit wie der vorliegenden der Fall sein, welche die bäuerliche
Familie im Spannungsfeld der vielfältigen Einflüsse unserer Zeit betrachtet. Patriarchat
und Partnerschaft werden vom Verf. als die Pole bezeichnet, welche Vergangenheit und
Gegenwart, aber auch die Zukunft charakterisieren wollen. (Der Begriff „Partnerschaft“
wird hier lediglich für das Verhältnis zwischen Alt- und Jungbauer im landwirtschaftlichen
Familienbetrieb angewendet.)
Der Darstellung liegt eine 1959 durchgeführte soziologische Repräsentativumfrage in 207
dörflichen Gemeinden der Bundesrepublik (mit zusammen 1115 Einzelinterviews) zugrunde,
die mit modernsten technischen Mitteln ausgewertet wurde. Leider ist der Fragebogen nicht
abgedruckt worden, doch ergibt sich aus den Einzelheiten der Darstellungen, daß die En-
quete neben den üblichen Fragen nach Betriebsgröße und -Struktur, nach dem Grad der
Mechanisierung, der Ausübung von Nebengewerben usw. vor allem das Verhältnis zwischen
Jung- und Altbauern hinsichtlich der Mitbestimmung im Betrieb, der Hof über gäbe, der
Entlohnung, der Heirat und Kindererziehung und vieler anderer Umstände, die das Fami-
lienleben bestimmen und bestimmt haben, betraf.
Die bäuerliche Familie — es handelt sich vornehmlich um Klein- bis Mittelbauern —
wird von P. als eine Lebens- und Arbeitsgemeinschaft betrachtet, deren Mitglieder den
ererbten Grund und Boden selbständig unter vorwiegendem Einsatz von Familienarbeits-
kräften bewirtschaften. Sie ist weitgehend von ökonomischen und speziell arbeitsökono-
mischen Bedingungen abhängig und wandelt sich mit eintretenden Veränderungen vor allem
in diesen Bereichen. Es ist interessant, daß in diesem Zusammenhang Verf. wie auch Heraus-
geber u. a. auf den „Agrarsoziologen“ Wilhelm Heinrich Riehl hinweisen, der bereits zu
solchen Schlußfolgerungen (sowohl in seinem Vortrag von 1858 Die Volkskunde als Wissen-
schaft, als auch in Die deutsche Arbeit 1861, W. J.) gelangte. In der Volkskunde sind diese
Besprechungen
129
Äußerungen Riehls weitgehend unbekannt geblieben; sie entsprachen ja auch nicht den
Klischeevorstellungen der 30er Jahre von diesem Mann und seiner Stellung zur Volks-
kultur.
Das Buch ist auch vom Methodischen her für uns wichtig. Der Verf. bemüht sich um eine
allseitige Betrachtung seines Gegenstandes, sieht die bäuerliche Familie in ihrer ganzen
strukturellen Differenziertheit und wägt ihre Bildungselemente sorgsam gegeneinander ab.
Es ergibt sich so ein eindrucksvolles Bild der bäuerlichen Familien zwischen Gestern und
Heute (gültig freilich nur für Westdeutschland), das die zukünftige Entwicklung schon erken-
nen läßt. Es ist aber festzustellen — und auch der Verf. macht darauf aufmerksam —, daß
die Tendenz zur „Partnerschaft“ keine absolut neue Erscheinung im bäuerlichen Familien-
betrieb darstellt. Sie ist vielmehr bereits im 19. Jh. vorhanden; unter dem Einfluß der indu-
striellen Gesellschaft tritt sie jetzt natürlich stärker in den Vordergrund. Es ist also keines-
wegs so, daß erst heute ein absoluter Bruch zwischen traditioneller und moderner Bauern-
familie zu konstatieren wäre. Die Entwicklung zum gegenwärtigen Erscheinungsbild war
schon längt vorgezeichnet; sie im einzelnen zu untersuchen, wäre eine lohnende Aufgabe für
die Volkskunde.
Ein erstes Kapitel dient der Klärung der angewandten Begriffe, wobei die patriarchalische
Familienordnung als „autoritär“, die partnerschaftliche hingegen als „egalitär“ oder „demo-
kratisch“ bezeichnet wird. Die Kriterien hierfür findet der Verf. vorwiegend in einer Unter-
suchung des Generationenverhältnisses bestätigt.
Nach einer ausführlichen Erörterung über Gewinnung und Kritik des empirischen Materials
seiner Arbeit betrachtet P. Die Eigenart der Bauernfamilie und die bäuerliche Familien-
verfassung in ihren strukturellen Besonderheiten (Generationengefüge, Haushaltszusammen-
setzung und -große, Zahl und Stellung der Kinder), in den funktionellen Eigentümlich-
keiten als Produktions-, Besitz-, Fürsorge- und Erziehungsgemeinschaft und schließlich in
den rechtlichen Sonderregelungen (eheliches Güterrecht, Erbrecht, Dienstleistungspflicht
der Kinder u. a.). Die Repräsentativumfrage lieferte ihm hierfür ein vielseitiges und aussage-
kräftiges Material. Es zeigt vor allem, daß die These von der immer stärkeren Angleichung
der bäuerlichen Familie an die städtische nicht in der Absolutheit stimmt, mit der sie ver-
kündet wird. Es steht außer Frage, daß die Lebensformen der industriellen Gesellschaft
starken Einfluß auf die Struktur der bäuerlichen Familie ausüben, doch zeigt diese nach wie
vor eine — den veränderten ökonomischen und sozialen Verhältnissen entsprechende —
Eigenständigkeit, die keinen ausgesprochenen Übergangscharakter trägt wie andere soziale
und kulturelle Erscheinungen der Gegenwart. Diese Eigenständigkeit beruht — den
kapitalistischen Verhältnissen Westdeutschlands entsprechend — letztlich auf dem
Gedanken und der Sorge um die Erhaltung des Hofes als einer Wirtschaftseinheit und der
der bäuerlichen Familie als Wirtschaftsgemeinschaft. Nur geschieht dies heute nicht mehr
mit den Mitteln einer patriarchalisch gegründeten Lebensordnung, sondern in Angleichung
an den modernen Lebensstil unter, wie im letzten Kapitel (Die partnerschaftlichen Struktur-
elemente in den bäuerlichen Familienbetrieben) dargestellt wfird, stärkerer Mitbestimmung
der jüngeren Generation bei der Leitung des Betriebes, der gleich bewerteten Ausführung
notwendiger Arbeiten durch Vater und Sohn, der Mitbeteiligung an Gewinn und Ertrag,
einer früheren Hofübergabe usw. Diese Umstrukturierung erfolgt gewiß nicht überall ohne
Schwierigkeiten. Sie ist aber, wenn man so will, das notwendige Zugeständnis der alten
bäuerlichen Familie an die neue Zeit, die — den sozialökonomischen Verhältnissen in West-
deutschland entsprechend — den Bestand des Hofes zu sichern versucht.
Das Buch wirft in den einzelnen Kapiteln auch andere für die Volkskunde wesentliche
Fragen auf, so, wenn von der steigenden Bedeutung der Frau im modernen bäuerlichen
Familienbetrieb berichtet wird (neue Formen der geschlechtlichen Arbeitsteilung), von dem
Überlegenheitsgefühl des Traktorfahrers etwa gegenüber denen, die nur mit Zugtieren
arbeiten (man denke an den früheren „Gegensatz“ zwischen „Pferde“- und „Kuhbauern“),
von einer sich neu entwickelnden „Tradition der Bedienungs- und Einsatztechnik“ von
Maschinen, der Respektierung des gelernten Fachwissens des Jungen durch den Alten, sich
neu entwickelnde Formen der Arbeitsteilung durch den Ausfall hoffremder Arbeitskräfte
usw.
9 Volkskunde
130
Besprechungen
Alles in allem bietet die Untersuchung dem Volkskundler mancherlei Anregungen, für die
er dem Verf. dankbar sein muß.
Wenn Planck Struktur und Stellung der westdeutschen Bauernfamilie schlechthin
zwischen gestern und morgen untersucht und dabei zu Verallgemeinerungen gelangt, so
beschränkt sich Nußbaumer — Agraringenieur und Lehrer an einer Landwirtschaftsschule —
auf eine monographische Darstellung desselben Themenkreises in sechs Gemeinden des
Kantons Baselland. Beide Autoren verbindet das gleiche Anliegen, nämlich eine Zustands-
bestimmung der heutigen bäuerlichen Lebensverhältnisse zu geben; zu untersuchen, wie es
dazu kam und zu zeigen, wie ein Weg aus den gegenwärtigen Schwierigkeiten gefunden
werden kann. Es ist in beiden Büchern das Bemühen zu erkennen, Gesetzmäßigkeiten in der
Entwicklung festzustellen und aus diesen für die erstrebte Stabilisierung der Verhältnisse
eine Nutzanwendung zu ziehen.
Während P. im wesentlichen ein Institut für Meinungsforschung mit der Befragung seiner
1115 Gewährsleute beauftragte, hat N. in einem weit kleineren und ihm wohl vertrauten
Gebiet die Interviews mit der Bevölkerung selbst durchgeführt. Dies und die Tatsache, daß
Eduard Strübin (Baselbieter Volksleben, Basel 1952) — vom Verf. mehrfach zitiert — im
gleichen Gebiet gesammelt und N. auch den Blick für die allgemeinen volkskulturellen
Zusammenhänge geöffnet hat, geben dem Gesamtwerk N.s ein stärkeres volkskundliches
Gepräge. Das zeigt sich nicht allein bei der Schilderung vergangener Zustände, sondern
auch bei der Darstellung gegenwärtiger Erscheinungen in der Struktur der bäuerlichen
Familie, im bäuerlichen Arbeitsleben, in der Dorfgemeinschaft usw. Solche Untersuchungen
wie die vorliegende ergeben für den umstrittenen Problemkreis Volkskunde in der Gegenwart
oder Soziologie? immer wieder neue Aspekte. Sie lassen vor allem aber erkennen, daß uns
ein reines Theoretisieren über diese Kernfrage zu keiner Lösung oder Entscheidung führen
wird. Das Volksleben selbst in seiner ganzen Vielfalt — heute differenzierter denn je — muß
hier die Antwort geben. Erst aus einem optimalen Material wird dann die Theorie ihre
Schlußfolgerungen ziehen können. Doch an geeignetem Material mangelt es noch immer.
Darum ist jede Untersuchung, die von verschiedenen Standpunkten aus Probleme des
heutigen Volkslebens aufgreift, zu begrüßen. Dabei werden die aus kleinräumigen Gebieten
gerade wegen ihrer „Lebensnähe“ von besonderer Wichtigkeit sein.
Die Bedeutung solcher Gegenwartsuntersuchungen ergibt sich aber nicht allein nur von
dem eben erwähnten Standpunkt aus. Manche Vorgänge in der Vergangenheit können durch
Vergleiche mit ähnlichen Erscheinungen, die sich heute abspielen, auf gehellt werden. Ge-
dacht sei z. B. an den Vorgang des Wüstwerdens von Dörfern, an das Stadt-Land-Ver-
hältnis, an die Probleme des Arbeitskräftebesatzes mit all ihren einschneidenden Folgerun-
gen, um nur einige zufällige Beispiele herauszugreifen. Sowohl in dem Werk von Planck
als auch in dem von N. gibt es für diese Fragen ein reiches Material, und der Gedanke drängt
sich geradezu auf, daß das, was wir heute — zumindest im agrarischen Bereich — erleben,
als ein weiteres Glied sich in der Geschichte immer wiederholender gesetzmäßiger Vor-
gänge zu betrachten ist.
N. beginnt seine Abhandlung mit einer Einleitung, in der er Rahmen und Methoden der
Agrarsoziologie im allgemeinen, Fragen der gesellschaftlichen Schichtung im historischen
Schnitt und die von ihm angewandten Methoden (Fragebogen, Interviews, Auswahl der
Gewährsleute, Schüleraufsätze usw.) beschreibt. — Das folgende Kapitel ist ein historischer
volkskundlich-soziologischer und ökonomischer Überblick über das Untersuchungsgebiet
und seine Bevölkerung, die recht gemischt war und noch ist (Bauern, Posamenter, jetzt
Pendler und „Freizeitbauern“).
Das dritte Kapitel Die Lebensverhältnisse der Bauernfamilien ist das Kernstück des
Buches und zeigt die Ergebnisse der Befragung, die mit speziellen Fragelisten für den
„Betriebsleiter“, die Bäuerin und die junge Generation durchgeführt wurde. (Die Frage-
listen sind im Anhang abgedruckt.) Dieses Kapitel ist randvoll mit höchst interessantem und
aufschlußreichem Material angefüllt, das hier zu resümieren nicht möglich ist. Nur stichwort-
artig können wir einige der behandelten Themen nennen: Bodennutzung, Viehhaltung, bau-
liche Anlagen, die Mechanisierungsfrage, Gründe der Abwanderung in die Industrie, das
Besprechungen
131
Problem der Hofübergabe, die Bauernfamilie als Arbeitsgemeinschaft und als Lebens-
gemeinschaft, Selbsteinschätzung der Bauern, Einstellung zum Beruf u. a. Alle Angaben
werden durch instruktive Statistiken und Graphiken unterbaut. Der historisch-volkskund-
liche Aspekt wird hier besonders deutlich und — das sei an dieser Stelle erwähnt — Riehl
wird — wie bei Planck — mehrfach als Agrarsoziologe erwähnt und zitiert, ebenso auch
Justus Möser!
Volkskundlich aufschlußreich ist auch das folgende Kapitel über Die Bauernfamilien in
ihrer Umwelt. Hier werden die Beziehungen zur Nachbarschaft und Dorfgemeinschaft, zu
Kirche, Schule, Behörden, zu den zahlreichen Vereinen und wirtschaftlichen Interessen-
verbänden untersucht, Fragen des Brauchtums und der gegenwärtigen Brauchtumsträger
ebenfalls erwähnt. Der Einfluß von außen (Radio, Fernsehen, Zeitung, Reisen, Auto usw.)
ist natürlich stark und wirkt häufig nivellierend. Man gewinnt aber gerade in diesem Kapitel
den ganz sicheren Eindruck, daß nicht nur ein allgemeiner Substanzverlust der Volks-
kultur statt hat, sondern daß sich wirklich neue und echte Wertkategorien den veränderten
sozialen und wirtschaftlichen Verhältnissen entsprechend entwickeln und vielleicht auch von
Bestand sein können. Daß in manchem noch eine ausgesprochene Übergangssituation vor-
herrscht, daß sich vieles noch abklären muß, ist unbestritten.
Die Schlußbetrachtung mit den Abschnitten Der Prozeß der Landoerwandlung und Neue
bäuerliche Lebensformen erfordert unser besonderes Interesse, denn hier zieht der Verf. das
Fazit aus seiner Untersuchung: Er sieht das heutige Erscheinungsbild der bäuerlichen
Kultur als Etappe eines sich ständig vollziehenden Prozesses und wirft — im Anschluß an
Heinz Haushofer — die Frage auf, ob unsere bisherigen Vorstellungen vom Bauerntum als
einer „Welt des Beharrens“ nicht zu revidieren seien. Wenn sich im Laufe der Geschichte alle
Lebensformen den sich ständig verändernden Verhältnissen immer wieder von neuem an-
passen mußten, dann sei es nicht angängig, vom Bauerntum das Gegenteil anzunehmen,
nämlich daß es z. T. bis in unser Jahrhundert aus der so oft zitierten tausendjährigen Tradi-
tion gelebt habe. Was sich also heute vollzieht, ist — historisch gesehen — für das Bauerntum
kein absolutes Novum. Es befindet sich wiederum im Stadium einer Anpassung, einer Suche
nach neuen, z. T. schon sichtbaren Wertkategorien; nur ist der gegenwärtige Prozeß viel-
leicht radikaler als frühere. In der volkskundlichen Erforschung des Bauerntums steht die
Erörterung solcher Fragen noch in den Anfängen. Sie wird sie aber stärker als bisher in ihre
Überlegungen einbauen müssen, wenn sie nicht hinter den Forschungsergebnissen der
Nachbardisziplinen (vor allem der Agrargeschichte und Agrarsoziologie) — wie schon so
oft — Zurückbleiben will.
Arbeiten zur Geschichte der Landpädagogik und ihrer Bedeutung für die bäuerliche Bil-
dung nehmen in der agrargeschichtlichen Forschung seit geraumer Zeit einen beachtlichen
Raum ein. Auch für die Volkskunde sind diese Untersuchungen von nicht geringem Inter-
esse, denn sie geben uns einen tiefen Einblick in die bäuerliche Einstellung und Verhaltens-
weise gegenüber all den Neuerungen und einschneidenden Veränderungen, die seit dem
19. Jh. auf den landwirtschaftlichen Betrieb und die bäuerliche Familie Einfluß genommen
haben. In dieser Zeit liegen die Anfänge der Entwicklung zu den Erscheinungen wirtschaft-
licher, sozialer und ethischer Art, wie wir sie gegenwärtig in Dorf und Stadt erleben; und
manche Probleme, die heute zur Debatte stehen, galten schon vor rund 100 Jahren als drin-
gend lösungsbedürftig. Das wird gerade bei dem vorliegenden Buch deutlich, dessen Verf. —
hauptsächlich auf unedierte Archivalien gestützt — sich bemüht, u. a. die Einstellung der
niedersächsischen Bauern zu den von oben her propagierten Landschulen dazustellen.
Seit den „Hausvätern“ spielt in der immer stärker auf den Marktbedarf gerichteten Land-
wirtschaft die Frage eine Rolle, wie Landwirt und Bauer am schnellsten und besten mit
neuen Arbeitsmethoden, die zum Zwecke der Ertragssteigerung entwickelt wurden, be-
kannt gemacht werden können. Diese Bemühungen verstärken sich namentlich im spät-
feudalen 18. Jh. und finden einen gewissen Höhepunkt beim Übergang zur Wirtschafts-
führung nach wissenschaftlichen Methoden im 19. Jh. War bis dahin die feudale Gesell-
schaftsordnung mit ihren Lasten und der Abhängigkeit der Bauern vielerorts ein Grund
dafür, daß sich die bäuerliche Bevölkerung am Fortschritt der Landwirtschaft nicht in dem
9*
132
Besprechungen
notwendigen Maße beteiligen konnte, schienen jetzt die Bauernbefreiung und die Durch-
führung der Separation das Haupthindernis aus dem Wege zu räumen. Landwirtschafts-
schulen werden in großer Zahl gegründet, um namentlich die jüngere Generation mit den
fortschrittlichen Wirtschaftsmethoden vertraut zu machen. Aber diese Schulen, z. T.
privater Natur, z. T. auch vom Staat subventioniert, stehen vorwiegend nur der gehobenen
ländlichen Schicht offen. Um die Mitte des Jahrhunderts werden z. T. auf Initiative land-
wirtschaftlicher Akademien und zahlreicher landwirtschaftlicher Vereine sogen. Ackerbau-
schulen auch für Söhne von Kleinbauern eingerichtet, wo diese jedoch im wesentlichen nur
eine Ausbildung für die Arbeit auf Gütern vermittelt bekommen. Dementsprechend ist die
Einstellung der Bauern zu diesen Schulen. Sie lehnen sie ab, weil ihre Kinder dadurch für die
Arbeit auf dem väterlichen Hof verlorengehen. Sie halten die Einweisung in die Arbeit durch
die ältere Generation noch für genügend. Dieses absolute Bindenwollen der Söhne an den
väterlichen Besitz beruht letztlich aber auf einem ganz anderen Problem, das die Existenz
nicht nur von Bauernhöfen, sondern auch von Gütern zeitweise in Frage stellte, und das war
der Mangel an Arbeitskräften. Die neuen Anbaumethoden, die Notwendigkeit der Ertrags-
steigerung, arbeitsintensivere Pflanzen u. a. erforderten ungleich mehr Hände als zur Zeit der
Dreifelderwirtschaft. Dieser Mangel an Arbeitskräften, den die Güter zwar durch den Ein-
satz von Maschinen und Saisonarbeitern ausgleichen konnten, war für den kleineren Besitzer
der Hauptbeweggrund, die Söhne auf dem Hof zu halten. Das wird aus den Ausführungen
D.s sehr deutlich. Erst die sogen. Winterschulen fanden größeren Anklang bei den Bauern,
weil hier der Unterricht in die arbeitsärmere Zeit verlegt wurde. Trotz allem aber blieben
die Bauern skeptisch, im Gegensatz zum dörflichen Handwerk, das den Nachwuchs — hier
ist das Lernen schon Tradition — ganz selbstverständlich in die Berufsschulausbildung
schickte.
Die bäuerliche Berufsbildung blieb bis weit in unser Jahrhundert hinter dem allgemeinen
landwirtschaftlichen Fortschritt zurück; nicht zuletzt deshalb, weil die Bauernsöhne mehr
für die Arbeit auf dem Hof, statt für die spätere Leitung des Betriebes ausgebildet wurden.
D. zeigt — die Bücher von Planck und Nußbaumer damit bestätigend —, daß hierin ein
wesentlicher Grund für die gegenwärtigen Schwierigkeiten in vielen bäuerlichen Familien-
betrieben zu suchen ist. Nur dort, wo der heute zum Betriebsleiter ausgebildete Bauernsohn
die Wirtschaft in die Hand nimmt bzw. sie zusammen mit einem einsichtigen Vater nach
den modernen Erfordernissen betreibt, wo vor allem die ältere Generation den Widerstand
gegen das „Bauer lernen“ aufgegeben hat, scheint der Bestand des Hofes im wesentlichen
gesichert.
Neben diesen volkskundlich bedeutungsvollen Ergebnissen des Buches, die recht an-
schaulich demonstrieren, wie sehr Erscheinungen der Gegenwart mit der Entwicklung seit
dem 19. Jh. unmittelbar in Zusammenhang stehen, untersucht D. u. a. die Einflüsse, die von
außen auf die Ackerbau- und Winterschulen einwirkten bzw. die Tendenzen, die im kaiser-
lichen Deutschland, in der Zeit der ersten deutschen Republik und in der Nazizeit durch die
Fortbildungsschulen auf die bäuerliche Bevölkerung Niedersachsens wirkten (Kampf der
bürgerlichen Reaktion gegen die Sozialdemokratie, Beeinflussung des Bauerntums im Sinne
der nazistischen Expansionspolitik u. a.). — Ein besonderes Kapitel ist der Frauenbildung
auf dem Lande gewidmet, und hier ist interessant festzustellen, daß die Bauerntöchter bis in
unser Jahrhundert hinein von jeglicher Fortbildung so gut wie ausgeschlossen waren. —
Ein umfangreicher Anhang bringt in 5 Anlagen Zusammenstellungen von Archivalien zur
Veränderung und Entwicklung des niedersächsischen Bauerntums und der Landwirtschaft,
die für den Volkskundler ebenfalls von Interesse sind.
Wolfgang Jacobeit, Berlin
Besprechungen
133
Josef Ruland, Nachbarschaft und Gemeinschaft in Dorf und Stadt. Formen auf dem Vorder-
hunsrück, auf dem Maifeld und in der Stadt Andernach. Düsseldorf, Rheinland-Verlag,
1963. 142 S., 36 Abb. und Belege (= Werken und Wohnen. Volkskundliche Unter-
suchungen im Rheinland, hg. von Matthias Zender 5).
Heinz Schmitt, Das Vereinslebcn der Stadt Weinheim an der Bergstraße. Volkskundliche
Untersuchung zum kulturellen Leben einer Mittelstadt. Weinheim a. d. B. 1963. 240 S.
(— Weinheimer Geschichtsblatt 25).
Die These vom „unbehausten“, vom einsamen und verlassenen Menschen in der Indu-
striegesellschaft hat R. bewogen, an einem dreifachen Beispiel aus dem Mündungsgebiet von
Rhein und Mosel (Vorderhunsrück, Maifeld, Stadt Andernach) mit volkskundlichen
Mitteln und Methoden zu untersuchen, ob diese wirklich so allgemeingültig ist, wie sie in
Westdeutschland dargestellt wird. Der Verf. greift also ein akutes Gegenwartsproblem auf,
das von der westdeutschen Soziologie bereits mehrfach behandelt wurde. Er kommt dabei
zu der Feststellung, daß Soziologie und Volkskunde bisweilen die gleiche Fragestellung
gegenüber ihrem Untersuchungsgegenstand haben, z. T. sogar parallel arbeiten, ohne sich
eigentlich dessen immer bewußt zu sein. Daraus resultiert die Notwendigkeit einer künftigen
engeren Zusammenarbeit zwischen Volkskunde und Soziologie als bisher und ein gemein-
sames besseres Abstimmen ihrer Methoden. R. vertritt also die Auffassung, daß die Volks-
kunde auch bei Gegenwartsforschungen in entscheidender Weise mitzuwirken hat.
Die drei ausgewählten Beispiele zeigen Geschichte, Wandel und gegenwärtige Funktion
der Nachbarschaften in einem vorwiegend bäuerlich bestimmten Gebiet (Vorderhunsrück),
in einem inhomogenen, durch das Land-Stadt-Verhältnis geprägten Raum (Maifeld) und
schließlich in der Stadt selbst (Andernach). Ein derart dreifach verschiedenes Gebiet zu
erfassen, stellt an den Forscher große Anforderungen und verlangt vor allem Vertrautsein
mit den dort lebenden Menschen sowie ihren Gewohnheiten und noch mehr eine gute
Beobachtungsgabe (denn durch Befragungen allein dürfte bei manchen heiklen Dingen des
Nachbarschaftswesens kaum etwas zu erfahren sein). Beides besitzt der Verf. in hohem Maße.
— Vieles in seinen sehr instruktiven Schilderungen von den Aufgaben der Nachbarschaften
verdichtet sich zu einer Analyse heutigen Brauchtums. Zu beachten ist auch das in den An-
merkungen vorhandene Material über gegenwärtige volkskundlich zu deutende Erscheinun-
gen. So ist R. beispielsweise auf S. 34, Anm. 34 eine sehr aufschlußreiche Analyse über die
heutige Kleidung in den Hunsrückdörfern gelungen, die dem Trachtenforscher manche
Anregungen bieten dürfte.
Im Hunsrück sind „die Nachbarn für gewöhnlich eines jeden bewohnten Hauses die
beiden links und die beiden rechts davon befindlichen Häuser auf derselben Straßenseite“
(S. 25). Man hilft sich gegenseitig bei freudigen und traurigen Anlässen und im täglichen
Leben. Die Skala der gegenseitigen Handreichungen, der Aufmerksamkeiten umfaßt im
wesentlichen all das, was wir unter Familienbrauchtum verstehen. Die „Brauchrequisiten“
haben sich freilich heute geändert, sind z. T. auch schon verschwunden, aber im Prinzip
scheint die Nachbarschaft eine durchaus noch funktionsfähige alte Einrichtung zu sein, die
im Flunsrück in den Beziehungen zwischen den Menschen noch eine Rolle spielt. Die Jugend
distanziert sich hier zwar — wie auch in den beiden anderen Gebieten — auf ihre Weise vom
Nachbarschaftswesen, doch muß gesagt werden, daß sie ohnehin nicht zur Trägerschicht
gehört bzw. gehört hat, sondern erst die Verheirateten.
Im Maifeld, das mehrere Städte und große Dörfer mit Industriebetrieben besitzt, ist die
Nachbarschaft „nach Begriff und Umfang aus dem Bereich des Selbstverständlichen, Über-
persönlichen stärker hineingeraten in eine Sphäre des guten Willens“ (S. 5 5). Manches von den
Formen des Hunsrücks ist noch erhalten geblieben, vieles aber ist „Zug um Zug verloren-
gegangen“. Stärker treten hier „sekundäre“ Gemeinschaften, wie Vereine, Verbände, früher
die Zünfte, in den Vordergrund. „Nachbarschaften“ wurden — ein Einfluß der Stadt —
als „e. V.“ gegründet. Der Nachbarschaftsgedanke ist noch erhalten, aber die Zahl der
gegenseitigen Hilfeleistungen wird geringer. In den Vordergrund treten mehr die Repräsen-
tationspflichten, die in immer teurer werdenden Geschenken ihren Ausdruck finden, also
immer stärker städtische Züge tragen. — Auch das, was R. in diesem Kapitel über Hochzeit,
Begräbnis, das Begehen von meist religiös geprägten Feiertagen u. v. a. berichtet, gehört in
den Kreis heutigen Brauchtums, das in der Wandlung begriffen ist, aber auch schon zu
stabileren Formen — getragen durch Nachbarschaft und „sekundäre“ Gemeinschaften —
gefunden zu haben scheint.
In der alten kurkölnischen Stadt Andernach sind seit dem 17. Jh. organisierte Nachbar-
schaften in Funktion. Sie tragen die Grundzüge von Handwerkszünften und religiösen
Gemeinschaften. R. schildert sie uns an Hand der erhaltenen Nachbarschaftsbücher als
Gemeinschaften, die in ihrem Wirkungskreis soziale Belange vertraten, ihre Mitglieder
schützten, in allen Nöten halfen usw. Diese 17 organisierten Nachbarschaften Andernachs
haben die Stürme der Zeiten, die über die Stadt gegangen sind, überstanden. Auch die
heutige Entwicklung scheint sie in ihrem Bestand nicht zu gefährden. R. sieht den Grund
dafür in der Tatsache, daß sie es stets verstanden haben, sich immer wieder echte — meist
soziale —, den Zeitverhältnissen entsprechende Aufgaben zu stellen. — Vieles Interessante
wäre noch über die Andernacher Gemeinschaften, ihr Brauchtum, ihr Wirken, ihre Zu-
sammensetzung usw. zu erwähnen. Aber wir müssen uns mit den gemachten Andeutungen
begnügen.
R. ging von der These vom „unbehausten Menschen“ unserer Tage aus. Die Darstellung
hat gezeigt, daß der Mensch ohne Zugehörigkeit zu einer Lebensgemeinschaft, wie sie auch
die Nachbarschaft war und ist, sich selbst isoliert. Eine nachbarliche Gemeinschaft aber, die
sich echte Aufgaben stellt, vermag auch heute noch ihre volle Lebensfunktion zu erfüllen —
zum Wohle des Einzelnen, der ihr angehört und sich selbst dem Nachbarn verpflichtet
fühlt.
Die Arbeit von Heinz Schmitt, einem Schüler Hermann Bausingers, führt uns in die
Vielschichtigkeit des Vereinslebens einer Stadt mittlerer Größe im südwestdeutschen
Raum. Wie schon im Untertitel hervorgehoben, will Sch. nachweisen, daß Verein und Ver-
einsleben — im bisherigen deutschen volkskundlichen Forschungsprogramm kaum ent-
halten — durchaus ein legitimer Betrachtungsgegenstand unserer Disziplin sind. Dem
möglichen Einwand, daß eine solche Untersuchung ausschließlich Sache der Soziologie sei,
tritt der Verf. mit der Feststellung entgegen, daß es dieser lediglich auf eine allgemeine
Typisierung ankomme, während das Vereinsleben, die „Vereinsgüter“ und ihre Funktion —
worunter nach Bausinger sowohl traditionelle als auch neu entstandene Phänomene als
Ausdrucksformen volkskundlich relevanter Erscheinungen zu verstehen sind — die Men-
schen in den Vereinen, die Wandlungsformen usw. von ihr nicht berücksichtigt würden.
Aber gerade hier ergeben sich für die Volkskunde eindeutige Forschungsaufgaben, welche
die soziologischen Feststellungen nicht nur ergänzen, sondern sie in ihrer Aussagekraft
beträchtlich erweitern können. Umgekehrt kann aber auch der Volkskundler bei der Bewäl-
tigung seiner Aufgaben soziologischer Methoden und Forschungsergebnisse nicht entraten.
Volkskunde und Soziologie sind „komplementäre Disziplinen“ (Brepohl in Deutsche
Universitätszeitung 9, 1954, Heft 14. Göttingen), und dies zu bestätigen, ist auch ein Anlie-
gen dieser Arbeit.
Die Untersuchung ist historisch konzipiert und umfaßt etwa die letzten 150 Jahre. Der
Verf. macht uns mit den Motiven der Gründung der verschiedensten Vereine bekannt und
stellt sie nach ihren Funktionen in bestimmten Gruppierungen zusammen (Vereine zur
Pflege der Geselligkeit, Gesang- und Musikvereine, Sport- und Wandervereine, Liebhaber-
vereine, Fleimatvereine und Landsmannschaften, Arbeitervereine u. a.). — Sehr aufschluß-
reich ist der Abschnitt über die Vereinsgründungen, in dem Sch. den Versuch macht, verall-
gemeinernd drei Möglichkeiten des Zusammenschlusses festzustellen: 1. Vereinsgründung
durch „eine bereits bestehende informelle Gruppe“. Junge Männer einer Altersklasse, einer
Nachbarschaft, einer gleichen sozialen Stellung usw. schließen sich zur Ausübung einer
bestimmten Tätigkeit bzw. Funktion zusammen (Gesang, Sport, Wandern u. a.). 2. Vereins-
gründung durch „Initiative einer oder auch mehrerer Einzelpersonen“, wobei Ehrgeiz, aber
auch wirtschaftliche Vorteile (z. B. sind nicht selten Gastwirte Gründer von Vereinen) eine
Besprechungen
135
beträchtliche Rolle spielen können. 3. Vereinsgründung „durch Lostrennung eines Teils
der Mitglieder von einem bereits bestehenden Verein“. Hier können die Motive sehr ver-
schiedenartig sein. Interessant ist, daß die sich absondernden Gruppen oft ein intensiveres
Vereinsleben führen als der „Mutterverein“. Als Grundmotiv der Vereinsgründung führt
Sch. das „allgemeinmenschliche Gesellungsbedürfnis“ und „das Bestreben, durch Organi-
sierung bestimmte Zwecke zu erreichen“ an.
Auf diesen Überlegungen baut der Verf. seine weitere Darstellung auf. Die Grundzüge
der Organisation der Weinheimer Vereine, ihre Mitglieder, Formen der Vereinsgeselligkeit,
sozialer Status des Vereins und seine besondere Funktion im Leben der Mitglieder usw.
werden jeweils im historischen Querschnitt erörtert. Aus der Fülle der hier behandelten
interessanten Einzelheiten sei nur ein Beispiel herausgegriffen: In Umsiedlervereinen wird
u. a. das Tracht-Tragen gepflegt, obwohl die Mitglieder in der ehemaligen Heimat nach-
weislich keine Tracht getragen haben und auch sonst keine Beziehung mehr zum heimischen
Brauchtum hatten. Sch. hält diese Erscheinung für eine „Heimatkultur, die Altes wiederer-
weckt“, untersucht aber leider nicht, in welchem Maße politische Gruppen an dieser Erneue-
rung längst unbekannt gewordener Brauchelemente Anteil haben. Es entsteht so ein falsches
Bild von den landsmannschaftlichen Vereinigungen in der Bundesrepublik, deren politisch-
revanchistische Rolle nur zu gut bekannt ist. Daß sich die Jugend gerade von diesen Vereinen
immer stärker distanziert, ist ein Zeichen dafür, daß sie keine Lebenskraft besitzen und die
künstlich aufgepfropften Brauchrequisiten funktionslos werden.
Ein besonderes Kapitel ist der Eigenart und Funktion der Vereinsgüter gewidmet. Die Ver-
eine erweisen sich einmal als Bewahrer und damit in gewisser Weise auch als Nachfolge-
organisationen der Zünfte, Altersklassen, Nachbarschaften, Schützengesellschaften u a. und
ihres Brauchtums, entwickeln zum anderen aber auch manches Neue, das bereits zur Tradition
geworden ist. Erscheinungen, die Hans Moser als „Folklorismus“ darstellte, besitzen in den
Vereinen eine echte Funktion, solange sie publikumswirksam sind. Aber auch die Vereine
selbst sind in ihrem Bestand „abhängig von der öffentlichen Unterstützung, die nur solchen
Veranstaltungen gegeben wird, die Werbewirkung für die Stadt haben1 (S. 209). Mit dieser
Feststellung ist gleichzeitig die gegenwärtige Situation im Vereinswesen charakterisiert: Der
Einfluß der Stadt, auch der Großorganisation, nimmt in immer stärkerem Maße zu und läßt
Struktur wie Aufgaben der alten Vereine allmählich verkümmern. Sch. zeigt sehr instruktiv,
wie die Rolle der Vereine als echte „Kulturträger der Gemeinde“ (S. 224) mehr und mehr
von amtlichen Einrichtungen und anderen überregionalen Organisationen übernom-
men wird. Das ist der eine Trend der Entwicklung. Der andere zeigt sich in der Gründung
von Klubs als einer unserer Zeit entsprechenden Art der Geselligkeit, die ihre eigenen Aus-
drucksformen gefunden hat und sich weiter entwickeln wird.
Sch. hat sich bewußt auf die Untersuchung des Weinheimer Vereinswesens beschränkt.
Ob seine Schlußfolgerungen eine Verallgemeinerung zulassen, werden weitere Forschungen
in anderen Gemeinden zu erweisen haben. Wir müssen dem Verf. aber dankbar sein, daß er
mit einem methodisch gut fundierten Beispiel die Volkskunde auf einen Forschungskomplex
aufmerksam gemacht hat, der zur Klärung mancher offener Probleme Wesentliches beitragen
kann.
Wolfgang Jacobeit, Berlin
Stare i nowe w kulturze wsi Koszalinskiej (Altes und Neues in der Koszaliner Dorfkultur).
Sammelband unter Leitung und Redaktion von Jözef Burszta. Poznan, Wydawnictwo
Poznanskie, 1963. 273 S., 31 Abb. Engl. Res.
An den großen BevölkerungsVerschiebungen im mitteleuropäischen Raum haben die
polnischen West- und Nordbezirke großen Anteil. Von 1945 — 1950 wurden dort mehr als
4,5 Mill. Inlands- und Auslandspolen angesiedelt. Während die politischen, nationalen,
wirtschaftlichen und teilweise gesellschaftlichen Probleme bereits seit Jahren Gegenstand
intensiver Untersuchungen verschiedener Wissenschaftsdisziplinen sind, waren die damit
Zusammenhängenden kulturellen Probleme nahezu unbeachtet geblieben. Nachdem die
136
Besprechungen
Bevölkerung dieser Gebiete sich eingelebt und die Verhältnisse sich stabilisiert hatten —
mehr als die Hälfte der heutigen Einwohner sind dort geboren —, untersuchte in den Jahren
1960 — 63 ein Forscherkollektiv des Ethnographischen Lehrstuhls der Universität Poznan
unter Leitung von Jözef Burszta in 6 Dörfern des Agrarkreises Koszalin (Köslin) den
Zusammenstoß der verschiedenen traditionellen Regionalkulturen und den Prozeß ihrer
Veränderungen infolge Angleichung und der Bildung einer neuen zeitgenössischen Dorf-
kultur.
In seinen einleitenden Ausführungen über den Stand der Erforschung kultureller Verände-
rungen im Dorf der Westgebiete (5 —15) bemerkt B., daß der vorliegende Sammelband kein
erschöpfender Abschlußbericht des Forschungsunternehmens, sondern eine erste Darstellung
von ausgewählten Ergebnissen ohne Darlegung des gesamten Materials sei. Abschließende
Wertung und Schlußfolgerungen seien weiterer Forschung und einer umfassenderen Publi-
kation Vorbehalten.
Hauptanliegen der Untersuchungen in den 6 Dörfern ist die Erhellung des kulturellen
Integrationsprozesses der nach 1945 dort angesiedelten Dorfbewohner und der Prozeß der
Bildung einer kulturell einheitlichen und durch gesellschaftliche Bindungen festgefügten
neuen Dorfgemeinschaft. Im Mittelpunkt des Interesses der polnischen Ethnographen
steht der Konflikt oder — wie sie sagen — der Zusammenstoß der voneinander oft sehr
abweichenden traditionellen Regionalkulturen, zweitens ihre Konfrontierung und Aus-
einandersetzung mit den am neuen Wohnort Vorgefundenen Gegebenheiten und drittens
der Mechanismus, der bei der Durchsetzung des ökonomisch, gesellschaftlich und kul-
turell Neuen wirkt, wobei mit Rücksicht auf den früheren sozialen Status eines großen
Teiles der Siedler und ihre Herkunft aus wirtschaftlich rückständigen Gebieten Polens
das Neue dem Fortschrittlichen gleichgesetzt wird. Der Verf. geht leider nur nebenbei
und sehr kurz auf den Gegenstand und die Methode dieser ethnographischen Gegenwarts-
forschung ein. Soziologie und Ethnographie haben es mit demselben Gegenstand der gesell-
schaftlich-kulturellen Wirklichkeit in den Westgebieten zu tun. Die Soziologen erforschen
die zwischenmenschlichen Beziehungen. Kulturelle Erscheinungen im ethnographischen
Sinne interessieren sie nur insoweit, als sie zwischenmenschliche Verhältnisse klären helfen.
Daher erscheint es notwendig, daß die Ethnographie die Elemente der Dorfkultur im
Spannungsfeld Tradition — Gegenwart (Produktions- und Lebensweise, Nahrung, Klei-
dung, Wohnung, Brauchtum, Musik usw.), den Prozeß der Adaptation und Akkulturation
von ihrer Sicht her und mit ihren spezifischen Methoden untersucht. Es liegt einmal in der
Natur des Gegenstandes, daß sich bei der ethnographischen Gegenwartsforschung Berüh-
rungspunkte und teilweise Überschneidungen mit der Soziologie ergeben, und zum anderen
erfordert es die Zielstellung, daß sich die Ethnographie außer ihrer eigenen auch soziolo-
gischer Methoden und Begriffskategorien bedient.
Jözef Burszta untersucht im Kapitel Tradition und Fortschritt in der Agrarkultur (16—49)
die Faktoren, die langes Festhalten der Siedler an traditioneller Wirtschafts- und Lebens-
weise oder die Entscheidung für den Fortschritt bestimmten. Regionale Herkunft und der
Zeitpunkt der Ansiedlung bewirkten, daß der „ökonomische Start“ der einzelnen Siedler
sehr verschieden war. Außerdem hängen wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Erfolg oder
Mißerfolg von mehreren objektiven und subjektiven Faktoren ab. Die Überwindung
traditioneller und die Durchsetzung fortschrittlicher Wirtschaftsmethoden erfolgte durch
Anpassung an die klimatischen und Bodenverhältnisse des neuen Wohnortes, durch die
Erfahrung, daß traditionelle Wirtschaftsmethoden versagen, daß Nachahmen der Praktiken
von Neuerern aber sicheren Gewinn bringt.
Mit der Untersuchung der gegenseitigen Hilfe und einiger anderer Formen der Gemein-
schaftsarbeit (50 — 84) greift Zbigniew Jasiewicz ein schon oft in der Ethnographie behandeltes
Thema auf. Der Verf. unterscheidet Formen der gegenseitigen Hilfe, die nur einer Familie
oder Familiengruppe von Nutzen sind, und solche, die der gesamten Dorfgemeinschaft
dienen. Die am neuen Wohnort Vorgefundenen Gegebenheiten (Klima, Bodenbeschaffenheit,
Kulturpflanzen, Gebäude, Geräte, Maschinen usw.) bedingten in vielen Fällen die Aufgabe
traditioneller Formen der Gemeinschaftsarbeit (Federschleißen, Spinnen, Getreideernte usw.)
und die Herausbildung neuer Formen (Kartoffelernte). Die Bedeutung der gegenseitigen
Besprechungen
137
Hilfe für den Prozeß der wechselseitigen Durchdringung der verschiedenen von den Siedlern
mitgebrachten Kulturen wird in der Sphäre der materiellen Kultur am augenscheinlichsten:
in der Art der Durchführung der Feldarbeiten, in der Art der Ernährung, der Kleidung und
der Ausstattung der Wohnungen. Die gesellschaftliche Rolle der Frauen hat sich unter den
neuen Bedingungen sehr verstärkt (z. B. ihr erfolgreicher Kampf gegen den Alkoholismus).
Hugona Ostrowska behandelt die Entstehung und den Prozeß der Angleichung der zwei
Gemeinschaften — das Dorf und das Staatsgut (85 —101). Der Prozeß der Integration der
beiden Gemeinschaften wird u. a. besonders durch die Jugend gefördert, die nationaler und
regionaler Herkunft, der Religions- und Klassenzugehörigkeit bei weitem nicht die Bedeu-
tung beimißt, wie die Vertreter der älteren Generation. Eine bereits weitgehend vollzogene
Annäherung beider Gemeinschaften kommt nicht nur in der Lebensweise, sondern auch in
der Entstehung neuer Autoritäten (bester Bauer, Direktor des Staatsgutes, Agronom, Tier-
arzt, Lehrer, Buchhalter) zum Ausdruck.
Marcelina Burszta und Eugenia Stachowiak widmen sich im Kapitel Altes und Neues im
Wirtschaftsbereich der Frau (102 —132) insbesondere Problemen der Nahrung, Wohnung und
Hygiene und kommen zu dem Schluß, daß noch vorhandene Unterschiede nicht mehr mit
einem pauschalen Werturteil über diese oder jene regionale Gruppe in Verbindung gebracht,
sondern auf persönliche Eigenart und individuelle Vorliebe zurückgeführt werden. Das
Streben nach Annäherung an städtische Normen in der Ernährung und Kleidung und im
Wohnen ist offensichtlich. Das, was am rationellsten erscheint, setzt sich durch.
In der Abhandlung Dorfjugend und Kultur des Milieus (133 —169) stellt Walerian Sobisiak
fest, daß sich die Situation der Jugend durch die sozialistischen Verhältnisse gegenüber
früher grundlegend verbessert hat. Die Jugend wird sehr früh selbständig und entscheidet
selbst über ihren zukünftigen Beruf. Einträglicher Beruf, Intelligenz und Lerneifer verschaffen
in zunehmendem Maße Ansehen. Stark ist die Tendenz zur Ergreifung nichtlandwirtschaft-
licher Berufe bei Jungen und Mädchen und die Abwanderung in die Stadt. Obwohl der
Verf. vornehmlich soziologische Erscheinungen untersucht, so sind sie doch der Ethno-
graphie keineswegs fremd, sofern sie Probleme des Brauchtums und der Rechtsverhältnisse
berühren.
Aleksandra Wojciechowska kommt bei der Untersuchung des Familienbrauchtums
(170 — 207) zu der Feststellung, daß das regional differenzierte Brauchtum im neuen Milieu
der Nivellierung, Adaptation und grundsätzlichen Schrumpfung unterliegt. Dieser Tendenz
widerspricht auch nicht die Tatsache, daß magische Brauchpraktiken zugenommen haben.
Diese Erscheinung bezeichnet die Verf. als vorübergehend. Es ist offensichtlich, daß im
Zuge der Bildung des sozialistischen Bewußtseins die nationalen und regionalen Besonder-
heiten schnell schwinden.
Zu ähnlichen Ergebnissen kommt JaninaDydowiczowa bei der Untersuchung des Jahres-
brauchtums gestern und heute (208 — 233), wobei die Tendenz zum Vergehen alten Brauchtums
stärker ist als die Tendenz zur Adaptation. Am schnellsten vergehen die Brauchtumsformen,
durch die sich im Dorf eine regionale Siedlergruppe von den übrigen Gruppen besonders
stark unterschieden hat.
Boguslaw Linette geht mit der Untersuchung der Musikkultur im neuen Milieu
(234—266) dem Prozeß der Bewahrung und Verschmelzung der Musikfolklore verschiede-
ner regionaler Gruppen und der Entstehung einer neuen lokalen Mikromusikkultur nach.
Mit 40 Aufzeichnungen von Volksliedern (Text, Melodie) belegt der Verf. seine These, daß
die traditionelle Musikfolklore auch im neuen geographischen und gesellschaftlichen Milieu
von einem Teil der Jugendlichen gepflegt und weiterentwickelt wird. Gleichzeitig erhebt
sich aber die Frage, ob diese erfreuliche Erscheinung dem mächtigen Druck der städtischen
Zivilisation und der kulturellen Nivellierung wird standhalten können.
Die im Sammelband mit großer Zurückhaltung dargelegten Forschungsergebnisse sind
auch für den Forscher außerhalb Polens in mancherlei Hinsicht aufschlußreich und wertvoll.
Der Leser gewinnt einen tiefen Einblick in den umfassenden gesellschaftlich-kulturellen
Wandlungsprozeß, der sich in einem großen Teil der Volksrepublik Polen in den vergan-
genen zwei Jahrzehnten vollzogen hat. Zum anderen stellt er einen wichtigen Beitrag zur
ethnographischen Gegenwartsforschung dar. Die Notwendigkeit und Nützlichkeit der-
138
Besprechungen
artiger Untersuchungen steht außer Frage. Die polnische ethnographische Gegenwarts-
forschung folgt der sowjetischen Ethnographie, die seit langem Fragen der Kultur in Ver-
bindung mit Erscheinungen der Gegenwart untersucht. In ethnographisch-soziologisch-
ökonomischen Grenzbereichen bewegen sich auch andere polnische Forscher, wie z. B.
Z. T. Wierzbicki, tmiaca w pöl wieku pözniej (Zmiaca nach einem halben Jahrhundert),
Warszawa 1963 und D. Markowska, Rodzina w srodowisku wiejskim (Die bäuerliche Familie),
Warszawa 1964. So erfordert die Beschäftigung der Volkskunde mit Erscheinungen der
Gegenwart einerseits enge Zusammenarbeit mit Soziologen, Ökonomen, Sozialpsychologen
usw. und andererseits einen offenen Blick auch für soziologische Erscheinungen und Pro-
bleme und weitgehende Beherrschung soziologischer Methoden und Techniken. Wie der
vorliegende Sammelband zeigt, erfüllt das Kollektiv unter Leitung von Jözef Burszta in
hohem Maße die Anforderungen, die die Beschäftigung mit kulturellen Problemen der
Gegenwart stellt. Für den deutschen Volkskundler wäre eine ausführlichere Darstellung
solcher grundlegenden Probleme der ethnographischen Gegenwartsforschung wie das
Zusammenspiel und die Abgrenzung von Ethnographie und Soziologie, die Anwendung
soziologischer Methoden in der volkskundlichen Forschung usw. von Interesse.1
Paul Nowotny, Bautzen
1 Verwiesen sei in diesem Zusammenhang auf Jözef Burszta, „Ethnographische Pro-
bleme des Umsiedlungsprozesses in den polnischen Westgebieten“ (DJbfVk 10, 1964,
43ff).
Theo Reintges, Ursprung undWesen der spätmittelalterlichen Schützengilden. Bonn, Ludwig
Röhrscheid-Verlag, 1963. 384 S., 4 Karten (= Rheinisches Archiv 58).
Die Erforschung der Geschichte des Schützenwesens ist in den letzten Jahren wieder
in den Vordergrund gerückt durch die Arbeiten des Innsbrucker Landeshistorikers Otto
Stolz (i960) für das Tiroler Schützenwesen und die von Hermann Goja für die Frühzeit der
österreichischen Schützengilden (1963). Aus der Feder des Brüsseler Historikers und Volks-
kundlers Verbesselt sind außer den bei R. zitierten weitere Veröffentlichungen zum Schüt-
zenwesen des nordwesteuropäischen Raumes zu erwarten.
R. hat es nun in der vorliegenden, vorzüglich fundierten Arbeit unternommen, den Pro-
zeß der Gesellschaftswerdung der Schützen in größeren Räumen, also nicht mehr nur in
lokalen und territorialen Grenzen, zu verfolgen. Zwar weisen schon im 19. Jh. die Studien
von Flendel und Edelmann sowie G. Freytags Darstellungen eine weiträumige Zielsetzung
auf, die dann im 20. Jh. von Germann und Ewald beibehalten wird, doch dominiert weiter-
hin die lokalgeschichtliche Forschung, aus der um so besser fundierte Arbeiten hervorgingen,
je enger die räumlichen Grenzen gesetzt wurden. Eine derartige Beschränkung ergab sich
zwangsläufig aus der schwierigen Quellenlage. Die Verengung des Gesichtskreises auf den
Bereich des lokalen Schützenwesens hatte allerdings zur Folge, daß der größere regionale
und territoriale Zusammenhang zumeist außer acht gelassen wurde. Aber das mittelalter-
liche Schützenwesen ist, wie R. nachdrücklich feststellt, keine lokale Erscheinung. Deshalb
sind falsche Verallgemeinerungen nur dann zu vermeiden, wenn das Schützenwesen in
seiner ganzen räumlichen Ausdehnungsbreite von der Seine bis ins Balti-
kum untersucht wird. Wie notwendig eine solche großräumige Zusammenschau war, geht
wohl am deutlichsten aus der Tatsache hervor, daß bisher keine historische Spezialforschung,
weder Militär- und Verfassungsgeschichte noch Kulturgeschichte und Volkskunde eine
sichere Grundlage für die Beurteilung des mittelalterlichen Schützenwesens geboten haben.
Das schwankende Urteil fand dann auch in der Aufstellung zahlreicher Theorien seinen
Niederschlag. Daß das Schützenwesen von einem qualifizierten Historiker untersucht
wurde, ist von besonderer Wichtigkeit für die Volkskunde, denn ohne eine saubere histo-
rische Fundierung bleibt eine volkskundliche Betrachtung des Schützenwesens vor Fehl-
interpretationen nicht bewahrt.
Besprechungen
139
Schon ein kurzer Blick in das umfangreiche Literaturverzeichnis zeigt, daß R. in jahre-
langer Arbeit alle verfügbaren ungedruckten Quellen gesammelt und die wichtigste Fach-
literatur herangezogen hat. Ein instruktiver Urkundenanhang (40 S.) enthält Gründungs-
urkunden, Privilegienbriefe, Gilde-Ordnungen und Statuten aus der Frühzeit des Schützen-
wesens (vom Jahre 1266 ab). Auf solch unanfechtbarem Ausgangsmaterial baut R. seine
Untersuchung auf. Dem Leser wird schon nach wenigen Kapiteln klar, daß seine räumliche
Beschränkung im wesentlichen auf den Raum zwischen Seine und Weser, also auf den
niederfränkisch-westfälischen Raum, durchaus gerechtfertigt ist, da, wie R. nachweist, die
ältesten Spuren des Schützenwesens in das artesisch-flämisch-brabantische Gebiet führen
(vgl. Karten 1 — 3). — Die zeitliche Einschränkung der Arbeit von den Anfängen bis in die
Zeit des 30jährigen Krieges bedeutet nicht nur eine vernünftige Begrenzung hinsichtlich
des Umfanges der Untersuchung, sondern vor allem eine sachlich gerechtfertigte Maßnahme,
da die Blütezeit der Schützengilden in das 15. u. 16. Jh. fällt, während in späteren Jahr-
hunderten nur Varianten und Verfallserscheinungen, aber kaum neue Formen auftauchen.
Diese Beschränkung auf das Kerngebiet und die Blütezeit des Schützenwesens ermöglicht
die Erforschung des Ursprungs und gestattet die generelle Ausweitung der Betrachtung auf
die Ausstrahlungsgebiete und die Folgezeiten.
Ausgehend von der etymologischen Bedeutung des Begriffs Schütze und seiner unter-
schiedlichen Anwendung gibt R. einen kurzen Überblick über das Schützenwesen im allge-
meinen und speziell über die historische Entwicklung des Schützentums im Heerwesen. Im
Hauptteil behandelt er Ursprung und Wesen der Schützengesellschaften. An Hand der histo-
rischen Aufzeichnungen weist R. nach, daß die Anfänge des Schützenwesens in die Zeit um
1300 fallen und in Flandern zu suchen sind. Von dort breitet sich das Schützengildenwesen
aus. Drei Linien lassen sich deutlich verfolgen: Die eine verläuft in den Norden nach Schles-
wig-Holstein, die zweite über Mecklenburg bis ins Baltikum und die dritte über Thüringen
nach Sachsen und Schlesien. Daß die Hansestädte eine entscheidende Rolle dabei spielten,
geht aus R.s Untersuchungen klar hervor. Seine kartographischen Darstellungen ver-
anschaulichen vorzüglich die Forschungsergebnisse und speziell die Streuungsdichte in der
Frühzeit des Schützenwesens. Die Beigabe der Atlaskarte ermöglicht den Vergleich mit der
jüngsten Zeit.
Als Entstehungsursachen weist R. einerseits das Aufkommen der Armbrust und den ver-
stärkten Schießwaffengebrauch seit den Kreuzzügen nach, andererseits das Vordringen der
Zünfte in die politische Verantwortung des Stadtwesens. Die Ziele und Aufgaben der
Schützengesellschaften umfassen die Schießausbildung in Friedenszeiten sowie den Einsatz
der Schützen im Krieg und in gefahrvollen Zeiten, nämlich im Wachdienst, in der Verteidi-
gung der Stadt und in der Bereitstellung eines Schützenkontingents für den Heeresdienst. —
Das Verhältnis der Obrigkeit zu den Schützengesellschaften legt R. in seiner ganzen Vielfältig-
keit dar. Die Obrigkeit erscheint als Gründer von Schützengesellschaften, in ihrer Funktion
als Aufsichtsbehörde und als Gerichtsstand in Gildeangelegenheiten, als Mitglied der Schüt-
^engesellschaften und als Förderer durch Privilegien und durch materielle und finanzielle
Unterstützung. — Ein spezielles Kapitel ist der Mitgliedschaft in den Schützengesellschaften
gewidmet, die durch differenzierte Statuten und Gildeordnungen geregelt war. Für die
These eines Zusammenschlusses von Schützengesellschaften zu fest organisierten regionalen
Verbänden, den sog. Schützenbünden, lassen sich nach R.s Forschungen keine urkundlichen
Belege beibringen. Die großen Freischießen waren, so stellt er fest, zwar prächtig ausge-
stattete, aber nur der Pflege eines freundschaftlichen Verkehrs zwischen benachbarten
Schützengesellschaften dienende Veranstaltungen ohne besondere Bindungen oder gar feste
Verbandszusammenschlüsse.
Als eines der Ergebnisse seiner Untersuchung stellt R. zusammenfassend den verfassungs-
rechtlichen Charakter der Schützengesellschaften folgendermaßen dar: Die Gesellschafts-
'werdung erfolgte in der Regel in drei Phasen. Der Entwicklungsprozeß setzte von unten
ker ein. Auf einer ersten „vorgesellschaftlichen“ Stufe fanden sich Einwohner einer Stadt
°der einer Ortschaft zwanglos zu Schießübungen ein. In einem zweiten Stadium bildeten
S1ch Gesellschaften rein privaten Charakters. „Auf dem Wege über den freigenossenschaft-
kchen Zusammenschluß bewältigte die mittelalterliche Gesellschaft alle sozialen Aufgaben.
140
Besprechungen
So bildeten sich die Kalands- und Elendsgilden, die Genossenschaften zum Bau von Wegen,
Brücken, Deichen, zur Einrichtung von Spitälern usw., die Berufsgenossenschaften der
Handwerker und Kaufleute, schließlich auch die Schützengesellschaften zur Abhaltung von
Schießübungen. Sie konstituierten sich, indem sie sich eine Verfassung gaben.“ „Mit der
offiziellen Bestätigung hatten die Gesellschaften ihr drittes Stadium erreicht und eine recht-
liche Position erworben.“ Ihr Status gleicht dem einer Körperschaft des Privatrechts (vgl.
S. 304.il.).
Weiterhin nimmt der Verf. eine kritische Würdigung der Theorien über Wesen und Ur-
sprung der Schützengesellschaften vor, die für den Volkskundler von besonderem Interesse
sind. Die rund 40 unterschiedlichen Theorien und Hypothesen faßt er in vier Hauptgruppen
zusammen: Die Schutztheorie, die Frühlingskulttheorie, die Bruderschaftstheorie und die
Gildetheorie. Die Schutztheorie gliedert R. in die Wehrtheorie und die soziale Schutztheorie.
Daß der Wehrtheorie eine gewisse Berechtigung zukommt, geht aus seinen Untersuchungen
hervor. Die Tradition der Schützengesellschaften aber bis in die Zeit Karls des Großen und
die der alten Germanen zurückzuversetzen, würde eine Überschätzung ihrer militärischen
Bedeutung sein, wobei außerdem für solche Behauptungen der Nachweis fehlt. Ebenso sind
die Versuche, die Entstehung des Schützenwesens in einer Abwehrbewegung gegen die
Brabanzonen, jenes herrenlose Mord- und Raubgesindel, das im 12. Jh. in Süd- und Mittel-
frankreich sein Unwesen trieb, zu suchen oder sie als Seitensproß der angestellten Stadt-
schützen aufzufassen, nicht haltbar. Unter den nichtmilitärischen Schutztheorien hat die
Pesttheorie die meisten Anhänger. Die Möglichkeit, daß die Pestbruderschaften nach dem
Fortfall ihrer karitativen Aufgaben gelegentlich zu Schützenbruderschaften wurden, ist durch-
aus gegeben, aber das Patronat allein war nicht der ausschlaggebende Anlaß. — Die Früh-
lingskulttheorie wird von weiten Kreisen, insbesondere von deutschen Volkskundlern sowie
im populären Schrifttum vertreten. Tatsächlich sind Frühjahrsbrauchtum und Schützenfeste
eine enge Verbindung eingegangen, doch sind brauchtümliche Erscheinungen wie Maigraf,
Mairitt, Maikönigin oder der alte Vogelschußmythus aus dem Volksbrauch erwachsen und
wurden ein Teil der Feste, sie sind aber nicht Anlaß für das Aufkommen des Schützenwesens,
sondern haben nur, aber eben aus anderer Wurzel kommend, viel Frühjahrsbrauchtum in die
Schützenfeste hineingetragen. — Völlig unhaltbar ist nach R. die Bruderschaftstheorie, die
behauptet, die Schützengilden hätten sich aus kirchlichen Bruderschaften entwickelt. Wenn
auch vereinzelt eine solche Entwicklung stattgefunden hat, so ist dies doch nicht generell
der Fall gewesen. Im Gegenteil! Im Wesen kirchlicher Fraternitäten, die allein die Reali-
sierung kirchlicher Ideale anstrebten, war, sieht man von Namenspatronen ab, nichts ge-
geben, was zum Anlaß für das Entstehen des Schützenwesens dienen konnte. — Ein vierter
Versuch, die Gildetheorie, wrill die Schützengilden aus den altgermanischen Gilden ableiten.
Jedoch sind keine Merkmale der späteren Schützengilden aus der Frühzeit nachweisbar.
Die alte, bewährte Gildeform hatte sich zwar gehalten, aber der Inhalt war ein völlig neuer.
Das Schützenwesen geht gerade im Norden immer auf eine bereits bestehende Kaufmanns-,
Patrizier- oder Schutzgilde zurück, bringt aber ein Element in diese hinein, das nicht von
Anfang an vorhanden war.
Der Verf. betont am Schluß seiner Abhandlung, daß die Schützengesellschaften keine
„große Geschichte“ gemacht haben, daß das nicht in ihrem Wesen lag und nie als Zweck
und Aufgabe proklamiert wurde, daß es aber zu dem vollständigen Kulturbild des Mittel-
alters gehört, die Schützengesellschaften und ihre Volksfeste einzubeziehen, genauso wie
man kein Kulturbild der Gegenwart ohne Berücksichtigung des Sports entwerfen kann.
Kulturgeschichte und Volkskunde werden R.s vorzügliche historische Untersuchung
nicht übersehen dürfen und sie mit großem Gewinn als Grundlage für ihre speziellen Arbeiten
zu nutzen wissen.
Johanna Jaenecke-Nickel, Berlin
Besprechungen
141
Памятники русского фольклора. Главная редакция А. М. Астахова, В. Г. База-
нов, Б. Н. Путилов (Denkmäler russischer Folklore. Hg. von A. M. Astachova,
V. G. Bazanov, В. N. Putilov). Moskau —Leningrad, Verl. d. Akad. d. Wiss. der
UdSSR, 1960 — 1965. 9 Bde.
Das Institut für russische Literatur — Sektor Folklore — an der Akademie der Wissen-
schaften der UdSSR (Puschkinhaus) gibt unter Leitung der im Titel genannten Personen
eine Reihe Denkmäler russischer Folklore heraus. (Vgl. DjbfVk 9, 1963, 412fr.) Die Serie
umfaßt drei Gruppen: 1. Publikationen von Archivmaterial und Texten aus wenig bekann-
ten Ausgaben des 18. und beginnenden 19. Jhs, 2. kritisch durchgesehene und erweiterte
Neuausgaben der bekanntesten Sammlungen des 19. Jhs und 3. neuaufgezeichnetes Material
der letzten Jahre. Bisher sind neun Bände der Serie erschienen. Diese jeweils mit Vorwort
und Kommentaren versehenen Sammelbände sind das Resultat sorgfältiger Textstudien.
Betrachten wir fortlaufend jede Gruppe der Serie. Zur ersten gehören Die Bylinen in
Aufzeichnungen und Nacherzählungen des 17. —18. Jhs,1 2 Sprichwörter, Redensarten und
Rätsel in handschriftlichen Sammlungen des 18.—20. Jhs2 und Russische Märchen in Auf-
zeichnungen und Publikationen der 1. Hälfte des 19. Jhs.3 — Die Texte des 1. Bandes Die
Bylinen in Aufzeichnungen und Nacherzählungen des 17.—18. Jhs sind nach ihrer Thematik
geordnet. Den Heldenliedern folgen Nacherzählungen von Bylinen über Brautwerbung und
Bylinen-Novellen. Bei mehreren Texten wird nach Versionen gruppiert. Texte, die den
Bylinenrhythmus beibehalten haben, werden zweimal gedruckt: nach der Aufzeichnung
und im Anhang in ihrer ursprünglichen Versform. Ein Teil des Bandes ist Texten aus
früheren Publikationen gewidmet. Es wurden auch Balladen, die den Bylinen nahestehen,
aufgenommen. Im Anhang findet der Leser literarische Bylinenbearbeitungen des 18. Jhs,
Bylinenfragmente und literarische Hinweise aus dem 18. Jh. Ein ausführliches Vorwort
von А. M. Astachova und V. V. Mitrofanova eröffnet den Band. Die Autoren zeigen über-
zeugend, daß die Texte trotz teilweiser Ungenauigkeit in der Aufzeichnung, der literari-
schen Bearbeitung usw. wichtige Zeugnisse für die Existenz und das Wesen des russischen
Epos in einer Zeit darstellen, als folkloristische Sammelarbeit noch so gut wie unbekannt
War. Den Band beschließen ein gründlicher Kommentar, ein Register der Archive und Hand-
schriftensammlungen, ein Glossar sowie ein Namenregister. — Der Sammelband Sprich-
wörter, Redensarten und Rätsel... setzt sich aus dem Material von vier Sammlungen (Anfang
des 18. Jhs) zusammen: der Sammlung der ehemaligen Petersgalerie, der Sprichwörter-
sammlung von J. W. Pauss, den Sammlungen von V. N. Tatysev und der von A. G. Bog-
danov; ferner enthält er Sprichwörter aus der Zeit um die Jahrhundertwende (Aufzeich-
nungen von N. A. Dobrol’jubovund A. Buturlin aus dem Gouvernement Ni£nij-Novgorod,
Aufzeichnungen von einer unbekannten Person aus dem Olonecgebiet und von M. V.
Krasnosenova aus dem Krasnojarsker Gebiet). Außerdem findet man in dem Band Aufzeich-
1 Былины в записях и пересказах ХУП-ХУШ веков. Издание подготовили
А. М. Астахова, В. В. Митрофанова, М. О. Скрипиль. Отв. ред. А. М. Астахова
(Eie Bylinen in Aufzeichnungen und Nacherzählungen des 17. und 18. Jhs. Hg. von
А. M. Astachova, V. V. Mitrofanova, M. O. SkripiP. Red. von A. M. Astachova). M.-L.,
Verl. d. Akad. d. Wiss. d. UdSSR, i960. 320 S.
2 Пословицы,поговорки, загадки в рукописных сборниках ХУГП-ХХ веков. Изда-
ние подготовили М. Я. Мельц, В. В. Митрофанова, Г. Г. Шаповалова. Отв. ред.
Е. К. Путилов (Sprichwörter, Redensarten und Rätsel in handschriftlichen Sammlungen
des 18. — 20. Jahrhunderts. Hg. von M. J. МеРс, V. V. Mitrofanova, G. G. Sapovalova,
Eed. von B. N. Putilov). M.-L., Verl. d. Akad. d. Wiss. d. UdSSR, 1961. 289 S.
3 Русские сказки в записях и публикациях первой половины XIX века. Состав-
ление, вступительная статья и комментарии Н. В. Новикова (Russische Märchen in
Aufzeichnungen und Publikationen der ersten Hälfte des 19. Jhs. Zusammengestellt, einge-
Eitet und kommentiert von N. V. Novikov). M.-L., Verl. d. Akad. d. Wiss. d. UdSSR,
T96i. 396 S.
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142 Besprechungen
nungen von Rätseln, die von verschiedenen Personen (19. —20. Jh.) in den Gouvernements
von Tambov, Niinij-Novgorod, Astrachan’, Vologda und im Gebiet von Krasnojarsk
vorgenommen worden sind. Das gesamte Material wird aufzeichnungsgetreu veröffentlicht;
auch hier Einleitung (von B. N. Putilov), Kommentar usw. — Der nächste Band Russische
Märchen ... besteht aus Märchen der Volksbilderbögen, den Aufzeichnungen Puschkins,
der Märchensammlungen von B. Bronicyn, E. A. Avdeeva, M. A. Maksimovic, Ivan Va-
nenko, aus Märchen der Moskauer und Leningrader Archive, aus Volksanekdoten der
Sammlung des russischen Schriftstellers A. N. Ostrovskij und aus späteren Publikationen
der Märchenaufzeichnungen aus der x. Hälfte des 19. Jhs. Es ist hier also das vor dem Er-
scheinen der klassischen Sammlung russischer Volksmärchen von Afanas’ev aufgezeichnete
Märchenmaterial gesichtet und systematisiert worden. Die gründliche wissenschaftliche
Untersuchung von N. V. Novikov, die dem Sammelband vorangeht, sowie der von ihm
verfaßte Kommentar geben die Möglichkeit, bis ins kleinste in die Besonderheiten der
Märchen dieser Periode einzudringen. Sie lassen deutlich werden, daß die erste Hälfte des
19. Jhs eine ausnehmend wichtige Periode sowohl für die Geschichte der russischen Märchen-
forschung als auch für die Geschichte der russischen Wissenschaft überhaupt war.
Zur zweiten Gruppe gehören die Bände: Lieder, Märchen, Sprichwörter, Redensarten
und Rätsel, von N. A. Ivanickij im Wologda-Gouvernement zwischen 1880 u. 1891 ge-
sammelt,4 und Die Großrussischen Märchen in Aufzeichnungen von I. A. Chudjakov.5 Die
vielseitige Tätigkeit Ivanickijs begann in den siebziger Jahren und währte bis zur Jahr-
hundertwende, sie war ganz der Erforschung des russischen Nordens gewidmet. Er arbei-
tete als Botaniker, trat mit Aufsätzen und Gedichten an die Öffentlichkeit, war Autor ethno-
graphischer Arbeiten über das Leben der nordrussischen Bauern und hat im Vologda-Gou-
vernement ein reiches Material an Liedern, Märchen und anderen Gattungen der Folklore
gesammelt. In dem erwähnten Band sehen wir nur einen Teil seines umfangreichen folklo-
ristischen Nachlasses, dessen Ausmaß dem Leser erst klar wird aus der Übersicht im An-
hang. — Der Band beginnt mit einem Artikel von N. V. Novikov. Er schildert den Lebens-
weg Ivanickijs und gibt eine Analyse seiner Sammlungen zur russischen Volksdichtung. Die
glänzenden Ergebnisse seiner Sammelarbeit erklärt N. durch seine „außergewöhnliche
Energie, seine aufopfernde und unermüdliche Tätigkeit, die immer wieder von einer großen
Liebe zum russischen Norden und seinem Volke angefacht wurde.“ Wie in den anderen
Bänden finden wir auch hier ein Glossar sowie ein Verzeichnis der Arbeiten I.s und der
ihm gewidmeten Literatur. — Das zweite Buch dieser Gruppe ist die Neuausgabe der vor
hundert Jahren erschienenen Großrussischen Märchen von Chudjakov, die zu den biblio-
graphischen Seltenheiten gehören. I. A. Chudjakov (1842 — 1876) war der erste russische
Sammler, der direkt aus dem Volksmunde aufzeichnete; daher kann er als erster Herausgeber
von wissenschaftlich zuverlässigem folkloristischen Material gelten. Dem Bande steht ein
Artikel von V. Bazanov voran, der das Bild des talentierten Forschers, Ethnographen,
Folkloristen und Revolutionärs ausdrucksvoll zeichnet und sein tragisches Schicksal im
ungleichen Kampf mit dem Zarismus schildert. Die Märchen Ch.s sind in der Neuausgabe
nach den Gebieten, aus denen sie stammen, gegliedert. Außerdem schließt der Band die rus-
sischen Märchen ein, die Ch. im Exil in Jakutien aufgezeichnet hat, sowie Texte, die später
im Nachlaß des Revolutionärs N. P. Stranden gefunden wurden. Der Band ist gut kommen-
tiert und mit Registern und Literaturverzeichnissen versehen.
4 Песни, сказки, пословицы, поговорки и загадки, собранные Н. А. Иваницким в
Вологодской области. Подготовка текстов, вступительная статья и примечания
Н. В. Новикова. Изд. Вологодского книжного издательства (Lieder, Märchen, Sprich-
wörter, Redensarten und Rätsel, von N. A. Ivanickij im Vologda-Gouvernement gesammelt.
Bearbeitung der Texte, Einleitung und Anmerkungen von N. V. Novikov. Hg. vom Buch-
verlag des Gouvernements Vologda). Vologda i960. 232 S.
5 Великорусские сказки в записях И. А. Худякова. Издание подготовили В. Г.
Базанов и О. Б. Алексеева. Отв. ред. В. Г. Базанов (Die Großrussischen Märchen
in Aufzeichnungen von I. A. Chudjakov. Hg. von V. G. Bazanov und О. B. Alekseeva.
Red. von V. G. Bazanov). M.-L., Verl. d. Akad. d. Wiss. d. UdSSR, 1964. 301 S.
Besprechungen
143
Zur dritten Gruppe gehören die Bände Die Bylinen von der Petschora und der Winter-
küste6 und Die Lieder der Petschora.1 Das Material beider Bände wurde in den letzten Jahren
im Norden der Sowjetunion aufgezeichnet. — „Die Bylinen von der Petschora und der Win-
terküste“ bestehen aus Texten, die in den Jahren 1942 — 1956 an der Petschora gesammelt
wurden, wo bereits zu Anfang des Jahrhunderts, der bekannte Folklorist N. E. Onöukov
Bylinen aufzeichnete.6 7 8 Er enthält außerdem Texte, die in den Jahren 1937 — 1943 an der
Winterküste aufgeschrieben wurden. Auch hier hat Anfang des Jahrhunderts der nicht we-
niger bekannte Forscher А. V. Markov Bylinen gesammelt.9 — Der Band beginnt mit einer
Untersuchung der Herausgeber über Die Bylinentradiiion an der Petschora und der Winter-
küste in den letzten fünfundzwanzig Jahren. Sie konstatieren, daß der Prozeß des Absterbens
der mündlichen Bylinentradition zum Abschluß gelangt, stellen allgemeine Gesetze dieses
Prozesses fest und sprechen von seinen lokalen Eigenheiten. Es werden 161 sorgfältig kom-
mentierte Texte publiziert, die von 52 Sängern aufgezeichnet wurden. Der Anhang ent-
hält einen Artikel über die Melodien der Petscliora-Bylinen, Noten, Kommentare, verschie-
dene Register und ein Glossar. Die Texte des Bandes liefern wertvolles Material für das
Studium der Entwicklung der russischen Bylinen. Die Beobachtungen zur Bylinentradition
korrespondieren mit denen, die in den letzten Jahren an der Mezen’ und im Onegagebiet
gemacht wurden. — Nicht weniger Bedeutung als die Aufzeichnungen der Bylinen haben
die Aufzeichnungen der Lieder von der Petschora; sie wurden 1963 publiziert. Die erste
Fahrt in die ferne, schwer zugängliche Gegend der Petschora wurde von den sowjetischen
Folkloristen im Jahre 1929 unternommen und zeigte einen überwältigenden Reichtum an
Folklore der verschiedensten Art. In den Jahren 1955 — 56 füllten die Expeditionen des
Instituts für russische Literatur an der Akademie der Wissenschaften der UdSSR die weißen
Flecken der folkloristischen Karte des Petschoragebietes und untersuchten die Veränderun-
gen, die in dem Liedgut seit 1929 eingetreten waren. Während dreier Expeditionen wurden
insgesamt ungefähr tausend Lieder aufgezeichnet. Im besprochenen Bande finden wir 383
Liedertexte (181 aus dem Ust’Cyl’ma-Kreis und 202 aus dem Narjan-Markreis). Sie umfassen
verschiedene Liedarten: lyrisch getragene und lustige Bauernlieder, Spiel- und Loblieder,
Weihnachtslieder, Hochzeitsklagen, Wiegenlieder, historische Lieder, Soldatenlieder, CasluSkas
usw. Der Sammelband beginnt mit einem interessanten Artikel von N. Kolpakova, in dem
das Liedgut der Petschora eingehend charakterisiert wird. Alle Texte des Bandes sind mit
ihren Melodien publiziert. Die Texte werden sorgfältig kommentiert. Der Anhang enthält
Glossar, Lied-, Orts- und Namenregister. Zu derselben Gruppe gehört der von V. Propp
vorbereitete Band Nordrussische Märchen in Aufzeichnungen von А. I. Nikiforow (Северно-
русские сказки в записях А. И. Никифорова),10 der 1961 erschien und von den Erfor-
schern des russischen Märchens mit viel Freude begrüßt wurde. — In diesem Band finden
wir 131 Märchentexte, die in den Jahren 1926 —1928 von dem großen Forscher А. I. Niki-
6 Былины Печоры и Зимнего берега (Новые записи). Издание подготовили А. М.
Астахова, Э. Г. Бородина-Морозова, Н. П. Колпакова, Н. К. Митропольская,
Ф. В. Соколов. Отв. ред. А. М. Астахова (Die Bylinen von der Petschora und der
Winterküste. Neue Aufzeichnungen. Hg. von А. M. Astachova, E. G. Borodina-Morozova,
N. P. Kolpakova, N. K. Mitropol’skaja, F. V. Sokolov. Red. von А. M. Astachova).
M.-L., Verl. d. Akad. d. Wiss. d. UdSSR, 1961. 606 S.
7 Песни Печоры. Изд. подг. Н. П. Колпакова, Ф. В. Соколов и Б. М. Добро-
еольский. Отв. ред. Н. П. Колпакова. Музыкальный редактор Б. М. Добровольский
(Die Lieder der Petschora. Hg. von N. P. Kolpakova, F. V. Sokolov, В. M. Dobrovol’-
skij. Red. von N. P. Kolpakova. Musikalische Redaktion В. M. Dobrovol’skij). M.-L.,
Verl. d. Akad. d. Wiss. d. UdSSR, 1963. 460 S.
8 H. E. Ончуков, Печорские былины (N. E. Oncukov. Petschora-Bylinen). SPB 1904.
9 А. В. Марков, Беломорские былины (А. V. Markov, Bylinen vom Weißen Meer.
Al. 1901).
10 Севернорусские сказки в записях А. И. Никифорова. Издание подготовил В. Я.
Lponn (Nordrussische Märchen in Aufzeichnungen von А. I. Nikiforov, Ausgabe vorbe-
feitet von W. J. Propp). M.—L., Verl. d. Akad. d. Wiss. d. UdSSR, 1961. 386 S.
144
Besprechungen
forow im russischen Norden aufgezeichnet worden sind. Außer diesen Texten, die ein objek-
tives und eindrucksvolles Bild des Standes der russischen Märchentradition in den zwan-
ziger Jahren geben, finden wir hier eine Beschreibung des ganzen Märchenarchivs (279 Nrn)
von Nikiforow, ein Register der von ihm aufgezeichneten Märchentypen und einen großen
Artikel von V. Propp, über das Leben und die Tätigkeit А. I. Nikiforows. Dieser Sammelband
ist ein schönes Denkmal für den frühzeitig im Jahre 1941 in Leningrad verschiedenen
talentierten Gelehrten.
Kürzlich ist noch ein Band dieser Serie erschienen Castuschkas in Aufzeichnungen aus der
Sowjetzeit (Частушки в записях Советского времени).11 Dieser Sammelband enthält
8230 Castuschkas, die im Norden und im Nord-Westen der Sowjetunion aufgezeichnet
worden sind. Das reiche Material des Sammelbandes ist nach geographischen Gebieten
geordnet. Als Ergänzung zu diesen Texten, die alle dem Archiv des Puschkin-Hauses in
Leningrad entnommen sind, fügen die Herausgeber noch Texte aus der Kriegszeit hinzu,
die an verschiedenen Fronten des Weltkrieges aufgezeichnet worden sind. Es ist bemerkens-
wert, daß im Sammelband nicht nur Texte, sondern auch die Melodien der Castuschkas
erschienen sind. Der Band wird durch verschiedene Register und einen Artikel über die
Castuschkas der Sowjetzeit von А. A. Gorelov verfaßt, ergänzt.
Die Sammelbände der Serie Denkmäler russischer Folklore sind ihrem Inhalt nach sehr
verschieden, aber ihrem Charakter nach einheitlich. Sie sind, was ihre hohe Qualität anbelangt,
charakteristisch für den Stand der heutigen sowjetischen Folkloristik und geben dem künf-
tigen Forscher ein zuverlässiges Material in die Hand.
Erna Pomeranceva, Moskau
11 Частушки в записях Советского времени. Издание подготовили 3. И. Власова и
А. А. Горелов. Отв. ред. Б. Н. Путилов (Castuschkas in Aufzeichnungen der Sowjet-
zeit. Hg. von S. I. Wlassova und А. A. Gorelov. Red. von B. N. Putilov). M.—L., Verl.
„Наука“, 1965. 496 S.
Jan Raupp, Sorbische Volksmusikanten und Musikinstrumente. Bautzen, VEB Domowina-
Verlag, 1963. 247 S., 30 Abb., 8 Karten, Notenbeisp. (— Schriftenreihe des Inst. f. sor-
bische Volksforschung in Bautzen bei der Dt. Akad. der Wiss. zu Berlin 17).
„Diese Arbeit stellt als ein Teilgebiet der sorbischen Volksmusikkultur das traditionelle
Volksmusikantentum in den Mittelpunkt der Betrachtung“ (7). Einleitend gibt R. einen
kritisch-wertenden Überblick über alle bisher vorliegenden Verlautbarungen zur sorbischen
Volksmusik, sofern sie sich über die „Vielzahl kolportierender Artikel“ erheben. Eine statt-
liche Reihe wichtiger wissenschaftlicher Einzeluntersuchungen kann R. nachweisen. Als
eine der bedeutendsten bezeichnet er mit Recht die „monumentale Sammlung“ J. E. Schma-
lers Volkslieder der Wenden in der Ober- und Niederlausitz (Grimma 1841/43), um deren Neu-
druck sich 1953 das Institut für deutsche Volkskunde an der Deutschen Akademie der
Wissenschaften verdient gemacht hat (dieser Hinweis fehlt bei R.). Eine Zusammenschau,
eine Geschichte der sorbischen Volksmusik steht dagegen noch aus. Nicht einmal die Vor-
aussetzung dazu: die umfassende gründliche und vorurteilsfreie Quellensichtung und -aus-
wertung wurde bislang geschaffen.
Dieser Aufgabe wendet sich nun R. in seiner Arbeit zu. In Form locker aneinandergefügter
„Einzeldarstellungen“, die durch zwei Kapitel zur allgemeinen Geschichte der Sorben ergänzt
werden, vermittelt er vielfältige Einblicke in örtlich und zeitlich jeweils klar umrissene
Gegebenheiten sorbischen Musikantentums: Zunächst behandelt er die Musikkultur der
Elbslawen vom 6. bis zum 16. Jh., danach in kürzeren Abschnitten Fragen der sorbischen
Volksmusikanten im 17. und 18. sowie im 19. Jh. R. stützt sich dabei auf die Auswertung
primärer Quellen, vor allem der bisher unausgeschöpften Stadt- und Landesarchive der
Ober- und Niederlausitz. Schlaglichtartig wird in den einzelnen Beiträgen jeweils eine be-
stimmte Seite des reichen sorbischen Volksmusiklebens vergangener Jahrhunderte erhellt.
Dies geschieht sachlich und ohne irgendwelche Glorifizierung; immer wieder sprechen und
Besprechungen
145
überzeugen eindeutig belegte und kritisch geprüfte Tatsachen in vorsichtig-abwägender
Formulierung und vielseitiger Betrachtung.
Aus der Fülle der so behandelten Einzelthemen seien beispielhaft einige herausgegriffen:
R. kann der verbreiteten Ansicht widersprechen, daß Wizlaw III. von Rügen (+ 1325) ein
westslawischer Künstler gewesen sei (5 5 ff-). — Die alte Streitfrage nach Elementen sor-
bischer Sprache und Musik im Altenburgischen des 18. und 19. Jhs wird auf Grund der
schweigenden Archivquellen negativ beantwortet (n8ff.). — Eine Auswertung des Landes-
visitationsprotokolls der Herrschaft Cottbus vom Jahre 1652 ergibt zahlreiche Rückschlüsse
auf Namen, Wohnort, Besitz und Musizierpraxis der 20 im Herrschaftsbereich Cottbus an-
sässig gewesenen sorbischen Volksmusikanten (80ff.). — Aus Lübbener Archiven des
18. Jhs gehen die scharfen Auseinandersetzungen und Konkurrenzstreitigkeiten zwischen
dem priviligierten „Kunstpfeifer und Stadtmusicus“ und den „Dorf-Spiel Leuthen“ und
„Bauernfiedlern“ der sorbischen Umgebung Lübbens hervor (87 ff.). — Das ganze 18. Jh.
hindurch bestand in Guben eine Volksmusikanteninnung, die Kerbergesellschaft, die in Ver-
bindung mit dem Stadtpfeifer streng darüber wachte, daß keine Volksmusikanten anderer
Bereiche, gleich ob deutscher oder sorbischer Herkunft, „den hiesigen Spiel-Leuthen das
Brodt entziehen sollten“ (94ff.). — Eine ähnliche Musikanteninnung gab es in Luckau. Ein-
gehend schildert R. aus dem Archivmaterial die immer wieder auf flammenden Spannungen
zwischen bürgerlichem Stadtmusikus und dörflichen Volksmusikanten, bis Anfang des
19. Jhs mit dem Aufkommen des bürgerlichen Konzertvereinswesens dem Wirken der
Volksmusikanten im städtischen Bereich langsam der Boden entzogen wurde (103 ff.). —
Bei derartigen Betrachtungen ist allgemein zu bemerken, daß im Zeitalter der „sorbischen
nationalen Wiedergeburt“ sorbische Chorvereinigungen bürgerlichen Charakters und glanz-
volle sorbische Musikfeste selbst mit zur Auflösung des traditionellen sorbischen Volks-
musikantentums beigetragen haben. Mehrfach weist R. auf diesen gesetzmäßigen ökono-
misch-gesellschaftlichen Wandlungsprozeß hin. An die Stelle fester Innungsbildungen des
18. Jhs treten im 19. Jh. sorbische „Musikantenschulen“: in lockerem Zusammenhalt wirken
einzelne besonders begabte Musikanten in ihrem Umkreis als Lehrer und Anreger. Aus
der zeitgenössischen Literatur kann R. zahlreiche solcher Musikanten namentlich erfassen
(133 ff.). Langsam müssen jedoch auch diese ihr herkömmliches Musizieren zugunsten neuer
Instrumente, neuer musikalischer Formen und Kenntnisse aufgeben. Am deutlichsten zeigt
sich dies in der Gründung von Blaskapellen seit den 70er Jahren. Es kommt somit zum
Gegensatz zwischen herkömmlicher „Bocksmusik“ und moderner „richtiger Musik“ mit
jeweils verschiedener brauchtümlicher Bindung; und je seltener die traditionellen Volks-
musikanten werden, desto attraktiver erscheint ihr Wert als „volkstümliche Komparserie“
bei vielerlei Geselligkeit und Festlichkeit. Auch mehrfach versuchte Reformbestrebungen
können an diesem gesellschaftlich bedingten Prozeß nichts ändern. Es ist ein Verdienst von
R., sich nicht nur auf die Feststellung von Tatbeständen zu beschränken, sondern darüber
hinaus nach deren Ursache zu forschen. Die folgenden, der „Schlußbetrachtung“ ent-
nommenen Sätze beanspruchen Beachtung über die Frage der sorbischen Volksmusikanten
hinaus: „Nicht etwa aus dem deutsch-sorbischen Gegensatz resultierte der Vergang des
traditionellen sorbischen Volksmusikanten, sondern aus den sozialökonomischen und
kulturellen Gesetzmäßigkeiten des Kapitalismus. Im Konkurrenzkampf um das Recht der
musikalischen Aufwartung trug der moderne ,deutsche* Blasmusiker den Sieg davon. Er
war es, dessen klangstarke Kapelle den musikalischen Erfordernissen einer bäuerlichen oder
bürgerlichen Vereinsveranstaltung entsprach, der neue Wünsche und Bedürfnisse in bezug
auf ein zeitgemäßes Repertoire zu befriedigen vermochte und der schließlich als begehrter
Berufsmusikant auch imstande war, dem kapitalistischen Vergnügungsunternehmer in
Gestalt des Gaststättenbesitzers wirksam entgegenzutreten“ (227!.).
Der zweite Teil des Buches ist den sorbischen Volksmusikinstrumenten und der sorbischen
Spielweise gewidmet. R. gibt historische Abrisse der bei den Sorben gebrauchten Pfeifen
und Flöten (einschließlich vorgeschichtlicher Belege), der Schalmei, des Dudelsacks sowie
der großen und kleinen Geige, jeweils unter Einbeziehung aller bekannten sorbischen Quel-
len und von Vergleichsmaterial. Dabei gelingt ihm u. a. der Nachweis, daß die gegenwärtig
in sorbischen Volkskunstensembles gebräuchliche Schalmei und kleine Geige irrtümliche 10
10 Volkskunde
146
Besprechungen
Nachbildungen der im Original kaum noch vorhandenen Instrumente sind; durch die Wir-
kung der Ensembles gelangten die Nachbildungen jedoch zu einer gewissen neuen Volks-
tümlichkeit, was im Falle der kleinen Geige sogar zur wissenschaftlichen Aufnahme und
Beschreibung durch Volksmusikforscher der Gegenwart führte (179 ff., 197 ff.). — Es
handelt sich hier um ein kurzes und treffendes, kritisch gearbeitetes Kompendium der sor-
bischen Volksmusikinstrumente, dem R. später eine spezielle Abhandlung besonders über
die Ergologie der sorbischen Instrumente folgen lassen will. Dennoch wäre zu bedenken
gewesen, ob nicht schon jetzt ein genaues Verzeichnis aller original erhaltenen sorbischen
Volksmusikinstrumente mit Angaben über Mensuren und Aufbewahrungsort hätte bei-
gefügt werden sollen.
Mit Repertoire und Interpretationsstil sorbischer Volksmusik beschäftigt sich der letzte
Abschnitt der Arbeit. Auf Grund der wenigen vorliegenden Aufzeichnungen analysiert R.
instrumentale Tänze und Hochzeitsmusiken und vermittelt durch eine gedrängte Darstellung
von Melodietypen, Periodenformen, Variationstechnik, Spielmanieren und heterophoner
Mehrstimmigkeit Einblicke in das Wesen des sorbischen Volksmusizierens im 18. und 19.Jh.
Hier wie bei dem instrumentenkundlichen Teil bleibt das Fehlen einer Schallplatte mit musi-
kalischen Beispielen zu bedauern, zumal die Erkenntnisse R.s für das praktische Musizieren
der heutigen Ensembles von Wichtigkeit sind.
Aus dem vorstehenden Bericht dürfte die große Bedeutung der Arbeit von R. bereits -
sichtbar geworden sein: In bewußt durchgeführter Beschränkung auf das Thema „sorbische
Volksmusikanten“ hat R. eine tiefschürfende, auf primären, bislang unbekannten Quellen
fußende Darstellung geschaffen und damit einen Neubeginn für die Erforschung der sor-
bischen Volksmusik nach dem zwar mühseligen, aber erfolgversprechenden Methoden
moderner archivalischer Volkskunde gesetzt.
Da er darüber hinaus die sorbischen Volksmusikanten nicht isoliert, sondern in Verbin-
dung mit den jeweiligen ökonomischen und gesellschaftlichen Verhältnissen sowie mit dem
Wirken deutscher Musiker im Lausitzer Raum behandelt hat, ist ihm sein Vorhaben, „ein
Kapitel Volksmusikgeschichte in Deutschland“ zu erhellen, in äußerst anregender und
stoffreicher Weise gelungen. In der „Schlußbetrachtung“ seines Buches deutet R. — gleich-
sam in kritischer Einschätzung seines eigenen Werkes — weitere wichtige und umfangreiche
Aufgaben zur Erforschung der sorbischen Musikfolklore an, denen vollauf zuzustimmen
ist, besonders seiner „Forderung nach einem breit angelegten vergleichenden Studium“
(228). Für die Bewältigung dieser neuen Arbeiten sei dem Autor, der als sorbischer Musik-
wissenschaftler, Volkskundler und Komponist dazu die besten Voraussetzungen besitzt, ein
gleich großer Erfolg gewünscht.
Abschließend müssen noch einige Schönheitsfehler genannt werden: Störend wirkt, daß
— selbst in dem sehr umfangreichen Literaturverzeichnis — die Vornamen der Verfasser
nur durch den Anfangsbuchstaben angedeutet, oft sogar überhaupt weggelassen worden
sind. So können sich Unklarheiten und Irrtümer ergeben: Derselbe Franz Magnus Böhme
wird z. B. als Böhme (18), F. Böhme (17), R. M. Böhme (xi), F. M. Böhme (236), nie jedoch
unter vollen Vornamen genannt, während ein auf S. 119 erwähnter E. Böhme im Literatur-
verzeichnis gänzlich fehlt. — Die dem Buch schon beigegebene Druckfehler-Berichtigung
hätte mindestens noch die richtige Schreibweise von Bürgers Ballade „Lenore“ enthalten
sollen. — In bedrückendem Gegensatz zu dem wertvollen Inhalt des Buches steht die äußere
Gestaltung durch den VEB Domowina-Verlag Bautzen. Neben dem zu kleinen Schriftgrad
für die Anmerkungen und der billigen Broschur stört vor allem das sehr schlechte Papier.
Am meisten haben darunter die vom Autor überlegt ausgewählten Abbildungen zu leiden,
Einzelheiten sind auf ihnen kaum oder gar nicht zu erkennen. Jeder Buchhändler kann be-
zeugen, wie hemmend eine lieblose Gestaltung für Absatz und Verbreitung eines Buches ist
— guten Absatz und große Verbreitung aber hat gerade das vorliegende Werk verdient.
Winfried Schrammek, Leipzig
Besprechungen
147
Predigtmärlein der Barockzeit. Exempel, Sage, Schwank und Fabel in geistlichen Quellen des
oberdeutschen Raumes. Hg. von Elfriede Moser-Rath. Berlin, Walter de Gruyter &
Co., 1964. XVI, 545 S. (= Supplement-Serie zu Fabula, Zeitschrift für Erzählforschung,
hg. von Kurt Ranke. Reihe A: Texte 5).
Während die Predigtmärlein des Hoch- und Spätmittelalters schon seit den Forschungen
Reinhold Köhlers als wichtige Zeugnisse für das Erzählgut jener Epoche gelten, wurde das
geistliche Schrifttum der Folgezeit erst in den letzten Jahren als bedeutsame Quelle für die
Erzählforschung „entdeckt“. Von der ansehnlichen Zahl voluminöser gedruckter Predigt-
sammlungen des 17. und frühen 18. Jhs, die M.-R. in jahrelanger Arbeit ermittelt und auf
volkstümliche Erzählformen hin durchgesehen hat, waren bislang nur einige Schriften
Abrahams a Sancta Clara Gegenstand genauerer Untersuchung. Die vorliegende Edition
beweist nun, daß er durchaus nicht jener originelle Einzelgänger war, als der er in der For-
schung erscheint, sondern daß auch die Predigten mancher seiner Zeitgenossen zahlreiche
Sprichwörter, Exempel, Sagen, Fabeln und Schwänke enthielten.
Das Anliegen der Herausgeberin bestand darin, die besten dieser „Erzähler auf der Kanzel“
vorzustellen und ihre jeweilige Eigenart in Stoffwahl und Erzählform deutlich werden zu
lassen. So ging sie bei der Anordnung der Texte nicht von inhaltlichen Gesichtspunkten,
sondern von den Predigern als Erzählerpersönlichkeiten aus. Siebzehn von ihnen — von
Lucianus Montifontanus (geb. um 1630) über Heribert von Salurn, Leo Wolff, Andreas
Strobl, Franz Anton Oberleitner bis hin zu Clemens von Burghausen (geb. 1693) — kommen
mit einer Reihe Geschichten verschiedener Gattung zu Wort, wobei der den einzelnen einge-
räumte Platz jeweils nach dem Gesamtumfang des Erzählguts in ihrem Predigtwerk bemes-
sen wurde. Diese Prediger wirkten, wie die mitgeteilten Lebensläufe ausweisen, in verschie-
denen Landschaften des süddeutsch-österreichischen Bereichs; und ihre chronologisch geord-
nete Reihenfolge nach den Lebensdaten macht anschaulich, über welchen Zeitraum sich hier
die verbreitete Sitte des Erzählens auf der Kanzel nachweislich erstreckte, wobei das durch
Neuauflagen bezeugte Nachwirken der Predigtsammlungen bis weit ins 18. Jh. hinein noch
in Rechnung gestellt werden muß. Lebhaft zu bedauern bleibt nur trotz eingehender Be-
gründung, daß Abraham a Sancta Clara als berühmtester „Pater Fabel-Hanns“ nicht mit
einer Auswahl von Texten in diese repräsentative Edition eingefügt wurde, auch wenn
dadurch Druckseiten für andere verlorengegangen wären.
Bei den buchstabengetreu von M.-R. wiederabgedruckten Predigtmärlein, deren Erzähl-
weise zum Teil wirkliches Vertrautsein mit dem volksläufigen Erzählton verrät, handelt es
sich zweifellos meist um echtes und verbreitetes volkstümliches Erzählgut, das die Prediger —
fast alle bäuerlicher oder kleinbürgerlicher Herkunft nicht nur aus schriftlichen Quellen,
sondern auch aus mündlicher Überlieferung geschöpft haben werden. Die am häufigsten
angeführten, aber erzählkundlich wenig interessanten, religiös-moralisierenden Exempel
sind nur mit vergleichsweise wenigen Beispielen vertreten. Meist der Exempelliteratur ent-
nommen, wandten sie sich jedoch an dieselbe Wundergläubigkeit des Volkes, die hinter der
Entstehung und Tradierung ähnlicher sagenhafter Berichte von bestraften Frevlern, Teufels-
bündnern usw. wirksam war. Unter den Sagen gehörten solche literarisch schon früh be-
legten Stoffe wie die vom Rattenfänger von Hameln, vom Mäuseturm zu Bingen oder von
den Weibern zu Weinsberg ebenso zum Repertoire der Prediger wie zahlreiche Riesen-,
Zwergen-, Geister- oder Schatzsagen, deren Wahrheit sie offenbar so wenig bezweifelten
wie ihre Zuhörer. Auch der Anteil der eingestreuten Fabeln, von denen ebenfalls eine ganze
Reihe mitgeteilt wird, läßt auf eine ungemein lebendige Überlieferung schließen, von der
aus dieser Zeit bislang so gut wie nichts bekannt war. Die Schwänke vollends sind in allen
Kategorien von der einfachen Scherzfrage bis zum vielgliedrigen Schwankmärchen zu
finden, wobei manche Beispiele in ihrer geistreichen Wortspielerei bereits Anklänge an den
Witz zeigen. Obwohl sie in den Predigten eine geringere Rolle als die anderen Gattungen
spielten, hat M.-R. gerade diesem heiteren Erzählgut bevorzugt Platz eingeräumt; standen
sich hier doch Predigtmärlein und Volksüberlieferung zweifellos am nächsten.
10*
148
Besprechungen
Es würde zu weit führen, dieses Kunterbunt der Stoffe näher zu beschreiben. Ich ver-
weise auf das Verzeichnis der Typen nach Aarne-Thompson im Anhang des Buches. Hinzu
kommt eine Fülle klassifizierter Motive.
Was den Band über die Materialdarbietung hinaus wertvoll macht, sind die sorgfältig
gearbeiteten Anmerkungen zu den Texten (S. 431 — 509), in denen jeweils die Quellen und
ihre Vorlagen, die Erzähltypen und -motive, weitere zeitgenössische Parallelbelege — über
die von Oesterley, Boite oder Wesselski gegebenen Zusammenstellungen hinaus — und die
einschlägige Spezialliteratur verzeichnet sind. Bei der Weitschichtigkeit des herangezogenen
Schrifttums begrüßt man auch das übersichtliche Quellen- und Literaturverzeichnis (S. 514
bis 5 3 3), das jedoch die zahlreichen nur gelegentlich zitierten Titel nicht enthält, obwohl unter
diesen ebenfalls manche kaum bekannte Arbeit begegnet.
Besondere Beachtung schließlich verdient die ausführliche, ebenso kenntnis- wie inhalts-
reiche Einführung (S. 3 — 89), in der M.-R., von der wir bereits mehrere Aufsätze zum Thema
kennen, eingehend das am Beispiel der Predigtmärlein greifbare Verflochtensein von litera-
rischer und mündlicher Überlieferung analysiert: Wie die Prediger aus beiden schöpften, so
befruchteten sie durch ihren Vortrag von der Kanzel und ihre gedruckten Predigten, die als
Lektüre Verbreitung fanden, ihrerseits die Erzähltradition. In diesem Zusammenhang gelingt
es M.-R., anhand zeitgenössischer Schilderungen ein Bild vom lebendigen Erzählen des
Volkes im 17. Jh. aufleuchten zu lassen.
Man wird diese Vermittlerrolle der Geistlichen allerdings auch nicht überbewerten dürfen.
So hat Leonhard Intorp in einem kurz vor dem Band M.-R.s erschienenen Buch (West-
fälische Barockpredigten in volkskundlicher Sicht. Münster, Aschendorff, 1964), das mehr aus
dem Blickwinkel des Theologen als dem des Volkskundlers geschrieben scheint, nachge-
wiesen, daß vom Ende des 16. bis in die zweite Hälfte des 18. Jhs in Westfalen wenig volks-
tümliches Erzählgut in den Predigten zu finden ist. Der Hamburger Balthasar Schupp und
der Hannoveraner Jost Sackmann, die wegen ihrer Predigtmärlein beliebt waren, wurden
von ihrer Vorgesetzten Behörde gemaßregelt. Trotzdem konnte gerade im niederdeutschen
Bereich, zumindest seit den Brüdern Grimm, eine weit lebendigere und reichhaltigere Erzähl-
überlieferung festgestellt werden als in Oberdeutschland.
Dieser Befund kann jedoch den Wert der vorzüglichen Arbeit M.-R.s, die sie in die erste
Reihe der deutschen Erzählforscher stellt, in keiner Weise schmälern.
Siegfried Neumann, Rostock
Russische Volksmärchen. Hg. v. Erna Pomeranzewa. Berlin, Akademie-Verlag, 1964. 647 S.
(= Volksmärchen. Eine internationale Reihe).
Nach ungarischen, deutschen und tschechischen Märchen sind jetzt als vierter Band der
im Titel genannten Reihe die russischen Volksmärchen erschienen. Sie nehmen wegen der
Besonderheit ihrer Sujets und der Originalität ihres Stils in der slawischen und europäischen
Erzähltradition einen hervorragenden Platz ein, und zu Recht fesseln sie unsere Aufmerk-
samkeit. Der westeuropäischen Forschung, für die leider noch zu oft das „slavica non
leguntur“ gilt, war bisher nur ein kleiner Teil des russischen Märchenschatzes zugänglich,
und so ist auch aus diesem Grund das Erscheinen der neuen Anthologie sehr zu begrüßen.
Der Band wurde von Erna Pomeranzewa herausgegeben, einer der profiliertesten russi-
schen Märchenforscherinnen, der Autorin zahlreicher anregender analytischer Aufsätze und
einer gehaltvollen synthetischen Monographie über das russische Märchen (Russkaja narod-
naja skazka, Moskau 1963). P. stützt sich hier vor allem auf ihre eigene russische Edition
(Russkie narodnye skazki, Moskau 1957), von deren 96 Nummern sie 93 in die deutsche
Anthologie aufgenommen hat. Die Märchen wurden durchweg gedruckten Sammlungen
entnommen, vornehmlich A. N. Afanas’evs klassischem Kompendium aus der Mitte des
vorigen Jahrhunderts (33 Nummern, d. h. mehr als ein Drittel), weiter aus den Sammlungen
von D. K. Sadovnikov, N. E. Oncukov, D. K. Zelenin, I. A. Chudjakov, den Brüdern
Sokolov, M. K. Azadovskij, N. N. Novikov, A. N. Necaev u. a. Die Herausgeberin behielt
Besprechungen
149
auch die ursprüngliche Einteilung ihrer russischen Sammlung in Tiermärchen (17 Nummern),
Zaubermärchen (37), Helden-, Abenteuer- und historische Märchen (9) und Satirische Alltags-
märchen „bytovye“ (30) bei. Vor allem in den letzten beiden Abteilungen weicht sie von der
in Europa eingebürgerten Märchenklassifizierung und -terminologie ab, was jedoch bei der
Besonderheit des russischen Materials vollauf gerechtfertigt erscheint. (Andere russische
Forscher benutzten allerdings eine einfachere Klassifikation. So unterscheidet z. B. V. P.
Anikin [Russkaja narodnaja skazka, Moskau 1959] als Hauptgruppen Tiermärchen, Zauber-
märchen und novellistische Alltagsmärchen [bytovye novelistieeskie skazki]).
Das Nachwort hat P. speziell für die deutsche Ausgabe verfaßt. Sie bietet hier reiche und
detaillierte Informationen über die einzelnen Gruppen des russischen Märchens und ihre
Merkmale, über die Entwicklung der russischen Märchenforschung, einzelne Sammlungen
und Erzählerpersönlichkeiten. Für die internationale Forschung ist diese Zusammenstellung
mit ihren vielen Quellenangaben ein willkommenes Hilfsmittel. Die Orientierung der
sowjetischen Märchenforschung und Folkloristik wird am deutlichsten in der Darlegung
über die Verbindung von Märchen und Wirklichkeit, über den sozialen Hintergrund und die
Sozialkritik im Märchen sowie seine historische Entwicklung. Inhaltsreiche und anregende
Erkenntnisse liefert auch der Abschnitt über das Schicksal und die Veränderungen des
russischen Märchens in den letzten hundert Jahren, d. h. seit der Aufhebung der Leibeigen-
schaft im Jahre 1861. In überzeugender Weise erläutert P. die Verschiebungen im Märchen-
repertoire und die Veränderungen im Inhalt und im Stil des russischen Märchens in dieser
Periode, als die neue gesellschaftliche Situation Eingang in die alten Stoffe fand und der
archaische Stilkanon sich allmählich zersetzte. Bei diesen Ausführungen stützt sich P. auf
ihre eigenen speziellen Analysen, die als Zeitschriftenartikel erschienen sind und einen wesent-
lichen Beitrag für die Kenntnis der Entwicklung nicht nur des russischen, sondern des
europäischen Märchens im allgemeinen bedeuten.
Mir scheint, daß P. den Geltungsbereich ihrer Ausführungen an manchen Stellen dadurch
eingeengt hat, daß sie nur den Rahmen der russischen Märchentradition bietet und ihre
Untersuchung lediglich auf der russischen märchenkundlichen Literatur basiert. Das hat
auch in anderen Fällen zu einer Isolierung der russischen Märchenforschung von der inter-
nationalen geführt, wobei der breitere, gesamtslawische Zusammenhang und die Beziehun-
gen zum Märchen anderer europäischer und außereuropäischer Völker verlorengegangen
sind. Wenngleich die Verf. mehrfach die nationale Spezifik der russischen Märchen erwähnt
und sie zu belegen versucht, hat sie sich jedoch der Möglichkeit begeben, sie auf einem inter-
nationalen Hintergrund in einer Konfrontation mit den Märchen anderer Völker darzu-
stellen, wie es an anderem Märchenmaterial z. B. A. Löwis of Menar, E. Koechlin, E. Tegett-
hoff, P. Delarue oder L. Röhrich versucht haben. Auf diese Weise hätten sich die inter-
nationalen Verbindungen und Übereinstimmungen des russischen Märchens gezeigt, vor
allem aber wären seine nationalen Besonderheiten noch plastischer zur Geltung gekommen.
Auch die Entwicklung der russischen Märchenforschung und -Sammlung interpretiert P.
mehr oder weniger als einen autonomen russischen Prozeß. Sie vernachlässigt dabei die
breiten internationalen Anregungen, die auch auf die russische Forschung eingewirkt haben,
und solche, die sie gleichzeitig in bedeutsamer Weise ausgestrahlt hat (bekannt ist z. B.
die Pionierarbeit der russischen Forscher und Sammler bei der Erforschung der Biologie
des Märchens, seines Lebens und seiner Funktion im Erzählmilieu; davon sind Folkloristen
in einer ganzen Reihe europäischer Länder beeinflußt worden). Eine Begleiterscheinung
dieser isolierenden Auffassung vom russischen Märchen und von der russischen Märchen-
forschung ist es, daß P. einige gewichtige Arbeiten über das russische Märchen aus der
Feder anderer europäischer Forscher wie A. Löwis of Menar oder gar J. Polivka nicht
anführt.
In den Kommentaren zu den einzelnen Beispielen gibt P. jedoch Verweise auf den inter-
nationalen Katalog von Aarne-Thompson, auf Bolte-Polivkas Anmerkungen zu den Mär-
chen der Brüder Grimm und auf Andreevs Katalog russischer Märchen, weitere Angaben
über Provenienz und Erzähler sowie knappe Charakteristiken der Stoffe.
Oldrich Sirovätka, Brno
150
Besprechungen
Gustav Grüner, Waldeckische Volkserzählungen. Marburg, N. G. Eiwert Verlag, 1964.
344 S. (= Beitr. zur Volkskunde Hessens 3).
Diese Arbeit, eine Marburger Dissertation aus dem Jahre 1957, stellt einen Beitrag zur
deutschen Gegenwartsvolkskunde dar. Der Verf., Schüler Gottfried Henßens, nahm in den
Jahren 1954 bis 1956 durch Mitschrift und mit Tonbandgerät die lebendige Volkserzählung
in dem großen nordhessischen Landkreis Waldeck auf. Dieses überwiegend niederdeutsche
Gebiet, in dem hundert Jahre vorher schon Louis Curtze und vor dem letzten Weltkrieg
Rudolf Nord ansehnliche Sammlungen zusammengebracht hatten, ist bis in die Gegenwart
trotz aller Industrialisierung und Bevölkerungsbewegung mit ihren nivellierenden Ten-
denzen eine in sich geschlossene Landschaft geblieben, die einen dankbaren Untersuchungs-
raum bot. G. vermochte in verhältnismäßig kurzer Zeit ein beachtliches Material zutage-
zufördern und einen Überblick über das gegenwärtige Volkserzählgut zu gewinnen. Über-
dies konnte durch Vergleich mit der leicht überschaubaren Sammlung Curtzes festgestellt
werden, was sich in der Zwischenzeit unverändert erhalten, gewandelt oder neu verdichtet
hat.
Das Sammelergebnis G.s — schon die Zahlenverhältnisse sind interessant — besteht aus
476 Sagen und Mitteilungen aus dem Volksglauben, 5 Zaubermärchen, 25 Tier- und anderen
Märchen, 1 x 1 Schwänken, Anekdoten und Spottgeschichten über Orte und Berufe, 5 5 Jagd-,
Räuber- und Diebsgeschichten, 4 Volksrätseln und 51 Varianten zu diesen Stoffen (bzw.
obscoena), insgesamt also 739 Belege, von denen 584 im Anhang des Buches in Transkrip-
tion vom Tonband mitgeteilt werden. Dieses ziemlich unvoreingenommen gesammelte
Material zeigt eine erstaunliche Lebenskraft der Sagen, die jedoch anscheinend nur noch
unter den Alten überliefert sind. Vor allem Sagen um Riesen und Zwerge, Freimaurer,
Hexen und weiße Frauen, Wiedergänger und die verschiedenartigsten Spukerscheinungen
sowie Schätze und unterirdische Gänge wurden von G. verhältnismäßig häufig angetroffen.
Manche, wie die um Hexen, Freimaurer oder Gespenster, haben wie zur Zeit Curtzes noch
einen festen Volksglaubensbereich hinter sich, meist aber wird der Inhalt der Sagen nicht mehr
geglaubt oder ernst genommen, sondern zur bloßen Unterhaltung erzählt. Auch Schwänke,
Anekdoten und Dorfgeschichten, die von Curtze noch nicht gesammelt wurden, führen in
der heutigen Erwachsenenerzählung ein kräftiges Leben, das durch die gegenüber den
Sagen weit geringere Zahl der Belege zweifellos längst nicht vollständig dokumentiert wird.
Am zahlreichsten vertreten sind Pastorenschwänke, die oft sozialkritische Züge aufweisen,
denn „die Pfarrer sind die Zielscheibe Nr. x des dörflichen Spottes“ (S. 106). An zweiter
Stelle steht der Zyklus um den „Alten Fritz“, wobei auffällt, daß gerade der Schwank von
den doppelten Prügeln, in dem der König kräftig durchgebläut wird, sehr beliebt ist. Die
nächsten Gruppen, Eulenspiegelhistorien, Schildbürgergeschichten und Eheschwänke,
stehen bereits weit zurück. Praktisch ausgestorben ist das Zaubermärchen, nur den Kindern
werden noch gerne Tiermärchen erzählt. Dagegen sind offensichtlich Jagd- und Wilddiebs-
geschichten in dem waldreichen W'aldeck besonders ausgebildet.
Seine besten Erzähler fand G. im niederdeutschen Teil des Sammelgebietes, und zwar
unter meist (80%) über 60jährigen Kleinbauern, armen Handwerkern und Arbeitern auf
dem Dorf. Von den insgesamt 114 Gewährsleuten waren 90 Männer und 24 Frauen, von
denen die wichtigsten — 20 Erzähler und 3 Erzählerinnen — in instruktiven Kurzbio-
graphien vorgestellt werden. In der Regel erwies sich das Repertoire als wenig umfangreich;
nur 15 Männer und eine einzige Frau wußten mehr als 10 Geschichten. Trotz dieses fast
völligen Zurücktretens der Frau ermittelte G. jedoch die Familie als wichtigste Erzähl-
gemeinschaft und Stätte der Pflege alter Volksüberlieferungen, während im Gasthaus, wo
die Männer unter sich sind, vor allem Schwänke und Witze, die man unter dem Sammelgut
G.s vermißt, zum Besten gegeben werden. Die Spinnstuben als traditioneller Ort des
Erzählens haben keine Bedeutung mehr.
All das ist anschaulich dargestellt. Die Untersuchung stößt zwar — im Gegensatz etwa zu
der nur wenig älteren, ähnlich gelagerten Studie Hermann Bausingers (Lebendiges Erzäh-
len. Diss. (masch.-schriftl.) Tübingen 1952) — selten zur Klärung prinzipieller Fragen vor,
Besprechungen
151
weist aber dafür die Vorzüge einer faktenreichen Dokumentation auf, wie man sie sich auch
aus anderen Landschaften wünscht. Ein — wenn auch nicht lückenloses — Typen Verzeich-
nis zu den mitgeteilten Texten und Worterklärungen erleichtern die Benutzung des Bandes.
Siegfried Neumann, Rostock
Ostalpensagen. Hg. von Will-Erich Peuckert. Berlin, Erich Schmidt, 1963. 273 S.
(= Europäische Sagen 3, hg. von Will-Erich Peuckert).
Nach den beiden Bänden Deutsche Sagen ist in der von P. herausgegebenen Reihe Euro-
päische Sagen an 3. Stelle der Band Ostalpensagen erschienen. Umfaßten die „Deutschen
Sagen“ in ihrem 1. Band das niederdeutsche, im 2. Band das mittel- und oberdeutsche Gebiet,
so bringt der 3. Band der „Europäischen Sagen“ Material aus den südöstlichen deutsch-
sprachigen Landschaften außerhalb der politischen Grenzen Deutschlands. Der in Frage
stehende Raum deckt sich im wesentlichen mit dem heutigen österreichischen Staatsgebiet
innerhalb des Alpenraumes, also ohne Niederösterreich, mit einzelnen Erweiterungen —
Eisacktal und Gottschee im südlichen Slowenien — über die Grenzen Österreichs hinaus.
Sagen des bayrisch-österreichischen Mundartgebietes sind es also, die hier zu Worte kommen;
Band 4 der „Europäischen Sagen“, die Westalpensagen, läßt dann als Abschluß der Samm-
lungen Sagen aus dem alemannischen Mundartraum außerhalb der deutschen Grenzen
folgen. Als weitere Bände in dieser Reihe sind Veröffentlichungen schottischer, polnischer
und tschechischer Sagen angekündigt.
Mit der Herausgabe dieser Quellenreihe, die in den Materialsammlungen zu seinem
Handwörterbuch der Sage gründet, stellt P. der Forschung ein Material handlich zur Verfü-
gung, das nicht den bekannten Sagensammlungen entnommen ist, sondern in wortgetreuer
Übernahme ausschließlich das in älteren volkskundlichen bzw. regionalen Zeitschriften ver-
streute und heute allgemein nur mehr schwer zugängliche Quellengut verwertet. Die Sagen
des Ostalpenbandes entstammen in der Hauptsache den Bänden 1 —10 und 16 der Zeit-
schrift des Vereins für Volkskunde, 1891 ff., 1—28 der Zeitschrift für österreichische Volks-
kunde, 1895 ff. und 3— 4von Veckenstedts Zeitschrift für Volkskunde, 1891!.; vereinzelt sind
herangezogen die Zeitschrift für Ethnologie, die Zeitschrift des deutschen und österreichischen
Alpenvereins, die Neue Zeitschrift des Ferdinandeums und die Beiträge zur Geschichte
und Statistik von Tirol und Vorarlberg.
Der Benutzer dieser Veröffentlichung darf somit kein erschöpfendes Quellenbuch erwar-
ten, das die einschlägigen großen regionalen Sammlungen Alpenburgs, Zingerles und Grä-
bers beispielsweise ersetzt. Die Ostalpensagen bieten vielmehr nur eine Nachlese dazu, gehen
andererseits aber insofern über sie hinaus, als sie — räumlich weitergreifend — ein Bild der
Überlieferung aus dem gesamten ehemals deutschsprachigen Ostalpenraum zeichnen.
Die Entstehung dieses Buches im Rückgriff auf eine Vielzahl verschiedenartiger Sammler
und Aufzeichner erklärt seine inhaltliche und formale Heterogenität: unter den — freilich
in der Überzahl vorhandenen — echten Volkssagen finden sich auch solche romantischen
Charakters und eine ganze Anzahl von Volksglaubensberichten; vereinzelt sind auch
schwankhafte Stoffe eingestreut. Die Skala der Formen reicht von lakonischen, nur das
Gerüst einer Sage andeutenden Sätzen über gut erzählte, z. T. mundartlichen und augen-
scheinlich unmittelbar nach dem Volksmund aufgezeichneten Belegen zu breit ausgesponne-
nen, novellistisch verarbeiteten Erzählungen. Einige wenige aus Kontaktlandschaften
stammende Beiträge zeigen (süd)slawischen Einfluß; für eine Sage sind analoge Motive
in polnischen, für eine weitere in ungarischen Sagen nachgewiesen.
Das 433 Nummern zählende Material ist von P. dem Inhalt nach in folgende Gruppen
zusammengefaßt: Mana und Tabu (1—28), Numinoses (29—43), Frevel (44—76), Heilige
(77 — 86), Weiße Magie (87 — 107), Die schwarze Kunst (108 —138), Hexen (139 —165), Der
Teufel und die Hölle (166 — 225), Elben und Dämonen (216 — 286), Verwunschene (287 bis
296), Tod und Wiedergang (297 — 333), Schätze (334—383), Unterwelt (384—388), Vergangene
Zeiten (389—423), Die Dinge der Zukunft (424—433). 26 Seiten Nachweise und Anmerkun-
152 Besprechungen
gen bringen zunächst die Quellenangaben, z. T. mit den kritischen Anmerkungen der ein-
zelnen Sammler, daneben auch einzelne Worterklärungen zu den betreffenden Texten und,
unsystematisch und beliebig zu ergänzen, Hinweise auf Parallelen in anderen deutschen
Landschaften und auf die monographische Behandlung einzelner Sagenstoffe und -gestalten.
Eine Konkordanz der Drucke und ein alphabetisches Orts- und Sachregister beschließen
die wertvolle Zusammenstellung, der zur Orientierung für den mit den geographischen
Gegebenheiten nicht vertrauten Leser noch eine Karte des behandelten Gebietes zu
wünschen wäre.
Ingeborg Müller, Rostock
Kurt Pomplun, Berlins alte Sagen. Mit einem Beitrag von Richard Beitl. Berlin, Verlag
Bruno Hessling, 1964. 88 S., 20 Textabb., 20 Taf.
Endlich wieder etwas Alt-Berlinisches, und dazu vielleicht ein Geschenk für Kinder — so
wird der Käufer denken, ehe er Pompluns Büchlein in die Hand nimmt, um darin zu blättern.
Er wird dann zwar seine Annahme bestätigt finden, doch zugleich erkennen, daß die Heraus-
geber noch weit mehr Leserwünschen und -bedürfnissen gerecht wurden.
Die Sagen entnahm P. zu einem großen Teil den authentischen Sammlungen von Kuhn
und Schwartz sowie v. Schulenburg, eines Freundes Wilhelm Schwartz’, der P. in den 30er
Jahren noch Wichtiges über das Sagensammeln vor der Jahrhundertwende berichten konnte.
Das Material ist nach den heutigen Bezirken des erweiterten Berliner Stadtkerns gegliedert:
Berlin-Mitte (Alt-Berlin und Kölln), Friedrichshain, Charlottenburg, Spandau, Wilmersdorf,
Zehlendorf, Neukölln, Köpenick, Pankow, Reinickendorf. Durch diese Anordnung, durch
die wertvollen Strichzeichnungen im Textteil nach alten Bildern und Museumsstücken sowie
durch die Fotos am Schluß des Bändchens, vorwiegend aus dem unzerstörten Berlin vor
und zwischen den Weltkriegen, gewinnt die Sammlung den Charakter eines Heimatbuches,
das außerdem als volkskundliche Ergänzung eines Stadtführers gelten kann. Andererseits
sind den sorgfältig, z. T. auch aus ältesten Quellen ausgewählten und nur in der Ortho-
graphie veränderten Texten Anmerkungen beigegeben, die in ihrer Exaktheit und histo-
rischen Fundierung den anspruchsvollsten Sagenforscher zufriedenstellen. P. benutzte
dabei — neben den jeweiligen zeitgenössischen Untersuchungen — ohne Vorbehalt die
neueste, in Ost und West erschienene Literatur zur Geschichte und Vorgeschichte Berlins.
Die hier gelungene Synthese von Heimatliteratur und Sagenforschung basiert nicht zuletzt
auf der interessanten kleinen Abhandlung von Richard Beitl über das Wesen der Sage, die den
Texten vorausgeht. Nach einer Definition der Erzählgattung bespricht B. einige Charakte-
ristika der mündlichen Überlieferung, um dann die wichtigsten Gruppen der Volkssagen
(mythische, ätiologische, historische) zu erklären. Verdienstvoll ist es, daß er die Vorstellung
von eigenständigen, ganz speziell berlinischen, nur hier in dieser Stadt bekannten Sagen zer-
stört und statt dessen den Zusammenhang der in Berlin lediglich lokalisierten und aktuali-
sierten Erzählmotive mit einer über Städte, Länder, ja Völker hinausgreifenden alttradierten
Überlieferung aufzeigt.
Gisela Burde-Schneidewind, Berlin
Sprichwörter der Völker. Hg. von Karl Rauch. Düsseldorf und Köln, Eugen Diederichs
Verlag, 1963. 320 S. (= Diederichs Taschenausgaben 30).
Alverdens ordsprog. Hg. von Bengt Holbek und Jorn P10. Kopenhagen, Politikens Verlag,
1964. 288 S. (= Politikens Händbnger 629).
Es ist gewiß ein schwieriges Unterfangen, in einem einzigen, nicht sehr voluminösen Band
so etwas wie eine repräsentative Auswahl aus dem Sprichwortgut der Völker aus fünf Erd-
teilen bieten zu wollen. Zwar gibt es Vorbilder in dieser Richtung wie das Sammelwerk
Racial Proverbs des Engländers S. G. Champion (London 1938), das für diese beiden neuen
Besprechungen
153
Anthologien fleißig benutzt wurde. Aber ihre Herausgeber wollten daneben etwas Eigenes
bieten und haben sich das anscheinend nicht leicht gemacht. Während R. mitteilt, er habe
„jahrelang zusammen mit Freunden und Bekannten . . . ganze Bibliotheken im In- und Aus-
land durchwühlt“ (S. 15), um sein Material zusammenzutragen, werteten H. und P. eine
stattliche Anzahl der wichtigsten Sammlungen aus aller Welt aus, die in der von ihnen kon-
sultierten Sprichwörterbibliographie von O. Moll (Frankfurt/M. 1958) verzeichnet und für
sie greifbar waren. So gewähren im Ergebnis beide Bände durch die Buntheit der ausgewähl-
ten Beispiele manchen überraschenden Einblick, obwohl der tatsächliche Sprichwortbestand
verständlicherweise kaum angedeutet werden konnte und die einzelnen Völker nur sehr
ungleich zu Wort kommen.
Der letztere Umstand macht sich besonders bei R. bemerkbar, dessen „äußerst gedrängte
Auslese der Sprichwörterweisheit aller Kontinente“ in der Reihenfolge Europa, Asien,
Afrika, Amerika, Australien jeweils alphabetisch „nach Ländern, Völkern und Sprachen ge-
ordnet“ ist (S. 8). Das sieht nun so aus, daß z. B. Belgien (mit nur 2 S.) in die Untergruppen
Flämisch, Wallonisch und Malmedy (!) zerfällt, Frankreich (10 S.) eine Untergruppe Elsaß
mit Beispielen in alemannischer Mundart aufweist, aber Deutschland als größte Gruppe
(50 S.) oder die Tschechoslowakei nicht untergliedert sind. Rußland (!) ist eine Untergruppe
Ukrainisch beigegeben wie Großbritannien eine solche Schottland, aber Estland, Lettland,
Litauen und Livland (!) (mit insgesamt 3 S.) bilden vier selbständige Gruppen. Aus der
riesigen finnischen Sprichwörtersammlung, der wohl besten Europas, sind ganze 16 Belege
aufgenommen usw. Eine derart ungleichmäßige und tendenziöse Darbietung „dieser von
der Gefahr des Verschüttetwerdens bedrohten Schätze“ (S. 8) macht das vom Herausgeber
in seiner kurzen Einleitung betonte Anliegen, im Sprichwort „den Reichtum und die viel-
schichtigen Tönungen menschlicher Daseins-, Empfindungs- und Lebensmöglichkeiten
erspüren“ zu lassen (S. 9), mehr als problematisch, auch wenn das beigegebene Stichwort-
verzeichnis ein Auffinden von Beispielen des gleichen Sinnbezirks erleichert. Überdies fehlen
jegliche Herkunftsangaben zu den Belegen, so daß die herangezogenen Quellen im Dunkeln
bleiben und damit die ganze Sammlung für den Parömiologen wenig Nutzen bringt.
Dagegen zeigen die beiden Dänen, daß auch eine Sprichwörter-Anthologie, die sich an
ein breites Publikum wendet, wissenschaftlichen Ansprüchen Rechnung tragen kann. Das
gilt sowohl für ihre populär gehaltene Einleitung, die sachkundig über Ergebnisse und
Probleme der Sprichwortforschung informiert, als auch für ihre Art der Edition des Mate-
rials. Sie führen die von ihnen ausgewählten 4444 Beispiele in einer Ordnung nach sach-
lichen Gesichtspunkten vor: Sprichwörter über Sprichwörter, über Tugend und Laster,
Gut und Böse, allerhand „Leutchen“ (Mann und Frau, Alt und Jung, Bekannte und Fremde
usw.), über das Leben im Alltag (menschliche Notdurft wie Essen, Kleidung usw., Arbeit
und Beruf) sowie bemerkenswerte Erscheinungen in der Natur. Ihnen schließen sich Proben
alter Weisheit vor allem aus den großen Kulturländern vor unserer Zeitrechnung an, und
den Abschluß bildet eine hübsche Kollektion von Sagwörtern aus dem skandinavischen
Raum. Zu diesem ganzen Material werden im Anhang — in alphabetischer Folge nach
Sprachen — gewissenhaft die benutzten Quellen mit den Nummern der einzelnen ihnen ent-
nommenen Sprichwörter angegeben. Instruktive Karten lokalisieren dieses Sprachgut,
Was sich besonders bei einer Reihe regional begrenzter Stammessprachen als recht nützlich
erweist.
Siegfried Neumann, Rostock
Werner R. Schweizer, Der Witz. Bern und München, Francke Verlag, 1964. 302 S.,
38 Abb. im Text u. auf 8 Taf.
Wer nach der Flut der populären Witzsammlungen der letzten Jahre hinter diesem Buch-
titel die langersehnte volkskundliche Untersuchung des Witzes als eines volksläufigen Erzähl-
genres in mündlicher Überlieferung vermutet, wird ebenso enttäuscht sein wie der Rez.,
nachdem er das Inhaltsverzeichnis gelesen hatte. Sch. knüpft vielmehr an die zahlreichen
Abhandlungen an, in denen das Phänomen des Komischen vom philosophischen und psycho-
154
Besprechungen
logischen Standpunkt her angegangen wird. Er distanziert sich freilich von den Fehlern
seiner Vorgänger, denen er vorwirft, entweder von den eingebürgerten Begriffen Witz,
Humor usw. deduktiv auf deren Inhalt geschlossen oder die Vielfalt der komischen Erschei-
nungen auf ein einziges Prinzip zurückgeführt zu haben. Außerdem hätten sie stets ihr
Untersuchungsgebiet zu eng gewählt und vor allem die „Rolle, welche die Form und die
Instinkte im komischen Erlebnis spielen“ (S. 13), unterschätzt. Demgegenüber sei seine
eigene Methode induktiv; „sie geht empirisch von feststellbaren Tatsachen aus, die sie
analysiert, um die verschiedenen Komponenten im komischen Erlebnis zu erkennen“ (ebda).
Trotzdem begegnen im folgenden ständig Gedanken, die auch schon in den — wie es etwas
hohepriesterlich heißt — „endlosen, scheinklugen Katzbalgereien der zahllosen Komiko-
logen“ (S. 11) vor ihm geäußert wurden; und die gebräuchlichsten Termini zur Umschrei-
bung des Komischen werden in verschiedenartiger Bedeutung verwandt, was das Verständ-
nis der zum Teil recht komplizierten Darlegungen Sch.s unnötig erschwert.
Man muß jedoch — ohne dem Urteil von philosophischer Seite vorgreifen zu wollen —
anerkennen, daß der Verf. um eine möglichst komplexe Behandlung seines Themas bemüht
ist und dabei stets die Relation zwischen komischem Objekt und lachendem Subjekt im
Auge behält. Er erörtert zunächst die innere Form der komischen Erscheinungen, wobei er
vor allem die ihnen innewohnende Widersprüchlichkeit mit dem Begriff der „Polarität“ zu
erfassen versucht, beschreibt die Möglichkeiten der äußeren Erscheinungsform des Komi-
schen (dreidimensionaler Witz, Bildwitz, Witz in der gesprochenen Sprache, musikalischer
Witz) und beleuchtet das Zusammenwirken von Witz und Spiel bei der witzigen Schöpfung
und beim komischen Erlebnis. Daran anknüpfend werden die sekundären Lachtriebe be-
handelt. Sch. beschäftigt sich hier vor allem mit den Haltungen und „Instinkten“, die hinter
dem Lachen wirksam sind. Dabei unterscheidet er einleuchtend drei Arten des Witzes, den
schadenfrohen Witz, der sich über den Menschen als unbeholfenes Wesen und Pechvogel
lustig macht, den Wertwitz, der die Abweichungen der Narren aller Schattierungen von den
anerkannten kollektiven Normen der Gesellschaft einer Kritik unterzieht, und den Tabu-
witz, der gegen die Beschränkungen protestiert, die Religion, Politik, Moral, Ästhetik usw.
dem einzelnen auferlegen.
In diesem Zusammenhang kommen auch die sozialpsychologischen Grundlagen der
mündlichen Schwank- und Witzüberlieferung zur Sprache, obwohl die Darstellung sich vor-
nehmlich auf Beispiele stützt, die der Individualdichtung entstammen. Besonders zum
erotischen (Tabu-)Witz — der von den meisten Forschern ängstlich umgangen wird,
obgleich er zumindest seit Jahrzehnten das lebendige Erzählen ganz wesentlich mitbestimmt
— finden sich einige treffende Beobachtungen, wie sie seit der Überbewertung dieser
Erzählinhalte durch Friedrich S. Krauss nicht mit solcher nüchternen Sachlichkeit mitge-
teilt worden sind. Aber auch die Überlegungen des Verfs zu anderen Themenkreisen des
Witzes, etwa zum politischen (Tabu-)Witz, der den sozialkritischen Schwank ablöst, sind
zumindest anregend. So wird der Erzählforscher dieses Buch, das seine eigenen Problem-
stellungen nur am Rande berührt, dennoch mit Nutzen zur Hand nehmen, zumal ein Register
ihn schnell zu den entsprechenden Ausführungen über interessierende Spezialfragen hin-
führt. Leider sind sehr viele Druckfehler stehengeblieben, und die Art, wie die herangezo-
gene Fachliteratur — wenn überhaupt — zitiert wird, mutet fast anarchisch an.
Siegfried Neumann, Rostock
Albert Hansen, Holzland-Ostfälisclies Wörterbuch, besonders der Mundarten von Eilsleben
und Klein Wanzleben. Aus dem Nachlaß bearb. und hg. v. Helmut Schönfeld.
Ummendorf, Kreisheimatmuseum des Kreises Wanzleben, 1964. XVI, 213 S., 1 Kt.
(— Die Magdeburger Börde. Veröff. zur Gesch. von Natur und Gesellschaft 4).
Im Februar 1963 verstarb in Eilsleben der Tierarzt Dr. Albert Hansen im 71. Lebensjahr.
Jahrzehntelang verband H. die anstrengende berufliche Tätigkeit mit seinem Wirken für
die Heimat. In der Burg Ummendorf bei Eilsleben errichtete er 1924 das Ostfälische Volks-
Besprechungen
155
kundernuseum und schuf dort eine einzigartige Kulturstätte in der „Landschaft mit dem
thüringischen Vaterhause und der niedersächsischen Muttersprache“, wie er seine Heimat
einmal selbst kennzeichnete.
Geboren 1892 in Klein Wanzleben als Sohn eines Bauern und Schmiedemeisters, begann
er schon als Schüler vor dem ersten Weltkrieg, mundartliche Wörter seiner Heimat aufzu-
schreiben. Seit 1920 als Landtierarzt in Eilsleben tätig, setzte er dort mit nie erlahmendem
Eifer die Sammlung volkssprachlicher Bezeichnungen aus allen Bereichen seiner Umgebung
fort. Leider war es ihm nicht mehr vergönnt, die Drucklegung seines umfangreichen Manu-
skriptes zu erleben, die nun H. Schönfeld mit guter Sachkenntnis besorgte.
Das vorliegende Holzland-Ostfälische Wörterbuch erfaßt die Sprache der Landschaft west-
lich der Magdeburger Börde bis an die braunschweigische Grenze. Die Mehrzahl der Mund-
artwörter stammt aus H.s Geburtsort Klein Wanzleben und seinem späteren Wohnort Eils-
leben. Auf eine Bezeichnung der Magdeburger Schöppenchronik von 1406 zurückgreifend,
wählt H. für sein Gebiet den Namen Holzland. Eine am Schluß des Buches vom Heraus-
geber beigefügte Karte des Aufnahmegebietes läßt die von H. genannten Orte leicht
finden.
Einleitend gibt H. einen Überblick über die Geschichte seiner Sammlung des holzlän-
dischen Sprachschatzes. Dann behandelt er mit vielen Belegen, auch aus älteren Schriften,
die Unterschiede im Lautstand und gibt mit guten Beispielen eine Übersicht über Formen-
lehre und Wortbildung. Einen besonderen Abschnitt widmet er den Wörtern slawischer
Herkunft. Unter der Überschrift Eilsleber Nachbarreime verzeichnet H. eine Anzahl Neck-
verse, den Nawerjang. Andere volkstümliche Neckereien verspotten oft in gebundener
Form die von der eigenen Sprache abweichenden Eigentümlichkeiten der Mitmenschen oder
der Nachbardörfer. In den von H. gesammelten über 300 Sprichwörtern und Redensarten
zeigen sich Witz, Humor und Lebenserfahrung der Mundartsprecher. Am Schluß dieses
umfangreichen einleitenden Teils finden wir Auszüge aus Urkunden seit 1343, Haus- und
Glockeninschriften, zwei Hochzeitsgedichte aus dem 18. Jh., kleine Erzählungen und Dich-
tungen aus neuerer Zeit.
Der Hauptteil des Werkes enthält auf 163 Seiten das eigentliche Wörterbuch, das die Mund-
artwörter in alphabetischer Folge anführt. Auf die niederdeutsche Lautform folgen Bedeu-
tungsangaben und Beispielsätze. Bei verschiedenen Lautungen oder seltenem Vorkommen
eines Worts ist der Ort genannt, aus dem Wort oder Satz stammen; bei vielen Verben ist
die Flexion angegeben. Durch Verweise hat der Herausgeber das Auffinden der Synonyme
und sachlichen Zusammenhänge erleichtert.
Das Wörterbuch gibt darüber hinaus einen guten Einblick in die bäuerliche Arbeits- und
Lebenswelt. Die alte Einteilung der Bauern nach ihren Gespannen zeigen Bezeichnungen wie
Voll-, Halb- und Spitzspänner (b. W. Spann). Ein Kleinbauer, der ursprünglich nur eine
Kote besaß, dann aber bis zu einer Hufe Land erwarb, das er mit Kühen bewirtschaften
konnte, heißt Kootzäter, früher auch Köter. Die „Kleinen Leute“ ohne Grundbesitz konnten
Eertel ,in Viertelmorgen aufgeteilte Ackerstücke4 für die Leinsaat pachten, die gefrittelt, d. h.
durch kleine Streifen von verschiedener Saat kenntlich waren. Fleute ersetzt die Dösch-
maschine den früher gebrauchten Döschefle’erc (Dreschflegel), für den die Haineboike oder
Wittboike das Holz lieferte. Man benutzt noch immer das Klopptüiich, das aus Hamer un
Stabei besteht, zum Schärfen der Saisse (Sense), für die H. Angele, Toch, Kraansboom, Arm-
släjer als Einzelteile verzeichnet. Der zum Kultivieren des Ackers benutzte Exstirpator
erscheint mundartlich als Pater oder Extrapater.
Man soll zwar eten, wat de Kelle jifft (b. W. eten), doch haben auch Dienstboten Stellen
ausgeschlagen, auf denen es zuviel Oppjewarmtes gab, während andere meinten, Suppe oder
Kohl, zum zweiten Mal erwärmt, erhielte erst den richtigen Geschmack. Geschlachtete
Schweine hingen am Krummholt oder dem Krümmling. Von den Wurstarten beschreibt H.
Braat-, Lewwer-, Flaisen-, Griitt-, Piep-, Rood- und Zwärekenwost. Als beliebte Speise nennt
er Braatjen un Klump. An Kuchenarten finden wir Braltscheklump, Broot-, Flott-, Haller-
und Iserkauken oder Opplöper mid Botterpütten un Zuckerbleeke. Das mit dem Garstei be-
strichene, wohlschmeckende Gasterbroot, das zweimal in den Backofen kam, hat man noch
nach dem letzten Krieg in Wormsdorf gebacken; Bollenbroot backt man aus rohem, zweit-
Ciiki leun&emmYaiAumuiM t imirnunH»iwtÄttwi
156 Besprechungen
klassigem Weizenmehl. Botterstampe und -sturl gehören zum Treckebotterfaat, dessen Ab-
schluß Stulpe heißt.
Das Wörterbuch nennt auch einzelne Teile der alten Tracht wie Hals- und Henkhimme,
das den Hals oder Leib bedeckende Frauenhemd, und den Trumprock, einen stark gefalteten
Folen- oder Filzeirock, der mit einem oder zwei breiten Querbändern, dem Trump, besetzt
war. Sonntags zog man den Passmantel an, den Passen am Rande zierten. Zum Halsschmuck
gehörte die Krale (Koralle), eine Glas- oder Bernsteinperle. Zur Feldarbeit nahm man die
kleine, für Frachtfahrten die große Towelkipe mit, während die Linsen- und Backpflaumen-
händler ihre Ware im Twersack trugen.
Reich ist die Ausbeute an Wörtern, die auf Volksbrauch und -glauben hinweisen. Den
Arftbär der Fastnachtszeit und den Fist- oder Fiezmaier des Pfingstumzugs nennt H. ebenso
wie den als Füerdrake bezeichneten Hausgeist, die ole Haagsche ,Hexe‘ oder das Graumänne-
ken, die Spukgestalt, vor der man Kinder warnt. Kinderspiele wie fipsen, klitschen, knööt-
jern, köötjern, pennikern u. a. lernen wir kennen. Eine Fülle von Tier- und Pflanzennamen,
Wetterregeln, Bezeichnungen menschlicher und tierischer Krankheiten enthält die Samm-
lung, in die H. auch Orts-, Flur- und Personennamen einbezogen hat.
Neben dem üblichen Wortschatz konnte H. viele seltene Wörter aufnehmen, da er die
ältere Literatur durchgesehen und eingearbeitet und dann auch selbst bei seiner tierärzt-
lichen Tätigkeit die anwesenden Bauern befragt hat. Bei einigen Wörtern ist die Herkunft
noch ungeklärt, so daß sich für die zünftigen Sprachwissenschaftler ein weites Arbeitsfeld
bietet. Kleinere Unebenheiten und die eigenwillige alphabetische Anordnung durch den
Verf. sollten nicht allzu kritisch beurteilt werden. Wertvoll ist, daß hier ein Nichtfachmann
aus Liebe zu seiner Heimat und ihren Menschen ein sprachliches Denkmal geschaffen hat,
das sich würdig den Wörterbüchern anderer Landschaften anreiht. Dank gebührt auch dem
Herausgeber, der das Manuskript mit kundiger Hand kritisch bearbeitet und methodisch
auf den Stand der heutigen Lexikographie gebracht hat. Viele Lehrer und Heimatfreunde
werden auch den niedrigen Preis (MDN io.—) begrüßen, der ihnen die Anschaffung dieses
Heimatbuchs leicht ermöglicht. TT ^
Heinz Gebhardt, Berlin
Ingeborg Weber-Kellermann, Erntebrauch in der ländlichen Arbeitswelt des 19. Jahr-
hunderts auf Grund der Mannhardtbefragung in Deutschland von 1865. Marburg, N. G.
Eiwert Verlag, 1965. 569 S., 12 Taf., 5 Karten (— Veröff. des Inst. f. mitteleuropäische
Volksforschung an der Philipps-Univers. Marburg-Lahn. Allgemeine Reihe, hg. von
G. Heilfurtii und I. Weber-Kellermann 2).
In der Auseinandersetzung mit den mythologischen Theorien des 19. Jhs haben mehrere
Generationen von Volkskundlern in Deutschland und besonders auch in Skandinavien
immer wieder das Brauchtum der Erntezeit zum Gegenstand eingehender Erörterungen
über Herkunft, Sinn und Bedeutung einzelner Brauchelemente gewählt. Nachdem Albert
Eskeröd 1947 in seiner Dissertation Ärets äring mit den älteren Theorien kritische Abrech-
nung gehalten und nach den Lehren Sigurd Erixons die Brauchfunktionen in ihrer räum-
lichen, zeitlichen und sozialen Bedingtheit als Forschungsziel heraus gestellt hatte, schien die
Diskussion abgeschlossen. Andere Themen traten seitdem in den Vordergrund volkskund-
licher Brauchforschung. Wenn Ingeborg Weber-Kellermann in einer großen Untersuchung
jetzt noch einmal die gleiche Thematik auf greift, so ergänzt sie nicht nur Eskeröds Arbeit,
die sich im wesentlichen auf Skandinavien beschränkt hatte, für die historisch anderen Ver-
hältnisse in Deutschland, sondern kann auch unter neuen Gesichtspunkten mit neuen Argu-
menten ein Bild des Erntebrauchtums zeichnen, das der Wirklichkeit näher kommt als die
bisherigen Deutungsversuche. Hierfür benutzt sie das Material aus dem ersten großen volks-
kundlichen Fragebogenunternehmen, das Wilhelm Mannhardt 1865 Zut Sammlung der
„mythischen Gebräuche beim Ackerbau, insonderheit der Erntegebräuche“ in die Wege ge-
leitet hatte. Das Material, das sich im Besitz der Deutschen Staatsbibliothek zu Berlin be-
findet, besteht aus rund 2500 Beantwortungen verschiedenen Umfangs aus allen deutschen
Ländern, aus Österreich-Ungarn, Polen, Litauen, Skandinavien, Holland, Frankreich und
Besprechungen
157
der Schweiz, von denen rund 1700 auf Deutschland entfallen. Hatte Mannhardt die Ant-
worten seiner Gewährsleute in den bekannten Arbeiten Wald- und Feldkulte und Mythische
Forschungen für die Ziele seiner eigenen mythologischen Forschungen ausgewertet, so
wurden sie wieder entdeckt, als man 1928 daran ging, den ersten Fragebogen des Atlas der
deutschen Volkskunde vorzubereiten. Es zeigte sich, daß sie auch für eine Darstellungs-
methode benutzt werden konnten, die Mannhardt selbst nicht ins Auge gefaßt hatte: für die
volkskundliche Karte.1 Daß dieses nach der Art der Fragestellung wie auch nach seiner
Belegdichte für jene Zeit einmalige Material aber weit mehr hergibt, das beweist die Verf. in
vorliegendem Werk.
Ihr Ziel ist, das reiche Faktenmaterial aus dem zweiten Drittel des 19. Jhs „in jenen zeit-
lichen und örtlichen Rahmen einzupassen, in dem es nach seiner sozial- und wirtschafts-
geschichtlichen Gebundenheit allein zur Wirkung gelangen kann.“ Im Hauptteil der Arbeit
stellt sie deshalb zu jedem Abschnitt ausführlich die ökonomische und soziale Situation dar,
bevor sie den volkskundlichen Befund ausbreitet und analysiert. Das erfolgt in einer geo-
graphischen Dreiteilung mit den Kapiteln Die ostelbischen Provinzen, Die mittel- und nord-
deutschen Länder und Die west- und süddeutschen Länder, jedes weiter untergliedert nach den
deutschen Staaten und nach den preußischen Provinzen, womit sie keine kulturgeographische
Gliederung anstrebt, sondern rein praktischen Erwägungen folgt. Welche neuen Gesichts-
punkte durch diese Form der Darstellung gewonnen werden, erhellt das erste dieser drei
Kapitel. Während die deutsche Volkskunde den Bauern bis in die 40er Jahre allzu oft in
romantisierender Verklärung der wirklichen Verhältnisse als einen einheitlichen Stand ansah
und demzufolge auch sein Brauchtum als eine ganz einheitliche Erscheinung behandelte,
kann die Verf. bei Auswertung der zeitgenössischen ökonomischen und sozialkritischen
Literatur und unter Benutzung der vielen aufschlußreichen Angaben zur sozialen Lage auf
dem Lande aus dem Mannhardtmaterial selbst die Struktur einer hochdifferenzierten gesell-
schaftlichen Ordnung aufzeigen, die nach dem Stand der historischen Entwicklung in den
einzelnen Ländern und Provinzen außerdem viele regionale Unterschiede aufwies. Das Bild,
das sie für die Gebiete mit gutsherrschaftlichen Verhältnissen entwirft, dürfte in manchen
Einzelzügen durch die lokale Forschung anhand archivalischer Quellen noch zu ergänzen
sein,2 ist aber als Ganzes und insbesondere für den volkskundlichen Zweck gut gelungen.
Hervorzuheben ist zum Beispiel die instruktive tabellarische Darstellung der landschaftlich
üblichen Bezeichnungen für die Arbeitskräfte im Gutsbetrieb (S. 63), welche die sozial und
arbeitsmäßig weit gestaffelte Arbeitsordnung anschaulich beleuchtet.
Aus dem umfangreichen Mannhardtmaterial wählt die Verf. nun zwei Brauchkomplexe
aus, die sie vor dem ökonomisch-sozialen Hintergrund abhandelt: das Binden und Lösen als
■Anfangsbrauch und das Erntefest als Abschlußbrauch. Den ersten, das Binden des Gutsherrn
oder des Fremden beim Betreten des Erntefeldes und seinen Freikauf, stellt die Verf. in die
Situation gesteigerter Arbeit in der Erntezeit. Im gutsherrschaftlichen Bereich lag diese
Erntearbeit zum überwiegenden Teil in den Händen der landbesitzlosen Landarbeiter, die
sich bereits über den Wert ihrer Arbeitskraft völlig im klaren waren. Sie gewannen, so sagt
die Verf., ein neues Selbstgefühl, „das ihnen das Selbstbewußtsein gab, in der Erntezeit
kraft ihrer Arbeit die wahren ,Herren des Feldes' zu sein und unwidersprochen Rechts-
ansprüche anmelden zu dürfen.“ Die Bitte um Branntwein war deshalb kein zur Bettelei
abgesunkener Heischebrauch, wie manche Deutung früher sehen wollte, sondern ein
»Mäherrecht“, das auch der Gutsherr in diesem Augenblick anerkannte. Dabei wird manches
Spruchmotiv und manche Spielhandlung (wie das bedrohliche Sensenstreichen oder das
Binden des Gutsherrn mit dem Strohband) aus älterer Dorftradition oder aus anderen Be-
teichen, etwa dem Handwerk erwachsen sein. Die Landarbeiter als die neuen Träger des
1 Vgl. R. Beitl, Wilhelm Mannhardt und der Atlas der deutschen Volkskunde. ZfVk
№4(1933)70 — 84.
2 Vgl. z. B. die inzwischen vorliegenden, vorbildlich gearbeiteten Studien von U. Bent-
£ien: Die mecklenburgischen „Drescher“ und die Einführung des Maschinendrusches.
EjbfVk 10 (1964) 25—42. Und: Der Häker. Ein Beitrag zur Frühgeschichte des mecklen-
burgischen Landarbeiters. DJbfVk 11 (1965) 16 — 34.
158
Besprechungen
Erntebrauches aber verbanden die alten Teile zu neuem Zweck mit neuer Bedeutung und
gaben ihnen vielfach auch neue Gestalt.
Die gleiche Entwicklungstendenz weist die Verf. für das Erntefest in den ostelbischen
Gebieten nach. Rationale Momente stehen auch hier im Vordergrund. Ist es beim Binden
und Lösen die Aussicht auf einen guten Extratrunk, der Spruch und Brauchhandlung stimu-
liert, so ist es beim Abschlußfest der Erntezeit ein reichliches Extraessen, verbunden mit
Trunk und Tanz. Hinzu kommen aber auch andere Motive, die bei der Gestaltung des Festes
wirksam werden: Motive emotionaler A rt, erotische Spannungen, welche die festliche Stim-
mung der jugendlichen Teilnehmer zu froher Ausgelassenheit steigern, auch das erhöhte
Selbstbewußtsein der Arbeiterschaft über den gelungenen Abschluß einer Zeit schwerer
Arbeit. Die Verf. macht deutlich, daß in diesen Erscheinungen die „Interessendominanz“
der Landarbeiter jener Zeit als sinngebender und aktivierender Faktor allen Brauchge-
schehens zu erkennen ist. Dabei übersieht auch eine funktionale Betrachtungsweise nicht,
daß manche Formen älteren Volksglaubens oft genug dem neuen Inhalt als unverstandenes
Gehäuse weiter dienen können.
Steht in den ostelbischen Provinzen das Erntebrauchtum ganz unter dem Spannungs-
verhältnis Gutsherrschaft — Landarbeiterschaft, so beobachten wir in Westdeutschland und in
Süddeutschland, wie das Erntefest oft zum Familienfest wird oder wie es sich mit der Kirmes
zum allgemeinen dörflichen Volksfest verbindet. In den vielfältigen Variationen der Brauch-
elemente wird wiederum deutlich, wie stark auch hier die ökonomisch-soziale Situation be-
stimmend einwirkt. Die Karte 2 Die Erntefeste um 1865 am Schluß des Bandes veranschau-
licht gut die geographische Verbreitung der Hauptformen, wobei auch die Belege berück-
sichtigt werden, die für das weltliche Erntefest eine Fehlanzeige bringen.
Die Ausführlichkeit, mit der viele Korrespondenten Mannhardts die sozialen Verhält-
nisse schilderten, gestattet der Verf., einer sozialen Gruppe ein besonderes Kapitel zu
widmen: den Wanderarbeitern der Erntezeit. Das ist volkskundlich durchaus gerechtfertigt,
denn tatsächlich dürfte dieser mobilen Gruppe eine wichtige Rolle nicht nur als Träger von
agrarischen Gebräuchen, sondern auch als Übermittler von Geräten der Feldarbeit und von
Arbeitstechniken zufallen. Diese Bewegung erfaßte große Teile Deutschlands, einmal als
Ausgangszentren der Saisonwanderungen, wobei die geographisch und in der historischen
Entwicklung benachteiligten Gegenden hervortraten, zum andern als die Arbeitsgebiete der
Wanderarbeiter. Wie die Karte 3, die auf Grund der Mannhardt-Antworten und der Goltz-
schen Statistik von 1875 gezeichnet wurde, erkennen läßt, waren aber auch viele benach-
barte Länder als Herkunftsgebiete beteiligt: Polen, Böhmen, Tirol, Luxemburg, Holland,
Dänemark, Schweden. Was die Verf. an einzelnen Beispielen über die sichtbaren Einflüsse
dieser regelmäßigen Wanderungen aus ihrem Material heranzieht, ist so wichtig und auf-
schlußreich, daß man wohl wünschen möchte, diesem Thema eine ausführliche volkskund-
liche Studie zu widmen.
In seiner Bitte hatte Mannhardt nicht nur nach brauchtümlichen Handlungen, Sagen-
elementen und Sprüchen gefragt, sondern in den Fragen 2 und 3 auch nach dem Arbeits-
gerät, dem Arbeitsgang und den arbeitenden Personen bei der Getreideernte. Und hier
ergab sich, daß die Korrespondenten, vielfach selbst tätige Landwirte, diese Sachfragen oft
ausführlicher beantworteten als die folkloristischen. Die Verf. war deshalb in der Lage, ein
eigenes ausführliches Kapitel über Erntegeräte und Arbeitsteilung zu schreiben. Im einzelnen
behandelt sie die Belege für Sichel, Sicht und Sense mit den landschaftlichen Besonder-
heiten ihrer Verwendungsweise. Die Karte 4 mit der geographischen Verteilung der drei
Geräteformen wird zu einer interessanten historischen Quelle für die Verbreitungsgeschichte
dieser Arbeitsgeräte in neuerer Zeit. In dem Abschnitt über Arbeitstechnik und Arbeits-
teilung auf dem Erntefeld kann die Verf. die neueren Theorien über die Hintergründe der
geschlechtlichen Arbeitsteilung auf dem Erntefeld für das 19. Jh. bestätigen. Im Zusammen-
hang mit der genannten Gerätekarte bezeugt die folgende Karte über die Arbeitsteilung (5)
eindeutig die Abhängigkeit der Arbeitsordnung von dem verwendeten Gerät. Ihr besonderes
Interesse gilt dann dem Erntepaar, dem Schnitter und der Binderin, die als Grundeinheit
der Arbeitsgruppe in den gutsherrschaftlichen Betrieben anzusehen ist, und dem Brauchtum,
das sich mit der paarweisen Arbeit verbindet.
Besprechungen
159
Im letzten Kapitel Änderungen der Brauchfunktion als Ausdruck einer gewandelten Arbeits-
well stellt die Verf. dann zusammenfassend die Hauptzüge des Brauchtums in der Erntezeit
dar. Ihren methodischen Ansatz charakterisiert sie selbst mit dem Satz: „In der Erkenntnis
ihrer Zeit-, Raum- und Funktionsgebundenheit verstanden wir die eingesandten Ernte-
brauchberichte als Abbild einer komplexen Arbeitswelt und breiteten sie aus vor jener Folie
der Wirtschafts- und Sozialgeschichte, die nicht die (oft trivialen) Stof fe als solche, sondern
hinter ihnen deren Träger und Gestalter lebendig vor Augen stellt.“ (S. 355). Dabei ist es
ihr besonderes Anliegen zu zeigen, wie mit der Bildung der besitzlosen Landarbeiterschicht,
die nun im 19. Jh. das Erntefeld beherrscht, das Erntebrauchtum neue Bedeutung und neue
Funktion gewinnt: „Wenn sich die vielen Gruppen der Erntearbeiter, wie sie sich jeweils
zusammenfanden, die auf den Bauernhöfen absterbenden Brauchkomplexe aneigneten, so
verfolgten sie damit ein bestimmtes Ziel. Das Umprägen der Brauchhandlungen, die Kompi-
lation der Sprüche war ein lebendiger und aktiver Vorgang und keine Entartung, kein Zer-
bröckeln vergangener bedeutungsvoller Formen einer einst ganzheitlichen Glaubenswelt.
Rundete denn ihre Welt für sie sich weniger ganzheitlich, schien ihr Fühlen, Denken und
Sein ihnen selbst weniger bedeutungsvoll? Kraft ihrer Arbeit empfanden sie sich während
der Ernte als die Herren, und aus dieser zeitbegrenzten Machtvollkommenheit heraus glaub-
ten sie, jene bescheidenen Extraleistungen der Herrschaft als ihr gutes Recht fordern zu
dürfen. Es fand also keine Sinnentleerung der einst bäuerlichen und z. T. auch handwerk-
lichen Überlieferungen statt, sondern im Gegenteil eine den neuen Zwecken entsprechende
Sinnaufladung. Damit mußte in der Funktion der Bräuche ein entscheidender Wandel ein-
treten. Ihre Hauptelemente änderten die Zielrichtung von einer vorwiegend vegctations-
kultischen und fruchtbarkeitsmagischen Dominanz, von Feldehrung und Glückszauber,
hin zu einer solchen der Arbeitsordnung, des Rechtsanspruches und des sozialen Ausgleichs“
(S. 369!.). Der Begriff Interessendominanz (der Brauchträger) ist der Leitgedanke dieses
Kapitels. Was die Verf. darunter versteht, veranschaulicht sie in der Tabelle auf S. 370.
Diese wird untergliedert in drei Spalten (= den drei Hauptbestandteilen dieser Interessen-
dominanz): Förderung der Arbeitsleistung, Unterstützung eines Rechtsanspruchs, Forde-
rung eines sozialen Ausgleichs. Und mit waagerechten Pfeilen wird angedeutet, wohin die
einzelnen Brauchelemente (Binden und Lösen, Überreichen der Erntekrone, usw.) zielen.
Dieses Schema vereinfacht zwar die sich in vielfachen Bezügen darstellende Lebenswirklich-
keit zu einem Bezugssystem einfacher Richtung, aber es macht die Komponenten deutlich,
welche die Verf. in jener bestimmten ökonomisch-sozialen Situation eben als dominant
ansieht und herausstellt. Daß sich aus dieser neuen Sicht nun auch eine Umwertung der
volkskundlichen Deutung in vielen Fragen der Brauchforschung ergibt, wie die Verf. im
einzelnen ausführt, sei hier nur angedeutet.
Aus dem Anhang mit dem Literaturverzeichnis, den Registern und den bereits erwähnten
fünf Karten möchten wir das Wörterverzeichnis von Spezialausdrücken hervorheben, das auf
86 Seiten die mundartlichen Bezeichnungen aus dem Mannhardtmaterial mit den dort gege-
benen Erläuterungen nach 11 Sachgruppen aufführt. Da es zum größten Teil Begriffe ent-
hält, die in der Untersuchung nicht behandelt werden, bietet es eine wertvolle sachliche
Ergänzung, die wir sehr begrüßen. Ebenso müssen wir die reiche Ausstattung mit Ab-
bildungen aus dem ganzen Umkreis der Erntearbeit erwähnen, wofür der Autorin wie dem
Verlag zu danken ist.
Ingeborg Weber-Kellermann hat mit diesem Werk, dessen Grundlegung noch zu einer
Zeit erfolgte, als sie mit uns im Institut für deutsche Volkskunde in Berlin tätig war, eine
große, aller Anerkennung werte Leistung vollbracht. Das gilt schon für die ordnende Dar-
stellung des bisher eigentlich ziemlich unbekannt gebliebenen, aber äußerst wichtigen
Materials, das als eine zuverlässige Quelle für jede historische Volkskunde aus dem agra-
rischen Bereich hiermit endlich erschlossen ist. Das gilt aber ganz besonders für die Unter-
suchungsergebnisse, die sie hier vorlegt. Denn diese vermitteln nicht nur der Brauch-
forschung im engeren Sinne, sondern auch vielen anderen Sparten der Volkskunde eine
1’ülle von wertvollen Anregungen, für die wir bestens danken.
Reinhard Peesch, Berlin
160
Besprechungen
Kustaa Vilkuna, Volkstümliche Arbeitsfeste in Finnland. Helsinki, Academia Scientiarum
Fennica, 1963. 287 S. (= FFC 191).
In vorliegendem Werk führt uns Kustaa Vilkuna in eine Zeit zurück, deren Lebensformen
in funktionalen Zusammenhängen standen, wie wir sie aus der Gegenwart nur noch in
bedeutungslosen Relikten oder überhaupt nicht mehr kennen. Denn für unsere Zeit ist
charakteristisch, daß sich nicht nur die gesellschaftliche Arbeitsteilung in allen Bereichen der
Arbeit völlig durchgesetzt hat, sondern daß unter derselben Gesetzmäßigkeit auch die Arbeit
und der Werktag gegenüber der Unterhaltung, dem Feierabend und dem Feiertag deutlich
abgegrenzte eigene Bereiche bilden. Dagegen gilt für jene Vergangenheit, die der Verf. hier
darstellt, daß die Arbeit, besonders wenn sie in Gemeinschaft vollzogen wurde, noch auf
das engste mit den verschiedensten Festbräuchen verquickt war, wobei die Brauchhand-
lungen oft selbst wieder die Arbeitsleistung fördern konnten. Es ist deshalb verständlich,
daß der Verf. viele Erscheinungen berücksichtigt, denen wohl nicht der Charakter „fest-
lichen“ Geschehens zukommt, die aber unbedingt in diesen Zusammenhang gehören. Der
Titel „Arbeitsfeste“ trifft also den Inhalt des Buches nur zu einem Teil, wenn wir das Wort
„Fest“ in der heute üblichen Bedeutung gebrauchen. Das Buch enthält mehr.
