Zeitschrift
für Volkskunde
Im Aufträge des
Verbandes Deutscher Vereine für Volkskunde
unter Mitwirkung von Johannes Bolte
herausgegeben von
Fritz Boehm
Neue Folge Band II
(40. Jahrgang. 1930)
(Mit 31 Abbildungen
und 11 Karten)
Berlin und Leipzig 1931
Walter de Gruyter & Co.
vormals G. J. Göschen’sche Verlagshandlung • J. Guttentag, Verlags-
buchhandlung • Georg Reimer • Karl J. Trübner . Veit & Comp.
Inhalt.
Abhandlungen und größere Mitteilungen. Seite
Das Lachen im Glauben der Völker. Von Eugen Fehrle . . . 1—5
Eine Fragebogenantwort Erzherzog Johanns. Von Viktor
von Geramb......................................... . 5—10
Volkskundliches zur „Bauernhochzeit“ P. Brueghels d. Ä. Von
Arthur Haberlandt. (Mit 1 Abbildung)................ io—16
„Bis willekomm“ und ähnliche Eingangsformeln in Zauber- und
Segensprüchen. Von Adolf Jacoby.................... 17—24
Jungfernkranz und Brautkrone. Von Otto Lauffer . . . . 25—29
Der blaue Stein zu Köln. Von John Meier. (Mit 2 Abbildungen) 29—40
Erzählen als Zauber. Von Paul Sartori................... 40—44
Die Eronleichnamsfeier in den Ofener Bergen. Von Elmar von
Schwartz. (Mit 1 Abbildung)......................... 44—49
Von Henne, Tod und Teufel. Von Theodor Siebs . . . . . 49—61
Phol ende Wodan. Von Walther Steller.................... 61—71
Lucia und Christkindlein. Von C. W. v. Sydow............ 71—76
Das dörfliche Gemeinschaftsleben in Anhalt. Von Alfred Wirth 76—82
Texte zu militärischen Signalen und Märschen. Von Johannes •
Bolte............................................... 83—92
Neues zum Lied vom Krambambuli. Von Max Friedlaender
(Mit 2 Abbildungen)................................. 93—-100
Deutsch Karch „Wagen“, französisch charrue „Pflug“. Von
Theodor Frings......................................100—105
Eine niederrheinische Schüsselinschrift. Von Hugo Hepding.
(Mit 1 Abbildung)..................................105—110
Die soziale Stellung des Spielmanns im 13. und 14. Jahrhundert.
Von Josef Klapper ..................................111____119
Die ältesten gedruckten Märchen im Finnischen. Von Kaarle
Krohn .................................................119—122
Das Märchen von der getreuen Frau in Pommern. Von Lutz
Mackensen...........................................122—125
Zur Wielandsage. Von Friedrich Panzer...................125—135
„Des Schlächters Töchterlein“ in neuen Aufzeichnungen. Von
Viktor Schirmunski.....................................135—143
Westfälische Kinderspiele aus dem Nachlaß der Brüder Grimm.
Von Karl Schulte-Kemminghausen.........................143—152
The proverbial foromila „man soll“. Von Archer Taylor . .
Übersetzungswörter. Von Ferdinand Wrede ..................
Scherzbildungen zu mitteldeutschen Ortsnamen. Von Fritz
Karg.................................................
Die germanische Runenreihe und ihre Namen. Von Friedrich
v. der Leyen.........................................
Das Rote Meer. Von Robert Mielke............................
Eine volkstümliche Darstellung des Todes vom Oberrhein. Von
Paul Diepgen. (Mit 13 Abbildungen) ..................
Staatsgrenzen und Volkskunde. Von Georg Jungbauer . .
Volkskunde von Kolonie und Heimat. Von Walter Mitzka.
(Mit 1 Karte)............................................
„Einst“ und „jetzt“ auf volkskundlichen Karten und Frage-
bogen. Von Fritz Boehm. (Mit 2 Karten)......................
Der Häher in den pfälzischen Mundarten. Von E. Christmann.
(Mit 2 Karten).........................................
Über vorzeitliche und heutige Haustypenlandschaften. Von
Adolf Helbok. (Mit 2 Karten) ..........................
Der Donnerstag vor Fastnacht im Rheinischen. Von Josef
Müller. (Mit 1 Karte)..................................
Die kartographische Darstellung des Aussterbens von volks-
kundlichen Erscheinungen. Von Wilhelm Peßler. (Mit
2 Karten) .............................................
Votive und Weihegaben des italienischen Volkes. Von Rudolf
Kriß. (Mit 6 Abbildungen)...................................
Kleine Mitteilungen........................................
Christophorus, der Heilige des modernen Verkehrs. Von Albert
Becker. S. 272—273. — Hebels „Kannitverstan“ in Portorico. Von
Johannes Bölte. S. 273. — Ein deutsches Kulturdokument aus Slawo-
nien. Von Gottfried Fittbogen. S. 273—275. — Der Nikolsburger
Geist. Von A. Marmorstein. S. 276—282. — Geburt, Hochzeit
und Tod im Volksbrauch und Volksglauben der Kreise Lebus und
Beeskow-Storkow (Fortsetzung und Schluß). Von Karl Ulbricht.
S. 282—288. — Die kluge Bauerntochter. Von Wilhelm Wisser.
S. 288—294. — Erster Deutscher Volkskundetag in Würzburg. Von
Fritz Boehm. S. 295.
Notizen............................................................
Adler, Anger, Auslandsstudien, Beschorner, Biagioni, Bleyer, Boite,
Boudriot, Brockmann-Jerosch, Calvaruso, Christiansen, Dangel,
Danzel, Dumézil, Ebermann, Ekkhart-Jahrbuch, Ellekilde, Epstein,
Fehrle, Flatin, Freydanck, Furt, Garke, Gottscheer Volkslieder,
Groth, Gröber, Häberle, Handwörterbuch des deutschen Märchens,
Hanika-Otto, Hara, Heckscher, Heierli, Hofstaetter-Peters, Hohen-
berger, Huber-Kiem, Jungbauer, Keiper, Keller, Klebelsberg, Kohls,
Latviesu folkloras kratuves Teikas, Lehmann-Nitsche, Lewy, Lid,
Listed, Lorenzen, Maurer, Müller, Nordbo, Nüske, Olrik-Ellekilde,
Patzig, Payne, Plenzat, Przybyllok, Rossat, Schirmer, Scholich,
Schwindrazheim, Seemann, Steinhausen, Sternberg, Textor, Urtel,
Vilmar, Voelker, Volkmann, Weismantel, Zaborski, Zimmermann,
Zobel, Zoder-Eberhard, Zoepfl.
Register. Von Fritz Boehm..........................................
Seite
152—156
156—162
163—169
170—182
.182—188
189—192
196—201
202—209
210—217
217—222
223—234
234—241
242—248
249—271
272—295
296—319
320—325
Zeitschrift
für Volkskunde
Im Aufträge des
Verbandes Deutscher Vereine für Volkskunde
unter Mitwirkung von Johannes Bolte
herausgegeben von
Fritz Boehm
Neue Folge Band II
(40. Jahrgang)
Heft 1/2
(Mit 25 Abbildungen
und 11 Karten)
~ H : -i • bO 6
Berlin und Leipzig 1930
Walter de Gruyter & Co.
vormals G. J. Gösohen’sche Verlagshandlung . J. Guttentag, Verlags-
buchhandlung • Georg Reimer • Karl J. Trübner . Veit & Comp.
Das vorliegende Doppelheft wurde dem Präsidenten der Notgemeinschaft
der deutschen Wissenschaft Sr. Exzellenz Herrn Staatsminister Dr. Fried-
rich Schmidt-Ott zu seinem 70. Geburtstage am 4. Juni 1930
unter dem Sondertitel „Volkskundliche Studien“ als Festgabe des Ver-
bandes deutscher Vereine für Volkskunde überreicht.
Inhalt.
I. Glaube, Brauch und Art des Volkes........................................
Das Lachen im Glauben der Völker. Von E. Fehrle (Heidelberg). S. 1 —5. — Eine
Fragebogenantwort Erzherzogs Johanns. Von V% G c r a m b (Graz). S. 5—10. — Volks-
kundliches zur „Bauernhochzeit“ P. Brueghels d. Ä. (Mit 1 Abbildung.) Von A.Haber-
landt (Wien). S. 10—16. — „Bis willekomm“ und ähnliche Eingangsformeln in Zau-
ber- und Segensprüchen. Von A. Jacoby (Luxemburg). S. 17—24. — Jungfemkranz
und Brautkrone. Von O. Lauffer (Hamburg). S, 25 — 29. — Der blaue Stein zu Köln.
(Mit 2 Abbildungen.) Von J. M e i e r (Freiburg i. Br.). S. 29—40. — Erzählen als Zauber.
Von P. S a r t o r i (Dortmund). S. 40—44. — Die Fronleichnamsfeier in den Ofener Ber-
gen. (Mit 1 Abbildung.) Von E. v. Schwartz (Budapest). 8.44—49. — Von Henne,
Tod und Teufel. Von Th. Siebs (Breslau). S. 49— 61. — Phol ende Wodan. Von
W. Steller (Breslau). S. 61—71. — Lucia und das Christkindlein. Von C. W. v. Sy-
d o w (Lund). S. 71—76. — Das dörfliche Gemeinschaftsleben in Anhalt. Von A. W i r t h
(Dessau). S. 76—82.
II. Mündliche Überlieferung. Sprache..........................................
Texte zu militärischen Signalen und Märschen. Von J. Bolte (Berlin). S. 83—92. —
Heues zum Lied vom Krambambuli. (Mit 2 Abbildungen.) Von M. Friedlaender
(Berlin). S. 93—100. — Deutsch Karch „Wagen“, französisch charrue „Pflug“. Von
Th. F r i n g s (Leipzig). S. 100—105. — Eine niederrheinische Schüsselinschrift. (Mit
1 Abbildung). Von H. Hepding (Gießen). S. 105—110. — Die soziale Stellung des
Spielmanns im 13. und 14. Jahrhundert. Von J. Klapper (Breslau). S. 111—119. —
Die ältesten gedruckten Märchen im Finnischen. Von K. Krohn (Helsinki). S. 119
bis 122. — Das Märchen von der getreuen Frau in Pommern. Von L. Mackensen
(Greifswald). S. 122—125. — Zur Wielandsage. Von F. Panzer (Heidelberg). S. 125
bisl35. — „Des Schlächters Töchterlein“ in neuen Aufzeichnungen. Von V. Schirmunski
(Leningrad). S. 135—143. — Westfälische Kinderspiele aus dem Nachlaß der Brüder Grimm.
Von K. Schulte-Kemm inghausen (Münster i.W.). S. 143—152. — The prover-
bialformula „Man soll“. Von A. Taylor (Chicago). S. 152—156. — Übersetzungswörter.
Von F. Wrede (Marburg a.d.L.). S. 156-162.
III. Namen.........................................................................163-188
Scherzbildungen zu mitteldeutschen Ortsnamen. Von F. Kar g (Leipzig). S. 163—189.—
Die germanische Runenreihe und Ihre Namen. Von F. v. der Leyen (Frankfurt a.M.).
8. 170—182. — Das Rote Meer. Von R. MIelke (Berlin). S. 182—188.
IV. Volkskunst ...................................................................189-195
Eine volkstümliche Darstellung des Todes vom Oberrhein. (Mit 13 Abbildungen.) Von
P. Diepgen (Berlin). S. 189—192. — Doppelscliüsseln. (Mit 5 Abbildungen.) Von
J. M. Ritz (München). S. 192-195.
V. Volkskunde und Auslandsdeutschtum............................................. 196—209
Staatsgrenzen und Volkskunde. Von G. Jungbauer (Prag). S. 196-201. - Volks-
kunde von Kolonie und Heimat. (Mit 1 Karte.) Von M. Mitzka (Danzig). S.202-209.
VI. Volkskundegeographie..........................................................210—248
„Einst“ und „jetzt“ auf volkskundlichen Fragebogen und Karten. (Mit 2 Karten.) Von
F. Boehm (Berlin). S. 210-217. - Dev Häher in den pfälzischen Mundarten. (Mit
2 Karten.) Von E.Christmann (Kaiserslautern). S. 217—222. — Über vorzeitliche und
heutige Haustypenlandschaften. (Mit 3 Karten.) Von A. Helbok (Innsbruck). S. 225
bis 234. — Der Donnerstag vor Fastnacht im Rheinischen. (Mit 1 Karte.) Von J. M ü 11 e r
(Bonn). S. 234—241. — Die kartographische Darstellung des Aussterbens von volkskund-
lichen Erscheinungen. (Mit 2 Karten.) Von W. Peßler (Hannover). S. 242—248.
Seite
1— 82
83-162
Der Nachdruck der Aufsätze und Mitteilungen ist nur nach Anfrage beim Herausgeber gestattet.
Beiträge für die Zeitschrift, bei denen um deutliche Schrift auf einseitig beschriebenen Blättern
mit Rand gebeten wird, sind an den Herausgeber, Dr. Fritz Boehm, Berlin-Pankow, Parkstr. 12D
(Fernsprecher: Pankow 1547), zu richten. Unverlangt eingesandten Manuskripten ist Rückporto beizulegen.
Bücher zur Besprechung sind an die gleiche Anschrift oder an den Verlag Walter de Gmyter & Co.,
Abteilung Triibner, Berlin W 10, Genthiner Straße 38, zu senden. Für unangefordert eingehende Bücher
kann eine Gewähr der Besprechung nicht übernommen werden.
Mitgliedsbeiträge für den Verein für Volkskunde sind zu zahlen an den Schatzmeister, Herrn Dir.
Maurer, Berlin-Friedenau, Postscheckkonto Berlin 106 736.
I. Glaube, Brauch und Art des Volkes
Das Lachen im Glauben der Völker.
Von Eugen Fehrle.
In verschiedener Form führt der Glaube der Völker Wachstum und
Hinsterben der Natur auf göttliches Wirken zurück und weiß dies durch
Mythen zu begründen. Im alten Griechenland erzählte man, Persephone,
die Tochter der Getreidegöttin Demeter, sei beim Blumenpflücken vom
Herrn der Unterwelt geraubt worden. Die Mutter irrte traurig umher,
ihre Tochter zu suchen, und alles Wachstum welkte dahin. Der Grieche
nennt die trauernde Demeter dfeXcxcrTos, d. h. sie lacht nicht mehr. Das
ist wesentlich. Erst als sie durch derbe Späße zum Lachen gebracht worden
und somit ihre Trauer gebrochen war, zog der Frühling wieder ins Land1).
Eine ähnliche Geschichte wird von der nordgermanischen Göttin Skadi
berichtet; ihre Trauer um den erschlagenen Vater sei durch Lokis derbe
Späße beendet worden2). Auf eine lehrreiche Parallele aus Japan verweist
mich Prof. Krause. Die Sonnengöttin Ama-terasu ist von ihrem Bruder,
dem Mondgott Susa-no-o, beleidigt worden und hat sich in eine Felshöhle
zurückgezogen, und die Welt wurde finster. Da führte die Göttin der Freude,
Uzume, obszöne Tänze auf, und es gelang ihr, damit die Sonnengöttin aus
der Höhle herauszulocken3). Dem griechischen Mythus liegt die Vorstellung
ener> Kleine Schriften 4,469ff.; A. Dieterich, Kleine Schriften S. 127.
Die Spöttereien im Demeterkult können mit solchen Vorstellungen in Verbindung
stehen. Vgl. Malten, Der Raub der Kore: Arch. f. Rel.-Wiss. 12 (1909), 285ff. Nach
manchen Nachrichten lacht nicht Demeter selbst, sondern ein Zuschauer. Es wird
erzählt, Demeter sei auf der Suche nach ihrer Tochter durstig geworden. Sie habe
von Misme etwas zu Trinken bekommen und hastig getrunken. Darüber habe der
Sohn der Misme, Askalaphos, lachen müssen. Die erzürnte Göttm habe den Rest des
Trunkes über ihn gegossen, und er sei zu einer buntgesprenkelten Eidechse geworden.
Diese Umbildung des Mythus ist sehr bezeichnend. Er geht fraglos auf einen Ritus
zurück, bei dem das Lachen wesentlich war. Mit der Zeit hatte man den Brauch nicht
mehr verstanden, ihn aber, wie so oft, beibehalten und auf rationalistische Weise
zu erklären versucht und die Erzählung mit einer ätiologischen Sage verbunden.
Vgl. Hopfner, Griechisch-ägyptischer Offenbarungszauber § 463; Kern, Orphi-
corum fragmenta S. 125ff.
2) Hoops, Reallexikon der germanischen Altertumskunde 4, 185f.; Mogk,
Germanische Mythologie 2 S. 80f.
3) Vgl. Krause, Iu-Tao-Fo S. 245; D. Brauns, Japanische Märchen und
Sagen S. 106 ff.
Zeitschrift für Volkskunde, Heft II, 1—2.
1
2
Fehrle:
zugrunde, Lachen als Äußerung der Lebenslust könne den Bann des Todes
brechen und Leben bewirken. In einer griechisch-ägyptischen Darstellung
der Weltschöpfung wird erzählt, Gott habe siebenmal gelacht, daraufhin
seien die sieben weltumfassenden Götter entstanden. Beim siebentenmal
habe er Freudentränen gelacht, und es sei Psyche geboren worden1). Die
lebenspendende Sonne und das Lachen wurden nebeneinandergestellt:
"HeXiö? re TeXuuq. Sonnenkinder geben sich als solche durch Lachen gleich
nach der Geburt zu erkennen, während gewöhnliche Kinder zuerst schreien
und im allgemeinen erst vom vierzigsten Tage ab lachen. So soll Zoroaster
gleich nach seiner Geburt gelacht haben2).
Unsere Frühlingsfeste, vor allerti Fastnacht, werden oft mit ausgelassener
Heiterkeit gefeiert. Das ist nicht immer als spätere Entwicklung oder
Entartung anzusehen, sondern gehört zum ursprünglichen Kern dieser
Feste, an denen das Wiedererwachen der Vegetation nach der Todesstarre
des Winters durch magische Bräuche erstrebt wird. Die alten Römer
nannten einen solchen Festtag Hilaria und zeigen schon im Wort, daß die
Fröhlichkeit, mit der die Wiedererstehung der Gottheit und damit die
Wiederbelebung der Natur gefeiert wurde, wesentlich sei3). In der Kirche
war im Mittelalter das Osterlachen, der risus paschalis, üblich, wobei
von der Kanzel herab derbe Späße gemacht wurden4).
Volksbräuche der Art sind zunächst nicht an einzelne Götter gebunden,
sondern bestehen für sich auf Grund des Glaubens, daß Lachen Leben
bringe und erhalte. Sie werden aber mit der Zeit durch den Mythus be-
gründet und mit irgendeiner Gottheit, der man das Wachstum zuschreibt,
in Verbindung gebracht. Im Märchen hat der Held die Macht, durch
Lachen die Blumen zum Blühen zu bringen5).
Alles Lebengebende wird auch zur Übelabwehr verwendet. So wird
auch das Lachen zum Sinnbild der Verneinung alles Lebensfeindlichen,
besonders des Todes6).
Strabo berichtet 16, 776 von ägyptischen Nomaden, sie binden Nacken
und Füße der Toten zusammen, steinigen sie und beerdigen sie unter fort-
x) A. Dieterich, Abraxas, Studien zur Religionsgeschichte des späteren Alter-
tums (1891) S. 16ff.; E. Norden, Die Geburt des Kindes S. 66.
2) Plinius, Nat. hist. 7, 72. In Vergils 4. Ekloge wird von einem Weltheiland
gesprochen. Wenn in dem Gedicht die Konjektur, die von vielen Philologen gebilligt
wird: qui non risere parenti, richtig ist, so handelt es sich auch hier um ein solches
Sonnenkind, das sich durch Lächeln beglaubigt. Norden a. a. O. S. 59ff.; F. Boll,
Sulla quarta ecloga di Virgilio 1923; ders., Deutsche Literaturzeitung 1924, 77f.;
Weinreich,' Phil. Wochenschrift 1924, 899ff.; Norden, Die Geburt des Kindes:
Wiener Blätter für die Freunde der Antike 6, 1930, 86ff. Gegen diese Auffassung
P. Corssen: Philologus 81, 1925, 45ff. und Deubner: Gnomon 1, 166f.
3) Wissowa, Religion und Kultus der Römer 2 S. 321.
4) I. P. Schmid, De risu paschali, Rostock 1847; S. Reinach, Cultes mythes
et religions, 4 (1912), 127ff.; Reinachs Arbeit: Le rire rituel S. 109ff. behandelt ein
ähnliches Thema wie ich hier. Vgl. C. Hense, Poetische Personification (1868) S. 260ff.
5) G. Bergsträsser, Neuaramäische Märchen S. 27f-; Wesselski, Märchen
des Mittelalters S. 186.
6) Leo Kaplan, Das Problem der Magie und die Psychoanalyse S. 66ff. Vgl.
Liebrecht, Zur Volkskunde S. 291.
Das Lachen im Glauben der Völker.
3
währendem Lachen. Durch das Lachen wollen sie das Leben im Gegensatz
zum Tode betonen; die Überlebenden sollen dadurch, wie durch das Werfen
der Steine, die Wirkung des Todes von sich fernhalten1). Bei der Ur-
bevölkerung Sardiniens, den Sardi oder Sardoni, bestand die grausame
Sitte, die alten Leute zu töten. Dabei soll gelacht werden. Das war das
berüchtigte sardonische Lachen2). In Sardinien wurden bis ins 19. Jahr-
hundert hinein beim Tode eines Menschen sehr altertümliche Bräuche
beobachtet. Außer den Angehörigen hatte ein gemietetes Klageweib um
den Toten zu jammern. Wenn aber die Bahre weggetragen war, so mußte
nach Landesbrauch eine Spaßmacherin die Trauernden zum Lachen
bringen. Damit soll der Segenswunsch ausgesprochen sein, die Macht des
Todes möge auf das eine Opfer beschränkt bleiben, jetzt komme wieder
frischer Lebensmut zum Recht, nachdem durch Lachen die Wirkung des
Todes gebrochen sei. Die Sarden erzählen sich zur Erklärung des unver-
standenen Brauches ein niedliches Geschichtlern: Als unser Herr und
Heiland gestorben war, kamen die Tiere alle zur Schmerzensreichen, um
ihre Teilnahme zu bezeugen. Nur dem Frosch wollte es scheinen, als über-
treibe die Mutter Gottes ihre Klagen. Der sagte zu ihr: „Maria, wenn du
so sehr klagst um den Tod des einen Sohnes, was hätte denn ich tun sollen,
als mir das Rad eines Karrens in einer Umdrehung sieben Kinder tötete ?“
Die heilige Jungfrau konnte bei diesem drolligen Einfall sich des Lachens
nicht erwehren, und seit dem Tage hat es keine Trauer gegeben, bei der nicht
auch das Lachen seinen Anteil gehabt hätte.
An römischen Jünglingen wurde beim Frühlingsfest der Lupercalia
eine sinnbildliche Tötung und Wiedergeburt vollzogen. Mit einem Messer,
das in Opferblut getaucht war, wurde ihre Stirne berührt, das Blut wurde
dann mit Wolle abgewischt, und die Jünglinge, die so sinnbildlich dem
Leben wiedergegeben waren, mußten lachen. Dadurch sollte der Gegensatz
zum Tod betont werden3).
Im 39. Märchen der Brüder Grimm wird erzählt: „Einer Mutter war
ihr Kind von den Wichtelmännern aus der Wiege geholt und ein Wechsel-
balg mit dickem Kopf und starren Augen hineingelegt, der nichts als essen
und trinken wollte. In ihrer Not ging sie zu ihrer Nachbarin und fragte sie
um Rat. Die Nachbarin sagte, sie sollte den Wechselbalg in die Küche
tragen, auf den Herd setzen, Feuer anmachen und in zwei Eierschalen
Wasser kochen: das bringe den Wechselbälg zum Lachen, und wenn er
lache, dann sei es aus mit ihm. Die Frau tat alles, wie die Nachbarin gesagt
hatte. Wie sie die Eierschalen mit Wasser über das Feuer setzte, sprach
der Klotzkopf:
„Nun bin ich so alt
Wie der Westerwald,
Und hab nicht gesehen, daß jemand in Schalen kocht.“
1) E. Maaß, Neue Jahrbücher 49 (1922), 208.
2) Müller, Fragmenta hist. Graec. 1, 199; R. Pettazzoni, La religione primi-
tiva in Sardegna (1912) S. 146ff.
3) Hermann Di eis, Sibyllinische Blätter S. 69 f.; S. Eit rem, Opferritus und
Voropfer der Griechen und Römer S. 53, 440.
1*
4
Fehrle: Das Lachen im Glauben der Völker.
und fing an, darüber zu lachen. Indem er lachte, kam auf einmal eine
Menge von Wichtelmännerchen, die brachten das rechte Kind, setzten es
auf den Herd und nahmen den Wechselbalg wieder mit fort.“
Die schöne Lau bei Blaubeuren, deren Geschichte Mörike so herrlich
erzählt, war von ihrem Gatten, einem alten Donaunix, in den Blautopf
gebannt. Erst nach dreimaligem Lachen wird sie daraus befreit.
Beim Säen der Petersilie soll man lachen, sonst geht der Same nicht
auf. Wenn er aber nicht aufgeht, muß jemand in der Familie sterben. Das
Lachen ist also auch hier eine Macht gegen den Tod1). Eine Nadel oder eine
Schere soll man nach deutschem Volksglauben im allgemeinen nicht ver-
schenken. Man könnte sonst die Freundschaft oder Liebe entzweischneiden
oder -stechen. Gegen diese Gefahr sichert sich der Beschenkte, wenn er
bei Überreichung der Gabe lacht2).
In Breslau lacht die neuankommende Magd in den Ofen hinein, um
sich bald einzugewöhnen3). Worauf der Brauch zurückzuführen ist, bleibt
unklar. Im Ofen hausen die guten wie die bösen Hausgeister. Durch das
Lachen in den Ofen hinein kann die Magd die Macht der bösen Geister,
die ihr etwa feindlich sein könnten, auch die der guten, welche den Neuling
noch nicht kennen und sich gegen ihn wenden könnten, brechen, oder aber
die Hausgeister sollen durch das Lachen gewonnen werden.
Gottfried Keller gibt im „Verlorenen Lachen“ ganz im Sinne des Volks-
glaubens ein schönes Beispiel dafür, wie durch Lachen der Bann eines bösen
Wortes gebrochen wird: „Nach langer Entzweiung versöhnte sich das junge
Paar Jucundus und Justine. Er sagte dabei zu ihr: „Zur Buße und Sühnung
sollst du mir jenes grobe Wort noch einmal sagen, das uns entzweit hat, du
gröbliches Liebchen, aber mit lachendem Munde, damit es seinen bösen
Sinn verliert.“ Nach einigem Sträuben sagte sie voll Zärtlichkeit und
Scherz das Wort „Lumpazi“, worauf Jucundus sie küßte.
Um allezeit, nicht nur für den einzelnen Fall, gesichert zu sein, ver-
ehrten die Griechen einen Gott des Lachens, Gelos4), wie bei den Römern
der Gottesbegriff Risus (—das Lachen) bekannt und als Deus sanctissimus
und gratissimus gefeiert war5).
Ähnliche Anschauungen gibt es bei Völkern der verschiedensten
Rassen. Wir werden hier nicht überall geschichtliche Abhängigkeit an-
nehmen wollen, sondern größtenteils selbständiges Entstehen der Bräuche.
Zeigt ja doch die tägliche Erfahrung, daß Leute, denen es gegeben ist, mit
leichtem Sinne lachend durchs Leben zu gehen, im allgemeinen gesünder
und lebensfrischer sind als die Gedrückten. Und so kamen die Menschen
1) Fehrle, Badische Volkskunde 1, 63; Bayerische Hefte für Volkskunde 1
(1914), 200f. Schmähen, Lachen und Fluchen haben bei solchen Handlungen dieselbe
Wirkung. Vgl. M. P. Nilsson, Griechische Feste S. 175.
2) Alemannia 33 (1905), 300. Nach Drechsler, Sitte, Brauch und Volksglaube
in Schlesien 2, 23 muß man auch lachen und darf sich nicht bedanken, wenn einem
jemand eine Arznei überreicht.
3) Peuckert, Schlesische Volkskunde S. 47.
4) Roscher, Lexikon der griechischen und römischen Mythologie 1, 1610f.
5) Ebd. 4, 128.
Geramb: Eine Fragebogenantwort Erzherzog Johanns.
5
dazu, in drückender Not das Lachen als etwas Lebensnotwendiges zu fordern
und teilweise als religiösen Brauch festzulegen. Denn manche Bräuche, die
auf Selbsterhaltung ausgehen, sind in Religionen, die lebend aus einem Volke
hervorgewachsen sind, heilige Pflicht geworden1).
Hans Thoma preist als gereifter Mann die Kunst des Lächelns, wie
es die Japaner haben, und sagt in seinem Buche ,,Im Herbste des Lebens“
S. 111: „Das Lächeln kann . . . ein großes Lebenskapital bedeuten — aber
als Kleinmünze im täglichen Leben gebraucht, könnte es gerade bei unserem
gesteigerten Verkehr ein ungemein nützliches Mittel sein.“
Eine Fragebogenantwort Erzherzog Johanns.
Von Viktor Geramb.
Zu Beginn der Fragebogenversendung für den Atlas der deutschen
Volkskunde soll einer edlen Persönlichkeit gedacht werden, die vor nunmehr
bald 120 Jahren für das Gebiet des Landes Steiermark ein Werk begann,
das in gewissem Sinne als ein Vorläufer der heutigen volkskundlichen Auf-
nahme für das ganze deutsche Sprachgebiet gelten kann. Diese Persönlich-
keit ist kein Geringerer als der Erzherzog Johann von Österreich.
Das Gedächtnis dieses „deutschesten aller Erzherzoge“ — wie ihn
der Historiker Lamprecht einmal nannte — lebt im steirischen Volke,
das ihm für unzählige Wohltaten zu danken hat, kräftig fort und verdient
auch außerhalb der Grenzen der grünen Mark liebevolle Pflege. Denn
unvergessen soll dem deutschen Volke gerade der Habsburgerfürst bleiben,
der von der Frankfurter Nationalversammlung zum deutschen Reichs -
Verweser gewählt wurde und in dieser Stellung in vorbildlicher vaterländi-
scher Gesinnung einem großen geeinten Deutschland zu dienen suchte.
Die Pfleger und Hüter deutscher Volkskunde haben besondere Ursache,
seiner zu gedenken, denn sie können Erzherzog Johann mit vollem Recht
als Vorkämpfer in ihre Reihen stellen. Die Freude an volkskundlichen
Beobachtungen, die wir schon bei dem vierzehnjährigen Knaben aus den
Aufzeichnungen über seine Reise nach Maria-Zell erkennen, wandelte sich
bei dem heranreifenden Manne zu ernstem Forschen. Dies zeigt eine Fülle
eingehender Darstellungen aus fast allen Gebieten der Volkskunde, über
Wohnung, Lebensweise, Sitten, Bräuche, Spiele, Tracht, Charakter, Sprache,
Sagen, Lieder und Musik des Volkes, die sich in seinen Tagebüchern findet.
Nicht nur als eifriger Sammler von Volksliedern und als Anreger trachten-
kundlicher Aufnahmen durch namhafte Maler seiner Zeit hat uns der
Erzherzog wahre Schätze erhalten; er suchte auch mit dem ganzen Einfluß
Bei der Vollbringung einer Heilstat weist Lächeln auf die Wendung zu neuem
Lebensglück. Es ist typisch für antike Wundererzählungen, daß der griechische Gott
und im Anschluß daran der christliche Heilige lächelnd zu den notleidenden Menschen
herantritt, denen er Hilfe bringen soll. W einreich, Antike Heilungswunder (1909) S. 3.
6
Geramb:
seiner Persönlichkeit Trachten, Lieder, Sitten und die gute Art des Volkes
zu bewahren.
Unter den wissenschaftlichen Bemühungen des vielseitigen Fürsten
nimmt die obenerwähnte landeskundliche Aufnahme eine besondere
Stellung ein. Durch umfassende „statistische Rundfragen“, die an die
Bezirksobrigkeiten, Dominien, Verwaltungsämter und Pfarreien gerichtet
wurden, sollte der Grund zu einer steirischen Landeskunde gelegt werden,
wobei volkskundliche Gesichtspunkte ausreichend berücksichtigt wurden.
In einer eingehenden Würdigung der Bedeutung Erzherzog Johanns für
die steirische Volkskunde1) habe ich einen Auszug der volkskundlichen
Abschnitte aus den statistischen Fragebogen gegeben, die der Erzherzog
nach jahrelanger gründlicher Vorbereitung selbst entwarf und um die
Jahreswende 1810/11 erstmalig verschicken ließ. Die bis zum Jahre 1840
eingelaufenen Antworten auf die Fragebogen enthalten in 46 dicken
Aktenbündeln und 30 größeren Handschriften eine Unmenge volkskund-
lichen Materials, das bisher fast gänzlich unbekannt geblieben ist2) und
nun dank der Unterstützung durch die Notgemeinschaft der deutschen
Wissenschaft erschlossen werden kann. In einem der Aktenbündel findet
sich bei der Beschreibung des Kreises Bruck ein konzeptartiger Entwurf
über den physischen Zustand der Bewohner von des Erzherzogs
eigener Hand, der wohl aus dem ersten Jahrzehnt der Umfragen
stammt. Er enthält mancherlei von volkskundlichem Interesse und zeigt
vor allem, mit welcher Gründlichkeit der Fürst selbst an der Bearbei-
tung seiner Fragebogen mitgearbeitet hat. Auch läßt er die liebevolle
Zuneigung erkennen, die er für die Leute des Volkes, vor allem für die
Menschen „in den Seitenthälern und auf den Bergen“ hegte.
Innige Heimatliebe hat den Erzherzog bei seinen Arbeiten immer
und überall geleitet, sie wird auch den Mitarbeitern des Atlas der deutschen
Volkskunde, vereint mit gründlichem Forschungseifer, zum Wohle des
Werkes treuer Weggenosse sein müssen. Als Beispiel solcher Mitarbeit
sei ein großer Teil der Antwort Erzherzog Johanns im folgenden wort-
getreu wiedergegeben3):
„Physischer Zustand. Der Bewohner des Brücker Kreises gehört
mehr zum größeren Menschenschläge, er unterscheidet sich wie die meisten
Gebürgsbewohner durch einen festen, knochigten und sehnigten Körper-
bau; schöner ist das männliche als das weibliche Geschlecht, ersteres
größer, schlanker, lezteres mehr untersezt. Eine offene, fröhliche, guth-
müthige Gesichtsbildung, große Brauen, meist blaue Augen, ziemlich regel-
mäßige Züge, lichte, auch braune Haare, frische Farben, die vorzüglich
*) Festschrift zur Jahrhundertfeier des steierm. Landesmuseums Joanneum
(Graz 1911) S. 56.
2) Die bedeutendste dieser Hss. habe ich in den „Quellen zur deutschen Volks-
kunde“ unter dem Titel „Die Knaffl-Handschrift“ im Jahre 1928 herausgegeben.
3) Die wenigen Ergänzungen wurden in eckige Klammern gesetzt, die Inter-
punktion und die Verwendung großer und kleiner Anfangsbuchstaben dem heutigen
Gebrauche angeglichen.
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Eine Fragebogenantwort Erzherzog Johanns.
das weibliche Geschlecht auszeichnen, der Körper meistens in wahrem
Verhältnisse, aber große Füße; große Schönheiten trifft man höchst selten
an, aber gut und schlank gewachsene, mit gefälligen Gesichtern, aus welchen
Fröhlichkeit und Guthmüthigkeit spricht, und gesunder Farbe desto mehr.
Im ganzen genommen gehört dieses Volk unter die schönem, groß ist der
Unterschied in diesem Kreise selbst, einige Gegenden zeichnen sich vor den
anderen weit aus. So trifft man in den Seitenthälern, so wie überhaupt da
wo Wohnungen hoch am Gebürge liegen, die größten, schlankesten Leute
von blühender Farbe und Gesundheit; die gesunde Luft, die frischen
Quellen haben großen Einfluß darauf, und während öfters in der Tiefe der
Thäler oder in feuchten, von der Sonne wenig erwärmten Gräben die Be-
wohner von Krankheiten und Gebrechen heimgesucht werden, drücket
diese nichts, auch da muß man die ältesten Leute auf suchen. Unter allen
Gegenden zeichnen sich die Bewohner der Thäler und Berge von Aflenz,
Veitsch, Neuberg, Tragöss, des Salzathales abwärts Zell, der Seitenthäler
und Berge des Merzthaies, als die schönsten aus, im Aflenzer Thale sind
in der Stübming die größten und stärksten, in den Schlünden der Salza
zeichnen sich mitten in den großen Waldungen die Bewohner aus, es sind
Holzknechte, das männliche Geschlecht groß, hager, aber sehnigt, kräftige,
schlanke Menschen, ein offenes, guthmüthiges Gesicht; das weibliche
unterscheidet sich in nichts von den übrigen des Landes. In eben den
ersteren Gegenden zeichnet sich auch das weibliche Geschlecht aus, vor-
züglich auf den Bergen Neubergs, von Veitsch, Allenz und der übrigen
Seitenthäler; im Merzthale ist der Schlag mehr gemischt, und deutlich
unterscheidet sich der Thal- vom Bergbewohner, ein gleiches gilt vom
Muhrthale, dem Vordernberger Thale, im Lüsingthale trifft man einzelne
schöne Menschen mit verkrüppelten untermischt, den mindest schönen
Schlag hat die Gegend von Eisenerz und Radmer, da mag wohl vorzüglich
die bewegte, feucht-kalte Laage, die Bergarbeit und die Armuth den größten
Einfluß haben. Die große Anzahl Berg-Heuer und Kohlarbeiter, die theils
aus der übrigen Bevölkerung dazutretten, größtentheils aber sich selbst
fortpflanzen, sollten billig, insoweit sie zu diesen lezteren gehören, von den
übrigen Bewohnern abgesondert bemerket werden, da unter ihnen bey
weitem kein so kräftiger, blühender Schlag Menschen sind, als die Holz-
knechte und Landleute. Ihre Arbeit und ihr minder guter Zustand mag
hauptsächlich daran Ursache seyn.
Es folgen nun statistische Angaben über die höheren Altersstufen für Hieflau,
Radmer und Eisenerz; auch einzelne Beispiele besonders hohen Alters werden gegeben.
Dann heißt es weiter:
Die Periode des Alters verdient angemerket zu werden, so wie die
Mannbarkeit in dem hohen Gebürge sich späther entwikelt, so tritt doch
öfters das Alter früher ein. Ein Mann mit 60 Jahren ist schon ein Greis,
viel mag dazu frühe angestrengte Arbeit, wo der Körper in seiner Entwike-
lung sich befand, beytragen, die reine, frische Luft erhält zwar gesund,
allein sie beschleuniget das Leben und nüzt es früher ab, das weibliche
Geschlecht mit einigen 30 Jahren altert schon; schwer ist das Alter, wenn
8
Geramb:
einmahl die 60 Jahr vorüber sind, zu kennen, bey sehr alten Leuten läßt
sich oft gar nichts bestimmen, da die Leute selbst ihr Alter nicht wissen;
Eisen- und Kohlarbeiter erreichen selten ein hohes Alter und gewöhnlich,
wenn sie nicht sehr vorsichtig sind, überschreiten sie nicht das 40.—'50. Jahr.
Die Geburthen sind häufig, der Nachwuchs der Bevölkerung ansehnlich,
4—5, auch 8—10 Kinder trifft man häufig an, besonders fruchtbare Ge-
burthen sind selten, ebenso daß mehr als ein Kind auf die Welt kommt,
Mißgeburthen noch weit seltener. So gesund die Bewohner des Kreises
sind, so herrschen doch einige gewöhnliche Krankheiten als Folge des Clima
und der Lebensweise und Verrichtungen der Bewohner.
Im folgenden werden mancherlei Krankheiten und durch die Arbeit verursachte
Schäden angeführt. Das uralte steirische Übel des Kropfes findet dann ausführliche
Beachtung:
Sathälse und Kröpfe trifft man allenthalben an, weniger in den Seiten -
thälern und auf den Bergen, häufiger in den Hauptthälern. So zeiget die
Gegend von Göß und das Thal der Lüsing, vorzüglich der obere Theil, das
Thal der Enns und die Seitenthäler des Eisenerzer- und Radmerbaches
und manche Gegend des Merzthaies häufigeren Kropf, wohingegen die
Thäler von Neuberg, Aflenz, Veitsch, das Salzathal und die Berge wenige
haben. Cretins findet man in fast allen Gegenden, hier gilt es wieder wie
bey den vorigen, mehr in den Tiefen, als in den Seitenthälern und Bergen,
doch zeichnen sich das Thal der Lüsing und die Eisenerzer Thäler als solche
[aus], wo noch die meisten Vorkommen, wo man hingegen im Merz-Thale,
Neuberg, Aflenz fast keine antrifft. Diese beyden Gebrechen mögen viele
Ursachen erregen. Mehrfältige Beobachtungen geben uns einiges, was auf
weitere Nachforschungen bringen kann, und wie wichtig wäre dieses nicht
vorzüglich rücksichtlich des Cultiviern, um diese aus den Gebürgsländern
nach und nach zu vertilgen. Hier in diesem Kreise sind Blähhälse gewöhn-
licher als Kröpfe, als Ursache ihrer Entstehung kann man wohl nicht ohne
Ungrund schnelle Erkühlung nach Erhitzung in kalter, mit Eistheilen
geschwängerter Luft bey schlecht verwahrtem Halse, kalter Trunk rascher,
harter Wässer [ansehen] — durch diese zwey Fälle wird die Limphe ver-
diket, die Halsdrüsen stoken und schwellen an und werden schwach, die
Haut verliehret ihre Elasticität, die Gefäße dehnen sich aus — und so bilden
sich nach und nach Kröpfe, ob der Genuß fetter Speisen und der kalte
Trunk dieselben bewirket, unterlieget großem Zweifel, viele, die mit solcher
Nahrung ihr Leben fristen, bleiben ihr ganzes Leben davon befreyet, in
manchen Gegenden sind die Einheimischen davon befreyet und Fremde
damit behaftet. Manchen Kindern werden sie angebohren, in manchen
Familien pflanzen sie sich fort, manche sind damit ganz unbekannt; diess
ist einmahl erwiesen, daß auf den Bergen und in den hohen Seitenthälern
sie weit seltner sind als in den tiefem, schattigen — wohl mögen der Genuß
der oft nicht reif werdenden Kornfrüchte, mit ranzigem Fette übergossen,
welches manche gerne essen, ohne Wein oder andere geistige Getränke zu
haben, Einfluß nehmen, die Fettsäure erreget starke Absonderung des
Schleims und Anhäufung desselben in den drüsigen Theilen — gewiß ist
Eine Fragebogenantwort Erzherzog Johanns.
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es, daß thonigte, mit Kiesel gesättigte Quellen viel dazu beytragen, denn
in jenen Gegenden, wo solche sind, finden sich auch die meisten damit ~
behafteten. In Neuberg, am Fuße des Kühehörndls, findet sich eine Quelle,
welche bey trokenen Zeiten versieget und als Kropfquelle allgemein an-
genommen, daher aber von niemand getrunken wird.
Es ist allgemein bekannt, daß es unter den Cretins, hier Gaken, Dostein,
gewöhnlich Trotteln genannt, mehrere Abstuffungen giebt, obgleich noch
in jeder Gegend solche anzutreffen sind, so findet man keine von jenem
niedrigen Grade, welcher an vollkommene Stumpfheit gränzet, meistens
sind solche in diesem Kreise, die doch noch zu manchen leichteren Arbeiten
als Viehhüther etc. können gebrauchet werden. Es wäre überflüssig hier
alles jene zu wiederhohlen, was so oft über ihre Eigenheiten geschrieben
wurde, ich werde mich nur hier auf jenes beschränken, was auf ihre Ent-
stehung Bezug nimmt, da man darüber nicht genug Beobachtungen sam-
meln kann. Obgleich man in fast allen Gegenden Trotteln findet, so sind
doch einige, welchen sie vorzüglich anzugehören scheinen; diese sind das
Thal der Lüsing, die Gegend des Enns- und Eisenerzer Thaies, dann in den
tiefen, feuchten Gegenden, die lange von den Sonnenstrahlen beraubet
sind, endlich meist auf der südlichen Seite (Schattenseite) der Thäler.
Feuchte also, Entbehrung der Wärme und des freyen Luftzuges sind eine
der ersten Ursachen, schlammige, mit Thon und Kiesel übersättigte Quellen,
die sogenannten Kreidenwässer, welchen man bey der Jugend doppelte
Glieder, Verstopfung, Verschleimung und Hinderniss der Entwikelung
zuschreibet, sind es gewiß, denn eben in dem Thale der Lüsing sind die
Quellen, vorzüglich in dem Obertheile, aus solchen Gebürgen entspringend,
welche solche Theile absetzen, selten in den hohen Thälern oder auf den
Bergen oder in jenen Gebürgen, welche reine, kalte Quellen geben (Kalk-
gebürge), wird man solche antreffen. Beschädigungen während der Schwan-
gerschaft, harte Geburthen, skrofulöse Zustände, entstehend durch die
elende Nahrung, durch selbst ähnlichen Zustand armer Eltern, Fallen,
Stoßen, Schlagen auf Kopf und Bücken der Kinder, Zeugung im Rausche,
keine Anwendung gehöriger Mittel aus Mangel an Vermögen oder ent-
fernter ärztlicher Hülfe oder Unkenntniss der Eltern bey rachitischen
Kindern, diese werden dann gewöhnlich Trotteln und haben von der Ge-
burth an den Keim mitgebracht, allein die Zahl, welche so auf die Welt
kam, ist sehr gering und mit Gewißheit läßt sich sagen, daß die meisten
Trotteln es in den ersten Jahren nach der Geburth werden; schwächliche
Kinder auf die Welt gebracht, sollten einer besseren Pflege unterliegen,
um jenes durch Sorge zu ersetzen, was ihnen die Natur nicht gab, allein in
diesen Gebürgen, wo es an arbeitenden Händen nie zu viel geben kann um
der Natur durch Fleiß etwas abzugewinnen, ist alles beschäftiget, kaum
hat die Mutter ihr Kind auf die Welt gebracht, so eilt sie zu neuen Arbeiten,
früh und abends stillt sie ihr Kind, nicht immer ordentlich, hier also der
erste Nachtheil, kaum kann das Kind etwas zu sich nehmen, als die den
ganzen Tag vom Hause entfernte, auf Arbeit sich befindende Mutter, um
das nach Nahrung verlangende Kind zu beruhigen, dasselbe früh mit einem
10
Haberlandt.
diken Mehlbrey von Roggen bis zur Überladung anschoppet, dann liegen
läßt und wenn sie späth abends zurükkehret, es erst reiniget und dann
neuerdings mit gleicher Nahrung anschoppet, nicht selten läßt sie dem
1—2jährigen Kinde noch eine Schüssel mit dieser Nahrung, wo sich das
unvernünftige Geschöpfe noch mehr überißt. Unmöglich kann dann das
Kind all dieses verdauen, alle seine Gefäße werden ausgedehnt, der Druk
nach dem Kopfe getrieben und dadurch Geschöpfe abgestumpft und zu
Trotteln gemacht, die bey besserer Pflege es nicht geworden wären. Gewiß
ist die Vernachlässigung in der ersten Pflege und Erziehung der Kinder die
Hauptquelle* der Entstehung der Trotteln — wenigstens scheinen es die
in diesem Lande gemachten Erfahrungen zu bewähren, da sehr viele von
diesen Geschöpfen elternloss sind! Solche schwere Nahrung, gar nicht für
ein Kind geeignet, ist nur für einen Erwachsenen verdaulich, wenn der-
selbe in frischer Luft starke Bewegung machet und wenig schläft.
Vergleichet man diesen Kreis mit dem salzburgischen Lande, selbst mit
dem nachbarlichen Judenburger Kreise und den südlichen Gebürgen des Lan-
des ob der Enns, so zeiget sich ein auffallender Unterschied zu Gunsten dieses
Kreises. Mit Beruhigung kann man sagen, daß diese Trotteln und die Kröpfe
immermehr abnehmen, bessere Nahrung und sich verbreitender Unterricht
wirken das meiste darauf; hoffentlich werden beyde mit der Zeit diesen
Gebürgen fremd werden.“
Volkskundliches zur „Bauernhochzeit“
P. Brueghels d. Ae.
Von Arthur Haberlandt.
(Mit 1 Abbildung.)
Volkskundliche Betrachtung der Gemälde des Peter Brueghel
(f 1569), den man gemeinhin den „Bauernbruegel“ nennt, ist Dienst an
den älteren Quellen unserer Wissenschaft ebensowohl, wie am Schaffen
dieses Meisters selbst, dem Einfühlung in das Volkstum seiner Tage so sehr
lebendige Kraft zu künstlerischer Gestaltung bedeutete. Volkskundliche
Ausdeutung ist untrennbar mit der Wesenserforschungs seines Werkes ver-
bunden. Ein Versuch in dieser Richtung sei — kunstwissenschaftlichem
Verständnis zur Wegbereitung — an dem Bilde der Bauernhochzeit in der
Gemäldegalerie des Kunsthistorischen Museums zu Wien unternommen,
wobei wir uns mit einer möglichst knapp ansagenden Beschreibung des
Werkes (vgl. Abb. 1) begnügen, die freilich der erläuternden Einordnung
unsicherer Einzelheiten wie auch der allgemein bedeutsamen Züge der
Hochzeitsfeier in ihrer sinn- und formvollen Gebundenheit unter den
Gesichtspunkt der vergleichenden Volkskunde nicht entraten kann.
Der Raum, in dem die uns eher karg anmutenden Tafelfreuden der
Bauernhochzeit an einem inhaltlich gleich bedeutsamen wie malerisch
wirksamen Höhepunkt angelangt scheinen, ist die Diele oder Tenne eines
immerhin ansehnlichen Bauernhauses von der Art der friesischen Hauberge,
wie sie auch in Nordholland südlich bis über Amsterdam hinaus zu ver-
Volkskundliches zur „Bauernhochzeit“.
11
folgen sind. Drei mächtige Ständer, zn denen rechts nicht mehr sichtbar
noch ein vierter zn zählen ist, kennzeichnen als „Längswand“ im Hinter-
grund einen Vierkant mit drei Fachen oder Golfen, während einfachere
Häuser deren nur einen oder zwei auf weisen. Durch einen schmalen Gang
davon getrennt bildet links übereck die Brandmauer des Wohnhauses zu-
gleich die Schmalwand des Raumes. Diese Brandmauer weist ein merklich
schwächeres Ständer- und Streben werk mit Lehmstakenfüllung auf. Sie
ist von einer Türöffnung durchbrochen, durch die man in den Flurraum,
und zwar geradeswegs auf die gleichfalls offenstehende Eingangstür hinaus-
sieht. Hauberg und Wohnbau befinden sich dabei in einem Zustand der
Zusammenfügung, der ihre ursprüngliche konstruktive Selbständigkeit
noch deutlich erkennen läßt1). Äußerlich mag man sich das Gebäude etwa
als eines jener Kreuzgiebelhäuser vorstellen, wie sie auf dem Bilde der
„Bauernkirmes“ von P. Brueghel erscheinen. Das von links vorn herein-
flutende Licht fällt wohl durch das geöffnete große Scheunentor des Hau-
bergs ein. Wie gesagt, ist es die Dreschtenne, auf der in diesem Friesenhause
wie auch im niedersächsischen Hausgebiet die Hochzeitsfeier sich abspielt.
Hier ragt der Segen der Erde sinnfällig in das menschliche Leben herein.
Die vermeintliche hintere Längswand des Raumes zwischen den Haupt -
Ständern wird nämlich von den tausendfältig übereinandergeschichteten
Halmen der goldgelben Feldfrucht gebildet, deren Stoppelenden wand-
gleich ausgerichtet in der griesartigen Körnung der Fläche angedeutet sind.
Entlang den Ständerbalken sieht man einzelne Halmenden etwas sperrig
vorstehen, und auch eine widerborstige Ähre hat sich mit eingeschlichen.
Im ersten Fach links ist die Höhe des dicht eingepreßten „Taß“ eine etwas
geringere. Über dem schwach sich wölbenden Haufen gewahrt man hier
zwei von den Hauptständern nach hinten ziehende Querbalken. An den
linken ist eine aus dem schmalen Quergang emporragende Leiter gelehnt,
der eine rötlich schimmernde Matte oder Decke zum Auflager gegen das
Verrutschen (?) dient. An einem Pflock am ersten Hauptständer sieht man
Kummet und Zugstrick, und eine offene Tonne nächst dem Gebälk der
Brandmauer dient einer schwarzen Saatkrähe und einer Dohle oder Nebel-
krähe zum Unterschlupf. Es ist also die Zeit des glücklich eingebrachten
Fruchtsegens, in die die Hochzeit zu verlegen ist. Er ist dem Hochzeits-
brauch zudem durch das Sinnbild der gekreuzten Fruchtgarben verbunden,
die man wie ein Heilszeichen am Kopfende einer in den Taß eingesteckten
doppelzinkigen Harke über den Personen rechts an der Hochzeitstafel auf-
scheinen sieht2). Der grüne, etwas ins Bläuliche schillernde Wandbehang
im Mittelgründe vor dem Vierkant, ein viereckiges großes Tuch, dessen
x) Über das Friesenhaus und die Zusammenfiigung von Hauberg und Wohnbau
vgl. H. Gallee, Das niederländische Bauernhaus und seine Bewohner (Utrecht 1909),
Text und Fig. 6, S. 22, Fig. 9, S. 24, ferner Taf. I—III und Karte der Verbreitung.
2) Garben als hochzeitlichem Schmuck der Stube begegnen wir vornehmlich auch
auf slawischem Volksgebiet seit alter Zeit, s. J. Piprek; Slawische Hochzeitsbräuche
(Erg.-Bd. 10 der Zeitschr. f. österr. Volksk. 1911, S. 166). Bei den Kleinrussen wird
das Paar zur Verlobung mit einem Bündel Roggen, das man in den Heiligenwinkel
gestellt hatte, gesegnet (a. a. O. S. 25).
12
Haberlandt:
Spannseil mit dem einen Ende am Kopfteil einer im Taß steckenden
Fudergabel befestigt ist, stellt wohl eine Art Brauthimmel vor1), und über
der Braut schwebt mitten in ihm ein Kronreif — aus Strohwülsten ? —
abwechselnd rot und weiß der Senkrechten nach gestreift, in dem unten
ein zweiter kleiner Reifen hängt. Er entspricht den nordischen Halm- und
Hänge krönen der Hochzeitsfeier wie der Julzeit, und wir müssen, um die
volkstümliche Bedeutsamkeit dieser Sinnbilder voll zu erfassen, uns daran
erinnern, daß man die berühmten Votivkronen westgotischer Könige gewiß
mit Recht als künstlerisch geadeltes und zu höchster Standesweihe er-
hobenes Volksgut aus diesem Lebenskreis zu erklären unternommen hat2),
so wie Wappen und Name des Königsstammes der Wasa auf das Aufrichten
der altvolkstümlichen Julgarbe bei der Weihnachtsfeier in Schweden sich
zurückführen lassen3). Gesenkten Blickes, mit verschränkten Händen,
prangt die Braut auf solchem Ehrenplatz, ohne an der Mahlzeit teilzunehmen.
Sie trägt ein schwarzes Staatskleid mit hellem, grünlich-blauem Halseinsatz
und kirschroter Borte vorne an der Brust. Das braune Haar hängt gelöst
beiderseits auf die Schultern, den Scheitel schmückt ein ganz zarter roter
Reif mit golden schimmernden Sternrosetten, über denen anscheinend frische
grüne Blümchen auf ragen, alles zusamt Weihe genug für die frische Bauern-
dirne, aus deren etwas derben Zügen bei all dem ein verhaltenes Hoch-
gefühl in Erwartung jenes schon nahen Augenblicks spricht, mit dem sie in den
Mittelpunkt auch der Speisegemeinschaft rings um sie gestellt sein wird4).
Der Braut zunächst sitzt nach rechts hin die „Ehrmutter“, ihre Patin,
die die Schwaben die Gelbfrau nennen5). Hier auf dem Bilde ist ihr Kleid
zimmtrot mit breitem, schwarzem Brustbesatz. Eine auffallende Familien-
ähnlichkeit besteht zwischen ihr und dem nebensitzenden Ehrvater. Wenn
wir in dem mit schwarzer Kappe und vornehmer pelzverbrämter Schaube
über grünem Untergewand angetanen Alten den Hausvater oder auch
Altbauer sehen möchten, so legt solche Würde vor allem der hochlehnige
1) Brauthimmel dieser Art sind zumeist aus den Niederlanden und Schweden
bezeugt, s. I. Reinsberg-Düringsfeld, Hochzeitsbuch S. 5. 8; K. Heckscher,
Volkskunde des germanischen Kulturkreises S. 166. 417. — P. Brueghel selbst hat
auf einer größeren Zeichnung (jetzt im Britischen Museum) den Prangtag einer
Braut auf dem Dorfe festgehalten. Auf kleiner Anhöhe unter einem stattlichen Baum
befindet sich ihr Ehrenplatz, der durch einen aufgehängten Teppich und Kränze über
dem Kopf gekennzeichnet ist. Bei dem Tisch vor ihr überreichen Verwandte und
Freunde ihre Gaben. Im Vordergrund wird getanzt. —Vgl. A. Romdahl im Jahrbuch
der Kunsthistorischen Sammlungen des Allerhöchsten Kaiserhauses 25 (Wien 1905)
S. 138. Zum Brauch selbst auch Reinsberg-Düringsfeld S. 230.
2) Zu den Hängekronen vgl. Führer durch die Sammlungen des Nordiska Museet
(Stockholm 1925) S. 92; J. Hoops Reallexikon der Germanischen Altertumskunde
(Straßburg 1919), S. 498, s. v. Weihekronen mit Taf. 22.
3) Vgl. Hilding Celander, Vasen och den sista kärven in der Festschrift für
Otto Andersson (Budkavlen 1929) S. 82ff.
4) Schwarz ist die Hochzeitskleidung wie vielfach in deutschen Landen, so im
besonderen auch in Friesland selbst (Reinsberg-Düringsfeld S. 228); ebd. der
Blumenkranz als Hochzeitsschmuck.
5) Über die bedeutsame Rolle der Patin als Ehrmutter vgl. E. H. Meyer,
Badisches Volksleben im 19. Jahrhundert (Straßburg 1900) S. 261.
Volkskundliches zur „Bauernhochzeit“.
13
Hausvaterstuhl nahe, auf dem er sitzt und der wohl mit gewisser Bedeutung
vor eine der ragenden Hochsäulen des Vierkantes gerückt erscheint1).
Er hat einen Krug zu feierlichem Zutrunk vor sich stehen und scheint mit
bedachtsam einladender Handbewegung gegen den Mann hinzublicken, der
mit erhobenem Krug vorn an der Ecke der Tafel sitzt und dessen Persönlich-
keit uns noch später beschäftigen wird. Zur Linken des Ehrvaters sehen
wir den Geistlichen im Kleide eines niederen Ordens im Gespräch mit einem
Manne in ritterlicher Kleidung, nach einer älteren Bildbeschreibung der
Dorfrichter, dem der Künstler vielleicht seine eigenen Züge geliehen hat.
Er sitzt — vielleicht als späterer Ankömmling — auf einer umgestülpten
Tonne und hat sein dem Herkommen gemäß mitgebrachtes Besteck vor
sich auf dem Tische liegen2). Zur Rechten der Braut reicht die erste Braut-
jungfer, deren Gesicht uns durch den Burschen im Vordergrund verdeckt
wird, der zweiten auf der Hochbank sitzenden einen kupfernen (?) Krug
zum Trünke. Beide sind durch ihr rückwärts hochgebundenes Kopftuch
von den zu Tische sitzenden verheirateten Frauen unterschieden, die dieses
Tuch auf den Rücken herabhängend tragen. Wer die übrigen auf der wohl
aus der Wohnküche herbeigeholten Hochbank sitzenden Hausgenossen
oder Ehrengäste sind, darüber vermögen wir nun freilich kaum Gewisseres
zu sagen. Man mag die Brautjungfer der Ehrmutter, den breitgesichtigen
Mann neben ihr, der mit mitgebrachtem hölzernem Löffel soeben seinen
Napf geleert hat, hinwiederum der Braut im Gesichtstypus ähnlich finden
und schließlich eine gewisse Familienähnlichkeit auch wieder zwischen
dem nächstsitzenden älteren Mann und dem Ehrvater feststellen. Sicher-
heit ist darüber kaum zu gewinnen, ebensowenig wie über die Frau, die
auf dem nächsten Platz schon an der Ecke der Bank sitzend, unbekümmert
aus ihrem Napf löffelt, nächst ihr über den Mann, der gerade seinen Krug
leert, und die andern links von den Spielleuten sichtbar werdenden Tafel-
genossen. Insgesamt mag man deren rund um den Tisch, dessen ansehn-
liche Platte von einem längsliegenden Tischtuch an der Schmalseite gerade
noch überdeckt wird, etwa zwanzig zählen, und es mag dies, wie schon
A. Romdahl hervorhob, Bezug auf die Verordnungen Karls V. haben, die
nur diese Höchstzahl in Einschränkung der allzu volkreichen Hochzeits-
gastereien zuließen3). Im Hintergrund aber drängt sich durch den Ein-
gangsraum das ärmere Volk herein; ein Korb mit Tellern und Krügen wird
herangebracht, und ein ganz rot gewandeter Bäckerknecht teilt, unter-
stützt von einem zweiten ähnlich gekleideten Mann, aus seinem weißleinenen
Doppelsack Gebäck unter die Menge aus. An der vorderen Langseite der
Tafel spielen zwei Sackpfeifer auf. Einer, ein wehrhafter Bursche, bläst
drauflos, der zweite, stoppelbärtig und zugleich Almosensammler, der
!) Über Hausvaterstuhl, Hochsäule und Hoch(Herd-)bank vgl. K. Rhamm,
Urzeitliche Bauernhöfe im Germanisch-slawischen Waldgebiet (Braunschweig 1908)
S. 85, 97 ff. (bes. 99); zum Hausgrundriß S. 243 f. (Fig. 49).
2) Zum Mitbringen des Bestecks und insbesondere auch hölzerner Löffel vgl.
Heckscher S. 417.
3) a. a. O. S. 138.
14
Haberlandt:
kleine Münzen rundum an der Hutkrämpe baumeln hat, blickt neugierig
nach vorn. Zwei malerisch gekleidete Burschen bringen hier auf einem
Tragbrett, das man aus einer Brettertür mit zwei Tragstangen zurecht-
gemacht hat, den Hochzeitsbrei heran, der gelblich in den Näpfen schimmert;
nur zwei von ihnen enthalten ganz weißen Brei. Wir werden wohl nicht
fehlgehen, wenn wir sie für Braut und Bräutigam bestimmt halten, um
nach uraltem Brauch, der diesem Gang in Westdeutschland als „Schäppel-
hirsch“ oder Morgensuppe vielerorten noch die Geltung einer besonderen
Mahlzeit bewahrt hat, ihre Speisegemeinschaft zu begründen1). Wo bleibt
nun der Bräutigam ? Eine Frage, die auch schon die Kunsthistoriker —
wenn auch nicht sehr tiefgehend — beschäftigt hat. Nicht ohne ein ge-
wisses Maß von Unsicherheit entscheiden wir uns dahin, in dem vorderen
Aufwärter den Bräutigam zu sehen. Was ihn von den übrigen jungen
Männern auszeichnet, ist der grüne, rückwärts aufgekrämpte Hut, auf dem
er einen hölzernen Löffel mit runder Laffe und kurzem Stil aufgesteckt
trägt. Ob dies in den Niederlanden als Zeichen des Ehestandes gegolten
hat, darüber fehlen uns die Angaben. Immerhin sei darauf hingewiesen,
daß auf dem Kirmesbild Brueghels der Mann, der seine Frau zum Tanze
führt, gleichfalls einen Löffel — jedoch aus Zinn — auf der Kappe trägt.
Zudem ist vielerorts der Brauch erhalten, daß der Hochzeitsbrei von den
Brautleuten gemeinsam mit einem hölzernen Löffel gegessen werden muß.
Schließlich scheinen schön geschnitzte Löffel als Hochzeitsgabe üblich
gewesen zu sein2). Auffällig ist, daß der Bräutigam keine feierlichere Ge-
wandung zeigt als seine malerische rote Burschenjoppe, doch mag er beim
Kirchgang darüber einen dunklen Schoßrock ebenso wie der Schenk zur
Linken getragen haben, den er als Aufwärter dann abgelegt hat. Über die
rechte Schulter trägt er wie eine Schärpe ein grünes, seidig schimmerndes
Band, das dem geknoteten Gürtelband als Treuegeschenk entsprechen
mag, das als True-Loves-Knot (volksetymologisch so gedeutet aus dem
dänischen Ausdruck trulofan — vermählen) in der älteren englischen
Literatur eine ansehnliche Rolle spielt3). Unter der Joppe sieht blüh-
weiß das Hemd hervor, vielleicht das Geschenk der Braut zum Hochzeits-
1) E. H. Meyer S. 272ff., 286f.
2) Ausführliches über den Löffel im Hochzeitsbrauch in meinem demnächst er-
scheinenden Artikel „Löffel“ im Handwörterbuch des Deutschen Aberglaubens. Ein
reich gezierter Hochzeitslöffel aus Buchsbaum „Anno 1674“ in der Sammlung S. Wolf
in Eisenstadt zeigt am Griffende die Büste eines behelmten Mannes, darunter ein sich
umarmendes Liebespaar. Ein lose um den Stiel gedrechselter Ring zeigt die Auf-
schrift: „Das Blut Jesukrist Gottes Sohn macht uns rein von al sün“ (Sünde). Auf
der Vorderseite der Laffe sägen Putten ein Herz mitten durch. Dazu die Sprüche:
„Das Ent mundi kun es nicht ausgründen, was ich Dich von Herzen libhabe. — Mein
herz in mir das Deil ich Mit Dir Zu Brichs Dus an mir so reches Got an dir. — Du
mein verguldnt Timian auf Dir bleip mir mein Herz bestan hundert (Jahr?)“. Auf
der Rückseite der Laffe männliches Bildnis und Spruch: „Als was mein Dun und
Anfang ist, das gesche in Nam Herjesuchrist“. — Nach der handwerksmäßigen Eleganz
der Schnitzerei zu schließen, stammt das Stück aus einer kunstgewerblich von Frank-
reich beeinflußten protestantischen Gegend des westlichen Deutschland.
3) Vgl.John Brand, Observations on populär antiquities... (London 1813) S. 2, 39ff.
Volkskundliches zur „Bauernhochzeit“.
15
tage1). In dem zweiten Auf Wärter hätten wir dann den Brautführer zu sehen,
wahrhaft marschallmäßig gekleidet in einen schön himmelblauen Rock. Nur
der weiße Schurz paßt nicht so ganz zu seiner Rolle, vielmehr wird ein solcher
mindestens auf deutschem Volksgebiet vielerorts ausdrücklich von dem
die Gäste bedienenden Bräutigam namhaft gemacht. Doch ist diese Auf-
wärterrolle im Laufe der Zeiten manchem Wandel unterlegen; die Braut
etwa wird ausdrücklich auch vom Brautführer bedient2). Auf seiner grell-
roten Burschenmütze trägt dieser am rechten Umschlag ein Bündelchen
weißer Bandlitzen angebunden, „faveurs“, mit denen auch die Sackpfeifer
ihre langen Pfeifen geschmückt haben. Es sind Schmucklitzen von der
Art, wie sie paarweise beim Bräutigam wie bei den Sackpfeifern als Zierde
der Hose unter dem Hemd hervorlugen. Auf dem Kirmesbilde sind sie bei
einem Tänzer im Hintergründe in dieser Anbringung als Behang am Hosen-
säum zur Gänze sichtbar; zudem erscheinen sie bei ihm auch als Nestel am
Wamms. Als Andenken vertreten sie wohl die zerschlissenen Stücke des
Brautstrumpfbandes, in die sich im selben westeuropäischen Kulturumkreis
gleichfalls Brautführer und Spielleute teilten3). Vielleicht ist es etwas
gewagt, von einer gewissen Familienähnlichkeit des Brautführers mit der
Braut zu sprechen, als ob es der Bruder wäre. Den Anschein wollen wir
vermerken, nicht mehr, ebenso wie den wohl beabsichtigten Zug, daß durch
ihn das Gesicht der Brautjungfer neben der Braut zur Gänze verdeckt wird.
Vorn an der Tafel hebt ein junger, frischer Bursche mit roter Mütze und
grauer Jacke die Näpfe vom Tragbrett und reicht sie weiter. Die Plätze
neben ihm auf der Bank, an der Schmalseite der Tafel, sind leer. Er mag
der jüngere der Ehrgesellen der Braut sein, dem keine andere als diese
Schafferrolle zugefallen ist, wogegen seine Nachbarn zur Rechten —
Bräutigam (?) oder Schenk und Brautführer — sich noch nicht auf ihre
Plätze niedergelassen haben. Den Mann mit schwarzem Schoßrock und
hellgrünem Hut, der nun links übereck auf einem Dreifußschemel sitzt,
kennzeichnen seine härteren Züge als bedeutend älter. Er blickt, den Krug
m der halb erhobenen Rechten, mit so lebhaftem Gesichtsausdruck nach
den beiden aufwartenden Burschen hin, daß ihm wohl eine besondere
Anteilnahme an dem Tun der beiden zugebilligt werden muß. Seiner
Kleidung nach schon vorgehoben, ist er vielleicht Werber, Hochzeitslader
und damit auch Sprecher des Bräutigams, der einen zweiten Helfer auch
noch im Schenk zur Linken hat, dessen sympathischer Gesiehtsausdruck
an den des jungen Ehrgesellen erinnert. Er trägt zur schwarzen Kappe
noch den dunklen Kirchgangsrock über dem roten Burschenwamms, von dem
nur Halssaum und Ärmelrand hervorlugt4). Einem schalkhaften, aber
x) Hanns Bachtold, Die Gebräuche bei Verlobung und Hochzeit (Schriften
der Schweizerischen Gesellschaft für Volkskunde 11, Straßburg 1914) S. 239ff.
2) E. H. Meier S. 242, 308; Reinsberg-Düringsfeld S. 152. Im nördlichen
Niederösterreich spielt der Bräutigam vielerorts noch den Aufwärter.
3) John Brand S. 40ff. Anm. c., 57 Anm.c; Louise Hagberg, Brudstrumpe-
band, Fataburen (1921) S. 177 ff.
4) Die Aufteilung der Rollen der unterschiedlichen Beistände wechselt örtlich
und wohl nicht zuletzt nach Umfang der Hochzeit und Eignung der Persönlichkeiten
16
Haberlandt: Volkskundliches zur „Bauernhochzeit“.
sicherlich nicht unwesentlichen Zug in der Ausstaffierung des kleinen
Leckermauls im Vordergrund wollen wir schließlich noch gebührende
Beachtung sichern. Die Kleine ist angelegentlich mit dem Auslecken ihres
Schüsselchens beschäftigt, und wie jedermann an der Tafel nach fest-
stehendem Bauernbrauch seine Kopfbedeckung auf hat, hat auch sie sich
eine übergroße rote Burschenmütze mit einer keck aufflimmernden Pfauen-
feder aufgestülpt. Woher hat sie solchen Putz erhascht ? Der Gedanke liegt
nahe, daß es die abgelegte Burschenmütze des Bräutigams sei, die solcher-
maßen zum Kinderspiel geworden ist, nachdem er damit bei Tanz und
Werbung als flotter Bursche geprunkt hat. Auf dem Kirmesbilde etwa trägt
der hemdärmelige Platzknecht ( ?), der auf den Dudelsackpfeifer einspricht,
auf seiner Mütze gleichfalls eine Pfauenfeder1).
Es ist mit dieser vielleicht nicht immer ganz eindeutig gelungenen
Erfassung der Einzelzüge, die das Bild beleben, jedenfalls soviel dargetan,
daß wir nur durch „Abstimmen“ der ganzen Bildkomposition auf den
lebendigen Volksbrauch2) uns ein Urteil über die Qualität des Kunstwerkes
bilden können. In diesem Sinne bedeutet auch die Zusammenfassung der
Hauptpersonen des Festes rechts im Blickfelde wohl mehr als eine Grup-
pierung nach malerisch-ästhetischen Gesichtspunkten. Gerade unter den
über Ehrvater und Priester gekreuzten Fruchtgarben strebt der Bräuti-
gam der Brautseite zu, deren Weihe zusamt dem stilvollen Gepränge der
Braut in wirkungsvollem Gegensatz zur lebendig bewegten Bemühung der
Männer im Vordergründe steht, die sich aber gleichwohl alle zusamt in
malerischer Einheit um die Braut zusammenordnen. Daran wächst die
Darstellung ins Gleichnishafte, wie es zu gestalten nur dem Genius des
Künstlers gegeben ist; unserer Betrachtung ist damit ein Ziel gesetzt3).
Den Weg zu den Quelltiefen des Volkstums aber muß jeder beschreiten,
der die Bedeutung des Gegenstandes erfassen will, die den Künstler da-
bei innerlich bewegt hat.
ziemlich stark. Die Heranziehung männlicher Beistände auch für die Braut liegt wohl
in der alten Sippengeltung begründet. In den Niederlanden war die Aufteilung der
Ehrenstellen bei der Hochzeit unter die Jungmannschaft noch im 18. Jahrhundert
eine bedeutungsvolle Sache, für die besondere Vorschriften auch im Druck erschienen.
Eine ähnliche Rollenverteilung wie auf unserm Bild scheint früher auch in Jütland
bestanden zu haben, wo der Bräutigam seine Bräutigamsführer, die Braut ihre Spiel-
gesellen hat und außerdem noch ein oder mehrere Schaffer aufwarten (Reinsberg-
Düringsfeld S. 3 und 228).
*) Bei den Morlaken in Dalmatien hat der Werber auf seiner Mütze eine Pfauen-
feder, s. Piprek S. 117.
2) Die kulturgeographisch und inhaltlich bedeutsamste Entsprechung zu unserm
Bilde finden wir in der Schilderung, die P. Sartori,WestfälischeVolksk.2 (Leipzig 1929)
S. 94f. von den Hauptzügen der westfälischen Bauernhochzeit gibt.
3) Eine Würdigung der volkskundlichen Bedeutung des Werkes vonP.Brueghel
gibt V. Hallut in Folklore Brabançon 4 (Brüssel 1924), 31 ff.— Franz Weinitz und
Joh. Boite haben, ZfVk. 25 (1915) S. 292ff., die „Niederländischen Sprichwörter“ im
Kaiser-Friedrich-Museum zu Berlin erläutert.—W. Fraenger: Der Bauernbruegel
und das deutsche Sprichwort (Zürich 1925) hat diese Wegrichtung weiter verfolgt,
um tiefere Erkenntnis für die Geistigkeit und das Bildschaffen des Künstlers selbst
anzubahnen.
„Bis willekomm“ u. ähnliche Eingangsformeln in Zauber- u. Segensprüchen. 17
„Bis willekomm“ und ähnliche Eingangsformeln
in Zauber- und Segensprüchen.
Von Adolf Jacoby.
Es gibt eine größere Anzahl von Segenssprüchen, die mit den Worten:
„Bis willekomm usw.“ oder: „Grüß dich Gott usw.“ u. ä. beginnen. Dieser
Anfang der Sprüche mit dem überlieferten trauten Gruß unseres deutschen
Volkstums kehrt ganz formelhaft wieder und ist in dem Spruchmaterial
zu einem Typus geworden, dessen stilistische Eigenart zu untersuchen und
in ihrer Geschichte aufzuklären die Absicht der folgenden Zeilen ist. Die
Wahl des Themas hat die besondere Gelegenheit, der diese Seiten dienen,
mitbestimmt, denn aus der frommen Innigkeit des althergebrachten, ehr-
würdigen Wunsches soll zugleich dem Manne, dessen die deutsche Volks-
kunde heute gedenkt, deren dankbare Gesinnung entgegenklingen.
Wir lesen bei Nicolaus von Dünckelspühel (f 1433) die Formel1):
Bis got wilkum newer mon holder her,
Mach mir myns geltes mer.
Ebenso beginnt eine weitverbreitete, bereits vor 1700 bekannte Feuer-
besegnung2) :
Biss willkommen, du feuriger Gast,
Greif nicht weiter, als was du hast usw.,
die in einer anderen, besonders beachtenswerten Form lautet3):
Bis mir Gott willkommen,
Eeuer, du edler Gast! usw.
Um die Mitte des 17. Jahrhunderts überliefert R. Gwerb4) den Spruch:
Biss Gott Willkomm du H. Sonntag: Morn ist Montag: usw.
und Losch5) verzeichnet den anderen, den man, wenn ein Kind beschrieen
ist, gegen die Morgensonne gewandt, sprechen soll:
Sei mir Gott willkommen, Sonnenschein!
Wo reitest du hergeritten? usw.
\ F. Panzer, Beitrag zur deutschen Mythologie 2, 260; J. Grimm, Deutsche
Mythologie4 2, 587; L. Uhland, Alte hoch- und niederdeutsche Volkslieder 43, 122.
2) Hessische Blätter f. Volksk. 1, 16; A. Birlinger, Volksthümliches aus
Schwaben 1, 201; K. Bartsch, Sagen, Märchen und Gebräuche aus Mecklenburg 2,
357; Württemb. Vierteljahrsh. f. Landesgesch. 13 (1890), 178, Nr. 90; E. Fehrle,
Zauber und Segen (1926), S. 9; Das sechste und siebente Buch Mosis (Buchversand
Gutenberg, Dresden) S. 108; Handwörterbuch d. d. Aberglaubens 2, 1405. — Statt
des alten Imp. „bis“ (aus wis von wesen s. F. Kauffmann, Deutsche Grammatik
S. 124) steht öfters „bist“.
3) Württemb. Vjh. a. a. O. S. 217, Nr. 255.
4) Bericht von dem abergläubischen und verbottenen Leuth- und Vychbesägnen
(Zürich 1646) S. 62; vgl. O. Ebermann, Blut- und Wundsegen (1903) S. 137.
5) Württemb. Vjh. a. a. O. 186, Nr. 119 nach Albertus Magnus, Egyptische
Geheimnisse 2, 66; J. Scheible, Das Schaltjahr 2, 44; Das sechste und siebente Buch
Mosis S. 50. — „Sei — willkommen“ ist die moderne Form für „Bis — willkommen“,
wie z. B. in dem nachher angeführten Lutherlied die heutige Fassung lautet: „Sei
mir willkommen, edler Gast.“
Zeitschrift für Volkskunde II, 1—2.
2
18
Jacoby:
Um Leute zu bannen, sagt man1):
a) Seid mir Gott willkommen, ihr Brüder b) Willkommen, ihr Brüder! seid wohl-
gut ! gemut,
Wir haben alle getrunken Christi Blut Wir haben getrunken Jesu Christi
usw. Blut usw.
Auch in Dänemark begegnen ähnliche Formeln2):
a) Velkommen, du heilig Haerske Mand, b) Du vaere velkommen, du heilige
Heilig Syndefald förste Gang usw. tarste Mand, syv Fold heilige usw.
Nun stimmt die obengenannte Feuerbesegnung, zumal in ihrer zweiten
Gestalt, auffallend zu der 8. Strophe des Lutherschen Weihnachtsliedes:
,,Vom Himmel hoch“3):
Bis willekom, du Edler gast,
Den sunder nicht verschmehet hast usw.
Da Luthers Lied auch im Eingang den Anschluß an das Volkslied
beim Kranzsingen verrät4), so liegt es nahe, das gleiche für die 8. Strophe
zu vermuten; volkstümliche Verse wie die Besegnungen werden das
Muster gewesen sein5).
Nur eine Variante dieser Eingangsformel ist die mit der anderen
deutschen Grußform: „Grüß dich Gott“6). Sie ist noch häufiger als die
erste, altertümlichere in den Besegnungen. So heißt es etwa in einem
Spruch7):
Grüss dich Gott und schwinde, kaltes Gesücht,
Ich vertreibe dich mit Gott und dem jüngsten Gericht usw.
Oder auch, in Parallele zu dem Spruch bei Gwerb und dem folgenden8):
Grüss dich Gott, du heiliger Sonntag,
Ich seh dich dort herkommen reiten usw.
Weiter in einem Fiebersegen8):
Grüss dich Gott, vielheiliger Tag usw.
und ähnlich in einem Spruch gegen „den Hungrigen Särben“ (Siechtum)
der Kinder9):
Gott grüße dich, Heiliger freitag usw.
x) Das sechste und siebente Buch Mosis S. 152 (a); Württemb. Vjh. a. a. O.
S. 184, Nr. 110 (b).
2) F. Ohrt, Danmarks Trylleformler 1, 229, Nr. 435 a, b.
3) Ph. Wackernagel, Martin Luthers geistliche Lieder S. 63, vgl. 163 in
Leisentrits kath. Gesangbuch von 1567: „Biss wilkommen, du kindlein zart usw.“;
Ders., Das deutsche Kirchenlied 3, 23, Nr. 39. Die Formel ist ein oft benutzter
Anfang von Kirchenliedern, vgl. A. F. W. Fischer, Kirchenlieder-Lexikon 2, 251ff.,
insbesondere J. Schefflers „Bis willkommen liebster Freund“ (Weihnachtslied).
4) Wackernagel, Luthers Lieder S. 162ff.; Uhland a. a. O. 3, 157. 4, 93;
J. Sahr, Das deutsche Volkslied 1, 92; A. Götze, Das deutsche Volkslied S. 104f.
5) Zur Grußformel „got willekomm, bis wilkom usw.“ vgl. M. Lexer, Mittel -
hochd. Handwörterbuch 3, 891; W. Müller, Mittelhochd. Wörterbuch 1, 906f.;
W. Wackernagel, Altd. Handwörterbuch S. 386.
6) Lexer a. a. O. 1, 1052. 1099; Müller a. a. O. 1, 583.
7) Württemb. Vjh. a. a. O. S. 175, Nr. 76, vgl. 188, Nr. 131. Das siebenmal
versiegelte Buch 39 (in Das sechste und siebente Buch Mosis [Adonistischer Verlag,
Berlin]).
8) Uhland 3, 193.
9) H. Zahler, Die Krankheit im Volksglauben des Simmenthals (1898) S. 112.
„Bis willekomm“ u. ähnliche Eingangsformeln in Zauber- u. Segensprüchen. 19
Ferner1):
Gott grüße dich, lieber Sohn Eduart!
Gott grüsse dich, lieber Mann Etto (oder Otto)!
Gott grüsse dich, Sohn [und] heiliger Geist, tetragrammaton!
Variante zu einem oben gegebenen Spruch ist der folgende zum Stellen
der Feinde2):
Gott grüss euch, ihr Brüder!
Haltet an, ihr Dieb, Räuber und Mörder, Reiter und Soldaten, in der Demut,
Weil wir haben getrunken Jesu rosenfarbes Blut! usw.
Ein Lösespruch gleicher Art ist im Märchen „Jorinde und Joringel“
benutzt3):
Grüss dich Gott, Zachiel, wenn’s Möndel ins Körbel scheint, bind los, Zachiel, zu
guter Stund.
Als Bindespruch, der sich gleichfalls an den Mond wendet, dient dem
Mädchen der in mehrfacher Fassung überlieferte Segen, um den lauen
Geliebten zu fesseln bzw. als Liebesorakel4):
a) Grüss dich Gott, lieber Abendstern;
Ich seh dich heut und allezeit gern;
Scheint der Mond übers Eck
Meinem Herzallerliebsten aufs Bett:
Lass ihm nicht Rast, lass ihm nicht
Ruh,
Daß er zu mir kommen mu (muß).
b) Ei du mein lieber Abendstern,
Ich seh dich heut und allezeit gern;
Schein hin, schein her, schein über
neun Eck;
Schein über meins Herzliebsten sein
Bett,
Daß er nicht rastet, nicht ruht,
Bis er an mich denken thut.
c) Gott grüss dich, Abendstern,
Du scheinst so hell von fern,
Über Osten, über Westen,
Über alle Kreiennesten.
Ist einer zu mein Liebchen geboren,
Ist einer zu mein Liebchen erkoren,
Der komm, als er geht,
Als er steht,
In sein täglich Kleid.
Zum Neumond sprechen die Esten:
Sei gegrüsset, Mond, dass du alt werdest und ich jung bleibe6).
Ähnliche Sprüche richten sich an Pflanzen. So wird Botrychium
Lunaria, Mondraute, mit den Worten abgepflückt6):
x) Württemb. Vjh. S. 186, Nr. 121. Die Namen werden wohl entstellte hebrä-
ische Gottesnamen sein.
2) Württemb. Vjh. S. 180, Nr. 95, vgl. 211, Nr. 237; Scheible, Das Kloster
3, 504. Das sechste und siebente Buch Mosis (Adon. Verlag), Romanusbüchlein
S. 17. Eine andere Form: „Glück zu, ihr Brüder, geht sanft und wohlgemut! usw.“
Württemb. Vjh. S. 190, Nr. 138; Scheible, a. a. O. 520.
3) Grimm, KHM. Nr. 69; Schweizer Volksk. 19, 74; Zachiel ist hier Mondengel.
4) A. Wuttke, Volksaberglaube4 S. 364, § 548 (a, b); K. Müllenhoff, Sagen,
Märchen und Lieder der Herzogthümer Schleswig, Holstein und Lauenburg S. 519,
Nr. 37.
5) Grimm, Mythologie4 2, 595.
6) M. Kronfeld, Zauberpflanzen und Amulette S. 23; vgl. dazu W. Wolf,
Der Mond im deutschen Volksglauben S. 32. Die Pflanze dient zur Erhöhung des
Milchertrags der Kühe. Ankerkraut wohl von Anke = Butter: F. Kluge, Etym.
Wörterbuch d. d. Sprache S. 18.
2*
20
Jacoby:
Grüss dich Gott, Ankerkraut,
Ich brock’ dich ab und trag dich z’ Haus,
Wirf bei mein Kühl fingerdick auf!
Um das Wachstum des Flachses
a) I grüss’ di Flochsch, dass d’ recht
wochscht
So lang wie n’ Weid’, so fein wie e
Seide,
So hell und so klar, wie der Magdalena
ihr Haar.
zu mehren, sagt man1):
b) Ich grüsse dich, Mei lieber Flachs,
Tu nimmer nix, Wie immer wachs,
Lang wie a Weid, Klar wie a Seid,
Der Mutter Gottes auf a Kleid.
Die Gicht wird mit den Sprüchen bekämpft2):
a) Gott grüss’ dich, edle Ficht’, b) Gott grüsse die grünen Tempel,
Ich bringe dir meine siebenundsieb- 77 derlei Gicht hat mich umfangen
zigerlei Gegicht usw. usw.
Endlich heißt es im Lied vom Mosesstab, der gegen Hexenwerk und
Teufelskunst wirkt3):
Gegrüsset seist du, Elsebaum,
Gegrüsset seist du, heiliger Stamm,
Gegrüsset seist du, weil unser Heiland gestorben ist daran!
Eine dritte Schicht der Segensformeln beginnt mit den modernsten
Grußformen: „Guten Tag, guten Morgen, guten Abend, gute Nacht“.
Sie sind zum Teil die gleichen wie die Sprüche der zweiten Gruppe. Dazu
gehört4):
Guten Morgen, ihr Brüder!
Gesundheit, ihr Brüder!
Vor allem aber sind zu nennen die Sprüche zur Übertragung von
Krankheiten auf Bäume. Als Beispiele mögen folgende dienen (die ver-
schiedenen Grüße wechseln im gleichen Spruch):
a) Guten Morgen, Frau Ficht,
Ich bring dir meine Gicht usw.5)
c) Goden Abend, du gode Olle,
Ik brenge di det Warme un det Kolle7).
b) Guter Morgen, lieber, schöner Tag,
Nimm mir die 77 Fieber ab usw.6)
d) Guten Morgen, Fliederstrauch, du viel
Gute,
Ich bringe dir Bier und Brot,
Du sollst mir helfen aus aller Noth
usw.8).
x) W. Boette, Religiöse Volkskunde S. 110 (a; aus Schlesien); Fehrle, Zauber
S. 9 (b; aus Böhmen, bei den Sudetendeutschen). Ähnliche Sprüche ohne den Gruß
bei Panzer a. a. O. 2, 549ff.
2) A. Witzschel, Sagen, Sitten und Gebräuche aus Thüringen S. 283, Nr. 82(a);
C. Seyfarth, Aberglaube und Zauberei in der Volksmedizin Sachsens S. 195 (b).
3) Württemb. Vjh. S. 221, Nr. 275. Der Elsebaum ist die Erle, vgl. Kluge,
Et. Wörterbuch S. 116. Es spielt hier die Kreuzsymbolik hinein, vgl. Ons Hemecht
(Luxemburg) 33 (1927) 157ff. 34 (1928) 158ff. zum Zauberstab.
4) Württemb. Vjh. S. 200, Nr. 196.
5) Das sechste und siebente BuchMosis (Buchversand Gutenberg) S. 44. Müllen-
hoff S. 513, Nr. 17; Witzschel S. 273, Nr. 75; Fehrle S. 72; Seyfarth S. 194, 196.
6) Das sechste und siebente Buch Mosis S. 52.
7) Das sechste und siebente Buch Mosis S. 61.
8) A. Kuhn, Märkische Sagen und Märchen S. 376, vgl. Wuttke S. 328,
§ 488; Fehrle S. 72.
/
„Bis willekomm“ u. ähnliche Eingangsformeln in Zauber- u. Segensprüchen. 21
e) Guten Tag, Eiche, du hast einen Sohn f ) Guten namt (Abend) ihr Ameisen usw.
Maksim, ich habe eine Tochter NN., bzw. Gute Nacht, ihr Ameisen usw.* 2).
die nicht schläft, nimm die Schlaf-
losigkeit usw.1).
Allen diesen Besegnungen ist eigentümlich der Beginn mit einer Gruß-
formel. Wir werden uns nun umsehen müssen, ob dieses Motiv sich auch sonst
und wann und wo findet. Man begegnet ihm inFrankreich im 17. Jahrhundert3 ) :
„Que de donner la male—nuit aux hommes ou aux femmes, en quelqu’une
des quatre manières suivantes. 2. Les autres se mettent à genoux devant une Etoile,
et cherchent celle de . . . qu’il faut saluer, la regardant fixement, et disent: Je te
salue mille fois ô Etoile plus resplendissante que la Lune. Je te conjure de trouver
Beelzebuth ... et lui dire qu’il m’envoye trois esprits, Alpha, Rello, Jalderichel, et
le Bossu du Mont Gibel . . . afin qu’ils aillent trouver N. fille de N . . . Et que pour
l’amour de moi, ils lui ôtent le jeu, et le ris de bouche, et fassent qu’elle ne puisse
ni aller, ni reposer, ni manger, ni boire, jusques à ce qu’elle soit venue accomplir la
volonté de moi N. fils de N. etc. 4. Les autres se tournent du côté d’Orient, et sur
les 4 heures et demie du soir regardent l’Etoile la plus claire qu’ils rencontrent . . .
et lui disent par . . . fois ... Je te salue étoile lumineuse etc. que tu aille bailler la
male—nuit à N. selon mon intention ... va petite, va petite, va petite.“
Unverkennbar sind in diesen Formeln die Vorbilder des antiken
Liebeszaubers der Zauberpapyri, denen sie offenbar nachgebildet sind.
Der Stern aber, der begrüßt werden soll, erinnert an die oben S. 19 ver-
zeichneten Liebessegen.
Dazu besitzen wir nun aber auch spätgriechische Parallelen. So lautet
ein Liebeszauber4):
rpdiyov eîç xf}v ûaxépqv irépirrriv xqç ZeXqvriç eîç xqv TraXdpqv aou Kai beîSov xrjç
YuvaiKÔç Kai oiKoXouGâ ae ottou GéXeiç (Characteres). Xaßßaxov qpépav ttoû GéXeiç Tpdqpeiv
fàç xapaKxripaç, xijv èoirépav ¿Keivqv xrjç TtapaaKeuijç, eîç xô irpûixov aaxpov <o> &v xûxq
dvaxeXXoûaqç xf|ç XeXf)vqç (îjYouv âv Xaxrç Kai îbrçç xô cpefYdpiv upiv xoû aaxpou), xal*
péxiaov aûxà XéfuJv oûxuüç’ xaîpe, cpéYYoç Kai peXixivov qpéYYOç' KaXq aou écnrépa' ôpKÎZuj
ae, Kaxà xoû KeXéuaavxôç ae éiri àvaxoXüuv àvaxéXXrçç Kai Kaxabûvrçç éiri buapûiv, omuç
KeXeûrçç xrçv ôb(eîva) i'va pe dYairqa^ Kai ëXGrç cmou Koipoûpai. cÎYie îtoGqxé, Syic àra-
"nrixé, ô KeXeûaç xrjv ëXaqpov Kai àYairâ xôv uiôv xr|ç, oüxujç KéXeuov xqv ôb(eîva) và ëXGq
eïç xrjv épr)v àYairqv.
In einem anderen Zauber heißt es5):
TTpoKaGapGeiç qpépaç p' oxà ëEuj eîç xô aaxpov Kai Xéf€' Kûpie ’Iqaoû Xpiaxè usw.
Kai uiaaov aaxpov péYa Xapirpocpavèç Kai éEôpKiaov ouxujç Xeyaiv xaîPe> irpüùxov aaxpov
xâiv àaxépmv • éSopiKÎZui ae eîç xô ôvopa xoû Kupiou oniuç pe beiSrçç irâaav àXf|Geiav, eîç
ei'xi XP^w Kai GèXuj. Kai Xéye xà ôvôpaxa xaûxa. laßaduG usw. ; und in einem dritten6) :
KaXqaTrépa aou (guten Abend), Ttpiûxov aaxpov Kai cpiûç çpuuxîaç xoû oùpavoû. — ivaxi
pe irpoaxaipexpç, KaXè àYoupi-r£i; — Trpoaxaipexiû aaç va pou eiiirr]ç ànà nôQev àvaxéX-
Xeiç usw.7)
!) V. J. Mansikka, Über russische Zauberformeln S. 42 (slawische Formel).
2) Seyfarth S. 190.
3) J. B. Thiers, Traité des superstitions (1. Ed. 1679, hier nach der 4. Ed.
Avignon 1777) 1, 137f. Über den Mont Gibel vgl. meinen Artikel Gibel im Hand-
wörterbuch d. d. Aberglaubens.
4) A. Delatte, Anecdota Atheniensia 1 (1927) 80, 6ff.
6) A. a. O. 611, 22ff.
•) A. a. O. 618, 5ff.
7) Zwei weitere Gebete in der Grußform an den Mond und an die Sonne
veröffentlichte aus einer Pariser griech. Hd. des 15. Jhdts. R. Reitzenstein,
Poimandres S. 303 Anm. 2.
22
Jacoby:
Auch diese Formeln kennzeichnet alle der Gruß an ein Gestirn:
Xaipe, der als eSopKicrgös „Beschwörung“ bezeichnet wird.
Näher zum Altertum führt uns eine Stelle bei dem Arzt Aetius von
Amida (6. Jahrhundert)1): emjjbiv xaipe OaXacrcra ’Apaßuuv, tpepouda Trrnudxuov
aKog, eüpripa xrjKoXiOov und ein magischer Pentameter2): xaipe Traxrip Kocrpou,
Xaipe xpipopcpe Oeoc;. Vor allem aber ist der Gruß häufig in den antiken
magischen Papyri. In dem bekannten Mithrasmysterium des großen
Pariser Zauberpapyrus werden die Gottheiten angeredet mit xaipe. So
heißt es von Helios3): ctcTTracrai auxöv xuj ixupivuj d<TTracrxiKtu‘ Kupie xaipe kxX.,
von den 7 Tychen4): xaipexe, cd l' Tuxai xou oupavou und von den 7 Pol-
herrschern5) : xaipexe, ol KvujbaKoqpuXaKeg kxX. Es wird das Pneuma6) be-
grüßt, die Horen7), der Agathodämon8), Helios neben Michael und
Sabaoth9), Aphrodite10) und Selene11). Für die Mondgöttin wird der Gruß
gesprochen12): xaipe, iepöv <pü>s, xapxapouxe, (puuxoTtXf|£, xaipe, iepa auTO eK
oköxous eiXrippevri kxX. Die Handlung selber wird xaipexicrpog genannt13).
Der Gruß: xaipe, iepöv cpujq leitet hinüber zu den liturgischen Frag-
menten der Mysterienreligionen. Bekannt ist der Spruch14): iöe, vupqpie,
Xaipe veov cpins, der sich nach Dieterich an Dionysos wendet und den
Clemens Alexandrinus15) aufnimmt: xaipe cpüus und an Jesus richtet.
Dazu kommt noch die übersehene Stelle bei Methodius von Olympos16):
Ecufig x0PaTÖ?, Xpicrxe, [xuYxaveic;,] xaipe cpüuc; avecmepov.
x) R. Heim, Incantamenta magica Graeca Latina (Jbb. f. klass. Philol., hrsg.
von A. Fleckeisen, 19. Suppl.-Bd., 1893) S. 506, Nr. 131. 548.
2) A. a. O. 548.
3) K. Preisendanz, Papyri Graecae magicae 1, 94 P. IV, 639f., vgl. 108 P. IV,
1048. 104 P. IV, 939. 6 P. I, 60; C. Wessely, Neue griechische Zauberpapyri (Denk-
schr. d. Wiener Akad. d. Wiss., Phil.-Hist. CI. 42 (1893), 37 P. Lond. 121, 514;
A. Dieterich, Abraxas S. 180, 8 (P. W.) 97; ders. Eine Mithrasliturgie S. 10, 30.
4) Preisendanz S. 94 P. IV, 666; Dieterich, Mithrasl. S. 12, 20.
5) Preisendanz S. 96 P. IV, 678; Dieterich S. 12, 31.
6) Ebd. S. 110 P. IV, 1115.
7) Ebd. S. 108 P. IV, 1050.
8) S. Eitrem, Papyri Osloenses 1 (1925) 12, 214.
9) C. Wessely, Neue griechische Zauberpapyri S. 41 P. Lond. 121, 646f.
10) Preisendanz S. 178 P. IV, 3224.
41) Ebd. S. 152 P. IV, 2561, S. 162 P. IV, 2849.
12) Ebd. S. 140 P. IV, 2242f.
13) Ebd. S. 108 P. IV, 1046.
14) Firmicus Maternus, de errore prof. relig. c. 19 rec. C. Halm (CSEL 2 [1867]),
S. 104, 28; A. Dieterich, Mithrasliturgie S. 122. 214; W. Bousset, Kyrios Christos
S. 165. 175. 273. Zu viov qpu»c vgl- Oracula Sibyll. 8, 457 ed. Geffcken S. 171:
ucmmois ft xpovot? x9ov’ dg^upaTO Kai ßpaxu«; ¿\0ubv |j 7rap0evou ¿k Mapia? \axövujv
dvereAe veov qpdx; kt\., ferner in den Benediktionen zum jüdischen Sch’ma
(W. Staerk, Altjüd.-liturg. Gebete S. 5: „Ein neues Licht (ör chadäsch) leuchtet
über Zion und eiligst werden wir würdig befunden seines Lichtes. Gepriesen seist
du, Jahwe, du Schöpfer der Lichter!“ (im Morgengebet) und Seneca, ad Marciam
25: „Parens tuus, Marcia, illic (am Himmel) nepotem suum, quamquam illic Omnibus
omne cognatum est, applicat sibi, nova luce gaudentem, et vicinorum siderum meatus
docet.“
1S) Protrepticus XI, 114, 1 rec. O. Stählin (1905) S. 80.
18) Methodius, Symp. 11 ed. N. Bonwetsch S. 133, 5.
„Bis willekomm“ u. ähnliche Eingangsformeln in Zauber- u. Segensprüchen. 23
Es scheint aber, daß dieser Gruß vor allem den Lichtgottheiten galt,
und in der Tat zeigen uns zahlreiche, durch viele Jahrhunderte sich hin-
durchziehende Zeugnisse, daß diese also angerufen wurden und zur Akkla-
mation die äußere Grußsymbolik hinzutrat. Schon Hiob 31, 26. 27 sagt
der Held des Gedichts: „Wenn ich das Licht (der Sonne) sah, wie es
leuchtete, und den Mond, wie er prächtig daherging, und mein Herz sich
insgeheim verlocken ließ und meine Hand sich zum Kuß an den Mund
legte usw.“1) und später schreibt Lucian2): Kai xi aoi xou<g "EXXqvas
öttou Kai ’Ivöoi, eireibav ew0ev avacrxdvxeg Trpoaeuxuuvxai xöv qXiov, oux
aiOTrep npei? xqv xeTa Kunavreg f)TÖupe0a evxeXq rparnv eivai xf)V euxnv kxX.
Anbetung und Gruß an die Sonne meldet auch Tacitus3): „undique clamor:
et orientem solem —ita in Syria mos est —tertiani salutavere“, wie denn
auch Spartian4) vom Kaiser berichtet: „sed in monte Cassio quum videndi
solis ortus gratia nocte ascendisset, imbre orto, fulmen decidens hostiam
et victimarium sacrificanti afflavit“. Die offenbar aus dem orientalischen
Gestirndienst in die astrologische Religion der ausgehenden Antike über-
gegangene Grußsitte war auch unter den Christen noch weit verbreitet.
So erzählt Leo der Große5) in einer Predigt, wie manche in Rom vor der
Petersbasilika, „converso corpore ad nascentem se solem reflectant, et cur-
vatis cervicibus, in honorem se splendidi orbis inclinent“6). Der Mönch
Schenute7), der Begründer der koptischen Kirche, wendete sich im 4. Jahr-
hundert gegen die in Ägypten herrschende Sitte, der Sonne „Gruß“ (d.i.
= x°äpe) und dem Mond „Siege“8) zuzurufen. Auch Eusebius von
Alexandrien9) bekämpfte diese Bräuche: TroXXoug T«p oiba xou$ TtpocFKu-
vouvxaq Kai eüxogevouc; etc; töv qXiov. vHbn Y“P avaxeiXavxos xou f]Xiou Trpoö-
euxovxat Kai Xefoucnv. ’EXerjcrov rnud^’ Kai ou pövov fiXtofvüuaxai Kai aipexiKoi
xoöxo uoioüaiv, aXXa Kai xPlö-xiavoi, Kai aqpevxe? xqv uinxiv xoig aipexucoic;
auvavaprfvovxai. Daß sie auch in Gallien weiterlebten, bezeugt uns Cae-
sarius von Arles (f 542) mit den Worten10): „Nullus dominos solem aut
x) Vgl. ZU dem Brauch Plinius n. h. 28, 2 (5), 25: „in adorando dextram ad
osculum referimus totumque corpus circumagimus, quod in laevum fecisse Galliae
religiosius credunt“ und Apuleius, Metam. 4, 28 (Nisard [1842], 313): „admoventes
oribus suis dexteram, primore digito in pollicem residente, ut ipsam prorsus deam
Venerem religiosis adorationibus venerabantur.“
2) De saltat. 17.
3) Hist. 3, 24.
4) Hadrian 13.
5) Migne, Patrol. Lat. 54, 218 (Weihnachtspredigt).
6) Vgl. dazu Preisendanz a. a. O. S. 6 P. I, 60: &vaxe\\ovTOq xou fiXiou
XcupexiZe Kaxaaeiujv Tfjv Ke<p[a\fiv aou Kai bi]ibKUJV ktX., weixn Hopfners Ergänzung
und Deutung richtig ist.
7) J. Leipoldt, Schenute von Atripe S. 176; A. Erman, Die ägyptische
Religion S. 237.
8) Vgl. im Indiculus superst. et pagan. Nr. 21: de lunae defectione, quod dicunt
Vince luna.
9) Migne, Patrol. Graec. 86, 1, 453 (Predigt über die Astronomen, aus dem
5. oder 6. Jahrh.).
10) Unter den Pseudo-Augustinischen Predigten in Augustini Opp. ed. Maur.
6, 267 f.
24
Lauffer :
lunam vocet, neque per eos juret“, und davon wird ein Nachklang sein,
was in Patricks Confessio1) steht: ,,sed omnes qui adorant eum (solem)
in poenam miseri devenient“. Noch viel später muß der Kardinal Nico-
laus von Cusa (f 1464) schelten2): „Pourquoi êtes-vous si fou que d’im-
plorer l’assistance du Soleil par le moyen des bénédictions et des enchan-
tements, et de prier la nouvelle lune de vous secourir, en jeûnant pour
cette fin le premier jour de la lune?“ und parallel dazu gehen die Mit-
teilungen des Magister Nicolaus von Jawor in seiner Schrift de supersti-
tionibus3): „sicut unam vetulam novi que credidit Solem esse deam
vocans eam sanctam dominam, et alloquendo eum solem benedixit per
eum sub certis verbis, sub osservancia quadam supersticiosa, que
dixit, se plus quam quadraginta annis credidisse, et multas infirmitates
curasse. Insuper hodie inveniuntur homines tam laici quam clerici, literati
quam illiterati, et quod plus dolendum est, valde magni, qui cum novi-
lunium primo viderint flexis genibus adorant, vel deposito capucio vel
pileo inclinato capite honorant alloquendo et suscipiendo immo eciam
plures ieiunant ipso die novilunii etc.“ Deutlich wird in diesen Zeugnissen
auf die Sprüche hingewiesen, wie sie oben gesammelt sind und auf äußere
Handlungen der Verehrung und des Grußes. Wenn man in der Bretagne
früher vor dem Neumond niederkniete .und betete und in den Cevennen
beim Ansehen des Mondes sich verneigte4), so entspricht das dem Abnehmen
des Hutes bei Sonnenaufgang und vor dem aufgehenden Mond in der
Oberpfalz5) bis in die Gegenwart.
Ein Rückblick über das vorgelegte Material zeigt, daß der Grußtypus
in den Besegnungen uralt ist und mit überraschender Kontinuität durch
zwei Jahrtausende und mehr sich verfolgen läßt. Den Formen des Grußes
in Wort und Handlung wird nach Volk und Zeitbrauch zwar Wandlung
zuteil, aber der Kern der Formeln bleibt durch allen Wechsel hindurch
der gleiche. Ursprünglich wohl an Licht- und Sterngötter gerichtet, dehnte
sich die Grußformel aus auf andere Sprüche, und so wurde der Typus
für allerlei Zwecke verallgemeinert.
1) Acta Sanct. Boll. März 2, 538 Conf. c. 24.
2) Thiers a. a. O. 1, 29 nach des Kardinals tom. 2 Exercit. lib. 2 c. 8 (aus einer
Predigt).
3) Grimm, Mythologie4 2, 587; Uhland a. a. O. 4, 123f. Meine ausführliche
Besprechung von F. Boll, Sternglaube und Sterndeutung (1918) in Monatschrift f.
Gottesdienst u. kirchl. Kunst 25 (1920), 39; dort noch anderes. Nicolaus v. J. gehört
ins 15. Jahrh.
4) Henne am Rhyn, Die deutsche Volkssage S. 37; Wolfs Zeitschr. f. deutsche
Myth. 2 (1855), 418.
fi) Grimm, Mythologie 2, 587; Wuttke S. 13, § 11; W. Wolf, Der Mond im
deutschen Volksglauben S. 39.
Jungfernkranz und Brautkrone.
25
Jungfer likranz und Brautkrone.
Von Otto Lauffer.
Unter allen äußeren Formen der hochzeitlichen Ausstattung ist im
Bereiche des deutschen Volkstums diejenige der Brautkrone die augen-
fälligste. Durch ihre besondere Form und Größe, durch ihre festliche
Ausstattung in Material und Farbe sowie durch ihre Bedeutung als Kopf-
putz der Braut zieht sie alle Blicke auf sich. Die Volkskunde hat sich
deshalb immer wieder mit ihr beschäftigt1). In allen landschaftlichen
Einzeldarstellungen ist ebenso von ihr die Rede wie in den trachtenkund-
lichen Untersuchungen. Eine überreiche Fülle einschlägiger älterer Schrift-
quellen hat Rud. Hildebrand im Grimmschen Wörterbuch unter den
Schlagworten „Kranz“ und „Krone“ zusammengestellt2).
Daß es sich bei der Brautkrone um nichts anderes als um das am
Hochzeitstage zum letzten Male getragene Virginitätszeichen, also um den
Jungfernkranz handelt, ist außer allem Zweifel. Nach dieser Richtung
könnten wir die sonst dringend erwünschte Sonderuntersuchung über
Entwicklung und formale Gestaltung der Brautkrone getrost ab warten,
wenn wir nicht jüngst von seiten der Nachbarwissenschaft zu einer erneuten
Klarstellung gezwungen wären.
Im Kreise der Rechtshistoriker hat O.Zallinger die Eheschließung
im Nibelungenlied und in der Gudrun untersucht und dadurch zu weiteren
Auseinandersetzungen den Anstoß gegeben, über die K. Frölich zusammen-
fassend berichtet hat3). Nun erzählt das Nibelungenlied V. 595f., wie
bei der Doppelhochzeit Günther-Brunhild, Siegfried-Kriemhild am Tage
nach dem Beilager der Gang zum Münster geschieht:
„Nach königlichen eren was in dar bereit
swaz si haben solden ir kröne und ouch ir kleit.“
Von den hierbei erwähnten Kronen hat Zallinger mit Recht gesagt,
es handle sich einfach um einen Teil des Königsornates, um den königlichen
Kopfschmuck neben den andern königlichen Kleinodien4). Eine völlige
Verwirrung aber hat Karl Aug. Eckhardt angerichtet5 6).
Eckhardt weiß, daß die Brautkrone das Zeichen der Jungfräulich-
keit ist. Dann aber nimmt er eine Äußerung des Eisenacher Chronisten
Johann Rothe, die im Zusammenhang mit den sonstigen vielfachen
Erwähnungen der „Krone“ erklärt werden müßte, für sich allein und er-
schließt daraus den kulturgeschichtlich unhaltbaren Begriff einer Frauen-
kröne. Auf Grund dieser Voraussetzungen erklärt er dann die Worte des
Nibelungenliedes so, daß er sagt: „Bei dem kirchlichen Akt wird die
x) Vgl. G. S. Urff, Braut- und Jungfernkronen. Westermanns Monatshefte,
64 Jg„ 128. Band, 2. Teil (1920), 518—524.
2) Grimm Wb. 5, 2043—2062 und 2355—2379.
3) Hess. Bl. f. Volksk. 27, 144—194, 285—287.
4) Festschr. zu Ehren Osw. Redlichs. Veröffentlichungen des Museum Ferdi-
nandeum in Innsbruck. Heft 8 (1928), 344.
6) Zs. d. Savigny-Stiftung. Germ. Abt. 47 (1927) S. 188—190.
26
Lauffer:
junge Frau mit dem äußeren Zeichen ihrer fraulichen Würde, mit der
Krone, geschmückt.“
Der Widerspruch, der hiergegen erhoben werden muß, läßt sich dahin
zusammenfassen, daß jene Worte des Nibelungenliedes wohl als Quelle
für die Geschichte der fürstlichen Frauenkrönung von Belang sind, daß
sie aber mit der Brautkrone nicht das geringste zu tun haben. Eine Frauen-
krone als „äußeres Zeichen der fraulichen Würde“ hat es niemals gegeben.
Der „Kranz“ oder die „Krone“ ist das dauernd festgehaltene symbolische
Zeichen der Virginität. Dieses wird von den Mädchen während der ganzen
Dauer der Jungfrauschaft getragen, einschließlich des Hochzeitstages.
Jungfernkranz und Brautkrone sind in ihrer Bedeutung, oft sogar in
Form und Ausstattung, ein und dasselbe. Aus der Berner Gegend hören
wir, daß „’s Chränzli“, „’s Birtli“ (Börtli, Borte),, „’s Zitterli“ von Tauf-
patinnen, Brautjungfern und Bräuten getragen wurde, solange diese ihre
Unbescholtenheit bewahrt hatten, ebenso aus dem Kanton Zürich1).
Eine Frau aus dem Wehntal berichtete, „wie sie anno 1840 in Ottelfingen
im Schäppeli an den Traualtar getreten sei, und wie prächtig eine Hochzeit
ausgesehen habe, wenn so ein „Gschärli“ (ein Trüpplein) Gespielinnen in
den goldglitzernden Schäppeli auf marschiert sei“2). Im Schwarzwald
tragen nach schriftlicher Mitteilung von E. Fehrle die Mädchen ihr
Schäpele von der Konfirmation ab. Es ist im allgemeinen gleich wie bei
der Braut, nur teilweise ist das Band und das Zopfband bei den Jung-
frauen rot, bei der Braut schwarz.
In der früheren Grafschaft Wertheim im Spessart ist die Braut durch
ihren Anzug überhaupt nicht von den Jungfern zu unterscheiden: sämtliche
junge Mädchen tragen genau ebenso wie die Braut die Krone. Auch im
Bückeburgischen tragen Braut und Brautjungfern die gleiche Krone. Bei
der Braut ist sie nur durch einen reichen Behang von Seidenbändern aus-
gezeichnet3).
Ob man, wie Karl Weinhold meinte, wirklich sagen kann, daß der
Jungfernkranz nicht ursprünglich germanisch sei, sondern römisch und
durch Vermittlung der Kirche üblich geworden, das bleibt wohl noch weiter
zu untersuchen4). Im Jahre 590 hören wir bei Gregor von Tours von
einem Mädchen, dem der Bräutigam die Krone in Gestalt „einer mit Gold
verzierten Kopf binde“ bezahlte. Jedenfalls ist es erst eine sekundäre Er-
scheinung, wenn später in manchen Gegenden die jungfräuliche Braut an
ihrem Hochzeitstage die „Muttergotteskrone“ von dem Marienbilde der
Ortskirche tragen durfte, und es kann keine Rede davon sein, daß die
Brautkrone erst nach dem Vorbilde der Marienkrone entstanden sei.
x) Julie Heierli, Die Volkstrachten von Bern usw. (1928) S. 75, 86,101, 119, 127,
166. — Dieselbe, Volkstr. v. Zürich usw. (1930) S. 50, 76, 101.
2) Heierli, Volkstr. v. Zürich S. 53.
3) Urff a. a. O. S. 521, 523. — Bei den obigen räumlich beschränkten Aus-
führungen sind absichtlich die zahlreichen von Rud. Hildebrand a. a. O. gegebenen
Nachweise nicht herangezogen.
4) K. Weinhold, Die deutschen Frauen in dem Mittelalter 1 (1897), 341;
danach Kück in ZfVk. 12, 473.
Jungfernkranz und Brautkrone.
27
Der „jungfräuliche Kranz“, wie Schiller durchaus zutreffend sagt,
stand nur den unbescholtenen Mädchen zu. Auch der Hochzeitstag machte
dabei keine Ausnahme. Ganz unzweideutig sagt ein mittelniederdeutscher
Beleg: „Darumme meghedeken, wen du vorlaren hest de juncvroweschop,
so sette dat parlenbindeken edder den krantz van dem houede, dede
bedudet dat loen der juncvroweschop, wente anders werstu legen (= lügen)
mit dem bindeken“1).
Im allgemeinen sind es wohl vor allem die Knabenschaften gewesen,
die über der strengen Durchführung der Kranzsitte gewacht haben2).
Es sind aber auch sogar ortspolizeiliche Vorschriften einschlägiger Art
vorgekommen. So wissen wir von dem Bat von Zürich, der im April 1700
beschloß, „es seien die Bräute, welche sich bei der Trauung des Schappels
fälschlich bedienen, nebst ihren Ehemännern mit Gefangenschaft und an
Geld gebührendermaßen abzustrafen“3).
Es bedeutete schon eine sehr starke und sicherlich recht junge Ab-
schwächung der meist ganz starren Regel, wenn dem Mädchen, das seine
Jungfräulichkeit bereits verschenkt hatte, gestattet wurde, einen nur vorne
geschlossenen, hinten aber offenen „halben Kranz“ zu tragen. Wir haben
Beispiele dieser Art z. B. aus dem nordhannöversehen Altenlande. Ebenso
wird aus Thüringen berichtet, daß in Brotterode ein Mädchen, das „den
Kranz verspielt“ hatte, nur das „kleine Heid“ tragen durfte4).
Die zunehmend reiche Ausstattung der Kronen hat sich dann auch
sittengeschichtlich ausgewirkt. Aus Zürich wird berichtet, daß die „Schäp-
peli“ zu reichen Prunkstücken aus Gold oder vergoldetem Silber und mit
Juwelen und Perlen besetzt, entwickelt wurden, und daß sie in solchem
Falle von einer Generation auf die andere gingen5). Diese Entwicklung
wurde besonders da stark gefördert, wo die Sitte des Jungfernkranzes
sich mehr und mehr zu der der hochzeitlichen Brautkrone einengte. Sicher
haben auch manche Genossenschaften, so wie sie Tauf- und Sargaus-
stattungen besaßen, auch Brautkronen zur Wiederverwendung im eigenen
Kreise angeschafft. So könnte die herrliche Perlenkrone im städtischen
Museum zu Halle an und für sich sehr wohl — wie immer wieder behauptet
wird — die Brautkrone der Halloren sein, wenn nicht die Fundumstände
dagegen sprächen und man demnach eher an ehemaligen Patrizier- oder
Adelsbesitz denken müßte6).
In anderen Fällen lag die Fürsorge in der Hand des Pfarrers. Unweit
Schleswig berichtet im Jahre 1764 ein Kircheninventar von Kosel auf
Schwansen: „Es hat der hiesige Pastor auch die Braut-Cronen, die alle
1) Schiller-Lübben, Mnd. Wb. 2 (1876), 559.
2) Vgl. E. Hoff mann-Kray er, Knabenschaften und Volksjustiz in der Schweiz,
Schweiz. Arch. f. Volksk. 8 (1904), 81—99, 161—178.
3) J. Heierli, Volkstrachten v. Zürich usw. S. 76.
4) L. Gerbing, Die Thüringer Trachten (1925) S. 61. — Vgl. dort über Mäd-
chenkronen S. 94, 101, 125.
5) Heierli, Volkstrachten von Zürich S. 51.
«) Abgebildet bei L. Gerbing, Thüringer Trachten S. 30.
28
Meier :
eingepfarrte Kirchspiels-Leute, außer dem adelichen District, von ihm zu
nehmen und zu bezahlen schuldig sind, und zwar können sie unter solchen
wählen, welche sie wollen. Der Preis ist, da deren 3 vorhanden: 2, 21/2 und
3 Rther, wofür ihnen ein vollständiger Brautschmuck an Cronen, Tüchern,
Bändern, Palatinen1), Hals- und Armbändern, Manchetten, Ringen etc.
gereichet, aufgesetzt und angezogen wird.“ Dieser bräutliche Schmuck
des Pastors wurde von den Bräuten aus dem Stande der Freien benutzt.
Die leibeigenen Bräute wurden von der Gutsherrschaft mit dem Braut-
staat ausgestattet2).
Auf die verschiedenen Formen der Kronen können wir hier nicht
näher eingehen. Wir erwähnen nur, daß die Krone mit einem anderen
Mädchenzeichen, den langen — losen oder geflochtenen — Haaren, so
eng zusammengehörte, daß es z. B. in der Züricher Gegend Jungfernkronen
mit reich geschmückten falschen Zöpfen gibt3). Lediglich formgeschicht-
lich ist nach der ganzen Sachlage auch eine Mitteilung zu verstehen, nach
der in Lüneburg am Schluß des 16. Jahrhunderts die Krone noch ein aus-
schließliches Vorrecht der Sülfmeistertöchter und der Töchter von den
Geschlechtern war. Kück hat daraus auf ein „allmähliches Herabsinken
der Krone vom Adel zum Bürger- und schließlich zum Bauernstände“
geschlossen4). Im formgeschichtlichen Sinne kann man dem zustimmen,
indem man sagt: von der allgemein üblichen Reifgestalt des Kranzes
trennte sich die hochgezogene Form der Krone als ein Vorrecht für Fürsten
und Adel, und von hier aus ist sie dann erst allmählich wieder in die tieferen
sozialen Schichten herabgesunken.
Wie immer aber auch die Form von Kranz oder Krone gestaltet sein
mochte, gebrauchsgeschichtlich verlor jedes Mädchen den Anspruch darauf
in der Stunde, in der sie zum Beilager schritt. Am Tage der Hochzeit
wurde ihr deshalb unter allerhand feststehenden Bräuchen die Krone ab-
genommen5). Wenn dies an manchen Stellen erst an einem der folgenden
Tage geschah, so kann das nur als eine Lockerung und nachträgliche
Verschiebung des ursprünglichen Brauches angesehen werden6). Als
äußeres Zeichen dafür, daß die Braut aus dem Kreise der Mädchen scheidet
und in den der Frauen eintritt, nehmen ihr die verheirateten Frauen die
Krone vom Haupte. Aus dem Saterlande, um nur dieses Beispiel zu nennen,
heißt es: „Um Mitternacht geht der Kronen- oder Kranzesraub an, wo
die verheirateten Weiber mit den Mädchen einen lustigen Streit führen.“
So erzählt J. G. Ho che in seinem volkskundlich höchst bemerkenswerten
Buche „Reise durch Osnabrück und Niedermünster in das Saterland“
Bremen 1800, S. 220.
x) = Halskragen, Halstuch, s. A. Schultz, Alltagsleben einer dtsch. Frau
(1890) S. 54.
2) Kock, Volks- u. Landeskunde von Schwansen (1912) S. 287/8.
3) Heierli, Volkstrachten von Zürich S. 52.
4) ZfVk. S. 12, 473.
5) P. Sartori, Sitte u. Brauch 1 (1910), lOOf. gibt reichliche Hinweise.
®) J. Heierli, Volkstrachten der Innerschweiz S. 143.
Der blaue Stein zu Köln.
29
An Stelle der symbolischen Kopftracht des Mädchens tritt nun diejenige
der Frau. Das Mädchen wurde „unter die Haube“ gebracht. „Um Mitter-
nacht — so heißt es aus Schwansen — mußte die Braut ihren Staat ab-
legen. Sie erhielt nun als Zeichen ihrer Hausfrauenwürde eine weiße
Haube“1).
Eine der eingehendsten Schilderungen, die wir von dem Kranzraub,
verbunden mit dem Kranzabtanzen, besitzen, hat Annette v. Droste -
Hülshoff in den „Bildern aus Westfalen“ gegeben, und zwar für das
Münsterland2). Der Begriff des Kampfes zwischen Mädchen und Frauen
um den Kampf preis der Braut, ein Trennungsbrauch erster Ordnung,
tritt auch hier deutlich heraus. Zum Schluß wird dabei „ die weinende
Braut, mit Anlegung der fraulichen Stirnbinde, symbolisch von ihrem
Mädchentume geschieden“. Es entspricht durchaus der Bedeutung des
Augenblicks, wenn das Kranzabtanzen, etwa im nordhannoverschen
Teufelsmoor, von den Anwesenden „in feierlicher Ruhe, ja mit Andacht“
angeschaut wird3).
Vom Tage der Hochzeit ab ist für die Frau eine Wiederverwendung
von Kranz und Krone sittengeschichtlich ausgeschlossen. Auch die Witwe
trägt, selbst am Tage der Wiederverheiratung, niemals wieder eine Krone4).
So bleibt es also dabei, und damit kehren wir zu unserem Ausgange
zurück: Kranz und Krone sind, zum mindesten soweit die deutsche volks-
tümliche Sitte in Betracht kommt, das eifersüchtig gehütete Zeichen des
unberührten Mädchens; dagegen hat es eine Frauenkrone niemals gegeben.
Der blaue Stein zu Köln5).
Von John Meier.
(Mit 2 Abbildungen.)
In dem gegen Ausgang des 12. Jahrhunderts auf gezeichneten, aber
wohl in seiner Zusammenstellung ein bis zwei Menschenalter älteren
Kölner Dienstmannenrecht6), das uns prächtige, plastische und
packende Einblicke in das Leben und die Rechtsübung des Mittelalters
x) Kock a. a. O. S. 293.
2) Sämtl. Werke hrsg. K. Schulte-Kemminghausen 3 (1925), 121/2.
3) J. H. Müller bei Aug. Freudenthal, Aus Niedersachsen (1893) S. 134.
4) Vgl. auch O. Lauf f er, Der volkstüml. Gebrauch der Totenkronen in Deutsch-
land, ZfVk. 26, 225ff.
°) Für diese Untersuchungen durfte ich mich der wertvollen Unterstützung des
besten Kenners der Kölner Topographie, Herrn Professor H. Keussens, erfreuen,
der nicht müde wurde, meine vielen Fragen in eingehendster Weise zu beantworten.
Seine Kölner Topographie wird bei den folgenden Ausführungen vorausgesetzt, ohne
daß im einzelnen darauf hingewiesen ist. Ebenso bin ich Herrn Dr. A. Güttsches
vom Kölner Stadtarchiv für freundliche Auskünfte verpflichtet. Auch A. Wrede
(Köln), Jos. Müller (Bonn) und E. vonKünssberg haben mir aus dem Material
ihrer Wörterbücher einschlägige Belege liebenswürdigerweise zur Verfügung gestellt.
6) Mitteilungen aus dem Stadtarchiv von Köln Bd. 1 Heft 2 (Köln 1883) S. lff.
30
Meier :
gewährt, werden im zwölften Artikel die Rechtsvorgänge geschildert,
die eintreten, wenn eines der Hofämter des Erzbischofs durch Ableben
des Inhabers erledigt ist. Es heißt dort:
[S. 9] Item quicumque ministerialis beati Petri filios habuerit, mortuo patre
senior filius beneficium patris recipiet et jus serviendi in curia archiepiscopi in suo
officio, ad quod natus est, obtinebit. Quicumque frater suus miles fuerit nec adeo
dives quin servire eum oporteat, ille cum dextrario suo, clippeo et lancea in curiam
archiepiscopi ante porticum beati Petri veniet et, si servo caruerit, ad lapidem des-
cendat, qui perforatus illic jacet; tunc habenas freni sui circa foramen lapidis deponet
et lanceam per medium in foramen defiget et clippeum appodiabit, et hec omnia
sine custode salva erunt et pacem ex parte archiepiscopi usque ad reditum suum
habebunt. Deinde ecclesiam beati Petri ad orandum intrabit et facta oratione eccle-
siam egrediens domum archiepiscopi [S. 10] ascendet ibique coram domino suo stans
se militem esse et ministerialem beati Petri profitebitur atque fidelitatem et ser-
vitium suum domino suo offeret, et si dominus eum in curiam et familiam suam tunc
receperit ac postmodum ille per integrum annum domino suo laudabiliter servierit,
dominus pro gratia et beneplacito suo eum inbeneficiare tenetur et ille ei in posterum
serviet. Si autem dominus eum neque curaverit nec in familiam suam eum receperit,
ille flexis genibus cum testimonio astantium horam pallii sui deosculabitur et ad
dextrarium suum regredietur et eo ascenso quocumque voluerit eat et cuicumque
voluerit serviat. . .
Wir erfahren daraus, daß bei dem Domhof vor dem Südportal des
Domes ein Stein lag, der an einer Stelle ein durchgehendes Loch (lapis
perforatus; deutsche Übers, durchhulder steyn) hatte, und daß an diesem
Stein der Ritter, der dem Erzbischof seinen Dienst erbieten wollte, Streit-
roß, Lanze und Schild zurückließ, bevor er sich zum erzbischöflichen Saal,
der dem Portal gegenüberlag, begab. Frensdorffist der Meinung (a. a. 0.
S. 35Anm.), daß der Stein ein gewöhnlicher Stein gewesen sei, der zur
Erleichterung des Ab- und Aufsteigens diente, wie solche sich vielfach
an Burgen und Häusern finden, und ist dazu wohl durch die Bemerkung
des Dienstrechtes si servo caruerit bestimmt worden.
Aber diese Auffassung Frensdorffs wird jeder, der sich in die
Anschauungswelt des Mittelalters hineingelebt hat, sofort als unrichtig
erkennen. Die liebevolle Eindringlichkeit und Breite, mit der die einzelnen
Vorgänge der Deponierung von Roß, Lanze und Schild berichtet werden,
zeigen deutlich, daß das so Erzählte zu der Gesamthandlung gehört und
daß insbesondere auch der Stein ein integrierender Bestandteil in ihr und
mit dem inneren Wesen des Vorgangs verbunden ist. Sinnhaft geht
das Diensterbieten des Ritters so vor sich, daß bei ihm diejenigen Mittel
in äußere Erscheinung treten, die es ihm ermöglichen, diesen Dienst tat-
sächlich zu leisten (Streitroß, Lanze, Schild; Schwert und Helm werden
als selbstverständlich vorausgesetzt). Da es aber als unschicklich galt,
in Streitwaffen vor den Fürsten zu treten, und das Mitnehmen des Rosses
bei dem Aufsuchen der Curia tatsächlich ausgeschlossen war, so läßt er
bei dem die Person und Herrschergewalt des Erzbischofs widerspiegelnden
Stein all dies zurück und sucht ihn nur mit Helm und Schwert versehen
auf. Dadurch, daß Roß, Lanze und Schild in nahe tatsächliche Berührung
mit dem Stein des Erzbischofs gebracht werden, wird die Szene auf der
Curia ergänzt; die ganze Handlung ist so in zwei Gleiches besagende Teile
Der blaue Stein zu Köln.
31
gespalten: der Stein ist aber nicht etwas Gleichgültiges, außerhalb der
Handlung Stehendes, sondern ein stummer, aber wichtiger Teilnehmer
an dem, was sich nachher weiter auf dem Bischofssaal abspielt. Er ver-
tritt, wie schon oben bemerkt, Person und Herrengewalt des Erzbischofs
und, wenn der Ritter das Pferd an den Stein fesselt, Lanze und Schild
in enge Verbindung mit ihm bringt, so tut er mit Pferd und Waffen sym-
bolisch das gleiche, was er auf dem Saale mit Worten tut: er bietet auf
diese Weise seine kriegerische Tüchtigkeit dem Erzbischof an. Deshalb
sind dort auch Pferd und Waffen am Stein vor Zugriff geschützt und stehen
im Frieden des Erzbischofs als ihm an vertrautes Gut1).
Wir können also nach dem Vorgesagten feststellen, daß gegen Mitte
des 12. Jahrhunderts auf dem Domhof am Südportal ein in naher Beziehung
mit der erzbischöflichen Herrengewalt verbundener, liegender Stein sich
befand. Daß dieser Stein tatsächlich lag und nicht etwa aufrecht stand,
ergibt sich, wenn man das iacet (deutsche Übers, leit) des Dienstrechtes
nicht gelten lassen will, aus einer einfachen Erwägung: nur bei einem Liegen
des Steines war es möglich, die Zügel, wie vorgeschrieben, um das Loch
des Steines zu legen und dann mit der durch das Loch gesteckten Lanze
das Pferd dort zu behaften.
Weitere Zeugnisse aus dem 14. und 15. Jahrhundert berichten von
einem Stein mit einem Loch, der an der gleichen Stelle gelegen habe und
der Hochgerichtsstein des Erzbischofs gewesen sei.
Die Ordnung des Schöffengerichts (ca. 1370—1375)2) sagt unter
Punkt 6:
Vort so solen sij (die Schöffen) entusschen paesschen ind s. Remeys dage, want
die dage danlangck synt, gaen zu gerichte an den hoff die vurs. vier dage in der wechen
ind solen da erschinen, ee die sonne kome in dat loch vanme steyne3), un-
verboit.
Und eine Ordnung von 14354) schreibt unter Punkt 33 vor:
Item vort als de frage umb is, so sali man myt im (dem Verurteilten) usser den
bencken an den steyn gain ind fragen in, off he eyt me gedain have, he see nu wall,
dat he sterven moysse, dat he dat sage.
Hieraus ersehen wir also, daß auf dem Domhof vor dem Südportal
ebenfalls ein Stein mit einem Loch in liegender Stellung sich befand.
Die Beobachtung des Vorgangs, wie die Sonne in das Loch vom Stein
scheint, war nur bei einem liegenden Stein gut möglich; bei einem stehenden
wäre auch sicher gesagt worden durch dat loch vanme steyne. Der Stein
x) Der das Dienstrecht formulierende Kleriker hat offenbar den tieferen Sinn
des brauchmäßigen Vorgangs nicht oder nicht mehr verstanden und deshalb seine
rationalistische Erklärung si servo caruerit beigefügt. Diese Beobachtung mag viel-
leicht nahe legen, den Brauch schon in eine ältere Zeit als die Mitte des 12. Jahr-
hunderts heraufzurücken.
2) Walter Stein, Akten zur Geschichte der Verfassung und Verwaltung der
Stadt Köln 1 (Bonn 1893) S. 556, lOff. (Publik, der Ges. f. Rhein. Geschichtskunde 10).
3) Die Zeitangaben sind verschieden: 11 Uhr (a. a. O. 564, 28 a. 1390); 10 Uhr
(a. a. O. 571, 15); nach Ostern 8 Uhr, nach St. Remeyestage 9 Uhr (a. a. O 757 20ff )
4) W. Stein, a. a. O. 764, 19ff.
32
Meier :
war der Gerichtsstein des erzbischöflichen Hochgerichts, das an dieser
Stelle gegenüber der erzbischöflichen Curia, dem früheren Königspalaste,
vor dem antiquum palatium und boven St. Johann Evangelista und dem
von hier nach dem Dom zu auf steigenden Teil des Domhügels lag. Man
legt diesem Stein eine besondere Wichtigkeit bei, führt nach dem Urteil
den Verbrecher zu ihm, stellt ihm den nahenden Tod vor und fordert ihn
zum Geständnis weiterer Frevel auf.
Endlich wird noch der blaue Stein als Gerichtsstein des Erzbischofs
erwähnt, und auch er befand sich vor dem Südportal des Domes auf der
gleichen Stelle wie der vorige Stein, und zwar auf der Immunität, wie schon
eine Notiz aus dem 13. Jahrhundert besagt1). Darüber, ob er gelegen
hat oder aufgerichtet gewesen ist, werden wir aus den Quellen nicht unter-
richtet. In folgenden älteren Angaben wird er genannt2):
1243 April in curia Col. ad flavum lapidem
13. Jahrhundert de cubiculis extra porticum versus Blau sten sitis . . .
emunitas de monasterio ad Blausten
1315 locus prope blavium lapidem versus domum S. Spiritus
1494 längs des Steinwech bei dem blauwen stein af bis under die linde3)
In der Kölnischen Geschichte spielt der blaue Stein eine große Rolle,
und er war auch im übrigen Deutschland als Wahrzeichen kölnischer
Gerichtsbarkeit weithin bekannt. In der Revolution von 1513 wurden im
Anfänge dieses Jahres die beiden regierenden Bürgermeister Johannes
von Reidt und Johannes Oldendorp, der Rentmeister Johann von Berg-
heim, der fünf Jahre hindurch Bürgermeister gewesen war, und mehrere
andere Amtspersonen von den Schöffen zum Tode verurteilt und, nachdem
sie an den blauen Stein gestoßen waren, auf dem Heumarkt exekutiert.
Ein Bericht gibt dem gewaltigen Aufsehen Ausdruck, das dieser Vorgang
in ganz Deutschland erregte:
Et haec res diuulgabatur per totam Grermaniam et incussit timorem Omnibus
Regentibus et Magistratibus. Nunquam tale accidit neque in historiis simile
inuenitur, quod duo Magistri actu existentes tarn turpiter occubuerunt, seruato
per omnia strepitu et ordine Judicii alti et ducebantur ante consistorium, vnden
an den Bla wen Stein sicut publici malefactores4).
Am Hinrichtungstage „bekleidete man Johann von Bergheim mit den
Insignien eines Kölnischen Bürgermeisters und legte ihm ein reiches seidenes
Wams an, darüber den roten, in vielen Falten herabwallenden Konsular-
mantel“; dann wurde auch er an den blauen Stein gestoßen und darauf zum
Schafott geführt5).
An diesen Stein wurden die Verurteilten durch den Fronboten dreimal
gestoßen und dann erst an den Platz geführt, wo man das Todesurteil
vollzog. Das Anstoßen an den blauen Stein galt als integrierender Teil
b H. Keussen, Topographie 2, 297 k.
2) Ebd. 2, 297 n, o, k.
3) Koelhoffsche Chronik, Chroniken der deutschen Städte 14, 890, 20,
4) Annalen d. hist. Vereins für d. Niederrhein 26/27, 245.
5) Ebd. S. 219.
Der blaue Stein zu Köln.
33
der Rechtshandlung und, wenn es einmal nicht geschah, so galt in der
allgemeinen Meinung diese nicht als richtig vollzogen: es fehlte ihr die
notwendige Bestätigung. Neocorus (Chronik des Landes Dithmarschen
2, 61) spricht dies bei dem Bericht über die Hinrichtung der Protestanten
Adolf Clarenbach [und Peter Fliesteden] im Jahre 1529 direkt aus, wenn
er sagt: darmit sind se vam Gerichte geleidet worden, unnd men hefft se och
nicht an den blawen Stein, dar men alle Vordömede plecht antostöten, gevöret,
daruth den och wol tho spören, dat hein Ordel gesprahen is. In
Wahrheit hatte der Rat, um jedes Aufsehen zu vermeiden, am 8. Juni 1529
beschlossen, sie so zu strafen, damit der solempniteten aen noit sy idt sy
in ein Schalde zu stellen und zo vordrenchen, oder wie dat fuegligste geschien
were,und Krafft (Der Märtyrer Peter Fliesteden. Theolog. Arbeiten aus
dem rhein. wissenschaftl. Predigerverein 12 [Bonn 1892], 33 Anm. 2) meint
wohl mit Recht, daß mit den Solemnitäten das Stoßen an den Stein gemeint
sei. Auch das Buch Weinsberg (ed. Höhlbaum 2, 111) weiß zum
29. Oktober des Jahres 1560 zu berichten, daß zwei aufrührerische Stein-
metzen auf der Juncker Kirchhof mit dem Schwert gerichtet seien: man
hat sei an den Blauen Stein neit geleit und, wie man sacht, haben die scheffen
sei nit verurtelt, dan man hat in den verbontbreif öffentlich am hohen-
gericht vurgelesen, daruff hat der greif execution getain.
Der Verurteilte suchte sich denn auch gelegentlich gegen das Ver-
bringen zum blauen Stein zu sperren. So Tilmann Iserheupt im Jahre
1566, wie das Buch Weinsberg (ed. Höhlbaum, 2, 153ff.) berichtet.
Er war im Verfolg eines Streites über Bezahlung oder Nichtbezahlung von
Büchern mit einem Krämer handgreiflich geworden und hatte diesen,
nachdem er von ihm blutig geschlagen war, mit bloßem Schwert in den
Dom verfolgt und dort verwundet. Er wird gefangen, und es soll ihm
möglichst rasch der Prozeß gemacht werden. Nachdem er zwei Mägde,
die ihn heiraten und dadurch vom Tod frei machen wollten, zurück-
gewiesen hatte (ein Vorgang, der oft als Schwankmotiv begegnet), wird
er zum Tode verurteilt: Man wolt in zum Blaen Stein leiten, wie bruchlich,
dess wolt er nit doin, und man leit in hinaus (nach Melaten zur Exekution).
Auf dem Schafott entschuldigt er die Tat, das Volk ruft um Gnade, und
als der Greve trotzdem dem Scharfrichter die Vollziehung des Urteils be-
fiehlt, befreit es ihn gewaltsam, und er entkommt. Auch hier wohl galt
dem Volk das Urteil als nicht gesetzmäßig zustande gekommen.
Spätere Berichte1) ergänzen die Schilderung. Der Verurteilte wird
nach gesprochenem Urteil dem Fronboten übergeben, von diesem an den
blauen Stein geführt und dreimal mit dem Rücken an ihn angestoßen
unter Sprechen folgender Worte:
Ich stüssen dich an de blae Stein;
Do küs ze Lebdag no Vadder un Moder nit mih heim2).
x) Gercken, Reisen 3, 262; E. M. Arndt bei Heckscher, Die Volkskunde des
germanischen Kulturkreises 1, 185f.; Weyden, Köln a.Rh. vor 50 Jahren(1862) S. 205.
2) Schon im Schöffenrecht von 1435 begegneten wir oben S. 31 der Mahnung
des Verurteilten an seinen Tod.
Zeitschrift f. Volkskunde II, 1—2.
3
34
Meier :
Nach einer handschriftlichen Notiz Ennens, die sich auf S. 205 der
Handschrift von Fuchs, Topographie der Stadt Köln I befindet und auf
eine uns unbekannte Quelle zurückgeht, soll der blaue Stein 13 Fuß lang
und 3 Fuß dick gewesen sein (Mitt.
1 H. Keussens). Hie Breitenmaße
sind nicht angegeben.
Später ist dann der Stein, wir
^ wissen nicht wodurch, zerbrochen,
und eines dieser Stücke ist in eine
Mauer vor der St.-Johann-Kapelle
eingelassen und durch das darüber
angebrachte erzbischöfliche Wappen
_ b als Gerichtsstein des Erzbischofs1) ge-
kennzeichnet worden. Wir besitzen
in der Securis ad radicem posita (Köln
1729) eine dort zwischen S. 18 und 19
_’o als n. 19 angefügte Zeichnung des
Steins vom 10. Januar 1686 durch van
Lon, die nach einer mir gütigst
vom Kölner Stadtarchiv überlassenen
'o Photographie hier wiedergegeben wird
(Abb. 1). Danach war das Ganze
ca. 8 Fuß hoch und 3 Fuß breit.
Wann der Stein zerbrochen ist,
läßt sich nicht feststellen. Der ab-
gebildete Hochgerichtsstein ist An-
fang des Jahres 1671 errichtet worden,
wie aus dem Ratsprotokoll vom
o 30. Januar 1671 (Ratsprotokolle 118,
31) hervorgeht2). Es heißt dort:
Alss in rhatsstatt referiert, dass an
Churf. seithen ein auffs neue in steinwercfc
c<
] ) Unrichtig nimmt ihn Rat jen (Fest-
schrift für den 21. Deutschen Juristentag
[Köln 18 91 ] S. 105) als Wahr Zeichen des Blut -
bannes, wie es im Mittelalter die Königs-
kreuze und später die Rolandsäulen waren.
Die funktionelle Bedeutung des blauen Stei-
nes war jedoch ursprünglich eine andere.
2) Eine Notiz in den Kölner Ratspro-
tokollen vom 9. März 1663 (Ratsprotokolle
110, 50b 1), die ich ebenso Keussen verdanke, bezieht sich gleichfalls auf Ver-
änderungen beim blauen Stein. Es ist dort die Rede von der Accommodation und
Erweiterung der neben dem Stein gelegenen Pfarrkirche St. Johann Evangelist,
wozu von der Pfarre die verwilligung sicheren auf dem Thumbhoff schiessenden ge-
meinen platzes erbeten wurde. Der Rat trug dem Syndici commission auf, was des blawen
steins halben dabey angezogen in überlegendes nachdencken zu nehmen. Das Ergebnis
dieses Nachdenkens ist, wie Keussen bemerkt, nicht bekannt.
Der blaue Stein zu Köln.
35
verfertigtes im Cölnischen Hove stehendes wapffen oben dem also genanntem Blawen
Stein auffm Thumbhoff entweder durch hiesige, oder bey deren Verweigerung durch
auswendige meisterer, wie man sich ausstrücklich vernehmen lassen, eingesetzt werden
wolle, ist zeitlichen herrn renthmeistern cum adiunctione d. syndici Wedich die ältiste
der nachbarschafft auffm Thumbhoff ab ihrer etwa habender wissenschafft, ob und
was vorhin an gemeltem ohrt vor ein Zeichen oder wapffen gestanden, aidlich zu ver-
nehmen und deren aussage zu fernerer erklerung schriftlich zu hinderbringen, im-
mittelss aber gegenwärtige eines erss. hochw. rhats resolution, dass derselb ess in
altem wesen und standt dem befinden nach zu lassen gemeint seye durch meister
Hermannen steinmetzeren den churfürstlichen bedienten in antwort referieren:
anbey auch durch einen bewehrten notarium et testes diejenige loca et iudicia
publica alss gerichtshäuser Nieder ich, Arssbach, auffm Burghoff etc., alwo der reichs-
adler stehendt erfindtlich, den augenschein einnehmen und ab dem befinden in-
strumentum publicum zu künftiger bestendiger nachricht verfertigen und beym
Syndicat wol verwahrlich hinlegen zu lassen, commission auffgetragen worden.
Am 6. Februar (ebd. 118, 36) kommt der Rat darauf zurück:
Alss des löblichen ausschusses herrn deputatorum gestrigen tags über vor-
brachtes summarisches zeugen verhör und beygefuegte extractus de annis 1587 und
1590 den blawen Stein auffm Thumbhoff betreffendt, aussgefallenes guetachten in
rhatsstatt verlesen, ist dasselbe seines inhalts, dass nemblich dass einsetzen des chur-
fürstlicher seiths neu verfertigten wapffens mit der austrücklicher erklehrung und
protestation, dass Magistratus ihrer churfürstlichen Durchlaucht etc. oder einem
hochw. thumbcapitel alhir desswegen an besagtem ohrt ein mehrers recht nicht alss
ein oder ander vor diesem daheselbsten gehabt, concediert oder gestanden haben wolle,
zugestatten seye beliebet. . .
Daraus geht m. E. hervor, daß das 1671 auffs neue verfertigte Wappen
ein älteres, vielleicht schadhaft gewordenes ersetzen sollte.
Die Erregung des Rates legt es nahe, wie A. Güttsches wohl mit
Recht meint, daß es sich bei der Anbringung des mit dem bayrischen
Wappen belegten erzbischöflichen Wappens, wie es seit 1583 geführt wurde
(Mitt. H. Keussens), um eine Neuerung gegenüber dem bisherigen Zu-
stand handelte, und daß früher über dem blauen Stein ein anderes Wappen
seinen Platz hatte. Da an den anderen Gerichten der Reichsadler angebracht
war (oben, erster Absatz), besteht die Möglichkeit, daß er auch hier sich
fand und daß seine Ersetzung durch das Hoheitszeichen des Erzbischofs
die Protestation des Rates herausforderte.
Aber Gewißheit läßt sich darüber nicht gewinnen, und ebensowenig läßt
sich sagen, ob der Stein nicht ursprünglich ohne Wappenaufsatz und Rah-
men in die Mauer eingesetzt wurde und der Schmuck erst später hinzu-
gekommen ist.
Der in die Mauer eingerückte Gerichtsstein wurde nun nach Walter (Das
alte Erzstift S. 321 Anm. 5) 1744 mit der ganzen Mauer etwas vorgerückt,
aber er blieb an seiner Stelle bis „zum Jahre 1829, wo er beim Abbruch
des alten Gerichtsgebäudes unbegreiflicherweise abhanden gekommen ist“
(Ratjen, Überblick über die Verfassung und den Sitz der Gerichte in
Köln. Festschr. f. d. 21. Deutschen Juristentag [Köln 1891] S. 105). Seine
Funktion hat er aber schon mit Einführung der französischen Gerichts-
barkeit in Köln im Jahre 1798 verloren. Noch Ernst Moritz Arndt (Rhein-
und Ahr-Wanderungen [Bonn 1846] S. 403 nach Heckscher, Die Volkskunde
des german. Kulturkreises I [Hamburg 1925], 186) hat ihn gesehen. Er war
3*
36
Meier :
nach ihm „auf dem Domhof neben der jetzt niedergerissenen Johannis- oder
Seminariumskirche in eine kleine Mauer eingefaßt und mogte zwei bis
drei Fuß ins Gevierte haben“.
Fassen wir das Resultat unserer Ausführungen zusammen, so haben
wir bei dem Stein des Dienstrechtes und der Schöffenordnung einen Stein
mit einem Loch, und weiter erfahren wir, daß dieser letztere Stein, wie
der blaue Stein, Hochgerichtsstein des Kölner Erzbischofs ist. Endlich
befinden sich die drei genannten Steine an der gleichen Stelle am Süd-
portal des Domes auf dem Domhof, und bei dem ersten und zweiten ist
die liegende Stellung sicher. Da nun alle drei Steine eine rechtliche Funktion
für die gleiche Person, den Erzbischof, haben, ist es doch höchst unwahr-
scheinlich, ja unmöglich, daß an derselben Stelle mehrere Gerichtssteine
des gleichen Richters lagen, und man wird die Identität der drei Steine
für ausgemacht halten dürfen, trotzdem sie von den Gelehrten, die sich
bisher mit der Sache beschäftigt haben, nicht angenommen ist.
Aus dem Namen Blauer Stein können wir aber noch ein Weiteres
feststellen: es war ein Basaltblock von den erwähnten großen Ausmaßen,
denn blauer Stein ist am Niederrhein, vor allem im Kölnischen Territorium
und in den seinem kulturellen Einfluß unterliegenden Gegenden, die gewöhn-
liche Bezeichnung des Basalts. In Kölner Rechnungen der Jahre 1370 bis
13801) heißt es z. B. lapides blauii, auch unkelin genannt, d. h. blaue Steine
aus den Basaltbrüchen gegenüber Unkel a. Rh.2). Der Basalt ist am Rhein
als Gerichtsstein besonders beliebt gewesen (bei der Ermittlung des Grundes
dieser Verwendung kommen wir über unsichere Vermutungen nicht hinaus)
und wird für diesen Zweck von Worms abwärts bis an die holländische Grenze
häufig verwandt. Wenn auch in Holland und Flandern der blaue Stein als
Gerichtsstein auf tritt, so müssen wir damit rechnen, daß hier dieser Name
nicht den Basalt, sondern denArduin, einen Kohlenkalkstein, bezeichnet3).
Die Stelle nun, an der der große Kölner Basalt lag, befand sich ur-
sprünglich auf der alten Königspfalz; aus ihr wurde der Domhügel, wie
Keussen (Köln im Mittelalter S. 25*) bemerkt, bei der Erhebung Kölns
zum Metropolitansprengel (806) vom fränkischen König dem neuen Erz-
x) J. J. Merlo, Das Ausgabebuch der Mittwochs-Rentkammer zu Köln in
Annalen des Niederrheins 39, 145. Vgl. weiter Stein, Akten zur Geschichte der
Verf. und Verw. der Stadt Köln 2, 93, 31 (a. 1399); 2, 226, 26f. (a. 1421); Höhl-
baum, Das Buch Weinsberg 2, 208 (a. 1570). Heute ist nach Mitt. Jos. Müllers
bloe sten für Basalt nur aus dem Ripuarischen (Ahr, Siebengebirge, N W Wester-
wald) schwach und hier und da als veraltet bezeugt; vgl. auch Jos. Müller, Rhei-
nisches Wörterbuch 1, Sp. 761. Fast überall ist es durch das Kulturwort Basalt
ersetzt. — Unrichtig sagt W. Koch in seinen Kölschen Scheldereie (S. 48,1): blö
stein = en zerbroche leieplät.
2) Wie genau das Volk beobachtet, zeigt die Kölner Redensart Mi Hätz wed
mehr su schwer we'nen Unkelstein (Sprichwörter und alte Volks- und Kinderlieder
in Kölnischer Ma. [Köln o. J.] S. 47). Der Basalt hat von allen gewöhnlich gebrauch-
ten Gesteinen das höchste spezifische Gewicht, wie mir W. Deecke sagt.
3) Woordenboek der Nederl. Taal 2, 1, 610f.: ’Blauer Stein = Arduin. Arduin
= Ardennen-Stein vaste, blauwachtig, grijze Kalkstein tot de Kolenkalkvorming
behoorende.’ Er wird auch Escaussines genannt.
Der blaue Stein zu Köln.
87
bischof geschenkt, und Hildebold begann auf ihm den Bau des alten
Doms1), der wohl unter Willibert (Erzbischof seit 870) seine Weihe empfing
(Keussen, a. a. O. S. 25*). Wir werden deshalb wohl annehmen dürfen,
daß der Stein bei seiner Lage auf der alten Königspfalz schon der alte
Gerichtsstein der fränkischen und sächsischen Könige gewesen ist und mit
dem Übergang der höchsten weltlichen Gerichtsbarkeit vom König auf
den Erzbischof (wahrscheinlich unter Erzbischof Bruno [953—965]. Urkund-
lich wird die hohe weltliche Gerichtsbarkeit als im Besitz des Erzbischofs
979 erwähnt [H. K.]) der Gerichtsstein des letzteren geworden ist. Ob
der blaue Stein in noch älterer, vorrömischer Zeit ähnliche gericht-
liche oder kultische Funktionen gehabt hat, läßt sich nicht ausmachen;
ich möchte es aber nach dem, was wir noch über seine Herkunft hören
werden, nicht für unmöglich halten.
Der blaue Stein war nun nicht ein bloßes Hoheitszeichen des Erz-
bischofs, sondern spielte, wie wir schon sahen, eine selbständige und mit-
wirkende Rolle in den bei ihm oder auf ihm vorgenommenen Rechts-
handlungen. Die in ihm vorhandenen besonderen geheimnisvollen, ma-
gischen oder kultischen Kräfte wirkten stärkend und festigend, schützend
und abwehrend, wie bestätigend2) auf Subjekt und Objekt der Rechts-
handlung ein. Deshalb mußte, um weitere Beispiele zu geben, beim Ge-
richte des Bremischen Erzbischofs in Stade, wie ich an anderer Stelle
(Festschrift zur Vierhundertjahrfeier des Alten Gymnasiums zu Bremen
S. 230) ausgeführt habe, der Vertreter des Bischofs während der ganzen
Gerichtsverhandlung auf dem Stein stehen und durfte sich nicht vorwärts
und rückwärts bewegen, bis er das Gericht auf gegeben hatte.
Auf dem Steine zu Alzey liest der Pfalzgraf funfzehendhalb Grave-
schaft (J. Grimm, Weistümer 1, 799 14. Jahrh.). Bei diesem Pfalzstein
(Inpis 'palatii) Verden die alten Dingtäge gehalten und auch alle peinliche
Urtheil publicierP (Schaab, Geschichte der Stadt Mainz 4 [1851], 59).
Der Stein befand sich auf dem herzoglichen Hofe, dem jetzigen Obermarkt,
und ist in den Zeiten der französischen Revolution zerstört worden. Die
Keßlerzunft hatte noch das Privileg, am Johannistag einen Gefangenen
frei bitten zu dürfen, dem sie dann vom Pfalzstein aus die Freiheit schenkte
(vgl. auch Müller, Hessische Rechtsaltertümer in Hessische Heimat 1
[1921], 126; 137). In Viersen führte man den Übeltäter dreimal um den
weißen Stein (wittensten)3) und fragte die anwesenden Bürger, ob jemand
von ihnen Bürgschaft4) für ihn leisten wollte. Ebenso wurden auf dem
weißen Stein vom Vogt der Freiherrlichkeit die Gesetze verkündet und das
Landrecht verlesen5).
1) Der älteste Dom lag im Mittelpunkt der Stadt bei S. Caecilien; der jetzige
ist erst seit dem Brande von 1248 an gleicher Stelle wie der alte Dom erbaut.
2) Vgl. oben S. 31.
3) Vgl. auch Goldmann, Die Einführung der deutschen Herzogsgeschlechter
Kärntens in den slovenischen Stammesverband (= Unters, z. Dtsch. Staats- u. itechts-
gsch.68) S.97ff. undKnuchel, Die Umwandlung in Kult, Magie und Rechtsbrauch S.95.
4) Das gleiche geschieht in Leiden beim Blauen Stein.
8) Schröteler, Die Herrlichkeit und Stadt Viersen (1861) S. 93; 342.
38
Meier :
So ist auch in unserem Falle das Deponieren der Waffen und das drei-
malige Anstoßen des verurteilten Verbrechers am blauen Stein aufzufassen.
Aber der Kölner blaue Stein hat doch noch etwas Besonderes und
von den übrigen Gerichtssteinen, wie z. B. dem Wormser schwarzen
und dem Mainzer blauen oder langen Stein, Abweichendes: der gewaltige
Monolith ist an einer Stelle — wo, wissen wir nicht — durchbohrt.
