Zeitschrift
für Volkskunde
Im Auftrag der Deutschen Gesellschaft für Volkskunde
herausgegeben von
Gottfried Korff und Martin Scharfe,
Siegfried Becker und Klaus Roth
89. Jahrgang 1993
Verlag Otto Schwartz & Co., 37075 Göttingen
INHALT
Aufsätze
Burkhard Fuhs: Bilder aus der Luft.
Anmerkungen zur Konstruktion einer Perspektive..........................233
Frank Heins: Über Geschichtsbilder in Erinnerungserzählungen..............63
Leopold Kretzenbacher: Gottfried Keller irrt in einer Orient-Legende .... 78
Rolf Lindner: Das Ethos der Region........................................169
Carola Lipp: Alltagskulturforschung im Grenzbereich von Volkskunde,
Soziologie und Geschichte.
Aufstieg und Niedergang eines interdisziplinären Forschungskonzepts .... 1
Wolfgang Lipp: Alpenregion und Fremdenverkehr.
Zur Geschichte und Soziologie kulturueller Begegnungen in Europa,
besonders am Beispiel des Salzkammergutes...............................49
Ronald Lutz: Punk, Randale, Prügeleien:
Zur Gewalt der Jugendlichen.............................................34
Johanna Rolshoven: Der Blick aufs Meer.
Facetten und Spiegelungen volkskundlicher Affekte ......................191
Bernhard Tschofen: Aufstieg — Auswege
Skizzen zu einer Symbolgeschichte des Berges im 20. Jahrhundert.........213
Berichte
Theresa Beitl/Nina Gorgus: Rencontres Européennes des Musees d’Ethnographie
Erstes Treffen der Ethno-Museologen in Paris
vom 22. bis 24. Februar 1993 ........................................... 255
Jan Carstensen/Michael Simon: Mensch und Umwelt
Ein Thema volkskundlicher Forschung und Präsentation?
Zweites ökologisches Kolloquium des Bergischen Freilichtmuseums Lindlar
am 8. und 9. Oktober 1992 .............................................. 93
Walter Dehnert/Elisabeth Höhnen: Dritte Arbeitstagung der Kommission
für den volkskundlichen Film in Bonn...................................... 89
Cornelia Foerster: Heimatmuseum 2000.
Ausgangspunkt und Perspektiven..........................................96
Helge Gerndt: Ulrich Tolksdorf 1938—1992 ................................. 100
Ueli Gyr: L’anonymat urbain/Städtische Anonymität
Studientagung der Société d’Ethnologie Française
Paris, 29. April 1993 .................................................. 261
3
Gottfried Korff: Kulturgrenzen und Nationale Identität
Arbeitstagung der Internationalen europäischen Ethnokartographischen
Arbeitsgruppe (IEEA) in Bad Honnef vom 5. bis 7. April 1993 ............... 259
Barbara Krug-Richter: Milch und Milchprodukte
9. Internationaler Kongreß für Ethnologische Nahrungsforschung in Dublin
vom 17. bis 22. Juni 1992 .................................................. 86
Andreas Kuntz: Arbeits-, Arbeiter- und Volkskulturen?
Bemerkungen zur 6. Tagung der Kommission „Arbeiterkultur“ in der DGV
an der Universität Bamberg vom 16. bis 21. 9. 1992 ..................... 251
Brigitte Nussbächer: Das ostjüdische Studienzentrum in Bukarest............266
Gustav Schock: Helmut Dölker (1904—1992) zum Gedenken......................98
Claudia Schöning-Kalender: Nahe Fremde — fremde Nähe
Frauenforschung zu Ethnos — Kultur — Geschlecht
Tagung in Leibnitz vom 15. bis 18. Oktober 1992 ......................... 94
Guntis Smidchens: Volkskunde in den baltischen Staaten.....................264
Buchbesprechungen
Heidrun Alzheimer: Volkskunde in Bayern (Bernward Deneke)..................108
Svend Aage Andersen: Havnearbejdere in Ärhus — for containernes tid
(Christoph Daxelmüller).....................................................278
Klaus J. Bade (Hrsg.): Deutsche im Ausland — Fremde in Deutschland
(Hans-Werner Retterath).....................................................114
Karin Baumann: Aberglaube für Laien. Zur Programmatik und Überlieferung
mittelalterlicher Superstitionskritik (Peter Dinzelbacher)..................147
Hermann Bausinger, Klaus Beyrer, Gottfried Korff (Hrsg.): Reisekultur.
Von der Pilgerfahrt zum modernen Tourismus (Dieter Kramer).................126
Klaus Beitl, Eva Kausel (Hrsg.): Internationale und nationale volkskundliche
Bibliographien (Walter Puchner)............................................110
Klaus Beyrer (Hrsg.): Zeit der Postkutschen. Drei Jahrhunderte Reisen 1600—1900
(Dieter Kramer).............................................................273
Michael Bienert: Die eingebildete Metropole. Berlin im Feuilleton der Weimarer
Republik (Thomas Scholze)...................................................273
Sylvie Bolle-Zemp: Le reenchantement de la montagne
(Johanna Rolshoven).........................................................133
Nils-Arvid Bringeus: Der Mensch als Kulturwesen (Silke Göttsch)............103
Theodor Brüggemann in Zusammenarbeit mit Otto Brunken: Handbuch zur
Kinder- und Jugendliteratur (Ingrid Tomkowiak) .............................153
Alfred Cammann: Märchen — Lieder — Leben in Autobiographie und Briefen
der Rußlanddeutschen Ida Prieb (Heike Müns)................................152
Edwin Dillmann (Hrsg.): Erinnerungen an das ländliche Leben
(Andreas Schmidt)...........................................................139
Peter Dohms in Verb, mit Wiltrud Dohms und Volker Schröder:
Die Wallfahrt nach Kevelaer (Rainer Alsheimer)...........................311
Norbert Fischer: „Das Herzchen, das hier liegt, das ist sein Leben los“.
Historische Friedhöfe in Deutschland (Ludgar Heuer).......................304
Ute Frevert: Ehrenmänner. Das Duell in der bürgerlichen Gesellschaft
(Wolfgang Oppelt)...........................................................281
Jaques Gelis: Das Geheimnis der Geburt (Marita Metz-Becker).................299
Ueli Gyr: Das Welschlandjahr. Milieuwechsel und Alltagserfahrung von
Volontärinnen (Jutta Dornheim)..............................................284
Hand-Schrift — Schreib-Werke. Schrift und Schriftkultur im Wandel in
regionalen Beispielen (Reinhart Siegert)....................................143
Hermann Heidrich (Hrsg.): Biographieforschung (Alexander Link)...............U2
Elfriede Heinemeyer: Schreibgarnituren aus der Sammlung Kommerzienrat
F. Soennecken (Reinhart Siegert)............................................143
Christian Helfer: Lexicon auxiliare. Ein deutsch-lateinisches Wörterbuch
(Jürgen Beyer)..............................................................271
Geneviève Herberich-Marx: Evolution d’une sensibilité religieuse
(Konrad Köstlin)............................................................309
Günther Hrabé de Angelis: Winterberg im Böhmerwald
(Norbert Englisch)..........................................................148
Paul Hugger: Der Gonzen. 2000 Jahre Bergbau (Christina Vanja)..............119
Robert Jütte: Ärzte, Heiler und Patienten. Medizinischer Alltag in der frühen
Neuzeit (Eberhard Wolff) ...................................................133
Kriemhild Kapellen Tourismus und Volkskultur. Folklorismus —
Zur Warenästhetik der Volkskultur (Ronald Lutz)...........................288
Wolfgang Kaschuba: Lebenswelt und Kultur der unterbürgerlichen Schichten
im 19. und 20. Jahrhundert (Dieter Kramer)..................................153
Wolfgang Kaschuba, Gottfried Korff, Bernd Jürgen Warneken (Hrsg.):
Arbeiterkultur seit 1945 — Ende oder Veränderung? (Hanno Broo)...........129
Dagmar Kift (Hrsg.): Kirmes — Kneipe — Kino. Arbeiterkultur im Ruhrgebiet
zwischen Kommerz und Kontrolle (Kaspar Maase)...............................277
Kleider und Leute. Vorarlberger Landesausstellung 1991
(Christine Burckhardt-Seebass) .............................................142
Sabine Kübler: Blatt für Blatt die Rose (Johanna Rolshoven)................303
Eva Labouvie: Verbotene Künste. Volksmagie und ländlicher Aberglaube
in den Dorfgemeinden des Saarraumes (Christina Vanja).......................307
Eva Laobuvie: Zauberei und Hexenwerk. Ländlicher Hexenglaube in der
frühen Neuzeit (Christina Vanja)............................................307
5
Herbert Lachmayer, Sylvia Mattl-Wurm, Christian Gargerle (Hrsg.): Das Bad.
Eine Geschichte der Badekultur im 19. und 20. Jahrhundert
(Barbara Happe).........................................................131
Waltraud Linder-Beroud: Von der Mündlichkeit zur Schriftlichkeit?
(Wilhelm Schepping).......................................................146
Stefan Maier: Schottenheim. „Die neue Stadt bei Regensburg“ als völkische
Gemeinschaftssiedlung (Johannes Moser) ...................................274
Hildegard Mannheims: Wie wird ein Inventar erstellt? Rechtskommentare als
Quelle der volkskundlichen Forschung (Bernd Wedemeyer)....................269
Michael G. Meraklis: Studien zum griechischen Märchen
(Leopold Kretzenbacher)...................................................317
Museumsverband Baden-Württemberg e.V. (Hrsg.):
Museen in Baden-Württemberg (Martin Beutelspacher)........................141
Arnold Niederer: Alpine Alltagskultur zwischen Beharrung und Wandel
(Daniela Walker)..........................................................268
Lutz Niethammer, Alexander von Plato, Dorothee Wierling: Die volkseigene
Erfahrung. Eine Archäologie des Lebens in der Industrieprovinz der DDR
(Wolfgang Emmerich).......................................................122
Martin Pott: Aufklärung und Aberglaube. Die deutsche Frühaufklärung im
Spiegel ihrer Aberglaubenskritik (Walter Hartinger).......................306
Christian Probst: Fahrende Heiler und Heilmittelhändler
(Eberhard Wolff)..........................................................133
Michael Prosser: Spätmittelalterliche Rechtsaufzeichnungen am Oberrhein
zwischen Gedächtniskultur und Schriftlichkeit (Ruth-E. Mohrmann) .... 272
Lutz Röhrich: Das große Lexikon der sprichwörtlichen Redensarten
(Wolfgang Mieder).........................................................321
Johanna Rolshoven: „Provencebild mit Lavendel“. Die Kulturgeschichte eines
Duftes in seiner Region (Daniel Devoucoux)................................129
David Warren Sabean: Property, Production and Family in Neckarhausen
1700-1870 (Andrea Hauser).................................................136
Walter Salmen: „... denn die Fiedel macht das Fest“ - Jüdische Musikanten und
Tänzer vom 13. bis 20. Jahrhundert (Philipp V. Bohlmann)..................312
Martin Salowski: Osterreiten in der Lausitz (Dietrich Scholze)...............292
Rudolf Schenda, Doris Senn (Übers, u. Hrsg.): Märchen aus Sizilien. Gesammelt
von Guiseppe Pitre (Johanna Rolshoven)....................................150
Annemie Schenk: Deutsche in Siebenbürgen (Evemarie Sill).....................294
Annemarie Schimmel: Die Rose (Johanna Rolshoven).............................303
Joachim Schlör: „In einer Nazi-Welt läßt sich nicht leben“. Werner Gross -
Lebensgeschichte eines Antifaschisten (Johannes Moser)....................125
Herbert Schwedt: Nemesnädudvar - Nadwar. Leben und Zusammenleben in
einer ungarndeutschen Gemeinde (Andreas C. Bimmer)........................295
Hasso Spode (Hrsg.): Zur Sonne, zur Freiheit! Beiträge zur Tourismusgeschichte
(Dieter Kramer).............................................................126
6
Susanna Stolz: Die Handwerke des Körpers. Bader, Barbier, Perückenmacher,
Friseur (Sabine Sander)..................................................... 300
Wolfgang Suppan (Hrsg.): Schladminger Gespräche zum Thema Musik und
Tourismus (Gottfried Habenicht).............................................286
Maria Tatar: Off with their Heads! Fairy Tales and the Culture of Childhood
(Sabine Wienker-Piepho).....................................................318
Erika Uitz: Die Frau in der mittelalterlichen Stadt (Susanna Stolz)...........297
Vermittlung durch Vorführung? Demonstration traditioneller und historischer
Arbeitstechniken im Museum (Martin Beutelspacher)...........................285
Volkskultur - Geschichte - Region. Fs. für Wolfgang Brückner
(Rolf Wilhelm Brednich).....................................................104
Volkskunde in der Hanuschgasse. 25 Jahre Institut für Volkskunde der Universität
Wien (Helmut Eberhart)......................................................106
Sigrid Wiemer: Das Leben in Münsteraner Armenhäusern während des
19. Jahrhunderts (Marita Metz-Becker)........................................283
Notizen................................................................ 156,326
Eingesandte Schriften.................................................. 160, 332
English Summaries (bearbeitet von Giesela Welz) 33, 48, 62, 77, 85, 190, 212, 232, 250
Die Zeitschrift erscheint jährlich in zwei Halbjahresbänden mit einem Gesamtumfang von 21
bogen. Der Bezugspreis beträgt im Abonnement jährlich 86,— DM. Vorzugsabonnement für
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Anschriften der Redaktionen: ,.
Aufsatzteil: Prof. Dr. Gottfried Korff, Ludwig-Uhland-Institut, Schloß, 72070 u
Prof. Dr. Martin Scharfe, Institut für Europäische Ethnologie und Kulturforschu g, g
Straße 9, 35037 Marburg/L. , T a •
Berichte: Prof. Dr. Klaus Roth, Institut für deutsche und vergleichende Volkskunde, Ludwig-
straße 25, 80539 München
Besprechungen: Dr. Siegfried Becker, Institut für Europäische Ethnologie und Kulturforschung,
entralarchiv der Deutschen Volkserzählung, Biegenstraße 9, 35037 Marburg/L.
Verlag Otto Schwartz & Co., Annastraße 7, 37075 Göttingen
7
Alltagskulturforschung im Grenzbereich von
Volkskunde, Soziologie und Geschichte.
Aufstieg und Niedergang
eines interdisziplinären Forschungskonzepts
Von Carola Lipp, Göttingen
„Aufstrebende Wissenschaften bedürfen und begehren keine ängst-
liche Abgrenzung ihres Arbeitsgebietes. Ihre Kraft beruht eben dar-
auf daß sie die engste Beziehung zu allen benachbarten Wissen-
schaften bewahren, daß sie die in jenen beschäftigten Forscher zur
Mitarbeit aufrufenEberhard Gothein 1889, 1
„Volkskunde befaßt sich mit der Alltagskultur unterer und mittlerer Sozial-
schichten in Europa“, heißt es im Klappentext einer 1981 erschienenen Darstellung
des Faches von Helge Gerndt. Alltag und Alltagskultur sind heute in der Volks-
kunde selbstverständlich gebrauchte Vokabeln, die als Teil der wissenschaftlichen
Alltagssprache in dieser Einführung Gerndts nicht einmal mehr definiert werden.
Seit den ersten Artikeln von Ina-Maria Greverus (1971/1976) und ihrem 1978 ver-
öffentlichten Buch „Kultur und Alltagswelt“ hat der Alltagsbegriff Eingang in
zahlreiche Publikationen gefunden1 und ist zum vereinheitlichenden und identi-
tätsstiftenden Dachbegriff des Faches geworden. Viele benutzen so den Begriff, oh-
ne sich über die Implikationen immer klar zu sein, oder ihn gar in seiner Viel-
schichtigkeit inhaltlich füllen zu können.
Alltagsforschung ist dabei keine spezifisch volkskundliche Erscheinung, son-
dern ein Arbeitsfeld vieler Disziplinen. Wer heute einen alltagsgeschichtlichen
Sammelband wie „Göttingen ohne Gänseliesel“ (Duwe et al. 1988) oder ein Buch
über Arbeiterkultur (Lehmann 1984) aufschlägt, tut sich schwer, die Volkskundler
von den Historikern oder Soziologen zu unterscheiden. Die Expansion der All-
tagsforschung wird von einigen Vertretern der Volkskunde durchaus als unliebsa-
me Konkurrenz gesehen (Gerndt 1988, 19). Für Klaus Beitl ist Alltag ein For-
schungsgebiet, auf dem sich die Disziplinen inzwischen „auf den Füßen“ (Beitl
1985, 45) herumtreten. Bedrohlich erscheint dieser gemeinsame thematische Fo-
kus, wenn dadurch Felder berührt werden, die bisher als gesicherte Gebiete, ja man
ist versucht zu sagen, Relikte der Volkskunde galten wie z. B. die Wohnkultur- oder
Nahrungsforschung (Teuteberg 1985). Vor allem die Alltagsgeschichte hat vielfach
volkskundliche Themen aufgegriffen, die sie dann systematischer historisch aufge-
rollt hat, als dies die Volkskunde vermochte. Nach einer Hochkonjunktur der All-
tagsforschung in den 80er Jahren ist der Glanz des Alltags inzwischen im Schwin-
den begriffen, die Diskurse haben sich festgefahren. Alltagsforschung ist kein Feld
mehr, auf dem Innovation möglich scheint. Den Gang dieser Entwicklung nach-
zuzeichnen ist so ein Ziel des vorliegenden Artikels. Meine Absicht ist nicht, die
Siche Literaturliste im Anhang. Humboldt-Universität zu Berlin
Universitätsbibliothek
1 Zweigbibliothek Geschichte
Bereichsbibliothek Europ. Ethnologie
Friedenstr. 3
10249 Berlin
Carola Lipp
Abgrenzungs- und Identitätsdiskussionen fortzuschreiben, die das Fach seit 1945
begleiten, sondern es geht darum, die interdisziplinäre Genese der Alltagsfor-
schung zu skizzieren und die Logik bestimmter methodischer Diskussionen und
Forschungsansätze sichtbar zu machen. Den volkskundlichen Umgang mit dem
Alltag will ich schließlich mit den Perspektiven der neueren, anthropologisch
orientierten, historischen Alltagsforschung vergleichen, um Differenzen, aber
auch Verwandtschaften herauszuarbeiten.
Zur Geschichte der Alltagsforschung
In der Volkskunde tauchen Begriffe wie „tägliches Leben“ bereits in den 60er
Jahren in den Vorlesungsverzeichnissen (Schmidt 1981, 215) und vereinzelt in Pu-
blikationen auf. Wer die historische Wurzelsuche liebt2, findet ohne Schwierigkei-
ten das Stichwort „alltägliches Daseyn“ beim gerne bemühten Ahnherr des Faches
Wilhelm Fleinrich Riehl (Riehl 1859, 251) oder kann zurückgehen auf Sigmund
Freud und seine „Psychopathologie des Alltagslebens“ (Freud 1904), bis heute eine
der subtilsten Analysen des Alltagsdenkens, die illustriert, wie der Alltag als
„Sphäre der Konflikt- und Dissonanzreduktion” (Prodoehl 1983, S. 127ff.) funk-
tioniert und zugleich voller symbolischer Repräsentanzen des Vergangenen und
Verdrängten steckt.
Fest steht: Ende der 70er Jahre hatte der Begriff „Alltag“ in fast allen Diszipli-
nen Konjunktur. Eine 1978 erschienene Auswahlbibliographie zur „Soziologie des
Alltags“ (Hammerich/Klein 1978) zählt allein 390 Titel auf, darunter rund 50, die
direkt mit dem Wort Alltag oder alltäglich operieren.3 Ein Problem wie auch eine
Qualität des Begriffes Alltag liegt gerade in seinem vielfältigen Gebrauch. Denn
trotz aller theoretischen Definitionsversuche bleibt der Begriff bis heute merkwür-
dig diffus und schillernd, wobei die unhinterfragte Vertrautheit, die er suggeriert,
leicht dazu verführt, Alltag mit alltäglichen und damit reduktiven Deutungsrouti-
nen zu erklären. Genau besehen gibt es so viele Alltage, wie es Autoren zu diesem
Thema gibt. Den besten Eindruck von den Bedeutungsschattierungen im zeitge-
nössischen Gebrauch hat 1978 Norbert Elias gegeben, der indessen vor einer Infla-
tion des Alltags-Begriffs nachdrücklich warnte. Alltag setzt sich nach seiner Defi-
nition einmal ab vom Festtag (was die Alltagsforschung allerdings nicht hindert,
2 Die Existenz des Wortes „alltäglich“ oder „alle tage“ im deutschen Wortschatz läßt sich zurück-
verfolgen bis ins Mittel- und Neuhochdeutsche, wo es das sich Wiederholende bezeichnet. Eine
kurze Wortgeschichte findet sich bei 'Thum 1990, 4 ff.