In den festlichen Gelagen nach der gemeinsamen Jagd, mit denen der Verf. beginnt, treten
vor allem magische Züge hervor, die darauf zielen, das Jagdglück für die nächste Jagd oder
das nächste Jahr zu erhalten, wie es in den überlieferten Liedern zum Bärenfest zum Aus-
druck kommt. Eine Gelegenheit zum festlichen Trunk ergab sich sonst bei der Jagd, wenn ein
Neuling die erste Robbe, den ersten Luchs, den ersten Wolf oder ein anderes großes Wild
zum erstenmal erlegt hatte und nach dieser Probe die Jagdgemeinschaft mit Branntwein
bewirtete, wodurch er ein vollwertiges Mitglied wurde. Die Grundzüge gemeinschaftlicher
festlicher Mahlzeit kann der Verf. dann bei der periodisch betriebenen Fischerei größerer
Fanggemeinschaften aufzeigen. Sie wurde gewöhnlich zu Beginn des eigentlichen Fangs
abgehalten, nachdem die Fanggeräte aufgebaut oder hergerichtet waren. Die ersten gefan-
genen Fische wurden hierbei verzehrt. Das sicherte nach der Volksmeinung einen guten
Fang für die ganze Fangperiode. Ebenso wie das Fisch-Essen war auch der Trunk für die
kommende Fischerei bedeutsam. Reichlicher Trunk bedeutete reichen Ertrag. Der Rausch
wurde aber offensichtlich auch aus anderen Motiven angestrebt. In diesem Zustand zeige der
Mensch, so sagte man, ob er ehrlich und unbescholten ist, wie ein Lachsfänger sein soll. Der
Trunk gehörte also offensichtlich zum Begründungszeremoniell der Fanggemeinschaft, wie
es besonders bei den Zugnetzkommünen deutlich wird. Denn wer dort bei der ersten
Zusammenkunft bis zum Mittag nicht erschien und an der Mahlzeit nicht teilnahm, war für
den kommenden Winter von der Fischerei ausgeschlossen. War in diesen Elementen das Mahl
auf die Sicherung des Fangglücks und auf die Konstituierung der Gemeinschaft gerichtet, so
kamen andere Züge hinzu, wenn Fremde als Gäste teilnahmen. Das geschah in den Großen
Lachs- und Renkenfesten, die der Verf. zu den ältesten Festen der Finnen zählt. In den
gleichen Zusammenhang gehörte aber auch der Brauch, arme Leute und Bettler am Mahl des
ersten Tages teilhaben zu lassen. Bei dieser Freigebigkeit spielten wiederum magische
Motive mit. Aber auch andere Gesichtspunkte sind heranzuziehen, die der Verf. in einem
eigenen Kapitel (IX. Wie Freigiebigkeit und Bewirtung motiviert wurden) zusammenstellt.
Hervorzuheben ist daraus der folgende: „Ursprünglich besaß das Dorf, die Sippe oder der
Stamm alles Land und Wasser ungeteilt und gemeinsam, so daß es natürlich war, daß die
dort gefangene Beute auch gemeinsam verzehrt wurde. ... Somit beruht die Freigebigkeit
an den Arbeits- und Fangplätzen gewissermaßen ursprünglich auf der Teilung des gemein-
samen Eigentums“ (S. 204).
Dieselben Grundgedanken stecken auch in den Bräuchen der Arbeitsplatzbewirtung und
des sogenannten Spendensammelns, denen der Verf. zwei eigene Kapitel widmet (VII bis
VIII). Sie sind besonders von der Winterfischerei mit dem großen Strömlingsnetz bekannt.
Hier war es üblich, daß nicht nur die 48 bis 60 Zieher, die sich aus landarmen oder besitz-
losen Dorfleuten zusammensetzten, am Ertrag des Zuges beteiligt wurden, sondern auch
Fremde, wenn sie bestimmte Formeln beachteten. Die hauptsächliche Voraussetzung war,
Besprechungen
161
daß sie die acht Besitzer des Netzes mit Branntwein, Käse und Brot bewirteten. Dann erhiel-
ten sie so viel Strömlinge, wie zwei Männer tragen konnten. Dieser Tausch von Bewirtung
am Arbeitsplatz gegen Fisch bildete eine Form des Warenerwerbs, die weit ursprünglicher
war als der gegenseitige Austausch von Produkten gleicher Art. Dabei war es vielfach üblich,
daß der Bewirtende sich mitsamt seinem Knecht an der Arbeit eines Fischzuges beteiligte.
Er war also tatsächlich eine Zeitlang Mitarbeiter der Fanggemeinschaft. Der zur alten Fang-
kultur gehörende Brauch wurde bereits frühzeitig auf die Agrarkultur übertragen, wo wir
ihn als Gabe von Getreide, Kartoffeln, Flachs, Stroh, Wolle und anderen Agrarprodukten
gegen eine aufs Feld gebrachte Bewirtung mit Schnaps oder Kaffee wiederfinden. Dieses
sogenannte Spendensammeln war weit verbreitet und auch in Estland und Lettland bekannt,
wie der Verf. mit ausführlichen Beispielen bezeugt. Wurde aber die Fischgabe am Strand
noch als ein durchaus reeller Warenerwerb betrachtet, an dem sich auch die wohlhabenden
Bauern des Binnenlandes und sogar die Pfarrer, die Küster und die lokalen Beamten der Nach-
barorte beteiligten, so sank das Spendensammeln in den Bauerndörfern in jüngerer Zeit zur
reinen Bettelei ab, besonders dann, wenn es gar nicht mehr auf dem Erntefeld, sondern zur
anderen Zeit auf dem Hof des Bauern erfolgte.
Im Kapitel X (Das regelmäßige finnisch-estnische Austauschen von Fisch und Getreide im
Zeichen der Gastfreundschaft) stellt der Verf. auch eine Form des echten Tauschhandels in
diesen Zusammenhang, die sich am Finnischen Meerbusen bis zum ersten Weltkrieg erhalten
konnte. Zu bestimmten Terminen besuchten hier zweimal jährlich finnische Fischer auf
speziellen Transportsegelschiffen einige Orte der estnischen Küste, wo sie von den Bauern
erwartet wurden. In einem traditionellen Tauschverhältnis wurden dann gesalzene Ström-
linge gegen Roggen getauscht. Die Bauern brachten aber auch Gebäck und Kohlrüben mit,
die sie den Fischern als Freundschaftsgeschenke übergaben, womit die Parallele zu den oben
genannten Formen der Arbeitsplatzbewirtung bezeugt wird.
Die Arbeitsfeste in der Landwirtschaft behandelt der Verf. in der Reihenfolge des Kalender-
jahres, mit dem Düngerfest beginnend und mit dem Schlachtfest endend, das oft als eine
Art Jahresanfangfeier begangen wurde. Große Feste, an denen die gesamte Nachbarschaft
teilnahm, wechseln deshalb in der Darstellung mit den einfachen Familienfesten oder Hof-
festen und den Bewirtungen im kleineren Kreise. Dabei zeigt die ausführliche Dokumen-
tation, die der Verf. in diesem Kapitel ausbreitet, wie der Charakter der Festlichkeiten sowohl
vom äußeren Anlaß als auch vom Kreis der Teilnehmer abhing. Feste, mit denen der Ab-
schluß einer Arbeit auf der Grundlage gegenseitiger Nachbarschaftshilfe oder anderer
fremder Hilfe begangen wurde, zeichneten sich durch reiche Bewirtung aus, wobei Motive
des Sozialprestiges eine große Rolle spielten, weiter durch Spiel und andere fröhliche
Unterhaltung, wobei der Tanz der Jugend in der Regel den Höhepunkt bildete (Düngerfest,
Sichelfest, Dreschfest, Häckselfest, Flachsbrech fest). Neben der Bewirtung, die unbedingt zu
jeder festlichen Begebenheit gehörte, finden sich andere Brauchelemente bei den stilleren,
kleinen Festlichkeiten, die nur im Kreis der Familie oder der nächsten Freunde und Nach-
barn abgehalten wurden (Saatbrot, Saattrinken, Heumahd, das finnische Herbstfest kexjri,
Schlachte fest). Sonderformen zeigten die Feste der Hirten und der Rentierzüchter. Bei jedem
der genannten Feste behandelt der Verf. eingehend die einzelnen Festspeisen, Brauch-
handlungen und Glaubensvorstellungen in ihren verschiedenartigen sozialen Funktionen.
Dabei berücksichtigt er teilweise auch Erscheinungen, die zum eigentlichen Arbeitsvorgang
gehören, wie die Arbeit um die Wette (beim Mistfahren, Kornschnitt, Flachsbrechen), die
paarweise Arbeit (Flachsbrechen und -schwingen) und andere.
Die Formen der Nachbarschaftshilfe beim Hausbau untersucht der Verf. im Kapitel Die
Dichte feste. Die Hauptarbeit bestand hier im Heranfahren des Bauholzes aus dem Wald, an
dem sich nicht nur die hierzu eingeladene Dorfgemeinschaft, sondern oft auch die Bauern
des ganzen Kirchspiels beteiligten. Diese Balkengemeinschaftsarbeit fand ihren traditionellen
Abschluß mit einem Festessen für alle, die bei dieser Arbeit auf irgendeine Weise mitgeholfen
hatten. Aber auch das eigentliche Richtfest war in Finnland bekannt: die Haushebung, die
der Hausbesitzer den Zimmerleuten und den Helfern gab, nachdem der Firstbalken gesetzt
Worden war. Weitere Anlässe zur Bewirtung der helfenden Nachbarn und der Handwerker
Waren das Eindecken des Daches, die Fertigstellung der Feuerstelle und schließlich der Ein-
11 Volkskunde
iPJifwf UMffÆKrn V Jl' I I U/KK/AU1UU HVI/ÏUÏ\NÎMV~
162 Besprechungen
zug ins neue Haus. Die gleichen Formen festlicher Bewirtung verbunden mit reichlichem
Trunk finden wir dann bei den Arbeitsfesten, die aus Anlaß des Stapellaufes eines Schiffes
veranstaltet wurden.
Von ganz anderer Art waren nun die geselligen Zusammenkünfte der Jugend, die der
Verf. in den Kapiteln IV (Feste bei Handarbeiten) und V (Umgang an den Arbeitsplätzen)
schildert. Der äußere Anlaß waren die Arbeiten, die an Winterabenden in der warmen Stube
oder in der Sauna verrichtet wurden, wie Spinnen, Flachs und Wolle kämmen, Netze
knüpfen und andere. Die Unterhaltung an diesen Arbeitsabenden entsprach ganz der Art,
wie wir sie aus Deutschland von der Spinnstube kennen. In manchen Gegenden Finnlands
war es jedoch Brauch, daß die jungen Leute zur Unterhaltung überall dorthin gingen, wo
andere abends oder nachts arbeiteten: zu den Wassermühlen, wo im Frühjahr und im Herbst
die Nacht hindurch das Brotkorn gemahlen wurde, oder zur Malzsauna, wo das Feuer die
ganze Nacht lang brannte, oder im Sommer zu den Teergruben, wo ebenfalls das Feuer
nachts unterhalten werden mußte.
Grundfragen der im Takt geleisteten, gemeinsamen Arbeit berührt der Verf. im Kapitel XI,
wo er die geläufigsten Formen des finnischen Arbeitslieds mit Melodien und Texten mitteilt.
Hierzu bringt er Beispiele von Taktliedern beim Lehmtreten, Brettersägen, Balkenheben
und Pfahlrammen, beim Landholen des Boots, beim Einholen des Zugnetzes und beim
Rudern. Außerdem behandelt er kurz einige Lieder, die zum Drehen der Handmühle, zum
Spinnen, Weben, Melken und ähnlichen Tätigkeiten gesungen wurden.
Das Material zum vorliegenden Werk stammt zum größten Teil aus einer 1937 veranstal-
teten Umfrage über die volkstümlichen Namen von Arbeitsfesten. Die reiche sprachliche
Ausbeute in den Antworten dieser Befragung hat der Verf. bereits 1944 in der Zeitschrift
Kotiseutu untersucht. Aber auch der jetzt vorliegenden, größeren Abhandlung ist sie sehr
zugute gekommen. Denn der Verf. bringt nicht nur zu jeder wichtigen Erscheinung die
sprachlichen Belege, sondern benutzt in vielen Fällen Etymologie und Sprachvergleich zur
Deutung der Kulturelemente in ihrem historischen Wandel. Mit welchem Erfolg ihm das
gelingt, zeigt besonders das Kapitel VII über die Arbeitsplatzbewirtung, wo er mit Hilfe der
Wortforschung alte funktionale Bezüge aufdecken kann, wie es anderweitig wohl nicht
möglich wäre. Die alte Methode, die Etymologie durch Erforschung der Sachgeschichte zu
fördern, die hier in erfolgreicher Weise umgekehrt angewandt wird, bewährt sich so aufs
neue. Als Ertrag dieser gründlichen, vorsichtig deutenden Arbeit ergibt sich eine außer-
gewöhnlich stoffreiche Darstellung, die für jede vergleichende Volkskunde auf dem Gebiet
des Arbeitslebens von großem Nutzen sein wird.
Reinhard Peesch, Berlin
Hildegard Schlomka, Das Brauchtum der Jahresfeste in der westlichen Altmark. Köln und
Graz, Böhlau, 1964. 155 S., 17 Abb., 10 Karten (— Mitteldeutsche Forschungen 33).
Das Material zu der 1942 in Marburg vorgelegten Dissertation sammelte die Verf. in den
Jahren 1938/39 in den Kreisen Gardelegen und Salzwedel. Die Jahresfeste im Winter, Vor-
frühling, Frühling und Sommer, Spätsommer und Herbst erscheinen in kalendarischer Ord-
nung. 81 Heischeverse beim Pfingstumzug, 55 Martinslieder werden mitgeteilt. Eigene
Anschauung brauchtümlicher Abläufe ergänzte Sch. durch Aussagen älterer Dorfleute und
durch Mitteilungen im älteren Heimatschrifttum, so daß brauchgeschichtliche Entwicklun-
gen von etwa 1850 bis 1940 sichtbar werden. So kann die Verf. u. a. am Beispiel des Schim-
melreiters zeigen, wie die Maske in den siebziger Jahren aus den dörflichen Umzügen der
Weihnachtszeit verschwindet, zunächst aber in den Festen der Spinnkoppeln, besonders am
Fasseläbend, eine Zuflucht findet, bis schließlich die Gestalt nur noch als Name eines Weih-
nachtsgebäcks in Mieste (Kr. Gardelegen) weiterlebt.
Koppeln oder Chore, Zusammenschlüsse etwa gleichaltriger Burschen und Mädchen,
waren die Träger der jahreszeitlich gebundenen Dorfgeselligkeit. In den Dörfern am Rande
des Drömlings wurden die vor Ostern konfirmierten Jungen nach dem Osterfeuer gebengelt
und traten zunächst in das lütje Chor ein, in dem sie bis zum 18. Lebensjahr verblieben, um
Besprechungen
163
erst dann in die eigentliche Burschenschaft, das grole Chor, aufgenommen zu werden. Im
„groten Chor“ führte der Schultenkriecht das Kommando. Von Ostern bis zur Erntezeit
fanden sich allabendlich Burschen und Alädchen auf der Dorfstraße zum Koppelgang zu-
sammen; im Winter trafen sie sich in den „Spinnkoppeln“ der Mädchen. Diese Gruppen der
erwachsenen Jugend trugen das dörfliche Festbrauchtum. In den letzten Jahrzehnten des
19. Jhs setzten Auflösung und Wandel dieser Trägergruppen ein und in Verbindung damit
auch der Schwund des dörflichen Festwesens. Als Doris Stockmann 1955 bei ihrer Feld-
arbeit dem altmärkischen Koppelwesen nachging, konnte sie feststellen, daß die „Koppeln“
zwar noch Gehäuse geselligen Lebens waren, aber „die Spinnkoppeln der Parisiuszeit trugen
ein anderes Gepräge als Koppeln junger Mädchen und Burschen des Jahre 1955, die gemein-
sam für eine Aufführung des Dorfensembles probten, auf einer Geburtstagsfeier nach Radio-
musik tanzten oder sich abends zum Anschauen einer Fernsehsendung zusammenfanden“.
[Doris Stockmann, Der Volksgesang in der Altmark. Berlin 1962, S. 75]. In der Altmark
sammelte Ludolf Parisius um die Mitte des 19. Jhs seine Volkslieder, die Ingeborg Weber-
Kellermann in Verbindung mit Erich Stockmann vorbildlich edierte [Ludolf Parisius und
seine altmärkischen Volkslieder. Berlin 1957]; 1843 erschienen Adalbert Kuhns Märkische
Sagen und Märchen nebst einem Anhang von Gebräuchen und Aberglauben. J. F. Danneil,
G. W. von Raumer, M. Ebeling, L. Parisius und andere Autoren lieferten wichtige Beiträge
zur Kenntnis märkischen Volkslebens, und dieser Reihe schließt sich würdig Hildegard
Schlomkas Arbeit an. So sauber durchgeführte regionale Bestandsaufnahmen wünschen wir
uns zu Dutzenden. Nur sie geben der räumlich und zeitlich weiter ausgreifenden Forschung
gesicherte Grundlagen. Vom Schrifttum her gesehen ist die Altmark ein volkskundlich
verhältnismäßig gut erschlossenes Gebiet, so daß es verlockend erscheinen könnte, eine
Zusammenschau volkskundlicher Äußerungen für diese Kernlandschaft Brandenburgs im
Zeitraum des 19. Jhs zu versuchen.
Friedrich Sieber, Dresden
Hedi Lehmann, Volksbrauch im Jahreslauf. München, Heimeran-Verlag, 1964. 176 S.,
85 Abb.
Wir müssen jeden Versuch ernst nehmen, volkskundliche Themen einem größeren Leser-
kreise schmackhaft zu machen. Die Verf. löst zu diesem Zwecke den Komplex des Jahres-
laufes (sie bezieht über den Titel des Buches hinaus auch die Hauptstationen des Lebens-
laufes ein ebenso wie Volkstanz, Volkstracht usw.) in zahlreiche Einzelkapitel auf. In der
einen Gruppe behandelt sie die überall mit brauchtümlichen Veranstaltungen begangenen
Tage und Zeiten (Lätare, Palmsonntag, Ostern, Kirchweih, Weihnachten usw.) und zieht
dazu Belege aus dem gesamten deutschen Brauchgebiet bei. In einer anderen Gruppe führt
sie lokal gebundene Volksfeste vor (Ulmer Fischerstechen, Schäferlauf zu Markgröningen,
das Cannstatter Volksfest, die Dresdner Vogelwiese, das Münchner Oktoberfest, den Dürk-
heimer Wurstmarkt usw.).
Der nicht mit Ballast beschwerten feuilletonistischen Darstellung spürt man die Freude
an Antiquitäten an, wenn auch gelegentliche Entgleisungen („wenn der Hans mit seiner
Liese einig ist“, S. 16) und die Vorliebe für Pointen und kapitelschließende Anekdoten das
volkskulturelle Gewicht des Brauchlebens zu sehr entschweren. Nette Illustrationen gängi-
gen Typs und ein schmales Schrifttumverzeichnis ergänzen das im ganzen gefällige Buch,
und wir wünschen nur, daß der eine oder andere Leser aus diesem Vorhof den Weg in das
Fachschrifttum finden möge.
Friedrich Sieber, Dresden
11*
164
Besprechungen
Otto Kampmüller, Mühlviertler Volksspiele. Eine volkskundlich-soziologische Unter-
suchung. Linz 1964. 107 S., 30 Abb. (— Schriftenreihe des Inst. £. Landeskunde von
Oberösterr. hg. v. Franz Pfeffer).
Die Volkskunde hat seit jeher begründeten Anlaß, die aus dem Kreis der Lehrerschaft
stammenden Forschungen zu begrüßen, stellen doch die meisten von ihnen wichtiges Quellen-
material zur Verfügung, das häufig genug den Weg zu neuen Erkenntnissen erschließt. Auch
bei der vorliegenden Publikation handelt es sich um das Werk eines um die Volkstumspflege
(das ist etwas anderes als Volkstumsforschung) verdienten Lehrers. Er wurde durch
Berichte, die er von 35 Volksschülern auf die Hausaufgabe „Was die Leute bei uns daheim
spielen“ erhalten hatte, angeregt, sich weiter mit dem Thema Volksspiele zu befassen. Das
Resultat seiner Befragungen ist eine stattliche, wenn auch in ihrer Qualität unterschiedliche
Sammlung von 222 Spielen, für deren Aufzeichnung in einem nach dieser Seite hin bisher
wenig durchforschten Gebiet ihm die Volkskunde zu wirklichem Dank verpflichtet ist. Man
würde aber dieses vom Verlag bestens ausgestattete Bändchen mit wesentlich größerer
Freude anzeigen, wenn sich der Autor in Nachfolge so bedeutender Forscher wie K. Adrian,
A. Depiny, H. Commenda, Fr. Prodinger u. a. damit begnügt hätte, seine Sammlung schlicht
und einfach als das zu bezeichnen, was sie ist, nämlich eine lokale, im besten Fall regionale
Bestandsaufnahme, die als solche eine erfreuliche Ergänzung der österreichischen Literatur
zur Spielaufzeichnung darstellt. Leider ließ er sich aber in Überschätzung seiner Leistung
und in offensichtlicher Unkenntnis der unabdingbaren Voraussetzungen, die eine wissen-
schaftliche Untersuchung erfordert, wie auch in Unkenntnis der exakten Methoden der
beiden bemühten Wissenschaften, dazu verleiten, sein Buch schon auf dem Titelblatt als eine
„volkskundlich-soziologische Untersuchung“ zu deklarieren. Er muß demnach auch damit
rechnen, daß die Forschung von diesem Standpunkt aus zu seiner Publikation kritisch
Stellung nimmt.
Im Hinblick darauf, daß die berufenen österreichischen Experten für Spielforschung,
Museumsdirektor Dr. K. Haiding und Hofrat Dr. H. Commenda, bereits an anderer Stelle
ihre Bemerkungen zur Spielsammlung selbst niedergelegt haben, fühlen wir uns der Auf-
gabe enthoben, zu den einzelnen Spielen und ihrer jeweiligen Tradition an sich Stellung zu
nehmen. Wir können uns daher mehr auf die grundsätzlichen Fragen beschränken, die es
hinsichtlich einer wissenschaftlichen Untersuchung zu beachten gilt, und verweisen dabei
zunächst auf die große Problematik, eine Sammlung von Erwachsenenspielen nahezu aus-
schließlich auf Schüleraufsätzen aufzubauen, wie aus der Beschreibung der Sammlungs-
methode hervorgeht. Denn es liegt nahe, daß durch dieses Verfahren nur ein Teil des tat-
sächlich vorhandenen Traditionsgutes erfaßt werden kann und daß auch das erfaßte Gut
nicht immer in der spielrichtigen bzw. spielbaren Form aufgezeichnet wurde, worauf auch
K. Haiding in seiner Rezension (Österr. Zs. f. Vkde. 1964, 109 ff.) hingewiesen hat. Auf
ebenso unsicherem Boden befindet man sich, wenn die nur in einigen wenigen Orten des
Mühlviertels durchgeführte, an sich sehr verdienstvolle Sammlung als repräsentativ für die
gesamte Landschaft von Oberösterreich nördlich der Donau hingestellt wird und an diesem
Material nicht nur statistische Berechnungen über die Überlieferungsintensität der Spiele
angestellt, sondern auch Rückschlüsse auf besondere Charaktereigenschaften der Bevölke-
rung des gesamten Landesteiles gezogen werden. Wie wenig gesichert die Schlußfolgerungen
des Autors sind, zeigt bereits die Behauptung, daß sich gerade im Mühlviertel die Kraft- und
Geschicklichkeitsspiele „am reinsten“ erhalten hätten. Aber schon die Lektüre des Textes
und die Betrachtung der Bilder des „Atlas von Oberösterreich“ (herausgegeben von dem-
selben Institut für Landeskunde, das Kampmüllers Buch verlegt hat, Erläuterungsband I,
143 ff.) hätte ihn ebenso wie der Besuch eines „Zechen“-Abends der bis um 1950 noch in
voller Aktion tätigen bäuerlichen Burschenschaften im Raume südlich der Donau, vor allem
im Innviertel, darüber unterrichtet, daß sich hier die gleichen Spiele unter der Obhut
der sie traditionsgemäß pflegenden Gemeinschaften viel besser und kraftvoller erhalten
haben als im Mühlviertel. Und im weiteren hätten die Beschreibungen von K. Adrian,
Fr. Prodinger u. a. dem Autor zeigen müssen, daß sich ihr Verbreitungsgebiet auch weit über
Besprechungen
165
die Grenzen Oberösterreichs hinaus fortsetzt und in Einzelfällen sich sogar bis Skandinavien
verfolgen läßt, so daß sich schon von diesem Gesichtspunkt her Folgerungen aus den Spielen
hinsichtlich besonderer Charakterzüge der Mühlviertler Bevölkerung als haltlos erweisen.
Leider wurden auch für die historische Tiefe der Überlieferung der Spiele nicht alle
heimatlichen Belege ausgewertet. Denn wie richtig auch Hinweise darauf sind, daß einzelne
von ihnen sich bereits unter den (seit langem bekannten und in der Forschung reichlich aus-
gewerteten) Bildern von P. Breughel befinden, müßte man doch wenigstens auf so wichtige
Bildzeugnisse wie den 1515 datierten Wallfahrerbrunnen in St. Wolfgang am Abersee auf-
merksam machen, in dem sein Schöpfer Lienhart Rännacher das viel beschriebene Strick-
katzen-Ziehen (Nackenziehen zweier voreinander kniender Spieler, deren Häupter durch
ein Tuch oder Seil miteinander verbunden sind) abbildete, usw.
Mündet das „soziologische“ Untersuchungsergebnis der Einleitungsseiten in der Fest-
stellung, daß sich unter den geänderten Lebensverhältnissen der Bevölkerung, vor allem der
von der modernen Pendlerbewegung betroffenen Gebiete, auch die Form der Unterhaltungen
ändert und sich damit eine Umschichtung des Repertoires und der Überlieferungsintensität
der Spiele entwickelt, so liegt der „volkskundliche“ Ertrag offensichtlich in dem Versuch
einer Erklärung der Mehrzahl der Spiele, für deren Einteilung der Verf. sich ein eigenes
System zurechtgelegt hat. Als entwicklungsgeschichtliche Grundlage vieler von ihnen
werden Parallelen aus dem Tierreich (vielfach nach K. Groos, Die Spiele der Tiere. Jena
1896) angenommen und für eine Reihe von Kraft-, Mut- und Geschicklichkeitsspielen auch
die Initiationsbräuche von Naturvölkern. Nirgends findet man bei dem Verf. aber, weder im
Textteil noch in der recht weitläufigen Zusammenstellung des sich auf Spiele aller Art be-
ziehenden Schrifttums, einen Hinweis auf die grundlegende Literatur zu diesem zweiten
Bereich, wie sie von H. Schurtz, M. Zeller, L. Weiser-Aal, O. Höfler, G. Caduff u. a. ge-
boten wurde, so daß es uns nicht weiter verwundert, wenn die Verweise nicht über vage
Andeutungen aus der Sekundärliteratur hinauskommen, und dem Autor auch tatsächliche
rituelle Relikte wie das Spiel von Tod und Auferstehung (z. B. Romfahren) in ihrer Bedeu-
tung nicht bewußt werden.
Leider wurde bei der Beschreibung der Spiele deren funktionelle Aufgabe je nach Spiel-
situation nicht berücksichtigt, wodurch z. B. die „Strafen“ bei den sogen. Pfänderspielen
trotz ihrer offensichtlichen Unvollständigkeit als selbständige Spiele angeführt und auch
die Grenzen zwischen den reinen Unterhaltungsspielen und den zeitgebundenen Brauch-
spielen häufig verwischt werden. So kommt es, daß sich z. B. mitten unter den Unterhal-
tungsspielen plötzlich Spiele finden, die nahezu ausschließlich im Faschingbrauch eine Rolle
spielen oder für Orakelbräuche typisch sind. Trotzdem solcherart aber Jahreslaufbräuche
offenbar bewußt mitaufgenommen wurden, fehlen andererseits ganz große Gruppen der-
artiger Brauchspiele wie sie gerade für diese Landschaft zur Weihnachts- und Dreikönigs-
zeit (s. Atlas von Oberösterreich, Erläuterungen Bd. II, 1947) und für das Hochzeitsbrauch-
tum charakteristisch sind.
Bei einem Autor, der seine lange Verbundenheit mit dem Mühlviertler Volksleben betont,
wird man erwarten dürfen, daß er die ungewöhnlichen Namen und Ausdrücke erklärt, die
bei manchen Spielen Vorkommen und diese dadurch auch von der sprachlichen Seite her
dem Leser aufschließt. Leider wird man hierin enttäuscht, denn selbst der einzige Versuch
dieser Art (S. 34, Nr. 6) geht meilenweit daneben. Hier wird die Spielanweisung mit den
Fingern dammön als mit den Fingern „taumeln“ (es wäre interessant zu erfahren, wie man
das macht) ins Hochdeutsche übersetzt. Aber schon ein Blick in Schmellers Bayerisches
Wörterbuch (1939, Bd. I, 506) hätte dem Verf. ebenso wie die Lektüre auch der bescheiden-
sten Auswahl der Gedichte des größten oberösterreichischen Mundartdichters Franz Stelz-
hamer deutlich machen müssen, daß „dammön“ = „demmön“ — stark klopfen heißt (bei
Stelzhamer z. B.: der Tod „dammelt an“, d. h. klopft ans Tor, nicht etwa er „taumelt“
davor!), so daß auch die Finger der Spieler nicht irgendwie herumzutaumeln, sondern kräftig
auf die Tischplatte zu klopfen haben. Und das in einem Buch, das Anspruch darauf erhebt,
eine Anweisung zum Nachspielen der beschriebenen Spiele darzustellen!
Schade, daß ein Buch, dessen Meriten als Materialsammlung offenkundig sind, mit der-
artigen Mängeln belastet ist, die sich aber in einer 2. Auflage, für deren Textbeurteilung der
> f'IXt WW/HCfniH r//.«4!n vn I M/Tf fctl 1 rWf/dHVN
166 Besprechungen
Verlag dann aber hoffentlich einen entsprechenden Fachexperten heranzieht, unschwer be-
hoben werden können. Dann wird man aber auch darauf Rücksicht zu nehmen haben, daß
auf den schönen photographischen Wiedergaben der Spiele nicht Seite um Seite Burschen in
einer erneuerten Lederhosentracht erscheinen, die zu keiner Zeit für das Mühlviertel
charakteristisch war.
Ernst Burgstaller, Linz
Rudolf und Susanne Schenda, Eine sizilianische Straße. Volkskundliche Beobachtungen
aus Monreale. Tübingen 1965. 112 S., 41 Abb. (= Volksleben. Untersuchungen des
Ludwig-Uhland-Inst. der Univ. Tübingen 8).
Gegenstand des vorliegenden Werkes ist eine typische Straße in der sizilianischen Klein-
stadt Monreale unter besonderer Berücksichtigung der Lebens Verhältnisse einer dortigen
Familie. Die Beobachtungen erstrecken sich auf den Zeitraum 1961 bis 1963 und vermitteln
ein anschauliches Bild von der gegenwärtigen proletarisch-kleinbürgerlichen Lebensweise
in dieser Stadt. Als Material standen Notizen, Tonbandaufnahmen und Fotos zur Verfügung.
Das Buch wurde in drei Hauptgruppen gegliedert: Umwelt und Lebensformen (9 — 60),
Feste, Frömmigkeit (61—92), Geburt, Hochzeit, Tod (93 —101).
Die Ausführungen zum ersten Kapitel lassen erkennen, wie stark sich Volkskunde und
Soziologie in der Gegenwartsforschung berühren. Obgleich nicht ausdrücklich postuliert,
verknüpfen die Verf. überzeugend volkskundliche Forschungsobjekte (Hausform, Woh-
nung, Kleidung, Ernährung, Krankheit, Zauber, Kinderspiel u. a. m.) mit soziologischen
Sachverhalten (Umwelt, Beruf, Kinderarbeit, Durchschnittseinkommen, Schulbildung,
Erfahrungen der Welt usw.). Erst bei der Darstellung der folgenden Kapitel vermögen sie —
sieht man vom vielseitigen und fast überbetonten Phänomen der Volksfrömmigkeit ab —
ohne wesentliche soziologische Gesichtspunkte auszukommen. Die eingeschlagene Richtung
erweist sich als methodologisch gangbar, zumal sie die Kardinalfehler traditioneller bürger-
licher Volkskunde (Unterschätzung des ökonomischen und sozialen Status, mangelhafter
Historismus, Hang zum Romantismus usw.) ausmerzt. Allerdings erhebt sich die Frage, ob
man nicht besser von „volkskundlich-soziologischen“ Beobachtungen hätte sprechen sollen.
Die Schlußbetrachtungen (102 —105) enthalten interessante Ergebnisse. Es ist seit 80 und
vor allem seit 50 Jahren „eine erstaunliche Fülle von Traditionsschwund festzustellen“.
„Dem Schwund authochtonen Brauchtums steht die Rezeption nichtbodenständiger Lebens-
gewohnheiten gegenüber“. Neuartige Lebensgewohnheiten, die eher eine „Überlagerung
durch exogene Lebensgewohnheiten“ darstellen, lassen sich keineswegs mehr in den Begriff
Sitte und Brauch fassen. „Kontaktflächen zwischen alter Sitte und neuem Lebensstil“ führ-
ten „teils zu inneren Konflikten, teils zu offenen Entladungen“. Bemerkenswert ist folgende
Erkenntnis: „Das Festhalten an vielen Traditionen ist jedoch nicht als selbstverständlich-
ruhiges Beharren auf dem Mutterboden der Volkskultur zu werten. Es entspringt im Gegen-
teil dem weitverbreiteten Verlust der Sicherheit, welche die Leute dadurch zu erhalten
suchen, daß sie sich an das Althergebrachte, Wohlbekannte anklammern . . .“ Der „Sizi-
lianer einer bestimmten Kleinstadtstraße“ steht „der rapiden Entwicklung der letzten Jahre
verständnislos gegenüber“ und sieht „sich in Konflikte gestürzt. . .“ Diese Schlußfolgerung
entspringt nicht zuletzt der ökonomisch und sozial schwierigen Lage des industriell noch
wenig erschlossenen Landes, dessen Bevölkerung fast durchgängig in Not und Unwissen-
heit lebt.
Mehrere Skizzen, charakteristische Abbildungen und ein Sachregister fördern die An-
schaulichkeit. Stil und Ausdruck sind stellenweise publizistisch aufgelockert und dürften
dadurch einen breiteren Leserkreis ansprechen.
Trotz der begrenzten Aussagekraft des Materials erhält die Volkskunde durch dieses neue
Werk aus der Schule Hermann Bausingers neue, wertvolle Anregungen für ihre noch unbe-
wältigte Gegenwartsforschung. Das plastische Bild des heutigen sizilianischen Volkslebens
kommt auch dem Informationsbedürfnis des Ethnographen und anderer Interessenten ent-
gegen.
Siegmund Musiat, Bautzen
Besprechungen
167
Martin Nowak-Neumann, Die Tracht der Niederlausitzer Sorben. Bautzen, VEB-Domo-
wina-Verlag, 1964. 64 S. Text in sorbischer u. dt. Sprache, 100 Abb., 9 Farbtaf.
(— Sorbische Volkstrachten, hg. von Paul Nedo u. Martin Nowak-Neumann 4).
In der Reihe der sorbischen Volkstrachten, die etwa vor einem Jahrzehnt mit der Darstellung
des Gebietes von Schleife begonnen, von Jan Meschgang für das Gebiet von Bautzen und
von Erich Schneider für Hoyerswerda weitergeführt wurde (DJbfVk 5, 1959, 2261!.; 7,
1961, 24), finden die Landschaftsdarstellungen mit der vorliegenden Behandlung der nieder-
sorbischen Tracht ihren Abschluß. Es ist ein in knappem Darstellungsstil alle wesent-
lichen Probleme erfassendes Werk Martin Nowak-Neumanns, des ausgezeichneten Sach-
kenners und künstlerischen Gestalters, dem bereits mit dem ersten Bande die Gesamtkon-
zeption des verdienstlichen Vorhabens zu danken ist. Die für weibliche Trachtenaufnahmen
unerläßliche frauliche Unterstützung fand er in bewährter Weise wieder bei Helga Graupner,
die dazu, außer einer Reihe Fotos, zahlreiche instruktive Zeichnungen beisteuerte.
In seiner Einführung berichtigt der Verf. die für das Niederlausitzer Gebiet allgemein
übliche Bezeichnung Spreewaldtracht, da diese namengebende Landschaft in dem weiten
Verbreitungsgebiet zwischen der Görlitzer Neiße und Raddusch, zwischen Cottbus und
Schönhöhe doch nur den äußersten westlichen Teil bilde. Freilich wird sich der nach den
schmucken Kahnführerinnen mit der buntgestickten Lapa, dem kunstvoll geformten Kopf-
tuch, vor vielen Jahrzehnten eingeführte und populär gewordene Name nicht so leicht
ersetzen oder aus dem Verkehr ziehen lassen, zumal das Reisebüro noch immer durch bild-
liche Darstellung solcher Trachtenträgerinnen für den Besuch des Spreewaldes werben läßt.
Doch deutet die Erwähnung des Fremdenverkehrsmomentes schon auf eine erheblich ver-
änderte trachtliche Funktion in diesem Gebiet gegenüber den übrigen hin, in denen das
Sprachlich-Nationale eine stärkere Rolle spielt. Eine so aufschlußreiche Tabelle der Trachten-
trägerinnen — es handelt sich ausschließlich um Frauen und Mädchen — wie sie Erich
Schneider für das Gebiet von Hoyerswerda gebracht hat (Bd. 3, 36), wäre hier sicher
nicht möglich gewesen. Der Prozeß der Auflösung, der vor allem nach dem Ende des zweiten
Weltkrieges begann, hat sich hier stärker ausgewirkt. Seine Ursachen werden treffend,
objektiv erörtert: Mädchen und Frauen (unter 40 Jahren) „wollen sich nicht von ihren
deutschen und städtischen Schwestern unterscheiden. Sie wollen sich auch nicht mehr dem
Einfluß der Mode verschließen“. Nur zu Volksfesten, zu Fastnacht, als Mitwirkende von
Kulturgruppen legen sie die überlieferte Tracht an — die damit zum „Kostüm“ geworden
ist.
In ihren verschiedenen Ausprägungen kann man sie im allgemeinen nur noch bei älteren
Jahrgängen der Frauen erleben: als Festtags- wie als Arbeitstracht oder in den unter kirch-
lichem Einfluß entwickelten Sonderformen als Kirchgangs- oder Abendmahlstracht, als
Hochzeits-, Paten- und Trauertracht. In diesen präzis beschriebenen Formen erkennen wir
einen Nachklang, eine Widerspiegelung des ehemaligen ständischen Gefüges, in dem einst
durch die Kleidung der Stadtbürger vom dörflichen Bauer, der Verheiratete vom Unverhei-
rateten unterschieden wurde, wie es uns auch die großartige Aufnahme aller Kleidertrachten
A. F. Zürners im sächsischen Kurstaate Augusts des Starken für die gesamte Bevölkerung
vorführt. Heute legen die älteren Trachtenträgerinnen der dörflich-bäuerlichen Tradition
hohen Wert bei und distanzieren sich von der städtisch-bürgerlichen Mode. Die Aufnahmen
Zürners haben auch die Ausgangsformen der sorbischen Trachten eingeschlossen — leider
liegt Material aus der Niederlausitz nicht vor. Aber sie lassen erkennen, daß sich zu jener
Zeit auch die deutschsprachigen Gebiete in unzählige trachtliche Kleinlandschaften auf-
gliederten, die vielfach den Kirchspielen entsprachen. Mit der Übernahme der allgemeinen
Kleidermode ebneten sich die unterscheidenden Merkmale ein, nur in den zu Inseln gewor-
denen Bezirken der Volkstrachten lebten sie weiter.
Für eine Rekonstruktion der frühesten sorbischen Formen reichen die älteren Quellen
(Abraham Frenzei) nicht aus. Erst von der Zeit um 1840 an (Haupt-Schmaler) kann der
Verf. die Entwicklungsreihen durch Bildmaterial gut belegen. (Um eine technisch aus-
168
Besprechungen
reichende Wiedergabe alter Fotos hat sich der Verlag sehr bemüht, während sie für die
Farbfotos noch nicht völlig befriedigt.)
örtliche Unterschiede werden noch für die jüngste Zeit eindrucksvoll am typischen
Kopfschmuck, der Lapa, demonstriert, zugleich auch ihre Veränderungen, das Vergrößern,
Übersteigern, Schrumpfen. Die wirkenden gesellschaftlichen Kräfte werden deutlich, wie
auch die Tätigkeit bestimmter Personen für Erhaltung oder Fortentwicklung. Putzfrauen
erwarben sich Verdienste um die volkskünstlerische Ausgestaltung besonders der nieder-
sorbischen Formen, wirkten hier aber mit dem Plädieren für blasse Farben im Sinne der
Volkskunst auch destruktiv.
Mit den vorliegenden vier Bänden wurden die sachlichen Grundlagen für eine noch zu
erwartende Gesamtbearbeitung geschaffen. Den Mitarbeitern ist für diese gründlichen
Vorarbeiten zu danken. Dank gebührt auch dem Institut für sorbische Volksforschung, das
die Verantwortung für den Abschluß allein übernahm. Die sorbische Bevölkerung kann
man dazu beglückwünschen, daß die in ihrem Lebensbereich geschaffenen und überlieferten
kulturellen Werte eine so glanzvolle Würdigung fanden.
Karl-Ewald Fritzsch, Dresden
Axel Steensberg, Danske Bondemebler. 2. Aufl. Kopenhagen, Alfr. G. Hassings Verlag,
1964. 282 S., 474 Abb.
Das vorliegende Werk erschien zum erstenmal 1949. Es war längst ausverkauft, als die
neue Auflage in veränderter und erweiterter Form 1964 herauskam. Das Buch wendet sich
nicht nur an den Fachmann, sondern auch an den interessierten Laien. Der Anmerkungs-
apparat ist deshalb fortgelassen, aber die zahlreichen historischen Quellen angegeben worden.
Der Verf. ist seit 1959 Professor für materielle Volkskultur an der Universität Kopen-
hagen; davor war er 20 Jahre lang im dänischen Nationalmuseum, 13 Jahre davon als
Leiter des Volksmuseums. Sein Arbeitsgebiet ist sehr umfassend gewesen. Genannt seien
nur die archäologischen Forschungen in Dörfern und einzelnen Bauernhöfen, die unter
seiner Leitung in den Jahren 1944 bis 1961 durchgeführten Gemeinschaftsuntersuchungen
dänischer Bauernhöfe im ganzen Land und schließlich seine systematischen Aufnahmen der
Bauernmöbel. Einen berufeneren Fachmann über die alten dänischen Bauernstuben und ihr
Inventar kann man sich also nicht denken.
Wie St. in der Einleitung sagt, hat er nicht den leichtesten Weg für das vorliegende Werk
gewählt, indem er das Material im Zentralmuseum, seinem eigenen Museum, zusammenge-
stellt hat. Um wirklich die charakteristischsten Stücke aus den verschiedenen Gegenden
seines Landes zeigen zu können, hat er Bilder und Beispiele auch aus Privatsammlungen und
Provinzmuseen herangezogen.
Der Textteil scheint beim ersten Blick sparsam, enthält aber eine Fülle von konkreten
Informationen. Er beginnt mit einer allgemeinen historischen Einführung in die dänische
Wohnkultur. Man findet hier auch einige traditionelle Möblierungspläne und ältere künst-
lerische Wiedergaben von Bauernstuben. Der Abschnitt schließt mit einer prinzipiellen
Besprechung der Stilprobleme der Bauernmöbel. Danach folgen die Kapitel über die
einzelnen Möbeltypen, wie Tische und Bänke, Stühle, Betten, Kisten usw. In der neuen
Auflage ist jedem Kapitel eine Orientierung über das betreffende Möbelstück vorausge-
schickt, anstatt alles zusammen im einleitenden Kapitel zu behandeln: eine ausgesprochene
Verbesserung. Der Ursprung neuer Möbeltypen wird erwähnt, und ihr erstes Auftreten in
Dänemark, in verschiedenen Gesellschaftsgruppen durch archivalische Quellen belegt. Zeit-
genössische Beschreibungen aus verschiedenen Jahrhunderten werden im Text zitiert und
tragen zur Belebung der Darstellung bei. Man fühlt sich beim Lesen des Buches in der
Gesellschaft eines Fachmannes, der sein Thema in jeder Weise beherrscht.
Die Illustrationen zeigen bald museale Aufnahmen (den einzelnen Gegenstand aus seinem
Zusammenhang gelöst, rekonstruierte Interieure von Bauernstuben aus einer bestimmten
Epoche usw.), bald auch ältere Photographien, auf denen man die betreffenden Möbel in
ihrem ursprünglichen Milieu sieht. Alle Bilder sind mit ausführlichem beschreibenden Text
Besprechungen
169
versehen. Wo es sich um Einzelmöbel handelt, sind Material, Maße, Farben, Provenienz,
Alter usw. angegeben. Wo der Dorfhandwerker bekannt ist, wird sein Name auch genannt.
Die Möbel stammen hauptsächlich aus dem 17., 18. und 19. Jh. Es ist erstaunlich, daß in
einem so urbanisierten Land wie Dänemark noch so viele typische Bauernmöbel erhalten
sind. Sie haben ihre nationale und regionale Eigenart neben dem unverkennbaren euro-
päischen Stilgepräge, das sich in Formelementen wie in Dekor und Farben zeigt. Einfluß
von Möbeltypen südlich der dänischen Grenze ist in mehreren Fällen feststellbar.
Das Buch ist in einem lebhaften Stil geschrieben und leicht zu lesen trotz seiner Fülle von
Daten. Fachausdrücke sowie Dialekttermini werden in einer alphabetischen Liste am Ende
des Buches erklärt. Eine andere Liste enthält Handwerkernamen, und es gibt eine Liste mit
den Museumsnummern der abgebildeten Gegenstände. Eine Bibliographie fehlt auch nicht.
Papier und Druck sind ausgezeichnet, und die Bilder sowohl in Farben wie in schwarz-
weiß von hoher Qualität.
Marta Hoffmann, Oslo
Ernst Schäfer, Der Thüringer Wald und sein Handwerk. Berlin, Verlag der Nation, 1963.
3. Aufl. 141 S., zahlreiche Abb. — Das Erzgebirge und sein Handwerk. Berlin, Verlag
der Nation, 1965. 4. Aufl. 176 S., zahlreiche Abb.
Mecklenburg und sein Handwerk. Berlin, Verlag der Nation, 1964. 2. Aufl. 176 S., zahl-
reiche Abb. — Die Lausitz und ihr Handwerk. Berlin, Verlag der Nation, 1964.
157 S., zahlreiche Abb.
In der aufgeführten Reihenfolge hat der Lichtbildner Ernst Schäfer ein umfangreiches
Fotowerk vorgelegt, das in der Öffentlichkeit, wie die Auflageziffern bekunden, einen großen
Absatz gefunden hat. In Vorbereitung befindet sich ein weiterer Band über den Harz und
sein Handwerk. „Der Mann der Kamera“, als den sich Sch. bezeichnet, hat es nicht als seine
Aufgabe angesehen, „viele Worte zu machen“. Seine Bilder sollen selbst sprechen.
Bei seinen „Entdeckungsfahrten“ durch die aufgeführten Landschaften der DDR diente
ihm das Stichwort „Handwerk“ als freilich unzulängliches Leitmotiv für seine Aufnahmen.
Sein Bildwerk umfaßt die Wiedergabe der jeweils charakteristischen Landesnatur, der schaf-
fenden Menschen bei ihrer vielfältigen Arbeit, ihrer Bauten, ihrer Leistungen auch auf dem
Gebiete des volkskünstlerischen Schaffens, wie Zeugnisse vom Wirken der „Großen“ in
Kunst und Literatur usw. Inder Verwirklichung seiner Absichten, ein lebensvolles Bild aller
Landschaften zu geben, sah sich Sch. mehr und mehr darauf verwiesen, eine Auswahl unter
seinen Aufnahmen zu treffen, um sich nicht zu wiederholen. In Mecklenburg wählte er sich
so das „Positionslicht des Seefahrers zum Talisman“ und konzentrierte sie um das Leben der
Schiffer und Bauern. In der Lausitz läßt er, „das Weberschiffchen als Talisman“, „Teile der
Gesamtproduktion des Gebietes“ für das Ganze sprechen.
In den Vorworten versucht er eigens, wohl im Gefühl für die Notwendigkeit einer Ein-
führung, den Charakter der jeweiligen erarbeiteten Gebiete allerdings mehr aphoristisch als
systematisch zu umreißen und den „geneigten Leser“ auf die Schwierigkeit seiner Arbeit
hinzuweisen. Wir vermögen seinen Einsichten in dieser Beziehung durchaus zu folgen. Sein
Werk hätte aber sicher einen durchaus noch größeren Erfolg zu verzeichnen gehabt und
tiefere Einsichten vermitteln können, wenn Sch. nicht allein nur die Bilder hätte sprechen
lassen. In den letztgenannten Bänden hat er offenbar diese Erkenntnis bereits selbst gehabt,
denn es sind dort Zwischentexte gesetzt und die „Hinweise zu den Abbildungen“ ausführ-
licher gestaltet worden. Wir sehen darin das Verdienst der Redaktion und der literarischen
Mitarbeit, für die Albrecht Börner zeichnet, sind jedoch der Auffassung, daß dem Licht-
bildner in dieser Beziehung eine durchaus noch weitergehendere Unterstützung zuteil
werden könnte. In diesem Zusammenhang scheint es uns geboten, auf das Fotowerk Wolf
Lückings zu verweisen, das sich freilich nur auf Volkstrachten deutscher Landschaften
konzentrierte, aber jeweils einem Fachmann als Texter die Einführung in das Werk über-
ließ, der zugleich auch auf die Bildauswahl entscheidenden Einfluß gehabt hat. (Vgl. Wolf
170
Besprechungen
Lücking, Trachtenleben in Deutschland. i.Bd.: Schaumburg-Lippe; z. Bd.: Die Lausitz,
Sorbische Trachten; 3. Bd.: Hessen; erschienen im Akademie-Verlag, Berlin 1936 bis 1939.)
Zur Verbesserung der noch folgenden Bildbände sei bemerkt, daß der Begriff Handwerk
im Titel der aufgeführten Werke durch einen treffenderen ersetzt werden sollte, da der
jetzige naturgemäß zu falschen Vorstellungen führt. Bei einer Neuauflage des Erzgebirgs-
bandes sei weiterhin empfohlen, einen systematischeren Gang durch das Gebirge in der
Bildanordnung einzuhalten, dabei auch auf den weitgefaßten Begriff Erzgebirge, der bei
Sch. das Vogtland mit einbezieht, hinzuweisen. Auch sollte es ratsam sein, die sinngemäße
Zuordnung von Dichterworten und Gedichten in diesem Bande besser zu bedenken, als es
geschehen ist.
Die bisher erschienenen Bände Sch.s sind eine wertvolle Dokumentation des Lebens
unserer Gegenwart. Doch sollte nicht übersehen werden, wie schon bemerkt, daß ihnen
künftig durch einen guten Text ein noch objektiverer Charakter zum Zwecke der Förderung
einer gesicherten allgemeinen Volksbildung zuteil werden muß.
Alfred Fiedler, Dresden
Hans Soeder, Urformen der abendländischen Baukunst. Köln, Ai. Du Aiont Verlag, 1964.
293 S., 444 Abb., 32 Taf., 2 Karten.
Schon seit längerem hat die Archäologie Ergebnisse ethnologischer Forschung mit Erfolg
zu Aussagen über die Lebensweise früher Entwicklungsstufen der Aienschheit mitheran-
gezogen. Etwas Ähnliches mag dem Verf. bei seinen Bemühungen um die „Urformen der
abendländischen Baukunst“ vorgeschwebt haben; sagt er doch einleitend u. a. selbst: „Vor-
geschichtler und Archäologen haben Baureste früherer Zeiten mit bewundernswerten
Methoden ausgegraben und gedeutet. Wo aber im Fundbestand wesentliche, etwa einst aus
vergänglichem Werkstoff gearbeitete Teile fehlen, sind Vermutungen häufig ein weites Feld
geöffnet. Pfostenlöcher oder Steinfundamente können auf sehr verschiedene Weise über-
baut gewesen sein. Die Spatenforschung beginnt daher erst neuerdings, fragmentarische
Funde durch Vergleich mit fortwirkenden Bauweisen zu rekonstruieren“ (S. 16). Und so
werden vor allem die hauskundlich-historisch Interessierten voller Erwartung nach diesem
Werk gegriffen haben, doch dürfte ein großer Teil von ihnen nach der Lektüre mehr oder
minder enttäuscht gewesen sein. Das aber ist, wie wir glauben, keineswegs in dem vom Verf.
erfaßten Material begründet. Zwar ist ein Suchen nach Archeformen im derzeitigen Bestand
nicht neu — auch Mecklenburg kennt noch heute in den mit Rofen ausgestatteten oder durch
Außenstützen gesicherten Schuppen dergleichen Bauten —, hier aber wurde vom Verf. eine
fast verwirrende Fülle interessanter und bemerkenswerter Altformen in Zeichnung und
Beschreibung dargeboten. Wir nennen darunter nur die Trulli Apuliens, die urtümlichen
Pfettendachhütten in der Umgebung von Benevent oder die primitiven Fischerhäuser und
Cruckbauten Venetiens.
Bedauerlicherweise aber ist es dem Verf. nicht gelungen, die zwischen den von ihm aufge-
fundenen „Urformen“ sowie den späteren Bauten der Volksarchitektur bestehenden Bezie-
hungen aufzuzeigen — ja, er ist darum im Grunde nicht einmal sehr bemüht. Vielmehr ist er
immer erneut darauf bedacht, zu ihnen bestimmte, von der Hausforschung längst über-
wundene ethnische Bezüge herzustellen: gewisse Bauformen werden von ihm ohne stich-
haltiges Beweismaterial den Etruskern, den Römern, den Langobarden oder den Ostgoten
zugeschrieben. Um diese Behauptungen in ihrer Unwissenschaftlichkeit näher zu charakteri-
sieren, seien lediglich zwei der wohl krassesten Beispiele herausgegriffen. So lesen wir auf
S. 101: „Im römischen Raum sind Wohnplätze, Hofanlagen oder Siedlungsgruppen selten
so einheitlich wie unterhalb von Cori. Häufiger wird für jeden einzelnen Zweck eine andere
Überlieferungsform gebraucht. Herdhaus, Speicher, Schlafhaus, Hunde- oder Hühnerhütte,
Melkhallen der Schafe, Ställe der Schafe, Ziegen, Rinder, Schweine haben vielleicht darum
oft ganz verschiedene Formen, weil jede einzelne Tierzucht einer anderen Kultur entstammt.“
Und auf S. 146 finden wir folgende Begründung für die vom Verf. u. a. an der unteren Adda
festgestellten Hallengebäude: „Nach der Chronik des 8. Jahrhunderts von Paulus Diaconus
Besprechungen
171
haben am Langobardenzug nach Italien auch Sachsen teilgenommen, die zum Teil später
wieder heimkehrten. Daher liegt die Vermutung nahe, die in den nördlichen Abruzzen, im
westlichen Etrurien und hier an der Adda noch im Gebrauch stehenden dreischiffigen Bauten
mit Steildach seien von Sachsen nach Italien gebracht worden.“
Der Verf. konnte an dieses sein Werk nicht letzte Hand legen, er starb vor dessen Erschei-
nen. Doch können damit u. E. die Mängel dieser Publikation nicht entschuldigt werden —
sie liegen bereits in der von ihm noch erarbeiteten Grundkonzeption. U. E. aber hätte hier
mit einer nicht nach Landschaften, sondern nach sachlichen Gesichtspunkten geordneten
Materialdarbietung ohne Hypothesen der hauskundlichen Forschung ein wirklicher Dienst
erwiesen werden können.
Karl Baumgarten, Rostock
Matthias Zender — Wilhelm Brepohl — Josf.f Schepers und Karl E. Mummen-
hoff, Beiträge zur Volkskunde und Baugeschichte. Münster, Aschendorff, 1965. 260 S.,
30 Karten, 46 Taf. (= Der Raum Westfalen 4,2).
Das vorliegende Werk ist Teilband einer umfangreichen Veröffentlichungsreihe, die
unter der Redaktion von H. Aubin, F. Petri, H. Schienger und P. Schöller der Dar-
stellung der ökonomisch-geographischen, historischen und kulturellen Eigenart des „Raumes
Westfalen“ gewidmet ist. Damit will es nicht Volkskunde im umfassenden Sinne sein; die
Verf. sind vielmehr bemüht, in ihren Einzelbeiträgen wesentliche Züge westfälischer Kultur-
landschaft unter volkskundlichem Aspekt aufzuzeigen.
Grundlage seiner diesbezüglichen Ausführungen ist für Zender das seit den 30er Jahren
vorliegende Material des Atlas der deutschen Volkskunde, mit dessen Hilfe er in der volks-
tümlichen Schicht des gegenwärtigen Lebens zurückliegende Kulturschichten und Situ-
ationen sichtbar machen will, d. h. er sucht nicht in erster Linie die „stabile Dauerhaftig-
keit von Menschenseelen“, sondern weit mehr die sozialen, historischen und landschaftlich
bedingten Wandlungen und Formungen, die nach Z. für das Bild eines Volkscharakters
„wahrscheinlich von wesentlich größerer Bedeutung sind als die erbbedingten“ (S. 7),
herauszustellen. Unter den von ihm aus dem ADV-Material gewonnenen Schlüssen, die der
Verf. mehr als Anregung denn als Ergebnis gesehen wissen möchte, seien vor allem genannt:
die in älterer Zeit vom Westen her bestimmte Stufung Westfalens, die weitgehend bäuer-
liche Ausrichtung der Kultur dieser Landschaft, die für den westfälischen Bereich charak-
teristische Beharrungskraft für lebendiges Brauchtum sowie der hier auffällige Verlust funk-
tionsentleerter Spielformen.
So interessant die Bemühungen des Verfs um eine Ausdeutung des ADV-Materials sind,
so ergeben sichu. E. dennoch gewisse Bedenken gegenüber einzelnen Schlüssen in historisch-
kultureller Hinsicht, da, wie wir meinen, ein eventuell späteres Zurückweichen mancher
Phänomene nicht immer genügend berücksichtigt sein dürfte. Dergleichen Bedenken erschei-
nen insbesondere von mecklenburgischem Material her berechtigt. So kann z. B. die jüngere
Verbreitung der volkstümlichen Bezeichnung des 24. und 31. Dezembers als Dickbuksabend
oder Vullbuksabend nicht als Hinweis auf eine „Kulturlandschaft Nordseekreis“ gewertet
werden. Entgegen der vom Verf. kartierten Verbreitung (Karte 8) war dieser Terminus noch
im 19. Jh. auch östlich der Elbe durchaus anzutreffen. Wossidlo selbst nennt diesen Aus-
druck wiederholt in seinen Veröffentlichungen. Nicht minder fehlen auf der Karte 13
Angaben zum Rummelpott entlang der mecklenburgischen Ostseeküste, für die sich ebenfalls
Belege im Wossidlo-Material finden. Ohne Zweifel sind diese Abweichungen durch den
unterschiedlichen Zeitansatz in der Fragestellung bedingt; der ADV war bemüht, die volks-
kundliche Situation um 1930 zu erfassen, Richard Wossidlo demgegenüber bedacht, die Ver-
hältnisse, soweit möglich, für etwa 1850 zu ermitteln. Die daraus resultierenden Differenzen
aber werden u. E. von Bedeutung, sobald versucht wird, einzig auf grund des vorliegenden
ADV-Materials „Kulturlandschaften“, wie die oben genannte, zu fixieren und zeitlich einzu-
ordnen. Ohne Heranziehen weiterer und älterer Unterlagen dürften hierbei in vielen Fällen
Fehlinterpretationen kaum auszuschließen sein.
мд* тиижпхтшть um t lAMimunu i ашш
172 Besprechungen
Ein eigener Beitrag ist der Volkskunde des Industriegebietes zwischen Lippe und Ruhr ge-
widmet. Mit seiner Bearbeitung wurde W. Brepohl, der durch sein 1957 publiziertes Werk
Industrievolk im Wandel von der agraren zur industriellen Daseinsform, dargestellt am Ruhr-
gebiet hierfür fraglos besonders versiert erschien, betraut. B. unterteilt seinen Beitrag in zwei
einander ergänzende Abschnitte. Im ersten, allgemeinen Teil ist er bemüht, gewisse Grund-
probleme einer modernen Volkskunde zu klären, wobei von ihm u. a. Fragen der Tradition,
der Bedeutung von Recht, Sitte und Brauch oder der Eigenart „volkstümlichen Stils“
berührt werden. Der zweite, spezielle Teil ist vor allem besonderen Merkmalen des „Indu-
striedaseins“, so dem Verhältnis des arbeitenden Menschen zur Geschichte oder dem Vor-
gang der Verstädterung, gewidmet. Eine angeschlossene Bestandsaufnahme der unter-
gegangenen und abgewandelten Volksgüter mündet ein in eine Betrachtung über den Lebens-
stil des „Industriemenschen“ und in die Beantwortung der Frage nach der Bewahrung des
Westfälischen im Prozeß der „Verwestdeutschung“.
Es liegt auf der Hand, daß sich aus der Gleichartigkeit der Thematik dieses Beitrages und
der Publikation des Jahres 1957 weitgehende Parallelen ergeben. Nun aber hat sich bereits
1962 K. Fojtik, Brno, in einer umfassenden Rezension (DJbfVk 8, 1962, 203—207) mit
den grundlegenden Mängeln Brepohlscher Industrie Volkskunde eingehend auseinander-
gesetzt: Abwertende Beurteilung des arbeitenden Menschen, Zeichnung der modernen
Industriegesellschaft als einer mehr und mehr konfliktlosen’Gemeinschaft oder die wissen-
schaftlich nicht haltbare Hypothese „statischer“ und „dynamischer“ Kulturen u. a. Nach der
gründlichen und erschöpfenden Kritik durch Fojtik erübrigt sich u. E. jede weitere Behand-
lung der in die gleiche Richtung tendierenden Ausführungen dieses Brepohlschen Beitrages.
Der umfangreichste Beitrag ist der Bedeutung Westfalens in der Geschichte des nordwest-
deutschen Bürger- und Bauernhauses gewidmet. Sein Verf. ist der in hauskundlichen Kreisen
bekannte Direktor des westfälischen Freilichtmuseums J. Schepers. Die in seinen früheren
Publikationen enthaltenen Feststellungen und Hypothesen, u. a. zum Anker- und Dach-
balkengefüge, zur Bedeutung des „Oberwesergebietes“ für die endgültige Herausbildung
des Niederdeutschen Hallenhauses oder zur Raumentwicklung dieses Typus (Durchgangs-
haus — Flettdielenhaus — Durchgangsdielenhaus) finden jetzt ihre Ausweitung auch auf das
westfälische Bürgerhaus. Dabei ist der Verf. bemüht, die zwischen Bürger- und Bauernhaus
nach seiner Ansicht bestehenden, engen Beziehungen aufzuzeigen. Im einzelnen glaubt er
sie beim städtischen Hallenhaus, dem Saalhaus und Deelenhaus nachweisen zu können,
während er Turmhaus und Saalgeschoßhaus in ihren Grundelementen dem mittelmeerischen
Kulturbereich zurechnet.
Neben solchen kenntnisreichen und anregenden Darlegungen aber enthält dieser Beitrag
leider auch Ausführungen, die u. E. nicht unwidersprochen bleiben können. Unsere Beden-
ken richten sich dabei vor allem gegen die Mystifizierung und die Herleitung des Hallenhaus-
gedankens durch den Verf. Wenn auch ohne Zweifel eine gewisse Bedeutung des Kultischen
bei der Gestaltung des Bauernhauses nicht geleugnet werden soll, so geben doch u. E. die
Darstellungen Sch.s dem Religiösen weit über Gebühr Gewicht. Behauptungen wie: „Ältere
Wohnformen, insbesondere mittelalterliche und vormittelalterliche, lassen sich in ihrer Sinn-
tiefe nur ahnen, da sie höchstens mit sinnveränderten Resten in die Gegenwart hineinreichen.
Sie sind auch schwer begreifbar, weil Glaube und Brauch, die das Hausinnere vom Rande
her zu geheiligten Innenstellen aufstuften, unserem Zeitgeist fremd sind“ (S. 128), werden
der Eigenart und der Geschichte unseres Bauernhauses nicht gerecht. Mögen auch unsere eige-
nen Darlegungen dem Verf. „einseitig und vordergründig“ erscheinen, so sind wir nach wie
vor der Überzeugung daß Gestaltung und Entwicklung unserer Volksarchitektur in weitem
Umfang rational, d. h. als von den jeweiligen sozial-ökonomischen Verhältnissen des Bauern-
tums her bestimmt, gedeutet werden müssen.
Nicht geringer sind unsere Bedenken gegenüber der vom Verf. vorgetragenen Hypothese
über die Herkunft des Niederdeutschen Hallenhauses. Wenn auch in ihren Vorformen, ins-
besondere den Warfthäusern entlang der Nordseeküste bekannt, ist die eigentliche Ent-
stehung dieser Bauform der Wissenschaft noch heute immer ein gewisses Rätsel. So fehlt
u. W. auch noch immer das Brückenglied von den im westfälischen Bereich ausgegrabenen
Saalhäusern des 8. und 9. Jhs (Ausgrabung Warendorf bei Münster) zu den späteren Hallen-
Besprechungen
173
häusern dieses Gebietes — erwähnt sei in diesem Zusammenhang H. Hinz’ Bemühen um
dieses „missing link“ (Einfahrtstor und Erntebergung. In: Bonner Jahrbücher 1958, S. 118 bis
125). Jeglicher wissenschaftlicher Grundlage entbehrt u. E. die Behauptung des Verfs, das
Hallenhaus sei aus den „gesellschaftlichen, geistigen und wirtschaftlichen Ansprüchen einer
frühen Herrenschicht“ abzuleiten. Dazu zeichnen uns seine Beschreibungen des hypothe-
tischen Frühstadiums mit den „Herren patriarchalischer Frühzeit, den Herrinnen an der
heiliggehaltenen Herdflamme“ und „den nach Rang und Würden gestuften Gefolgschaften“
Bilder, die wir in der deutschen Flausforschung bereits überwunden glaubten.
Der Band findet seinen Abschluß mit einem Beitrag von K. E. Mummenhoff zu den
Profanbauten des westfälischen Herrenstandes. Auch hier ist, entsprechend der Gesamtanlage
des Werkes, die Frage nach einer eventuellen Eigenprägung westfälischer Formen Ausgangs-
punkt, die der Verf. über das Außenbild der Gebäude, vor allem über die zum Bau verwen-
deten Materialien, die Giebel- und Ornamentformen, zu beantworten sucht. Bei der geringen
Zahl diesbezüglicher Vorarbeiten vermag er als Zwischenergebnis zunächst festzuhalten, „daß
für die Profanbauten des westfälischen Herrenstandes gegenwärtig die Möglichkeit, in den
verschiedenen kunstgeschichtlichen Epochen ein gemeinsam ,Westfälisches4 zu eliminieren,
nicht besteht“ (S. 260). Hier wird es daher noch weiterer eingehender Studien bedürfen.
Hervorgehoben sei die sehr gute Betreuung durch den Verlag, die sowohl in der typo-
graphischen Gestaltung als auch in der Ausstattung mit Karten und Tafeln ihren Ausdruck
findet.
Karl Baumgarten, Rostock
Brandenburg. Hg. v. Landesamt für Baupflege im Landschafts verband Westfalen-Lippe
durch Karl Brunne. Münster 1964. 12 S., 29 Taf. (= Heftreihe: Bauernhof auf maße).
In der von Karl Brunne herausgegebenen Reihe Bauernhof auf maße ist jetzt das Heft
Brandenburg erschienen. Es enhält, wie auch die anderen Hefte der Reihe, Planmaterial, das
vor dem 2. Weltkrieg auf genommen wurde und daher für die heutige Hausforschung von
großem Wert ist. Es besteht, wie B. im Vorwort zu diesem Heft hervorhebt, die berechtigte
Hoffnung, daß die Reihe weitergeführt wird.
Die verschiedenen Hausformen der ehemaligen Provinz Brandenburg sind in anschaulichen
Beispielen vertreten. Das gilt für die niederdeutschen Formen ebenso wie für die mittel-
deutschen, d. h. hier quergegliederten Formen. Aus der Lenzer Wische stammen die drei-
schiffigen Hallenhäuser von Unbesandten und Mödlich. Mehrere Mittelflurhäuser (Freders-
dorf, Görne) und der Nuthe-Nieplitz-Typus (Dennewitz, Schlalach) sind aufgenommen,
ferner einige hervorragende einstöckige Giebellaubenhäuser (Piligram, Zäckerick). Bei den
mitteldeutschen Hausformen sind neben ein- und zweistöckigen Fachwerkbauten auch einige
Blockbauten aus dem Spreewald (Burg-Kolonie, Burg-Kauper) vorgelegt worden. Aus der
Niederlausitz (Luckauer Gebiet) sind z. B. ein Dorfplan und Gehöftgrundrisse beigefügt.
Einige Stalloberlauben ergänzen das Bild des mitteldeutschen Hofes; auch andere Besonder-
heiten wie Drempel (Kniestock) erscheinen in den Schnitten und Ansichten.
Bei dieser instruktiven und mit größtmöglicher Genauigkeit dargebotenen Übersicht bleibt
nur zu kritisieren, daß die veraltete Hausformen-Karte von Robert Mielke aus dem Jahre
1903 (Zeitschrift Globus) noch einmal — wenn auch umgezeichnet — mit den ganz überholten
termini (z. B. Sachsenhaus, Wendischer Haustypus, Märkisches Dielenhaus) gedruckt
worden ist. Warum diese Karte des sonst so verdienstvollen R. Mielke auch im einzelnen
heute einer Revision bedarf, wird in unserer im Druck befindlichen Schrift über das Bauern-
haus in Brandenburg und im Mittelelbegebiet gezeigt.
Werner Radig, Berlin
t iXi UW>£Krmni//.ttW4 VJll f M/ttlf7*Ul ¿111 IMtiMMNl'
174 Besprechungen
Werner Emmerich, Siedlungsformen als Geschichtsquelle, erläutert an Beispielen aus den
oberen Main- und Naablanden. In: Jb. f. fränkische Landesforschung 23 (1963), 67 bis
106, 19 Abb.
An der wissenschaftlichen Erforschung der Siedlungen sind seit langem Vertreter ver-
schiedener Disziplinen beteiligt: Siedlungs- und Agrargeographen, Rechts- und Wirtschafts-
historiker, Heimat- und Volkskundler. Diese Tatsache spiegelt sich auch in dem zeitweilig
verwendeten Begriff Siedlungskunde wider, welcher bewußt diese Mittelstellung des For-
schungsgebietes zwischen traditionell abgegrenzten Fachbereichen zum Ausdruck bringen
will. Für den Geographen, der sich mit den Problemen der Siedlungen befaßt, ist besonders
seit Gradmanns Arbeiten in Süddeutschland die Verbindung zur historischen Forschung von
großer Bedeutung geworden, zumal genetische Deutungen und Erkenntnisse nur mit Hilfe
der Geschichtswissenschaft möglich sind.
Aus der geschilderten engen Berührung ergeben sich mannigfache gegenseitige methodi-
sche Anregungen. Es können auch Siedlungsformen zur Geschichtsquelle werden und damit
die historische Forschung bereichern. Mit eben diesem Problem befaßt sich Werner Emme-
rich in seinem Aufsatz, welcher auf Beobachtungen und Überlegungen beruht, die von ihm
im Zusammenhang mit der von Otremba angeregten Neuaufnahme der Siedelformen Ober-
frankens und der Oberpfalz für den in Bearbeitung befindlichen westdeutschen Agraratlas
gemacht worden sind.
Können Orts- und Flurform als historische Quellen gelten? Müssen unsere bisherigen
Auffassungen von Wert oder Unwert der Siedelformen als Geschichtsquelle revidiert
werden? Das sind die Kernfragen, die E. stellt. Er beantwortet sie mit Hilfe eines eingehenden
Überblicks über die Beachtung, die man den Siedlungsformen schon vor Meitzen schenkte,
mit einer Übersicht jener regionalen Arbeiten, die unter Eindruck des Meitzenschen Monu-
mentalwerkes entstanden sind und dieses in verschiedener Hinsicht korrigieren, sowie an
Hand ausgewählter Beispiele jüngster Untersuchungen im oberen Main- und Naabland.
Diese Beispiele führen den Leser mitten hinein in das Hauptthema der Diskussion unter
den Flurformenforschern in Süddeutschland: die Entstehung der Gewannflur. Hier sind
die Untersuchungen noch im Gange und die Theorien vielgestaltig. Forscher aus dem
süddeutschen Raum wie K. H. Schröder, Nitz u. a. haben Erkenntnisse beigesteuert. Ergeb-
nisse anderer Gebiete wurden versuchsweise auf den Süden übertragen (Müller-Wille,
Krenzlin-Reusch u. a.). Noch bietet sich, so entnehmen wir den Darlegungen E.s, kein ab-
schließendes Bild, aber eine Tatsache findet sich durch alle Arbeiten bestätigt: daß die Sied-
lungsformen bei entsprechend kritischer Interpretation zu Geschichtsquellen werden.
Damit sind die Fragen beantwortet, die der Autor am Anfang seines fundierten Aufsatzes
stellt.
Bruno Bentiiien, Greifswald
Krzysztof Kwasniewski, Paleniska i piece w polskim budowniciwie ludowym. Studium na
podstawie materialow etnograficznych z drugiej polowy XIX oraz XX wieku (Feuerstellen
und Öfen in polnischen Bauernhäusern. Ein Beitrag auf Grund des ethnographischen
Materials aus der 2. Hälfte des 19. und aus dem 20. Jahrhundert). Wroclaw — Warszawa-
Krakow, Ossolineum, 1963. 190 S., 76 Abb., 22 Karten. Dt. u. russ. Res.
Das in der ethnographischen Literatur schon häufig behandelte Problem der Entstehung
und typologischen Differenzierung der Feuerstellen hat K. erneut aufgegriffen. Er stützt
sich auf Material, das er im Rahmen der Sammlungen zum Polnischen ethnographischen
Atlas von 1956 bis 1959 in 290 Dörfern zusammengetragen hat. Dieses Material hat er durch
Literatur aus weiteren 190 Dörfern ergänzt.
Es geht K. in erster Linie darum, eine Vorstellung von den kulturellen Zusammenhängen
in der räumlichen Differenzierung der entsprechenden Erscheinungen zu geben. Diese
Besprechungen
175
Zielsetzung wird im zweiten Kapitel behandelt. Als grundlegendes Kriterium der Typologie
gilt dem Verf. die Funktion, die er nacheinander darstellt und sie auf zahlreichen Karten
belegt. Bei seiner Einteilung geht er von den archaischen, offenen Kochstellen zu den geschlos-
senen Feuerstellen über. Das zweite Hauptelement bilden Backeinrichtungen, die sowohl
freistehend, an Wirtschaftsgebäuden angebaut sein können, aber sich auch — und das ist
für das polnische Gebiet typisch — im Inneren des Wohnhauses befinden können. Das
dritte Element bilden Heizeinrichtungen. Besonders behandelt werden die Rauchabzüge:
Rauchstuben, Kamine, offene Schornsteine und ihre Lage im Grundriß der Häuser. Die
große Verschiedenheit dieser Elemente, vor allem seit der Mitte des 19. Jhs, wird auf
zahlreichen Karten, die gleichzeitig die terminologische Differenzierung verzeichnen, deut-
lich.
Ohne Zweifel ist dieses Kapitel ein sehr wertvoller Teil der Arbeit, denn wir finden hier
zum ersten Mal in der polnischen ethnographischen Literatur eine typologische Analyse der
Feuerstellen und Öfen, der ein optimales und allseitiges Quellenmaterial zugrunde liegt. —
Der Autor hat aber eine weiterreichende Konzeption; vor allem ist er bestrebt (Kap. 3), die
Entwicklung der Feuerstellen in Polen zu rekonstruieren. Um hierfür, aber auch für die
bereits oben erwähnte typologische Analyse, eine breite Grundlage zu haben, untersucht er
(1. Kap.) ausführlich und kritisch die in der bisherigen Literatur vertretenen Ansichten zur
Herkunft und Entwicklung der Feuerstellen in den mittel- und osteuropäischen Bauern-
häusern. Besondere Aufmersamkeit verwendet er dabei auf die Konzeption R. Meringers,
das Evolutionsschema H. Griesbachs, die Behauptungen K. Rhamms, V. von Gerambs,
A. Brückners u. a. sowie auf neuere Ansichten, z. B. von B. Schier, J. Czekanowski und
I. F. Simonienka. Auch die archäologische und sprachwissenschaftliche Literatur werden
herangezogen. Daraus ergeben sich interessante Darstellungen über die Entwicklung der
Arten und der Lage der offenen Feuerstelle sowie — als deren Fortsetzung — des geschlos-
senen Kochherdes, über Genese und Entwicklung des Backofens (u. a. aus Feuerstellen in
Gruben, von der Backglocke zum Brotbacken), seine Lage im Haus oder außerhalb des
Hauses, über Konstruktionsmerkmale und Spezifik dieses Ofens in den slawischen Ländern,
über Entstehung des Heizofens (vom Backofen und Töpferofen, mit schweren Kamin-
gesimsen auf Beinen über dem Kochherd), über Genese und Alter der Rauchabzugsvor-
richtungen, besonders der ältesten — des offenen Schornsteins. — In diesem gesamten
Überblick ist die bedachtsame, objektive Einstellung des Verfs bei der Darstellung so
vieler gegenteiliger Ansichten und verschiedener Standpunkte sowie seine große Zurück-
haltung bei der Darstellung des eigenen Standpunktes hervorzuheben. — Für die Darlegung
der eigenen Ergebnisse hat der Autor das dritte Kapitel vorgesehen. Jede einzelne Feuer-
stelle wird hier in Verbindung mit geographischen und sozialökonomischen Bedingungen
sowie mit der lokalen Tradition beschrieben, wobei onomastische Daten mit großer Vor-
sicht behandelt werden.
Zu den wichtigsten Behauptungen des Verfs gehören die folgenden: die offene Feuerstelle
— die altertümlichste Erscheinung —, die bis vor kurzem in Südpolen auf trat, ist mit der
karpatischen Hirtenkultur (Salaschwirtschaft) verbunden; bei den offenen Feuerstellen
Zeigte sich die Tendenz, den Boden zu erhöhen; das Kochen auf offenem Feuer in einem
Vorgelege mit Schwibbogen vor dem Backofen ist eine jüngere Übergangserscheinung, die
aus der Vermischung einheimischer und fremder Elemente zustande gekommen ist. Das
für Nordwestpolen typische Kochen in einer Wandnische auf offener Flamme im Inneren
eines offenen Schornsteins soll eine alte, einheimische Form sein. K. hält sich an die Hypo-
these, die den Backofen aus Elementen der provinzial-römischen Kultur herleitet; neuere,
typische Kennzeichen dieses Backofens sind: Lage im Hausinneren, rechtwinklige Form
und Lehm als Hauptbaustoff. Der außerhalb des Hauses stehende kuppelförmige Backofen,
der in Nordwestpolen auftritt, scheint das Resultat späterer fremder Einflüsse zu sein; die
tnit Plerdplatte und Türen versehene Kochstelle entstand als Ergebnis der Trennung von
Back- und Kochfunktion, der Heizofen bildete sich nach der Abtrennung der Kochfunktion
aus dem Backofen heraus.
Nach der Lektüre des Buches kommt man aber zu dem Schluß, daß ein beträchtlicher Teil
der Behauptungen des Verfs sehr strittige und diskussionsbedürftige Hypothesen oder Ver-
176
Besprechungen
mutungen sind. Bei anderen Fragen wiederum sind seine Anschauungen schwer zu fassen,
da sie nicht eindeutig genug sind. Schuld daran ist der meiner Ansicht nach fehlerhafte
Aufbau der Arbeit. Der Autor spricht an drei verschiedenen Stellen über dieselben Probleme,
einmal bei der Analyse fremder Behauptungen, zum zweiten Mal anhand des Atlas-Materials
und zum dritten Male (Kap. 3) bei der allgemeinen Darstellung. Da der Verf. ständig den
Gang seiner Untersuchung unterbricht und zu einem anderen Thema übergeht, kam er
zwangsläufig zu Wiederholungen, wodurch die Arbeit sehr schwer lesbar wurde. Es wäre
wohl weit besser gewesen, wenn K. eine einheitliche, konsequente sachliche Anordnung
gewählt und stets an einer Stelle abgehandelt hätte, was zu dem betreffenden Thema
gehört. Die Arbeit wäre dann lesbarer, ergiebiger und wertvoller gewesen.
Jözef Burszta, Poznan
ABHANDLUNGEN
Arbeitserinnerungen als Erzählinhalt*
Von Siegfried Neumann
Der Austausch von Arbeitserfahrungen und Arbeitserlebnissen ist wohl so alt wie
die Arbeit als bewußtes Handeln und die Sprache. Er hat nicht nur die vieltausend-
jährige produktive Tätigkeit des Menschen begleitet und ermöglicht, sondern auch
einen wesentlichen Teil seines geistigen Lebens ausgemacht. Dabei ging es sicher in
erster Linie um Information, aber es liegt nahe, daß der Drang nach Mitteilung und
das Streben nach Wirkung auch beim Gesprächsthema Arbeit hier nicht stehen-
geblieben sind, sondern ins Erzählen hinübergeführt haben.
Das ist jedoch für die Vergangenheit kaum noch faßbar, denn bis in die jüngste
Zeit fand neben den „klassischen“ Gattungen der Volkserzählung das Dasein anderer,
weniger künstlerischer Formen volkstümlichen Erzählens nur geringe wissenschaft-
liche Beachtung.* 1 Erst das allmähliche Absterben von Märchen, Sage, Legende lenkte
den Blick auch auf dieses alltägliche Erzählgut2 und hier auf die unzähligen, ins Ge-
spräch eingestreuten Erlebnisberichte,3 die in hohem Maße von Eindrücken des
Arbeitslebens gespeist wurden und werden. Solchen Unterhaltungen über die Arbeit
mit ihren spontan angeführten Arbeitserinnerungen kann man allerorts begegnen,
wo Menschen zusammen sprechen, und schon jeder hat wiederholt daran teil-
* Vortrag auf dem Deutschen Volkskunde-Kongreß in Marburg 1965, hier etwas über-
arbeitet und ergänzt.
1 Vgl. die sporadischen Hinweise bei Matthias Zender, Volksmärchen und Schwänke aus
der Westeifel. Bonn 1935, XVff.; Gottfried Henßen, Volkstümliche Erzählerkunst. Wupper-
tal-Elberfeld 1936, 16; Günter Otto, Bäuerliche Ethik in der schlesischen Volkssage. Breslau
1937, 4ff. Den Hinweis auf die letztgenannte Arbeit verdanke ich Frau Dr. Gisela Burde-
Schneidewind, Berlin.
2 Vgl. Hermann Bausinger, Lebendiges Erzählen. Diss. Tübingen 1952, masch.-schriftl.;
ders., Strukturen des alltäglichen Erzählens. Fabula 1 (1958) 239 — 254; Siegfried Neumann,
Altüberlieferte Erzählstoffe im mecklenburgischen Alltag der Gegenwart. Die Freundesgabe
1963 Heft 1, 39—44; ders., Zur heutigen Erzählüberlieferung und folkloristischen Sammel-
arbeit in Deutschland. Vortrag auf dem 7. Internationalen Kongreß für Anthropologie
und Ethnologie in Moskau 1964, Ms.; Oldrich Sirovatka, Der gegenwärtige Stand der tsche-
chischen Volkserzählung. In: Internationaler Kongreß der Volkserzählungsforscher in Kiel
und Kopenhagen 1959. Vorträge und Referate (Berlin 1961) 470—474; S. N. Azbelev,
Sovremennye ustnye rasskazy (Die zeitgenössischen mündlichen Erzählungen). Russkij
FoPklor 9 (1964) 132 —177. (Außerdem enthält dieser Jahrgang 17 andere Aufsätze, die sich
mit Problemen der gegenwärtigen Erzähl- und Liedüberlieferung in der Sowjetunion be-
fassen.)
3 Grundsätzlich dazu Oldrich Sirovatka, Vzpominkove vypräveni jako druh lidove
prözy (Erinnerungserzählungen als eine Gattung der Volksprosa). Cesky lid 50 (1963)
114—120; dort weitere Literaturhinweise.
1 Volkskunde
til lAtf (ALTAN F
178 Siegrfied Neumann
genommen oder dabei zugehört.4 Aber inwieweit ist es bisher dem Erzählforscher
bewußt geworden, hier auf ein folkloristisches Phänomen zu stoßen, das Aufzeich-
nungen lohnen würde ?
Im folgenden soll der Versuch unternommen werden, dieses Phänomen der Arbeits-
erinnerungen als Erzählinhalt näher zu bestimmen.5 Es wird also nicht die Arbeit
als Thema der Unterhaltung überhaupt, sondern einschränkend das Erlebnis
bei der Arbeit als Erzählstoff behandelt. Auch dabei bleibt vorauszuschicken, daß
im Rahmen dieses kurzen Vortrags natürlich keine abschließende Klärung des ganzen
Fragenkomplexes möglich ist, sondern nur die Richtung und die Wege der Unter-
suchung gezeigt und erste Ergebnisse zur Diskussion gestellt werden können.
I
Zunächst sei der Untersuchungsgegenstand konkretisiert und dabei von
einem anschaulichen Beispiel ausgegangen. Ein Oberlausitzer Steinbrucharbeiter6
erinnert sich:
In unserm Bruch in Schönbach stand eine drei Meter hohe Wand, davor war alles abgesprengt.
Oben hatten wir eine große Zeile Keile eingetrieben, von Westen nach Osten zu, da spilt’s
am besten. In den Spalt wurde nun Kies eingerammt, danach Pulver, eine Zündschnur kam
dran, noch mal Kies drauf, und wieder wurde alles festgestampft. Und nu aber alle fort!
Wir liefen hinter die Rampe. Jetzt wurde angezündet. Wir warteten, daß es krachen sollte.
Nichts! Wir warteten noch eine Weile. Was ist denn da bloß los? Ob die Zündschnur naß
geworden ist, daß sie nicht weitergebrannt ist? „Hm na“, sagte einer, „da brauchen wir
nicht erst lange im Verstecke bleiben. Das ist fehlgegangen.“ Und er kroch vor. Indem geht’s:
hummb! Ein richtiger Donner wie beim Gewitter! Ein paar Sekunden war’s still. Wir
horchten. Da knackert’s und reißt’s. Die fünf, sechs Meter lange Wand wankte und plauzte
um. Grade im richtigen Momente ging der Schuß noch los. Wenn er noch hätte auf sich
warten lassen und wir wären alle vorgekommen — das darf sich einer gar nicht ausmalen!7
Hier wird die genaue Beschreibung eines Arbeitsvorgangs gegeben, den der Stein-
brecher in der beruflichen Praxis mehrerer Jahrzehnte gründlich kennengelernt hat.
Aber sein eigentliches Anliegen besteht doch wohl nicht darin, über seine Berufs-
arbeit zu informieren und dabei einen Arbeitsvorgang zu erläutern: er vermittelt keine
Folge technischer Details im Sinne einer Tätigkeitsbeschreibung. Er schildert viel-
mehr ein Geschehen, das den immer wieder erregenden Höhepunkt im Arbeitsleben
des Steinbrechers bildete, eine Sprengung, und zwar keine normale, bei der alles
vorausberechenbar glatt verlief, sondern eine Sprengung, die um ein Haar das Leben
gekostet hätte, so daß der Schreck noch lange nachwirkte und das Erlebnis sich ins
Gedächtnis grub. Was in diesen Geschehnisbericht an Angaben zum Arbeitsablauf
— über das zum Verständnis des Ganzen notwendige Maß — mit eingeflossen ist,
4 Auf solche mehrjährige Beobachtung des alltäglichen Erzählens stützen sich vor allem
die folgenden Ausführungen.
5 Vgl. als ersten deutschen Versuch in dieser Richtung Henrik Becker, Voreltern- und
Arbeitsgeschichten. Leipzig (1957).
6 Emil Kämmer in Lawalde, Krs. Löbau, vor i960.
7 Oskar Schwär, Lausitzer Graniter. Von den Steinarbeitern der Oberlausitz. Dresden
1964, 87. Schwär war um eine möglichst authentische Wiedergabe der Sprechweise seiner
Gewährsleute bemüht, verzichtete aber auf eine genaue mundartliche Schreibung.
Arbeitserinnerungen als Erzählinhalt
179
erklärt sich aus dem natürlichen Verwachsensein des Steinbrechers mit seinem Beruf
und wirkt hier fast als spannungssteigerndes Moment.
Diese kleine Erinnerungserzählung8 ist Teil eines umfangreicheren Lebens-
berichts, der um die Arbeit kreist.9 Und diese Arbeitserinnerungen sind insofern
besonders typisch, als sie Jahre und Jahrzehnte in wenigen Sätzen zusammenraffen
und dabei nur sehr wenig über den gewöhnlichen Alltag aussagen, aber bei einzelnen
Erlebnissen wie dem eben besprochenen ausführlich verweilen.10
Das läßt sich wohl für alle Berufe verallgemeinern. Das oft eintönige Einerlei des
„normalen“ Werktags war offensichtlich zu vertraut und selbstverständlich, um viel
Beachtenswertes zu bieten; und wird einmal der Ablauf solch eines Werktags ge-
schildert, so geschieht das meist nur auf direktes Befragen hin und in der Form einer
lapidaren Aufzählung. Nur die abnorme Schwere des Arbeitsalltags oder die Gefähr-
lichkeit eines Berufs lassen die Schilderung dieses beruflichen Alltags detailliert und
lebendig werden. Zur eigentlichen Illustration aber dienen stets Fälle, in denen man
Augen- oder Ohrenzeuge war, wie etwas „passierte“.11 Solche besonderen Ereignisse,
die sich in irgendeiner Form einprägsam aus der gleichförmigen Fülle des Werktags
heraushoben, bilden den eigentlichen Inhalt der Arbeitserinnerungen, soweit sie
in Arbeitsgeschichten greifbar sind.12
Dergleichen Außergewöhnliches kommt gewiß in jedem Beruf gelegentlich vor.
Aber die Angehörigen von Berufen mit berufsbedingten „erregenden Erlebnis-
8 Zum Terminus vgl. Sirovätka, Vzpominkove (s. Anm. 3). Eine Differenzierung in
Erinnerungserzählungen, die Erlebnisse anderer, und Erzählungen aus dem Leben, die eigene
Erlebnisse schildern, nimmt — nach freundlicher Mitteilung von Dr. Oldrich Sirovatka,.
Brno — Jan Michälek in seiner 1965 in Bratislava vorgelegten Diss. Historickä tematika v
üstnom podani na Podjavorinsko-Podbradlansku (Die historische Thematik in der Volks-
überlieferung im Gebiet von Podjavorinsko-Podbradlansko/Westslowakei) vor. Ich möchte
stattdessen vorschlagen, „Erzählungen aus dem Leben“ als übergreifenden Terminus zu
verwenden, mit „Erinnerungserzählungen“ Berichte von eigenem Erleben zu bezeichnen
und für solche Erlebnisberichte, die ins mündliche Erzählen aufgenommen oder gar in eine
Erzähltradition eingegangen sind, die Bezeichungen „Alltags- und Vorelterngeschichten“
aufzugreifen. Die Arbeitsgeschichten, um die es hier geht, stellen nur eine charakteristische
Untergruppe dieses Erzählguts dar. Zu den beiden letzten Termini vgl. Becker, Arbeits-
geschichten (s. Anm. 5).
9 Vgl. Schwär, Graniter 86—90 (s. Anm. 7).
10 Ein besonders aufschlußreiches Beispiel dafür ist das Buch von Josef Spilka, Sipek u
haldy. Karolina Stikovä vypravuje (Heckenrose an der Halde. Karolina Stikovä erzählt),
Praha 1964, das die selbsterzählte Lebensgeschichte einer Arbeiterin enthält. Literarisch
überarbeitet und deshalb nur mit Einschränkungen als Folge von Erinnerungserzählungen
zu werten sind die zu Beginn unseres Jahrhunderts von Paul Göhre heraus gegebenen Ar-
beiter-Autobiographien: (Karl Fischer), Denkwürdigkeiten und Erinnerungen eines
Arbeiters. 2 Bde Leipzig 1903/04; (Moritz William Theodor Bromme), Lebensgeschichte
eines modernen Fabrikarbeiters. Jena/Leipzig 1905; Wenzel Holek, Lebensgang eines
deutsch-tschechischen Handarbeiters. Jena 1909; ders., Vom Handarbeiter zum Jugend-
erzieher. Jena 1921 (als Fortsetzung seines ersten Buches). Die letzte Autobiographie dieser
Reihe (1911) erlebte vor einem Jahrzehnt eine Neuauflage: Franz Rehbein, Gesinde und
Gesindel. Aus dem Leben eines Landarbeiters im wilhelminischen Deutschland. Berlin 1955.
11 Diese immer wieder gleichen Beobachtungen ließen sich besonders deutlich bei Be-
fragungen über landwirtschaftliche oder handwerkliche Arbeitspraktiken machen.
12 Vgl. Anm. 8.
1*
180
Siegfried Neumann
abläufen“,13 bei denen der Beruf im Mittelpunkt ihrer Lebenswelt steht, wie Seeleute,
Fischer, Bergleute, Steinbrecher, Jäger, Soldaten usw. oder in neuerer Zeit Fern-
fahrer, Lokomotivführer, Piloten oder Taucher — sie alle „erlebten“ und „erleben“
bei ihrer Arbeit eben ungleich mehr als etwa Schneider oder Büroangestellte, deren
Tätigkeit sich in engen, geschlossenen Räumen abspielt, zum Teil ohne jede Berüh-
rung mit der Außenwelt. Die unterschiedliche Vielfalt und Intensität der Berufs-
erlebnisse differenziert deshalb offensichtlich nicht nur den Inhalt und die Art der
weitergegebenen Arbeitserinnerungen, sondern auch deren Reichhaltigkeit. Es ist
zweifellos kein Zufall, daß Seeleute oder Jäger weit mehr und spannendere Arbeits-
geschichten zu erzählen wissen als die Stubenmenschen der Großstadt und daß sich
gerade aus der Erinnerung an das wechselvolle Arbeitsleben solcher gefahren-
umwitterten Berufe die einprägsamsten Erinnerungserzählungen geformt haben.14
II
Leider reichen die bisher zusammengebrachten Aufzeichnungen von Arbeits-
geschichten bei weitem noch nicht aus, um eine auch nur annähernd erschöpfende
Übersicht über deren Themen und Stof fe zu ermöglichen. Es scheint jedoch, daß
sich hier vor allem drei große thematische Gruppen abzeichnen, die wenigstens kurz
skizziert seien:
In der ersten Gruppe steht die Arbeit selbst stark im Mittelpunkt der Darstellung.
Es werden Arbeitsvorgänge und Arbeitsabläufe, besondere Arbeitsleistungen,15
Störungen im Arbeitsablauf, arbeitstechnisch verzwickte Situationen, Betriebs-
unfälle oder glücklich überstandene Gefahren im Arbeitsprozeß geschildert. Hierher
würde z. B. das eingangs angeführte Beispiel von der Sprengung im Steinbruch
gehören.
In der zweiten Gruppe geht es meist um die Unberechenbarkeit der Naturgewalten,
mit denen sich der Mensch im Rahmen seines Berufs auseinanderzusetzen hat, ohne
verhindern zu können, daß sie einmal schicksalhaft in sein Dasein hereinbrechen;
oder es ist von den Katastrophen die Rede, die durch das Versagen eines hoch-
entwickelten technischen Mechanismus oder des Menschen, der ihn bediente, herauf-
beschworen wurden.16 Es sind Erinnerungen an Explosionen und Einstürze unter
Tage, an Orkane auf hoher See, an gewaltige Überschwemmungen, an Unwetter, die
ganze Ernten vernichteten, an große Brände, an Flugzeugabstürze, Zugzusammen-
stöße usw. — Ereignisse, die oft nur ein einziges Mal im Berufsleben des Bergmanns,
13 Vgl. Friedrich Sieber, Die bergmännische Lebenswelt als Forschungsgegenstand der
Volkskunde. DJbfVk 5 (1959) 237 — 242, 239.
14 Es wäre allerdings auch zu prüfen, inwieweit nicht auch — und sei es gelegentlich —
das literarisch fixierte Jägerlatein bei Erzählungen aus dem Arbeitsleben des Jägers Pate
gestanden hat.
15 Besonders in Bauernhaushalten wurde und wird die Unterhaltung ganz wesentlich
durch dieses Thema bestimmt, wobei beim Zusammensein von Alten und Jungen vielleicht
die Erläuterung alter, durch die moderne Technik überholter und weitgehend vergessener
Arbeitstechniken und -methoden besonders erwähnenswert ist.
16 Vgl. dazu auch Hermann Bausinger, Volkskultur in der technischen Welt. Stuttgart
1961, 43ff.
Arbeitserinnerungen als Erzählinhalt
181
des Bauern, des Piloten, des Eisenbahners usw. eintraten und mitunter psychisch
lange nachwirkten. Trotzdem bilden in der Erinnerungserzählung Gefahr und Kata-
strophe vielfach nur die Kulisse für die Schilderung menschlicher Verhaltensweisen
in solchen außergewöhnlichen Situationen, ein Aspekt, der verstärkt in den Vorder-
grund tritt, wenn die Gefahr zur gewohnten Erscheinung in der Arbeitswelt ge-
worden war. Alte Seeleute z. B. haben in der Regel viele Stürme mitgemacht, und
sie erinnern sich oft nur an besondere Begleitumstände:
Bi uns wier ’n Memelsmann (aus Memel) an Buurd. Dee seet inne Roof bi sweer Wäder un
spält up sien Harmonika een lustig Stückschen na dat anner. As de Kaptain ropen ded’: wi
süllen nasehn, ob Water in ’t Schipp stünn, säd’ he: Ach Kaptainke, wat soele wi noch
pumpe, wi will uns man insarge!17
Hier verblaßt das „schwere Wetter“ völlig neben dem kuriosen Verhalten eines
Außenseiters, d. h. nicht die gefährliche Situation, sondern die abnorme Reaktion
darauf blieb berichtenswert. Aber das ist bereits ein Grenzfall.18
In der dritten Gruppe werden die menschlichen Beziehungen im Berufsleben und
— in weiterem Rahmen — die gesellschaftlichen Verhältnisse innerhalb der Arbeits-
welt behandelt. Dazu gehören die Berichte von gegenseitiger Hilfe im Arbeitsleben
und die Schilderungen von Beispielen treuer Kameradschaft vor dem Hintergrund
stetiger Berufsgefährdung, aber auch die Erzählungen von komischen Vorfällen im
Arbeitsalltag und von Späßen, die auf Kosten anderer Kollegen oder der neuen
Lehrlinge gemacht wurden. Solche Späße blieben offensichtlich besonders gut in
Erinnerung, wenn sie nicht ganz harmlos gemeint und ihre Opfer unliebsame Kol-
legen oder Vorgesetzte waren:
Wir hatten mal einen Speller (Steinspalter), einen richtigen possentuigen Kerl, der jeden aus-
misten tat, wo er konnte. Dem wollten wir’s mal eintränken. Eines schönen Tages, wie wir
gefrühstückt hatten, gingen die Speller nach ihrer halbstündigen Pause an ihre Arbeit.
Wir Steinmetzger nahmen uns Zeit, wir machten Akkord, da war’s nicht so wichtig; was
wir einbüßten, holten wir schon wieder ein. Der hämische Kerl hatte eine schöne geschnitzte
Tabakspfeife und dazu einen schönen gestickten Tabaksbeutel. Den Beutel hatte er liegen
lassen. Da holte einer die Pulverflasche. Fix wurde Pulver klargestampft, daß es wie ge-
mahlener Pfeffer aussah, und in den Beutel geschüttet. Gerade an dem Vormittage brauchte
er aber den Beutel nicht. Aber zu Mittage, wie wir noch alle in der Bude waren, stopfte er
sich eine Pfeife, ging ’raus und zündete sie sich an. Pfff! ging’s, und kleine Wölkchen
dampften auf, und ihm schmiß es richtig den Kopf zurück, so war er erschrocken. An dem
Tage kam er nicht mehr in die Bude ’rein. Heimzu mußte er beim Schneider vorbei. Der
Schneider guckte, wie er’s so in der Gewohnheit hatte, zum Fenster ’raus und nickte den
Leuten zu. Grade dort machte unser Speller den Tabaksbeutel auf und sah sich den Tabak
an. Da merkte er den Jux. „Nee, sitte verdammte Luder!“ sagte er und schüttelte den Beutel
aus. Das erzählte nachher der Schneider. Und was der Speller zu uns gesagt hat? Nichts!
Kein Wort! Der wußte schon, wie’s gemeint war! —19
17 Richard Wossidlo, Reise, Quartier, in Gottesnaam. Das Seemannsleben auf den alten
Segelschiffen im Munde alter Fahrensleute. Hg. von Paul Beckmann. 7. Aufl. Rostock 1959,
x 80.
18 Wie überhaupt der Inhalt der Arbeitsgeschichten häufig keine völlig eindeutige Zu-
weisung zu einer bestimmten dieser drei Gruppen ermöglicht.
19 Schwär, Graniter 88f. (s. Anm. 7); Gewährsmann wie Anm. 6.
182
Siegfried Neumann
Auf dieser Ebene — deshalb ist das Beispiel so instruktiv — bewegen sich relativ
viele Arbeitsgeschichten. Aber auch von ernsthaften Konflikten zwischen Tage-
löhnern und Gutsherren, Fabrikarbeitern und Unternehmern usw., von erregten
Auftritten, Lohnkämpfen, Streiks oder gar bewaffneten Aktionen, wie zu Beginn
der zwanziger Jahre in Mitteldeutschland, werden manche dramatischen Einzel-
heiten geschildert, an die man sich noch lebhaft erinnert.20
All diese Arbeitsgeschichten enthalten eine Fülle volkskundlich, soziologisch
und kulturhistorisch interessanter Fakten und geben wertvolle Einblicke in die
Arbeitswelt der verschiedenen Berufe.21 Aber das ist nur die eine Seite des Phänomens.
Flinzu kommt die Frage nach dem Wie der erzählerischen Darstellung.
III
Betrachtet man diese wirklichkeitsverhafteten Schilderungen aus der Welt der
Arbeit unter dem Aspekt der Erzählform, so zeigt sich, daß hier im Grunde eine
Vereinigung dessen vorliegt, was Jolles unter „Memorabile“ und von Sydow
unter „Memorat“ verstanden und definiert haben. Denn das Memorabile erwächst
nach Jolles aus der „Geistesbeschäftigung mit dem Tatsächlichen“,22 und die dieser
„Geistesbeschäftigung“ gemäße ,,Sprachgebärde“ ist „die Konkretisierung des
Tatsächlichen im Bericht“.23 Und das Memorat gibt „eigene, rein persönliche Er-
lebnisse“ wieder.24 Im Memorat — praktisch also einer Erscheinungsform des
Memorabile — wird demnach berichtet, was in dieser mit Tatsächlichem angefüllten
Welt so subjektiv bewußt „miterlebt“ wurde, daß es in der Erinnerung nacherlebbar
blieb. In solcher Rückschau fügt sich das „Erlebte“ zu einer begrenzten Anzahl
bemerkenswerter Episoden, die in der Regel mehr oder minder charakteristische
Ausschnitte aus der privaten und beruflichen Sphäre des vergangenen Lebens dar-
stellen. Der Bericht über solch einen Ausschnitt hat „die Aufgabe, ein Ereignis so
geprägt festzuhalten, daß man es gewissermaßen aus dem unaufhörlichen Fluß des
Geschehens herausnehmen und festhalten kann“.25 Das bedingt eine gewisse Rundung
dieses Geschehnisberichts zu einem inhaltlichen Ganzen, die durch eine — oftmals
20 Vgl. etwa Schwär a. a. O. 90 f. ; Fritz Knittel, Die mitteldeutschen Märzkämpfe im Jahre
1921. Einheit 1956, 251—262.
21 In Mecklenburg hat es Richard Wossidlo unternommen, die Arbeitserinnerungen alter
Landarbeiter und Fahrensleute zu geschlossenen Berufsdarstellungen zusammenzufügen.
Vgl. Richard Wossidlo, Erntebräuche in Mecklenburg. Hamburg 1927 ; ders., Reise (s.
Anm. 17). Methodisch ähnlich verfährt Schwär in seiner hier schon wiederholt herangezo-
genen Arbeit über die Steinarbeiter der Lausitz (s. Anm. 7). Aus Norwegen liegt in der Reihe
Arbeidsfolk forteller eine ganze Serie von Berufsmonographien dieser Art vor: Edvard Bull,
Fra papirindustrien. Oslo 1953; ders., Fra sagbruk og hnvleri. Oslo 1955; ders., Renharig
slusk. Oslo 1961; Ingrid Semmingsen, Flusmannsminner. 2. Aufl. Oslo 1961; Aage Lunde,
Jernbaneminner. Oslo 1962.
22 André Jolles, Einfache Formen. 2. Aufl. Halle 1956, 175.
23 Kurt Ranke, Einfache Formen. In: Internationaler Kongreß der Volkserzählungsfor-
scher in Kiel und Kopenhagen 1959. Vorträge und Referate (Berlin 1961) 1 —11, 3.
24 Carl Wilhelm v. Sydow, Kategorien der Prosa-Volksdichtung. In: Volkskundliche
Gaben. John Meier zum 70. Geburtstag dargebracht (Berlin/Leipzig 1934) 253—268, 261.
25 Becker, Arbeitsgeschichten 12 (s. Anm. 5).
Arbeitserinnerungen als Erzählinhalt
183
fast „anekdotische“ — Episodenhaftigkeit des geschilderten Ereignisses weitgehend
vorgegeben sein muß,26 wie es sich bei den beiden Arbeitsgeschichten aus dem Stein-
bruch deutlich erkennen läßt. Besonders die erste hier angeführte dokumentiert, wie
weit sich die Erinnerung an einen Vorfall in spontanem Bericht wie „von selbst“ zur
gerundeten „Geschichte“ verdichten kann. Sie bildet nicht nur ein geschlossenes
Ganzes, sondern in ihr sind auch die Einzelheiten „in einer Weise angeordnet, daß
sie einzeln, in ihren Beziehungen, in ihrer Gesamtheit erklärend, erörternd, ver-
gleichend und gegenüberstellend den Sinn des Geschehens hervorheben“.27
Demnach erscheint es gerechtfertigt, die Arbeitsgeschichte — um sie als Erzähl-
form näher zu fassen — als ein in seiner Thematik abgrenzbares Memorat der „Ein-
fachen Form“ des Memorabile hinzuzurechnen, womit gleichzeitig etwa ihr Platz
im System der Erzählformen gekennzeichnet wäre.
Die Arbeitsgeschichten erhalten ihr inhaltliches Gewicht durch die Mitteilung
besonderer Tatsachen oder Geschehnisse, und diese Fakten werden entweder durch
einen vordergründig-nüchternen Bericht vermittelt oder — in stärkerer Verdich-
tung — in einer Erzählung, die sich als Bericht ausgibt. Konzentration auf den Inhalt
und betonte Sachlichkeit geben der Darstellung das Gepräge.28 Da ist die Aussage
wichtiger als die Form. So wird fast immer die schlichte Sprache des Alltags ge-
braucht. Die Wortwahl ist begrenzt, und die Sätze sind meist kurz und einfach.
Nur an entscheidenden Stellen im Bericht, im Eifer des Erzählens oder im Affekt
stehen oft die treffendsten Wörter und Formulierungen zur Verfügung, wie es ja
geradezu „ein Kennzeichen der Volksrede ist, daß sie in inniger Verknüpfung schon
fast Formelartiges mit plötzlichen Einfällen durchtränkt“.29 Dabei handelt es sich
um eine intuitiv-spontane sprachliche Zubereitung, die nicht frei ist von dem Streben
nach Wirkung. Aber ein bewußtes Bemühen um eine ähnlich sprachlich-künstle-
rische Formung wie bei der Wiedergabe von Märchen- oder Schwankstoffen — mit
einer allerdings individueller gefärbten Sprachgebung — fällt doch relativ selten auf.
Das heißt natürlich nicht, daß die aufgezeichneten Arbeitsgeschichten nicht
mancherlei Veränderungen durchgemacht haben. Im Gegenteil: Vielleicht ließe sich
gerade am Beispiel der Arbeitserinnerungen besonders gut einmal ein Phänomen der
Volkserzählung in statu nascendi greifen. Zwar geht es hier in der Regel um eine
Mitteilung von Tatsachen, und das frische Erlebnis, die eigene Erinnerung oder
der verbürgte Bericht eines anderen sind für den Erzählenden Gewähr dafür, daß
sich alles wirklich so verhielt, wie er es berichtet. Trotzdem handelt es sich gewöhn-
lich nicht um eine passive und mechanische Kopie der Wirklichkeit, sondern der
„Stoff“ wurde aus der Erinnerung heraus geformt, durch die Auswahl der Fakten
für den Bericht, durch unwillkürliches oder auch absichtliches Abweichen vom
Tatsächlichen, durch eine ganz bestimmte Pointierung usw. Und wenn schon solches
26 Hierzu schreibt mir Dr. Hermann Strobach, Berlin, sehr treffend: „Liegt hier nicht
eine poetische Tatsache vor: die Anekdote (um diese Gattung im weitesten Sinne handelt
es sich doch wohl) braucht eben ein ungewöhnliches Ereignis.“ (Brief vom 6. 4. 1966.)
27 Jolles, Formen 167 (s. Anm. 22).
28 Darin gleicht die Arbeitsgeschichte der Reportage, bei der die Authentizität geradezu
ein Grundformprinzip ist.
29 Becker, Arbeitsgeschichten 50 (s. Anm. 5).
UiIT»11 §MiiviftiK/* i i u/ruwmi ttt i
184 Siegfried Neumann
weitgehend unbewußte „Zurechtmodeln“30 zu Veränderungen führte, so machte
erst recht der Versuch stärkerer Verdichtung vor dem Stofflichen nicht Halt, ganz
abgesehen von der Möglichkeit, mit sprachlichen Mitteln unterschiedliche künstle-
rische Akzente zu setzen. Und das wiederholte sich bei jeder neuen Wiedergabe.
Selbst wenn derselbe Erzähler dasselbe Arbeitserlebnis im Laufe von Jahren öfter
schildert, rekapituliert er es meist nicht genau so wie beim vorigen Mal, sondern
„bessert“ etwas daran herum, eine Neigung, die mit wachsendem Abstand von dem
Erleben zuzunehmen scheint.
Diesen zweifellos komplizierten Prozeß der Entwicklung von Arbeitserinnerungen
zu Arbeitsgeschichten im einzelnen verfolgen zu wollen,31 hätte noch intensive
Materialsammlung zur Voraussetzung. Doch einige Tendenzen und Stufen solcher
erzählerischen Verdichtung lassen sich selbst an wenigen Beispielen ablesen. So
steht etwa die angeführte Arbeitserinnerung aus dem Seemannsleben wohl noch auf
der Stufe des reinen, unkünstlerischen Berichts, während sich die zitierten Arbeits-
geschichten aus dem Steinbruch schon zumindest zwischen Bericht und Erzählung
bewegen, d. h. Arbeitserinnerungen zum Erzählinhalt verdichtet zeigen. (Daß das
persönliche Moment so stark hindurchleuchtet, tut dem keinen Abbruch.) Im ersten
Fall scheint mit der Mitteilung des Fakts Genüge getan, im zweiten wurden er-
zählerische Mittel wie Situationsausmalung, Zuspitzung des Handlungsverlaufs,
Einfügung retardierender Momente usw. gehandhabt und dem Erzählten ein ge-
wisser Eigenwert beigemessen.
Mag sein, daß es sich hier um für eine erzählerische Ausgestaltung dankbarere
Vorwürfe handelte, so hängt es doch offensichtlich in hohem Maße von der Absicht
des Erzählenden und von seiner Erzählbegabung ab, ob Arbeitserinnerungen in der
Form eines alltäglichen Berichts oder in künstlerisch abgerundeter Erzählung dar-
geboten werden. Auch der Einfluß der Emotion auf die künstlerische Formung ist
zweifellos sehr stark. Allein durch solches emotionale Engagement kann sich bei
einem begabten Erzähler die bloße Nachricht in der Schilderung zur Geschichte
runden. Aber je dramatischer oder komischer das Geschehen war, von dem berichtet
wird, desto mehr reizte es an sich zu einer erzählerischen Ausgestaltung, und desto
leichter war sie möglich. Hier setzte die unbewußte oder bewußte Überhöhung des
Berichteten ein, die bis zur Aufschneiderei führte. Dabei aber wurde nun zwangs-
läufig mehr oder minder weit vom Tatsächlichen abgewichen, so daß der Charakter
des Berichts sich vielfach verflüchtigte.
Sobald die Grenze des Möglichen gestreift ist, setzt jedoch der Zweifel ein, ob
sich tatsächlich alles so zutrug. Das wird vor allem in den „Arbeitserinnerungen
aus zweiter Hand“ deutlich, also beim Nacherzählen von Arbeitsgeschichten, die
sich der Nacherzähler seiner Auffassung gemäß mehr oder minder stark „zurecht-
zuerzählen“ pflegt. Auch dafür ein Beispiel:
1947 war folgendes passiert: Ein Wald war geschlagen, Balken waren dringend nötig für
Notdächer usw. Kein Wunder, daß der sowjetische Kommandant anordnete, die Stämme,
die im Wald wohlabgelagert lagen, schnellstens zur Sägemühle zu schaffen. Sieben Traktoren
gewöhnlicher Bauart waren aber im Schlamm des jungen Frühjahrs versunken, und so wurde
30 Vgl. Bausinger, Strukturen 243 (s. Anm. 2).
31 Wobei es oft Auffassungssache bleibt, wo die Grenze zwischen beiden zu ziehen ist.
Arbeitserinnerungen als Erzählinhalt
185
mein Kollege mit seinem Raupenschlepper eingesetzt. Er kam in den Wald — da standen die
sieben Schlepper sauber auf gereiht. Denn die sechs später gekommenen waren jeder ver-
sunken, als er den vorherigen aus der Schlumpe ziehen wollte. Da ließ mein Kollege alle
sieben zusammenketten, soviel die anderen Fahrer und der verzweifelte Bauleiter auch
warnten. Aber Sie wissen, daß ein Raupenschlepper alles leisten kann, besonders wenn ein
Raupenschlepperfahrer erzählt. Ein Ruck — und alle sieben bis an die Achsen versunkenen
Schlepper folgten wie die Hündchen unserer Raupe. Ja!32
Hier ist bereits sehr viel ironische Distanz gegenüber dem Berichteten spürbar, die
sichtlichen Einfluß auf die Art der erzählerischen Wiedergabe dieses Geschehens
gehabt hat, ohne daß freilich gesagt wird, so etwas sei nicht möglich. Aber es kommt
auch vor, daß derartige Arbeitsgeschichten im wesentlichen nur nacherzählt werden,
um angebliche Arbeitsleistungen auf das richtige Maß zurückzuführen.33 Dagegen
ist es immer ein sicheres Kriterium dafür, daß Arbeitserinnerungen unbesehen hin-
genommen worden sind und beeindruckt haben, wenn sie nacherzählt werden und
dabei einleitend oder abschließend derjenige ausdrücklich als Gewährsmann genannt
wird, von dem sie stammen.34 Aber das setzt eben voraus, daß die stoffliche Verdich-
tung des berichteten Geschehens nicht über glaubwürdige Überhöhungen des Tat-
sächlichen hinausgeführt hat. Zu starke Übertreibung verträgt sich offensichtlich
nicht mit dem Charakter einer Arbeitserinnerung, sondern enthüllt sie als Fiktion.
Es sei hier nur auf den scheinbaren Erlebnisgehalt im Seemannsgarn und Jäger-
latein hingewiesen, deren frappierende Unglaubwürdigkeit sprichwörtlich geworden
ist. Aber es ist vielleicht charakteristisch, daß wir es gerade bei diesen Lügengeschich-
ten aus dem Berufsleben zum Teil mit künstlerisch vollendeten Erzählgebilden35 zu
tun haben, die — manchmal wie ad hoc ausgedacht — für Nacherzähler anderer
Berufe oft einfach nicht nacherzählbar sind.36
Das Problem der künstlerischen Verdichtung und die Frage nach dem Wahrheits-
gehalt und der Glaubwürdigkeit gehören also bei den Arbeitsgeschichten eng zu-
sammen. Hier liegt zweifellos ein Unterschied gegenüber Märchen oder Schwank,
die ebenfalls weit und tief in das Tatsächliche griffen bzw. greifen können, es aber
stets nach ihnen eigenen Gesetzen gattungsgerecht formen,37 wobei bemerkt werden
muß, daß bei alten und weitverbreiteten Stoffen der Wirklichkeitsbezug schon lange
oft nur sekundär, nämlich Aktualisierung auf die Gegenwart hin ist.38 Das unter-
32 Becker, Arbeitsgeschichten 34 (s. Anm. 5).
33 Vgl. etwa Hinrich Kruse, Wat sik dat Volk verteilt. Rendsburg 1953, 25 ff. Diese Samm-
lung enthält einige recht interessante Alltagsgeschichten, in denen die Arbeit eine Rolle
spielt.
34 Vgl. Kruse a. a. O. 48 f.
35 Vgl. Anm. 14.
36 Ein Meisterstück in dieser Hinsicht findet sich bei Albert Böhm, Lauschaer Leut’.
(2. Aufl.) Jena 1965, 59fr. Hier erzählt der „Lügnwalt“ bis in die Details genau, wie er das
riesige Niederwalddenkmal mit einer gegen den Schmutz der Vögel schützenden Glasglocke
versehen habe.
37 Vgl. etwa Max Lüthi, Das europäische Volksmärchen. Form und Wesen. 2., erw.
Aufl. Bern/München i960, 13ff.; Lutz Röhrich, Märchen und Wirklichkeit. 2., erw. Aufl.
Wiesbaden 1964, 9 ff., 63 ff.; Siegfried Neumann, Der mecklenburgische Volksschwank.
Berlin 1964, 42 ff.
38 Vgl. Röhrich a. a. O. 209fr.; Friedrich Sieber, Wünsche und Wunschbilder im späten
deutschen Zaubermärchen. DJbfVk 3 (1957) 11 — 30, 23fr.; Neumann a. a. O. 32fr.
186
Siegfried Neumann
scheidet letztlich sogar die Erlebnissage von der aus Berufserinnerungen hervor-
gegangenen Arbeitsgeschichte, denn das Nacherleben durch die Sage bereits ähn-
lich überlieferten überwirklichen Geschehens, das durchaus in Beziehung zur Arbeit
stehen kann,39 setzt gewöhnlich neben einer latent vorhandenen „Sagengläubigkeit“
auch eine gewisse Sagenkenntnis voraus. Es steht aber außer Frage, daß die Erzähl-
schemata und erzählerischen Mittel der „klassischen“ Gattungen auch auf Inhalt
und Form der Erinnerungserzählungen abgefärbt haben, die häufig zumindest die
Tendenz zur Modellierung erkennen lassen. So ließe sich — parallel zu der Dar-
stellung in Märchen, Sage und Schwank — ein großer Teil der Arbeitsgeschichten
nach Berichten über glückliche Ereignisse, unerhörte Vorfälle oder heitere Begeben-
heiten im Berufsleben ordnen und dabei manche Übereinstimmung nachweisen.40
Deshalb ist es nur folgerichtig, wenn namentlich der Schwank, aber auch die Sage
durch die gattungsgemäße Akzentuierung solcher Geschehnisberichte immer
wieder aufgefrischt wurden und werden.41
IV
Aber inwieweit haben wir das Recht, in der reinen Arbeitsgeschichte eine sprach-
liche Äußerung zu sehen, die sich zur Volkserzählung rechnen läßt? Jeder
Mensch hat seine eigenen, besonderen Berufserlebnisse und -erinnerungen, und die
daraus geschöpften Arbeitsgeschichten werden zunächst — und oft auch über-
haupt — nur von ihm allein erzählt. Nur was er öfter zu erzählen pflegt und was be-
sonderen Anklang findet, wird von anderen aufgegriffen und weiterberichtet. So
kann man gelegentlich in demselben Dorf die gleiche Arbeitsgeschichte von ver-
schiedenen Seiten und manchmal auch in voneinander abweichenden Versionen
hören. Dabei wird teils ausdrücklich dazugesagt, wer das erlebt oder berichtet
hat, teils aber kann man sich auch nicht mehr daran erinnern. Hier zeigen sich Ansätze
zu einer über individuelle Tradierung hinausgehenden Aufnahme von Arbeits-
geschichten in die Volksüberlieferung, wobei freilich die Lebendigkeit der Stoffe,
selbst wenn sie über mehrere Generationen hinwegreicht, zeitlich doch relativ be-
grenzt bleibt und auch die geographische Verbreitung der einzelnen Erzählungen
kaum je über den Umkreis einiger Ortschaften hinausreicht. Auf die Tatsache, daß
es den Arbeitsgeschichten — gemessen an den oft über mehrere Kontinente ver-
breiteten Märchen und Schwänken — weitgehend an künstlerischer Formgebung
fehlt, wurde schon eingegangen. Aber vielleicht neigt man hier allzusehr dazu, einen
nur bedingt übertragbaren Maßstab anzulegen, und man sollte weniger ästhetisch
werten, als — so schwer das auch sein mag — Erscheinungen und Wesen der Folk-
39 Vgl. dagegen Otto, Volkssage 50L (s. Anm. 1).
40 So hätte Bausinger in seiner anregenden Studie über die Strukturen des alltäglichen Er-
zählens (s. Anm. 2) als Beispiele für die „glückliche“, „tolle“ und „heitere“ Begebenheit
in der Erzählung praktisch auch Arbeitsgeschichten wählen können.
41 Vgl. etwa Richard Wossidlo/Siegfried Neumann, Volksschwänke aus Mecklenburg. 3.,
erg. Aufl. Berlin 1965, Nr. 11, 21, 22, 31, 69, 87 usw.; Gisela Schneidewind, Der Sagenkreis
um den mecklenburgischen Gutsherrn Georg Haberland. DJbfVk 5 (1939) 8—43; Inge-
borg Weber-Kellermann, Berliner Sagenbildung 1952. ZfVk 52 (1955) 162 —170.
Arbeitserinnerungen als Erzählinhalt
187
lorisierung untersuchen, die die Arbeitserinnerungen bei ihrer individuellen er-
zählerischen Verdichtung und bei ihrer Weitergabe in begrenzter Tradierung durch-
machen.
Eine solche Untersuchung vermittelt zugleich Aufschlüsse über den kollektiven
Charakter42 der Arbeitsgeschichten, der sich bereits in ihrer Themenwahl offen-
bart, d. h. in der Tatsache, daß unabhängig voneinander aus ähnlichen Berufserleb-
nissen heraus inhaltlich weitgehend übereinstimmende Erzählungen entstanden sind
oder daß in der Überlieferung das Geschehen solcher Erzählungen in den eigenen
Lebensbereich umlokalisiert wird.43 Darüber hinaus finden sich Übereinstimmungen
in der beruflichen und sozialen Sicht, aus der die Begebenheiten geschildert werden,
in der Art ihrer Schilderung oder in der Bewertung des Geschilderten, und es liegt
nahe, dahinter wiederum Gemeinsamkeiten in Berufseinstellung und Weltanschau-
ung zu suchen. Und letztlich stellen natürlich auch in bezug auf die Verdichtung und
Wiedergabe von Arbeitsgeschichten „die Mittel der Dicht- und Vortragskunst, die
Komposition, der Dialog, die Beschreibung, die Charakteristik der Personen, die
Mimik, die Gesten ... ein kollektives Eigentum dar, von dem der einzelne bloß
Gebrauch macht.“44 Es gibt Menschen, die Arbeitsgeschichten und andere Er-
zählungen aus dem Leben zu ganzen Zyklen aneinanderreihen, wenn sie ins Erzählen
kommen, so daß man sie fast als Spezialisten für dieses Erzählgut bezeichnen kann,
genauso wie man von ausgesprochenen Märchen-, Sagen-, Schwank- oder Witz-
erzählern redet. Dabei ist interessant, daß gerade sie dazu neigen, ihnen berichtete
Geschehnisse umzulokalisieren und Erlebnisse anderer als eigene auszugeben. Das
wird besonders auffällig, wenn sie aus Versehen Erzähltypen mit internationaler Ver-
breitung aufgreifen, wobei sie allerdings dem geschickt nachfragenden Sammler
gegenüber meist auch so ehrlich sind, den fingierten Erlebnisgehalt ebenso zuzugeben
wie bei der ausgesprochenen Lügengeschichte.45
All das scheint mir doch zu beweisen, daß sich die Arbeitsgeschichten nicht nur
hinsichtlich Stoff und Formgebung einer „einfachen Form“ erzählerischer Aussage
im Sinne Jolles’ zuordnen lassen, sondern daß sie auch zu den vielfältigen Aussage-
formen volkstümlicher Erzählkunst gehören und einen ganz wesentlichen Bestandteil
des lebendigen Erzählens ausmachen.
42 Vgl. zum folgenden auch Sirovätka, Volkserzählung (s. Anm. 2).
43 Im Jahre 1963 wurde mir z. B. innerhalb einer Woche unabhängig voneinander dreimal
die Geschichte von jenem unglücklichen Fernfahrer erzählt, der aus Hilfsbereitschaft mit
seinem Lastkraftwagen einen defekten „Trabanten“ abschleppte, plötzlich feststellte, daß
der kleine, mit mehreren Personen besetzte Wagen völlig zertrümmert mit den Rädern nach
oben hinterherschleifte, und vor Schreck einen Herzschlag bekam bzw. sich, wie es einmal
hieß, „am nächsten Baum“ aufhängte. Nach der Aussage des ersten Gewährsmannes war
das Unglück kürzlich bei Karl-Marx-Stadt passiert und der Fernfahrer ein guter Bekannter
gewesen, der zweite behauptete, er sei vor wenigen Tagen selbst mit dem Auto an der Un-
glücksstelle in der Nähe von Schwerin vorbeigekommen, und der dritte wußte verbürgt
durch Verwandte, daß das Ganze bei Hamburg passiert war, wo es sich bei dem zertrüm-
merten Auto um einen dreirädrigen Kleinstwagen westdeutscher Produktion gehandelt
hatte. Im ersten und dritten Fall hatte angeblich der Beifahrer des Lastkraftwagens bis in
alle Einzelheiten über das Unglück berichtet.
44 Sirovätka, Volkserzählung 472 (s. Anm. 2).
45 Vgl. z. B. Neumann, Volksschwank 77 (s. Anm. 37).
Kir/IXKifn WU VH I lUÄ-UMAUI o 11 riv i/ju j in nMRBnMP-
188 Siegfried Neumann
V
Hinter dieser Rekapitulation von Berufserlebnissen sind — wie bei allem volks-
tümlichen Erzählgut — ganz bestimmte Aussagebedürfnisse wirksam, die in ihrer
potentiellen Vielschichtigkeit zu erfassen noch eingehende Beschäftigung mit den
„Erzählern“ von Arbeitserinnerungen und ihrer Zuhörerschaft erfordert. Aber schon
die aufmerksame Beobachtung der verschiedenartigen Erzählsituationen gibt
einige Aufschlüsse über die Funktion von Berufserinnerungen und Arbeits-
geschichten, die naturgemäß weit stärker individuell geprägt sind als verbreitetes
und tradiertes Erzählgut und deshab oft nur vom Aussagewollen des jeweiligen
„Erzählers“ her funktionell verständlich werden.46
Wenn über die Arbeit gesprochen wird, so geschieht das meist unter Kollegen,
die sich durch Berufsinteresse und Arbeitserleben verbunden fühlen. So kann man
— um eine Situation herauszuheben — z. B. im Vorortzug immer wieder erleben,
wie sich am Abend auf der Heimfahrt im Gespräch der Werktag abreagiert. Da wird
unter anderem all das erörtert, was am Arbeitsplatz an Besonderheiten „vorkam“.
Ein derartiger, trotz gelegentlicher emotionaler Färbung betont sachlich bestimmter
Austausch von Arbeitsfakten unter beruflich Gleichinteressierten setzt praktisch nur
voraus, daß sie sich treffen oder zusammen sind.
Etwas anderes ist es, wenn einem Außenstehenden informativ aus dem eigenen
Berufsleben berichtet wird. Das verlangt meist ein spezielles Interesse desjenigen,
der zuhört oder zuhören soll, und die sachliche Information gibt sich als Belehrung
oder hat zumindest einen belehrenden Zug. Hier geht es um keine Selbstverständi-
gung, sondern um die Orientierung eines anderen, dessen Auffassungsvermögen
sich der Berichtende weitgehend anpaßt. — Wenn dagegen die Hingabe an die Er-
innerung zum sachlich betonten Bericht aus dem Arbeitsleben führt, ist jeder Zu-
hörer recht; denn da ist das eigentliche Anliegen im Grunde nicht die Information,
sondern die Befriedigung eines persönlichen Mitteilungsbedürfnisses. Hier schwin-
gen meist sehr starke Gefühlsmomente mit, die allerdings das Bemühen, exakt zu
sein, nicht zu beeinträchtigen brauchen.
Bei jeder dieser drei Konstellationen werden in der Regel — erzählerisch un-
geformt — Fakten aneinandergereiht und nur mehr oder minder sporadisch Arbeits-
geschichten eingestreut. Beides aber hat hier lediglich außerästhetische Funktionen:
Es geht bei improvisierter Vortragsweise nicht um die Form, sondern um den In-
halt, der um seiner selbst willen und nicht mit der Absicht einer ästhetischen Wir-
kung wiedergegeben wird. Der Zweck ist, Fakten zurück ins Gedächtnis zu rufen
oder anderen mitzuteilen und sie zu klären, zu kommentieren, zur Diskussion zu
stellen usw.
Aber die Arbeitsgeschichten begegnen auch durchaus in ästhetischer Funktion47
wie Märchen, Schwank oder Witz, d. h. hinter dem Bemühen, die Inhalte gut und
46 Das ist zwar letztlich bei allem mündlichen Erzählgut der Fall, gilt aber für die Erzäh-
lungen aus dem Leben in ganz besonderem Maße.
47 Zu dieser funktionellen Zweiteilung der Volkserzählung vgl. K. V. Cistov, Zur Frage
der Klassifikationsprinzipien der Prosa-Volksdichtung. Vortrag auf dem 7. Internationalen
Kongreß für Anthropologie und Ethnologie in Moskau 1964, als Ms. vervielfältigt.
Arbeitserinnerungen als Erzählinhalt
189
wirkungsvoll zu erzählen, steht das Streben, Spannung zu erregen, Eindruck zu
machen, Lachen hervorzurufen, die Zuhörer zu fesseln, zu rühren, zu ärgern, auf-
zuheitern, „anzuführen“ usw. So etwas kann natürlich auch bei flüchtiger Begegnung
im Nebenbei geschehen, kommt aber erst bei entsprechender Muße zum Erzählen
und in der richtigen Erzählstimmung voll zur Geltung.
Das zeigt sich am deutlichsten bei den Arbeitsgeschichten über die komischen
Vorfälle im Berufsleben. Sie vor allem pflegt man — wie jedes andere heitere Erzähl-
gut — in gehobener, gelöster Stimmung vorzutragen, in der man gerne „Lustiges“
hört und belacht, und in der man auch leicht zum Lachen zu bringen ist.48 Hier malt
man gerne komische Situationen, die man miterlebt oder berichtet bekommen hat,
breit aus, zum Teil auf Kosten anderer Anwesender, die die Leidtragenden in diesen
Situationen waren; man erzählt das Geschehen auf den Augenblick hin um, ver-
ändert, setzt zu, schmückt aus, pointiert, streut spitze Bemerkungen ein, um den
Lacherfolg möglichst vollkommen zu machen.49 Dabei ist die bezweckte Wirkung
wichtiger als die genaue Rekapitulation des Erlebnisses: Die Authentizität des Be-
richts verflüchtigt sich in der ästhetischen Funktion.50 Dasselbe ist der Fall, wenn
durch bewußtes Aufschneiden die Arbeitsgeschichte zur Lügengeschichte wird,
um damit zu prahlen, die Glaubensbereitschaft anderer auf die Probe zu stellen usw.,
was gewöhnlich ebenfalls ein ganz bestimmtes Erzählfluidum verlangt und schafft.
Aber in der Regel bedarf die Schilderung, Heroisierung oder Verklärung des Berufs-
lebens in ferner oder naher Vergangenheit solcher bewußten Aufschneiderei nicht.
Die Arbeitsgeschichten erhalten und erfüllen vielmehr in behaglich versammelter
Erzählrunde, sobald nur eine talentierte Erzählernatur darunter ist, gemeinhin die
Funktion einer künstlerischen Selbstdokumentation, die nicht nur Fakten vermittelt
oder verlebendigt, sondern durch „Erzähl“stoffe fesselt und „spannend“ unterhält.
Dabei bedingt und sichert gerade die Erlebnis- und Wirklichkeitsnähe des Erzählten
die innere Anteilnahme von Erzählenden und Zuhörern. Solche Erzählsituation
weist gegenüber der in einem Kreis, in dem Sagen, Schwänke usw. erzählt werden,
kaum wesentliche Unterschiede auf.51
Erzählungen aus dem Leben wie die Arbeitsgeschichten mit weitgehend einheit-
licher Thematik und in Ansätzen einheitlicher Formprägung, die sich im wesent-
lichen einer „Einfachen Form“ zuordnen ließen, können also offensichtlich eine
sehr weitgespannte und variable ästhetische und außerästhetische Funktion haben.
Das ist ein Ergebnis, welches von der an Jolles anknüpfenden Auffassung Rankes
abweicht, daß jede Gattung „eine absolut verbindliche, spontane Aussage über die
48 Vgl. dazu Neumann, Volksschwank 94.fi. (s. Anm. 37); ders., Schwank und Witz.
Letopis. Reihe C 6/7 (1963/64) 328 — 335, 332ff.
49 Dieselben Beobachtungen machte auch Gisela Bürde-Schneidewind bei Aufnahmen
zu einer Dorfmonographie über Damshagen, Krs. Grevesmühlen, wo gerade „lustige“
Geschichten aus dem Berufsleben besonders überliefert zu werden scheinen.
50 Dabei kommt es, vom Erzählerischen her gesehen, gerade hier oft zu der positiven
Leistung einer Rundung oder Pointierung des Berichteten zu einer Erzählung von Eigen-
wert, die dann in dieser Form aufgegriffen und weitergegeben wird.
51 Vgl. Otto Brinkmann, Das Erzählen in einer Dorfgemeinschaft. Münster 1933; Sieg-
fried Neumann, Soziale Konflikte im mecklenburgischen Volksschwank. Diss. Berlin 1961,
(hektogr.) 423 ff.: Erzählgelegenheit und Erzählverlauf.
K'J&vhur/KKrf iift i ȀfTiiMimt mi
—
190
Siegfried Neumann
Auseinandersetzung des Menschen mit der Welt in und um ihn“ sei und „daher
auch eine bestimmte eigene Funktion“ habe.52 Ob und inwieweit dieses Ergebnis
haltbar und zu präzisieren oder zu korrigieren ist, werden weitere, eingehendere
Untersuchungen über das alltägliche Erzählen und theoretische Diskussionen in
dieser Richtung zeigen müssen. Denn je mehr die Erzählforschung ihren Unter-
suchungsradius über die „klassischen“ Gattungen hinaus ausdehnt, desto mehr
wird sie sich bei Sammlung und Untersuchung mit der hier aufgezeigten und in
einigen Aspekten beleuchteten Problematik auseinanderzusetzen haben. Gerade
die Arbeitsgeschichten im weitesten Sinne bilden sicher einen sehr wesentlichen Teil
der bislang von der Folkloristik vernachlässigten Erzählungen aus dem Leben, in
deren Erforschung jedoch alles ähnliche Erzählgut wie Vorelterngeschichten, Be-
richte über Kriegserlebnisse usw. mit eingeschlossen werden sollte — mit dem
Ziel, ein Gesamtbild des lebendigen alltäglichen Erzählens zu gewinnen.
52 Ranke, Formen 8 (s. Anm. 23).
Das Volkslied in der Gegenwart
Eine musiksoziologische Studie
Von VladimIr Karbusicky
An das Thema „Das Volkslied in der modernen Gesellschaft“ kann man von ver-
schiedenen Gesichtspunkten aus herangehen. Bisher wurde diese Frage am besten
durchgearbeitet im Zusammenhang mit dem Kunstlied, dem Übergang neuer Lied-
arten in den Bereich der Folklore und deren Angleichung, der „Folklorisierung“,
bis zu jenem Stadium, in dem die Flut der nicht traditionsgebundenen Liedproduk-
tion das Volkslied zu verschlingen und zu ersetzen beginnt. Andererseits ist es
jedoch nicht minder wichtig zu verfolgen, wie das Volkslied in eine höhere kulturelle
Sphäre aufsteigt, ein Phänomen, das in der nationalen Kunst des 19. und des 20. Jahr-
hunderts eine nicht unwesentliche Rolle gespielt hat. Der von Wiora geprägte Be-
griff des „zweiten Daseins'' wird heute bereits von den meisten Forschern als ein
Terminus akzeptiert, der dieses Stadium im Leben des Volksliedes treffend kenn-
zeichnet. Für den größten Teil der europäischen Länder läßt sich das Leben des
Volksliedes gegenwärtig als dichotom charakterisieren: wir finden es einerseits in
bestimmten traditionsgebundenen Gebieten noch in seiner „ursprünglichen“ Funk-
tion als Relikt und zum anderen als in der Gesellschaft gepflegtes kulturelles Erbe.
Die Konfrontation der primären und sekundären Existenzweisen des Volksliedes
hat jedoch auch für die ästhetischen Fragen Bedeutung, insbesondere wenn sie unter
dem Gesichtspunkt der Funktionen der Folklore sowie unter dem einer ästhetischen
Wertlehre betrachtet werden. Diese Aspekte berühren sich eng mit der sozio-
logischen Forschung.
Die Aktualität der ästhetischen und soziologischen Betrachtung könnten wir uns
vielleicht am besten an Hand einer Karte vor Augen führen, auf der wir die Ent-
wicklung des europäischen Volksliedes in drei Zeitpunkten zu fixieren suchen: zur
Zeit Herders, um die Mitte des vorigen Jahrhunderts und heute. Der Rückgang der
Gebiete mit primärem Leben des Volksliedes bis zum gegenwärtigen Stand kann auch
viel über die Theorie der „Volkskunst“ aussagen, die auf der Situation von Volks-
lied, Volkstanz und Volksmusik im vorigen Jahrhundert, in der Zeit der Romantik,
fußt, aber auch über Begründungen einiger Prinzipien des Realismus in unserer
Zeit, die auf regionalen Erscheinungen basieren.
Die Mehrschichtigkeit des heutigen gesellschaftlichen Daseins des Volksliedes
schließt unserer Meinung nach aus, daß sich die Folkloristik mit dem „traditionellen“
Material und seinem Studium begnügt. Es geht nicht allein darum, daß wir ohne
das Studium des „Untraditionellen“ und des sogenannten Kunstliedes oft gar nicht
erkennen können, was „traditionell“ ist (seit den bahnbrechenden Arbeiten John
Meiers wurden hierzu in einer Reihe von Ländern zahllose weitere Belege zusammen-
192
Vladimîr KaRBUSICkV
getragen), sondern auch darum, daß ein aufmerksames Verfolgen der gesellschaft-
lichen Funktion der verschiedenen traditionellen und untraditionellen Volkslied-
genres, die sich im Volksgesang des 19. und 20. Jahrhunderts gegenseitig durch-
dringen, unseren Blick auf jene Aspekte im Leben der traditionellen Volksdichtung
lenkt, die die klassische Sammeltätigkeit vernachlässigt hat. Bedenken wir beispiels-
weise solche Fragen wie das Wissen um die Genrezugehörigkeit beim Volkslied oder
um die ästhetischen Begriffe des Schönen und des Häßlichen, des Zweckmäßigen
usw. im Folklorebereich selbst. Beides hängt mit dem Begriff des Wertes zusammen,
und der Wert steht — wie uns aus der „hohen“ Kunst bekannt ist — in engem
Zusammenhang mit der gesellschaftlichen Funktion. Vergleichen wir die reiche
Literatur über das Volkslied, so sehen wir, daß darin die genremäßige Gliederung,
die ästhetischen Analysen usw. vor allem vom Standpunkt des Forschers beziehungs-
weise unter dem Gesichtspunkt der in der „hohen“ Kunst herrschenden Theorien
durchgeführt sind. Nach Gesichtspunkten, die von außen herangetragen werden,
wird auch der „Inhalt“ des Volksliedes beurteilt, insbesondere in jenen zahllosen
Arbeiten, bei denen man sich eher an Belletristik als an Wissenschaft erinnert fühlt,
Arbeiten, die das lyrische oder epische Thema paraphrasieren und deren Autoren
zu erklären versuchen, was der Liedschöpfer aus dem Volke damit sagen wollte,
beziehungsweise in Arbeiten à la thèse, die mit Hilfe von Zitaten aus den Liedern
das Denken, die Wünsche und Sehnsüchte des Volkes manifestieren möchten. Es
mangelt uns — und das empfinden wir vor allem bei jenen Abhandlungen, die an
dieses Thema vom soziologischen Standpunkt herangehen — an ausreichenden
Beobachtungen der authentischen Funktionen des Volksliedes im Leben der Ge-
meinschaft, in all den vielfältigen Situationen, in denen es erklingt.
Nehmen wir beispielsweise eine Ballade. Es gibt Situationen, in denen sie einfach
deshalb gesungen wird, weil es sich um ein langes Lied handelt (z. B. bei monotonen
Arbeiten wie Federschleißen und Spinnen). Ihr epischer Charakter stellt dabei ein
mnemonisches Hilfsmittel für das Reproduzieren der aufeinanderfolgenden Strophen
dar. Der „Inhalt“ des Liedes ist nur potentiell gegenwärtig, und es kommt auf die
Situation an, ob er tatsächlich ins Bewußtsein dringt.
Ein Lied kann lange Zeit als Arbeitslied oder in „ästhetischer“ Funktion (wegen
der „schönen Melodie“) gesungen werden; erst bei einem bestimmten Impuls
kommt es zu einem emotionalen und inhaltlichen Erleben. Ein Beispiel mag dies
veranschaulichen. Es gibt ein ganz unschuldiges tschechisches Volkslied:
Jsou, jsou, na potoce räcata,
jsou, jsou, na potoce raci.
Pùjdeme na ne,
vybereme je,
pri mësicku v noci.
Es gibt, es gibt im Bach Krebse,
Es gibt, es gibt Krebse im Bach.
Wir wollen sie fangen,
Nach ihnen langen
Beim Mondschein zur Nacht.
Von der jungen bürgerlichen Gesellschaft im Vormärz wurde dieses Lied wegen
seiner „schönen Melodie“ als Trinklied gesungen. In der Zeit des Bachschen Abso-
lutismus1 bekam es einen politischen Sinn, denn der Krebs galt nun als Symbol
1 Alexander Freiherr von Bach, österreichischer Ministerpräsident in den 50er Jahren
des 19. Jhs.
Das Volkslied in der Gegenwart
193
des Dunkelmännertums und der Reaktion, und die Worte „Wir wollen sie fangen,
nach ihnen langen“ wurden als ein revolutionärer Aufruf verstanden. Allmählich
gerieten diese Zusammenhänge wieder in Vergessenheit, und wenn es nicht einige
historische Belege gäbe, wüßten wir heute gar nichts von dieser „inhaltlichen“
Wirkung. Dieses Beispiel aus der Sphäre des bereits „vergesellschafteten“ (in die
allgemein-gesellschaftliche Sphäre gehobenen) Volksliedes führen wir an, um die
vielfach latente „Inhaltsträchtigkeit“ des Volksliedes im Hinblick auf seine Poly-
funktionalität besonders deutlich zu machen. Die Wirkung eines Volksliedes in
einer Gemeinschaft, in der es noch traditionell lebt, können wir somit nicht allein
von den Texten ablesen. Wir brauchen dazu möglichst viele unmittelbare Beobach-
tungen, für die aber nur noch wenig Gelegenheit besteht.
Ebensowenig wissen wir von der genremäßigen Bindung der einzelnen Lieder
und von der Lockerung des „Gefühls der Genrezugehörigkeit“ im Zusammenhang
mit der kulturellen Entwicklung sowie von der Entstehung semantischer Kon-
ventionen für bestimmte Melodieelemente im Folklore-Bereich usw. Auch die
meisten musikalischen Volkslieduntersuchungen sind nach unseren Gesichts-
punkten, auf Grund unserer Vorstellungen von den musikalischen Bildern erfolgt,
doch wissen wir nicht, wie diese Elemente zu jenen „sprechen“, die das Lied singen
und tradieren. Wir wären vielleicht überrascht zu erfahren, was vom werktätigen
Volk als „lustige“ und andererseits als „traurige“ Melodie empfunden wird. (Bei
unserer musiksoziologischen Feldforschung im Jahre 1965 setzte uns beispielsweise
der hohe Prozentsatz jener Menschen in Erstaunen, die in Smetanas sinfonischer
Dichtung Aus Böhmens Hain und Flur die einleitende Apotheose des Landes
Böhmen als „etwas Trauriges“ empfanden.) Übrigens sagt schon die oft eigentüm-
liche volksmäßige Terminologie manches über den Umkreis der Vorstellungen aus —
beispielsweise die Begriffe „dünn“ und „dick“ für Töne, die wir in unserer Termino-
logie als „hoch“ und „tief“ bezeichnen. Nirgends ist ein musikpsychologisches
Experiment so am Platze wie hier. Man muß schließlich befürchten, daß die „ur-
sprüngliche“ Folklore in den Reliktgebieten infolge der allgemeinen Entwicklung
verschwindet, noch ehe wir uns in der Folkloristik über die vielfältigen Momente
im klaren sind, die bei einer historisch und ästhetisch so ungemein interessanten
Erscheinung wie dem Volkslied zu erforschen sind.
*
In diesem Beitrag wollen wir auf einige, vorläufig noch bescheidene Ergebnisse
hinweisen, die wir in der Tschechoslowakei im Verlauf musiksoziologischer Unter-
suchungen gewonnen haben. Die erste Feldforschung im Jahre 1963 galt der Musikali-
tät in der heutigen Gesellschaft und — neben anderen Genres — selbstverständlich
auch der Stellung des Volksliedes.* 2 Wir erwarteten ein Bild zu erhalten von seinem
2 Vorläufige Ergebnisse hat der Tschechoslowakische Rundfunk in Prag 1964 unter dem
Titel: Vyzkum soucasne hudebnosti (Die Erforschung der gegenwärtigen Musikalität)
veröffentlicht. Eine zusammenfassende Bearbeitung wird zum Druck vorbereitet. Einige
theoretische Fragen behandelt die Studie: Theoretische Voraussetzungen der empirisch-
soziologischen Musikforschung. Hudebni veda Nr. 3, 1965. Von Anzeigen und Rezensionen
2 Volkskunde
HJdvft H u/ajwhnuiiliiivuiijt v& i »Äffi i^«mi m i iivi/iu l.vXHf
194 VladimIr Karbusicky
„zweiten Dasein“, in dem es in die Reihe anderer „Gebrauchs“-Genres des vor allem
durch die technischen Medien verbreiteten Gesanges eingetreten ist, glaubten je-
doch, daß es noch immer sozusagen zur Grundlage der nationalen Musikalität gehöre.
Das Ergebnis hat unsere Vorstellungen weitgehend korrigiert. Ein positives Ver-
hältnis zum Volkslied war keineswegs allgemein. Die jüngere Generation bis zu
25 Jahren verhält sich dem Volkslied gegenüber bereits überwiegend gleichgültig,
indifferent. Bei der älteren Generation werden pseudofolkloristische Lieder mitunter
höher geschätzt, so daß die eigentliche Folklore auch hier nicht uneingeschränkt
spontan aufgenommen wird. Der Umstand, daß das Verhältnis der Generationen
Abb. 1. Verhalten der verschiedenen Altersgruppen zur „echten“ und „unechten“ Folklore
und zu Lied- und Musikformen der Gegenwart
zum Volkslied und zum pseudofolkloristischen Lied die gleiche Tendenz zeigt, ist
eine recht deprimierende Erscheinung, doch entspricht sie letzten Endes der Er-
kenntnis, daß es den verschiedenartigen kommerziellen Nachahmungen des „Volks-
tons“ in der Tat gelungen ist, beim Verfall des Volksliedes und bei seinem Ersatz
im Repertoire der breiten Massen eine Rolle zu spielen. Die Tendenz, die in Abb. 1
sichtbar wird, zeigt allerdings einen charakteristischen Bruch bei der mittleren
Generation, die von der Bewegung der Volksliedensembles in unserer jüngsten
Vergangenheit beeinflußt worden ist, als sich die Vorstellung von der „Reinheit“
und der „Authentizität“ des Volksliedes durchzusetzen begann. Doch wird diese
Erscheinung bei weiteren Feldforschungen noch zu überprüfen sein. Gleichfalls
deutet sich ein schwaches Ansteigen in der Wertschätzung des Volksliedes bei zu-
nehmender Bildung an, wie Abb. 2 zeigt, die Daten der Bestandsaufnahme vom
Jahre 1963 verarbeitet.
Das Volkslied in der Gegenwart
195
In der ersten Darstellung (Abb. i) haben wir zum Vergleich das Verhalten gegen-
über jenen Genres angeführt, die die zeitgenössische Massen-Musikalität am typisch-
sten vertreten: dem modernen Schlager und dem klassischen Jazz im Dixieland-Stil.
Die Methode des „Ton-Fragebogens“ gewährleistete hierbei eine verläßliche Re-
aktion der befragten Personen. Als Beispiel für den modernen Schlager wurde eine
Aufnahme des Liedes „Hallo, Mary-Lou“ von Pitney-Blecher, gespielt vom Or-
chester Gerd Natschinsky, gewählt. Als weitere Probe diente ein Charleston in
einer Aufnahme der Prager Dixieland-Band.
Das Volkslied war durch ein Lied aus dem Chodenland (Südböhmen, Landschaft
um Domazlice = Taus) vertreten, das mit Dudelsackbegleitung vorgetragen wurde.
Diese Form der Darbietung kennzeichnet einen beliebten Typ jener Bearbeitungen,
die die Authentizität der volkstümlichen Darbietung zu wahren suchten, wie das
2. B. in den Volkskunstensembles der fünfziger Jahre geschah. Es war also nicht
eine Originalaufnahme aus dem Terrain, sondern jene Volksliedinterpretation, der
die Menschen heute am häufigsten begegnen. (Die erste Versuchsreihe von 50 Frage-
bogen enthielt noch ein weiteres Volkslied aus Ostmähren. Wir konnten jedoch auf
diese Dublette in der Folgezeit verzichten, weil sich herausstellte, daß auf sie in
völlig gleicher Weise reagiert wurde, wie auf das erste Musikbeispiel.) Die Angaben
zur „Pseudo-Folklore“ in Abb. 1 entsprechen dem Durchschnittswert von vier
gegebenen Beispielen, die bei den befragten Personen nahezu den gleichen Widerhall
fanden: einem „nationalisierten“ (in den gesamtnationalen Liedschatz aufgenomme-
nen) Volkslied in der zu Beginn unseres Jahrhunderts beliebten Marschfassung,
zwei Proben sogenannter „volkstümlicher Lieder“, einem pseudofolkloristischen
Lied kommerzieller Prägung von kitschig-sentimentalem Charakter und einer volks-
tümlichen Blasmusik, die sich bereits der Verfallsmelodik des Volksgesanges aus der
zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts bediente, wie sie heute mit der Reklame-
vignette „alttschechisches Lied“ kommerziell genutzt wird.
Sicherlich muß nicht besonders betont werden, daß der „Ton-Fragebogen“ die
Garantie für eine weit exaktere Erfassung der Fakten bietet als der sonst benutzte
verbale Fragebogen, bei dem das verwendete Wortsymbol („Volkslied“, „Jazz“,
„ernste Musik“, „Kammermusik“ usw.) bei der befragten Person eine unkontrol-
lierbare Streuung von Vorstellungen hervorruft.* 3
seien genannt: A Study of the Musicality. Musical Appreciation and Preferences in Czecho-
slovakia. Musical Events 1 (1965) und Die soziologische Erforschung der gegenwärtigen
Musikalität in der Tschechoslowakei. Musik im Unterricht 2 (Berlin 1965).
3 Der Fragebogen begann mit den Musikbeispielen, dann folgten Ergänzungsfragen (ob
der Befragte ein Instrument spielt, ob er gern selbst singt, ob er technische Medien hört
usw.) und schließlich die Personalien des Befragten. Es handelte sich um 25 Musikbeispiele
von jeweils 10 bis 40 Sekunden Dauer, insgesamt um 12 Minuten Musik, und zwar: 01 Volks-
lied, 02 Nationalistischer Marsch mit der Weise eines neueren volkstümlichen Liedes, 03
Ältere „Lidovka“ = Pseudovolkslied, 04 Neue kommerzielle „Lidovka“, 05 Modernes
Kabarett-Chanson, 06 Dadaistisches Lied, 07 Tschechisches Tanzlied, 08 Ausländischer
Schlager, 09 Älteres Chanson mit Jazzfaktur, 10 Massenlied vom Jahre 1949, 11 Russisches
Lied, 12 Nordamerikanisches Lied, 13 Lateinamerikanisches Lied, 14 Afrikanische Folklore,
15 Operette, 16 Volkstümliche Blasmusik, 17 Dixieland-Jazz, 18 Orchesterwalzer im Strauss-
Stil, 19 „Estradenmusik“, 20 Alter Männerchor, 21 Romantische Oper von B. Smetana,
2*
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196 VLADIHiR KARBUSICKY
Die Idee, zur Erforschung der Musikalität einen „Ton-Fragebogen“ anzuwenden,
entstand während der folkloristischen Arbeit im Industriezentrum Ostrava, wo es
nicht mehr möglich war, nach der alten „Sammel“-Methode vorzugehen, d. h. Ge-
währsleute für Volkslieder und volkstümliche Lieder zu suchen. Die Freude am
Gesang lebt sich in der Industriegesellschaft nicht mehr aktiv, sondern vorwiegend
passiv aus; sie äußert sich in einigen im Gedächtnis haften gebliebenen Bruchstücken
von Modeliedern, die man singen oder pfeifen kann, zeigt sich in einer lebhafteren
Aufmerksamkeit für einprägsamere Lieder, die durch technische Medien verbreitet
werden, und findet auch ihren Niederschlag auf dem Schallplattenmarkt. Deshalb
erwies es sich als günstig, nicht Lieder mit
einem Tonbandgerät aufzunehmen und auf
diese Weise zu sammeln, sondern im Gegen-
teil eine bestimmte typisierte Auswahl von
Proben vorzuspielen, vom einheimischen
und ausländischen Volkslied bis zum Schla-
ger, ja zur Orientierung darüber hinaus auch
Musikbeispiele aus der höheren Musik-
kultur. Erst im Verlauf der Arbeit gewannen
schließlich die Probleme der allgemeinen
Musikalität die Oberhand, und die Ergeb-
nisse der Feldforschung wurden vor allem
vom musiksoziologischen Gesichtspunkt
ausgewertet. Die in den Ton-Fragebogen
aufgenommene Frage nach einem Volkslied
oder einem anderen älteren Lied, durch die
wir im Großstadtmilieu liederkundige Sän-
ger finden wollten, blieb völlig ergebnislos.
Das bestätigte die oben gemachte Fest-
stellung, daß die Folkloristik in diesem
Milieu nicht mehr mit alten Sammelmethoden arbeiten kann. Informatoren sucht
man besser bei einem Besuch im Altersheim, unter der ältesten Generation. In der
Industriegesellschaft kennen die Menschen vom Volkslied nur noch das, was ihnen
durch die technischen Medien vermittelt wird, und zwar in erster Linie durch den
Rundfunk, in dessen Programmen die Arrangements von Volksliedern zu einem
von vielen „Gebrauchs“-Genres geworden sind.
Der Einfluß der Liedpflege in der Schule ist minimal. Vom pädagogisch genutz-
ten Volkslied bleibt praktisch kein Repertoire für das weitere Leben zurück, denn
die für Schulzwecke meist unter intonations-didaktischen und inhaltlich-politischen
22 Klassische Sinfonie im Beethovenstil, 23 Expressionistische sinfonische Musik, 24 Kam-
mermusik, Dumka Es-dur von A. Dvorak, 25 Sinfonischer Jazz von Gershwin.
Ausschließlich auf Grund persönlicher Interviews durch 35 Mitarbeiter wurden 2308
Fragebogen erzielt. Das disproportional geschichtete Sampel bestand aus 1311 Männern
und 1396 Frauen. Nach Altersstufen ergab sich folgende Gliederung: 15 — 18 Jahre — 206,
19 — 24 Jahre — 435, 25 — 39 Jahre — 827, 40—59 Jahre — 677 und über 60 Jahre — 149;
nach Bildungsstufen 1363, 786 und 1x3 Personen; Industriearbeiter 706, Bauern 138.
FOLKLORE (•) UND PSEUDOFOLKLORE ( B )
NIEDRIGE MITTELSCHUL- HOCHSCHUL-
BILDUNG
Abb. 2. Verhalten zur Folklore und
Pseudofolklore nach der Bildungsstufe
Das Volkslied in der Gegenwart
197
Gesichtspunkten vorgenommene Liedauswahl kann nicht jenes emotionale Erlebnis
vermitteln, wie es das Volkslied sonst bei erwachsenen Menschen vermag. Außerdem
wird das in der Schule gepflegte Lied von der jungen Generation als etwas Offi-
zielles empfunden, während sich die eigene Sangeslust in moderneren Genres mit
verschiedenartiger Gitarre-Begleitung auslebt. (Jugendgruppen, die oft auch ein
eigenes Schaffen in „Beat“-Formen aufweisen, bilden sich auch in Gebieten, die
noch vor kurzem zu den traditionsreichsten gehörten und am längsten ältere Stadien
des Volksgesanges und der Volksmusik konserviert hatten.)
Die potentielle Sangesfreudigkeit ist dabei verhältnismäßig groß, ja über-
raschend stark. Auf die Frage: „Singen Sie manchmal allein?“ antworteten 82% der
Befragten bejahend, wobei die Menschen über 60 Jahre und die Bauern mit etwa
70% den geringsten Prozentsatz, die Jugendlichen bis zu x 8 Jahren und die Studenten
den größten Prozentsatz (etwa 95%) ausmachten. Wie man sieht, ist es sehr wichtig,
seine Aufmerksamkeit auch jenen Genres zuzuwenden, die das Volkslied in der
Industriegesellschaft abgelöst haben.
Für die Folkloristik ergibt sich hieraus die wichtige Frage, was beiden Bereichen,
dem traditionellen und untraditionellen Liedgut, noch gemeinsam ist. Unserer
Ansicht nach ist es folgendes: die Verwendung stereotyper Formeln als grund-
legende Schaffensmethode und die Spontaneität der Rezeption, insbesondere bei
den Kindern und der Jugend. Während das erstgenannte Moment für die folklo-
ristische Ästhetik von Bedeutung ist, ist es das zweite für die Erforschung der Funk-
tionen, die den Liedgenres im traditionell gebundenen bzw. rezipierenden Milieu
zukommen. Bei der modernen Schlagerproduktion handelt es sich immer noch um
Gesang, der nicht gesellschaftlich-kulturell gepflegt wird (die offizielle Jugend-
erziehung richtet sich eher dagegen). Die jungen Leute erhalten ihre Musikalität
spontan vornehmlich aus diesen Quellen (und auf diese Spontaneität der Rezeption
spekulieren die kommerziellen Schlagerproduzenten, indem sie bestimmte Mode-
wellen auslösen). Erst nach der Pubertät beginnen einzelne reifere Menschen sich
jenen Musikgenres zuzuwenden, die als Kunst gepflegt werden und die die wich-
tigste Grundlage der Musikkultur eines Volkes und insgesamt die höchsten musi-
kalisch-ästhetischen Werte repräsentieren.
Nach unseren Untersuchungen ist das Alter von 19 bis 21 Jahren für das Ver-
ständnis der sogenannten „ernsten Musik“ entscheidend; danach bleibt das Niveau
der Musikalität in der Regel für das ganze Leben auf der erreichten Stufe stehen, was
bedeutet, daß der überwiegenden Mehrheit, etwa vier Fünftel aller Erwachsenen,
als Grundlage für ihre Musikalität ein für allemal jene Genres (vor allem Liedgenres)
genügen, zu denen sie in ihrer Jugend eine mehr oder minder spontane positive
Beziehung gefunden haben.
Eine ähnlich entscheidende Zeitspanne der rezeptiven Aktivität können wir auch
im Folklore-Milieu beobachten. Auch hier bildet das zwischen dem 13. und dem
19. Lebensjahr erworbene Repertoire die Grundlage für das ganze Leben. Wir be-
sitzen aus diesem Lebensalter auch die meisten handschriftlichen Volksliederbücher.
Aber auch die Volksliedsammlungen selbst sind, vor allem im lyrischen Genre,
eigentlich Sammlungen von Liedern, die der Lebensproblematik junger Menschen
entsprechen. Dies ist auch das Alter, auf das sich die zahlreichen Jahrmarktsänger
l Ttti if/i.tirr'* v v i i ȀfTHMimi III v niii/uiXN
198
VladimIr Karbusicky
und Verfasser „heiterer“ (oder „ergreifender“ usw.) „Lieder für Burschen und Mäd-
chen“ orientierten, es ist das Alter der „teenagers“, auf deren Taschengeld es die
Schlagerproduzenten abgesehen haben.
Unsere Forschungen zum „zweiten Dasein“ des Volksliedes in der heutigen
Industriegesellschaft verlockten zu dem Versuch, eine ähnliche Methode auch bei
der Erforschung des „ersten Daseins“, des primären Lebens des Volkliedes anzu-
wenden. Eine solche Situation treffen wir in Böhmen und Mähren nicht mehr an, aber
sie wurde in einer Enklave von fünf tschechischen Dörfern in den rumänischen
Karpaten, im Banat, entdeckt. Der Verfasser dieses Beitrages war Mitglied einer vier-
köpfigen Gruppe von Ethnographen und Folkloristen, die auf vier Expeditionen in den
Jahren 1961 bis 1964 Lebensweise und Kultur der Bewohner dieses abgeschlossenen
Gebietes studierte. Die tschechische Besiedlung erfolgte im Jahre 1826 im Zuge der
militärischen Kolonisation der Grenzgebiete Österreichs. Auf Grund der wirtschaft-
lichen Bedingungen und der relativen kulturellen Isolierung wurde hier der Lebens-
stand eines tschechischen Dorfes vor, grob gerechnet, 130 bis 80 Jahren konserviert.
Es ist natürlich, daß bei der Erforschung des Gesanges hier das Hauptaugenmerk
der Aufzeichnung von Liedern galt, besitzen sie doch außerordentliche Bedeutung
für die Feststellung verschiedener archaischer Erscheinungen, die in Böhmen nicht
mehr anzutreffen sind. Vor allem konnte für Balladen, die in der klassischen Samm-
lung von Karel Jaromir Erben aus den Jahren 1842 —1864 nur ein bis zwei Text-
oder Melodievarianten auf weisen, ein weit größerer Variantenreichtum ermittelt
werden. Es fanden sich auch modale Weisen, ja sogar Melodien in phrygischer
Tonart, die in Böhmen in den Aufzeichnungen Erbens nicht Vorkommen und be-
reits im 14. bis 16. Jahrhundert zu den Seltenheiten zählten. Ferner wurde die
rhythmisch-melodische Gestaltung einer Reihe von Kinderreimen und Brauchtums-
gesängen notiert (z. B. beim „Judasaustreiben“, beim Weihnachtsbrauch des Um-
windens von Obstbäumen als Fruchtbarkeitszauber usw.), die in Erbens Sammlung
entweder ohne Melodie erscheinen oder völlig fehlen.