Nun bemerkt mein Kollege W. Deecke, daß die Struktur des Basaltes
es vollständig ausschließe, daß dieses Loch natürlich entstanden sei. Der
Stein müsse künstlich durchbohrt sein. Was aber war der Zweck dieser,
in jener ulten Zeit bei der großen Dicke des Steins (drei Fuß!) und den
damaligen Werkzeugen doch überaus mühseligen und schwierigen Arbeit?
Für den Transport war es kaum nötig, da konnte man sich leichter und
bequemer anders helfen. Es mußte eine wichtige Absicht damit verbunden
sein, die den Aufwand von Kraft und Mühe rechtfertigte. Was aber war
dies? Nun wies mich Deecke schon hin auf die merkwürdige Ähnlichkeit
dieses Loches mit anderen, die sich in den Schmalsteinen der prähistorischen
Gräber, von großen Steinkisten, finden. Man nimmt an, daß diese Öffnungen
dazu dienten, um der Seele des Bestatteten freies Gehen und Kommen
zu dein im Grabe befindlichen Körper zu erlauben und es den Angehörigen
zu ermöglichen, den lebenden Leichnam mit Speise und Trank zu versehen,
eine Öffnung, der man die Bezeichnung ,,Seelenloch“ gegeben hat.
Vorzeitliche Gräber mit solchen Seelenlöchern findet man an zahl-
reichen Stellen in den verschiedensten Ländern. So in Schweden, England,
Teilen vonFrankreich und Italien, dem östlichen Mittelmeergebiet, Palästina,
Syrien, dem Kaukasus, Persien und Indien1). Nach dem deutschen Gebiet
dringen sie von Westeuropa durch die burgundische Pforte herein bis nach
Courgenay im Jura (Kanton Bern) und Niederschwörstadt bei Säckingen
am Rhein2). Von Norden stoßen sie bis Thüringen und Hessen3) vor, so daß
die Möglichkeit ihres Vorkommens im Rheinlande durchaus besteht.
Die ganze Höhe des Kölner Steines, 13 Fuß, wäre die größte bei solchen
Gräbern bisher gemessene. Am nächsten kommt ihm der Niederschwör-
städter Heidenstein mit 330 cm (Abb. 24)) und der Stein von Courgenay
mit 308 cm, während die übrigen Steine (G. Kraft, Bad. Fundberichte 1927,
S. 238 u. Anm. 23) geringere Dimensionen haben5).
Wir werden die Möglichkeit jedenfalls zugestehen müssen, daß in dem
blauen Stein der Schmalstein eines megalithischen Grabes mit Seelenloch
vorliegt6). Verstärkt wird diese Vermutung durch eine weitere Beob-
q Sophus Müller, Nord. Altertumskunde 1, 72; Goetze, Schnurkeramik
S. 12ff. Tabelle; Ebert, Reallexikon der Vorgeschichte 12 (1928), Sp. 2f.
2) Bad. Fundberichte Heft 8 (Juli 1927) S. 225ff.
3) Die Abbildung des Züschener Steins (bei Fritzlar), am bequemsten zugäng-
lich bei Schuchhardt, Alteuropa2 (Berlin und Leipzig 1926) S. 136 Tafel XXV.
4) Die Abbildung ist mit gütiger Erlaubnis den Badischen Fundberichten 1927,
Heft 8, S. 227 entnommen.
5) Über die Breite des Kölner Steines besitzen wir keine Angaben.
6) Vorgeschichtliche Gräber sind auf dem Domhügel nicht gefunden, aber das
will, wie auch H. Keussen mir schreibt, nicht allzuviel besagen, da der Domhügel
Abb. 2.
Dei „Heidenstein“ in Niederschwörstadt
Ze,tschr. f. Volkskunde
NF II 1 — 2: Meier, Der blaue Stein zu Köln.
Der blaue Stein zu Köln.
39
achtung, die wir machen können, daß nämlich die Fälle gar nicht selten
sind, wo ein prähistorisches Grab als Stelle des Gerichts und einer seiner
Steine als Gerichtsstein dient.
So wird bei der pierre percée von Courgenay im Mittelalter Gericht
gehalten (Schreiber, Taschenbuch f. Gesch. und Alterthum in Süddeutsch-
land [Freiburg 1844] S. 263). Schon Pfeiffer (Germania 1, 95) erwähnt
die Bemerkung des Codex laureshamensis (1, 17) vom Jahre 795: placitum
in eaclem sylva ad tumulum, qui dicitur Walinehoug, wobei das Wort houg
wohl mit größter Wahrscheinlichkeit als Grabhügel aufzufassen ist.
Der Birtinleh (Burgleh, Burgenlai) zwischen Rottenburg (Württ.) und
Hirschau ist nach der Oberamtsbeschreibung von Rottenburg ein von
einer Hügelgruppe übriggebliebener Grabhügel in der Flußebene von 1 m
Höhe und 12 m Durchmesser (Deutsche Gaue 1921, 19; über weitere
Lehbichl und ähnliches, die wahrscheinlich Gerichtsstätten sind, ebd. S. 19
und 1923, S. 11). Auf ihm werden gerichtliche Handlungen vorgenommen,
worauf schon Pfeiffer (Germania 1, 88f.) hinweist. Auch der sagen-
berühmte Gunzenle am Lech, eine bekannte Gerichtsstätte, mag eine prä-
historische Grabstätte gewesen sein, obgleich wir, da er vom Lech etwa
1430 weggeschwemmt ist, den sicheren Nachweis nicht führen können.
Das Registrum bonorum et jurium ecclesiae Bremensis des Johannes Rode
(ed. Cappelle 1926) erwähnt S. 179 unter Nr. 70, daß im Jahre 1499 ein
gemeiner Landtag up dem steengraven gehalten sei, und das Register be-
merkt dazu (S. 234): „Steengraff, Steingrab bei Bardahl, Tagungsplatz der
Stände des Erzstiftes“. Nach von Hammerstein, Die ältesten Gerichte
im Stifte Verden (Zs. d. hist. Vereins für Niedersachsen Jahrg. 1854 [Han-
nover 1856], 74 Anm. 1) wurde das Landgericht zu Ülzen nahe der Ilmenau-
brücke auf einem heidnische Gräber enthaltenden Raume gehegt. Wenn
wir die oben angeführten Beispiele, die sich leicht vermehren ließen, be-
trachten, so werden wir die Möglichkeit zugeben müssen, daß auch in
Köln der Gerichtsstein ein ehemaliges Stück eines vorgeschichtlichen
Grabes war, eine Annahme, die durch das sonst unerklärliche Loch im
blauen Stein gestützt wird.
Die Erinnerung an den blauen Stein, dessen Name und Bedeutung
einst durch die deutschen Lande klang, ist mit der Aufgabe des alten
Rechts und dem Verschwinden des Steines selbst in seiner Heimat Köln
verloren gegangen. Nur im Lied der Kinder wird die Kunde von ihm
weiter getragen. Es gibt ein Kinderverschen, das, am Niederrhein, nicht
unwahrscheinlich in Köln selbst, entstanden, von dort in allmählicher
Verbreitung, die wir mit Hilfe der Sammlungen des Deutschen Volkslied-
archivs genau verfolgen können, zu fast allen deutschen Landschaften ge-
flattert ist und heute noch allgemein mit vielen Varianten und Umgestal-
und seine Nachbarschaft so intensiv schon in alten Zeiten, in denen man auf der-
gleichen nicht achtete, durchwühlt wurde, daß man einem negativen Befunde nicht
allzu großes Gewicht beilegen darf.
40
Sartori :
tungen auf deutschem Kulturboden von den Kindern gesungen und gespielt
wird. Eine rheinische Fassung lautet:
Dort oben auf dem Kirchhof
Da liegt (steht) ein blauer Stein,
Und wer den Schatz verloren hat,
Der holt sich einen rein.
Die geschilderte Situation paßt auf den blauen Stein: Er liegt auf
dem Kirchhof1), was wohl für Domhof eingetreten ist, als die individuelle
Beziehung nicht mehr im Bewußtsein war.
Und die beiden letzten Zeilen? Wir werden uns an die S. 33 berichtete
Geschichte von Tilmann Iserheupt erinnern, der vom Tode frei kommen
soll, wenn er eine der Mägde, die ihn zum Mann erbitten, heiraten will,
das Beispiel eines Brauches, der allgemein im Schwange war. Auf solchen
Vorgang nimmt vielleicht auch unser Versehen Bezug und rät spottend
dem Mädchen, das seinen Schatz verloren hat, sich einen vom blauen Stein
zu holen2).
So ist in unserem Falle, wie so oft, noch im Lied der Kinder Ältestes
erhalten, von dem sonst nirgends, weder in mündlicher Überlieferung noch
in Schriften, eine Kunde auf uns gekommen ist.
Erzählen als Zauber.
Von Paul Sartori.
Der alte Sänger Hesiodos gibt (Theog. 98ff.) den Trauernden die tröst-
liche Versicherung:
„Wenn auch einer vergeht vor Herzensjammer, im Innern
Schwer verwundet von frischer Bekümmernis, aber der Dichter
Dann, der Diener der Musen, von heldischen Taten der Väter
Singt und den seligen Göttern auf himmlischen Höhn des Olympos, —
Gleich vergißt er des Kummers, und alle die trüben Gedanken
Schwinden dahin, so schnell verwandeln die Gaben der Musen.“
So schreibt in Indien der Ritus der Taittirlyas den Verwandten eines
Verstorbenen vor, von dessen brennendem Scheiterhaufen nach einem Orte
zu gehen, wo sich Wasser befindet. Hier klagen sie über den Toten. Be-
jahrte Leute aber sollen sie mit weisen Sprüchen davon abhalten und durch
die Erzählung alter Geschichten und Episoden aus den epischen Gedichten
erbauen. Von da an sollen sie nicht mehr trauern. Auch andere Riten emp-
fehlen, um den Kummer zu bannen, ersprießliche Wörter, nicht ersonnene
Geschichten und schöne Puränas3). In griechischen und albanesischen
Märchen suchen sich Liebeskranke durch Anhören von Geschichten über
1) Kirchhof = geweihter Bezirk der Kirche, nicht = cimeterium.
2) Vgl. auch Blätter für Pomm. Volkskunde 3, 123.
3) Caland, Die altindischen Toten- und Bestattungsgebräuche S. 74; vgl.
Abegg, Der Pretakalpa des Garuda-Puräna S. 144 Anm. 2.
Erzählen als Zauber.
41
ihren Gram hinwegzuhelfen1). Die ablenkende Teilnahme an fremden
Schicksalen läßt ihr eigenes in ihren Gedanken zurücktreten.
Andrerseits wieder fühlen manche durch den Lobpreis ihrer eigenen
Leistungen aus eigenem oder fremdem Munde die Freudigkeit ihres Daseins
mächtig gesteigert. Bei Festlichkeiten der Indianer Nordamerikas pflegen
einzelne Männer aufzutreten und von ihren Kriegstaten zu berichten. Sie
dürfen dabei so viel Rühmens von sich machen, wie sie wollen, aber niemals
geradezu unwahre Dinge Vorbringen2). Alexander der Große wußte wohl,
was er tat, als er nach der Schlacht am Granikus die Verwundeten besuchte
und ihnen Gelegenheit bot, mit ihren Erlebnissen zu prahlen3). Und wie
anfeuernd wirkte etwas später die Erzählung ihrer Erfolge auf zwei make-
donische Hopliten im Lager vor Halikarnassos. Sie waren beim Zechen
derartig ins Renommieren geraten, daß sie schließlich die Waffen ergriffen,
auf eigene Faust gegen die Mauer losgingen und mit einigen zu Hilfe Eilen-
den beinahe die Stadt erobert hätten4). Selbst dem Todgeweihten hilft
der Preis des Vollbrachten über das schlimmste Ende hinweg. Im Lod-
broksliede (Krakumal) führt der im Schlangenhofe des englischen Königs
Ella sterbende Ragnar die ganze Reihe seiner Heldentaten in einem Liede
von 29 Strophen an sich vorüber. Ein gewaltiger Unterbau des todestrotzigen
Mutes, mit dem er lachend stirbt5). Ja, noch den Toten erhebt die Erzäh-
lung dessen, was er geschafft hat. Die Schiffer, die an der norwegischen
Küste hinsegelten, sahen dort viele Grabhügel und verkürzten sich gern
die Zeit mit Erzählungen von ihren Bewohnern. Da erschien einmal einer
von diesen, der König Vatnar, dem Erzähler im Traume und sprach: ,,Du
hast meine Sage erzählt; nun will ich dich belohnen. Suche nach Gütern
in meinem Grabe, und du wirst noch etwas finden.“ Und er fand viel6).
Aber von einem wirklichen Zauber der Erzählung kann doch wohl
erst da die Rede sein, wo nicht unmittelbar auf das Gemüt des Menschen
gewirkt wird, sondern wo es gilt, fremde Mächte und Kräfte zu seinen
Gunsten zu beeinflussen.
Schon von unsren alten Merseburger Zauber Sprüchen her kennen wir
das Heilverfahren, dem eigentlichen Segen eine kleine Erzählung voran-
zuschicken, in der ein ähnlicher Fall in Kürze vorgetragen wird. Dadurch
soll auch bei der vorliegenden Gelegenheit ein entsprechendes Ergebnis
erzielt werden7). Der abschließende Segensspruch kann auch fehlen, und
x) Hahn, Griechische und albanesische Märchen2, 132; Schmidt, Griechische
Märchen S. 87, 228.
2) Kohl, Kitschi-Gami 1, 31 ff.
3) Arrian. Anabas. 1, 16, 5.
4) Ebda. 1, 21, 1.
5) Uhlands Schriften z. Gesch. der Dichtung u. Sage 7, 310ff., 314f. Zu
dem Prahlen in den nordischen Sterbeliedem: Neue Jahrb. f. d. klass. Altert. 20
(1917), 469. Nur hingewiesen sei auf die nordischen „Männervergleiche“ und auf
den Ritterbrauch des Prahlens: E. Lommatzsch im Archiv f. d. Studium d. neueren
Sprachen u. Literaturen 70 (1916), 114ff.
6) Meyer, Mythologie der Germanen S. 111.
7) Fehrle, Zauber und Segen S. 35ff.
42
Sartori :
die bloße Erzählung genügt. So bei den Hupa-Indianern1) und auch bei
Griechen, Römern und Juden2).
Eines wirksamen Kriegszaubers bedienen sich die Arapaho-Indianer.
Beim achttägigen Sonnenfeste tragen ihre Krieger ihre Heldentaten vor. Es
darf dabei nichts übertrieben werden, und die Einzelheiten müssen deshalb
mindestens durch zwei Zeugen beglaubigt sein. Die Geschichten dürfen
nur Siege berichten und sollen auf den Sieg des Stammes über Hungersnot
und alle Arten von Übeln deuten, die ihn in Zukunft treffen könnten3). Preuß
weist aber darauf hin, daß das nur Umdeutung sei, nachdem die Arapaho
keine Kriege mehr führen. Ursprünglich hat die Schilderung der Heldentaten
Sieg und kriegerischen Ruhm auch für die Zukunft gewährleisten sollen.
Ein reiner Analogiezauber tritt uns auch in dem Brauche entgegen,
durch Erzählungen Einfluß auf das Wachsen und Gedeihen der Pflanzen
auszuüben. Die Kai im früheren Deutsch-Neuguinea sind der Meinung,
daß Geschichten aus alten Zeiten oder volkstümliche Legenden nur dann
erzählt werden dürfen, wenn die neugepflanzten Früchte sprießen. Am
Ende jeder Geschichte erwähnt der Erzähler die mannigfachen Arten von
Yams und fügt hinzu: „Schößlinge und Früchte im Überfluß!“4) Die
Bukaua an der dortigen Huonbucht und die ihnen benachbarten Yabim
erzählen, wenn die Yams und Taros reif sind, am Abend Geschichten,
die immer mit einem Gebet zu den Ahnengeistern schließen. Sie glauben
dadurch reiche Ernte zu erhalten5). In der gleichen Absicht schildert der
Tarahumara-Medizinmann (Mexiko), während die Festteilnehmer ihren
Tanz zur Erzielung von Wachstum und Gedeihen ausführen, in anschau-
licher Darstellung die bevorstehende Regenzeit6). Bei den Korjaken im
nordöstlichen Asien gibt es eine Erzählung, wie der „große Rabe“ und sein
Sohn zum Himmel hinauf fliegen müssen, um zu erwirken, daß der ununter-
brochene Regen auf höre. Diese Geschichte soll nicht bei schönem Wetter,
sondern nur bei Regen und Sturm erzählt werden, um das Unwetter zum
Stillstand zu bringen7). Auch die Zukunft des Kindes kann auf ähnliche
Weise beeinflußt werden. Die Hottentottin so gut wie die Zunifrau singen
von den künftigen Taten ihres Söhnchens und glauben deren Verwirklichung
damit nach Kräften gesichert zu haben8).
Als eine häufige und offenbar nicht unwichtige Handlung wird uns
das Geschichtenerzählen bei der Leichenwache berichtet. So werden in
Steiermark Ereignisse aus dem Leben des Verstorbenen vorgetragen und
seine Tugenden und Vorzüge in das günstigste Licht gestellt9). In der
!) Globus 87 (1905), 396.
2) R. Heim, Incantamenta magica graeca latina: Fleckeisens Jahrb. f. klass.
Philol. Suppl. 19, 495ff.; Blau, Das altjüdische Zauberwesen S. 69f.
3) Preussim Globus 87, 396; vgl. Zeitschr. f. rhein. u. westfäl.Volksk.l3(1916), 5.
4) Frazer, Spirits of the corn and of the wild 1, 102f.
5) Ebda. 1, 103f., 104f.; derselbe, Taboo and the perils of the soul S. 386.
6) Globus 87, 396.
7) Archiv f. Religionswissensch. 26 (1928), 415.
8) Globus 87, 397.
9) Rosegger, Volksleben in Steiermark S. 167.
Erzählen als Zauber.
43
Bretagne tun das bestimmte alte Frauen, die ein Gewerbe daraus machen1).
Daß man nur gut von dem Toten spricht, ist überall stillschweigende oder
ausdrückliche Vorschrift. Aber nicht selten werden auch Dinge vorgebracht,
die mit seiner Person nichts zu tun haben. So darf man bei den Ostjaken
am Vasjugan zwar nicht singen, wohl aber zum Zeitvertreib Märchen er-
zählen2). Ebenso bei manchen türkisch-tatarischen Stämmen. Als Grund
für das Wachen wird hier angegeben, daß sonst die Seele des Abgeschie-
denen kommen und den Schläfer erwürgen oder in ihn hineinfahren könne3).
Oft werden Spukgeschichten bevorzugt4), aber auch alte Geschichten5),
Schwänke6) und sogar Zoten7): Die Dajaken auf Borneo behaupten, daß
die unzüchtigen Geschichten, die sie während der Leichenwache erzählen,
den Verstorbenen sehr sittsam klingen, weil alle menschlichen Worte in
der Geistersprache eine umgekehrte Bedeutung haben8). Unter dem Ein-
fluß der Kirche ist an die Stelle des Erzählens oft die Vorlesung von Bibel-
abschnitten getreten oder Beten und Singen.
Auch bei den Unterhaltungen der Leichenwache könnte ja die Be-
lustigung des Toten beabsichtigt sein, aber der Wunsch der Abwehr ist
doch wohl meistens die stärkere Triebfeder. Auch sonst hilft das Erzählen
gegen Geister. Wer mittags zwischen 11 und 12 Uhr auf dem Felde von
der Pschesponiza, dem wendischen Mittagsgespenst, angetroffen wurde und
ihr nicht eine ganze Stunde lang von einer und derselben Sache erzählen
konnte, den brachte sie um9). Die Tscherkessen glauben, daß der Schlaf
einem Kranken schädlich sei (doch wohl weil die bösen Geister dann leich-
teres Spiel haben) und suchen ihn daher durch Musik und Gesang und
allerlei Erzählungen wach und munter zu erhalten10). In Indien soll der
Vollzieher des Neu- und Vollmondopfers in der Nacht vorher mit seiner
Gattin am Boden schlafen; es findet sich auch die Vorschrift, daß Mann
und Frau diese Nacht wenigstens zum Teil wachend mit Erzählungen hin-
bringen sollen. Er darf nur Wahres reden11).
x) Le Braz, La légende de la mort3 1, 245ff.
2) Karjalainen, Relig. d. Jugra-Völker 1, 123.
3) Ebda. S. 167; Mansikka, Relig. d. Ostslaven S. 86.
4) Schönwerth, Oberpfalz 1, 249; John, Sitte usw. im deutschen West-
böhmen S. 170; Globus 82, 291 (Kurische Nehrung); Meyer, Badisches Volksleben
S. 589; Zeitschr. f. rhein. u. westfäl. Volksk. 4, 275 (Kr. Minden) 10, 61 (Lippe).
5) Lady Wilde, Ancient cures etc. of Ireland S. 135.
6) Bulletin de folklore 2, 350f.; Höhn, Sitte u. Brauch b. Tod u. Begräbnis
S. 331; Flachs, Rumänische Hochzeits- u. Totengebräuche S. 54 (der Tote soll
nicht die Leiche rauben).
7) Meyer, Badisches Volksl. S. 589.
8) Kruijt, Het animisme in den indischen Archipel S. 353.
9) Schulenburg, Wendische Volkssagen S. 89f. (eine Frau redete eine Stunde
lang vom Flachs); derselbe, Wendisches Volkstum S. 45 (es wurde „mehrstenteils“
vom Flachs gesprochen).
10) Klemm, Allg. Kulturgesch. d. Menschheit 4, 34f.
41) Oldenberg, Relig. d. Veda S. 411, 489. O. verweist für das Geschichten-
erzählen als Mittel der Übelabwehr auf Frazer im Journ. of the Anthrop. Institute
15, 82. — Über das magische Element der Mythen (Zaubermärchen) überhaupt:
Kauffmann, Balder S. 299ff.
44 v. Schwartz:
Unwahrheiten und Unwirklichkeiten scheinen hiernach der Geister-
abwehr hinderlich zu sein. Der Kummer der Trauernden wird, wie oben
erwähnt, bei den Indern durch nichtersonnene Geschichten gebannt. Die
Forderung, Mythen richtig zu erzählen, treffen wir auch bei den Griechen.
Stesichoros wurde wegen seiner Verleumdung der Helena des Augenlichtes
beraubt und dichtete daher seine Palinodie1). Die Griechen scheinen sich
auch davor gescheut zu haben, Mythen nicht vollständig zu Ende zu er-
zählen2). Die Erzähler auf den Südseeinseln fürchten oft durch Mitteilung
einer Geschichte überhaupt das Mißfallen der Dämonen auf sich herab-
zuladen, so daß der Erzähler von Mißgeschick, Krankheit und Tod be-
troffen wird3).
Zum Schluß noch eine merkwürdige Übereinstimmung. Karl Plenzat4)
berichtet aus persönlicher Erfahrung, daß die ostpreußischen (masurischen)
Frauen am hellen Tage kaum Märchen erzählen, höchstens ihren Inhalt
angeben können, daß ferner auch der Sommer nicht die rechte Zeit dafür
sei. „Wenn aber an Winterabenden sich weites und tiefes Schweigen über
die einsame Landschaft legt, und wenn dazu etwa in der Zeit zwischen Weih-
nachten und Neujahr, wo die Arbeit ruht, die Gedanken an den Alltag
ausgeschaltet sind, wenn die Petroleumlampe mit ihrem dürftigen Lichte
nicht viel mehr als den geselligen Kreis in der Nähe des Herdes oder Ofens
erhellt, dann ist die rechte Märchenzeit.“ Hier ist es also die bloße Stim-
mung, die die Lust am Erzählen fördert oder hemmt. Anderswo aber sind
Tag und Sommer geradezu tabu dafür geworden. Die Omaha-Indianer
meinen, Geschichten dürften weder bei Tage erzählt werden noch im Som-
mer, sonst kämen Schlangen und brächten Unglück5). Bei den Winne-
bagos mögen die alten Leute nach Frühlingsanfang keine Geschichten
erzählen. Den Kindern droht man, sie würden Schlangen sehen, wenn sie
bei warmem Wetter den Erzählungen zuhörten6). Die Odschibwä und andere
Algonkinstämme sind der Ansicht, man dürfe die „Geschichten der Väter“
nicht im Sommer erzählen, sonst kämen Frösche und andere unangenehme
Dinge. Im Winter aber hat der große Nanibozhu Muße und kann den
Erzählungen seiner eigenen Großtaten zuhören7). Bei den Irokesen sind
Wundergeschichten die Lieblingsunterhaltung im Winter; im Sommer aber
werden sie durch geschichtliche Überlieferungen ersetzt8). Wenn die Navajos
die Geschichten von ihren Hauptgottheiten oder von alten Tagen zu andern
Zeiten als im Winter erzählten, so würden sie durch Blitz oder Schlangen-
bisse getötet werden9). Auch bei den Sulka auf Neu-Pommern werden
Geschichten nur im Dunkeln oder in der Nacht erzählt, sonst werden die
Die Fronleichnamsfeier in den Ofner Bergen.
45
Erzähler vom Blitz erschlagen1), und die Betschuanas in Südafrika wei-
gerten sich, vor Sonnenuntergang Geschichten zu erzählen, weil ihnen
sonst die Wolken auf den Kopf fallen würden2).
Dortmund.
Die Fronleichnamsfeier in den Ofner Bergen (Ungarn).
Von Elmar von Schwartz.
(Mit 1 Abbildung.)
Das Gewitter, das für Menschen, Tiere und Früchte gefahrvoll ist,
hat von alters her bei allen lebenden Wesen Angst und Furcht erregt.
Man suchte daher immer schon nach den Ursachen dieser gefährlichen
Naturerscheinungen und im Zusammenhänge mit diesen zugleich auch
nach den Mitteln, mit deren Hilfe die schrecklichen Naturkräfte bezwungen
werden könnten. Das Problem harrte nicht lange seiner Lösung, denn
* schon im Altertum hielt sich die Auffassung, Dämonen seien die Urheber
des Gewitters, und wenn diese verscheucht werden, bleibe Blitz, Hagel
und Donner aus. Auch im christlichen Mittelalter hielt man an dieser
Anschauung fest, und auch die Kirche nahm an, daß die Dämonen unter
göttlicher Zulassung das unheilvolle Wetter herbeiführen. Auf Grund
dieser Mutmaßung suchte man nach weiteren Mitteln zur Abwehr, aber
man entdeckte nichts Neues, und daher hieß es auch weiterhin: Den
Dämonen müsse Furcht eingeflößt werden, sie müßten verscheucht werden,
und damit sei jede Gefahr beseitigt.
Als ältestes Mittel zur Verscheuchung der Dämonen galt Ge-
räusch, Getöse, Lärm, später aber schrieb man auch gewissen Pflan-
zen (der Hauswurz [Barba Jovis], Mistel usw.) eine gleiche abwehrende
Kraft zu. Diese Art der Abwehr begann sich im Mittelalter unter dem
Volke ganz besonders dann zu verbreiten, als die Kirche selbst auch ver-
schiedene Pflanzen und Kräuter (Heilkräuter) mit Weihen versah, die
einen apotropäischen Zweck hatten. Die Kirche selbst wendete aber, um
die Unholde fernzuhalten, andere Mittel an. Vor allem das Kreuz -
Zeichen, dann Gebete (Beschwörungsformeln), den Anruf der Heiligen
(Litanei) und insbesondere das Evangelium, in welchem die heil- und
kraftvollste Lehre gegen alles Böse enthalten ist. Kam nun ein Gewitter,
so griff man zu diesen Mitteln, und zwar nicht nur zu einem, sondern
zugleich zu mehreren, und in kurzer Zeit stellte man aus all diesen auch
die Formeln des Wettersegens und die der Wetterprozession zusammen.
Später, als nebst der Verehrung des Kruzifixes die Anbetung des Aller-
heiligsten in den Vordergrund dringt, nimmt man in Deutschland zu den
Wetterprozessionen um die Kirche auch das heilige Sakrament mit. In
Süddeutschland werden die Wetterprozessionen zu Flurumgängen, denn
1) Ebda. S. 384f.; Journal of American Folk-Lore 17 (1904), 211.
2) Frazer a. a. O. S. 384.
46
Schwartz :
an den Quatembertagen geht man auf die Felder, um auf diese vom
Allmächtigen Gedeihen zu erflehen. Da diese Wege lang waren, mußte
man Aufenthalte machen und hatte Zeit, das besondere Anliegen des Volkes
vorzulegen. Es werden daher bei den Stationen die Evangelienanfänge
gelesen (sie repräsentieren die ganze frohe Botschaft), darauf aktuelle
Orationen gebetet und der Segen erteilt. In höheren kirchlichen Kreisen
erregte die Mitführung des heiligen Sakramentes auf den Wetterprozessio-
nen großes Aufsehen, und es dauerte nicht lange, so wurden gegen dieses
Vorgehen ernste Einwendungen gemacht. Als aber auf die Bitte der
heiligen Juliana von Lüttich (1193—1258) das Fronleichnamfest eingeführt1)
und die Feier des Festes nach der Herausgabe der päpstlichen Bullen
Transiturus (Urban IV., 1264) und Sit Dominum (Clemens V., 1311)
in der ganzen katholischen Kirche angeordnet wurde2), trat die Verehrung
des Allerheiligsten ganz besonders in den Vordergrund, und in Deutschland
trug man bei der Fronleichnamsfeier den eucharistischen Christus — zuerst
in Köln (1279), dann in Würzburg (1298), Hildesheim (1301), Augsburg
(1305), bei uns in Ungarn erst im Jahre 1424 — auf den Gassen und Straßen
in einem Siegeszuge zur Anbetung herum. Da auch dieser Umgang lange
Zeit in Anspruch nahm, wurden nach Analogie der Flurumgänge Stationen
gemacht, hier die Evangelienanfänge gelesen und Orationen zum Schutz
von Haus und Feld gebetet. Die deutsche Fronleichnamsprozession hatte
alsbald den Charakter einer Flur- und Wetterprozession angenommen, und
nun machte man gegen die Wetterprozessionen mit dem heiligen Sakrament
vergebens Einwendungen: der deutsche Seelsorgerklerus konnte sich in
seinen Übungen auf den Fronleichnamsumgang berufen3).
Während in Deutschland aber der Fronleichnamszug den Charakter
einer Flur- oder Wetterprozession hatte, galt in anderen Ländern — wie
das Rituale Romanum4) und in unserem Falle das Rituale Strigo-
niense (Erzdiözese Gran)5) zeigt — die ganze Feier einzig und allein dem
Heilande im heiligsten Altarsakramente.
Die Elemente sowohl der römischen als der deutschen Auffassung in
der Begehung unseres Festes finden wir in den deutschen katholischen
Gemeinden der Ofner Berge, die am Anfänge des 18. Jahrhunderts
hauptsächlich durch bayrische Kolonisten gegründet wurden.
Die Vorbereitungen beginnen in der erwähnten Gegend (Budaörs,
Budakeszi, Bia, Torbägy kommen in Betracht) schon einige Tage vor dem
Feste. Auf der Wiese, im Walde und in dem Hausgarten hält man nach den
•Blumen Umschau, die für das Wegelschtraat (das gestreute Wegerl,
s. Abb. 1) notwendig sind. Am Vortag nachmittags geht dann die eigent-
4) L. Beer, Heiligenlegende (Regensburg, o. J.) 1, 201; A. Stolz, Legende
(Freiburg i. Br., o. J.) S. 221.
2) Mihälyfi Äkos, A nyilvänos istenlisztelet (Budapest 1923) S. 161; Artner
Edgar, Az egyhazi evnek leiräsa (Budapest 1923) S. 259ff.
3) Vgl. A. Franz, Die kirchlichen Benediktionen im Mittelalter (Freiburg i. Br.
1909) 2, 19—123.
4) Rituale Romanum (Ratisbonae et Romae 1913) S. 280ff.
6) Rituale Strigoniense (Ratisbonae 1909) S. 446ff.
Die Fronleichnamsfeier in den Ofner Bergen.
47
liehe Arbeit an. Die Männer suchen nach den Stauden und Baumästen,
mit denen der Prozessionsweg eingesäumt und die Altarhütten gemacht
werden. Die Frauen und Kinder aber holen die Wiesen- und Waldblumen
(auch Gartenblumen) ab, damit sie am nächsten Tag in glänzender Blumen-
pracht dem Heilande ihre Huldigung dar bringen können.
Am heiligen Tag in der Frühe ist das ganze Dorf auf den Beinen. Das
Wegelschtraat ist abgesteckt, und auf den Stationen wird an den
Altären gebastelt. Jeder Hauswirt sorgt dafür, daß der Straßenteil vor
seinem Hause sauber gefegt und mit weißem, feuchtem Sande bestreut
werde, damit das heilige Sakrament von den Blumen in voller Lebens-
frische empfangen werde. Vor dem Zusammenläuten kommen nun die
Hausfrauen vor ihr Haus und bestreuen ihren Straßenanteil mit Blüten.
Am Rande neben den Ästen und Stauden liegen in breiten Streifen grüne
Blätter, in der Mitte aber sind die feuerroten, gelben, blauen und weißen
Blüten in langen Reihen oder zu Figuren (Kreuz, Herz, Hostie, Kelch,
Stern, Landeswappen usw.) geformt ausgestreut. Jede Hausfrau hat ihren
eigenen Geschmack und ihr eigenes Muster und trachtet, das Blumen-
teppichstück ihrer Nachbarin mit echtem Kunstsinn weiterzuführen. Es
ist ein Genuß, diesen 4—5 km langen lebenden Laufteppich anzusehen!x)
Und erst die vier Altäre in den vier Himmelsrichtungen! Die schneeweißen
Tücher auf dem Tische, das Altarbild, die Kerzenleuchter, alles — alles mit
Blumen geschmückt! Den Eingang ziert das aus Blumen gewundene
Herz Jesu oder das in einen Blumenkranz gefaßte I. H. S. An den Wänden
hängen eine Menge von Blumenkränzlein (1000—1500), die aus der Nachbar-
schaft zusammengetragen wurden, und es wird streng darauf geachtet,
daß jedes Kränzlein wieder dorthin zurückgelange, woher es gekommen ist.
Die Glocken rufen schon zum Festgottesdienst, der Priester tritt an
den Altar und singt die heilige Messe. Ist sie zu Ende, so gerät die ganze
Gemeinde in Bewegung, und in einem Triumphzug wird der Heiland auf die
mit Blumen geschmückte Straße getragen. An der Spitze des Zuges
flattern die Kirchenfahnen, ihnen folgen die kleinen Schulkinder, die
Herzgardisten und die Schutzengelkinder. Dann schreiten in
schneeweißer Volkstracht die Marienmadl, und nun kommen, in weißem
Rock und mit schwarzem Jupperl, mit Kerzen in der Hand und einem
Myrtenkranz auf dem Haupte ,dieSakramentskinder. Alle diese, auch die
Lampenträger und die Schützen, dürfen nur am Rande des Wegerls gehen,
denn der Blumenteppich ist dem Allerheiligsten, dem Priester mit der
Monstranz Vorbehalten. Was auf den „Himmel“ (Baldachin) folgt, darf
alles auf dem Wege’lschtraat gehen: die Bauernkapelle, die Sänger, dieVereine,
die in dunkle Bauerntracht gekleideten Männer und Frauen.
Bei den Stationen wird Halt gemacht. Der Priester liest einen Evan-
gelienabschnitt vom Altarsakrament, der Chor singt eine Sakraments-
hymne, das Volk und die Musik stimmt das „Heilig, heilig, heilig“ an, es
!) Vgl. K. Reuschel, Deutsche Volkskunde 2, 114. — Dieser Blumenteppich
hat, wie ich das anderorts nachweisen werde, mit der Fronleichnamsteppichkunst
in Freising nichts zu tun.
48
Schwartz: Die Fronleichnamsfeier in den Ofner Bergen.
wird noch der Segen erteilt, die Schützen geben eine Salve ab, die Böller
erschallen in den Bergen, und dann zieht die Prozession weiter, bis sie in
die Kirche zurückkehrt. Hier stimmt der Priester noch das Te Deum an,
und damit nimmt die kirchliche Feier ein Ende1).
Die Gasse aber lebt wieder auf. Das Wegelschtraat ist zwar zertreten,
der bunte, helleuchtende, prächtige Laufteppich zerrissen, aber die Hütten-
kapellen stehen noch aufrecht da. Es kommen die Nachbarsleute und
nehmen ihr Kränzlein mit. Sie sind wichtig, diese gesegneten kleinen
Kränze! Sie kommen in die „Paradiestum“ und werden am Fenster
festgenagelt. Kommt dann im Sommer ein unheilbringendes Gewitter, so
streut man von des Kränzleins Blüten in das Feuer, damit der Blitz ins
Haus nicht einschlage, und damit auch von der Wirtschaft aller Schaden
ferngehalten bleibe. Manche sammeln auch die zertretenen Blumen vom
Wegelschtraat, streuen sie unter das Vieh, um auch dieses vor jedem Unheil
zu schützen. „Überhaupt bringt das Kranzei Segen und schützt gegen
die Elemente.“
* *
*
Welche Bestandteile dieses ganzen feierlichen Vorgehens sind nun auf
das römische Rituale zurückzuführen, welche stimmen mit der Art und
Weise der Begehung des Fronleichnamfestes auf dem großen deutschen
Sprachgebiete überein % Das Schwergewicht der Fronleichnamsfeier liegt
in den Ofner Bergen gerade so wie in Deutschland auf der Prozession als
solcher. Auch die Prachtentfaltung — der Blumenweg, die bunten Gruppen
der Teilnehmer, die Schützen, die Böllerschüsse usw. — die Haltestellen
und das Absingen von Evangelienabschnitten, die Erteilung des Segens
nach den vier Himmelsrichtungen, die vom Volk angenommene Blumen-
oder Kräuterweihe und nachher das Aufbewahren dieser Weihkräuter als
Abwehrmittel gegen die Naturgewalten und Krankheiten verweisen uns
auf die Fronleichnamsfeier der deutschen Länder2), wo unsere Festlichkeit
heute noch den Charakter einer Flurprozession hat3). Nach den römischen
Vorschriften ist wohl auch eine Prozession zu vollziehen, aber diese sollte
nur ein Triumphzug des eucharistischen Heilands sein. Woher hat nun
unser ungarländisches Graner Rituale die Stationsliturgie ? Es hat sich
über diese Frage einmal schon der Liturgiker Bischof L. Rajner aus-
gesprochen, indem er behauptete, die Bischöfe hätten über die Erlaubnis
verfügt, bei langen Umzügen in Kirchen oder Kapellen (bei Altären) Ruhe-
stationen zu halten, und da die theophorische Prozession am Fronleichnams-
tage lange Zeit in Anspruch nimmt, so bediente man sich bei uns der von
x) Vgl. N. v. Knebel, Das Fronleichnamsfest, Neue Post vom 3. Juni 1920;
Fronleichnam in Budaörs, Sonntagsblatt vom 21. Juni 1925.
2) P. Sartori, Sitte und Brauch 3, 219ff. — ... das Abfeuern von Mörsern und
Böllern gilt dem Schutze und Gedeihen der Felder“ trifft bei uns nicht zu. Hier wird
durch das Böllerschießen und durch die Salve der Schützen, wie bei anderen Gelegen-
heiten, nur die Feier des Festes gehoben.
3) L. Eisenhofer, Katholische Liturgik (Freiberg i. Br. 1924) S. 145;
P. Parsch, Das Jahr des Heiles 1930 (Klosterneuburg 1929) 2, 251 ff.
Von Henne, Tod und Teufel.
49
der Kirche bewilligten Erlaubnis, die Stationen einzusetzen1). Ohne diese
Erlaubnis zu bezweifeln, nehmen wir doch auf Grund des Charakters unserer
Prozession an, daß die Umgangsliturgie im Graner Zeremonial nach deut-
schem Muster eingeführt wurde, aber mit dem Bestreben, im offiziellen Teile
des Festes alles im Sinne der römischen Vorschrift auf den eucharistischen
Christus zu beziehen. In bezug auf den Fronleichnams-Volksglauben in
den Ofner Bergen aber können wir mit Sicherheit feststellen, daß alles
(die Blumen und Stauden repräsentieren die Felder, Fluren; der Glaube
an die geweihten Blumen — sie sind eigentlich nicht geweiht — verweist
auf die apotropäischen Benediktionen) den Charakter deutscher Flur-
prozessionen mit dem Allerheiligsten an sich trägt.
Zusammengefaßt: Die offizielle Liturgie des Fronleichnam-
festes in den deutschen Gemeinden der Ofner Berge ist dem
römischen Rituale entnommen, die Form des Umzuges lehnt
sich an das deutsche Beispiel, und die Anteilnahme des Volkes
selbst ist mitgebrachtes Erbe aus Deutschland.
Von Henne, Tod und Teufel.
Von Theodor Siebs.
Bei geschichtlicher und etymologischer Betrachtung des Wortschatzes,
namentlich des mundartlichen, ergeben sich durch plötzliche Entdeckung
bisweilen bedeutsame kulturgeschichtliche Erkenntnisse und Zusammen-
hänge, die man bisher nie vermutet hatte, ja deren Behauptung uns lächer-
lich gewagt erschienen wäre. Ein Beispiel dafür bietet der im deutschen
Nord westen weit verbreitete Name Dingsdag für den Dienstag. Man deutete
ihn früher zumeist als Tag des Dinges oder Gerichtes, trotzdem daß in
Deutschland solche Benennungen der Tage nach den an ihnen üblichen
Handlungen nicht gebräuchlich sind und es eine nicht erweisbare Annahme
war, man habe gerade am dies Martis Gericht gehalten. Ein ganz ver-
nünftiger Schluß wäre nun gewesen, man hätte — wie es beim Wodanstag
und Freitag, beim englischen Wednesday und Friday und beim Tuesdav
ist — in dem Dings- einen Namen des germanischen Gottes gesehen, der
von den Römern in ihrer interpretatio Romana als Mars bezeichnet wurde.
Wer aber hätte eine solche Behauptung gewagt! Er wäre als unwissen-
schaftlicher Phantast abgetan worden — bis zufällig 1884 am Hadrians wall
in England die dem Mars Thingsus geweihten römisch-germanischen Götter-
steine gefunden wurden und bewiesen, daß sich, von uns ungeahnt, in der
mundartlichen Form Dingsdag die Erinnerung an den großen germanischen
Gott — meines Erachtens ist es der Himmelsgott2) — über 1600 Jahre
bei uns erhalten hat, während sonst nirgends in der Welt eine Spur davon
bewahrt ist.
1) Rajner Lajos, A Rituale-kerdes Magyarorszägon (Budapest 1901) S. 254ff.
2) Zeitschr. f. deutsche Philologie 24, 433ff.; Mitteilungen der Schles. Gesellsch.
f. Volkskunde 25, 8 ff.
Zeitschrift für Volkskunde II, 1—2.
4
50
Siebs:
Solche Entdeckungen mögen uns aber auch das Recht und den Mut
geben, gelegentlich einmal aus bisher ungedeuteten Worten, indem wir
sie geschichtlich zurückverfolgen und vergleichend etymologisch erklären,
recht weitgehende Schlüsse auf alte kulturgeschichtliche Verhältnisse zu
wagen. So habe ich vor vielen Jahren einmal aus einer Reihe sprachlicher
Überlieferungen einen germanischen Todesgott erschlossen, der auf einer
römisch-germanischen Inschrift der Rheinlande durch die latinisierte
Dativform Channini bezeugt ist, dort dem Mercurius der Römer gleich-
gestellt wird, in althochdeutscher Form Henno heißen und heute Henne
genannt werden müßte. Ich hatte im Jahre 1891 in der Zeitschr. f. deutsche
Philologie 24, 145ff. einen nicht geringen Stoff über diese Frage zusammen-
getragen; zehn Jahre später hat dann J.H. Gallée in der Tijdschrift voor
Nederlandsch Taal-en Letterkunde, deel 20, 46ff. unter dem Titel „Henne,
Hunne en Hüne en hunne samenstellingen“ die von mir mitgeteilten
Beweise, ohne sie zu kennen, mit Erweiterungen gegeben und dann in
derselben Zeitschrift 21, 34 unter dem Titel „Nog eens Henne = Hunne“
mit Bezug auf meine Abhandlung einige Bemerkungen zu dieser Sache
beigesteuert. Ferner hat Gregor Sarrazin in den „Mitteilungen der Schle-
sischen Gesellsch. für Volkskunde“ 13/14, 552ff. unter dem Titel „English
henbane — Bilsenkraut“ auf einschlägige Pflanzen- und Ortsnamen sowie
auf das englische „henmoney“ als eine Opferspende hingewiesen; auch
seien hier Wolf von Unwerths „Untersuchungen über Totenkult und
OdinnVerehrung“ (Germanist. Abhandl. Bd. 37) genannt.
Ausgegangen war ich von der sicheren Erkenntnis, daß das Wort
kenne, kenn „Tod“ bedeutet; einige friesische Ausdrücke hatten mich
darauf geführt. Als ich einmal in dem kleinen friesischen Sprachgebiete
des Saterlandes weilte, um den Wortschatz zu sammeln und Sitte und
Brauch aufzuzeichnen, hörte ich: wan der dn döddn iz un möut fdrlclöddd
wexdd, dän seih dö wiud det kendklöd of henddJclöd, un dan kridht dr dn
scfyen kämdnd öun un dän det kendklöd ök un wet dan so op’t stre1 del lait1).
So war das Totenkleid benannt. Leicht stellte ich dann kendklöd (nicht
henddklöd) als die richtige Form fest, denn im niederländischen Westfries-
land fand ich die lautlich entsprechende Form kindlcled, und in mittel-
niederdeutscher Sprache ist kenneklet oder kenenklet bezeugt. Das Wort
ist über die Niederlande und das nordwestliche Niederdeutschland ver-
breitet gewesen. Strodtmann in seinem Idiotikon Osnabrugense bietet
heinenkleed und (mit volksetymologischer Umgestaltung nach hemd)
hemdekleed. Beachtenswert ist auch das dort erscheinende Wort kennekost,
die das letzte Abendmahl meint, eigentlich wohl „Todeskost“. In dem
Emsgauer Text der friesischen Rechtsquellen in mittelniederdeutscher
Fassung heißt es „van testamenten, waer, eyn man ofte wyf valt vp oer hen-
hedde in koer krancheyt ende men den preester kaelt“ — damit ist natürlich
das Totenbett gemeint; der friesische Text hat ein Mißverständnis ,,hwersa
J) Wenn da ein Toter ist und muß angekleidet werden, dann nähen die Frauen
das Hennekleid oder Hendekleid, und dann kriegt er ein reines Hemd an und dann
das Hennekleid auch und wird dann so auf das Stroh niedergelegt.
Von Henne, Tod und Teufel.
51
en mon iefta en wif uppa thet hlenbed fait and thene papa halath“ (Altfrs.
Rechtsqu. 206, 10). Der niederdeutsche Text hat einmal die Stelle ,,ende
neme dat vp hoer hennevaert, der friesische anda nimpth thet vp sin steruen“:
da meint also hennevaert nicht Hinfahrt, sondern Todesfahrt; auch daß
die mittelhochdeutsche Form henevart hinvart (Benecke-Müller-Zarncke
III, 254b), mittelniederdeutsch hennevart besonders häufig vom Tode ge-
braucht wird (wie freilich auch altenglisch hin^an^ hinsiß „Tod“, hin-
¿¡ryre ,,Todesschrecken' ), ist auffällig, und vielleicht haben wir in manchem
Falle bei solchen Worten, deren ursprünglicher Sinn nicht mehr verstanden
ward, mit volksetymologischer Umdeutung zu rechnen.
Anschließend an diese sichere Erkenntnis, daß das Wort henne ur-
sprünglich „Tod“ oder „Toter“ bedeutet haben muß, hatte ich — wie schon
erwähnt — die darauf beruhende Benennung eines germanischen Todes-
gottes vermutet und zu zeigen versucht, 1. daß wir sie für den Wodan,
also für den Führer des Seelenheeres, für den wilden Jäger gebraucht
finden; 2. daß ferner, da die heidnischen Götter seit der Zeit der Bekehrung
als diaboli gelten, das Wort Henne dann begreiflicherweise für den Teufel
verwendet wird; endlich 3. daß das Wort Henne sowie ihm verwandte
Formen bis auf den heutigen Tag auch für den Tod oder für die allegorische
Auffassung des Todes gebraucht werden. Ich hoffe, hierfür gelegentlich
eine größere Zahl von Beweisen zusammenzustellen. Einstweilen will ich
in Kürze einige weitere Beispiele aus Sage, Brauch, Volksglauben und
Volkslied heranziehen, die meines Erachtens zu diesem Hennokult gehören
oder zu dem Namen des Gottes in Beziehung stehen. Wenn dabei gelegent-
lich die lautlichen Zusammenstellungen recht gewagt erscheinen, so liegt
das daran, daß in Fällen, wo Sache und Wort nicht mehr verstanden
wurden, stark mit volksetymologischer Umdeutung zu rechnen ist.
1. Herne the hunter.
Die Sagengestalt des Herne (der Name wird zumeist hdm gesprochen)
ist wohl stets als die des wilden Jägers oder Nachtjägers aufgefaßt worden.
Sie ist aus Shakespeares „Merry wives of Windsor“ allgemein bekannt;
in Akt IV, Szene 4 sagt
Mrs. Page: There is an old tale goes, that Herne the hunter,
Sometime a keeper here in Windsor forest,
Does all the winter time, at still midnight,
Walk round about an oak, with great ragg’d horns;
And there he blasts the tree, and takes the cattle;
And makes, milch-kine yield blood, and shakes a chain
In a most hideous and dreadful manner:
You have heard of such a spirit; and well you know,
The superstitious idle-headed eld
Received, and did deliver to our age,
This tale of Heme the hunter for a truth.
Page: Why, yet there want not many, that do fear
In deep of night to walk by this Herne’s oak:
But what of this?
4*
52
Siebs:
Mrs. Ford: Marry, this is our device;
That Falstaff at that oak shall meet with us,
Disguised like Herne, with huge horns on his head.
(vgl. auch Akt V, Szene 5).
Hierzu bemerkt Jacob Grimm (Deutsche Mythol.4 2, 786; 3, 283):
„an Shakespeares Herne the hunter erinnert Home the hunter, der mit
dem Teufel den Eber bei Bromsgrove in Worcestershire jagt, auch Harry-
ca-nab heißt.“ Daß der Name Herne (gesprochen hdjin Irvdxn) als Horne
auf gef aßt werden konnte, läßt sich aus lautlichen Gründen dadurch er-
klären, daß mundartlich auch für horn Formen wie hdrn (z. B. Xsle of Man)
und dn (z. B. Lancashire) Vorkommen: man vergleiche dazu die Angaben
bei Joseph Wright, The English Dialect Dictionary Bd. VI (The English
Dialect Grammar, S. 133). — Shakespeare stellt diese Sage von Herne
als eine alte, bis auf seine Zeit verbreitete Volksüberlieferung hin, und
begreiflicherweise fragt man nach sonstigen Spuren von ihr. Daß sie im
Volksmunde weitergelebt habe, kann ich nicht nachweisen; aber eine von
William Harrison Ainsworth unter dem Titel „Windsor castle“ 1843 ver-
öffentlichte Geschichte könnte dafür sprechen. Dieser in Walter Scotts
Art schaffende und von ihm geschätzte Dichter gibt eine novellenhaft
ausgestaltete, recht umfangreiche Erzählung vom wilden Jäger Herne, die
sich in der Örtlichkeit eng an Shakespeares Erwähnunganzuschließen,
in ihrer ganzen Art aber nicht aus der Phantasie, sondern auf Grund
einer Volkssage von Ainsworth geschaffen zu sein scheint. Ganz kurz
sei der Inhalt der etwas langatmigen Geschichte auf deutsch wiedergegeben.
Unter den Jägersleuten Richards II. war ein junger Mann namens Herne; der
stand beim König hoch in Gunst und war sein stetiger Begleiter, auf der Hirsch- wie
auf der Bärenjagd, auf der Falkenbeize und wenn es auf den Fuchs oder den Marder
oder die Otter ging. Je mehr der König ihn auszeichnete, desto mehr haßten ihn die
neidischen Kameraden. Eines Tages jagte der König in den Forsten des Grafen von
Oxford und kam bei Verfolgung eines Hirsches von seinen Jagdgenossen ab; nur Herne
war bei ihm geblieben. Der Hirsch wollte den König annehmen, und der wäre verloren
gewesen, hätte sich nicht Herne dazwischen gestellt und ihn dadurch gerettet; Herne
selbst lag zum Tode verwundet dort; der König tröstete ihn, indem er ihn zu seinem
obersten Jäger ernannte und versprach, er wolle für ihn, falls er doch sterben müsse,
viele Seelenmessen lesen lassen. Dann verhieß der König dem hohe Belohnung, der
helfen könne; und da erschien ein großer, dunkler Mann, der saß auf einem schwarzen
Hengst, stieg ab und sagte, er heiße Philipp Urswick und werde den Herne heilen.
Darauf schnitt er mit seinem Jagdmesser das Haupt des Hirsches ab und verlangte,
man solle die Hirnschale mit dem Geweih auf den Kopf des Verwundeten binden.
Durch die Jäger ließ ihn Urswick dann in seine Hütte bringen. Als sie verlangten,
daß er den Herne töten solle, weigerte Urswick sich, sagte aber: wenn sie ihm einen
später zu äußernden Wunsch zu erfüllen versprächen, so wolle er machen, daß Herne
zwar gesund werde, aber alle seine Geschicklichkeit und Fähigkeit als Jäger verliere.
Sie gingen darauf ein. Herne wurde geheilt, Urswick vom König mit Gold und einem
silbernen Jagdhorn belohnt. Als aber Herne bald darauf wieder den König auf der
Jagd begleitete, warf der Hengst ihn ab; als der König ihm befahl, auf einen Rehbock
zu schießen, schoß er vorbei. Und so ging es immer. Der König war gütig, aber er
konnte ihn als obersten Jäger nicht brauchen. Herne, der nicht mehr Hund noch
Roß in der Gewalt hatte, wurde von seinen Kameraden verlacht. Da ging er, ver-
wirrten Sinnes, in den Wald; er nahm sich vom Galgen eine Kette, und die Hirnschale
des Hirsches mit dem Geweih setzte er sich wie einen Helm auf; so fand ihn ein
Von Henne, Tod und Teufel.
53
Hausierer an einer Eiche hängen, und die hieß seitdem Hernes-Eiche. Der Hausierer
holte die Jägersleute zu dem Baume hin; aber Herne war verschwunden, nur ein
Strick hing vom Aste herab. Der König war sehr traurig. Er wollte die Seelenmessen
für Herne lesen lassen, wie er einst versprochen; aber die Priester wollten das für den
Selbstmörder nicht tun. In einer Nacht kam dann ein furchtbares Gewitter, und
Hernes Eiche ward vom Blitz getroffen. — Der an Stelle Hernes zum obersten Jäger
ernannte Kamerad hatte nun wie jener das Schicksal, daß ihm alles mißlang; und
so ging es noch fünf anderen — sie alle waren behext. Da wandten sich die Jäger um
Rat an Urswick. Er sagte, sie sollten nachts zu der Eiche gehen. Dort sahen sie im
Lichte einer blauen Flamme die Gestalt Hernes und fielen auf die Knie. Lautes
Gelächter erscholl, und der Geist verlangte unter Kettengerassel und Verwünschungen
mit hohler Stimme, sie sollten zur nächsten Nacht mit Hunden und Pferden sich
jagdbereit einfinden. Als sie dann mit dem schwarzen Hengst und den zwei schwarzen
Hunden Hernes eintrafen, sprang plötzlich die Gestalt Hernes auf das Roß und schrie:
„Zum Wald, zum Wald!“ Dann jagte er vorwärts und die ganze Gesellschaft ihm nach.
Es ging einen Hügel hinauf, und unter einer hohen Buche machte endlich Herne Halt.
Und da stand plötzlich, vom Blitzfeuer umleuchtet, Urswick vor ihm und rief: „Will-
kommen, Herne, und ihr, die ihm Gefolge seid! Schwört ihm Gehorsam als eurem
Führer!“ Das taten sie, und dann begann die wilde Jagd und dauerte bis zum Anbruch
des Tages. Und so ging es Nacht für Nacht. Der König ward darauf aufmerksam und
zog einmal um Mitternacht mit starkem Gefolge zur Eiche. Dort traf er Herne auf
schwarzem Rosse, und fragte ihn, warum er diesen nächtlichen Spuk vollführe, und
warum er Selbstmord begangen habe. Da sagte ihm Herne, wie er durch die nieder-
trächtigen Kameraden zur Verzweiflung getrieben sei, und auf seinen Rat ließ der
König sie an der Eiche aufhängen. Während Richards Regierung ließ sich die wilde
J agd nicht wieder sehen; aber seitdem Heinrich IV. den Thron bestiegen hatte, war sie
wieder da, und solange Windsor forest steht, wird Herne the hunter dort umgehen.
Inwieweit Ainsworth diese nach Scott scher Art erzählte Sage un-
mittelbar oder mittelbar dem Volksmunde entnommen oder sie mit hier
und da vorkommenden Zügen der Sagen vom wilden Jäger, von Wodan
und dergleichen ausgestaltet hat, können wir nicht bestimmen, sondern
nur das Vorhandensein dieser Motive feststellen. Der Jäger erscheint zur
Nachtzeit, meist in Sturm und Gewitter, auf schwarzem Rosse, in Be-
gleitung zweier schwarzen Hunde; er ist von blauem Feuer umleuchtet;
die Bedeutung des Hirsches und besonders des Geweihs, wie sie in dem
Brauche des Aufsetzens von Renntierhäuptern oder Hirschmasken bei
Tänzen und Umzügen bewahrt ist (Kuhn, Zeitschr. f. deutsche Philol.
1, 89ff. und HO); der sein Ziel verfehlende Schuß; der wilde Jäger als
Selbstmörder; die Gehängten als Opfer an den wilden Jäger; die Motive
des Milchzaubers, des Galgens, der Kette, der Eiche; die dem wilden Jäger
Begegnenden fallen betend auf die Knie; Seelenmessen werden für ihn
gelesen u. a. m. — alles dieses finden wir sowohl in der Erzählung von Herne
als auch in den Sagen vom wilden Jäger.
Die Sage von der wilden Jagd ist nun ganz besonders in der Nor-
mandie und in vlämischen Gebieten verbreitet und wird hier als „mesnie
Hellequin“ bezeichnet; freilich ist dieses Wort in sehr verschiedener Ge-
stalt überliefert. Uhland sagt darüber in den „Schriften zur Geschichte
der Dichtung und Sage“ 8, 172: „Hellequin mit mancherlei Entstellungen,
wie sie einem fremdgewordenen und für weitgehende romanische Zubildung
schwierigen Worte nicht erlassen sein konnten“ und fügt in Anmerkung
hinzu „dergleichen sind Herlequinus . . . Hernequin, Hanequin, Hennequin“
54
Siebs:
und S. 183 „auf demselben Blatte wechseln Hanequin und Hellequin“,
und S. 184 nennt er „la mesgnie Henne quin“; auf S. 193 wird das Wort
Mouhihennequin erwähnt. Schon Jacob Grimm (Myth.4 2, 786) deutet
an, daß „Hellequin aus dem deutschen helle (Unterwelt) oder der Dimi-
nution hellekin, persönlich und männlich aufgefaßt, zru verstehen“ sei, und
schon Phillips, Vermischte Schriften 3, 172, dann Elard Hugo Meyer
(in seiner Germanischen Mythologie S. 240) wollen damit die auf den
französischen König Karl V. bezügliche Form Charlesquint bzw. das Wort
Harlekin verbinden. Sicherlich ist, da das Wort dem vlämischen Gebiete
angehört, -quin eigentlich die verbreitete Verkleinerungssilbe -kin (vgl.
französisch mannequin = mannekin „Männchen“ u. a.), und so hat wohl
das ganze Wort als germanisch zu gelten. Wir finden (in Anlehnung an
eine von Ordericus Vitalis für 1091 bezeugte Person) die Form „mesnie
Her le quin“, sodann (in Anlehnung an einen Grafen Herne quin von Bou-
logne) die Form „mesnie Herne quin“, ferner die erwähnten Formen Helle-
quin und Hennequin. Für welche dieser Namensformen des Führers der
wilden Jagd sollen wir uns entscheiden ? Gegen Herlekin spricht, daß dies
Wort als germanisch gar nicht zu deuten wäre, man müßte denn die Kose-
form eines mit Hari- „Heer“ gebildeten Personennamens Herilo mit einer
weiteren Verkleinerungssilbe -kin annehmen; eine Beziehung auf den Führer
des Seelenheeres wäre damit aber nicht gegeben. Die Form HellekTn würde
freilich durch die Beziehung auf helle (Hölle) einen Sinn geben, im Verhältnis
zu den übrigen Formen aber würde sie sich am ersten als volksetymologische
Umbildung einer nicht mehr verstandenen Form Hernekin oder Hennekin
darstellen, während diese letzteren wohl kaum aus Hellelcin umgebildet sein
könnten. Hernekin wäre die durchaus einwandfreie Verkleinerungsform zu
dem Namen des Herne, den wir im Englischen als wilden Jäger kennen-
gelernt haben. Möglich ist ja, daß die Sage von der wilden Jagd aus der
Normandie, etwa im 11. Jahrhundert, nach England gekommen wäre.
Wahrscheinlicher aber ist mir, daß in der Normandie ebenso, wie in England,
der germanische Name des Henno für den Führer des Seelenheeres gegolten
habe, daß er, mit der Silbe -kin verbunden, ein Hennekin ergeben habe
und dieses entweder 1. erhalten oder aber 2. durch Übertragung auf den
Grafen Hernequin von Boulogne zu Hernekin oder 3. durch volksetymo-
logische Umdeutung zu Hellekin geworden sei. Eine der letzteren gleiche
Entwicklung finden wir im Deutschen (vgl. unten S. 60), wenn das Wort
henneloch für den Ort der Toten oder das Reich des Teufels zu helleloch
umgedeutet worden ist. Übrigens kann auch der Name des berühmten
normannischen Ritters Hellequin, der zu „Richard ohne Furcht“ in Be-
ziehung stand, zu der Umbildung des Namens Hennequin beigetragen
haben. Daß diese Form die ursprüngliche ist, scheint mir erwiesen durch
die Worte der Croniques de Normandie1) über die wilde Jagd: ,,. . . et les
appelloit-on la mesgnie Hennequin en1) commun language; mais c’estoit
T) In seiner 1912 gedruckten Hallischen Dissertation „Etymologie des Wortes
harlequin und verwandter Wörter“ hat Martin Rühlemann auch über die Namens-
form Hellequin (die er für die ursprüngliche hält) gehandelt und manches Gute darüber
Von Henne, Tod und Teufel.
55
la mesgnie Charles -Quint qui fut jadis roi de France.“ Die volkstümliche
Sprache wird ja den altüberlieferten Namen für den wilden Jäger am besten
bewahrt haben. Auch ist zu beachten, daß die Form Henekin als Schimpf-
name bezeugt ist. Und wenn in Unterfranken im Walde ein Jäger nachts
als Gespenst mit einem Kalb auf dem Rücken umgehen muß und ,, Henne -
kalb“ genannt wird, so scheint das auf den Namen Henne für den Nacht-
jäger zu deuten (Panzer, Beitr. z. deutschen Mythologie 1, 178; Zeitschr.
f. deutsche Philol. 24, 150).
Auf Grund dieser Ergebnisse kann man annehmen, daß der Name
des wilden Jägers, Hennekm, eine durch die Verkleinerungssilbe -hin er-
weiterte Form des für den Führer des Seelenheeres geltenden Namens
Henne ist. Daß in England das Wort hen — für „Tod“ vorkommt, hat
Sarrazin (Mitt. d. Schles. Gesellsch. f. Volkskde. 13/14, 552) durch die
Namen henbane, henmoney u. a. gezeigt; auch ist darauf hinzuweisen, daß
in Yorkshire die henstones, „groups of stones on the ridge of high moors“,
genannt werden (Lucas, Stud. Nidderdale, c. 1882, VIII; Jos. Wright,
The English Dialect Dictionary 3, 142); und das im Ablaut dazu stehende
Wort hun-barrow (hunbarrer), das sich dem deutschen hunnebedden, ver-
gleicht, bedeutet ,,a tumulus“, Engl. Dial. Dict. 3, 280. Vor allem ist nun
beachtenswert, daß der Name Hen(ne) in England aus lautlichen Gründen
sehr wohl als Hern(e) auf gef aßt werden konnte. Wie nämlich die Laut-
gruppe ern mundartlich zu dn cen geworden ist, konnte auch ein en dn als
ern aufgefaßt werden, so daß also hen(ne) als hern(e) oder auch als hdrn Mn
empfunden werden konnte; in den meisten Mundarten ist ja das r im Wort-
innern vor Konsonanten geschwunden, vgl. Engl. Dial. Dict. Bd. 6 (the
English Dialect Grammar, S. 60, 114, 137): in gewissen Mundarten er-
scheinen z. B. Worte wie earnest „ernst“, learn „lernen“ als enist len neben
men „Männer“.
2. Hinnebritten.
Neben der sogenannten Hochstufe, die wir für das Germanische als
han ansetzen und in dem Worte henno — Tod oder Toter finden, sind eine
Mittelstufe hen und eine Tief stufe hun anzunehmen, die uns in den Formen
hin(n)e und hun(n)e erhalten sind und ebenfalls Tod, Toter usw. bedeuten.
Für die Tiefstufe braucht man nur auf das im niederdeutschen Gebiete
bezeugte hunnekled „Totenkleid“ oder die weitverbreitete Bezeichnung
hunnebedden für „Totenstätten, Grabstätten“ (man vergleiche auch das
soeben erwähnte englische hunbarrow) hinweisen, woraus dann vermutlich
beigebracht. Auf die (mir nicht wahrscheinliche) Etymologie des Wortes harlequin,
die das Ziel seiner Dissertation ist, will ich hier nicht eingehen. Doch muß ich das,
was er von der Absicht meiner älteren Arbeit über Henno behauptet, als vollkommen
aus der Luft gegriffen bezeichnen. Er sagt (S. 73): „Siebs setzt als Etymon des Wortes
harlequin die Form Hennequin an. Letztere ist bei ihm gleich der Form Hellequin,
Herlequin ... Es scheint sehr gewagt, auf eine Inschrift, die uns trotz Siebs’ ver-
suchter Deutung noch rätselhaft erscheint, eine Untersuchung über den Ursprung
des Harlequin gründen zu wollen.“ Ich habe aber in meiner Arbeit die Worte Harle-
quin und Hennequin überhaupt nicht erwähnt.
56
Siebs:
die heute gebräuchlichen Namen Hünebetten, Hünengräber usw. entstellt
sind; auch können die (S. 50) erwähnten friesischen Formen hendklöd
usw. zum Teil auf umgelautetes u der Tief stufe zurückweisen.
Die ¿-Formen der Mittelstufe (hinne usw.) für einschlägige Begriffe
sind ebenfalls mehrfach bezeugt. Sie liegen vermutlich auch vor in dem
Worte hinneb ritten, das nicht mehr verstanden ward und daher stark
durch volksetymologische Umdeutung entstellt worden ist. In mittel-
deutscher Sprache kommt in einem Vocabularius von 1420 (hrsg. von
Schröer, Preßburg 1859) hinbrit für den Zustand der Ekstase vor, wobei
der Körper wie tot im Schlafe liegt, die Seele aber, etwa in Tiergestalt,
durch weite Lande fliegt — sowie die Ynglingasaga (c. 7) von Odinn er-
zählt, daß er nach dem Gestaltwandel wie tot daliegt, zugleich aber als
fugl eda dyr, fiskr eda ormr in weite Lande fährt. Solch ein Zustand heißt
im Althochdeutschen irbrottan (Partizip zu brettan) entzogen, entrückt,
entzückt und ist soviel wie raptus; mittelhochdeutsch sagt man ,,gezucket
anme geiste“. Diese Auffasssung ist aufs engste mit dem Elben- und Maren-
glauben verbunden. In einer Heidelberger Handschrift 341 Bl. 370a wird
erzählt, wie einem Ritter durch Urteil des Kaisers statt seiner längst ver-
storbenen Mutter eine‘alte Frau, die ihn für ihren Sohn ansieht, als Mutter
zugesprochen wird. Alle Entgegnungen nützen ihm nichts; schließlich gibt
er nach und sagt:
„Wol her, liebiu muoter mini hinenpriten si gewesen
irsult mir willekomen sin. und alsus manec jär genesen,
doch envriesch ich solher mcere nie, si sol uns dennoch sagen me,
daz also lange ein vrouwe ie wie ez in jener werlde sie.“
das meint: „ich habe nie gehört, daß eine Frau je so lange aus dieser Welt
wie tot entrückt gewesen und dann wieder gesund geworden sei; sie soll
uns aber nun erzählen, wie es dort in jener anderen Welt aussieht.“ Hinne-
britten, Hennebretten, auch mit Verkleinerungssilbe Hinnebrittchen sind also
die elbischen Wesen des Toten- und Seelenglaubens, die durch den Tod
Entrückten; sie werden in vielen mittelalterlichen Handschriften in ver-
schiedenen Formen (als hennpredigen, hinuirtigen) neben truten, nachtvaren,
pylweisen, unholden, eiben u. dgl. genannt (vgl. Schmeller, Bayr. Wb.
1, 372; 1, 1118; 2, 1038). Der Schlesier Wenzel Scherffer (642) sagt
„denn sie auf der Krücken ritt Und sich stellt als Hünepritt“. Erklären kann
er das so wenig wie Jacob Grimm. Aber das Wort läßt sich bis in die
neuere Zeit verfolgen. Das Deutsche Wörterbuch (IV, 2, 1457) nennt hier
eine Stelle aus Meinhold (Reime dich; Nordhausen 1673): „wann man
dich ruft, so fahre auf, als wenn du mit Mutter Käthen in hünnebrüden
gelegen.“ Und in Joh. Christian Ettners „Des getreuen Eckharts unvor-
sichtige Hebamme“ (Leipzig 1715) heißt es S. 226: „nach diesem Zufall
findet sich auch bei der Mutterschaft das Hinbrüten, zu lateinisch ecstasis,
entzücken, allwo die auf steigende Dünste . . . eine sogenannte Narkosie
oder Schlafsucht verursachen, da dann die Patientin dahin fällt, lieget
eine Weile, gleich in einer Ohnmacht . . . wann sie dann wieder zu sich
kommen, so erzählen sie gleich träumenden, was sie von Lieblichkeit oder
Von Henne, Tod und Teufel.
57
Widrigkeit genossen und erlitten . . . einige vermischen diese Ecstasin mit
dem hinbrüthen der Zauberinnen, welche . . . zur Erden in einen Schlaf
fallen, zu welcher Zeit sie allerlei gesticulationes mit dem cörper machen,
und wann sie der Possen gnug getrieben haben, erwachen sie und erzehlen,
was vor Lust und herrlichkeit sie genossen haben.“ Zu Anfang des 18. Jahr-
hunderts also hat das dem ,,Hinnebritten“ entsprechende Wort ,,hinbrüten“
noch den ursprünglichen Sinn bewahrt; heute aber hat das Wort, das als
„dumpfes Hinbrüten“ in kaum einem Romane entbehrlich scheint, jene
sonderbare volksetymologische Umdeutung erfahren, bei der die so ein-
wandfreie und nützliche Arbeit des brütenden Vogels durch Anwendung
auf menschliche Untätigkeit sehr herabgesetzt wird.
Schon aus den genannten mannigfachen und unsicheren Schreibungen
kann man entnehmen, daß der Name jener elbischen Wesen, die gern mit
solcher verkleinernden Koseform auf -chen (als hennpretigen u. a.) erscheinen,
nicht mehr verstanden wird. Das hat nun in Schlesien und auch in Hessen
zu völliger Entstellung des Wortes geführt. Karl Weinhold weiß es
„nicht genügend zu deuten“. Er sagt (Die Verbreitung und die Herkunft
der Deutschen in Schlesien, Stuttgart 1887, S. 86): „Der elbische quälende
Nachtgeist ist als Alp auch in Schlesien bekannt. Ein uraltes Spiel, bei
dem die Elben oder Elbentrötsche gefangen wurden, hat sich in Schlesien
unter dem entstellten Namen hiltpritschen gerade so erhalten, wie es
in Hessen als hilpentritschen bis in unser Jahrhundert gespielt ward. In
Schwaben kannte man es als Elpentrötsch.“ In Weinholds „Beiträgen
zum schlesischen Wörterbuche, Wien 1855, S. 35b“ heißt es: „hilt-
pritschen ein Neckspiel mit Einfältigen oder Gutmütigen, die sich an-
führen lassen. Sie werden zum Fange von Hiltpritschen auf gef ordert und
mit einem Sack mitten ins Feld gestellt, in dem sie die Hiltpritschen auf-
fangen sollen, die ihnen die andern zutreiben wollen. Diese entfernen sich
in der Dunkelheit — denn dieser Spaß wird abends getrieben — und jene
bleiben mit dem aufgehaltenen Sack so lange stehen, bis sie merken, daß
sie gefoppt sind1). Vgl. Brendel, Heimatklänge, Freiburg in Schl. 1852,
S. 19ff.“ Lorenz Diefenbach (Kuhns Zeitschr. 8, 392) sagt, daß in
Oberhessen hilpentritsch „der geneckte elbische Wicht“ sei, vgl. Petters,
ebenda 5, 474.
3. Tod und Teufel.
Begreiflicherweise finden sich in neuerer Zeit keine sicheren Beispiele
dafür, daß Henn(e) geradezu als ein Gott bezeichnet wird, man müßte
denn etwa den für Niederhessen bezeugten mundartlichen Ausruf „Gott
Hennel“ (Pfister im Nachtrag zu Vilmars Idiotikon S. 100; vgl. das
oberhessische henne wenn(e) bei Crecelius 1, 450, das mittelhochdeutsche
id henne) und das von Müller-Fraureuth für Sachsen nachgewiesene
i) Eine weitere eigenartige volksetymologische Umdeutung hat im Schlesischen das
Wort dadurch erfahren, daß es an Ausdrücke wie a hmt garna, a is hinS „er (ver)höhnt
gern, er ist höhnisch“ angelehnt wird und man, wenn jemand stichelt und höhnt, sagt:
,,däf is hinapritS“.
58
Siebs :
Gutt Henne\ (Obersächs. Wörterb., S. 500) so erklären. Wohl aber haben
wir Zeugnisse dafür, daß der Name Henn(e) für den Teufel gebraucht
wird, wie ja die heidnischen Götter seit der Bekehrung vielfach als Unholde
und Teufel galten. In Agricolas Sprichwörtern heißt es (1560): „er sihet
eben, als hab er holzäpfel gessen . . . wie Henn der teufe 1.“ Und bedeut-
sam ist eine früher nicht verstandene Stelle in Martin Luthers Schrift
„Antwort deutsch auf König Heinrichs von England Buch“ (1522): „Ich
sprech hie schier, das könig Heintz von Engelland eyn Enne were, hatt
yhn doch der teuf fei ßo gar besessen, das er sich keyns anders vleyssigt,
denn auß lautterm muttwill der gotlichen maiestet wort öffentlich tzu
lestern unnd sehenden. Das dyr Satan gott gepiete, wie tobistu widder
deynen schöpffer unnd herrn“ (Werke X, 2, 253). Der Sinn kann hier nur
„Teufel, Satan“ sein; bei Luther fehlt oft das anlautende h, z. B. er König,
erab, eraus. Wir haben hier also das gleiche Wort wie bei Agricola.
Sonderbarerweise erscheint neben Henn für den Teufel eine eigenartige
Nebenform. In Bruder Hansens Marienliedern heißt es (3708): „so moes
der langeswanste heyn sin saget slaen zwischen sin beyn;“ zweifellos ist hier
mit dem „langgeschwänzten Heyn“ der Teufel gemeint, während sonst
das Wort kein (hain) als Name des Todes (den wir auch als Henne kennen-
gelernt haben) sehr verbreitet ist. Uns ist die Bezeichnung „E re und
Hein“ als einer Allegorie des Todes geläufig. Früher nahm man an, sie
sei von Matthias Claudius um 1774 geschaffen als Spott auf einen Ham-
burger Arzt; auch Musaeus in der Vorrede zu Freund Heins Erschei-
nungen in Holbeins Manier von J. R. Schellenberg (Winterthur 1785)
hält Claudius für den Erfinder des dann bald sehr häufig gebrauchten
W ortes. Mögen auch Claudius und dann P f e f f e 1 den Arzt damit verspottet
haben, ursprünglich ist Hein ein volkstümliches Wort; auch Jacob Grimm
(Myth.4 2, 710) hält es für alt. Es wird schon in einem plattdeutschen Liede
auf den Tod aus dem 17. Jahrhundert erwähnt (K. Braun, Aus der Mappe
eines Reichsbürgers, Hannover 1874, 2, 155ff.):
,,he geiht dörch Wald un Hain,
dörch Hütt un dörch de Königsborg,
Kloppt an bi Jung un Old,
Bi Arm un Riek
Un säght se mit sine Hände todt.
Un der em denn nich ropen mögt
Bi synen bösen Namen,
De ropt
Hör op, hör op, hör op, rum’t meihn, rum’t sähgen,
Du büst min gode fründ, herr Hain,
ok allerwegen.“
Kommt also hier schon volkstümlich der Name Hein für den Tod
vor, so ist fast noch wichtiger, daß gerade wie henn- so auch hein-
für Tod, Toter in Wortzusammensetzungen erscheint. Neben hennekleed
„Totenkleid“ haben wir schon die Form heinenkleed (S. 50) gefunden. In
Dresden bezeichnet in älterer Zeit und noch heute die heimbürge oder
heimbürgin die Leichenfrau. Das Wort hat mit dem Amtsnamen „Heim-
Von Henne, Tod und Teufel.
59
bürge“ für den „Gemeindevorsteher“ nichts zu tun, sondern meint die
Frau, welche den Toten birgt oder besorgt. Schon durch die Dresdener
Leichenordnung von 1686 ist dieser Name bezeugt und ist bis auf den
heutigen Tag auf Wohnungsschildern dort noch üblich. Der „Heimbürge“
muß auch für einen ganz untergeordneten Beruf, vermutlich für den
Totengräber oder den Henker gebraucht worden sein, denn es heißt in
einer Verfügung: „vom Stadtschreiber bis zum Büttel und Heimbürgen
herab“ (Hugo Preuß, Die Entwicklung des deutschen Städtewesens 1,
Leipzig 1906, S. 44). Wenn in frühmittelhochdeutschen Quellen (Mone,
Anz. 4, 369) für den Tod ,,hainvart“ vorkommt, wie wir schon das nieder-
deutsche Wort hennevart fanden (Deutsches Wb. IV, 2, 870), so mag das
allenfalls „Heimfahrt“ bedeuten. — Weniger zweifelhaft aber erscheint
mir ein älterer Rechtsausdruck, den schon Jacob Grimm (Myth.4 2, 710
und Rechtsaltertümer 1, 505), freilich mit größtem Bedenken, herangezogen
hat. Es ist das Recht des Leibherrn, zu verlangen, daß ihm im Falle des
Todes eines Unfreien ein von ihm auszuwählendes bestes bewegliches Stück
aus dem Nachlasse gegeben werde. Dies wird mortuarium genannt,
deutsch auch beste houbet, kurmede, totleiba, d. h. Todhinterlassenschaft
usw., vgl. C. J. A. Mittermaier, Grundsätze des gemeinen deutschen
Privatrechts6 I, § 93 Note 28. In Hessen wird es „Hainrecht“ genannt,
vgl. Ph. Fr. Ulbrich, De iure mortuario in Hassia eiusque specie nomine
hainrecht insignita, Marburg 1769. — Eine Verbindung des Wortes kein- mit
dem Begriffe des Todes hat Jacob Grimm (Myth.4 1, 228. 369; 2, 710)
darin vermutet, daß die unter dem Namen Heimchen, richtiger Heinchen,
vorkommenden elbischen Wesen als abgeschiedene Geister im wilden Heer
und im Berchtenzuge erscheinen, ein eignes Leben forttreiben und den
eddischen näir zu vergleichen sind. Nach ihnen heißen in der Görlitzer
Gegend die Totenhügel ,,Heinen- oder Heinchenhäuser“ (Kühnau, Schles.
Sagen 2, 74). — Bei dieser Gelegenheit sei noch auf die Erwähnung eines
alten Gottes Hain hingewiesen. In der von Karl Rosenkranz heraus-
gegebenen „Neuen Zeitschrift für die germanischen Völker“ I, 3, 27 wird
über Freiburg an der Unstrut berichtet: „Noch ist an einer Außenseite
des hiesigen Schlosses, über der sogenannten Münze oder über der Wohnung
des Schloßthorwärters, ganz oben am zweiten Stock, ein eingemauertes
steinernes altes Brustbild zu erwähnen, welches den alten Hain-Gott, aus
den Zeiten unserer heidnischen Vorfahren, vorstellen soll“ (dann wird auf
einen nahe gelegenen Hainberg oder Hahneberg und zur Erklärung auf
einen Gott der Haine Bezug genommen). — Sodann wird von Julius Schmidt
in einer älteren volkskundlichen Arbeit „Mediko-physikostatische Topo-
graphie der Pflege Reichenfels“ (Leipzig 1827) ein Gott Hain erwähnt,
vgl. Myth.4 2, 710.
Das Vorhandensein vieler solcher eLFormen neben denen, die e, i,
u als Vokal der Stammsilbe zeigen (kenne, hinne, hunne) läßt sich nicht
bestreiten; in einzelnen Fällen ist es wohl durch mundartliche Lautver-
hältnisse zu erklären, wahrscheinlich aber haben wir mit einem Ablaut
zu rechnen, wie er für das ei in meinen (im Sinne haben) gegenüber mahnen
60
Siebs: Von Henne, Tod und Teufel.
minne, gotisch muns, angenommen wird und vielleicht in griechisch yevoivdoi
statt *fiefioivduj gegenüber men, mon eine Parallele hat.
Wir haben gesehen, daß gelegentlich e- und ¿-Formen nebeneinander
erscheinen, z. B. hinnepritten neben hennpredigen; auch wird in Harzsagen
(Kuhn und Schwartz, Norddeutsche Sagen, S. 167, 489) von einer
Hinnemutter erzählt, die etwa als eine Fru Hinne ähnlich wie die Frau
Wode (Myth.42, 773) zu beurteilen wäre. — Beachten wie ferner, daß ver-
schiedene Beispiele uns gezeigt haben, wie die Worte helle und Kenne mit-
einander vertauscht erscheinen, z. B. in Hellekln und Hennekln. Nun meint
helle (Hölle) — noch im 12. Jahrhundert — durchaus nicht immer den
Strafort und Aufenthalt der Verdammten, sondern die Unterwelt, das
Reich der Toten; und da sie gern als ein loch bezeichnet wird, so nennt
man sie das helleloch (so in der Martinalegende 216, 18 des Hugo von
Langenstein um 1295), auch wohl leidez loch (leidez hol), d. h. schlimmes
Loch (z. B. Hartmans Armer Heinrich V, 579 und Marner, v. d. Hägens
Minnesinger 2, 253b). Es findet sich aber auch dafür das Wort henneloch.
Damit mag dann entweder der Ort des Todes oder — vielleicht weil Henne,
wie wir gesehen haben, auch als Name des Teufels gilt — der Ort des
Teufels gemeint sein. So steht bei A. v. Büchner, Lehre der Kinder vom
Lande (1780) „Ich sehe euch schon im Henneloch beim Kasperl von Kreil-
hofen“ (d. h. beim Teufel).
Vor einiger Zeit wurde mir durch Friedrich Graebisch ein Lied aus
Gießhübelim Bezirk Neustadt an der Mettau, nebst einigen Abweichungen
aus der Gegend von Wartha in der Grafschaft Glatz mitgeteilt.
1. Do kemmt der Pauer mit om Wene1),
Dar schtellt sich of de Bene;
On är müf ä mit ais Hinnerlöch nai!
2. Do kemmt der Schülmäister mit der Prelle,
Dar bitt em Göts Welle;
On är müf ä mit ais Hinnerlöch nai!
3. Do kemmt der Schpüler mit der Metze
On der Wäwer mit der Schetze;
On fe missa ä mit ais Hinnerlöch nai!
4. Do kemmt der Borchermäister mit om Landröt
On der Schuster mit om Pechedroht;
On fe missa ä mit als Hinnerlöch nai!
5. Do kemmt der Schörschtenfeger mit der Krotze
Un de Schlaissan met m Schotze;
Un fe missa ä mid ais Hinnerlöch nai!
]) 1. Da kommt der Bauer mit dem Wagen, der stellt sich auf die Beine, und er
muß auch mit ins Henneloch hinein. — 2. Der Schulmeister mit der Brille, der bittet
um Gottes willen. — 3. Der Spuler mit der Mütze und der Weber mit dem Schiffchen
(mit der Schütze). — 4. Der Bürgermeister mit dem Landrat und der Schuster mit
dem Pechdraht. — 5. Der Schornsteinfeger mit der Kratze und die Schleußerin mit
dem Schatze. — 6. Zuletzt kommt der Besenbinder mit dem Pferdeschinder. — 7. Und
da wollen wir alle mitsammen und miteinander im Henneloche lustig sein.
Steller: Phol ende Wodan.
61
6. Zoletzte kemrat der Bäsembender,
Br engt met a Färdeschender;
Un fe missa ä mid ais Hinnerlöch nai!
7. On dö well mer olle mitzomma on mitnander
Äim Hinnerloche lostich /ain.
Natürlich ist dies ein altes Totentanzlied. Wenn man das Hinner-
löch als „Hühnerloch“ auffaßt (so lautet die Überschrift des Liedes, in
Deutsche Volkskunde aus Böhmen 11, 133), so ist das sinnlos; und wenn
man in Altweistritz ,,Himmelloch“ singt, so ist das auch nicht viel besser.
Selbstverständlich ist hier das Grab oder auch die Hölle gemeint: das Loch,
in das die Toten hineinkommen, also dasselbe Henneloch, das wir in älteren
Quellen vorgefunden haben.
Phol ende Wodan.
Von Walther Steller.
Noch immer ist der viel erörterte Beginn des sog. zweiten Merseburger
Zauberspruches in seiner Deutung eine offene Frage. Philologie und Mytho-
logie müssen sich gleichermaßen um sie bemühen, wobei der Philologie die
vorbereitende Rolle zufällt. Sie hat bereits in den Ausführungen Preuslers1)
eine zufriedenstellende Sachlage geschaffen, der ich zustimmen möchte.
Da unserer Erörterung die umstrittenste2) Erwägung, ob es sich bei den
im Spruch vorkommenden Namen um die Deckformen christlicher Heiligen-
namen handelt — also auch die Erörterung der Variante Wodan = „Herr“,
„Gott“, „Christus“ —, zunächst fernbleiben kann, wiederhole ich hier
kurz, daß mir jegliche Erklärung des rätselhaften „Phol“ als Personenname
(Paulus o. a.)3) abwegig zu sein scheint. Vielmehr halte ich mit Zacher4),
Kauffmann5), Steinmeyer6) und Preusler7) gegen Gering8) den Laut-
1) W. Preusler, Zum zweiten Merseburger Spruch; in „Beiträge zur Deutsch-
kunde“ (Festschrift Siebs zum 60. Geburtstag, hrsg. von W. Steller) Breslau 1922,
S. 39f.
2) S. Bugge, Studien über die Entstehung der nordischen Götter- und Helden-
sagen, übers, von O. Brenner, München 1889; K. Krohn, Finnisch-ugrische For-
schungen 1, 148f., 5, 130f. Helsingfors-Leipzig 1901/05; ders., Göttinger Gelehrte
Anzeigen 174 (1912) S. 201 f. in einer Anzeige von R. M. Meyer, Altgermanische
Religionsgeschichte; V. J. Mansikka, Über russische Zauberformeln, Diss. Heising -
fors 1909; R. Th. Christiansen, Die finnischen und nordischen Varianten des zweiten
Merseburger Spruches, FFC 18, Hamina 1914; E. Schröder, ZfdA. 52, 180; R. M.
Meyer, ZfdA. 52, 390f.; J. Schwietering, Der erste Merseburger Spruch, ZfdA. 55,
148f. • Fr. Hälsig, Der Zauberspruch bei den Germanen bis um die Mitte des 16. Jahrh.
Diss. Leipzig 1910. W. H. Vogt, Zum Problem der Merseburger Zauber Sprüche,
ZfdA. 65 97 f. (1928).
3) Th. v. Grienberger, Die Merseburger Zaubersprüche, ZfdPh. 27, 433f.
4) J. Zacher, Über Photographien d. Merseb. Besprechungsformeln,
ZfdPh 4, 467.
5) F. Kauffmann, Der zweite Merseburger Zauberspruch, PBB. 15, 207.
«) MSD3.
7) A. a. O. S. 44.
8) H. Gering, Der zweite Merseburger Spruch, ZfdPh. 26, 145f.
62
Steller:
wert Phol (in der Handschrift erst Pol geschrieben und mit darübergesetztem
h verbessert) gleich „fol“ für gesichert und durch den Stabreim mit vuorun
gestützt. Dieses Wort, das sich passend zu dem volon der nächsten Zeile
stellen würde, wäre also nhd. Fohlen, und man könnte, wie Preusler1)
vorschlägt, die erste Zeile des Spruches in ,,volo enti Wodan vuorun zi holza“
bessern. Volo = nhd. Fohlen ist in seiner Bedeutung allgemein als „Streit-
roß“, „Pferd“ zu fassen, wie ja überhaupt die Bezeichnungen für Art und
Geschlecht der Pferde die vielfältigsten, oft entgegengesetztesten Wand-
lungen durchgemacht haben2). In der Beziehung des Ausdrucks „Balderes“
der zweiten Zeile auf Wodan stimme ich mit Bugge3), Kauffmann4) und
Preusler5) überein, so daß sich für die beiden ersten Zeilen des Spruches
die Übersetzung ergibt: „Das Pferd und Wodan begaben sich in den Wald;
da ward dem Roß des Herrn sein Fuß verrenkt.“ In diesem Zusammen-
hang stützen unsere Deutung die christlichen Sprüche, in denen das
Pferd eine Rolle spielt, wie der norwegische Spruch: Jesus rei sin fole,
der den Herrn Jesus Christus als Reiter des „Pferdes“ nennt6). Von beson-
derer Bedeutung für das Folgende wird der schwedische Spruch: Fylle red
utför berget7); Preusler setzt fylle = Füllen (an. fyll = nhd. Füllen),
wobei also hier dann Fylle das „Fohlen“, das „Pferd“ in irgendeiner Art
personifiziert selbständig auftritt8). Daß in diesen Sprüchen die Beziehung
zu Wodans Roß nahe liegt, ist fast stets angemerkt worden; die Kom-
bination wird erleichtert und gestützt durch die Varianten der Sprüche,
die von einer grauen Farbe des Pferdes sprechen in Übereinstimmung mit
Gylfaginning 42, die den Sleipnir ebenfalls als grau schildert. Nun erzählt
ja auch die Bibel, daß Christus seinen Einzug nach Jerusalem beritten
hielt, und die Gleichartigkeiten, die sich hierbei boten (Situation, Farbe des
Reittiers u. a. m.), erleichterten die analogischen und assoziativen Ver-
knüpfungen und Umbildungen der Sprüche außerordentlich. Nach Kaarle
Krohn (Finnisch-ugrische Forschungen 1, 72) haben wir es bei diesem
Spruch mit einem der „interessanten fälle“ zu tun, in denen „sowohl
heidnische als christliche namen in verschiedenen Varianten einer und
derselben Überlieferung oder sogar in einer und derselben Variante gemischt
auftreten“, wobei dann „ohne prüfung der beweise beiderseits überhaupt
keine annahme gelten kann“. So meine ich auch, daß mit der Nennung
der echten — nicht der dazu erfundenen — Götternamen, zum mindesten
aber des obersten Gottes Wodan, und in der Deutung des Rosses mit einem
Hinweis auf das mythologische Reittier Sleipnir wir wohl einen „Blick
in die Götterwelt Germaniens“ tun können, wenn er uns auch vielleicht
*) S. 45.
2) M. Jähns, Roß und Reiter 1, lf. Leipzig 1872.
3) A. a. O.
4) PBB. 15, 207.
5) S. 44.
6) A. Chr. Bang, Norske hexeformularer og magiske opskrifter, Nr. 40,
Christiania 1901.
7) O. Ebermann, Blut- und Wundsegen, Palaestra 24, Berlin 1903.
8) W. v. Unwerth, Der zweite Trierer Spruch, ZfdA. 54, 195f.
Phol ende Wodan.
63
nicht so „ungeahnt“ erscheinen will, wie Grimm in seiner Forscherfreude
es zu erfühlen vermeinte. Spuren der heidnisch-germanischen Mythologie
zeigen sich auch in anderen christlichen Sprüchen, wie z. B. die Brücke
Bilfrost, über die Odin auf dem Sleipnir reitet1), als die Brücke, über die der
Herr in den Sprüchen reitet, und die in der Einzugsszene oder Ölhergsszene
zunächst keinen Anhaltspunkt findet, sondern ein Zitat aus heidnischem
Überlieferungsgut in dem christlichen Segensspruch ist. So kann uns
vielleicht auch unser Spruch doch mehr Mythisches erahnen lassen, als
bisher dem Forschen erschien; auch hier hat Jakob Grimm, wie ich glaube,
bereits den Weg gewiesen.
Hoch ehe wir diesen Gedanken weiter verfolgen, sei nur kurz an die
Mahnung Useners erinnert, der es für notwendig erachtet, daß die deutsche
Mythenforschung die auf deutschem Boden entstandenen christlichen
Legenden als Quelle verwerte2), dieselbe Ansicht, die Otto Schräder für
den Götterglauben der Slawen ausgesprochen hat3). Es ist dies ein Vorgang,
der für die Christianisierung des heidnisch-antiken Bodens genug belegt
und hier allgemein anerkannt ist, wobei für unsere Untersuchung vor allem
an die Umformung der heidnisch-antiken Vorstellungswelt zur christlichen
legendären Überlieferung zu denken ist. Kaarle Krohn trennt die antike
Welt, für die er eine solche Entwicklung anerkennt, von dem germanischen,
vor allem nordischen Boden, für den er sie ablehnt. Bei der Entstehung
oder Umformung mythischer Erzählungen und legendenhafter Geschichten
muß aber in Betracht gezogen werden, daß sowohl die germanischen als
auch die Mythen des südeuropäischen Kulturkreises dem Bereich der
indogermanischen Völker zugehören und somit, wie wir zu sagen pflegen,
geschwisterlich miteinander verwandt sind, so daß eine gewisse Ähnlichkeit
der Grundlagen noch ohne Berührung, Austausch oder Analogiebildung,
gegeben sein kann, und daß auch eine gewisse Ähnlichkeit der christlichen
Legenden, die den mittelmeerischen Vorstellungsinhalt weiterführen, mit
den germanischen Erzählungen möglich sein kann.
Helm spricht einmal4) von drei Schichten, die wir bei der Betrachtung
der germanischen Religionsgeschichte zu beachten haben. Als erste „die
breite Schicht der Vorstellungen, die auf der ganzen Welt bei sog. Primitiven
und bei höher stehenden Völkern ihre Entsprechungen haben: Magie und
Orakel jeder Art, die Vorstellungen des tabu und des Dämonischen, der
Reinheit und Unreinheit, Fetischismus, Animismus und Totenkult, lauter
Dinge, die in ihrem Ursprung zum Teil wohl vorreligiös sind, die aber im
weiteren Verlauf sich mit allen Stufen religiöser Entwicklung aufs engste
verbinden, die auch in den höheren Religionen neben den Götterkulten
!) Gylfaginning 15.
2) H. Usener, Vorträge und Aufsätze S. 47, Berlin 1907.
3) O. Schräder, Die Indogermanen (Leipzig 1911) S. 138f., erzählt von dem
Fortleben eines heidnischen Opfers in christlicher Umformung in Rußland.
4) K. Helm, Germanisches und außergermanisches Heidentum. Methodische
Erwägungen zur altgerm. Religionsgeschichte (Rede, gehalten bei der Übernahme
des Rektorats). Mitteilungen des Universitätsbundes Marburg Nr. 26, November 1929.
64
Steller:
in der sog. niederen Mythologie weiterleben und ganz ebenso neben unserem
Christentum bis heute in jenen Vorstellungen, die man als Aberglaube zu
bezeichnen pflegt. Es ist die Äußerungsform der primitiven Religiosität
der Masse; sie überdauert die Zeiten und kann als die wahrhaft zeitlose
Form der religiösen Vorstellungen betrachtet werden, zeitlos auch insofern,
als sie immer und immer neu entsteht“. Als zweite Schicht nennt dann
Helm die kultischen Übungen, die an bestimmte Stufen wirtschaftlichen
Lebens geknüpft sind, an die Kultur der Jäger, Fischer, Tierzüchter und
Ackerbauer; gerade die letzte dieser Stufen ist für die Ausbildung kultischer
Übungen (Vegetationsriten, Frühjahrs- und Erntekulte, im Kreislauf des
Jahres wiederkehrende Feste) von besonderer Bedeutung geworden.
Darüber erheben sich als Drittes die Vorstellungen höheren Ranges und
jüngerer Bildung, wobei das Germanische Ähnlichkeiten zeigt mit dem
mythologischen Gut anderer Völker derselben Kulturstufe; unter bestimm-
ten Bedingungen können wir sie als gemeinsam fassen, wie wir es tun,
wenn wir von den religiösen Vorstellungen des indogermanischen Kultur-
kreises sprechen.
Daß die Erwägung heidnischer Elemente in den Zauber- und Segens-
sprüchen1) nicht irrig ist, beweist aber vor allem die Zauberformel. Die
eigentliche Formel unseres Spruches findet sich, wie A. Kuhn als erster
festgestellt hat, bereits in auffälliger Gleichartigkeit im Atharvavedaa).
Für sie steht also einwandfrei altheidnischer Ursprung fest.
Als Ergebnis dürfen wir bisher sicherstellen, daß in dem zweiten
Merseburger Spruch Anschauungen heidnischer Zeit durchklingen,
ja sich sogar in Worte hüllen, die wie die Worte der Zauberformel und wie
die echten Götternamen älterer bzw. jüngerer heidnischer Zeit angehören
und die dann, nehmend und gebend, in Austausch mit Zügen christlicher
Legendenbildung traten.
Schloß man sich der hier gegebenen philologischen Argumentation an,
so ist es befremdlich erschienen, daß in der Wortfügung Phol ende Wodan
dem „Pferd“, also sozusagen dem Begleittier des Gottes, die Stelle vor
dem obersten Gott Wodan zuteil geworden ist, die doch ausschließlich dem
im Rang Höchsten Vorbehalten bleiben sollte. Preusler3) macht hier die
Bemerkung, daß der Hintergrund für die Situation unseres Spruches *)
*) Auf den sog. ersten Merseburger Spruch, der gern als einwandfrei heidnisch-
germanisch gedeutet wird, hinzuweisen, genügt nicht ganz. Wenn wir auch der Er-
klärung der idisi „Frauen“ als Gestalten ähnlich den valkyrjur der nordischen Mytho-
logie zustimmen; vgl. auch Unwerth-Siebs, Geschichte der deutschen Literatur
bis zur Mitte des 11. Jahrhunderts, im Grundriß der deutschen Literaturgeschichte
(Berlin-Leipzig 1920) S. 48, so findet sich die Grundform dieser Formel — drei Frauen
oder Frauengruppen, von denen zwei binden, die dritte löst -— in anderen Zauber-
sprüchen wieder. Auch hier erweist sich die Parallelität mit der mittelmeerischen
Vorstellungswelt, wenn esin einem schon von Marcellus mitgeteilten lat. Krankheits-
segen heißt: tres virgines circumibant, duae alligabant, una revolvebat. J. Schwie-
tering, Der erste Merseb. Spruch, ZfdA. 55, 148.
2) A. Kuhn, Indische und germanische Segenssprüche, ZfvglSprachfg. 13, 49f.
*) a. a. O. S. 45.
Phol ende Wodan.
65
sicherlich ein Mythos sei, der mit dem Märchenmotiv vom hinkenden oder
dreibeinigen Reittier zusammenhängt. Diese sehr allgemein gehaltene
Vermutung ist jedoch nur richtig, wenn sie in einer ganz bestimmten,
eingeschränkten Richtung verwertet wird. In der Volksvorstellung, wie
sie Sagen und Märchen uns bezeugen, tritt ja das hinkende oder dreibeinige
Reittier (zumeist das „Pferd“) als Begleittier des Teufels auf, der auch
selbst diese Gestalt annehmen kann. Nun hat sich wie auf den Teufel,
als der Gestalt gewordenen Vorstellung vom Bösen, auch auf den höchsten
Vertreter der dem Christentum vorausgegangenen heidnischen Religion,
die also abzulehnen war, alles Denken vom Bösen übertragen. Die Wodans-
mythe erhält Züge der Teufelsmythe beigemischt und umgekehrt. So
erscheint der Teufel in Gestalten, die zunächst Erscheinungsformen Wodans
sind, wie der grüne Jäger. Der engere Zusammenhang besteht hier zwischen
dem Reittier („Pferd“) und Wodan, und erst durch die Vermischung beider
Mythen und das Absinken der Wodansmythe unter dem negierenden
Einfluß des Christentums zur Teufelsmythe wird auch das „Reittier“ — und
das nun ebenfalls in einer Form, die das negative Moment nicht ver-
leugnet, daher „dreibeinig“ oder „hinkend“ — ein Zug, Erscheinungsform
oder Zubehör, der Teufelsmythe. Schließlich vertritt nur noch ein Teil
das Ganze, ist es dann der „Pferdefuß“ oder der „Pferdehuf“, der den Teufel
in seiner sonst zumeist anthropomorphen Erscheinungsform kennzeichnet
und verrät. Der ursprüngliche Zusammenhang liegt, wie bereits angedeutet,
zwischen Wodan und dem „Pferd“, das da auch noch keinerlei negative
Anzeichen wie „hinkend“ oder „dreibeinig“ zeigt. Einwandfrei bezeugt ihn
die nordische Überlieferung: Wodan als Reiter des Sleipnir; die mehr als
irdischen Fähigkeiten des Reittiers beweisen die achtfüßige Darstellung
und der Wettlauf mit Hrungnis Ross Gullfari, wie ihn die Skäldskaparmäl
(Kap. 17) erzählt. Aber der Zusammenhang ist viel enger. Das ursprüng-
liche ist das „Pferd“, und zwar das Pferd als Totenführer oder Dämon
in Tiergestalt. Wodan, die anthromorphe Hypostase, ist erst eine spätere
(menschlich gesehene) Umgestaltung eines alten tierischen Dämons in
Pferdegestalt. Ihr verblieb dann in der anthropomorphen Wandlung ihre
frühere Erscheinungsform, das „Roß“, als Attribut1). Der tierische Dämon
ist ein Totendämon und berührt sich mit Wodan in seiner Eigenschaft als
Totengott, wie ihn die Interpretatio Romana als Mercurius2) kennzeichnet,
und wie er in der Volksphantasie als Führer des „wilden Heeres“, des
Seelenheeres“, das im Sturm (Seele = Wind) dahinzieht, haften geblieben
ist. Für die griechisch-römische Welt hat Malten1) diesen Sachverhalt
nachgewiesen und dahin formuliert, daß „das Roß als Inkarnation des
1) Vgl. L. Malten, Das Pferd im Totenglauben, Jahrb. d. Archäolog. Instituts
29, 179 ff. Berlin 1914. Zu Gruppe, Griech. Myth. S. 814 „Poseidon in Pferdegestalt
fährt empor, die Menschen in sein Reich zu holen“, bemerkt Malten (a. a. O. S. 209
Anm. 3): „Das ist der allgemeinen Empfindung nach richtig, wenngleich die Be-
schränkung auf den Namen Poseidon zu eng ist. Der Dämon in Roßgestalt erfüllt
diese Funktion, später das Gespann, das den Wagen des Hades, Echelos usw. zieht.“
2) Germania Kap. 9.
Zeitschrift für Volkskunde II, 1—2* 5
66
Steller:
Dämonischen ursprünglicher ist als der anthropomorph gestaltete Gott
neben dem Pferd“. Das Pferd ist der Tote, und „aus dem Toten als Pferd
wird der Tote mit dem Pferde“. Da nun durch den Prozeß des Todes der
Tote.dem Tötenden, dem Urheber des Todes, also dem Totengott, wesens-
gleich wird und ein Ganzes gegenüber der anderen Welt der Lebenden in
deren Vorstellung bildet, so ist das Roß der Totengott selbst.
Diese germanische Vorstellung eines pferdegestaltigen Totenführers
mischt sich mit dem Sturmdämon in ebensolcher Gestalt, so daß sich
daraus das Roß ergibt, das im Sturm die Seelen ins Totenreich führt. Es
gehört in die Reihe der Leichendämonen, und zwar trat der die Toten
entführende Dämon in Tiergestalt an die Stelle des die Toten fressenden
Tierdämons. Wir kennen deren eine ganze Reihe auf germanischem Boden.
Das Entstehen und die Fortdauer dieser Vorstellung ist ziemlich durch-
sichtig. Der Adler Hraesvelg verrät sich deutlich als ein solcher leichen-
fressender Dämon in Tiergestalt durch seinen Namen (der Leichenschlinger);
die Wölfe und Raben Odins gehören hierzu, die schwarzen Rosse der Riesin
Leikin (Olafssaga Tryggvasonar, Kap. 30) und der Höllenhund Garmr1),
der sich den hundegestaltigen Unterweltdämonen Kerberos und Orthros,
schließlich auch Charon und Hekate auf antikem Boden an die Seite stellt2).
Auch die Riesen sind eine besondere Art dieser Leichendämonen; der
nordische Name jgtunn zum germ. *elanaz (pl. *etanöz zu as. etan) kenn-
zeichnet sie als „die Fresser“.
Die Kombination von Sturm- und Totenroß zeigt der nordische Sleip-
nir. Seine Charakterisierung als Totenroß ist eindeutig durch den ver-
gleichenden Nachweis in den Ausführungen von Malten festgelegt. Für den
germanischen Boden ist hierfür besonders auf drei bildliche Wiedergaben zu
verweisen, die sich auf gotländischen Grabsteinen finden, von Ardre, Hab-
lingbo und Tjängvide3). Auf diesen ist ein auf einem achtfüßigen Pferde
reitender Mann dargestellt, dem eine Frau ein Trinkhorn reicht. Auf dem
Stein von Ardre und Hablingbo sind im Hintergrund die Hallen eines hohen
Gebäudes zu sehen. Dem Reiter fehlen jegliche Attribute, so daß es nicht,
wie man gemeint hat, Odin sein kann. Es ist vielmehr der Tote selbst, der in
Valhall empfangen wird. Es war also in jener Zeit noch die Vorstellung
lebendig, daß das Pferd nicht Odins Pferd ist, sondern der Führer der Toten
selbst. So ist auch Wodan die spätere menschliche Hypostase eines ur-
sprünglich tiergestaltigen Totendämons in Pferdegestalt. Für unseren Zu-
sammenhang meinen wir nun mit allem Einschluß phantasievoll assoziativer
Verknüpfung, die den geistigen Erzeugnissen des Volkes anhaftet und sie
charakterisiert, daß diese irgendwie gefühlte Priorität des Rosses gegenüber
der anthropomorphen Erscheinungsform Wodan mitgewirkt hat, dem Phot
= Pferd den bevorzugten Platz an erster Stelle einzuräumen. Die auffällige
und störende Anordnung, daß der göttliche Reiter Wodan erst nach seinem
Reittier erwähnt wird, will uns nach unserer Erkenntnis, daß wir in Wodan
1) K. Helm, Altgerm. Religionsgesch. 1, 210f., Heidelberg 1913.
2) Malten S. 236.
3) Helm S. 212/13.
Phol ende Wodan.
67
erst eine spätere anthropomorphe Gestaltung des roßgestaltigen Toten-
führers zu sehen haben, nur als die gegebene erscheinen. Malten gelangt
hei der Erörterung der Frage „wie weit bei den Hellenen das Pferd als Er-
scheinungsform für die chthonischen Mächte, speziell für solche dämonischen
Charakters, gegolten hat“ zu der Formulierung, „daß in der Verbindung
Gott und Pferd der Akzent auf dem Pferd liegt“1). So wird auch in unserem
Spruch die Reihenfolge Phol ende Wodan durch das Gefühl von der Priorität
des Rosses bestimmt, ähnlich wie noch heute auf Grund dieses mytholo-
gischen Zusammenhanges das Pferd in verschiedenartigstem Auftreten in
Volkssage und Märchen und Volksvorstellung eine so große Rolle spielt.
Nur einiges in diesen Zusammenhang Gehörige sei erwähnt. Deutlich läßt sich
auch hier die verschiedene Schichtung erkennen. Die Toten erscheinen als Pferde.
So stehen die „Seelen“ der „sündigen“ Toten im Hörselberg2) als Pferde, Tote gehen
als schnaubende und tobende Pferde um3). In besonderer Form: die Erscheinung
eines weißen Füllens wird nach einer keltischen Sage4) in der Unterwelt zu einer
schönen Jungfrau; die verzauberte Prinzessin erscheint alle sieben Jahre als weißes
Pferd5), eine Jungfrau geht um als Roß mit glühenden Hufeisen6). Dieses Motiv des
Umgehens der Toten als „weiße Pferde“ verwendet auch Ibsen wirkungsvoll in
„Rosmersholm“7). Oder die Erscheinungsform in Tiergestalt wird als erniedrigend
empfunden und kommt dann bösen8), „sündhaften“ Menschen zu oder solchen,
die eines gewaltsamen Todes starben, den Selbstmördern und Ermordeten; dazu
traten dann auch die beeinträchtigenden Züge, wie „hinkend“ und „dreibeinig“.
Eltern und Geschwister eines ruchlosen Edelmanns werden in Rappen verwandelt9);
Verstorbene leisten dem Teufel Dienste in Pferdegestalt10); der Geist eines Ermordeten,
dasÖrkentier, erscheint als Pferd11), wie der tote Pferdedieb12) oder der geizige Junker
von Rued13). Als hierher gehörig weist sich auch der „Erhängte“ Fuhrmann Roßheiri14)
der Schweizer Sage aus, der in seinem Schicksal noch besondere Beziehungen zu
Wodan-Odin erkennen läßt15); auch am Pilatusberg geht ein böser Geist in Roßgestalt
um16). Schließlich vertritt nur ein Teil das Ganze: der betrügerische Bauer erscheint
x) So würde unsere Deutung auch vor allem zurecht bestehen, wenn man der
in dem Buche Franz Rolf Schröders „Germanentum und Hellenismus“ (1924)
ausgesprochenen Annahme zuneigt, daß in den religiösen Vorstellungen der Germanen
eine hellenistische Schicht gesichert sei.
2) = Pferdeberg; J. v. Negelein, Das Pferd im Seelenglauben und Totenkult,
ZfVk. 12, 23f.
3) Wuttke-Meyer, Deutscher Volksaberglaube 3 S. 473 § 755.
4) W. Mannhardt, Germanische Mythen S. 462, Berlin 1858 (zitiert auch bei
Malten S. 233).
5) O. Tobler, Die Epiphanie der Seele in deutscher Volkssage, S. 49f., Kiel.
Diss. 1904.
«) Tobler S. 80.
7) Zitiert bei Malten S. 234.
8) F. Ranke, Die deutschen Volkssagen S. 66, München 1924.
9) L. Freytag, Das Pferd im germ. Volksglauben S. 50, Festschrift zu dem
50jährigen Jubiläum des Friedrich-Realgymnasiums. Berlin 1900.
10) R. Kühnau, Schles. Sagen 2, 729f. Nr. 1343.
n) E. L. Rochholz, Schweizer Sagen aus dem Aargau 2, 66f. Nr. 299. Aarau 1856.
12) Freytag S. 47.
13) Freytag S. 50.
14) Rochholz 2, 27 Nr. 255.
15) Vgl. W. Steller, Zum Wodanglauben. „Der gehenkte Reiter“. Mittlgn. d.
Schles. Ges. f. Vkde. 26, 89f. Breslau 1925.
16) Rochholz 2, 23 Nr. 252 S. 35.
5*
68
Steller:
mit Pferdefüßen, sonst als Mensch* 1) oder die böse Seele als Mensch mit Pferdefuß2),
wobei die Beziehungen zum Teufel offenkundig sind.
Die Stufe des Übergangs zeigen auch die Fälle, in denen Tier- und Menschen-
gestalt in der Erscheinungsform des Toten wechselt3). Auch hier verweise ich für den
antiken weiteren Rahmen auf die Ausführungen Maltens.
Die Sage bewahrt auch die zweite Schicht, die Vorstellung von dem Pferd als
dem tiergestaltigen, dämonischen Totenführer. Die deutsche Heldensage zeigt diesen
Zug der Priorität des Rosses beim Tode Dietrichs von Bern4); auch Papst Benedikt
wird von einem schwarzen Teufelsroß in die Hölle geholt5); ein gespenstiges schwarzes
Roß mit glühenden Augen springt von hinten auf nächtliche Wanderer6), und an der
Idesfelder Hardt rennt nächtlich feuerschnaubend ein weißes Roß an den Toten-
hügeln hin und springt den Vorübergehenden todbringend auf die Schulter7). Der
Tod sieht aus wie ein Hengst8), die Totenbahre wird St. Michaelspferd genannt (auch
in Ungarn)9). Das (in Dänemai’k, auch in Deutschland) auf Kirchhöfen lebendig
eingegrabene Pferd erscheint (dreibeinig) an dem Haus, in dem jemand sterben soll10),
ähnlich in der Schweiz11). So ist auch das Pferd für die Prophezeiung von Todesfällen
von vielfältigster Bedeutung: Wenn das Pferd im Finstern schnarcht, sieht es den
Tod (Ostpreußen)12); Pferdegewieher bedeutet Unglück13), Tod14) oder Krieg15); wenn
ein Pferd stolpert, naht Unheil16); das Pferd, das den Geistlichen zu einem Kranken
gefahren hat, meldet dessen Tod, wenn es den Kopf senkt oder wenn es stampft17)
und die Erde scharrt18); wenn Pferde an einem Hause nicht vorbei wollen oder scheuen,
so wird bald jemand aus diesem Hause sterben19); es gilt als Todesankündigung, wenn
am Fenster eines Schwerkranken abends ein Roß von der Straße her sichtbar wird
(Schweiz20)); springt ein vor die Taufkutsche gespanntes Pferd über den Strang, so
x) Tobler S. 80.
2) Wuttke-Meyer S. 473.
3) Th. Vernaleken, Alpensagen S. 77. Wien 1858; Rochholz 2, 67 Nr. 299.
4) J. Grimm, Deutsche Mythologie (4) S. 831; v. Negelein ZfVk. 11, 418;
Fr. von der Leyen, Die deutschen Heldensagen S. 232. München 1923.
5) Jähns 1, 405.
6) Jähns 1, 38.
7) v. Negelein, Teutonia 2, 19; Freytag S. 62.
8) Fr. Schönwerth, Aus der Oberpfalz 3, 7. Augsburg 1857/59.
9) Jähns 1, 323; v. Negelein ZfVk. 11, 416. 12, 379. Nach Negelein wird
auch im Neupersischen der Sarg als „hölzernes Pferd“ bezeichnet.
10) O. Henne-Am Rhyn, Die deutsche Volkssage S. 78. Leipzig 1874; Jähns
1, 408.
X1) Vernaleken S. 76.
la) Wuttke-Meyer S. 200 § 269; A. Baumgarten, Aus der volksm. Über-
lieferung der Heimat 3, 390. Linz 1862/69; ArchivfRw. 8, 273; ZfrwVk. 4, 260.
13) Schweiz. Vk. 10, 36.
14) J. W. Boeder, Der Ehsten abergl. Gebräuche etc. S. 70. Petersburg 1854.
15) Wuttke-Meyer S. 199 § 269; v. Negelein, ZfVk. 11, 410; Jähns 1, 423;
Grimm, Myth. 2, 548. 932; J. V. Grohmann, Aberglauben und Gebräuche aus
Böhmen und Mähren 1, 53. Leipzig 1864.
16) Grimm, Myth. 2, 932.
17) ZfrwVk. 4, 244; Am Urquell NF. 1 (1897), 17.
18) P. Drechsler, Sitte, Brauch und Volksglaube in Schlesien 1, 286. 2,116, 200.
Leipzig 1903/06.
19) Wuttke-Meyer S. 199/200 § 269; K. Bartsch, Sagen usw. aus Mecklen-
burg 2, 125. Wien 1879/80; ZfVk. 4, 327. 12, 379; ZfrwVk. 4. Heft (1914), 260;
Am Urquell 1 (1890), 8; J. W. Wolf, Beiträge zur deutschen Mythologie 1, 231.
Göttingen u. Leipzig 1852/57; C. Dirksen, Volkstümliches aus Meiderich S. 49 Nr. 7.
Bonn 1895.
20) ZfVk. 11, 416.
Phol ende Wodan.
69
stirbt der Täufling zeitig1). Sieht jemand im Traum Schimmel vom Himmel kommen,
so ist sein baldiger Tod gewiß2). Wenn Pferde vor einem Leichenwagen sich umdrehen
und sich umsehen3), nicht gleich anziehen4), unterwegs stehenbleiben5) oder auch
wenn sie zu rasch laufen6), so stirbt jemand aus dem Leichengeleite oder ein Glied
der Familie folgt dem Toten nach. Wenn sichern Pferd vor der Haustür wälzt — es tut
dies, um sich von dem auf ihm sitzenden „Bösen“ oder „Toten“ zu befreien — so
muß der in dem Haus Wohnende sterben7). Stirbt jemand plötzlich, so heißt es, das
weiße Pferd habe ihn mit dem Hufe geschlagen8), und der Genesende sagt (Schleswig):
Jeg gav döden en skiäppe havre9), man kauft sich also vom Pferd als dem Tod los,
wie man auch im alten Skandinavien den Helhestr mit bereitgestelltem Hafer ver-
söhnte10). (Derselbe Brauch mit der Namensnennung Wodan: „Wode, hol deinem
Roß nun Futter“)11). Rochholz bringt aus dem 11., 13. und 16. Jahrhundert Belege,
daß der Tote, aufs Pferd gebunden, reitend den Weg zum Grabe zurücklegte, und weiß
für einen Weg, an dem alte Gräber lagen, die charakteristische Bezeichnung „Reit-
weg“ zu berichten12). An die Stelle des Pferdes tritt dann, wie noch heute, der Wagen
mit dem Pferd. Den in der Bravallaschlacht gefallenen König Hilditönn läßt König
Ring auf einen Wagen legen; aber auch das Roß wird getötet und der Sattel mit-
gegeben; nun könne, so sagt er, der Tote tun, wie er wolle, nach Valhall reiten oder
fahren13). Der Frankenkönig Childerich wird mit seinem Rosse beerdigt14), ein Brauch,
der sich mit der Deutung begegnet, die wir der Darstellung auf den gotländischen
Grabsteinen von Ardre, Tjängvide und Hablingbo beilegten15).
Der Wesensgleichheit zwischen dem Toten und dem Urheber des Todes, dem
Totengott oder Tod, entspricht es, daß der Tod selbst zu Roß vor- und dargestellt
wird. Der Tod, beritten, setzt den Toten auf sein Tier16). Der Tod kommt auf einem
mageren Schimmel geritten (Oberpfalz)17), darum heißt er auch Schimmelreiter18);
es kann hier an die bildlichen Darstellungen der apokalyptischen Reiter erinnert
werden. Die zahlreichen Sagen, die das Lenorenmotiv enthalten, gehören in diesen
Zusammenhang: der tote Bräutigam oder der Tod selbst holt das Mädchen zu Pferd19).
4) E. John, Aberglaube usw. im sächs. Erzgebirge S. 62. Annaberg 1909.
2) Am Urquell 1, 203.
3) ArchivfRw. 8, 273; O. Knoop, Volkssagen usw. aus dem östl. Hinterpommern
S. 165. Posen 1885; S. Seligmann, Der böse Blick 1, 122. Berlin 1910.
4) ZfrwVk. 4, 279.
5) L. Strackerjan, Aberglaube und Sagen aus dem Herzogtum Oldenburg 1,
22. Oldenburg 1909.
6) ArchivfRw. 2, 216. 8, 273.
7) Am Urquell 4 (1893), 19.
8) Freytag S. 51. In Ungarn heißt es: „des heiligen Michael Pferd hat ihn
geschlagen“. Jähns 1, 323.
9) Grimm, Myth. S. 704; Jähns 1, 399.
10) Grimm, Myth. S. 261, 704; Jähns 1, 399; Rochholz 1, 399; ZfVk. 11, 416;
Wuttke-Meyer S. 297 § 434; A. v. Perger, Deutsche Pflanzensagen S. 115. Stutt-
gart und Oehringen 1864.
n) Wuttke-Meyer S. 296 § 433. S. 19 § 17; K. Müllenhoff, Sagen usw. der
Herzogtümer Schleswig-Holstein und Lauenburg S. 244f. Kiel 1845.
12) Rochholz 2, 21.
13) K. Weinhold, Altnord. Leben S. 495. Berlin 1856.
14) E. H. Meyer, Mythologie der Germanen S. 109.
15) K. Helm, Altgerm. Religionsgeschichte 1, 213.
16) Grimm, Myth. S. 704.
17) Schönwerth S. 6.
18) Ebd. S. 7.
19) Grimm, Myth. S. 704 Anm. 2;K. Simrock, Handbuch d. deutschen Mytho-
logie S. 342. Bonn 1897; v. Negelein, ZfVk. 11, 418; 12, 380; Freytag S. 23;
F. Ranke, Die deutschen Volkssagen S. 57; R. Kühnau, Schles. Sagenl, 358f. Nr. 351.
70
Steller: Phol ende Wodan.
Diese Beispiele können, der Kürze des zur Verfügung stehenden
Raumes wegen, genügen, um das Nachklingen der Vorstellung eines tieri-
schen Totendämons in Pferdegestalt zu belegen. Die Verbindung zur
anthropomorphen Wandlung findet sich in Erzählungen, in denen der Tote
bald in tierischer, bald in menschlicher Gestalt erscheint1), oder in denen das
„Pferd des Nachtjägers“ selbständig auftritt. Auch hierfür einen Beleg aus
Schlesien2):
Das Pferd des Nachtjägers.
Eine Reisegesellschaft begegnete im Jahre 1835 spät in der Nacht im Stein-
busche unweit Kauffung bei Schönau einem herrenlos herumjagenden Pferde, vor
dem die Kutschenpferde heftig scheuten. „Das ist das Pferd des Nachtjägers,“ sagte
der entsetzte Kutscher.
Sehr unterrichtend für die Mischung der verschiedenen Stufen ist
folgende schlesische Erzählung3):
Der Gehängte im Walde bei Dobischwald.
Unweit Dobischwald ist ein ziemlich großer, düsterer Wald, der unter dem Namen
„der böhmische Wald“ bekannt ist. Einst erhängte sich dort ein Bauer aus Hein-
richswald. Längere Zeit wußte man nicht, wo er hingekommen war, bis im nächsten
Sommer ein Weib, das im Walde Gras sammelte, ihn an einem Baume hängen fand.
Durch den Anblick des Toten erschreckt, eilte sie ins nächste Dorf und berichtete den
Vorfall. Die herbeigeholten Leute schnitten nun den Mann los und begruben ihn.
Seit dieser Zeit ist es in dem Walde nicht geheuer, und jedermann hütet sich, diesen
bei Nacht zu durchschreiten. Vor etwa acht Jahren waren in dem Walde „Holz-
macher“ mit dem Fällen einer Tanne beschäftigt. Plötzlich vernahmen sie in ihrer
Nähe ein furchtbares Getöse, die Äste brachen von den Bäumen, und die Säge sprang
entzwei. Als sie darauf eine andere Säge nahmen, so fielen bei jedem Schnitte rote
Sägespäne heraus. Auf einmal hörten sie ein starkes Krachen, der Baum war gefallen.
Mit seinem Falle legte sich auch ringsum das Geräusch und Getöse. Einige Jahre
später ging ein Bauer aus Dobischwald durch denselben Wald. Da begleitete ihn
ein Pferdchen ohne Kopf bis zum Dorfe.
Eine Unzahl von Zügen volkstümlichen Glaubens läuft in dieser Er-
zählung zusammen, und Zusammengehöriges wird durch sonderbare zeit-
liche Intervalle getrennt. Zunächst ist es ein Erhängter, und der Erhängte
geht um, er wird zum Wiedergänger. Ein starkes Krachen und Getöse im
Walde begleitet auch den wilden Jäger, wenn er die Waldmänner und Holz-
weiber jagt, deren grimmigster Feind er ist. Und schließlich ist der Erhängte
das gespenstische Pferdchen, d. h. Wodan, nicht in seiner anthropomorphen
Gestaltung als reitender Totenführer, sondern in seiner ursprünglichen Vor-
stellungsform als der tierische Totendämon, als das Totenpferd, der roß-
gestaltige Totengott selbst.
Unsere Erklärung findet eine starke Stütze in den vergleichenden Aus-
führungen von Malten. Es zeigen sich auf antikem Boden die über-
raschendsten Parallelen. Es wäre aber falsch, die germanischen Züge aus
Übertragungen von römisch-griechischem Boden herleiten zu wollen. Sie
lassen sich vielmehr als Gemeinsamkeiten bestimmter Vorstellungsstufen
1) Vernaleken S. 77; Rochholz 2, 67.
2) R. Kühnau, Schles. Sagen 2, 464 Nr. 1067.j
3) R. Kühnau, Schles. Sagen 1, 517 Nr. 562.)
v. Sydow: Lucia und Christkindlein.
71
begreifen. Ihre auffallenden Übereinstimmungen legen den Gedanken nahe
an ein dem indogermanischem Volkstum1) zukommendes Gut; das aber
muß, wie es auch Malten bereits getan hat, abgelehnt werden, im Hinblick
darauf, daß auch andere, nicht indogermanische Völker, bei denen an eine
Übertragung zunächst nicht zu denken ist, z. B. in der vorbuddhistischen
Religion Japans, eine Verehrung des Pferdes als Göttertier kannten. Gewiß
wird der Zusammenhang des indogermanischen Kulturverbandes dazu ge-
führt haben, die weitgehenden Übereinstimmungen herauszubilden.
Für unsere Frage möchten wir abschließend zusammenfassen, daß die
zunächst auffällige Reihenfolge Phol ende Wodan des zweiten Merseburger
Spruches gerechtfertigt zu sein scheint durch das Gefühl von der mythi-
schen Priorität des dämonischen Rosses gegenüber der an-
thropomorphen Erscheinungsform des Totengottes Wodan.
Lucia und Christkindleiu.
Von C. W. v. Sydow.
Zur schwedischen Weihnachtsfeier gehört auch der Lucia-Tag, der
13.Dezember; er nimmt in ihr einen immer mehr hervorragenden Platz ein.
Die verbreitetste Form des Brauches bei der Lucia-Feier ist folgende: Gegen
vier oder fünf Uhr morgens wird man von einem weißgekleideten Mädchen
geweckt, das einen Kranz aus Preißelbeerzweigen, an welchem brennende
Wachskerzen befestigt sind, auf dem Kopfe trägt. Sie bietet Kaffee und
Weizenbrot an, sog. „lussekattor“ (Luciakatzen) oder „dövelskattor“
(Teufelskatzen2)). Das Mädchen mit dem Kerzenkranz heißt Lucia, Lussi,
Lusse oder Lusse-Braut. Die Sitte gehört eigentlich den westlichen Land-
schaften an, besonders Wästergötland und Wärmland, hat aber jetzt im
ganzen Land große Verbreitung gefunden, vor allem bei Weihnachtsfeiern
in Schulen und Jugendvereinen. Der Lucia-Tag hat in Schweden keine
kirchliche Bedeutung, und man fragt sich, ob es sich hier um einen Überrest
heidnischen Göttinnenkults, katholischer Heiligen Verehrung oder eines
Ritus handelt, durch den die Fruchtbarkeit des kommenden Jahres be-
fördert werden sollte, ferner auch in letzterem Falle, warum diese Sitte ge-
rade mit dem 13. Dezember verknüpft wurde.
In einem Aufsatz „Lussi“ (in „Meddelanden frän Nordiska Museet“
1898, S. 1—38) hat Dr. E. Hammarstedt zu zeigen versucht, daß die Lussi
1) Auch für das alte Indien ist die Verehrung des Pferdes bezeugt (O. Schräder,
Reallexikon d. idg. Altertumskunde S. 624; Zimmer, Altindisches Leben S. 72).
Die Inder kannten ein Roßopfer, wobei daran zu erinnern ist, daß die Art des Opfer-
tiers dem Wesen der Gottheit gemäß gewählt wurde, der das Opfer galt. Charakte-
ristisch ist auch das Lied für das Roßopfer, das den (menschlichen) Wunsch enthält,
daß das geopferte Tier in den Himmel eingehen und dort Vater und Mutter finden
möge (Rigveda 1, 163, 13).
2) Der ursprüngliche Name wird „dövelskatt“ gewesen sein, der aus dem Nieder-
deutschen eingeführt zu sein scheint. Es wäre erwünscht, daß Wort und Sache deut-
scherseits untersucht würde.
72
v. Sydow:
der Volkssitte eine Vertreterin der Liebes- und Fruchtbarkeitsgöttin unserer
Vorfahren ist, also am ehesten von Frigg oder Freia. Dieser Ansicht habe ich
mich angeschlossen in einem Aufsatz „Gudinnan Fröja i folktraditionen“ (in
„Etnologiska studier tillägnade Nils Edvard Hammarstedt 3. 3. 1921“,
S. 168—170), wo ich die hauptsächlich westschwedische Lucia-Sitte mit der
ostschwedischen Vorstellung zusammenstellte, daß Freia in der Weihnachts-
nacht die Obstbäume schüttelt, um sie für das folgende Jahr fruchttragend
zu machen. Diese Zusammenstellung von Lussi und Freia erweist sich
jedoch bei genauerer Prüfung als unhaltbar. Wenn auch die Lucia-Feier
eine Art Einleitung zu Weihnachten bildet — zu Weihnachten sucht man
ja u. a. die Saat des kommenden Jahres zu fördern — so beweist dies nicht,
daß die Lucia-Gestalt einem solchen Zwecke dient. Die Weihnachtsfeier ist
nämlich ihrem Inhalte nach so vielseitig, daß man nicht ohne weiteres
einen Zug der Feier durch beliebige andere oder auch nur durch die Züge,
die sich zunächst an sie anschließen, erklären kann. Weihnachten übt eine
starke Anziehungskraft auf allerlei Festsitten verschiedener Art aus, und
ein Tag wie der Lucia-Tag kann voneinander verschiedene Gebräuche, die
vorher an Weihnachten geknüpft waren, leicht anziehen; das hat er auch
getan.
Was bestimmt erweist, daß Lussi keinen Zusammenhang mit unserem
eigenen alten Glauben hat, ist der Umstand, daß dieselbe Gestalt, das weiß-
gekleidete Mädchen mit einem Kranz von brennenden Kerzen auf dem
Kopfe und mit allerhand guten Dingen zur Verteilung, auch in Deutschland
auf tritt, z. B. im Elsaß und in den Rheingegenden, und zwar zu Weih-
nachten unter dem Namen Christkindlein. Daß Lussi und jenes Christ-
kindlein ein und dieselbe Sitte sind, ist klar, da Ausstattung und Auftreten
fast vollkommen übereinstimmen und beide der Weihnachtszeit angehören;
aber es wäre ungereimt, ihren Ursprung in einer Gestalt der gemeingerma-
nischen Mythologie suchen zu wollen. Der eine Brauch muß ein Ableger des
anderen sein, und es ist schwerlich ein Zweifel daran möglich, daß die
schwedische Lussi-Sitte einfach die auf schwedischen Boden verpflanzte
deutsche Christkindlein-Sitte darstellt. Die Übertragung ist offenbar auf
dem Wege über Herrenhöfe und Städte erfolgt, denn unsere ältesten Belege
für Lussi haben wir von Herrenhöfen1). Auch in den westlichen Landschaften,
wo die Sitte am festesten verwurzelt ist, erweist sie sich als verhältnismäßig
spät und erst im 19. Jahrhundert als allgemeiner verbreitet. Die brennenden
Kerzen im Kranze Lussis wären wohl kaum als schwedische Volkssitte in
früheren Jahrhunderten möglich. Erst durch Skansen und verschiedene
Weihnachtszeitungen ist die Lussi-Sitte allgemein schwedisch geworden.
Ist also Lussi das aus Deutschland übernommene Christkindlein, so
müssen noch die Abweichungen erklärt werden. Aus verschiedenen Gründen
konnten weder der ursprüngliche Tag, der Weihnachtstag oder der Weih-
nachtsabend, noch der ursprüngliche Name beibehalten werden. Der Weih- 3
3) Die Lucia-Feier kann zu einem Teil vielleicht durch Schulknaben beeinflußt
sein, die nach alten Angaben am Lucia-Morgen sangen, aber man kann sich schwer
vorstellen, daß sie auf die Sitte mit der Lussi-Braut Einfluß gehabt haben.
Lucia und Christkindlein.
73
nachtstag hat in Schweden den Charakter eines stillen Tages, an dem Be-
suche oder Aufzüge in Verkleidung nicht stattfinden sollen. Der Weih-
nachtsabend, der Mittelpunkt des schwedischen Festes, ist außerdem so
stark mit anderen Bräuchen ausgefüllt, daß die Sitte da nicht eingefügt
werden konnte. Das Christkindlein entspricht auch nicht im geringsten der
schwedischen Vorstellung vom Jesuskind, und eine Verkleidung als Jesus-
kind zur Verteilung von Süßigkeiten würde außerdem nach schwedisch-
protestantischer Auffassung als entschieden unpassend, ja als geradezu
lästerlich gelten. Dagegen war es leicht, die Sitte mit dem Lucia-Tag zu
assoziieren. Er ist nämlich unmittelbar vor Weihnachten der einzige be-
deutungsvolle Tag mit einem weiblichen Namen, noch dazu mit einem
Namen, der sich vortrefflich mit den angezündeten Lichtern assoziieren
läßt. In Wästergötland geht dies um so leichter, als das Wort „lysa“
(leuchten) dort als lusa ausgesprochen wird1).
Der Lucia-Tag konnte auch aus anderen Gründen eine solche Sitte
leicht an sich ziehen. Zur katholischen Zeit hatte Lucia als Heilige so große
Bedeutung, daß der Tag als halbheiliger besonders ausgezeichnet wurde,
eine Erinnerung daran lebt noch in dem Worte Lussi-Messe fort. Aber
außerdem fiel auf den Lucia-Tag am Ende des Mittelalters die Winter-
sonnenwende, und das hat sich in der Volksüberlieferung festgesetzt in
der Vorstellung, die Lussi-Nacht sei die längste Nacht des Jahres, so daß die
Kuh aus Hunger dreimal in den Standbalken beißt. Dieser Umstand ver-
leiht dem Tage eine starke Anziehungskraft für verschiedene Bräuche und
Vorstellungen. Als Tag der Sonnenwende wird der Lucia-Tag zu einer Art
Neujahrstag, an dem man durch „Jahresgang“2) und auf andere Weise das
kommende Jahr voraussehen kann. Wenn die jungen Mädchen mit Hilfe
einer an „Lucia, du milde“ gerichteten Versformel herauszubekommen
suchen, wer ihr zukünftiger Mann sein wird, so geschieht dies auf Grund der
Bedeutung des Tages als Sonn wendtag, nicht etwa, weil die Lussi-Gestalt
irgendwie mit einer alten Liebesgöttin gleichgesetzt wird.
Als wichtiger Tag kurz vor Weihnachten ist der Lucia-Tag oft der Ter-
min für das obligatorische Schweineschlachten geworden. Man steht darum
in der „Schweinsfrühe“ („svinottan“) auf, d. h. um zwei Uhr des Morgens,
um das Weihnachtsschwein zu schlachten. Das macht auch ein zeitiges
Frühstück oder sogar mehrere Morgenmahlzeiten nötig. Dieses zeitige Früh-
stück erhielt den Namen Lusse-Imbiß („lussebiten“), und es war Sitte, auch
Nachbarn den Lusse-Imbiß anzubieten, ganz unabhängig von der Ver-
kleidung als Lussi. So besagt eine Angabe aus Smoland, daß zwei Fräulein
Reenstjerna in den achtziger Jahren des 18. Jahrhunderts in der Lucia-
Nacht den nahezu zwei Meilen langen Weg von Lundboholm nach Hörle
1) in anderen Gegenden von Schweden wird dagegen Lucia mit lus („Laus“)
assoziiert; wer am Lucia-Morgen am spätesten aufsteht, heißt darum lusen („die
Laus“).
2) Mit Jahresgang (schw. ärsgäng) meint man eine nächtliche Wanderung, die
man schweigend und fastend unternimmt, um zu sehen, was im kommenden Jahre
geschehen soll.
74
v. Sydow:
ritten, um in der Frühe des Lucia-Tages den jungen Baronen Lilliecreutz
den Lusse-Imbiß im Bett geben zu können, und das geschah gewiß ohne
Verkleidung. Diese ältere schwedische Sitte, den Lusse-Imbiß früh am
Morgen anzubieten, bevor noch die Hausleute aufgestanden sind, hat sich
mit der deutschen Christkindsitte verbunden, und so ist die schwedische
Lussi-Sitte entstanden.
Ist sonach die Lussi-Feier eine erst in protestantischer Zeit — vielleicht
gleichzeitig mit dem Weihnachtsbaum — aus Deutschland eingeführte Sitte,
so läßt sich die Frage nach dem Zusammenhang mit der katholischen
Heiligenverehrung leicht beantworten. Als die Sitte nach Schweden ein-
geführt wurde, war sie einfach ein Verkleidungsaufzug, der die Stimmung
beim Lusse-Frühstück erhöhen sollte, und dieses hatte ebensowenig Ver-
bindung mit einem Heiligenkult wie mit dem Freiakult. Dadurch aber, daß
sich die Sitte an den Lucia-Tag knüpfte, bekam das Mädchen, das den
Kaffee anbot, den Namen des Tages, Lucia, Lussi oder Lusse, und sie muß
darum als eine Art Personifikation des Kalendertages selbst betrachtet
werden, wenn dies auch bei der Einführung der Sitte nicht geradezu be-
absichtigt war. Dies steht auch in bestem Einklang mit an den Kalender ge-
knüpften Sitten und anderen Vorstellungen unseres Volkes, die keinerlei Zu-
sammenhang mit katholischem Heiligenglauben haben1). So wie Erik, Olof
und Petter Katt für das Volk nur Kalendertage sind, die als solche in den
Formeln personifiziert wurden: „Gibt Erik Ähren, so gibt Olof Brot“ und
„Petter Katt wirft den heißen Stein in den See“, wobei jeder Gedanke an
St. Erich, St. Olof oder St. Petrus in cathedra verschwunden ist, so gilt auch
dasselbe für alle übrigen Tage dieser Art. In diese Kalendertagspersonifi-
kationen läßt sich Lussi in ganz ungezwungener Weise einfügen. Darum
kann nicht die Rede davon sein, daß das Volk die angezündeten Lichter in
Lussis Kranz als Heiligenschein aufgefaßt oder sie so gemeint habe: sie sind
nur ein für den Tag passender origineller Schmuck.
Etwas anders hat man Lussi natürlich in Herrenhöfen und städtischen
Häusern aufgefaßt, wo man wußte, daß die Namen der Tage eigentlich auf
bestimmte Heilige hinweisen. Dort sah man gewiß in Lussi eine Darstellung
der hl. Lucia, und dort kann man auch die Lichter als deren Heiligenschein
aufgefaßt haben, obgleich wahrscheinlich auch dort die Assoziation zwischen
Lucia und Licht in den Vordergrund getreten ist, so daß man in den Lichtern
einfach das besondere Attribut der Heiligen sah. Da Lussi in Deutschland
Christkindlein heißt, könnte man denken, daß der Lichterkranz dort er-
funden wurde, um als Glorienschein zu dienen. Doch sind die Lichter so
kennzeichnend für die Weihnachtszeit, daß man sich wohl vorstellen könnte,
sie seien als Kopfschmuck eines verkleideten Mädchens verwendet worden,
auch ohne Gedanken an den Glorienschein, wie man bei Hochzeiten in *)
*) Wenn in Gottland erzählt wird, daß Bengt (21. März) der Verlobte von Gertrud
(17. März) sei und sie am Gertrudstag begrüße und Gertrud ein Schneegestöber hervor -
rufe, damit er etwas länger bei ihr bleibe, so stammt dies wirklich aus einer Legende
von St. Benedikt und seiner Schwester Scholastica, aber für das Volk ist dies nichts-
destoweniger bloß eine heitere Wetterregel für zwei Kalendertage.
Lucia und Christkindlein.
75
Steiermark, in dem sog. Gugelhupf tanz, Mädchen mit einem Kranz von
brennenden Kerzen auf dem Kopfe tanzen läßt, die doch sicher nicht als
Heilige aufzutreten beabsichtigen. Was jedoch die Gestalt des Christ-
kindleins und seine Ausschmückung einst bedeutet haben, ehe sie nach
Schweden eingeführt wurden, hat keine Bedeutung für die Erklärung der
schwedischen Lussi, die von Anbeginn eine reine Festdekoration ohne anderen
Inhalt war.
Eine so eigenartige Gestalt wie Lussi ist natürlich Gegenstand ätiolo-
gischer Überlegungen und Umdeutungen geworden. So erzählt man in
Wärmland zur Erklärung für die Entstehung der Sitte eine Sage: Bei einer
großen Hungersnot sei auf einem Schiff auf dem Wänersee eine Frau namens
Lucia in Lichtgestalt erschienen; sie sei mit Schweinefleisch und Bier für die
Hungernden von Ort zu Ort gefahren. Zur Erinnerung an dieses Ereignis
sei die Lussi-Sitte entstanden. — Das ist offenbar eine Ursprungssage, die
erzählt wurde, um die Sitte verständlich zu machen. In Verbindung stehen
kann diese Sage jedoch mit einer sizilianischen Legende von einer großen
Hungersnot, die nach dem Martertod der heiligen Lucia ausbrach, aber
durch eine mystische, mit Getreide beladene Flotte behoben wurde. In
diesem Falle darf man annehmen, daß die Legende in neuerer Zeit ins Land
gebracht worden ist durch jemand, der sie in Italien kennengelernt und
schwedischen Verhältnissen angepaßt hat, um so die Lussi-Gestalt zu er-
klären. Ein Wärmländer, der nach Italien kommt, muß sich ja selbst-
verständlich für Santa Lucia, die dort eine so populäre Heilige ist, inter-
essieren, da sie ihm durch die Lussi-Sitte sehr heimatlich vorkommt. Die
Sage macht jedoch keinen volkstümlichen Eindruck und dürfte auch zur
Verbreitung im Volke weder die Zeit noch die Möglichkeit gehabt haben.
Die Erklärung des Volkes selbst kommt in der Benennung Lusse-
Braut zum Vorschein. Das Volk konnte Lussi offenbar mit nichts anderem
vergleichen als mit den fingierten Bräuten, die sich an gewisse Feste knüpfen,
z. B. die Maibraut, die Pfingstbraut usw. Das weißgekleidete Mädchen mit
dem Kranz im Haar wurde darum manchenorts als eine solche Braut auf-
gefaßt und erhielt mitunter deshalb ein mehr oder weniger zahlreiches
Brautgefolge. Da zeigt es sich jedoch klar, daß die Brautidee in hohem
Grade sekundär ist. Lussis Rolle besteht einzig und allein darin, als Ver-
treterin des Kalendertages in festlicher Weise Kaffee oder einen anderen
„Lusse-Imbiß“ anzubieten, wogegen die Maibräute und ähnliche Gestalten
eine ganz andere Aufgabe und eine ganz andere Art des Auftretens haben.
Die Benennung Lusse-Braut ist auch im Volke nicht allgemein, und wo man
sie antrifft, ist sie als eine Art ätiologischer Dichtung zu betrachten. Sie be-
zeichnet keineswegs die ursprüngliche oder auch nur die jetzige Meinung des
Volkes über unsere Gestalt. Dieser Umstand muß beachtet werden, denn
die Forschung hat sich nicht selten durch sekundäre ätiologische Über-
legungen narren lassen, die natürlich ihr psychologisches Interesse haben,
aber wertlos sind, wenn es gilt, der Sache auf den Grund zu kommen. Alles
Reden davon, daß wir es bei Lussis Auftreten mit einem Fruchtbarkeits-
ritus zu tun hätten, beruht sonach ganz und gar auf einem Mißverständnis.
76
Wirth:
Ein Bericht aus Wästergötland meldet, daß man einmal im Kirchspiel
Ving eine als Lussi mit Lichterkranz zwischen den Hörnern geschmückte
Kuh oder Färse eine ganze Meile in der Lucia-Nacht geleitet habe, um die
Rolle Lussis in einem reichen Bauernhof zu spielen. Dies kann auch nichts
anderes bedeuten als einen ausgelassenen Scherz. Man muß ja immer damit
rechnen, daß hei den Festen auch traditionelle oder zufällige Ausdrucks-
formen für die Festfreude Vorkommen ohne jeden Zusammenhang mit den
heidnischen Riten oder der tiefen Weisheit unserer prähistorischen Ur-
ahnen. Daß man sich am Lucia-Tag als Bock oder als Geiß oder als sonst
etwas verkleidet, ist ja nur eine vom Weihnachtsfest übernommene Be-
lustigung ohne besondere Bedeutung für den Lucia-Tag.
Als Abschluß dieser Betrachtungen sei noch eine Sage von Lucia an-
geführt. Sie wird in Norwegen und Norrland erzählt und macht Lucia oder
Lussi zu Adams erster Frau, von der die Trolle und Wichte herstammen.
Diese Trollmutter hat ebensowenig mit St. Lucia wie mit der Lusse-Braut
ziT tun. Aber nicht bloß eine Verwechslung mit Lilith hat Lucia in diesen
Zusammenhang versetzt, sondern man stellt sich vor, daß zu Weihnachten
und bei anderen großen Festen Trolle und allerlei Geisterwesen draußen
umherziehen, und verknüpft diese auf eine besondere Weise mit der Lucia-
Nacht, weil der Lucia-Tag der Wintersonnwendtag war. Die geheimnisvolle
Schar erhielt daher den Namen „Lussefärden“ („die fahrende Lusse-
Schar“), und Lucia wurde deshalb als Führerin und Mutter der Trollschar
aufgefaßt. Auf diesem Wege — und wohl auch durch Assoziation mit
Luzifer — ist also Lucia dazu gekommen, Liliths Platz einzunehmen, wieder
ein Beispiel für die Personifikation des Kalendertages, wenn auch in ganz
anderer Weise als bei der Lussi-Braut.
Das dörfliche Gemeinschaftsleben in Anhalt.
Von Alfred Wirth.
Das Bauerngehöft bildet ein Ganzes für sich. Das Leben, das die
Menschen darin führen, hat seinen besonderen Gang. Dennoch umschlingt
die Bewohner der einzelnen Gehöfte ein starker Gemeinschaftsgeist, dem
sich niemand entziehen will. Er ist mächtiger als Feindschaften, die bei
dem zähen und starren Charakter des Bauern nicht selten aus Grenz-
streitigkeiten und anderen Ursachen entspringen. In Stunden der Not
und Gefahr ist der Nachbar Helfer und Berater und kann doch, wenn das
Leben wieder seinen geordneten Gang geht, abgewandten Gesichtes an
denen vorüberschreiten, die er eben vor Unglück schützte.
Die Nachbarschaft. Nachbarpflichten sind vielgestaltig. Wenn
ein Kind geboren wird, stellen sich die Nachbarinnen mit stärkender Suppe
bei der Wöchnerin ein und greifen zu, daß Menschen und Tiere im Hofe
zu ihrem Rechte kommen. Zur Taufe, Konfirmation und zur Hochzeit
werden die Nachbarn mitgeladen. Wenn aber die Totenglocke läutet,
dann wird ein Bote zu den Nachbarn geschickt mit der Ansage, daß ein
Das dörfliche Gemeinschaftsleben in Anhalt.
77
Glied der Familie die Augen zugetan hat. Früher war es Sitte, daß die
Nachbarn das Totengeläut und die Ausschachtung des Grabes übernahmen.
Seitdem es Totengräber gibt, sind diese Pflichten in Wegfall gekommen.
Aber noch immer tragen die Nachbarn den Sarg aus dem Hause auf den
Wagen und am Friedhof vom Wagen an das Grab, und erweisen so dem
Menschen die letzten Dienste, mit dem sie im Leben in steter Gemeinschaft
verbunden waren.
Aber auch bei kleineren Festen nimmt die Nachbarschaft teil. Sie
hilft beim Schlachtefest arbeiten und essen, sie ist beim Erntekranz ver-
treten und auch bei Gelegenheiten, wo die „Freindschaft“, d. h. die Ver-
wandtschaft, geladen ist. Das tägliche Leben macht die Inanspruchnahme
des Nachbarn oft erforderlich. Kalbt eine Kuh oder ist ein Stück Vieh
krank, zerbricht ein Werkzeug oder ein Ackergerät, gilt es kostbares Ernte-
gut zu bergen oder Feld zu bestellen, handelt es sich um Feuersgefahr
oder Hausbau, immer hilft einer dem anderen, denn niemand kann des
Nachbarn entraten. In den Zeiten, wo Rüböl und Petroleum noch die
Lichtquellen waren, pflegten sich die Nachbarn in der Abenddämmerung
zu einem „Schummerstündchen“ zu besuchen; um Licht zu sparen, saß
man im Halbdunkel beisammen, plauderte und besprach sich in den
Herbst- und Wintermonaten, wenn die Arbeit nicht so drängte. In den
Städten hatten sich die Nachbarn einst zu förmlichen Vereinigungen zu-
sammengetan. So berichtet Beckmann (Historie des Fürstentums Anhalt,
Zerbst 1710: I. 289. IV): „Es hatten auch die Nachbarschaften vor diesem
ihre Zusammenkünfte in der Pfingstwoche gehabt und sich untereinander
ergetzet, so aber auch schon längst abgekommen“ (vgl. Sartori, Sitte
und Brauch 2, 175).
Neben der Nachbarschaft gibt es aber noch andere Formen des Ge-
meinschaftslebens. Da sind zunächst die Vereinigungen der Jugend.
Schon die Schulkinder bilden zu Weihnachten, Neujahr und Fastnachten
kleine Abteilungen, die im Dorf umherziehen, sich durch Heischeverse
und Singen Gaben erbitten und diese dann gemeinsam verzehren oder
verteilen. Da sind dann aber vor allem die Vereinigungen der jungen
Burschen zu nennen. In manchen Harzdörfern ziehen sie am 28. Dezember,
dem Fest der unschuldigen Kinder, vor die Häuser der wohlhabenden
Einwohner zum „Kindern“ und schlagen sie mit Ruten. Dafür erhalten
sie Geld und Würste, beides verzehren sie nachher gemeinsam im Wirts-
haus. In Dörfern des Kreises Köthen erbitten sich die Burschen am Sil-
vesterabend Bratwürste, die Knechte knallen mit ihren Peitschen vor
jedem Haus ein fröhliches Neujahr. Im Kreise Zerbst geht in den Zwölften
der Schimmelreiter, der Erbsbär oder der Storch um. Auch hierbei sammeln
die Burschen Gaben ein. Dasselbe geschieht zu Fastnachten und bei den
Umzügen zu Pfingsten. Zeichen der Gemeinschaft ist, daß die dabei ge-
sammelten, oft auf Schüttegabeln eingebrachten Gaben stets gemeinsam
verzehrt werden.
Diese Gemeinschaft der Burschen war so stark ausgeprägt, daß die
Jüngeren erst durch eine besondere Feier aufgenommen wurden, in Harz-
78
Wirth:
dörfern durch das „Bengeln“. Die Aufzunehmenden wurden mit Ruten
geschlagen und mußten sich dann durch Geld in die Gemeinschaft „ein-
kaufen“; erst danach erhielten sie das Recht, im Gasthaus am Tisch der
älteren Burschen zu sitzen und auch sonst bei ihnen zu verkehren.
Die Burschengemeinschaften haben besonders umfangreiche Aufgaben
beim Pfingstgelage. Sie müssen das Bier proben und holen, die Dorfmaie
und die Pfingstlauben aufrichten, die Platzburschen wählen und nach
deren Geheiß die Ordnung halten. Auch hierbei finden wir wieder gemein-
same Umzüge und Einsammeln von Gaben, die gemeinsam verzehrt werden.
Diese Gemeinschaften der jungen Burschen hießen an manchen Orten
„Pfingstbrüderschaften“. Da, wo Ringreiten stattfinden, haben die
Burschen die Musik anzunehmen, die Ringbude aufzurichten, die Gewinne
zu kaufen, den Hauptmann zu wählen und für den Tanz zu sorgen.
Auch die jungen Mädchen haben ihre Gemeinschaft, wenn sie auch
nicht so scharf ausgeprägt ist wie die der Burschen. Ihnen fiel die Aus-
gestaltung des Johannistanzes (Bornum), der Johannisspiele (Altweiber-
mühle, Altenbegraben, Brautraub u. a.) und des Mädchentanzes zu, wobei
sie für Musik und die Spiele nebst Gewinnen sorgten. Sie übernahmen
früher auch die Bewirtung und die Musik beim sogenannten „Fastelabend“,
der die Reihe der Spinnabende mit einer Festlichkeit beschloß.
Auch die Spinnabende waren, und die Spinte (Kreis Köthen),
Spinnicht (Kreis Zerbst), der Spellabend (Harz) ist noch heute ein Aus-
druck des Gemeinschaftslebens der Jugend. Bei Todesfällen äußert sich
dieser Gemeinschaftsgeist. Burschen tragen in vielen Orten des Landes
den Sarg mit der Leiche eines Kameraden oder eines Mädchens, und früher
war es weitverbreitete Sitte, daß die Mädchen der verstorbenen Freundin
eine Totenkrone widmeten und beim Begräbnis geschlossen folgten. Der
Nachruf, den die Jugend für einen Verstorbenen in die Zeitung rücken
läßt, ist noch immer ein, wenn auch blasses Bild von der Gemeinschaft,
die ehedem so starke Ausdrucksformen hatte.
Die Gemeinschaft der Verheirateten. Zwischen der Jugend
und den Verheirateten bestand ursprünglich eine Scheide, die streng
innegehalten wurde. Beim Pfingstgelage im Kreis Zerbst tanzten früher
die Verheirateten nicht. In vielen Orten des Landes hielten Frauen das
von der Trauung heimkehrende junge Paar mit einer Leine auf, bis es
„sich löste“, d. h. bis es sich durch Geld in die Gemeinschaft der Ver-
heirateten einkaufte. Die junge Frau trat in die Reihe der Verheirateten,
wenn der Jungfernkranz abgetanzt war. Der Sinn des Brauttanzes war
wohl, den Eintritt der jungen Frau in die Familie des Mannes und den
Austritt aus dem alten Verhältnis darzutun. Auch die Bräuche beim
An- oder Einzug der Frau hatte eine ähnliche Bedeutung. In Edderitz
mußte der junge Ehemann im Hochzeitsjahr Totengräber und Träger
sein, sonst die Besitzer reihum. Sie wurden vom Schulzen feierlich ver-
pflichtet. In den Dörfern um Roßlau mußte der jüngste Ehemann seine
Standesgenossen nebst Frauen zum Martinsschmaus in sein Haus laden.
Dabei gab es Hammelbraten, Erbsen und Zerbster Bitterbier. In beiden
Das dörfliche Gemeinschaftsleben in Anhalt.
79
Fällen berechtigt also erst eine Sonderleistung zum Eintritt in die Gemein-
schaft der Verheirateten.
In Streetz (Kreis Zerbst) fanden sich die Frauen zum „Wurstball“
in einem Hause zusammen, wo eine von ihnen geschlachtet hatte. Die
Männer wurden dann auch geladen. Die Arbeit des Federnreißens und die
kleine abschließende Festlichkeit, der sogenannte „Flausenabend“, führte
die befreundeten und benachbarten Frauen und Mädchen zusammen. —
Wenn die junge Mutter nach den 6 Wochen Kirchgang gehalten hat und
nach Hause zurückkehrt, wird sie ausgeschlossen. Erst wenn sie sich
löst, wird sie wieder in die Gemeinschaft der Familie aufgenommen
bzw. in die Gemeinschaft der Reinen, da sie ja in den 6 Wochen als
unrein gilt.