3 Genannt seien einige Titel, die im Literaturverzeichnis nicht aufgeführt sind: Hans-Eckehard Bahr
(Hrsg.): Politisierung des Alltags — gesellschaftliche Bedingungen des Friedens. Darmstadt, Neu-
wied 1972; Roland Barthes: Mythen des Alltags. Frankfurt am Main 1964; Erving Goffman: Wir
alle spielen Theater. Die Selbstdarstellung im Alltag. München 1969; Michael Gramberg (Hrsg.):
Wortwechsel. Kommunikation im Alltag. Köln 1976; Thomas Kleinspehn: Der verdrängte Alltag.
Gießen 1975; Thomas Leithäuser: Formen des Alltagsbewußtseins. Frankfurt am Main, New York
1976; Thomas Luckmann: Philosophie, Sozialwissenschaft und Alltagsleben. In: Soziale Welt
24/1973, S. 137-168; vgl. auch das 1975 erschienene „Kursbuch“ zum Thema Alltag.
2
Alltagskulturforschung im Grenzbereich von Volkskunde, Soziologie und Geschichte
Feste als Teil der Alltagskultur zu sehen). Alltag kann sowohl den Familienalltag,
die abgesonderte private Sphäre meinen als auch den außerhäuslichen Arbeitsall-
tag, dessen Anforderungen im Gegensatz zur Freizeit und auch im Kontrast zur
Zweckfreiheit bürgerlicher Ästhetik und Kultur stehen (Elias 1978, 26). Alltag
bedeutet des weiteren das Repetitive, die sich wiederholenden, routinisierten
Handlungen gegenüber dem Einmaligen, dem besonderen Geschehen. Alltag wird
deshalb oft verstanden als das „Leben der Masse“ im Gegensatz zum besonderen
Leben prominenter Persönlichkeiten. Letztlich entscheidet die Perspektive: Für
den einzelnen markieren Heirat, Geburt, Krankheit oder Tod besondere Ereignis-
se im Leben, vom Standpunkt der Gesamtgesellschaft und der politischen Ge-
schichte her gesehen charakterisieren diese Ereignisse jedoch den Alltag von
Mensch und Gesellschaft (Siepmann 1987, 3). Schließlich, um die Verwirrung
komplett zu machen, erscheint der Alltag als Ort der Erfahrung, der durch eine
spezifische Wahrnehmungsform, durch ein spontanes, unreflektiertes Erleben
geprägt ist und besondere erfahrungsbezogene und ritualisierte Interpretations-
und Verhaltensmuster kennt. Dies ist die Ebene, auf der die wissenschaftssoziologi-
sche Alltagstheorie ansetzt. Sie gehört zu den zwei zentralen theoretischen Kon-
zepten, auf denen die moderne Alltagsforschung in fast allen sozial- und kulturwis-
senschaftlichen oder historischen Disziplinen aufbaut und deren Denktraditionen
uineinreichen bis in die Erkenntnistheorie und philosophische Phänomenologie.
In den 30er Jahren hatte bereits Edmund Husserl eine Theorie der Lebenswelt
entworfen, in der er die konkrete anschauliche Welt beschreibt, in die der Mensch
ineingeboren wird, in der er mit anderen Menschen lebt und kommuniziert, und
ie tür ihn wie für alle in dieser Welt lebenden Menschen die unhinterfragte Wirk-
ichkeit ausmacht (Husserl 1976, 125f.). Alltag ist demnach das selbstverständlich
ingenommene, in dem Menschen sich und andere fühlend, denkend und han-
eind erleben und aus dieser „Seinsgestaltung“ ihre „Seinsgewißheit“ (ebd., 464)
ziehen. Die gemeinsame Praxis verleiht nach Husserl dem Alltag eine intersubjek-
tlVe »Geltungswirklichkeit“ (ebd., 126/258). Sehr viel negativer betrachtete dage-
gen Heidegger den Alltag, den er von den „Selbstmöglichkeiten“ und der poten-
le len „Selbsthabe in der Lebenswelt“ abgrenzte, indem er auf die „Durchschnitt-
lc keit des alltäglichen Seins“ (Heidegger 1969, 43), auf die Wiederholung des
dergleichen und die Reduktion von Wahrnehmung verwies und den vereinnah-
menden Effekt des Alltags betonte, dessen Subjekt nicht der einzelne, sondern „das
ie Individuen entselbstende ,Man‘“ war. Diese negative Konnotation des Alltäg-
!c en findet sich wieder in der Alltagskritik der 70er Jahre, aber auch noch in
a tuellen volkskundlichen Auffassungen (Guth 1990, 57).
Zentral für die moderne Alltagstheorie war dann Alfred Schütz’ Analyse der
” trukturen der Lebenswelt“ (Schütz 1979). Obwohl die aus den 50er Jahren stam-
menden Überlegungen von Schütz erst 1975 in deutsch erschienen, waren seine
ernthesen bereits 1969 durch die Arbeit von Peter Berger und Thomas Luck-
7- ”^e gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit“ bekannt gewor-
Cn (Lerger/Luckmann 1977). Beide Texte wurden in der volkskundlichen Diskus-
3
Carola Lipp
sion rezipiert (Jeggle 1978, 81 ff.; Greverus 1976, 203). Analog zu Husserl betrach-
tet Schütz „die Lebenswelt des Alltags als unbefragten Boden einer natürlichen
Weltanschauung“ (Schütz 1979, 25) und beschreibt, wie sich individuelle lebens-
weltliche Erfahrungen von Raum und Zeit, die Strukturen subjektiver Orientie-
rung und subjektiven Handelns in Wissensbeständen des Alltags organisieren.
Auch Schütz sieht die Lebenswelt intersubjektiv konstituiert und weist darüber
hinaus auf deren historischen Charakter hin. Der Alltag stellt als Erfahrungsraum
„ein vorgegebenes soziales Konstrukt einer bereits vielfältig vorkonstituierten
Welt in ihrer konkreten Geschichte“ dar (Grathoff 1989, 94; Schütz 1979, 73 ff.).
Alltägliches Leben ist demnach das „konstruktive Hervorbringen einer neuen
Welt“ im Miteinander-Handeln und Erleben der Menschen und in der Auseinan-
dersetzung mit der Vorgefundenen Lebenswelt. Lebenswelt meint dabei mehr als
Alltag, nämlich den umgreifenden Sinnhorizont, den phänomenologischen Hin-
tergrund des Alltäglichen, der sich allerdings nur über den Zusammenhang von
„sinnhaft bewußter Leiblichkeit“ (Soeffner 1989, 15) und alltäglichem Leben,
Denken und Handeln erschließen läßt (Grathoff 1989, 95/102).
Alltagswissen ist nach Schütz pragmatisch orientiert und an bestimmte Voraus-
setzungen und Regeln gebunden. Eine Bedingung der intersubjektiven Konstitu-
tion der „Lebenswelt des Alltags“ ist die (aus der Kulturanthropologie und dem
symbolischen Interaktionismus stammende) Vorstellung der Wechselseitigkeit der
Perspektiven (Mead 1968; Steinert 1973) und eine Kongruenz von Bedeutungssy-
stemen der interagierenden Personen (Schütz 1979, 88f.). Jeder Mensch verfügt
demnach über intersubjektiv geteilte Wissensbestände und Interpretationsverfah-
ren (Patzelt 1987, 45). Um die Komplexität des Alltags zu reduzieren und Hand-
lungen zu vereinfachen, bedient sich das praktische Alltagsdenken bestimmter
Deutungsroutinen, wie z. B. Normalitätsdefinitionen, oder Typisierungen von Si-
tuationen und Personen. Alles Störende und Fremde wird im Alltagsdenken ausge-
blendet oder als nicht dazugehörig ausgegrenzt (Patzelt 1987, 83 ff./115ff.); es sind
diese Strategien und Klassifikationsroutinen, die den Alltag oft so borniert und
blind erscheinen lassen, die aber interessanterweise in der Alltagsgeschichtsfor-
schung als „Eigensinn“ geradezu glorifiziert werden. In der wissenssoziologischen
und phänomenologischen Theorie meint Alltag so einen besonderen Typus der
Erfahrung, des Handelns und Wissens (Soeffner 1989, 15). Systematisiert worden
für die soziologische Forschung ist dieses Konzept vor allem in der Ethnométho-
dologie (Arbeitsgruppe Bielefelder Soziologen 1973; Weingarten et al. 1976), für
die Alltagshandeln „nicht zufällig oder strukturlos abläuft, sondern durch Ord-
nungsprinzipien, Regeln, Deutungsprozeduren, Pläne und Zwecke strukturiert
ist“ (Soeffner 1989, 10). Wichtig für die Entwicklung der Alltagsforschung und
den damit verbundenen Paradigmenwechsel in den kulturwissenschaftlichen und
sozialhistorischen Disziplinen sind, um es noch einmal zusammenzufassen, die
Idee eines „sinnhaften Aufbaus der Lebenswelt“ (Schütz 1974), d.h. die Vorstel-
lung, daß Alltagsdenken und Handeln logischen und rationalen Regeln folgt, das
Konzept der intersubjektiven Konstruktion von Wirklichkeit und die Bedeutung
4
Alltagskulturforschung im Grenzbereich von Volkskunde, Soziologie und Geschichte
der gesellschaftlichen Praxis als Erzeugerin gesellschaftlicher Strukturen, wie dies
Pierre Bourdieu später beim Habitus beschreibt (siehe unten). Mit dieser neuen
Perspektive rückte das Subjekt ins Zentrum der Betrachtung und war ein verste-
hender Zugang zu kulturellen und gesellschaftlichen Prozessen eröffnet.
Der zweite Ansatz der Alltagstheorie, der ursprünglich keine Verbindung zum
phänomenologischen Diskurs hatte, argumentiert auf der Basis einer gesellschafts-
politischen Analyse der spätkapitalistischen Massenkomsumgesellschaft und ihrer
entfremdeten Lebens- und Arbeitsbedingungen. In Henri Lefebvres „Kritik des
Alltagslebens“ (1946 und 1957 geschrieben, 1975 in deutsch publiziert) fungiert
die marxistische Theorie als heuristisches Instrument der „kritischen Erkenntnis
des Alltagslebens“ (Lefebvre 1977,144ff.); in seiner Argumentation setzt Lefebvie
an sechs zentralen Konstituenten des modernen Lebens an: 1. „Kritik der Indivi-
dualität“; 2. „Kritik der Mystifikation der Warengesellschaft“ (und des falschen
Bewußtseins); 3. Kritik des „Fetischcharakters des Geldes“ und der ökonomischen
Entfremdung; 4. Kritik an der Weckung falscher Bedürfnisse (psychische und mo-
ralische Entfremdung); 5. Kritik der Arbeit und der Entfremdung des Arbeiters;
6. Kritik an einer Freiheit, die zugleich die Herrschaft des Menschen über sich und
andere beinhaltet (ebd., 137ff.). Lefebvre formuliert damit im wesentlichen die
Denkmodelle marxistischer Kulturkritik, wie wir sie auch bei der kritischen
Theorie finden. In der Zeitschrift „Alltag“ (dem „Sensationsblatt des Gewöhnli-
chen ‘) analysierte Agnes Heller, die selbst über Alltagstheorie (Heller 1981) ge-
schrieben hat, rückblickend den historischen Kontext des Alltagskonzepts. Sie ent-
wickelte die Vorstellung dreier Generationen, die sie an den drei großen kulturel-
len Bewegungen „Existentialismus, Entfremdung und Postmoderne festmachte,
wobei sie diese Strömungen als „Ausdrucksmittel des Wandels der Verhaltensmu-
ster im täglichen Leben“ begriff. Aus ihrer Perspektive der späten 80er Jahre er-
schien die Entdeckung des Alltags als das kulturelle Konstrukt einer „Generation
der Entfremdung“ (Heller 1987, 19). Und in der Tat, wenn wir die Diskussion zu-
rückverfolgen, dann wurde vom Alltag gesprochen, als er, wie Jeggle 1978 schreibt,
ln die „Krise“ gekommen schien, das Gewohnte problematisch geworden war
(Jeggle 1978, 81f.). Im „Kursbuch“, dem Selbstverständigungsorgan der von der
Frankfurter Schule geprägten kritischen Intelligenz, wurde 1975 (Nr. 41) von der
»Zerstörung des Alltags“ gesprochen (Michel 1975), von seinen Zwängen, seiner
Psychopathologie (Boesch 1976). Der Begriff Alltag war verbunden mit der Kritik
an einem segmentierten, durch kapitalistische Produktionsverhältnisse geprägten
Alltag, der nicht entlang den Bedürfnissen der Menschen organisiert war, sondern
dem Diktat spätkapitalistischer Kulturindustrie folgte (Adorno 1967). Das Thema
’’Alltag“ war dementsprechend politisch aufgeladen und kann in der Volkskunde
wie auch in den anderen Fächern von der Diskussion um fachpolitische Standort-
bestimmungen nicht getrennt werden.
5
Carola Lipp
Alltagsforschung in der Volkskunde
Die Rezeption des Alltagsbegriffes in der Volkskunde ging einher mit der Öff-
nung des Faches in Richtung Soziologie und einer Neubestimmung von For-
schungsfeldern und Fragestellungen. Programmatisch formuliert tauchte der Be-
griff erstmals im Umfeld der Diskussionen von Falkenstein auf, wo 1970 über
Selbstverständnis, Erkenntnisziel und Aufgaben der Volkskunde gestritten wurde
(Brückner 1971). Ein Ergebnis dieser Tagung war das Abrücken vom Begriff „Volk“
und in der Folge die Umbenennung einzelner Institute. Marburg gab sich den Na-
men Europäische Ethnologie, Tübingen nannte sich seit 1971 Empirische Kultur-
wissenschaft; Frankfurt am Main hieß nach Ina-Maria Greverus’ Wechsel von Mar-
burg ab 1974 Institut für Kulturanthropologie und Europäische Ethnologie. Es ist
deshalb kein Zufall, daß es Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus Frank-
furt am Main und Tübingen waren, die sich zuerst mit der Problematik der All-
tagsforschung auseinandersetzten. Wenn ich hier im folgenden so dezidiert auf In-
stitute und Personen abhebe, dann nicht, um alte Frontlinien zu festigen oder neue
Gräben aufzureißen, sondern, weil ich mit einem Konzept von Thomas Kuhn
Wissenschaft als Kommunikations- und Gruppenbildungsprozeß verstehe (Kuhn
1973), der über das Zustandekommen bestimmter Paradigmen Aufschluß gibt.
Wer meint, diese Grenzen seien heute nicht mehr aktuell, vertraut allzu rasch dem
notwendigen Zwang zur Harmonie, den sich die Volkskunde aufgrund ihrer rand-
ständigen und oft bedrohten Stellung im Kreis der sozial- und geisteswissenschaftli-
chen Disziplinen glaubt auferlegen zu müssen. Die wissenschaftliche Identität
mancher Institute lebt geradezu von der Differenz, wobei Alltagsforschung letzt-
lich die Chance war und ist, mehr fachliche Gemeinsamkeit entstehen zu lassen.
Bereits im Vorfeld zur Falkensteiner Tagung wurde in Marburg über Lebenswelt
diskutiert und in Richtung einer Kultur- und Sozialanthropologie gedacht (Heil-
furth 1969/70, 181). 1971 dann forderte Ina-Maria Greverus in der Zeitschrift für
Volkskunde eine „Wende zur Lebenswelt“ (Greverus 1971, 17). Im Rekurs auf
Husserl sah Greverus die Volkskunde geradezu „prädestiniert“ zur Erforschung
der „alltäglichen Lebenswelt des europäischen Menschen“ (Greverus 1971, 23).
Mit dieser Neukonzeptionierung des Faches ging bei Greverus ein Bekenntnis zur
Kulturanthropologie und deren Auffassung der Relativität von Kulturen einher,
wobei sie Kultur damals im wesentlichen noch funktionalistisch als „Mittel der
Existenzbewältigung“ begriff (ebd., 18). Wie Greverus selbst in „Kultur und All-
tag“ 1978 formulierte, wurde erst durch „die Frage nach dem Zusammenhang der
einzelnen Kulturelemente und nach der ,leistenden4 Funktion von Kultur für ihre
Mitglieder ... für die Anthropologie eine neue Dimension des Alltagslebens er-
schlossen“ (Greverus 1978, 31). Obwohl mit dem Rekurs auf die Kulturanthropo-
logie ein neuer Weg eröffnet schien, blockierte Greverus zugleich die Diskussion,
indem sie mit der „Wende zur Lebenswelt“ eine „Wende zur Natur“ (Greverus
1971) verband. Beeinflußt von ethologischen Untersuchungen (Eibl-Eibesfeldt
1969; Koenig 1970) bzw. der philosophischen Anthropologie von Adolf Portmann
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Alltagskulturforschung im Grenzhereich von Volkskunde, Soziologie und Geschichte
(Portmann 1960) und Arnold Gehlen (Gehlen 1961) betonte Greverus neben den
kulturspezifischen die biologischen Determinanten menschlichen Verhaltens
(Greverus 1971, 15). Damit führte sie einen biologischen Bias ein, der im Fach auf
scharfe Kritik stieß Qeggle 1971) und längere Zeit die Rezeption kulturanthropolo-
gischer Konzepte in der Volkskunde behinderte. In ihrem Papier zur Falkensteiner
Diskussion, in der sie für eine kulturanthropologische Ausrichtung des Faches plä-
dierte, verknüpfte sie diese Perspektive mit einer funktionalistischen Kulturbe-
trachtung. Sie beschrieb den Menschen „als ein bio-typisch anlagebedingtes We-
sen, dem ein soziales (zur sozialen Satisfaktion: soziale Umwelt schaffendes), ein
ökonomisches (zur wirtschaftlichen Satisfaktion: wirtschaftliche Umwelt schaf-
fendes) und kulturelles (... symbolisch gedeutete Umwelt schaffendes) Potential
Zugeschrieben werden muß.“ Die Gesellschaft wird, so Greverus, „von diesen
menschlichen Potentialen bestimmt, wirkt aber gleichzeitig als objektiviertes
System auf den Menschen zurück“ (Greverus in Brückner 1971, 99).
1976 befaßte sich Ina-Maria Greverus erneut mit dem Verhältnis von „Kultur
und Alltag“ und setzte sich mit der kulturkritischen Position der neueren Alltags-
diskussion auseinander. Der Manipulations- und Entfremdungsthese folgend ent-
Wlfft sie einen negativ konnotierten, „grauen und eintönigen Alltag“, in dem die
»breite Masse der Bevölkerung aus dem Prozeß der erlebbaren Mitgestaltung der
Dmwelt ausgeschaltet“ war (Greverus 1976, 203). Bereits in diesem Aufsatz wie
auch dann in ihrem 1978 erschienenen Buch „Kultur und Alltagswelt“ geht Greve-
rus v°n einem Gegensatz bzw. einer Trennung von Alltag und Kultur aus, indem
^le auf den Widerspruch zwischen einem auf eine „deformierte Umwelt“ zielen-
en Alltagsbegriff verweist — einen Alltag, in dem die Kulturindustrie über die
Chance zur kulturellen Gestaltung bestimmt - und diesem einen Kulturbegriff
entgegenhält, in dessen Zentrum die Vorstellung einer aktiv vom Menschen gestal-
teten Lebenswelt steht (Greverus 1978,93). Analog zu den Auffassungen der ameri-
anischen Kulturanthropologie war für Greverus der Mensch „Schöpfer und Ge-
schöpf der Kultur“ (Greverus 1978, 73). Diese Perspektive, die die „Fähigkeit des
enschen zur aktiven Anpassung, zur Gestaltung und Veränderung der Umwelt
Wle ^er eigenen Verhaltensweisen“ (ebd., 64; Greverus 1983b, 345) betonte, wurde
c uelShch auch zum Leitprinzip ihrer Forschungen, in deren Zentrum die Erfahr-
arkeit, Aneignungs- und Gestaltungsmöglichkeit der Alltagswelt standen. Die im
vorwissenschaftlichen Feld „artikulierte Krise des Alltags“, die Trennung von Kul-
und Alltag, wurde damit selbst zum „Problemfeld“ (Greverus 1983a, 11), wenn
reverus u.a. die Kultur- und Raumaneignung in einer Gemeinde im städtischen
mzugsbereich (Greverus 1982) untersuchte oder sich mit Akkulturations- und
nkulturationsproblemen ausländischer Arbeiter befaßte bzw. soziale Minoritä-
t( n wie Zigeuner, Sekten und Aussteiger erforschte. Im Hinblick auf die Relativität
von Kulturen, aber auch mit Blick auf die um sich greifende soziologische Alltags-
orschüng, distanzierte sich Ina-Maria Greverus 1983 von einer Sondersphäre des
täglichen wie auch von einer Universalisierung des Alltagsbegriffs (Greverus
3a, 11). In diesem Sinne hatte sie auch bereits in Falkenstein die Umbenennung
Carola Lipp
des Faches in eine Alltagssoziologie der unteren Schichten abgelehnt (Brückner
1971,101). Ihre Position schlug sich sichtbar in den Arbeitsfeldern des Frankfurter
Instituts nieder. Alltagsgeschichte rangiert am Schluß einer von Studierenden auf-
gestellten Themenpräferenzliste (Notizen Bd. 20), während kulturanthropologi-
sche Fragestellungen wie „Kulturkontakt - Kulturkonflikt“, „Kulturbedürfnis
und Kulturpolitik“, „Kulturwandel“, „Zivilisationskritik und neue soziale Bewe-
gungen“, „Minoritäten und Minderheiten“, „regionale und lokale Kulturanalyse“
an der Spitze stehen.