Diese hier kurz skizzierten Ziele der Feldforschung und die Tatsache, daß die
Bestandsaufnahme der Musikalität erst im Jahre 1963 begann, haben dazu geführt,
daß leider erst bei der letzten, vierzehntägigen Expedition im Jahre 1964 neben der
üblichen Sammlung von Liedern mit Tonbandgerät auch ein modifizierter Ton-
Fragebogen angewendet wurde. Es konnten jedoch nicht, wie vorgesehen, 100 bis
120 Personen, sondern nur 35 befragt werden, da sich während der Expedition nur
sehr wenig Gelegenheit bot, die Einwohner für ein Interview zu gewinnen. Diese
3 5 Ton-Fragebogen, von denen nur 31 verwertbar waren (4 Personen verloren
während der Aufnahme das Interesse daran), stellen selbstverständlich keinen re-
präsentativen Querschnitt dar. Man muß jedoch zwei günstige Umstände berück-
sichtigen, auf Grund deren man auch aus dieser geringen Anzahl bestimmte Schluß-
folgerungen ziehen kann:
1. Es handelt sich um ein kulturell völlig homogenes Milieu, so daß man die
hauptsächliche Richtung des Geschmacks an Hand einer relativ weit geringeren
Zahl erkennen kann als in einer gruppen- und interessenmäßig sowie ökonomisch
und kulturell sehr differenzierten Industriegesellschaft. Wenn man schließlich in
Betracht zieht, daß die ganze Enklave nur 5000 Einwohner zählt, ist die Zahl von
Das Volkslied in der Gegenwart
199
31 Fragebogen relativ weit größer als bei den Recherchen in Gebieten mit einer Be-
völkerung von mehreren Millionen.
2. Wir ermittelten hier die Einstellung zum Liedgut nicht allein mit der Methode
des Interviews. Zur Charakterisierung des Verhaltens gegenüber den einzelnen
Genres konnten auch die Beobachtungen früherer Expeditionen herangezogen wer-
den, sowie die Auswertung von insgesamt 930 Liedaufzeichnungen.
Wenn beispielsweise auf Grund der 31 Ton-Fragebogen festgestellt werden konnte,
daß die junge und die ältere Generation in derselben Weise auf den hier noch fremden
Jazz und das moderne Chanson reagieren, so bestätigte das die vorangegangene
Beobachtung, daß das Volkslied bei allen Generationen gleich lebendig war: Die
Jugend singt hier Volkslieder zu den abendlichen Zusammenkünften auf dem Dorf-
platz, es werden noch Volkstänze getanzt, jung und alt singt das gleiche Repertoire
beim Federschleißen usw. Der Begriff der „alten liederkundigen Sänger“ existiert
hier noch nicht; im Gegenteil, den größten Liederschatz besitzen die jungen Men-
schen, vor allem die Mädchen und jung verheirateten Frauen. Der Prozentsatz der
„moderneren“ Lieder, einiger volkstümlicher patriotischer Lieder aus dem vorigen
Jahrhundert sowie einiger Schlager, die tschechische Lehrer vor dem Kriege hierher
gebracht haben, ist im Repertoire der Jungen und der Alten völlig gleich.
Man darf daher an diese Ton-Fragebogen nicht dieselben Forderungen stellen,
wie an eine soziologische Untersuchung mit repräsentativer Befragung der Bevölke-
rung. Sie können hier lediglich als ergänzendes Experiment betrachtet werden.
Auf dem Tonband befanden sich nur 19 Beispiele mit einer verhältnismäßig langen
Spieldauer der einzelnen Stücke. (Man konnte hier das Bekanntsein verschiedener
Genres — z. B. durch den Rundfunk — nicht voraussetzen; während es in der In-
dustriegesellschaft genügt hatte, den befragten Personen einen bestimmten Musik-
typus durch ein Tonbeispiel von 10 bis 4° Sekunden Dauer in Erinnerung zu
bringen, mußte man sie hier mit dem Musiktypus erst bekanntmachen.) Wir
begannen mit denselben folkloristischen und pseudofolkloristischen Beispielen wie
bei der „großen“ Aufnahme im Jahre 1963 in der Tschechoslowakei (Nr. 01, 02, 03,
09),4 dann folgten — ebenfalls wie dort — ein intellektuelles Chanson (Nr. 04), ein
Tanzlied und ein Schlager (Nr. 05, 06), ein Jazzbeispiel (Nr. 10) und ein Massenlied
(Nr. 07). Hieran schloß sich als Beispiel Nr. 08 barocke Orgelmusik. (Es sollte fest-
gestellt werden, ob durch das Vertrautsein mit defm Kirchengesang und dem sehr
einfachen Spiel auf einem Harmonium bzw. einer kleinen Orgel mit 6 Registern in
den dortigen Kirchen ein Kontakt zu dieser Musik möglich war; dabei konnte zu-
meist kein Zusammenhang zwischen dem Orgelklang und dem Kirchenmilieu
hergestellt werden.) Neu war auch die Aufnahme der romantisch-realistischen sinfo-
nischen Dichtung Smetanas Aus Böhmens Hain und Flur, und zwar wurde jene
Passage ausgewählt, die unter Verwendung von Polkarhythmen und der Intonation
von Volksmusik der Freude des tschechischen Landvolkes Ausdruck gab (Nr. 11).
(Dieses Beispiel nahmen wir zusammen mit zwei weiteren Ausschnitten auch in das
Programm der späteren musiksoziologischen Feldforschung auf, die 1965 in Böhmen
durchgeführt wurde, wobei wir feststellen konnten, daß es die erwarteten Assozia-
4 Siehe Anm. 3, o. S. 195 h
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li
200 VLADIMiR Karbusicky'
tionen auslöste.) Es folgte eine Passage aus der Kantate Tschechoslowakische Polka
von Vaclav Dobias (1948), die den Forderungen der damaligen Ästhetik nach „Rück-
kehr zu den Klassikern“ entsprechend die eben genannte lyrische Partie Smetanas
nachahmte (Nr. 12). Als Kammermusikprobe wurde — wie bei der „großen“ Feld-
forschung — eine ebenfalls romantisch-realistische Komposition von Antonin
Dvorak mit einem stilisierten tschechischen Volkstanz gewählt. Daran schloß sich
ein Ausschnitt aus einer zeitgenössischen expressionistischen Sinfonie (Nr. 13).
Die letzten Liedproben sind neu in den Tonfragebogen aufgenommen worden. Zu-
nächst gaben wir 3 Lieder aus dem Milieu der untersuchten Landschaft wieder —
Aufzeichnungen früherer Expeditionen. Das erste entstammte dem Hochzeits-
brauchtum, wobei die Fragen „Wann wird dieses Lied gesungen?“ und „Warum?“
die Festigkeit der Genre- und Funktionsbindung überprüfen sollten (Nr. 15). Beim
zweiten Lied handelt es sich um eine Ballade (Nr. 16), zu der neben den gleichen
Fragen noch die nach dem Grund ihrer Beliebtheit oder Unbeliebtheit gestellt wurde,
und zwar mit folgenden vorformulierten Antworten: Weil das Lied von etwas er-
zählt; weil es traurig ist; weil es lang ist; weil es alt ist; weil es eine hübsche Melodie
hat; weil es keine schöne Melodie hat; sonstiges. Als drittes (Nr. 18) hatten wir ein
lyrisches Lied ausgewählt, verbunden mit den Fragen, wann und warum es gesungen
wird und wie man die Melodie und den Text einschätzt. (Weil es sich um den ver-
hältnismäßig individuellen Vortrag eines Sängers handelte, war die Frage nach der
Einschätzung hier sinnvoll.) Das nächste Lied (Nr. 19) nun entstammte zwar auch
dem dortigen Repertoire, war aber so arrangiert, wie es für das „zweite Dasein des
Volksliedes“ in der Tschechoslowakei, vor allem im Rundfunkprogramm, typisch ist.
Die Begleitfrage versuchte festzustellen, ob das Lied mit Musikbegleitung besser
ankomme oder nicht. (21 der Befragten bewerteten die Musikbegleitung positiv, nur
4 meinten, ohne Musik klinge der Gesang besser. Darin äußerte sich sehr deutlich ein
Verlangen nach „guter“ Musikbegleitung, das bei den Tanzveranstaltungen von den
ortsansässigen Harmonikaspielern, Autodidakten, nur wenig befriedigt wird.) Den
Abschluß bildete ein rumänisches Lied in modernem Arrangement; es sollte das um-
gebende Ethnikum musikalisch repräsentieren und seinen Einfluß testen (Abb. 3,
Musikbeispiel Nr. 17).
Der Ton-Fragebogen war noch mit zwei weiteren Testreihen kombiniert: mit
einigen Bildreproduktionen im Format 21 X 30 cm sowie mit drei Textilproben
(authentische Volkskunst, künstlerisch-gestaltete Textilien im Volksstil und in
modernem Stil), gefolgt von der Frage, wofür sie sich verwenden lassen. Diese Frage
wurde jedoch nur Frauen vorgelegt. Unter den Bildreproduktionen befanden sich
3 Landschaften (eine romantische, eine impressionistische und eine abstrakte) sowie
3 Figuralgemälde (eine romantisch-realistische Komposition, eine surrealistisch-
abstrakte mit phantastischen Gestalten und schließlich eine Komposition, die als
Musterbeispiel für den sozialistischen Realismus galt, Laktionovs Brief von der Front).
Mit den Ergänzungsfragen versuchten wir festzustellen, wie sich der erwartete Unter-
schied zwischen den angeregten Vorstellungen und einer beginnenden Abstraktion
sowie andererseits der Zusammenhang zwischen den Reaktionen beschreibender
Art und dem wachsenden Verstehen des betreffenden Kunststils äußerten. Tatsäch-
lich stellte sich bei den befragten Personen die vermutete Reaktion ein. Man kann
Das Volkslied in der Gegenwart
201
sogar sagen, daß die surrealistisch-abstrakte Komposition The Den of the Wind
von K. Seligmann gerade wegen des Spiels der Phantasie und der Erinnerung an
sinnlose, oft komische, aber funktionelle Formen, wie sie in der Folklore in Masken,
Sprüchen usw. auftreten, lebhafteres Interesse auslöste, während die romantisch-
realistische Komposition aus dem vorigen Jahrhundert meist an „kleine Andachts-
bilder“ denken ließ. (Es war die Szene Die Hussiten vor Naumburg, wobei die
Kinder oft für „Engel“ gehalten wurden.) Laktionovs bekanntes Gemälde rief den
Eindruck einer Filmszene hervor (in den Dörfern werden Schmalfilme vorgeführt)
bzw. löste beschreibende Reaktionen aus, wobei festgestellt wurde, die Menschen
auf dem Bilde seien „wie lebendig“.
Die Bilderserie war ein wichtiges ergänzendes Moment. Sie bestätigte die These,
daß ein Kollektiv, das sich noch ein voll aktives, schöpferisches, wenn auch eng
begrenztes Verhältnis zur Volkskunst bewahrt hat und noch keine breite „Auswahl-
möglichkeit“ besitzt, wie der von den technischen Medien umgebene Mensch, und
das daher auch noch nicht von musikalischer und bildnerischer Produktion über-
sättigt ist, stets bereit erscheint, neue ästhetische Anregungen aufzunehmen. Selbst
wenn die Kunst nicht „verstanden“ wird, bemüht man sich doch, in jeder Ausdrucks-
form einige Elemente zu entdecken, die auf Grund der eigenen musikalischen und
bildnerischen Erfahrungen nah und bekannt sind. So sah ein Befragter in einer im-
pressionistischen Landschaft van Goghs, die er hin und her wendete, ohne sich in ihr
orientieren zu können, schließlich „etwas wie ein türkisches Tuch“ — er erhielt zu-
mindest einen Eindruck von der bunten, schwelgerischen Farbkomposition.
Dieses Interesse an jeglicher neuer Kunst, das man theoretisch auch mit dem „nie-
drigen Informationsniveau“ sowie dem Mangel an „Auswahlmöglichkeit“ begründen
könnte, führte dazu, daß hier die Befragung nach einer positiven, negativen oder
neutralen Bewertung der Beispiele weitgehend versagte. Den befragten Personen
schien jedes vorgespielte Beispiel einfach deshalb zu gefallen, weil sie Musik er-
klingen hörten. Eine Reihe von ihnen äußerte sich zu allen Beispielen positiv. Deshalb
wurde in die Fragebogen nicht „schön“, „es gefällt mir“ usw. eingetragen, sondern
der Grad des Reagierens auf das vorgeführte Musikbeispiel (lebhafte, zustimmende
Reaktion = i, weniger lebhafte, wenn auch mit dem Wort „schön“ bezeichnet — 2,
gleichgültig oder ablehnend = 3).
Das Ergebnis zeigt Abb. 3. Auf die Folklore und gleichlaufend damit auf die
Pseudofolklore wurde nahezu hundertprozentig positiv reagiert. Eine andere Be-
wertung verliert hier jeden Sinn, denn es handelt sich dabei um den gesamten Um-
fang der Musikalität dieser Menschen. Die Pseudofolklore nimmt die gleiche Stel-
lung ein, was auch durch die Beobachtung unterstrichen wird, daß sie in das heimische
Gesangsrepertoire völlig gleichwertig aufgenommen wird. Die Folklore ist hier noch
so elementar kräftig und universal, daß sie imstande ist, neue und andersartige
Gestaltungen in sich aufzunehmen, ohne damit ihr eigenes Wesen zu verändern. Die
Menschen haben hier noch keine ästhetischen Maßstäbe und kennen nicht die Be-
griffe „Verfall“ oder „Reinheit“, durch die in unserem kulturellen Bereich der Begriff
des „echten“ Volksliedes abgegrenzt wird.
Auf moderne Tanzmusik, Chansons und auf Jazz wird ebenso aufmerksam rea-
giert wie auf Beispiele aus der romantisch-realistischen Musik: Man sucht in ihnen
POSITIVES VERHALTEN feg°i_ POSITIVE REAKTION
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202 Vladimìr KarbusickV
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Abb. 3. Reaktion auf verschiedene Musikstile und Genres in einem „primären“
folkloristischen Milieu
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Folklore
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Massenlied, moderne Sinfonie, [ \
Orgetmusik geringer Kontakt \ 4 > J
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01 02 03 09 19 16 15 18 17 % 11 12 05 06 10 04 07 13 08
Abb. 4. Verhalten zu verschiedenen musikalischen Genres bei der Bauernschaft
in der heutigen Industriegesellschaft
203
Das Volkslied in der Gegenwart
Elemente, die sich mit der eigenen volkstümlichen Musikalität in Übereinstimmung
befinden. Die Position der romantisch-realistischen Musik ist bemerkenswert. Sie
bestätigt, daß die von den Realisten des vorigen Jahrhunderts angewendete stili-
stische Methode, den nationalen Charakter der Musik vom Volkslied herzuleiten, da-
mals, bei einer noch relativ lebendigen primären folkloristischen Basis, reale Bedeu-
tung hatte, auch für die weiteren Aspekte, wie sie von der auf ihr fußenden Ästhetik
des sozialistischen Realismus betont wurden: für Volkstümlichkeit und Verständ-
lichkeit. Heute, wo das Volkslied nur noch eines von vielen künstlich gepflegten
Gebrauchsgenres darstellt, ist die Situation freilich völlig anders, ganz abgesehen von
der Entwicklung der musikalischen Sprache seit jener Zeit. Eine ähnliche Methode
müßte daher heute notwendigerweise zu einem Anachronismus führen und würde
letzten Endes der sogenannten „ernsten Musik“ weder zu Volkstümlichkeit noch zu
Verständlichkeit verhelfen. Wir können das tatsächlich von den Abbildungen 4 und 5
Abb. 5. Verhalten zu verschiedenen musikalischen Genres bei Arbeitern
ablesen, die die Ergebnisse der großen, 1963 in der Tschechoslowakei durchgeführten
Bestandsaufnahme bei Bauern (physisch in der Landwirtschaft Tätigen) und Ar-
beitern (physisch in der Industrie Tätigen) zeigen. Die „Auswahlmöglichkeit“ und
die Gewöhnung an eine vorwiegend passiv rezipierte Musik, mit der das Klangmilieu
des heutigen Menschen übersättigt ist, bewirkten einen sehr geringen Kontakt
zur sogenannten „ernsten Musik“ schlechthin, und zwar jeglicher ernsten Musik,
sowohl der klassischen und der romantisch-realistischen als auch der modernen. Die
Entwicklung verläuft hier in anderer Richtung: Das Verständnis ist direkt propor-
tional dem Bildungsniveau, wie man schon bei intellektuell besser ausgebildeten
Arbeitern, vor allem aber bei der Intelligenz mit Hochschulbildung sehen kann
204
VLADIMiR KARBUSICKY
(Abb. 6). Der Weg zum Verständnis der ernsten Musik führt in unserer Kultur nicht
mehr über das Volkslied, sondern über die Hebung der Allgemeinbildung.
Kehren wir noch einmal zur Reaktion der tschechischen Kolonisten zurück: Das
geringe Interesse am Massenlied ist psychologisch durchaus erklärbar, denn diese
Menschen haben weder ein Vereinsleben noch das Lied im Marschrhythmus aus der
Periode der nationalen Wiedergeburt kennengelernt. Ein Marsch ist für sie kein
Begriff. Deshalb kann bei ihnen ein Massenlied im Marschrhythmus auch keine Asso-
ziationen hervorrufen. Es muß allerdings vermerkt werden, daß auch bei der „gro-
ßen“ Bestandsaufnahme das Massenlied im Stil der fünfziger Jahre sehr niedrig im
Kurs stand; die Reaktion war hier vorwiegend neutral.
Abb. 6. Verhalten zu verschiedenen musikalischen Genres bei der Intelligenz
Sehr aufschlußreich ist jedoch der Kontakt zur romantisch-realistischen Musik.
Es scheint — das ist freilich noch zu überprüfen —, daß das große Interesse an ihr
nicht nur durch den Mangel an Musik überhaupt verursacht ist, sondern auch durch
das noch immer starke schöpferische Engagement bei der nahezu täglichen Reali-
sierung der einzigen hier ständig zugänglichen Musik — dem eigenen Gesang.
Wichtig dafür ist der Umstand, daß der Inhalt der Lieder hier den Formen des Le-
bens bisher noch adäquat ist: Wenn von Pferden gesungen wird, so sind sie wirklich
noch das einzige Verkehrsmittel, die Burschen fensterin bei den Mädchen oder
steigen zu ihnen in die Kammer, das Hochzeitsbrauchtum und andere Bräuche sind
noch lebendig, der tragische Ausgang einer Ballade ist imstande, eine gedrückte
Stimmung hervorzurufen usw. Das alles schafft offensichtlich im Bewußtsein der
Sänger einen stärkeren Antrieb zur Realisierung der „musikalischen Bilder“ in den
Melodien. Deshalb wurde auch Dvoräks Dumka Es-Dur für Klaviertrio als „schönes
Lied“ bezeichnet, und ein älterer Mann reagierte auf Dvoräks Thema sogar mit den
Das Volkslied in der Gegenwart
205
Worten: „Das ist ein hübsches Stück, es sagt: ,Dej mi to, dej mi to!‘ (Gib es mir,
gib es mir!) Wirklich ein hübsches Stück!“ Wie der Vergleich mit dem Notenbeispiel
zeigt, wurde hier ein gutes Beispiel einer Wort-Musik-Assoziation aufgezeichnet,
eine der Quellen für das volkstümliche Liedschaffen. Das Beispiel aus Smetanas sin-
fonischer Dichtung erinnerte wiederum an: „A ty, Kaco, ty se nevdäs“ (und du,
Katscha, wirst kein Bräutchen), ein Lied mit obszönem Inhalt, das zu den Fastnachts-
(uDej mi to, dej mi to, dej mi to...")
(„Gib es mir, gib es mir, gib es mir..!')
Abb. 7. Beispiel einer verbalen Assoziation beim Anhören der romantisch-realistischen
Musik in einem primären Folklore-Milieu
liedern gehört, deren Obszönität bekanntlich eine bacchanal-funktionelle Tradition
von beträchtlichem Alter aufweist. Dagegen ist das geringe Echo, das die zeit-
genössische expressionistische Sinfonie fand, nicht, wie man vorschnell urteilen
könnte, a priori ein Beweis für die volksfeindliche Ästhetik der modernen Musik. Die
Menschen fanden zu ihr einfach keine funktionelle Beziehung, wie die Aussprüche
zeigen: „Da würde man sich ja beim Tanz die Beine brechen“, „Das eignet sich nicht
zum Tanzen und auch nicht zum Singen“, „Dazu läßt sich nicht einmal mehr sprin-
gen“, „Das ist nicht gut, es erinnert an gar nichts“ usw. Das bedeutet natürlich nicht,
daß es sich um eine Musik handelt, die in unserer Zeit insbesondere Menschen mit
tieferem Einfühlungsvermögen und höheren Ansprüchen an eine Musik nichts zu
sagen hätte. (Vergleichsweise sei erwähnt, daß 1963 bei 20% der befragten An-
gehörigen der Intelligenz eine positive Einstellung zu diesem Musikstil ermittelt
wurde.)
Soviel über die wichtigsten Ergebnisse, die sich aus unserem Experiment in
einem konservierten Folklore-Milieu ableiten lassen. Es ist zu bedauern, daß dieses
Experiment dennoch nicht an einem größeren Personenkreis durchgeführt werden
konnte, doch ist zu hoffen, daß die skizzierten Prinzipien der Feldforschung in anderen
Enklaven bzw. in Gebieten mit bisher relativ ungestörtem primären Leben der Folk-
lore überprüft und mit den dort erzielten Ergebnissen konfrontiert werden können.
Aus unserer Darstellung könnte man den Schluß ziehen — und der Verfasser ist
einer solchen Kritik schon begegnet—, daß die angeführten Methoden der Feld-
forschung den Rahmen der Folkloristik weit überschreiten, vor allem hinsichtlich der
soziologischen Aspekte und der Verwendung von Beispielen aus dem Bereich der
traditionell nicht gebundenen Liedgenres und der sogenannten ernsten Musik. Wir
sind jedoch der Meinung, daß die Arbeitsmethoden einer Wissenschaft nicht ein für
allemal gegeben sind, sondern sich entsprechend dem Charakter des Gegenstandes
und der Forschungsaufgaben verändern. Ein Fetischismus der Methoden ist vor allem
bei einer Wissenschaft mit einem so vielgestaltigen Gegenstand, wie es die Folk-
loristik ist, nicht am Platze. Der Gegenstand „Volkslied“ lebt in den meisten Industrie-
ländern schon seit dem vorigen Jahrhundert bei weitem nicht mehr isoliert. Soweit
206
VladimIr KarbusickV
in einigen traditionsgebundeneren Gebieten andere Musikgenres das Volkslied noch
nicht erfaßt, anderen gesellschaftlichen Bedürfnissen angepaßt und schließlich in ganz
neue funktionelle und ästhetisch wertende Kategorien einbezogen haben, wird dies
in den nächsten Jahren der Fall sein. Deshalb hat es unserer Meinung nach einen Sinn,
mit der Reaktion auf alle Haupttypen der Musik zu experimentieren.
Das ist nicht nur für die Erkenntnis der wichtigsten sozial-psychologischen Kom-
ponenten der traditionellen Folklore von Bedeutung, sondern auch — wie aus
der Analyse hervorgeht — für einige ästhetische Probleme der hohen Kunst. Es ist
ja nicht das erste Mal, daß die Folkloristik über die Lösung ihrer eigenen inneren
Probleme hinausgehende Bedeutung erlangt; man braucht nur an ihre Rolle bei der
Formulierung der ästhetischen Theorien der Romantik zu erinnern. Deshalb besteht
kein Grund, warum sie nicht auch heute, auf einem anderen Stand ihrer Erkenntnisse,
verwandten Wissenschaftszweigen dienen sollte. Die Erweiterung um einige soziolo-
gische Aspekte kann man nicht als Tribut ansehen, den sie einer aktuellen Welle
von fast modernem Interesse zollt, sondern als eine bei der Arbeit gut verwendbare
Methode der laufenden folkloristischen Arbeit in der Industriegesellschaft des
20. Jahrhunderts.
Übersetzt von Günther Jarosch, Berlin
Das Problem der Transkription
in der musikethnologischen Forschung
Von Doris Stockmann
Die Transkription von Tonaufnahmen, d. h. die Übertragung klingender Musik in
Notenschrift oder auch in andere visuell faßbare Substrate, ist innerhalb der letzten
Jahrzehnte von der Peripherie ins Zentrum musikethnologischer Dokumentation
gerückt. Was zur Zeit des Edisonschen Phonographen noch eine Angelegenheit
einzelner Forscherpersönlichkeiten war (erinnert sei an die wegbereitenden Ar-
beiten von Abraham und Hornbostel, Lach, Lachmann, Bartók, Kodály und Schü-
nemann, um nur einige Namen zu nennen), ist seit Erfindung der magnetischen
Schallaufzeichnung, mit ihrer stetig fortschreitenden technischen Verbesserung, der
zunehmenden Verbreitung und Anwendung des Magnetophons bei der Terrain-
arbeit, zum Problem aller geworden, die sich ernsthaft mit Volksmusikforschung
bzw. Musikethnologie befassen.1 Es ist daher sicher nicht unnütz, das bisher auf
diesem Gebiet Geleistete zu sichten, die fruchtbaren Ansatzpunkte herauszugreifen
und hierzu einige weiterführende Gedanken darzulegen.2
I
Zunächst sind einige Vorbemerkungen, die die Bedeutung der Transkriptions-
arbeit innerhalb der Musikethnologie, den Stand der Forschung und der interna-
tionalen Zusammenarbeit auf diesem Gebiet betreffen, erforderlich.
Wenn wir voraussetzen, daß es in unserem Forschungszweig um die Klärung aller
Fragen geht, die Werden, Sein und Vergehen, Wesen und Wirkung der Volks-
musik stellen, daß wir Volksmusikkulturen, Stile, Gattungen, Instrumente usw. zu
untersuchen, nach ihren strukturellen, soziologischen wie auch nach ihren inhaltlich-
ästhetischen Merkmalen zu fragen und ihre geschichtliche Entwicklung, Abgrenzung
und Bedingtheit zu erforschen haben, so gestehen wir im allgemeinen durchaus zu,
daß all diese Aufgaben nur auf einer ausreichend vorbereiteten Materialgrundlage
erfolgversprechend in Angriff genommen werden können. Diese Materialgrundlage
aber besteht heute zu einem beträchtlichen Teil aus Tonaufnahmen. Die durch die
1 Da die hier zu besprechenden Probleme (wie viele andere) für den engeren Bereich der
Volksmusikforschung und den weiteren Bereich der Musikethnologie identisch sind, wird
im folgenden zwischen beiden Begriffen terminologisch nicht unterschieden.
2 Es handelt sich dabei um Gedanken aus einer 1965 an der Universität Uppsala ge-
haltenen Vorlesungsreihe über „Probleme und Methoden der Volksmusiktranskription“.
Eine größere Untersuchung zum gleichen Thema ist in Vorbereitung. Vgl. vorerst meine
Ausführungen in: Albanische Volksmusik, Bd. I (Berlin 1965) 23 — 33.
WLff/ECTr«Mlf/JIitlHMV JU1 I IJWKIXT^riUinUYJUlttN^
208 Doris Stockmann
neuen Aufnahmegeräte überall in der Welt erheblich aktivierte Sammeltätigkeit hat,
namentlich seit Ende des zweiten Weltkrieges, in zahlreichen Ländern Schall-
Archive mit riesigen Beständen entstehen lassen. Unter anderem wurden viele kompli-
zierte Arten von Volksmusik (vokale Mehrstimmigkeit, instrumentale Ensemble-
musik, Gattungen mit stark improvisatorischem Einschlag wie die Totenklage u. ä.),
deren Aufzeichnung im Terrain nach dem bloßen Gehör gar nicht oder nur sehr un-
vollkommen möglich gewesen war, erstmalig eingespielt; wie alle anderen Sammel-
materialien wanderten sie in die Archive, bereit zur beliebigen Reproduktion und
bereit zur wissenschaftlichen Auswertung.
Leider muß man sagen, daß die Auswertung in sehr vielen Fällen noch auf sich
warten läßt. Von den drei wichtigsten Stufen der musikethnologischen Dokumen-
tationsarbeit an rezentem Material,
a) der Terrainforschung und Materialsammlung (mit dem Ergebnis einwandfreier
Tonaufnahmen und exakter sowie möglichst vielseitiger Protokolle, soweit
nötig ergänzt durch Textaufzeichnungen oder Foto- und Filmdokumentation),
b) der Transkription der Tonaufnahmen (die mit einer Rohanalyse zu koppeln
ist, um eine sinnvolle Notierung zu ermöglichen) und
c) der Materialordnung und Katalogisierung des transkribierten Materials (nach
entsprechender Analyse der als Ordnungsprinzip dienenden Merkmale),
sind die letztgenannten nur sporadisch und zögernd in Angriff genommen worden.
Die Gründe dafür liegen auf der Hand. Beide Aufgaben erfordern — außer großem
Zeitaufwand bei ihrer Durchführung — äußerst detaillierte und gründliche Vorarbei-
ten. Sie sind vorausschauend zu planen, um allen späteren Anforderungen zu genügen,
gleichzeitig aber jeden unnützen Arbeitsaufwand zu vermeiden. Ziel der Transkrip-
tion wie auch der Katalogisierung ist es, die klingenden Dokumente der wissenschaft-
lichen Bearbeitung und Auswertung zugänglich zu machen. Beide sollen eine brauch-
bare Arbeitsgrundlage für weitere Forschungsaufgaben abgeben. Die meisten Unter-
suchungen am Material stützen sich auf die Transkription (bzw. auf das, was von ihr
im Katalog festgehalten ist) und nicht mehr auf die Tonaufnahme, weil dieser die
leichte Handhabung, Überschaubarkeit, Vergleichbarkeit usw. fehlen. Zwar wird man
für bestimmte Fragen, etwa solche, die den Vortragsstil, bestimmte Sing- und
Spielmanieren, den Klangcharakter o. ä. Details betreffen, die Tonaufnahme immer
heranziehen oder man sollte es zumindest; aber zumeist, besonders bei Struktur-
analysen und Vergleichen, hält man sich an die schriftliche Notierung, womit man
stillschweigend voraussetzt, daß sie alle wesentlichen Merkmale enthält. Das heißt:
innerhalb der musikethnologischen Arbeit kommt der Transkription grundlegende
Bedeutung zu.
Um so wichtiger ist es, bei dieser Arbeit so verantwortungsbewußt und umsichtig
wie nur irgend möglich zu Werke zu gehen. In diesem Zusammenhang ist es not-
wendig, einen Gesichtspunkt in die Betrachtung einzubeziehen, der für Transkrip-
tion und Katalogisierung gleichermaßen von Bedeutung ist, ja der überhaupt für
jede Art von wissenschaftlicher Dokumentation Gewicht hat: die internationale
Abstimmung und Vereinbarung von Richtlinien. Gerade jetzt hat man z. B. damit
begonnen, sich in internationalen Gremien mit der Volksmusik-Katalogisierung zu
Transkription in der Musikethnologie
209
beschäftigen,3 um einheitliche Gesichtspunkte herauszufinden und die zahlreichen,
an Materialien kleineren Umfangs erprobten Privatsysteme einzelner Forscher auf
einen gemeinsamen Nenner zu bringen. Dies alles geschieht mit dem Ziel, in abseh-
barer Zukunft internationale Typenkataloge, wie sie z. B. für die Märchenforschung
seit langem existieren, zu ermöglichen.
Erwähnenswert ist diese internationale Initiative in Katalogisierungsfragen hier
vor allem deshalb, weil eine sinnvolle Materialordnung, die sich auf schriftliche Ter-
rain-Aufzeichnungen und transkribiertes Sammelgut gleichermaßen erstreckt, einer-
seits Quellenkritik, andererseits eine sachgerechte Transkription der Tonaufnahmen
voraussetzt. Nun hat es kurz nach dem 2. Weltkrieg auch über Notierungsprobleme
eine internationale Expertenkonferenz gegeben, die Richtlinien und Vorschläge
erarbeitete und als Empfehlungen herausgab.4 Für den damaligen Stand der Dinge
bot diese Publikation eine äußerst nützliche, wenngleich sehr knapp gehaltene Zu-
sammenfassung. Auf acht Seiten wurden einige wesentliche Fragen der Tonhöhen-
und Rhythmusschreibung, der Intensität, des Tempos und seiner Modifikation, der
Vortragsdetails (wie Ornamentierung, Vibrato, Glissando, Legato, Staccato und
Portato, Parlando, Falsett), der Variantennotierung und der absoluten Tonhöhe
angesprochen und die wichtigsten diakritischen Zeichen mitgeteilt, eine Handleitung
also, die für jeden Musikethnologen bei der Notierungsarbeit eine wesentliche
Orientierungshilfe darstellte, auch wenn er gegen einzelne Punkte begründete Ein-
wendungen haben mochte. Eines der wichtigsten, in der eben besprochenen Ver-
öffentlichung enthaltenen Ergebnisse der Experten-Konferenz lag offensichtlich in der
ausdrücklichen Anerkennung des europäischen Notierungssystems, dessen Brauch-
barkeit für musikethnologische Zwecke — teils wegen seiner Unzulänglichkeiten,
besonders im Hinblick auf die Notierung von Musikstilen, die seinen Normen fern-
stehen, teils auch unter dem Einfluß und in unrichtiger Einschätzung der neuen elektro-
akustischen Aufzeichnungsmethoden — verschiedentlich angezweifelt worden war.
Übrigens stützten sich die Autoren der Empfehlungen, sei es direkt oder indirekt,
bei ihrer Ausarbeitung größtenteils auf bereits vorhandene Vorschläge und Methoden,
wie sie von Otto Abraham und Erich Moritz von Hornbostel,5 Bela Bartök,6 Walter
Wiora,7 Constantin Brailoiu u. a.8 vorgelegt worden waren. Dabei wurde nament-
3 Im September 1965 fand in Bratislava die erste Arbeitstagung einer 1964 zu diesem Zweck
ins Leben gerufenen Studiengruppe des International Folk Music Council (Study Group of
Folk Music Systematization) statt. Ihre Ergebnisse werden in einem Sammelband publiziert.
4 Notation of Folk Music, Recommendations of the Committee of Experts, convened by
the International Archives of Folk Music under the auspices of UNESCO. Genf—Paris
1949/50 (1952); dazu Ciap-Information Nr. 15 — 16. Paris, Nov.—Dec. 1949.
5 Vorschläge zur Transkription exotischer Melodien. Sammelbde d. Intern. Musikges.
XI (1909/10) x —25.
6 Besonders in seinen Editionen: Volksmusik der Rumänen von Maramures. München
1923, und später: Bartok-Lord, Serbo-croatian folk songs. New York 1951.
7 Die Aufzeichnung und Herausgabe von Volksliedweisen. Jb. f. Vldf. VI (1938) 53 — 93.
8 Von Brailoiu wird Bocete din Oas, Bucarest 1938, ausdrücklich angeführt, aber auch
andere seiner Arbeiten wären zu nennen. Desgleichen finden sich in Editionen weiterer
Autoren Bemerkungen, auf welche Weise den speziellen Gegebenheiten des jeweiligen Ma-
terials in der Notation Rechnung getragen wurde, so in Publikationen von S. Baud-Bovy,
H. H. Roberts, G. Herzog u. a.
3 Volkskunde
tiltii. Viin№rHinr//>IIII01MMt'( ll'MIOMUm » IWtflUïtH
210 Doris Stockmann
lieh hinsichtlich der diakritischen Zeichen eine Auswahl getroffen und gewisse Ver-
einheitlichungen durchgeführt. Leider fanden die offenbar nur in einer kleinen Auf-
lage hergestellten Abzüge der Empfehlungen nicht die Verbreitung, die man dem
Heft hätte wünschen mögen, z. B. unter Studenten; in manchen Ländern, auch sol-
chen, die viel Material publizieren, blieben sie so gut wie unbekannt. Jaap Kunst, der
in seinem zwischen 1950 und 1959 in drei Auflagen erschienenen Buch Ethnomusic-
ology auch das Transkriptionsproblem anschnitt, einschlägige Literatur sowie per-
sönliche Erfahrungen mitteilte und technische Hilfsmittel beschrieb,9 konstatierte
vorsichtig (39): “Naturally the recommendations formulated at this Conference
possess no legal sanction and cannot be enforced; it remains to be seen whether
ethnomusicologists in general will be prepared to avail themselves in future of the
transcription-rules recommended by the Conference“. Heute — 10 Jahre nach dieser
Einschätzung und mehr als 15 Jahre nach der Tagung — kann man sagen, daß ihre
Ergebnisse zwar nicht ohne Resonanz, aber gewiß ohne die erhoffte Breitenwirkung
blieben. Das ist kein Grund zur Resignation, wenn man das ganze Unternehmen nicht
als einmaligen Versuch, sondern als Anfang der internationalen Diskussion be-
trachtet, die der intensivierten Fortsetzung bedarf. Diese ist um so dringlicher, als
damals naturgemäß nur einige wenige Fragen einer Klärung näher gebracht werden
konnten, während andere am Rande oder völlig außer Betracht blieben.
Trotz aller fruchtbaren Ansätze in Theorie und Praxis muß man — gemessen an
der Fülle unbewältigter Probleme, die in der Transkriptionsarbeit vor uns stehen —
das bisher Erreichte als ungenügend empfinden. Zweifellos hat die für die musik-
ethnologischen Forschungsaufgaben so unumgänglich notwendige visuelle Doku-
mentation mit der rasch fortschreitenden Entwicklung der technischen Aufnahme-
verfahren nicht Schritt gehalten; sie nutzt die vielfältigen Möglichkeiten, die diese
Aufnahmeverfahren bieten, noch nicht in vollem Umfang aus. Ein Vergleich etwa
mit der Linguistik und ihren verfeinerten Methoden zeigt unseren Wissenschafts-
zweig samt seinen Notierungsproblemen deutlich im Rückstand. Doch darf man nicht
übersehen, daß es in den letzten Jahren Versuche zur Bewältigung der in unserem
Sektor anstehenden Fragen gegeben hat, die des Durchdenkens und der Diskussion
wert sind. Bisher ist dies kaum geschehen. Ich denke etwa an die Arbeiten von Zyg-
munt Estreicher,10 Bruno Nettl,11 George List u. a.,12 die sich bemühten, das Tran-
9 3. Aufl., The Hague 1959, 37ff., 9ff.
10 Une technique de transcription de la musique exotique (Expériences pratiques). Neu-
châtel 1957. Rez. Ethnomusicology IV (i960) 129 —132.
11 Theory and method in ethnomusicology. New York 1964, 98 — 130.
12 The musical significance of transcription. Ethnomusicology VII (1963) 193 —197.
Von anderen nach 1945 erschienenen Beiträgen zu unserem Thema seien erwähnt: E. Ger-
son-Kiwi, The transcription of oriental music. Edoth (= Communities) Vol. III, Jerusalem
1947/48, 192 —177 (= XVII—XXII); A. A. Saygun, Le recueil et la notation de la musique
folklorique. JIFMC I (1949) 27 —33 ; L. Lajtha, À propos de l’intonation fausse dans la mu-
sique populaire. Les Colloques de Wégimont, Ethnomusicologie I (1954), Bruxelles 1956,
x45 —153 ; J- Sobieska, Transkrypcja muzyczna dokumentalnych nagran polskiego folkloru.
Muzyka IX (Warszawa 1964) Nr. 3—4, 68 — 110; A. Herzog, Transcription and transnota-
tion in ethnomusicology. JIFMC XVI (1964) ioof.; E. Lin, The notation of continuous
graduai change of pitch. Ebda 107L Vgl. auch M. Hood, Musical significance. Ethno-
musicology VII (1963) 187 — 192, und die Angaben unten S. 213L
I f f l ВМЛ I # 11 ГГ* I* Vi rwa
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Transkription in der Musikethnologie 211
skriptionsproblem wenigstens in Teilaspekten erneut in den Griff zu bekommen.
Hier wären neue internationale Diskussionen und Absprachen notwendig, vor allem
auch im Hinblick auf die Möglichkeiten und Grenzen der verschiedenen neuent-
wickelten elektroakustischen Aufzeichnungs- bzw. Analyseverfahren.
Abgesehen von den sozusagen traditionellen technischen Hilfsmitteln, die bei der
Transkriptionsarbeit seit eh und je Verwendung fanden wie Stimmgabel oder Stimm-
pfeife, Tonometer (mit Meßskalen), Monochord, Metronom und evtl. Stoppuhr,13
gibt es bekanntlich seit einigen Jahrzehnten eine Reihe von elektroakustischen Meß-
und Analysier-Verfahren, die es erlauben, eine gegebene Melodie oder Teile daraus
in ihrer akustischen Struktur aufzuzeichnen und photographisch oder graphisch
sichtbar zu machen. Die Entwicklung der dafür verwendeten Apparate (Schleifen-
und Kathodenstrahloszillographen, Pegelschreiber, Tonfrequenzspektrometer, Sona-
graphen, Melographen, Tonhöhenschreiber u. a. m.) ist mit Namen wie Metfessel,
Grützmacher und Lottermoser, Obata und Kobayashi14 verbunden. Sie fanden schon
früh in der Volksmusikforschung Anwendung; und ihre Bedeutung für diese Wissen-
schaft stand eigentlich von Anfang an außer Zweifel. In den letzten Jahren sind sie
durch Neu- und Weiterentwicklungen, u. a. in Amerika, Norwegen, Israel, der
Tschechoslowakei, in Dänemark und Schweden, wieder in den Blickpunkt des
Interesses getreten. Charles Seeger, Olav Gurvin und Karl Dahlback u. a. haben sie
beschrieben und damit gearbeitet.15
Mehreres ist zu diesen Geräten und Verfahren zu sagen. Die Reaktionen der Musik-
ethnologen — sowohl auf die älteren als auch auf die neuen einschlägigen Veröffent-
lichungen — reichten von begeisterter Überbewertung bis zu allzu negativer Skepsis
und Abwertung. Manche erwarteten von hier die Lösung aller einschlägigen Pro-
bleme, andere glaubten, daß die Probleme nicht besser gelöst werden können als sie
13 Alles Meßmethoden, bei denen der Meßweg über unser Ohr geht, denn man legt fest
oder stellt ein, was man hört oder zu hören glaubt, so daß Fehlinterpretationen nicht aus-
geschlossen sind. Beschreibungen dieser Hilfsmittel u. a. bei J. Kunst, 9 ff., dort, 6 und 232,
auch Tabellen für die Umrechnung von Schwingungszahlen in Cents (Wiederabdruck der
schwer zugänglichen „Tafel zur logarithmischen Darstellung von Zahlenverhältnissen“ von
E. M. v. Hornbostel); vgl. auch das praktische Rechenschieberverfahren von F. Bose,
Ein Hilfsmittel zur Bestimmung der Schrittgröße beliebiger Intervalle. Die Musikfor-
schung V (1952) 205—208.
14 M. Metfessel, Phonophotography in folk music. Chapel Hill 1928; M. Grützmacher,
W. Lottermoser, Über ein Verfahren zur trägheitsfreien Aufzeichnung von Melodiekurven.
Akust. Zs. II (1937) 242 — 248; J. Obata, R. Kobayashi, A direct-reading pitch recorder
and its applications to music and speech. Journal of the Acoustical Society of America
IX (1937) 156 —161; dies., An apparatus for direct-recording the pitch and intensity of
sound. Ebda X (1938) 147 —149.
15 Vgl. Ch. Seeger, An instantaneous music notator. JIFMC III (1951) 103 —106; ders.,
Toward a universal music sound-writing for musicology. Ebda IX (1957) 63—66; dazu
Ergänzung, ebda XIV (1962) 168 ; О. Gurvin, Photography as an aid in folk music research..
Norveg III (1953) 181 —196; K. Dahlback, New methods in vocal folk music research.
Oslo 1958; E. Gerson-Kiwi, Toward an exact transcription of tone-relations. Acta Musi-
cologica XXV (1953) 8off.; O. Elschek, Ethnomuzikológia a elektroakustika. Slovensky
Närodopis IX (1961) 295—309; M. Filip, Spósoby objektivneho grafického zäznamu melodie
(The methods of objective graphical recording of melody). Hudobnovedné Studie VII (1966)
176 — 200; I. Bengtsson in: Svensk Naturvetenskap 1966, 325 — 348, u. a.
3*
'212
Doris Stockmann
es bereits sind. Sicher sind beide Extreme falsch. Einerseits soll man sich nicht mit
etwas begnügen, was man als unvollkommen erkannt hat, wenn man Hilfsmittel zur
Verbesserung in die Hand bekommen kann. Andererseits soll man aber auch nicht
bewährte Methoden über Bord werfen, ehe man die Möglichkeiten und Grenzen
neuer Verfahren gründlich geprüft hat und allseitig gesicherte Ergebnisse vorlegen
kann. Soweit ist man jedoch im Moment noch nicht.
Vorläufig ist — neben den vielen Vorteilen, die die elektroakustische Aufzeichnung
und Analyse für unser Fach bietet — auch eine Reihe von Nachteilen nicht zu über-
sehen. Dazu gehört, daß die Geräte wegen ihres beträchtlichen Anschaffungspreises
nicht zur selbstverständlichen Einrichtung eines jeden Volksmusikinstitutes ge-
hören. In den Ländern, die damit arbeiten, und das ist vorläufig noch eine recht
kleine Zahl, stehen nur wenige Maschinen. Ein spürbarer Nachteil ist auch, daß
die einschlägigen Apparate bisher nicht für alle Arten von Musik ohne weiteres
einsatzfähig sind, z. B. nicht für Mehrstimmigkeit, ja überhaupt nicht für chorische
Musik, die ja praktisch nie „einstimmig“ im idealen Sinn ist, auch wenn nicht direkt
Mehrklänge Vorkommen. Nur Solo-Vortrag kann mit ihrer Hilfe analysiert bzw.
aufgezeichnet werden. Damit scheidet ein weiter Bereich der Volksmusik vorläufig
für diese Art der Untersuchung aus, falls man nicht die Möglichkeit hat, die Stimmen
getrennt (z. B. mit Kehlkopf-Mikrophonen) aufzunehmen.16 Zu den Nachteilen oder
sagen wir besser Schwierigkeiten gehört ferner, daß die Bedienung dieser Apparate
ausgebildete Techniker bzw. Akustiker verlangt;17 zumindest für die Herstellung der
Analysen ist ein Fachmann notwendig, öfters auch für einen bestimmten Teil der
Auswertung. Um nur ein Beispiel zu nehmen: manche Apparate zeichnen nicht ganz
trägheitsfrei auf; eine sinnvolle Auswertung ist also nur möglich, wenn man die
16 Von Fachleuten kann man hören, daß theoretisch durchaus die Möglichkeit besteht,
auch Mehrstimmigkeit auf elektroakustischem Wege sichtbar zu machen; aber die Verfahren
dafür sind überaus kompliziert und kostspielig, und die Fehlerquellen und Abweichungs-
quoten steigen natürlich mit der Kompliziertheit des Objekts, sind doch schon für die visu-
elle Dokumentation von solistischer Musik technisch hochwertigste Aufnahmen erforderlich.
Die Frage, wie Tonaufnahmen beschaffen sein müssen, um nicht nur für elektroakustische
Experimente, sondern auch für exakte Transkription brauchbar zu sein, ist in letzter Zeit
allgemein mehr diskutiert worden; daß man, gerade bei Mehrstimmigkeit, neben dem Ge-
samteindruck des Erklingenden unter Einsatz mehrerer Mikrophone und Aufnahmegeräte
auch spezielle Details festhält, z. B. schwer heraushörbare Mittelstimmen oder Instrumente
wie das Cymbal, wird immer mehr zu einer grundlegenden Forderung der Aufnahmetechnik.
Ebenso kann man bei unisono intendierter chorischer Musik, falls keine Kehlkopfmikro-
phone zur Verfügung stehen, die sicherste Stimme (gegebenenfalls den Vorsänger) getrennt
aufnehmen und davon Schallbilder anfertigen, wobei jedoch in Rechnung zu stellen ist,
daß aus solchen von der Realität abstrahierenden Aufnahmen nur Teilergebnisse gewonnen
werden können.
17 Brachte schon der Umgang mit den einfachen technischen Flilfsmitteln gewisse Schwie-
rigkeiten mit sich (z. B. durch nicht ganz präzise geeichte Meßskalen, die bei Nachprüfung
eines Meßergebnisses mit einem anderen Gerät abweichende Werte verursachten) — ein
Faktum, das im Prinzip auch für den Gebrauch verschiedener Magnetophone gilt, deren
Laufgeschwindigkeiten praktisch nie genau übereinstimmen — wieviel mehr noch die
Benutzung komplizierter Apparate. F. A. Kuttner hat die Fehlerquellen, die z. B. bei der
Arbeit mit Tongeneratoren zu beachten sind, sehr anschaulich zusammengestellt: Der
stroboskopische Frequenzmesser. Die Musikforschung VI (1953) 235fr.
Transkription in der Musikethnologie
213
Abweichungswerte genau kennt und mathematisch exakt in Rechnung stellt. Einige
Aufzeichnungsverfahren registrieren außerdem vieles, was zum Verständnis der
musikalischen Gestalt nicht notwendig ist. Man muß also an einem solchen akusti-
schen Schwingungsbild die wesentlichen Faktoren von den unwesentlichen unter-
scheiden können bzw. unterscheiden lernen.18 Aber eben an dieser Stelle zeigt sich
auch, daß die elektroakustische Aufzeichnung kein eigentlicher Ersatz für die Tran-
skription und daß die Maschine kein Ersatz für den informierten und interpretie-
renden Menschen ist. B. Nettl19 bemerkt einleuchtend: “even with machine transcrip-
tion, the informed human interpreter must be available; conversely, even the best
human transcription can be improved by machines“, was wir so verstehen möchten:
jede noch so differenzierte und detaillierte Transkription (die ja nicht unbedingt
die „beste“ sein muß) kann von der Maschine überboten werden (jedenfalls in man-
cher Hinsicht, s. dazu unten S. 235 f.), aber auch (vor allem!) jede Maschinenauf-
zeichnung bedarf der verstehenden Interpretation durch den geschulten Menschen,
eines Menschen, der um die elektroakustischen wie um die musikalischen Probleme
und, im engeren Sinne, um die Transkriptionsprobleme weiß.
Durch die Elektroakustik sind unserer Disziplin eine Fülle neuer Aufgaben ge-
stellt. Die Probleme sind nicht gelöst, sondern auf eine neue Ebene gehoben, eine
Ebene allerdings, die bei zielbewußtem Fortschreiten bessere Ergebnisse verspricht
als unsere bisherige Ausgangsbasis. Die bisher auf diesem Gebiet geleistete, oft
entsagungsvolle Pionierarbeit hat die Entwicklung schon ein gutes Stück voran-
getrieben. Zunehmend werden die elektroakustischen Hilfsmittel bei der Untersu-
chung von sonst kaum lösbaren musikalischen Problemen eingesetzt.20 Das alles
darf jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, daß wir im Grunde noch am Anfang
stehen, ein Umstand, über den sich wohl niemand klarer ist als die Pioniere der Elek-
troakustik selbst.
In welchem Umfang diese Feststellung für das gesamte Transkriptionsproblem zu-
trifft, zeigte jüngst ein interessanter amerikanischer Versuch gelegentlich einer der
18 Das bedeutet, der Musikethnologe der Zukunft wird stets geeignete Fachleute zur
Seite haben müssen oder er muß eine entsprechende Ausbildung durchmachen. Diese seit
vielen Jahren für die Musikforschung allgemein (d. h. für alle Fachzweige, die die Elektro-
akustik nicht entbehren können) erhobene Forderung (vgl. u. a. H. Matzke in Archiv f.
Musikwiss. XI, 1954, 148ff.) kann heute nicht länger als unbillig angesehen werden. Tech-
nische Lehrbeiträge, wie z. B. die von T. G. Dyar in Ethnomusicology IV—VI (i960 —1962)
oder J. Polunin in Current Anthropology VI (1965), sind unter diesem Gesichtspunkt nur
zu begrüßen.
19 Theory and method in ethnomusicology, 103.
20 Zuletzt u. a. von D. Cohen und R. Torgovnik Katz, Explorations in the music of the
Samaritans: An illustration of the utility of graphic notation. Ethnomusicology IV (i960)
67 — 74; C. J. Ellis und B. Seyrnor, Pre-instrumental Scales. Ebda IX (1965) 126 —137;
D. Carmi-Cohen, An investigation into the tonal structure of the Maqamat. JIFMC XVI
(1964) 102 —106; D. Holy undO. Pokorny, Über die Anwendung der graphischen Dynamik-
und Rhythmusaufzeichnung bei der Untersuchung der Musikfolklore. Sbornik praci fil.
fak., Brno 1963, F 7, 107 —116; s. auch Holy in: JIFMC XV (1963) 65—72; W. Graf, Zur
Verwendung von Geräuschen in der außereuropäischen Musik. Jb. f. musikal. Volks- u.
Völkerkunde II (1966) 59 — 90.
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214 Doris Stockmann
letzten Jahresversammlungen der Society of Ethnomusicology.21 Mehrere renom-
mierte Musikethnologen, von denen jeder Transkriptionserfahrung besitzt, stellten
sich dafür zur Verfügung. Jeder bereitete Transkription und Analyse eines afrika-
nischen Musikbeispiels (Sologesang mit Musikbogenbegleitung) vor und schickte
sie dem Chairman der für diese Fragen vorgesehenen Sektion ein (Ch. Seeger), der
seinerseits die Notationen untereinander verglich und eine Art Korreferat oder
Resumé vorbereitete. In einer Sitzung wurden die Ergebnisse und Probleme beraten.
Dieses Experiment war in seinen Resultaten äußerst aufschlußreich, denn es zeigte,
welche Voraussetzungen bestehen müssen, um einen solchen Versuch möglichst er-
folgreich zu gestalten, und wieviele Fragen zu koordinieren sind, bevor man mit
vergleichbaren Ergebnissen rechnen kann. Hier war ein relativ schwieriges Beispiel
ausgesucht worden; die Transkription des Textes (die auch dann nicht unwichtig ist,
wenn überwiegend sinnlose Lautsilben benutzt werden) lag den Notatoren, denen die
Sprache durchweg unbekannt war, nicht vor; über die Notierung oder Nichtnotie-
rung der instrumentalen Obertöne war keine Absprache getroffen worden, ebenso-
wenig über die zu transkribierenden Teile, so daß am Ende nur ein paar Takte von
allen vier Aufzeichnern notiert Vorlagen usw. So wenig Greifbares dieses Experiment
auch erbrachte — wichtig scheint mir, daß überhaupt ein Anfang gemacht wurde.
Sicher wäre es von Nutzen, derartige Konfrontationen verschiedener Auffassungen
und Methoden öfter durchzuführen, sei es auf Kongressen oder bei anderen Ge-
legenheiten, möglichst unter gleichzeitiger Vorlage elektroakustischer Graphiken.
So müßte es nach und nach möglich sein, bei entsprechender Aktivierung auch der
theoretischen Diskussion, die subjektiven Faktoren bei der Transkription von den
objektiven scheiden und hinsichtlich der letzteren eine bessere Übereinstimmung
als bisher erzielen zu können.
II
Subjektivität und Objektivität sind in unserem Zusammenhang viel strapazierte
Schlagworte, wobei erstere gewöhnlich beklagt, letztere angestrebt wird, ohne daß
allerdings immer klar zum Ausdruck käme, um welchen Bereich von Subjektivität es
sich eigentlich handelt, den man reduziert oder gar ausgeschaltet wissen möchte,
bzw. in welcher Hinsicht man Objektivität erreichen will. Im ersten Fall meint man
teilweise lediglich individuell unterschiedliche Schreibweisen, teilweise auch die
Tatsache, daß unser Ohr in der Beurteilung akustischer Sachverhalte nicht ganz zu-
verlässig ist, teilweise wiederum Einflüsse verschiedener Anlagen- und Bildungs-
faktoren o. ä.
In der Tat ist unser Gehör nicht unfehlbar, ebensowenig wie alle anderen Sinnes-
organe. Ohne allzugroße Mühe könnte man ad hoc für jeden Bereich einige Beispiele
aufzählen. Von den beiden differenziertesten Sinnesorganen nun sagen die Psycho-
logen, daß das Auge im Vergleich mit dem Ohr unbestechlicher sei, dem jeweiligen
21 Siehe Ethnomusicology VIII (1964) 223 — 277, Symposium on transcription and ana-
lysis: A Hukwe song with musical bow (mit Beiträgen von N. M. England, R. Garfias,
M. Kolinski, G. List und W. Rhodes). Vgl. dazu die Rez. von N. Radulescu, die ebenfalls
eine Transkription des Beispiels bietet, in: Revista de Etnografii si Folclor X (Bucure§ti 1965)
II» rcfHiimiv
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Transkription in der Musikethnologie
215
Objekt der Wahrnehmung näher. Man spricht im Bereich der Sinnesfunktionen
von Bipolarität, von einem Subjekt- und einem Objektpol, womit die Gegenstands-
oder Ichbezogenheit einer Wahrnehmung bzw. Empfindung gemeint ist. Dabei loka-
lisiert man das Ohr näher am Subjektpol als das Auge, was u. a. besagen will, daß
„innere Leitbilder“ für das Hören eine größere Rolle spielen. Davon wird später
noch zu sprechen sein.
Die letztgenannte Tatsache ist im Hinblick auf die Musik und ihre besondere
Stellung innerhalb der Künste nicht ohne Bedeutung. In Verbindung mit zahlreichen
anderen Faktoren, die das Wesen des Musikalischen ausmachen, hat sie teil an der
Eigenart unseres Forschungsgegenstandes, die Handschin mit dem Begriff „Zwei-
Einheit“ umschreibt. Das will besagen: Musik repräsentiert in hohem Maße eine
Subjekt-Objekt-Beziehung, deren physikalisch-akustische Realschicht erst im Hin-
blick auf den Menschen sinnvoll, d. h. in vollem Umfang existent wird. Dem ge-
samten Phänomen Musik sind also gewisse Subjekt-Züge immanent, die nicht weniger
wirklich sind als die physikalisch-akustischen, nur daß sie eine andere Stufe der
Realität darstellen. Beide sind als absolut gleichwertig und gleichberechtigt anzu-
sehen. Die zweite Stufe der Realität, die menschliche oder Subjekt-Seite (die auch
Subjektives in der engeren Wortbedeutung einschließt), kann demnach weder be-
dauert, noch darf sie negiert werden. Um ihre Ausschaltung als Ganzes geht es bei
der Transkription also nicht, was bei der Anwendung und Einschätzung elektro-
akustischer Aufzeichnungsverfahren stets im Auge zu behalten ist.
Bei dem Bemühen, die Transkriptionsarbeit zu objektivieren, kann es sich nur dar-
um handeln, jene Teilmomente des Subjektiven zu reduzieren, die einerseits von
einem als allgemein menschlich anzusehenden Standard des Musikhörens (basierend
auf den normalen biologischen Hörfunktionen) abweichen, andererseits — und dies
vor allem — den jeweiligen historisch-sozial bedingten Normen einer Musikkultur
ungenügend Rechnung tragen. Dazu bedarf es einer differenzierten Betrachtung der
ganzen Frage; es ist aufzuzeigen, wo überall die Einflußsphären dieses individuell-
subjektiven Moments liegen und inwieweit sie ausschaltbar sind.
Vergegenwärtigt man sich den bei der Transkription vorliegenden Sachverhalt,
so sind im wesentlichen drei Bereiche oder Stufen zu unterscheiden:
i. Das klingende Dokument (die Schallquelle, der Sender, Expedient oder wie
man immer sagen will) als das physikalisch-akustische Resultat eines vorausgegangenen
(oder — bei Direktaufzeichnung — gleichzeitigen) psychophysischen Vorgangs.
Diese erste Stufe repräsentiert den Objekt-Bereich, wobei jedoch zu berücksich-
tigen ist, daß das klingende Dokument unter Beteiligung von Subjekt-Faktoren zu-
stande kam, indem ein oder mehrere Sänger bzw. Spieler es objektivierten — aus
einem traditionell gegebenen Material mit Hilfe bestimmter Werkzeuge (Stimme,
Instrument) und Techniken (Sing-, Spieltechnik) und unter Einfluß einer mehr oder
weniger konkreten Vorstellung von der Gestalt des zu realisierenden Einzelobjekts,
dessen Erscheinungsform durch individuelle Geschicklichkeit und Begabung seine
endgültige Beschaffenheit erhielt.22 Diese Objektivation ist wie gesagt rein physi-
22 Vgl. zu diesem Objektivations-Schema den in DJbfVk 1967 folgenden Bericht über
das vom Institut für deutsche Volkskunde veranstaltete Kolloquium „Der Vorgang des
Tradierens“.
216
Doris Stockmann
kalisch-akustischer Art; sie enthält Frequenzen und nicht Tonhöhen, Schallstärken
und nicht Lautheiten, ist also ein Korrelat der musikalischen Intentionen ihrer Ur-
heber.
2. Der Zuhörer oder Empfänger, in unserem Falle der Transkriptor, der die
akustischen Signale aufnimmt und seinerseits in physiologisch-psychologische Pro-
zesse verwandelt.
Diese zweite Stufe, die den Subjekt-Bereich repräsentiert, könnte man sich theore-
tisch nur aus Außen-, Mittel- und Innenohr, Nervenbahnen und Hörzentrum be-
stehend vorstellen und deshalb allein biologischen Hörgrenzen unterworfen. Prak-
tisch aber spielen eine Vielzahl von Beobachter-Variablen eine Rolle, einerseits die
Anlagen- und Begabungsseite, Hörschärfe, Unterschiedsempfindlichkeit usw.,
andererseits historisch-soziologisch bedingte Faktoren wie Hörgewohnheiten,
musikalische Bildung und Ausbildung. Und hier vor allem liegt der „subjektive“
Einflußbereich beim Transkribieren. Beim gewöhnlichen Hörvorgang überwiegen
im Hörzentrum allem Anschein nach integrierende Vorgänge, Prozesse, die die
physiologisch übermittelten Einzelsignale zu gestalthaften Eindrücken verschmelzen
— wobei es dahingestellt bleibe, inwieweit die im Objekt-Bereich intendierten Ge-
stalten mit den im Subjekt-Bereich wahrgenommenen zur Deckung gelangen. Für
den Transkriptor wäre dies der Idealfall. Aber damit allein wäre ihm noch nicht
geholfen. Er muß auch imstande sein, die Gestalt im Rahmen eines gegebenen
Schriftsystems so zur Darstellung zu bringen, daß ein anderer sie adäquat nachvoll-
ziehen kann.
3. Die Notierung, die schriftliche Fixierung des Wahrgenommenen, in deren
Verlauf der Transkriptor die psycho-physischen Prozesse in konkrete Details des
Notationssystems umzudenken hat.
Innerhalb dieser dritten Stufe, die man als wissenschaftliche Objektivation oder
Abstraktion des im Subjekt-Bereich Wahrgenommenen bezeichnen kann, muß der
Notator das integrierend Erfaßte, das ihm die Idee von der Sache vermittelt hat,
wieder in Bestandteile zerlegen — ich will nicht sagen „in seine Bestandteile“, weil
es im Verlaufe des Transformationsprozesses jeweils andersgeartete, wenngleich
korrelierende sind. Die Niederschrift der wahrgenommenen Tonhöhen und Ton-
dauern in Noten bestimmter Höhe und Länge gibt — trotz aller modifizierenden
Zusätze — natürlich nur ein unvollkommenes Abbild des Hörinhalts. Das liegt
einerseits an der Begrenztheit des Schriftsystems selbst, andererseits auch an der
Schwierigkeit, den komplexen psychophysischen Prozeß zum Notengebilde um-
zudenken. Trotzdem gibt die Notenschrift offenbar etwas sehr Entscheidendes wie-
der, sonst wäre ja z. B. die akustische Realisierung unbekannter Partituren gar nicht
möglich. Es ist gesagt worden, daß die Niederschrift in Form von Notenköpfen
eine recht dürftige Symbolisierung der akustischen Sprache darstellt. Das ist des-
halb irreführend, weil es sich niemals direkt um ein Abbild akustischer Phänomene
handelt, sondern immer um ein Abbild von Wahrnehmungs- oder Empfindungs-
größen. Und die Notenschrift hält eben gerade die Momente fest, die bei der Trans-
formation vom akustischen zum psychischen Vorgang eine Rolle spielen, indem sie
anzeigt, daß komplizierte Schwingungsverläufe, modulierte Frequenzbänder mit
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Transkription in der Musikethnologie 217
diffizilen Ein- und Ausschwingphasen, letzten Endes als „ein Ton“ bestimmter Höhe
und Klangfarbe wahrgenommen werden, eine Tatsache, die Leonhard Euler in
seinem Tentamen novae theoriae musicae (1739) als die „musikfördernde Unvoll-
kommenheit des Ohres“ bezeichnete.
Innerhalb der drei genannten, miteinander korrelierenden Stufen, von denen die
erste und zweite, der Objekt- und Subjektbereich, in ihrem Prinzip für die volle
Existenz einer musikalischen Erscheinung notwendig sind, haben wir noch der
elektroakustischen Graphik ihren Platz zuzuweisen. Sie steht zwischen der
ersten und zweiten Stufe unseres Schemas, klammert also das, was wir als Subjekt-
Bereich umschrieben haben, aus. Sie gibt den akustischen Sachverhalt wieder, und
nur diesen, also das physikalische Korrelat der ersten Stufe (zu dem ja auch eine
nichtphysikalische Vorstufe nötig war). Davon allerdings liefert sie ein objektives
Abbild, jedenfalls theoretisch. In der Praxis handelt es sich auch hier zumeist um
ein selektives, z. B. durch Herausfilterung oder Schwächung der Obertöne.
Wie dem auch sei, eine nutzbringende Einbeziehung solcher „Teilaufzeichnungen“
in unsere Arbeit bedeutet, daß wir die schriftliche Notierung an der elektroakustischen
Graphik zu überprüfen haben und umgekehrt. Eine vollgültige, d. h. unantastbare
Aufzeichnung musikalischer Erscheinungen — wie sie durch das Zusammenwirken
von Bereich 1 und 2 Zustandekommen — ist damit freilich noch nicht gewonnen,23
aber es ist doch ein Schritt auf dem Wege dorthin. Jedenfalls ist bei der Konfrontierung
von elektroakustischer Graphik und notenschriftlicher Fixierung die Relevanz der
verschiedenen Bereiche bzw. Aufzeichnungsstufen im Auge zu behalten. Es muß
Klarheit darüber bestehen, daß die Graphik einerseits vieles enthält, was der Notator
nicht aufnimmt, aber auch vieles, was vom Sänger bzw. Spieler nicht intendiert
war und was daher zum Verständnis des Ganzen nicht notwendig ist, zum anderen
aber, daß der Notator seinerseits auch vieles aufnimmt, was er im Notenbild nicht
wiedergeben kann. Worum es sich dabei im einzelnen handelt und welche Be-
deutung jedem Teilmoment zukommt, darüber kann nur ein genaues Studium der
verschiedenen Bereiche und ihrer Wechselbeziehungen Aufschluß geben; denn
letzten Endes kommt es beim Vergleich der beiden in Rede stehenden Aufzeichnungs-
formen auf eine sichere Beurteilung von Einzelheiten an. Dazu im folgenden einige
Bemerkungen.
A
Da die Struktur eines Höreindrucks oder Hörerlebnisses in gewissen gesetz-
mäßigen Beziehungen zu physiologischen und physikalischen Gegebenheiten steht,
ist es vielleicht nützlich, sich zunächst einige dieser Grundtatsachen menschlichen
Hörens, die ja auch die Voraussetzung für alles musikalische Hören bilden, kurz vor
Augen zu führen, um so mehr als die einschlägigen naturwissenschaftlichen Diszi-
plinen in den letzten Jahrzehnten einen beträchtlichen Erkenntniszuwachs gewonnen
23 Um zu ihr zu gelangen, müßten logischerweise ein visuelles Abbild des ersten Bereichs
(elektroakustische Aufzeichnung) und ein ähnlich geartetes Abbild des zweiten Bereichs (?,
jedenfalls kein Elektro-Enzephalogramm, aber doch etwas, das in dieser Richtung liegt)
zur Deckung gebracht werden.
218
Doris Stockmann
haben.24 Die Erfahrung hat gezeigt, daß zwischen den physikalischen Schallgrößen
(Frequenz, Schallstärke25 usw.) und ihrer Wahrnehmung (als Tonhöhen, Laut-
stärkeeindrücke26 usw.) keine strenge Proportionalität besteht, daß bei der Trans-
formation akustischer Reizgrößen in Perzeptionsgrößen gewisse „Verzerrungen“
stattfinden, die durch die Eigenart des Gehörs als (asymmetrisches) nichtlineares
System bedingt sind. Die verschiedenen Dimensionen, in die sich der Gesamt-
bereich der Hörwahrnehmungen aufgliedern läßt, Tonhöhe, Lautheit, Klangfarbe
usw., unterliegen eigentümlichen Gesetzen und zeigen untereinander mannigfache
Abhängigkeiten, die z. T. noch ungenügend geklärt sind.
Die objektiven Grenzen unseres Hörvermögens sind bekanntlich durch die aus Laut-
stärke und Frequenz resultierende Hörschwellenkurve und die sogenannte Fühlschwellen-
kurve (absolute Schwellen) gezogen.27 Innerhalb dieses Hörbereichs oder Hörfeldes gibt
es Bezirke verschiedener Wahrnehmungsbreite. Besonders günstig in seiner Mitte liegende
akustische Reize, wie die Sprache, werden naturgemäß differenzierter aufgenommen als
Reize, die an den Rändern auftreten. Beispielsweise nimmt man in den mittleren Lagen,
etwa in der eingestrichenen Oktave und ihrer näheren Umgebung, die Tonqualitäten28
24 Vgl. u. a. S. S. Stevens und H. Davis, Hearing, its psychology and physiology. New
York 1948; R. Feldtkeller und E. Zwicker, Das Ohr als Nachrichtenempfänger. Stuttgart
1956; E. G. Wever and M. Lawrence, Physiological acoustics. Princeton New Jersey 1954;
E. G. Wever, The physiological bases of musical hearing: Present States and problems of
research. Report of the 8. Congress of the International Musicological Society, New York
1961, Vol. I, 133 —138, Diskussion (Reporter: H.-P. Reinecke), ebda Vol. II, 93—96;
A. Wellek, Der gegenwärtige Stand der Musikpsychologie und ihre Bedeutung für die
historische Musikforschung. Ebda Vol. I, 121 —132, Vol. II, 88 — 92 (Reporter: G. Albers-
heim); H.-P. Reinecke, Über die Eigengesetzlichkeit des musikalischen Hörens und die
Grenzen der naturwissenschaftlichen Akustik. Musikalische Zeitfragen X (1962) 34—44;
H.-H. Dräger, Begriff des Tonkörpers. Archiv f. Musikwiss. IX (1952) 68 — 77; F- Winckel,
Die Grenzen der musikalischen Perzeption. EbdaXV (1958) 307 — 324; ders., Phänomene des
musikalischen Hörens. Berlin i960 (dazu: V. Rahlfs, Psychophysik und Musik, Die Musik-
forschung XIX, 1966, 190 —194, mit weiterer Literatur; auch H. Pfrogner, Ton und Klang,
Musikalische Zeitfragen IX, i960, 94—100); H.-P. Reinecke, Über den doppelten Sinn des
Lautheitsbegriffes beim musikalischen Hören. Diss. Hambg. 1953; ders., Experimentelle
Beiträge zur Psychologie des musikalischen Hörens. Hambg. 1964; vgl. auch die einschlä-
gigen Stichworte in MGG (Die Musik in Geschichte und Gegenwart, hg. von F. Blume,
Kassel 1949 ff.), besonders Akustik, Gehörphysiologie, Psychoakustik, Musik, Intervall,
Ton, Konsonanz-Dissonanz, Gehörpsychologie, Musikpsychologie, Musikästhetik.
25 Wobei der Schalldruck (Schallenergie pro Flächeneinheit, gemessen in dyn/cm2
— Mikrobar) die Schallintensität oder Schalleistung je Flächeneinheit bestimmt (= Schall-
druck X Schallschnelle bzw. Teilchengeschwindigkeit, gemessen in y.b cm/sec oder Watt/
cm2); die logarithmische Maßeinheit dafür ist Dezibel (Basis 10) oder Neper (Basis e).
26 Die Messung der vom Hörer empfundenen Lautstärke erfolgt traditionell (seit Bark-
hausen) in Phon; wegen gewisser Mängel dieser Methode führt man in neuerer Zeit auch
Lautheitsmessungen mit Hilfe der sone-Skala durch (s. u.).
27 In groben Abmessungen etwa 20 — 20000 Hertz und o—120 Phon, Grenzen, die indi-
viduell teils stärker (obere Frequenzgrenze ab ca. 16 Kilohertz), teils weniger stark vari-
ieren; so ermittelten Feldtkeller und Zwicker (75) als unteren Hörschwellenmittelwert eine
Lautstärke von 3 Phon (3-Phon-Kurve).
28 Tonigkeiten nach Hornbostel, Toncharaktere nach Handschin (obwohl sich diese Be-
griffe nicht völlig decken), womit einerseits das, was den Ton vom Geräusch unterscheidet,
andererseits das „eigentlich Musikalische“, das „systemliche Sein des Tones“ gemeint ist,
das — nicht an bestimmte Frequenzen gebunden — die Beziehungen von Tönen unterein-
Transkription in der Musikethnologie
219
besser wahr als in großer Höhe oder Tiefe. An den Rändern des musikalisch ausgenutzten
bzw. ausnutzbaren Frequenzbereiches29 tritt diese Komponente der Tonhöhe zugunsten
von reinen Helligkeitseindrücken und anderen nicht mehr im eigentlichen Sinne musikalischen
Empfindungen zurück.
Desgleichen sind die Tonhöhenunterschiedsschwellen im Mittelfeld des eben-
genannten Bereiches besonders fein. Theoretisch ist die Zahl der möglichen Höhenunter-
schiede im gesamten Frequenzgebiet unendlich groß, in der Realität aber gibt es Grenzen.
Hörphysiologen haben experimentell festgestellt, daß das Differenzierungsvermögen — eine
bestimmte Lautstärke vorausgesetzt — um 0,5% der jeweiligen Schwingungszahl beträgt,
was (zwischen ca. 400 und 2000 Hz) durchschnittlich 10 Cents, also V20 Ganzton ent-
spricht.30 Unter den angeführten Voraussetzungen beläuft sich die Zahl der unterscheid-
baren Tonhöhenschritte auf etwa 840-8 50.31 In der komplexen musikalischen Praxis aller-
dings muß man die Werte erheblich tiefer ansetzen.32 Aber auch was dann bleibt, ist noch
das Vielfache unserer heutigen Klaviertastatur, die durchschnittlich 84—88 Töne — also
nur 1/10 der angegebenen Stufenzahl — umfaßt.
Wie die bisher angeführten Beispiele zeigten, hängt die Art der Tonhöhenempfindung
von verschiedenen Faktoren ab. U. a. spielt es auch eine Rolle, ob Töne simultan oder
sukzessiv geboten und wahrgenommen werden. Der charakteristische Verlauf der in
Anm. 31 erwähnten „Frequenzskala der Tonhöhe“ deutet bereits an, daß das menschliche
Ohr in verwickelteren Dimensionen hört als es beispielsweise unser Notierungssystem an-
zeigt. Entsprechende Untersuchungen haben ergeben, daß oberhalb der schon erwähnten
Grenze von 500 Hz zwischen einer „harmonischen“ und einer „melodischen“ Tonhöhe
unterschieden wird. Da die erstere — durch die Oktavperiodizität bestimmt und proportional
zur Frequenz-Skala verlaufend33 — in der Anordnung unserer Notation wie auch in der
ander bestimmt (Oktavähnlichkeit, Quintverwandtschaft, Leittoncharakter usw.). Nach
Handschin bilden die Tonhöhe (als frequenzabhängiges Phänomen) und der Toncharakter
(u. a. von der Struktur der Frequenzverhältnisse, 1:2, 2:3 usw., aber auch von historischen
Gegebenheiten abhängig) die „zentralen“ Eigenschaften oder Aspekte des Tones, im Unter-
schied zu den „peripheren“ Eigenschaften, zu denen er Dauer, Intensität (Lautheit) und
Klangfarbe rechnet. Vgl. Der Toncharakter. Zürich 1948, u. a. 235 ff., und Hornbostel,
Psychologie der Gehörserscheinungen. Hdb. d. normalen u. pathol. Physiol. XI (Berlin
1926) 7iiff.; dazu Wiora, Der tonale Logos. Die Musikforschung IV (1951) 2ff.
29 Etwa 50 — 3500 Hz, unter Einbeziehung aller Obertöne bis ca. 12000 Hz.
30 Nach Feldtkeller und Zwicker (54f.) ist bei Lautstärken von 80 Phon oberhalb 500 Hz
eine relative Frequenzschwankungsbreite von 0,6% (Frequenzhub 0,3%) eben hörbar,
unterhalb 500 Hz eine absolute Schwankungsbreite von 3 Hz (Frequenzhub 1,5 Hz). Bei
30 Phon liegen die Werte höher. — Man findet in der Literatur auch andere Angaben (1/40
Ganzton, 0,2 % usw.), aber diese beruhen — falls sie nicht aus sehr speziellen Versuchs-
anordnungen resultieren (etwa aus Zweiklangversuchen, bei denen nicht mehr der Ton-
höhenunterschied selbst, sondern andere Faktoren, wie Schwebungen, die Unterscheidung
bewirken) — lediglich auf der Zugrundelegung des Frequenzhubs statt der Schwankungs-
breite.
31 Unterhalb 500 Hz etwa 170, oberhalb 500 Hz 670 Stufen (nach Feldtkeller-Zwicker).
Ordnet man diese Tonhöhenunterschiedsstufen den Abmessungen des Cortischen Organs
auf der Basilarmembran des Innenohres zu (nach Lage der Haupterregungsstellen), so er-
gibt sich eine „Frequenzskala der Tonhöhe“, die bis 500 Hz nahezu linear, oberhalb 500 Hz
etwa logarithmisch verläuft. (Bei Zugrundelegen des Frequenzhubs ist die Zahl der unter-
scheidbaren Tonhöhenstufen natürlich doppelt so hoch, also über 1500; aus dieser Zahl und
den möglichen Lautstärkeabstufungen hat man übrigens die Gesamtzahl der nach Frequenz
und Intensität variierenden Stufen auf 340000 geschätzt).
32 Vgl. u. a. F. Attneave, Informationstheorie in der Psychologie. Bern 1965.
33 In ihrer Reihe gleichabständiger Intervalle (Oktavreihe, Halbtonreihe usw.) geht die
Frequenz des nächsthöheren Tones immer aus der Frequenz des vorangehenden durch
220
Doris Stockmann
Klaviertastatur annähernd wiedergegeben ist, die zweite aber nicht, hat man diese auch
„subjektive“ Tonhöhe genannt. Sie beschreibt eben jene schon angedeutete komplizierte
Kurve, die zur Folge hat, daß ihre „Oktaveinteilung“ oberhalb 500 Hz zunehmend von der
normalen ab weicht.34
Noch einige weitere Erscheinungen seien wenigstens andeutungsweise erwähnt, so die
Rolle der Lautstärke beim Hörvorgang. Zwischen ihr und der Tonhöhe bestehen natür-
licherweise mannigfache Beziehungen, weil ein Ton ohne „Lautwerden“ gar nicht existiert
(ebensowenig wie eine Schwingung ohne ihre Amplitude, um dieses den physikalischen
Sachverhalt bei musikalischen Tönen stark vereinfachende Bild hier zu gebrauchen). Auch
Lautstärke und Klangfarbe stehen in gegenseitiger Relation. So klingen 16 unisono spielende
Streichinstrumente für den Zuhörer nicht i6mal so laut wie ein einzelnes; sie werden aber
als Vermehrung der Klangsubstanz und als Veränderung der Klangfarbe empfunden.
Überhaupt wird eine Änderung der Schallstärke nicht als gleich große, sondern als wesent-
lich schwächere Lautheitsänderung wahrgenommen, d. h. die physikalische Größe und deren
Erlebnis stimmen nicht überein. Diese Tatsache (wie überhaupt die Ungleichheit von Reiz
und Empfindung) war natürlich schon früh bekannt; aber das von E. H. Weber (1834)
auf Grund von Versuchen angenommene annähernd konstante Verhältnis zwischen beiden
Größen, das später (1850) von Fechner als logarithmische Entsprechung postuliert wurde,35
hat sich in der weiteren empirischen Forschung als lediglich approximativ erwiesen. Die
genannten Proportionen gelten meist nur in bestimmten Bereichen eines Reizkontinuums,
z. B. im Mittelfeld. Im Falle der Schallstärke nun wird die logarithmische Beziehung zu-
nächst durch die Dezibelskala veranschaulicht.36 Mit ihr stimmt die Phon-Skala aber nur
bei 1000 Hz überein (und im näheren Umkreis dieser Frequenz); im tieferen und höheren
Frequenzbereich weicht die Lautstärkeempfindung des Ohres teils stärker, teils weniger
stark vom Logarithmus der Schallstärke ab, wie der charakteristische Verlauf der „Kurven
gleicher Lautstärke“ im Hörfeld zeigt.37
Erweist sich schon hieran die gegenseitige Bedingtheit von Tonhöhe und Lautstärke, so
wird dies noch auf andere Weise durch ein interessantes Experiment bestätigt.38 Unterhalb
ca. 2000 Hz wurde beobachtet, daß die Tonhöhenempfindung bei demselben Sinuston mit
wachsender Schallstärke absinkt, während sie umgekehrt bei höheren Frequenzen (über
3000 Hz) unter sonst gleichen Bedingungen ansteigt, wobei Maximalunterschiede bis zu
einem Ganzton und darüber auftreten. Die Abweichungen von den theoretischen Normen
sind am größten bei den jeweils tiefsten und höchsten Tönen. Diese Erscheinung wurde,
wie gesagt, nur an obertonlosen Tönen registriert; aber sie zeigt ebenfalls an, daß sich die
Multiplikation mit einem festen Faktor hervor (für die Oktave ist dieser Faktor
12.—
also 2, für den temperierten Halbton \z).
34 Ihre Tonzahlen oder Stufen werden mit der mel-Skala erfaßt. Eine interessante Zu-
sammenstellung der für die harmonische und melodische Tonhöhe charakteristischen Skalen
(harmonische und melodische Oktavverteilung, mel-Skala, „Frequenzskala der Tonhöhe“,
840-Stufen-Skala) in Zuordnung zu den Abmessungen des Corti-Organs veröffentlichten
Feldtkeller-Zwicker, 60.
35 Wonach der arithmetischen Reihe der Empfindungen eine geometrische Reihe der
Reizgrößen zugrundeliegt oder, anders ausgedrückt, die Empfindungsstärke proportional
dem Logarithmus der Reizstärke wächst. Zur Frage des Geltungsbereiches des Fechnerschen
Gesetzes vgl. die Bemerkungen von Handschin, a. a. O. 115 f.
36 Gegenüber den in Zehnerpotenzen steigenden Schallintensitäts- bzw. Schalldruck-
maßen (in Watt/cm2 bzw. Mikrobar).
37 Das Experimentieren mit der Lautstärke-Skala führte zu der schon erwähnten sone-
Skala, die auf der Verdopplung bzw. Halbierung subjektiver Lautheitseindrücke beruht.
Mit ihrer Hilfe können einerseits die verwickelten Relationen zur Schallstärke besser auf-
gewiesen werden, andererseits zeigen sich, besonders durch die rein subjektive Messung,
auch Nachteile; die Untersuchungen sind noch nicht abgeschlossen.
38 Nach Stevens und Davis, a. a. O.
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Transkription in der Musikethnologie 221
meisten Hörphänomene nicht gleichmäßig über den ganzen Hörbereich erstrecken, sondern
— in vielfältige Abhängigkeiten verflochten — mehr oder weniger komplizierte Verlaufs-
kurven ergeben.
Über diese Fakten hinaus hat die Hörphysiologie an extrem einfachen Beispielen (wie
Sinustönen, isolierten Klängen, Mehrklängen und Klangpaaren) eine Reihe besonderer
Reaktionen des menschlichen Ohres beobachtet. So bilden sich bei Sinusschwingungen
als Folge nichtlinearer Verzerrungen sogenannte „subjektive“ oder Ohr partialtöne, bei
Mehrklängen Kombinationstöne (eine ähnliche, auf Verzerrungen oder Massenkopplung im
Innenohr beruhende Erscheinung), ferner Schwebungen, d. h. Intensitätsschwankungen,
und Phaseneinßuß (bei Überlagerung benachbarter Frequenzen, vgl. dazu auch das unten
über Frequenz- und Amplitudenmodulationen Gesagte) und schließlich die Phänomene
der Adaption (Anpassung im Hinblick auf Lautstärke, Klangfarbe) und Verdeckung. Letz-
teres ist die Auslöschung oder Beeinträchtigung eines Höreindrucks durch einen gleich-
zeitigen anderen; sie hat ihre Ursache in der gegenseitigen Beeinflussung der entsprechenden
Lymphschwingungen in der Cochlea des Innenohrs. Bei der Transkription von Ensemble-
musik und Mehrstimmigkeit jeder Art dürfte diese Erscheinung eine beträchtliche Rolle
spielen. Da die tiefen Töne die hohen mehr verdecken als umgekehrt, wovon besonders das
Gebiet zwischen 400 und 2000 Hz betroffen ist, erweisen sich tiefliegende laute Bordune
(wie sie z. B. für die vokale Mehrstimmigkeit Albaniens — oft in der kleinen Oktave —
charakteristisch sind) als ziemlich hörerschwerend. Im Falle solcher langandauernder lauter
Bordune wirken an der erschwerten Wahrnehmung der Klangstruktur allerdings auch noch
andere Erscheinungen mit, so die Lautstärkeminderung durch Adaption, Verstimmung be-
nachbarter Töne wie auch Empfindlichkeitserhöhung für kleinste Tonhöhe- und Laut-
stärkeschwankungen. 39
Einige der auf gezeigten Phänomene haben größere Auswirkungen auf die musikalische
Praxis als andere. Für die Musiktheorie sind alle von Bedeutung. In jüngster Zeit wurde
daher die eine oder andere Frage, sei es unter mehr praktischen oder mehr theoretischen Ge-
sichtspunkten, aufgegriffen und neu durchdacht.40 So befaßte sich H. H. Dräger41 mit den
Lautstärke-Tonhöhe-Experimenten von Stevens, vor allem aber mit der melodischen und
harmonischen Tonhöhe sowie der Konsonanz-,,Verstimmung“ in Abhängigkeit von der
Sukzession oder Simultaneität von Intervallen (wobei er u. a. auf die bekannte Tatsache
Bezug nimmt, daß in der Musikpraxis bei Tonfolgen zu pythagoräischen Werten tendiert
wird, bei Zusammenklängen aber zu natürlich-harmonischen)42 und erklärte die vom Ohr
tolerierten bzw. geforderten Abweichungen mit Hilfe der Natur von Prozessen. Damit sind
in erster Linie die im Hörorgan vor sich gehenden „inneren Prozesse“ gemeint, aber auch
die im akustischen (äußeren) Vorgang sebst liegenden. Da fonfolgen mehr Prozeßkompo-
nenten enthalten als Simultanklänge, wäre hieraus das in beiden Fällen verschiedene Ver-
halten des Ohres ableitbar.
Hiermit wird eine wichtige Größe, von der bislang kaum die Rede war, in die Betrach-
tung einbezogen: der Zeitfaktor. Über ihn und die Art seiner Verwertung bei der Per-
zeption ist heute noch sehr wenig bekannt, obgleich er die wesentliche Grundlage jeder
musikalischen Erscheinung bildet. Wir denken hierbei natürlich in erster Linie an die Ton-
länge bzw. -dauer, die zusammen mit Lautstärkefaktoren (Akzentuierung) in Rhythmus und
Metrum wirksam ist und sowohl akustisch als auch in der Perzeption als Quantitatives, als
39 Vgl. dazu im einzelnen F. Winckel, Phänomene des musikalischen Hörens 91 ff.
40 Vgl. u. a. den 1962 unter dem Titel „Die Natur der Musik als Problem der Wissenschaft“
erschienenen 10. Bd. der Reihe Musikalische Zeitfragen, mit Beiträgen von Albersheim,
Collaer, Dräger, Reinecke, Wiora u. a.
41 Die Verbindlichkeit der mathematischen Intervall-Definition, a. a. O. 27 —33.
42 Beispielsweise entweder die — aus der Quintfortschreitung des pythagoreischen
Systems gewonnene — Terz 64:81 oder die um ein syntonisches Komma kleinere natürlich-
harmonische Terz 4:5.
i iA/fiiN,HM mi liMi/AJIVN
222
Doris Stockmann
zeitliche Größe auftritt.43 Da es kein spezifisches Sinnesorgan zur Aufnahme und Beurtei-
lung von Zeitdauern gibt (vielleicht einer der Gründe, warum dieser Fragenkreis bisher
kaum untersucht ist), gestaltet sich eine wahrnehmungsbestimmte Zeitbewertung äußerst
schwierig. Daß dem Uhrzeitmaß in dieser Hinsicht sehr geringe Bedeutung zukommt,
resultiert aus der bekannten Erscheinung ganz verschieden lang wirkender Musikstücke
von objektiv gleicher Dauer. Als menschliche Maßnormen oder Richtwerte bieten sich einer-
seits das Gehtempo, das als mittlerer Wert zwischen Langsam und Schnell empfunden wird,
sowie Atemrhythmus und Pulsschlag an (letzterer bewies als integer valor in der mittel-
alterlichen Notation seine Bezugskraft), andererseits die für die menschliche Wahrnehmung
erforderliche kleinste Zeiteinheit. Sie scheint fast noch mehr als Atem, Gangart und Puls-
frequenz für die Orientierung zur Umwelt von Bedeutung zu sein. Dieser „menschliche
Moment“, die biologische Uhr, „Protoplasma-Uhr“, universelle Zeitkonstante oder wie man
das Phänomen immer nennen mag, liegt bei etwa 50 Millisekunden,44 ein Standard, der nicht
nur als untere Grenze für die Unterscheidung von Zeiten eine Rolle spielt, sondern auch
für andere sensorische und motorische Phänomene, z. B. als Reaktionszeitgrenze und Ver-
wischungsschwelle.45 Der genannte Wert weist natürlich eine gewisse Schwankungsbreite
auf, je nach den wahrzunehmenden Gegebenheiten;46 aber Reizeinheiten, die kürzer dauern,
vermitteln nicht mehr die volle Information, werden verwechselt oder integriert.47 Das gilt
für die Lautelemente der Sprache (Silben, Phoneme) wie für die Einzeltöne der Musik.
So wird als höchste Sprechgeschwindigkeit, die gerade noch eine Verständigung er-
möglicht — etwa in schneller Unterhaltung, 20 Silben pro Sekunde angegeben, für Normal-
sprache ein Durchschnittstempo von 5 Silben oder 12,5 Phonemen je Sekunde (was 200
bzw. 80 msec pro Lauteinheit entspricht). In der Musik finden sich ähnliche Werte:48
eine „Tonfolge im Sinne der melodischen Erkennung“ darf in den mittleren Lagen nicht
schneller als mit 12, „im Sinne des Effekts“ mit maximal 20 Tönen pro Sekunde wieder-
gegeben werden. Bei Kombinationen von verschieden hohen Tönen (im gleichen Bereich
und abhängig von der Lautstärke) ist eine Folge von 30 je Sekunde noch perzipierbar.
43 Akustisch ist der Zeitfaktor auch in Frequenzen (als Zahl der Schwingungen pro
Sekunde) enthalten, akustisch — aber nicht in der Wahrnehmung, die etwas qualitativ
anderes daraus entnimmt: „die Tonhöhe ... ist in bezug auf die Frequenz ein Ding ,sui
generis4“, wie Handschin, a. a. O. 115, sagt. Vgl. auch die knappen, aber sehr fruchtbaren
Gedanken dieses Autors zur Frage von Intensität und Dauer, zum Quantitativen und Quali-
tativen sowie zur Proportioniertheit a. a. O. 388ff.
44 Das gilt wie gesagt nur für den Menschen; bei Tieren sind die Werte andere (Schnecke
250 msec, einige Insekten 3—4 msec). Diese und die folgenden Angaben im wesentlichen
nach F. Winckel, Phänomene usw., 49ff., 68ff., sowie Die Grenzen usw., 314ff.; vgl. auch
„Musik“ und „Psychophysik“ in MGG.
45 Die Refraktärzeit (absolute refraktäre Phase der Ganglienzellen) liegt erheblich tiefer,
bei etwa 1 msec (der Gesamtvorgang der Nervenerregung — mit einer kurzen Folgeperiode
der übernormalen und einer längeren der unternormalen Erregbarkeit — nimmt bis zu
100 msec in Anspruch). Für Frequenzen über 1000 Hz vermutet man daher eine Arbeits-
teilung der Nervenfasern. — Mit der erwähnten Konstante von 50 msec wird manchmal
auch der sogenannte Alpha-Rhythmus des Gehirns in Zusammenhang gebracht (elektrische
Potentialschwankungen von 8 — 12 Schwingungen je Sekunde).
46 Intensität und Frequenz sind auch hier von Bedeutung. So wurden 50 msec für 100 Hz
ermittelt, 20 msec für 1000 Hz, 14 msec für 4000 Hz, was einem Spielraum zwischen 1/20
und 1/70 Sekunde gleichkommt.
47 Deshalb auch verschmelzen mehr als 20 Schwingungen pro Sek unde, also 20 Hz, zu
einer Tonempfindung, während Frequenzen unter 20 Hz getrennt, als Einzelimpulse wahr-
genommen werden.
48 Nach Winckel, a. a. O., der auch motorische Entsprechungswerte anführt (Klavier-
und Schreibmaschinenanschläge: maximal 12 je Sekunde) und die Zusammenhänge mit der
Abklingzeit der Empfindung (ca. 0,14 sec nach Bekesy), dem Dämpfungsfaktor und der
Nachhallzeit beleuchtet.
ri ir
JDV1U llfy.MWI ■ ■ HIIIMII
Transkription in der Musikethnologie 223
Allgemein kann in der Musik ein Wechsel der Lautereignisse von 1,5 bis 12 je Sekunde
angesetzt werden, meist findet er jedoch unter 100 msec statt, sei es, daß längere Töne
durch andere umspielt oder durch Intonationsschwankungen (z. B. Vibrato), Dynamik
(Crescendo, Diminuendo), Phrasierung u. ä. „gestört“ werden.
Durch all diese Faktoren wird der für die Perzeption nötige Reizwechseli9 gewährleistet.
Auch die sogenannten Ausgleichsvorgänge50 gehören hierher. Musik und Sprache erweisen
sich durch die ausgewogene Verteilung von Klang- und Geräuschfaktoren bzw. voka-
lischen und konsonantischen Elementen als eine dauernde Folge solcher Ausgleichsvor-
gänge, d. h. Änderungen des jeweiligen Schwingungszustandes, in denen aperiodische
(nichtstationäre) Vorgänge das stationäre Geschehen modifizieren. Deshalb erscheint ein
musikalischer Ton auch so gut wie niemals als diskrete, aus Grundfrequenz und Ober-
tönen bestehende periodische Schwingung (von der man in der Notenschrift hauptsächlich
den Tonhöhenwert festhält), sondern als Frequenzband von Schwingungen, unter denen
allerdings eine Trägerfrequenz hervortritt, die die Höhe und Lautstärke des wahrgenom-
menen Tons bestimmt.
Sehen wir uns in diesem Zusammenhang das Vibrato etwas näher an. Jeder Transkriptor
hat damit irgendwann einmal zu tun, und er wird dabei die Beobachtung machen, daß inner-
halb des Vibratotones Lautstärke- und Tonhöhenschwankungen zugleich auftreten oder
miteinander abwechseln, was für die Notierung gewisse Schwierigkeiten mit sich bringt.
Daß der Wechsel zudem nicht regelmäßig erfolgt, sondern im lebendigen An- und Abstieg,
wobei vorübergehende Abweichungen bis zu 1/2 Ton (und zwar nach beiden Seiten) er-
reicht werden können, weiß jeder, der sich einmal in ein Gesangsvibrato vertieft hat. Ur-
sache hierfür ist die Überlagerung bzw. Modulation einer Trägerfrequenz durch zusätzliche
Schwingungen, die unter bestimmten Bedingungen die besprochenen Schwankungen im
Höreindruck hervorrufen. Statistische Untersuchungen von Gesangs- und Geigenvibrati
haben ergeben,49 50 51 daß etwa 6 bis 7 Wechsel je Sekunde als optimal empfunden werden.52
Man hört dann eine annähernd eindeutige Tonhöhe mit Intensitätsschwankungen, während
schnellere Wechsel (bis 12/sec) die unangenehme Empfindung des Tremolo bewirken
(Wahrnehmung einer Tongruppe) und langsamere Wechsel (um 4/sec) die Tonhöhenände-
rung unangenehm deutlich werden lassen. Diese Beobachtung ist insgesamt, vor allem aber
hinsichtlich der bei verschiedener Wechselzahl auftretenden Wahrnehmung von Laut-
stärke- und Tonhöhenschwankungen interessant. Physikalisch wird bekanntlich zwischen
Amplituden- und Frequenzmodulation unterschieden,53 wobei die erstere unter bestimmten
Bedingungen Lautstärke-, die letztere Tonhöhenschwankungen verursacht. Entsprechend
ist — zumindest theoretisch bzw. unter Versuchsbedingungen — eine Unterscheidung zwi-
schen Frequenz- und Amplitudenvibrati möglich und auch gerechtfertigt. Obgleich schon
in den 20er Jahren interessante Untersuchungen zum Vibratophänomen bei Volks- und
Kunstsängern durchgeführt wurden (vgl. Anm. 51), wird die Frage, welche der beiden Modu-
lationsarten das unter normalen Bedingungen vorkommende Vibrato bewirken bzw. inwie-
weit alle beide an diesem Vorgang beteiligt sind, in der Literatur bis heute nicht ganz ein-
hellig und auch nicht immer eindeutig beantwortet. In erster Linie werden Frequenz-
modulationen dafür verantwortlich gemacht;54 die Beteiligung von Amplitudenmodula-
49 Eine streng periodische Schwingungsfolge würde — als Folge der Adaption — mit
zunehmender Dauer aus dem Bewußtsein entschwinden.
50 Die am Tonbeginn und -ende stattfindenden Ein- und Ausschwingvorgänge, die z. B.
für die Erkennung von Klangfarben wichtig sind.
51 Hier nach Winckel, Phänomene, 95 ff. (dort weitere Literatur); siehe auch Die Grenzen
usw., 315. Ausführlich behandeln das Vibrato auch schon C. E. Seashore und M. Metfessel,
Phonophotography in folk music, 4L, 10, 14, 132ff. u. ö.
52 Diese Zahl stimmt mit dem schon erwähnten, von Bekesy ermittelten Durchschnitts-
wert für die Wahrnehmung eines akustischen Ereignisses überein (0,14 sec), doch wird dieser
von verschiedenen Autoren unterschiedlich angegeben.
53 Konstante Frequenzen mit zeitlich schwankenden Amplituden bzw. umgekehrt.
54 Vgl. Feldtkeller-Zwicker, 44.
J*K1 UW/Kif/f f 1 in riilillftli!« V Hl I lA/fn if & V flVl/LTi.vNr
224 Doris Stockmann
tionen wird jedoch zugestanden,55 so daß das Vibrato, wie es im musikalischen Zusammen-
hang zutage tritt, wohl als Resultat beider auf gefaßt werden kann.56 Diese Interpretation
ist um so naheliegender, als in der Musikpraxis beide Modulationsarten kaum je völlig ge-
trennt auftreten dürften, obwohl natürlich der eine Sänger mehr in diese, der andere mehr
in jene Richtung tendieren kann.
Übrigens wird in der neueren Literatur verschiedentlich eingeräumt, daß die eigenartige
Wirkung des Vibratophänomens bis heute physikalisch nicht einwandfrei erklärt werden
kann. Immerhin geben die in Versuchsreihen ermittelten Werte interessante Aufschlüsse
über die Bedingungen, unter denen Frequenz- und Amplitudenmodulationen hörbar werden
(nach Feldtkeller-Zwicker): Je nach Charakter der modulierenden „Seitenschwingungen“
(d. h. dem Grad ihrer Abweichung von der Trägerfrequenz) lassen sich drei Wahrnehmungs-
qualitäten oder Bereiche unterscheiden: ein Bereich großer Empfindlichkeit gegenüber
Schwankungen, ein zweiter, in dem nur eine allgemeine Rauhigkeit perzipiert wird, und
ein dritter, wieder sehr empfindlicher Bereich, in dem sich die überlagernden Schwingungen
zu Obertonwahrnehmungen verselbständigen. Das gilt für Amplituden- wie für Frequenz-
modulationen. Im erstgenannten Bereich nun (bei einer Modulationsfrequenz um 4 Hz,
die ebenfalls für beide Modulationsarten charakteristisch ist) kann man in Abhängigkeit
von der Lautstärke die Hörschwellen für die verschiedenen Amplituden- bzw. Frequenz-
modulationen ermitteln.57 Unterhalb dieser Schwellen werden die Töne als Dauertöne
gehört, darüber als rhythmische Lautstärkeschwankungen bzw. als Tonhöhenschwankungen.
Wir können die Werte hier nicht im einzelnen aufführen; aber beim Vergleich von elektro-
akustischen Schallaufzeichnungen und notenschriftlichen Transkriptionen, die Vibrati
enthalten, wäre es nützlich, diese Schwellen zu kennen, um entsprechende Unterschiede
zwischen Schall- und Hörbild richtig beurteilen zu können.
Viele der vorstehend angeschnittenen Fragen, die wir nur skizzenhaft und in
Auswahl bieten konnten, sind noch nicht ausreichend untersucht; aber sie alle
wirken beim Hörvorgang mit, und gewisse „Fehlinterpretationen“ eines „objek-
tiven“ akustischen Tatbestandes durch unser Ohr finden teilweise in ihnen ihre Er-
klärung. Versuchen wir nochmals zusammenzufassen, welche Bedeutung ihnen für
das hier behandelte Problem zukommt. Zunächst muß eines klar gesagt werden:
im Hinblick auf das normale Musizieren und Musikhören spielen die rein biolo-
gischen Hörfunktionen des Menschen oder genauer die durch sie bewirkten Ver-
änderungen keine allzugroße Rolle. Sie gehören größtenteils in den Bereich der
„Intonations- oder Schwankungsbreite“ und liegen innerhalb jener Toleranzen,
die dem Ohr wie jedem anderen Sinnesorgan zuzugestehen sind.58 Beim Hören
zum Zwecke der Transkription liegt die Sache schon etwas anders.58a Da das ge-
naue Hinhören, das analytisch ausgerichtet ist, mehr von den genannten Phäno-
menen offenbart als das gewöhnliche Zuhören, kann dem Notator das Wissen um
die entsprechenden Zusammenhänge nur nützlich sein, besonders wenn es ihm auf
ein detailliertes Erfassen der musikalischen Erscheinung ankommt. Immerhin könnte
55 Vgl. Winckel, Phänomene, 97; dort, 101 und 116, auch die erwähnte Unterscheidung
zwischen Amplituden- und Frequenzvibrato.
56 Wie in MGG, Artikel „Akustik“, 239 (Lottermoser); vgl. auch schon Seashore,
a. a. O. 5.
57 Dabei ist für die Amplitudenmodulation der Modulationsgrad (das Verhältnis der
Schalldruckamplituden), für die Frequenzmodulation der Modulationsindex (das Verhältnis
des Frequenzhubs zur Modulationsfrequenz) entscheidend. Zu letzterem vgl. auch Anm. 30.
58 Vgl. dazu Handschin, 108 ff., 177 u. ö., und Wiora, Der tonale Logos. A. a. O. 26 f.
58a Das gilt namentlich bei gleichzeitiger Benutzung von Meßgeräten.
Cf 'Diimiiv
iWFMIH
Transkription in der Musikethnologie 225
man hier noch einwenden, daß es sich um die schriftliche Fixierung eines subjek-
tiven Eindrucks handelt und daß demzufolge das Gehör allein, samt seinen spezi-
fischen Eigenschaften und Urteilen, Richter über die Erscheinung sein und bleiben
soll — ohne Rücksicht auf den akustischen Sachverhalt; und in einem großen Pro-
zentsatz aller Transkriptionen, vor allem in denjenigen, die nur ein grobes Gerüst
wiedergeben, ist dies auch tatsächlich der Fall. Heißt das aber, daß wir uns die vor-
stehenden Seiten hätten sparen können? Ich glaube nicht. Es geht heute wie schon
gesagt nicht um die Transkription in Notenschrift allein, weder in diesem Aufsatz
noch überhaupt, sondern ebenso um die direkte visuelle Aufzeichnung der Schall-
ereignisse. Will man diese aber im Hinblick auf die Notierung sinnvoll auswerten und-
die schon mehrfach vorgeschlagene Konfrontation beider Aufzeichnungsmethoden
fruchtbar anwenden, wozu später noch einiges Einschränkende zu sagen ist, so
muß man u. a. auch über die akustisch-physiologischen und psychoakustischen Zu-
sammenhänge (und unsere bisherigen Ausführungen betrafen im wesentlichen
diese) so gut wie möglich informiert sein.
B
Werfen wir noch einen Blick auf die schwerer zugänglichen Seiten des Hör-
prozesses, die für das Transkriptionsproblem eine ebenso bedeutsame, wenn nicht
eine größere Rolle spielen als die bisher behandelten Erscheinungen. Der Gesamt-
vorgang musikalischen Hörens ist ja — außer durch die physiologischen Reaktionen
im Ohr und deren Weiterleitung an das zentrale Nervensystem59 — vor allem durch
eine Kette psychischer Reaktionen und Gegenreaktionen, Assoziationen und Disso-
ziationen bestimmt, die erst die Bewußtmachung des Gehörten und seine „Auffas-
sung“ (im doppelten Sinne) ermöglichen. Waren schon im physiologischen Bereich
vielerlei Abweichungen vorgekommen, wieviel mehr noch im weiteren Verlauf des
Hörprozesses und unter den wechselnden subjektiven Gegebenheiten, denen jeder
einzelne beim jeweiligen Hörvorgang ausgesetzt ist.
Während man — wie die vorstehenden Ausführungen andeuteten — über die
physiologischen Vorgänge in den verschiedenen Teilen des Ohres bereits ziemlich
gut unterrichtet ist, sich sogar in so kompliziert funktionierenden Gebilden wie dem
Cortischen Organ einigermaßen auskennt, weiß man von den weiteren Prozessen,
die sich im Gehirn abspielen und tiefer in Psyche und Persönlichkeit des einzelnen
hinabreichen, noch sehr wenig. Selbst der Transformations Vorgang zwischen
Innenohr und Hörzentrum ist bislang nicht völlig geklärt,60 wieviel weniger das,
59 Genauer gesagt: über die Hörnerven und das bulbäre System an bestimmte Teile des
Mittel- und Zwischenhirns und schließlich in die obere Schläfenwindung der Großhirn-
rinde, die sogenannte primäre Hörrinde (Hörzentrum). Vgl. dazu u. a. H. Husmann, Der
Aufbau der Gehörwahrnehmungen. Archiv f. Musikwiss. X (1953) 95 — 115 (mit zahlreichen
Literaturangaben; weitere bei H. Reinold, Zur Problematik des musikalischen Hörens,
ebda XI, 1954, 158 — 187; s. auch Artikel „Gehörphysiologie“ in MGG).
60 Zwar weiß man, daß die Luftschwingungen sich zunächst in andere mechanische Schwin-
gungsformen verwandeln (Knochenschwingungen im Mittelohr, Flüssigkeitsschwingungen
im Innenohr), aber ob im weiteren Verlauf elektrische oder chemische Vorgänge vorherr-
schen, ist umstritten. Wahrscheinlich handelt es sich um beides. So vermutet man, daß die
4 Volkskunde
SIAM.IWf/MOTmiTr/iI>ltlW4vrI f U/ftITOVU'W 1
4;
226 Doris Stockmann
was er auslöst. So sind die Vorstellungs- und Gedächtnisseite des Musikerlebnisses,
das spezifisch musikalische Denk-, Gefühls- und Einfühlungsvermögen, die ja nicht
vom Hörzentrum allein abhängen, bisher auch nur in ersten Ansätzen erforscht.
Bekanntlich ist dies das Arbeitsfeld der Gehör- und Musikpsychologie, Disziplinen, die
teilweise ineinander überfließen. Im allgemeinen befaßt sich die Gehörpsychologie — ebenso
wie die Hörphysiologie, nur unter anderen Aspekten — mit Einzelphänomenen (einfachen
Klängen, Mehrklängen, allenfalls Klangpaaren). Alle Sukzessivgestalten, überhaupt alles
eigentlich Gestalthafte, läßt sie außer Betracht, so z. B. die ganze komplizierte Welt des
Rhythmus (der Tonlängen- und Tonstärken Verhältnisse), ein Gebiet, das leider auch von
der Musikpsychologie, die sich ja ihrerseits mit den Musikgestalten zu beschäftigen hat,
bislang kaum untersucht worden ist. Gerade im Bereich der Rhythmusidentifikation und
Taktinterpretation aber hat man bei der Transkriptionsarbeit mit großen Schwierigkeiten
zu kämpfen. Die früher erwähnte biologische Zeitkonstante (als einer der wichtigsten Re-
präsentanten mikrozeitlicher Vorgänge) ist dafür nur sehr bedingt brauchbar, obwohl z. B.
das Tempo in der Musik, die Feinorganisation von Ornamenten, Vibrati usw. von ihr
abhängig sind. In den gröberen Strukturbereichen des Rhythmischen aber wird die Zeit-
empfindung — außer von der Dauer — von vielen zusätzlichen Komponenten bestimmt
(Akzentuierung durch Lautstärkewechsel, Tonhöhen verlauf, harmonisches Geschehen
u. dgl.), und für diese kombinierten Wahrnehmungen existiert keine verläßliche Maßnorm.
Immerhin bietet die Musikpsychologie, auch dort wo sie bereits in die Musikästhetik
übergeht, manchen brauchbaren Ansatzpunkt für das hier behandelte Problem; sie kann
uns für die Erkenntnis von Möglichkeiten und Grenzen der Objektivierung in der Tran-
skriptionsarbeit gewisse Hinweise liefern. Zwar werden, namentlich im phänomenologischen
Bereich der Musikpsychologie, in erster Linie die reinen Hörerfahrungen untersucht, das
Musikerlebnis und seine Wirkungen, und weniger das intellektuelle Erfassen, das bei der
Transkription notwenig ist. Aber bei diesen Untersuchungen sind eine Reihe von Verhal-
tensweisen beschrieben und einige nützliche Termini geschaffen worden, die auch geeignet
sind, auf unsere Fragen Licht zu werfen.61
So hat man z. B. versucht, das musikalische Zeiterlebnis zu analysieren62 und dabei
von der sogenannten Anschauungszeit (der gelebten, gewerteten, subjektiven Zeit im
Gegensatz zur physikalischen, objektiven Zeit) gesprochen und von ihrer Auffächerung in
Wahrnehmungszeit (etwa die Wahrnehmung eines Klanges), Erlebniszeit (Erlebnis einer
musikalischen' Phrase, eines Themas usw.) und Vorstellungszeit (die Vorstellung einer
Liedstrophe oder eines ganzen Liedes bzw. Musikstückes), wobei die letzte Stufe die höheren
Erfahrungs- und Denkprozesse umfaßt. Innerhalb dieser vier Zeitstufen nimmt die Be-
wußtseinsbreite mehr oder weniger kontinuierlich zu. Aufmerksamkeit und Einstellung
mehrfach transformierten Reizgrößen als elektrische Impulse im verzweigten Netz der
Hörnerven weitergeleitet und mit hormonal eingegebenen subjektiven Größen zur Perzep-
tion vorbereitet werden. Dabei wird das Hörbild in den aufeinanderfolgenden Wandler-
stufen abwechselnd zeitlich und örtlich erfaßt, bis es in der Hörrinde örtlich gespeichert und
möglicherweise das Gespeicherte mit Hilfe des Gedächtsnisses wieder zeitlich abgetastet
wird.
61 Vgl. die in Anm. 24 angeführten einschlägigen Arbeiten. Zur historisch-soziologischen
Bedingtheit des Hörens s. H. Besseler, Das musikalische Hören der Neuzeit. Berlin 1959;
Z. Lissa, Zur historischen Veränderlichkeit der musikalischen Apperzeption. In: Festschr.
Besseler, Leipzig 1961, 475—488.
62 Als Gesamtphänomen, ohne dabei auf die speziellen Probleme des Rhythmischen und
der Rhythmus-Erfassung einzugehen. Vgl. zu dieser Frage, außer den bereits genannten
Artikeln (besonders Musikästhetik 1019L), auch W. Wiora, Musik als Zeitkunst. Die Musik-
forschung X (1957) 15—28, und Z. Lissa, Musikalisches Hören in psychologischer Sicht.
Bericht über den 9. Internationalen Kongreß der IGMW, Salzburg 1964, Vol. 1, 11 —18,
Diskussion, Vol. II, 38 — 50; weitere Lit. in: Die Musikforschung XIX (1966) 193.
Transkription in der Musikethnologie
227
des Hörenden bestimmen, wie weit das akustische Gebilde über die Transformationsstufen
des Hörorgans ins Bewußtsein vordringt, welche Bezirke des Gehirns es erreicht. Beim
Transkriptionsvorgang müssen alle drei Zeitstufen durchlaufen werden. So bedarf ein wäh-
rend des Erklingens, also etwa im Rahmen der Wahrnehmungs- und Erlebniszeit, mitge-
schriebenes Stenogramm stets nachträglicher Korrekturen und Ergänzungen. Die ent-
scheidende Zeitstufe ist für den Transkriptor die letzte, in der nicht mehr die (besonders
für die erste Stufe charakteristische) gespannte Aufmerksamkeit im Vordergrund steht,
sondern Denkvorgänge und Erinnerungsvermögen. Sind z. B. Änderungen des Klang-
bildes zu beurteilen, etwa der Charakter eines bestimmten Portamento im Vergleich mit
einem früheren, so geschieht dies weniger direkt bei der Wahrnehmung einer der beiden
Phänomene, obwohl man das zumindest versuchen wird, als vor allem im Nachhinein durch
gedächtnismäßigen Vergleich. Natürlich ist eine solche mit zeitlichem Abstand vorge-
nommene Bewertung mit großen Unsicherheitsfaktoren behaftet, und schon aus diesem
Grunde empfiehlt es sich, beim Notieren die Differenzierung nicht zu weit zu treiben.63
Bei der Analyse des Zeiterlebnisses hat man u. a. auch darauf hingewiesen, daß die als
„Zeitgestalt“ zur Anschauung kommende musikalische Form zwischen den Grenzwerten
Prozeß und Gebilde liegt, womit nebenbei bemerkt die ureigenste Aufgabe des Transkrip-
tors vorformuliert wird, denn er hat den Prozeß zum Gebilde umzudenken und das letztere
schriftlich niederzulegen. Die früher erwähnte Aufeinanderfolge zeitlicher und örtlicher
Erfassung der akustischen Reizgrößen im physiologischen Übertragermechanismus (s.
Anm. 60) scheint das Ineinanderfließen räumlicher und zeitlicher Empfindungen zu be-
günstigen, wird doch die Gestalt als dynamisches Gefüge empfunden, das ein dynamisches
Raumgefühl, ja eine untrennbare Raum-Zeit-Einheit entstehen läßt.64
Wie das Raum-Zeit-Erlebnis so sind in ähnlicher Form auch die Erscheinungsweisen
der Melodie, der Akkordfolge und des mehrstimmigen Satzes untersucht worden. Obgleich
sich aus den einschlägigen Arbeiten — sowohl für die Transkription als auch für die nach-
folgende Analyse — gewisse Erkenntnisse gewinnen lassen,65 wollen wir auf diesbezügliche
Einzelheiten hier des Raumes wegen verzichten und statt dessen nochmals auf die vorhin
erwähnte Gestalthaftigkeit von Höreindrücken zurückgreifen. Um diesen Begriff kreist
das Bemühen der Gestalt- und Ganzheitspsychologie, die sich — jener seit der Antike ver-
tretenen These oder Erkenntnis zufolge, daß das Ganze mehr sei als die Summe seiner
Teile — die Erfassung des Erlebens in seiner Gesamtheit zum Ziel setzte. Einige ihrer wich-
tigsten Grundsätze besagen, daß jede Wahrnehmung in den Gesamtzustand unseres Er-
lebens eingebettet ist, (daß also keine konstante Beziehung zwischen Reiz und Empfindung
besteht), daß die wahrzunehmenden Gegebenheiten einer spontanen Tendenz zu gestalt-
hafter Organisation (Strukturierung) unterliegen,66 daß solche Strukturen oder Gestalten
63 Vgl. dazu Albanische Volksmusik 31 f.
64 Wir erinnern an das oben S. 221 f. über den Zeitfaktor Gesagte, z. B. sein Enthalten-
sein im Frequenzbegriff.
65 Mit dieser absichtlich einschränkenden Formulierung sei angedeutet, daß der hypothe-
tische Charakter, der psychologischen Erkenntnissen allgemein anhaftet, bei einer Aus-
wertung der einschlägigen Theorien natürlich immer in Rechnung zu stellen ist. In unserem
Fall, d. h. vom Standpunkt der Musikethnologie aus, ist u. a. zu bedenken, daß viele der hier
erwähnten Versuchsergebnisse an einem sehr beschränkten Personenkreis mit bestimmter
Bildung und bestimmten Voraussetzungen und auf Grund eines gleichfalls beschränkten
musikalischen Testmaterials gewonnen wurden. Die Einbeziehung von Versuchspersonen
mit ganz anderen Voraussetzungen ethnischer und kultureller Art und die Heranziehung von
Testmaterial anderer Beschaffenheit als es die europäische Kunstmusik bietet, würde manche
musikpsychologische Theorie ins Wanken bringen oder zumindest wesentliche Modifika-
tionen notwendig machen. Vgl. dazu auch H.-P. Reinecke, Über die Eigengesetzlichkeit des
musikalischen Hörens und die Grenzen der naturwissenschaftlichen Akustik. A. a. O. 36L
66 Oder wie W. Metzger (Psychologie, 1941, 217) formuliert: Die Inhalte unserer Wahr-
nehmung scheinen uns unmittelbar mit einem ,Ordnungsindex' behaftet (zitiert nach Wiora,
Üer tonale Logos, 26).
4*
kMif/zwf nMi vi'i riJiiHifiAuriH invtAiitfü
228 Doris Stockmann
als bedeutungsvoll, sinnträchtig erlebt werden, wobei unvollkommene Erscheinungen (z. B.
unsauber intonierte Intervalle) zu vollkommenen tendieren. Die Wahrnehmung von Ge-
stalten setzt keine Fähigkeiten analytischer Art (Aussonderung von Teilen oder Teil-
momenten) voraus; die Denkvorgänge oder deren Ergebnisse erscheinen in dieser Theorie
als plötzliche Umstrukturierungen.
Unter dieser Blickrichtung sind die musikpsychologischen Untersuchungen, von denen
im folgenden noch die Rede sein soll, zu sehen, besonders die Arbeiten A. Welleks.67
Unter dem Stichwort Gesetz der Parsimonie (hier Gesetz der einfachen Deutung) beschrieb
der genannte Autor den beim Hörerlebnis soundso oft stattfindenden Versuch, das Ge-
hörte in erprobte (d. h. bekannte) Ganzheiten oder Bezugssysteme einzugliedern. Die Viel-
deutigkeit des Wahrgenommenen (etwa im System der gleichschwebenden Temperatur, in
der ein Ton bestimmter Frequenz durch die enharmonische Verwechslung mehrere Bedeu-
tungen annehmen kann) verlangt eine deutende Tätigkeit des Hörzentrums. Hierbei gilt,
daß stets die einfachere, näherliegende Deutung als das Gegebene hingenommen wird,
solange man nicht gezwungen ist, davon abzugehen, d. h. solange man nicht vom weiteren
Verlauf eines anderen belehrt wird. Was das Einfache und Näherliegende ist, das ergibt
sich nur z. T. aus den Gesetzmäßigkeiten des musikalischen Materials; z. T. ist es durch
Tradition und Gewohnheit bedingt. Es kann denn auch durch Umgewöhnung bis zu einem
gewissen Grade beeinflußt werden. Demzufolge kann man sich in einen archaischen oder
exotischen Musikstil einleben, eine Tatsache, die für die Transkription fremder Mate-
rialien natürlich große Bedeutung besitzt. Nun weiß jeder Notator, daß Einleben und Ein-
hören im Bereich der Transkription Zauberworte sind; er weiß auch, daß er einem Metier
obliegt, in dem man praktisch nie auslernt; und schließlich ist er sich — jetzt einmal von
einem nicht schlechthin gültigen, aber doch recht häufigen Standpunkt aus gesehen — dar-
über im klaren, daß er seine allgemeine Hörerfahrung68 in erster Linie aus der europäischen
Kunstmusik bezieht, allenfalls noch aus Unterhaltungsmusik und Jazz, die er durch Kon-
zert, Rundfunk und Schallplatte konsumiert. Das sind Normen, die ihm eingeprägt sind und
die er nie ganz beiseite räumen wird. Es ist daher nur zu verständlich, daß alle der jeweiligen
Hörerfahrung nahestehende Stile besser nachgefühlt und richtiger aufgefaßt werden können
als fernerstehende, die der Gefahr des Zurechthörens in höherem Maße ausgesetzt sind.
Obgleich sich wie gesagt ein musikalisch veranlagter Mensch mit differenziertem Hör-
vermögen bis zu einem gewissen Grade in einen ungewohnten Musikstil einleben kann,
wird er die Vertrautheit, die der Einheimische, mit einer Musiktradition Aufgewachsene,
besitzt, auch bei längerem Studium nur selten erwerben. Dazu ist es notwendig, in die be-
treffende Musikkultur nicht nur hörend, sondern lange und intensiv mittuend, mitlebend
einzudringen. Denn „nicht allein das ,Ohr‘ hört, sondern der ganze Mensch nimmt wahr,
und zwar unter Einbeziehung der durch Tradition, Bildung, soziales Umfeld usw. erwor-
benen wertenden Stereotype“.681 Das ist sicher die wichtigste Seite beim Verstehen von
Musik. Doch spielen natürlich auch andere Faktoren eine Rolle, so Veranlagung und
Begabung, verschiedene Musikalitätstypen (im Sinne von Wahrnehmungs- und
Erlebnistypen).
Bei der Untersuchung dieser Fragen hat die Musikpsychologie u. a. herauszufinden ver-
sucht, welche Veranlagungsseiten häufig gekoppelt auftreten, welche Erscheinungen übbar
oder gar erlernbar sind und welche nicht. So sind z. B. Sonderbegabungen wie das absolute
67 Eine Zusammenfassung seiner Theorien in den Artikeln „Musikpsychologie“ und
„Gehörpsychologie“ in MGG. Zu den Grenzen der Gestaltpsychologie siehe u. a. H. Gold-
schmidt, Musikalische Gestalt und Intonation. Beiträge zur Musikwiss. V (1963) 283 — 290;
vgl. auch R. Kluge, Definition der Begriffe Gestalt und Intonation. Ebda VI (1964) 85 — 100.
68 Hierzu ist auch die Gehörbildung zu rechnen, wie sie an Konservatorien und Musik-
hochschulen (auf der Grundlage der Kunstmusik der letzten Jahrhunderte und allenfalls
einem deren Normen angenäherten Ausschnitt aus der einheimischen Volksmusik) be-
trieben wird; sie bildet ja nicht selten die erste Grundlage für späteres Notieren.
68a H.-P. Reinecke, Artikel „Ton“. MGG, Bd. XIII, 507.
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Transkription in der Musikethnologie 229
Gehör, also die „Fähigkeit der permanenten Erinnerung an absolute Tonhöhen“,69 erb-
bedingt und demzufolge nicht erlernbar und auch nur sehr bedingt verbesserungsfähig,70
während das relative Gehör, auch Intervall- oder Harmoniegehör genannt und zu den nor-
malen Begabungsformen gehörend, vor allem eine Sache der Übung ist. Die Unterschieds-
empfindlichkeit für Tonhöhen, die — wie früher erwähnt — unter entsprechenden Bedin-
gungen erstaunlich fein sein kann, ist individuell verschieden und ihre Übbarkeit ist — leider
—recht begrenzt.71
Sowohl beim Absoluthörer wie beim Relativhörer hat man im wesentlichen zwei Typen der
Musikbegabung unterschieden: den zyklischen oder polaren Typ (mehr im Sinne der Ton-
verwandtschaft empfindend) und den linearen Typ (mehr im Sinne der Tondistanz emp-
findend). An diese allgemein anerkannte Unterscheidung hat Wellek auf Grund von Beob-
achtungen einige Überlegungen geknüpft, die allerdings — besonders in ihren, hier nicht
Zur Debatte stehenden Schlußfolgerungen — nicht unangefochten geblieben sind. So sei
beim Linearhörer die Helligkeitenkomponente der Tonhöhe72 im Erleben stärker ausge-
prägt; ihm erscheinen demzufolge die Halbtöne verwandter als die Zweiklänge mit dem
höchsten Verschmelzungsgrad. Er sei klangfarbenunabhängiger, feinschwelliger, neige zu
detailmäßig-analytischer, desintegrierender Auffassung. Man spricht ihm deshalb eine sichere
Urteilsfähigkeit zu. Der zyklische Typ erlebe dagegen die Tonigkeitenkomponente der Ton-
höhe intensiver; Zweiklänge mit hohem Verschmelzungsgrad wie Quinten und Quarten
erscheinen ihm verwandter als kleine Distanzen. Er sei klangfarbenabhängiger, grob-
schwelliger, neige zu farbenreicher, aber umrißarmer Vorstellung und zu synthetisch-
ganzheitlicher, integrierender Auffassung.73 Die rhythmische Begabung beider Typen
wurde bisher kaum untersucht; doch vermutet Wellek, daß der Zykliker zu rhythmischer
Begabung ohne Taktfestigkeit neige und demzufolge den Rubato-Stil bevorzuge.
Eine solche feste Zuordnung hat natürlich durchaus ihre problematischen Seiten. Faßt
man jedoch die aufgezählten Wahrnehmungseigenschaften nicht als feststehend und vor
allem nicht als fixe Kombinationen auf, sondern als Tendenzen, in die eine musikalische
Veranlagung gerichtet sein kann, so läßt sich damit durchaus operieren. In der Praxis kom-
men ja Mischformen sehr viel häufiger vor als die reinen Typen, die die Psychologie unter
verschiedensten Gesichtspunkten auf gestellt hat,74 zumal dort, wo fehlende Anlagen durch
69 Wie Handschin (237) es definiert, nach ihm (301) eine nicht eigentlich musikalische
Eigenschaft. Dieses Dauergedächtnis für absolute Tonhöhen kann auf ein bestimmtes Fre-
quenzgebiet beschränkt bzw. an bestimmte Klangfarben gebunden sein; teilweise handelt
es sich nur um das Eingeprägtsein einzelner Tonhöhen (bevorzugt in der eingestrichenen
Oktave und innerhalb der Töne der weißen Klaviertasten); Voraussetzung ist auch das
Eingehörtsein in die betreffende Stimmung. Vgl. die als Ganzes interessanten Ausführungen
Handschins zu dieser Frage (306 ff.), die u. a. eine Auseinandersetzung mit den Theorien
Welleks, dem Hauptvertreter der musiktypologischen Forschung in Deutschland, bringen.
70 Abgesehen von dem bei Handschin (im Anschluß an H. Schole, Tonpsychologie und
Musikästhetik) erwähnten Sonderfall, wonach die Erkennung absoluter Tonhöhen unter
Anknüpfung an die Vokalähnlichkeit (wie sie vor allem Sinustönen eigen ist) erworben
werden kann (a. a. O. 308).
71 Sie ist ohnedies bei Simultanklängen größer als bei Tonfolgen, bei obertonreichen
Klängen größer als bei einfachen Tönen, bei vollkommenen Konsonanzen größer als bei
unvollkommenen und Dissonanzen und bei Akkorden größer als bei Zweiklängen.
72 Vgl. dazu oben S. 218 f.
73 Beispielsweise falle dem zyklischen Absoluthörer die Bestimmung der Oktavlage
schwerer als dem linearen Absoluthörer. Doch ist auch dieser der Oktavverwechslung
in ziemlich hohem Maße ausgesetzt, was aber z. T. außerhalb des hier erörterten Fragen-
kreises liegende Gründe hat. Vgl. dazu ebenfalls Handschin (39!., 237, 308) über die „Kon-
fusion zwischen Tonhöhe und Klangfarbe“ („logische“ und „impressive“ Tonhöhe).
74 Demgegenüber führten die neuerdings erprobten interpersonalen Ähnlichkeitskorrela-
tionen mit Hilfe der Faktorenanalyse (P. Hofstätter u. a.) zu einem neuen Ansatz in der
Typenlehre.
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230 Doris Stockmann
bewußtes Training kompensiert worden sind. Es ist daher nach wie vor eine aktuelle Auf-
gabe, die beträchtlichen Unterschiede zu untersuchen, die zwischen musikalisch veranlagten
und gehörsbegabten Menschen bestehen können und denen zufolge die individuellen Vor-
aussetzungen für Aufgaben wie die Transkription unterschiedlich angesetzt werden müssen.75
Für den Volksmusiktranskriptor jedenfalls ist es ziemlich wichtig, seine eigenen Anlagen
und Hörtendenzen genau zu kennen, sie bei jeder neuen Aufgabe in Rechnung zu stellen,
immer wieder zu überprüfen (etwa die Fehlertendenzen bei Ermüdung) und — soweit mög-
lich — zu verbessern.
III
Im Verlauf unseres Exkurses in die Gehör- und Musikpsychologie sind eine ganze
Reihe von Gründen angeführt worden, die erklären können, warum sich eine ge-
wisse Subjektivität bei der Erfassung akustischer Tatbestände (wie auch musika-
lischer Intentionen) nicht vermeiden läßt, warum z. B. die vier Transkriptionen des
oben erwähnten afrikanischen Musikbogenbeispiels voneinander abweichen bzw.
warum Bartök dasselbe Lied anders notiert hat als Kodäly. Doch haben wir noch
mit keinem Wort die Probleme der Niederschrift erwähnt, die gleichfalls genug
Möglichkeiten subjektiver Einflußnahme bietet, je differenzierter sie gehandhabt
wird, um so mehr (wenngleich keineswegs schwerwiegender als bei vereinfachter
Notation). In Anbetracht dieser Sachlage kann man es nur beklagen, daß der beim
jeweiligen Hören auftretende Bewußtseinsinhalt sich nicht ohne weiteres nach außen
niederschlägt, sondern daß der Notator das Bewußtgewordene im Hinblick auf das
Notierungssystem „zurechtzudenken“ hat. Nun geschieht ja das Bewußtwerden
meist schon mit dem Leitbild des Notierungssystems oder auch der Klaviertastatur
im Hintergrund (was für manche Art von Musik bekanntlich gar nicht so vorteil-
haft ist). Doch bleiben oft noch eine Anzahl „ungelöster Reste“ übrig, musika-
lische Erscheinungen oder Teilerscheinungen, die sich nicht ohne weiteres einordnen
lassen und die dann — möglichst auf die schreibtechnisch geschickteste Art — irgend-
wie unterzubringen, zu fixieren sind. Und gerade hierbei ist immer subjektives Er-
messen im Spiel; gerade hier spiegelt sich die individuelle Schwankungsbreite der
Notierung besonders augenfällig: in der Art und Weise, wie der einzelne diese nicht
auf Anhieb einzuordnenden Reste mit den unvollkommenen Mitteln der Noten-
schrift festhält.
75 Ein Absoluthörer z. B. wird ein Stück in jedem Fall lieber in der originalen Tonhöhe
notieren, auch wenn dies unbequeme Akzidentienvorzeichnungen erfordert, das Schreiben
bzw. Lesen erschwert und später — für Vergleichszwecke, in Editionen, Katalogen
usw. — u. U. eine Umschrift in einen vorzeichnungsarmen Modus notwendig macht.
Es wäre sogar unklug, wenn er gegen seine Sonderveranlagung handeln würde, denn damit
kämen unnötige Schwierigkeiten und Fehlerquellen ins Spiel. Umgekehrt wäre der Relativ-
hörer nicht gut beraten, wollte er diesem Beispiel folgen, denn er kann mühelos sofort in
einem entsprechenden Transpositionsmodus notieren (natürlich unter Vermerkung der
originalen Tonhöhe — um in diesem Punkt keine Mißverständnisse auf kommen zu lassen).
Warum übrigens der vorzeichnungsarme oder vorzeichnungslose Modus für Volksmusik-
transkriptionen in jedem Falle vorzuziehen ist, hat Handschin (304!.), damit über die halben
Zugeständnisse der UNESCO-Recommendations (8) hinausgehend, nochmals überzeugend
begründet; siehe schon früher W. Wiora, Die Aufzeichnung usw., a. a. O. 83 f. (dort auch
über die teilweise erforderliche Wahrung des Helligkeitsbereiches) sowie M. Schneider,
Geschichte der Mehrstimmigkeit, Berlin 1934, besonders die Musikbeispiele.
Transkription in der Musikethnologie
231
Man braucht nur an die — trotz aller Richtlinien und Empfehlungen — im kon-
kreten Einzelfall so vielfältigen Möglichkeiten der Tonhöhendifferenzierung, der
Tondauer- und Rhythmusnotierung, der Taktstrichsetzung, Temposchreibung usw.
zu denken, an die verschiedenen Bezeichnungsmöglichkeiten von Besonderheiten
des Vortragsstils (mehr oder weniger modifizierte Darstellung von Intensitätsmerk-
malen, von Ornamenten, Vibrati, Portamenti76 usw.), schließlich auch an so selbst-
verständlich und klar erscheinende Dinge wie Schlüssel-, Akzidentien- und Takt-
vorzeichnung, Transpositionsmodus, Notenwertwahl u. ä., um sich klar zu machen,
daß hier vielerlei Ebenen für individuelle Unterschiede, von rein orthographischen
bis zu Gehalt und Gestalt berührenden Abweichungen, gegeben sind.
Auf all diese Fragen, die fruchtbar zu erörtern konkrete Beispiele und ein eigener
Artikel nötig wären, wollen wir hier nicht eingehen.77 In unserem Zusammenhang
sei das Notierungssystem, seine Mängel und Vorteile, nur kurz und unter einem
bestimmten Blickwinkel beleuchtet. Es ist bekannt, daß die europäische Notenschrift,
wie sie sich seit dem 17. Jahrhundert herausgebildet hat, als Resultat einer langen
geschichtlichen Entwicklung mit mancherlei Unzulänglichkeiten behaftet ist, daß
es sich dabei um ein vornehmlich an den Tasteninstrumenten entwickeltes Notie-
rungsverfahren handelt, verbunden mit dem entsprechenden Tonsystem, das in der
gleichschwebenden Temperatur gipfelte. Es ist auch bekannt, daß seine auf Wert-
verdopplung bzw. -halbierung basierende Notenlängenschreibung — als die ein-
fachste und insofern „natürlichste“ Teilungsmöglichkeit — auf Grund bestimmter
musikhistorischer Gegebenheiten (zeitweilige Vorzugsstellung des Geradtaktes) ent-
stand und daß sich demzufolge die Notierung von Dreiergruppierungen in dieser
Schrift immer etwas schwerfällig ausnimmt, sei es, daß man Triolen schreiben oder
kompliziertere Taktarten, deren Bedeutung im einzelnen festgelegt wurde (etwa
sechs Achtel als zweischlägiger Dreiergruppentakt) vorzeichnen muß. Es versteht
sich von selbst, daß man mit dieser Schrift vor allem solche Musikarten angemessen
notieren kann, die den in ihr liegenden Normen nahestehen, und daß umgekehrt auf
anderen Tonsystemen oder anderen rhythmisch-metrischen Gegebenheiten ba-
sierende Musikstile damit nicht so sinnfällig dargestellt werden können, daß hier
umständliche Schreibweisen und Zusatzzeichen nötig sind, um dieses Anderssein
auszudrücken, wodurch leicht der Eindruck erweckt wird, es handle sich um Ab-
weichungen von etwas Normalem.
Trotz all dieser Mängel hat sich die europäische Notenschrift als vielseitiger und
anschaulicher erwiesen als alle übrigen Notierungssysteme, eine Tatsache, die nicht
nur daraus hervorgeht, daß sie sich seit rund 450 Jahren — trotz mancherlei Schwan-
kungen und Wandlungen — in ihrem Grundprinzip gehalten hat, sondern auch aus
dem Umstand, daß sie in vielen fremden Kulturgebieten Fuß fassen konnte. Das alles
bestätigt ihre hohe Qualität und Brauchbarkeit, aber es beweist nicht, daß sie in
ihrem jetzigen Zustand verharren müsse. Im Gegenteil, sie wird — wie bisher —
76 Vgl. z. B. die Modifikationen der Glissando-Schreibung in Bartoks Maramures-
Monographie, XXXI; dazu unsere Bemerkungen in Albanische Volksmusik I, 31 f.
77 Wir verweisen vorläufig auf die einschlägigen Äußerungen in unserer ebenzitierten
Veröffentlichung sowie im voraus auf die in Anm. 2 genannte Arbeit.
232
Doris Stockmann
Wandlungen unterworfen sein.78 Wieweit künftige Modifikationen gehen werden,
ob es sich dabei im wesentlichen um Erweiterungen und Differenzierungen der Dar-
stellungsmittel handeln wird (also um neue Zusatzzeichen, Zusatzworte, Noten-
zeichen und Schreibanordnungen) oder um tiefergreifende Reformen, bleibt ab-
zuwarten. In der Vergangenheit haben sich allzu radikale Reformvorschläge, so
zweckmäßig und sinnfällig sie auf den ersten Blick auch scheinen mochten, be-
zeichnenderweise nicht durchsetzen können.79 Die Musikethnologie wird immerhin
gut daran tun, sich entsprechenden Neuerungen nicht von vornherein zu verschlie-
ßen, sondern alle für ihre Zwecke in Frage kommenden Vorschläge zu prüfen und
— sofern sie wirklich eine Verbesserung der bisherigen Möglichkeiten bedeuten —
auch zu akzeptieren.
Bisher ist man bei der Transkription jedenfalls auf diese Weise verfahren. Immer
dort, wo es sich als praktisch und sinnvoll erwies, haben sich die Notatoren aus der
Kunstmusiknotierung kommende Anregungen zum Vorbild dienen lassen (soweit
sie nicht von vornherein in beiden Bereichen tätig waren wie Bartök, Kodaly u. a.,
die die Brauchbarkeit notatorischer Differenzierungsmittel hier und da praktisch
erprobt haben). Es sei z. B. daran erinnert, daß Symbole wie Notenstiele ohne Kopf
(die wir bei der Volksmusiknotierung für Laute von hörbarer Dauer, aber ohne feste
Tonhöhe verwenden), ferner die Ersetzung des Notenkopfes durch Kreuze oder
hohle Rhomben (die wir für halbgesprochene, gerufene oder andere tonhöhenmäßig
nicht genau fixierte Laute, z. B. für Gluckslaute benutzen) auch in Werken von
Humperdinck, Schreker, Schönberg, Berg u. a., ja schon in alten Melodramschriften
zu finden sind, wo sie die fixierten oder nicht fixierten Tonhöhen der Sprechstimme
bezeichnen.
78 In Anbetracht der etwas unkontrollierten Entwicklung in der Kunstmusiknotierung
der letzten beiden Jahrzehnte, die zu manchmal mehr graphisch originellen als notations-
technisch interessanten Lösungen führte („Musikgraphik“, „Entwurfsschriften“, die musika-
lische Vorstellungen gleichsam in Bildern geronnen enthalten und mit ausführlichsten
Spielanweisungen versehen sein müssen, um das fehlende logische Bezugssystem wett-
zumachen und über allgemeine subjektive Eindrücke hinaus verstehbar und einigermaßen
realisierbar zu sein), hat die Internationale Gesellschaft für Musikwissenschaft jetzt einen
Vorschlag akzeptiert, demzufolge eine internationale Einigung über „die feinere Notation“
herbeigeführt werden soll (Bildung eines Sachverständigen-Komitees, das Empfehlungen
ausarbeiten soll); s. Communiqué Nr. 21 der IGMW, 4. — Vgl. zu dieser Frage auch E. Kar-
koschka, Das Schriftbild der Neuen Musik, Celle 1966, sowie den Artikel „Notation“ in
MGG.
79 So hat man sich auf zu weitgehende Vereinfachungen (wie sie z. B. der Verzicht auf eine
der beiden Alterationsrichtungen oder gar die vollständige Eliminierung der Akzidentien
bzw. ihre Einverleibung in den Notenkopf darstellt) nicht eingelassen, ebensowenig auf
eine prinzipielle Änderung des Liniensystems (etwa die Acht-Linien-Schrift von J. M.
Hauer). Letzteres schließt nicht aus, daß man für gewisse Zwecke die Norm der fünf Linien
auch verläßt, so in Einliniennotierungen für einzelne feste Tonstufen oder nicht fixierte
Tonhöhen der Sing- und Sprechstimme oder bestimmter Instrumente (vgl. auch die Zwei-
liniennotierung für den südslawischen Epengesang mit Guslebegleitung bei W. Wünsch,
Die Geigentechnik der südslawischen Guslaren. Brünn 1934, 35 ff.). Zu diesen bestimmten
Gegebenheiten angepaßten, aber die Norm nicht in Frage stellenden Lösungen wäre auch
der Vorschlag von Abraham und Hornbostel zu rechnen, für Mikrotonstufen nach Bedarf
dünnere Zwischenlinien zwischen die normalen zu schieben.
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Transkription in der Musikethnologie 233
In Fragen der Tonhöhendifferenzierung dagegen ist die Volksmusiktranskription
überwiegend eigene Wege gegangen, weil es sich hier — in der Mehrzahl der Fälle —
weniger um feste und genau definierbare Mikrotonstufen handelt als um irrationale
Schwankungen. So hat man sich statt der präzisen Viertel- und Sechsteltonakziden-
tien von A. Haba in der Regel lieber des einfachen Abweichungspfeils bedient oder
anderer diakritischer Zeichen, die Spielraum gewährten.793
Auch in der Tonlängen- und Rhythmusnotierung sowie der Temposchreibung spielen
solche von der Kunstmusiknotierung abweichenden Praktiken eine Rolle, besonders
bei geringfügigen irrationalen Schwankungen der Zeitwerte, die mit Hilfe nach
unten bzw. oben geöffneter Halbkreise über der betreffenden Note oder Pause und
davon abgeleiteten Zeichen (bei Noten- oder Pausengruppen) dargestellt werden.
Andererseits gibt es auch hier Parallelen. So hat man sich im Zuge der fortschreiten-
den Differenzierung der rhythmisch-metrischen Grundwerte in Kunst- wie Volks-
musiknotierung derselben Methode bedient, indem man von der Grundstruktur ab-
weichende Tongruppen — nach dem Prinzip der Triolenschreibung verfahrend —
durch Angabe ihres Gesamtwertes innerhalb der laufenden Notation (z. B. n = 12
bzw. 11 =izj^ oder auch 11 = I ) bezeichnete. Ähnliches gilt für gewisse Verfahren
zur Notierung von Tempobeschleunigungen oder Verlangsamungen (z. B. durch mit
Pfeilen verbundene Metronomzahlen).
Die Beispiele ließen sich beliebig vermehren, sowohl was die Übereinstimmungen
als auch was die Unterschiede betrifft, wobei letztere vor allem mit der Frage der
Notierung als „Vorschrift“ oder als „Nachschrift“ Zusammenhängen.80 Wir sind
auf die Relationen zwischen Volks- und Kunstmusiknotierung hier vor allem deshalb
eingegangen, weil es sich für den Transkriptor immer gelohnt hat und — angesichts
der erwähnten jüngsten Entwicklungstendenzen — unter Umständen auch weiter-
hin lohnt, Kunstmusikpartituren auf ihre Darstellungs- und Ausdrucksmittel hin
zu studieren. Daß wir damit die Eigenständigkeit und die eigene Problematik unseres
Arbeitsfeldes nicht in Frage stellen wollen, brauchen wir nach allem bisher Gesagten
kaum zu versichern. In welcher klassischen oder modernen Partitur auch wollte sich
ein Volksmusiknotator Anregungen bzw. Auskunft über die Notierung — sagen
wir, um ein beliebiges Beispiel zu nehmen — jener auftaktähnlichen Gebilde
holen, wie sie etwa in der Vokalmusik des Balkans in verschiedenster Form Vor-
kommen, sei es als „Flüsterauftakte“ oder als mehr oder weniger ausgesponnene
(meist labil strukturierte, auf Interpolationssilben gesungene) „Vortakte“.81 Und
trotzdem ist es immer wieder lohnend zu prüfen, wie beispielsweise irgendeine
komplizierte, vom Hören her bereits gut bekannte Stelle in einem Beethovenschen
oder Bartökschen Streichquartett (oder auch in einem Stück von Penderecki oder
79a Vgl. aber z. B. Saygun, a. a. O. 3U., der den Häbaschen Akzidentien verwandte Zei-
chen für Abweichungen um syntonische und pythagoreische Kommata u. ä. Mikrointervalle
benutzt.
80 Dazu W. Wiora, Schrift und Tradition als Quellen der Musikgeschichte. Bericht über
den Internationalen Musikwissenschaftlichen Kongreß Bamberg 1953, i6if. Vgl. auch Ch.
Seeger, Prescriptive and descriptive music-writing. The Musical Quarterly XLIV (1958)
184—195.
81 Vgl. Bartök, Maramure?, XVI; Stockmann, Albanische Volksmusik 39f.
234 Doris Stockmann
Boulez), die man sich selbst auf eine bestimmte Weise notiert vorstellt, vom Kom-
ponisten tatsächlich geschrieben ist, wie etwa die jeweiligen Probleme der Rhythmus-
notierung und Taktstrichsetzung gelöst wurden. Daß hierbei mancherlei Über-
raschungen möglich sind, wird niemanden verwundern.
Eindeutige Notierung ist ja nicht nur für den Transkriptor, sondern auch für den
Komponisten ein Problem. Dennoch ist der letztere als der Yorschreibende, der
etwas notiert, was erst erklingen soll — um nochmals auf die vorhin berührte Frage
Vorschrift-Nachschrift zurückzukommen —, in einer effektiv besseren Lage als der
Protokollant. Das ließe sich an vielerlei Einzelbeispielen belegen. Wir wollen hier
nur eines heraus greifen, die Verwendung des Balkens bei der Notierung von rezi-
tativischem und Parlandogesang. In der älteren Kunstmusiknotierung war es be-
kanntlich üblich, die in einem Takt oder einer rhythmischen Einheit zusammen-
gehörigen Töne nur dann durch Balken zu verbinden, wenn sie auf eine Silbe zu
singen waren. Wurden mehrere Silben gesungen, schrieb man Einzelnoten, wie aus
jedem Bachschen Vokalwerk und jedem Liedband Schuberts zu ersehen ist. Davon
sind die modernen Komponisten zum Teil abgegangen, offenbar weil sie ihre teil-
weise komplizierten rhythmischen Figuren durch die Zusammenfassung mit Hilfe
des Balkens übersichtlicher und leichter verständlich machen wollten; und das ist
ein durchaus legitimes Vorgehen, denn die Auffassung des Komponisten als des
Schöpfers einer musikalischen Gestalt ist maßgebend. In der Volksmusik-Notierung,
in die diese Praxis teilweise Eingang gefunden hat (z. B. in viele ungarische Edi-
tionen), ist der Transkriptor nicht Urheber, sondern nur Interpret von Gestalten.
Die Gefahr einer Fehlinterpretation ist also immer im Bereich des Möglichen,
namentlich in komplizierten Taktarten und bei nicht taktmäßigen Melodien. Aber
gerade hier ist es am ehesten wünschenswert, dem Leser leicht überschaubare Ein-
heiten zu bieten.82
In dem eben geschilderten Dilemma befindet sich der Transkriptor ziemlich oft,
je detaillierter er notiert, um so häufiger. Doch kann auch der mehr gerüsthaft
Transkribierende in derlei Konflikte geraten. Das Problem, einerseits Protokollant sein
zu müssen, andererseits wenigstens ein Abbild gestalthafter Intentionen vermitteln
zu wollen, ist mit der vieldiskutierten (wenngleich meines Wissens nicht so be-
zeichneten) Frage Gerüst- und Detailtranskription eng verknüpft.83 Daß
diese beiden Aufzeichnungsarten, je nach Beschaffenheit der Aufgabe, die sie er-
füllen sollen,84 ihre Berechtigung haben, steht außer Zweifel. Nur muß man bei der
82 Für und wider die Balkenfrage wäre noch manches zu sagen, dagegen z. B., daß durch
generelle Balkenschreibung im rein bildlichen Eindruck die Unterschiede zwischen rezitati-
visch-parlandohaften und ligaturenreichen bzw. melismatischen Singstilen verwischt werden,
ferner, daß zusätzliche, das Notenbild stark belastende, Bindebögen geschrieben werden
müssen, um die durch den Text gegebene Gliederung sichtbar zu machen.
83 Synthetische und analytische Transkription, auch andere Begriffe werden in gleichem
oder doch ähnlichem Sinne gebraucht.
84 So verbieten sich Detail-Notierungen für Volksmusik-Kataloge und Archive wegen
der Fülle des zu bearbeitenden Materials z. T. von selbst; aber auch unabhängig von diesem
äußerlichen Gesichtspunkt sind vereinfachte, leicht überschaubare Niederschriften, die nur
die strukturell wichtigen Merkmale zeigen, hier nützlicher. Ebenso ist diese Form der No-
tierung für praktische, der Volksmusikpflege dienende Editionen, die als Vorschrift für den
Nachvollzug brauchbar sein müssen, geeigneter.
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Transkription in der Musikethnologie 235
gerüsthaften Transkription unterscheiden, ob es sich um eine Simplizität handelt,
die von der diffizilen Struktur ihres Objekts nichts weiß (so wie Anfänger Melodien
notieren), oder ob es sozusagen eine zweite Simplizität ist, die der Notator nach reif-
licher Prüfung eines differenzierten und reichhaltigen Notationsbildes85 als das
eigentlich Essentielle herausgeschält hat. Es versteht sich von selbst, daß man — sei
es im Transnotationsverfahren oder direkt — eine um so zutreffendere Gerüst-
transkription hersteilen kann, je genauer man die Details kennt, weil man erst dann
in der Lage ist, die strukturellen und auch die stilistischen Merkmale in ihrer Be-
deutung gegeneinander abzuwägen. Daß dies im konkreten Einzelfall sehr schwierig
sein kann, ist eine andere Frage. Immerhin hat Bartök, der selbst zu einer differen-
zierten und deshalb schwer lesbaren Aufzeichnungsweise neigte, in seiner schon
erwähnten letzten Publikation den doppelten Weg von Detail- und Gerüsttranskrip-
tion beschritten, indem er die letztere zeilenweise im Petitdruck unter die erste legte.
Die eine dient der schnellen Orientierung und dem Überblick, die andere den Einzel-
heiten; die schematische Darstellung kann man nachsingen, die detaillierte nur ver-
stehend nachvollziehen. Es ist ein Versuch, neben der Gestalt die Gestaltung, neben
der Struktur den Charakter, neben dem Sinn den Stil jedes Liedes deutlich zu
machen. Meines Wissens ist dieser Versuch bislang unwiederholt geblieben, jeden-
falls in Form einer Edition. Inwieweit hier ein gangbarer Weg für die Zukunft liegt
(oder etwa in einer Verbindung beider Transkriptionsformen, der goldenen Mitte
der Bartökschen Extreme) oder ob nicht vielmehr eine andere Lösung gesucht
werden muß, ist vorläufig noch nicht genügend klargestellt, wenngleich mancher
Musikethnologe diese Frage für sich bereits entschieden haben mag bzw. definitiv
entschieden hat. Angesichts der Überbelastung des Notenbildes in manchen Detail-
transkriptionen, sind die einzelnen Wege, von denen der eine uns noch zu beschäf-
tigen hat (unten S. 237ff.), jedenfalls sorgfältig zu prüfen.
Die Probleme, die uns die Detailtranskription eingebracht hat, könnten leicht
dazu führen, sie prinzipiell in Mißkredit zu bringen. Aber alle Probleme, mögen sie
im einzelnen auch noch so schwierig zu lösen sein, ändern nichts an dem Umstand,
daß detaillierte Notationen bis zu einem gewissen Grade möglich und daß sie not-
wendig sind. Man kann die Tatsache, daß jeder Vortrag eines Volkssängers oder
-Spielers sehr viel mehr enthält, als man ihm beim einmaligen Anhören ablauschen
kann, und daß das durch die Tonaufnahme ermöglichte wiederholte Anhören davon
manches enthüllt, nicht einfach ignorieren. Auch ist nicht in Abrede zu stellen, daß
die mehr ins Detail gehende Notation effektiv ein sehr viel zutreffenderes Bild vom
Gesamthabitus und von den Stileigentümlichkeiten eines Stückes bietet — trotz der
Begrenztheit des menschlichen Wahrnehmungsvermögens und trotz der Begrenzt-
heit des Notensystems, in dem diese Wahrnehmungen schriftlich niedergelegt
werden. Eines möchten wir hier auf Grund unserer Ausführungen in Abschnitt II
jedoch ausdrücklich feststellen:
Die Notation soll und kann kein Abbild des akustischen Sachverhaltes geben,
wie manchmal behauptet wird; dazu ist weder das Ohr in der Lage noch unser
traditionelles Schriftsystem geeignet; für diesen Zweck haben wir ja die elektro-
85 Oder eines entsprechend vielschichtigen Hörinhalts.
236
Doris Stockmann
akustische Aufzeichnung. Auch die Detailtranskription kann immer nur ein
Wahrnehmungsbild vermitteln, ein Wahrnehmungsbild allerdings, das den aku-
stischen Sachverhalten und damit dem elektroakustischen Schallbild um so näher
rückt, je mehr technische Hilfsmittel, angefangen von Stimmgabel und Metronom
bis hin zu komplizierteren Apparaturen, bei seiner Realisierung eingesetzt werden.
Und nur unter diesem Gesichtswinkel, nämlich im Sinne größtmöglicher Aus-
nutzung von Hilfsmitteln, könnte man allenfalls von einer „Verbesserung“ der
Detailtranskription durch das Schallbild sprechen, wobei aber eben außer acht
gelassen ist, daß die Wahrnehmungsseite in letzterem fehlt und mithin auch nicht
verbessert werden kann.
Wie weit man bei der Detailtranskription sinnvollerweise geht oder zu gehen hat,
ist eine durchaus diskutierenswerte Frage, deren Beantwortung von mehreren
Faktoren, in erster Linie von der jeweiligen Aufgabe abhängt. Ob man z. B. die von
Z. Estreicher an Bororo- und Eskimogesängen entwickelte, äußerst verfeinerte
Methode anwendet86 oder irgendeine andere,87 muß in Relation zum jeweiligen
konkreten Arbeitsziel stehen und im Hinblick auf die zur Verfügung stehende Zeit,
die Kräftezahl und die Hilfsmittel entschieden werden. Eine Edition verlangt andere
Methoden als ein Einzelbeispiel, an dem Besonderheiten eines Musikstils ganz
detailliert aufgezeigt werden können wie es Estreicher in bisher wohl kaum über-
botener Form getan hat. In dieser Hinsicht ist B. Nettls Bemerkung (Theory and
method in ethnomusicology, 1 x 1) „Estreichers techniques are probably similar to those
of most ethnomusicologists“ etwas übertrieben. So viele Vorbereitungs- und No-
tationsstufen, letztere in zahlreichen diffizilen Graphiken niedergelegt, werden nor-
malerweise die wenigsten durchlaufen, nicht sosehr weil der Flor-, sondern vor
86 Beschrieben in der schon erwähnten Arbeit Une technique de transcription usw. Die
Materialvorbereitung umfaßt z. B. die Herstellung zweier Arbeitstonbänder, für normale
und auf die Hälfte reduzierte Geschwindigkeit, auf denen in Sekundenabständen fort-
laufend numerierte Markierungen eingezeichnet und in bestimmten zeitlichen Abständen
Tonhöhensignale aufgespielt werden; für die Niederschrift selbst wird ein speziell präpa-
riertes Millimeterpapier benutzt. Wenngleich es auch bei dieser Arbeitsweise „limites de
l’exactitude“ gibt, wie ein Kapitel von Estreichers Publikation lehrt, so bieten die Notie-
rungen doch ein Höchstmaß an protokollarischer Genauigkeit. Vgl. die Beispiele in: Le
rhythme des Peuls Bororo. Les Colloques de Wégimont, Ethnomusicologie III, Paris-
Liège 1964, 185—228.
87 Erwähnt seien außer Bartöks (besonders vielseitig in den Serbocroatian folk songs
beschriebenen) Methode u. a. S. Baud-Bovy (vor allem Études sur la chanson cleftique,
Athen 1958, aber auch andere seiner griechischen Editionen), Y. Grimaud (Notes sur la
musique des Bochiman comparée a celle des Pygmées Babinga. Cambridge/Mass.-Paris o. J.
[nach 1956]; vgl. über das gleiche Thema auch: Les Colloques de Wégimont, Ethnomusi-
cologie II, Paris-Liège i960, 104—126, sowie ebda III, 1964, 171 — 183), E. Emsheimer (in:
The music of the Mongols. Stockholm 1943), nicht zuletzt die von Z. Kodâly und seiner
Gruppe (B. Rajeczky, P. Jârdânyi, L. Vargyas, L. Kiss, G. Kerényi, B. Sârosi, I. Olsvai
u. a.) vorgelegten zahlreichen Ausgaben, zuletzt den eindrucksvollen Totenklagen-Band der
Reihe Corpus Musicae Popularis Hungaricae (Vol. V, Budapest 1966) von Kiss und Rajeczky,
und z. B. die interessanten Instrumentalnotationen von Sârosi im Handbuch der euro-
päischen Volksmusikinstrumente, Lieferung „Ungarn“ (im Druck); vgl. auch unseren
eigenen Versuch in Albanische Volksmusik (z. B. Zeitstoppmethode für nichttaktmäßige
Melodien).
9 f'&Wlf
Transkription in der Musikethnologie
237
allem weil der Schreibvorgang viel zu zeitraubend ist.88 Andererseits wird kaum
jemand die erste Schreibfassung auch als die letzte ansehen; drei bis vier, in schwie-
rigen Fällen (z. B. Mehrstimmigkeit) auch ein paar mehr Niederschriften, die wie
bei Estreicher verschiedene Seiten des Erklingenden festzuhalten versuchen, dürften
die meisten anfertigen, ehe sie bereit sind, die Transkription aus der Hand zu geben.
Somit dürfte die Richtung des eingeschlagenen Weges in den meisten Fällen die
gleiche sein.
Hat die Detailtranskription ihre Probleme, so doch ohne Zweifel auch die Gerüst-
transkription, die wie gesagt, sowohl ein anfängliches als auch ein höheres Stadium
der Notationsarbeit spiegeln kann. Richtig verstanden soll sie die Summe oder besser
das Wesentliche einer musikalischen Erscheinung ausdrücken.89 Die dafür notwendige
Unterscheidung zwischen strukturbedingten bzw. stileigentümlichen Merkmalen,
also Wesensmerkmalen, und akzessorischen Elementen ist ihr Hauptproblem. Solche
Unterscheidung zwischen wesentlich und unwesentlich ist auch der Detailnotation
nicht fremd, nur geht es dort weniger um die Hauptkriterien als um die Einzel-
heiten, bei denen ja gleichfalls zwischen strukturbedingten bzw. stileigentümlichen
Details und rein vortragsbedingt-zufälligen Momenten einer Aufnahme zu unter-
scheiden ist. Inwieweit auch die letzteren festzuhalten sind, darüber gehen die Mei-
nungen auseinander. Bartök z. B. war ein strikter Gegner unangebrachter Genauig-
keit, und im Hinblick darauf, daß in der Tat oft eine falsche Akribie an den Tag
gelegt wird — auch noch in anderem Sinne als hier zur Debatte steht,90 ist diese
Einstellung sicher berechtigt. Andererseits — und das nehmen die Vertreter der
anderen Seite, ebenfalls mit einer gewissen Berechtigung, für sich in Anspruch —
läßt sich der Unterschied zwischen wesentlichen und unwesentlichen Details oder,
von der Gerüsttranskription aus gesehen, zwischen Grundmerkmalen und zusätz-
lichen Charakteristika nicht immer ohne weiteres feststellen, vor allem solange man
einen Musikstil nicht sehr genau kennt. Und bekanntlich ist man sehr oft gezwungen
zu transkribieren, ehe dies der Fall ist. Sogar wenn man vertiefte Kenntnisse be-
sitzt, sind noch Irrtümer möglich; doch werden mit dem Anwachsen der Ver-
gleichsbasis, die in der Tat eines der wichtigsten „Hilfsmittel“ jeder Transkriptions-
arbeit darstellt, die Gefahren der Fehlinterpretation zunehmend geringer.
Worum es bei Gerüst- wie Detailtranskription geht, ist, die für einen Musikstil kon-
stitutiven Elemente herauszufinden.. Um in dieser ziemlich schwierig zu klären-
den Frage weiterzukommen, hat man neuerdings versucht, gewisse Theorien und
Methoden der Sprachwissenschaft bzw. angrenzenden Disziplinen für die musika-
lische Analyse nutzbar zu machen. Da auch die Musik ein Sprachsystem im weitesten
88 Estreicher selbst gab im Gespräch Wochen bis Monate an für die Fertigstellung eines
Beispiels nach dem in Une technique de transcription beschriebenen Stufenverfahren (vgl.
bes. 2 2 f.), und die Endresultate dieser Notations weise machen das mehr als wahrscheinlich.
89 Diese Aufgabe hat auch die synthetische Transnotation, die z. B. für Kataloge
den musikalischen Durchschnittswert von mehreren variierenden Strophen in nuce wieder-
gibt.
90 Indem z. B. manchmal Zierfiguren, die auch bei Reduzierung der Geschwindigkeit
nicht exakt wahrnehmbar sind, weder bezüglich der Tonhöhen noch der Zeitwerte, nichts-
destoweniger „übergenau“, d. h. mit scheinbarer Genauigkeit notiert werden.
238 Doris Stockmann
Sinne der Kommunikation darstellt, da ihr Informationsgehalte91 und redundante
(„überschüssige“) Komponenten ebenso eigentümlich sind wie der Wortsprache,
kann man ihre Elemente oder Zeichen quantitativ (im Sinne der Informations-
theorie) erfassen, wobei man zunächst zweckmäßigerweise syntaktische Fragen,
d. h. die Beziehungen der Zeichen untereinander, in den Vordergrund stellt.92 Wie
weit man später neben der strukturellen auch die semantische und pragmatische
Seite, also die Relationen zwischen Zeichen und Bezeichnetem (Bedeutung, Sinn-
gehalt) bzw. zwischen Zeichen und Benutzer, in die Betrachtung einbeziehen kann,
d. h. wie weit die Musik ein solches Vorgehen überhaupt ermöglicht, ist vorläufig
noch eine offene Frage.