Beim Abendmahl gehen die Geschlechter getrennt voneinander zum
Altar, ebenso wie sie noch heute in vielen Dorfkirchen getrennt voneinander
sitzen. Bei Tanzfesten haben noch heute Mädchen und Frauen auf be-
sonderen Bänken ihre Sitze.
Die Dorfgemeinschaft. Der Einzug in ein anderes Dorf erforderte
die Beachtung gewisser Bräuche. In Zehmitz (Kreis Köthen) kaufte man
sich durch Geld ein, das in der Gemeindeversammlung vertrunken wurde.
Später, in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, verwandte man es
zum Kauf eines Feuereimers. Wer in Groß-Aisleben sich ein neues Haus
erbaut hatte und in diesem die Gerechtsame der Hutung, Holzung u. a.
genießen wollte, mußte dafür dem Rat ein halbes Faß Bier zum Vertrinken
geben. Wer sich in Edderitz ankaufte oder neu aufbaute, mußte ein Jahr
lang Totengräber sein. Als solcher war er verpflichtet, zum Gemeindebier
am Mittwoch nach Pfingsten eine halbe Tonne Bier zu spenden. In Krosigk
mußten beim Gemeindefest am Knoblauchsmittwoch (Mittwoch nach
Pfingsten) diejenigen Ehepaare eine Viertel Tonne Bier geben, die im letzten
Jahre zugezogen waren oder sich verheiratet hatten.
Ganz besonders zahlreich sind die Bräuche der Gemeinschaften
zu Fastnachten. Burschen ziehen im Dorf herum, verkleidet als Fast-
nachtsmusiker oder als Erbsenbär mit Erbsenstroh umwickelt, und
sammeln Eier, Speck, Wurst ein, die letztere oft auf einer Schüttegabel.
In Badeborn zogen Drescher und Gemeindebeamte zum gleichen Zwecke
umher, in vielen Orten auch Stellmacher und Schmiede. Die Gaben wurden
von allen Gemeinschaften zu einem gemeinsamen Essen benutzt, dem
sich vielfach ein Tanz anschloß. Dieser fand in manchen Dörfern des
Zerbster Kreises im „Fastnachtshaus“ statt, d. h. in einem Bauernhaus,
das jährlich wechselte. Von Veranstaltungen der städtischen Handwerker
sei hier nur erwähnt der Reifentanz der Böttcher in Zerbst, von dem
Beckmann 3, 290 berichtet1).
i) Er stimmt im wesentlichen mit der Darstellung des Baseler Küfertanzes
überein, von dem Hoffmann-Krayer handelt (Schweizer Archiv f. Volksk. 14
(1910) 97f.; dazu derselbe, Feste und Bräuche des Schweizervolkes (Zürich 1913)
S. 73; Sieber, Zunftfeste. Mitt. d. Vereins f. sächs. Volksk. 5, 1 (1909—1911)
S. 299; Fehrle, Deutsche Feste und Volksbräuche 8, 45.
80
Wirth:
Auch zu Pfingsten tritt die Gemeinschaft stark in Erscheinung.
Die Dorfmaie und ihre Einholung, der Bau der Laube für Tanz und Ver-
sammlung, das Pfingstgelage, das Gemeindebier sind gemeinsame Ein-
richtungen. Der Charakter der Gemeinschaft wird noch deutlicher, wenn
das Gelage nicht in der Schenke, sondern reihum bei den Hofbesitzern
abgehalten wird. Die Gemeinschaft setzte sogar eine „Pfingstordnung“
fest, nach der sich alle Teilnehmer zu richten hatten.
Das Gefühl der Gemeinschaft und Zusammengehörigkeit prägt sich
auch in dem Gruß aus, den die Bewohner eines Dorfes miteinander aus-
tauschen. Der alte schöne Wunsch ,,Helf Gott“ und die Erwiderung
„Schön dank auch“ sind allerdings verschwunden und haben dem farblosen
„Guten Tag“ Platz gemacht. Daneben gibt es aber noch andere Formen
des Grußes, die in Fragen oder Ausruf gekleidet sind und sich der jeweiligen
Beschäftigung und Zeit anpassen. Am Morgen hört man: „Na, schon so
fleißig.?“, dem am Abend ein „Noch so fleißig?“ entspricht. Der Vorbei-
gehende ruft wohl auch: „Quäle dich nicht mehr so!“ oder: „Noch nicht
bald Feierabend.?“, oder: „Mache nicht mehr so lange!“ Das sind Gruß-
arten, die zwar auch schon formelhaft anmuten, aber doch noch Anteil-
nahme, Freundschaft, Sorge ausdrücken. Nachbarn pflegen sich am ge-
meinsamen Zaun oder Rain die Hand zu schütteln und die Arbeit durch
Frage und Antwort zu unterbrechen, wobei Vieh, Saat, Bäume und Wetter
besprochen werden.
In der Anrede prägt sich noch heute ein gewisses Gemeinschafts-
gefühl aus. „Napper“ gilt nicht nur den unmittelbar Anwohnenden,
sondern der ganzen Nachbarschaft ringsum. Es will einen Unterton der
Vertraulichkeit, vielleicht auch gemeinsamer Erfahrungen und Erlebnisse
zum Ausdruck bringen, wie die aus der Verwandtschaft stammenden
Worte „Vetter“ und „Miehme“, die als Zeichen eines besonderen Ver-
trauensverhältnisses auch auf meist ältere Personen der Bekanntschaft
angewendet werden, und endlich das Wort „Vatter“, das eine Abkürzung
aus Gevatter ist und ursprünglich auf die Paten eines Kindes beschränkt
war, diese Grenzen aber auch überschritten hat. Nachbarschaft, Ver-
wandtschaft, Gevatterschaft sind in der Dorfgemeinschaft kleinere Kreise,
die zwar nicht fest ineinander geschlossen, aber doch deutlich sichtbar sind.
An der Spitze der Dorfgemeinschaft steht der Schulze mit den
Schöppen. Die Gemeindeversammlung war früher der eigentliche Be-
ratungskreis für die Angelegenheiten der Gemeinde, heute ist an ihre Stelle
der Gemeinderat getreten. Der Schulze hatte eine besondere Stellung,
deshalb besaß er einen Schlüssel zur Kirche und in ihr mit den Schöppen
bevorzugte Plätze. In Krosigk trug er bei feierlichen Gelegenheiten den
Schulzenstab, der fast mannshoch und oben mit einem silbernen Knopf
verziert war. Die durch flämische Kolonisation entstandenen Dörfer hatten
Erbschulzen. Auf dem Schulzengut, das in manchen Dörfern Lehnsgut war,
ruhte die Schenkgerechtigkeit. Hier wurden die Fremden beherbergt, die
früher von den Bauern nach der Reihe auf genommen werden mußten, wie ja
auch die Hergabe derRäumlichkeit f ürFastnachten und Pfingsten reihum ging.
Das dörfliche Gemeinschaftsleben in Anhalt.
81
Zur Einladung und zu Bekanntmachungen ließ der Schulze und läßt
er zum Teil noch heute die „Keule“ herumgehen, ein etwa 50 cm langes
und 15 cm breites, dickes Stück Holz, auf das oben die Nachrichten ge-
schrieben werden. Wegen der Form wird es in manchen Dörfern „Hammer“
genannt, in Diesdorf auch „Klapper“, offenbar weil jeder beim Weiter-
geben den Nachbarn herausklappern muß. Mit dem Hammer, auf den in
Zehbitz ein Stück Papier geklebt oder in einen Korb hineingesteckt war,
klopfte man tüchtig an die Tür des Nachbarn und warf ihn dann nieder.
So ging der Hammer von Haus zu Haus und schließlich zum Schulzen
zurück.
Die Gemeindeversammlung fand ursprünglich im Schalzenhause,
in manchen Dörfern auch im Backhause statt. Die Gemeinderechnung
wurde in Bornum früher am 1. Mai gelegt. Dabei wurden die Männer
aus der Gemeindekasse mit Bier bewirtet. Abends kamen die Frauen mit
Krügen und Näpfen, in denen sie sich „Biermärte“ zurecht machten.
Danach wurde getanzt. Ein solches Gemeindefest bei Legung der Rechnung
wurde in Groß-Mühlingen schon 1650 bezeugt. In Klein-Paschleben wurde
zu Fastnacht, in Rietzmeck nach Lichtmeß das Vieh gezählt, wobei Schulze,
Schöppen und Bauern von Haus zu Haus zogen und festlich bewirtet
wurden. In Frose wurden zur Lichtmeß die Gemeindebediensteten an-
genommen. Das war ebenfalls Anlaß zu einem Bauernfest in der Gemeinde-
schenke auf Kosten der Gemeinde. Wie die Bauern waren auch die Hand-
werker zu Gemeinschaften verbunden. Die Zünfte, die ja eine Fülle von
Bräuchen, Verordnungen und Verhaltungsmaßregeln hatten, traten nicht
selten auch an die Öffentlichkeit, so zu Fastnacht, Pfingsten, Martini.
In Köthen dienten die Mitglieder der Schneiderinnung der Stadtgemeinde
sogar als Leichenträger. Auch die Schützengesellschaften sind hier zu
erwTähnen.
Im Dienste der Dorfgemeinde standen früher die Hirten, die zu be-
stimmten Terminen angenommen und entlohnt wurden (Michaelis, Martini,
Neujahr, Fastnacht, 1. Mai), stehen noch heute Nachtwächter und Ge-
meindediener. Die Gemeinde hat die Kirche, das Backhaus, Spritzenhaus,
Hirtenhaus, das Gemeindehaus für die Armen, ferner Äcker, Wiesen,
Holz, Obstbäume, Wege, Gräben, Brunnen, Teiche, den Bullen gemeinsam,
entsprechend haben die Bewohner gemeinschaftliche Rechte und Pflichten.
Zu den Pflichten gehört auch der Feuerlöschdienst, für den die Spritzen-
bespannung von Hof zu Hof geht, wo Pferde sind, der Feuereimer, d. h.
die Bedienung der Spritze, von Haus zu Haus. Gemeindearbeiten, die nicht
bezahlt werden, verrichtet man noch heute in einigen Dörfern, so in Ries-
dorf, wo am dritten Pfingsttag die Wege gebessert werden. So auch die
Brunnenreinigung in Groß-Wirschleben und Krosigk am Knoblauchs-
mittwoch. Ein Gemeindefest schloß sich an, in Groß-Wirschleben der
Nickerttanz, der seinen Ursprung offenbar in einem Besänftigungsopfer
für den Wassergeist hat. Bei Viehseuchen gab es früher Gemeinschaften,
die das sogenannte Notfeuer anzündeten, um die Gefahr zu bannen. Neben
den Brunnen-, Graben-, Wege-Gemeinschaften einzelner wären dann noch
Zeitschrift für Volkskunde II, 1—2. 6
82
Wirth: Das dörfliche Gemeinschaftsleben in Anhalt.
die Grenzbegehungen zu erwähnen, die früher von den Schulzen und
Schöppen benachbarter Dörfer in bestimmten Zeiträumen vorgenommen
wurden, um die gemeinsamen Grenzen zu überprüfen. Im Harzkreis zu
Martini. Zum Schluß darf dann auch das letzte Überbleibsel aus alter
deutscher Rechtspflege in unserem Lande erwähnt werden, das Klage-
und Rügegericht zu Volkmannrode (Harzkreis), und das Feldrügegericht
zu Meinsdorf (Kreis Zerbst). Das erste hat 1875, das zweite 1857 zum
letzten Male getagt. In beiden waren mehrere Dörfer zu Gemeinschaften
zusammengeschlossen, die sich über Abgaben, Klagen, Baumfrevel, Ein-
treibung von schuldiger Pacht u. a. selbst Recht sprachen.
So zeigte das dörfliche Gemeinschaftsleben bei Arbeit und Feier, in
Not und Gefahr, am Alltag und Festtag eine Fülle von Ausdrucksformen.
Sie sind heute vielfach schon verwischt, sie festzuhalten muß aber nicht
nur Aufgabe der Forschung, sondern auch aller der Kreise sein, die bewußt
auf eine innere Einigung unseres Volkes hinarbeiten.
Texte zu militärischen Signalen und Märschen.
Von Johannes Bolte.
Jedes Horn- oder Trompetensignal hat den Zweck, einen Befehl oder
eine Mitteilung weiter zu tragen, als ein bloßer Zuruf vermag. Daher lag
es nahe, dieser Tonfolge einen im Rhythmus entsprechenden Text unter-
zulegen, der ihre festgesetzte Bedeutung in Worte kleidet. Solche Merk-
verse wurden vielfach den Rekruten von den Unteroffizieren eingeprägt.
Öfter noch machte sich ein derber Humor bei der Schöpfung neuer Merk-
verse geltend, die sich samt der Melodie auch in anderen Kreisen, nament-
lich in der Kinderwelt fortpflanzten. In der volkskundlichen Literatur
hat man auf diese ,,Hornsprache“ längst geachtet und viele Texte gesam-
melt1), aber mit Ausnahme eines rühmlich zu nennenden Artikels von Hans
Ernst Müller2) nie die Signalmelodie hinzugefügt. Darum mag hier eine
vor langer Zeit begonnene Sammlung, für die mir das Volkslied-Archiv
in Freiburg i. B. die wertvollste Unterstützung gewährte, Platz finden
und dem Gegenstände weitere Beachtung sichern.
*) Erk-Böhme, Liederhort 3, Nr. 1433. 1859; Böhme, Kinderlied 1897 S. 233
bis 236; O. Schütte, Hornsprache (ZfVk. 10, 337. 16, 81—86); E. R. Freytag,
Beiträge zur Volkskunde (Mitt. d. V. f. sächs. Vk. 4, 372—374). — Einzelnes in L. Erks
hsl. Nachlaß (Berlin, Staatsbibliothek); bei Frischbier, Preußische Volksreime 1867
Nr. 929—935; A. Hruschka und Toischer, Dt. Volkslieder aus Böhmen 1891 S.427;
G. Krebs, Militärische Redensarten 1892 S. 152; J. Lewalter, Deutsches Kinder-
lied 1914; H. Me yer, Der richtige Berliner6 1914; A. Peter, Volkstümliches aus
Österr.-Schlesien 1, 71 (1865); Rochholz, Alemannisches Kinderlied 1857 S. 55;
C. Schumann, Volksreime aus Lübeck 1899 S. 74; K. Simrock, Kinderbuch3 * *
1879 S. 180; v. Soltau, Histor. Volkslieder 1, LXXIV (1836); A. Treichel, Volkslieder
aus Westpreußen 1895 S. 159; K. Wehrhan, Frankfurter Kinderleben 1929 S. 151
und Lippische Kinderlieder (ZfrwVk. 2,110); G. Züricher, Kinderlieder der deutschen
Schweiz 1926 S. 114.
2) H. E. Müller, Hornsprache (Bayerische Hefte für Vkde. 5, 226—238. 1918). —
Vgl. O. Schrempel, Deutsche, österreichische, russische und französische Militär-
signale, 2. Aufl. Dresden (1914); K. Eichhorn, O Deutschland hoch in Ehren 3. Aufl.
Stuttgart (1916); F. Gumbert, Militär-Signalbuch aller Armeen, 1. Infanterie;
2. Kavallerie; 3. Artillerie, Leipzig, Merseburger o. J.
6*
84
Boite:
1. D as Locken, das eine Viertelstunde vor dem Zapfenstreich statt-
fand.
-y- « j —i—a 2 ;S35 t—:—n
I ■— ft i
- 1 F i ST
VM/ 4 • 9 9 9 —
1. Sol-daten sollen nach Hau-se kom-men. Der Haupt-mann hats ge-sagt.
(Schütte 10, 337.)
2. Kamrad, sollst nach Hause gehn. Der Hauptmann hats gesagt.
(Schrempel S. 4.)
3. Bleib nicht so lang beim Mädchen stehn! Der Hauptmann hats gesehn.
(Müller 5, 230: Ulm.)
4. Und wer sein Liebchen noch einmal küssen will, der mache geschwind.
5. Wer noch ein Gläschen trinken will, es ist die höchste Zeit.
(Schütte 16, 81.)
2. Der Zapfenstreich.
wr ■ PN i
» ■ • B H» B B B P P
m=*= j-L *— J—J—/- C E—LI —J m-—J d
1. Sol - da - ten müs - sen zu Bet - te gehn, dürfn nicht so lang beim
É
(Schluß in Nr. 8.)
Mädchen stehn. Zu Bett, zu Bett, zu Bett!
(Berlin 1927.)
Tra - ra, tra - ra, tra - ra.
2. Soldaten sollen zu Hause gehn
Und nicht mehr bei dem Liebchen stehn.
Zu Bett, zu Bett, zu Bett!
(Schütte 16, 82.)
3. Soldaten sollen ins Bette gehn,
Net so lang bei de Mädcher stehn.
Der Hauptmann hats befohlen.
(Wehrhan Nr. 2431—32.)
4. Ein jeder geh in sein Quartier,
Er sei ein Soldat oder Untroffzier.
Zur Ruh, zur Ruh, zur Ruh.
(Wehrhan Nr. 2433.)
5. Zu Bett, zu Bett, ihr Lumpenhund!
Es schlägt die letzte Viertelstund.
Trara, trara, trara. (Berlin 1872. Erk 38, 133.)
6. Gehts ham, gehts ham, ös Lumpenhund!
Ös freßts n Kaiser s Brot umsonst.
(Hruschka S. 427; G. Krebs 1892 S. 153.)
7. Herbei, herbei, ihr Lumpenhund!
Ihr freßt des Kaisers Brot umsunst.
(Ulm 1918. Müller 5, 230.)
8. Zu Bett, zu Bett, wer eine hat!
Wer keine hat, geht auch zu Bett1).
Trarah, trarah, trarah.
(Ostpreußen 1858. Erk 29, 280; Treichel S. 125; Frischbier S. 267.)
*) Vgl. Müllenhoff, Sagen aus Schleswig-Holstein 1845 S. 519:
To Bett, to Bett, de n Leevsten hätt!
De keenen hätt, mutt ok to Bett.
Texte zu militärischen Signalen und Märschen.
85
9. Zu Bette, wer ein Liebchen hat,
Und wer keins hat, muß auch zu Bett.
Zu Bett, zu Bett, zu Bett!
(C. Schumann S. 10.)
10. Soldaten stehn am Kupfergraben
Und wolln geschmierte Salzkuchen haben.
Geduld, Geduld, Geduld!
(Erk 37, 277.)
11. Der Bäcker backt das Brot so klein,
Der Teufel mag Soldate sein.
Geduld, Geduld, Geduld!
(Stolp 1865. Erk 39, 133; Krebs S. 153.)
12. Die Franzosen haben das Geld gestohln,
Die Preußen wollen es wieder holn.
Geduld, Geduld, Geduld!
(Laubach 1859. Erk 32, 100. — Stolp 1878. Erk 40, 178: Zu Häuf!)
13. Die Preußen haben die Schlacht gewonnen,
Sie werden bald nach Paris hinkommen.
S ist wahr, s ist wahr, s ist wahr.
(Schütte 16, 82.)
14. Die Preußen haben Paris genommen,
Nun werden bessere Zeiten kommen.
(Schütte 16, 82.)
15. Den Tambur habn die Mäuse gebissen,
Sie habn ihm auf die Trommel geschissen.
Lach ut, lach ut, lach ut!
(Kolberg. Erk 37, 277.)
16. Napoleon hat aufn Markt geschissen
Und hat vergessen den A ... zu wischen.
Papier, Papier, Papier!
(1816. Erk 37, 277; vgl. Schütte 16, 82; Müller 5, 237.)
17. Wo kommen denn alle Kassuben her?
Es sind so viel wie Sand am Meer.
Trara, trara, trara.
(Oder: Von Stolp. — 1865. 1879. Erk 39, 133; Treichel S. 159; Frischbier S. 267.)
18. Es suche jeder den rechten Fleck,
Und drängle keiner den andern weg.
Paßt auf, paßt auf, paßt auf!
(Schrempel S. 5.)
19. Jetzt kommt die schwere Kavallerie;
Was macht die leichte Infantrie?
Karree, Karree, Karree.
(Wohl ein Signal zum Karree formieren.Frischbier S. 267; Schütte 16, 82;Freytag 4,373; Schrempel S. 27.)
20. Sächsischer Zapfenstreich, angeblich von K. M. v. Weber; hat bei
Schrempel S. 5 und Gumbert S. 18 einen ziemlich ledernen Text:
Brüder, nun laßt die Waffen ruhen!
Für euch gibt’s nichts mehr zu tuen.
Der Feind, der ruht in Frieden,
Der Posten wacht mit Freuden,
Drum schlaft in guter Ruh!
Und morgen geht’s wieder mit frischen Mut
Zum heitern Kampf hinaus.
Schlafet wohl diese Nacht,
Nun schlafet, schlafet wohl!
86
Boite :
Im Mittelsatze aber sangen die Soldaten nach Freytag 4, 373:
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21. But - ter - milch und Sau - er - kraut, das paßt ja------------- nicht zu-
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samm; Friß du es, friß du es, ich mag’s ja gar nicht hamm.
22. Putzt mir nicht mit Hammerschlag,
Putzt mir nicht mit Sand!
Sonst kommt er, sonst kommt er,
Sonst kommt der Herr Sergeant.
(Freytag 4, 373; Erk-Böhme 3, 295.)
23. Es ist kein Mädchen in der Stadt,
Das nicht ’nen schönen Jäger hat,
Die alten Weiber auch.
(Simrock3 Nr. 730.)
24. Der Kaiser hat ein Haus gebaut
Von Buttermilch und Sauerkraut.
Nicht wahr, nicht wahr, nicht wahr.
(Simrock3 Nr. 732; vgl. Hruschka S. 427.)
25. Zu Bett, zu Bett, die Trommel geht,
Und daß ihr morgen früh aufsteht
Und nicht so lang im Bette let.
(Soltau 1, LXXIY; Erk-Böhme 3, 295.)
21. Ich hab einmal ein Haus gebaut
Im Eck.
Ich hab einmal ein Schatz gehabt,
Ist weg.
Ich hab viel auf sein Wort gebaut,
Ich hab gemeint, ich war die Braut:
Ein Dreck.
(Münstersche Geschichten 1825 S. 234.)
27. Drei lederne Strümpf,
Zwei und drei macht fünf.
Wenn ich einen verlier,
Hab ich doch noch vier.
(Soltau 1, LXXIV: Österreich. Zapfenstreich; vgl. Rochholz S. 55; Züricher Nr. 1772—75 mit Anm.;
Hruschka S. 427.)
G. Schläger (bei Lewalter, Kinderlied S. 344) weist darauf hin,
daß die Melodien der Kinderlieder ,,Es kamen zwei Pantoffeln herein“
(Nr. 271), „Wer will lust’ge Soldaten sehn“ (Nr .291), „Sechzig Gänse haben
wir gekauft“ (Nr. 316), „Wir reisen nach Jerusalem“ (ZfVk. 18, 44) im
preußischen Zapfenstreich wurzeln. Auch in den Versen „Die Mädchen
müssen die Fahnen tragen“ (ZfVk. 8, 406 Nr. 53; Lewalter S. 411) sieht
er Zapfenstreichverse.
3. Wecken.
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Punkte fün - fe weckt der Sei - ger, Punkte fün - fe ste-hen wir auf,
Texte zu militärischen Signalen und Märschen.
87
Punk - te sech - se trink’n wir Kaffee, Punk - te sie - ben rücken wir aus.
(Schrempel S. 5; Freytag 4, 372.)
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2. Habt ihr__ noch nicht lan - ge ge - nug ge - schla - fen ?
(Gumbert S. 18; Wehrhan, Zs. 2, 111; Müller 5, 232.
3. Steh auf und wasch di o’, wasch di o’ ! Pepem, pepem, pepem !
(Ingolstadt 1900. Müller 5, 232.)
4. Bataillons- und Kompagnierufe.
Das Ganze.
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1. Gilt
2. Al
1. Bataillon.
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les geht’s
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an.
(Schrempel S. 1.)
(Müller 5, 235.)
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3. Er - stes Ba - tail - Ion,
4. Das erste Ba - tail - Ion
er - stes Ba - tail - Ion.
hat gro - ße Leu - te.
Bataillon.
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5. Das er - ste nicht, das drit-te nicht, das zwei-te Ba - tail-Ion.
(Müller 5, 233.)
6. Wenn Weihnachten ist, wenn Weihnachten ist, dann kommt der heil’ge Christ.
(Schrempel S. 1.)
3. Bataillon.
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7. Die Fü
(oder: Maikäfer flieg!)
Bataillon.
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Korps.
11. Die
er - ste Kom - pag - nie
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88
Boite :
2. Kompagnie.
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12. Die zwei - te die steht ne - ben dran, steht ne - ben dran.
(Ingolstadt 1912.)
13. Die zwei - te die hat auch ein paar, hat auch ein paar.
3. Kompagnie.
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die drit
das
die drit - te.
(Ingolstadt 1912.)
15. A - ber die dritt, a - ber die dritt, a - ber die drit - te.
4. Kompagnie.
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16. Die vier - te ist die letzt, die vier - te ist die al - 1er - letzt.
(Ingolstadt 1912.)
17. Der Feldwebel hat an Rausch, der Feldwebel hat schon wieder an Rausch.
(Ulm 1918.)
18. Der Teu - fei ist jetzt los, der Teu - fei ist schon wie-der los.
(Schrempel S. 1.)
19. Von Leip - zig komm wir her, Geld hab’n wir auch nicht mehr, nicht mehr.
5. Marsch (Antreten oder Avancieren).
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1. Kartoffelsupp, Kartoffelsupp, die ganze Woch Kartoffelsupp! Vorwärts marsch!
(Müller 5, 228.)
(oder: Supp, Supp, Supp! oder: Sonntags Speck.)
(Schrempel S. 2; Freytag 4, 373.)
2. Kartoffelsupp, Kartoffelsupp,
Und keinen Tropfen Fett darup.
Hurra, hurra, hurra.
3. Kartoffelsupp, Kartoffelsupp,
Und dann und wann a Schöpsenkopp.
Und Mehl und Mehl und Mehl.
(Krebs S. 154; Simrock Nr. 731.)
4. Kartoffelschnitz, Kartoffelschnitz,
Die ganze Woch Kartoffelschnitz,
Schnitz, Schnitz, Schnitz! (Gfräß, Gfräß, Gfräß!).
(K. Weller, Lit. Beilage des Staatsanzeigers f. Württemberg 1896, S. 255.)
5. Kartoffelstampf, Kartoffelstampf,
Und alleweil Kartoffelstampf,
Fad, fad, fad.
(Ingolstadt 1900.)
6. Geht langsam vor, geht langsam vor,
Geht langsam und bedächtig vor, [geschwinder).
Vorwärts marsch (oder: Geht schneller — geht schneller und
Texte zu militärischen Signalen und Märschen.
89
7. Rasch vorwärts gehn, rasch vorwärts gehn,
Rasch vorwärts, vorwärts, vorwärts gehn.
Gehn, gehn, gehn.
8. Lauft immerzu, lauft immerzu
Und laßt dem Feinde keine Ruh!
Vorwärts marsch!
9. Da sitzt noch was, da sitzt noch was,
Da hinterm Busch sitzt noch was,
Has’, Has’, Has’.
10. Mei Rock is kaput, mei Rock is kaput,
Mei Rock der is scho wieder kaput.
6. Spießrutenlaufen (vor 1800 üblich).
(Ingolstadt 1900.)
(Schrempel S. 2.)
(Schrempel S. 2.)
(Augsburg 1895.)
5
4-i
1. War-um bist du weg - ge - lau - fen, bleibst nicht hier in deim Quar-
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tier?
Dar - um mußt du Gas - sen-laufn, ganz recht gschieht dir.
(Erk 20, 209. 1858. Ebd. 28, 854. 1856.)
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2. War-um bist du weg - ge - lau-fen, (bleibstnicht hier?)
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3?
Dar - um
mußt du Gas - sen - lau - fen, (recht g’schieht dir).
(Erk 3, 650. 1842; Schluß bei Krebs S. 128: Cujon, Cujon, Cujon.)
3. Warum bis du weggelaufen,
Warum tust du das?
Darum mußt du Spießrutn laufen;
Wie gefällt dir das?
4. Wenn einer desertieren will
Und weiß doch nicht den Weg,
So bleib er bei der Kompagnie,
So kriegt er keine Schlag.
(Erk-Böhme 3, 294.)
(Simrock Nr. 727.)
5. Einmal Buttermilch, einmal Schlemp
Hinten vor dat Hemd,
Dat et dämpt, dat et dämpt.
(Kölnischer Spießrutenmarsch. Simrock Nr. 725.)
7. Kavalleriesignale.
Satteln.
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2. Bau - er, Bau - er, ’sTor mach weit auf, satt-le ge - schwind mein Pferd!
90
Boite :
1. Es - ka - dron rückt
2. Sonst, sonst
Aufsitzen.
aus, hur - ra hoch, hur - ra !
komm’ ich viel zu spät.
(Schrempel S. 7; Freytag 4, 373.)
3. Frisch auf,
4. Hast ab
Absitzen.
Ka - me - ra - den, aufs Pferd, frisch aufs Pferd!
(Schrempel S. 11. Melodie von Chr. J. Zahn 1797.)
sit - zen kön-nen, kannst auf - sit - zen a.
(Augsburg 1895. Müller 5, 234.)
5. Her
Schritt.
un - ter vom Gaul, her - un
ter
vom Gaul !
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E
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6. Langsam vor, immerSchritt, immer Schritt, im -merSchritt, langsam vor!
(Schrempel S. 7.)
Trab.
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im
W=ß
7. Zieh mir den Sporn aus dem Leib,
8. Geh mir mit’m Ding von dem Leib,
Galopp.
o - der ich schrei!
(Schrempel S. 7.)
o - der ich schrei!
(Berlin 1910.)
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9. Schen-kel ran, Schen-kel ran, laßt ihn lau - fen, was er kann!
(Schrempel S. 7.)
Totenmarsch (Darmstadt).
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10. Hät-te mer Hei, hät-te mer Stroh, hät-te mer dies, hät-te mer
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das,
das das, das, das,
das,
das.
Al - le - weil is wid - der e Gard - rei - ter dot.
(Darmstadt 1860. Erk 33, 935.—Vgl. Wunderhorn 3, 415 = Erk-Böhme 3,
294 = Brentano, Viktoria und ihre Geschwister 1817 S. 88 und A. v. Arnim,
Werke 6, 316f. = Simrock Nr. 719.)
Texte zu militärischen Signalen und Märschen.
91
Blasen zum Gebet (Ödenburg).
Sehr schnell.
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11. Ich hab a-mol an ro-ten Hund va-lorn, i waß nit, wo er is.
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Such, such, such! Is schon da, is schon da, is schon da.
(Joseph Gruber, Deutsche Kinderreime aus Ödenburg in Ungarn Nr. 52, in
falscher Notierung. 1871 abgeschrieben bei Erk 39, 829.) „Auf den Wachtposten
der Kavallerie wurde mittags um 12 und abends um 8, im Winter um 7 Uhr zum
Gebet geblasen. Die Kinder begleiten die Trompetentöne mit folgendem Texte.“
Ähnlich die Weise des „Gebetes“ bei Schrempel S. 14.
8. Morgenruf der Artillerie.
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Ihr Ar - til - le - ri - sten, macht euch fer - tig,
denn es ist ein Marsch ge - wär - tig. Sat - telt, packt und
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schirrt und macht, was noch da - zu ge hört!
(Berlin 1878. Erk 39, 884.)
9. Petersburger Marsch.
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1. Platz ge-macht, Platz ge-macht! Es kom-men die U - la - nen.
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Vor - ne kommt der Hauptmann her und hin - ten
die U - la - nen.
(Wehrhan Nr. 2426.)
2. Platz gemacht, Platz gemacht! Morn da kommt min Dante,
Brengt mer ’n Sack voll Läwerworscht on de Musikante.
(Böhme S. 714 und 65.)
3. Platz gemacht, Platz gemacht! Morjen kümmt miün Tante,
Bringt müi äuk wat Schönes met, dann söch ek äuk Danke.
(Lippe. ZfrwVk. 2, 110.)
92
Boite: Texte zu militärischen Signalen und Märschen.
10. Radetzky-Marsch.
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Ha - lop - ki, Ha - lop - ki, es war e - mal e Mann, der
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hing die Hos’ zum Fen - ster raus und klopf - te, was er kann.
(Wehrhan Nr. 2429; ebd. 2430 mit andrer Melodie.)
11. Parademarsch der Jäger.
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Macht mir kei - ne Wipp - chen vor, Wipp - chen vor!
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g—e-
Denn wir sind das schwär - ze Korps, schwär - ze Korps.
(Sehrempel S. 12, Schluß bei H. Meyer S. 151: „das Gardekorps“.)
1909 hörte Baurat Julius Jost, mein alter Schulkamerad, diese aus Rossi-
nis Oper „Moses in Ägypten“ (1818, 1. Akt) herstammende Melodie zu
seinem Erstaunen auf einer jüdischen Hochzeit zu Jauni in Palästina
(Jost, Ein Frühlingsritt durch Syrien 1910 S. 138).
Bekannt sind die Texte zum Dessauer Marsch (Treichel S. 150),
zum Hohenfriedberger (Meyer Nr. 223. 224), Torgauer (Meyer
Nr. 257; Lewalter Nr. 685 B), Krähwinkler (Erk-Böhme Nr. 1432;
Treichel S. 150. Hess. Bl. 9, 92. Amft Nr. 152), zum Trauermarsch
Chopins (Schütte 16, 83), zum Fatinitza-Marsch Suppes (Meyer
Nr. 221; Schrempel S. 27).x) — Dagegen fehlen mir die Melodien zu dem
„Parademarsch im Laufschritt:“ „Lampenputzer ist mein Vater an
dem Dresdner Hoftheater“ (Schrempel S. 27; Freytag 4, 374), zu:
„Jule mit der Spule, mit der Blechmusik“ (Lewalter Nr. 434), zum
Präsentiermarsch: „Zweiundzwanzig Pfennig, ist viel zu wenig, Vater-
land und König“ (Weller a. a. 0. 1896, 255), Sammeln: „Mir tut der
Buckel, Buckel weh“ (Schrempel S. 27), Gewehr in Ruh: „Fiirn Dreier
Schnaps“ (ebd.), Futterschütten: „Mädel von Jüterbog, hast du dein
Kopftuch noch?“ (ebd.), General kommt (Müller 5, 236), zu den
schweizerischen Stücken bei Züricher Nr. 1757—87 u. a. Vielleicht
regen diese Zeilen zu Ergänzungen an. 1
1) ,,Ach, ich bin so müde“ ist wohl keine Militärmusik, wie Wehrhan Kr. 2425
meint; vgl. Schläger, ZfVk. 22, 289 und bei Lewalter S. 286. 411. — Über Post-
signale vgl. Böhme S. 236; Müller 5, 237f.; Treichel S. 123.
Friedlaender: Neues zum Krambambuli-Liede.
93
Neues zum Krambambuli-Liede.
Von Max Friedlaender.
(Mit zwei Faksimiles.)
Von den noch jetzt überall verbreiteten volkstümlichen Liedern können
sich nur wenige eines so hohen Alters rühmen wie „Der Krambambulist“.
Neunundvierzig Strophen zählt das im Jahre 1745 als Einzeldruck
veröffentlichte Poem, dem noch ein längeres Einleitungsgedicht in Alex-
andrinern vorangeht:
Zur Prob und auch zum Spaß hab ich hier ausgeführet,
Daß oft der bloße Reim den Denkungsstoff gebieret.
Und in der Tat ist es fast bei jeder Strophe das Reimwort auf Krambam-
buli, das die Phantasie des Dichters beflügelte. So schnell fanden die
Verse Anklang, daß ihr Autor: Crescencius Koromandel sie bei der
Aufnahme in seine Sammlung:
Nebenstündiger Zeitvertreib in teutschen Gedichten.
Dantzig und Leipzig 1747 (Vorrede datiert 1746)
auf nicht weniger als 102 Strophen vermehrte. Er fügte die Bemerkung bei:
„Dieses Scherzgedichte hat in kurzer Zeit einen so unerwarteten
Abgang und Beyfall gefunden, daß es nicht allein in verschiedenen
großen Städten und hohen Schulen Deutschlands nachgedruckt,
sondern auch in die Musik gesetzt worden.“
Die Melodie der Krambambuli-Verse ist in jedem Falle gleichlautend mit
der des Liedes vom Kanapee, dessen Text schon im Jahre 1740 auf gezeichnet
worden ist1). Trotz mancher Mühe ist es mir aber bis jetzt nicht gelungen,
aus dem 18. Jahrhundert irgendeine geschriebene oder gedruckte Auf-
zeichnung der Musik zum Kanapee- oder zum Krambambuli-Liede zu
finden. Der früheste Druck der Weise steht im „Allgemeinen Commers-
und Liederbuch mit Melodien, enthaltend ältere und neue Burschenlieder,
Trinklieder, Vaterlandsgesänge, Kriegs- und Turnlieder“, herausgegeben
von Albert Methfessel (Rudolstadt 1818). Untergelegt sind hier nur
Krambambulistrophen, und zwar 11, von denen die Mehrzahl neu gedichtet
ist. Diese Aufzeichnung der Melodie lasse ich hier folgen, im Texte unter b)
noch den Beginn des Kanapee-Liedes vom Jahre 1740:
Fröhlich und bequem.
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b>{
Cram - bam - bu - li, das ist der Ti - tel des
Er ist ein ganz pro - ba - tes Mit - tel, wenn
Das Ka - na - pee ist mein Ver - gnü - gen, drauf
Drauf kann ich recht ver - gnüg - lieh lie - gen in
1) Vgl. meinen Aufsatz „Das Lied vom Kanapee“ in der Vierteljahrsschrift für
Musikwissenschaft 1894, Heft 2.
94
Friedlaender:
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uns be - währt
wi - der - fährt
gu - te tu
sanf - ten Ruh
, fTranks, der sich bei
' \ uns was Bö - ses
, > ( ich mir was zu
' \ mei - ner all - zu
ährt. 1
Lhrt. /
b’.}
Des A-bends spät, des
Tut mir’s in al - len
j ••'iT J| J J J f\ r-1^
a) Mor - gens früh trink’ ich mein Glas Cram-bam - bu - li, Cram-
b) Glie - dern weh, so leg’ ich mich aufs Ka - na - pee, so
ll MF f 1^8
a) bi
b) leg’
ba
ich
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bam
mich
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li, Cram - bam
aufs Ka
bu
na
r
li!
pee!
Methfessel (er war übrigens ein tüchtiger Musiker und Melodie -
erfinder, von ihm rührt u. a. die noch jetzt in den Schulen gesungene Weise
zu „Hinaus in die Ferne“ her), scheint bei den späteren Auflagen seines
Liederbuches Anstoß an der siebentaktigen Fassung des ersten Teils der
Melodie genommen zu haben. Um die regelmäßige achttaktige Version
herzustellen, bot sich als willkommenes Füllsel das bei Trinkliedern stets
passende vallera in folgender Weise:
f-4» w 1
_j — - i • 1 — «
be - währt, val - le
Seit vielen Jahrzehnten aber haben sich die Studenten diese Variante so
zurechtgelegt:
-Ö-Srf i
-Jl- JJ J 1 —P^i
rr j •' 9 m J.-'j.... e
xnt w w .1 ~ w m
Tranks, der sich bei uns be - währt.1)
Die frühe siebentaktige Form der Melodie ist übrigens noch in den vier
Drucken wiedergegeben, die auf Methfessel folgten: die erste in Serigs
viel verbreiteter Sammlung „Auswahl deutscher Lieder“, 1.—4. Auflage
(1825, 1827, 1830 und 1836); bemerkt sei, daß Serigs Ausgaben schon
deshalb Beachtung verdienen, weil sie die Grundlage für das Schauen-
burg sehe noch jetzt überall verbreitete Allgemeine Deutsche Kommersbuch
sind. — Auf Serig folgten dann die Notierungen in G. W. Finks oft auf-
gelegtem „Musikalischen Hausschatz der Deutschen“ (Leipzig 1843ff.),
x) Mit geistlichem Texte („Jesus in heaven“ über schrieben) ist die Weise
schon vor mehr als 60 Jahren in Sammlungen amerikanischer Negerlieder auf-
genommen worden.
Zeitschr. f. Volkskunde NF II, 1—2: Friedlaender, Neues zum Krambambuli-Liede.
Abb. 1. Abb. 2.
Der Krambambulist. Ein Lobgedicht über die gebrannten Wasser im Lachs zu Danzig.
Neues zum Krambambuli-Liede.
95
ferner in Franz Poe cis „Alten und neuen Studentenliedern“ (Landshut 1848)
und August Härtels „Liederlexikon“ (Leipzig 1865). Auch zwei hand-
schriftliche Aufzeichnungen aus dem 2. und 3. Jahrzehnt des 19. Jahr-
hunderts zeigen noch die siebentaktige Lesart.
Die oben notierte in echt volkstümlicher Art geformte, leicht eingäng-
liche, unmittelbar zum Mitsingen einladende, wenn auch nicht gerade vor-
nehme Weise wirkt besonders vergnüglich in dem Kehrreim durch die
Assonanz und Wiederholung der Silben: kram bim bam bambuli1). — Auf
Schwingen dieser Melodie verbreiteten sich die Krambambuli-Verse so
außerordentlich schnell, daß bis zum Jahre 1781 nicht weniger als sieben
Neudrucke erschienen sind. Außerdem bestätigt eine Fülle von Zitaten
die außerordentliche Verbreitung von Text und Melodie, die noch jetzt
nach fast 19 Jahrzehnten gern bei studentischen Zusammenkünften an-
gestimmt werden und seit mehr als 110 Jahren fast ohne Ausnahme in
jedes Kommersbuch Aufnahme gefunden haben — überall mit neuen Zu-
sätzen versehen.
Über die Persönlichkeit des Verfassers und die lehrreichen Schicksale
seines Gedichts hat Otto Deneke in seinem „Göttingischen Nebenstunden“
(Göttingen 1922) eine aüsgezeichnete, ebenso gründliche wie durch Humor
belebte Abhandlung geboten, in der er u. a. auch den vollständigen Inhalt
der erwähnten 102 Strophen abdruckt. Aus den Angaben Denekes,
der sich in manchen Teilen auf die Forschungen Arthur Kopps stützt,
geht hervor, daß der unter dem Pseudonym Koromandel schreibende
Christoph Friedrich Wedekind (in den zeitgenössischen Werken oft
Wittekind genannt) am 15. April 1709 als Sohn eines Geistlichen in Rick-
lingen bei Wunstorf nahe Hannover geboren wurde, u. a. an der Universi-
tät Altdorf studierte, mehrmals als Hofmeister tätig war, und daß später
der „polytropos aner“ lange Zeit in Diensten bei dem Preußischen General
Prinz von Holstein-Gottorp stand. Zuletzt hatte er ein Amt als hochfürst-
lich eutinischer Justizrat in Kiel, wo er am 3. Oktober 1777 gestorben ist.
Weitergeführt wird Koromandel-Wedekinds Gedicht durch einen
handschriftlichen Fund, den der jetzige Besitzer der Danziger „Lachs“-
x) Im 18. Jahrhundert ist der Weise, wie aus Zitaten hervorgeht, als erste
Strophe zunächst diese untergelegt worden:
„Ein Günther schreibt das Lob vom Knaster,
Das Canitz ebenfalls erhebt,
Ich weiß auch, daß dies Lebenspflaster
Bey Dichtern stets im Ansehn steht;
Ich nehm ein Stück aus der Chymie
Und schreibe vom Krambambuli,
Krambimbambambuli, Krambambuli. ‘ ‘
Es ist nicht ganz unmöglich, daß durch die Gegenüberstellung der stolzen Takte 1
und 2 des Beginns und der geschwätzigen kleinlichen Fortsetzung Takt 5 und 6 der
Melodie der Kontrast zwischen Günthers bedeutender und des Baron von
Canitz schwächlicher Dichterpersönlichkeit angedeutet werden sollte. — Wegen
der Wiederholung des „bim bam bambuli“ verweise ich auf den Aufsatz meines
Kollegen Spiridion Wukadinovic von der Universität Krakau über die Entstehung
des Wortes Krambambuli (Neue Freie Presse vom 21. September 1928).
96
Friedlaender:
Fabrik Herr Walther Unruh gemacht hat und mir zur Verfügung zu stellen
so freundlich war. Dieses neue, bis jetzt noch nicht veröffentlichte Manu-
skript mit der Überschrift:
Fortsetzung
des Lob-Gedichtes
auf den
Krambambuli
(man vergleiche die beiliegende Tafel)
zählt beinahe ebenso viele Strophen wie das ursprüngliche, nämlich hundert
und eine. Es benutzt denselben Rhythmus und denselben Kehrreim wie
das alte, und gleich diesem ist es unerschöpflich im Auf finden neuer Reime
auf i. Die allerverschiedensten Worte werden dabei verwandt: Missisippi,
Montecuccoli, der Philosoph von Sanssouci, der von dem großen Alexander
durchhauene Nodus Gordii, ferner Gendarmerie, Effendi, Etui, Chiro-
mantie, Lüd Bedrögerie (Danziger Platt für Leutebetrügerei), Hydrophobie,
Opii, Thimothei, Ovids Metamorphosii, Vesuvii, Confutii, Cagliostri; auch
vor gewagten, lustigen Wortteilungen schreckt der Dichter nicht zurück, so:
Zum Beispiel stehet hier Machi-
avel dort bei Krambambuli,
und eine andere Strophe schließt drastisch:
Ist einer nur kein menschlich Vieh,
So hilft ihm der Krambambuli.
Wer der Verfasser ist, läßt sich nicht bestimmen. Nach den Andeutungen
über die unlängst ausgebrochene französische Revolution wie auch über
deutsche Dichter jener Zeit: Gleim, Langbein, Hölty, Kotzebue
(diese letzten beiden als Reim Worte zu Krambambuli benutzt) dürfte die
zweite Handschrift ungefähr mit 1795 zu datieren sein.
Der hier zur Verfügung stehende Raum verbietet es natürlich, die
insgesamt 203 Strophen der beiden Gedichte in extenso abzudrucken. Daß
die zweite Fassung hinter der früheren kaum zurücksteht und eine große
Zahl drolliger, für die Kulturgeschichte nicht unwichtiger Verse bietet,
mögen die folgenden Ausführungen zeigen.
Vorausgeschickt sei noch, daß das Vorbild für beide Gedichte nicht
nur das erwähnte Lied vom Kanapee war, sondern ein Poem Henrici-
Picanders1) aus dessen „Neu herausgegebenen Ernst-Scherzhaften und
Satyrischen Gedichten“ Fünfter und Letzter Teil, Leipzig 1751, S. 271 ff.
Hier steht beim Abdruck der Verse das Datum: 1734, die Verse sind also
wahrscheinlich älter als die des Kanapee-Liedes. Von Picanders acht
Strophen mögen die folgenden drei folgen, denen der Verfasser ebenfalls
eine Einleitung in Alexandrinern voranstellt mit dem Schlüsse:
Ich hab ein Pülverlein, das alle Schmerzen heilt.
Zinn Zeichen, daß es mir schon trefflich eingeschlagen,
Hab ich dir folgendes zur Nachricht mitgeteilt:
-1) Des Autors der imgewöhnlich schlechten, zum Teil entsetzlichen Verse in
Bachs Matthäus- und Johannes-Passion.
Neues zum Krambambuli-Liede.
97
Morbleu, der bey den Kriegesrittern
Ein Mann vom ersten Range hieß,
Klagt über Engbrust, über Zittern,
Sobald der Feind sich blicken ließ;
Dem gab ich nur mein Piilverlein
Zu Stärkung seines Herzens ein.
Hannss Plump, ein Mann von viel Ducaten,
Besuchte mich verwichenhin,
Und sprach: Herr Doctor, wie zu raten,
Daß ich kein tummer Teufel bin?
Da gab ich ihm mein Pülverlein
Zu Schärfung des Verstandes ein.
Hat Jemand Schmerzen vor der Stirne,
Klagt einer über kalten Brand,
Hat Jemand Maden im Gehirne,
Hat Jemand Fäulniß an der Hand,
Hat einer gar ein krummes Bein,
Der nehme nur mein Pülverlein.
Genau nach, diesem Vorbild sind unsere beiden Lobgedichte auf den Kram-
bambuli geformt: diesen „rosenroten Likör aus der berühmten Destillerie
von Isaak Wed-Lings Wittib und Eydam Dirck Hekker in Danzig, genannt
„Der Lachs“. Das Firmenzeichen — das noch in unseren Tagen das be-
rühmte Danziger Goldwasser ziert — wird in Strophe 58 beschrieben:
Zwey Lachse und Trianguli
Zum Denken, bei Krambambuli,
und in Strophe 89 der zweiten Folge wird es nochmals humoristisch ver-
wandt :
Vom Steinbock hab ich jüngst gelesen,
Daß sein Geschlecht sich mit der Zeit
Verliert, als wär er nie gewesen:
Ein Thor, der dieses prophezeit;
Er bleibt in der Zoologie,
Wie du im Lachs, Krambambuli.
Vorher vergleicht der Dichter den Saft mit einer Festung:
In Flaschenfuttern emballieret
Bist du bewahrt, wie eine Stadt;
Wie selten wirst du occupieret,
Wenn man dazu den Schlüssel hat,
Bedeckt durch Wälle und Glacis,
Wer tut dir was, Krambambuli!
Weiterhin wird seine tröstende, zugleich belebende und
Wirkung geschildert:
Die Traurigkeit kannst du verscheuchen,
Denn Faule machest du geschwind;
Die Zankenden kannst du vergleichen,
Die Zornigen machst du gelind;
Gestärkt sind die Schwachmatici
Durch deine Macht, Krambambuli.
Zeitschrift für Volkskunde II, 1—2.
beruhigende
7
98
Friedlaender:
Diese Belebung kommt auch dem ermüdeten Poetenrosse zugute:
Nun stockt es mit dem Reimeschmieden,
Der ganze Kram ist ausgeleert;
Des Dichters Pferd will schon ermüden,
Weil man zu viel von ihm begehrt.
Die Stetigkeit des Pegasi
Vertreibt dein Sporn, Krambambuli,
und der unvergleichliche Stoff hilft ebenso gegen Frost wie gegen Hitze:
Im Winter, wenn es schneit und frieret
Und jeder über Kälte schreit,
Daß er fast allen Mut verlieret,
So giebst du Wärme, die erfreut,
Und in der Hitz des Julii,
Dann kühlest du, Krambambuli.
Ausdrücklich wird erwähnt, daß der Trank zu feiertäglichen Konvivien
besonders paßt:
Ich richte täglich meine Sorgen
Und allen meinen Fleiß dahin,
Daß ich an einem jeden Morgen
Mit einem Schnaps versehen bin;
Doch sind dies ordinarii —
Am Fest-Tag ist Krambambuli,
wie er auch vornehmlich für die höheren Gesellschaftskreise bestimmt ist:
der Großherr in Konstantinopel ergötzt sich an ihm auf dem Polster
liegend, und:
Gemeine trinken froh Wotki,
Der Offizier Krambambuli.
Aber auch der Arme gönnt sich gern den Genuß, selbst auf die Gefahr
hin, dafür Geld entleihen zu müssen; hat er nur unsern Trank, so nimmt
er mit allem vorlieb:
Ich mag im kleinsten Winkel stecken,
Wo gute Bücher und Papier,
Mein Haus darf nur ein Strohdach decken.
Hab ich nur meine Notdurft hier,
So ist es mir ein gut Logis,
Nur fehle nicht Krambambuli.
Auch bei seiner Maladie verträgt der Kranke den Krambambuli. Wer
diesen verachtet, wird beschimpft, sei er nun Bettler oder Marquis; ja, so
weit geht die Schwärmerei des Dichters, daß er den Genuß des Getränks
selbst den geweihten Reliquien der Heiligen vorzieht. In seinem Ent-
zücken vergleicht er sich, indem er sich um sein Glas dreht, mit der Erde,
die dem Gesetz des Copernicus folgt. Sonst hat er zwar das Kleine gern,
z. B. das Mädchen, die „liebliche Jolie“, beim Krambambuli indessen
wählt er lieber ein großes Glas. Wird es ihm vorenthalten, so stirbt er,
indem er noch im Tode daran denkt, daß der Gelehrte die Quadraturam
circuli im Krambambuli gefunden hat, und daß ferner, wie einst das Capitol
in Rom durch das Geschnatter der Gänse gerettet wurde, jetzt das gleiche
Neues vom Krambambuli-Liede.
99
durch den Geruch der Blume des Krambambuli geschehen könnte. Des-
halb sollten die Astronomen in Dankbarkeit einen Stern nach dem Götter-
getränk nennen, das die berühmtesten Künstler der Zeit: den Flötisten
Quant z und den Geiger Colli, wie auch die bekanntesten Dichter begeistert
hat. Alles, was Cagliostro an Wunderkuren vollbrachte, will nichts
sagen gegenüber der Wirkung unseres Saftes:
Wenn ich mich irgendwo verletzet,
Aus Unvorsichtigkeit verbrannt,
Gehaut, geschnitten und gequetschet,
Und wie der Schaden sonst genannt,
Ich rufe nicht Chirurigi:
Mich heilet der Krambambuli.
Und der Leiter des Reklamebüros eines heutigen Warenhauses könnte
unsern Dichter um die Einbildungskraft beneiden, mit der er für seine
Arzenei Propaganda macht:
Kaufleute ziehn in Karawanen
Durch große Wüsten voller Sand;
Könnt ich dahin mir Wege bahnen,
So schickt ich in das ferne Land
Durch ihre Dromedarii
Auch etwas vom Krambambuli.
Der Heide stirbet mit Vergnügen,
Der Türk fürcht’t nicht des Todes Pfeil,
Sie freuen sich, ihn zu besiegen,
Denn Charon führet sie in Eil
Ins Innere des Elysii,
Wo Nektar und Krambambuli.
Und wenn der Kenner auch sonst Wohlgefallen an kunstgezierten Gläsern
hat — in unserm Falle genügt ihm die einfachste Fassung:
Doch, wer dich hat und trinken mag,
Dem schmeckst du auch aus Magoni
Und schlechtem Holz, Krambambuli.
Selbst vielbegehrte Titel bietet der Dichter aus:
Säß ich auf eines Königs Throne,
Beherrschte ich ein eignes Reich,
Macht ich den, zum verdienten Lohne,
Der dich besorget, und zwar gleich
Zum Rate des Commercii,
Zur Ehre des Krambambuli,
und in witziger Weise fährt er fort:
Den Juden wird sehr viel entrissen,
Was manche tausend Gönner nährt,
Dich, aber dich kann er genießen,
Weil es der Talmud nicht verwehrt.
Es trinkt der oberste Rabbi
Gekauscherten Krambambuli.
So lesen wir gegen den Schluß, daß in der ganzen Kosmographie oben-
an der Krambambuli steht, der, wenn im Hause ein Brand ausbricht,
7*
100
Frings:
zu allererst gerettet werden muß — befördert er doch wie nichts anderes
die Palingenesie, also die Verjüngungskraft. Wie ein Rezept Professor
Steinachs mutet die Mahnung an:
Sind auf dem Haupte graue Haare,
Fließt sacht das Blut, dieweil es kalt,
Sind wir nicht fern von Grab und Bahre,
Verliert sich Stärke und Gewalt —
O folget mir; des Senii
Erhaltung ist Krambambuli.
Und wenn unser Dichter neben den in seiner Zeit bekannten Taschen-
spielern, Springern (Mahei), Kunstreitern, Seiltänzern (Lioni) auch andere
Berühmtheiten in Verbindung mit dem Trank bringt, wie z. B. Sweden-
borg und den großen Naturforscher Saussure, der 1787 von Chamonix
aus den Montblanc bestieg, so können wir sicher sein, daß in unsern Tagen
etwa die Entdecker der Quanten- und Relativitätstheorie wie auch
Madame Curie und Marconi einem ähnlichen Schicksal ebensowenig
entgangen wären, wie der Zirkusbesitzer Sarrasani und der Meisterläufer
Nurmi, zumal diese wieder neue Reimworte ergeben hätten.
Literaturkundige Leser werden sich erinnern, daß in Johann Timo-
theus Hermes’ berühmtem Roman „Sophiens Reise von Memel nach
Sachsen“ (1770) von unserm Saft die Rede ist, daß in Lessings „Minna
von Barnhelm“ (1763—1767) der durch Moral nicht beschwerte Wirt dem
Diener des Majors von Teilheim einen „veritabien Danziger, echten, dop-
pelten Lachs“ anbietet, und daß auch in Heinrich von Kleists „Zer-
brochenem Krug“ (1811) der Dorfrichter Adam dem revidierenden Gerichts-
rat Walter in seiner Verlegenheit ein Gläschen Danziger kredenzen will.
Noch im 19. Jahrhundert entwickelte sich das Lied weiter: unsere
Kommersbücher zeigen neben acht bis zehn alten Strophen (aus der ersten
Fassung von 1747) sechs neue von glücklicher Erfindung. Wir können
sicher sein, daß die Lebenskraft von Text und Melodie sich weiter bewähren
und die dichterische Phantasie feuchtfröhlicher Stunden auch künftig an-
regen wird. Auch wenn hier die strengen Maßstäbe hoher Poesie nicht an-
wendbar sind, wollen wir uns doch über die kleine Unsterblichkeit des
die Jahrhunderte überdauernden Krambambuli-Liedes freuen:
„Dem Autor hat der Klang so wohl gefallen
Und, wenn ihr höflich seyd, ihr Herren Critici,
So dank ich euch dafür, Prost! im Krambambuli.“
Deutsch Karch ‘Wagen’, französisch charrue ‘Pflug’.
Von Theodor Frings.
Lat. carruca, gleich carrus ein gallisches Wort, erscheint nach Kluge,
Etym. Wb., als Karch ‘Karren1 am Ober- und Mittelrhein, auch am Main
und in Schwaben, nicht aber in der Schweiz; und in Pauls Grundriß l2
S. 336, 348, gilt es ihm als besonderes Charakteristikum des Mittelrhein-
Deutsch Karch ‘Wagen’, französisch charrue ‘Pflug’.
101
gebietes innerhalb der mannigfaltigen römisch-germanischen Lehn-
beziehungen. Kluges Hinweis auf ein prov. caruga, franz. charrue, läßt
den Gedanken auf kommen, es handle sich hier um einen galloromanischen
Wurf über den Rhein, um einen besonderen und wichtigen Einzelfall in
der Masse des Lehngutes, das J. Jud, Probleme der altromanischen Wort-
geographie, Zs. f. rom. Phil. 38, 1 ff., als galloromanisch nachgewiesen hat.
Der zweite Fragebogen des Atlas der deutschen Volkskunde wird die Frage
enthalten: Wie heißen die einzelnen Wagenarten? Und als Leitwörter
für den Beantworter erscheinen u. a. Wagen, Karren, Karch. Das
scheint eine rein wortgeographische Frage zu sein. Aber es steckt mehr
dahinter: ein Stück sachlicher Volkskunde und ein lang und heiß um-
strittenes kulturelles Problem: die Geschichte des Pfluges.
Gegenüber dem Gedanken an einseitig galloromanische Herkunft von
d. Karch macht die Verbreitung von carruca. im Gesamtromanischen stutzig.
Das Wort lebt mit Ableitungen in Friaul, Gröden-Südtirol und im Engadin,
demnach im Rätoromanischen und im ganzen Galloromanischen, nach
Meyer-Lübke, Romanisches etymologisches Wörterbuch Nr. 1720. Das
westdeutsche Verbreitungsgebiet von Karch umfaßt, genauer als Kluge
angibt, Schwaben, das Elsaß, Baden, Lothringen, die Pfalz. Die althoch-
deutschen carruh-Belege bei Graff 4, 466 weisen ins Alemannische; Lexer,
Mittelhochdeutsches Handwörterbuch 1, 1521 verweist mhd. karrech in
das mittlere und obere Rheinland. Die pfälzisch-hessische Nordgrenze,
also der nordsüdliche Gegensatz Karre ¡Karch, ist jetzt untersucht und
gezeichnet bei F. Maurer, Sprachschranken, Sprachräume und Sprach-
bewegungen im Hessischen, Gießen 1930, S. 69. Südwestlich Mainz läuft
sie, nach einer Mitteilung J. Müllers und auf Grund der Materialien des
Rheinischen Wörterbucharchivs, über die Nahe gegen Saarbrücken und
Lothringen. Das ist eine immer wieder auftauchende Grenze, die u. a. an
den Gegensatz von nordwestlichem Rocken und südwestlichem Kunkel
erinnert. Und gleich Kunkel hat Karch auf dem Boden der heutigen Rhein-
provinz Einbuße erlitten; es ist gleich Kunkel rheinaufwärts und gegen
Süden abgedrängt. Das Rheinische Wörterbucharchiv verfügt über eine
Reihe urkundlicher Belege des 16. und 17. Jhs. aus der Gegend von Jülich,
aus Brachelen, Luxemburg, Köln, Neuß, Aachen (1511, 1550, 1574, 1583,
1618, 1666); gelegentlich steht das Wort synonym mit Wagen, carruca hat
demnach auch im Trierischen und Kölnischen gegolten. Einen indirekten
Beweis dafür liefert ein kölnisches kärich ‘Behälter5 neben kär — got.
kas ‘Gefäß5. Denn dies kann nur aus einer Konkurrenz von kärich =
carruca und kär — carrus hervorgegangen sein; kär = carrus hat die
camica-Sprößlinge verdrängt. In der römischen Randzone von Friaul,
Gröden, Engadin bis Köln läßt also nur die Schweiz eine Lücke. Man darf
annehmen, daß sie das Wort verloren hat; auch im Schwäbischen hat das
Wort Einbuße erlitten, wie Fischer im Wörterbuch ausdrücklich feststellt.
Das heutige Karch- Gebiet ist also ähnlich dem Kunkel-Gebiet eine ver-
kleinerte Reliktzone, kein altes besonderes Charakteristikum des Mittel-
rheins.
102
Frings:
UNIV. BIBL
B CR LIN.
Wichtig wie die Wort- ist die Bedeutungsgeographie. Im Grödener Tal,
im Engadin, in Südfrankreich und in Sardinien erscheinen nach den Angaben
Meyer-Lübkes und nach den ergänzenden Materialien v. Wartburgs
die Bedeutungen ‘kleiner Leiterwagen, Schubkarren, kleiner Wagen, Wagen,
eindeichseliger Ochsenwagen, Wagen, in dem die Garben vom Feld zur Tenne
gebracht werden’. Das stimmt zu der Bedeutung im deutschen Relikt-
gebiet: zweirädriger (selten vierrädriger) Wagen. Die Bedeutung und die
geographische Lagerung der Bedeutung gestatten wichtige Schlüsse. Ein-
mal wird gegenüber der Unsicherheit der Archäologen die keltisch-römische
carruca als Zweiradwagen erwiesen; im Randgebiet der Germania Romana
hat sich die alte Bedeutung bis heute gehalten. Anderseits ist, von Zentral-
frankreich aus gesehen, die Bedeutung ‘Wagen’ vom Rätoromanisch-Süd-
französischen über die Rheinstraße bis ins Kölnische des 16. und 17. Jhs.
nur mehr Reliktbedeutung. In Nordfrankreich ist die kulturhistorisch
bedeutsame Wandlung zu ‘Pflug’ vollzogen worden. Die Auseinander-
setzung zwischen aratrum und carruca hat W. Foersterin einem Meister-
aufsatz gezeichnet, ‘Der Pflug in Frankreich’, Zs. f. rom. Phil. 29, 1 ff., jetzt
bei L. Spitzer, Meisterwerke der romanischen Sprachwissenschaft, Mün-
chen 1929, 1, 163ff. carruca hat das gemeinromanische, von Italien nach
West und Ost ausgeströmte aratrum verdrängt in Nordfrankreich und in
einem französischen Oststreifen, der sich von der südlichen Wallonie und
Luxemburg bis nach Savoyen und dem Aostatal erstreckt. Die nord-
französische Neuerung folgt hier offenbar dem westalpinen Flußsystem.
Nur verstreut und neben aratrum tastet sie sich über das Provenzalische
(sarüa) nach dem Katalanischen aruga) und nach Portugal (charrua)
vor. In Gallien hält sich aratrum vor allem im Südfranzösischen und
Provenzalischen und in der nördlichen Wallonie. Aus provenzalischen
aratrum-Mundarten ist araire in die französische Schriftsprache auf-
genommen als ‘charrue sans avant-train’, d. i. ein Pflug ohne Vordergestell,
ohne Räder. W. Foerster hat die sachliche Grundlage des Kampfes
zwischen aratrum und carruca auf dem Boden Galliens erkannt: aratrum
ist die noch primitive Fortsetzung des primitiven Hakenpfluges, carruca
ist der entwickelte Zweiräderpflug mit Vordergestell. Es verschlägt nichts,
wenn der alte Name auch für den neuen Pflug gebraucht wird, so im
Wallonischen; jedoch macht es dann einen Unterschied zwischen errere
ä pi ‘charrue ä pied, sans avant-train’ und errere ä rolette ‘charrue ä roulettes,
ä roues’. Wenn im entlegensten Wallonisch von Malmedy der aratrum-
Sprößling sogar die Bedeutung ‘Pflugschar’ hat, so spiegelt das eine pri-
mitivste Pflugform. Übrigens stammt aus der unmittelbaren Nähe des
wallonischen aratrum-Gebietes, aus Arlon, das köstliche arairwm-Relief,
das bei Blümner, Römische Privataltertümer3 S. 561 als Figur 86 ab-
gebildet ist. aratrum ist der Pflug der leichten Erde des Südens, carruca
der der schweren Erde Nordfrankreichs. Die Verbindung von aratrum und
carruca, von Pflug und Radgestell, war für Gallien etwas Neues.
Über das Alter der Neuerung auf französischem Boden äußert sich
W. Foerster nicht; und eine Schwierigkeit bleibt ihm in der Bedeutung
Deutsch Karch ‘Wagen’, französisch charrue ‘Pflug’.
103
‘vierrädriger Wagen5, die carruca haben soll. Diese Schwierigkeit ist oben
behoben worden; denn unter nordfranz. carruca ‘Pflug5 liegt ein carruca
‘zweirädriger Wagen5, dessen römischer Ostrand von der Nahe bis zum
Bodensee bis heute steht1). So beleuchtet das rheinische Wort den alten
galloromanischen Zustand, und umgekehrt rücken die romanischen Zu-
sammenhänge das heutige deutsche Reststück erst ins rechte Licht. Dabei
braucht man das rheinische Wort nicht über die römische Zeit hinaus zu
schieben und als keltischen Rest zu fassen. Denn erst infolge der Über-
nahme durch die Römer erhielt es Kurswert und die Geographie, die wir
bis heute verfolgen oder aus den heutigen Verhältnissen rekonstruieren
können. ,,Der spezifisch germanische Pflug mit breiter Schar und Räder-
gestell, der weder bei Römern noch Galliern noch Slaven Entsprechungen
hatte und auch heute in diesen Ländern teilweise nicht heimisch geworden
ist, war nach Meitzen mindestens schon vor der Karolingerzeit bei den
deutschen Stämmen verbreitet“, Hoops, Waldbäume und Kulturpflanzen
im germanischen Altertum, Straßburg 1905, S. 506. Nach Musterung der
Theorien über den bei Plinius bezeugten rätischen Zweiräderpflug und
über den Zusammenhang seiner Bezeichnung ploumorati xnit nord.-westgerm.
Pflug kommt Hoops S. 507 zu der Überzeugung, daß der Räderpflug wie
sein Name germanischen Ursprungs und um Christi Geburt in Deutschland
bekannt gewesen ist. Vergil nennt den über Rätien nach Italien ver-
pflanzten Räderpflug currus, Blümner a. a. 0. S. 560; er vollzieht damit
die gleiche Benennung, zu der in Nordfrankreich carruca benutzt wurde.
Das nordital. plovum der Lombardei und Emilia aber ist nicht rätisch,
sondern beruht auf der langobardischen Entsprechung von d. Pflug. Die
Langobarden haben den Räderpflug also noch einmal nach Italien gebracht,
obgleich W. Foerster S. 180 für die mundartlichen Nachkommen von
plovum die Bedeutung ‘Pflug mit Rädergestell5 nicht mehr nachzuweisen
vermag2). Doch beachte man das friaul. karudiel ‘Rädergestell, auf welches
die Pflugdeichsel gelegt wird5, bei Meyer-Lübke a. a. O., Ableitung zu:
carruca. Das ist gewiß ein alter, wenn auch nicht näher bestimmbarer Rest.
Ich halte es für ausgeschlossen, daß die galloromanische Bedeutungs-
entwicklung von carruca ‘Wagen5 zu charrue ‘Pflug5 schon in römischer
Zeit stattgefunden hat. Denn dann müßte die gallisch-rheinische carruca-
Fläche auf ihrem noch stehenden deutschen Ostrand doch irgendeine Spur
davon zeigen, aratrum blieb in römischer Zeit uneingeschränkt in Geltung.
Nach Geographie und Sache ist der Einbruch der Franken in Nordgallien
die Voraussetzung für die Wandlung. Sie verpflanzten den germanischen
1) Zwei Räder des Karch sind ausdrücklich bezeugt Schwab. Wb. 4, 218;
Eis. Wb. 1, 466. Die Bezeichnungsgrenze zweirädrig gegen vierrädrig wird natür-
lich gelegentlich überschritten; vgl. Eis. Wb. a. a. O. Das ist schon durch die
Vermischung mit carrus gegeben, das ursprünglich sicher ein vierrädriges Be-
förderungsmittel bezeichnet. So mag auch schon in römischer Zeit carruca ge-
legentlich für ein Vierrad verwandt worden sein.
2) In der lombardischen Ebene südlich des Corner und Langen-Sees sah ich
die Bauern nur mit Hakenpflug arbeiten.
104
Hepding:
Räderpflug in die nordfranzösisehe Ebene, wo das ungewöhnliche Werk-
zeug die sinnfällig charakterisierende Benennung car ruca erhielt. Anders
als in Oberitalien, wo beim Langobardeneinbruch plovum fest wurzelte,
wurde fränk. ploeg nicht übernommen. Bezeichnung und Sache blieb
zunächst im Strahlbereich des nordgallisch-fränkischen Zentrums; auf dem
Weg nach dem Süden marschierte beides an dem Reliktgebiet des wallo-
nischen Ardennengebietes vorbei. W. Eoerster hat recht: der Kaiser
von Byzanz in der Karlsreise kann nur den vollkommensten Pflug besitzen;
er pflügt eben mit dem germanisch-fränkischen Pflug!
v. Wartburg macht mich darauf aufmerksam, daß der Thesaurus
carruca ‘aratri genus5 aus der Lex Salica (6. Jh.) zweimal belegt, und weist
zugleich auf carruca im Capitulare de villis und im Polyptique d’Irminon
(9. Jh.); aber nur der letzte Beleg bedeute nach seiner Auffassung zweifellos
‘Pflug5. Ich habe die Stellen Lex Salica 34, 2. 38, 1 mit A. Jolles noch
einmal innerhalb der Zusammenhänge interpretiert, und wir meinen, bei
der Übersetzung ‘Pflug5 bleiben zu dürfen. Dann wäre der Bedeutungs-
wandel in der Tat unmittelbar an den Frankeneinbruch angeknüpft; im
9. Jh. ist er jedenfalls da.
Dreimal ist der germanische Pflug gegen die Romania vorgestoßen:
einmal um Christi Geburt über die Rätier nach Italien; zum zweitenmal
mit den Franken nach Nordgallien; zum drittenmal mit den Langobarden,
wieder nach Italien. Die Beweglichkeit der Bezeichnung, die z. B. für die
Übertragung des germanischen Wortes ins Rätische vorausgesetzt wird,
veranschaulicht neben dem Vorbruch von carruca ‘Pflug5 auf der Linie
Nordfrankreich-Portugal die Übernahme von aratrum ins Bretonische, von
d. Pflug ins Rätoromanische, v. Wartburg, Französisches etymologisches
Wörterbuch bei aratrum, W. Foerster a. a. O. S. 176; Meyer-Lübke
a. a. O. Nr. 6609. Der zweite, fränkische Stoß war der folgenschwerste. Die
Gotenzüge haben keine Spur hinterlassen; got. lioha bezeichnet den Haken-
pflug. Die Goten hatten also an der westgermanisch-nordischen Erfindung
keinen Anteil. Damit bestätigen sich alte Anschauungen, die nicht immer
unbestritten dastanden; das Neue aber, das ich beisteuern kann, beruht
darauf, daß ein Restwort der Germania Romania in die richtige europäische
Beleuchtung gerückt wird. Hinter carruca-Karch steckt in der Tat mehr
als ein römischer Provinzialismus. Das Wort wird, in all seinen Beziehungen
gesehen, zum kulturhistorischen Forschungsinstrument.
Ein Gegengeschenk der Romania an die Germania sind die Bezeich-
nungen des ‘Pflugmessers5, Kulter und Sech. Culter ist aus Gallien nach
England und, über die Mosel-Maas-Straße, nach Trier, Köln, Niederland,
Niederdeutschland gezogen, postverbales secum, seca ‘Schneidegerät5 (zu
secare) über die Alpen vorgebrochen. Am Rhein, in Westdeutschland, setzen
sich die beiden Strömungen gegeneinander ab im Bereich der Trierer Süd-
grenze ; bei dem weiteren Vorstoß nach Niederdeutschland — culter östlich
über den Niederrhein, sech nördlich über das deutsche Mittelgebirge — sind
die Wörter durcheinander geschichtet worden. Über diese kulturgeographisch
wichtigen Bewegungen und Schichtungen handle ich ein andermal. Im
Eine niederrheinische Schüsselinschrift.
105
Augenblick ist es für uns bedeutsam, festzustellen, daß das Pflugmesser
nach römischem Muster in den germanischen Räderpflug eingebaut worden
ist. Ein angelsächsischer Pflug mit ‘Rad5 und ‘Sech5 ist abgebildet bei
Hoops, Reallexikon 1, Tafel bei S. 26, bei Schräder, Reallexikon 2, 191.
Die Feststellungen der Sprachgeographen seien den Archäologen und
Kulturhistorikern an die Hand gegeben. Die vielen Streitfragen früherer
Zeit sind zu verfolgen bei H. Behlen, Der Pflug und das Pflügen bei den
Römern und in Mitteleuropa, Dillenburg 1904. In dem Artikel ‘Pflug5
des Reallexikons der indogermanischen Altertumskunde ist die Hoops’sehe
Anschauung leider nicht erwähnt. Aber § 8 handelt knapp von der
Übernahme des germ. ‘Pflug5, von Sache und Wort, ins Slavische. Das ist
also ein vierter Vorstoß aus Germanien. Er vergleicht sich dem Weststoß
durch Frankreich. Der westeuropäische Stoß ging in galloromanischer
Hülle bis Portugal, der osteuropäische sandte seine Ausläufer bis nach
Albanien und Rumänien {'plug).
Eine niederrheinische Schiisselinschrift.
Von Hugo Hepding.
(Mit 1 Abbildung.)
In der schönen Sammlung niederrheinischer Keramik des Bonner
Provinzialmuseums befindet sich eine Schüssel aus dem 17. oder, wahr-
scheinlicher, dem 18. Jahrhundert1) mit der Darstellung eines mit zwei
Pferden pflügenden Bauern (Abb. 1). Darunter steht folgender merkwürdige
Spruch: Gerrit Bruckmans bin ick genand
mein Leben steet in Gottes Hand
De Ploeg is mynen Acker
Daeop bin ick so wacker.
Wenn der durch den beliebten Reim Acker : wacker daran anklingende
Spruch des Schützenkönigs Breiing auf seinem Königsschild in der Schützen-
kette von Senden in Westfalen (vom Jahre 1845) lautet:
Bei Zeiten bestell’ ich den Acker,
Zu Zeiten doch trink’ ich auch wacker;
Drum nehme ich heute den Krug
Und lasse ruhen den Pflug2),
so ist das wohl verständlich. Aber wie soll man sich die dritte Zeile der
Bonner Schüsselinschrift erklären?
1) Nach freundlicher Mitteilung von Direktor Dr. Lehner. „Leider ist nicht
bekannt aus welcher Töpferei die Schüssel stammt. Der Durchmesser beträgt 451/2 cm.
Der Hintergrund des Bildes ist rotbraun, die hellen Stellen (Inschriftfläche und Hinter-
grund des Randes) milchweiß, der Baum ist grün, die Ornamente am Rand abwechselnd
grün und rotbraun, die Pferde und einige Ornamente gelblich.“ Auch für die Be-
sorgung einer Photographie und die Erlaubnis der Veröffentlichung bin ich Direktor
Lehner zu Dank verpflichtet.
2) Niedersachsen 19, 436. Dargestellt ist ein unter einem Baum sitzender Bauer
mit einem Krug in der Rechten, daneben sein mit zwei Pferden bespannter Pflug.
106
Hepding:
Karl Helm hat in den Hess. Bl. f. Volksk. 12, 217f. und nach ihm
Konrad Burdach, Vom Mittelalter zur Reformation 3, 1, 408 darauf
hingewiesen, daß ,,es im Mittelalter durchaus geläufig ist, irgendwelche
Erwerbstätigkeit mit einem vom Ackerbau hergenommenen Bilde zu be-
zeichnen“. Wenn der Ackermann aus Böhmen von sich sagt: Ich bins
genant ein ackerman, von vogelwat ist mein pflüg, so verstand man das damals
ohne Schwierigkeit: „mein Pflug ist aus dem Gewand des Vogels, d. h.
eine Feder“, ich bin von Beruf ein Schreiber. Man konnte für diese Me-
tapher auch noch das alte, weit über die Welt verbreitete Rätsel „Weißer
Acker, schwarzer Samen“1) heranziehen, in dem der weiße Acker das
Papier und der schwarze Samen die darauf geschriebenen Buchstaben
bedeuten. An die Stelle des Vergleichs mit dem Saatfeld tritt in diesem
Rätsel hie und da auch der mit dem gepflügten Acker „Weißes Feld,
schwarze Furchen“2), und dann ist natürlich die Feder der Pflug3).
Bur dach erinnert noch an die in der Literatur des ausgehenden
Mittelalters oft behandelte Anschauung, „daß ohne den unentbehrlichen
Nährstand des Ackermanns mit seinem Pflug die übrigen Stände nicht
leben könnten, daß er nützlicher sei als sie und vom wirtschaftlichen wie
vom sittlichen Gesichtspunkt aus den ersten Platz verdiene“4). Grimmels-
hausen schreibt (1672) im „Rathstübel Plutonis“ S. 221: „Jener sinnreiche
Maler entwarf allerhand Ständ auf Tuch; zum Kaiser schrieb er: ich erhalt
euch all; zum Pfaffen: ich bete für euch all; zum Soldaten: ich fechte für
euch all; und so fortan, zum Bauern aber: ich ernähre euch all. Muß dero-
wegen einer dem anderen nach göttlichem Willen in seinem Beruf dienen
und nicht wider dessen Ordnung murren5“). Solche Darstellungen der
Standesstufen waren noch bis in die neuere Zeit als Bilderbogen im Volke
weit verbreitet6), und ihnen mag auch die Beliebtheit eines Spruchs von
den verschiedenen Ständen als Hausinschrift zu verdanken sein, der schon
für das Jahr 1668 in dieser Verwendung in Weinheim bezeugt ist7). In
Liederbach bei Alsfeld schrieb ihn sich 1744 Joh. Connrad Zulauff in ein
Buch in folgender Form:
Der König muß seinen Triwuth haben.
Der Etel Man spricht: Ich hab ein frey Guth.
Der Pfarrer spricht: Ich bin frey.
Der Schul Meister spricht: Ich steh auch darbey.
Der Solltad spricht: Ich geb nichts darzu.
b Antti Aarne, Vergleichende Rätselforschungen 1 (FFC 26), 35ff.
а) Ebda. S. 50 (Estland).
3) Ebda. S. 55f., vgl. S. 59f. (bes. aus romanischen und slawischen Ländern).
4) A. a. O. 3, 2, 65 Anm. 1.
5) Vgl. Marg. Challier, Grimmelshausens Weltbild: Hess. Bl. f. Volksk. 27,
90ff., über seine Vorliebe für den Bauernstand S. 118f.
б) Reinh. Köhler, Kleinere Schriften 2, 61 ff. 677; s. auch Niedersachsen 15, 409.
7) Hess. Bl. f. Volksk. 12, 166 Anm. 1. Dort auch zahlreiche Belege für diesen
tpruch als Hausinschrift im Hessischen. Vgl. dazu noch Heimat-Schollen (Melsungen)
1 (1921), 71; Volk und Scholle 3 (1925), 364; Heimat im Bild (Beil, zum Gießener
Anzeiger) 1927, 112 Nr. 10; 122 Nr. 11 (in dem schönen Aufsatz von P. Bender,
Hessische Hausinschriften zum Preise des Bauernstandes).
Eine niederrheinische Schüsselinschrift.
107
Der Betel Man spricht: Ich hab nichts, last mir doch Ruh.
Der gute Bauger spricht: ach Gott, steh uns bey,
ich mus halten die 6 alle frey.
Alles, was lebt, lebt vom Baugerman,
So will der König sein Triwuth auch han1).
1734 stellten Paulus und Nicolaes Hammeckers in Schaephuysen auf-
einer Schüssel einen Geistlichen, Soldaten, Advokaten und Bauer2) neben-
einander und gaben jedem eine Unterschrift. Die des Bauern lautet:
Ich eyn armer baurman sach:
mit gaer meuhe ondt arbeydt bin geplacht:
daß Solldadt geystlich ondt advocat:
eyn schaf eyn han ondt eyn duicadt
ja habe mys so veill darbey
ernere kuene alle drey3).
So betont der „Nährstand“ immer wieder, daß von seiner Arbeit4) allein
alle übrigen Stände leben. Es ist begreiflich, daß sich die anderen Stände
dagegen wehren. Die „Schreiber“, für die das Pflugbild, wie wir sahen,
längst gäng und gäbe war, mögen zuerst den Trutzvers gegen den Bauern-
stand gedichtet haben, dem wir seit dem 17. Jahrhundert in mancherlei
Abwandlungen sehr oft begegnen. Der älteste mir bekannte Beleg findet
sich in dem Liederbuch des Rostocker Studenten Petrus Fabricius (aus
den Jahren 1603 bis 1608):
Papyr ist mein acker,
die fedder mein pflüg,
darmit erwerb ich ehr vnd guter genug5 6).
Am Anfang oder zwischen der ersten und zweiten Zeile scheint, wie aus
den Varianten und Umgestaltungen, die wir kennen lernen werden, hervor-
geht, eine Zeile ausgefallen zu sein. In einem Buch der Mainzer Stadt-
bibliothek (Nathanael Dhüez, Neuvermehrte und verbesserte Französische
Grammatica, oder Sprach-Lehr, Hanau 1690) steht folgende Buchinschrift:
Daß Papier ist mein Acker,
Darumb bin ich so wacker,
_ Die Feder ist mein pflüg
x) Mitt. d. Gesch.- u. Altert.-Vereins d. Stadt Alsfeld, Reihe 5 (1922), 92.
2) Die Zusammenstellung dieser vier Stände ist besonders beliebt: R. Köhler
a. a. O. 2, 65f.
3) Deutsche Volkskunst Bd. 3: Max Creutz, Die Rheinlande S. 32 und Abb. 110,
vgl. auch die etwas jüngeren Schüsseln mit derselben Darstellung Abb. 108 u. 109.
Die Schaphuysener Schüsseln haben öfter auch die ausgebogte Inschriftfläche wie
unsere Schüssel, s. Abb. 112 (von 1743) und 114—116 aus späterer Zeit; auch in
den Ornamenten sind manche Ähnlichkeiten. Für die Antiqua-Majuskeln vgl. die
Schüssel aus Rayen von 1716 Abb. 101.
4) Fritz Philippi, Vom Pfarrer Mathias Hirsekorn und seinen Leuten (Leipzig
1924) S. 122f.: „Ich hörte mit eignen Ohren, wie einer, der soeben eine Taufe bestellt
hatte, unter meinem Fenster die Frage beantwortete: ,Was macht der Pärrner?‘
,Naut macht er! Er sitzt am Tisch und schreibt.4 Holte ich mir aber ein nasses Hemd
bei der Gartenarbeit, verabsäumte keiner im Vorbeigehen mich zu loben: ,Wollt ihr
aut arbeiten?‘‘‘ (Westerwald): Die geistige Arbeit und das Schreiben ist für den
Bauern keine Arbeit.
6) J. Bolte, Alemannia 17 (1889), 259.
108
Hepding:
Darurnb bin ich so Klug,
Der Dinte ist mein samen
Damit schreib ich den Nahmen1).
Hier sind nun Pflug- und Saatbild miteinander vereinigt. Um zwei Zeilen,
die in den gereimten Eigentumsvermerken in Büchern öfter wiederkehren,
vermehrt, fand ich dann auch den Spruch in einem Predigtbuch im Besitz
des Lehrers Bernhard in Heimertshausen eingeschrieben:
Johann Görg Stumpff bin ich genandt,
Heimmertshaussen ist mein vatter Land,
Die Veder ist mein plug,
und dadurch werd ich klug,
die dinte ist mein samen,
da mit schreib ich meinen Ehrlichen namen,
das Babier ist mein acker,
und dadurch werd ich Wacker. Anno 1767.
Im Paderbörnschen ist unser Schreiberspruch noch aus neuerer Zeit auf-
gezeichnet worden:
Das Papier ist mein Acker,
Drum schreib ich auch so wacker.
Die Feder ist mein Pflug,
Her mit dem Krug!
Die Tinte ist mein Samen,
Damit schreibe ich meinen Namen.
O weh, das Ding ist schlecht geschrieben,
Und meine Klugheit in der Feder geblieben2).
Bei den Bücherfreunden haben die Buchbinder den Spruch kennen-
gelernt, und sie dichteten ihn für ihr Gewerbe um. Hie wandernden Buch-
bindergesellen sorgten für seine Verbreitung. So finden wir in dem Stamm-
buch des Buchbindergesellen Christoph Felber, das Robert Keil veröffent-
licht hat, einen Eintrag aus München 16453):
Frisch, frolich vnd wacher
Der schlagstein ist mein Acker,
Die bschneidhobel ist mein Pflug,
Darmit gewine mir gelt vnd gut genug.
und aus Olmütz 16614):
Frisch auff vnd wacker,
babbier ist vnser Acker,
Schlagehammer ist vnser pflüg,
Damit gewinnen wir gelteß genug,
Das wir können lustig sein
Beim kihlen Wein
vnd bei Jungfraulein.
x) Hess. Bl. f. Volksk. 12, 163, 3. Das Buch war A° 1700 Carmeli Moguntini.
Der Vorbesitzer schrieb noch ein: Inservio F. Albano a sancto Ludovico Carmelitae,
praesidi et pastori palatino Simmerensi. 1694. Ob er auch der Schreiber unsres Spru-
ches ist?
2) Ztschr. d. Ver. f. rhein u. westf. Volksk. 6, 34 Nr. 55.
3) Ein denkwürdiges Gesellen-Stammbuch aus der Zeit des 30jähr. Krieges
(1860) S. 56.
4) Ebda. S. 94.
Eine niederrheinische Schüsselinschrift.
109
Im Braunschweiger Buchbindergesellenbuch aus den Jahren 1698—1717
begegnen wir dem Spruch in folgender Form:
Frisch, munter und wacker,
Der Schlagstein ist mein Acker,
Der Beschneidhobel ist mein Pflug,
Damit verdien ich Reichsthaler genug1).
Und noch am 6. Dezember 1736 trug sich Johann Martin Gottschalck von
Erfurt in das Herbergsbuch der Buchbinder zu Kaiserslautern mit unserem
Spruch ein:
Friß frelich und Wacker,
Der Schlagstein ist mein Acker,
Der Schlaghammer ist mein Pflug,
Damit verdien ich geld genuch2).
Aber auch die Drechsler eignen sich den Spruch an: Ein solcher läßt 1817
als Schützenkönig auf sein Königsschild schreiben:
Die Drechselbank ist unser Acker,
Darauf kann man arbeiten wacker
Meißel und Stahl ist unser Pflug,
Damit verdienen wir genug3).
Ebenso ist der Spruch bei den Müllern im Schwang. Im Salzbödetal
schrieb ich mir 1906 an der Reimershäuser Mühle bei Damm die Haus-
inschrift ab:
Die Müller die sein wacker,
Die Mühle ist ihr Acker,
Die Welle ist ihr Pflug,
Damit verdienen sie Korn und Weizen genug4).
Wenn das Handwerk das Pflugbild verwendete, wird der Bauer dafür
Verständnis gehabt haben. Wenn es nun aber auch von Soldaten ge-
braucht wurde, zumal im 17. Jahrhundert, so mochte er daraus wohl eher
Verachtung seiner schweren Arbeit am Acker heraushören, als sich zu einer
Anerkennung auch dieses Berufsstands dadurch gewinnen lassen. Im
Stammbuch des Churfürstl. Bayerischen Regiments-Auditeurs und Secre-
1) Braunschw. Magazin 9 (1903), 56f.
2) Pfalz. Museum 39, 105. — Der ersten Zeile dieser Sprüche der Buchbinder —
wir werden sie nachher auch bei den Soldaten finden — begegnet man so oder ähnlich
auch bei anderen Zünften, so auf einem Fleischerzunfthumpen von 1666:
Fröhlich, frisch und fein wacker
Sind die Fleischhacker,
Sie schlachten Vieh, schwarz, rot und weiß,
Und trinken Bier mit allem Fleiß.
(Walther Bernt, Sprüche auf alten Gläsern [1928] S. 53f.).
3) H. Schlütz, Die Inschriften auf den Königsschildern der Schützenketten:
Rheinisches Land 7, 41 (ohne Ortsangabe).
4) Hess. Bl. f. Volksk. 12, 163, 3 = v. Baumbach im Hessischen Volkskalender
1927 S. 48.
110 Klapper:
tarius Joh. Phil. Heerbrand findet sich folgender Eintrag aus dem
Jahre 1649:
Frisch und wagger,
Degen mein Acker,
Pistolen mein Pflug,
Damit gewün ich Ehr und Gelts genug1).
Und ähnlich heißt es bei Zincgref 5, 229:
Frisch vnvertzagt / behertzt / vnd wacker:
Der scharpffe degen ist mein acker.
Vnd beuten machen / ist mein pflüg /
Damit gewinn ich gelt genug2).
Es liegt darin offenbar dieselbe Verachtung der Bauernarbeit, für die schon
im Altertum der kretische Kriegsmann Hybrias einen ähnlichen Ausdruck
gefunden hat in einem Skolion, das bei den dorischen Syssitien „den Heloten
zum Trutz“ wohl gar manches Mal gesungen worden ist:
'Ecti poi тгХоитод цеусх? bopu Kai Eiqpoq
Kai то KaXöv Xaiafpov, rrpößXrnua хрштос;'
toutwi y«P apw, toutwi 0epi£w,
toutwi ттатеш töv abuv oivov du dpireXw,
toutwi Ьесптбтас; pvo'ia^ кёкХгцюп3).
Kehren wir nun zu unserer niederrheinischen Schüsselinschrift zurück.
Die beiden ersten Zeilen klingen an Buch-4) und Hausinschriften5) an, die
beiden folgenden sind aus den hier behandelten Schreiber- und Handwerker-
sprüchen entlehnt. Der Töpfer, der den Spruch einritzte, hat ihn gewiß
öfter für seine Schüsseln verwandt, um die künftigen Eigentümer darauf
zu nennen, und ihn je nach deren Beruf umgeändert. Es ist ihm kaum zum
Bewußtsein gekommen, daß er für den Bauernstand ungeeignet ist, und
daß der Leser die Gleichsetzung von Pflug und Acker grotesk empfinden muß.
x) Rob. u. Rieh. Keil, Die deutschen Stammbücher des 16. bis 19. Jahrli.
S. 120 Nr. 487.
2) W. Uhl, Die deutsche Pimmel S. 405. Ähnliches bei Grimm, D. Wtb. 7,
1776/77.
3) Anthologia lyrica ed. E. Dielil 2, 128 XVIII; vgl. Maas in Pauly-Wissowas
Real-Encyclop. 9, 32 f. — Einen schönen Beleg für die Verwendung des Pflugbilds im
Altertum wies mir noch Rud. Herzog nach: Theokrit, Berenike v. 2 vom Fischer:
та Ьё biKTua Kdvw аротра.
4) Siehe z. B. oben S. 107f.
5) Vgl. etwa 1706: Michael Prl. Pin ich genannt, in Gottes Hant dises Haus stehet
(Blätter f. Heimatk., [Graz] 1 Nr. 4, S. 8); oder 1700 in Wetzlar:
Dis Haus steht in Gottes Hand,
S. Barbara ist es genandt.
Gott behuet es vor fvr(!) Feuer vnd vor Brandt.
Wilhlm Gras bin ich genandt,
In Felmer in Chur Trier ist mein Vatterlandt.
(Mitt. d. Wetzlarer Geschichtsver. 1, 48).
Die soziale Stellung des Spielmanns im 13. und 14. Jahrhundert. Hl
Die soziale Stellung des Spielmanns
im 13. und 14. Jahrhundert.
Von Josef Klapper.
Es ist eine wesentliche Aufgabe der historischen Volkskunde, die
sozialen Schichten in Aufstieg und Verfall zu beobachten, die Fäden, die
zwischen ihnen hin- und hergewoben werden, aufzuzeigen und die Wer-
tungen, die die Berufsschichten aneinander vornehmen, aufzudecken und
in ihrem Wandel zu begleiten. Hier ist Voiksgeist am Werke, hier lassen
sich in ihren Grundlagen unwandelbare Wesenszüge mit ihren zeitbedingten
Schwankungen und Veränderungen des Oberflächenbildes mühelos ablesen.
Johannes Bolte hat ein buntes Bild entworfen von der Mannigfaltig-
keit in der Zusammensetzung der sozialen Gruppe, die wir als ‘fahrende
Leute’ zu bezeichnen gewöhnt sind1). Dieses Bild nimmt seine Einzelzüge
im wesentlichen aus dem Schrifttume des 15. und 16. Jahrhunderts.
Die folgenden Bemerkungen wollen einige weitere Beiträge geben, die
aus der Schar der Fahrenden eine bestimmte Gestalt herausheben, den
Histrio, den Spielmann. Seine soziale Lage im 14. Jahrhundert und im
Vergleich dazu im 13. Jahrhundert soll dadurch beleuchtet werden.
Es hat den Anschein, als ob der Histrio in der zweiten Hälfte des
14. Jahrhunderts in höfischen Kreisen seine Glanzzeit erlebt. Eine noch
wenig genutzte Quelle für die Einsicht in die Rolle, die er damals als Hof-
musikus und Hof Spaßmacher spielt, sind die Urkunden- und Brief formein,
etwa die Summa cancellariae Johannis Noviforensis, das Werk, das die
vorbildlichen Entwürfe und Kopien der Urkunden der Prager Kanzlei
Karls IV. großenteils aus der Feder des kaiserlichen Hofkanzlers Johann
v. Neumarkt enthält2). Johann war Bischof von Leitomischl (1354—1364)
und von Olmütz (1364—1380). Man gewinnt die Überzeugung, daß hier
der Spielmann als Schalk von diesen Herren nicht nur von Zeit zu Zeit
gern gesehen wird, daß er im Verkehr mit den Adligen aus seiner sozialen
Minderwertigkeit herauswächst, und daß sich diese Wandlung in seiner
Wertung auch im Bürgertume bemerkbar macht, wenigstens soweit der
Sonderberuf des Figellators oder Fistulators in Betracht kommt. Um 1400
treffen wir beide in Prag unter den Hausbesitzern an.
Die närrische Kopie des Hofnarrenamtes des Spielmanns am Hofe
Karls ist das Privilegium fatuorum, in dem König Pluto einem Jo-
hannes, Grafen von Narrental, den Narrenprimat überträgt und alle Rechte
des Narrengrafentums verleiht3). Die Burgen der Grafschaft Narrental sind
1) Sitzungsber. d. Berliner Akad. d. Wiss., phil.-hist. Kl. (1928) S. 625 f. Für
die früheren Jahrhunderte finden sich verwandte Stoffe bei H. Reich, Der Mimus
(1909) S. 745, Kap. IX.
2) Ausg. v. F. Tadra, Prag 1895.
3) Tadra S. 13, Nr. XX. Die Burgennamen sind in der lateinischen Urkunde
deutsch. So in der Breslauer Hs. II. F. 22 Bl. 121v. Vgl. Anzeiger f. Kunde d. deut-
schen Vorzeit 22, 210 (A. Schulze).
112
Klapper :
hier aufgezählt : Narrenberg, Narrenstein, Narrental, Narrenhusen, Narren-
heim, Torental, Torenburg, Torenstein, Affenburg, Affenfeit, Affenkirchen,
Affenleite, Affenhusen. Die Begleiter des Grafen sind Affengeruste und
Affennasen. Sein Hof dienst sind ‘Fürwitz5 der Hofmeister ‘erroris incon-
sulti levitas5, Kämmerer ist ‘Lastende Not5 ‘inimica pauperitas5, Küchen-
meister ‘Schmalhans5 ‘egestas5, Koch ‘räudiges Ungemach5 ‘scabiosa cala-
mitas5, Marschall ‘blasser Hader5 ‘frequens et livorosa contendo5, Kaplan
‘Schwätzer5 ‘continua garrulitas5, Kanzler ‘Wirrkopf5 ‘involuti Spiritus
vertiginosa miseria5; Gefolge sind: ‘Zank, Zorn, Neid und Abscheu5
‘rancor, ira, livor et tedium5; Pagen: ‘Übereilung, Unüberlegtheit, Ra-
serei5 ‘precipitata voluntas, indeliberata mentis provisio, spiritus furibun-
dus5. Die Nahrung soll sein: ‘Himper, craczber, wachaldirber5, Schwämme
und Pilze ‘de fungís quibuslibet pariter et boletis5 ; Trank : faules abgestan-
denes Sumpfwasser, Traufenwasser von verfaulten, vermoderten Dächern,
Gossenwasser und Spülwasser der Kloaken; die Kleider: Dornengestrüpp;
Felle und Futter dazu die Igelhaut. Als Zeugen werden genannt: ‘Phan-
tast, Unvernunft, Gedankenflucht, Dösigkeit, Schiefstirn, Schielauge, Quer-
nase, Stammelmund, Rülpser5 ‘fantasie tue vanitas, intelligencie contracta
medulla, obliviosa contendo, ebetudo mentis, frontis defectuosa locacio,
oculorum situs deformis, narium inequalis posicio, vocis peccantis barbaries,
potacionis rictus enormis5.
Dieser Adelsbrief ist gewiß nicht viel mehr als eine der damals be-
liebten Stilübungen. Vielleicht ist er nur angeregt durch den bekannten
Brief Luzifers an die Prälaten. Aber er zeigt uns das Wunschbild, das sich
die Hofgesellschaft vom Hofnarren macht. Moralische und leibliche Häß-
lichkeit, das Gegenbild des damals noch geltenden höfischen Ideals, soll
an ihm anschaulich sein ; er ist die Zielscheibe überlegenen, unfeinen Spottes ;
aber er ist doch Glied der Hofgesellschaft geworden und ihr geistig gewiß
ebenbürtig. Und so kann er auch mit anderen Augen als denen ausgelassener
Spottsucht angesehen werden. Seine musikalische Leistung macht ihn
wertvoll. In einer Formel ernennt der Kaiser einen Spielmann zum Könige
aller Fahrenden mit der Begründung, daß er mit seinen Harmonien bereits
dem Vater Karls gedient habe und auch den Kaiser jetzt noch damit er-
freue ; und der Brief empfiehlt ihn wegen seines anständigen Lebenswandels,
‘morum conversacionis et vite laudabilitas5. Alle Histrionen sollen ihn
als ihren König ehren und bei ihren Zusammenkünften seinem Rate
folgen. Er hat Freiheit, Gaben, die er für sein Saitenspiel erhielt, Pferde,
Kleider und andere Geschenke zu verkaufen, und er bleibt frei von Ab-
gaben1).
Wir denken an einen künstlerisch hochstehenden Figellator gereiften
Alters, der dem Herzen des Kaisers wirklich nahesteht.
Es ist ein glückliches Zusammentreffen, daß uns gerade aus dieser
Prager Hofwelt eine Reihe von Bildern zur Verfügung stehen, die uns die
1) Summa cancellariae S. 40, Nr. LXIV : Imperator facit quendam figellatorem
regem omnium hystrionum. Vgl. Anz. f. Kunde d. deutschen Vorzeit 22, 212.
Die soziale Stellung des Spielmanns im 13. und 14. Jahrhundert. H3
Spielleute bei ihrem Geschäfte zeigen. Eine Prachthandschrift, die von
einem französischen Illuminator für Karl IV. in Prag gegen 1360 angefertigt
worden ist (Breslau, Staats- und Univ.-Bibi. I. F. 421), bringt in den Drô-
leries des Randleistenschmuckes mit ersichtlicher Vorliebe Motive aus dem
Spielmannsleben.
Wenn hier unter den 56 Spielmannsbildchen die Figuren in 18 Fällen nackt
dargestellt sind, so mag das auf die Rechnung der fabulierenden Phantasie des Künst-
lers zu setzen sein, obwohl die kirchlichen Verbote gerade die Entblößungen bei den
Schaustellungen der Spielmannsschar hervorheben. Im übrigen sind die Gestalten
fast immer in einfachem Rock, teilweise mit der Kapuze am Rücken, mit Strümpfen
und Schuhen gemalt, zweimal mit einem Spitzhute, dessen Krempe hinten aufge-
schlagen ist und vorn weit heraussticht, einmal mit sehr kleinem, flachem Hütchen.
Die Rockfarbe ist überwiegend blaßblau oder ziegelrot, vereinzelt auch rotbraun,
gelblich oder grün. Die Farbe der Strümpfe sticht von der des Rockes kräftig ab,
die Schuhe sind schwarz. Dreimal begegnet das Spielweib, immer in einfachem
Rocke in entsprechender Farbe wie beim Spielmann, und mit hellem Kopfschleier,
der das Haar bedeckt. Einmal ist das Spielweib mit der fünfsaitigen Harfe dargestellt,
einmal schlägt sie tanzend ein Tamburin mit drei Schellen, einmal streicht sie die
Fiedel mit einem Bogen, dessen oberes Ende eine quadratische Verdickung zeigt.
Die Beschäftigung der Männer ist bunter. Musikantenmotive überwiegen; sechsmal
begegnet der Fiedelstreicher, zweimal der Harfenspieler, einmal der Fiedelzupfer,
ein Bildchen zeigt einen Knieenden, der die Handorgel mit sechs (?) stehenden
Pfeifen und Klaviatur auf dem einen Knie hält. Es gibt auch fünf Dudelsackpfeifer,
einen Triangelschläger, zwei Hornbläser, fünf Tubenbläser. Einmal spielt ein Mann
auf zwei Tuben zugleich. Flötenbläser begegnen zweimal. Ein tanzender Klingel-
schwinger schüttelt in jeder Hand eine kleine Stielglocke. Dreimal tragen Männer
eine helle kreisrunde Scheibe, die durch einen Gurt geteilt zu sein scheint, wohl
eine Trommel, und einen Schlagstab. Dazu kommen Schaustellungen. Zwei gegen-
einander fechtende, mit rundem Schild und Schwert bewaffnete Nackte; zwei andere
Nackte tragen auf ihren Schultern je einen unbekleideten Ringer, von denen der
eine im Faustkampf den anderen bedroht; hinter diesen Ringern flattern ihre Mäntel
(golden und grün); ein Nackter hüpft auf einem Beine und hält dabei den mit der
Linken heraufgezogenen rechten Fuß in der Hüftengegend fest; ein mit dreischwän-
ziger Peitsche bewehrter Mann sitzt vor einem Knieenden, der ihn bittet; vor einem
tanzenden Nackten steht ein tubablasender Bär (Hund?). Ein Nackter wirbelt von
einem Stabe Scheiben in die Luft und fängt sie wieder auf; die Scheiben sind in
der Mitte durchbohrt. Ein Nackter hält in der Rechten einen Reifen (oder eine
Papierscheibe), in der Linken einen Stab, ein Hund springt hindurch; eine ähnliche
andere Szene, in der sich ein Nackter zum Sprunge durch den Reifen anschickt;
ein Dudelsackpfeifer spielt dazu. Ein Kugelwerfer im Begriffe, eine Kugel mit der
Rechten zu werfen; zwei andere liegen in einiger Entfernung vor ihm. Ein Mann,
der das mit der Spitze auf seinem Gesichte stehende Schwert balanciert, während
er in Auffanggeste die Hände mäßig hebt. Ein Nackter, auf einen Stab gestützt,
trägt einen an den Schultern mit Traggurten befestigten länglichen Flechtkorb, aus
dem ein affenartiges Kind schaut. Ein Nackter sitzt, mit gestreckten Armen einen
Stab (Flöte?) haltend, vor einem Baumstamme, auf dem ein weißer Vogel hockt.
Ein Grünrock hält auf der Rechten einen Vogel (Falke oder Uhu?), in der Linken
hebt er einen Stab. Ein Sitzender weist mit der Rechten auf einen Pergament-
streifen, den er in der Linken hält. Ein Stehender macht mit der Linken eine leb-
hafte Vortragsgeste, in der Rechten hält er wohl ein Pergamentblatt. Ein Nackter
läßt aus der Hand Rauch aufsteigen (Feuerschlucker?). Ein Nackter schleppt einen
weißen Balg (Mehlsack?). Hier wie an einigen anderen Stellen kann man zweifeln,
ob es Szenen aus dem Spielmannsleben sind, aber die Gesamtheit der Bilder
umschreibt wohl den Hauptkreis der Betätigung des Spielmannes vor der Hof-
gesellschaft.
Zeitschrift für Volkskunde II, 1—2.
8
114
Klapper:
Die persönlichen Beziehungen, die sich über das rein Berufliche an-
bahnen, liest man noch besser aus Formeln heraus, die in der intimeren
Sammlung der Cancellaria Johannis Noviforensis vereinigt sind, und die
wohl überwiegend aus des Kanzlers Olmützer Bischofszeit (1364—1380)
stammen. Da wird in Cremsier die Hochzeit einer Verwandten des Bischofs
gefeiert1). Der Bischof schickt zwei seiner Hausgenossen zum Feste, den
Fiedler Philipp und einen Johannes <ludentem in ala Boemica5; er emp-
fiehlt sie der Milde seiner Verwandten. Von der Hochzeit schickt er beide
weiter ins Haus eines der Hochzeitsgäste und empfiehlt sie wieder der
Freigebigkeit dieses Bekannten2). Das ist beachtenswert. Ein feingebil-
deter Kirchenfürst besoldet in seinem Haushalte zwei Musikanten, die noch
als ‘histriones5 bezeichnet werden. Das Kirchengebot ist mit diesem Ver-
halten schwer zu vereinbaren. Gegen die Kleriker, die vagierende Jocu-
latoren geworden sind, geht er den kirchlichen Satzungen gemäß vor. In
einer Formel wird einem solchen Kleriker vorgeworfen, daß er dieser
schimpflichen Kunst auf langjährigen Vagantenfahrten als Goliarde nach-
gegangen sei und den geistlichen Stand dadurch in Verruf gebracht habe.
Aber er verleiht dem Reuigen die Fähigkeit, Ämter zu bekleiden und
Pfründen zu erwerben3). Diese milde Auffassung eines Kirchenfürsten von
der moralischen Erlaubtheit des Spielmannsberufes in bestimmten Grenzen
entspricht den Äußerungen der geistlichen Literatur dieser Zeit im deutschen
Osten. In dieser Hinsicht darf man sich durch die im theologischen Schrift-
tum immer noch mitgeschleppten strengeren Anschauungen einer früheren
Zeit nicht täuschen lassen. Der Spielmann ist auch in kirchlicher Hinsicht
nicht mehr durchaus entrechtet. In dem Augenblicke, in dem er in den
Sold eines Mächtigen tritt, wird er auch im theologischen Urteil gesell-
schaftsfähig. Sein sozialer Aufstieg ist am Ende des 14. Jahrhunderts
unverkennbar. Natürlich gilt diese glückliche Wendung in seiner Wertung
damals wie heute noch nicht für die Mehrzahl derer, die zur Belustigung
des Volkes ohne festen Wohnsitz von Fest zu Fest ziehen. Für diese galt
der Augustinussatz (Migne, P. L. 35, 1891) weiter: Donare res suas histrio-
nibus vitium est immane. An den niederen Spielmann werden die Fragen
in der Beichte gerichtet: Si usus est in ludo ver bis turpibus vel fictis,
vituperacionibus, detraccionibus et huiusmodi ... Si commendavit non
commendandum propter muñera. Si novas vanitates excogitavit sicut
lagyas, coreas, cantilenas vel dictamina, ricmos vel huiusmodi4). Aber im
übrigen wissen die Moralisten der Zeit zu unterscheiden: Einige Histrionen
verkleiden sich, entblößen sich, unterhalten durch schändliche Gebärden
und Sprünge. Andere ziehen von Hof zu Hof und tragen Schimpfreden
auf Abwesende vor; das sind ‘scurre vagi, ad nichil aliud útiles quam ad
x) Ausg. v. F. Tadra, Wien 1886, S. 103, Nr. 128.
2) S. 130, Nr. 187.
3) S. 145, Nr. 212. Forma indulgenciarum cum joculatore: ‘goliardus in arte
illa ignominiosa hinc inde multo tempore divagando’.
4) So in der Hs. Breslau, Staats- u. Univ.-Bibl. I F. 621. Bl. 291va, Mitte des
15. Jahrhunderts.
Die soziale Stellung des Spielmanns im 13. und 14. Jahrhundert. 115
devorandum et maledicendum. Andere haben Musikinstrumente. Aber
auch hier ist zu unterscheiden. Die einen reizen bei Gelagen und öffent-
lichen Tanzvergnügen zur Ausgelassenheit. Die anderen hingegen besingen
die Taten der Fürsten und das Leben der Heiligen, sie verscheuchen die
Sorgen in Not und Krankheit, sie halten sich frei von schändlichen Sprün-
gen, ungehörigen Schaustellungen und zauberischen Verwandlungskünsten.
Tales possunt sustineri et ipsis sine peccato potest aliquid dari et maxime,
cum pauperes sunt nec aliud opus sciant, unde vivere possint1).
Das 14. Jahrhundert lebt also auch hier schon in einem neuen Geiste.
Die gebildeten Stände und die Kirche haben dem Stande der Fahrenden
gegenüber eine entscheidende soziale Umwertung vollzogen. Man sieht
auf das Wie mehr als auf das Was. Wie der Beruf ausgeübt wird, entschei-
det bei der Wertung; der Beruf an sich ist weder gut noch schlecht; er ist
nur in sittlicher Hinsicht gefährlich. Die niederen kirchlichen Stellen und
das Bürgertum folgen nur langsam auf dieser Bahn der Beurteilung; noch
heute klingt gerade im Urteil über die Berufe, die aus der Kunstübung
der Fahrenden hervorgegangen sind, immer wieder die alte Vorstellung von
der sittlichen und gesellschaftlichen Unzulänglichkeit derer nach, die sich
darin betätigen.
Wir blicken rückwärts in den Anfang des 13. Jahrhunderts. Da
gilt der Histrio, der im fürstlichen Dienste steht, in den Augen des Bürger-
tums und der Geistlichen noch als ein 'Lasterbalg1, den weder Hofgunst
noch zusammengescharrter Besitz aus den Klauen des Satans retten können,
der im Tode der Verzweiflung anheimfällt. Diese Wertung des Spielmanns
entspricht der ältesten Überlieferung. Der Dichter Milo, der gegen 850
das Leben des hl. Amand beschreibt, erzählt von einem solchen ‘Scurra1,
der den Heiligen verhöhnt und dafür vom Teufel in die Hölle geholt wird2) :
Unus iners, facilis, male lubricus atque super bus,
Turpis et impurus seurrillia brobra susurrans,
Quem merito vulgus vocitat cognomine Mimmum,
Obstitit infelix stolido bachante cachinno.
Quo fuerat pridem, cum vitae risit alumnum.
Ipse suis manibus male sano membra furore
Discerpit scindit disrumpit diripit urit
Anteque quam patulos Herebi transcurrat hiatus,
Dat certum indicium, duee quo deductus abiret.
Nach dem Muster dieser Geschichte mag die Sage von dem unseligen
Ende des Spielmanns Lasterbalg am Hofe Herzog Leopolds (VI.) von
Österreich in den Kreisen der Geistlichkeit und des Bürgertums gestaltet
worden sein. Sie spielt in St. Pölten (Fanum sancti Hippolyti), wo 1081
eine Propstei der Regulierten Augustiner-Chorherren gegründet worden war.
Der in der Sage erwähnte Herzog Leopold muß wohl, obschon weder die
Ortsüberlieferung noch die Urkunden von einer besonderen Beziehung zu
1) So in Hs. Breslau, Staats- u. Univ.-Bibl. I. Q. 152, Bl. 196, vom Jahre 1454,
Traktat für Beichtväter; Anf.: Conatus sum; hier Bl. 260. Vgl. Mitteilungen d.
Schles. Ges. f. Volksk. 29, 184.
2) Mon. hist. Germ. Poetae lat. III 600 v. 70—79. Vgl. H. Reich, Mimus S.795.
8*
116
Klapper:
dem Kloster sprechen, Herzog Leopold VI. (1195—1230) sein. Wir stehen
somit in der Blütezeit des höfischen Minnesanges am Babenberger Hofe
und müssen den schändlichen Lasterbalg als einen aus der Tiefe der fahren-
den Spielleute aufsteigenden Rivalen der ritterlichen Dichter und Sänger
wie Walther von der Vogelweide im Wettbewerbe um die Gunst des Hofes
auf fassen. Der Name Lasterbalg, den ihm die Sage gibt, verrät Verachtung
und Haß; er ist wohl Ausdruck der Wertung durch das Bürgertum. Der
Name begegnet als Schimpfname in der Dichtung1), auch als Teufelsname
bei Berthold von Regensburg2); im späteren Volksschauspiele trägt ihn
der Knecht des Salbenkrämers3 4). Das Testament des Spielmanns ähnelt
in einzelnen Zügen dem seines Berufsgenossen Fr.Villon, der 1456 im Petit
Testament seinen Ruf einem Verwandten, sein Herz der Geliebten, seinen
Degen einem Kaufmann hinterläßt und so alles Gut auf teilt, wobei das
Bettzeug den Hospitälern und die Glatze dem Barbier zugewiesen wird.
Wir denken auch an die Verse des Eselstestaments aus der Vaganten-
dichtung*): Caro datur vermibus
Cutisque sutoribus
Anima daemonibus.
Der Text der hier mitgeteilten Spielmannssage ist uns in zwei Hand-
schriften des 15. Jahrhunderts überliefert: Breslau, Staats- und Univ.-
Bibl. I. Q. 423, zweite Hälfte des 15. Jahrhunderts, theologische Traktate,
Predigten und Exempel enthaltend, schon 1485 im Besitze der Breslauer
Dominikaner; ein kürzerer Text steht in Hs. I. Q. 363, um 1450, zum Teil
in Leipzig für einen Frankenberger Pfarrer geschrieben, der zu den Zister-
ziensern in Camenz gehörte5). Ich gebe zunächst die deutsche Übersetzung
nach den beiden Fassungen, dann die lateinischen Texte.
Spielmannstod.
Einst lebte ein fahrender Gesell, der hieß Lasterbalg und war von Kindheit
an ein Bösewicht. Der Herzog Leopold von Österreich hatte ihn zu seinem Spiel-
mann gemacht. Nicht ein einziges Mal in seinem Leben hat er einem Gottesdienste
andächtig beigewohnt; vom Beten und Fasten wollte er nichts wissen; zur Ehre
Gottes oder eines Heiligen hat er nie etwas getan. Aber die wüstesten Späße wurden
von ihm vorgetragen. Und wenn er von den Geistlichen redete, sprach er oftmals:
„Von dem Pfaffenpack sind gar zu viele da.“ Dabei sang er gerne Buhllieder und
erzählte unflätige Dinge. Damit brachte er die Hörer zum Lachen. Den einen pries
er hoch, dem anderen redete er Übles nach, und alle Augenblicke kamen Flüche aus
seinem Munde.
Er lebte in Österreich, in der Stadt St. Pölten, wo sein Herzog wohnte, und dort
hatte er in seinem Sündenleben reichen Besitz zusammengebracht. In solcher Arg-
heit diente er dem Teufel lange Jahre. Gott ließ ihm Zeit, weil er den Tod des Sün-
x) Vgl. Lexer, Mittelhochd. Wörterbuch.
2) Ausg. Pfeifer 1 (1862), 156, 1.
3) Mone, Altt. Schauspiele S. 128.
4) Vgl. Niederdeutsche Zeitschr. f. Volkskunde 4, 72—84: H. Tardel, Die
Testamentsidee als dichterisches Formmotiv.
5) Beschreibung der Hs. in J. Klapper, Die Sprichwörter der Freidank-
predigten (1927) S. 6—9.
Die soziale Stellung des Spielmanns im 13. und 14. Jahrhundert. 117
ders nicht will und in seiner Erbarmung wartet, daß er sich bekehre. Doch der böse
Spielmann blieb verstockt in seiner Bosheit, bis das Ende kam.
Er wurde so schwer krank, daß er dem Tode rettungslos verfallen war. Des-
halb ermahnten ihn die Leute, daß er nun daran denken solle zu beichten und sein
Testament zu machen. Aber da fuhr er auf, lästerte Gott, fluchte, schimpfte auf
die Geistlichen und Ordensleute. Denn nichts war ihm heilig.
Der Herzog hörte von seiner Krankheit und kam in sein Haus und sprach ihm
Trost zu. Das tat dem Spielmann gar wohl, daß ihm ein so hochmögender Herr
seinen Besuch machte. Und man erzählte dem Herzoge, wie verstockt der Kranke
sei, daß er an keine Beichte und an kein Testament denken wolle. Da sprach der
Fürst eindringlich auf ihn ein, sein Testament zu machen. Der Spielmann fragt ihn:
„Wem sollte ich wohl meine Habe verschreiben?“ Der Herzog rät ihm: „Gott und
den Geistlichen oder den Klosterleuten oder den Armen.“ Da höhnt der Unselige:
„Wie käme ich dazu, mein Gut denen zu lassen, die mir von ihrem Hab und Gut
niemals etwas geben wollten ? Ich will ein anderes Testament machen. Vieles von
dem, was ich besitze, verdanke ich Eurer Huld, und Euch bin ich vor allen anderen
zugetan. Was mir das beste und liebste war auf Erden, alle meine Habe, soll Euch
daher verschrieben sein. Nun bleiben mir noch Weib und Kinder. Die Kinder ver-
erbe ich dem Galgen; mein Weib den fahrenden Gesellen. Mein Leib und meine
Seele aber gehören den Teufeln; denn ihnen diente ich von Jugend an.“
Ach, was ist das für ein übles Testament!
Die Leute aber, die um sein Lager standen, brachen in ein Gelächter aus, und
der Unselige lachte selber mit. Doch dann beginnt er zu pfeifen und trommelt mit
zwei Fingern und ruft: „Nim ist es aus mit mir!“ Und er schreit auf: „Weichet,
weichet von mir! Der Teufel ist da! Er will mich verschlingen! Er will mich mit
Leib und Seele zur Hölle schleppen!“ Im gleichen Augenblicke verbreitet sich um
ihn ein so unerträglicher Gestank, daß alle, die um ihn sind, eiligst das Haus ver-
lassen. Nach einer guten Stunde kommen sie zurück. Da liegt er tot. Der Teufel
hat ihn erdrosselt.
Der Herzog nahm in eigener Person an seinem Begräbnisse teil. Auf seinen
Wunsch ward er im Chorherrenkloster beigesetzt.
Doch in der nächsten Nacht um Mitternacht kommt der Teufel. Er vollführt
über dem Schlafsaale des Klosters einen solchen Lärm, daß alle Chorherren aus
dem Schlafe aufgeschreckt werden. Und alle hören, wie der Teufel aus den Lüften
schreit: „Urteilt, ihr Brüder, gehört mir nicht, was mir freiwillig übergeben worden
ist?“ Als alle anderen schweigen, faßt sich einer ein Herz und antwortet: „Mein
Urteil ist: es sei dein.“ Alsbald fährt der Teufel in gewaltigem Lärm mit seiner
Schar zum Friedhofe auf das Grab des Unseligen nieder. Ein paar Brüder sehen,
wie er den Leichnam aus dem Grabe holt und mit den Füßen an einen Feuerstrick
festschlingt. Dann entführt er ihn lärmend auf den Marktplatz. Dort bindet er
ihn an die Schandsäule, an der man sonst die großen Übeltäter züchtigt. Und eine
Teufelschar kommt herbei mit fürchterlichem Gebelle und lockt damit alle Hunde
aus der Stadt heran. Die fressen den Leichnam des Unseligen auf. Die Knochen
und den Kopf aber lassen sie liegen. Der Lärm ist so erschrecklich, daß die Bürger
auf den Markt eilen. In ihrem Schrecken glauben sie, daß entweder der Feind ein-
gedrungen oder ein Feuer ausgebrochen sein müsse. Aber sie sehen nichts auf dem
Markte; nur die Hunde laufen herum. Man treibt sie auseinander, und dann geht
jeder bis zum Tagesanbruch wieder heim. Wie es nun Morgen wird, kommen sie
zurück und sehen nach, was da geschehen ist. Und jetzt finden sie die Knochen
vom Leibe des Unseligen, und auch das Haupt liegt da, und wie ein spitzer Dolch
ragt die Zunge daraus hervor.
Sie eilen hin zu seinem Grabe und finden es geöffnet. Wie sich so alle wundern,
warum die Hunde gerade das Haupt und die Zunge nicht gefressen haben, spricht
zu ihnen ein weiser Mann: „Womit ein Mensch vornehmlich gesündigt hat, damit
wird er auch vornehmlich bestraft. Der unselige Spielmann hat am meisten mit
Haupt und Zunge Böses getan. So sind gerade diese Teile an ihm besonders unrein
■ BSP ■
und vergiftet. Kein Hund mag sie fressen, die Erde behält sie nicht, weil sie
sich nicht damit beflecken will, und auch das Wasser wird sie nicht in sich
dulden.“
Das wollten die Bürger erproben. Sie warfen das Haupt in den Fluß. Aber
es sprang alsbald wieder hervor und verbreitete einen solchen Gestank, daß es kein
Mensch ertragen konnte. Da nahmen sie eine lange Stange und steckten das Haupt
daran und reckten die Stange in die Luft. Dann riefen sie: „Teufel, komm, hol dir
dein Teil!“ Da ward ein dichter Nebel in der Luft, und unter dieser Hülle holten
die Teufel das Haupt mit der Zunge. Und kein Mensch hat je erfahren, wohin sie
damit entwichen sind. So ist der Unselige elendiglich umgekommen und spurlos
verschwunden.
I. Q. 363
(Bl. 55v) Exemplum de homine
blasphemante deum.
Fuit quidam histrio nomine Latir-
bolk, qui ab infancia nequam fuit. Et
fuit ioculator ducis Lupoldi Austrie et
numquam interfuit divino officio animo
deuoto. Nec orauit nec ieiunauit, clerum
contempsit et: ‘Sunt multi tales, dixit,
sacerdotes confundentes’. Idem turpiter
cantauit, sic et loquebatur, ut homines ad
risum prouocaret cum eo. Unum lau-
dauit, alium vituperauit et quasi fre-
quenter maledixit. Sua habitacio fuit in
ciuitate in Austria ad Sanctum Ypoli-
tum. In qua ciuitate miser congregauerat
multas pecunias. Tandem cum dyabolo in
vanitate sua nimium seruiuisset, oppressit
eum talis infirmitas, quod mortem nequa-
quam euadere poterat. Dum confiteri
hortaretur, incepit deum blasphemare,
maledicere, arguere clerum, personas reli-
giosas agnominare, nulli pepercit. Dum
ergo duci de sua infirmitate notificaretur,
venit uisitare eum et consolari eum.
Super quo multum gauisus fuit, quod
tantus princeps eum dignatus fuit visi-
tare. Dum autem dux suam duriciam
audisset, quod nec confiteri nec testamen-
tum facere aut assignare uellet, sibi insti-
tit diligenter. Qui respondit: ‘Cui assig-
nabo?’ Ait dux: ‘Deo et sacerdotibus et
pauperibus.’ Cui iterum miser dixit:
‘Cur ego illis dare debeo, qui michi nichil
vmquam dederunt de eorum substancia
ac pecunia? Ac tamen uolo assignare,
domine dux; multa michi sunt collata de
vestra gracia, vnde uobis maxime faueo;
ideo meliora et cariora uobis assigno
huius mundi. Hec sunt bona mea.
Pueros meos patibulo. Vxorem meam
istrionibus. Corpus et animam dyabolo,
cui ab infancia seruiui.’ Et post hoc
incepit miser fistulare cum ore et cum
I. Q. 423
(Bl. 6V) Item exemplum de per-
seuerantibus in peccatis vsque in
finem.
Fuit quidam hystrionus (!) Lastu-
bale nomine. Qui a iuuentute nequam
fuit. Et fuit ioculator ducis Austrie. Ille
ad diuinum officium fuit indeuotus. Num-
quam orauit nec ieiunauit nec deo nec
alicui sancti (!) seruiuit. Lecacitates
maximas excogitauit. Clerum contemp-
sit, turpiter loquebatur, canciones luxu-
riosas cantauit et homines ad derisionem
prouocauit, vnum laudauit, alium vitu-
perauit et frequenter maledixit. Mora-
batur erga ducem in ciuitate. Et in istis
miserijs multas diuicias congregauit. Et
sic dyabolo in sua malicia diu seruit, tam
diu placuit deo, qui non wlt mortem
peccatoris, sed misericorditer ad peniten-
ciam exspectat. Sed perseuerauit in sua
malicia usque ad finem. Qui infirmabatur
usque ad mortem. Et moniebatur (!), ut
faceret confessionem. Qui cepit maledi-
cere clero et agnominare religiosas per-
sonas nulli parcendo. Quem dux visitavit
et eum ammonuit ad confessionem et ad
faciendum testamentum. Qui multum
gauisus est, quod eum dux visitauit et
dixit ei: ‘Cui faciam testamentum?’ Dux
respondit: ‘Deo et sacerdotibus siue reli-
giosis uel pauperibus.’ Ille miser respon-
dit: ‘Quare debeo eis dare, qui michi
numquam aliquid dederunt? Sed quia,
domine dux, multa sunt michi collata a
gracia vestra, vnde maxime vobis pre
omnibus faueo, omnia bona mea; pueros
autem (Bl. 7r) meos patibulo, vxorem
meam hystrionibus, animam autem de-
monibus, quibus ab infancia seruiui. 0 ve
isto miserabili testamento! Et magnus
risus factus est inter circumstancium (!)
et ille miser eciam cepit ridere et ore
fistulare et duobus digitis pulsare dicens:
Die ältesten gedruckten Märchen im Finnischen.
119
duobus digitis palpitare dicens: 'Actum
est iam de me iudicium.’ Et statim
maxime clamare cepit dicens: ‘Fugite
omnes, fugite! quia dyabolus iam wlt me
deglutire!’ Quo dicto miserabiliter ex-
pirauit.
‘Factum est de me’ et maxime clamare:
‘Fugite, fugite ! quia dyabolus wlt me
deglutire et viuum tam (über der Zeile:
cum) animam quam corpus ad infernum
deducere.’ Et statim tantus fetor fuit
erga eum, quod omnes relicto eum fu-
gierunt. Et post bonam horam reuersi
sunt ad eum. Et ipsum iugulatum invenerunt a dyabolo. Cuius sepulture dux persona-
liter interesse voluit et mandauit eum apud regulares sepelire. Sequente autem media
nocte venit dyabolus cum tanto strepitu super dormitorium predictorum regularium,
quod omnes de sompno evigilauerunt et audierunt omnes dyabolum in aere clamantem
et dicentem: ‘Fratres, date sentenciam: Quomodo non est meum, quod est michi
voluntarie datum?’ Tandem vnus omnibus audacior dixit: ‘Ego iudico tuum esse.’
Statimque dyabolus cum magno strepitu et comitatu venit ad cymiterium ad sepulcrum
miseris ( ! ) ipsum aliquibus fratribus videntibus eum extumulauit et vtrumque pedes ( ! )
funo ( ! ) igneo ligauit et eum ad forum cum magno strepitu duxit. Et ad statuam,
iuxta quam magni malifici puniantur ( ! ), ligauit eum. Et venerunt multi demones
et ceperunt tam acriter latrare, quod quasi omnes canes ciuitatis conuenerunt et
miseris ( ! ) cadauerum ( ! ) consumpserunt preter ossa et caput. De tanto autem
strepitu omnes concurrerunt et territi sunt putantes hostes uel incendium fore.
Cucurrerunt omnes ad forum ibique nichil invenerunt preter canes, quibus dimissis
usque mane reversi sunt in domum suam. Mane autem facto venerunt rem gestam
investigare ; invenerunt tantum ossa et caput miseris ( ! ), ex cuius ore ligwa pendebat
ad instar pungne ( ! ). Omnes super hoc mirantes, quod lligwa et caput non deuora-
tum fuisset, et sepulcrum apertum invenerunt. Quibus quidam sapiens dixit: ‘In
quo homo magis peccat, in eo magis punietur. Quia miser iste ligwa et caput ( ! )
magis peccauit, ideo ita sunt inmunda et venenosa, quod nec canes comedere volunt
nec terra potuit (Rest Bl. 23r) Sustinere in se, ne pollueretur, nec aqua pacietur. Quod
dum illi examminantes in aquam proiciunt, caput resilijt et tantum fetorem de se
dedit, quod homines omnino sustinere non potuerunt. Unde illud miserum caput
in longam falangam posuerunt et eleuauerunt in altum clamando: ‘Veni dyabole,
tolle partem tuam!’ Et statim exorta fuit maxima nebula, in qua miserum caput
cum ligwa demones detulerunt, quod nullus homo percipere potuit, quo devenit. Et
miser iste miserrime perijt et evanuit.
Die ältesten gedruckten Märchen im Finnischen.
Von Kaarle Krohn.
Im Jahre 1783 gab der durch seine Mythologia Fennica bekannte Pastor
Christfrid Ganander in finnischer Übersetzung eine Anzahl Äsopischer
u. a. Fabeln unter dem Titel Uudempia ulosvalituita satuja „Neuere
ausgewählte Märchen“ heraus. In einer Anmerkung nach Nr. 128 gibt er
an, daß die Nummern 115/20 aus dem Französischen übersetzt seien, andere
wiederum aus dem Schwedischen, Lateinischen und Deutschen. „Die zu-
nächstliegenden sind auch den Finnen bekannt, und einige finden sich in
Gellerts Buch.“ Die Nummern 129 und 130 sind wirklich finnische
Volksmärchen. Beide erzählen von einer Wette um eine Tonne Bier;
in der ersten treten Kaulbarsch und Lachs, in der zweiten Schwein und
Fuchs auf.
120
Krohn:
I.1) Ganander Nr. 129.
Ein Kaulbarsch und ein Lachs gingen eine Wette ein, wer von ihnen schneller
gegen den Strom auf den Wasserfall zu schwimmen könne. Die Wette galt ein Faß
Bier. Beim Hinaufschwimmen faßte der Barsch im Strom den Lachs am Schwanz.
Als der Lachs fast oben war, schleuderte der Kaulbarsch sich nach vorn und rief:
„Hier bin ich schon!“ Der Lachs mußte die Tonne Bier liefern, der Kaulbarsch wurde
betrunken und spie aus, weshalb er noch heutzutage schleimig ist.
Moral: Im Kopfe eines Kleinen ist ebenso viel Verstand wie in dem eines Großen,
aber Mäßigkeit ist das Beste sowohl beim Wurstessen als beim Biertrinken.
Dieses Märchen ist in allen sowohl finnisch- als schwedisch-sprachigen
Gebieten Finnlands, mit Ausnahme des nördlichsten, östlichsten und süd-
östlichsten finnischen Bezirkes aufgezeichnet worden; bei den Finnen jen-
seits der Ost- und Südostgrenze Finnlands ist es auch nicht belegt. Außer-
dem sind ein paar lappische und eine lettische Variante aufgefunden
worden2).
Dähnhardt hat dieses Wettschwimmen als Übertragung der Fabel
vom Wettlauf des Krebses und Fuchses angesehen:
Der Krebs stellt sich hinter den Fuchs unter dem Vorwände, ihm etwas voraus-
zugeben, und packt seinen Gegner, ohne daß dieser es merkt, am Schwanz. Als der
Fuchs, am Ziel angelangt, sich umkehrt, hat der Krebs den Schwanz losgelassen
und ruft: „Hier bin ich!“
Bolte weist außerdem auf das gleichartige Wettfliegen des Adlers und
des Zaunkönigs:
Die Vögel wollen den zum König wählen, der am höchsten fliegen könne. Der
Zaunkönig setzt sich auf den Kopf des Adlers und erhebt sich, als dieser nicht höher
fliegen kann.
Aus der Fabel vom Krebs und Fuchs ist im Märchen vom Kaulbarsch
und Lachs der Zug des sich Anhängens an den Schwanz des Gegners ent-
nommen sowie auch das in vielen Aufzeichnungen aus Finnland, in einer
lappischen und in der lettischen Variante vorkommende Nach-hinten-
Schauen des Lachses am Ziele. In einer südwestfinnischen Variante (Aar ne
Fa 24) finden wir als Wettschwimmer mit dem Lachs anstatt des Kaul-
barsches den Krebs, der jedoch aus der auch in Finnland bekannten Fabel
später aufgenommen sein kann. Von sekundärer Einwirkung einer anderen
Form dieser Fabel (Igel und Hase) zeugt eine südwestfinnische Variante, in
der der Kaulbarsch, ohne sich von der Stelle zu rühren, auf den zurück-
kehrenden Lachs wartet (Aarne Fb 27).
Aus der Fabel vom Zaunkönig und Adler läßt sich das häufige Fehlen
des Nach-hinten- Schauens des Lachses in Finnland erklären; der Kaulbarsch
schleudert sich nach vorn oder wird durch die Bewegung des Lachsschwanzes
geschleudert (Ganander u. Hackman Nr. 46 Var. 4). In einer südwest-
finnischen Variante stellt sich der Kaulbarsch auf den Kopf des Lachses
1) Die zweite Erzählung wird in einem späteren Aufsatze in dieser Zeitschrift
behandelt werden.
2) Aarne, Mt. 120 in FFC 5, 6, 33, 60; O. Hackmann, Referatsamling
Nr. 46; Dähnhardt, Natursagen 4, 91—3; B o lt e - P ol i vka , Anmerkungen
3. 354—5.
Die ältesten gedruckten Märchen im Finnischen.
121
und schwimmt noch ein wenig höher im Wasserfall (Aarne Fb 29). In einer
anderen südwestfinnischen beschließen die Fische den zum König zu
wählen, der am schnellsten den Wasserfall hinaufschwimmen könne (Aarne
Fa 47). Die Königswahl kommt in fast allen Aufzeichnungen aus Schwe-
disch-Finnland vor. In den letzteren tritt der Hecht öfter als der Lachs
auf. Daß der erstere ein Stellvertreter des letzteren ist, läßt uns das höher
Auf springen in einer Variante schließen (Hackman Kr. 46 Var. 2). Noch
deutlicher wird die Ursprünglichkeit des Lachses durch eine südwest-
finnische Aufzeichnung bezeugt, in der neben dem Hecht der Lachs als
möglicher Wettschwimmer erwähnt wird (Aarne Fa 23):
Die Fische versammelten sich zur Königswahl auf der Meeresfläche von Airisto
(Ersta fjärd) außerhalb Turku (Abo). Der Hecht, als der stärkste aller Fische in der
Gegend, rechnete darauf, daß der Lachs aus dem Fluß Kokemäki (Kümo) nicht er-
scheine. Der Kaulbarsch meinte auch etwas zu sein. Es galt zum Strande zu schwim-
men und auf einen Kukkarokivi (Beutelstein) zu springen. Der Kaulbarsch stellte
sich auf den Schwanz des Hechtes. Als dieser sich mit dem Schwanz aufwärts schleu-
derte, flog der Kaulbarsch auf den Stein und der Hecht blieb in einer Spalte stecken.
Das höhere Alter der Lachsfassung wird noch durch ein Sprichwort be-
stätigt, das in einer südwestfinnischen Variante dem Märchen beigefügt
wird. „Davon die Redensart: Fort aus dem Wege des Fisches, sagte der
Kaulbarsch dem Lachs“ (Aarne Fa 25).
Auch der ätiologische Schluß bei Ganander kommt in den Aufzeich-
nungen aus Finnland mehrere Male vor. Anstatt des Bieres tritt in den
schwedischen Varianten Finnlands sein späterer Stellvertreter, der Brannt-
wein auf, wovon eine halbe Kanne zum Betrunkensein ausreicht; daneben
kann auch das ursprüngliche Motiv des Wettschwimmens, die Königswahl,
beibehalten sein (Hackman Nr. 46, Var. 1, vgl. 3). In einer derselben ist
das berauschende Getränk ganz verschwunden; die Fische spucken aus Ver-
achtung ihren Kaulbarsch-König voll Schleim (Var. 6).
In der lettischen Variante gilt die Schwimmwette zwischen dem Kaul-
barsch und dem Weißfisch, wer im Burtneckschen See bei Wolmar
bleiben darf, und die ätiologische Erklärung bezieht sich auf das Ver-
schwinden des Weißfisches aus dem See.
Ebenso wie die geographische Ätiologie ist der weniger passende Weiß-
fisch eine gelegentliche örtliche Umbildung des in Finnland verbreiteten
Märchens von demselben Kaulbarsch als Überwinder des mächtigen Lach-
ses. Zwar findet sich dieser Typus nicht unter den 30000 estnischen Mär-
chenaufzeichnungen. Die Ursache kann einfach dieselbe sein, die im
estnischen Liede von der Harfe die Veränderung des Lachses (löhi) zum
Löwen (lövi) öfter verursacht hat, nämlich die heutige Seltenheit des
Lachses in den Binnengewässern der Ostseeprovinzen.
Die Entstehung des Märchens müssen wir uns in einem Lande mit
vielen Wasserfällen vorstellen. Zunächst könnte an Finnland gedacht
werden, von wo das Märchen sich auch nach Lappland hätte verbreiten
können. Sein häufiges Vorkommen bei den Schweden in Finnland sowie die
lettische Variante würde aber eher nach Schweden hinweisen, von wo viele
Volksüberlieferungen auf getrennten Wegen nach Finnland einerseits und
122
Mackensen:
nach Est- und Livland anderseits gewandert sind. Hätten wir ein Dutzend
Varianten aus den verschiedenen Landschaften Schwedens, dessen langge-
streckte Form für die Verfolgung der Verbreitung besonders geeignet wäre, so
könnte die Frage von der Heimat des Märchens wahrscheinlich gelöst werden.
Schon in meinen früheren Tiermärchenuntersuchungen habe ich das
Fehlen genügender Belege aus dem zentralsten nordischen Lande bedauert.
Ein systematisches Sammeln der Märchenvarianten Schwedens hätte hohen
internationalen Wert.
Das Märchen von der getreuen Frau in Pommern.
Von Lutz Mackensen.
Die Kreuzzugsgeschichte vom Grafen im Pflug und seiner treuen
Gattin1), bereits gegen Ende des 15. Jahrhunderts von einem Mainzer
Meistersänger in der Zugweise Frauenlobs bedichtet, ist schon von Ulrich
Jahn auch für Pommern belegt worden2). Im Jahre 1901 ist nun eine
weitere Fassung des nicht nur stofflich, sondern auch formal aufschluß-
reichen Märchens im Neustettiner Kreise handschriftlich aufgezeichnet
worden, die mir erst kürzlich auf meiner Suche nach pommerschen Volks-
liedern bekanntgeworden ist3). Ich lasse sie im Wortlaut der Handschrift
von 1901 hier folgen; er kommt dem mündlichen Erzählstil wohl ziem-
lich nahe:
Es waren einmal drei Brüder in London, die wurden von andern für sehr ein-
fältig gehalten, weil sie nicht fremde Länder gesehen hatten. Der älteste von ihnen
war verheiratet. Sie beschlossen nun, eine Weltreise zu machen. Die Frau aber gab
ihrem Manne ein weißes Hemde mit und sagte, solange dieses rein bleiben würde,
dürfte er nicht an ihrer Treue zweifeln. Auf der Meerfahrt wurden sie von den See-
räubern überfallen und nach der Türkei gebracht. Dort wurde mit ihnen in Dornen
und Disteln gepflügt. Bei dieser schweren Arbeit in Staub und Schweiß blieb aber
das Hemde des Ältesten immer rein, so daß sich der Sultan sogar verwunderte und
solange forschte, bis ihm die Ursache erzählt wurde. Da sandte der Sultan einen
Offizier zu der Frau, um dieselbe zur Untreue zu verführen. Als derselbe zu der Frau
kam, erzählte er ihr, wie ihr Mann und seine Brüder bei dem Sultan schwer arbeiten
müßten und nie wieder zurückkehren würden. Er bot ihr an, seine Frau zu werden.
Sie aber stieß ihn von sich und ließ ihn in einen Keller sperren. Dann ging sie hin,
färbte ihr Gesicht und zog sich Pilgrimskleider an, um als Pilger nach dem heiligen
Grabe zu reisen. Sie machte sich jetzt mit dem Türken im Keller bekannt, der sie
nicht erkannte und ihr erzählte, wie er in den Keller gekommen sei. Der Pilger erbot
sich, ihn von der Frau frei zu machen, wenn er mit ihm reisen würde, worauf er sofort
einging. Nun kaufte der Pilgrim eine Harfe und setzte sich dann in ein Schiff. Auf
dem Meere sang der Pilgrim:
Was fehlet dir, mein Herz, daß du so in mir schlägest?
Wie kommt es, daß du dich so heftig in mir regest?
Warum erhebst du dich mit solcher Übermacht?
Warum entziehst du mir den süßen Schlaf bei Nacht?
1) Vgl. Bolte-Polivka, Anm. 3, 517; ferner J. Bolte, ZfVk. 3, 61 ff. 26, 19ff.
2) U. Jahn, Volksmärchen aus Pommern 1 (1891), 168 Nr. 32: „Der Pilger“;
Jahrbuch f. nd. Sprachforschung 12 (1887), 158.
3) Durch die Liebenswürdigkeit des Herrn Konrektor Brehmer aus Wangerin,
Kreis Neustettin, dem auch an dieser Stelle herzlich gedankt sei.
Das Märchen von der getreuen Frau in Pommern.
123
Ich weiß die Ursach schon, darf selber mir (mich) nicht fragen,
Der Himmel hat jetzt Lust, mein Herze so zu plagen.
Es schlagen über mir die Unglückswellen her,
Ich irre ganz betrübt auf einem wilden Meer.
In einen Trauerflor hat sich mein Herz gehüllet,
Mein ganzer Lebenslauf mit Kummer ist umfüllet.
Ich kenne mich fast nicht, ich lebe ohne Ruh;
Das Glück ist mir feind, kehrt mir den Rücken zu.
Als der Türke wieder zu dem Sultan kam, erzählte er, wie es ihm ergangen sei,
und wie ein Pilgrim sich seiner erbarmt hätte und ihn hierher gebracht. Da sandte
der Sultan hin und ließ den Pilger zu sich holen. Dieser mußte nun auch vor dem
Sultan singen und spielen, welcher ihm darauf erlaubte, seine schönen Gärten zu
besehen. Hier traf er die drei Sklaven und wurde sehr betrübt; in ihrem Schmerz
sang sie:
Ich ging vor wenger Zeit in einem schönen Garten,
Darinne sähe ich viel Blumen mancher Arten,
Und unter diesen sah ich eine Rose blühn,
Nichts mehr verlangte mich, als sie nach mir zu ziehn!
Als die Sklaven solch Singen hörten, gedachten sie der Heimat und meinten,
die zurückgelassene Frau sei ihnen nachgekommen, was aber nicht zu glauben sei.
Der Pilger sang noch:
Du schöne Rose du, so unter Dornen sitzest,
Und ob du mir auch gleich mein ganzes Herz durchritzest,
So trag aus Liebe ich die Wunden gern für dich,
Vergönne mir die Ehr’ und denk einmal an mich!
Nun muß ich ganz betrübt aus diesem Garten gehen;
Niemand erfraget mich, der mich sieht traurig stehen.
Wer meinen Zustand weiß, der spotte meiner nicht,
Sonst werde wünschen ich, daß ihm wie mir geschieht.
Als ihre Zeit um war und sie abreisen wollte, gewährte ihr der Sultan eine
Bitte. Da erbat sie sich die drei Sklaven. Weil es ihre Landsleute seien, wollte sie
sie mitnehmen an Christi Grab. Der Sultan gewährte ihr freudig diese Bitte. Sie
bestiegen nun ein Schiff, welches sie nach London brachte. Auf dem Meere sang
der Pilgrim:
Ist das nun jetzt mein Lohn, du zeitliches Verlangen,
Daß ich so weit um dich bin übers Meer gegangen.
Die Rose ist, wer weiß! gewachsen nicht für mich,
Und ob sie nicht gar bald vielleicht ein andrer bricht?
Kennst du den Pilgrim nicht, daß du ihn so verstoßest,
Der viel gewagt für dich, daß du nun bist erlöset
Aus grimmger Türkenhand, gebracht bis in dein Land?
Ist das für meine Lieb, die ich an dich gewandt?
In der Heimat angekommen, schworen sie untereinander, dem Pilgrim kem
Leid zuzufügen. Der älteste Bruder ließ nichts unversucht, seine Frau wiederzufinden.
Da er sie aber nicht fand, so gedachte er sich mit einer reichen Kaufmannstochter
nach einem Jahr zu verheiraten. Als die Braut zum erstenmal zum Besuch kam,
spielte der Pilgrim:
Adieu mein wertes Kind, tu dich doch recht besinnen,
Gleich als ich dich empfing, wie mir die Tränen rinnen
Von meinen Wangen her, da ich dich liebt’ so sehr,
Der Sultan wundert’ sich alsdann sehr über mich.
124
Panzer:
Beim zweiten Besuch sang er:
Nun will ich ganz vergnügt zu meinem Grabe gehen,
Weil du mich Engelskind vor Augen nicht kannst sehen.
Jetzt gibt er mir den Lohn, da ich ihm Treu gedacht.
Jetzt klingt mein heller Ton: Mein Engel, gute Nacht.
Beim dritten:
Jedoch ich irre sehr, wie hab ich mich vergangen
An dir mein Seelenbild, wie stillst du mein Verlangen!
Ich falle nieder hier auf meine matten Knie,
Ich küß dir Hand und Fuß, ach Kind, verzeihe mir.
Da wurde der Bräutigam aber zornig und meinte, der Pilgrim möge sich zum
Teufel scheren, er wollte nichts mehr von ihm hören. Da ging der Pilger zurück und
weinte bitter vor lauter Schmerzen. Als die Brüder davon hörten, forderten sie Ab-
bitte oder seinen Tod. — Der Bruder fiel nun dem Pilger zu Füßen und bat um Ver-
zeihung. Als aber sich der Pilger die Tränen abwischte, entfärbte sich die Haut,
und er sang:
Weil du nun, wertes Kind, so kläglich hast gebeten,
So sei versichert nun, kannst freudig zu mir treten.
Du bist, den ich geliebt, und hab für dich gewagt
Mein Leben, Leib und Blut, war nicht am Kreuz versagt.
Nun erkannte er in dem Pilgrim seine Frau und begrüßte sie mit Freuden. Als
der Mann nun fragte: ,,Wie soll ich aber meine Braut loswerden?“, sprach sie: „Sage
ihr, daß du den alten Schlüssel wiedergefunden hättest, und sie als neuer wäre nun
abgefunden!“
Diese Neustettiner Fassung ist in mancher Beziehung vollständiger
als die Jahn sehe: sie enthält die wichtigen Motive von dem weißbleiben-
den Hemd, dem Prüfer der fraulichen Treue, und von dem Verführungs-
versuch durch den Abgesandten des Sultans, die jener fehlen. Dagegen ist
der Schluß umgebogen: bei Jahn wird die getreue Frau nach der Befreiung
und Rückkehr des Gatten von ihrer arglistigen Schwägerin der Untreue
bezichtigt, und diese Darstellung entspricht dem alten Meisterlied und den
übrigen vorhandenen Varianten. Statt dessen tritt hier die Formel von der
vergessenen Braut auf, die sich durch ihr Lied erst in das Gedächtnis des
Gatten zurückrufen muß (z. B. KHM. 56: „Der liebste Roland“), und dazu
gehört dann auch das Gleichnis vom alten und neuen Schlüssel1) (z. B.
KHM. 67 und bes. 113).
Jahn betont wiederholt, daß die Strophen, die die Prosaerzählung
durchflechten — sie entstammen, bereits um 1780 gedruckt nachweisbar,
wohl einem Schau- oder Singspiel des 18. Jahrhunderts2) —, in Pommern
auch für sich, ohne festen Zusammenhang mit dem Märchen, gesungen
wurden. Den Beweis für diese Behauptung erbringt eine von Professor
Brunk handschriftlich3) aufgezeichnete dreistrophige Fassung4):
x) Vgl. Bolte-Polivka 1, 59.
2) Ebd. 3, 520. 527.
3) Ohne nähere Ortsangabe.
4) Pommersches Volksliedarchiv Nr. 1249; vgl. John Meier, Kunstlieder im
Volksmunde (1906) S. 85 Nr. 549, wo weitere Fassungen des Liedes verzeichnet sind.
Das dort erwähnte Haas sehe Volksliedmanuskript enthält keine eigene Fassung,
sondern eine Abschrift der Verse aus dem Jahnschen (in Quatzow im Schlawer
Kreise auf gezeichneten) Märchen.
Zur Wielandsage.
125
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Was feh - let dir mein Herz, daß du so in mir
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War - um ent - ziehst du mir den sü - ßen Schlaf der Nacht?
2. In einen Trauenflor hat sich mein Herz gehüllet,
Mein ganzer Lebenslauf mit Kummer angefüllet.
Ich kenne mich fast nicht, ich lebe ohne Ruh,
|: Das Glücke steht mir fern, kehrt mir den Rücken zu. : |
3. Ach Herz, was ist denn dir, was ist denn dein Verlangen?
Den ich so innig lieb’, der ist gewiß gefangen.
Es schlagen über mich die Unglückswellen her,
|: Ich irre ganz betrübt auf einem wilden Meer. : ]
Das Lied, das vom Märchen abhängig, also sekundär ist, zeigt zwingend,
daß unser Märchen früher eine weitere Verbreitung in Pommern gehabt
haben muß. Jahn behauptet1), daß zu seinerzeit des Lied nur gesungen
wurde, nachdem das Märchen in ungebundener Rede vorgetragen worden
war; die Brunksche kurze Fassung hat sich aber so weit vom Märchen
gelöst, daß sie wie eine selbständige Elegie anmutet.
Zur Wielandsage.
Von Friedrich Panzer.
Mit der Überlieferung der Wielandsage ist es ungünstig bestellt. Die
Forschung ist sich einig, daß die Sage deutschen Ursprungs sei, aber deut-
scher Boden gönnt uns nirgends einen zusammenhängenden Bericht. Eng-
land liefert etliche alte und faßbare Anspielungen, der Norden allein erzählt
die Sage zweimal in ihrem ganzen Zusammenhang: in dem Eddaliede der
Vplundarkvipa und dem Berichte der pidrekssaga. Diese beiden Über-
lieferungen aber stehen nicht nur zeitlich auseinander, sie zeigen sich auch
in Haltung und Gehalt sehr verschieden. Selbst der gleichbleibende Kern:
Wielands Lähmung, Gefangenschaft, Rache und Flucht werden da und
dort mit abweichenden Zügen erzählt. Vor allem aber erhält dies Haupt-
stück jeweils eine völlig andere Vorgeschichte.
*) Märchen 1, 369; Jahrbuch des Vereins für nd. Sprachforschung 12, 158.
126
Panzer:
Was wir im folgenden auszuführen gedenken, läßt das Eddalied ganz
beiseite, soviel bisher Unaufgeklärtes auch dies Lied noch enthalten mag.
Nur dem Berichte der pidrekssaga wenden wir uns mit einigen Bemerkungen
zu. Er ist von der Sagenforschung aus begreiflichen Gründen stiefmütter-
licher behandelt worden als das alte Lied. Das Bauschen der alten Quellen
im Ohr und den heldischen Tritt ihrer Gestalten, vor den Augen als wesent-
liches Ziel die Herstellung der Ursage oder Urdichtung, findet diese For-
schung in der breiten Flut, dem behaglichen Geplätscher jüngerer Über-
lieferungen leicht mehr Hemmnis und Ärger als Freude und Förderung.
Noch in der letzten Behandlung der Wielandsage, die uns vor Augen ge-
kommen ist, in H. Schneiders soeben erschienenem Göschenbändchen „Die
deutsche Heldensage“, Berlinl930, erhält der Wielandbericht der pidrekssaga
eine recht schlechte Zensur: „künstlerisch merkwürdig minderwertig“,
„eine müßige Kompilation“, „ein mittelmäßiges Machwerk“; daß er aus
deutschen Quellen geflossen sei, „ein kritikloser Aberglaube“. Beinahe
genieren wir uns ein wenig nach solcher Kennzeichnung die Aufmerksam-
keit des Lesers für Ausführungen zu erbitten, die gerade auf diesen Sagen-
bericht sich beziehen. Und doch verdient auch er die lebhafte Teilnahme
eines jeden, der den geschichtlichen Gesamt verlauf dessen erkennen möchte,
was wir „Heldensage“ zu nennen gewohnt sind.
Keine Frage, daß die große, im ganzen selten gut auf gebaute und
motivierte, biographisch-romanhafte Erzählung der Saga aus Bestandteilen
sehr verschiedener Art und Herkunft sich zusammensetzt. Einverständnis
herrscht darüber, daß der letzte Teil der Erzählung: Wielands Gefangen-
schaft, Bache und Flucht „alte Sage“ darstellt, literarisch also in irgend-
welcher Abfolge letzten Endes jenem stabreimenden epischen Liede ent-
stammt, in dem zuerst die Sage sich gestaltete. Golther hat diese Er-
fassung seiner Zeit (Germania 33, 449ff.) für ein fränkisches Lied des
6. Jahrhunders erklärt. Es ist dasselbe Lied, daß auch irgendwie hinter der
Vplundarkvipa steht. Die stoffliche Herkunft dieses alten Kernstückes ist
umstritten; ich bin mit Depping, Bugge, Golther, Schückder Über-
zeugung, daß hier antiker Stoff, eine Verbindung von Hephaistos- und
Daidalosmythen, von einem germanischen Dichter zu einer germanischen
Heldensage geformt wurde. Über das Wo und Wie dieses Vorgangs, auch
über die besondere Form, in der diese Erzählung in der Saga erscheint,
sollen hier keine Überlegungen angestellt werden; unsere Betrachtung
wendet sich vielmehr den überschießenden Abschnitten des Sagaberichtes zu.
Seine geschichtlich anziehendsten Bestandteile sind ja wohl die, in denen
über die schon gemachte Feststellung hinaus antiker Stoff erkennbar wird.
H. Schück hat vor Jahren (Ark. f. nord. fil. 9, lllff.) nachgewiesen, daß
in der Geschichte des Wettstreites zwischen Wieland und Amelias sich eine
bekannte Apellesanekdote eingefügt findet, die trotz eigenartiger Umwand-
lung in der nordischen Erzählung noch deutlich erkennbar ist.
Velent — so erzählt die Saga bei Bertelsen 1, 83ff. —ist mit seinem
Unterseeeinbaum an der jütischen Küste aufgefischt worden und in König
Nidungs Dienst getreten. Er hat der Messer des Königs zu warten, verliert
Zur Wielandsage.