Ganz anders als in Frankfurt verlief der Diskussionsprozeß um Alltagskultur in
Tübingen, wo die Erforschung des Alltags zunächst von einem politischen Eman-
zipationsmodell geprägt war, um nach einigen Jahren in eine historisch orientierte
Alltags- oder ethnopsychoanalytisch ausgerichtete Kulturforschung zu münden.
Generell wurde in Tübingen viel radikaler auf dem Flintergrund des Entfrem-
dungsmodells argumentiert. Noch vor Falkenstein hatte Roland Narr in einem da-
mals provokant, heute in seiner holzschnittartigen Argumentation eher naiv wir-
kenden Artikel die Konzeption einer „Volkskunde als Soziologie des Alltags der
unteren und unterdrückten Schichten“ (Narr 1970, 57) gefordert.
Programmatisch für die Tübinger Forschungen der 70er Jahre verband er diesen
Ansatz mit einem aufklärerisch emanzipatorischen Anspruch, dessen Anliegen es
war, antagonistische Widersprüche in der kapitalistischen Gesellschaft zu analysie-
ren und kulturindustrielle Fremdbestimmung bewußt zu machen. In einem 1976
fertiggestellten, aber erst 1978 publizierten Artikel setzte sich Utz Jeggle dann mo-
difiziert mit dem Forschungsfeld Alltag auseinander Qeggle 1978). Alltag stand für
ihn in einer langen Fachtradition, an die der neue Ansatz anknüpfen konnte. Ne-
ben Beschreibungen von Land und Leuten, wie sie in den statistisch-geographischen
Arbeiten der Aufklärer üblich waren, verwies er vor allem auf Karl Weinhold
(1890), der Ende des 19. Jahrhunderts bereits das Programm einer „umfassenden
Kulturgeschichte und Kulturanalyse“ entworfen hatte Qeggle 1978, 91). Anläßlich
der Gründung der „Zeitschrift für Volkskunde“ hatte Weinhold gefordert, daß die
Volkskunde nicht nur die geistige Kultur, sondern auch die Lebensverhältnisse des
Volkes, sein äußeres Erscheinungsbild, die Nahrung, Kleidung und Wohnung zu
erforschen habe. Eine weitere Traditionslinie zog Jeggle schließlich zu ethnogra-
phischen oder historischen Gemeindestudien im Fach (ebd., 95). Seine Perspektive
auf den Alltag war 1978 noch stark bestimmt von einem materialistischen Kultur-
begriff. „Alltag“ war demnach „die epochal durch die Art der Produktion festge-
legte Erfahrung von Zeit und Raum als Grunddimension menschlicher Erfahrung
überhaupt“ Qeggle 1978, 123). Der Alltag stellte für Jeggle eine schichtspezifische
Erfahrungsform dar. „Verschiedenen Klassen und Gruppen der Gesellschaft (se-
hen) von ihrem je verschiedenen Standort in der Gesellschaft ihre Welt anders“,
und dementsprechend bilden die „konkrete Arbeit und Stellung im Produktions-
prozeß ... Abszisse und Ordinate im Koordinatennetz des Alltags“ (ebd., 123).
Mit dieser Strukturierung des Alltags, die Jeggle gruppen-, alters- oder geschlechts-
spezifisch differenzierte, näherte sich die Volkskunde einer marxistischen „Kultur-
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Alltagskulturforschung im Grenzbereich von Volkskunde, Soziologie und Geschichte
Soziologie“ (Assion 1987) an, eine Fachbezeichnung, die sogar in Falkenstein zur
Diskussion stand, mit der sich aber niemand anfreunden mochte, aus Angst, das
Fach könnte als Bindestrich-Soziologie enden (Brückner 1971, 129).
In der Tübinger Forschungspraxis führte das materialistische Alltagskonzept al-
so nicht zu Untersuchungen einer intersubjektiv verstandenen Lebenswelt, son-
dern es wurde zunächst mit einem Forschungsansatz amalgamiert, der mit dem aus
der DDR-Volkskunde stammenden Begriffspaar der „Kultur und Lebensweise“
(Jacobeit 1974) operierte. Laut Gottfried Korff war in dieser Doppelung die „All-
tagsperspektive“ bereits enthalten (Korff 1978, 28), weshalb beide Bezeichnungen
lange Zeit synonym benutzt wurden, bis sich Alltag als der umfassendere Begriff
durchsetzte. In seinem Artikel „Kultur“ definierte Korff 1978 Lebensweise als eine
»sozio-ökonomische Kategorie“ (ebd., 59/62), mit der nicht nur die „materiellen
Voraussetzungen des Alltagslebens“ erfaßt, sondern auch „Normen, Werte und
Einstellungen“ (ebd., 60) wie auch soziale Beziehungen mitreflektiert werden.
”Der Begriff Lebensweise umschreibt etwas Doppeltes, einmal wie ein bestimmtes
Sozialmilieu auf die konkreten Lebensumstände einwirkt, zum anderen wie dieses
Milieu zustandekommt, wie sich die Menschen ihren Lebensumständen anpassen
Und sie möglicherweise verändern“ (ebd., 61). Die materialistisch ausgerichtete
Alltagsperspektive führte damit logischerweise zur Erforschung von Gruppenkul-
tUren (Assion 1987) und begründete im folgenden sowohl eine Flinwendung zur
Arbeiterkulturforschung als auch zu einer schichtendifferenzierenden Gemeinde-
orschung. Typisch für diesen Ansatz sind Tübinger Projekte wie „Arbeiter -
uhur und Lebensweise in Württemberg“ (1979), „Das andere Tübingen“ (1978)
sowie die Kiebingen-Studien (Ilien/Jeggle 1977; Kaschuba/Lipp 1982) oder die
Versuchung von Albrecht Lehmann über das „Leben in einem Arbeiterdorf“ in
ledersachsen, die nach schichtspezifischen Kommunikationsmustern und Frei-
zeitverhalten fragt (Lehmann 1976).
hu Unterschied zu Greverus wurde von Jeggle bzw. den Tübingern sehr viel stärker
le historische Dimension des Alltagskonzepts betont. Da kulturelle Objektivationen
as ’’Ergebnis geschichtlicher Erfahrung und Handelns“ Qeggle 1978, 87) waren,
Vußte eine Alltagswissenschaft (wie bereits bei Lefebvre vorformuliert) die „Geschicht-
ichkeit der Gegenwart zum Ausgangspunkt“ haben (ebd.). Gerade die scheinbare
” nmittelbarkeit des Alltags“ legte nach Jeggle nahe, ihn aus dem „Hier und Jetzt“
erauszulösen. Die Alltagsdiskussion leitete damit eine historische „Rückwen-
dung“ Qeggle 1978, 105) ein, die von der Massenkommunikationsforschung und
u turindustriekritik4 der 70er Jahre weg und hin zur Alltagsgeschichte führte.
4 In Tübingen hatte sich damals eine respektable Massenkulturanalyse etabliert, die Trivialliteratur,
Schlager, das Fernsehen, die Regenbogenpresse etc. untersuchte. Vgl. Klaus Geiger: Kriegsromanhefte in
der Bundesrepublik Deutschland. Inhalte und Funktionen. Tübingen 1974; IngridKroner: Genita-
L Lust im Kulturkonflikt. Eine Untersuchung am Beispiel der Sankt Pauli Nachrichten. Tübingen
1974; Werner Mezger: Schlager. Versuch einer Gesamtdarstellung unter besonderer Berücksichti-
gung des Musikmarktes der Bundesrepublik Deutschland. Tübingen 1975; Hans-Dieter Kubier.
Abendschau. Unterhaltung und Information im Fernsehen. Tübingen 1975. Gert Ellinghaus.
Fernsehmacher. Tübingen 1975.
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Carola Lipp
Subjektzentrierte Fragestellungen und Methoden
Mit der „Geschichtlichkeit der subjektiven Situation in der Welt“ (Schütze
1979 a, 124) stellte sich die Frage nach dem individuellen Lebenslauf und seinen
Rahmenbedingungen, nach den Erfahrungs- und Erwartungshorizonten, nach In-
terpretationen und Selbstentwürfen (Allheit 1983, 188ff.). Das Gewordensein des
einzelnen, Sozialisation und Enkulturationsprozesse wurden damit Felder volks-
kundlicher Alltagsforschung. Damit begann im Fach eine breit angelegte biographische
Forschung (Brednich 1982). Bei Utz Jeggle schließlich führte die Beschäftigung mit
der Geschichte des Subjekts dazu, verstärkt psychoanalytische Theorie und selbstreflexi-
ve ethnopsychoanalytische Ansätze in die Feldforschung einzubringen (Jeggle
1984 und 1988). Subjektzentrierte Fragestellungen, die Flinwendung zum handeln-
den Menschen und zur individuellen Erfahrung im Alltag kennzeichneten einen
zentralen methodischen Paradigmenwechsel, der keineswegs spezifisch volkskund-
lich war, sondern sich zur selben Zeit in Fächern wie Soziologie oder Geschichte
vollzog. Ausdruck dieser veränderten Perspektive war die Oral-History-Bewegung
in der Geschichtsforschung, die Anfang der 80er Jahre einsetzte und versuchte,
historische Prozesse und individuelle Erfahrung als Geschichtsquelle zu erschlie-
ßen. Durch Interviewaussagen und in der kommunikativen Auseinandersetzung
sollten die Erforschten selbst zum Produzenten ihrer eigenen Geschichte werden.
Eine theoretische Fundierung fand die Oral-History-Bewegung in Sammelbänden
wie „Lebenserfahrung und kollektives Gedächtnis“ (Niethammer 1980 a) oder in
programmatischen Publikationen wie „Die Menschen machen ihre Geschichte
nicht aus freien Stücken, aber sie machen sie selbst“, die ihre Wirkung auch in der
Volkskunde zeitigten bzw. bei denen Volkskundler mitarbeiteten (Niethammer
et al. 1984). Angesichts der gesellschaftlichen Bedeutung der alltäglichen Lebens-
welt wurden in der Geschichtsforschung zunehmend sozialhistorische Kategorien
in Frage gestellt, und es wurde bezweifelt, daß historische Prozesse nur einer struk-
turellen Dynamik gehorchten (Medick 1984). Mit der Alltagsperspektive hielten
kulturanthropologische Ansätze ihren Einzug und wurden Kultur und Geschichte
als Produkt menschlichen Handelns und sozialer Beziehungen gesehen, mit denen
Menschen ihre Welt symbolisch deuteten und gestalteten. Ziel der Alltagsforscher
in allen Disziplinen war, „zu entdecken, und herauszuarbeiten, auf welche Weise
die Angehörigen einer Kultur, diese und sich darin wahrnehmen, welche Bedeu-
tungen sie ihren Handlungen zuschreiben, und in welchen symbolischen Auße-
rungsformen diese Sinnstrukturen zum Ausdruck kommen“, wie es in einer Publi-
kation Bielefelder Soziologen heißt, die sich mit den Methoden der Alltagsanalyse
befaßte (Psathas 1981, 263). Damit etablierte sich auch in der Geschichtsforschung
der sogenannte „emische“ Zugang der Kulturanthropologie (Greverus 1978, 102),
der versuchte, eine Kultur von „innen heraus“, aus der Binnenperspektive zu ver-
stehen (Medick 1984, 51). Methodisch führte dies zu einem ethnographischen Vor-
gehen, einer Technik, die Clifford Geertz „dichte Beschreibung“ nennt, womit er
eine Form der ethnographischen Notation umschreibt, mit der das „Gesagte des
sozialen Diskurses“, die „Vorstellungsstrukturen, die die Handlungen der Subjekte
10
Alltagskulturforschung im Grenzhereich von Volkskunde, Soziologie und Geschichte
bestimmen“, festgehalten werden. Auf der Basis der Selbstinterpretation der Er-
forschten wird dann ein „analytisches Begriffssystem“ entwickelt, das „die typi-
schen Eigenschaften dieser Strukturen“ (Geertz 1983, 39) erfaßt und in der Lage
ist, das Wissen der in der Kultur handelnden Menschen darzustellen. Aus einem
Netz aufeinander bezogener und sich interpretierender symbolischer Handlungen
zeichnet der Forscher das Bedeutungssystem einer Kultur empathisch deutend
nach.
Da der Zugang zum Alltag der Menschen nur ein hermeneutischer sein konnte,
war in der Volkskunde wie in den anderen Fächern damit zugleich ein Wechsel hin
zu qualitativen Methoden und zur interaktiven Forschung verbunden. In der
Volkskunde waren bis dahin zwar Verfahren der empirischen Erhebung und So-
zialforschung gebräuchlich, doch meist in Gestalt von standardisierten Fragebogen
oder den im Fach seit langem üblichen Gewährsleute-Gesprächen. Nun hielten
themenzentrierte oder narrative, oft auch lebensgeschichtlich ausgerichtete Inter-
views ihren Einzug in die volkskundliche Feldforschung. Zwei Gewichtungen sind
dabei zu unterscheiden: Die stärker dokumentarisch ausgerichtete Zugehensweise
Oral History, die bestimmte Ausschnitte aus der Lebenswelt oder Ereignisse der
Zeitgeschichte in den Mittelpunkt stellt (Brednich 1988, 87) — hier gewinnt das In-
terview über die Selbstdeutung hinaus zugleich den Charakter eines Dokuments
°der einer Quelle —, und die biographische Forschung, die sich im Unterschied
dazu mehr für das Selbstverständnis der befragten Personen, ihre „biographische
Identität“ (Brednich 1979) und damit auch für die Logik ihrer individuellen Sinn-
produktion interessierte. Das Forschungsinteresse richtete sich mehr auf die Lebens-
erzählung und ihre Strukturen, fragte nach der Organisation von Erinnerung,
nach bestimmten Erzählregeln und Mustern (Lehmann 1982). Aus dieser Herange-
hensweise entwickelte sich schließlich eine intensive wissenschaftliche Reflektion
über den Prozeß der Feldforschung, insbesondere über die Begegnung und Interak-
tion von Forschenden und Erforschten. Selbstverständnis und Verhalten der For-
schenden erwies sich als zentrales Problem der Feldforschung Qeggle 1984). Hatte
letztlich das Befremden am Alltag zu seiner Erforschung geführt, so wurde nun die
Fremdheit zur Methode und damit zur alltäglichen Erfahrung des Forschers. Un-
ter dem Stichwort „Rückgewinnung der Subjektivität“ ging es um die „Angst des
Forscher vor dem Feld“ (Devereux 1987; Lindner 1981), wie die zu Schlagworten
geronnenen Formeln hießen, mit denen das schwierige Verhältnis von Distanz und
Nähe beschrieben wurde. Die Begegnung mit der anderen Kultur wurde zum Pro-
zeß der Selbsterfahrung (Buchmann 1984), und die kulturelle Irritation, teilweise
sogar in psychoanalytischer Supervision aufgearbeitet, erschien als Mittel, eigene
und fremde Kulturmuster deutlicher wahrzunehmen. Wo die „Präsentation der ei-
genen Identität“ (Lindner 1981) zum zentralen methodischen Aspekt geriet, ent-
wickelte sich manchmal, dies wurde durchaus selbstkritisch vermerkt, die Feldfor-
schung zur Identitäts- und Sinnsuche der Forschenden selbst. So gesehen handelte
es sich um mehr als eine wissenschaftliche Methode, eher um eine kulturelle Bewe-
gung, für die angesichts der „eigenen Fremde“, so der Titel einer Arbeitsgruppe auf
11
Carola Lipp
dem Volkskundekongreß 1988, Feldforschung als Mittel zur Selbstversicherung,
als Lösung aus der Sinnkrise des modernen Alltags erscheinen mochte (Greverus et
al. 1988). Jeggles Kritik an der „Barbarei moderner Zivilisation“, sein Bekenntis
zum Kulturpessimismus, die er im einleitenden Gespräch zur Bausinger-Festschrift
formulierte, bringt dieses „Unbehagen in der modernen Kultur“ (Jeggle 1986, 17)
deutlich zum Ausdruck. Die in den 80er Jahren gewachsene, heute inzwischen
stagnierende Zahl der Studierenden in Ethnologie und Volkskunde kann durchaus
auch als Symptom dieser Kritik am Eigenen und als Ausdruck der Sehnsucht nach
dem fremden Anderen gedeutet werden.
Um ein Zwischenresümee zu formulieren: Mit der Alltagsforschung hat die
Volkskunde sowohl eine Soziologisierung als auch eine Historisierung und Ethno-
logisierung erfahren. Subjektzentrierte Methoden haben zu einem in seiner Konse-
quenz nicht zu unterschätzenden Paradigmenwechsel geführt, weg von den Objek-
tivationen hin zu den Menschen und ihren sozialen Beziehungen. Noch 1961 hatte
Hermann Bausinger der Soziologie die „nichtsubstratgebundenen Gegenstände“,
das heißt „die sozialen Beziehungen“, und der Volkskunde die „substratgebunde-
nen“, kulturellen Objekte zugewiesen (Bausinger 1961,10). Obwohl sich die Volks-
kundler gerne mit Referenz auf Riehl als die Wissenschaft vom Menschen ver-
stand, hatte sich ihr Interesse traditionell nur auf den Menschen als Träger be-
stimmter kultureller Äußerungen gerichtet und weniger auf Wahrnehmungsweise
und Erfahrungshorizont. Die Alltagsforschung leitete einen Umdenkungsprozeß
ein, der sich auch auf traditionelle volkskundliche Gebiete wie die Sachkulturfor-
schung auswirkte und dem Fach einen neuen, gemeinsamen Bezugspunkt bot.
Sachkulturforschung und das Problem der Subjektzentrierung
Bereits 1971 bei der Neuorientierung des Faches wurde über die Beziehung von
Subjekt und Objekt und über den Begriff der kulturellen Objektivation diskutiert,
dem die Vorstellung aktiv Kultur produzierender und kulturelle Objekte nutzender
Menschen zugrundelag. Nach der Definition von Wolfgang Brückner sind Objek-
tivationen „Vergegenständlichungen des menschlichen Geistes (,objektivierter Geist“),
... der konkretisierte Ausdruck der Weltaneignung und Weltbewältigung“
(Brückner 1971, 38). Eine praktische Konsequenz dieser theoretischen Einsicht
ließ indessen auf sich warten. Daß Objekte als Produkt symbolischen Handelns ei-
ne über sich und ihre unmittelbare Funktion hinausweisende Zeichenhaftigkeit
besitzen, daß sie einen subjektiven Ausdruck kultureller Normen und Wertvorstel-
lungen repräsentieren, diese Überlegungen findet man im Fach am ehesten noch in
der Kleidungsforschung (Böth 1988,163), die sich im Zuge der Alltagsorientierung
in den 80er Jahren mit der subjektiven Wahrnehmung von Kleidung bzw. deren
Bedeutung in der Sozialisation (Mentges 1985) befaßte und sich heute für Techni-
ken der Selbstinszenierung und gruppenspezifische Kleidungsstile interessiert.
In anderen Bereichen der Sachkulturforschung fand eine Auseinandersetzung
mit der Alltagstheorie und subjektzentrierten Methoden nur zögernd statt (Mohr-
12
Alltagskulturforschung im Grenzbereich von Volkskunde, Soziologie und Geschichte
mann 1987). Erst ein „Leseschock“ (Wiegelmann 1980, 11) führte zu einer alltags-
geschichtlichen Wende. Die Tatsache, daß die fachliche Alltagsdiskussion die Sach-
kultur ignorierte, veranlaßte Günter Wiegelmann 1979 dazu, kurzerhand einen ge-
planten Band zur Sachkulturforschung in „Geschichte der Alltagskultur umzu-
benennen. Seine Begründung: „Der Begriff ,Alltagskultur bezeichnet knapp und
klar jenen funktionalen Bereich, in dem die von den Sachkulturforschern unter-
suchten Objekte stehen41 (ebd.). In einem Sammelband neun Jahre später erklärte
derselbe Autor, daß die „Alltagsgeschichte ein zentrales Forschungsfeld der Volks-
kunde“ sei (Wiegelmann 1987, IX), ohne daß es in der Zwischenzeit allerdings zu
einer fundierten theoretischen Auseinandersetzung mit dem Alltagsbegriff und
seinem heuristischen Nutzen gekommen wäre, sieht man von einer groben Diffe-
renzierung zwischen Fest und „täglichem Einerlei ab. Dem Namenswechsel folg-
te also kein Perspektivwechsel. In dem 1987 veröffentlichten Sammelband ,jWandel
der Alltagskultur“ präsentierte Wiegelmann die herkömmlichen Themen der
Sachkulturforschung wie Tradierung, Innovation und Diffusion bzw. regionale
und soziale Differenzierung als „Grundfragen“ der Alltagsforschung. Eine Proto-
kollnotiz zu dieser Tagung hält so den schüchternen Einwand fest, daß doch ei-
gentlich „Lebenszusammenhänge und Bewußtsein der Menschen, die im Zentrum
jeglicher volkskundlicher Arbeiten stehen sollten, (ein bißchen) aus dem Blick ge-
raten seien“ (ebd., 334). Es war nicht zufällig der Biographieforscher Albrecht Leh-
mann, der die Frage stellte, ob nicht Alltagskultur als Sinneinheit erfahren würde,
in der Ereigniszusammenhänge und materielle dingliche Kultur nicht zu trennen
seien. Genau hier liegt das Problem. Die für die Alltagsforschung charakteristische
Subjektzentrierung hat die klassische Sachkulturforschung nie nachvollzogen, ob-
wohl doch gerade „die Beziehungen zu den Objekten unmittelbar „ins Alltagsle-
ben eingewoben“ sind (Lefebvre 1977,162). Gerade im Objekt „als objektives Sein
der Menschen“ wird „die Existenz des Menschen für einen anderen Menschen, die
gesellschaftliche Beziehung des Menschen zum Menschen sichtbar (ebd., 160).