Bei aller Ähnlichkeit zwischen Sprache und Musik und den vielfältigen Beziehun-
gen, die zwischen beiden bestehen,93 ist die Anwendung solcher Begriffe wie „Be-
deutung“ oder auch „Kommunikation“ auf musikalische Phänomene doch mit er-
heblich größeren Unsicherheitsfaktoren behaftet. Was man in der Sprachforschung
als exolinguistische Bezüge bezeichnet hat, d. h. das Verknüpftsein sprachlicher
Erscheinungen mit außersprachlichen Objekten, Handlungen usw., ist für die Musik
zumindest schwer nachweisbar, obwohl man mit Sicherheit sagen kann, daß solche
außermusikalischen Bezüge existieren und auch verstanden werden — wenigstens
innerhalb einer Musikkultur und in manchen Gattungen oder Einzelstücken. Was
die von der Sprachwissenschaft als endolinguistisch bezeichneten Bezüge betrifft,
also den durch die Struktur selbst, z. B. den Satzbau, gegebenen Inhalt,94 der in
Musik und Sprache gleichermaßen eine Rolle spielt, so liegen auf musikalischem
Gebiet schon die ersten Parallelversuche vor. 1958 veröffentlichte B. Nettl einen Auf-
satz zu diesem Thema.95 In Anlehnung an die von der Linguistik in der Prager Schule
entwickelten Begriffe und Methoden96 versuchte er, anhand einiger Beispiele die
den kleinsten sprachlichen Einheiten (Phonemen, Morphemen) entsprechenden
musikalischen Einheiten zu bestimmen. Danach kommen als distinktive Merkmale
bzw. Merkmalsbündel („Phoneme“) entweder — mehr in Anlehnung an die Be-
trachtungsweise der Musiktheorie — separate Kriterien in Frage: Tonhöhen (d. h.
91 Wobei gerade in der Musik nicht nur den Gestaltungs- oder konfigurativen Merk-
malen, sondern auch den expressiven (emotiven) Merkmalen (nach R. Jakobson-M. Halle,
Grundlagen der Sprache. Berlin i960, 8) große Bedeutung zukommt. Vgl. dazu A. Sychra
in Beiträge zur Musikwiss. V (1963) 260.
92 Vgl. W. Meyer-Eppler, Grundlagen und Anwendungen der Informationstheorie.
Berlin—Göttingen—Heidelberg 1959; Beiträge verschiedener Autoren in: Kongreßber.
Salzburg 1964, Vol. II, 261—268; s. auch Die Musikforschung XVII (1964) 1 —14.
93 Vgl. dazu und zum folgenden W. Bright, Language and music: Areas for Cooperation.
Ethnomusicology VII (1963) 26 — 32; s. auch G. P. Springer, Language and music: Parallels
and divergences. FestschriftR. Jakobson, TheHague 1956, 504—513; G. List, The bound-
aries of Speech and song. Ethnomusicology VII (1963) 1 —16.
94 In diesem Zusammenhang geht Bright auch auf das damit teilweise verknüpfte Begriffs-
paar endosemantisch-ekto(exo)semantisch ein, wovon für die Musik im wesentlichen der
erste Terminus relevant ist (a. a. O. 29; im Anschluß an Ch. Seeger, Ethnomusicology V,
1961, 78).
95 Some linguistic approaches to musical analysis. JIFMC X, 37—41. Vgl. auch Nettls
diesbezügliche Ausführungen in: Theory and method in ethnomusicology, 104L
96 Vgl. dazu im einzelnen R. Jakobson und M. Halle, a. a. O.
Transkription in der Musikethnologie 239
die relevanten Stufen des jeweiligen Tonsystems oder Tonvorrats), Tondauern,
Mehrklänge usw., oder auch — mehr der linguistischen Methode folgend — kombi-
nierte Merkmale wie Tonstufen bestimmter Länge usw. Es wird vorausgesetzt, daß
beide Verfahren zu den gleichen Resultaten führen. Als automatische Varianten
(Allophone) kommen wechselweise, z. B. im Auf- und Abstieg, verschieden hoch
intonierte Stufen in Betracht (wie unfeste Sekunden oder Terzen in manchen Volks-
musikstilen, die 6. oder 7. Stufe in melodisch Moll u. ä.); als die den kleinsten Be-
deutungsträgern (Morphemen) entsprechenden Bestandteile wären dann wieder-
kehrende Folgen musikalischer Phoneme anzusehen. Für die Tondauer wurden, um
ein Beispiel zu geben, in einem Arapaho-Lied, das acht verschiedene Tonlängen
von einem Achtel bis zu drei Halben in bestimmter Anordnung aufwies, drei
Dauer-Phoneme bestimmt: Achtel-, viertelähnliche und lange Töne. Das alles
klingt nicht übermäßig revolutionierend, handelt es sich doch z. T. um Dinge, wie
sie die musikalische Analyse, mehr oder weniger empirisch, seit langem betreibt.
Aber es geht ja auch nicht um das Auffinden neuer oder anderer Elemente, sondern
lediglich darum, sich über Kategorien klar zu werden, in die die verschiedenen Er-
scheinungen im Hinblick auf ihre Signifikanz gehören.97
Die Unterscheidung zwischen konstitutiven und redundanten Merkmalen ist für
die Musikanalyse ebenso belangvoll wie für die Sprachanalyse; zumindest ist sie
sehr nützlich, vor allem auch im Hinblick auf die Transkription. Die „phonetische
Seite der Musik“ ist uns, seit wir Tonaufnahmen und Detailtranskriptionen haben,
ganz gut vertraut. Aber die den Phonemen und Morphemen entsprechenden Be-
standteile musikalischer Äußerungen, die „phonematische“ („phonologische“)
Seite der Musik, haben wir uns erst schrittweise, Stück für Stück und Stil für Stil,
zu erarbeiten. Dabei ist zweckmäßigerweise nicht mit weniger bekannten Musik-
stilen zu beginnen, sondern mit den am besten erforschten. Die dort gewonnenen
Erkenntnisse sind später bei der Merkmalsbestimmung anderer Musiksprachen und
Musikdialekte zu verwerten. Für große Teile der europäischen Kunstmusik z. B.
sind die Konstituenden weitgehend bekannt und in Strukturanalysen niedergelegt.
Musiktheorie wie auch Musikpsychologie haben sachlich und terminologisch auf
vielen Gebieten vorgearbeitet,98 so daß ein den beschriebenen linguistischen Metho-
den verwandtes Vorgehen möglich ist. Musikalisch und musikwissenschaftlich
97 Vgl. auch A. Sychra (in Beiträge zur Musikwiss. V, 1963, bes. 248 und 365), der den
Assaf’evschen Intonationsbegriff indirekt mit den erwähnten linguistischen Begriffen in
Verbindung bringt, indem er ihn als „kleinste(s) musikalische(s) Element, das noch eine
Bedeutung in sich trägt“ bzw. später als „die kleinste bedeutungsmäßig prägnante Kom-
ponente der musikalischen Gestalt“ bezeichnet; s. dazu aber auch die Diskussion, 325 ff.,
u. a. die Beiträge von O. Elschek, 339!. u. ö. (z. B. 365 gegen 357).
98 An musikpsychologischen Arbeiten sei hier nur auf Handschins schon mehrfach zi-
tiertes Buch hingewiesen: seine Toncharaktere, die er — besonders für die (europäische)
Heptatonik — unter vielerlei Aspekten definiert und beschreibt, kommen dem, was man
unter „Tonhöhenphonemen“, tonhöhenmäßigen Konstituenden zu verstehen hat, zumin-
dest sehr nahe. Wichtig ist in diesem Zusammenhang, daß Handschin den historischen
Aspekt ständig in die Betrachtung einbezieht. — Vgl. auch die im Sinne von tonsystem-
licher Stufe benutzten Begriffe Tonwert (Pfrogner, a. a. O. 93 ff.) und Tonern (Albersheim,
Kongreßber. Salzburg 1964, Vol. II, 264!.).
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240 Doris Stockmann
interessierte Phonologen haben dies seit längerem gesehen." Es ist bekannt, daß die
Sprachwissenschaft durch die neuen Betrachtungsweisen der Prager Schule re-
volutioniert und auf eine gesichertere, objektivere Basis gestellt wurde; und das
ist ein Ziel, das auch die Musikanalyse anstreben muß, wenn sie aus ihrer Unsicher-
heit in der Definition von Merkmalen, besonders was die außereuropäischen Musik-
stile anbelangt, herauskommen will. Wenn die Musik auch nicht in dem engen Sinne
Bedeutungsträger ist wie die Sprache, so gibt es doch bestimmte unveräußerliche
Elemente einer Melodie oder eines komplexen Stückes, die nicht verändert werden
dürfen, wenn seine Identität gewahrt bleiben soll. Diese mit größerer Bestimmtheit
und Exaktheit herauszufinden und festzulegen als bisher, auch zum Nutzen dessen,
was wir oben als Gerüsttranskription bezeichnet haben (wofür aber unter den eben
besprochenen Aspekten ein geeigneterer Terminus erforderlich ist — vielleicht
Gestalttranskription), gehört mit zu den Aufgaben der nächsten Zukunft.
Es ist also durchaus nicht die Elektroakustik und ihr spezieller Zusammenhang
mit der notenschriftlichen Transkription allein, der uns in den kommenden Jahren
und Jahrzehnten zu beschäftigen hat. Auch die rein musikalischen Fragen fordern
neue Besinnung und fruchtbare Weiterentwicklung der hier auf gezeigten bzw. re-
ferierten Ansatzpunkte. Schließlich sind die lebendigen Wechselwirkungen zwischen
allen am Phänomen Musik teilhabenden Bereichen bei jeder Art von Arbeit, die wir
tun, im Auge zu behalten, was nicht heißt, daß sie immer und überall erwähnt oder
einbezogen werden müßten.99 100
In einem früheren Abschnitt dieses Artikels sagten wir: Durch die Elektroakustik
sind unserer Disziplin eine Fülle neuer Aufgaben gestellt; die Probleme sind nicht
gelöst, sondern auf eine neue Ebene gehoben, eine Ebene allerdings, die bei ziel-
bewußter Arbeit bessere Ergebnisse verspricht als unsere bisherige Ausgangsbasis.
Dieser Satz, der wie gesagt in gleichem Maße für die eben besprochenen Fragen
gilt, bedeutet z. B., daß wir uns über den Rahmen, innerhalb dessen die Elektro-
akustik für unsere Arbeit nützlich werden kann, und über die ihr zuzuweisenden
konkreten Aufgaben Klarheit zu verschaffen haben. Bislang scheint es manchmal,
als ob die Ansprüche, die der Musikethnologe an dieses wichtige Hilfsmittel stellt,
von vornherein zu hoch oder auch direkt unrichtig sind. Aus der Aufzeichnung und
Analyse komplexer Gestalten werden Grunderkenntnisse erwartet, sei es hinsichtlich
bestimmter Details oder hinsichtlich der Gesamtstruktur; dabei handelt es sich oft
um hochkomplizierte Gebilde, denn gerade bei diesen, die auditiv nicht ausreichend
zu bewältigen sind, sucht man die Hilfe der Maschine. Andererseits ist bekannt, daß
99 So R. Jakobson, Musikwissenschaft und Linguistik, Prager Presse v. 7. 12. 1932.
AuchW. Steinitz wies mich mehrfach darauf hin, daß auf diesem Wege eine Objektivierung
der Transkriptionsarbeit möglich wäre. Viele seiner Anregungen gingen in diesen Artikel ein.
100 So möchten wir hier darauf hinweisen, daß das, was wir oben als notwendige Vor-
stufe zur Realwerdung von Musik bezeichnet und kurz beschrieben haben, im weiteren Ver-
lauf absichtlich außer Betracht blieb, ebenso die gesamte historisch-soziologische Kontext-
frage. Daß wir sie trotzdem für außerordentlich wichtig halten, haben wir in anderem
Zusammenhang darzulegen versucht (vgl. Der Volksgesang in der Altmark von der Mitte
des 19. bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts. Berlin 1962).
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Transkription in der Musikethnologie 241
die experimentelle Forschung, sei es im rein akustischen, im hörphysiologischen und
gehörpsychologischen Bereich oder anderen Gebieten, ihre Erkenntnisse und Gesetz-
mäßigkeiten an einfachsten Teilgestalten oder Teilmomenten gewann; und auf
dieser Basis hat auch die elektroakustische Untersuchung musikfolkloristischer
Phänomene begonnen, wie z. B. die Arbeiten Milton Metfessels und C. E. Seashores
zeigen. Mir scheint, es ist notwendig, die Erwartungen wieder auf ein vernünf-
tiges Maß zurückzuschrauben und zunächst die Analyse solcher Teilmomente in den
Vordergrund zu stellen, z. B. die möglichen Formen des vokalen Glissando, die
spezifischen EinschwingungsVorgänge bei offenen Längsflöten, den Zusammenhang
von Tonhöhenänderung und Vokal-Konsonantenwechsel in der Vokalmusik (Über-
einstimmung oder Nichtübereinstimmung von Lautansatz und Tonhöhenansatz),
die Beschaffenheit der Schleudertöne in lappischen Juoiken u. ä. Bei den letzteren
wäre z. B. festzustellen, inwieweit sie sich akustisch von normalen Vor- und Nach-
schlägen unterscheiden. Überhaupt ginge es bei der Untersuchung solcher Einzel-
phänomene darum, festzustellen, wie groß die Schwankungsbreite einer Erscheinung,
akustisch gesehen, sein kann, um noch als eine bestimmte musikalische Gestalt oder
Teilgestalt perzipierbar und interpretierbar zu sein, um jenes Phänomen also, das die
Psychoakustik unter dem Stichwort Äquivalenz untersucht. Wahrscheinlich käme
man auf eine ziemlich große Zahl von Schwingungsbildern, die in Einzelheiten von-
einander abweichen, aber musikalisch, d. h. vom Menschen aus gesehen, das gleiche
bedeuten.
Insgesamt gesehen geht es darum, das wichtige Flilfsmittel Elektroakustik sinn-
voll benutzen und ausnutzen zu lernen, elektroakustische Detail- und Gesamt-
analysen zusätzlich zur schriftlichen Transkription anzufertigen, beide Verfahren
ihren Möglichkeiten entsprechend einzusetzen und — soweit durchführbar und sinn-
voll — miteinander zu kombinieren oder wenigstens zu konfrontieren. Damit wird
jedes auf seine Weise zur Erkenntnis des jeweiligen Sachverhalts beitragen und uns
der Lösung unserer Probleme ein Stück näher bringen. Eines jedoch steht fest,
auch der Musikethnologe der Zukunft muß über die Fragen der Transkription, die
wir hier unter vielerlei Aspekten skizziert haben, genauestens informiert sein. Er
muß selbst notieren können (schon aus dem einfachen Grunde, weil dies die beste
Methode ist, in die innere Struktur eines musikalischen Stils verstehend einzudrin-
gen), und er muß in diesem Metier gut trainiert sein. Er muß wissen, daß es die Me-
thode in der Transkription nicht gibt, sondern daß für verschiedene Arten von Material
und für verschiedene Zielsetzungen Modifikationen notwendig sind; er muß im-
stande sein, das richtige — oder sagen wir vorsichtiger, das angemessenste — Ver-
fahren für den jeweiligen Zweck auszuwählen. Er muß die Möglichkeiten und die
Grenzen der schriftlichen Notierung kennen. Das heißt, er muß wissen, daß die Um-
setzung einer lebendigen Aktion in einen anderen, gleichsam gefrorenen Aggregat-
zustand mit Hilfe unzulänglicher Symbole Kompromisse notwendig macht und daß
protokollarische Genauigkeit ein zwar anzustrebendes, aber in der Notenschrift nicht
erreichbares Ideal darstellt. So ausgerüstet kann er auch im neuen Problemkreis der
Elektroakustik auf sinnvolle Weise Erfahrungen und Erkenntnisse sammeln.
In keinem Falle wird die Notierung mit Hilfe unseres konventionellen Schrift-
systems überflüssig. Wir haben gesehen, daß dieses System wegen seiner leicht erfaß-
5 Volkskunde
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242 Doris Stockmann
baren Symbolkraft, seines weltweiten und einfachen Gebrauchs, die bislang beste
Methode ist, musikalische Daten visuell darzulegen. Wir haben auch gesehen, daß
es für unsere Zwecke vielfältig modifizierbar ist. Obgleich wir wissen, daß die
klangliche Realität damit nicht vollständig wiedergegeben werden kann, ist es
uns schlechthin unentbehrlich. Wir brauchen es, wenn es gilt, den Extrakt aus einem
Hörvorgang (oder auch das musikalisch Relevante einer elektroakustischen Gra-
phik) wiederzugeben. Es ist unentbehrlich als Grundlage für wissenschaftliche Analyse
und Beschreibung einerseits und für die praktische Volksmusikpflege andererseits.
Für beide Zwecke soll die Notierung im Idealfall das Essentielle, das im engeren
Sinne Musikalische, die intendierte Gestalt oder das Phonemhafte an der Musik
wiedergeben. Dies aus der Tonaufnahme herauszuhören, in den individuellen Reali-
sationen das innerhalb einer Musikkultur kommunikativ Verbindliche aufzuspüren
und niederzulegen,101 bleibt als wichtigste Aufgabe der musikethnologischen Do-
kumentation in vollem Umfang bestehen. Das war schon bisher die schwierigste
Seite der Transkriptionsarbeit; sie wird uns auch künftig von keiner Maschine ab-
genommen.
101 Auf einer genügend breiten Materialbasis individueller Realisationen sind diese ver-
bindlichen Normen und Gesetzmäßigkeiten ebenso erfaßbar und definierbar wie die Normen
einer Sprache, die in der Sprachwissenschaft seit F. de Saussure unter dem Begriff der
„langue“ zusammengefaßt werden. Die Unterscheidung zwischen „langue“ (der Sprache
als System, das in der Gesamtheit ihrer Träger potentiell vorhanden ist) und „parole“ (dem
individuellen und variativen Sprechakt der einzelnen Sprachträger) ist für die Erforschung
der Musikfolklore und der Folklore allgemein überaus fruchtbar. Schon 1929 haben P. Bo-
gatyrev und R. Jakobson, an abgelegener und daher wenig beachteter Stelle, wertvolle
Gedanken zu dieser Frage dargelegt (Die Folklore als eine besondere Form des Schaffens,
jetzt auch in: R. Jakobson, Selected writings, Bd. IV, The Hague-Paris 1966, 1 —15).
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Ludwig Bechstein als Sagensammler und Sagenpublizist
Von Alfred Fiedler
Ludwig Bechstein ist in seinem nahezu sechzig Jahre umfassenden schaffensreichen
Leben mit einer bemerkenswerten Fülle dichterischer wie wissenschaftlicher Werke
hervorgetreten. Das Hauptgewicht seines Wirkens lag zweifellos auf dem Gebiete
der Lyrik, Epik und Romanschriftstellerei. Seine wissenschaftlichen Arbeiten er-
streckten sich auf das Gebiet der Altertums- und Landeskunde sowie der Sagen- und
Märchensammlung und -publikation. Sein hundertster Todestag im Jahre i960 war
Anlaß, seiner Persönlichkeit und seines Werkes zu gedenken sowie auch diese
kritisch einzuschätzen.1
Der Name des Dichters Bechstein, so mußte man feststellen, besaß zu seinen Leb-
zeiten wie darüber hinaus im allgemeinen einen guten Klang. Sein literarisches
Schaffen wurde noch zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts, wenn auch mit Ein-
schränkung, positiv beurteilt, so daß man 1901 eine Gesamtausgabe seiner literari-
schen Leistungen,2 1907 sogar seiner sämtlichen Werke erörterte.3
In gutem Ruf stand im allgemeinen auch sein wissenschaftliches Werk. Seinen
Arbeiten auf dem Gebiete der Altertumskunde wie vor allem auf dem Gebiet der
Märchen- und Sagensammlung billigte man nachhaltige Bedeutung zu. In der Tat
war die Auflagenhöhe seiner Märchenveröffentlichungen, mit denen er geraume Zeit
die Grimmschen übertraf, beachtlich.
Angesichts der zahlreichen nach 1945 im deutschen Sprachgebiet erschienenen
Sagen- und Märchenausgaben mußte man Bechstein i960 ein positives Fortwirken
auch in der Gegenwart zugestehen.4 Gleiches galt, freilich ebenfalls mit Einschrän-
1 In Meiningen, der Stätte des Wirkens von Ludwig Bechstein von 1831 —1860, fand
vom 13. —15. Mai i960 eine Bechstein-Tagung, veranstaltet von der Deutschen Historiker-
Gesellschaft, Bezirksverband III, Stützpunkt Meiningen, und von der Leitung der Meininger
Museen statt. Der Verfasser nahm mit einem Vortrag über Leben und Werk Bechsteins teil.
2 Leopold Hirschberg, Ludwig Bechstein. Zu seinem 100. Geburtstag. Zs. f. Bücherfreunde
5 (1901/02) 2. Bd. Heft 7 u. 8.
3 Theodor Linschmann, Ludwig Bechsteins Schriften, zum 7jjähr. Jubiläum des Henne-
bergischen altertumsforschenden Vereins zusammengestellt. In: Neue Beiträge zur Geschichte
deutschen Altertums, hg. v. d. Henneberg, altertumsforschenden Verein in Meiningen,
21. Lieferung 1907.
4 Der Katalog der Deutschen Bücherei zu Leipzig wies i960 nicht weniger als 35 Titet
von Sagen- und Märchenpublikationen Bechsteins auf, die seit 1945 im deutschsprachigen
Gebiet erschienen sind. Die 1959 im Aufbau-Verlag Berlin herausgegebenen Deutschen Mär-
chen und Sagen von Ludwig Bechstein erlebten bereits i960 eine 2. Auflage. 1965 erschien
die 5. Auflage.
5*
lATLmiflXr/rnUlfliltlliw«1 miiniuuiwu
244 Alfred Fiedler
kung, von den Anregungen, die von seinen heimat- und altertumskundlichen For-
schungen noch immer ausgehen.
Was das Bechsteinsche Märchenwerk betrifft, so erfuhr es nach F. Heyden (1908)5
und K. Kaiser (1930)6 durch K. Schmidt7 bisher die eingehendste Analyse. Wie
Boost8 und Linschmann vorher bezog auch er die Einzelleistungen Bechsteins auf
seine Gesamtpersönlichkeit als eines „Kulturträgers“ von großer geistiger Lebendig-
keit, der jedoch mit der Forderung, daß jedes Märchen seinen eigenen Ton haben
müßte, zuletzt die Grenzen der Märchenbearbeitung überschritt.9 Wieweit dieses
Urteil Bechstein ganz gerecht wird, soll uns hier nicht näher beschäftigen. Da über
den Sagen-Bechstein jedoch eine Untersuchung überhaupt noch aussteht, sei hierzu
der Weg beschritten. Die Auswertung des Nachlasses Bechsteins wie desjenigen
seines Freundes Bube im Goethe-Schiller-Archiv zu Weimar setzte uns in den Stand,
wertvolle Erkenntnisse besonders über Bechstein als Sagensammler zu gewinnen.
Bechsteins Sagenveröffentlichungen in zeitlicher Folge
Der 1801 zu Weimar als uneheliches Kind einer Botenmeisterstochter und eines
Franzosen geborene Ludwig Bechstein besaß von Kindheit an dank seiner thürin-
gischen Heimat eine eigentümliche und anschauliche Bindung zur Welt der Sagen
und blieb ihr während seines ganzen Lebens als Dichter wie als Wissenschaftler
zugetan.10
Den Dichter drängte es nach der Geflogenheit seiner Zeit, in Sage und Märchen
zunächst nur einen Rohstoff zu literarischer Verarbeitung zu sehen. Dies änderte
sich, als das Werk der Brüder Grimm ihn in Volkssage und -märchen einen eigen-
ständigen Wert hatte erkennen lassen, den man der Nachwelt durch wissenschaft-
liche Sammlung und Bearbeitung erhalten müsse. Diese entscheidende Wandlung
fiel zeitlich mit Bechsteins 1831 erfolgter Anstellung als Bibliothekar an der Herzog-
lichen Bibliothek in Meiningen zusammen, der eine elfjährige Apothekertätigkeit
und ein dreijähriges Studium in Leipzig und München vorangegangen waren.
5 Franz Heyden, Grimm oder Bechstein, zur Kritik der Bechsteinschen Märchen. In:
Jugendschriften-Warte, April 1908; später auszugsweise in: Volksmärchen und Volks-
märchenerzähler (Sammlung: Unser Volkstum). Hamburg 1922.
6 Karl Kaiser, Artikel Bechstein in Hdw.-Buch des deutschen Märchens, hg. v. L. Macken-
sen, I, 1930/33.
7 Klaus Schmidt, Untersuchungen zu den Märchensammlungen von Ludwig Bechstein.
Leipzig 1935.
8 Karl Boost, Ludwig Bechstein. Versuch einer Biographie unter besonderer Berücksich-
tigung seines dichterischen Schaffens. Diss. Würzburg 1925, 217 (Masch.-schr., 1 Exemplar
in Stadtbibliothek Meiningen).
9 Klaus Schmidt, a. a. O. 246.
10 Über sein Leben s. Näheres durch ihn selbst in: Ludwig Bechstein, Summa summarum.
Das ist das Buch mit 7 Siegeln. Mskr. 1848, Bechstein-Nachlaß Weimar, ferner bei seinem
ersten Biographen Aug. Wilh. Müller, Ludwig Bechstein. In den Hauptzügen seines Lebens
und Strebens gezeichnet, usw. In: Asträa 22 (1860); ders., Denkschrift zur 25jähr. Amts-
jubelfeier unseres verehrten Direktors Ludwig Bechstein, 1856. Ausführliche Darstellung
bei Boost, s. o. unter Nr. 7. Gesamtübersicht über sein Schrifttum s. Linschmann
unter Nr. 3.
245
f f riMt7inv(v ^
Ludwig Bechstein als Sagensammler und Sagenpublizist
Die Veröffentlichungen bis dahin, die Thüringischen Volksmärchen (L 2),11 unter
einem Decknamen 1823 erschienen, die Thüringer Sagen (1830, L 100), Die Hainions-
kinder (1830, L in), Die Mähr vom Tanhäuser (1831, L 125) u. a. gehörten der
Kunstdichtung an. Es handelte sich der Form nach größtenteils um Romanzen. Sie
verdankten ihr Entstehen den von Musäus, Goethe, Schiller, Tieck, Uhland und
Heine empfangenen Anregungen.
Literarische Leistungen der Art, bei der man Sagen- und Märchenstoffe nicht von-
einander zu scheiden verstand noch trennen wollte, entsprachen in so hohem Maße
dem Zeitgeschmack, daß es Bechstein schwer hatte, bei seinen Verlegern für seinen
Plan, den Brüdern Grimm folgen und Volkssagen publizieren zu wollen, Interesse
zu finden. Allerdings sah er sich aus mancherlei Gründen genötigt, auch weiterhin
Sagen zu literarisieren. Dazu zählten der Widerstreit zwischen seiner dichterischen
und wissenschaftlichen Veranlagung, das Drängen seiner Verleger, darüber hinaus
aber seine steten Geldnöte.12
Den Weg wissenschaftlicher Sagenedition beschritt Bechstein 1832/33 erstmalig
mit der Veröffentlichung von Vaterländischen Sagen im Archiv für die Herzoglich
Sächsisch Meiningischen Lande (L 132, 133, 136, 147, 148)-
Ihr folgte in den Jahren 1835 bis 1838 die Herausgabe des großangelegten Werkes
Der Sagenschatz und die Sagenkreise des Thüringer Landes (= Thüringer Sagen-
schatz, L 182, 183, 189, 199), dessen dritter Teil (1837) die bemerkenswerte Ab-
handlung Über den ethischen Wert der deutschen Volkssagen enthielt, die Bechstein bei
der Jahresfeier des von ihm 1832 begründeten Hennebergischen altertumsforschen-
den Vereins zu Meiningen vorgetragen hatte und die über Thüringens Grenzen
hinaus Beachtung fand.13
An die Thüringischen Sagenkreise sollten sich die Sagenkreise der benachbarten
deutschen Länder anschließen. Verlegerische Umstände brachten es mit sich, daß
Die Volkssagen, Mährehen und Legenden des Kaiserstaates Österreich (— Die Sagen
Österreichs, 1841, L 216), obgleich unvollständig, eher erschienen als Der Sagen-
schatz des Frankenlandes (L 275), der 1842 veröffentlicht wurde.
Zu den Sagen Böhmens hatte Bechstein bereits 1838 reiches Material zusammen-
getragen, wie er in einem Briefe an den Dresdner Verleger August Taubert erklärte.
Diesem bot er gleichzeitig auch vogtländische Sagen an.14
Durchdrungen von der Absicht, an einem großen deutschen Sagenwerk mitzuwir-
ken, nahm er jede Gelegenheit wahr, auch Sagen außerhalb geschlossener Samm-
lungen zu publizieren. 1841 teilte er zusätzlich Thüringische Volkssagen mit, besonders
solche aus der Rudolstädter und Blankenburger Umgebung (L 243). 1842—43 ver-
öffentlichte er Ungedruckte deutsche Sagen in dem von ihm redigierten Deutschen
11 Wir zitieren die Werke nach Linschmanns systematisch-chronologisch angeordneter
Bibliographie mit L unter Angabe der Stellennummer und Jahreszahl.
12 Siehe bes. Boost, a. a. O. 162, 184. Die Geldnöte waren durch den Bau eines ansehn-
lichen Hauses in Meiningen und durch Bechsteins Sammelleidenschaft und Gastfreundschaft
verursacht.
13 Vgl. Karl Wehrhan, Die Sage. Bd. I der Handbücher zur Volkskunde. Leipzig 1908,
17. In Fußnote wird zu entsprechendem Kapitel Ludwig Bechsteins Abhandlung an erster
Stelle aufgeführt.
14 L. Bechstein an August Taubert vom 10. 10. 1838, Bechstein-Nachlaß, ebda III, 4L
246
Alfred Fiedler
Museum für Geschichte, Literatur, Kunst und Altertumsforschung (L 278, 279). Von
den noch im Volke lebenden Sagen sprechen das Kapitel Sitte und Sage in seiner
Landeskunde Thüringen und die Gegenwart (1843, L 287), ferner die von ihm ge-
schriebenen Führer für Fremde und Einheimische (L 203, 262 u. a.), die Wanderungen
durch Thüringen sowie verschiedene Erzählungen, z. B. Eine Nacht im Spessartwald
(1853, L431).
Die Anerkennung, die ihm die Herausgabe von Volkssagen einbrachte, war im
allgemeinen nicht gering. Sie spiegelt sich nicht nur in den Besprechungen der zeit-
genössischen Fachblätter und Literaturzeitschriften15 wider, sondern auch in dem
Besuche von Goethes Enkel Maximilian Wolf gang im Jahre 1841 in Meiningen,
wobei sich das Gespräch beider um Fragen der vaterländischen Sagen bewegte.16
In stolzem Gefühl und in gesteigertem Bewußtsein, etwas Wertvolles zu leisten,
schrieb Bechstein 1843 an seinen Freund, den Schriftsteller Storch in Gotha:17 „Ich
weiß, daß ich mit den Sagensammlungen etwas anstrebe, das die Nachwelt mir
danken wird, denn die Poesie, die ächte, wahre, die Poesie des deutschen Volkes,
die nicht zu Grunde ging, ... die überdauert alle Zeitphasen.“
Da jedoch Bechstein in den folgenden Jahren, abgesehen von vielseitigem anderen
Schaffen, besonders mit der Publikation von Volksmärchen beschäftigt war,18 man
denke an das Deutsche Märchenbuch (1845, L 320), von dem bis 1853 zehn Stereotyp-
ausgaben und eine große illustrierte Ausgabe erschienen, ferner an Ludwig Beck-
steins Märchenbuch mit seinen 175 Holzschnitten nach Originalzeichnungen von
Ludwig Richter (1853, L321) und schließlich an das Neue deutsche Märchenbuch
(1856, L455, im folgenden abgekürzt mit NDMB zitiert), erfolgten nur einige
wenige Sagenveröffentlichungen, so 1844 Einige Thüringische Sagen (L 300) und
1846 Kobold Pumphut, Voigtländische Sage (L336). Doch war Bechstein mit den
Sagen, von denen er 18 übrigens auch im Neuen deutschen Märchenbuch (1856) unter-
gebracht hatte, laufend beschäftigt. Dies wird mit dem Versuch einer historischen
Übersicht, ferner einer intensiveren theoretischen Besinnung und eingehenderen
Differenzierung des Volkserzählgutes belegt, die in dem dreiteiligen Werk Mythe,
Sagen, Märchen und Fabel im Leben und Bewußtsein des deutschen Volkes (1854 — 5 5>
L445, weiterhin mit MSMF zitiert) ihren Niederschlag fanden. Noch mehr aber:
ein Jahr vor Veröffentlichung des ersten Teiles dieser Arbeit, nämlich 1853, erfolgte
die Herausgabe eines Deutschen Sagenbuches (L 423), worin Bechstein nicht weniger
als 1000 Sagen aus allen Teilen Deutschlands vereinigt hatte. Er erfüllte mit der
neuen Publikation gewissermaßen den ehedem gefaßten Plan, in regionalen Sagen-
sammlungen alle deutschen Landschaften darzustellen.
Damit war jedoch seine Beschäftigung mit dem Erzählgut des Volkes noch nicht
beendet. 1856/57 wirkte er mit an der Veröffentlichung der Mrjthen und Sagen
15 Vgl. Rez. des Sagenschatzes des Thüringerlandes u. a. in: Hallesche Literaturzeitung
Nr. 207, Nov. 1835 (gut), Literaturblatt des Morgenblattes v. 28. 12. 1835 Nr. 132 (gut),
Brockhaus, Blätter f. liter. Unterhaltung Nr. 73 v. 13. Nov. 1836 (gut), Jenaische Literatur-
zeitung Nr. 189, 1837 (sehr gut).
16 Brief an Storch, ebda, vom 20. 7. 1841 u. 6. 10. 1841; vgl. ferner Boost, a. a. O. 163.
17 Brief an Storch, ebda, vom 28. 5. 1843.
18 Nach Brief an Storch v. 9. 1. 1841 trug sich Bechstein bereits 1840/41 mit dem Plane,
Märchen zu veröffentlichen.
IfiDvaifiiiriivifirr
Ludwig Bechstein als Sagensammler und Sagenpublizist
247
Tirols, die Ritter v. Alpenburg herausgab (1857, L465). Briefe Bechsteins an Bube
vom 16. 3. 1856 und 1. 10. 1857 geben an, daß Alpenburg ihm dabei die gesamte
Bearbeitung seiner Sagensammlung überlassen hatte.19 1858 publizierte er erneut
Thüringer Sagen, und zwar in dem zwei Bände umfassenden Thüringer Sagenbuch
(L 472). Im gleichen Jahre ließ er eine umfängliche Abhandlung über Die literarische
Behandlung der deutschen Volkssagen (L 475) erscheinen, in der er die Sagenbearbei-
tung in eine dichterische, eine volkstümliche und eine wissenschaftliche (kritische)
gliederte und der Entwicklungsgeschichte der Sage nachging, dabei besonders auch
zur Mythenforschung Stellung nahm.
Überschaut man Bechsteins Tätigkeit auf dem Gebiet der Sagensammlung und
-bearbeitung, so kann man nicht umhin festzustellen, daß es sich um ein beachtliches
Werk, wenn auch nur um ein Teilwerk seines Schaffens, handelt. Es nahm einen
wichtigen Platz innerhalb seiner umfänglichen, viele Kulturgebiete umfassenden
wissenschaftlichen und dichterischen Gesamtleistung ein.
Bechstein und die Brüder Grimm
Daß Bechstein bei seiner Sammlung von Volkssagen dem Vorbild der Brüder
Grimm folgte, hat er selbst an vielen Stellen bezeugt, sei es öffentlich in gedruckter
Form oder in intimen Bekenntnissen Freunden gegenüber. So heißt es 1834 in einem
Briefe an Storch, als er die Sagen Thüringens zusammentrug: „Ich bin auf diesem
Gebiete ganz heimisch, habe viel gesammelt und nehme die Brüder Grimm zum
Muster.“20 Er zitiert sie in seiner Abhandlung Über den ethischen Wert der deutschen
Volkssagen (1837) bei der Frage der Differenzierung von Geschichte und Sage. Nicht
minder hat er sich in mannigfach anderer Beziehung zu ihnen bekannt, so u. a. auch
bei der Behandlung der örtlichen Sagen. „Auch zu diesen anziehenden Wanderungen
(zur Sammlung gleichlautender Sagen an weit voneinander liegenden Orten — d.
Verf.) haben die Gebrüder Grimm in ihren Deutschen Sagen, Berlin 1816, Pfade
gebahnt und Wege gezeigt und sich dadurch der Späterkommenden anerkennendsten
Dank erworben“, erklärte er 1855 rückblickend.21 Er würdigte dabei auch an dieser
Stelle wie an anderen vorher ihre Arbeitsweise: „Vor allem haben sie gelehrt, den
Weg der Treue und Wahrheit zu gehen, an dessen Rändern der Sage schlichte, un-
verkünstelte Blumen blühen, Arten und Abarten in bunter Fülle.“ Die Grimmschen
Ausblicke auf die Fülle und den Variationsreichtum des Erzählgutes bestimmten
Bechstein ebenso zur Sammelarbeit wie ihre Hinweise auf den drohenden Untergang
des wertvollen Kultur Schatzes. Er teilte ihre Auffassung, daß es dringend nötig sei,
dieses Volksgut zu bergen, bevor es zu spät sei.22
19 Brief an Bube vom 16. 3. 1856 u. 10. 10. 1857. Bube-Nachlaß Weimar. Es handelte sich
um ein Werk, das Alpenburg und damit auch Bechstein, da u. a. das Deutsche Sagenbuch
mehrfach zitiert war, von Süddeutschland u. Österreich aus (Kathol. Literatur-Zeitung, Wien,
Nr. 15, 1858) Kritik aus kulturpolitischen Gründen einbrachte. Bechstein nahm dagegen in
Die literarische Behandlung der deutschen Volkssagen (1858) Stellung.
20 L. Bechstein an Storch, Bechstein-Nachlaß, III, 7. Nr. 285, 1834; vgl. ferner Bechstein,
Thüringer Sagenschatz 2. Teil, 1836, Vorwort XI.
21 Ludwig Bechstein, MS MF 3. Teil, Einleitung, 1855, I.
22 Ludwig Bechstein, MSMF 2. Teil 250.
[&4 « ixwnnmu mi n\n/iu<vNi
248 Alfred Fiedler
Indes, so sehr er die Brüder Grimm verehrte und in ihrem Sinne ans Werk zu
gehen gedachte, so bestimmten ihn persönliche Veranlagung wie darüber hinaus der
Wandel der gesellschaftlichen und weltanschaulichen Verhältnisse in seiner Zeit, der
besonders im Auftreten des Jungen Deutschland zum Ausdruck kam, zu gewissen
eigenen Entscheidungen.23 Es muß daher als besondere Aufgabe angesehen werden,
ihn in seiner spezifischen Haltung, mit der er sich mehr oder weniger bewußt von
den Brüdern Grimm trennte, zu erfassen und einzuschätzen. 1836 bekannte er im
Vorwort zum zweiten Teil des Thüringer Sagenschatzes, daß er sich nicht anmaße
zu glauben, er könne auf dem Sagengebiet auch nur Ähnliches leisten wie jene
hochverdienten Männer, er tröste sich in dem Bewußtsein, Steine zum Bau ge-
tragen zu haben und bescheide sich, nur ein Handlanger zu sein.24 In gleicher Weise
zählte er sich auch noch 1858 in Die literarische Behandlung der deutschen Volks-
sagen zu denen, „welche in der Grimmschen Sammlung einen würdigen Führer und
Geleiter verehrten“.25 Doch beanspruchte er gleichzeitig eine Sonderstellung, indem
er zusätzlich bemerkte: „... wenn ich auch mein Recht als Dichter, Sagenstoffe frei
zu bearbeiten, niemals aufgab.“ Dies wollte er freilich nicht auf die Behandlung der
gesammelten Volkssagen bezogen wissen, weil er sich hier stets auf die „Einfachheit
der Quellen und auf häufige mündliche Überlieferungen zu beschränken gewußt“
hätte. Doch vermag man diese Behauptung nur mit Einschränkung gelten zu lassen,
wie wir im einzelnen erweisen werden.
In einem Punkte hat er indessen schon bald nach Beginn seiner Sammeltätigkeit
und Sagenpublikation andere Absichten hervorgekehrt: Er gedachte nicht, den
Grimms auf dem Gebiete der Mythenforschung zu folgen. Wiederholt erklärte er, es
komme ihm nicht in den Sinn, gelehrter Mythen- und Sagenforscher sein zu wollen,
seine Stellung sei die des volkstümlichen Sagensammlers und Sagendarstellers.26
Er war bei dieser Entscheidung besonders von einer volkspädagogischen Idee ge-
leitet, die letztlich keinen prinzipiellen Gegensatz zu den Grimms bedeutete, doch
in mehrfacher Beziehung zu anderen Folgerungen führte.
Bechstein als wandernder Sagensammler
Gehen wir vorerst der Frage nach, wie Bechstein sein umfängliches Sagenwerk
zustande gebracht hat, so verdient seine Sammeltätigkeit in Form der Feldforschung,
wie wir heute sagen würden, Beachtung. Natürlich erstreckte sie sich in der Art
ihrer Durchführung in Wanderungen im wesentlichen nur auf Thüringen und be-
nachbarte Gebiete und betraf auch da nur einen Teil des zusammengetragenen
Gutes. Der andere gehörte schriftlicher Quellenüberlieferung an. Obgleich die da-
malige Sammlung von Volkserzählgut recht eigentlich nur auf motivgeschichtliche
23 Über Bechsteins Verhältnis zum Jungen Deutschland vgl. Boost a. a. O. 157 f., ferner
Brief an Storch v. 19. 3. 1843. Bechstein-Nachlaß.
24 Ludwig Bechstein, Thüringer Sagenschatz. 2. Teil 1836, XI.
25 Ludwig Bechstein, Die literar. Behandlung der deutschen Volkssagen. In: Die Wissen-
schaften im neunzehnten Jahrhundert, hg. v. J. A. Romberg, Bd. III Heft VI, VII, 1858,
415 f.
26 Siehe ebda, ferner L. Bechstein, MSMF 1. Teil 19.
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Ludwig Bechstein als Sagensammler und Sagenpublizist 249
Forschung gerichtet und somit bei der Aufnahme mündlicher Überlieferung der
Erzählerpersönlichkeit nicht dieselbe Aufmerksamkeit zugewandt war, wie es später
geschah, verdanken wir Bechstein einige nicht unwesentliche Angaben über seine
Gewährsleute, die uns wertvolle Einblicke in das Leben des Volkes und Auskünfte
über dessen Einschätzung der erzählten Sagen vermitteln.
Zunächst vermag die Behauptung widerlegt zu werden, die man hinsichtlich der
Märchen mit gewissem Recht aufgestellt hat, „daß wir über Bechsteins Arbeitsweise
nichts Direktes wissen, auch nichts Näheres über seine Sammeltätigkeit“.27 Nach
Lage der Quellen, die aus dem Goethe-Schiller-Archiv beigezogen werden konnten,
ist es möglich, besonders seine Methode des Sagensammelns um ein gutes Stück
aufzuhellen und somit jenen Äußerungen poetisierender Art, wie sie in der Ein-
leitung zu Der Sagenschatz und die Sagenkreise des Thüringischen Landes und an
anderen Stellen zu lesen sind, den nötigen realen Hintergrund zu geben. An der
genannten Stelle spricht Bechstein pauschal von seinen Wanderfahrten durch Thü-
ringen, auf denen ihm Schäfer und Hirten, Jäger und Bergleute, Köhler und Holz-
hauer, plaudernde Knaben und ergraute Waldleute viel zu erzählen wußten. In
diesem Zusammenhang bedarf es nur noch eines Hinweises auf die langjährige
Tätigkeit Bechsteins als Apotheker zu Arnstadt, Salzungen und Meiningen, ferner
seine spätere Teilnahme an den thüringischen Sängerfesten,28 um seine unmittelbare
Verbindung zu Land und Leuten zu verbürgen. Die Zeit seiner wissenschaftlichen
Sammeltätigkeit wird u. a. mit dem Brief an Storch vom 18. 5. 183729 konkretisiert,
in dem er einen großen Reiseplan entwickelte, der ihn zusammen mit dem Freund
über Gotha, Langensalza, Sondershausen, Stollberg, Walkenried und Harzgerode
nach Memleben führen sollte. Darin heißt es: „Du wirst nicht viel Geld brauchen,
ich brauche etwas mehr, weil ich überall, auch da, wo ich die Wege gut finde, ja
weiß, doch immer einen Führer nehme, dem ich dann die Sagen seiner Gegend ab-
frage, wodurch ich unendlich viel erfuhr ...“
Konnte Bechstein zu seiner Zeit bereits, wie aus den Zeilen hervorgeht, besonders
in stärker besuchten Gegenden mit Wanderführern rechnen, die gegen Entgelt
führten und gewiß mit Aufmerksamkeit auf die Interessen der Reisenden, ihrer
Auftraggeber, einzugehen wußten und somit auch heimatliche Sagen erzählten, so
lieferten ihm oftmals aber auch ganz zufällige Wegbegleiter wertvolles Erzählgut.
Von einem solchen berichtet am 22. 5. 183730 die Schilderung einer Sonntags-
wanderung nach dem großen Hermannsberg: „Ein Mann ging mit, ein ernster
Bauer mit dem stillen Zug eines Schwärmers, einer von denen, die lieber alte
Bücher lesen und in der Flur umherstreichen als arbeiten. Eine Sage nach der
anderen entquoll seinen Lippen, und ich wünschte mir stets solche Führer.“ Kritisch
ist die Frage aufzuwerfen, wieweit Bechstein in seinem Brief aus dem Bauern einen
romantischen Taugenichts gemacht hat, doch soll es uns in diesem Zusammenhang
nur auf den Beleg entsprechender Begegnungen mit Erzählern aus dem Volke
27 Schmidt a. a. O. 221.
28 Vgl. vor allem Boost a. a. O. 21 ff., 29 u. 136.
29 Bechstein-Nachlaß, Brief an Storch v. 18. 5. 1837.
30 Bechstein-Nachlaß, Brief an Storch v. 22. 5. 1837.
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250 Alfred Fiedler
ankommen. Wie sehr Bechstein solche Begegnungen beglückten, zumal wenn sie ihn
mit echten Erzählern zusammenführten, bezeugt das Vorwort zum vierten Teil des
Thüringer Sagenschatzes (1838), der die Sagen des Kyffhäusers, der Güldenen
Aue u. a. enthält. Er erklärt dort: „Viele der hier mitgeteilten Sagen hörte ich
mündlich, denn als ich im Sommer 1837 den Unterharz bereiste, gab mir die Gunst
des Glücks den ältesten Mann aus Kelbra zum Geleite auf die Rothenburg und den
Kyffhäuser, der noch mit gläubigem Gemüthe erzählte, erfreut, einen willigen
Hörer zu finden.“
Es war naheliegend, daß Bechstein auf diesen oder jenen Gewährsmann aus dem
Volke bei seinen Wandertouren zurückzukommen versuchte, wie aus einem Bericht
aus Schmalkalden an Storch zu entnehmen ist, in dem es heißt:31 „In Steinbach, wo
ich mich von meinem Begleiter trennte, fand ich meinen Sagenmann und wanderte
mit ihm, nicht ohne Ausbeute lokaler Traditionen, bis über Asbach, wo ich ihn ent-
ließ.“ In einem Falle hat er uns einen Erzähler mit Namen genannt. Es ist dies der
Kutscher Mönch zu Sättelstedt, dem er als Knabe in der Gesindestube zu Dreißig-
acker lauschte, in die ihn die Strenge seines Pflegevaters, des Forstmeisters und
Leiters der Forstakademie Dreißigacker, Joh. Matth. Bechstein, öfters verbannt
hatte. Aus dem Munde dieses Mannes vernahm er u. a. die Sagen vom Hörsel-
berge.32
Von besonderem Wert müssen uns diejenigen Feststellungen Bechsteins sein,
die er hinsichtlich der Einschätzung des Sagengutes im Volke wie über die Mög-
lichkeit, solches zu sammeln, machte. Außer beiläufigen Bemerkungen darüber
verdanken wir ihm eine aufschlußreiche größere Darstellung in seiner Landeskunde
Thüringen in der Gegenwart (1843, L 287). Hier heißt es: „Spricht man diese Leute
(gemeint sind die Bewohner des Thüringer Waldes) freundlich an, so kann man
darauf rechnen, gut unterhalten zu werden, und da vernimmt man allerlei, zunächst
von der Familie, dann über Land und Leute, Herren und Diener, mitunter auch
Klagen über drückende Volkslasten, das leidige Zuvielregieren der Behörden und
die Despotie einzelner Beamter, doch auch das uneingeschränkte Lob der Guten
und Tüchtigen. Von Förstern, Fabrikherren und Gewerkbesitzern wird oft die ganze
Verwandtschaft genannt, und ihre Familienchroniken gehen von Mund zu Mund.
Auch Sagen werden dem erzählt, der gerne welche vernimmt. Doch gehört eine
eigene Weise dazu, dieselben hervorzulocken, da das Volk zu weit vorgeschritten,
sie noch zu glauben, mindestens wird nicht leicht jemand den Glauben daran ein-
gestehen. Ist durch freundliche Begegnung und Mitteilung das Vertrauen geweckt,
so kann man darauf rechnen, alles zu erfahren, was der Geleitsmann nur irgend
selbst weiß. Wer aber meint, den Leuten durch vornehmes Wesen zu imponieren,
sich barsch und rauh zeigt, vielleicht gar so schwach ist, eines Titels wegen Respekt
31 Ebda, Brief v. 20. 7. 1841.
32 Ludwig Bechstein, Dr. Joh. Matth. Bechstein und die Forstakademie Dreißigacker.
Ein Doppeldenkmal. 1835, 302. Zu Eingang der Sage Nr. 81 im Thüringer Sagenbuch (185 8)
erfährt Mönch die letzte Erwähnung mit dem Satz: „Ein Kutscher zu Sättelstedt erzählte
mir in meinen Knabenjahren manches vom Hörselberg, was er vom Hörensagen seines Ortes
kannte.“
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Ludwig Bechstein als Sagensammler und Sagenpublizist 251
zu verlangen, der kann auf eine stumme Begleitung rechnen und wird sicherlich
heimlich verlacht.“
Diese Sätze sind aus Erfahrung gesprochen. Sie vermitteln echte Erkenntnisse
aus dem Umgang mit der Bevölkerung. Beachtung verdient besonders die Aussage,
daß die Sagen zu seiner Zeit nicht mehr allenthalben als geglaubte Wirklichkeit
fortlebten. Die relativ kritische Haltung Bechsteins während der Sammeltätigkeit
war mit dem Blick für das Eigentümliche der Erzählsituation verbunden. Er hat diese
jedoch noch nicht zu einem wissenschaftlichen Forschungsthema gemacht, wohl
aber, wie schon gestreift, zu einem Gegenstand dichterischer Erzählungen. Es han-
delt sich bei ihnen um lebensvolle anschauliche Schilderungen.33 Ihre realen Grund-
lagen verdienen zweifellos noch nähere Untersuchung.
Hatte Bechstein Thüringen, Franken, die Rhön und den Harz selbst als Sagen-
sammler durchwandert, so beschränkte sich das Sammeln der Sagen aus entfernteren
Gegenden vornehmlich auf schriftliche Überlieferung. Doch glaubte er, auch hier-
bei nicht ohne eigene Anschauung bei der Bearbeitung verfahren zu dürfen und
unternahm deshalb die verschiedensten Reisen. Er versuchte ausdrücklich der
Publikation von Sagen aus anderen Gebieten dadurch eine Legitimation zu geben,
daß er hervorhob, sie würden nicht der eigenen Wahrnehmung entbehren, „die am
Ende doch mehr Wert ist, als die Quelle trockener Schriftüberlieferung.“
Im übrigen wollte er auch jene von Mitarbeitern in seine Sammlung eingebrach-
ten Sagen besonders geschätzt wissen, die auf mündlicher Überlieferung be-
ruhten, was so viel heißen sollte, daß es sich um bisher ungedruckte Sagen handelte.34
Auf mehrfache Weise sind in den Ausführungen Bechsteins die Schwierigkeiten
gekennzeichnet, die sich für ihn beim Überschreiten der heimischen Gefilde und
darüber hinaus bei der Auswertung schriftlicher Überlieferung auf dem Gebiete der
Sagensammlung und -bearbeitung ergaben.35 Beachtung verdient in diesem Zu-
sammenhang das Vorwort zum Deutschen Sagenbuch (1853): „Es sei vergönnt“,
heißt es da, „über das Sagensammeln hier ein Wort zu sagen. Leider gibt sich an
dieses gar manche unberufene Hand, die jener Hand von Ährenlesern gleicht,
welche aus den Garben rauft, die zu Mandeln gehäuft, noch auf dem Acker stehen,
und da ärntet, wo sie nicht gesät hat. — Wir alle, die wir dieses Gebiet anbauen,
können nicht der Schriftquellen, nicht der Bücher entrathen, aber die Quellenangabe
beschönigt und rechtfertigt noch keineswegs den offenbaren Nachdruck, der von
vielen literarischen Langfingern behufs sogenannter Auswahlen und Muster-
sammlungen ausgeübt wird, die sorglos und mühelos anderer Fleiß und Talent und
ihrer Verleger Kosten ausbeuten. Der Sagensammler muß sich neben seinen Schrift-
quellen doch auch durch Gebirg und Wald und Flachland selbst in etwas bemüht,
irgend einige Sagenblüthen gefunden, einige schöne Steine zum großen deutschen
Sagentempel selbst herbeigetragen haben, irgend etwas von ihm Neugefundenes
vorzeigen, sonst ist er ein Tropf, und nicht ebenbürtig, mitzuringen auf dieser
olympischen Arena.“ — Daß es sich bei diesen Ausführungen nicht nur um eine
33 Vgl. u. a. L. Bechstein, Hainsterne. Berg-, Wald- und Wandergeschichten. Halle
1853, bes. 4. Bd. mit der Erzählung Eine Nacht im Spessartwalde.
34 Vgl. Vorwort zu den Sagen Österreichs (1841).
35 Vgl. Einleitung zum Sagenschatz des Frankenlandes, 1. Teil 43.
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252 Alfred Fiedler
Selbstdarstellung handelt, sondern auch um eine Selbstverteidigung, besonders
gegen Einwände, die die unvollkommene Quellenangabe in seinem Sagenwerk
bemängelten, sei nebenbei bemerkt.
Versuch einer Sammelorganisation, Mitarbeiter
Außer dieser eigenen Sammeltätigkeit auf zahlreichen Wanderfahrten versuchte
Bechstein, die Sammlung von Sagen auch über Freunde und Bekannte zu organi-
sieren. Besondere Bedeutung kommt dabei dem Umstand zu, daß er gleich anfäng-
lich das Sammeln der Sagen als Programmpunkt in den Arbeitsplan des Henneber-
gischen altertumsforschenden Vereins aufnahm. Wieviele Kräfte sich ihm insgesamt
dabei zur Verfügung stellten, ist noch nicht erforscht. Wieweit die Leser seines
Sagenschatzes des Frankenlandes (1842), die er im Vorwort des Werkes bat, ihm
selbst entgangene Sagen mitzuteilen, seinem Wunsche entsprochen haben, ist bis-
lang nicht ermittelt worden. Unsere Untersuchung erfaßt die Mitarbeiter, die in den
Vorworten und zumal in dem Briefwechsel mit Storch und Bube genannt sind. Dabei
gehen wir nicht auf die „freundlichen Geleitsmänner“ ein, die Bechstein auf seiner
„idealen Sagenwanderung“ durch ganz Deutschland begleitet haben und die er im
Vorwort zum Deutschen Sagenbuch (1853) aufzählt. Es sind dies die Sagenforscher
der verschiedensten Teile Deutschlands, deren Werke er für die Zusammenstellung
seiner Arbeit ausgewertet hat. Auch haben wir nicht vor, den Lieferanten von Er-
zählstoffen, die literarischer Verarbeitung dienen sollten, nachzuspüren. Von ihnen
sei hier nur Henriette von Schorn genannt.36
An dem Gesamtplan der Bechsteinschen Sagensammlung und -bearbeitung hatte
Ludwig Storch37 zweifellos über lange Jahre den größten Anteil. Der 1803 als Sohn
eines Arztes geborene, nach dem frühen Tode seines Vaters in ärmlichen Verhält-
nissen aufwachsende Weggenosse Bechsteins hatte in Göttingen und Leipzig stu-
diert. Seine schriftstellerischen Fähigkeiten waren beachtlich. Er betätigte sich als
Schriftsteller, Journalist und Buchhändler. Als Schriftsteller geißelte er wiederholt
die erbärmlichen Zustände seinerZeit. 1848 war er Wortführer der Demokraten.
Das Scheitern der bürgerlichen Revolution zwang ihn, Gotha, seine Heimat, zu ver-
lassen. Nach unstetem Wanderleben starb er als Pensionär der Schillerstiftung in
Kreuzwertheim. Seine Freundschaft mit Bechstein währte bis 1849/50. Von da ab
trennten sie politische Differenzen.38 Bechstein hat es dabei nie recht verschmerzen
36 Vgl. Boost, a. a. O. 162, 183, ferner Adelheid v. Schorn, 2 Menschenalter. Berlin 1901;
dies., L. Bechstein. Zu seinem 100. Geburtstag. Frankfurter Zeitung 1901, Nr. 324.
37 Vgl. u. a. Georg Pachnicke, Ludwig Storch, ein Gothaer Dichter. Gotha 1957.
38 Vgl. Boost, a. a. O. 180. Eine eingehende Untersuchung über Bechsteins politische Hal-
tung in allen Phasen der bürgerlichen Revolution von 1848/49 steht noch aus. E. Schockes
Arbeit über Die deutsche Einheits- und Freiheitsbewegung i. S.-Meinigen 1848 — 50 (1927)
bringt eine Übersicht über die mehrschichtigen Vorgänge der revolutionären Ereignisse.
B. ist darin nicht erwähnt. Als Anhänger liberaler bürgerlicher Anschauungen in einer Zeit,
in der Parteien im neueren Sinne erst entstanden, begrüßte B. die Revolution zunächst mit
ihren Freiheitsidealen und nahm an ihr u. a. als Hauptmann einer Einheit der Meininger
Bürgergarde anfänglich teil, mißbilligte jedoch die radikaleren Vorstellungen der revolutio-
nären Demokraten bzw. Republikaner, so auch die Storchs. B.s Briefe an Bube (vgl. so
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Ludwig Bechstein als Sagensammler und Sagenpublizist 253
können, Storch als Freund verloren zu haben. Seit Anfang der dreißiger Jahre ver-
band sie u. a. das Sagenthema. „Wenn du mir thüringische Sagen mitteilen kannst
und willst, geschieht mir dadurch ein großer Gefallen“, heißt es am 29. 12. 1834 in
einem Brief an Storch. Bald erfahren wir weiter: „Um noch einmal auf die Sagen zu
kommen, so habe ich aus vielen Orten bereits sehr vieles Mündliche und rechne
auf Freunde.“39 Gemeinsam werden Reisepläne erörtert.40 Wieviel Verabredungen
sich haben verwirklichen lassen, ist nicht mit Bestimmtheit auszumachen. An Phan-
tasie dazu, um nicht Phantasterei zu sagen, hat es nicht gefehlt, wie etwa der Brief
vom 18. 2. 1837 bezeugt, in dem er vor schlägt, sich den Wanderführern gegenüber
als Venetianer auszugeben und sie im Austausch mit Saggut „mit funkelnden Kry-
stallen“ zu beschenken.
Aus dem nur einseitig vorhandenen Briefwechsel konnte leider nicht festgestellt
werden, wieweit Storch konkret Sagen zu den Bechsteinschen Sammlungen beige-
steuert hat. Als Sagenpublizist ist er nur in geringem Maße in Erscheinung getreten,41
ein Umstand, der ausreichend erklärt, daß Bechstein ihn in der in MS MF 1855 ge-
gebenen Übersicht über die zeitgenössische Sagenliteratur nicht aufgeführt hat.
Der Briefwechsel mit Storch erhellt, daß beide gemeinsame Freunde in dem
Benshausener Kreis42 besaßen, dem sie selbst angehörten und dessen Seele der Arzt,
Musiker und Philhellene Daniel Elster war. Es lag nahe, daß Bechstein in diesem
Kreis auch für seine Sagensammlung Mitarbeiter warb. Neben dem späteren Mei-
ninger Theaterdirektor Heinrich Stein aus Ruhla43 begegnen uns noch ein Baum-
bach und eine Frau Strauß, über welche sich Näheres bislang nicht hat ausmachen
lassen. Anders steht es mit Adolf Bube, der später an Storchs Stelle Bechsteins Inti-
mus wurde.
Bube war seit dem Jahre 1834 Archivsekretär beim Herzoglichen Oberkonsisto-
rium zu Gotha, danach ab 1842 Direktor des Herzoglichen Kunstkabinetts am
gleichen Orte.44 Er hatte 1821 bis 1824 in Jena Theologie und Philologie studiert
und betätigte sich danach in vielfacher Weise schriftstellerisch. Das Thema der Volks-
sagen beschäftigte auch ihn. 1837 erschienen von ihm Thüringische Volkssagen,
1839 Deutsche Sagen, 1840 Deutsche Sagen und sagenhafte Anklänge, 1841 Thüringische
Volkssagen-Auswahl und 1851 Thüringischer Sagenschatz für Haus und Wander-
schaft. Seine Einschätzung durch Bechstein läßt Rückschlüsse auf Bechsteins
Briefe v. 10. 9. 1848, 31. 12. 1848, 22. 3. 1849, 24* 2• 1850, 9. 2. 1854, 21. 9. 1836) sind ein
Spiegel des Verhaltens in vielerlei Einzelheiten und des Wandels Bechsteins zu konserva-
tiven Anschauungen; s. bes. Brief v. 30. 5. 1859.
39 Brief an Storch, ebda III 7, 1835, Nr. 25.
40 Brief an Storch, ebda III 7, Anfang Dez. 1835, Nr. 324.
41 In A. Bubes Deutsche Sagen u. sagenhafte Anklänge, hg. v. J. Günther, Jena 1842,
143 sind „[die] Sagen von Altenstein und der Umgebung“ von L. Storch genannt.
42 Ausführliche Darstellung des Benshausener Kreises s. Boost, a. a. O. 129ff. Die im
Briefwechsel mit Storch genannten Baumbach u. Strauß treten nicht auf. Elster siedelte
1837 als Theatermusikdirektor nach Bamberg um. Bechstein stellte sein Leben in dem
erfolgreichen Roman Die Fahrten eines Musikanten (1837, L 188) dar. Vgl. ausführliche
biographische Angaben über Elster bei L 188.
43 Brief an Storch, ebda III 7, Anfang Dez. 1835, Nr. 324; Boost, a. a. O. 128 gibt an, daß
Stein B. viel Material geliefert habe.
44 Angaben nach Aufstellung in Bube-Nachlaß, Goethe-Schiller-Archiv Weimar.
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254 Alfred Fiedler
eigene Arbeitsweise zu. So bemerkte Bechstein zu den Thüringischen Volkssagen
von 1837: „Die Sprache des Verfassers ist kernhaft und edel, die Behandlung aber
fast zu einfach, so daß sie dichterischen Aufschwung vermissen läßt.“45
Zu einer engeren Freundschaft beider Männer kam es erst nach 1849. Beide tausch-
ten Literatur aus und suchten sich gegenseitig durch kritische Beurteilung ihrer
Arbeiten zu fördern, wie der auch hier nur einseitig vorhandene Briefwechsel er-
kennen läßt. Wieweit Bube unmittelbar Sagen zu den Bechsteinschen Ausgaben
beigesteuert hat, ist nicht feststellbar.46
Ein im Vorwort zum IV. Teil des Thüringer Sagenschatzes genannter Referendar
Voigt aus Steinbach lieferte Beiträge in Mundart. Bechstein nahm sie unverändert
auf und gab zum näheren Verständnis des Steinbacher Idioms eine Einführung.47
Es darf vermutet werden, daß von dem gleichen Gewährsmann auch die zwei Sagen
in Benshausener Mundart stammen, die im Teil III aufgenommen worden sind. Neben
Voigt findet der Freiherr A. v. Boineburg zu Weila dankbare Erwähnung. Er hatte
aus dem Sagenkreis um Liebenstein und Altenstein Sagen beigesteuert.48
Wieweit die Mitarbeiter an der Sammlung der Deutschen Märchen (1845), nämlich
der Dichter und Sprachforscher Georg Friedrich Sterzing,49 der Dichter, Biblio-
thekar und Redakteur Ludwig Köhler50 und schließlich die junge Dichterin Wilhel-
mine Mylius, zu der Bechstein von 1843 bis zu ihrer Auswanderung 1848 nach
Amerika in persönlicher Beziehung stand,51 52 auch Sagenstoffe beigebracht haben, ist
nicht bestimmt auszumachen. Doch ist mit ihren Namen immerhin der Kreis der
Kräfte zu erweitern, die Bechstein bei seiner Sammlung volkstümlichen Erzählgutes
unmittelbar behilflich waren.
Da man bekanntlich noch nicht scharf zwischen den Erzählstoffen unterschied, darf
man vor allem die Mithilfe von W. Mylius auch bei der Sagensammlung vermuten.
45 L. Bechstein, MSMF III. Teil 1855, 235. Bechstein hat jedoch a. o. Stelle nicht unter-
lassen, zu bemerken, daß „Bubes schlichte Weisen vielen Beifall gefunden haben“.
46 L. Bechstein wird jedoch in den Anmerkungen zu dem oben unter Nr. 41 aufgeführten
Werk Bubes reichlich zitiert.
47 Bechstein bringt die Sagen in Teil IV des Thüringer Sagenschatzes in einem bes. An-
hang 203 f. Es handelt sich um 16 Sagen.
48 Siehe Einleitung zum Sagenschatz Thüringens IV. Teil IX, X.
49 Vgl. Stimmen aus dem Werrathale. Eine Zeitschrift für freimüthige Besprechung der
vaterländischen Angelegenheiten des Herzogth. Meiningen, Nr. 28. Hildburghausen,
2. IV. 1849. Gallerie der am 6. Dez. gewählten Landtagsabgeordneten des Herzogth. S.-
Meiningen.
50 Über Ludw. Köhlers Leben und Wirken, der zeitweilig auch Mitarbeiter im Bibliogr.
Institut zu Hildburghausen-Leipzig war, vgl. Friedr. Heide, Meininger Kulturspiegel März
1954; ferner Johannes Hohlfeld, Das Bibliogr. Institut, Festschrift zu seiner Jahrhundert-
feier. Leipzig Bibi. Institut 1926, 113 u. a.; Ernst Schocke, Die deutsche Einheits- und Frei-
heitsbewegung in Sachsen-Meiningen 1848 — 50. Ein Beitrag zur Geschichte der ersten
deutschen Revolution. In: Schriften des Vereins f. S.-Mein. Gesch. u. Länderkunde 86
(Hildburghausen 1927).
51 Siehe Brief an Storch vom 16. 5. 1843 und folgende.
52 H. Honndorf, Ludwig Wucke, ein blinder Dichter, Forscher u. Wegweiser. Salzungen
1911, 44L. Über W. Mylius verdanke ich freundliche Auskünfte Herrn Archivar Stapf,
Stadtarchivar der Stadt Themar; vgl. ferner Joh. C. Mylius’ Geschichte der Familie My-
lius (Buttstädt 1895).
liiSii.
Ludwig Bechstein als Sagensammler und Sagenpublizist 255
Nach H. Honndorf52 hatte Bechstein sie zur Umsiedlung nach Meiningen veranlaßt,
damit sie ihm zur Hand ginge. 1847 forderte sie den blinden Dichter Ludwig Wucke
auf, ihr bei der Bechsteinschen Märchensammlung behilflich zu sein, wobei sie ihm
ein Schwank-Märchen mitteilte. Wucke sammelte selbst Sagen und stand mit Bech-
stein in brieflichem Verkehr.53 Seine 1864 veröffentlichte Sagensammlung fand wegen
der Gründlichkeit der Aufnahme im Gebiet von Wasungen und Salzungen, noch
mehr aber wegen der sorgfältigen volkstümlichen Wiedergabe der Erzählstoffe be-
sondere Beachtung.54
Alles in allem ergibt sich, daß sich Bechstein mit seiner Sagensammlung vor allem
auf dem Boden Thüringens, trotz mancher gleichlaufender Arbeit anderer, wei-
tester Anerkennung und Unterstützung erfreute.
Haupttendenzen der Bechsteinschen Sagensammlung und -bearbeitung
Im folgenden gehen wir den Haupttendenzen der Sagensammlung und -bearbei-
tung Bechsteins nach.55 Ein Überblick über seine annähernd dreißig Jahre umfassende
Tätigkeit auf diesem Gebiet läßt erkennen, daß es ihm wesentlich auf die Betonung
zweier Werte ankam, nämlich des ethischen und des ästhetischen Gehaltes der
Sagen.56 Sie waren ihm integrierender Bestandteil einer übergeordneten volks-
erzieherischen Idee, für die er allerdings nur unsystematische Vorstellungen ent-
wickelte. Im Zusammenhang mit dieser Idee gebrauchte er für seine Sagenveröffent-
lichungen die Bezeichnung „Volksbuch“ und nannte sich selbst einen „volkstüm-
lichen Sagensammler und Sagendarsteller“. Er verzichtete darauf, zu den gelehrten
Mythen- und Sagenforschern zu gehören. Während er später deren Arbeit als,,wissen-
schaftliche (kritische) Sagenbearbeitung“, bezeichnete, charakterisierte er die eigene
als „volkstümlich“, die man, obgleich die Begriffe nicht ganz identisch sind, populär-
wissenschaftlich nennen könnte. Sie sah ihren Sinn in praktischer pädagogischer
Wirksamkeit. Dasselbe gilt von seinen „Volkserzählungen“.57
Bei dieser Entscheidung, mit seiner Sagenarbeit nicht Philologie und Mythologie
zu verbinden, mag daran erinnert sein, daß auch die Herausgeber des Grimmschen
53 Honndorf, a. a. O. 46.
54 Honndorf, a. a. O. 67ff.
55 Sie spiegeln sich in den Vorworten seiner Sagenpublikationen wie in seinen theore-
tischen Schriften wider, die freilich bei ihrem zumeist gehobenen poetischen Stil gebieten,
lediglich den gemeinten Intentionen nachzugehen und den Begriff nicht zu straff anzuziehen.
Vgl. Schmidt, a. a. O. 87.
56 L. Bechstein widmete ihnen 2 besondere Abhandlungen: a) Uber den ethischen Werth
der deutschen Volkssagen. Eine Abhandlung; vorgelesen bei der 4. Jahresfestfeier des
Henneb. alterthumsf. Vereins zu Meiningen. In: Der Sagenschatz und die Sagenkreise des
Thüringer Landes = Thüringer Sagenschatz 3. Teil, 1837, 1 —31. b) Der ethische und
poetische Werth der Volkssagen, Volksmärchen und Fabeln. In: MSMF III, 1855, 201
bis 220.
57 Hierher gehören seine „Volkserzählungen“ der verschiedensten Art, die u. a. in
Deutsches Volksbüchlein für Jung und Alt, hg. v. Gustav Nieritz, i84Öff. (vgl. L 335), in
Kalendern (L 388, 409, 435) oder in selbständigen Veröffentlichungen erschienen (vgl.
L 387, 418). Es handelt sich z. T. um sog. „Dorfgeschichten“. Noch 1853 gibt B. sog.
„Neue Volksbücher“ mit Holzschnitten illustriert heraus (L432, 433, 434, 446), die z. T.
auf alte Volksbücher zurückgehen.
MMtwUMHiiMiiiiMHiriiiMifuiw iwaui toi uvi/ltivni
256 Alfred Fiedler
Wörterbuches die Frage beschäftigt hat,68 wieweit man mit hoher Gelehrsamkeit
dem Volke in seiner Allgemeinheit dient.
Was die mythologische Forschung zu Bechsteins Zeiten betraf, so war sie nicht
unumstritten. Bechstein selbst setzte sich mit ihr auseinander und ging im MS MF I
und III in den Kapiteln Urzeitsagen wie Deutscher Mythus in örtlichen Anklängen
den Mythen nach. Er zeigte sich dabei wohlorientiert. Ein realistischer Sinn hielt ihn
aber davon ab, „die Wege jener urteilslosen deutschen Mythographen einzuschlagen,
die ohne alle Prüfung ihrer Quellen gedankenlos aus alten Büchern abschreiben und
sog. Mythologien und mythologische Handwörterbücher der deutschen, skandina-
vischen und slawischen Völkerschaften zusammenstoppeln“. Er gedachte auch nicht,
„in jene Labyrinthe abzuirren, in denen die spekulative Philosophie umhertaumelt,
und statt sich am Ariadnefaden besonnener Forschung, die das, was sie findet,
nicht beliebig mit Hülfe der Astrologie, Etymologie und anderen Logien deutet und
deutelt und mit dem Gespinst selbsteigener Phantasie umwebt, zurecht zu finden,
jenen Faden zu einem unauflöslichen Knäuel verwirrt.“58 59
Lehnte Bechstein sonach eine modische Gefolgschaft der von ihm hochverehrten
Brüder Grimm im Bereiche der Mythologie ab, so erfüllte es ihn jedoch mit Genug-
tuung, daß er ihnen wie auch Mannhardt mit seinen Sagenpublikationen auf dem
genannten Gebiete diente, denn wiederholt hatten sie von ihm beigebrachte Sagen
zitiert.60 In seiner literargeschichtlichen Übersicht über das Saggut schloß er sich
den Grimms im übrigen weitestgehend an und sah wie sie in Sagen und Märchen
ebenfalls Überreste alter Mythen. Doch bedeutete ihm die Erforschung der mythischen
Flerkunft der Stoffe keine zwingend zu verfolgende Aufgabe.61 Hinsichtlich der
Einteilung der Sagen wie ihrer Anordnung in Sammlungen hielt er es unter Be-
rufung auf die Vorrede der Deutschen Sagen der Brüder Grimm für geboten, am
besten regional ordnend zu verfahren. Bei dem Versuch jedoch, „den geistigen
Zusammenhang der deutschen örtlichen Sagenwelt teils unter sich, teils mit dem My-
thus, teils mit aller Dichtung und Märe übersichtlich nachzuweisen“, beschritt er
in MS MF III den Weg einer chronologischen und sachgeordneten Einteilung der
Volkssagen. Dabei stellte er „kosmische Sagen voran, Sagen von der Elemente
Macht und Gewalt, vom Einfluß des Naturlebens auf die Menschen“, und zwar mit
der Begründung, die Züge einer realistischen Denkweise verrät: „Erst mußte der
Kosmos vorhanden sein, bevor der Mythus entstand, und Völker mußten vorhanden
sein, ehe die Gottheiten geahnt und ihre Einwirkungen empfunden werden konn-
ten.“62
Mehr als spekulative Fragen lag jedoch Bechstein, offenbar zum besonderen Zwecke
der Legitimation und Verteidigung seiner Sammeltätigkeit, die Einschätzung des
58 Vgl. Theodor Kochs, Der Anteil Göttingens an der Geschichte des Deutschen Wörter-
buches der Brüder Grimm. HessBIIVk 54 (1963), bes. 215 f.
59 Bechstein MSMF I, 19. Besonders scharfe Distanzierung erfolgte 1858, s. unter Nr. 60.
60 Ludwig Bechstein, Die literarische Behandlung der deutschen Volkssagen. In: Die Wis-
senschaften im neunzehnten Jahrhundert ..., Bd. III, Heft VI, VII (Sondershausen 1858)
419 fr.
61 Vgl. auch Schmidt, a. a. O. 227.
62 Vgl. L. Bechstein MSMF III, 3 (Einleitung).
Ludwig Bechstein als Sagensammler und Sagenpublizist
257
Volkserzählgutes als Kultur- und Bildungsgut am Herzen. Seiner Abhandlung Über
den ethischen Wert der Volkssagen,63 die er 1837 anläßlich der vierten Jahresfest-
feier des Hennebergischen altertumsforschenden Vereins zu Meiningen vorgetragen
hatte und veröffentlichen ließ, kann man unschwer eine taktische Bedeutung bei-
messen. Bekanntlich war die Sammlung von Sagen ein Programmpunkt des genann-
ten Vereins, der aber höchsten Ortes zu genehmigen war. Dieser Zusammenhang ist
hinter dem zeitüblichen Wortgebrauch und der Verwendung herrschender reli-
giöser und weltanschaulicher Begriffe ebensowenig zu übersehen wie Bechsteins
Parteinahme für das einfache Volk. In den Sagen verkündet sich nach seinen Aus-
führungen Gottes Stimme als Volksstimme. Er findet in ihnen neun sittliche „Prin-
zipien des Volksglaubens“.
Diesen Prinzipien maß er fortwirkenden Erziehungswert bei und bemühte sich,
ihn im einzelnen zu erläutern: Indem „die Volkssage lehrend, warnend und beruhi-
gend wirkt, wie sie Eigennutz, Geiz, Hochmut, Faulheit, Müßiggang, Verschwen-
dung etc. bestraft, Fleiß, Freigebigkeit, Sparsamkeit, Redlichkeit belohnt, immer als
abschreckende oder nachahmenswerte Beispiele in Kindern und Erwachsenen ihre
Geschichte vor Augen stellt und dabei häufig der Namen nicht schont, sondern keck
und geradezu, und dadurch um so eindringlicher aus jüngster Vergangenheit die
Bestraften wie die Belohnten nennt“, bewähre sie sich im Gebiet der Sitten- und
Pflichtenlehre. Unter den genannten Prinzipien mag etwa der Satz „Armut schändet
nicht“ als problematisch erscheinen. Doch dürfen die nachfolgenden Ausführungen
Bechsteins ihres durchaus fortschrittlichen, ja aggressiven Charakters wegen nicht
übersehen werden: „Das gemeine Volk, überall mehr arm als reich, bildet selbst
in seiner Tradition eine ganz natürliche Opposition gegen den Reichtum und die
Reichen. Die Sage läßt redliche Arme reich und glücklich werden, sei es durch auf-
gefundene Schätze oder Geistergaben. Die Reichen prangen im Glanz ihrer Hoffart,
und hundertfach variiert die Sage ihre Strafe. Das Volk übt im Gefühl seiner Unter-
drücktheit, an die zu glauben es stets geneigt ist, eine eigentümliche Jurisdiktion
aus, dies zeigen schon die vielen dahin zielenden Sprichwörter ... Immer liegt die
Moral in solchen Sagen, daß (nur) Segen bei dem Reichtum ist, sei er durch Arbeit
oder durch Glück gewonnen, solange derselbe nicht mißbraucht wird ...“
Indem Bechstein die Sagen ihres so gearteten ethischen Wertes wegen an gleicher
Stelle den Landgeistlichen und Landschullehrern als Lehrgut empfahl, erklärte er
sich gegen die eifernde Theologie, die die Sage als Aberglauben verpönte. Er warf
dabei der bisherigen Bildungsentwicklung vor, an einem wesentlichen Bildungsgut
vorübergegangen zu sein, dem außer einem hohen sittlichen Gehalt ein natürlicher
poetischer Wert zuzubilligen sei. Er sah diesen wie die Brüder Grimm in der
„schlichten Einfachheit“, der „Ungeschminktheit“ und der „Kindlichkeit“ des Aus-
drucks,64 wobei die inhaltliche Seite des Schönen den ethischen Gehalt ausmache.
Beide, Inhalt und Form, in einem zu sehen, war Anlaß, noch einmal 1855 MS MF
darüber zu handeln.65 Hier kam es ihm auch darauf an nachzuweisen, wie die verschie-
63 Siehe Anm. 56 a).
64 Ludwig Bechstein, Einleitung zum Thüringer Sagenschatz. 1. Teil 1835, 16.
65 Siehe Anm. 56 b). 6
6 Volkskunde
¿.4 W4i/ffiWrmnlliIifUWiVJUI I I A/f -f l'éiWKl Mil Ik\n/1UIV1H1
258 Alfred Fiedler
densten Zweige der Kunst Sagenstoffe gestaltet haben, also das Volksgut die Kunst
befruchtet habe. Zur Abwehr klerikaler Einwände gegen den Glaubensgehalt der
Volkssage interpretierte er Dämonen, Elbe, Zwerge, Wasserleute und andere heid-
nische Gestalten als gottgläubige, da auf Erlösung hoffende Wesen.
Die volkspädagogischen Ideen Bechsteins führten, wie bereits bemerkt, zur Ver-
wendung der Bezeichnung „Volksbuch“ für seine Sagenveröffentlichungen. Es
geschah dies erstmalig 1841 im Vorwort zu den Sagen Österreichs. Dort heißt es:
„Unser Buch soll ein Volksbuch in edelstem und bestem Sinne werden. Es soll in
des Volkes Händen allverbreitet ihm vor Augen und zu Herzen dringen, was meist
lebendig aus ihm heraustönt: die Sage, das Mährchen, die Legende, dieser Drei-
klang der Poesie des Volkes. Den Vaterlandssinn, die Vorliebe für das Heimische und
Heimatliche, für die alten Erinnerungen soll unser Buch beleben und erwecken
helfen und dabei eine sittliche und belehrende Unterhaltung gewähren. Den hohen
sittlichen Wert der Volkssage habe ich an einem anderen Orte bereits ausführlich
besprochen.66 Er ist unzweifelhaft und überall bewährt.“
Der Zweck der „sittlichen und belehrenden Unterhaltung“, den die Bechstein-
schen Sagen-,,Volksbücher“ verfolgen wollen, wird von ihm teils mit romantischen
und emotionalen, teils mit realistischen bzw. realpolitischen Begriffen umschrieben.
Diese reichten ihrem Ursprung nach von der bürgerlichen Romantik über die Frei-
heitskriege zu dem Gedankengut des progressiven Bürgertums im Vormärz. Nicht
zu übersehen ist, daß sie nicht nur bei ihm vielfach verschwommen sind. Dies gilt
auch von dem Begriff des Vaterlandes und des Vaterländischen, von dem Bechstein
wiederholt, wenn auch maßvoll, Gebrauch machte. Einige als „Vaterländische
Sagen“67 bezeichnete Publikationen lassen nicht erkennen, warum ihnen gerade diese
Bezeichnung gegeben worden ist. Im Vorwort zum Thüringer Sagenschatz (1835)
erklärte er, daß er die Sagen nicht für die „leichte Unterhaltung einiger flüchtiger
Stunden“, sondern für das Vaterland gesammelt und „auf den Altarstufen der
Geschichte niedergelegt“ habe.68 Hier ist der Begriff „Vaterland“ ganz auf die
Zukunftshoffnungen des damaligen progressiven deutschen Bürgertums bezogen,
das die Kleinstaaterei zu überwinden gedachte. Doch beanspruchen noch andere
Vorstellungen im Zusammenhang der volkspädagogischen Wert- und Zielsetzung
der Bechsteinschen Sagenarbeit Beachtung. Wir meinen die Hinweise auf die schöpfe-
rische Leistung des Volkes, die in dem erzeugten Saggut vorliegt, wie auf die imma-
nenten Kräfte der Sagen selbst. Diese waren nach Bechsteins Auffassung noch immer
imstande, dem Volke zum sittlichen Wohle zu dienen. Eigene Bedeutung kommt der
66 Gemeint ist die Abhandlung Über den ethischen Wert der deutschen Volkssagen v.
1837, s. Anm. 56, a). Zum Gebrauch der Bezeichnung „Volksbuch“ sei vermerkt, daß Bech-
stein 1836 bereits mit seinem Thüring. Sagenschatz „ein Buch für das Volk“ geben wollte.
(Thür. Sagenschatz 2. Teil, Vorwort IX).
67 Vgl. Ludwig Bechstein, Vaterländische Sagen (L 132, 133, 136). In: Archiv f. d. Her-
zogl. S. Meiningischen Lande, 1832. Der 1832 von B. nach dem Muster der Deutschen
Gesellschaft zu Leipzig begründete Hennebergische altertumsf. Verein besaß als Leitsatz
„Sinn u. Liebe für alles, was auf vaterländisches Altertum, dessen Vorzeit und Geschichte
Bezug hat u. die Liebe zum Vaterland selbst“. In der Zeit territorialfürstlicher Zersplitte-
rung stieß sich der Begriff Vaterland an der Realität der historischen Situation.
68 Nach Thür. Sagenschatz, 1. Teil, Einleitung 16.
Ludwig Bechstein als Sagensammler und Sagenpublizist 259
Aufforderung an den Sagenleser zu, in dem gemeinten Gut ein „Miteigentum“69 zu
sehen. Er verband damit eine weitgehende Parteinahme für das „gemeine Volk“,
dem das Verdienst zukäme, allgemeines „Nationalgut“ durch die Zeiten des Sitten-
verfalls der herrschenden Schichten im Spätfeudalismus hindurchgerettet und weiter-
gebildet zu haben.
Die Sagenbearbeitung unter volkspädagogischen Absichten
Hatte Ludwig Bechstein mit seinen Sagenveröffentlichungen letztlich die Absicht,
Bücher für das Volk — um nicht direkt seinen Ausdruck „Volksbücher“ zu gebrau-
chen — zu schaffen, so gab es naturgemäß für ihn hinsichtlich der Stoffauswahl wie
-bearbeitung bis hin zur Buchgestaltung eine Reihe von Entscheidungen.
Die Bücher sollten vom Volke gelesen werden; sie mußten also in mehrfacher Be-
ziehung dazu geeignet sein. Zunächst konnten gewiß nicht alle Sagenstoffe als Volks-
erziehungsmittel Geltung beanspruchen. Bechstein sah sich veranlaßt, gewisse
Sagengruppen auszuschließen. So nahm er nicht in sein Deutsches Sagenbuch (1853)
auf, was „dem deutschen Volksbewußtsein in der Gegenwart, ja selbst dem deutschen
Lande allzufern lag wie die Stammessagen von Ost- und Westgoten, Vandalen,
Hunnen, Langobarden, Herulern, Gepiden u. a.“.70 Sparsam meinte er auch mythische
Heldensagen, Heiligenlegenden und Gespenster- und Hexensagen verwenden zu
müssen. Vor allem aber hatte alles das keinen Platz zu finden, was dem Gedanken
der Humanität widersprach, so „die zahlreichen Sagen von geraubten Hostien,
geschlachteten Christenkindern und dergleichen durch Juden.“ „Wenn sie auch nicht
alten Haß nähren helfen“, bemerkte er dazu, „so verletzen sie doch und widerstreiten
gleichsehr dem christlichen wie dem ethischen Prinzip.“ Diese in mehrfacher Be-
ziehung beachtliche Erklärung, insofern sie zwischen christlicher und ethischer Hal-
tung Differenzierungen zuläßt, galt auch für die Märchenbearbeitung, bei der Bech-
stein bekanntlich die böse Stiefmutter ausgeschieden wissen wollte.71
Auf das besondere Interesse Bechsteins für Beispielsagen hat bereits Schmidt72
mit der Feststellung verwiesen, daß von 18 ins NDMB aufgenommenen Sagen
allein 14 Beispielsagen sind, daß in ihnen das moralische Element verschieden stark
zu Tage tritt und daß sich der „pädagogische Zug“ nicht nur in Belehrungen, sondern
„mehr allgemein in der Erhärtung volkläufiger Wahrheiten und in der Warnung vor
falschem Verhalten gegenüber den Jenseitsmächten“ zeigt. In gleicher Proportio-
nalität wie im NDMB sind nach unserer Beobachtung innerhalb der Bechsteinschen
Sagenveröffentlichungen Beispielssagen nicht vertreten, doch bekunden die vorhan-
denen vielfach deutlich Bechsteins parteiliche Stellungnahme für die unterdrückten
Schichten des Volkes, für Verfolgte, Entrechtete und in Not Geratene, eine
Tatsache, die die Herausgeber der Märchen und Sagen Bechsteins im Aufbauverlag
1959 bestimmt hat, „ohne die Widersprüche in Bechsteins Werk zu verschleiern“,
69 Siehe L. Bechstein, MS MF III, 2 (Einleitung).
70 Einleitung zum Deutschen Sagenbuch (1853).
71 Vgl. Schmidt a. a. O. 243.
72 Schmidt, a. a. O. 156 f.
6*
livl W 4.f»/jQÄrfTT Ikll IF/ltYIft'C'w VAL I un I«JI/1UI,VNÌ
260 Alfred Fiedler
durchaus die „demokratischen, humanistischen und plebejischen Elemente“ darin
besonders anzuerkennen und mit Beispielen zu belegen.73
Äußerlich anziehend mußte es sein, daß Bechstein in seinem Thüringer Sagen-
schatz alte Quellenstücke in Originaldruck aufnahm, so Das Lied vom Danhäuser
oder Das alte Lied von der Frau von Weißenburg, und sie mit Notenbeigaben ergänzte.
Die Österreichischen Sagen (1851) wurden mit dem Abdruck von gelungenen Balladen
und Romanzen österreichischer Dichter belebt, das Deutsche Sagenbuch (1853)
mit 16 Holzschnitten von A. Ehrhardt versehen. Wie sehr Bildwerk seinen Ver-
öffentlichungen zugute kam, bewies nichts besser als der Erfolg seiner illustrierten
Märchenausgaben, wozu besonders Ludwig Richter74 das Seinige beigetragen hat.
Ist diese Ausschmückung natürlich zugleich ein Anliegen seiner Verleger gewesen,
an dem sie besonderen Anteil gehabt haben mögen, so ist die das Lesen belebende
Stoffauswahl und -anordnung gewiß auf Bechsteins Konto zu buchen. Sie bestand
darin, daß er den Sagen Märchen und Schwänke zugesellte und „mit Vorliebe der
alten Spott- und Neckelust, der Laienstreiche und veralteter, nun wohl auch abhanden
gekommener volkstümlicher Rechtsbräuche in Schimpf und Ernst“ gedachte.75
Mit der versuchten Belebung des Leseinteresses im Volke verband er die Förde-
rung des allgemeinen Bildungsstrebens durch belehrende Angaben über die Lokali-
täten der Sagenhandlung und über die Verwandtschaft der Stoffe untereinander.
Verfuhr er in den frühen Sagenveröffentlichungen sparsam damit, so schritt er in
den späteren z. T. zu umfänglichen Übersichten über Sagengruppen, zur Katalogi-
sierung gleichartigen Erzählgutes fort, nicht ohne mit dieser Aufschwellung seine
pädagogischen Absichten zu gefährden.76
Was die stilistische Bearbeitung der Sagen betraf, so zeigte das Erzählgut in münd-
licher und schriftlicher Überlieferung gewiß schon zahlreiche Ausdrucksvarianten,
so daß sich Bechstein nicht eingeengt zu fühlen brauchte. Mehr und mehr bildeten
sich in ihm Vorstellungen von einer persönlichen Eigenart seiner Erzählweise aus,
über die er allein zu befinden habe. „Über die von mir beliebte Art der Darstellung
kann ich mir keine Vorschriften machen lassen; ich hoffe sie wird genügen, wenn
sie einfach und verständlich ist“, hatte er bereits 1837 gegenüber einer Kritik auf-
begehrt.77 Zu umfänglichen Erklärungen sah er sich im Vorwort zum Deutschen
Sagenbuch (1853) genötigt.78 Seiner Auffassung nach entsprach eine jede Sagen-
behandlung, sofern es sich nicht um eine novellistische oder romanhafte Verarbeitung
von Sagenstoffen und gar in „blümelndem Stil“ handelte, dem Prinzip volkstüm-
73 L. Bechstein, Deutsche Märchen und Sagen. Berlin, Auf bau-Verlag, 1939, 10 u. 11
(Vorwort).
74 Ludwig Richter lieferte die Illustrationen zu Ludwig Bechsteins Märchenbuch von
1853.
75 L. Bechstein, Deutsches Sagenbuch (1853) XI (Vorwort).
76 In den Spätwerken erweiterte B. die Erklärungen zu kleinen Abhandlungen. Vgl.
Das wüthende Heer und der treue Eckart im Thüringer Sagenbuch (1858) I, 218. In Nr. 132
(248) faßt er z. B. sämtliche „Bergschätzesagen um Altenstein, Steinbach u. Liebenstein“
auf 6 Seiten zusammen.
77 L. Bechstein, Thüringer Sagenschatz 2. Teil X (Vorwort) gegen die Kritik in den
Literarischen Blättern, Beilage des Berliner Gesellschafters Nr. 28, 1835.
78 L. Bechstein, Deutsches Sagenbuch (1853) VIIfF. (Vorwort).
Ludwig Bechstein als Sagensammler und Sagenpublizist 261
licher Sagenwiedergabe. Sie konnte dabei den Erzählton je nach dem Sageninhalt
und der Zeit der Sagenhandlung wechseln. Bechstein war dabei überzeugt, daß es
sich um eine durchaus reiche Skala von Tonnuancen handeln könne und müsse.
Als er aber von der so postulierten Freiheit im Deutschen Sagenbuch besonderen Ge-
brauch machte, gelang es ihm nicht, allenthalben die Grenzen einzuhalten, die den
Charakter der Sage bestimmen. Indem er so z. B. wiederholt das komische Element
überbetonte, entkleidete er die Sagen ihrer Spezifik und verwandelte sie in Schwänke.
Daß er in dem gleichen Lebensabschnitt auch den Märchenstil überstrapazierte, hat
Schmidt eingehend mit der Analyse des NDMB bewiesen.79 Er führt den Hyposta-
sierungsvorgang in der Bechsteinschen Bearbeitungsweise zweifellos mit recht auf
den Umbruch der ,,Begriffs-und Vorstellungswelt“ der damaligen Zeit wie auf Bech-
steins „literarischen Ehrgeiz“ zurück. Bei der Sagenbehandlung hat nach unsrer
Feststellung jedoch Bechstein im allgemeinen den Historiker in sich walten lassen
und seine sonstige Fabulierlust beschnitten. Dies schloß nicht aus, daß er verschie-
dene Stilmittel zu angemessener Wiedergabe des Erzählgutes verwandte. Er ver-
stand sich auf Chronikalstil80 wie auf Anwendung archaischer Worte und Sprach-
formen, wenn es die Umstände erforderten. Er verlieh mit Lautmalereien seinen
Stoffen eigene Stimmungseffekte.81 Er belebte die einfache Berichtsform durch
Dialoge.82 Gelegentlich erfahren seine Darstellungen außerordentliche dramatische
Höhungen und drastische Ausweitungen, wobei es oft auch auf Verstärkung des
Schaurigen abgesehen ist. Es ist dies nicht nur bei den Beispielsagen der Fall, die aus
Gründen der Betonung des Moralischen gern starke Akzente bekommen, sondern
auch bei anderen Sagengruppen. Es sei dies mit einigen Beispielen belegt.
Die Sage Die Teufelsmahten aus der Gruppe der aetiologischen Sagen bietet inso-
fern einen bemerkenswerten Einblick in Bechsteins Bedürfnis nach Ausdrucks-
steigerung, als wir 3 Fassungen aus seiner Hand aus verschiedenen Zeiten
besitzen.83 Die erste Fassung liegt im Thüringer Sagenschatz 1838 vor. Sie verfährt
in der Darstellung der Sage relativ knapp in folgender Dreigliederung des Stoffes:
1) Ein Ritter von Liebenstein hat sich dem Teufel verschrieben und vermag daher
von diesem Gegendienste abzuverlangen.
79 Vgl. Schmidt a. a. O. 245.
80 Einige Beispiele: „Da geschähe ein Überfall des Feindes“ (D. Sagenbuch 1853 Nr. 628),
„Da wurde getheidingt und Frieden gemacht“ (ebda Nr. 590).
81 „Da erhob sich im tiefen Walde ein mächtig Jagdgetön, es schallte u. knallte, es sauste
und brauste“ (Dt. Sagenb. 1853 Nr. 626); „konnten fortan weder spucken noch schlucken,
weder gellen noch widerbellen“ (ebda Nr. 617).
82 Vgl. Zwiegespräch einer Eicheln sammelnden Frau mit Hans Jagenteufel (ebda Nr. 629);
ferner ebda Nr. 21 (Die Teufelsbrücke): „He! was giebest mir, wenn ich dir die Brücke
baue?“ — „He! was soll ich dir geben?“ fragte der Hirte. „Die erste lebendige Seele, die
darüber geht“, sagte der Teufel... „Ich bin’s zufrieden“, sagte der Hirt, und: „Topp schlag
ein!“ sagte der Teufel. — Besonders verlebendigtes Zwiegespräch durch Verwendung der
Mundart s. Das Riesenspielzeug (ebda Nr. 31).
83 Die Teufelsmahten, vgl. a) der Sagenschatz ... des Thür. Landes 4. Teil 1838, 158,
Nr. 2; b) Deutsches Sagenbuch, 1853, 609, Nr. 742; c) Thüringer Sagenbuch 1. Teil, 1858,
263, Nr. 136.
262
Alfred Fiedler
2) Ein solcher Gegendienst besteht darin, daß der Teufel in einer Nacht ein großes
Feld um Liebenstein abmähen soll, was hundert Schnitter kaum in drei Tagen
fertigbringen.
3) Nach der Art, wie der Teufel gemäht hat, wächst das Getreide fortan an gleicher
Stelle, teils rechts, teils links in seltsamer Form liegend.
Die Fassung von 1838 erweiterte Bechstein 1853 im Deutschen Sagenbuch mit fol-
genden Mitteln:
1) eingehendere Konkretisierung der Ortsangabe,
2) Verknüpfung mit Hinweisen auf verwandte SagenstofFe,
3) drastisch-witzige Charakterisierung von Ritter und Teufel,
4) satirisch-komische Übertreibung des Mähvorgangs, bei dem der Teufel sich
aus Verlegenheit sogar die Sense des Todes leihen muß,
5) drastische Bemerkungen über die Lagerung des Getreides wie über des Teufels
Schicksal, wobei eine Hildburghausener Redensart verwendet wird.
Mit der Überbetonung des Komischen verwandelte Bechstein 1853 die Sage in
einen Schwank.
In der Fassung von 1858 ist das komisch-satirische Element jedoch wieder zurück-
gebildet und die Erzählform derjenigen von 1838 angeglichen, doch durch eine
kleine folienhafte Schlußbemerkung erweitert.
Entsprechend seiner Überzeugung, daß das Volk in seinem Erzählgut über seine
Peiniger zu Gericht sitze und sich damit den Glauben an eine obwaltende Gerechtigkeit
bewahre, sofern es sich nicht selbst zur Durchsetzung derselben zu schreiten ge-
zwungen sehe, läßt Bechstein frevlerische Vertreter der Feudalgesellschaft und ihre
Handlanger: hartherzige Amtleute, rohe Förster, grausame Vögte u. a. drastisch
ihre wohlverdiente Strafe erleben. Er steigert wiederholt den Frevel wie die Strafe,
um die sittliche Entrüstung zu verstärken und das moralische Bedürfnis nach Genug-
tuung zu befriedigen. Seiner Verurteilung entgeht auch eine feudale Organisation
wie der Deutsche Ritterorden nicht. Bei seiner Interpretation von Sagen im MS MF84
läßt er die Sage vom Bernsteinrecht mit Recht den Schwund des ehedem ergiebigen
Bernsteinsegens am Gestade des Frischen Haffs auf die Freveltat des Ordens zurück-
führen, welcher sich den Alleinbesitz zugeeignet und das Natur- und Volksrecht der
Fischer beseitigt habe. Im Deutschen Sagenbuch bearbeitete Bechstein die Sage ent-
sprechend wirksam.85 Den Vogt auf Samland, Anselmus v. Losenberg, trifft schwerste
Vergeltung, da er das Gesetz geschaffen hat, das dem Volk das Aufheben des Bern-
steins unter Androhung grausamer Strafen verbot. Er muß als Irrgeist in Sturm-
nächten umgehen. In diesen kann man ihn rufen hören: „Oh mein Gott! Bernstein
frei! Bernstein frei!“ Als weitere Folge der frevlerischen Rechtsanmaßung habe man,
erklärt Bechstein weiter, auch die Minderung des Bernsteinauswurfs des Meeres wie
die oftmals sich abspielende optische Täuschung beutesüchtiger Strauchdiebe und
Wächter anzusehen, vor deren Füßen angeblich heranschwimmende Stücke in Schaum
verwandelt werden.
Die Vergrößerung der Freveltat nimmt Bechstein mit einem Dreischlag in der
Straffolge vor. Wiederholt macht er von diesem gestalterischen Mittel Gebrauch.
84 MS MF III, 210.
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Ludwig Bechstein als Sagensammler und Sagenpublizist 263
Bei anderen Sagen ist es Bechstein darum zu tun, durch Zuordnung analoger Stoffe
Kontrastwirkungen zu erzielen. So verbindet er 18 5 3 zwei Sagen, nämlich die von den
Brotschuhen und die von den Semmelschuhen. Dieselben Sagen treffen wir bei den
Brüdern Grimm in zwei getrennten kurzen Fassungen an.85 86 Nach ihrer Angabe
entstammen sie mündlicher Überlieferung aus Böhmen. Indem Bechstein beide Sagen
vereint, findet er Gelegenheit, Freveltat und Strafe des Ritterfräuleins auf dem Schloß
Hradeck, das sich Überschuhe aus ausgehöhlten Semmeln hatte machen lassen, nur
um ihre zarten Füße zu schonen, besonders zu betonen.
Eine besonders drastische Steigerung in Inhalt und Form erfuhr die Sage vom
Bischof Hatto zu Mainz, wie ein Vergleich mit dem analogen Stoff im Grimmschen
Sagenbuch zeigt.87 Bechstein verstärkte die VerabscheuungsWürdigkeit des Volks-
feindes und seine Bestrafung. Er weitet gleich eingangs das Schandbild des Frevlers
mit Hinweisen auf frühere Übeltaten aus. Motivisch führt er die Mäuse in einer Re-
densart, die der grausame Bischof laufend gebraucht, vorzeitig ein. Freveltat wie Hohn-
rede Hattos werden durch Psychologisierung erweitert. Die Bestrafung erfährt eine
ungemeine Dramatisierung. An der Verfolgung des Schurken nehmen nicht nur die
Mäuse, sondern zuletzt, nachdem er seine Seele gar verflucht hat, alle Teufel teil.
Sie werfen den Rest seines Körpers, den die Mäuse übriggelassen haben, fernab in den
Schlund des Ätna.
Der Darstellung des Übeltäters Hatto schließen sich zum Zwecke des Kontrastes
zuletzt zwei Sagen von guten Bischöfen an.
Wie sehr man nun aber auch den angeführten übersteigerten Sagenbearbeitungen
wertvolle pädagogische Absichten zugestehen mag, so sind sie stilistisch als über-
strapaziert und unvolkstümlich zu bezeichnen. Daß Bechstein dies selbst empfunden
hat, zeigen seine steten Bemühungen, die Frage einer dem Volke angemessenen
Behandlung der deutschen Sagen zu durchdenken, wobei er 1858 wie schon bemerkt
mit der Unterscheidung dreier Bearbeitungsweisen (einer dichterischen, einer volks-
tümlichen und einer wissenschaftlich-kritischen) weitere Klarheit für sich herbei-
zuführen versuchte.88
Unter „volkstümlicher“ Sagenbearbeitung verstand er dabei die Sagenwiedergabe
in Prosa. Hierher zählte er auch den „Sagennachhall in Volksbüchern“ der verschie-
densten Art, dessen Einfluß infolge Verfalls der deutschen Literatur und der Sprach-
verderbnis angeblich verloren gegangen war, bis das ausgehende 18. Jahrhundert
ihn neu zu entdecken wußte. Indem er das echte Verfahren volkstümlicher Sagen-
bearbeitung zu klären versuchte, wiederholte er Grimmsche Grundsätze. Daß er diese
bei einem Großteil seiner Sagenbearbeitungen berücksichtigt habe, konnte er für sich
in Anspruch nehmen. Dies galt jedoch nicht für alle. Als ein Zeichen seiner Selbst-
kritik hat man es anzusehen, daß er in der Literaturübersicht in der gleichen Abhand-
lung sein Deutsches Sagenbuch von 1853 nicht angeführt, dagegen das neue Thürin-
85 Deutsches Sagenbuch 204, Nr. 231.
86 Gebr. Grimm, Deutsche Sagen.3 Berlin 1891. Nr. 236 u. 238. Bechstein, Deutsches
Sagenb. 568, Nr. 688.
87 Bechstein, Deutsches Sagenbuch Nr. 63; Gebr. Grimm, a. a. O. Nr. 242.
88 L. Bechstein, Die literarische Behandlung der deutschen Volkssagen. In: Die Wissen-
schaften des 19. Jhs, Bd. III Heft VI/VII, 1858, 406f.
264
Alfred Fiedler
ger Sagenbuch genannt hat, das an seine ersten Arbeiten wieder anschloß, in welchen
jene Grundsätze besser beachtet worden waren, als es später der Fall war.
Einschätzung des Sagenwerkes
Wir versuchen zum Schluß, Bechsteins Leistungen auf dem Gebiete der Sagen-
sammlung und -bearbeitung zusammenfassend einzuschätzen. Als Teilstück eines
vielseitigen dichterischen wie wissenschaftlichen Schaffens während annähernd
dreißig Jahren spiegelt sein Sagenwerk seine Doppelbegabung wider, die keinesfalls
nur eine harmonische Einheit bildete. Für den Konflikt zwischen dichterischer wie
wissenschaftlicher Befähigung in seiner Persönlichkeit, der z. T. auch in seinem
Sagenwerk in Erscheinung tritt, gibt es mannigfache Belege.89
Unschwer lassen sich zwei Abschnitte in dem hier zu erörternden Schaffen Bechsteins
unterscheiden. Der erste umfaßt die Periode der Arbeit am thüringischen und frän-
kischen Sagenschatz und den österreichischen Sagen einschließlich der programma-
tischen theoretischen Abhandlung Über den ethischen Wert der Volkssagen. Er ist
besonders durch den Versuch der Begründung einer Sammelorganisation, durch
eigene Feldforschung, durch wertvolle Bemerkungen über die ermittelten Erzähler,
ihren Aussagewillen und ihre Einschätzung des Saggutes, ferner durch eine relativ
„echte“ Bearbeitung der Stoffe gekennzeichnet. Der zweite Abschnitt erhält sein
Gesicht durch die Herausgabe des Deutschen Sagenbuches und der theoretischen
sowie referierenden Abhandlungen, die in MSMF und in Die literarische Behandlung
der deusclien Volkssagen (L 475) ihren Niederschlag fanden, und durch die Wieder-
aufnahme der thüringischen Sagensammlung im Thüringer Sagenbuch (L 472, 185).
Der Epoche besonders eigen ist die betonte Hervorkehrung pädagogischer und
moralischer Absichten. In ihrem Dienste erfolgte die gleichzeitige Publikation von
Volkserzählungen (L418, 1852/53) und sogenannter Neuer Volksbücher (L433, 434,
446) sowie die teilweise Übersteigerung der stilistischen Darstellungsmittel im
Deutschen Sagenbuch. Die Periode ist ferner durch Selbstverteidigungen und kri-
tische Auseinandersetzungen mit den „Mythologen“ gekennzeichnet.
Beide Schaffensabschnitte stehen jedoch durchgängig unter der positiven Ent-
scheidung, die zu Beginn der dreißiger Jahre von Bechstein getroffen worden war,
nämlich den Brüdern Grimm zu folgen, die von ihnen auf gezeichneten Werte des
überlieferten Kulturgutes zu verteidigen und das Seinige zu tun, die Sagen als Schätze
des Volkes zu sammeln. Unbestritten kommt Bechstein das Verdienst zu, mit an der
Spitze einer erst sich in dem genannten Jahrhundert entfaltenden Sammelbewegung
zu stehen.90 Wie er eine solche zu organisieren versuchte, hoffen wir aufgehellt zu
haben. Daß er die Sammlung von Sagen sogar zu einem Programmpunkt der Tätig-
keit des Hennebergischen altertumsforschenden Vereins machte, sei dabei besonders
unterstrichen. Da die Statuten des Vereins höchster landesherrlicher Genehmigung
bedurften, fällt auf diese Aktion ein besonderes Licht. Sie hatte sich im Rahmen des
S9 Vgl. u. a. Bube-Nachlaß I (4) Briefe Nr. 604/135 v. 19. 12. 1854, Nr. 258/185 v.
10. 6. 1856.
90 Karl Wehrhan, Die Sage. Handbücher zur Volkskunde Bd. I, Leipzig 1908.
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Ludwig Bechstein als Sagensammler und Sagenpublizist
265
Möglichen innerhalb eines herrschenden Regimes zu bewegen, dem erst demokra-
tische Freiheiten abgerungen werden mußten, wobei für Meininger Verhältnisse
festgestellt werden kann, daß hierfür bessere Voraussetzungen bestanden als etwa in
Gotha.91 Der unter den gegebenen politisch-gesellschaftlichen Umständen vorge-
tragenen und 1837 veröffentlichten Abhandlung Über den ethischen Wert der Volks-
sagen kommt sonach die besondere praktische Bedeutung zu, die spezifischen Vor-
aussetzungen für das Sammelwerk mit geschaffen zu haben. Daß sie zugleich mutig
war, darf nicht übersehen werden, waren doch die in ihr geäußerten volkspädago-
gischen Gedanken mit kritischen Ausstellungen an den herrschenden Schichten ver-
bunden.
Was nun die Sagenpublikationen der ersten Periode betrifft, so haben die Zeit-
genossen wie auch die nachfolgenden Geschlechter trotz gewisser Einwände, be-
sonders hinsichtlich der fehlenden Quellenangaben, nicht umhin gekonnt, Bechstein
Anerkennung zu zollen. Mehr oder weniger umfänglich griff man auch in eigenen
Publikationen auf sie zurück, wie z. B. die Veröffentlichungen von F. Ranke (1910),
Hopf (1917), Wehrhan (1922), Quensel (1926) zeigen.92 Die von Bechstein ausgegan-
genen Impulse fanden auch außerhalb Deutschlands ihre Würdigung. So erklärte
1926 Anton Mailly, der Herausgeber der Niederösterreichischen Sagen, zu Bechsteins
Volkssagen, Märchen und Legenden des Kaiserstaates Österreich (L 216, 1829/40):
„Das Büchlein dürfte die Anregung gegeben haben, daß in der Folge eine eifrige
Sagenforschung in Österreich begann.“93
Bei allen kritischen Vorbehalten gegenüber den Leistungen der 2. Periode darf
nicht die allgemeine Bedeutung des Deutschen Sagenbuches für die Zeit seines Er-
scheinens verkannt werden, wie sie m. E. am besten mit der 1855 von Theodor
Gräße94 gegebenen Übersicht über die zeitgenössischen Sagenpublikationen erhellt
wird. Er hatte zwar nur kurz zu bemerken, daß außer den Brüdern Grimm „neuer-
dings Bechstein die bedeutendsten Sagen unseres gemeinsamen Vaterlandes zu-
sammenzustellen versuchte“. Doch kam darin zum Ausdruck, daß in diesem Werk
in der Epoche nach der fehlgegangenen bürgerlichen Revolution, die auch die deutsche
Kleinstaaterei überwinden sollte, eine nationale Leistung gesehen werden mußte, die
dazu beitragen konnte, die Einheit deutscher Kultur im Volksbewußtsein zu erhalten.
Daß im übrigen die theoretischen Schriften und die im wesentlichen referierenden
Darstellungen im MS MF, auf die wir unserem Thema entsprechend nur z. T. ein-
gegangen sind, nicht im Rahmen einer Geschichte der Sagenforschung unerwähnt
bleiben dürfen, beweist u. a. die Übersicht Wehrhans.
Bechsteins Absichten und Arbeitsweise auf dem Gebiete der Sagenbearbeitung
und -Veröffentlichung zeigen erweisbar in mehrfacher Beziehung Abweichungen von
91 Vgl. Ernst Schocke, Die deutsche Einheits- u. Freiheitsbewegung in Sachsen-Mei-
ningen 1848 — 50 (1927) (s. Anm. 51).
92 Friedrich Ranke, Die deutschen Volkssagen. München 1910; Valentin Hopf, Ost-
thüringer Sagenbüchlein. Saalfeld 1917; Karl Wehrhan, Sagen aus Hessen u. Nassau. Leip-
zig 1922; Otto Böckel, Die deutschen Volkssagen. Natur u. Geisteswelt Nr. 262; Paul Quen-
sel, Thüringer Sagen. Jena, Eugen Diederichs Verlag, 1926.
93 Anton Mailly, Nieder-Oesterreichische Sagen. Leipzig 1926.
94 Joh. Georg Theodor Gräße, Der Sagenschatz des Kgr. Sachsen. Dresden 1855.
266
Alfred Fiedler
der Haltung der Brüder Grimm, in deren Gefolgschaft er am Werke war. Nichts-
destoweniger hat kein Geringerer als Wilhelm Grimm kritische Bemerkungen, die
allerdings den Märchen-Bechstein betrafen, mit den anerkennenden Worten be-
schlossen: „Möge ein jeder an seiner Stelle mit Eifer und Liebe tun, was er vermag.“95
95 Siehe Briefe der Brüder Grimm, hg. v. Leitzmann, 1923, 2i6f.; Brief an Pröhle vom
26. 1. 1855 : „B’s Buch habe ich noch nicht gesehen, ein Aufsatz von ihm über Märchen, den
ich in einer Zeitschrift voriges Jahr gefunden habe, ging nicht über das bekannte und ge-
wöhnliche Maß hinaus und war für das sog. große Publikum bestimmt. Mich reizt nur, was
Neues enthält und wissenschaftlich behandelt ist. Möge ein jeder an seiner Stelle mit Eifer
und Liebe tun, was er vermag.“ Bei dem erwähnten Aufsatz handelt es sich um Das Märchen
und seine Behandlung in Deutschland, in: Germania, 1852, II. Bd. 316 — 328 (L 408). Das
sog. „große Publikum“ ist nach zeitüblichem Ausdruck das „allgemeine Publikum“.
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Die Oberlauben an Stallgebäuden in Brandenburg
Von Werner Radig
Die Rolle der Lauben, sowohl der Erdgeschoß-Lauben wie auch der Oberlauben
oder Obergeschoß-Lauben, d. h. der Galerien, ist in der Volksbauweise ganz bedeu-
tend. Bei Betrachtung der Vorlauben zu ebener Erde hat man versucht, eine Herlei-
tung aus der Holzarchitektur der Ur- und Frühgeschichte1 an Hand von Belegen an-
zunehmen und zu erhärten; bei den Oberlauben2 ist eine solche oder ähnliche Her-
leitung viel mehr erschwert, weil die Ausgrabungen meist nur die im Boden liegenden
Bauteile erkennen lassen. Dagegen gibt es Beispiele der Galerien, d. h. Laubengänge,
in Obergeschoßhöhe in den sakralen und feudalen Bauten als hervorragende Zeug-
nisse der Steinarchitektur in Europa, die bei Anwendung von Bogenbildungen als
Arkaden3 und Bogengalerien auftreten und von höchster künstlerischer Wirkung sind.
Wie solche Baumerkmale in die Stadtbaukunst der besitzstolzen Bürgerschaft
eingedrungen sind, so mag auch der Weg der Oberlaube über den Ackerbürgerhof,
der zum Teil aus Stein, zum Teil aber in der Holzbauweise mit Lehmgefachen ent-
stand, in den Bauernhof gegangen sein, einmal um hier die notwendige Funktion des
Laubenganges, d. h. auch Laufganges, zu erfüllen, zum anderen aber auch um dem
Schmuckbedürfnis und der Repräsentation des in gewissem Grade wohlhabenden
Bauern zu dienen.4 Diese Herleitungsthese ist noch keineswegs genügend unter-
1 W. Radig, Frühformen der Hausentwicklung in Deutschland. Berlin 1958, 13#., 22ff.,
34#., Karten 1 und 3 (Dt. Bauakademie).
2 E. Kulke, Die Laube als ostgermanisches Baumerkmal. München 1939, 39#., 47#.,
104#. mit Lauben-Karte (Abb. 127). Während K. in der textlichen Behandlung Erdgeschoß-
Lauben (I) und Obergeschoß-Lauben (II) bei Herkunftsfragen und Ausbreitungserschei-
nungen fast immer gemeinsam als gleiche Baumerkmale ansieht und zu wenig trennt, gibt
er in der genannten Karte eine Gliederung in (I) Giebel-Lauben, traufseitige „Giebel-
Lauben“ (v. W. R. apostrophiert), Kreuzstuben u. ä., traufseitige Laubengänge, Treppen-
Lauben und (II) Giebel-Oberlauben, traufseitige Oberlauben, 2—4 seitige Oberlauben. —
Uns beschäftigen nur die traufseitigen Oberlauben, wie sie hier an Wirtschaftsbauten Vor-
kommen. — Auch in Wasmuths Lexikon der Baukunst, Berlin 1931, Bd. III, sind die Defini-
tionen bzw. Kurzbeschreibungen unzureichend, so von H. Phleps (490) über den Lauben-
gang, der nur als Loft in nordeuropäischen Speichern und im Blockbau des Alpenlandes im
Obergeschoß erwähnt wird; die mitteleuropäischen, bes. mitteldeutschen Laubengänge
fehlen völlig. — Nur unter Galerie werden einige bautechnische Fakten, z. B. das Aufliegen
des Laubenganges auf den Deckenbalken, mitgeteilt. Zusammenfassende Literatur fehlt.
H. Phleps-Adler, a. a. O. Berlin 1930, Bd. II, 568.
3 L. Giese, Arkade. In: Reallexikon z. dt. Kunstgeschichte. Hg. von Otto Schmitt, Bd. I,
Stuttgart-Waldsee 1937, 1040 — 1050.
4 O. Schmolitzky, Volkskunst in Thüringen vom 16. bis zum 19. Jh. Weimar 1964, 52,
Fußnote 48; L. Böer, Schwedter Bürger und Bürgerhäuser im 17. und zu Beginn des 18. Jhs.
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268 Werner Radig
baut, so daß es notwendig erscheint, diese ebenso auffällige und zweckmäßige wie
wirklich schöne Bauform der Volksbauweise in kleineren Siedelgebieten zu unter-
suchen, wobei zugleich die volkskundliche Frage nach der Bauweise, der Funktion
und Nutzung der Oberlauben sowohl bei den Wirtschaftsbauten wie auch bei den
Wohnbauten schrittweise beantwortet werden muß.
Nur durch diese Methode werden wir über die bisher skizzenhaften Deutungen
der baugeschichtlichen Erscheinungen wie der Lebenswelt der ländlichen Bevölkerung
auf dem Bauernhof in der Mittelmark und ganz Brandenburg hinauskommen können.
Die Oberlaube ist eine sehr eigentümliche Ausgestaltung des Oberstockes (auch
des selten überlieferten „Obergeschosses“), die in dem Öffnen der Traufseite in
Stockwerks- oder Geschoßhöhe besteht. Der auf die Deckenbalken gelegte Lauf-
und Laubengang der Oberlaube stellt den notwendigen Verbindungsweg zu den
Türen und Räumen des Oberstockes (Obergeschosses) dar, den der Bauer über eine
Außentreppe erreicht. Außentreppe und Laubengang nutzen den Raum unter dem
Dachüberstand aus. Die Längswand der Traufseite schließt unten (Stall) wie oben
(Heuvorrat) die Räume hofseitig ab. Die Traufseite ist also durch die Laubenstiel-
abstände (Rechtecke, Bogen) der Oberlaube oberhalb der mehr oder weniger ge-
schlossenen Balustrade geöffnet; letztere wird durch Türöffnungen unterbrochen, die
auf den Vorgang der Futterbergung hinweisen, auf die noch einzugehen ist.
Wir behandeln deshalb zunächst knapp die Stallbauten in Brandenburg ohne
Oberlaube, und zwar einstöckige Ställe mit Kniestock (Drempel) und Ställe mit
Oberstock. Dann folgt die Darstellung der Oberlauben an Stallgebäuden und die
Zusammenstellung der erhaltenen Belege in zwei Gruppen oder Phasen der Ent-
wicklung. Weiter wird den Schmuckelementen und den Funktionen dieser Lauben
nachgegangen und schließlich der noch wenigen Oberlauben an Torhäusern (mit
Speicherfunktion) gedacht. In der Zusammenfassung wird die Datierung gegeben
und die Verbreitung der traufseitigen Oberlauben umrissen.
i. Stallbauten ohne Oberlaube
Alle uns in Brandenburg sowohl im Haufenhof — im Gebiet des Zwiehofes — wie
im mitteldeutschen Drei- und Vierseithof begegnenden Stallgebäude sind quer-
gegliedert und traufseitig, insbesondere hofseitig aufgeschlossen. Selten geworden
Schwedt/Oder 1935, jöff., Abb. 3, 4 (Sonderdruck a. d. Nachlaß Adolf Spamers mit Zu-
eignung von Böer). Oberlaubenhäuser werden hier wie in Alt-Danzig „Kanzelhäuser“
genannt. — Im Frühjahr 1966 fanden wir im Rahmen der Feldforschung in der märkischen
Kleinstadt Treuenbrietzen mehrere Stalloberlauben mit weiten Laubenstielabständen, so
in einem großen Wirtschaftshof Großstr. 1 (sehr weite Abstände in der rudimentären Ober-
laube) und in dem engen, tiefen Ackerbürgerhof Großstr. 18 (Bes. R. Torges), dessen Lauben-
stielabstände zwischen 1,30 und 1,20 m weit sind; nach schriftlicher und mündlicher Fa-
milienüberlieferung reicht der letztgenannte Fachwerkbau im ackerbürgerlichen Hof bis
1686 zurück. — In Jüterbog sind die Oberlauben an zweistöckigen Stallbauten im Hof des
ehern. Gasthofes Stadt Hamburg (Bes. A. Jäger) mit weiten und engen Stielabständen, im
Hof ehern. Dalichow (Zinnaer Vorstadt) mit engen Bogenöffnungen und im Hof Dammtor
Nr. 23 (Dammvorstadt) mit engen Bogenöffnungen erhalten geblieben, letztgenannter mit
einfach stehendem Stuhl, die beiden erstgenannten mit doppelt stehendem Stuhl.
Die Oberlauben an Stallgebäuden in Brandenburg
269
sind im heutigen Altbautenbestand die eingeschossigen Stallgebäude,5 die sämtlich
als Holz-Lehm- oder noch seltener als Blockbauten wie im Spreewald errichtet wor-
den sind.
Für erstere nennen wir den Fachwerkstall vom Hof Hahn in Saarow. Dieser alte Stall
besaß eine Unterfahrt, die sich nach dem Hof öffnete; der Hauptraum nahm die Rinder, der
kleinere Raum die Pferde auf. Die Versenkung durch Deckenbalken ließ zwar den Stall-
raum niedriger, den Dachraum aber größer werden. Vor allem dürfte der hofseitige Dach-
überstand häufig gewesen sein; er ermöglichte einen trockenen Gang vor den Türen und
der Unterfahrt. Datierend sind die Dachmerkmale: der märkische Längsverband im Kehl-
balken-Sparrendach und die Spitzsäulen, wobei besonders der Längs verband in das 18. Jahr-
hundert zurückweist. Der vergrößerte Dachraum diente dem Bauern als Heuboden unter
der wTeichen, aus Rohr bestehenden Dachhaut.6 Einen alten Stall dieser Art besaß auch der
Hof W. Lehmann in Dammendorf, Krs. Eisenhüttenstadt, der sich durch den Uberstand
und vor allem durch den märkischen Längsverband auszeichnet.
Ähnliche Struktur haben die eingeschossigen Stallungen im Blockbau, wie sie in der
Niederlausitz errichtet wurden: Hauptmerkmale sind Quergliederung, im Dachgefüge des
Kehlbalken-Sparrendaches der märkische Längsverband, die Spitzsäulen und die Rohr-
bedeckung. Es gibt dort Oberlauben auf den Dachbalken innerhalb des Dachbodens, d. h.
des Dachraumes in Burg, Spreewald,7 da ein Obergeschoß dort nicht vorhanden ist. Schon
hier drängt sich die Frage nach dem Zweck dieses hochgelegenen Laubenganges auf: Aus
dem echten Bedürfnis des Begehens von Bodenraum zu Bodenraum und darüber hinaus aus
der Freude am Schmuck entstand die Laube.
Wie die Notwendigkeit, bei wachsendem Viehbestand weiteren Raum für die Futter-
stapelung zu gewinnen, zur Schaffung eines aufgesetzten Stockes geführt hat, —
und sei es zunächst nur eines Halb- oder Kniestockes — zeigen alte Stallbauten aus
Brandenburg, die als Fachwerkbauten den Drempel oder Kniestock besitzen:
Quergliederung mehrerer Räume für Rinder und Pferde, Überstand des Kniestockes für
einen trockenen Stallgang auf dem Hof, Luken und Türen im Halbstock zur Aufnahme des
Heuvorrates, Luken im Dachboden bzw. in der Stalldecke zum Herabwerfen des Heues sind
die Hauptmerkmale dieser Stallgebäude, deren Alter ebenfalls hauptsächlich durch das
Dachwerk bestimmt wird. In ihm erscheinen selten die Firstpfette mit Mittelsäulen (Hof
Lahn in Kemnitz (Taf. 3 a), Krs. Luckenwalde),8 öfters das Pfettensparrendach (mit First-
säulen, Niederlausitz) oder mit dem märkischen Längsverband (Hof Behrend in Buchholz bei
Treuenbrietzen). Solche Dachmerkmale weisen zumindest in das 18. Jahrhundert. Jüngere
anderthalbstöckige Stallbauten besitzen meist den doppelt stehenden Stuhl. Um für die
Füllung und Begehung des Dachraumes mehr Platz zu schaffen und die Arbeitsbehinderung
zu beseitigen, stehen die Stuhlsäulen auf den Deckenbalken, wogegen die Dachbalken großen-
teils abgeschnitten und ihre nach innen gerichteten Balkenenden mit Längshölzern, dem
sogenannten Wechsel, verbunden sind. — Der Kniestock wurde hier noch in der 2. Hälfte
des 19. Jahrhunderts und nach 1900 bei vielen nüchtern wirkenden Backsteinbauten bei-
behalten.
Die Hauptmasse der mitteldeutschen Höfe besitzt entsprechend dem erhöhten
Futterbedarf auf Grund gesteigerter Viehzucht zweigeschossige bzw. zweistöckige
5 W. Radig, Gefügestudien in Brandenburg. DJbfVk 11 (1965) 168, Abb. 13.
6 W. Radig, Das Bauernhaus in Brandenburg und im Mittelelbegebiet. Berlin 1966
(= Veröff. d. Inst. f. dt. Volkskunde 38) 63.
7 W. Radig 1965, 160, Abb. 6b
8 W. Radig 1966, 66, 67 und passim (Kemnitz 13, 87; Pfaffendorf 21; Buchholz b. Treuen-
brietzen 44; Jänickendorf 59, 66; Michendorf 64; Lühsdorf 66, 67; Buckow 65, 66; Franken-
förde 66; Kurzlipsdorf 76; Lichterfelde 76).
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270
Werner Radig
Stallgebäude. Sie wurden ursprünglich aus Fachwerk errichtet, treten uns heute je-
doch oft in gemischter Bautechnik entgegen. Das Erdgeschoß verbrauchte sich
durch Stalldunst und Feuchtigkeit innen und außen mehr als das Obergeschoß, so daß
die Außenwände, vor allem die hofseitigen Traufenwände erneuert, d. h. hier in
Massivbauweise mit Backstein unterfangen werden mußten (Hof Bernicke in Birk-
horst, Krs. Potsdam), um den quergeteilten Stallraum intakt zu erhalten. Der Heu-
stapelraum im Oberstock blieb oft bis heute im leichteren Fachwerk erhalten. Dort,
wo die Wellerwand-Lehmgefache sich lockerten oder herausfielen, füllte man die
Gefache mit Backstein (Ende des 18. und i. Hälfte des 19. Jahrhunderts).
Bei diesen zweistöckigen Stallbauten kragt der Oberstock meist über, so daß der ge-
schützte, trockene, ebenerdige Stallgang gesichert ist. Diese Bauweise wurde auch in jün-
geren Bauten der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts noch angewandt. Eine Fortsetzung der
alten Bautradition ist der Bau von Backsteinställen, deren Oberstock zwar im Fachwerk,
aber gleich mit Backsteinfüllung erbaut ist, während das Erdgeschoß aus reinem Backstein8
errichtet wurde (Hof Schulze in Kurzlipsdorf, Krs. Jüterbog). Die Spätform spricht z. B.
auch aus den schwachen Fachwerkhölzern. Einmal wollte man Holz sparen, zum anderen
vernachlässigte man aber die Harmonie des kräftigen Balken-Riegel- und Strebenwerkes
immer mehr. Hartnäckig hielten sich jedoch der Überstand, wenn auch verkürzt, ferner die
starke, bisweilen noch profilierte Saumschwelle und vor allem, durch ihre Funktion bedingt,
die Luken- oder Türanordnung im Oberstock. Die Luken bzw. Türen haben oft einen bogen-
förmigen Türsturz oder einen Sturz, der durch ausgeschnittene Knaggen zur „Bogentür“
wird. Hier berührt sich die junge Architektur des Oberstockes um 1900 mit der älteren
Laubenbildung mit Bogenöffnungen und Bogentür!
2. Stallbauten mit Oberlaube
Das altertümlichste zweigeschossige Stallgebäude mit einer ebenso zweckmäßigen
wie außerordentlich schmückenden Oberlaube fanden wir in Pfaffendorf, Krs.
Beeskow.8 Dieser ursprünglich reine Fachwerkbau (Abb. 1) wurde in seinem Erd-
geschoß jetzt zur Hälfte unterfangen. Im Giebel ist beim durchlaufenden Ständer8
der Deckenbalken (Giebelbalken) angeblattet. Dagegen hat man das Erdgeschoß in
seinem unterfangenen Teil nicht wie oft vorgezogen, sondern es bildet mit dem alten
Fachwerkteil eine Flucht. Die Traufseite ist vom Hof aus durch zwei Türen auf-
geschlossen, die in die eigentlichen Stallräume für Pferde und Kühe führen. Auch
das Obergeschoß hat zwei Räume und wird als Schüttboden für Korn benutzt, ob-
gleich auch ein Raum der Heuaufbewahrung gedient haben muß. Das Rohrdach
ist noch vorhanden. Die Oberlaube läuft an dem ganzen Obergeschoß entlang. Sie
besteht aus vier durchschnittlich 3,50 m weit voneinander entfernt stehenden
Laubenstielen (2,97 m; 4,08 m; 3,62 m; 3,74 m).
Die eigenartige architektonische Gestalt der Stall-Oberlaube entsteht dadurch, daß
auf die vorkragenden Deckenbalkenköpfe eine Saumschwelle gelegt wird, auf die die
Laubenstiele gesetzt sind. Auf den Deckenbalken liegen die Fußboden-Bohlen des
Laubenganges, der immer schmal ist. Über der Erdgeschoßwand steht die Ober-
geschoßwand, vor der der Gang läuft. Rähme laufen in dieser Wand und vorn in
der Laubenwand. Die Dachbalken schließen den langen Gang nach oben ab. Er ist
ursprünglich und wie in Pfaffendorf meist heute noch durch eine Außentreppe zu
besteigen.
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Abb. i. Pfaffendorf, Krs. Fürstenwalde: Zweigeschossiger Stallbau mit durchlaufenden
Eckständern und mit Oberlaube, a Traufseite, b Längsschnitt, c Giebelseite, d Querschnitt
«nwMfiMPm »mki i«fmu
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272 Werner Radig
Weitere Belege der Oberlaubengruppe mit weiten Stielabständen und oft auch
Bogenöffnungen mögen folgen, zunächst die ältesten mit märkischem Längsverband,
dann diejenigen mit einfach stehendem Stuhl, zuletzt die mit doppelt stehendem
Stuhl.
Oberlauben mit märkischem Außenlängsverband im Kehlbalken-Sparrendach:
Gölsdorf, Krs. Jüterbog: Hof Genz (Stall A mit dopp. steh. Stuhl s. unten). Stall B
(in Tiefe des Hofes) (Taf. 3 b). Oberlaube über ganze Traufseite mit noch 4 weiten Bogen-
öffnungen und Knaggen. Außentreppe, Balustrade mit offenen Gefachen, profilierte Saum-
schwelle, Erdgeschoß unterfangen, nicht vorgezogen. Ziegeldach mit märkischem Außen-
längsverband. Inschrift auf Türsturz: Anno 1787.
Lindow, Krs. Jüterbog: Hof Henze. Oberlaube mit 6 weiteren Bogenöffnungen; 1 Bo-
gentür, 8 Laubenstiele. Außentreppe eingebaut, Balustrade mit quadratischen Gefachen.
Rohrdach mit Außenlängsverband. Am Giebel im Deckenbalken Inschrift: 1803.
Niedergörsdorf, Krs. Jüterbog: Hof Jurisch. Oberlaube mit weiten Laubenstiel-
abständen. Neue Backsteinpfeiler übernehmen Dachlast, wodurch Stallgebäude gerettet
wird. Balustrade mit offenen Gefachen. Im Rohrdach bleibt Außenlängsverband. 18. Jahr-
hundert.
Sowohl im Hinblick auf die Oberlaube wie auch auf das Dachgerüst erscheint das
Stallgebäude (Abb. 2 a) vom Hof Sydow in Michendorf, Krs. Potsdam, recht alt.
Vom Fach werkbau ist der Oberstock dieses Stalles noch gut erhalten, ebenso eine
Giebelseite und die rückwärtige Traufseite des Unterstockes. Nur die Traufseite der
Hoffront ist heute unterfangen. Auch hier besitzt die Oberlaube weit auseinander
stehende Laubenstiele (durchschnittlich 2,85 m; Abstand 2,39 m; 2,82 m; 2,79 m;
Abb. 2. Michendorf, Krs. Potsdam: Zweistöckiger Stallbau mit Oberlaube und
Außentreppe, a Grundriß, b Querschnitt, c/d Verknotung mit Ständerwange
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Die Oberlauben an Stallgebäuden in Brandenburg
273
3,04 m; 3,02 m; 3,03 m), die unverziert sind. An Stelle von Kopfbändern oder gar
Knaggen sind flachbogenförmig ausgeschnittene Bretter mit schmiedeeisernen
Nägeln angebracht; diese BogenöfFnungen bilden einen Schmuck. Dagegen ist die
Balustrade schmucklos; dafür treten die sehr kräftigen Stiele und mächtigen Rie-
gel stark hervor. Gefache in diesem Geländer fehlen; flache Nuten in den Riegeln
weisen auf eine frühere senkrechte Verbretterung hin. Die zugehörige Außentreppe
ist noch in Betrieb, wie auch die vier Stallräume für Rinder, Pferde, Schweine und
Hühner in Funktion sind. In dem später angebauten eingeschossigen kleinen Stall
aus Feld- und Bruchsteinen waren einige Schafe und zeitweilig Kälber untergebracht.
Wenn schon die weite Entfernung der Laubenstiele zur Datierung beiträgt, so ist
auch der einfach stehende Stuhl im rohrgedeckten Kehlbalken-Sparrendach ein Hin-
weis darauf, daß das Michendorfer Stallgebäude mit Oberlaube nicht an das Ende der
Laubenbauten, sondern eher in die Mitte oder gar mit zu den ältesten Oberlauben
gehört (18. Jahrhundert). Dieser Altersbestimmung dient auch das Vorkommen der
einseitigen „Ständerwange“, die neben dem Querschnitt (Abb. 2b) gezeigt wird
(Abb. 2 c, d). Es handelt sich hierbei um eine wohl altertümliche Holztechnik bzw.
-Verbindung, die z. B. auch nördlich der Mark Brandenburg in Mecklenburg nach-
gewiesen ist.9
Oberlauben mit einfach und doppelt stehendem Stuhl im Kehlbalken-Sparrendach:
Pechüle, Krs. Jüterbog: Hof Nr. 29 Zienicke. Oberlaube mit weiten Laubenstiel-
abständen mit Kopfbändern. Erdgeschoß unterfangen. Balustrade offen. Ziegeldach mit
einfach stehendem Stuhl. Um 1800.
Illmersdorf, Krs. Jüterbog: Hof Nr. 2 F. Jahn. Oberlaube (Taf. 4a, b) mit 10 weiten
Bogenöffnungen, Laubenstiele vasenartig profiliert, Knaggen und Riegel ausgeschnitten,
2 Bogentüren, 2 Außentreppen, Balustrade mit offenen Gefachen. Ziegeldach mit einfach
stehendem Stuhl. Um 1800.
Hohenseefeld, Krs. Jüterbog: Hof H. Thier. Oberlaube (Abb. jd) mit noch 6 vollen
weiten Bogenöffnungen; 1 enge Bogentür, 8 Laubenstiele mit kugelartiger Verdickung.
Außentreppe, Balustrade mit geschlossenen Gefachen. Ziegeldach mit einfach stehendem
Stuhl und Spitzsäule. 18. Jahrhundert.
Borgisdorf, Krs. Jüterbog: Pfarrhof (Nr. 1). Oberlaube (Taf. 5 a) mit 6 weiten Bogen-
öffnungen, 2 engen Bogentüren; 1 enge Bogenöffnung, 10 Laubenstiele. Balustrade offen.
Stalltor mit Wendesäulen. Ziegeldach mit doppelt stehendem Stuhl. Um 1800.
Illmersdorf, Krs. Jüterbog: Hof Nr. 23 Schenke. Oberlaube (Taf. 5b) mit 10 weiten
Bogenöffnungen; 1 Bogentür, 12 Laubenstiele. Weiterführung der Oberlaube auf das
Torhaus. Balustrade mit offenen, quadratischen Gefachen. Ziegeldach mit doppelt stehen-
dem Stuhl. Nach 1800.
Buckow, Krs. Luckenwalde: Hof Nr. 15 Arm. Schulze. Oberlaube (Abb. 3a) mit
weiten Bogenöffnungen und stark profilierten Laubenstielen. Sturzriegel und Knaggen
(mit Versatz) bogig ausgeschnitten. Erdgeschoß teils unterfangen, Balustrade offen mit
starken Riegeln und Stielen. Unter der Oberlaube noch ein Kopfband erhalten. Ziegeldach
mit doppelt stehendem Stuhl. Mündlich überliefert: 1817.
Illmersdorf, Krs. Jüterbog: Hof Nr. 24 Schliebner. Oberlaube (Abb. 3 c, Taf. 6 a) mit 10
weiten Bogenöffnungen; profilierte Laubenstiele mit Vasenform und Wulstpaar, ebenso an
Knaggen und Riegeln, dazu Fasen. Erdgeschoß unterfangen. Balustrade offen. In sekundär
angebrachtem Riegel (wohl von verkürzter Oberlaube) Inschrift (Abb. 4b): Erbauet den
30 May 1861 Gottl. Schliebner, BHHZGTP. Ziegeldach mit doppelt stehendem Stuhl.
9 Frdl. Mitt. von Dr. Karl Baumgarten-Rostock.
7 Volkskunde
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274 Werner Radig
Illmersdorf, Krs. Jüterbog: Hof Nr. 13 I. Heinrich. Oberlaube (Abb. 3b, Taf. 6b)
mit 8 weiten Bogenöffnungen und profilierten Laubenstielen. Außentreppe, Balustrade mit
offenen Gefachen. Ziegeldach mit doppelt stehendem Stuhl. Um 1800.
Hohenseefeld, Krs. Jüterbog: Hof Nr. 3 G. Schenke. Oberlaube mit 6 weiten Bogen-
öffnungen, 2 Bogentüren, Inschrift an oberer Gang-Rückwand: Bauherr Johann Friedrich
Schmidt/Z. M. Friedrich Jurisch, P. Christian Reichert/Den 16. Mai MDCCCLVII - Ziegel-
dach mit doppelt stehendem Stuhl. 1857.
Abb. 3. Weite Bogenöffnungen mit profilierten Laubenstielen: a Buckow Nr. 15 (Arm.
Schulze von 1817), b Illmersdorf Nr. 13 (O. Heinrich), c Illmersdorf Nr. 24 (Schliebner
von 1861), d Hohenseefeld Nr. 2 (H. Thier)
Hof Rietdorf. Oberlaube mit noch 6 weiten Bogenöffnungen, 7 profilierten Lauben-
stielen. Ein abgeschnittener profilierter Laubenstiel in der 3. Bogenöffnung ist sekundär
eingefügt (Verballhornung). Außentreppe, Balustrade mit horizontalen Bohlen geschlossen.
Ziegeldach mit doppelt stehendem Stuhl. Um 1800.
Pechüle, Krs. Jüterbog: Hof Schröder. Oberlaube mit mittelweiten Bogenöffnungen,
1 Bogentür mit Knubbe (Taf. 7 b). Außentreppe, Balustrade mit Lehmgefachen. Ziegeldach
mit doppelt stehendem Stuhl. Um 1800.
Lütte, Krs. Belzig: Hof Wrede.10 Oberlaube mit 7 mittelweiten Bogenöffnungen; 8 Lau-
benstiele. Außentreppe, Balustrade mit Lehmgefachen. Ziegeldach mit doppelt stehendem
Stuhl. Um 1800. Baufälliger Unter- und Oberstock mußte 1958 einem modernen massiven
Stallbau Platz machen, aber Dachgerüst (s. oben) blieb erhalten.
Schäpe, Krs. Potsdam: Hof A. Otto. Oberlaube mit 6 mittelweiten Bogen Öffnungen.
Erdgeschoß unterfangen, Balustrade mit Lehmgefachen. Ziegeldach mit doppelt stehendem
Stuhl. Um 1800.
10 K. Brunne, Brandenburg. Bauaufmaße, hg. v. Landesbaupfleger v. Westfalen. Münster/
W. 1964, Taf. (26) Dennewitz; Taf. (29) Lütte.
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Die Oberlauben an Stallgebäuden in Brandenburg
275
Gölsdorf, Krs. Jüterbog: Hof
Genz, Stall A. Oberlaube (Taf. 3 b)
mit 3 weiten Bogenöffnungen; 4 Lau-
benstiele. Außentreppe, Balustrade mit
offenen Gefachen. Erdgeschoß unter-
fangen. Ziegeldach mit doppelt stehen-
dem Stuhl. Um 1800. (Stall B s. oben).
Lichterfelde, Krs. Jüterbog: Hof
Nr. 7 S. Andres. Oberlaube (Taf. 8 a)
mit 12 mittelweiten Bogenöffnungen;
13 schlichte Laubenstiele. Balustrade mit je 2 quadratischen, mit Backstein gefüllten Ge-
fachen zwischen den Laubenstielen. Die Oberlaube bzw. der Futtergang ist in das recht-
winklig angebaute Torhaus weitergeführt: 4 ziemlich weite Bogen auf der Torseite des
Vierseithofes. Mehrere Außentreppen. Um 1825.
Die Übersicht über die Oberlauben mit weiten Stielabständen sowie weiten und
mittelweiten Bogenöffnungen zeigt, daß diese so nützliche Baugestaltung vorwiegend
vom 18. Jahrhundert bis in die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts angewandt wurde.
Barockisierende Nachklänge an den Bogenöffnungen sind noch in kleinen Gebieten,
d. h. in einigen Dörfern, erhalten (s. unten).
b
c
Abb. 4. Inschriften: a 1768 in Lühsdorf, Krs. Luckenwalde (Kaplick, Stall B), b 1853 in
Werder bei Kloster Zinna (Stohf), c 1861 in Illmersdorf, Krs. Jüterbog (Nr. 24 Schliebncr)
Die zweite Gruppe der Oberlauben mit engeren und ganz engen Laubenstiel-
abständen sowie Bogenöffnungen wird am besten durch das zweiteilige Stallgebäude
von Lühsdorf eingeleitet. Ein klassisches Bauwerk ist zweifellos das zweiteilige Stall-
gebäude vom Hof Heinz Kaplick in Lühsdorf,8 Krs. Luckenwalde (Abb. 5). An den
wie üblich mit der einen Giebelseite zur Straße gelegenen Kernbau A, also dem älteren
Bau, schließt sich ein zweiter Bau B in die Tiefe des Hofes hin an, der eine später
angebaute Fortsetzung des Kernbaues bildet. Dieser Kernbau ist ebenso wie der
jüngere ein Fachwerkstall mit zwei Stockwerken. Am linken, näher an der Straße
276
Werner Radig
gelegenen. Stall A sind vier Bogenlaubenöffnungen ausgebildet, drei mit einer Brüstung
mit Gefachfüllung, eine als Tür. Rechts und links von den Laubenöffnungen ist der
Gang durch mehrere Gefache mit Streben geschlossen. Die Laubenstiele stehen wenig
weit auseinander (1,00 m; 1,14m; 1,03 m; Türweite 1,00 m) und sind hier schlicht;
der Sturz der Lauben ist flach- und weitbogig ausgeschnitten, besteht also wie die
Abb. 5. Lühsdorf, Krs. Luckenwalde: Zweiteiliger Stall mit zweistöckigen Stallbauten A und
B, weite und enge Bogenöffnungen, Traufseite
Bogenbretter von Michendorf aus je einem Stück. Die Außentreppe vor dem zurück-
gesetzten Unterstock (mit Gang) ist vorhanden. Auffällig ist die einst vorhandene,
jetzt geschlossene Unterfahrt in der Giebelwand an der Straßenseite, die eine Vor-
laube bildete, wie ein altes Foto von einem anderen Lühsdorfer Oberlaubenstall und
ein Beispiel von Kemnitz (s. unten) nahelegen. Beide Kehlbalken-Sparrendächer von
Lühsdorf (A, B) mit harter Dachhaut (Ziegel) haben heute den doppelt stehenden
Stuhl. — Beim rechten Stall B ist der Unterstock zum Teil aus Fachwerk, zum Teil
aus Backstein unterfangen. Im Oberstock ist der kleinere Westteil geschlossen, nur
durch eine Bogentür unterbrochen; der größere Ostteil besitzt sechs Bogenlauben
und zwei Bogentüren. Die Laubenstiele stehen hier näher (Abstand 0,80 m; 0,80 m;
0,84 m;Türo,95 m;o,9o m;o,84 m;o,94 m;o,94 m) als im Kernbau A und sind durch
Sturzriegel mit je zwei Knaggen oben malerisch abgeschlossen. Dieser Bogenlauben-
typus gehört zur jüngeren Gruppe, deren Bauzeit mehrmals für den Anfang des
19. Jahrhunderts nachgewiesen ist (s. unten). Beim Aufmessen wurde eine Inschrift
am Westgiebel des Stalles B, der jetzt zugebaut ist, entdeckt (Abb. 4a). Ihr Text
konnte vom Nachbarstall aus an einem senkrechten Holz abgelesen werden: P K Anno
1768. Die senkrechte Lage des „Riegels“ beweist wohl — zusammen mit der unsym-
metrischen Zierde der Punktgruppen (nur auf einer Seite) und der verschiedenartigen
Verknotung —, daß es sich um zweitverzimmertes Holz11 handelt, das nach den
Buchstaben PK aus dem Hof stammen dürfte, aber nicht unbedingt dem Stall-
gebäude B zugehören muß; immerhin unterstützt es die Annahme, daß die Stall-
bauten aus dem Ende des 18. Jahrhunderts stammen, was die Bogenriegel von Stall A
bestätigen.
Wir sind in dem zweiteiligen Stallbau von Lühsdorf bereits mit dem Typus der
engen, fast quadratischen Bogenöffnungen in dem rechten Stallgebäude B bekannt
11 Frdl. Hinweis von Dr. Karl Baumgarten-Rostock, für den gedankt wird.
Die Oberlauben an Stallgebäuden in Brandenburg
277
geworden. Dieser Typus hat sich wahrscheinlich im 19. Jahrhundert allgemein durch-
gesetzt; denn in den Kreisen Potsdam, Luckenwalde und Jüterbog hat er sich wie ein
Modellbau wiederholt bewährt und ausgebreitet. Ein treffliches Beispiel ist die Stall-
oberlaube im Hof Joh. Heinrich (Nr. 50) von Frankenförde,8 Krs. Luckenwalde,
mit 15 Bogenöffnungen einschließlich drei Türen, die die Laubenbögen in unregel-
mäßiger Folge unterbrechen (Abb. 6). Da die Laubenstiele in der Balustradenwand
Abb. 6. Frankenförde, Krs. Luckenwalde: Zweistöckiger Stallbau (Modelltypus), Oberlaube
mit engen Bogenöffnungen, Traufseite
quadratische Gefache mit der üblichen Lehm-Staken-Füllung abteilen, ergibt sich
auch für die einzelne Laubenöffnung jeweils etwa ein Quadrat (Abstand der Lauben-
stiele durchschnittlich 1,10 m), das oben am Rähm mit bogenförmig ausgeschnittenen
Knaggen und bogig ausgeschnittenen Rähmabschnitten abgeschlossen wird und
dadurch die Wirkung von Bogenöffnungen erzielt. Zwei Türen haben einen tiefer
gesetzten Tür stürz mit Knaggen; die dritte Tür (links) war ursprünglich eine Lauben-
öffnung, bei der man das Gefach herausgenommen und den Balustradenriegel ent-
fernt hat. Die Außentreppe zum Oberstock dieses fast reinen Fachwerkbaues ist erhal-
ten. Nur die Unterstock-Gefache hat man mit Backstein ausgefüllt. Hinter dem Fodder-
gang, wie Altbesitzer H. Heinrich sagte, liegt der Heuboden.
Begeben wir uns wieder in den Kreis Jüterbog, so finden wir schon vor den Toren
der Stadt Jüterbog in der dörflichen Siedlung Neumarkt, Dorf Straße Nr. 23, im
Hof M. Straube eine stattliche Stalloberlaube mit weiteren, engeren und engen, zu-
sammen 15 Bogenöffnungen (Abb. 7). Recht interessant ist das Weiterleben des
Abb. 7. Neumarkt (Stadt Jüterbog): Zweistöckiger Stallbau mit Oberlaube mit verschieden
weiten Bogenöffnungen und Außenlängsverband, Traufseite
278
Werner Radig
märkischen Längsverbandes, der hier noch gegen Ende des 18. Jahrhunderts an-
gewandt worden sein muß.
Das Eigenartige dieser Oberlaube ist ihre Gruppierung von Bogenöffnungen von
links nach rechts: Laubenöffnungen i bis 4 etwa 1,10 m weit, wie dies dem Modell-
typ entspricht; die 5. Bogenöffnung ist jedoch 1,41 m weit; die 6. wieder nur 0,92 m;
dann folgt (7.) eine schmale Tür (0,82 m) und die 8. Öffnung, die wie die 6. nur etwa
0,92—0,94 m eng ist. Die 9. Bogenöffnung ist wie die 5. gleich weit (1,41), so daß
sich beiderseits der Tür eine symmetrische Anordnung ergibt. Nun folgen zwei
fast gleich weite Bogen (10 mit 1,26, n mit 1,22). Die Oberlaube endet mit vier
wiederum engen Bogenöffnungen (12 mit 1,07, 13 mit 1,09, 14 mit 1,07 und 15 mit
etwa 1,07 m). Auch sind drei Kopfbänder zur Stützung der Laube noch intakt. —
Ein weiteres Beispiel mit märkischem Längsverband:
Pechüle, Krs. Jüterbog: Hof H. Weber. Oberlaube mit 8 (noch 4) engen Bogenöff-
nungen; 5 Laubenstiele. Kehlbalken-Sparrendach mit märkischem Längsverband. 18. Jh.
Oberlauben mit einfach stehendem Stuhl im Kehlbalken-Sparrendach:
Werder, Krs. Jüterbog: Hof Nr. 4 H. Stohf. Oberlaube (Taf. 8b) mit 10 engen Bogen-
öffnungen, 11 Laubenstielen, Knaggen, einschl. 2 Türen mit tief sitzenden Bogenriegeln.
Ziegeldach mit einfach stehendem Stuhl. Balustrade mit Lehmgefachen. Im Türsturz des
Unterstockes eine Inschrift: Erbaut im Jahre 1853 von Zimstr. Jurisch Bauherr Hüfner
Friedrich Hecht pol. Ziehe. — Der Familienname Jurisch für den Zimmermeister taucht
hier zum zweiten Male auf, vielleicht derselbe Meister oder doch die gleiche Familie
(Abb. 4b).
Schäpe, Krs. Potsdam: Hof E. Boelcke. Oberlaube mit 7 engen Bogenöffnungen, eine
als Tür; 8 Laubenstiele. 2 Kopfbänder am Überstand der Oberlaube; Außentreppe, Balu-
strade mit Lehmgefachen. Um 1800.
Buchholz bei Treuenbrietzen: Hof Nr. 28.® Oberlaube mit 6 engen Bogenöffnungen;
7 Laubenstiele. Balustrade mit Lehmgefachen. Beim Unterfangen des vorgezogenen Erd-
geschosses behielt man den unteren nun geschlossenen Gang bei. Dach mit einfach stehendem
Stuhl. Um 1800. Seit Mai 1963 Ruine.
Hennickendorf, Krs. Luckenwalde: Hof Lehmann. Oberlaube mit noch 4 engen Bogen-
öffnungen einschl. Bogentür. Balustrade mit Lehmgefachen. Ziegeldach mit einfach stehen-
dem Stuhl. Um 1800.
Frankenfelde, Krs. Luckenwalde: Hof Nr. 24 Schröder. Oberlaube mit 7 engen Bogen-
öffnungen; 8 Laubenstiele, am Überstand der Oberlaube Kopfbänder. Außentreppe, Balu-
strade mit Lehmgefachen. Ziegeldach mit einfach stehendem Stuhl. Nach 1800.
Hof Nr. 10. Oberlaube mit 16 engen Bogenöffnungen einschl. 2 Bogentüren; 17 Lauben-
stiele, am Überstand der Laube Kopfbänder. Außentreppe, Balustrade mit quadratischen
Lehmgefachen. Ziegeldach mit einfach stehendem Stuhl. Nach 1800.
Hof Nr. X. Oberlaube mit 12 engen Bogenöffnungen, 3 Bogentüren; 16 Laubenstiele.
Saumschwelle profiliert, Kopfbänder unter Oberlaube. Außentreppe, Balustrade mit Lehm-
gefachen. Ziegeldach. Nach 1800.
Hof Nr. 14. Oberlaube mit 4 Bogenöffnungen, 3 Bogentüren; 9 Laubenstiele, Außentreppe,
Balustrade mit Lehmgefachen. Ziegeldach. Nach 1800.
Felge nt reu, Krs. Luckenwalde: Hof beim Rat der Gemeinde. Oberlaube mit 8 Bogen-
öffnungen; 9 Laubenstiele. Balustrade mit verfallenen Gefachen. Ziegeldach. Nach 1800.
Mit doppelt stehendem Stuhl im Kehlbalken-Sparrendach:
Jänickendorf, Krs. Luckenwalde: Hof Nr. 15 W. Kuhlmey.8 Oberlaube mit 13 engen
Bogenöffnungen einschl. 3 Bogentüren; 14 Laubenstiele. Außentreppe, Balustrade mit Ge-
fachen. Neben Bergeraum im Oberstock zwei Kammern. Ziegeldach mit doppelt stehendem
Stuhl. Nach 1800.
Buckow, Krs. Luckenwalde: Hof Nr. 12 W. Friedrich.8 Oberlaube mit 15 engen Bogen-
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Die Oberlauben an Stallgebäuden in Brandenburg 279
Öffnungen einschl. 2 tiefer sitzenden Bogentüren. Schlichte Laubenstiele, Außentreppe durch
Vorziehen des unterfangenen Erdgeschosses weggefallen, Balustrade mit offenen Gefachen.
Ziegeldach mit doppelt stehendem Stuhl. Wegen Nachbarschaft zu altem Torhaus mit Knie-
stock wohl noch um 1800.
Kähnsdorf, Krs. Potsdam: Hof Grüneberg (Ferienheim). Oberlaube mit 6 engen Bogen-
öffnungen (4 noch offen); 7 Laubenstiele. Außentreppe, Balustrade mit quadratischen Ge-
fachen mit Backsteinfüllungen, z. T. mit kreuzförmig ausgesparten Luftlöchern. Ziegel- '
dach mit doppelt stehendem Stuhl. Nach 1800.
Bochow, Krs. Jüterbog: Hof Nr. 59. Oberlaube (Taf. 9 b) mit 1 o engen Bogenöffnungen
einschl. 2 Türen; 11 Laubenstiele, Außentreppe, Balustrade mit quadratischen Lehmge-
fachen (Staken noch übrig). Ziegeldach mit doppelt stehendem Stuhl. Lim 1800.
Hof Nr. 28,Pfarrhof. Oberlaube (Taf. 9a) mit 12 engen Bogenöffnungen; 13 Laubenstiele.
Außentreppe, Balustrade mit quadratischen Gefachen. Überstand der Laube erhalten. Ziegel-
dach. Um 1800.
Dennewitz, Krs. Jüterbog: Hof Schulze.10 (Bes. H. Krämer und H. Heinrich). Ober-
laube mit 5 engen Bogenöffnungen; weitere 8 Bogen mit Riegeln und Knaggen sind über
(sekundärer anschließender) Scheunenflur jetzt geschlossen mit Lehmfüllungen. Außentreppe,
Balustrade mit Lehmgefachen. Ziegeldach mit doppelt stehendem Stuhl. Im anschließenden
Torhaus mit doppelt stehendem Stuhl, Speicher für Korn, auch Altenteilwohnung. Um 1800.
Welsickendorf, Krs. Jüterbog: Hof Ziehe. Oberlaube mit 19 Bogenöffnungen,
2 Bogentüren; 22 Laubenstiele. Balustrade mit Lehmgefachen. Ziegeldach mit doppelt
stehendem Stuhl. Nach 1800.
Hof Nr. 44 F. Lehmann. Oberlaube mit noch 5 engen Bogenöffnungen, 1 Bogentür;
schlichte Laubenstiele. Außentreppe, Balustrade mit Lehmgefachen. Ziegeldach mit doppelt
stehendem Stuhl. Nach 1800.
Hof Ullrich. Oberlaube mit noch 8 engeren Bogenöffnungen, 2 Bogentüren; schlichte
Laubenstiele. Außentreppe, Balustrade mit Lehmgefachen. Ziegeldach mit doppelt stehendem
Stuhl. Nach 1800.
Lehnin, Krs. Brandenburg: Hof mit Oberlaube mit 12 engen Bogenöffnungen; 13 Lau-
benstiele. Außentreppe, Balustrade mit Backsteingefachen. Ziegeldach mit doppelt stehendem
Stuhl. Nach 1800.
Kemnitz, Krs. Luckenwalde: Hof A. Hauchwitz. Oberlaube mit 4 engen Bogenöff-
nungen einschl. 1 Bogentür mit tiefsitzendem Sturz. Außentreppe, Balustrade mit Lehm-
gefachen. Ziegeldach. Nach 1800.
Von Kemnitz, Krs. Luckenwalde, überliefert uns nun Robert Mielke12 eine statt-
liche Oberlaube (Abb. 8) in einer Federzeichnung eines Fachwerkstalles, der zusätz-
lich im Erdgeschoß eine Giebelvorlaube mit drei Laubenstützen, langen Kopf-
bändern und mit Knubben (Wülsten) verzierten, frei liegenden Riegeln besaß. Der
große Überstand des Oberstockes auf der Traufseite wird durch mindestens vier
Kopfbänder gestützt, von denen das vorderste am Giebel profiliert geschnitzt ist.
Die Skizze der Oberlaube enthält sieben Bogenöffnungen, die durch eine Tür unter-
brochen sind. Die enge Bogenstellung läßt wohl quadratische Laubenöffnungen ent-
stehen. Die Sturzriegel zeigen je eine Knubbe in der Mitte. Die Balustrade besteht
aus quadratischen Lehmgefachen. Weiter in die Tiefe des Hofes hinein war der hinter
den Laubenöffnungen liegende Futtergang durch Gefache ganz geschlossen, nur
durch zwei Türen und eine Luke geöffnet. Mielke konnte das Rohrdach und über
dem Firstende das Tierkopfpaar der sich kreuzenden Windbretter zeichnen. Dieses
Bauwerk — wohl noch aus dem 18. Jahrhundert — haben wir im Dorf Kemnitz
1961/62 nicht mehr auf gefunden.
12 R. Mielke, Die Bauernhäuser in der Mark. In: Archiv d. Brandenburgia Bd. 5 (Berlin
1899) 9 — I5> Abb. 14.
280
Werner Radig
Bei den Oberlauben mit engen Bogenöffnungen wirkt sich die gleichförmige
Modellform der fast quadratischen Bogenöffnungen so stark aus, daß keine Variabi-
lität wie bei den weitbogigen Lauben mehr sichtbar wird. Als Ursache dafür könnte
man den Übergang vom Weich- zum Hartdach vermuten,11 weil beim Rohrdach eine
weite Sparrenstellung genügte, beim schweren Ziegeldach aber enge Sparren-
abstände erforderlich wurden. Eingeschränkt wird diese Annahme jedoch dadurch
Abb. 8. Kemnitz, Krs. Luckenwalde: Zweistöckiger Stallbau mit Oberlaube und einer
Giebellaube im Erdgeschoß. Nach Robert Mielke
daß die Sparrenabstände nicht mit den Laubenstielabständen korrespondieren müssen.
— Ein treffliches Übergangsbeispiel der Oberlaube mit weiteren (1,40 m) und engen
(1,00 m) Öffnungen ist Neumarkt, das durch seinen märkischen Längsverband noch
ins 18. Jahrhundert weist. Sonst sind aber die engbogigen Oberlauben in der Mehr-
zahl dem 19. Jahrhundert zuzuordnen, wie es die Inschriften belegen und die Dach-
konstruktionen bestätigen. 3
3. Schmuckelemente der Oberlaube
Nicht nur die Oberlaube als Ganzes bildete ein hervorragendes dekoratives Ele-
ment im ganzen Drei- oder Vierseithof, wie wir bereits an Einzelbeispielen — ins-
besondere auch an den um zwei Seiten des Hofes herumführenden Laubengängen
— zeigen konnten, sondern auch die einzelnen Schmuckelemente der Laubenbögen
mit Laubenstielen, die nicht schlicht (glatt, unverziert) bleiben, beanspruchen höchste
Beachtung.
Blicken wir nochmals auf die Bogenöffnungen der Oberlaube (Abb. 3 a, S. 274)
von Buckow, Hof Nr. 15 (A. Schulze), so zeigt sich der vierkantige Laubenstiel über
der Balustrade stark profiliert. Umlaufende Kerben und Wülste ergeben eine Kugel-
oder gedrungene Vasenform. An der engsten Einschnürung dieser barocken Kugel-
vasenbildung, d. h. an ihrer Oberkante, setzen die beiderseits angebrachten Knaggen
sich mit Versatz an und lassen ihren Kopfbandcharakter durch kleine offene Dreiecke
a) Kemnitz, Krs. Luckenwalde: Stallhau mit Kniestock (Hof Lahn)
b) Gölsdorf, Krs. Jüterbog: Zweistöckige Stallgebäude A und B mit Oberlauben mit weiten
Bogenöffnungen und Außenlängsverband (B) (Hof Genz)
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Tafel 4
a) Illmersdorf, Krs. Jüterbog: Futtergang der Oberlaube im Stallbau mit profilierten Lauben-
stielen (Hof Jahn)
b) Zweistöckiger Stallbau mit Oberlaube mit weiten Bogenöffnungen, Traufseite (Hof Jahn)
a) Borgisdorf, Krs. Jüterbog: Zweistöckiger Stallbau mit Oberlaube mit weiten
Bogenöffnungen, Traufseite (Pfarrhof) Fot. H. Reisner, Borgisdorf
b) Illmersdorf, Krs. Jüterbog: Zweistöckiger Stallbau mit Oberlaube, die zum Torhaus
weitergeführt ist (Hof Schenke)
Tafel 6
Tafel 7
a) Rohrbeck, ICrs. Jüterbog: Zweistöckiger Stallbau mit Oberlaube mit weiten Bogen-
öffnungen und doppelt stehendem Stuhl, Traufseite und Giebelseite (Hof Haberlandt)
Tafel 8
a) Lichterfelde, Krs. Jüterbog: Zweistöckiger Stallbau mit Oberlaube mit Bogenöffnungen,
die zum Torhaus weitergeführt sind (Hof S. Andres)
b) Werder b. Kloster Zinna: Zweistöckiger Stallbau mit engen Bogenöffnungen und Inschrift
von 1853 (Hof Stohf, jetzt LPG-Sitz)
Tafel 9
a) Bochow, Krs. Jüterbog: Zweistöckiger Stallbau mit Oberlaube mit engen Bogenöffnungen,
Traufseite (Pfarrhof)
b) Bochow, Krs. Jüterbog: Durchblick vom Torhaus (Backstein) auf Oberlaube mit engen
Bogenöffnungen (Hof Nr. 59)
Tafel iö
a) Kurzlipsdorf, Krs. Jüterbog: Torhaus mit Oberlaube mit engen Bogenöffnungen und
Außentreppe (Hof Nr. 6 Schulze)
b) Lindow, Krs. Jüterbog: Bogentür mit Knaggen in der Oberlaube des Torhauses
(Hof Rothkirch)
Die Oberlauben an Stallgebäuden in Brandenburg
281
im Winkel zwischen innen ausgebeilter Knagge, Stiel und Sturzriegel noch erkennen.