127
eines und schmiedet am Amboß des königlichen Hoflieferanten Amelias
in dessen Abwesenheit ein neues. Es erweist sich bei Tisch in des Königs
Händen schärfer als alles, was Amelias je gemacht hat, und Velent muß auf
Drängen des Herrn gestehen, daß er es geschmiedet. Amelias fordert ihn
darauf zum Wettstreit heraus, bei dem der Kopf zu Wette steht: Amelias
will Helm und Brünne schmieden, Velent ein Schwert; wessen Gewaffen
sich überlegen zeigt, ist Herr über des anderen Haupt. Amelias hat schon
ein halbes Jahr an seiner Brünne gearbeitet, als Velent sich entschließt sein
Werk zu beginnen. Er will sein Werkzeug holen, das er bei der Landung
heimlich vergraben hat: es ist verschwunden. Im fällt ein, daß damals ein
Bitter des Königs sein Tun belauschte, der wohl der Dieb sein möchte; er
kennt aber seinen Namen nicht. Der König läßt auf die Meldung alle seine
Mannen zum Ding entbieten, aber Velent erkennt den Dieb unter den
Versammelten nicht und fällt in des Königs Ungnade. Darauf schuf Velent
ein männliches Bildnis nach seiner Erinnerung an den Lauscher und stellt
es dem König an den Weg. Der hält das Bildnis für lebend und redet den
vermeintlichen Mann als Regin an, einen seiner Ritter, den er auf Botschaft
nach Schweden geschickt hatte. So ist die Sache aufgeklärt, Velent erhält
aufs neue des Königs Gunst und sein Gerät. Er schmiedet nun das einzig
scharfe Schwert Mimung, das am gesetzten Tage dem Amelias Helm und
Haupt, Brünne und Leib in einem durchschneidet.
H. Sch ück hat den Nachweis geliefert, daß die Geschichte, wie Ve-
lent den Dieb feststellt, der ihn beinahe um die Gunst seines Fürsten ge-
bracht hatte, Nachbildung einer Erzählung von Apelles ist, die Plinius im
35. Buch (Abs. 89) seiner Naturalis Historia berichtet. Apelles, durch einen
Sturm nach Ägypten verschlagen, kommt in die Residenz des Königs
Ptolemäus, zu dem er in gespannten Beziehungen steht. Übelwollende
Nebenbuhler lassen ihm betrügerisch eine Einladung an dieTafel des Königs
zugehen. Apelles erscheint, vom König mit unwilligem Staunen empfangen.
Auf die Frage, wer von den anwesenden Tafelbittern (vocatores) ihm denn
die Einladung überbracht habe, ergreift Apelles ein Stück Kohle und zeichnet
die Gestalt des Betreffenden mit solcher Naturtreue an die Wand, daß
Ptolemäus ihn erkennt, noch ehe die Figur fertig ist. Der Maler gewinnt da-
durch die Gnade des Königs.
Die Übereinstimmung mit der Saga ist schlagend. Ich begreife nicht,
wie Jiriczek, Deutsche Heldensagen, S. 45 urteilen konnte, die Ähnlich-
keit zwischen den beiden Geschichten liege ,,nicht in den näheren Um-
ständen, sondern nur in der Idee, einen Künstler durch seine Kunst eine
Personidentifikation herbeiführen zu lassen, und diese konnte überall eine
solche Exemplifikation erfahren, wo es malerische oder plastische figürliche
Darstellungen gab“. Das ist völlig ausgeschlossen. Denn hier stimmt eine
sehr verwickelte Folge von Zügen überein. Einem von Nebenbuhlern be-
drängten Künstler wird ein Streich gespielt, der ihm den Zorn des Königs
zuzieht, bei dem er weilt. Der Künstler rechtfertigt sich durch die Be-
hauptung, ein Diener des Königs sei Urheber des anstößigen Vorganges.
Der König versammelt seine Diener, der Künstler findet den Schuldigen
128
Panzer:
darunter nicht — so ist offenbar auch die allzu knappe Erzählung bei
Plinius zu interpretieren —, gibt aber eine so naturgetreue künst-
lerische Darstellung des Abwesenden, daß dieser vom König selbst sofort
erkannt wird. Der Künstler erhält dadurch die Gnade des Königs. Diese
kunstvoll aufgebaute Motivenreihe stimmt in beiden Erzählungen genau
überein; daß so etwas nicht zweimal selbständig erfunden wird, ist voll-
kommen klar. Damit ist sichergestellt: die Wielandgeschichte der Saga
hat eine Apellesanekdote verwendet. Sie mußte natürlich der besonderen
Umwelt dieser Geschichte angepaßt werden, infolgedessen ist die Zeich-
nung durch eine Statue ersetzt. Welcher besonderen Art die ist, sagt die
Erzählung nicht (95,6 gerir velent eina smiä oc fiat var manlikan gort sem
likast manni). Die Membrane sagt, sie habe Haare auf dem Kopfe getragen,
AB wollen wissen, daß sie bemalt gewesen sei und mit Kleidern angetan.
Danach möchte sie am ersten als Holzfigur gedacht sein; auch dann aber
bleibt schwierig, wie Velent sie verfertigen konnte, da ihm sein Werkzeug
gestohlen war. Die kleine Unstimmigkeit zeigt noch einmal, daß hier etwas
Fremdes in die Erzählung eingetreten ist. Eine geringe Verschiedenheit
zwischen der Apellesanekdote und der Sagaerzählung besteht noch darin,
daß dort die Treffsicherheit des Malers, die Ähnlichkeit seiner Zeichnung
mit der dargestellten Person im Vordergründe steht, in der Saga daneben
die allgemeine Lebenswahrheit und täuschende Wirklichkeit des Kunst-
werkes eine bedeutende Rolle spielt. Aber gerade dieser Zug ist aus-
gesprochen antik; die Nachrichten bei Plinius wimmeln ja von Erzählungen,
die solche, Wirklichkeit vortäuschende Lebenswahrheit der Kunstwerke
illustrieren. Das gleiche gilt von dem Vorwurfe des Künstlerwettstreites
als solchem, von dem antike Überlieferung eine Fülle von Beispielen bietet,
in denen der Vorwurf ähnlich reich pointiert wie in der Saga, nur mit
humanerem Ausgang sich abzuwickeln pflegt.
Das Ausgeführte erhält noch eine weitere Bestätigung: Schück hat
merkwürdigerweise übersehen, daß unsere Wielanderzählung noch eine
zweite Apellesanekdote benützt hat.
Als Wieland das Messer verloren hatte, ging er in die Schmiede des
Amelias, traf den Meister dort aber nicht an. Er schmiedet das Ersatz-
messer, darauf aber fertigt er einen Nagel mit drei Kanten, ein Schmiede-
werk von einer Trefflichkeit, wie nie ein Mensch es bisher gesehen hat, und
läßt ihn auf dem Ambos liegen. Plinius Naturalis Historia erzählt im
81. Kap. des oben schon angezogenen 35. Buches von Apelles, er habe, nach
Rhodus gekommen, dort schleunigst die Bekanntschaft seines großen Kunst-
verwandten Protagenes machen wollen. Er trifft in der Wohnung nur eine
alte Dienerin. Auf ihre Frage, wTer er sei, zieht er auf einer vorgerichteten
Tafel eine Linie von so unendlicher Feinheit, daß Protagenes, heimgekehrt,
sogleich erkennt, wer sein Besucher gewesen ist.
Es ist deutlich, daß zwischen dieser Apellesanekdote und der Saga-
erzählung dasselbe Verhältnis waltet, wie wir es vorhin in der Bildnis-
geschichte kennengelernt haben. Und auch hier zeigt eine leise Unstimmig-
keit in der Saga an, daß ihrem Zusammenhang etwas von außen her ein-
Zur Wielandsage.
129
geschoben ist. In ihr ist die Geschichte sozusagen blind geworden: der
reizende Sinn der antiken Anekdote, daß der Künstler mit der unvergleich-
lichen Arbeit seine nicht zu verkennende Besuchskarte hinter läßt, ist hier
verlorengegangen, weil Velent auf dieser Stufe ihrer Erzählung sich noch
nicht entdecken durfte. In der Membrane läuft die Sache ganz stumpf aus,
da es einfach heißt, Velent habe den Nagel auf den Amboß gelegt, en engi
madr sa iamvel smidat hvarki adr ne sidan; in AB steht wenigstens, Amelias
habe heimkehrend den Nagel gefunden und gefragt, wer ihn geschmiedet
habe, aber niemand habe sich zu ihm bekennen mögen, und er habe nie
vor- oder nachher einen auf solche Weise geschmiedeten Nagel gesehen.
Die Linie des Malers ist also noch schmiedmäßiger gewandelt als oben die
Zeichnung. Der Nagel mit den drei Kanten, oder wie AB noch seltsamer
sagt, mit drei Köpfen, möchte sein Dasein vielleicht noch der Tatsache
danken, daß in der antiken Anekdote wirklich drei Linien gezogen werden:
Protagenes spaltet des Appelles Linie durch einen feineren Strich, den er
hineinzieht, und Apelles übertrumpft ihn endgültig, indem er diese Linie
wiederum durch eine dritte spaltet.
Velent gerät im weiteren Verlaufe der Erzählung noch einmal in Streit,
diesmal mit einem Nebenbuhler im engeren Sinne des Wortes: der Truchseß
macht ihm die Hand der Königstochter streitig, die Velent durch eine be-
sondere Leistung sich verdient hat. Als Ganzes erinnert die Geschichte
etwa an den Tristan und jenen Truchsessen, der sich an des Helden Stelle
für den Besieger des Drachens ausgibt, um den Preis zu erlangen, der
dafür ausgesetzt war: die Hand der Königstochter. Das einzelne ist
aber völlig verschieden. Denn König Nidung ist gegen einen mächtigen
Feind ins Feld gerückt. Am Abend vor der Schlacht bemerkt er voll
Schrecken, daß er seinen Siegstein zu Hause gelassen hat. Er verspricht
demjenigen die Tochter und das halbe Reich, der ihm den Stein herbei-
schaffe, ehe die Sonne den Morgen kündet. Niemand darf sich das Zutrauen,
endlich erklärt Velent sich bereit. Sein herrliches Roß Skemming, schnell
wie der Vogel im Flug, läßt ihn den Weg in 12 Stunden zurücklegen, zu
dem der König 5 Tage gebraucht hatte. Er holt den Stein aus der Königs-
burg und ist bei Sonnenaufgang vorm Zelte des Herrn. Dort aber werfen
sich ihm 7 Ritter unter Führung des königlichen Truchsessen entgegen, der
Velent den Stein abfordert. Es kommt zum Kampfe; Velent erschlägt den
Truchsessen, die anderen fliehen. Der König empfängt freudig den Stein
und siegt, den Velent aber jagt er mit Schande davon, weil er ihm seinen
liebsten Mann erschlagen habe. Velent verschwindet, drängt sich nach
einiger Zeit verkleidet in die königliche Küche und mischt der Prinzessin
„Trug“ in die Speise. Ihr Zaubermesser verrät den Trug, da es im Hefte
singt, Velent wird gefaßt, und der König läßt ihm die Sehnen durchschneiden.
Der märchenhafte Charakter dieser Erzählung liegt auf der Hand.
Wenn aber Jiriczek a.a. O. S. 47 meint, daß hier „wohlbekannte und weit-
verbreitete Märchenzüge zu einem kleinen freierfundenen Romane zu-
sammengestellt“ seien, so trifft das nicht das Richtige. Vielmehr hat
die Sagaerzählung sich einen fertigen Märchenzusammenhang eingegliedert.
Zeitschrift für Volkskunde II, 1—2. 9
180
Panzer:
Denn was hier von Velent erzählt wird, ist mehrfach als freischwebendes
Märchen auf gezeichnet.
Bei G. v. Gaal, Märchen der Magyaren, Wien 1822, S. 111 liest man
folgende Geschichte: Ein Soldat hat von seinem Vater gerade einen Pfennig
geerbt, den schenkt er wandernd einem greisen Bettler und erhält dafür
die Fähigkeit, sich in eine Taube, einen Hasen, einen Fisch zu verwandeln.
Er läßt sich von einem König anwerben, der eben gegen einen mächtigen
Feind ins Feld zieht. Der König besaß einen Ring, der ihn unüberwindlich
macht; den hat er unglücklicherweise daheim vergessen und gerät so im
Felde in Not. Er verkündigt, wer ihm den Ring schaffen könne, ehe der
Feind ihn überwältigt, solle Tochter und Reich zum Lohne haben. Niemand
vermißt sich, denn der schnellste Reiter hätte sieben Tage gebraucht zur
Königsstadt. Da erbietet sich der Soldat, und seine Tierverwandlungen bringen
ihn eiligst zur Königsburg. Die Prinzessin gibt ihm den Ring, er eilt zurück,
wird aber, als er eben in Hasengestalt dem Königsheere zuläuft, von einem
seiner Kriegsgefährten erschossen, der ihm auf lauerte. Der Verräter gibt
dem König den Ring; der siegt und will die Tochter dem vermeintlichen
Retter vermählen. Der tote Hase aber wird von dem greisen Bettler
gefunden und belebt. Er kommt rechtzeitig zurück zur Königsstadt, erhärtet
durch gewisse Wahrzeichen seine Identität und erhält die Königstochter,
während der Betrüger gehängt wird.
Dies Märchen ist, so viel ich sehen kann, nicht eben häufig auf gezeichnet,
aber doch über einen weiteren Bezirk verbreitet. Ga als Erzählung kehrt
in einer Geschichte bei Aug. Ey, Harzmärchenbuch, Stade 1862, S. 165 so
genau wieder, daß man fast an literarische Abhängigkeit von dem älteren
Märcbenbuche glauben möchte trotz der Versicherung des Auf Zeichners,
daß „kein Märchenwerk“ bei der Abfassung des Büchleins benutzt, „alles
aus dem Munde des Volkes“ auf genommen wäre. Aber die Geschichte findet
sich auch bei H. Pröhle, Märchen für die Jugend, Halle 1854, S. 212 mit
kleinen Abweichungen wieder. Da hat ein Holzhauerssohn von Jesus unter
Umständen, die hier nicht interessieren, die Fähigkeit erhalten, sich in
Hirsch — Fisch — Schwan zu verwandeln. Er tritt als Kutscher bei einem
König in Dienst, dem vor dem Feinde einfällt, daß er sein Schwert vergessen
hat. Wer es sofort herbeischafft, erhält die Königstochter. Durch seine
Tierverwandlungen gelingt das dem Kutscher, vor dem Hause des Königs
aber reißt ihm der Minister das Schwert aus der Hand und tötet ihn. Jesus
erweckt ihn wieder, er kann den Betrüger rechtzeitig entlarven und erhält
die Königstochter, während der Minister verbrannt wird. Auch E. Vecken-
stedt, Wendische Sagen, Graz 1880, S. 260 bringt die Geschichte in recht
naher Übereinstimmung mit Gaal und Ey; hier handelt es sich wieder um
einen siegverleihenden Zauberring. Aus der Gegend von Archangelsk hat
Oncukof das Märchen in zwei Fassungen auf gezeichnet, von denen ich nur
Polivkas Auszug im Arch. f. slav. Phil. 31, 280 kenne; dort verschafft der
Soldat, den ein Engel gelehrt hat, sich in Hirsch — Lachs — Habicht zu ver-
wandeln, dem König die vergessene Krone. Polivka führt zwei weitere groß-
russische Entsprechungen an, darunter Afanasjef Nr. 145, wo in den An-
Zur Wielandsage.
131
merkungen vielleicht weitere Nach Weisungen stehen mögen; ich kann das
Werk hier leider nicht einsehen. Dagegen kenne ich den Typus noch aus
K.W.W oycickis Polnischen Volkssagen und Märchen, übersetzt von Lewe-
stam, Berlin 1839, S. 130. Er ist hier mit dem Typus vom dankbaren Toten
verknüpft; ein solcher hat dem Helden die Fähigkeit zur Tierverwandlung
verschafft, mit deren Hilfe er dem feindbedrängten König „das siegreiche
Schwert“ bringt. Endlich findet sich bei W. Radloff, Proben der Volks -
literatur der türkischen Stämme Südsibiriens, Petersburg 1866, 1.43ff.
eine Fassung, nach der der Held kraft seiner Tierverwandlungen dem heeren-
den Ai-kan den vergessenen goldenen Handschuh bringt und schließlich
seine Nebenbuhler besiegt.
Das Märchen ist also über den ganzen Nordosten hin vom Harz bis
nach Sibirien verbreitet. Die Übereinstimmung mit unserer Wieland-
geschichte liegt auf der Hand; das Verhältnis kann nur so gedeutet werden,
daß die Sagaerzählung den Märchentypus benutzt hat. Der Ausgang ist
so umgebogen, daß er in das alte Kernstück der Wielandsage einmündet,
die Tierverwandlungen sind im Sinne der Heldensage dahin umstilisiert,
daß der Held statt der Fähigkeit zur Verwandlung in Hase und Taube oder
Habicht ein vogelschnelles Roß zur Verfügung hat. Der Name zeigt, daß
hier das sagenbekannte Pferd des Wielandsohnes Wittich herbeigeholt
wurde. Wie der im hohlen Baumstamm Angetriebene zu dem Wunderrosse
kommen konnte, bleibt im Zusammenhänge der Sagaerzählung dunkel, ja
eigentlich unmöglich. Der Anstoß zeigt wieder, daß ein ursprünglich
Fremdes eingeführt ist.
Märchenhafte Bestandteile werden auch in der Jugendgeschichte
Velents erkennbar. Velent wird nach der Saga von seinem Vater Vadi
Zwergen zugeführt, die im Berge hausen, um dort die Schmiedekunst zu
erlernen. Der Ausgangspunkt dieser Erzählung liegt sichtlich in der auch
außerhalb der Saga reichlich bezeugten Vorstellung, daß Wieland eigentlich
ein elbischer Schmied ist, der im Berge wohnt. Indem an diese mythische
Gestalt heimischer Volkssage die antiken Überlieferungen von Hephaest und
Daedalus geknüpft wurden, schoß der Grundstoff zusammen, der zur „Wie-
landsage“ stilisiert wurde. Dieser mythische Ursprung veranlaßte wohl
auch, daß man ihm den in gleicher Landschaft beheimateten, gleichfalls
mythischen Wate zum Vater gab. Über das von Vadi in der Saga im Ein-
zelnen Ausgesagte habe ich Hilde-Gudrun, S. 287ff. ausführlicher ge-
handelt ; ich würde über die Figur als Ganzes mich heute etwas anders als
dort geschehen ausdrücken, hier kommt darauf nichts an. Daß man sich
fragte und erzählte, wo und wie der hochberühmte Schmied seine Kunst
gelernt habe, lag nahe genug; in der Antike hat man auch von einer Lehr-
zeit des olympischen Schmiedes Hephaistos bei Kedalion gefabelt. Die
Saga schickt Velent erst zu Mimir in die Lehre, wo ihn dessen berühmter
Zögling Sigurd mit verprügeln muß, eine lästige Dublette, die sehr wohl
erst der überall geschäftigen zyklisierenden Bemühung des Sagaschreibers
zu verdanken sein mag. Interessanter ist die weitere Erzählung, wie der
12jährige Velent vom Vater den Zwergen zugeführt wird, die als geschickte
9*
132
Panzer:
Schmiede im Berge Kallava, oder — nach AB — Ballofa hausen. Gegen
Zahlung einer Mark Goldes wollen sie den Jungen ein Jahr unterrichten.
Der zeigt sich so geschickt, daß die Zwerge ihn nicht loslassen, als der Vater
ihn nach Jahresfrist heimholen will. Sie erbieten sich, die Mark zurück-
zuzahlen, wenn der Alte den Sohn erst übers Jahr abholen wolle; käme er
aber nicht am bestimmten Tage, so dürften sie dem Knaben den Kopf ab-
schlagen. Vadi ists zufrieden, versteckt dem Sohne aber ein Schwert vor
dem Berg, mit dem er sich gegen die Zwerge wehren sollte, falls Vadi ja die
Frist versäume. Die Zwerge sehen neidisch auf die wachsende Geschicklichkeit
ihres Zöglings und beschließen ihn zu töten. Der Vater ist drei Tage vor der
Frist am Berge, findet ihn verschlossen, legt sich ermüdet schlafen und wird
durch einen Bergsturz verschüttet. Velent tötet die Zwerge mit dem väter-
lichen Schwert, nimmt ihr Handwerkszeug und ihre Schätze und zieht davon.
Ich glaube, daß diese Erzählung Aufbau und Einzelheiten dem alt-
bezeugten und weitverbreiteten Märchen vom Zauberlehrling verdankt,
dessen Literatur Bölte und Poli vka zu KHM 68 verzeichnen. Hier wie dort
handelt es sich darum, daß ein Knabe vom Vater einem durch überirdische
Künste ausgezeichneten Lehrmeister übergeben wird, der auch im Märchen
seine Wohn- und Werkstatt öfter unter der Erde hat. Es wird abgemacht,
daß der Vater den Sohn nach einer bestimmten Frist zurückholen soll. Seine
Entlassung oder auch der Erlaß des Lehrgeldes wird aber an eine bestimmte
Bedingung geknüpft, gewöhnlich die, daß der Vater den irgendwie ver-
wandelten Sohn wiedererkennen muß. Immer ist auch die Darstellung die,
daß der Meister mit Neid sieht, wie der Lehrling ihn rasch in seiner Kunst
übertrifft. Das Märchen läuft dahin aus, daß der Schüler nach einem Ver-
wandlungswettkampfe den Meister tötet. Es darf danach, glaube ich,
behauptet werden, daß unsere Wielandgeschichte sich einzelne Bausteine
aus diesem Märchen geholt hat.
Überschauen wir nun noch einmal die Erzählung der Saga als Ganzes
und suchen uns ein begründetes Urteil über ihre Quelle zu verschaffen.
H. Schneider hat neuerdings (a. a. 0. S. 103) mit einer gewissen Leiden-
schaft die bisher verbreitete Ansicht abgelehnt, daß der Saga deutsche
Überlieferung zugrunde läge. Er findet in ihr Wiedergabe einer skandi-
navischen Prosaquelle, einer Fornaldarsaga, in der das Lied aufgelöst war, das
in unseren angelsächsischen Wielandzeugnissen sich spiegelt, auf geschwellt
durch reinnordische Erfindungen, ohne die „Spur einer deutschen Einfuhr“.
Mich drängen meine Überlegungen zu einer abweichenden Vorstellung.
Daß in der Wielanderzählung der Saga vereinzelt skandinavische Züge
so gut Vorkommen können, wie in ihrer Erzählung der Nibelungensage, ist
gewiß; geographische Bestimmungen, wie Seeland, Grönasund, Jütland
und piodi mögen hierher gehören. Wer aber behaupten will, daß die Er-
zählung als Ganzes entgegen der allgemeinen Versicherung der Saga, daß
sie deutscher Überlieferung folge, aus einer skandinavischen Quelle ge-
flossen sei, müßte das im einzelnen beweisen. Das ist bisher noch nicht
einmal versucht. Wohl aber läßt sich für die Annahme, daß die Saga auch
hier deutscher Überlieferung folge, eine Reihe von Gründen anführen.
Zur Wielandsage.
133
Zunächst scheidet der Verfasser selbst seine Erzählung deutlich von
einer ihm gleichfalls bekannten skandinavischen Überlieferung, da er 105, 13
von Velent sagt, er vceringiar kalla volond und wohl auch 124, 9, wenn er
von Egil sagt: fienna kalla menn olrvnar egil. Und wirklich wird ja in der
Vorgeschichte Wielands, d. h. in dem Teile, der vor Wielands Lähmung
liegt, so manches berichtet, was durch die deutsche Überlieferung Be-
stätigung findet, also gewiß nicht erst im Norden erfunden ist. Wielands
Aufenthalt im Berge wird, wie ich nicht weiter auszuführen brauche, durch
den Anhang des Heldenbuchs, den Rosengarten D, den Walberan, den
Raoul de Cambrai und mittelbar durch die englische Volkssage als deutsche
Auffassung bestätigt. Wieland als Wittichs Vater und Schmied des
Schwertes Mimung, daß Roß Schemming sind aus deutscher Überlieferung
bekannt, der Rosengarten D 317 weiß sogar, daß Witege dies Roß uz dem
berge von dem lieben vater sin mitgebracht hat. Die Sache ist vollends ent-
schieden, wenn, wie doch höchst wahrscheinlich ist, Holthausen PBB 9,
489f. und E. H. Meyer AfdA. 13, 28f. mit der Behauptung Recht haben,
daß 75, 2 für das kallava der Membrane (und das Kallafva der schwedischen
Übersetzung) AB richtiger Ballofa lesen. Denn dies ist der durch die Vita
S. Liudgeri MG. SS. 2, 423 bezeugte mittelalterliche Name des Städtchens
Balve im westfälischen Sauerland, nahe also jenem Siegen, das Galfried
von Monmouth als Wielands Heimat kennt. Die Saga führt damit nicht
nur einen sächsischen Ortsnamen in ihrem Geschiebe, sondern sächsische
Ortsanschauung. Offenbar hat man es bei der Erzählung von einem Berg-
rutsche, der Wielands Vater dort verschüttete, mit einer ätiologischen Orts-
sage zu tun, die das Felsgeröll der Balver Höhle „historisch“ erklärte.
Es stehen also unzweifelhaft deutsche Bestandteile in den Schichten
der Sagaerzählung sichtbar an, und ich sehe keinen Hinderungsgrund, an-
zunehmen, daß diese Erzählung in ihrer ganzen Breite die Prosaauflösung
einer deutschen Dichtung darstellt. Diese war selbstverständlich kein Lied,
sondern ein Epos, das schwerlich früher als in der ersten Hälfte des
13. Jahrhunderts, also nicht lange vor Abfassung der Saga entstanden zu
denken ist.
Es zeigte den Typus des Heldenromans. Ausgang mochte ein säch-
sisches Lied sein, in dem der Geschichte von Wielands Lähmung und
Rache eine Erzählung voranging, die Wieland noch als den Bergschmied
der heimischen Ortssage kannte, wenn auch schon zum „Helden“ ver-
menschlicht. Das alte Kernstück aber erfuhr eine bedeutende epische Aus-
weitung durch innere Auf Schwellung und äußere Beimischung von Be-
standteilen verschiedener Art. Es waren dies einmal märchenhafte Versatz-
stücke, die wir, soweit sie ganze in der Märchenüberlieferung nachweisbare
Motivreihen übernahmen, oben nachzuweisen versucht haben. Es stehen
daneben vereinzelte Züge märchenhaften Schlages. Der hohle Baumstamm
z. B., in dem Wieland durch Fluß und Meer schwimmt, erinnert mehr an
den verschlossenen schwimmenden Kasten, in dem Allerleirauh bei J. F.
Campbell, Pop.Tales ofthe West-Highlands, Edinburg 1866,1 Nr. 14durchs
Meer schwimmt, als an das bei aller Phantastik realistischere Unterseeboot
134
Panzer:
Morolfs; daß Wieland eines der ihm zur Wartung anvertrauten Messer ver-
liert, der Dienst des Verkleideten in der Küche sind bekannte Märchen-
motive, das Messer der Prinzessin, das vor verzauberter Speise im Hefte
klingt, ein Märchenrequisit. Diese Einmischung von Märchenhaftem war
in deutscher Heldendichtung des 13. Jahrhunderts so gut möglich wie in
skandinavischer. Im ganzen durchdringt in dieser Wielanddichtung das
Märchenhafte die gesamte Erzählung wohl gleichmäßiger als etwa im
Nibelungenliede, ist im einzelnen aber nicht weiter geführt als dort in der
Jugendgeschichte Siegfrieds oder in der Werbung um Brünhild, wo es doch
auch einem Hauptstück der Dichtung das Gepräge gibt.
Das Mythische tritt in der Sagaerzählung bei Vadi, dem Riesen und
Sohne der Meerfrau, der durch den neun Ellen tiefen Grönasund watet,
mit unheimlicher Schnelle sich vorwärts bewegt und durch sein Schnarchen
ein Erdbeben hervorruft — dies wird der ursprüngliche, in der Saga ver-
dunkelte Zusammenhang von 79, 14ff. sein! — stärker hervor als bei den
Zwergen, die eigentlich nur Gestalt und Wohnen im verschließbaren Berge
einer transzendenten Welt zuweist. Bei Wieland selbst, dem es ursprünglich
anhaftete, ist es völlig getilgt. Er tritt durchaus als Mensch auf, der in
Form und Ethos höfischer Gesellschaft des 13. Jahrhunderts sich bewegt:
er heißt ein schöner Mann, beweist bei Hofe die besten Formen, wirft dem
Truchsessen ausdrücklich das Unhöfische seines Gebarens vor, als er den
Siegstein haben möchte, den ein anderer rühmlich geholt hat. Ohne jeden
Anstoß ist die Verschiebung ins Höfische nicht überall gelungen, wie denn
beispielsweise nicht ersichtlich wird, wie der Schmied Amelias 88, lff.
plötzlich an des Königs Tisch, bei dem Velent auf wartet, mitreden konnte.
110, 4f. wird der weite gesellschaftliche Abstand zwischen einem „kleinen
Schmied“ und den „ersten Geschlechtern“ nachdrücklich betont. Aber
solche kleine Unstimmigkeiten zeigt, wie oben schon ausgeführt, die Er-
zählung auch sonst; wie der Gelähmte den Bruder besuchen konnte (123,
4ff.) ist auch nicht wohl zu verstehen. Natürlich besteht keine Sicherheit,
daß die Saga ihre Quelle genau und vollständig wiedergegeben hat, obwohl
der Zusammenhang gerade in diesem Abschnitte auffallend gut ist. Man
könnte leicht vermuten, daß in der Vorlage ein höfisches Element noch
weiter in dem Sinne vorhanden gewesen sei, daß schon innerhalb der Sieg-
steingeschichte sich ein Minneverhältnis zur Königstochter entwickelt
hätte, wie das zugrunde liegende Märchen es bei Einholung des Siegsteines
zwischen dem Soldaten und der Prinzessin sich anspinnen läßt; es wäre dann
leichter zu verstehen, daß Velent und die Königstochter sich 125, 3f., in der
Saga recht unerwartet, für ein untrennbares Liebespaar erklären. Ob die
Vorlage das Seelische breiter ausführte als die Saga, wo es etwa in der Be-
ziehung zwischen Vater und Sohn oder in der Apfelschußgeschichte durch-
schimmert ohne sich in Worte zu fassen, bleibt dahingestellt. Der Sinn
für das Tragische scheint zu unvorteilhaftestem Unterschiede von der
Vqlundarkvipa so gut wie ganz geschwunden; beinahe verhält sich die
Sagaerzählung zum alten Liede, wie das jüngere zum alten Hildebrandslied.
Tauchen doch auch hier humoristische Züge auf: das Prügeln der Schmiede-
Zur Wielandsage.
135
gesellen, der schnarchende Riese, Egils Sturz, die Blutblase unterm Arm.
In der Art aber, wie etwa der gerüstet auf dem Stuhle sitzende Amelias von
Wielands Schwert mit sanftem Drücken halbiert wird, zeigt sich jene groteske
Übertreibung, die Wolfram an der Heldendichtung seiner Zeit verspottet.
Weist nicht alles auf einen „Spielmann“ als Verfasser einer solchen
Dichtung ? Ehe wir entscheiden, bleibt noch jener Einschlag aus antiker
Überlieferung zu erwägen, den unsere Erzählung über die alten Hephäst-
Dädalusmotive hinaus aufweist. In welcher Schicht sind jene Apelles-
anekdoten der Sage zugekommen, die wir oben besprachen? H. Schück
zögerte nicht, sie der ältesten Schicht zuzuweisen. Ich glaube das nicht.
Unsere ältere Überlieferung kennt sie nicht, und die obigen Erörterungen
haben gezeigt, wie noch in der Erzählung der Saga ihre spätere Einschie-
bung an deutlichen Unebenheiten erkennbar wird. Sie stehen beide in der
Naturgeschichte des Plinius, das heißt also in einem Werke, das durch das
ganze Mittelalter bekannt war, immer wieder abgeschrieben, ausgezogen,
viel benutzt wurde; gerade das 13. Jahrhundert zeigt einen Höhepunkt
in der Beschäftigung mit Plinius (vgl. J. Sillig, Über das Ansehen der
Naturgeschichte des Plinius im Mittelalter, Allg. Schulzeitung 1833, Abt. II,
Nr. 52 und 53)1). Bekannt genug waren seine Mitteilungen also, aber selbstver-
ständlich, mindestens soweit es sich dabei um Erzählung handelte, nur in
gelehrten Kreisen; daß jene Künstleranekdoten je ,,in die allgemeinere
Volkstradition“ hätten übergehen können (Jiriczek a. a. 0. S. 46), ist
doch ganz ausgeschlossen. Im Ruodlieb, der sehr deutsch gedachten la-
teinischen Dichtung eines Geistlichen, wird Plinius gleich zweimal mit aus-
drücklicher Namensnennung zitiert (II, 27, 31), und hinter den ethno-
graphischen Fabeleien der Herzog Ernst-Dichtung steht sein Schatten: es
ließe sich leicht dartun, daß sie ganz und gar in geistlicher Pf lege erwachsen
ist. Wie der Verfasser des Rother ein Geistlicher gewesen sein muß, so war
es denn wohl auch der Verfasser des deutschen Heldenromanes von Wieland,
den ich als die Quelle der Sagaerzählung zu erweisen suchte. Ein Geist-
licher jener Art und Lebensstellung, die am besten ein paar Parzivalverse
(33, 16) beleuchten, da sie von Gahmuret, dem fürstlichen Recken, er-
zählen . zende an sines tisches ort
säzen sine spilman,
und anderhalp sin kappelän.
i) Ein für Zeit und Raum, die hier in Frage stehen, bedeutsames Zeugnis
der Pliniusverehrung ist der ,,Cod. Slaglosianus“ der Nat. Hist., dessen zwei Groß-
foliobände, um 1200 sorgfältigst geschrieben und mit prächtigen Zierbuchstaben
ausgestattet, auch in der großartigen Handschriftensammlung der Laurenziana in
Florenz noch ein bemerkenswertes Stück darstellen (Plut. 82). Ein großes Bild,
das Bl. 2V ganz bedeckt, zeigt Plinius, dem Titus ein Spruchband überreichend.
Über dem Wipfel eines Baumes, der zwischen den beiden aufragt, sitzt eine be-
scheidene Gestalt mit spitzer Mütze und hält ein Spruchband mit der Inschrift:
Petrus de Slaglosia me fecit. Slaglosia ist Slagelse auf Seeland; die Handschrift
befand sich aber in einem Kloster in Lübeck, aus dem die Agenten des Cosimo
von Medici sie um 1430 nach Florenz brachten. Vgl. darüber u. a. Detlefsen,
Philol. 28. 291 ff.; E. Pais bei C. Paoli, Del Papiro, Firenze 1878, S. 71 f.; C. Curtius,
Hist. u. philol. Aufsätze E. Curtius gewidmet, Berlin 1884, 327 ff.
136
Schirmunski.
„Des Schlächters Töchterlein“ in neuen Aufzeichnungen.
Von Viktor Schirmunski.
Es wurde schon öfters darauf hingewiesen, daß Sprachinseln und
Streusiedlungen gewöhnlich Reliktgebiete bilden, die mitten unter fremd-
sprachlicher Bevölkerung das alte kulturelle Gut besonders lange erhalten
und daher von der geschichtlichen Sprach- und Volkskunde als ein wichtiges
Forschungsobjekt herangezogen werden müssen. Der Volksliedsammler,
unter andern, findet hier „verklungene Weisen“ aus der ältesten Schicht,
und zwar nicht selten in altertümlichen und gut erhaltenen Fassungen.
Dies gilt, wie ich bereits an anderer Stelle ausgeführt habe1), auch für
die deutschen Siedlungen in der Sowjetunion. Seit 1924 bin ich beschäftigt,
mit Hilfe mehrerer Mitarbeiter eine größere Sammlung deutscher Volks-
lieder aus unseren Kolonien zusammenzustellen. Auf kleineren Fuß-
wanderungen im Kr. Leningrad und auf größeren Studienreisen durch
Ukraine, Krim und Transkaukasien, die mit Unterstützung der Volks-
kommissariate für Bildungswesen in Moskau und Charkow unter meiner
Leitung unternommen worden sind, haben wir bereits über 3000 Texte
und etwa 1000 Melodien auf gezeichnet, die im Deutschen Volksliedarchiv des
Staatlichen Kunsthistorischen Instituts in Leningrad niedergelegt wurden.
Unter diesen Aufzeichnungen sind nicht weniger als 400 alte Balladen, dar-
unter auch solche, die in Deutschland nur selten Vorkommen oder beinahe
verklungen sind. An einem Beispiel dieser Art habe ich an anderer Stelle zu
zeigen versucht, welche wichtigen Aufschlüsse solche neueren Aufzeichnungen
für die Entwicklungsgeschichte einer alten Ballade bringen können2). Hier
soll an einem anderen Fall eine ähnliche vergleichende Zusammenstellung
alter und neuer Texte vorgelegt werden, deren Ergebnisse den Entwick-
lungsweg einer solchen Ballade mit ziemlicher Sicherheit feststellen lassen.
Die Ballade „Des Schlächters Töchterlein“ (Erk-Böhme 1, 428
Nr. 120a—c) gehört zu den seltensten im altdeutschen Liederschatz. Das
Leningrader Volksliedarchiv besitzt davon drei neue Aufzeichnungen
(1929): A 37 Nr. 1—3. Die erste (Nr. 1) stammt aus der bayrischen Kolonie
Jamburg a. Dniepr (Kr. Jekaterinoslaw, Ukraine). Jamburg ist eine der
ältesten deutschen Siedlungen in der Ukraine (Neurußland); sie wurde
gegründet im Jahre 1793 von Auswanderern, die sich zuerst im Jahre 1765
unweit von der Kreisstadt Jamburg (jetzt Kingisepp, Kr. Leningrad)
niederließen, von wo der größte Teil der Ansiedler 28 Jahre später mit
Erlaubnis der russischen Regierung nach Neurußland weiterwanderte.
Der Sprache nach stammen die Jamburger aus der Oberpfalz in Bayern,
und zwar aus der Gegend südlich von Amberg (um Velburg). Die Kolonie
ist katholisch. In kultureller Beziehung ist sie ziemlich rückständig und
abgeschlossen und hat einen sehr altertümlichen Liederschatz bewahrt.
x) Vgl. „Volkskundliche Forschungen in den deutschen Siedlungen in der
Sowjetunion“, Vortrag auf der Tagung des Verbandes Deutscher Vereine für Volks-
kunde in Berlin 1929.
2) „Die Ballade vom ‘König aus Mailand’ in den Wolgakolonien“, Jahrbuch
für Volksliedforschung 1, 160ff.
„Des Schlächters Töchterlein“ in neuen Aufzeichnungen.
137
Die Aufzeichnungen, die ich im Sommer 1929 machte, erscheinen dem-
nächst in der Zeitschrift „Das deutsche Volkslied“. Unsere Ballade ist
sonst im Dorfe wenig bekannt: sie wurde uns vorgesungen von einer armen
Bäuerin, der „blinden Mariandl“ (Marianne Aumann, 56 Jahre), die ihre
Jugend in einer von Jamburg nicht weit gelegenen Tochterkolonie Deutsch-
Woronoj verbracht hatte, und ihrer Hausmieterin Eva Klass (21 Jahre).
M. M. J = 88.
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Es war ein rei-ches Ge-schlechte-lein Ü - ber Kan-ne-burg auf der
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—* * sie - ben und f e=*=i 3 - tte -J * -j— Schwe - ei - ne. =?= Da —l b —41 e-
1. Es war ein reiches Geschlechtelein
Über Kanneburg auf der Reise,
: |: Da begegnet ihm ein alter Mann
Mit sieben und fette Schweine. :|:
2. ,,Ei alter Mann, du Schweineknecht,
Wem gehören die sieben und fette Schweine?“
:|: „Die gehören dem reichen Geschlechtelein
Über Kanneburg auf der Reise.“ :|:
3. „Ach Tochter, liebste Tochter mein,
Die Leute, die reden so viel von dir,
:|: Die Leute, die reden so viel von dir,
Den Heinrich tatst du’s lieben.“ :|:
4. Und als sie ihr Kleider zusammennahm,
Die Haare und die sein geflogen.
:|: Darm sprang sie zum obersten Fenster hinaus
Dem Heinrich um die Seite. : |:
5. „Ach, Heinrich, liebster Heinrich mein,
Lasse du dein Pferdelein springen,
: |: Meine Mutter, die hat so leis ein Gehör,
Das Schlüsselein hört sie springen.“ :|:
6. Sie ritten über Berg und Tal,
Über Kanneburg auf der Reise,
: |: Da begegnet ihm ein alter Mann
Mit sieben und fette Schweine. :|:
7. „Ach, alter Mann, du Schweineknecht,
Wem gehören die sieben und fette Schweine?“
:|: „Die gehören dem reichen Geschlechtelein
Über Kanneburg auf der Reise.“ :|:
8. :|: „Ich wünsche meinem Vater eine schöne gute Nacht.
Meiner Mutter aber keine.“
138
Schirmunski:
Die zweite Aufzeichnung (Nr. 2) wurde auch in Jamburg gemacht,
stammt aber von einer Bauernmagd, Jakobine Zimmer (16 Jahre), die in
Konstantinowka in Sibirien, einer Tochterkolonie von Jamburg, geboren
und aufgezogen war. Die Tochterkolonien bewahren nicht selten einen noch
älteren Liederschatz als die Mutterkolonien, denn die Auswanderer gehören
zu der ärmeren Bevölkerungsschicht, und die Aussiedlung geschieht in ent-
legene Gegenden, wo es noch freies Land gibt.
M. M. J = 112.
Jtt
i
Ach Mu-tter mein, ach Tochter mein, Was re-den denn die Leu-te? Ich * 1 2 3 4 5 6 7 8
P1» J" J jl-J
h—*
hab ge - hört, der Fim-ring kommt, Wer weiß, ob ich ihn ke-nne.
1. „Ach Mutter mein, ach Tochter mein,
Was reden denn die Leute?
Ich hab gehört, der Fimring kommt,
Wer weiß, ob ich ihn kenne.“
2. Und als die halbe Nacht drum war,
Kommt Fimring angeritten,
Er klopft so leislich an der Tür
Mit seinem goldnen Ringe.
3. „Ach Fimring mein, ach Fimring mein,
Wart du’s noch eine kleine Weil,
Bis ich mich hab ja angekleidt
Mit Sammet und mit Seide.“
4. Und als sie sich hat angekleidt
Mit Sammet und mit Seide,
Springt sie’s dem Fimring auf das Pferd
Und wollte mit ihm reiten.
5. Und als sie vor die Städte kam
Und vor die hohe Bäume,
Begegnet ihr ein Jägersmann
Mit sieben fette Schweine.
6. „Wohin, wonaus, du Jägersmann
Mit deine fette Schweine?“
„Ich will sie’s bringen dem Metzelmann
Dort drunten an dem Rheine.“
7. „Und wenn’s zu meiner Mutter kommst,
Dann sagst du’s schön guten Morgen,
Und wenn sie’s keine Sorgen hat,
Soll sie’s keine machen.
8. Ich bin geritten mit’m Fimring fort
Für mich braucht sie nicht sorgen.“
„Des Schlächters Töchterlein“ in neuen Aufzeichnungen.
139
Die dritte Aufzeichnung (Nr. 3) stammt aus Kolonie Mühlhausendorf
am unteren Dniepr (Kr. Cherson, Ukraine). Mühlhausendorf (gegr. 1804)
gehört zu dem sogenannten „Schwedengebiete“, einer kleinen Gruppe
deutscher Kolonien, die um die schwedische Kolonie Altschwedendorf
(gegr. 1787), unweit von der kleinen Stadt Berislaw a. Dniepr, liegen.
Die Bevölkerung der Kolonien ist nach sprachlichen und historischen
Zeugnissen sehr gemischt, und zwar ist Mühlhausendorf lutherischer Kon-
fession. Der Text wurde mir freundlicherweise von meinem Assistenten
Dr. Leo Sinder mitgeteilt.
J = 72.
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Sie red’n du hast den Fern-rieh gern, Das möcht ich gar nicht
h 3=T —ßß *1 1 2- ■ , V-- [V =
r & № p. i v— * • < L- •J- + i
lei - den.“ gern, Das möcht ich gar nicht lei - den.'
1. „Ach Tochter, liebe Tochter mein,
Was reden doch die Leute?
:|: Sie reden, du hast den Femrich gern,
Das möcht ich gar nicht leiden.“ :|:
2. „Ach Mutter, liebe Mutter mein,
Laß doch die Leute reden:
:|: Und wenn er gleich geritten kam,
So wüßt ich nicht, wer’s wäre.“ :j:
3. Als die halbe Nacht verging,
Kam Femrich an zu reiten:
: |: Er klopft ganz leise an die Tür
Mit seinem goldnen Ringe. :|:
4. „Ach Femrich, lieber Femrich mein,
Wart eine kleine Weile,
:|: Bis daß ich mich hab angekleidt
In Sammet und in Seide.“ :|:
5. Und als sie sich hat angekleidt
In Sammet und in Seide,
; I; Sprang sie’s zu Femrich auf das Pferd
Und tut mit Femrich reiten. : |:
6. Als sie oben das Dorf rauskam’n,
Da standen drei hohe Bäume,
:|: Begegnet sie’s ein Jägersmann
Mit sieben Pferd und Schweinen. :|:
140
Schirmunski:
7. „Wohin, woraus, du Jägersmann,
Mit deinen Pferd und Schweinen?“
:|: „Ich bringe sie’s jetzt in die Stadt
Für Geld sie’s zu verkaufen.“ :|:
8. „Wenn’s zu meiner Mutter kommst,
Sag ihr schön gut Morgen,
:|: Und sag’s, ich bin mit Femrich fort,
Sie braucht für mich nicht sorgen.“ :|:
Diese Ballade war vor kurzem nur in älteren Aufzeichnungen aus der
ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts bekannt: a) zwei Texte aus dem Bran-
denburgischen bei Erk-Irmer I, 6, 5 (aus der Gegend von Oranienburg
und Potsdam), die nur geringe Abweichungen voneinander im Wortlaut
aufweisen (= E. B. 120a); b) ein Text bei Simrock Nr. 63, mit stark
abweichendem Schluß (= E. B. 120b); c) ein Text bei Heeger und Wüst
(„Volkslieder aus der Rheinpfalz“, 1 [ 1909] Nr. 44) — „geschriebenes Lieder-
buch 1845“. Neulich brachte die Sammlung von Pinck („Verklingende
Weisen“ 2 Nr. 37) die erste Aufzeichnung aus dem noch lebenden Volks-
gesang, und zwar auch hier aus einem kulturellen Grenzgebiete (d). Außer-
dem ist eine Kontamination dieser Ballade mit dem „Straßburger Mägde-
lein“ bei Meinert Nr. 93 zu verzeichnen (e), also auch in diesem Falle aus
einem kolonialen Reliktgebiete (= E. B. 120c)1).
Unsere Aufzeichnung Nr. 1 zeigt eine auffallende Ähnlichkeit mit der
norddeutschen Fassung (a). Charakteristisch ist vor allem die Schluß-
wendung: „Ei so wünsch ich meinem Vater eine tausend gute Nacht: Und
meiner Mutter keine“ (oder: ,,. . .die Schweine“, ähnlich in c; dagegen
anders in d und in Nr. 2—3, vgl. unten). In beiden Fassungen findet sich
eine Strophe, die sonst nirgends auf tritt, in der die Tochter den Geliebten
vor der Mutter warnt, vgl. a 7: „Ach Fähnrich, liebster Fähnrich
mein: Ich glaub, wir müssen eilen: Mir ist, mir deucht, meine Mutter die
kommt: Die Schlößlein hört ich klingen“ (Nr. 1, 54: „Das Schlüsselein
hört sie springen“). Weitere Ähnlichkeiten im Wortlaut zeigen z. B.
a 63~4: „Stieg sie zum obersten Fenster hinaus: Dem Fähnrich ander Seiten“
(vgl. Nr. 1, 43-4; ähnlich in b 63-4; dagegen in d 6: „Sie schleicht so leis die
Hintertür hinaus“); a 81: „Sie rittn wohl über Berg, sie rittn wohl über Tal“
(vgl. Nr. 1, 61); a 83~4: „Da begegnet ihn’n reicher Schlächtersmann: Mit
sieben fetten Schweinen“ (vgl. Nr. 1, 63-4; ähnlich Nr. 2, 54; die Zahl
„sieben“ fehlt sonst überall; c 122: „ein Mann mit Schweinen“; d 72: „Da
hüt ein Hirtchen die Schweine“; d 74: „Wem gehören die fetten Schweine“).
Als besonders aufschlußreich für das Verhältnis von Nr. 1 und a ist
die Umgestaltung der ersten Strophe, vgl. a l1-2: „Es war ein reicher
Schlächtersmann: Zu Colberg auf Grünheide . . .“, Nr. 1 hat „Geschlechte-
x) Für diese Zusammenstellung benutzte ich die reichhaltigen Sammlungen
des Freiburger Volksliedarchivs, die mir sein Direktor Prof. John Meier mit der
größten Bereitwilligkeit als Vergleichsmaterial für meine Arbeiten zur Verfügung
stellte. Ihm und seinem Assistenten, Dr. H. Schewe, sei hier für ihre freundliche
Hilfe gedankt.
„Des Schlächters Töchterlein“ in neuen Aufzeichnungen.
141
lein“ für „Schlächtersmann“ und „Kanneburg“ für „Colberg“; mit Er-
haltung des Reimes ist „an Grunheide“ ersetzt durch „auf der Reise“.
„Schlächter“ als ein norddeutsches Wort (südd. „Metzger“) wird miß-
verstanden und der „Schlächtersmann“ zu „Geschlechtelein“ umgedeutet.
Wir müssen also annehmen, daß das Lied aus Norddeutschland nach dem
Süden wanderte. Auch „Kanneburg“ für „Colberg“ scheint ein weiterer
Beweis für diese Auffassung zu sein. Sollte die Ballade in der Gegend von
Colberg i. Pommern entstanden sein ? Die andere norddeutsche Fassung
hat auch einen ähnlich lautenden Ortsnamen: „Ronneburg“.
Von den hochdeutschen Fassungen, in denen die einleitende Strophe
erhalten ist, hat c 1: „Es wohnt ein reiches Müllerlein: Zu Köln wohl an
dem Rheine . . .“ und d 1: „Es wohnt sich ein reicher Metzger mein: Zu
Frankfurt an dem Rheine“ (vgl. 81“2: „Sie gehören dem reichen Metzger
mein“ usw.). Durch die Einführung des Müllers anstatt des Schlächters
ist in c der Zusammenhang mit dem Schweinehirten, der am Schluß der
Ballade auf treten soll, zerrissen; daher ist hier die Frage nach dem Besitzer
der Schweine ausgefallen. In d ist der norddeutsche „Schlächter“ in den
süddeutschen „Metzger“ übersetzt worden, und zwar ist das syntaktisch
auffällige „(ein) Metzger-mein“ rhythmisches Äquivalent für „Schlächters-
mann“. Auch Nr. 2, wo die Anfangsstrophe fehlt, hat den „Metzelmann“
in Strophe 63 erhalten, mit sekundärer Umdeutung des nicht mehr ver-
standenen Zusammenhanges (s. unten).
Die Änderung von „Schlächtersmann“ zu „Geschlechtelein“ in Nr. 1
führte zu einer weiteren Umbildung der Anfangsstrophe. Die zweite Hälfte
dieser Strophe lautet in a 13~4: „Der hat ein einziges Töchterlein: Und die
schlief ganz alleine . . .“, vgl. damit c 21-2: „Der hat zwei schöne Töchter-
lein : Eine große und eine kleine“ und d 1: „Er hat sich drei schöne Töchter-
lein: Die sind so hübsch und feine“. Die norddeutsche Fassung hat hier
sicher, wie sonst, das Ursprüngliche erhalten — die Einleitung paßt genau
auf die weitere Entwicklung der Handlung; c und d bringen dagegen
formelhafte Wendungen aus anderen Liedern, der Verfasser von c fühlte
sich sogar zu einer Fortsetzung gezwungen, um einen Übergang herzustellen,
vgl. 3: „Die eine hat den Fähndrich so lieb: Die andre den Markgrafen.“
In Nr. 1 konnte das „Töchterlein“ an das „Geschlechtelein“ nicht mehr in
der überlieferten Art und Weise angefügt werden: die entsprechenden
Zeilen sind ausgefallen, und als Ersatz wurde an Strophe 63—4 und 7 an-
geknüpft nach dem gleichlautenden: „Über Kanneburg auf der Reise“.
An dieser Stelle fühlten noch meine Sänger immer eine Unsicherheit, da
die ersten zwei Strophen nicht mehr recht zu der Fortsetzung passen wollten.
An eine Ersetzung von „Schlächtersmann“ durch das rhythmisch
gleichwertige „ein alter Mann“ könnte man noch bei a 83—4 denken: „Da
begegnet ihn’n reicher Schlächtersmann: Mit sieben fetten Schweinen“
(vgl. Nr. 1, 63"4). Doch ist diese Stelle in a nicht ganz deutlich. Ist es der
Vater selbst, dem die Flüchtlinge auf dem Wege begegnen und durch den
sie einen Gruß bestellen ? Wenn es so ist, bleibt jedenfalls diese merk-
würdige Situation für die weitere Handlung nicht ausgenutzt. Dagegen
142
Schulte-Kemminghausen:
in d treffen sie ein „Hirtchen“, in c einen „Mann mit Schweinen“ (122),
in Nr. 1 einen „alten Mann“, also wohl auch einem Schweinehirten des
reichen Schlächters; b ersetzt hier durch „ein Hauptmann im Volk“ (63)
und gibt einen abweichenden Schluß, 2—3 haben „Jägersmann“: diese
letzten drei Fassungen haben die Anfangsstrophe und damit den alten
Zusammenhang des Hirten mit dem Schlächter und seiner Familie verloren.
Es ist also möglich, daß a in diesem Falle eine Neuerung hat, was auch der
mangelhafte rhythmische Bau des Zeilenschlusses („. . . ihn’n reicher
Schlächtersmann“) anzudeuten scheint.
Es ist noch zu bemerken, daß in Nr. 1 drei Strophen fehlen, die sonst
überall vorhanden sind und daher zu der Urfassung gehören: a 3 — Antwort
der Tochter (vgl. b 2, c 6—7, d 3, auch Nr. 3, 2); a 4 — Ankunft des Fähn-
richs (vgl. b 3, c 8—9, d 4; auch Nr. 2, 2 und Nr. 3, 3); a 5 — Das Mädchen
bittet den Fähnrich zu warten (vgl. b 4, c 10—11, d 5; auch Nr. 2, 3 und
Nr. 3, 4). „Die Haare und die sein geflogen“ (Nr. 1, 42) scheint eine
Umdeutung zu sein von „Ihre Haare geflochten in Seide“ (a 62, ähnlich
in b 52). „Heinrich“ steht für das in Rußland unverständliche „Fähnrich“,
wie in Nr. 2: „Fimring“, in Nr. 3 „Femrich“.
Die beiden neuen Aufzeichnungen Nr. 2 und 3 sind Varianten einer Fassung
mit nur geringen Abweichungen im Wortlaut. In beiden Nummern fehlt die
Anfangsstrophe, und das Gespräch zwischen Mutter und Tochter ist an die
Spitze des Liedes getreten (wie in b), vielleicht wegen der Schwierigkeiten, die
wir auch sonst bei der Übertragung der ersten Zeilen bemerkt haben. Die
Schlußwendung („. . . meiner Mutter . . . ein schön guten Morgen: Sie
braucht für mich nicht sorgen“) ist eine andere als in Nr. 1 und a und
findet sich wieder in d (83-4: „Und wenn ihr zu meim Vater kommt: So
sagt ihm Guten Morgen: Für mich braucht er nicht mehr sorgen“). Cha-
rakteristisch für beide Texte ist die gleiche Gestaltung der Begegnung auf
der Flucht (Nr. 2, 5 und Nr. 3, 6). Die „hohen Bäume“ finden sich sonst
nirgends in deutschen Fassungen. Der Schweinehirte ist durch einen
Jägersmann ersetzt, der in keinem näheren Verhältnis zu der Schlächter-
familie steht, was erst möglich wurde, nachdem durch Ausfall von Strophe 1
die Heldin nicht mehr als des Schlächters Töchterlein eingeführt wird und
dadurch der ganze Zusammenhang verdunkelt worden ist. Der Jägersmann
erscheint „mit sieben fetten Schweinen“, wie in Nr. 1 und a (Nr. 3 hat — „Mit
sieben Pferd und Schweinen“ — eine weitere akustische Entgleisung, die
um so möglicher war, weil in der Mda. von Mühlhausendorf für anlautendes
pf ein f erscheint). In Nr. 2 führt der Jägersmann seine Schweine zum
„Metzelmann dort drunten an dem Rheine“, was noch ein Stück alter
Überlieferung ist, aber ohne inneren Anhaltspunkt in der neuen Fassung.
In Nr. 3 geht die Modernisierung weiter, und die letzte Spur des alten
Zusammenhangs ist vertilgt: „Ich bringe sie’s jetzt in die Stadt: Für Geld
sie’s zu verkaufen“. Es sei noch bemerkt, daß die Anfangsstrophe in Nr. 2
aus einer Kontamination der beiden ersten Strophen von Nr. 3 entstanden ist.
Im ganzen ist die Ähnlichkeit der beiden Texte so groß, daß wir wohl
annehmen müssen, die Tochterkolonie Konstantinowka habe die Fassung
Westfälische Kinderspiele aus dem Nachlaß der Brüder Grimm.
143
Nr. 2 nicht aus der Mutterkolonie Jamburg erhalten, sondern mutmaßlich
von Auswanderern aus dem Schwedengebiete oder aus seiner Nachbarschaft.
So zeigt ein Vergleich der deutschen Fassungen mit unseren neuen
Aufzeichnungen aus den Kolonien und speziell der norddeutschen Fassung a
mit der bayrischen Nr. 1, daß der norddeutsche Text der älteste und voll-
ständigste ist und der für uns erreichbaren Form der Urfassung sehr nahe
kommt. Die einführende Anfangsstrophe (a 1) ist gesichert durch c, d und
besonders durch Nr. 1, wo sogar der Wortlaut von a 11—2 weiterklingt; in
13~4 hat die norddeutsche Fassung (gegen c und d) den allein wichtigen Zug
erhalten („Und die schlief ganz alleine“). Es folgen darauf a 2—6 — Ge-
spräch zwischen Mutter und Tochter und nächtliche Entführung — die
in den meisten Fassungen erhalten sind: der altertümliche Zug „Stieg sie
zum obersten Fenster naus“ (a 63) ist wieder durch Nr. 1 und b gesichert.
Es folgt a 7, die ängstliche Mahnung an den Geliebten, die wir jetzt in der
Jamburger Fassung wiederfinden (Nr. 1, 5). In a 8—9, Begegnung auf der
Flucht, ist wieder die Textgestaltung von a durch Nr. 1 gesichert („Sie ritten
über Berg und Tal“, „Mit sieben fetten Schweinen“ u. a.); es fragt sich nur,
ob der Angeredete ein alter Schweinehirt ist (wie in Nr. 1 und c) oder der Vater
selbst, wie in a, was mir unwahrscheinlich ist. Auch die Schlußwendung von
a ist durch Nr. 1 und c gegen d und Nr. 2—3 für die Urfassung gesichert.
Wir können also in diesem Falle, was für alte Balladen nur selten
möglich ist, mit ziemlicher Sicherheit behaupten: „Des Schlächters Töchter-
lein“ ist auf norddeutschem Boden (vielleicht bei Colberg i. Pommern) ent-
standen; der norddeutsche Text a steht der Urfassung am nächsten. Von
Norden nach Süden wanderte die Ballade in zwei verschiedenen Rich-
tungen: nach Bayern (Jamburg-N 1) und nach dem Rhein (NN 2—4,
sowie b—c). Die rheinische Überlieferung zeigt größere Veränderungen
der Urgestalt als die in Jamburg erhaltene bayrische Fassung.
Westfälische Kinderspiele
aus dem Nachlaß der Brüder Grimm.
Von K. Schulte-Kemminghausen.
In den Jahrgängen 25—27 dieser Zeitschrift hat J. Bolte aus dem
Nachlaß der Brüder Grimm eine Reihe bis dahin unveröffentlichter Märchen
bekanntgemacht, die aus dem Kreise der westfälischen Freunde stammten.
Eine Parallele dazu bilden einige Kinderspiele aus Westfalen, die heute
im Grimmschrank der Preußischen Staatsbibliothek in dem Konvolut
Nr. 1757 auf bewahrt werden. Sie stammen aus dem gleichen Kreise wie
die erwähnten Märchen. Es ist bekannt, mit welch lebendiger Teilnahme
die Brüder Grimm bei ihrer Sammeltätigkeit von den Familien Haxt-
hausen und Droste-Hülshoff unterstützt wurden1). Die Brüder Werner
i) Literatur bei Bolte-Polivka, Anmerkungen zu den Kinder- und Haus-
märchen der Brüder Grimm 4, 437ff.; Schulte-Kemminghausen, August v. Haxt-
hausen, Westfälische Biographien (Münster 1930) Heft 1, 87ff.
144
Schulte-Kemminghausen:
und August v. Haxthausen waren von der gleichen romantischen Be-
geisterung für alle Volksüberlieferung beseelt wie Jacob und Wilhelm Grimm.
In dem ältesten erhaltenen Brief ihres umfangreichen Briefwechsels vom
5. Dezember 18081) ist die Rede von gegenseitigem Austausch persönlich
gesammelter Volkslieder2). Den Brüdern Haxthausen traten bald ihre
Schwestern zur Seite, mit denen Wilhelm und Jacob, sei es in Kassel,
sei es auf den Haxthausenschen Gütern im Paderborner Land persönlich
bekannt wurden. Später waren es fast ausschließlich die Schwestern Haxt-
hausen und Jenny v. Droste-Hülshoff3), die für die Brüder Grimm
Märchen, Sagen, Volkslieder, Rätsel usw. sammelten. Auch Annette
v. Droste-Hülshoff schickte an Ludowine v. Haxthausen, ihre Tante,
im Jahre 1819 ,,ein Märchen, einige westfälische Sagen und eine beträcht-
liche Zahl von volksmäßigen Rätseln und Sprichwörtern“ zur Weiter-
beförderung an Wilhelm Grimm4). Die unten gedruckten Aufzeichnungen
stammen von den Schwestern Haxthausen. Das ergibt sich zunächst
aus den Schriftzügen, dann aber auch daraus, daß der Adressat mit „Sie“
angeredet wird. Die Brüder Grimm und Haxthausen duzten sich schon
früh. Weiter kann man es mit Sicherheit aus dem Stil und der Orthographie
des verbindenden Textes schließen, die wir deshalb ohne irgendeine Än-
derung originalgetreu wiedergeben. Über die Zeit der Aufzeichnung ent-
halten die Blätter keine direkte Angabe. Doch setzt die Erwähnung des
Namens Jenny (Nr.IV) deren persönliche Bekanntschaft mit den Grimms
voraus. Wahrscheinlich haben die beiden sich erst im Jahre 1813 kennen-
gelernt. Andererseits müssen die Aufzeichnungen vor dem Jahre 1834
liegen, in dem Jenny als Gattin des Ereiherrn Jos. v. Laßberg nach dem
Süden übersiedelte. Man wird nicht fehlgehen, wenn man sie in die Zwan-
ziger Jahre des vorigen Jahrhunderts setzt. Sie sind also etwa 100 Jahre alt.
Besonders wertvoll sind sie deshalb, weil es sich nicht um knappe
Andeutungen handelt, wie es bei den meisten historischen Zeugnissen zum
Kinderspiel der Fall ist5), sondern um ausführliche Beschreibungen. Ein
Vergleich mit dem Zustand der Gegenwart dürfte einen interessanten
Einblick in die Entwicklungsgeschichte des Kinderspiels und wichtige
Aufschlüsse über sein Wesen geben. Der knappe Raum gestattet nur einige
Andeutungen.
Es ist auffallend, mit welcher Treue sich einzelne Lieder ein ganzes
Jahrhundert hindurch erhalten haben. Man vergleiche etwa den unter
1) Vgl. Schulte-Kemminghausen, Aus dem westfälischen Freundeskreise
der Brüder Grimm, Festschrift A. Bömer (Leipzig 1928) S. 103.
2) Vgl J. Bolte, Jac. Grimm als Volksliedforscher, Jahrbuch für Volks-
liedforschung 1 (1928), 157f.
3) Vgl. Schulte-Kemminghausen, Briefwechsel zwischen Jenny von Droste-
Hülshoff u. Wilhelm Grimm. Münster 1929.
4) H. Cardanus, Die Briefe der Dichterin Annette von Droste-Hülshoff
(Münster 1909) S. 27.
5) Vgl. J. Bolte, Zeugnisse zur Geschichte unserer Kinderspiele, ZfVk. 9,
381 ff.; De Cock en Is. Teirlinck, Kinderspel en Kinderlust 1 (Einleitung).
Westfälische Kinderspiele aus dem Nachlaß der Brüder Grimm.
145
Nr. IX gedruckten Text mit einer Fassung, die 1904 im gleichen Ort auf-
gezeichnet ist1):
„Pinkele, Pankele up de Hillen satt,
De den weeken Kaise fratt.
Stieget in den Wiem,
Schniet en langen Striem!
Giewet us den langen,
Lot den Knuoken hangen!
Lot us nicht so lang meh stoan,
Wi möt noch 3 Stunnen Weages goan!
3 Stunnen Weages ist Sommerkruet,
Dochterbrot, Rosenblatt,
Eine Vergleichsmöglichkeit mit Nr. VI bietet eine Aufzeichnung aus
Sassenberg im Münsterland aus den neunziger Jahren des vorigen Jahr-
hunderts, die P. Bahlmann mitgeteilt hat2):
Giev us wat,
Giev us armen Pinklem wat,
Gievt us einen Wagen,
Da willt de Brut wi hahlen,
Gievt us einen Kauken,
Da willt wi de Brut up raupen,
Gievt us wat!
Schöne Stadt, Rosenblatt,
Schöne Jungfrau, gievt us wat!“
„Van Aowend iss Michelis-Aowend.
Da köff min Moor en Härink.
Min Moor en Stück,
Min Vaar en Stück,
Alle Kinner kriegt en lück.
Giewt uss enen Appel,
Dao könn’ n wi gued nao schnappen:
Giewt uss ene Biäre,
Dao könn’n wi gued nao schmiären;
Giewt uss ene Prume,
Dao könn’n wi gued nao snuwen;
Giewt uss ene Nuett,
Dann schiär wi uss alle futt.
Hilgenblatt, schöne Stadt,
Schöne Jungfrau, giewt uss wat!
(Nach einer Pause:)
„Krieg wi auk wat?“
(Nach einigem Warten:)
Laot uss nich so lange staohn,
Wi müett noch en Hüesken vorder gaohn.
„Krieg wi auk wat?“
(Wenn nichts gegeben worden:)
O du olle Pinkeltirwe,
Hest uss nix to friätten giewen.“
Wir sehen, daß auch beim Kinderlied, wie bei allen anderen Arten
der sog. Volksüberlieferung, die einzelne Formel mit ihren bewußt oder
unbewußt entstandenen Varianten das Bleibende ist. Die durch lautliche
oder gedankliche Assoziation entstehende Verbindung dieser Elemente
ist verhältnismäßig locker. Es ist methodisch bedenklich, aus diesen
Varianten eine Urfassung erschließen zu wollen.
Ein interessantes Beispiel dafür, wie Varianten dadurch entstehen,
daß in einem übernommenen Stück der Volksüberlieferung ein landes-
fremder, unverständlicher Ausdruck enthalten ist, ist Nr. V. In der ersten
Zeile war das Wort „siech“ (sek) unverständlich und überflüssig. So er-
scheint als Variante: bis du sek en krank, Lambert in den Sekenkranz,
Lamberti in den Seggenstall (Ziegenstall).
Die in den Anmerkungen zu den einzelnen Nummern gegebenen Ver-
weise auf Varianten beanspruchen keine Vollständigkeit. Das Archiv der
Volkskundlichen Kommission der Provinz Westfalen enthält eine größere
Zahl von Belegen.
1) Zeitschr. f. rhein. u. westf. Vkde. = ZfrwVk. 4, 7ff.
2) ZfVk. 5, 177, Anm. 3.
Zeitschrift für Volkskunde II, 1 —2.
146
Schulte-Kemminghausen.
Kinderspiele.
I.
Dieses schöne Spiel, was wir als Kinder gar nicht satt werden konnten, kennen
Sie wohl, aber mir scheint unsers ist etwas anderst:
Die Kinder schließen einen Kreis und eines von ihnen geht um den Kreis herum
und singt nach einer traurigen Melodie:
Jammer Jammer höre zu
was ich dir will sagen
hab verlohren meinen Schatz
Mach auf mach auf den Garten.
Nun bleibt es stehn und der Kreis wird ihn geöffnet, es geht hinein und geht ebenso
von innen an den Kreis herum und singt:
Ich will gehen und will sehen
ob ich ihn ertappe
Dieses wiederholt es nach Belieben mehrere mal, bis es vor irgend einen aus dem
Kreise stehen bleibt und, indem es nieder kniet singt:
Schau mal an / dies ist mein Schatz
Ihm fall ich zu Füßen
Den ich auserwählet hab
Seine Hand zu küssen
Dabey küßt es die Hand seines Schatzes, springt alsdenn auf und tanzt mit ihm herum,
der ganze Kreis tanzt paarweise oder einzeln mit, und sie singen alle zusammen, nach
einer lustigen Melodie:
Freude Freude große Freude
Ich habe meinen Schatz gefunden,
Darm hebt das Spiel von neuem an und der auserwählte Schatz geht jetzt um den
Kreis herum.
Vgl. W. Lehnhoff, Westf. Spielbuch (Dortm. 1922) [S. 175; Münsterische
Geschichten, Sagen u. Legenden (Münster 1825) S. 267; Jos. Weingärtner, Das
Kind u. seine Poesie (Münster 1891) S. 72f.; J. Schläger, ZfVk. 17, 397 (Belege aus
Osnabrück, Halle a. S., Großmölsen b. Erfurt, Arnstadt); Fr. M. Böhme, Deutsches
Kinderlied u. Kinderspiel (Leipz. 1897) S. 201 ff.; Wehrhan, ZfrwVk. 5, 87f. u. 10,
57, 292; Andree, Braunschweiger Volkskunde (1896) S. 329; Erk-Böhme 2, 738. 3,
1882—1884, 1892; Simrock, Das deutsche Kinderbuch S. 453; Lewalter- Schläger,
Deutsches Kinderlied u. Kinderspiel S. 259 u. Anm. In vielen Orten Westfalens belegt.
II.
Die Kinder schließen einen Kreis und singen:
hie sin wie Nünnekes veere a pa a paradies
un dat ist usse Manere / a pa a paradies
da stand so n klein Appelken / in ussen Goren
dat was so graut ass mine Ohren
siewen Johr un de wären um
do dreit sick Juffer NN um
Als den dreht sich der genannte um so daß er das Gesicht nach der äußeren Seite
des Kreises gerichtet hat, nun dreht sich der Kreis wieder und singt:
NN hat sick ümme kehrt
un dat se he von mie gelehrt
kurante matante o selia de
Westfälische Kinderspiele aus dem Nachlaß der Brüder Grimm. 147
so geht es bis sich der ganze Kreis umgedreht hat, alsdann singen sie:
We will us helpen thünen (zäunen) / thünen ussen Thun
Dat soll Juffer NN dohn / De will us helpen thünen
thünen ussen thun /
So geht es wieder durch den Kreis wobey, die sich die Hände Kreutz weis reichen,
so das da durch eine Art von Geflecht entsteht und nachher
We will us helpen brecken / brecken ussen Thun
Dat will Juffer NN dohn / De will us helpen brecken
bessecken ussen Thun
wobey sie wie die Reihe an sie kommt los lassen und sich wieder auf die gewöhnliche
Weise bey den Händen fassen. Dies Spiel wird mit mancherley Abwechselung ge-
spielt, die aber an jedem Orte verschieden sind, weil die Kinder sie selber ersinnen,
bis so weit aber ist es sich über all gleich.
Es sind hier 2 Spiele vereinigt, die sonst auch getrennt erscheinen. Besonders
der zweite Teil ist heute in Westfalen in nd. und hd. Form weithin bekannt. (Belege im
obengenannten Archiv). Vgl. im einzelnen: Weingärtner a. a. O. S. 50; Bahl-
mann, Münsterische Lieder u. Sprichwörter (Münster 1896) S. 45 (Nr. 43); Bolte,
ZfVk. 4, 180. 6, 98. 19, 402 Nr. 26; Caro, Niederdeutsches Jahrbuch 32, 76; Schlä-
ger ZfVk. 18, 44; F. M. Böhme S. 456 Nr. 122 = Erk-Böhme 3, 1878; De Cock-
Teirlinck, Kinderspel en Kinderlust 2, 295ff.
III.
Ein altes Spiel.
Moder o Moder wo ist kindken bliewen.
Das älteste der Gesellschaft das die Mutter vorstellt setzt sich auf den Boden und
nimmt das Jüngste (Blind) auf den Schoos, von da an setzen sich alle Übrigen vor
einander hin in einer langen Reihe, auf den Boden, zwey Andere fassen ein weißes
Tuch an zwey Ende und gehn die Reih entlang bis zur Mutter, wobey sie das Tuch
über die Köpfe der Sitzenden weg tragen und beständig sagen: Schopken verkaupen,
Schopken verkaupen. Die Mutter macht allerhand Einwendungen, die sie so gut als
möglich beantworten, und dabey beständig mit den Tuch wedeln, endlich überläßt
ihnen die Mutter ein Schäfchen, worauf sie bis ans Ende der Reihe zurück gehn, den
zuletzt sitzenden mit ihrem Tuch erhaschen, umwickeln und in einen Winkel stecken,
so geht es auch mit den übrigen, wenn sie zum dritten mal kommen, sagt die Mutter:
iek hebbe ju gistern ent giewen ick hebbe juk ehrgistem ent giewen ick kann juk
alle Dage keit giewen!
Den antworten die beyden: Dat ene was nich frisk, Dat schmet ick hinner den
Disk, dat andere was fuel, dat schmet ick owern Thun, dat derde foll von den Balken
un brack Hals un Bein.
Dies wird bey allen übrigen wiederholt nebst vielen andern willkührlichen Reden,
wenn man ihr auch noch zuletzt das Kind ab kaufen will wehrt sie sich gewaltig, giebt
es aber doch endlich her, mm nehmen die Beiden das Band mit aus der Stube und
verstecken es in irgend einen Winkel des Hauses so bald sie zurück kommen fangen
alle die verkauften Lämmer an zu singen: O Moder O Moder wo ist Kindken bliewen,
dat heft de Schlangen und de Utzen1) upfretten. nun steht die Mutter auf und geht
weinend und mit kläglichen Gebehrden durchs ganze Haus und sucht das Kind, die
ganze Gesellschaft geht mit und singt beständig: O Moder O Moder wo ist Kindken
bliewen, dat hebt de Schlangen un de Utzen upfreeten sie dürfen aber nicht suchen
helfen und wissen auch nicht, wo das Kind ist, die beyden, die es versteckt haben, *)
*) Kröten.
10*
148 Schulte-Kemminghausen:
singen nicht mit und laufen blos neben her wenn die Mutter das Kind gefunden hat,
so ist das Spiel aus.
Zu diesem Spiel ist von Grimm angemerkt: ist gut. Vgl. Fr. Woeste, Volks -
Überlieferungen in der Grafschaft Mark (Iserlohn 1848) S. 11, 4; Bolte ZfVk. 19,
392 (65?); S. Singer ZfVk. 13, 56; Carstens, Niederdeutsches Korrespondenzblatt 13,
100 (Mutter Maria); Erk-Böhme 3, 1909 (dort weitere Literatur); De Cock en
Teirlinck 1, 158.
IV.
Die Kinder vertheilen unter sich allerhand Nahmen, Eines ist Herr von der
Kapp, das 2te Pater Prior, die übrigen nennen sich nach allerhand färben, z. B.
Biokapp, Rothkappe, Grönkapp, nun hebt Herr von der Kapp an: H von der Kapp
hat verlohren sine Kapp, Pater Prior het et dohn“ Pater Prior nennt geschwind einen
Andern z. B. Biokapp hett es dohn, dieser wieder einen Andern u. s. w. wer nicht
antwortet eh man drey zählen kann, muß ein Pfand geben.
In Münster nennt man außer den Herrn von der Kapp und Pater Prior noch die
Nahmen von Jan von Leiden, Knipperdolling, Krechting, Stutenbernd, Karten-
drücker, dazu ist die Gesellschaft größer, so können auch Blaukapp, rothkapp (u.s.w.)
in der Reihe.
Stutenbernd ist Rottmann, nach Andern auch Knipperdolling, weil er ein Becker
war und weil man ihm soll zum Spott ein Brod über den eisernen Käfig gehängt haben,
worin man ihn an Lamberti Thurn befestigte, oder auch wie Andere sagen, um ihn
zu quälen, da man ihn lebendig in den Korb gesteckt, und so in freyer Luft habe ver-
schmachten lassen, wo er denn das Brod beständig sehn, aber nicht erreichen konnte,
auch wird gesagt er hieß Stutenbernd weil er die Communion bey Tische mit weiß
Brod aus theilte. — Was Kartendrücker heißen soll, kann ich nicht sagen, doch sagt
mir Jenny daß man auch ein Sprichwort in Münster habe, wenn jemand fragt: wer
hat das gethan und er will es nicht beantworten so sagt er: Pater Messert Karten-
drücker.
In Riesenbeck u. Greven in der Form bekannt, daß statt der Farbennamen
Zahlen erscheinen. Vgl. Lehnhoff S. 118; F. M. Böhme 637 (Nr. 534): Der Abt
v. St. Gallen oder des Herrn Nachtkappe ; E. L. Rochholz, Alemannisches Kinderlied
u. Kinderspiel (Leipzig 1857) S. 440 (Nr. 62); vgl. auch in der Liste der Spiele des
Christoph von Dohna (vor 1618!) Nr. 13: Weiss hat sein färb verloren, ist nit wahr
usw. (ZfVk. 19, 391); „Alle de geestige werken van Mr. François Rabelais, vertaelt
door Claudio Gallitalo, A’Amst. 1682.“ Bl. 79ff. Nr. 136 (nach de Cock en Teirlinck
1, S. 55.
V.
(Aus Münster.)
Eins der Kinder ist der Lambert und setzt sich auf den Boden. Die übrigen
Tanzen in einem Kreis darum her und singen:
Lambert bist du seken krank
dat du hier so stille stohst
rört us nich an
Lambert pack to
kreg se by de Schoh
kreg se by de Wipsen
um schmeit se us to
bey den letzten Worten lassen die Kinder den Kreis los und laufen aus einander,
den der Lambert (get: greift) sucht eins zu haschen darf aber nicht aufstehn, gelingt
ihm dies nicht so begint das Spiel von neuen sonst muß der Gefangene der Lambert
seyn.
Westfälische Kinderspiele aus dem Nachlaß der Brüder Grimm. 149
Über die Lambertusfeier in Münster, die am 13. Okt. 1873 für Erwachsene
polizeilich verboten wurde und seitdem im wesentlichen eine Kinderfeier geblieben ist,
vgl. P. Bahlmann in ZfVk. 5, 174ff.; Sartori, Westf. Volkskunde 2 (Leipzig 1929)
S. 170. Siehe auch Nork, Festkalender (Stuttgart 1847) S. 587. Vgl. Weingärtner
S. 49; Bahlmann, MLSpw. 36 (XII); Münsterische Geschichten, Sagen u.
Legenden (1825) S. 264. In Riesenbeck sind die Verse 4ff., losgelöst von der Form des
Spiels, als Liedtext bekannt gewesen.
VI.
Kinder (spiel) fest.
Am Lambertus Abende pflegen die Kinder zu Münster um schöne bunte Kränze
zu tanzen die gewöhnlich von hölzernen Reifen gemacht mit Blumen umwunden
und nach Belieben und vermögen mit Glaskugeln bunten Perlen und allerhand Obst
ausgeziert und mit Lichtern besteckt sind; um daß nöthige zusammen zu bringen,
schickt jede Kranz Gesellschaft zwey oder drey aus ihrer Mitte die schon wohl eine
Woche lang vor den Lambertus Abende an den bekannten Häusern umhergehn und
singen:
Van Obend is sünt Lamberts Obend / köfft min Vader en Heerink
Min Vader en Stück, min Moder en Stück / de Kinder kriegt den Röggelink (Die
Eyer vom Heering)
Lilienblat schöne Stadt / Schöne Jüffern gieft us wat
gieft us enen Appel / da könn wie gut nah knappen
giebt us ene Beeren / da könnt wie gut nah rehren (schreien)
giebt us enen Kocken / do könnt wie gutt no ropen
einen Kocken sunder Krut / tocken Johr is jue Dochter Brut
lot us nich so lange stöhn / wie möttet noh en Hüsken födder gohn
Do ginten wunnt son ricken Mann / de us no wull wat giewen kann
wie lange sole se lewen / hundert Johr un enen Dag
sellig soll he sterwen / den Himmel soll he erwen
so en Stümpelken Kees (Kerze) / da sat en Gösken achter de Döhr
un dat säg pip / dat wull so gern en Kersken hebben
un dat was ick / O en Stumpelken Keese.
Über die Lambertusfeier vgl. die Anmerkung zu Nr. V. Münsterische Ge-
schichten S. 263; Bahlmann, MLSpw. S. 37 (XIII); ders. ZfVk. 5, 179; Wein-
gärtner S. 49; eine fast gleiche Fassung auf „Michaelis-Abend“ bei Bahlmann,
ZfVk. 5, 177 Anm. 3.
VII.
Maifest der Kinder.
Den 1 ten May gehn die Kinder des Morgens herum und durchsuchen alle Betten
der Kinder, und diejenige, den sie dann noch zu Bett finden, heißen sie die Pfingst-
blume, peitschen sie mit Nesseln und singen dazu:
Pinckste blome du fule Hohn
Worst du eher uppe stöhn
hädde ick di nich met Nirteln brant
Dann setzen sie diesen Kinde einen Kranz von Blumen auf den Kopf, zieren es mit
lauter Blumen; und bestechen den ganzen Rock damit nehmen dann das geputzte
Kind in ihrer Mitte und gehn in allen Häusern herum und singen givet us lück to bat
to de Pinckest blome darauf ihnen dann die Leute Eyer geben, damit gehn sie dann
in dem Hause des Dorfes und machen sich damit einen lustigen Tag.
150
Schulte-Kemminghausen :
Vgl. Fr. M. Böhme 1639, 1640; Grimm, Mythologie S. 748; Kuhn, Westf.
Gebräuche (Leipzig 1859) 2, 160; Woeste, Germania 19, 289; Dirksen ZfVk. 2,
82; J. Müller, ZfrwVk. 11, 133ff.; Lehnhoff S. 204f.; auch in Oldenburg ist das
Lied belegt. Aus Coesfeld ist in der Gegenwart folgende Variante bekannt: Pinkste-
blohm du fühle Staom, Wöst du äre upgestaon, Wöst du met nao Kossfeld gaon usw.
VIII.
Die Woche hindurch vor St. Petrus Tage gehn die armen Kinder und auch die
bey den Bauern wohnenden Schweine-Hirten und Pferde-Buben mit einen Sack von
Einer Thür zur Andern herum und singen:
Hedo Sünte Peter / bloset in sin Hörneken
alle gudde Lude / de giebet us en kornken
De Rogen un de Weiten / de lot en korneken scheiten
de Haver und de Gerste / Bohnen in de Ferste
De Linsen un de Wicken / de sollt sick hier wull schicken
De Erften un de Lannen / de soll juk sunte Peter wull Lohnen.
Worauf man ihnen etwas Getreide oder Geld giebt.
Vgl. Wormstall, Picks Zs. 2, 133f.; Bahlmann ZfVk. 5, S. 177;Sartori,
Westf. Volkskunde S. 146; Vgl. Rolevinck, De laude veteris Saxoniae 3, 2.
IX.
In Wiedenbrück gehen am Sant Martin Abend die Kinder vor den Thüren, und
singen dies Lied: sie bekommen dann Äpfel, Nüsse Kuchen und dergleichen geschenkt.
Pinke Pink up de Hillen sat
De den weken Keise frat
Schniet de langen Striemen
Lat de körten hangen
Giwet us de langen
Lat uns hier nig lange stohen
Wie meit no drei Miehl Weges gohn
Drei Miel Weges Sonnenkrut
Token Jahr is ju Dochter Brut
Giwet us einen Wagen
Will wie de Brut up jagen
Giwet uns enen Koken
Will wie dei Brut up ropen
Hosen blat Schöne Stadt
Schöne Jufern Giwet us wat
Giwet us armen Pingels wat.
Den leget ju de Höner wat
Sünte Märten in den Goren
Met Bielen un met Bohren
Met Exen un met Stiel
Sünte Märten gief nich viel.
Zu Herzbrock singt man es so:
Sünte Märten Vügelken / Het so ein wacker Kügelken
Kann so hauge fleigen / Öwer sünte Märten Bäume
Sünte Märte is so kolt / Giwet us doch ein Stückschen Holt
En Stückschen Holt to bäte /
Da kam en Mann met Stacken / De will us en Fürcken macken
Da kam en Mann mit Krücken / De schlog dat Fürcken in Stücken.
Literatur über Martinilieder bei Wehrhan, Kinderlied u. Kinderspiel (Leipz.
1909) S.35L; Jostes, Westf. Trachtenbuch S. 89; Hartmann, Bilder aus Westfalen
NF. S. 48; Sartori, Westf. Volkskunde S. 170f. u. die dort angegebene Literatur.
Vgl. F. M. Böhme 1663ff.; F. Woeste, Volksüberlieferungen S. 28; Pickert,
ZfrwVk. 14,114; Sartori ZfrwVk. 4, 7; Lehnhoff S. 213. Heischelieder am Martins-
tage sind in Westfalen in großer Zahl belegt.
X.
Kindersitten.
Oft machen sich die Kinder von Weidenrinde kleine Flötchen da mit die Rinde
sich loslöst, schlagen sie mit der Schaale von einem Messer tackt weise auf das Weiden-
Stöckchen, wobey sie hier in Bökendorff singen
Westfälische Kinderspiele aus dem Nachlaß der Brüder Grimm. 151
Sip sap Sunne / Mine Möme (Mutter) is en Nunne
min Vader is en Mühlenrad / mackt alle wackeren Mäkens nat
Min Vader is en Pape / Kann wacker Flotepiepen maken.
XI.
An der Diemel zu Westheim dem Gute meines Onkels singen die Kinder
siebe sabe Sunnenkrut / Dat Water löpt der Tünnen (Tonne) herut
Jen sits den Rhine / da sat de liebe Trine
Mit ihren drien Kinnerkens
Eine gaff se Godde / eins dat smeit se bodde
eins dat smeit se ober den Rhin / dat es solde gut Wetter sin
Da kam de lange Grese / Mit siner Stumpen Nase
Rit et Kätken hoor (haar) af / Hot af
Olles wat da medde (damit) was
Da was de Humme rehe rehe / Rüht (heraus) schal e mehe (mit).
Es soll dies Luther und seiner Frau gelten.
Bastlösereime sind in ganz Westfalen bekannt. Vgl. Sartori, Westf. Volks-
kunde S. 82. Lebendig sind sie nur noch in rein ländlichen Gebieten. Literatur s. bei
Wehrhan, Kinderlied u. Kinderspiel S. 26f. Im übrigen vgl. Münsterische Ge-
schichten S. 252; Firmenich, Germaniens Völkerstimmen 1, 295; Fr. Woeste,
Volksüberlieferungen S. 20(2); Bahlmann, MLSpw 49 (XXXII); Weimann,
ZfrwVk. 2, 75ff.; F. M. Böhme S. 187f.; Lehnhoff S. 135f.; Henke, ZfrwVk.
11, 216.
XII.
Moer Moer mette gohn.
Alle Kinder gehn in der Reihe sitzen, eins stellt die Mutter vor, dann rufen alle
andern Kinder: Moder wat sal ick dohn. Dann kommt die Mutter und ertheilt einem
jeden seine Arbeit. Der Eine soll spinnen, der Andre nähen, oder stricken einer Bedüren
(aus nähen) der dann Bedüret singt: den bedur den musch musch musch ganz oft
nach ein ander der spint singt: Spinn Mäcken spinn spinn de Rüther sitt drin, he will
der nich wieder ut / he kreg ne junge Brut, mm geht die Mutter im Garten und sagt:
arbeiet un verwart mi et Hues, wenn die Mutter nun weg gehn will, laufen alle Künder
hinter ihr her und singen „Moer Moer mette gohn, ji sollt us nich den Puckel schlohn,
dann kömmt die Mutter mit einem dicken Knüppel und jagt die Blinder wieder nach
Haus, drauf geht jeder wieder auf seinen Platz sitzen, und die Mutter geht zu einem
jeden: ,,wiess de Arbeit up, dann zeigt jedes etwas auf, einige sagen Moder ick hebbe
nicks dohn diese kommen dann in der Arest die Kinder die aber fleißig gewesen
kommen mit im Garten.
XIH.
Abzählen.
Up den Kerkhoff stüft de Sand
Do kam de Heer van Engeland
Do kam de Juffer met en thuten
Un wull den Hern do in beschluten
Ni di dap / Goh du van den krink men af
Vgl. F. M. Böhme 1731; Hartmann, Niederdeutsches Korrespondenzblatt
11, 52; Weingärtner S. 27f.; W. Mannhardt, Germ. Mythen (Berl. 1858) S. 348,
152
Taylor :
Lohmeyer ZfrwVk. 7, 253; De Cock en Teirlinck
Von den Belegen der Gegenwart seien die folgenden wörtlich angeführt:
404f.; Erk-Böhme 3, 1867;
4, 216.
Op den Kiäkhoff stüff de Sand
Von Engelland nao Braobant.
Dao kämm de J uff er met de Tuten,
Wull de ganze Welt besluten.
Tidel, tadel, op dat Water
Fonk ick enen dicken Fisk,
Denn legg ich op den Hiärndisk,
Eier, Beier, Busk, Fink,
Dink, Hiär aff. (Ahaus).
Up den Kiärkhoff stoff dat Sand,
Dao quamm de Här von Engelland
Juffertuten geit nao buten, [(Braobant)
Juffertinnen geit nao binnen,
He fläög de ganze Welt düör (Wulfen).
Up den Stiftshoff stoff dat Sand
Dao quamm de Här von Engelland
Dao quamm de Junker met de Tuten,
Un wull de ganze Welt betuten.
Ei, wei, wat / Schiär di von min Pläsken
af. (Wulfen).
Zum Anfang vgl. de Cock en Teirlinck 4, 216.
The proverbial formula „Man soli“ . . .
Von Archer Taylor.
The formula „Man soil“ ... as in „Man soil den Tag nicht vor
dem Abend loben“ reaches far back in to the history of Germanic pro-
verbs. In our earliest occurrences, moreover, we can see remnants of a
very ancient form which had no subject. Gradually shifting habits of
speech have obscured this older form. A typical illustration is a law pro-
verb found in the Njalssaga and later without significant change in the
old Norwegian code: med Iqgum skal land vart byggja en med olqgum eyda1).
The modern Danish inscription on the Raadhus in Copenhagen is taken
from the Jyske lov, an old Danish code: Mseth logh skal land by-
gises. In this change from the active construction (Icelandic) to the
passive (Danish) we see one way of transforming the old impersonal skal
into the modern construction with a subject.
Icelandic preserves a number of proverbs in this older form. The
following examples are found in Jonsson’s and Heusler’s collections of
Icelandic proverbs from the sagas and the Elder Edda:
At osi skal a stemma (62, 1); mikit skal til almselis hafa (63, 8); eigi skal bogna,
kvad karl ok skeit standandi (71, 44); sva skal bql baita at bida annat meira (74, 62);
at kveldi skal dag leyfa (74, 63; ZfVk. 26, 42—43 nr. 36); vid eld skal q1 drekka
(ZfVk. 26, 43 nr. 38); fold skal vid flodi taka (ZfVk. 26, 46 nr. 46); ilt skal ilium
bjoda (100, 198); upp skal jarli gefa eina s<?k (101, 200); til fraegdar skal konung hafa
meir en til langlifis (103, 218; ZfVk. 26, 51); krjupa skal ef ekki ma ganga (105, 223);
nu skal eigi med laufsegli lengr fara (107, 241); pat skal leyfa sem lidit er (108, 246); *)
*) F. Jönsson, Arkiv f. nord. fil. 30 (1914), 111 no. 268; Kögel, Geschichte d.
dt. Lit. I, 1, 74. Jönssons collection of Icelandic proverbs is cited henceforth by
page and number.
The proverbial formula „Man soil“ . . .
153
med lggum skal land vart byggja en med olggum eyda (see above); vid lygi skal
lausning giolda (ZfVk. 25, 112 nr. 10); hafa skal gott rad pott or refsbelg komi (179,
321; cf. the variant: hafa skal heil rad hvadan sem koma); reidi skal rum gefa
(180, 329); skal eigi marka reids manns mal (180, 330); skalat runar rista, nema rada
vel kunni (ZfVk. 26, 52 Anm. 1); skalat ulf ala ungan lengi (194, 418); vin skal til
vinar drekka (200, 458); skal vinar i pgrf neyta (200, 458); ekki skal lengi pra till
pess er po skal ekki tja (203, 478).
Except for three instances (reidi, runar, ulf in the preceding list), the
sentence is always arranged so that skal shall not stand at the beginning.
These three instances are metrical: we may conjecture that they retain
an old syntactical form which was no longer employed in prose. It will
be noticed, moreover, that two of them use the old suffixed negative
-a which disappeared from classical Icelandic prose.
In Old English mon sceal has long been recognized as a formula used
in sententious observations. The proverbial character of such remarks is
often difficult to establish and particularly so in the absence of parallels
in modern traditional proverbs. We find the proverbial ring in Styran
sceal mon strongum mode (Exeter Gnomes 1,51) and Mcegen mon sceal mid
mete fedan (Exeter Gnomes 1, 115). Concerning these lines Koegel (Ge-
schichte I, 1, 71) remarks that the metre will agree with the five type
system of Sievers if mon is omitted. Although this fact is not sufficient
to justify us in emending the lines, it is worthy of remark. He finds the
same to be true of the famous line in the Hildebrandslied: Mit geru seal
man geba infahan (1, 37), which Wadstein considers proverbial, and a pas-
sage in the Old Frisian laws: Morth mot ma mith morthe kela. In such metrical
matters we are treading on disputed ground, for Heusler (ZfVk. 26, 52)
is by no means willing to reduce these lines to metrical regularity by omitt-
ing man. A further difficulty appears in the Old Frisian passage, for it
concerns mot, which Koegel treats like seal without bringing forward
evidence of its impersonal use. Although some of these matters are in
dispute, it is fair to say that the evidence in the old Germanic languages
shows that the old proverbial construction of skal without a subject was
being replaced by the formula Man soli . . .
There are two variations in the use of the formula which show that
it was firmly established in Germanic usage. In Icelandic there are some
proverbs which have omitted skal entirely: gjalda (skal) raudan belg fyrir
grdan (Jonsson 68, nr. 31) and magran (skal) mar kaupa (ZfVk. 26, 44
nr. 39). These can only have arisen if the formula was familiar. Old English
omits the dependent infinitive: meotud sceal in wuldre (Exeter Gnomes 1,7);
eorl sceal on eos boge (1, 63); scip sceal gencegled (1, 94); seo sceal in eagan,
snyttro in breostum (1, 123). Kluge, who collects these examples1), goes
on to suggest that the proverb ort widar orte (Hildebrandslied 1, 38) shows
a further development in which not only the dependent infinitive but also
seal itself is omitted; but this is improbably since we have seal in the preced-
J) „Althochdeutsches“, Beitr. z. Gesch. d. dt. Spr. 43 (1917/18), 147.
154
Taylor :
ing line. However this may be, the conclusion may be safely drawn that
the formula was freely used. Its free use also appears in its employment
in series, e. g. reed sceal mid snyttro, ryht mid wisum, til sceal mid tilum
(Exeter Gnomes 1, 22).
The later history of the formula depends on the existence of the in-
definite pronoun. The formula is found in German, Dutch, Danish, and
Swedish in various uses. Norwegian has a number of proverbs with en (or
Jian) steal, but apparently they are not as abundant as in the other languages.
Naturally the oldest use of the formula is in proverbs having a distinctly
sententious air: Alte Freunde und alte Wege soll man ehren1); Den olden
sal men raets vraghen (Prov. communia ed. Hoffmann v. Fallersleben,
nr. 181). It is often difficult to distinguish between a proverb and a maxim:
Nieman keinr frouwen hüeten sol (Zingerle S. 37); Man sol auch nicht
sein ze gach (S. 77); Guot sol man behalten (S. 37); Sich selber nymant
lohen sol (Seiler, Zs. f. dt. Philol. 48, 84 nr. 31); Uf snellin rad
niemand getruwen sol (Zingerle S. 117); sin lant nieman schelten sol
(S. 132); man sol an guoten dingen wesen stsete (S. 141); nieman toren
volgen sol (S. 147); nieman lange truren sol (S. 149); Closely related
to these are proverbs with a legal application: Bürgen soll man würgen
(Simrock S. 72); Den Dieb soll man henken; die Hur ertränken (S. 83);
Eines Mannes Rede ist keine Rede, man soll sie billig hören beide (S. 103,
364); Man soll niemand mit zwei Ruthen streichen (S. 465); Von einem
posan (bösen) gelter (Schuldner) soll man haberstro nemen (Seiler,
Zs. f. dt. Philol. 48, 87 nr. 3). The use of the formula in proverbs
with a legal application is not frequent and the proverbs do not
appear to be old. Parallels to the German proverbs do not appear
to be easily found in the other languages. The conclusion is probably
justified that we have an extension of the formula in proverbs with a
legal application.
Another use of the formula is found in metaphorical proverbs: Man
soll den Tag nicht vor dem Abend loben (Seiler, Zs. f. dt. Philol. 45, 291
nr. 263; Taylor “In the evening praise the day” (Mod. Lang. Notes 36,
115—118); Man soll das Eisen schmieden, wenn es heiß ist (Prov. comm.
S. 25; Zingerle S. 193); Man soll vollen becher tragen ebene (Zingerle
S. 18); Man sol naygen dem (hs. den) paum, von dem man schaten hat
(Seiler, Zs. f. dt. Philol. 42, 243 nr. 4). Some of these we know to be
ancient proverbs with parallels in several Germanic languages: both the
first and the last are found in Icelandic. Perhaps this use of the formula
is later than its use in sententious proverbs.
Before long the formula was used to make nonce-proverbs out of
proverbial phrases. In ‘Man soll das Kind nicht mit dem Bade ausschütten1,
the starting point is the phrase ,,das Kind mit dem Bade ausschütten“
and not the proverb. It may be possible to dispute whether the phrase or *)
*) Simrock s. v. Freunde; Zingerle S. 41; Seiler, Zs. f. dt. Philol. 45, 249
nr. 5 (cf. 47, 384 nr. 6).
The proverbial formula „Man soll“ . . .
155
the proverb was first in any particular instance, but the general method
of forming nonce-proverbs from phrases remains. It is often difficult to
separate such proverbs from those in the preceding classes, but the follo-
wing have probably developed out of phrases: Man soll den Mantel
nach dem Winde kehren (Zingerle S. 97; Seiler, Zs. f. dt. Philol. 47,
245 nr. 18); man schal ovel (Übel) nicht arger maken (Seiler S. 48, 92
nr. 16); Man soll die Bärenhaut nicht verkaufen ehe der Bär gestochen
ist (Wesselski, Erlesenes S. 88, 97). This development shows that the
formula is in active use and is recognized as a typical way of making
proverbs.
The existence of a typical form appears also in the invention of epi-
grammatic proverbs, which Seiler calls ‘Vielsprüche5, like: Alte soll man
ehren, Junge soll man lehren, Weise soll man fragen, Narren vertragen
(Simrock S. 12); Alter Freunde, alten Weins und alter Schwerter soll
man sich trösten (S. 144); Kurzen mit demüete / roten mit güete / und
langen man wisen / die dri sol man prisen (Zingerle S. 124). We have
seen similar groups in the Exeter Gnomes. In both cases their existence
proves that „Man soll“ . . . was a formula. I have not found examples of
such groups in any other Germanic languages. Group proverbs of this
type are no longer current.
In English the formula died a natural death when the indefinite
pronoun ceased to be used. Yet there are curious survivals. In Under
boske shal men weder abide (Skeat, Early Eng. Prov. p. 86) the hearers
probably construed men as plural, for the idiom must have been unintel-
ligible. The English equivalent of at kveldi skal dag ley fa is given by Lydgate
as The faire day men do praise at eue (Fall of Princes 9, 2024) and this,
too, is probably derived from the formula.
We shall find the English parallels1) to the Icelandic krjupa skal ef
ekki md gang a instructive. There are various equivalents: First creep,
then go (1606); We first must creepe, before we well can goe (1622); You
must learn to creep before you can go (1754); Folk maun creep before you
can go (1823). The ordinary substitute is the simple imperative: Praise
the fair day at even (Man soll den Tag nicht vor dem Abend loben); Of
two evils choose the least (Von zwei Übeln soll man das kleinste wählen);
Don’t tell tales out of school (Man soll nicht aus der Schule schwatzen).
The use of You in place of the indefinite pronoun is, I suspect, comparatively
recent.
The history of the formula Man soli . . . can now be given in simple
lines. It developed out of an older impersonal formula which is preserved
in Icelandic. There may be traces of the older formula in other Germanic
languages. It was used in sententious proverbs and (perhaps later) in
metaphorical proverbs. Alongside these literal and metaphorical proverbs
there arose, particularly in the Middle Ages (Old English and Middle High
i) Apperson, English proverbs and proverbial phrases (1929) p. 214.
156
Wrede:
German), maxims of more or less doubtful proverbial character which
show that the formula was present in everyone’s mind. A further extension
of the formula, an extension which is not found in the Scandinavian lan-
guages, created proverbs resembling the Priamel. This extension in use shows
that the formula was firmly established in tradition, at least in countries
south of Denmark. In later times the use of the formula in proverbs like
the Priamel is rare and the disappearance of this type may be caused
by the declining popularity either of the formula or of the Priamel. A
considerable extension of use has occurred, and apparently in more recent
times, by the creation of nonce-proverbs from proverbial phrases by the
use of the formula. This is now the most important way in which the
formula is used.
I bersetzungs wÖrter.
Von Ferdinand Wrede.
Fritz Boehm hat in seiner soeben ausgegebenen „Volkskunde“, dem
Geleitheft zum Atlas der deutschen Volkskunde1), wieder auf Naumanns
Unterscheidung zwischen „Gemeinschaftsgut“ und „gesunkenem Kultur-
gut“ hingewiesen. Die feste Formulierung dieses Gegensatzes hat der
wissenschaftlichen Volkskunde methodische Straffheit gebracht. Aber sie
ist zu einseitig, sie berücksichtigt nur die vertikale Bewegung von oben
nach unten und umgekehrt, sie bedarf der horizontalen Ergänzung: zu
dem kulturellen Austausch zwischen Ober- und Unterschicht kommen
die „Kulturströmungen“ von außen. Ich will hier auf eine sprach-
liche Erscheinung mit Nachdruck aufmerksam machen, die größtenteils
die Einwirkung der Ober- auf die Unterschicht verrät, aber ohne die
horizontale Richtung, ohne Bildungseinflüsse von weit her nicht zu ver-
stehen ist. Es handelt sich um ein wichtiges Stück der Fremdwörterfrage.
Die Bewegung von oben nach unten, von rechts nach links, von vorne
nach hinten und umgekehrt, kurz Austausch von und nach allen Seiten,
ständiges Vorrücken und Zurückweichen, Geben und Nehmen, Kreuzung
und Mischung und neuer Ausgleich in den verschiedensten Stärken und
Ausdehnungen und Formen, das ist ja das prinzipielle Resultat beim
x) Es ist mir in den abgeschiedenen Ferienaufenthalt, wo ich diese Zeilen
niederschreibe, nachgeschickt worden. Sonstige Literatur steht mir im Augen-
blick bei der drängenden Zeit nicht zur Verfügung. Daher kann ich auch im
folgenden keine genauen Zitate geben. Der Fachmann wird wissen, was in
meinen Ausführungen alt, was neu ist, wie oft Singer, Seiler, Behaghel,
Kluge, Sperber u. a. zu nennen gewesen wären. Es handelt sich zumeist um Ge-
danken aus einer in Marburg gehaltenen akademischen Festrede, deren Entwurf ich
mir hierher mitgenommen habe.
Übersetzungswörter.
157
großen Sprachatlas des Deutschen Reichs. Nun sind freilich Sprach-
forschung und Volkskunde heute zwei mehr oder weniger selbständige
Disziplinen. Um so mehr gereicht es mir zur Befriedigung, daß der karto-
graphischen Methode des Sprachatlas jetzt auch die Volkskunde folgen
will und daß ihr großzügiges Atlasunternehmen unter dem verständnis-
vollen Schutze desselben Mannes steht, den dieses Festheft unserer Zeit-
schrift ehren soll und der einstmals dem Sprachatlas, seine vielen Nöte und
Zukunftssorgen mit scharfen Augen überblickend, wirksamste Förderung
angedeihen ließ.
Man pflegt Fremd- und Lehnwörter zu unterscheiden. Fremdwörter
verraten schon in Schreibung oder Betonung ihre außerdeutsche Herkunft
(Automobil, exerzieren, 'prominent). Lehnwörter sind verhüllte Fremd-
wörter, in Schreibung, Aussprache, Betonung eingedeutscht (Pforte,
schreiben, simpel). Aber zu solchen Wortlisten, die höchst lehrreich durch
die Jahrhunderte durchgeführt werden können und durchgeführt worden
sind und damit eine fortlaufende Geschichte deutscher Kultur im Spiegel
des Lehngutes abgeben, kommt noch die lange Reihe solcher Vokabeln,
deren deutsches Gewand zwar einwandfrei erscheint, aber doch nur ein
deutsches Mäntelchen darstellt, das einen undeutschen Kern verhüllt. Man
nennt etwa einen Menschen zerstreut, ohne sich der Merkwürdigkeit solcher
Bezeichnung bewußt zu sein. Man kann wohl einen Haufen Leute schließ-
lich in alle Winde zerstreut sehen, aber doch nicht den Einzelnen! Kann
man denn von einer Erbse, einem Zettel sagen, daß sie ver- oder gar zer-
streut seien? Das Rätsel löst sich damit, daß unser zerstreut nichts ist als
Übersetzung des französischen distrait aus der Mitte des 18. Jahrhunderts;
bei Gottsched erscheint es 1758 schon geläufig, aber noch Lessing sagt
in der Hamburgischen Dramaturgie: ,,Ich glaube schwerlich, daß unsere
Großväter das Wort verstanden hätten.“ Also ist die Erklärung der auf-
fälligen Bedeutungsentwicklung beim Französischen zu suchen, für das
Deutsche liegt ein ursprüngliches Fremdwort vor.
Existenz und Wert solcher Übersetzungswörter ist in jeder Sprach-
periode gleich groß. Ich schicke für den Leser, dem solche Fragen
ferner liegen, ein paar weitere Beispiele voraus: Beiwerk (napepTov), Be-
weggrund (motivum), Dampfschiff (steamship), Eindruck (lat. impressio
oder franz. impression), Eisenbahn (chemin de fer), Gesichtspunkt (lat.
punctum visus oder franz. point de vue, vom perspektivischen Zeichnen
hergenommen, schon bei Albrecht Dürer Punkt des Gesichts), Herzog
(crrpatriYoq), Leidenschaft (franz. passion oder lat. passibilitas, Philipp
von Zeesen), Muttersprache (lingua materna), Rücksicht (respectus), Tage-
buch (franz. journal, lat. diarium oder diurna, griech. eqpruuepis), Wasser-
leitung (aquae ductus)-, bekehren (convertere), beschreiben (describere),
entwickeln (explicare), unterbrechen (interrumpere), untersagen (interdicere),
vorbereiten (praeparare), vergehen (perire), vernehmen (percipere); beschau-
lich (contemplativus), einschließlich (inclusive), erfahren (peritus), gleich
(got. galeiks — lat. conformis), unerbittlich (inexorabilis), wahrscheinlich
(verisimilis) usw. usw.
158
Wrede.
Man muß zugeben, daß diese durch die Jahrhunderte hin, bald stärker
bald schwächer, geübte Verdeutschungskunst es der Wortforschung nicht
gerade immer leicht gemacht hat. Aber die Sprache ist nicht zuerst für
die Philologen oder Lexikographen da, sondern ihr oberster Zweck ist die
gegenseitige Verständigung. Wir haben es unsern Brüdern im Elsaß oder
in Schleswig oder in Oberschlesien nie zum Vorwurf gemacht, daß ihre
Rede mehr französische oder dänische oder polnische Bestandteile ent-
hielt als die des Inlandes; sie erklärten sich aus den geographischen und
verkehrsgeschichtlichen Bedingungen. Aber für das Inland galten strengere
Normen, und in Zeiten nationalen Hochgefühls wurden diese gesteigert,
mitunter überspannt. Muß an die unglückliche Geschichte des Wortes adieu
erinnert werden, zu dessen schnellem Ende wir alle, bewußt oder unbewußt,
beigetragen haben? Es ist heute tot, mausetot. Mit einem wahren Furor
teutonicus, der einer wichtigeren Sache wert gewesen wäre, wurde ihm
in den Kriegsjahren der Garaus bereitet. Dabei hatte die kleine Vokabel
drei volle Jahrhunderte hindurch uns treu gedient, und unsere Väter,
Groß- und Urväter haben durch sie ihr gutes Deutschtum nicht bedroht
gefühlt. Ich glaube, an dem Unglück des Wörtleins trug ein recht neben-
sächlicher Umstand die meiste Schuld: es wurde bis zuletzt, allen ortho-
graphischen Reformen zum Trotz, immer noch mit französischem eu, nicht
mit deutschem ö geschrieben. Hätte es sich auf sein ausländisches
Röcklein rechtzeitig einen deutschen ö-Flicken auf setzen lassen, wer weiß,
ob es nicht sein Dasein in deutschen Landen ebenso gerettet hätte, wie
der Likör oder Frisör oder das Büro u. v. a., die nach solcher kleinen
schmerzlosen Operation heute wieder frei durch alle deutschen Straßen
spazieren dürfen. Aber das dafür durchgedrungene auf Wiedersehen ist,
so echt deutsch es auch aussieht, doch nur ein besonders treffendes Beispiel
für die schnelle Aufnahme- und Anpassungsfähigkeit unserer Muttersprache.
Es ist lediglich ein Übersetzungswort, nur halb so alt als das begrabene
adieu, über Klopstock hinaus nicht nachzuweisen und nichts weiter als
das übersetzte französische au revoir. Aber warum ist man denn an dem
alten ade kalt vorübergegangen? Es ist ja dasselbe wie das verhaßte adieu,
nur schon viel früher aus dem Altfranzösischen entlehnt worden. Vor
länger als siebenhundert Jahren konnte Gottfried von Straßburg in
seinem Tristan sagen: friunt, sprächen jene, a de a de-, im 15. und 16. Jahr-
hundert ist ade der übliche Abschiedsgruß, und im Volkslied ist es bis
heute lebendig geblieben. Dennoch hat man ihm jetzt in der Umgangs-
sprache die Erbschaft des gefährlichen adieu vorenthalten. Gewiß in bester
Absicht, aus dem dunklen Drange eines vaterländischen Gewissens heraus.
Ja Vaterland und Gewissen! Jenes ein Übersetzungswort erst des
12. Jahrhunderts aus der lateinischen patria terra\ Und dieses, der ge-
drungene und inhaltsschwere Name für unser sittliches Bewußtsein? Man
lese darüber die langen Ausführungen im Deutschen Wörterbuch, wo mit
größtem Scharfsinn und vieler Gelehrsamkeit der mühevolle und lange
Weg der Bedeutungsentwicklung und Bedeutungsverengung freigeschaufelt
werden soll, den das deutsche Gewissen hat durchschreiten müssen, um
Übe rsetzungswörter.
159
zum heutigen ethischen Begriff zu gelangen. Es war zum Teil entbehr-
liche Liebesmüh, weil der Weg gar nicht auf deutschem Sprachgebiete lag.
Notker von St. Gallen, um das Jahr 1000 der gelehrte Leiter der dortigen
Klosterschule, der größte Germanist seiner Zeit, hat das deutsche Gewissen
einfach übersetzt aus lateinischem conscientia. So wird die Bedeutungs-
entwicklung vom germanistischen auf das latinistische Gebiet zurück-
geschoben. Aber auch hier ist nicht ihre Heimat, denn jenes lateinische
conscientia ist wiederum nichts als Übersetzungswort aus dem griechischen
ouveibrimg. Ob nun die Lösung des wortgeschichtlichen Problems bei den
Gräzisten oder Hellenisten ihre Endstation gefunden haben oder von hier
noch weiter in den geheimnisvollen Orient getragen werden wird, bleibe
unerörtert.
Endlich unser geliebtes Wort deutsch selbst! Wir kennen seine Ge-
schichte ziemlich genau, wissen, daß es von dem alten diot "das Volk"
abgeleitet ist und eigentlich ‘volkstümlich, volksmäßig3 bedeutet, daß es
seit dem 8. Jahrhundert bis ans Ende des 11. nur von der Sprache gebraucht
wird und daß es erst dann allmählich zur Bezeichnung des deutschen Typus
überhaupt gelangt, wie ihn ein Walther von der Vogelweide preist
und feiert. Eben jene Entstehungsgeschichte erweist deutlich, von
wannen uns das Wort gekommen ist: die deutsche Zunge entspricht
ganz der lateinischen lingua vulgaris oder gentilis, d. h. auch unser
deutsch ist letzten Endes ein Übersetzungswort, nach fremdem Muster
geformt; so steht es an der Eingangspforte unserer Muttersprache und
ihrer Geschichte.
Ja, es will scheinen, als ob darüber hinaus auch ins älteste germanische
Altertum neue Schlaglichter fallen. Das alltägliche Wörtchen heute be-
deutet ursprünglich ‘an diesem Tage3, seine für das Althochdeutsche voraus-
zusetzende Urform hiu tagu entspricht genau lateinischem hodie. Natürlich
braucht da keine Abhängigkeit vorzuliegen, denn die Bezeichnung ‘an
diesem Tage3 kann überall selbständig zu dem festen Begriff ‘heute3 zu-
sammenwachsen. Und doch wittert man auch hier einen Zusammenhang.
Die Germanen rechneten ja gar nicht nach Tagen, sondern nach Nächten,
wie schon Tacitus bezeugt, der Zeitabschnitt von 24 Stunden hieß bei
ihnen nicht Tag, sondern Nacht, wovon Weihnachten, die zwölf Nächte,
Fastnacht letzte Überbleibsel sind. Man sollte also germanisch und deutsch
für das lateinische hodie eine Wendung wie diese Nacht erwarten. Und sie
ist tatsächlich da, in weiten Gegenden Süd- und Mitteldeutschlands heißt
‘heute3 vielmehr heint, hint u. ä., d. i. einstiges hinet, hinaht, eben diese
Nacht. Diese älteste einheimische Zeitbestimmung ist dann von heute
‘dem heutigen Tag3 nach dem Muster des lateinischen hodie langsam
zurückgedrängt worden. Ob das gotische himma daga eine Mittlerrolle
gespielt hat, bleibe hier unerörtert. Aber daß heute kein altes Wort der
Westgermanen war, dafür spricht schon sein Fehlen im Niederdeutschen
(van dage u. &.), im Englischen (to-day) usw.
Daß unsere Wochentagsnamen lateinischem Muster entstammen, ist
bekannt. Die Zeiten sind endgültig vorüber, wo man aus dem Sonntag
160
Wrede:
oder Montag Rückschlüsse wagte auf germanische Sonnen- oder Mond-
mythen oder -kulte; es sind nichts als mechanische Übersetzungen der
lateinischen dies solis und dies lunae.
Die allerältesten Zeugnisse germanischer und deutscher Sprache sind
die Eigennamen, sowohl Orts- wie Personennamen, die in lateinischen oder
griechischen Texten begegnen. Auch ihre Beurteilung wird mancherlei
gewinnen können, wenn man sich jederzeit die Möglichkeit der Übersetzung
vor Augen hält. Die Ortsnamen auf weiter und weil in West- und Süd-
deutschland, alle die Eschweiler, Rappoltsweiler, Rottweil usw. zeigen in
ihren Endungen Lehnwörter, denn weiter ist lat. villare und weil ist lat.
villa. Aber hinter den Fremd- und Lehnwörtern pflegt ja als dritte große
Schicht die der Übersetzungswörter zu stehen, und so werden die massen-
haften Orte auf heim, alle die Mannheim, Rüdesheim usw., namentlich im
mittleren Rheingebiet, als Nachbildungen von wZZa-Namen o. ä. verdächtig,
wenn man bedenkt, daß die deutschen heim-Orte in der Wetterau nicht
über die römische Einflußsphäre, d. h. über den alten Limes, hinausgriffen.
Und die ältesten germanischen Personennamen? Ihr ursprünglichster
Typus ist der zweigliedrige, zusammengesetzte, wie Siegfried, Dietrich,
Hildebrand u. v. a. bis auf heute bezeugen. Der Typus kehrt genau so bei
den alten Griechen und Indem wieder. Man hat aus dieser weitgehenden
Übereinstimmung auf uraltes Erbgut indogermanischer Vorzeit geschlossen.
Daran soll nicht gerüttelt werden. Aber es gibt doch zu denken, wenn der
Name Konrad dem griechischen AXxivoos oder OpacrußocXo?, der griechische
AruuoöoKog einem deutschen Dietmar oder Lamprecht nicht nur in der
Bildungsweise, sondern auch in der Bedeutung genau entspricht. Durch
Sprachvergleichung erwiesene Identität in vorhistorischer Urzeit ist immer
ergänzt worden durch historische Kulturübertragung: der deutsche Vater
und der lateinische pater sind urverwandt, aber daneben ist der deutsche
Gevatter aus lateinischem compater übersetzt worden!
Die einzelnen Glieder unseres Wortschatzes wollen also nicht isoliert
betrachtet sein, sondern mit Rücksicht auf parallele Bedeutungsentwick-
lung in andern Sprachen, die die deutsche kulturell beeinflußt haben. Zu-
gegeben wird dieser Gesichtspunkt für die Sonder-, die speziellen Berufs-
sprachen, die Termini technici. Daß unsere militärische Terminologie seit
dem 17. Jahrhundert stark unter französischem Einfluß gestanden hat,
ist bekannt und wird bis heute bewiesen durch deutliche Fremdwörter
(Kompagnie), Lehnwörter (Leutnant, nicht mehr Lieutenant), Übersetzungs-
wörter (Hauptmann nach franz. capitaine). Ebenso ist unsere Sportsprache
aus guten Gründen stark englisch gefärbt und die Sprache der Musik
italienisch: wir werden die Frage, wie man dazu gekommen ist, von einem
tiefen Baß zu sprechen, nicht durch Grübeleien über die Bedeutungs-
entwicklung des Wortes tief beantworten, sondern zunächst durch Hinweis
auf den basso profondo der Italiener.
Nicht so durchsichtig ist die deutsche Wortgeschichte auf dem Gebiete
der allgemeinen Bildung, die sich von den verschiedensten Sondertischen
nährt und seit Jahrhunderten genährt hat, dabei der Vorratskammer der
Übersetzuiigswörter.
161
Philosophie besonders verpflichtet ist. Wenn man etwa die Bedeutungen
des Verbums begreifen zerlegt in die eigentliche (sinnlich ‘betasten5) und die
uneigentliche (metaphorisch ‘verstehen, erfassen5) und diese psychologische
Leistung der Metaphorie stillschweigend als eine deutsche ansieht, so ist
das historisch nicht richtig. Denn begreifen im uneigentlichen Sinne ist
nichts als Übersetzung des lateinischen com'pr ehender e, das denselben
Bedeutungsübergang schon früher durchgeführt hatte. Die Übersetzung
stammt von dem schon einmal genannten Notker von St. Gallen vor
900 Jahren. Seine zahlreichen Verdeutschungsversuche ähnlicher Art haben
sich nur in kleiner Zahl erhalten. Nachfolge fand er erst wieder bei den
Mystikern, vor allem bei Meister Eckhart, dem sich dann späterhin
Luther, Paracelsus, Jakob Böhme, Leibniz, Thomasius und vor
allem Christian Wolff als Verdeutscher und damit als Neuschöpfer auf
dem Gebiete unseres Wortschatzes anschlossen.
Wer aber waren bei dieser konsequenten Aufnahmelust der Deutschen
die Geber? Die Kulturgeschichte lehrt es: alle Völker, die kulturelle
Wirkungen ausübten oder vermittelten. Dabei ergibt eine kleine Statistik
von nur 462 gesicherten deutschen Übersetzungswörtern (deren Zahl leicht
vervielfacht werden könnte) ein gewaltiges Überwiegen des Lateinischen
und des Französischen: ersterem entstammen sicher 140, letzterem sicher
126, während bei 150 es vorläufig unentschieden bleibe, welchem der
beiden Geber sie aufs Konto zu setzen sind. Bedenkt man aber, daß ein
großer Teil auch der gesicherten französischen Beispiele erst durchs Latein
hindurchgegangen ist, so wächst das lateinische Übergewicht bedeutend.
Andrerseits stecken in den lateinischen Nummern manche, die griechische
Heimat haben und erst über die Zwischenstation des Lateins zu uns ge-
langten. Ich erinnere an das Gewissen (lat. conscientia, gr. auveiöricnq) und
füge noch ein paar Beispiele an, wie eintönig (franz. monotone, gr. (uovöxovoq),
Umstand (lat. circumstantia, gr. TrepicTTaoig), Zunge für ‘Sprache5 (lingua,
yXwö'ctcQ ; und wenn wir solche Beispiele erörtern und dies Verbum deuten
als ‘sein Urteil auf seine Örter zurückführen5, so sind diese Örter wiederum
entweder die lateinischen loci (grammatici, logici, metaphysici) oder die
älteren tottoi der griechischen Logik. Andere Sprachen sind minder beteiligt,
das Englische, Italienische, Spanische, Slavische; ihre Einwirkungen auf
das Deutsche sind zwar auch vorhanden, aber oft indirekte, am häufigsten
durch französische Vermittlung eingetreten. Das Endergebnis also, ohne
alle Voreingenommenheit ganz nüchtern errechnet, führt zu einem wuch-
tigen Überwiegen der Antike. Es bleibt schon dabei auch von trockenster
Sprachstatistik aus: für uns Deutsche darf kein Gegensatz zwischen
humanistischer und nationaler Bildung bestehen. Ein deutscher Philologe,
der die Antike vernachlässigt, gleicht einem Geographen, der den Rhein
bei Basel entspringen läßt.
Sprache und Dialekt sind Spiegel der Geschichte, der Kultur, der
Volkskunde. Daß die Volkskunde in der Antike eine reiche Quelle findet,
hat John Meier in seinem schönen Vortrag zu Frankfurt a. M. 1916 gezeigt.
In den von uns behandelten Beispielen wird die Oberschicht zumeist der
Zeitschrift für Volkskunde II, 1—2. 11
162
Wrede: Übersetzungswörter.
empfangende Teil gewesen sein, die Unterschicht der nachahmende. Aber
auch diese und mit ihr der Dialekt kennen die Wortübersetzung, worüber
ein andermal gehandelt werden soll.
„Wir haben nur deshalb eine so unendlich reiche und bewegte Geistes-
und Sprachgeschichte“, sagt Naumann, „weil unsere direkten und
indirekten Berührungen mit dem Fremden so ungemein mannigfach waren.
Aber darin zeigt sich das schöpferische Volkstum, daß es eben nicht bei
der Phrase bleibt, sondern daß das Fremde dem eigenen Wesen organisch
eingefügt wird“.
III. Namen.
Scherzbildungen zu mitteldeutschen Ortsnamen.
Von Fritz Karg.
Redensarten, Sprichwörter und Verse, die sich mit den Eigenheiten
von Ortschaften befassen, sind schon wiederholt gesammelt worden. Für
Sachsen hat dies vor allem G. Schlauch in seinem Buche „Sachsen im
Sprichwort“1) getan, das den größten Teil des bis dahin bekannten Ma-
terials sauber zusammenstellt. Eine Reihe von Nachträgen, teils vom Ver-
fasser selbst, teils von anderen, vervollständigt die Liste2). Mit Recht ist
darauf hingewiesen worden, daß sich in diesen Formeln und Versen ein
gut Teil volkstümlichen Humors und Witzes entfalte. Wenn solche Samm-
lungen auch recht ausgiebig gewesen sind und sich dabei vieles Historische
und Psychologische hat finden lassen, so haben sie doch meist eine Lücke:
man hatte außer acht gelassen, daß auch ohne versmäßige und sentenz-
artige Prägung mannigfache Urteile über unsere Ortschaften vor liegen, Urteile,
die lediglich auf einem Spiel mit dem Ortsnamen selbst beruhen und in
ihrer Prägnanz den Sachverhalt oft treffender umreißen als lange Gedichte.
Diesem Mangel sollte eine Umfrage abhelfen, die in den „Mitteldeutschen
Blättern für Volkskunde“3) veranstaltet wurde. Ich habe das seinerzeit
reichlich darauf eingegangene Material untersucht und war in der glück-
lichen Lage, es durch viele weitere Aufzeichnungen, die im Anschluß an
unsere sächsische Mundartenforschung bei uns einliefen, vermehren zu
können. Ich will im folgenden darzulegen versuchen, was sich mir an
Gesichtspunkten zu diesem Gegenstand ergeben hat4).
Solange es eine germanische Anfangsbetonung gibt, solange gibt es
wohl auch eine klanglich begründete Neigung, Namen zu verändern. Die
J) Leipzig 1905.
2) Bartsch, Obererzgebirgische Orte und deren Bewohner im obererzgebirgi-
schen Kinder- und Volksreim (Mitt. des Ver. f. sächs. Vk. 4, 19—27); O. Philipp,
Ortsneckereien (das. 5, 195f.); Lehnert, Sachsen im Sprichwort (das. 6, 28f.);
G. Schlauch, Sachsen im Sprichwort (das. 6, 57—62); A. Schwenke, Der Name
Brand im Volksmund (das. 6, 139—142); J. Hott enroth, Noch einmal die Redensart
„Auf den Brand betteln gehn“ (das. 6, 399f.); R. Irmscher, Ortsnamen aus der
Grimmaer Gegend im Volksmunde (Md. Bl. f. Vk. 3, 1928, 40 44).
3) 2 (1927), 1211; Umfrage Nr. 55.
4) Allen, die mich bei der Sammlung des Materials unterstützt haben, sage ich
hiermit meinen besten Dank, insbesondere Herrn Kantor Pech, Lomnitz b. Radeberg,
Herrn cand. phil. E. Rawolle, Leipzig, und Herrn Dr. K. Bechstein, Gera.
11*
164
Karg:
einseitige dynamische Belastung, die der einen Silbe zuteil wird, bedingt
auf der anderen Seite ein Zurücktreten der Restsilben, und damit ist weit-
gehend die Möglichkeit gegeben, sie zu schwächen. Sie gehen dann mit der
Stammsilbe einen neuen Verband ein, dessen etymologischer Aufbau nicht
immer mehr durchsichtig ist. In Stufen sehen wir die Entwicklung vor
uns. Eben erst im Beginn ist der Prozeß, wenn Märtitz zu Märtz, Pit-
schütz zu Pitsch, Prohlis zu Prohls, Mehlteuer zu Melter wird. Eine Stufe
weiter sind wir bei den Formen Ulbrzen für Albrechtshain, Veddelhusen
für Vippacheddelhusen (b. Weimar) und Pistz für Piskowitz. Überall
handelt es sich dabei um den Ausfall von einzelnen Lauten und Silben.
Die Entlastung der Nebensilben verführt aber weiterhin zur Ersetzung
gewisser Silben durch andere; man vgl. Schilbach zu Schilbich, Sobrigau
(b. Lockwitz) zu Säberchen, Röderau zu Röddern, Waldenburg zu Wal-
mersch. Und schließlich ist das Endprodukt nur noch mit Schwierigkeit
als Eolgeform des alten Etymons wiederzuerkennen, so wenn etwa Schöner-
städt (b. Leisnig) zu Schier sch wird.
Uralt ist aber wohl überhaupt das Bestreben, einen Namen zu kürzen.
Weshalb sonst die vielen Kurz- und Koseformen, die unser Namenschatz
seit jeher aufweist ? Der Name wird sehr oft gebraucht; er ist Sprechendem
wie Angesprochenem bekannt. Es genügt, wenn man gewisse Teile, als
eine Art Stichwort, ausspricht; den Rest wird der andere, aus seiner eigenen
Kenntnis heraus, ergänzen. So wird Dippoldiswalde zu Dips, Reinhardts-
grimma zu Grimma.
Es gibt Ortsnamen, deren Lautgestalt geradezu zu absichtlicher Ver-
änderung einlädt. Oft genügt der Wandel einzelner Laute, um eine humo-
ristische Wirkung herbeizuführen. So wird das bei Beamten einst unbe-
liebte Straßgräbchen (b. Kamenz) zu Strafgräbchen, aus Frohburg wird
Strohburg1), Wartenburg (Krs. Wittenberg) heißt in der Umgebung Jarten-
burg, Neustadt a. d. Orla liefert Neustadt a. d. Orgel’2'). Es liegt nahe,
Triptis zu Tripstrill werden zu lassen und Casabra (b. Osch atz) zu Kaspar
umzugestalten. Das fremdartig klingende Skoplau (Ah. Grimma) wird zu
dem verständlicheren Stoppeln, während das kleine Roben (im Reußischen)
selbstverständlich zum Kaiserreich Rom auf steigt, indem die Mundart die
Lautfolge -ben wie üblich zu einfachen -m macht. Unverstandene Namen
fordern überhaupt zu sinnvoller Zerlegung auf, so wird Zitschewig zu
Zutsch ewig, Coswig zu Koste nischt, Potschappel zu Posthappel3) und Wils-
druff zur Frage Wülste druf? Aus Bischofswerda macht man mit Um-
x) Diese Reimformel, die sich auf die vielen in der Stadt befindlichen Strohdächer
bezieht, war den Frohburgern so peinlich, daß der Pfarrer Arnold in seiner Chronik
von Frohburg S. 40 erleichtert schreibt: „Am 14. Sept. 1880 verschwand mit dem
Strieglerschen Hause in der Amtsgasse das letzte Strohdach, und damit verlor der
böse Reim Frohburg — Strohburg für immer seine Berechtigung“ (nach Mitteilung
von Kantor W. Luther, Benndorf).
2) Auch: N. a. d. Pleite, wegen einiger Bankrotte, die kurz nach 1900 in der
Stadt eintraten.
3) Happel ist das geläufigste obersächsische Synonym für Pferd, zugleich mit dem
Beigeschmack des Minderwertigen.
Scherzbildungen zu mitteldeutschen Ortsnamen.
165
Stellung Schiebockswerda, aus Nebitzschen (b. Mügeln) ein Schneewittchen,
aus Bernstadt a. d. Eigen ein Sternbrettel1), aus Wendischcarsdorf ein
Wendischkäse.
Angenehm ist es natürlich, wenn man bei solcher Gelegenheit den
Bewohnern eines anderen Ortes eine kleine oder auch große Stichelei
sagen kann. So reizt Weinböhla zu Schweineböhle, Dürrhennersdorf zu
Dürre Henne, Ottendorf-Okrilla zu Ochsendorf-Kuhbrille, Konstappel zu
Kuhschnappel (das es seinerseits als Ortschaft tatsächlich gibt2), Gersdorf
wird in Anlehnung an das in Sachsen häufig gebrauchte Gäke für Krähe
zu Gäkersdorf, aus Rottmannsdorf (b. Neumark) wird Rotzdorf, aus Pötzscha
(b. Wehlen) ergibt sich Büsche-Bätsche, Großnaundorf wird zu Grobnaun-
dorf, Schedewitz (b. Zwickau) zu Schöps.
Arbeitet man in allen diesen Fällen mit dem Abbau bzw. der Um-
gestaltung eines bereits vorhandenen Wortmaterials, so gibt es gerade,
wenn es gilt, die Eigenarten eines Nachbarortes zu treffen, eine Reihe
von Neuschöpfungen. Man bildet Zusammensetzungen, in denen der
eigentliche Ortsname als Grundwort neben einem ad hoc Vorgesetzten
Bestimmungswort erscheint. Und in diesem Bestimmungswort erschöpft
sich freundnachbarliche Liebenswürdigkeit in ausgiebiger Weise.
Es sind stets wieder die gleichen Mängel und Schwächen, die in diesen
Neubildungen erscheinen. Schon in den eben angeführten Beispielen von
Ortssticheleien prägte sich vielfach die Überzeugung aus, daß der Nach-
barort ein kümmerliches, trauriges Nest sei, dessen Bewohner als Klein-
bauern nur wenig Besitz hätten. Ganz besonders häufig wird darauf hin-
gewiesen, daß in einem Ort nur Kühe, keine Pferde zum Pflügen ver-
wendet werden. Daher die vielen Bildungen mit Kuh-) man vgl. Kuh-
Kölln (Cölleda), Ake (Aken a. d. Elbe), Eedern (Öderan b. Freiberg),
Börthen (b. Dresden), Läbde (Löbtau b. Dresden), Beege (Pegau b. Leipzig),
Mutzschen3) (b. Oschatz), Bischn (Bischheim b. Kamenz), Kotte (Groß-
cotta b. Pirna), Muckein2) (Mockethal i. d. S. Schweiz), Lummtzsch (Lom-
matzsch), Mucke4) (Mockau b. Leipzig). Hierher gehört die verwandte
Bildung Kuhschnippeidebernsdorf für Münchenbernsdorf (b. Weida), das
anderwärts spottweise als München b. Bernsdorf erscheint.
Die Zusammensetzung mit Ochsen- finde ich nur einmal, in Ochsen-
buttlscht für Buttelstädt. Mehrfach wird darauf hingewiesen, daß Schweine
das Kennzeichen eines Ortes sind; wir buchen Schweinelockwitz, -bohle
(Weinböhla, s. a. o.), -riethe (Rötha b. Leipzig), daneben das noch deut-
lichere Sau sieg eltz (Sieglitz b. Lommatzsch). Die Ziege spielt eine Rolle
bei Ziegenschmorke (Schmorkau b. Königsbrück) und bei -posta (S.
Schweiz). Verächtlich erscheint öfters in solchen Zusammensetzungen die
1) Vgl. Schlauch Nr. 31.
2) bei St. Egidien (Ah. Glauchau).
3) Sicher ein Spiel zwischen Kuh und dem bedeutungsgleichen Mutsche. Die
tautologische Fügung wurde wohl durch das danebenstehende Kinderwort Mutsche-
kuh begünstigt.
4) Dgl.; Mucke ist vielfach Koseform für Kuh.
166
Karg:
Gans, z. В. in Gänsetauche (Taucha b. Leipzig), -biele1) (Biehla b. Ka-
menz), -schimsch (Schönbach, S. Schweiz), -armsch (Ehrenberg, S. Schweiz),
-weißch (Weißig b. Kamenz), -rethe (Rötha b. Leipzig). Die slaw. Formen
für Gans erscheinen mehrfach in Gebieten, wo das Tier heute noch mit dem
wendischen Worte bezeichnet wird: Hüschelarmsch (Ehrenberg) und
Grieschelgäln (Gelenau b. Kamenz2). In tiefere Regionen steigen wir
hinab, wenn wir zu Froschhotte (Cotta b. Dresden) und Froschharthe
(Hartha) sowie zu Kar nick elkätz (Kötitz b. Meißen) und Karnickelliege
(Liega, Ah. Großenhain) kommen, während der Name Hundehunschtn für
Hohenstein3) (S. Schweiz) eine wirklich geschichtliche Quelle haben soll.
Bei weitem seltener sind Äußerungen, die einen gewissen Wohlstand
eines Ortes anerkennen. Einmal finde ich die ausdrückliche Hervorhebung,
daß Pferde zum Feldbau verwendet werden: Pferdehäslich (b. Kamenz).
Häufiger ist der Hinweis auf gute Lebenshaltung: Fettpöntz (Pönitz
b. Taucha), Wurstberne (Pirna a. d. Elbe), Kuchenweide (Weida), Sem-
meltauche4) (Taucha), Nudeleibe (Eibau b. Zittau).
Lediglich die Beschäftigung der Bewohner, ohne ein ausgesprochenes
Werturteil, bezeichnen: Äbbelberne5) (Pirna), Zwiebelborne (Borna b.
Leipzig), Zwiebelkatz (Kaditz b. Dresden), Spargelböhle (Weinböhla),
Kirschenkotsch (Koitzsch b. Kamenz), Dobbsträhle6) (Strehla a. d. Elbe).
Bockau (b. Aue i. Erzg.) führt als Haupthandelsplatz für Arzneikräuter
den Beinamen Wurzelbocke. Hierher gehören auch die Bezeichnungen
für die Schuhindustrie im Süden Leipzigs: Schusterbeege (Pegau), Schu-
stergreetsch (Groitzsch), Pantoffelgreetsch, Babuschengreetsch, Bär-
latschen greetsch7). Ebenfalls auf Industrie nehmen Rußkamptz (Chemnitz),
Ruß zwicke und Blechaue (i. Erzg.) Bezug, während Zippel zörbig auf
alte politische Verhältnisse deutet: Zörbig lag einst in einem weit
nach Westen vorspringenden Zipfel Kursachsens. Judengröbzig (Anhalt)
Ь Biele ist Koseform für Gans.
2) Es sei weiterhin daran erinnert, daß in Weißenberg (O.-L.) die Gänse das
Pflaster weggefressen haben (Schlauch Nr. 314); ebenso in Nerchau(G. Schumann,
Sommerfrische des Partikularisten Bliemchen, Leipzig o. J., S. 12).
3) Götzinger, Geschichte und Beschreibung des Chursächsischen Amts Hohn-
stein mit Lohmen, Freiberg 1786, berichtet S. 400: „Das Schloß ist ohnstreitig älter
als das Städtgen und hat dem Städtgen den Namen gegeben. Dieses hatte einen
kleinen Anfang und bestand nur aus einigen schlechten Häusern, worinnen herr-
schaftliche Dienstleute wohnten, welche die Kuppelhunde zur Jagd zu führen hatten.
Und dies mag auch die Ursache sein, weshalb es einen Hund zum Stadtwappen er-
halten hat.“ Vgl. auch E. Walther, Die Besiedlung der sächsischen Schweiz durch
die Deutschen, Dresden 1927, S. 44.
4) Auch Dresden heißt öfters Semmeldorp, wahrscheinlich wegen seiner anerkannt
guten Backwaren.
5) Vielleicht auch nur Spiel zwischen Apfel und Birne ?
6) Wegen der zahlreichen im Ort befindlichen Töpfereibetriebe.
7) Daß diese Namen schon vor 60 und mehr Jahren Geltung hatten, beweist
das nach 1866 entstandene Spottbild auf die Eisenbahn Leipzig—Gera (wieder-
abgedruckt in den Groitzscher Heimatblättern Dezember 1928, Nr. 5), auf dem
nicht nur Pantoffel greetsch, sondern auch Kuh peege, Mause zwenke, Bier gere
usw. durch die entsprechenden Attribute versinnbildlicht sind.
Scherzbildungen zu mitteldeutschen Ortsnamen. 167
soll seinen Namen von den ehemals zahlreich dort wohnenden Juden
haben.
Beliebt ist es, den Nachbarn Unsauberkeit vorzuwerfen. So spricht
man von Dreckbieschen (Pieschen, jetzt Vorstadt v. Dresden), Malschwitz
b. Bautzen heißt geradezu Malschwitz im Drecke, Zwenkau wird als Lause-
zwenke bezeichnet, ebenso Kolmnitz (b. Großenhain) als Lausekolmnitz.
Auf unsichere Eigentumsverhältnisse weisen die vielen Bin-
dungen mit Mause-, damit sind u. a. bedacht worden Grund b. Wils-
druff, Kötitz b. Meißen, Zwenkau, Sacka b. Königsbrück, Gorbitz b. Dresden,
Mohlis b. Oschatz, Lausa b. Dresden. Die jetzige Vorstadt Friedrichstadt
in Dresden wird öfters zitiert als Friedrichstadt wo se mausen1).
Liebe zum Alkohol wird den Bewohnern mancher Ortschaften zu-
geschrieben; man vgl. Saufrone (Rohna b. Kamenz) und Schnapskrooke
(Krakau b. Königsbrück) sowie Schnapsböhle (Böhla b. Großenhain).
Der Geruch großer Armut haftet ebenfalls manchem Orte an. Man
spricht von Bettelgreetsch, -bertz (Peritz b. Großenhain), -lungks (Lungk-
witz b. Kreischa). Hierher gehört auch Herrnskretschen2), das seinen Namen
nur im Sommer zur Zeit des Fremdenverkehrs führt, während es in der
stillen Zeit als Bettelkretschn bekannt ist3). Auf dürftige Verhältnisse
deutet weiter der Name Lappgpahrntz für Pahrentz b. Lommatzsch und
Quark schmor ke für das schon erwähnte Schmorkau, und nicht gerade von
Hochachtung zeugt auch die Benennung Ludentrache für Trachau (jetzt
Vorstadt von Dresden).
Vielfach verschwindet bei derartigen Scherzbildungen der alte Orts-
name überhaupt, und man geht zu vollkommenen Neubildungen über.
Immer aber haben wir die gleichen Kategorien von Bezeichnungen, die wir
bereits feststellen konnten. Auf hinterwäldlerische Verhältnisse
gehen z. B. Fuchsbelle (Ortsteil von Ohorn b. Pulsnitz), Froschquarre (Orts-
teil von Bretnig b. Bischofswerda), Wolfsecke (Ortsteil von Lichtenberg
b. Pulsnitz). Verschiedentlich muß auch die bereits erwähnte Krähe her-
halten, um die Abgeschiedenheit und Rückständigkeit eines Ortes zu be-
zeichnen; hierher Gäke für Elstra b. Kamenz, Großgäke für Großröhrsdorf,
Kleegäke für Kleinwelka b. Bautzen. Buschdorf für Pulsnitz weist auf eine
Waldumgebung hin. Bekannt und alt ist die Bezeichnung Quirlequietsch4)
x) Nicht ganz sicher bin ich, ob die Bezeichnung Mausetammerch fürTanners-
berg b. Wilsdruff wirklich mit dem Verbum mausen zusammenhängt; ein daneben
vorkommendes Rattentammerch läßt vermuten, daß auf vorhandenes Ungeziefer
hingewiesen werden soll. — Daß die Ratte sonst noch in Ortsnamen verwendet wird,
beweist der Titel des vor einigen Jahren herausgebrachten Romans von Bettina und
Gisela von Arnim, Das Leben der Hochgräfin Gutta von Rattenzuhausbeiuns,
Berlin 1926.
2) Im 15. Jahrh. Hornseßlcretczschin; das Wort hat also ursprünglich nichts mit
Herr zu tun.
3) Über die an Brand-Erbisdorf zufällig hängengebliebene Redensart Bettel-
brand vgl. die S. 163 Anm. 2 verzeichnete Literatur.
4) Man vgl. G. W. Rabeners Satire: „Auszug aus der Chronik des Dörfleins
Querlequitsch, an der Elbe gelegen“. In der mir vorliegenden Ausgabe, 1. Bd. der
sämtlichen Werke, 1839, heißt es S. 186f.: „Auf der 80. Seite besinnt er sich [nämlich
168
Karg:
für Königstein, und unzufrieden mit der Verköstigung waren sicher die
Leute, die aus Königsbrück ein Hungerbrück, aus Höckendorf b. Königs-
brück ein Grützenest und aus Nickern b. Dresden ein Piependorf gemacht
haben.
Die enge Verbindung zwischen Sachsen und Polen im 18. Jahrh. hat
die Wertschätzung der neuen östlichen Landesteile nicht eben erhöht:
Polen wird zum Inbegriff alles Schmutzigen1). Deshalb vielfach die Be-
zeichnung Kleepolen (= Kleinpolen), so für Großerkmannsdorf b. Rade-
berg und für einen Ortsteil in Bautzen, in welchem lange Zeit eine Schutt-
abladestelle sich befand. Orte, die abseits von allem Verkehr zu liegen
scheinen, bedenkt man mit der Bezeichnung Türkei. So heißen Rathe-
walde und Roßwein die kleene Türkei, letzteres auch Hundetürkei, die
Lausitz wendische Türkei. Auf ausgeprägten Landwirtschaftsbetrieb deutet
der Name Jauchenberg für Elstra b. Kamenz.
Es gibt andererseits Orte, die, schön gelegen und von der Natur be-
gnadet, durch den Fleiß der Bevölkerung in die Höhe gebracht, ihre Um-
gebung weithin überstrahlen. Es liegt nahe, sie mit anderen Orten in ähn-
licher Lage oder ähnlichen Verhältnissen zu vergleichen. So haben sich,
literarisch vielfach gefördert, Bezeichnungen wie Elbflorenz für Dresden,
Pleißeathen2) und Kleinparis für Leipzig, Kleinnürnberg für Bautzen,
Kleinleipzig für Gera, Deutsch-Manchester für Chemnitz, das sächsische
Nizza für die Lößnitz herausgebildet. Schneeberg heißt im 15. und 16. Jahr-
hundert das meißnische Jerusalem3), während Schirgiswalde als das säch-
sische San Marino bekannt ist. In allen diesen Fällen handelt es sich, wie
wir sehen, um Sprachgut, das in einer höheren, literarisch gebildeten
Schicht geformt wurde. Ist manches davon auch weiter hinuntergedrungen,
so merkt man den steifleinenen Namen doch ihre Herkunft an. Sie
sind nie lebendig geworden, immer bleiben sie literarische Reminiszenz.
Eine andere Gruppe von Namen steht daneben. Eine Schicht, die uns
gestattet, in die Gesetze der Namengebung überhaupt einen Blick zu tun.
Es sind die Namen von Neusiedlungen, Namen, die täglich vor unseren
Augen neu entstehen. Dabei zeigt es sich, daß diese Bildungen, die keines-
der eigentliche Verfasser der Chronik], daß er in Eile vergessen habe, zu sagen, wo der
Name Querlequitsch herstamme. Er hat aber so einen löblichen Abscheu vor alten
Untersuchungen bekommen, daß er sich dabei nicht aufhält. Seine Meinung geht
dahin, es sei, wegen seiner anmuthigen Lage, in dem Papstthume querelarum quies
(ein Ausruhungsort von Sorgen, ein Sans-souci) genannt worden. Es kommt ihm
dieses höchst wahrscheinlich vor, weil man nur die Buchstaben e und arum weg-
werfen, und ies in itsch verwandeln dürfe. Er beweißt dieses auch nachdrücklich,
indem er sagt, man müsse keine gesunde Vernunft haben, wenn man die Wahrheit
davon nicht einsehen wolle.“
x) Vgl. Ludwig Steglich, Aus einem alten sächs. Liederbuch. Mitteid. Bl.
f. Volkskde. 5 (1928), 52 f.
2) Schlauch gibt unter Nr. 167 weitere Bildungen mit Athen: Halle und Jena
werden zu Saalathen, Göttingen zu Leinathen, Breslau zu Oderathen, Prag und Witten-
berg zu Elbathen, Weimar zu Illmathen, Berlin zu Spreeathen. Mir ist außerdem noch
Isarathen für München geläufig.
3) Vgl. Schlauch Nr. 285.
Scherzbildungen zu mitteldeutschen Ortsnamen.
169
wegs literarische Erfindungen, sondern Schöpfungen des Alltags in den
Kreisen des niederen Volkes sind, eine erstaunliche Vielseitigkeit und Viel-
fältigkeit in merklichem Gegensatz zu der vorigen Gruppe auf weisen. Am
meisten ist für eine Neusiedlung die Bezeichnung Kolonie gebräuchlich,
ein Ausdruck, der auch in der Schrebergartenbewegung weit verbreitet ist.
Es ist verständlich, daß der Gedanke sofort zu dem politischen Begriff
Kolonie überspringt, daß Ubersee und Tropen sich in den Gesichtskreis
drängen. Die einst sehr populäre Kolonie Kamerun finden wir in Radeberg
wieder, ein Neukamerun in Gröditz b. Riesa. Kiautschou heißt eine Siedlung
in Ottendorf-Okrilla, daselbst befindet sich auch ein Honolulu, während
bei Gera ein Negerdorf und bei Großschönau ein Neubrasilien entstan-
den ist.
Alter Anschauung nach ist der solide Mann mit der heimischen Scholle
verbunden. Nur unruhiges Volk, das zu Hause nicht gut tut, zieht in die
Welt hinaus. Daher blickt der Mann der Altsiedlung vielfach von oben
herab auf den Kolonisten, dem er alle Untugenden des Fahrenden nach-
sagt. Ich erwähne nur die Bezeichnung Neumausewitz für eine Neusiedlung
b. Prosen (b. Elsterwerda). Dieselbe Siedlung führt auch den Namen
Batzendorf, weil die Siedler in harten Inflationsjahren die Steine selbst
gepreßt haben. Bei Gera befindet sich eine Keuchhustenkolonie, in die die
Bewohner offenbar eingezogen sind, ehe die Gebäude trocken waren.
Wenig respektvoll ist der Name Kohlrabiinsel für einen Ortsteil in Radeberg,
während umgekehrt — ein seltener Fall — die Bezeichnung Protzendorf
für eine Siedlung in Reichenbach i. V. den Bewohnern zuerkennt, daß sie
sich in kurzer Zeit zu Wohlstand emporgearbeitet haben. Der Name
Kleinmoskau in der Nähe von Gera hält die politische Gesinnung eines Teiles
der Siedler fest, und das Millionenviertel in Lomnitz (b. Radeberg) will
besagen, daß der Ortsteil in der Inflationszeit mit Papiermillionen erbaut
wurde. Das bunte Vielerlei der Namen wird noch vervollständigt durch
Sülzendorf (b. Gera), dessen Erbauer einst mit Sülzbroten den Neid der
anderen erregt haben sollen, den Zoologischen Garten in Ottendorf-Okrilla,
der seinen Namen daher hat, weil unter den Siedlern die Namen Adler,
Bär, Wolf, Haase und Hering Vorkommen, und das Blaue Wunder oder
die Blaue Schürze (ebenfalls b. Gera), so benannt nach der blauen Farbe
einiger Gebäude.
Man sieht, wie stark sprachschöpferisch das Volk ist, wenn es gilt,
ein treffendes Schlagwort für einen Nachbarort zu finden, wie sehr eine
solche Namengebung auch von zufälligen Begebenheiten und Zuständen
abhängig sein kann. Ich glaube, daß man auch für die Namenentstehung
in älteren Siedlungszeiten aus der Betrachtung der modernen Verhältnisse
vieles gewinnen kann. Der Vorgang, der uns das moderne Namen-
material liefert, spielt sich zum großen Teil unterliterarisch ab; auf diese
Weise neuentstandenes Namengut geht nur zum kleinsten Teil in die
Katasterbücher ein, aber es zeigt das Leben der Sprache, und es zeigt die
Phantasie des Volkes, die unablässig daran arbeitet, das alte Sprachgut
neu zu beleben.
170
v. der Leyen:
Die germanische Runenreihe und ihre Namen.
Von Friedrich v. der Leyen.
In einer St. Galler Handschrift des 9. Jahrhunderts ist die germanische
Runenreihe aufgezeichnet, in ihrer kürzeren und jüngeren nordischen Form,
die Überschrift lautet: Abecedarium Nord(mannicum). Dabei steht eine
Runenreihe in altenglischer Form. Aufzeichnungen des Alphabetes, des
lateinischen und auch des griechischen, sind in deutschen Handschriften
des frühen Mittelalters keine Seltenheit, glaubte man doch an die zaube-
rische Macht dieser Abecedarien. Auch das germanische Runenalphabet
findet sich in einigen deutschen Handschriften des 9. und 10. Jahrhunderts.
Das Besondere unserer Aufzeichnung ist aber, daß sie neben den Runen-
zeichen die Namen der Zeichen mitteilt und diese Namen durch stab-
reimende Verse von einfachem und altertümlichem Bau einprägt. Die
Namen erscheinen auch in einer Salzburg-Wiener Handschrift des 10. Jahr-
hunderts, und zwar die Namen des älteren germanischen Runenalphabetes
in gotischer, freilich nicht mehr ganz verstandener Lautgebung. Schließ-
lich sind die Namen der Runen in einem altenglischen Runengedicht des
9. Jahrhunderts erhalten, das die Bedeutung jedes Namens in einer stab-
reimenden Strophe, meist von drei Langzeilen, schildert und in einem nor-
wegischen und in einem isländischen Runengedicht in Reimversen aus dem
12. und 13. Jahrhundert. Die altenglischen und die altnordischen Gedichte
sind Merkgedichte.
Im einzelnen zeigen die Namen Abweichungen, Verdunkelungen, Un-
klarheiten und Mißverständnisse, aber im ganzen bezeugen sie eine sehr
feste, lange und breite Überlieferung. Wie es zunächst scheint, geht sie von
den Goten aus, also etwa vom 5. Jahrhundert n.Chr. oder früher, und erstreckt
sich bis zum 12. und 13. Jahrhundert nach Norwegen und Island, hat feste
Wurzeln in England und Ausläufer in Deutschland. Auch in Deutschland
galt also noch im 10. Jahrhundert nach dem Ausweis der Handschriften die
Runenreihe als geheimnisvolle zaubermächtige Zeichenfolge. — Seit langer
Zeit hat sich die Forschung diesen Aufzeichnungen zugewandt. Die ersten
Veröffentlichungen von Wert über dies Zeugnis germanischen Geistes und
germanischen Schrifttums danken wir Wilhelm Grimm in seinem Buche
über die deutschen Runen 1821.
Uns soll in dieser Studie die Frage beschäftigen: was bedeuten die Namen
der Runen? Angeregt hat uns besonders eine ausgezeichnete Arbeit von
Carl Marstrander, auf die wir noch oft verweisen werden1).
*) W. Grimm, Über deutsche Runen, Göttingen 1821; J. u. W. Grimm,
Kleinere Schriften von W. Grimm 3, 85f., S. 112 ein Faksimile des Abecedariums;
K. Müllenhoff u. W. Scherer, Denkmäler deutscher Poesie und Prosa aus dem
8. bis zum 12. Jh.3, von E. Steinmeyer, Berlin 1892, Nr. V; F. v. der Leyen u.
K. Wolfskehl, Älteste deutsche Dichtungen3, Leipzig 1924, darin (1920), S. 191 f.,
die ersten, etwas zaghaften Versuche, die Bedeutung der Runennamen zu erkennen;
E. Brate, Arkiv för nordisk Filologi 36 (1920), 193 verweist ebenfalls, andeutend,
Die germanische Runenreihe und ihre Namen.
171
Wir drucken zunächst den St. Galler Text des Abecedarium nordmanni-
cum ab, so wie ihn, die Forschungen und Vermutungen von Jacob und
Wilhelm Grimm, Karl Lachmann und anderen verwertend, Müllen-
hoff und Scherer hergestellt haben. Daneben setzen wir die Übersetzung
von Karl Wolfs kehl.
Feu forman.
Ur after.
Thuris thritten stabu.
Os ist himo oboro.
Rat endost ritan.
Chaon thanne cliuot.
Hagal Naut habet.
Is. Ar endi Sol.
Tiu. Brica endi Man midi.
Lagu the leohto.
Yr al bihabet.
Viehstand vorne.
Urochs andringt.
Thürs dräut am dritten Stab.
As der ist ihm über.
Rad am Ende ritz.
Knistern daran klebt.
Hagel die Not hegt.
Eis. Anfang und Sonne.
Tiu. Birke und Mann inmitten.
Lache die lichte:
Yr enthält alles.