Es wäre indessen falsch zu sagen, volkskundliche Sachkulturforschung blendete
menschliches Handeln gänzlich aus; sie arbeitet jedoch mit einem festen Repertoi-
re an kulturellen Deutungsmustern für menschliches Verhalten. Um Kulturfixie-
rung oder -wandel zu erklären, bietet z. B. das Handbuch von Günter Wiegelmann,
Matthias Zender und Gerhard Heilfurth folgende Stereotypen an: Identitäts- und
Konkurrenzstreben, das Bedürfnis nach Imitation oder Abwechslung, das Greben
nach Aufstieg oder Traditionsfixierung als Folge sozioökonomischer Krise (ebd.,
46 ff.). Neben den sogenannten exogenen Faktoren (Wirtschafts- und Kommunika-
tionsstrukturen, Kirche, Staat und kultureller Austausch) werden zwar „endogene
Faktoren“ wie das Bedürfnis nach kultureller Differenzierung oder kulturelle
Spannungen mit in Betracht gezogen (Wiegelmann et al. 1977), die den Wandel ih-
res Alltags erfahrenden oder vorantreibenden Subjekte bleiben dabei jedoch bloße
Interpretationsfolie. Die Komplexität von Lebenswelt wird gewissermaßen redu-
ziert auf die Frage nach dem Funktionswandel oder, um es pointiert zu sagen.
Flunderte von Truhen, Kästen und Schränken repräsentieren für sich noch nicht
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Carola Lipp
Alltag. In einer Einführung in die volkskundliche Wohnforschung konstatiert
Ruth Mohrmann durchaus selbstkritisch, daß die meisten Sachkulturstudien
„doch vorrangig aufs Objekt bezogen“ blieben (Mohrmann 1988, 121). Mit ihrer
neuesten Studie zur „Alltagswelt im Land Braunschweig“ (Mohrmann 1991) hat
die Autorin dann zwar versucht, neue Wege zu gehen, doch ihre Beschreibung der
„Lebenswelt“ einzelner bürgerlicher Gruppen beschränkt sich doch mehr oder
weniger auf die Ausstattung der Haushalte und einige Angaben zu Einkommen
und Kapitalvermögen. Nur in Einzelfällen erfahren wir mehr über das Leben oder
die mögliche Geschichte der Besitzer der Gegenstände. Da die Datenbasis objekt-
zentriert angelegt ist (ebd., 2/599 f.), kommen die in den Quellen vorhandenen
Sinnstrukturen des Alltags, d. h. menschliche Beziehungen, familiäre Konstellatio-
nen oder Tradierungswege in der systematischen Analyse zu kurz. Alltagskultur
ist auch bei Mohrmann nur ein anderer Begriff für materielle Kultur, selbst wenn
sich die Autorin von dieser vereinfachenden Gleichsetzung distanziert (Mohr-
mann 1988, 27). Eine subjektzentrierte Sachkulturforschung wird sich in Zukunft
fraglos mehr mit den objektbesitzenden Individuen, mit Haushaltsstrukturen und
der aktuellen Nutzung und Weitergabe von Dingen beschäftigen müssen, wenn sie
wirklich etwas über den Alltag erfahren will. Vielversprechende Ansätze, die „Er-
ben und Teilen“ und den familiären Umgang mit Dingen untersuchen, gibt es
durchaus (Hauser 1992).
Einen anderen Zugang zur Ebene des Alltagshandelns und zur subjektiven Kon-
struktion der sächlichen Alltagswelt bietet die strukturale Methode. Obwohl sie
ebenfalls die Gefahr in sich birgt, über stark formalisierte Strukturen das Subjekt
aus den Augen zu verlieren, reflektiert dieser Ansatz, den u.a. Volker Gläntzer
(1980) vertritt, daß Wohnen eine soziokulturelle Handlung ist, die sich zum einen
in morphologische Aspekte der Objekte und ihre materiale Beschaffenheit und
zum anderen in eine Handlungssituation als bedeutungskonstitutierende Ebene
teilen läßt, die wiederum durch Zeit, Raum und Handlungsgruppe bestimmt ist.
Das Verständnis von Wohnen als sozialer und interaktiver Handlung bedarf aller-
dings komplizierterer Forschungssettings, weshalb solche Rekonstruktionen des
Gebrauchs von Räumen und Dingen bis jetzt rar sind. Erst in jüngster Zeit werden
auch ethnomethodologische Zugänge zur Wohnkultur, Wohnungsnutzung und
Raumaneignung gewählt (Projektgruppe Göttingen 1992).
Alltagsgeschichte als besondere Form der Wissenschaftskultur
Eine Hinwendung zum Alltag läßt sich zwar in allen Disziplinen beobachten,
durch die Historisierung der Alltagsforschung in der Volkskunde ist jedoch die Af-
finität zu der in den 80er Jahren entstehenden Alltagsgeschichte besonders groß.
Dementsprechend ähnlich sind auch die Forschungsansätze. Wesentliche Unter-
schiede liegen so mehr in der Fachtradition und der jeweiligen Wissenschaftskul-
tur. Alltagsforschung wurde in der Volkskunde als Rückgewinnung „einer ver-
schütteten Tradition“ (Korff 1978, 27) begriffen und ist inzwischen ein akzeptier-
14
Alltagskulturforschung im Grenzbereich von Volkskunde, Soziologie und Geschichte
ter Sammelbegriff für eine Vielfalt von Forschungsansätzen. Für die Geschichts-
wissenschaft dagegen bedeutete Alltagsgeschichte einen provokanten Gegenent-
wurf zur traditionellen Historiographie, die bald den Charakter einer alternativen
Geschichtsbewegung annahm, die sich radikal gegen eine auf Haupt- und Staatsak-
tionen konzentrierte Politikgeschichte wie auch gegen eine auf objektive Prozesse
ixierte Sozialgeschichte abgrenzte, welche mit System- oder modernisierungstheo-
retischen Modellen oder sozioökonomischen Struktur- und Klassenanalysen ope-
rierte (Niethammer 1980 b, 237; Borscheid 1987 b, 86). War in der Volkskunde der
»Blick von unten“ per definitionem gegeben, wurde die „Geschichte von unten“
zum kämpferischen Postulat der Alltagsforschung (Medick 1984, 51). Während die
enaissance des verstehenden Zugangs (Fuchs 1986) und die damit einhergehende
tugung zur erzählenden Darstellung bei den Vertretern der Sozialgeschichte auf
lehnung stieß und diese einen Rückfall in den Historismus (Kocka 1984 a, 399)
° er n°ch schlimmer „populistische“ (Kocka 1984 b, 78) Neigungen witterten,
^aren Deskription und populäre Narration immer eine Stärke wie auch Schwäche
er wissenschaftlichen Volkskunde und hatten ihr oft den Ruch des Dilettantis-
mus eingetragen. Wissenschaftspolitische Konflikte, wie sie die Gründung der Ge-
j 'cutswerkstätten in der Historikerzunft auslösten, waren deshalb der Volkskun-
remd. Die Scheu, Laien in die Forschung miteinzubeziehen und mit den Be-
° enen deren Geschichte zu erarbeiten, wie dies das Konzept der Geschichts-
r statten vorsah, war in der Volkskunde geringer, da das Fach schon immer eine
entel von Praktikern in Heimatvereinen und Brauchtumspflege um sich geschart
m, mn denen sich auseinanderzusetzen man gelernt hatte. Zudem gehörte die
j ^ mittiung von wissenschaftlichen Ergebnissen in der Erwachsenenbildung, in
r Museums-, Medien- oder Kulturarbeit seit je her zu den erklärten Zielen volks-
icher Arbeit. Die Geschichtswerkstätten repräsentierten für Volkskundler
us alb eher eine institutionelle Schnittstelle von Wissenschaft und alltäglicher
rschungspraxis, während die etablierte Sozialgeschichte in ihnen „Barfußhistori-
er sah (Wehler 1984), die sich einer dubiosen interaktiven Geschichtsforschung
verschrieben hatten.
f ki-^er ^°ikskunde dagegen war Feldforschung ein integraler Bestandteil der
K-hen Praxis. Ein in den 70er Jahren entwickelter emanzipativer Heimatbe-
der I " ai"r Korff 1973) und die wissenschaftliche Zielvorstellung, „an
cr "sung sozio-kulturaler Probleme mitzuwirken“, wie die bekannte Schlußfor-
zessJ011^^61151"6^11 ^autet (Brückner 1971, 303), ließen kulturelle Aneignungspro-
d ■>' vn 16 ^e<^eutung individueller und lokaler Identität zu wichtigen Themen
sehe ° Werden. Im Kontrast dazu mußten sich Lokal- und Regionalfor-
er in er Geschichte gegen den Vorwurf der linken Heimattümelei (Arbeits-
t-Tf -^1’ 75) wehren und wurde ihr Interesse am lokalen Horizont und der all-
Vei-1C 6° ^!nnenPersPektive als Zeitgeist und Modephänomen (Tenfelde 1984), als
’ fischen „eigensinniger Subjektivität“ und Heimat zu finden, denunziert
^ °p a "^6, 81). Suchte die volkskundliche Forschung bewußt den Mikrokosmos
emeinde, mußte die historische Regionalforschung die Begrenztheit ihrer lo-
15
Carola Lipp
kalen Perspektive durch besonderes methodisches Raffinement wettmachen, um
dem Legitimationsdruck übergreifender soziostruktureller Fragestellungen stand-
zuhalten. Kennzeichnete die „Andacht zum Detail“ eine Qualität volkskundli-
cher Forschung, wurde das „mikrohistorische Klein Klein“ (Kocka 1986, 81) zum
methodischen Bias der Alltagsforschung, mit der ihr Verallgemeinerbarkeit und
Aussagekraft abgesprochen wurden. Wenn mit Agnes Heller die Neigung zur no-
stalgischen Rückschau, die Tendenz des „small ist beautiful“ und „everything
goes“ (Heller 1987, 23) als Grundhaltung der postmodernen sozialen Bewegungen
beschrieben wird, so ist Alltagsgeschichte fraglos ein wichtiges Teilphänomen die-
ser Entwicklung, und für kurze Zeit schien sogar die Volkskunde fast unbemerkt
zur Leitwissenschaft zu avancieren.
Der gemeinsame Faktor der Alltagsgeschichte und der volkskundlichen For-
schungen liegt fraglos im methodischen Zugang, wo es zu positiven Wechsel-
wirkungen zwischen den Fächern kam. Beiden gemeinsam ist die Tendenz zur
Mikrostudie, wobei neben der Oral History neue, computergestützte Verfahren
der Auswertung serieller Quellen mit Datenbankprogrammen (Thaller 1986)
wegweisend für die Alltagsgeschichte waren. Da sich der Alltag als sinnhafte
Konstruktion nur über Deutung erschließen läßt, führte die Alltagsforschung
in der Geschichte wie in der Volkskunde zu einer Renaissance hermeneutisch-
interpretativer Verfahren. Die Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Zei-
chensystemen gehört heute zum festen methodischen Repertoire der Alltags-
forschung und macht diese offen für Strukturalismus und Poststrukturalismus.
Wiederentdeckt wurden mit der Alltagsgeschichte die Bräuche als rituelle Aus-
drucksformen ebenso wie die in Objekten und anderen symbolischen Formen
encodierten Wertvorstellungen und Glaubenssysteme oder die kulturellen Di-
mensionen des Natürlichen oder Körperlichen. Erschlossen ist inzwischen
auch die sogenannte „Bildlore“, die Ikonographie der Darstellungsweisen des
Alltäglichen (Bringeus 1982; Weber-Kellermann 1988). Insgesamt ist eine zuneh-
mende Differenzierung im methodischen Instrumentarium festzustellen. Bei
den interpretativen Verfahren reicht die Bandbreite von klassischen hermeneu-
tischen Ansätzen (Gadamer 1972) über eine durch inhaltsanalytische Techniken
„objektivierte“ Hermeneutik (Oevermann 1986) bis hin zur Diskursanalyse
(Hartmann 1991), die strukturelle Regelmäßigkeiten, „Außerungsmodalitäten“,
„Strategien“ und die „Formation der Begriffe“ untersucht (Foucault 1971). Letz-
teres Verfahren markiert bereits einen methodischen Grenzbereich, der aus der
Subjektzentrierung der Alltagsforschung hinausführt in die Weite der Intertex-
tualität und in die Problematik der sprachlichen Konstruktion von Welt bzw.
der „Sprache als Ursprung der Geschichte“ (Derrida 1976, 10). Der Gedanke,
daß Geschichte und geschichtliche Erfahrung nur als sprachliche Struktur wirk-
lich werden, in der allein „Form, Relation und Konfiguration“ (ebd. 12) von
Bedeutung sind, verweist zugleich auf einen möglichen Endpunkt der Alltagsfor-
schung.
16
Alltagskulturforschung im Grenzbereich von Volkskunde, Soziologie und Geschichte
Arbeiterkultur als Fokus der Alltagsforschung
Die parallele Entwicklung in Geschichte und Volkskunde zeigt sich auch in den
Fragestellungen. Regionalgeschichte und Arbeiterkulturforschung repräsentierten
zentralen Untersuchungsfelder und wurden zum Teil direkt mit Alltagsgeschichte
identifiziert. Als Kenner lokaler und regionaler Eigenheiten waren Volkskundler
‘m ersten Feld schon immer zu Hause, während sie auf dem Gebiet der Arbeiter-
orschung eher späte Gäste waren. Helmut Fielhauer hat einmal die berechtigte Frage
aufgeworfen, ob das Interesse der Volkskunde an der Arbeiterkultur „wie das frü-
ere Interesse an Tracht und Brauch dem Schwinden des Objektes, ja dem Bedeu-
tungsverlust der Arbeiterschaft überhaupt geschuldet ist“ (zit. nach Kramer 1984,
221). Trotz Peuckerts früher Vorarbeit zur „Volkskunde des Proletariats“ (Peuckert
1931) hatte sich das Fach immer schwer getan mit den Arbeitern, die hinter einem
Vereinheitlichenden Volksbegriff lange unsichtbar blieben. Begab man sich in den
er Jahren noch gegenwartsbezogen „auf die Suche nach dem Proletariat“ (As-
sion 1988) bzw. setzte sich mit der These der „Verbürgerlichung der Arbeiter“
ausinger 1973) auseinander, konzentrierte sich das Interesse in den 80er Jahren
uie historische Arbeiterkultur. Als Forschungsfeld etablierte sich die Arbeiter-
V ^Ur*°rschung in einer eigenen Kommission in der Deutschen Gesellschaft für
(■p- vfkunde 1979. Zwischen 1980 und 1992 fanden fünf Tagungen statt, in Wien
L.!? .auer/Bockhorn 1982), Hamburg (Lehmann 1984), Marburg (Assion 1986),
^ ingen (Kaschuba et al. 1991) und Bamberg (1992).
Auch in der DDR-Volkskunde hat man relativ spät begonnen, sich systematisch
mit ’»Kultur und Lebensweise des Proletariats“ zu beschäftigen. Einige der dabei
Cjnts^an<^enen empirischen Studien, u. a. das Landarbeiterprojekt in der Magdebur-
6er örde (Rach 1987), besaßen durchaus Modellcharakter. Mit Jürgen Kuczynskis
;’chescWhte des Alltags des deutschen Volkes“ (1980—1982) griff die DDR-For-
Ung dann direkt den Begriff des Alltags auf, ohne jedoch die methodischen und
1 .. Pektlvischen Implikationen der Alltagsforschung zu übernehmen. Die mehr-
nfr F KomPllation blieb letztlich einem bürgerlichen Hochkulturbegriff ver-
,1C tet’ der durch eine Lagebeschreibung städtischer und ländlicher Unter-
1C..ten kontrastiert wurde. In der von Sigrid und Wolfgang Jacobeit ergänzend
di? ten ’’Frustrierten Alltagsgeschichte“ (1986/1987) finden wir dann zwar ein
^^id nZlCrtereS ^/erstan<^nK von Alltag, gleichzeitig ist die Perspektive aber stark
DHR ?Y/ Arbe*terkewegun§skultur her geprägt. Theoretisch zumindest blieb die
1985 151SS6nSChaft m*t ^em Argument der „fehlenden Klassenanalyse“ (Dehne
r ’ ,U, gegenüber den Positionen der westlichen Alltagskulturforschung
Ut Vorsichtiger ideologischer Distanz.
te !n westcleutschen Geschichtswissenschaft hat sich die Alltags- wie die Arbei-
s un§ unmittelbar aus der Sozialgeschichte entwickelt (Peuckert 1982), aus
(Scho° °nom^scken Klassenanalysen (Kocka 1983), Lebensstandardforschungen
lieh ™977) Un<^ ^emographischen Untersuchungen zur sozialen und räum-
en o ilität lokaler Arbeiterschaft (Borscheid 1987 a). Arbeiterkultur (als All-
17
Carola Lipp
tagskultur oder Lebensweise) und Arbeiterbewegungskultur gingen dabei wech-
selnd ineinander über. Erfaßte die Alltagskulturforschung die Gesamtheit des Le-
benszusammenhangs in der Vielfalt der Existenzformen, betonte die sozialhisto-
risch orientierte Arbeiterforschung stärker den Klassencharakter der Erfahrungen
und die Abhängigkeit von sozioökonomischen Rahmenbedingungen und „politi-
schen Strukturdiktaten“ (Tenfelde 1991, 23). Arbeiterkultur umfaßte aus dieser
Perspektive „diejenigen Manifestationen der proletarischen Lebensweise und der
Arbeiterbewegung, die Werthaltungen ausdrücken und als solche tradierungsfähig
sind; hiernach gelten lohnabhängige Arbeit, arbeitsverbundenes Dasein und Ar-
beiterbewegung als kulturstiftende Wirklichkeitsbereiche“ (Tenfelde 1991,21). Ar-
beiterkulturforschung und Alltagsforschung trafen sich in der Kernidee, daß Klas-
senverhältnisse durch Alltagserfahrung und -Wahrnehmung vermittelt sind bzw.
Klassenverhalten den Denk- und Handlungsmustern des Alltags entspringt und
sich in diesen niederschlägt. Die subjektzentrierte Alltagsperspektive führte
schließlich auch zur Modifikation des sozioökonomisch definierten marxistischen
Klassenbegriffs; im Rekurs auf den englischen Sozialhistoriker Edward P. Thomp-
son (1963, 9) wurde Klasse nun interaktiv verstanden, als ein dialektisches Bezie-
hungsgeflecht konkurrierender Klassen, die jeweils über einen gemeinsamen Hori-
zont von Werten, Normen und Verhaltensmustern verfügen und sich erst im ge-
meinsamen Handeln formieren. Obwohl die volkskundliche Arbeiterforschung
zunächst in Anlehnung an die DDR-Volkskunde sozioökonomisch argumentierte
(Kramer 1982, 71), setzte sich auch hier zunehmend ein kulturell geprägter Klas-
senbegriff durch (Kramer 1984, 218 f.). Die ersten größeren Studien im Fach u.a.
über Arbeiter im Königreich Württemberg (1979), „Arbeiter-Tübingen“ (1980)
oder die Untersuchung über das „Rote Mössingen“, ein „Dorf im Generalstreik ge-
gen Hitler“ (Althaus et al. 1982) blieben allerdings noch stark einem Arbeiterbe-
wegungskulturbegriff verpflichtet. Erst mit zunehmender Alltagszentrierung ver-
änderten sich die Fragestellungen in beiden Fächern, Wohn- und Lebensverhältnis-
se, Familien- und Privatbeziehungen, Kultur- und Freizeitvereine der Arbeiter
rückten in den Mittelpunkt der Betrachtung. Die Breite des Forschungsspektrums
skizziert der Historiker Gerhard Ritter bereits 1979: „Arbeiterkultur bezeichnet
den Gesamtzusammenhang einer schichtenspezifischen Lebensweise, die ihren
Ausdruck nicht nur und nicht vor allem in künstlerischen Manifestationen und
Bildungsbestrebungen, sondern im sozialen und politischen Verhalten, in Wert-
vorstellungen und eigenen Institutionen findet. Zur Arbeiterkultur gehören daher
neben den Organisationen ... auch das Geselligkeitsverhalten, ihre Wohn-, Eß-
und Trinkkultur, die Gebärden und Gewohnheiten am Arbeitsplatz, das Kommu-
nikationsverhalten im Betrieb, in Nachbarschaft und Kommune, die Struktur und
das Beziehungsgeflecht der Arbeiterfamilie, ... das Rollenverständnis von Mann
und Frau und das Verhältnis Eltern—Kinder“ (Ritter 1979, 1).