Im Querschnitt bleiben aber die Kugelvasenformen rechteckig (Vierkantholz), sie
werden nicht gerundet. Auf einem der leicht bogig ausgeschnittenen Riegel steht
die Jahreszahl 1817, obgleich auch für das 18. Jahrhundert solche Bogenöffnungen
nachweisbar sein dürften. Im Hof Nr. 13 (Heinrich) in Illmersdorf (Abb. 3 b) sind die
Laubenstiele ebenfalls vasenartig profiliert, nur liegt die Schulter der Vase nicht wie
in Buckow wulstartig tief, sondern hoch und kantig. Auch ist der Vasenkörper schlank
hochgezogen; auf dem waagerechten Mündungsrand sitzt wiederum in Versatz-
technik die bogig ausgebeilte Knagge auf. Der Sturzriegel ist gleichfalls leicht bogig
eingeschnitten, so daß die weite, dem Auge gefällige Bogenform der Laubenöffnung
entsteht.
Die Oberlaube des Hofes Nr. 24 (Schliebner) im gleichen Dorf (Abb. 3 c) enthält
eine dritte Variante in der Profilierung der Laubenstiele und Sturzriegel sowie der
Knaggen. Während die Vasenbildung beim Hof Nr. 13 hoch über der Balustrade
sitzt, beginnt hier im Hof Nr. 24 die kräftige Profilierung unmittelbar über der Ba-
lustrade: Eine tiefe Kerbe und eine starke Wulst leiten zu einem schlanken Vasenfuß
über, der nicht wie bei Abb. 3 c eine trichterförmige, sondern eine sich nach oben
verjüngende, sehr schlanke, hohe Vasenform trägt. Nach der Verjüngung in Ober-
kantenhöhe (Mündung) der Vase behält der vierkantige Stiel seine schlichte, glatte
Form wieder so, wie er sie bis zur Balustradenhöhe gehabt hat. Die Knaggen sind
zwar mit einer unteren Wulst ausgestattet und bogig geschnitten, lassen aber Versatz
vermissen, sie sind bündig eingezapft. Im Sturzriegel sind parallel zu dessen Oberkante
Einschnitte angebracht, die eine Gruppe von drei Wülsten oder Knubben stehen
lassen. Die Holzbearbeitung erscheint hier etwas steif und geschnörkelt; der reprä-
sentative Schwung der Bogenbildung wird abgeschwächt oder gar aufgehoben.
Darüber hinaus sind alle Profilierungen nur für die Schauseite (Hof) geschaffen.
Eine eigenartige Stellung nimmt die Bogenöffnung der Oberlaube vom Hof Nr. 2
(Thier) in Hohenseefeld (Abb. 3 d) ein. Die profilierten Laubenstiele sind gleich über
der Balustrade grob eingeschnitten, so daß eine einfache, fast verwaschene Kugel-
form entstanden ist. Die breiten knaggenartigen Kopfbänder bilden den Übergang
zum lang — teils bogig, teils gerade — ausgeschnittenen Riegel. Diese Bogen-
öffnungen mit ihrer Profilierung sind schwer einzuordnen, scheinen aber wie Abb. 3 c
am ehesten an das Ende der barockisierenden Profile zu gehören, dem die Dach-
gefüge chronologisch nicht widersprechen.
4. Funktion der Stalloberlauben
Bereits bei der Schilderung von Gliederung und Raumordnung der Stallgebäude,
insbesondere der zweigeschossigen und vor allem der zahlreichen zweistöckigen,
wurde der Benutzung gedacht. Fragen wir nachdrücklich nach dem Zweck der Ober-
lauben, so müssen wir die Gesamtfunktion des Stallbaues umreißen. Im Erdgeschoß
(Abb. 2a) waren und sind z. B. in Michendorf im Hof Sydow von links nach rechts
außer Hühnern auch Schweine, Pferde und Rinder in den einzelnen quergegliederten
Stallräumen aufgestallt. Der Bauer besaß hier seit etwa 1900 ungefähr 10 Rinder. Das
für dieses Vieh benötigte Futter bestand hauptsächlich aus Heu: Etwa 3 ha Wiesen
wurden zweimal im Jahr gemäht; das Heu vom ersten Schnitt (Juni) war mehr für die
282
Werner Radig
Pferde geeignet, der zweite Schnitt (September) für die Rinder (Bullen, Kühe und
Kälber). — Das eingefahrene Heu wurde nun vom Wagen über die Brüstung der
Oberlaube in den Oberstock gebracht, der hier durch eine Fachwerkzwischenwand
geteilt ist. Waren Türöffnungen in der Balustrade, dann wurde das Heu durch diese
eingebracht; gelegentlich konnte auch ein Riegel der Balustrade abgenommen werden.
Nach Aussage von O. Sydow stapelte er im Oberstock nur Heu, kein Korn o. a.
Zu jeder Fütterung, also früh und abends, wurde das Heufutter nach unten über die
Balustrade oder in Treppennähe auch zur Außentreppe hinuntergeworfen und durch
die drei Stalltüren zum Vieh gebracht; zwei weitere, gelegentlich kleinere Stall-
türen dienten zum Ausmisten.
In Buckow, Krs. Luckenwalde, (Nr. 12) wurde neben Heu auch Stroh hinter und über der
Oberlaube gestapelt; Korn dagegen lag im „Kornboden“ des zu diesem Hof gehörigen Tor-
hauses (Mitt. v. Bes. W. Friedrich), das unten Schweine und Hühner beherbergte. Auch im
Buckower Hof Nr. 15 lagerte man hauptsächlich nur Heu im Dachboden des Oberstockes
des Stalles (Mitt. v. A. Schulze). — Dagegen berichtete Besitzer Schenke vom Oberlauben-
stall seines Hofes Nr. 23 in Illmersdorf, Krs. Jüterbog, daß der Oberboden, d. h. der Raum
oberhalb des Dachbalkens, als Schüttboden für das Korn diente (wie in Pfaffendorf, s. oben);
im Oberstock hinter der Laube bewahrte man außer Heu Häcksel für die Pferde und Hafer-
spreu für die Schweine auf. In seinem langen Stall waren außer Pferden und Rindern an
beiden Giebelenden zusammen etwa 70 Schafe untergebracht. — Im Hof Nr. 3 berichtet
Bes. Schmidt aus Hohenseefeld neben Heuaufbewahrung von gelegentlich gelagertem
Kornvorrat im Boden des Laubenstalles. — In Michendorf wäre z. B. ein Schüttboden auf
dem Dachbalken nicht möglich gewesen, weil kein Bretter- oder Bohlenbelag vorhanden war.
In Neumarkt, Hof Nr. 23, war im z. T. gedielten Stallboden Schütten des Kornes möglich;
dort wurde neben Heu auch Häcksel verwahrt (Mitt. v. Frau Straube). In Gölsdorf kamen
zum Heu noch Stroh, auch Lupinen und bei guter Ernte Hafer in den Stallboden (Mitt. v.
Frau Genz).
In Michendorf erhielten wir keinen Hinweis auf weitere Funktionen der Oberlaube
als auf die primäre des schmalen, begehbaren Futterganges (Foddergang), der zu-
gleich den Zugang zum Dachboden mit mehreren Türen oder auch zu den abgeteil-
ten Kammern bildete. Eine sekundäre Funktion beobachteten wir anderwärts in
Brandenburg: das Trocknen von Mais, Tabak, Zwiebeln u. a., wie es die regional
bedingten Verhältnisse jeweils ergaben.
Aus anderen Gegenden der mitteldeutschen Bauweise in Sachsen und Thüringen,
von denen sich zweifellos die Baugewohnheit und Funktion der Oberlaube nach
Brandenburg hin ausgebreitet haben, ist auch das Trocknen von Kleinwäsche be-
zeugt. Allerdings dürfte es sich dabei wohl mehr um Oberlauben handeln, die vor
Wohnräumen liegen, wie wir sie z. B. in der Niederlausitz (Burg im Spreewald)
über dem Stall als Mägdekammer finden, im engeren Arbeitsgebiet der hier behan-
delten Kreise des Bezirks Potsdam (Mittelmark) jedoch noch nicht beobachten
konnten.
Vor allem fehlen in Brandenburg Oberlauben an ausgesprochenen Wohnhäusern.
Wir finden sie lediglich noch an den eigentümlichen Torhäusern, die verschiedene
Funktionen haben, z. B. die Wohnfunktion des Ausgedinges (Altenteils) im Hof
A. Thiele (Nr. 14) in Buckow im Fachwerk-Torhaus mit alten Baumerkmalen (jedoch
ohne Laube), oder die Funktionen des Speichers und des Ausgedinges im Hof
Schulze in Dennewitz (Mitt. v. Bes. Krämer).
Die Oberlauben an Stallgebäuden in Brandenburg 283
5. Oberlauben an Torhäusern
An weiteren Wirtschaftsgebäuden sind in Brandenburg Oberlauben nur noch bei
Torhäusern festgestellt worden. Wie in Lichterfelde, Krs. Jüterbog, ein Torhaus
den Vierseithof abschließt (s. oben S. 275) und die weiten Bogen der Oberlaube vom
Stallgebäude weiterführt, haben wir bereits erwähnt. Dort ist auch eine zweite Außen-
treppe gleich neben dem Tor angebracht. Die Balustrade besitzt schlichte Backstein-
gefache. Auch sind über dem Tor auf der Hofseite Ziegelgefache zu sehen, die auf
Bergeraum hinweisen. Die Tore dienten gern als Speicher für Korn.
Im gleichen Kreis blieb in Kurzlipsdorf im Hof Schulze (Nr. 6) ein Torhaus
(Taf. 10 a) mit Oberlaube erhalten, deren mittelweite Bogen und Knaggen ebenso
wie die Sturzriegel bogig ausgeschnitten sind. Die Lehmgefache der Balustrade ge-
hören zu diesem Typ. Das Torhaus hat — wie alle diese Bauten neben dem Tor
eine Pforte, die bogig ausgeschnittene Knaggen am Türsturzriegel besitzt. An diesem
Riegel steht: DHGFSZMGFM/MDCCCXXI, D XXIII. MAJ (1821). Das Dach des
Kehlbalken-Sparrendaches mit doppelt stehendem Stuhl ist heute mit Ziegeln ge-
deckt.
Q
284
Werner Radig
Eins der letzten klassisch ausgeprägten Torhäuser, wenn nicht gar das in dieser Form
letzte Torhaus überhaupt, ist der vor dem Abbruch befindliche Torbau im Hof
Rothkirch in Lindow, Krs. Jüterbog (Abb. 9). Tor und Pforte bestechen durch
künstlerisch bearbeitete Türbretter (c, d). Die gedoppelte Bogentür der Pforte ist
mit Rhomben verziert; ihr Türsturz erhält seine Form durch bogig ausgeschnittene
Knaggen und trägt die Jahreszahl 1805. Am Tor mit Bogenknaggen sind neben
Rhomben Grätenmuster durch Leisten gebildet. Mächtig wirkende schmiedeeiserne
Nägel der aufgenagelten Bretter erhöhen den Schmuckcharakter. Die rechteckigen
Gefache über dem Tor tragen Andreaskreuze; die quadratischen Gefache über der
Pforte besitzen eine Strebe, die hier ebenfalls dekorativ wirkt. Eine genaue Parallele
für Tor und Pforte in Niederbobritzsch bei Freiberg13 mag auf die Herkunft solchen
Torschmuckes aus Obersachsen hinweisen. Gekreuzte Streben erscheinen auch im
reichgegliederten Giebeldreieck, das den doppelt stehenden Stuhl erkennen läßt.
Auf der Hofseite überraschen uns nun die abwechslungsreichen Bogenöffnungen
der kleinen Oberlaube (a). Sie besteht aus — von links nach rechts — einer weiten
Bogenöffnung mit den üblichen Knaggen, einer engen niedrigen Bogentür (Taf. 10 b)
und zwei mittelweiten Bogenöffnungen. Die Balustrade war einst mit Lehmgefachen
gefüllt, die jetzt fast ganz herausgefallen sind. Die Außentreppe ist intakt, das Erd-
geschoß ist heute größtenteils unterfangen. Dieses Fachwerkhaus wurde oben als
Speicher und unten als Schuppen genutzt. Auch der doppelt stehende Stuhl (b) weist
in das beginnende 19. Jahrhundert als Bauzeit, in der aber echte Traditionsformen, wie
man hier deutlich sieht, weiterleben.
6. Datierung und Verbreitung
Überschauen wir nun die Oberlauben an Stall- und Torgebäuden in Brandenburg,
so finden wir eine große Gruppe mit weiten Laubenstielabständen und weiten
Bogen, die bis um 1700, vereinzelt sogar wie Pfaffendorf ins 17. Jahrhundert zurück-
reichen müssen, aber auch bis in das 19. Jahrhundert hineingehen. Eine andere Gruppe
— wobei Übergangserscheinungen nicht ausbleiben — entwickeln die Zimmermeister
gegen Ende des 18. Jahrhunderts: Die Modellform der zweiten Gruppe mit enger
Laubenstielstellung und ständiger Bogenbildung, die hauptsächlich in der x. Hälfte
des 19. Jahrhunderts auftritt und sogar in die 2. Hälfte des vorigen Jahrhunderts
ausläuft. In ihr erlosch jedoch die Funktion der Oberlaube in der Masse der zwei-
stöckigen, aus Backstein errichteten Stallgebäude, also in Neubauten, weil dieser
Bauteil offensichtlich nicht mehr benötigt wurde: Das Heufutter wurde durch Öff-
nungen in der Stalldecke nach unten geworfen, was gelegentlich auch vorher ge-
schehen sein mag, jedoch nicht die Regel war. Auch scheint die Fortführung der
Oberlaube als rein dekoratives Element im Hof, der nun überwiegend aus Massiv-
bauten bestand, nicht mehr den bäuerlichen Bedürfnissen entsprochen zu haben.
Ferner bestand kein Interesse, die Bauform der Oberlaube von der Holz- in die Stein-
architektur umzusetzen, obgleich es möglich gewesen wäre.
13 Architektenverband, Das Bauernhaus im Dt. Reich u. seinen Grenzgebieten. Dresden
1906, Kgr. Sachsen Nr. 5 (Niederbobritzsch).
Die Oberlauben an Stallgebäuden in Brandenburg
285
Warum der Wandel dieses landwirtschaftlich bedingten und betriebswirtschaftlich
einst erwünschten Baumerkmales bis zu seinem Abklingen sich so schnell vollzog,
muß gleichzeitig zusammen mit anderen Faktoren untersucht werden, wie z. B. dem
Anwenden und Ausklingen der Schmuckelemente an der Oberlaube und anderer
Schmuckformen am Bauernhaus in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts überhaupt.
Nur solange der wirtschaftliche Nutzen dieser Einrichtung und das Schmuck-
bedürfnis Vorlagen, blieb die Oberlaube erhalten. Hofumformungen dürften nur
gelegentlich eine Rolle gespielt haben.
Ehe wir die Verbreitung der Oberlauben in Mitteleuropa skizzieren, legen wir
die Verbreitung der Lauben im Arbeitsgebiet dieser Untersuchung vor. Wenn auch
das Kartenbild (Abb. xo) schon durch den im Laufe der Zeit eingetretenen Verlust
von baufälligen Altbauten und andere Umstände der noch jungen Feldforschung
nicht vollständig sein kann, so heben sich doch besonders im Niederen Fläming im
restlos erfaßten Kreis Jüterbog eine Serie von Oberlauben mit weiten Laubenstiel-
abständen oder Bogen heraus, die in einem südlich gelegenen, der Bezirksgrenze etwa
parallel laufenden Streifen errichtet worden sind (Nr. 1—9, 14—20); in einigen Dör-
fern (Nr. 2 Lindow, Nr. 9 Rohrbeck Taf. 7 a und Nr. 20 Buckow) begegnen daneben
auch Oberlauben mit engen Bogenöffnungen. Rings um Jüterbog finden sich zahl-
reiche Dörfer (Nr. 8, 9, 13, 15, 17) hauptsächlich oder nur mit engen Bogen. Einen
Sonderfall bildet Neumarkt (Nr. xi) mit einer Oberlaube, die beide Typenerschei-
nungen enthält. Im Nordzipfel des Kreises sind ebenfalls beide Typen (Nr. 3 — 5) ver-
treten. Auffällig ist die nach Norden anschließende Gruppe (Nr. 21—28) von Ober-
lauben mit engen Bogen (Modelltypus), von denen wir Lühsdorf (Nr. 27), Franken-
förde (Nr. 23) u. a. beschrieben haben; sie nimmt den Westteil des Kreises Lucken-
walde ein. Zum alten Typ mit weiten Bogen gehören am Westrand der Karte im
Krs. Bel zig Lütte (Nr. 33) und am Nordrand im Krs. Potsdam Michendorf (Nr. 31).
Von ihm und von dem ältesten Stallbau mit Oberlaube mit weiten Stielabständen in
Pfaffendorf, Krs. Fürstenwalde, der außerhalb des östlichen Kartenrandes liegt, sind
wir bei unserer Darstellung ausgegangen. Innerhalb des weitmaschigen Netzes von
Lauben des alten und älteren Typs scheint sich im Luckenwalder Kreis bzw. im
Nuthe-Niepützgebiet eine einheitliche Gruppe des jungen Typs (Modelltyp) aus-
gebildet und relativ lange gehalten zu haben.
Die hier als Beispiel gebotene Einzeluntersuchung muß sich vor allem auch auf
weitere Gebiete14 erstrecken, die die Baugewohnheit der Oberlaube an Wirtschafts-
und Wohnbauten verwirklicht hatten: Zu diesen Landschaften und Ländern ge-
hören, um von dem in Mitteldeutschland gelegenen Kerngebiet ausgehend zunächst
nach Norden zu blicken, Brandenburg mit Ausstrahlungen über die Havel hinaus
bis ins südliche Mecklenburg15 und nach Vorpommern an der unteren Oder, aber
auch das Bober- und Neißegebiet. Vor allem sind im Spreegebiet ebenso wie in dem
hier geschilderten Fläming solche Oberlauben zu finden. Im Mittelelbegebiet (Magde-
burger Börde) harren sie der Bearbeitung wie auch im Raum zwischen Unstrut, Saale,
Weißer Elster und dem Elblauf in der ehemaligen Provinz Sachsen und im Land
14 E. Kulke 1939, 110 —116, Karte Abb. 127.
15 K. Baumgarten, Das Bauernhaus in Mecklenburg. Berlin 1965, 71, Abb. 59 (Holldorf)
(= Veröff. d. Inst. f. dt. Volkskunde 34).
Werner Radig
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Abb. io. Verbreitung der Oberlauben an Stallgebäuden und Torhäusern im Krs. Jüterbog
und den angrenzenden Gebieten
i. Kurzlipsdorf (i), 2. Lindow (3), 3. Treuenbrietzen (3), 4. Bardenitz (1), 5. Pechüle (7),
6. Niedergörsdorf (1), 7. Gölsdorf (2), 8. Dennewitz (1), 9. Rohrbeck (3), 10. Jüterbog (3),
11. J.-Neumarkt (2), 12. Werder (1), 13. Bochow (2), 14. Borgisdorf (1), 15. Welsickendorf
(3), 16. Lichterfelde (1), 17. Sernow (3), 18. Hohenseefeld (4), 19. Illmersdorf (3). — Krs.
Luckenwalde: 20. Buckow (2), 21. Jänickendorf (1), 22. Frankenfelde (9), 23. Frankenförde
(9), 24. Felgentreu (1), 25. Hennickendorf (1), 26. Kemnitz (2), 27. Lühsdorf (2). — Krs.
Potsdam: 28. Buchholz b. Tr. (1), 29. Schäpe (2), 30. Kähnsdorf (1), 31. Michendorf (1). —
Krs. Brandenburg: 32. Lehnin (1). — Krs. Belzig: 33. Lütte (2). (Außerhalb der Karte östl.
des Kartenrandes Krs. Beeskow: Pfaffendorf.)
Die Zahl in Klammern gibt die im Dorf noch vorhandenen bzw. nachweisbaren Ober-
lauben an.
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• -T
Die Oberlauben an Stallgebäuden in Brandenburg 287
Sachsen.16 Südlich des Erzgebirges ist in Nordböhmen und westlich davon in Thü-
ringen der Oberlaubenbau ebenfalls gepflegt worden, aber auch am Oberlauf der
Werra, des Main und am ganzen Lauf der Nab. Südlich der Donau und östlich des
Oberrheins wurden gleichfalls Oberlauben gebaut, dort aber zusammen mit den zwei-
und vierseitigen Oberlauben sowie mit den Giebellauben, die verschiedenen, anderen
oberdeutschen Grundformen des Bauernhauses zugehören.
Bei den hier behandelten Oberlauben zeigt sich eine Konstanz der Bautechnik und
des Gefüges, indem sich der Laubengang stets überkragend über dem Erdgeschoß
auf den Deckenbalken befindet, und zwar vom Balkenende in etwa i m Breite bis zur
Wand des Oberstockes. Auch andere Gefüge-Einzelheiten bleiben sich im Laufe der
Zeit ziemlich gleich. Dagegen zeigt sich eine Variabilität17 der Laubenstiel-Abstände
und der Behandlung der Laubenstiele, z. B. als schlichte oder profilierte Stiele, und
der Laubenriegel (Sturzriegel) ohne oder mit Knaggen, die gerade, d. h. schlicht, oder
bogig ausgeschnitten sein können. Auch die Brüstung oder Balustrade ist dem Wandel
etwas unterworfen. Aber alle diese variierenden Bauelemente sind immer nur Teile
des ganzen Bauwerkes, und zwar nicht die wesentlichen.
Immerhin sind gerade sie geeignet, zur Datierung beizutragen. Ein Hauptmerkmal
der zeitlichen Zuordnung bleibt aber wie bei anderen Wirtschafts- und Wohnbauten
das Dachgefüge, das uns auch in dieser Darstellung durch die Abfolge: märkischer
Außenlängsverband, einfach stehender Stuhl und doppelt stehender Stuhl im Kehl-
balken-Sparrendach weitergeholfen hat.*
16 Architektenverband, Das Bauernhaus im Dt. Reich und seinen Grenzgebieten. Dresden
1906, enthält Parallelen aus Sachsen/Schlesien, Taf. Nr. 2, Schlesien Nr. 3, Prov. Sachsen
Nr. 1, Sachs.-Altenburg Nr. 1, Kgr. Sachsen Nr. 1, 4, 5, Sachsen-Koburg-Gotha Nr. 2,
Sachsen-Meiningen Nr. 1, Niederbayern-Bayern Nr. 12, Baden Nr. 13, 14; Elsaß Nr. 3, 4
(meist an Stallgebäuden).
17 In Übereinstimmung mit Erfahrungen und Definitionen des Kolloquiums des Instituts
für dt. Volkskunde an der DAdW am 17./18. März 1966 in Berlin, besonders von H. Stro-
bach über die Variabilität im Bereich des Volksliedes (siehe Jb. f. Volksliedforschung n und
Bericht über das Kolloquium, der im DJbfVk 13, 1967» erscheint) und von R. Peesch über
Tradieren im Bereich der materiellen Kultur mit vorhandwerklicher und handwerklicher
Produktion (veröffentlicht im DJbfVk 12, 1966, 26 — 36, ferner auch im genannten Bericht).
* Zu den Abbildungen: Die Originalpläne des Institutes für deutsche Volkskunde zu
den Abb. sind im Maßstab 1:50 gezeichnet. Sie stammen von Hans-Jürgen Rach, die Fotos
von Werner Radig, soweit nicht andere Zeichner, Fotografen bzw. Autoren angegeben sind.
Die Kleidung des erzgebirgischen Bergmannes
im Urteil des 19. Jahrhunderts
Von Karl-Ewald Fritzsch
Fragen der Kleidung und
Uniform greifen ungleich
tiefer in die Lebensverhält-
nisse der Bergmannes ein, als
man gemeinhin anzunehmen
gewohnt ist.
Ernst von Warnsdorf, 1838
1. Zeitgeschichtlicher Hintergrund der Diskussion von 1838 über die berg-
männische Kleidung
Zu einer tiefgründigen Einsicht in das Wesen der Kleidung und in ihre gesellschaft-
lichen Funktionen gelangte der Freiberger Bergwerksbeamte Ernst von Warnsdorf,
wie er selbst gesteht, durch starkes persönliches Interesse für alle Fragen der Kleidung
und Mode. Die mit der Abschaffung der privilegierten Standeskleidung von der
Französischen Revolution ausgelösten kostümgeschichtlichen Vorgänge hatte
er zwar nicht selbst erlebt, aber aufmerksam verfolgt und suchte nun seine Erkennt-
nisse für die bergmännische Lebenswelt auszudeuten und anzuwenden. Für die
Geschichte der sächsischen Bergmannstracht bedeuten seine Darlegungen nicht nur
Quelle, sondern auch Vorarbeit. Er sah wohl als erster die Frage bergmännischer
Kleidung unter historisch-sozialem Aspekt. Mit seiner Stellungnahme zum berg-
männischen Kleid stand er weithin im Gegensatz zu Auffassungen von Vertretern
der bergstaatlichen1 Führungsschicht im damaligen Königreich Sachsen, die noch
im Banne der Herderzeit2 standen. Nun wurde 1838 an die Stelle des kurz zuvor
verstorbenen berühmten Oberberghauptmannes Freiherr von Herder als erster bür-
1 Wir übernehmen den in bergamtlichen Akten zu Bekleidungs- und Uniformfragen im
18. und 19. Jh. allgemein verwendeten Begriff des „Bergstaates“, betonen aber die Viel-
deutigkeit des niemals klar definierten Begriffs.
2 Die „Herderzeit“ umspannt nicht nur die 12 Jahre der Amtstätigkeit des Oberberghaupt-
manns v. Herder, sondern dient als allgemeiner Ausdruck für die Tendenz einer romantischen
Verklärung des Bergmannsberufes, verbunden mit der Beschwichtigung sozialkritischer
Tendenzen. Solche zeigen sich, unabhängig von der Amtszeit des in illusionistischen
Vorstellungen befangenen, durchaus wohlwollenden Mannes, vorher und nachher gleich-
falls.
Siegismund August Wolfgang Freiherr v. Herder, Sohn von Johann Gottfried v. Herder,
am 18. 8. 1776 in Bückeburg geboren, kam 1797 als Student der Bergakademie nach Frei-
berg, wo er 1819 Vizeberghauptmann, 1826 Oberberghauptmann wurde und 1838 starb.
It,
Die Kleidung des erzgebirgischen Bergmannes
289
gerlicher Vertreter Johann Carl Freiesieben3 berufen. Kaum stand er an der Spitze
der Bergbeamtenschaft, hatte er die Beratung der von der Regierung4 geforderten
Trachtenreform durchzuführen. Dabei gab er nun seinem Schwiegersohn Ernst von
Warnsdorf Gelegenheit, vor einem zur Untersuchung berufenen Gremium seine von
demokratischem Geiste getragenen Auffassungen und Vorschläge zu vertreten,
auch wenn er selbst ihnen nur in wenigen Punkten beipflichtete und sie bei den end-
gültigen Verordnungen kaum berücksichtigte.
Bevor wir diese bemerkenswert kritische Stellungnahme5 zur Situation der berg-
männischen Berufstracht verfolgen, versuchen wir, uns die erwähnten Vorgänge nach
1789 wie auch die Lage der erzgebirgischen Bergarbeiterschaft während der ersten
Hälfte des 19. Jahrhunderts zu vergegenwärtigen.
Der von der französischen Nationalversammlung sogleich 1789 gefaßte Beschluß
zur Abschaffung der streng reglementierten ständischen Kleidung entsprach
den gewaltigen gesellschaftlichen Umwälzungen. Der Wegfall der Kleiderordnung
wurde für den dritten Stand das äußere Zeichen der Emanzipation, der Befreiung von
gesellschaftlicher Zurücksetzung und Unterdrückung.6 Jetzt wurde sogar die Klei-
dung zum wirksamen Mittel, sich schon äußerlich zu fortschrittlichen Ideen zu be-
kennen. An die Stelle der verhaßten „Culotte“, der Kniehose, die man nun den
Reaktionären und ihren Lakaien überließ, traten die Pantalons der Matrosen und
3 Johann Carl Freiesieben, geb. 14. 6. 1774 als Sohn des Markscheiders Johann Fried-
rich Freiesieben, studierte in Freiberg und Leipzig; er starb 1846. Bekannt ist seine Freund-
schaft mit Alexander v. Humboldt, unvergessen sind in Fachkreisen seine zahlreichen Ver-
öffentlichungen. Ein Jahr vor seinem Tode wurde er als Berghauptmann a. D. im Kreise
seiner Familie von Ed. Heuchler gezeichnet; vgl. die Veröffentlichung dieses Bildes in den
Sachs. Heimatbll. 12 (1966) 343, rechts das scharfe Profil seines Schwiegersohnes v. Warns-
dorf, links dessen Ehefrau.
4 Die Volkserhebung beseitigte 1830 die Kabinettsregierung, die von sechs Ministerien
übernommen wurde. An die Spitze der neuen Ministerialregierung trat der als liberal be-
kannte Bernhard Frh. v. Lindenau, der bislang die Kunst- und Naturaliensammlungen
sowie die Akademien geleitet hatte.
5 Zur Akte mit dem Aufsatz vgl. unten Anm. 26 auf S. 206 — 207. Die Angaben über
Rudolph Ernst von Warnsdorf (bei Schiffner u. a.) wurden aus weiteren Akten des OBA Frei-
berg ergänzt; dabei bin ich den Herren W. Schellhas, A. Börner, H. Luksch zu Dank ver-
pflichtet, vor allem aber Herrn Dr. H. Wilsdorf für zahlreiche sachkundige Hinweise und
Ergänzungen, sowie Herrn Dr. S. Kube.
E. v. Warnsdorf wurde am 6. 5. 1806 in Waldau bei Görlitz geboren, das damals noch
zu Kursachsen gehörte. 1822 begann er sein Studium an der Bergakademie Freiberg. Nach
dem Abschluß der Ausbildung bewarb er sich 1827 um die Übertragung einiger Schicht-
meistereien. Sein besonderes Interesse galt der Aufbereitung. 1831 wurde er Oberstollen-
faktor mit einem Gehalt von 400 Talern, 1841 Obereinfahrer. Als solcher erhielt er 1844
die Bauaufsicht über den Rothschönberger Stollen. 1848 wurde er Mitglied des Oberberg-
amtes, dessen letzte Sitzung vor der Auflösung im Jahre 1869 er leitete. Kurz darauf trat er
in den Ruhestand und ist 1871 gestorben. Sein berufliches Hauptinteresse galt Fragen der
Geologie und der montanen Wasserwirtschaft. Fragen der bergmännischen Bekleidung
sind anscheinend immer sein „Hobby“ gewesen, obwohl er sie nie wieder in einer grundsätz-
lichen Arbeit dargestellt hat. Aber er galt zu seiner Zeit als der Fachmann dafür und hat
seit 1838 immer der dafür eingesetzten Siebenerkommission angehört.
6 Erika Thiel, Geschichte der Kostümkunde. Berlin 1963, 460 ff.
a) Auswirkungen der Französischen Revolution auf Kleid und Mode
8 Volkskunde
290
Karl-Ewald Fritzsch
Arbeiter. Die Frau befreite sich vom Zwang des Reifrockes und des Korsettes
der höfischen Mode und legte das lose altgriechische Hemdkleid an.
Nur kurze Zeit währte es, bis im Direktoire die werbende Kraft dieser neuen
Elemente der Kleidung die Mode für ganz Europa bestimmte. Als Auswirkung der
revolutionären Vorgänge zeigte sich aber in der folgenden Periode des Empire beim
Vordringen der napoleonischen Heere eine neue Vorliebe für die Uniform. Diese nahm
zunächst in den Staaten unter französischer Schutzherrschaft und Besatzung ihren
Einzug in die zahlreichen halb militärischen Ämter und Verwaltungen. Sie beein-
flußte auch den Schnitt der zivilen Männerkleidung. Uniformen nach französischem
Muster trugen natürlich auch die Beamten der Bergämter. Im Rheinbundstaat
Sachsen erfuhr damit die Tendenz zur Uniformierung der Angehörigen des Berg-
staates eine weitere Verstärkung.
Hier war schon 1768 im Zuge des Retablissements, des energischen wirtschaft-
lichen Wiederaufbaues nach den Verlusten des Siebenjährigen Krieges, durch den
Generalbergkommissar Friedrich Anton v. Heynitz in Abwandlung der alten Auf-
zugstracht eine neue Paradeuniform geschaffen worden.7 Mit dem Mittel dieser
differenzierten Kleidung hatte damals die Führungsschicht versucht, eine strenge
Subordination im „Heere“ der Bergarbeiter durchzusetzen. Zur Stärkung ihrer
Autorität war den Beamten eine prunkvolle Ausstattung vorgeschrieben worden,
damit sie sich zugleich von der gesamten Bevölkerung mit „Distinktion“ abheben
sollten. Während der folgenden Jahrzehnte war das Bemühen darauf gerichtet, den
Kleiderzwang nach strenger militärischer Ordnung aufrechtzuerhalten — gegen
den stillen und immer wieder einmal aufflackernden offenen Widerstand der Arbeiter-
schaft. Da nun in der napoleonischen Zeit die öffentliche Meinung die Uniform be-
günstigte, suchten die führenden Beamten im Freiberger Revier diese Zeittendenz
auszunutzen. In der Mitte des Schicksals]ahres 1812 hielten sie im Bergamt Session
und berieten über Uniformfragen. Nach der tendenziösen und zugleich einfältigen
Meinung des Vortragenden Obereinfahrers Wagner schien das Ziel eines ausschließ-
lichen Habittragens leicht erreichbar. Er wollte dazu wirtschaftliche Druckmittel
anwenden und jede Lohnbesserung vom vorschriftsmäßigen Habit8 abhängig machen.
Durch regelmäßige Aufzüge müßte man immer wieder Gelegenheit zur Überprüfung
der Paradetracht geben und stets auf strenge militärische Ordnung halten. Diese
Auffassung erklärt sich allerdings aus der den Bergbeamten sehr peinlichen Verwechs-
lung, daß die Freiberger Knappschaft beim Vorbeimarsch von dem kaiserlichen Pro-
7 Karl-Ewald Fritzsch und Friedrich Sieber, Bergmännische Trachten des 18. Jahrhunderts
im Erzgebirge und im Mansfeldischen. Berlin 1957, 37ff.
8 OBA Freiberg CI. A Sekt. 23, 1990 Vol. I Anschaffung betr. fol. 93 bis 101.
Friedrich Wilhelm Wagner (1766 — 1831) war armer Leute Kind, die den Knaben dem
Schulmeister Gülden in Tuttendorf bei Freiberg überließen, der ihn sorgfältig unterrichtete.
Nach seinem selbstverdienten Studium an der Bergakademie Freiberg wurde er ein aus-
gezeichneter Markscheider, der 1801 —1803 nach dem Tode von Professor Lempe die mathe-
matischen Vorlesungen übernehmen konnte. Seine bleibende Leistung, auf die H. Wilsdorf
kürzlich wieder aufmerksam gemacht hat (vgl. Umrisse der alten bergmännischen Wasser-
wirtschaft auf dem Freiberger Bergrevier in: Festschrift 100 Jahre Naturkundemuseum Frei-
berg. Freiberg 1964, 134), ist die 1804 gedruckte, Stollenkarte*. — Um so unbegreiflicher
erscheint seine Haltung in der Frage der Bergmannstracht.
iffemi
Die Kleidung des erzgebirgischen Bergmannes 291
tektor mit ihren verschossenen roten Aufschlägen und grünen Schachthüten, mit den
ungleichen Bergledern für eine schlecht gekleidete Miliz gehalten worden war.9
Gegen die rigorose Durchführung der Vorschläge des Obereinfahrers trug man
jedoch schon in der Sitzung Bedenken, wollte aber dem Oberbergamt Vorschlägen,
wenigstens die auffälligsten Mängel zu beseitigen. Der vernünftige Oberberghaupt-
mann v. Trebra fand jedoch mit Recht alle diese Vorschläge gänzlich unzeitgemäß.
Im November 1812, im gleichen Monat, als mit dem Einbruch des strengen Winters
im Osten sich das Schicksal Europas und auch des Landes Sachsen entschied, er-
ließ er die kurze Anweisung,10 von den Vorschriften von 1768 sollte in keinem
Stücke abgewichen werden.
b) Zur Situation der sächsischen Bergarbeiter in der „Herderzeit“
Nach 1815 galt es für das Land Sachsen, die schwerwiegenden Gebietsabtren-
nungen zu kompensieren und sich auf einen enger begrenzten Wirtschaftsraum
umzustellen. Trotz einer unsicheren wirtschaftlichen Fundierung erlebte der Bergbau
noch einmal einen durch 120000 Taler Staatsbeihilfe seit 1826, sowie durch einige
verhältnismäßig reiche Erzanbrüche ermöglichten äußeren Aufschwung. Aber die
innenpolitischen Verhältnisse waren trostlos.
Die den Karlsbader Beschlüssen von 1819 folgenden Maßnahmen zur Wiederher-
stellung der alten Ordnung gaben dem Land unter den beiden alten Königen Fried-
rich August und Anton das Gepräge schlimmer Reaktion.
Das bergmännische Leben dieser Zeit fristete sich hin in kleinbürgerlicher Beengt-
heit, in wirtschaftlicher Unzulänglichkeit, unter scharfer bergstaatlicher Aufsicht.11
Die seit 1830 ziemlich überall einsetzenden statistischen Veröffentlichungen ließen
keinen Zweifel, daß der Bergbau des Erzgebirges bereits nahezu bedeutungslos12
geworden war. Allein die Repräsentanten des sächsischen Bergwesens suchten
durch mitunter geradezu töricht anmutende Mittel sich noch immer das Ansehen zu
geben, als ob für den sächsischen Staat nach wie vor die Existenz eines sonderrecht-
lichen Bergstaates notwendig sei. Diese alteingewurzelte Ideologie war zwar nicht
unbegrenzt tragfähig und zerschellte im ökonomischen Bereich sehr rasch, hielt sich
9 Wappler, Mitt. des Freib. Altertumsvereines 40 (1904) 52 (Napoleon in Freiberg).
10 OBA Frbg. 4371 BA. Frbg. Schreiben des OBA vom 4. Nov. 1812 fol. 104/5.
11 Siegfried Kube, Bergmännisches Familienleben in Genrebildern des 19. Jahrhunderts.,
DJbfVk 4 (1958) 327ff.
12 Wir erläutern die gesunkene Position des Bergwesens durch einige Zahlenangaben nach
den Mitteilungen des Statistischen Vereins für das Königreich Sachsen, Bd. I—XVIII,.
Dresden 1833 — 1848 — bezogen auf den Durchschnitt der Jahre 1831/1838:
im Bergbau tätig insgesamt 12 000 Werktätige
in der Baumwollindustrie
in der Leinwandherstellung
an Bobinet-, Petinet- und
Klöppel- Spitzenarbeit
Von den 5,5 Millionen Gulden Staatseinnahmen kamen:
aus der Silberproduktion
aus anderen Erzbergwerken
aus der Steinkohle
200 000
70 000
50000
66000
60000
26000
aus dem Post- u. Salzmonopol je 300000
8*
292
Karl-Ewald Fritzsch
aber in vielen Einzelheiten und Nebensächlichkeiten mit besonders schwer zu er-
schütternder Erstarrung.
Zu diesen erstarrten Relikten gehörte unter anderen Überlieferungen auch die
Bergmannstracht, auf die sich die vorliegende Untersuchung beschränken will.
Es ist bemerkenswert, welche bedeutsame Rolle der Bekleidungsfrage in dem damals
vom Direktionsprinzip zum staatskapitalistischen13 Regiebergbau übergehenden
System der Bergwerksadministration zugewiesen wurde. Statt einer gerechten oder
auch nur ausreichenden Entlohnung wurde der Knappe abgefunden mit imaginären
,Werten': Stolz auf die enge Bindung des Berufsstandes zum Staate und Mitwirkung
an der staatlichen Repräsentation, Ehrgefühl aus der hohen Verantwortlichkeit für
„ordentliche“ Arbeit angesichts der Gefahren für den mitarbeitenden Kameraden,
Berufstreue und einige wenig wirksame, aber immer wieder genannte Fürsorgeein-
richtungen galten als Kompensation für ein entbehrungsreiches, in der Hoffnung auf
bessere Erze und endlichem Wohlstand dahingehendes Leben, ebenso wie die „Aus-
zeichnung“ durch die Bergmannstracht.
So ist es nicht zufällig, daß diese Zeit der Tracht und Uniform noch einmal ganz
besondere Bedeutung für die Repräsentation des Bergstaates beigemessen hat, für die
man keine anderen als militärische oder halbmilitärische Formen zu finden wußte.
Man kann fast sagen, daß die Bergamtleute oder ,Bergamtsoffizianten', wie sie sich
titulieren ließen, den Rang von „Offizieren“ einnahmen, während den Steigern die
Position des „Feldwebels“ zufiel, die das „Heer“ der Häuer als „Gemeine Soldaten“,
wenn auch nicht gerade militärisch, so doch dienstlich zu „befehligen“ hatten. Diese
Grundeinstellung war typisch für den sächsischen Bergbau der ,Herderzeit'.
1826 ist S. A. W. v. Herder Oberberghauptmann geworden. Für ihn hatten Habit
und Uniform erstrangige Bedeutung. Immer stärker bezog er Uniformfragen in seine
Maßnahmen ein. Bereits 1827 erwirkte er unter Berufung auf die kurfürstlichen
Reskripte von 1668 und 1749 ein königliches Patent,14 das fast wörtlich die alten An-
weisungen wiederholte und das Nichttragen des Habites als Verleugnung des Standes
und des bergmännischen Geistes, seine willkürliche Veränderung und Ausgestaltung
andererseits als unpassenden Luxus verurteilte und verbot. Dieses Patent wirkte sich
in den Revieren dahin aus, daß das Tragen von Zivilkleidern allmählich ganz unter-
sagt wurde, obwohl diese Absicht mit dem Wortlaut des Reskriptes von 1668 noch
nicht unmittelbar zu stützen war. Anweisungen an Steiger und Älteste, auf Einhal-
tung der Kleidervorschriften zu achten, werden nunmehr im Ton schärfer. Wer im
Überrock oder in einem nur dem Steiger zustehenden Dreieckshut oder mit „luxu-
riösen“ Samtverzierungen am Kittel ertappt wird, soll ungesäumt diesen „unnötigen,
kostspieligen, ihm nicht zukommenden Tand“ abschaffen, anderenfalls ihm als Strafe
der Abzug eines Wochenlohns droht.
13 In unmittelbarem Staatseigentum befanden sich zwar nur 24 von 480 Erzgruben, aber
diese können als ,Großbetriebe' gelten und lieferten fast ein Drittel der Bergwerksprodukte.
Auch darf nicht verkannt werden, daß die Rentabilität der privat betriebenen Gruben oft
durch indirekte Staatszuschüsse aufrechterhalten wurde. Der freien kapitalistischen Kon-
kurrenz auf dem Metallmarkt hätten sie erliegen müssen.
14 Patent vom 20. 10. 1827. OBA 4371. Vol. I und OBA Frbg. Nr. 137 BA Altenberg
fol. 17.
Die Kleidung des erzgebirgischen Bergmannes 293
Mancher Steiger oder Schichtmeister mag sich den Verhältnissen elastisch ange-
paßt und mit Rücksicht auf die Arbeitsproduktivität über kleine Vergehen großzügig
hinweggesehen haben. Der Bergmeister Fischer von Johanngeorgenstadt suchte aber
gerade damit seine amtliche Tüchtigkeit zu beweisen und setzte seinen ganzen Ehr-
geiz in die Durchführung der Bekleidungsvorschriften.15 Die vorgeschriebene
Tracht fanden die jungen Bergburschen unwürdig und degradierend. Ihr lange
verhaltener Ingrimm machte sich schließlich Luft in einem Pasquill, einer Schmäh-
schrift. Darin wurde der Bergmeister gewarnt, er solle den Bogen nicht überspannen.
Wenn dies nicht anders würde, wüßte man schon Mittel!
Der anscheinend recht weltfremde Bergmeister tat verwundert über die Unzu-
friedenheit seiner Bergleute und über ihre Auflehnung, die er zu dämpfen suchte,
indem er nun Übertretungen um so härter bestrafte.
Schließlich erhielt das Oberbergamt von der gespannten Situation in diesem Revier
durch eine Beschwerde Kenntnis. Dem Bergarbeiter Herberger war schon mehrmals
ein Wochenlohn genommen worden, weil er, angeblich um das Berghabit für die
Kirche zu sparen, einen Rock für zwei Taler „auf dem Tretel“ gekauft hatte. Man
wirft ihm vor, er sei darin einherstolziert, habe Tanzböden besucht, die nicht der
bergamtlichen Jurisdiktion unterstünden, und habe gar beim Bezahlen der Strafe
eine Quittung gefordert! In seinem Bericht erklärte der Bergmeister offen, das junge
Bergvolk habe eine Vorliebe für die verbotenen Überröcke, und darum müßten die
Strafen für eine Übertretung hart sein, ja bei wiederholten Verstößen müßte der
Schuldige entlassen und aus dem Bergmannsstand ausgestoßen werden! Offenbar
mißbilligte aber der im Grunde human eingestellte Oberberghauptmann diese über-
spannte Durchführung seiner Anweisungen. Etwas einsilbig antwortete er, bei der
Ordnung müsse es zwar bleiben, aber die häuslichen Verhältnisse wären unbedingt
zu berücksichtigen.
Bemerkenswert ist, daß er eine Verordnung zum totalen Verbot der Zivilkleidung
nicht erlassen hat. Immerhin scheint er einen darauf zielenden Erlaß vorbereitet
zu haben, denn schon am 21. März 1838 wies sein Nachfolger Freiesieben die Berg-
ämter an,16 daß Älteste, Steiger und Lehnsträger, wie alle Bergleute, bei jedem
Gottesdienstbesuch, jeder Kindtaufe, jeder Hochzeit, jedem Begräbnis sich ausschließ-
lich des Berghabites zu bedienen hätten. Die Vorgesetzten in bergmännischer Tracht
seien nach militärischem Vorbild durch Abnehmen der Kopfbedeckung oder durch
Anlegen der rechten Hand an den Schachthut zu grüßen. Lohnbesserungen sollten
künftig in erster Linie vom richtigen Verhalten in diesem Sinne abhängig gemacht
werden. Damit schien das lange von der Führungsschicht erstrebte Ziel erreicht: die
Zivilkleidung war für den Bergknappen so gut wie völlig ausgeschaltet.
Ein öffentlicher Protest gegen eine so weitgreifende oberbergamtliche Anordnung
war in jener Zeit nur von einem christlich protestantischen Standpunkt aus möglich.
Den beiden Zeitschriften Die Biene und Die Ameise des jungen Zwickauer Pastors
K. E. Richter ließ die Zensur es durchgehen, wenn in Beiträgen gegen Mißstände
15 OBA Freiberg, Nr. 2579 Vol. I, BA Johanngeorgenstadt, fol. 123 ff.
16 OBA Freiberg, BA. Frbg. Sekt 3 Nr. 4610 und OBA Frbg. 4371 Vol. I fol. 152b, Ab-
schrift nach OBA Frbg. Nr. 3521 fol. 233.
294
Karl-Ewald Fritzsch
opponiert wurde:17 Richter stellte die Spalten seiner Zeitungen der Kritik an der
oberbergamtlichen Verordnung zur Verfügung.18 Wie üblich erfolgte sie anonym.
„Einer (sicher ein Bergmann) für Alle“ erklärt: Sämtliche Bewohner Sachsens können
das Gotteshaus in einem persönlichen würdigen Kleid besuchen, nur der Bergmann
sei durch die kürzlich ergangene bergamtliche Verordnung gezwungen, im Berg-
habit zu kommen, das wohl für die Arbeit, nicht aber für den Kirchenbesuch passend
wäre. Es sei völlig irrig zu glauben, ihm damit Ausgaben zu ersparen, denn der
Kittel sei ein in der Kälte völlig ungeeignetes Kleidungsstück, auch wünsche der
Bergmann gar nicht, damit zur Parade aufzuziehen. Das bereite ihm, wie auch den
Gewerken, nur unnütze Ausgaben. Statt des üblichen Berghabites, dessen Vorzüge
nur eingebildet seien, sollte der Bergmann zweckmäßigerweise einen blauen Rock,
Halbstiefel, Tuch, Pantalons und eine warme Harzer Schachtmütze tragen dürfen!
Das waren scharf gezielte, aber begründete Angriffe gegen die bergstaatliche Füh-
rung! Ein überzeugter Vertreter der bergstaatlichen Interessen vermochte durch eine
gleichfalls in der Biene erschienene ,Einsendung' diese Argumente mit seiner ge-
dankenarmen Entgegnung in keiner Weise zu entkräften. Bezeichnenderweise ging
er auf die sachlichen Angaben über Kosten und Unzweckmäßigkeit gar nicht ein,
sondern suchte nur den Einsender moralisch ins Unrecht zu setzen. Er nannte ihn einen
„schwachen Geist“ und meinte, ihn als „Verräter am Stande“ mit billigen Phrasen
(er müsse sich schämen und könne sich im Bergmannsgewand vor ehrlichen Men-
schen nie wieder sehen lassen) brandmarken zu sollen. Dann schwärmte er über-
schwenglich für die Tracht des sächsischen Bergmannes, die über die Trachten aller
Stände Europas zu setzen sei, da sie sich seit 500 Jahren niemals geändert habe. Er
hatte insoweit recht, als das Kleid des Bergmannes zu den ältesten, stets stark be-
achteten und geachteten Berufstrachten gehört. Aber seine Behauptung, es habe sich
seit 500 Jahren niemals geändert,19 zeugt von völliger Unkenntnis kostümgeschicht-
licher Vorgänge. Diese lassen sich im ganzen für den behaupteten Zeitraum überhaupt
nicht überblicken und während der späteren, wirklich überschaubaren drei Jahr-
hunderte erfuhr die Kleidung des Bergmannes ganz wesentliche Änderungen, wie
bergbaugeschichtliche und kostümgeschichtliche Untersuchungen ergeben.
Aus den kritischen Auseinandersetzungen über die bergmännische Kleidung, die
gerade zur gleichen Zeit in den Bergämtern im Gange waren, hätte er erfahren können,
daß der vorgeschriebene Kittel durchaus nicht allen Anforderungen entsprach.
Vielmehr war geradezu der Beweis erbracht worden, daß seine Unzulänglichkeit viele
körperliche und gesellschaftliche Schädigungen verschuldete. So wird in weiten
17 Konrad Sturmhöfel, Illustrierte Geschichte des Albertinischen Sachsen. Leipzig 1898
Bd. II/2, 22.
18 OBA Freiberg Nr. 4371 BA. Frbg. fol. 208 Gedanken eines Bergmannes in der Zs.
Die Biene (Abschrift in der Akte).
19 OBA Freiberg 4371, fol. 209. Der Verfasser der Entgegnung nennt den 1324 verstor-
benen Markgrafen Friedrich den Gebissenen, von dem zwar die Überlieferung zu berichten
weiß, daß ihm Freiberger Bergleute mehrfach durch einen „Blick Silber“ geholfen haben,
damit er das von Adolf von Nassau besetzte Land wieder gewinnen konnte. Doch sind weder
aus dessen Lebenszeit, noch aus den folgenden Jahrhunderten Darstellungen von Bergleuten
auf uns gekommen. Möglicherweise sind vorhandene bei den wiederholten Stadtbränden
vernichtet worden.
Die Kleidung des erzgebirgischen Bergmannes 295
bergmännischen Kreisen nicht seine Entgegnung, sondern doch die erste Einsendung
des Anonymus das stärkere Echo gefunden haben. Einzelheiten sind zwar nicht mehr
feststellbar, aber wir bedürfen ihrer auch nicht.
Denn schon seit Jahren war das Bergvolk rebellisch und die gesamte Bevölkerung
des Landes unruhig. Die liberalen Ideen der neuen französischen Revolution wirkten
sich aus und brachten das stagnierende politische und geistige Leben in Bewegung.
Die Nachricht von der Pariser Julirevolution ließ 1830 die Spannung explosiv
zum Ausbruch kommen. Unruhen in Dresden und Leipzig20 mußten durch Polizei
und Militär niedergeworfen werden. Freibergs Bergknappen brachten ihre Unzu-
friedenheit mit der ideologischen Verbrämung und Ableugnung ihrer völlig unbefrie-
digenden wirtschaftlichen Lage und mit dem verhaßten Kleiderzwang durch einen
Demonstrationszug vor die Tore21 zum Ausdruck. Sie erzwangen damit bemerkens-
werterweise die Erhöhung ihres Schichtlohnes. Schon vorher hatte ein liberaler
adliger Vertreter durch einen Aüfsatz in der Biene für das Land eine Verfassung
verlangt.22 Nun stellten sich breite Kreise des Volkes hinter diese Forderung, so daß
die Verfassung bewilligt werden mußte.
An die Stelle muffigen Duckmäusertums trat unter dem Schutze der Verfassung
mehr und mehr ein parlamentarisches Leben, das sich nicht mehr scheute, politisch-
soziale Forderungen zu stellen. Man machte von der Möglichkeit der Meinungs-
äußerung auch im Bereich des Bergwesens Gebrauch. Die Bergbeamten kritisierten
Mißstände in Verwaltung und Technik, die Bergleute selbst äußerten ihre Unzufrie-
denheit über schlechte Bezahlung und über den leidigen Kleiderzwang immer deut-
licher und unverhohlener. Gewiß ging alles sehr langsam in den neuen, noch unge-
bahnten Gleisen, aber schließlich griff die verfassungsmäßig für den Bergbau zu-
ständig gewordene, neugeschaffene oberste Landesbehörde im Finanzministerium
diese Probleme auf. Sie hielt eine Vereinfachung der Berguniform für dringend ge-
boten.
In einem Schreiben vom n. März 1836 war der Oberberghauptmann Freiherr
von Herder aufgefordert worden, seine Meinung über eine solche Vereinfachung
der Dienstkleidung im Berg- und Hüttenwesen zu äußern und Vorschläge dazu ein-
zureichen, denn „die vielen kostbaren, bei dem Berg- und Hüttenwesen nebeneinan-
der bestehenden Dienstkleidungen stehen im Gegensatz zu den einfachen Einrich-
tungen bei anderen Dienststellen und selbst beim Militär und führen zu Mißhellig-
keiten der Bergwerksdiener.“23 Dieser Gedanke ist dem auf feierlich-prunkvolle
Repräsentation des Bergwesens bedachten Bergfürsten sehr zuwider gewesen, zumal
er das Schreiben auch als eine gegen ihn gerichtete Kritik betrachten mußte. Jeden-
falls hat er es völlig ignoriert, und das Ministerium scheint nicht gewagt zu haben, an
20 Rudolf Kötzschke und Hellmut Kretzschmar, Sächsische Geschichte. Neue Ausgabe.
Frankfurt a. M. 1965, 322.
21 Die Vorgänge in Freiberg im Jahre 1830 behandelte Friedmar Brendel im Rahmen der
Geschichte der Arbeiterbewegung. Die Arbeit ist bisher unveröffentlicht. Der „Auszug“
aus der Stadt sollte wohl symbolische Bedeutung haben und an die unvergessenen erfolg-
reichen Erhebungen der Knappschaft im 15. und 16. Jh. erinnern.
22 Zschr. Die Biene Jg. 1829, Novembernummer.
23 OBA Freiberg, Nr. 67x4, Vol. III, fol. 34!!.
296
Karl-Ewald Fritzsch
die Erledigung zu erinnern. Nach seinem Tode fand es der Amtsnachfolger und be-
richtete nun nach Dresden, daß sich im dienstlichen Nachlaß des Verstorbenen weder
Vorarbeiten noch Notizen über die persönliche Auffassung in dieser Angelegenheit
gefunden haben. Die Erledigung leitete er unverzüglich ein.
c) Die Bemühungen um die Vereinfachung des Berghabits seit 1838
An 19 Stellen, Bergämter und ihnen gleichgeordnete Verwaltungsstellen, aber
auch an Einzelpersonen, erging nun die Aufforderung, Vorschläge zur Vereinfachung
der vorgeschriebenen bergmännischen Tracht einzureichen.24 Diese Vorschläge
trafen auch im Laufe der nächsten Monate ein. Bevor es in den verschiedenen Amts-
stellen zu ihrer Formulierung kommen konnte, mußte erst überall bei den Befragten
eine Einigung über die Stellungnahme zu diesem schwierigen Fragenkomplex er-
zieltwerden. Die Eingaben erschöpften sich freilich oft in „detaillierten Ausführungen
persönlicher Ideen“, wie der Berghauptmann bemerkt. Vielfach hatte man nur
Form und Ausführung der erstrebten Tressen und Epauletten im Auge. Wesentliche
Aussagen für unsere Untersuchung finden sich nur in einer verhältnismäßig geringen
Anzahl von Einsendungen. Aber die Skala der kritischen Beurteilungen erstreckt
sich dann von radikalen Änderungsvorschlägen bis zur gänzlichen Ablehnung jeder
Uniformierung überhaupt.
Die Leiter der Blaufarbenwerke stellten fest, daß sich bisher keine Notwendigkeit
zur Uniformierung ihrer Arbeiterschaft ergab. Will man die Tendenz der Eingaben
zusammenfassen, ließe sich sagen: Wo eine sachliche Kritik zum Ausdruck gebracht
wurde, sprach sie sich etwa dahingehend aus, daß Kostenrücksichten — geringer
Witterungsschutz — unmoderner Schnitt, der eine unvorteilhafte Figur ergab —
gesundheitswidrige Einschnürungen — die Abschaffung der bisherigen Bergmanns-
tracht nahelegten. Sie empfahl, den Bergmann einer nachweisbar schon seit vielen
Jahrzehnten mit Widerwillen getragenen Dienstkleidung zu entheben und ihm eine
zweckmäßigere Bekleidung zu geben. Mithin wollte man die „Uniformierung“ der
Bergleute nicht unbedingt aufgeben, sondern die derzeitigen Mängel abstellen. Der
Oberhüttenverwalter v. Manteuffel25 kritisierte die Uniform der Hüttenleute. Deren
lichtempfindliche hechtgrauen Röcke, die seit 1711 vorgeschrieben waren, verblichen
leicht, so daß kaum zwei Röcke im Ton übereinstimmten. Berg- und Hüttenleute
sollten nach seiner wiederholt angemahnten und lange hinausgezögerten Stellung-
nahme lieber ein einheitliches Kleid tragen, da sie ja auch einer Sache dienten. Schon aus
praktischen Gründen könnte das für beide Gruppen nur das schwarze Bergkleid sein.
Aus den wenigen Bearbeitungen, die eine Reform des bergmännischen Kleides auf
eine grundsätzliche Erörterung sozialer, wirtschaftlicher und kostümgeschichtlicher
Gegebenheiten zu gründen suchten, ragt der aus eigener Initiative eingesandte Auf-
satz des Oberstollenfaktors Ernst v. Warnsdorf weit heraus. Vielleicht hat ihn der
Berghauptmann selbst dazu angeregt, der von dem starken Interesse seines Schwieger-
sohnes für alle Fragen der Bekleidung wußte.26 Schon als wenig bemittelter Student
24 OBA Freiberg, Nr. 6714, Vol. III, fol. i9iff.
25 OBA Freiberg, Nr. 67x4, Vol. III, fol. 235 ff.
2fi Freundliche Mitteilung von W. Schellhas aus seinem zum Druck vorbereiteten
Manuskript über den Berghauptmann Freiesieben. Der Aufsatz Ernst v. Warnsdorfs findet
297
Die Kleidung des erzgebirgischen Bergmannes
mag der nunmehrige Kritiker Sorgen um die Beschaffung der kostspieligen Akade-
mistenausstattung gehabt haben. Später gaben ihm Verwaltungs- und Aufsichts-
funktionen bei Arbeiten über und unter Tage Gelegenheit zu eindringlichen Beob-
achtungen auf dem stadtfernen Teil des Reviers über die unzureichende Kleidung der
Bergleute bei ungünstiger, wechselhafter Witterung.
Die freiwillige Teilnahme an der Behandlung des Trachtenproblems begründete
der Verfasser damit, daß davon elementare Lebensfragen für den Bergmann berührt
werden, wie er es in der dieser Arbeit vorangestellten Formulierung präzisiert hat.
Er forderte, daß sich die Erörterungen nicht allein auf die Offiziantentracht er-
strecken, sondern die Kleidung der Ältesten, Steiger und Arbeiter mit einbeziehen.
Und um diese handelt es sich fast ausschließlich bei seinem sauber geschriebenen
Aufsatz von 50 Spalten, den er an das Oberbergamt einreichte. Die Ergebnisse seiner
Untersuchungen, die er freimütig darlegt, gipfeln in einer vernichtenden Kritik an den
Mißgriffen bei der Gestaltung der bergmännischen Bekleidung und an der fast zwei
Jahrhunderte verfolgten falschen Trachtenpolitik der obersten Bergbehörde.
Die von ihm an die bergmännische Berufskleidung gestellten Anforderungen re-
sultieren aus drei wesentlichen Gesichtspunkten.
I. Ökonomische Gründe
1. Anschaffungskosten müssen im richtigen Verhältnis zur wirtschaftlichen Leistungs-
fähigkeit des Trägers stehen.
2. Das Material muß dauerhaft und unempfindlich gegen Schmutz und Nässe sein.
3. Andere Kleidung soll entbehrlich werden, um doppelten Aufwand für Beruf und
öffentliches Auftreten zu vermeiden.
II. Hygienische Forderungen
1. Schutz des Körpers vor Verletzungen durch Gesteinssplitter und gegen Haut-
abschürfungen soll gewährleistet sein.
2. Ausreichender Wärmeschutz beugt der Gefahr der Erkältung am besten vor.
III. Soziale Motive
1. Die Kleidung soll auf Grund ihres bergmännischen Gepräges gesellschaftliches
Ansehen geben.
2. Die Formgebung soll „allgemeinen“ Charakter anstreben, um den geschlossenen
Berufsstand nicht in sozial verschieden bewertete Teile zu zerschlagen.
2. Einblicke in Funktion und Geschichte der bergmännischen Kleidung
Ernst v. Warnsdorf vermittelt uns durch seine Untersuchungen ein wirklichkeits-
getreues Bild von der Situation der Bergmannstracht in jener Zeit. Darüber hinaus
liefert seine Analyse wichtige Aufschlüsse über die Geschichte der bergmännischen
Kleidung im Erzgebirge. Darum können sich unsere folgenden Ausführungen eng an
seine Darstellung anschließen, wobei uns neben dem Gesamtmaterial aus der Erhebung
des Oberbergamtes von 1838 weitere einschlägige Quellen zur Ergänzung dienen.
sich in der Akte ОБА Frbg. Nr. 6714, Vol. III (1835) Ы. 129 — 154, die beigefügten Zeich-
nungen fol. 155 — 185.
298
Karl-Ewald Fritzsch
a) Ökonomische Bedenken gegen das Festhalten an der alten Bergmannstracht
Um die wirtschaftliche Belastung bei der Anschaffung der verordneten Bekleidung
nachzuweisen, hat v. Warnsdorf durch den Obersteiger Pilz eine Aufstellung des
mannschaftlichen Kleiderbedarfs nach den gültigen Vorschriften ausarbeiten und ihre
Anschaffungskosten27 berechnen lassen.
Danach soll jeder Bergarbeiter vier Ausstattungen haben: eine Arbeitskleidung
(Taf. 13 unten), ein Alltagskleid, ein Sonn-und Festtagshabit, das zur Paradetracht
ergänzt wird. Außerdem ist er bisher noch nicht ohne die zivile Kleidung ausge-
kommen. Er brauchte einen Festtagsrock, der jeweils viele Jahre, oft sogar das
ganze Leben halten mußte, nachdem er aus besserem Stoff zur Hochzeit, bei der Grün-
dung des Hausstandes, angeschafft worden war. Der Arbeitskittel, der je nach der
Arbeit einem erheblichen Verschleiß unterliegt, ist aus billigem Stoff gearbeitet und
wird immer wieder erneuert. Für den allgemeinen Gebrauch benötigt er — eigent-
lich überflüssigerweise28 — ein besseres Leder, als er es zur Arbeit anlegt — für den
Ausgang auch einen besseren Hut. Zur Arbeit über Tage trägt er Stiefel, beim
Gang zur Grube aber Zechenschuhe; als Wärmeschutz ist ein Unterziehjäckchen
unter den Kittel unentbehrlich. Nur zur Parade werden die weißen Leinwandhosen
angelegt, sonst genügen die schwarzen (Taf. 14). Nur der Parade dienen ferner der
grüne Schachthut, die mit Spitzen besetzte Kappe, Kniebügel, Strümpfe und Barte.
Der Kleiderbestand wird ergänzt durch Halstuch, Weste, Strümpfe und ein Schnupf-
tuch. Die Kostenfeststellung wies nach, daß Häuer oder Knechte zur Beschaffung
aller notwendigen Stücke über 30 Taler auf zu wenden hatten — also mußten sie den
Gesamtverdienst von 30 Wochen opfern, da ihr Wochenlohn seit Hunderten von
Jahren immer nur etwa einen Taler betrug. Der Steiger hatte zusätzliche Ausgaben
für den schwarzen Schachthut, den feiertags vorgeschriebenen Dreieckshut, für den
Wetterkasten (zum Schutz der Grubenlampe), das Steigerhäckchen, für die Puffjacke
und das „Chamset“ (die Weste). Das erforderte eine Summe von über 60 Talern, beim
Knappschaftsältesten stieg der Betrag wegen seiner aufwendigen Paradeausstattung
auf beinahe 100 Taler.
Besonders kostspielig war die Offiziantenausstattung (Taf. 15), zu der neben der
Parade-, der Interims- und der Sessionstracht auch noch ein vollständiges Gruben-
habit für die Einfahrt gehörten. Ebenso war eine vollständige Zivilkleidung nicht zu
entbehren. Damit erforderte die Equipierung fast 300 Taler, mehr als das Jahres-
einkommen eines jungen Bergbeamten; v. Warnsdorf zeigt damit die recht trübe wirt-
schaftliche Situation der jungen Beamten auf. Er meinte, daß fast jeder seine Laufbahn
mit Schulden beginnen müsse. Wurde nun der verschuldete Anfänger in seinem
Dienst hundertfältigen Prüfungen ausgesetzt — hier spielt er anscheinend auf die
infolge der schwer kontrollierbaren Verwaltung hoher Beträge besonders an-
fällige Tätigkeit als Schichtmeister an — und strauchelte er, so war der Grund für
ein verfehltes Leben gelegt, woran vornehmlich den übersteigerten Kleidungs-
ansprüchen die Schuld beizumessen war. Diese Ausführungen lassen die dunkle
27 OBA Freiberg. 6714, Vol. III, fol. 186 — 189.
28 Strich der Bergmann dieses wirklich entbehrliche und vielleicht nur irrtümlich neben
dem Paradeleder geforderte Stück, ersparte er allenfalls 20 Groschen.
Die Kleidung des erzgebirgischen Bergmannes
299
Kehrseite des in der Herderzeit entfalteten bergmännischen Glanzes eindrucksvoll
in Erscheinung treten.
Die Überschreitung des wirtschaftlich tragbaren Kostenaufwands für die bergmän-
nische Kleidung fiel auf allen Stufen vor allem dem Zwang zur Beschaffung der
Paradekleidung zur Last. Gerade deren Kosten stiegen progressiv mit der Dienst-
stellung und dem Rang, da kostbarer Stoff und aufwendige Betressung größere
Beträge erfordern. Der Bergstaat bürdete hier seinen Angehörigen untragbare Aus-
gaben für die festtägliche kirchliche und staatliche Repräsentation auf, die zwar nach
außen wirkungsvoll, für die Produktion selbst aber ohne Bedeutung waren. Mit Recht
wies v. Warnsdorf darauf hin, daß der Bergmann — gegenüber anderen Gruppen im
Dienst vergleichbar ähnlicher Aufgaben — außergewöhnlich benachteiligt war. Die-
ner und Lakaien erhielten ihre Dienstkleidung kostenlos, wie auch der Soldat. Dem
Offizier wurde ein Bekleidungsgeld bei der Equipierung gezahlt. Nur die Bergsänger
machten eine Ausnahme, deren Ausrüstung die Zehntkasse bezahlte, da sie der
Landesherr für seine Veranstaltungen am Hofe benötigte. Alle übrigen Bergleute
haben das Paradekleid auf eigene Kosten anzuschaffen und zu unterhalten. Unwirt-
schaftlich war nach seinen einleuchtenden Überlegungen das Berghabit auch des-
halb, weil bei der Arbeit etwaige strapazierfähige Stücke des unansehnlich gewordenen
Sonntagsstaates nicht abgetragen werden konnten. Denn kaum ein einziges dieser
Stücke beließ dem Arbeitenden die erforderliche Bewegungsfreiheit! Mußte der
Kittel infolge seines raschen Verschleißes oft wieder erneuert werden, weil man not-
gedrungen billigste Stoffe verwendete, dann war er in der Tat ein sehr teures Klei-
dungsstück.
Als unwirtschaftlich beanstandete v. Warnsdorf auch, daß die Zivilkleidung nur
wenig genutzt werden konnte. Sein Vorschlag, jedem den „Rock“ zuzubilligen,
hätte dazu geführt, im Sinne der Verordnung seines Schwiegervaters „andere Kleider
entbehrlich zu machen“ und die Bekleidungskosten erheblich zu senken.
b) Hygienische Anforderungen
Obwohl hier manche Gesichtspunkte fehlen, hat E. v. Warnsdorf doch auch sehr
wesentliche Aspekte richtig herausgestellt. Nur mit diesen haben wir es hier zu tun.
Primäre Aufgabe des Kittels war — vom Standpunkt der Gewerbehygiene — der
Schutz des Körpers bei der Fahrung und bei der Arbeit unter Tage. Dazu war er
bei regulären Temperaturverhältnissen und normalem Wetterstrom auch geeignet.
Er versagte an allen nassen, zugigen Orten. Er versagte ferner bei seiner zweiten
Aufgabe, ausreichenden Schutz gegen Verletzungen am Gestein und am Werkzeug
zu bieten — doch schon darauf ging der Autor kaum noch ein. Wichtiger waren
ihm die schwierigen Witterungsverhältnisse über Tage, wo ein erheblicher Teil der
Belegschaft zu arbeiten und jeder den Weg von und zur Grube zurückzulegen hat.
Dafür hielt er eine völlig andere Kleidung für dringend notwendig, erst recht bei
gemeinschaftlichen Märschen in kalter Jahreszeit.
Diese klar präzisierte Auffassung wurde von anderen Beurteilern durchaus ge-
teilt. Eine außerordentlich eindrucksstarke Schilderung eines solchen Marsches und
der gesundheitsschädigenden Auswirkung des unzureichenden und unzweck-
mäßigen Bergmannskleides finden wir in den Akten des Bergamtes Johanngeorgen-
300
Karl-Ewald Fritzsch
Stadt29 vom Jahre 1808. 30 Jahre vorher war das Schwarzenberger Bergamt auf-
gehoben und sein weitläufiges Revier an das Johanngeorgenstädter angeschlossen
worden. Nun mußten die Belegschaften der Gruben alljährlich zur Fastnachtspredigt
in die neue Revierstadt marschieren. Für die Bergarbeiter der Rothenberger Grube,
die meist aus den Orten Bermsgrün und Crandorf stammten, ging nun der 20 km
weite Marsch an der Schwarzenberger Kirche vorbei.
Wegen der ungünstigen Witterung im Jahre 1808 faßte man selbständig den Ent-
schluß, die Predigt in der Schwarzenberger Kirche anzuhören. Diese Eigenmächtig-
keit sollte jeder mit einer halben Straf Schicht büßen. In dem Advokaten Johann
Traugott Lindner fand sich jedoch ein geschickter Verteidiger. Seine Eingaben werfen
ein grelles Licht auf die schwierigen Verhältnisse und die völlig unzureichende Klei-
dung der Bergleute. Diese gaben zu Protokoll: „In der Mitte der Nacht müssen wir
vom Lager auf, nüchtern fahren wir in den30 Berghabit, der bei vielen nur in einem
zerlumpten Kittel besteht; einige müssen sich sogar den Anzug borgen. Ohne einen
Pfennig in der Tasche treten wir den rauhen Weg an, die Füße sind schon öfters in der
ersten Viertelstunde durchnäßt, da wir nicht in Stiefeln, sondern uniformiert in Schu-
hen erscheinen müssen. Fackeln erhellen den noch finsteren Pfad. Zähneklappernd
harren wir bei der Ankunft am Markt auf den Kirchgang“. „Man könnte uns sagen“,
so schließt die Eingabe, von deren erwartetem Erfolg allerdings die Akten des Berg-
amtes nichts melden, „daß so ein Bergaufzug Gelegenheit böte, nachzusehen, ob
Anzug und Uniform beim Bergmann akkurat und vollständig sind, um helfend ein-
zugreifen, wo das nicht der Fall ist. Aber ein von der Arbeit abgehungerter Bergmann
hat bei solcher Gelegenheit noch nie einen neuen Habit erhalten!“
Die Vertreter der abgelegenen Blaufarbenwerke im oberen Gebirge ergänzen
das erschütternde Bild durch die Schilderung der auch dort üblichen Märsche zur
Kirche.31 Für langes ruhiges Sitzen in der kalten Kirche war das Habit natürlich
völlig unpassend. Darum verurteilen sie es als ungerechtfertigte Härte, unzureichend
gekleidete Mannschaften mit nassem Schuhwerk während der meist langen Berg-
predigten in der ja nicht heizbaren Kirche festzuhalten. Als es überhandnahm, daß
sich einzelne vor dem Schluß des Gottesdienstes hinausschlichen, um in der nächsten
Schenke durch ein Glas Branntwein das Kältegefühl zu betäuben, wurden Älteste
und Steiger als Wachen an die Türen postiert, so daß jeder frierend bis zum Schluß
durchhalten mußte. „Aber“, meint der Blaufarbenwerksfaktor, „ein Blick auf den
elenden Schutz der ganzen Unterhälfte des Körpers bei der Mannschaft muß jeden
entwaffnen, der das Hinterziehen des Kirchganges und Trunkenheit zu rügen den
Auftrag hatte“. Auch E. v. Warnsdorf nennt uns einen Fall, bei dem das Oberberg-
amt nicht mehr umhin konnte, unterstützend einzugreifen: „Die Unzweckmäßig-
keit und Gesundheitsschädlichkeit des Kittels bei einem längeren Aufenthalt im
Freien erwiesen erst jüngst die Teichbauten bei Großhartmannsdorf, bei denen man
29 OBA Freiberg, BA Johann-Georgen-Stadt, Nr. 3986/1808. Acta: Die von den Berg-
arbeitern am roten Berge geschehene Verweigerung.
30 Die erzgebirgische Bergmannssprache behielt vielfach bei diesem Wort dem Latein ent-
sprechend das maskulinum bei; außerhalb der Zitate richten wir uns nach der Orthographie
von Duden.
31 OBA Freiberg 6714, Vol. III, fol. 218b.
Die Kleidung des erzgebirgischen Bergmannes
301
den Arbeitern eine Kleidungszulage zahlen mußte“.32 Ob diese aber in jedem Falle
für den gedachten Zweck verwendet wurde oder ob der Arbeiter nicht das Frieren
als kleineres Übel als Hunger und sonstige Not betrachtete?
Warnsdorfs Forderung wird hier in der Praxis bestätigt. Er begründete sie selbst
mit den vorliegenden Arbeitserfahrungen: „Erkranken nicht alljährlich Hunderte
von Bergleuten infolge von Erkältungen und müssen nicht Tausende für Kranken-
schichten, Kurkosten und Medikamente dafür bezahlt werden? Würde dieses nicht
wenigstens in Etwas vermieden werden, wenn man für eine dem Klima angemessene,
wärmere, zweckmäßigere Kleidung sorgte?“
Die ausdrückliche Zustimmung des Oberbergamtes zum Tragen bürgerlicher
Kleidung bei kirchlichen Anlässen und bürgerlichen Veranstaltungen hatten 1791
die Zinnknappen als Bürger der Stadt Altenberg — mit Hilfe ihres geschickt argu-
mentierenden Stadtrichters — als ,Präzedenzfall4 erzwungen.33 Durch die Verord-
nung von 1838 sahen sie dieses nach wie vor notwendige Recht in Frage gestellt.
Nun bediente sich der Stadtrichter Gotthelf Ehrenreich Träger ebenfalls des Argu-
mentes der Gesundheitsschädigung.34 Bei strenger Kälte war es in Altenberg un-
möglich, beim Gottesdienst, bei einer Hochzeit oder Taufe in der Kirche den Leinen-
kittel zu tragen. Der hohen Kosten wegen konnten sich aber die meisten Bergleute
auch keinen Mantel kaufen. Das Oberbergamt wurde aufgefordert, unter Aufhebung
des Verbotes zu gestatten, daß sie sich einen Tuchrock zulegten. Die Akten sagen
nicht, ob das Gesuch auf Belassung des gewährten Rechtes Erfolg hatte.
Erst ein Vorgang aus dem Jahre 1841 zeigt uns, daß sich für diese gewerbe-
hygienischen Belange der zuständige Arzt35 eingesetzt hat. Ein gehäuftes Auftreten
schwerer Erkältungskrankheiten bei anfahrenden Bergleuten in Müdisdorf, südlich
Freiberg, veranlaßte den Bergamtswundarzt Fischer zu einem alarmierenden Be-
richt36 an das Bergamt Freiberg. Die als „Nervenfieber“ bezeichnete Krankheit er-
klärte er aus wiederholten, heftigen Erkältungen auf dem Wege von der Zeche.
„Da sie oft erhitzt ausfahren, können sie der Witterung bei ihren dünnen Bekleidungen
nicht Trotz bieten. Außerdem entstehen dadurch viele Lungenkrankheiten.“ Er
schlug damals für die Bergleute die Anschaffung von Capotmänteln mit Ärmeln aus
dichtem Tuch und aufschlagbarem Kragen vor. Ein bloßer Zierkragen nütze nichts,
wenn der anfahrende Bergmann oft stundenweit im Schnee ohne Bahn und Steg zu
seiner Grube wandern müsse. Auch solle er Aufschlagstiefel erhalten, die Unter- und
Oberschenkel vor Nässe schützen. Die Knappschaft besorgte auf diese dringende
ärztliche Empfehlung in der Tat Mäntel, deren Anschaffungskosten verlegt und in
Raten zurückgezahlt wurden. Nach einem Kampf von fast drei Jahrhunderten hat
32 OBA Freiberg, Nr. 6714 Vol. III Ы. 137b.
33 BA Altenberg Sect VIII Nr. 53 Mandat OBA vom 23. 3. 91 an BA Altenberg Hand-
schrift ST Freiberg 117a.
34 ВA Altenberg Nr. 137: Die wegen Tragung des Berghabites in bisherigen Revieren
von Zeit zu Zeit erforderlich gewesenen Maßregeln und darauf ergangenen hohen Ver-
ordnungen betr. 1823.
35 Heucke, Mitt. Freiberg. Altertumsverein 47 IV, 312 Der Chirurg und Practicus medi-
cinae August Wilhelm Fischer war Wundarzt für das Brander Revier und wohnte in Groß-
hartmannsdorf.
36 OBA Freiberg BA Frbg. Acta 4618 S. iff. Schreiben vom 20. 1. 1841 S. 131 ff.
302
Karl-Ewald Fritzsch
damit der Knappe endlich das Kleidungsstück erhalten, das er zur Erhaltung seiner
Gesundheit so dringend benötigte und das ihm in völliger Verkennung erstrangiger
hygienischer Forderungen von seiner obersten Behörde vorenthalten worden war.
c) Soziale Auswirkungen des bergmännischen Kleides
Hohen Wert legte v. Warnsdorf auf die sozialen Funktionen der bergmännischen
Kleidung, die bei der ärmlich wirkenden Kitteltracht des arbeitenden Bergmannes
unvermeidlich vielfach andere Auswirkungen als bei der Uniform der führenden
Beamtenschicht mit sich brachten. Uniform zu tragen galt auch damals schon all-
gemein als Auszeichnung. Sie hebt ja auch in der Regel den Träger aus der Allge-
meinheit heraus und läßt ihn an dem Ansehen teilhaben, das die ganze Körperschaft
genießt. Zugleich legitimiert sie den Träger zur Ausübung spezifischer Funktionen.
Das ihm von der Gesellschaft zugebilligte Ansehen beförderte aber natürlich damals
auch bei manchem Uniformträger Hochmut und Eitelkeit, wie der erfahrene Be-
amte hervorhob, auch wenn er die Auffassung ablehnte, die Uniform sei nur zur
Entwicklung des Kastengeistes eingeführt worden.
Uniform zu tragen, sei — so erklärt er — gar nichts Beneidenswertes, kein „wahr-
haft gebildeter“ Mensch lege Wert darauf; denn er bedürfe keines besonderen Kleides,
um das Selbstbewußtsein zu heben, vielmehr müsse er sich wegen der Ordnung
dieser „Gene“, diesem Zwang, als einem notwendigen Übel unterwerfen.
Nicht nur im sächsischen Bergbau, sondern in allen Ländern, wo ein halbwegs
bedeutender Bergbau bestand, waren Uniformen eingeführt worden — oft nach sächsi-
schem Muster. Aber auch andere große Personalkörper mit wichtigen öffentlichen
Funktionen, wie Polizei oder Forst, wollten oder konnten die Uniform nicht ent-
behren, die meist dem Muster der stehenden Heere nachgeschaffen war.
Die 1768 vom Generalbergkommissar F. A. v. Heynitz eingeführte sächsische
Berguniform stand noch in erheblichem Maße unter dem Einfluß der durch territorial-
absolutistischen Geist geprägten Vorstellungen, zu denen die bürgerlich-liberalen
Auffassungen der Zeit um 1838 in Widerspruch standen, so daß v. Warnsdorf für
die Ausgestaltung einer bergmännischen Berufstracht völlig andere Gesichtspunkte
als v. Heynitz geltend machte. Für diesen war wichtigster Grundsatz die Differen-
zierung37 gewesen, durch die er Subordination nach innen, Distinktion, Hebung des
Ansehens nach außen erreichen wollte. Der gesamte Personalkörper wurde damals
in 10 Uniformklassen aufgegliedert, die sich durch äußere Merkmale scharf vonein-
ander abhoben. Deutlich ließ v. Heynitz den alten ständischen Aufbau in Erscheinung
treten. Zwar hatte man zur Anpassung an das Gesamtbild auch die höchsten, dem
Adel vorbehaltenen Klassen mit einem Rock aus schwarzem Tuch statt weißer Seide
ausgestattet, doch war der Besatz mit Goldstickerei und farbigen Seiden dermaßen
kostbar, daß ihn die Oberbeamten gar nicht zu erschwingen vermochten, wie der
Oberberghauptmann Benno v. Heynitz 1787 an den Kurfürsten zu berichten sich
veranlaßt sah.38 Eine weitere Zäsur lag zwischen der Klasse der Offizianten, die meist
aus dem Bürgertum hervorgingen, und jener der arbeitenden Mannschaften, deren
37 Fritzsch-Sieber, Bergmännische Trachten 37fr.
38 LHA Loc. 41741 Rep. IX, b Abt. A Sekt. I: Die bergmännischen Aufzüge betreffend.
Die Kleidung des erzgebirgischen Bergmannes
303
einfacher schwarzer Kittel sie als kaum die bürgerliche Stufe erreichende Angehörige
des dritten Standes kennzeichnete. Das Aufspalten eines am gleichen Werke schaffen-
den Personalkörpers in zahlreiche Klassen oder Stufen hat v. Warnsdorf scharf ver-
urteilt, da es das Bewußtsein der Kollegialität zerstörte und dafür gegenseitig Neid,
Mißgunst und Eifersucht erregte, wie man täglich erleben konnte.
Die geltende Kleiderordnung hatte nicht nur nach seiner Auffassung, sondern in
der Tat in Verbindung mit dem Kleiderzwang bedenkliche Folgen für die soziale
Einschätzung des einfachen Arbeiters. Während die Vorgesetzten oft nicht einmal
im Dienst die bergmännische Kleidung trugen, war der gemeine Bergmann ge-
zwungen, sogar sonntags einen unscheinbaren, ärmlich wirkenden Leinwandkittel
anzuziehen. Darin lag bewußt oder unbewußt etwas Erniedrigendes und — diese
Erinnerung schien ihm im Kreise des Oberbergamtes notwendig — solche „natür-
lichen“ Gefühle sollte man nicht unbeachtet lassen! Da sich nun zeigte, daß die
Trachtenpolitik im sächsischen Bergbau seit Jahrhunderten falsch gelenkt worden
war, schien es an der Zeit zu sein, für Änderungen zu sorgen.
Der Versuch, das Wesen der bergmännischen Berufstracht durch einen Vergleich
mit den „bekannten, schönen“ Nationaltrachten klarzumachen, führte 1838 zu volks-
kundlich und trachtenkundlich recht interessanten Aspekten. Sie verdienen wegen
ihres frühen Zeitpunktes volle Beachtung, auch wenn E. v. Warnsdorf über Ansätze
nicht weit hinauskam. Er glaubte, Volkstrachten würden im Gegensatz zum Berg-
habit mit einem erhebenden, begeisternden Gefühl ohne Unterschied vom obersten
bis zum untersten Stand39 40 getragen. Daher erhob er die rhetorische Frage: „Würden
nicht unsere Leute ebenfalls stolz darauf sein, wenn sie dienstlich denselben Rock
tragen dürften wie der Berghauptmann?“
Er formulierte seinen Vorschlag folgerichtig dahingehend, daß Berufstrachten
Züge der Nationaltrachten annehmen und dafür solche der militärischen Uniform
aufgeben sollten.
Mit einem etwas unbestimmten Begriff forderte er für die Bergleute eine „all-
gemeine Kleidung“, die keinerlei Klassenunterschiede zum Ausdruck bringe, auch
wenn sie Rangunterschiede beibehielt. Er selbst fühlte sich trotz seiner adligen Her-
kunft als Angehöriger des fortschrittlichen Bürgertums, er war auch der erste Adlige,
der als ,OberstollenfaktorC4° fungierte. Nach seinem Wunsch und seiner Vorstel-
lung sollte eine Reform der bergmännischen Berufstracht die Einheit des Bergmanns-
39 Welche Nationaltrachten v. Warnsdorf bei diesen Aussagen im Auge gehabt hat, läßt
sich nicht erkennen. Als Sohn der Lausitz war ihm die sorbische gewiß nicht fremd.
40 Aus dem Kalender für den Sächsischen Berg- und Hüttenmann (Jg. 1840), den die Berg-
akademie Freiberg jahrzehntelang herausgab, läßt sich die Position des Oberstollenfaktors
leicht feststellen. Dem Range nach gehörte Ernst Rudolph v. Warnsdorf als Oberstollen-
faktor wenigstens wie die Berggeschworenen zu den Bergamtsmitgliedern und nicht bloß
wie Markscheider, Bergwardein, Stollenfaktor oder Schichtmeister zu den Bergamts-
offizianten. Doch rangierte er erst hinter Zehntner, Bergmeister, Vizebergmeister, Berg-
schreiber, Obereinfahrer, Kobaltinspektor.
Sein Aufgabenbereich ergab sich aus seiner Amtsbezeichnung: Rechnungswesen und berg-
bautechnische Aufsicht über das Wasserkraft heranführende und Wasserlast ableitende Netz
der Freiberger „Revierwasserlaufanstalt“ waren ihm anvertraut, wobei ihm ein kleiner
Stab von Stollenobersteigern und Stollensteigern, Röschensteigern, Grabensteigern als
Unterbeamte zur Hand ging.
304
Karl-Ewald Fritzsch
Standes wieder herstellen, die „ehemals bestand“. Außerordentlich zerstörend soll
nach seiner Auffassung die an sich wohlgemeinte, zur kostensparenden Schonung der
Prunktracht 1793 durch den Oberberghauptmann Benno v. Heynitz eingeführte
sogenannte Interimstracht41 gewirkt haben. Ob sie wirklich den ganzen Bergmanns-
stand in mehrere Teile gespalten hat, ist zwar eine offene Frage, aber richtig ist die
Feststellung, daß der rein militärische Charakter dieser Interimstracht völlig unberg-
männisch war. Wir verstehen durchaus, daß v. Warnsdorf fand, sie sei schon deshalb
gänzlich abzulehnen. Das hinderte ihn nicht auszusprechen, an sich sei die Uniform
„unverkennbar schön“, nur wegen ihres militärischen Schnittes und wegen ihrer
militärischen Dekoration „will sie bei dem jetzigen [anti-]militärischen42 Zeitgeist
für uns ganz und gar nicht mehr passen“.
Bei seiner Forderung nach einer allgemeinen, einheitlichen Bergmannstracht emp-
fahl er als einfachste und zweckmäßigste Lösung die Einführung eines schwarzen
Tuchrockes, den auch alle Bergarbeiter tragen sollten (Taf. 1 x a). Zur unvermeidbaren
Kennzeichnung von Rangfolge und Funktion sah er eine ganz dezente Umschnü-
rung, sparsame Betressung und vielleicht einen Federstutz vor (Taf. 11 b und d). Auch
den grünen Schachthut lehnte er nicht ab, da er unterdes zu einem typischen Kenn-
zeichen des sächsischen Bergmannes geworden war, nur sollte er etwas gefälliger
und niedriger getragen werden. Für den täglichen Gebrauch schlug er den immer noch
beliebten modischen Dreieckshut (Taf. 11 c), für die Arbeit den praktischen runden
Filzhut vor.
Mit dem Verzicht auf das Capuchon, der zur Dekoration gewordenen alten Gugel-
kapuze, die weiße Krause, die Überschläge und Fahrkappe gab er um des einheit-
lichen Bildes willen dekorative Ausstattungsstücke der Aufsehergruppe preis.
Hierin folgte ihm die spätere Entwicklung nicht, die alle diese dekorativen Elemente
beibehielt. Noch heute werden sie in der volkskünstlerischen Gestaltung des Erz-
gebirges als unentbehrliche Attribute der Schnitzfiguren empfunden und erfreuen
sich außerordentlicher Beliebtheit.
Mit der damals noch unterbliebenen Einführung der schwarzen Puffjacke, deren
Schnitt dem damals so beliebten „Schößelröckel“ ähnlich war, hätte wahrscheinlich
der langdauernde und aussichtslose Kampf gegen das Tragen der Zivilkleidung
aufgehört. Die verfehlte Entwicklung zu einer militärischen Berguniform hätte sich
zu einer schlichten, zivilen, einheitlichen „Berufstracht“ zurücklenken lassen, womit
die Bezeichnung „Uniform“ entbehrlich geworden wäre. Mit dem Ausdruck „Uni-
form“ hatte aber auch F. A. v. Heynitz selbst seine Schöpfungen nicht bezeichnet, er
41 Die Interimsuniformen wurden aus schieferfarbigem oder blauem Tuche statt des Zivil-
kleides im Dienste getragen. Im Schnitt waren sie der militärischen Uniform sehr ähnlich.
An beiden Seiten hatte der Rock eine Dublierung und Rabatten mit je 8 Knöpfen besetzt.
Zu den elf Paradeuniformklassen von 1768 traten 1793 damit 5 weitere Interimsuniform-
klassen.
OBA Freiberg, CI. A. Sekt 23, 1990 Vol. I Anschaffung betreffend fol. 6off.
42 In den Jahren nach 1831 sah sich das Militär als Hort feudalrestaurativer Kräfte stark
in seiner Bedeutung zurückgedrängt. Viele Abgeordnete meinten, daß ein Ersatz durch Kom-
munalgarden ausreichend sei. Nur die unerwartet hohen Überschüsse des Finanzministeriums
ließen das Militärbudget stets durchgehen, zumal der geschickte Kriegsminister immer nur
die Heeresstärke beantragte, die dem sächsischen Kontingent in der ,Bundesarmee' entsprach.
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Tafel ix
) Doppelhäuer mit Puffjacke in Parade-
uniform. Entwurfszeichnung Ernst v.
Warnsdorfs 1838
) Offiziant in Paradeuniform. Entwurfs-
zeichnung Ernst v. Warnsdorfs 1838
b) Knappschaftsältester in Paradeuniform.
Entwurfszeichnung Ernst v. Warnsdorfs
1838
d) Offiziant in Interimsuniform. Entwurfs-
zeichnung Ernst v. Warnsdorfs 1838
Tafel 13
Bergmann im Berghabit: Wams,
Grubentasche, hochgeschlagener
Gugel. Holzgeschnitzte Figur von
Valentin Silbermann um 1590.
Historisches Museum, Dresden
Häuer in Arbeitstracht auf dem Wege
zur Schicht, 1791. Kol. Zeichnung.
Bergmännischer Kalender
von Köhler, Freiberg
Tafel 14
Bergakademisten in Paradekleidung 1828. Zeichnung von Ludwig Braunsdorf
— --
Tafel 16
Tafel 17
Bergmann im Grubenkittel. Zinngegossener Kerzenträger 1683. Altarleuchter der Kirche
Geising/Erzgebirge
Tafel 18
Oberbergamtsoffiziant in Winterparadeuniform 1844. Kol. Stich. Ergänzungsblatt zu dem
von G. E. Rost, Freiberg 1835 herausgegebenen Tafelwerk zur sächsischen Bergmanns-
tracht
Die Kleidung des erzgebirgischen Bergmannes
305
sprach stets von „Parade-Berg-Habitern“. An dieser Stelle erscheint eine Erläuterung
zur Geschichte dieses Wortes43 geboten, die zugleich manchen kostümkundlichen
Befund klären hilft und mit einem knappen Überblick über die Entwicklung des
bergmännischen Kleides zu verbinden ist.
d) Zur Geschichte des Berghabits
In den ersten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts, in der Gottschedzeit, hatte die
aus dem Latein kommende Bezeichnung „Uniform“ für eine streng geregelte, ein-
heitlich manufakturmäßig hergestellte Bekleidung einer Korporation, vor allem für
das stehende Heer, allgemeinen Eingang in die deutsche Sprache gefunden.
Dem Generalbergkommissar war bewußt, daß die Übernahme einer „Uniformie-
rung“ für das Korps der Bergarbeiter dem sächsischen Bergstaat weder organisato-
risch noch juristisch und erst recht nicht finanziell möglich gewesen wäre. Mit
voller Absicht sprach er deshalb wohl stets unverbindlich vom „Habit“, das sich der
Bergmann seit je aus eigenen Mitteln zu beschaffen hatte, gleichgültig ob er auf
einer staatlichen Grube, einer Gewerkenzeche oder auch auf eigene Rechnung ar-
beitete.
Mit seinem Vorschlag, allen Bergarbeitern das Tragen des schwarzen Rockes nun-
mehr zu gestatten, verband v. Warnsdorf einen ,historischen4 Nachweis, der dartun
sollte, daß die Beschränkung auf den Kittel fast ausschließlich eine erzgebirgisch-
sächsische Eigentümlichkeit geworden war, während im Harz, in Böhmen, in Ungarn
die Knappen sogar beim Einfahren seit langem eine leichte Puffjacke trugen. Er hätte
in langer, eindrucksvoller Reihe auch all die anderen deutschen und außerdeutschen
Länder44 auf führen können, in denen Häuern wie Knechten der (schwarze) Rock ohne
weiteres seit eh und je erlaubt war, der ihnen sogar vom Bergherrn oder von den
43 Im ausgehenden Mittelalter kam der Ausdruck ,Habit‘ als Bezeichnung für das einheit-
liche Gewand der Mönche auf. Im Bergbau fehlte jedoch ein einheitliches Arbeitskleid noch
durchaus, daher erscheint ,Habit‘ spät und verhältnismäßig selten — mündlich ist es viel-
leicht geläufig gewesen, schriftliche Aufzeichnungen beschäftigen sich damit nicht. In
literarischer Verwendung begegnen wir der Bezeichnung Berghabit zum ersten Mal in den
Predigten des Eibenstocker Geistlichen Christian Mann im Jahre 1616: Bergkpredigt ...
Gehalten durch Christianum Mann, Mariaeb. Pfarrherrn des Bergkstädtleins Eybenstock.
Gedruckt zu Freibergk Im Jahr 1616. In den lexikalischen Erfassungen der Bergmanns-
sprache, die seit der ,Agricolazeit‘ aus dem Anfang des 16. Jhs vorliegen, ist ,Habit' nur durch
Hertwig 1710 und den Mineralophilus Freibergensis Zeisig 1730 gebucht worden.
Im 19. Jahrhundert ist dann fast unvermerkt die Bezeichnung veraltet und durch Berg-
mannstracht ersetzt worden. Hierzu wäre anzumerken, daß mit der Bezeichnung Tracht
ebenso die einheitliche Kleidung einer Gemeinschaft — eines Landschaftsgebietes — eines
Zeitabschnittes gemeint ist.
Die Aufnahme der „unterschiedenen Kleidertrachten derer gemeinen Bürger und Bauern
in Kursachsen“ durch Adam Zürner und F. A. Richter zwischen 1710 und 1720 verwendete
den Begriff „Tracht“ im allgemeinen Sinne wie Kleidung und nannte „Habit“ die speziellen
Formen wie ,Trauerhabit‘, ,Hochzeitshabit', aber auch alltägliches Habit'. (Vgl. zu letz-
terem: Mitteldeutsche Blätter für Volkskunde 1942, 1 — 20, P. R. Beierlein; 21—41,
H. Schreiter.)
44 Vom Verfasser liegt eine ausführliche Untersuchung zur bergmännischen Kleidung vor,
deren Veröffentlichung für 1967 vorgesehen ist. Sie enthält ausführliches Material zur ge-
samten Entwicklung der bergmännischen Tracht in europäischen und außereuropäischen
Ländern.
9 Volkskunde
306
Karl-Ewald Fritzsch
Gewerken mitunter kostenlos beschafft wurde, und hätte dann Sachsen als eins der
rückständigsten Länder in diesem Punkte brandmarken müssen!
Zur Beweisführung fertigte er einige sorgfältige Zeichnungen nach Bilddoku-
menten der Vergangenheit an, die bewiesen, daß jeder Bergmann über dem Arbeits-
kittel einen warmen Rock trug, den er bei der Einfahrt, vor Beginn der Arbeit ab-
legte. Viel Mühe mag ihm die Nachzeichnung seines ältesten Beleges bereitet haben,
des Reliefs45 über dem Portal des Neuendorf sehen Hauses am Freiberger Obermarkt.
Heute vermögen wir an einer großen Zahl älterer Belege seine Auffassung zu be-
stätigen, daß der Bergmann im bürgerlichen Gewand zur Arbeit ging und erst zur
Einfahrt den weißen Kittel anlegte. So zeigen es Szenen auf dem Titelbild des Kutten-
berger Kanzionals von 1490 (Taf. 12 oben).
Er zog ferner ein verlorenes wichtiges Bilddokument heran, das 1873 beim Brand
von St. Joachimsthal (Jächymov) zugrundeging und bürgerlich gekleidete Bergleute
zeigte.46 Wir werden uns das verbrannte Gemälde auf der Altarrückseite in der ehe-
maligen protestantischen Kirche mit Figuren arbeitender Bergleute vorzustellen
haben, wie sie ähnlich auch Hans Hesse 1521 für den Knappschaftsaltar der Kirche zu
Annaberg malte.-47 48
Einen Rock nach gleichem Schnitt, meist mit Faltenschoß, tragen auch die Berg-
leute der Holzschnitte in Agricolas De re metallica,(Taf. x 2 unten) ferner Figuren
von Stein- und Holzplastiken im Bereich der Stadt Freiberg, die v. Warnsdorf mit ge-
schickter Hand unter Verzicht auf Farbangaben abzeichnete. Mit den begrenzten
kostümgeschichtlichen Einsichten seiner Zeit vermochte er jedoch nicht, die Ge-
samtentwicklung des bergmännischen Kleides und alle Varianten zu übersehen.
So war die Trageweise einer Tasche vor dem Leib keine bergmännische Besonder-
heit, sondern bei vielen Überlandgängern Sitte. Für den Bergmann wurde sie aber
unter Tage mit ihrem Inhalt, dem Tzscherper [Grubenmesser] und dem Beleuch-
tungsmaterial [Docht, Feuerstein, Unschlitt] lebenswichtig. Er bevorzugte darum
einen Rock, dessen Form dieser Tasche durch einen Ausschnitt genügend Raum ließ.
Unter den Freiberger Plastiken gibt es aber auch Figuren, bei denen sich die beiden
Rockflügel weit nach unten öffnen und schräg geschnitten jeweils an der entgegen-
45 Die Lünette am Hause Obermarkt 17, das vor kurzem durch die Stadtverwaltung restau-
riert wurde, stammt vermutlich nicht, wie bisher angenommen wurde, von Speck, sondern
von dem Meister des Dresdner Georgentores, Schicketanz, der sie um 1530 schuf. (Freund-
liche Mitteilung von Walter Hermann aus einem unveröffentlichten Manuskript zur Ge-
schichte Freibergs.)
46 Eingehende Angaben über das bei v. Warnsdorf erwähnte Joachimsthaler Gemälde liegen
leider nicht vor; keiner der zahlreichen Chronisten des Bergortes lieferte eine ausreichende
Beschreibung!
47 Bei den engen Beziehungen zwischen dem sächsischen Bergbau und dem der Grafen
Schlick ist eine weitgehende Übereinstimmung im äußeren Erscheinungsbild von Bergbau
und Bergmann anzunehmen, zumal auch mit einer ständigen Fluktuation gerechnet werden
muß. Das Gemälde dürfte nur kurze Zeit später als das des Hans Hesse in Annaberg ent-
standen sein.
48 Georgius Agricola, De re metallica libri XII. Basel 1556. Dt. Ausgaben Berlin 1928,
2. u. 3. Aufl. Düsseldorf 1953, 1961. Dazu vgl.: K.-E. Fritzsch, Die bergmännische Tracht
in Agricolas De re metallica. Berlin 1955, Freib. Forsch. Heft D 11, 107 — 118.
Die Kleidung des erzgebirgischen Bergmannes
307
liegenden Schulter festgehakt sind. Der offen getragene Rock verlangte an kalten
Tagen das Unterziehen eines Latzes oder einer warmen Jacke.
Bunt hob sich dieser Rock in der farbenfrohen Renaissancezeit von dem unterge-
zogenen weißleinenen Hemdkittel ab, dessen angeschnittene Gugelkapuze aus der
Halsöffnung heraus über den Rücken fiel. Das Hinterleder (Arschleder) wurde unter
den Faltenschoß gebunden, das Haupt mit einem bäuerlichen Krempenhut bedeckt,
das Grubenbeil geschultert. Dieses Habit, das auch jeder Bürger trug, wurde zum
Berghabit erst durch die typische Berufsausrüstung: Gugel, Leder, Grubentasche,
Gruben- oder Gehbeil! (Taf. 13 oben) Vielleicht haben Abbildungen dieser einheit-
lichen Ausrüstung bei v. Warnsdorf die unbegründete Vorstellung vom einst ein-
heitlichen Bergmannsstande entstehen lassen.
Als ein typisches Stück aus der Zeit der strengen spanischen Mode nahm zu-
letzt der Steiger die weiße Krause als rangeigenes Kennzeichen in Anspruch. Gemein-
schaftlich mit den Offizianten okkupierte der Knappschaftsälteste die goldene Borte
an der Gugel, mit der sich einst sogar der reiche Bergherr geschmückt hatte. Im
Nachklang der Schlitztracht wurde das Wams49 schließlich durch das Vernähen der
Falten an den gepufften Oberärmeln zur „Puffjacke“. Diese Puffjacke aus feinem
weißen Tuch wurde zwischen 1660 und 1670, als nach französischem Vorbild uni-
forme Einkleidungen ganzer Korps Mode zu werden begannen, unter dem bergbau-
freudigen sächsischen Kurfürsten Johann Georg II. repräsentatives Ausstattungs-
stück für den berittenen50 Bergbeamten. Dem arbeitenden Knappen aber wurde zu
dieser Zeit der Gebrauch des warmen Tuchrockes entzogen und ihm dafür ein zwei-
ter Kittel zugewiesen, auf Wunsch der Geistlichkeit aus schwarzem Leinen, da er
auch zum Gang ins Gotteshaus bestimmt war und die Landesordnung seit 1661 zum
Besuch des Gottesdienstes ein schwarzes Gewand vorschrieb. So wurde dieser brave
Kittel zum Staatskleid erhoben und mit Aufgaben belastet, die er von vornherein
nicht zu erfüllen vermochte. „Er besitzt zwar alle Vorzüge eines zweckmäßigen Ar-
beitskleides unter Tage, aber er ist kein Sonntags-, Fest- und Staatskleid“. Ein kurzes
Hemd — und mehr war er nicht — wie v. Warnsdorf richtig betonte, ergab eben
kein Feiertagskleid; ein schwarzer Hemdkittel über einen weißen gezogen machte
überhaupt keine richtige Kleidung aus! Zwar glänzte er in schwarzer neuer Leine-
wand wie lackiert, wurde aber bald unscheinbar und verdarb bei dem nie ganz farb-
echten Schwarz die daruntergezogene Wäsche. Von gewöhnlicheren Stoffen schlitzte
er und war in wenigen Jahren abgetragen.
49 Das Wams ist ein ursprünglich unter dem Panzer, später unter dem Überrock getrage-
nes, hüftlanges Kleidungsstück. Im 16. Jh. wurde es vielfach zum Schoßwams (bis auf die
Oberschenkel reichend) verlängert; im 17. Jh. ist es als ebenfalls verlängerte Weste ge-
tragen worden, so daß der Unterschied von Wams und Rock nahezu verschwand.
50 Für das Reitkleid war die Puffjacke — nicht die weiße — durchaus geeignet. LaBi
Dresden Handschrift K 9 Vol. Vb Bergwerkssachen.
Augustus Beyer, Das gesegnete Markgrafenthum Meißen 1732 Fol. 99: „Sind auf chur-
fürstlichen gnädigen Befehl an die 120 Berg- und Hütten-Beamte in ihrem Habit zu Pferde
nach Dresden erfordert worden, den Chur-Prinz bey seinem Einzug einzuholen.“ (Um 1670 )
Weck, Geschichte Dresdens, 380 ff. „Eine Compagnie Bergleute weis und nach bergarth
bekleidet“ ritt 1666 bei der Einholung der Prinzessin Anna Sophia von Dänemark im Zug.
308
Karl-Ewald Fritzscii
Außer dem kurfürstlichen Reskript51 von 1668, das von allen Beamten, Lehn-
trägern und Bergleuten im Dienst das Anlegen des Berghabits verlangte, besitzen
wir keine unmittelbaren Dokumente, die die Umstellung vom Rock zum Kittel be-
legen. Aber Abweisung bei Protesten und Bestrafung bei Verstößen gegen „seine“
Uniformverordnung — auf die das Reskript hinauslief — lassen den Nachdruck er-
kennen, mit dem der Oberberghauptmann Abraham v. Schönberg die neue, jedoch
von vornherein verfehlte Linie durchzusetzen suchte.
Interessanterweise läßt sich der Wechsel im trachtlichen Erscheinungsbild auch an
Kunstwerken feststellen, die fast gleichzeitig mit dem neuen Erlaß entstanden, wie
die zinngegossenen Trägerfiguren für Altarkerzen in ZÖblitz und Geising. Bei den
1672 gegossenen Zöblitzer Figuren (Taf. 16) begegnen wir noch dem altüberlieferten
Berghabit mit schrägen Rockflügeln des oben geschlossenen Wamses. Der neue
schwarze Kittel über einem weißen Hemdkittel aber wird deutlich an den prächtigen
Geisinger Figuren von 1685 (Taf. 17). Dieser Kittel wird nun das Standeskleid des
Bergmannes, auf das er stolz zu sein gelehrt wird; man macht das Tragen sogar zu
einem „Vorrecht“, das einen Teil des schwer verdienten Lohnes ersetzen muß; er
wird aber manchem Knappen durch gesundheitliche Schädigungen sogar zum Ver-
hängnis! Immer wieder wird gegen seinen falschen Gebrauch protestiert — aber
stets ohne Erfolg!
e) Das Schicksal der erzgebirgischen Bergmannstracht
Auch dem mit Elan geführten Vorstoß des Oberstollenfaktors ist kein direkter Er-
folg beschieden gewesen. Zwar kannte er die Kleidersorgen seiner Arbeiter besser als
sein ehemaliger hoher Chef, der Freiherr v. Herder, der sich nur wenig darum bemüht
hat, obwohl er meinte,52 „des Knappen treuester Freund!“ zu sein. Dessen Amts-
nachfolger Freiesieben vermochte gleichfalls nicht, den kühnen Gedankengängen
und den gut begründeten Vorschlägen seines Schwiegersohnes zu folgen. Zwar ließ er
das Projekt sehr gründlich beraten, beschränkte sich aber, um eventuellen Schwierig-
51 Das Reskript von 1668 treffen wir in den Archivalien zur Bergmannstracht wiederholt
an, u. a. in: LHA Loc. 4488: Allerhand von den Ober-Berg-Hauptmann Abraham v. Schön-
berg extrahierte und gesammelte Nachrichten von denen Bergwerks-Sachen und sonstigen
noch darüber gefertigten Register.
52 Wir ziehen hier eine Briefstelle heran, die sehr bezeichnend für die Haltung des Ober-
berghauptmanns geworden ist — und verweisen im übrigen auf die biographische Darstel-
lung durch Walter Schellhas, Siegismund August Wolfgang Freiherr von Herder. Der An-
schnitt 11 (1959) Heft 4, 10 — 16. Das Schreiben ist abgedruckt bei Anne-Lore Gräfin Vitz-
thum, Julius Wilhelm von Oppel, ein sächsicher Staatsmann aus der Zeit der Befreiungs-
kriege. Dresden 1932. Anhang S. 115 Brief aus Wülnitz (auf der Reise nach Warschau) 19. 3.
1812 an den Geheimen Finanzrat J. W. v. Oppel:
Ich habe mich von jeher zum Bergmann gebildet. Und ich läugne nicht, daß wenn man
das Kahle des Lebens überhaupt nicht durch irgend etwas Romantisches erhebt, dasselbe
gar sehr an Reiz verliert. Und dies Romantische finde ich nach meiner Meinung in meinem
Bergmannsleben, von da ich mich, ohne meine Zernichtung, nie würde trennen können.
Um so dringender habe ich daher jetzt mein unterthäniges Gesuch um Cedierung der Vice-
berghauptmannsstelle sowohl beym Geheim. Cabinet als dem hohen Collegio übergeben
[um nicht nach Dresden ins Finanzkollegium versetzt zu werden].
Die Kleidung des erzgebirgischen Bergmannes
309
keiten aus dem Wege zu gehen, in der Entscheidung auf die engere Aufgabe einer
bloßen Vereinfachung der Beamtenuniformen. Alle weiteren, über den engen Kreis
der 170 Uniform tragenden Beamten hinausgehenden Vorschläge legte er beiseite
mit der reichlich fadenscheinigen Begründung, für eine allgemeine Reform sei nicht
die Zeit!
So wurde die Aufgabe der Siebenerkommission vom Oberbergamt auf die Aus-
arbeitung von Vorschlägen für die Vereinfachung der Beamtenuniformen beschränkt.
Das Mannschaftskleid sollte dabei völlig aus dem Spiele bleiben. An einem simplen
Grubenkittel wäre schließlich auch nicht viel „zu vereinfachen“ gewesen!
In diese Kommission wurde v. Warnsdorf neben dem jungen Eugen Wolfgang v.
Herder und Eduard Heuchler berufen, konnte sich aber hier nicht voll entfalten, da
es nun nicht mehr um Grundsatzfragen, sondern meist nur um solche der Schneider-
werkstatt ging. Doch waren auch hier seine kritischen Bemerkungen scharf und
treffend: Niemand würde in Abrede stellen können, daß die Schneider mit dem Schnitt
der Puffjacke das Geschmackloseste und dieser Zeit Unangemessenste geschaffen
hätten, was möglich sei. Lebhaft stimmt ihm der Vertreter des Hüttenamtes bei.
Man empfände die Puffjacke direkt als maskeradenartig, denn sie sei in ihrem Schnitt
der menschlichen Figur ganz entgegen, da die Taille nicht an der Dünnung, sondern
auf den Brustknochen und auf den Rippen gehalten werde — wie uns die Zeichnun-
gen Braunsdorfs durchaus bestätigen (Taf. 15). Eine so schlechte Figur aber setze
den ganzen Stand der Lächerlichkeit aus.
Von allen Seiten wurde die gänzlich sinnlose Vorschrift über das Tragen des
Leders außerhalb der Arbeit, vor allem auf der Reise kritisiert. Mit dieser „wider-
lichen und unnützen“ Beigabe setzte der Bergbeamte in der Tat sein persönliches
Ansehen aufs Spiel.
Offenbar haben sich v. Warnsdorfs Ideen im positiven Sinne ausgewirkt. Es kam —
nun schon unter dem neuen Oberberghauptmann Constantin Freiherr v. Beust —
1843 ein neues Reglement zustande,53 das 1844 Gültigkeit erlangte und das der Ab-
sicht der obersten Bergbehörde zu einer Vereinfachung und Vereinheitlichung ent-
sprach. Die Puffjacke von schwarzem Tuche war nun in Verbindung mit dem
Bergleder von allen Berg- und Hüttenbeamten zu tragen (Taf. 18). So war nach deren
eigenem Wunsch die alte Einheit nach außen wieder hergestellt, die 1710 durch die
Eigen Willigkeit der Hüttenoffizianten verlorengegangen war.54 Da nun die Jacke
völlig geschlossen wurde, war auch die kostbare Paradeprunkweste überflüssig ge-
worden.
Doch schon bald erwies sich, daß mit dem Verzicht auf eine grundsätzliche Reform
des bergmännischen Kleides keine befriedigende Lösung zustandegekommen war.
Immer mehr verstärkten sich die ablehnenden Urteile über die geltenden Bestimmun-
gen in allen sozialen Gruppen.
53 G. E. Rost, Trachten der Berg- und Hüttenleute im Königreich Sachsen nach dem
neuesten Reglement. Freiberg 1831. Ergänzung durch weitere Bilder nach dem Reglement
von 1843.
54 Fritzsch-Sieber, Bergmännische Trachten 70 Anm. 37. Christoph Weigel, Bildnisse
aller Berg-Beambten und Bedienten. Nürnberg 1721.
310
Karl-Ewald Frixzsch
In der großen Beschwerde sämtlicher Bergarbeiter aus der Freiberger Revier im
Jahre 184355 spielten die hohen Kosten der bergmännischen Paradekleidung, wie
überhaupt der Kleiderzwang eine Rolle, die das Ministerium allerdings zu bagatelli-
sieren suchte. Das von ihm selbst angeregte Plebiszit über das bergmännische Parade-
kleid kam nicht zustande.
Die ablehnenden Urteile, denen wir im Gange unserer Untersuchungen wiederholt
begegneten, hatten zunächst vorwiegend wirtschaftliche oder gesundheitliche
Gründe. Besonders reserviert gegen die Einheits- und Paradekleidung verhielten sich
stets die Gewerken und ihre Schichtmeister,56 die in erster Linie die Rentabilität der
Gruben im Auge hatten und jeden besonderen Aufwand für Aufzüge und die dazu
notwendige Kleidung fürchteten.57 Wiederholt hatte ihnen der Landesherr Un-
kosten dieser Art aufgebürdet.
In zunehmendem Maße ließen aber nun Stellungnahmen von Vertretern aller
sozialen Gruppen — auch solche aus der führenden Schicht — erkennen, daß die
bergmännische Berufstracht zu einem gesellschaftlichen Problem geworden war, das
seit 1836 immer stärker nach einer Lösung drängte, die die „kleine Reform“ von
1843/44 nicht zu bringen vermocht hatte.
Die meisten Einwände aus gesellschaftlichen, modischen und allgemein sozialen
Motiven bringen gegen die überholte Ausstattung jetzt die Oberbeamten vor, die
sich ihrer einst als des besten Mittels zu wirksamer Repräsentation bedient hatten.
Sie ziehen sich jetzt völlig auf die Zivilkleidung zurück. Kurz vor der Auflösung des
Oberbergamtes im Jahre 1869 fällte einer seiner ersten Vertreter — die nun schon
30 Jahre zurückliegenden Argumente v. Warnsdorfs erneuernd — nochmals ein
vernichtendes Urteil.58
Mit der Auflösung des feudalzeitlichen Regalbergbaues, der zu einer landesfürst-
lichen Teilhaberschaft an jeder (regalpflichtigen) Grube und demzufolge zu einer
landesfürstlichen Direktion des gesamten Bergwesens und zum Aufbau eines „Berg-
staates“ geführt hatte, löste sich das Problem der trachtlichen Sonderstellung der
Bergleute ganz von selbst. Im kapitalistischen Inspektionsprinzip entfiel jeder staat-
liche Einfluß auf die Bekleidungsfragen.
55 LHA I. Kammer. Beschwerde sämtlicher Bergarbeiter aus der Freiberger Berg-
amtsrevier Carl Adolph Butze. Nr. 12 1842/43 fol. 88ff. u. a. z. T. auch OBA Freiberg
11408 Iff. Acta: Die von mehrern Bergarbeitern der Freiberger Bergamtsrevier allerhöchsten
Orts anderweit eingereichteten Beschwerden und Bitten (ab 1842).
56 OBA Frbg. BA Johann-Georgen-Stadt Nr. 750 (1733) fol. 5ff.
57 Fritzsch-Sieber, Bergmännische Trachten 79, Anm. 84 zu S. 46.
58 OBA Frbg. Nr. 6714 Vol. V 1842 fol. 7 u. 12 Als Vermächtnis von Jahrhunderten
sei die Bergmannsuniform zwar originell, vom modernen Standpunkt aus aber geschmacklos.
Puff jacke, Schachthut und goldbetreßte Hosen seien das denkbar Scheußlichste und nur noch
passend für den Aufzug böhmischer Bergmusikanten. Höchst unbequem sei die weiße Parade-
hose, in der man weder Treppen steigen, noch sich niedersetzen, noch bei schlechter Witte-
rung über die Straße gehen und in gewissen Situationen in größte Verlegenheit kommen
könne. In der Gesamterscheinung wirke man maskeradenartig und dürfe sich keinesfalls in
einer anderen Stadt sehen lassen, um nicht einen Auflauf zu erregen oder wohl gar arretiert
zu werden. — Der Zug der Zeit strebe nach Aufhebung der Standesunterschiede. Für ein
solches Überbleibsel aus der ständischen Welt sei in der modernen Zeit kein Platz mehr!
Die Kleidung des erzgebirgischen Bergmannes
311
Die Bergmannstracht wurde nach der definitiven Aufhebung der entsprechenden
Bestimmungen über Trachtenformen und Trachtenzwang zum Schaukostüm — ihr
Träger war (als Mitglied eines Vereins oder gar als Lohndiener bei einer „Fest-
veranstaltung“) nicht mehr identisch mit dem trachtlichen Bild, das die ehemalige
Berufstradition repräsentiert. Ihrer lebendigen Funktion entkleidet, dienten die alten
Trachten in den Bergstädten nur noch „historischen Aufzügen“ und illustrierten
dabei die alte bergmännische Tradition. Hier leben sie auch weiter in der volks-
künstlerischen Gestaltung. Noch heute halten zur Weihnachtszeit zahlreiche ge-
schnitzte Bergmannsfiguren mit ihren leuchtenden Kerzen die Erinnerung an die
Zeit wach, da die typische bergmännische Berufstracht im Erzgebirge weithin das
Bild der Arbeits- und Festwelt bestimmte.
Zur bäuerlichen Butterbereitung im ehemaligen Pommern
Eine Sach- und Wortstudie
Von Renate Winter
Bis zum Aufkommen von maschinell betriebenen Genossenschaftsmolkereien
gegen Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts waren Milchgewinnung
und Milchverarbeitung in den klein- und mittelbäuerlichen Betrieben der ehemaligen
Provinz Pommern1 weitgehend miteinander gekoppelt und in der bäuerlichen Haus-
wirtschaft verankert. Dabei stand die Butterbereitung, die fast ausschließlich in den
Händen der Hausfrau ruhte, gegenüber der Käseherstellung im Vordergrund. Sie
umfaßte drei größere Arbeitskomplexe: die Rahmgewinnung, die Umwandlung des
Rahms in Butter mit den verschiedenen Mitteln der volksmäßigen Technik und
schließlich das Herstellen der Butter. Das volkssprachliche Wortgut, das mit den
genannten Arbeitsprozessen und ihren Geräten in Zusammenhang steht, ist für Pom-
mern von uns erfaßt und ausführlich dargestellt worden.2 Da die Untersuchung eines
sachbezogenen Wortschatzes nur dann möglich ist, wenn die Gegenstände und
Arbeitsverfahren selbst mit in die Analyse einbezogen werden, ergab sich die Not-
wendigkeit, die bäuerliche Butterbereitung auch von der materiellen Seite näher zu
betrachten.
Rahmgewinnung
Aufrahmen der Milch in Satten
In Pommern war, wie auch in anderen Gebieten, die Gewinnung des Rahms aus
der Milch unerläßliche Voraussetzung für jede Art der Butterbereitung im bäuerlichen
Haushalt. Das Verbuttern von Milch kannte man in Pommern nicht. Bis zur Einfüh-
rung der Zentrifuge (s. u.) wurde die zum Entrahmen bestimmte Milch nach dem
Seihen durch ein Tuch oder Sieb in flache Gefäße gegossen, damit sich die Fett-
1 Die ehern. Prov. Pommern umfaßte Vorpommern einschließlich der Insel Rügen, das
heute zur DDR, und Hinterpommern, das heute zur Volksrepublik Polen gehört. In diesem
Aufsatz werden Verhältnisse aus der Zeit vor 1945 behandelt.
2 R. Winter, Die Milch und ihre Verarbeitung im niederdeutschen Wortschatz der ehe-
maligen Provinz Pommern. Phil. Diss. Rostock 1963 (masch.-schr.); Autorreferat Demos 5
(1964) 235 — 236. Vgl. ferner R. Winter, Bildhafte Ausdrucksformen im Niederdeutschen
(Pommerschen) aus dem Bereich der bäuerlichen Milchwirtschaft. Wiss. Zs. der Univ.
Rostock, Ges. u. sprachw. Reihe 15 (1966) H. 6; dies., Butterersatz und Kunstbutter in
den pommerschen Mundarten. Korrespondenzblatt des Ver. f. nd. Sprachforschung (1965)
54-56.
Zur bäuerlichen Butterbereitung 313
bestandteile der Milch an ihrer Oberfläche sammeln konnten. Die Gefäße, die zum
Aufstellen der Milch dienten, waren ursprünglich aus Holz. Davon zeugen auch die
ältesten Namen Melkbütt und Melktien, die an ein Holzgefäß gebunden sind.3 Die
flachen Holzgefäße wurden sehr vielseitig verwendet; so bezeichnet das niederl. Wort
Tien einerseits das Aufrahmgefäß: a. 1576 im Inventar zu Wildenbruch 45 melcke
Tienen,4 a. 1625 Flöthe Tiene (Barth),5 vorpommersch Melktien, Tin in der Alt-
mark. 6 7 Das gleiche Gefäß diente bei der Milchwirtschaft aber auch zur Aufbewahrung
des abgeschöpften Rahmes, deshalb Romtien (a. 1568 Franzburg/Barth),7 Rahmtien
(a. 1776 Leist, Kr. Greifswald).8 Schließlich war es auch ein Vorratsgefäß für die
Butter selbst, in seiner Größe kleiner als ein Achtel.9 Darstellungen auf Kalender-
vignetten bestätigen, daß ähnliche breite, flache, aus Dauben gefertigte Holzgefäße
in Pommern auch als Melk- und Milcheimer Verwendung fanden.10
Auf dem Monatsbild Mai im Verbesserten Vorpommersehen Land- und Ilaus-
Calender aus dem Jahre 1703 erkennen wir ebenfalls ein kleineres Holzgefäß, in das
gemolken wird, und eine größere Holzwanne zum Reinigen der Butter (s. Abb. 12).
Die gehenkelten Milchschüsseln dagegen, die im Regal stehen, sind vermutlich aus
Ton. Sie gehören offenbar zu den frühen Zeugnissen irdener Milchschüsseln in
Pommern, denn die in Töpfereien hergestellten Tonschüsseln, die im 19. Jahrhundert
die hölzerne handgefertigte Böttcherware ablösten, sind in Deutschland erst seit dem
Ende des 18. Jahrhunderts bei diesem Vorgang in Gebrauch.11 Der größte Vorzug
der neuen irdenen und auch gläsernen Schüsseln bestand darin, daß man sie besser und
leichter reinigen konnte. Schon J. Coler wies in seiner Oeconomia ruralis et domestica
auf die Schwierigkeit hin, hölzerne Milchgefäße sauber zu halten. Er empfahl daher
das Abbrühen mit einem Aufguß aus ganz bestimmten Kräutern, „dann wo man die
3 Milch- oder Melkbütten werden häufig in pommerschen und mecklenburgischen Inven-
taren des 16. und 17. Jhs bei der Aufzählung von Geräten aus Molken- oder Melkenstuben
genannt: 14 milchbütten (1624 Stolpe) in: Nachlaß der fürstlichen Witwe zu Stolpe,
Wojewödzkie Archivum Panstwowe Szczecin, Rep. 4, P. I, Tit. 75, Nr. 90 II; melkbütten
(1568) Barth in: Barthische Handlung wegen Abtretung der Ämter Barth und Franzburg,
Woj. Arch. Pañstw. Szczecin, Rep. 4, P. I, Tit. 72, Nr. 65, Bd. II, 249. Auch die ,milch-
bänke, darauf milchbütten können gesetzet werden4 erscheinen in mecklenburgischen Inven-
taren (1620 Dierhagen), s. K. Baumgarten u. U. Bentzien, Hof und Wirtschaft der Ribnitzer
Bauern. Berlin i960, 18.
4 Woj. Arch. Pañstw. Szczecin, Rep. 5, Tit. 73, Nr. 111, Bl. 150a.
5 Meckl. Wb., Bd. II, 1017.
6 Vgl. J. F. Danneil, Wörterbuch der altmärkisch-plattdeutschen Mundart. Salzwedel
1859, 180.
7 Siehe Anm. 3.
8 H. Priebe, Die Entwicklung der Betriebsgrößenverhältnisse der landwirtschaftlichen
Betriebe in 30 Ortschaften des Kreises Greifswald vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Diss.
Greifswald 1936, 60.
9 J. C. Dähnert, Platt-Deutsches Wörter-Buch nach der alten und neuen Pommerschen
und Rügischen Mundart. Stralsund 1781, 486.
10 Vgl. J. Voß, Verbesserter Vorpommerscher nach seel. Hn. Vogts Art eingerichteter
Land- und Haus-Calender, Alten Stettin 1702 — 1726 und Verbesserter / wie auch Gregor-
Julianischer Hauß- Gesundheits- Feld- Garten- und Curiositäten Calender. Rostock 1817.
11 Vgl. B. Martiny, Die Aufrahmung. Geschichte ihrer Entwicklung von den frühesten
Zeiten bis zur Gegenwart. Leipzig 1909, 42.
314
Renate Winter
Milchgefäße nit fein reinlich heit, so ists ein halber Diebstahl an Butter und Käse“.12
Dem Vorzug ihrer leichteren Sauberhaltung stand der Nachteil ihrer größeren
Zerbrechlichkeit gegenüber, die eine schnelle Einführung der neuen Fabrikware
zunächst verhinderte. So berichtete v. Lengerke noch 1831 aus Mecklenburg, wo
die neuen Milchschüsseln besonders früh eingeführt worden waren,13 daß im all-
gemeinen noch die ,hölzernen Geräthec benutzt würden, da sie weniger leicht zer-
brechlich wären.14 In Divitz bei Barth fanden im Milch- und Butterkeller bereits
1849 »theils eiserne ..., theils gläserne“ Milchsatten Verwendung.15 Nachdem beide
Arten von Gefäßen eine Zeitlang nebeneinander im Gebrauch waren, werden die
hölzernen Milchschüsseln auch im bäuerlichen Kleinbetrieb noch im 19. Jahrhundert
ganz durch die Tonschüsseln verdrängt. Lediglich zum Auf stellen sehr großer
Mengen Milch (etwa 20 Liter) dienten auch um 1900 im östlichen Pommern
(Krs. Stolp) noch hölzerne Milchgefäße, die man als Mollschattels ,Muldenschüsseln'
bezeichnete.
Die neuen flachen irdenen Schüsseln hatten in der Regel keine Griffe oder Henkel
(Abb. 1). Sie waren innen weiß, grau-weiß oder rötlich-weiß glasiert und außen unglasiert
braun. Größe und Fassungsvermögen der Tonschüsseln waren sehr unterschiedlich. Die
kleinsten Gefäße nahmen 1/i 1 Milch auf, größere von einem bis zu zwei oder drei Litern.
Nicht selten waren die Milchschüsseln innen verziert. A. v. Lengerke berichtet 1849 von
„gemalten Milchsatten“ aus dem Milchkeller des Gutes Schönenberg bei Schivelbein.16
Auch aus dem Lieper Winkel auf Usedom und vom Darß sind uns derartige Exemplare
bezeugt17 und zahlreiche überliefert.18 Sie wurden in ähnlicher Ausführung von allen pom-
merschen Töpfereien hergestellt. Bei den Milchschüsseln vom Darß, die das Stralsunder
Museum aufbewahrt, hat die Fayenceglasur bräunlich-weiße Tönung, während die Farbe
der Strichornamentik an den Rändern und der aufgemalten Muster hellblau und türkis-
12 J. Coler, Oeconomia ruralis et domestica. Mainz 1656, 408.
13 Vgl. Martiny, Die Aufrahmung ... 42.
14 A. v. Lengerke, Darstellung der Landwirtschaft in den Großherzogthümern Mecklen-
burg. Bd. I. Königsberg 1831, 187fr.
15 A. v. Lengerke, Schilderung der baltischen und westfälischen Landwirthschaft. Th. II.
Berlin 1849,
16 Ebda Th. I, 303.
17 Vgl. W. Borchers, Volkstracht und Volkskunst im Lieper Winkel auf der Insel Usedom.
Monatsblätter, hg. v. der Ges. f. pomm. Gesch. u. Altertumskunde 45 (1931) 8.
18 Milchsatten vom Darß im Museum Stralsund: Inv. Nr. 1925: 186 —188; 1926: 279;
1927: 139; 1927: 517; 1929: 211; 1929: 213 —217; 1929: 338. Vgl. dazu die Abb. von zweien
dieser Gefäße (Inv. Nr. 1927: 139 u. 1927: 517) bei F. Adler, Pommern. Text und Bilder-
sammlung. (München 1930) Abb. 117/118 (— Deutsche Volkskunst 11).
Abb. 1. Pommersche Milchsatten
vm*-
Zur bäuerlichen Butterbereitung
315
färben ist. Neben Blumenmustern und Tier- oder Phantasiedarstellungen am Innenboden der
Schüsseln finden sich bei einigen auch Vornamen wie Emil, Emma, Marie usw.19
Mit dem neuartigen Material gingen auch die an die Holzgefäße gebundenen
Namen wie Bütt und Tien allmählich verloren. Ungeachtet der landschaftlich be-
dingten Unterschiede in Bezug auf die äußere Form (runde oder kantige Gewandung,
s. Abb. i), Farbe und Material (Ton, Glas, Blech) der Gefäße wird im nordwest-
und nordostdeutschen Sprachraum Satte seit dem 18. Jahrhundert zum terminus
technicus für alle flachen Schüsseln, die zum Auf stellen der Milch dienen.
Von den Namen der Gefäße sind auch die mundartlichen Benennungen für die
Tätigkeit des Milchaufstellens abgeleitet. Bis ins 20. Jahrhundert hat sich upbütten
in Pommern neben in- und upsatten und den allgemeinen Verben upstellen, upsetten,
upschütten erhalten.
Die Milchschüsseln standen im allgemeinen im Melk(en)schapp (Vorpommern)
oder Melkspind (Hinterpommern), dem ,Milchschrank .20
Die Satten wurden übereinandergestellt, um den Platz auszunutzen. Dazu legte
man auf die einzelnen Satten kleine schmale Bretter, die Melkbra pl. oder Sattenbra pl.
Die Größe der Bretter war unterschiedlich und richtete sich naturgemäß nach der
Größe der Milchschüsseln, gewöhnlich etwa 36 cm X 10 cm.
Die Schränke waren in Pommern zumeist zweiteilig und bestanden aus einem etwas brei-
teren massiven Unterteil mit ein oder zwei Türen und einem oberen Aufsatz, in dem die
Satten standen. Die Tür der oberen Schrankhälfte war durch Holzstäbe, Glas oder Gaze-
fenster verkleidet. Bei dem Darßer Milchschrank im Stralsunder Museum ist diese Tür
durch Holzornamentik reich verziert und farblich abgesetzt.21
Meistens standen diese Schränke in der Küche oder aber in der Wohnstube. Nur im
Sommer wurden sie mitunter auch im Keller aufgestellt. Eigens für die Milchwirtschaft ein-
gerichtete Milch- oder Butterkeller bzw. Molken- oder Melkenstuben kannte man nur auf
größeren Gutshöfen.
Die Funktion eines Milchschrankes erfüllte in den kleineren Wirtschaften ein Melk{en)-
buurd, ein Regal mit unterschiedlicher Anzahl von Brettern (4—6). Es hing zum Schutz gegen
die Mäuse an der Wand oder war mit eisernen Haken an der Decke befestigt. Die größeren
Regale waren mit Gardinen verhängt.
Abrahmen
Der Rahm wurde von der aufgestellten Milch abgenommen, wenn die Aufrah-
mung beendet, das heißt alle Fettkügelchen der Milch an die Oberfläche aufgestiegen
waren. Dieser Prozeß, den warme Temperatur beschleunigte, kalte verzögerte,
19 Von den 16 Darßer Milchschüsseln haben zehn etwa die gleichen Ausmaße, wobei ihre
Höhe zwischen 6,5 cm und 7,5 cm, der obere Durchmesser zwischen 24,3 cm und 25 cm und
der Durchmesser der Grundfläche zwischen 11,5 cm und 13,5 cm schwankt. Zwei Gefäße
sind ein wrenig größer (8 cm hoch, oberer 0 28 cm). Fraglich ist, ob die größte der Darßer
Schüsseln (Höhe 13,5 cm, oberer 0 14,5 cm, 0 der Standfläche 21,5 cm) nicht auch zum
Aufstellen von Milch diente oder — wie das Inventarbuch aussagt — nur zum Butterkneten
und Kuchenanrühren verwendet wurde. An sich sind auch solche großen Schüsseln keine
Seltenheit. Am Innenboden dieser größten Schüssel (Inv. Nr. 210/1929) Bemalung in hell-
blau: Krone und Jahreszahl 1892.
20 Vgl. die Abb. eines Milchschrankes im Meckl. Wb. Bd. IV, 1166.
21 Gesamthöhe des Schrankes 2,25 m; oberer Teil 1,25 m, unterer Teil 1 m; Breite des
oberen Teiles 38 cm, des unteren 47 cm. Die Türen sind durch Holzknebel verschließbar
316
Renate Winter
dauerte etwa 24—36 Stunden, konnte mitunter aber auch schon nach 12 Stunden
abgeschlossen sein.
In einigen mundartlichen Ausdrucksweisen, die den Beginn des Abrahmens kenn-
zeichnen, spiegelt sich die weit verbreitete falsche Auffassung wider, daß der Prozeß
der Rahmbildung abgeschlossen sei, wenn Milch und Sahne sauer und dick geworden
sind.22 So heißt es z. B. wi niete de Melk dälsure late „wir müssen die Sahne hinunter-
säuern lassen“ (Krs. Stolp), oder dei Sahn is all surig, wi könne se afnäme „die Sahne
ist schon sauer, wir können sie abnehmen“ (Krs. Lauenburg).
Auf welche Weise die Milch früher abgerahmt wurde, kann man z. T. heute noch
an den Ausdrücken für diese Tätigkeit erkennen. De Melk, vereinzelter de Sahn
afpusten heißt ganz allgemein ,die Sahne von der Milch abnehmen*, ohne daß dabei
tatsächlich noch „gepustet“ werden muß. Früher wurde der Rahm jedoch zunächst
vielfach mit dem Zeigefinger vom Rand der Schale abgelöst und dann zusammen-
gepustet, so daß man ihn mit Holzlöffel oder -keile abnehmen konnte. Diese Tätig-
keit hat dem Zeigefinger im Plattdeutschen die Bezeichnung Botterlicker und Botter-
stipper (allg. niederdt.) eingebracht, die sich vor allem in den Fingerreimen gehalten
hat.23
Die benutzten Geräte hießen Roomkell,Rahmkelle* (Vorpommern), Sähnkell (Krs.
Saatzig), Schmandkeil (Krs. Lauenburg). Es waren einfache flache Holzkellen oder
größere Blechlöffel.24
Der von der Milch abgenommene Rahm kam in ein besonderes Gefäß. Es war ursprüng-
lich wie die Melkbütten und Melktienen aus Holz (s. o.), später ein hoher irdener Steintopf,
der Room- (Vorpommern), Sahn- (Hinterpommern) oder Schmandpott (Krs. Lauenburg;
Bütow), der mit ein oder zwei Henkeln versehen war.25 Bevor gebuttert werden konnte,
mußte der Rahm von mehreren Tagen gesammelt werden. Deshalb stand der Rahmtopf
an einem kühlen Ort. Um zu verhindern, daß der Rahm im Sommer säuerte, stellte man ihn
in den Keller oder hängte ihn auch nachts in den Brunnen. Sonst hatte er seinen Platz unten
im Milchschrank.
Schleudern der Milch in der Zentrifuge
Die Erfindung der Zentrifuge am Ende des vorigen Jahrhunderts führte zu grund-
legenden Veränderungen in der Milchwirtschaft. An die Stelle des alten langwierigen
Aufrahmungsverfahrens, das zudem viel Raum und Geschirr erforderte, trat eine
neue Methode: Unmittelbar nach dem Melken drehte man jetzt die Milch durch die
Zentrifuge und trennte so den Rahm von der Magermilch.
22 Schon J. Beckmann, Principia von den auf den Holländereyen zu machenden Waaren.
In: Beyträge zur Oekonomie, Technologie, Polizey und Cameralwissenschaft. Th. 8 (Göt-
tingen 1783) 162 weist darauf hin, daß die Milch entrahmt werden müsse, wenn sie „in
der Drehe“ stünde, denn „wenn die Milch sauer wird, steigt kein Room mehr hervor“.
B. Martiny, Die Aufrahmung ..., 54, weist nach, wo diese Auffassung verbreitet ist.
23 Bisher ungedruckte pommersche Fingerreime sowie weiterführende Literatur s. R. Win-
ter, Die Milch ..., 205.
24 Vgl. den hierzu verwendeten „großen eysernen Löffel“ bei P. J. Marperger, Vollstän-
diges Küch- und Keller-Dictionarium, Hamburg 1716, 180. Die „Stralsunder Haushaltungs-
Nachrichten“ von 1790 nennen einen nicht näher beschriebenen Rohmabnehmer (48).
25 Ein Roompott vom Darß im Museum Stralsund: Höhe 29 cm, oberer 032 cm, 0 der
Standfläche 24 cm.
Zur bäuerlichen Butterbereitung 317
Die ersten Anfänge zentrifugaler Milchentrahmung liegen zwischen 1859 und 1874.26
Kontinuierlich arbeitende Maschinen gibt es seit 1878.27 Sie waren jedoch zunächst für
den Großbetrieb berechnet, wo sie durch Maschinenkraft (Dampfmaschine, Göpelwerk) in
Gang gesetzt wurden.28 Im Jahre 1886 begann die Fabrikation von Milchschleudern für den
Handbetrieb.29 Nur wenige Jahre später häufen sich in den landwirtschaftlichen Zeitungen
Pommerns die Berichte über Handzentrifugen.30 Es wrerden verschiedene Fabrikate ange-
priesen und zugleich wird auf die Rentabilität des neuen Verfahrens hingewiesen, da durch
die vollkommenere Entrahmung die Butterausbeute größer sei.31 Durch die Zentrifuge wurde
vor allem die Arbeit der Bauersfrau erleichert.
Eine Umfrage unter pommerschen Bauern im Jahre 1961 ergab, daß sich die Milch-
zentrifuge in den einzelnen Dörfern und Gegenden durchaus unterschiedlich schnell
durchgesetzt hat. Dabei bildete das von verschiedenen landwirtschaftlichen Zeitungen
damaliger Zeit betonte Mißtrauen gegenüber der maschinellen Entrahmung nicht
den eigentlichen Hinderungsgrund. Es waren vielmehr die recht hohen Anschaffungs-
kosten, die zunächst nur die großbäuerlichen Wirtschaften tragen konnten. Hier
finden wir in Pommern die ersten Zentrifugen von etwa 1895 an. In den Jahren 1910
bis 1920 setzten sie sich immer mehr auch in den mittelgroßen Wirtschaften durch,
während sich kleinere Modelle nach dem Ersten Weltkrieg sogar bei Tagelöhnern
finden. Trotzdem blieb gerade hier und in den kleinbäuerlichen Betrieben daneben
das alte Sattenverfahren noch sehr lange bestehen. Der Pommersche Landbote sah sich
bereits 1902 veranlaßt, eine ,Verurtheilung des sogenannten verbesserten Auf-
rahmverfahrens für den Kleinbetrieb' abzugeben und zugleich für die maschinelle
Entrahmung zu werben.32
Zusammen mit der Sache wurde durch die intensive Reklame für das neue, ren-
table Industrieprodukt auch der neue Name in die Mundart hineingetragen.33
26 Nach Vorarbeiten von J. Fuchs (1859), Antonin Prandl (1864) und Fesca (1864) kon-
struierte Wilhelm Lefeldt die erste kontinuierlich arbeitende Maschine und gilt daher als
der Erfinder der Zentrifuge; vgl. A. Blachny, Handbuch der Butterei. Leipzig 1956, 37.
27 Vgl. G. W. Krupin, Maschinen und Apparate der Molkerei und Milchindustrie.
Berlin 1959, 132.
28 Besondere Bedeutung erlangte Lavals Patentseparator. Auf Gustav de Laval geht der
Name , Separator' zurück. Vgl. Schimmelpfennig, Praktische Anlage einer Molkerei ver-
bunden mit dem Betriebe land wirtschaf tl. Maschinen. Wochenschrift d. Pomm. ök. Ges. 18
(1888) 4 und Der Separator auf der Breslauer Ausstellung, a. a. O. 180/81.
29 Vgl. Wochenschrift der Pomm. ök. Ges. 21 (1891) 243.
30 Vgl. Wochenschrift der Pomm. ök. Ges. 18 (1888) 297: Bericht über Arnoldt’s
Horizontalzentrifuge; weiterhin a. a. O. 180 —181; Jg. 21 (1891) 243 — 244; Landw.
Wochenschr. f. Pomm. 1 (1898) 186: „Die Zahl der Handzentrifugensysteme steigt von Jahr
zu Jahr“.
31 Vgl. Land wirtschaf tl. Wochenschr. f. Pomm. 2 (1899) 126 —127 und du Roi-Casekow,
Uber Molkereigenossenschaften und die Verwertung der Mager- und Buttermilch. Wochen-
schr. d. Pomm. ök. Ges. 19 (1889) 143. Die Bauern machten darüber ihre Scherze: ,Kik\
säd de Bur, ,Näwer hett’nFuug köfft, un nu hält er ut jerein Liter Melk e Pund Botter‘ „Sieh an“,
sagte der Bauer, „der Nachbar hat sich eine Zentrifuge gekauft und gewinnt jetzt aus jedem
Liter Milch ein Pfund Butter“ (Krs. Cammin).
32 Pomm. Landbote 3 (1902) 70 — 71 (— Beilage zur Landw. Wochenschr. f. Pomm. Jg. 5,
902).
33 Vgl. die gleiche Erscheinung im Rheinland, s. D. Berger, Die bäuerliche Butterberei-
tung im Rheinland. Wortschatz und Sachgut. Phil. Diss. Bonn 1940, 239 (masch.-schr.).
318
Renate Winter
Zentrifuge und Separator wurden fast unverändert übernommen: Zentrifuuch (allg.)
und Separater m. (Vorpommern). Diese Ausdrücke bleiben jedoch nicht wie im
Hochdt. allgemein verbindlich. Dem Bestreben nach Vereinfachung und Verkürzung
längerer, schwierigerer Wörter fallen bei Zentrifuuch nacheinander die in der Unter-
tonigkeit liegende erste und zweite Silbe zum Opfer. Es kommt zu Trefuuch und Tre-
fugenbotter, dazu das Verbum trefugen (Vorpommern). Letzte Stufe der Verkürzung
ist Fuuch (Krs. Cammin, Lauenburg), dazu Fujesän.
Es entstanden auch neue nd. Ausdrücke oder hd.-nd. Mischbildungen, die das
Gerät nach seinen wesentlichen Eigenschaften charakterisieren: Melk-, Sahn- und
Roommaschien (allg.), Schleuder- und Schlurermaschien (Krs. Rügen und Pasewalk).
Auf das Geräusch beim Durchdrehen der Milch zielen Melkbrummer (Krs. Lauen-
burg; Stolp) und Melkburr (Krs. Stolp).
Die Zahl der sogenannten , Vergleichs Wörter', mit denen technische Neuheiten
sehr häufig benannt werden und von denen U. Bentzien aus Mecklenburg auch für
die Zentrifuge mehrere anführt,34 ist in Pommern relativ klein. Derartige Namen
dienen vor allem zur Bezeichnung bestimmter Einzelteile an der Zentrifuge. So heißt
der drehbare Handgriff Wrang (Vorpommern), der Ausfluß für den Rahm oder die
entrahmte Milch Nipp ,Tülle' (Krs. Demmin; Franzburg), Nippel (Krs. Greifswald;
Grimmen), das äußere Gehäuse Trummei ,Trommel' (Vorpommern).
Geräte der Butterbereitung und ihre Anwendung
Als um i960 die ersten Erhebungen für eine sprachlich-sachkundliche Untersu-
chung der bäuerlichen Butterbereitung in Pommern von uns durchgeführt wurden,
gehörte dieser Zweig der bäuerlichen Produktion im wesentlichen bereits der Ver-
gangenheit an. Deshalb war es zu dieser Zeit nicht mehr möglich, Vorkommen,
Art und Verbreitung der in Pommern gebräuchlichen Butterungsverfahren in allen
Einzelheiten genau festzustellen. Dagegen konnten die 30 Jahre früher durchgeführten
Befragungen des ADV noch einen gewissen Überblick über die im deutschen Sprach-
raum vorhandenen und im Gebrauch befindlichen Butterungsgefäße erbringen. Für
die Butterherstellung im Hausbetrieb geschah diese Befragung buchstäblich in letzter
Minute, denn die sprunghafte Entwicklung des Molkereiwesens, die seit dem Beginn
des 20. Jahrhunderts zu grundlegenden Veränderungen in der ländlichen Milchwirt-
schaft geführt hatte, setzte in den dreißiger Jahren in Pommern auch der häuslichen
Kleinproduktion ein Ende.
Die Fragen des ADV nach der Butterherstellung im Hausbetrieb, die im Jahre 1931 aus-
gesandt wurden,35 sind eingebettet in einen größeren Fragenkomplex, der Milch und Butter
34 U. Bentzien, Das Eindringen der Technik in die Lebenswelt der meckl. Landbevölkerung.
Eine volkskundliche Untersuchung. Phil. Diss. Berlin 1961, 250.
35 Wortlaut der Frage Nr. 89: Wird Butter a) noch im Hausbetrieb hergestellt b) in der
Molkerei hergestellt? Wird im Hausbetrieb die Butter zum Abscheiden gebracht c) durch
maschinelle Einrichtungen? d) durch Rühren in einem Gefäß? e) durch Stoßen in einem ste-
henden Faß? f) durch Drehen von Holzflügeln mit der Hand in einem liegenden Faß?
g) durch welche anderen Einrichtungen? — Die kartographische Auswertung des Materials
Zur bäuerlichen Butterbereitung
319
zum Gegenstand hat. Die aus Pommern eingegangenen Antworten, die im folgenden ver-
wertet werden, lassen erkennen, daß die Unterfragen nicht exakt genug formuliert und die
Vielzahl der unterschiedlichen Geräteformen ungenügend berücksichtigt worden sind.36
Die Unzulänglichkeiten in der Fragemethode führten offensichtlich zu Mißverständnissen
und ungenauen Angaben. Da man unverständlicherweise auch keine Zeichnungen oder
Skizzen von den beschriebenen Geräten forderte, sind vor allem die Fragen nach dem
Rühren in einem Gefäß oder dem Drehen von Holzflügeln in einem liegenden Faß (89d u. f)
in Pommern häufig falsch beantwortet worden. So entsprachen m. E. weder die Vielzahl der
gemeldeten liegenden Drehbutterfässer den tatsächlichen Verhältnissen noch die bejahenden
Antworten auf die Unterfrage 89d, ob Butter durch Rühren in einem Gefäß hergestellt
werde. Die nach Martiny37 urtümlichsten Arten des Butterns, wie das Schlagen des Rahms
mit der Hand, mit Löffel oder Kelle in einer Schüssel, lassen sich sonst — im Gegensatz
etwa zum Rheinland38 — für Pommern weder der Sache nach
noch im Wortschatz nachweisen. Hier hat sich als wichtigstes
und nachweisbar ältestes Butterungsgefäß das Stampfbutter-
faß in fast unveränderter Form Jahrhunderte hindurch be-
hauptet. Obwohl es in den Antworten auf Fragen des ADV
(Nr. 89 g) kaum genannt wird, finden sich noch heute in vielen
bäuerlichen Haushalten Vorpommerns und Rügens derartige
Geräte, die jetzt natürlich mit wenigen Ausnahmen nicht mehr
in Gebrauch sind. Auch in den Museen unseres Gebietes sind
sie zahlreich vertreten.
Stampf butt er faß
Das Stampfbutterfaß, mundartlich Stamp-, Stööt-,
Stuuk- und Staff(botter)faM (allg.), ist ein kegelförmiges,
aus Dauben gefügtes Holzfaß, das durch mindestens
zwei, oft aber mehrere Reifen zusammengehalten wird
(Abb. 2). Diese ,Bänder* waren früher aus Holz, später
aus Eisen. Die Höhe des Fasses ist unterschiedlich, hat
aber wohl auch in früheren Jahrhunderten einen Meter
nicht überschritten. Das wird auch deutlich aus den
ältesten Zeichnungen von Stampfbutterfässern in pom-
merschen Kalendern von 1703 und 1717 (Abb. 12).39 Das
hier abgebildete Faß aus dem Greifswalder Museum hat
eine Höhe von 69,5 cm, oberer Durchmesser 22,5 cm. Die
Abb. 2. Stampfbutterfaß
(Museum Greifswald)
erfolgte bereits in den dreißiger Jahren durch Ch. v. Schweinitz. Zu einer Veröffentlichung der
vorbereiteten Arbeitskarten ist es jedoch durch die Kriegseinwirkungen nicht mehr ge-
kommen. Glücklicherweise ist die Lichtpause mit der Verbreitung der Grundformen der
Geräte erhalten geblieben, sie befindet sich in der Arbeitsstelle des ADV in Bonn. — Die
Fragen 89 c—f wurden auf der Karte ,Butterherstellung im Hause* zusammengefaßt, außer-
dem wurde eine Karte zu 89 g gezeichnet.
36 Vgl. dazu auch H. Schienger, Die Sachgüter im ADV. Jb. f. hist. Volkskunde 3/4
(1934) 380.
37 B. Martiny, Kirne und Girbe, ein Beitrag zur Geschichte der Milchwirtschaft. Berlin
i895- . ,
38 Vgl. D. Berger, Butterbereitung, 36 u. 6of.; sowie ders., Stoßtopf u. Rahmgefäß in
der bäuerlichen Milchwirtschaft des Rheinlandes. Rhein. Vierteljahrsblätter 11 (1941) 289,
und D. Berger, Zur Geschichte der Butterbereitung im Rheinland. In: Agrarethnographie
(Berlin 1957) 175f. (— Veröff. des Inst. f. dt. Volkskunde 13).
39 Siehe Anm. 10.
320
Renate Winter
jüngeren Fässer sind alle nicht höher als etwa 80 cm. Sie bestehen im Gegensatz zu
den Fässern älteren Typs nicht mehr aus einem Stück und sind nicht ausschließlich
Böttcherarbeit. Den oberen Abschluß des Fasses bildet jetzt ein etwa 20 cm hoher
Aufsatz aus dünnwandigem Spanholz, der an dem oberen Rand des Fasses auf-
genagelt ist (s. Abb. 2, wo dieser Aufsatz an einer Stelle zerbrochen ist). Bei den
Stampfbutterfässern, die in der Kriegs- und Nachkriegszeit hergestellt wurden, ver-
wendete man für diesen Rand vielfach Aluminium.
Die obere lichte Weite der Butterfässer reicht von etwa 20—30 cm, während der
untere Durchmesser dementsprechend 50—60 cm ausmacht. Rein zylindrische For-
men, wie sie u. a. Bomann für Niedersachsen kennt, sind für Pommern, wenn man
von der Abbildung auf einem Kalenderblatt von 1717 absieht, die vermutlich anders
erklärt werden muß,40 nicht nachgewiesen.
Der Stoßstampfer des Butterfasses, dat Botterstaff, Staff (allg., schon mnd.),
besteht aus einem langen Stab, an dessen unterem Ende eine durchlöcherte Holz-
scheibe oder ein mit Löchern versehenes Holzkreuz befestigt ist (Abb. 3). Aus-
% . * 1
Abb. 3. Stoßstampfer aus Vorpommern
führung und Form von Kreuz und Scheibe variieren. So hat die runde Scheibe mehr
oder weniger Löcher und war — vor allem bei größeren Fässern — früher noch mit
„einem eisernen Band“ versehen, wie aus dem Barther Schloßinventar von 1625
hervorgeht.41 Die rechtwinklig auslaufenden Enden des Holzkreuzes waren mit-
unter leicht geschwungen. Noch in den zwanziger Jahren unseres Jahrhunderts
ist aus den hinterpommerschen Kreisen Lauenburg und Stolp bezeugt, daß Kreuz-
dorn und Ebereschenholz als Material für Kreuz oder Scheibe des Stoßstampfers
bevorzugt würden, weil sie den schädlichen Einfluß der Hexen auf das Buttern
abzuwehren vermöchten.42
40 Die auf der Vignette abgebildeten einhenkligen hohen Rahmgefäße weisen nach Süd-
deutschland.
41 Die Angabe im Meckl. Wb. Bd. I, 1073 betr. das Barther Schloßinventar ist zu berich-
tigen und muß lauten: „Ein Tisch, eine fertige Butterwinde mit einem Butterfasse, die
Scheibe mit einem Eisern Bande und eisern Stabe“ (104 b).
42 Vgl. A. Haas, Rügensche Volkskunde. Stettin 1920, 43, der den gleichen Brauch für
Rügen erwähnt.
Zur bäuerlichen Butterbereitung
321
Das Faß ist durch einen Deckel, vorpommersch Botterflott und Botterfattsdeckel,
hinterpommersch Litt und Botterlitt n.,43 an dem ein Griff befestigt ist, fest verschließ-
bar. Durch ein Loch im Deckel wird der Stab geführt. Das Heraus spritzen des Rahms
beim Auf- und Niederstoßen des Stabes aus dem
Loch des Deckels wird durch einen kleinen hölzer-
nen Ring, den Hüpper ,Hüpfer* (Rügen) verhin-
dert, der auf dem Deckel des Fasses lose aufsitzt
(Höhe 8 — io cm; s. Abb. 4). Dieser Ring ist oft ein
Stück Kuhhorn, weswegen man ihn auch Koohuurn
oder einfach Huurn (Rügen) nennt. Er verhindert
nicht nur das Herausspritzen des Rahms, sondern
gibt zugleich auch an, wann sich die Butter bildet,
denn an dieser Stelle zeigen sich die kleinen Butterkrümel zuerst. Deshalb sagt man
mundartlich: dat Huurn is de Wärsegger ,das Horn ist der Wahrsager* (Rügen).
Kuhhorn
Abb. 4. Auffangtüllen am
Stampfbutterfaß (Rügen)
Hundebutterfaß
Die verschiedenen technischen Hilfsmittel, vorwiegend Hebelvorrichtungen zum
Antrieb des Stampfbutterfasses, die auf den Holländereien und größeren milch-
verarbeitenden Betrieben in Gebrauch waren, bleiben hier unberücksichtigt. Dagegen
müssen die sogenannten Hundebutterfässer erwähnt werden, die in den ländlichen
Kleinbetrieben Vorpommerns und Mecklenburgs seit der zweiten Hälfte des 19. Jahr-
hunderts sehr verbreitet waren.
Das Butterfaß wurde mit einem außerhalb des Hauses stehenden Tretwerk verbunden.
Dieses bestand aus einer schräg liegenden Holzscheibe (etwa 2 m 0), durch deren Mitte
eine senkrecht stehende eiserne Stange führte. Durch das Drehen der Scheibe setzte man das
Tretwerk in Bewegung. Ein Zahnradgetriebe übertrug die Kraft mittels weiterer Achsen
auf den Stampfer des Butterfasses, der auf diese Weise auf- und abbewegt wurde. Das Faß
stand in der Küche oder in der Speisekammer. Von der Größe der Tretscheibe und der
Butterfässer hing es ab, ob ein oder zwei Hunde auf der Scheibe laufen mußten. Kurz be-
vor die Butter fertig war, ließ man nur noch einen Hund laufen, weil dann langsamer ge-
buttert werden mußte. Die Hunde, mit deren Hilfe man butterte, hießen Botterhund (Vor-
pommern); sie lagen nachts und während des Tages an der Kette, damit sie sich nicht müde
liefen.
Ganz vereinzelt gab es im Krs. Cammin auch aufrecht stehende Treträder, bei
denen der Hund in die Stufen eines Schaufelrades treten mußte. Diese Einrichtung
ist sonst hauptsächlich aus Holland, dem Rheinland, Ostfriesland, Niedersachsen und
vereinzelt auch aus Holstein bekannt,44 während in Mecklenburg und Vorpommern
bis ans Ende der zwanziger Jahre unseres Jahrhunderts ausschließlich Tretscheiben
43 Litt n. gehört wie nhd. Lid, mnd. lit,Deckel auf einem Gefäß* zu ags. hlidan ,be(decken),
schließen“. Die nur in Hinterpommern entwickelte spezielle Bedeutung ,Deckel im Butter-
faß* findet eine Fortsetzung im Pomoranischen (Kaschubischen), wo es als Lehnwort aus
dem Niederdeutschen in gleicher Bedeutung weiterlebt (vgl. Pomoran. Wb. Bd. I, 458).
44 Vgl. W. Bomann, Bäuerliches Hauswesen und Tagewerk im alten Niedersachsen.
Weimar 1941, 175, Abb. 142; J. Weyns, Bokryk, Tuin van de Vlaamse Volkskultuur.
Hasselt 1961, 147, sowie D. Berger, Butterbereitung ... 94. Hundetreträder wurden seit
ca. 1895 vom Bergedorfer Eisenwerk maschinell hergestellt.
10 Volkskunde
322
Renate Winter
in Gebrauch waren.45 Sie dienten sowohl zum Antrieb von Stampf- wie auch von
Drehbutterfässern.
Daß wir heute auf dem Lande so gut wie keine Spuren dieser technischen Vorrich-
tung mehr finden, hängt damit zusammen, daß man die Anlage in dem Augenblick,
wo sie funktionslos geworden war, sehr schnell aus dem Wege räumte. Unverständ-
licherweise ist in keiner vorpommerschen Museensammlung ein Hundebutterfaß auf-
bewahrt worden, so daß wir auf ein im Museum Waren erhaltenes mecklenburgisches
Exemplar zurückgreifen müssen, wenn wir Angaben über Maße und technische
Einzelheiten einer Einrichtung erfahren wollen, mit der noch vor 30—40 Jahren auf
dem Lande in Vorpommern gearbeitet wurde.46
Auf den großen Gütern benutzte man zum Antrieb des Butterfasses auch Göpel-
werke, die durch Pferde in Gang gesetzt wurden. Dat BotterpiercL ,Butterpferd‘ (allg.)
war meistens schon alt und klapperig. Die gesamte Einrichtung hieß Bottermaschien
oder Bottermööl (Vorpommern). Die Butterfässer, die sehr viel größer waren als die
gewöhnlichen Handfässer, standen hier auch im Keller oder in einer speziell für die
Milchwirtschaft eingerichteten Kammer (s. o.).
Butterwiegen und Butterschaukeln
Butterungsgeräte, die auf der Schaukelbewegung beruhen und für die es aus Vor-
pommern und Mecklenburg heute nur noch wenige Zeugnisse gibt, die aber all-
gemein verbreitet waren (s. u.), werden vom ADV noch in größerer Anzahl aus
Hinterpommern registriert. Dabei ist eine auffällige Häufung der Wiegenbutterfässer
in den Küstenstrichen um Treptow, Kolberg, Köslin und Naugard zu verzeichnen.
Hier werden 1931 über 35 in Gebrauch befindliche Exemplare gezählt.47 Ihre Zahl
war nach Angaben meiner Gewährsleute um 1900 noch beträchtlich höher.
Die Ausführung der Wiegenbutterfässer war sehr unterschiedlich, da sie je nach
Bedarf vom Dorftischler oder handwerklich geschickten Bauern selbst angefertigt
wurden. Die Grundform besteht aus einem rechteckigen Holzkasten mit zwei Griffen,
der auf einem Wiegengestell befestigt ist. Im Innern des Kastens befinden sich an
beiden Seiten der Öffnung zwei herausnehmbare Holzeinsätze, de Trallingen (Vor-
pommern), durch deren Gitterstäbe der Rahm beim Schaukeln hin- und hergeschleu-
dert wird und an denen sich die Butter dann festsetzt. Durch einen aufsetzbaren, mit
zwei Griffen versehenen Deckel wird der Kasten verschlossen. Vier senkrecht ste-
45 Im Wossidlo-Archiv Rostock datierte Belege noch für 1930, 1932, 1933 und 1934, aber
auch schon für 1870 bezeugt durch R. Wossidlo, Die Arbeit der meckl. Landfrau in älterer
Zeit. Waren 1933, 9.
46 Das durch Hundekraft in Bewegung gesetzte Faß ist in Waren ein Drehbutterfaß:
Scheibe 0 2 m; Zahnrad 0 28 cm; Verbindungsstange 77 cm lang; die Scheibe ist von einem
5,50 m langen und 90 cm hohen Holzzaun umgeben. Eine Abb. der Scheibe dieses Hunde-
butterfasses befindet sich im Museum Schwerin. Die Skizze eines Tretwerks s. im Meckl.
Wb. Bd. I, 1068.