Die Lautgebung in diesem Gedicht zeigt, daß ihm eine lange Geschichte
und weite Wanderungen beschieden waren. Die Runenreihe selbst,
16 Zeichen, ist, wie schon bemerkt, die j tìngere nordische. Die ältere nordische
und germanische Runenreihe hatte 24 Zeichen. Von nordischen Wort-
formen haben sich erhalten: thuris (nord, thurs) Riese, naut (deutsch not)
Not, är (deutsch jär) Jahr, sòl (deutsch sunne) Sonne, yr (deutsch iwa) Eibe.
In altsächsischer Lautgebung erscheinen die Worte: feu (féhu, nord fé),
ós (hochdeutsch ans, nord, àss), rad (nord reid) Tiu (hochdeutsch Ziu, nord.
T^r), vgl. ferner die ih in the (hochdeutsch der), thanne, thritten und
cliuot (hochdeutsch klìbet), forman (f.-froman), brica (f. birca), leohto.
Hochdeutsch sind: chaon (eh für k; ao für au, nur obd. im 8. Jahrhundert)
und ritan für writan (ist aber unsicher), habet, oboro. Das Gedicht ist also
vom Norden über Niederdeutschland bis nach Oberdeutschland gedrungen.
Auf seinen Wanderungen erlitt es manchen Schaden. Die ersten Verse
zeigen, daß die beiden Stabreime unmittelbar einer dem anderen folgen
sollten, Hebung auf Hebung, dadurch wurde ihre Kraft und ihr Nachdruck
erhöht. Gerade in alten Zauberformeln und Beschwörungen lassen sich
ähnliche verstärkte Stabreime und Stabfolgen beobachten.
Man vergleiche féu fórman, ür after, thuris thritten stabu usw. mit üt spére
(altenglischer Spruch) üt nèsso (deutscher Spruch), insprinc häptbändun (deutscher
Spruch), säet smid (altenglisch). — A. Heusler, Deutsche Versgeschichte (Berlin 1926)
1, 145, vgl. auch im Märchen: wéh wéh windchen. — Danach heißt es ós óboro (nicht
os ist himo oboro), rät ritan endost (nicht rat endost ritan), chaon clivot thanne
(nicht chaon thanne cliuot), hagal habet naut (nicht hagal naut habet).
Nach diesen Umstellungen treten die Endworte der Verse in klarer
und nachdrücklicher Folge vor uns, und so sollte es auch sein : forman, after,
thritten stabu, oboro, endost, thanne.
auf den Sinn der Runennamen und auf den Zusammenhang der Namenpaare. —
Das altenglische Runengedicht bei E. W. Grein u. R. Wülker, Bibliothek der angel-
sächsischen Poesie3, Hamburg 1921. — Die norwegischen und isländischen Runen-
gedichte bei L. Wimmer, Die Runenschrift, Berlin 1887, S. 275f. — C.Marstrander,
Norsk Tidsskrift for Sprogvidenskap 1, 85 f.: Om runene og runenavnenes oprindelse;
Derselbe, ebd. 3, 25 f., De gotiske runemindesmerker.
172
v. der Leyen:
Rhythmus und Klang werden durch unsere Umstellung ebenfalls fester
und reicher, und der zauberische Sinn der Wortfolge fällt nun auch leicht
und kräftig ins Gehör1).
Ferner scheint, daß Man midi auch ein Vers für sich war, etwa in der
Form Manna oder Mannus midi, und von den vorhergehenden Worten ab-
zutrennen ist. — In den ersten sechs Versen steht ein Runenwort, ebenso in
den beiden letzten, im siebenten Vers stehen zwei, im achten und neunten
drei Runen worte. Das läßt sich kaum sagen, ob ursprünglich einem Runen-
wort je ein Vers gehörte, wie etwa später in dem altenglischen Runen-
gedicht immer eine Strophe einen Runennamen erklärt, oder ob vielleicht
nach bestimmten Gesetzen Verse mit einem und Verse mit zwei Runen-
worten wechselten, wir werden noch sehen, daß immer zwei Runenworte
im Sinn zusammengehören. Aber Verse mit drei Runen Worten baute der
alte Dichter kaum. Wir glauben also, daß, wie in dem Verse: ,,Tiu. Erica
endi Man midi.“ das Man midi so in dem Vers: ,,Is. Ar endi Sol.“ das
endi Sol später angehängt ist. Ls Ar ist zudem ein falscher Stabreim, es
hieß ja ursprünglich ,,jar“. Auch der fünfte Vers ist verderbt oder nicht
richtig hergestellt, wenn man ritan als writan: geritzt auffaßt. Man denkt
eher an ritit oder rinnit.
Setzen wir nun in Anlehnung an die erhaltenen Beiworte des Gedichtes
oder in Anlehnung an andere germanische Dichtungen die verlorenen Bei-
worte vermutungsweise ein, so würde etwa folgendes Gedicht vor uns stehen:
feu forman
ur after
thuris thritten stabu
os oboro
5 rat ritit (rinnit?) endost
chaon cliuot thanne
hagal habet naut
is ubarcald, jär (altenglisch oferceald)
sol skinit (Wessobrunner Gebet, sunna ni scein)
10 tiu tir brica (tir, herrlich, für Tiu, altenglisch)
manna midi
lagu the leohto
yr al bihabet.
Diese Folge zeigt uns bei einigen Paaren einen schönen und einleuchtenden
Zusammenhang, sei es, daß beide Worte als Gegensätze sich gegenüber-
treten und zusammen eine höhere Einheit bilden, sei es, daß sie eines mit
dem anderen verwandt sind, feu ist das zahme, ur ist das wilde Tier.
thuris ist der Riese, os der Gott, der den Riesen bekämpft, also doch
wohl Donar, der gefeierte Bezwinger der Riesen, hagel bringt not, eis ist
der Winter, jar bedeutet das fruchtbare Jahr und gesegnete Ernte. „Jahr
ist der Menschen Hoffnung, wenn Gott läßt, der heilige Himmelskönig, die
x) Auch in dem altenglischen Runengedicht folgte ursprünglich das erste Stab-
wort unmittelbar dem Runemiamen, man braucht nur in jeder Strophe das Wort
byt, ist, zu streichen, so hat man den alten Zusammenhang und die alte Wirkung
feoh (byt) fröfor, ür (byt) anmod usw.
Die germanische Runenreihe und ihre Namen. 178
Erde geben herrliche Früchte, Reichen und Armen“ sagt das altenglische
Runenlied.
Wir vermuten daher in den anderen Paaren einen entsprechenden Zu-
sammenhang (die einzelnen Worte manna und sol lassen wir vorerst beiseite,
die zu ihnen gehörenden Worte werden sich uns später zeigen).
Vers 10. tiu bircct. Tiu ist der Himmelsgott, der helle leuchtende Gott,
birca, die Birke, ist der helle leuchtende Baum. Im Norden war die Birke der
Himmelsgöttin heilig (Marstrander S. 158, 178). Vielleicht galt im Germani-
schen die Birke selbst als Göttin oder als Sitz einer Göttin, wie die Eiche der
Sitz des Donar war. Als Göttin fassen die Birke noch manche Frühlings-
gebräuche auf1). „Birke ist fruchtlos, trägt eben wohl Zweige ohne Samen,
ist in Ästen schön, doch in der Spitze rauscht sie lieblich, bewachsen mit
Blättern, von der Luft bewegt“, sagt wieder das altenglische Runenlied.
Unter den Namen der keltisch-römischen Gottheiten, die uns durch In-
schriften des zweiten und dritten nachchristlichen Jahrhunderts überliefert
werden, erscheint eine DeaVercana. Man hat bisher vergeblich versucht,
eine überzeugende Deutung für diesen Namen zu finden. Marstrander
meint, Vercana stehe für Bercana, das ist ein sehr einleuchtender und
glücklicher Vorschlag. Bercana und Berca würden sich dann etwa ver-
halten wie Wode und *Wodanaz und vielleicht Hulda (Frau Holle) und
*Huldana (dea Hludana)2). Demnach würde der Vers Himmelsgott und
Himmelsgöttin nennen oder neben dem Himmelsgott eine verwandte Göttin,
deren Kult mit den zauberischen Kräften der Birke zusammenhängt.
Das Paar in den Versen 5 und 6 rat und chaon bereitet Schwierig-
keiten. Rad, nordisch reid, heißt Weg, Ritt und Wagen, chaon, nordisch
kaun, Geschwulst, Krankheit. Man könnte nun sagen, ritt das ist Reise,
die Gottheit wird angerufen, die den Reisenden beschützt, kaun, Krank-
heit, ist das Werk eines tückischen Geistes, der Krankheit schafft. Aber
wo ist der Zusammenhang zwischen den beiden Worten und ihrem Sinn?
Auch scheint uns, daß die Bedeutung Reise viel abgezogener ist und weniger
anschaulich, als die Bedeutung der anderen Wörter der Reihe. Deswegen
möchten wir vorschlagen, rat steht hier in der Bedeutung Wagen und
chaon steht für ein anderes Wort, das uns das altenglische Runengedicht
erhält, ken, hochdeutsch Kien, Fackel. Wagen und Fackel, das wäre Wagen
und Blitz; der Ase, der im Wort vorher genannt ist, nämlich Donar, rollt
im Wagen blitzeschleudernd über den Himmel. Das ist eine etwas gewalt-
same Lösung, und sie befriedigt nicht ganz. Wenn andere eine bessere
finden, so ziehen wir unsere gern zurück. Aber wir betonen doch,
daß hagal, naut, is und jär sich unserer Deutung kräftig und sinngemäß
anschließen. Thor, sagte Adam von Bremen, praesidet in aere, qui
tonitrus et fulmina, ventos imbresque, serena et fruges gubernat. Das deckt
sich fast wörtlich mit der Aussage unserer Runenreihe.
1) Vgl. z. B. W. Mannhardt, Wald- und Feldkulte 1, 8 Anm. 3, 157f., 173,
313, 434.
2) Marstrander S. 158f., dort auch über das Suffix-ana. Über das gleiche Suffix
und über Wode und Hludana Vf., Götter und Göttersagen der Germanen3 S. 42, 78f.
Noch bleibt der Zusammenhang zwischen lagu Meer und yr Eibe zu
erklären. Auch hier will uns keine ganz gute Lösung gelingen. Freilich
ist es schön und auch im germanischen Sinn, daß die See die leuchtende
heißt, und daß der Dichter dann einhält und unseren Blick ins Unendliche
lenkt1). Daß aber dem leuchtenden Meer der dunkle Todesbaum, die Eibe,
folgt, daß wir plötzlich und unvermittelt zurückgeführt werden auf das
Land und seine Gräber, das ist etwas heftig und gewaltsam. Wie feierlich
auch der Vers klingt yr al bihabèt, und wenn auch der Zauber des Todes
der unentrinnbarste bleibt und in ihm auch der Runenzauber seinen dunklen
Schluß findet, das Dunkel überfällt uns zu plötzlich. Wir werden noch
erfahren, daß uns dies Gefühl nicht trügt, die Zweiheit Meer : Eibe ist nicht
ursprünglich, sondern das Werk eines Späteren.
Überblicken wir nun das Ganze des Gedichtes. Die ersten Verse nennen
den Donar und schildern den ganzen Umkreis seiner Macht, die letzten
rufen den Gott des Himmels und seinen über Erde und Meer leuchtenden
Glanz an. Die zweite Hälfte ist lückenhaft und die Ordnung der Runen
ist gestört. Trotzdem, wenn der Bau auch Risse und Lücken zeigt, ein
tiefer Zusammenhang, eine feierlich beschwörende Schilderung der großen
Götter wird erkennbar.
Bisher haben wir uns auf die Runen der kürzeren Reihe beschränkt.
Aber uns blieben auch die Namen der längeren Reihe erhalten, ja, durch
den Vergleich der altenglischen, nordischen und spätgotischen Formen
können wir die alten germanischen erschließen. Nun sollen sie in der alten
Folge vor uns erscheinen: in drei Reihen zu je acht Zeichen, so waren sie
auch im Germanischen gegliedert (Bracteat von Vadstena), und in den
Reihen paarweis. Neben die uns bekannten alten setzen wir die neuen Worte
in althochdeutscher Lautgebung.
1 feu 2 ur 3 thuris 4 os 5 rat 6 chaon 7 geba 8 winne.
9 hagal 10 naut 11 is 12 jar 13 yr 14 pertra (aengl. peord) 15 esec 16 sol.
17 tiu 18 birca 19 ehu 20 manna 21 lagu 22 ing 23 tac 24 odal.
Es sind also acht neue Zeichen, und yr steht in der Mitte (13), nicht am Ende.
Als ganz neu erschienen die Paare géba winne, tac odal, als halb neu:
yr und perthra, esec und sol, èhu und manna, lagu und ing.
Die beiden ersten Paare bestätigen unsere frühere Beobachtung sofort.
Gèba heißt Gabe, winne hier wohl Wiese, Weideland, Acker, die wertvollste
Gabe für den bäuerlichen Menschen, der von Wind und Wetter abhängt,
und der als stärksten Gott den Donar anruft. Dies Paar bereichert das
Bild von Donars Bedeutung ganz im germanischen Sinn. Ähnlich ergänzen
sich tac und odal. Odal ist das Erbe, der Reichtum, den die Vorfahren
schufen, die Heimat, über sie leuchtet der Tag. — Voran gehen lagu, das
Meer, das uns in die Ferne führt und Ing, der Gott über Meer, Schifffahrt
und Handel. Wie schön und sinnvoll folgen sich auch hier wieder die Worte !
1) Wir vergleichen das Wessobrunner Gebet: noh sunna ni scein noh mäno ni
liuhta noh der märeo seo. — Mond und Meer leuchten (the leohto), das Meer trägt
einen feierlichen Beinamen und wird durch den bestimmten Artikel herausgehoben,
nach der märeo seo verklingt der Vers, und wir sehen ins Unendliche.
Die germanische Runenreihe und ihre Namen.
175
Ehu und manna (vielleicht hieß es ehu erist, manna midi), Mann und
Pferd, gehören im Germanischen noch enger zusammen als heute1). Das
Pferd war nach der Aussage des Tacitus ein göttliches Tier, das Wiehern
der Pferde im heiligen Hain deutet der Priester. Auch die Zeugungskraft
des Pferdes wurde verehrt, und die Menschen suchten sie auf sich überzu-
leiten, das bezeugt uns ein merkwürdiger grundheidnischer Zauberspruch
aus dem nordischen Altertum. Berühmte Helden trugen Pferdenamen:
Hengist und Horsa. Der Name des nordischen Heldengeschlechtes der Völ-
sungen hängt vielleicht mit Völsi zusammen, so heißt das Zeugungsglied des
Pferdes. Der Mann als Mann galt wieder als zeugungsfroher Stammvater der
Heldengeschlechter. Mannus zeugte nach Tacitus die Väter der drei Stamm-
verbände der Germanen, die Ingaevonen, die Erminonen, die Istaevonen.
Die Naharnavalen verehrten, wieder nach der berühmten Aussage des
Tacitus, ein göttliches Brüderpaar, die Alcis, als Brüder in der vollen Kraft
ihrer Jugend. Es waren Götter, den indogermanischen Dioskuren ver-
wandt, kühne Reiter, die Schiffahrt beschützend, über die Sterne wandernd.
Wenn das Paar ehu manna in unserer Runenreihe die Erinnerung an eine
Gottheit solcherart wecken will, dann stünde zwischen dem Gott des Him-
mels und dem Gott des Meeres und der Schiffahrt ein junger starker Gott,
der auf dem Ritt über den Himmel das Meer schützend überblickt. Schöner
könnten wieder Zusammenhänge und Überleitungen nicht sein.
Pertra (Perta?) ist nicht aus dem Germanischen zu erklären. Marstran-
der (137) nimmt wohl mit Recht an, daß es ein keltisches Lehnwort sei
und Fruchtbaum, Apfelbaum, oder besser: Garten von Apfelbäumen be-
deutet. Trifft das zu, so steht in der Runenreihe der dunkle Baum des
Todes, die Eibe, neben dem blühenden Baum des Lebens, der Jugend und
der Fruchtbarkeit. Genauer, ein Garten der blühenden, köstliche Frucht
verheißenden Bäume steht neben der ernsten und düsteren Reihe der Eiben.
Die Äpfel der Idhun (vgl. Göttersagen S. 230) verjüngen im nordischen
Mythus, der wieder keltischer Abstammung ist, die Götter und erhalten
ihnen die blühenden Farben. Auch dies Runenpaar ergänzt sich ebenso
schön und groß und anschaulich wie die anderen und schildert in unver-
geßlichem Bilde in neuer Wirkung einen ähnlichen Gegensatz wie is und
jar, Winter und Sommer: Tod und Leben.
Das letzte Wort esec ist leider noch nicht gedeutet. Nach der Um-
gebung, in der es steht, vermutet man, daß es wieder ein Baum sei, der
zur Sonne etwa gehört, wie die Birke zum Himmelsgott, oder eine der Sonne
verwandte fruchtbringende Gottheit2).
1) Marstrander, Tidsskrift 3, 76, 77 erinnert an das Bild eines Mannes auf einem
Pferd auf manchen Goldbrakteaten, über dem Haupt des Pferdes sind Runen eingeritzt.
__Über das Pferd im Germanischen und über die Alcis vgl. Göttersagen S. 57, 68/69.
2) Wenn die Form ezec — got. aizag? — lautet, so erinnern wir mit allem
Vorbehalt an die al-aisiagae, jene Göttinnen im Gefolge des Kriegsgottes auf
Weihsteinen des 3. Jh. n. Chr., gefunden am Hadrianswall in Housesteads. Diese al-
aisiagae sind wohl den Walküren verwandt, zaubermächtige, kriegerische, aber auch
fruchtspendende Gottheiten; das zeigen ihre Namen beda, fimmilena, baudihillia,
friagabi. Th. Siebs, Mitteilungen der schles. Ges. für Volkskunde 25, lff.
176
v. der Leyen:
Wir blicken nun noch einmal auf die ganze Folge zurück. Aus der
ersten Reihe, den ersten vier Paaren, steigt das Bild und die Kraft des
Gottes Donar mächtig auf. Die dritte Reihe, die letzten vier Paare, nennen
die Götter des Himmels und des Meeres und ihre Gaben. Die zweite Reihe
führt die freundlichen und feindlichen Gewalten vorüber, die den Besitz
und die Ernte des Menschen beschützen und bedrohen. Die ersten beiden
Paare bleiben noch im Bereich des Donar, die beiden letzten führen aus
dem Dunkel zu Frucht und Sonne und Himmel.
Mit Besitz beginnt und mit Besitz schließt die Reihe, dreimal bekennt
sich der Dichter zum Besitz und seiner Freude (feu, geba, odal) „Reichtum
ist Trost jedem Menschen“, so hebt das altenglische Lied an, und „Besitz
ist überlieb jedem“, so hat es einmal aufgehört.
Natürlich bleiben bei unserer Deutung noch manche Zweifel und Fra-
gen, als ganzes zeigt sie ein germanisches, zauberisch beschwörendes, von
starker Lebensfreude und Zuversicht erfülltes Gedicht, groß und klar in
der Gliederung, wirkungsvoll und mächtig in Bild und Gegenbild, ein Ge-
mälde der freundlichen und feindlichen Gewalten, die das Schicksal des
Bauern und des Seefahrers bestimmen1).
Was heißt aber germanisch ? Wissen wir genauer, in welchen Jahr-
hunderten diese Reihe entstand und bei welchem germanischen Stamm ?
Die Beantwortung dieser Fragen wäre von höchstem Wert für die Er-
kenntnis des germanischen Altertums, seines Glaubens und seiner Dichtung
und seiner Kultur. Sie hängt zugleich mit einer anderen, heute wieder leb-
haft erörterten Frage zusammen, mit der Frage nach dem Ursprung der
germanischen Runen. 1875 glaubte Ludwig Wimmer die endgültige Ant-
wort auf die Frage nach dem Ursprung der Runen gefunden zu haben. Er
wies nach, daß die Runenzeichen den lateinischen Buchstaben nachgebildet
sind, und daß die Abweichungen von der lateinischen Schrift sich durch
das Material erklären, auf das die Runen geritzt wurden, Holz, Horn,
Metall und Stein; sie verlangen eckige und nicht runde Formen. Und zwar
hätten die Germanen in den ersten Jahrhunderten unserer Zeitrechnung
durch Vermittlung der Gallier das römische Alphabet und seine Zeichen
kennengelernt. Wenn bei der Interpretation von Wimmer auch die Form
mancher germanischen Rune sich nur schwer und manchmal nicht ohne
künstliche Annahmen erklären ließ, als ganzes schien seine Beweisführung
überzeugend und wurde lange Zeit nicht angegriffen. Nur Sophus Bugge
äußerte einige Einwendungen und gab neue Hinweise. Er meinte, daß
außer den lateinischen wohl einige Zeichen des griechischen Alphabets die
Form einiger Runen bestimmt hätten. Ihm fiel außerdem, wie anderen
b Ganz kurz verweisen wir auf den interessanten Versuch von Sigurd Agr eil,
Runornas Talmystik, Lund 1927; derselbe, Zur Frage nach dem Ursprung der Runen-
namen, Lund 1928, die den Zahlen wert der Runen und seine geheimnisvolle Bedeutung
erfassen möchte. Diese Ausführungen, auf die wir an anderer Stelle zurückkommen
werden, geben da und dort wohl wertvolle Hinweise, nur ergehen sie sich in einer
Rechenkunst, mit der man schließlich alles beweisen könnte, und gehen auch, das
scheint der Grundirrtum, von irrigen Voraussetzungen über den Ursprung der
Runen aus.
Die germanische Runenreihe und ihre Namen.
177
vor ihm, die große Ähnlichkeit auf, die manche Runenzeichen mit den
Zeichen des etruskischen Alphabetes besaßen. An Bugges griechische
Hypothese knüpfte dann Otto von Friesen an (Hoops, Reallexikon der
gesamten Altertumskunde, s. v. Runenschrift), etwa ein Menschenalter nach
Wimmer, und suchte nachzuweisen, daß unser germanisches Runen-
alphabet sich aus dem lateinischen und griechischen Alphabet
entwickelt hätte in einem Land, in dem ein germanischer Stamm latei-
nische und griechische Alphabete nebeneinander sah. Der Stamm könnte
nur der Stamm der Goten gewesen sein, das Land nur die Gebiete am
Schwarzen Meer. Friesen behauptete also, die Goten hätten um 200 n. Chr.
die Runen in Anlehnung an klassische Alphabete erfunden. Diese Runen-
zeichen seien auf weiten Wegen vom Südosten Europas nach dem Norden
zurückgewandert, ebenso wie die Ornamente der gotischen Fibeln. Eine
Zeitlang schien es, als würde die These von Friesen die von Wimmer
verdrängen. Sie schien neue Meinungen über Kunst und Kultur der Goten,
namentlich die kunstgeschichtlichen Forschungen von Salin sehr schön zu
ergänzen. Auch läßt sich nicht leugnen und gerade Marstrander hat es
vor kurzer Zeit in einer wertvollen Abhandlung (s. o. Tidsskrift 3, 25f.)
betont, mit vielen neuen Hinweisen, daß die Goten für die Entwicklung
und Ausbildung der Runenschrift sehr tätig gewesen sind. Zuerst wider-
sprach der Meinung von Friesen, nachdem sich im Stillen mancher Zweifel
geregt, sehr entschieden Holger Pedersen1). Er bewies im einzelnen, daß
die Zweifel, die Wimmers Theorie zurücklasse, die Zweifel paläographischer
Natur, bei Friesen nirgends durch wirklich glücklichere oder einleuchten-
dere Lösungen beseitigt würden, daß alles in allem Wimmers Ausführungen
überzeugender blieben, oder durch nichts Besseres ersetzt seien. Pedersen
wies außerdem auf Verwandtschaften des germanischen und des irischen
Ogamalphabetes hin. Beide seien aus dem lateinischen Alphabet entstanden,
beide, und von allen anderen Alphabeten nur die beiden, hätten die alte
Reihenfolge der Zeichen der antiken Alphabete ganz geändert. Beide
hätten, und nur die beiden, Namen für die Lautzeichen, beide hätten ein
besonderes Zeichen für ng und bei beiden sei der Name für b Birke. Unter
dem Einfluß der Kelten also hätten die Germanen das lateinische Alphabet
umgebildet. Die gleichen Argumente führte dann Marstrander ins Feld,
er fügte noch hinzu, daß beide Alphabete ihre Zeichen in Reihen ordneten,
die Iren in 5 x 5, die Germanen in 8 x 3.
Pedersen erklärte noch die auffallenden Ähnlichkeiten zwischen
etruskischen Lautzeichen und germanischen Lautzeichen für Zufall. Es
i) Holger Pedersen, Runernes oprindelse, Aarb<{>ger for nordisk olkdyndighed
og historie (1923), III, 13, 37ff. — In Seminarübungen der Universität Köln 1926 über
die Runen erkannten wir, daß die Lösungen von Friesen im Vergleich mit denen
von Wimmer nicht die besseren seien, wir wurden uns der großen chronologischen
Schwierigkeiten bewußt, in die Fr iesens These die Wissenschaft führt. Uns erschien
ferner nicht glaublich, daß eine sakrale Schrift wie die Runen aus alltäglichen, prak-
tischen Schriften sollte entstanden sein, und wir sahen, daß die Ähnlichkeit der
etruskischen Lautzeichen mit den germanischen Runen einer neuen Untersuchung
bedurfte.
Zeitschrift für Volkskunde II, 1—2.
12
178
v. der Leyen:
seien zu wenig Zeichen, die sich glichen und die Zeichen, die sich ähnlich
seien, hätten nicht den gleichen lautlichen Wert. 1928 gründete gerade auf
die Ähnlichkeit der etruskischen und der germanischen Lautzeichen Mar-
strander seine neue Theorie. Seine Abhandlung gehört zu den spannend-
sten und überraschendsten Ausführungen, die je über die Runen gemacht
wurden. Sie untersucht die Lautzeichen in ihren phonetischen, paläo-
graphischen, archäologischen und historischen Werten und gibt überall
neue Ausblicke in das Wesen der Kelten und der Germanen. Alle Rätsel
lösen natürlich auch diese Studien nicht, und man wird ihnen nicht immer
folgen können, aber sie fördern und beleben überall mit erstaunlicher Ge-
lehrsamkeit und bewundernswertem Scharfsinn, und man wird sich noch
oft mit ihnen auseinandersetzen müssen.
Marstrander sucht zu zeigen, daß die etruskischen Alphabete die
keltisch-lateinischen Alphabete in den Ostalpen anregten, und daß diese
doppelseitigen Alphabete die Grundlage der germanischen Runenreihe
wurden, die sich aus einem Alphabet nicht ableiten lasse. In dem Reich
des Marbod, durch die Markomannen, etwa um die Zeit von Christi
Geburt, eine Zeit, in der sich keltische und germanische Kultur vielfach
berührte und kreuzte, seien die germanischen Runen erfunden.
Nicht nur die Runenreihe selbst, auch die Namen der Runenreihe führt
Marstrander auf die Markomannen und auf die Zeit von Christi Geburt
zurück. Wir hätten in diesen Namen Zeugnisse für den Götterglauben der
Germanen und für ihr Zauberwesen, die sogar die Zeugnisse des Tacitus
an Alter und Wert überträfen und die uns ein Bild vom Glauben unserer
Vorfahren überlieferten, echter und älter und lebendiger als die kühnste
Phantasie sich das habe träumen lassen (147).
Die Zweifel, die sich gegen Friesens Theorie seinerzeit richteten, waren
zum guten Teil Zweifel gegen seine zeitlichen Ansätze. Die Goten um 200 oder
später sollten am Schwarzen Meer die Runen erfunden haben; die ältesten
nordischen Runen auf dänischem Boden, die schon einen jahrzehntealten und
lange geübten Brauch voraussetzen, stammen ebenfalls aus der ersten Hälfte
des 3. Jahrhunderts, das geht natürlich nicht zusammen. Nun behauptet die
Forschung sogar (W. Krause, Zeitschrift für deutsches Altertum 66,247), daß
die kürzlich gefundene norwegische Runeninschrift aus Kärstad rund 200 n.
Chr. zu setzen sei! In ähnliche Schwierigkeiten führt uns nun Marstrander.
Die älteste Runeninschrift, die vor wenigen Jahren in Österreich in Maria Saal
in der Steiermark auf einem Pfriemen aus Kalbs- oder Rindsknochen ge-
funden wurde (Kretschmer, Zeitschrift für deutsches Altertum 66, 10f.),
stammt, wie man glaubt, aus dem ersten oder zweiten Jahrhundert v. Chr.,
wäre also ein oder zwei Jahrhunderte älter als Marbod und sein Marko-
mannenreich. Allerdings ist diese Inschrift noch nicht ganz entziffert, und
es ist nicht ganz sicher, ob ihre Zeichen wirklich Runen sind. Seltsamerweise
stammt aus dem zweiten Jahrhundert v. Chr. auch ein Helm aus Negau
in der Steiermark, der in etruskischen Zeichen, also nicht in Runenschrift,
einen germanischen Namen und vielleicht den Namen eines germanischen
Gottes einritzt (Harigasti Teiwa? Kretschmer a. a. 0.). Sicher ist von
Die germanische Runenreihe und ihre Namen.
179
diesen zeitlichen Ansätzen keiner; ob vor den Cimbern und Teutonen im
zweiten und dritten vorchristlichen Jahrhundert germanische Stämme in
größeren Mengen in den Alpen waren, ist ebenfalls zweifelhaft (Zeitschrift 66,
7, Kretschmer gegen 219. Jacobsohn).
Der Ursprung der Runenschrift in den Alpenländern im Anfang unserer
Zeitrechnung ist also ganz und gar nicht erwiesen. Die Verwandtschaft
etruskischer Lautzeichen in lateinisch-keltischen Alphabeten mit unseren
Runen ist wohl einleuchtend, aber Reichweite und Zeit der etruskisch-
lateinischen Alphabete sind noch nicht untersucht (Marstrander 177).
Ferner bleibt auffallend, daß im Norden Runeninschriften in großer Zahl
und oft dicht nebeneinander überliefert sind, während in den Alpen und
West- und Süddeutschland nur sehr wenig Runeninschriften vereinzelt auf-
tauchen. Der Hinweis auf die Unruhe der ersten nachchristlichen Jahrhun-
derte und auf die Vergänglichkeit des Materials, auf das die Runen geritzt wur-
den, erklären diese Leere doch nicht ganz. Zudem ritzten die Germanen etrus-
kische Zeichen schon auf das ziemlich unvergängliche Metall der Helme1).
Dagegen sind die von Pedersen und Marstrander hervorgehobenen
Verwandtschaften des germanischen und des keltischen Alphabets unbe-
streitbar und nachdrücklich zu betonen. Wir verweisen an dieser Stelle
nochmals darauf und ebenso auf das über Pertha und Bercana bemerkte.
Hinzu fügen wir noch, daß die geba in unserer Reihe an die deae gabiae
und alagabiae auf den keltisch-germanischen Matronensteinen, an die der
Garmangabis und an die Friagabis auf römisch-germanischen Inschriften
erinnern, daß Donar und Tiu auch den Kelten bekannt waren der auch
die Eibe in den keltischen Runennamen erscheint, daß Kelten und Ger-
manen die Zauberzeichen auf Baumzweige einritzten und aus ihnen wahr-
sagten (Marstrander 173). Ob nun die Einwirkung des Keltischen auf
das Germanische so stark und nachhaltig war, wie Marstrander glaubt,
das wäre noch nachzuprüfen2). — Die Namen des keltischen Ogams sind
Baum- und Pflanzennamen, es gab allerdings auch Vögel-Ogams, Farben-
*) Ganz abwegig scheint uns, daß Marstrander (S. 161) das is im Runen-
alphabet mit Isis, das jar mit Horos in Verbindung bringen will. Wenn auch die
Römer in der Kaiserzeit die Isis und den Horos kannten, wenn ein römischer Statt-
halter sogar in seinem Gefolge eine semnonische Wahrsagerin, Walburg, nach Süd-
ägypten mitnahm (vgl. Göttersagen S. 17), daß germanische Priester in ein germanisches
Gedicht ägyptische Götter und Götternamen aufgenommen hätten, das sollte nie-
mand glauben. — Die Isis des Tacitus ist eine interpretatio Romana für eine ger-
manische Göttin, und is und jar fügen sich in den Zusammenhang unserer Reihe
viel schöner ein, als Isis und Horos.
2) Zu verweisen wäre noch auf das verstärkende keltische ala in dem Namen
vieler germanisch-keltischer Göttinnen, alaferhviae, alagabiae, alateiviae, alai-
siagae, das man in dem magischen Runenzeichen ala, alu wiedererkennen will. —
Marstrander, Tidskrift 3, 82, 87, 127. — Marstrander glaubt auch, daß der
alte Meister des Ogamalphabets, der keltische Ogmios, den Lukian spöttisch und
geistreich als verwitterten Herakles schildert, mit Odhin, dem Meister der Runen,
verwandt sei und das Bild seines Wesens bereichert habe. Aber Odhin ist im Nor-
dischen nicht alt, sondern ein Gott in der Blüte seiner Manneskraft und den Frauen
gefährlich wie kein anderer, das Zauberische in seinem Wesen ist das Ältere, die
Meisterschaft über die Runen das Jüngere.
12*
180
v. der Leyen:
Ogams usw. Man glaubt in den keltischen Ogamalphabeten ein sehr kunst-
reiches System zu erkennen, allerdings scheint es etwas einseitig und tech-
nisch überbildet. Die germanische Runenreihe ist lockerer und eröffnet
den Blick in eine viel weitere und reichere Welt, sie ist auch von stärkerer
dichterischer Kraft. Wir dürfen also sagen, die germanische Runenreihe
und ihre Namen zeigen starke Einwirkungen keltischer Vorstellungen und
keltischer Priesterkunst, aber sie bildeten die empfangenen Anregungen klar
und schöpferisch um und gaben etwas Tieferes und Belebteres1).
Nun haben sich ja die germanischen Runenzeichen im Laufe der Jahr-
hunderte in Einzelheiten geändert, umgestellt, gekürzt, erweitert. Auch ein-
zelne Namen wurden anders, meist infolge von Mißverständnissen. Im ganzen
aber war die Reihe fest und in germanischer Zeit ebenso wie in den ¡späten Jahr-
hunderten. Entstanden denken wir uns dieRunen und ihreNamen in einer Zeit,
in der die Einwirkung des Keltischen auf das Germanische besonders stark war,
also in den letzten vorchristlichen Jahrhunderten, vielleicht um die Wende
unserer Zeitrechnung. Da die Reihe den Gott der Schiffahrt und das Meer
nennt und sich des Reichtums freut, so wird sie bei einem germanischen
Stamm entstanden sein, der am Meer lebte und durch Handel reich wurde,
nicht tief unten im Süden, nicht in den Alpen. Etwa also im Kreis der Völker,
die einst dieNerthus verehrten, das waren Völker, infolge des Bernsteinhan-
dels früh vielen Einwirkungen zugänglich. Kelten waren in den vorchristlichen
Jahrhunderten ja auch Nachbarn der Ostgermanen (Much bei Hoops,
s. v. Kelten). Diese meeranwohnenden, ingaewonischen Völker konnten zur
Kenntnis der Schriften anderer Völker auf vielen Wegen gelangen. Werke
etruskischer Kunst sind im Norden und in Dänemark seit der Bronzezeit
nachgewiesen (Sophus Müller, Nordische Altertumskunde 1, 383. 2, 23),
warum sollte von den Alpen nicht auch etruskische Schrift in lateinisch-
keltischer Umrahmung nach dem Norden gewandert sein? Das Zauber-
wesen eines Volkes befruchtet ja gern das eines anderen. Diese Meinung
von der Entstehung der Runen erklärt auch ganz zwanglos, daß wir gerade
in Dänemark und im Norden die ältesten Runenaufzeichnungen besitzen, und
daß wir dort den größten Reichtum der Runen haben; sie blieben eben in der
Nähe ihrer ältesten Heimat2); von Norden wanderten sie dann mitden Goten.
’) Marstrander hält die germanische Reihe für einfacher, er glaubt in ihr
nur höhere und niedere Götter zu erkennen, neben Tiu, Wodan, Ing, Mannus Göt-
tinnen des Wohlstandes, der Freude, der Krankheit, der Not, der Reise usw. — Doch
diese abgezogenen Begriffe als Gottheiten erscheinen erst in der Spätzeit der ger-
manischen Mythologie, bei Snorri in der jüngeren Edda; wie andersgeartet sind die
keltisch-germanischen Matres und die Göttinnen der römisch-germanischen Inschriften!
Auch die römischen Gottheiten wie Ops, Pax, Abundantia usw., haben auf den jungen
Glauben der Germanen kaum gewirkt.
2) Die kürzlich entdeckte sehr alte Runeninschrift von Kärstad, W. Krause,
Zeitschrift für deutsches Altertum 66, 247, scheint wieder keltisch-germanisch und
führt wieder ans Meer und zeigt einen Kultus der Fruchtbarkeit, besser könnte
unsere Meinung vom Ursprung der Runen kaum bestätigt werden. — Noch verdient
die Tatsache Erwähnung, daß das altenglische Runengedicht den irischen Ogam-
alphabeten insofern nähersteht, als es unter den Runennamen eine größere Zahl von
Baum- und Pflanzennamen nennt, außer Birke und Eibe die Eiche, die Esche, das
Die germanische Runenreihe und ihre Namen.
181
Dieser Hinweis will nicht mehr sein als eben ein Hinweis, eine Arbeit« -
hypothese, die gelten mag, bis eine bessere sie ersetzt, und bis neue Funde
sie berichtigen.
Aber eines scheint nun sicher: Runenschrift und Runennamen führen
mindestens bis zur Wende unserer Zeitrechnung. Sie zeigen an einem neuen
und schönen Beispiel, daß Kultur und Dichtung unserer germanischen Vor-
fahren viel älter und reicher wraren, als wir früher wußten und als Tacitus
sagt. Wie falsche Wege ging doch die Forschung, die noch vor einem
Menschenalter glaubte, die alte germanische Dichtung und Religion seien
ein Nichts, und die stolz war, wenn sie ein Zeugnis germanischen Glaubens
nach dem anderen in kritikloser Überkritik zerpflückt oder wegerklärt
hatte! Unsere Runenreihe gibt uns ganz neue und großartige Aufschlüsse
über den Götterglauben der Germanen. Ein germanischer Priester war wohl
ihr Schöpfer, das würde der Bedeutung der germanischen Priester, die uns
Tacitus schildert, sehr wohl entsprechen (vgl. Göttersagen S. 106). Die
Priester erforschten die Ratschläge der Götter, sie wußten ihre Geheimnisse,
und sie führten ihre Bilder zu den Menschen. Überall ergänzen und beleben
die Runennamen nun das Bild, das uns Tacitus vom Glauben der Germanen
entwirft. Uns überrascht, wie heiter und zuversichtlich, wie besitzfroh und
stark die Germanen in diesen Versen Götter und Leben meistern. Nichts
von Krankheit, von tückischem Zauber und Verwünschungen, von den un-
heimlichen Mächten des Krieges, von den furchtbaren und grausamen
Opfern, von denen später die deutschen, englischen und nordischen Sprüche
und von denen die Dichtungen der Edda und des Nordens erfüllt sind.
Nichts auch von dem finsteren und unerbittlichen Ende, das der germanische
Gottesdienst so oft findet. Aber von dem Jubel, der die Nerthus und ihre
Feier umrauschte, spüren wir manches in unserem Gedicht. Auch erinnert
es uns an die frohe Heiterkeit jener Longobardenfabel, in der eine Priesterin
und die Frau des Himmelsgottes den Himmelsgott überlisten und die
Wünsche eines germanischen Stammes nach Kraft und Gedeihen erfüllen
(vgl. Göttersagen S. 50f.). Wir erinnern uns auch an die Schilderung des
Riesen Thrym in einem Lied der Edda, der inmitten seiner Schätze in seinem
Gehöft sitzt, seiner tiefschwarzen Ochsen und seiner goldgehörnten Kühe
sich freut und seinen grauen Hunden die goldenen Halsbänder umlegt;
nur die schönste Braut fehlt ihm.— Wie klug hat sich auch viele Jahr-
hunderte früher in der Bronzezeit ein semnonischer Edeling, der zu leben
wußte, bei Eberswalde den Platz für seinen Herrensitz ausgesucht; seine
Schätze können wir ja noch heute im Berliner Museum bewundern (Schuch-
hardt, Vorgeschichte von Deutschland S. 160). Im altenglischen Runen-
¡Schilf und den Dorn. — Schließlich verweisen wir auf die Runenfunde in Oldenburg,
Einritzungen auf Knochen, von uns noch nicht durchgeprüft. Aber sie scheinen zu
den alten Runeninschriften (2.—4. Jahrh. n. Chr.) zu gehören, sie zeigen, wie die
Inschrift in Kärstad, Bilder, z. B. ein Schiff, zweimal einen Mann, der einem Tier
gegenüber steht (feu und ur?), den Namen der Rune hagal und magische Zeichen.
So führen sie vielleicht auch in den Kreis und in die Welt und sogar in die Zeichen
und Bilder unserer Runenreihe. H. v. Buttel-Reepen und Emil Schnippei,
Funde von Runen mit bildlichen Darstellungen usw. Oldenburg 1930.
182
Mielke :
gedieht klingt die frohe und zuversichtliche Stimmung der germanischen
Runenreihe nach, freilich sind die Verse weicher und breiter geworden und
christlicher.
Manche germanische Völker haben sich die alte Zuversicht, die Lebens-
freude der germanischen Vorfahren und ihren Stolz auf ihren Besitz ge-
wahrt, nicht als das schlechteste Erbe der Urzeit. Möchte auch uns dies
Erbe nicht ganz verloren gehen!
Das Rote Meer.
Ein Beitrag zur Geschichte einer Volksanschauung.
Von Robert Mielke.
Die merkwürdige Straßen- oder Platzbezeichnung ,,Das Rote Meer“
findet sich in verschiedenen niederdeutschen Städten schon in alter Zeit.
Der Pyritzer Chronist Chelopöus1) berichtet 1574 aus Stargardt in
Pommern: ,,anno 1540 subito orta tempestate et vento validissimo conci-
derunt ibi altissimae turres duorum templorum cum turri maris rubri et
anterior pars curiae“. Der Name ist hier offenbar von einer Flurbezeich-
nung auf den Turm übertragen worden. Im Anschluß an einen Kampf
zwischen den Kaiserlichen und Gustav Adolf am 14. Juli 1630 hat die
Überlieferung diese Bezeichnung mit dem tatsächlich reichlich vergossenen
Blute in Verbindung gebracht. Eine gleiche Erklärung gibt es von der
Rotenmeergasse in Jüterbog, die nach Heffter (Chronik der alten Kreis-
stadt Jüterbog, Jüterbog 1851) ihren Namen von einem 1625 zwischen
Wallensteinschen und magdeburgischen Kriegern stattgehabten Blutbade
erhalten haben soll. Daß eine solche Überlieferung sich legendarisch an
kriegerische Ereignisse knüpft, liegt nahe, wird aber gegenstandslos an-
gesichts der Tatsache, daß in Arnswalde (Neumark), wo die Rotemeer-
straße gleichfalls ihren Namen von einem Gemetzel haben soll, sich ein
Kampf geschichtlich nicht belegen läßt2), und durch die weitere Tatsache,
daß der Straßenname auch allein oder mit anderen Adjektiven vorkommt.
Auch von der Straßenbezeichnung „Rotes Meer“ in Zörbig (Prov. Sachsen),
die anscheinend in enger Verbindung mit den Gassennamen „Ägypten“
und „Paradies“ steht, ist von einem kriegerischen Ereignis nichts bekannt3).
In Stralsund wird 1385 „in deme roden mere“ erwähnt (1397 rodemer,
1409 super rodemer, 1440 mare rubrum)4). Weitere Meer-Namen sind mir
x) Unser Pommernland 1, 370; Pommersche Heimatblätter, Beilage zur Star-
garder Zeitung 2 (1908/09), 35; Monatsblätter des Touristenklub f. d. Mark Branden-
burg 26, 1.
2) S. K. Berg, Arnswalde im 16. Jahrhundert.
3) Beschreibende Darstellung der älteren Bau- und Kunstdenkmäler des Kreises
Bitterfeld (Halle a. S. 1893) S. 90.
4) Nach einer freundlichen Mitteilung von Prof. Dr. A. Haas in Stettin, der
über „Das Rote Meer in Stralsund“ in der Sonntagsbeilage der Stralsunder Zeitung
Nr. 3 (16. 1. 1921) berichtet hat.
Das Rote Meer.
183
bekannt geworden aus Bremen, aus Lüneburg, wo eine Straße 1303
„in mari“, 1338 „uppe dem meri“, 1343 „platea quae dicitur supra mare“
genannt wird1), aus Dortmund als „auf’m Meer“2), aus Danzig, wo die
1695 im Außenwerk der Stadt gelegene Straße „Das schwarze Meer“ ihre
Bezeichnung von einem sumpfigen Tümpel führen soll3). Auch in Thorn
gibt es nach einer mündlichen Nachricht eine Rotemeergasse. Zu einer fast
literarisch anmutenden Erweiterung ist der alte Name in Bad Wildungen
entwickelt, wo eine ehemalig morastige Erdsenkung zwischen der Stadt-
mauer und der heutigen Neuen Gasse die Bezeichnung Meerschlund4) trägt.
Aus dieser Liste, die sich wahrscheinlich noch ergänzen läßt, geht schon
hervor, daß das „Rote Meer“ als Straßenname mit dem in der Bibel ge-
nannten Meer ursprünglich nichts zu tun hat5), daß der eigentliche Nach-
druck auf dem Worte Meer liegt, und daß das Bestimmungswort aus ört-
lichen Gründen, oft aber aus biblischen Gedankengängen nachträglich
hinzugefügt wurde. Dafür spricht, daß sich die Bezeichnung häufig als
Flurname findet. Kühnei in seiner Programmarbeit „Flurnamen aus
Mecklenburg-Strelitz“ erwähnt ein Rotes Meer in Petersdorf bei Woldegk
und ein anderes in Trollenhagen bei Neubrandenburg. Einer brieflichen
Mitteilung Prof. Wossidlos verdanke ich die Kenntnis des gleichen Flur-
namens bei Mirowdorf und bei Falkenhagen unweit Rehna. Er fügt
hinzu, daß in Mecklenburg die Bezeichnung „Roter See“ häufig sei. Jelling-
haus (Zeitschr. d. Ges. f. Schleswig-Holsteinische Geschichte 29, 247
und 282) kennt ein Rotmeresflete 1142 bei Seester (Wilstermarsch)
und die Flurnamen Beim Meerken in Ogendorf (18. Jahrh.), In den
Mehren bei Weddingstedt, Meersweteringe bei Bergedorf, die
Ortsnamen Kolmar und Cismar (17. Jahrh.). Ein hilliges Meer liegt
nach Abels, Die Ortsnamen des Emslandes (Paderborn 1927) S. 61 in der
x) Otto Jürgens, Gesch. d. Stadt Lüneburg (Hannover 1891) S. 29.
2) ZfrwVk. 13, 123.
3) Vorher hieß sie „Rosenthal“. Es spricht aber vieles dafür, daß das „Schwarze
Meer“ die ältere Bezeichnung für ein Gelände war, auf dem 1884 die kleine Berg-,
Bischofs-, Radaune- und Salvatorgasse entstanden sind. S. Stephan, Die Straßen-
namen Danzigs (Danzig 1911); E. Volckmann, Die deutsche Stadt im Spiegel alter
Gassennamen (Würzburg 1926) S. 143.
4) E. Volckmann a. a. O. S. 143.
6) Die Verbindung mit „Ägypten“ und „Paradies“ in Zörbig ist wohl als eine
spätere Angleichung an das schon vorhandene „Rote Meer“ aufzufassen. Solche, aus
religiösen Vorstellungen hervorgegangene Namengebungen, bei denen ein alter Flur-
begriff seine ursprüngliche Bedeutimg verlieren kann, sind nicht selten. Besonders
ist das Wort Helle — Abhang, Tiefe dieser Entwicklung oft erlegen und hat veranlaßt,
benachbarte Flur- und Gassennamen durch biblische'Bezeichnungen zu kennzeichnen.
S. F. Weber, Ortsnamen als Volkskundequellen in „Volkskunst und Volkskunde“
(München 1911) S. 81. In der Kremper Marsch heißen einzelne Ackerstücke die
Hölle, das Kloster, das Paradies, der Himmel (Detlefsen, Gesch. der Elb-
marschen 1, 185). Der Hölle bei Saaleck hat sich ein Paradies beigesellt. S. a.
A. Haas, Hölle in pommerschen Ortsnamen, Unser Pommernland 6, 1921 S. 270,
9, 1924 S. 65. So dürften auch der „große Teich Ägyptens“ als Herkunftsort der
kleinen Kinder in Buckow (ZfVk. N. F. 1, 197) und der alte Vorort Bremens Jerichow
zu erklären sein.
184
Mielke:
Nähe von Hopsten. „To deme hilligen Moore“ verzeichnet Wossidlo
(Mecklenburg, Zeitschr. des Heimatbundes M. 13, 21) in Vietow. Bei
Ostermarsch in Ostfriesland liegt der Moorsee „Das Ewige Meer“ (Nieder-
sachsen 26, 519). Kühnei (Forsch, z. Gesch. Niedersachsens 1, 36)
führt an „Das große Meer“, „Das kleine Meer“ und „Die kleine Meerwiese“
bei Groß- und Klein-Ilsede im A. Peine. Nach Hahn (Wanderungen durch
das nordwestliche Deutschland 1895) seien noch genannt: Der Dümmer-
diupMer und der Kolk „Großenmeer“ (S. 230), Zwischenahner Meer, einzelne
kleine Meere im Hochmoor bei Edewecht (S. 262), das Neuenburger und
das Lengener „Bullenmeer“ bei Collstede in Oldenburg (S. 264), einzelne
„Meere“ im Krummhörn bei Emden (S. 293), das „Große Meer“ bei
Finkenburg (S. 295), das „Braune Meer“ bei Esens, das „Brokzeteler-
meer“ und das „Düvelsmeer“ bei Aurich (S.301). O. Sach (Das Herzog-
tum Schleswig in seiner ethnographischen und nationalen Entwicklung 2,
245) kennt ein „Butmery“ bei Boldixum (1464), ein „Kleymeri“ in
Toftum (1664), ein „Meetzmeere“ in Oldsum und Toftum (1706) und
beruft sich auf die Südersee, die früher „Almari“, „Almeri“ = lacus
geheißen habe. Th. Imme (Zeitschr. f. rhein. u. westf. Vkd. 14, 99) erwähnt
für 1332 den „mansus tho der Meer“, den späteren großen und kleinen
Termershof bei Katernberg, in diesem Orte einen „Meerbusch“ und
„Meerbruch“, in Rotthausen einen „Maarkamp“, in Stoppenwinkel
einen „Merwynckel“ und einen „hoff to Merbecke“ (6, 180). In Lippborg
(Kr. Beckum) gibt es an Flurnamen „in de Miär“, „om’n Miärgraben“
und „op Bumbucks Miärske“ (Niedersachsen 26, 100).
Die Liste ließe sich noch erheblich erweitern. Fast alle diese Flurnamen
mit Einschluß der „Rotenmeere“ beziehen sich auf stehende kleine Gewässer,
auf Moore, und sind als mere, mer = Meer, Landsee zu deuten; sie liegen
den „Maren“ der Eifel zugrunde, haben sich in zahlreichen englischen
Ortsnamen als -mere Endung erhalten und erscheinen in holländischen
Urkunden gewöhnlich in der Form meri oder mari1). Häufig hat wohl, wie
beim „Schwarzen“ Meer, die Farbe des Moorgewässers Veranlassung zu der
näheren Bestimmung gegeben. Bei dem „Roten“ Meer wird, wenn auch
bei eisenhaltigem Boden eine konkrete Ursache nicht ausgeschlossen ist,
die biblische Vorstellung Einfluß gehabt haben — nicht unmittelbar,
sondern auf dem Wege einer älteren mythischen Gedankenwelt.
Das „Ewige Meer“ und das „Heilige Meer“ deuten auf einen Hinter-
grund, der das Meer — im weiteren Sinne das Wasser — aus der geographi-
schen Bedingtheit emporhebt zu einer im Volksglauben tief verankerten
dämonischen Macht. Das in U h 1 a n d s ,,Herzog Ernst ‘ ‘ angezogene „Leber-
meer“, das unmittelbar an des Pytheas „mare concretum seu mortuum“
anknüpft, offenbart Gedankengänge, die in dem Meer die unheimliche
Macht andeuten, und die in zahlreichen Sagen zu erkennen sind. *)
*) Belege dafür in den angeführten Arbeiten von Kühnei S. 36; Jellinghaus
S. 282; Sach 2, 245. Nach Detlefsen (a. a. O. S. 302) bezeichnen die Holländer
auch eingedeichte Flußländereien als broeck, moer, meir oder meer, s. E. H. M ey er.
Germ. Myth. Berlin 1891, S. 71.
Das Rote Meer.
185
Es mögen wohl mehrere Vorstellungen zusammengewirkt haben, um
das Wasser zum Aufenthaltsorte unheilvoller Dämonen zu machen. Auf
der einen Seite ist es die dunkle, geheimnisvolle, zerstörende Macht, die
dem Menschen den Untergang bereitet und in der Sage von der Sintflut
als einer der größten Erdkatastrophen die religiöse Überlieferung der Völker
beherrscht, auf der anderen die mythische Vorstellung, daß am Rande der
Welt dämonische Ungeheuer weilen, und daß man sich diese ferne Un-
endlichkeit als ein unbekanntes, Schreckens volles Meer vorstellte, in das
man das Gefährliche, Feindliche und Unreine verwies, wie es die Ilias (I, 313)
in den Versen anzeigt:
„Drauf hieß Atreus Sohn sich entsiindigen alle Achaier;
Und sie entsündigten sich und warfen ins Meer die Befleckung.“
Es ist die gleiche Vorstellung, die bei Cäsarius von Heisterbach (5, 2)
in der Sage von dem Ritter von Falkenstein hervortritt. Dieser ließ sich
von dem Abte an einem Kreuzwege in einen mit dem Schwerte gezogenen
Kreis bannen, um einmal den Teufel zu sehen. Als er erschien, fragte er
ihn, wo er wäre, und erhielt die Antwort: So weit auf der anderen Seite des
Meeres, als es von hier bis zum Meere ist.
Nach Seligmann (Der böse Blick und Verwandtes, Berlin 1910)
werden Geister in die Wüste (1, 311), auf einen Berg (1, 375) oder an das
andere Ufer eines Flusses (1, 367) gebannt, eine Vorstellung, die
Schmidt, Alte Verwünschungsformeln, Neue Jahrb. f. Philologie 143
(1891), 561 u. f., dahin erläutert, daß er hier das Ende der Welt einsetzt1).
Mit der Erkenntnis, daß das Meer (das Wasser) die Unholde von den Men-
schen scheidet, wuchs die Vorstellung, sie durch apotropäische Mittel
unschädlich zu machen und sie hinter das Wasser bannen zu können.
Denn über dieses können weder die Dämonen noch die Geister der Ab-
geschiedenen2). Ein Einsetzen biblischer Namen als Verstärkung dieses
Schutzes liegt sehr nahe. In einer Formel, die Lietzmann (Kleine Texte,
Heft 20, S. 28) und Wünsch (a. a. O. S. 27, Anm. 1) mitteilen, wird der
Jordan bereits in spätrömischer Zeit als Schutz angesprochen, über den
die Geister nicht können.
Unverkennbar gilt aber das Wasser auch als Wohnort der Dämonen.
Drachen und andere Ungetüme kommen aus dem Wa-sser3); haben sie
dieses verlassen, unterliegen sie oft dem Menschen. Das Wasser kann
x) S. a. R. Wünsch in: Th. Siebs, Festsehr. z. Jahrhundertfeier d. Universität
Breslau (1911) S. lff.
2) Es ist zu erwägen, ob die sagenhafte Gepflogenheit nordischer Meerkönige,
sich nach dem Tode auf einem Schiff in das Meer hinaustreiben zu lassen, nicht darauf
beruht, den abgeschiedenen Geistern die Rückkehr zu erschweren. Man ersetzte diesen
Vorgang später durch die Beisetzung in einem Schiffe und schließlich durch die An-
ordnung der Grabsteine in Schiffsform.
3) Als ein Markgraf von Baden einmal mit geweihten Kugeln in den für heilig
gehaltenen Mummelsee geschossen hatte, ist aus ihm ein schreckliches Ungetüm
herausgestiegen und hat den Fürsten mit seinem Gefolge verjagt (Wolf a. a. O.
S. 376 Nr. 268). Drachen kommen oft aus dem Wasser, s. Henne am Rhyn,
Deutsche Volkssagen (Leipzig 1878) S. 41 Nr. 57—60.
186
Mielke:
schon an sich schützen. In Indien gießt man, um feindliche Naturkräfte
abzuwehren, einen ununterbrochenen Wasserstrahl um das Haus, das man
beziehen will, oder auch, um Schlangen abzuwehren. „Man sprengt Wasser
um einen Platz, wo der Leichnam eines Verwandten verbrannt oder seine
Überreste beerdigt werden sollen .“(A.Hildebrandt, Festschr. Breslau S. 5).
Hie vielen Sagen von versunkenen Schlössern tragen dieser Vorstellung
Rechnung1), indem sie die Geister nur an dem See spuken lassen. In dem
Güß, einem großen See, ist der Hof geiziger Bauern untergegangen. Das
Wasser hält sie und die Unseligen fest, die sich hinein wagen (Pro hie,
Harzsagen S. 182 Nr. 3 und S. 233 Nr. 3). Zahlreiche Geister bevölkern
den Peterssee bei Lieh (Hessen), die sich um Mitternacht in Feuergestalt
zeigen, und die das Volk für abgeschiedene, von schwerer Schuld beladene
Seelen hält (Joh. Wilh. Wolf, Deutsche Märchen und Sagen [Leipzig 1845]
S. 568 Nr. 460). Sie waren meist nicht von Anfang an in dem See, sondern
sind erst, nachdem sie die Lebenden erschreckt hatten, hineingebannt
worden2).
In der Regel sind es dunkle, abgelegene, unheimliche Gewässer, in die
der Geist gebannt wird, wie sie sich besonders zahlreich in den norddeut-
schen Mooren finden. Doch können es auch andere Gewässer, unter Um-
ständen auch Gefäße sein, die in das Wasser versenkt werden. Den Geist
des Amtmanns von Katlenburg verbannte der katholische Pfarrer „in die
tiefste Stelle beim Zusammenfluß der Ruhme und Oder. Er ist auch
niemals wiedergekommen“: Schambach-Müller, Niedersächsische Sagen
(1855) S. 131. In Dömitz wurde der wegen seiner Strenge verrufene
Bürgermeister Behler nach seinem Tode auf den Mittelwerder, „der ringsum
von Wasser umgeben war“, gebannt: K. Bartsch, Sagen, Märchen und
Gebräuche aus Mecklenburg (Wien 1879—80) S. 166 Nr. 205. Als ein
Pfarrer in Kleve sich anheischig machte, eine Messe eher zu lesen, als der
Satan einen Stein von jenseit der See holen könnte und die Wette gewonnen
hatte, rief der entrüstete Teufel aus: „Das ist nicht zu verwundern; das
häßliche Weib, das auf deinem Altäre steht, hat mich zu dreien Malen in
die tiefste Tiefe der See gestoßen“ (Wolf a. a. 0. S. 425 Nr. 302). Der
Pfarrer von Würmlingen bannte einen Geist in eine Flasche und warf ihn
in das „Schrännenloch“, wo er versank: Rochholz, Schweizersagen a. d.
Aargau (Aarau 1856) 1, 309 Nr. 220. Ein anderer Geist wurde in einer
Flasche in einem Sumpfe beiLütwil, der „von Moorgeistern und verwünsch-
ten Seelen bevölkert war“, versenkt und wurde durch Zerschlagen der
Flasche frei: Rochholz a. a. O., 2, 140 Nr. 366.
Dieses Verbannen der Geister in ein Wasser hat sich — in Anlehnung
an das mere, mer — offenbar mit dem biblischen Roten Meer verknüpft.
B Wilh. Krebs im Globus 81, 63. Dieser Vorstellung trägt auch eine Haus-
inschrift aus Oldersum bei Emden von 1580 Rechnung, wenn sie über die Untreue der
Zeit klagt: De Waerheit is to Hemmel ghetogen, de Trouwe is over dat wilde Maer
gefloghen usw.
2) Wolf, Deutsche Märchen u. Sagen S. 568/569 Nr. 460; vgl. S. 354/355
Nr. 245. S. 355 Nr. 246.
Das Rote Meer.
187
Daß an unmittelbare Beziehungen nicht gedacht werden kann, ergibt sich
aus dem Schwanken zwischen Rotem, Totem, Schwarzem und anderen
Meeren und aus dem Wechsel zwischen Meer und See. Die Verwünschungen
in das „Rote Meer“ sind recht zahlreich. Ohne nach Vollständigkeit zu
streben, sei aus der mir zur Verfügung stehenden Literatur angeführt:
J. W. Wolf, Niederländische Sagen (Leipzig 1843) Nr.395; ders., Nieder-
sächs. Sagen (Leipzig 1845) S. 432, 574; ders. Deutsche Märchen u. Sagen
(Leipzig 1845) S. 113, 130, 395, 460, 491; A. Kuhn, Norddeutsche Sagen,
Märchen u. Gebräuche (Leipzig 1848) S. 163 Nr. 2 u. Anm. S. 489; Pröhle,
Harzsagen (Leipzig 1854) S. 30—32 Nr. 11. S. 105 Nr. 28. S. 191 Nr. 3;
W. Schwartz, Volkstüml. Schlaglichter, ZfVk. 3, 124. — Die Rote See
kennen: J.W.Wolf, Deutsche Märchen u. Sagen S. 221. 222 Nr. 113. S. 236
Nr. 130. S. 517 Nr. 395. Ins Tote Meer verweist Sepp, Altbayr. Sagen-
schatz (München 1876) Nr. 385. Das Schwarze Meer hat Kuhn a. a. O.
S. 163 Nr. 189, 2. Vereinzelt kommen dann noch vor: Offenbare See
(Schambach-Müller S. 232), das Rote atlantische Meer (Mitt. Prof.
Wossidlo) und Roter Sund, die Meerenge zwischen Falster und Laland
(Rochholz, Altdeutsches Bürgerleben [Berlin 1867] S. 225)undToter See
bei Berlin-Mühlenbeck. Bei Schambach-Müller (a. a. 0. S. 253 Nr. 1)
wohnt die verzauberte Prinzessin „über dem roten, dem weißen und
dem schwarzen Meere“, ein deutlicher Hinweis, daß eine bestimmte
geographische Örtlichkeit bei der Formel nicht in Frage kommt.
Auf das Moor1) als Verbannungsort wird auch unmittelbar hingewiesen:
Schles. volkst. Überlieferungen, Breslau, Bd. 4 Nr. 629. 630 (sumpfige
Stelle); Strackerjan, Abergl. u. Sagen a. d. Herzogt. Oldenburg (1867)
2, 368(Bullenmeer s.o.S.184); Wolf, Deutsche Märchen u.Sagen S.228Nr.ll9
(Pütz u. Brunnen); Schambach-Müller a. a. O. S. 61 Nr. 82 (unergründ-
licher Sumpf); Wolf a. a. O. S. 223 Nr. 114; Henne am Rhyn a. a. O.
S. 78 Nr. 149 (Moor). Eine besondere Abzweigung des Wasseraberglaubens
bilden die Segen mit ihrer Zurückbeziehung auf das Rote Meer. Wenn
Abt (Philol. 69, 150) einen Zauber anführt, der den Dämon des Kopfwehs
durch zauberkräftiges Wasser verscheucht, dann spricht auch dies für die
Furcht der Dämonen vor dem Wasser. In dem Bregenzer Wettersegen
„trib das Wasser in das Rotte Meer, Berg unnd Spitz, da weder Vieh
noch Leüt ist“ (Arch. f. Rel.-Wissensch. 12, 159; Wünsch, Festschr,
Breslau S. 25 Anm. 5) ist das Rote Meer zu einer festen Formel geworden,
aus der die Verbannung in das Wasser noch leise hindurchklingt. Völlig
verdunkelt ist aber der ursprüngliche Sinn in einer A. Kuhn (a. a. O.
S. 456 Nr. 385) aus Swinemünde zugegangenen Formel gegen eine Pferde-
krankheit :
Unser Herr Christus wandelt durchs rote Meer,
Es kam ein Pferd von ungefähr,
Unser Herr Christus stand" am Kreuzesstamm,
Da er dem Pferd die Fibel (Krankheit) nahm. I. N. G. usw.
i) Eine andere Ausstrahlung des Wortes Moor, ahd. u. mhd. muor hat Schoof
(ZfVk. 27, 221) gezeigt, indem er die Sippe der in Mord umgedeuteten Flurnamen
verfolgt.
188
Mielke: Das Rote Meer.
Ähnlich auch in einem Schutzbrief, den E.H.Meyer, Indogerm. Mythen
(Berlin 1883) S. 527 mitteilt, und in einem mecklenburgischen Erntekranz-
spruch aus Vietlübbe: „ich wünsche . . .ein schwarzbraunes Pferd; damit
soll er reiten durchs Rote Meer1)“ ist der alte Sinn bis zur Bedeutungslosig-
keit erstarrt, wie auch bei dem Heilspruch, den Pr ahn, ZfVk. 1, 194 aus
Landsberg a. W. mitteilt:
Flechte, du sollst dich mit der Asche verbinden,
Flechte, du sollst über das rote Meer verschwinden,
Flechte, du sollst nicht mit der Asche kommen wieder.
Die Vorstellung des Roten Meeres ist auch nach Irland gelangt, wie
es die Sammlung Sagen und Mährchen von K. v. K. (Killinger), Stuttgart
1847—49 S. 185, 192, 254—257, 450 zeigt. In diesem Lande haben wir die
gleiche ernste, moorreiche Heidelandschaft wie in Nordwestdeutschland.
Es ist vollauf berechtigt, wenn Schambach-Müller (S. 365) behaupten,
daß von Bedeutung nur die See überhaupt sei, die hier „wie die Tiefe des
Wassers wieder als die Unterwelt erscheint. Damit stimmt, daß Geister
auch in Moore, Sümpfe, finstere Wälder, Schluchten und ähnliche unheim-
liche Orte verwiesen werden“. Der Weg, den das Rote Meer nach Irland
genommen hat, führt offenbar über England, wohin die Endung mere
wohl mit den Angelsachsen gekommen war, und wo nach Gr ose, A provin-
cial Glossary (S. 15 nach Kuhn a. a. O. S.489) die Geister in das Rote
Meer gebannt werden. Ausgeschlossen ist es freilich nicht, daß bei den
engen Verbindungen der irischen Mönche mit dem vormittelalterlichen
Deutschland die Übertragung unmittelbar erfolgt ist.
Die Entwicklung der Roten Meer-Vorstellungen liegt anscheinend
in drei Schichten vor: in dem Flurnamen mere, mer für ein sumpfiges
Moorgewässer, in dessen Verbindung mit biblischen Vorstellungen und
in der unverstandenen formelhaften Anwendung bei Bann-, Zauber- und
Segenswünschen. *)
*) Mitteilung von Prof. Wossidlo in Waren.
IV. Volkskunst
Eine volkstümliche Darstellung* des Todes
vom Oberrhein.
Von Paul Diepgen.
(Mit 13 Abbildungen.)
Die in Abb. 1 wiedergegebene, im ganzen etwa 1 m lange, mit rötlicher
und darüber grau gedeckter Farbe bestrichene, holzgeschnitzte Figur fand
sich ursprünglich in der Kirchhofskapelle von Obersäckingen am Rhein,
einem kleinen gotischen Bau des 16. Jahrhunderts. Fr. X. Kraus zählte
sie vor Jahren als figura mortis unter den Kunstdenkmälern Badens auf
und hielt sie der Erhaltung für wert1). Später kam sie in das kleine Museum
von Säckingen, das allerlei lokal- und besonders prähistorisch Interessantes
bietet2). Sie gehört wohl dem späteren 17. oder dem 18. Jahrhundert an.
Der erste Eindruck ist der, daß der Schnitzer dem Beschauer einen Einblick
in die Anatomie bestimmter Regionen des menschlichen Körpers geben
will, etwa am Kopf in die Gegend des Kiefers und seiner Gelenke, in die
Hals-, Schlüsselbein- und Mundbodengegend (Abb. 2), in die Bauchhöhle
mit der Leber und den Därmen (Abb. 3), in das Kniegelenk (Abb. 4).
Was sie dem Medizinhistoriker interessant macht, ist die für ein solches
volkstümliches Objekt in manchen Einzelheiten recht gute Anatomie.
Es gilt als feststehende Tatsache, daß die Toten in den bildlichen
Darstellungen der Totentänze wirkliche Totenleiber wiedergeben sollten3).
Die Gestalt des Todes selbst enstand darin aus dem Vorbild der lebenden
Darsteller in den Totentanzaufführungen. Man setzte zunächst sozusagen
einem lebenden Körper, wie das in der Maske des Darstellers begründet
war, einen mehr oder weniger gelungenen skelettierten Schädel auf. Später
suchte man dann aber auch wirkliche Leichen nachzuahmen. Es war
schließlich kein großer Unterschied mehr, ob man einen Toten, der den
1) F. X. Kraus, Die Kunstdenkmäler des Großherzogtums Baden Bd. 3
(Waldshut), S. 44.
2) Mein Assistent, Dr. Artelt, hatte die Freundlichkeit, mich darauf auf-
merksam zu machen. Dem Verwalter des Museums, Herrn Gersbach, bin ich für
die längere Überlassung des Stückes, meinem Freiburger Kollegen Sauer für manchen
kunsthistorischen Hinweis dankbar.
3) Vgl. A. Goette, Holbeins Totentanz und seine Vorbilder. Straßburg 1897.
190
Diepgen :
Lebenden nach sich zieht, oder den Tod sozusagen in eigener Person
wiedergab. In der Literatur ist viel davon zu lesen, wie sich in diesen
Bildern die fortschreitende anatomische Kenntnis, insbesondere im Skelett-
bau, zu erkennen gibt. Speziell wird Holbein ein glänzendes exaktes
Wissen darin zugeschrieben. Ein Mediziner wird das nicht ohne weiteres
gelten lassen1). Ich glaube, es kam zunächst keinem von diesen Künstlern
darauf an, zu zeigen, was er vom Bau der Menschen wußte, sondern auf
die Erzielung einer starken Wirkung auf den Beschauer, die mit der Ana-
tomie nicht gerade in grellem Widerspruch stehen durfte, aber ihr auch
nichts opferte. So hat man den Tod als lebendigen Leichnam mit den
Zeichen der Verwesung gestaltet. Gerade Holbein ist das klarste Beispiel
dafür. Er bringt den höhnenden, spottenden, trommelnden, schlagenden,
raufenden, stechenden Tod bald mit diesem bald mit jenem Zeichen des
verwesenden Leichnams. Diese Zeichen sind in einer weit zurückgehenden
Tradition festgelegt.
Wann das zum ersten Male geschah, wird sich schwer feststellen lassen.
Nach Mâle2) war einer der ersten, die sich außen auf dem Grabmal so
darstellen ließen, wie sie im Sarge lagen, d. h. nackt und mumifiziert, etwa
1394 ein Arzt, Guillaume de Harcigny, der Karl VI. behandelt hat
(Abb. 5)3), und etwas früher vielleicht Charles de Hangest, der 1388 starb4).
Um 1422 finden wir den Realismus auf einem Grabstein aus Rouen
insofern noch weiter durchgeführt, als hier Würmer auftreten und die
Verwesung durch das wenigstens angedeutete Vorquellen der Bauch-
eingeweide markiert wird (Abb. 6)5). Die Öffnung in den Bauchdecken
erscheint als die natürliche Folge des Verwesungsvorganges. Damit ist
ein gewisses Schema festgelegt, das sich in bildlichen Darstellungen der
Kunst, in den Illustrationen von Handschriften, in denen die Todes-
figur etwa seit 1400 auftritt, und in den Drucken fortsetzt. Die Kon-
figuration der Bauchhöhlenöffnung und der Stellen, an denen die Würmer
nagen, verändert sich allmählich. Die Ränder der Öffnung werden unregel-
mäßig6) und schließlich ganz kantig und scharf, wie mit dem Messer
geschnitten, z. B. auf einem Totentanz, der 1528 von Nicolas le Rouge
in Troyes gedruckt wurde (Abb. 7)7), an den Bauchdecken und in Livres
x) So E. Holländer, Die Karikatur und Satire in der Medizin2 (Stuttgart
1921), S. 52.
2) É. Mâle, L’art religieux de la fin du moyen âge en France (Paris 1908), S. 376.
3) Aus E. Fleury, Antiquités et monuments du département de l’Aisne (1882)
4, 241, fig. 668.
4) La Picardie hist. et monum., 2, 40; nach Mâle. Auf einem ähnlichen Grabmal
des Kardinal Lagrange, der 1402 in Avignon starb (vgl. Mâle fig. 181, S. 377), spricht
der Tote Worte, die ähnlich wie in den Totentanztexten den Beschauer an die Ver-
gänglichkeit alles Irdischen und daran erinnern sollen, daß er wie der Verstorbene
bald ein stinkender, den Würmern zum Fraß dienender Kadaver sein wird.
5) H. Langlois, Essai hist. phil. et pittoresque sur les danses des mortes
(Rouen 1852), pl. XXXVH.
®) Z. B. in einem von 1485 bis 1499 wiederholt von Gujot Marchant in Paris
gedruckten Totentanz; vgl. Langlois pl. XV.
7) Langlois pl. XXIH.
Abb. 3. Abb. 4.
Zeitschr. f. Volkskunde NF II, 1—2: Diepgen, Eine volkstümliche Darstellung des Todes vom Oberrhein.
Eine volkstümliche Darstellung des Todes vom Oberrhein. 191
d’heures-editionen aus dem 16. Jahrhundert an den Stellen, wo ursprüng-
lich die Würmer die Extremitäten benagten (Abb. 8)1). Letztere erinnern
etwas an die schematischen Darstellungen der Leprösengschwüre in mittel-
alterlichen Manuskriptillustrationen. Auch in der Art, wie die bloßen
Knochen gezeigt werden, an denen nur noch Muskel- und Eleischfetzen
hängen, tritt eine gewisse Stilisierung hervor2). Im Berner Totentanz
(1515—1520) (Abb. 93)) hängen die Muskeln wie ein fransiges Kleid um
die Knochen. So ist der anfängliche Versuch zur Naturtreue einer mehr
und mehr schematisch stilisierten Auffassung gewichen.
Bei einer zweiten Gruppe solcher Totendarstellungen, für die sich
allerdings weniger zahlreiche Belege beibringen lassen, hat man den Ein-
druck, als sei es von vornherein darauf abgesehen, das Innere des
menschlichen Körpers dem Einblick wie mit einem Seziermesser künstlich
zugänglich zu machen. So weist z. B. auf verschiedenen Bildern des
Klingentaler Totentanzes, der etwa um 1400 entstanden sein dürfte, die
Bauchwand nur einen einfachen schmalen Längsspalt auf, der der Schnitt-
führung bei der Sektion entspricht (Abb. 10)4), und beiderseits konvexe
Schnitte, die von der Brustbeinspitze divergierend nach der Leiste laufen,
mit dem heruntergeklappten Eleischlappen, wie wir sie in dem Mainzer
Totentanz von 1494 (Abb. II)5) sehen, werden von Heinrich von Monde-
ville (gest. nach 1325) für die Eröffnung weiblicher Leichen zum Zwecke
der Einbalsamierung empfohlen6). Natürlich hat der Künstler mit diesem
Lappen auch die Genitalien bedecken wollen, die bei Totengestalten nur
einmal ganz ausnahmsweise sichtbar sind7); man verhüllt sie wie bei einer
weiblichen Figur aus der Nürnberger Chronik von 1493 (Abb. 12)8) oder
bei unserer Skulptur gelegentlich auch durch die Därme.
Mit der Übernahme des Sektionsschnittes in diese Darstellungen ist
neben der Erinnerung an die Vergänglichkeit alles Irdischen, ein neues
wieder echt volkstümliches Moment in die Psychologie der Abbildung des
Todes gekommen, die Sensation der Anatomie, die Befriedigung der
Neugier. So würden sich auch die zackigen Umrandungen der Öffnungen
an den verschiedensten Stellen des Körpers aus der späteren Zeit, vor
allem bei der Obersäckinger Figur, erklären, die doch mit Verwesung nichts
mehr zu tun haben und eher — man beachte vor allem die Öffnung auf
der rechten Brustseite in Abb. 3 und am Knie in Abb. 4 — an eine prä-
paratorische Freilegung erinnern. Den Grund mag man von seiten des
Künstlers in dem durch die fortgeschrittene Anatomie bedingten Be-
dürfnis nach wahrheitsgetreuem Realismus, von seiten des Publikums in
*) Langlois pl. XIII.
2) Z. B. im Großbasler Totentanz. Vgl. Goette S. 79 und 116.
3) Goette S. 154.
4) Goette, Beilage zu S. 76/77.
6) Holländer S. 54.
6) Vgl. E. von Rudloff, Über das Konservieren von Leichen im Mittelalter.
Med. In.-Diss. Freiburg i. Br. 1921.
7) Vgl. Abb. 13.
8) Langlois pl. XXVII.
192
Ritz:
einer Art Panoptikumgenuß sehen. Verständlich ist nun auch die irrtüm-
liche Etikettierung des Stückes im Museum von Säckingen als „ana-
tomisches Modell“; denn die Anatomie ist zwar durchaus populär, aber
nicht schlecht. Nach der Haltung des Körpers möchte man ein Pendant
annehmen, so daß es sich etwa um die Darstellung aus einem Beinhaus
gehandelt hätte, dessen Knochensammlung rechts und links von sym-
bolischen Figuren der Vergänglichkeit alles Irdischen flankiert war, ähn-
lich wie sie das Beinhaus aus dem Klingenmünster Totentanz gibt1). Die
graue Deckfarbe entspricht auch der Tradition. Vielleicht haben sich
Eindrücke aus dem weiten Kreis der oberrheinischen Totentänze, deren
künstlerische Entwicklung ihre Wiege in Basel hatte, mit anatomischen
Kenntnissen verschmolzen, die man dort im 17. bis 18. Jahrhundert leicht
erwerben konnte.
Wir hielten die Figur bis »vor kurzem für ein Unikum. Den Fach-
leuten, denen wir sie zeigten, ging es nicht anders. Da sahen wir bei Weber2 *)
die in Abb. 13 wiedergegebene Holzstatuette aus dem Viktoria-und-Albert-
Museum. Sie läßt, obwohl der Tod hier Bogen und Köcher mit Pfeilen
trägt, insbesondere an den rechts freigelegten Rippen und am linken Knie
die Verwandtschaft mit unserer Figur erkennen. Weber hält sie für eine
Werkmeisterarbeit aus dem 18. Jahrhundert von holländischer oder deut-
scher Abkunft. Vielleicht ist nach dem Gesagten ihre Heimat wie die
unserer Skulptur am Oberrhein zu suchen.
Die große Volkstümlichkeit der Totentänze und der Darstellung des
Todes mögen die Mitteilungen eines so bescheidenen Beitrages an dieser
Stelle rechtfertigen.
Doppelscliüsseln.
Von Josef Maria Ritz.
(Mit 5 Abbildungen.)
Die volkskundliche Wissenschaft kann oftmals aus den Alltäglich-
keiten des Lebens wichtige Erkenntnisse ziehen, ihr ist nichts von vorn
herein unbedeutend. Freilich ist bei dem unabsehbaren Stoff gerade der
Sachvolkskunde eine Auswahl, ein Herausgreifen ergiebiger Forschungs-
gegenstände dringend notwendig. Zu solchen Gegenständen scheinen uns
die Doppelgefäße zu gehören. Man muß dabei zwei Hauptgruppen unter-
scheiden, die nebeneinandergereihten und die ineinandergefügten Gefäße.
Die letzteren kommen gewöhnlich als große irdene Schüsseln vor, aus
deren Mitte ein werkmäßig fest damit verbundener Napf heraus wächst.
Ihr Zweck ist die Trennung von Speisen. Die Größe der Schüsseln
(Durchmesser bis zu 1 m) sagt aus, daß dieselben gebraucht wurden und
9 Vgl. Goette S. 69.
2) Frederik Parkes Weber, Aspects of death and correlated aspects of life in
art, epigram and poetry4 (London 1922) S. 157, Fig. 2.
Doppelschüsseln.
193
z. T. noch werden sowohl zum gemeinsamen Essen aus einer Schüssel,
als auch nur zum Aufträgen der Speisen. Die Verbreitung der Schüsseln
ist noch nicht genau festgestellt. Ein besonders wichtiges Vorkommens-
gebiet scheint indes der Lebensraum des bayerischen Stammes zu sein.
Dort findet man sie von der nördlichen bis zur südlichen Grenze, vom
Fichtelgebirge bis nach Steiermark, wobei allerdings innerhalb dieses Ge-
bietes eine Reihe von Landstrichen ausfällt. Für den nördlichen Rand-
streifen bietet das Fichtelgebirgsmuseum in Wunsiedel Belege, sie heißen
dort Krautschüsseln. Im Napf befand sich die Brühe, in der Schüssel
die Speise. (J. M. Ritz, Das Fichtelgebirgsmuseum zu Wunsiedel, Bayer.
Heimatschutz 1927,62;vgl. Abb. 1.) In der Steiermark gibt es hölzerne Doppel-
schüsseln in zwei Größen für gemeinsames und für Einzelessen (Abb. 2). Die
größere Schüsselhat einen Außendurchmesser von 40 cm und eine Außenhöhe
von 10 bis 11 cm. Der Napf ist 12 cm hoch und hat 16 cm Durchmesser.
Die entsprechenden Maße der kleinen sehr flachen Schüssel sind 24 cm
Durchmesser, 5 cm Höhe (Schüssel und Napf) und 6,5 cm Durchmesser
des Napfes. Die aus einem Stück gedrechselten Gefäße dienen zum
Läutrachtunken für das gesamte Hausgesinde an den Sonnabenden1).
Auch Tirol kennt irdene und hölzerne Doppelschüsseln, und zwar im
Pustertal, Enneberg, Eisacktal und Sarntal. Man heißt sie Krapfen-
schüsseln; die Krapfen lagen in der Schüssel, im Napf war der Rahm.
Der Durchmesser betrug durchschnittlich 60 cm2). In der Passauer Gegend
haben die sog. Breinschüsseln gelegentlich den inneren Napf zum Bewahren
des flüssigen Schmalzes, mit welchem der Brein (Hirsebrei) genossen
wurde. (H. Karlinger, Deutsche Volkskunst 4, Altbayern, München 1925,
S. 34.) Im oberen und unteren Inn viertel ist dann die Schüssel schon wieder
unbekannt. Dagegen soll sie in Gmunden hergestellt worden sein, wo auch
noch kompliziertere „Gemüseschüsseln“ gefertigt wurden, die außer dem
Napf noch fächerförmige Abteilungen haben. Hier biegt der Typus ins
Bürgerliche und Gewerbsmäßige um3).
Außerhalb des bisher innegehaltenen Stammesgebietes ist die Schüssel
beispielsweise aus Schleswig-Holstein bekannt, wie ein Stück aus Hohen-
Westedt im Berliner Volkskundemuseum (Durchmesser 38 cm, Schüssel-
und Napfhöhe 8,5 cm) beweist. Ein anderes Exemplar dieser Sammlung
stammt angeblich aus Böhmen. Auch in Skandinavien sollen derartige
Schüsseln Vorkommen4).
Die genaue Feststellung des Vorkommens unserer Doppelschüsseln
wäre gewiß sehr wünschenswert, eine Aufgabe übrigens, die der Volkskunde-
atlas, der sowieso nach den Eßbräuchen fragen muß, übernehmen könnte.
3) Läutrach bedeutet den Schaumrückstand beim Butterzerlassen. Mitteilung
dieser Notizen durch Pater Romuald Pramberger, O.S.B., St. Lambrecht.
2) Mitteilung von Dr. Ringler, Volkskunstmuseum, Innsbruck.
3) Mitteilung von Hugo v. Preen, Osternberg bei Braunau.
4) Eine Abart stellen die Zittauer Fischschüsseln (Berliner Volkskundemuseum,
s. Abb. 3) dar, deren Wände nach innen steil geneigt sind. Der flache Napf ist von
Löchern durchbohrt, damit der abtropfende Fischsud sich darin sammeln kann.
Zeitschrift für Volkskunde II, 1—2. 13
194
Ritz:
Dabei wird es sogleich klar, daß die Ausweitung des Atlasunternehmens
über den deutschen Sprachraum hinaus auf ganz Europa zur Lösung
vieler Fragen notwendig erscheint. Erst auf Grund von Verbreitungs-
karten kann man an weitere Fragestellungen herantreten, wie z. B. nach
dem Grund des Vorkommens oder Fehlens in einer Landschaft, nach
Wanderung der Gefäßform, die sich über große räumliche Entfernung hinweg
meist sehr ähnlich sieht, oder nach immer neuer selbständiger Entstehung
aus dem Zweck. Im letzteren Falle wären die Umstände brauchmäßiger
oder sonstiger Art zu erforschen, die gerade diese Zweckform hervorrufen.
Die Betrachtung müßte deshalb notwendigerweise auf Altertumskunde,
Vor- und Frühgeschichte und Völkerkunde ausgeweitet werden, wobei
sich die neue Frage erhebt, ob diese Doppelschüsseln vielleicht irgendwo
und irgendwann kultische Bedeutung hatten und ob sie eine Eigentümlich-
keit primitiver oder fortgeschrittener Kulturen sind. Wir neigen trotz
Abb. 4. Doppelschüssel. Keltisch römisch.
Maßstab 1:2.
mancher entgegenstehender Erwägungen vorläufig mehr der letzteren Auf-
fassung zu, besonders weil, soweit einstweilen unsere Beobachtungen
reichen, beim völkerkundlichen Material die Naturvölker völlig auszufallen
scheinen, während China und Japan wieder ähnliche Gefäßformen besitzen.
Sie haben dort allerdings einen ganz anderen Zweck, sie dienen als Unter-
gestell oder Untersatz für Schalen, sind also ziemlich klein. Dagegen kom-
men aneinandergereihte Doppelgefäße häufiger auch bei Naturvölkern,
z. B. im Kongo und Peru vor.
Was nun das frühe Vorhandensein unserer Schüssel in Europa betrifft,
so haben wir anscheinend bisher nur ein einziges keramisches Belegstück,
das bei den Ausgrabungen auf der Engehalbinsel bei Bern 1927 im römischen
Straßenvikus gefunden wurde1). Hier haben wir nun den genauen, wenn
auch mehr schalenartigen Typus unserer heutigen Doppelschüsseln bereits
x) Ich verdanke den Hinweis und die Zeichnung (Abb. 4) Herrn Prof. Dr. Tschumi
in Bern. Über die Ausgrabungen auf der Engehalbinsel vgl. Jahrbuch des Bernischen
historischen Museums, Bern 1923—-28.
Doppelschüsseln.
195
vorgebildet. Die Frage der Forterbung- oder Wanderung bzw. zweck-
haften Neuentstehung erhebt sich deshalb mit besonderer Eindringlichkeit.
Dabei ist bemerkenswert, daß, soweit festzustellen war, im Bernischen und
vielleicht sogar in der ganzen Schweiz aus neuerer Zeit keine solchen
Schüsseln bekannt sind. Dagegen befindet sich im gleichen historischen
Museum zu Bern, das die Ausgrabungen der Engehalbinsel beherbergt,
ein Flechtwerkgerät, das genau den gleichen Typus zeigt, wie unsere
Schüsseln und angeblich zum Tragen eines Brauchgebäckes (Zopfkranz)
diente (Abb. 5). Dieses Vorkommen spricht wieder für Entstehung rein
aus dem Zweck.
Diese vorläufigen Mitteilungen haben lediglich die Absicht, das Augen-
merk auf diese Gefäßbildung hinzulenken in der Hoffnung, daß sich sowohl
aus der Volkskunde wie auch aus anderen einschlägigen Wissenschaften
weiteres Material beibringen läßt, das wiederum die Grundlage dafür
böte, um wichtige Probleme der Sach Volkskunde fruchtbar zu erörtern.
13
V. Volkskunde und Auslandsdeutschtum.
Staatsgrenzen und Volkskunde.
Von Gustav Jungbauer.
Die Verkehrsgrenzen, die wieder in erster Reihe von politischen und
kirchlichen Grenzen abhängen, sind für die Entstehung und Verbreitung
der volkskundlichen Erscheinungen und für ihre Umformung im Laufe der
Überlieferung von größter Bedeutung1). Mit Glück und Erfolg wurden
insbesondere von der neueren Mundart- und Sprachforschung die Sprach-
räume untersucht, wie sie sich ,,in den Zusammenhang der Kultur ein-
ordnen und vom Ablauf des Verkehrs gestaltet werden“2). Der von Georg
Wenker geschaffene „Deutsche Sprachatlas“ lieferte die Grundlage für
die Begründung der geographisch-historischen Methode durch Ferdinand
Wrede, die durch Hermann Aubin, Theodor Frings, Josef Müller u. a.
ihren glänzenden Ausbau erfuhr.
Auf diesem Wege darf aber die Sprachforschung nicht allein bleiben,
hier muß die gesamte volkskundliche Forschung mitgehen. Auch für die
Volksdichtung und Volksmusik, für den Volksglauben und für die Volks-
medizin, für das Brauchtum und Volksrecht, für Hausbau, Siedlungswesen,
Wirtschaftsleben, Kleidung und Nahrung und für die Volkskunst im engeren
Sinne sind die durch politische und kirchliche Grenzen geschaffenen Kultur-
räume aufzudecken und die darin bemerkbaren Bewegungen nach Ursprung
und Entwicklung zu verfolgen. Denn die politische Grenze und Verkehrs-
grenze wirkt nicht allein sprachscheidend, sondern verursacht auch eine
Scheidung und Umbildung der übrigen volkskundlichen Erscheinungen.
Die durch den Ausgang des Weltkrieges geschaffene Lage zwingt die
volkskundliche Forschung, dem Einfluß der Staatsgrenzen in erhöhtem
Maße nachzugehen. Ungefähr 100 Millionen Deutsche leben auf dieser Erde,
davon aber bloß zwei Drittel im Deutschen Reich. Das restliche Drittel
verteilt sich einerseits auf jene Länder, in welchen die Deutschen Staats-
x) Vgl. John Meier, Wege und Ziele der deutschen Volkskundeforschung
(Deutsche Forschung. Aus der Arbeit der Notgemeinschaft der Deutschen Wissen-
schaft, Heft 6: Deutsche Volkskunde. Berlin 1928, S. 34f.); Arthur Hübner, Die
Mundart der Heimat, Breslau 1925, S. 24ff.
2) Friedrich Maurer, Sprachschranken, Sprachräume und Sprachbewegungen
im Hessischen (Hessische Blätter für Volkskunde 28, 43).
Staatsgrenzen und Volkskunde.
197
volk sind, wie in Österreich, Danzig, Luxemburg und Lichtenstein, oder
an der Staatsgewalt teilhaben, wie in der Schweiz oder in der deutschen
Wolgarepublik, andrerseits auf dreizehn europäische Staaten, in welchen
die Deutschen ein Minderheitsvolk sind (Belgien, Frankreich, Italien, Jugo-
slawien, Ungarn, Rumänien, Tschechoslowakei, Polen, Litauen, Lettland,
Estland, Sowjetrußland, Dänemark), und endlich auf das weitere Ausland1).
Durch den Einfluß der neuen Staatsgrenzen verursachte Umformungen
des volkskundlichen Gutes werden am besten dort zu beobachten sein,
wo durch diese Grenzen deutsches Land von einem alten, gleich völkischen
Kulturraum abgeschnitten und in eine andere Entwicklung hineingedrängt
wurde, also besonders in den Randgebieten, die früher zu Deutschland
und Österreich gehörten und jetzt einem fremdvölkischen Staat einverleibt
sind. Dies ist der Fall bei Elsaß und Lothringen und im Saargebiet, ferner
in Südtirol, in den zu Jugoslawien gekommenen Teilen der Südmark des
früheren Österreichs, im deutschen Gebiet der Tschechoslowakei, in Ober-
schlesien, Posen und Westpreußen und im Memelgebiet. Hier sind fast
überall uralte kulturelle Zusammenhänge zerrissen worden, hier bereiten
sich neue Verhältnisse vor, die nicht allein der Nationalpolitiker, sondern
auch der Volkskundler verfolgen muß. Hierzu wird die große Aufnahme
zum „Atlas der deutschen Volkskunde“ dort, wo sie die abgetrennten
Teile erfassen kann, vielleicht schon wertvolle Unterlagen liefern können.
Der Einfluß der neuen Staatsgrenzen wirkt sich volkskundlich haupt-
sächlich in dreifacher Weise aus:
1. Zunächst wird der Zustrom von Volksgut aus dem Mutterland er-
schwert oder auch ganz verhindert.
Dies läßt sich schon jetzt beim deutschen Volkslied in den an Öster-
reich angrenzenden deutschen Gebieten des südlichen Böhmerwaldes, Süd-
böhmens und Südmährens beobachten. Die Bewohner dieses heute tschecho-
slowakischen Grenzlandes waren seit Jahrhunderten dem österreichischen
Kulturraum eingegliedert, der ganze Verkehr ging von hier aus nach Süden,
in das Donau- und Alpenland. Sogar aus dem mittleren und nördlichen
Böhmerwald ging das Verkehrsleben weniger in das angrenzende Bayern
als nach dem österreichischen Kernland. Von diesem aus strömte immer
wieder Sangesgut nach Norden und wurde im abgelegenen Böhmerwald
zuweilen sogar in besserer Form erhalten und weiter überliefert als im
Mutterland, als dieses immer mehr Bewunderer seiner Naturschönheiten
fand und der gesteigerte Fremdenverkehr manche Züge des alten Volks-
lebens zu verwischen begann. Durch die Einverleibung dieser südböhmi-
schen und südmährischen Randgebiete in die Tschechoslowakei und durch
das strenge Abschließen der neuen Staatsgrenzen erhielt das ganze Verkehrs-
leben und damit auch das Wirtschaftsleben eine andere Richtung, an die
Stelle von Linz und Wien traten nun zumeist gemischtsprachige Städte des
i) Ygi_ Alfred Götze, Die Außengebiete der deutschen Sprache (Zeitschrift für
Deutschkunde 44, 2). In dieser anregenden Arbeit wird dargestellt, was in den ge-
nannten Außengebieten heute sprachlich vorgeht und was von ihrer sprachlichen
Zukunft zu erwarten ist.
198
Jungbauer:
neuen Staates als Verkehrsmittelpunkte: Pilsen und Budweis, darüber hin-
aus aber auch Prag in Böhmen und Brünn in Mähren. Der Zustrom von
Volksliedern aus Österreich, früher durch das Militär und die zahllosen
Arbeiter aus Böhmen, Mähren und Schlesien, die in Österreich vorüber-
gehenden oder dauernden Erwerb gefunden hatten, vermittelt, ist nun
nahezu versiegt. Daher stellt auch die Ausgabe der zum größten Teil noch
im alten Österreich aus dem Volksmunde gesammelten deutschen Volks-
lieder aus dem Böhmerwalde durch die tschechoslowakische Staatsanstalt
für das Volkslied den Abschluß eines jahrhundertelangen Entwicklungs-
vorganges dar. Schon die heute auf dem gleichen Boden auf gezeichneten
Volkslieder zeigen ein verändertes Bild. Und wie beim Volkslied, so sind
auch bei allen anderen volkstümlichen Überlieferungen die Folgen der
Lostrennung vom alten Kulturraum von Jahr zu Jahr immer stärker
bemerkbar.
Natürlich braucht eine solche Entwicklung nicht nur von Nachteil
zu sein, obwohl dieser weit überwiegt. Auch ein oder der andere Vorteil
kann sich ergeben. In diesen Randgebieten und auch darüber hinaus war
z. B. das keineswegs hochstehende, bald oberflächliche und rührselige, bald
schlüpfrige oder geradezu zotenhafte Erzeugnis der Großstadt, das Wiener
Lied, in den letzten Jahrzehnten bis zum Kriege so beliebt geworden, daß
das alte gute Volkslied stark in den Hintergrund trat1). Nun ist das Wiener
Lied fast ganz ausgeschaltet und damit auch der Großstadtschlager. Denn
die 31/2 Millionen Sudetendeutsche besitzen keine maßgebende Großstadt,
die ihrem ganzen Umland Kultur, aber auch Überkultur und Unkultur ver-
mitteln könnte.
Hier sei bemerkt, daß selbstverständlich nicht allein die Staatsgrenzen
im Leben, Wachsen und Vergehen der volkskundlichen Erscheinungen wirk-
sam sind, sondern daß hier auch andere Kräfte mitspielen. Vor allem ist
es die große Stadt als Kulturmittelpunkt. Wie etwa Köln für die nördliche
Rheinprovinz ein sprachumbildender und Sprachgrenzen schaffender Faktor
ersten Ranges war2), so war dies sowohl in sprachlicher als auch in volks-
kundlicher Beziehung Wien für das alte Österreich-Ungarn. Die große
Stadt, die als geistiger und wirtschaftlicher Brennpunkt die weiteste Um-
welt beeinflußt, tut dies in neuerer Zeit viel stärker als in früheren Jahr-
hunderten. Damals lebte man abgeschlossener, die Stadt lag in schwer
erreichbarer Ferne. Nur Händler und Frächter, Studenten und fahrende
Leute stellten eine Verbindung zwischen Stadt und Land her. Heute ist
durch die Eisenbahn und den Kraftwagenverkehr alles einander näher
gerückt, und die Großstadt drückt der weitesten Umgebung ihr Gepräge
auf. Dieser Vorgang vollzieht sich mehr strahlenförmig in der Richtung
der Verkehrsstraßen, während abseits und versteckt liegende Dörfer auch
in der Nähe einer Großstadt ihr ursprüngliches Wesen lange bewahren
können.
x) Vgl. G. Jungbauer, Deutsche Volkslieder aus dem Böhmerwalde (Prag
1930), l.Liefg., S. XVIf.
2) Vgl. A. Hübner, Die Mundart der Heimat S. 28.
Staatsgrenzen und Volkskunde.
199
Von solchen Bindungen an deutsche Großstädte losgerissene Landes-
teile gelangen zu einem veränderten kulturellen Lehen, wenn an Stelle der
Großstadt eine gleichvölkische Kleinstadt oder gar eine fremdvölkische
oder gemischtvölkische Stadt zum Verkehrsmittelpunkt wird. Wie die er-
wähnten deutschen Gebiete der Tschechoslowakei, so haben auch die jugo-
slawisch und italienisch gewordenen Landesteile des alten Österreichs ihren
jahrhundertelangen geistig-kulturellen Zusammenhang mit Wien, aber auch
mit den Universitätsstädten Graz und Innsbruck (damit auch mit München)
verloren; ebenso treten für die Deutschen im polnischen Oberschlesien
Breslau und für die Deutschen im verlorenen Westland die hochentwickelten
Rheinstädte mehr oder minder in den Hintergrund. Hie und da werden
vielleicht erst spätere Zeiten die volkskundliche Auswirkung offenbaren.
Ähnlich hat im heutigen Rumpfungarn Budapest als Mittelpunkt für das
Kulturleben der Magyaren eine bedeutende Einfluß Verminderung erfahren.
2. Wo die neuen Grenzen zugleich die Zugehörigkeit zu einem Staate
mit einem fremdvölkischen Staatsvolk mit sich bringen, wirkt sich der
Einfluß dieses herrschenden Volkes auch volkskundlich aus. Er bleibt aber
nach den bisherigen Beobachtungen mehr an der Oberfläche, dringt selten
in die Tiefe. Er trifft, wie A. Götze für die Elsässer bemerkt, mehr die
leitenden Kreise, während das Volk in seiner Masse wenig berührt wird.
So sind es z. B. „die Formen äußerer Höflichkeit, die namentlich der Elsässer
nur französisch zu handhaben vermag. In die Tiefe geht das nicht, da sitzt
eine warme Liebe zur Heimat, und weil diese Heimat im Kern so deutsch
ist, wie ein Land nur sein kann, ist das eine Liebe zu deutschem Wesen“1).
Die Anpassung an das Staatsvolk ist mehr äußerlich, nicht selten ohne
Zutun der Bevölkerung künstlich erzeugt. Wenn sich die Nachkommen
der vor 150 Jahren aus Oberösterreich ausgewanderten Familien Zauner
oder Ziller in Deutsch-Mokra im alten Ungarn nach magyarischer Weise
Czauner und Cziller schrieben und jetzt als tschechoslowakische Staats-
angehörige sich der tschechischen Schreibart anpassen und sich Cauner
und Ciller schreiben, so kann man in dieser entlegenen Sprachinsel Kar-
pathenrußlands, in der die Leute kaum lesen und schreiben können, wohl
keine andere Ursache dafür finden als den fanatischen Eifer der Beamten
des jeweiligen Staatsvolkes.
Dieser anfangs mehr äußere Anstrich, den das Staatsvolk der Minder-
heit gibt, kann aber auf die Dauer auch tiefer gehen, vor allem an der
Sprachgrenze und in den Sprachinseln. Hier werden auch die bloß in der
Staatssprache gehaltenen Ortstafeln, Amtsbezeichnungen, Firmenschilder
usw., noch mehr aber die in allen Ämtern an die Stelle der Einheimischen
getretenen Angehörigen des Staatsvolkes nach und nach einen Wandel im
Volksleben und in der Volkskultur bewirken. So konnte z. B. der einfache
Mann im Verkehr mit den früheren Beamten, die meist aus demselben
Stammesgebiete waren, seine Mundart ungescheut gebrauchen. Jetzt aber
muß er sich bemühen, nach der Schriftsprache zu sprechen, wenn er sich
x) A. Götze a. a. O. S. 7.
200
Jungbauer:
verständlich machen will. Es ist bezeichnend, daß der Deutsche Böhmer-
waldbund sich gezwungen sieht, die Bevölkerung in einem Aufrufe zum
Festhalten an der alten Mundart aufzufordern. Sie muß natürlich dort
am meisten leiden, wo man deutsche Kinder in fremdsprachige Schulen
lockt und ihrem Volkstum abwendig zu machen sucht. Der vom Staats-
volk ausgehenden Umformung ist besonders der männliche Teil der Be-
völkerung ausgesetzt, der mit den Behörden zu verkehren hat, der im täg-
lichen Arbeits- und Wirtschaftsleben immer wieder mit den Angehörigen
des Staatsvolkes in Berührung kommt. Wichtig ist die Militärzeit, die
nicht nur zum Erlernen der Dienstsprache zwingt, sondern auch fremd-
völkisches Volksgut vermitteln hilft.
Bei dieser Einwirkung des Staatsvolkes spielt eine große Rolle das
jeweilige Kulturgefälle. Sie wird am geringsten sein, wenn das Staatsvolk
kulturell tiefer steht als die Minderheit, sie wird sich schon ziemlich stark
äußern, wenn beide Völker auf einem annähernd gleichen Kulturniveau
stehen, und sie wird endlich geradezu verhängnisvoll, wenn das beherr-
schende Volk kulturell höher steht. Dann ist die Entnationalisierung der
Minderheit eine natürliche Folge, und sie schreitet um so schneller fort,
je geringer diese an Kopfzahl, aber auch an wirtschaftlicher Kraft ist.
Hunderttausende von Deutschen, die in den letzten 150 Jahren nach Ruß-
land ausgewandert sind, haben fast durchweg ihr Deutschtum und ihre
volkstümlichen Überlieferungen bewahrt. Die tschechischen Siedler in den
Krimdörfern Zarekwitsch und Kirej sind nicht etwa russifiziert, sondern
von den deutschen Kolonisten germanisiert worden1). Millionen von Deut-
schen sind in der gleichen Zeit nach Amerika ausgewandert. Was ist von
diesen Millionen, unter denen doch auch Bauern waren, übriggeblieben?
Nur vereinzelt, etwa in Pennsylvanien, hat sich noch deutsche Volksart
erhalten, deren Überlieferungen aber schon stark mit Bestandteilen der
englisch-amerikanischen Volkskultur durchsetzt sind2).
3. In jenen Ländern, in welchen verschiedene Stammesteile desselben
Volkes einem neuen Staatswesen eingefügt wurden, vollzieht sich ein wei-
terer, volkskundlich wichtiger Vorgang. Diese früher zusammenhanglosen
Teile werden sich, da jeder Druck Widerstand erzeugt und neue Kräfte
weckt, ihrer Zusammengehörigkeit in verstärktem Maße bewußt. Sie be-
ginnen sich als Schicksalsgemeinschaft zu fühlen und rücken näher an-
einander. Damit erfolgt auch eine volkskundliche Angleichung und Aus-
gleichung, die aber zu keiner völligen Verschmelzung führt. Dies beweist uns
das Beispiel der Sprachinseln, in welchen seit langem verschiedenstämmige
Siedler nebeneinander leben, die auch dann, wenn die gleiche Religion eine
Verschmelzung begünstigt, ihre Eigenart in der Mundart, im Volkslied,
in der Sage, im Brauchtum usw. bewahrt haben. Es spielt hier das überall,
J) Vgl. Jan Auerlian, Öeske osady na Volyni, na Krymu a na Kavkaze (Die
tschechischen Ansiedlungen in Wolhynien, in der Krim und im Kaukasus), Prag
1920, S. 43.
2) Vgl. Edvin Miller Fogel, Beliefs and Superstitions of the Pennsylvania
Germans, Philadelphia 1915.
Staatsgrenzen und Volkskunde,
201
auch im binnendeutschen Gebiete bemerkbare, angeborene Streben jeder
Dorfgemeinschaft nach Absonderung mit, das sich vielfach schon äußer-
lich, z. B. in der Tracht, kundgibt. Auch andere Umstände können in
Betracht kommen, so eine etwa schon vorhandene besondere körperliche
Beschaffenheit1), der Einfluß der Landschaft und des Klimas, der ins-
besondere Tal- und Bergbewohner scheidet, dann die damit meist zu-
sammenhängende besondere Wirtschaftsweise, z. B. das Vorwiegen von
Ackerbau oder Viehzucht, ferner die verschiedene soziale Schichtung u. a.
Trotzdem läßt sich ein volkskundlicher Ausgleich beobachten, namentlich
dort, wo die neuen Staatsgrenzen eine gänzliche Umstellung des Verkehrs-
und Wirtschaftslebens zur Folge haben. Dafür bietet Böhmen ein gutes
Beispiel. Die stammheitlich so verschiedenen Deutschen Südböhmens und
Nordböhmens, getrennt durch das weite tschechische Flachland, brachte
erst die Errichtung der tschechoslowakischen Republik einander näher. Der
große Bevölkerungsüberschuß des Böhmerwaldes, der früher nach Öster-
reich und nach der Millionenstadt Wien abgewandert war, findet nun
seinen Abfluß nach Nordböhmen. Und aus dem nordböhmischen Industrie-
land kommen Lehrer, Geschäftsreisende, Privatangestellte u. a. in das
südböhmische Bauerngebiet. Dies trägt wohl auch zur Abschwächung der
heimischen Mundart bei, führt aber zu einem Austausch von Volksliedern,
Sitten und Bräuchen. So sind z. B. erst nach dem Kriege Lieder des Erz-
gebirglers Anton Günther in den Böhmerwald gelangt, wo sie z. T. schon
eine Anpassung an die Mundart erfahren haben. Andererseits kann
man in den letzten Jahren in Nordböhmen aus dem Böhmerwald dorthin
verpflanzte Alpenlieder hören. Ferner sind in der Tschechoslowakei die
Deutschen in Mähren und Schlesien den Deutschen in Böhmen näher-
gerückt, mit denen sie im alten Österreich wenig in Berührung kamen und
nur in den Sprachinseln der böhmisch-mährischen Grenze Verbindungs-
brücken besaßen. Darüber hinaus ist eine feste Verbindung dieser engeren
Sudetendeutschen mit den Deutschen des ehemaligen Nordungarn, der
heutigen Slowakei und Karpathenrußlands, entstanden. Und diese fast
vergessenen Volksgenossen haben damit den jahrhundertelang entbehrten
Anschluß an das deutsche Kulturleben gewonnen.
Bis zur Errichtung der tschechoslowakischen Republik standen diese
Sprachinseln völlig unter magyarischem Einfluß. An seine Stelle beginnt
nun der slawische zu treten. Der gegenwärtige volkskundliche Bestand,
an dessen Aufnahme eifrig gearbeitet wird, gibt noch ein Bild der alten
Verhältnisse, zeigt manchen magyarischen Einschlag in der Mundart, im
Wortschatz, in der Volksdichtung, im Glauben und Brauchtum usw.
Gerade hier wird die volkskundliche Forschung einer ferneren Zukunft den
Einfluß der Staatsgrenzen und der Staatszugehörigkeit auf die volkstüm-
lichen Überlieferungen geistiger und materieller Art am besten nachweisen
können.
i) Vgl. John Meier a. a. O. S. 33.
202
Mitzka:
Volkskunde von Kolonie und Heimat.
Von Walther Mitzka.
Nach der Siedlungs- und der politischen Geschichte ist nunmehr auch
für die deutsche Sprach- und die Literaturgeschichte das Problem des Ver-
hältnisses zwischen Alt- und Neustämmen mehrfach aufgeworfen worden.
Für das Auslandsdeutschtum hat die Mundartengeographie in der Frage
nach Heimat und Kolonie die führende Kölle übernommen, sobald die
Siedlungsgeschichte wegen Mangels an Urkunden und Nachrichten ver-
sagen muß. Da hat sich die Forschung am großartigsten um die sieben-
bürgische Frage bemüht. Auch volkskundliche Gleichungen haben sich
den sprachgeographischen Erörterungen angeschlossen, wie die ,, Sieben-
bürgische Volkskunde“ von Schullerus zeigt. Im ganzen haben volks-
kundliche Untersuchungen im Inseldeutschtum des Auslandes doch nur
sammelnd darstellen können, was z. B. für das deutsche Lied der Kolonisten
in Rußland trefflich gelungen ist. Für die Untersuchung der Frage nach
Heimat und Kolonie mit den Unterfragen nach Erhaltung, selbständiger
Umwandlung, Mischung untereinander und mit fremdvölkischem
Gut, Neuschöpfung, Ausstrahlung war der zeitliche Abstand seit
der Einwanderung zu groß, die Heimat blieb doch nicht unstrittig, oder
der Abstand ist räumlich zu nah, das gilt für das Randdeutschtum und
die binnendeutschen Neustämme, oder es ist eine bunte Mischung von
Schüben aus den verschiedensten Stammländern erfolgt, vor allem aber
fehlt weithin Kenntnis der Volkskunde von Auslandskolonien.
Da ergab sich eine Gelegenheit, die Volkskunde der kulturell geschlos-
sensten Großgruppe von Deutschrussen aufzunehmen und mit der durch-
aus abzugrenzenden deutschen Heimat zu vergleichen: es waren die Menno-
niten aus Rußland und Sibirien, die Ende 1929 über Deutschland aus-
wanderten. Die von der Leitung des Volkskundeatlas vorgeschlagene Auf-
nahmearbeit ist durch die vom Präsidenten der deutschen Forschungs-
gemeinschaft, Exz. Schmidt-Ott, gewährte Unterstützung ermöglicht
worden. Die Aufnahme erfolgte Anfang 1930 im Flüchtlingslager Mölln durch
den Verfasser, darauf im Lager Prenzlau durch Dr. Hartmann, Leipzig.
Aus dieser umfassenden Stoffsammlung sind in der vorliegenden Erörterung
einige Proben ausgehoben. Das Netz breitet sich über das gesamte, von
den ca. 120000 Mennoniten besiedelte Gebiet aus, vom Kaukasus und der
Krim über Turkestan und Sibirien bis zu den neuesten Siedlungen im
Amurgebiet.
Zur Heimatfrage der Siebenbürger Sachsen sind gegenwärtig auch
die Ortsnamen herangezogen worden1), es zeigen sich dabei große
Schwierigkeiten. Im hellen Licht neuzeitlicher Siedlungsgeschichte wird,
was dort Vermutung bleibt, bei den Mennoniten oft Tatsache. Wie
x) Misch Orend, Zur Heimatfrage d. Sieb. Sachsen. Vergleichung d. siebenb.-
deutschen Ortsnamen mit denen des übrigen deutschen Sprachgebietes. Marburg 1927.
Dazu Teuthonista 1929, 220.
Volkskunde von Kolonie und Heimat.
203
schon in einem Jahrhundert die Erinnerung an den Ausgangspunkt ab-
reißen kann, zeigt sich am Ortsnamen Halbstadt: er ist ein bedeutender
Ort nördlich der Krim, kehrt in Tochtersiedlungen in Kanada, Sibirien,
Amurgebiet wieder, die wohl von jener Mutterkolonie Halbstadt in
Taurien wissen, aber nicht mehr vom Ausgangspunkt (1804) Halbstadt
an der Nogat.
Das Land, aus dem die Mennoniten 1787f. (Alt-Kolonie) und 1803f.
(Neu-Kolonie) auswandern, ist das Gebiet der unteren Weichsel und der
Nogat1). Bis 1820 bleibt der Auszug lebhaft, bis in die 70er Jahre wandern
von dort immer wieder einzelne Familien nach. Stärkere Schübe aus der
Weichselheimat gehen 1853 in die Gegend Saratow, 1861 Samara. Hie 1874
eingeführte, wenn auch zunächst abgelöste Militärpflicht bringt die Auswan-
derung von Rußland nach Amerika in Gang. Hie Weichselheimat ist Zwischen-
heimat, die im 16. Jahrhundert von Holland und Friesland aus bezogen
wurde. Aber das Niederländische erlosch im 17. und 18. Jahrhundert, die
mitgenommenen Mundarten sind die der Weichsellandschaft, die Volks-
kunde zeigt ebenfalls, abgesehen vom geistlichen Kreise, die Übernahme
des Gutes der Weichselheimat, in der über 10000 Mennoniten geblieben
sind. Ihre Siedlung in der Weichselgegend liegt im Gemenge mit Pro-
testanten und Katholiken, in keiner Ortschaft erreichen sie die Mehrheit.
Aber in den russischen Kolonien konnten sie sich geschlossen ansiedeln,
auch die letzten Tochtersiedlungen, die 1927 im Amurgebiet (15 Hörfer
bei Blagoweschtschensk) angelegt wurden, sind (zunächst) rein menno-
nitisch. Im europäischen Rußland hat erst das letzte Jahrzehnt diese
Geschlossenheit im Horfverband gelockert. Mit welcher Ausdauer die
Mutterkolonien Südrußlands und ihre Tochterkolonien im 19. Jahrhundert
im europäischen Rußland bis zum Kaukasus in den 80 er Jahren kleine
Kolonien in Turkestan, seit 1899 Hunderte von Hörfern in Sibirien wieder
als Tochterkolonien angelegt haben, kann hier nur angedeutet werden.
Überall sind die Mennoniten Musterwirte im Landbau geworden. Gerade
der landwirtschaftliche Fragenkreis soll in dieser Untersuchung zum Ver-
gleich von Heimat und Kolonie dienen, wobei eine treffliche Vermittlung
die Beobachtungen eines Erforschers landwirtschaftlicher Verhältnisse,
A. Petzholdt2), bieten.
Fragen wir zuerst nach Erhaltung und Schwund, so zeigt sich
stärkere Erhaltung in der Heimat und stärkerer Schwund in der Kolonie.
Her Erntewagen der Heimat ist nur an wenigen Stellen unverändert er-
halten (z. B. Wohldemfürst am Kaukasus), aber sonst so gut wie überall
(z. B. Emilianowka am Kaukasus) durch „Sturmleitern“ ausgebaut (darüber
nachher). Vergleichen wir die Pflugarten der russischen Mennoniten von
1) Mitzka, Die deutschen Mennoniten in Rußland und ihre Beziehungen zu
Westpreußen (Staat und Volkstum, hrg. v. Loesch 1926); J. Quiring, Die Mund-
art von Chortitza in Südrußland. München. Diss. 1928.
2) A. Petzholdt, Reise im westl. und südl. europ. Rußland im Jahre 1855.
Leipzig 1864. S. 150f.: Der Mennonit als Landwirth und Viehzüchter, ... als Gärtner
u. Forstwirth, . . . sein Einfluß auf seine Umgebung . . .
204
Mitzka:
1855 (Petzholdt, S. 154 und 155), so haben wir festzustellen, daß die
Kolonie heute nichts mehr davon hat, die Heimat den großen Haken-
pflug, allerdings auch schon in veränderter Form. Die Kulturströmung
der Technik hat in der Kolonie die eisernen Pflüge, die man dort wohl
nach englischen Mustern herstellte, überall siegen lassen; nicht so radikal
folgte dieser allgemeinen Strömung die Weichselheimat, dort sind diese
Geräte zwar modernisiert, aber der landschaftlich charakteristische Haken-
pflug als solcher ist nicht beseitigt.
Erhaltung ist in der Kolonie überhaupt wenig festzustellen, immer
wieder ist irgendwie geändert. So ist der Haustyp der Langhof (Wohnhaus,
Stall, Scheune zum Einhaus verbunden) wie ihn die Weichselheimat zeigt;
das Vorlaubenhaus fehlt. Doch hat jenes Langhof haus eine reduzierte
Vorlaube, die den Namen aus der Heimat gewahrt hat, aber in ihrer Form
nicht dort, sondern im russischen Kulturkreis typisch ist. Schrumpfenden
Schwund zeigt z. B. der Brauch des Brummtopfes. Dies zur Weihnachts-
zeit von Knaben in Heischegängen verwendete Lärminstrument ist nirgends
mehr in der Kolonie als lebender Brauch bekannt, nur Erinnerungen bei
der älteren Generation sind hier und da gemeldet (Kraßikow b. Samara;
Michelsburg nördlich der Krim, mehrmals aus Orten in der Krim: Dani-
lowka, Kuban, Spat). Die Beschreibung paßt durchaus zu dem Gerät der
Heimat, auch die Verse, soweit sie überhaupt noch bekannt sind, stimmen
zum heute noch lebenden Brauch der Heimat. Aber gewöhnlich kennt
die Kolonie nur den Ausdruck (nicht die ehemalige Sache), wendet ihn
aber auf ein weinendes Kind an und hat einen variantenreichen Vierzeiler
dazu geschaffen. Entweder wird jenes Kind nur mit „Brummtopf“ an-
gerufen oder ein Rockzipfel wie eine Kaffeemühle gedreht, dazu die Verse
gesprochen:
lia lia Lomtop, morje tjemt de Bromtop,
ewamorje jait he los, Sindach tjemt he wada1).
(Ljubomowka b. Omsk.)
Der 1. Halbvers enthält nur zwei Klangwörter und ein Reimwort ohne
Sinn. Vielerorts werden nur die zwei ersten Verse (bis ‘Brummtopf5) ge-
meldet, z. B. Gurtschako wo b. Ufa, Alexe jewka (Dongebiet), Wohldemfürst
(Kaukasus), Gnadenheim b. Slawgorod (Sibirien). Varianten zeigt die
2. Hälfte: . . . ewamorje kernt de Schult, nemt die aule Kruschke wach2) (Orlof
b. Slawgorod, Sib.). Halbstadt b. Slawgorod hat Stewelknacht ‘Stiefel-
knecht5, was auf wach zu reimen hat. Dolinowka b. Orenburg: . . . ewamorje
kernt he wada, met en Sack voll Jeduld. Das zu erwartende Reimwort Schult
‘Schulze5 zeigt eine weitere Variante aus demselben Ort: ewamorje kernt de
Ewaschult ‘Oberschulze5, met dem Sack voll Onjeduld. Schrumpfung zeigt
auch der Brauch der letzten Garbe: sie wird auf dem Erntewagen, manch-
mal wie in der Heimat bekleidet3), aufgestellt, aber Klapperlärm und
Wasserguß fehlen in der Kolonie. Eingeschrumpft ist auch die Art der
*) „morgen kommt der B„ übermorgen geht er los, Sonntag kommt er wieder.“
2) cder Schulze, nimmt dir alle Birnen weg*.
3) A. F. Violet, Neringia oder Geschichte der Danziger Nehrung 1864 S. 161.
Volkskunde von Kolonie und Heimat.
205
Getreideaufstellung, die „deutsche Hocke“ (vgl. S. 207f.) ist nur für Regen-
wetter oder für die eine oder andere Getreideart erhalten.
Völligen Schwund zeigt die Kolonie z. B. darin, daß sie keine
Wasserfurchen im Acker oder Grenzsteine kennt. Das liegt an der Be-
schaffenheit des Bodens, und Tochterkolonien übernehmen so etwas nach-
her auch ohne solchen morphologischen Anlaß.
Neuschöpfung. Jenes Brummtopflied der Kolonie ist nach Um-
gestaltung eines mitgebrachten Gutes entstanden, dessen Bedeutung ver-
schoben worden ist, wobei nun jene neugeschaffenen Verse entstanden
sind. Eigenleistung der Kolonie ist ein Gebäck, der „Zwieback“ (twebalc),
der aber nur zur Reise zweimal gebacken, d. h. nach dem Backen gedörrt
wird. Der Name geht auf die Gestalt. Er wird aus Weizenmehl und Butter
hergestellt, indem auf eine kreisrunde Unterlage von ca. 5 cm Durch-
messer eine kleinere Kugel aufgesetzt wird: es ist ein speziell „mennistsches“
Gebäck, das die Weichselheimat nicht kennt. Die Kolonie hat für dies
überall bei den russischen Mennoniten verbreitetes Lieblingsgebäck auch
einen besondern Henkelkorb, den Twebakskorf.
Am deutlichsten läßt sich Neuschöpfung im Bereiche des Volksrechtes,
wie man die nur für die Mennoniten und von ihnen geschaffenen Ver-
ordnungen nennen kann, beobachten. Sie haben1) ein eigenes Erbrecht.
Der Hof geht auf das kaufende Kind, nicht den Ältesten über. Unter eine
bestimmte Größe darf bei einer Teilung der Hof nicht sinken. „Pacht-
artikel“ ist ein Stück Land, das in der Dorfflur pflichtgemäß unbesiedelt
bleibt und verpachtet wird. Der Pachterlös dient zur Gründung von Tochter-
siedlungen. In den letzten Jahren kam die „Stehlversicherung“ auf, eine
speziell mennonitische, nachher staatlich verbotene Einrichtung, also
unserer Diebstahlversicherung entsprechend.
Neuschöpfung ist auch die Benennung der Kolonieflur, z. B. Ignatiewka
nö. der Neukolonie schuf sich die Flurnamen Waulenummer ‘Wall5 ?,
Schwöbenummer (neben dem Schwabendorf), Hüsnummer (neben dem
Schulhaus), Stenanummer ‘Stein’, aber Legd (Niederung) kommt in der
Heimat oft vor.
Eigene Umwandlung, ohne fremdvölkische Anregung: Der den
Russen weithin bekannte „deutsche Wagen“ zeigt als Erntewagen eine
solche Umwandlung: der Wiesenbaum ist durch die „Sturmleitern“ er-
setzt, die auf die Seitenleitern (in der Kolonie „Unterleiter“, oder wie
in der Heimat „Austleiter“= ‘Ernteleiter’ genannt) aufgesetzt werden. Bei
Leerfahrt hängen sie nach außen über den „Lisstock“ herab. Die unteren
Leitern hängen wie in der Heimat auf der „Liswede“ (Ring aus Weide)
oder an Lederriemen, die von der Runge zum Lisstock herüberreichen. In
der Kolonie liegt auf den Enden dieser Leitern ein Querholz (Dwerholt,
Querknü'p'pel, Quer stock), auf dem wieder die unteren Enden der Sturm-
leitern in einem Bandeisen gehalten werden. Die Sturmleitern werden
durch Diagonalbänder (Bandeisen oder Eisenhaken oder Strick) gegen
i) yon den jüngsten staatlichen Eingriffen sehen wir dabei ab.
206
Mitzka:
die Getreideladung hochgehalten. — Eine Änderung, im Sinne der Besse-
rung, am Pfluge durch Mennoniten berichtet Petzholdt a. a. O.
Entlehnung fremden Gutes ist häufig deutlich, so z. B. Nahrungs-
mittel (Ostergebäck), Zugtierarten (Kamel), Hausformen („Rasenstein-
haus“, Blockhaus, Kirgisenjurte als beliebte Sommerwohnung in der Senn-
wirtschaft in Turkestan), russische Wagenarten neben den deutschen. Da
haben wir zu unterscheiden: 1. Lehngut ohne Entsprechung (z. B.
Ostergebäck), 2. zeitweilige Entlehnung (steinerne Dreschwalze nach
Ablieferung der Maschinen an die Kommune, jene Hausformen nur als
Übergang zum „mennistschen“ Haus, sobald die Notzeit der Neusiedlung
überwunden ist, „russische Hocke“ bei gutem Wetter), 3. Ersatz eigener
Form (Weizenstroh als Brennstoff, Haus aus Bruchstein in der Krim).
Die steinerne Walze1) war in der Kolonie bis zur Einführung der Dresch-
maschine Ersatz für den Dreschflegel der Weichselheimat geworden, ist
jetzt neubelebte zeitweilige Entlehnung. 4. Eine Doppelung, in der neben
die eigene die entlehnte Form nicht nur zeitweise, sondern dauernd tritt,
zeigt die Gruppe der Wagen: außer den deutschen Kasten- und Leiterwagen
mit der Eindeichsel verwendet derselbe Besitzer auch russische Wagen-
arten, so den für schlechte Wege praktischen, für eine Person geeigneten
Zweiräderwagen (T wer öder).
Mischung. Da hierzu irgendwie Entlehnung nötig ist, haben wir
Mischungen als Formen der Entlehnung eben kennengelernt. Den viel-
deutigen und so gern verwendeten Ausdruck „Mischung“ erörtern wir am
Beispiel der Getreideaufstellung, um ihn dann am sichersten in unserm
Fragenkreis auf den einzelnen Gegenstand anzuwenden: es ist dann
das Zusammenwachsen von eigengeschaffenen oder überkommenen Teilen
mit entlehnten beim Einzelding. Der kulturelle Gesamtbesitz der Kolo-
nisten unterliegt selbstverständlich der Mischung, indem, wie wir eben
sahen, zwei Formen, die der Heimat und die der neuen Umgebung, neben-
einander gelten können, z. B. Maße der Heimat und des neuen Wohnsitzes;
der Heimat unbekannte Dinge wie Wagenarten kommen mit einer
eigenen Bezeichnung als neue Sache und neues Wort hinzu. Das Neben-
einander zweier Formen strebt nicht immer nach einem Ausgleich, nach dem
nur eine Bezeichnung, eine stoffliche Ausführung, eine Art des Brauches
gültig bleibt. Aber ein Streben nach Überwindung solcher Mehrformigkeit
liegt z. B. bei der Übernahme des russischen Rasensteinhauses und des
Blockhauses vor. Es sind dies für die Russen der betreffenden Gegend
Dauerformen, für ihre Nachbarn, die Mennoniten, Übergangsformen, in-
dem sie für Notzeiten, also bei schwierigem Anfang der Kolonisation ge-
wählt werden (Sibirien: bei Omsk, bei Slawgorod, im Amurgebiet). Für
die Mennoniten sind es Armutsformen, die man so rasch wie möglich zu
überwinden sucht.
Umgekehrt kann, wie angedeutet, ein Brauch der Heimat als Notform
neben der für normale Zeit durchgedrungenen russischen Ausführungsart
beibehalten werden. Eine derartige Mischung, also eine Doppelung *)
*) Abb. bei Petzholdt a. a. O. S. 157.
Volkskunde von Kolonie und Heimat.
207
nach gutem und schlechtem Wetter zeigt die Getreideaufstellung der
Mennoniten. In der Weichselheimat gilt die Aufstellung aller Getreide -
arten (Weizen, Roggen, Hafer, Gerste) in doppelter Reihe, die Garben
stützen einander, kein Hut. Ganz vereinzelt zeigt die untere Weichsel-
gegend in der Erinnerung alter Leute den zur Posener Landschaft hin
häufiger werdenden Brauch der kreisförmigen Aufstellung. Sie zeigt sich
nirgends bei den Mennoniten Rußlands und Sibiriens, nur von den Russen
des Amurgebietes wird eine derartige Aufstellung einmal gemeldet.
Wie die Karte (S. 208) zeigt, ist bei den Mennoniten die russische Art,
die Garben über Kreuz flach auf die Erde zu legen und in solcher Weise
mehrere solcher Figuren übereinanderzuschichten, übernommen worden.
Sie heißt auch ausdrücklich „russische Hocke“, indem „Hocke“ der Aus-
druck der Weichselheimat für Garbenaufstellung überhaupt ist. Manchmal
wird nur diese „russische Hocke“ als üblich angegeben, so für mehrere
Orte der Krim, für das Kaukasusgebiet. In der Krim sind die Mennoniten
vielfach Pächter, die den Wohnsitz leichter wechseln, als die festangesessenen
Besitzer der andern Koloniegebiete. Solche Pächter wohnen leicht iso-
liert, die Nichtdeutschen der betreffenden Pachtung bleiben nun auch
bei schlechtem Wetter bei ihrer dann unpraktischen Methode des flachen
Schichtens. Anderswo mag dauernd gutes Wetter während der Erntezeit
den deutschen Brauch getilgt haben, doch taucht zu häufig allerorts, auch
in der Krim die Angabe auf, daß bei Regen die luftigere Garbenstellung der
„deutschen Hocke“ angewandt wird. Die Mennoniten haben oft genug
nichtdeutsche Erntearbeiter, und diese werden eben die russische Hocke
gewöhnt sein, erst bei schlechtem Wetter oder bei unreifem Getreide
werden sie vom Arbeitgeber zur deutschen Aufstellung angeleitet werden.
Vielfach kommt der Besitzer mit den eigenen Verwandten aus, dann wird
die Anwendung der deutschen Hocke mindestens in den ersten Zeiten
nach der Auswanderung noch gewohnter gewesen sein. Auch die Angabe
wird öfters gemacht, daß nur die ersten, gleich auszudreschenden Hocken
deutsch auf gestellt werden. Sie trocknen leichter, da sie „im Spar“ hoch-
gestellt werden, also „gesperrt, gelockert“. Der Ausdruck ist für diese
Aufstellung in der Heimat nicht üblich, da man sie ja sowieso immer an-
wendet. Die Kreisaufstellung ist in der Heimat ganz vereinzelt in Er-
innerung. Die Qualifizierung der „deutschen Hocke“ durch diesen Aus-
druck, der in der Kolonie aus dem niederpreußischen Sprachschatz der
Weichselheimat wenn nicht geschaffen, so mindestens allgemeingültig ge-
macht worden ist, konnte ja erst durch den Vergleich mit der russischen
Hocke entstehen. Die russische Hocke ist vom schönen Wetter abhängig,
sie ist den Erntearbeitern vertraut, also von den Kolonisten geduldet; da
das Erntewetter gewöhnlich gut ist, wurde sie auch den Kolonisten die ge-
wöhnlich angewandte Form. Doch die Garbenzahl ist oft höher als in der
Heimat, hat ja auch die „russische Hocke“ von Hause aus oft mehr Garben.
Die Unterscheidung nach Getreidearten mag sich nach dem verschie-
denen Verhalten der nachreifenden Getreideart in der einen oder der
andern Aufstellungsform richten. Die Angaben werden leicht im einzelnen
1 = „russische Hocke“, alle Getreidearten über Kreuz, zuunterst eine Garbe,
zuoberst als Hut eine Garbe, im ganzen 14—35 : 0-9-0
2= „russische Hocke“, bisweilen „deutsche Hocke“: gewöhnlich 12 Garben in
2 Reihen: ggggg
3 = „russische Hocke“, Hafer (bisweilen) „deutsche Hocke“.
4 = „russische Hocke“, Hafer und Roggen deutsch.
4a = Weizen russisch, Hafer, Roggen deutsch.
4 b = Weizen, Gerste russisch, Hafer, Roggen deutsch.
4 c = Weizen russisch, Hafer deutsch.
4d = Weizen, Roggen russisch, Hafer, Gerste deutsch.
4e = Weizen, Gerste russisch, Hafer deutsch. Roggen wird oft nicht, Gerste
manchmal nicht gebaut. Drei Punkte hinter der Ziffer bedeuten die An-
gabe: „bei Regen“, oder „die ersten zum Dreschen bestimmten Garben“.
Eingekreiste Ziffern gelten für eine Ort zugleich.
Volkskunde von Kolonie und Heimat.
209
Falle summarisch oder Brauch des einzelnen Gehöftes, der einzelnen Ge-
genden sein. Das Ergebnis im großen und ganzen ist deutlich genug:
Mischung im Beibehalten eines Nebeneinander, nicht in einem Ineinander,
also zwei Formen zugleich, nicht eine einzige, zusammengewachsene Form.
Solche Zusammensetzung zu einem Ineinander beim einzelnen
Gegenstand zeigt z. B. der Schlitten. In Sibirien (Alexandrowka b. Slaw-
gorod) gibt es bei Mennoniten zwei Arten von Schlitten, den Last- und den
Spazierschlitten. Beide Arten haben dasselbe korbartige, nach hinten offene
Untergestell, zu beiden Seiten zwei weit ausladende, nach hinten sich
senkende Holme, die anscheinend das Kippen verhindern sollen. Soweit
sind diese Schlitten Lehngut aus dem Sibirischen, in der Weichselheimat
unbekannt. Nun die Mischung: beide Arten können Gabeldeichsel (russisch),
aber auch die Eindeichsel (also deutsch zweispännig) haben.
Eine Mischung am Einzelgegenstand zeigt das Haus. Das Wohnhaus
ist gewöhnlich mit Stall und Scheune, ganz wie in der Weichselheimat,
zum Langhof1) ausgebaut. Auch die „Abseiten“, Anbauten an der Scheune
oder am Stall, sind wiederzufinden. Aber die sogenannte „Vorlaube“
(ferlew) ist nicht der gewaltige Vorbau des ostdeutschen Vorlaubenhauses,
unter den Wagen fahren können, sondern eine mit Brettern ausgebaute,
geschlossene Veranda wie sie russische Wohnhäuser besonders der Land-
stadt zeigen. Sie kommt in der Weichselheimat nur gelegentlich vor.
Der Wandel kann ein zwangsläufiger sein: Klima, Morphologie,
Arbeiterverhältnisse (vgl. Getreideaufstellung), Staatsgewalt; oder ein
freiwilliger im Sinne der Reduzierung bei schrumpfenden Bräuchen, oder
im Sinne des Ausbaues (z. B. an Pflug und Wagen), oder im Zuge all-
gemeinen Geschmackwandels (Kleidung, kurze weibliche Haartracht [der
letzten Weltmode] bis in die sibirischen Kolonien, Barttracht, Tanz). Die
Möglichkeit der Erhaltung ist von jenem zwangsläufigen Wandel einge-
schränkt. Die Stellung zur fremdvölkischen Umgebung ist nicht nur
durch Entlehnung von dort, sondern dazu in mehr oder minder kräftiger
Ausstrahlung nach dort, so mit dem „deutschen Wagen“, überhaupt der
vorbildlichen Landwirtschaft zu erfassen.
i) O. Kloeppel, Die bäuerliche Haus-, Hof- und Siedlungsanlage im Weichsel-
Nogat-Delta, in La Baume, Bertram, Kloeppel, Das Weichsel-Nogatdelta 1924, S.186f.
Zeitschrift für Volkskunde II, 1—2.
14
VI. Volkskundegeographie.
„ Einst “ und „jetzt “
auf volkskundlichen Fragebogen und Karten.
Von Fritz Boehm.
(Mit 2 Karten.)
Die Aufnahmen des Atlas der deutschen Volkskunde (ADV)
sollen grundsätzlich das lebendige Volksgut der Gegenwart erfassen.
Seine Karten werden daher zunächst den Stand der Verbreitung volks-
kundlicher Erscheinungen widerspiegeln, der für die Zeit der Beantwortung
des Fragebogens gilt. Die Fassung der Fragen wird dem Beantworter nur
sparsam die Möglichkeit geben, bei unergiebiger Gegenwart auf die reichere
Überlieferung vergangener Zeiten zurückzugreifen, wie sie ihm in der
eigenen Erinnerung oder in den Auskünften Älterer zur Verfügung steht.
Immerhin war man sich in den Vorberatungen für den Atlas darüber einig,
daß man solche Rückblicke nicht völlig ausschließen, dafür aber den
Gewährsleuten um so mehr zur Pflicht machen sollte, Vergangenes auch
als vergangen deutlich zu kennzeichnen und keinesfalls über die Grenze
mündlicher Erfragbarkeit hinauszugehen. Die „Mitteilungen der
Volkskundekommission der Notgemeinschaft der deutschen Wissenschaft“,
die jeder Fragebogensendung beigelegt werden, geben Gelegenheit für
solche Hinweise; auch in Werbevorträgen, Schulungskursen usw. sollten
sie nie vergessen werden. Man wird bei solchen Anlässen gut daran tun,
auf das ganze Problem ausführlicher einzugehen und vor allem den durch-
aus nicht eindeutigen Begriff der „mündlichen Erfragbarkeit“ noch näher
zu erklären. Die Grenze zahlenmäßig festzulegen, geht nicht gut an.
Sie wird je nach Alter und Gedächtnis der Auskunftgebenden schwanken
und kann, etwa wenn ein Achtzigjähriger sich noch gut an seine Kindheit
erinnert, die Frist zweier Menschenalter beträchtlich überschreiten. Als
allgemeiner Grundsatz aber sollte hingestellt werden, daß solche Er-
innerungsauskünfte jedenfalls für die Zwecke des Atlas nur dann Wert
haben können, wenn sie sich auf eigenes Erleben, nicht etwa ihrerseits
wieder auf Hörensagen gründen. Denn wenn man z. B. einen gedächtnis-
starken Achtziger das berichten ließe, woran sich in seiner Jugend die
„ältesten Leute“ noch erinnerten, so käme man damit bis ins 18. Jahrhundert
„Einst“ und „jetzt“ auf volkskundlichen Fragebogen und Karten. 211
und verlöre so den Boden unter den Füßen. Es kommt also bei solchen
Auskünften zweiter Hand sehr viel auf das Verantwortungsgefühl an, das
den Beantworter des Fragebogens gegenüber dem Gesamtwerk beseelt. Die
Benutzung unzuverlässiger mündlicher Quellen wäre ebenso leichtsinnig,
wie Anleihen bei der gedruckten volkskundlichen Literatur.
Wenn man, wie bemerkt, solche Rückblicke auf Vergangenes von den
Fragebogen des ADV nicht kurzerhand völlig ausschließen wollte, so
sprachen in der Hauptsache wohl zwei Gründe mit, die in der Besonderheit
der Materialeinbringung und in der wissenschaftlichen Bewertung jener
Angaben über das „Einst“ für das Atlaswerk liegen. Einmal ist es eine
bei den meisten volkskundlichen Sammelarbeiten gemachte und auch durch
den Probefragebogen des ADV (versandt 1929) bestätigte Erfahrung, daß
oft gerade die interessiertesten und eifrigsten Beantworter zu Exkursen
in die Vorzeit neigen. Sie setzen ihren Stolz darein, für ihren Heimat-
bezirk möglichst wenig „Fehlanzeigen“ einzusenden, und bei dem raschen
Schwinden alter Überlieferungen, wie es die moderne Entwicklung mit
sich bringt, suchen sie ihren Trost in der Vergangenheit. Gewiß bietet sich
auch hier wieder eine Gelegenheit, in den „Mitteilungen“ die Mitarbeiter
zu belehren und sie auf die Einseitigkeit einer lediglich rückschauenden
Betrachtung und auf die zahlreichen und fruchtbaren Gegenwarts- und
Zukunftsaufgaben der Volkskunde hinzu weisen. Aber der Gemüts wert
volkskundlicher Arbeit, mag sie vom Dorfschullehrer oder vom Universitäts-
professor betrieben werden, ist eine der kostbarsten Lebens quellen für
unsere Wissenschaft, und deshalb ist Vorsicht und eine gewisse Weit-
herzigkeit auch gegenüber einer „veralteten“ oder „romantischen“ Auf-
fassung am Platze. Auch ist der Wert jedes einzelnen Mitarbeiters an
diesem großen Werk, das ganz auf freudige Arbeit und Liebe zur Sache
gestellt ist, zu kostbar, als daß man auch nur den einen oder anderen durch
eine allzu strenge Marschroute die Lust verderben dürfte. Die Liebe zur
Vergangenheit darf nur nicht so weit gehen, daß sie es nicht sehen und nicjit
sagen will, wenn ein schönes Stück alten Volkslebens dem Ansturm der
Neuzeit zum Opfer gefallen ist.
Aber auch aus wissenschaftlichen Gründen wird man den Wert zu-
verlässiger und deutlich gekennzeichneter Angaben über den früheren
Bestand nicht geringschätzen. Mit Recht hat Hübner in der Zeitschrift für
Volkskunde N. F. 1, 12 darauf hingewiesen, daß die Herstellung brauch-
barer Kartenbilder für den Volkskundeatlas wesentlich größere Schwierig-
keiten machen wird als beim Sprachatlas, für den es eigentliche Fehl-
anzeigen kaum gibt. In der Tat ist bei vielen volkskundlichen Erschei-
nungen die Vielseitigkeit, ja die Zersplitterung der Einzelformen so groß,
daß die Ziehung klarer Grenzlinien auf starke Hindernisse stößt; auch
eine raffiniertere Fragetechnik als die des Probefragebogens wird diese nicht
völlig beseitigen können. Wie es das Ziel des ADV ist, so gibt sich auch
der Sprachatlas zunächst als Forschungsinstrument; er legt in seinen
Karten den Gegenwartsbefund vor, wie er sich zur Zeit der Aufnahme
ergab. Für die Auswertung dieser Karten, die Umgestaltung des flächen -
14*
212
Boehm:
haften Bildes zu einem lebensvollen Relief muß er selbstverständlich auf
die Zeugnisse zurückgreifen, die in den Sprachdenkmälern der Vergangen-
heit vorliegen. Aber er hat den Vorteil, nicht auf diese Hilfsmittel allein
angewiesen zu sein, wenn er die Bewegungen und Schichtungen im Sprach-
raum feststellen will. Die relativ große Eindeutigkeit seines Materials
erlaubt ihm die Aufstellung einer Anzahl einigermaßen sicherer Grenz-
ergebnisse der sprachlichen BewegungsVorgänge als „Vorstöße“ und
„Rückschläge“ über jene festen Operationsbasen hinaus deutlich erkennen.
Die Volkskunde ist hiergegen doppelt im Nachteil; ihr fehlen die Möglich-
keiten einer lückenlosen Grenzziehung und Kriterien, wie sie etwa die
Lautverschiebung für die Mundartenkunde darstellt. Ihr fehlt aber auch
die sichere Datierung der älteren Zeugnisse, die der Mundartenkunde
in der Literatur und vor allem in Urkunden zur Verfügung steht. Wer
einmal daran gehen wird, volkskundliche Erscheinungen auf Grund der
Karten des ADV in ihren räumlichen und zeitlichen Bewegungen zu
deuten, wird es schwer haben, aus der Literatur fest datier- und lokalisier-
bare Zeugnisse in genügender Menge zusammenzubringen, da die meisten
älteren Sammlungen auf diese Angaben wenig oder keinen Wert legen,
besonders nicht auf die zeitliche Fixierung. Das volkskundliche Material,
das Wilhelm Mannhardt in der Mitte der siebziger Jahre des vorigen
Jahrhunderts durch Fragebogen aus etwa 2000 Orten eingesammelt hat,
ist daher für den ADV von so unschätzbarem Werte, weil es örtlich und
— wenn auch mit gewissen Einschränkungen — zeitlich faßbare Daten
enthält, und man kann es nur bedauern, daß in Mannhardts Antworten
die verschiedenen Teile von Deutschland so ungleich vertreten sind und
sich die Fragen nur auf ein engbegrenztes Stoffgebiet beziehen. Jedenfalls
erweist der ADV denen, die seine Karten zu Sonderuntersuchungen
benutzen werden, einen Dienst, den man ihm danken wird, wenn er
ihnen auch ein einwandfreies und zuverlässig datiertes historisches
Material zur Verfügung stellt, um den reinen Gegenwartskarten Relief
zu geben.
Diese Erwägungen über den Wert des „Einst“ für die volkskundliche
Kartographie wollen keineswegs an dem Grundsatz rütteln, daß die reine
Gegenwartskarte die erste und vordringlichste Aufgabe des
Atlasunternehmens sein soll. „Wie das ältere Material“, sagt Hübner
a. a. O. S. 6 „mit dem Befunde der Gegenwart kartenmäßig in Vergleich
gesetzt wird, das ist eine rein technische Angelegenheit, die vorläufig auf
sich beruhen kann.“ In der Tat ist dies eine Frage zweiten Ranges. Wenn
eine genügende Menge von Angaben über Vergangenes vorliegt, kann man
besondere Karten oder Pausen für den älteren Bestand anlegen; mit welchen
Darstellungsmitteln dies geschehen könnte, dafür gibt Pessler in seinem
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linien, und auch eine reine Gegenwartskarte läßt wenigstens die End-
„Einst“ und „jetzt“ auf volkskundlichen Fragebogen und Karten. 213
Kräfte auf die Gegenwartskarten konzentrieren zu können, wäre auch der
Ausweg möglich, die „Einst“-Angaben zunächst gar nicht auf Karten
auszutragen, sondern die betreffenden Antwortzettel für spätere Sonder-
bearbeitungen einzelner Fragenkomplexe aufzubewahren und dem Be-
arbeiter zur Verfügung zu stellen.
Auch die historischen Angaben müssen, um klare Vergangenheitsbilder
zu ergeben, wenn irgend möglich nicht auf ein ungewisses „Einst“, sondern
auf genauer umgrenzte Zeiten abgestimmt sein. Daher wird es sich emp-
fehlen, in den Fällen, wo man von vornherein darauf Wert legt, neben dem
gegenwärtigen Befund auch den früheren Zustand festzustellen, ganz be-
stimmt zu fragen: „Seit wann (ungefähr) ist der Brauch, wenn er in der
Gegenwart nicht mehr besteht, erloschen ? “ Im Probefragebogen des ADV
hat man diese Frageform für die Festfeuersitte angewendet und damit
Ergebnisse erzielt, auf Grund deren man es immerhin wagen durfte, eine
Karte für den gegenwärtigen Zustand und eine andere für eine ziemlich
genau begrenzte Stufe der Vergangenheit zu entwerfen.
Für das Verständnis der beiden Karten (S. 214/15), die in der Zentral-
stelle des Atlas der deutschen Volkskunde von Herrn stud. phil. R. Peesch
gezeichnet worden sind, dürfte im allgemeinen die beigefügte Zeichen-
erklärung genügen. Berücksichtigt wurden nur die Haupttypen der Jahres-
feuer: Oster-, Martins-, Fasten- (auch Burg-, Freuden-, Hüttenfeuer), Wal-
purgis- (auch Maifeuer) und Johannisfeuer, das in den Antworten mit dem
Sonnwendfeuer meist so vermengt worden ist, daß von einer Scheidung ab-
gesehen werden mußte. Ganz vereinzelt auftretende Feuer, wie Pfingst-,
Michels-, Ernte-, Silvesterfeuer, wurden auf diesen Karten nicht in Betracht
gezogen. Zur objektiven Beurteilung der Karten muß im Auge behalten
werden, daß das Netz der Befragung in den einzelnen Frageprovinzen
von ungleicher Dichte war. Im Verhältnis zur Gesamtzahl der Schulorte
beträgt die Zahl der positiven Antworten auf diese Fragen in Hessen-
Nassau etwa 10%, in Ostpreußen 15%, Mecklenburg 15%, Westfalen
(einschl. Lippe) 20%, Hannover (einschl. Braunschweig, Oldenburg,
Bremen) 25%, Rheinland 35%, Fr. Sachsen 45%, Fr. Hessen 75%. Die
Fragen nach dem Bestand der Feuerbräuche haben auf dem Probefrage-
bogen des ADV folgende Fassung: „Wenn es einen solchen Brauch früher
gegeben hat, so bitten wir, ihn zu beschreiben und anzugeben, bis wann er
etwa geherrscht hat. — Ist der Brauch von alters her üblich oder ist er
seit neuerer Zeit eingeführt? — Wenn neu eingeführt, seit wann?“ Die
von den Gewährsleuten hierzu gemachten Angaben, in denen für das
Erlöschen und die Neueinführung teils allgemeine, teils aber auch sehr
bestimmte Zeitgrenzen genannt wurden, ermöglichten es, auf der „Ver-
gangenheitskarte“ (Karte 1) den ungefähr für das Jahr 1900 geltenden
Befund darzustellen; sie deckt sich selbstverständlich mit der „Gegenwarts-
karte“ (Karte 2) überall da, wo von einem bis heute ununterbrochenen Be-
stehen des Brauches berichtet wurde. Feuer, die laut Ausweis der Antworten
vor 1929 ausgestorben sind, wurden auf der Karte 1, solche, die nach
1900 entstanden sind, auf der Karte 2 verzeichnet.
214
Boehm:
Die geringsten Veränderungen zeigt das Osterfeuer, für dessen besonders
im nordöstlichen Rheinland, Westfalen und Hannover (einschließlich der
obengenannten nichtpreußischen Länder) zusammenhängendes Gebiet sich
nur an Randstellen ein gewisser Schwund und, in geringerem Maß, Zuwachs
bemerkbar macht. Noch geringer sind die Unterschiede zwischen einst
und jetzt für das Walpurgisfeuer, bei dem sich lediglich im Hessischen
einige früher vereinzelte Gebiete zusammengeschlossen haben; verhältnis-
mäßig unbedeutend sind auch die Grenz Verschiebungen für das Fasten -
feuer. Im stärksten Gegensatz dazu steht das Sedanfeuer, das, früher
besonders in beiden Hessen und Mecklenburg verbreitet, heute völlig außer
Brauch gekommen ist. Dem Einfluß der Zeit ziemlich stark unterworfen
scheint auch das Johannisfeuer, das besonders in der neuen Sinngebung,
die es als Sonn wendfeuer in den Kreisen der Jugendbewegung, politischer
und anderer Verbände bekommen hat, besonders in Ostpreußen und
Sachsen beträchtlich an Boden gewonnen hat; in Südhessen und im süd-
lichen Rheinland nimmt es z. T. die vom Sedanfeuer verlassenen Positionen
ein. Das Martinsfeuer schließlich zeigt nach dem Ergebnis der Probe-
befragung einen unverkennbaren Zug zur Vereinigung ursprünglich ge-
trennter Verbreitungsgebiete.
„Einst“ und „jetzt“ auf volkskundlichen Fragebogen und Karten. 215
Es wäre verfehlt und dem Sinne des Atlaswerkes zuwider, wenn man
versuchen wollte, die hier absichtlich ganz summarisch zusammengefaßten
Verschiedenheiten der beiden Kartenbilder zu deuten. Das kann erst ge-
schehen, wenn einmal für das gesamte Fragegebiet das Antwortenmaterial
in möglichst gleichmäßiger Schichtung vorliegt. Das jedoch steht schon
jetzt außer Zweifel, daß eine solche Untersuchung um so fruchtbarer sein
wird, je größer die Menge an zuverlässigen und einigermaßen fest datierten
Angaben über früheren Bestand ist. Um nur an einem Beispiel die Be-
deutung der ,,Einst “angaben für die Vermeidung von Fehlschlüssen und
die Erkenntnis der Lebens Vorgänge innerhalb des Brauchtums zu erweisen,
greifen wir aus der Fülle der den beiden Karten zugrunde gelegten Ant-
worten1) die auf das Sedanfeuer bezüglichen heraus.
Ohne jene Angaben der Gewährsleute würde es naheliegen, den Zeit-
punkt des Verschwindens der Sedanfeuer mit dem Beginn oder dem Aus-
gange des Weltkrieges in Zusammenhang zu bringen. Wie unzutreffend
aber diese Annahme in der Verallgemeinerung wäre, zeigen uns einige
i) jrür ihre Durchmusterung zu dem vorliegenden Zwecke bin ich Herrn
Dr. R. Beitl zu großem Dank verpflichtet.
216
Christmann:
beliebig heransgegriffene Bemerkungen der Gewährsleute. „Einige Jahre
nach 1870“, 1885, „etwa 1890“, 1895, 1900, 1910 werden als Endtermine
genannt. Aber auch der Weltkrieg erweist sich bei näherem Zusehen nicht
als einheitlicher Einschnitt; die Angaben schwanken zwischen 1913, 1914,
1918 und 1919. Ein Erlöschen im Lauf des Krieges (z. B. 1916) ist be-
merkenswert selten; auffallend ist die Beibehaltung des Sedanfeuers bis
1925 in Wernges (Hessen, Kr. Lauterbach). Ein anderer Gewährsmann
berichtet, daß diese Feuer im allgemeinen seit 1919 erloschen seien, in
Eisern b. Siegen aber bis heute fortbestehen. Die Ungleichheit dieses Feuers
in Lebensdauer und, in einzelnen Fällen, auch Entstehungszeit (1871, 1872,
1875) wird aus anderen Einstangaben offenkundig. Einmal konnte sich
die wohl von Schule, Kriegerverein usw. aufgenommene behördliche Emp-
fehlung selbst in Orten, wo ein älterer Feuerbrauch nicht bestand, nicht
ohne weiteres durchsetzen. Noch stärker und früher oder später siegreich war
natürlich da der Widerstand, wo er sich auf einen festeingewurzelten Brauch
gründete. Lorscheid (Kr. Trier) hatte ein Martinsfeuer, doch „nach 1870/71
war zeitweise, vielleicht ein halb Dutzend Jahre, das staatlich angeordnete
Sedanfeuer üblich“. In Steinebach (Westerwald) und besonders in Elkenrott
(Westerwald) scheint diese örtliche Überlieferung schwächer gewesen zu
sein, denn nach dem patriotischen Feuer, das sich hier bis zum Kriege
hielt, vermochte sich erst im letzten Jahrzehnt das Martinsfeuer wieder
zu beleben. Aber nicht immer wächst das gestörte Gewebe wieder zusammen.
In Elnhausen (Hessen-Nassau) ist das Sedanfeuer 1914 abgekommen, ohne
daß man sich auf das verdrängte Osterfeuer besann. Gelegentlich erweist
sich der alteinheimische Brauch als so lebenskräftig, daß er neben dem
neueingeführten weiter besteht und ihn schließlich überwindet. In einem
Orte des Rheinlandes wurde so das neben dem Martinsfeuer bestehende
Sedanfeuer nach dem 25. Gedenktag abgeschafft, hier, um die Begründung
des Gewährsmanns wörtlich anzuführen, um „alte Wunden bei den Fran-
zosen nicht mehr aufzureißen“.
Aber nicht nur alte, brauchtümliche, sondern auch Feuer mit anderem
patriotischen Hintergrund hat das Sedanfeuer abgelöst. Mehrfach findet
sich der Vermerk, daß vor 1870 der Gedenktag der Leipziger Schlacht
(18. Oktober) mit einem Feuer (Friedensfeuer) begangen wurde. Unter
seinem Einfluß konnte sich gelegentlich auch das Sedanfeuer in ein
„Friedensfeuer“ für 1871 wandeln. Neben ihm oder auch an seiner Stelle
steht in manchen Orten (z. B. Steinbach und Niederbessingen, Oberhessen)
ein Feuer am Tag von Gravelotte (18. August). Einen Hinweis verdient
auch die Beobachtung, daß die patriotischen Feuer älteren Datums in
unbewußt übernommenen, für den neuen Festgedanken eigentlich sinn-
losen Bräuchen (Besenbrennen, Zerstreuen der Asche) den Zusammenhang
mit der örtlichen Volksüberlieferung stärker wahrten, als die vaterländischen
Feuer der aller jüngsten Zeit, in der das Fehlen oder Vorkommen solcher
Bräuche ein zuverlässiges Kriterium dafür ist, ob ein Johannisfeuer z. B.
im Freistaat Sachsen oder in Ostpreußen als alt oder als neu anzusprechen
ist. Auch die Beobachtung der Sonderentwicklung eines Feuers, wie des
Der Häher in den pfälzischen Mundarten.