Damit sind fast alle Themen Umrissen, die wir auch auf den interdisziplinären,
von der Volkskunde organisierten Arbeiterkulturtagungen finden. Neben den do-
minierenden Detailstudien zur Lebenslage und materiellen Kultur befaßt sich das
18
Alltagskulturforschung im Grenzbereich von Volkskunde, Soziologie und Geschichte
Fach sehr stark mit historischen Überhängen, mit der Zwiespältigkeit der länd-
ichen Arbeiterexistenz, mit Problemen des Kulturkonflikts und der Akkultura-
tlon (z.B. im Bildungsbereich). Dabei interessierte die Volkskunde immer mehr
der Bauer in der Fabrik und weniger der städtische Paradeproletarier. Auch dort,
w° Phänomene der Arbeiterbewegung thematisiert wurden, geschah dies im Un-
terschied zur historischen Forschung sehr viel häufiger unter traditionalen Aspek-
ten wie lokale Identität oder im Kontext von Nachbarschaft, Familie und Gemein-
e etc. Die Volkskunde spielte also auch in der Arbeiterkulturforschung die Rolle
einer „Agentur des Ungleichzeitigen“ (Bausinger 1987b, 7). Im Laufe der verschie-
enen volkskundlichen Arbeiterkulturtagungen zeichnete sich schließlich eine
eutiiche Tendenz zur Kulturalisierung der Arbeiterforschung ab. Dieter Kramer,
essen theoretische Ausführungen fast jede Tagung begleiteten und seismogra-
P tsch perspektivische Veränderungen verzeichneten, schrieb 1986: „Wir sollten
er Sozialgeschichte die Erforschung der Lage überlassen; ... Wir sollten uns kon-
Ze^neren auf die spezifischen Ausprägungen der Kultur der Arbeiter bzw. Lohn-
angigen a}s wertbesetztem System im sozialen und strukturellen Kontext. Die
■ Ausbildung gruppen-(klassen)-interner Wertsysteme und ihre Praxis in der Le-
bensweise • * • gehören dazu“ (Kramer 1986, 16). In Tübingen 1989 konstatierten
e eranstalter das „relative Zurücktreten organisationshistorischer Arbeiterkul-
(K °r^cFUng hinter einer mehr alltagskulturellen, lebensweltlichen Perspektive“
asehuba et al. 1991, 11). Bereits seit Mitte der 80er Jahre richtete sich die Auf-
S r,Sarn^e^ ^er Volkskunde stärker auf die Formen der politischen Kultur, auf
na* h ° 6 Un^ ^anc^un§smuster ^er Arbeiterbewegung (Korff 1986); gefragt wurde
]u em Feierverhalten und den Kampfformen, untersucht wurde die feierliche
rschreihe des Festzuges und der Massentritt der Demonstration (Als die Deut-
deUNT Arbeiterkultur- und Alltagsforschung holte mit ihren Studien in
j • ac'hkriegszeit verdrängte, kulturelle und soziale Traditionen ans Licht und
j Slete damit fraglos auch ein Stück kollektiver Erinnerungsarbeit — nicht zuletzt
Zu US e „ art sicF ihre Popularität und Konjunktur in den 80er Jahren. Gerade der
lud^an^ ^er ^as Finzelschicksal und die individuelle Erfahrung der kleinen Leute
htik^11" ^entafrkation und zum Wiedererkennen ein und war zugleich auch ein Po-
c- Urn, denn der radikale „Blick von unten“ beinhaltete eine bewußt parteiliche
Slcht auf die Geschichte.
Fbm dichotomischen Kulturbegriff zum Mythos der Volkskultur
E)er „Blick von unten“ implizierte eine dichotome Vorstellung von Kultur und
Gesellschaft mit einem klar abgegrenzten Unten und Oben. Waren die Anfänge
der Alltagsforschung noch von der kritischen Theorie und einem Klassenkonzept
geprägt, das von kultureller Hegemonie (Gramsci 1967) und kulturindustrieller
Manipulation ausging, setzte sich mit der Arbeiterkulturforschung immer me r
die marxistische Klassentheorie resp. das leninistische Zweikulturenmodell von
unterdrückter und unterdrückender Klasse durch (Hund/Kramer 1978), allerdings
kodifiziert durch die Thompsonsche Vorstellung der Klasse in Aktion. Eine
19
Carola Lipp
Schlüsselfiage war so, wie autonom und autochthon diese andere, zweite Kultur war.
Der dichotomische Blick machte letztlich die Alltagsgeschichte anfällig für neue Re-
mythologisierungen, die sich in dem Umfang einstellten, in dem die Alltagsforschung
in die frühe Neuzeit vorstieß und der marxistische Klassenbegriff an heuristischem
Wert für die Beschreibung von Herrschaftsverhältnissen verlor. Je stärker sich in
der Alltagsgeschichte die Frage nach Tradierungsprozessen, nach Kontinuität von
Verhaltensmustern und Mentalitäten (Raulff 1987) stellte, desto suggestiver wurde
die Vorstellung lang dauernder Dispositionen und eines inhärenten „Eigensinns“
(Lüdtke 1985) des Alltags, der sich dem Zugriff hegemonialer Kontrolle entzog. Ih-
ren Fokus fanden diese Vorstellungen in dem von englischen und französischen So-
zialhistorikern eingeführten Begriff der Volkskultur. In Robert Muchembleds „Kultur
des Volks — Kultur der Eliten“ (1982) und in Peter Burkes „Helden, Schurken, Narren.
Volkskultur in der frühen Neuzeit“ (1981) postulierten die Autoren (insbesondere
Muchembled) eine geschlossene Welt des Volkslebens, die durch die Rationalisierungs-
und Disziplinierungsprozesse im Verlauf der modernen Staatsbildung brutal zer-
stört wurde. Als Kennzeichen der Volkskultur galten all jene Attribute, die die
Volkskunde nur zu gut aus der facheigenen Neigung zur Verklärung scheinbar ur-
sprünglicher Lebensformen kennt: Der Vergesellschaftungsgrad der Volkskultur
war gering, sie war illiterat, beruhte auf direkter Kommunikation und sogenannten
traditionellen Beziehungsformen, Lernprozesse vollzogen sich habituell durch All-
tagspraxis, und die Verhaltensmuster waren ritualisiert bzw. brauchtümlich organi-
siert. Das Paradigma der Volkskultur, denn um ein solches handelt es sich, bildete
eine Dichotomie ab, die die Soziologie des 19. Jahrhunderts, vor allem Ferdinand
Tönnies, der ebenfalls in seiner Gegenüberstellung von Gemeinschaft und Gesell-
schaft (1887) von einem Gegensatz „natürlicher“ und künstlicher (d. h. soziokultu-
rell konstituierter) Gesellungsformen ausging. Verbindungen gibt es auch zur Dis-
kussion in den 20er und 30er Jahren, wo die moderne Individualkultur entweder
als höhere Stufe, aber auch als Verfall der völkischen Gemeinschaft betrachtet wur-
de. In das Konzept der Volkskultur gehen Elemente einer ethnologischen Theorie
der Primitivität ein, wie wir sie bei Lucien Levy-Bruhl (1939) und auch Hans Nau-
mann (1921; 1922) finden. Das volkskulturelle Denken ist demnach magisch und
nicht instrumenteil, das Handeln ist von der Gruppe und nicht individuell bestimmt.
Volkskultur ist beharrend und nicht fortschreitend, und wie neuere volkskundliche
Deutungen behaupten, dominiert dort angeblich statt dem Recht die Ehre (Kaschuba
1986, 487), als ob sozialer Wandel nicht alle gesellschaftlichen Gruppen erfaßte und Eh-
rencodices nicht auch das Verhaltenssystem der Oberschicht in bestimmten Epochen
gesteuert hätten. In seiner simplifizierenden Kontrastivtechnik wird das Volkskul-
turkonzept zu einem deduktiven Begriffssystem, das einer monolinearen entwick-
lungsgeschichtlichen Perspektive verpflichtet ist. Letztlich handelt es sich um eine
negative Modernisierungstheorie, die bereits durch das Etikett Volkskultur soziale
Gegebenheiten klassifiziert, bevor sie in ihren Zusammenhängen erforscht sind.
Die Rückkehr des Volkskulturbegriffes war um so verblüffender, als sich die mo-
derne Volkskunde nach den Selbstverständnis-Diskussionen Anfang der 70er Jahre
20
■Alltagskulturforschung im Grenzbereich von Volkskunde, Soziologie und Geschichte
v°n den Begriffen Volk, Volksleben oder Volkskultur verabschiedet hatte. Daß das
y°lkskulturkonzept in Deutschland so viel Resonanz fand, hat seinen Grund in
er Struktur der Alltagsforschung als soziale Bewegung, die den Begriff zum Vehi-
el der Kritik an gegenwärtigen gesellschaftlichen Verhältnissen machte. Die Idee
es Widerspruchs von hegemonialer Kultur und autochthoner Volkskultur korre-
sP°ndierte mit einer von Jürgen Habermas diagnostierten „Entkoppelung von Sy-
stem und Lebenswelt“ (Habermas 1989,11/229 ff.). Auch Habermas konstruierte
ein Modell, in dem die moderne Gesellschaft mit ihrem institutionalisierten
zweckrationalen Handeln und rationalen Kommunikationsstrukturen kontra-
hiert wurde mit einer Lebenswelt, in der soziale „Institution, Weltansicht und Per-
Son in hohem Maße kongruent (ebd. 233) schienen. Die Welt der Volkskultur
yurde analog gedeutet. Nach Wolfgang Kaschuba repräsentierte sie die „Ebene der
j tagsbezogenen Erfahrungsräume“, den „Ort des Gleichgewichts“, eine „Kultur
es Wortes und der Geste“ (Kaschuba 1986,483/479). Die Volkskulturperspektive,
e kaschuba bis ins 19. Jahrhundert hinein verlängerte, verließ damit die Grund-
annahmen der Alltagsforschung, nach denen auch Oberschichten über Alltag,
U Gebärden und direkte Kommunikation verfügen. Ein Grund für die Attrakti-
yität des Volkskulturmodells lag zweifellos in der Suggestivkraft des sogenannten
^ igensinns“, eine Lieblingsvokabel der Alltagshistoriker (Lüdtke 1985), die der
eiter- wie der Volkskultur eine inhärente Widerständigkeit gegen die herr-
TY«nde ^u^tur zuschreibt, eine im Alltag sich formierende und formulierende
te ^ erenZ’ em kollektives „Wir-Bewußtsein“ (Kaschuba 1986, 484). Das bevorzug-
tet aller Volkskulturtheoretiker war deshalb der Protest, dessen rituelle For-
en selbst zum Symbol wurden für die naturwüchsige Kollektivität, Traditionsge-
enheit und insbesondere Lebendigkeit der hypostasierten Volkskultur.
E
daß rarCn V°r a^em volkskundliche Kritiker, die darauf aufmerksam machten,
Jer ein Mythos gesponnen wurde, denn bereits die Volkskultur der frühen
^-tWar aus hochkomplexen gesellschaftlichen Entwicklungen erwachsen und
der W§en keineswegs herrschaftsfrei, wie die Frauenforschung zeigte. Insbeson-
^ °hgang Brückner (1984) wies sehr genau nach, daß mit dem magischen Hei-
Wu^Muos ein historisches Interpretament des Protestantismus übernommen
L r e Unc^ daß die Buntheit der Volkskultur ein Ergebnis perspektivischer Bre-
Jacolf611 ^ ^Cr historischen Rückschau war. Konrad Köstlin (1984) und Wolfgang
gen^w^ ^aC°^)e^t 1986) schließlich zeigten, daß gegenreformatorische Strömun-
Vo,-lea-h später territoriale Obrigkeiten gezielt auf die Herausbildung von
da ‘ ^ tUr Un<^ Molksidentität einwirkten. Einigkeit herrschte bei allen Kritikern
cjei.ln’ a^ es sich bei der Kultur der Eliten auf der einen und der Volkskultur auf
vi lf n, eren beite um interdependente Teil-Kulturen handelte, zwischen denen es
ve ]• r ormen der Vermittlung gab, die keineswegs nur monolinear und einseitig
zu fC en Un<^ aUC^ n^c^lt ausschließlich unter dem Begriff der Sozialdisziplinierung
nü h$en Sln<^' Obwohl Hermann Bausinger die Bezeichnung Volkskultur als
ters C, te.rnen bammelbegriff“ für alle vorindustriellen „Muster, in denen sich Un-
lc ten ausdrücken“ (Bausinger 1987a, 44), akzeptieren mochte, war nicht zu
Carola Lipp
übersehen, daß Volkskultur als Beobachtungsgröße letztlich eine Einheit produ-
zierte, die die Tiefenschärfe, die die Volkskunde in der historischen Analyse von
Sozialstrukturen in den letzten Jahrzehnten gewonnen hatte, wieder verwischte.
Der Alltag ist nicht frei von Mythen. Bereits bei Lefebvre erscheint der Bauer, der
angeblich in einer „ungeteilten Welt“ lebte, als Vehikel der Zivilisationskritik. Ina-
Maria Greverus hatte schon 1983 vor einer gewissen Tendenz zum Nostalgischen
gewarnt, und Gottfried Korff stellt 1989 fest: „Von den neuen Volkstümlern wird
genau das im Volk und seiner Kultur gesucht, was es nach Bausinger gar nicht in
dem Maße hat: Stabilität, Harmonie und Eigensinn“ Qeggle et al. 1986, 17). Daß
der Volkskulturbegriff dennoch in neueren volkskundlichen Publikationen ver-
wendet wird, erscheint mehr als unglückliche Hommage an die Tradition und Ge-
schichte des Faches. In der Festschrift für Hermann Bausinger „Volkskultur in der
Moderne“ ist zwar die Anlehnung an dessen bekanntes Buch „Volkskultur in der
technischen Welt“ (1961) zu erkennen, aber bis auf Wolfgang Kaschubas Darstel-
lung der Diskussion um Alltags- und Volkskultur in der Geschichtsforschung kein
schlüssiges Konzept zu finden, im Gegenteil eher mahnende Worte angesichts der
unverhofften Wiederkehr des Volksbegriffs. Auch in der 1988 erschienen Fest-
schrift für Günter Wiegelmann mit dem Titel „Wandel der Volkskultur“ ist wenig
Grundsätzliches zum Volkskulturbegriff zu finden, sieht man von Wolfgang
Brückners Artikel (1988) über die „ideologischen Wurzeln“ des Begriffs ab. In
Münster wurde die Fachentwicklung quasi ausgesessen, denn die Seminar-Reihe
hieß schon immer „Beiträge zur Volkskultur“ und war nun nach langen Jahren des
Ausharrens plötzlich wieder im Aufwind des Zeitgeists. Interessanterweise ist
Wolfgang Kaschuba, der das Volkskulturkonzept in der Volkskunde mit verbreitet
hat, als einer der ersten wieder davon abgerückt, indem er seinen für die „Enzyklo-
pädie deutscher Geschichte“ konzipierten Band, der „Volkskultur“ heißen sollte,
mit später Einsicht in die komplexe soziale Schichtung der Gesellschaft des 19. und
20. Jahrhunderts schließlich „Kultur und Lebenswelt der unterbürgerlichen
Schichten“ (Kaschuba 1990) nannte.
Was trotz nachlassender Konjunktur des Volkskulturkonzepts überlebte, war
indessen eine verklärende Perspektive auf die Widerständigkeit von Unterschichts-
und Arbeiterkultur, die vor allem die volkskundliche Arbeiterkulturforschung der
Gegenwart fast wieder in die Nähe von Reliktforschung rückte. Obwohl z.B. so-
ziologische und historische Analysen (Mooser 1983, 300) für die Nachkriegszeit
von einer Erosion der klassischen Arbeitermilieus und einem Bedeutungsverlust
ihrer zentralen Sozialisationsagenturen (Betrieb, Wohnumwelt, Vereine und Partei-
organisationen) sprechen und zeigen, daß an die Stelle kollektiver Identität und tra-
ditionellen proletarischen Lebenszusammenhangs eine Pluralität individueller Le-
bensentwürfe getreten ist, hält die Volkskunde hartnäckig an der Idee von
„Habitus- und Mentalitätskontinuitäten“ fest, die angeblich „das Ende der tradi-
tionellen Arbeiterbewegung und ihrer Kultur überlebt haben“ (Kaschuba 1991b,
11). Wo soziologische Theoretiker von Enttraditionalisierung sozialer und politi-
scher Bindungen (u. a. Bedeutungsverluste der Arbeiterorganisationen im Lebens-
22
Alltagskulturforschung im Grenzbereich von Volkskunde, Soziologie und Geschichte
Zusammenhang) und von Individualisierung als leistungsgeprägter Entscheidung
über Lebenschancen im Bereich von Bildung und Lebensstil sprechen (Beck 1986),
Postulieren Volkskundler ein „demonstrativ betontes ,Anderssein der Arbeiter
(Kaschuba 1991 b, 50). Winzigste Anzeichen einer differenten Selbstwahrnehmung
werden zu einer „im proletarischen Lebensstil ... habitualisierten Gesellschafts-
kritik“ (ebd., 50) umgemünzt.5 Zum residualen Merkmal der Arbeiterkultur als
»Produzentenkultur“ wird in dieser Interpretation dann die Körperlichkeit der
Arbeit und des Sozialverhaltens, d.h. der kumpelhafte Umgang der Kollegen im
ßctrieb. Männerspezifische Verhaltensweisen und schlichte Lormen der „proletari
sehen Kollegialität“ (Kaschuba 1991b, 43/45) stilisiert man zum Kern einer
schichtspezifischen Kultur, die offensichtlich keine Frauen und kein Leben außer-
halb des Betriebs kennt. Männermythen, politisch nostalgische Interpretameme
und einseitige Perspektiven der frühen Arbeiterbewegungsforschung diskreditier-
ten damit, gewollt oder ungewollt, auch die Alltagskulturanalyse.
Offensichtlich ist es jene thematische und theoretische Engführung und weni-
ger das von Soziologie und Geschichte diagnostizierte Ende einer spezifischen hi-
storischen Phase der Arbeiterkultur, das die Arbeiterforschung im Moment als
auslaufende Forschungsrichtung erscheinen läßt. Sichtbar wurde die Sinnkrise an
der 1992 gescheiterten Bremer Tagung und am mangelnden Interesse an der kurz-
fristig nach Bamberg verlegten Veranstaltung. Dabei zeigten sich in Bamberg wie
auch schon in Tübingen 1990 durchaus vielversprechende inhaltliche Neuorientie-
rungen. Arbeitsweit erscheint heute als wichtiges, aber nicht mehr zentrales Seg-
ment der Alltagskulturforschung, die sich immer mehr der Analyse von Lebenssti-
^en> Interaktionsformen und Milieus zuwendet. Darüber hinaus zeichnet sich eine
zunehmende Einbeziehung nichtproletarischer Gruppen und mterethnischer Fra
Prellungen ab. Es sei deshalb vorsichtig gefragt, ob sich die Kommission Arbeiter-
kultur nicht partiell von ihrer spezifischen Klientel lösen und für alle Aspekte der
historischen Alltagskultur öffnen sollte. Die Sensibilität für Gruppenbildungspro-
zesse und kulturelle Konflikte in der Moderne muß darüber nicht verloren gehen,
sondern kann sich im Gegenteil differenzierter entwickeln.
A//tegskulturforschung und das Problem des Kulturbegriffs
Wie die Forschungen zur Arbeiterkultur zeigen, ist eine Analyse des Alltags
Star abhängig von dem jeweils verwendeten Kulturbegriff. Ob ich von einer au-
c 'Tonen zweiten Kultur ausgehe, von einem im Alltag erzeugten gemeinsamen
5 Als Beleg dient dann ein Umfrageergebnis von Elisabeth oe - ökonomische Verteilung des
dem diese feststellte, daß die Zahl der männlichen Ar eiter, ie kt empfanden, von 51
wirtschaftlichen Besitzes in der Bundesrepublik Deutschlan a s u g Obwohl der
Prozent im Jahr 1953 auf 62 Prozent im Jahr 1978 gestiegen war ( Benachteiligung“ von
Verfasser keinen Hinweis darauf hat, ob dieser Eindruck der „systerm istanzierung benutzt“
den Arbeitern zur „Bestätigung von sozialer Zusammengehörig ei o .
wurde (ebd. 50), sieht er darin ein Indiz für „eine proletarische Forma i P
Carola Lipp
kulturellen Horizont oder von konflikthaften Beziehungen in einer „gemeinsa-
men Kultur“ (Williams 1977), macht eine erhebliche Differenz. Einerseits stellt die
Alltagsgeschichte (in Anlehnung an die französische Geschichtsschreibung der
„Annales“) den Anspruch auf eine „histoire totale“, die „die Gesamtheit aller un-
mittelbaren Gegebenheiten, Wahrnehmungen und Handlungen des Menschen“
(Niethammer 1980, 233) im alltäglichen Lebenszusammenhang beschreiben will,
andererseits offenbart die Tatsache, daß ihr Gegenstand meist in Reihungen wie
„die soziale Lage der Menschen, ihre Wohnsituation, ihre Familienverhältnisse, ihr
Lebenslauf, ihre Freizeit“ usw. (Borscheid 1987, 79) beschrieben wird, gewisse
Konzeptualisierungsprobleme. Die Schlüsselfrage einer Kultur- wie Alltagsge-
schichte bleibt so, wie sich alltägliche Erfahrungen und alltägliches Handeln zu
den sozialen und materiellen Strukturen des Alltags verhalten und wie beide ver-
mittelt sind. Die Sozialhistoriker behelfen sich hier gewöhnlich mit dem Verweis
auf die Webersche Trias von „Herrschaft, Ökonomie und Kultur“ (Kocka 1986),
während volkskundliche Kollegen sich teilweise darauf zurückziehen, den Kultur-
begriff zum Problem der Kulturphilosophie zu erklären. „Kultur als Forschungs-
feld zu begreifen“, schreibt z.B. Helge Gerndt 1981, „verlangt nicht, Kultur zu defi-
nieren“ (S. 12f.), es genügen letztlich „lockere Umschreibungen für Arbeitsfel-
der“. In seinem Buch „Kultur als Forschungsfeld“ beschreibt er Volkskunde als
empirische Wissenschaft, deren „Gegenstandsbereich im alltäglichen Lebensvoll-
zug .. . der unteren und mittleren Sozialschichten von Bedeutung ist und sich for-
mal in Mengen- statt in Einzelphänomenen äußert“ (ebd. 12 f.), deren Wandel und
„funktionale Bezüge“ dann untersucht werden.