47 Vgl. Schienger, Die Sachgüter im ADV... 380, der auch für Mitteldeutschland eine
Häufung dieser Geräteform angibt. Ein Exemplar heute noch im Museum Darlowo (Rügen-
walde); für Mecklenburg durch R. Wossidlo schriftliche Zeugnisse aus Schwaan/Bützow;
Güstrow; Blankenhagen/Rostock; Oldenburg/Doberan; Nostorf/Hagenow; Gessin/Mal-
chin; Warnemünde/Rostock; Wredenhagen/Röbel im Wossidlo-Archiv Rostock.
hende Beine verbinden den Milchkasten mit den Rundkufen. Bei den älteren Modellen
saß der Kasten unmittelbar auf dem Wiegengestell auf.48 In dem Maße, wie sich die
Breite der Kufen verringerte, wuchs die Höhe der senkrecht stehenden Füße und
damit die leichtere Beweglichkeit des Kastens. Die Verbindung zwischen Milch-
kasten und Rundkufen, z. B. bei der Butterwiege im Schweriner Museum, ist im Ver-
gleich zu den ebenfalls aus dem 19. Jahrhundert stammenden, vermutlich aber
jüngeren Butterwiegen aus Vorpommern, noch sehr eng.49 50
Die Butterwiege des Stralsunder Museums stammt aus Prerow/Darß und ist aus Eichen-
holz hergestellt. Die Höhe bis zur oberen Kastenkante beträgt 67 cm, die Kastenlänge ohne
Griff 81,5 cm. Die Butterwiege des Greifswalder Museums aus Kalkstein bei Ducherow ist
84 cm hoch, Kastenbreite 37,5 cm, Kastenlänge 69,5 cm, Kastenhöhe 37,5 cm. An diesem
Gerät fällt auf, daß die tragenden Beine an den Ecken des Kastens befestigt sind, während sie
im allgemeinen auf dem äußeren Drittel des Kastens aufsitzen.50 Die Länge der Kufen stimmt
bei der Prerower Wiege mit der Länge des Kastens überein. Häufig ragen sie jedoch über den
Kasten hinaus, so daß Kinder bequem auf ihnen stehen, schaukeln und das Buttern be-
sorgen können.
Schaukelbutterfässer, die 1931 noch in größerer Anzahl aus Mittelpommern
und aus der Gegend um Kolberg-Köslin und Cammin gemeldet wurden, sind in den
vorpommerschen Museen heute nicht mehr anzutreffen. Wir verweisen daher zum
Vergleich auf die beiden Grundtypen im Schweriner Museum.51 Die freischwin-
genden Schaukelbutterfässer, die auf einem festen Holzgestell ruhen, sind mit diesem
lediglich durch zwei Zapfen verbunden, die sich an den beiden Seiten in der Mitte
des Kastens befinden. Auf diese Weise ließ sich der Kasten um seine Mittelachse hin-
und herschaukeln. Eine andere Möglichkeit der Befestigung eines Schaukelbutter-
fasses besteht darin, daß der Milchkasten mit Hilfe von zwei eisernen Bügeln in einem
sägebockartigen Holzgestell hing. Auch diese Art war in Hinterpommern bekannt.
Drehbutterfaß
Neben dem Stampfen, Wiegen und Schaukeln des Rahms gab es eine vierte Mög-
lichkeit der Bewegung, nämlich das Drehen. Entweder drehte man das Faß selbst
um feststehende Holzschläger, oder das Faß stand still, und man drehte in ihm Holz-
flügel. Butterfässer der ersten Art sind mündlich für Rügen bezeugt, um 1900 und
später; es konnte jedoch heute keines mehr aufgefunden werden, wohl aber sind die
Bezeichnungen hierfür, wie Kippfatt und Sturzbotterfatt (Rügen), heute noch zu er-
fahren. Diese „Rollbutterfässer“ — in Deutschland zwar schon früh bezeugt —
waren wegen ihrer recht schwierigen Handhabung nicht sehr verbreitet. Zu weit
48 Vgl. die Skizze einer Butterwiege im Meckl. Wb. Bd. I, 1072 sowie Martiny, Kirne und
Girbe ... 159, Abb. 163: ein Exemplar aus Mitteldeutschland um 1830; D. Berger, Die
Butterbereitung ... 91 u. Abb. 47 äUS Altenkirchen.
49 Abb. der Butterwiege des Schweriner Museums (Inv. Nr. 6967 VK) s. Volkskundl.
Sammlungen, Bauernkultur in Mecklenburg, hg. v. Staatl. Museum Schwerin, bearb. v.
R. Wendt, Abb. 51 u. S. 103, sowie R. Weinhold, Bäuerliches Arbeitsgerät in den Museen
Alecklenburgs. DJbfVk 5 (195 9) 9^> Abb. 11.
50 So die Schweriner Butterwiege, die Schunkel, bei Bomann, a. a. O. 176.
51 Inv. Nr. 6968 Vk und 6966 Vk. Abb. s. Volkskundliche Sammlungen... Abb. 49 u.
50 u. S. 103, sowie R. Weinhold, Bäuerliches Arbeitsgerät... Abb. 12 u. 13, S. 97/98.
10*
324
Renate Winter
größerer Bedeutung kam das Faß, als man die Technik umkehrte und nicht mehr das
Faß, sondern die Flügel bewegte, wobei das Faß sowohl liegen als auch stehen konnte.
Gegenüber dem Stampfbutterfaß bedeutete diese neue Technik einen großen Fort-
schritt, weil sie erheblich weniger Kraftaufwand erforderte. Wegen seiner leichten
Flandhabung und Wirtschaftlichkeit verdrängte das Drehbutterfaß dann sehr schnell
die altertümlichen Wiegen- und Schaukelbutterfässer und setzte sich seit Beginn des
Abb. 5.
Drehbutterfaß aus Maltzien (Rügen)
Abb. 6.
Drehbutterfaß aus Sanzkow (Demmin)
20. Jahrhunderts auch gegenüber dem Stampfbutterfaß durch. Leider können wir die
Entwicklung des Gerätes in Pommern erst von da an verfolgen, wo es uns — zu-
mindest teilweise — als Maschinenware entgegentritt. Frühe, rein handwerkliche
Formen des Gerätes — wie etwa in Niedersachsen und im Rheinland52 — sind nicht
auf uns gekommen. Obwohl diese Tatsache möglicherweise als Zeichen dafür ge-
wertet werden kann, daß in Pommern bis zur Einführung der maschinell hergestellten
Drehbutterfässer Butterungsgeräte mit anderer Technik überwogen, müssen wir doch
mit vereinzeltem früheren Vorkommen rechnen. Für Mecklenburg wird schon 1831
berichtet, daß man „auch wohl in einem solchen Butterfasse, bei welchem die Scheibe
gedrehet wird“, buttere.53
In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde die „Aktien-Fabrik landwirt-
schaftlicher Maschinen und Ackergeräte“ in Regenwalde in Pommern führend in der
Produktion und Weiterentwicklung von Drehbutterfässern, vornehmlich für den
Großbetrieb. Bereits 1858 bietet sie neben anderen Geräten ,Buttermaschinen von
Blech, nach Lavoisy ä 8, 10, 12, 15 Thlr.£ in der Landwirthschaftlichen Monatsschrift
an.54 Dieses von A. D. Lavoisy (Paris) entwickelte Gerät war ein liegendes Dreh-
butterfaß mit einem Blechzylinder, das durch die Londoner Weltausstellung im
52 Vgl. W. Bomann, Bäuerliches Hauswesen... 174, Abb. 141; Volkskundl. Samml.
Abb. 46/47 u. S. 102; vgl. Berger, Butterbereitung ... 83f.
53 v. Lengerke, Darstellung der Landwirtschaft... Bd. I, 189.
54 Jg. 1858, H. 12, 501.
I 'fS&iimnKwvsvrhii
Zur bäuerlichen Butterbereitung
325
Jahre 1851 weiteren Kreisen bekannt und 1855 in Paris allgemein sehr anerkannt
wurde.55 Die Regenwalder Maschinenfabrik übernahm als eine der ersten Firmen in
Deutschland die Produktion. Nicht lange danach, 1867, entwickelte die gleiche
Fabrik ein eigenes aufrechtstehendes Modell für ein zweispänniges Göpelwerk, das
als ,Regenwalder Butterfaß' bekannt wurde. Es war zunächst aus Holz, später aus
Eisen.56 Wichtig aber für den bäuerlichen Kleinbetrieb und damit für unsere Frage-
stellung ist das seit 1876 im Handbetrieb arbeitende kleinere zylindrische Drehbutter-
faß. Bereits kurze Zeit nach seiner Herstellung kann die Regenwalder Maschinen-
fabrik auf einen guten Umsatz hin weisen.57 Eingang in die kleineren Bauernwirt-
schaften findet das Drehbutterfaß aber erst, nachdem die Produktion auch von anderen
Werken aufgenommen und der anfängliche Verkaufspreis von 150 RM herabgesetzt
wurde.58 Die in den bäuerlichen Haushalten benutzten Geräte bestehen aus einem
zylindrischen Holzfaß mit einem einsetzbaren hölzernen Flügelwerk.
Das auch mechanisch betriebene Drehbutterfaß aus Maltzien, Krs. Rügen (s. Abb. 5),
dat Dreibotterfatt oder Botterfatt to’n dreigen (allg.), gehört zu den ältesten hier überlieferten
Typen (Höhe 55 cm, oberer 031 cm). Die Tatsache, daß sich das Loch für die Kurbelwelle
unterhalb der Faßmitte befindet, deutet darauf hin, daß das Faß zum Buttern ursprünglich
auf eine Holzbank gestellt wurde. Das Schlagwerk ist noch sehr einfach und verhältnismäßig
klein. Es ist dem kreuzförmigen Staff der Stampfbutterfässer direkt nachgebildet und hier
vermutlich Tischlerarbeit. An den vier Enden des Holzkreuzes befinden sich kleine halb-
kreisförmige Scheiben mit jeweils nur zwei Löchern. Es sind dies die Vorformen der großen
Flügel, der Flüchtens, der Haspel (Vorpommern) in den jüngeren fabrikmäßig hergestellten
Drehbutterfässern (s. Abb. 6). Dadurch, daß sich die Flügel vergrößerten, wurde das tra-
gende Holzkreuz überflüssig, ebenso wie die waagerechte eiserne Welle, mit der das Schlag-
werk im Butterfaß aus Maltzien in Bewegung gesetzt wurde.
Die kreuzweise angeordneten Schläger im Drehbutterfaß aus Sanzkow, Krs. Demmin,
(s. Abb. 6; Höhe 46,5 cm; oberer 0 32,5 cm) werden auf der einen Seite an einem Zapfen
eingehängt, auf der anderen von innen mit der Handkurbel, de Wrang (allg.), verbunden.
Jeweils zwei gegenständige Flügel weisen die gleiche Anzahl von Löchern auf. Ihr Verhältnis
ist hier vier zu sieben. Butterfässer der letzten Art sind heute noch verhältnismäßig häufig
in ländlichen Haushalten anzutreffen, während ältere Typen kaum noch Vorkommen.
Um 1920 wird überall dort, wo Butter noch im Hausbetrieb hergestellt wird, über-
wiegend mit dem Drehbutterfaß gearbeitet. Das hört erst auf, als mit Beginn des
Zweiten Weltkrieges alle Kuhhalter verpflichtet wurden, ihre Milch restlos an die
Molkereien abzuliefern. Nach 1945 erlebte in Vorpommern aber nicht das Dreh-
butterfaß, sondern das alte Stampfbutterfaß für einige Jahre eine Wiedergeburt.
Das ist auf die verhältnismäßig einfache Art seiner Herstellung zurückzuführen. Von
jedem Böttcher konnte es angefertigt werden, während für die Mechanik des
Drehbutterfasses Maschinenarbeit notwendig war.
Butterflaschen
Zum Verbuttern kleinerer Mengen Sahne benutzte man zuweilen auch gläserne
Flaschen. Hauptsächlich wurden sie zum Verbuttern von Ziegenmilch verwendet.
55 Vgl. B. Martiny, Kirne und Girbe... 186. 56 Milch-Zeitung Bd. 5 (1876) 2073/76,
57 Lt. Preisverzeichnis der Fabrik.
58 Weitere Hersteller waren die Pommersche Eisengießerei u. Maschinenbau-Aktien-Ge-
sellschaft in Stralsund sowie Jul. Kesseler Nachfolger, Prollius & Burmeister in Greifswald.
326
Renate Winter
Die Flaschen, die dazu dienten, waren weitbäuchig und hatten einen engen Hals.59
Zum Verbuttern von Kuhmilch bevorzugte man oft eckige Flaschen aus dunklem
oder weißem Glas. Man nannte sie В otterbuddel (Krs. Rügen; Pyritz; Demmin) oder
В otte(r) flasch (Hinterpommern, vereinzelt Vorpommern). Da sie häufig sehr lange
auf dem Schoß geschüttelt werden mußten, bis sich kleine Butterklümpchen ab-
sonderten, hießen sie auch Schüddelflasch (Krs. Greifenhagen; Ückermünde).
Allerdings dürfte die Angabe „stundenlanges Schütteln“ in einer Beschreibung um
1928 aus Pyritz leicht übertrieben sein.60 Der gesamte Flascheninhalt wurde dann in
eine Schüssel gegossen und die Butterflocken mit einer Butterkelle zu einem Kloß
zusammengerührt. Diese Art der Butterbereitung war besonders beliebt während
der beiden Weltkriege, als das Buttern größerer Rahmmengen verboten war. Die
Industrie nutzte den Bedarf der Landbevölkerung an Kleinstbutterfässern aus und
stellte Glasbuttermaschinen her. Die ersten dieser Art entstanden bereits in den
Jahren 1892, 1893, 1894.61 Es waren runde oder viereckige Glashäfen, in denen kleine
Quirle (meistens mehrzackig) durch eine Vorrichtung, die am schraubbaren Deckel
angebracht war, gedreht wurden: eine Liliputnachahmung ältester ursprünglich
flandrischer Quirlbutterfässer.62 Man nannte sie in Vorpommern Glashdben, Glas-
botterfatt und Botterglas.
Herstellen der Butter
Bevor die Hausfrau mit dem Buttern beginnt, müssen das Butterfaß und alle dazu-
gehörigen Teile gründlich ausgespült werden, zunächst mit heißem, danach mit kaltem
Wasser. Das geschieht nicht, um es nochmals zu reinigen, sondern damit sich Rahm
und Butter nicht am Holz festsetzen. Der Rahm darf beim Buttern weder zu kalt
noch zu warm sein, deshalb ist es wichtig, die günstigste Temperatur herzustellen.
So wird an warmen Tagen (gewöhnlich während des ganzen Sommers) ein wenig
kaltes Wasser zum Rahm ins Butterfaß hineingegossen, im Winter warmes. Auch das
Butterfaß selbst wird je nach der Jahreszeit unterschiedlich behandelt: im Sommer
muß es längere Zeit vor dem Beginn des Butterns ausgespült werden, damit es wieder
abkühlen kann, während man im Winter dafür sorgen muß, daß es nicht zu sehr aus-
kühlt, nachdem es kalt ausgespült ist.
Im Glauben, den Prozeß der Butterbildung erleichtern oder beschleunigen zu
können, wendet die Hausfrau zahlreiche Mittel an, die zum größten Teil in die Welt
des Aberglaubens weisen. Diese Mittel, von denen es in jeder Landschaft unzählige
gibt, sollten ursprünglich den schädigenden Einfluß der überirdischen Kräfte, wie
Butterhexen, -teufel usw. abwehren. Noch heute sind im mundartlichen metapho-
rischen Wortschatz Pommerns deutliche Spuren des ehemals weit verbreiteten
59 Vgl. die Abb. einer Botterbuddel im Meckl. Wb. Bd. I, 1058.
60 Heimatbeilage d. Pyritzer Kreisblattes 1928, Nr. 17, 67.
61 1892 Roebelens Familienbuttermaschine in Flaschenform; 1893 Hünerdorffs Schnell-
buttermaschine; 1894 Neue Schnell-Buttermaschine, nach Martiny, Kirne und Girbe...
268 — 269.
62 Vgl. J. Weyns, Bokryk ... 148.
Zur bäuerlichen Butterbereitung
327
Glaubens an die Schaden Wirkung solcher Gestalten auf die Buttergewinnung zu
verfolgen. Wenn de Bodderhex dormang is, oder de Düwel int Botterfatt sitt (allg.),
kann eine Sache nicht gelingen. Man kann daran auch nichts ändern, denn wennt
nich bottern will, denn bottert dat nich un wennn in schieten geit (Vorpommern).63
Wir können in diesem Zusammenhang nicht weiter auf die volksglaubensmäßigen
Vorstellungen beim Buttern eingehen,64 wollen aber die Mittel und Methoden er-
wähnen, die in Pommern angewendet wurden und die sich nach Meinung unserer
Gewährsleute durch Jahrhunderte als nützlich und förderlich erwiesen haben. So
ist z. B. die Gewohnheit im Krs. Kolberg, etwas alte Butter ins Faß zu legen, „damit
die frische sich darum sammle“ weit verbreitet gewesen. Schon Krünitz empfiehlt in
seiner Ökonomisch-technologischen Encyklopädie, etwas „alte vorräthige Butter“ zu
nehmen, um das Buttern zu erreichen.65 Auch für das Rheinland wird die Anwen-
dung dieses Hilfsmittels bezeugt.66 Die in Stralsund 1790 erschienenen Haushaltungs-
Nachrichten für die Hausmanns-Küche raten an, „ein wenig frisch gemolkener Milch“
zuzugießen, denn „dies hilft gewöhnlich gleich, wenn es schwer Butter gibt“.67
Über die Wirkung des Zuckers, der im Rheinland auch als förderndes Mittel ange-
sehen wird, ist man hier jedoch genau entgegengesetzter Meinung: er verhindere
die Butterbildung und müsse deshalb in seiner Wirkung unschädlich gemacht werden,
indem „ein paar Löffel voll Branntewein ins Butterfaß gegossen werden“.67 Coler
empfiehlt besonders für die kalte Jahreszeit warmes Bier.68
Das Buttern im Stoßfaß wurde früher vielfach durch das Aufsagen von Sprüchen
und Liedern begleitet, die den Rhythmus des Schlagens und Stoßens tonmalend nach-
ahmen. In diesem Sinne sind es, wie Bücher feststellt, reine Arbeitsgesänge.69 Daß
sie darüber hinaus nach weit verbreiteter Auffassung auch die Aufgabe haben, böse
Geister zu verscheuchen, lassen die realistischen Texte der pommerschen Butter-
reime nicht mehr erkennen. Hier war vor allem ein Typus vorherrschend, bei dem
auf den geringen Butterertrag von einer Kuh hingewiesen und deshalb scherzhaft
empfohlen wird, den Rahm durch etwas Wasser zu vermehren. Die zwei- und vier-
zeiligen Vierheber sind in ihrem sprachlichen Aufbau vom Rhythmus geprägt,
wobei die Ikten jeweils, wie wir 1962 auf Rügen noch von einer Gewährsperson
demonstriert bekamen, das Senken des Stoßstabes begleiten. Die Grundform des
Zweizeilers lautet:
Botter, Botter von ene Koo,
geet en Spann70 vull Water to (Rügen).71
63 Zur Vielzahl der möglichen Formen des Gegenzaubers vgl. Hdwb. d. dt. Aberglaubens
Bd. I, 173 8 ff., wo auch solche drastischen Maßnahmen — wie in unserer Redewendung an-
gedeutet — aus Mecklenburg und Schleswig-Holstein genannt werden.
64 Im Hdwb. d. dt. Aberglaubens Bd. I, i726ff. wird auch die pommersche Sagenüber-
lieferung berücksichtigt. 65 Teil 124, Berlin 1815, 282.
66 Vgl. D. Berger, Die Butterbereitung... 153 h und J. Müller, Die Butterhexe (Rheinische
Sprüche beim Buttern). Z. d. Ver. f. rhein. u. westf. Volkskunde 10 (1913) 272.
67 Ebda 31. 68 Oeconomia ruralis et domestica. Mainz 1636, Kap. LXVI, 410.
69 K. Bücher, Arbeit und Rhythmus. 5. Aufl. Leipzig 1919, 117L
70 Spann ,Eimer‘, vgl. R. Winter, Zur Etymologie von nd. Spann ,Eimerc. Wiss. Zs. der
Univ. Greifswald, Ges.- u. Sprachw. Reihe 4/3 (1939/60) 379 — 381.
71 Neben Spann auf Rügen auch: noch lütt bäten; Krs. Schlawe und Stolp: noch betzke,
Krs. Cammin: ’n Stüppel; Krs. Regenwalde: n’Schäpel.
328
Renate Winter
Es variieren in den einzelnen Fassungen nur die Ausdrücke für die Menge des zu-
zusetzenden Wassers und das Gefäß. Die Vierzeiler vermitteln zugleich praktische
Winke für die richtige Art, Butter zu bereiten:
Im allgemeinen beträgt die für das Buttern benötigte Zeit io—30 Minuten, wobei
günstige Umstände (wie Temperatur, Beschaffenheit des Rahms usw.) die Dauer
verkürzen, ungünstige sie verlängern können. Der für die Butterbereitung so wich-
tige Augenblick, in dem sich das Fett von der Buttermilch scheidet und zu kleinen
Klümpchen zusammenballt, wird in allen Mundarten mit zahlreichen verschiedenen
Ausdrücken wiedergegeben.72 Im ADV hat man mit der Frage ,Wie nennt man es,
wenn die Butter nicht gerinnen will' auf dem Weg über den sprachlichen Ausdruck
eindringen wollen in die Welt des Aberglaubens.73 Karl Kaiser wertete 1936 das
pommersche Material des ADV für seinen Atlas der Pommerschen Volkskunde aus
und kam zu dem Ergebnis, daß die eingekommenen Antworten für die Frage nach
den in Pommern mit dem Buttern verbundenen alten Vorstellungen sehr wenig er-
giebig seien, wohl aber für die Frage nach der sprachlichen Gliederung Pommerns.74
Sobald sich der Qualitätsumschlag von Sahne in Butter vollzogen und die größeren
Butterteilchen zu einem Kloß zusammengeschlossen hatten, wurde mit dem Stampfen
aufgehört. Bei den Wiegen- und Drehbutterfässern nahm man das Gitter- bzw.
Flügelwerk heraus, an dem sich die Butter gesammelt hatte. Mit einer Butterkelle
holte man aus dem Stampfbutterfaß den Kloß und die kleinen Butterkügelchen, die
noch in der Buttermilch schwammen, heraus. Die aus einem Stück gefertigten Butter-
kellen (Botterkeil allg.) sind etwa 25—35 cm lang und haben eine nur wenig aus-
gehöhlte Löffelform. Früher schnitzten sie die Bauern selbst aus Wurzelholz,75 später
kaufte man sie bei Händlern.
Geknetet und gewaschen wurde die Butter in einer länglichen flachen Holzmulde
mit erhöhtem Rand, die etwa 75 cm lang und 25 cm breit war. Durch ein Loch im
Boden der Holzform konnten die ausgepreßte Buttermilch, nach dem Waschen und
Salzen auch Salz- und Butterlake ablaufen. Das Salzen, das noch 1930 in ganz Pom-
mern üblich gewesen ist,76 diente nicht nur der Geschmacksverbesserung, sondern
72 Vgl. R. Winter, Die Milch... 156 —169.
73 Fragebogen II, Nr. 90.
74 K. Kaiser, Atlas der Pommerschen Volkskunde (Textband). Greifswald 1936, 221 ff.;
Karte II, 40.
75 Derartige Exemplare sind z. T. heute noch in Gebrauch, so in Maltzien (Rügen):
Länge 26 cm, Löffelbreite 6 cm. Eine Butterkelle aus Garz (Rügen) hat eine Länge von
34,5 cm.
76 Laut Ergebnis der Umfrage II, 93 des ADV: Ist die im Hausbetrieb hergestellte Butter
üblicherweise a) gesalzen b) ungesalzen oder c) kommt beides nebeneinander vor? Aus der
Mitte des 19. Jhs berichtet L. Fromm, Mecklenburg, Schwerin 1860, 97, daß „die Butter,
welche man zu Brot genießt, ziemlich stark gesalzen“ sei.
Botter, Botter von ein Kau
geit ’n Liter Water tau:
öwer nich to väl,
süss waat de Botter nich gäl.
Botter, Botter von ene Koo
get’n bäten Water to:
nich to kolt un nich to waam,
denn kann dat kene Botter waan.
(Krs. Rummelsburg)
(Krs. Rügen)
Zur bäuerlichen Butterber ei tung
329
auch als Konservierungsmittel. Vor allem aber entzog es der Butter viel Feuchtigkeit.
Da der Wassergehalt der Butter von zugelassenen 16 auf 20% stieg, wurde zu Beginn
des Zweiten Weltkriegs das Salzen der Butter in den Molkereien verboten.77 Dieses
Gesetz wirkte sich auch auf die bäuerliche Butterbereitung aus. Dort, wo man heute
noch im Hausbetrieb buttert, wird in den meisten Fällen überhaupt nicht mehr oder
nur noch sehr viel schwächer gesalzen.
Das Waschen und Kneten der Butter mußte mehrmals wiederholt werden, denn
je mier dat de Bodder knäd’t wür, je bäder schmeckt se (Krs. Rügen), und desto halt-
barer war sie. Schlecht ausgeknetete Butter wurde schnell ranzig.
Buttermaße im Kleinhandel
Der allgemeine Aufschwung der pommerschen Milchwirtschaft seit dem ersten
Drittel des 19. Jahrhunderts führte dazu,78 daß in den bäuerlichen Wirtschaften, aber
auch bei den Tagelöhnern und Landarbeitern über den eigenen Bedarf hinaus für
den Verkauf auf den Wochenmärkten produziert werden konnte.79 Im eigenen Haus-
halt begnügte man sich mit den vielfältigsten Formen des Butterersatzes.80
Auf den Markt zum Kleinverkauf kam die Butter in abgewogenen Stücken von
einem oder einem halben Pfund. Zum Abwiegen dienten neben den Butterwaagen
hölzerne Hohlmaße, in die die Butter mit einem flachen Holzlöffel hineingedrückt
und abgestrichen wurde. Diese Botterstäker ,Butterstecher' (Krs. Rügen) sind sehr
viel kleiner als die großen Butterkellen und waren vielfach nur ein dünnwandiges
flaches Holzbrettchen mit angeschnittenem Griff.81 Gewöhnlich waren sie gerillt,
wie das im Stralsunder Museum erhaltene Exemplar82 und auch die aus Mecklen-
burg überlieferten83 erkennen lassen.
Alle großen und kleinen Maß- und Gewichtseinheiten, nach denen die Butter
schon im Mittelalter gemessen und gehandelt wurde, waren Hohlmaße aus Holz.
Aus Inventaren, Einnahmeverzeichnissen, Urkunden u. ä. kennen wir Bezeichnungen
für die großen Buttermaße, wie nd. Tunne, Tonne (lat. tunna) mit ihren Untermaßen,
dem Vierdeil (lat. quartale) und dem Achtendel, -deil, Achtel (lat. octava bzw. octuale).84
In dem in Pommern und Mecklenburg auftretenden Pundfatt (allg.) haben wir ge-
wissermaßen das kleinste der altertümlichen Buttermaße vor uns.
77 Vgl. F. Lauterwald, Lehrbuch der Milchwirtschaft. 3. Aufl. Hannover 1937, 162.
78 Vgl. F. Mager, Geschichte des Bauerntums und der Bodenkultur im Lande Mecklen-
burg. Berlin 1955, 281 ff. u. 438.
79 Vgl. A. v. Lengerke, Schilderungen der baltischen und westfälischen Landwirthschaft.
Berlin 1849, Th. I, 122, 176, 217, 265, 320t.; Th. II, 10, 42h; J. Seil, Briefe über Stettin und
die umliegende Gegend auf einer Reise dahin im Sommer 1797 geschrieben. Berlin 1800,
148; H. Schlichting, Pommersches Landfrauenleben vor 100 Jahren. In: Unsere Heimat,
Beilage zur Kösliner Zeitung, 1926, Nr. 6.
80 Vgl. R. Winter, Butterersatz ... 54—56.
81 Exemplare aus Maltzien (Rügen): Länge 23,5 cm, Breite 6,5 cm.
82 Ohne Inv. Nr.; Länge 19 cm, Löffelbreite 6,5 cm.
83 Museum Bützow: Länge 30 cm, Breite 7,5 cm; Museum Goldberg Inv. Nr. VOL 577
u. 578, Länge 21 cm, Breite 6,4 cm.
84 Belegstellen s. R. Winter, Die Milch ... 179.
330
Renate Winter
Es ist ein kelchartiges Hohlgefäß aus dickwandigem Holz, das uns als einfaches Maß für
ein bzw. ein halbes Pfund Butter überliefert ist.85 Die Pfundmaße stehen auf einem Fuß, der
bei den Exemplaren des Grimmer Museums (s. Abb. 7) flach und niedrig ist.86 Das Pundfatt
des Stralsunder Museums aus Neuendorf/Hiddensee
ruht auf einem höheren, sich nach oben verjüngenden
Holzsockel (10 cm).87 In der Mitte des abgerundeten
Innenbodens der Gefäße befindet sich noch eine
kleine kreisförmige Ausbuchtung. Diese bewirkt
dann auf dem Scheitel der fertigen Butterstücke eine
knopfartige Erhöhung zur Verzierung. Einpfündige
Buttermaße wie diese waren mitunter auch mit
einem Halbpfundmaß gekoppelt.88 Bei diesen Ge-
fäßen verbindet ein massives Mittelstück die beiden
Kelche, von denen der eine nach oben, der andere
nach unten geöffnet ist. Verziert sind die Butter-
maße lediglich durch jeweils zwei parallel laufende
eingeritzte Linien. Sie machen in ihrer grobschläch-
tigen Ausführung und dicken Holzwandung einen
altertümlichen Eindruck.89 Und doch wissen wir, daß eben solche Buttermaße in einigen
entlegenen Gegenden Vorpommerns, 2. B. Sundische Wiese (Darß), noch bis vor dem
Ersten Weltkrieg in Gebrauch waren. Im allgemeinen dürften sie jedoch bereits am Ende
des 19. Jahrhunderts von den Buttermodeln abgelöst worden sein.
Ebenso wie die alten kelchartigen Maßformen haben auch die runden und recht-
eckigen Modeln fast immer ein genormtes Fassungsvermögen. Deshalb hießen sie
wie diese Pundfatt, Pundform (allg.) oder Iialfpundfatt, Botterhalfpund u. ä. (Vor-
pommern). Gebräuchlicher als die großen Modeln waren die kleinen, die nur ein
halbes Pfund Butter faßten.90 Die hauptsächlichsten Motive in den eingeschnitzten
Mustern der Formen sind stilisierte Blumen, Ranken und Blätter, aber auch Tiere
(s. Abb. 8), Herzen und Kleeblätter oder religiöse Motive (s. Abb. 9). Die Ver-
zierung der Butter hatte neben dem ästhetischen Vergnügen, das es vor allem bei
Hochzeiten und anderen Festen hervorrief, noch einen ganz nüchternen und prak-
tischen Sinn. Sie diente beim Verkauf auf dem Markt zur Werbung. Deshalb war
85 Vgl. R. Weinhold, Bäuerliches Arbeitsgerät... 98, Anm. 27, wo er auf weitere Stücke
in mecklenburgischen Museen hinweist.
86 Inv. Nr. 424a u. 424 (auf Abb. 7 von links nach rechts). Die Höhe der zylindrischen
Gefäße beträgt 23,5 und 22,5 cm, der obere 0 10,5 cm und 9 cm, Rand 2,2 und 1,5 cm.
87 Inv. Nr. 1926, 17. V. Die Gesamthöhe des Kelches beträgt 24,5 cm, der obere 0 8,5 cm,
der Rand 2 cm, Tiefe 12 cm, Höhe des Kelches bis zum Sockel 14,5 cm.
88 Die Abb. einer Doppelform s. Weinhold, Bäuerliches Arbeitsgerät... 95. Zwei Doppel-
formen befinden sich im Stralsunder Museum: 1) Inv. Nr. 1926, 27. II: Gesamthöhe 27 cm,
großer Kelch 13 cm hoch, 0 8,5 cm, Rand 2 cm, Tiefe 12 cm, kleiner Kelch 8,5 cm hoch,
Tiefe 6,5 cm. — 2) Inv. Nr. 1926: Gesamthöhe 26,8 cm, großer Kelch 13,5 cm hoch, 0 9cm,
Rand 1,25 cm, Tiefe 11,5 cm, kleiner Kelch 9 cm hoch, Tiefe 5,5 cm. Eine weitere im Museum
Demmin: Inv. Nr. KD 853: Gesamthöhe 27 cm, großer Kelch 14 cm hoch, 0 9 cm,
Rand 1,3 cm, Tiefe 11,5 cm, kleiner Kelch 8,5 cm hoch. Verbindendes Mittelstück sehr
schmal, beide Kelche sowie Mittelstücke mehrfach durch eingeschnittene Linien verziert. Vgl.
auch Borchers, Volkskunst ... 7.
89 Das Einpfundmaß des Demminer Museums (Inv. Nr. KD 1070) ist jüngere Drechsler-
arbeit und vermutlich nicht in Gebrauch gewesen.
90 Ältere und jüngere Modeln sind in allen vorpommerschen Museen vorhanden und auch
noch in vielen Haushalten zu finden.
Abb. 7.
Buttermaße (Museum Grimmen)
Abb. 8. Butterform aus Michaelsdorf
(Franzburg) (Museum Stralsund)
Abb. 9. Butterform aus Wieck (Darß)
(Museum Stralsund)
mitunter auch der Name des Herstellers, so ,,C. Müller Sanzkow“,91 oder des Bauern-
hofes, z. B. „Hof Sievertshagen“,92 in die Form eingeschnitzt. Ursprünglich Hand-
werksarbeit der Dorftischler, werden die verzierten Buttermodeln schon zu Beginn des
20. Jahrhunderts auch serienmäßig hergestellt. Sie blieben so lange im Gebrauch, wie
Bauernbutter auf den Wochenmärkten verkauft wurde. Die zweiteiligen Formen, mit
denen man plastische Figuren herstellen konnte, sind gewöhnlich älter als die ein-
fachen, weil sie keine Handelsware ge-
wesen sind. Besonders beliebt war in Vor-
pommern das Botterschäp, das ,Butter-
schaf', eine Doppelform, aus deren beiden
Hälften ein Schäfchen ausgeschnitten war
(s. Abb. 10). Die hier abgebildete Form
(Länge 13 cm, Höhe 6 cm) wurde vor
ungefähr 20 Jahren zum letzten Mal ge-
braucht. Weitere Doppelformen ergeben
Fische,93 Henne oder Hahn,94 Tauben
und sogar Nixen.95 Ursprünglich gehörte
die auf diese oder ähnliche Weise ge- Abb. lt)> Butterdoppelform aus Maltzien
formte und verzierte Butter zum Ge- (Rügen)
schenk der Gäste an die Brautleute. Hier-
bei handelt es sich um eine weitverbreitete Sitte,96 die mit der Tatsache, daß Butter
als Fruchtbarkeitssymbol galt, in Zusammenhang steht.97 Brudbotter ,Brautbutter'
(Krs. Naugard; Greifenhagen) und Brudhan ,Brauthahn' (Vorpommern)98 standen
91 Museum Demmin. 92 Krs. Grimmen.
93 Im Museum Stralsund, Inv. Nr. 1928:339, eine Fischklappform aus Saal (Damgarten).
Eine Abb. davon s. bei F. Adler, Pommern... Abb. 144.
94 Vgl. Meckl. Wb. Bd. I, 1061.
95 Vgl. Borchers, Volkstracht... 8.
99 Vgl. außerhalb des deutschen Sprachraumes auch Smorformerbruk og dekorasjon. Ord
og Sed VII (1940) 15.
97 Vgl. Hdwb. d. dt. Aberglaubens Bd. I, 1756. 98 Dähnert, Wörterbuch... 57a.
332
Renate Winter
als zwei Lämmer, als Glucke mit zwei Küken oder ähnlich vor den Brautleuten auf
der Hochzeitstafel.
Im Osten des pommerschen Gebiets kannte man noch eine andere Art, Butter
zum Verbrauch und Verkauf zuzubereiten. Hier verzierte man die Butter mit Auf-
druck- und Rollmodeln. Rollmodeln, die in größerer Zahl überliefert sind als die
großen Aufdrucktafeln,99 sind unterschiedlich große (12 cm und länger, 0 4 cm
und weiter) Holzrollen mit 2—3 mm tief eingeschnitzten oder eingebrannten Mustern.
Der Rand ist vom Mittelteil durch einen
Einschnitt abgehoben und weist geome-
trische Strichmuster auf. Die Mittelflächen-
ornamente bestehen aus Blumen-, Tier- und
Phantasiedarstellungen, sie sind am äußeren
Rande häufig begrenzt durch eingeschnitzte
Buchstaben, die — auf der Butter abge-
rollt — Wörter ergeben, wie z. B. „Viel
Glück“ (s. Abb. 11).
Die meisten der erhaltenen Stücke haben
keine Griffe, doch läßt der eingeschlagene
w Nagel bei einer der beiden Butterrollen aus
7T T fh Koszalin Rückschlüsse auf die ursprüngliche
H II 0 Jrv) Handhabung der Geräte zu. Die Rollen werden
1 zum Gebrauch in ein Gabelbrett eingehängt, das
durch eine Öse mit den nagelförmigen Zapfen
an den Enden der Butterrolle drehbar verbunden
ist. Diese Vorrichtung macht es möglich, die
Rollen beliebig auszuwechseln und verschiedene
Muster zu benutzen. Es waren gewöhnlich größere Butterklötze, die auf diese Weise bunt
gemacht, d. h. verziert wurden. Kleinere und schmalere Rollen, die für Butterstücke von einem
halben oder einem Pfund berechnet waren, lagerten auch auf einer durchgehenden Holz-
achse, die an den äußeren Enden entweder mit einem oder mit zwei Griffen versehen war.* 100
Abb. 11. Butterrollen (Museum Koszalin)
Weniger gebräuchlich waren die großen rechteckigen Aufdrucktafeln, von denen
eine aus Jamund überliefert ist.101 Das eingeschnitzte Muster weist ähnliche Motive
auf wie die Butterrollen. Buttertafeln und Butterrollen, die in ihrer räumlichen Ver-
breitung Anschluß an ostpreußische Formen finden,102 wurden im 20. Jahrhundert
zunehmend verdrängt durch die oben geschilderten Butterformen, in denen die Butter
zugleich gewogen und verziert werden konnte.103
*
89 Heute noch Exemplare in den polnischen Museen Koszalin und Darlowo. Vgl. auch
Paetow, Volkskunst in Ostpommern, 56.
100 Butterrollen aus Jamund bei F. Adler, Pommern, Abb. 142 und 144.
101 Siehe Anm. 100.
i°2 Vgl. F. Baumhauer, Bäuerliche Schnitzereien des ostpreußischen Oberlandes. Jb. f.
Hist. Volkskunde 3/4 (1934) 9.
103 Vgl. den ähnlichen Prozeß in Elsaß-Lothringen, wo die im 18. und 19. Jh. sehr ver-
breitet gewesenen ovalen und runden Aufdrucktafeln zu Beginn des 20. Jhs durch fabrik-
mäßig hergestellte Butterformen verdrängt worden sind, so Schehly, Plaques à beurre
décorées en Lorraine et en Alsace. In: Nouvelle Revue des Traditions populaires T. I,
Nr. 49, 195 —197; ders., Les formes à beurre contemporaine en Alsace et en Lorraine.
Ebda 5 5 ff.
Zur bäuerlichen Butterbereitung
333
Die Butterbereitung, die heute im untersuchten Gebiet nicht mehr zum Bereich
bäuerlicher Hausarbeit gehört, stellt als Teilgebiet der bäuerlichen Milchwirtschaft
eine Etappe im historischen Entwicklungsprozeß der bäuerlichen Arbeit und Wirt-
schaft dar. Das aus persönlicher Feldforschung und Fragebogenaktionen gewonnene
Material der Gegenwart sowie die Auswertung der historischen agrarökonomischen
Literatur konnten diesen Arbeitsbereich für einen regional begrenzten Raum er-
schließen. Dabei wurden die heute funktionslos gewordenen Geräte nicht losgelöst
von ihrer Anwendung im Arbeitsprozeß als bloße Glieder in einer Gerätetypologie
gesehen, sondern in den unmittelbaren Zusammenhang mit den Arbeitsvorgängen
gestellt. Die Untersuchung erfolgte vom Standpunkt eines Linguisten, wobei dem
Zusammenhang zwischen den Arbeitsgeräten, den Arbeitsvorgängen und ihren
Abb. 12.
Vignette für Mai im „Verbesserten Vorpommerschen ... Land- und Haus-Calender“,
Alten Stettin 1703
Bezeichnungen besondere Bedeutung beigemessen wurde. Allein die hier notwendige
Beschränkung auf die Sachfragen des behandelten Arbeitsbereiches brachte es mit
sich, daß die volkssprachlichen Benennungen nur knapp dargestellt und der wichtige
Komplex der Metaphorik ganz ausgeklammert werden mußten. Dennoch sei darauf
hingewiesen, daß sich auch von dieser Seite eine fruchtbare gegenseitige Erhellung
zwischen Wort und Sache ergeben kann, wie das Beispiel des Stampfbutterfasses
zeigt. Dieses Gerät hat wegen seiner praktischen und einfachen Handhabung, die
zugleich größten Nutzen garantierte, fast unverändert Jahrhunderte überdauert. Die
volkssprachliche Metaphorik hat diese Tatsache bestätigt und gestützt. Hier wurde
es zum Symbol und zum Zeichen: für die bäuerliche Wirtschaft überhaupt, für
Wohlstand und Reichtum sowie zum Ausgangspunkt für unzählige Vergleiche. Daß
in starkem Maße auch Momente aus dem Arbeitsprozeß selbst in die Metaphorik
der Volkssprache eingegangen sind, die heute nur noch hier lebendig sind, sei nur
am Rande vermerkt.
MITTEILUNGEN UND BERICHTE
Aus der Arbeit der jugoslawischen Folkloristen
Von Herbert Peukert
Die volkskundliche Arbeit ist in Jugoslawien gut organisiert. Es bestehen Akademie-
einrichtungen, Lehrstühle an Universitäten und Hochschulen, ein relativ dichtes Netz von
Museen mit fachkundigen Mitarbeitern und z. T. eigenen Publikationsorganen. Viele Lehrer,
besonders auf dem Lande, befassen sich mit volkskundlichen Problemen, und im Lehrplan
der Schulen nehmen Volksdichtung, -musik und -tanz wie überhaupt die Volkskunst einen
beachtlichen Raum ein. Auch die Tagespresse berichtet nicht selten über ethnographische
Fragen. Jugoslawien ist zweifellos ein erregendes Wirkungsfeld verschiedenster historischer
Traditionen, ethnischer und gesellschaftlicher Bedingtheiten und Wandlungen und bietet
erfreulicherweise noch so viel an echter „Folklore“, daß die Wissenschaftler alle Hände voll
zu tun haben, um zu retten, was gerettet werden kann, bevor es bei den Lebensbedingungen
einer sich schnell verändernden modernen Gesellschaft untergeht. Das alles macht die Volks-
kunde in der Gegenwart so anziehend und aufschlußreich, daß es sich schon deshalb lohnen
würde, die Arbeit der jugoslawischen Kollegen aufmerksam zu verfolgen.
Nach einer ausgedehnten Phase sehr solider ethnographischer Forschung finden nun die
volkskünstlerischen Phänomene, kurz das, was man heute vielfach „Folklore“ im engeren
Sinne nennt, besondere Beachtung. Neben der „Ethnologischen Gesellschaft Jugoslawiens“
besteht seit 1955 ein eigener „Verband der Vereinigungen der Folkloristen Jugoslawiens“
(Savez udruzenja folklorista Jugoslavije), der bezeichnenderweise aus der „Vereinigung
der Musikfolkloristen Jugoslawiens“ hervorgegangen ist und alljährlich mit einem reprä-
sentativen Kongreß deutlich in Erscheinung tritt. Die Abgrenzung gegenüber den Ethno-
logen bzw. Ethnographen ist natürlich schwierig, und viele der Fachleute gehören beiden
Organisationen an, wie denn auch die einzelnen Institutionen mit wenigen Ausnahmen
allgemein ethnographisch orientiert sind, allerdings oft bevorzugt Folkloristik betreiben.
Die jugoslawischen Folkloristen müssen sich vor allem mit drei Problemkomplexen be-
schäftigen, deren Klärung gleichzeitig die internationale Forschung außerordentlich be-
reichern kann, die schon lange, zumindest seit Jacob Grimm und Vuk S. Karadzic, aus der
Zusammenarbeit mit den weltoffenen Südslawen Nutzen gezogen hat: mit 1) dem unge-
wöhnlich fruchtbaren und traditionsreichen volkskundlichen Erbe, 2) dem Schicksal dieses
traditionellen Folkloregutes in der modernen, anders strukturierten Gesellschaft, 3) einer
neuen „Folklore“, die vor allem unter den Bedingungen des Nationalen Befreiungskampfes
wesentlich geprägt wurde und sich im sozialistischen Aufbau weiterentwickelt. Dazu ge-
sellen sich neue wissenschaftsmethodologische Aspekte, die eine intensivere Untersuchung
eben gerade der künstlerischen Äußerungen des Volkes nahelegen und die fortschrittlichen
Tendenzen der Volkskunst als der Kunst der werktätigen Massen stärker hervortreten lassen.
Einen ausgezeichneten Einblick in die Situation der vorbildlich aktiven jugoslawischen
Folkloristik, in ihre Leistungen, ihre akuten wissenschaftlichen Probleme wie auch in die
eindrucksvolle Breite und Vielfalt ihrer Arbeit vermitteln zwei Publikationsreihen, für die
der Folkloristen verband selbst unmittelbar verantwortlich zeichnet. Es sind dies die Jahres-
bände, die die gesamten Materialien der jeweiligen Folkloristenkongresse enthalten und
seit 1957 den Titel tragen: Rad kongresa folklorista Jugoslavije u ... (Arbeit des Kongresses
der Folkloristen Jugoslawiens in ...), und das offizielle Organ des Verbandes Narodno
stvaralastvo. Folklor (Volksschaffen. Folklore).
Aus der Arbeit der jugoslawischen Folkloristen 335
Die Kongresse des jugoslawischen Folkloristenverbandes sind zweifellos zu Höhepunkten
der volkskundlichen Arbeit im Lande geworden. Sie werden abwechselnd in einer der sechs
jugoslawischen Unionsrepubliken veranstaltet. Für die Organisation wie auch für die Sam-
melbände ist die betreffende Republikvereinigung zuständig. Ein Großteil der ca. 400 Mit-
glieder nimmt an den Kongressen teil, und das Programm zeigt eine immer steigende Anzahl
von Referaten. Auf dem IX. Kongreß in Mostar und Trebinje 1962 waren es z. B. 65.
Zu begrüßen ist, daß seit einigen Jahren die Thematik der einzelnen Kongresse hinreichend
präzise festgelegt wird, wodurch sich klar umrissene Themenkomplexe ergeben, die dann
vielfältig beleuchtet werden und eine Menge neuer Erkenntnisse vermitteln. Das gilt nament-
lich vom VI. Kongreß in Bled 1959 an (Sammelband Ljubljana i960), wo z. B. der Nationale
Befreiungskampf in der Folklore im Mittelpunkt stand. InOhrid i960 (Ohrid 1964) waren es
Die Volkskunst im Lichte der Gesetzmäßigkeit der gesellschaftlichen Entwicklung und die
Volksmusikinstrumente. Titovo Uiice 1961 (Beograd 1961) behandelte vorrangig das
Volksschaffen in Aufstand und Volksrevolution neben der Rolle der Folklore beim Aufbau der
sozialistischen Kultur und der Arbeit in der Volkskunst, während in Mostar und Trebinje
1962 (Sarajevo 1963) der gesellschaftliche Charakter der Volkskunst, Probleme der Reproduktion
und Bearbeitung der Folklore und die Frühlingsbräuche und in Cetinje 1963 (Cetinje 1964)
Njegos und das Volksschaffen, die Folklore in ihren künstlerischen Transformationen und
die dramatischen Formen und Elemente im Volksschaffen die Hauptthemen bildeten. Die
Kongresse in Novi Vinodolski 1964 und in Celje 1965, deren Materialien noch nicht er-
schienen sind, diskutierten in den Plenarsitzungen u. a. über Die Mazuranic und V. S. Kara-
dzic, Totenbrauchtum, Die Ästhetik des Volksschaffens und die heutige Kunst bzw. über Ent-
wicklungsprobleme der Folklore in der Gegenwart und Archaische Elemente im Hochzeitsbrauch-
tum. Jeder Kongreß hat daneben obligatorisch die ethnographische und folkloristische
Eigenart des Gebietes, in dem er stattfindet, zum Gegenstand. In den vorliegenden 9 Bänden
— es sind außer den bereits genannten die von den Kongressen in Pula 1952 und Bjelasnica
1955 (Zagreb 1938), Montenegro 1956 (Cetinje 1958), Varazdin 1957 (Zagreb 1939), Zajeöar
und Negotin 1958 (Beograd i960) — spiegelt sich die ganze Regsamkeit der jugoslawischen
Folkloristen wider. Das Gesamtniveau ist bemerkenswert hoch, sowohl in den Referaten
namhafter jugoslawischer Fachwissenschaftler wie auch in denen jüngerer Spezialisten und
ausländischer Gäste.
Nur einige Namen seien herausgegriffen und die Thematik ihrer wesentlichen Beiträge
ganz allgemein angedeutet. So hielten Referate über die V olksprosa M. Boskovic-Stulli,
M. Maticetov und O. Palavestra, über Fragen der Volksepik N. Kneäevic, B. Krstic und
R. Medenica; Probleme der Volkslyrik behandeln O. Delorko, S. Stepanov und H. Peukert;
über die montenegrinische Folklore berichtete N. Martinovic, über die makedonische H. Pole-
nakovic, über die der albanischen Minderheit M. Krasnici und S. Plana, über die spezifisch
mohammedanische A. Nametak. Mit den Volkssprichwörtern befassen sich M. Lalevic und
C. Romanska, mit dem Volksdrama N. Bonifaöic-Rozin, mit Versproblemen J. Vukovic;
T. Öubelic und A. Schmaus äußern sich zu Stilproblemen; M. Ibrovac vergleicht die ser-
bische und neugriechische Volkslyrik. Die Musikfolkloristik ist besonders reich vertreten
mit Beiträgen von 2. Firfov, R. Hrovatin, Z. Kumer, C. Rihtman, M. A. Vasiljevic (f),
V. Vodusek, V. 2ganec. Auch der Volkstanz nimmt einen breiten Raum ein durch Aufsätze
von J. Dopuda, F. Hoerburger, M. Ilijin, F. Kretzenbacher, 2. Mladenovic. Fragen der
materiellen Volkskultur untersuchen M. Barjaktareviö, S. Freudenreich, N. Kuret, K. Penus-
liski, M. Polenakovic-Stejiö, I. Vukmanovic. Obzwar sich die Mehrzahl der Beiträge mit
Spezialfragen beschäftigt, bemühen sich nicht wenige der Autoren, diese in größere Zusam-
menhänge zu stellen, um den übergreifenden Theme ngerecht werden zu können. Es wäre
nützlich, wenn — ohne natürlich die notwendige Kleinarbeit zu vernachlässigen — die Aus-
einandersetzungen mit grundsätzlichen Fragen noch stärker berücksichtigt würden. In dieser
Hinsicht sind die breit angelegten Referate von D. Nedeljkovic, die namentlich den Gesetz-
mäßigkeiten der modernen Folklore und ihrer gesellschaftlich-historischen Bedingtheit
nachgehen, sehr anregend.
Der Verband der Vereinigungen der Folkloristen Jugoslawiens hat seit 1962 auch ein
eigenes Publikationsorgan, die in Beograd erscheinende Vierteljahresschrift Narodno
336
Nikolaj Kaufman
stoaralaStoo. Folklor, die von einem aus je einem Vertreter der Republikvereinigungen be-
stehenden Kollegium unter der verantwortlichen Redaktion von D. Nedeljkovic heraus-
gegeben wird. Jedes der bisher erschienenen 14 Hefte hat einen Umfang von ca 80 Seiten.
Die Beiträge stammen natürlich fast durchweg von den gleichen Personen, die auch auf den
Kongressen aktiv hervortreten, so daß sie hier nicht im einzelnen wiederholt zu werden
brauchen, zumal sie im allgemeinen bei ihren Spezialthemen bleiben. Aber auch einige Aus-
länder haben Aufsätze beigesteuert, wie etwa S. D£ud£ev, V. Gusev, K. Horälek, Ch. Hyat,
A. Lord, J. Koev, N. Kravcov, J. Markl, H. Peukert und C. Romanska. Besondere Beach-
tung verdienen wiederum die auf das Grundsätzliche zielenden Abhandlungen von D. Ne-
deljkovic über Probleme der modernen Volksdichtung und über die Arbeiterfolklore. Jedes
Heft bietet ferner gut ausgewählte Rezensionen und Berichte und interessante Proben aus
der zeitgenössischen jugoslawischen Volksdichtung. Namenregister und Gesamtinhalts-
verzeichnis befinden sich im letzten Heft jedes Jahres; die Numerierung der Hefte sowie die
Paginierung erfolgen merkwürdigerweise fortlaufend, also nicht jahrgangsweise neu.
Schließlich sei noch auf das Publikationsorgan des 1951 gegründeten Zagreber Instituts
für Volkskunst (Institut za narodnu umjetnost), die Narodna umjetnost (Volkskunst), hin-
gewiesen. Sie erscheint jährlich einmal und liegt bisher in drei Bänden vor: i.Bd. 1962
(160 S.), 2. Bd. 1963 (240 S.), 3. Bd. 1965 für 1964 und 1965 (252 S.). Sie ist zum Unter-
schied von den beiden o. a. gesamt jugoslawisch orientierten Periodica kroatisch-regional
gebunden, und ihre Autoren sind Institutsmitarbeiter, die auch im Folkloristenverband sehr
rege auftreten. Ihre Thematik ergibt sich selbstredend vorwiegend aus den klar profilierten
Forschungsaufgaben des ausgeprägt folkloristischen Instituts, die im Zusammenhang mit
dessen junger Geschichte im x. Bd. von Z. Palßok dargelegt werden. Die Ergebnisse syste-
matischer Terrainarbeit und das schnell wachsende Archiv steigern den Aussagewert der
Narodna umjetnost, können doch fast alle Beiträge mit neuem, in der Regel noch nicht ver-
öffentlichtem Material operieren. Das gilt von den Abhandlungen des jetzigen Instituts-
direktors, der Märchenforscherin M. Boäkovic-Stulli, den Beiträgen von O. Delorko und
S. Stepanov, den Aufsätzen des Fachmanns für Volksdramatik N. Bonifaöic-Roäin und den
gründlichen Untersuchungen des Musikfolkloristen V. 2ganec über Fragen der Volks-
liedmetrik und -rhythmik. Daneben stehen interessante Artikel über andere Bereiche der
kroatischen Folklore. Jeder Band bringt außerdem eine Reihe von Rezensionen und die
„Chronik“ mit kurzen Berichten über einschlägige Veranstaltungen im In- und Ausland
u. a. m.
Zur raschen Orientierung für den der jugoslawischen Sprachen nicht kundigen Ausländer
sind übrigens die Beiträge aller drei Periodica, also der Kongreßbände, des Narodno stva-
ralastoo. Folklor und der Narodna umjetnost, mit englischen, französischen, russischen oder
deutschen Resümees versehen.
Die folkloristischen Traditionen und die Entwicklung
des revolutionären bulgarischen Arbeiterliedes*
Von Nikolaj Kaufman
Vor der Befreiung vom türkischen Joch im Jahre 1878 trug das Leben in Bulgarien
ländlich-bäuerlichen Charakter. Die kleinen Städte unterschieden sich wirtschaftlich kaum
von den Dörfern, und eine Industrie war damals so gut wie nicht vorhanden. Auch die städ-
tischen Handwerker standen in ihrer geistigen Kultur der Dorfbevölkerung sehr nahe. So war
auch die traditionelle Liedfolklore der Bulgaren vor der Befreiung vorwiegend bäuerlich.
* Vortrag auf dem II. Internationalen Symposium zur Erforschung des Arbeiterliedes
in Velenje (Jugoslawien) vom 12.-14. Sept. 1965.
Entwicklung des bulgarischen Arbeiterliedes
337
Die Veränderungen, die nach der Befreiung im Leben des Volkes eintraten, fanden sehr
bald ihren Widerhall auch im Volkslied. Der nachhaltigste Einfluß war freilich erst nach der
Gründung der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei im Jahre 1891 zu spüren.
Die bulgarische Arbeiterklasse, die sich nach der Befreiung herausbildete, setzte sich
zum größten Teil aus armen Bauern zusammen. Sie behielten ungeachtet der Tatsache, daß sie
nun in Städten lebten, vieles bei, was die Verbindung mit den Dörfern aufrechterhielt,
aus denen sie gekommen waren. Das bäuerliche Volkslied stellte weiterhin den Grundstock
ihres Liedrepertoires. Es entstanden jedoch kaum Arbeiterlieder, in denen die Lage in der
Stadt oder in den Fabriken und Werkstätten geschildert wurde, da die Festigung proletarischer
Traditionen eine völlige bewußtseinsmäßige Loslösung der Arbeiter vom Lande erfordert
hätte. Deshalb unterscheiden sich die bulgarischen Arbeiterlieder auch von entsprechenden
Liedern anderer Völker mit alten proletarischen Traditionen. Sie entstanden fast ausschließ-
lich während des revolutionären Kampfes der organisierten Arbeiterklasse gegen die kapi-
talistische Ordnung und den Faschismus. Daher sind die verschiedenen Arten des bulga-
rischen Arbeiterliedes durch die einzelnen Etappen des Kampfes der bulgarischen Arbeiter
charakterisiert; es sind bis auf wenige Ausnahmen revolutionäre Lieder. Daneben kannten
die bulgarischen Arbeiter auch zahlreiche bäuerliche und städtische Lieder. In den zwanziger
Jahren fanden die städtischen Lieder in immer stärkerem Maße Eingang in ihr Repertoire; es
wurden auch einige Arbeiterlieder rein folkloristischen Typs geschaffen, die zum Teil keinen
revolutionären Charakter tragen. Dieser Liedtyp hat sich jedoch nicht weiter entwickelt.
Ihrer Herkunft und Entstehung nach sind die Lieder der bulgarischen Arbeiterbewegung
sehr unterschiedlich. Von einem großen Teil sind die Verfasser bekannt: der Text stammt von
Arbeiterdichtern, die Musik von Berufs- oder Laienkomponisten. Das gilt sowohl für grö-
ßere Chorgesänge als auch für kleinere ein- und mehrstimmige Lieder. Es ist die für die
Periode der legalen Arbeit der bulgarischen sozialdemokratischen Arbeiterpartei (1891 bis
1923) typische Art des Liedschaffens. Die Lieder dieser Gruppe sind für die Arbeiterbewe-
gung am bezeichnendsten und repräsentieren die Hauptentwicklungslinie. In ihrer Melodik,
ihren Ausdrucksmitteln und ihrem Versbau unterscheiden sie sich von der Liedfolklore; sie
erinnern an das Lied des ausgehenden 19. Jahrhunderts — an die europäischen Marsch-
lieder und Romanzen.
Eine weitere Gruppe bilden Lieder, die in ihren Melodien zwar auf älterem städtischen
und dörflichen Liedgut beruhen, deren Text jedoch einerseits den Geist des Massenliedes
atmet, andererseits aber auch der bäuerlichen Folklore ähnelt. Sie tragen Züge des städtischen
Marschliedes oder der Romanze, doch stehen sie in mancher Hinsicht unter dem Einfluß
der Folklore. Lieder dieser Art wurden sowohl in der legalen als auch — vor allem — in der
illegalen Periode (1923 — 1944) geschaffen. Nach Versbau, Ausdrucksmitteln und Form ten-
dieren sie eher zu den Individualschöpfungen als zur Folklore.
Daneben steht die Gruppe der Lieder, die ganz im Geiste des Volksliedschaffens ent-
standen und spontan und unmittelbar auf bestimmte Ereignisse reagieren. Nach Herkunft,
Verbreitung und Variierung, nach dem Platz, den sie im Leben des Volkes einnahmen, nach
ihrem musikalischen und dichterischen Aufbau stellen sie einen untrennbaren Bestandteil
der traditionellen Liedfolklore dar. Solche Lieder wurden namentlich in der Zeit des illegalen
Kampfes der Partei gesungen und verbreitet.
Alle drei Arten der Arbeiterlieder haben die gleiche Verbreitung und Entwicklung — die
des folkloristischen Schaffens — durchgemacht. Sie sind gekennzeichnet: 1. durch die Folk-
loretraditionen des bulgarischen Volkes, 2. durch den gesamtnationalen Charakter der Be-
wegung, 3. durch die gleichwertige Teilnahme des Landproletariats am Kampf der Arbeiter-
klasse.
Charakteristisch für diese Art des Schaffens ist der Übergang des Liedes von einer Gruppe
zur anderen auf dem Wege der folkloristischen Umgestaltung. So wird ein großes Chorlied
zum Massenlied, ein städtisches Massenlied bekommt Züge des traditionellen bäuerlichen
Liedes, ein traditionelles bäuerliches Lied entsteht auf der Grundlage allgemein bekannter
alter Volkslieder, revolutionäre bäuerliche Lieder werden zu revolutionären städtischen
Liedern umgestaltet usw. Auch Tendenzen einer Annäherung des Individualliedes an das
Volkslied werden sichtbar.
11 Volkskunde
338
Nikolaj Kaufman
Die ersten bulgarischen revolutionären Arbeiterlieder datieren aus dem Ende des 19. Jahr-
hunderts. Es sind vor allem Marschlieder, deren Texte von Arbeiter dichtem und deren Melo-
dien von bulgarischen Komponisten verfaßt, bisweilen aber auch aus dem Ausland über-
nommen werden — aus Rußland, Deutschland, Böhmen usw. Parallel zu diesem Typ der
Marschlieder werden auch revolutionäre Lieder auf Melodien von Romanzen gesungen.
Überall im Lande ertönen neue Lieder, die vom Volke gleich der traditionellen Folklore
aufgenommen und „bearbeitet“ werden.
Nach dem antifaschistischen Aufstand vom September 1923 entsteht ein neuer Typ des
Arbeiterliedes: Lieder politischer Gefangener, die zum größten Teil dem Liedgut des Volkes
in Form und Inhalt noch näher kommen. Die Partisanenbewegung der Jahre 1941 — 1944
brachte einen weiteren Liedtypus hervor. Diese von den Partisanen gesungenen Lieder ver-
breiteten und entwickelten sich nach den Gesetzen der Folklore, obwohl sie formal dem städ-
tischen Liedschaffen näher standen und ihre Verfasser sehr oft Partisanendichter waren.
*
Betrachten wir nun kurz einige der Haupttypen der Arbeiterlieder und den Weg ihrer
Folklorisierung.
Die folgenden Beispiele sollen die These bestätigen, daß eines der wichtigsten Merkmale
des bulgarischen Arbeiterliedes der folkloristische Charakter seiner Entstehung, Verbrei-
tung und Entwicklung ist.
Eine Reihe von Arbeiterliedern wurden im Geiste der städtischen und ländlichen Folklore
geschaffen und sind in Stadt und Land gleichermaßen verbreitet. Charakteristisch hierfür ist
z. B. das Lied Bog da gi ubie tezi bogatasi (Gott erschlage diese Reichen). Hier seine Ent-
stehungsgeschichte :
Schon zu Beginn dieses Jahrhunderts war im Volk ein Lied bekannt, das ihm vor allem
in der Melodie ähnelt:
ftoJi-Ha Md Jier-Ha uje-Jid Jie-Ber ro - ndH
Meine Ginka ist krank, Ginka Ivanova,
Krank liegt sie mir schon volle neun Jahre.
Nach den blutigen Ereignissen im Jahre 1922, als der Faschismus den ersten Schlag gegen
die bulgarische Arbeiterklasse und gegen die bäuerliche Bevölkerung führte, entstanden auf
der Grundlage dieses Liedes revolutionäre Lieder, z. B.
Notenbeispiel 2
Moderato
Bor M rd y - (fH-e
ApB- HOB ~CKd ~T0
‘Wffir
Entwicklung des bulgarischen Arbeiterliedes 339
He - bh-hob-hh xo — pa
na hh Hanapaxa
TaMo, HaHaTaMo,
TaMO kt>m HynpeHH,
na nn pacnnTaxa
Gott erschlage die Gendarmen aus Drenovo,
die Gendarmen aus Drenovo, die Schulzen aus Drenovo,
denn sie haben (uns) unschuldige Menschen erschlagen.
Und sie haben uns getrieben, dort, dorthin,
dort nach Cuprenja, und uns verhört,
wieviel jeder Kinder hat ...
Und sie getrieben, ihr Grab zu schaufeln ...
So war ein revolutionäres Lied der Landbevölkerung entstanden.
Zu Beginn der dreißiger Jahre nun wandelt sich allmählich der Charakter des Liedes.
Die Melodie wird zwar beibehalten, der Text aber umgestaltet und schärfer pointiert: es
entwickelt sich das bald weithin bekannte Arbeiterlied „Gott erschlage diese Reichen“.
Der Text schildert die menschenunwürdigen Arbeitsbedingungen, die häufig Tuberkulose
zur Folge hatten.
noil kojiko pepa hm a ...
H m nanapaxa
rpoßa pa ch itonaT ...
Bor ab th y- cto-e
mo ca OT-BO-pn-m
th-fl dQ-ra-ra - üjh
nyc-TH-re cm-AO - Be
f f J 4^-J J* r r10 ö
TH-fl üo-ra-Ta - üjh,
Ta ca 3a-po-c/H - m
th-fl MH-JiHO-He - pH
cH-po-tm-Kü % - jjflA
Gott erschlage diese Reichen,
diese Reichen, diese Millionäre,
die diese verfluchten Lager(hallen) eröffnet haben
und das arme Volk versklavten.
Diese Variante wurde vom bulgarischen Proletariat bis zur Befreiung vom Faschismus
gesungen, obgleich die bulgarischen Fabrikanten das Lied verboten. Varianten im Drei-
vierteltakt stehen der bulgarischen Stadtfolklore näher:
11*
340
Nikolaj Kaufman
Notenbeispiel 4
Gott erschlage diese Reichen...
Das Lied ist so zum städtischen revolutionären Lied geworden.
Auf andere Weise wurde ein Lied der zweiten Gruppe, Pesen na truda (Das Lied der Ar-
beit), umgestaltet, nachdem es unter den Balkanvölkern populär geworden war. Sein Text
von G. Kirkov, seine Melodie von G. Goranov entstanden im Jahre 1900. Es soll hier nicht
näher auf die zahlreichen melodischen Varianten eingegangen werden, die in Bulgarien
auftraten, sondern nur die Frage der Umgestaltung von einem großen Chorwerk zu einem
Massenlied berührt werden, da solche Erscheinungen in den Liedern der Arbeiterbewegung
der Balkanvölker außerordentlich häufig sind.
In der ersten Fassung war das Werk für vierstimmigen Chor bestimmt. Es zeigte eine
monumentale, dreiteilige Form; das Trio wurde nur vom Baß gesungen, und dieser Teil,
der in der Subdominante stand, unterstrich den feierlichen Charakter des Liedes.
Diese komplizierte Form eignete sich nicht für den Volksgesang; allein schon vierstim-
mige Chöre zu finden, war unmöglich. So fielen größere oder kleinere Passagen weg, und von
dem großen Chorlied blieb nur ein Thema übrig, das sich als besonders klar und ausdrucks-
voll erwiesen hatte.
Einmütig soll heut unser Lied erklingen,
das Lied, das Lied der Arbeit!
Es soll unsere Herzen fröhlich machen,
es lebe, es lebe die Arbeit.
In dieser Art wird das Lied noch heute gesungen; es ist auch den jugoslawischen, rumä-
nischen und griechischen Arbeitern bekannt.
Zur dritten Gruppe gehören Lieder, deren Texte oder Melodien ausländischen Arbeiter-
liedern entlehnt wurden. Die Zahl der Beispiele ist hier Legion. Die Folkloretradition hat
auch diese Lieder ständig neu geprägt. Bisweilen ist die Liedanalyse zwar kompliziert, ver-
mittelt aber interessante Ergebnisse. Hier soll nur ein Fall behandelt werden, der für die
Wechselbeziehung zwischen bulgarischen und jugoslawischen antifaschistischen Liedern
besonders kennzeichnend ist. Das Lied Partizan se za boj stjaga (Ein Partisan zieht in den
Kampf) gehört zu den in Bulgarien bekanntesten Partisanenliedern. Seine Melodie geht auf
das Lied Idem, idem (Gehen wir, gehen wir) des bulgarischen Komponisten D. Hristov
zurück. Im Jahre 19x3 richtete es sich gegen den Chauvinismus der königlich-serbischen
Regierung. Da es jedoch selbst nicht frei war von Elementen des großbulgarischen Chauvi-
nismus, der zu jener Zeit vom Zaren Ferdinand und seinem Anhang geschürt wurde, fand
es auch im Volke keinen Anklang.
Entwicklung des bulgarischen Arbeiterliedes
341
In einigen Partisanengruppen Ostserbiens kämpften neben Jugoslawen auch Bulgaren.
So stieß 1942 B. Stoimenov aus dem Dorfe Bogoslov bei Kjustendil zu einer jugoslawischen
Partisaneneinheit und trat dort als unerschrockener Kämpfer hervor. Im Jahre 1943 fiel er
in den erbitterten Kämpfen um den Berg Momin-Kamen. Ihm zu Ehren schufen seine Ge-
nossen das Lied Partizan se za boj strema (Ein Partisan zieht in den Kampf), das im ganzen
Lande gesungen wurde. Dann wurde das Lied ins Bulgarische übersetzt und von einer
Träner Partisanengruppe nach Bulgarien gebracht. Es wurde nach der Weise des Liedes
Idem, idem gesungen, und zwar ohne irgendwelche melodische Veränderungen. Uns ist
nicht bekannt, wie die serbischen Partisanen zu dieser Melodie gekommen sind, die die
Bulgaren längst vergessen hatten. Interessant ist hier der Umstand, daß die Melodie eines
Liedes, das zunächst gegen den Chauvinismus gerichtet war, von jugoslawischen Partisanen
zur Verherrlichung der übernationalen Heldentat des Bulgaren Stoimenov benutzt wurde.
Die Melodie ist dieselbe geblieben, doch klingt sie in der neuen Variante qualitativ anders
als in D. Hristovs Lied Idem, idem. Es handelt sich um eine sog. Intonationsvariante.
Wir erwähnten bereits, daß zahlreiche bulgarische Individuallieder im Volke und sogar
unter den Forschern als Volkslieder bekannt sind. So galten die weitverbreiteten Arbeiter-
lieder Kitna prolet, rosna detelina (Der Frühling kam, der Klee blühte), Ilej, pole Siroko
(Ach, weites Feld) als Volkslieder. Erst durch unsere Forschungen in den Jahren 1959 bis
196 t konnten wir feststellen, daß sie von einfachen Menschen aus dem Volke geschaffen
worden waren, die keinerlei Ansprüche auf Autorenrechte erhoben. Es wären noch viele
derartige Fälle anzuführen, doch schon die genannten können uns von der ständigen schöp-
ferischen Arbeit des Volkes, das stets auf bedeutende nationale Ereignisse reagiert, über-
zeugen. Offensichtlich werden auch individuell geschaffene Arbeiterlieder in Bulgarien we-
sentlich vom Volk mitgestaltet.
Der Charakter des bulgarischen Arbeiterliedes bestimmt auch die Methode, die bei seiner
Sammlung, Bewahrung und Erforschung anzuwenden ist. Viele Arbeiterlieder wurden be-
reits Ende des 19. Jhs veröffentlicht. Freilich lassen wir uns in unserer Arbeit nicht von
Veröffentlichungen leiten, sondern halten uns zunächst an noch lebende Arbeiterveteranen.
Wichtig für uns ist es zu ermitteln, welche Lieder volkstümlich geworden sind und im revo-
Notenbeispiel 6
nap-TH-30H ce 3a doti m - ra, m-fa nyui-m Ha pa-MO
Ctio-roM, Mail-ko, coo-roM tot — ko, cöo-roM m-m cec-rpn-
Uß!
Ein Partisan zieht in den Kampf,
schultert sein Gewehr:
Leb wohl, Mütterchen, leb wohl Väterchen,
Leb wohl, liebes Schwesterchen.
*
342
Roderyk Lange
lutionären Kampf des Volkes eine Rolle gespielt haben, in welchen Varianten sie auf treten,
ob sie allgemeine Verbreitung gefunden haben usw. Erst nachdem auf diese Weise eine
Grundlage gewonnen ist, vergleichen wir die auf gezeichneten Lieder mit den veröffentlichten
Originalen, wobei sich gewöhnlich große Unterschiede zeigen. Den umgekehrten Weg — vom
publizierten Lied zum Gewährsmann — gehen wir nur dann, wenn die erste Forschungs-
etappe ohne Resultat bleibt.
Als Ergebnisse der Sammel- und Forschungsarbeit auf diesem Gebiet sind Sammlungen
von Arbeiterliedern sowie einzelne vornehmlich historisch orientierte Studien und Skizzen
zu Fragen des Arbeiterliedes erschienen.
Nach dem Sieg über den Faschismus entstanden viele neue Lieder, andererseits gerieten
aber auch manche der alten Arbeiterlieder in Vergessenheit. Wir haben daher eine verstärkte
Propagierung solcher Lieder durch Radio, Schallplatte und Presse in Angriff genommen.
Zahlreiche alte Arbeiterlieder sind von Komponisten bearbeitet worden; sie werden jetzt
von Chören in Fabriken, Werken, Lesehallen usw. gesungen.
Zweifellos schaffen die Völker ihre Arbeiterlieder je nach den Folkloretraditionen, dem
kulturellen Niveau, der politischen Lage usw. auf verschiedenem Wege. So unterscheiden
sich die Arbeiterlieder, die während des antifaschistischen Kampfes in Mittel- und West-
europa entstanden sind, wesentlich von denen, die zur gleichen Zeit in den Balkanländern
geschaffen wurden. Während sie in Mittel- und Westeuropa eher eine Fortsetzung des tradi-
tionellen individuellen Massenliedes darstellen, knüpfen sie bei den Balkanvölkern an das
folkloristische Liedgut an. Seit dem ersten Symposium über das Arbeiterlied im Jahre 1961
sind bei uns viele Arbeiterlieder entdeckt und publiziert worden, wenn auch die Arbeit nicht
im gleichen Maße weitergeführt werden konnte wie in der ersten Forschungsperiode, die
mit der Herausgabe der Lieder der bulgarischen Arbeiterbewegung von 1891 bis 1944 abge-
schlossen wurde. Eine wertvolle Hilfe stellen die in der letzten Zeit immer häufiger erschei-
nenden Publikationen von Arbeiterliedern aus der UdSSR, den beiden deutschen Staaten,
der Tschechoslowakei, Ungarn, Rumänien, Jugoslawien und anderen Ländern dar. Diese
Veröffentlichungen zeigen, wie tiefgreifend die Wechselwirkungen zwischen den Liedern
der verschiedenen Völker und — vor allem — wie groß der Einfluß des russischen und sow-
jetischen revolutionären Liedes auf das revolutionäre Arbeiterlied der europäischen und
asiatischen Völker war. Die Entdeckung vieler gemeinsamer Lieder offenbart eine weitere,
sehr wesentliche Seite des Arbeiterliedes: seinen internationalen Charakter, der aus dem
gemeinsamen Kampf der Arbeiterbewegung in der ganzen Welt erwächst.
Übersetzt von Wilfried Fiedler, Berlin
Der Volkstanz in Polen
Von Roderyk Lange
Seit einigen Jahrzehnten hat die wissenschaftlich begründete Volkstanzforschung in
Polen, wie in vielen anderen Ländern, einen großen Aufschwung genommen. Polen gehört
zu den Völkern, bei denen das untergehende traditionelle Tanzgut der Bauernkultur noch
heute im Terrain auffindbar ist. Das ermöglicht es uns, diese Tanzfolklore unter Anwendung
neuzeitlicher Forschungsmittel dokumentarisch zu fixieren. Auf diesem Wege erst ist eine
retrogressive Betrachtung und Identifizierung der vorhandenen schriftlichen Quellen frü-
herer Zeiten möglich. Die jüngst unternommenen Forschungen erbrachten Beobachtungen
von allgemeinerem Wert. Wir versuchen darum, einigen Problemen der Tanzfolklore
überhaupt in diesem Artikel, den wir dem Andenken Wilhelm Fraengers widmen, näherzu-
kommen. Unser zweites Anliegen ist, gestützt auf die bisher zugänglichen Quellen, die
Grundzüge der polnischen Tanzfolklore zu schildern. Der Leser wird hier sicher viele Ähn-
lichkeiten mit dem ihm vertrauten Material anderer Länder finden und die Regelmäßig-
keiten der Struktur und des Entwicklungsprozesses beobachten können.
Betrüblicherweise stößt man in breiteren Kreisen der Tanzpraktiker sehr selten auf
Verständnis für die Vorstellung, den Volkstanz als einen der vielen Faktoren der Volks-
kultur eines bestimmten Terrains zu betrachten. Bei historischen Bearbeitungen dieses
Themas, von einem historischen Aspekt aus gesehen, bleibt zudem oft die Dynamik des
Entwicklungsprozesses unberücksichtigt. Wie in den meisten Ländern, so auch in Polen,
wird der Volkstanz oft als ein statischer, beinahe unwandelbarer Faktor empfunden, der
durch seine Farbigkeit in der Vorstellung der Stadtbewohner als Symbol des idealisierten
Bauernlebens gilt oder gar von der Jugend bei ihren Zusammenkünften als Requisit zum
Ausdruck nationaler Gefühle verwendet wird.
Eine objektive Lösung der Fragen: wie die Tanzfolklore sich entwickelt hat; welche Rolle
sie in ihrem ursprünglichen Milieu, im Leben einer bestimmten Gesellschaft spielte; wie die
einzelnen Tänze wirklich aussahen und welchen Wandlungen sie in Zeit und Raum unter-
worfen waren — wird erst eine breit angelegte Forschung erbringen können. Ein großes,
kaum abschätzbares Material, aber durchaus kein einheitliches Gebilde, muß hier von den
Forschern bewältigt werden. Verschiedenartigste Einflüsse, Aneignungen und das Wandern
der Tänze bilden eine recht komplizierte Struktur. Die gegenwärtig unternommenen Ar-
beiten sollen ein möglichst objektives Bild der polnischen Tanzfolklore wiederherstellen.
Es ist daher verständlich, daß man trotz der scheinbar gut bekannten „polnischen Tänze“
außerhalb des Landes in Wirklichkeit sehr wenig über ihre eigentlichen Merkmale weiß.
Außerdem existiert auf diesem Gebiet eine verhältnismäßig kleine Literatur, die überdies
dem Ausländer wegen der sprachlichen Schwierigkeiten meist unzugänglich ist.
Die Forschung
Betrachten wir die wenigen schriftlichen Quellen früherer Epochen, so finden wir im
polnischen Schrifttum eine Anzahl von Tanzbeschreibungen, wie auch Anmerkungen in der
schönen Literatur. Diese Nachweise sind jedoch häufig unvollständig, denn sie behandeln
oft nur ein Motiv, ohne auf dessen Einzelheiten näher einzugehen. Eine Rekonstruktion der
ursprünglichen Tanzform ist aufgrund solch vager Überlieferungen sehr erschwert, wenn
nicht gar unmöglich. Daher spielen bei dieser Forschung die alten Musikquellen eine be-
deutende Rolle, und unter den Neuentdeckungen der Musikwissenschaftler ist ihre Zahl
immer noch im Anwachsen. So enthält z. B. die Orgeltabulatur des Jan aus Lublin (1540)
36 polnische Tänze mit polnischen (nicht lateinischen) Titeln und teilweise unterlegten
Liedertexten.
Unter den Publikationen des romantischen 19. Jhs mit seinem aufblühenden Interesse
für das Volkstum gibt es einige, die unsere Tanzfolklore bereits objektiv und oft sogar wis-
senschaftlich betrachten. So z. B. ein Artikel des Dichters Kazimierz Brodzinski aus dem
Jahre 1828, 0 tancach polskich (Über die polnischen Tänze). Der Volkskundler Lukasz
Gol§biowski bringt in seiner Arbeit Lud Polski, jego zwyczaje, zabobony (Das polnische Volk,
sein Brauchtum und Aberglaube) aus dem Jahre 1830 und besonders in seiner Studie Gry
i zabawy röznych stanow (Spiele und festliches Treiben verschiedener Stände) von 1831
eine Reihe von Tanzschilderungen und beschreibt die Umstände, in denen sich die festlichen
Tanzbegebenheiten abspielten. Eine ganz außergewöhnliche Erscheinung ist das umfang-
reiche Werk des Volkstumsforschers Oskar Kolberg, Lud (Das Volk), aus den Jahren 1865
bis 1891, das nach seinem Tode weiter herausgegeben wurde. Hinzu kommen noch die Ma-
terialien, die gegenwärtig zur Publikation vorbereitet werden. „Lud“ enthält systematische
Beschreibungen über das Leben und Treiben des Landvolkes, vielfach vom Forscher allein
oder mit Hilfe seiner Informatoren aus allen Regionen des Landes gesammelt. Darunter
befinden sich eine Anzahl von Melodieaufzeichnungen und sehr getreuen, oft verblüffend
instruktiven Volkstanzvarianten und Tanzbräuchen. Dieses Werk, eine fundamentale
Publikation für alle volkskundlichen Arbeiten in Polen — besonders für die mit einem ver-
gleichenden Aspekt geführten — wurde in seiner Größe und seinem geographischen Um-
fange bis auf den heutigen Tag nicht übertroffen. Unter den Veröffentlichungen vor dem
Kriege (1939) sind einige für den Ausbau der polnischen Tanzwissenschaft von Bedeutung,
so z. B.: 1. Zofia Kwasnicowa, Zbiör Plqsöw (eine Sammlung von Reigen) 1937; 2. Roman
344
Roderyk Lange
Wlodziemierz Harasymczuk, Tance huculskie (Die Huzulentänze) 1939; 3. Kazimierz
Moszynski, Kultura Ludowa Slowian (Volkskultur der Slawen) 1939, enthält im zweiten
Teil (Die geistige Kultur) eine umfangreiche Studie, die einige slawische Tanztypen ver-
gleichend analysiert. Unter den zahlreichen Tanzpublikationen der Nachkriegszeit (1945)
wäre besonders die Arbeit von Wlodziemierz Kotonski, Goralski i zbojnicki (Der Goralen-
und Räubertanz) 1956, zu erwähnen.
Anläßlich der Internationalen Ausstellung des Volkstanzes in den Archives de la Danse in
Paris 1937 bereitete Prof. Dr. Cezaria Baudouin de Courtenay-J^drzejewicz (damalige
Leiterin des Lehrstuhls für Ethnologie an der Warschauer Universität) eine Ausstellung
polnischer Tänze und Trachten vor; ein Ereignis, das für die polnische Tanzwissenschaft
von grundlegender Bedeutung war. Die Schaukastenfigurinen zeigten charakteristische
Bewegungsmomente der polnischen Tanzfolklore. Sie wurden zusammen mit Prof. Zofia
Kwasnicowa und den aus dem Terrain geholten urwüchsigen Volkstänzern ausgearbeitet.
Beigefügte Kartogramme erklärten dem Beschauer die geographische Ausbreitung, und
Tafeln mit Tanzfiguren der typischsten Tänze — ergänzt durch Musikbeispiel und Kineto-
gramm (Bewegungsschrift Laban-Knust-System) — rundeten das Bild ab. Dies waren die
ersten Kinetogramme auf einer Weltausstellung. Ihr Autor, Prof. Stanislaw Glowacki,
vor 1939 Dozent für Tanzgeschichte in Warschau, beteiligte sich aktiv an der Entwicklung
des Laban-Knust-Systems. Sein an Tanzaufzeichnungen reiches Archiv ging während des
Krieges restlos verloren.
Die nach 1945 neu auf genommene Sammeltätigkeit im Bereiche der Musikfolklore er-
brachte große Kollektionen, welche vorwiegend im Staatlichen Institut für Kunst (Panst-
wowy Instytut Sztuki), in der Abteilung für Musikfolklore bei Prof. Jadwiga und Marian
Sobieski auf bewahrt werden. An diesem Institut befaßte man sich auch zeitweilig mit dem
Problem der Volkstanzforschung, ohne jedoch eine endgültige und befriedigende Lösung
zu finden. An dieser Stelle wären eine ganze Reihe von individuellen Autoren und Sammlern
zu nennen.
Erst 1954 wurde eine Organisation der Tanzfolkloreforschung auf ethnologischer Grund-
lage durch das Ethnographische Museum in Torun begründet. Die Tanzabteilung ging an
eine systematische Feldarbeit, größtenteils in den nördlichen Regionen des Landes. Zu diesem
Zweck erstellte man einen volkskundlichen Fragebogen und legte die Methode des For-
schungsverfahrens fest.1 Hier wurde die Kinetographie Laban erneut eingesetzt. Unter der
Direktion des Zentralhauses für Volkskunstschaffen in Warschau fand in den Jahren 1958
bis 1964 ein Lehrgang für Kinetographie statt, aus dem eine Gruppe gut vorbereiteter
Fachleute hervorgegangen ist, mit deren Hilfe in naher Zukunft eine Reihe von Samm-
lungen erscheinen werden, die über eine einheitliche Dokumentation des Materials verfügen.
Sie bilden den nächsten Abschnitt zum Quellenstudium polnischer Tanzfolklore.
Die strukturellen Merkmale der Tanzfolklore in Polen
Dem Rhythmus nach kann man die polnischen Volkstänze in drei grundsätzliche Gruppen
einteilen:
1. gleichpaariger Rhythmus (2/4) z. B. krakowiak
2. ungleichpaariger Rhythmus (3/4, 3/8) z. B. mazurek
3. wechselartiger Rhythmus (3/4—2/4), Beispiele dafür finden wir u. a. in Schlesien,
Kujavien und der Provinz Großpolen.
Aus den schon oben erwähnten geographischen Kartogrammen (Weltausstellung 1937)
geht eindeutig hervor, daß im Westen und Südwesten des Landes vorwiegend die ungleich-
paarigen Rhythmen vorherrschen. Für den östlichen und südlichen Teil ist der gleichpaarige
Rhythmus maßgebend. Diese Einteilung tritt in der Tanzpraxis deutlich zutage: Wollte man
den Tänzern der östlichen und südlichen Regionen versuchsweise einen Tanz im 3/4-
1 R. Lange, Taniec ludowy w pracach Muzeum Etnograficznego w Toruniu (Der Volks-
tanz in den Arbeiten des Ethnographischen Museums zu Torun), Torun i960.
Der Volkstanz in Polen
345
Rhythmus (z. B. oberek) übertragen, so würde dieser unfehlbar — trotz der Bemühung aller
Beteiligten — sofort in den für diese Gegend repräsentativen 2/4-Rhythmus übersetzt wer-
den. Dabei stehen im ganzen Lande die alten rituellen Gesänge, Brauchlieder usw. vor-
wiegend im 3/4-, 3/8- (seltener 6/8-) Rhythmus.
Die verschiedene rhythmische Abwandlung der Tänze wird durch dynamische Akzente
innerhalb der Takte (neben den regulären, die die einzelnen Takte ein teilen) hervorgerufen,
welche den scheinbar sehr ähnlichen Tänzen einen ganz unterschiedlichen Charakter ver-
leihen (man vergleiche z. B. den mazur: und den oberek: —^J). Dieses Phänomen ist
charakteristisch für die polnischen Tanzmelodien. Hinzu kommt noch als besonderes Merk-
mal die rhythmisch-agogische Erscheinung des „tempo rubato“. Die große Musikalität
des Landvolkes und seine Vorliebe für die Improvisation wird hier sichtbar, und oft begeg-
nen wir wahren Meisterstücken (z. B. den Formen der mazurka).
Dem Tanztempo nach unterscheiden wir folgende Gruppen:
1. die langsamen Tänze (z. B. chodzony, kujawiak)
2. die schnellen Tänze (z. B. mazurek, oberek, die Goralentänze)
3. Tänze mit wechselndem Tempo (z. B. trojak: im ersten Teil langsam (3/4), im zweiten
Teil schnell (2/4); auch die suiteartigen Tänze mit anwachsendem Tempo. Hier werden
verschiedene Tänze aneinandergereiht und immer in traditioneller Folge ausgeführt:
man beginnt z. B. mit dem langsamen chodzony (der Geschrittene), geht in den etwas
schnelleren kujawiak über, um in dem sehr schnellen oberek zu enden. In den einzel-
nen Regionen existieren von solchen Zusammenstellungen eine große Anzahl Varianten.
In Bezug auf die Form sieht die Gruppeneinteilung folgendermaßen aus:
1. Gemeinsame Tänze um einen gewählten Punkt, wie um das Feuer im Freien (Johannis-
nacht), um den Maibaum („gaik“), um die junge Braut usw. Sie sind von der einfachsten
und urwüchsigsten Struktur, der Kolo-Form.
2. Tänze von einer Person oder einem Paar angeführt
a) zu einem gewählten Punkt: das Führen des neuvermählten Paares zur Schlafkammer,
die Führung eines Paares in gemeinsamen Tänzen,
b) das Schreiten hinter einem Brauchsymbol: das prozessionsartige, mit Gesang ver-
bundene Gehen hinter dem Erntekranz, oder der chodzony. Er wird von dem ange-
sehensten Paar auf einem komplizierten „Bodenweg“ angeführt, sehr oft durch sämt-
liche Räume und um das ganze Gehöft herum.
3. Wirbeltänze, die von den Tanzpaaren um die gemeinsame Achse am Platz oder mit einem
„ Sich-verschieben“ innerhalb der Tanzfläche z. B. auf der Kreislinie ausgeführt werden.
Verschiedene Momente in der Bewegungsfaktur einzelner Tänze weichen in ihrer Zu-
sammenstellung erheblich voneinander ab. Da gibt es die Tendenz
a) Schritte zu verkleinern, verkürzen (z. B. mazur, oberek — besonders im Tanz der Frauen
zu sehen) oder sie fließen und schleifen zu lassen, ohne jedoch die Füße vom Boden
zu heben;
b) Schritte zu verlängern und sie mitunter den verkürzten anzureihen;
c) das Tempo der einzelnen Bewegungen innerhalb eines Tanzelementes verschieden zu
variieren (z. B. eine schnelle Bewegung mit einer langsamen zu kombinieren);
d) das Körpergewicht innerhalb eines Tanzelementes zu verlagern, was oft recht kompli-
ziert ist (z. B. Teilbelastung) und in einer eigentümlich rhythmischen Zeiteinteilung
verläuft. Diese Erscheinung hängt mit dem „tempo rubato“ zusammen und verleiht
den Tänzen ein besonderes Gepräge;
e) eine Fertigkeit zu erlangen, um die Schnelligkeit der Bewegung maximal zu steigern
(Sprünge und Kniebeugen, wie bei den Männern im oberek, mazurek, in den Goralen-
tänzen);
f) Requisiten zu verwenden (z. B. Tüchlein, Mütze, Peitsche, Wehr-Axt, Stock usw.),
die dem Tanz seinen besonderen Charakter geben.
346
Roderyk Lange
Bezeichnend für die polnische Tanzfolklore ist die geringe Anzahl von Männertänzen,
wie der „Räubertanz“ der Goralen. Der Anteil der Frauen übersteigt diese bei weitem, und
nicht selten ist der Mann verpflichtet, seiner Partnerin die größte Hochachtung zu erweisen.
Hier nähern wir uns bereits den pantomimischen Elementen, die besonders deutlich in den
Fastnachtstänzen und ihren Umzügen mit symbolischen Gestalten hervortreten. Auch in et-
lichen Kinderspielen mit altüberliefertem Inhalt sind sie zu finden. Das erschwert in hohem
Maße die Unterscheidung: ob Tanz oder dramatisiertes Brauchspiel.
Ein weiteres Symptom der polnischen Tanzfolklore ist die freie Gestaltung der Tänze.
Sie beruht auf Improvisation der einzelnen Tanzteile im Rahmen der auf einem bestimmten
Gebiet und in einem bestimmten Zeitabschnitt geltenden Bewegungsschemata. Damit ist die
große Anzahl der verschiedensten Varianten derselben Tänze zu erklären, die oftmals sogar
in den Grenzen eines Dorfes zu finden sind. Durch den Brauch „des Vorgehens“ zur Musik
(Kapelle) und „des Vorsingens“ der Tanzmelodie (sehr oft improvisiert) erhalten die Tänze
vieler Regionen ihre charakteristische Prägung. Nach dem Vorsingen müssen die Musikanten
die Melodie aufnehmen und weiterführen. Gelingt dies, so zahlt der Vortänzer dafür seine
Gabe. Ist der erste Geiger nicht imstande, die vorgetragene Melodie zu übernehmen, so
kann es passieren, daß alle Musikanten davongejagt und durch eine neue Kapelle ersetzt
werden. Diese Umstände kommen natürlich einer Improvisation sehr entgegen. Die Musik
gerät in manchen Gegenden geradezu in ein Abhängigkeitsverhältnis zum Tanz, denn der
Musiker hat sich dort dem angegebenen Tempo und sogar dem Rhythmus des improvi-
sierenden Tänzers anzupassen.
Es ist nicht leicht, sich von der großen Anzahl der Tänze und ihren Varianten ein genaues
Bild zu machen. Erschwerend kommt noch hinzu, daß einerseits die Varianten desselben
Tanzes den gleichen Namen führen können (sehr unterschiedlich in verschiedenen Gegenden),
und andererseits wieder derselbe Tanz viele Namen haben kann. Dafür bietet die volks-
tümliche Polonaise — der cliodzony — ein treffendes Beispiel, denn man kennt ihn auch als:
„do przodka“, „powolny“, „polski“, „wolny“, „pieszy“, „polonej“, „lazony“, „polizon“,
„obchodny“ usw. Der krakowiak bleibt unter der Bezeichnung „goniony“, „dreptany“
„przebiegany“, „scigany“, „mijany“, „szopieniak“, „wisliczak“, „skalmierzak“ usw. immer
der gleiche. Hier zu bestimmen, welche Tanzvariante die Ausgangsform für die vielen gleich-
wertigen Abwandlungen ist, wglche von ihnen eine ausgebaute oder gekürzte Form eines
anderen Tanzes bildet, ist keine einfache Aufgabe. Erst eine gegenwärtig durchgeführte,
das ganze Gebiet des Landes umfassende Tanzforschungsaktion könnte ein vergleichendes
Material Zusammentragen (besonders wichtig im Bereich der Bewegungsform). Das würde
uns zu einigen objektiven Schlüssen führen.
Über die Herkunft der Volkstänze in Polen wäre kurz zu sagen, daß:
a) ein Teil alter Abstammung ist, primitive Merkmale trägt, die dem slawischen Boden
eigen sind,
b) ein Teil Anleihen bei Tänzen der früheren Epochen aufweist (europäische Hoftänze),
c) ein dritter Teil entweder von den gehobenen sozialen Schichten (polnische Adelshöfe,
Städte) oder anderen Völkern stammt, also fremder Herkunft ist.
In den einzelnen Regionen bilden die einheimischen Tänze traditionelle Repertoire-
Komplexe mit einem oder einigen maßgebenden Repräsentanten an der Spitze. Sie beein-
flussen die übrigen Tänze ihrer Region in hohem Maße und zwingen ihnen nicht selten ihre
Merkmale auf. Im Resultat zeigen einige Tanztypen eine ganz bestimmte geographische
Ausbreitung und sind repräsentativ für den betreffenden Teil des Landes.
Das Zentrum Polens wird überwiegend von dem Typus der mazurka beherrscht, der die
Tänze kujawiak, der eigentliche mazurek und oberelt (alle in ungleichpaarigem Rhythmus
3/4, 3/8) angehören. Stehen im südlichen Polen hauptsächlich die krakowiak-Rhythmen im
Vordergund, so schichten sich im Südosten noch die kolomyj/ca-Rhythmen (ruthenische
Nachbarschaft) auf den krakowiak-Typus. Der gebirgige, südliche Teil des Landes weist in
den Tänzen spezifische Merkmale der Hirtenkultur auf, die sich weit bis nach dem Balkan
hinzieht. Der Westen des Landes, mit Schlesien (Süsk) und Großpolen (Wielkopolska),
besitzt ein eigenartiges Repertoire, in dem neben vielen neueren Anleihen sehr alte Formen
Der Volkstanz in Polen 347
Vorkommen (z. B. Kolo-Form in den wiwat-Tänzen). Dies sind jedoch typische Eigenschaften
einer jeden Kulturperipherie mit ihrem stark konservativen Gepräge. Der nördliche Teil
besitzt viele gemeinsame Merkmale mit den an der Ostsee wohnenden Völkern und
der Fischerkultur der Kaschuben und Slowinzen. Ähnlich besondere Züge gegenüber dem
mittleren Landesteil trägt das Repertoire von Masuren (Mazury) und Ermland (Warmia).
Hier wären noch viel feinere Gliederungen dieser alten, traditionellen Repertoires nachweis-
bar.
Gehen wir nun zu einer näheren Besprechung der Tänze über, die eine größere Rolle
in den einzelnen Regionen spielen oder sogar über das ganze Land verbreitet sind.
Notenbeispiel i
(12") 1 = 120
J (o) * —
f
Przyje-cha-li-smy tu ku rn-se - mu do- mu
wyjdzij — ze ma-tu—lu a-lbo ko-zcie ko
„krakowiak“, Dorf Zagörzany in der Nähe von Myslenice. Pozniak WL, Piesni ludu
krakowskiego (Lieder des Krakauer Volkes). PIS Krakow 1956, 77
348
Roderyk Lange
Für den 3/4- und 3/8-Rhythmus steht der mazur an erster Stelle, bei der ländlichen Be-
völkerung vorwiegend in seiner Form als mazurek bekannt. Dieser Tanz ist in drei grundsätz-
lichen Abwandlungen zu finden:
1. mazurek
2. kujawiak
3. oberek
Notenbeispiele 2
Parlando rubato (10") \ = 1Z
\—y
i r
f« i [ 17
A za — ro-biáj, ko—zio-be-cku , za — ro—biäj,
to jo te — ráz byn—de no-si-t wkie — siy—ni.
„mazurek“, Dorf Tum in der Nähe von L§czyca. Mioduchowska A., Bielawski L., Piesni
ludowe z sieradzkiego i l§czyckiego (Lieder aus Sieradz und L^czyca). Literatura Ludowa.
PTL Warszawa 1962, 39, Nr. 1 — 2
„mazurek“, DorfGombin. KolbergO., SeriaXXV. Mazowszell. Krakówi886, 241, Nr. 670
Notenbeispiel 4
W sieni ogarek matulu
J = 15Z wesoto
Der Volkstanz in Polen
349
„kujawiak“, Dorf Gluszyn, Kujavien. Brzozowska U., Piesni i tance kujawskie (Lieder und
Tänze aus Kujavien). PWM Krak6w 1950, 34
IV.
V.
Abb. 2. „kujawiak“. Links (IV) eine im Terrain aufgeschriebene Version. Rechts (V)
derselbe Tanz in seiner Version als „Nationaltanz“. (Kinetogramme R. Lange i960)
Diese unterscheiden sich im Tempo und Rhythmus voneinander. Der kujawiak ist der
langsamste unter ihnen, der oberek der schnellste. Alle drei, ursprünglich mit dem Vorgesang
aufgeführt, trugen vielerlei Namen.
350
Roderyk Lange
Notenbeispiel 5
Zrodzit sie ja na tobzo wie, ochrzcit ci'mnie ksiqdz wKrakowie, nasypab mi
wgebe so/i, i zdat cijiißk. Boskiej mli, i zdat ci mnie Boskiej wo/i.
„oberek“, Kolberg O., Seria VI. Krakowskie II. Krakow 1873, 358, Nr. 609
Abb. 3. „mazur“. Der Grundschritt.
(Kinetogramm I. Ostrowska 1963)
Ähnlich wie der „krakowiak“ wanderten „mazur“ und die übrigen Tänze dieser Gruppe
durch die Adels- und Fürstenhöfe, verbreiteten sich im Laufe der Zeit über das ganze Land
und büßten dabei weitgehend ihre ehemalige Form ein (besonders der „mazur“). Mitte
des 19. Jhs wurden sie in Europa bekannt und erfreuten sich bei den Ballettgruppen und auf
Bällen großer Beliebtheit.
Neben diesen beiden Tänzen, die annähernd im ganzen Land getanzt wurden, nimmt der
polonez eine besondere Stellung ein. Er steht im 3/4-Takt und besitzt viele regionale Ab-
wandlungen. Jede dieser Versionen ist verschieden in der Ausführung. Auch hier eine Viel-
falt von Namen: „polski“ (der Polnische), „wolny“ (der Langsame), „pieszy“ (der zu Fuß
Gegangene) und „chodzony“ (der Geschrittene).
Notenbeispiel 6
J=87(25")
Wpo-lu na uu-go-rze sko-wrö-ne-cek uo-rze
Der Volkstanz in Polen
351
pie-piö-re-cka gra — bi- ta py-ta-tasie Ka-sia
na-do-bny-go Ja-sia co dzis ban-dzie ro — bi — ta
„chodzony“, Podlasie. Sobieski M., Wybor polskich piesni ludowych (Auswahl polnischer
Volkslieder). PWM Krakow 1955, Bd. II, 39, Nr. 23
Abb. 4. „chodzony“. Der Grundschritt
(Kinetogramm Z. Starosielec 1963)
Der letzte Name (chodzony) steht oft als Synonym für die bäuerliche Polonaise. Während
der Hochzeitsbräuche getanzt, wurde er häufig nach den Aufführungsumständen benannt,
z. B. „dokola“ (um die Runde), „do przodka“ (nach vorne), „swieczkowy“ (mit den Kerzen),
„chmielowy“ (Hopfentanz) usw. Sehr bald übernahmen ihn die Adelshöfe, und schon
im 18. Jh. kannte man ihn in weiten Teilen Europas. Die Polonaise des Adels und der Salons
besitzt nur noch wenige Merkmale der ursprünglichen Form.
Jede Region besitzt eine Vielzahl von Tänzen, die nur lokale Ausbreitung fanden. Da
hat man z. B. in Podhale (der gebirgige Süden) den nur von Männern ausgeführten Räuber-
tanz zböjnicki mit den Merkmalen eines Waffentanzes, eine Seltenheit unter den polnischen
Tänzen. Aber auch das übrige Tanzgut dieser Region weist vielerlei Besonderheiten auf:
es entstammt der alten Hirtenkultur der Gebirgsbewohner, während das ganze übrige Land
dem landwirtschaftlichen Typus angehört. Ausgesprochen schlesisch sind: gqsior, diobelek,
nie chc$ ci$ znac, koziorajka, blogoslawiony, grozik usw.; für die Provinz Großpolen: wiwal
und przodek; in Kurpie (Nordost-Polen): powolniak, konik, stara baba; bei den Kaschuben:
owczarz, golqbek, mareszka, nenka und viele andere. Die Tänze des Westens haben im all-
gemeinen eine ziemlich festgelegte Form. In Mittelpolen und im Osten dagegen wird man
viel eher Improvisationen antreffen.
Soviel zur allgemeinen Information. Hier weitere Beispiele anzuführen, ginge über den
Rahmen dieses Beitrags hinaus. Die im Augenblick vorbereiteten Publikationen über polnische
Tanzfolklore werden mit Kinetogrammen versehen und auf diese Weise dem ausländischen
Leser weit eher zugänglich sein, als die bisher nur wörtlichen Beschreibungen. Eine syste-
352
Roderyk Lange
matische Tanzforschung fördert sicher noch völlig unbekannte Tänze ans Licht, die die
schon bestehenden Sammlungen vortrefflich ergänzen und bestätigen werden. Wenn man
einige Exkursionen ins Terrain unternimmt, kann man sich von der Fülle des immer noch
vorhandenen Tanzgutes überzeugen. Meistens kennen aber nur die alten Leute das über-
lieferte Repertoire.
Neben den schon besprochenen Vergnügungstänzen des alten Repertoires existieren die
mit einem Beruf oder Gewerbe verbundenen. Sie sind schon ihrem Namen nach zu erkennen,
und man trifft sie vielerorts an: kowal (der Schmied), kolodziej (der Stellmacher), szewc (der
Schuster), moitlarz (Besentanz), kominiarz (der Schornsteinfeger), owczarek (der Schäfer),
ogrodnik (der Gärtner), und die Tänze der Flößer, z. B. oryl, jesiotr. Sehr oft finden wir in
ihnen die dazugehörigen Arbeitsbewegungen, wie etwa das Schmieden des Eisens, das
Schustern, das Weiden der Schafe usw. Städtische Tänze drangen in die Dörfer ein: drabant,
kadryl, walc, marsz usw., wie auch die Tänze der Handwerker. Nicht ohne Einfluß auf diese
Erscheinung waren die mit Saisonarbeit und Militärdienst verbundenen Migrationen der
Bevölkerung.
Fremdes Tanzgut der benachbarten Völker kam nach Polen: im Nordwesten, Westen und
in der Mitte des Landes sind Importe aus Deutschland und Böhmen nachweisbar, besonders
der Walzer und die Polka mit ihren Abwandlungen. Eine wissenschaftliche Tanzforschung
könnte auch hier vieles klären. Bei Terrainarbeiten stellte man fest, daß diese fremden Tänze
eine gründliche Adaption seitens der Landbevölkerung erfahren haben, und daß sie oft kaum
mehr an ihre Urform erinnern. Davon zeugen u. a. neben den umgewandelten Tanz- und
Musikformen auch die neuen Namen der Tänze, wie lender, szorc, szoc usw. Sie müssen daher
unbedingt zum volkstümlichen Kulturgut Polens gezählt werden. Die östlichen Gegenden
weisen einige aus Rußland stammende Anleihen auf, wie den kozak und kolomyjka. Derartige
Einflüsse und Verwandtschaften gäbe es noch viele anzuführen, z. B. mit Ungarn oder den
Hirtenkulturen im Süden des Landes. Die fremden Tänze sind größtenteils neuerer Herkunft.
Ihre Rolle ist meist nur eine peripherische und gilt als Zugabe neben den älteren, mit dem
Brauchtum verbundenen Tänzen.
Außer diesen ausländischen Infiltraten, die oft als Reminiszenz epigonischer Modetänze
auf treten, sind in der polnischen Tanzfolklore auch etliche innere Einflüsse der ganz be-
sonderen und doch einheimischen Kultur des Adels nachzuweisen. Trotz der gesellschaft-
lichen Standesisolierung und der damit verbundenen zweispurigen Kulturentwicklung er-
folgte ein sichtbarer Austausch vieler Kulturgüter. Gerade dank der Kontakte des Adels
mit dem Landvolk entstanden die sog. Nationaltänze, die von den Tanzpraktikern den Volks-
tänzen oder regionalen Tänzen entgegengesetzt werden. Die Nationaltänze sind volkstüm-
lich-ländlicher Herkunft. Anfangs oft nur in einer Region des Landes beheimatet, kamen sie
durch den Landadel und die Fürsten bis an den königlichen Hof und wurden allmählich
von den verschiedensten sozialen Schichten getanzt. Zu diesen Tänzen zählt man den „po-
lonez“, „mazur“, „kujawiak“, „oberek“ und „krakowiak“. Eine wesentliche Rolle bei der
Entstehung dieser Tänze spielten die seit dem 18. Jh. vom Adel veranstalteten Feste, vor
allem der Karneval, die in der romantischen Epoche des 19. Jhs gern mit der Verkleidung in
Volkstrachten und Aufführung von „Volkstänzen“ verbunden waren. Dem Geschmack des
Adels angepaßt und von den Hoftanzmeistern oft umgewandelt, gelangten sie in das Ballett-
Repertoire der einzelnen Adels-Hoftheater und wurden später auf der Bühne der Warschauer
Oper aufgeführt. Der Kreis schloß sich wieder, als sie — so verwandelt — über die Städte
in die Dörfer zurückkehrten. Heutzutage spielt die Schule eine bedeutende Rolle als Ver-
mittler dieser National- und sog. Volkstänze, die aus bearbeiteten und den Zielen der Er-
ziehung angepaßten dörflichen Tänzen bestehen. Die weit nach Europa eingedrungenen pol-
nischen Tänze bilden ein besonderes Kapitel. Es ist durchaus möglich, daß sie im Ausland
noch in relativ ursprünglicher Gestalt bestehen, während sie in Polen selbst schon vergessen
sind.
Der Volkstanz in Polen
353
Die funktionellen Merkmale der Tanzfolklore in Polen
Das Ziel der meisten Tänze ist das Vergnügen. Das ganze Jahr hindurch gab es Möglich-
keiten zu tanzen, außer in den Fastenzeiten, zum Advent und Allerheiligenfest. Das Tanzen
war eine beliebte Unterhaltung während der langen Winterabende auf dem Lande. Zugleich
aber wurde den Tänzen in besonderen Fällen eine brauchtümliche Bedeutung verliehen,
oder man verwendete zu diesen Anlässen spezielle Gattungen. Im Leben des alten Dorfes
spielte der Tanz als Faktor des volkstümlichen Brauches eine hervorragende Rolle. Wir
teilen hier die Tänze in zwei Gruppen ein:
1. Brauchtänze mit einer gesellschaftlichen Funktion,
a) Tänze, die eine rechtliche Bedeutung auf weisen und einer formalen Zeremonie eben-
bürtig sind, wie das Tanzen während der Vermählung oder Beisetzung. Mit ihnen wur-
den die Vorgänge und Wandlungen im Leben des einzelnen oder einer ganzen Gruppe
zum Ausdruck gebracht.
b) Tänze, die bestimmten Ausführenden Vorbehalten sind (einzelnen Personen, Gruppen
oder Ständen) und dadurch die gesellschaftliche Gliederung der Gruppe betonen.
2. Brauchtänze mit einer magischen Funktion.
Sie wollen zur Hebung der Fruchtbarkeit beitragen oder sollen vor den Einflüssen böser
Mächte schützen.
Natürlich läßt es sich nicht immer ganz genau bestimmen, zu welcher Gruppe man einen
Brauchtanz zählen darf. Es kann Vorkommen, daß ein Tanz von magischer Bedeutung zu-
gleich auch alle Merkmale einer sozialen Funktion trägt. Unsere Einteilung ist eine sehr all-
gemeine, die das Bestehen einer Reihe von Übergangsformen nicht ausschließt.
So spielen z. B. die Brauchtänze bei den Hochzeitszeremonien eine sehr große Rolle. Die
Heirat hat neben dem rechtlichen Akt auch ihre soziale Bedeutung, denn die Neuvermählten
gehen in eine andere soziale Gruppe über (der Bursche wird selbständiger Bauer, das Mäd-
chen selbständige Bäuerin). Durch alle Hochzeitstänze, den zentralen Punkt der Bräuche,
zieht sich diese doppelte Bedeutung. Hinzu kommt, daß nur wenige von vornherein aus-
ersehene Personen die einzelnen Brauchtänze aufführen, während die Hochzeitszeremonie
zelebriert wird. Sie müssen ganz bestimmten sozialen Gruppen angehören. Doch damit
nicht genug: vielfach wohnt den hochzeitlichen Brauchtänzen auch noch eine magische Be-
deutung inne. Sie äußert sich häufig in der Anwendung von Fruchtbarkeitstänzen, die sonst
nur den Fastnachtszeremonien Vorbehalten sind. Dafür einige Beispiele aus den verschie-
denen Gegenden Polens: in Masowien geleitet der Brautführer die junge Frau, der man die
Llaube aufgesetzt hat, zu einem „polonez na konopie“ (Polonaise auf den Hanf). In manchen
Teilen Großpolens tanzt man mit der jungen Frau den Fastnachtstanz „do przodka“ (nach
vorne). Letzterer wird mitunter nur von den Frauen aufgeführt. Sie bilden, sich an den Hän-
den haltend, einen Kreis um die in der Mitte stehende junge Frau, lösen sich nacheinander
aus dem Rund und tanzen mit ihr einige Drehungen.
Die Fruchtbarkeitstänze wiederum weisen viele Merkmale der Hochzeitsbräuche auf.
Einige Beispiele besagen, daß ein Junge oder Mädchen erst dann an den Tanzveranstaltungen
des Jahres teilnehmen darf, wenn er oder sie auch die Fastnachtsbräuche miterlebt hat. In
anderen Gegenden hängt das von der Teilnahme am festlichen Tanzreigen des St. Georg-
tages ab. Erst danach zählt man sie zu den Erwachsenen und gestattet ihnen, den Ehebund
zu schließen.
Brauchtänze von sozialer Funktion kommen vorwiegend im Familienbrauchtum vor,
wie der dem Hochzeitsbrauch angehörende allgemein bekannte „maly taniec“ (kleiner
Tanz). In Masowien tanzt ihn der Brautführer mit der jungen Braut entweder nach dem Mit-
tagessen oder nach dem Haubeaufsetzen. Das gibt ihm die Gewißheit, „daß sie nicht hinkt
oder schief ist“. Danach wird sie von allen der Reihe nach aufgefordert und schließlich von
der älteren Brautjungfer oder dem Vater ihrem Bräutigam zugeführt. Vor dem Tanz mit
der Braut werden die Gaben für die Musikanten eingesammelt, und keiner darf sich aus-
schließen. Für die folgenden Tänze bezahlt niemand mehr.
12 Volkskunde
354
Roderyk Lange
In Podlasie kommt die junge Braut zu den einzelnen Gästen, verbeugt sich vor ihnen und
lädt sie zum Tanz ein. Anschließend wirft jeder eine Münze auf den Teller der Brautführerin.
Beteiligt sich ein Gast daran nicht, so verfeinden sich alle Anwesenden mit ihm. Das Volk
glaubt fest an die Glückskraft dieses Geldes und verwendet es, um lebendes Vieh für den
Haushalt des jungen Paares einzukaufen. In einer der Regionen Südpolens wickelt sich die
Mutter des Bräutigams, nachdem der jungen Braut die Haube aufgesetzt wurde, in ein Stück
Leinen, das Brauchgeschenk der Schwiegertochter, und tanzt so mit ihr einige rhythmische,
ruhige Bewegungen. Damit endet die Hochzeit und die mit ihr verbundenen Zeremonien.
Aus dem gleichen Podlasie erfahren wir auch, daß der erste Hochzeitstanz vom Brautführer
und der Brautmutter ausgeführt wird, erst danach fangen die Gäste an zu tanzen. Bei diesen
kurzen, einfachen Tänzen (mit besonderer Fassung) lösen sich die einzelnen Paare ab, dann
kommen die üblichen Tänze an die Reihe. In einer anderen Gegend derselben Region führen
die Eltern der Braut den ersten Tanz auf. Sie halten dabei ein in Leinen gewickeltes Brot.
Ein Teil des Hochzeitsbrauches wird „poldadziny“ genannt: die Führung des jungen
Paares zum Bettraum. In manchen Gegenden wurde dieser Gang in Form eines feierlichen
„chodzony“ (Geschrittenen) angetreten. Dafür stellten sich nur die verheirateten Männer
und Frauen paarweise auf.
Die Begräbnisfeier endet meist mit einem feierlichen Gelage, „stypa“ genannt. Die heute
selten dabei vorkommenden Tänze sind nur ein schwach erfaßbares Überbleibsel der früher
zu diesem Anlaß verrichteten Brauchtänze; sie sollen den Tod vertreiben, die bösen Geister
verjagen und die Lebenden von dem Schrecken erlösen.
Nicht alle Tänze sind allen sozialen Schichten zugänglich. Die Fruchtbarkeitstänze wäh-
rend der Fastnachtszeit werden oft nur von den Ehepaaren ausgeführt, andere wieder sind
nur den Alten Vorbehalten, während einige ausschließlich von Männern oder Mädchen ge-
tanzt werden, wie der alte Reigen um das Johannisfeuer, den wir nur noch aus der Über-
lieferung kennen. Es gibt Tänze mit Brauchtumsverrichtungen, an denen die ganze dörfliche
Gesellschaft ohne Unterschied von Alter, Geschlecht und Bedeutung teilnimmt. Als Bei-
spiel erwähnen wir die Erntefestfeiern und einige Hochzeitsabschnitte, bei denen sogar zu-
fällig ankommende Fremde in den Tanz mit einbezogen werden.
Brauchtänze von ausgesprochen magischer Bedeutung kommen hauptsächlich in dem
Brauchtum vor, das mit der Vegetation eng verbunden ist. Sie sollen die bösen Mächte von
der Wirtschaft vertreiben oder die Fruchtbarkeit steigern. Die bedeutendste Gruppe unter
ihnen sind die schon erwähnten Fruchtbarkeitstänze. Sie werden nach dem Prinzip: je höher
man springt, desto höher und besser gedeiht die Vegetation — verrichtet. So wurde aus
Masowien in der Nähe von Warschau ein Brauch überliefert, bei dem die Frauen unmittel-
bar nach dem Säen des Hanfes in die Höhe sprangen. Aus dem Norden Polens ist eine Nach-
richt notiert, derzufolge in der Fastnachtszeit eine schwerkranke Frau den Fruchtbarkeits-
tanz mit ihren letzten Kräften aufführen muß, da sonst das Getreide und der Flachs nicht
gedeihen. Auch hier gibt es eine große Anzahl von Varianten in den einzelnen Landesteilen.
So bilden die Frauen Mittelpolens am Aschermittwoch einen Kreis, fassen sich bei den Hän-
den und tanzen so einige Male herum. Zum Schluß springen sie über die aufgestellten Bänke.
In Nordpolen werden diese Tänze drei Tage und drei Nächte lang vor dem Aschermittwoch
getanzt. Dabei werden die nächtlichen Tänzer im Morgengrauen von ihren Nachfolgern
abgelöst — der Tanz darf nicht aufhören. Man hoffte, damit die Qualität des Leinens zu
steigern. Getanzt wurde auch für eine gute Ernte verschiedener Fruchtarten: z. B. in Schle-
sien für Pilze, Kohl und Kartoffeln; in Mittelpolen für das Gedeihen des Hafers; in der Ge-
gend von Krakau tanzen die Männer für den Weizen, die Frauen für das Gedeihen des
Hanfs und die Mädchen für das Jungfernkraut.
Auch die Brauchtänze des Erntefestes haben den Fruchtbarkeitssinn: das Tragen des
Erntekranzes und dessen Übergabe an den Wirt (Flerrn) verband sich oft mit einem kurzen
Kreisen mit der ersten Maid. Danach setzte die allgemeine Tanzlustbarkeit ein. In Groß-
polen dagegen tragen die Burschen die Erntekränze auf dem Kopf und tanzen so mit den
Mädchen. Anschließend geben sie ihre Kränze an die Mädchen ab, welche sie dem Wirt
(Herrn) überreichen. Unmittelbar danach muß die Wirtin einen Tanz mit dem Vorarbeiter
tun, da sonst das Getreide im nächsten Jahr nicht gedeiht. In verschiedenen Gegenden des
Der Volkstanz in Polen
355
Landes tanzt die Vorarbeiterin mit dem letzten Bündel (Podlasie) oder die Mädchen fertigen
aus Stroh große Männergestalten an, mit denen sie dann im Hofe herumspringen (Groß-
polen). Aus der letzten Region kennen wir den Tanz „wielki ojciec“ (der große Vater). Die
Burschen tanzen ihn während des Erntefestes mit hohen Sprüngen. In Nordpolen tanzt der
letzte Erntearbeiter zuerst mit einer Strohpuppe und danach mit der Wirtin.
Bei dem sogenannten „podkoziolek“ (unter den Bock) handelt es sich um einen sehr
krassen, mit Tanz verbundenen Fruchtbarkeitsbrauch. Man kennt ihn in ganz Westpolen.
Am Dienstag vor dem Aschermittwoch kommen die Burschen und Mädchen, oft nach langen
Umzügen durch das ganze Dorf, mit den Symbolen der Fruchtbarkeit (die Burschen als
Bock, Pferd, Bär, Storch usw. verkleidet) zu einem Tanzvergnügen zusammen. Das ganze
Jahr hindurch bezahlten die Burschen die Kapelle, an diesem Tage werden die Mädchen vor
die Musik geführt. Dort stellt man vorher die kleine Figur eines Bockes auf oder die aus einer
Kartoffel oder Kohlrübe geschnitzte Gestalt eines kleinen Mannes. Er heißt „nagusek“
(der Nackte). Hier wird vorgesungen. Es sind Lieder, die nur zu diesem einen Abend ge-
hören. Nach dem Vorsingen muß das Mädchen eine Münze auf den Teller vor den Bock
legen, und die Musik spielt noch eine Weile für das tanzende Paar. Dann kommen die näch-
sten an die Reihe. Dieses Spiel bedeutet eine symbolische Verehelichung der Mädchen, was
in den Texten der Lieder ungemein deutlich ausgesprochen wird.
In anderen Gegenden tanzt die Wirtin mit einem in Stroh verkleideten Mann, dem „Bären“
— der Hanf soll dann gut wachsen. Das geschieht meistens am Mittwoch.
Endlich muß man noch die Fischertänze von der Meeresküste erwähnen: vor dem Lachs-
fang umtanzen sie ihre Netze. Eine das Böse vertreibende Kraft besaßen früher die schon
erwähnten Mädchentänze um das Johannisfeuer. Die Tänzerinnen umbanden sich dafür
mit einem als magisch geltenden Kraut, dem Wermut. Auch die Reigen am St. Georgstag
hatten die gleiche Bedeutung.
Viele von den erhaltenen Kinderspielen scheinen Überbleibsel älterer Brauchtänze zu sein.
Sie wurden, schon längst in der Gesellschaft der Erwachsenen unbekannt, in der Ver-
gangenheit von den Kindern übernommen. Einige unter ihnen tragen mit Schreiten und
Laufen einen reigenartigen Charakter. Hier sei besonders das Spiel „baran“ (Schafbock)
erwähnt. Es ist ein Überbleibsel des „kolo“ — einer altslawischen Tanzform. Der Inhalt
des Spiels, der Text des dazu gesungenen Liedes könnten auf die alten, volkstümlichen Opfer-
bräuche hinweisen, die mit dem Peinigen der Opfertiere verbunden waren. Ein anderes
Spiel „jawor“ (Ahorn) oder „mosty“ (die Brücken) hängt mit den Frühlings- und Sommer-
bräuchen zusammen. Der Inhalt ist als Kampf der Naturgewalten zu verstehen (z. B. eine
Version, die mit dem Ringen zwischen Engel und Teufel endet). Die mit dem Brückenbau
verbundenen Teile des Spiels entstanden wohl später (übrigens weit verbreitet) und könnten
auf das Einmauern von lebenden Opfern in den Brückenköpfen zurückgehen. In einer ganzen
Reihe von Spielen sind alte Tanzformen wahrzunehmen, wie in den aufeinanderzuschreiten-
den und im Dialog singenden Reihen. Einige tragen Elemente alter Hochzeitsbräuche und
erzählen vom Erscheinen des Bräutigams mit seinem Gefolge und dem damit verbundenen
Brautkauf. Ein merkwürdiges, aus Kleinpolen stammendes Spiel ist „strzygon“ (Nacht-
gespenst) oder „topiec“ (der Ertrunkene): die Kinder rennen vor diesen imaginären Ge-
spenstern davon. Zu den wirklichen Tanzspielen gehört vor allem „przepiöreczka“ (Wachtel).
Dieses Spiel, das eine alte Form aufweist, wird noch heute, auch als Tanz der Erwachsenen,
bei Hochzeitsbräuchen verwendet. Die Tänzer singen dazu.
Die Tanzfolklore in der Gegenwart
Die oben geschilderte Situation der Tanzfolklore in Polen ist eigentlich heute schon nicht
mehr aktuell. Die umwälzenden Ereignisse nach dem ersten und besonders nach dem zweiten
Weltkrieg haben in kurzer Zeit die Lebensstruktur des polnischen Bauern völlig verändert.
Das Dorf nähert sich von Jahr zu Jahr immer mehr der Stadt. Die technische Ausstattung
der Wirtschaft, der offenbare Einfluß des Rundfunks, des Fernsehens und die unmittelbaren
Kontakte der heutigen Dorfjugend mit der Stadt (Schule, Kino, Theater) verdrängen lang-
sam die alten Sitten, Bräuche und Tänze. Das ist eine historische Tatsache, und wir können
12*
356
Roderyk Lange
daran nichts ändern. Unter diesen Umständen ist es klar, daß jedes Bestreben, die traditionelle
Tanzfolklore auf künstlichem Wege „am Leben“ zu erhalten, von vornherein scheitern muß.
Für die heutige Dorfjugend ist die alte Volkstracht oft nur noch ein Element des „Volks-
theaters“: sie wird zu feierlichen Umzügen und Festen gebraucht, ist aber nicht mehr ein
Bedürfnis des täglichen Lebens. Auch die alte Art zum Tanz zu musizieren ging der jüngsten
Generation fast ganz verloren.
Die Tanzfolklore, oft von regionalen Tanzgruppen aufgeführt, zeigt eine grundsätzliche
Änderung ihrer ursprünglichen Funktion. Diese Gruppen tanzen für den Zuschauer, und
dem Zuschauer zuliebe müssen die Tänze nach dem unvermeidlichen Gesetz der Bühne um-
gewandelt werden, da man doch ursprünglich vor allem nur für sich selber tanzte. Es ist
ein verhängnisvoller Irrtum zu glauben, die weitere „Entwicklung“ der Tanzfolklore auf
diesem Wege beobachten zu können. Es kommt selten vor, daß die spontane Schöpfungs-
kraft einer Region, von erhaltenen Einrichtungen und natürlichem Milieu unterstützt, bei
den gewaltigen Änderungen des heutigen Dorflebens noch eine Fortsetzung der traditio-
nellen Züge aufweist. Viel wahrscheinlicher erscheint es uns, daß die zeitgenössischen Mode-
tänze, die auf eine so spezifische Weise von der Dorfjugend übernommen werden, vielleicht
einmal die Tanzfolklore der Zukunft bilden.
Das Ziel der Tanzforschung ist es, das noch verbliebene Erbe der Vergangenheit vor dem
Untergang zu bewahren. Die Tanzfolklore gehört heute schon in den meisten Fällen der
Vergangenheit an und kann ruhig den „historischen Tänzen“ angereiht werden! Darum müssen
die Tanzpraktiker unbedingt ein unverfälschtes Material zur Bearbeitung in die Hand be-
kommen. Es braucht nicht eigens betont zu werden, wieviel hier eine Kenntnis der Tanz-
folklorestruktur bedeuten kann. Wieviele anachronistische Fehler würden vermieden, was
für ein Reichtum an Form und Inhalt steht hier dem Tänzer zur Verfügung!
Die moderne Tanzforschung will die Tanzfolklore auch weiterhin als eine Komponente
der Kultur betrachten, oft von hohem künstlerischem Wert, aber immer von wissenschaft-
licher Bedeutung als kulturhistorisches Material.
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Bericht über eine Aufführung des Singspiels
„Die Bergknappen“
Von Helmut Wilsdorf
Zur volkskundlich recht bedeutsamen Aufführung eines Singspiels der Mozartzeit bot
die 200-Jahr-Feier der Bergakademie Freiberg Anlaß. Die Bergknappen von Ignaz Umlauf
(1746 — 1796) erschienen zum ersten Mal seit vielen Jahren wieder auf der Bühne und über-
zeugten die gewiß nicht unkritischen Hörer, die aus vielen Ländern zusammengekommen
waren. Durch die geistvolle Interpretation von Generalmusikdirektor Rolf Reuter, der
1964 zum XVI. Berg- und Hüttenmännischen Tag eine musikalische Analyse1 des Stückes
geboten hatte, waren einige Zuschauer auf diesen Genuß vorbereitet. Der nunmehrige Er-
1 R. Reuter — E. Wächtler, Die künstlerische und historische Bedeutung des Singspiels
„Die Bergknappen“ von Ignaz Umlauf am Beginn der Geschichte der deutschen National-
oper. In: Freiberger Forschungsheft D 48 (Leipzig 1965) 9 — 33, 22 Notenbeispiele.
Als im Jahr zuvor die Entscheidung gefällt werden mußte, ob man diese Komposition
des Wiener Dirigenten zur „Festaufführung“ wählen sollte, hatte R. Reuter, unterstützt von
den Damen, die die Partie der Bergmannsbraut Sophie und die der Zigeunerin Delda über-
nahmen, die Qualitäten des Stückes einleuchtend herausgearbeitet.
358
Helmut Wilsdorf
folg der drei festlichen Aufführungen2 kam durchaus dem der Uraufführung am 18. Februar
1778 gleich, mit dem damals im Wiener Schauspielhaus das vom Kaiser Joseph II. geförderte
„Deutsche Nationalsingspiel“ eröffnet wurde. — Es ist der Musikalität3 des Freiberger Pro-
fessors für die Geschichte des Berg- und Hüttenwesens, Eberhard Wächtler, zu danken, daß
diese Bergmannsmusik nun wieder einmal erklungen ist. Dagegen sind in Westdeutschland
die Hinweise, die Walter Salmen vor 10 Jahren auf das ergiebige und auch volkskundlich
bemerkenswerte Stück in der Zs. Der Anschnitt4 gegeben hatte, ohne Nachhall geblieben.
In der musikalischen Aussage ist diese Komposition mit ihrer einschmeichelnden Melodik
seinerzeit ein begeistert5 aufgenommenes Novum nicht nur im Wiener Repertoire gewesen,
das mit seiner schlichten Instrumentierung der Volksmusik naheblieb, während die vier
Solopartien immer noch die gewohnte Brillanz der italienischen aria boten; an diese war
der Wiener nun einmal gewöhnt und mochte sie (im Sopran als Koloraturpartie) nicht missen.
Allein das tragende Element sind sie nicht mehr. Der auch im Musikalischen bedeutsame
Durchbruch der bergmännischen Thematik ist das Neuartige und Großartige6 dieser Ton-
schöpfung. Das Arbeitslied der Bergleute gibt dem Chor eine echte Funktion, die ihm er-
laubt, wirkungsvoller als sonst in reale Aktion zu treten. Das Chorlied betont die brüder-
2 Der Wunsch nach weiteren Aufführungen sollte nicht überhört werden. Gewiß konnte
bei nur drei Aufführungen für die Bühnenausstattung kein ungerechtfertigter Aufwand
getrieben werden, aber eine durchaus befriedigende Lösung ist gefunden worden, was aus-
drücklich anerkannt sei. — So stimmt der Erfolg in Freiberg 1965 mit dem der Urauffüh-
rung überein, von dem das „Wiener Diarium“ am 25. 2. 1778 meldete: „Wir genießen seit
einiger Zeit das Vergnügen, ein deutsches Singspiel, ,die Bergknappen' genannt, mit so
großem Beifall aufführen zu sehen, daß man nur mit äußerster Mühe Platz im Schauspiel-
haus bekommen kann.“
3 Bei der Freiberger Aufführung übernahm er neben Kunstpreisträger Siegfried Kurz
die musikalische Leitung.
4 W. Salmen, Der Bergmann in Singspiel und Oper seit 1778. Der Anschnitt 7 (1955)
Heft 4, 14—17, 1 Notenbeispiel und 4 Abb. nach den Kupferstichen der Szenenbilder. —
Die Freiberger Aufführung wählte im Gegensatz zu diesen Szenenkupfern wohl mit Recht
nur zur Bergarbeit das Bergmannskleid und beließ sonst dem Bergburschen Fritz und dem
„Bergverwalter“ Walcher das bürgerliche Zeitkostüm.
5 Dem „Theaterprogramm“ [= Reihe „Freiberger Bilder“ Heft 4, Hg. E. Neubert, Red.
E. Wächtler] zur Festaufführung ist auch der Warschauer Theaterzettel von 1779 beigefügt,
der die „Gornicy Opera — muzyka iest pana Umlauf“ in polnischer Fassung ankündigte.
Wie W. Herrmann (Geschichte der Schauspielkunst in Freiberg. Schriften zur Theater-
wissenschaft, hg. v. d. Theaterhochschule Leipzig Bd. II, 491—744, Berlin i960) fest-
gestellt hat, erfolgte die I. Freiberger Aufführung schon 1780 unter der Direktion von Franz
Xaver Gatto aus Dresden, der mit der Truppe von Anton Franz Werthen zusammenarbeitete.
Die Ankündigung der II. Freiberger Aufführung am 14. Januar 1785 durch Michael Cajetan
Schlager ist auf Blatt 8 der oben erwähnten „Freiberger Bilder“ abgebildet, allerdings ist die
Ortsangabe vergessen worden.
6 Wir wollen nicht die Mitbenutzer der bergmännischen Thematik im deutschen Musik-
schaffen aufzählen. Bis zu Carl Zeller (1895: „Der Obersteiger“ — der 1949 in Freiberg
noch immer gefiel und auch 1938 zur damaligen 750-Jahr-Feier Erfolg hatte) sind noch viele
auf Ignaz Umlauf gefolgt. Daß der Mecklenburger Freiherr Friedrich v. Flotow dem Bergbau
keine sehr überzeugende Musik (1872: „Das Bergmannsfest“) widmen konnte, wird ver-
ständlich erscheinen. Doch neben diesen namhaften Komponisten stehen dem Bergbau
unmittelbar verbundene Meister wie der Bergverwalterssohn Joseph Wolfram (1829: „Der
Bergmönch“) oder der sehr zu Unrecht vergessene J. H. Reinhold (1793: „Glückauf! oder
die unverhoffte Ausbeute“. Eine komische Oper, Schneeberg i. Erzgeb.). Wenn auch auf
weitere Namen leicht verzichtet werden kann, so darf doch die Volkskunde, und zumal die
Montanethnographie, nicht an der Breitenwirkung der Thematik vorübergehen.
liehe Gemeinschaft der Knappen und — in damaliger Sicht — die Bedeutung des bergmän-
nischen Standes im Staatsgefüge.
Die Sonne lacht wieder,
Zur Arbeit, ihr Brüder!
Mit tätiger Hand
Holt Gold aus den Minen!
Dem Staate zu dienen,
Welch rühmlicher Stand!
Wenn die Musik (Notenbeispiel i) dazu sich auffällig einem Tonsatz nähert, den 1821
Carl Maria von Weber im Freischütz7 benutzt hat, so mag bei beiden Komponisten ein Rück-
griff auf eine geläufige Marschmusik vorliegen.
Notenbeispiel 1
Ignaz Umlauf selbst wird relativ bergbaufern, wenn auch keineswegs bergbaufremd an
sein Thema herangegangen sein; von dem Verfasser des Librettos, P. K. Weidmann (?)
wissen wir gar nichts. Aber Umlauf traf das Bergmännische im volkstümlichen Lied im
Marsch, der den Weg zur Grube kürzt, in der explosiven Dramatik, als die „Naturkata-
strophe“ eines Grubenunglücks eintritt. Mit dieser ist für den dramatischen Ablauf — der
als solcher hier nicht interessiert - die Möglichkeit gegeben, die echte Humanität der unbe-
dingten Kameradschaft unter Bergleuten auch dann zu beweisen, wenn ein Glied der berg-
männischen Gefahrengemeinschaft von einem Unfall getroffen ist, das in anderen mensch-
lichen Bereichen soeben kläglich versagt hat und geradezu meineidig zu werden bereit ist'
Das „unbergmännische“ Verhalten hat der Librettist dem „Grubenvorstand“ zugemessen
— damit ist ein wirksamer Kontrast zu dem schlichten Bergburschen gegeben der sein
Leben ohne Zögern einsetzt, um mit den übrigen' Verschütteten auch seinen Widersacher
bei der Geliebten aus dem zusammengebrochenen8 Teil des Bergwerks zu retten
In einem gewiß erstaunlichen Ausmaß trägt im Stück der Glaube an den Berggeist und an
Unglücksvorbedeutungen zur Handlung bei. Man darf jedoch nicht verkennen daß diese
mit dem Rationalismus und der josephinischen „Aufklärung“ unvereinbaren’ Elemente
von der Musik sehr aufschlußreich ironisiert werden. Als sich der Grubenvorsteher nachts
7 In der Oper „Peter Schmohl“ hatte C. M. von Weber schon 1803 ganz bewußt berg-
männische Motive auf gegriffen, galt es doch, diesem heldenhaften Verteidiger seiner Vater-
stadt Freiberg gegen die Schweden ein bergmännisches Denkmal zu setzen. Denn Peter
Schmohl war als Bruder des Bergmeisters Paul Schmohl gerade der ,Kommandant* der
Bergleute, die zur Verteidigung der belagerten Stadt 1643 das Beste taten.
8 Der Verzicht auf die Verwendung der bergmännischen Terminologie und auf die Er-
fassung der gewiß sehr komplizierten Verhältnisse unter Tage mag ebensowohl durch Un-
kenntnis bedingt wie durch Rücksicht auf das Wiener Publikum veranlaßt sein.
360
Helmut Wilsdorf
einer als Sophie verkleideten Zigeunerin gegenübersieht, untermalt das der Komponist mit
einem großartig komischen Singsang: „Mein Herz fängt an zu zagen, die Furcht verzehret
mich“.
Notenbeispiel 2
Andante staccato
Dieser geht schnell in ein Gewinsel über: „Erbarmet Euch, Frau Teufelin.“
Der Bergbursche denkt sich gewiß nichts bei der „Träumerei“, ein Berggeist hole seinen
Widersacher, der sich seinem Liebesglück entgegenstellt. Um so tiefer ist der Grubenvor-
steher von der Ankündigung eines nahen Unglücks betroffen, und das macht ihn zu jedem
Versprechen bereit. Als dann dieser nur geträumte Unglücksfall eintritt, bekennt die Zigeu-
nerin Delda, die Grube „behext“ zu haben. Gewiß geschieht diese Mitteilung so beiläufig,
daß ein dem Rationalismus huldigendes Publikum daran keinen Anstoß nahm, zumal ja
dieses Grubenunglück kein Unheil bringt, sondern lediglich ein durchaus wirksames
Menetekel an die Wand malt. Immerhin behaftet es die — sonst sehr positiv ins Spiel tre-
tende — Zigeunerin mit dem üblichen Makel, den Volksvorstellungen nun einmal aus fremd-
artigen Verhaltensweisen der Zigeuner ableiteten. So weit sind aber doch Toleranz und Ach-
tung9 vor dem fremdländischen Wesen fortgeschritten, daß eben nicht der wegwerfende
Ausdruck „Zigeunerbande“ fällt, sondern nur neutral davon gesprochen wird, Delda habe
„ihre Gesellschaft“ verlassen.
Was aber dem wirklich lustigen Spiel und der geschickt mit dem Chor der Bergleute ver-
knüpften Handlung den ernsthaft bergmännischen Charakter gibt, das ist die auch volkskund-
lich bemerkenswerte Auffassung vom immer und überall den Bergmann verpflichtenden
Ethos im Bergmannsstand.
Daß der Bergmann in seinem Sonderdasein mit ausgezeichneter Wirkung „bühnenfähig“
war, entdeckte schon die Barockzeit — wie Friedrich Sieber gezeigt hat.10 Lange genug hat sie
mit einer theatralischen Bergmannswelt11 ihre höfischen Festaufzüge herausgeputzt, ohne
eigentlich jemals zu einer echten Repräsentation des Bergmannsstandes bei den „Durch-
lauchtigsten Zusammenkünften“ zu kommen. Weitaus bedeutender war es darum, daß der
Bergmann mit seiner wirklichen Arbeitswelt und mit den aus echten Situationen menschlich
gegebenen Konflikten Eingang in das bürgerliche Singspiel fand. Ja, die Volkskunde kann
9 Zweifellos mit Recht haben Reuter und Wächtler die „Anerkennung“ der Zigeunerin
in deren Schlußworten gesehen: „Jeder kann nach seinem Stande andern Menschen nütz-
lich sein“. Im Grunde ist ihr damit die „Verkündigung der Moral“ zugemessen, die als
Sentenz zu verkünden nun einmal Brauch der Zeit war. Vom Erfahrungsbereich der Volks-
kunde her ist diese Tendenz als ein echtes Bedürfnis des Publikums anzuerkennen.
10 F. Sieber, Volk und volkstümliche Motivik im Festwerk des Barock, dargestellt an
Dresdener Bildquellen. Berlin i960 (Veröff. d. Inst. f. dt. Vk. an der Dt. Akad. der Wiss. zu
Berlin 18).
11 Eine theatralische, komödiantische Ausnutzung der „Welt unter Tage“ finden wir
sogar schon in der Antike in der Komödie „Die Bergleute“ des Pherekrates. Vgl. H. Wils-
dorf, Bergleute und Hüttenmänner im Altertum bis zum Ausgang der Römischen Republik.
Berlin 1952 (Freiberger Forschungsheft D 1, 154).
Zur Beziehung zwischen Märchen und Sage
361
zur Kenntnis nehmen — was geradezu bezeichnend für die damalige Wertung des Berufs-
standes ist — daß die bergmännische Thematik sogleich das von Wien12 ausgehende bürger-
liche Singspiel einleitete und ihm Eingang nicht nur in Deutschland, sondern zugleich auch
in Polen verschaffte.
12 Das geschah zu einer Zeit, die wir zum Vorabend der Französischen Revolution zu
rechnen haben, während das ältere, von Hamburg und Leipzig ausgehende Singspiel von
diesen bewußt-bürgerlichen Zügen noch nicht erfaßt war.
Zur Beziehung zwischen Märchen und Sage*
Von Pertev Naili Boratav
Über die Definition des Märchens und der Sage sowie über die grundsätzlichen Züge,
die beide Gattungen unterscheiden, wurde schon viel gesagt und geschrieben.* 1 Ich will hier
diese Frage nicht erneut stellen und diskutieren. Meine Absicht ist es nur, einige charakteri-
stische Beispiele aus der türkischen Folklore aufzuzeigen, in denen sich sogenannte Uber-
gangstypen finden. Ich halte die türkische Folkloristik in dieser Hinsicht für interessant,
weil es in meinem Lande noch möglich ist, die Verwandlung einer der beiden Gattungen in
die andere am lebendigen Beispiel zu beobachten.
i. Beispiel: Sowohl im Märchen als auch in der Sage kann durch die Art und Weise
des Erzählens, den Stil, die Ausdrucksweise, die Stoffülle usw., durch das Verhalten des
Erzählers und seines Milieus die Gattung oder das Genre bestimmt werden.
a) Märchen (TTV 91, AaTh 898 IIIc, IV): Eine Frau ist kinderlos. Ein alter Mann gibt
ihr den Rat, eine Puppe herzustellen und eine Schwangere zu simulieren. Sie tut das auch.
Als die Zeit gekommen ist, simuliert sie die Geburt. Ihr Mann und alle anderen werden ge-
täuscht. Man hält die neugeborene „Tochter“ vor allen verborgen, weil sie sehr schön ist
und man den bösen Blick fürchtet. So „wächst sie heran“. Ein Königssohn hört von ihrer
„Schönheit“ und verliebt sich in sie. Die Hochzeit findet statt, und bei der Fahrt „der Braut“
zum Schloß des Königssohns wirft die Mutter die Puppe in den Fluß. Die Gäste des Hoch-
zeitszuges ziehen sie heraus: Die Peri haben sie beseelt; sie ist ein junges und schönes mensch-
liches Wesen geworden.2
* Abkürzungen:
AaTh = Antti Aarne und Stith Thompson, The Types of the Folktale. 3. Ausg. Helsinki
1961 (= FFC 184).
BP = J. Bolte und G. Polivka, Anmerkungen zu den Kinder- und Hausmärchen der
Brüder Grimm. 5 Bde. Leipzig 1913 —1931.
HBH = Halk Bilgisi Haberleri (Istanbul). Bde I—X, 1929 —1941.
Motif-Index = Stith Thompson, Motif-Index of Folk Litterature. 2. Ausg. 6 Bde. Kopen-
hagen 1955 —1958.
TTV = W. Eberhard und P. N. Boratav, Typen türkischer Volksmärchen. Wiesbaden
1953-
1 Vgl. unter den neuesten Untersuchungen: Max Lüthi, Das europäische Volksmärchen.
2. Aufl. Bern i960; ders., Volksmärchen und Volkssage. Zwei Grundformen erzählender
Dichtung. Bern und München 1961; Lutz Röhrich, Märchen und Wirklichkeit. 2. Aufl.
Wiesbaden 1964; K. V. Öistov, Zur Frage der Klassifikationsprinzipien der Prosa-Volks-
dichtung. Vortrag auf dem VII. Internationalen Kongreß der anthropologischen und ethno-
logischen Wissenschaften. Moskau 1964.
2 13 Versionen dieses Märchens wurden in TTV analysiert; 3 weitere, die in der letzten
Zeit aufgezeichnet wurden, sind dort noch nicht enthalten: Ankara 62,16 (nicht lokalisiert);
Ankara 62,27 (Bolu); Ankara 65,7 (nicht lokalisiert). Handschriftliche Texte der Sammlung
Boratav.
362
Pertev Naili Boratav
b) Sage (Die steinerne Puppe)3: Einer Frau, die keine Kinder bekommt, wird von ihrem
Mann angedroht, er werde sie verstoßen. Ein alter Mann rät ihr, eine „Puppe aus Stein“ an-
zufertigen und zu Gott zu flehen. Die Frau befolgt den Rat: sie legt die Puppe in eine Wiege
und singt ein Wiegenlied, in dem ihre inbrünstigen Gebete zum Ausdruck kommen. Die
Puppe wird lebendig (Version von Kastamonu).
Das gemeinsame Thema beider Erzählungen weist ohne Zweifel auf einen allgemein be-
kannten Ritus des Sympathiezaubers hin. Wir haben Belege dafür vom Altertum bis zur
Gegenwart. Durch das Symbol einer Puppe soll Fruchtbarkeit erlangt werden.4 Im gleichen
Sinne erscheint das Symbol in beiden Erzählungen als ein Relikt. Selbst in den kurzen Re-
sumes, die wir hier geben konnten, wird man die charakteristischen Züge der beiden Gat-
tungen, Sage und Märchen, mühelos wiedererkennen. Jede Erzählung ist gattungsmäßig
klar bestimmt.
2. Beispiel: In anderen Fällen stellt sich die Frage jedoch komplizierter dar, und man
stößt bei der Entscheidung für eine der beiden Gattungen häufig auf Schwierigkeiten.
Ein typisches Beispiel bildet in dieser Hinsicht das Märchen von den zwei Buckligen. Es
handelt sich um zwei bucklige Gesellen, die übernatürlichen Wesen begegnen (in manchen
westlichen Versionen Zwergen, in den übrigen anderen Wesen). Der erste bekommt, weil
er auf diese oder jene Weise die übernatürlichen Wesen zufriedengestellt hat, den Lohn, daß
sein Buckel verschwindet. Der zweite aber, der in negativer Weise handelt, wird mit einem
zweiten Buckel bestraft. (Vgl. Die Geschenke des kleinen Volkes, KHM 182; AaTh 503 ;
TTV 118; BP, III 824ff.). Ina-Maria Greverus hat dem Märchen eine besondere Studie ge-
widmet (Fabula I, 1958, 263 ff.): Sie beansprucht den Stoff für das Sagenrepertoire und ge-
langt zu dem Schluß, daß der Ursprungsort der Erzählung wahrscheinlich in den keltischen
Ländern zu suchen sei, weil 1. die Lokalisierung meist in diesen Gegenden vorgenommen
werde und 2. der schlechte Charakter des zweiten Gesellen, der einen weiteren Buckel er-
hält, ein Charakterzug, der die Erzählung in ein Märchen verwandelt, ein sekundäres Motiv
sei, das von Erzählern aus vom Ursprungsort entfernten Gebieten hinzugefügt wurde. In
der Türkei ist diese Erzählung jedoch als Sage und als Märchen bezeugt.5 Die im türkischen
Katalog analysierten drei Versionen sind von I.-M. Greverus nicht herangezogen worden.
Ich will und kann hier ihr Argument nicht zurückweisen, daß die uns vorliegenden türkischen
Versionen zahlenmäßig allzu gering sind, meine jedoch, daß G.’s Schlußfolgerung viel-
leicht auf Grund dieser neuen Sachlage zu revidieren wäre.
Jedenfalls besitzen wir mit dieser Erzählung ein Thema, das sowohl im Märchen als auch
in der Sage entwickelt ist.
3 5 gedruckte Versionen: Ali Vahid, Bolu’da çocuk bakirm (Die Kinderwartung in
Bolu). In: HBH II (1931) 85; M. Çakir Ülkütaçcr, Taçbebek efsanesi (Die Erzählung von
der steinernen Puppe). In: HBH VII (1938) 217.—219) (nicht lokalisiert); Enver Behnan
Çapolyo, Halk ninnileri (Wiegenlieder des Volkes). Istanbul 1938,100 —104 (nicht lokalisiert);
Nasih Güngör, Taçbebek efsanesi (Die Erzählung von der steinernen Puppe). In: Yeni
Görü? (Kastamonu), I (1939) Nr. 5; EçrefÔzen, Koç Mustafa efsanesi (Die Erzählung von
Koç Mustafa). In: Kaynak (Bahkesir) V, 324 — 325, Nr. 60; 2 hs. Versionen (Sammlung
Boratav): Version von Ankara, aufgezeichnet durch Neriman Uygur; Version von Bolu,
aufgezeichnet von Neclâ Çuhadaroglu.
4 Vgl. L. Becq de Fouquières, Les jeux des Anciens. Paris 1869 (1. Kap.); Charles Béart,
Recherches des éléments d’une sociologie des peuples africains à partir de leurs jeux. Paris
i960, 15 ff.; Max von Boehn, Puppen. München 1929; Edit Fél, Tamâs Hofer und Klara
Csilléty, L’art populaire en Hongrie. Budapest o. J. (Photo Nr. 208: eine von kinderlosen
jungen Frauen verfertigte Puppe); S. Eyüboglu, Anadolu’da halk hekimligi (Volksmedizin
in Anatolien). In: Tipta yenilikler, 1961, Nr. 6, 78.
5 Außer den in TTV 118 analysierten existieren noch 2 weitere Verisonen: 1 im Märchen-
stil (hs.) in letzter Zeit auf gezeichnet : Ankara, 64,52 (nicht lokalisiert); 1 als Legende,
lokalisiert in Istanbul: M. Halit Bayrt, Istanbul folkloru (Die Folklore von Istanbul).
Istanbul 1947, 176 h
Zur Beziehung zwischen Märchen und Sage
363
3. Beispiel: Hier möchte ich die türkische Erzählung von der Erbschaft des Katers zi-
tieren. Der türkische Katalog (= TTV 44) analysiert sieben Versionen, später wurde noch
eine weitere aufgezeichnet.6 Die Erzählung ist mit AaTh 113 A verwandt. (Vgl. auch Motif-
Index B 342, F. 405.7). Die folgende Version stammt aus Mudurnu (Nordwestanatolien):
Eine alte einsame Frau, die nur noch ihren Kater (Osman) hat, liegt krank darnieder. Eines
Abends klopft es an die Tür. Der Kater geht, die Tür zu öffnen. Die alte Frau hört überrascht
und ängstlich das Gespräch ihres Katers mit den Besuchern, anderen Katzen, die Osman zu
einem Fest laden. Als er mit der Entschuldigung ablehnt, er habe sich um sein krankes Frau-
chen zu kümmern, schlagen die Besucher vor, auch die gute Frau mitzunehmen; und das
geschieht dann auch. Das Fest im großen Hamam der kleinen Stadt dauert die ganze Nacht
hindurch. Am Morgen, beim ersten Hahnenschrei, verschwinden die Katzen, von denen der
Erzähler sagt, daß sie „in kleine Wesen von menschlicher Gestalt mit vertikalen Augen-
lidern“ verwandelt worden seien, und in ihrer Eile lassen sie die Alte, die in ihrem Bett
schläft, im Hamam zurück. Als die Frau wieder nach Hause gebracht wird, schilt sie Osman,
der daraufhin verschwindet. Nach einiger Zeit klopft es eines Abends bei der Alten an die
Tür; sie öffnet, und ehe sie die Besucher noch erkennen kann, übergeben diese ein großes
Paket und sagen, es sei das Erbe des Katers Osman, der gestorben sei. Das Paket enthält
Goldstücke.
Die Analyse der 10 Versionen dieser Erzählung ergibt verschiedene erwähnenswerte
Fakten :
a) Mehrere Varianten identifizieren den Kater, den Haupthelden des Geschehens, und
seine Gefährten als „Cin“ (Dschinns) oder Peri, übernatürliche Wesen des orientalischen
Sagenrepertoires.7 Diese Geister nun werden im Volksglauben von verschiedenen Tieren
verkörpert, sehr häufig von Katzen. Ein anderer gemeinsamer Zug der Cin mit den Katzen
unserer Erzählung besteht darin, daß sie oft während der Nacht den Hamam besuchen. —
Die Zwiebel- und Knoblauchschalen, die in Silber- oder Goldstücke verwandelt werden —
sie tauchen in mehreren Versionen auf —, werden auch hier von den Cin einer Person als
Belohnung gegeben, die ihnen sympathisch ist.
b) Alle Versionen haben ein sehr vereinfachtes narratives Schema: Die Erzählung ist
nüchtern — wie es Sagen eigen ist. Das kommt auch in der oben resümierten Variante zum
Ausdruck. Dennoch bringen Länge und Stil diesen Text in die Nähe des Zaubermärchens,
was bei dieser Version ohne Zweifel auf die Besonderheit des Erzählers zurückgeht, seine
Erzählungen breit auszuschmücken.
c) Andere Varianten,8 die von dem oben gegebenen Resumé abweichen, weisen Züge auf,
die dem Märchen eigen sind. Es handelt sich jedoch durchweg um unbeständige Momente.
6 Aufgezeichnet in Musurnu (Hs. Sammlung Boratav); 2 gedruckte Versionen (in
Legendenform), in TTV nicht verzeichnet: Meläht Sabri, Cinler (Die Cins). In: HBH III
(1933) 145f. (in Istanbul lokalisiert); 2 bereits in TTV analysierte Versionen (Nr. 44):
O. R. Denizcioglu, Kedilere dair iki hikäye (Zwei Märchen über Katzen). In: HBH, VIII
(1939), l(H und 165 f. sind in M. Halit Bayn’s Buch Istanbul folkloru (Die Folklore von Istan-
bul), 178 f u. 179 h abgedruckt.
7 2 Versionen aus Instanbul (HBH III, 145 f.), 1 Version aus Çorum 1,4 identifizieren den
Kater und seine Gefährten mit den Cins. In der Version Bayburt 1,9 handelt es sich um eine
Katze die als „übernatürliches Wesen“ charakterisiert ist. 2 weitere Versionen aus Istanbul
(HBH VIII, 164L, 165 f.), 1 ausGönen 1,16, x aus Bayburt 1,9 und 1 aus Ankara 5 3,4 identifi-
zieren sie mit den Peri. Die Version aus Mudurnu gibt ihnen kein spezifisches Epitheton. —
Hinsichtlich der Cins (und der Peri, soweit man sie mit den Cins verwechselt) in der türkischen
Tradition vgl. meinen Artikel in der Encyclopédie de Plslam (2. Auf!.), Stichwort „Djinn“.
8 Z. B. die Versionen in HBH VIII, 165 (Istanbul) und aus Gönen 1,16, wo der Ehemann
im Scherz seine Frau bei seiner Abreise dem Kater anvertraut; sie tragen den Geist des
Zaubermärchens. — Die Versionen aus Bayburt 1,9, aus Gönen 1,16 und aus Ankara 53,4
besitzen Dialoge zwischen der Frau und dem Kater, die typischerweise dem Märchen eigen
364
Pertev Naili Boratav
d) In ihrem ethnischen Gehalt entspricht die Erzählung der Sage. In einer Variante* 9
handelt es sich um eine sehr arme Witwe; sie ist betrübt, weil sie keine Nahrung für ihre
Katze finden kann; sie entschuldigt sich deshalb und bittet die Katze mit sanften Worten
wegzugehen. Diese mitleidige Empfindsamkeit zeigt sich mehr oder weniger betont bei
allen Personen der Erzählung, und zwar sowohl bei den Menschen als auch bei den Geistern
in Tiergestalt.
e) In einer anderen Version10 11 handelt es sich um eine kinderlose Familie. Der Mann be-
gibt sich auf eine Pilgerreise, um Nachkommen zu erflehen. Im Scherz hat er seine Frau dem
Hauskater anvertraut. Die Frau ist dreimal Zeugin einer wunderbaren Begebenheit geworden.
Der Mann kommt zurück. Sie bekommen ein Kind... Nun fürchtet sich der Mann vor einem
möglichen Unglück, das dem Kind durch den ungewöhnlichen Kater zustoßen könnte.
Er spricht darüber auch zu seinem Kater, doch in sehr taktvoller Weise. Der Kater beruhigt
seinen Herrn ,,im Traum“, aber er sagt ihm auch: „Ihr habt ein Kind, und ihr könntet
mich seinetwegen einmal mißhandeln, und das könnte euch schaden. Ich gehe lieber.“ Der
Kater, der übernatürliche Taten vollbringt, spricht also mit seinem Herrn im Traum. Wir
beobachten in dieser Variante eine Abscbwächung der Wunder. Dieser rationalistische Zug,
der ohne Zweifel vom Erzähler eingebracht wurde, zieht Inkonsequenzen nach sich. Die
Veränderung vollzieht sich nicht im Sinne eines Übergangs von einer Gattung in die andere,
sondern im Sinne einer Veränderung der ursprünglichen Fassung.
Die Analyse wird für alle Versionen dieselben Resultate zeitigen, und trotz stärkerer
Bemühungen einiger Erzähler sind Struktur und Thema der Erzählung in den uns vorlie-
genden Versionen nicht so tiefgreifend abgewandelt worden, wie in der Erzählung von den
beiden Buckligen. Hier können wir uns mit größerer Sicherheit für die Sage entscheiden.
In den uns bekannten Versionen ist die Erzählung indessen nicht eine Sage im vollen
Sinne des Wortes: Nur in einer einzigen Variante11 erscheinen die Heldin und die anderen
menschlichen Wesen als reale Personen, die wirklich gelebt haben. Und das Ereignis, das
in mehreren Varianten nur vage lokalisiert wird, ist weder zeitlich bestimmt (mit Ausnahme
der Version C^orum x, 4) noch durch einen sozialen Kontext charakterisiert. Wir haben es
mit jenen hybriden Erzähltypen zu tun, die gewöhnlich als „Märchen mit sagenähnlichem
Charakter“ bezeichnet werden.
4. Beispiel: Im Jahre 1951 habe ich im gleichen Ort (Mudurnu) eine andere Feststellung
getroffen, die es uns erlaubt, von der engen Verbindung eines Märchens mit einer sagen-
ähnlichen Erzählung zu sprechen. Es ist die Geschichte eines reichen aber geizigen Mannes,
der eines Tages ganz plötzlich verschwenderisch wird. Als man ihn nach dem Grund fragt,
erzählt er die Geschichte eines anderen Geizhalses.12 Es handelt sich um eine Erzählung, die
aus einer Kontamination mehrerer Märchenmotive besteht: TTV66, Mot. 7+57III, Mot. 3,
Var. d + 80, Mot. 2; Vgl. AaTh 738*: Der Held, ein reicher Bauer, der die in eine Schlange
verwandelte Prinzessin der Cin im Kampf mit einer anderen Schlange, dem Sohn des Schlan-
genkönigs, erlöst hat, erhält vom Vater der Prinzessin auf deren Rat hin die Erlaubnis, über
sein eigenes Geld zu verfügen. Bis zu diesem Moment war sein Reichtum „im Besitz der Cin
gewesen“, und deshalb war er so geizig; nun aber hat er sich davon gelöst. — Der erste
Geizhals, ein Mann, der in meinem Aufzeichnungsort wohl bekannt gewesen ist und der
sind. Die Versionen von Bayburt 1,9, von Qorum 1,4 und von Ankara 53,4 benutzen stereo-
type Einleitungsformeln der Märchen (tekerleme).
9 Version aus HBH VIII, 164!.
10 Version aus HBH VIII, 165 f.
11 Version aus £orum 1,4: Die Erzählerin dieser Version hält sich an den Bericht ihrer
Großmutter, der er („vor 25 Jahren“, sagte die Erzählerin 1945) von jener Witwe gegeben
worden sei, dem Frauchen des „Wunderkaters“. Diese Frau habe auch davon gesprochen,
wie sie sich des Erbes des Katers, „einer Kamelladung Goldstücke“, bedient habe.
12 In TTV 80 V ist eine in Ankara lokalisierte Version des „freigebig gewordenen
Geizhalses“ analysiert (Ankara 45,14), aus einem von mir in Mudurnu aufgezeichneten Be-
richt in Motif-Index als F 342,4 aufgenommen.
Tradierung im Werk des mecklenburgischen Zimmermannes
365
kurz vor 1951 gestorben war, pflegte zu seinen Freunden zu sagen: „Dieselbe Geschichte
ist mir passiert. Deshalb habe ich auch aufgehört, so geizig zu sein.“ Es handelt sich um eine
recht vage Angabe, die man als Erklärung für seinen Geiz nehmen muß, den er dem Ein-
wirken böser Geister zuschrieb. Mein Gewährsmann interpretierte die Sache allerdings
anders. Er war der Meinung, daß das in der Erzählung beschriebene Ereignis von den
Schlangen, der Prinzessin und den Cin dem erst erwähnten Geizhals, also dem Manne, der
die Geschichte über eine der Fähigkeiten der Cin erzählt hatte, auch wirklich zugestoßen sei.
Das ist ein weiteres Beispiel für einen anderen Typ der Benutzung von Märchenmotiven,
mit denen der Erzähler eine Erzählung ausstattet, und zwar im Rahmen verschiedener Requi-
siten, die der Sage eigen sind.
Diese wenigen Beispiele, die dem Erzählmaterial der Volksdichtung meines Landes ent-
nommen wurden, können vielleicht die Aufmerksamkeit des Forschers auf einen der zahl-
reichen Aspekte lenken, die dem komplizierten Problem der Beziehungen zwischen zwei
Gattungen, des Märchens und der Sage, eigen sind.
Tradierung im Werk des mecklenburgischen Zimmermannes*
Von Karl Baumgarten
Das Werk des mecklenburgischen Zimmermannes — hier wird darunter insbesondere
das Ständerwerk und das Dachwerk des Hallenhauses verstanden — ist im gegenwärtigen
Bestand in zwei Überlieferungsschichten faßbar. Von diesen reichte die ältere Schicht bis ins
16. Jahrhundert. Von ihr sind zwar bis heute nur wenige Rudimente bewahrt, doch ge-
nügen diese, zumindest das Vorhandensein eines älteren Stratums zu erweisen.
Anders die jüngere Schicht — sie ist vom ausgehenden 16. Jahrhundert ab bis ins aus-
gehende 19. Jahrhundert, d. h. also über einen Zeitraum von rund 300 Jahren, recht gut
zu verfolgen. Auf den ersten Blick erscheint diese Schicht von großer Unterschiedlichkeit —
zeitlich wie räumlich ist ihr Phänobild variiert. Nur einige der differierenden Elemente
seien hier genannt. Dazu zählen im Ständerwerk unterschiedlich große Balkenüberstände,
variable Fachweiten, Zwei- und Mehrreihigkeit, Kopfband oder Strebe als Winkelhölzer,
Riegel oder Holm im Längsverband, Blatt, Zapfen und Kamm als Verbindung, oder im
Dachwerk Schwertlatten, stehende und liegende Stühle sowie einseitige Sparrenverriege-
lung. Im einzelnen handelte es sich dabei um mitgeschleppte Elemente aus dem älteren Stra-
tum, um autochthone Weiterentwicklungen oder auch um auf Migration zurückgehende
Innovationen.