217
mancherorts am Verfassungstag angezündeten, des Bismarckfeuers u. a. m.
wird neben den „Jetzt“- auch „Einst“angaben der Gewährsleute stets
erwünscht erscheinen lassen.
Zu ähnlichen Beobachtungen und Auswertungen der Angaben, die
von den Gewährsleuten über die Vergangenheit von volkskundlichen Er-
scheinungen gemacht werden, würden auch die anderen Typen der Jahres-
feuer mannigfaltige Gelegenheit geben. Mit Absicht wurde für diese Aus-
führungen das Sedanfeuer gewählt, das auf den ersten Blick nicht so
ergiebig und bunt geschmückt erscheint wie die anderen Arten. Einen
Vorteil bot es freilich darin, daß sich seine Entstehung, seine Entwicklung
und sein Schwinden mehr als bei jenen zwischen einigermaßen fest be-
grenzten Punkten im Zeitraum zweier Menschenalter vollziehen.
Wenn auch für diese wie für alle anderen Mitteilungen auf Grund der
bisherigen Arbeit am Atlas der deutschen Volkskunde die Vorbehalte
gelten müssen, die sich aus der Beschränkung des Eragegebietes und der
noch ungleichen Dichte des Netzes bei der Probebefragung ergeben, so
zeigt sich doch, daß auf diesem Wege für eine spätere Ausdeutung der
Karten und eine Erforschung der Lebensbedingungen von Sitte, Brauch
und anderen volkskundlichen Formen, geistigen wie gegenständlichen, eine
wertvolle und kaum entbehrliche Grundlage geschaffen wird. Das „Jetzt“
soll in Bewertung und Bearbeitung gewiß immer an erster Stelle stehen,
aber auch das „Einst“ die Beachtung finden, die im Rahmen des Gesamt-
werkes möglich ist und seiner hohen Bedeutung gebührt.
Der Häher in den pfälzischen Mundarten.
(Zugleich ein Kapitel vom Werte volkskundlicher Fragebogen und Karten.)
Von E. Christmann.
(Mit 2 Karten.)
Dr. Gg. Heeger, der verdiente Erforscher pfälzischer Mundarten, stellt
1903 in „Tiere im pfälzischen Volksmunde“ im 2. TL § 24 an Namen des
Hähers zusammen: ,,Hächer, Hächert m. (häxord), mhd. heher. Dafür west-
pfälzisch auch Herrenvogel und Herrengäker; schon bei Maaler a. 1561 findet
sich Herrenvogel für Häher. In der Nordpfalz Markgraf (margroof); in der
Tiersage heißt der Häher bekanntlich Markolf, Markwart.“
Es fällt auf, daß Heeger den nur vereinzelt in der Pfalz vorkommen-
den Namen „Herrenvogel“ aufführt, daß ihm aber die so weit verbreitete
Bezeichnung Heer oder Häär oder Häer entgangen ist, und ebenso, daß
Suolahti in seinem Werk „Die deutschen Vogelnamen“, worin Heeger
benützt und zitiert ist, Hächert nicht einmal nennt, geschweige denn deutet;
also fehlt dort der eine, hier der andere der verbreitetsten pfälzischen Häher-
namen, wie ein Blick auf unsere Abb. 1 lehrt.
Nun sollen zwar vor allem die Auswertung der Karte und die sprach-
lichen Bewegungen, welche sie offenbart oder vermuten läßt, unsere Haupt-
aufgabe sein, aber weil die Fülle der pfälzischen Namen erstaunlich groß
218
Christmann:
ist, und auch weil wir uns erst durch die Untersuchung der Etymologie eine
Grundlage für unsere wortgeographischen Darlegungen schaffen, führen wir
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V cnak Hcictah-
H«
»el;
’rttoji
Bai-lscJ^( Bärtc}jeri| Bcie'ii'i./jtr*
Karte 1.
zunächst einmal die einzelnen Namen nach Herkunft und Sinn auf. Um
Raum zu sparen, werden sie wie in einem Wb. abgehandelt, erscheinen
ferner statt der Städtenamen die auf den beiden Karten gleichen Nummern
Der Häher in den pfälzischen Mundarten.
219
und bedeuten die Abkürzungen 0, SO, ö., s.-ö. usw. die Himmelsrichtungen
Osten, Südosten, östlich, südöstlich usw. (n.-w. 11 heißt also „nordwestlich
von Kaiserslautern“), und das Werk von Suolahti wird kurz als Suol.
Vögeln, angeführt, weiterhin Flörickes Vogelbuch als Fl. Vog., Lenz
„Der Handschuhsheimer Dialekt“ als Lenz und Meisingers „Wb. der
Mda. von Rappenau“ als Meis.
Ägscher, m., in Reipoltskirchen s.-ö. 14, „Spötter“ nach der pfälz. Interjektion des
Auslachens ägsch, gemeindeutsch ätsch.
Atzel, f., in Tiefenthal s.-w. 4; eigentlich der Name der Elster, auch außerpfälz. öfter
die gleiche Vertauschung der Namen (vgl. Suol. Vögeln).
Bäe(n)tscher, m.; s. Gärtsch und Karte.
Bärtchert, m.; s. Gärtsch und Karte.
Bärtsch, m.; s. Gärtsch und Karte.
Gääker(t), Gaaker{t), GäTcser, m„ s. Karte. Auch wird diesen Namen vielfach aus ahd.
hehara zusammengezogenes Herr-, Herre- (als ‘Herr’ umgedeutet) oder entstellt
Herde- vorgesetzt; alle gehen im Grundwort auf gackern, gäckern, gäcksen zurück.
Gärtsch, Gertsch, Gärtchert, Gerlcer, m., s. Karte. Benennung des Vogels nach seinem
Geschrei, abgeleitet von gerren, gärren, garren, garrezen, gerrazen, gärksen (vgl.
D. Wb.); Lenz führt unter hqsr das ähnliche kqkqkdrt an; in Marktsteft a. Main
heißt die Elster ähnlich Gaakerhatz. Mit Anlautswechsel entstehen Bärtsch, Bärt-
chert, Bäe{n)tscher, s. Karte.
Guuthäer, m., in Rheingönnheim bei 1; kommt auch nach Osten hin vor, vgl. Lenz 1:
Kuutliqdr und Meis.: Kuuthäädr; das von Lenz als dunkel erklärte Wort dürfte
in seinem ersten Teil den gleichen Stamm enthalten wie das Schallwort kudern,
kuttern, kaudern ‘balzen, kichern, grell schreien, plappern, unverständlich plaudern’
(vgl. im D.Wb. und Schwab. Wb. die entsprechenden Verben), auch ‘Kauder-
welsch’ gehört hierher.
Haacher(t), m., s. Karte. Volkstümliche Umdeutung aus Hächer(t), s. d. Eingewirkt
hat hachern ‘wiehern, wiehernd lachen’.
Hälcer, m., Entstellung aus Hächer (s. d.).
Hecht, m., Entstellung aus Hächer (s. d.).
Heer, f. und m., s. Karte. Gesprochen Her, Hqr, H&r, auch H&rt kommt vor, aus
mhd. heher, für die Westpfalz westlich der Linie von 4 nach 12 könnte auch mhd.
*heger zugrunde liegen; vgl. die späteren Ausführungen.
Hecher(t), Hächer(t), m., s. Karte. Wohl von mhd. *heger, nicht heher, wie Heeger
meint; es wird noch ausführlich darüber gesprochen.
Herre- oder Herr- oder Herdegääker, m., s. Gääker.
Herrschaak, m., s. Karte, Gääker und Schaak.
Kapuziner, m., in Freinsheim n.-ö. 5; der Schopf des Vogels wird als Mönchskapuze
aufgefaßt wie ja auch die Haube von Lerchen und Tauben (vgl. Suol. Vögeln. 32
und 222).
Keschtehächer oder -vocliel, m., in Dierbach s.-ö. 8 und Tiefenthal s.-w. 4, ‘Kastanien-
häher, -vogel’ nach ahd. chestinna, mhd. kesten, pfälz. Kescht ‘Kastanie’; da die
Edelkastanie in der Pfalz ganze Wälder bildet, ist der Name begreiflich.
Markgraf, m. und f., s. Karte. Formen und Etymologie werden noch näher besprochen.
Schaak m„ s. Karte. Frz. Jacques ‘Jakob’; alle gelehrigen Rabenvögel werden gern
mit dem Namen belegt.
Schirlcet, m., in Stelzenberg s. 11, von schirken ‘einen hellen, schrillen Ton von sich
geben’, auch von der Stimme der Lerchen, Finken und Grillen gebraucht (vgl.
D. Wb. schirken).
Stößer, Stäißer, m., ist eigentlich eine kleinere Habichtsart; wo kein Wald und auch
der Häher selten oder nicht vorkommt, begegnet diese Verwechslung, so in der
Vorder- und Nordpfalz.
Stratzert, m., in Hassel ö. 20; entweder von den emporstehenden Federn des Schopfes
(Schwäb. Wb. stratzen ‘emporstehen, hervorstehen’, von Haaren) oder von diesen
220
Christmann:
und den schmückenden Seitenfedern (vgl. Lenz und Meis, stratzen ‘hoffärtig tun,
einherstolzieren’) oder der Häher wird in abermaliger Verwechslung mit der Elster
als Dieb bezeichnet (vgl. Eis. Wb. stratzen ‘stehlen’, Stratzer ‘Dieb’); stratzen ist
aus strackzen entstanden.
Verootvochel, m., in Reichenbach, ö. 15, ‘Verratvogel’ nach seinem Aufschreien bei
Annäherung eines fremden Wesens.
Waldspecht, m., in Freinsheim n.-ö. 5; Verwechslung mit dem Grauspecht.
Heeger brachte, wie wir oben sahen, ans eigener, gewissenhafter
Sammlung, Auskünften Bekannter und unter Mithilfe von Freunden für
die Pfalz 5 Namen und Formen zusammen; die aus etwa zweidrittel aller
pfälzischen Orte beantworteten Fragebogen der Pfalz. Wb.-Kanzlei trugen
über 40 ein. Aber dieses dichtmaschige Netz ermöglichte auch die Karte
der Abb. 1, die wir nun aus werten wollen.
Aus mhd. heher entstandenes Häär oder Heer ist, wie aus den Mda.-
Wbb. der entsprechenden Landschaften zu entnehmen ist, der bei weitem
vorherrschende Name in Südwestdeutschland: von der Schweiz durch Elsaß
hindurch bis an die Pfalz heran und wiederum in Württemberg, wohl auch
in Baden, sicher von der Gegend der Tauber zum unteren Neckar und bis
wieder an die Pfalz heran; also begreifen wir, daß das gegen 9 hin aus dem
Pfälzer Wald herauskommende und sich gegen die Rheinebene öffnende
Tal der Wieslauter samt Umgebung, zumal dieses Gebiet in alter Zeit in
kultureller und politischer Beziehung zu Weißenburg und seinem Kloster
stand, den gleichen Hähernamen hat und ebenso die nordöstliche Pfalz;
aber auffallen muß der von 5 gegen SW vorspringende schmale Zipfel, der
quer durch ein Waldgebiet und dabei noch durch und über ein Westost-
Gebirgstal hinweg Orte verbindet, die sehr wenig Verkehr miteinander
haben, verschwindend wenig gegenüber dem durch das Tal gegen Osten
nach 6 hin und gar keine historisch-territorialherrschaftlichen Beziehungen.
Nach Lage aller Verhältnisse muß bestimmt geschlossen werden, daß ehe-
mals das Heer des NO bis über 6 hinaus reichte, folglich das südliche Hechert
im Lauf der Zeit gegen 5 hin und das Tal nach Westen aufwärts Boden er-
obert hat, so daß dort nur noch die Restorte jenes Zipfels die gleichen
Verhältnisse haben wie der NO.
Festgestellt sei noch, daß Heer in den bis jetzt besprochenen pfälzischen
Gebieten mask. ist wie in dem ganzen schon angegebenen obd. Land, da-
gegen in der Westpfalz von 14 bis zur Südgrenze noch fern, wie mhd. und
ahd., und nur bei den Jungen dringt unter dem Einfluß der Schule jetzt
auch das mask. ein. Auch aus dieser Übereinstimmung des pfälzischen NO
und S im Genus mit den anschließenden nichtpfälzischen Gebieten muß auf
Ausgleichungen, Beziehungen zum oben abgegrenzten Oberdeutschland ge-
schlossen werden.
Eine Merkwürdigkeit ist doch wohl ein weiblicher Markgraf. In der
Nordpfalz tritt nämlich dieser Hähername ohne Rücksicht auf die mund-
artlichen Formen: Markgraf, -groof, -grob, -grubb, Mergeruff usw., nicht bloß
als Mask. sondern fast ebenso oft als Fern. auf. Da nun dieses Gebiet in
seinen Sprachgrenzen mit einer Reihe von gerade für diesen Raum charak-
teristischen laut- und wortgeographischen Linien zusammenfällt, die alle
Der Häher in den pfälzischen Mundarten.
221
aus dem rhein-mainischen Kultur- und Sprachraum mit den Zentren Mainz
und Frankfurt, vielfach auch noch Heidelberg, vorgestoßen sind, wie der
Maulwurfname Moltroff (mhd. moltwerf), hun (mhd. hdn) für haben als
1. 2. 3. plur. wie auch 1. sing. präs. ind., ebenso sein für ‘wir, sie sind, ihr
seid und ich bin’ usw., so muß vermutet werden, daß auch unsere Häher-
benennung aus dem heute hessischen Land hereingewandert ist, wo sie ja
ebenfalls gilt. Dann wäre aber ohne weiteres verständlich, daß der weibl.
pfälzische Markgraf sein Genus von dem von ihm verdrängten fern. Heer
geerbt hat.
Zu unsern Schlüssen über die Vorbewegung von Markgraf stimmt nun
eine Vermutung, die auch in Suol. Vögeln, und anderswo ausgesprochen
wird, nämlich daß Markgraf nur eine weitere Umbildung des um Mittel- und
Niederrhein her vielfach auf den Häher übertragenen älteren Spielmanns-
und Spötternamens Markwolf > Markolf, Markwalt > Morolt und Mark-
wart > Marquart sei. Soweit aus den Mda.-Wbb. und Suol. Vögeln, ge-
schlossen werden kann, ist das pfälzische Markgraf-Gebiet der südliche Aus-
läufer eines größeren für die eben aufgeführten Formen, das von N über
Westerwald, Oberhessen, Nassau und Rheinhessen zu uns herreicht oder
-reichte (wie im Westen nach Luxemburg und Lothringen). Suol. Vögeln,
behauptet, diese Namen seien immer nur neben andern als den eigentlich
volkstümlichen auf den Vogel angewendet; das trifft hier bestimmt nicht
zu. In der nördlichen Pfalz und in Rheinhessen herrscht Markgraf ganz
ausschließlich.
Es sei mir gestattet hier einem Gedanken, einer Vermutung Ausdruck
zu geben. Ich weiß nicht, ob man bisher schon einmal darauf geachtet und
hingewiesen hat, daß in all den eben besprochenen Namen ‘Mark’ in der
Bedeutung von Wald steckt, also diese Bezeichnungen für unsern Wald-
vogel doch ganz besonders passend erscheinen müssen und neben Eichel-
häher, Wald-, Holzschreier, auch den bei Suol. Vögeln, nicht, wohl aber in
Fl. Vog. aufgeführten Buchelt oder Bucholt (< Buchwalt) sich stellen. Es
scheint mir also doch noch eine andere Beziehung zwischen dem Vogel und
solchen Namen mitzuspielen als eine einfache Übertragung des Namens von
dem Spötter und Spielmann der ahd.-mhd. Zeit auf den Spötter unter den
Vögeln; es kann sogar die Vermutung nicht ganz von der Hand gewiesen
werden, daß der Vogel zuerst den Namen führte; weil er aber nicht bloß
Waldvogel sondern auch Spottvogel ist, könnte recht wohl sein Name dann
als etwas Bedeutungsvolles und Charakteristisches der Figur der Dichtung
beigelegt worden sein, die freilich mit der latinisierten Form Marcolfus in
manchen Gegenden wieder auf den Vogelnamen eingewirkt hätte.
Und nun wenden wir unsere Aufmerksamkeit auf den Namen Hächer —
seine Umformungen sind schon aufgeführt und kümmern uns nicht mehr —
und sein Herrschaftsbereich auf unserer Karte. Heeger leitet ihn unmittel-
bar von mhd. heher ab, wie wir eingangs sahen, und stützt sich dabei auf die
in seinem „Dialekt der Südostpfalz“ § 44 aufgestellte Regel: im Inlaut zeige
sich mhd. h in der Mda. des eben genannten Gebietes (d. h. etwa zwischen
dem Rhein und einer Parallelen durch 12, der pfälzischen Südgrenze und
222
Christmann:
einer Parallelen durch 2) als Spirans, also als ch bzw. X- Aber das stimmt
nicht. Heeger führt im § 7 selbst mhd. zehen als ze an; ferner stelle ich
fest: mdh. gedihen, rihe, schiuhen, sihen (gedeihen, Reihe, scheuen, seihen)
werden südostpfälzisch wie auch westpfälzisch: gddaid, Rai, schaid, said.
Heegers Beispiele, die seine Regel beweisen sollen: he\dr, nexdr, zi\d (höher,
näher, ziehen) sind falsch gewählt, sie beruhen nicht unmittelbar auf mhd.
hoeher, naeher, ziehen, sondern haben ihre inlautende Spirans durch Ana-
logie erhalten von mdal. hoch, heg seht, negscht, gdzochd, zix (mhd. hoch,
hoehst, naehst, gezogen, ziuch). Dagegen wird in der Mda. der Südostpfalz
inlautendes -g- durchweg Spirans; folglich wäre Hächer auf ein mhd. *heger
zurückzuführen, eine Ablautform zu mhd. heher, die sich zu mnd. heg er und
ags. higre, higora stellt. Daß das westpfälzische Heer ebensogut lautgesetz-
lich auf mhd. heher als *h'eger zurückgehen kann, wurde schon gesagt. Da
P. Wrede und Frings eine Reihe von Übereinstimmungen des West-
deutschen mit dem Ndd. und Ags. festgestellt haben, wäre auch die eben
besprochene Form durchaus mhd. für unsere Gegend möglich, freilich wären
noch weitere Stützen für meine Etymologie nötig, die ich aber zunächst
nicht beibringen kann, weil noch das Material fehlt.
Aber schließlich ist für die Auswertung unserer Karte belanglos, ob
Hächer im SO auf die eine oder andere mhd. Form zurückgeht, für uns ist
vor allem wichtig: der westliche Teil des pfälzischen Raumes, etwa w. der
durch 12 gelegten Parallelen zum Rhein, kann nach seiner ganzen Mda. seine
Benennung lautgesetzlich weder von der einen noch der andern angeführten
mhd. Form bilden; vielmehr müßten beide wie in der ganzen w. Pfalz zu
Heer werden. Wie kommt also diese Gegend zu ihrem Hächer ? Diese
Lautung kann nur von 0 her allmählich westwärts sich vorgeschoben und
dabei Heer verdrängt haben. Das ist aber durchaus möglich und ver-
ständlich; denn an einer Reihe von Beispielen kann erläutert werden, wie
auf der Straße, die aus der ebenen SO-Pfalz (ö. einer Linie 6, 7, 8, 9) von 7
durch die Täler der auf unserer Karte eingezeichneten Flüsse nach 19 führt,
eine Reihe von Mda.-Ausdrücken vorgestoßen sind, was unsere Abb. 2 er-
läutern will.
Sie bringt in vergrößertem Maßstab, aber mit den gleichen Nummern
der Städte die Pfalz zwischen Rhein und Zweibrücken (19). Zunächst sehen
wir uns die Verbreitung des landesüblichen Brauches am Sonntag Invo-
cavit an, die ,, Sommertag “-Feier der Jugend mit einem mit einer Bretzel
oder einem Apfel, „Maien“ und farbigen Bändern gezierten Stock und dem
Gesang des ,,Ri-ra-ro! De Summerdaach isch do!“ Dieser Brauch reicht
im Westen bis zu der eingetragenen Linie, die ziemlich genau von N nach S
verläuft, aber westlich von 7, eben wo unsere OW-Straße durch das Ge-
birge zieht, in einem Zipfel nach Westen vorspringt. Die in sich selbst zu-
rücklaufende Linie auf Abb. 2 umschließt den Raum des Mda.-Namens
Wingertsalat — die mdal. Schattierungen kümmern uns nicht —; andere
Pfalzgegenden nennen das besonders im Frühjahr im Feld auf gesuchte und
als Salat zubereitete wildwachsende Kraut: Vielläppchen, Dotterchen,
Eierdotter, Rütscher, Bodenrütscher, Mausöhrchen, Rapunzel, Lämmer-
224
Christmann: Der Häher in den pfälzischen Mundarten.
weide oder Feldsalat. In dem ausgedehnten Rebengelände am Osthang des
Pfälzer Waldgebirges n. und s. 7 findet sich die Pflanze besonders in den
Weinbergen oder Wingerten und führt also hier einen ganz bezeichnenden
Namen; aber nach Westen hin hören eben diese Wingerte im Queichtal
sehr bald auf und spielen im Raum um Pirmasens aber auch gar keine Rolle,
kommen so gut wie gar nicht vor. Wenn man also hier die auf Äckern und
Triften vorkommende Pflanze auch Wingertsalat nennt (und nicht Feld-
salat wie gleich ö. unserer Mda.-Grenze auf Abb. 2 und wie auch in der n.
Vorder- und Westpfalz), dann ist das nur begreiflich, weil man hier gewohnt
ist oder war, kulturelle Einflüsse und damit auch sprachliche von O her
zu erhalten.
Zu solchen Eindringlingen gehören auch das durch Elsaß und Ostpfalz
hin geltende Grusselbeer (Stachelbeere) gegenüber Gruuschel oder Druuschel
der w. Pfalz, wie auch der ö. Name für die grüne Schale der Walnuß, ge-
meindeutsch als Laufet anzusetzen, gegenüber den w. Ausdrücken Näp und
Kolt. Näp kennt man auch in Lothringen, die Herkunft des Wortes ist
dunkel; Kolt oder Kulte ist der Herkunft nach gleich mit Kolter oder Kutter
‘abgenähte Bettdecke, Steppdecke’, findet sich auch im Ndd. und Nieder-
ländischen und kommt von afranz. colte, coltre < colstre, das wieder auf
lat. culcita, culcitra zurückgeht.
Nach diesen Beispielen des Vordringens ö. Formen entlang der Straße
nach Westen in den Pirmasenser Raum erscheint es nicht mehr verwunder-
lich, daß auch der ö. Hähername Häcker sich weit über die Grenze s.-o.-
pfälz. Mda. hinaus, die w. von 12 liegt, ausgebreitet hat, zugleich weiter
als alle andern Beispiele auf Abb. 2.
Hat nun tatsächlich, wie unsere Ausführungen wahrscheinlich machen
wollen, Heer einmal im N der Pfalz durch den Markgrafhindurch bis in
die Nähe von 4 und im S bis in die Nähe von 12 gereicht, dann lag seine Grenze
an der für die Pfalz einschneidendsten sprachlichen Scheidelinie, die ungefähr
von 4 nach 12 verläuft und eine ganze große Menge von lautlichen und
lexikalischen Unterschieden zwischen ö., dem Obd. näher stehender pfälz.
Mda. und w., dem Fränk. näher stehender Sprachweise trennt, wobei fränk.
die Art bezeichnen soll, die von hier ab den Rhein hinunter bis ans Meer gilt.
Wir schauen zurück: was brachte der fleißige Einzelsammler Heeger
zusammen, was wurde möglich mit Hilfe eines engmaschigen Sammler-
netzes ? Hätte Heeger auch eine Karte zeichnen können, und was hätte
sich herauslesen lassen ? Wer sich die Fragen beantwortet und vor Augen
hält, daß vieles in unsern Ausführungen sich hätte sicherer schließen lassen,
daß mancher Zweifel nicht Zweifel geblieben wäre, wenn wir gleich eine
Karte für das ganze Rheingebiet, für ganz Deutschland mit den Herrschafts-
bereichen aller Hähernamen hätten, hat den Wert eines engmaschigen
Sammlernetzes und der volkskundlichen Karte anschaulich vor Augen.
Über vorzeitliche und heutige Haustypenlandschaften.
225
Über vorzeitliche und heutige Haustypenlandschaften.
Von Adolf Helbok.
(Mit 3 Karten.)
Vidal delaBlache hat eine aufschlußreiche Karte über den Baustoff
des Hauses in Europa veröffentlicht1). Aus ihr geht bei aller ihrer Bei-
läufigkeit und Verallgemeinerung klar hervor, daß wir in Europa ein
Steinhausgebiet im Westen und Süden und ein Holzhausgebiet im Osten
und Norden haben. Ferner, daß in Mitteleuropa, also vor allem in Deutsch-
land, der Fach werkbau als Kontaminationsform beider herrschend ist.
Die Karte gibt aber auch Aufschluß über einen in ferner Vergangenheit
liegenden UmwandlungsVorgang im Baustoff. Man gewinnt nämlich den
deutlichen Eindruck, daß
dort, wo heute Steinbau
herrschend ist, einst der
primitivere Erdbau war.
Die Karte zeigt in Mittel-
spanien ein Reliktgebiet
desselben. Aber auch die
sonstige Anordnung beider
Baustoffe (vgl. Kleinasien)
zeigt dies2).
Es ist bekannt, daß
die Vorgeschichtsforscher
die Ansicht vertreten, die
Grundformen des Hauses
hätten gewisse Heimat-
gebiete. So hat erst neu-
lich Schuchhardt das
Rundhaus dem Westen
Europas, das Viereckhaus
Deutschland zugespro-
chen3), und im Reallexikon der Vorgeschichte von Ebert bezeichnet
Behn den Rundbau als altmittelländisch. Die Zusammenhänge beider
Formen mit dem Baustoff sind offenkundig, und so kann man an Hand
vorliegender Karte La Blaches, groß und schematisierend genommen,
sagen, daß das Rundhaus (O) dem Westen und Süden, das Viereckhaus (□)
dem Osten und Norden zugehört.
Trotz dieser wohl allgemein geltenden Ansichten ist aber bisher nirgends
der Versuch gemacht worden, das vielfach zu bemerkende gelegentliche
Durchschlagen der einen oder anderen Form im jeweils anderen Heimatgebiete
1) Principes de Géographie humaine (Paris 1922) Tafel VI; vgl. unsere Karte 1.
2) Mir fielen noch 1911/12 in der Gegend von Tivoli bei Rom abgelegene Weiler
mit runden Erdhütten auf.
3) Vorgeschichte von Deutschland S. 34.
Zeitschrift für Volkskunde II, 1—2. 15
Karte 1.
226
Helbok:
großräumig ins Auge zu fassen und den gelegentlichen Kampf beider
Formen nach seinen Ursachen zu erklären. Für die Volkskunde wäre ein
solcher Versuch nicht unwichtig, da damit ein methodischer Weg gefunden
werden könnte, den tieferen Gründen der Erscheinungen des heutigen
Zustandes auf verschiedenen Gebieten näherzurücken. Denn es muß doch
nachdenklich stimmen, wenn man wahrnimmt, daß die heutige Verbreitung
der Baustoffe des volkstümlichen Hauses z. B. im wesentlichen und grund-
sätzlich seit jeher die gleiche war.
Tatsächlich zeigt eine Karte, welche die Grundformen des Hauses
durch alle Perioden der Vorzeit in Deutschland darstellt1), daß der Osten
Deutschlands grundsätzlich nur das □ hat, und daß im Rheinland das
Kampffeld beider Hausformen liegt. Beifolgende Skizze (Karte 2) zeigt
die Phasen dieses Kampfes durch alle Perioden der Vorzeit an den Spitzen-
stellungen in schematisierender Art. Ganz einfach sagt diese Skizze, daß
am stärksten in der Neolithik, ähnlich, nur etwas schwächer, in der La-Tene-
und Hallstattzeit, das □ gegen W vordrang, während das O in der Bronze-
zeit eine sonst nie erreichte Ausbreitung gegen O zeigt. Das □ blieb in
dieser Periode im Vordringen gegen W stecken, und zwar, ganz beiläufig
gesprochen, auf der Grenzlinie des O. Die Skizze sagt außerdem, daß in
der Neolithik, Hallstatt- und La-Tene-Zeit breite Mischgürtel beider Formen
waren, das Rheinland beiderseits des Stromes erscheint zum großen Teil
als einheitliche Misch-Landschaft, in der Bronzezeit hingegen ist von einer
gegenseitigen Frontstellung, nicht von einem Mischgürtel zu sprechen.
Die Ursachen"? Es kommen in Betracht: 1. Wanderung von Kulturen
allein oder 2. in Verbindung mit Völkerbewegungen oder 3. der Natur-
faktor.
In der Neolithik könnten zwei Kulturen ein Vorschieben des □ gegen
W besorgt haben, der thüringische Kulturkreis, der vor allem in der Schnur-
keramik die größte Rolle in Europa spielte, und der Donaukreis, der be-
sonders in der Bandkeramik gegen W, wenn auch nicht so stark wie die
ältere Schnurkeramik, wirkte. An der Weststellung der □ in unserer
Skizze ist aber die Schnurkeramik gar nicht, die Bandkeramik nur hinter
der Michelsberger Kultur beteiligt, die hier führend ist. Sie aber gehört
der westeuropäischen Kultur an! Aber auch die O gehen nicht auf west-
liche Kulturen zurück. Sie gehören vor allem der Bandkeramik an, die
aus dem SO stammt, und der Rössener Kultur aus dem Elb-Saale-Gebiet.
Lediglich die westliche Zonenbecherkultur zeigt in Oltingen bei Bremgarten,
ihrem einzigen Orte sicherer Hausformen, O, aber auch □. Hier liegt
also der zweite Fall einer Umwandlung westlicher O in □ vor. Betrachtet
x) Des beschränkten Raumes wegen kann sie hier nicht wiedergegeben werden.
Sie stützt sich auf die Angaben im Artikel „Haus“ bei Ebert, Reallexikon der Vor-
geschichte Bd. 5 (1926), und auf die einschlägigen Arbeiten F. Behns. Außerdem sind
Literaturexzerpte herangezogen, die zur Herstellung einer mittel- und süddt. Siedlungs-
karte der vorzeitlichen und römischen Perioden angefertigt wurden. Die hier vor-
liegende Erörterung greift einiges aus einer umfangreicheren Untersuchung vorzeit-
licher, römischer und deutscher Hausformenlandschaften heraus. Das Ergebnis dieser
Karte zeigt unsere schematische Darstellung in Karte 2.
228
Helbok:
man den Anteil beider Grundformen an den neolithischen Kulturen in
ihrer zeitlichen Folge, dann muß man feststellen, daß anfangs nur □
erscheinen und später erst die O, ohne daß sie die Hälfte der Fälle er-
reichten. Zusammenfassend muß man sagen: die älteren westlichen Kul-
turen setzen ihr O gar nicht durch, erst die jüngeren bringen es etwas
zur Geltung. Zur selben späteren Zeit zeigen es rein östliche Kulturen
auch. Die Ostkulturen hatten in älterer Zeit aber nur □.
In der Bronzezeit zeigen die früheren Perioden IA, I B noch hohe
Prozentsätze des □, die späteren II, III hingegen ein Überwiegen von O1).
Die Bronze gilt allgemein als eine Periode geringster Völkerbewegungen,
wohl aber lebt ein weltweiter Verkehr auf. Inwieweit Schliz2) mit seiner
Feststellung des Einsickerns einer brachyzephalen Bevölkerung aus Frank-
reich in unseren von den Neolithikern verlassenen Westen Recht hat, muß
offen bleiben. Jedenfalls kann damit die Frontalstellung beider Formen
im Ostteil nicht erklärt werden. In der Hallstattzeit ließe sich das Vor-
dringen der □ gegen W mit der gleichgerichteten Kulturbewegung er-
klären, das starke Vertretensein der O findet damit aber keine Deutung.
Die Kelten haben der Hallstatt ein Ende bereitet, gleichwohl dringt das □
gegen W. Hallstatt und La Tene ähneln sich in der Stellung beider Formen
trotz des ganz entgegengesetzten Charakters ihrer Kultur- und Völker-
bewegungen.
Damit ist der Naturfaktor in den Vordergrund unseres Interesses
getreten. Wir können in der Tat an Hand der Untersuchungen über die
Klimaschwankungen ein deutliches Bild über den Zustand des Baumaterials
in der Natur gewinnen und Zeiten des Waldreichtums von solchen der
Waldarmut infolge allzu großer Trockenheit unterscheiden. Nach Gams
und Nordhagen3) ging der Neolithik ein maritimes, feuchtwarmes Klima
voraus, das in den Voralpen größte Häufigkeit von Weißtanne und Eibe,
im Norden Föhre und Eiche, sonst Eichenmischwälder und Einwanderung
der Buche und Weißtanne brachte. Dann folgte eine lange Periode eines
trockenen und warmen Klimas, das in Mitteleuropa eine Verkleinerung
der Seen, zunehmende Lichtung der Wälder, Erhöhung der Waldgrenze
brachte, in der Neolithik begann und bis zur Frühhallstattzeit reichte.
Den Höhepunkt der Waldfeindlichkeit erlangte dieses Klima etwa in der
späteren Bronzezeit. Dann folgte diesem Klimaoptimum, das für den
Waldbestand von größtem Nachteil war, die postglaziale Klimaverschlech-
terung, die eine rasche Wiederausbreitung von Rot- und Weißtanne brachte.
Sie fällt in die Hallstatt- und vor allem in die La-Tene-Zeit. Hält man dem
hier Gesagten das Bild des Hin und Her unserer Grundformen entgegen,
dann zeigt es auffallende Übereinstimmung mit den Klimaschwankungen.
x) Dabei ist aber zu sagen, daß die der Spätbronze angehörige Urnenfelderkultur
auf unserer Karte gar nicht vertreten ist, weil bislang kein Haus gefunden wurde.
2) Beiträge zur Kulturbewegung der Bronzezeit und Hallstattzeit, Fundber.
Schwaben 1901 und Hist. Ver. Heilbronn 1910.
3) Postglaziale Klimaänderungen in Mitteleuropa, Mitteil. d. geogr. Gesell-
schaft München 1923.
Über vorzeitliche und heutige Haustypenlandschaften.
229
Das Ergebnis unserer Betrachtung ist, daß der Kampf beider Formen
in der Vorzeit vielfach nicht ein Spiel der Kulturen, sondern der Natur ist.
Wir sehen, daß man in der Auswertung von landschafts- und periodenweise
auftretenden Typen vorsichtig sein muß bei Schlüssen auf Kulturen und
Kulturbewegungen.
Damit soll nicht gesagt sein, daß in unserem Falle keine Kultur-
strömungen vorhanden sind, sondern, daß wir sie jetzt, befreit von allem
Fremden, das Bild Überwuchernden, nun klarer fassen können. Denn
es scheidet nun von vornherein aus: das Vordringen der □ in der Neolithik
und La Tene, weil hier die Natur allein Ursache war. Ebenso scheidet die
Stellung von O gegen Osten in der Hallstattzeit aus, es ist ein Relikt-
zustand aus der Bronzezeit. Das Vordringen des O in der Neolithik hat
nur im Falle der Zonenkeramik Kulturbewegungscharakter. Gleichwohl
führte hier die Natur ihr artgemäßes Bild auch ein. Insofern zeigt sich
ein Prozeß der Assimilierung der West- an die Ostkultur. Das Vordringen
des □ in der Hallstatt gegen W war naturbegünstigte Kulturbewegung,
während die Ausbreitung des O gegen 0 in der La Tene deshalb nicht als
naturgehemmte Kulturbewegung erklärt werden kann, weil O in wald-
reicher Gegend durchaus möglich ist, umgekehrt aber nicht □ in wald-
armer, es sei denn, man gehe zu einem anderen Baustoffe über. Dürfen
wir demnach an der starken Stellung der O in der La Tene die starke
Stoßkraft der Keltenkultur erkennen1) ? Das Vordringen der O gegen Osten
in der Bronzezeit und das Versagen der □ geht unfehlbar auf die Natur
zurück. Aber das Versagen des □ scheint noch eine andere Quelle zu haben.
Nämlich in der Abwanderung ihrer Träger. Dazu muß noch ein grundsätz-
liches Wort gesagt werden. Der Fall der O in der Hall statt sagt uns:
durch äußere Umstände kann eine neue Form Gewohnheit werden. Seit
der Mitte der Neolithik ist ja das O immer herrschender in Mitteleuropa
geworden, das □ infolge des steigenden Wegrückens der Wälder von den
Siedlungen immer unmöglicher. So bauten weite Kreise der Hallstatt O,
als sogar das Holz wieder erreichbarer war. Hunziker hat am Schweizer-
haus nachgewiesen, daß die dem Holzbau entstammenden Termini der
romanischen Mundarten den Langobarden zugehören; sie haben also das
Holzhaus in eine Steinhauslandschaft eingeführt, weil der Baustoff dazu
vorhanden war. Die hailstättische Bevölkerung und die Langobarden
erscheinen als Träger bestimmter, obzwar verschiedener Hausformen durch
Gewöhnung. Im einen Fall haben wir Verharren am alten Boden, im an-
deren weite Wanderbewegung, allerdings ist die Bauüberlieferung auf diesem
Wege gestützt gewesen. Daran kann man ermessen, was es bedeutet,
wenn die Nordleute, die in der Bronze im SO Europas nach langer Wander-
i Damit hängen auch die germanischen Rundhütten in Westdeutschland zu-
sammen die uns die Säule auf der Piazza Colonna in Rom zeigt. Schulz-Minden,
Germ. Haus S. 54ff., rät, die Darstellungen cum grano salis zu nehmen, und läßt
offen, daß die germ. Wirtschaftsgebäude gelegentlich rund waren. Zur sog. Über-
legenheit der Keltenkultur vgl. Helbok, Zur Frage der germ. Wirtschaftskultur,
Vierteljahrschr. f. Soz. u. Wirtschg. 22 (1930), 282ff.
230
Helbok:
schaft erschienen, den dortigen Kampf zwischen O und □ zugunsten des
letzteren entschieden. Und dieser Vorgang zeigt sich damals überall.
In Italien geht das nördlichere Etrurien früher zum □ über als das süd-
lichere Latium. Die von NO kommenden Terramaren und die mykenische
Kultur wirkten außerdem in Italien für den Sieg des □. Es besteht Ein-
stimmigkeit darüber, daß in der Bronzezeit die Einwanderung der Griechen
und Italiker aus dem N stattfand, und es ist bezeichnend, daß in dem Maße,
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Karte 3.
gez. Helbok.
als in der Bronze das □ im N verschwand, es am Mittelmeer allgemein
wurde. Man hat auch auf die nahe Verwandtschaft des nordischen Vor-
hallenhauses und der Herrenburgen von Troja, Mykenae und Tiryns hin-
gewiesen. Die Megalithkultur hatte in ihren Anfängen das O, wie uns die
Grabhäuser verraten. Dann aber, zum □ übergegangen, blieb sie bei ihm.
Die Karte der beiden Formen zeigt, daß der Norden in allen Perioden beim
□ blieb. Mit einer Ausnahme liegen die bronzezeitlichen O alle ab der
Mainlandschaft gegen S. Die wenigen □ der Bronze gehören dem Lande
östlich der Weser an. Aus all dem vermögen wir die lange Gewöhnung
Über vorzeitliche und heutige Haustypenlandschaften.
231
des Nordvolkes an das □ zn ermessen1). Hier liegt eine gewaltige Stabilität
der Kultur, man möchte geradezu von Reinzucht sprechen. Sie zeigt sich
auch darin, daß alle am Hause hier festgestellten westlichen Kultureinflüsse
lediglich am Rhein südlich der Sieg, am westlichen Main, am Neckar und
in der westlichen Schweiz erscheinen.
Wir dürfen also die Sätze aussprechen: Dauernd oder doch sehr lange
wirkende natürliche Kräfte bestimmen das Antlitz der Kulturlandschaft.
Man kann sie aber nur dann als gestaltende Faktoren der Kulturlandschaft
ermitteln, wenn man sie durch verschiedene, aufeinanderfolgende Völker und
Kulturen am selben Boden in gleicher Art wirksam sieht. Formen, die durch
lange Natureinwirkung erhalten blieben, können Kulturinventar werden.
Aus dem Grade der Kulturdifferenzierung und der Dauer des Verwachsen-
seins solcher Formen mit einer Kultur ergibt sich das Maß der inneren
Verbundenheit von Form und Kultur.
Um die gestaltenden Kräfte der deutschen Hauslandschaften zu er-
mitteln, kann dieser Satz besonders wirksam werden, wenn man das Bild
der heutigen Hauslandschaften mit jenem der vordeutschen Perioden ver-
gleicht. Schon der oben geschilderte Fall des Baustoffes gibt hier eine
grundlegende Erkenntnis. Das Fach- oder Riegelwerk gilt heute als deutsch,
weil sich seine heutige Ausbreitung mit dem deutschbesiedelten Boden
deckt. Geht man dieser Frage an Hand der Karte La Blaches und der
unseren nach, so kann man aber in noch tiefere Zusammenhänge blicken.
Die Karte La Blaches läßt zwar die Frage offen, ob das Riegelwerk eine
geschichtlich gewordene Kontamination ist oder seit jeher bestand und
nur als pflanzengeographische Erscheinung zu werten ist. Aber die Vor-
geschichte hat in allen Zeiten seit der Neolithik auf deutschem Boden
bereits den Fach werkbau erwiesen2). Alle späteren Perioden zeigen dann
das Fachwerk immer häufiger. Es würde zu weit führen, den pflanzen-
geographischen Belangen (Laubholz — Nadelwälder usw.) und den Aus-
wirkungen der Klimaschwankungen hier nachzugehen. Es genügt ein
Hinweis auf die in volkskundlichen Werken immer wieder geäußerten
Hinweise auf die natürlichen Ursachen des mitteleuropäischen Riegel-
werkes. Man wird also zur Annahme neigen müssen, daß das Fach werk
pflanzengeographisch bedingt ist. Dabei haben dann allerdings Kultur-
und Volksbewegungen für die weitere Ausbreitung desselben gewirkt, so
die ostdeutsche Kolonisation, die es in reine Nadelwaldgegenden führte,
oder der N-S-Handels verkehr des Mittelalters, der es in die Alpenstädte
tmg, von wo es in die bäuerlichen Siedlungen kam.
Ähnlich stehen die Dinge aber in anderen Belangen der deutschen
Hauslandschaften; ein Fall möge hier eingehender erörtert werden. Das
1) Déchelette, Manuel II 1, 123 führt eine dichte Gruppe von □ auf der ent-
legenen Tristaninsel des Dép. Finistère als Ausnahme des bronzezeitlichen Frankreich
an. Sind es auch Nordleute?
2) Sarmsheim a. d. Nahe, vgl. Schumacher, Siedlungs- und Kulturgeschichte
der Rheinlande 1 (1921), 53 u. Tafel 14, 3; Knorr, Hausreste neol. Zeit bei Kl.-
Meinsdorf in Holstein, Kieler Mitt. 44.
Haus der norddeutschen Tiefebene ist ein Einhaus oder, wenn man in
Betracht zieht, daß es erst in jüngerer Zeit zu innerer Raumabteilung
unter oberdeutschen Einflüssen gelangte, ein Einheitshaus. Das südlich
anschließende oberdeutsche Haus hingegen ist ein Gehöfthaus. Ferner
ist das niederdeutsche Einhaus ein Dachhaus, das mit seinen niederen
Wänden und dem hohen Dache geradezu einem riesigen viereckigen Zelt
gleicht. Das oberdeutsche Haus hingegen ist ein Wandhaus, wenn man
von gewissen Zwischenformen absieht. Das niederdeutsche Einheitshaus
hat keine Unterkellerung, das südlich anschließende oberdeutsche Gehöft -
haus hingegen hat eine. Vergleichen wir dazu die vorzeitliche Haus-
typenkarte1)! Zunächst zeigt sie, daß das heutige Heimatgebiet des
Gehöftes, das mitteldeutsche Rhein- und Mainland, zu allen Zeiten
eine Kernlandschaft des Gehöftes war. Und dieses Gehöftgebiet zeigt
von Anfang an auch die „fränkische“ Form, d.h.es hat die Vierecksanlage
um einen Hof. Wenn Gruber2) diese Anlage auf den Ordo Roms zurück-
führt, so widerlegen die neolithischen Vierecksgehöfte unserer Karte diese
These. Es ist bezeichnend, daß die anderen Landschaften unserer Karte
diese Sondertype nicht aufweisen. Erst die Kolonisation des Mittelalters
trug ihre entwickeltere Form vom Heimatboden in oft ferne Gegenden.
Die zweite merkwürdige Übereinstimmung unserer vorzeitlichen Haus-
karte mit der Gegenwart liegt im norddeutschen Dachhaus. Auch dieses
ist in seiner Rechtecksform seit der Neolithik nachweisbar und hier be-
sonders vorherrschend3). Schließlich zeigt die Karte das Fehlen von Wohn-
gruben im Norden. Wohngrubenlandschaft und Gehöftlandschaft scheinen
in Mitteldeutschland enge verwachsen zu sein.
Hier liegen verschiedene durchgängige Erscheinungen vor, und nach
unserem Satze wäre die Natur als gestaltender Faktor anzusehen. Leicht
des Bodens unmittelbar naheliegend. Wer das niederdeutsche Land kennt,
denkt zunächst an seine geringe Höhenlage über dem Meere, denkt an die
weiten versumpften Niederungen und die Unmöglichkeit, eine größere
Grube auszuheben, ohne daß in ihr sofort das Grundwasser sich sammelt.
Ein zweiter Grund liegt in der Struktur des Bodens. Das Land ist im
Bereich der Endmoränen nordischer Gletscher. Hier legt sich über einen
Geröllboden eine nicht allzu tiefe Schicht des Nutzbodens. Wer hier eine
ordentliche Grube aushebt, hat mit dem immer zusammenrollenden
Schotter zu tun. Die Karte zeigt die Grenzlinien der Moränen und des
Vgl. Karte 3.
2) Deutsche Bauern- und Ackerbürgerhäuser 1926. Ich glaube, daß sich die
Vierecksanlage aus einer hufeisenartigen entwickelte. In Großgartach zeigen sich
an Gehöften der Rössenerkultur solche Anlagen zuerst.
3) Es gab auch Pfostenwandhäuser durch alle Perioden, die niederdt. Ebene
hatte damals also nicht so wie heute einheitlichen Charakter. Übrigens muß man bei
allen diesen Dingen an einen AussiebungsVorgang im Wege der Kulturdifferenzierung
denken.
faßbar liegen die Dinge zunächst bei der Wohngrube. Hier sind Einflüsse
Geschiebes. Nördlich dieser Linie ist nur eine einzige Wohngrube, die
Über vorzeitliche und heutige Haustypenlandschaften.
233
steinzeitliche von Lißdorf bei Naumburg, festzustellen. Sie beweist
aber geradezu das hier Gesagte, denn sie liegt in der hermundurischen
Scholle. Es ist bezeichnend, daß die uralte Lößkulturlandschaft, die Magde-
burger Börde, die einzige größere ihrer Art in der norddeutschen Tief-
ebene, nur in dieser Schollenbildung eine Wohngrube aufweist. Die Fest-
schrift zum 23. Deutschen Geographentag in Magdeburg 1929 hat hier
die Dinge weitgehend geklärt1). Ganz allgemein ist die Möglichkeit für den
Wohngrubenbau in der südlich der Geschiebelinie folgenden Lößterrassen-
landschaft. Wahle stellt fest, daß der Löß ein warmer und trockener
Boden ist, welcher senkrecht klüftet2). Je mächtiger die Lößschicht, um so
tiefer erscheinen die Siedlungen in sie eingegraben. Er zeigt auch, wie nach
dem Neolithikum aus den Gruben, die früher dem Wohnen und Auf bewahren
galten, Keller wurden, die heute nur dem Aufbewahren gelten3).
Es ist klar, daß in dieser Landschaft uralten Grubenwohnens eine
andere Regelung der Raumnutzung Platz griff, als in einem Lande, wo es
der Boden unmöglich macht. Zunächst ist hier der Ackerbau früher ent-
wickelt und ebenso die Seßhaftigkeit. Viel seßhafter als der in einer
Hütte wohnende Ackerbauer ist der die Grube bewohnende. Sie ist standorts-
gebunden. Hier kann zudem für jeden neuen Raumbedarf unschwer Raum
geschaffen werden. Daraus ergibt sich eine Raumspezialisierung. In der
Tat unterscheidet die Spatenforschung Wohn-, Koch- und Vorratsgruben.
Das diametrale Gegenstück dazu ist der nomadisierende Viehzüchter, der
sich in seiner zeltartigen Hütte mit dem kleinsten Raum begnügen muß.
Er hat nicht mehrgegliederte Raumbedürfnisse. Es liegt dieser Unter-
schied auch in der Wirtschaft, denn der Ackerbauer lebt von Vorräten,
der Viehzüchter kann den Bedarf laufend erzeugen. Man erkennt, daß in
diesen beiden Typen zwei Ausgangspunkte ganz verschiedener Hausentwick-
lungen vorliegen. In der Tat zeigen alle Ackerbauer der Neolithik Wohn-
gruben, so die Michelsberger, Rössener, Band- und Spiralkeramiker,
während die Jäger- und Hirtenvölker der Schnur- und Zonenkeramik keine
Gruben hinter ließen. Ein Ähnliches gilt von der nordischen Megalithkultur,
die über das Westbaltikum, Südskandinavien, Dänemark, Nordwest-
deutschland östlich bis zur Odermündung, südlich bis Magdeburg und
längs der Aller bis zur Wesermündung ausgebreitet war. Sie hat eine
durch die ganze Neolithik gleichbleibende Gestalt. Grabbauten aus großen
Steinblöcken, Riesenstuben, Steinkistengräber als weithin sichtbare Male,
Mittelpunkte für die Stammesgemeinschaft eines Viehzüchtervolkes mit
zerstreuter Siedlungsweise4). Offenkundig sind aus den Zelthütten dieser
Nomaden die auf Schwellen stehenden Dachhäuser entstanden, die zum
Kulturinventar der Megalith Völker gehören. Aus Altenburg bei Nieden-
*) Vgl. Weigelt, Der tektonische Unterbau der mitteldt. Hauptscholle S. 14ff.,
und Werveke, Das Diluvium von Magdeburg und seiner weiteren Umgebung,
s. auch Wahnschaffe-Schucht, Geologie und Oberflächengestaltung des nord-
deutschen Flachlandes 1921.
2) Vorgeschichte d. dt. Volkes (1924) S. 37.
3) a. a. O. S. 70f.
*) Vgl. die Darstellung bei Schliz im Reallex. v. Hoops 4, 453.
234
Müller:
stein in Hessen weiß man auch, daß die germanische Zimmermannskunst
entwickelt war1). Die Unmöglichkeit, Gruben zu schaffen, wozu der spätere
Übergang zu teilweisem oder vollem Ackerbau geführt hätte, drängte die
Entwicklung des Hausbaues in eine andere Richtung.
Überblickt man alle diese von der Natur unmittelbar und von ihr
mittelbar im Wege der Wirtschaft geschaffenen Beschränkungen und
Möglichkeiten in ihrer geographischen Sonderung, und vergleich tman die
Haus- und Siedlungsformen von heute mit den einstigen, so erkennt man
entschieden tiefere Zusammenhänge auf allen Linien. Man muß, wenn
vielleicht auch zögernd, anerkennen, daß zwischen mitteldeutschem Gehöft
und Wohngrubenanlage und zwischen dem auf Schwellen stehenden Dach-
haus der Megalithkultur und unserem Niedersachsenhaus eine Entwick-
lungslinie liegt.
So sind in Teilen der heutigen Hauslandschaften uralte Züge uralter
Hauslandschaften zu erkennen. Einst und Heute verbindet der Faden einer
Entwicklung. In vielen Fällen riß er ab, und Kolonisationsbewegungen
wie geräuschlose Kulturbewegungen durchsetzten Altes und bauten Neues
in alten und neuen Formen auf. Man darf wohl hoffen, daß vieles noch
klargelegt und herausgeschält werden kann, wenn die richtigen metho-
dischen Wege gefunden werden. Die Vorgeschichte schafft ständig neues
Material zutage. Ebenso liegt ein bedeutendes Material in Bildern und
schriftlichen Quellen aufgespeichert. Es ist z. T. in der Literatur faßbar.
Da nun die Volkskunde es auch von der Gegenwart her in Angriff nimmt,
werden wir vor die Möglichkeit weitgehenden Vergleiches gestellt. Wir
werden damit die gestaltenden Kräfte der lebenden Kulturlandschaft
ergründen können und außerdem das Weben der Kräfte in fernvergangenen
Zeiten. So eröffnet der „Atlas der deutschen Volkskunde“ der Forschung
nach vielen Richtungen hin bedeutsame Aussichten in die Zukunft. Deshalb
schuldet sie dem mutigen Führer dieses ersten deutschen Gemeinschafts-
unternehmens auf dem Boden der Geistes Wissenschaften unendlichen Dank.
Der Donnerstag vor Fastnacht im Rheinischen.
Von Josef Müller.
(Mit 1 Karte.)
Die Fruchtbarkeitsriten des Frühlings, die allmählich eine besondere
Beziehung zur Fastnacht erhielten, erstreckten sich früher auf eine größere
Zeitspanne als heute. So beginnt die Zeit alljährlicher Ausgelassenheit im
Luxemburgischen am Lichtmeßtage und dauert, streng genommen, bis
zum Aschermittwoch, in den Städten aber bis zum Halbfastensonntag2);
die Hausbacher (Saar) Burschen ziehen zwischen Dreikönigstag und
*) Schulz-Minden, Das germanische Haus S. 44.
2) J. Hess, Luxemburger Volkskunde S. 248.
Der Donnerstag vor Fastnacht im Rheinischen.
235
Fastnacht abends verkleidet umher, gehen in die Häuser und tanzen
mit den Mädchen; ähnlich in Merzig-Lockweiler und Krettnich, wo die
Burschen und Mädchen in dieser Zeit die ,,Spinnstube halten“, indem
sie in einem Hause zu Sang und Tanz Zusammenkommen; im Kreise
Ottweiler hält man die Spunnt, indem vor den Häusern, wo junge
Mädchen wohnen, die Hawe (Töpfe) geschlagen werden1). Auch im
Oberbergischen fällt hier und da noch der Beginn auf den Lichtmeß-
tag, und auf dieselbe Terminsetzung deutet für Aachen-Merkstein der
Umstand, daß dort die Donnerstage zwischen Maria Lichtmeß und Fast-
nacht die Fettdonneschtige genannt werden, während in Monschau-Simme-
rath wenigstens die drei letzten Donnerstage so hießen. In Münstereifel,
wo früher am Tage des heiligen Blasius (3. Februar) die Wollweber vom
Radberg ein Rad herunterzurollen pflegten, und wo man sich auf der Straße
vergnügte, die Britz zu schlagen, heißt es noch heute: Wir schieben das Rad
auf Blasiustag, wir machen den Anfang von Fastenach (s. A. Wrede, Eifeier
Volkskunde S. 206). Als sich im größten Teile des Gebietes der Brauch
auf die Tage vor dem Fastenbeginn, schließlich auf den Fastelabend zu-
sammendrängte, hielt man zunächst noch außerdem an dem Donnerstage
vor Fastnacht bis in die jüngste Zeit fest; aber die vereinzelten Bezeich-
nungen, wie Allfasend (Ottweiler-Tholey; vgl. uff aldefaise dach, 1373,
Trierer Stadtrechnungen 74), kleine Fastelowend (Geldern-Winneken-
donk, Mörs-Sonsbeck, Kempen-Stadt) für diesen Donnerstag zeigen, daß
der heutigen zeitlichen Beschränkung eine frühere größere Zeitspanne für
die Bräuche voranging.
Sobald aber die Beschränkung auf zwei Termine, den Donnerstag vor
Fastnacht und den Fastnachtstag vor Aschermittwoch, durchgeführt
war, ergab sich für den größten Teil unseres Gebietes eine Scheidung und
Festlegung der früher ungetrennten Gebräuche auf je einen dieser Tage.
Wo in unserem Gebiete noch, sei es in der Überlieferung oder in heutiger
Übung, die Frau als Trägerin menschlicher Fruchtbarkeit eine besondere
Rolle im Brauche dieser Tage spielt, da ist für diese der Donnerstag vor
Fastnacht Vorbehalten2).
Das Kerngebiet der Überlieferung und ganz vereinzelter heutiger
Übung ist das Gebiet zwischen Mosel und Ahr.
Folgende typische Einzelzüge des Brauches treten in diesem Gebiete
hervor3):
a) Zug der zuweilen maskierten verheirateten Frauen unter Musik
und Gesang4) durchs Dorf zum Tanzboden, wo man sich an dem von den
1) s_ №c. Fox, Zeitschr. des rhein. Ver. f. Denkmalspflege u. Heimatschutz
22 (1929), 246.
2) TerminVerlegung: Fastnachtdienstag Kochem-Bremm, Ahrweiler-Oberdüren-
bach- Fastnachtmontag (Weiwermondag) in Daun, nach Schmitz, Sitten und Sagen
des Eifeier Volkes (1856) 1, 14.
3) S. Jos. Müller, Zur Biologie von Brauch und Sitte, Zeitschr. des Ver. f.
rhein. u. westf. Volksk. 23 (1926), 74f.
4) In Monzel tanzte dem Zuge eine durch eine besonders auffallende Bänder-
haube ausgezeichnete Frau voraus.
236
Müller:
jungen Weibern, die sich in dem Jahre verheiratet hatten1), pflichtgemäß
mitgebrachten Backwerk und dem Wein labte und bis Mitternacht tanzte
(Wittlich-Monzel 1856, Bernkastel-Wintrich „früher“; Daun-Stadt 1856
„früher“, Kochem-Bremm „früher“).
b) Dieser Zug wandelte sich meist in einen Bettelgang um; so zogen
die Frauen in Daun-Stadt am Weiwermondag im Orte umher, um den
Fosenichtsbroden aufzuheben; in Ahrweiler-Oberdürenbach zogen die Frauen
(bis 1912) durch den Ort2), wobei die jüngst verheiratete Frau auf ihrem
Rücken eine Hotte trug, worin eine Puppe aus Lumpen sich befand; sie
bettelte von Haus zu Haus um Gaben für die arme Puppe; ebenso muß in
Adenau-Pittscheid die jüngst verheiratete Frau den Korb tragen, in dem die
Gaben, Eier, Speck, Kaffeebohnen, Geld, geborgen werden; in Prüm-
Büdesheim Irrhausen Rommersheim, in Euskirchen-Dorweiler sammeln
nur arme Frauen Gaben ein. Bis 1910 scharten sich in Euskirchen-Metter-
nich einige Frauen (vier Mägde) um einen Knecht, der Frauenkleidung
trug und die Ziehharmonika spielte, um bei ihren eigenen oder fremden
Gutsherrn Gaben zu sammeln; am Hause eines Herrn angekommen, wurde
gespielt und getanzt; eine Magd versuchte mit dem in Schlamm getauchten
Besen dem Hausherrn die Schuhe zu wichsen, wofür sie ein Trinkgeld
verlangte.
c) Dort, wo ein Bettelgang erfolgt, verzehren die Frauen am Abend
oder an einem Sonntag die Gaben in einem Hause einer Frau, wohin alle
Beteiligten Zusammenkommen.
cl) Bei dem Umzug oder Bettelgang und beim Gelage im Wirtshause
oder im Hause einer Frau dürfen sich die Männer und Burschen nicht zu
nahe an die Frauen heranwagen; die Frauen suchen sie zu umzingeln und
in die Enge zu treiben, um ihnen den Hut, wenn dies nicht gelingt, Hals-
tuch, Kragen oder Rock abzunehmen; der Beraubte erhält sein Eigentum
nur gegen Lösegeld zurück; werden die Parteien nicht einig, so wird der
Gegenstand versteigert; der Erlös wird beim Gelage mitverzehrt.
e) Auch die Gemeinde als solche hat sich an den Unkosten zu be-
teiligen; so erhielten die Weiber in Daun-Stadt3) aus der Gemeindekasse
ungefähr vier Reichstaler ausgezahlt; wurde ihnen diese Summe nicht
gewährt, so konnten sie den schönsten Baum aus dem Walde wählen; in
x) Diese jungen Frauen gaben eine bestimmte Menge Getränke, Backwerk oder
eine Summe Geldes, um in die Zunft (W eiwerzunft) aufgenommen zu werden (Daun).
In Kochem-Bremm hielt der Zug der Weiber vor jedem Hause, in dem eine seit der
letzten Fastnacht verheiratete junge Frau wohnte; diese wurde herausgerufen und
trat in die Reihen ein, im Arm einen mächtigen Henkelkorb mit den Gaben, die sie
zum Einstand zu geben hatte; im Lokal trat dann jede dieser jungen Frauen vor die
Führerin, die ihr mit einem mächtigen Hausschlüssel auf den Kopf tupfte, als Zeichen
dafür, daß sie im Hause dasselbe Recht habe wie der Mann; eine andere Frau besprengte
sie dann mit einem in Wasser getauchten Palmbüschel; erst nach dieser Einführung
war die junge Frau vollwertig und vollberechtigt, in jedem Jahre am Umzug und
Gelage teilzunehmen (Heimatbuch des Kreises Kochern [Kaisersesch. 1926] S. 344,
wo S. 343—345 eine hübsche Schilderung dieses Brauches gegeben ist).
2) f lappesse golnn.
3) S. Schmitz a. a. O. 1, 14.
fetter Donnerstag
Fett6onners+ag
Fue Donnerstag
¿¡cke Donnerstag
\X^iberfas+elabenö
® ¿chwerbonnerstaa,
0 Alt weiber markt
^ iQltweibertanz
® Möhnefaste^aboaö
■*■ ¿Tippcheabonnerstg.j
® Weiberbonnerstag
® AlF-Tasenö
® Altfase)tag<i3?3)
^ kleinerTbötelabenb
" Trauenbonnenstag
^ uhuhe' Donnerstag
^ Eterdonnerst&g
Gi>jliii ucIim BcgjUn ■
Karte 1.
238
Müller:
Adenau-Aremberg zogen noch vor 25 Jahren die Frauen am Weiberdonners-
tag gemeinschaftlich in den Wald und wählten sich dort die schönste Eiche
aus; diese wurde abgeschätzt und der Betrag ausbezahlt, ebenso vor
50 Jahren in Daun-Heyroth, in Wittlich-Osann bis 1850 und in Trier-
Mehring 18531); in Wittlich-Monzel trugen bis 1856 die Frauen Holzasche
zusammen (Abschwächung des Brauches) und verkauften diese für ein
entsprechendes Quantum Wein2). — Nach Hockera.a.O. wurde das Fäßchen
Wein, das für den Erlös erstanden wurde, auf einen von Kühen gezogenen
Wagen gelegt und unter allerlei Mutwillen durchs Dorf geführt, bis man
zuletzt im Wirtshaus landete. In Kochem-Bremm3) erhielten („früher“)
die Frauen von der Kirche 180 Quart Wein.
Trotz der Vereinzelung und Abschwächung der Überlieferung läßt sich
doch noch deutlich die Bolle der menschlichen Fruchtbarkeitsträgerinnen
im Fruchtbarkeitsritus erkennen: die ausschließliche, von Männern nicht
zu störende Handlung der Frauen, das Hervortreten der jüngst verheirateten
Frauen als besonders wirksamer Fruchtbarkeitsträgerinnen, die Rolle
der Lumpenpuppe; damit verbindet sich Frauenrechtliches4), das Anrecht
auf Leistung der Gemeinde, die für eine heilige Handlung an die Frauen
abgebepflichtig ist, und die Aufnahme und Leistung der jüngst verheirateten
Frauen in die Weiberzunft, die erst durch die Aufnahmeriten fähig werden,
an dem heiligen Amt der Zunft teilzunehmen.
Im übrigen ist auch da, wo der Tag geradezu nach den Weibern ge-
nannt ist, eigentlich nur noch diese Benennung allein ein Hinweis auf die
frühere besondere Rolle der Frauen. Man sagt wohl: Hock (heute) regiere
de Wiver; de Wiver han hock et Regiment en Hus on Hoff; sie haben das Recht,
nach ihrem Geschmack besser zu kochen und zu backen; hier und da halten
sie auch einen Festkaffee ab oder besuchen sich gegenseitig; in den Städten
finden Maskenbälle statt, wobei die Frauen wohl das Recht der Wahl des
Tänzers haben. In der Bonner Gegend ist der Beneler Wiverfastelovend
besonders bekannt; hier kommen seit 1810 die Frauen unter einer Präsi-
dentin zusammen, Büttenreden steigen wie bei den Karnevalssitzungen;
erst nach 8 Uhr abends dürfen die Männer sich zu den herrschenden Frauen
gesellen. Die Marktfrauen in Bonn und Köln, angeheitert, oft ein Kohl-
blatt auf dem Kopfe, veranstalten ein Tänzchen untereinander auf dem
Marktplatz zur Belustigung der Zuschauenden.
Dürftige Einzelheiten anderer Art sind nur noch in der Überlieferung:
die Burschen rissen in Düren-Stadt etwa bis 1880 den Weibern die Haube
ab5), weshalb der Tag auch de Mötzebestoot hieß; in Düren-Vettweiß streuen
1) Hocker in Wolfs Zeitschr. für deutsche Mythologie 1 (1853), 89 führt die
Orte Osann und Mehring an, und allgemein bezeichnet er die ganze Eifel als Heimat
dieser Sitte; ebenso sagt Schmitz a. a. O. (1856) 1, 13 „dieses Recht übten die Weiber
an allen Orten bis in die jüngste Zeit, wo die Forstbehörde ihnen die Ausübung des-
selben untersagte“.
2) Hocker a.a.O. vermeldet diese Sitteneben der Auswahl des schönsten Baumes.
3) Heimatbuch des Kreises Kochern (Kaisersesch 1926) 5, 343.
4) S. Alb. Becker, Frauenrechtliches in Brauch und Sitte, Kaiserslautern 1913.
6) Werners, Dürener Volkstum (1880) S. 142.
Der Donnerstag vor Fastnacht im Rheinischen.
239
die Burschen den Mädchen Häcksel (Kaff) und treiben allerhand Schaber-
nack; an der unteren Wupper nannte man nach Montanus den Weiber-
donnerstag zinlct (sankt) Bertesfest, in den nahe gelegenen Rheindörfern
Huhbestovend (Hochbestabend); bis zu diesem Tage hatten die Spinne-
rinnen allen Flachs vom Rocken zu spinnen; fanden die Burschen bei
ihrem Rundgange an diesem Tage noch Flachs auf dem Rocken, so zündeten
sie diesen an. In Rheinbach-Stotzheim werden noch am Wiverdag die
verheirateten Frauen schwarz gemacht, Sonntags die Mädchen, Montags
die Männer, Dienstags die Burschen.
Hier in diesem kölnischen Kulturkreis also tritt ganz im Gegensatz
zum kurtrierischen die Rolle der jungen Burschen gegenüber den Weibern
hervor.
Dies war auch, freilich in einem anderen Sinne, im Gebiet des Fud-
donnerschdages im Selfkant, einem bekannten Reliktgebiet, der Fall. Die
jungen Burschen jagden derFud, indem sie, mit karnevalistischen Abzeichen
geschmückt, auf geputzten Pferden vor die Wohnungen der heiratsfähigen
Mädchen ritten, die ihnen lange farbige Bänder an die Halfter der Pferde
banden1).
Diese die Rolle der Frauen betonenden Bräuche sind zum größten Teil
nur noch in gedruckter oder mündlicher Überlieferung nachweisbar.
Aber im gesamten Gebiet des trierischen Hochwaldes, der Mosel und
der moselfränkischen West- und Mitteleifel (soweit auf der Karte die
Schraffierungen reichen), also im alten kurtrierischen Gebiet, ist der
Frauenbrauch ins Kinderleben gesunken, indem die Kinder, dürftig ver-
kleidet, in ihrer Mitte einen mit Heu ausgefütterten Henkelkorb zur Auf-
nahme der Gaben führend, Heischelieder2) singend, an diesem Tage von
Haus zu Haus ziehen; unter Scherz und Lachen füllt sich der Korb mit
Schinken, Speck, Grieben, Eiern, Schmalz, Mehl, Gebäck; eine gütige Frau,
oft die Schulfrau, bereitet aus den Gaben des Abends köstliche Kuchen.
Daß dieser Kinder brauch sich aus dem Frauenbrauch entwickelte, beweist
die strenge Scheidung der Geschlechter, indem die Knaben- und Mädchen-
gruppen gesondert heischen gehen oder sogar die Knaben nur am fetten
Donnerstag und die Mädchen Sonntags oder am Fastnachtstage herum-
ziehen.
Die schon im Frauen- und Kinderbrauche hervortretende Sitte, bessere,
fette Kost zu genießen, ist dann in dem oben bezeichneten moselfränkischen
Gebiet und an der kurtrierischen, lothringischen Saar für alle Hausgenossen
das heute noch gültige Hauptkennzeichen des Tages, wie man auch in den
anderen Teilen der Rheinlande, soweit sie auf der Karte bezeichnet sind,
mit der Herstellung des Fastnachtsgebäcks beginnt, aber ohne daß die voll-
besetzte Tafel der Kurtrierischen erreicht wird. Nur aus diesem Gebiet
1) Rhein. Wörterb. 2, 846, 847.
2) Viele dieser sind veröffentlicht in der Zeitschr. des Ver. f. rhein. u. westf.
Volksk. 7 (1910), 278; 12 (1915), 106; 23 (1926), 77; Hess, Luxemburger Volkskunde
S. 250; eine alle Fastnachtsheischelieder kulturgeographisch behandelnde Dissertation
von Clara Weber wird demnächst erscheinen.
240
Müller:
stammen denn auch die Redensarten, die der Lust am besseren Essen
Ausdruck verleihen: Fedder Donnerschdag, do soll mer Fleisch essen, on
so deck (oft) em Hond de Schwanz wäggelt (Saarlouis-Hostenbach). F. D.
soll mer siewenmol met geschmilztem (geschmälztem) Maul zum Fenster
erausgucken (Saarhurg-Wimheringen; met der fettiger Maul Trier-Ober-
billig). Of f. D. darf mer siewemol Zopp essen (Bernkastel-Neumagen).
Decke D., da darf mer siewemol Flasch essen (Bernkastel-Morbach). Jeden-
falls hat diese früher mehr verbreitete und kräftiger befolgte Sitte dem
Tage die Namen fetter Donnerschdag, Fettd., dicker D., schwerer D. gegeben.
Wie im Klevischen der Altgeselle des Dorf Schmiedes auf Fastelowend
Gaben heischen geht, so tut dies im Kurtrierischen und an der Saar der
Schweinehirt, soweit das Amt des Gemeindehirten noch besteht; er geht
in die Häuser und erhält überall ein Stück Fleisch, besonders Speck (früher
in Saarbrücken-Sulzbach, noch in Merzig-Morscholz, Trier-Buweiler
Braunshausen1).
Kulturgeographisch tritt die kurtrierische Reliktlandschaft mit einer
größeren Fülle früherer Überlieferung und heutiger Übung hervor; sehr
abgeschwächt und in spärlichen Einzelfällen auch anders geartet sind die
Zeugnisse aus dem kurkölnischen Kulturgebiet; die in der Karte un-
bezeichneten Gebiete, vor allem das pfälzische, bergische und die größten
Teile des niederfränkischen Gebietes vermelden (bis auf den westlichen
Rand des Niederfränkischen) keine Überlieferung; die Osteifel scheidet
sich durch die Leere ebenso von der Westeifel wie etwa beim Fastenfeuer;
nur das Mayner und Koblenzer Gebiet hat genau wie beim Fastenfeuer
wieder teil am moselfränkischen Brauch.
Wenn auch nicht überall da, wo auf der Karte Benennungen des
Tages eingezeichnet sind, noch heute deutliche Bräuche geübt werden, so
gibt doch diese Karte Kunde davon, wo am längsten die Bedeutung des
Tages als eines besonderen Festtages festgehalten wurde. Wortgeographisch
bietet die Verteilung der einzelnen Bezeichnungen Erkenntnisse, die auch
sonst immer wiederkehren: Fetter Donnerschdag ist einmal über die ganze
linke Rheinseite verbreitet gewesen2); die rechte Rheinseite hat nur da
Benennungen, wo sie kulturell oder wirtschaftlich aufs engste mit der
linken Seite zusammenhängt. Im Rheinfränkischen hat das früheste Er-
lahmen der Bräuche nur einen kleinen Restpfeiler an der Nahe stehenlassen,
J) Vereinzelte, aus dem Rahmen des bisher Behandelten fallende Gebräuche:
In Bernkastel-Dhron wurde früher an diesem Tage die Gehöfterschaftslohe ver-
steigert; in Bernkastel-Maring wird an dem Tage die im Vorjahre begrabene Fastnacht
(„Prinz Karneval“) auf der Ley geholt; abends sammeln sich die Burschen mit Fackeln
auf dem Schulhof; dann zieht man zur Ley, wo Reben verbrannt werden, damit der
Erdboden auftaue; dann wird die alte Fastnacht mit Hacke und Schaufel ausgegraben,
worauf man ins Dorf zurückkehrt; in Bitburg-Erdorf vergnügen sich an diesem Tage
die Kinder mit Eierrollen, indem sie Eier einen Abhang herunterrollen lassen;
ein von einem rollenden Ei getroffenes Ei gehört dem Roller; in Bernkastel-Merscheid
schlagen sich die Schuljungen mit dem verknoteten Taschentuch, weshalb sie diesen
Tag KnollcLag nennen.
2) Der erste Donnerstag in der Fastenzeit heißt im Luxemburgischen und in
West-Bitburg Fette-sei-Bruder; s. Hess a. a. O. S. 252.
Der Donnerstag vor Fastnacht im Rheinischen.
241
in einem Gebiet zudem, wo kurtrierische Herrschaft sich eingenistet hatte;
an der Saar beginnt das Gebiet erst nördlich der nassauisch-lothringisch,
kurtrierischen Grenze und verläuft über den Hochwald, sich ziemlich an
die alte kurpfälzisch-kurtrierische Grenze haltend; südlich dieser Linie
setzt sich dann eine breitere Zone mit dicke D. an, die sich nach Süden
über die politische Grenze ausbreitet und da ungefähr, wo die alte Grenz-
linie die Mosel erreicht, bei Bernkastel, ein Gebiet mit fette D. und dicke
D. schafft; das Koblenzer Gebiet mit Schwerd., längst dem Einfluß des
großen Gebietes mit fette D. entrückt, schuf sich eine besondere Benennung.
Es fällt nun auf, daß gerade dort, wo das westmoselfränkische fette D.-Gebiet
nach Osten hin zerbröckelt, da wo auch die späteren Erwerbungen Kurtriers
beginnen, sich in einer sonderbaren genauen Schleife eigene Bildungen
bemerkbar machen, eine Erscheinung der Grenzen, die wir in Sitte und
Wortwahl sehr oft bemerken1); es sind folgende Benennungen: Allfasend
(Ottweiler-Tholey), Eierdonnerschdag (Wittlich-Osann), Eierbibbelchesd.2)
(Bernkastel-Kesten), Stippchesd.3 4) (Wittlich-Kinheim, Cröv), KletschedA)
(Zell-Mastershausen, nicht eingetragen), Weiwerfosicht (Bitburg-Kyllburg),
Weiwerdonnerschtig (Daun-Denn Gerolstein, Prüm-Steffeln, Schleid-Frei -
lingen), Weiwerdanz (Daun-Demerath). Im ripuarischen Gebiet ist fette D.
völlig auf die Westkante durch das nach links und rechts über den Rhein
und nach Norden über die Benrather Linie hinaus ausgreifende kölnische
Wiverfastelovend zurückgedrängt, die Macht dieser Kulturströmung auch
hier erweisend. Fette D. streicht dann, immer mehr nur schmale Einzel-
pfeiler bildend, den Selfkant entlang und läßt sogar nördlich der Ürdinger
Linie im Geldrischen durch einen Randpfeiler erkennen, daß die Leere
des Kleverländischen nicht von frühester Zeit her bestand. Auch hier weist
die Linie, auf der der Zusammenprall zwischen fette D. und Wiverfastelovend
erfolgte, gerade wie an der moselfränkischen Zerfaserungslinie, Eigen-
bildungen auf: Huhe (hoher5) D. (Jülich-Gereonsweder), Frauend. (Geilen-
kirchen-Brachelen), Fudd.6) Geilkirchen-Immendorf Oidtweiler Honsdorf
Prummern). Besonders diese Erkenntnis, daß auf Anprallinien sich Eigen-
bildungen halten oder gestalten, ist ein wichtiges Ergebnis dieser Karte7).
1) S. Jos. Müller, Zur Biologie von Sitte und Brauch, Zeitschr. des Ver. f.
rhein. und westf. Volksk. 23 (1926), 68, 69.
2) Bibbelchen — Hühnchen.
3) Stippches = von Stipp, der letzte Augenblick, also der letzte Donnerstag, an
dem man sich gütlich tun kann.
4) Kletsch — Pritsche, Peitsche.
6) Wohl umgedeutet aus dem nördlich benachbarten Fund.
6) Fm- (der Fm jage) wird mit nd. Juden, fuen schw. Verbum, die ‘Mädchen
Fastnacht mit der Lebensrute schlagen’ in Verbindung gebracht; lautlich besteht
keine Schwierigkeit für diese Gleichsetzung; doch bei Einsammeln von Heischegaben
heißt es z. B. in der Neußer Gegend Bläs-che jage (am Blasiustage), im Klevischen
de Foj jage, was auf ndl. fooi ‘Abschiedsschmaus, Trinkgeld’ hindeutet.
7) Gezeichnet vom Assistenten an der rheinischen Landesstelle des Volkskunde-
atlas, Herrn cand. phil. M. Zander.
Zeitschrift für Volkskunde II, 1—2.
16
242
Peßler:
Die kartographische Darstellung
des Aussterbens von volkskundlichen Erscheinungen.
Von Wilhelm Peßler.
(Mit 3 Karten.)
Landkarten sind das Ergebnis der Forschung und die Grundlage der
Erklärung. So eignet der Landkarte innerhalb der wissenschaftlichen Arbeit
eine Mittelstellung: Einerseits faßt sie die an sehr vielen Einzelorten und
in zahlreichen Landschaften ermittelten Tatsachen zusammen, anderseits
bringt sie die am gleichen Orte und in der gleichen Landschaft wirkenden
Gegebenheiten für unsere Erkenntnis in ursächliche Beziehung. Das erste
vermag die Karte, weil sie eine Bilderschrift ist; sie zeigt unmittelbar den
Zustand, den sie nun nicht mehr zu beschreiben braucht. Daher hat sie die
großen Vorzüge der Übersichtlichkeit und Verständlichkeit, denen sich die
Einprägsamkeit als günstige Folgeerscheinung anschließt. Daß die Karte
ein ganz besonders wichtiges Ergebnis der Forschung ist, geht nicht nur aus
ihrer Übersichtlichkeit, sondern auch aus ihrer Wahrhaftigkeit hervor; denn
sie täuscht uns nicht, wie so manches Buch, über das Maß unserer Kenntnis.
Vielmehr vergleicht sie diese unmittelbar mit dem gesamten zu erforschen-
den Bezirk und läßt die Lücken schonungslos hervortreten; so wird eine
Karte, wenn sie richtig gezeichnet ist, zum einzigen richtigen Anzeiger des
Maßes unserer Kenntnis. Man hat mit Recht in der Karte höchste Ver-
feinerung der Beobachtung und der Feststellung gesehen. Letzteres möchte
ich besonders unterstreichen; um eine gute volkskundliche Karte zu
zeichnen, genügt nicht genaue Kenntnis einer Landschaft hinsichtlich der
betreffenden volkskundlichen Erscheinung und auch nicht die Fähigkeit des
Kartenzeichnens. Es gehört vielmehr dazu ein völliges Umdenken des fest-
gestellten und als Gesamtbild erfaßten Bestandes in ein diesem genau ent-
sprechendes Kartenbild. Erst wenn die Karte ein genaues Spiegelbild
unseres volkskundlichen Wissens ist, kann sie ihre zweite Hauptaufgabe er-
füllen, nämlich die Erklärung der Verbreitungstatsachen zu ermöglichen.
Um den volkskundlichen Landkarten diejenige Vollkommenheit zu
geben, die sie als unentbehrliches Hilfsmittel der Darstellung und der Er-
klärung beanspruchen dürfen, wird es der ernstlichen Zusammenarbeit
vieler Forscher bedürfen. Namentlich wird man einem Punkte seine be-
sondere Aufmerksamkeit zuwenden müssen, nämlich der Kartierung des
jeweiligen Bestandes einer volkskundlichen Erscheinung oder eines Volks-
tumsmerkmals. Unter Bestand im weitesten Sinne verstehe ich das Vor-
handensein eines volkskundlichen Dinges in den verschiedenen Abstufungen
seiner Lebendigkeit oder Lebensfähigkeit. Zur Bestandsaufnahme gehört
also die Feststellung des Aufblühens, des kraftvollen Herrschens, des Ab-
blühens, des Aussterbens und sogar des Ausgestorbenseins. Mit der Fest-
stellung der Tatsache hat sich eine möglichst genaue Zeitangabe über den
Eintritt und die etwaige Dauer der Tatsache zu verbinden. Daß dieses oft
*
Die kartograph. Darstellung des Aussterbens von volkskundl. Erscheinungen. 243
großen Schwierigkeiten begegnet, weiß jeder, der sich einmal um derartige
Feststellungen bemüht hat. Denn die Schwierigkeit liegt nicht nur in der
ungenügenden Überheferung, sondern weit mehr noch in der Verwickelung
und Verwischtheit des Vorganges selbst, indem Abwandlungen, Ergän-
zungen, Zerspaltungen und neue Verbindungen auftreten. Auch in dieser
Hinsicht muß die Forschung und die Landkarte der millionenfachen Ver-
flechtung alles irdischen Geschehens noch mehr gerecht zu werden suchen.
Eine solche kartographische Bestandsaufnahme, die man mit einem
Fremdwort als biologische Aufnahme bezeichnen kann, bildet die not-
wendige Ergänzung zu der Formenaufnahme, welche der Morphologie zu-
gehört. Letztere erfaßt die Artunterschiede und sucht sie, sofern es sich um
Landkarten handelt, in Gruppen und Landschaften zu gliedern. Hinzu
treten noch bei einer und derselben Art, sobald sie nicht alleinherrschend
ist, Häufigkeitsunterschiede in ihrem Auftreten. Diese letzten leiten un-
merklich von der Morphologie zur Biologie über, insofern man die ver-
schiedenen Grade der Häufigkeit des Auftretens als verschiedene Stufen
der Lebensfähigkeit anzusprechen berechtigt ist. Daß dies aber doch nur
mit Einschränkung geschehen darf, liegt auf der Hand, denn 1000 Beispiele
einer im Verblühen begriffenen Volkstumserscheinung sind nicht gleich-
wertig mit 100 Belegen derselben Erscheinung auf ihrem Höhepunkte.
Die kartographische Bestandsaufnahme ist grundsätzlich etwas anderes
als die Kartierung der Formenunterschiede. Außerdem bildet sie eine not-
wendige Ergänzung dazu. Sie gibt uns nicht nur Entwicklungsgeschichte,
sondern, was augenblicklich mehr ist, eine klare Vorstellung von der Frische
vieler volkskundlicher Dinge und damit von ihrer Verwertbarkeit für unser
Volksleben der nächsten Zukunft. Insofern gewinnt sie über den wissen-
schaftlichen Wert hinaus Lebensbedeutung. Wir werden im folgenden an
einigen Belegen zu zeigen versuchen, in welcher Weise der eine Punkt der
Bestandesaufnahme, nämlich die Feststellung des Aussterbens, karto-
graphisch behandelt werden kann. Daß dabei methodisch viel Wichtiges
auch für die kartographische Erfassung des Fortlebens und des Neuent-
stehens von Volksbräuchen und Volksanschauungen, von volkstümlichen
Wörtern und Gegenständen gewonnen wird, ist uns wahrscheinlich.
Behalten wir die große Vierteilung aller volkstümlichen Erscheinungen
in die Gruppen Körper, Geist, Sprache und Sache bei, so können wir von
der ersten derselben hier absehen, weil sich über das Verschwinden körper-
licher Merkmale keine genauen Angaben nach Jahren oder Jahrzehnten
machen lassen. Um so mehr bietet das Geistesleben des Volkes Belege für
das allmähliche Ableben und die damit häufig verbundenen Umgestaltungen
und Zerteilungen der Erscheinungen. Rühmlichst bekannt sind Josef
Müllers Eintragungen1). Dort zeigt z. B. das Fastenfeuer neben all-
gemeiner Verbreitung in der Westeifel örtliche Beschränkung, zeitliche Ver-
legung und Aussterben. Ebenso finden wir beim Osterfeuer als Stufen der
i) Au bin, Frings und Müller, Kulturströmungen und Kulturprovinzen in
den Rheinlanden (Bonn 1926) S. 207, 211, 217, 220, 222.
16*
244
Peßler:
Lebensfähigkeit allgemeine Verbreitung, örtliche Beschränkung, vereinzelte
Übung und Verschwundensein. Beim Martinsfeuer treten auf der Karte
noch als umgestaltende Kräfte Modernisierung und Organisierung hinzu.
Beim Johannisfeuer erscheint neben Übung und Veraltung das Verschwin-
den des Feuers unter Beibehaltung von Begleitbräuchen. Eine wichtige Hilfe
für die Forschung ist die Überlieferung, sofern sie gesichert ist, wie sie beim
Brauchfum: Besfand teilweise im Aussterben
Beispiel: Fox' K. Saarland
(Zeitschrift des Rhein. Vereins für Denkmalpflege und Heimatschutz,
Bonn 1929, S. 245)
Karte 1.
Sternsingelied den kraftvollen bis 1914 vorhandenen Bestand und die teil-
weise heutige Übung in unserer Kenntnis ergänzt. Was MieIck in seiner
Tabelle über landschaftliche Gestaltung des Verwunderungsliedes vor-
geführt hat, nämlich Absterben von Einzelteilen und Neuaufnahme anderer
Einzelteile, das läßt sich bei vielen geistigen Erscheinungen beobachten. Es
wäre notwendig, diesen ziemlich verwickelten Vorgang der Abstoßung und
Die kartograph. Darstellung des Aussterbens von volkskundl. Erscheinungen. 245
der Einschmelzung, wie er tausendfach vorkommt, sachlich und zeitlich ge-
nau zu kartieren. Nikolaus Fox1) zeigt für das Saarland verschiedene Fest-
bräuche nebeneinander, darunter den Kirmesaustanz in seiner Lebendigkeit
bis heute und in seinem Abgestorbensein seit 1914 (vgl. Karte 1). Gut
ist hier die Zeichenwahl: Kräftige schwarze Scheibe für die lebendige
Übung, leichter, innen weißer Kreis für das Verschwundensein seit dem
Weltkriege.
Dem Hin- und Herwogen der Sprachen, ihrem Untergehen und ihrer
Umbildung hat man seit langem mit Erfolg lebhafte Anteilnahme zu-
gewandt. Nicht nur der Kampf der Laute und der Wörter innerhalb der
Volksmundarten ist hier von Bedeutung, sondern auch das viel zähere, weil
bewußtere Ringen der Sprachen verschiedener Völker miteinander. Wie
das Deutsche an der Oberspree gegen das Wendische vorgedrungen ist, wie
es im Gebiet der Oder streckenweise im 19. Jahrhundert das Polnische
zurückgedrängt hat, darüber liegen Karten von Andree und Partsch vor.
Je genauer nach Ort und Zeit eine derartige Kartierung wird, um so wich-
tiger für das Leben und die Wissenschaft ist sie. Wir müssen dem großen
Volkstumsgeographen Paul Langhans Dank wissen, daß er in seinen dies- * S.
Fox, Sitten und Bräuche im Saarland, Sonderheft „Saarland“ d. Zeitschr.
d. rheinischen Vereins f. Denkmalpflege u. Heimatschutz (Bonn 1929 S. 236) auf
S. 245.
246
Peßler:
bezüglichen Karten wertvollsten Stoff geborgen und höchst anschaulich vor-
geführt hat. Als Beispiel möge die ehemalige deutsche Sprachinsel Deutsch-
ruth-Zarz an der Grenze von Küstenland und Krain gelten1). Sie liegt süd-
lich von dem Wochein genannten Savetal in der Einsamkeit der Julischen
Alpen. Die Karte gibt den Bestand von 1905 wieder, und zwar in 3 oder
genauer 4 Stufen: Ringsum ein Gebiet des rein Slowenischen, wo Deutsch-
tum nicht oder nur vereinzelt, z. B. beim Bergbau und in Ortsnamen, belegt
ist; ferner im Bereich der Vetsche und der dem Flußtal folgenden Fahr- und
Bahnwege ein Bezirk, wo die Kenntnis der deutschen Sprache erloschen ist,
wo aber zahlreiche deutsche Ortsnamen noch Zeugen vergangener Zeit sind,
namentlich Deutschruth und (in der Einsamkeit) Deutsch-Gereuth, dem
weiter westwärts ein Welsch-Gereuth entspricht. Die dritte Stufe wird
durch den Bezirk von Oberzarz, wo damals die Leute von über 50 Jahren
noch Deutsch sprachen, bezeichnet. Schließlich finden wir oben im Gebirge,
im Umkreis des über 1100 m hohen Fuchsberges, noch 6 Ortschaften, wo
Deutsch in den meisten Familien Haussprache war und auch die Kinder
Deutsch konnten. Eine Parallele zu dem Kampf der Hauptsprachen bildet
das Friesische in seinem allmählichen Zurückgehen in Niedersachsen, wo
das Saterland, Wangeroog und Neuwangeroog verschiedene Stufen der
Lebendigkeit darstellen.
Innerhalb der sachlichen Volkskunde liegen gleichfalls nicht wenige Be-
lege für die Kartierung des Zurückweichens und der Umgestaltung vor. In
der Siedlungsforschung sind dafür die Wüstungskarten ausgezeichnete Bei-
spiele. Auch der Frage der Umgestaltung wird hier besondere Aufmerksam-
keit geschenkt, schon deswegen mit ganz besonderem Rechte, weil sie die
klare Unterscheidung der Haupttypen außerordentlich zu gefährden droht.
Daß diese Umgestaltung schon seit Jahrhunderten im Gange ist, macht sie
für die Forschung um so beachtenswerter. Innerhalb der Hausforschung
habe ich selbst versucht, nicht nur das durch sicherste Überlieferung, näm-
lich durch Aussage von Augenzeugen, bestätigte Aussterben von Haus-
formen, sondern auch die allmähliche Umwandlung in Gestalt des Umbaus
zu kartieren. Viktor v. Geramb2) verdanken wir eine großzügige Bestands-
aufnahme der Rauchstube in den Ostalpen (Karte 3). Dieses eigenartige Ge-
bilde ist in einem langgestreckten Bezirk verbreitet, der überall an den
Rändern geringe, größere oder ganz starke Abbröckelung zeigt.
Das Heranziehen geologischer, biologischer und anderer physio-
geographischer Erscheinungen, wie ich es seit über zwei Jahrzehnten für die
Volkskunde empfohlen habe, erleichtert nicht nur die Erklärung volks-
tumsgeographischer Tatsachen in vielen Fällen durch den Vergleich, sondern
bringt auch in rein methodischer Hinsicht einiges, woran die Volkskunde
lernen kann. Es sei gestattet, ein Beispiel aus der Tiergeographie an-
1) Langhans, Die ehemalige deutsche Sprachinsel Deutschruth-Zarz in d.
Julischen Alpen (Deutsche Erde, Gotha 1913, Taf. 21).
2) v. Geramb, Die Kulturgeschichte der Rauchstuben (Wörter und Sachen,
Bd. 9, Heidelberg 1924, S. 1).
Die kartograph. Darstellung des Aussterbens von volkskundl. Erscheinungen. 247
zuführen: En gell1) behandelt Verbreitung und Häufigkeit von Elefant und
Löwe und gibt in seiner Karte ein Vorbild für die Darstellung der geschicht-
lichen Änderung von Verbreitungsgebieten überhaupt. Denn hier sind hin-
sichtlich des Auftretens des Elefanten in Afrika in sieben Farben sieben ver-
schiedene Stufen des Zusammenschrumpfens des Verbreitungsgebiets vor-
geführt: 1. ausgerottet in vorhistorischer Zeit, 2. ausgerottet im Altertum,
3. ausgerottet in den letzten Jahrhunderten, 4. selten, 5. häufig, 6. allgemein
verbreitet und 7. gesetzlich geschützt.
Aus allem Gesagten entnehmen wir, daß es durchaus möglich ist, das
Aussterben von Lebensformen in seinen verschiedenen Abstufungen über-
Bauernhaus; Bestand im Aussterben
Carl Winter* IVnlversUäUbuctahandlunß. Heidelberg
...ehemalige Verbreitung. heutige Verbreitung.
Beispiel: Gerambs K. „Rauchstuben in den Ostalpen
(Wörter und Sachen, Heidelberg 192^, S. 1)
Karte 3.
sichtlich und verständlich zu zeigen. Der oft gehörte Einwand, es sei nicht
möglich, mit der Eintragung gegenwärtiger volkskundlicher Dinge auch ihr
Absterben zu kartieren, wird dadurch hinfällig. Man muß nur von vorn-
herein das Lebenskräftige, das Sichumwandelnde und das sicher Vorhanden-
Gewesene, aber seither Ausgestorbene bei der Feststellung und bei der
Kartierung scharf voneinander scheiden. Wie auf diese Weise Unklarheiten,
Mißverständnissen und Unrichtigkeiten von vornherein vorgebeugt werden
1) Engeil, Verbreitung u. Häufigkeit des Elefanten u. Löwen in Afrika (Er-
gänzungsheft 171 zu Petermanns Mitt., Gotha 1911).
248 Peßler: Die kartograph. Darstellg. d. Aussterbens v. volkskundl. Erscheinungen.
kann, so empfiehlt es sich auch, zu dem gleichen Zwecke dort, wo eine Lücke
im Kartenbild erscheint, die Begriffe Forschungslücke und Bestandslücke
streng auseinanderzuhalten. Eine Forschungslücke ist nur vorübergehend;
sie bedeutet, daß die Forschung an dem betreffenden Platze noch nicht ein-
gesetzt hat, daß also über den betreffenden Punkt nichts ausgesagt werden
kann. Eine Bestandslücke dagegen besagt, daß hier der Bestand einer
volkskundlichen Erscheinung in seinem Verbreitungsgebiet eine Unter-
brechung zeigt. Der Volkskundeforscher hat nun festzustellen, ob eine
solche Lücke nach geschichtlichem Zeugnis oder nach mündlicher Über-
lieferung seit jeher oder seit langem vorhanden gewesen ist, oder ob sie sich
erst in der letzten Zeit gebildet hat.
Votive und Weihegaben des italienischen Volkes.
Von Rudolf Kr iß.
(Mit 6 Abbildungen.)
Die Reisen nach Italien, die ich im Frühling der Jahre 1927 und 1930
unternahm, verwendete ich u. a. dazu, eine genauere Kenntnis der Weihe-
gaben, die der gläubige Italiener in seinen Wallfahrtskirchen darbringt,
zu gewinnen. Angesichts der Kürze des Aufenthalts und mancher Schwierig-
keiten, die sich dem Ausländer entgegenstellen, kann ich natürlich nur
einen allgemeinen Überblick geben. Eine italienische Spezialliteratur zu
meinem Thema gibt es bis jetzt noch nicht ; in neuster Zeit hat sich Professor
Raffaele Corso (Herausgeber der Zeitschrift ,,I1 Folklore Italiano“) in
zwei allgemein gehaltenenen Aufsätzen mit dem Problem beschäftigt, und
Berengario Gerola behandelt in einem kürzlich veröffentlichten Artikel
über den Leonhardskult in den dreizehn Gemeinden von Trient nur ein
landschaftlich und sachlich begrenztes Gebiet. (Literaturhinweis s. am
Schlüsse des Aufsatzes.) Deshalb mußte ich mich außer den oben-
genannten Quellen mit einigen verstreuten Bemerkungen bei Andree,
Beliucci,Holländer,Trede und mehreren anderen begnügen und bleibe
in der Hauptsache auf die Beschreibung meiner eigenen Beobachtungen an-
gewiesen. Herrn Professor Corso bin ich für interessante mündliche Mit-
teilungen und Hinweise zu Dank verpflichtet.
Zu meiner großen Freude konnte ich, wenigstens was den Kern der
Sache betrifft, eine durchgängige Verwandtschaft mit dem deutschen
Brauchtum feststellen, dergestalt, daß Richard Andrees grundlegendes
Werk „Votive und Weihegaben des katholischen Volkes in Süddeutsch-
land“ auch für Italien herangezogen werden kann. Für mich handelt es
sich in diesem Aufsatz also im wesentlichen nur darum, die charakteristi-
schen Eigenheiten zu berichten, soweit sie mir bekannt wurden. Des-
gleichen werden auch die altrömischen und etruskischen Votivfiguren, die
auf italienischem Boden noch sehr häufig auffindbar sind und in der Litera-
tur schon des öfteren eine eingehende Behandlung fanden (vgl. besonders
Holländer, Alexander und Stieda), an dieser Stelle nur insoweit
herangezogen, als sie uns für das moderne italienische Brauchtum nähere
Aufschlüsse gewähren können; denn daß zu allen Zeiten und in allen Erd-
teilen Votive geopfert wurden, ist schon hinlänglich bekannt.
Zunächst scheint es zweckmäßig, einige Vorbemerkungen über Italiens
Wallfahrtswesen, Heiligenverehrung usw. anzubringen1). Die äußere Form
1) Vgl. hierzu besonders Trede, Römisches Heidentum, 4 Bde., 1889/1891.
Zeitschrift für Volkskunde, II 17
250
Kriß:
der Gebetsanrufung vollzieht sich fast in derselben Weise wie bei uns.
Die hauptsächlichste Wallfahrtsheilige ist die Gottesmutter, welche in
unzähligen Kirchen und Kapellen verehrt wird und der gegenüber alle
anderen Heiligen ziemlich in den Hintergrund treten, sodaß man unter
20 Wallfahrten vielleicht eine nichtmarianische findet. Wollte man gar
die Wallfahrten nach ihrer Teilnehmerzahl gliedern, so würde sich das
Verhältnis noch weit mehr zu ungunsten der übrigen Heiligen verändern.
Selbstverständlich wird die Gottesmutter an den einzelnen Kultorten unter
den verschiedensten Titeln angerufen, seien es spezifische Wallfahrtsnamen
wie Madonna del Soccorso, Madonna delle Grazie, seien es fromme Zunamen,
die ihr in der lauretanischen Litanei und anderen Andachten gegeben werden,
wie Madonna del Rosario, la Vergine u. ä., oder seien es örtliche Bezeich-
nungen wie Madonna della Neve, Madonna dell’ Arco, Madonna della
Quercia, Madonna di Monte Allegro u. a. Neben der Gottesmutter kommen
nur wenige Heilige vor, die sich einer größeren Verbreitung erfreuen.
Zu erwähnen wären noch das Santissimo Bambino, St. Antonius v. Padua,
St. Antonius der Abt als Patron der Seefahrer und besonderer Beschützer
der Stadt Sorrent, S. Franziskus, S. Vicenzo, S. Nikolaus, S. Michael,
Santa Rosalia u. a.
Ich will aber diese Aufzählung nicht schließen, ohne eines sizilianischen
Spezialkultes zu gedenken, der wohl nirgends seinesgleichen findet. Ich
meine die Verehrung der Anime dei corpi decollati, d. h. der Seelen der Hin-
gerichteten, die in einer Kirche außerhalb Palermos nächst dem Ponte
dell’ Ammiraglio vor sich geht. Schon Trede (Lit. 16. 3, 321 ff.) hat
des merkwürdigen Brauches Erwähnung getan, und seinen Angaben
folgend entschloß ich mich zum Besuche jener Kirche, die sich in reizvoller
Lage am Ufer des Oreto erhebt. Neben und unter der Kirche wurden die
Leichname der auf dem Schafott hingerichteten Verbrecher bestattet. Im
18. Jahrhundert sollen vor der Kirche auch ihre Schädel zu sehen gewesen
sein. Die Kirche ist ständig voll von Leuten; man betritt sie durch ein
kleines malerisches Vorgärtchen; auf einem Nebenaltar wird ein Bild mit
dem Haupte Johannes des Täufers verehrt. Eine Analogie zu den decollati
ist hier gut am Platz! Auch silberne Votive der bekannten Art hängen
dort. Noch größere Anbetung erfährt eine Holzschnitzerei, die armen
Seelen im Fegefeuer darstellend, die in einer Seitenkapelle steht. Hier
brennen zahllose kleine Öllichter und Kerzen, und viel Volk kniet davor.
Die Votivtafeln sind an der Innenseite der Umfassungsmauer der Kirche in
vergitterten Schränken aufgehoben. Als Patrone treten die armen Seelen
auf, zuweilen in Gesellschaft mit Maria und anderen Heiligen. Aus den
Tafeln geht hervor, daß die Anime dei corpi decollati als spezielle Schutz-
patrone der Reisenden galten.
Trede erblickt in ihnen Nachfolger der römischen Di manes und
ergeht sich in langen Vermutungen, wie denn die Seelen der Mörder
dazu kämen, als Holde verehrt zu werden. Schließlich gibt er folgende Er-
klärung: Der ganze Kultus sei eine Erfindung der römischen Kirche und
erst im 16. Jahrhundert aufgekommen; vorher habe man die Verbrecher
Votive und Weihegaben des italienischen Volkes.
251
bei der Hinrichtung ohne geistlichen Beistand gelassen, denn man hielt
ihre Geister für gefährliche Dämonen. Erst vom 16. Jahrhundert an gab
ihnen die Kirche Seelsorger an die Seite. Die Verbrecher hatten nun Ge-
legenheit, Buße zu tun und zu bereuen. Die Kirche habe die Hinrichtung
für eine Opfersühne erklärt und eine Gelegenheit gehabt, dem Volke die
Kraft der Absolution wirksam vor Augen zu führen, indem sie aus den
Sündern Engel gemacht und sie, nach dem Vorbilde des rechten Schächers,
unmittelbar in den Himmel habe auffahren lassen.
Soweit Trede, dessen Deutung ich nicht beipflichten kann. Der Kult
der Gehängten geht sicher auf viel ältere Zeit als das 16. Jahrhundert
zurück. Wir haben hier keine Erfindung der Kirche vor uns (Erfindungen
werden niemals so populär), sondern einen deutlichen Hinweis auf ur-
sprünglichen Totenkult. Durch die Forschungen der Religionsgeschichtler
wissen wir ja zur Genüge, welche ungeheuer große Rolle zu allen Zeiten bei
den Primitiven der Totenkult gespielt hat. Manche, u. a. Naumann (vgl.
„Primitive Gemeinschaftskultur“) behaupten sogar, er sei die älteste und
einzige Quelle der Religion. Der Tote wird gedacht als der im Grabe fort-
lebende Leichnam; er hat größere Kraft als die Lebenden. Damit er diesen
nicht schadet und nicht wiederkehrt, gibt man ihm Grabbeigaben mit,
stimmt ihn durch Opfer günstig usw. Erst später, als man merkte, daß alle
Mittel, den gefährlichen Toten durch Fesselung oder Leichenbrand un-
schädlich zu machen, nichts halfen, sei der Glaube an eine Geistseele ent-
standen. Ohne zur Frage der Entstehung des Animismus Stellung nehmen
zu wollen, erblicke ich doch im Kulte der (wie sie früher wohl geheißen
haben mögen) Corpi decollati ein Zeugnis des Totenkultes. Gilt schon der
gewöhnliche Tote als gefährlich, um wieviel mehr erst ein Mörder, der
schon bei Lebzeiten Schaden gestiftet hatte. Besaß schon ein gewöhnlicher
Toter übermenschliche Kräfte, um wieviel mehr erst ein Mörder, vor dessen
geheimer Macht man sich schon bei Lebzeiten maßlos fürchtete. Wie man
aber anderseits gewöhnliche Tote durch Gaben auch zu freundlicher
Hilfeleistung bewegen konnte und ihre Kraft zum eigenen Vorteil ausnützte,
um wieviel mehr erst versuchte man, die weit stärkeren Mächte abgeschie-
dener Verbrecher sich dienstbar zu machen. So entwickelten sie sich
allmählich zu besonders kräftigen Dämonen.
Ich glaube diesen Gedankengang ohne weiteres zur Erklärung des
palermitanischen Spezialkultes heranziehen zu dürfen. Erst später sind
unter kirchlicher Einwirkung aus den Corpi decollati die Anime dei corpi
decollati geworden. Im Kern hat das an der Sache nichts geändert. Tredes
Meinung spielte vielleicht bei den katholischen Theologen eine Rolle, als
sie versuchten, dem schon Vorgefundenen Kulte kirchliche Berechtigung zu
verschaffen. Niemals aber läßt sich ein im Volke so tief eingewurzelter
Glaube auf eine Erfindung zurückführen. Gegenwärtig sehen wir die Kirche
bestrebt, die Erinnerung an die Decollati gänzlich zu verwischen. Das neue
Bildwerk der armen Seelen, das ich vorhin erwähnte, bezieht sich auf die
armen Seelen im allgemeinen, nicht aber auf die Seelen der Hingerichteten
im besonderen. Armenseelenkult treffen wir ja öfters in der katholischen
17*
‘252
Kriß:
Kirche. Ihrem Bemühen wird es allmählich gelingen, die Gehängten aus
dem Gedächtnis des Volkes zu löschen und den Wallfahrtskult auf die
armen Seelen und das Bild Johannes des Täufers hinzulenken.
Die Gnadenbilder der vielbesuchten Kultstätten besitzen oft einen
nicht geringen Wert. Sie sind mit Edelsteinen und anderen Kostbarkeiten
verziert und, wenn es sich um eine Figur handelt, dicht behängt mit ge-
opfertem Gold- und Perlenschmuck, so daß von der eigentlichen Statue fast
nichts mehr zu sehen ist. Als Beispiel für das erstere können die Gnaden-
bilder von Valle di Pompei oder Monte Vergine, für das letztere das Bam-
bino auf Aracoeli in Rom angeführt werden; dieses ist eine kleine Holz-
figur, die von einer Unmenge von goldenen Uhren, Armbändern, Ringen
und Perlenschnüren fast erdrückt wird. Nicht selten findet man in den
Kirchen große Glaskästen angebracht, worin die meist recht kunstlosen
Figuren wundertätiger Heiliger auf gestellt sind. Da es sich hier um einen
in Deutschland unbekannten Brauch handelt, soll er näher beschrieben
werden. In unseren Wallfahrtsorten wird meist nur ein Heiligenbild ver-
ehrt, und sind es wirklich ihrer mehrere, so ist doch für jedes von ihnen ein
eigener Altar bestimmt, an welchem das jeweilige Kultobjekt verehrt
werden kann. In Italien dagegen besteht die Sitte, solche wundertätige
Figuren meist in Lebensgröße in einem Glaskäfig von ca. 2 m Höhe und je
1 m Breite und Tiefe einzuschließen und an den Wänden oder Pfeilern von
Kirchen aufzustellen. In der sehr geräumigen Kirche Della Sanità in
Neapel, deren Gewölbe durch mehrere Pfeiler getragen wird, traf ich sicher
an die zehn oder noch mehr solcher eingesperrter Wundertäter; zu beiden
Seiten von ihnen brennen meistens Kerzen, zu ihren Füßen steht ein Bet-
schemel. Im Innern des Kastens sind die geopferten Votive aufgehängt.
Ein Rundgang durch eine solche Kirche ermöglicht es einem in kürzester
Zeit, eine Übersicht über die Zugkraft der einzelnen Heiligen zu bekommen;
man braucht bloß die Zahl der aufgehängten Weihegaben in diesen Glas-
kästen miteinander zu vergleichen. Was die Kirche Della Sanità betrifft,
so schlägt San Vicenzo, der allerdings einen eigenen Altar besitzt, alle seine
Konkurrenten ; denn alle verfügbaren Wände in seiner Umgebung sind dicht
behängt mit den verschiedensten Votiven.
Die Entstehung einer Wallfahrt gründet sich ähnlich wie bei uns auf
erfolgreiche Gebetserhörungen oder auf mirakulöse Begleitumstände, unter
denen das Bild an einem bestimmten Orte auf gefunden wurde. Z. B. be-
findet sich in der Kirche Santa Maria del Pozzano bei Castellamare ein
Kruzifix, das wunderbarerweise auf dem Meere angeschwommen kam, ein
Analogon zu der Sage der heiligen Kümmernis von Neufahrn bei Freising,
die stromaufwärts auf der Isar angeschwommen sein soll. Auch das heilige
Öl, das die Gebeine der heiligen Walburgis zu Eichstätt von Oktober bis
Februar ausschwitzen, findet eine Parallele in dem Manna des heiligen
Nikolaus von Bari und in dem Öl aus der Statue des heiligen Antonius, des
Abtes zu Sorrent. An der Rückseite dieser Statue befindet sich eine ein-
gesetzte silberne Platte, die stark fetthaltig ist. Sie sieht recht abgegriffen
aus, weil die Gläubigen mit den Fingern daran wischen. Da es Sonntag
Votive und Weihegaben des italienischen Volkes.
253
vormittag war und zahlreiche Andächtige die Figur umlagerten, konnte ich
eine genauere Untersuchung leider nicht vornehmen.
Auch zwischen anderen deutschen und italienischen Wallfahrtsbräuchen
ließen sich mancherlei Berührungspunkte aufzeigen, auf die ich, weil sie
außerhalb des engeren Bereiches unseres Themas liegen, hier nicht näher ein-
gehen kann. Als ein Beispiel erwähne ich die sog. Schluckbildl von Madonna
del Carmine inNeapel, die aus einerSerie kleinererReproduktionen desGnaden-
bildes, die auf ganz dünnes Papier gedruckt sind, bestehen und in Gestalt und
Verwendung den Mariazeller Schluckbildln der Steiermark völlig gleichen.
Cor so (Lit. 7) erwähnt Wallfahrten in Begleitung von Jungfrauen
und Darbringung von Opfergaben im Gewichte oder Maße des Spenders.
Besonders heimatlich berührt uns die Sitte, so viel Korn zu opfern, als der
Verlöbnisnehmer wiegt. Der bei uns heute ausgestorbene Brauch ist aus
zahlreichen Eintragungen in den Mirakelbüchern von Grafrath und
Inchenhofen in Oberbayern bekannt. Die in Italien heute noch bestehende
Sitte des Tragens von bestimmten Votivgewändern zum Danke für erhaltene
Hilfe (in Stoff oder Machart an die Kleidung des angerufenen Gnadenbildes
anklingend, wie Mönchsgewänder), die uns durch Corso und Trede
(Lit. 16, 4, S. 324) bezeugt wird, erinnert uns an die gleichfalls in den
deutschen Mirakelbüchern erwähnte Sitte derWallf ährten in härenem Gewand.
Nur der Quellenkult, uns aus ungezählten süddeutschen Wallfahrts-
orten vertraut, findet sich in Italien weit seltener; doch gibt es immerhin
einige recht berühmte Gnadenstätten mit Quellen. Ich nenne die Grotten-
kirche des heiligen Michael auf dem Monte Gargano mit Felsenquelle hinter
dem Altar und die Grotte der heiligen Rosalia am Monte Pellegrino bei
Palermo, wo das Tropfwasser der Grotte in Rinnen abgeleitet wird; in
beiden Fällen wird das Wasser von den Pilgern in frommem Glauben ge-
trunken und mit nach Hause genommen. Merkwürdig berührt auch in
einem Volke, dessen religiöse Vorstellungswelt noch weit primitiver ist als
die des deutschen, das fast völlige Fehlen von Zauber- und Segens-
sprüchen. Mag sein, daß sich im Privatbesitz manch gedrucktes Blatt
oder handschriftlicher Zettel findet, in den Devotionalienhandlungen
zahlreicher Wallfahrtsorte jedoch forschte ich stets vergeblich danach.
Das an Amuletten und Votiven sonst ziemlich reichhaltige Volkskunde-
museum von Palermo (übrigens das einzige in Italien, eine Gründung
Pitres) besitzt in dieser Richtung nur wenig Material; auf gef allen ist mir
ein Segen gegen Erdbeben, der aus einem Zettel mit lateinischen Buch-
staben in kreuzförmiger Anordnung im Hauptfeld bestand, welche wohl
die Anfangsbuchstaben einer Beschwörung vorstellen. Auch in der be-
rühmten Amulettsammlung von Professor Bellucci in Perugia, die ich
allerdings, weil sie noch nicht öffentlich aufgestellt ist, nur zum Teil zu
Gesicht bekam, fand ich nichts derartiges, und in seinen Schriften ist
lediglich der Franziskussegen angeführt (Lit. 5 S. 128).
Statt dessen gibt es wiederum andere bei uns unbekannte Devotionalien,
deren ich in Kürze einige auf zähle; in Sizilien sind die Rosaliensteine im
Volke sehr beliebt. Es sind Bergkristalle, die in einer nur den Wallfahrts-
254
Kriß:
priestern der heiligen Rosalia am Monte Pellegrino bekannten Felsenhöhle
gefunden werden. Sie werden, in kleine Stücklein zerteilt, in einem Vor-
raume der Grottenkirche an die Gläubigen für zwei Lire pro Stück ab-
gegeben, gelten als Amulette gegen Blitz und Unwetter und werden in
dieser Absicht an die Fenster oder vor die Türen gelegt.
Die Steine, die man sich von Monte San Angelo am Monte Gargano
aus der Grotte des heiligen Michael mitnimmt, werden als wirksame Pest-
abwehrmittel angesehen. Der Grund, weswegen sie in dieser Weise ge-
braucht werden, ist ein legendärer. Ich bringe deshalb in folgendem die
mit der Gründung und Weiterentwicklung der genannten Wallfahrt zu-
sammenhängenden Sagen, wie sie das gegenwärtige Wallfahrtsbüchlein
berichtet. Darnach fand die erste Erscheinung des Erzengels Michael im
Jahre 493 statt; ein Stier hatte sich verlaufen, und als ihn der Hirte nach
langem Suchen in einer Höhle fand und im Zorn auf ihn einen Pfeil abschoß,
hielt dieser mitten in der Luft inne und flog auf den Hirten zurück; man
wußte das seltsame Ereignis nicht zu deuten und meldete es dem zuständigen
Bischof von Sipont; dieser veranstaltete eine feierliche Andacht, und
zuletzt erschien ihm der heilige Michael, der ihm offenbarte, er wolle in der
bewußten Höhle, deren Wächter und Schützer er sei, verehrt werden. Zwei
Jahre nachher erschien er abermals und rettete Sipont vor dem Einfall der
Goten. Als man nach drei Jahren die inzwischen erbaute Kirche einweihen
wollte, kam er wiederum und sagte, man brauche dieses nicht zu tun, er
habe die Kirche selbst geweiht und ein Zeichen hinterlassen. Man fand
einen von ihm errichteten Altar und den Abdruck seiner Fußsohle in einem
harten Steinblock. Die vierte Erscheinung fand statt im Jahre 1656, als
im Königreich Neapel die Pest herrschte und auch Foggia und Manfredonia
(früher Sipont) arg heimgesucht wurden. St. Michael erschien dem Erz-
bischof und sagte ihm, daß jedermann, der Steine aus seiner Kirche am
Monte San Angelo in Ehrfurcht anwende, durch sie aus seinem Haus,
seinem Wohnsitz und jeder anderen Stätte die Pest vertreiben könnte. Man
solle die Steine benedizieren und mit einem Kreuzzeichen versehen. Der
Rat wurde sofort befolgt, und die Pest wich. Die Steine wurden weithin
verschickt. Die Sitte hat sich bis auf die Gegenwart erhalten, denn das
Wallfahrtsbüchlein schließt mit der Aufforderung: ,,. . . bewahrt die Reli-
quien der heiligen Krypta wohl auf; legt die wundertätigen Steine auf die
Türen eurer Häuser!“ Bei meinem Besuch am Monte San Angelo führte
mich der Mesner an den Platz, wo man die Steine gewinnt; man nimmt sie
nicht aus der großen, mit zahlreichen Altären geschmückten Grotte, sondern
aus einer kleinen Seitenschlucht, in der St. Michael zur Erde gefahren sein
soll. Dort wird auch eine von den vielen Pilgern durch Küssen und Hinein-
setzen glatt gewetzte Vertiefung gezeigt, die man gleichfalls für eine Spur
des Heiligen hält. Der Hochaltar mit einer prächtigen Statue des Erz-
engels ist über dem Stein mit seinem Fußabdruck (nicht sichtbar) er-
richtet. Hinter dem Altar befindet sich die Quelle.
Ein merkwürdiger Brauch, der sich wohl im Zusammenhang mit dem
Erinnerungszeichen des Erzengels herausgebildet hat, besteht darin, daß
Votive und Weihegaben des italienischen Volkes.
255
die Pilger auch ihrerseits die Abdrücke ihrer Fußsohlen in den Stein
des Gotteshauses einmeißeln. Die zur Grotte hinabführende Treppe, die
Geländer, die Außenwände von Kirche und Nebengebäuden sind voll von
solchen Pilgerabzeichen; meist sind es die Umrisse der Fußsohlen, mitunter
auch die Eindrücke der Hände, mit auseinandergespreizten fünf Fingern.
Innerhalb der Konturen dieser meist eingehauenen, in neuerer Zeit auch oft
nur aufgemalten Denkzeichen, sind zuweilen auch die Initialen des Ver-
fertigers nebst dem Datum seines ersten Besuches enthalten. Kommt der
Betreffende wieder hierher, so freut es ihn, wenn er sein Zeichen wieder-
findet und Hand oder Fuß von neuem in die alten Zeichen hineinlegen kann.
Dieselbe Sitte wurde von Monte San Angelo auch in die nahegelegene
Wallfahrtskirche Sipontina bei Manfredonia verpflanzt. Die Innenwände
und Säulen jener Kirche sind reichlich bedeckt mit den teils eingemeißelten,
teils in blauer Farbe gemalten Händen und Fußsohlen. Zur Verschönerung
der Kirche trägt dieser Brauch allerdings nicht bei. Im übrigen Italien ist
er nirgends üblich.
Die Devotionalien von Loreto sind so bekannt, daß ich mich mit
einem kurzen Hinweis begnügen kann. Noch heute bekommt man dort
polvere della Santa Casa zu kaufen. Auch gibt es immer noch runde Schäl-
chen und Teller mit jener Aufschrift, aus denen dieses Heilmittel, das gegen
Krankheit im allgemeinen gilt, in Suppe, Kaffee oder Speisen aufgelöst,
genossen wird. In der Sakristei gibt es seidene Bänder mit dem Stempel
des Gnadenortes, die sich die schwangeren Frauen zur Erlangung einer
leichten Geburt um den Leib binden. Kleine Glöckchen werden zur Abwehr
von Gewittern geläutet, und das Öl aus der Ampel dient als Einschmier-
mittel in Krankheitsfällen. Auf eine Beschreibung Loretos, der Santa Casa
und ihrer Fortführung durch Engel von Bethlehem nach Fiume und später
nach Italien verzichte ich, da diese Dinge hinreichend bekannt sind.
In Assisi werden die Blätter vom dornenlosen Rosenstrauch des
heiligen Franz als geschätzte Reliquien an die Pilger abgegeben. Daß
Medaillen mit Bildnissen berühmter Krankheitspatrone amulettwertig sein
können, ist in Deutschland eine bekannte Sache; in Italien kommt dies
auch vor, scheinbar aber nicht in diesem Ausmaße, da Bellucci (Lit. 5
S. 130—144) nur vier solcher Medaillen beschreibt, darunter auch den in
Süddeutschland bekannten Benediktuspfennig, der in Italien als Amulett
gegen Hagel gilt. Im selben Glauben wird auch das Agnus Dei verwendet,
dessen Gebrauchsweise sich also mit der unsrigen deckt (Bellucci S. 121 ff.).
Einen unmittelbaren Zusammenhang zwischen der Art der dargebrach-
ten Votive und der Person eines bestimmten Heiligen konnte ich meist
nicht mehr feststellen. Hat sich einmal eine Wallfahrt als zugkräftig er-
wiesen, so strömen Gläubige mit den verschiedensten Anliegen herzu,
weswegen auch die Weihegaben eine bunte Mannigfaltigkeit aufweisen.
Das Patronat eines Heiligen wirkt sich höchstens insofern aus, als die
darauf bezüglichen Votive häufiger vertreten sind als andere, niemals aber
ausschließliche Geltung besitzen. So fand ich in Sorrent bei St. Antonius
vorwiegend Schiffsvotive und in Neapel vor der Figur des San Pasquale
256
Kriß:
vorwiegend Tiere. Doch waren stets auch andere Votive vorhanden. Es
gibt auch ganz eigenartige Patronate, die bei uns erstauntes Kopf schütteln
erregen würden. So ist. z. B. San Strozzino Patron für das Verschlucken
von Gegenständen, und Santa Pupa Patronin der Betrunkenen, auch für die
Seeräuber, die Bravi, die Geheimbündler und andere zweifelhafte Gewerbe
gab und gibt es eigene Schutzheilige (vgl. Lit. 7 S. 63ff., Lit. 16 an vielen
Stellen). Aber nicht nur, daß es zahlreiche und seltsame Heiligenpatronate
gibt, auch die einzelnen Gnadenbilder ein und derselben heiligen Person
üben ganz spezielle örtliche Patronatschaften aus; man verehrt eben nicht
den abstrakten Heiligen, sondern sein konkretes Bild. Ein Beispiel, das ich
selbst erlebte, führe ich hierfür an. Zwei Kilometer außerhalb von Man-
fredonia an der Adria liegt die berühmte Wallfahrtskirche Sipontina, ein
altes romanisches Bauwerk. In der Säulenkrypta der Unterkirche befindet
sich eine sehr frühe hölzerne Statue der Maria mit dem Kinde, die eigentliche
Sipontina, angeblich aus dem 6. Jahrhundert stammend. Der Raum ist
voll von Votiven, auf die wir später zurückkommen werden. In dem
oberen, zu ebener Erde liegenden zweiten Kirchenraum befindet sich eben-
falls ein Gnadenbild; ein Ölgemälde namens Santa Maria Maggiore di
Siponto. Dieser Raum enthält keine Opfergaben, und als ich das wegen der
Fastenzeit vor den Altar gespannte Tuch wegziehen ließ, fand ich diesen
leer! Das Gnadenbild war nämlich vorübergehend ausgewandert; ich fand
es wieder im Dom von Manfredonia, wo es im Glanze vieler brennender
Kerzen frei im Kirchenschiffe stand. Jedes Jahr vom 19. März bis Ende
Mai siedelt es dorthin über; denn es muß um diese Zeit die Bitten der
manfredonischen Fischer erfüllen, die sich von ihm einen glücklichen Fisch-
zug erflehen, und zwar handelt es sich speziell um die Tintenfische (seppia),
zu deren Fang man in der genannten Jahreszeit auszieht. Damit die
Fischer nicht den weiten Weg nach Sipontina zurücklegen müssen, wird das
Bild einfach an die Manfredonier ausgeliehen. Die Madonna di Siponto ist
also eine Spezialpatronin der Tintenfischjäger!
Auf die Begehung religiöser Feste und das damit verbundene weltliche
und allzu weltliche Treiben, das mitunter an die antiken Bacchanalien er-
innert, kommt Trede an vielen Stellen seines Werkes zu sprechen. Am
berühmtesten ist das Fest der Madonna di Piedigrotta mit seinen nächt-
lichen Umzügen und dem Festschmaus in der Nacht vom 7. zum 8. Sep-
tember (vgl. Trede 4, 180ff.).
Uber die Art und Weise der italienischen Frömmigkeit ist bereits so viel
berichtet worden, daß ich nicht mehr darauf einzugehen brauche. Ich wende
mich deshalb meinem speziellen Thema zu und behandle zuerst diejenigen
Gegenstände, die zwar noch Weihegeschenke an die Gottheit vorstellen, im
engeren Sinne jedoch nicht mehr als reine Votive bezeichnet werden können,
da sie nicht Ausdrucksmittel eines besonderen Anliegens des Bittstellers
(Abbilder des intendierten Gegenstandes) sind und oft ursprünglich ganz
anderen Zwecken gedient haben. Von dem Verfall des Votivkultes, der sich
auch in Italien verfolgen läßt, werden gerade diese Gegenstände weniger
berührt, während die Votive im engeren Sinne in raschem Abnehmen be-
Votive und Weihegaben des italienischen Volkes.
257
griffen sind. Dies gilt besonders für Mittelitalien, während sich im südlichen
Teile des Landes (Unteritalien und Sizilien) die überlieferten Formen der
Frömmigkeit mit weit mehr Zähigkeit erhalten haben. Hier ist vor allem
der internationale Brauch, Kerzen zu opfern, anzuführen. An ihre Stelle
treten in Italien häufig silberne Ampeln, die bei uns ziemlich selten sind,
dort jedoch in großer Menge viele Gnadenbilder und Altäre umgeben und
oft von nicht geringem Werte sind.
Das Öl, das in den Ampeln vor den Kultbildern brennt, wird als
wunderkräftig angesehen. In der Sakristei von Madonna dell’ Arco stehen
in einer Kiste Hunderte von kleinen Fläschchen bereit, die mit jenem Öl
angefüllt sind und an die Wallfahrer verkauft werden. Es wird gegen alle
möglichen Krankheiten innerlich und äußerlich angewendet. Man erhält
sie gegen eine kleine Gabe ausgefertigt nebst einem Stück weißer Watte,
die, wie aus der auf dem Einwickelpapier auf gedruckten Bestätigung er-
sichtlich ist, vorher am Gnadenbild angerührt worden war. Die Watte wird
in das Öl eingetaucht und zum Bestreichen des betreffenden Körperteiles
verwendet. Einen ähnlichen Brauch aus Loreto haben wir bereits erwähnt.
Übrigens galt auch in Deutschland das Öl aus den Ampeln am Wallfahrts-
orte früher als heilkräftig; wir finden in den alten Mirakelbüchern des
17. und 18. Jahrhunderts zahlreiche Belege hierfür aus mehreren alt-
bayrischen Wallfahrtsorten; jetzt ist der Brauch allerdings erloschen,
während er in Italien unverändert fortbesteht.
Gleichfalls in diese Rubrik gehören die Kostbarkeiten, wie goldene
und silberne Spangen, Ringe, Armbänder, Perlen, Halsketten,
sowie unechter Schmuck, welche Dinge ja auch bei uns recht beliebt sind.
Sehr häufig sah ich auch Uhren, die bei uns nicht Vorkommen, wahrschein-
lich, weil es dem praktischen Sinne widerstrebt, ein so nützliches Instru-
ment verstauben und zugrunde gehen zu lassen. In Italien jedoch fand ich
diese Uhren fast in jeder größeren Wallfahrt, wertvolle goldene und silberne,
aber auch ganz einfache und billige Ware. Beliebte Weihegaben sind auch
Militärmützen und Epauletten, die von Angehörigen des Militärstandes
geopfert werden, auch Ge wehr kugeln und Granatsplitt er, häufig mit bei-
gefügtem Dank für Errettung aus Lebensgefahr, kommen vor. Des weiteren
alte Gewehre und Pistolen, zum Teil in gebrochenem Zustande, sind
ab und zu anzutreffen. Über den Beweggrund, der den Spender hierzu
veranlaßt haben mag, konnte ich keine genauen Auskünfte erhalten. Ich
fand sie in Madonna dell’Arco bei Neapel und anderen Orten. Der führende
Pater, den ich fragte, meinte, es handle sich bei den zerbrochenen Gewehren
um Errettung aus einer Gefahr oder um Votive von Jägern. Da der Italiener
gern auf die Jagd geht und so ziemlich alles schießt, was ihm vorkommt,
und da in Übereinstimmung hiermit die geopferten Flinten solche leichten
Kalibers sind, scheint eine Erklärung, die sie mit Jagdunfällen in Zu-
sammenhang bringt, nicht unwahrscheinlich.
Manches Gewehr stammt wohl aus dem Weltkriege und aus früheren
Feldzügen, den Dank glücklich heimgekehrter Soldaten vorstellend. Jeden-
falls sind die angeführten Verlöbnisgründe näherliegend als die Deutung
258
Kriß:
von Trede, der die Waffen, Dolche und Pistolen als Votive „dunkler
Ehrenmänner“ ansieht, „die sich mit der Ausführung ihrer Bluttaten unter
den Schutz der Madonna stellten“ (4, 323), wenngleich auch solche
Beweggründe sicher mitunter vorkamen. Denn bei dem Primitivismus der
breiten Schichten in Unteritalien liegen solche Beweggründe durchaus im
Bereiche des Möglichen. Gibt es doch eigene Wallfahrtskirchen der See-
räuber und andere seltsam anmutende Bräuche, wie das Opfer des heiligen
Antonius, von denen G. Finamore (Credenze, usi e costumi Abruzzesi,
1890 S. 101) erzählt; zu Ehren des heiligen Antonius wird vor seinem Bilde
eine Kerze abgebrannt zu dem Zwecke, seinen Feind zu töten. Mit dem
Abnehmen des Wachses schwindet dessen Lebenskraft, ist die Kerze völlig ab-
gebrannt, so muß auch der Feind sterben. So meint der Spender dieses Opfers.
Ähnlich wie bei uns findet man auch abgeschnittene Frauenzöpfe,
Brautkränze, Krücken, Zähne, künstliche Blumensträuße, Kreuze und
Rosenkränze. Zu den Kuriositäten zählt ein ungefähr 20 ccm fassendes
Glaskästchen, das ich in der Antoniuskirche zu Sorrent fand und das mehrere
gebrauchte Verbandrollen und halbgeleerte Medizinflaschen unbestimmten
Inhaltes barg, nebst einer Widmung, die besagt, daß der Spender auf
Fürsprache des heiligen Antonius von einer schweren Erkrankung am Fuße
genesen sei und aus Dank dafür seine Krankheitsutensilien, als er sie nicht
mehr benötigt habe, darbringen wolle.
Merkwürdigerweise fand ich auch Amulette unter den Votiven. Oft
sah ich Korallenketten, die Fica und das Corno und andere magische Ab-
wehrsymbole. Bei uns würden sich ähnliche Zeichen in katholischen Kirchen
wohl kaum finden, da auch der primitive Mensch heutzutage zwischen
christlichen und nichtchristlichen Hilfsmitteln stets einen Unterschied
macht, indem er diese als Glauben und jene als Aberglauben bezeichnet;
wenn er im Geheimen auch den letzteren zuweilen noch vertraut, so ist er
sich ihres nichtchristlichen Charakters doch bewußt. Die Italiener erblicken
hierin jedoch noch keinen Gegensatz, was uns als neuer Hinweis dienen kann,
daß zwischen Glaube und Aberglaube kein prinzipieller, sondern höchstens
ein chronologischer Unterschied besteht, indem nämlich eine spätere Zeit
überlebte Kultformen der Vergangenheit als Aberglauben bezeichnet, da
sie ihrem Verständnis als nicht mehr angemessen erscheinen. Auch im
20. Jahrhundert erleben wir wiederum, und sogar innerhalb des Kreises
der katholischen Kirche selbst, eine langsam sich vollziehende Wendung
in dieser Hinsicht. Gerade bei dem Votivkult können wir das Aussterben
der alten Opferbräuche verfolgen, die vor zwei Jahrzehnten noch von vielen
in ehrlichem Glauben geübt wurden, heutzutage jedoch nur noch selten
Vorkommen und von den meisten als Aberglaube belächelt werden. Das
letztere ist meiner Meinung nach ein Fehler, da man das eigene Maß nicht
verallgemeinern darf und den ehrlichen Glauben älterer Generationen
ebenso achten soll, zumal man nicht wissen kann, wie man in weiteren
hundert Jahren unsere heutigen Religionsvorstellungen beurteilen wird.
Zu den wichtigsten und verbreitetsten Weihegaben dieser ersten
Gruppe möchte ich auch die silbernen Herzen (vgl. Abb. 3) zählen, die
Votive und Weihegaben des italienischen Volkes.
259
zu Tausenden in allen Kirchen vorhanden sind. Während man sie bei uns
als Organvotive oder als Symbole der heiligsten Herzen Jesu und Mariä
und Ausdruck brennender Gottesliebe noch zu den spezielleren Votiven
rechnen kann, sind sie hier im Begriffe, alle übrigen Votive zu verdrängen;
sie sind zum uniformen Ausdrucke des Wunsches oder Dankes an die Gott-
heit schlechthin und ohne jede Besonderheit herabgesunken. In Mittel-
italien, wo ich viele Wallfahrtsorte in Rom, Assisi, Florenz und Umgebung
aufsuchte, hängen sie in ermüdender Einförmigkeit in großen Mengen in
allen Kirchen, und nur selten findet man einen anderen Gegenstand da-
zwischen. Aber auch in dem primitiveren Unteritalien sind sie in raschem
Zunehmen begriffen, und in kurzer Zeit werden sie die einzigen, nichts-
sagenden Überbleibsel eines einst so mannigfaltigen Brauchtums sein.
Die beigegebene Abbildung ist typisch; das zweilappige Herz ist gewöhn-
lich mit dem Zeichen Christi oder Marias versehen und mehr oder weniger
schön verziert. Es gibt ferner doppelte Herzen, die man wohl für Votive
von Liebespaaren oder Brautleuten zu halten hat. Mitunter ist das Herz
auch von einem oder sieben Schwertern durchbohrt.
Weit seltener ist der als Spada (vgl. Abb. 3) bezeichnete Gegenstand allein
vertreten. Jenes Herz, sowie dieser kleine, ebenfalls aus dünnstem Silber-
blech hergestellte Degen dienen als Symbol des Leidens und werden bei
allen Arten von Krankheiten und Schmerzen geopfert. Wahrscheinlich ist
man dabei von dem Gedanken an die schmerzhafte Muttergottes aus-
gegangen, als deren Symbol Schwerter in der Brust betrachtet werden.
Auch sah ich diesen Gegenstand, außer bei Silberschmieden, nur in einigen
marianischen Wallfahrten Roms und Neapels, was ebenfalls auf einen
Zusammenhang mit der heiligen Maria hindeutet.
Damit sind wir bereits bei den im engeren Sinne als Votive zu be-
zeichnenden Gegenständen angelangt. Das weitaus am häufigsten ver-
wendete Material ist minderwertiges Silberblech; die daraus geschnittenen
Figuren sind dünn wie Papier, meist wenig sorgfältig hergestellt und be-
wegen sich in bestimmten Größenverhältnissen, meist zwischen 10 und
20 cm. Die Opferung dieser Figuren ist allgemein Brauch, und es muß
daher im Herstellungspreise eine gewisse Rücksicht genommen werden,
woraus sich die durchschnittliche Minderwertigkeit derselben erklärt. Bei
uns ist das übliche Material Wachs, und nur, wer etwas besonderes tun will,
opfert Silber, weswegen unsere Figuren meist schöner und sorgfältiger aus-
geführt werden können. Doch fehlt es auch im Süden nicht an besseren
Exemplaren. Im Gegensatz zu Deutschland kommen wächserne Votive nur
selten vor, sind aber dann aus dickem, widerstandsfähigem Wachs gezogen,
von erheblicher Größe und sorgfältiger Ausführung. Das Verhältnis von
Wachs zu Silber scheint somit umgekehrt wie bei uns. Anderes Material
ist im allgemeinen nicht üblich und wird bei Besprechung des jeweiligen
Objektes gesondert aufgeführt werden.
Menschliche Opferfiguren aus Silber in der Größe von 10—15 cm
sind sehr häufig und kommen in verschiedenen Darstellungsarten vor.
Typisch ist besonders (vgl. Abb. 4 rechts oben) ihre Form, die von der
260
Kriß:
unsrigen erheblich ab weicht. Männer und Frauen sind hier in aufrechter
Stellung, also nicht kniend,wie bei uns, abgebildet, und zwar sind die Frauen
bekleidet und die Männer mit Ausnahme des Lendenschurzes vollständig
nackt. Möglicherweise ist hier die kultische Nacktheit im Spiele, vielleicht
kann man hierin auch eine Reminiszenz an nackte Wallfahrten oder an das
Leiden des Erlösers und vieler Heiliger erblicken. Die bekleidete Dar-
stellung der Frau hat sich wohl aus Gründen der Schamhaftigkeit heraus-
gebildet. Nacktfüßige Wallfahrten werden heute noch ausgeführt (vgl.
Costantini, Riti ed usi del popolo Leccese, Folklore Italiano 2, 435ff. 1927).
Ich darf daran erinnern, daß bei den alten eisernen Opferfiguren der deut-
schen Länder der Mann gleichfalls stets nackt und die Frau fast immer
bekleidet erscheint, ohne damit direkte Zusammenhänge behaupten zu
wollen. In Italien hat sich der Brauch bis in die Jetztzeit erhalten. Be-
achtlich erscheint mir bei jenen Figuren auch die Handstellung, in der eine
deutliche Reminiszenz an die antiken Terrakottavotive zum Ausdruck
kommt. Während nämlich unsere Figuren stets Gebetstellung auf weisen,
ist dies hier nicht der Fall, vielmehr ruht die eine (gewöhnlich die rechte)
Hand auf der Brust, die andere hängt in unbestimmter Stellung herab.
Genau dieselbe Haltung besitzen die antiken Terrakottavotive. Abgesehen
von den kleinen, in sitzender Stellung dargestellten antiken Votivfiguren,
denke ich hier an verschiedene lebensgroße Figuren in mehreren Museen
Italiens, sowie an einige Stücke derselben Art, die ich in einem Schuppen
in Isola Farnese auf fand. Bei letzteren fehlt zwar überall der Kopf, doch
zeigen die Rumpffragmente stets diese Handstellung. Auch unter den
zahlreichen kleinen stehenden Terrakottafiguren kommen zuweilen solche
Exemplare vor. Ist es nicht auffallend, daß sich hier eine ausgesprochen
heidnische Tradition bis in die Einzelheiten der äußeren Form fast über
2000 Jahre erhalten hat? Leider ist diese Eigenart in der unten zitierten
archäologischen Literatur nicht erwähnt; nur Alexander (Lit. 1) bildet
zwei Gewandstatuen ab (Fig. 9—10, Tafel 3—4), die aber nicht heran-
gezogen werden können, weil sie gerade in der Armstellung vom Typus der
Figuren ab weichen (vgl. Alexander Text S. 170—71).
Neben den eben beschriebenen Figuren, doch weit (vgl. Abb. 4 unten)
seltener, bemerkte ich allerdings auch kniende männliche und weibliche
Figuren, entweder betend oder als Zeichen der Hingabe, ein Herz auf-
opfernd. Zu letzterer Kategorie gehören auch die schwebenden kleinen
Engel (Abb. 4), die ein Herz in der Hand tragen. Schon Andree sah diese
Figuren in großer Zahl in der Kapelle San Lazaro bei Capua, ich fand sie
wiederum am Monte Allegro bei Rapallo. Sie sind gleichfalls Votive und
ein symbolischer Ausdruck des auf Erhörung hoffenden Menschen; ein
Engel soll die flehenden Wünsche emportragen zum Himmel. Zu den
menschlichen Figuren zählen auch die Wickelkinder (Abb. 4), deren stereo-
type Form sich überall, unter den antiken Donarien wie bei den neueren
Weihegaben des katholischen Deutschlands, vorfindet.
Außer diesen sog. Fatschenkindern kommen neuerdings auch kleine
nackte Kinder in liegender Stellung mit aufgezogenen Beinen vor; sie
Votive und Weihegaben des italienischen Volkes,
261
werden aus dünnem, hohlem Wachs in verschiedenen Größen gegossen und
sind in Neapel und Sizilien bei den Wachsziehern zu haben; die größeren
Stücke haben zuweilen einen Lendenschurz aus Stoff um den Leib gebunden,
ähnlich wie die oben beschriebenen männlichen Figuren. Sie erinnern stark
an kleine Engel oder Krippenfiguren. In Silber sah ich sie nirgends.
Alle diese Gegenstände bestehen, abgesehen von den eben genannten
kleinen Kindern, aus Silberblech; inWachs werden sie heute fast nicht mehr
hergestellt, nur ausnahmsweise sah ich zwei große, erwachsene Männer in der
Kirche Madonna dell’ Arco aus weißem Wachs. Sie waren beinahe 1 m
hoch und mit Ausnahme eines Lendenschurzes aus blauem Stoff nackt.
Derartige Figuren sind bei den Wachsziehern nicht mehr vorrätig; sie
werden nur auf Bestellung gemacht; eines jener beiden Stücke wurde erst
vor drei Jahren geopfert; es wurde von einem Wachszieher in Neapel in der
Strada San Gregorio Armeno gefertigt. Eine solche Bestellung ist ziemlich
teuer, kostet ca. 100 Lire, da die Form für den Guß eigens gemacht werden
muß.
In der gleichen Kirche sah ich zwei Darstellungen eines sitzenden
Mannes in Lebensgröße. Es handelt sich um zwei ausgestopfte Strohpuppen
von sehr primitivem Äußeren; beide Puppen bestanden aus roher Sack-
leinwand, nur mit dem Unterschiede, daß die eine in schweren Ketten lag,
während die andere bereits entfesselt war. Ein beigefügter Text bezeichnete
diese Figuren als Opfer eines befreiten Gefangenen, dessen Ketten durch
ein Wunder gesprengt worden waren. Es handelt sich um einen Christen,
der aus der Türkensklaverei befreit wurde.
Wir kommen nun zu den einzelnen Körperteilen. Neben den
Köpfen im Profil (Abb. 4, oben Mitte), die nach der Art der übrigen Votive
nur wenig gewölbt sind, um leicht aufgehängt werden zu können, existieren
auch ganze Köpfe; diese sind innen hohl, meist sehr klein und besitzen
am Hinterkopf eine schmale Öffnung, durch die man ein Band zum Auf-
hängen stecken kann. Auch Wachsköpfe kommen vor; sie erreichen fast
die Größe eines kleinen Kinderkopfes (Abb. 2), sind innen hohl, jedoch aus
einer festen, dickwandigen Wachsmasse hergestellt und bemalt. Die roten
Wangen und die blauen Augen machen einen sonderbaren Eindruck. Sie
besitzen oben gleichfalls zwei breite Schlitze, durch die ein rosa oder blaues
Seidenband gezogen wird. Neben ganzen Köpfen werden auch einzelne
Teile des Gesichts geopfert (Abb. 2 oben). Diese Formen, welche bei uns
fehlen, zeigen wiederum deutliche Anlehnungen an antike Vorbilder. Das
gilt besonders von jenen Stücken, die man am besten als Larven bezeichnen
kann, und die anscheinend die Sonderdarstellung von Augen, Nase und
Mund ersetzen. Es kommen zweierlei Formen vor, und beide weisen über-
raschende Parallelen mit der Antike auf, weshalb es mir zweckmäßig erschien,
zwei Formen aus Altertum und Neuzeit (Abb. 1) nebeneinander abzubilden.
Die erste, etwas größere Form (Abb. 2, oben) zeigt die nach oben abgerundete
Stirn, Augen, Nase und Mund, die zweite, kleinere Form (Abb. 1) begnügt
sich mit Augen, Nase und Stirnansatz. Beide Formen sind mit Ausnahme
eines einzigen Gipsvotivs (Abb. 1, links), das ich in Südtirol fand, in deutschen
262
Kriß:
Ländern nicht bekannt. Antike und moderne Formen unterscheiden sich
lediglich durch das Material, das bei ersteren Ton, bei letzteren Wachs ist
(Vgl. Lit. 1, S. 163, Tafel 1—2, Fig. 3 und 4.) Als einzelne Gesichtsteile
(Abb. 3) sind außerdem noch zu buchen silberne und wächserne Augen,
Nasen, Ohren, Gebisse und Zungen, die natürlich ebenfalls antike Ver-
gleichstücke besitzen, was jedoch, da es sich um naturgetreue Abbildungen
gewisser Körperteile handelt, nichts Auffälliges an sich hat. (Vgl. Lit. 1,
10, 15.) Auch die Gurgel, besonders der Hals, kommen in Silber und Wachs
zuweilen vor; die silberne Gurgel besteht ganz einfach aus einer oben und
unten offenen Röhre mit unbestimmbaren Eindrücken; das entsprechende
Wachsvotiv bildet ein Stück des Halses mit Brustansatz ab (Abb. 2, oben).
Sehr beliebt sind des weiteren Arme und Beine, Hände und Füße. Die
Formen decken sich mit den bei uns üblichen, die Hände und Arme sind
gewöhnlich ausgestreckt und kommen in Silber in allen Größen vor. Das
gleiche gilt für die Beine, die gewöhnlich von den Zehen bis zum Knie ab-
gebildet sind, seltener findet man den eigentlichen Fuß allein. Wächserne
Glieder trifft man weniger oft, sie stellen die Hand mit einem Teil des
Unterarms, bzw. den Fuß bis zu den Waden dar, sind ziemlich groß, meist
wenig unter Lebensgröße und bestehen wiederum aus solidem Material.
Eine hölzerne Hand, die in Form eines dünnen Brettchens mit der
Laubsäge geschnitten und mit einer mit Tinte geschriebenen Widmung ver-
sehen war, sah ich in Madonna dell’ Arco, desgleichen auch ein massives
Holzbein in Lebensgröße. Marie Andree-Eysn sah solche hölzernen
Füße vor zwei Jahrzehnten noch in großer Zahl in Fontanellato bei Parma,
heute gehören sie bereits zu den Ausnahmen.
Von den übrigen Körperteilen kommen die Brüste (Abb. 2 und 3),
sowohl einfache als auch doppelte, noch am häufigsten vor. Wie die Ab-
bildung zeigt, sind dies vier- oder rechteckige Tafeln aus dünnem Silber,
in welche die betreffende Form gepreßt ist. Darunter finden sich gewöhnlich
die Buchstaben V.F. G.R. (Abb. 3,Voto fatto grazia ricevuta)oderV.F. G. A.
(Voto fatto grazia aspettata). Auch auf den Votivtafeln kann man diese Buch-
staben mit oder ohne Datum und Namensnennung finden. Bedeutend größer
als die silbernen sind die wächsernen Brüste (Abb. 2). Ferner existieren auch
Rümpfe und Unterleibe (Abb. 3), ganz ähnlich den bei uns gängigen
Stücken. Bedeutend größer sind wiederum die Unterleibe aus Wachs
(Abb. 2), welche stark gewölbt sind und in der Mitte den Nabel als schwarzen
Punkt auf gemalt haben.
Neu dagegen war mir die votivische Darstellung eines Gesäßes
ungefähr 10 cm groß, das ich an einer sehr deutlich sichtbaren Stelle der
Antoniuskirche von Sorrent hängen sah, sowie die eines weiblichen Ge-
schlechtsteiles (Abb. 3), beide aus Silber.
In einer Kirche in Scanno (Abruzzen) sollen nach Torcia früher auch
männliche Geschlechtsteile in Wachs geopfert worden sein (vgl. Torcia,
II monte Argatone 1889, S. 141). Der Italiener findet in seinem primitiven
Realismus gar nichts dabei, auch derartige Körperteile in seinen Kirchen
aufzuhängen. Immerhin zählen diese Objekte zu den Seltenheiten und
Votive und Weihegaben des italienischen Volkes.
263
scheinen nur auf Bestellung gemacht zu werden. Wenigstens fand ich unter
den fertigen Votiven bei verschiedenen Silberarbeitern von Neapel und
Palermo keine solchen Stücke vor, obwohl mir nahe an tausend Silber-
votive bei dieser Gelegenheit durch die Hände gingen.
Interessant sind die Exvoto mit Krankheitsdarstellungen, die ich.
jedoch nur unter den wächsernen Weihegaben fand. Im volkskundlichen
Museum von Palermo bemerkte ich zum ersten Male in Italien ältere Votive
aus massivem Wachs, darunter Arme, Beine, ein Gesicht und einen Unter-
leib, bei denen die Wundmale teils durch unregelmäßige Eindrücke in die
Wachsmasse mit auf liegender roter Bemalung teils durch rote Farbe allein
angedeutet waren. Nachgebildet waren auf diese Art sog. offene Füße
und Arme; das Gesicht war dicht bemalt mit zahlreichen dunkelroten Blut-
flecken, noch widerlicher sah der Unterleib aus, der außer roten Flecken
noch plastisch geformte schwarze Würmer oder Blutegel auf sich sitzen
hatte. Die Votive stammten aus Balestrate und Mellili, beides Orte in
Sizilien. Auch hierfür können wir antike Parallelen anführen; Holländer
widmet den Krankheitsexvoto ausführliche Schilderungen (Lit. 10, S. 286
bis 316); bei den Terrakottaplastiken stellte man krankhafte Bildungen
natürlich nicht farbig, sondern nur plastisch dar; trotzdem erinnern manche
Abbildungen Holländers, besonders ein mit knotenförmigen Wuche-
rungen bedeckter Kopf (S. 303) und ein ebensolcher Arm (S. 308), stark
an die oben beschriebenen modernen Votive. In Süddeutschland finden
sich übrigens gleichfalls noch hölzerne Arme und Beine mit geschnitzten
Krankheitsdarstellungen.
Bei den gegenwärtigen italienischen Wachsopfern, die sämtlich hohl
sind, ist eine plastische Wiedergabe der Krankheitserscheinungen natürlich
nicht möglich; man drückt sie durch bloße Bemalung aus; am Monte
Pellegrino fand ich viele Exvoto, Hände, Köpfe, Haustiere usw. mit grell-
roten Flecken versehen; sie werden von einem Wachszieher in Palermo her-
gestellt, der die betreffenden Votive aus Gipsformen, zunächst in durchaus
normaler Weise, ausgießt. Kommt dann ein Käufer, so wird er gefragt,
ob er an dem ausgewählten Objekte irgendeine bestimmte Krankheit oder
Verwundung angedeutet haben wolle; ist dies der Fall, so wird das gekaufte
Votiv von der Geschäftsinhaberin in ganz primitiver Weise an der vom
Käufer bezeichneten Stelle mit roten Flecken bemalt. Diese Sitte besteht
übrigens nur noch in Sizilien. Einzig in der Sipontina von Manfredonia fand
ich unter anderen Votiven ein bemaltes Bein. In Mittel- und Oberitalien
sind jaWachsvotive gegenwärtig überhaupt nicht mehr gebräuchlich. Silberne
Herzen sind dort, wie schon einmal gesagt, so ziemlich die einzigen Opfergaben.
Merkwürdigerweise fehlen die Votive für innere Organe in Italien
völlig. Unter den Tausenden von Silbervotiven, die ich durchmustert habe,
traf ich in Kirchen selbst keine darauf Bezug nehmende Darstellung, und
die einzige, übrigens arg stilisierte silberne Lunge (Abb. 3), die ich bei einem
Juwelier erwarb, bildet eine große Ausnahme. Bei sämtlichen inneren
Leiden opfert man als symbolisches Zeichen ein Herz oder, eine Spada,
wenn man sich nicht mit der Darbringung desjenigen äußeren Körperteiles
264
Kriß :
begnügt, in dessen Bereich man den Sitz des Leidens vermutet. Wenigstens
kann ich mir die ziemlich zahlreichen Unterleibsvotive, deren Verwendung
bei uns seltener ist, nicht anders deuten. Auch für Gebärmutterleiden, zu
deren Darstellung man im Altertum die sog. Uteri und in deutschen Sprach-
gebieten die bekannten Kröten und Stachelkugeln verwendet, existiert kein
spezielles Votiv. Meine daraufhin angestellten Untersuchungen decken sich
mit den Ergebnissen derUmfragen von Marie Andree-Eysn, die sich in den
MschlesVk. (Lit. 4) gleichfalls negativ äußert und die trotz ihrer häufigen
Reisen in Italien kein spezielles Organ- oder Gebärmuttervotiv finden
konnte. Das nördlich von Turin gelegene Val d’Aosta allerdings scheint
hier eine Ausnahme zu machen, denn Blind und Spieß berichten, daß
dort flaschenförmige Gebilde, genannt uteri, vorkämen. Leider hatte ich
keine Gelegenheit, dieses entlegene Tal aufzusuchen und mich von dem
Vorhandensein dieser Weihegabe persönlich zu überzeugen, habe aber keine
Ursache, den Angaben der genannten Forscher zu mißtrauen, zumal sich
gerade in den Alpentälern die Reste ehemaligen Brauchtums mit größerer
Zähigkeit forterhalten. (Vgl. darüber ausführlich Lit. 6, 12, 14.)
Was die Tierbilderopfer (Abb.4) anbetrifft, so genügt die bloße
Aufzählung der silbernen Pferde, Rinder, Maulesel, Schweine und Schafe;
sie decken sich mit den bei uns üblichen Gebilden; wächserne allerdings
sind weit seltener, und nur in einem Wachszieher laden von Palermo fand
ich große, naturgetreu nachgebildete Kühe und Pferde.
In unverminderter Häufigkeit jedoch besteht bis in die Gegenwart
herein der bei uns stark zurückgehende Brauch fort, als Ausdruck des
Dankes oder der Bitte gemalte Votivtafeln zu opfern. Nur sind sie
heutzutage meist nicht auf Holz, sondern auf Leinwand gemalt. An
krassem Realismus der Darstellung sind sie unseren Tafeln noch weit über-
legen, obwohl bereits diese sich nicht gerade durch Zurückhaltung aus-
zeichnen. Recht abwechslungsreich ist daher ein Gang durch eine solche
bildergeschmückte Wallfahrtskirche, in der jede Tafel von einem anderen
Unglücksfall zu erzählen weiß; und welch sonderbare Anliegen werden in
rührender Aufrichtigkeit den Heiligen da vorgetragen! Eine Tafel in
San Vicenzo della Sanità in Neapel aus 1916 zeigt eine militärische Assen-
tierung; der bis zur Hüfte nackte Rekrut wird von einer Reihe von
Ärzten auf seine Dienstfähigkeit hin untersucht; aber der heilige Vincenz
hat das Flehen jenes Mannes erhört, und der Spruch lautet auf untauglich.
Eine andere Darstellung zeigt einen Gerichtssaal. In der Mitte der Vor-
sitzende und andere Gerichtspersonen, rechts auf der Seite in einem
vergitterten Käfig sitzt der Angeklagte; darüber gewahrt man in Wolken
drei verschiedene Heilige, der vierte aber, San Vicenzo, steht in schräger
Stellung, zur Hälfte im Himmel und zur Hälfte schon auf der Erde; man
sieht, wie er seinem Schützling hilfreich die Hand hinabreicht und ihn so
buchstäblich aus dem Käfig herauszieht. Ich selbst erwarb unter anderem
ein Bild, welches eine Szene aus dem Weltkrieg, stürmende Italiener und
fliehende Österreicher, darstellt und auf dessen Rückseite in flüchtiger
Kohlezeichnung Mussolinis Kopf prangte.
Zeitschr. f. Volkskunde, NF II, 3: Friß, Votive und Weihegaben des italienischen Volkes.
Abb. 1. Modernes Gips- und antikes Terrakottavotiv.
Abb. 6. Votivtafel aus dem frühen 16. Jahrh
Abb. 5. Modernes Schiffsvotiv aus Holz.
Abb. 2. Moderne Wachsvotive.
Abb. 3
Moderne Silbervotive.
Abb. 4. Moderne Silbervotive.
Votive und Weihegaben des italienischen Volkes.
265
Häufig findet man Teufelsbeschwörungen, Heilung Besessener und
verwandte Fälle. Ich bilde eine sehr alte Votivtafel (Abb. 6) des frühen
16. Jahrhunderts ab; man sieht hier eine Frau, die vom Teufel besessen
war und auf die Fürbitte des Heiligen im Mönchsgewande von ihrem Übel
befreit wird. Zwei Männer halten das rasende Weib fest, während zwei
kleine schwarze Teuf eichen ihrem Munde entweichen. Solche Szenen
finden sich in vielen Wallfahrtskirchen; zuweilen sind die Teufel als ge-
hörnte Gesellen mit Bocksfell in menschlicher Größe dargestellt.