Im Unterschied zu diesem naiven Empirismus der frühen Alltagsforschung wer-
den heute in Volkskunde, Geschichte und Alltagssoziologie differenziertere Kul-
turtheorien bevorzugt, die in der Lage sind, die Komplexität der Alltagswelt analy-
tisch zu fassen. Wie ein Kulturbegriff der Volkskunde aussehen könnte, hat typi-
scherweise ein Kultursoziologe (allerdings in der „Zeitschrift für Volkskunde“)
formuliert: Rolf Lindner skizziert einen ganzheitlichen Kulturbegriff, der zu-
gleich Raum läßt für soziale Differenzen. Lindner versteht „Kultur als ein Ensem-
ble von tradierten Werten, normativen Orientierungen und sozial konstituierten
Deutungs- und Handlungsmustern, als ein Ensemble von Dispositionen, Kompe-
tenzen und Praktiken, mit dessen Hilfe soziale Gruppen ... (mit ihren) natürli-
chen und gesellschaftlichen Existenzbedingungen in einer Weise zurechtkommen,
die eine Eigendefinition gegenüber diesen Bedingungen erlaubt (d. h. ... sinnstif-
tende Selbstverortung) und eine distinkte Position ermöglicht gegenüber anderen
sozialen Gruppen“ (Lindner 1987, 8). Eingearbeitet in diese Definition ist die Kul-
turtheorie Pierre Bourdieus, die sowohl einen auf symbolisches Handeln bezoge-
nen kulturanthföpologischen Ansatz als auch das Webersche Konzept der differie-
renden Partizipationschancen und die marxistische Vorstellungen der Wechselwir-
kung von ökonomischen Bedingungen und Bewußtsein zu integrieren vermag.
Objektive Strukturen (Sprache, Ökonomie etc.) sind nach Bourdieu ein histori-
sches Ergebnis kulturellen Handelns und reproduzieren sich durch gesellschaftli-
24
Alltagskulturforschung im Grenzbereich von Volkskunde, Soziologie und Geschichte
che Praxis, ebenso wie sie umgekehrt (als inkorporierte Praxis) kulturelles Han-
deln strukturieren. Die „Welt des Alltagsverstands“ (Bourdieu 1987,108) bedarf ei-
nes subjektiven Systems dauerhafter und übertragbarer verinnerlichter Strukturen,
Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsschemata, die das geschichtliche Ergebnis
alltäglicher Erfahrung und Handelns sind (und damit auch Ausdruck inkorporier-
ter objektiver Struktur).
iese verinnerlichten kulturellen Regelsysteme, die Bourdieu Habitus nennt,
Sln allen Mitgliedern einer sozialen Gruppe gemein, d. h. sie ermöglichen es ih-
und'S1C^ ^ ^Cr ^ese^sclia^t:llclien Praxi5 symbolisch gegenüber anderen zu äußern
. verstanden zu werden. Handlungen erhalten durch diese Form der Intersub-
ivitat einen „objektiven Sinn“, der über sie hinausreicht. Erst die Einheit von
ten lscltem und objektiviertem Sinn ermöglicht routinemäßiges Alltagsverhal-
er Alltag ist so die praktische Probe auf das verinnerlichte kulturelle Regelsy-
'jtem. Alltagsforschung untersucht demnach die symbolischen Formen des Han-
und d^e<^eutun§s§ePecllt uncl dte sozialen Beziehungen, die sie konstituieren,
d u m ^stematik, die diesem Zusammenhang zugrunde liegt. Der Habitus wird
a]CS a ° °ft vereinfachend als die „Grammatik kulturellen Handelns“ oder präzis
ah.—-U„,Ho1n nnH Alltagsdenken bezeichn«
al^halb °^t Vereln^achend als die „Grammatik kulturellen Handelns oaer praz-isci
de Semantlsche Tiefenstruktur von Alltagshandeln und Alltagsdenken bezeichnet;
theoentSPreChende BegHff in der Ethnométhodologie und soziologischen Alltags-
Br°u f6- W^rC Alltagswissen. Als Synthese öffnet das Bourdieusche Konzept den
t Ur.eine sozlal differenzierende kulturhistorische Betrachtungsweise und bie-
j § eich einen Ansatz für eine poststrukturale und dekonstruktivistische Ana-
e e ensweltlichen Denkens und Handelns bzw. deren sprachlicher Struktur.
^ ist keineswegs das Ende des Alltags angesagt, aber möglicherweise der Be-
schu 61ner ^omplexeren kulturwissenschaftlichen und kulturhistorischen For-
yng, die zwangsläufig interdisziplinär sein muß. Ob der Volkskunde darin die
ver 6 6^ner »heimlichen Schlüsseldisziplin“ zukommt, wie Rolf Lindner (1987)
’ °der a^s »Sammelstelle“ nur das Kehrichtfaß oder der Müllcontai-
tur T muB ^ Praxis zeigen. Daß die Volkskunde auf dem Weg zu einer Kul-
gesc ichtsschreibung sei, hat bereits 1979 Martin Scharfe prognostiziert.
Mit der Alltagsgeschichte ist eine Disku^°‘¿g^Jahre^beendet schien. Was
zumindest als historische Debatte vor run Kulturgeschichte“ schrieb, liest
Eberhard Gothein damals „über die Aufga e e Handlungen hat die
sich für Alltagshistoriker sehr modern:
Geschichte darzustellen, also muß sie vor allem zum ^ d spätere
Menschen führen“ (Gothein 1889, 7). Gothein, der Ddtheyschuler ^ ^
Nationalökonom, sieht Staat und Gesellschaft nicht. & ^ erster Linie ¿[e
sondern als kulturelles Teilsystem. „Die Kulturgesc ic te s wert“ Gothein
wirkenden Kräfte ... das Geringste ist ihr gleich dem Großenwe*•
verwahrt sich deshalb dagegen, daß der Kulturgeschichte lediglich A
faß und die Rumpelkammer“ (Gothein 1889, 13) als Aufgabengebiet zuge
wird.
25
Carola Lipp
Das Ende des Alltags in Museum und Wissenschaftf
Interessanterweise sieht sich die moderne Alltagsforschung heute mit durchaus
ähnlichen Problemen konfrontiert, vor allem wenn es darum geht, Alltag im Mu-
seum zu präsentieren. Die Forderung nach Alltagsnähe und Alltagsbezug hat in
den letzten Jahrzehnten fraglos die museale Landschaft wie auch die Sammlungs-
und Ausstellungspraxis verändert. Es wurden nicht mehr nur herausragende Ein-
zelstücke nach den Kriterien des historischen Dokumentarwerts, nach Form und
Qualität gesucht, sondern die Museumsarbeit zielte auf geschlossene Ensembles,
auf die Darstellung von Räumen und ganzen Lebenswelten (Korff/Roth 1990). Der
Museumsbesucher sollte bei seiner eigenen Alltagserfahrung abgeholt werden und
als Betrachter in die Lage versetzt werden, historische Lebensformen und ihre sozio-
ökonomischen und kulturellen Kontexte zu erkennen und, wenn möglich, auch
Verbindungen zu seiner eigenen Lebenssituation ziehen lernen (Kuhn/Schneider
1978; Scharfe 1982). Abgesehen von der aus diesem Ansatz resultierenden Verschu-
lung der Museen war ein ungewollter Effekt der Alltagsorientierung eine gewisse
Normierung von Museumsstil und Ausstellungskonzepten. Jedes volkskundliche
Museum hat inzwischen seine mehr oder weniger naturalistisch eingerichtete Ar-
beiterwohnküche als lebensweltliche Inszenierung und eine Werkstatt mit De-
monstrationsmaschinen, die Einblick geben sollen in historische Arbeits- und Le-
bensverhältnisse. Egal ob die Museen den Blick in Kontore und Fabriken, in Labo-
re oder Schlafzimmer freigeben, die Perspektiven und Arrangements ähneln sich
oft wie ein Ei dem anderen; Differenzen gibt es lediglich in den Präsentations-
techniken, beim Design und Einsatz von audiovisuellen Medien oder darin, wie
der Besucher einbezogen wird. Indem der Alltag massenmediale Alltagsbedürfnis-
se ins Museum führte, entstand eine merkwürdige Form virtueller Realität, hin
und wieder auch alltagshistorisches Disneyland. Alltagskultur als das Durch-
schnittliche, das Gewohnte hat mancherorts Durchschnitt und Gewöhnung im
Museum produziert. Selten gelingt es, historische Erfahrung zu vermitteln,
ohnehin tut sich die Museologie als Objektwissenschaft mit der Subjektseite der
Alltagserfahrung schwer, aus durchaus einsehbaren Gründen, denn die Medien der
Vermittlung sind nun einmal verschieden.
Als Reaktion auf diese Entwicklung zeigen sich zur Zeit im Museumsbereich
zwei Tendenzen: einmal der stärkere Einsatz von audiovisuellen Medien, zum an-
deren ein Trend zurück zum einzigartigen, herausgehobenen Objekt und seiner
unverkennbaren Aura. Authentizität und Singularität gewinnen wieder einen eige-
nen Wert gegenüber den Zusammenhängen offenlegenden Inszenierungen. Hinzu
kommt, daß im gesellschaftlichen, aber auch wohl im wissenschaftlichen Alltag
die Faszination des Alltäglichen als Fokus kultureller Erfahrung verblaßt und ei-
ner gewissen Ermüdung gewichen ist. Angesichts eines ökonomisch und politisch
zunehmend unsicherer und grauer werdenden Alltags wächst „die Aktualität des
Ästhetischen“ (so der Titel eines großen postmodernen Kulturzirkus in Hannover
1992) und damit offensichtlich das Bedürfnis nach dem „Erhabenen“, nach einem
sich von den Niederungen des Alltags absetzenden kulturellen Erlebnis. Im Kul-
26
Alltagskulturforschung im Grenzbereich von Volkskunde, Soziologie und Geschichte
turbetrieb zeigt sich eine durchaus bedenkliche Entwicklung zur bürgerlichen
Hoch- und Luxuskultur, die möglicherweise den Alltag wieder zur quantité nég i-
geable werden läßt, die er einst war. „Was kommt nach der Alltagsgeschichte?
hieß typischerweise das Thema einer Podiumsdiskussion auf dem Historikertag
irn September 1992, und im Oktober fragten sich die Museumsleute der „Arbeits-
gruppe kulturhistorische Museen in der Deutschen Gesellschaft für Volkskunde ,
°t> „Alltagskultur passé?“ ist. Es sieht so aus, als ob ein neuer Abschied anstehe,
wenn es nicht gelingt, der Verdoppelung von Wirklichkeit und manchem naiven
Naturalismus zu entkommen. Alltagsdarstellungen im Museum wie in der Wissen-
schaft dürfen nicht beim bloßen Rekonstruieren und Abbilden stehenbleiben.
Ohne Struktur und Sinn, ohne die symbolischen Dimensionen und auch Mystifi-
kationen, die das wechselnde Gesicht des Alltäglichen bestimmen und seine Kom-
plexität ausmachen, muß Alltagsdarstellung im Museum öde bleiben. Dabei er-
laubten gerade die Routinisierungen der Alltagswahrnehmung museale Brechun-
gen und ein Vordringen zur Struktur und Dekonstruktion alltäglicher Sinngebung,
die bisher in Ansätzen allerdings nur in wenigen Museen (Mannheim, Essen) ge-
lungen scheinen. Auch die Aufgabe der Dokumentation der modernen Alltags-
Welt ist bis jetzt wohl eher ein Desiderat, als daß sie sich in einem Stadium befände,
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werden könnten.
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English Summary
LlPP: Research on The Culture of Everyday Life in The Interface of Folklore, So-
C1° and Flistory. The Rise and Decline of an Interdisciplinary Research Paradigm.
^nce the seventies, the concept of everyday life has emerged as a central research para-
an'j11 °f Modern Folklore and often is used synonymously with the paired terms of culture
Way of life. Everyday life as a concept evolved from sociological phenomenology and
st a^C1St cu^tura^ critique. The essay pursues the discussion and development of everyday life
suit 1Cf m ^erman Folklore, the methodological implications of this approach and, as a re-
t- 1 lkose, its emphasis on subject-centered lines of inquiry and interactive research set-
^ x comParlson of Folkloric everyday life studies with studies in the history of the
diffU ‘an> as they are conducted in the German history workshop movement, also reveals
tjit>erences 1° the styles of science cultures and practices. In conclusion, the essay addresses
^JVeaknesses of the everyday life concept in regards to cultural theory and exposes where
c gone wrong or arrested further inquiries, such as in the cases of a revival of the dichoto-
stvrS cukure in the concept of „Volkskultur“ or the one-dimensional and highly
1Ze rcPresentation of everyday life in museums.
33
Punk, Randale, Prügelei:
Zur Gewalt der Jugendlichen
Von Ronald Lutz, Münzenberg
Gewaltbereitschaft, eine ungeklärte These f
Jugendkulturen befinden sich wieder einmal im Rampenlicht des öffentlichen
Interesses, besonders jene, denen man Gewalttätigkeit prinzipiell unterstellt:
Punks, Skinheads, Hooligans und multikulturelle Jugendbanden. Sie gefährden die
Ordnung, sorgen für Chaos und erzeugen Angst. Kripo-Fachleute, Politiker und
Medien beklagen sowohl eine quantitative Steigerung als auch eine Zunahme der
Gewaltbereitschaft. Nach Einschätzung der Polizei ist die Hemmschwelle zur An-
wendung brutaler Mittel bis hin zur Tötung deutlich niedriger geworden; immer
mehr Jugendliche rüsteten sich mit Schlagwerkzeugen und Schußwaffen aus (taz,
15. 5. 1991). Gewalt, so der Tenor der Sozial Wissenschaftler, stelle eine Antwort
der Jugend an die Gesellschaft dar, an eine „Ellbogengesellschaft“, die ihnen weder
Chancen noch Plätze lasse (Bock u. a. 1989). Zweifelsohne gibt es enge Zusammen-
hänge zwischen einer Konsumgesellschaft, die Anerkennung, Zugehörigkeit und
Identität vom Geld abhängig macht, und einer zunehmenden Gewaltbereitschaft
junger Menschen. Auch gibt es eine Verbindung zwischen Anonymität, Beton,
Wohnungsnot, Arbeitslosigkeit und Gewalt. Der Sozialpsychologe Heiner Keupp
hat dies durchaus treffend beschrieben: „Ein Teil der Jugend hat keine Chance, ei-
ne positive Identität zu entwickeln. Es entstehen Löcher, und der Fußballbereich,
und noch stärker der Rechtsradikalismus, liefern sozusagen Plomben für diese Lö-
cher. Sie liefern fertige Pakete ...“ (zit. in Pilz 1992, 38).
Diese Zusammenhänge sind, insbesondere von der Fan- und Jugendforschung,
in vielen Projekten durchleuchtet und auch theoretisch hinterfragt worden (Heit-
meyer/Peter 1988; Bock u.a. 1989). Ich will dem keine weitere Detailstudie anfü-
gen, die ohnehin nur Bekanntes bestätigen würde. Ich will vielmehr einigen
Aspekten der seitherigen Diskussion, die entweder am Rand oder lediglich kurso-
risch erörtert wurden, etwas intensiver nachgehen. Damit verbinde ich die Hoff-
nung, die angebliche Gewaltbereitschaft junger Menschen neu und anders zu
beleuchten, um das vorschnelle Urteil der Öffentlichkeit, jeder Punk, Hool oder
Skinhead sei von Grund auf ein verbrecherischer Gewalttäter, in einem anderen
Licht zu betrachten. Die Aspekte, denen ich nachspüren will, springen dem Kul-
turanthropologen, der diesen Phänomenen sein Interesse widmet, förmlich ins
Auge.
Elemente der Fußballrandale
Zu einer echten „Fußballrandale“ gehören viele Elemente; „wir prügeln uns
nicht immer, wir feiern auch zusammen“, äußerte ein Hooligan im Sportstudio
34
Punk, Randale, Prügelei: Zur Gewalt der Jugendlichen
!^S ^DF (Sendung vom 20. 6. 1992). Thomas Gehrmann schildert in seinem Buch
^ er die Fußballfans die Vielfalt der Randale: „Die Kumpels viele Stunden vor
em Spiel treffen, rumstehen und trinken und schwätzen, die Gegner erwarten,
Stadt ziehen und die Gegner suchen, die Gegner finden, dann werden
potziich die Sekunden lang, aufeinander zugehen, zurennen, zuschlagen, treten,
teine fliegen und Leuchtkugeln, die Polizei kommt angestürmt, abhauen, es noch-
c versuchen, und so weiter und so fort. So viele Elemente, so viele Gefühle -
Paß ist eines davon.” (Gehrmann 1990, 11.)
Solche Schilderungen sind von Spaß und Abenteuer, von Spiel und Spannung
cnzogen, Gewalt ist darin nur das Mittel zu einem viel tiefer liegenden Zweck:
etWas Zu erleben. Das hat auch die Fan-Forschung in Ansätzen herausgearbeitet; sie
Unterscheidet zwischen konsumorientierten, fußballzentrierten und erlebnis-
°rientierten Fans (Heitmeyer/Peter 1988; Pilz 1992). Die letzteren sind dabei die
ündnt^C^en ^0°Fgans, iene Schreckgespenster der biederen Bundesligabesucher
n der Regenbogenpresse. Sie stammen entgegen anderslautenden Ansichten
, . nur aus der Unterschicht, sie setzen sich vielmehr aus nahezu allen Sozial-
sten zusammen; ihre aktivsten Gruppen rekrutieren sich dabei nicht selten
^US er °beren Mittelschicht (Pilz 1992). Während der Woche Lehrling in einer der
e^ten Banken am Ort, am Wochenende der mutigste unter den Sich-Prügelnden;
k ne Sojche Kombination ist öfter anzutreffen. Die meisten dieser Jugendlichen ha-
en offensichtlich zwei Identitäten: eine bürgerlich-angepaßte Alltags-Identität
eben ihre sub- oder jugendkulturelle Fan- und Hooligan-Identität (Pilz 1992).
Pj Zeitungsbericht über „die intelligenten Idioten“, die vom Präsidenten des
k eu^ScBen Fußballbundes, Neuberger, auch als „notorische, wandernde Chaoten“
k Z?1,C^net werden, beginnt so: „Sie tragen sündhaft teure Turnschuhe und Mar-
amotten, duften nach edlem Parfüm und sind modisch rasiert. Sie tun cool,
F' l lnte^§ent und haben ihre eigene Weltanschauung: den Hooliganismus. Der
}e ■ mit Fäusten und Füßen gegen Anhänger anderer Vereine, die das auch wol-
ist ihr Ziel.“ (FR, 12.11. 1990.) Der wahre Hooligan prügelt sich eigentlich nur
Ve ^er ^as auch will- Bei den olympischen Spielen gab es für ein solches
ten sogar Goldmedaillen. Zum Hooliganismus gehört ein regelrechter
auch ext<> Ber besagt: Wenn einer am Boden liegt, ist er für die anderen „out“,
ve .. teine> Messer und Flaschen sind im Waffenarsenal eines „guten Hooligans“
P°nt, Boxen nur mit den Fäusten heißt das Motto (Die Welt, 20. 2. 1991).
nt euer und Erlebnis
Spiels1" Fanf°rScher Gunter Pilz ist davon überzeugt, daß der Hool nicht wegen des
ger.. S/ns Stadion geht, sondern wegen der Atmosphäre und der Möglichkeit, seine
^eshalt)1SSe nac^ Spannung, Abenteuer und Risiko auszuleben (Pilz 1992). Es liegt
^as ib na^e’ diesen Aspekt einmal etwas genauer zu betrachten. Auf die Frage,
schl-1^ a^S Fußballfan dazu treibe, sich zu prügeln, antwortete ein Hooligan
t- »Erlebnishunger“ (FR, 29. 8. 1988). Ein englischer Polizeioffizier, der für
35
Ronald Lutz
Jugendbanden zuständig ist, äußerte in einem Interview auf die Frage nach den
Gründen für die jugendlichen Bandenbildungen: „Weitere wesentliche Gründe für
die Bandenbildung sind die Langeweile der Jugendlichen und daraus resultierende
Abenteuerlust, sowie Frustration, die mit dem Gefühl von Unterlegenheit ver-
knüpft ist.“ (taz, 8. 3. 1990.) Es ist ein „Räuber- und Gendarm-Spiel“ mit hoher
Risiko- und Gewaltbereitschaft: „Risiko macht Spaß“, äußert ein 14jähriger:
„Schaff ich den Feind, oder schafft er mich“; gesteigert werde dies noch durch ein
unbeschreibliches Gefühl der Freiheit, der Befreiung von alltäglichen Lasten:
„Man fühlt sich freier, wenn man anderen Angst einjagen kann“ (Die Welt, 20. 2.