Was aber berechtigt, bei solch variablem Erscheinungsbild von einheitlicher Uberliefe-
rungsschicht zu sprechen? Eine genaue Analyse aller vorliegenden Formen läßt erkennen,
daß ihnen, trotz vielfältiger Unterschiede, eine ganz bestimmte Konstruktionsform eigen
ist, die unverändert über einen Zeitraum von 300 Jahren hinweg tradiert wurde. Dieses im
Werk des mecklenburgischen Zimmermannes vom 16. —19. Jahrhundert Konstante bezeich-
net die Hausforschung als Dachbalkenzimmerung. Darunter wird ein Gefüge verstanden, bei
dem die Sparren des Daches auf den Querbindern des Ständerwerks fußen, d. h. bei dem
jeweils zwei Sparren und der dazugehörige Balken miteinander ein unverrückbares Dreieck
bilden. Da nun gleichzeitig in diesem Stratum des mecklenburgischen Zimmermannswerkes
die Ständer eines Joches an das Sparren-Balken-Dreieck gebunden sind, entstehen jeweils
fest miteinander verknüpfte Gebindescheiben. Mit anderen Worten: das Charakteristikum
der jüngeren Uberlieferungsschicht ist neben der Variabilität des Phänobildes der konstante
Gebäudeaufbau in Gebindescheiben.
* Diskussionsbeitrag im Kolloquium des Instituts f. deutsche Volkskunde, Berlin, am
17. 3. 1966. — Weitere Beiträge zum Thema des Kolloquiums (Der Vorgang des Tradierens)
in DJbfVk 13 (1967).
366
Karl Baumgarten
Mit der Konstruktionsform wurden zugleich bestimmte Arbeitstechniken und Erfahrungen
tradiert. Verständlicherweise sind diese heute im allgemeinen nur noch schwer greifbar, doch
lassen sie sich zumindest in zwei Fällen, und zwar einmal bei der Ablösung des älteren Stra-
tums, das zweite Mal kurz vor dem Abbruch der jüngeren Tradierungsschicht, fassen. Dabei
handelt es sich das erste Mal vor allem um den Erwerb der für das jüngere Bauen notwen-
digen Technik. Auch für den Nordwesten Mecklenburgs war bis ins 16. Jahrhundert hinein
die ältere Überlieferungsschicht kennzeichnend, die allgemein durch das Fußen der Sparren
auf den Längsbindern des Ständerwerks charakterisiert war. Dabei besaß der Nordwesten
eine besondere Ausbildung, die wir als Ober- oder Überrähm-Zimmerung bezeichnen.
Typisch hierfür ist das jochweise Aufrichten des Ständerwerks, d. h. das gleichzeitige Auf-
stellen von jeweils nur zwei Ständern. Demgegenüber erforderte der jüngere Verband, die
jetzt aufkommende Dachbalkenzimmerung, die gleichzeitige Bewältigung einer ganzen Stän-
derreihe, mit anderen Worten: das gleichzeitige Aufstellen bis zu neun Ständern. Natürlich
fehlte dem Zimmermann für diese neue Aufgabe die notwendige Arbeitstechnik — ohne diese
aber war deren Meisterung nicht nur schwierig, sondern auch gefährlich. Bauten dieser Zeit
zeigen, wie mühevoll der Weg hin zur neuen Arbeitstechnik war — sie wurde in Etappen
gewonnen. Der Zimmermann unterteilte zunächst das Ständerwerk in Sektionen und er-
richtete es sodann in Abschnitten. Erst im 17. Jahrhundert hatte er auch hier gelernt, die
Ständerreihe als Ganzes zu errichten. Ständerjoch — Gerüstsektion —Ständerreihe bezeich-
nen im nordwestlichen Mecklenburg somit den Weg, der zum Erwerb einer der neuen
Konstruktionsform entsprechenden Arbeitstechnik geführt hatte.
Das zweite Mal, um die Mitte des 19. Jahrhunderts, ist vor allem die tradierte Erfahrung
zu fassen — sie wird greifbar in der Abwehr gegenüber einem fremden Gefügetypus. Ein
mecklenburgischer Zimmermann war beauftragt worden, eine Gutsscheune entsprechend
der in Ostfriesland üblichen Verzimmerung zu errichten. Hier nun sah er sich unvermittelt
einer Konstruktionsform gegenüber, für die er keinerlei Erfahrung besaß und für die ihm
überdies die erforderliche Arbeitstechnik fehlte — das Gulfgerüst kennt bei jochweise aufzu-
richtenden, bis zu 10 m langen Ständern eine Aufreihung von Gebindescheiben nicht. Be-
zeichnend für die dem mecklenburgischen Zimmermann in dieser Hinsicht fehlende Er-
fahrung war daher sein Ausspruch: „Das Ding kann ja nicht stehen!“ Und so weigerte er
sich, verbarg aber sein Nichtwissen hinter der Behauptung, dergleichen Gebäude könnten
in Friesland nur stehen, weil es dort nicht so windig sei — für Mecklenburg seien sie unge-
eignet. Nun wurde zwar die Scheune trotzdem gebaut, sie blieb aber, obwohl bei ihrer Er-
richtung beträchtliche Mengen Holz gespart wurden, in Mecklenburg Unikat, und das vor
allem auch deshalb, weil selbst die staatliche Baubehörde dergleichen Gefüge ablehnte. Auch
die domaniale Verwaltung plädierte in ihren Reglementierungen seit dem 18. Jahrhundert
immer wieder für die tradierte Konstruktionsform, denn auch für sie war der Wert eines
gezimmerten Werkes letzten Endes nur an der Erfahrung meßbar. Selbst Projektierungen der
beamteten Landbaumeister enthalten bis ins 19. Jahrhundert hinein keinerlei statische Nach-
weise. Und so scheinen ganz besonders Arbeitstechnik und Erfahrung für die über einen
Zeitraum von 300 Jahren faßbare Tradierung im Werk des mecklenburgischen Zimmer-
mannes von Bedeutung gewesen zu sein.
Trotzdem erfolgte nachweislich zweimal ein Abbruch in der Tradierung. Die Gründe für
den Abbruch im 16. Jahrhundert sind im einzelnen nicht bekannt — sie müssen aber von
besonderem Gewicht gewesen sein, erfolgte doch mit der Ablösung des älteren Stratums
gleichzeitig der Bruch mit der diese Tradierung tragenden Erfahrung und Technik. Die
Zusammenhänge beim Abbruch im ausgehenden 19. Jahrhundert sind demgegenüber offen-
kundiger. Hinter diesem Prozeß steht vor allem die Ablösung der Erfahrung durch die Be-
rechnung, die Ersetzung des traditionellen Wissens durch den Rechenschieber. Dieser
Umschwung in eine neue Qualität fand weithin auch im Baugewerbe bezeichnenden Nieder-
schlag : an die Stelle des der Tradierung verhafteten Zimmermannes trat von nun ab mehr und
mehr als Projektierender der auf Baugewerkschulen ausgebildete Baumeister. Dabei war
fraglos diese Ablösung bereits vom Baumaterial her vorbereitet — der Massivbau hatte den
Zimmermann auf das Dachwerk beschränkt, aber auch dieses wurde vom ausgehenden
19. Jahrhundert ab nicht mehr der Überlieferung entsprechend vom Zimmermann entworfen,
Stand der Arbeiten am Ungarischen Volkskundeatlas
367
sondern vom Architekten berechnet. Und so entstehen jetzt die bis in die Mitte des 20. Jahr-
hunderts üblichen, von den Baugewerkschulen und Fachzeitschriften propagierten Misch-
formen des Pfette-Sparren-Daches.
Zusammengefaßt ergibt sich somit in bezug auf die Tradierung folgendes: Im Werk des
mecklenburgischen Zimmermannes lassen sich am gegenwärtigen Bestand noch zwei ein-
ander ablösende Überlieferungsschichten ablesen. Charakteristisch für das jüngere, über
,00 Jahre faßbare Stratum sind Variabilität des Phänobildes sowie die Konstanz der tra-
dierten Konstruktionsform. Dabei scheinen weitgehend Arbeitstechnik und Erfahrung für
die jahrhundertelange Tradierung tragend gewesen zu sein, erfolgte doch mit der Ablösung
der Erfahrung durch die Berechnung der Bruch mit dieser jüngeren Uberlieferungsschicht.
Stand der Arbeiten am Ungarischen Volkskundeatlas
Von Jenö Barabäs
Als Ergebnis sechsjähriger Sammeltätigkeit wurde jetzt die zweite Phase der Arbeiten
am Ungarischen Volkskundeatlas abgeschlossen.
Der erste Abschnitt umfaßte die Vorarbeiten und die Zusammenstellung der Fragebogen.
Als Ergebnis erschienen 1958 vier Hefte mit 200 Fragebogen-Themen, die für jeden For-
schungspunkt 10000 Daten verlangen. Dem Fragebogen folgte 1959 ein Wegweiser für das
Sammeln mit prinzipiellen und praktischen Anweisungen für die Feldforschung, der die
zu beachtenden Gesichtspunkte — von der Auswahl der Gewährsleute bis zur Einschätzung
der Glaubwürdigkeit der Aussagen — umfaßt. Die Herausgeber waren sich dabei im klaren,
daß die Kenntnis des Alters einer Erscheinung und ihrer bestimmenden sozialen und funk-
tionalen Faktoren zur richtigen Bewertung der Daten ebenso nötig sind wie die Feststel-
lung der formalen Merkmale und Termini. Die Klärung dieser Umstände und Merkmale
ist oft schwierig, doch kann man darauf nicht verzichten, ohne die Zeitbezogenheit der
Erscheinungen aufzugeben. Schon im Laufe des Sammelns mußten die typischen von den
untypischen und sporadischen Fakten geschieden werden, da beide für die Wissenschaft
von vollkommen abweichender Bedeutung sein können. Ebenso ist die genaue Zeitbestim-
mung der einzelnen Varianten von entscheidendem Belang. Nur eine derartig sorgfältige
örtliche Analyse und Klärung der Hauptmerkmale der einzelnen Erscheinungen vermag das
Material für die Erkenntnis der sozialen und kulturellen Entwicklungsgesetze zu liefern,
deren Erforschung eine der Hauptaufgaben solcher Atlasunternehmen bildet.
In Anbetracht der Kompliziertheit der Sammelarbeit beschloß die Redaktion, diese Auf-
gabe Fachleuten — und nicht Laien — anzuvertrauen. Die Einbeziehung von Laien in die
Sammlung ist nur unter der Voraussetzung möglich, daß bereits ein aus entsprechend aus-
gebildeten Mitgliedern bestehendes Sammelnetz vorhanden ist. Die überwiegende Mehr-
zahl der jetzigen Mitarbeiter rekrutiert sich aus Volkskundlern der Museen und aus Studenten,
die schon eine gewisse fachliche Ausbildung besitzen. Im ganzen nehmen etwa hundert
Personen an der Arbeit teil; davon konzentrieren sich die meisten nur auf je einen Sammel-
punkt, während der überwiegende Teil der Forschung von einem aus 15—20 Wissenschaft-
lern bestehenden Kern vorgenommen wird.
Die geringe Übung in Unternehmen ähnlichen Charakters, die hohe Zahl der Mitarbeiter-
gruppen und der Anspruch auf exakte Quellentreue machten eine von der Redaktion vorzu-
nehmende sorgfältige Analyse des eingesandten Materials notwendig. Je nach Bedarf wurden
die aufgetauchten Fragen vor und nach der Sammlung mit den Mitarbeitern besprochen.
Die zweite Durchsicht des Materials erfolgte nach Abgabe der Sammelhefte. Die Redaktion
ließ durch Hinzuziehung von Spezialisten alle Daten eingehend prüfen und nahm Mängel,
Ungenauigkeiten sowie problematische Daten in ein Verzeichnis auf. Dieses Verzeichnis wurde
zusammen mit dem eingereichten Material (einschließlich Bildern) dem Sammler zurück-
gegeben und von diesem entweder an Hand des Sammelheftes, meistens aber durch neue
368
Jeno Bar abäs
Feldforschung ergänzt. Die dritte Durchsicht wird nach der ersten kartographischen Dar-
stellung des Materials vorgenommen, wobei man mit dem Auftreten weiterer problema-
tischer Einzelheiten rechnen kann, die wiederum an Ort und Stelle überprüft werden müssen.
Obgleich diese Kontrollen die Gesamtarbeit sehr erweitern, sind sie doch für die exakte
wissenschaftliche Forschung unerläßlich. Dieser Grundsatz hat besondere Gültigkeit bei
den Atlanten, wo die statistische Anhäufung von Daten schon an und für sich eine immer
erneute Kontrolle erfordert. Wahrscheinlich wird man im Laufe der Atlasbearbeitung zur
stichprobenartigen Überprüfung an mehrere Forschungspunkte zurückkehren müssen.
Die Redaktion des Ungarischen Volkskundeatlas stellte sich das Ziel, eine regionale Über-
sicht möglichst über die gesamte ungarische Volkskultur zu geben. Natürlich kann dieses
Prinzip nur mit gewissen Einschränkungen verwirklicht werden. So mußten das Material
über die Sammelwirtschaft, die Fischerei, die Jagd, das Hausgewerbe wegen seiner örtlichen
Gebundenheit, und die Themen der Volksdichtung, der Musik, des Tanzes wegen ihrer spe-
zifischen Sammel- und Bearbeitungsweisen unberücksichtigt bleiben; ihre kartographische
Darstellung kann in einem allgemeinen Nationalatlas nicht gelöst werden. Die weitere Selek-
tion bezog sich auf die Möglichkeit der Kartierung des Materials bzw. auf die zu erwartenden
Ergebnisse. Wir können nun von den unter den genannten Gesichtspunkten ausgewählten
Fragebogen feststellen, daß in bezug auf Ackerbau, Volksbauweise, Lastenbeförderung, Nah-
rungswesen, Hanf Verarbeitung und Volksglauben ein ziemlich vollständiges, in bezug auf
Viehhaltung, Tracht, Gesellschaft, Siedlung und Brauchtum hingegen ein mehr oder weniger
skizzenhaftes Bild zu erwarten ist. Ein weiterer Gesichtspunkt der Selektion ist die Dar-
stellung des jeweiligen Grades der Berührung mit den Nachbarvölkern und die Erhellung
der inneren kulturellen Gliederung des ungarischen Bauerntums.
All diese Überlegungen waren maßgebend bei der Festlegung des Forschungsnetzes.
Die Redaktion strebte nach einer Verteilung der zentralen Punkte, bei der jede regionale
kulturelle Einheit wenigstens durch 1—2 Forschungspunkte vertreten ist. Dort, wo eine
größere kulturelle Differenzierung vorhanden zu sein schien, wurden die Punkte verdichtet,
anderswo hingegen ließ man das Netz weitmaschiger. Man achtete jedoch darauf, daß die
Punkte nicht über 20 — 30 km voneinander entfernt liegen. Auf diese Weise entstanden für
Ungarn 250 Forschungspunkte.
Das Unternehmen erstreckt sich zwar ausschließlich auf das ungarische Volkstum, be-
schränkt sich aber nicht allein auf das Gebiet innerhalb der ungarischen Landesgrenze. Auch
unter der ungarisch sprechenden Bevölkerung der Tschechoslowakei, in Rumänien und Ju-
goslawien wurden Sammelarbeiten vorgenommen. Wenn in diesen Gebieten die Zahl und
die Verteilung der Forschungspunkte auch nicht allein nach den gegebenen Richtlinien
bestimmt werden können, so wird doch hierdurch aus nahezu xoo weiteren Orten einiges
Vergleichsmaterial zur Verfügung stehen.
Der Anfang 1966 begonnenen Bearbeitung liegt nunmehr ein im allgemeinen zweimal
überprüftes Material von ungefähr 300 ungarischen und ausländischen Forschungspunkten
zugrunde. Das noch zu erwartende Material wird den Gang der Bearbeitung nur noch wenig
beeinflussen. Die Bearbeitungsbogen und die Formulare der Arbeitskarten sind fertig-
gestellt ; für den dritten Abschnitt des Atlasunternehmens, die Ausführung der Karten, sind
3 Jahre vorgesehen. Ende 1968 wird diese Arbeit abgeschlossen sein, und in den folgenden
Jahren soll die Veröffentlichung vorgenommen werden. Nach den Erfahrungen anderer
Atlanten wird auch der Ungarische Volkskundeatlas voraussichtlich in mehreren Lieferungen
erscheinen.
Über die prinzipiellen Fragen im einzelnen und über den Gesamtplan des Ungarischen Volks-
kundeatlas wurde in der Zeitschrift Ethnographia, Budapest 1957, 609 — 626, ein eingehender
Bericht veröffentlicht.
BESPRECHUNGEN
Wolfgang Jacobeit, Bäuerliche Arbeit und Wirtschaft. Ein Beitrag zur Wissenschafts-
geschichte der deutschen Volkskunde. Berlin, Akademie-Verlag, 1965. 261 S. (= Veröff.
d. Inst. f. dt. Volkskunde der Deutschen Akad. der Wiss. zu Berlin 39).
Die bisherigen Beiträge zur Geschichte unserer Wissenschaft, auch die neuesten, beschrän-
ken sich in der Regel darauf, die Entwicklung der Hauptrichtungen der zumeist mit der
Germanistik eng verbundenen akademischen Volkskunde mehr oder weniger kritisch ab-
zuhandeln. Obwohl bekannt ist, daß diese Entwicklung nach Karl Weinhold bedenklich
einseitig verlaufen ist, unternimmt es doch keine der vorliegenden Darstellungen der Wissen-
schaftsgeschichte, die Ursachen der Vernachlässigung ganzer Bereiche der Volkskultur zu
klären oder gar die Frage zu beantworten, was von den Nachbardisziplinen her für diese
Bereiche getan worden ist. Zu diesen vernachlässigten Gebieten gehört vor allem die Arbeit.
Es erscheint uns heute schlechterdings unvorstellbar, irgendeine Erscheinung des Volks-
lebens und der Volkskultur gültig einschätzen zu wollen ohne die gründliche Kenntnis des
arbeitenden Menschen. Doch erst in den letzten zehn Jahren ist im Bereich der deutschen
Volkskunde die Erforschung der Arbeitsweise, der Arbeitsbedingungen und des Arbeits-
gerätes nachdrücklich gefördert worden im Unterschied zu einigen Nachbarländern, in
denen seit Jahrzehnten die damit zusammenhängenden Probleme weit stärker in den Vorder-
grund volkskundlicher Betätigung gestellt worden sind. Es darf daher als bedeutsamer
Fortschritt gewertet werden, wenn in der hier anzuzeigenden Arbeit untersucht wird, welche
positive bzw. negative Rolle bäuerliche Arbeit und Wirtschaft bisher in der Volkskunde,
aber auch in verwandten Disziplinen gespielt haben.
Im ersten Kapitel behandelt J. die Bemühungen um die materielle Seite der Volkskultur
von den Brüdern Grimm bis zum Gesamtverein der deutschen Geschichts- und Altertums-
vereine und stellt zunächst das Wirken der Brüder Grimm und ihres Freundeskreises selbst
dar, wobei überzeugend an Hand wenig beachteter Quellen nachgewiesen wird, daß es
den Brüdern Grimm um die Erforschung der Volkskultur in ihrer Gesamtheit ging. Noch
weit weniger bekannt ist in der bisherigen Historiographie unserer Wissenschaft das Werk
des Freiherrn von und zu Aufseß. Auch die Bedeutung der deutschen Geschichts- und Alter-
tumsvereine für unsere Wissenschaft wurde bisher kaum beachtet. Die landschaftlichen Zeit-
schriften dieser Vereine bieten ein bisher nahezu unerschlossenes und unausgeschöpftes
reiches Quellenmaterial für die Volkskunde. Besonders würdigt J. in diesem Zusammenhang
die Verdienste von Georg Landau.
Im zweiten Kapitel analysiert der Verf. die für uns wichtigen Bemühungen in den Nach-
bardisziplinen, so in der Altertumskunde, der Landesgeschichte und Landeskunde, der
Sprachforschung, der Völkerkunde und der Agrargeschichte. Hier werden vor allem die
Verdienste von Otto Lauffer, Georg Steinhausen, Karl Lamprecht, August Meitzen, Karl
Rhamm, Rudolf Meringer und Moriz Heyne besonders unterstrichen.
Im folgenden Abschnitt beschäftigt sich J. mit der Periode um Karl Weinhold, die durch
eine positive Einstellung zur Erforschung von Arbeit und Wirtschaft gekennzeichnet ist. Der
Verf. würdigt hier insbesondere das Wirken von Karl Weinhold und seines Kreises, die Ent-
wicklung der ersten volkskundlichen Museen, die Volkskunstforschung, die Bauernhaus-
forschung und hebt auch die Verdienste von W. H. Riehl für dieses Gebiet hervor.
13 Volkskunde
370
Besprechungen
Dann setzt sich J. in einer erfreulich kritischen und temperamentvollen Darstellung mit
der Entwicklung nach Weinhold auseinander und analysiert ihre Grundtendenzen am Bei-
spiel der Entwicklung der volkskundlichen Sektion des Gesamtvereins, an der Herausbil-
dung der psychologistischen Forschungsrichtung und an der Diskussion um die Konzeption
des Atlas der deutschen Volkskunde. Als besonders wertvoll erscheint mir das Bemühen,
auch die politischen und philosophischen Hintergründe dieser Entwicklung aufzuhellen. Eine
knappe Darstellung des oben schon angedeuteten Aufschwungs nach 1945 in beiden deut-
schen Staaten ergänzt die historischen Untersuchungen. Eine beigegebene Zeittafel stellt
die chronologischen Zusammenhänge her.
Die Arbeit will als erster Aufriß der Problematik gewertet werden; sie enthält eine Fülle
von bisher kaum beachteten Fakten, und der umfängliche wissenschaftliche Apparat bringt
weiteres reiches Material zu Einzelfragen mit vielen weiterführenden Hinweisen. Der Rez.
entgeht nur mit Mühe der Versuchung, Grundaspekte, aber auch Einzelfragen heraus-
zugreifen und zu diskutieren. Doch ist dafür an dieser Stelle kein Platz, vielmehr wird es die
künftige Aufgabe der Forschung sein, den hier gegebenen Aufriß durch vertiefende Einzel-
studien auszubauen und abzurunden. Der aufmerksame Leser wird dafür aus Text und
wissenschaftlichem Apparat eine Unzahl von Anregungen empfangen. Alles in allem:
Die verdienstvolle Untersuchung führt die Diskussion um den Gegenstand unserer Wissen-
schaft einen großen Schritt voran und bildet einen unübersehbaren Eckpfeiler für eine neu
zu schreibende Geschichte der volkskundlichen Forschung.
Paul Nedo, Berlin
Jürgen Teller, Marx und Engels über die Volkskunst. Studienmaterial für das Fernstudium.
Hg. von der Hochschule der Deutschen Gewerkschaften, Bernau, und dem Inst. f.
Volkskunstforschung beim Zentralhaus für Kulturarbeit. Leipzig 1964. 146 S.
Es ist das Verdienst T.s, aus den Schriften und Briefen der beiden sozialistischen Klas-
siker nicht nur die wenigen zusammenhängenden, sondern vor allem auch die vielen gelegent-
lichen Bemerkungen zur traditionellen Volkskunst herausgezogen und in eine systematische
Ordnung gebracht zu haben. Über den unmittelbaren Zweck hinaus, den Volkskunstschaf-
fenden und Kulturfunktionären in ihrer Arbeit als theoretischer und methodischer Leit-
faden zu dienen, enthält die durch Sachkenntnis und Gründlichkeit ausgezeichnete Studie
auch interessante Anregungen für den Volkskundler.
Die Darstellung beginnt mit einer Skizze der vormarxistischen Auffassungen über die
Volkskunst (u. a. von Diderot, Rousseau, Herder, Hegel, Belinski, Dobroljubow, Tscherny-
schweski), behandelt dann die Anwendung der Prinzipien des historisch-dialektischen Mate-
rialismus auf die Theorie des künstlerischen Volksschaffens bei Marx und Engels und
mündet schließlich in eine umfassende Untersuchung und Würdigung der von den zwei Den-
kern mit Bezug auf die Volkskunst auf gestellten ästhetischen Kriterien.
Ausgangspunkt dieses Hauptabschnitts ist die von Marx und Engels nachgewiesene so-
zialgeschichtliche Tatsache, daß das Volk in den antagonistischen Gesellschaftsformationen
die historisch veränderliche Einheit der von der jeweils herrschenden Oberschicht unter-
drückten und ausgebeuteten werktätigen Klassen repräsentiert, die die materiellen Güter
produzieren. Mit dem Arbeitsprozeß ist nach Marx und Engels folgerichtig auch das
künstlerische Schaffen des Volkes verbunden. Innerhalb der ihnen durch die soziale und
politische Abhängigkeit sowie die lokale Beschränktheit gezogenen Grenzen verstanden die
Bauern und Handwerker die durch sie hergestellten Dinge des Bedarfs, wie Marx formuliert,
„nach den Gesetzen der Schönheit“ zu gestalten. Daß die Werktätigen trotz der bestehenden,
einer harmonischen Ausbildung des ganzen Menschen abträglichen Arbeitsteilung immerhin
in der Feudalära noch künstlerische Fähigkeiten zu entwickeln vermochten, haben Marx und
Engels mit der partiellen Freiheit in den damaligen Produktionsverhältnissen, mit der vielsei-
tigen Beherrschung der (im eigenen Besitz befindlichen) Werkzeuge und der dadurch er-
möglichten — wenn auch bescheidenen — Persönlichkeitsentfaltung des einzelnen Indivi-
duums erklärt.
Besprechungen
371
Es ist übrigens ersichtlich, daß die Schüler und Fortsetzer Hegels die Volkskunst zu-
gleich unter positivem und negativem Aspekt, nämlich dialektisch auffaßten. Widersprüch-
lich ist die Verflechtung der Volkskunst mit der manuellen Tätigkeit auch deshalb, weil ihr dies e
Übereinstimmung mit dem Ursprung aller Kunst in vorgeschichtlicher Zeit einerseits die
Priorität vor der nichtwerktätigen „Berufskunst“ sichert (die sich als Hauptkomponente
der Kunstentwicklung in der antagonistischen Klassengesellschaft herausgebildet hat), sie
andererseits aber im Gegensatz zu deren Emanzipation von der unmittelbaren täglichen
Unterhaltsbeschaffung fest an die Lebensbedürfnisse kettet. Aus solcher Einengung und
dem gleichzeitigen Aufbegehren gegen sie ergibt sich weiter das von Marx und Engels
erkannte Nebeneinander konservativ-anachronistischer und demokratisch-revolutionärer
Vorstellungen in den volkskünstlerischen Schöpfungen. Daß sich nichtsdestoweniger gerade
diese innere Zwiespältigkeit oft recht fruchtbar in der Volkskunst ausgewirkt hat, wird von
T. treffend illustriert: „Wieviele Volksmärchen etwa zeigen, ohne uns im mindesten über
ihre Herkunft aus der feudalen Ständeideologie und aus dem festen Glauben an Gott und
den Teufel zu täuschen, eine freie Behandlung der mythischen und religiösen Stoffe, wie sie
den Herren und Pfaffen gewiß nicht gemäß war! Der ärmste Knecht, der getretenste Hand-
werksbursche erringt hier mit Tapferkeit und List die Prinzessin (die Leibeigenschaft ist
kein Hindernis dafür), er schlägt sich mit Gespenstern (die seine Umwelt durchaus für real
hält), und er übertölpelt sogar den Teufel (der als die schrecklichste Vergeltungsmacht nach
dem Tode erschien). Hier stecken, wiewohl in phantastischer Form, die demokratischen,
rebellischen und manchmal sogar schon revolutionären Elemente, die nach Lenin das
Wesen der ,zweiten Kultur1 ausmachen“ (71 f.). Daher eignet schließlich vielen Zeugnissen
der Volkskunst, wie T. es ausdrückt, ein moralischer „Uberschuß“, der „das Abbild frü-
herer zu einem Vorbild künftiger Zustände“ werden läßt (82), eine Qualität, die Engels
z. B. von den alten deutschen Volksbüchern forderte, um so dem einfachen Menschen des
19. Jhs „sein sittliches Gefühl klarzumachen, ihm seine Kraft, sein Recht, seine Freiheit
zum Bewußtsein zu bringen, seinen Mut, seine Vaterlandsliebe zu wecken“.
Bei der Analyse der sozialen Position des Proletariats und seines Verhältnisses zur Volks-
kunst hat sich die dialektische Methode wiederum als heuristisches Prinzip bewährt. Be-
kanntlich haben Marx und Engels das Proletariat als diejenige der unterdrückten und aus-
gebeuteten Klassen charakterisiert, der im kapitalistischen System nicht einmal mehr die
Benutzung eigener Produktionsmittel gestattet ist und die daher auch keinen schöpfe-
rischen Kontakt mit der von ihr geleisteten Arbeit besitzt. Demzufolge gibt es nicht nur.
keine proletarische Volkskunst (von Arbeitervolksliedern wie dem Weberlied, dem Leuna-
lied, von Erzählungen u. a. abgesehen); vielmehr hat die perfekte kapitalistische Unter-
jochung dem Proletariat überhaupt jede Möglichkeit zur Ausbildung kultureller Interessen
abgeschnitten, solange es sich seiner historischen Mission nicht bewußt geworden ist. Um so
mehr ergibt sich aber für das Proletariat die Notwendigkeit zur Rezeption der traditionellen
Volkskunst mit den ihr innewohnenden revolutionär-demokratischen Tendenzen und den
daraus entspringenden Impulsen. Mithin ist gerade das Proletariat „der legitime Erbe der
alten Volkskultur“ (90). Zu ihr muß ihm der Zugang allerdings von außen her erschlossen
werden. Als ein Beispiel solcher gleicherweise kulturerzieherischen wie politischen Ein-
flußnahme führt T. u. a. das altdänische Volkslied „Herr Tidmann“ an, das Engels ins
Deutsche übertrug und bei dessen Veröffentlichung im „Sozialdemokrat“ 1865 er aus-
drücklich die damalige besondere Situation des deutschen Proletariats einkalkulierte: „Dies
Stück mittelalterlichen Bauernkriegs... zeigt, wie die Bauern der Adelsarroganz ein Ziel
zu setzen wußten. In einem Lande wie Deutschland, wo ... das Proletariat ebensoviel oder
mehr Ackerbau-Proletarier als industrielle Arbeiter enthält, wird das kräftige alte Bauernlied
gerade am Platze sein.“
Der letzte Abschnitt, in dem T. die Vorstellungen resümiert, die Marx und Engels über die
Kunst in einer künftigen klassenlosen Gesellschaft entwickelten, erreicht den Anschluß an
die Gegenwart. In der heutigen sozialistischen Welt ist bereits die Verwirklichung jener
Ordnung nähergerückt, in der „durch die industrielle Revolution die Produktivkraft der
menschlichen Arbeit einen solchen Höhegrad erreicht, daß die Möglichkeit gegeben ist ...,
bei verständiger Verteilung der Arbeit unter alle ..., jedem einzelnen hinreichend Muße
372
Besprechungen
zu lassen, damit dasjenige, was aus der geschichtlich überkommenen Bildung — Wissenschaft,
Kunst, Umgangsformen usw. — wirklich wert ist, erhalten zu werden, ... aus einem Mono-
pol der herrschenden Klasse in ein Gemeingut der ganzen Gesellschaft verwandelt und weiter
fortgebildet werde“ (Marx/Engels, Werke 18, 22of.). Diese sowohl von jeglicher Ausbeu-
tung als auch von jedem Klassenantagonismus befreite Gesellschaft wird folgerichtig weder
eine Volks- noch eine „Berufs“-Kunst im bisherigen Sinne kennen, indem beide ihre Auf-
hebung in einer einheitlichen Kunst aller Menschen erfahren.
T. nimmt für die Begründer des wissenschaftlichen Sozialismus nicht in Anspruch, zu-
gleich „Begründer einer neuen Volkskunsttheorie“ gewesen zu sein. Nach ihm besteht die
Bedeutung ihrer Überlegungen über die Volkskunst darin, „die Funktion des Volksschaf-
fens in der Gesamtentwicklung der Gesellschaft, ihren jeweiligen Klassencharakter und ihre
politische Wirksamkeit für das Proletariat als der neuen weltgeschichtlichen Kraft nach-
gewiesen zu haben“ (129).
Günther Voigt, Berlin
James Sydney Slotkin, Readings in early anthropology. Chicago 1965. 530 S. (— Wenner-
Gren-Foundation, Viking Fund Publications in Anthropology 40).
Jede Quellensammlung zur Geschichte der Anthropologie und Ethnologie wird dankbar
begrüßt werden. Menschenkunde und Völkerkunde spiegeln die jahrtausendealte Reflexion
über Wesen und Wert des Menschen in seinen Beziehungen zu Natur und Gesellschaft am
eindringlichsten wider. Freilich sind Anthropologie und Ethnologie im Vergleich zu
anderen Wissenschaften recht junge Disziplinen, aber ihre Elemente reichen weit zurück;
der vorliegende Band verfolgt sie bis ins 12. Jh. mit einzelnen Rückgriffen auf die grund-
legenden Schriften des Christentums. Für die Zeit des 18. Jhs allein ließe sich ein stattlicher
Band füllen. Die weiter zurückliegenden Epochen sind zwar weniger reich an Stellung-
nahmen, aber gerade diese frühen Formulierungen sind in der Regel die interessantesten,
zumal sie in den späteren Perioden oft nur noch abgewandelt, aber nicht mehr als neue
Sicht erscheinen.
Das Material, was zusammenkommt, läßt sich gewiß nach sehr verschiedenen Gesichts-
punkten gruppieren. Wir müssen im vorliegenden Buch die Ordnung akzeptieren, die der
ungemein belesene Verfasser seinen Notizen gab — er starb lange vor der Drucklegung
und erst den Bemühungen seiner Witwe verdanken wir nächst der Unterstützung durch den
Herausgeber Sol Tax die Nutzbarmachung dieser wertvollen Hinterlassenschaft.
Sol Tax als Editor hebt mit Fug und Recht die jahrzehntelange Sammelarbeit und die un-
gemein sorgfältige Bibliographierung dieser vielen tausend Belegstellen hervor. Die ja-
panische Druckerei, die den voluminösen Band äußerlich recht ansprechend herausgebracht
hat, hätte freilich besser überwacht werden sollen — vor allem in den Anmerkungen muß
der Leser mit 2 — 3 Druckfehlern pro Seite rechnen, wobei wir unentschieden lassen, welche
auf Verschulden der Setzer und welche auf mangelnde Revision des Manuskripts zurück-
gehen. Auch sonst erreicht die nun vorgelegte Fassung noch keine absolute Reife. Daß in
einem solchen Bande von 530 S. mit 3232 Anmerkungen ein Register fehlt, ist nahezu
unverständlich, zumal der Verf. vor seinem Tode ausdrücklich auf die notwendige Zeit-
ersparnis und Erleichterung' hinwies, die seine Belegsammlung bedeuten sollte. Auch sollte
man bei solchen geisteswissenschaftlich belangreichen Studien nicht nach Jahrhunderten
schematisieren, sondern nach Perioden systematisieren.
Allein von dergleichen äußeren Unzulänglichkeiten abgesehen, ist der Gehalt dieser
Arbeit erstaunlich reich! Wie S. selbst betont hat, war keineswegs Vollständigkeit sein
Ziel, aber in dem Volumen des Gelesenen und Exzerpierten wird er von keinem anderen
erreicht. Es gibt auch nur zwei Gebiete, die als wirkliche Lücken empfunden werden
müssen, das sind einmal die (in den USA durch andere Hilfsmittel leichter als in Europa
erreichbaren) Berichte der Konquistadorenzeit über die Begegnung mit den „Rothäuten“ —
andermal die (in den USA offenbar schwer oder gar nicht erreichbaren) Berichte über die
„Orientfahrten“. Denn wenn Adam Olearius und die gesamte Gruppe seiner Nachfolger
Besprechungen
373
fehlt, dann fehlt im Bild der early anthropology ein beträchtliches Kolorit! Ebenso ist
doch die von der spanischen Krone geforderte Berücksichtigung der historia natural neben
der historia general de las Indias geradezu paradigmatisch gewesen. Bewirkte sie doch eine
bewußte Ausrichtung auf die ,anthropology4!
Man findet bei längerer Benutzung des stattlichen Bandes gewiß noch manche Lücke —
allein man findet ebenso manchen seltenen oder bisher gänzlich unbeachteten Beleg, manchen
kaum bekannten und genannten Namen, so daß die Durcharbeitung des vorgelegten
Materials reiche Belehrung und schönen Gewinn bringt. Die Zweckdienlichkeit und die
Notwendigkeit, dieses wissenschaftsgeschichtlich unentbehrliche Material zur Hand zu
haben, war wohl auch die gemeinsame Überzeugung, in der mit dem verstorbenen Verf.
der Editor völlig übereinstimmte: Nützlich ist dieses Buch, auch bei allen Lücken und
Schwächen, für alle Anthropologen und Ethnologen. Verdienstlich war die Riesen-
arbeit, es zusammenzubringen. Ehrenwert ist der Entschluß zur Veröffentlichung ge-
wesen.
Helmut Wilsdorf, Dresden
Ernst Emsheimer, Studia ethnomusicologica eurasiatica. Stockholm, Musikhistoriska
museet, 1964. 107 S. (= Musikhistoriska Museets Skrifter 1).
Die Publikation wurde Ernst Emsheimer zum 60. Geburtstag als Festgabe von seinen
zahlreichen Freunden und Kollegen überreicht. Sie eröffnet eine neue Schriftenreihe des
Musikhistorischen Museums in Stockholm, das seit nahezu 20 Jahren vom Jubilar mit
sichtbarem Erfolg und internationaler Anerkennung geleitet wird, und umfaßt 10 Aufsätze
und Artikel, die E. zwischen 1941 und 1961 publizierte, zur Hälfte in der für den Musik-
ethnologen abgelegeneren Zeitschrift Ethnos.
In einem feinsinnigen Geleitwort von Carl-Allan Moberg wrerden die großen Verdienste
E.s, die er sich um das schwedische Musikleben erwarb, und seine ausgeprägte Persönlich-
keit als Forscher und Mensch gewürdigt. Als Schüler von Guido Adler in Wien sowie
Heinrich Besseler und Wilibald Gurlitt in Freiburg i. Br. anfänglich mit Studien zur Orgel-
kunst des Barock beschäftigt, entdeckte er seine Neigung zur Musikethnologie während
seiner Tätigkeit am Ethnographischen Museum der sowjetischen Akademie der Wissen-
schaften und an der Staatlichen Eremitage in Leningrad in den Jahren 1932 — 1936. In
dieser Zeit fand er Gelegenheit, sich eingehend mit der Musik der zentralasiatischen,
sibirischen und kaukasischen Völker vertraut zu machen, deren Erforschung er sich seitdem
hauptsächlich widmet. Die Musik der Lappen bildet ein weiteres zentrales Arbeitsgebiet,
dem sich E. nach seiner Übersiedlung nach Schweden im Jahre 1937 zuwandte. Den engen
Zusammenhang zwischen beiden Bereichen deutlich werden zu lassen und die Musik-
kulturen der verschiedenen Völker wechselseitig zu erhellen, ist ein wesentliches Anliegen
E.s. Alle seine Studien fußen auf einer bewunderungswürdigen Literaturkenntnis. Die oft
spärlichen Quellen werden sorgfältig ausgewertet, kritisch beurteilt und vorsichtig inter-
pretiert. Doch fehlt es nicht an Mut zu vorläufigen Arbeitshypothesen, die in diesem von
der Musikethnologie noch wenig erforschten Gebiet unumgänglich sind. Oft bilden
scheinbar abgelegenere Detailfragen den Ausgangspunkt der Untersuchungen, deren Be-
deutung und Stellung in zumeist allgemeineren Zusammenhängen dank einer souverän
beherrschten und überlegt angewandten vergleichenden Methode aufgezeigt werden. Dies
geschieht stets mit einem klaren und weitsichtigen Blick für die historischen Verhältnisse
und Bedingungen, in denen die betreffenden kulturellen Erscheinungen entstanden, sich
entwickelten und wandelten.
Bevorzugt werden von E. Musikinstrumente untersucht, wobei die verschiedensten
Aspekte Berücksichtigung finden. So stehen Fragen der Typologie und geographischen
Verbreitung in seinem Aufsatz über die Maultrommeln in Sibirien und Zentralasien im
Alittelpunkt der Betrachtung. Überzeugend kann er das verbreitete Vorkommen von
Rahmenmaultrommeln bei vielen Völkern Zentralasiens und Sibiriens nachweisen und
damit die Ergebnisse der typologischen Studie von Curt Sachs in wesentlichen Punkten
374
Besprechungen
korrigieren und ergänzen. Die außerordentlich archaischen Formen dieses Typs (im be-
sonderen ein von W. Steinitz aufgefundenes ostjakisches Exemplar) und die Verwendung
der Maultrommel als Schamanengerät bei einigen mongolischen Völkern lassen E. zu der
Auffassung kommen, daß dieses Instrument ein relativ altertümliches Element innerhalb
der Kultur Sibiriens darstellt. — In einer kleinen monographischen Studie (A Lapp Musical
Instrument) berichtet E. über eine primitive Oboe, die sich in dieser Form bisher nur bei
den Lappen findet, einem sonst an Instrumenten armen Volk. Breiten Raum nehmen
Untersuchungen zur lappischen Zaubertrommel und zur Schamanentrommel bei zentral-
asiatischen und sibirischen Völkern ein. — In dem Aufsatz Eine sibirische Parallele zur
lappischen Zaubertrommel? geht es E. um typologische Probleme. Im besonderen behandelt
er das Verhältnis zwischen den beiden Haupttypen der lappischen Zaubertrommel (Rahmen-
und Schalentrommel), wobei auf die entwicklungsgeschichtliche Bedeutung von Zwischen-
typen wie der Winkelrahmentrommel, für die sibirische Parallelen beigebracht werden,
hingewiesen wird. — In einer weiteren Studie Zur Ideologie der lappischen Zaubertrommel
versucht E. den ursprünglichen Sinn und die symbolische Bedeutung der Trommel zu er-
gründen, die in ihrer letzten Entwicklungsphase von den lappischen Noiden als Exalta-
tions- und Divinationsinstrument verwendet wurde. In seine vergleichende Betrachtung
bezieht er ein umfangreiches rezentes Quellenmaterial zur sibirischen Schamanentrommel
ein und kommt dabei zu dem Ergebnis, daß, wie bei den Völkern Sibiriens und Zentral-
asiens, so auch bei den Lappen, ursprünglich der Bogen und der Pfeil Werkzeuge schama-
nistischer Tätigkeit waren, deren apotropäische und magische Funktionen mit dem Er-
scheinen der Trommel z. T. von dieser übernommen wurden. — Ebenfalls anhand sibi-
rischen Vergleichsmaterials sucht E. in der Untersuchung Schamanentrommel und Trommel-
baum Aufschluß darüber zu erhalten, welche magischen Motive bei der Herstellung der
Trommel Einfluß auf die Wahl des Rahmenholzes ausgeübt haben.
Eine knappe, doch inhaltsreiche Studie über den lappischen Kultgesang auf Grund der
sogenannten lappischen Quellenschriften, die im 17. und 18. Jh. von dänischen, norwegischen
und schwedischen Geistlichen verfaßt wurden, zwei äußerst konzentrierte Artikel (Lappische
Musik und Mongolische Musik), die für die Enzyklopädie Die Musik in Geschichte und
Gegenwart geschrieben wurden, sowie eine aufschlußreiche Betrachtung über kirgisische
und kasachische Rhapsoden und Epensänger (Singing Contests in Central Asia) ergänzen
den Band und lassen vollends deutlich werden, daß E. zu den besten Kennern sowohl der
Musik Sibiriens und Zentralasiens als auch der archaischen lappischen Musikkultur zählt. —
Bedauern kann man vielleicht, daß die noch immer grundlegende musikethnographische
Bibliographie der nichtslawischen Völker in der Sowjetunion, die E. 1943 in der Acta
Musicologica publizierte, in diesen Band nicht aufgenommen wurde. Doch zeigen die
vorliegenden Studien auch ohnedies, daß es zu den bleibenden Verdiensten Emsheimers
gehört, wesentlich zur Kenntnis der Zusammenhänge im eurasischen Raum beigetragen
zu haben.
Erich Stockmann, Berlin
A magyar néprajztudomâny bibliogrâfiâja 1945—1954 (Ungarische Volkskundliche Biblio-
graphie 1945 —1954)- Hg. von Istvän Sandor. Budapest, Akadémiai Kiadö, 1965.
463 S.
Dieser erste Band einer groß angelegten retrospektiven ungarischen volkskundlichen
Bibliographie stellt, vorzüglich redigiert, die ungarische Fachliteratur von 1945 bis 1954
in über 6000 Titeln vor. Sandor hat das umfangreiche Material in 60 Hauptabschnitte ge-
gliedert; sorgfältig jeden Titel auf seine Zuordnung hin prüfend, vermied er die sonst so
unbefriedigenden Abteilungen „Vermischtes“ o. ä. Werke komplexen Inhalts werden
je nach ihren Hauptthemen eingegliedert; an anderen Stellen, an denen sie ebenfalls ge-
nannt werden müßten, wird durch Kennzahlen auf sie verwiesen.
Die Bibliographie umfaßt 1. in- und ausländische Bücher und Abhandlungen zur unga-
rischen Volkskunde mit ihren Rezensionen; 2. Arbeiten ungarischer Autoren über andere
Besprechungen
375
Völker; 3. in Ungarn erschienene Werke ausländischer Forscher bzw. die in Ungarn ver-
öffentlichten Übersetzungen und Rezensionen ausländischer volkskundlicher Werke;
4. Literatur, die sich mit den ungarischen Volksgruppen beschäftigt, die außerhalb der
Landesgrenze leben; 5. Werke der im Ausland lebenden ungarischen Wissenschaftler.
Die Auswahl des Materials erfolgte sehr großzügig: S. hat beispielsweise auch Kalender,
volkstümliche Bücher, Zeitungsartikel ebenso aufgenommen wie populär geschriebene
Werke, sofern sie interessante wissenschaftliche Fragen berühren.
S. berücksichtigt bei der Abgrenzung des Materials die jeweiligen wirtschaftlich-gesell-
schaftlichen Voraussetzungen und sichert aus dieser Blickrichtung heraus sowohl „den
gewichtigeren Arbeiten über die Geschichte der ungarischen Gesellschaft, vor allem des
Bauerntums“, als auch den modernen soziographischen Untersuchungen ihren Platz.
In der Einführung, die, wie auch die Gliederung, in deutscher, englischer und russischer
Sprache abgedruckt ist, begründet S. die Wahl des Jahres 1945 als Beginn dieser Biblio-
graphie mit den bedeutsamen Wandlungen, die in der Lebensweise und in der Kultur des
ungarischen Volkes seit dem Ende des zweiten Weltkrieges vor sich gegangen sind.
S. hat mit diesem Buch, das erstmalig eine Gesamtübersicht über die Arbeiten der unga-
rischen Volkskünstler von 1945 bis 1954 gibt, einen Beweis mehr für die Gediegenheit der
ungarischen Bibliographien gegeben.
Herta Uhlrich, Berlin
Adolf Waas, Der Mensch im deutschen Mittelalter. Graz und Köln, Verlag Hermann
Böhlaus Nachf., 1964. 233 S., 19 Abb.
Der Verf., durch Arbeiten über die Geschichte des Mittelalters bekannt, will mit diesem
Buch einen Beitrag zur Kulturhistorie eben dieser Epoche leisten. Es geht ihm darum, zu
zeigen, wie damals die „Menschen gelebt haben, was sie miteinander verbunden hat und
was sie in der Stille des Alltags geleistet haben“ (9). Seine Belegmaterialien entnimmt er
vorwiegend den Quellen des 10. bis 12. Jhs, ohne sich ausschließlich auf diesen Zeitraum
zu beschränken.
Unter dem Gesichtspunkt des Historikers wurde das Werk bereits annotiert [s. Z. f. Ge-
schichtswiss. 13 (1965) 546h (Adolf Laube)]. Den dabei getroffenen Feststellungen schließt
sich der Rez. an. Da jedoch in vielen Kapiteln des Buches mit volkskundlicher Thematik
verbundene Fragen zum mindesten erwähnt werden, scheint es notwendig, auf einiges
unter dem Blickwinkel unserer Wissenschaft einzugehen.
Nach einem einführenden Überblick über die Landschaft (Wald und Rodung, Straßen,
Fluß und Meer, Dörfer und Städte) wird der Schilderung des bäuerlichen Lebens breiter
Raum gewidmet. Ausgehend von der sozialen Position des mittelalterlichen Landvolkes
(Herrschafts- und Treueverhältnisse, die Dorfgemeinschaft, ständische Ordnung, Sitte und
Recht, Königsbauern und Grundherrschaft) beschreibt der Verf. das Agrarwesen. Was dabei
allerdings (42) über das Pferd als Zugtier gesagt wird, bedürfte genauerer Prüfung bzw.
Fundierung, ebenso die Bemerkungen zur Entwicklung der Schafzucht. Hier haben die
Untersuchungen von Jacobeit, die der Verf. offenbar nicht kannte, uns von seinen Auf-
fassungen zum Teil abweichende und genauere Erkenntnisse gebracht [W. Jacobeit,
Jochgeschirr und Spanntier grenze. DJbfVk 3 (1957) ii9ff. — W. Jacobeit, Schafhaltung und
Schäfer in Zentraleuropa bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts. Berlin 1961]. — Wirtschaft-
liche Fragen stehen auch bei der Darstellung von Rodung, Geldwesen und allgemeinen
Lebensoerhältnissen auf dem Land im Vordergrund. Eine Sonderbetrachtung gilt der Ge-
stalt des Bauern in der deutschen Literatur des 14. und 15. Jhs. Es berührt in diesem Zu-
sammenhang freilich merkwürdig, daß die Zusammenstellung der „wichtigsten Literatur“
im Anhang das für dieses Gebiet grundlegende Werk von Fritz Martini [Das Bauerntum,
im deutschen Schrifttum von den Anfängen bis zum 16. Jahrhundert. Halle 1944] nicht auf-
führt. Sie weist, jedenfalls in volkskundlicher Hinsicht, noch andere Lücken auf. Sollten
z. B. die Interpretationen des deutschen Volksmärchens (70 ff.) nur auf den Angaben aus
der (in der Literaturliste aufgeführten) Untersuchung W. E. Peuckerts Deutscher Volks-
glaube des Spätmittelalters beruhen? Bei aller Hochachtung vor der großen Leistung
376
Besprechungen
Peuckerts: Zum Volksmärchen gibt es doch wohl einige weitere nennenswerte Arbeiten.
Andererseits fühlt man sich versucht zu fragen, warum aber Die große Wende des gleichen
Autors nicht im Literaturverzeichnis zu finden ist. Hier könnte auch der Mediävist — bei
aller kritischen Einstellung — doch wertvolle Anregungen für die Schilderung des bäuer-
lichen Lebens und Denkens im 14. und 15. Jh. gewinnen. Aber der Verf. selbst hat wohl
— leider — nur lockere Kontakte zur Volkskunde. Sonst wäre (im Abschnitt Frömmigkeit
und Volksglaube) die Feststellung, daß der Bauer jener Tage „keine große Kunst kennt“,
und sein ästhetisches Streben sich in „den kunstgewerblichen Verzierungen oder der Nach-
ahmung von in den Klöstern oder den Städten entstandenen Kunstwerken ... dem Gesang
von Volksliedern oder Heldenliedern“ sowie im Märchenerzählen erschöpfe (77), kaum
möglich. Hier ist nicht der Platz, die Fragwürdigkeit solcher Sentenzen im einzelnen zu
durchleuchten. Damit ist die volkskundliche Wissenschaft im fruchtbaren Streitgespräch
seit Jahrzehnten beschäftigt. Um so mehr betrübt es, in einem Buch, das sich an einen
breiten Leserkreis wendet, längst überwundene fehlerhafte Verallgemeinerungen wieder
aufgetischt zu bekommen.
Der häuslichen Welt des Bauern gelten Betrachtungen über die Stellung der Frau, über
Nahrung, Heilkunde, Kleidung sowie Haus und Hof. Leider wird gerade hinsichtlich des
ländlichen Bauwesens die neuere Literatur kaum berücksichtigt. Das beweisen die meist
überholten Hypothesen über die Genese der einzelnen Haustypen und Hofformen. — Knapp
gefaßt sind die Abschnitte, die von Festen und Bräuchen im Jahres- und Lebenslauf, von
der Ehe, von Geselligkeit und Tänzen handeln. Auch hier hätte die Heranziehung von
Belegen aus volkskundlich interpretierten Archivquellen, so die vorbildlichen Studien von
Moser und Kramer, ein tieferes und lebendigeres Bild zu zeichnen erlaubt. — Die Be-
trachtung des bäuerlichen Genossenschaftswesens leitet über zu einem Abriß der Ereignisse
des großen deutschen Bauernkrieges und seiner Folgen. Daran schließen sich Kapitel über
das Leben der Feudalaristokratie (Ritter, Fürsten, König) und des Klerus (Priester, Mönche).
Volkskundlich relevante Dinge finden nochmals in den letzten großen Abschnitten (Der
Bürger, Fahrende Leute) Erwähnung. Beschrieben werden die Entstehung und Entwicklung
der Städte, die soziale Differenzierung ihrer Einwohnerschaft, ihre Klassenauseinander-
setzungen sowie die Formen des Gruppenlebens in ihren Mauern. Die Darstellung des
Handwerks geht im wesentlichen nicht über diejenige Kulischers in seiner Allgemeinen
Wirtschaftsgeschichte des Mittelalters und der Neuzeit [Bd. I, Berlin 1954, i8iff., 192ff.]
hinaus. Auf einem Mißverständnis dürfte dabei die Feststellung vom „gleichen Waren-
bezug“ (187) beruhen, den die Zunftordnungen im Interesse eines gleichen Rechtes aller
Meister vorgeschrieben hätten. Es handelt sich vielmehr um die Garantie eines einheitlichen,
gleichen Rechtes aller Innungsgenossen am Rohstoff. Irreführend ist auch die Bezeichnung
Handwerksherr (189) für den Verleger (verdeutlicht am Beispiel des Fuggerschen Textil-
verlagswesens). Wenn der Verf. meint, die Fuggerschen Weber hätten besser gelebt als die
bei Chrétien de Troyes bzw. Flartmann von Aue geschilderten Stickerinnen und Webe-
rinnen, so bleibt er leider dafür den Beweis schuldig. Der einzige Unterschied zwischen
ihnen dürfte wohl darin bestanden haben, daß die Frauen zu 300 gemeinsam in einem
„wercgadem“ saßen, während ein großer Teil der Arbeiter Jacob Fuggers verstreut auf den
Dörfern in elenden Hütten wohnten. — Nur im Nebenbei werden drei wichtige Gewerbe,
nämlich Bergbau, Hüttenwesen und Salzgewinnung erwähnt (190h). Das ist bedauerlich,
denn sie alle, voran der Bergbau, formten die Kultur, wenigstens des Spätmittelalters, in
einigen deutschen Landschaften direkt oder mittelbar ganz entscheidend mit und verliehen
ihr eigene, unverkennbare Züge.
Als Information zu kurz ist auch der Schlußabschnitt über die Fahrenden und die Zigeuner.
Hier fehlt leider ein Hinweis auf die Bedeutung der Vaganten für die Volkskultur. Sehr
zu Unrecht werden dafür die Zigeuner als Schöpfer des Csardas bezeichnet (219). Wahr
ist lediglich, daß sich ihre Kapellen der Melodien dieses ungarischen Nationaltanzes be-
mächtigten. Ihn deshalb als Träger von Überresten „magischer“ Musik zu bezeichnen,
heißt sein Wesen mißzuverstehen. Eine ähnliche Fehlleistung tritt zutage, wenn der Verf.
die Eigenart der Zigeuner vorrangig dadurch erklären will, „daß sie im Grunde keine
rechten Christen waren“ (219). Damit verläßt er den Boden der Wissenschaft.
Besprechungen
377
Was bleibt also, so muß man sich abschließend fragen, vom eingangs zitierten Bemühen
des Werkes? Für den Volkskundler leider nicht allzuviel. Daß das ausgebreitete Material
dem Fachmann schon bekannt ist, liegt im Wesen der populären Darstellung. Doch gerade
der Zweck des Buches, solches Wissen vielen zu vermitteln, erfordert es, nach Möglichkeit
den neuesten Stand der Forschung zu berücksichtigen — auch der volkskundlichen. Das
ist in der vorliegenden Arbeit durchaus nicht überall geschehen.
Rudolf Weinhold, Dresden
Georg Grüll, Bauer, Herr und Landesfürst. Sozialrevolutionäre Bestrebungen der ober-
österreichischen Bauern von 1650 bis 1848. Graz-Köln 1963. 668 S., 20 Abb. auf Taf.
(= Forschungen zur Geschichte Oberösterreichs 8).
Die Voranstellung des Bauern hier im Titel, vor den Herrn und Landesfürst, bringt eine
Einstellung zum Ausdruck. Dieses Buch geht vom Bauern aus, wenn es die harten, lang-
wierigen und oft blutigen Auseinandersetzungen zwischen den oberösterreichischen Bauern
und ihren Herren, den weltlichen und geistlichen Grundherren und ihren Beamten, durch
zwei Jahrhunderte hindurch verfolgt. Und diese Sympathie mit den um ihre Rechte und um
eine Verbesserung, oft nur um ein bißchen Erleichterung ihrer schweren und gedrückten
Lage kämpfenden Bauern, die man auf jeder Seite dieses imponierenden Werkes spürt, ist
ganz deutlich das Ergebnis einer gewissenhaften, minutiösen Auswertung aller erreichbaren
historischen Quellen, die ein objektives Bild der Vorgänge entstehen läßt.
G., wohl zur Zeit einer der besten Kenner der oberösterreichischen Archivalien, stützt
sich vor allem auf das reiche Material des oberösterreichischen Landesarchivs in Linz, an
dem er seit Jahren tätig ist. Er zieht aber auch die einschlägigen Belege aus den kleineren
Archiven des Landes heran, insbesondere aus den für dieses Thema oft sehr aufschluß-
reichen Stifts- und Pfarr-, Herrschafts- und Schloßarchiven, sowie Dokumente aus den
Archiven in Wien und den Landes- bzw. Staatsarchiven in Salzburg und München. Souverän
bewältigt er ein riesiges Archivmaterial und zeichnet daraus die Kämpfe und Auseinander-
setzungen jener Periode in allen Einzelheiten nach, wodurch es ihm gelingt, nicht nur die
geschichtlichen Vorgänge in einer unerhört eindrucksvollen Weise lebendig werden zu
lassen, sondern auch die Ursachen der Ereignisse bloßzulegen.
G. gliedert seine Darstellung in zwei Hauptabschnitte, die Bauernunruhen und Auf-
lehnungen von 1650 bis 1747 und von 1748 bis 1848. Jedem stellt er einen Überblick über
die allgemeine Lage der oberösterreichischen Bauernschaft in diesen Zeitabschnitten voran.
Die erste dieser beiden Perioden war erfüllt von zahlreichen kleineren, lokalen Revolten,
Jagdaufständen, Steuer- und Robotbeschwerden und -Verweigerungen und vielen Formen
passiver Resistenz, in denen sich die durch nahezu 125 Jahre, von 1525 bis 1648 währen-
de Bauernkriege schwer niedergedrückte, ausgeblutete und dezimierte oberösterreichische
Bauernschaft gegen ihre Herrschaft zur Wehr setzte. Neu eingeführte Dienste, ständig
steigende Steuern, Erhöhung der Robotgelder neben den Anforderungen der Natural-
roboten, übermäßige Wildhege usw. haben bewirkt, daß die Bauern in jener Zeit „am Rande
des Abgrundes vor einer gänzlichen Verarmung und Verelendung standen“. Besonders
hart traf diese bauernfeindliche Politik der weltlichen wie geistlichen Grundherrschaften
die Ärmsten, insbesondere die Gebirgsbauern, die daher auch den stärksten Widerstand
leisteten. Das zähe, von den Herrschaften immer wieder mit blutigen Exekutionen be-
antwortete Ringen der Wildenecker Bauern um Steuerermäßigung und Steuererlaß dauerte
bis zu seiner endgültigen außerordentlich brutalen Unterdrückung über 60 Jahre (1601
bis 1662).
Die Zeit der Theresianischen und Josephinischen Reformen brachte zwar eine gewisse
Beruhigung, doch flammten auch in dieser Periode Robotrevolten und andere Bauern-
unruhen auf. Nach 1815, in der restaurativen Ära Metternich, „rissen bis 1848 die Unruhen,
Revolten und Beschwerden nicht mehr ab, und die Kerker waren stets mit unruhigen
bäuerlichen Untertanen überfüllt“. In diesem Zeitraum traten eine Reihe revolutionärer
378
Besprechungen
Bauernführer hervor, von denen besonders der Mühlviertler Michael Huemer, genannt
Kalchgruber, auch über Oberösterreich hinaus wirksam und bekannt wurde.
G. hat mit seinem Buch nicht nur unsere Kenntnis über Lage, Unterdrückung und Wider-
stand der oberösterreichischen Bauern nach dem großen Bauernaufstand im Lande ob der
Enns von 1626 bereichert und die Beweggründe und Umstände vieler Revolten und Un-
ruhen des behandelten Zeitraumes überhaupt erst klargestellt, sondern durch die Wieder-
gabe vieler unmittelbarer Äußerungen der Bauern aus den historischen Dokumenten für
den Volkskundler interessante Einblicke in das Denken und Handeln sowie die Lebens-
verhältnisse der Bauern vermittelt.
Hermann Strobach, Berlin
Karl Löber, Beharrung und Bewegung im Volksleben des Dillkreises. Marburg, N. G.
Eiwert Verlag, 1965. 344 S., x 15 Abb., 5oFarbkarten (— Veröff. des Inst, für mittel-
europäische Volksforschung a. d. Philipps-Univ. Marburg-Lahn, hg. v. Gerhard
Heilfurth u. Ingeborg Weber-Kellermann, A. Allgemeine Reihe 3).
Diese Veröffentlichung ist in mehrfacher Hinsicht bemerkenswert: zunächst als ein Buch,
in dem alte und neue Blickrichtung der Volkskunde in so harmonischer Weise sich er-
gänzen, daß man es als Beispiel für ähnlich gelagerte Untersuchungen vorschlagen darf.
Dann legt es als Lebensarbeit Zeugnis ab vom Wirken eines Mannes, der als Lehrer einer
Volksschule es über Jahrzehnte hinweg unternommen hat, seine Heimat, den Dillkreis,
dessen Gegebenheiten und Lebensäußerungen zu erforschen, und zwar in einer solchen
Breite und Tiefe, daß der gesamte Komplex eines „Volkslebens“ anschaulich vor Augen
tritt. In Anerkennung dieser Arbeit promovierte die Philosophische Fakultät der Philipps-
Universität Marburg den Hepding-Schüler Rektor i. R. Karl Löber im Sommersemester
1965 zum Dr. phil. h. c.
Bemerkenswert ist es ferner, wenn Verleger und Drucker auf die methodischen Über-
legungen des Autors in einer Weise eingegangen sind, daß auch im Hinblick auf die Aus-
stattung ein sehr schönes Werk vorliegt. Hervorzuheben sind Fülle und Anordnung des
Bildmaterials, das als Beweis und zur Veranschaulichung bei einem solchen Thema nicht
fehlen darf (einige Fotos haben künstlerischen Wert, z. B. das Portrait des Bauern Ludwig
Triesch aus Hohenroth), mehr aber noch der farbige Kartenteil, der, von L. gezeichnet,
methodisch und didaktisch beinahe ein Novum ist und als Farbdruck eine drucktechnische
Leistung darstellt. Da ist es denn kein Wunder, wenn die in den Text eingefügten kli-
schierten Karten in ihrer Wirkung abfallen. Einige, wie die Karten zur Bevölkerungsdichte
S. 41/42, sind drucktechnisch nicht ganz gelungen, andere, wie z. B. die Karte Kraniche /
Schneegänse auf S. 67, hätte man besser farbig umgezeichnet und in den Kartenteil hinein-
genommen, selbst wenn sie dann bei der Textbesprechung nicht am Platze gestanden,
sondern mit Hilfe des Verweises hätten nachgeschlagen werden müssen. Etwas anderes
aber muß man in einem Buch möglichst am Platze finden: die Anmerkungen. Das Nach-
schlagen der Anmerkungen (297ff.) bereitet Mühe, zumal sie kapitelweise numeriert
wurden. Das erschwert die fortlaufende Lektüre beträchtlich. Und da es sich um ein vor-
wiegend wissenschaftliches Werk handelt, haben etwaige druckästhetische Bedenken zurück-
zustehen. Noch eine kurze Bemerkung zum Buchtechnischen: Da der gesamte Text in
einer Petit gedruckt ist, macht es natürlich Mühe, die eingeschobenen Erklärungen zu den
Bildern in einem noch kleineren Schriftgrad deutlich davon abzusetzen. Wenn man z. B.
von S. 63 weiterlesen möchte, wird man spüren, was ich mit dieser Bemerkung meine.
Aber das sind alles nur Nebenbemerkungen, wenn man die Konzeption des Buches be-
trachtet und den Versuch, von den volkskundlichen und sprachlichen Einzelerscheinungen
zu einer Synopse zu gelangen. Der Verf. hat, angeregt durch die Arbeit von Aubin-Frings-
Müller und speziell durch das Buch Bachs über die Kulturströmungen in Nassau, von 1935
bis 1952 die Materialsammlung zur alten Volkskultur im Gebiet des Dillkreises betrieben.
Wenn er es 1935 — 1960 unternimmt, nun die Wandlungs- und Schwunderscheinungen zu
beobachten und darzustellen, so zeigt das, daß es L. möglich war, den Blick zu erweitern,
Besprechungen
379
ja sogar die Forschungsrichtung zu ändern, was bei einem Forscher in vorgerücktem Alter
durchaus nicht selbstverständlich ist.
Zu Beginn des Buches wird eine Beschreibung des Dillkreises gegeben, mit dem Versuch,
aus den Teilaspekten der natürlichen Faktoren, wie der geographischen Lage, der Wasser-
scheiden, des Bodens, des Klimas usw. im Zusammenwirken mit den geschichtlichen Fak-
ten, den kulturellen und zivilisatorischen Erscheinungen, das Gesamtbild eines „Kultur-
raumes“ zu zeichnen. L.s These lautet: „Der Dillkreis ist ... ein ausgezeichnetes Beispiel
einer fast vollkommenen Übereinstimmung von Naturraum und politischer Verwaltungs-
einheit.“ (Vorwort, 3. S., unpaginiert; man hätte besser mit römischen Zahlen paginieren
und das Inhaltsverzeichnis voranstellen sollen). Von der Grundlage der Raumgegebenheiten
gelangt der Verf. nun zur Darstellung der „Bewegungen“ (Süd-Nord, Nord-Süd, West-
Ost, Ost-West) und der „Besonderheiten“ (Überschichtung, dat-Linie, Niederdeutsches,
Staffelvorstöße, Durchbrüche, Dietzhölzstraße, Inselbildungen, Rückzugsstellungen) in Sprache
und Brauchtum; diese Kapitel arbeiten vorzugsweise mit laut- und wortgeographischem
Material und tragen die volkskundlichen Erscheinungen dann hinzu. Leider hat man,
wohl um dem Buch einen größeren Abnehmerkreis zu sichern, sich nicht zur Einführung
einer Lautschrift entschließen können. Der Dialektgeographie des Dillkreises ist eingangs
ein besonderes Kapitel gewidmet, und man muß bedauern, daß L.s achtbändiger Heimat-
atlas des Dillkreises nur in handschriftlicher Form vorliegt.
Die darauf folgenden Kapitel (Arbeitsvorgänge, Wandlung und Schwund) verknüpfen
sprachliche und volkskundliche Erscheinungen unter dem Motto „Wort und Sache“; hier
erscheint eine geschlossenere Darstellung, als sie bei den vorangegangenen Kapiteln, die
aus der Aneinanderreihung von Einzelerscheinungen ein Bild fügen, der Fall ist. Dabei
erweckt die Beschreibung der nur dem Siegerland und dem Dillkreis eigenen Haubergs-
wirtschaft unser besonderes Interesse (245 ff.), und man möchte wünschen, daß L.s sehr viel
reicheres Wissen um diese Wirtschaftsform sich einmal in einer Monographie nieder-
schlägt, die man sich gut als volkskundlich-soziologische Studie denken könnte, zumal der
Verf. selbst sie unter dem übergeordneten Gesichtspunkt „Wandlung und Schwund“
behandelt. Die an den Schluß des Textes gestellte Statistische Auswertung ermittelt nach
einem einfachen Verfahren (Gegenüberstellung von „Alt- und Neubeständen“ sprach-
licher und brauchtümlicher Erscheinungen) Vergleichswerte für die Ortschaften des Dill-
kreises, aus denen man dann ein Bild der Intensität des Volkslebens erschließen kann. Die
kartographische Darstellung (Karten 45 — 50) beansprucht vom Methodischen her be-
sondere Aufmerksamkeit.
Das Hervorstechende an L.s Arbeitsweise: über viele Dinge in einem beschränkten
Gebiet genau Bescheid zu wissen und zu geben, wird besonders deutlich, wenn er Be-
nennungen der Pflanzen und Pflanzenbräuche zur Raumbeschreibung mit heranzieht. Seine
Kenntnisse auf diesem Gebiet sind umfassend, und man darf von seiner geplanten Volks-
botanik Hessens viel erhoffen.
Das Buch wird abgerundet durch Verzeichnisse der Orte und Kreise, durch ein Orts-
register, ein Sachregister und ein umfangreiches Literaturverzeichnis.
Es ist dem Autor gelungen, aus der Verbindung von älteren und neueren Verfahrens-
weisen der volkskundlichen Forschung ein organisches Werk zu schaffen, das immer
lesenswert bleiben wird.
Kurt Kehr, Bad Godesberg
Gustav Brachmann, Die oberösterreichischen Sensen-Schmieden im Kampfe um ihre Marken
und Märkte. Wien 1964. 182 S. (= Schriftenreihe des Oberösterr. Musealvereins
Linz 1).
Durch diese Studie erfahren wir, wie sich die oberösterreichischen Sensenschmiede-
marken vom kultischen Segenzeichen zur marktpolizeilichen Beglaubigung für Güte und
Preiswürdigkeit und zum Schutzzeichen gegen unlauteren Wettbewerb entwickelt haben.
B. markiert die einzelnen Etappen dieses Weges: Gründung des Freistädter Sensenhand-
380
Besprechungen
Werks im Jahre 1500 als des ältesten in Oberösterreich, dessen Meister ihre Sensen schon
mit einem persönlichen Zeichen und als Beischlag außerdem mit dem Wappen oder einem
Teil des Wappens ihrer Stadt versahen; Aufstieg der Kirchdorf/Michelsdorfer-Innung
zum in bezug auf Güte, Umsatz und Weltgeltung bedeutsamsten, K. M. zeichnenden
österreichischen Sensenhandwerk; Aufkommen und Zunahme des in- und ausländischen
Wettbewerbs, in dessen Gefolge sich der Markenmißbrauch immer mehr ausbreitete. Als
Reaktion darauf kam es schon zeitig zu Gegenaktionen gegen diese mit unlauteren Mitteln
geführte Konkurrenz, und B. läßt vor unseren Augen die zahlreichen Gegen- und Schutz-
maßnahmen Revue passieren. Vor diesem Hintergrund der Entwicklung des österreichischen
Markenschutz- und Wettbewerbsrechts zeichnet der Verf. ein Bild des Kampfes der ober-
österreichischen Sensengewerke um ihre Märkte, besonders um die Auslandsmärkte, von
denen der deutsche und französische zuerst verlorengingen, während sich der russische
trotz weitgehenden Zurückdrängens der österreichischen Sensen namentlich durch die
deutsche Konkurrenz als der bedeutendste Auslandsmarkt auf beachtlicher Höhe hielt.
Der deutschen Konkurrenz und dem deutschen Mißbrauch der österreichischen Marken
widmet B. seine besondere Aufmerksamkeit. Vor allem die westfälische, aber auch die
württembergische Sensenindustrie schlugen die österreichischen Marken nach und meldeten
sie als ihre Zeichen an, ja es ging deutscherseits sogar so weit, den größten Teil der öster-
reichischen Signen als „Freizeichen“ zu deklarieren. Erst 1889 entschied das Reichsgericht
in Leipzig zugunsten der österreichischen Marken, und ein Abkommen zwischen dem
Deutschen Reich und Österreich legte im gleichen Jahr fest, daß nur solche Marken Frei-
zeichen seien, die in einem der beiden Staaten nicht mehr benutzt würden, nicht angemeldet
seien und keinen Schutz genössen. Erst das deutsche Markenschutzgesetz von 1894 brachte
dann die allerdings sehr späte Erfüllung der berechtigten österreichischen Forderungen.
Daß die oberösterreichische Sensenindustrie Anfang des 19. Jhs der reichsdeutschen gegen-
über weiterhin konkurrenzschwach war, lag nach B. an ihren zu hohen Rohstoffpreisen.
Das Rußlandgeschäft der österreichischen Sensengewerke, das schon Anfang des 16. Jhs
bedeutend war und Mitte des 19. Jhs seinen Höchststand erreichte, nimmt seiner Bedeutung
gemäß bei B. im ganzen und gegenüber seiner Darstellung der übrigen Auslandsmärkte
den größten Raum ein.
Wenn das Hauptanliegen des Verfs auch die Behandlung der Außenhandelsbeziehungen
ist, so erfahren wir doch auch manches über die Struktur und Produktionsorganisation
sowie über die Technik des Sensenschmiedegewerbes, so beispielsweise über die Größe
der oberösterreichischen Sensenproduktion, die für 1851 mit durchschnittlich 1664000
Sensen und 208 000 Sicheln (bei insgesamt 2000 Arbeitskräften) angegeben wird. Die
Mehrzahl der Betriebe beschäftigte bis zu 20 Mann. Werkstätten wie die von C. Zeitlinger
in Mühldorf mit 140 Arbeitern und einer Jahresproduktion von 200000 Sensen waren
sicherlich Ausnahmen. In diesem Zusammenhang interessiert, daß die 1887 gestellte Frage,
ob es sich beim oberösterreichischen Sensengewerbe um Handwerks- oder um Fabrik-
betriebe handle, zugunsten des Flandwerks beantwortet und die Forderung nach einem
handwerklichen Befähigungsnachweis erhoben wurde, da es durch das Eindringen berufs-
fremder Elemente zu Niedergangserscheinungen gekommen war.
Das Augenfälligste an der vorliegenden Arbeit ist die Einstellung B.s zu seinem Unter-
suchungsgegenstand, die weitab von „sine ira et Studio“ die rechtlichen Übergriffe der in-
und besonders der ausländischen Markenfälscher und ihrer juristischen Helfershelfer
leidenschaftlich verdammt. Wenn die so in die Darstellung hineinströmende Gefühlswärme
und Anteilnahme dem Buch auch bisweilen ein Moment des Unmittelbaren gibt, so macht
andererseits B.s moralisierende Betrachtungsweise die für eine wirtschaftshistorische Arbeit
primär maßgeblichen historischen und ökonomischen Kriterien zu zweitrangigen Ge-
sichtspunkten. Das wird besonders deutlich bei der Erörterung der Ursachen für die Nieder-
gangserscheinungen im oberösterreichischen Sensengewerbe und vor allem bei der Auf-
deckung der Gründe für den Verlust von Auslandsmärkten, für die B. zu sehr den Marken-
mißbrauch und zu wenig die ungenügende Anpassung an die veränderte Wettbewerbslage
im Ausland verantwortlich macht. Nicht allein Betrug der Konkurrenten, sondern Ver-
trauen auf Rechtstitel, Beharren auf einem gegenüber dem Ausland zu niedrigen technisch-
Besprechungen
381
ökonomischen Niveau und eine zuweilen recht nachteilige staatliche Wirtschaftspolitik
waren es doch letzten Endes, die es der sich ungehemmt entfaltenden Dynamik des empor-
strebenden, vor allem deutschen kapitalistischen Unternehmertums leicht machte, sich
gegenüber den handwerklich-feudal beharrenden oberösterreichischen Sensengewerken
durchzusetzen. Daß trotzdem die Ausfuhr auf so bedeutender Höhe blieb, wird von B.
über der Darstellung der Misere dieses Gewerbes nicht immer genügend bewußt gemacht.
Der Leser hätte gern auch mehr über den Proletarisierungsprozeß im österreichischen
Sensengewerbe erfahren, der zu den wichtigsten Phänomenen auf dem Wege vom Hand-
werksbetrieb zum kapitalistischen Großbetrieb gehört.
Der Verf. hätte die Übersichtlichkeit und Lesbarkeit seines Buches erhöhen können,
wenn er mehr von tabellarischen Übersichten Gebrauch gemacht und eine Standortkarte
der Sensenschmieden sowie ein Register beigegeben hätte. Auch wäre eine bessere Ab-
schnittsgliederung willkommen gewesen. Befremdend ist, daß die Angaben der Inhalts-
übersicht nicht allenthalben mit den Kapitelüberschriften übereinstimmen.
Es ist das Verdienst von B., an einem speziellen Beispiel den Zusammenstoß handwerk-
licher Produzenten mit kapitalistischen Unternehmern im Wettbewerb und das Verhalten
beider Seiten in jeder Phase dieses Kampfes in seltener Eindringlichkeit dokumentiert zu
haben. Wenn in dieser Studie die soziologische Problematik im Vordergrund stand, so
hoffen wir auf eine — wohl auch beabsichtigte — weitere Arbeit des Verfs, die, das vor-
liegende Thema ergänzend und weiterführend, eine umfassende Geschichte der ober-
österreichischen Sensenhämmer zum Gegenstand haben und den Vergleich dieses Ge-
werbes mit dem anderer Länder — nicht zuletzt auch dem Sachsens — ermöglichen wird.
Rudolf Forberger, Dresden
Emilia Horväthovä, Cigäni na Slovensku (Die Zigeuner in der Slowakei). Bratislava,
Slovenskä Akademia vied, 1964. 396 S.
Die Verf. beginnt ihre Untersuchung mit einer gut fundierten Darstellung über Ur-
sprung und Herkunft der Zigeuner. Sie legt damit die Basis für den Hauptgegenstand ihrer
Abhandlung. Dieser einleitende Teil bildet nicht nur einen bedeutenden Beitrag zur Ge-
schichte der Zigeuner in Europa, sondern liefert auch eine Reihe sehr nützlicher Informa-
tionen über die Herkunft und Einwanderungswege der Zigeuner in die Slowakei im Laufe
der verflossenen Jahrhunderte. H. vertritt die Ansicht, daß die Zigeuner in der Slowakei
zum erstenmal in den ersten drei Jahrzehnten des 13. Jhs auf tauchten. Ihr politischer und
wirtschaftlicher Status wechselte ständig zwischen Privilegien, sich frei zu bewegen, und
Repressalien, sie zur Seßhaftigkeit zu zwingen. Die erfolgreichsten Maßnahmen zu dem
zuletzt genannten Zweck erfolgten unter der Herrschaft von Maria Theresia und Joseph II.
Dennoch änderte sich die Lage der Zigeuner auch in späterer Zeit nicht wesentlich. Unter
den kapitalistischen Verhältnissen gab es keine Möglichkeiten, das primitive Dasein der
Zigeuner zu bessern. Während des zweiten Weltkrieges verschlimmerte sich ihre Lage
infolge der rassistischen Diskriminierung. Erst die sozialistische Gemeinschaft nach dem
zweiten Weltkrieg sicherte den slowakischen Zigeunern die volle kulturelle und wirtschaft-
liche Gleichberechtigung.
Die Lebensweise der slowakischen Zigeuner wird im zweiten Teil des Buches behandelt.
Die Ethnogenese der Zigeuner, die man mit historischen Methoden kaum erschließen kann,
läßt sich durch das Studium der ethnischen, ethnopsychischen und sprachlichen Besonder-
heiten größtenteils erklären. Hier kommt die Ethnographie der Geschichte zur Hilfe und
ergänzt die vorhandenen Lücken. Die heutige Lebensweise der Zigeuner und ihre Vorliebe
für gewisse Beschäftigungen läßt auf ihre Kultur in der ehemaligen Urheimat schließen.
Die Erhaltung und Behauptung der altertümlichen Lebensart ist ohne Zweifel die Folge
ihrer Abgeschlossenheit. Die beliebtesten Tätigkeiten der Zigeuner weisen auf die gesell-
schaftliche Kastendifferenzierungen in Indien hin. Die dortigen Parias waren auch Spieler,
Tänzer, Pferdepfleger, Schmiede u. ä. genau so wie die Zigeuner in Europa. — Ihre Vor-
382
Besprechungen
liebe für Musik besteht auch in der Slowakei. Sie übernahmen die Musik der einheimischen
Bevölkerung, änderten sie aber und interpretierten sie auf eigene Art und Weise. Leider
wird aber von der Verf. die Frage der sogenannten „Zigeuner-Musikleiter“ nicht näher
untersucht, obwohl ein komparatives Studium gerade dieser Dinge vieles zur Problematik der
ursprünglichen Zigeunermusik beitragen könnte. — In diesem Kapitel werden weiterhin
einzelne sowie ganze Gruppen auf gezählt, die sich im Laufe der Jahrhunderte zu echten
Künstlern entwickelten und beim Volke sowie auf den Feudalhöfen bekannt waren. —
Im Schmiedehandwerk scheinen die Zigeuner gewisse technologische Prozesse meisterhaft
beherrscht zu haben, die die einheimische Bevölkerung nicht kannte. Obwohl die Verf.
gerade diese Betätigung ausführlich untersucht hat, ist es schade, daß sie die entsprechende
Folklore übergangen hat. Vieles Mythologische und Sagenhafte wäre hier zu nennen ge-
wesen. (So wird z. B. der Amboß bei serbischen Zigeunern als Heiligtum geschätzt, und die
einheimische Bevölkerung schenkt ihnen nur dann Glauben, wenn sie beim Amboß schwö-
ren.) — Auch noch einige andere Handwerke und Tätigkeiten haben bei den Zigeunern
eine alte Tradition. Die Pferdezucht z. B., behauptet die Verf., sei noch in Indien oder
während ihrer Wanderung in Kleinasien übernommen worden. Sie betont besonders ihre
Geschicklichkeit, die Pferde zu dressieren und zu heilen; eine Kunst, die auch die einheimische
Bevölkerung von ihnen lernte. Doch sie wurde im Pferdehandel von den Zigeunern meistens
übervorteilt und betrogen. Über Wahrsagerei, Diebstahl und andere Betrügereien wird
ebenfalls berichtet. — In weiteren Kapiteln werden Nahrung, Bekleidung und Wohnungs-
wesen behandelt. Auch für diese Kulturgüter stellt H. oft archaische Elemente fest, die man
bei der einheimischen Bevölkerung nicht antreffen kann. Die Übergangsformen zur mo-
dernen Lebensweise, die bei den slowakischen Zigeunern in starkem Maße vorhanden
sind, zeigen interessante Erscheinungen. So trifft man bei ihnen z. B. besondere Vorliebe
für gewisse Farben, die man für die Verzierung der Wohnungen und der Bekleidung an-
wendet, was für die Ethnopsychologie der Zigeuner von Bedeutung sein kann. — Im
Kapitel über Heilmethoden und Hygiene werden die traditionellen volksmedizinischen
Verfahrensweisen besprochen. Obwohl diese bei den slowakischen Zigeunern viele ma-
gische Formeln enthalten, auch mythische Elemente aufweisen, fußt jedoch ein wesentlicher
Teil ihrer Heilmethoden auf einer empirischen Erkenntnis der Natur. Es genügt, nur das
Anfrieren kranker Zähne zu erwähnen, was mit Hilfe von Chlor-Äthylen auch in der mo-
dernen Zahnmedizin an gewendet wird.
Vom Ethnologischen her ist das Kapitel über Familienleben und gesellschaftliche Be-
ziehungen das interessanteste. Hier spiegeln sich viele archaische Elemente der geistigen
Kultur wider, die in der Menschenpsychologie tiefer verwurzelt sind als die Erscheinungen
der materiellen Kultur. — An der Spitze einer Gruppe stand ein Vajda, der bei wandernden
Zigeunern Mujalo, bei seßhaften aber Cibalo genannt wurde. Als Zeichen seines Amtes
trug er ein Szepter mit magischen Symbolen. Sein Urteilsspruch wurde mit der traditionellen
Peitsche bekräftigt. Das weibliche Ebenbild des Vajda war Phuri daj, das Mütterchen,
welches die magischen Formeln gut kannte und eine wichtige Rolle bei der Behandlung
der Kranken spielte. — Sitte und Brauchtum der Zigeuner enthalten viele Analogien der
indoeuropäischen Völker. Um die wichtigsten Lebensereignisse, wie Geburt, Hochzeit oder
Tod, sind viele Gebräuche gruppiert. Bei der Geburt hatte die „Phuri daj“ die Rolle der
alten Frau, einer gut bekannten Person im Geburtsritual der europäischen Völker. Die
Dreiheit der mythischen Schicksalfrauen, die Urmi der Zigeuner, findet ihre Analogie in
der Dreiheit der Moiren bei Hellenen, der Parzen bei den römischen Völkern, der Nomen
bei den Germanen oder der Sudice bei den Slawen. Bei der Taufe wird die Rolle der drei
Elemente: Wasser, Feuer und Erde besonders betont. Die unmittelbare Berührung mit
Erde und Wasser — das Taufen wurde in einer ausgegrabenen und mit Wasser gefüllten
Grube vorgenommen — hatte eine weitere Kultbedeutung: Die Erde sollte bei dieser Ge-
legenheit dem Kind Kraft verleihen.1 — Die Heirat beruhte im allgemeinen auf dem
1 Dieser Volksglauben begegnet uns auch in Begräbnisbräuchen. Manche Völker
legten den Sterbenden auf die Erde, damit sie die verliehene Kraft zurücknehme und ihm
so zum Sterben verhelfe.
Besprechungen
383
Prinzip der sogenannten Endogamie, aber nicht nur im Sinne der Sippenzugehörigkeit,
sondern auch in Bezug auf die ausübende Tätigkeit. Die Ehe einer Schmiedetochter mit
einem Muldenhauer galt so viel wie die Ehe mit einem Nichtzigeuner. Die Hochzeitszeremo-
nie besorgte der „Vajda“. Er verteilte an die Eheleute Salz und Brot und begoß sie mit Wasser.
— Der Glaube an das jenseitige Leben war stark vertreten. Er spiegelt sich auch in den
Beerdigungsbräuchen. Man legte Geld und die beliebtesten Gegenstände dem Toten ins
Grab und befolgte dabei ein bestimmtes Ritual. Über die Verstorbenen durfte weder eine
Katze noch ein anderes Tier laufen. Die Witwe schnitt sich das Haar ab. Wenn dem Toten
die Augen nicht geschlossen waren, bedeutete es, daß ihm noch jemand folgen werde. Für
alle diese Vorstellungen kann man Parallelerscheinungen auch bei anderen Völkern finden.
Die Religion der Zigeuner basierte auf einem Polydämonismus. Die wichtigsten Dä-
monen waren die der Natur. In manchen Gebräuchen ist ein Erdkultus ausgeprägt; die
Zigeuner nennen auch heute noch die Erde ihre Mutter (Terra mater der indoeuropäischen
Völker). Es waren ihnen auch Mythen aus dem Bereiche der Theogonie und Kosmogonie
bekannt, sowie viele totemistische Auffassungen. Sie glaubten an die Macht der bösen
Augen und an die apotropäische Kraft des Pferdekopfes; der Kuckuck und der Rabe
galten als unheilverkündende Vögel. Wenn der Traum richtig gedeutet wird, kann er in Er-
füllung gehen. Allgemein verbreitet war auch die Sitte, einen Tabunamen zu besitzen.
Jeder hatte drei Namen, aber den Tabunamen wußte nur die Mutter. Die slowakischen
Zigeuner kannten im allgemeinen keinen Fruchtbarkeitskult. Sie pflegten aber ein ähnliches
Brauchtum, wenn sie auf eine nutzbringende Einnahme hofften.
Im Schlußkapitel behandelt H. das Leben der slowakischen Zigeuner unter den sozia-
listischen Verhältnissen und stellt fest, daß sie alle ansässig und in der Arbeitsproduktion
tätig geworden sind.
Diese Abhandlung ist ein Erstlingsbuch dieser Gattung in der Slowakei. Die Verf. be-
merkt mit Bescheidenheit, daß es nur erste Untersuchungsergebnisse enthält. Das Material
ist gut gegliedert und wird stilistisch wie terminologisch präzis verständlich dargeboten.
Slobodan Zeöeviö, Beograd
Hans VON Hentig, Vorn Ursprung der Henkersmahlzeit. Tübingen, J. С. B. Mohr (Paul
Siebeck), 1958. VII, 276 S.
Der Strafrechtler H. legt mit diesem Buch seine erweiterte Bonner Antrittsvorlesung aus
dem Jahre 1934 vor. Der lange Zeitraum des Durchdenkens und Ausarbeitens hat dem
Buch zu großer Reife verholfen, so daß das makabre Problem der Henkersmahlzeit vom
rechtsgeschichtlichen und volkskundlich-religionsgeschichtlichen Standpunkt her gut auf-
gearbeitet vor uns liegt. Die drei ersten Kapitel sind dem Phänomen als solchem gewidmet:
der Verurteilte, der „das Mißgeschick verkürzten Lebens“ erleidet, erhält das Mahl oder
auch sonstige Wunscherfüllungen als letzte Gunst. Er soll damit günstig gestimmt werden,
versöhnt die Welt verlassen. Es ist die Furcht vor dem Groll des Sterbenden, es sind weit-
gehend archaische Vorstellungen von den unheimlichen Kräften des lebenden Leichnams,
die dieser Sühnemaßnahme zugrunde liegen. Für einen solchen apotropäischen Charakter
der Henkersmahlzeit weiß der Verf. eine Fülle von überzeugenden Belegen und verbinden-
den Gedanken auszubreiten. Seinen Schlußfolgerungen im 4. und 5. Kap. dagegen, mit
denen er die Henkersmahlzeit als kultisches Gemeinschaftsmahl zwischen Toten und Le-
benden ausweisen möchte, vermag der Volkskundler nicht zu folgen. Es muß an dieser
Stelle auf die nicht zu übertreffenden Ausführungen Kurt Rankes zu diesem Problem ver-
wiesen werden (vgl. ZfVk 55, 1959, 136 —142).
Ingeborg Weber-Kellermann, Marburg/Lahn
384
Besprechungen
Tekla Dömötör, Naptdri ünnepek — népi szinjätszäs (Die Festbräuche im Jahreslauf
und das Volksschauspiel). Budapest, Akadémiai Kiadô, 1964. 272 S., 24 Abb. Dt. Res.
Mit der Erforschung der Volksbräuche und des Volksschauspiels in Ungarn wurde um
die Mitte des vorigen Jahrhunderts begonnen. Bereits bei der Publikation der ersten Samm-
lungen ergab sich die Frage, was für ein Zusammenhang zwischen den einzelnen Jahres-
bräuchen und den behandelten dramatischen Volksschauspielen in Ungarn bestehe. In
unserem Jahrhundert befaßten sich mehrere Forscher mit diesem Themenkreis; von ihnen
sind besonders Gyula Sebestyén, Käroly Viski, sowie die sich auch mit dem deutschen
Volksschauspiel in Ungarn befassenden Forscher Jôzsef Ernyey, Géza Karsai und Leopold
Schmidt zu erwähnen. Die historisch-ethnischen Schichten aller ungarischen Volksbräuche
und ihre europäischen Parallelen wurden von Géza Rôheim in hervorragender Weise
untersucht. Die Forschungen über das ungarische Volksschauspiel waren aber dennoch
um die Mitte der vierziger Jahre fast auf einem toten Punkt angelangt. Die 1947 erschienene
wissenschaftshistorische Zusammenfassung von Linda Dégh A magyar népi szinjdték
kuiatàsa (Forschungsgeschichte der ungarischen Volksschauspielkunst) weist bereits darauf
hin, daß die Untersuchungen über das Volksschauspiel in Ungarn ohne neue Quellen-
studien und ohne eine neue Perspektive nicht erfolgreich weiter betrieben werden können.
In den letzten beiden Jahrzehnten ist dann auf diesem Gebiet eine erfreuliche Veränderung
vor sich gegangen und eine umfangreiche wissenschaftliche Arbeit durchgeführt worden.
Große Textsammlungen, wie György Kerényi, Gyermekjdtékok (Kinderspiele mit Sing-
weisen) Budapest 1951; Ders., Jeles napok (Volkslieder der Kalenderbräuche). Budapest
1953; Tibor Kar dos — Tekla Dömötör, Régi Magyar Drdmai Emléker (Alte ungarische
Dramadenkmäler). I—II. Budapest i960, wurden veröffentlicht und ermöglichten die neue
monographische Zusammenfassung über ungarische Volksschauspiele und dramatische
Festbräuche, die jetzt Tekla Dömötör vorgelegt hat. — Bereits in ihren früheren Studien1
sind nicht nur die zu einer solchen neuen Synthese notwendigen philologischen Vorarbeiten
anzutreffen, sondern auch zahlreiche theoretische Fragen, die zu einer historischen und ver-
gleichenden Untersuchung der ungarischen Festbräuche unerläßlich sind.
Das vorliegende Werk gliedert sich in drei größere Kapitel. Im ersten befaßt sich die
Autorin mit allgemeinen Fragen, mit der zeitlichen Fixierung der Festbräuche und des
Volksschauspiels usw. Es werden hier auch die europäischen Beziehungen der ungarischen
Folklore, die mutmaßliche historische Schichtung der Zeitrechnung, der Festzyklen, der
Einweihung und der Masken erwogen. Wir erhalten so als Einleitung eine gute Übersicht
über die wichtigsten Phasen der Geschichte des ungarischen dramatischen Brauchmaterials.
— Im zweiten Kapitel gibt D. einen historischen Überblick über die einzelnen ungarischen
Festbräuche nach Festkreisen geordnet (Fasching, Ostern, Maibräuche, Pfingsten, Johanni,
Weihnachten, Tag der unschuldigen Kinder, Neujahr, Dreikönige u. a., aber auch Gregori-
tag, Blasiustag, die Tage, an denen die „Bösen“ umgehen, weitere kirchliche Festtage
usw.). — Im dritten Kapitel werden schließlich die bei den Festbräuchen üblichen Texte
einer Analyse unterzogen. D. beschäftigt sich hier sowohl mit den Schauspieltexten im
engeren Sinne, als auch mit den im Rahmen der Festbräuche üblichen Texten überhaupt,
stellt deren formelhafte Teile vor und verweist, wo es möglich ist, auf ihren historischen
Werdegang. — An dieses Kapitel schließt eine Sammlung von typischen Textbeispielen an.
— Als Mangel des sonst gut redigierten und geschmackvoll ausgestatteten Werkes muß die
schlechte Qualität der Fotos, das Fehlen eines ausführlichen Registers und die zu knappe
1 Außer der bereits erwähnten kritischen Textausgabe sind noch folgende zu erwähnen:
A passiôjâték (Die Passionsspiele). Budapest 1936; Régi magyar vigjâtékok (Alte ungarische
Komödien). Budapest 1954; Tôrténeti rétegek a magyar népi szinjâtszâsban (Historische
Schichten im ungarischen Volksschauspiel). Ethnographia 68 (1957) 253 — 269; „Regele“
Monday — The First Monday after Epiphany. Acta Ethnographica 8 (1959) 1—25; Un-
garischer Volksglauben und ungarische Volksbräuche zwischen Ost und West. In: Europa
et Hungaria. Congressus Ethnographicus in Hungaria 16. — 20. X. 1963, Budapest (Budapest
1965) 311 —323.
Zusammenfassung in deutscher Sprache vermerkt werden. Da auch eine Übersetzung der
Bildtitel und des Inhaltsverzeichnisses fehlen, kann die internationale Forschung von dem
anregenden Gedankenreichtum dieses Werkes kaum einen Eindruck bekommen.
D.s Methode besteht darin, daß sie die im Zusammenhang mit den einzelnen Teilproble-
men auftauchenden wichtigsten Angaben und Meinungen kurz zusammenfaßt, auf die
internationale Fachliteratur der Frage verweist und dann ihre eigene Ansicht formuliert.
Mit dieser Methode ist auch jene selten gewordene Philologentugend verbunden, die darin
besteht, daß die Autorin sich an mehreren Stellen mit dem Verweisen auf die Probleme
beschränkt, auf die eventuellen Forschungsschwierigkeiten hinweist und nicht bestrebt ist,
die Frage um jeden Preis klären zu wollen, was besonders bei den historischen Abschnitten
nur zu Hypothesen führen würde.
D. nimmt z. B. auch Stellung zur Polemik um das Primat von Ritus oder Mythos — sie
entscheidet sich für das erstere — und weist darauf hin, daß gewisse ungarische Volks-
bräuche zwar in ihren „Brauchtumselementen“ mit denen anderer europäischer Völker
vergleichbar sind, daß die Auslegung der einzelnen Motive jedoch so weit voneinander
abweicht, daß die Bräuche selbst einander kaum gleichgestellt werden können. Diese Auf-
fassung ist in der heutigen ungarischen Brauchforschung um so berechtigter, als die Be-
deutung von neuentdeckten und tatsächlich auch vorhandenen europäischen Parallelen
von den Forschern in zahlreichen Fällen überbewertet worden sind.2 — Nüchtern und
kritisch wendet sich die Verf. gegen die „an Sonnenfeste gebundene Bräuche“ oder gegen
die These vom schamanistischen Ursprung des Schauspiels und stellt fest, daß nur verschwin-
dend wenige Bräuche den Hinweis auf die Sonnenwenden lediglich in Spuren bewahren,
bzw. daß der Schamane im allgemeinen nicht Regisseur, ja nicht einmal ein Spieler mit
besonderer Funktion bei den verschiedenen Arbeitsriten der Sammlergesellschaft war. In
anderen Fällen weist sie darauf hin, daß die Forschungen noch nicht zur endgültigen
Klärung des betreffenden Fragenkomplexes herangereift sind. D. mahnt zur Vorsicht bei
der Interpretation von mythischen und ritusähnlichen Brauchtumselementen, über die auf
der ganzen Welt schon viele phantastische Hypothesen aufgestellt worden sind.
Bei der historisch-beschreibenden Untersuchung der einzelnen Bräuche mit ihren zahl-
reichen Problemen ist wiederum die nüchterne Betrachtungsweise der Autorin hervor-
zuheben. Es gibt kaum ein Brauchelement, das man nicht mit einer, weit von der Wirklich-
keit entfernten Phantasie interpretieren könnte. D. unterliegt dieser Gefahr jedoch in
keinem Falle. Sie weist vielmehr auf die in der Zukunft noch zu lösenden Probleme der
Forschung hin, z. B. darauf, daß die Volksbräuche um die Frühjahrsrute an keine einheit-
liche Tradition anknüpfen, daß auch die Quellen der mittelalterlichen Passionsspiele kaum
als einheitlich zu bezeichnen, daß die mit Pfingsten verknüpften Bräuche dem Ursprung
und den Quellen nach unterschiedlich sind, daß im historischen Material auch Bräuche Vor-
kommen (z. B. der wilde Mann in den Pfingst-, eventuell in den Faschingsbräuchen), die
in den entsprechenden Aufzeichnungen unbekannt sind, daß das Problem des sakralen
Königsmords noch ungelöst ist usw. Mit dem ausdrücklichen Hinweis auf internationale
Parallelen verwirft D. die alte Auffassung, daß die Wahl des Pfingstkönigs bzw. der Pfingst-
königin eine ungarische Eigenart wäre. — An anderen Stellen vermissen wir es jedoch,
daß die Autorin nur einige ausgewählte Details der einzelnen Bräuche untersucht und sich
nicht mit dem jeweiligen Gesamtkomplex beschäftigt. Besonders auffallend ist dies im
Falle eines der am meisten besprochenen ungarischen Festbräuche, des Regöles. Dieser
zum Winterfestzyklus gehörende, von Weihnachten bis zum Dreikönigstag belegte Brauch,
wird von mehreren Forschern als Rest des einstigen ungarischen Schamanismus, von
anderen dagegen als letzte Spur der ungarischen Heldenepik-Sänger angesehen. Diese
Vermutungen werden von sprachlichen Tatsachen unterstützt, wie z. B. von der Etymologie
des Wortes regöles selbst. Heute hat der Ausdruck die Bedeutung „etwas sagen, erzählen“
bzw. „die Regöles-Lieder singen, Paarungslieder singen“. Der Stamm des Wortes reg,
2 Vgl. hierzu Zoltän Ujväry, A magyar agrärritusok zoomorf demonaihoz (Zum Problem
der zoomorphen Dämonen in den ungarischen Agrarriten). Müveltseg es Hagyomäny 6
(1964) 129-152.
14 Volkskunde
386
Besprechungen
der finnisch-ugrischen Ursprungs ist, ist jedoch auch aus der älteren ungarischen Sprache
bekannt und hing dort mit Bedeutungen wie „verbergen, in Ekstase versetzen, in magische
Hitze versetzen, jemanden verzaubern“ zusammen.3 D. geht auf die Probleme leider
nicht ein und führt stattdessen nur eine Interpretation des regelö hetfo, des „geschworenen
Montags“ (ein Zunftbrauch im 16. bis 18. Jh. vor allem in Siebenbürgen) mit größter
philologischer Umsicht durch. Zu einem anderen Gegenstand, bei der Besprechung der
Bräuche des Luzientages, zitiert sie die ausgezeichnete Monographie von Kretzenbacher,
nach der das ungarische Brauchmaterial einen wichtigen Platz als Mischgebiet zwischen den
östlichen und westlichen Hexenaberglauben einnimmt; sie führt aber ihre eigene Meinung
im Zusammenhang mit diesen Problemen nicht aus, sondern weist nur auf ihre Besprechung
hin, in der sie dieses Problem behandelt hat (Rez. über Leopold Kretzenbacher, Santa
Lucia und die Lutzelfrau. In: Ethnographia 72, 1961, 474—476).
Im dritten Kapitel unternimmt sie, wie sie selbst sagt, den Versuch einer folkloristisch-
ästhetischen Analyse der Brauchtumslieder. Auf diesem vernachlässigten Gebiet ist eine
solche Untersuchung begrüßenswert, obwohl sie auch diesmal verschiedentlich nur bis zum
Stadium der philologischen Klärung vorgedrungen ist. Es ist sonderbar, aber wahr, daß
D. nach einem beinahe hundert Jahre währenden Schweigen als erste die Aufmerksamkeit
auf die ästhetische Schönheit der oft erwähnten und zitierten Texte lenkt. Ein besonders
fruchtbarer Gedanke scheint auf diesem Gebiet das Aufzeigen von Beispielen der Natur-
und Menschenbetrachtung in der Volksdichtung im Zusammenhang mit den Bräuchen
zu sein.
Leider fehlt der Arbeit ein zusammenfassendes Kapitel, das die Lehren aus den durch-
geführten Forschungen zieht. D. wird diese Ergebnisse vermutlich in ihren anderen Werken
veröffentlichen, die hoffentlich dicht nacheinander folgen werden. Die vorliegende Mono-
graphie selbst ist eine zuverlässige Grundlage für die ungarische Festbrauchforschung und
wird für lange Zeiten ihr grundlegendes Handbuch bleiben.
Vilmos Voigt, Budapest
3 Vgl. J. Baläzs, Über die Ekstase des ungarischen Schamanen. In: Glaubenswelt und
Folklore der sibirischen Völker. Hg. v. V. Diöszegi (Budapest 1963) 57 — 83.
Fasnacht. Beiträge des Tübinger Arbeitskreises für Fasnachtsforschung. Tübingen 1964.
177 S., Karten (= Volksleben. Untersuchungen des Ludwig Uhland-Inst. der Univ.
Tübingen, hg. von Hermann Bausinger unter Mitarbeit von Rudolf Schenda und
Herbert Schwedt, 6).
Auf Initiative des sehr rührigen Tübinger Ludwig Uhland-Institutes unter der Leitung
von Hermann Bausinger ist 1961 der Arbeitskreis für Fasnachtsforschung gebildet worden.
Ziel dieser Arbeitsgemeinschaft, in der sich Praktiker mit Theoretikern der volkstümlichen
Fasnacht zusammengefunden haben, ist es, der wissenschaftlichen Erforschung dieser
traditionellen und überaus lebensvollen Erscheinung des südwestdeutschen Volkslebens
neue Impulse zu verleihen. Man weiß, wie tausendmal abgeschriebene Brauchschilderungen
und manche vorgefaßte Meinung des 19. und 20. Jhs zu oftmals einseitigen Ausdeutungen
geführt haben. Es kommt den Teilnehmern an dieser Arbeitsgemeinschaft also darauf an,
von verschiedenen Standpunkten aus neue Daten und unmittelbare Beobachtungen zu
diesem Thema zu erarbeiten. Bei der ersten Besprechung des Arbeitskreises 1962 in Inzig-
kofen waren es Vertreter verschiedener Disziplinen, die zusammen mit den eigentlichen
Fachvolkskundlern neue Ansätze und Wege für eine umsichtig und systematisch angelegte
Untersuchung aufzuzeigen versucht haben. Die Referate, die auf dieser Tagung gehalten
wurden, hat nun Hermann Bausinger in verdienstvoller Weise im Band 6 der von ihm ge-
leiteten Schriftenreihe „Volksleben“ veröffentlicht und somit in einem weiteren Rahmen
zur Diskussion gestellt.
Bausinger selbst gibt zu Beginn des Bandes eine Einführung in den gesamten Fragenkreis
von Fasnacht und Fasnachtforschung (5 — 14). Ihm ist es darum zu tun, den Blick hinter die
Besprechungen
387
heute nur allzu sehr hervorgekehrte Schaufassade der schwäbisch-alemannischen Fasnacht
zu lenken — man denke nur an Rottweil, Villingen, Elzach, Wolfach u. a. m. — und das
Forschungsinteresse stärker auf jene vielen hundert Dörfer und Städtchen hinzuleiten, wo
das Fasnachtstreiben gleichfalls sein altes Herkommen und mannigfaltiges Formengut
besitzt. Eben diese Vielfalt der Bräuche, die sich dem Beobachter hier auftut, verbiete es,
Herkunft, Sinn und Grund der Fasnacht einseitig und eindeutig zu erklären: die Fasnacht
ist „ein historischer Komplex, es handelt sich (bei dieser) um konkrete, zusammengewach-
sene Bräuche, von denen nur weniges in die Vorgeschichte zurückführt, und von denen
auch nur einzelne Elemente jene ackerbäuerliche Substanz auf weisen, die den Vergleich
mit den Bräuchen der Naturvölker rechtfertigt“ (7). B. hebt in seiner knappen Charakteri-
sierung der Fasnacht eine Reihe von Komponenten hervor, die zusammen das heutige
Bild der volkstümlichen Fasnacht ergeben (Elemente des primitiven Maskenbrauches;
Stilisierungen der dörflichen und bürgerlichen Fasnacht durch Formen und Inhalte höfischer
Feste, besonders im deutschen Südwesten mit seinen vielen kleinen Territorien; Einwirkun-
gen kirchlicher Institutionen; Bedeutung des Mimischen und Theatralischen; Rolle des
Narrenrechtes als gesellschaftliches Regulativ usw.), und nennt eine Reihe wissenschaft-
licher Disziplinen — neben der Volkskunde die allgemeine Geschichte, Sozial- und Wirt-
schaftsgeschichte, Rechts- und Kirchengeschichte, Theaterwissenschaft und Kunstgeschichte,
Psychologie und Soziologie —, die alle ihren Beitrag zur Fasnachtsforschung zu liefern
haben. Hieraus ergab sich die Problemstellung und das Programm für die erste Zusammen-
kunft des Arbeitskreises, bei der drei historische Untersuchungen vorgelegt wurden und
je eine theologische, psychologische und soziologische Stellungnahme erfolgte.
Hans Moser (Die Geschichte der Fasnacht im Spiegel von Archivforschungen. Zur Be-
arbeitung bayerischer Quellen 15—41), der an der Bayerischen Landesstelle für Volkskunde
die intensive Archivforschung begründet hat, setzte sich zunächst mit der älteren Fasnachts-
forschung kritisch auseinander, um dieser dann die nüchternen Ergebnisse aus der Durchar-
beitung der bayerischen Archive gegenüberzustellen. Die Besonderheit der bayerischen Ar-
chiverhebungen liegt dabei nicht so sehr in der Methode, unveröffentlichtes Archivmaterial
für die historische Ergründung volkskultureller Tatbestände heranzuziehen, sondern in der
Art und Systematik einer allgemeinen Kulturforschung, die in weiterer Folge für die je-
weilige Untersuchung spezieller Themen nutzbar gemacht werden kann. Dieser Weg ist in der
Volkskunde als neu zu bezeichnen. Im weiteren weist Moser auf die Quellengruppen hin,
die für die archivalischen Fasnachtserhebungen in Frage kommen. Die Darstellung der Ent-
wicklung des bayerischen Faschings seit dem Hochmittelalter, die M. anhand des bisher bearbei-
tetenQuellenmaterials gibt, gewährt eine Fülle von bedeutenden, jeglicher hypothetischer Inter-
pretation befreiter Einsichten, läßt aber gleichzeitig auch die Grenzen dieser Verfahrens-
weise erkennen. Dieses archivalische Material erschließt eben nur bestimmte Aspekte der
historischen Wirklichkeit; die einseitige Überbewertung rein historischer Fakten (quod non
est in actis, non est in mundo) birgt die Gefahr in sich, die wahren Verhältnisse und Zu-
sammenhänge zu verkennen.
Mit eben dieser Problematik setzt sich der Historiker Herbert Berner (Fasnacht undHistorie.
Möglichkeiten und Grenzen archivalischer Forschung 42 — 71) auseinander. Es werden in
diesem Diskussionsbeitrag Bedenken gegen eine umfassende „Entmythologisierung“ an-
gemeldet, die in „einer Abweisung der agrarischen Sphäre der Fasnacht aus einer gänzlich
positivistischen Einstellung heraus“ entsteht. Die archivalische Forschung in der Volks-
kunde ist eine wichtige und wertvolle „Hilfswissenschaft“, die in vielen Fällen jedoch nicht
in der Lage ist, die von ihr selbst geförderten Fakten aus sich heraus zu deuten. Hierfür
besitzt eben die Volkskunde ihre eigenständigen Methoden. B. tritt dafür ein, daß „das im
,Banne der Mythologie‘ (Moser) stehende Schrifttum des 19. Jhs sowie die im HDA um-
sichtig gesammelten Nachrichten und Deutungen nicht gänzlich auf die Seite gestellt
werden, sondern mit gebotener Vorsicht und Zurückhaltung benützt werden, sofern wir
den dürren archivalischen Zeugnissen über die Fasnacht Sinn und Inhalt abgewinnen
wollen“. Dieser Weg ist es, der heute von der sachlich eingestellten Volkskunde beschritten
wird und der gerade auch von Hans Moser in vielfältigen Arbeiten vorgezeichnet worden
ist. Anschließend an diese theoretischen Erwägungen führt B. Archivalien an, die für die
388
Besprechungen
volkskundliche Fasnachtsforschung in Baden-Württemberg ergiebig sein können. Ver-
schiedene Ergebnisse liegen auch aus diesem Land schon vor, eine systematische Sichtung
der historischen Quellen, wie sie beispielhaft in Bayern erfolgt, wurde jedoch noch nicht
eingeleitet. Für eine Bearbeitung bestimmter Archivaliengruppen „auf ihren uneinge-
schränkten volkskundlichen Gehalt“ hin wären ein oder zwei wissenschaftliche Planstellen
erforderlich.
Reinhard Wais (Die Fasnacht auf der Baar. Eine Deutung der Weißnarren auf kultur-
geschichtlicher Grundlage 72—79) führt die Entstehung des für die Narrenstädte der Baar
charakteristischen Typus der Weißnarren auf theatergeschichtliche Einflüsse zurück (Com-
media dell’arte, englische Kommödianten), womit der Verf. bestenfalls nur einen einzigen
Überlieferungsstrang erfaßt. Ebensowenig wie diese Deutung kann die Argumentation
befriedigen, daß das Fasnachtsbrauchtum keine Spuren des Fruchtbarkeitszaubers erkennen
lasse, weil nach Auskunft der Geburtenbücher der Baar-Gemeinden eine Häufung der
Geburten in den Monaten Oktober bis Dezember nicht festzustellen sei.
Theologische Aspekte der Fastnacht (80—98) behandelt Pfarrer Theodor Kurrus in einem
sehr aufschlußreichen Referat. Dem Liturgiehistoriker geht es hier vor allem um die Er-
hellung der schwierigen Zusammenhänge zwischen den Feiern des Kirchenjahres und den
verschiedenen Terminen der Fasnacht. Neben der Heortologie als Teildisziplin der Liturgik
hat sich von theologischer Seite aus besonders auch die Seelsorgepraxis mit dem volkstüm-
lichen Fasnachtsgeschehen auseinanderzusetzen.
Das Problem der seelsorglichen Beurteilung der Fasnacht leitet unmittelbar über zu den
Psychologischen und Psychohygienischen Fragen bei der Fasnachtsforschung (99 — 106),
denen sich der Mediziner Friedrich Schieder zuwendet. Doch scheint der volkskundlichen
Fasnachtsforschung aus den nur sehr allgemein gehaltenen Betrachtungen über die psychi-
schen Wurzeln und eine künftige Lenkung der Fasnachtsbräuche kein richtiger Nutzen
zu erwachsen.
Auf festem Boden stehen wiederum die Ausführungen von Herbert Schwedt Zur Pflege
des fas nächtlichen Brauchtums in Südwestdeutschland (107 —118). Der Verf. beschäftigt
sich mit der für die schwäbisch-alemannische Fasnacht charakteristischen Erscheinung der
vereinsmäßigen Organisation der Brauchgemeinschaften und der „Ästhetisierung der
Masken und Gewänder“ nach der letzten Jahrhundertwende und weist in diesem Zu-
sammenhang hin auf die merkwürdige historische Parallele der Stilisierung des Masken-
wesens im 17. und 18. Jh., die gerade für den südwestdeutschen Überlieferungsbereich so
kennzeichnend geworden ist.
Zwei Berichte von Wilhelm Kutter {Der Plan einer kartographischen Darstellung zur
schwäbisch-alemannischen Fasnacht 119 —127, mit 2 Kartenbeispielen) und Martin Scharfe
{Die Fasnachtserhebungen des Tübinger Ludwig-Uhland-Instituts 128 —131), eine Biblio-
graphie zur südwestdeutschen Fasnachtsforschung (162 — 155) mit 340 Nummern sowie
sorgfältige Register der Personennamen, Sachen und Orte beschließen diesen im gleichen
Maße inhaltsreichen und anregenden Sammelband.
Klaus Beitl, Wien
Jozef Van Haver, Nederlandse lncantatieliteratuur. Een gecommentarieerd compendium van
Nederlandse Bezweringsformules. Gent, Secretariaat van de Koninkslijke Vlaamse Acadé-
mie Nederlandse Bezweringsformules. Gent, Secretariaat van de Koninkslijke Vlaamse
Academie voor Taal- en Letterkunde, 1964. 506 S.
Rund ein halbes Jahrhundert nach A. Chr. Bangs Norske Hexeformular er og Magiske
Opskrifter (1901/02) und F. Ohrts Danmarks Trylleformler (1917 und 1921) erschien jetzt
J. Van Hävers Werk über die niederländische Incantationsliteratur. Mit dieser von der
Königlichen Flämischen Akademie für Sprach- und Literaturwissenschaft in Gent preis-
gekrönten Arbeit ist die europäische Segenforschung um ein Standardwerk bereichert
worden. Wie seit rund 50 Jahren der Wunsch nach einem umfassenden Sammelwerk der
deutschen Segen- und Beschwörungsformeln laut wurde, so kam immer wieder, besonders
Besprechungen
389
nachdrücklich durch G. Storms (1948), der Wunsch nach einer Zusammenfassung aller
niederländischen Beschwörungsformeln und Zauberpraktiken in einem Werk zum Aus-
im besonderen über die Beschwörung von Krankheiten vor, doch die großen, eine Synthese
vollziehenden Werke fehlten. Zwar liegt für die deutsche Segenforschung das nunmehr rund
28000 Belege umfassende Material des Corpus der deutschen Segen und Beschwörungsformeln
im Berliner Akademieinstitut für Volkskunde bereit, doch ist es, wie V. H. bedauernd fest-
stellt, bisher nicht publiziert worden. Um so erfreulicher ist es, daß das niederländische,
von V. H. zusammengetragene Material zur Drucklegung gebracht werden konnte. Daß
mit den veröffentlichten 1116 Formeln der Fundus der niederländischen Incantations-
literatur noch keineswegs ausgeschöpft ist, liegt auf der Hand, denn V. H. mußte sich auf
die in der Formulierung der Preisfrage gesteckten Grenzen beschränken. Gefordert war ein
kommentiertes Kompendium der flämischen und nordniederländischen, in Büchern und
Zeitschriften verstreuten Zauberformeln mit Besprechung des Inhalts und der Form
(vgl. S. 28). Damit schieden vorerst alle handschriftlich oder mündlich überlieferten For-
meln aus. Ihre Erfassung aber hätte die Arbeit vieler Jahre vorausgesetzt, wie die Arbeit
am Corpus der deutschen Segen und Beschwörungsformeln zeigt, in dem auch die handschrift-
lichen deutschen Formeln erfaßt werden. Die durch die Aufgabenstellung gegebene Ab-
grenzung erwies sich als äußerst dienlich für eine baldige Drucklegung.
Die 29 Seiten umfassende, vorzügliche Einleitung dürfte alle Segenforscher interessieren,
denn hier werden grundsätzliche Probleme angeschnitten und konsequent durchdacht.
Aus der Fülle seien nur einige Themen heraus gegriffen: Die Wahl des Terminus Incanta-
tionsliteratur erfährt eine stichhaltige Begründung und sollte u. E. von der europäischen
Segenforschung übernommen werden. Das Klassifikationssystem ist gleichfalls zu bejahen.
V. H. wählte das beste Einteilungsprinzip für die Texte, nämlich die Ordnung nach dem
jeweiligen Verwendungszweck der Formel. Das so entstandene Schema ermöglicht eine
Einordnung aller vorkommenden Segen und Beschwörungsformeln. Seine Zweckmäßig-
keit ist evident. Doch trifft es nicht zu, daß es weder in den Niederlanden noch im Ausland
bisher eine Systematik für das gesamte Gebiet der Incantationsliteratur gab (vgl. S. 29).
Die Van-Haversche Ordnung stimmt weitgehend mit der deutschen überein, die im wesent-
lichen schon in dem von Hepding und Spamer 1908 entworfenen und von Spamer
endgültig formulierten Aufruf zur Sammlung der deutschen Segen- und Beschwörungs-
formeln des „Verbandes der deutschen Vereine für Volkskunde vom Jahre 1914 gedruckt
vorliegt. Darüber hinaus gleicht sie bis auf kleine Abweichungen der Systematik des Corpus
der deutschen Segen- und Beschwörungsformeln, die von Spamer um 1948 endgültig auf-
gestellt wurde. Allerdings ist die vollständige Systematik bisher nicht veröffentlicht, aber
das Grundschema wurde von der Rez. 1962 vorgelegt (Das Corpus der deutschen Segen-
und Beschwörungsformeln und sein Typenkatalog. Forschungen und Fortschritte 36, 304
bis 307). Dort wurde auch mitgeteilt, daß die jeweiligen Objekte des Besprechens, also z. B.
die Krankheiten, alphabetisch geordnet sind und daß innerhalb jeder Gruppe die Texte
laufend numeriert werden. Wir haben diese Art der Numerierung der fortlaufenden Zäh-
lung der Texte ohne Berücksichtigung der Gruppen, die V. H. in seinem Kompendium
vorgenommen hat, vorgezogen, weil sie das Einfügen von Textzugängen stets ermöglicht,
was sonst nicht durchführbar wäre. Die konsequente Anwendung der niederländischen
Systemvariante auf niederländische Texte beweist, daß die alte deutsche Systematik auch
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druck. Wohl lagen zahlreiche wertvolle Studien über volksheilkundliche Auffassungen und
390
Besprechungen
Textanalysen unterscheidet sich der allgemeine Kommentar, der nach V. H.s Absicht die
Synthese aller in den Formeln und Anmerkungen enthaltenen Einzelelemente hersteilen
und einen Überblick über die allgemeinen Kennzeichen der niederländischen Incantations-
literatur vermitteln soll (vgl. S. 30). Man darf wohl behaupten, daß dem Verf. diese Synthese
gelungen ist und sein umfangreicher Kommentar (91 Seiten) die Frucht eines tiefgründigen
Eindringens und Durchdringens dieser komplizierten Materie darstellt.
Der in zwei Hauptabschnitte gegliederte Kommentar behandelt zuerst Form und Stil,
wobei die Einkleidung der Formeln, die Formelemente und die Stilelemente gründlich
untersucht werden. Die Analyse des Inhalts erfolgt hinsichtlich der primitiven Auffassungen
und Symbole, der Motive, der Analyse anderer Gegebenheiten und sonstiger Einflüsse.
Auf Einzelergebnisse dieses vorzüglichen Kommentars im Rahmen einer Rezension ein-
zugehen, würde zu weit führen. Auf jeden Fall sind V. H.s Darlegungen von größter
Wichtigkeit für jede weitere Forschung auf dem Gebiet der Segen und Beschwörungen.
Der Verf. betont selbst in der Einleitung (S. 30), daß ein tieferes Eingehen auf die zahl-
reichen Probleme, insbesondere im Zusammenhang mit Typen und Motiven, nicht in dem
ihm gestellten Rahmen möglich war und daß dafür weitere Untersuchungen „zumindest
auf westeuropäischer Basis“ erforderlich wären. Auf Grund unseres deutschen Materials
möchten wir empfehlen, solche Untersuchungen auf europäischer Basis in Angriff zu
nehmen.
Wir greifen zurück auf die Einleitung, die gleichsam der Schlüssel zu V. H.s Werk ist.
Hier schneidet er eine Reihe problematischer Forschungsfragen an, so z. B. die Fragen der
Einbeziehung der von ihm als Volksgebete bezeichneten Segengruppen, der Zurechnung von
Segen und Beschwörungen zur Magie und der fließenden Grenzen zwischen Krankheits-
besprechungen und Volksmedizin. Die Ausführungen über Historische Anmerkungen und
Quellen (S. 32 — 38) zeigen, daß die Quellenlage für das niederländische Sprachgebiet seit
dem Mittelalter außerordentlich günstig ist. Die Erläuterungen über Entstehung, Ent-
wicklung und Bewahrung umreißen den historischen und psychologischen Hintergrund, die
Rolle der Kirche und die weitere Entwicklung. Besonders beachtenswert ist die Mitteilung,
daß es nur ein einziges niederländisches Werk mit Beschwörungsformeln gibt, nämlich
De duioelgeesel, die im 19. Jh. gedruckt wurde, während zahlreiche niederländische Sagen
von Zauberbüchern und bösen Büchern erzählen. Treffend ist auch die gesellschaftliche
Stellung des Beschwörers charakterisiert und klar abgegrenzt gegen den Quacksalber. Die
im Abschnitt Beschwörung, Segen, Gebet und Zauberspruch vorgelegten terminologischen
Erläuterungen führen gut ein in die vielfältigen Definitionsbemühungen und in die Frage
nach dem Verhältnis von Glaube und Aberglaube. Der Anmerkungsapparat zur Einleitung
enthält manchen wichtigen Hinweis. Ein ausgezeichnetes Literaturverzeichnis ist bei-
gegeben.
Es bedarf kaum mehr der Betonung, daß solche mustergültigen Werke für jedes euro-
päische Sprachgebiet wünschenswert wären, damit endlich einmal die Basis für inter-
ethnische Vergleiche auf dem Gebiet der Incantationsforschung gelegt würde.
Johanna Jaenecke-Nickel, Berlin
Monika Jaeger, Theorien der Mundartdichtung. Studien zu Anspruch und Funktion.
Tübingen, Tübinger Vereinigung für Volkskunde e. V., 1964. 90 S. (= Volksleben.
Untersuchungen des Ludwig-Uhland-Inst. der Univ. Tübingen 3).
Der Volkskundler, dem sich Lücken im kulturhistorischen Bild einer Landschaft zeigen,
die aus direkten Quellen nicht zu schließen sind, wird oft mit Nutzen die regionale Mundart-
dichtung zu Rate ziehen. Diese Dichtung ist meist nicht nur sprachlich, sondern auch
stofflich und gedanklich in hohem Maße dem von der Mundart bestimmten geographischen
Raum und sozialen Milieu verhaftet; und manche Werke eines Fritz Reuter, John Brinck-
man oder Johannes Gillhoff — um drei Mecklenburger herauszugreifen — verraten geradezu
Besprechungen
391
so etwas wie ein volkskundliches Interesse ihrer Verfasser. Es lohnt sich deshalb, der Frage
nachzugehen, inwieweit es solchen Autoren darum ging, eine realistische Darstellung
heimatlicher Verhältnisse zu geben, und inwieweit ihnen das geglückt ist.
Die Verf. vorliegender Schrift hat sich nüchtern und äußerst kritisch einer derartigen
Aufgabe zugewandt. Sie referiert zunächst anhand der wichtigsten Literatur über die „Ent-
deckung“ und Aufwertung der Mundart im 18. und 19. Jh., behandelt kurz die Bestrebungen
der Mundartforschung und Mundartpflege und spürt den Zusammenhängen zwischen
Mundartdichtung und Volkspoesie nach. Dabei geht es J. insbesondere um den Nachweis,
daß der von Herder gegebene Anstoß zu einer natürlicheren Dichtung bis zu dem Extrem
geführt habe, Natürlichkeit und Echtheit gerade in zivilisationsferner Heimatdichtung zu
suchen, deren meist mundartliches Sprachgewand sie mit einem ähnlichen Fluidum der
Ursprünglichkeit umgebe wie die von den Grimms als Naturpoesie definierte Volks-
dichtung.
Das wird im folgenden am Beispiel einiger Mundartdichter erläutert. J. beginnt mit
Johann Heinrich Voß, der in seinen beiden ländlichen Idyllen in plattdeutschen Hexametern
die „alte Sassensprache“ Wiedererstehen lassen wollte. Johann Konrad Grübel behandelte
in seinen Dichtungen in der Mundart Nürnbergs meist naiv-realistisch aktuelle Vorkomm-
nisse dieser Stadt, und Johann Peter Hebel gelang in seinen erinnerungsdurchtränkten,
kunstvoll naiven alemannischen Gedichten der Versuch, die Mundart seiner Heimat ins
Literarische zu erheben. Ein halbes Jahrhundert später versuchte der Dithmarsche Klaus
Groth mit noch größerem Erfolg, in seinem Quickborn Ähnliches für das Niederdeutsche zu
erreichen. Er trat aber mit weit größeren literarischen Ansprüchen vor die Öffentlichkeit,
denn seine berühmt gewordene Gedichtsammlung, eine mit geradezu wissenschaftlicher
Akribie entstandene poetische Verklärung des Volkslebens, sollte nicht nur die unerreichte
Ausdrucksfähigkeit und Schönheit des Niederdeutschen beweisen, sondern gleichzeitig
veredelnd auf das Volk wirken. So dichtete er in Mundart um der Nähe zum Leben willen
und strebte nach Lyrik von klassischer Vollendung. Kein Wunder deshalb, daß ihm das
lebhafte Echo auf die weit anspruchsloseren, derb-komischen Lauschen un Rimels Reuters
ein Dorn im Auge war und er schließlich erbittert dagegen zu Felde zog.
In diesem Dichterstreit, dem J. besondere Aufmerksamkeit widmet, sprach Groth den
„gemeinen“ Versen Reuters die Wirklichkeitsnähe ab, weil sie seinem hypothetischen Bild
vom einfachen, edlen Volk nicht entsprach, während Reuter — wie Prutz und später
Wienbarg — nachwies, daß Groth in einem korrumpierten Plattdeutsch weltfremde,
triviale Gedanken vorgetragen habe, die ihre Wirkung lediglich der Vorliebe des Publi-
kums für das Sentimentale verdankten. — Hier kristallisierten sich zwei Möglichkeiten der
Mundartdichtung heraus, die in der Folge immer wieder begegnen: die komisch-realistische
und die lyrisch-idealisierende Darstellungsweise. Während die komischen Mundartdichter,
denen J. Reuter hinzuzählt, versuchten, „der Wahrheit der Mundart und ihres Stoffes, des
Volkes“ (S. 54) durch eine möglichst realistische Zeichnung gerecht zu werden, wobei sich
das komische Element im Alltag als besondere Würze anbot, konstruierten sich die Dichter
der lyrischen Richtung eine natürliche, idyllische Welt, die meist schablonenhaft idealisiert
wurde. Dafür lassen sich aus jeder Landschaft Beispiele beibringen, und J. mustert zum Ab-
schluß ihrer Studie die schwäbischen Mundartdichter daraufhin durch.
Ein Mangel ist, daß die Untersuchung fast nur mundartliche Lyrik und theoretische
Äußerungen darüber berücksichtigt, „da die Lyrik als aus der Sprechsituation am weitesten
entfernte Äußerung eines einzelnen für die aus der gesprochenen Sprache schöpfende
Mundartdichtung die problematischste Gattung sein muß“ (S. 2). Dadurch wurde die
allgemeine Problematik von Anspruch und Funktion der Mundartdichtung von vornherein
einseitig auf ganz spezielle Fragestellungen ausgerichtet, was um so schwerer ins Gewicht
fällt, als die Verf. nicht der Gefahr entgangen ist, in die von ihr gewonnenen Ergebnisse
die Prosadichtung mit einzubeziehen. Diese steht jedoch nicht nur der gesprochenen Sprache
und dem volkstümlichen Erzählton weit näher, sondern hier dominiert meist auch eindeutig
der vorgegebene Stoff gegenüber der individuellen Formgebung, so daß z. B. der von J.
den Versen Reuters zuerkannte realistische Gehalt sich in dessen Romanen — wie in der
Prosa seiner Landsleute überhaupt — in ungleich stärkerem Maße ausgeprägt findet. Das
392
Besprechungen
muß man wissen, um auf Grund der in bezug auf die Mundartlyrik zweifellos interessanten
Darstellung J.s zu keinem falschen Bild von der Mundartdichtung überhaupt zu gelangen.
Siegfried Neumann, Rostock
Gunter Bergmann, Das Vorerzgebirgische. Mundart und Umgangssprache im Industrie-
gebiet um Karl-Marx-Stadt—Zwickau. Halle (Saale), VEB Max Niemeyer Verlag, 1965.
199 S. u. Kartenband (— Mitteldeutsche Studien 27).
Das dem westlichen Erzgebirge im Norden vorgelagerte Untersuchungsgebiet ist ge-
kennzeichnet durch die starke Zusammenballung von Industrie und die Anhäufung von
Städten. Den Mittelpunkt bildet Karl-Marx-Stadt, aber auch andere Orte stellen Zentren
des industriellen Verkehrs dar. Fast in jedem Dorf befinden sich moderne Industriebetriebe
und Arbeitersiedlungen. Von weither zieht die Industrie Menschen heran, aber „jedes
große Werk gewinnt seine Arbeitskräfte auch aus einem bestimmten Umkreis von Dörfern“
(S. 30). Die Erforschung der sprachlichen Verhältnisse dieser Industrie- und Städteland-
schaft moderner Prägung stellt natürlich grundlegend andere Fragen als die Nachbar-
gebiete; deshalb ist das Vorerzgebirgische bisher von der Dialektgeographie nicht erfaßt
worden.
In einer ausführlichen Einleitung behandelt der Verf. die sprachliche Situation des Vor-
erzgebirgischen. Er gibt einen Überblick über die Geschichte des Untersuchungsgebietes,
die Entwicklung der Städte und der Industrie und geht kurz auf die Landwirtschaft ein,
die jedoch eine untergeordnete Rolle spielt. Eine Karte mit Angaben über die Größe der
Orte und den Umfang des Arbeiterpendelverkehrs hätte die Ausführungen verdeutlichen
können.
Den breitesten Raum nimmt der Teil Grammatik und Dialektgeographie ein, und da
vor allem die Lautlehre (45 —125). Vom Mhd. ausgehend stellt B. die mundartliche Aus-
sprache der einzelnen Laute und Lautgruppen im Untersuchungsgebiet systematisch mit
mehreren Wortbeispielen dar. Er zeigt ihre geographische Verbreitung, verfolgt ihre ge-
schichtliche Entwicklung und geht auf Siedlungsvorgänge ein. Leider hat B. den Wort-
schatz nicht mit einbezogen, der doch zur Klärung der sprachlichen und siedlungsgeschicht-
lichen Vorgänge und der lautlichen Probleme hätte beitragen können. Er zeigt selbst an
einigen Beispielen, welche interessanten Ergebnisse daraus auch für die sprachsoziologische
Schichtung zu gewinnen sind.
Die sprachgeschichtliche Entwicklung teilt B. in drei große Etappen ein :
Die durch die Siedlung geschaffenenen sprachlichen Verhältnisse im Vorerzgebirge sind
bis in die Gegenwart bestimmend geblieben. Aus dem hessisch-thüringischen Raum ein-
gezogene mitteldeutsche Siedler trafen am Gebirgsrand mit den aus dem ostfränkisch-
mainischen Bereich stammenden zusammen. Es entstand die vorerzgebirgische Staffel-
landschaft. In der mittleren Periode (etwa 1300 bis 1850) sind Mischung und Aus-
gleich zu beobachten. Einige sprachliche Neuerungen ordnet B. den zwei bergmännischen
Besiedlungswellen des 14. bis 17. Jhs zu, andere führt er auf die spätmittelalterliche Ge-
schäfts- und Verkehrssprache zurück, die von Leipzig aus wirksam wurde. Da B. ältere
Quellen nicht ausgewertet hat, dienen als Beweismaterial für die Einordnung einer sprach-
lichen Neuerung in diesen Zeitabschnitt nur die mundartlichen Formen und ihre Ver-
teilung im Raum.
Die gegenwärtigen Sprachentwicklungen im Vorerzgebirgischen werden von der Um-
gangssprache beherrscht. Aus den oberen Sprachschichten werden zuerst neue Formen
übernommen und dringen bis zur Mundartschicht vor. Zunächst bilden die Städte und die
großen Industrieorte Inseln, die allmählich anwachsen. Vor allem Karl-Marx-Stadt erweist
sich in diesem Raum als bedeutender Mittelpunkt sprachlicher Neuerungen. Von ihm gehen
sprachliche Stöße aus, und mundartliche bzw. umgangssprachliche Formen werden trichter-
förmig angezogen (z. B. Karte 15). Um andere Städte herum wie Glauchau und Zwickau
setzen sich ebenfalls umgangssprachliche Formen durch. Der rege Verkehr läßt die Inseln
Besprechungen
393
heute schnell zusammenwachsen. Dadurch werden alte Sprachräume umgestaltet, und eine
neue Mundartlandschaft entsteht.
Auch an Nahtstellen zwischen den Flächen zweier Lauterscheinungen neigen die Sprecher
auf Grund der sprachlichen Unsicherheit dazu, in die Umgangssprache auszuweichen.
Dieser Ausweg muß jedoch nicht eintreten, wie mehrere mundartliche Kontaminationen
beweisen. Kennzeichnend im sprachlichen Leben ist die Auflösungserscheinung: Mund-
artliche Laute werden bewußt den schriftsprachlichen angenähert und erreichen jedoch
nur eine Zwischenstufe. Für mundartliches ö wird nicht hd. ä gesprochen, sondern ä
(Abb. 2). Ferner spielen die Zersetzungserscheinungen im Vorerzgebirgischen eine große
Rolle. In immer mehr Orten sterben die alten Mundartformen aus, es entstehen größere
Flächen. Die Beispiele zeigen, daß der Einfluß der höheren Sprachform die sprachliche
Aktivität nicht erliegen läßt.
Neue und wertvolle Erkenntnisse gewinnt B. aus seinen sprachsoziologischen Beobach-
tungen, die er zum Teil bereits im dialektgeographischen Teil angestellt hat. In diesem Ab-
schnitt seines Buches bringt B. die mundartlichen Merkmale nach sprachsoziologischen
Gesichtspunkten in ein geordnetes System. Jede sprachliche Form untersucht er auf ihre
soziologische Verbreitung und stellt sie dementsprechend in einer Tabelle zusammen. B.
kommt dabei zu einer Unterteilung in sechs Schichten: a) typische Vertreter der Stadt-
sprache, b) stark umgangssprachlich (= us.) beeinflußte Sprecher der Dorf Sprache, c) gering
us. beeinflußte Sprecher der Dorfsprache, d) Vertreter der Dorfsprache ohne mundart-
liches (= mda.) Selbstbewußtsein, e) sicher am Mda.-System festhaltende Sprecher, f) beste
(älteste) mda.-sicherste Sprecher. Aus der Tabelle wird die Reihenfolge ersichtlich, in der
die mundartlichen Formen abgelöst werden. Die auffallendsten Merkmale werden zuerst
aufgegeben. Es handelt sich dabei in der Mehrzahl um Einzelgänger im mundartlichen
Formensystem und um geographisch eng begrenzte Mundartmerkmale. Großen Einfluß übt
dabei die Haltung der Sprachträger aus. Während im Untersuchungsgebiet die auf den
konservativen Süden beschränkten Mundartmerkmale meist bis hinauf zur obersten Sprach-
schicht bewahrt werden, sind die im übrigen Teil üblichen gewöhnlich nur in den untersten
Schichten gebräuchlich. Die Beispiele zeigen, daß nicht nur geographisch, sondern auch
soziologisch oft jedes Wort im Bereich derselben grammatischen Erscheinung seine eigene
Verbreitung und Geschichte hat. — B. warnt (171) vor einem allzu formalistischen Hand-
haben der Tabelle. Nur sehr wenige der befragten Gewährsleute würden sich in allen Punk-
ten einer der Schichten einordnen lassen, weil jeder Sprecher sein eigenes Sprechsystem
aufgebaut hat. Ihren Einfluß machen dabei auch Gesprächssituation und Gesprächspartner
geltend. B. will mit der Tabelle das Typische ermitteln.
Aus den Ausführungen geht leider nicht hervor, welche Gruppen nach Beruf, Alter und
Geschlecht hinter den einzelnen Schichten stehen. Wenn es auch in jeder Gruppe viele ab-
weichende Ausnahmen geben kann (33), so hätte man sich hier doch genauere Angaben
darüber gewünscht, wie sich bestimmte Alters- und Berufsgruppen (Bauern, Bergleute,
Dorfhandwerker, Industriearbeiter) zur Mundart verhalten. Nur an einer Stelle (81) gibt
B. als Repräsentanten der untersten Schicht alte Bauern und Handwerker an. Dafür war
aber wohl die Anzahl der befragten Personen zu gering. B. hat in jedem der 70 Befragungsorte
von einer über 60 Jahre alten Person kurze Beispielsätze in die Mundart übertragen lassen.
Zwanzig Gewährsleute der mittleren Generation wurden ebenso befragt, in 25 Orten
wurden Aufnahmen mit jeweils drei oder vier Kindern vorgenommen. Um einen genaueren
Einblick in das Verhalten der einzelnen Berufsgruppen und in das sprachliche Leben der
Dorfgemeinschaft zu bekommen, hätte es vielleicht schon genügt, in nur einigen kleineren
Orten einen großen Personenkreis mit unterschiedlichen Berufen zu befragen und zu er-
mitteln, wieviel Einwohner noch die Mundart sprechen.
Zwei Abbildungen im Text und die in einem Sonderband vereinigten 22 Lautkarten,
leider ohne Verzeichnis, unterstreichen anschaulich die Ausführungen des Verfs.
Das Buch bereichert unsere bisherigen Kenntnisse über die sprachliche Entwicklung in
einer Industrielandschaft wesentlich. Es ist zu wünschen, daß diese methodisch so ge-
schickt angelegte Arbeit zu weiteren sprachsoziologischen Forschungen anregt.
Helmut Schönfeld, Berlin
394
Besprechungen
Friedhelm Hinze, Wörterbuch und Lautlehre der deutschen Lehnwörter im Pomoranischen
(Kaschubischen). Berlin, Akademie-Verlag, 1965. X, 534 S. (— Veröff. des Inst, für
Slawistik an der Dt. Akad. der Wiss. zu Berlin 37).
Die vorliegende Arbeit ist aus der langjährigen Beschäftigung des Autors mit der Heraus-
gabe des Pomoranischen Wörterbuchs von Friedrich Lorentz (Bd. x. Berlin 1958) erwachsen.
Sie umfaßt neben der hier nicht näher zu erörternden Lautlehre als umfangreichsten Teil
ein alphabetisches Wörterbuch (97 — 534), das übrigens auch die bei Lorentz noch nicht
publizierten Buchstaben R —Z enthält. Die deutschen Lehnwörter werden nach Lautstand,
Bedeutung und Herkunft einzeln untersucht, wobei neben knappen Wortartikeln auch
solche Vorkommen, die — namentlich bei schwieriger Etymologie — kleinen Monographien
gleichen.
Der Begriff Lehnwort wird vom Verf. recht weit gefaßt. Entsprechend dem besonders
starken Einfluß des Deutschen auf das Pomoranische während zweier geschichtlicher
Perioden liegt das Schwergewicht auf den Entlehnungen aus der Ordenszeit (13./15. Jh.)
einerseits und der preußisch-deutschen Administration (1772 — 1918) andererseits. Die
ältere Schicht zeigt zumeist niederdeutschen (spikf, pipa, Slopa u. a.), die jüngere mittel-
deutschen bzw. neuhochdeutschen Lautstand (draSooac, kraca, kloc u. a.). Aufgenommen
hat der Verf. aber auch in großer Zahl neueste Internationalismen wie aräst, blamirovac
sq, fiyüra, paragröf u. a., die dem Pomoranischen zweifellos über das Deutsche vermittelt
worden sind; daneben fehlen auch nicht solche Wörter wie1 krexta ,Vorhalle in der Kirche‘
oder kstölt ,Gestalt', die zwar etymologisch deutsch sind, ins Pomoranische jedoch erst
über das Tschechische und Polnische gekommen sind. Vermißt werden vom Rez. dem-
gegenüber nur wenige Wörter wie die bei Lorentz gebuchten kanclef ,Kanzler', karö
, Schellen' im Kartenspiel (kräic ,Kreuz' ist aufgenommen), klasa ,Klasse' (dazu klasovi).
Die dem Wörterbuch dankenswerterweise vorangestellte Einteilung der Lehnwörter nach
Sachgruppen (7 ff.) erleichtert Schlußfolgerungen bezüglich der vom Lehnwortschatz er-
faßten Lebensbereiche, von denen buchstäblich keiner zu fehlen scheint. Aus dem Gebiet
der materiellen Volkskultur ist die Landwirtschaft stark vertreten, wenngleich zentrale
Begriffe der Gerätekultur wie iefm^o/kleka ,Joch‘, lemii ,Pflugschar', börna ,Egge‘ u. a.
autochthon slawisch sind. Als um so auffälliger stellt sich der Befund aus dem Bereich
der Schiffahrt dar, der fast ausschließlich deutsche Lehnwörter umfaßt (büg, fändär, fok,
gafla, klivär, rem, stax u. v. a.). Hier wird deutlich, daß die Wortentlehnung offenbar zu-
gleich eine Sachentlehnung gewesen ist. Der gleiche Schluß, der bei jüngeren und jüngsten
Begriffen aus Wissenschaft, Technik, Verwaltung und Militär selbstverständlich ebenfalls
naheliegt, verbietet sich jedoch bei anderen, traditionellen Lebensbereichen um so mehr,
als der Verf. regelmäßig Hinweise auf das entsprechende alt-pomoranische Wort gibt. So
stehen sich etwa gegenüber bröt und xleb, stälmax und k'+olödzei, spanriögel und pag^özdz,
top und gark usw. Solche Wortkonkurrenzen im Bereich der Realien sind für das sach-
geschichtliche Interesse des Volkskundlers ebenso bemerkenswert wie die alleinige Geltung
eines Lehnworts.
Dankbar für den tiefen Einblick in die volkssprachliche Werkstatt des Pomoranischen,
den die vorliegende Arbeit im Verein mit Lorentz’ Wörterbuch ermöglicht, erhofft man
sich nunmehr von den im Entstehen begriffenen Wörterbüchern der pommerschen und
preußischen Mundarten Hinweise auf den umgekehrten Weg der Entlehnung, die das Bild
interethnischer Beziehungen im pomoranischen Raum ergänzen würden.
Ulrich Bentzien, Rostock
1 Die folgenden Beispiele dieses Absatzes beziehen sich nur auf den Buchstaben k, für
den ich Stichproben gemacht habe.
Besprechungen
395
Jahrbuch für Volksliedforschung. Im Auftrag des Deutschen Volksliedarchivs hg. v. Rolf
Wilh. Brednich. io. Jg. Berlin, W. de Gruyter u. Co., 1965. 202 S.
Als 1964 mit dem 9. Jahrgang die Zeitschrift des deutschen Volksliedarchivs nach langer
Pause wieder erschien, sprachen wir die Hoffnung aus, daß dieses auch für die internationale
Volksliedforschung wichtige Organ nunmehr eine möglichst baldige und regelmäßige
Fortsetzung erfahren möchte. Jetzt liegt bereits der nächste Band vor, und wie verlautet,
soll die Zeitschrift in diesem jährlichen Rhythmus weitergeführt werden. Damit tritt neben
das verdienstvolle Jahrbuch des österreichischen Volksliedwerkes eine zweite deutschsprachige
Zeitschrift für diese volkskundliche Spezialdisziplin, die der Volksliedarbeit einen wesent-
lichen Auftrieb geben und zugleich die internationale Zusammenarbeit fördern könnte, die
sich für die Textforschung neu zu organisieren beginnt (während diese Zusammenarbeit
auf musikalischem Gebiet schon länger besteht und hier bereits gute Ergebnisse aufweisen
kann).
Im Gegensatz zum vorhergehenden Jahrgang, der als Festschrift für Erich Seemann einen
weitgehend internationalen Charakter besaß, wurden Aufsätze und fast ausschließlich auch
Rezensionen in diesem Band von westdeutschen Autoren geschrieben. Unter ihnen treten
der Tradition dieses Jahrbuches durchaus gemäß die Mitarbeiter des Deutschen Volks-
liedarchivs besonders hervor. Die internationale Forschung kommt in zwei Berichten zu
Wort: Tj. W. R. de Haan informiert über Die heutige Lage des Volksliedes in den Nieder-
landen. Überall in den Niederlanden können noch heute Volkslieder gesammelt werden,
wenngleich das Volkslied auch hier weithin in sein „zweites Dasein“ getreten ist. Volks-
liedsammlung und Volksliedpflege sind daher miteinander verbunden. Charakteristisch
dafür ist die Arbeit, die im Rundfunk für das Volkslied geleistet wird: Im Rahmen der
sozialistischen „Vereniging voor Arbeiders Radio-Amateurs“ sammelt und popularisiert
Ate Doornbosch Volkslieder. Dagegen mangelt es in den Niederlanden noch an Forschun-
gen zum Volkslied. — Über einen traditionsreichen Zweig der tschechischen Volkslied-
forschung, Die Erforschung der tschechischen Volksballade, berichtet Oldrich Sirovätka.
Dem ausländischen Forscher bietet er einen Überblick über die wichtigste Literatur hierzu
als Grundlage für vergleichende Studien und schließt mit Anregungen zur weiteren Schaf-
fung solcher Grundlagen, insbesondere in der Ausarbeitung einheitlicher Prinzipien für
regionale Volksliedkataloge.
Verschiedene Seiten und Themen des so „komplexen“ Gegenstandes Volkslied spiegeln
die Aufsätze. Die beiden ersten bieten sehr gründliche textphilologische Studien. Aus der
Untersuchung zweier Lieder (Nr. 1 und 33) des Lochamer-Liederbuches arbeitet Christoph
Petzsch Art und Anteil der Leistung des Schreibers dieses Liederbuches heraus und ent-
wickelt Grundsätze zur Neuausgabe dieser wichtigen Liedersammlung aus der Mitte des
15. Jhs. — Selma Hirsch versucht Die Urform des Volksliedes „Feinslieb von Flandern“ aus
den überlieferten Varianten des 16. Jhs zu erschließen und durch einleuchtende Stilver-
gleiche als Verfasser dieses Liedes, das bisher Georg Grünwald zugeschrieben wurde, den
Landsknecht-Dichter Jörg Graff zu ermitteln.
Der Erschließung neuer Quellen, der Dokumentation und Vermittlung unbekannten
Materials ist eine weitere Gruppe von Beiträgen gewidmet. Wichtig ist der Hinweis von
Rolf Wilh. Brednich auf noch zu wenig ausgeschöpfte historische Quellen, die es für die
Volksliedforschung insbesondere in älteren Beständen auch kleiner Bibliotheken und
Archive zu entdecken gilt. Als Beispiel dafür analysiert er den volkskundlichen Quellen-
wert, den Das Reutlingersche Sammelwerk im Stadtarchiv Überlingen besitzt. Jakob Reut-
linger (1545—1611), Bürgermeister von Überlingen, nahm in sein monumentales zeit-
geschichtliches Kompendium auch interessante Nachrichten, Angaben und Materialien
zu Volksschauspiel, Volksbrauch, Volksglaube und Volkssage sowie zum Lied auf, wobei
das Liedgut den volkskundlich bedeutsamsten Bestandteil ausmacht. Es sind zum größten
Teil bisher unbekannte Lieder, die B. in wortgetreuer Wiedergabe abdruckt und kurz
kommentiert (Vierzeiler, Historische Lieder und Zeitungslieder, zumeist Abschriften von
Fl. Bll.). — Zwei steirische Liederhandschriften stellt Wolfgang Suppan vor mit Volkslied-
miszellen von der Pürgg/Steiermark: Eine um das Jahr 1884 angelegte Handschrift geist-
396
Besprechungen
licher Lieder, deren Texte überwiegend noch der zweiten Hälfte des 18. Jhs zugehören (mit
einer interessanten bisher unbekannten Ballade Ein Römischer Kaufmann [ein] Töclitelein
hat), sowie eine Soldatenliederhandschrift aus der ersten Hälfte des 18. Jhs. Unbekannte
Texte oder charakteristische Fassungen werden diplomatisch getreu ab gedruckt, sämtliche
Nummern kommentiert. — Mit der sizilianischen Volksballade macht Rudolf Schenda
durch Übertragungen von Drei Varianten der sizilianischen Volksballade „La barunissa di
Carini“ aus der nahezu 400 Varianten dieses Liedes umfassenden Sammlung von Salvatore
Salomone-Marini bekannt, die A. Rigoli nun herausgegeben hat.
In der Volksliedtheorie haben sich in letzter Zeit zwei gegensätzliche Prinzipien heraus-
gebildet, einmal eine (bereits in der Romantik vorgegebene) Verengung auf das sogenannte
„echte“ Volkslied, andererseits eine Erweiterung auf den Volksgesang mit allem hier
gesungenen Liedgut überhaupt. Ernst Klüsen sucht die Einheit beider Prinzipien im ganzen
des Volksgesanges theoretisch und methodisch zu fixieren, indem er dem „echten“ Das
apokryphe Volkslied entgegenstellt. Er bezeichnet damit Lieder, „die zu bestimmten Zeiten
in bestimmten Gruppen nicht als Gesänge des Volkes anerkannt werden“. K. entwickelt
aus dieser Entgegensetzung interessante Fragestellungen, insbesondere in soziologischer
Richtung, und versucht, di^ Beschreibung verschiedener Schichten der Lieder im Volks-
mund — eine „Stratigraphie des Volksgesanges“ — zu ermöglichen. Allerdings wird der
Begriff des „Nicht-Anerkannten“ zusammen mit dem „Anerkannten“ (= Echten) noch
nicht ausreichen zur theoretischen Erfassung der gesamten Vielschichtigkeit des Volks-
gesanges. — Die Melodieforschung kommt mit einem kurzen Aufsatz von Felix Hoerburger
über Zufälligkeitsbildungen als eine vormusikalische Form der Polyphonie zu Wort.
Der Band wird beschlossen von einem reichhaltigen und interessanten Rezensionsteil,
der vornehmlich die westdeutschen und österreichischen Volksliedpublikationen kritisch
würdigt, aber auch Umschau im internationalen Schrifttum hält, wobei jedoch die ost-
europäischen Länder mit ihrer auch für die deutsche Forschung wichtigen, zum Teil noch
lebendigen Volksliedtradition und bedeutenden Volksliedforschung zu wenig berück-
sichtigt werden.
Hermann Strobach, Berlin
Pfälzische Volkslieder mit ihren Singweisen, gesammelt von Georg Heeger und Wilhelm
Wüst. Neubearbeitet und in einem Bande hg. in Verbindung mit Friedrich Heeger
von Joseph Müller-Blattau. Mainz, B. Schott’s Söhne, 1963. VII, 240 S. (= Ver-
öff. d. Pfälzischen Ges. zur Förderung der Wiss. 44).
Diese Publikation aus den umfangreichen Sammelmaterialien der hochverdienten pfäl-
zischen Volksliedsammler Georg Heeger und Wilhelm Wüst ist nicht zu dem Werk ge-
worden, das sich die Volksliedforschung erhoffen durfte, vor allem wohl deshalb nicht,
weil sie auf einem doppelten Kompromiß aufbaute, zugleich Nachdruck und Erstveröffent-
lichung, wissenschaftliche Edition und Singebuch sein wollte, ohne den daraus erwachsen-
den Schwierigkeiten in gebotenem Maße Rechnung zu tragen.
Der alte Heeger-W¿ist, 1909 in zwei Bänden erschienen und hinsichtlich Materialreichtum
(378 Nrn mit zahlreichen Varianten, insgesamt über 600 Liedfassungen), Aufzeichnungs-
qualität (besonders auch der Melodien), Vielseitigkeit der volkskundlichen Angaben über
Herkunftsorte, Verbreitung, Singgelegenheiten, Einsender usw. zu einer der besten land-
schaftlichen Volksliedsammlungen Deutschlands zählend, war seit langem vergriffen und
sollte neu aufgelegt werden, ein nützliches Vorhaben, das auch für andere Sammlungen
realisiert wurde (Haupt-Schmaler, Erk-Böhme) oder geplant ist (Ditfurth, Liliencron,
Uhland, Hoffmann von Fallersleben). Aus dem noch unpublizierten pfälzischen Sammel-
material, dessen sukzessive Veröffentlichung vorgesehen war, aber durch Georg Heegers
frühen Tod (1915) nicht zustande kam, hatte Dr. Fritz Heeger, der Sohn des Sammlers,
zusammen mit Wilhelm Wüst einen dritten Band (Nr. 379 ff. enthaltend) zusammengestellt
und 1936 im Manuskript abgeschlossen. Die Bemühungen um die Drucklegung zogen sich
über Jahre hin und mußten schließlich durch den Ausbruch des zweiten Weltkrieges vor-
Besprechungen 397
erst auf gegeben werden. Einen interessanten Teil des unpublizierten Materials, knapp
50 historisch-politische Lieder hatte Fritz Heeger unter dem Titel Geschichtliche Lieder im
pfälzischen Volksrtiund (nicht „Volkslieder“, wie in der vorliegenden Ausgabe S. 235 an-
gegeben) noch kurz vorher in einem Aufsatz veröffentlichen können (Saarpfälzische Ab-
handlungen zur Landes- und Volksforschung II/1938, S. 77 —115). Das Manuskript zu
Bd. 3 überdauerte die Kriegswirren, und die Frage der Publikation wurde erneut aufgegriffen.
Aber auch jetzt gelang es nicht, die finanziellen Mittel aufzutreiben, und so wurde der Plan,
Bd. 1 und 2 nachzudrucken und Bd. 3 erstmalig zu publizieren, aufgegeben und stattdessen
beschlossen, das Material aller drei Bände in einer einbändigen Auswahl herauszubringen.
Welch ein Entschluß angesichts eines druckfertigen dritten Bandes voll unveröffentlichten
Materials, vor allem, wenn man bedenkt, daß die nun vorliegende Ausgabe zu ca. 3/4 aus
bereits zugänglichem Material besteht! Die Pfälzische Gesellschaft zur Förderung der
Wissenschaften beauftragte Joseph Müller-Blattau mit dieser Aufgabe; Fritz Heeger unter-
stützte ihn. Von ihm sind z. B. die beiden im Anhang wiedergegebenen Kurzbiographien
Heegers und Wüsts verfaßt, die einen guten Einblick in das Wirken dieser beiden Männer
geben, besonders in Heegers vielseitige volkskundliche Tätigkeit (u. a. auf den Gebieten
der Dialektforschung und Siedlungskunde). Eine begrüßenswerte Auswahlbibliographie
der Volksliedpublikationen Fritz Heegers und von Müller-Blattau zusammengestellte Aus-
schnitte aus den Vorworten zu Bd. 1 und 3, unter denen man jedoch einige für das Ver-
ständnis des Ganzen wesentliche Passagen (s. u.) vermißt, sind ebenfalls im Anhang unter-
gebracht.
Laut Vorwort soll der neue Band „allen Grundsätzen der heutigen Volksliedforschung
entsprechen, aber zugleich auch ein Liederbuch sein, aus dem man singt“, ein hochgesteck-
tes Doppelziel, das kaum zu erreichen ist, wenn man beiden Anliegen voll gerecht werden
will. Bezeichnenderweise hatten schon Fleeger-Wüst diese beiden Seiten der Volksliedarbeit
getrennt und für die jeweiligen Zwecke unterschiedliche Ausgaben veranstaltet. Müller-
Blattau traf seine Auswahl überwiegend unter volksliedpflegerischen Gesichtspunkten.
Ausgeschieden wurden vor allem „die Lieder gemeindeutschen Besitzes“ (die übrigens
leider nicht „in allen Liederbüchern stehen“, wie der Herausgeber meint), darunter „die
Bergmannslieder“ und „die bekannten Soldatenlieder von 1870 ab“, „der größte Teil der
gefühligen Lieder des 19. Jhs vom Bänkelsänger-Typus und die meisten jener ,Kunstlieder
im Volksmunde', deren Dichter und literarischer Ursprung noch feststellbar, die also nicht
wirklich in den Besitz des Volkes übergegangen waren“. Abgesehen von der Anfechtbarkeit
der zuletzt zitierten Formulierung muß ein solches, an die Praktiken des vorigen Jhs ge-
mahnendes Auswahlprinzip bedenklich stimmen, dies um so mehr, als Heeger und Wüst
— den neueren Erkenntnissen der Volksliedforschung folgend — ihr Material ohne Vor-
behalte sammelten und auch in ihren beiden Bänden von 1909 kein gereinigtes, sondern ein
möglichst lebensvolles und vielseitiges Bild vom Volksgesang in der Rheinpfalz zu geben
versuchten. Schon aus diesem Grunde kann man sich der Meinung des Herausgebers kaum
anschließen, wonach seine Ausgabe „schließlich keine Auswahl, sondern eine vollgültige
Erneuerung des alten ,Heeger-Wüst' geworden“ sei (Vorwort).
Immerhin hätte im vorliegenden Fall der Abdruck einer mit den Stichworten wertvoll,
alt und eigenständig („eigenpfälzisch“) charakterisierbaren Auswahl befriedigen können,
wenn wenigstens der wissenschaftliche Apparat, Anmerkungen und Anhang, den oben-
zitierten „Grundsätzen der heutigen Volksliedforschung“ entsprochen hätte. Hier aber
wird der Benutzer weitgehend enttäuscht.
So ist man überrascht, daß präzise Quellenangaben und Herkunftsnachweise (Auf-
zeichnungsorte, Belegdichte, Einsender oder Aufzeichner usw.) überwiegend fehlen —
sogar bei den bisher unpublizierten Liedern (!), daß außer aus Heeger-Wüst auch aus anderen
Sammlungen (Erk-Böhme, v. d. Au) nachgedruckt wird, teilweise mit leichten Verände-
rungen und restaurativen Eingriffen, ohne daß dies vermerkt wird1; letzteres gilt auch für
\
1 Man vgl. z. B. die verschiedene Tanzlieder enthaltende Nr. 268 a—h, von der — den
Anmerkungen zufolge — nur a aus Heeger-Wüst (Bd. 3) stammt, die übrigen aus v. d. Au,
398
Besprechungen
die gegenüber Bd. i n. 2 ausgelassenen Text Varianten, Strophen und Liedteile. Durch diese
Art der Kommentierung wird Mißverständnissen Vorschub geleistet und das mitgeteilte
Material für die Forschung beträchtlich entwertet.
Aber auch sonst bleibt die Information lückenhaft und unklar. Beispielsweise vermißt
man verschiedene wesentliche Angaben zur Geschichte der Sammlung. An keiner Stelle
wird der Leser über den Gesamtumfang des pfälzischen Materials aufgeklärt, das nach
Heegers Angaben im Vorwort zu Bd. 1 (S. VI) von ursprünglich ,,700 auf weit über 4000
Handschriften angewachsen“ war und „5 Bände füllen“ sollte. Es ist nicht recht einzusehen,
warum solche aufschlußreichen Bemerkungen vom Hg. nicht angeführt und erläutert
werden.* 2 Auch auf das zahlenmäßige Verhältnis der drei Bände zueinander, insbesondere
auf das Volumen des dritten Bandes, wird nicht eingegangen, geschweige denn, daß die
berechtigte Frage nach dem — vermutlich recht beträchtlichen — Umfang des im Frei-
burger Volksliedarchiv liegenden und mehrfach erwähnten „Restbestandes“, woraus ganze
20 Lieder der Publikation für würdig erachtet wurden, irgendwo angeschnitten wäre.
Statt dessen findet man widersprüchliche Angaben und verwirrende Formulierungen. So
erwähnt M.-B. im Vorwort einen (nicht näher gekennzeichneten) „Gesamtbestand von
460 Nummern“, aus dem die Auswahl zu treffen war. In den Anmerkungen, die die alte
Numerierung von Bd. 1 — 3 in Klammern vermerken, geht die frühere Zählung aber bis
Nr. 475 ! Sieht man sich diese alte Zählung etwas genauer an, ein wegen der z. T. veränder-
ten Anordnung ziemlich mühseliges Unterfangen, so vermißt man aus Bd. 3 ca. 20 Nrn.
Aber der 1964 erschienene Artikel Müller-Blattaus über die Entstehungsgeschichte der vor-
liegenden Ausgabe (Jb. f. Vldf. 9, S. 87ff.) besagt, daß die Lieder des dritten Bandes „sämt-
lich in unsere neue Ausgabe eingegangen“ sind (92). Angesichts derartiger Widersprüch-
lichkeiten tritt man natürlich auch den übrigen Angaben und Hinweisen mit Skepsis gegen-
über.
Was den Freiburger Restbestand der Heeger-Wüst- Sammlung betrifft, so erfahren wir
im Anhang, daß davon sogar ein Verzeichnis existiert (S. 230). Ein dort wiedergegebenes
Bruchstück aus dem ungedruckten Vorwort zu Bd. 3 läßt vermuten, daß F. Heeger dieses
Verzeichnis — ganz im Sinne seines Vaters handelnd — dem dritten Band einverleibt hatte,
um den Ausfall der ursprünglich geplanten Bände 4 und 5 zu kompensieren. Aber wie dem
auch sei: Warum hat man es hier nicht auf genommen, da es doch schon vorhanden war?
Damit hätte man der Volksliedforschung wie auch der Pfalz und ihren beiden bedeutenden
Sammlern einen echten Dienst erwiesen und der Volksliedpflege gewiß nicht geschadet.
Da die vorliegende Ausgabe in der langen und wechselvollen Geschichte der pfälzischen
Volksliedsammlung eine abschließende Funktion zu erfüllen hatte, mußte sie den daraus
erwachsenden wissenschaftlichen Verpflichtungen in größerem Maße Rechnung tragen, als
es geschehen ist. Wir können daher die Hoffnung des Herausgebers, „mit der nötigen Sorg-
falt und Pietät gehandelt und nichts Wesentliches übersehen zu haben“ (Vorwort), nicht
als berechtigt ansehen.