Dies sind nur wenige Beispiele; man könnte Seiten füllen mit der Auf-
zählung solcher primitiver Gemälde, unter denen sogar Szenen aus modern-
sten Operationssälen zu finden sind.
Auch läßt es sich der Italiener meist nicht bloß mit der Anrufung eines
einzigen Heiligen genügen. Gewöhnlich erblickt man eine ganze Galerie
von ihnen in den Wolken thronen. Beachtlich ist hierbei einmal, daß
Christus und Maria den übrigen Heiligen im Range völlig gleichgestellt er-
scheinen, sowie daß die verschiedenen Marienbilder, die Schmerzensmutter,
die unbefleckte Mutter, Maria mit dem heiligsten Herzen usw. wie ver-
schiedene Personen behandelt werden, dergestalt, daß man auf dem näm-
lichen Bilde oft drei oder vier Marien zugleich unter einer Reihe von anderen
Heiligen vorfinden kann.
Eine Spezialität, die nur in einer einzigen Kirche Umbriens gebräuch-
lich ist, sind Votivtafeln aus Majolika. Es handelt sich um die Kirche
Madonna dei Bagni bei Deruta, südlich von Perugia; die Entstehung jener
Wallfahrt leitet sich von einem Madonnenbilde her, das früher zwischen den
Ästen einer Eiche aufgehängt war. Der Stamm der Eiche ist heute noch
hinter dem Altar zu sehen. Deruta ist der Sitz einer sehr alten, weltberühm-
ten Majolikafabrik; da lag es natürlich nahe, auch die Votivtafeln dort zu
bestellen, und so finden wir denn in der eine halbe Stunde von Deruta ent-
fernten Kirche ausschließlich Votivtafeln aus Majolika. Sie reichen zeitlich
vom frühen 17. Jahrhundert angefangen bis zur Gegenwart und geben
einen guten Überblick über die Majolikatechnik der verschiedenen Jahr-
hunderte; die primitiven Darstellungen der alten Zeit sind besonders reiz-
voll. Anläßlich einer Kirchenrenovierung hat man sämtliche Tafeln, da sie
wegen ihres Gewichtes leicht herabfallen und zerbrechen, in die Wände und
Säulen des Gotteshauses eingemauert, was zwar sehr originell aussieht,
für den Sammler aber eine mißliche Sache ist.
Wie sehr erstaunte ich, als ich in Neapel in der Strada San Gregorio
Armeno, einem engen, schmutzstarrenden Gäßchen, in dem sich ein Devotio-
naliengeschäft an das andere reiht, auch fertig vorrätige Votivbilder antraf.
In grellen Farben auf billigste Leinwand, teils sogar auf Papier gemalt,
werden die verschiedensten Schauerszenen, Operationen, Unglücksfälle
aller Art nebst einer Schar von Heiligen im voraus angefertigt und aus-
gestellt; der Käufer braucht dann bloß das ihm entsprechende Votiv aua-
wählen, mit Tinte seine Widmung darauf zu schreiben, das Bild in irgend-
einer Wallfahrtskirche aufzuhängen, und der Fall ist erledigt. Ein seltsamer
Industrialismus!
ZeitBchrift für Volkskunde, II, 3.
18
266
Kriß:
In neuster Zeit opfern die Leute auch häufig Photographien mit bei-
gefügter Widmung, und zwar gibt es nicht nur Personenbildnisse, sondern
auch Aufnahmen von Unglücksfällen, wenn sich nämlich rechtzeitig ein
Photograph eingefunden hatte. Besonders fromme Leute bestellen den
Photographen auch ins Haus, wenigstens kann ich mir das Zustande-
kommen von Aufnahmen Kranker, die im Bett liegen, nicht anders erklären.
In Padua sah ich öfters Bildnisse kleiner Kinder in einer Franziskanerkutte.
Sie beweisen das Fortleben der Eingangs erwähnten Sitte, zu Ehren des
Heiligen nach erlangter Hilfe seine Kleider zu tragen. Im selben Orte
bemerkte ich eine Aufnahme, welche ein demoliertes Auto darstellte, neben
ihm die vier Insassen, die unversehrt geblieben waren, als das Auto
vom Zuge erfaßt worden war. So meldet der beigefügte Text, der aus dem
Jahre 1927 stammt.
Ein sehr zeitgemäßes Votiv sah ich in Loreto in der Schatzkammer;
nämlich eine große Photographie des Generals Nobile nebst langer schrift-
licher Widmung, die er nach seinem mißglückten Nordpolflug zum Dank
für seine Rettung stiftete. Das Vorhaben, in der Neujahrsnacht am Nordpol
die italienische Flagge zu hissen, schien ihm so wichtig, daß er es im Texte
eigens erwähnte.
Das Kleideropfer ist in Italien ebenfalls nicht fremd. Besonders
zahlreich sah ich Kinderkleidchen in der oft erwähnten Wallfahrtskirche
Sipontina hängen; man opfert sie, wenn das sterbenskranke Kind doch
wieder gesundet; als Seltenheit bemerkte ich auch den kompletten Anzug
eines erwachsenen Mannes, der nach der Erzählung des Mesners zum Dank
für glückliche Heimkehr aus dem letzten Kriege geopfert worden ist.
Nach Anführung dieser allgemeinen Votive will ich noch einige für
Italien charakteristische Sonderheiten anführen; zu diesen gehören unter
anderen die Särge, welche schon Richard Andree bekannt waren. Er
schreibt darüber: „Nur einen eng begrenzten Verbreitungsbezirk haben die
Miniaturkindersärge in Italien. In der Kirche San Vicenzo della S. in
Neapel, die besonders reich an Votiven ist, kann man solche kleine Särge,
die übrigens leer sind, zu Hunderten an den Pfeilern und Wölbungen sehen.
Sie tragen die Anfangsbuchstaben, eines Namens und werden geopfert, wenn
das Kind schwer krank ist, um durch die Fürbitte des heiligen Vincenz
noch Heilung zu erzielen. Mehr konnte ich dort nicht über den Zweck der
kleinen Särge erfahren. Wenn es nun erlaubt ist, zu ihrer Deutung ethno-
graphische Parallelen anzuführen, so ist folgendes zu erwägen. Um Dämonen
zu täuschen, welche als Krankheitsteufel in den Menschen fahren oder
ausgesendet sind, ihn zu töten, greifen verschiedene Völker zu einer Namens-
änderung. Zieht man solche Vorstellungen und Gebräuche zur Erklärung
der neapolitanischen Kindersärge heran, so darf man annehmen, daß auch
hier eine Täuschung des herannahenden Todes versucht wird. Er erscheint
ja dem Volke als Gerippe mit der Sense, das seine Beute sucht. Sie soll ihm
werden, denkt der Neapolitaner, aber er wird dabei betrogen, indem man ihm
gleichsam vorspiegelt, das Kind sei schon gestorben und ruhe bereits in dem
kleinen Sarge, der nun seinen Platz an geweihter Stelle findet.“ (Lit. 3 S. 3).
Votive und Weihegaben des italienischen Volkes.
267
In der genannten Kirche traf ich diese Särge allerdings nicht möhr,
doch sah ich sie an vielen anderen Orten, so in Madonna dell’ Arco, am
Monte Vergine, auf der Insel Procida, in Sorrent und in einigen anderen
Wallfahrtskirchen in der Umgebung von Neapel. Es handelt sich aber hier
nicht nur um Kindersärge, vielmehr sah ich solche in allen Größen, z. B.
in Madonna dell’ Arco zwei Särge, die fast für einen erwachsenen Menschen
paßten, ferner viele Särge von weit über 1 m Länge und daneben die üblichen
Größen von 20—50 cm. Wie mir ein Priester in Madonna dell’ Arco mitteilte,
werden diese Särge von Leuten in allen Lebensaltern bei schweren Er-
krankungen geopfert, und nur aus Gründen der Bequemlichkeit sind die
meisten Votivsärge klein, genau wie auch die anderen Weihegaben meist
nicht in der natürlichen Größe des dargestellten Objektes gespendet werden.
Im übrigen stimme ich der Andreeschen Deutung vollständig bei. Das
Sargopfer scheint überdies geographisch ziemlich eng begrenzt zu sein.
Während es in Neapel und dessen weiterer Umgebung sehr häufig vorkommt,
verschwindet es in Mittel- und Norditalien fast völlig1), wenigstens nach
meinen Erfahrungen.
Sehr beliebt sind in Italien ferner die Schiffsvotive. Die Madonna,
der heilige Nikolaus und der heilige Antonius der Abt sind die hauptsäch-
lichsten Schutzpatrone der Seefahrer, und ihnen werden daher häufig Votive,
die auf die Seeschiffahrt Bezug nehmen, gewidmet. Schon Andree kannte
diese Sitte. Er schreibt2): „In voller Pracht, einem kleinen Schiffsmodell-
museum vergleichbar, entdeckte ich diese Votive in Forio auf der Insel
Ischia. Hier liegt auf vorspringendem Eels am Meere die Kirche der Ma-
donna del Soccorso, die den in Gefahr befindlichen Seeleuten sich hilfreich
erweist und die zum Danke ihr dann schön gearbeitete Modelle ihrer Fahr-
zeuge weihten. Da stehen sehr alte hochgebordete Schiffe aus dem 18. Jahr-
hundert, dabei jüngere Zwei- und Dreimaster und, die Fortdauer des Schiffs-
opfers bis auf unsere Tage beweisend, Blechmodelle von Motorbooten“. Als
ich 25 Jahre später dorthin kam, fand ich alles noch unverändert; ergänzend
kann ich lediglich hinzufügen, daß die Wallfahrt nicht zur Madonna in
jener Kirche, sondern zu einem Kruzifixus geht, der im Meere zwischen
Klippen gefunden worden war; er steht über einem Seitenaltar an der
linken Seite der Kirche und ist dicht behängen mit Votivgaben, unter denen
sich auch eine aus Messing getriebene Traube vorfand; sie stellt eine Weihe-
gabe der Winzer vor, da der Weinbau in Ischia stark verbreitet ist. Auch
Wachsfiguren, Zöpfe, Krücken, Prothesen, Gewehre und Pistolen werden
dort zahlreich geopfert. Ich traf die Schiffsvotive wieder in Madonna
dell’ Arco, woselbst zwei riesengroße, ungefähr 1,50 m lange Segelboote,
sowie Stücke abgerissener Schiffstaue geopfert sind. Votivtafeln, die in
Seenot befindliche Schiffe zeigen, sah ich bei S. Antonio in Sorrent sowie in
mehreren Kirchen Capris. In einer der letzteren entdeckte ich auch ein
!) Ich traf es in diesen Landstrichen nur ein einziges Mal an, und zwar
auf dem Monte Allegro (s. unten!); vielleicht handelt es sich um die Spende eines
gebürtigen Neapolitaners.
2) Lit. 3, S. 2.
18*
268
Kriß:
Segel- und ein Dampfboot. Reich an Schiffsvotiven ist auch die oberhalb
Rapallo am aussichtsreichen Monte Allegro befindliche marianische Wall-
fahrtskirche, Neben zahlreichen Segelbooten aus dünnem Silberblech
existieren auch einige sehr sauber ausgeführte Segelboote aus Holz. Diese
Modelle (Abb. 5) befinden sich in goldgerahmten Glaskästchen und sind mit
der flach gehaltenen Rückseite an der hölzernen Wand befestigt.
In derselben Kirche wurde ich auch mit einem Brauch bekannt, der
in eigenartiger Parallele zu einer bayrischen Sitte steht. Die genannte
Wallfahrt ist nämlich mit einer Heilquelle verbunden, deren Wasser in
Bläschen gefüllt von den Gläubigen mit nach Hause genommen wird. War
die Kur von Erfolg, dann opfern die Leute die leeren Flaschen. Wollen sie
aber ihre Dankbarkeit noch besonders dokumentieren, so lassen sie von
Gefangenen im Inneren dieser Flaschen kleine, überaus zierliche Schnitz -
werke anfertigen, bei welchen die Hauptschwierigkeit darin besteht, sie
durch den schmalen Flaschenhals in den Hohlraum zu befördern. Ich
bemerkte zwei solche Flaschen; die eine zeigte einen Kruzifixus, die andere
einen kleinen, von allerlei Zieraten umgebenen Sarg. Beim Anblick dieser
Dinge mußte ich sofort an ganz ähnliche Stücke in unseren Gegenden
denken, nur daß dieselben bei uns einem anderen Zwecke dienen. Wir
finden sie als gern gesehene Schmuckstücke auf Hausaltären und im Herr-
gottswinkel altbayrischer Bauernhäuser. Besonders zahlreich müssen
Schiffsvotive vertreten sein in Chioggia bei Venedig, wie aus dem kleinen
Aufsatz von Aldo Poli zu entnehmen ist (La fede e gli exvoti dei pescatori
Chioggiotti S. 68—70; Catalogo della seconda Mostra d’arte Marinara
1927/28). Auch von der Wallfahrtskirche Bonaria in Cagliari (Sardinien)
wurden der genannten Ausstellung mehrere Schiffsmodelle zur Verfügung
gestellt.
Zum Schluß seien noch einige Bräuche erwähnt, die mir aus literari-
schen Quellen zur Verfügung stehen. Nach Bellucci besteht in den
Abbruzzen folgende in Krankheitsfällen geübte Sitte: Von den an den
Innenwänden kleiner offener Feldkapellen aufgemalten Heiligenbildern
wird etwas Mauerwerk abgeschabt, welches in ein Beutelchen gefüllt
und dem Kranken umgehängt wird. Nach eingetretener Genesung werden
jene Beutelchen in der betreffenden Kapelle, von welcher der heilige Staub
abgeschabt wurde, als Zeichen der Dankbarkeit auf gehängt. Nach Bel-
lucci sind nur ganz bestimmte Heilige für bestimmte Leiden gut; die alten
Malereien wurden dabei oft so weitgehend zerstört, daß man sie durch kleine
Majolikabilder ersetzen mußte (Lit. 5, S. 59ff.).
Eine weitere Eigentümlichkeit erwähnen abermals Bellucci sowie der
französische Ethnograph Zaborowski. Es besteht nämlich in Italien und
Frankreich der Brauch. Nägel in den Fußboden von Kirchen zu treten oder
in die hölzernen Figuren bestimmter Heiliger zu drücken; namentlich
heiratslustige Mädchen üben diese Sitte aus in der Hoffnung, dadurch eine
glückliche Ehe schließen zu können. Der Brauch ist für eine große Zahl
französischer und für eine geringere Zahl von mittel- und norditalienischen
Gegenden nachgewiesen.
Votive und Weihegaben des italienischen Volkes.
269
Folgenden Passus finde ich in dem Werke Holländers (Lit. 10, S. 235):
„Freund erzählt in seinem Göttinger Taschenbuch von 1784 ein merk-
würdiges Erlebnis des bekannten Sammlers William Hamilton. Jener
nämlich sah in dem kleinen Abruzzenstädtchen Issagua, daß eine Menge
Weiber und Mädchen in Wachs geformte Zehen des heiligen Cosmas käuflich
erwarben und, um Fruchtbarkeit zu erlangen, in der dortigen Cosmas- und
Damiankirche opferten. Es handelte sich in Wirklichkeit um Priapen,
und Hamilton glaubt, in ihnen Reminiszenzen ehemaliger Priapeafeste
erkennen zu dürfen. Die Phalli seien später als die große Zehe des heiligen
Cosmas angesehen und geopfert worden. Die Nachfolger des Heidentums
hätten das gute Geschäft unter einem züchtigeren Namen fortgeführt.“
Schließlich will ich noch des einzigen Ortes in Italien Erwähnung tun,
woeseiserneVotive gibt. Es ist die Wallfahrtskirche San Mauro, außer-
halb des Dörfchens San Mauro di Saline, nordöstlich von Verona, 800 m
hoch im Gebirge gelegen. Gerola gibt in seinem im Druck befindlichen
Aufsatze (Lit. 9) eine ausführliche Schilderung dieser Votive. Sie stimmt
mit meinen eigenen Beobachtungen ziemlich überein; die menschlichen
Figuren, die sich sämtlich im Museo Civico von Verona befinden, sind sehr
alt und primitiv, aus einem einzigen Stück Eisen geschmiedet; in der Tech-
nik gleichen sie völlig den menschlichen Figuren Süddeutschlands. Unter
den Männern bemerkte ich sogar einige phallische Figuren sowie eine kniende
Gestalt. Die Frauen sind durch Biegung des Eisens um den Dorn des
Amboßes gekennzeichnet, wodurch der Rock angedeutet werden soll. Die
Votive sind zwischen 15 und 25 cm hoch. Im ganzen sind es etwa 20 Stück.
Tierfiguren sind nicht darunter; ich fand auch keine in San Mauro selbst,
dessen Kirche ich genau auf Votive untersuchte. Das Gotteshaus ist ein
alter romanischer Bau mit wertvollen Holzfiguren derselben Epoche.
Rechts in der Nähe des Einganges befindet sich ein von einer breiten
steinernen Brüstung umzogener Nebenaltar. Aus jener Einfassung ragen
mehrere eiserne Dorne empor, an welchen zahlreiche eiserne Votivringe
auf gereiht sind; sie sind stark rostig und annähernd gleich groß. Am Feste
des heiligen Matthäus, dem Hauptwallfahrtstage, herrscht nach ihnen
große Nachfrage. Die meisten Pilger setzen sich diese Ringe dann aufs
Haupt, um dadurch Heilung von Kopfschmerzen zu erlangen. Ein mehr
quadratisch geformtes Eisenstück wird gegen Fußleiden an die Beine an-
gelegt. Reste von anderen Eisenteilen, verrostete Stäbe und ähnliches legt
man sich gleichfalls am Körper an an der Stelle, wo man den Sitz der
Krankheit vermutet. Von anderen Votiven war nur noch ein eiserner Arm
vorhanden und ein unbestimmtes Stück Eisen, dem Teile eines Helmes
vergleichbar, das in der Phantasie der Gläubigen als Gesicht gilt und in
dieser Absicht bei Gesichtsschmerzen vors Antlitz gehalten wird. Die
Kenntnis dieser Gebräuche verdanke ich den Erzählungen des Mesners.
Man sieht daraus, wie sehr dem Volke die anderen Figuren (Männer, Frauen
und Tiere) fehlen, wenn sie sich so mühsam zu behelfen suchen. Die Angabe
Gerolas, welcher sagt, die Figuren seien heute außer Gebrauch, entspricht
also nicht ganz den Tatsachen.
270
Kriß:
Jedoch ist er mit der Behauptung, der Brauch sei von bayrischen
Kolonisten hierher mitgebracht worden, vollkommen im Recht. Er führt
hierfür auch eine Reihe von Gründen an. Am beweiskräftigsten ist die seiner
Abhandlung beigegebene Landkarte zur Verbreitung des Leonhardskultes
und der eisernen Votive in Südtirol und Norditalien. Aus ihr ersieht man
deutlich, daß der genannte Brauch vom Norden heruntergewandert ist
und nur sporadisch in italienisches Sprach- und Kulturgebiet übergegriffen
hat. In Italien ist San Mauro die einzige Kirche mit eisernen Weihegaben,
zwei weitere Leonhardskirchen in der Nähe von Trient sind kettenumspannt.
Die deutsche Einwanderung muß, wie Gerola annimmt, schon sehr früh
erfolgt sein, da die Votive sämtlich sehr roh und primitiv sind und keine
weitere Ausprägung ihres Typus erfahren haben, wie dies sonst bei ihnen der
Fall ist.
Stark deutschen Einfluß verraten auch die Votivgaben von San Ro-
medio bei Sanzeno im Nonstal. Die Kapelle liegt auf einem mächtigen
isolierten Felskegel über der Mündung zweier Täler. Man steigt von rück-
wärts hinauf, betritt durch ein gemauertes Einfahrtstor einen kleinen
Meierhof und gelangt dann auf einer überdeckten Steintreppe zu der am
äußersten Felszipfel liegenden Kapelle. Sie ist ein eigenartiger, in drei
übereinanderliegende Räume geteilter Bau, den man von den einzelnen
Treppenabsätzen betreten kann. Im untersten wird das Sakrament auf-
bewahrt, der mittlere und geräumigste ist eine achteckige niedere Halle mit
schönen Wandmalereien; diese wiederum ist durch eine Treppe mit einer
ganz kleinen finsteren Kammer verbunden, die die Knochen des heiligen
Romedius in einem Reliquienschreine birgt. Die Votivtafeln befinden sich
in großer Zahl im Treppenhaus, und zwar sorgfältig nach den Jahrhunderten
geordnet. Die meisten von ihnen stammen aus dem 19. und 18. Jahrhundert,
nur wenige reichen ins 17. Jahrhundert zurück, und ein großes Quantum
von Schund dokumentiert die Frömmigkeit des 20. Säkulums. In einer
gesonderten, schwer zugänglichen Nische gewahrte ich einige der für Süd-
tirol charakteristischen hölzernen Votive, unter denen mir einige Formen
noch gänzlich neu waren.
Neben hölzernen Armen, Beinen, einer Brust und einer Zunge erblickte
ich nämlich drei menschliche Köpfe, ca. 10 cm hoch, aus massivem Holz
und bemalt. Es waren zwei männliche und ein weibliches Haupt, und wenn
auch keineswegs künstlerisch, so doch ganz sorgfältig ausgeführt, so daß
die einzelnen Gesichtsteile gut hervortraten. Als weiteres Kuriosum sah
ich zwei hölzerne Rümpfe ca. 8 cm hoch, einer davon zeigte Halsansatz,
Brust und Bauch nach der Art der wächsernen Votive aus Süddeutschland,
der zweite gab denselben Körperteil von rückwärts, und zwar Rückgrat,
Schulterblätter und Gesäß. Diese hölzernen Votive, wie gesagt, deuten
gleichfalls auf deutschnachbarlichen Einfluß. Die für Südtirol klassische
und auch am häufigsten vorkommende Opfergabe, die hölzerne Stachel-
kugel, fehlte allerdings in San Romedio (vgl. Lit. 12).
Damit bin ich am Ende meiner Schilderung angelangt und habe alles
berichtet, was mir aus meinen spärlichen Quellen einerseits und aus eigenen
Votive und Weihegaben des italienischen Volkes.
271
Beobachtungen während meines kurzen Aufenthaltes anderseits bekannt
geworden ist; ich muß deshalb bitten, etwa vorhandene Lücken in der
Beobachtung, die sich ohnedies auf allgemeine Züge beschränken mußte,
zu entschuldigen. Die im deutschsprachigen Teil des ehemaligen Südtirol
gebräuchlichen Votive habe ich mit Absicht ausgeschlossen, da sie dem
deutschen und nicht dem italienischen Kulturgebiet zugehörig sind. Auch hat
bereits Andree ihrer an vielen Stellen seines Buches gedacht; wertvolle
Ergänzungen hierzu sind außer dem Artikel Gerolas zwei Abhandlungen
von Mang, die über den letzten Stand der Forschung unterrichten. (Von
unseren Weihegaben, Schiern 1922 S. 168; Krötendarstellungen als Weihe-
gaben, Schiern 1924 S. 294ff.)
Berchtesgaden.
Hauptsächlichste Literatur.
(1) G. Alexander, Zur Kenntnis der etruskischen Weihegeschenke (Bonnet-Merkels
Anat. Hefte 1905).
(2) R. Andree, Votive und Weihegaben des kath. Volkes in Süddeutschland, 1904.
(3) R. Andree, Einige Bemerkungen über Votive und Weihegaben (Korresp.-Bl.
d. D. Anthropol. Ges. 1905).
(4) M. Andree-Eysn, Über die Berechtigung des Ausdruckes Votivkröte (Mitt.
d. Schles. Ges. f. Volksk. 1907).
(5) G. Bellucci, II feticismo primitivo in Italia (Trad. popolari in Italia 1907).
(6) E. Blind, Gynäkologisch interessante Exvoto (Globus 1902).
(7) R. Corso, Exvoto Italiani (Catalogo della II. Mostra d’arte Marinara 1927/28,
S. 62ff.).
(8) R. Corso, Exvoti Italiens (Les Hirondelles 1928).
(9) B. Gerola, II culto di San Leonardo ed i suoi exvoto nei XIII comuni (Folklore
Italiano 1930).
(10) E. Holländer, Plastik und Medizin, 1914.
(11) Folklore Italiano (hrsg. von R. Corso, Neapel).
(12) R. Kriß, Das Gebärmuttervotiv, 1929.
(13) G. Pitre, Tradizioni popolari siciliane.
(14) K. Spieß, Die Kröte, ein Bild der Gebärmutter (Mitra 1914).
(15) L. Stieda, Anatomisches über altitalische Weihegeschenke (Bonnet-Merkels
Anat. Hefte, 1902).
(16) Th. Trede, Das Heidentum in der röm. Kirche, 4 Bde., 1889/91.
(17) Zabarowski, Les clous votifs (Revue d’Anthropologie. Paris 1919).
Kleine Mitteilungen
Christophorus, der Heilige des modernen Verkehrs.
(Vgl. ZfVk. 35, 85ff.)
Im Gegensatz zu B. Schröder, der a. a. O. bei Betrachtung der Gestalt des
hl. Christophorus — wie übrigens auch E. Stemplinger, Antiker Aberglaube in
modernen Ausstrahlungen (1922), S. 4f. u. a. — an den Einfluß antiken Glaubens
und antiker Kunst denkt, leitet A. Wrede, Handwörterbuch des deutschen Aber-
glaubens 2, 67 die Christophoruslegende aus dem Namen ab: „Name und Mythos“,
wie L. Mackensen diese Wandlung bezeichnet. Jedenfalls ist der ungemein viel-
seitige Heilige stets neuer Anpassung fähig gewesen und heute sogar zum kirchlich
anerkannten Patron des modernen Verkehrs geworden. A. Wrede, der B. Schrö-
ders vorsichtig abwägende und vielfach belegte Ausführungen (1929) nicht mehr
berücksichtigt, weist am Ende seines Artikels noch darauf hin, daß man neuerdings
— ich beobachtete es 1928 — das Auto nebst Chauffeur und Insassen dem Schutze
des Heiligen unterstellt. Eine auf dem Kühler angebrachte Metallmarke trägt das
Bild des Heiligen und die Umschrift: Sancte Christophore, protégé nos! Es ist der
Widerhall des weitverbreiteten Glaubens, daß, wer das Bild des Heiligen morgens
andächtig betrachtet, diesen Tag vor jähem Tode sicher sei. Das, nichts anderes, meint
wohl auch der Vers:
Christophore sancte, virtutes sunt tibi tantae,
Qui te mane vident, nocturno tempore rident.
Ich glaube nicht, daß dabei an „frohe Träume“ (Wrede nach J. Klapper,
Schlesische Volkskunde, 1925, S. 308) zu denken ist, die der Heilige sende; vident
— rident ist beabsichtigtes Wortspiel.
Es ist eine folgerichtige Erweiterung des Schutzbereichs, wenn man in einer
neuerdings geweihten St.-Christoph-Kirche zu Paris nicht nur die Auto-
mobile, sondern auch das modern gestaltete Fahrzeug des Kinderwagens dem
Schutz des Heiligen empfiehlt. Ein Bild, das kürzlich durch die Blätter wanderte (z. B.
Speyerer Zeitung 1930, 31. Juli), zeigt, wie Pariser Geistlichkeit vor der St.-Christoph-
Kirche Kinderwagen segnet. Es wäre interessant zu verfolgen, ob es dem neuen
Verkehrsheiligen gelingt, im Kampf zwischen Glauben und Aberglauben die bis-
herigen Beschützer des Autos, die in Modernisierung alter Ausdrucksform geschaffenen
Abwehrzauberpuppen der Maskotten, zu verdrängen oder ob er, wie so oft in Zeiten
des Übergangs, sie wird neben sich dulden müssen. Sicher wird mancher Autofahrer
das eine tun, ohne das andere zu lassen, und erst recht, wer sich dem Heiligen bei
der Fahrt durch die Lüfte anvertraut. (Vgl. zu den Autopuppen H.Bächtold-
Stäubli im Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens unter „Automobil“ und
zum hl. Christophorus neuerdings noch G. Schreiber, Nationale und internationale
Volkskunde [1930] S. 114 sowie R. Hindringer, Lexikon f. Theologie u. Kirche 2.)
Marie Andree-Eysn, Volkskundliches (1910) S. 33 vermißt das Bild des
Heiligen „auf Münzen und Amuletten“. Sie würde, wenn man die neuen Autoplaketten
dahin rechnet, das nicht mehr behaupten können. Aber auch mehrere, an abgelegener
Stelle veröffentlichte Münzen des Speyerer Bischofs Franz Christoph Frhr. v. Hutten
Kleine Mitteilungen.
273
(1743—1770) zeigen das Bild des Heiligen, wie er das Christuskind über den Rhein
trägt (W. Harster, Versuch einer Speierer Münzgeschichte in: Mitt. d. Hist. Ver.
d. Pfalz 10, 1882, 157; E. Heuser, Pfälzisches Museum 25, 1908, 157 mit Abbildung),
und die wohl zunächst dem riesigen Heiligen in den Mund gelegten Psalmworte als
Umschrift: A DEXTRIS EST MIHI NE COMMOVEAR . . PS. XV. Bei F. Frie-
densburg, Die Symbolik der Mittelaltermünzen (1913—22) fand ich Christophorus
nicht erwähnt. Deuten wir das Psalmwort richtig, so scheint man im Speyer des
18. Jahrhunderts, dessen Sohn Walther schon im Jahre 983 den Heiligen gefeiert
hatte (vgl. dazu auch L. Grünenwald, Palatina-Almanach [1924] 58f.), doch noch
die Offerus-Reprobuslegende verstanden zu haben, die das Wort „Christophorus“
im altkirchlichen Sinn auf den Heiland, nicht auf das Christkind bezog. Älteste und
modernste Verkehrsmittel treffen sich im Schutzbereich des hl. Christophorus —vom
Fergen zum Chauffeur und Flugzeugführer: fast eine romanhafte Verkehrsgeschichte.
Zweibrücken. Albert Becker.
Hebels ‘Kannitverstan’ in Portorico.
Die oben 1925, 104 behandelte Kalenderanekdote Hebels ist auch ins spanische
Mittelamerika gedrungen. In der reichen Sammlung ‘Porto-Rican Folk-lore* von
J. Alden Mason und Aurelio M. Espinosa (Journal of american folk-lore 42, 136,
Nr. 84. 1929) erscheint sie in folgender Gestalt:
Es war einmal ein Portoricaner, der auf seiner Reise in eine Stadt der Vereinigten
Staaten kam. Dort sah er ein Haus und rief: ‘Welch prächtiges Gebäude* und fragte
einen Amerikaner, der ihm begegnete. Da der Amerikaner nicht Spanisch verstand,
antwortete er: ‘What did you say?’
Der Portoricaner sagte: ‘Ja, so.* Ging weiter und stieß auf ein andres Haus und
fragte einen andern Amerikaner, wem dieses große Gebäude gehöre, worauf der
Amerikaner erwiderte: ‘What did you say?* — ‘Ja, so.’
Darauf ging er weiter, erblickte einige Automobile und fragte, wem die gehörten.
Ein andrer Amerikaner antwortete: ‘What did you say?* Und der Portoricaner sagte:
‘Ach, wie reich ist Jua Chü Sai!’
Weiter schreitend stieß er auf einen Leichenzug und fragte: ‘Wer wird da be-
graben?* Ein Amerikaner erwiderte: ‘What did you say?* Da sprach er: ‘Der arme
Jua Chü Sai; so reich war er und mußte sterben und alle seine Reichtümer zurück-
lassen !’ J. B.
Ein deutsches Kulturdokument aus Slawonien.
„Seabus Feaci . . . hat vu pist sou long kvesn?
Ta vast Bogati ... in Ha’rest voa ih.“
So beginnt das erste der Gespräche, die Lujo Plein in der „essekerischen Mund-
art“ seiner Heimat veröffentlicht hat. Man stutzt. Andere merkwürdige Wortbilder
folgen: Benzin-Kucar, Cimfandl. Allmählich liest man sich ein und versteht:
„Servus, Ferdschi (Ferdinand (.) wo bist du so lange gewesen?
(.) Weißt (.), in Arrest war ich.“
Nur die oben kursiv gedruckten Wörter wollen sich nicht fügen und bleiben
zunächst unverständlich; wir haben sie durch (.) bezeichnet. Bei weiterem Nachspüren
ergibt es sich, daß sie aus dem Deutschen nicht verständlich sind, sondern aus dem
Madjarischen und Kroatischen stammen (madjarisch hat und kroatisch ta bedeuten
dasselbe no, na; kroatisch bogati = bei Gott).
Die beiden andern Worte bedeuten: Benzinkucar = Benzinkutscher (Chauffeur,
„sofför“), Cimfandl — Zinnpfanne.
Es ergibt sich also: ein deutscher Dialekt, in den allerlei Worte aus dem Ma-
djarischen und Kroatischen eingedrungen sind, ist hier mit fremder Orthographie
geschrieben, und zwar mit der serbokroatischen, wie sie in Kroatien-Slawonien
üblich ist.
274
Marmorstein :
Ein zusammenhängender Text sieht dann so aus:
,,Ha mit vem hot’ si onpandlt?
Ta vast net mit dem pamlongan Martin.
Mit ten Melalc hot’ sa sih ainklosn . . . no se abas . , . tos ista soa nobliser pre-
varant. Vast mih hot da a vuln pecargeln amol. . . . hota ma k’sogt gospojice volns
mit mia in Kino kuman? . . . Sog’ i hat varum’ ten net . . . ven a seines stikl spilt
kegat ih sun gean. Sog’ tea mutan . . . „Ben-Hur“.“ usw.
Das heißt etwa:
„Na, mit wem hat sie angebändelt?
Na, weißt du nicht, mit dem baumlangen Martin.
Mit dem Lümmel hat sie sich eingelassen? Na, so was! Das ist dir auch so
ein nobler Betrüger. Weißt du, mich hat der auch einmal betrügen wollen . . . Hat
er zu mir gesagt: Fräulein, wollen Sie mit mir ins Kino kommen? . . . Sag ich: na,
warum denn nicht? Wenn ein schönes Stück spielt, ginge ich schon gern . . . Sagt
der Tölpel: Ben-Hur.“
Diese auffallende Schreibweise hat Plein1) nicht willkürlich gewählt, vielmehr
war sie ihm mit dem Stoff selbst gegeben. Die Menschen nämlich, die diesen Dialekt
sprechen, wenden sie an. Sie haben keine deutsche Schule besucht, sie gehen durch
die serbokroatische Schule, lernen nur in dieser Sprache Lesen und Schreiben. Wenn
sie dann einmal etwas in ihrer Muttersprache aufschreiben wollen, müssen sie es
notgedrungen in der ihnen geläufigen Orthographie tun. So mußte also Plein, wenn
seine Wiedergabe echt sein sollte, diesem Beispiel folgen. Seine „Gespräche“ ähneln
einer phonographischen Aufnahme und haben darum den Wert eines Kulturdokuments.
Ihm kam es darauf an, das aufzufangen, was ist. Dies hat zwei Seiten: Sprache
und Inhalt.
Sprachlich tritt hier ein bisher unbekannter Dialekt zum erstenmal ans
Tageslicht und lädt den Dialektforscher zum Studium ein. Die Parallele mit dem
Dialekt der Pennsylvaniadeutschen, in den viel englische Elemente eingedrungen
sind, liegt auf der Hand.
Der Inhalt der Gespräche ist bezeichnend für die Mentalität dieser Menschen,
„denen Nationalismus, Konfessionalismus, Klassen- und Rassenhaß und vollends
die höhere Politik Wurst ist, die in ihrer Art bloß ruhig leben wollen und das Leben
in einer ihren bescheidenen Bedürfnissen gemäßen Weise auszukosten suchen“
(Friedrich S. Krauß, Wien).
Den Deutschen in Essegg und Slawonien dienen diese Gespräche zur Freude
und zum Genuß; dazu sind sie geschrieben. Darüber hinaus aber bieten sie der
Wissenschaft Stoff zu einem Beitrag zur Biologie der dortigen Deutschen.
Der deutsche Dialekt von Essegg ist ein Beispiel eines wild wachsenden Dialektes.
Die erste Aufgabe wäre, sein So-Sein zu erfassen.
Dahinter aber kann die zweite Frage nicht gut umgangen werden: die nach
den Voraussetzungen seiner Entwicklung. Der wichtigste Punkt ist schon berührt:
diese Menschen haben keine deutsche Schule, so verlieren sie den Zusammenhang
mit der deutschen Kultur, ihr Dialekt den Zusammenhang mit der deutschen Schrift-
sprache als der Sprache der deutschen Kultur. Dafür dringen allerlei Elemente aus
den Sprachen der Völker, mit denen sie zusammen leben, dem Madjarischen und
besonders aus dem Kroatischen und Serbischen, ein. Kurz, es tritt eine Entwicklung
ein, die man zwar mit Interesse an der Eigenart des Gebildes, das dabei herauskommt,
betrachten, an der man sich aber nicht restlos erfreuen kann. Und wie wird der
Dialekt nach einigen Jahrzehnten aussehen, wenn diese Entwicklung ungehindert
weitergeht ?
J) Lujo Plein, Die essekerische Sprechart. Gesammelte Gespräche aus den Osijeker
Gassen der Peripherie. Essegg-Osijek (Südslawien) 1929, Eigen-Verlag; Essegg -
Osijek, Nova ulica 49. Heft 1, 32 S.; Heft 2, 43 S. (Inzwischen ist auch das 3. Heft
erschienen: 1930, 28 S.; es enthält z. T. alte Bräuche und Lieder, also direkt
volkskundlichen Stoff.)
Kleine Mitteilungen.
275
Diese „Gespräche“ geben nur die spezielle Mundart von Essegg wieder. Aber
ganz ähnlich liegen die Verhältnisse bei der übrigen deutschen Bevölkerung Kroatien-
Slawoniens ; überall also müssen wir uns eine ähnliche Gestaltung (oder Verunstaltung)
des Dialektes denken. Die allgemeine kulturelle Lage des deutschen Elements, die
in ganz Südslawien nicht günstig ist, ist hier besonders ungünstig: 160000 Deutsche
und nirgends eine deutsche Schule1). Die Gefahren für Volkstum und Sprache liegen
auf der Hand.
So hat diese erfreuliche und fröhliche Gabe auch ihre sehr ernste Seite.
Vor allem aber möchte ich die Leser dieser Zeitschrift auf ihre Existenz auf-
merksam machen.
Berlin. G. Fittbogen.
Der Nikolsburger Geist.
i.
Im Jahre 1785 ist in Brünn ein kleines Büchlein unter dem Titel Qv>n m*1 (ein
anastatischer Neudruck wurde im Jahre 1920 in London auf Anregung des Schrei-
bers dieser Zeilen in etwa 100 Exemplaren veranstaltet2) erschienen. Die Schrift
ist vom Nikolsburger Rabbinat am 13. Kislev 1785 approbiert. Der Rabbiner Gerson
ben Abraham Chajjot (gest. am 13. März 1789, s. D. Feuchtwang, Gedenkbuch
zur Erinnerung an David Kaufmann, Breslau 1900, S. 381) und seine Beisitzer David
ben Gumpel Emmerich aus Wien, Moses Abraham Abeies und Mardocai Paneth,
bestätigen die Wahrheit der „wunderbaren Geschichte“, die in der Schrift beschrieben
ist. Die Verfasser der Schrift sind: Moses ben Abraham ben Reuben Hajjat aus
Trebitsch in Nikolsburg und Abraham Cebi ben Isaak Löb Menaker, ebenfalls aus
Nikobsburg (Mähren). Trebitsch dürfte wohl mit dem Verfasser der Geschichte der
Kriege 1781—1801 (Brünn 1801, s. M. Steinschneider, Die Geschichtsliteratur
der Juden 1 [Frankfurt a. M. 1905], S. 157, Nr. 277) identisch sein. Das Büchlein,
das zusammen 24 Seiten zählt, ist in 22 Abschnitte eingeteilt, und schließt mit einer
jüdisch-deutschen Parabel.
Es wird wohl darüber keinen Zweifel geben, daß die Erzählung für die Erfor-
schung der allgemeinen Volkskunde von Wichtigkeit ist und eine eingehendere Be-
arbeitung verdient. Wir versuchen zuerst eine Analyse der Schrift zu geben, indem
wir den Inhalt derselben kurz skizzieren. Zweitens sollen einige Punkte, die religions-
geschichtlich und volkskundlich beachtenswert sind, besonders hervorgehoben und
besprochen werden. Diese Punkte sind: 1. die Vorstellung vom Geiste; 2. der heilige
Baum unter dem Kissen; 3. die Schaufäden; 4. der Gebrauch des Psalters in der
Magie; 5. die linke Hand; 6. das Auslösen der Seele; 7. das Huhnopfer. Außer diesen
einzelnen Punkten sollen in den Noten oder im obigen Zusammenhänge einige andere
Vorstellungen und Gebräuche besprochen werden. Beachtenswert ist, daß die Ver-
fasser auf ein älteres Geisterbüchlein aus dem Jahre 1694 hinweisen. Trotz jahre-
langer Nachforschung ist es mir erst jetzt gelungen darüber Auskunft zu erhalten3)
1) Vgl- meine Schrift: Was jeder Deutsche vom Grenz- und Auslanddeutschtum
wissen muß, 6. Aufl., S. 68f. München und Berlin, R. Oldenbourg.
2) Benjacob, Thesaurus S. 544, Nr. 91 verzeichnet auch eine Ed. Frankfurt
a. O. 1794.
3) Eine populäre Bearbeitung der Sage s. Österreichische Wochenschrift 1906,
S. 901/2, vgl. auch Wolf, Bibliothecae Hebr. vol. 3, 1204 „min 711^170 historia
daemonii Nicolaiburgensis, de qua amplius dixi supra in his supplementis ad num.
1629 sub nomine Frider. Ragstatt de Weile“. S. 805 heißt es: R. Moses Pragensis,
idem est cum R. Moshe f. Menachem Pragensi, de qua supra num. 1601. Hic velim
observes historiam de daemonio, quod ex Judaeo quodam Nicolaiburgense ejecisse
dicitur, non in ipso libello tfmp yiT> sed in calce eius seorsim hebraica lingua de-
scriptam exstare, ex qua deinceps in dialectum Judaeo-Germanicam translata
276
Marmorstein:
II.
Der Inhalt der Schrift ist folgender:
§ 1. Am Vorabende des Neumondes Siwan 543 (= 1783) erkrankte ein Knabe.
Nachts wurde die Krankheit bedenklicher, und der Kranke sprach gelehrte Dinge,
die man von ihm gar nicht erwartet hätte, i. e. Torah, und hielt Rücksprache
mit vielenVerstorbenen. Dieser Zustand dauerte wenige Stunden, nach einigen
Tagen war er wieder vollkommen hergestellt. Es wurde offenbar, daß er bereits
früher solche Anfälle gehabt habe, die er zu verheimlichen wußte.
§2. Montag, den 5 Tishri 545 ( = 1784) hatte er einen stärkeren Anfall. Er
ergriff ein Schwert, stieg auf die Dächer und konnte nur mit Gewalt herunter-
gebracht werden. Vier Tage darauf war er wieder gesund und nahm teil am Gottes-
dienst des Versöhnungstages. Vier Tage später überfiel ihn wieder die Krankheit,
und er schlug mit Händen und Füßen, bis nur sehr starke Leute ihn überwinden
konnten. Sein Onkel legte einst eine Zeichnung oder ein Bild eines heiligen
Baumes unter sein Kissen, ohne des Knaben Wissen, worauf dieser tobte, bis man
das Bild weggenommen hatte.
§ 3. Da wußte man, daß ein böser Geist im Knaben weilte und ihn von Zeit
zu Zeit peinigte, täglich von Mittag an, etwa 4 Stunden. Der Besessene verliert das Be-
wußtsein, schlägt mit Händen und Füßen, bläht sich auf, manchmal fällt er auch
nieder; man hörte, wie der Geist in ihm tobte; er blies ihn auf, und Speichel kam aus
seinem Munde. In diesem Zustand sprach er hebräisch, ungrammatisch, wie
die Ungebildeten es sprechen. Er sprach auch Poesie und Parabeln.
§ 4. Sobald der Geist ihn beherrschte, warf er von sich seine Kappe und die
Schaufäden (nDJD y2“1N). Einst sprach der Knabe zum Geist: Du Geist der Un-
reinheit, warum willst du es nicht dulden, daß ich die Schaufäden trage? Weißt
du denn nicht, daß wer diese Schaufäden nicht trägt, den Gott Israels verleugnet!
Auch willst du nicht, daß ich Hebräisch in dir spreche. Ich spreche zu dir in der
Landessprache Oberländisch. Ich will dir ein Gleichnis erzählen:
„Du gleichst einem König, der alles besitzt, nur kein Kind. Der König war sehr
betrübt, da er keinen Samen hat, und sein Reich andern überlassen muß. Da ver-
anstaltete der König eine Mahlzeit, lud alle Räte ein, um ihren Rat einzuholen. Während
der Mahlzeit schrie der Kg. gar bitterlich auf. Die Räte fragten: Warum schreist du
denn ? Der Kg.: Warum sollte ich nicht schreien, da ich kein Kind habe, das mich
beerben soll? Die Räte: Was können wir dir raten? Kg.: Betet für mich, daß
ich einen Sohn bekomme. Sie sagten: Gut, wir wollen es tun. Die Königin wurde
schwanger und gebar einen Sohn. Da war eine große Freude. Der Knabe wuchs heran,
ging aber krumme Wege, war ein Tölpel und verschleuderte die Schätze seines Vaters.
Als der König sah, daß seine Schätze verschwunden waren, da war er sehr betrübt
und versammelte seine Räte. Der Kg. fragte: Wo sind die königlichen Schätze?
Die Räte: Das hat dein Sohn, um den du gebetet hast, getan. Da sandte der Kg.
seinen Sohn in ein anderes fremdes Land und gab ihm viele Schätze und einen Brief,
daß er des Königs Sohn sei; vielleicht werde er von seinem bösen Lebenswandel ab-
lassen. Der Königssohn dachte aber gar nicht daran, sondern wurde geehrt, solange
sein Geld vorhielt; sobald aber sein Geld ausgegangen war, gesellte er sich den
Straßenräubern. Als solcher wurde er gefangen genommen. Gefragt, wer er sei,
wollte er erst keine Antwort geben, später aber zeigte er das königliche Schreiben,
und er wird nach dem kgl. Schlosse geschickt. ,Wia er kam in Walt, sieh (sieht) er
Kolinbrenir und die Kann ali (Sprachen), er springt fun die ,*133*10 (Wagen)
Amstelodami 1696 prodiit. Conf. quae infra sub Frider. Ragstatt de Weile ad nurn.
1852 scribentur. S. 949 bringt W. einen langen holländischen Titel, und sagt: Deinde
legitur historia vel potius fabula de daemonio a Judaeo Nicolaiburgense ejecto, quae
primum hebraice per Mosern Pragensem, exorcistam, descripta in calce libri eius yn
Ump, Furthi an. 1696 huic verv. eodem anno Amst. lingua Judaeo-Germanica prodiit.
Mit der Fabel selbst beschäftigt sich Wolf, B. H. 1, 871 u. 885; 2, 1363. Benjacob
verzeichnet das Buch S. 163, Nr. 294, Furth. 1696.
Kleine Mitteilungen
277
herunter und git (geht) zu si (sie) hin. sie bitn ihm lern unsr (Sprache), er git
fun die Kulin brenir awek widrum in Walt und ist ein Dieb und Räuber/ Die An-
wendung des Gleichnisses bist du, der König ist Gott, der Königssohn Israel, die
Schätze sind die Lehre und Gebote etc. Dua bist for die Kulinbrenr fr bei, das ist
TIDD Dl’» <Aer Versöhnungstag das man die heiße Licht anzündet far sein Seele
und die heiße Trerin (Tränen).“
Solche Parabeln wurden oft gehört. Daraus erkannte man, daß der Geist der
eines Nikolsburger Mannes war, der vor etwa drei Jahren in Alt Ofen, Ungarn,
gestorben war. Ein wilder Mensch, der in Oesterreich geschäftlich tätig war. Der
Mann hat viele schlechte Taten auf dem Gewissen gehabt, er soll auch einen Juden
aus Neuhaus, namens R. Löb, getötet und bestohlen haben.
§ 5. An Sabbaten und Festtagen hatte der Knabe Ruhe, jedoch an Freitagen
mußte er sich durch Gebete, Schwüre und Flüche von ihm befreien.
§ 6. Wenn der böse Geist den Knaben befallen hatte, machte er mit den Fingern
und Füßen die Figur eines Kreuzes.
§ 7. Bevor der böse Geist jeweilen den Knaben verlassen hatte, hörte man
ein Echo.
§ 8. Der Knabe gab in diesem Zustande sonderbare Stimmen, von sich, die Stimme
eines Lammes, einer Henne, eines Hundes, eines geschlachteten Ochsen. Er sagte
auch die Gebete der Juden mit den üblichen Melodien, jedoch mit gewissen Ver-
änderungen.
§ 9. Einst ging ein Gelehrter in seine Stube und rezitierte langsam und still
einige Verse aus dem Psalmenbuche, da drohte der Geist: Ich gehe sofort aus
ihm heraus und fahre in dich hinein! Ein anderer Gelehrter sagte einige Bibelverse
in seiner Gegenwart, da wurde er wütend, tanzte vor Aerger und sprang auf den
Tisch, zerbrach ein Glas und spie dem Mann ins Gesicht.
§ 10. Der Knabe springt aus dem Bette, läuft auf die Straße und ergreift
einen Wagen mit vielen Menschen, hebt denselben in die Höhe und trägt ihn.
§ 11. Der Geist zwingt den Knaben, eine Kreuzfigur zu machen. Der Knabe
weigert sich, wird aber doch gezwungen. Der Knabe hält Rücksprache mit dem Geist.
10 Leute, nicht gelehrte, versammeln sich und rezitieren Ps. 90 u. 91, und der
Geist hört auf, die Figur zu machen. Der Knabe schreit, die Leute wiederholen diese
Kapitel, bis der Geist sich entfernt. Später verlangt der Knabe wieder 10 Leute,
die Ps. 47 recitieren sollen, sonst wird der Geist sein Herz zerfressen. So geschah es
auch. Der Knabe offenbart ihnen, daß der böse Geist es so wünschte. Dem Rabbinat
wurde dies mitgeteilt. Man ließ die Seele des Knaben auslösen (ETQ3 ]THQ), ferner
ließ er dem Rabbiner den Namen des bösen Geistes mitteilen, Abraham ben Rachel,
ferner wurde ein rituelles Bad für den Knaben angeordnet.
§ 12. Er wurde auf einem Sessel (Senft) in die Alte Synagoge gebracht. Hier
wird genau der Gottesdienst beschrieben. Man öffnete die heil. Lade, nahm eine
Torarolle heraus. Der Knabe fiel zur Erde und wurde auf den Almemor getragen,
wo er auf den Rücken gelegt wurde. Starke Leute hielten ihn bei der Hand, beim
Kopfe und bei den Füßen. Der Geist bewegte sich in ihm und war sichtbar auch
beim Vorlesen aus der Torarolle. Diese wurde in die Lade zurückgestellt. Eine große
Menge von Leuten beiderlei Geschlechts füllte die Synagoge. Das Rabbinat ließ
Ps. 5, 10, 20, 21, 41, 50, 81, 90, 91, 109, 47, 130 rezitieren: Der Geist tobte besonders
beim Rezitieren von Ps. 20 und 109. Das Rabbinat deputierte einen Hirsch Menaker,
der zum Geist reden sollte. Dieser fragte den Geist, wann er sich aus dem Knaben
entfernen werde. Der Knabe antwortet: „Sein Zeit ist aus am Vorabend des Neu-
mondtages oder am Freitag muz er hirauz un zu die linke Hand ist er hinein un
zu der linke Hand wirt er widr hiraus“. Zweitens fragte er: Was ist dein Name?
Antwort: Simon ben nanw Drittens: Wie heißt der Geist. Dieses wollte er nur
dem Rabbiner selbst sagen. Der Rabbiner trat näher, und er sagte: Der Geist heißt
Abraham ben Rachel. Hierauf sagte die Gemeinde die Verse aus Ps. 119, die mit
den Buchstaben dieser Namen beginnen. Der Knabe, mit der Stimme des Geistes,
verlangt, man möge noch Ps. 1 recitieren. Dann wurden die Gebete aus einem Ruach-
278
Marmorstein:
büchl, verfaßt anläßlich einer Geistergeschichte im Jahre 454, d. i. 1694, hergesagt.
Der Knabe meint, daß dieses Gebet ausgezeichnet gewirkt habe. Hierauf wurde
der Knabe befragt, ob er selbst oder ein Waisenknabe das Kaddischgebet rezitieren
solle. Er antwortet: EinWaisenknabe. Nach dem Gottesdienst wird der Knabe heim-
getragen.
§ 13 schildert die Gebete, die im Hause des Knaben abgehalten worden sind.
10 gelehrte Juden versammeln sich bei ihm und sagen die obigen Psalmen. Der
Geist verlangt, daß man die Psalmen Vers für Vers vortragen solle.
§ 14. Am Vorabend des Neumondes Marchesvan wurde der Auszug des Geistes
aus dem Knaben erwartet. Hierzu wurden folgende Veranstaltungen getroffen. In
der Synagoge wurde ins Horn (Trompete) geblasen, ferner wurde ein Mitternachts-
gottesdienst angeordnet (niSH ppD)-
§ 15 erzählt, wie der Geist durch Beschwörung und Trompetenblasen aus-
getrieben wird.
§ 16. Der Knabe erzählt, was ihm der Geist an vertraut hat, um es bekannt
zu machen. Bevor die Stunde des Sterbens kam, mußte Abraham ben Rachel in
einen Hof gehen, wo ein schwarzer Mann, der 100 Ellen groß war und voller Augen,
ihm die Seele weggenommen hat. So lag er 3 oder 4 Stunden. Er wurde tot auf-
gefunden, und es wurde alles zum Begräbnis vorbereitet; als er aber auf der Bahre
lag, wurde er von den Engeln des Verderbens in Stücke zerrissen. Als man ihn ins
Grab legte, da kämmen schwarze Plagegeister mit schwarzen Kleidern und haben
seine Beine gebrochen, ins Feuer geworfen und sind in den Simon ben ¡lOirn (den
Knaben) gefahren. Man sollte eine. Seelenauslösung, nach dem Worte Feuer
machen, „denn mit Feuer ist er in den Knaben gefahren, und mit Feuer wird er wieder
herausgehen“, dadurch wird er erlöst vom Herrn des Feuers. Nach 30 Tagen muß
er vor der Türe der Hölle erscheinen. Ferner bat der Geist, daß jemand für ihn das
Kaddischgebet verrichte.
§ 17. Der Zustand des Knaben war aber noch immer nicht normal. Er fühlte
Schwäche und Furcht. Der Geist erschien ihm noch immer, allerdings in Menschen-
gestalt, während er früher sich in Hundesgestalt näherte. Der Geist berichtete
ihm auch Dinge, die anderweitig noch unbekannt waren.
§ 18. Dann befahl der Knabe, eine Henne zu nehmen und sie in der Nacht für
Abraham ben Rachel zu schlachten, ferner dreimal 18 Groschen als Auslösung zu
geben, die Nacht von Donnerstag auf Freitag zu wachen, Lichter anzuzünden,
ein rituelles Bad vorzubereiten. Dies geschah Dienstag abends. Mittwoch
fastete er und betete viel. Die Seele des Geistes verwandelt sich in die Henne.
So geschah es.
§ 19. Hierauf wird die Zeremonie der letzten Nacht erzählt. Zehn Gelehrte
versammeln sich Donnerstag Abends bei dem Knaben und „lernen“. Um 10 Uhr
bricht der Knabe sein Schweigen und verlangt nach seiner Mutter. Er bittet seine
Mutter um Verzeihung für all das Schlechte, das er getan hat. Sie versteht es nicht,
da er Hebräisch spricht. Das zweitemal begreift sie, um was es sich handelt, und sagt:
„Ich verzeihe dir.“ Dann verlangt er wieder die Auslösung seiner Seele und gibt
die Summe an. Das Geld wird unter sein Kissen gelegt. Eine halbe Stunde vor
Mitternacht beginnt er die Melodien der Gebete herzusagen und das Sündenbekenntnis
zu sprechen. Er macht mit den Fingern ein Zeichen, wie es die Priester beim Segen-
spruch machen, aber ohne ein Wort zu sprechen. Nach zwölf Uhr beginnt er zu
predigen, einige Sätze dieser Predigt werden vom Verfasser erwähnt. Erwähnenswert
ist, daß der Geist sich erst in einen Hund, dann in ein Schwein verwandelte und dann
erst in den Knaben fuhr. Anderthalb Jahr saß der Geist in ihm. Ferner erklärt er
das Schlachten der Henne. Der Geist starb auf außerordentliche Weise. Er wurde
nicht vom Todesengel geschlachtet, sondern die Seele des von ihm ermordeten Mannes
setzte sich in seinen Hals und erwürgte ihn. Durch das Schlachten der Henne ist die
Seele aus ihm, dem Geist, herausgegangen.. Der Geist geht durch das Fenster her-
aus. Nachher geht er ins rituelle Bad, wo er dreimal untertaucht. In seiner Woh-
nung angelangt rezitiert er c. 18 aus dem Psalter und befiehlt ein Seelenlicht anzu-
Kleine Mitteilungen.
279
zünden, das" bis Sonnabend brennt. Sonnabend versammeln sich einige Gelehrte bei
ihm und verzehren anläßlich der dritten Mahlzeit die Henne, die geschlachtet wurde.
Seitdem war der Jüngling vollkommen gesund.
III.
Der Knabe, der unzweifelhaft ein Epileptiker war, hält in seinem besessenen
Zustande Vorträge über wissenschaftliche (d. h. gelehrte) Dinge, obwohl er kein Ge-
lehrter war, und unterhält sich mit den Toten, d. h. mit längst verstorbenen Personen
(S. 2 B); spricht auch Mahn- und Gleichnisreden (S. 3 Af.). So oft der Geist den
Jungen befallen hat, spricht er Hebräisch, oft ungrammatisch, wie das gewöhnliche
Volk redet (S. 3 A). In diesen Reden tut der Knabe das Wesen des Geistes kund.
Der Geist stammte aus Nikolsburg, starb vor drei Jahren in Alt-Ofen (Ungarn),
nachdem er vorher geschäftlich in Österreich1) tätig gewesen war. Er war als Böse-
wicht bekannt, besonders als der Mörder eines gewissen R. Löb aus Neuhaus (Böhmen),
den er erschlagen und beraubt hatte (S. 4 A). Der Knabe bedient sich zweierlei
Stimmen, seiner eigenen und der des Geistes (S. 4 A). Oft spricht er mit der Stimme
eines Lammes, eines Hahnes, eines Hundes, eines Ochsen (S. 4 A). Der Geist droht
einem, der in seiner Nähe zuviel Psalmen sagt, den Knaben zu verlassen, und in diesen
hineinzufahren (S. 4 B). Der Knabe hält auch Rücksprache mit dem Geiste (S. 5 A),
wie auch der Geist dem Knaben mitteilt, daß er ihn verlassen werde; durch die Ge-
bete wird beiden geholfen, dem Geist, wie dem Besessenen (S. 5 A auch S. 6 B). Der
Geist erzählt dem Knaben über sein Schicksal nach dem Tode (S. 6 B). Ferner gibt er
genau den Tag, die Stunde und die Art seines Hinausgehens an (S. 7 A). Auch am
Schlüsse predigt der Knabe im Geiste der Zeit (S 11 Bf).
Zweitens ist die Schilderung von der überaus großen Kraft, der übernatürlichen
Stärke des Besessenen hervorzuheben. Nur sehr starke Männer können ihn bändigen
(S. 2 B, 3 A, 4 B, er hebt einen Lastwagen viele Meilen hoch, wie man einen Kork
aus der Flasche zieht! S. 7 A, er schlägt einen mit der Faust blutig, S. 2 B nimmt
ein Schwert, und steigt auf die Dächer). Drittens ist zu beachten, daß er keine Kappe,
Schaufäden, keine heiligen Gesänge oder Worte ertragen kann (S. 3 A, 4 B) und ein
Kreuz macht (S. 4 B, 5 A, 6 A). Ferner wird in der Schrift zweimal auf das Ruach-
bichel vom Jahre 1696 direkt Bezug genommen (S. 6 A, 7 A). Allein, auch indirekte
Entlehnungen aus der älteren Schrift sind wahrzunehmen, und eine mehr oder weniger
starke Abhängigkeit von derselben ist zu konstatieren. So z. B. wenn in beiden
die Kraft des Besessenen in übertriebener Weise dargestellt wird (s. oben, und Zera
Kodesch S. 42 B, wo der Besessene sich mit einem 80 oder 90 kg schweren Stein auf
die Brust schlägt; ebenso in der Schilderung von der Wirkung dieser Szenen auf das
Volk Z. K. S. 42 B und R. H. S. 7 B, und in noch anderen Einzelheiten, die noch
später angeführt werden sollen).
Hauptsächlich interessieren uns aber hier die Vorstellungen von den Geistern
bei den Juden. Legenden erzählen von Schriftgelehrten, die mit herumirrenden
Geistern auf dem Friedhofe oder sonst Zusammentreffen (vgl. das Material in meiner
Schrift: The Doctrine of Merit in Old Rabbinical Literature, London 1920, S. 156ff.,
besonders die Literatur Anm. 27). R. Jochanan ben Zakkai spricht von der Art
und Weise, wie man bei den Heiden Geister2) austreibt (vgl. Pesikta, ed. Buber
S. 40a; Jalkut Prov. 932; M. Sachs, Beiträge zur Sprachkunde 2, 166). Die Geister
besprechen die Dinge dieser Welt und die Schicksale der Welt in ihren Gräbern
(b. Ber. 18a; Aboth Rabbi Nathan, c. 3, ed. Schechter S. 16; Buch der Frommen
§ 452). König Salomo bediente sich der Geister (s. R. Abba ben Kahana, Eccl.
rabba ed. Buber S. 89; Jalk. Eccl. 967). R. Jose ben Abin lehrt, daß man mit einer
Schale (Rinde) eines Rohres weder schlachten noch beschneiden, weder Fleisch
schneiden noch die Zähne reinigen, auch die Hände nicht reiben darf, denn der „böse
1) Hach S. 6. B war er auch in Österreich im Gefängnis.
2) Der Geist wird ipfn Hl“) genannt, vgl. auch Gen., r. 12, 8, ed.. Theodor,
S. 104, 7 und Anmerkungen hierzu.
280
Marmorstein.
Geist“ ruht darauf (Gen. r. 56, 8, ed. Theodor S. 602, wo die Parallelstellen an-
gegeben werden). Eine talmudische Erzählung besagt, daß man ein Hemd nur aus
der Hand eines Bedienten nehmen soll, wenn derselbe sich gewaschen hat, ebenso soll
man Asparagus-Wein zum Trinken nur von einem Menschen nehmen, dessen Hände
rein sind, drittens soll man einen Becher nur dem zurückgeben, der einem den Becher
gereicht hat, ,,denn der böse Geist wartet und sagt, wann wird der Mensch eines
dieser Dinge tun, und ich will über ihn kommen“ (b. Ber. 51a; Pirke des R. ha Kadosch,
ed. Schönblum S. 31 B). Für die Vorstellung von den Geistern ist noch auf folgende
Erzählung hinzuweisen. Sie handelt von einem Geiste, der sich bei einem Wasser-
quell aufhielt. Einst kam Abba Jooseph ben Dosai zu dieser Quelle. Der Geist
näherte sich ihm und sagte: „Rabbi! Ich bin schon soviele Tage hier an dieser Stelle,
und kein Geschöpf wurde von mir geschädigt (durch mich), jetzt kommt ein anderer
Geist täglich, zankt sich mit mir und will mich von diesem Platz verjagen. Dieser
Geist ist böse und zornig und wird keinem Geschöpfe Leben (Ruhe) lassen. Wenn
du willst, daß die Geschöpfe keinen Schaden davon tragen, so hilf mir ihn zu töten!“
Er sagte: „Wie kann ich dir helfen ?“ Er sagte: „Komm mit deinen Schülern am Mittag
mit Stöcken, und schlaget ihn rings um die Quelle und saget: Wir wollen ihn schlagen,
und er wird euch hören und denken, daß ihr mir zu Hilfe gekommen seid, und ich
kann ihn töten.“ So geschah es auch, und man sah an einem Blutstropfen bei der
Quelle, daß der Geist getötet worden war (M. Psalmen ed. Buber S. 176, interessante
Parallelen Lev. r. 24, 3; Tanh, ed Buber 3, 76). Diese Erzählung, die sehr viel reli-
gionsgeschichtliches Material enthält (wie z. B. die Vorstellung, daß der Geist an der
Wasserquelle sitzt, ferner das Poltern und Schlagen mit Stöcken; besonders reich
ist die Version in Lev. r. an volkskundlichem Stoffe, z. B. der Geist wohnt schon viele
Jahre dort, hat aber den Männern und Weibern, die früh und abends Wasser schöpfen,
nicht geschadet; die Dorfbewohner sollen mit Mörsern und Spaten kommen und
ein Geräusch machen, mit Eisen schlagen usw.), zeigt auch,wie die Rabbiner über
die Geister dachten. Die Geister sind hier, wie die Mehrheit der Stellen zeigt, die
der Verstorbenen (vgl. Tylor, Primitive Culture 2, 25; Rohde, Psyche 1, 12f.). Ferner
sehen wir, daß die Geister zur Strafe für ihren schlechten Lebenswandel herum-
wandern müssen und keine Ruhe finden.
Am nächsten steht unserm Nikolsburger Geiste der aus dem Jahre 1696. Dort
handelt es sich um einen Jüngling, der, aus Polen stammend, sechs Jahre von Ort
zu Ort wandert und keine Ruhe finden kann. Er klagt sich in der schon oben ange-
führten Weise der gröbsten Sünden und Vergehen an, bis er nach Nikolsburg kommt.
Der Rabbiner David Oppenheimer (s. über ihn Leop. Löwensteins Biographie im
Gedenkbuch für David Kaufmann S. 538) nimmt sich des Unglücklichen an. Er be-
auftragt einen Kabbalisten mit Namen Moses Prager, Verfasser mehrerer kabba-
listischen Schriften, mit Hilfe der gedruckten und handschriftlichen Sammlung
Oppenheimers den Geist auszutreiben. Prager macht sich an die Arbeit unter
Assistenz der Rabbinatsbeisitzer. Für unsern vorläufigen Zweck sei nur hervorgehoben,
daß der Geist sich weigert, den Knaben zu verlassen, weil er sich vor der Strafe für
seine Ruchlosigkeiten fürchtet. Er gibt an, daß er alle Schlechtigkeiten begangen
habe, an dem Tode vieler Rabbiner, wie Isaak Hendeles und Aaron R. Lobs, schuld
sei und die Vertreibung der Juden aus einem Orte (?) auf dem Gewissen habe. Er will
„Landesvorsteher“ der Juden in Polen gewesen sein, gibt seinen Namen (Samuel),
die Namen seines Vaters (Mendl) und seines Großvaters (Michael) an. Verflucht
seine Mutter, die ihn zum Bösen verleitet hat (Z. K. S. 45 B). In beiden Schriften
kehrt daher der Gedanke wieder, daß die Exorzisten die Verantwortung übernehmen,
für das Seelenheil der Verstorbenen Gebete zu verrichten, Almosen zu spenden,
zu fasten und zu „lernen“.
Beachtenswert ist zweitens der Bericht im RH. 2 A, daß der Onkel des Be-
sessenen die Figur eines heiligen Baumes dem Kranken unter sein Bettkissen legt,
wie auch S. 10 A die Nachricht, daß man das Lösegeld unter des Knaben Bettkissen
legen soll. Die Volks Vorstellung knüpft an ein Kopfkissen eigentümliche Gedanken.
In Bayern legt man in der Neujahrsnacht geweihte Gegenstände unter das Kopf-
Kleine Mitteilungen.
281
kissen, um die Zukunft zu erfahren (ZfVk. 8, 400). Die eigentliche Bedeutung des
heiligen Baumes ist mir unklar, es kommt aber vielleicht weniger auf den Gegen-
stand an, den man unter ein Kissen legt, als auf die Handlung selbst.
Eigentümlich ist drittens der Bericht, daß der Geist durch heilige Gegenstände
gereizt wird, so durch die Kopfbedeckung, die Schaufäden, die Phylakterien und
heil. Tage (S. 3 A), durch die Lektüre der Psalmen (S. 4 B). Am Sabbat gibt der Geist
Ruhe, weil er im Leben die Beobachtung des Ruhetages streng befolgte (S. 6 B).
Hingegen zwingt der Geist den Knaben ein Kreuz zu schlagen (S. 4 B, 5 A, 6 A).
Auch der ältere Geist plagt den Besessenen an heil. Tagen, wie Sabbat, gibt ihm aber
Ruhe an christlichen Festtagen (S. 43 Bf.). Es war wohl der Glaube verbreitet, daß
der Böse heilige Dinge haßt, wie der Teufel die Heiligkeit meidet.
Der Gebrauch des Psalters im antiken Zauber und in der Magie wurde oft be-
sprochen (vgl. besonders Kayser, Der Gebrauch von Psalmen zur Zauberei in
ZDMG. 42, 456 bei den Christen; die Babylonier gebrauchten Hymnen und Psalmen
in ihren Beschwörungen, s. besonders Zimmern, Ritualtafeln S. 126f. und 2. Aufl.
1913 S. 67ff., als Amulette, s. von Harnack, Privatlektüre der heil. Sehr. S. 71; auf
Rhodos mit c. 80 als Schutzmittel des Weinberges, Wünsch Rh. Mus. 55, 255; auch
A. Dietrich, Abraxas S. 70, 141; C. Wessely, Neue Zauberpapyri S. 11; Seth. Fluch-
tafeln S. 114, vgl. auch Folklore 8 [1897], 157; über c. 36; Pradel, Griech. Gebete
71. 129; ZfVk. 23, 62; Orakel aus den Psalmen s. H. Reuter, Religiöse Aufklärung
1. 9). Auch im Judentums hat sich früh eine Literatur ausgebildet, die darauf hin-
weist, daß der Psalter im Zauberwesen nützlich war (vgl. M. Grünwald, Byzantinische
Zeitschrift 2, 291 ff.). Das Buch Ql^nn wurde angeblich vom Gaon Haj (gest.
1038) verfaßt (s. “p2 JHf 3, 23d, HaVtP filVsian S. 97 B, s. auch Ms. Adler 1223,
S. 48 B). Aber schon in den ersten Jahrhunderten wurden dem Psalm 91 besondere
Kraft zugeschrieben, er wird deshalb TSUD VlP TW (das Lied gegen die Dämonen)
genannt (b. Sebuot S. 15 B). Der Psalm wird Sonnabend abends rezitiert, um die
Seelen der Verstorbenen noch eine Weile von den Höllenqualen zu befreien (s. Ha-
pardes, Nahmanides Torat ha Adam S. 63 B; Orhoth Hayyim 1, 67d Hamanhiq S. 33 B;
Magen Aboth S. 20; Tur, Orah Hayyim § 295; vgl. besonders R. E., 33, 51).
Ferner mag auf die Bedeutung der linken Hand die Aufmerksamkeit gelenkt
werden. S. 8 B schildert den Zustand nach einem schweren Anfall. ,,Er legte sich
auf die Erde, weder Bewegung noch ein Atemzug war sichtbar an ihm, er war wie
tot. Dann streckte er seine linke Hand nach oben aus und teilte den kleinen Finger
von den übrigen Fingern.“ Auch S. 11 B wird von der Bewegung der linken Hand
erzählt. Im Aberglauben aller Völker ist die linke Hand wichtig (s. Weinreich,
Antike Heilungswunder S. 44 Anm. 1; F. J. Dölger, Die Sonne der Gerechtigkeit
S. 37; Abt. Apuleius S. 200).
Öfters wird in der Erzählung erwähnt , daß der Geist ein d. h. Lösegeld
für die Seele verlangte (S. 5 A, 7 B, 9 B, 10 a). Die Sitte ist heute noch üblich. Im
Falle eines Schwerkranken wird ein Lösegeld entrichtet, wobei man die Buchstaben
der Namen (des Kranken und der Mutter, mater certa) zählt. Nach einer alten Quelle
(Sifre Dent. 329, basiert auf Ps. 49, V. 4) ist die Seele zu kostbar und hat keinen
Ersatz. Wenn jemand sündigt, so kann er sein Vergehen mit Silber nicht gutmachen.
Andererseits zeigen die Stellen Ex. 30, 12, I, Kg. 20, 39 u. a., daß man ,,die Seele
auslösen“ kann (vgl. besonders Pesikta ed. Buber S. 18Bff.). Als Lösegeld für die
Seele galt auch das stellvertretende Huhnopfer. Über dieses Thema hat J. Schefte-
lowitz in seiner Schrift: Das stellvertretende Huhnopfer (RGW. 14, 3, Gießen 1914)
ausführlich gehandelt, ohne aber auf dieses Beispiel hinzuweisen (vgl. auch Eerdmans,
Expositor 1911, 1, 415 und Büchler 1911, 2, 240ff.; zu S. 33 bei Scheftelowitz ist zu
bemerken daß bereits Natronai Gaon, Hemda Genuza § 93, Seschna Gaon Saare
Tesuba § 399, die Sitte kannten, vgl. auch ZfNW. 1903, S. 193ff., 341 ff.).
Es ist ferner religionsgeschichtlich zu erklären, wenn in beiden Geschichten die
Geister durch das Fenster (R. H. S. 7 B, 11 B; Z. K. 44a) entweichen (vgl. ZfVk.
3, 29; Tylor, Primitive Culture 2, 26; Samter, Geburt, Hochzeit und Tod S. 26),
ebenso das Erscheinen des Geistes in Gestalten verschiedener Tiere, wie Hund (R. H.)
Zeitschrift für Volkskunde, Heft 3. 19
282
Ulbricht:
oder schwarze Katze (Z. K.), die ja auch sonst als dämonenhaft bekannt sind. Worauf
aber besonders hingewiesen werden muß, ist erstens der Grund, warum der Geist
in dem einen wie in dferri andern Falle in einen Jüngling hineinfährt. In der Geschichte
aus dem Jahre 1695 fürchtet sich der Tote vor den Strafen, in der andern Geschichte
wird sein Herumwandern mit der unregelmäßigen oder absonderlichen Art des Be-
stattens in Zusammenhang gebracht. Schließlich sei noch darauf hingewiesen, daß
man die Geister in beiden Erzählungen mit Posaunenschall verjagt. Die Ursache
dafür könnte in der Vorstellung liegen, daß man durch Geräusch und Poltern die
Dämonen verjagt, oder aber, daß man sich bei der Verkündung des Bannes im Ge-
richtsverfahren der Posaune bediente.
London. A. Marmorstein.
Man vergleiche ferner A. Marmorstein, Eine Geisteraustreibung aus neuerer
Zeit in Mitteilungen zur zur jüd. Volkskunde, hrsg. v. Grünwald, 31 (1928) 11 ff.
2 (1928) 29 ff.
Geburt, Hochzeit und Tod im Volksbrauch und Volksglauben
der Kreise Lebus und Beeskow-Storkow.
(Fortsetzung und Schluß zu 1, 196 ff. u. 292 ff.)
Tod.
Noch heute schenkt man in weiten Kreisen der Bevölkerung den mannigfaltigen
mahnenden und drohenden Anzeichen des Todes Beachtung: Schreien der Eule oder
des Käuzchens (Totenvogel) auf oder über dem Hause, Nagen oder Klopfen des
Holzwurmes (Totenuhr, Totenwurm), Aufstoßen des Maulwurfes vor der Hausschwelle
(Hangeisberg), geheimnisvolles Klopfen im Hause1), angebliches Klageläuten der
Kirchenglocke (Krausnick B.). Ein Todesfall steht auch bevor (Müllrose), wenn der
Hund winselt, heult und den Kopf nach unten hält2), wenn eine Henne dreimal
kräht; in der nahen Verwandtschaft (Demnitz), wenn sich an Runkelrüben viele
weiße Blätter befinden. Ein Kind stirbt, wenn es nach einer Krankheit Sonnabend
die Schule wieder besucht, ein Erwachsener, wenn er Neujahr Licht anzündet und an
seinem Schatten den Kopf nicht erblickt3), der Bäcker, wenn man das Brot auf den
Rücken legt; wer beim Essen mit den Beinen schaukelt, läutet das Begräbnis seiner
Mutter ein u. a. (Müllrose). Wenn der Tote über den Sonntag unbestattet liegt, zieht
er einen Verwandten nach.
Dem Schwerkranken sucht man durch Wegreißen seines Kopfkissens4) das
Sterben zu erleichtern (Beerfelde, Gusow, Marxdorf, Neubrück, Neu-Tucheband,
Quappendorf, Reitwein, Seelow, Weißenspring, Groß-Rietz B., Herzberg B., Kraus-
nick B., Neuendorf B.). In Demnitz wird dem Sterbenden noch hin und wieder
schwarze Erde, besonders Holzerde5), auf die Brust gestreut6).
Nach dem Tode wird das Fenster geöffnet, damit die Seele einen Ausweg finde
(in Marxdorf das obere Fenster), die Uhr zum Stehen gebracht und der Wandspiegel
x) Klopfen an der Tür und der Uhr bedeutet den letzten Atemzug eines nahen
Verwandten (Demnitz).
2) Hält er den Kopf hoch, gibt es Feuer (auch Colberg B.).
3) Wuttke § 314.
4) Vielleicht glaubt man damit die Fäden zu durchreißen, die den mit dem
Tode Ringenden noch an das Diesseits fesseln. Dieterich, Mutter Erde3 S. 26 u. 130;
Sartori 1, 126.
5) Die aus verrotteten Sägespänen oder in hohlen Bäumen aus verfaultem
Holz entstehende lockere Erde.
6) Auch in Thüringen. Damit die Seele ohne Aufenthalt in das Totenreich
unter die Erde eingehen kann, muß der Mensch auf der Erde sterben, oder er wird
wenigstens sinnbildlich mit ihr in Verbindung gebracht. Samter, Neue Jahrbücher
15, 37; Dieterich, Mutter Erde 27.
Kleine Mitteilungen.
283
verhängt. Die Leiche legt man auf ein Brett1) (oft in Hangeisberg und Berkenbrück,
stets in Marxdorf; in Weißenspring wird ein Napf mit Wasser2) daruntergestellt; in
Sachsendorf Sand auf das Brett geschüttet und ein Laken darüber gebreitet), oder auf
die Hausdiele (Buckow) bzw. den Fußboden (Lebus), sonst in eine leere Bettstelle
(Steinhöfel) oder auf einen Strohsack. Das Gesicht bedeckt man oft mit einem mit
Spiritus oder Essig getränkten weißen Läppchen, das man auch mitunter auf die
Brust legt, oder den ganzen Körper mit weißen Leinentüchern. In Demnitz bestreut
man die Leiche mit Brennesseln, in denen man von altersher die Verkörperung bzw.
den Sitz dämonischer Wesen (Totenseelen) sah3); in Reitwein legt man sie bei großer
Hitze auf Brennesseln und feuchten Sand. In Buckow werden beschwerende Geldstücke
(Taler) auf die Augenlider gelegt4), in Hangeisberg und Neu-Tucheband ein Gesang-
buch unter das Kinn. Im Kreise Beeskow brennt zuweilen noch nachts neben der
Leiche eine Lampe (Glienicke, Groß-Rietz, Krausnick, Neuendorf) zur Verscheuchung
der Geister. Das Gefäß mit dem Leichenwasser wird in Weißenspring über einen
Kreuzweg getragen und dort vergraben; keinesfalls darf es auf den Hof geschüttet
werden, da sich sonst Krankheiten und Unglücksfälle einstellen5). Auch in Wolzig B.
werden die bei der Totenwäsche gebrauchten Gegenstände an versteckter Stelle ver-
graben; wer darüber hinwegschreitet, vertrocknet.
Die auch sonst weitverbreitete6) Sitte, einen Todesfall — zumal den Tod des
Wirtes oder der Wirtin — den Haustieren, besonders den Bienen, anzusagen, findet
sich noch in mehreren Dörfern (z. B. Umgegend von Buckow, Quappendorf, Marxdorf;
in Sachsendorf und Weißenspring auch den Bäumen und Pflanzen, sehr selten den
Gegenständen, die dem Verstorbenen ans Herz gewachsen waren); in Wendisch
Buchholz B. bis 1900 mit den Worten: „Steht auf! Unser N. N. ist gestorben!“ In
Krausnick B. noch heute mit den Worten: „Der Wirt ist tot! Der Wirt ist tot! Ein
neuer kommt beim Morgenrot!“ (oder ähnlicher Formel)7). Unterbleibt die Meldung
an die Haustiere, so folgen sie ihrem Wirt in den Tod nach: in Müllrose wurden noch
in diesem Jahre zwei Schweine abgestochen lediglich, weil man es vergessen hatte,
ihnen den Heimgang ihres Wirtes, eines Nachtwächters, anzusagen.
Das Ausläuten (Seelenläuten) wurde in der Buckower Gegend früher sogleich
nach dem Tode vollzogen, um die Seele in den Himmel zu geleiten, sonst heute im
allgemeinen am folgenden Tage vormittags 8 Uhr oder mittags 12 Uhr in drei Pulsen
oder Klausen (Kinder in einem Puls; in Quappendorf nur, wenn die kirchliche Leistung
vergütet wird), in Demnitz außerdem am Vormittag des Begräbnistages während
der Herstellung der Gruft. In Jakobsdorf achtet man darauf, welche der drei Glocken
J) Vgl. das uralte Rebrett (Süddeutschland).
2) Offenbar ursprünglich eine Maßnahme zum Schutze gegen die üble Ein-
wirkung der Todesgewalten und des Toten. Bei den Sudetendeutschen wird Weih-
wasser danebengestellt. E. H. Meyer a. a. O. S. 269.
8) Marzell, Die Pflanzen im deutschen Volksleben S. 64. In Schlesien Leiche
auf Nesseln gelegt: Peuckert, Schlesische Volkskunde S. 230. „Totennessel“ für
tote Nessel, taube Nessel bei dem naturwissenschaftlichen Schriftsteller Nemnich
(Ende des 19. Jahrhunderts) nach Grimms Wörterbuch.
4) Damit der gebrochene Blick nicht andere nachzieht.
5) Auch in Fürstenwalde. Hier werden auch noch manchmal Leichen von
Kranken berührt, damit sie ihr Leiden ins Grab mitnehmen. Weitverbreitet ist hier
außerdem die Anschauung, daß jeder Tote zwei Personen aus derselben Straße oder
der Nachbarschaft nach sich ziehe.
6) Wuttke § 727. Ursprünglicher Sinn: Reichhardt, Geburt, Hochzeit und
Tod S. 131. Alter Rechtsbrauch im Verfolg des Erbüberganges: Wrede, Rheinische
Volkskunde S. 185.
7) Wie hier die Haustiere gewissermaßen von der Zugehörigkeit zu ihrem Haus-
vater gelöst und aus dem Verbände mit dem Gestorbenen entlassen werden, so er-
folgte die Aufnahme in den heimischen Lebenskreis vor 50 Jahren in der Züllichau-
Schwiebuser Gegend in der Form, daß der Täufling den Haustieren „vorgestellt“ wurde.
19*
284
Ulbricht:
zuerst anschlägt; ist es z. B. die kleine Glocke, so fordert der Tod als nächstes Opfer
ein Kind.
Die Totenwache wird fast nur noch bei hochgestellten Persönlichkeiten (so in
Steinhöfel am Sarge des in der Kirche aufgebahrten Gutsherrn Generals v. Massow
durch Mitglieder des Kriegervereins) gehalten; hier und da pflegen in Gusow noch
heute bäuerliche Familien diese Sitte1); in Krausnick wachten vor dem Kriege An-
verwandte, die einander ablösten.
Die Bekanntgabe des Todesfalles an die Gemeindemitglieder und die Einladung
zum Begräbnis gehört in manchen Dörfern noch zu den Pflichten der Leichenwäscherin
oder Leichenbitterin (Berkenbrück, Jakobsdorf, Neuendorf im Sande, Groß-Rietz B.2),
früher auch Neu-Tucheband, in Quappendorf auch ältere Verwandte, die den Ge-
ladenen gleichzeitig Kuchen ins Haus bringen). Sie bestellen in Marxdorf auch die
Träger (Bauern oder Arbeiter, je nach dem Stande des Verblichenen). Oft überläßt
man ihnen die Bettwäsche aus dem Totenbett. In Weißenspring wird die Gemeinde
noch durch den „Bauernstock“ (Schulzenstock)3), den die Bewohner von Haus zu
Haus weitergeben, von Todesfällen in Kenntnis gesetzt.
In vielen Orten werden noch Jungfrauen (auch nicht verlobt gewesene) im
Brautschmuck4), also mit Kranz und Schleier, bestattet (Gusow, Quappendorf, Reit-
wein, Seelow, Weißenspring, Groß-Rietz B., Herzberg B., Krausnick B., Trebatsch B.,
Wernsdorf B., Wolzig B.), in Demnitz, Hangeisberg, Neubrück, Sachsendorf und
Steinhöfel auch junge Wöchnerinnen, in Neuendorf im Sande und Krausnick B. die
meisten Ehefrauen (ältere in Jakobsdorf in Silberkranz), die Ehemänner nicht selten
in der Kirchenbesuchskleidung (Gehrock). In Berkenbrück steckte man dem Toten
eine Zitrone5) in die erkaltete Rechte. Totenkranz und Totenkrone, der Ehren-
schmuck der Jungfrauen, sind wohl schon längst aus allen Kirchen6), in denen sie
einst auf gehängt waren, entfernt worden, in Quappendorf 1817 beim Umbau der
Kirche durch Schinkel (in Berkenbrück und Glienicke später).
Weiß, das in Deutschland noch im 14. Jahrhundert als eigentliche Trauerfarbe
galt und im 17. Jahrhundert endgültig durch Schwarz verdrängt zu sein scheint7),
läßt sich in der Trauerkleidung für Fürstenwalde noch für die 2. Hälfte dieses Jahr-
hunderts nach weisen. In der poetischen Schilderung der Stadt durch den Bürger-
meister Jacobus Lotichius (1679) S. 47, findet sich eine Erwähnung des „Frauen -
Trauer-Habits“:
„Ein Ehrbars Ansehn hat / der Fortgang nach den Leichen /
Wann zu der letzten Ruh dem Armen oder Reichen
Die Schaar der Frauen folgt / die (welches löblich steht)
In langen Schleyern nur gantz weiß zu Grabe geht8).“
x) In Sachsendorf nur auf 1 Stunde.
2) In Buchholz durch die Frau des Nachtwächters. Als die hochbetagte Leichen-
wäscherin, deren Amt sie übernahm, das Zeitliche segnete, erzählte man sich im Dorfe,
sie habe noch ihren eigenen Tod bekanntgegeben.
3) Sartori 2, 182; Samter, Volkskunde im altsprachlichen Unterricht 1,44.
4) Als Ersatz für die durch den Tod verhinderte Hochzeit. — Kleine Mädchen
erhalten weißes Kleid und Kranz als Sargschmuck (Sachsendorf), Bräute früher
einen Myrtenkranz (Wendisch-Buchholz B.).
5) Der Ursprung dieser Sitte weist vielleicht in die mittelalterlichen Pestzeiten
zurück: Brunner, Ostdt. Vkde. S. 192. In Buckow früher Apfelsinen, auch Geld-
münzen.
6) Deutsche Volkskunst, hrsg. v. Redslob, Bd. 2: Mark Brandenburg von
W. Lindner S. 28. Noch vereinzelt in der Lausitz: Mielke, Märk. Heimatbuch S. 264.
7) Hahne, Vom deutschen Jahreslauf und Brauch S. 65. Lauffer, Nieder-
deutsche Volkskunde S. 48. Schwarze Trauerkleidung „Abwehrmittel gegen Dämonen“ :
Naumann, Primitive Gemeinschaftskultur S. 49.
8) Heute noch Weiß in der Trauerkleidung im thüringischen Niederhessen und
für Mädchen im hessischen Hinterland (Reichhardt a. a. O. S. 157, 166) sowie vor
Kleine Mitteilungen.
285
Beim Betreten des Trauerhauses wurde in Berkenbrück dem Pastor, dem
Lehrer sowie den Sargträgern von der Leichenwäscherin ein Rosmarinzweig1) ge-
reicht. In manchen Dörfern (z. B. Jakobsdorf) betrachten es die Nachbarn2) als ihre
Pflicht, die Toten auf der Bahre zu Grabe zu tragen; bei Jungfrauen übernahmen
sie in Wendisch-Buchholz B. bis vor 30 Jahren, ehe es dort einen Leichenwagen
gab, die Jünglinge des Ortes3). War der Tote ein Wirt, so führt der Weg nicht durch
die vordere Haustür, sondern durch die Hintertür über den Wirtschaftshof hinweg
zur Straße4) (Jakobsdorf). Sehr häufig begegnet man der Sitte, sobald der Sarg auf
die Bahre gehoben ist, die Stühle und Schemel, auf denen er bisher geruht hat, um-
zuwerfen5). Solange sich die Leiche im Hause befindet, darf kein Gespann vom Hofe
fahren. Kränze dürfen im Trauerhause nicht Zurückbleiben6) (Neu-Tucheband). Der
Sarg muß in Rauen und Markgrafpieske und Umgegend dreimal auf der Türschwelle
niedergesetzt werden7); bei Wöchnerinnen setzt man ihn auf dem Wege zum Fried-
hof dreimal ab8), gleichgültig ob er lang oder kurz ist9) (Berkenbrück10), Briesen,
Falkenhagen, Reitwein, Weißenspring, Beeskow und Umgegend, früher auch in
Beerfelde, Gusow, Hangeisberg); lebt das Kind, so wird es noch im Trauerhause über
dem offenen Sarge getauft11) (Sachsendorf).
Die volkstümliche Bezeichnung „Totenweg“ für die nach dem Friedhof führende
Straße findet sich noch in Fürstenwalde in der „Kolonie“ (von der Lindenstraße nach
dem Alten Koloniefriedhof, der vielleicht schon vor 1752, ihrer Gründung, bestand)
und in Krausnick B.; früher auch in Hangeisberg Benennung der Dorfstraße, die
man selbst dann, wenn ein kürzerer Weg zum Friedhof führte, benutzte12). In Letschin
hat sich der „Leichengang“ auch als amtlicher Name eingebürgert. In Buckow legen
viele Hinterbliebene Wert darauf, daß der Leichenwagen an der Kirche vorbeifährt.
Um von ihren Warzen befreit zu werden, begleiten Kinder eine Leiche und sprechen:
„Jetzt begräbt man eine Leich’, Meine Warzen zugleich“ (Müllrose)13).
einigen Jahren noch in gewissen Spreewalddörfern (Ewald Müller, Aus der Nieder-
lausitzer Wendei, Cottbus 1925, S. 62, Abb. S. 45, und Friedel-Mielke, Landes-
kunde der Mark Brandenburg 3, Abb. 256). Vgl. auch das Begräbnis in der Lüneburger
Heide bei Hermann Löns, Der letzte Hausbur.
4) Rosmarin als Pflanze des Todes: Marzeil a. a. O. 88, zugleich der Liebe:
Strauß für Brautpaar und Hochzeitsgäste (z. B. in Pieskow B.).
2) Sie werden von der Leichenwäscherin darum gebeten.
3) Sehr oft trägt man auch in unserer Gegend die Leiche mit den Füßen voran
hinaus, damit die Seele den Rückweg ins Haus nicht finde. Samter, Volkskunde
im altsprachlichen Unterricht 1, 121.
4) Der Bauer reißt sich nur schwer vom Schauplatz seiner Lebensarbeit los.
E.H. Meyer, Deutsche Volkskunde S. 268.
5) Sartori 1, 143. — (Berkenbrück, Lebus, Markgrafpieske, Marxdorf, Neu-
brück, Neu-Tucheband, Quappendorf, Sachsendorf, Steinhöfel, Weißenspring, in B.:
Wendisch-Buchholz, Glienicke, Groß-Rietz, Herzberg, Krausnick, Neuendörf, Pieskow,
Rauen, Trebatsch, Wolzig.)
6) Sonst holt der Tote aus dem Hause jemand nach.
’) Samter S. 144—146, 218; Sartori 1, 143; Peuckert, Schlesische Volks-
kunde S. 47.
8) ZfVk. 1, 185: Damit die Verstorbene Ruhe habe.
9) Das Kind muß der Mutter sonst in den Tod folgen.
10) Der Sarg wird „geruht“.
11) In Schlesien legt man der „Sechswöchnerin“ vor dem Begräbnis noch einmal
das Kind ans Herz. Man will damit verhindern, daß sie jede Nacht wiederkehrt
und bis ihre Wochen aus sind, nach ihrem Kinde sieht. Peuckert, Schlesische
Volkskunde S. 231.
12) Sartori 1, 145.
13) Ähnlich im Vogtland: Wuttke § 497. In Buckow werden Warzen durch
Bestreichen mit einer Totenhand vertrieben.
286
Ulbricht:
Manche Spur der Mitgabe des Besitzes1) hat sich auch in unsren beiden Kreisen
erhalten. Koch heute gibt man bisweilen dem Toten allerlei Gegenstände ins Grab
mit, teils solche, die ihm besonders ans Herz gewachsen sind, teils solche, von deren
Aufbewahrung oder Benutzung man eine Schädigung der Überlebenden erwartet
(Trebatsch B.: Gesangbücher und Bibeln, Wernsdorf: Tabakdose und Priem, Wolzig
B.: Brille, Berkenbrück: um 1900 Tabakspfeife, in Hangeisberg früher Töpfchen
[Tassen], in Fürstenwalde im Weltkrieg einem ertrunkenen Knaben Bleisoldaten, in
Gusow einem Säufer seine Schnapsflasche, oft die bei der letzten Körperpflege be-
nutzten Kämme und Seifenstücke).
Zum Schutze gegen die Wiederkunft des Toten2) dient neben anderen Maß-
nahmen der Bannkreis, der durch dreimaliges Umgehen der Gruft3) geschaffen wird;
die Sitte findet sich nur noch in einigen Dörfern des Kreises Beeskow, und zwar in
der verblaßten Form des einmaligen Umganges, so in Wolzig, Lamitsch und Wilmers-
dorf (in geschlossenem Kreise im „Gänsemarsch“). In Neuendorf vollziehen ihn
zuerst die nahen Angehörigen, dann die „Folgenden“, d. h. die zur Nachfolge besonders
Geladenen (entfernte Verwandte, Freunde und Bekannte), indem sie eine Art Kreis
um den Hügel bilden 4); in Krausnick stets, Männer und Frauen gesondert; die Hinter-
bliebenen umschreiten zuerst die Gruft und opfern je 1 Groschen, der der Kirchen-
kasse zufällt; in Neuendorf nur Verwandte, die vorher am Grabe niederknieen und
ein Vaterunser beten.
In Steinhöfel bereiten Freunde und Nachbarn die Gruft5); auch in dem benach-
barten Neuendorf im Sande, wo beim Tode von Knaben und Jünglingen die männliche
x) Samter 1, 148ff. — Der heute mehr in Pietät als in Furcht vor dem Toten
begründete Brauch erscheint dichterisch verwertet in Storms Novelle „Pole Poppen-
späler“, wo bei dem Begräbnis des Puppenspielers die beabsichtigte Ruchlosigkeit
des Schmidt-Jungen, der den Kasperle über die Kirchhofsmauer herüberschleudert,
sich nach der gemütvollen Ausdeutung des Geistlichen in ein Sinnbild der Liebe
und Anhänglichkeit wandelt.
2) Der Ahnendienst wie die Trauerbräuche wurzeln in der Furcht vor dem Toten.
Warn eck, Die Lebenskräfte des Evangeliums; Missionserfahrungen innerhalb
des animistischen Heidentums S. 50ff.
3) Der dreimalige Umgang wurde vor kurzem noch in der Prignitz beobachtet:
Brunner a. a. O. S. 196. — Mehrere Beispiele für dreimaliges Herumfahren und
-gehen um die Leiche: Samter 1, 136ff.
Von diesem Ritus fällt auch einiges Licht auf eine Stelle in Sophokles’ Antigone,
wo die Heldin xoaiöi xpiauövboKTi xöv vetcuv öxecpei (v. 431). Auf ein Ausgießen
um das Grab herum weist die von Bruhn in seinem Kommentar angeführte Wendung,
welche in den Phönissen (1664) Kreon Antigonen gegenüber gebraucht. Die xoal
xpicrTrovboi brauchen aber nicht als die bei Libationen oft übliche Ausgießung von
drei Flüssigkeiten — Wein, Milch und Honig —, die die Heldin als Gemisch im Kruge
trage, gedeutet zu werden, sondern dürften sich auf die dreimalige Spendung einer
einzigen Flüssigkeit, etwa von Honig oder Milch, beziehen, die Soph. Fgm. 365 N. bzw.
Elektra 894 allein genannt sind, oder auch einiger Flüssigkeiten (4 Einheiten Aesch.
Perser 607ff.: Milch, Honig, Wasser, Wein). Antigone folgt meines Erachtens dem-
selben Ritus wie noch heute nach Jahrtausenden der märkische Bauer, wenn sie den
Bannkreis, den dieser durch dreimaliges Umschreiten des Grabes schafft, durch
dreimaliges, stehend oder vielleicht auch im Herumgehen vollzogenes Umsprengen
der Leiche ihres Bruders mit der Weiheflüssigkeit hervorruft.
4) Die nicht geladenen Leidtragenden, die sich dem Trauerzuge anschließen,
nehmen am Umgang nicht teil.
5) In Demnitz wird die Gruft mit Zweigen des Lebensbaumes ausgelegt; in
Hasenfelde ist es bei einzelnen Beerdigungen üblich, statt der Erde Grünes auf den
Sarg herniederzuwerfen. Wenn das Grab „nachschießt“, so stirbt bald wieder ein
Mitglied der Familie; oft ist es die erste Sorge der Hinterbliebenen, sich dessen zu
vergewissern, daß dieses neue Unglück sie nicht betroffen hat (Rauen B.).
Kleine Mitteilungen.
287
Dorfjugend diesen letzten Liebesdienst dem ihrer Gemeinschaft Entrissenen erweist.
In einigen Dörfern (z. B. Beerfelde) wird das am Vormittag vorbereitete Grab noch
während der Feier auf dem Friedhof zugeschaufelt und der Hügel aufgeschüttet;
darauf begibt sich die Trauergemeinde zur kirchlichen Feier in das Gotteshaus (ähn-
lich in Marxdorf). In Bauen B. und Markgrafpieske B. werden die Spaten über Kreuz
in die obere Seite des Grabhügels hineingesteckt1) (3x2 Spaten). In Biegen setzt
man die Bahre, mit der Tragfläche nach unten, auf den von den Trägern flüchtig
aufgeworfenen Hügel2); nach einem stillen Vaterunser verlassen die Leidtragenden
den Friedhof; das Grab wird vom Totengräber fertiggestellt. In Groß-Rietz schmückt
man das frische Grab sofort mit einem kleinen schwarzen Holzkreuz. In der Gegend
des Dorfes, in der die Totengräber ihre Spaten niederstellen, stirbt bald jemand3).
Der Leichenschmaus4) nimmt nur noch in wenigen Dörfern die früher allgemein
üblichen unmäßigen Formen an, z. B. in Sachsendorf, wo es dabei übermütiger zu-
geht als bei Hochzeiten und wo sogar jeder Träger mit einem besonderen Glase Wein
bedacht wird, und in Weißenspring, wo bisweilen beim „Versaufen des Felles“ dem
Weingeist reichlich zugesprochen wird (in Wernsdorf erhalten die Träger zu demselben
Zweck ihr „Trinkgeld“); in einigen Dörfern des Beeskower Kreises wird ein Tanz
damit verbunden, wenn eine Jungfrau gestorben ist; in Hangeisberg ging es nach
dem Begräbnis alter Leute besonders hoch her. Im ganzen jedoch ist die Üppigkeit
heutzutage einer Bewirtung gewichen, die sich in würdigen Grenzen hält und sich
meistens auf Auswärtige und Träger beschränkt (Falkenhagen, Lebus bei den „Aus-
gebauten“, Marxdorf, Neubrück, Neuendorf, Quappendorf, Groß-Rietz B.; in Beer-
felde ist der Brauch im Weltkriege infolge der Ernährungsschwierigkeiten einge-
schlafen). Ein überwiegend ernstes Gepräge hatte der Leichenschmaus früher in
Jakobsdorf5) (für die Träger und ihre Frauen); nach dem Schlußgebet sang man:
„Wenn ich einmal soll scheiden.“
Mehrere, zum Teil sehr schöne, bunt bemalte Bauernepitaphien aus dem Anfang
des 19. Jahrhunderts weist die Kirche in Demnitz auf6).
Eine große Anzahl von Volksbräuchen und Äußerungen des Volksglaubens ist
an uns vorübeigezogen. Inwieweit sie — zumal im Süden des Kreises Beeskow, den
schon Fontane als die „Wendei“ bezeichnet hat-—durch stärkeren Einschlag slawischer
Bevölkerung beeinflußt sind, wage ich bei dem verhältnismäßig geringen Stoff, der
mir aus diesem Kreise zufloß, und bei der Problematik aller Rassenfragen nicht zu
x) Reichhardt S. 162; Schullerus, Siebenb. Vkde. S. 133.
2) In andren Gegenden muß sie 8 Tage dort stehenbleiben. Reichhardt S. 162.
3) In Rauen war bis 1900 etwa (Errichtung der Leichenhalle) kein Brautpaar
zu bewegen, die Kirche durch den Haupteingang unter dem Glockenturm zu betreten,
weil dort die Totenbahre aufgehoben wurde; um diesem unglücklichen Vorzeichen
zu entgehen, benutzten alle Paare die kleine Seitenpforte.
Fanatischen Haß gegen den Toten und teuflischen Drang, die Ruhe eines Gegners
noch im Grabe zu stören, zeigte noch in diesem Frühjahr ein Einwohner von Arens-
dorf. der in dem Grabe seines Todfeindes eine tiefe Grube ausschachtete und allerlei
Unrat (auch Aas) hineinsenkte. Beim Anblick der Hinterbliebenen des Geschändeten,
die er damit ebenfalls zu schädigen suchte, pflegte derselbe Mann sich dreimal zu
bekreuzen.
4) Der Brauch ist nicht nur aus der Lust am Tafeln erwachsen, sondern zugleich
aus dem Wunsch, den Toten eine Freude zu bereiten.
5) Vor 50 Jahren wurde dort dem Trauerzuge ein Kreuz vorangetragen. — Das
Leichensingen“ des Lehrers mit den Schulkindern kommt immer mehr in Abnahme
und beschränkt sich oft auf freiwillige Gesänge eines kleinen Chors im Trauerhause
und am Grabe. Die Begleitung der Leiche durch Schulkinder ist z. B. auch in Jakobs-
dorf abgekommen.
6) Abbildung eines solchen in „Die Kunstdenkmäler der Provinz Brandenburg;
hrsg. vom Brandenburgischen Provinzialverbande“, Bd. 2, Teil 1: Lebus. Tafel 7.
288
Wisser:
entscheiden; es scheint jedoch, als ob die besonders beharrliche Bewahrung alter
Bräuche, die wir gerade dort im „Unterspreewald“ beobachten, dem dort besonders
starken Untergrund slawischer Bevölkerung zuzuschreiben sei. Manchen dieser
Bräuche wird man nicht nachtrauern, wenn sie für immer in Vergessenheit versinken,
aber auch nicht wenige verdienen bei der schmerzlichen Verarmung unseres Volks-
lebens an heimatlicher Sitte liebevollste Beachtung und Pflege, zumal solche, die
aus einem auf dem Lande zwar auch schon gelockerten, aber doch oft noch recht
lebendigen Gemeinschaftsbewußtsein erwachsen sind: die, die sie pflegen, geben
— mehr unbewußt als bewußt — ihrer Verbundenheit mit den Mitgliedern ihrer
Gemeinde, ihren Vorfahren und der Allmutter Natur Ausdruck. Darin liegt ihre
Kraft und ihre Bedeutung für das Volksganze. Für unsere auslandsdeutschen Brüder,
die sich dieses Wertes altüberlieferter Sitten und Vorstellungen viel stärker als wir
bewußt sind, bilden sie ein festes Band, das sie zusammenhält: die sorgsame Be-
wahrung brauchtümlicher Geschlossenheit und ihre organische Weiterentwicklung
zu neuen Formen ist für das Auslandsdeutschtum — z. B. die Sudetendeutschen1) —
geradezu eine Voraussetzung für seinen kulturellen Fortbestand. Unsere Zeit ringt
nach neuen Gemeinschaftsformen; alte sind zertrümmert, neue sind im Entstehen
begriffen oder kündigen sich erst in schweren Geburtswehen an. Mögen sich trotz
der allgemeinen Amerikanisierung der Lebensverhältnisse, die auch dem flachen
Lande droht, für unsere bäuerliche Bevölkerung, die eigentliche Nährmutter des
Staates, wertvolle überlieferte Formen mit neuen Daseinsbindungen zu fruchtbarer
Einheit verknüpfen!
Fürstenwalde (Spree). Karl Ulbricht.
Die kluge Bauerntoehter2).
(Grimm Nr. 94.)
Das Märchen ist mir erzählt worden:
1899 von 1. Wilh. Harms in Altenkrempe, Nachtwächter, geb. 1855 in Kasseedorf,
1899 von 2. Johann Schütt in Altenkrempe, Tagelöhner, geb. 1819 in Sibstin,
gest. 1900,
1900 von 3. Klaus Weller in Kabelhorst bei Lensahn, Tagelöhner ( ?), geb. 1812,
gest. 1901,
1900 von 4. Köster in Schönwalde, Waldarbeiter, geb. um 1830,
1901 von 5. Laudy in Kreuzfeld bei Gremsmühlen, Eigenkätner, geb. 1835 in
Klein-Meinsdorf, gest. 1910,
1904 von 6. Jul. Ehlers in Stolpe (Gut Sierhagen), Tagelöhner, geb. 1866 in Sibstin,
1906 von 7. Sander in Weißenhaus, Gartenarbeiter, geb. 1845 in Johannisdorf bei
Oldenburg i. Holstein,
1906 von 8. demselben,
1908 von 9. Heinrich Kühl in Görtz bei Oldenburg i. H., Vogt, geb. 1871.
Zu diesen neun Fassungen kommen noch drei (10—12), die ich in Müllenhoffs
handschriftlichem Nachlaß (jetzt in Kiel) gefunden habe.
10. Erzählt von der Schülerin Agnes Kunst (1844), aufgeschrieben von dem Lehrer
Nielsen in Puttgarden auf Fehmarn.
11. Schullehrer Stöver in St. Margrethen in Westholstein.
12. Erzählt von Wwe. Nanne, 74 Jahre, aufgeschrieben von N. N., aus der Marsch,
weil von Geestbauern die Rede ist.
a) Vgl. Emil Lehmann, Sudetendeutsche Volkskunde S. 189ff.
2) Die vorliegende Arbeit ist schon als Handschrift von dem holländischen
Gelehrten Herrn Prof. Jan de Vries (in seinem Buche „Das Märchen von den
klugen Rätsellösern“, Helsinski 1928) benutzt und besprochen worden. Ich halte
es deshalb für richtig, sie hier in ihrer ursprünglichen Form zu belassen und zu
Herrn de Vries’ Einwendungen in einem kurzen Nachwort Stellung zu nehmen.
Kleine Mitteilungen.
289
Die Fassung 6 ist verstümmelt.
Die Fassungen zerfallen in vier Gruppen.
In den Fassungen der ersten (I) Gruppe (3, 4, 8) hat ein Bauer einen Prozeß
mit einem Edelmann um ein Stück Land, und der Prozeß wird von dem König zu-
gunsten des Bauern dadurch entschieden, daß dessen Tochter drei von dem König
aufgegebene Rätsel löst, sie richtiger löst als die Gegenpartei.
Die Fassungen der zweiten (II) Gruppe (5, 7, 10—12) stimmen mit der aus
der ^rimmschen Sammlung bekannten im wesentlichen überein. Ein Bauer findet
beim Pflügen einen goldenen Mörser und liefert ihn trotz der Warnung seiner Tochter
an den König ab. Als er diesem nun durchaus auch den dazugehörigen Stöter liefern
soll, klagt er, daß er nicht auf die Warnung seiner Tochter gehört, die ihm das vor-
ausgesagt habe. Daß er ins Gefängnis geworfen wird (Grimm), kommt nur in 12
vor. Der König wünscht die kluge Tochter kennen zu lernen und verlangt, daß sie
zu ihm kommen soll, fügt aber, um ihre Klugheit gleich auf die Probe zu stellen,
drei scheinbar unerfüllbare Bedingungen hinzu: sie soll kommen nicht nackt und nicht
bekleidet usw. Daß er sie auch schon vorher, schon vor dem erschwerten Kommen,
zu sich kommen läßt (Grimm), wird nur in einer schlecht erzählten Fassung (5)
angenommen und ist sicher nicht richtig.
Daß in 10 die Erzählung erst mit dem Streit der Bauern um das Füllen beginnt,
ist unwesentlich.
In den Fassungen der dritten (1, 9) und der vierten (2, 6) Gruppe (III und IV)
sind die beiden Geschichten miteinander vermischt, und zwar in der Weise, daß die
erste Geschichte bei III in mehr oder weniger veränderter Form, bei IV völlig entstellt
und zusammengeschrumpft als Eingang verwandt wird für die zweite und hier nicht
bloß den echten Eingang, der von dem Mörser handelt, verdrängt hat, sondern auch
die weitere Darstellung (bei III weniger, bei IV stark) beeinflußt hat.
Von den beiden Fassungen der Gruppe III (1, 9) gibt die Fassung 9 den Inhalt
der beiden Geschichten noch ziemlich treu wieder. Die einzigen Abweichungen sind
folgende: Der Streit besteht nicht zwischen einem Edelmann und einem Bauern,
sondern zwischen zwei Bauern. Nicht der König entscheidet den Streit, sondern der
Gutsherr der Bauern, der Edelmann, von dem dann auch alles weitere erzählt wird,
daß er die kluge Tochter kennenzulernen wünscht, sie zu sich kommen läßt, sie
heiratet usw. Ferner bringen vor Gericht nicht beide Parteien eine Lösung der drei
Rätsel vor, sondern nur die eine, nur der von seiner klugen Tochter beratene Bauer.
In 1 besteht zwar, wie in I, der Streit zwischen einem Edelmann und einem
Bauern. Er wird aber nicht vor Gericht entschieden, wo der König den beiden Par-
teien drei Rätsel aufgibt, sondern der Edelmann erklärt sich bereit, nachzugeben,
wenn der Bauer ihm drei Rätsel lösen könne. Alles weitere wird dann, wie in 9,
gleichfalls von dem Edelmann erzählt, daß er die kluge Tochter kennenzulernen
wünscht usw. Bei dieser Darstellung kann natürlich davon, daß sich beide Parteien
an einer Lösung der drei Rätsel versuchen, keine Rede sein.
In den beiden Fassungen (2, 6) der Gruppe IV ist die Überlieferung nun noch
weiter entstellt. Zwar beginnt auch hier, wie in 1, die Erzählung mit einer Differenz
zwischen dem Edelmann und dem Bauern. Da aber die Erzähler irrtümlich annehmen,
nicht die Tochter, sondern der Bauer selbst habe zu dem Edelmann kommen sollen,
so erfinden sie, um diesen Befehl zu motivieren, der Bauer habe sich etwas zu Schulden
kommen lassen und habe zum Edelmann kommen sollen, um seine Prügel dafür zu
empfangen. Der Edelmann habe ihm aber Straflosigkeit zugesagt, wenn er kommen
könne nicht nackt und nicht bekleidet usw. Und der Bauer selbst tut dann auf den
Rat seiner Tochter das, was in den richtigen Fassungen diese tut. Eine weitere
Störung hat dieser Fehler nicht zur Folge. Denn als nachher auch die Tochter kommen
soll, werden an deren Kommen keine Bedingungen geknüpft. Von da an, wo die
Tochter hingeht, verläuft dann die Geschichte in der bekannten Weise: der Edel-
mann nimmt sie zur Frau usw.
Bei dieser Darstellung ist für den Hauptinhalt der ersten Geschichte, die drei
Rätsel, natürlich gar kein Platz. In 6 hat sich zwar noch eine Spur davon erhalten.
290
Wisser:
Diese steht aber mit dem übrigen in keinem Zusammenhang und wird sich daraus
erklären, daß der Erzähler das Märchen auch noch in einer anderen Fassung gehört hat.
Die Rätsel, die in I (3, 4, 8) vor Gericht (4) oder vor dem Richterstuhl des
Königs (3, 8) gelöst werden sollen, sind:
a) Wat is fetter as fett (3, 4) oder wat is dat fetts up de Welt (8)?
In 3 ist dies Rätsel das einzige.
b) Wat is soter as sot (4) oder wat is dat sots up de Welt (8)?
c) Wat am tagßen (slechßen) aftofell’n geiht (4, 8).
Und die Antworten der Bauerntochter lauten:
a) Gotts Eerdboden (4, 8),
b) de Slap (4, 8),
c) min’n Vadder sin Pisser (4) oder Füthahn (8), mit der Erläuterung: dar hett
min Mudder al veruntwinti (8) oder fiwuntwinti (4) Jahr up fell’t (4, 8),
un se kricht em nich affell’t (8) oder: un hett man eben ers den Kopp fri (4).
In 4, 8 sind es die gleichalterigen Töchter, von denen die beiden prozessierenden
Väter vertreten werden. Und die Grafen- (4) oder Eddelmannstochter (8), die natür-
lich zuerst gefragt wird, antwortet: a) de Flomen (4) oder de Nierenflömen (8), b) de
Honni (4, 8), c) de Has’ (4) oder ’n Hasen (8). In 3 kiimmt de Eddelmann mit dre
Frachwagens vull Tunn’n, wo luter Fett in is. Un dat is je Fett öwer Fett. Un de
Bökholer hett ’n Bök ünner ’n Arm, wo dat all’ in beschreben steiht, wat dat vor Fett is.
In III (1, 9), wo die beiden Geschichten miteinander verquickt sind, lauten
die Fragen: a) fetter as fett, b) heller as hell, c) starker as stark (9), oder: was am
dullßen klingt un schall’t öwer de ganze Welt (1). Und die Antworten darauf sind:
a) Gotts Eerdboden (1) oder: de Boden, den’ wi urbar makt hebbt (9), b) de Blitz (9)
oder: de Diamanten (1), c) Gotts Wort.
Die drei Bedingungen, die die Tochter (in 2, 6 fälschlich der Vater) beim Kommen
erfüllen soll, sind:
a) ne kleed’t un ne nak (1, 11, 12) oder: ne nak un ken Tüg an oder ähnlich
(2, 6, 9), nich mit Tüg un nich ahn’n Tüg (7),
b) ne gähn, ne föhrn un ne riden oder ähnlich (1, 5, 9), ne to Föt, ne to Per
un ne to Wag’ oder ähnlich (2, 6, 7, 11),
c) nich in ’n Weg un nich ut ’n Weg oder ähnlich (2, 6, 7, 12),
d) ne bi Dag’ un ne bi Nach oder ähnlich (5, 9, 12), weder an einem Tage noch
zur Nacht (11).
Die Bedingungen kommen vor
a in 1, 2, — 6, 7, 9, 11, 12,
b in 1, 2, 5, 6, 7, 9, 11, —
c in — 2, — 6, 7,-------12,
d in-------5,------9, 11, 12.
In 1, 5 werden also nur zwei Bedingungen gestellt.
Um die Bedingungen zu erfüllen, umwickelt sie (in 2, 6 er) sich mit einem Fischer-
netz (1, 2, 6, 7, 9, 11) oder hüllt sich in ein Schaffell (12); setzt sich auf eine von
einem Esel gezogene Slöp (1), läßt sich von einem Ziegenbock ziehen (7), setzt sich
(in 2, 6 er) auf einen Ziegenbock (2, 6, 12, in 12 mit einem Fuß in der Wagenspur
gehend) oder einen Esel (9, 11), und zwar in 9 nicht rittlings, so dat de Benen beid’
na en Sit hängt, oder setzt, mit einem Fuß gehend, den andern auf einen Kinder-
schlitten (5),
hält sich (in 2, 6 er) in de Wagentraw (Wagenspur) (2, 6, 7, 12),
kommt zwischen zwölf und eins (5) oder bei Sonnenuntergang (9) oder an einem
Mittwoch (11, 12).
Der Bauer, der das Füllen beansprucht, hat einen Wallach (1) oder zwei Hengste
(5) im Stall oder zwei Wallache (7) oder zwei (12) oder vier (9) Hengste vorm Wagen
oder zwei Ochsen (10). In 11 sind ein Hengst und eine Stute vor denselben Wagen
gespannt.
Um ihre Hilfe angegangen, gibt die kluge Königin (5, 7, 10—12) oder Gräfin (1)
oder Edelmannsfrau (2, 6, 9) dem Bauern den Rat, auf dem Trockenen zu fischen
Kleine Mitteilungen.
291
(1, 2, 7, 9, 10) oder Buchweizen (5) oder Bohnen (11) zu kochen zum Säen oder
Erbsen zu säen auf der Landstraße (12).
Mit ihrem Mann zu ihren Eltern fährt sie in 1, 2, 5, 7, 9—12.
Ich habe oben angenommen, die erste Geschichte habe von Anfang an für sich
bestanden und sei dann später irrtümlich auch als Eingang verwandt worden zu
der zweiten, wobei der echte Eingang, der mit dem Mörser, durch den unechten,
den Rätseleingang, verdrängt worden sei.
Aber ist das so sicher ? Könnte nicht ebensogut das umgekehrte der Fall sein,
daß der Rätseleingang (in III) eine gleichwertigeYariante wäre zu dem Mörsereingang
(in II), und daß aus diesem Rätseleingang später auch eine besondere Geschichte (I)
gemacht worden wäre ?
Ich nahm das früher an und trug deshalb kein Bedenken, meiner Darstellung
in „Wat Grotm.vert.“ 2, 19 (= Plattd. Volksm. 1, 213) die zu III gehörige Fassung 1
zugrunde zu legen.
Diese Annahme aber erweist sich bei genauerer Prüfung als falsch. Das Ver-
hältnis der Fassungen zueinander ist vielmehr so, wie ich oben angegeben habe.
Ich will das hier nachträglich näher begründen.
In I (3, 4, 8) haben wir zwei prozessierende Parteien, deren jede eine Lösung
der drei Rätsel vorbringt, die erste eine dem gewöhnlichen Verstand naheliegende,
die andere eine von außergewöhnlicher Klugheit zeugende. Und ein Unparteiischer,
in 4 ein Richter (Gerichsholer), in 3, 8 der König, entscheidet den Streit. Diese
Gegenüberstellung, bei der die Zuhörer gleichsam mit zu Gericht sitzen und mit
entscheiden, ist offenbar urecht. Die aber fehlt in 1, 9 (III). In 9 bringt der eine
Bauer gar keine Lösung vor. Und in 1 soll nur die eine Partei, der Bauer, eine Lösung
liefern. Denn die andere Partei, der Edelmann, gibt ja die Rätsel auf. Daß dies
alles minderwertig ist, liegt auf der Hand.
Ferner: In 3, wo nur ein Rätsel, das erste, erhalten ist, tritt der Bauer selbst
vor Gericht auf und siegt hier über den Edelmann durch die ihm von seiner Tochter
angegebene Lösung. In 4, 8 führen die beiden Töchter, die Tochter des Grafen (4)
oder Eddelmanns (8) und die des Bauern (4) oder Tagelöhners (8) freiwillig die Sache
ihres Vaters und erscheinen statt seiner vor Gericht (4) oder vor dem König (8).
Das einzig richtige und ursprüngliche ist offenbar, daß der Edelmann selbst seine
Sache führt, der Bauer dagegen, der selbst keinen Rat weiß, auf den Rat seiner
Tochter sich von dieser vertreten läßt. Liegt aber die Sache so, dann ist mit dem
Richterspruch die Geschichte zu Ende. Da der König die kluge Tochter vor Gericht
genügend kennengelernt hat, sie selbst und ihre Klugheit, so hat es keinen Sinn
mehr, daß er, um sie selbst kennenzulernen, sie zu sich kommen läßt, und, um ihre
Klugheit kennenzulernen, an ihr Kommen allerhand unerfüllbare Bedingungen
knüpft. Damit fällt dann aber auch alles weitere fort, daß sie zu ihm kommt, daß
er sie heiratet usw.
Die Forderung des Königs, daß sie zu ihm kommen soll, und alles, was sich
daran anschließt, ist nur dann möglich, wenn die ursprüngliche Form von I 4, 8
verändert, d. h. entstellt wird, wenn, wie in 9 erzählt wird, die beiden streitenden
Bauern selbst vor dem Richter erscheinen, oder wenn, wie in 1 erzählt wird, der Bauer
selbst dem Edelmann die verlangte Lösung der drei Rätsel überbringt. Ja, streng
genommen ist selbst dann noch die Verbindung zwischen I und II nicht einwandfrei.
Wenn der Bauer dem Edelmann die richtige Lösung der Rätsel lieferte (1) oder sie
vor Gericht vorbrachte (3, 9), was ging es den Richter an, woher er sie hatte ? Und
wenn der Bauer bei seinem Leugnen blieb, wie wollte er ihm beweisen, daß er log ?
Ganz anders steht es mit dem Eingang in II, dem Mörsereingang. Hier ist der
Bauer allein beim König, um den Mörser abzuliefern; hier sagt er selbst, daß seine
Tochter ihn gewarnt habe. Hier ist es also ganz in Ordnung, wenn der König die
Tochter kennenzulernen wünscht, und wenn er, um ihre Klugheit auf eine noch
schwerere Probe zu stellen, an ihr Kommen unerfüllbare Bedingungen knüpft.
Wir haben also anzunehmen, daß die beiden Geschichten I und II ursprünglich
gar nichts miteinander zu tun hatten und erst später miteinander in Verbindung
292
Wisser:
gebracht worden sind. Sie zu verbinden, lag ja bei ihrer sehr großen Ähnlichkeit
außerordentlich nahe, wie wir sie denn auch tatsächlich in vielen Fassungen dieses
Märchens miteinander verbunden finden (s. die Übersicht bei Bolte zu Grimm 94).
Eine weitere Frage ist, wie wir die Verschiedenheit der Fassungen der beiden
letzten Rätsel (b, c) erklären wollen, in I söter as sot, am tagßen aftofell’n (4, 8), in
III heller as hell, starker as stark oder wat am dullßen klingt usw. (1, 9). Die beiden
an zweiter Stelle (b) stehenden Rätsel könnten wir als gleichwertige Varianten
ansehen. Das dritte Rätsel (c) aber trägt in I einen derb schwankhaften, in III
dagegen einen ganz ehrbaren, ja frommen Charakter.
Hier ist nun zweierlei möglich. Entweder die Form in I ist die ursprüngliche
und die in III die spätere oder umgekehrt. Im ersten Fall hätten wir anzunehmen,
daß der Erzähler, der an die Stelle des echten (Mörser-)Eingangs den unechten (Rätsel-)
Eingang setzte, das obszöne Rätsel durch ein anständiges ersetzt hat. Im andern
Fall, daß das Märchen ursprünglich lauter anständige Rätsel enthielt und in dieser
Form in III als Eingang verwandt worden ist, und daß von den Erzählern, die das
Märchen I allein für sich erzählten, irgendeiner die Reihe der Rätsel im Übermut
mit einem unanständigen beschlossen hat.
Beides ist denkbar, so daß mit Bestimmtheit die Sache nicht zu entscheiden
ist. Nach unseren Fassungen allein ist es wahrscheinlicher, daß das ursprüngliche
Rätsel das unanständige ist. Erstens weil bei den anständigen Rätseln in III die
Überlieferung schwankt: für das zweite Rätsel werden zwei verschiedene Lösungen
gegeben (Diamanten: 1, Blitz: 9), und das dritte hat zwei verschiedene Formen
(starker as stark: 9, wat am dullßen klingt usw.: 1). Zweitens und besonders, weil eine
Lösung nur von einer Partei vorgebracht (9) oder gar nur von einer verlangt wird (1)
und demnach der Zug fehlt, der doch sicher ursprünglich ist, daß den gewöhnlichen
Lösungen die außergewöhnlichen gegenübergestellt werden. Endlich scheint es mir
auch fraglich, ob wir dem Volksmärchen eine solche Bibelfrömmigkeit Zutrauen
dürfen, daß es vor Gottes Wort in so feierlicher Weise seine Reverenz bezeigt. Dieser
Zug sieht ganz danach aus, als ob er erst später von einem Erzähler erfunden wäre,
nm das obszöne Rätsel in I zu verdrängen.
Soweit hat die vorliegende Arbeit Herrn J. de Vries Vorgelegen.
Nach seinen Bemerkungen (S. 96ff.) füge ich nun noch folgendes hinzu:
Wie oben bereits bemerkt ist, haben die beiden Märchen, um die es sich hier
handelt, ursprünglich nichts miteinander zu tun. In dem ersten (A) sollen drei Rätsel
gelöst werden; in dem zweiten (B) muß die kluge Bauerntochter zu dem König oder
dem Edelmann kommen. Das erste ist mit der Lösung der Rätsel und dem Richter-
spruch zu Ende; das zweite fängt mit dem Kommen der Bauerntochter beinahe erst
an. Die beiden Rätsel sind sich aber so ähnlich und fügen sich so leicht zusammen,
daß sie von vielen Erzählern zu einer Geschichte miteinander verbunden sind, und
zwar in der Weise, daß A als Eingang verwandt wird zu B.
Die Fassungen der ersten Gruppe (3, 4, 8) enthalten A allein. Die der zweiten
Gruppe enthalten B allein, die eigentliche Geschichte von der klugen Bauerntochter,
mit dem richtigen (Mörser-)Eingang. In denen der dritten Gruppe (1, 9) sind A und
B miteinander verbunden, wobei der echte Eingang durch den unechten (Rätsel-)
Eingang verdrängt worden ist. In denen der vierten Gruppe (2, 6) ist dann die Ge-
schichte noch weiter entstellt, indem an Stelle der beiden Züge, daß erst der Bauer
hingeht, um die Rätsel zu lösen, und dann die Tochter kommen muß unter allerhand
Bedingungen, der eine Zug tritt, daß gleich der Vater unter diesen Bedingungen
kommen soll.
Die beste und vollkommenste Form von A, wo die Rätsel beiden streitenden
Personen aufgegeben werden, ist offenbar die, daß die Bauerntochter vor Gericht
ihren Vater vertritt (4, 8). Ich habe daraus geschlossen, daß diese Form die ursprüng-
liche sei. Streng genommen ist dieser Schluß ja nicht zwingend. Wir wollen aber
einmal annehmen, sie sei die ursprüngliche. Dann ist die Form, die wir in 1, 9 finden,
daß nur eine Person die Rätsel lösen soll und der Vater selbst vor Gericht erscheint
— die einzige Form, bei der A als Eingang zu B dienen kann — eine spätere Entstellung.
Kleine Mitteilungen,
293
Falsch ist es dann aber, daraus irgend etwas zu folgern für den Inhalt, daraus,
daß in 4, 8 die Form die ursprüngliche sei, zu schließen, daß auch die obszöne Lösung
des dritten Rätsels die ursprüngliche sein müsse. Ich habe zwar vorsichtigerweise
nur gesagt, daß es nach unseren Fassungen allein so sei. Aber nach zwei
Fassungen mit einem obszönen und zwei Fassungen mit einem frommen Rätsel läßt
sich gar nichts schließen.
Wenn nun J. de Vries nachweist, daß das fromme Rätsel sehr wohl möglich
und das obszöne auf ein enges Gebiet beschränkt ist, so ist damit meine Annahme
sofort hinfällig. Das Märchen A hat ursprünglich lauter unanstößige Rätsel ent-
halten und ist in 1, 9 in zwei solchen Fassungen als Eingang zu B verwandt. Und
nur ausnahmsweise hat einmal ein Erzähler aus dem von J. de Vries bezeichneten
engeren Gebiet in einer Fassung, die nur A allein enthielt, im Übermut die ihm
überlieferte anständige Lösung des dritten Rätsels durch eine geniale unanständige
Lösung ersetzt. Und dieser Streich ist dann in Ostholstein in zwei gleichlautenden
Fassungen zufällig ans Licht gekommen, während er vielleicht in zwanzig — wo
nicht mehr — Fassungen verborgen bleiben wird.
Ich lasse hiernach im Wortlaut zwei Fassungen folgen, von denen die erste (8)
zu I, die zweite (7) zu II gehört. Sie stammen beide von Sander, der sie natürlich
als zwei verschiedene Geschichten erzählte, zuerst 7 und dann (nach drei anderen
Geschichten) 8.
Nr. 8.
(Dar is mal) ’n Eddelmann un (’n) Daglöhner (weß). De Daglöhner hett uk
’n beten Land hatt. Un nu is d^r ’n lütten (!) Eck Land, dat hett de Daglöhner
al so un so lang’ Jahr’n hatt, un nu mit ’n mgj secht de Eddelmann, dat Stück
Land, dat hört em. Dat is an sin Verbot, un he snitt dat af. Un darmit gaht se
an ’n Köni. Da Daglöhner wenn’t sik an ’n Köni. Do secht de Koni, ja, he kann
den Strit ne vermeden (so), he will ehr dre Rätseln upgeben. Eers mal schüllt se
em segg’n, wat dat fetts is up de Welt. Un wat dat sots is up de Welt, un wat am
slechßen aftofell’n geiht. Nu gaht se je beid’ to Hus. Nu hett de Eddelmann ’n
Dochter, de is kunfermert weß, un de Daglöhner uk, de sünd tosam’n ut de Schöl
kam’n. Nu hebbt se de un de Dag’ (= so un so v§l Dag’) to besinn’n, dat se kam’n
schüllt un dat weten schüllt. Nu is de Eddelmann, de gruwelt un wet ne, wat dat
is. Un de Daglöhner, de gruwelt. Un do secht den Eddelmann sin Dochter: Vadder,
wat heß du to gruweln ? Ja, so un so, secht he, de dre Rätseln, dat schall ik weten.
O Vadder, secht se, denn lat mi man hen. Ja,, kanns hen gähn. Se geiht je toers
rin na den Köni. Na, min Kind, wo is ’t ? Weß du dat, wat dat fetts is up de Welt ?
Ja, secht se. Na, wat denn? Ja, secht se, wi hebbt ’n besti fett Swin slacht, dat
hett so vel Nierenflömen hatt. Ik men, fetter kann gar niks wesen up ’e Welt as
dat. Dat kann wesen, secht he. Na, denn sech mi mal, wat ist dat sots up ’e Welt ?
Ja, secht se, wi hebbt ’n Stock Immen afdan, de hebbt so ’n söten Honni. SÖter kann
niks wesen up de Welt, as de Honni is. Dat kann wesen, secht he. Na, secht he,
denn sech mi mal, wat geiht am slechßen aftofell’n ? Ja, secht se, ’n Hasen. Nu
kümmt den Daglöhner sin Dochter rin. Na, min Kind, secht he, (wat is denn) fetter
as fett ? Gotts Eerdboden. Dat stimmt. (Na, un) wat is dat sots ? De Slap. (Dat)
stimmt (secht he). (Na, un nu sech mi mal, wat am slechßen) aftofell’n (geiht). Ja,
secht se, minen Vadder sinen Füthahn. Dar hett min Mudder al veruntwinti Jahr
up fell’t, un se kricht em ne affell’t.
Damit schließt die Fassung. Der Schluß ist als selbstverständlich ausgelassen,
daß der Tagelöhner Recht bekommt und das Stück Land behält.
Nr. 7. De klök Bur’ndochter.
(Dar is mal ’n) Bur’n, (’n) Egendömer weß, (de hett ’n) Twepersted’ (hatt),
de is bi to plogen. Un hett ’n enzis Dochter hatt. Nu plogt he dar ’n goll’n Moser
rut. Un do kümmt he bi un nimmt em mit to Hus un secht, dat mutt he aflewern
an ’n Köni. Do secht sin Dochter: Vadder, dat lat na. De Köni verlangt den Stöter
dar uk tö. Dat kann he je ne, secht he. Awer behol’n kann ik em uk ne. Aflewern
294
Wisser: Kleine Mitteilungen.
mutt ik dat. He bringt dat je hen. Dat is recht nuch (genug), secht he, dat du dat
aflewern deis. Awer wo en Del is, dar is beides (!). Ik verlang’ den Stöter uk. Ne,
ik heff ne mehr funn’n as den Möser. Ja, dat ’s enerlei, den Stöter verlang’ ik uk.
Ja, hebb’n will he ’n. Nu steiht he dar je, de Bur, an wet ne, wat he segg’n schall.
Och Gott, secht he, hadd’ ik min Dochter hört! secht he dünn. Wat hett se secht ?
(Ja, se sä, ik schull den Moser) ne aflewern. (Denn verlang’ de Koni) den Stöter
uk. Ja, secht de Koni, wenn de so klök is, denn lat de kam’n, secht de Koni, nich
mit Tüg un nich ahn’n Tüg, nich to Wag’ un nich to Roß (!), un nich ut ’n Weg
un nich in’n Weg. Wodenni is s’ nu hen kam’n ? Nu is se bikam’n un hett sik ’n
Fischernett halt, dar wickelt se sik spliddernak in. Un do sücht se tö, dat se ’n
Zegenbuck kricht, un de mutt ehr hen trecken, in ’e Wagentraw lank. Un do vor
’n Sloß hervor. Do röppt se, dat se dar is, un den Stöter hett se uk (habe sie auch).
Se hett den Zegenbuck ment. Do secht he: Na, min Kind, secht he, wenn du so
klök büß, denn schaß du min Fru ward’n. Wuddu (= wullt du) dat? Ja, secht se.
Na, do ward se sin Fru-je. Nu is dat de Möd’ weß, dat jeder (!) Bur all’ Jahr mutt
’n Geschenk aflewern an ’n Sloß, un denn föhrt se hen. Un de en, de hett ’n drachti
Fahl’ntöt vor. Un as se in d(en) Sloß sünd, do ward de Fahl’ntöt fahl’n. Un dat (!)
Fahl’n, dat is in ’e Ben’n kam’n un steiht bi den annern Bur’n sin Per, de hett ’n
paar Wallack ( !) vpr. Un do secht de Bur: Sieh so, nu hett min Tot fahlt. So ?
secht de anner, de steiht bi min Per, dat ’s je min’n Fahl’n. Dat hann doch ne göt
angahn, du heß je doch ’n paar Wallack vpr, de künnt doch kenen Fahl’n kriegen.
Dat ’s enerlei, secht he. Den Strit to vermeden (wie oben): wi sünd bi ’n Koni, un
wat de secht, dat gelt. Ja, Se gaht je wa’ rin un bringt dat je an, so un so. Ja,
secht de Koni, ik kann ne anners as bi dat Perd, wo d. (de oder dat ?) Fahl’n stahn
hett, den’ hört den (!) Fahl’n. Do mutt he je sin’n Fahl’n missen. Do denkt de Bur,
he will mal sehn, wat he de Königin ne an ’t Wort kam’n kann. De Recht hett,
de kricht Recht bi ehr. He kricht ehr an ’t Wort, stell’t ehr de Sak vpr. Ja, secht
se, se kann ne anners, den’ un den’ Dag, denn ward de Koni (ut ) föhrn, den’ un
den’ Weg. Denn schall he man na den allerhöchßen Barg gähn, den’ dat gift, un
schall dar fischen. Un denn ward de Koni wahrschinli ’n Lakai afschicken un lett
fragen, wat he dar makt. Denn schall he segg’n, he fischt. Un denn ward he wul
fragen, ob dat geiht, up den allerhöchßen Barg, de dar is. Denn schall he segg’n, ja,
wenn dat geiht, dat ’n Wallack ’n Fahl’n kricht, denn geiht dat uk an, dat he up
den höchßen Barg fischen kann. Un denn kümmt de Lakai je wa’ trüch, secht Se.
Do secht he: Frö (!), du heß mi unmünni makt, wüllt ümkehrn, wüllt wa’ trüch na
’n Sloß. Un as se do dar kam’n döt, so, secht he, Frö, nu sünd wi schedene (!) Lüd’.
Nu kanns wa’ hen gähn, wo du her kam’n büß. Awer dat beß, wat hier an ’n Sloß
is, dar gew ik di Friheit tö, dat kanns du mitnehmen. Ja, secht se, is göt. Hen
föhrn will ik di laten. Ja, secht se, denn wüllt wi noch ’n Glas Win tosam’n drinken,
ehr ik afreis’. Ja, secht he, dat künnwi je. Un do kricht se ’n Slapdrunk in sin (!),
un he slöppt tö. Un do kricht se em en twe dre to Wag’. Un as he sik wa’ besunn’n
hett, do kamt se bi ehr Ol’n, un do röppt he öwer ehr. Frö, secht he, woneb’n sünd
wi ? Ja, bi din Swiegerol’n. Ja, secht he, wo (= wie) kam ik hier her ? Ja, du heß
mi je fri geben, dat beß, wat an ’n Sloß wer, mittonehmen. Un beter kunn ik niks
finn’n as di. Frö, secht he, denn kumm man. Wi wüllt wa’ na unsen Sloß. Do sünd
se wa’ afreist.
Oldenburg. Wilhelm Wisser.
295
Boehm: Erster deutscher Volkskundetag in Würzburg.
Erster Deutscher Yolkskundetag in Würzburg.
Auf der im Herbst 1929 in Berlin abgehaltenen 25. Abgeordnetenversammlung
des Verbandes deutscher Vereine für Volkskunde war beschlossen worden, die Ver-
bandsversammlungen in Zukunft zu allgemeinen Volkskundetagen auszugestalten,
die alle 2 Jahre stattfinden sollen. Die erste dieser Veranstaltungen, die in Würzburg
vom 22. bis 24. September 1930 stattfand, ist in bezug auf Besucherzahl und wissenschaft-
lichen Ertrag zu allgemeiner Befriedigung verlaufen. Die Versammlung der Verbands-
abgeordneten eröffnete die Tagung. Der Vorsitzende, Professor Dr. John Meier
(Freiburg) teilte in seinem Bericht u. a. mit, daß der Verband zur Zeit 170 Vereine,
Institute, Museen, Bibliotheken usw. mit mehr als 350 000 Mitgliedern umfasse. Das
Volksliedarchiv des Verbandes ist auf 170000 Nummern angewachsen; leider wird
die Bearbeitung dieses Riesenmateriales durch die Einschränkung der Staatszu-
schüsse stark gehemmt. Die Neubearbeitung des großen deutschen Volksliederwerkes
ist im Gange, von den Handwörterbüchern nähert sich das des Aberglaubens dem
Abschluß des 3. Bandes, das des Märchens beginnt zu erscheinen (s. unten S. 305), die
Reihe der landschaftlichen Volkslieder wurde fortgesetzt, der Druck der Bibliographie für
die Jahre 1925/26 ist nahezu beendet. Für alle Veröffentlichungen des Verbandes ist
ein stärkerer Absatz dringend erforderlich.
Im weiteren Verlauf der Tagung wurden folgende Vorträge gehalten: Professor
Dr. Lehmann: der Wert der Flurkarten für volkskundliche Forschungen. — Prälat
Dr. M. Hindringer: Pferdesegnungen und Leonhardifahrten im Lichte der Re-
ligionsgeschichte. — Hofprediger Dr. Jacoby: Die Zauberbücher vom Mittelalter
bis zur Neuzeit, ihre Sammlung und Bearbeitung. — Konservator Dr. Ritz: Frän-
kische Volkskunst. — Professor Dr. Helbok: Zur Frage der Ermittlung der Räume
der Niederlassung und des mittelalterlichen Landesausbaues in Süddeutschland und
den Sudetenländern. — Dr. Schier: Kulturgeographie der Feuerstätten in den Su-
deten- und Karpathenländern. — Professor Dr. Mitzka: Das Schiff und die Volks-
kunde. — Dr. Lüers: Die Totenbretter in Bayern. — Professor Dr. Rumpf: Ver-
gangenheitsvolkskunde und Gegenwartsvolkskunde. — Dr. Boehm: Die bisherigen
wissenschaftlichen Ergebnisse der Arbeiten am Atlas der deutschen Volkskunde. —
Gemeinschaftliche Veranstaltungen umrahmten die der Wissenschaft gewidmeten
Stunden; in besonders schöner Erinnerung werden allen Teilnehmern die Führung
durch die Residenz, die Ausfahrt nach Marktbreit und das Festessen im Wenzelsaal
des Rathauses bleiben. Ein ausführlicher Bericht über die gesamte Tagung wird in
Nr. 42 der Mitteilungen des Verbandes erscheinen. Der zweite Volkskundetag wird
im Jahre 1932 voraussichtlich in Innsbruck stattfinden.
Im Anschluß an den Volkskundetag fand eine Versammlung der Landesstellen-
leiter und des Ausschusses für den Atlas der deutschen Volkskunde statt, an der seitens
der Notgemeinschaft der Deutschen Wissenschaft Geheimrat Dr. Schwoerer teil-
nahm. Der Präsident der Notgemeinschaft, Se. Exzellenz Staatsminister Dr. Schmidt-
Ott, hatte am Tage vorher einen Teil der Vorträge beigewohnt. Ferner versammelte
sich gleichzeitig unter dem Vorsitz von Professor Dr. Lehmann die Deutsche Volks-
kunstkommission ; die Veröffentlichung des darüber vorliegenden eingehenden Be-
richtes kann aus Raumgründen leider erst im nächsten Hefte der Zeitschrift erfolgen.
F. Boehm.
Notizen
Adler, Fritz: Pommern. Mit 214 Bildern. München, Delphin-Verlag (1930).
43 S. Kart. 7.50 M., Pappe 8.50 M., Ganzleinen 9.50 M. (Deutsche Volkskunst, hrsg.
v. E. Redslob, 11. Bd.) — Die Volkskunst Pommerns steht an Reichhaltigkeit der
Formen und Farben gewiß hinter der vieler anderer Provinzen zurück. Und doch ist
es dem Leiter des Stralsunder Heimatmuseums gelungen, auch aus diesem kargen
Boden Schätze zu heben, die sich sehen lassen können. Wie fast überall in den öst-
lichen Provinzen heben sich die Holzarbeiten besonders hervor, so die Giebelzeichen,
Stühle und Truhen, die Webegatter, Flachsschwingen und Spinnwocken, Mängel- und
Waschhölzer, Leuchter und Grabmäler. Für die Trachten wird natürlich vor allem
das Weizackergebiet ausgebeutet; von der Keramik seien die Töpfe und Satten aus
Rügen und Neuvorpommern wegen ihrer zum Teil sehr feinen Ornamentik hervor-
gehoben. Deutlich lassen sich aus diesen Zeugnissen der Volkskunst die inselartigen
Kulturlandschaften im Westen, Süden und Osten der Provinz erkennen, die der
Herausgeber in dem Textteil treffend einander gegenüberstellt und in ihrer Eigenart
deutet. So fügt sich auch dieser Band der unvergleichlichen Reihe dieser Volkskunst-
sammlung würdig ein. F. B.
Anger, Helmut: Die Deutschen in Sibirien. Reise durch die deutschen Dörfer
Westsibiriens. Berlin und Königsberg i. Pr., Ost-Europa-Verlag 1930. VIII, 104 S.
4.80 M. (Deutsche Gesellschaft zum Studium Osteuropas, Komitee zur Pflege der
kulturellen Beziehungen zwischen Deutschland und der Republik der Wolgadeutschen).
— Zwischen der Reise, die der Verfasser im Jahre 1926 mit Unterstützung der Not-
gemeinschaft der deutschen Wissenschaft unternahm, und dem Erscheinen des vor-
liegenden Berichtes, dessen Druck die Deutsche Akademie ermöglichte, liegt eine
Frist von fast vier Jahren. Diese weite Spanne ist um so mehr zu bedauern, als
sich die Lage der deutschen Kolonisten in Sibirien, die vom Verfasser als verhältnis-
mäßig günstig bezeichnet wird, inzwischen bekanntlich außerordentlich verschlechtert
hat, und Tausende von ihnen völlig mittellos Haus und Hof verlassen mußten, um sich
nach kurzem Verweilen in Deutschland eine neue Heimat in Kanada oder Brasilien
zu suchen. Der Titel des Buches scheint etwas anspruchsvoll gewählt, denn der Ver-
fasser hat nur die deutschen Dörfer südlich von Omsk, nordöstlich von Pawlodar und
am Kulundasee, bei Rubzowka und Semipalatinsk besucht und berichtet im Plauder-
ton über Land und Leute. Zu längerem Verweilen fehlte es offenbar an Zeit und
Mitteln, sodaß die Beobachtungen nicht eben in die Tiefe gehen; der volkskundliche
Ertrag jedenfalls ist gering. Vermerkt sei ein Volkslied, das mit dem Vers „Ich
komme vom Gebirge her“ (S. 41) beginnt, ferner die Abbildungen des Dreschsteins
(Abb. 24) und eines Hauses mit aufgemalten Fensterläden (Abb. 29). Die Aufnahmen,
die für die Zwecke des Atlas der deutschen Volkskunde im Sommer 1930 in den Aus-
wandererlagern Prenzlau, Mölln und Hammerstein gemacht worden sind, haben ge-
zeigt, ein wie reiches Material für die Volkskunde der Auslanddeutschen hier vor-
liegt. Dankenswert sind die statistischen Angaben und die beigefügten Karten, aus
denen wenigstens die Lage der vom Verfasser berührten Kolonien ersichtlich ist; die
abseits liegenden werden freilich mit „Lage unbekannt“ als terra incognita bezeichnet.
Auslandsstudien, hrsg. vom Arbeitsausschuß zur Förderung des Auslands-
studiums an der Albertus-Universität zu Königsberg i. Pr. 3. Band: Die nor-
dischen Länder und Völker. Königsberg i. Pr., Gräfe & Unzer 1928. 183 S.
Kart. 5.80 M. — Die ersten beiden Bände dieser Schriftenreihe wurden oben 1925/26
Notizen.
297
S. 285 angezeigt; in dem vorliegenden zeichnet Karl Andrée den Schauplatz Skan-
dinavien in seiner Bedingtheit durch Lage und Aufbau. Was hier in fruhgeschicht-
licher Zeit für Geistesleben erblühte, und wie seine künstlerische Gestaltung sich
schichtweise in der Edda erkennen läßt, untersucht Friedrich Ranke; er polemisiert
dabei gegen des Eddaforschers R. I. Gorsleben (Dinkelsbühl) schwärmerische Über-
schätzung des Alters und der Bedeutung dieser altnordischen Urkunden. — Ein
rascher Blick über die Geschichte der Hansestadt Wisby auf Gotland (von Bern-
hard Schmid) führt hinüber zu inhaltreichen Studien Hans Rothfels’ Über Staat
und Nation in der Geschichte Dänemarks. In dem nordischen Völker-Lebensraum
hat der dänische Staat ein ähnliches Schicksal erfahren, wie Österreich im Herzen
Europas : als Brücke zwischen Deutschland und Skandinavien, als Strahlungszentrum
staatlicher Macht. Den dänischen Gesamtstaat als ein übernationales Gebilde, das
noch im 18. Jahrhundert neben dem eigenen Kern die deutschen Elbherzogtümer,
dazu Norwegen und Island umfaßte — als südnördliche Verlängerung Mittel-
europas — hat erst im 19. Jahrhundert die Nationalitätsbewegung zersprengt.
Neue Aufgaben stellt das Schicksal der Lage heute: im Schnittpunkt der deutsch-
skandinavischen und der westöstlichen Kraftlinien (England—Rußland). — Die
Wechselwirkung der jahrhundertelangen Symbiose dänisch-deutschen Lebens kenn-
zeichnet geistreich Josef Nadler in den Strömungen der Literatur von Klopstock bis
Georg Brandes. — Dann untersucht Sven Helander die Positionen Schwedens und
Norwegens vor und nach dem Weltkriege, und zum Schluß Einar Billing die Ent-
stehung der lutherischen Volkskirche in Schweden, ihr eigenartiges Gefüge und
inneres Leben, sowie ihre Bedeutung für Schwedens Weltstellung in Vergangenheit
und Gegenwart. Das ganze Buch: Ein Mosaik von geschlossener Bildkraft.
E. L. Schmidt.
Beschorner, H. : Handbuch der deutschen Flurnamenliteratur bis Ende 1926.
Im Aufträge des Verbandes deutscher Vereine für Volkskunde hrsg. Frankfurt a. M.,
Diesterweg 1928. 232 S. 12 M. — Diese Literaturzusammenstellung ist für jeden, der
sich mit Flurnamenforschung im weitesten Sinne beschäftigt, unentbehrlich. Die
2049 Nummern, die übersichtlich nach Ländern und Provinzen angeordnet sind,
bieten jedem Forscher Hinweise in großer Fülle. Der Verfasser zeigt nicht bloß die
Bücher an, sondern gibt eine kurze Inhaltsangabe mit besonderer Berücksichtigung
eigenartiger Formen. Schon das Durchlesen dieser kurzen Berichte vermittelt eine
Fülle von Wissen über Flurnamen. In keiner Bücherei, die Wert auf neuzeitliche
Literaturnachweise legt, darf das Werk fehlen ! — (Bei Nr. 58 muß es heißen : Z. dte.
Mundarten (1919) 66—72. Ergänzungen zu XXIV (1910) 249—254 u. XXX (1916)
625—627 der Ztsch. f. d. deut. Unterricht.) O. Kieser.
Biagioni, Luigi: Marcolf und Bertoldo und ihre Beziehungen. Ein Beitrag
zur germanischen und romanischen Marcolf-Literatur. Köln, Karl Utsch 1930.
107 S. mit 2 Taf. — Das italienische Volksbuch „Bertoldo“, das der Bologneser
Bänkelsänger Giulio Cesaro Croce (f 1609) gegen Ende des 16. Jahrhunderts heraus-
gab, beruht auf dem deutschen, um 1482 zuerst erschienenen Volksbuche von Salomon
und Marcolf, das 1502 ins Italienische übertragen worden war. Croce nationalisierte
den Stoff, indem er den König Alboin nannte und neben ihm eine Königin einführte,
dem Bauern aber den Namen Bertoldo gab und seine Frau Pulicana fortließ. Ferner
strich er einige zu grobe Unflätereien und fügte mehrere Schwänke ein, die er offenbar
der lebendigen Volksüberlieferung entnahm, so die neue Eva, die Rettung vor den
Schlägen der ergrimmten Frauen, die Ablenkung der Hunde durch einen mitgebrachten
Hasen, das Entrinnen aus dem Sacke durch Tausch. Dies alles hat der Verfasser mit
sorgsamer Ausnutzung der früheren Literatur nachgewiesen und die Verbreitung der
einzelnen Motive durch reichliche Parallelen dargelegt. Die einzelnen Kapitel sind
leider nicht numeriert. J. B.
Bleyer, Jakob: Das Deutschtum in Rumpfungarn. Verlag des Sonntagsblattes,
Budapest 1928. 196 S. Geh. 8 p. (Volksbücherei des Sonntagsblattes, 2. Bd.) —
Das Buch enthält drei Arbeiten. In der ersten stellt Universitätsprofessor Heinrich
Schmidt die Ergebnisse langjähriger Forschungen über die deutschen Mundarten
im Gebiet des heutigen Ungarn allgemeinverständlich zusammen. Kartenskizzen
zeigen die Verbreitung der einzelnen Mundarten sowie die Gebiete in Deutschland,
auf die als Herkunftsraum der Zugewanderten diese Tochtermundarten schließen
lassen. Es handelt sich um mehr als 400 ungarische Ortschaften. Abschließendes über
Zeitschrift für Volkskunde, II, 3. 20
298
Notizen.
jede zu sagen läßt der lückenhafte Stand der Forschung noch nicht zu. Vorderhand
ergibt sich folgendes Bild der Siedlungsgeschichte: Die Grundherren, die nach der
Eroberung aus der Hand der Türken das Land in Besitz nahmen, holten sich Arbeits-
kräfte zuerst aus der Nähe: Niederösterreich, Mähren und Böhmen; spätere Einwande-
rerwellen kamen aus Donau-Bayern, aus dem Schwarzwald, danach aus dem Rhein-
land und weiter her: aus Elsaß, Lothringen, Luxemburg, Hannover, Holland und
auch Frankreich, wobei die späteren Ansiedler jeweils immer weiter nach Süden und
Osten vorrückten. Genaueres würde erst die Durchforschung der Archive bringen.
Vorarbeiten dazu liefert der zweite Beitrag: „Ansiedlung der Deutschen in Rumpf -
Ungarn“, von Gymnasialprofessor Rogerius Schillings, O. Cist. (deutsch von
Dr. Peter Jekel). Aus den Urkunden des Staatsarchivs und einiger Familienarchive
wird für die verschiedenen Komitate zusammengestellt, was sich über die Grund-
herren der einzelnen Ort- und Landschaften, die Methoden und Erfolge ihrer An-
siedlungstätigkeit ermitteln ließ. — Im dritten Beitrag legt Dr. Johann Schnitzer
statistisches Material vor: zahlreiche Tabellen zeigen die Verbreitung der Deutschen in
Rumpfungarn und die Bestandsveränderung des deutschen und ungarischen Be-
völkerungsanteils seit Beginn der amtlichen Sprachenstatistik (1880) bis 1920. Teil-
weise wird dabei die Arbeit von A. Rieth: Die geographische Verbreitung des Deutsch-
tums in Rumpfungarn in Vergangenheit und Gegenwart, Stuttgart 1927, benutzt. Im
übrigen ist ein Vorzug aller drei Studien, daß sie aus sonst schwer zugänglichen, teil-
weise handschriftlichen ungarischen Quellen schöpfen. Eine vorzügliche Karte
(1 : 400000) veranschaulicht den deutschen Bevölkerungsanteil nach der Zählung von
1920 (s. auch o. 1928/24 S. 175, 1927 S. 72 u. 271). E. L. Schmidt.
Bolte, Johannes: Quellenstudien zu Georg Rollenhagen. Berlin, de Gruyter & Co.
1929. 24 S. 2 M. (Sitzungsberichte des Preuß. Ak. d. Wiss. phil.-hist. K. 1929. XXXI.
— Der erste Teil der Abhandlung beschäftigt sich mit den im Gegensatz zum Frosch-
meuseler wenig bekannten biblischen Schauspielen des märkischen Dichters. Als
Grundlage des Abraham (1568) werden Dramen H. Zieglers und J. Freys erwiesen,
die Rollenhagen mit Freiheit und Geschick benutzt hat. Für den Tobias (1576) lieferte
ihm ein 1569 in Wittenberg gedrucktes Spiel von Th. Brunner das Vorbild. Volks-
kundlich sehr interessant ist die von Rollenhagen eingefügte ausführliche Schilderung
der Hoehzeitsbräuche und die Einführung des Hausteufels Unrath (d. h. Verschwen-
dung), einer gelehrten Umbildung der Hauskobolde des Volksglaubens. Die Urquelle
für das Spiel vom reichen Mann und armen Lazarus (1590) ist der ‘Lazarus mendicus5
des G. Macropedius (1541), unmittelbare Vorlage das Drama des J. Lonemann (1564);
wie weit Rollenhagen in der Umgestaltung gegangen ist, läßt sich im einzelnen nicht
restlos feststellen, doch zeigt sich in dem Aufbau des Ganzen, in der volkstümlich
packenden Sprache und in den satirischen Anspielungen deutlich seine Hand. —
Im zweiten Teile „Tierhölle und Tierhimmel“ gibt Bolte, ausgehend von der
Schilderung des Infernos der Tiere im Froschmeuseler, eine überaus reichhaltige und
genaue Übersicht über die Vorstellung vom Jenseits der Tiere bei den verschiedensten
Völkern, mit einem besonders fruchtbaren Exkurs über den heute noch in Redens-
arten und Sprichwörtern vorkommenden ‘GänsehimmeP. Für Grabschriften auf
Tiere, in denen von einem Tierhimmel die Rede ist, vgl. das oben 1, 320 (1929) an-
gezeigte Buch von G. Herrlinger. F. B.