1991).
Die Jugendlichen erleben so das Gefühl, endlich einmal Macht zu haben, etwas
selber zu tun und nicht immer nur beherrscht zu werden bzw. sich zu beherr-
schen. Sie „spielen“ das „Abenteuer Großstadt“ mit allen Registern, zu denen sie
fähig sind: In der Fan-Gruppe herrscht eine Stimmung, die zwischen Jahrmarkt
und Heerlager“ schwankt, eine „Wahnsinns-Spannung“ baut sich auf, die „kaum
auszuhalten“ ist, ein „atemberaubendes“, ein „beeindruckendes Schauspiel“
bringt jene „Faszination“, die im trüben Alltag unmöglich ist. Eine solche Schilde-
rung läßt sich durchaus aus vielen Berichten von Fans, Skinheads oder Jugendgrup-
pen herauslesen.-Es entstehe eine Wirklichkeit jenseits der Wirklichkeit, behaup-
tet der schon zitierte Thomas Gehrmann, eine Wirklichkeit, die jene Lebendigkeit
enthält, der man ansonsten nicht teilhaftig wird. So sei allein schon die Vorstel-
lung, daß man sich mit den feindlichen Fans schlagen werde, berauschend; auch
wenn es dann nicht geschehe, habe man dennoch etwas erlebt, das Gefühl nämlich,
es hätte passieren können (Gehrmann 1990). „Das ist meine Freizeitgestaltung-
Andere gehen Tennisspielen. Ich boxe mich mit anderen Hooligans“, äußert ein
Hooligan völlig selbstbewußt. Und was unterscheidet ihn eigentlich von dem Ten-
nisspieler? Was passiert in all dieser Randale? Was heißt das: „Spaß haben“, „Aben-
teuer Großstadt spielen“ oder „sich den Atem rauben zu lassen“? Die Aussage
eines anderen Hools gibt nähere Auskunft: „Wenn man im Dunkeln durch den
Wald rennt, über Zäume und durch Gärten, und die anderen jagt, und die Polizei
ist hinter einem her, das ist phantastisch, da vergißt man sich“ (zit. in Pilz 1992,
37 f.).
Sich vergessen heißt: versinken, abtauchen, sich verlieren. Ein Zeitungsartikel
aus der „Rundschau“ trug den Titel „Schlagen macht high“, darin wird ein Fan zi'
tiert, der genau dies als seine Motivation äußerte (FR, 7. 6. 1990). Bei Gehrmann
finden sich Aussagen wie diese: „... das ist, wie wenn du einen Stecker in die
Steckdose steckst, und auf einmal geht das Licht an. Wie wenn du einen Schaltet
reindrückst. Da hält dich nix mehr, und da denkst du auch nichts mehr. ... Das
Schlimme ist halt in dem Moment, wo du ausflippst, wo Totenstille im Kopf ist,
wo du echt nichts mehr überlegen kannst.“ (Gehrmann 1990, 15 f.)
Totenstille im Kopf und ausflippen, aufgehen in der Aktion des Rennens und
Prügelns: das erinnert fatal an die Äußerungen von Tennisspielern, MarathonläU'
36
Punk, Randale, Prügelei: Zur Gewalt der Jugendlichen
^ern oder Bergsteigern, die im Moment der höchsten Belastung an nichts mehr
^nken, nur noch Körper und Bewegung sind, in einer schieren Lust vergehen. Sol-
c e Phänomene werden in der Psychologie und neuerdings auch in der Sportwis-
senschaft mit dem vielsagenden Begriff „Körper-Selbst-Harmonien“ beschrieben;
^er Akteur gehe in seiner Bewegung auf, sei letztlich nur noch diese, von der Au-
enwelt nehme er nichts mehr wahr und empfinde ein unbeschreibliches Glücks-
§e ühl (Rittner 1986). Der „Stecker“ steckt eben „in der Steckdose“, und im Hirn
lst »Totenstille“!
Diese Körper-Selbst-Harmonien hat als erster Csikszentmihalyi, ein amerikani-
er Forscher, beschrieben, seitdem spricht man auch vom „flow-Erlebnis“, vom
leihen und Zerfließen des Körpers in einer Aktion (Csikszentmihalyi 1985), die
tztendlich eine eigene Wirklichkeitsebene darstellt, aus der heraus vorüberge-
end subjektive Authentizität, die Wahrhaftigkeit subjektiver Wirklichkeit emp-
nden wird — einer Wirklichkeit, die ganz und gar den Handlungen des Subjekts,
j6lnen Gesetzen und Regeln unterworfen ist, einer Wirklichkeit, die der grenzen-
^sen Langeweile eine begrenzte Aktivität gegenübersetzen kann. „Im Tun aufge-
^en nennt Csikszentmihalyi das Phänomenale dieser Prozesse, die für unsere mo-
erne Erlebnisgesellschaft so essentiell zu sein scheinen (Schulze 1992). Es spricht
es dafür, auch die Handlungen der Hooligans und anderer gewaltbereiter Grup-
Pen zusätzlich zu den schon bekannten Aspekten auch unter diesem zu betrachten.
Slnnhchkeit und Rausch
I Jn ^en Erzählungen der Jugendlichen tauchen gehäuft Beschreibungen auf wie:
zlich, blitzschnell, umkippen, überraschend, rasend, unvorhersehbar; es sind
ynle, die eine bestimmte Zeitstruktur beinhalten, die des Momentes oder des
p ,yenbhcks (Becker 1990). Damit aber verweisen sie auf eine radikale körperliche
4—, auf eine Aktivierung aller fünf Sinne. Das Zeichen von Randale und Ge-
pj. lst auch ihre Blitzhaftigkeit, ihre augenblickliche Entfaltung, ihr Bezug auf das
Jetzt. Es wird kaum planvoll agiert, sondern zumeist blitzschnell und au-
icksbezogen reagiert. Randale und Gewalt sind „Erlebnisse der totalen Prä-
z ma Augenblick, in der unmittelbaren Gegenwart“ (Becker 1990, 157).
r Entfaltung der fünf Sinne in jedem Moment, ihre unvorhersehbare Aktivie-
im ^ Un<^ stanc%e Gefahr, in der dies aktualisiert wird, kennzeichneten schon
ITler ^en »bürgerlichen Abenteuer-Mythos“ (Eggebrecht 1985) — sei es in
^^-Sehnsüchten von Karl May oder Fenimore Cooper, sei es in Filmen voller
er^ v West"Komantik oder in mit Vorsicht zu genießenden Berg- und Eisabenteu-
Pk- a 3 . *nhold Messner. Die entfaltete Sinnlichkeit der fünf Sinne steht in diesen
selblntasien für die wahre Natur des Menschen; in ihnen zu leben heißt: mit sich
ei ^ ZU ^e^en’ der eigenen Natur vertrauen zu können (Eggebracht 1985,13). Der
als 8 ^nne mächtig ist man seines Leibes gewahr; das aber meint, daß man
bleibt ^ *st und nfebt mehr als Spielball der Mächte lediglich Objekt
37
Ronald Lutz
Das Abenteuer bietet ein Feld, in dem die Sinne aktiviert werden; das Abenteu-
er besitzt den „Sog des Direkten“, es kann Intimität und reine Privatheit bedeuten,
es trägt stets Lust in sich, es ist Ausbruch, Ausfahrt, Entscheidung, Entschluß, Ge-
fahr und ungeahnte Bestätigung durch ihre Überwindung (Eggebrecht 1985, 33).
Abenteuer sind lohnend, insbesondere in einer Welt, die dem Subjekt kaum Chan-
cen zur Entfaltung läßt; das aber kennzeichnet die Lebenssituation der Jugendli-
chen: „Sie rebellieren, weil sie sonst nichts zu tun haben und etwas Spaß haben
wollen“, war kürzlich in einem Zeitungsbericht zu lesen (FR, 25. 7. 1992). „Wir
machen“, sagen Bockenheimer Jugendliche aus einer multikulturellen Gang, „alles
nur aus Langeweile, darum machen wir so’n Scheiß“ (FR, 12. 10. 1990). Gunter
Pilz zitiert einen Fan: „Die ganze Woche muß man die Schnauze halten, zu Hause
keinen Ton riskieren, im Betrieb darfste nichts sagen, dafür geht am Wochenende
so richtig die Sau ab“ (Pilz 1992, 37). Mit der Aktivierung der „Sau“, indem man
„Scheiß macht“, werden die fünf Sinne aktiv. Das aber hat etwas mit Identität zu
tun, damit, daß man „aus dem Schlamassel ’raus will, endlich etwas erleben will,
ein ganzer Kerl sein“ möchte, wie viele ihre Aktionen begründen. Der ganze Kerl
ist dabei durchaus doppeldeutig gemeint: ganzheitlich und männlich zugleich. Das
Abenteuer versetzt in Rausch und Glück, es macht Totenstille im Hirn und bringt
das unbeschreibliche Kribbeln in den Körper. Man ist ganz auf die Gegenwart, auf
den Augenblick fixiert und geht darin auf ohne jeden störenden Bezug zum Vorher
oder Nachher. *
Der gefährliche Abgrund
Das Fatale dieser Prozesse aber ist, daß die Hooligans hierzu Alkohol als Stimu-
lans benutzen und Skinheads den Juden und Ausländer benötigen, um in Rage und
Rausch zu geraten. Genau das aber bleibt im öffentlichen Bewußtsein hängen, läßt
sie in kriminelle Karrieren abdriften und Taten verüben, die in keiner Weise legiti-
mierbar sind. Doch wieviel persönliche Verantwortung tragen sie dafür?
Das Ausleben aktueller emotionaler Befindlichkeiten und Bedürfnislagen kann
man auch in anderen Jugendgruppen und Situationen beobachten: „Die aggressi-
ven, rauschhaften Praktiken der Motorradszene, die verschiedenen Spielarten der
Jugendsekten, der bewußtseinsverändernde Umgang mit halluzinogenen Drogen,
die rhythmische Beschallung durch Rockkonzerte, die traumseligen Bewegungs-
formen der Disco-Welt, die provokativen Inszenierungen der Punks, die Abschuß-
und Kriegshandlungen in Spielhallen und an Computern oder der spannungser-
zeugende Konsum des videoinszenierten Horrors, Abenteuer und Sexes“ (Becker
1990, 160). All das hat strukturelle Gemeinsamkeiten; es resultiert aus ähnlichen
Problemen der Jugend: Betonwüsten, hohe Arbeitslosigkeit bis hin zur kulturellen
Leere und tendenziellen Entfremdung vom Subjektstatus; und es sind Ausstiegs-
formen aus Ansprüchen, Kontrollen, Normen, Versagungen, Zwangsjacken und
Reglementierungen der systemisch gebrochenen Lebenswelten. Es entstehen Ge-
genräume, in denen die Gesellschaft in ihren Ansprüchen etwas gelockert ist, oder
38
Punk, Randale, Prügelei: Zur Gewalt der Jugendlichen
Werden vorhandene Räume für die eigene Bedürfnisnutzung besetzt. Das alles
a er führt nicht daran vorbei, daß der Alkoholgenuß der Fans zwar einen direkte-
ren Zugang zur Welt herstellen mag, aber letztendlich selbstzerstörerisch bleibt.
Auch Skinheads gehen auf die Suche nach Erlebnis und Rausch, man bietet ih-
nen statt des Fußballs nur eine andere Problemlösung an, die sie bereitwillig auf-
^au§en, und die sie unweigerlich in ein gefährliches Abseits führt. Doch ihre ten-
enzielle Ausländerfeindlichkeit, die in der Tat schreckliche Auswüchse zeigt, ruhf
auf einem politischen Boden, der offen über die Mißachtung der Menschenrechte
ei Asylverfahren debattiert. Ihr Verhalten wächst zudem vor einem Hintergrund,
er in seiner Brisanz vielfach versteckt bleibt: Angesichts des Sieges von Dieter
aurnann über 5000 Meter bei den Olympischen Spielen in Barcelona 1992 schrie
ein sonst sicher als untadelig geltender Erwachsener in ein Trierer Lokal hinein:
’Endlich hat’s ein Weißer den Halbaffen aus Afrika gezeigt!“ Die Suche nach
oenteuern führt die Jugendlichen an einen gefährlichen Abgrund heran, dessen
lete sie aber kaum einzuschätzen vermögen. Sie denken dabei kaum politisch, sie
ernpfinden körperlich und wollen das berühmte Kribbeln spüren.
Körper: der Träger für Widerstand
Der Körperbezug gewaltbereiter Jugendlicher ist weitaus direkter und offener
s ln ähnlich gelagerten Feldern: es hat den Anschein, „als ob sie dem Körper und
^emen Emotionen zu ihrer schieren Entfaltung verhelfen; ganz im Unterschied zu
^en bürgerlichen ,Hear me, feel me, touch me‘ -Körperthematisierungen, die mit
^°rPer nach dem Modell des distanzierenden Gesprächs in Dialog treten“
\ ecker 1990, 166). Das Unbehagen gegenüber der modernen Lebenswelt wird
j^rch den Körper geäußert, darin ähneln sich Hooligans, Skinheads oder Punks.
re Gewalt als Körperthematisierung richtet sich gegen Abstraktheit, Technisie-
rüng5 Anonymität und Unpersönlichkeit. Schließlich ist der Körper die Instanz,
I*llt bem sich auch derjenige ausdrücken kann, der nichts hat; so wird der Gewalt
^5Zeugende Körper zum Protest-, Konfrontations- und Verweigerungskörper, ist
rager für Widerstand (Bette 1989,123). Der intime Körper tritt massiv und gewal-
^g m die Öffentlichkeit, aber nicht, um gesellschaftliche Werte zu bestätigen, son-
ern Um sich zu wehren und seinen Spaß zu haben, sich seiner Sinnlichkeit bewußt
2U werden.
Diese Körperdemonstration hat gewisse Verwandtschaften: „Die einen machen
l C fkhng, die Hooligans verschaffen sich ihren Nervenkitzel, indem sie sich
ücli ^ ^tra^en Jagen interpretiert Gunter Pilz die Situation. So haben plötz-
pC ^üdwasserfahrten, Drachenfliegen, Bergsteigen, Survivalcamps oder auch
°rno-, Gewalt- und Horrorvideos mit „S-Bahn-Surfen“, dem Sprayer-Dasein, mit
dieT^’ Skinheads, Jugendbanden und Fußballfans etwas gemeinsam: es geht um
hernatisierung der Körper, um den Nervenkitzel an der Körperperipherie,
der>m Alltag verloren ging.
39
Ronald Lutz
Männlichkeit und Straße
Der ganze Kerl hat, wie gesagt, etwas mit dem Mann als solchem zu tun. Hooli-
gans befinden sich in Lebenszusammenhängen, „in denen Männlichkeits- und
Mannhaftigkeitsnormen betont werden“ (Pilz 1992, 38). Zu denen gehört nun
aber, wenn wir uns den Kulturenvergleich von David Gilmore zum Mythos Mann
zu eigen machen, Härte, Aggressivität, Mut, Risiko und auch eine gewisse Gewalt-
bereitschaft (Gilmore 1991).
Eine Mischung aus Mannbarkeitsritualen und krimineller Energie nennt Schrö-
der die Aktionen „rechter Kerle“, die er mit randalierenden Jugendlichen und Stra-
ßenbanden in Amerika vergleicht, die, typisch männlich, ihre einmal eingenom-
menen Territorien gegen andere, gegen Fremde verteidigen (Schröder 1992). Der
Skinhead fürchtet ebenfalls um sein Territorium und damit um seine Identität, die
er von Ausländern und Juden gefährdet sieht; daß ihm dabei gewisse politische
Kreise auch noch die Argumentation und damit die Motivation liefern, ist der ei-
gentliche Skandal. Skinheads greifen in ihrem Verhalten, so der Sozialpsychologe
Wirth, auf die traditionellen Wertmaßstäbe und Verhaltensformen in der Arbeiter-
kultur zurück; diese aber sind geprägt von männlicher Dominanz und männlicher
Härte (Wirth 1990). Als Mann muß man sich beweisen und die eigenen Lebensfor-
men gegen alles Fremde und gegen alle Angriffe von außen verteidigen; ein Verhal-
ten, das der Ethnologe Klaus Müller als das kulturelle Drama des Mannes be-
schreibt (Müller 1984). So identifizieren sich die männlichen Jugendlichen in der
Skinhead-Szene völlig unhinterfragt mit konservativ-reaktionären Wertorientie-
rungen, die ihnen gewissermaßen als Paket für die drohende Identitäts-Leere ange-
boten werden, und finden ihre Bestätigung, ihr Abenteuer und ihren Rausch darin,
ihren Rassismus mit der nur möglichen Gewalt und Härte zu betreiben.
Der schon mehrfach zitierte Thomas Gehrmann schildert, wie selbstverständ-
lich der von ihm betreute Fan-Club die Freundinnen der Mitglieder bei Feten für
typisch weibliche Tätigkeiten einteilte. Auf die Frage, ob es denn da kein Murren
der Mädchen gebe, war die Antwort eindeutig und knapp: „Bei uns herrscht das
Patriarchat“. Gehrmann schreibt hierzu: „Daß einer die Normen der Männlich-
keit nicht erfüllt, ist in der Ideologie der Fans das vernichtende Urteil. Hier werden
die Männer von den Knaben geschieden!“ (Gehrmann 1990, 135.) Gilmore inter-
pretiert männliches Verhalten als Revolte gegen die eigene Knabenhaftigkeit, gegen
das Kind im Manne; wer ein guter Mann sein will, der darf keine Schwächen, kein
kindliches Verhalten mehr zeigen, denn das würde zu sehr daran erinnern, daß
man als Mann von einer Mutter abstammt (Gilmore 1991). Für einen mannhaften
Mann gibt es neben Stärke und Kampfesmut, die unter gewaltbereiten Jugendli-
chen einen immens hohen Stellenwert besitzen, noch andere Kriterien: Arbeitsfä-
higkeit und Sexualität, ein Mann muß fähig sein, Nachkommen zu zeugen. Von
daher erklärt sich vielleich auch der Haß so manchen Hooligans oder Skinheads
gegen Schwule, Altersschwache und andere Fremdartige, die man in der Erfüllung
der genannten Kriterien nicht eindeutig positiv einzuschätzen vermag.
40
Punk, Randale, Prügelei: Zur Gewalt der Jugendlichen
Männlichkeit ist eine problematische Angelegenheit; sie zu erreichen ist eine
chwelle, die Jugendlichen, als Initianden nämlich, schon immer schwerste Prü-
Ungen abverlangte - Prüfungen, in denen vor allem Mut und Härte bewiesen
^erden sollte. Ein Blick auf die Fan- und Skinheadszene nährt den Verdacht, daß
ler Jugendliche ihre Mannbarkeit infolge fehlender kultureller Institutionen sich
elbst> das heißt der Gruppe gegenüber, beweisen wollen und müssen. Von Män-
nern wird erwartet, daß sie Gefahren suchen: genau das tun die Jugendlichen, in-
ern Sle sich „Mutproben“ unterziehen. Dabei bringen sie sich mitunter in be-
achtliche Gefahr und auch in die Nähe der kriminellen Karriere. Um anerkann-
Mitglied der „Bomber Boys“ zu sein, einer Jugendgruppe im Frankfurter
adtteil Bockenheim, muß man „rippen“, das sind „Mutproben“, bei denen eine
r°phäe, beispielsweise eine sündhaft teure Lederjacke, geraubt wird (FR, 12. 10.
y0). Ein Fan erzählt: „Erst nach einer richtigen Prügelei, bei der du etwas Sicht-
. ares abbekommen hast, bist du ein ganzer Kerl“ (DE, 23. 4. 1989). Das erinnert
ln §ewissen Zügen an die Mensuren von Studentenverbindungen, die man durch-
aus a^s Initiationsrituale und Mannbarkeitsprüfungen verstehen kann. Ein Prozeß
§egen vier Skinheads in Hannover brachte die Sache auf den Punkt und zeigte die
^ ahtät der Dinge: „Um sich in der Gruppe zu bewähren, hatten sich die Ange-
£ a§ten anzupassen. Mutproben führten sie ins Verbrechen. Als Skinheads in Uni-
l"01 stigmatisierten sie sich, bekräftigten offen ihre Außenseiterrolle in der Gesell-
alt. Das stärkte nach innen, machte sie aber auch gefügiger für politische Hitz-
_P*e- Gewaltbereitschaft aus Frustration und Imponiergehabe, wo die Mittel
§eistiger Auseinandersetzungen fehlten, ließ die Angeklagten — und ihre Clique -
erst( recht im Suff zu Werkzeugen werden, die politisch Versierte ausnutzen konn-
j^n.. 21- 10. 1987.) Ein Forum über Jugendbanden in Frankfurt zog folgendes
esumee: Aus männlichen Mutproben, mit denen man sich und der Gruppe ge-
§enüber bestätigt, werden oft Delikte, das Publikum reagiert mit Angst, Behörden
^Ms (FR, 25. 10. 1990). Es ist allerdings anzufügen, daß es mittlerweile, ins-
esondere in Frankfurt und Berlin, auch reine Mädchengruppen gibt: ein Phäno-
^en’ das ich an dieser Stelle aber noch nicht zu reflektieren vermag. Dennoch sei
Saha, ein 14jähriges Mädchen, zu ihren Beweggründen kurz zitiert: „Die Hei-
c lst die Hauptwache. Wir haben kein Gesetz, aber jeder hilft jedem“ (FR,
U- 10. 1990).