Angesichts dieses vom Standpunkt der Volksliedforschung aus zu ziehenden Fazits
möchte man um so mehr wünschen, daß sich der andere Zweck der Neuausgabe erfüllt,
die „Wiedergewinnung der Lieder im lebendigen Singen“.
Doris Stockmann, Berlin
Heit is Kerb ..., Erk-Böhme bzw. aus überhaupt nicht angeführten Quellen (d, f, g, h).
Für d lautet die lakonische Anmerkung: „Polka“! Bei c, e und e Var. sind gegenüber den
Quellen Abweichungen in der Melodie festzustellen; letzterer — bei v. d. Au textlos —
werden Worte unterlegt; c zeigt eine gegenüber der Quelle arg verschlechterte Mundart-
schreibung (weeß statt wäß, Been statt Bä, dran statt drä, bicht statt bischt usw.,) und üb-
rigens stammt nach v. d. Au nur der Text aus der Pfalz, die Melodie aber aus dem Buchen-
land, was doch der Erwähnung wert gewesen wäre
2 Aus den Bemerkungen im Einsenderverzeichnis des ersten Bandes kann man sich ein
ungefähres Bild von der Beschaffenheit dieses Materials machen, das Einzelaufzeichnungen
von Texten und Melodien ebenso enthielt wie hs. Liederbücher, Liedverzeichnisse und
bloße Mitteilungen über Lieder.
Besprechungen
399
Hartmut Braun, Studien zum pfälzischen Volkslied. Regensburg, Gustav Bosse Verlag
1964. 119 S., 1 Karte (— Forschungsbeiträge zur Musikwiss. 16).
Die deutsche Volksliedforschung war in den letzten Jahrzehnten intensiv bemüht, das
Liedgut einzelner Landschaften vom musikalischen und volkskundlichen Standpunkt zu
untersuchen. Namentlich durch die Arbeiten von Walter Salmen und Doris Stockmann,
die unter verschiedenen Aspekten und mit unterschiedlichen Zielsetzungen Eigenarten und
geschichtliche Entwicklung landschaftlicher Singtraditionen in Westfalen und der Altmark
erforschten, wurden für diesen Bereich wesentliche methodische Anregungen gegeben und,
betrachtet man die erzielten Ergebnisse, hohe Maßstäbe gesetzt. Sie hätten auch für die hier
zu besprechende musikwissenschaftliche Dissertation Studien zum pfälzischen Volkslied
in vieler Hinsicht als Vorbild und Muster dienen können. Doch hat es der Verf. nicht ver-
standen, die genannten Untersuchungen für sein Thema nutzbar zu machen. Zwar werden
sie von ihm häufig zitiert, doch gewinnt man nicht den Eindruck, daß sie wirklich mit
Gewinn gelesen worden sind, wie überhaupt ein äußerst naives und unbekümmertes Ver-
halten zur Literatur auffällt. Charakteristisch ist z. B. auch, daß sich der Verf. über die
Zielsetzungen seiner Studien an keiner Stelle äußert. Auch aus der Arbeit selbst ist nicht
zu ersehen, welche Forschungsaufgabe er sich eigentlich stellte und was er erreichen wollte.
Der unverbindliche Titel unterstreicht dies noch und läßt erkennen, wie sehr es der Arbeit
an einer konkreten und zielgerichteten Konzeption fehlt.
Zu kritisieren ist zunächst der Ausgangspunkt und die Grundlage der Studie. Man
möchte meinen, daß es heute zu den festen Grundsätzen jeder wissenschaftlichen Unter-
suchung gehört, sämtliche für ein Thema aussagekräftigen Quellen zusammenzutragen und
auszuwerten. Der Verf. stützt sich dagegen nur auf eine relativ kleine Auswahl von Liedern,
die er im wesentlichen der von J. Müller-Blattau besorgten Neuausgabe Pfälzischer Volks-
lieder von Heeger und Wüst (s. dazu die Rez. im vorliegenden Band des DJbfVk, S. 396ff),
entnimmt. Nach der nicht näher begründeten Auffassung des Verfs handelt es sich dabei
hauptsächlich um „Lieder mit geschichtlich-wichtigen und eigenständigen Melodien“.
Was aber für das pfälzische Liedgut geschichtlich-wichtig und eigenständig ist, kann nur
auf Grund einer sehr genauen Analyse sämtlicher pfälzischer Liedaufzeichnungen und deren
Vergleich mit den Überlieferungen im übrigen Deutschland festgestellt werden. Es wäre
das Ergebnis einer systematisch durchgeführten vergleichenden Untersuchung, die den
Gesamtbestand umfassen müßte und nicht wie hier eine schon im voraus getroffene Lied-
auswahl.
Die herangezogenen Beispiele sind überwiegend nach textlichen Gesichtspunkten in
folgende Gruppen gegliedert: Erzähllieder, Liebeslieder, Tanzlieder, Historisch-politische
und Soldatenlieder, sonstige geschichtlich bedeutsame Melodien. Den Hauptteil der Arbeit
füllen Beschreibungen der einzelnen Liedtexte und Melodien. Es sind mehr oder minder
ausführliche Anmerkungen zu den Liedern, die in ihren essentiellen Feststellungen kaum
über die schon von Müller-Blattau in seiner Ausgabe gegebenen Kommentare hinausgehen.
Als Analysen wagt man sie nicht zu bezeichnen. Fast beziehungslos stehen diese Lied-
beschreibungen nebeneinander. Die vereinzelten Bemerkungen über Struktur und sti-
listische Eigentümlichkeiten der ausgewählten Liedmelodien werden kaum systematisch
zusammengefaßt, so daß die Beobachtungen — isoliert und ohne Bezug — nur geringen
Wert besitzen. Nur bei den Liebesliedern wird eine typologische Betrachtung versucht, die
jedoch von einer musikalischen Ordnung des Melodienbestandes, wie sie (übrigens für das
gesamte pfälzische Volkslied) in einer ausschließlich musikwissenschaftlichen Arbeit wohl
zuerst erwartet werden dürfte, weit entfernt ist. Bekanntlich hat die europäische Volkslied-
forschung in den letzten Jahrzehnten entsprechende Methoden erarbeitet, um eine solche
Aufgabe durchzuführen oder wenigstens einer Lösung näherzubringen. Dem Literatur-
verzeichnis zufolge waren dem Verf. die einschlägigen Arbeiten mindestens teilweise be-
kannt. Aber statt hier anzuknüpfen, gerät er unversehens in die Nachfolge einiger gleicher-
maßen indifferenten und daher ergebnislosen Arbeiten, wie sie vor ca. 30 Jahren in Deutsch-
land geschrieben wurden.
400
Besprechungen
Gewiß darf man nicht erwarten, daß jede Dissertation schon zu allseitig befriedigenden
Ergebnissen kommt. Zumal im Bereich der Volksliedforschung zählt dies noch immer zu
den Ausnahmen. Warum man aber gerade diese Studie für würdig erachtete, sogar als selb-
ständige Publikation erscheinen zu lassen, bleibt unerfindlich. Zum Ansehen der Volks-
musikforschung im Rahmen der allgemeinen Musikwissenschaft dürfte sie nicht beitragen.
Erich Stockmann, Berlin
Karl Veit Riedel, Der Bänkelsang. Wesen und Funktion einer volkstümlichen Kunst.
Hamburg 1963. 121 S., 12 Taf. (= Volkskundliche Studien, hg. v. Walter Häver-
nick u. Herbert Freudenthal, i).
Neben einer Vielzahl populärer Sammlungen zum Bänkelsang gibt es nur wenige wissen-
schaftliche Abhandlungen dazu. Um so dankenswerter ist es, daß sich wieder einmal ein
Volkskundler dieses Gegenstandes angenommen hat: Die Arbeit von Karl Veit Riedel,
die vornehmlich auf Materialien des Hamburger Volksliedarchivs basiert, will den Bänkel-
sang als historisch-volkskundliches Phänomen untersuchen.
R. setzt sich zunächst mit verschiedenen Ansichten über die Herkunft des Bänkelsangs
auseinander, wobei er eine enge Verwandtschaft zwischen Volkslied, Bänkellied und Zei-
tungslied darlegen kann. Die Ausführungen über Druck und Vertrieb der Lieder lassen
Parallelen zwischen dem Bänkelsänger des 18. bis 20. Jhs und dem Verkäufer der Neuen
Zeitungen bzw. der Fliegenden Blätter des 15. bis 17. Jhs erkennen. Der Verf. geht dann
auf die Formen der Darbietung, das Publikum und die Bänkelsänger selbst ein, die er ihrer
sozialen Stellung nach als Außenseiter der Gesellschaft charakterisiert. Er gelangt zu dem
Ergebnis, daß die Anfänge der Gattung Bänkelsang in jene Zeit fallen, in der die Zahl der
herumziehenden Sänger und Blattverkäufer durch das Aufkommen des Buchdrucks erheb-
lich zunahm. Für das 18. Jh. weist R. eine beginnende Verbindung mit der Literatur nach,
wobei er eine wechselseitige Befruchtung aufzeigt.
Im Mittelpunkt der Arbeit steht die Strukturanalyse. Bei der Betrachtung der Formalen
Struktur werden als darstellende Mittel Bild, Wort und Musik in ihrer Eigengesetzlichkeit,
ihrem Funktionswert und ihrem assoziativen Zusammenwirken sehr ausführlich geschildert.
Hierbei erklärt der Verf. recht überzeugend bestimmte Besonderheiten des Bänkelsangs aus
den Mitteln der Darstellung bzw. umgekehrt die Bevorzugung spezieller Darstellungsmittel
aus dem Anliegen der gestaltenden Personen (31).
Bei der Darlegung der Inhaltlichen Struktur (Ereignisse, Existenzgrundlagen des Bänkel-
sangs, Schauplätze der Handlung, Verhältnis von Aktivität und Kausalität usw.) betont R.
die inhaltlich-stoffliche Orientierung des Bänkelsangs auf die Gemeinschaft und das Primat
des Moralisch-Gemeinnützigen über das Religiöse. Er räumt damit, freilich unbewußt, den
Normen des Volkes einen wichtigen Platz ein. In der Schlußbetrachtung, die der Bedeutung
des Bänkelsangs für das Volksleben gewidmet ist, zeigt der Verf., daß der Bänkelsang, ob-
wohl er inhaltlich auf die Gemeinschaft ausgerichtet ist, funktionell in der Wirkung auf
den einzelnen beruht. Dabei bringt er die Funktion des Bänkelsangs mit charakteristischen
Eigenarten seiner vornehmlich kleinbürgerlichen Trägerschicht in Zusammenhang. Aller-
dings ist dieses Kleinbürgertum hier nicht als historisch-soziologische Schicht zu ver-
stehen; es kommt vielmehr der geistig-psychologischen „Grundschicht“ nahe, die der Verf.
in jedem Menschen vorhanden glaubt (67). Und damit kommt man zu einem entscheidenden
Mangel der Arbeit: Bedauerlicherweise bettet R. die Träger des Bänkelsangs und die Gat-
tung selbst in keinerlei historisch-gesellschaftliche Gegebenheiten ein und nimmt sich somit
selbst die Möglichkeiten zur Klärung wichtiger Fragen. Daß seine — vor allem psycho-
logische — Betrachtungsweise z. T. zu sehr abwegigen Schlußfolgerungen führt, soll an
einigen Beispielen demonstriert werden. So begründet er die Tatsache, daß im Bänkelsang
des 20. Jhs vorwiegend literarische Stoffe und Motive des 18. Jhs fortleben, mit der üblichen
Behauptung, der Geschmack des Volkes hinke dem der Gebildeten mindestens 100 Jahre
nach (9). In dieser Vorstellung befangen, geht der Verf. auch gar nicht erst darauf ein, wes-
halb wohl gerade im 18. Jh. ganz bestimmte „zeittypische literarische Motive“ in den
Besprechungen
401
Bänkelsang des Volkes Aufnahme fanden, obgleich diese Problematik doch in umgekehrter
Richtung (Eingang bänkelsängerischer Motivik in die Literatur bzw. Entstehen literarischen
Bänkelsangs) angedeutet wird.
Ungeklärt bleibt auch, warum die Parodien, die am Ende des 19. Jhs aus einer Neo-
Renaissance des Bänkelsangs in intellektuellen Kreisen erwuchsen, „das Schicksal hatten,
vom Volke ernst und in den Kreis der echten Bänkellieder aufgenommen zu werden“ (23).
Fragwürdig ist die Ansicht des Verfs, daß der Bänkelsang, da in ihm die Obrigkeit als eine
von Gott gegebene Institution angesehen werde, die Grundeinstellung des Volkes offenbare,
für die eine antirevolutionäre Tendenz charakteristisch sei („Revolutionäre Gesinnungen
sind nicht volkstümlich 56). Diese verallgemeinernde Schlußfolgerung ist hier vor
allem schon deshalb nicht aufrechtzuerhalten, weil sie nur an einer volkstümlichen Gattung,
eben dem Bänkelsang, belegt wird. Überhaupt hätte stets beachtet werden müssen, daß die
Trägerschicht des Bänkelsangs nur einen, und zwar historisch verschieden großen Teil
des Volkes verkörpert; zum anderen wäre es erforderlich gewesen, den prozentualen Anteil
des Bänkelsangs im Singrepertoire des Volkes (oder auch nur des Kleinbürgertums usw.)
wenigstens annähernd festzustellen.
Auch einige andere volkskundliche Fragestellungen sind übergangen worden: So muß
es z. B. befremden, daß die Träger des Bänkelsangs nicht als wesentlicher Aspekt der
Gesamterscheinung Bänkelsang erkannt werden. Bei der Darlegung der sprachlichen Eigen-
heiten der Bänkellieder hätte man in stärkerem Maße Vergleiche zum Volkslied erwartet.
Weiterhin scheinen die Relationen zwischen Hochkultur und Volkskultur zu einseitig
im Hinblick auf erstere gefaßt und ohne eigentliche Bindung an einen umfassenderen
historischen Prozeß der allgemeinen kulturellen Entwicklung. Die These vom „gesunkenen
Kulturgut“ durchzieht die ganze Arbeit, trotz gelegentlicher Einschränkungen.
Dem „Weltbild der Bequemlichkeit“, das R. aus der Strukturanalyse ersichtlich werden
läßt, wird man, sofern es sich auf das Kleinbürgertum bezieht, zustimmen können, dagegen
sollte man Ausführungen über „,primitives1 Denken“, „Gruppendenken“, eine „prälogische
ganzheitliche Weltauffassung“ (64) mit dem nötigen Abstand aufnehmen. Das trifft u. a.
gleichfalls auf die Feststellungen des Verfs zu, daß sich gerade im Bänkelsang die „Tiefe der
Volksseele“ offenbare (72) oder daß das Verschwinden einer Form lediglich „eine Verschie-
bung in den seelischen und geistigen Grundlagen des Volkes ‘ demonstriere (73).
16 originalgetreue Textbeispiele (Prosa und Lied), die meist Erstveröffentlichungen aus
dem Hamburger Volksliedarchiv sind, Literaturverzeichnis, Personen- und Sachregister
sowie 12 Schwarz-Weiß-Tafeln beschließen den in seiner ansprechenden äußeren Form und
seiner z. T. sehr gründlichen Materialdarbietung bei allen Mängeln doch recht instruktiven
Band.
Brigitte Emmrich, Berlin
С. Г. Лазутин, Русские народные песни (S. G. Lazutin, Russische Volkslieder). Moskva,
Izdatel’stvo „Prosveäßenie“, 1965. 291 S.
Lazutins Untersuchungsgegenstand sind die russischen traditionellen lyrischen, nicht
brauchgebundenen Lieder (неодрядовые традиционные лирические песни), die er histo-
risch-systematisch darstellt. Zeitlich erfaßt er die Periode vom 16. bis zum Anfang des
20. Jhs (bis zur Oktoberrevolution 1917); vom Sozialen her interessieren ihn die Lieder der
Bauern, Arbeiter und Soldaten. Vor allem sollen die Veränderungen der traditionellen
lyrischen Lieder über die Jahrhunderte hinweg unter neuen historischen Bedingungen
untersucht werden.
Das Buch ist in drei große Abschnitte unterteilt: 1. Traditionelle lyrische Lieder. Hier
werden Inhalt und Form der bäuerlichen Lieder des 16. bis 17. Jhs und ihre Veränderungen
in späterer Zeit untersucht; 2. Lieder des 18. und der ersten Hälfte des 19. Jhs; 3. Lieder der
zweiten Hälfte des 19. Jhs bis zum Beginn des 20. Jhs mit Analysen einzelner Gattungen.
15 Volkskunde
402
Besprechungen
Innerhalb der einzelnen Kapitel benutzt der Verf. ein konsequent durchgehaltenes Kom-
positionsschema. Am umfangreichsten ist die Übersicht über Motive und Themen, dann
folgen Darstellungen zu Komposition, Sujet, Sprache, Poetik, Reim und Rhythmus.
Pädagogische Erwägungen (die Monographie ist als Lehrmittel für sowjetische Hoch-
schulen vorgesehen) bedingten einige Eigenheiten des Buches, die bei der Einschätzung zu
berücksichtigen sind. So trägt das erste Kapitel über die Lieder des 16. bis 17. Jhs fast
ausschließlich resümierenden Charakter: Es referiert über die Ausformung dieser Lieder zu
den uns heute bekannten Gattungen und enthält eine Aufzählung der allgemein bekannten
Liebes- und Ehemotive mit unzähligen Zitat-Belegen. Man muß jedoch fragen, ob für ein
Lehrbuch nicht der Anschluß einer knappen Anthologie der wichtigsten, im Buch einer
Analyse unterzogenen Lieder vorteilhafter gewesen wäre. Die Verwendung als Lehrmittel
entschuldigt in gewissem Maße die breite Darlegung schon bekannter Tatbestände, zumal
auch schwer zugängliches Material, leider nur in Ausschnitten, als Beleg wiedergegeben
wird. Das pädagogische Moment führt auch zu Wiederholungen, so S. 31, 38 usw. Die Be-
merkungen über die sogenannten Otchodniki-Lieder, worunter L. Lieder der Treidler,
Räuber, Gefangenen, Fuhrleute u. ä. versteht, gehen nicht über Bekanntes hinaus.
Sind somit die thematischen Übersichten zu Beginn jedes Kapitels weitgehend traditionell
und wenig Neues bietend, so wird man L.s Beobachtungen über die künstlerische Form mit
Gewinn lesen. Seine Grundthese ist, daß die Hauptfunktion der Lieder nicht in der Wieder-
gabe aller möglichen Tatsachen und Erscheinungen liegt, sondern in deren ideell-ästhe-
tischer Einschätzung und Wertung sowie der Übermittlung damit verbundener Gedanken,
Gefühle und Emotionen (S. 33). Daraus leitet er die Besonderheiten im kompositorischen
Bau der Lieder ab. Entsprechend einer bereits früher (Русский фольклору, М.-Л. 1955,
200ff.) geäußerten Auffassung unterscheidet L. folgende Kategorien: den Lied-Monolog,
den Lied-Dialog und eine von ihm etwas schwerfällig umschriebene Kompositionsform,
bestehend aus beschreibend-erzählendem Teil plus Monolog oder Dialog (описательно-
повествовательная часть плюс монолог или диалог vielleicht besser: zweiteilige Kom-
position?), bei der zwei Abarten zu unterscheiden sind, die vor allem in komplizierteren
Zusammensetzungen als kompositorische Parallelismen auftreten. Im ersten Typ ist ein
symbolischer Teil mit einem realen Teil kombiniert, wobei jeder der beiden Teile aus
der oben genannten zweiteiligen Komposition besteht; im zweiten Typ ein realer Teil
mit einem zweiten realen Teil unter Verzicht jeglicher Symbolik, wobei allerdings die
beiden Hälften verschieden, ja, konträr in ihrem Inhalt sind, wiederum jedoch jeder der
beiden Teile aus den oben skizzierten zwei Teilen (zweiteilige Komposition) besteht
(S. 39).
Innerhalb des Liedes stellt L. folgende kompositorischen Prinzipien heraus: die Hervor-
hebung des Einzelnen aus der Vielzahl; die stufenartige Einengung der Bilder, die immer
zum Wichtigsten hinführt; den Parallelismus und das von ihm entdeckte und ausführlich
behandelte Prinzip einer assoziativen Kettenkomposition (принцип ассоциативно-цепоч-
ной композиции), das er für ein Grundprinzip der Liedorganisation hält und dem sogar die
stufenartige Einengung und der Parallelismus untergeordnet sind (42).
Sehr allgemein bleiben die Bemerkungen über Stil, Sprache und Stilmittel. Interessant
erscheint L.s Auffassung, daß man im russischen Lied nicht vom Sujet sprechen könne
(wie es viele Forscher aus Gewohnheit tun), sondern eher von Sujetsituationen oder, noch
besser, von einer eigenartigen lyrischen Erzählhaltung oder Erzählweise des Liedes (S. 45).
Im folgenden geht dann der Verf. dem historischen Schicksal dieser Lieder bis zum Be-
ginn des 20. Jhs nach. Er verfolgt sie sehr differenziert, sowohl in ihren Weiterentwick-
lungen und ihrer Anpassung an die historischen Gegebenheiten als auch in ihrem Absterben.
Man kann zwar häufig eine inhaltliche Fortentwicklung feststellen (entsprechend der neuen
gesellschaftlichen Situation entstehen neue Thesen, Ideen und Bilder), während die künst-
lerische Form durchweg Verluste erleidet und zerstört wird. So werden einzelne Bilder aus
dem allgemeinen Kontext gelöst und beginnen ein selbständiges Leben, andererseits be-
wirkt das assoziative poetische Prinzip die Kontamination zu neuen Liedern. Die kompli-
zierte Dialektik dieses Belebens und Verlöschens macht L. in ausgezeichneter Weise an
dem Lied Из-за лесу, лесу темного 88ff.) deutlich.
Besprechungen
403
In den übrigen Kapiteln folgt L. seiner bereits angegebenen Forschungsmethodik. So
untersucht er in Kapitel II die Lieder der Bauern, Soldaten, Kosaken und Arbeiter in ihrer
Gattungsspezifik, daran schließt er die sogenannten kleinbürgerlichen Romanzen мещанский
романс an. Auch hier wird wieder deutlich: überall dort, wo nur Themen aufgezählt werden,
geht der Verf. kaum über Bekanntes hinaus; bei jeder detaillierteren Analyse der Inhalt-
Form-Beziehungen hingegen weiß er sehr viel Neues beizusteuern. Gut wird z. B. der im
18. Jh. erfolgende Übergang von den allgemein-abstrakten poetischen Formen zur Dar-
stellung der Wirklichkeit in den Formen und Gestalten der Realität selbst gezeigt, die zur
Herausbildung der Lied-Erzählung (песня-рассказ) führte (einmal gedacht als Bericht eines
Augenzeugen, zum anderen als Lied-Humoreske, S. 118). Allgemein bleiben wiederum die
Bemerkungen zur Sprache (nur die Lexik wird berührt). — Im zweiten Teil dieses Kapitels
wendet der Verf. dann ein Prinzip an, das man sich in der gesamten Arbeit konsequenter
durchgeführt gewünscht hätte: er verfolgt die historischen Veränderungen nicht mehr
pauschal, sondern nur an einem Lied. Diese Monographie über einen Liedtyp (Bestrafung
des Soldaten für unerlaubtes Entfernen von der Truppe zu seiner Geliebten, S. 129 ff.)
besticht durch ihre Exaktheit. Gerade sie ermöglicht auch zuverlässige Schlußfolgerungen.
Zu bedauern ist, daß der vollständige Text und die verschiedenen Varianten und Fassungen
nicht abgedruckt wurden. Auch auf den Seiten i54ff. kommt der Verf. über die ausführ-
lichere Betrachtung einzelner Lieder hinaus zu wichtigen Beobachtungen über den Prozeß
der Kontamination in der zweiten Hälfte des 19. Jhs.
Kapitel III rückt dann die Arbeiterlieder in den Mittelpunkt der Betrachtung, bei denen
aber offensichtlich kein qualitativer Sprung, sondern nur quantitative Erweiterungen und
inhaltliche Neuerungen zu verzeichnen sind. Neu entsteht das Liedpoem (171), an Ge-
wicht gewinnen Balladen und Romanzen, unter kapitalistischen Bedingungen vorzugsweise
in kleinbürgerlichen Schichten. Wichtig sind L., der ein vorzüglicher Kenner der CastuSki
ist, die von ihm so genannten Lied-Castuski (песня-частушка), die im Grunde das Binde-
glied zwischen diesen beiden großen Gattungen darstellen. Ihre Spezifik liegt in ihrer
„freien Komposition“ begründet, die eine größere Beweglichkeit im Reagieren auf neue
gesellschaftliche Erscheinungen erkennen läßt. Nur im Ansatz werden die komplizierten
Wechselwirkungen von Volks- und Kunstlied erörtert.
An diese allgemeine Charakteristik schließen Beobachtungen zu den Liedern einzelner
sozialer Schichten an. In den Bauernliedern behandelt der Verf. vornehmlich das Thema
der Landflucht, besonders anhand des Liedes Я с хозяином расчелся. In den Rekruten-
und Soldatenliedern betrachtet L. sowohl die allgemeine Einstellung zum Militärdienst, als
auch die Beurteilung verschiedener militärischer Ereignisse, vor allem die Verteidigung
Sewastopols. Die Arbeiterlieder sucht er entsprechend der Leninschen Periodisierung der
russischen Befreiungsbewegung in Lieder der Zeiträume von 1861 bis 1895 und 1895 bis
1917 zu unterteilen, wobei freilich fraglich bleibt, ob sich eine derartig genaue chrono-
logische Fixierung immer ohne Vergewaltigung des Materials durchführen läßt. Bei den
Arbeiterliedern unterscheidet L. die Lieder der Bergarbeiter und zählt deren Motivstand
auf (S. 224ff.), die Lieder der Goldsucher (песни приискательные) und die Lieder der Weber
und Textilarbeiter (242 ff.). — Insgesamt wenig Neues bietet der letzte Teil über die
neueren Arbeiterlieder, die kaum über die Forschungen von W. I. Ciöerov und anderen
hinausgehen.
L.s Werk ist ein Lehrbuch und will als solches gewertet werden. Deshalb wird es für den
Studenten vieles Neue enthalten, handelt es sich doch um den ersten ausführlichen Längs-
schnitt zur Geschichte des russischen Liedes überhaupt. Der Forscher freilich wird sich
begnügen müssen, aus der nicht immer ganz übersichtlichen Darstellung jene wirklich
neuen Erkenntnisse herauszufinden, an denen das Buch auch für ihn reich ist.
Erhard Hexelschneider, Leipzig
404
Besprechungen
Hej kenyer barna kenyer (Ach, Brot, braunes Brot). Hg. v. Antal Szatmäri u.Jözsef
Pälinkäs. Budapest, Zenemükiadö Vallalat, 1964. 288 S.
Hat der Kritiker das Recht, bei der Einschätzung eines Buches die Umstände seiner Ent-
stehung zu berücksichtigen? Wir glauben, ja, und so können wir auch ruhig sagen, daß die
genannte Publikation, wenngleich sie unter Umständen entstanden ist, die der wissenschaft-
lichen Forschung nicht gerade angemessen sind, einen wertvollen Beitrag zur Kenntnis des
Liedschatzes der Arbeiterbewegung darstellt.
Ein bedeutender Teil des in dem Buch veröffentlichten reichen Materials gelangte durch
eiligst angefertigte Notizen, unter Zeitdruck gemachte Abschriften, in den Besitz der beiden
Autoren; den anderen Teil hatte das bis ins hohe Alter hervorragende Gedächtnis von
Sandor Szatmäri-Szatyi bewahrt. Mit Hilfe dieses Materials restaurierten und berichtigten
die Autoren Handschriften, die zwar bis heute erhalten, aber den Forschern zur Zeit der
Publikation gerade unzugänglich waren. (Mit den Originalhandschriften kann also die Arbeit
der Autoren nicht verglichen werden.)
Der Inhalt des so entstandenen Buches ist jedoch derartig interessant, das publizierte
Material so bedeutend und auch zur fachgerechten Bearbeitung geeignet, daß dafür in erster
Linie die ungarische Arbeiterliedforschung dankbar sein muß.
Das Buch gibt in seinen großen Zügen ein treffendes musikalisch-dichterisches Bild von
einer sogenannten Liedkenner (ung. nötafa — „Liederbaum“)-Familie, obwohl aus den er-
wähnten Gründen der Buchentstehung in den Details manche Ungenauigkeiten, Mängel
und Unklarheiten Vorkommen. — Einige Mitglieder dieser Liedkenner-Familie haben
etwa seit der Mitte des vorigen Jhs, beginnend mit den Sammlungen des Klempnermeisters
Jänos Szatmäri (1832 — 1898), in verschiedenen Heften und Familiensammlungen Lieder
aufgezeichnet bzw. aufzeichnen lassen, vor allem solche, die mit den sozialen Bewegungen
ihrer Zeit und später mit der Arbeiterbewegung schlechthin in Zusammenhang standen.
Auf gezeichnet oder in mündlicher Überlieferung auf bewahrt wurden auch die mit den
Liedern zusammenhängenden historischen Daten, Sagen und Geschichten. Sie helfen so,
manche bisher wenig bekannten Zusammenhänge der Musikgeschichte seit etwa anderthalb
Jahrhunderten zu klären. Diese neuen Angaben beweisen zum Beispiel, daß in Ungarn der
Historiengesang und der folkloristische Zweig der kurutzischen Melodiendichtung auch noch
zum Zeitpunkt der Aufzeichnung als Tradition lebendig waren. Ein spezifischer Wert der
Sammlung ist außerdem, daß bereits der erwähnte Jänos Szatmäri seine Lieder beinahe
völlig bewußt, die moderne Arbeiterliedforschung gleichsam vorbereitend, gesammelt hat.
Wo es irgend möglich war, hielt er außer den Melodien auch die über die aufgezeichneten
Lieder erhaltenen Informationen fest: wo, wann, von wem sie gesungen wurden. Den
bereits bekannten Melodien dieser Publikation verleihen derartige Mitteilungen bzw. die
wenig bekannten und die unbekannten Text- und Melodienvarianten Bedeutsamkeit; es
sind Beiträge zur Erkundung sowohl der Geschichte der einzelnen Lieder, als auch der
„Vorgeschichte“ des ungarischen Arbeiterliedes. Hinzukommt noch eine beträchtliche
Anzahl von bisher völlig unbekannten Melodien.
Der erste Teil der Sammlung wurde aus den Liederheften von Jänos Szatmäri und einem
seiner älteren Söhne zusammengestellt und enthält außer den ältesten Liedern der ungari-
schen Freiheitsbewegung, die Jänos Szatmäri von seinem Vater, ja auch von seinem Groß-
vater gelernt hatte, noch Lieder von Leibeigenen, Gedingarbeitern und Handwerksburschen.
In den letzten Abschnitten werden politische Lieder aus der zweiten Hälfte des 19. Jhs —Lie-
der der Jahrhundertwende und Lied-Erinnerungen aus dem ersten Weltkrieg — so, wie die
Sammler-Autodidakten sie aufzuzeichnen für wert hielten, dargeboten. Besonders wichtig
sind dabei die in Ungarn als relativ früh geltenden Bergarbeiter- und Handwerksburschen-
lieder aus den 90er Jahren des vorigen Jhs. Da die Angehörigen der Familie Szatmäri auch
revolutionäre Gruppen und Streiklokale häufig aufsuchten, haben sie viele verbotene Lieder
und Texte aufgeschrieben, die — zusammen mit den persönlichen Erinnerungen — wert-
volle Zeitdokumente darstellen.
Jänos Szatmäris jüngster Sohn Sändor Szatmäri-Szatyi (1878 — 1964) begnügte sich
nicht mehr mit dem bloßen Sammeln, sondern verfaßte auch selbst Arbeiterlieder, d. h. er
Besprechungen
405
machte auf bekannte Melodien neue, klassenkämpferische Texte. Von dem einen oder
anderen seiner Lieder machten die Arbeiter und Häftlinge in größeren oder kleineren Krei-
sen tatsächlich Gebrauch, d. h. man kann sagen: sie wurden „folklorisiert“. So z. B. die
Ballade Im Zuchthaus auf dem Margaretenring (Margitkörüti fegyhäzban), deren Text,
auf eine russische Melodie verfaßt, zur Zeit des weißen Terrors in Ungarn sehr verbreitet
war. Einen Teil dieser Lieder hat man in Teil z des Bandes auf genommen, darunter die
Melodien, auf die der Arbeiterlied-Dichter einen großen „Historiengesang“ zum Andenken
an die Ungarische Räterepublik von 1919 geschrieben hat. Die meisten übrigen seiner
Lieder sind ein wesentlicher Beitrag zu einer authentischen emotionalen Geschichte der
ehemaligen ungarischen politischen Flüchtlinge in der Sowjetunion.
An der vorliegenden Publikation ist vielleicht am wichtigsten, daß sie zeigt, wie die fort-
schrittlichen nationalen Traditionen von der Arbeiterschaft in Ungarn gepflegt und be-
wahrt wurden. Während des Erscheinens des Buches und danach sind in größerem Umfang
folklorisierte Varianten der darin herausgegebenen Melodien zum Vorschein gekommen, die
in diese Sammlung natürlich nicht mehr aufgenommen werden konnten. Sehr schade ist
jedoch, daß die Verf. auch die Varianten nicht mitgeteilt haben, die ihnen bereits bekannt
waren. Freilich bleibt ihr Verdienst unbeschadet, mit der Einbeziehung der Familienlieder-
bücher in die ungarische Forschung zum erstenmal ein der Methode des Franzosen P.
Coirault und des Tschechen V. Pletka ähnliches Verfahren angewandt zu haben, die näm-
lich — außer der Bearbeitung der mündlichen Überlieferung — auch den Familienlieder-
büchern große Sorgfalt gewidmet haben.
Es muß indessen gesagt werden, daß das vorliegende Buch von wissenschaftlichem Ge-
sichtspunkt noch ein „halbfertiges“ Produkt ist. Anmerkungen und Bearbeitungsapparat
sind ziemlich lückenhaft; bedauerlicherweise versäumte man zum Beispiel, die älteren
schriftlichen Quellen heranzuziehen, die Angaben zu kontrollieren usw. usf. Besonders
weitreichende Schlußfolgerungen können und dürfen aus dieser Publikation also nicht ge-
zogen werden. Allein von dem Material aus dem vorigen Jahrhundert haben die Verf. nur
etwa die Hälfte oder ein Drittel veröffentlicht, und die Gesichtspunkte der Auswahl bleiben
ziemlich im Dunkeln. So kann über den Anteil der unterschiedlichsten, musikalisch quali-
fizierbaren Melodien und die Aussage solcher Proportionen vorläufig nichts gesagt werden.
Die textliche Authentizität der Publizierung ist vielfach sehr zweifelhaft, was den Weiter-
suchenden ebenfalls zur Vorsicht mahnen sollte. Diese Publikation muß in die Hand ge-
nommen werden, so wie sie eben ist: als Andeutung eines wertvollen musikhistorischen
Materials, als Anfang und Wegweisung bei der Erschließung dieses Materials.
György Fejes, Budapest
Jan Ling, Levin Christian Wiedes Vissamling. En Studie i 1800-talets folkliga vissäng.
Uppsala 1964. 130 S., 112 S. Notenbeisp., 1 Karte (— Studia musicologica Upsa-
liensa 8).
Die vorliegende Studie gehört zu denjenigen Publikationen, die bislang unveröffentlichte
Volksliedsammlungen des 19. Jhs im Druck zugänglich machen. Sie ist Edition und
Untersuchung zugleich, wobei neben sammlungsgeschichtlich-soziologischen Fragen die
musikalische Analyse im Vordergrund steht.
Der Autor — früher am Svensk Visarkiv tätig, seit einigen Jahren Mitarbeiter am Musik-
historiska Museet Stockholm — hat seine Aufgabe mit Umsicht und sicherem Blick für das
Wesentliche angefaßt. Wichtige Fragen, die den heutigen Volksliedforscher im Hinblick
auf ältere Sammlungen interessieren, hat er an sein Material gestellt und in übersichtlicher
Kapitelanordnung dargelegt. So wird der Leser mit Ursprung, Datierung und Herkunft
der Wiedeschen Sammlung bekannt gemacht, mit Wiede selbst, seiner Einstellung zum
Volkslied, seiner Sammelarbeit und seinen Aufzeichnungsmethoden wie auch mit seinen
Helfern, die in den Sammelgebieten als Lehrer, Seminaristen, Pfarrer, Organisten u. dgl.
tätig waren und etwa 25% des Materials beigesteuert haben; man wird über die Sänger,
406
Besprechungen
ihr Repertoire und Lebensmilieu informiert, lernt schließlich die Lieder selbst kennen, die im
Anhang als Faksimiles (Melodie und unterlegte erste Strophe) wiedergegeben sind, und
erfährt das Wichtigste über ihren formalen Aufbau, ihre tonalen, modalen und rhythmischen
Eigenheiten — Charakteristika, die den Melodiebestand auf bestimmte Weise gliedern und
gruppieren.
Zwischen 1818 und 1820 bzw. 1842 und 1853 entstanden, bietet das in Smäland und im
nördlichen östergotland zusammengetragene Material — mit 438 Melodien eine der um-
fangreichsten schwedischen Sammlungen im 19. Jh. (353 Texttypen, zirka ein Fünftel davon
mit 2 bis 5 Varianten) — einen reichhaltigen Querschnitt durch das ländliche Singreper-
toire des südlichen Mittelschweden zu Beginn der Industrialisierung, gesehen mit den
Augen eines im geistigen Klima der schwedischen Romantik aufgewachsenen Pfarrers. Wie
sich diese Geisteshaltung in den Aufzeichnungen niederschlägt, wie aber andererseits ökono-
mische Interessen des Sammlers sein romantisches Auswahlprinzip immer wieder durch-
brechen (der Hauptteil der Sammlung wurde mit finanzieller Unterstützung der Königlich
schwedischen Akademie für Literatur, Geschichte und Altertümer eingebracht und die Höhe
der Zuwendungen hing von der Menge des gelieferten Materials ab), hat L. mit Einfühlungs-
vermögen dargelegt.
Um die Gewährsleute der Sammlung, über die Wiede und seine Helfer kaum etwas mit-
geteilt haben, zu identifizieren, war detektivischer Spürsinn erforderlich. Das Ergebnis
rechtfertigt den Einsatz an Zeit und Kraft: die meisten Sänger, deren Namen in den Auf-
zeichnungen stark abgekürzt vermerkt sind, konnten aus Kirchenbüchern und anderen
Aktenstücken erschlossen werden. Dabei zeigt sich, daß die Sängerschaft aus recht unter-
schiedlichen Bevölkerungsschichten stammte: es sind Tagelöhner und Dienstleute, auch
wandernde Dienstleute aus Dalarna, die das Repertoire beeinflußten, Soldaten und deren
Frauen, Handwerker, Leute aus dem niederen Beamtenstand wie Organisten und Nacht-
wächter, aber auch höhere Militärs, Gutsbesitzer und Adlige, Pfarrer, bezeichnenderweise
nur wenig Bauern. So enthält die Sammlung nicht nur das Singgut der mündlich tradieren-
den Grundschichten, sondern auch das der damaligen Mode folgende populäre Repertoire,
das Flugblattlieder und andere Kunsterzeugnisse einschloß. Auf den ersten Blick zeigt sich
dieser Zug mehr in den Texten als in den Melodien, denn diese wurden oft der mündlichen
Tradition entnommen und den neuen Liedtexten angeglichen.
Doch ergibt auch die musikalische Analyse zwei verschiedene Stilbereiche, von denen der
erste durch engeren Ambitus, mollartige Skalen ohne Sexte und mit einer Art neutraler
Septime sowie durch einen von Metrum und Akzentschema des Balladenverses beeinflußten
Rhythmus gekennzeichnet ist, während der zweite größeren Ambitus, harmonische Kon-
zeption in Moll oder Dur aufweist und in einem Teil, der offensichtlich eine jüngere Schicht
repräsentiert, Chromatisierung und Modulationstrend, achttaktigen Formaufbau u. dgl.
aufweist. Natürlich erscheinen diese Stilmerkmale in den einzelnen Melodien oft vermischt;
aber andererseits lassen sich gewisse Zuordnungen beobachten, so die vorwiegende Ver-
bindung des erstgenannten Stils mit alten, mündlich tradierten Texten wie Balladen, Scherz-
liedern und Liederspielen, während der zweite vor allem jüngere Lieder, die durch Flug-
blattdrucke bekannt wurden, umfaßt.
Die musikalische Analyse, deren Prinzipien auch im Schwedischen Volksliedarchiv an-
gewendet werden, ist sauber durchgeführt und in der Auswahl ihrer Gesichtspunkte für
die gestellten Fragen ausreichend. Nicht eben glücklich scheint mir lediglich die Wahl des
Terminus „Motiv“ für Singzeile (dem man übrigens auch in anderen nationalen Analyse-
systemen begegnen kann), weil dieser Begriff für kleinere rhythmische oder melodische
Einheiten benötigt wird. Hier schränkt die exakt gegebene Definition den Mangel zwar ein,
aber man sollte erwägen, ob man — wenn die eigene Sprache (wie im vorliegenden Fall)
keinen geeigneten Ausdruck besitzt — nicht besser einen international eingebürgerten
Terminus aus einer anderen Sprache übernimmt.
Daß diese Kritik den Wert des vorliegenden Buches nicht schmälert, braucht kaum ge-
sagt zu werden. Da die Volksliedforschung bislang noch viel zu wenig exakte Analyse-
ergebnisse dieser Art vorgelegt hat und gerade auch in Schweden die Zahl der Volkslied-
untersuchungen unter musikalischen Aspekten gering ist, muß man dem Autor, der erst
Besprechungen
407
kürzlich mit einer guten Zusammenfassung über die schwedische Volksmusik hervortrat
(Svensk folkmusik, Stockholm 1964), für diese Arbeit doppelt dankbar sein.
Richard M. Dorson, Buying the Wind. Regional Folklore in the United States. Chicago
and London, The University of Chicago Press, 1964. 574 S.
Fünf Jahre nach dem Erscheinen der American Folklore ist Dorsons Buying the Wind
als ergänzende Beispielsammlung zu jenem vorwiegend beschreibenden und theoretischen
Werk zu begrüßen. Die Texte stammen aus sieben nordamerikanischen Regionen bzw.
Volksgruppen, die jeweils eine geographisch-historische und zum Teil auch eine ethnische
Einheit bilden: Maine Down-Easters — Pennsylvania Dutchmen — Southern Moun-
taineers — Louisiana Cajuns — Illinois Egyptians — Southwest Mexicans — Utah Mor-
mons. Zum überwiegenden Teil handelt es sich um „weiße“ Bevölkerung, die Folklore der
amerikanischen Neger hat D. bereits in mehreren anderen Publikationen untersucht und
herausgegeben (vgl. u. a. Negro Folktales in Michigan. Cambridge Mass. 1956; Negro Tales
from Pine Bluff, Arkansas and Caloin, Michigan. Ind. Univ. Folkl. Series 12. Bloomington
Ind. 1958).
D. veröffentlicht hier fast ausnahmslos Orginalaufzeichnungen des 20. Jhs, und ihre
Formen umfassen alle nur irgenwie klassifizierbaren volkssprachlichen Äußerungen —
Märchen, Sage, Legende, Anekdote, Witz, Arbeits- und Erinnerungserzählung, Sprichwort,
Redewendungen, Ortsneckereien, Rätsel, Glaubensüberlieferungen, Segens und Be-
schwörungsformeln, Volksschauspiel und Volksgesang. Außer den Texten des 1. Kapitels,
die aus einer großangelegten Feldforschung und Sammlung D.s an der Maine-Küste stam-
men (1956), wählte er die Beispiele aus den besten Publikationen amerikanischer Folkloristen
aus, unter ihnen solch bekannte Namen wie Lelah Allison, Ralph Boggs, Elizabeth Brandon,
Thomas R. Brendle, Marie Campbell, Austin E. Fife, Edwin Miller Fogel, Herbert Halpert,
George M. Laws, Charles Neely, Harry Oster, Soledad Pérez, Grace Partridge Smith,
William Troxell u. v. a. Mehrere der Genannten steuerten außerdem aus ihren noch un-
veröffentlichten Sammlungen zu diesem Band bei.
D. hat zu jedem der sieben Kapitel eine kurze Einführung geschrieben, worin er über
den Charakter des geographischen oder ethnischen Gebietes informiert, aus dem die Texte
stammen; kurz erwähnt er die Besiedlungsgeschichte und schildert die folkloristische
Quellensituation sowie die Besonderheiten der jeweiligen Folklore. Häufig finden sich hier
auch mehr oder weniger ausführliche Angaben über einzelne Erzähler, Sänger oder über
Erzähl- und Uberlieferungsgemeinschaften. — Die Texte werden nach Gattungen geordnet
und innerhalb dieser Ordnung in die für die Gegend besonders typischen Stoffgruppen zu-
sammengefaßt. Im ersten, aus D.s Material stammenden Kapitel (Maine Dovon-Easters)
z. B. enthält die Erzählgattung Sea Traditions die Stoffgruppen Bad Luck at Sea, Buying
Doris Stockmann, Berlin
408
Besprechungen
viel geleistet. Es verwundert daher die einseitige Auswahl im vorliegenden Band: D. bringt
fast ausschließlich die „Kleinen Formen“ der Volksüberlieferung, z. B. Farm Folk Beliefs,
Belief Tales, Noodle Tales, Proverbs, Proverbial Tales, Biddles, Songs. Gerade einen Ver-
gleich der hier fehlenden größeren deutschen Erzählgattungen mit dem entsprechenden
Beispielmaterial aus anderen amerikanischen Gebieten könnte man sich interessant und
fruchtbar vorstellen. — D.s Auswahlband bietet im ganzen überhaupt wenig Vergleichs-
möglichkeiten, er ist eher bestrebt, besonders Typisches für die sieben Landschaften zu
zeigen — soweit das bei der unterschiedlichen Quellenlage möglich ist. Hin und wieder
scheint aber selbst dieses Prinzip durchbrochen, u. a. in Kap. III, 5 (Southern Mountaineers
— Biddles). Hier führt D. nach Boggs (North Carolina White Folktales and Riddles) nur die
obszönen Rätsel als besonders charakteristisch für das zum Teil an Negerstaaten grenzende,
ethnisch heterogene Gebiet an, ja er glaubt mit A. Taylor, diese Art von „Erotic Scenes“
seien von südlichen Neger-Traditionen beeinflußt (2130".). Rätsel mit scheinbar obszöner
Frage und harmloser, natürlicher Antwort sind jedoch über ganz Europa verbreitet; die
wenigen von D. angeführten Texte haben z. B. ihre Entsprechung in Richard Wossidlos
Sammlung Mecklenburgische Volksüberlieferungen, 1. Bd. Rätsel, Wismar 1897 (vgl. hier
die Stichworte Butterfaß, S. 72L; Teig, Spinnrad, S. 43f.; Schlüssel, S. 73 usw.).
Gut ausgewähltes und historisch-sozial typisches Material bringt D., „the historian
folklorist“, wie ihn Kenneth S. Goldstein (A Guide for field workers in Folklore, Hartboro
Pennsylvania 1964) bezeichnet, in solchen Abschnitten, in denen sich die Volksdichtung
irgendwie mit historischem Geschehen berührt bzw. dieses zu gestalten trachtet. Es handelt
sich besonders um die Kapitel IV bis VII. Die Gewährsleute der dort abgedruckten Texte
besitzen vorwiegend romanisch und religiös geprägte Kulturtraditionen, sie haben, wie die
Einwanderer und Bewohner von Illinois Egypt, eine sehr bewegte Geschichte hinter sich
oder schöpfen, wie die Utah Mormons, in Brauch und poetischer Überlieferung aus einem
über hundert Jahre alten Zeremoniell der „Volkssekte“. — Wenn es sich um spezifische
Kategorien mit einem offensichtlichen Übergewicht gegenüber den anderen poetischen
Überlieferungen innerhalb einer ethnischen Gruppe oder auch um eine sonst selten zu
findende Erscheinung handelt, so druckt D. meist einen Aufsatz oder die Einführung von
Fachgelehrten in die entsprechende Sammlung ab, aus der er die Beispiele wählte, z. B. unter
III, 6 (Southern Mountaineers — Folk Drama) den Aufsatz von M. Campbell über das
Volksdrama in den Kentucky Mountains, oder unter VII, 1 (Utah Mormons — Saints Le-
gends) die Einführung A. E. Fifes zu The Legend of the Three Nephites Among the Mormons.
Zum Teil übernimmt er auch Anmerkungen und Bibliographien aus gedruckten Samm-
lungen, speziell bei Glaubensüberlieferungen, Formeln, Rätseln, Volksmedizin, in einigen
Fällen hat er hierzu noch Ergänzungen aus neuesten amerikanischen Katalogen eingefügt,
so z. B. V, 5 (Illinois Egyptians — Folk Medicine) nach W. D. Hands Edition Populär
Beliefs and Superstitions from North Carolina, 1961.
Umfangreiches Wissen und exakte Anwendung des folkloristischen Handwerkszeuges
einerseits, auf der anderen Seite eine Fülle von gesammeltem Material, welches D. zeit-
weilig großzügig und unbekümmert auszuwählen scheint — das sind die hervorstechenden
Merkmale des Buches. Ihm ist eine 26 Seiten umfassende Einleitung vorangestellt. D. be-
faßt sich hier im wesentlichen mit den Methoden der Feldforschung und wiederholt dabei
zum Teil Gedanken, die der Leser bereits aus seinen anderen Werken kennt. Es handelt
sich also nicht um eine direkte Einführung in die folgende Textauswahl. Als Aufsatz und
Darlegung der Konzeption D.s von folkloristischer Sammelarbeit, von Funktion und
historisch-kultureller Bedeutung der Folklore ist sie jedoch wertvoll.
Gisela Burde-Schneidewind, Berlin
Westalpensagen. Hg. v. Will-Erich Peuckert. Berlin, Erich Schmidt Verlag, 1965.
253 S. (— Europäische Sagen 4).
Grundsätzliches über die Aufgabe der Reihe wurde beim Erscheinen der früheren Bände
gesagt (DLZ 1964, Sp. 1068): sie bietet dem Wissenschaftler, aber auch dem interessierten
Besprechungen
409
Laien verstreutes, zum Teil kaum zugängliches, in Regionalzeitschriften vor und nach der
Jahrhundertwende veröffentlichtes Sagenmaterial. Oberstes Prinzip ist die völlig text-
getreue Wiedergabe. Damit wird eine bisher sehr fühlbare Lücke in der Sagenpublikation
geschlossen, das Bild der jeweiligen Landschaften rundet sich ab, und dem mir Sagen Ar-
beitenden wird wenigstens für diese Bereiche die zeitraubende und oft vergebliche Fern-
leihsuche erspart. Grund genug, dem Herausgeber deshalb für seine Initiative dankbar zu
sein. Ihn dafür verantwortlich zu machen, daß im späten neunzehnten und im frühen zwan-
zigsten Jh. das Erzählgut nicht entsprechend modernen wissenschaftlichen Prinzipien
fixiert wurde — ein Vorwurf, auf den er zu Beginn seines Vorworts entgegnet —, geht
billigerweise nicht an. — Begreiflich ist dagegen eine andere Frage, die kritisch erhoben
wurde: die nach der von Band zu Band mehr oder weniger veränderten Gliederung; sie hat
den Herausgeber zur ausführlichen Darlegung seines Ordnungsprinzips und darüber hinaus
zur Erörterung seiner Ansicht vom inneren Wandel der Sage veranlaßt. — Es läßt sich nach-
vollziehen, daß sich die bleibenden großen Gruppen1 beim jeweiligen Durcharbeiten des
Stoffes zu immer andern Formen zusammenfügten; sie haben untereinander ja alle Bezug.
So vermag „Zauber“ den Zugang zur Unterwelt zu eröffnen, ist aber auch mit den Schatz-
sagen verbunden, ebenso mit den Erzählungen von versunkenen Schlössern. Mit dem
Bereich der Toten hängen numinose Orte und Geschehen, hängen Wiedergänger und Irr-
lichter zusammen usw.
In den Westalpensagen nun findet P. „die historische und fortwachsende Ordnung der
Sagen“, um die er sich von Band zu Band bemühte, folgendermaßen: Frühzeitig und „älter
als die Sagen um gestaltete Wesen oder Mächtige“ ist „das unbewußte Gefühl von Kräften
und Mächten und deren Meidung ... das schuf die beiden Kapitel Mana und Tabu. An diese
scheint sich mir folgerichtig das Wissen um die Macht des Wunsches oder Fluches, wie das
um die sich irgendwie ankündigende Zukunft ... anzuschließen.“ Dem zaubermäßigen Tun
im Wunsch und Fluch stehen schwarze und weiße Magie nahe; sie reihen sich an. Damit
behauptet P. nicht (wie Frazer) eine zeitliche Priorität der Zaubersagen gegenüber den Sagen
um mythische Wesen: „Daß ,Mächte', Wirkungen oder Gegenwirkungen, wesenhaft und
zu Gestalten werden, ist ebenso früh geschehen ... wie der Versuch, die Mächte zu be-
stimmen und zu lenken.“
Durch reichliche Beispiele demonstriert P. — ausgehend von der Frage, ob Totenwesen-
und animistische Sagen älter oder jünger als mythische seien , wie die Sage allmählich
ihre Haltung gewandelt hat, und er stellt u. a. fest, daß der Mensch in seiner gesamten
Wesenheit in den Mittelpunkt der Sage tritt, „zum die Sage treibenden Motor“ werden
kann, vorzüglich in den Totenwesensagen (Hartherzigkeit und Rachsucht, Geiz und Eigen-
nutz, falsches Maß, Grenzfrevel, faule Liebe). Das macht die Totenwesensagen, wenn sie
auch Ältestes bewahren, gleichzeitig zu unsern jüngsten, zu denen, die uns (ähnlich wie die
historischen Sagen) am nächsten sind. P. läßt auf die Sagen vom Zauber die von den Elben
und Dämonen, vom Teufel, dann die Seelen- und Totensagen folgen. Schätze, Alte Zeiten,
Untergang und Unterwelt reihen sich an.
Der Anmerkungsapparat entspricht dem der vorigen Bände: er enthält die genauen
Quellennachweise, die Bemerkungen der ursprünglichen Sammler, wo nötig Worterklä-
rungen und vor allem Hinweise auf anderweitiges Vorkommen der Motive — dies gelegent-
lich, einem unveröffentlichten Manuskript des Handwörterbuchs der Sage folgend, in Form
einer konzentrierten Sagenmonographie. Darüber hinaus druckt der Herausgeber bei den
Anmerkungen solche Parallelsagen ab, die nicht in den eigentlichen Text aufgenommen
wurden. — Orts- und Sachregister sowie Konkordanz der Drucke erleichtern den Über-
blick.
Christiane Agricola, Leipzig
1 Leichte Abweichungen im Wortlaut der Bezeichnungen: Der Tote und sein Grab;
Wiedergänger und Verbannte (Deutsche Sagen I) — Tod und Wiedergang (Deutsche Sagen
II; Ostalpensagen) — Tote und Wiedergänger (Westalpensagen) — dürften den Benutzer
kaum verwirren.
410
Besprechungen
Oskar Schmolitzky, Volkskunst in Thüringen vom 16. bis zum 19. Jahrhundert. Weimar,
Böhlau-Verlag, 1964. 120 S., 209 Abb.
Das vorliegende Buch steht in der Tradition der von Edwin Redslob begründeten Reihe
landschaftlicher Monographien zur Volkskunst, in der 1926 der Band Thüringen erschienen
war. Es bildet vom Stoff her eine längst fällige Überarbeitung des vor vierzig Jahren ge-
botenen Materials. Der Verf. hatte eine gute Ausgangsbasis für seine Untersuchung: das
reichhaltige Bildmaterial mit Werken der Volkskunst aus 60 Thüringer Museen, das seit
1952 im Zuge einer von Paul Nedo und dem Rez. angeregten Bildinventarisation des frü-
heren Zentralhauses für Volkskunst bzw. des Leipziger Institutes für Volkskunstforschung
systematisch gesammelt worden war. Der Verf. — damals Leiter des Stadtmuseums Jena —
hatte bereits 1950 in seiner Thüringer Volkskunst, Jena und Umgebung eine erste Gesamt-
schau in regionaler Abgrenzung zur Diskussion gestellt. Es war das erste größere Werk
zur Geschichte der Volkskunst nach 1945 im Gebiet der DDR. In Ergänzung dieses Buches
erfaßt er nun mit der vorliegenden Arbeit die Volkskunst Gesamtthüringens.
Das Buch behandelt den Zeitraum zwischen dem 16. und dem 19. Jh., obwohl es in
einzelnen Abschnitten auch gegenwärtige Entwicklungsstufen kurz beleuchtet. — Die
ausführliche Einleitung (9 — 25) bietet auf der Grundlage der marxistischen Klassentheorie
einen Überblick über die natürlichen, politischen und sozialökonomischen Faktoren, die
für die Ausprägung der Thüringer Volkskultur von entscheidender Bedeutung sind. Sch.
erläutert darin auch die Triebkräfte, die im allgemeinen das volkskünstlerische Gestalten
bestimmen (18 ff.). Freilich zwingt dabei der knappe Umfang des Buches vielfach zu straf-
fen, thesenhaften Feststellungen, die im Einzelnen noch gründlicher Diskussionen be-
dürfen. Das trifft auch für einige Begriffe zu, die der Verf. verwendet (z. B. die Unterschei-
dung von „primärer“ und „sekundärer“ Volkskunst).
Im 1. Kap. werden Haus und Hof, Volksarchitektur als Spiegelbild der sozialen Verhält-
nisse behandelt. Im Vergleich zu den anderen Abschnitten des Buches wird dieses Kapitel
verhältnismäßig breit geboten (26 — 55). Der Verf. bezeichnet die Volksarchitektur als
Zentrum für die anderen Gebiete der Volkskunst und übernimmt damit den Gedanken,
daß die Architektur schlechthin „die Ordnungsmacht für alle Künste“ darstellt.
Als Beispiel „primärer“ Volkskunst wird im 2. Kapitel die Urbetätigung Schnitzen (56ff.)
dargestellt, darunter die Anfertigung von hölzernem Hausrat, das plastische Gestalten der
Hirten, Schäfer und Bergleute. Besonderes Augenmerk widmet Sch. der problematischen
Entwicklung der Rhönschnitzerei vom gewerblich betriebenen Volkskunsthandwerk zur
industriemäßig ausgerichteten Schnitzerei der Gegenwart. (Der Begriff „Kunsthandwerk“
charakterisiert m. E. nicht das Wesen der heutigen Rhönschnitzerei.)
Die für Thüringen so charakteristische Spielzeugproduktion ist im Ganzen des Buches
zu kurz behandelt worden (Kap. 3, Tand für Kinderhand 65 ff.). Die spezifischen histo-
rischen und ökonomischen Entwicklungsbedingungen dieses für die Gegenwart so wich-
tigen Industriezweiges, der nichts mehr mit Volkskunst zu tun hat (im Gegensatz zur erz-
gebirgischen Spielzeugproduktion des Seiffener Gebietes!), lassen es fragwürdig erscheinen,
wenn der Verf. der Spielwarenproduktion die Empfehlung gibt, wieder „mehr Charakter
der Volkskunst“ anzunehmen.
Die Thüringer Glasbläserkunst (Kap. 4, 69 ff.) wird mit allen typischen Erzeugnissen
— die zum Teil Weltruf genießen (Christbaumkugeln!) belegt. — Das Kap. 5 Töpferware
und andere Keramik (75 ff.) belegt, welche relativ reich besetzte Töpferlandschaft Thüringen
einst gewesen ist. (Einziges Zentrum der Gegenwart: Bürgel.)
Die fließenden Grenzen, die dichten Wechselbeziehungen zwischen der Volkskunst und
dem professionellen Kunsthandwerk verdeutlicht der Verf. überzeugend im Kap. 6 Steinerne
Male (84fr.) und 7 Schmiede- und Gußarbeiten (87ff.).
Das alte Thüringen war ein reich differenziertes Trachtengebiet, seine Blütezeit lag um
1800. Weil die in den Museen aufbewahrten Stücke vorwiegend zur Ubergangstracht des
19. Jhs gehören und demzufolge kein echtes Bild mehr vermitteln, fordert Sch. eine stär-
kere Auswertung der historischen Bildquellen durch die Forschung (für die berühmte
Altenburger Tracht liegen seit 1703 ausführliche Beschreibungen vor, die uns ihre Ent-
Besprechungen
411
wicklung bis 1900 gut überschaubar machen). Das Kap. 8 Trachten und anderes Textilwerk
(95 ff.) gehört zu den instruktivsten des Buches.
Mit einer Betrachtung der Angewandten und freien Malerei (Kap. 9, 105 ff.) klingt das
Werk aus. Als Besonderheit sei auf das Wirken des naiven Volksmalers Wagnermeister
Chr. F. Schadewitz (1779 — 1847) verwiesen, der als städtischer „Bilderberichter“ das Volks-
leben in Altenburg, vor allem die revolutionären Vorgänge von 1830, in vielen farbigen
Blättern festgehalten hat.
Wenn der Verf. auch die traditionelle Sachgebietsgliederung der früheren Volkskunst-
bände beibehalten hat, so sind doch viele Aspekte der Betrachtung neu und begrüßens-
wert (z. B. die Einblendung grundsätzlicher Gestaltungsprobleme im bildnerischen Volks-
schaffen, ständige Bezüge zu den sozialökonomischen Faktoren im Hinblick auf die Lebens-
weise der Produzenten und Konsumenten der Volkskunst, Hinweise auf künstlerische Er-
neuerungsversuche durch Schulen usw. und deren ästhetische Problematik). Unsere An-
erkennung verdient auch der Böhlau-Verlag, der seit Jahrzehnten für Publikationen aus
dem Gebiet der Volkskunst eine gute Heimat ist. Er hat dem geschmackvoll gestalteten
Band eine Fülle von Bildmaterial beigesteuert, das zum größten Teil erstmalig veröffent-
licht wird. Der vorliegende Überblick des kenntnisreichen Verfs über vier Jahrhunderte
bildnerischer Volksgestaltung in Thüringen wird für lange Zeit ein guter Leitfaden für alle
Heimatforscher und Freunde der Volkskunst sein.
Manfred Bachmann, Dresden
Ernst Schlee, Schleswig-Holsteinische Volkskunst. Flensburg, Christian Wolf Verlag, 1964.
32 S. Text, 91 Abb., 8 Farbtaf.
Dieses schöne Buch erschien als 14. Band in der Reihe Kunst m Schleswig-Holstein, die
der Verf. für das Schleswig-Holsteinische Landesmuseum, Schleswig/Schloß Gottorp
herausgibt. Er bereicherte sie bereits durch zwei Bände: Schleswig-holsteimsches Volksleben
in alten Bildern und Maler auf Sylt. .. . ~ :u n , u t/ u i
Sch. gab bereits 1939 in der von Erwin Redslob begründeten Reihe Deutsche Volkskunst
den Band Schleswig-Holstein heraus, der damals rasch vergriffen war. Der nunmehr vor-
liegende Band lehnt sich an diese Ausgabe an und bildet gleichsam eine Neuauflage Im
Vergleich zur Ausgabe von 1939 beschränkt er sich im Bildtell mit vorzüglichen Auf-
nahmen auf die Bestände des Landesmuseums. Außerdem verzichtet der Verf auf die
umfangreichen Themen einer Gesamtdarstellung des Bauernhauses und der volkstümlichen
Tracht, sowie des Trachtenschmuckes. Er möchte sein Buch vielmehr allgemein als in-
formierenden Überblick gelten lassen, dem spezielle Studien für die einzelnen Sachgruppen
folgen sollten. Er verweist in diesem Zusammenhang auf die systematische volkskundliche
Landesaufnahme, die vom Landesmuseum betreut wird. S,e bezweckt eme „umfassende
Aufzeichnung des in Schleswig-Holstein übernommenen traditionellen Sachgutes von
volkstümlichem Gepräge“ (5z), greift also weit über die Sachgebiete der Volkskunst
Iliuauo.
In einem einleitenden Kapitel skizziert Sch. knapp die Geschichte der Sammelbewegung
volkstümlichen Kulturgutes, die nach 1864 erwachte, als die Herzogtümer Schleswig-Hof-
stein und Lauenburg eine preußische Provinz wurden und wenige Jahre später Teile des
Deutschen Reiches. Das sammlerische Wirken des Kieler Universitätsprofessors Gustav
Thaulow, des Frankfurter Sammlers Oskar Kling (dessen Sammlung dem Germanischen
Museum Nürnberg gehört), die rasche Entfaltung des Bäderverkehrs an der Nordsee und
die Berücksichtigung der einstigen Herzogtümer im Aufbau der Sammlungen des Nor-
dischen Museums Stockholm verstärkten das in allen deutschen Ländern entfachte Interesse
für Schleswig-Holstein.
Sch. umschreibt als Volkskunstforscher auf S. 8/9 kurz wesentliche Merkmale der Volks-
kunst. Einige Gedanken erscheinen dabei dem Rez. als sehr problematisch, so z B die
Festlegung, Volkskunst sei Ausdruck von „Wohlstand und Lebensfreude“, habe als Voraus-
setzungen nötig „wirtschaftlichen Wohlstand und persönliche Freiheit, soweit davon im
412
Besprechungen
alten bäuerlichen Leben gesprochen werden kann“. Folgerichtig fallen für den Verf. von
vornherein solche Gebiete aus, „in denen der Bauernstand mit dem Aufkommen der Guts-
wirtschaft seit dem 16. Jh. in Leibeigenschaft geriet“. Bedenkt man die Lückenhaftigkeit des
gesammelten Materials in den Museen und die geringe Zahl gründlicher historischer Unter-
suchungen zum Entstehen der Volkskunst, so erscheint uns eine solche Behauptung nicht
gerechtfertigt. Außerdem engt sie damit — der bürgerlichen deutschen Forschungstradition
folgend — den Begriff der Volkskunst als einer an das bäuerliche Leben gebundenen Er-
scheinung zu sehr ein. Es wäre eine dankbare Aufgabe für die während des Marburger
Kongresses 1965 erneut aktivierte Sektion für Volkskunst der westdeutschen Gesellschaft,
gemeinsam mit den Vertretern der Volkskunstforschung der DDR Wesen und Begriff der
Volkskunst — gerade unter Berücksichtigung der veränderten gesellschaftlichen Verhält-
nisse — schöpferisch zu diskutieren.
Sehr anregend sind Sch.s Darlegungen über die einzelnen Volkskunst-Landschaften
Schleswig-Holsteins, für deren Prägung die sozialen und wirtschaftlichen Verhältnisse sowie
die kulturgeographischen Bedingungen angesprochen werden (10). Sie stehen in engen
Beziehungen zu historischen Strömungen und Ereignissen und reichen deshalb oft über
die heutigen Landesgrenzen hinaus. Der Verf. verweist in diesem Zusammenhang auf die
Verbreitung des Kerbschnittes auf hölzernem Kleingerät in Norddeutschland bzw. in
Nordeuropa. Als wichtigste „geschlossene Lebenskreise oder Kulturlandschaften“ unter-
scheidet der Verf. Nordfriesland zwischen Husum und Tondern, Eiderstedt und Dith-
marschen, die Elbmarschen und die Probstei.
Im Kapitel über die Bauernstuben beschreibt Sch. vor allem die Ausstattung der volks-
tümlichen Wohnräume Schleswig-Holsteins. Charakteristisch ist das Nebeneinander-
bestehen zweier nach Art und Alter verschiedener Raumtypen: der spätmittelalterlichen
Herdstube (Pesel) und der seit dem 16. Jh. sich ausbreitenden Ofenstube (Döns).
Der nächste Abschnitt des Buches ist dem Möbel gewidmet. Seine beweglichen Formen
sind trotz der Verlegung von Schränken und Betten in die Wand bzw. hinter die Täfelung
sehr mannigfaltig. Erst im 18. Jh. traten die Schränke als eigentliche Möbelstücke vor die
Wand. Mittelalterliche Möbelformen blieben in dem wandhohen Schrank im Pesel (Schenk-
schiewen), in dem als Tresor dienenden Eckschrank (Hörnschapp), in der Stollentruhe und
im gedrechselten Dockenstuhl lebendig. Von besonderer Bedeutung für die Erhellung be-
stimmter Zusammenhänge in der Volkskultur sind nach Meinung des Verfs die in dichter
Fülle überlieferten Truhen, für deren Verbreitung er verschiedene Werkstätten lokalisiert
(19/20). Abschließend behandelt er die landschaftstypischen Abwandlungen des Pfosten-
stuhls in Form des Lehnstuhles.
In der Beschreibung des hölzernen Kleingeräts, einem weiteren Kapitel des Buches, geht
der Verf. vor allem auf die Verbreitung des Kerbschnittes in den friesischen Stücken ein,
der sich als schmückende Holztechnik aus der Spätgotik erhalten hat. Das unter dem Klein-
gerät dominiernde Mangelbrett bezeichnet der Verf. in origineller Weise als eine Art
„Leitfossil“. Er fordert eine sorgsame Sammlung als wichtige Vorarbeit für die erst in
Ansätzen vorhandene Volkskunstgeographie.
In einem kurzen Kapitel über die volkstümliche Keramik (25/26) nennt der Verf. die
wichtigsten Töpferorte (z.B. Tellingstedt und Windbergen in Dithmarschen; Schönberg in
der Probstei; Kellinghusen) und verweist auf die — auch in anderen Landschaften vorhande-
nen! — Schwierigkeiten in der Datierung und werkstattmäßigen Zuordnung des Materials.
Mit der Betrachtung der wichtigsten und zugleich typischsten Formen der in Schleswig-
Holstein Vorgefundenen textilen Techniken klingt das Buch aus: geknüpfte Decken und
Kissenplatten; Beiderwandstoffe; Stickerei für Stuhl- und Wagenkissen.
Am Schluß betont Sch., daß er bewußt auf viele Sonderleistungen lokaler Art in der Dar-
stellung verzichtet habe, weil bereits durch die hervorgehobenen Sachgruppen die wich-
tigsten Volkskunstlandschaften seines Forschungsgebiets umschrieben werden konnten.
Das war also das Hauptanliegen des Verfs. Diese klare Zielsetzung des Buches ist ein großer
Gewinn für den Leser, zumal viele Forschungsprobleme angesprochen werden, die in
anderen Landschaften ebenfalls noch ihrer Lösung harren.
Manfred Bachmann, Dresden
Besprechungen
413
Franz Joachim Behnisch, Die Tracht Nürnbergs und seines Umlandes vom 16. bis zur Mitte
des 19. Jahrhunderts. Nürnberg, Spindler, 1965. 169 S., iöFarbabb. (= Beiträge zur
Landes- und Volkskunde Frankens hg. von W. Schultheiss).
Das gefällige Buch, eine bei J. Dünninger 1962 angefertigte Würzburger Dissertation,
spricht durch die farblich gelungene Wiedergabe von 16 Trachtenbildern (leider ohne Bei-
spiel bäuerlicher Tracht) aus J. Kramers Werk Nürnbergische Kleider-Arten. Kleiderordnung
(1669) auch ästhetisch unmittelbar an. Mit diesen Bildern gibt der Verf. zugleich ein Bei-
spiel für die von ihm herangezogenen Quellen: neben Einzeldarstellungen vor allem aus
dem Kupferstichkabinett des Germanischen Nationalmuseums in Nürnberg und aus den
Kunstsammlungen der Veste Coburg und den Staffagefiguren topographischer Darstellun-
gen, besonders die seit dem 16. Jh. entstehenden ausgesprochenen Trachtenbücher, die
sich nach dem 30jährigen Krieg zunehmend einzelnen Landschaften zuwenden, bis dann im
19. Jh. die Volkstrachten einzelner Staatsgebiete zusammengestellt werden. Anhand solcher
Trachtenabbildungen und ihrer Beschreibungen verfolgt B. die historische Entwicklung
der Nürnberger Tracht der Neuzeit, geht also nicht einseitig nur vom 19. Jh. aus. Nach
verschiedenen Lebensbereichen gliedernd, erfaßt er die ganze soziale Struktur der alten
Reichsstadt, beschränkt also das Phänomen Tracht nicht allein auf die bäuerlichen Er-
scheinungen. In einem abschließenden Kapitel erfolgt die Auswertung des aufbereiteten
Materials; und gerade wegen der darin gewonnenen allgemeinen neuen Erkenntnisse zur
Trachtenforschung verdient die Arbeit Beachtung über den Rahmen ihres Untersuchungs-
8eüberSd“dgentliche Trachtenbeschreibung hinaus ließe sich so das Bild einer selbst-
bewußten reichsstädtischen Gemeinschaft mit ihren ständischen, sozialen und rechtlichen
Ordnungen ebenso wie mit ihrem brauchtümlichen Leben zeichnen was freilich nicht das
Anliegen des Autors war. Daß diese Welt Alt-Nürnbergs, mit deren Zerbrechen am Beginn
des 19. Jhs auch die getragene Tracht aufhörte, von zeitbedingten Kräften bewegt wurde,
zeigt der Verf. immer wieder an den vielfältigen Wechselwirkungen von Tracht und Mode,
für die ihm seine umfassenden kostümkundlichen Kenntnisse zustatten kamen. Die tra-
ditionsbedingte Tracht zeichnet sich zwar durch äußere Beharrlichkeit aus kann aber die
Einwirkungen der Zeitmode lebendig in sich aufnehmen. Bemerkenswert ist die Erkenntnis,
daß die sozial höhergestellten Kreise länger als andere an der traditionellen Kleidung fest-
hielten, solange das Sinn hatte. Die Nürnberger Stadtaristokratie, die geradezu als boden-
haft-schwer und von einer gewissen bäuerlichen Würde geprägt erscheint, trägt bis etwa
1740 Tracht und wendet sich erst dann z. B. von der fast zweieinhalb Jahrhunderte ge-
pflegten Hochzeitstraeht ab. Die Amtstracht des Rates bleibt seit der großen Zeit Nürn-
bergs, dem 16. Jh., als sichtbares Zeichen einer besonderen Wurde bis gegen 1800 fast un-
verändert. Freiheiten gegen die ältere und meist Zug eich unbequemere Tracht finden sieh
dagegen eher bei den gesellschaftlich niedriger gestellten Ratsherren aus dem Handwerker-
S'Zu den Ergebnissen dieser Arbeit gehört es auch, daß die bäuerliche Tracht nicht mehr
einfach als „gesunkenes Kulturgut“ interpretiert werden kann. Im allgemeinen unter-
scheidet sich der Nürnberger Bauer um .800 kaum von dem um 1600; am konservativsten
bleibt etwa die Tracht der Milchbäuerin aus dem Knoblauchsland. Und doch ist der Bauer
bestrebt, sich dem ihm wirtschaftlich und gesellschaftlich überlegenen Städter anzuglelchen,
es ihm oftmals zuvorzutun. So hält sich beispielsweise der Brauch, Über,acken zu tragen,
bei den Nürnberger Bauern ziemlich lange, die städtische Mode der langen Hosen dagegen
übernehmen sie zu einem verhältnismäßig frühen Zeitpunkt. Die bisherige Annahme die
Uniformen des 18 Jhs hätten die Gestaltung bäuerlicher Männertrachten entscheidend be-
einflußt korrigiert B. indem er für den Nürnberger Bereich wenigstens bis 1740 eine
oarallele Entwicklung feststellt. Die Taschenklappen beispielsweise trägt der Nürnbetger
Bauer sogar bereits um 1600 an seinem Rock, sie dringen erst allmählich m die militärische
und bürgerliche Mode ein, die Soldaten des 30jährigen Krieges kennen sie noch nicht. Im
Nürnberger Bereich befruchten sich bis ins erste Drittel des 18. Jhs hinein Stadt und Land
in Tracht und Mode wechselseitig, so daß in der Volkstracht Tradition und modische An-
414
Besprechungen
passungsfähigkeit zugleich sichtbar werden und sich für B. abschließend die Frage stellt,
ob diese Tatsache nicht auf volkscharakterologischen Gegebenheiten beruht, wie sie Josef
Dünninger im Vorhandensein dynamischer und statischer Kräfte im Wesen des Franken
aufgezeigt hat.
Bernhard Schemmel, Würzburg
Viera Urbancová, Návod na etnograficky vyskum slovenského poV nohospodárstva. Obrá-
bame pódy a pestovanie obilnín (Einführung in die ethnographische Erforschung der
slowakischen Landwirtschaft. Bodenbestellung und Getreidebau). Zvolen, Heimat-
kundliches Museum, 1964. 115 S. (= Veröff. der Slowak. volkskundl. Ges. bei der
Slowak. Akad. d. Wiss. Reihe I, 4).
Das vorliegende Handbuch zum ethnographischen Studium der Bodenbestellung und des
Getreidebaues in der Slowakei ist eigentlich ein ausführlicher, nach den bisherigen hei-
mischen und ausländischen Erfahrungen zusammengestellter Fragebogen. Die Autorin
geht vor allem von der Praxis der Terrainforschung aus; diesem Zweck ist auch die Gliede-
rung des Stoffes angepaßt. Obgleich die Publikation für die volkskundliche Arbeit in der
Slowakei geschrieben wurde, kann man sie auch in anderen Ländern anwenden. Wesent-
lich ist, daß U. in dem Handbuch nicht nur die rein agrartechnischen Aspekte aufzeigt,
sondern auch alle mit der Landwirtschaft in Beziehung stehenden wirtschaftlichen und
sozialen Fragen einbezieht. Die Publikation enthält neben dem instruktiven Fragebogen
eine kurze Einleitung über die Geschichte und den gegenwärtigen Stand des ethnographischen
Studiums der slowakischen Landwirtschaft sowie ein Literaturverzeichnis. Mangelhaft ist
leider die technische Qualität der Abbildungen.
Nach Podoláks Einführung in das volkskundliche Studium der Viehwirtschaft (DJbfVk
9, 1963, 457) ist das Handbuch von V. Urbancová ein'weiteres Zeugnis für die systema-
tische Arbeit der slowakischen Volkskundler im großen Bereich der Agrarethnographie.
Jaroslav Kramarík, Prag
Ivan Balassa, Földmüveles a Hegyközben (Der Ackerbau in der Hügellandschaft Hegyköz).
Budapest, Mezögazdasägi Muzeum, 1964. 213 S., 152 Abb.
Die ethnographische Erforschung des ungarischen Ackerbaus förderte — auf der von
Györffy gelegten Grundlage — bemerkenswerte Tatsachen zutage. Die Forschungsergeb-
nisse von Talasi, Balogh, Balassa, Belenyesy, K. Koväcs, Takäcs, Hoffmann, Hofer, Nagy,
Bälint und anderen Wissenschaftlern haben die Feststellungen Györffys einerseits vertieft,
andererseits aber auch korrigiert. Die zwei Haupttypen des ungarischen Ackerbaus: der
tief ländische und der im Hügelland, stechen — ihrem Charakter nach — voneinander voll-
kommen ab. Der tiefländische Typ wurde uns weitgehend erschlossen, während der des
Hügellandes noch weniger bekannt ist.
Das Werk von Balassa will diesem Mangel durch die Darstellung des Ackerbaus in einer
kleinen Region der Hügellandschaft Hegyköz — im wesentlichen 15 Dörfer — abhelfen.
Hinsichtlich der Höhenverhältnisse scheint dieses nordostungarische, an den südöstlichen
Teil der Tschechoslowakei angrenzende Gebiet für diesen Zweck geeignet. Das 200 bis
400 m hoch liegende waldreiche Hügelland ist durch ganz andere Naturbedingungen be-
stimmt als das Flurland der Ebene. Wenn auch diese Landschaft von einigen Einflüssen des
Flachlandes berührt worden ist, so unterscheiden sich beide Ackerbausysteme beträchtlich.
Typisch für das Hügelland war bis zum Beginn unseres Jahrhunderts die Dreifelderwirt-
schaft, die Ernte mit der Sichel, das Garbenbinden, der Drusch mit dem Dreschflegel, die
Speicherung des Getreides in Scheunen, während es im Flachland keinen Flurzwang gab
und der Schnitt mit der Sense, das Anhäufen des geschnittenen Korns mit der Gabel, das
Austreten des Getreides und das Fehlen der Scheunen bekannt war. Nach diesen Haupt-
Besprechungen
415
merkmalen repräsentiert das Untersuchungsgebiet die typische Landschaft des Hügellandes,
und die Untersuchung bietet so ein treffliches Gegenstück zu dem 1963 erschienenen, das
Anbausystem der Ebene behandelnden monographischen Werk über den Ackerbau von
Oroshäza von Gyula Nagy.
Als Monographie wird man die vorliegende Untersuchung nicht bezeichnen können, denn
B. wollte von vornherein kein Gesamtbild des Ackerbaus entwerfen. Er beschränkt sich
auf die reine Feldwirtschaft sowie die Heuarbeit und läßt den in diesem Gebiet sehr be-
deutenden Obstanbau, den für einige Dörfer wichtigen Weinbau und die für das Hegyköz
charakteristische Forstarbeit beiseite, deren Untersuchung die Aufgabe des Verfs sehr er-
weitert und eine spezielle Bearbeitung beansprucht hätte.
Das Werk beginnt mit einer Übersicht über die Siedlungsformen und die Wirtschaft des
Gebietes; dann folgt die eingehende Besprechung des Anbausystems, der Fruchtfolge
(Dreifelderwirtschaft) und der Bodenbestellung. Als eine besondere Einheit wird die wich-
tigste Gruppe, der Getreideanbau, von den Getreidearten an über Saat, Ernte, Einsammeln
und Dreschen bis zur Speicherung behandelt. Die verschiedenen anderen Früchte (Mais, Kar-
toffel, Bohne, Erbse, Linse, Flachs, Kraut, Kürbis usw.) werden verhältnismäßig kurz
besprochen. Viel eingehender beschäftigt sich der Verf. mit der Darstellung der Heuarbeiten.
Zum Schluß faßt er die charakteristischen Merkmale und den Verlauf der Wandlung des
Ackerbaus des Hegyköz zusammen. An die Anmerkungen und Verzeichnisse schließt sich
ein deutsches Resümee und ein Bilderverzeichnis von 5 Seiten an.
Das Werk ist - auch in methodischer Hinsicht - mehr als eine einfache Beschreibung,
obwohl der in den Dörfern 8 Jahre lang gesammelte Stoff den Kern des Materials bildet.
Wo nur die Quellen es ermöglichen - und die Lage ist hier verhältnismäßig günstig -
versucht B. die Geschichte der einzelnen Elemente zu klären. So wird das Vorhandensein
einer ganzen Reihe von Erscheinungen seit dem 16./17. Jh. nachgewiesen Sehr sorgfältig
vergleicht der Verf. den Inhalt dieser schriftlichen Quellen mit der Fülle der beobachteten
oder aus dem Gedächtnis des Volkes gewonnenen Materialien Mit besonderer Aufmerk-
samkeit wendet sich B. den Arbeitsgeräten zu und weist nach, daß kleine Formabweichungen
in wesentlichen Fragen von entscheidender Bedeutung sein können. Das reiche Illustrations-
material des Bandes vertritt schon an und für sich eine wertvolle Dokumentation. Großes
Interesse wird der Untersuchung der Arbeitsverfahren und der Gebrauchsweise der Geräte
entgegengebracht, und B. stellt fest, daß die Funktion ein wichtiges Element ist. - Ein
verhältnismäßig kleiner Raum wird der Erörterung der Arbeitsorganisation gewidmet,
obwohl diese nicht nur von technischem Belang ist, sondern in der jeweiligen historischen
Epoche sowohl das Niveau als auch den Entwicklungsstand der Arbeit bezeichnet und
überdies auf die Organisation der gesellschaftlichen Institutionen hindeuten kann. - Mit
großer Sorgfalt wird der reiche Fachwortschatz unter Berücksichtigung der zeitlichen
Wandlungen verzeichnet. . . . . . .
Das Werk von B. fügt sich organisch in die Reihe der sachlichen und regionalen agrar-
ethnographischen Monographien ein, die von ungarischen Forschern im letzten Jahrzehnt
in verhältnismäßig großer Zahl verfaßt wurden. Sicherlich werden diese und auch die in
Vorbereitung stehenden eine verläßliche Grundlage für eine Synthese der ungarischen
Volkskultur bilden, die zugleich die Möglichkeit einer europäischen Übersicht fördert.
Diese kleine regionale Monographie liefert gleichfalls einen Beweis dafür daß trotz der
Vielfalt der Formen die europäische Agrarkultur aus einer gemeinsamen Wurzel hervor-
ging und die regionalen Abweichungen weitgehend nur Folgen einer örtlichen „Phasen-
verschiebung“ sind. T " T3 ' ü J
Jeno Barabas, Budapest
Cl. Vanhoucke, De Folklore van de Hop in Vlaams-Belgie; vroeger en nu. Gent 1964. 161 S.,
21 Abb (=’uit het Seminarie voor Volkskunde van de Rijksuniversiteit te Gent 5).
Der Verf. hat seine Untersuchung zu einer Zeit begonnen, als bereits die maschinelle
Ernte des Hopfens eingesetzt hatte. Das Interesse der Bauern an seinen Fragen über die
416
Besprechungen
Verhältnisse und Zustände beim Hopfenanbau vor einigen Jahrzehnten war daher gering,
und so mußte er sich sein Material mühseliger als erwartet Zusammentragen. Aber es war
doch ergiebig genug, daß eine Geschichte wie Volkskunde befriedigende, abgerundete
Arbeit entstand, die sehr anregend ist.
Nach einem Überblick über die biologisch-bodenkundlichen Voraussetzungen für den
Hopfenanbau sowie über den Namen dieser „Bierpflanze“ und über ihre Geschichte
handelt der Verf. die Periode vom Anlegen des Hopfenfeldes bis zur ersten Aufbereitung
der Früchte (Kap. i: Van hop tot Bier), um dann in einem eigenen Kapitel ausführlich den
Hopfenhandel und die dabei getriebenen Betrügereien zu untersuchen. — Das volkskund-
lich wichtigste Kapitel dürfte das vom Pflücken des Hopfens und den dabei geübten Bräu-
chen sein (De pluktijd en de volksgebruiken die eromheen zijn ontstann). Hervorzuheben ist
hier die Tatsache, daß zu dieser „Saisonarbeit“ auswärtige Pflücker — also Wanderarbeiter —
in großer Zahl kamen. — Ein weiteres Kapitel ist dem Hopfen in der Volksmedizin ge-
widmet (De hop in de volksgeneeskunde), wo er eine nicht unbedeutende Rolle spielt. Dem-
gegenüber ist der Hopfen für den Bereich des Volksglaubens nur wenig belegt, wohl aber
ergiebig und aufschlußreich für das große Gebiet der Volkssprache. — Die Hopfenumzüge
und Hopfenfeste namentlich in den Orten Asse und Poperinge mit all den bekannten Ele-
menten der üblichen Heimatfeste und ähnlicher Veranstaltungen sind jüngeren Ursprungs.
Der Verf. behandelt sie — nach Ansicht des Rez. zu Unrecht — als nicht mehr zur Volks-
kunde gehörig in einem Anhang (De hopstoeten en hopf feesten).
Diese mit dem „Alfons de Cockprijs“ ausgezeichnete Publikation ist Geschichte und
Volkskunde des Hopfens in Flandern zugleich. Sie dürfte ebenso die erste Arbeit dieser
Art in Europa sein. Gerade hierin liegt ihre Bedeutung.
Wolfgang Jacobeit, Berlin
Axel Steensberg, A Bronze Age Ard Type from Hama in Syria Intended for Rope Trac-
tion. Berytus 15 (Kopenhagen 1964) in —139, 7 Abb., 7 Pl.
Aus Syrien stammen bearbeitete flache Gegenstände aus Basalt oder hartem Kalkstein,
die durchweg als bronzezeitlich gelten. Sie haben annähernd die Gestalt gleichschenkliger
Dreiecke, deren Basis in der Mitte in einen kleinen Zapfen ausläuft. Bis vor kurzem konnten
sich die Forscher nicht darüber einig werden, ob es sich hier um steinerne Pflugschare oder
Spatenblätter handelt. Die Lösung dieser Frage hat nun Axel Steensberg in Angriff genommen,
und seine Arbeit stellt einen Bericht über die Ergebnisse seiner Forschungen und eines
praktischen Versuchs dar.
S. hat schon früher seinen technologischen Scharfsinn bei der Lösung des Problems des
Bäumefällens in der Steinzeit mit Hilfe der kleinen neolithischen Äxte bewiesen. Der Autor
hat nun sechs steinerne Blätter, die aus dem syrischen Hama stammen, einheitlich der
Periode zwischen 2400 und 2150 v. d. Z. angehören und im Nationalmuseum Kopenhagen
aufbewahrt werden, einer eingehenden Analyse unterzogen. Er hat die Technologie ihrer
Bearbeitung und die Abnutzungsspuren, die bei der Arbeit im Boden verursacht wurden,
genau studiert. Für besonders wichtig hält er die bei allen Stücken auf tretenden kleinen Ver-
tiefungen am oberen Rand des Blattes zu beiden Seiten des steinernen Zapfens, die für das
Auf setzen auf den hölzernen Teil des Gerätes bestimmt waren. Diese glatten Vertiefungen
zeigen, daß der Winkel, in dem die Zugkraft auf das Gerät wirkte, sich veränderte. Das hat
S. davon überzeugt, daß die Blätter nicht zu einem Pfluggerät mit festem Baum gehörten,
sondern daß das betreffende Gerät an einem doppelten Strick gezogen wurde, wie es beim
gezogenen Spaten der Fall ist. In dieser Ansicht hat ihn weiter die Miniaturzeichnung eines
Pfeils an der Rückseite eines der Blätter aus dem Kopenhagener Museum bestärkt. Es ent-
spricht einem spatenähnlichen Gerät auf einer Siegelrolle aus der Zeit der Ersten Dynastie.
Auch ein steinernes Blatt, das im Museum in Aleppo aufbewahrt wird, unterscheidet sich
von anderen Stücken dadurch, daß es zwei Zapfen für ein Ansatzstück und im Blatt zwei
Öffnungen zum Durchziehen eines Stricks aufweist.
417
Besprechungen
St. gibt, sicher zu Recht, der Untersuchung der Funktion des Gerätes im Zusammenhang
mit den Naturbedingungen des betreffenden Gebietes und der in ihm herrschenden Agro-
technik den Vorzug. Er hat eine Rekonstruktion vorgenommen und experimentell mit ihm
analog zum gegenwärtig in Syrien noch gezogenen Spaten gearbeitet. An die Kopie des
aus hartem Kalkstein gearbeiteten Blattes ließ er einen horizontalen Eichenblock anfügen,
der mit einer Rinne am oberen Rand und am Zapfen des Blattes anlag. Ein langer Stiel aus
Eschenholz umfaßte mit seiner unteren Gabelung den Block, der zu diesem Zwecke mit
zwei sich gegenüberliegenden Kerben versehen war. Die Gabel des Stiels reichte bis zur
Mitte des Blattes und fixierte es so. Der Zugstrick umfaßte den hinteren Teil der Stielgabel,
ging unter dem Block durch, lag an beiden Seiten an dem steinernen Blatt an und trat vorn
mit beiden Enden unter dem Block hervor. Mit diesem Gerät führte der Autor im Jahre
1962 in einem leichten, sandigen, kurz vorher gepflügten und mit wenig Unkraut bewach-
senem Boden Versuche in der Weise durch, daß der Spaten mit Hilfe eines Stricks in einer
Furche nach Art eines „Hakenpflugs“ gezogen wurde. Ein besseres Ergebnis brachte ein
etwas später durchgeführter Versuch auf einem kargen, schotterigen, aber ein Jahr lang
nicht gepflügten Boden ohne Pflanzenbestand. Es wurde festgestellt, daß ein Hektar leich-
ten sandig-schotterigen Bodens auf diese Weise in einer Tiefe von 10 bis 12 cm mit 6 cm
hohen Kämmen von zwei Personen in etwa 30 Stunden gepflügt werden kann. Die Ver-
schleißspuren nach diesem Versuch entsprachen den Spuren auf den Originalblättern.
St gibt jedoch zu, daß wir bisher nicht wissen, ob dieses Gerät für normales Pflügen oder zum
Ziehen von Bewässerungsgräben oder für beides benutzt wurde und außerdem nicht, ob
der Boden zuvor aufgelockert wurde. Im letzteren Falle würde jedoch die Benutzung eines
solchen Geräts der eines Hakens bei sonst normalen Gebrauch eines Pfluges entsprechen,
jedoch wohl ohne das Saatgut zu behäufeln. Diese Arbeitsweise ist noch heute nicht nur
in Kleinasien, sondern auch in Afghanistan verbreitet (vgl. P. Vaneöek, Ctyfiroky mezi
afgdnskymi zemedelci [Vier Jahre unter afghanischen Bauern]. In: Vestmk CAZ, (24,
1950), Prag, S. 2x6, Abb. 70). . , TT . . TT ,
St. hat gezeigt daß die steinernen dreieckigen Scharen aus Hama nicht zum Haken mit
festem Pflugbaum, sondern zu einem gezogenen Spaten gehörten. Eine steinerne Schar
von ganz ähnlicher Form wird auch im Tempel eines Tschou-Fürstemm chinesischen Lojan
aufbewahrt, die als ein 3500 Jahre alter Steinpflug bezeichnet wird (E. Poucha, in einer
Reportage aus China in der Prager Tagespresse vom 9. 2. 1958). Wahrscheinlich handelte
es sich auch hier nur um den Bestandteil eines gezogenen Spatens. - Die Forscher in
Mitteleuropa interessiert vor allem die Frage der neolithischen sogenannten Schuhleisten-
keile. Die hier besprochene, ausgezeichnete Arbeit Steensbergs bringt uns jedoch der
Lösung dieses Problems auch nicht näher.
FrantiSek Sach, Prag
J (j Volkskunde
P ersonenverzeichnis
Bearbeitet von Herta Uhlrich
(Die Namen der Autoren sind kursiv gedruckt)
Abraham, O. 207, 209
Agricola 306
Agricola, Ch.: Rez. 408 f. 78
Alekseeva, O. 2, 5
Alpenburg, Ritter v. 247
Anderluh, A. 72
Anderson, W. 19, 23
Anton, König v. Sachsen
291
Antonijevic, D. 74
Asadowskij, M. 16
Astachova, А. M. x, 141 ff.
Bach 234
Bachmann, M.: Volkskunde-
Kongreß vom 26. —30.
April 1965 in Marburg
an der Lahn 70ff. Rez.
4ioff.
Balassa, I. 414!.
Barabäs, JStand der Ar-
beiten am Ungarischen
Volkskundeatlas 367!. Rez.
414L ii4ff.
Barjaktarevic, M. 3 3 5
Bartök, B. 207, 209, 230,
232L, 235, 237
Bassermann-Jordan, F. v.
38L
Baudouin de Courtenay-
Jgdrzejewicz, C. 344
Baumbach 253
Baumgarten, K.: Volks-
kunde-Kongreß vom 26.
bis 30. April 1965 in Mar-
burg an der Lahn 70 ff.
Tradierung im Werk des
mecklenburgischen Zim-
mermannes 365 ff. Rez.
170 ff.
Bausinger, H.: Folklore und
gesunkenes Kulturgut
15 ff. 72, 386fF.
Bazanov, V. G. 11, i4iff.
Bechstein, J. M. 250
Bechstein, L. 243 ff.
Beethoven 233
Behnisch, F. J. 413 f.
Beitl, K.: Rez. 386 ft'.
Beitl, R. 152
Benthien, B.\ Rez. 174
Bentzien, U.: Rez. n8ff.,
125 f., 394
Berg 232
Bergmann, G. 392!.
Berner, FI. 387
Beust, C. Frh. v. 309
Blankenburg, W. 83!.
Bock, R. de 123
Bogatyrev, P. G. 6, 19h,
22 f.
Boineburg, A. v. 254
Boll, E. 52
Bolte, J. 17
Bomann 320
Bonifäcic-Rozin, N. 335!.
Boost, К. 244
Boralav, P. N.: Zur Bezie-
hung zwischen Märchen
und Sage 361 ff. 77
BoSkovic-Stulli, M.: Grimms
Aufzeichnung des
„Aschenputtels“ (Pepel-
juga) von Vuk Karadzic
79ft. 335f.
Boulez 234
Brachmann, G. 379 ft.
Bräker, U. 11
Brailoiu, C. 209
Braun, H. 399 £.
Braunsdorf 309
Brecht 9, 12
Brednich, R. W. 72, 395!.
Brepohl, W. i7iff.
Brinkman, J. 49, 54ft.
Brodzinski, K. 343
Brunne, K. 173
Bube, A. 244, 25 2ff.
Bücher 327
Burde-Schneidewind, G.: Er-
gebnisse der Zusammen-
arbeit tschechoslowaki-
scher und deutscher Folk-
loristen auf dem Gebiet
der Sagenkatalogisierung
76 ff. Rez. 102 ff., 152, 407 f.
T6
Burgstaller, E.: Rez. 164fr.
Burkhardt, J. 125!.
Burszta, J.: Rez. 174fr. 135 fr.
Cicerov, V. 1
Ciobanu, G. 74
Cistov, V. 1
Coler, J. 313, 327
Cubelic, T. 335
Cvijiö 75
Dahl, J. 72
Dahlback, K. 211
Dahlmann 80
Degh, L. 16
Delorko, O. 335f.
Denecke, L. 79
Dick, R. 128fr.
Dobias, V. 200
Dömötör, T. 384fr.
Dopuda, J. 335
Dorson, R. M. 407 f.
Dräger, H. H. 221
Droppova, L. 74
Druskin, M. 1, 73
Dvorak, A. 200, 204
Dvorak, K. 78
Dygacz, A. 74
Dymsic, A. 1
Dzudzev, S. 336
Personenverzeichnis
419
Edison 207
Ehrhardt, A. 260
Eisler 2, 9, nf.
Eitzen, G. 71
Elster, D. 253
Emmerich, W. 174
Emmrich, B.: Rez. 400 f.
Emsheimer, E. 373!.
Engels, F. 13
Erben, K. J. 198
Estreicher, Z. 210, 236f.
Euler, L. 217
Fechner 220
Fejes, G.: Rez. 404!.
Feldtkeller-Zwicker 224
Ferdinand, Zar 340
Fiedler, A.: Ludwig Bech-
stein als Sagensammler
und Sagenpublizist 243 ff.
Rez. 169L
Firfov, 2. 335
Fischer, Bergmeister 293
Fischer, Bergamtsarzt 301
Forberger, R.: Rez. 3 79 ff.
Fraenger, W. 342
Franz, G. 71
Freiesieben, J. C. 289, 293,
308
Freudenreich, S. 335
Friedrich August, König v.
Sachsen 291
Frings 42, 47
Fritzsch, K.-E.: Die Klei-
dung des erzgebirgischen
Bergmannes im Urteil des
19. Jahrhunderts 288 ff.
Rez. 167L
Gardberg, J.: Rez. i2iff.
Gaspari ko vä, V. 78
Gavazzi, M. 75
Gebhard, T. 27, 71
Gebhardt, H.: Rez. 154fr.
Gippius, J. 1
Glowacki, St. 344
Goethe 11, 245!.
Goethe, M. W. 246
Gogh, van 201
Gol^biowski, L. 343
Goranov, G. 340
Gorkij, M. 13
Gräße, Th. 265
Greverus, I.-M. 77 h, 362
Griepentrog, G. 78
Grimm, Brüder 17, 79 f.,
82, 244L, 247ff., 256L,
263 ff.
Grimm, J. 15, 79fr., 354
Grimm, W. 79 f., 266
Grüll, G. 377L
Grüner, G. 150L
Grützmacher 211
Gunda, B. : Rez. ii4ff.
Gurvin, O. 211
Gusev, V. 10, 336
Haarnagel, W. 71
Häba, A. 233
Haiding, K. 72
Handschin 215
Hansen, A. 154fr.
Hansen, W. 70 f.
Harasymczuk, R. W. 344
Harkort, F. 77
Haudricourt, A. 75
Heilfurth, G. 70, 120f.
Haver, J. van 388ff.
Heeger, F. 396 fr.
Heeger, G. 396 fr.
Heine 245
Heinrich, Ch.: Das Heimat-
museum in Wandlitz 83f.
Henßen, G. 16
Hentig, H. v. 383
Herder 1 x
Herder, S. A. W. Frh. v. 288,
292, 295, 308
Herder, E. W. v. 309
Hesse, H. 306
Heuchler, E. 309
Hexeischneider, E.: Rez.
401 ff.
Heyden, F. 244
Heynitz, B. v. 302, 304
Heynitz, F. A. v. 290, 302,
3°4
Hinze, F. 394
Hoefer, E. 5 2
Hoerburger, F. 335
Hoffmann, M.: Rez. i68f.,
121 ff.
Hoffmann, T.: Rez. 123 fr.
Hoffmann-Krayer, E. 17
Holbek, B. 152L
Honndorf, H. 255
Hopf 265
Horälek, K. 336
Hornbostel, E. M. v. 207, 209
Horväthova, E. 381fr.
Hristov, D. 340f.
Hrovatin, R. 74, 335
Humperdinck 232
Hyat, Ch. 336
Ibrovac, M. 335
Ilijin, M. 335
Isaöenko, A. V. 102
Jacobeit, W.: Volkskunde-
Kongreß vom 26. — 30.
April 1965 in Marburg an
der Lahn 70fr. Rez. ii6ff.,
126fr., 415 f., 369!.
Jaeger, M. 390 fr.
Jaenecke-Nickel, J.: Rez.
138fr., 388fr.
Jakobson, R. 6, 19L, 22f.
Jech, J. 75, 78
JosephII., Kaiser 358
Jungbauer 78
Kaiser, K. 244, 328
Kampmüller, O. 164 fr.
Karadzic, V. St. 79fr., 334L
Karbusicky, V.: Das Volks-
lied in der Gegenwart.
Eine musiksoziologische
Studie 191 ff. 1 f., 73
Kauf man, N.: Die folklo-
ristischen Traditionen und
die Entwicklung des revo-
lutionären bulgarischen
Arbeiterliedes 336fr. 74
Kehr, K.: Rez. 378f.
Kirkov, G. 340
Klimovä, D. 76, 78
Klüsen, E. 72
Knezevic, N. 335
Kobayashi 211
Kodäly 207, 230, 232
Köhler, L. 254
Koev, J. 336
Kolberg, O. 343
Kotoiiski, W. 344
Kramafik, J.: Rez. 414
Kramer, K.-S.: Rez. 108 ff.
72
Krasnici, M. 335
Kravcov, N. 336
Kretzenbacher, F. 335
Krohn, K. 16
Krsti6, B. 335
Kumer, Z. 535
Kunst, J. 2x0
Kuret, N. 335
16*
420
Personenverzeichnis
Kurrus, Th. 388
Kutter, W. 388
Kwasnicowa, Z. 343 f.
Kwasniewski, K. 174 fr.
Laban 344
Lach 207
Lachmann 207
Laktionov 200 f.
Lalevic, M. 335
Lammel, I. 74
Lange, I. 71
Lange, R.: Der Volkstanz in
Polen 342 fr.
Latendorf, F. 52
Lazutin, S. G. 401fr.
Lehmann, H. 163
Lengerke, A. v. 3x4
Lindner, J. T. 300
Ling, J. 4°5 ff-
Linschmann 244
List, G. 210
Löber, K. 378 f.
Lönnrot 16
Lord, A. 336
Lottermoser 211
Lühning, A. 70 f.
Mailly, A. 265
Mannhardt 256
Manteuffel, v. 296
Mantzel, E. 50, 52
Markl, J. 336
Martinovic, N. S. 74, 335
Maticetov, M. 335
Medenica, R. 335
Meier, J. 17, 19, 72, 191
Mendel 41
Meriggi, B. 75
Merton, A. 15
Metfessel 211, 241
Mielke, R. 279
Mladenovic, 2. 335
Moe, M. 19
Moora, A. 118
Moser, H. 387
Moser-Rath, E. 71 f., 147!:.
Moszyriski, K. 344
Mottek, H. 113 f.
AI idler, I.: Rez. 15 if. 76 fr.
Müller-Blattau, J. 396 ff.
Mummenhoff, K. E. 171fr.
Musäus 245
Alusiat, S.: Rez. 166. 126 ff.
Mylius, W. 254
Nametak, A. 335
Naumann, H. 17 fr.
Nawka, B.: Internationale
Arbeitstagung „Die
Ethnographie der Slawen
und das Werk Lubor
Niederles“ 74 f.
Nedeljkovic, D. 73, 33 5 £.
Nedo, P.: Rez. 369L
Nespital, AL 1
Nettl, B. 210, 213, 236, 238
Neumann, S.: Das Sagwort
in Mecklenburg um die
Mitte des 19. Jahrhun-
derts im Spiegel der Mund-
artdichtungen Reuters und
Brinckmans 49 fr. Volks-
kunde-Kongreß vom 26.
bis 30. April 1965 in Mar-
burg an der Lahn 70 fr.
Arbeitserinnerungen als
Erzählinhalt 177 fr. Rez.
147L, 150L, 132fr., 390fr.
7 8
Niederle, L. 74 f.
Notker 47
Nowak-Neumann, M. x 67 £.
Nowotny, P.: Rez. 135 fr.
Nußbaumer, J. 128ff.
Nutrichin, A. 2
Obata 211
Obrenovic, M. 80
Olrik, A. 19
Palavestra, O. 335
Palöok, Z. 336
Pälinkäs, J. 404 f.
Peesch, R.: Das Gerät in der
Arbeitswelt des Fischers.
Zur Tradierung von Gerät
und Arbeitserfahrung 26 ff.
Rez. 156fr. 70
Penderecki 233
Penusliski, K. 3 3 5
Peuckert, W.-E. 76, 15 if.,
408 f.
Peukert, H.: Aus der Arbeit
der jugoslawischen Folk-
loristen 354fr.
Pieske, Ch. 71
Pin, J. 152L
Pilz 298
Plana, §.335
Planck, U. 128 ff.
Pletka, V. x, 73 f.
Polenakovic, H. 3 3 5
Polenakoviö-Stejic, M. 335
Pomeranceva, E.: Rez. 141fr.
77» I48f.
Pommer, J. 17
Pomplun, K. 152
Pourovä, L. 77 f.
Prazäk, V. 75
Propp, V. J. 67fr.
Putiloo, B. N.: Vladimir Ja-
ko vleviö Propp 70 Jahre
67 fr. 74, 141fr.
Quensel 265
Raabe, W. 51 f.
Radig, W.: Die Oberlauben
an Stallgebäuden in Bran-
denburg 267fr. Rez. 173
Ranke, F. 265
Rauch, K. i52f.
Raupp, J. 144 fr.
Reintges, Th. 138fr.
Reuter, F. 49, 54fr.
Reuter, R. 357
Richter, K. E. 293 f.
Richter, L. 246, 260
Riedel, K. V. 400 f.
Rihtman, C. 335
Ritz, G. 71
Röhrich, L. 71, 77
Romanska, C. 77, 3 3 5 f.
Rudolph, W.: Rez. 123
Ruland, J. 133 ff.
Sach, F. 416f.
Sage, W. 71
Safafik, P. J. 75
Salmen, W. 358
Sanders 51
Sändor, I. 374
Schäfer, E. 169 f.
Scharfe, M. 388
Schemmel, B.: Rez. 41 3L
Schenda, R. 166, 386 ff.
Schenda, S. 166
Schepers, J. 171fr.
Schieder, F. 388
Schier, B. 71
Schiller 245
Schilli, H. 71
Schlee, E. 71, 411 f.
Schlomka, H. 162L
Schmaus, A. 335
421
Schmidt, K. 244, 259, 261
Schmitt, H. 133ff.
Schmolitzky, O. 41 of.
Schneidewind, G.
s. Bürde-Schneidewind
Schönberg 232
Schönberg, A. v. 308
Schönfeld, II.: Rez. 392f.
154fr.
Schönfeldt, G. v. 71
Schorn, H. v. 252
Schottky, J. 80 f.
Schrammelc, W.: 144 fr.
Schreker 232
Schubart, Ch. F. D. 5
Schubert 234
Schünemann 207
Schwedt, H. 386fr.
Schweizer, W. R. 15 3 f.
Seashore, C. E. 241
Seeger, Ch. 211, 2x4
Seghers, A. 7
Seghers, M. 123
Seiler, F. 50
Sellnow, W. noff.
Sieber, F.: Rez. 162L 26, 72,
108, 360
Simonsuuri, L. 76
Sirjaeva, P. G. 1
Sirovatka, 0.: Rez. 148 f. 1,
73, 77*-
Slotkin, J. S. 372 h
Smetana 193, 199 h
Sobieski, J. 344
Sobieski, M. 344
Soeder, H. 170 h
Sokolova, G. 78
Steensberg, A. i68f., 416h
Stein, H. 253
Steinitz, W.: Arbeiterlied
und Volkslied iff. 2off.,
27, 70, 102
Stepanov, S. 335 f.
Sterzing, G. F. 254
Stevens 221
Stieber, P. 71
Stockmann, D.: Das Problem
der Transkription in der
musikethnologischen For-
schung 207 fr. Rez. 396 fr.,
405 fr.
Personenverzeichnis
Stockmann, E.: Volksmusik-
instrumente und instru-
mentale Volksmusik in
deutschsprachigen Ver-
öffentlichungen 1956 bis
1965 85 ff. Rez. 373 f., 399f.
72
Stoimenov 341
Storch 246h, 250, 252f.
Strauß 253
Strobach, II.: Volkskunde-
Kongreß vom 26. bis
30. April 1965 in Marburg
an der Lahn 70 fr. II. Inter-
nationales Symposium zur
Erforschung des Arbeiter-
liedes in Velenje (Jugo-
slawien) vom 12. —14. 9.
1965 73 f. Rez. 377L,
395f. 23, 102fr.
Suppan, W. 72
Szatmari, A. 74, 404!.
Takacs, L. 123 fr.
Taubert, A. 245
Teller, J. 370fr.
Thoms, W. J. 15
Tieck 245
Tillhagen, C. H. 77
Träger, G. E. 301
Trebra, v. 291
Uhland 245
Uhlrich, H.: Volksmusik-
instrumente und instru-
mentale Volksmusik in
deutschsprachigen Ver-
öffentlichungen 1956 bis
1965 85 fr. Rez. 374L
Umlauf, I. 357, 359
Urbancovä, V. 414
Vanhoucke, C. 415 f.
Vasiljeviö, M. A. 335
Vilkuna, K. 160 ff.
Vincze, I. 38, 43
Vodusek, V. 335
Vogl, F. 74
Voigt 254
Voigt, G.: Rez. noff., 370fr.
Voigt, V.: Rez. 384fr.
Vrabcovä, E. 78
Vukmanoviö, I. 335
Vukovi6, J. 335
Waas, A. 375 ff.
Wächtler, E. 358
Wagner 290
Wais, R. 388
Warnsdorf, E. v. 288f.,
296fr., 309L
Weber, C. M. v. 359
Weber, E. H. 220
Weber-Kellermann, Rez.
383. 72, 156fr.
Wehrhan 265
Weidmann, P. K. 359
Weinert 9
Weinhold, R.: Rebmesser
und Kelter. Die mittel-
europäischen Beziehungen
zweier Geräte der Wein-
kultur, dargestellt am
Museumsmaterial aus der
DDR 37 fr. Rez. H3f.,
375 ff-
Weisser, H. 72
Wellek, A. 228 f.
White jr., L. n8ff.
Wiegelmann, G. 70 f.
Wilsdorf, H.: Bericht über
eine Aufführung des Sing-
spiels „Die Bergknap-
pen“ 357 fr. Rez. 120L,,
3 72 f -
Winter, R.: Zur bäuerlichen
Butterbereitung im ehe-
maligen Pommern. Eine
Sach- und Wortstudie
312fr.
Wiora, W. 209
Wissmann, W. 102
Wossidlo, R. 76 f.
Wucke, L. 255
Wüst, W. 396 fr.
Zawistowicz-Adamska, K.
75
Zeievic, S.: Rez. 381fr.
Zender, M. 171fr.
Zganec, V. 335 f.
Zippelius, A. 71
Autorenverzeichnis
Band i—12
Bearbeitet von Herta Uhlrich
Das Register enthält die Autoren der Beiträge und Rezensionen, die Autoren bzw.
Herausgeber der rezensierten Publikationen sowie die Namen der Persönlichkeiten, denen
Würdigungen oder Nachrufe gewidmet wurden.
Fett gedruckte Ziffern bezeichnen die Jahrgänge, normal gedruckte Ziffern die Seiten.
Abel, W. 10 411 ff.
Adameck, H. 9 400 f.
Agricola, Ch. 12 408 f.
Ahobadze, W. 9 415 f.
Alberti, H. J. v. 5 538
Alford, V. 10 200 f.
Al-Khädim, S. 5 531 ff.
Alver, B. 11 461
Anacker, H. 8 268f.
Anderson, W. 9 293 ff.
Andrasfalvy, B. 4 560L 5
220 ff.
Antoniewicz, W. 8 475 ff.
Arlt, G. O. 8 221 ff.
Arnim, A. C. B. 9 395 ff.
Astachova, A. M. 9 424!.
12 i4iff.
Au, H. v. d. 2 256f. 422ff.
467 f-
August, O. 8 466ff.
Bach, A. 1 467 ff. 8 453 ff.
Bachmann, M. 4 435!. 5 80
7 169ff. 8 219f. 10 219h
409f. 4iof. 12 70ff. 41 of.
41 if.
Baiäs, E. 11 475 f.
Balassa, I. 4 278!. 12 414L
Bänäteanu, T. 4 5 77 ff.
Banó, I. 7 325 ff.
Barabäs, J. 12 ii4ff. 367f.
414 f.
Barisch, Th. 5 222f.
Barthel, B. 7 354!.
Bartosovä, A. 4 271 ff.
Bartók, B. 3 527h 7 3i2ff.
Baumgarten, K. 1 169 fr. 2
26iff. 472ff. 3 334h 4
157L 28 2 f. 581!. 583E
584!. 5 74ff. 508 536fr. 6
4i8f. 511 f. 7 195fr. 368f.
375 ff. 8 281 ff. 283ff. 287fr.
289fr. 406fr. 9 461 f. 10
222 fr. 415 f. 417 h 418 fr.
422 427 11 5 fr. 472 f. 476 f.
477L 12 70fr. 170L 171fr.
365 fr.
Bausinger, H. 6 505 f. 8 457fr.
11 427L 12 15fr. 386fr.
Bayer, D. 10 397!.
Bazanov, V. G. 12 141fr.
Beck, F. 10 3 76 f.
Beckmann, P. 1 470 fr. 2
427h 3 271fr. 535f. 5 44fr.
211 ff. 213fr. 232Ì 8 395fr.
Bednärik, R. 4 263 264
Behn, F. 4 581L
Behnisch, F. J. 12 413f.
Beierlein, P. R. 10 375!.
Beimborn, A. 8 218 f.
Beiti, K. 9 440 f. 10 373 fr.
12 386fr.
Beiti, R. 2 443 fr. 3 269 fr.
298fr. 4 241 f. 24zf. 575fr.
12 152
Belényesy, M. 3 524fr. 5
220ff. 8 479 fr.
Bellmann, H. 1 486fr. 2 405 f.
462 f.
Belu, S. 11 422fr.
Benthien, B. 9 457fr. 459f.
12 174
Bentzien, U. 5 153fr. 6 419fr.
497 f. 7 204 f. 8 208 ff.
406 fr. 9 45 6 f. 10 25 fr.
324fr. 4i7f. 426h 428
43 if. 11 16ff. 43 if. 469
12 n8ff. 125f. 394
Berg, G. 9 390 fr.
Berger, U. 2 468f. 3 557 5
87 fr.
Bergmann, G. 12 392f.
Bernards, M. 5 211
Berner, U. 10 428
Beurmann, A. 11 445 f.
Biehn, H. 10 402 f.
Bielfeldt, H. H. 5 507
Bielz, J. 7 351 f.
Birlea, O. 9 335fr.
Bischoff, K. 4 444fr.
Blau, J. 3 327!.
Blazkova, J. 4 5 79 f.
Blesken, H. 8 251fr.
Bock, F. 6 485
Bock, R. de 12 123
Bodker, L. 11 461
Boesch, P. 1 486 fr.
Bogatyrev, P. G. 6 105 fr.
Bohnenberger, K. 9 442 f.
Boratav, P. N. 11 467 f. 12
361 ff.
Boross, M. 4 266
Bose, F. 10 385f.
Boskovic-Stulli, M. 9 214 fr.
4i6ff. 12 79 fr.
Bossert, H. Th. 6 5o8f.
Bosshardt, IT. 3 5 34f.
Botkin, B. A. 11 45iff.
Brachmann, G. 12 379fr.
Brandt, A. v. 4 590
Brandt, S. 2 428f. 429
Bratanic, B. 7 360 fr.
Braun, H. 12 399 fr.
Braun, M. 10 189 fr.
Braun, R. 8 2iof.
Braun, W. 5 533ff.
Brednich, R. W. 11 393 f. 12
395 f-
Breitenstein, E. 8 297ff.
Brepohl, W. 8 203 ff. 12 171 ff.
Bretschneider, A. 1 467 ff. 3
541 f. 4 243 ff. 43 8 ff. 5 505 f.
6 363fr.
Bringemeier, M. 4 561 f. 6
509 8 277ff
Bringéus, N.-A. 9 390 fr.
10 43if.
Brunne, K. 12 173
Buchda, G. 3 312fr. 8 251fr.
10 213 fr. 218 f.
Bull, E. 4 238 f.
Bürde-Schneidewind, G. 9
422fr. 425 f. 427fr. 10 368fr.
382 386fr. 388f. 391f. 11
35fr. 324f. 391fr. 12 76fr.
102fr. 152 407f. Siehe auch
Schneidewind
Burgstaller, E. 2 443 ff. 4
249L 281 f. 7 28off. 344
8 255 f. 10 201 ff. 12 164fr.
Burian, V. 7 3 66 f.
Burkhardt, J. 12 125!.
Burszta, J. 10 43 fr. 143 fr. 11
343 fr. 12 135 fr. 174fr.
Byhan, E. 5 499
Cammann, A. 9 427 fr.
Campbell, Â. 7 286ff.
Catholy, E. 8 248 fr.
Cejpek, J. 9 441 f. 10 189 fr.
Chase, G. 5 497!.
Cherestesiu, V. 8 297fr.
Chitimia, I. C. 4 517fr.
Christiansen, R. Th. 11 460
Cicerov, V. I. 3 481 f. 4 570 fr.
Cistov, K. V. 11 260 fr.
Clauß, H. 2 263 f. 414h
474fr. 3 273 fr. 327L 329L
407fr. 538 4 264f.
Commenda, H. 6 486fr.
Crawford, I. A. 8 402 h
Csernyânszky, M. 10 409 f.
Csilléry, K. K. 5 525 fr.
Czarnecka, I. 6 507 h
Czirok, L. N. 5 511 f.
Dal, E. 4 232t. 10 332fr.
Damm, H. 3 560L
Danckert, W. 11 436 fr.
Autorenverzeichnis
Danilowa, I. 10 405 f.
Degh, L. 3 281fr. 5 145 fr. 7
325fr. 10 183fr. 389fr.
Delamarre, M. J.-B. 3 331fr.
Delimat, T. 6 507!. 517fr.
Denecke, L. 11 387fr.
Deubner, L. 3 546 fr.
Deutschmann, E. 7 3 71 ff.
Dias, J. 11 473 ff-
Dick, R. 12 i28ff.
Dieck, A. 11 45 9 f.
Diener, G. W. 10 376
Dietze, K. 3 538
Diöszegi, V. 11 447
Diplich, H. 7 309 f.
Dobrovol’skij, B. M. 9
412 fr.
Dölker, H. 3 269 11 395 ff
Dömötör, S. 7 3iof. 325fr.
Dömötör, T. 12 384 ff.
Dörner, E. 8 297 fr.
Dörrer, A. 1 448 fr. 473 f. 2
319 fr. 427 448 fr. 455 h 3
315 fr. 4 25if. 5 222f. 223 fr.
Donath, P. 5 475 fr.
Dorson, R. M. 12 407 f.
Drumev, D. 4 580
Dück, H.-U. 4 241 f.
Dünninger, J. 3 542 fr. 10
4i 5 f-
Dumpe, L. 11 43of.
Dunäre, N. 11 422 fr.
Dunst, G. 3 546 fr.
Dvorak, J. 11 457fr.
Dvorak, K. 11 332fr.
Dydowicz, J. 11 343 fr.
Dzulko, R. 2 45of. 451 466h
Eberhardt, A. 9 442 f.
Ebbinghaus, R. 9 445 ff.
Edert, E. 10 393 fr.
Egardt, B. 9 390fr. 11 440 f.
Eichler, E. 3 519fr.
Eis, G. 4 247fr. 11 441fr.
Eitzen, G. 7 368f. 10 422
Ek, S. B. 11 426L 434h 44of.
Eliade, M. 8 215 fr.
Elschek, 0.9 313!. 10 380fr.
Elschekova, A. 6 3 5 3 ff.
Elsner, J. 7 316 f.
Elstner-Oertel, J. 5 523 f.
Emmerich, W. 12 174
Emmrich, B. 12 400E
Emsheimer, E. 5 412 fr. 12
373 ff
423
Endrös, H. 2 429 f.
Engelmann, G. 8 293 f.
Engels, F. 1 104 fr.
Epperlein, S. 8 207!.
Erdmann, H. 2 212fr. 9 405 f.
Erich, O. A. 3 269fr.
Erixon, S. 4 553fr. 7 286ff.
Escher, W. 7 283 f. 9 452h
11 4i3ff
Faden, E. 2 251fr. 10 313!.
Falvy, Z. 10 208 f.
Fehr, H. 1 147fr. 3 312fr.
6 85fr.
Fehrle, E. 2 442 h
Fejes, G. 12 404 f.
Fel, E. 3 326f. 5 525 fr.
Fenton, A. 8 402 f.
Fiedler, A. 2 468f. 4 266fr.
269ff 8 255 11 46fr. 425 h
12 169 f. 243 fr.
Fiedler, K. 5 475 ff.
Fiedler, W. 3 565!. 4 239h
569 590fr. 5 488fr. 6 499
11 457fr.
Fink, W. 3 557
Fleischer, W. 10 203 fr.
Foc§a, G. 4 577fr. 6511
Földes, L. 8 479 fr.
Fojtik, K. 6 481fr. 8 203 fr.
457fr. 10 327fr. 11 321fr.
359ff.
Folkers, J. U. 6 418E 10
222 fr.
Folz, H. 8 247 f.
Forberger, R. 7 352fr. 12
379fr.
Forman, B. 4 579 f.
Forman, W. 4 579 fr.
Fraenger, W. 1 183 fr. 2
232fr. 330 3 169fr. 6 iff.
7 41fr. 9 240fr. 10 If. 366fr.
Franz, G. 10 411fr.
Freudenthal, H. 2 409f.
Friedländer, G. 11 461fr.
Fritsch, A. 2 421 f.
Fritzsch, K.-E. 2 179 fr. 245 ff.
455f. 459fr. 4 91 ff. 5 225f.
226fr. 535f. 6 213fr. 7
347£. 12 167f. 288fr.
Frunzetti, I. 11 422 fr.
Gahlbeck, R. 9 405 f.
Gajek, J. 3 310fr. 7 28901.
Galhano, F. 10 432f. 11
473 fr.
424
Autorenverzeichnis
Gamerith, A. 4 250L
Gandert, A. 10 429 f.
Gansiniec, R. 3 310fr.
Gardberg, J. 12 i2iff.
Gathen, A. D. 10 218 f.
Gavazzi, M. 8 3 97 £. 11 396 fr.
Gebhard, M.-F. 4 161L
Gebhard, T. 4 282L 7 i89f.
8 281 ff. 10 417L
Gebhardt, H. 2 441 f. 7 272
331 f. 332.f. 8 247h 255
9 393 fr. 400f. 10 203 fr.
205 f. 402 11 469 f. 12
154fr.
Geiger, J. 4 251!.
Geiger, P. 2 405 h 407 fr. 7
283h 9 452h 11 413h
Geißler, F. 2 433 ff. 8 235 fr.
241fr. 245 fr. 9 421 f. 436f.
11 460 461 467 f.
Genin, L. E. 4 240 f.
Gennep, A. van 1 2 5 3 ff.
Georgi, H. 5 475 ff.
Geramb, V. v. 2 403 fr. 4
2x9 fr.
Gessler, J. 3 271fr.
Ghergariu, L. 11 422 fr.
Giesecke, H. H. 5 531 ff.
Gildemeister, R. 10 430L
Ginschel, G. 9 131fr.
Gladysz, M. 11 420fr.
Glaettli, K. W. 5 498
Glawe, R. 1 300 fr.
Gleisberg, H. 1 157fr. 2463L
476 h 478 3 5 5 9 f.
Göllner, C. 8 297 fr.
Gönnenwein, 0.8 251 ff.
Götzger, H. 8 287 fr.
Grabowski, J. 8 260
Graf, A. E. 4 569
Granlund, J. 8 275 ff.
Grannas, G. 9 427 fr.
Greber, J. M. 8 278 fr.
Greenway, J. 3 281 ff.
Greverus, I.-M. 10 382 11
387 fr. 463 h
Griepentrog, G. 6 496 h 9
43 2 f.
Grimm, Brüder 3 296 fr. 11
387fr.
Grimm, J. 10 366 fr.
Grober-Glück, G. 3 470ff.
542
Gröhsl, M. 11 399 fr.
Grosse, R. 4 447 ff.
Grote, L. 2 457fr.
Grüll, G. 3 521fr. 12 377f.
Grüner, G. 12 150h
Grünn, H. 6 486fr. 7 305 355
Grundig, H. 8 293 f.
Guarinonius, H. 2 45 5 f.
Gündisch, G. 7 350L 35 if.
Gugitz, G. 2 452 fr. 3 290f.
Gunda, B. 3 335 f. 5 506h
508fr. 5iif. 540 7 304h
3iof. 8 295 fr. 368fr. 470fr.
479fr. 487L 12 114fr.
Gunst, P. 11 408 f.
Gusev, V. J. 11 461fr.
Guäic, M. 4 284
Györffy, I. 3 326 f.
Haas, A. 6 419 fr.
Häger, А. 1 467
Hävernick, W. 2 409 f.
Hain, M. 1 469£. 3 538fr. 5
533fr. 7 34if. 8 2i8f. 11
425
Haltrich, J. 4 241 f.
Haltsonen, S. 5 164 fr.
Hampp, I. 9 438 fr.
Hand, W. D. 8 221 ff. 10
201 ff.
Hansen, A. 12 154fr.
Hansen, H. P. 7 3 5 8 ff.
Hansen, К. H. 11 451fr.
Hansen, W. 4 233 fr. 5 209fr.
7 269 fr.
Hansmann, C. 5 529h 530L
6 506
Hansmann, W. 10 437f.
Harkort, F. 8 238fr. 9 433!.
Hartke, W. 4 572 fr.
Haudricourt, A. G. 3 331fr.
Haupt, L. 1 462 f.
Haushofer, H. 10 411 ff.
Haver, J. van 12 388fr.
Heeger, F. 12 396 fr.
Heeger, G. 12 396 fr.
Heilfurth, G. 1 457fr. 5 492fr.
6 490fr. 11 387fT. 12 120f.
Heimberger, H. 3 277 h
Heinrich, Ch. 8 403 fr. 11
339fr. 12 83f.
Heiske, W. 2 73 fr.
Heitz, G. 4 5 5 9 f.
Heizer, F. 10 425
Helbok, A. 7 28off. 11 399fr.
Held, O. 8 178ff.
Helm, R. 5 535f.
Henningsen, H. 9 451 f.
Henßen, D. 11 425
Henßen, G. 1 464h 2 427!.
3 535f. 536 5 213fr. 500f.
8 244L 10 393fr.
Hentig, H. v. 12 383
Henzen, W. 3 541 f.
Hepding, H. 4 427 fr. 5 381 f.
513 ff-
Herda, H. 2 428f.
Herre, W. 5 536fr.
Herrmann, W. 8 269 f.
Herrnbrodt, A. 5 536fr.
Herzog, R. 11 447
Hess, J. 4 21 off. 8 257
Heuter, P. 10 418 fr.
Hexeischneider, E. 7 294fr.
324L 9 113 ff. 424h 12401fr.
Hillenbrand, K. 3 555
Hilpert, M. 4 560L
Hinderks-Kutschet, R. 2
45 if.
Hinze, F. 12 394
Hirsch, Ch. 7 201 ff.
His, H. P. 5 529h 530L
Hloihuk, V. 5 487h
Höhn, H. 9 442 f.
Höjrup, O. 7 358fr.
Hoerburger, F. 1 240 fr. 460 fr.
2 256h 422fr. 424!. 3 53of.
6 127 fr. 10 200 f.
Hörlen, A. 10 4iof.
Hofer, T. 5 525 fr. 10 423 f.
Hoffmann, H. 2 535h
Hoffmann, M. 12 i2iff.
i68f.
Hoffmann, T. 10 423 h 12
123 fr.
Hof mann, W. 7 328f.
Holbek, B. 9 436f. 11 461 12
152L
Holeczyovä, E. 4 271fr.
Holl, I. 10 407 f.
Holtz, G. 2 469ft. 3 548f. 7
342 fr.
Horäk, J. 5 487L 6 481fr. 9
11 ff. 10 315 ff.
Hornberger, Th. 3 275 fr. 7
35 5 ff-
Horvathova, E. 5 219h 11
438f. 12 381fr.
Hubatschek, E. 9 45 5 f.
Hucke, H. 4 450 fr.
Hugger, P. 11 416f. 429£.
Hugill, St. 10 191
Autorenverzeichnis
425
Hüll, V. 3 540 £.
Hultkrantz, Ä. 9 389 £.
Hürsk^, J. 3 519ff.
Husa, V. 5 243 ff.
Hynkovä, H. 3 519 ff.
Ihrke, W. 6 45 3 ff.
Ilg, K. 3 521 ff.
Insam, M. 3 315 ff.
Ionescu, E. 4 5 77 ff.
Irimie, C. 11 42 2 ff.
Isaöenko, A. V. 12 102 ff.
Isbert, O.-A. 2 41 off.
Ising, G. 6 5 02 ff.
Jackowski, A. 3 227fr.
Jacobeit, W. 2 266ff. 3 119fr.
275 ff. 227 h 278 fr. 330
331 ff. 340 f. 482 fr. 484
483fr. 526L 5 6x f. 562h
564h 4 i86ff. 224fr. 230
274fr. 276fr. 278fr. 553ff•
5 13xff. 6 i82ff. 442h 483h
513h 314h 515f. 7 273f.
292f. 355ff. 362L 8 212ff.
214 23 5 f. 277h 278fr.
303 fr. 470fr. 473 fr. 475 fr.
479 fr. 9 442 f. 43 5 f. 457
10 21 of. 411fr. 429h 43of.
11 59££. 314fr. 316fr. 399fr.
409f. 4iof. 414fr. 429h
434h 436fr. 473 ff. 12 70fr.
n6f. 118 126fr. 128fr.
133 3Ö9f. 415 f-
Jaeger, M. 12 390 fr.
Jaenecke-Nickel, J. 8 221 ff.
9 438fr. 10 221 f. 403h
405 f. 11 83 fr. 441fr. 444h
445f. 12 138fr. 388fr. Siehe
auch Nickel
Jahn, U. 6 419 fr.
Jankuhn, H. 11 480h
Janssen, H. 7 331 f.
Jansson, S. O. 7 229fr.
Jarosch, G. 1 376fr. 2 257fr.
3 208 ff. 5 487 f. 507
Jech, J. 7 321fr. 9 42Öf. 11
275 fr.
Jenssen, Ch. 10 393 fr.
Jefäbek, R. 8 271 f.
Jobst, W. 8 293 f.
Jochimsen, L. 11 43 8 f.
Jonynas, A. 7 205 ff.
Jungandreas, W. 7 331h
Kaiser, H. 3 5 31 ff.
Kampmüller, O. 12 164fr.
Kapff, R. 9 442 f.
Karbusick^, V. 3 288ff. 5
361fr. 488fr. 9 401fr. 11
454fr. 12 191 ff.
Karolyi, A. 3 335 f.
Karwot, E. 3 310fr.
Kasan, J. 11 454fr.
Kästner, O. 3 322 fr.
Katona, I. 6 483 h 11 363fr.
Kaufman, N. 12 336fr.
Kaukonen, V. 8 65 ff. 9 229fr.
Kehr, K. 11 471 f. 12 378h
Keller, W. 8 245 fr.
Kellermann, V. 1 251fr. 4
198 fr.
Keremidöiev, G. 5 481fr.
Kerenyi, G. 7 312fr.
Kettmann, G. 9 449 fr.
Kiem Pauli 1 460 fr.
Kirnbauer, F. 5 5 21 ff.
Kiss, L. 3 28of. 7 312fr.
Klaar, M. 10 391 f.
Klagge-Thom, I. 8 232 fr.
Klappenbach, R. 4 246 f.
Klein, E. 9 456h
Klier, K. M. 1 475 h 4 253 f.
10 382fr.
Klimova, D. 9 431 f.
Klocke, F. 8 174 fr. 214
Klüsen, E. 3 529
Knaipp, F. 10 220 f.
Kneip, G. 6 488 fr.
Knorr, H. A. 10 404h
Kodaly, Z. 3 527 h 5 496 f. 7
312 ff.
König, W. 1 323fr. 7 301fr.
10 194fr.
Koepp, J. 3 529 h
Koerner, R. 9 437h
Kohler, E. 7 342 fr.
Kokare, E. 8 145 fr.
Kollreider, F. 3 564!.
Koneczna, H. 4 239 h
Koren, H. 1 447 f. 2 448 fr. 8
4640".
Korsakas, K. 6 451 ff.
Kothe, H. 1 276 fr.
Kovaceviöovä, S. 4 268h
Kovacs, Ä. 4 453 fr.
Kraft, G. 1 212ff. 5 475 fr. 8
250h
Kral, J. 8 473 fr.
Kramarik, J. 7 364fr. 12 414
Kramer, K.-S 8 460f. 12
108 ff.
Krandzalov, D. 11 417 fr.
Krauss, F. 5 505 f.
Kreß, M. 4 266
Kretzenbacher, L. 2 427 5
518 ff. 8 464fr.
Kreuzberg, C. 6 33 fr. 8
98 fr. 9 322 fr. 10 418 fr. 11
92 fr.
Kriss, R. 3 552L
Kriss-Rettenbeck, L. 3 552L
Krüger, F. 1 45of. 10 432f.
Krüger, H. 7 3 5 2 ff.
Krzyzanowski, J. 10 182h
Kube, S. 4 327fr. 5 307fr.
383 f. 492fr. 6 229fr. 7
121 ff. 354h 8 122ff. 257
266f. 268f. 9 317fr. 10
211 ff. 376 11 io8ff. 395 f.
Kucharska, J. 8 53fr.
Kügler, H. 2 251 ff.
Künzig, J. 1 476
Kürschner, M. 8 i8iff.
Kürth, H. 4 256f.
Kuhn, H. 11 391 ff.
Kumer, Z. 7 141 ff.
Kunsdorff, E. 3 557
Kunst, J. 4 236f. 5 497 7311
10 38off.
Kunz, L. 2 359fr. 4 260fr.
28of. 6 134fr. 7 291 f. 8
261 ff. 11 420 fr.
Kunze, E. 1 41 ff. 5 205 ff.
Kunze, H. 1 260fr.
Kupfer, Ch. 1 323 fr. 4 226ff.
276
Kurowska, H. 4 239h
Kutrzeba-Pojnarowa, A. 6
409 fr.
Kutscher, A. 3 315 fr.
Kutter, W. 6 505 f.
Kuusi, M. 6 501 f.
Kvapil, J. S. 11 457fr.
Kwasniewski, K. 12 174 fr.
Lachs, J. 7 194L
Lademann, W. 3 301 f.
Laedrach, W. 2 478 f.
Lässig, H. 2 425
Lajtha, L. 3 527!. 5 496 f.
Lambertz, M. 6 499
Lammel, I. 10 378f.
Landau, G. 7 341 f.
Landmann, S. 10 192 fr.
426
Autorenverzeichnis
Lange, R. 12 342 fr.
Langner, R. 5 225 f.
Lanser, O. 2 463 f.
Lansky, J. 3 288ff. 336fr.
Lanz, J. 6 505 f.
Laurila, V. 6 330fr.
Lazutin, S. G. 8 232fr. 12
401 fT.
Lecotte, R. 4 230
Lehmann, E. 4 393 ff.
Lehmann, H. 12 163
Lehmann, R. 4 5 5 9 f.
Leitner, H. 4 269!.
Lemme, H. 8 293 f.
Leopoldi, H. H. 7 346 f.
Leser, P. 7 360fr.
Levin, I. 9 293 fr.
Levin, M. G. 10 194fr.
Leyen, F. v. d. 11 391fr.
Liebl, E. 728 3L 9 45 2f. 11
413L
Lievens, H. 3271fr.
Ligers, Z. 2 462f.
Lindemans, P. 7 273 f.
Lindqvist, N. 7 286 ff.
Ling, J. 12 405 fr.
Lipp, F. 2 45 xf. 4 257
269L
Lips, E. 11 451fr.
Lloyd, A. L. 10 133fr.
Löber, K. 12 378f.
Löffler, K. 8 269 f.
Löscher, H. 8 266 f.
Lohmeyer, K. 1 465 f.
Lo Nigro, S. 11 463 f.
Ludat, H. 11 480 f.
Ludvikova, M. 9 443 fr. 10
219L 408L
Ludwig, H. 4 557
Ludwig, J. 7 332f.
Lücking, W. 3 556f. 5 533fr.
6 509
Lüdecke, H. 6 50 fr.
Lühr, D. 2 409 f.
Lütge, F. 10 41 iff.
Lüthi, M. 8 238fr. 9 425f.
Luppov, S. P. 9 424L
Lupu, N. 8 297 fr.
Mäkinen, E. 3 526L
Maenner, E. 7 309 h
Maget, M. 11 409 f.
Magon, L. 3 315 fr. 5 205 fr.
9 395 ff.
Mahler, E. 1 463 f.
Maissen, A. 3 302 fr.
Manninen, I. 4 276
Markova, E. 4 271fr.
Markus, M. 5 3 8 8 £.
Martin, B. 7 341 f.
Martini, E. 2 425
Martini, F. 2 425
Marzeil, H. 1 488L 2 141fr.
437fr. 7 329fr. 10 403 f.
Masüger, J. B. 3 534L
Matiöetov, M. 9 43 5 f.
Matvijcuk, N. F. 7 324г.
Meertens, P. J. 7 284fr.
Megas, G. A. 4 574L 8 153fr.
Meier, J. 1 451 ff.
Meise, H. 7 363
Meisen, K. 3 308fr.
Mel’c, M. J. 9 424f.
Melichercik, A. 7 317fr.
Merian, M. 6 485f.
Merkel, G. 9 400 f.
Meschgang, J. 5 226 fr.
Meuli, K. 2 462f. 11 399
Meyer, M. de 7 284fr.
Meyer-Heisig, E. 2 457 fr. 3
318fr. 4 270L 5 523!. 6
65ff.
Michelsen, P. 6 514L
Militzer, M. 1 488f.
Mirbt, R. 3 5 31 ff.
Mjartan, J. 7 374L
Mohr, H. 7 333ff. 8 165ff.
Moll, О. E. 6 501 f.
Moora, A. 12 118
Moora, H. 4 226fr. 11 414fr.
Morävkova, M. 4 271fr.
Moro, О. 1 477 f.
Morvay-Szolnoky, J. 3 524fr.
Morvay, P. 3 291 f.
Moser, H. 2 426f. 7 306fr.
Moser, O. 7 362f.
Moser-Rath, E. 1 404 fr. 3
290L 298fr. 12 147L
Moszynski, K. 6 409 fr.
Mottek, H. 12 113L
Müller, I. 1 470 fr. 7 346L 10
324fr. 12 151 f.
Müller, K. 4 43 5 f.
Müller, Willi 6 505 f.
Müller, Wolfgang 5 217 f.
Müller-Blattau, J. 7 31 x f. 12
396 fr.
Müther, H. 3 558г.
Mummenhoff, К. E. 12 171 ff.
Musiat, S. 12 126 fr. 166
Nack, E. 8 220
Nahodil, O. 9 441 f.
Nawka, B. 12 74L
Nedo, P. 1 462f. 477 2 33fr.
3 536 556f. 4 237L5 226fr.
230fr. 475 ff. 6 494fr. 7
293L 8 259L 453fr. 9
315L 426L 435f. 10 182L
311 £. 315 fr. 11 383fr. 466f.
12 369L
Nellemann, G. 8 399fr.
Neumann, S. 7 328L 8 244L
4o6ff. 9 427fr. 434L 10
392L 393fr. 397f. 11 12 3ff.
316fr. 403 464L 468L 12
49fr. 70fr. 147L 150L 152L
153f. 177fr. 390fr.
Neweklowsky, E. 3 278fr. 8
269 f.
Nickel, J. 1 300fr. 485 f. 2
457fr. 46if. 467!. 469fr.
3 308fr. 4 247fr. 256L 270L
271fr. 427fr. 5 38xf. 513fr.
6 54fr. 508L 509 7 336f.
Siehe auch Jaenecke-Nickel
Niederer, A. 3 523L
Nilson, A. 10 433 fr.
Nitsch, F. 5 525fr.
Nosal’ova, V. 4 268 f.
Nosova, G. 10 196 fr.
Novak, V. 7 304L
Novikova, A. M. 9 408 fr.
Nowak, L. 10 382fr.
Nowak-Neumann, M. 2
430L 5 226fr. 12 167L
Nowotny, P. 1 489 12 135 ff.
Noy, Dov 10 389 fr.
Nussbaumer, J. 12 128ff.
Obenauer, K. J. 8 240f.
Oberfeld, Ch. 10 396£.
Ogrissek, R. 9 457 fr.
Olechnowitz, K. F. 8 272!.
Oliveira, E. V. de 11 473 ff.
Orel, B. 8 397 £.
Orel, J. 4 577fr.
Orend, M. 4 243 fr. 386fr.
Ortutay, G. 2 410fr. 3 292fr.
489fr. 9 i69ff. 10 368ff.
O’Süilleabhain, S. 11 460
Otto, K.-H. 3 201 ff. 8 297
Otto, W. F. 3 300L
Pal, P. D. 9 419fr.
Palinkas, J. 12 404f.
Pancratz, A. 8 297fr.
Autorenverzeichnis
427
Panzer, F. 6 496 f.
Parain, Ch. 7 291h 8 338fr.
11 403 fr.
Paul, A. 4 257fr. 260fr.
Peesch, R. 1 258f. 302fr.
469 f. 2 261fr. 407 fr. 425
441 f. 3 301 f. 518f. 523 f.
534L 4 253f. 436 557 562
575fr. 590 5 2i8f. 7 269Й".
276fr. 28off. 283!. 284fr.
286fr. 289fr. 8 3 fr. 9 312f.
390fr. 445 fr. 448f. 449fr.
451h 452h 10 425 11
13 7 ff. 316 fr. 399 412L
413h 12 26fr. 156 fl. i6off.
Peeters, K. C. 3 271fr.
Pereira, В. 11 473 fr.
Perényi, I. 3 335 f.
Perry, B. E. 8 241fr.
Pesovâr, E. 3 291!.
Peter, I. 1 472 f.
Petermann, K. 5 475 fr.
Peters, H. 10 436
Petrân, J. 6 515 f.
Petrescu, P. 11 422 fr.
Peuckert, W.-E. 3 269 4
564 fr. 6 496 f. 9 431 f. 43 2 f.
433 £. 10 388f. 11 314fr.
12 151 f. 408 f.
Peukert, H. 5 481fr. 7 317fr.
9 408fr. 416fr. 10 314h
366fr. 12 334fr.
Pfab, P. 10 433 fr.
Pfeifer, W. 9 190 ff. 10 401 f.
Pfister, F. 1 127fr. 3 30of. 4
24z f. 5 217 f.
Piepers, W. 7 370
Pieske, Ch. 3 322fr. 4 255h
586 7 338fr. 10 292fr.
Pinon, R. 8 413 fr.
Pio, J. 12 152h
Planck, U. 12 128fr.
Pletka, V. 5 391fr. 488fr.
Plickovâ, E. 5 301fr. 8 263 fr.
Podolâk, J. 9 457
Podwinska, Z. 11 432 fr.
Pomerance va, É. 6 444 fr. 9
94fr. 11 265 fr. 12 141fr.
148 f.
Pomianowska, W. 4 239h
Pomplun, K. 12 152
Poni, C. 11 431 f.
Popstefanieva, M. A. 4 577 fr.
Potapov, L. P. 10 194 fr.
Prechter, H. 8 287fr.
Prochaska, W. 5 416 fr.
Pröhle, H. 6 496 f.
Propp, V. J. 3 481h 4 570fr.
5 479 fr. 6 492 fr. 9 104fr.
4o8ff. 412fr. 414h 10 196fr.
11 448 fr. 12 67 ff.
Protze, H. 4 179 fr.
Putilov, B. N. 9 412fr. 414h
12 67ff. 141fr.
Quietzsch, R. 8 280L 487h
10 404fr. 436 11 59fr.
Radig, W. 2 409 f. 478 f. 3
333h 558h 5 130h 385fr.
6 509h 7 1996". 370 371fr.
377f. 8 220 466fr. 9 459f.
10 127 147fr. 224 11 156fr.
480h 12 173 267fr.
Raffay, A. 3 291 f.
Rajeczky, B. 3 31fr, 527 h 5
496 f. 9 419 fr.
Ranke, K. 5 21 iff. 9 422fr. 10
393fr.
Ranzi, F. 11 399 fr.
Rasmussen, H. 9 445 ff.
Rassow, M. 5 218 f.
Rath, E. Siehe Moser-Rath,
E.
Rattelmüller, P. E. 3 326
Rauch, K. 12 152h
Raupp, J. 3 53of. 11 459h 12
144 fr.
Rehäöek, L. 3 519fr.
Rehbein, F. 4 5 5 7 ff.
Rehfeld, I. 7 214fr.
Rehnberg, M. 5 540
Reich wein, A. 4 429 fr.
Reinfuss, R. 8 259h
Reintges, Th. 12 138fr.
Reitz, G. 3 210 ff. 514 10
219h
Reynst, E. 10 221 f.
Richter, E. 3 549 fr. 5
521 ff.
Rieck, K. 4 254h 5 109fr.
Riedel, К. V. 12 400 f.
Riedl, A. 4 253L
Riedl, N. 3 564L
Riemerschmidt, U. 10 203
Riesel, E. 4 5 3 ff.
Rieth, A. 8 260f.
Ritz, G. 6 506
Ritz, J. M. 3 555 7 189f.
Rodel, G. 1 484 h
Röhrich, L. 1 253fr. 279fr.
2 274fr. 3 213 fr. 494fr. 4
237h 9 434h
Roh, J. 5 529h
Rohan-Csermak, G. de 10 425
Romanska, C. 10 353fr.
Rooth, A. B. 9 390 fr.
Ropeid, A. 8 275 ff.
Rosenberg, A. 3 548 h
Rosenfeld, H.-F. 1 479 fr.
484L 2 147fr. 3 302fr. 4
82ff. 561 f.
Rosenkranz, H. 10 72 ff.
399fr. 401 f. 11 469h
Rosenthal, M.-L. 2 437fr. 4
162fr. 7 329fr.
Rubcov, F. 6 492 fr.
Ruben, W. 2 478 3 559h
Rubi, Ch. 2 474fr. 5 527h
Rudolph, W. 4 129 fr. 589 5
229Î. 6 517fr. 7 201 ff. 8
30fr. 272f. 9 445 fr. 448f.
11 229 ff. 12 123
Rüdiger, H. 8 245 ff.
Rüdiger, L. 8 245 ff.
Rüssel, A. 2 425
Ruland, J. 12 133fr.
Rumpf, M. 3 273 fr.
Ruppel, H. 1 467
Saalfeld, D. 8 212fr.
Sach, F. 7 364fr. 9 453fr. 11
432fr. 12 4i6f.
Sachs, C. 10 380 fr.
Sadnik, L. 5 501
Safafik, P. J. 3 519fr.
Sahlgrcn, J. 7 286ff.
Salmen, W. 3 529t. 10 208 f.
Saltykow, A. B. 8 261 ff.
Sander, H. 3 298 fr.
Sändor, I. 12 374E
Satke, A. 6 494fr.
Schäfer, E. 12 169 h
Schäferdiek, W. 6 488fr.
Schaeffer, R. 2 433 fr.
Schall, H. 5 137fr.
Scheierling, K. 9 407!.
Schellhas, W. 5 490 f. 491h
Schemmel, B. 12 413E
Schenda, R. 12 166 386 fr.
Schenda, S. 12 166
Schepers, J. 8 283 fr. 12
171 ff.
Scheuermeier, P. 1 486 fr. 4
276 fr.
428
Autorenverzeichnis
Scheufier, V. 7 349f. 8 265 f.
271 f.
Schewe, H. 1 45iff. 2 5iff.
231f. 7 225h 9 124fr. 10
125 ff.
Schier, B. 1 479 fr. 2 479 h 5
5 23 f *
Schier, K. 11 391 ff.
Schilli, H. 2 472 fr.
Schirmunski, V. 2 415 ff. 8
235 ff. 10 203 fr.
Schläger, H. 7 370
Schlee, E. 12 411 f.
Schlesinger, W. 11 480 f.
Schlomka, H. 12 162F
Schlosser, P. 3 536fr.
Schlüter, O. 8 466 fr.
Schmaler, J. E. 1 462f.
Schmeing, K. 2 454t.
Schmidt, A. 1 224fr. 259h
478 f. 2 435 fr. 8 76 fr.
Schmidt, E. L. 1 12ff. 258h
45of. 6 285fr. 10 313h
Schmidt, F. L. 7 217 fr.
Schmidt, H. 10 18 5 f.
Schmidt, L. 1 445 fr. 2 426f.
452fr. 3 305fr. 330 388fr.
549fr. 562h 564h 4 252h
283F 6 154fr. 7 305 8 219L
351 ff. 464fr. 10 199f. 382fr.
386fr. 11 4iof.
Schmitt, H. 12 133fr.
Schmittgen, P. 8 289 fr.
Schmolitzky, O. 1 485 f. 2
272fr. 10 iff. 127 12 4iof.
Schneeweis, E. 1 463 f. 477
489 5 501 8 256f. 10 311 f.
Schneider, E. 7 347 f.
Schneidewind, G. 3 296 fr.
536fr. 4 159 232h 241h
564fr. 5 8ff. 125h 211 385
498 499 6 434fr. 7 195 fr.
321fr. 8 144h 159fr. 240h
Siehe auch Bürde-Schnei-
dewind
Schönfeld, H. 10 402 11
312fr. 12 154fr. 392F
Schoof, W. 7 272 9 393fr.
Schrammek, W. 5 127 fr.
475 fr. 7 190fr. 8 141fr.
225fr. 230fr. 9 328fr. 12
144 fr.
Schreiber, G. 10 21 iff.
Schröder, R. A. 9 395 fr.
Schubert, H. 2 429 f.
Schütz, J. 8 245 ff.
Schütze, Th. 1 488f.
Schuhmann, H. 11 436 fr.
Schulte Kemminghausen, K.
4 301fr. 5 499 10 125 fr.
393 fr. 11 309fr.
Schultz, K. R. 5 508
Schulz, W. 3 333f. 6 509h
Schwär, O. 7 75 fr. 11 425 f.
Schwarz, E. 11 480 f.
Schwarz, K. 5 333fr.
Schwarze, W. 11 476 h
Schwebe, J. 8 256f.
Schwedt, H. 11 395 f. 12
386 fr.
Schweizer, W. R. 12 153h
Schwindrazheim, H. 4 255 h
Seemann, E. 1 451fr. 6 490 fr.
8 230fr. 11 393 f.
Seger, J. 4 283f.
Seghers, M. 12 123
Seidel, B. 10 103 fr.
Seignolle, C. 10 373fr. 11
444 f-
Seliger, K. 5 512F
Selk, P. 10 393 ff.
Sellnow, I. 9 389f.
Sellnow, W. 12 110 ff.
Semrau, R. 11 456F
Sieber, F. 1 249 fr. 457 fr.
467 2 43of. 431 f. 432F 3
uff. 269 366fr. 555 4 252f.
5 237fr. 490f. 491 f. 535f.
6 197fr. 481fr. 485 490fr.
505L 7 145 fr. 274fr. 344fr.
8 21 of. 292£. 9 71fr. 315 f.
317 fr. 440f. 10 199 £. 203
398f. 402F 11 3h 4i6f. 12
io8ff. 162 £. 163
Sieber, S. 3 329^
Sievers, H. 3 529 h
Siewing, G. 5 536fr.
Sinninghe, J. R. W. 10 358fr.
Sirovätka, O. 10 392 h 11
300fr. 464F 466L 12 148f.
Siuts, H. 4 562 6 490fr. 7
34of. 8 230fr.
Skalnikovä, O. 5 389 h 6
481 ff.
Slätineanu, B. 7 35of.
Slizinski, J. 11 466
Slotkin, J. S. 12 372F
Ömialowski, R. 7 374h
Smirous, K. 4 266 ff.
Sobisiak, W. 10 376f.
Soeder, H. 12 170F
Sofer, Z. 10 192 fr.
Sokolov, F. V. 7 3i6f.
Solheim, S. 10 225 fr.
Sooder, M. 2 465 f.
Sotkova, B. 4 266ff.
Soupault, R. 8 245 ff.
Sourek, K. 3 5 5 3 ff.
Spanier, A. 1 109fr. 249fr. 2
245fr. 459fr. 3 347fr. 5
513 ff-
Spangenberg, K. 10 205 f.
206 ff. 11 469 f.
Spies, G. 11 427 h
Spriewald, J. 8 247!.
Stäheli, E. 2 476 f.
Stahl, H. H. 8 291 f.
Stahl, P. H. 6 511 f. 8 291 f.
361 ff. 11 422fr.
Starkie, W. 5 219 f.
Staudt, R. 7 3 3 8 ff.
Steensberg, A. 12 168f. 416F
Stegemeier, FI. 1 478 f.
Steinitz, W. 1 269fr. 462!.
2 uff. 235fr. 325fr. 415fr.
4 3ff. 5 3ff. 7 9ff. 9 401 ff.
10 if. 366ff. 11 3f. 12 iff.
102 fr.
Steinmann, P. 8 208 ff. 10
426F
Steinmann, U. 4 429 fr. 6
243 fr. 438 fr.
Stika, J. 11 417 fr.
Stockmann, D. 4 i6of. 5
475fr. 9 405f. 407F 10
i86ff. 382fr. 11 173 fr.
12 207fr. 396fr. 405fr.
Stockmann, E. 1 454fr. 2
424F 3 205fr. 207F 488F
527F 529F 4 185h 203fr.
233fr. 236F 562fr. 5 126f.
412fr. 496f. 497f. 512F 7
195fr. 311 f. 8 180 461fr.
9 333fr. 415f. 10 238fr.
323f. 348fr. 385f. 11245fr.
316fr. 325f. 12 85fr. 373f.
399F
Strauß, R. 11 402 f.
Strobach, H. 4 222fr. 240 f.
557fr. 5 223fr. 488fr. 6
292fr. 423fr. 488fr. 8 137fr.
248fr. 25of. 410 10 If.
191 11 183fr. 316fr. 342
393 f- 448ff- 453 f- 454ff-12
7off. 73 f. 102fr. 377F 395 f.
Autorenverzeichnis
429
Strods, H. 11 326ff. 430h
Strömberg, R. 9 437!.
Strohbach H. 11 402 f.
Suppan, W. 10 254fr. 317ff-
Svärdström, S. 4 580!.
Sveco và, S. 11 472 f.
Svensson, S. 9 390fr.
Swahn, J.-Ö. 9 390fr.
S wider ski, J. 8 25 9 f.
Sydow, A. 11 453 h
Szabadfalvi, J. 8 260f. 295 fr.
Szancer, J. M. 2 429
Szatmàri, A. 12 404h.
Szolnoky, L. 2 379 fr.
Szücs, S. 4 231 f.
Szymanski, H. 5 229 h
Takàcs, I. 11 408 f.
Takacs, L. 12 123 fr.
Tàlasi, I. 2 410ft'. 3 561 f.
Talve, I. 7 377f. 11 426h
Tampere, H. 11 45 6 f.
Tappolet, B. 2 465 f.
Taylor, A. 2 435 fr. 3 540L
8 221 ff.
Teepe-Wurmbach, A. 4 281 f.
7 363
Tegengren, H. 8 312fr.
Teller, J. 12 370fr.
Tenèze, M.-L. 4 479 fr. 8
258L 10 183fr.
Teuchert, H. 5 133fr. 6 502fr.
8 395 ff. 11 469
Thiede, K. 4 586
Thiel, E. 7 344 fr.
Thierbach, A. 4 572 fr.
Thoma, A. 1 460 fr.
Thompson, St. 9 421 f.
Thomsen, H. 2 409 f.
Thomson, K. 10 128ff.
Tietz, A. 5 499
Tillhagen, C.-H. 7 337£.
Timmermann, G. 4 589
Tokarev, S. A. 7 301 ff.
Tóth, J. 10 224
Tóth, K. 3 335 f.
Tóth, St. 9 313 f.
Trier, J. 10 399fr.
Trommer, H. 2 429 3 538
Tschirsch, F. 1 259h
Tschukanova, R. 4 5 77 ff.
Tucci, G. 11 468 f.
Ehlrich, H. 3 517h 4 539fr.
5 183 fr. 209fr. 444fr. 6
469fr. 8 187fr. 9 355fr. 10
163fr. 11 383fr. 4o8f. 12
85 374f-
Ujvary, Z. 3 28of. 326L 4
231 f.
Uldall, K. 3 334f.
Urbancovä, V. 7 3671.12414
Väclavik, A. 4 577fr.
Vajda, L. 2 410fr.
Vajkai, A. 5 508 fr.
Vakarelski, H. 4 577fr. 5
423fr. 6 349fr. 11 396fr.
Vallinheimo, V. 4 274fr.
Valonen, N. 8 273 fr. 11 477 f.
Vanhoucke, C. 12 415 f.
Vargha, L. 3 335 h
Vargyas, L. 3 447 ff. 527!.
5 496f. 7 312fr. 9 419fr. 10
i86ff.
Varjü-Ember, M. 10 408 f.
Vasiljeviö, M. A. 10 314 £.
Vetterl, K. 6 481fr.
Vick, H. 6 497h
Viires, A. 8 28of. 10 280 11
414 fr.
Vilkuna, A. 7 336f. 8 273 fr.
Vilkuna, K. 3 526f. 12 160 ff.
Virtanen, L. 11 461
Vogel, H. 5 475 ft".
Vogel, L. 2 465 f.
Vogel, R. 8 293 f.
Vogel, W. 5 350fr. 501fr.
Vogl, F. 10 185 f.
Voigt, G. 1 65 ff. 2 8off. 403 ff.
4 219fr. 287fr. 6 iff. 11
309fr. 387fr. 12 noff. 370fr.
Voigt, V. 12 384 fr.
Voit, P. 10 407 f.
Vonbun, F. J. 3 298fr.
Vordtriede, W. 9 395 fr.
Vries, J. de 3 292fr.
Vulpius, Ch. A. 6 499 h
Vuorela, T. 5 506 h
Vydra, J. 2 461h 4 257fr.
260 ff.
Waas, A. 12 375 fr.
Wackernagel, H. G. 4 224fr.
Währen, M. 6 506 h
Wallner, E. M. 2 414h
Walter, S. 8 464fr.
Wander, B. 3 258fr.
Wassilev, A. 4 580
Weber-Kellermann, 1.1 275 f.
296fr. 414fr. 443447f
464h 472L 473 f. 475 f
476 477h 2 237fr. 264fr
268fr. 413h 442h 451£•
454h 3 145 fr. 269fr. 305 fr.
538fr. 540L 542fr. 4 190fr.
233 fr. 249L 263 366fr.
574f* 575 58o£. 5 500L
518fr. 525 fr. 527L 6 91fr.
485г. 506f. 7 274fr. 309L
344 8 i8iff. 260 12 156fr.
383
Wegener, H. 8 461fr.
Weidhaas, H. 3 558 6 uff.
Weinhold, R. 3 318 fr. 4
25of. 257 260fr. 264 268f.
283L 284 5 87fr. 538 539
6 187fr. 7 291 f. 306ft'. 349 f.
352fr. 8 207f. 263fr. 265 г.
293 f. 297 460L 486 f.
9 322fr. 10 220f. 407h
437£. 11 192fr. 402L 427L
428h 12 37fr. 113£. 375fr.
Weiser-Aall, L. 2 450h 451
466L 4 238L 7 337f. 340L
Weismantel, L. 3 531fr.
Weiß, R. 1 443 ff- 445 ff- 2
407fr. 7 283f. 375fr. 9
312h 452f- 11 399 413ff
Weiß-Baß, E. F. 8 486 f.
Weisser, H. 2 431 f.
Weitnauer, A. 2 429 f.
Weizsäcker, W. 8 251 ff.
Wendt, R. 10 427
Werner, E. 7 333fr.
Werner, O. 10 206 ff.
Wesche, H. 7 331 £.
White jr., L. 12 n8ff.
Wichert-Pollmann, U. 11
428£.
Wiemann, H. 10 213 ft".
Wilckens, L. v. 4 254t. 5
53°f.
Wildhaber, R. 2 333 fr. 405 f.
3 517 f. 553fr. 4 257fr.
577ff- 579586ff. 6 77ff.
507 h 8 464 fr.
Will, A. 2 429
Wille, L. 5 475 fr.
Wilsdorf, H. 5 255 ff. 8 215 ff.
269h 297fr. 10 54ft". 371fr.
375 f. 11 206ff. 406ft". 422fr.
471 f. 478ft". 12 120f. 357ft".
372 f-
Winter, H. 4 584h 9 461 f.
430
Autorenverzeichnis
Winter, R. 12 312 fr.
Wiora, W. 1 45iff- 454ff- 8
230fr.
Wirth, A. 2 229fr. 3 518f. 4
467 fr. 11 312fr.
Wissmann, W. 2 43 7 ff. 7
329fr. 10 401 f. 12 102fr.
Wittichen, I. 2 465 f.
Witzig, L. 3 324fr.
Woeller, W. 1 465!. 2 429f.
432h 6 499h 10 396£.
11 219 fr.
Wolf, H. 5 501 ff. 6 490ff.
Wolf, S. A. 4 246 f.
Wolfram, K. 4 475 f.
Wolfram, R. 2 421 f.
Wollschläger, H. 11 451 ff.
Wonisch, O. 4 25if.
Wopfner, H. 2 413 f. 102iof.
Wossidlo, R. 1 470 fr. 5 3 fr.
153fr. 213fr. 6 502fr. 7
321fr. 10 392f. 11 469
Wright, L. 11 478 fr.
Wüst, W. 12 396 fr.
Wurmbach, A. Siehe Teepe-
Wurmbach
Zaborsky, O. v. 2 91 ff. 45 2 ff.
468L 3 47fr. 324fr. 326
5 5 2 f. 5 5 6f. 4 264L
Zastrau, A. 4 222fr.
Zeöevic, S. 12 381fr.
Zender, M. 7 276fr. 11 412L
12 171fr.
Zenker, E. 10 378h
Zepf, J. 5 498
Zimburg, H. v. 1 475
Zimmermann, M. 10 398h
Zimmermann, P. 5 475 fr.
Zippelius, A. 4 583!. 5 536fr.
Zirkler, A. 3 542
Zoder, R. 10 382fr.
Zschelletzschky, H. 7 46 fr.
Jo 5 110 |20 |30
140 l50mm
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DEUTSCHES JAHRBUCH
FÜR VOLKSKUNDE
Herausgegeben vom Institut für deutsche Volkskunde
an der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin
durch Wolfgang Steinitz und Hermann Strobach
Begründet von Wilhelm Fraenger
Zwölfter Band
Jahrgang 1966
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