Boudriot, Wilhelm: Die altgermanische Religion in der amtlichen kirchlichen
Literatur des Abendlandes vom 5.—11. Jahrhundert. Bonn, Röhrscheid 1928. VIII,
79 S. (Untersuchungen zur allgemeinen Religionsgeschichte, hrsg. v. C. Clemen,
Heft 2.) — Vor einer Überschätzung des Quellenwertes kirchlicher Auslassungen für
die germanische Religion ist schon oft gewarnt worden, so von Helm in seiner Alt-
germ. Religionsgeschichte 1, 91 f„ von F. Schneider im ArchfRelw. 20, 82ff„ von
Fehrle in der Oberdt. ZfVk. 1, 97ff. Als eine besonders wichtige, immer wieder aus-
gebeutete Vorlage hat R. Boese die Predigten des Caesarius von Arles (t 543; vgl.
C. F. Arnold Caesarius von Arelate, Leipzig 1894) in seiner Dissertation Superstitiones
Arelatenses a Caesario collectae, Marburg 1909, erwiesen. Die vorliegende Schrift
setzt diese Untersuchungen fort und führt zu dem Ergebnis, daß nur ein ziemlich
kleiner Teil der offiziellen kirchlichen Literatur des behandelten Zeitabschnitts für die
germanische Religion in Betracht kommt. Was in Synodalbeschlüssen, fürstlichen
Kapitularen, päpstlichen und bischöflichen Entscheidungen, Predigten und Trak-
taten, kirchlichen Formularen (z. B. Indiculus Superstitionum) und Bußbüchern an
Paganismen bekämpft wird, ist in der Hauptsache antik-synkretistischer Aberglaube,
Notizen.
299
den Caesarius aus eigener Kenntnis vor Augen hatte. Der Verfasser gibt erst eine
sehr dankenswerte Übersicht über die wichtigsten kirchlichen Verlautbarungen jener
Gattungen und versucht dann festzustellen, was etwa als Quelle für altgermanischen
Mythus und Ritus anzuerkennen sei. Seine Kriterien sind teils sachlicher, teils stili-
stischer und sprachlicher Art ; beide, besonders die letztgenannten, würden durch eine
bis in die feinsten Details gehende Untersuchung an Überzeugungskraft sicher wesent-
lich gewinnen, und man möchte wünschen, daß ihm eine Ausgestaltung seines Werkes
in dieser Richtung vergönnt sei. Eine restlose Entscheidung freilich wird nicht selten
unmöglich bleiben, zumal wenn man die Zeugnisse des späteren Volksglaubens als
positive Argumente so wenig gelten läßt, wie es der Verfasser im allgemeinen tut.
So schiebt er, um ein Beispiel zu geben, die von Feilberg beigebrachten norwegischen
und isländischen Entsprechungen zu dem Kalendenbrauch in bivio sedisti supra
taurinam cutem, ut ibi futura intellegeres doch wohl mit zu leichter Hand beiseite.
Dieser Brauch und ebenso der in der gleichen Beichtfrage unmittelbar vorher er-
wähnte ut supra tectum domus tuae sederes ense tuo circumsignatus, ut ibi videres et
intelligeres quid tibi in sequenti anno futurum esset ist noch heute auch für Finnland
und Schweden bezeugt (vgl. meinen Artikel „Horchen“ im Hdw. d. dt. Abergl.). Der
Verfasser lehnt diese Zeugnisse ab, weil sie aus der Neuzeit stammen ; will er damit sagen,
daß die Bräuche auch in der Neuzeit entstanden sind ? Daran darf man zweifeln, zumal
der Verfasser weiterhin Gründe für eine Übertragung aus der antiken Welt anführt.
Zu S. 30 (vince luna) sei jetzt noch auf Jacoby, HessBl. 28, 217 verwiesen, zu S. 54
(striga holda) auf Waschnitius, Wiener Sb. 174 Abh. 7 (1915). S. 26 sollte bei pedum
similitudines die Konjektur pecudum gestrichen werden, es handelt sich um Heil-
zauber mit nachgebildeten Füßen (membra ex ligno facta, s. S. 39). In der Frage
portasti in aggerem lapides (S. 27) handelt es sich keinesfalls um Steine, die vergraben
wurden, sondern um die Errichtung eines Steinhaufens. Die völlige Gleichsetzung
von impuriae mit ëgirupa = Rauchorakel (S. 32f.) ist sehr zweifelhaft; Fehrle,
Oberdt. ZfVk. 1, 107 sieht darin Frauen, die aus dem Feuer weissagten, ohne freilich
die Frage klär lieh zu lösen, wie man sich in diesem Fall das super tectus mittere denken
soll. Eine alle jene frühen kirchlichen Zeugnisse übersichtlich vereinende und auf
ihren quellenmäßigen Zusammenhang hin untersuchende Zusammenstellung ist ein
dringendes Erfordernis der Religionswissenschaft wie der Volkskunde. Das Buch
Boudriots muß man als einen besonders wertvollen Baustein zu diesem Werk der Zu-
kunft dankbar entgegennehmen. F. B.
Brockmann-Jerosch, H. : Schweizer Volksleben. Sitten, Bräuche, Wohn-
stätten. 2. Bd. Mit 268 Abb., 8 Taf., Textillustrationen. Erlenbach-Zürich, E. Rentsch
1931. 152 S. 4°. Geb. 28 Fr. (23 M.). — Schnell ist das oben 1, 214 zuerst angezeigte
schöne Werk durch Erscheinen des zweiten Bandes zum Abschluß gebracht worden.
Er umfaßt die Innerschweiz, Wallis, Genfer See und westliches Alpengebiet, Schweizer
Mittelland, Jura, Basel. Was an dem ersten Band hervorgehoben wurde, die Viel-
seitigkeit des Textteiles und die Schönheit der Bilder, das gilt vielleicht in noch stärke-
rem Maße vom zweiten; besonders die Textabhandlungen sind noch straffer und
sachlicher geworden. Viele von ihnen geben sich als umfangreiche Darstellungen
einzelner Gebräuche, z. B. des Winzerfestes von Vevey, des Kiltgangs im Emmental,
der Fête des Brandons. Andere geben einen Überblick über größere Gebiete, z. B.
über Landgemeinde und Volk, das Volksleben im welschen Lied, die deutschen Mund-
arten im Kanton Freiburg, über die eidgenössischen Schützen-, Turn- und Sänger-
feste. Hübsch ist auch die Abhandlung über die Hunde im Volksleben von A. Heim.
So gewinnt auch der Textteil seinen Eigenwert; freilich bringt nach wie vor den
größten Gewinn die wieder ganz wundervolle Sammlung von Bildern aus dem Volks-
leben, von Bauten, Trachten usw., wie sie sonst wohl kein Land Europas aufweisen
kann. Dem Herausgeber mit seinen zahlreichen Mitarbeitern und dem Verleger darf
man zur Vollendung des Werkes ebenso Glück wünschen wie ihrem schönen Heimat-
land.
Calvaruso, G. M. : ’U Baccäghiu. Dizionario comparativo etimologico del
gergo parlato dai bassifondi Palermitani. Catania, Guaitolini 1929. 214 S. 30 L. —
Der nicht unbeträchtlichen Reihe von Monographien und Wörterbüchern über die
Sondersprachen der Unterwelt in einzelnen Provinzen und Städten Italiens schließt
sich die vorliegende, auf langjähriger Arbeit aufgebaute Sammlung trotz einiger
Mängel als wertvolles Stück an. Feste Grenzlinien für das Gebiet, in dem das „baccä-
ghiu“ gesprochen und verstanden wird, lassen sich natürlich schwer ziehen, und so
20*
300
Notizen.
mag man bei manchen der mitgeteilten Ausdrücke im Zweifel sein, ob sie tatsächlich
nur in der Spelunke und im Gefängnis Kurswert haben. Zum Vergleich zieht der
Verfasser häufig den Verbrecherjargon anderer Städte Italiens und bisweilen auch
Frankreichs heran, leider nicht auch den des deutschen Sprachgebiets, der manche
interessante Parallele bietet und bisweilen auch für die Deutung helfen kann, z. B. für
bianchettu (Geld) die deutschen Ausdrücke Weißling (Münze), weiß sein (Geld haben)
u. a., für bossu dt. Boos (Wirt), für lampo (Polizist) dt. Lampe. Im Gegensatz zum
deutschen Jargon ist der Einfluß des Hebräischen sehr gering; vereinzelt treten eng-
lische, durch den Auswandererverkehr eingeführte Elemente auf. Die Etymologien
scheinen zum Teil etwas gewagt, so die Herleitung der Zufügung von frati und soru
zu Ungeziefernamen aus dem • Stil des hl. Franciscus, die Ableitung abbacäri (ein
Mädchen durch Geld verführen) von Bacco, mlrula (Frau) von mirare u. a. m. Leider
ist die vorzügliche Abhandlung von M. L. Wagner, Über Geheimsprachen in Sar-
dinien (Volkstum und Kultur der Romanen 1, 69ff.) nicht berücksichtigt worden, die
für manche Deutungen sowie für das Literaturverzeichnis sehr wertvolle Ergän-
zungen bietet. Für vergleichende Studien zur Psychologie des Jargons ist der Mangel
einer nach Begriffen geordneten summarischen Übersicht sehr hinderlich; der Reich-
tum der Synonyma ist sehr groß, für „Geld“ finden sich über 50, für „Polizist, Sol-
dat“ usw. über 60 verschiedene Ausdrücke. F. B.
Landingsboka, utgitt efter tiltak av Landinger ved Olaf Kolsrud, 2. Bind:
Reidar Th. Christiansen, Fra gamle dager. Folkeminner i Land, samlet. Oslo 1926.
256 S. — Land heißt eine norwegische Landschaft nördlich von Oslo, die noch einen
reichen Schatz echter Volksüberlieferungen besitzt. Daraus hat Christiansen den
vorliegenden Band geschöpft, der in erster Linie für die Landinger selber bestimmt ist.
Er behandelt in fortlaufender Erzählung ohne gelehrte Anmerkungen 1. Geburt,
Hochzeit, Begräbnis; 2. das tägliche Leben an Fest- und Wochentagen; 3. Volks-
medizin und Zauber; 4. Begebenheiten aus der Geschichte der Landschaft; 5. Geister-
und Elfensagen; 6. Volksdichtung in Märchen, Rätseln, Sprichwörtern, Liedern und
Kinderreimen. Natürlich begegnet hier vieles, das zur Vergleichung mit anderwärts
Bekanntem lockt; z. B. auf S. 95 die Geschichte von der Teufelschule zu Salamanka,
die uns aus einem Gedichte Th. Körners geläufig ist und hier nach Wittenberg verlegt
wird (Archiv für Literaturgeschichte 14, 445), S. 107 der Ring im Fischbauch (R. Köh-
ler, Kl. Sehr. 2, 209), S. 158 die ungleichen Kinder Evä (Bolte-Polivka, Anm. 3, 321).
Auf S. 132—145 berichtet ein Soldat von seinen Erlebnissen im Schleswig-holsteini-
schen Kriege von 1849/50. J. B.
Dangel, R.: Mythen vom Ursprung des Todes bei den Indianern Nordamerikas.
(Mitt. der Anthropolog. Gesellschaft in Wien 58, 341—374. 1928.) — Wie die Bibel
die Einrichtung des Todes auf den Sündenfall Adams zurückführt, so erklären zahl-
reiche ätiologische Legenden der Indianer, 1. warum das Menschenleben so kurz ist,
2. warum viele vorzeitig sterben, 3. warum die Verstorbenen nicht wieder aufleben
(Lebenswasser, Streit oder Wette), erzählen von der Unterwelt als der Heimat der
Menschen sowie von vergeblichen Versuchen, den Tod abzuschaffen, und suchen end-
lich dessen Einrichtung zu rechtfertigen. J. B.
Danzel, Theodor-Wilhelm: Symbole, Dämonen und heilige Türme. Bild-
tafeln zur ethnologischen Religionskunde und Mythologie. Hamburg, Friederichsen,
de Gruyter & Co. 1930. 35 S. und 108 Taf. 10 M. — Der durch zahlreiche ethnolo-
gische und kulturphilosophische Schriften bekannte Verfasser, der jetzt an dem
nationalen Forschungsinstitut für Sozialwissenschaft in Schanghai tätig ist, will durch
seine Zusammenstellung an Beispielen zeigen, wie überall auf der Erde der Erlebnis-
gehalt früher geistiger Stufen in vergleichbarer, verwandter Weise verarbeitet und
symbolhaft anschaulich gemacht wird. Die Mythen von der Entstehung der Welt
nach Analogie des menschlichen Körpers, dualistische Anschauungsweisen, wie sie vor
allem der Gegensatz Sonne—Mond hervorruft, die Lehre von der Herrschaft bestimm-
ter Dämonen oder magischer Potenzen über die einzelnen Körperteile, die Darstellung
kosmischer und psychologischer Vorgänge durch Stufenbauten und zahlreiche ver-
wandte Vorstellungen werden durch vorzügliche, zum Teil erstmalig veröffentlichte
Zeichnungen in einer langen und überaus interessanten Vergleichsreihe vorgeführt und
kurz erläutert. Für die Volkskunde sind von besonderem Werte die Sonnensymbole,
die Figuren im Monde, Fadenfiguren von kosmischer Bedeutung, die Darstellungen
der „magischen Anatomie“, der Mutter Erde, doppelköpfige und andere polymorphe
Dämonenbilder, Totentänze und Drachen. F. B.
Notizen.
301
Dumézil, Georges : Légendes sur les Nartes, suivies de cinq notes mythologiques.
Paris, H. Champion 1930. XI, 213 S. 40 Fr. (Bibliothèque de l’Institut français de
Léningrad tome 11.) — Die Narten sind ein riesenhaftes Heldengeschlecht, das in den
Sagen der Osseten und Tscherkessen, aber auch anderer Völker des Kaukasus, der
Tataren und Tschetschenen, eine große Rolle spielt. Nachdem Schiefner, Pfaff,
Vs. Miller und andere russische Gelehrte aus dem Munde fahrender Sänger zahlreiche
Sagenfassungen veröffentlicht haben, aus denen Hübschmann (ZdmG. 1887) und
Dirr (Kaukasische Märchen 1922, S. 173—209) bezeichnende Stücke verdeutschten,
bietet der Konstantinopler Professor Dumézil eine möglichst vollständige Übersicht
derselben in Auszügen, die er nach den Haupthelden in vier Gruppen teilt : Uryzmag
und Satana, Hamyc und Batradz, Sozryko und Soslan, endlich geringere Helden. In
diesen 51 Sagen, denen viele Varianten angehängt sind, finden wir bekannte Märchen-
motive, so den einäugigen Polyphem (S. 34, 44,147), den Schatz des Rhampsinit (S. 121),
die Zurückführung einer Frau aus dem Totenreich (S. 113), die Erweckung durch
Schlangenblätter (S. 102, Bolte-Polivka, Anm. 1, 127), das Entrinnen durch Tausch
(S. 119, Bolte-Polivka 2, 18, 3, 192), die verfolgte Hinde (S. 20, 106, Bolte-Polivka 2,
3452), die Fabel vom grünen Esel (S. 25, R. Köhler, Kl. Sehr. 2, 592; Bin Gorion,
Der Born Judas 2, 25), den Streit um den großen Bierkessel (S. 137, 162, 194), den
aus der Kanone geschossenen Helden (S. 56, 67, 111), die Nachtigall als Botin (S. 107,
113) usw. Doch Dumézil verzichtet darauf, solche verbreiteten Motive zu verfolgen;
er sucht vielmehr in den fünf Kapiteln des Anhanges den besonderen Charakter der
Sagenhelden aus der Geschiöhte der Osseten zu erklären, die als Nachkommen der
europäischen Iranier (der Skythen, Sauromatier, Alanen) viele der von Herodot und
andern Historikern geschilderten Eigentümlichkeiten in ihren Anschauungen und Ge-
bräuchen festgehalten haben. In der Heldin Satana möchte er die bei Moses von
Chorene erwähnte alanische Fürstin Satinik wiedererkennen, die dem armenischen
Könige Artases den Artavazd gebar, verweist aber für das Verhältnis von Uryzmag
und Satana auch auf Herodots (4, 5) Bericht über Herakles und die skythische Echidna.
In Batradz sieht er den von Herodot (4, 61) Ares genannten Gewittergott der alten
Skythen, der in christlicher Zeit zu dem mit den Dämonen kämpfenden Elias wurde,
während Sozryko einem Sonnenmythus entstammt. Eine Beeinflussung durch per-
sische Sagen und russische Bylinen ist in der Beschreibung des Jenseits und den Sagen
von einer Geschwisterehe wohl anzunehmen, doch äußert sich Dumézil hier vorsichtig.
J. B.
Ebermann, Oskar: Sagen der Technik, nach alten Quellen berichtet. Mit
20 Bildern nach alten Originalen. Leipzig, Hegel & Schade o. J. 140 S. Leinen 4 M.
(Dürrs Sammlung deutscher Segen, Neue Reihe, Bd. 4.) — Mit Wehmut durchblättert
man dies Buch des zu früh verstorbenen Gelehrten, der einer strengen Forschung
ebensogut zu dienen wußte wie der volkstümlichen Darstellungskunst. Dies beweisen
seine Untersuchungen auf dem Gebiete der Segen- und Aberglaubensforschung und
seine Elb- und Donausagen. Die vorliegende Sammlung ist von K. Rössger ab-
geschlossen und druckfertig gemacht worden. Sie bringt eine bunte Fülle meist deut-
scher Sagen, in denen technische Probleme in mythischer Gewandung erscheinen, so
u. a. das Fliegen, der Bau von Brücken und Wasserleitungen, der Bergbau, die Buch-
druckerkunst, die Uhrmacherei, Mühle und Pflug, Fernhören, Bau von Musikinstru-
menten, künstliche Menschen. Besonders unsre heutige Jugend, die für alles Tech-
nische vorwiegend begeistert ist, wird ihre Freude an dieser, mit schönen Bildern ge-
schmückten Sagensammlung haben. F. B.
Ekkhart-Jahrbuch für das Badner Land 1931. Im Auftrag des Landes-
vereins Badische Heimat hrsg. v. H. E. Busse, 12. Jahrg. Karlsruhe, Braun 1931.
108 S. 3 M. -— Ein feines Kalenderbuch für gebildete Leser, das die Weise der Heimat
aus Artikeln, Gedichten, Bildern und Liedern erklingen läßt. Besonders hervor-
gehoben seien die Beiträge von G. F. Hartlaub über den badischen Maler K. Hofer,
von J. Ruska über Thomas Zeichenlehrer, den Vater des Verfassers, mit zahlreichen
Abbildungen von Jugendwerken Thomas, von K. Benndorf über den Dichter
A. Mombert. F. B.
Ellekilde, Hans: Toves tryHering og kongValdemars vilde jagt (Frederiksborg
amts Historiske samfunds aarbog 1930, 169—204). Sowohl in Nordseeland (Gurre)
wie im Süden der Insel (Vordingborg) ist die von K. Nyrop 1907 (ZfVk. 17, 330) aus-
führlich behandelte Sage von dem Zauberringe, der den König noch an die Leiche der
302
Notizen.
verstorbenen Geliebten fesselt, heimisch. — Balder og Rune (Sonderjysk Maaneds-
skrift 1930, 177-—182). — Skänska folkminnes uppteckningar frän 1600-talet (Skänska
folkminnen, ärsbok 1929, 19—60). Sagen aus einer von Geistlichen auf Befehl Chri-
stians IV. 1622 zusammengetragenen Beschreibung von Schonen. J. B.
Epstein, Hans: Der Detektivroman der Unterschicht, I.: Die Frank-Allan-
Serie. Mit einem Geleitwort von Ernst Krieck. Frankfurt a. M., Neuer Frankfurter
Verlag 1930. VIII, 68 S. 2 M. — Den von Naumann und Spamer gegebenen Hin-
weisen auf die volkskundliche Bedeutung der Kolportageliteratur folgend hat sich der
Verfasser der gewiß nicht kleinen Aufgabe unterzogen, 25 Bände der ,,Frank-Allan-
Serie“ durchzuarbeiten, einer besonders beliebten Folge von Detektivgeschichten.
Was er über ihre Auflagenzahl und Verbreitung und über die Kapitalquellen beibringt,
aus denen diese Überschwemmung mit minderwertiger Literatur gespeist wird, ist
recht entmutigend. In endlosen Serien und in Mengen, gegen die die Auflagenzahlen
der gelesensten Schriftwerke der höheren Literatur verblassen, werden diese von
namenlosen Schreibkulis schablonenhaft fabrizierten Machwerke vertrieben und
finden in Stadt und Land ein unersättliches Publikum, anscheinend besonders in den
Kreisen von Arbeitern und höheren Schülern. Die Analyse der feststehenden Typen
und Situationen dieser Detektivgeschichten, die der Verfasser mit zahlreichen Zitaten
durchführt, ist für die Erkenntnis primitiver Geistes- und Geschmacksrichtung außer-
ordentlich belehrend. Die Freude am Wunderbaren und Exotischen, die Flucht aus
dem Elend der Wirklichkeit in das Traumland des Wunsches, die Ausstattung des
Helden mit allen erdenklichen Tugenden und Fähigkeiten, die Formelhaftigkeit der
Sprache und die Typik der handelnden Personen findet sich hier wie im Märchen;
bemerkenswert ist das Fehlen des Erotischen in diesem ausgesprochen männlichen
Genre und die durchaus unproletarische Gesamthaltung dieser in Proletarierkreisen
vielgelesenen Geschichten. Unwahrhaftig und damit ein starker Gegensatz zum
Märchen ist das Protzen mit Kenntnissen, das wohl auf eine Einwirkung der Karl-
May-Literatur zurückzuführen ist, und die Einstreuung fremdsprachlicher, meist eng-
lischer Brocken, die den Verfassern zur Verstärkung des selbstverständlich amerika-
nischen Kolorits unerläßlich erscheint. Der Verfasser hat sich absichtlich zunächst
meist auf die Stoffsammlung beschränkt; die Richtung, in der sich eine Synthese
dieser Einzelbeobachtungen zu bewegen hätte, wird in dem Vorwort Kriecks an-
gedeutet. Die Volkskunde würde von einer solchen methodischen Auswertung einen
nicht geringen Nutzen haben. F. B.
Fehrle, E.: Arbeiten zur Volkskunde und zur deutschen Dichtung. Festgabe
für Friedrich Panzer zum 60. Geburtstag am 4. Sept. 1930, unter Mitwirkung von
H. Teskehrsg. Bühl-Baden, Konkordia A.-G. 1930. 96 S. 4,80 M.—Etwa die Hälfte
der Aufsätze dieser Festschrift, die dem verdienten Forscher und Lehrer von Freunden
und Schülern dargebracht worden ist, ist der Volkskunde gewidmet. E. Fehrle übt
eine maßvolle und wirklichkeitsnahe Kritik an Naumanns Theorie, indem er be-
sonders auf die Relativität der Begriffe „primitiv“ und „Kulturgut“ hinweist. —
W. Schumacher tritt, von seinem Spezialgebiet, dem Soldatenlied, ausgehend, für
eine „zeitgemäße Volkskunde“ ein, die keine Schicht des Volkes und keine Erscheinung
ausschließt. Die Volkskunde müsse auch als Wissenschaft darauf halten, volks-
verbunden zu bleiben und dafür sorgen, daß der Gebildete wieder Volk werde, ohne
„reaktionär“ der Gegenwart den Rücken zu kehren; hier liege vor allem eine wichtige
Aufgabe der Hochschulen, an denen die Volkskunde viel zu schwach vertreten sei. —-
C. Krieger gibt eine anschauliche Schilderung vom Volksglauben des Kraichgaus vor
50 Jahren mit interessanten Feststellungen über das tatsächliche Weiterleben des
Volksgutes. — J. Künzig behandelt auf Grund genauer Quellenkritik die Legende
von den drei Jungfrauen (Kunigundis, Mechtundis, Wibrandis) am Oberrhein. —
R. Stroppel stellt zahlreiche Zeugnisse über die Bezeichnung der Jungfrau Maria als
„Kaiserin“ zusammen, die im Abendland seit dem 11. Jahrhundert aufkommt und
mit „Königin“ oft synonym gebraucht wird. — R. Hünnerkopf vergleicht die
isländische Erzählung von 111, Verri und Verst (Nr. 90 in Gerings Sammlung Tslendzk
AeventyrP) und ihre Parallelen mit der Hebelschen „Die drei Diebe“. —W. Panzer
macht mit einer kurzen Skizze über die Vögel im deutschen Volksleben den Beschluß
und weist darauf hin,wie wichtig auch für den Ornithologen eine volkskundliche Durch-
forschung seines Gebietes ist. F. B.
Flatin, Kjetil A.: Tussar og Trolldom; ved Tov Flatin. Oslo 1930. 154 S.
(Norsk Folkminnelag 21.) — Der 1916 verstorbene Verfasser hat als Lehrer in Selg-
Notizen.
303
jord mit großem Fleiße die hier veröffentlichten norwegischen Volkssagen über
Kobolde und Zauberei gesammelt. Sie werden von bestimmten, mit Namen genannten
Personen des 18. und 19. Jahrhunderts berichtet und handeln vom Verkehr mit
Unterirdischen, Teufelsbeschwörungen mit dem ‘Svarteboki’, Zauberhandlungen an
Menschen und Vieh, Gespenstern. Der Stil ist knapp und sachlich. J. B.
Freydanck, G.: Die Bedeutung der Ortsnamen des Kreises Hameln-Pyrmont.
Hameln, F. Busch 1929. IV, 93 S. — Auf altdeutschem Boden liegen alle die Orte,
deren Namendeutung der Verfasser unternimmt. Mit reichem sprachlichen Rüstzeug
geht er an die Arbeit. Er untersucht sehr eingehend die Lage der Orte und stellt
dabei z. B. acht verschiedene Bezeichnungen für „Wasser“ fest, je nachdem es sich
um quellendes, fließendes oder stehendes handelt, um Sumpfgelände oder Furten.
Ebenso reichhaltig sind die Bezeichnungen für „Wald“. Schemata, die bis zu 18 Unter-
abteilungen aufweisen, machen die Veränderungen deutlich, die einzelne Stammlaute
oder -silben der Grund- oder Bestimmungswörter erfahren haben. Das methodisch
gut angelegte Buch wird dem Ortsnamenforscher im alten Sachsengebiet viele An-
regungen geben und große Freude bereiten. O. Kies er.
Furt, Jorge M.: Lo gauchesco en „La Literatura Argentina“ de Ricardo Rojas.
Buenos Aires, Casa editora Coni 1929. 302 S. -— Der in Argentinien hochangesehene
Universitätsprofessor R. Rojas (s. o. 1925/26 S. 222) hat ein Werk über die argen-
tinische Literatur geschrieben (Bs. As. 1917 22), von dessen vier Bänden der erste
„Los Gauchescos“ behandelt, d. i. das spezifisch argentinische, bodenständige und
volkstümliche Schrifttum, das sich in der Gestalt des Gauchos symbolisieren läßt.
Darin behandelt er neben den „nationalen“ Dichtem von Hidalgo bis Guiraldes auch
die namenlose Überlieferung des argentinischen Landvolkes, das „Folklore“ des
Gauchos, in Mundart, Aberglauben, Rätsel, Erzählungen, Sang, Tanz, Musik usw.,
indem er die Ursprünge aus europäischer und amerikanischer Wurzel aufspürt. Gegen
dies Werk und seine Methode der Untersuchung wendet sich hier J. M. Furt, der selber
mit mehreren Arbeiten über argentinische Literatur und Volkskunde hervorgetreten
ist (s. o. 1927 S. 55, 1928 S. 275). Er geißelt scharf die sorglose, unkritische, auf
genialer Intuition statt auf sachlicher Forschung fußende Arbeitsweise, die nach seiner
Ansicht in Argentinien weithin das Feld beherrscht. Kapitel für Kapitel wird das
Opfer rücksichtslos zergliedert, doch bringt die Streitschrift zugleich mit dem Fehler-
nachweis auch positiv mancherlei gute Einsicht herzu, so daß sich ihr Umfang dadurch
rechtfertigt. E. L. Schmidt.
Garke, Wilhelm: Geburt und Taufe, Hochzeit und Tod im Volksbrauch und
Volksglauben des Magdeburger Landes. Auf Grund von Fragebogen und gedruckten
Quellen bearbeitet. Schönebeck a. d.E., O. Senff Nachf. 1930. 100 S. 2,50 M. (Ver-
öffentlichungen der Ges. f. Vorgesch. u. Heimatkde des Kreises Kalbe, 3. Heft.) —
Aus dem reichen Tatsachenmaterial, das diese fleißige Arbeit enthält, interessieren
ganz besonders die durch Fragebogen und mündliche Erkundung beigebrachten
Einzelheiten. Sie lassen erkennen, daß auch in einem so stark industrialisierten Ge-
biet, wie es das Magdeburger Land, besonders die Börde darstellt, altes Volksgut
immer noch vorhanden ist, z. B. angebliche Herkunft der Kinder aus dem Wasser
oder von Bäumen, Bindung der Paten und Aufhalten des Brautzuges. Für den größten
Teil seiner Angaben muß freilich der Verfasser auf ältere, gedruckte Quellen, zum
Teil sogar des 18. Jahrhunderts zurückgreifen, so daß ein etwas ungleichmäßiges
Mosaikbild entsteht. Im Gegensatz zu den Erfahrungen des Verfassers scheinen die
Fragebogen des Atlas der deutschen Volkskunde aus seinem Gebiet verhältnismäßig
reichlich zurückzukommen. Man darf daher hoffen, daß sich für viele der von ihm
erfragten Dinge ein deutlicheres Gegenwartsbild erschließt. In jedem Fall sind
Arbeiten wie die vorliegende eine erwünschte und wertvolle Beihilfe für das Altas-
werk sowohl zur Vergleichung und Kontrolle der Gegenwartsberichte wie für die
historische Unterbauung seiner Ergebnisse. F. B.
Gottscheer Volkslieder mit Bildern und Weisen, hrsg. vom Deutschen
Volksliedarchiv. Berlin und Leipzig, W. de Gruyter & Co. 1930. 95 S. (Landschaft-
liche Volkslieder, 24. Heft.)-—Zur 600-Jahr-Feier der Sprachinsel Gottschee in Jugo-
slawien hat John Meier aus den in den Besitz des Volksliedarchivs übergegangenen
Sammlungen Hans Tschinkels ein schmuckes Büchlein von 36 Liedern zusammen-
gestellt, das bei den Bewohnern der Sprachinsel den ererbten Schatz lebenskräftig er-
304
Notizen.
halten soll. Aber auch im Mutterlande wird man sich an den eigenartigen Texten und
Melodien wie an den vorzüglichen von Michael Ruppe entworfenen Landschaftsbildern
herzlich erfreuen. Spricht doch aus den Balladen, die den Hauptplatz einnehmen, wie
aus den geistlichen und Liebesliedern bei aller Schlichtheit des Ausdruckes ein warmes
und inniges Gefühl. Den Reichtum der Überlieferung erkennt man bei einem Ver-
gleich mit Hauffens größerem Werke ‘Die deutsche Sprachinsel Gottschee5 (1895);
denn nur die an Kudruns Begegnung mit Herwig und Ortwin erinnernde Ballade von
der Meererin (Nr. 9 = Hauffen Nr. 44) und das Spottlied auf die Bettelhochzeit
(Nr. 22 = Hauffen 111; vgl. Erk-Böhme 841) sind beiden gemeinsam. Starke Be-
sonderheiten treten auch bei bekannten Stoffen hervor; vgl. Nr. 10 das Herzessen,
12 die Kindesmörderin, 13 die unbarmherzige Schwester (Erk-Böhme 209), 14 Ver-
wandlung der Heldin in einen Vogel, 15 Waisen am Grabe der Mutter (Erk-Böhme 202),
20 Brennessel und Jungfrau (Erk-Böhme 174), 21 gemalte Rosen (Erk-Böhme 117),
28 der geprügelte Mann (Erk-Böhme 909). Ein typischer Anfang ist: ‘Wie früh ist auf
(Mutter Maria)5. Auffällig ist die Reimlosigkeit der Lieder; nur in Stücken, die später
aus Deutschland eingewandert sind, wie Nr. 23 ‘das zerbrochene Mühlrad5 und Nr. 24
‘das Versprechen5 (Erk-Böhme 419, 552), erscheinen Endreime. Die Melodien sind
meist zwei- oder dreizeilig, bisweilen sogar einzeilig (Nr. 2); in Nr. 5 wird jede Zeile
mit einer anderen Weise wiederholt. Kehrzeilen kommen häufig vor. Die Mundart
wird vielen Lesern Schwierigkeiten bereiten; daher hat der Herausgeber mit gutem
Bedacht eine hochdeutsche Übertragung beigegeben. J. B.
Groth, Paul: Die ethische Haltung des deutschen Volksmärchens. Leipzig,
H. Eichblatt 1930. 72 S. (Form und Geist, hrsg. v. L. Mackensen 16.) — Der Ver-
fasser, ein Schüler L. Mackensens, zeigt in einer klar aufgebauten Untersuchung, daß
dem deutschen Märchen, das seinen Ursprung in der eine Wunscherfüllung träumenden
Seele des Dichters (‘Erlebers5 sagt Groth) hat, eine moralisierende Tendenz fernliegt.
Ziel des Wunsches sind materielle, greifbare Güter; dahinter tritt das erotische Ver-
langen zurück; die Heirat bedeutet im Sinne der Versorgungspolitik des Landvolkes
zugleich eine glückliche Versorgung. Das Problem von Gut und Böse wird nur vom
Helden aus gesehen; er muß Heldenhaftigkeit und Gutmütigkeit erweisen; denn die
Kausalität : auf Gutes folgt Lohn, auf Böses Strafe, ist dem primitiven Menschen ein-
geprägt; er darf aber auch ungestraft Betrug üben, (die eigentlichen Diebstahls-
schwänke gehören nicht zu den hier behandelten Märchen), während von einer Be-
lohnung seiner Helfer kaum die Rede ist, seine Gegner aber grausame Strafe erhalten,
ausgenommen etwa die leiblichen Brüder oder Schwestern des Helden. Stilistische
Gesetze sind hier stärker als ethische; die Gradlinigkeit des Handlungsablaufs er-
möglicht keine Rückgriffe auf frühere Wohltaten. Daß die Sage und das Volkslied
mehrfach andre Wege als das Märchen gehen, wird S. 34, 51, 55 richtig hervorgehoben.
J. B.
Gröber, Karl: Alte Oberammergauer Hauskunst. Augsburg, Filser o. J. (1930).
55 S. 114 Abb. auf Tafeln. Geb. 8 M. (Beiträge zur Volkskunstforschung und Volks-
kunde, hrsg. im Auftrag der Deutschen Volkskunstkommission von J. M. Ritz und
A. Spamer.) —Wenn im vorigen Jahre die Oberammergauer Spiele viele Zehntausende
von Besuchern aus allen Teilen der Erde angelockt haben, so kam dies Buch zu
rechter Zeit, um daran zu erinnern, daß schon lange vor dem Hervortreten der Passion
Oberammergau durch seine Holzschnitzereien eine Art von Weltruf genossen hat.
Seit der Mitte des 16. Jahrhunderts läßt sich eine bis heute ununterbrochene Tradition
dieser volkstümlichen Kunstübung nach weisen, die von zahlreichen Holzschnitzer-
familien getragen wird. Mit Benutzung archivalischen Materials und vor allem der
Geschichte des Dorfes Oberammergau von J. A. Daisenberger gibt der Verfasser einen
Überblick über die wechselvolle Entwicklung dieser vielseitigen, neben der Schnitzerei
auch andere Techniken, wie Hinterglasmalerei, Wachsbossierung u. a. m. pflegenden
Hauskunst. Die vorzüglichen Abbildungen des auch im übrigen vornehm und ge-
schmackvoll ausgestatteten Buches lehren die Fülle der Motive religiöser und profaner
Natur, die immer wieder verwendet wurden und meist die Einwirkung des geltenden
Kunststils, bisweilen aber auch ergreifende Spuren künstlerischer Eigenart des un-
genannten Herstellers erkennen lassen; die Vorbilder für die Illustrationen lieferte
fast ausnahmslos das Langsche Museum in Oberammergau. Die Deutsche Volks-
kunstkommission hat sich durch die Herausgabe dieses wertvollen Quellenwerks sehr
verdient gemacht. F. B.
Notizen.
305
Häberle, Adolf: Die Zunftaltertümer des Museums der Stadt Ulm. Mit 3 Text-
abb. und 32 Taf. Verlag des Museums der Stadt Ulm 1929. 156 S. 6 M. (Ulmer
Schriften zur Kunstgeschichte, hrsg. v. J. Baum, 5.) — Für die Geschichte des Zunft-
wesens wie des Kunsthandwerks bringt dieser Katalog der überaus reichen Ulmer
Sammlung sehr wertvolle Aufschlüsse. Die Besprechung der einzelnen Altertümer, der
Schreine mit ihren Meistertafeln, Laden, Pokale, Herbergszeichen usw. ist nach den
einzelnen Zünften angeordnet und stellt das geschichtliche Moment an erste Stelle.
Interessant sind die gelehrten Anspielungen in den Versinschriften der Laden, so die
Zitierung des Plinius bei den Färbern, des Apicius bei den Gärtnern, die auch Zyrus
und Diokletian für sich beanspruchen (bei der entstellten Schreibung dieser Stelle,
S. 61, wäre ein Hinweis angebracht gewesen, daß es statt ,,so trafen auch wohl Käufer
diese Bahn“ heißen dürfte: „traten“ und „Kaiser“). Der Zunftpokal der Brauer
(S. 55) feiert „Grabemis (= Gambrinus), König in Flandern und Brabant“; vgl. dazu
Stammler im Hdwb. der Abergl. 3, 282 f. Die Bildnisse der Meister sind kostüm-
geschichtlich sehr interessant. Von den prächtigen Abbildungen seien besonders die
Herbergszeichen der Hafner (Abb. 6), der Mahlknechte (14), Kette und Tabulatur der
Meistersinger (12 u. 13) hergehoben. F. B.
Handwörterbuch des deutschen Märchens. Hrsg, unter besonderer Mit-
wirkung von Johannes Bolte und Mitarbeit zahlreicher Fachgenossen von Lutz
Mackensen, 1. Band, Lieferung 1: Abend—Amor. Berlin und Leipzig, W. de Gruy-
ter & Co. 1931. 64 S. Subskriptionspreis 5 M. — Nachdem von den Handwörter-
büchern zur Volkskunde, die der Verband deutscher Vereine für Volkskunde für die
verschiedenen Gebiete unserer Wissenschaft in sein Arbeitsprogramm aufgenommen
hat, das Aberglaubenswörterbuch bereits dem Abschluß seines dritten Bandes nahe-
gekommen ist, erscheint mit dem vorliegenden Heft der Anfang einer sorgfältig vor-
bereiteten und groß angelegten Enzyklopädie des deutschen Märchens. Daß dem
Herausgeber in Johannes Bolte der größte Kenner auf diesem Gebiete zur Seite steht,
wird man als ein besonders glückhaftes Vorzeichen betrachten dürfen. Das vor-
liegende Heft enthält neben einem vorläufigen Literaturverzeichnis und einer Über-
sichtstafel der Grimmschen Märchen nach der Stelle ihres ersten Erscheinens, der Be-
handlungsstelle bei Bolte-Polivka, der Motivnummer von Aarne-Thompson und des
Stichworts in diesem Wörterbuch eine Anzahl von zum Teil umfangreichen Artikeln
über stoffliche und prinzipielle Fragen; hervorgehoben seien unter anderem die Bei-
träge von Mackensen über „Abenteuermärchen“, von Peuckert über „Adler“, von
Anderson über die Theorie Bediers und von Piper über „Ägyptische Motive“. Ein
näheres Eingehen auf einzelne Beiträge versparen wir uns bis zum Vor liegen mehrerer
Lieferungen. Da stofflich durch das Wörterbuch des Aberglaubens eine nicht kleine
Menge Materials bereits vorweggenommen ist, wird das des Märchens einen wesentlich
geringeren Umfang haben; es soll nach Möglichkeit auf 90 Bogen beschränkt werden.
Der Subskriptionspreis (4—5 M. je nach Umfang) erlischt nach Abschluß des ersten
Bandes; die Abnahme der ersten Lieferung verpflichtet zum Bezug des ganzen Werkes.
Wir wünschen diesem neuen, hoffnungsvollen Unternehmen alles Gute auf seinem
Weg und sind sicher, daß es unter der Leitung seines rührigen Herausgebers rasch fort-
schreiten und alle die Erwartungen erfüllen wird, die man darauf setzt. Wenn man
bedenkt, daß unter den volkskundlichen Stoffen, die in der Schule zur Sprache
kommen, naturgemäß das Märchen eine besonders hervorragende Stellung einnimmt,
so wird man mit Recht vor allem auch die Lehrerbibliotheken auf diese Erscheinung
aufmerksam machen dürfen, F. B.
Hanika-Otto, Liesl: Sudetendeutsche Volksrätsel. Reichenberg, F. Kraus
1930. 166 S. 4M. (Beiträge zur sudetendeutschen Volkskunde, hrsg. v. A. Hauffen
und G. Jungbauer, 19.) — Dies dem Andenken A. Hauffens gewidmete Buch ist gleich
ausgezeichnet durch Reichhaltigkeit des Stoffes wie durch wissenschaftliche Anord-
nung und Erläuterung. Es enthält 656 Rätsel aus Deutschböhmen, Mähren, Schlesien
und den Sprachinseln der Slowakei, zumeist in der Mundart und mit vielen Varianten.
Außer den gedruckten Quellen sind besonders die hsl. Aufzeichnungen des Prager
Volkskundearchivs und einzelner Forscher, namentlich E. Jungwirths, benutzt. Ge-
schieden ist das Material in die Gruppen: Eigentliche, imeigentliche Rätsel, Rätsel-
lieder, Halslöserätsel, Rätselmärchen. Die Einleitung hebt treffend hervor, daß die
verrätselten Dinge sämtlich dem bäuerlichen Gesichtskreise entstammen. Der
Rahmen des Rätsels enthält in der Regel eine Aufforderung, der Kern eine bildliche
oder tonmalende Benennung und Beschreibung, in der die Personifikation eine be-
306
Notizen.
sondere Rolle spielt. Zum Vergleich hat die Herausgeberin 110 anders geartete
tschechische Rätsel angehängt. Dankenswert ist das Verzeichnis der Auflösungen
und die reichhaltigen Anmerkungen, die regelmäßig Wossidlos umfassende mecklen-
burgische Sammlung zur Vergleichung heranziehen. — Dazu ein paar kleine Nach-
träge. Nr. 276: Aarne, FFC. 26, 74. — 420: Ohlert, Griechische Rätsel 1912 S. 52. —
421: Bolte-Polivka 1, 1911. — 425: Aarne, FFC. 26, 35. — 510: ZfVk. 33, 38. —
531: Bolte-Polivka 3, 231. — 642: ZfVk. 7, 382; 12, 456. — 646: Bolte-Polivka 1,
188. — 649: Bolte-Polivka 2, 3592. — 651: Bolte-Polivka 2, 362. — 652: ZfVk. 7, 206.
W. Schäfer, Erzählende Schriften 1, 192 (1918). — 656: Bolte-Polivka 2, 318.
J. B.
Hara, Hiroki: Gemütsleben. Tökyö, Verlag Iwanami Shoten 1930. 771 S.
9 Yen. — Dies stattliche, splendid gedruckte Buch ist teile deutsch, teils japanisch
geschrieben, und der japanische Titel, den mir Herr Dr. Raming, der Leiter des Japan-
Instituts in Berlin, freundlich verdeutschte, bezeichnet seinen Inhalt genauer als
Studien über das deutsche Gemütsleben, wie es im Verhältnis zu den Pflanzen zum
Ausdruck kommt. Professor Hara trägt sorgsam zusammen, was über 133 Blumen
und Bäume (vom Moos bis zur Esche) in deutschen Werken über Botanik, Symbolik,
Volkssage, Brauch, Aberglauben sowie in Dichtungen zu finden ist, und liefert in
seinem zweiten, japanisch geschriebenen Teile weitere Erläuterungen dazu. Wenn
man sich an die jüngst in T. Tsudzumis anziehendem Buch über die Kunst Japans
(Leipzig 1929) geschilderte zarte Liebe der Japaner für Blumen und Obstblüten er-
innert, so werden hier gewiß interessante Parallelen deutlich. Es wäre kleinlich, den
Verfasser daran zu erinnern, daß Goethes Erlkönig seinen Namen nicht der Erle,
sondern einer falschen Übersetzung des dänischen Ellerkonge (Elfenkönig) verdankt;
aber vielleicht darf man auch deutsche Botaniker auf das 1646 erschienene Verzeichnis
von 400 Pflanzen aufmerksam machen, die als Symbole von ebenso vielen Mitgliedern
der deutschliebenden ‘Fruchtbringenden Gesellschaft5 abgebildet und nach ihrer
Schönheit oder ihrem Nutzen besungen werden. Vgl. endlich noch Marie Jaedicke,
Der Baum im Lied (1928). J. B.
Heckscher, Kurt: Die Volkskunde des germanischen Kulturkreises. An Hand
der Schriften Ernst Moritz Arndts und gleichzeitlicher wie neuerer Parallelbelege
dargestellt. In zwei Teilen. Hamburg, M. Riegel 1925. 589 S. Geh. 14 M., gebund.
16 M. — Die Volkskunde der Provinz Hannover. I: Die Volkskunde des Kreises Neu-
stadt am Rübenberge. Mit 32 Abb. Hamburg, M. Riegel 1930. XXIII, 853 S. Geh.
52 M., geb. 56 Mk. (Veröffentlichungen der Provinzialstelle für Volkskunde. Pro-
vinzial-Museum Hannover). — Wenn infolge verschiedener, nur zum Teil durch
den Rezensenten verschuldeter Umstände das erste der beiden oben angeführten
Bücher erst 5 Jahre nach seinem Erscheinen hier angezeigt wird, so hat dies den einen
Vorteil, daß zugleich mit ihm das jüngste Werk des Verfassers vorgelegt werden kann,
das zu jenem ein eigenartiges Gegenstück darstellt. Dort gibt der Verfasser in der
Hauptsache zu den sorgfältig zusammengetragenen volkskundlichen Stellen aus
E. M. Arndts Schriften einen verbindenden Text und einen ungemein inhaltreichen
Kommentar, der nicht allein die deutsche, sondern auch die skandinavische und
angelsächsische Volkskunde berücksichtigt und sich notgedrungen nicht selten von
den Arndtschen Leitmarken weit entfernt, um das Ganze einigermaßen zu einer
„Volkskunde des germanischen Kulturkreises“ zu runden. Hier dagegen bleibt der
Verfasser in dem engen Bezirke eines hannoverschen Landkreises mit etwa 70 meist
dörflichen Ortschaften. Während er dort die Parallelbelege aus einer gedruckten
Literatur entnimmt, deren bloße Aufzählung mehr als 10 Seiten beansprucht, arbeitet
er hier mit größtenteils lokalem Schrifttum und Archivmaterial, stützt sich aber vor
allem auf eine unmittelbare persönliche Sammelarbeit, die das Volksgut dieses kleinen
Raumes bis ins letzte Detail ausgeschöpft hat. Die Vollständigkeit, die in dem älteren
Werke trotz allen Fleißes nicht zu erreichen war, ist hier zum Ereignis geworden.
Erstaunlich ist die Fülle und die Schärfe volkskundlicher Beobachtungen, die wir
an der Hand des Verfassers in den Schriften und Aufsätzen Arndts kennenlernen,
deren Titel fast 3 Seiten füllen. Nur wenige Leser wird es geben, denen sich hiermit nicht
ein völlig neues Land öffnet; nicht selten fühlt man sich trotz der Verschiedenheit
der beiden Naturen an Arndts großen Schüler Riehl erinnert, wenn man diese mit
allen Kräften der Sinne, des Verstandes, der Phantasie und des Herzens erfaßten Be-
obachtungen eines durchwanderten Lebens vor sich ausgebreitet sieht. Man be-
wundert sie auch da, wo man nicht einverstanden sein kann. Daß dem Verfasser
Notizen.
307
die schwere Aufgabe restlos gelungen sei, für den Grundtext und die kommentierende
und ergänzende Begleitung immer das rechte Gleichgewicht zu finden, wage ich bei
aller Hochachtung für seinen Fleiß nicht zu behaupten. Die Schwierigkeit solches
Ausgleiches hat er wohl selbst nicht zum wenigsten gefühlt und deshalb das Buch
in zwei eigentlich doch nur äußerlich zusammenhängende Teile geschieden, von
denen jeder seinen eigenen Wert hat. Der zweite, der zu den Äußerungen Arndts
zahllose Belege und Ergänzungen aus gleichzeitiger und neuerer Literatur bringt, hat
sich mit Recht als selten versagendes Nachschlagewerk für die verschiedensten Einzel-
gebiete der Volkskunde bereits durchgesetzt. — Über Absicht und Entstehungs-
geschichte des zweiten Werkes berichtet der Verfasser ausführlich in der Einleitung.
Es ist das Verdienst des Landesdirektoriums der Provinz Hannover, eine volkskund-
liche Bestandsaufnahme dieser Provinz in die Wege geleitet zu haben. Eine Provinzial-
stelle für Volkskunde wurde im Jahre 1925 geschaffen, die den Plan durchführen sollte,
die einzelnen, so verschiedenen Volks- und Kulturräume der Provinz durch syste-
matische Aufnahme je eines typischen Kreises zu erfassen und damit eine Vergleichs-
möglichkeit für gemeinsame und verschiedene Züge zu schaffen. In zweieinhalb
Jahren hat Heckscher die ihm übertragene Aufgabe gelöst, den Kreis Neustadt a. R.
(an der Leine, nordwestlich von Hannover, nicht weit vom Steinhuder Meer) auf-
zunehmen, ebenso lange dauerte es, bis nach mannigfachen Schwierigkeiten das um-
fangreiche Corpus erscheinen konnte. Glaube, Sitte, Mundart und Dichtung, Tracht,
Wohnbau, Gerät und das ganze übrige Gebiet der Sachgüter werden behandelt, kein
noch so imscheinbares Stück volkstümlicher Überlieferung ist übersehen worden,
Volkslieder und Volksrätsel werden mit allen Varianten aufgeführt, 20 Seiten füllen
die Angaben über Vorzeichenschau, 24 Seiten Flurnamen, 30 mundartlich verschiedene
Bezeichnungen für die schwarze Ameise — das sind nur ein paar, willkürlich heraus-
gegriffene Proben für die Gründlichkeit der Aufnahme, und mehr kann nicht gegeben
werden, da schon eine bloße Inhaltsübersicht über die Hauptabschnitte viele Seiten
beanspruchen würde. Was sonst in volkskundlichen Archiven ruht, ist hier restlos
veröffentlicht worden, und man weiß nicht, was man mehr bewundern soll, die Leistung
des Explorators oder die Unzerstörbarkeit volkstümlicher Eigenart, die hier trotz
aller Industrialisierung in so unzählbaren Formen noch lebt. Selbstverständlich
drängt sich beim Studium des Buches der Gedanke auf, ob eine solche Aufnahme in
der heutigen Zeit auch nur für eine begrenzte Anzahl von Kreisen durchführbar ist;
das Landesdirektorium beabsichtigt, wie der Verfasser in der Vorrede mitteilt, die
Provinzstelle nach Fertigstellung einer zweiten Kreisaufnahme (Bersenbrück) in
nächster Zeit wieder aufzuheben. Ein so rascher Abbruch wäre zweifellos tief zu be-
dauern, so sehr man auch die wirtschaftlichen Gründe anerkennen mag. Wenn man
darauf verzichten muß — und das wird sich nicht vermeiden lassen —, auch die
späteren Kreisaufnahmen in extenso in Buchform herauszubringen, so sollte doch der
überraschende sachliche Erfolg dieses ersten Versuches dazu ermutigen, die Sammel-
arbeit fortzusetzen, das Material aber — wenigstens zunächst — übersichtlich geordnet
aufzubewahren und vielleicht nur in Auswahl zu veröffentlichen. Heckschers Buch
könnte dabei als Grundlage dienen, auf die immer wieder zu verweisen wäre. — In
Wegen und Zielen sind Werke dieser Art vom Atlas der deutschen Volkskunde so ver-
schieden, daß eine Überschneidung oder gar ein Wettbewerb ausgeschlossen ist.
Denn nichts liegt dem Atlas ferner, als die restlose Bestandsaufnahme, die Heckscher
für seinen kleinen Bezirk durchgeführt hat, etwa auf den germanischen Kulturkreis
auszudehnen. Anderseits muß immer wieder betont werden, daß der Atlas die Arbeit
in landschaftlich begrenzten Bezirken nicht etwa untergraben will. Wenn also ein
Inventarwerk, wie das Heckschers, in derselben Zeit erscheinen konnte, da der Atlas
seine ersten Schritte bereits getan hatte, so darf dies als Einzelfall und als Symptom
nur begrüßt werden. F. B.
Heierli, Julie: Die Volkstrachten der Schweiz. 4. Band: Die Volkstrachten
von Zürich, Schaffhausen, Graubünden und Tessin. Mit 12 farbigen und 15 schwarzen
Tafeln, 182 Schwarzabb. und Schnittmusterbogen. Erlenbach-Zürich, Rentsch
1930. 128 S. 18 M. — Der vierte Band dieses für die Schweiz einzigartigen Standard-
werkes erweckt wiederum imgeteilte Bewunderung und Anerkennung für die Zu-
sammenarbeit von Verfasserin und Verlag. Wie bei den früheren Bänden ist das, was
mit ausgezeichneter Fachkenntnis gesammelt wurde, durch eine reiche Bildaus-
stattung in vornehm-künstlerischer Weise zu lebendiger Anschaulichkeit gebracht.
Daß es der Verfasserin möglich wurde, den großartigen Plan weiter durchzuführen,
dankt sie wiederum dem Entgegenkommen von Museen, Behörden, Vereinen, auch
308
Notizen.
Privaten, deren Verständnis für Wert und Ziele der Arbeit mit ihrer Unermüdlichkeit
zusammenwirkte. Es sind Grenzkantone in Nord und Süd, die dieser Band be-
schreibt, weshalb eine außerordentliche Verschiedenart der Tracht auffällt, jeweils
bedingt durch Anpassung an Nachbarländer bzw. Nachbarvolkstum. Wenn wir z. B.
in Zürich und Schaffhausen überall dem begegnen, was wir diesseits der deutschen
Grenzen als Ausdruck des Alemannentums in der Kleidung ansprechen können (teil-
weise bis auf solche Einzelheiten, wie sie z. B. über das Göller [unter d. S. 73] be-
schrieben sind), so zeigen Graubünden und Tessin naturgemäß stark romanisierende
Einflüsse von sehr abweichender Art. Der Nachweis des Bodenständigen war hier
mit besonderen Schwierigkeiten verbunden, da Tracht längst entschwand und Material
nur mit großen Mühen nachweisbar blieb. Julie Heierli hat sich aber keine verdrießen
lassen und ist mit zäher Energie ihren Zielen nachgegangen, wie sie in einem solchen
Falle vielleicht nur von einer Frau auf ge wendet wird, der überdies das Verständnis
für Schnittform — das Technische — näher liegt als Männern. Wenn es auf den ersten
Blick ein wenig befremdet, daß unter den zahlreichen Abbildungen des letzten wie der
früheren Bände viele sind, die im Total Anlehnung an alte Stadtmoden zeigen und
nur noch in Einzelstücken Anklänge an die Tracht bewahren, so kann man anderer-
seits hierin gerade einen durch die Opferwilligkeit des Verlags ermöglichten Wert der
Arbeit erblicken. Wenn sich in anderen Ländern ähnliche Munifizenz fände, dann
könnten vergleichend — Was schwindet am schnellsten ? Was hält sich am längsten ?
Was wirkt am stärksten ? — wertvolle Ergebnisse für die Ethnologie gewonnen werden.
Auch bei uns haben sich solche Übergangsformen gebildet. Werke, wie das vor-
liegende, sind von wachsendem Wert. Vielleicht kommt noch einmal der Tag, da auch
weiteren Kreisen das Verständnis für die tieferen Zusammenhänge der Kleidung mit
der Geschichte des Volkslebens, der Menschheitskunde, aufgeht. R. Julien.
Hofstaetter, Walther und Peters, Ulrich: Sachwörterbuch der Deutschkunde.
Bd. 2. Leipzig, B. G. Teubner 1930. VIII u. S. 605—1288: K—Z. Bd. 1 jetzt 31 M.,
Bd. 2 34 M. — Der Schlußband zu dem oben NF. 1, 320f. angezeigten Werke liegt nun
vor. Ihm ist in einem besonderen Hefte von 44 Seiten ein sorgfältiges und daher sehr
dankenswertes Namen- und Sachverzeichnis beigegeben, welches das Auffinden
mancher Stichwörter ermöglicht, die man im Sachwörterbuch etwa vermißt, und die
innerhalb verschiedener zusammenfasssender Artikel behandelt sind. Z. B. verweist
Ästhetik auf Kunstphilosophie, Familiennamen auf Namenkunde u. ä. m. Daher
empfiehlt es sich, zuerst dies Verzeichnis zu befragen; denn die Rücksicht auf die
praktischen Bedürfnisse des deutschkundlichen Unterrichts, die gegenwärtig die
beiden Herausgeber gewiß am besten übersehen, entschied die Aufnahme von größeren
Artikeln und von entlastenden und ergänzenden Einzelbeiträgen. Als Ganzes be-
trachtet, wird man nicht umhin können, zu gestehen, daß hier eine Gesamtbestand-
aufnahme des gegenwärtigen deutschkundlichen Wissens vorliegt, wie die Heraus-
geber den Begriff „Deutschkunde“ nun einmal gefaßt haben und wie seine Ziele auch
an den Hochschulen heute anerkannt sind. Volkskundliche Beiträge sind wieder zahl-
reich ; ich darf etwa anführen: Kinderlied, Kinderspiel, Kinderspielzeug, Kirchweihe,
Legende, Mailehen, Märchen (ausgezeichnete knappe Übersicht von J. Bolte), deut-
scher Michel, Nikolaus, Ostern, Palmsonntag, Pfingsten, Puppenspiel, Rätsel, Wilh.
Heinrich Riehl (der Rhein in der Dichtung ist leider nicht behandelt; vgl. dazu das
Reallexikon der deutschen Literaturgeschichte), Rolandssäule, Rübezahl, Sage,
Schilda, Schlaraffenland, Seelenglaube, Spiel, Spinnstube, Sprichwort, Ständelied,
Tanz, Teufel, Tierglaube, Tod, Totentanz, Unglücksbringer, Volksbuch, Volksglaube,
Volkskunde (von A. Spamer), Volkskunst, Volkslied, Volksmedizin, Volksstück,
Volkstanz, Volkstheater, Wallfahrt, Weihnachten, Zauberspruch, Zirkus, Zwölf-
nächte. Hermann Kügler.
Hohenberger,H.: Die indische Flutsage und dasMatsyapuräna. Ein Beitrag zur
Geschichte der Visnuverehrung. Leipzig, Otto Harrassowitz 1930. XVI, 217 S. 12 M.—
Verfasser, ein Schüler von Ernst Windisch, hat in ländlicher Abgeschiedenheit als
protestantischer Pfarrer mit dem vorliegenden Buche eine Darstellung der Visnu-
verehrung geliefert, für die ihm neben den Indologen besonders die Religionswissen-
schaftler zu lebhaftem Danke verpflichtet sind. Es handelt sich rein äußerlich betrach-
tet um eine erhebliche Ausarbeitung der 1918 geschriebenen Leipziger Doktordisser-
tation, zu der als wichtiger Zusatz die Besprechung der Flutsage hinzugekommen ist.
Hiervon ,gibt Hohenberger sieben Fassungen (in deutscher Übersetzung), und zwar
die des Satapathabrähmana, des Mahäbhärata, des Matsyapurana, des Bhägavata-
Notizen.
309
puräna, des Agnipuräna, des Padmapuräna und endlich des Dasävatäraeavita von
Ksemendra. Diese verschiedenen Erzählungen werden bezüglich ihres gegenseitigen
Verhältnisses S. 24—29 besprochen; dann folgt der zweite Hauptteil: Einleitung in
das Matsyapuräna, der in erschöpfender Weise die literarhistorischen und biblio-
graphischen Fragen sowie das Verhältnis des Matsyapuräna zu anderen Werken der
Sanskritliteratur bespricht. Der dritte Hauptteil endlich ist Visnu gewidmet; er be-
handelt dessen Stellung unter den vedischen Göttern, seine (12) Erscheinungsformen
und seine Verehrung. Ein Rückblick, vier Beilagen textkritischen Inhalts und ein
Register beschließen das schöne Werk. Die sehr umfangreiche und überaus reiches
Material enthaltende Gruppe der sog. Puräna’s, zu denen noch eine Menge Upa-
puräna hinzukommt, ist bis auf den heutigen Tag wenig durchforscht worden, woran
der große Umfang sowie auch die unerfreuliche äußere Form schuld sein mögen. Aber
gerade als Sammelsurien aller möglichen Materien, als Fundgruben alter Überliefe-
rungen, hätten diese Werke schon längst in den Kreis ernsten Forschens einbezogen
werden müssen, um das viele Gute, was sie neben ebensoviel Spreu und Schutt ent-
halten, nutzbar zu machen. So ist es denn immer schon a priori höchst erfreulich,
wenn sich ein Fachmann findet, der sich der Purana-Literatur annimmt; und wenn es
mit solcher Hingabe und Ausdauer geschieht wie im vorliegenden Falle, so soll mit
Dank und Anerkennung nicht gekargt werden. Welche Bedeutung die quellenmäßige
Bearbeitung eines Textes von der Wichtigkeit des Matsya-Puräna’s für alle diejenigen
hat, die sich einen Einblick in die religiöse Gedankenwelt des Hinduismus verschaffen
wollen, ist ganz klar. Denn — sagt der Verfasser — „diese Kreise sind im Wachsen
in einer Zeit, da einerseits die christliche Mission in Indien mit dem Hinduismus in der
Auseinandersetzung begriffen ist, andererseits die Theosophie und andere Richtungen
im Abendlande für indische Anschauungen eintreten“. Richard Schmidt.
Huber, Kurt und Kiem, Paul: Oberbayrische Volkslieder, mit Bildern von
Ed. Thöny. Vorspruch von A. v. Müller. München, Knorr & Hirth 1930. 84 S.
(Landschaftliche Volkslieder, hrsg. v. J. Bolte, M. Friedlaender und J. Meier, 23.Heft.)
— Endlich können wir auch das lange erwartete bayrische Heft der großen Sammlung
begrüßen. Es enthält 24 frische, nach den Jahreszeiten geordnete Schnaderhüpfel und
Ländler, die fast alle erst in den letzten fünf Jahren aus dem Volksmunde aufgezeichnet
wurden, ferner acht Weihnachtslieder aus A. Hartmanns Sammlung. Den Melodien
ist meist eine Zitherbegleitung beigegeben. Die charakteristischen Bilder sind nicht
alle gleichwertig ausgefallen. J. B.
Jungbauer,vGustav: Volkslieder aus dem Böhmerwalde. 1. Lieferung 1: Das
Volkslied in derv Ceehoslovakischen Republik. Hrsg, von der Staatsanstalt für das
Volkslied in der CSR. C. Deutsche Lieder. Prag 1930. 25 tsch. Kr. — Das groß an-
gelegte Werk Jungbauers, das im ganzen 700 Lieder mit Singweisen und 3049 Schna-
derhüpfel mit 115 Singweisen umfassen soll, lenkt die Aufmerksamkeit aller Freunde
und Erforscher des Volkslieds auf sich. Seit der Herausgabe des Liederhorts ist keine
so umfangreiche Sammlung erschienen. Die Einleitung (32 S.) bringt einen guten Ab-
riß der Geschichte und eine Charakteristik des Volkslieds im Böhmerwalde; es folgt
dann die wertvolle Bibliographie. Es sei darauf hingewiesen, daß Jungbauer, ein
eifriger Verfechter der Produktionstheorie, den Beweis erbringen will, daß das Volks-
lied nicht allein „gesunkenes Kulturgut“ ist, sondern auch unabhängig vom Kunstlied
von Männern aus dem Volke verfaßt und dann vom Volke übernommen und weiter-
gebildet wird. — Das erste Heft, 33 Nummern „Alte und neue Mären“, bietet wirklich
altes und neues Liedgut, vom Tannhäuser bis zum „Mädchen fürs Geld“. Die Litera-
turangaben genügen vollauf zur Einordnung der Lieder und zur eigenen Weiter-
arbeit. — (Zu Nr. 6 vgl. die wichtige, aber leider ziemlich unbekannte Arbeit von
Harry Schewe, die Ballade: Es spielt ein Ritter mit einer Magd. Dissertation Berlin
1917.) — Ein nichtdeutscher Staat gibt eine große Sammlung deutscher Lieder her-
aus • wir wollen hoffen, daß die Neuausgabe des Liederhorts, unseres Standardwerkes,
nun’ bald folgen wird. Johannes Ko epp.
Keiper, Wilhelm: Der Deutsche in Argentinien. 2. Aufl. Langensalza, Beltz
o. J. 80 S. L10 M. (Der Deutsche im Auslande, hrsg. von der Ausländsabteilung des
Zentralinstituts für Erziehung und Unterricht, Heft 57.) — Vierzig kurze Aufsätze,
Reden, Briefe, Gedichte, „für Jugend und Volk zusammengestellt“; jedes Stück ver-
mittelt eindrucksvoll einen charakteristischen Ausschnitt, und aus allen zusammen
formt sich ein anschauliches Bild der eigenartigen Landesnatur und des im fremden
310
Notizen.
Boden eingewurzelten kraftvoll-lebendigen deutschen Elements. Nicht am wenigsten
helfen dazu gerade die tiefer orientierenden Aufsätze des Herausgebers, die das anek-
dotische Mosaik trefflich ergänzen. E. L. Schmidt.
Keller, Walter: Italienische Märchen, gesammelt, übertragen und eingeleitet.
Jena, E. Diederichs 1929. 324 S. Geb. 7.50 M. — Das neue Werk Kellers, das leider
erst jetzt in meine Hände kommt, reiht sich würdig seinen früher in unsrer Zeitschrift
(28,'154; NF.l, 104) besprochenen 'Novellen der italienischen Renaissance’ und ‘Tessiner
Märchen* an. Es bietet eine geschmackvolle Auslese von 45 italienischen Märchen,
schöpft aber nicht wie die Verdeutschungen von L. Gonzenbach, P. Heyse, B. Ilg,
W. Kaden aus der Volksüberlieferung der Gegenwart, sondern aus Literaturwerken
des 13.-—17. Jahrhunderts. Die erste Gruppe (Nr. 1—9) enthält Stücke aus den Cento
novelle antiche, Sacchetti, Ser Giovanni, Sercambi; die zweite (10—18) wichtige,
bisher nicht verdeutschte Reimdichtungen des 15.—16. Jahrhunderts in prosaischer
Wiedergabe, namentlich Liombruno, Campriano, Grillo, Cuccagna. Dann folgen je
13 Nummern aus den großen Sammlungen Straparolas und Basiles und endlich Maga-
lottis Novelle von Ansaldo im katzenlosen Lande. In einer interessanten Einleitung
gibt Keller einen Überblick über die Rolle, die das Märchen in der italienischen
Literatur spielt, und verzeichnet auf S. 318—322 die neueren Sammlungen der Volks-
märchen. Sehr wertvoll sind die Quellennachweise zu den einzelnen Stücken. — Zu
Nr. 5 vgl. noch Bolte-Polivka, Anm. 1, 62. — Nr. 7 vgl. Bolte-Polivka 4, 159. —
Nr. 9 vgl. Bolte-Polivka 2, 7. — Nr. 11 vgl. Bolte-Polivka 2, 322. — Nr. 13 vgl. Bolte-
Polivka 1, 323. — Nr. 33 vgl. Bolte-Polivka 1, 316. — Nr. 40 vgl. Bolte-Polivka 1,
107. — Die Bemerkung auf S. 312, Z. 7 v. u. scheint zu Nr. 16 (nicht 15) zu gehören.
J. B.
Keller, Walter: Tessiner Sagen. Basel, Heinrich Majer 1930. 111 S. 2.50 M.
(Der silberne Brunnen 2.) — Als Keller auf seinen Wanderungen durch das Tessin die
1927 zu einem Bande zusammengefaßten Märchen des Volkes (ZfVk. NF. 1, 104)
sammelte, wurden ihm von alten Männern und Frauen auch manche Sagen erzählt.
Diese gibt er hier in deutscher Übertragung wieder und hängt ihnen einige weitere
Märchen an. Es sind zumeist verbreitete Stoffe. So S. 7 das versinkende Dorf der
Ungastlichen (Bolte-Polivka, Anm. 2, 2111), 41 Der Eid mit Erde in den Schuhen
(Archiv f. neuere Sprachen 127, 281; Wesselski, Gonnella 1920 S. 97), 80 Mein Hut
bezahlt (Bolte-Polivka 2, 10: D), 87 Streiche der törichten Frau (Bolte-Polivka 1,
521: C2 und 2, 440), 89 Das tapfere Schneiderlein (Bolte-Polivka 1, 148), 95 Aschen-
puttel (Bolte-Polivka 1, 165), 104 Teufel von der als Vogel vermummten Frau geäfft
(Bolte-Polivka 3, 358), 106 eine italienische Version der Frau Holle (Bolte-Polivka 1,
215). Das hübsche Büchlein wird namentlich der Jugend Freude machen. J. B.
Klebelsberg, R. v.: Das Bozner Land. Wien, Deutscher Verlag für Jugend
und Volk 1930. 90 S. 2.50 M. (Alpenlandschaften, Monographien zur Landeskunde,
hrsg. v. E. Oberhummer, Bd. 3.) — Die leicht faßlich geschriebene, von prächtigen
Bildern unterstützte Schilderung des schönen Bozner Landes berücksichtigt in erster
Linie die Geologie, das Klima und die Hydrographie, bietet aber in diesen und vor
allem in den Kapiteln über die Vegetation, die Tierwelt, die Menschen und Siedlungen
vieles, was auch volkskundlich wertvoll ist. Die Zahlen über die Verteilung der
deutschen und der italienischen Bevölkerung nach der Volkszählung vom 1. Dezem-
ber 1921 („der letzten, welche nach dem in Kulturstaaten üblichen Brauch der Selbst-
bestimmung der Nationalität durch die Gezählten vorgenommen wurde“) und einer
wenige Wochen darauf veranlaßten „Revision“ zeigen, wie die neuen Herren in diesem
alten deutschen Kulturgebiet regieren. F. B.
Kohls, F.: Die Orts- und Flurnamen des Kreises Grimmen (Vorpommern).
Greifswald, L. Bamberg 1930. 187 S. — Wenn der Verfasser zu Beginn seiner Aus-
führungen über die Ortsnamen betont, daß solche slawischen Ursprungs keine Deutung
erfahren, so ist das durchaus zu begrüßen. Denn mit Recht erklärt er, daß fruchtlose
Deutungsversuche in dieser Richtung in einer germanistischen Arbeit nur verwirrend
wirken können. Da er aber seine Abhandlung eine „germanistische Arbeit“ nennt,
so sollte sie sich dieses Namens eigentlich würdiger erweisen, als es der Fall ist. Mit
welcher Bemerkung ich aber durchaus nicht das Verdienst des Verfassers um die
Orts- und Flurnamenforschung durch seinen Beitrag schmälern will. Ich vermisse nur
sehr ein Eingehen auf die sprachliche Bedeutung und die mundartliche Form der
Notizen.
311
Flurnamen. Hier hätte mancher Flurname doch noch eine klarere Deutung finden
können. Alles in allem ist zu sagen, daß die Arbeit reiches Material bringt; sie ist
aber — wenigstens in ihrem Flurnamenteil — eigentlich eine sachlich geordnete Liste
der Flurnamen, in diesem Sinne allerdings mit begrüßenswerter Sorgfalt durch-
geführt. Im Ortsnamenteil ist die Siedlungsgeschichte ausführlich behandelt, die Be-
deutung der Flurnamen für sie hätte, da das Thema einmal angeschlagen war, ein-
gehender beleuchtet werden müssen. — Zu einigen Flurnamen seien mir ergänzende
Bemerkungen gestattet: Hie und da wäre eine positivere Stellungnahme des Flur-
namenforschers angebracht; so würde ich statt des zweifelnden ,,es scheint“ bei dem
Namen „Kammer“ (S. 68) „es ist“ sagen, denn „Kammer“ ist häufig (bildlich ge-
meinte) Benennung für ein in sich abgeschlossenes (kammerähnliches) Flurstück. —
Bei „Kuscheln“ (S. 69) vermisse ich die Worterklärung. S. 75 hieße es besser, daß die
bruch-Namen siedlungsgeschichtliches Interesse hätten, nicht „nur histori-
sches“. Gerade aus den in der vorliegenden Arbeit angeführten bruch-Namen geht
ja, wie der Verfasser selbst betont, hervor, daß die Brüche in großem Umfange urbar
gemacht wurden. Daraus läßt sich bei eingehenderer Untersuchung erkennen, wie die
Gestalt und Größe der Markung sich im Laufe der Zeiten veränderte. — Die „Breite“
(S. 88, 97) kommt entschieden zu kurz weg. Hier wären die grundlegenden Unter-
suchungen von Viktor Ernst (Mittelfreie 1920) heranzuziehen, der — zunächst für
Süddeutschland — diesem Flurnamen eine besondere Bedeutung zugesteht. Nach
ihm kennzeichnet „Breite“ das zu einem Maierhof oder Rittergut gehörende große,
in sich geschlossene Ackerfeld. Dieselbe Bedeutung wäre auch für die pommerschen
Verhältnisse denkbar. —— Von den S. 131 aufgeführten undeutbaren Flurnamen
sollten doch noch einige ihre Deutung finden können. Das Vorkommen eines „Wein-
kellers“ ist doch auch in Niederdeutschland gar nicht so unmöglich. Man müßte die
Lage der Flur untersuchen. — Die mit Kinder- zusammengesetzten Flurnamen
können die Stellen benennen, von denen nach dem Volksglauben die neugeborenen
Kinder gebracht werden (ich denke da an die zahlreichen Kindlesbrunnen, vgl. Voll-
mann 59). Also nicht Aufenthaltsort der Seelen ungetaufter Kinder, sondern noch
nicht geborener. „Lampenhaken“ kann, wenn man die Form der Flur kennt, vielleicht
diese bezeichnen. Der „Jerusalem“ kann scherzhafte Benennung für eine Erhebung
sein (vgl. Keinath 15). Sehr zu bedauern ist, daß die wichtige Flurkarte nicht bei-
gegeben werden konnte. Heinz Schmidt.
Latviesu folkloras krätuves Teikas par dievu izlase (Lettische Sagen von Gott,
aus der Sammlung der lettischen Folklorearchivs). Riga 1929. 148 S. — Wir erhalten
164 lettische Sagen, denen ein deutscher Auszug beigegeben ist. Die drei ersten
Gruppen (Gott und Welt, Gott und Teufel, Gott und Natur) sind durchweg ätiolo-
gischen Charakters und liefern reiches Material zu Dähnhardts ‘Natursagen’. In der
vierten Abteilung ‘Gott und Menschen’ erscheinen auch Märchen von der Einkehr bei
gastfreien Armen und bestraften Geizigen. Dankenswert sind die sorgfältigen Ver-
weise auf Aarnes Register, Dähnhardts Werk u. a. Als Bearbeiter des Heftes nennt
das Vorwort E. Brastins, Anna Berzkalne, M. Rolmane, A. Medne und Professor
W. Anderson. J. B.
Lehmann-Nitsche, R.: Folklore argentino. VII: Las tres aves gritonas. Los
mitos del caräu, del crispin y del urataü o cacuy y su origen indlgena americano.
(Revista de la Universidad de Buenos Aires 2. ser. VI, 3, 219—362. 1928.) — In
Argentinien deutet das Volk den Ruf dreier Vögel aus der Familie der Rallen, Kuckucke
und Nachtschwalben als Klage eines verwandelten Jünglings oder einer Frau, die
ihren Tanz nicht unterbrachen, als ihnen der Tod der Mutter oder des Gatten gemeldet
wurde, oder als Klage einer nachts vom Sonnengotte verlassenen Geliebten. Für die
Beliebtheit dieser ätiologischen Sagen (zu denen Dähnhardts Natursagen 3, 376 zu
vergleichen wären) zeugen 195 Varianten, darunter mehrere Gedichte und eine 1914
gedruckte Tragödie, die unser gelehrter Landsmann mit bewundernswerter Sorgfalt
gesammelt und erläutert hat. J. B.
Lehmann-Nitsche, R.: Mitologia sudamericana XII: La astronomia de los
Moscovi, 2. parte. (Revista del Museo de La Plata 30, 145—159. 1927.) J. B.
Lewy, Heinrich: Etymologien. S. A. aus der Zs. f. vgl. Sprachforschung NF. 58,
16ff. — Eine Reihe von Ableitungen auf Grund von Dissimilationserscheinungen; in
der Mehrzahl griechische, lateinische und hebräische Wörter, daneben auch einige
deutsche Orts- und Personennamen, z. B. Boleslawicz — Bunzlau, Brocken (mons
Bructerus) — Blocksberg, Cyriacus — Cyliax. F. B
312
Notizen.
Lid, Nils: Joleband og vegetasjonsguddom. Oslo, J. Dybwad 1929. 286 S.
mit 60 Textillustrationen. (Norske Videnskaps-Akademi, Skrifter II. Hist.-filos. Kl.
1928, nr. 4.) — Lid, dem wir bereits eine lehrreiche Untersuchung über die nordischen
Schlachtgebräuche (1924) verdanken, wendet sich hier dem von Mannhardt zuerst
mit Energie erforschten Kulte der Korndämonen zu. Sein umfassendes, viel unge-
drucktes Material verwertendes und Magnus Olsen gewidmetes Werk, das er als eine
nötige Vorarbeit zur Kenntnis der höheren nordischen Mythologie bezeichnet, zerfällt
in 12 Kapitel. Es behandelt 1. die letzte Garbe, die als Erntehase, alter Mann, Korn-
mutter, Ährenkönigin usw. in mannigfachem Aufputz bis zum Weihnachtsfest auf-
bewahrt wird; 2. Julböcke und Julgeißen; 3. Kornbüschel und Weihnachtsgebäcke;
4. Die den Vögeln zu Weihnachten gespendete Garbe und der Weihnachtsbaum;
5. Gudmund stechen, ein Weihnachtsspiel; 6. Gudmund eine Korngottheit; 7. Gud-
mund und Fakse, ihre Holzbilder und deren Verehrung; 8. Gudmund in Sage und
Dichtung; 9. Gudmund und Gertrud als Kalenderheilige am 16. und 17. März. Gud-
mund f 1237 als isländischer Bischof; 10. Die ähnlichen mythischen Gestalten Torre
(Februar) und Gjö (März) in Kinderreimen und Wetterregeln, Frühjahrsblumen;
11. Goen in Dänemark und Fru Gode in Norddeutschland; 12. Gjö heißt auch die An-
schwellung der Hand des Mähers; abzuleiten von gygr. — Dankenswert ist die aus-
führliche Wiedergabe der Belege, auch aus der ausländischen Literatur, und die zahl-
reichen Abbildungen. J. B.
Liestel, Knut: Upphavet til den islendske settesaga. Oslo, H. Aschehoug & Co.
1929. 246 S. 4.50 M. (Institutet for sammenlignende kulturforskning, Ser. A, Xa.) —
Die isländische Sagadichtung besteht aus zwei Gruppen; die eine handelt von nor-
wegischen und dänischen Königen und Helden, die andere von einheimischen Personen
und Familien aus dem 10.-—11. Jahrhundert. Da die Aufzeichnung dieser in der Welt-
literatur einzig dastehenden Familiensagen erst seit dem 13. Jahrhundert erfolgte,
entsteht die Frage, ob die dazwischenliegende Zeit nicht ihre historische Zuverlässig-
keit getrübt hat. Liestol beantwortet sie in ausnehmend gründlicher und lehrreicher
Weise in den neun Kapiteln seines Buches. Das erste handelt von der Zuverlässigkeit
eines Paulus Diaconus und andrer mittelalterlicher Historiker, die sich gleichfalls auf
ältere mündliche Überlieferung stützten, und von den neueren norwegischen Familien-
überlieferungen über Ereignisse, die gleichfalls zwei Jahrhunderte zurückliegen. Das
zweite legt dar, daß, als die Niederschrift erfolgte, die äußere Form bereits in der
Tradition festgelegt war. Wenn wir in der Komposition Olriks ‘epische Gesetze’, die
man besser als ‘Neigungen’ bezeichnet, von der Dreizahl, vom Gegensatz oder Vor-
bereitungen späterer Ereignisse durch Ratschläge und weissagende Träume be-
merken, so ist dies auf das Bestreben der Erzähler zurückzuführen, einen Zusammen-
hang zwischen den einzelnen Begebenheiten herzustellen. Liest0l zieht die von Anderson
klargelegte Entwicklung des Märchens vom Kaiser und Abt, sowie das Verfahren der
von Asadowskij geschilderten sibirischen Märchenerzählerin oder der Historiker
Walter Scott und Macaulay zur Vergleichung heran. In Kap. 5—6 betrachtet er
die besonderen isländischen Voraussetzungen, z. B. den engen Zusammenhang zwischen
geistlicher und weltlicher Sinnesrichtung und den Einfluß von Märchen, Wander-
motiven und Heldensagen. Und nachdem er (in Kap. 7-—8) die unhistorischen Züge
(die Einwirkung übernatürlicher Mächte) und die unzweifelhaft historischen (Örtlich-
keiten, Charaktere, Zeitrechnung) vorgeführt hat, kommt er (in Kap. 9) zu dem Schlüsse,
daß die eine Sonderstellung einnehmende isländische Familiensage Geschichte sein will
und nicht das Mißtrauen verdient, das man ihr bisher entgegengebracht hat. J. B.
Lorenzen, Ernst: Versunkene Volksmärchen, gehoben. Mit Bildschmuck von
Fritz Grotemeyer. Leipzig, Hegel & Schade 1928. 240 S. 4°. — Schon Dähnhardt
hat 1902/03 ein ‘Deutsches Märchenbuch’ herausgegeben, das als Ergänzung der
Grimmschen Sammlung Märchen brachte, die in jener überhaupt nicht oder in wesent-
lich andrer Form vorhanden sind. Ihm folgte Zaunert mit zwei Bänden ‘Deutscher
Märchen seit Grimm’ (vgl. ZfVk. 34, 178). Auch Lorenzen hat 74 Stücke aus dem
Märchenschatze ausgewählt, den die Nachfolger der Brüder Grimm, Haltrich, die
beiden Zingerle, J. W. Wolf, Colshorn, Schambach, Müllenhoff, Ulrich Jahn u. a. im
Laufe des vorigen Jahrhunderts zusammenbrachten, und dabei und in kleinen stili-
stischen Änderungen Geschmack und Takt bekundet. Mundartliche Texte werden
nicht aufgenommen, wenn man nicht einige niederdeutsche Reden in holsteinischen
Erzählungen dahin rechnen will. Die großen, sorgfältig ausgeführten Bilder über-
treffen die Illustrationen des Dähnhardtschen Werkes und werden der Kinderwelt be-
sonders willkommen sein. J. B.
Notizen.
313
Maurer, Friedrich: Sprachschranken, Sprachräume und Sprachbewegungen im
Hessischen, hauptsächlich auf Grund der Karten und Sammlungen des Südhessischen
Wörterbuchs versuchsweise dargestellt. Mit 19 Abb. im Text. (S.A. aus: Hessische
Blätter für Volkskunde, Bd. 28 S. 43—109.) Gießen 1930. 2.50 M. — Auf der Grund-
lage der Sprachatlasarbeit, die ursprünglich auf reinliche Lautgrenzen absah, ist bei
glücklicher Deutung des Zusammentreffens kirchlicher, politischer und kultureller Tat-
sachen in den Rheinlanden der Begriff des Sprachraums geschaffen und in den „Kultur-
strömungen und Kulturprovinzen“ von Aubin, Frings und Müller (1926) in allem
wegweisend niedergelegt. Es fügt sich glücklich, daß für das benachbarte hessische
Gebiet — am Rheinknie ansetzend — Maurer, im allgemeinen dem Arbeitsgang der
Rheinlandforschung folgend, gleiche Fragen nach Sprachraum, Entstehung und
Deutung der heutigen Vielgestaltigkeit stellt itnd diese vornehmlich mit den Samm-
lungen des Südhessischen, auch des Hessisch-Nassauischen Wörterbuches, einer ersten
Lösung entgegenführt. Freilich entbehrt das behandelte Gebiet eines historischen
Atlasses und damit mancher Erhellungsmöglichkeit sprachlicher Erscheinungen aus
den geschichtlichen Begebenheiten heraus: ein schwer empfundener Mangel. Als
Grundstock dieser Untersuchung gibt Maurer den Aufriß der natürlichen Landschaft,
dann ihre kirchliche und weltliche Gliederung. Im Hauptteil arbeitet er das Hervor-
treten der Erzdiözese Mainz heraus, die seit alter Zeit in die ursprünglich einheitliche
und geschlossene „oberhessische“ Sprachlandschaft mit besonderen oberdeutschen
Sprachmitteln einbricht (überzeugend klar am Beispiel Sarg gegen Lade, Toten-
lade, Leiche u. a. Abb. 5, 6). Mit dem 16. Jahrhundert beginnt von Darmstadt aus,
unterstützt in neuerer Zeit durch Frankfurt, eine der alten nicht immer folgende und
anscheinend nicht gleich mächtige neue Strömung, die sich mehr in Teilvorstößen
gegen stärkere südliche Widerstände ausgibt. In beiden Fällen blieben alte Postie-
rungen erhalten. In der durch das Zurückweichen und die Lockerung des alten Sprach-
standes geschaffenen Lücke gewissermaßen ersteht, durch zahlreiche Belege erwiesen,
die neue Sprachlandschaft, mit oberdeutschem, auch hochsprachlichem Charakter,
stark beeinflußt durch die Straßenzüge, durch den modernen Verkehr (vgl. Bremse
gegen altes Micke, Leier Abb. 17, 18; auch Stricknadel gegen Strickstock,
Spieß, Strickeisen Abb. 19), denen Maurer, und gerade für sein Gebiet mit Recht,
große Bedeutung zuweist, so daß er einen Teil seiner Landschaft selbst als „Straße“
gelten läßt. — Für die volkskundliche Forschung sind die Synonyma für „Weih-
nachtsbaum“ aufzuführen (Zuckerbaum, Christbaum Abb. 10). Leider mußte
der Raumersparnis halber jeweils eine Reihe sprachlicher Erscheinungen auf einer
Karte vereinigt werden, durch deren Überladung eine Einführung in die Probleme des
hessischen Sprachgebiets erschwert wird. Die anregende und in der Durchführung
der Forschungsart vorbildliche Untersuchung ist auch als S.-A. vom Südhessischen
Wörterbuch, Gießen, Ludwigstr. 19, zu beziehen. Otto Basler.
Müller, Alfred: Die sächsischen Weihnachtsspiele nach ihrer Entwicklung und
Eigenart. Mit zahlreichen Texten sowie einigen Singweisen. Leipzig, Friedr. Brand-
stetter 1930. 134 S. 3 M. (Sächsisches Volkstum, hrsg. v. A. Spamer und A. Zirkler,
Heft 7). — Seit Gustav Mosen 1861 sein Büchlein über die Weihnachtsspiele im
sächsischen Erzgebirge veröffentlichte, ist noch manches Material zu Tage gefördert
worden, aber das Bild ihrer Eigenart ist, wie Alfred Müller in seiner gründlichen zu-
sammenfassenden Arbeit hervorhebt, nicht wesentlich verändert worden. Größere zu-
sammenhängende Spiele fehlen, abgesehen etwa von dem lausitzischen Herodes-
spiele; meist sind es Umzüge des Christkindes in Begleitung eines Engels in der Ad-
ventszeit, ferner sog. Engelscharen oder Königscharen, in denen sich die Herberg-
suchung nebst der Verkündigung an die Hirten und die Anbetung der hl. drei Könige
bis zur Flucht nach Ägypten an jene Umzüge anreihen, endlich Mettenfeiern mit Lehr-
gespräch und Chorälen. Auch an lebendiger Dramatik können sich diese Stücke nicht
mit den Weihnachtsspielen der Alpenländer und Schlesiens messen. Es scheint, daß
die protestantische Religionsauffassung und das Absinken der Spiele in niedere Kreise
die Hauptursachen dieser Verarmung waren. Anschaulich legt Müller in der ersten
Hälfte seines Buches die Entwicklung des deutschen Weihnachtsspieles im Anschluß
an Weinhold, Hartmann und F. Vogt dar und gibt einen Überblick über die säch-
sischen Stücke; in der zweiten folgen elf bisher ungedruckte Spieltexte, darunter einige
aus dem Nachlaß von Mosen. Diese reichen, wenn auch die Handschriften nicht über
1800 zurückgehen, mehrfach, wie die Versform zeigt, bis ins 17. Jahrhundert, einzelne
Partien sogar in die ‘voralexandrinische5 Zeit der vierhebigen Reimpaare zurück.
Zum Beweise dafür bitte ich die Verse auf S. 41 (= Mosen S. 30) mit dem Berliner
Zeitschrift für Volkskunde II, 3. 21
314
Notizen.
Weihnachtsspiele von 1589 (Bolte, Drei märkische Weihnachtsspiele 1926 S. 164f.)
und S. 101 f. mit demselben (S. 144, 150; dazu 22) zu vergleichen. Nachzutragen wäre
wohl eine hsl. Schulkomödie des 18. Jahrhunderts in Alexandrinern auf der Zwickauer
Ratsbibliothek (Ms. B.lOOb ‘Geschrieben von J. G. Kretzschmer am Pfingstfest’.
Akt 1: Augustus und sein Hof, Bauernaufzug in der Mundart; 2: Herbergsuchung, An-
betung der Hirten; 3—4: die hl. drei Könige; 5: Kindermord). Sehr begreiflich ist,
daß schon Mosen (1861, 1894), Max Wenzel (1921) und andre sich bemühten, mit Be-
nutzung des fragmentarischen Volksgutes zusammenhängende Weihnachtsdramen zu
schaffen. J. B.
Müller, Alfred: Volkstümliche Christspiele aus Sachsen, für Haus-, Schul- und
Vereinsaufführungen bearb. und hrsg., Heft 1: Drei Christfahrten, die Neudorfer
Engelschar und ein neues Mettenspiel; Heft 2: Die Cranzahler Königschar und ein
neueres Jugend-Krippenspiel. Leipzig, Fr. Brandstetter o. J. Je 24 S. — Zumeist
Stücke aus dem oben besprochenem Buche des Verfassers, dazu zwei von E. R. Freytag
und H. Schmidt verfaßte Spiele. J. B.
Nordbjzi, Halvor: Aettesogor frä Telemark. Oslo, J. Dybwad 1928. 345 S. mit
7 Bildern und 2 Karten. (Norske Videnskaps-Akademi, Skrifter II: Hist.-filos. Kl.
1928, 1). — Angeregt durch Liestals 'Norske Aettesogor’ (ZfVk. 33, 53), untersucht
Nordbo eine Reihe südnorwegischer Familiensagen, die zumeist bis in die Zeit um
1700 zurückgehen, auf ihre historische Glaubwürdigkeit hin, gelangt aber zu einem
etwas ungünstigeren Urteil als Liestal. Mit der verschiedenen Begabung der Er-
zähler (Sogemennene) hängt natürlich die verschiedene Form der Darstellung, trocken
berichtend, breiter ausmalend oder dramatisch und in direkter Rede, zusammen;
natürlich ist auch, daß der Held sich durch Stärke, Mut, Reichtum, Ansehen aus-
zeichnet. Mehr fällt jedoch ins Gewicht, daß Personen erdichtet werden und z. B. in
der Egdesoga von sieben Schwiegertöchtern des Helden sechs falsch benannt sind, daß
Wandersagen von zauberkundigen Geistlichen oder Totschlägern eingemischt werden
und die Chronologie ins Schwanken gerät. Die Vorliebe für zwei entgegengesetzte
Charaktere läßt bisweilen einen dritten Mann verschwinden; die wilde Jagd erscheint,
oder es zeigt sich im 19. Jahrhundert auch ein literarischer Einfluß. J. B.
Nüske, H.: Die Greifswalder Familiennamen des 13. und 14. Jahrhunderts
(1250—1400). Ein Beitrag zur niederdeutschen Namengeschichte. Greifswald,
L. Bamberg 1929. 142 S. 4.50 M. (Vorarbeiten zum Pommerschen Wörterbuch, hrsg.
v. W. Stammler, 2.) — An dem Beispiele Greifswald zeigt der Verfasser, wie die
Familiennamen in der Zeit von 1250—1400 entstanden sind. Beinamen nach dem
Berufe oder Stande des Vaters, nach charakteristischen Eigenschaften, nach der
Stammeszugehörigkeit oder dem Wohnplatze werden auf den Sohn vererbt und so
zu Familiennamen. Aus den Chroniken und alten Stadtbüchern, die Vertragsurkunden
enthalten, hat der Verfasser die Namen herausgesucht und zusammengestellt. Ein
sehr gründliches und fesselndes Buch! Möchten wir doch auch anderswo bald der-
artige Arbeiten bekommen! O. Kieser.
Olrik, Axel og Ellekilde, Hans: Nordens Gudeverden, 3. Hefte. K^benhavn,
G. E. C. Gad (1930). S. 161—240. 3 Kr. — Das neue, nach langer Pause erschienene
Heft des wichtigen und interessanten Werkes über die nordische Götterwelt (vgl. ZfVk.
37, 71) bringt die Fortsetzung des dritten Kapitels, das dem Kulte der niederen, für
das einzelne Haus bedeutungsvollen göttlichen Wesen gewidmet ist und seine Spuren
in älteren Zeugnissen und im neueren Volksbrauche verfolgt. Wir hören von den
Opfern, die dem nahen Fels, Wald, Wasserfall, den klugen Raben oder den Geistern
des Feuers dargebracht wurden, von hölzernen Götzenbildern Thornbjörn, Fakse,
Hernos, die teilweise bis ins 19. Jahrhundert aufbewahrt wurden, von Talismanen,
heiligen Steinen und Bäumen, wie dem Hollunder (Hyldemor), der das Haus vor
Feuer bewahrt. Sorgfältig sind die Zeiten und Gegenden der einzelnen Überlief'erungen
beachtet und viele Gegenstände und Örtlichkeiten durch Abbildungen veranschau-
licht. Ob es bei dieser Fülle des Stoffes gelingen wird, die 12 Kapitel des Werkes in
den in Aussicht genommenen sechs Lieferungen unterzubringen, darf man freilich
bezweifeln. J. B.
Patzig, H.: Alte Ortsnamen im Westen Groß-Berlins. Ihr Ursprung und ihre
Bedeutung. Berlin, Curtius o. J. 48 S. 1.80 M. — Die Orts- und Flurnamen im
Notizen.
315
Westen Berlins werden festgelegt, ihr erstes Vorkommen aufgezeigt und eine Deutung
gegeben. Der Verfasser nimmt Berlin und Kölln voraus, dann folgen in abc-licher
Reihenfolge alle die Orte, die auch dem Nichtberliner bekannt sind. Obwohl die
Gegend um Berlin slawisch war, beträgt die Zahl der wendischen Namen nur rund ein
Siebentel. — Das sorgfältige Büchlein erscheint für die Heimatkunde Berlins recht
brauchbar. O. Kies er.
Payne, L. W. jr. : Recent Research in Balladry and Folk Songs. (Publications
of the Texas Folk-lore Society 8, 160—169.) — Eine nützliche Übersicht über die
amerikanische Volksliedforschung der letzten zehn Jahre, beginnend mit Louise
Pound, Poetic origins and the bailad (1921). J. B.
Plenzat, Karl: Die goldene Brücke. Volksmärchen gesammelt und erzählt.
Buchschmuck von Carl Streller. Leipzig, Hermann Eichblatt (M. Zedier) o. J. (1931).
164 S. — Seiner ersten Lese ostpreußischer Volksmärchen (ZfVk. 33, 57), die schon
die dritte Auflage erlebt hat, läßt Plenzat einen ebenso erfreulichen, hübsch illustrierten
zweiten Band folgen, den er der Dichterin Agnes Miegel gewidmet hat. Unter den
24 Stücken sind zehn so gut wie neu und zum Teil in der Mundart aufgezeichnet ;
sieben litauische Märchen des Memellandes und ein masurisches hat er aus den
Sammlungen von Schleicher und Toppen entlehnt. Für den gelehrten Benutzer sind
vergleichende Anmerkungen beigegeben. J. B.
Przybyllok, Erich: Unser Kalender in Vergangenheit und Zukunft. Leipzig,
Hinrichs 1930. 92 S. 3 M. (Morgenland. Darstellungen aus Geschichte und Kultur
des Ostens, Heft 22.) — Angesichts der neuesten Bestrebungen für eine Neugestaltung
des Kalenders kommt das vorliegende Buch dem Laien sicher sehr gelegen. Denn
ohne Quellenballast informiert es über die geschichtlichen und astronomisch-mathe-
matischen Vorbedingungen so klar und einfach, wie es der überaus schwierige Gegen-
stand eben erlaubt. Der Volkskundler wird die Neuerungstendenzen aufmerksam zu
verfolgen haben, vielleicht sollte man auch sein Gutachten bei entsprechenden Um-
fragen nicht ganz beiseite lassen. Er würde sich wohl meist im Sinne der Antwort des
Päpstlichen Stuhles an den Völkerbund aussprechen, daß radikale Änderungen „das
Verlassen von tief eingewurzelten Traditionen bedingen, von denen abzugehen weder
rechtmäßig noch erwünscht wäre, es sei denn aus gewichtigen Überlegungen, welche
mit dem allgemeinen Interesse verbunden sind“. Interessant und bezeichnend ist die
Tatsache, daß dem Völkerbund nicht weniger als 185 Vorschläge aus allen Ländern
der Erde zugegangen sind, davon 33 aus Frankreich, 27 aus den Vereinigten Staaten,
24 aus Deutschland, dagegen nur 5 aus Groß-Britannien ! F. B.
Rossat, Arthur: Les chansons populaires recueillies dans la Suisse romande,
tome 2, 1. partie, publié par Edgar Piguet. Bâle, Helbing & Lichtenhahn 1930.
162 S. 8.20 M. (Schriften der Schweizerischen Gesellschaft für Volkskunde, 21). —
Erfreut begrüßen wir die Fortsetzung der von der Schweizer Gesellschaft für Volks-
kunde angeregten Sammlung der Volkslieder der französischen Schweiz, deren erster
Band 1917 erschien (ZfVk 29, 61 f. ). Das von dem fleißigen, 1918 verstorbenen
Dr. Rossat, dessen Bildnis dem neuen Bande beigegeben ist, zusammengebrachte
Material ist von Dr. E. Piguet aus eigenen und fremden Sammlungen vermehrt und
nach denselben Grundsätzen bearbeitet worden. Wir erhalten 64 Festlieder mit vielen
Varianten, deren Aufzeichnungen bis 1750 zurückgehen, und meist mit Melodien.
Den mundartlichen Texten ist eine wörtliche Übersetzung gegenübergestellt. Auf eine
Schilderung der zwölf Monate (Nr. 1) folgen Neujahrs- und Dreikönigslieder der von
Haus zu Haus ziehenden Kinder (2—14), Lieder zur Fastnacht, Karwoche, Maifeier
und Martinsfest (15—31), endlich eine lange Reihe von Weihnachtsliedern. Viele
Stücke tragen dramatischen Charakter, so die Dialoge bei der Herbergsuchung (37), beim
Umzug der hl. drei Könige (13 u. 56), bei der Anbetung der Hirten (54, 56). Bemer-
kenswert der Abschied des Karneval von der Wirtin (15) und eine lateinisch-franzö-
sische Parodie des 94. Psalms bei St. Martins Begräbnis : 'Bonum vinum acuit inge-
nium; venite, ut potemus’ (31). Die Fortsetzung des Werkes soll Legenden, Klage-
und Klosterlieder bringen. " J. B.
Schirmer, A. : Deutsche Wortkunde. Berlin u. Leipzig, W. de Gruyter & Co.
1926. 111 S. L50 M. (Sammlung Göschen 129.) Der Üntertitel nennt das Werk
eine Kulturgeschichte des deutschen Wortschatzes, und in der Tat ist es dem Ver-
21*
316
Notizen.
fasser gelungen, auf knapp bemessenem Raum eine ziemlich allseitige Übersicht zu
bieten. Daß dabei die Behandlung hier und da allzu knapp ausfällt, war wohl un-
vermeidlich. Leider fehlen in den Literaturangaben wichtige, zum Teil mehrere Jahre
vor 1926 erschienene Arbeiten, und auch in der Darstellung werden nicht alle ver-
wertet, worauf bereits Rosenfeld, Jahresber. f. germ. Phil. 8, 136 hingewiesen hat. So
waren die Abschnitte über die Entstehung des Worts (§ 4), den Bedeutungswandel
(§ 5), die Erklärung der sog. Volksetymologie (S. 22) von Anfang an veraltet. Zu
billigen ist, daß neben Neubildungen auch ältere Worte, die neue Beliebtheit gewonnen
haben, angeführt werden, nur wäre eine deutlichere Scheidung zuweilen erwünscht.
Die Einzelangaben bedürfen durchaus der Nachprüfung. So würde das Werk erst
nach gründlicher Bearbeitung und Erneuerung seinen Zweck erfüllen.
H. Steinger.
Scho lieh, Kurt: Der Deutsche in Peru. Langensalza, Beltz o. J. 63 S. —.80 M.
(Der Deutsche im Auslande, hrsg. von der Ausländsabteilung des Zentralinstituts für
Erziehung und Unterricht, Heft 64.) — In Peru ist das deutsche Element nur schwach
vertreten. Die etwa 30 kleinen Beiträge des Heftes gehen zur Hälfte den Spuren
deutschen Wirkens in der Vergangenheit nach. Typische Züge der Landesnatur
kommen zur anschaulichen Darstellung, ein besonderes Gesicht des dorthin ver-
pflanzten Deutschtums taucht erst in schwachen Andeutungen herauf.
E. L. Schmidt.
Schwindrazheim, Oskar: Festgehaltene Heimat. Ein Skizzenbuch aus Ost-
friesland. Leipzig, Brandstetter 1928. VI, 40 S. 2 M. — Diese Sammlung von Feder-
skizzen entstand, wie der Verfasser berichtet, als Nebenwerk gelegentlich einer Wande-
rung durch Ostfriesland zwecks Herstellung von Pastellbildern für den heimatkund-
lichen Unterricht. Typische Landschaften, Bauten, Grabsteine, Hauszeichen, Schmiede-
werk aller Art, Möbel, Geräte und vieles andere ist hier mit feinem Blick für das
Charakteristische mit ein paar Strichen, bisweilen auch als Schattenriß, wirklich „fest-
gehalten“. Der Hauptzweck, der dem Künstler vorschwebte, war, für den heimat-
kundlichen Unterricht das Vorbild eines Skizzenbuches zu geben, und in der Tat ist
es dafür, abgesehen von seinem künstlerischen Eigenwert, ganz vorzüglich geeignet,
wie ich durch eigene Erprobung feststellen konnte. Nicht wenige Teilnehmer einer
volkskundlichen Arbeitsgemeinschaft an einem Berliner Gymnasium, denen ich das
Heft zeigte, wurden dadurch zu erfolgreichen volkskundlichen Streifen durch die
Großstadt und ihre Umgebung angeregt. F. B.
Seemann, Erich: Die Volkslieder in Schwaben. Stuttgart, Silberburg 1929.
144 S. (Schwäbische Volkskunde, hrsg. v. August Lämmle, 5. Buch.) — Die Volks-
liedveröffentlichungen von E. Seemann — es sei hier an seinen Aufsatz in der „Deut-
schen Volkskunde“ von John Meier (1926) und an seine wertvollen Beiträge im „Jahr-
buch für Volksliedforschung“ (1928) erinnert — zeichnen sich stets durch die ge-
naueste Wiedergabe der Melodien aus. Bei ihm gibt es kein Verschönen und Ein-
renken. Er bringt die Lieder mit all den Zerdehnungen und eigenwilligen Zäsuren,
die sich beim Singen „aus dem Gefühl heraus“ einstellen. (In Nr. 94 wechselt der
Takt 16mal.) Von den 100 Nummern entfallen 38 auf Schelmenliedlein und Tänze,
9 auf Vierzeilerketten, Schwänze, Kettenlieder und Lichtputzscheren; die übrigen 52
sind Lieder allgemeinen Inhalts, in der Hauptsache Liebes- und Soldatenlieder. Der
Anhang enthält eine vollständige Bibliographie des schwäbischen Volksgesanges und
Nachweise für jedes Lied. Eine mustergültige Volksliedveröffentlichung! Der For-
scher wie der schlichte Sänger aus dem Volke wird seine Freude an dem Büchlein
haben. — (Ein kleiner Druckfehler: Nr. 10 muß die Vorzeichen von B-Dur, nicht von
F-Dur haben.) Johannes Koepp.
Steinhausen, Georg: Geschichte der deutschen Kultur. Dritte gänzlich neu
bearbeitete Auflage. Mit 151 Abb. und 15 Taf. Leipzig, Bibliographisches Institut
A.-G. 1929. X, 686 S. 26 M. — Die Neubearbeitung hat das Werk auf den Umfang
eines Bandes zurückgebracht; fortgelassen sind — was für den Volkskundler schmerz-
lich ist — die Einleitungskapitel der beiden Bände der zweiten Auflage (s. ZfVk. 23,
433) über die Geschichte der deutschen Landschaft sowie die Darstellung der germa-
nischen und fränkischen Zeit. Aber diese Verkürzung hat den Grundcharakter dieser
besten deutschen Kulturgeschichte nicht erschüttert. Der Volkskundler wird keines
der elf Kapitel, von denen das letzte bis in die neueste Zeit führt, ohne reiche Belehrung
Notizen.
317
lesen; wertvoll für die Geschichte der Volkskunde ist das achte Kapitel, das auch
über die Anfänge volkskundlicher Studien berichtet, ebenso die Ausführungen über
Möser und Herder (S. 578f.) und die Romantiker (S. 627 f.). Ausgezeichnet ist auch
die Ausstattung mit vorzüglichen, zum Teil farbigen Abbildungen. F. B.
Sternberg, Leo: Der antike Zwillingskult im Lichte der Ethnologie. (Zeitschr.
f. Ethnologie 61, 152—200. 1929). — Die ursprünglich russisch 1916 erschiene Ab-
handlung, die durch Kulthäuschen der Giljaken auf Sachalin angeregt wurde, ist durch
die Zusammenstellung reichen Materials wertvoll. J. B.
Textor, Georg: Heimatschutz und ländliche Baupflege. Mit 107 Abbildungen.
Kassel, Bärenreiter-Verlag. 116 S. 6,50 M. — Nur mit den Siedlungen des verhältnis-
mäßig kleinen hessischen Kreises Wolfhagen beschäftigt sich das schöne Buch, das
naturgemäß zunächst die künstlerische Baukultur in Wort und Bild darzustellen
sucht. Doch leistet es auch der Siedlungskunde wertvolle Förderung durch die zahl-
reichen Ortspläne (4 städtische und 17 dörfliche). Sie sind teilweise nach alten Flurplänen
entworfen, zeigen aber auch manche Veränderungen aus den letzten Jahrzehnten. Daß
die Dörfer sämtlich haufendorfartigen Charakter haben, kann für Hessen nicht über-
raschen, daß dagegen die vier Städte den unverkennbaren östlichen Kolonialtypus
zeigen — der Plan von Zierenberg (Abb. 3) läßt eine auffallend klare Durchbildung der
vierstraßigen regelmäßigen Anlage erkennen — dürfte im allgemeinen nicht bekannt
sein. Naumburg (Abb. 99) erinnert in seiner Zusammendrängung auf einen kuppigen
Hügel an böhmische Stadtanlagen. Die Flieger- und Gesamtansichten — darunter
einige nach Merian — lassen oft ein sehr belehrendes Bild der Verkehrsanlage und der
geographischen Umstände deutlich werden. Robert Mielke.
fUrtel, Hermann: Beiträge zur portugiesischen Volkskunde. Hamburg,
Friederichsen & Co. 1928. 82 S. 4 Taf. 4°. (Hamburgische Universität, Abhand-
lungen aus dem Gebiet der Auslandskunde, Bd. 27, Reihe B, Bd. 15.) — Es war ein
verdienstvolles Unternehmen des leider zu früh verstorbenen Verfassers, aus der meist
schwer erreichbaren portugiesischen Folkloristik und eigenen Sammlungen schöpfend
einige wichtige volkskundliche Probleme darzustellen. Kommt uns doch außer den
Arbeiten von J. Leite des Vasconcellos nur selten eine Abhandlung über portugiesische
Volkskunde in die Hände. Von besonderem Interesse ist der erste und ausführlichste
Aufsatz über die Gebärdensprache des Portugiesen, der viel Eigenartiges enthält;
die Deutungen der Gesten scheinen freilich hie und da etwas zweifelhaft, z. B. die des
Ausspuckens vor einem anderen als Angriffsgeste, die Ablehnung des Drohungs-
charakters der geballten Faust u. a. m. Behandelt werden außerdem folgende Ge-
biete: Amulette, Festkalender, Baum- und Pflanzenkult, Toten- und Seelenglaube,
Werwolf, Volksmedizin, Sternenglaube, Wasser, Brot, Bett, Spiegel, einzelne Men-
schenklassen und Berufe. Herausgegeben sind die nachgelassenen Studien von
F. Krüger. F. B.
Vilmar, A. F. C.: Deutsches Namenbüchlein. 8. Aufl. neu hrsg. v. R. Hom-
burg. Marburg, Eiwert 1926. IV, 101 S. 2,80 M. — Das bekannte Vilmarsche
Namenbüchlein ist in achter Auflage neu herausgegeben. Auf Wunsch des Verlegers
ist der Text Vilmars „pietätvoll“ gewahrt, obwohl dadurch, wie der Herausgeber sagt,
mancherlei Bedenken unterdrückt werden mußten. In 14 Abschnitten wird die Her-
kunft der Familiennamen von Wohnstätte, Gewerbe, Stand, besonderen Eigenschaften,
Pflanzen und Tieren, Speisen usw. behandelt. Ein abc-liches Verzeichnis erleichtert die
Benutzung. Das Buch wird sich als guter Ratgeber für alle die erweisen, die bei der
Beschäftigung mit Familiengeschichte danach greifen, um den eigenen Familiennamen
zu deuten. O. Kies er.
Voelker, Johannes: Der deutsche Soldat in seinen Liedern und Reimen. Plau-
dereien eines alten Soldaten. Stettin, F. Hessenland 1929. VIII, 191 S. 2,50 M.—
Der Verfasser, der bereits ein uns nicht bekannt gewordenes Heft ‘Soldatenlieder’
(2. Aufl. 1927) herausgegeben hat, möchte für seine alten Kameraden ein möglichst
vollständiges Bild vom Leben des deutschen Soldaten, seinen Leiden und Freuden, auf
Grund der wirklich gesungenen Soldatenlieder, auch der unterdrückten und nie ge-
druckten, entwerfen, zumal da er bemerkt hat, daß jene ungedruckten Lieder und
Reime nur in bescheidenem Umfange in der mündlichen Überlieferung unsrer Reichs-
wehr fortleben. Er hat also jahrelang bei verschiedenen Regimentern gesammelt und
bespricht nun in 18 Kapiteln die Äußerungen über den Dienst, den Rangstreit der
318
Notizen.
einzelnen Waffengattungen, die Charakteristik der verschiedenen Dienstgrade, die
Äußerungen über Waffen und Uniform, Essen und Trinken, Urlaub, Humor im Felde,
die Stellung zum weiblichen Geschlecht, zum Tode und zur Religion, wobei ungescheut
auch poetisch Minderwertiges und Rohes gebucht wird. Das anschaulich geschriebene
Buch bietet lehrreiche und zuverlässige Schilderungen. J. B.
Volkmann, Erich: Die Sudetendeutschen (= Schriften zur politischen Bildung,
hrsg. von der Gesellschaft „Deutscher Staat“, V. Reihe, Grenzlande, Heft 10). Lan-
gensalza, Beyer & Söhne 1929. 88 S. Geh. 2,20 M. (Friedrich Manns Pädagogisches
Magazin, Heft 1246.) — Der erste Teil schildert in sehr klarer Übersicht die Siedlungs-
geschichte der Sudetenländer, ausgehend von den Ergebnissen der prähistorischen
Forschung, dann das Verhältnis Böhmens zum mittelalterlichen Deutschen Reich, die
schöpferische Einwirkung der deutschen Kultur und die Gegenwirkung des tschechi-
schen Selbstbewußtseins, und wie aus allem die Schicksalsbedeutung dieses Landes
für uns erwächst. Der zweite Teil zeigt den völkischen Aufbau des heutigen tschecho-
slowakischen Staates, darinnen den deutschen Anteil und sein bisheriges peinvolles
Ergehen unter dem methodischen Druck der ihm feindseligen Regierung. Hier illu-
strieren Tabellen und graphische Darstellungen die für uns nachteilige Entwicklung.
E. L. Schmidt.
Weismantel, Leo: Das alte Dorf. Die Geschichte seines Jahres und der Men-
schen, die in ihm gelebt haben. Berlin, Bühnenvolksbundverlag 1928. 453 S. Geb.
5 M. — Wenn an dieser Stelle das Werk eines Dichters angezeigt wird, so geschieht es
nicht allein um des Verfassers willen, der seit Jahren in Schrift und Wort für eine
Erneuerung und Vertiefung des individuellen wie des Gemeinschaftsleben durch eine
Rückkehr zu den Quellen des Volkstums verkündet. Auch nicht, weil man diese
dichterische Schilderung des Lebens und der Leute in dem armseligen Rhöndorf
Sparbrot etwa unbedenklich als volkskundliche Fundgrube ausbeuten könnte. Viel-
mehr weil wir hier ein Kunstwerk haben, in dem sich Erlebtes und Erlesenes, Gesehenes
und Geschautes zu einem eigenartigen, den Leser immer wieder packenden und nicht
loslassenden Zusammenklang vereinigt. Nicht eine so farbensatte und von Leben
strotzende Schilderung, wie wir sie etwa in dem größten aller „volkskundlichen
Romane“, den „Polnischen Bauern“ von Reymond besitzen, überhaupt kein Roman,
wie die Verlagsanzeige verheißt, sondern eine Folge von visionären Schilderungen.
„Ich weiß Dinge“, sagt Weismantel, „die gewiß zu Zeiten geschehen sein mögen, da
mein Leib noch nicht geboren sein konnte, wenn ich nach Büchern rechnete. Ich habe
Menschen gesehen und gesprochen, die schon gestorben waren, ehe ich geboren wurde.“
Gleichwohl haben diese Gesichte eine fast unbarmherzige Klarheit, sie sind „Bild und
Wirklichkeit zugleich“. Besonders den Abschnitt „Das Jahr von Sparbrot“, der die
Nöte und Freuden, die Feste und die harte Arbeit der Sparbroter in den einzelnen
Monaten schildert, ist ein überaus fesselndes Stück volkskundlicher Dichtung und
Wahrheit. F. B.
Zaborski, Bogdan: Über Dorf formen' in Polen und ihre V erbreitung. Übersetzt
von Friedrich Schmidbauer, Breslau, Priebatsch 1930. 112 S. 8 M. (Osteuropainstitut,
Teil III). — Schon als diese Arbeit nur polnisch vorlag, ist sie in der deutschen Lite-
ratur freudig begrüßt worden (vgl. E. Wunderlich in der Zeitschrift der Gesellschaft
für Erdkunde 1928, W. Kuhn in „Karpathenland“ 1929, W. Maas in der Zeitschrift
für Völkerpsychologie und Soziologie 1930). Wir verweisen auf diese zum Teil sehr
ausführlichen Besprechungen. Hier wollen wir nur die Hauptergebnisse darlegen.
Die nationale Bedingtheit der Dorf formen, ein seit Meitzen beliebtes Thema, lehnt
der Verfasser fast völlig ab. Von der deutschen Dorfformenforschung übernimmt
er den morphographischen Teil, den er noch weiter ausbaut und dazu ein sehr schönes
Schema der Dorfformen aufstellt. Auch Übergänge zwischen ihnen konstruiert er,
so den vom Straßendorf über das Kettendorf zum Haufendorf. Physiographisch bedingt
sind häufig die Formen, daher lassen sich im Osten Polens von Süden nach Norden
folgende Zonen unterscheiden: Einzelhöfe der Karpathen, Haufendörfer Podoliens,
Kettendörfer Wolhyniens, Straßendörfer Polesiens und Nowogrödeks, Weiler des
Wilnalandes. Andere Formen sind wirtschaftlich bedingt: Reihendörfer in fast allen
Gebieten Polens, Einzelhöfe in Westpolen, Einzelhöfe der Kleinadelssiedelungen
Masowiens und Podlachiens. Haufendörfer treten nach Z. nur in den Gebieten ältester
Besiedelung (südlich der Grenze der letzten Vereisung) auf. So ist das deutsche
Haufendorfgebiet mit dem ukrainischen durch ein Band polnisch-galizischer verbunden.
Aber die Bevölkerung hat oft die in einer Gegend physiographisch bedingten Dorf-
Notizen.
319
formen in andere Gegenden übertragen. So geschah es im Westen Polens bei der
deutschen Kolonisation, deren Bedeutung Z. hervorhebt. Sehr schön ist die karto-
graphische Darstellung der Verbreitung der Dorf typen in Polen. Viele alte Irrtümer,
die heute noch in der Literatur herumspuken, werden durch sie beseitigt, wie der
einer Monotonie der Dorfformen in Polen, der Glaube an den Rundling u. v. a. Eine
zweite Karte zeigt das Gebiet zwischen Elbe—Düna—Dniepr—-Karpathen. Sie
erweist deutlich den großen Fortschritt in der Erkenntnis, wenn man sie mit der von
Schlüter (Geographische Zeitschrift 1900) vergleicht. Es ist sehr zu begrüßen, daß
diese grundlegende Arbeit nun auch ins Deutsche übertragen wurde. Die Übersetzung
ist bis auf Druckfehler einwandsfrei. Im Literaturverzeichnis fehlt Nr. 178 die Arbeit
von Schlitte, Die Zusammenlegung der Grundstücke, 3 Bde., auf die aber im Text,
S. 89 Bezug genommen wird. Sehr erfreulich ist, daß der Verfasser zu dieser Über-
setzung seiner Arbeit eine neue Karte hinzugab: Die natürlichen Landschaften Polens
1:6000000. Der Vergleich der beiden Karten ist sehr lehrreich. Walther Maas.
Zimmermann, Paul: Heinrich der Löwe in deutscher Sage und Dichtung.
(Braunschweigisches Magazin 1930, 17—32.) — An die Morgenlandfahrt Heinrichs des
Löwen (1172) schlossen sich wohl schon bald Sagen von seinen wunderbaren Erleb-
nissen dort, von dem dankbaren Löwen und von der Heimkehr zur Wieder Vermählung
seiner Gattin an, die um 1300 in der Schweiz im Reinfried von Braunschweig, nach
1400 in Rheinfranken durch Michel Wyssenhere, im 16. Jahrhundert durch Hans
Sachs, Heinrich Göding und Georg Thym dichterisch behandelt wurden und auch den
Stoff zu niederländischen, dänischen, schwedischen Liedern und zwei böhmischen
Volksbüchern hergaben. J. B.
Zobel, Arthur: Die Verneinung im Schlesischen. Breslau, Marcus 1928. XVI,
267 S. 15 M. (Wort und Brauch, hrsg. v. Th. Siebs und M. Hippe, 18.) — Die Arbeit
behandelt neben der schlichten Verneinung durch besondere Worte und Präfixe und
ihrer mannigfaltigen Verwendung auch ihre Verstärkung und Veranschaulichung so-
wie die übrigen Mittel, verneinenden Sinn auszudrücken, bis zur Andeutung allein
durch den Ton. Nach der lautlichen Seite werden nur schlesische Mundarten berück-
sichtigt, Ausgangspunkt ist die der jauerschen Gegend. Nach der syntaktischen und
sprachpsychologischen Seite will der Verfasser an der Hand der ihm selbst vertrauten
Mundarten ein möglichst allseitiges und allgemeingültiges Bild von der Rolle der Ver-
neinung im volkstümlichen Deutsch überhaupt zeichnen mit stetem Ausblick auf
andre Landschaften, aufs Mittelhochdeutsche und die neuhochdeutsche Schrift-
und Umgangssprache. Mehr Beispiele als aus dem mundartlichen Schrifttum gibt
Zobel aus eigner Kenntnis und Beobachtung. Wer, wie billig, den Standpunkt ver-
tritt, daß Forschung und Verarbeitung nicht ruhen dürfen, auch während anderswo
noch gesammelt wird oder das Gesammelte jedem Fernstehenden verschlossen bleibt,
wird Zobels Arbeit lebhaft begrüßen. Freilich wäre neben den gelegentlichen psycholo-
gischen Erklärungen ein zusammenfassender Abschnitt nützlich, wenn nicht unent-
behrlich gewesen, der das Zusammenwirken volkstümlicher Sprachneigungen mit ver-
wandten oder innerlich fremden Mustern der Umgangs- und Hochsprache heraus-
gearbeitet hätte. H. Steinger.
Zoder, R. und O. Eberhard: Spielmusik fürs Landvolk, 3. Heft: Volks-
weisen, Fanfaren, Lieder und Tänze für zwei Flügelhörner oder Trompeten in B.
Wien, Österreichischer Bundesverlag 1929. 44 S. Quer-8°. — Die Fortsetzung der
in der ZfVk. 1927, 153 besprochenen empfehlenswerten Sammlung bringt 40 Fanfaren
und Tänze aus Niederösterreich, Salzburg, Böhmen und Mähren. Begleitende Stimmen
können nach dem Gehör hinzugefügt werden. J. B.
Zoepfl, Friedrich: Deutsche Kulturgeschichte, 1. Bd. (Vom Eintritt der Ger-
manen in die Geschichte bis zum Ausgang des Mittelalters.) Mit 1 Farbentafel und
279 Textbildern. Freiburg i. Br., Herder 1928. XXVIII, 580 S. 23 M. — Dem leb-
haften Interesse für Kulturgeschichte, das heute in weiten Kreisen herrscht, besonders
auch den Bedürfnissen der Schule wird diese fließend und anregend geschriebene
volkstümliche Darstellung zweifellos entgegenkommen. Ohne den Anspruch auf neue
wissenschaftliche Erkenntnisse zu erheben, trägt sie den Stoff ausführlich, doch ohne
Breite vor und vergißt über dem sachlichen Detail nie die großen Zusammenhänge und
die menschlich-psychologischen Grundlagen der Kulturentwicklung. Erfreulich ist
auch die politische und religiöse Objektivität des Urteils. Die Eingängigkeit des
Textes wird durch eine Fülle zum Teil erstmalig veröffentlichter Abbildungen ver-
stärkt. B.
Register.
(Die Namen der Mitarbeiter sind kursiv gedruckt.)
Abendmahl 50, 79,
Abzählreime 151.
Adler 66.
Ägypten 2, 23.
Ainsworth, W. H. 52f.
Alexander d. Gr. 41.
Alphabeth 170 ff.
Ama-terasu 1.
Ameise 21.
Amelias 126.
Amerika: Lied 315.
Ampeln 257.
Amulette 258.
Andrée, K. 297.
Anhalt 7 6 ff.
Anredeformeln 80.
Apelles 127.
Apfelbaum 175.
Apfelschuß 134.
Argentinien : Deutschtum
309, Sagen 311, Volks-
kunde allg. 303.
Armenhaus 81.
Arndt, E. M. 306.
Aschermittwoch 234.
Atlas der deutschen Volks-
kunde 5, 197, 210, 234.
Aufhalten 78.
Auslandsdeutschtum 45ff.,
273f., 297, 309, 316,318.
Automobil 272 f.
Backhaus 81.
Bahlmann, P. 145.
Ballade 136 ff.
Bannungsorte 185.
Basalt 36 ff.
Basler, O., Not. 313.
Bayern: Lied 309.
Becker, A., Christophorus,
der Heilige des mo-
dernen Verkehrs 272f.
Begräbnis 76, vgl. Toten-
brauch.
Benediktionen 22.
Bengeln 78.
Benndorf, K. 301.
Bercana 173.
Berlin 314.
Beschorner, H. 297.
Besessenheit 275 ff.
Biagioni, L. 297.
Billing, E. 297.
Binden 78.
Birke 173.
Blasiustag 235.
Blaue Farbe 29 ff.
Blautopf 4.
Bleyer, J. 297.
Blockhaus 205 f.
Blumen weg 46 ff.
Blut 3.
Boehm, F. 156. „Einst“
und „jetzt“ in volks-
kundlichen Fragebogen
und Karten 210—217.
Erster Deutscher Volks-
kundetag in Würzburg
295. Notizen 296—319.
Böhmen 201.
Böhmerwald: Lied 309.
Botte, J. 298. Texte zu
militärischen Signalen
und Märschen 83—92.
Hebels „Kannitver-
stan“ in Portorico 273.
Notizen 297—319.
Boudriot, W. 298.
Bozen 310.
Brautkrone 25 ff.
Breite 311.
Brockmann-Jerosch 299.
Bruck (Steiermark) 6ff.
Brueghel d. Ae., P. 10ff.
Brummtopf 204.
Brunnennamen 170 ff.
Brunnenreinigung 81.
Buchbinder 108.
Bugge, S. 176f.
Burschenbünde 77 f.
Calvaruso, G. M. 299.
Caesarius v. Arles 23f„
298.
Charon 66.
Christiansen, R. Th. 300.
Christkind 71.
Christmann, E. Der Häher
in den pfälzischen
Mundarten 217—224.
Christophorus 272 f.
Christus 62.
Corpi decollati 250.
Corso, R. 249 f.
Croce, G. C. 297.
Dämonen 185f, 275.
Dänemark: Geschichte297.
Segen 18.
Dangel, R. 300.
Danzel, Th. W. 300.
Deecke, W. 38.
Demeter 1.
Deneke, O. 95.
Detektivromane 302.
Deutschkunde 308.
Deutschrussen 136 ff., 202 ff.
Dienstag 49.
Diepgen, P. Eine volks-
tümliche Darstellung
des Todes vom Ober-
rhein 189—192.
Dietrich von Bern 68.
Dionysos 22.
Donar 173 ff.
Donnerstag 234ff.
Doppelschüsseln 192 ff.
Dorf formen 318 f.
Dorfgemeinschaft 79.
Dorfmaie 80.
Dorfschulze 80.
Drei Jungfrauen 302.
Dreikönigstag 234.
Dreschwalze 206.
v. Droste-Hülshoff, A. 29.
144.
— J. 144.
Dumézil, G. 301.
Eberhard, O. 319.
Ebermann, O. 301.
Eckhardt, K. A. 25.
Edda 125ff., 181, 297.
Ehemann, jüngster 78.
Eibe 174.
Eiche 21.
Einhaus 204.
Ekkhart-Jahrbuch 301.
Ellekilde, H. 301, 314.
England: Sprichwort 153.
Enthauptete 250 f.
Epstein, H. 302.
Erbrecht 205.
Register.
321
Erbsenbär 77, 79.
Erhängte 67, 70.
Ermordete 67.
Emtekranz77. —Spruch 188.
—wagen 203.
Erzählen als Zauber 40ff.
Fachwerkhaus 225ff.
Familiennamen 314, 317.
—sagen 312, 314.
Fastenfeuer 213f.
Fastnacht 2, 77, 79, 234ff.
Fehrle, E. 26, 302. Das
Lachen im Glauben der
Völker 1—5.
Festfeuer 213, 243.
Feuersegen 17.
Feuerwehr 81.
Fieber 20. —segen 18.
Finnland: Märchen 119 f.
Fittbogen, O. Ein deutsches
Kulturdokument aus
Slawonien 273f.
Flachs 20.
Flaschen 186.
Flatin, K. A. 302.
Flausenabend 79.
Flieder 20.
Flurnamen 182ff., 297.
—Umgänge 45.
Flutsagen 308.
Fohlen 62 f.
Fragebogen 5ff., 210ff.
Frankreich: Segen 21.
Frauenfeste 235ff.
Fremdwörter 156f.
Freund Hein 58.
Freydanck, G. 303.
Friedlaender, M. Neues
zum Krambambuliliede
93—100.
v. Friesen, O. 177.
Friesland: Sprache 50.
Frings, Th., Deutsch
Karch „Wagen“, franz.
charrue „Pflug“ 100 bis
105.
Frölich, K. 25.
Fronleichnam 45 ff.
Frosch 3.
Fruchtbarkeitsriten 234 f.
—zauber 42, 72, 75.
Frühlingsfeste 2.
Furt, J. M. 303.
Fußspur 255.
Ganander, Ch. 119f.
Gänsehimmel 298.
Garbe llf.
Garbenstand 205, 207.
Garke, W. 303.
Gaukler 113.
Gaunersprache 298.
Gebäcke 205.
Gebet 45.
Gehenkte 251 f.
Geist in der Flasche 186.
Geisterabwehr 43 ff.
Gelbfrau 12.
Gelos 4.
Gemeindediener 81. —Ver-
sammlung 81.
Gemeinschaftsleben 7 6 ff.
v. Oeramb, V. Eine Frage-
bogenantwort Erz-
herzog Johanns 5—10.
Germanen: Religion 49ff.,
61 ff., 71 ff., 173ff., 298,
314. Runen 170ff.
Gerola, B. 249.
Gertrud, hl. 74.
Gesinde 4. —termine 81.
Gewitter 45.
Gicht 20.
Gnadenbilder 252.
Gottfried v. Straßburg 158.
Gottschee: Lied 303.
Grab 38f„ 286f. —beigabe
286. Vgl. Toten-
brauch.
Graf im Pflug 122 ff.
Gregor v. Tours 26.
Greifswald 314.
Greise getötet 3.
Grenzsteine 205.
Griechenland: Zauber 21.
Grimm, Brüder 143 ff.
Gröber, K. 304.
Groth, P. 304.
Grußformeln 16ff., 80.
Güttscher, A. 29.
Haberlandt, A. Volkskund-
liches zur „Bauernhoch-
zeit“ P. Brueghels d.
Ae. 10—16.
Häberle, A. 305.
Häher 217 ff.
Hakenpflug 204.
Hameln 303.
Hammarstedt, E. 71fP
Handwerker 79. —feste
79ff., 235.
Hanika-Otto, L. 305.
Hara, H. 306.
Harlekin 53f.
Hartlaub, G. F. 301.
Hartmann, R. 202.
Hauberg 10.
Hausformen 204, 206, 209,
225 ff. -—geister 4.
—landschaften 225 ff.
Hauswurz 45.
v. Haxthausen, Familie 144.
Hebel, J. P. 273.
Heckscher, K. 306 f.
Heeger, G. 217 ff.
Heierli, J. 307.
Heiligen Verehrung 252 ff.
Heimbürge 58 f.
Heinchen 59.
Heinrich der Löwe 319.
Heischelied 150. —umzüge
77, 79, 150, 204, 236ff.
Hekate 66.
Helander, S. 297.
Helbok, A. Über vorzeit-
liche und heutige Haus-
typenlandschaften 225
bis 234.
Hellekin 53.
Helm, K. 63 f.
Henne 49ff.
Hepding, H. Eine nieder-
rheinische Schüsselin-
schrift 105—110.
Hephaistos 131.
Herne 51 f.
Herzvotive 258 f.
Hesiodos 40.
Hilaria 2.
Hinken 65, 67.
Hinnebritten 55 f.
Hinrichtung 32.
Hiob 23.
Hirten 81.
Hochzeitsbrauch 10 ff.,
25ff., 78.
Hocke 207.
Hofnarren 111 ff.
Hofstaetter, W. 308.
Hohenberger, H. 308.
Holbein, H. 190.
Holstein: Märchen 288ff.
Holzhaus 220ff.
Hornsprache 83 ff.
Hörselberg 67.
Huber, K. 309.
Hübner, A. 211 f.
Hund 66.
Hünnerkopf, R. 302.
Ibsen, H. 67.
Iduna 175.
Indianer: Mythen 300.
Zauber 41 f.
Ing 174.
Interpretatio Romana 65.
Island: Sage 312. Sprich-
wort 152.
Italien: Märchen 310.
Sagen 310. Sonder-
sprachen 298. Volks-
buch 297. Votive 249ff.
Jacoby, A. „Bis wille-
komm“ und ähnliche
Eingangsformeln in
Zauber- und Segen-
Sprüchen 17—24.
322
Register.
Jahresfeuer 213f.
Japan 1, 5, 306.
Johann, Erzherzog 5 ff.
Johann v. Neumarkt 111 ff.
Johannisfest 78. —feuer
213f.
Jorinde und Joringel 19.
Juden: Dämonenglaube
275 ff.
Jugendbünde 77 ff.
Jul 12.
Julien, R. Notiz 307 f.
Jungbauer, O. 309. Staats-
grenzen und Volks-
kunde 196—201.
Jungfernkranz 25.
Jungfrauschaft 25 ff.
Kalender 315.
Kanapeelied 93 f.
Kannitverstan 273.
Karg, F. Scherzbildungen
zu mitteldeutschenOrts -
namen 163—169.
Karl V. 13.
Karren 100 ff.
Kaukasier: Sagen 301.
Keiper, W. 309.
Keller, G. 4.
— W. 310.
Kerberos 66.
Kerze 71 ff., 74.
Kerzenopfer 257.
Keule 81.
Keussen, H. 29.
Kiem, P. 309.
Kieser, O. Not. 297, 303,
314f. 317.
Kinderfest 149. —lied39f.
145 ff. —spiel 143 ff.
Kirchenlied 18.
Klagegedichte 82.
Klageweib 3.
Klapper, J. Die soziale
Stellung des Spiel-
manns im 13. und
14. Jahrhundert 111 bis
119.
v. Klebeisberg, R. 310.
Kleideropfer 266. —tausch
236.
Knabenschaften 27.
Knaffl, J. F. 6.
Knoblauchsmittwoch 79.
Kobold 303.
Köln 29ff. 198.
Koepp, J. Notizen 309,
316.
Korb 205.
Korndämonen 312.
Koromandel, C. 93.
Körperteile 261 ff.
Kraichgau 302.
Krambambulilied 93ff.
Krankheiten übertraegen
20.
Kranz 11 ff., 25 ff., 47 f.,
71 f., 74.
Kretinismus 9f.
Kreuzzeichen 45.
Krieger, C. 302.
Kriegszauber 42.
Kriß, R. Votive und Weih-
gaben des italienischen
Volkes 249—271.
Krohn, K. 62. Die ältesten
gedruckten Märchen im
Finnischen 119—122.
Krone 12ff., 25.
Kropf 8f.
Kügler, H. Notiz 308.
Kulturgeschichte 316, 319.
Künstleranekdoten 127f.
Künzig, J. 302.
Lachen lff.
Lambertus, hl. 148f.
Langhof 204, 209.
Lärm vertreibt Geister 45 f.
v. Laßberg, J. 144.
Lasterbalg 115 ff.
Lauffer, O. Jungfernkranz
und Brautkrone 25 bis
29.
Läuten 283.
Lebender Leichnam 38,
190.
Lebermeer 184.
Legende 302.
Lehmann-Nitsche, R. 311.
Lehnwörter 157.
Leichendämon 66.
—schmaus 287.
—wache 42 f. —wagen
69. —wasser 283.
Leiterwagen 205.
Lenore 69.
Lettland: Sagen 311.
Lewy, H. 311.
v. der Leyen, F. Die ger-
manische Runenreihe
170—182.
Lichtmeß 234f.
Lid, N. 312.
Liebesorakel 19. —zauber21.
Lied: Kanapee- 93f., Kin-
der- 39, 145 ff. Kirchen -
18. Krambambuli- 93ff.
Martins- 150. Soldaten -
302, 317. Totentanz-
61. —Amerika 315.
Bayern309.Böhmerwald
309. Deutsch-russisch
136ff. Gottschee 303.
Pommern 125. Schle-
sien 60 f. Schwaben
316. Schweiz 315. Su-
detendeutsch 19 7 f.
—Wanderung 197 f.
Weisen 125, 136 ff.
Lilith 36.
Liste, K. 312.
Lobreden 4L
Löffel 13f.
Lorenzen, G. 312.
Lucia, hl. 71.
Lupercalia 3.
Luther, M. 18, 58, 151.
Luxusgesetze 13.
Maas, F. Notiz 318 f.
Mackensen, L. 305. Das
Märchen von der ge-
treuen Frau in Pommern
122—125.
Mädchenbünde 78.
Magdeburg 303.
Maibaum 80. —braut 75.
—fest 149.
Malten L. 65.
Mannus 175.
Mannhardt, W. 212.
Mar 56.
Märchen: Tier- 119ff. Ver-
wandlungs- 130f.—All-
gem. deutsch 312. Hol-
stein 288ff. Ostpreußen
44, 315. Pommern
122f. Finnland 119ff.
Italien 310. Ungarn
130. —Ethik 304.
Handwörterbuch 305.
Maria, hl. 302.
Marmorstein, A. Der Ni-
kolsburger Geist 275
bis 282.
Mars Thingsus 49.
Märsche 83 ff.
Marstrander, C. 170f.
Martin, hl. 150.
Martinsfest 78. —lied 150.
—feuer 213f. —tag 82.
Maskierung 79.
Maurer, F. 313.
Meer 174. Rotes — 182 ff.
Schwarzes — 18 7. Totes
— 187.
Meerkönige 185.
Meier, J. Der blaue Stein
zu Köln 125—140.
Mennoniten 202 ff.
MerseburgerZaubersprüche
41, 61 ff.
Methfessel, A. 93.
Michael, hl. 254.
Michaelspferd 68.
Mielke, R. Das Rote Meer
182—188. Notiz 317.
Mistel 45.
Register.
323
Mithras 22.
Mittagsgespenst 43.
Mittfasten 234.
Mitzka, W. Volkskunde
von Kolonie und Hei-
mat 202—209.
Mombert, A. 301.
Monatsnamen 160.
Mond 19, 24.
Mondraute 19.
Mörike, E. 4.
Mosesstab 20.
Müller 109.
Müller, A. 313f.
Müller, J. 29. Der Don-
nerstag vor Fastnacht
im Rheinischen 234
bis 241.
Mummelsee 185.
Mundarten: deutsch-unga-
risch 297. Pfalz 217 ff.
Mysterien 22.
Nachbarschaft 76f.
Nachtwächter 81.
Nadel 4.
Nadler, J. 297.
Namen: Familien- 314, 317.
Flur- 182ff., 205, 297,
310. Monats- 160. Orts-
160, 163ff., 182f., 203,
303, 310, 314. Per-
sonen- 160. Runen -
170 ff. Scherz- 163 ff.
Schimpf- 55, 116.
Straßen- 182ff. Tages-
49. Teufel- 116. Vogel-
217ff. Wochentags-
159.
Narten 301.
Naumann, H. 156, 302.
Neocorus 33.
Neustadt a. R. 306.
Nicolaus v. Cusa 24.
.— v. Dinckelspühel 17.
— v. Jawor 24.
Nickerttanz 81.
Nibelungenlied 25, 133f.
Nikolsburg 275 ff.
Nordb0, H. 314.
Norwegen: Allg. Volks-
kunde 300. Sage 76,
314. Volksglaube 303.
Notfeuer 81.
Nüske, H. 314.
Oberammergau 304.
Ofen 4.
Ofner Berge 45 ff.
Öl 257.
Olrik A ^14-
Orakel: Liebes-19. Pferde-
68.
Ortsnamen 160, 182ff., 203,
303, 314.
Ortsneckereien 163 ff.
Osterfeuer 213f. —lachen2.
Ostfriesland 316.
Ostpreußen : Märchen 44,
315.
Panzer, F. 302. Zur Wie-
landsage 125—135.
— W. 302
Paten 12.
Patrick 24.
Patronate 255f.
Patzig, H. 314.
Payne, L. W. 315.
Pedersen, H. 177f.
Peesch, R. 213.
Persephone 1.
Personennamen 160.
Peru: Deutschtum 316.
Pessler, W. 212. Die kar-
tographische Darstel-
lung des Aussterbens
von volkskundlichen
Erscheinungen 242 bis
248.
Peters, U. 308.
Petersilie 4.
Petrus, hl. 150.
Pfalz: Mundarten 217ff.
Pfauenfeder 16.
Pferd 61 ff., 131, 175.
Pferdeorakel 68.
Pfingsten 75, 77, 80.
Pflanzen 306.
Pflug lOOff., 106ff., 203f.
Phol enti Wodan 61 ff.
Picander 96f.
Pilatusberg 67.
Plenzat, K. 44, 315.
Plinius 127 f., 135.
Polen 318 f.
Portorico 273.
Portugal: Volkskunde 317.
Pommern: Familiennamen
314. Lied 125. Märchen
122. Ortsnamen 310.
Prahlen 41.
Privilegium fatuorum lllf.
Prozessionen 45 ff.
Przybyllok, E. 315.
Psyche 2.
Psychoanalyse 2.
Ptolemäus 127.
Puräna 308 f.
Quatember 46.
Quellenkult 253.
Rabe 66.
Räderschieben 235.
Rajner, L. 48.
Ranke, F. 297.
Rasensteinhaus 205 ff.
Rätsel 305.
Rauchstube 246.
Rechtsgebräuche 29 ff.,
80ff., 205. —Symbole
29 ff.
Regenzauber 42.
Reifentanz 79.
Reitweg 69.
Rheinprovinz: Fastnachts-
bräuche 234 ff.
Richard II. v. Engl. 52f.
Rieth, H. 298.
Ring 130.
Ringreiten 78.
Risus 4. —paschalis 2.
Ritt zum Grabe 69.
Rituale Romanum 46.
Strigoniense 46.
Ritz, J. M. Doppelschüs-
seln 192—195.
Rollenhagen, G. 298.
Rosaliensteine 293f.
Rosmarin 285.
Rossat, A. 315.
Rothe, J. 25.
Rothfels, H. 297.
Rügegericht 82.
Rühlemann, M. 54.
Rummelpott 204.
Rundhaus 225ff.
Runen 170ff.
Ruodlieb 135.
Ruppe, M. 304.
Ruska, J. 301.
Rußland: Deutsche Kolo-
nien 203.
Rute 77.
Sachsen: Weihnachtsspiel
313.
Säckingen 189f.
Säen 4.
Sagen: Familien- 312, 314.
Flut- 308 f. Technik-
301. Teufel- 186. Wie-
land- 125 ff. — Island
312. Italien 310. Kau-
kasier 301. Lettland
311. Norwegen 76, 314.
Schweden 75.
Salomon und Markolf 297.
Santa Casa 255.
Sardinien 3.
Sardonisches Lachen 3.
Sarg 266, 313.
Sartori, P. Erzählen als
Zauber 40—45.
Schenkgerechtigkeit 80.
Schenute 23.
Schere 4.
Schiffsvotive 267,
324
Register.
Schillings, R. 298.
Schimmel 69.
Schimmelreiter 69, 77.
Schimpfname 55, 116.
Schirmer, A. 315.
Schirmunski, V. „Des
Schlächters Töchter-
lein“ in neuen Auf-
zeichnungen 136—143.
Schlachtefest 73, 77, 79.
Schlächters Töchterlein
136 ff.
Schläge 77f.
Schlesien: Lied 60f. Mund-
art 319.
Schlitten 209.
Schmied 131.
Schmidt, E. L. Notizen
297f., 303, 309f., 316,
318.
Schmidt, Heinrich 297.
Schmidt, Heinz. Notiz
310.
— R. Notiz 308 f.
Schmidt-Ott, F. 202.
Schnitzer, J. 298.
Scholich, K. 316.
Schreiber 107.
Schulte-Kemminghausen,K.
Westfälische Kinder-
spiele aus dem Nach-
laß der Brüder Grimm
143—152.
Schulzenamt 80. —stab
80 f.
Schumacher, W. 302.
Schüssel 192 ff. —in-
schriften 105 ff.
Schwaben: Lied 316.
v. Schwartz, E. Die Fron-
leichnamsfeier in den
Ofner Bergen 45—49.
Schweden: Sage 75. Weih-
nachtsbrauch 71 ff.
Schweiz: Allg. Volkskunde
299. Lied 315. Tracht
307.
Schwindrazheim, O. 316.
Scott, W. 52 f.
Sedanfeuer 213 ff.
Seelenkult 38. —tiere 67f.
Seemann, E. 316.
Segen 17ff., 61ff., 187, 253.
Selbstmörder 67.
Shakespeare, W. 51 f.
Sibirien: Deutsche Kolo-
nien 202 ff.
Siebenbürgen 202.
Siebs, Th. Von Henne, Tod
und Teufel 49-—61.
Siedlungskunde 317.
Siegstein 129.
Signale 83 ff.
Skadi 1.
Slavonien: Deutschtum
273f.
Sleipnir 62.
Soldat 109.
Soldatenlied 302, 317.
Sommertag 222.
Sondersprachen 298.
Sonne 21.
Sonnengöttin 1. —kind 2.
Sonn wendfeuer 213 f.
Spielleute 111 ff., 135.
Spinnstube 78, 235.
Sprachenpolitik 199f.
Sprachgeographie 313.
Sprachinseln 136f., 199f.,
246.
Sprichwort: Allg. 152 ff.
England 153. Island
152.
Spritzenhaus 81.
Stabreim 171.
Steiermark 5 ff.
Stein im Rechtsbrauch29ff.
Steinger, H. Notizen 314f.,
319
Steinhaus 225ff.
Steinhausen, G. 316.
Steinigung 2.
Steller, W. Phol enti Wo-
dan 61—71.
Sternberg, L. 317.
Sternbilder 311.
Stesichoros 44.
Storch 77.
Straßen 313. —namen
182 ff.
Stricknadel 313.
Stroppel, R. 302.
Sturmdämonen 66.
Sudetendeutsche: Lied
197 f. Rätsel 305.Volks-
tum 318.
v. Sydow, C. W. Luzia und
Christkindlein 71—76.
Symbole 300.
Tacitus 159, 175, 181.
Tanz 1, 29, 79.
Taylor, A. The proverbial
formula „Man soll“ 152
bis 156.
Teske, H. 302.
Tessin 310.
Teufel 51, 57ff., 65.
—namen 116. —sagen
186.
Textor, G. 317.
Thidrekssaga 126.
Thoma, H. 5.
— L. 301.
Tierhimmel 298. —már-
chen 119ff.
Tiu 173.
Tod: Darstellung 189 ff.
Ursprung 300. Vor-
zeichen 68 f. 282.
Todesgott 49 ff.
Totenbräuche 282ff.
—brett 283. —dämon
65. —führer 65f., 68.
—gräber 7 7 ff. —klage
40f. —kröne 29, 284.
—kult 251. —tanz 61,
189f. —weg 285.
Tracht 12ff., 26ff., 113, 307.
Trauerfeste 284.
Trede, Th. 250 f.
Tschinkel, H. 303.
Übersetzungswörter 156 ff.
Übertragung 20.
Uhland, L. 53f.
Ulbricht, K. Geburt, Hoch-
zeit und Tod in Volks-
brauch und Volksglau-
ben der Kreise Lebus
und Beeskow-Storkow
(Schluß) 282—288.
Umkreisung 286.
Ungarn: Deutschtum 297.
Fronleichnamsf eier45 ff.
Märchen 130.
Unruh, W. 96.
Urtel, H. 317.
Velent 126f.
Verband deutscher Vereine
für Volkskunde 295.
Vercana 173.
Vergil 2.
Verkehrsheilige 272ff.
Verneinung 319.
Viehkrankheiten 81.
Viereckhaus 225ff.
Vilmar, A. F. C. 317.
Voelker, J. 317.
Volkmann, E. 318.
Volksbotanik s. Pflanzen.
Volksbrauch s. Einzelstich-
wörter.
Volksbücher: Bertoldo 297.
Salomon und Markolf
297.
Volksglaube s. Einzelstich-
wörter.
Volkskunde: Allg. deutsch
306. Atlas 5, 197. Geo-
graphie 21 Off. —tag
295. — und Auslands-
deutschtum 196ff. und
Staatsgrenzen 196ff. —
und V orgeschichte225 ff.
Volkskunst 304.
Volkslied s. Lied.
Volksmärchen s. Märchen.
325
Volksmusik 319.
Volksrätsel s. Rätsel.
Völsi 175.
Völsungen 175.
Vorlaube 204, 209.
Vorgeschichte 225ff.
Votive 249 ff.
Wagen 69, lOOff. Ernte-
203, 205. Leiter- 205.
Wallfahrten 249 ff.
Walpurgisfeuer 213f.
Walther von der Vogel-
weide 159.
Wasser apotropäisch 185f.
Wasserdämon 185f. —fur-
chen 205.
Wechselbalg 3.
Wedekind, Ch. F. 95.
Weiberfeste 235 ff.
Weihegaben 249 ff.
Weihnachtsbaum 74. 313.
—brauch 71 ff., 204.
—spiel 313f.
Weinhold, K. 26, 57.
Weismantel, L. 318.
Register.
Westfalen: Kinderspiel
143 ff.
Wetterprozessionen 45.
Wichtelmänner 3.
Wiedergeburt 3.
Wielandsage 125 ff.
Wien 198f.
Wiesbaum 205.
Wilder Jäger 51 f., 65, 70.
Wimmer, L. 176.
Wintersonnenwende 73.
Wirth, A. Das dörfliche
Gemeinschaftsleben in
Anhalt 76—82.
Wisby 297.
Wisser, W. Die kluge
Bauerntochter 288 bis
294.
Witwe 29.
Wochentagsnamen 159f.
Wöchnerin 79, 285.
Wodan 51, 61 ff.
Wolf 66.
Wollweber 235.
Wortgeographie lOOff.
—künde 156ff., 315.
Wrede, A. 29.
Wrede, F. Übersetzungs -
Wörter 156—162.
Wunderpferd 129.
Wurstball 79.
Zaborski, B. 318.
Zallinger, O. 25.
Zauber : Allg. 40 ff. Frucht-
barkeits- 42. Kriegs- 42.
Liebes- 21. Regen- 42j
—lehrling 132. —pa-
pyri 21 f. —ring 130,
301. —Sprüche 17 f f.,
61. — Griechenland 21.
Zimmermann, P. 319.
Zobel, E. 319.
Zoder, R. 319.
Zoepfl, F. 319.
Zoroaster 2.
Zunftwesen 305.
Zwerge 131.
Zwieback 205.
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Zweites Heft: Die Knaffl-Handschrift, eine obersteirische Volkskunde aus dem Jahre
1813. Herausgegeben von Viktob von Gebamb. Mit 4 einfarbigen und 4 mehr-
farbigen Tafeln. 173 Seiten. 1928. 24.—
Drittes Heft: Volkskundliches aus Strafprozessen der österreichischen Alpenländer
mit besonderer Berücksichtigung der Zauberei- und Hexenprozesse 1455 bis 1850.
Gesammelt, herausgegeben und mit Anmerkungen versehen von Fritz Bvxoü’e.
68 Seiten. 1929. 8.—
Viertes Heft: Das Zerbster Prozessionsspiel 1507. Von Wilhelm Reupke. VI,
65 Seiten. 1930. 6.—
Jahrbuch für Volksliedforschung. Im Auftrag des Deutschen Volksliedarchivs mit
Unterstützung von H. Mersmann, H. Schewe und E. Seemann, herausgegeben von
John Meier. Erster Jahrgang. 1928. Mit 1 Abbildung. Groß-Oktav. VI, 202 Seiten.
14.—, geb. 16.—
Volkskundliche Bibliographie. Im Aufträge des Verbandes deutscher Vereine für
Volkskunde, herausgegeben von E. Hoetmann-Krayeb. Oktav.
Für das Jahr 1917. XV, 108 Seiten. 1919. 2.—
1918. V, 126 Seiten. 1920. 2.—
1919. XVI, 142 Seiten. 1922. 2.—
1920. 212 Seiten. 1924. 6.—
1921 und 1922. XXVII, 414 Seiten. 1927. 18.—
1923 und 1924. XXVIII, 492 Seiten. 1929. 24.—
„Für alle Volkskundler ein unerläßliches, aber auch bequemes Hilfsmittel. Es sollte in
allen Bibliotheken, Museen, Instituten und höheren Schulen gehalten werden.“
Zeitschrift des Vereins für Volkskunde.
Germanische Religionsgeschichte und Mytholoie. Von E.Mogk. Dritte, ver-
besserte Auflage. 140 Seiten. 1927. (Sammlung Göschen Bd. 15.) Geb. 1.80
,,Dieser interessante Band der rühmlichst bekannten Sammlung gibt einen fesselnd ge-
schriebenen Abriß der religiösen Vorstellungen unserer Ahnen.“ Preußische Lehrer-Zeitung.
Sonderprospekte über einzelne Werke auf Wunsch.
Walter de Gruyter & Co.
Berlin W10 und Leipzig
DEHIO
GESCHICHTE DER DEUTSCHEN KUNST
1. Band in 4., durchgearbeiteter Auflage. Das frühe und hohe Mittelalter
bis zum Ausgang der Staufer. Die Kunst des romanischen Stils.
Zwei Teile (Text-und Abbildungsband) in vollkommen neuer Aus-
stattung. Der Text ist auf feinstem maschinenglatten Papier, die
Abbildungen sind auf bestem holzfreien Kunstdruckpapier gedruckt.
Beide Teile
in Halbleder
BM 27.
BM 42.
in Leinen .
in Ganzleder
BM 35.
BM 70.
Der Bezug des I. Bandes verpflichtet zur Abnahme
auch der folgenden Bände. Der II. und III. Doppel-
band sollen in ihrer neuen Gestalt baldigst folgen
Das große Programm der Dehio’schen Kunstgeschichte erschöpft sich im
Gegensatz zu anderen Kunstgeschichten nicht in der Darstellung der
kunstgeschichtlichen Gegebenheiten; Dehio’s eigentliches Thema ist:
„Was offenbart die Kunst vom Wesen der Deutschen?“ Er selbst formu-
liert diese Aufgabe in seinem Vorwort: „Hinter den Kunstwerken stehen
die Menschen: die, die sie schufen, und die, für die sie geschaffen wurden.
Deutsche Kunst in uns aufzunehmen heißt: in Kontakt mit dem Seelen-
leben imserer Vorfahren zu treten. Deutsche Kunst verstehen heißt: uns
selbst verstehen, unsere angeborenen Anlagen und was das Schicksal aus
ihnen gemacht hat, unser Selbsterschaffenes und unser Erworbenes, unser
Erreichtes und unser Versäumtes, unser Glück und unsere Verluste —
alles in allem: die Kunst als etwas mit der Ganzheit des geschichtlichen
Lebensprozesses unseres Volkes unlöslich Verbundenes. Mein wahrer Held
ist das deutsche Volk. Es ist also ein durchaus historisches Buch.“
Früher erschien in unserem Verlage:
REMBRANDT
von Werner Weisbach. Mit 200 Abbildungen im Text.
Quart. XI., 643 Seiten. RM 45.—, gebunden RM. 50.—
Prospekte liefern wir unter Bezugnahme auf diese Anzeige kostenlos
Walter de Gruyter & Co., Berlin W10
GenthinerjStraße 38
1. Nov. Ш
' 31. Jan. 1939
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2. i, Piug-1844.
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Universitätsbibliothek der HU Berlin
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Zeitschrift
für Volkskunde
Im Aufträge des
Verbandes Deutscher Vereine für Volkskunde
unter Mitwirkung von Johannes Bolte
herausgegeben von
Fritz Boehm
Neue Folge Band II
(40. Jahrgang. 1930)
(Mit 31 Abbildungen
und 11 Karten)
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Berlin und Leipzig 193
Walter de Gruyter
vormals G. J. Göschen’sche Verlagshandlung • J_° ^ ZZZ
buchhandlung • Georg Reimer . Karl J. Trübi_
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