Die Subkulturthese der Jugendforschung sieht in den Gleichaltrigengruppen,
n es nun Fans, Punks, Skins oder Jugendbanden, Vereinigungen, die am Rande
Gesellschaft stehende Individuen über das Motiv und den Ausdruck ihrer Ab-
nung zusammenbinden und so eine Gemeinsamkeit herausbilden, die gegen-
^ *n den Selbstbildern stützt (Hurrelmann/Rosewitz/Wolf 1985, 76f.). Jugend-
c e Subkulturen, die im erwartbaren Regelkreis der Gesellschaft keine Identität
v°n ^baUen vermögen, entfalten sich in Leerräumen und operieren dort nach ihren
er Ojesellschaft bewußt abweichenden Prinzipien. Diese Gleichaltrigengrup-
L >K ent^ten dabei eine wichtige Funktion zur Erschließung und Aneignung von
ens' Und Erfahrungsräumen.
41
Ronald Lutz
Bühne und Aktion: Zirkel der Gewaltanwendung
Der männliche Mann agiert auf einer Bühne, sein Rollenspiel drückt sich in vor-
dergründigen Taten aus, in Aktionen, die von jedermann gesehen und kollektiv
beurteilt werden können (Gilmore 1991). Diese Publizität bedeutet auch, im Blick-
feld zu stehen, den Mut zu haben, sich Risiken auszusetzen, entschlossen zu han-
deln, um sich im Kampf zu bewähren; so aber sind die Träume aller Fans, Skin-
heads und Jugenbanden (Ffeitmeyer/Peter 1988; Bock u.a. 1989; Schröder 1992).
Das geschieht zumeist im Proszenium des Lebens, auf einer Bühne; der männli-
che Sinn für das Abenteuer benötigt das volle Tageslicht. Männer müssen hinaus in
das Leben, in die Welt; diese aber sind „die Straße, die Bar, die Felder — öffentliche
Öffentlichkeiten“, an denen sie gesehen werden (Gilmore 1991, 57). Dieser Zug in
die Öffentlichkeit der Straße und Plätze ist nicht nur vom männlichen Sozialcha-
rakter geprägt; hier war und ist der Ort des Protestes und der Gegenwehr. Zinnecker
schrieb schon 1979: ,Je schwerer die biographische Selbstverortung in Familie,
Schule und Betrieb fällt, je zwingender sie mit Erlebnissen des Scheiterns und Un-
genügens verbunden ist, um so größer ist die Bereitschaft von Jugendlichen, Stra-
ßenleben und Straßengruppen als Ausweg und Alternative zu nehmen“ (Zinnecker
1979, 735). Auf der Straße ist der soziale Druck geringer, hier kann sich entwickeln, was
nicht den bürgerlichen Normen und Wertvorstellungen entspricht. Es erscheint
logisch, daß die Gewaltbereitschaft der Jugendlichen sich auch aus diesem Grunde
der Öffentlichkeit bedienen muß. Das aber macht sie erst recht auffällig, rückt sie
noch mehr in das Rampenlicht. Und wer beschienen wird, der will noch mehr
glänzen. So entsteht der Zirkel der Gewaltentfaltung, der von zweierlei lebt: zum
einen von den Aktionen der Jugendlichen und zum anderen von den Reaktionen
der Öffentlichkeit, die verstärkend auf die Aktionen der Jugendlichen wirken.
Diese Aktionen geben den Straßen und Plätzen in Ansätzen das zurück, was sie
im Zuge der Zivilisation verloren: Chaos und Unordnung und somit rudimentäre
Ansätze jener ursprünglichen Okkupation, wie Martin Scharfe sie beschrieben hat
(Scharfe 1982). Trotz aller Reglementierung ist es Individuen und Gruppen immer
wieder gelungen, ein mehr oder weniger starkes Gefühl der Aneignung gegenüber
dem Raum zu entwickeln, in dem sie leben (Lindner 1982). Erinnert sei an Walter
Benjamins Diktum, daß die Straße die Wohnung des Kollektivs sei, es erfahre darin
mehr als manches Individuum in seinen vier Wänden (Benjamin 1982). Die Zeiten
der ursprünglichen Okkupation der Straße sind zwar schon lange vorbei, doch es
scheint immer wieder Versuche zu geben, diese wieder herzustellen (Scharfe 1982).
Es wäre eine lohnende Aufgabe für eine kritische Kulturwissenschaft, die Erobe-
rung der Straßen und Plätze durch Fußballfans, Punks, Skinheads und Jugendban-
den gründlicher, als ich es tun kann, zu reflektieren.
Inszenierte Provokation
Als Orte der Verdichtung gesellschaftlicher Kommunikation eignen sich öffent-
liche Straßen und Plätze besonders für die konkrete Darstellung von Protest, Re-
42
Punk, Randale, Prügelei: Zur Gewalt der Jugendlichen
volte und Widerstand. Die urbanen Binnenräume sind so das Stammrevier unter-
schiedlicher Sozialfig uren, die in Reaktionen auf die Erfahrungen mit der Moder-
ne entstanden sind (Bette 1989). Und nicht nur Punks haben diese Möglichkeit
Urbaner Räume genutzt.
Das Essentielle daran ist, daß in dieser Öffentlichkeit alles Schauspiel wird: Be-
wußte Provokation und eskalierende Gewalt sind Inszenierungen und Reaktionen
äuf die erwarteten negativen Sanktionen, die, als Beifall verstanden, die Schauspiel-
unste noch einmal reizen. Hooligans wollen, so einer der ihren, „Kämpferspiele“,
eine Randale, die „auch einen großen Unterhaltungswert für die Zuschauer hat“
^ N 8. 9. 1988). Thomas Gehrmann schreibt: Der „Auftritt“ des Fans ist eine
e ^tinszenierung, er spielt eine Rolle. Auch wenn er sich das nicht bewußt
^*acht, weiß er es. So mancher drückt es präzise aus, wenn er mit Blick auf die ran-
gierenden Fans sagt, sie machten wieder „Theater“ (Gehrmann 1990). In der
Prache der Fans klingt das so: „Wenn ich merk, daß der Typ da schon ein bißchen
Zlttert, dann werden meine Sprüche noch brutaler, dann spiel ich erst richtig den
Wllden Mann“ (DE, 22. 5. 1991).
. Die Sprüche und die Gewaltattacken sind auch Aspekte einer Selbstdarstellung
!i|der Öffentlichkeit, einer Inszenierung, die in ihrer Rückwirkung als ablehnende
entliehe Meinung zweierlei bewirkt: sie bestätigt den Punk, den Fan oder den
ln in seinem Verhalten, in seiner Gruppe und somit in seiner Identität, und sie
pCrstärkt noch einmal die Gewalt und Aggressivität, den lauten und lärmenden
r°test von der Gesellschaft gelangweilter Jugendlicher — was gut war und ankam,
e<aarf der Neuauflage in verbesserter Version.
Doch nicht nur die Reaktionen der Außenwelt sind für die Jugendlichen ent-
kleidend: „Es ist einfach toll, in der Gruppe etwas Verrücktes zu machen, etwas
artlg Geiles, ein Ding zu drehen, wir machen das gemeinsam und applaudieren
Uns auch noch“ (Die Welt, 10. 8. 1992). Diese Aussage des Mitglieds einer Jugend-
Png deutet noch etwas anderes an, das Soeffner in seiner „Ordnung der Rituale“
«Uneben hat: „Die Menge liebt es, sich in den Arenen selbst zuzusehen. Sie
st ist das ,Spiel4, der Anlaß, zu dem sie gekommen ist. Sie genießt es, auf sich
p st zu reagieren,,innere' in ,äußere' Bewegung umzusetzen, zu steigern und die
°1"ni (• • •) zu wiederholen. Durch sie verschafft sich die Gemeinschaft Ausdruck,
^ sie erhält sich, solange sie die Form erhält. Zugleich wird aus dem Prozeß, in
ern subjektive Gefühle und Erlebnisse durch die kollektive Darstellungsform in
*n Gemeinschaftserlebnis transformiert und gesteigert werden, ein Prozeß der
e stcharismatisierung' der Gesellschaft als solcher“ (Soeffner 1992, 116).
q Dem Fan und dem Skin, dem Punk und dem Mitglied der Jugendbande ist die
riaPPe alles, ohne sie ist er nichts; die Gruppe wird, wie das Mädchen Rosalia for-
lerte, zur Heimat. Erst durch die Einbindung in das Kollektiv werden die indi-
räit C en ^rDbnisse und Räusche möglich. So liebt man die Gruppe und liebt da-
fast SlC^ Se^st‘ Äußerungen von Fans über ihre Gruppe sind mitunter von einer
narzißtischen Verliebtheit geprägt, eben von einer Selbstcharismatisierung:
enn wir auftreten, dann sind wir ein Block“, sagt ein Fan (DE, 12. 4. 1990).
43
Ronald Lutz
Dieser phänomenale Gruppenkonsens wird in einem Zeitungsartikel über „Die
Nacht des Mobs“ beschrieben: „Da gibt es keinen Anführer und keinen Banden-
chef, da gibt es nur die gespannte Nervosität und das Warten auf den Kampf. Wenn
zehn stürmen, dann stürmen alle, wenn zehn flüchten, flüchten alle“ (SZ, 28. 4.
1989). Die Menge spielt das Spiel und beobachtet sich selbst, motiviert sich so; sie
muß es spielen, denn ohne sie wäre alles tot. So entsteht im Gruppenkonsens ein
fast erotisches Gefühl für die Gewalt; ist sie es doch, die die Gruppe erst lebensfä-
hig macht, dem Subjekt die Langeweile vertreibt und die Totenstille ins Hirn
bringt. „Nur in Stämmen werden wir überleben“ — diese alte Hopi-Weisheit
klingt witzig im Munde von elfjährigen Bandenmitgliedern; doch deren Weisheit
ist schon von einem harten Lebensweg gezeichnet: „Ohne Bande bist du nichts“
(taz, 13.6. 1991). So fügt sich die Gruppe über ihre Aktionen zusammen, bestätigt
den einzelnen und schafft dadurch eine gewisse Entlastung vom Druck der Gesell-
schaft, der man feindlich gegenübersteht.
Die Inszenierung der Gewalt als sich selbst spiegelnde Aktion hat identitäts-
theoretische Bedeutung: Denkbar wäre nämlich, daß im Zuge der Auflösung tradi-
tioneller Sozialstrukturen, dem Verlust von Sicherheit und Zugehörigkeit Identi-
tät und Individualität vermehrt über kollektive Prozesse eines öffentlichen Aus-
drucks hergestellt werden. Eine solche Tendenz wird angesichts der Zunahme von
Kunstausstellungen, Gedenkveranstaltungen, Sportveranstaltungen, Stadtfesten
etc. vielfach vermutet (Ästhetik und Kommunikation 1989). Warum, so frage ich
mich, sollen diese Prozesse und Entwicklungen nicht gerade auch für Jugendliche
zutreffen, die als Heranwachsende noch viel stärker unter dem Schwinden sozialer
Institutionen zu leiden haben (Hurrelmann/Rosewitz/Wolf 1985; Heitmeyer/
Olk 1990). Inszenierungen in öffentlichen Räumen, Alltagsinszenierungen gewin-
nen zunehmend Bedeutung im Kontext der Moderne, wie es die gesamte Lebens-
stildiskussion zeigt (Lüdtke 1989). Als solche aber stellen sie die individualisierten
Suchbewegungen nach Sinn und Bedeutung dar; nach Sinn und Bedeutung suchen
hieße im Falle der Jugendlichen aber Protest und Gewalt.
Protest und Gewalt
„Unsere Power kann man spüren, wenn es Putz gibt auf der Straße: bis in die Ze-
henspitzen in den schnellen Turnschuhen, als Zittern aus Lust und Angst in der
Magengrube, beim Klirren der Scheiben nach dem befreienden Wurf, beim Lachen
im Rennen. Und dabei bist du total cool. Halb ein stolzer Krieger, halb ein ge-
schmeidiges Tier. Sie kriegen dich nicht, solange du keine Angst hast. Und wenn
schon. Unsere Power ist auch, daß wir wenig zu verlieren haben. (...) Ein Kribbeln
durchdringt uns. Das Gefühl von Sicherheit in einer völlig unsicheren Situation.
Es ist die Sicherheit des Angreifers, die Gewißheit, etwas zu bewirken, durchein-
anderzubringen.“ (Wirth 1984,193.) Diese bei Wirth zitierte Aussage eines Jugend-
lichen faßt die bisherige Diskussion noch einmal bildlich zusammen. Die Schär-
fung der Sinne, die sich in der Gewaltaktion, beim Klirren der Scheiben, fokus-
44
Punk, Randale, Prügelei: Zur Gewalt der Jugendlichen
Slert> ist zugleich der lautstarke Protest eines noch immer oder wieder stolzen Krie-
§ers, eines, der wenig zu verlieren hat, da er bisher kaum etwas vom Leben erhielt,
hans und Skinheads sind mitunter unbestritten äußerst gewalttätig, es gibt auch
jEinen Grund, dies zu legitimieren, es gibt allerdings Grund genug, dies zu verste-
ften> da sich dann erst der Blick auf die gesellschaftlichen Ursachen klärt.
Burkhard Schröder faßt seine Auseinandersetzung mit Skinheads zusammen:
»Wer selbst geschlagen worden ist, wird es als ,relativ normal' ansehen, diejenigen
verprügeln, die ihm nicht gefallen oder deren Verhalten er ablehnt. Nicht, weil
as Spaß macht, sondern weil er keine Alternative kennt, sich in Konfliktsituatio-
Jen zu verhalten oder seinen ,Frust' anders zu kompensieren. Deshalb ist Gewalt
ür manche dieser Jugendlichen eher etwas Positives: Sie schafft eindeutige Situa-
tionen. Wer bei einer Prügelei gewinnt, hat Recht.“ (Schröder 1992, 42.) Eine Ge-
Sellschaft, die mit struktureller Gewalt gegen ihre Unterschichten, Außenseiter
ünd Andersdenkende vorgeht, produziert Gewalt; wenn Lebenswelten durch syste-
rrilSche Regelung en in ihren sozialen Funktionen zerstört werden, führt dies zu
^uptivem Protest insbesondere der Jugendlichen, die am ehesten darunter leiden.
le Gewalt der Jugendlichen ist eine Form des Protestes, die ihnen derzeit möglich
^nd adäquat erscheint, die aus ihren Erfahrungen heraus „normal“ ist, und die sie
eswegen als „positiv“ werten. Ihnen mit einem Unrechtsbewußtsein entgegentre-
ten zu wollen, führt in die Öde.
Es gibt eine Menge sozialer, kultureller und politischer Gründe für diese Ge-
^altbereitschaft. Hierzu gehört auch die Langeweile und die Verarmung ehemals
ebendiger und den einzelnen integrierender Sozialstrukturen. Die Auflösung tra-
Uioneller Zusammenhänge und die damit einhergehende Individualisierung
1 eck 1986) zeigt insbesondere in der Jugendkultur fatale Folgen (Hurrelmann/
°sewitz/Wolf 1985; Heitmeyer/Olk 1990), die noch längst nicht voll erkannt
Slnd und bisher nur in Ansätzen verstanden werden.
Jugendliche, denen der soziale Zusammenhang ihrer Klasse oder ihrer Schicht
emt, formieren sich, wieder einmal, in Gruppen und versuchen, sich nach innen
bestätigen, indem sie nach außen klare Grenzen ziehen, Freund und Feind ein-
eutig differenzieren und sich dabei auch noch ihre Langeweile und ihren Erlebnis-
Unger regelrecht vom Leibe prügeln. Dabei geraten sie in einen Gewaltentfal-
j^gszirkel, der sie in die Hände politischer Propagandisten und mitunter in eine
rirninelle Karriere treiben kann. Ihr gewaltiger Protest ist eine fatale Reduktion
es Jemals klassenkulturellen Widerstands gegen Entfremdung und Modernisie-
rtJng; Gewalt erscheint ihnen als einzig legitime Ausdrucksform auf erlebte Ge-
Entfaltung gegen das eigene Dasein. Und diese Gewalt schafft unmittelbare
arheit darüber, wer der Stärkere ist — ein Fakt, der in seiner Wichtigkeit für das
Menschliche Empfinden nicht unterschätzt werden darf.
P *
~ln der „symbolischen Negation "
b^er Ekel und die Wut auf das Leben, getragen von einer unglaublichen Sucht
nach Lebendigkeit, wird in der Öffentlichkeit inszeniert, wird als Provokation und
45
Ronald Lutz
Abenteuer zugleich dargestellt. Diese Öffentlichkeit aber verfestigt durch ihre Re-
aktion in einem verhängnisvollen Zirkel dieses Verhalten noch einmal und steigert
es. Es ist eine verkehrte Welt: Nicht jubelnder Beifall sondern lärmende Entset-
zensschreie führen dazu, daß ein Stück zum Dauerbrenner wird.
Karl Homuth hat in seiner Analyse der Kreuzberger Freibeuterkultur diese am-
bivalente Situation der Jugendlichen auf den Begriff gebracht: „Sie verkennen
nicht, daß ihre Existenz ausgegrenzt, unsicher, jederzeit bedroht und zukunftslos
ist; aber sie verändern für sich die affektive Bedeutung ihrer Lage: Sie koppeln ihr
Selbstwertgefühl aus gesellschaftlich vorgegebenenen Definitionsräumen aus, blei-
ben jedoch auf dieses Gegenüber bezogen. Sie spielen gleichsam mit bürgerlichen
Ängsten von Peinlichkeit, Armut, Schmutz, körperlicher Gewalt und Sinnlosig-
keit, und aus diesem Spiel symbolischer Negation und Differenz schöpfen sie ihre
Identität. Allerdings müssen sie einen hohen Einsatz erbringen: Sie erwerben die
Überzeugung, in diesem Spiel über Kontrollkompetenzen zu verfügen, indem sie
ihren aufgezwungenen sozialen Status expressiv stilisieren. Sicherlich formen sie so
eine Kultur des Überlebens - ihre realen Handlungsspielräume bleiben jedoch
gering.“ (Homuth 1989, 64.) Die Überzeugung der Jugendlichen, über Kontroll-
kompetenzen zu verfügen, ist letztlich ein fataler Trugschluß; ihre Gewalt nämlich
verstärkt ihre soziale Ausgrenzung, bringt sie an den Rand der Legalität und dar-
über hinaus, macht sie zu Rassisten und Gewalttätern. Doch ihre Gewalt dient, in
einer neuerlichen Enteignung ihrer Lebensäußerungen, anderen noch viel besser.
Wem nützt die Gewalt der Jugendlichen f
In der Zeitschrift „Psychologie Heute“ erschien kürzlich ein Artikel mit der
Überschrift „Das Märchen von der ,Jugendgewalt‘“ (Berentzen 1992). Der Autor
fragte sich, was das Wahre an der Horror-Vision von gewalttätigen Jugendlichen
und den Jugendbanden sei. Das öffentliche Bewußtsein handle mittlerweile 60 Pro-
zent aller Jugendlichen als potentielle Gewalttäter ab. Die tatsächlichen Zahlen
lägen aber völlig anders. Gerade in Berlin beispielsweise falle nur ein Prozent aller
verübten Gewalttaten in die Rubrik „jugendliche Gruppengewalt“. Es gebe zudem
keine Tendenz einer zunehmenden Gewaltbereitschaft unter Jugendlichen. Inso-
fern sei die These der Jugendgewalt tatsächlich ein Märchen. Man müsse sich aber
fragen, wem diese These wozu diene.
Der Autor des Artikels hat eine verblüffende Erklärung. Aufgrund rasanter ge-
sellschaftlicher, ökonomischer und ökologischer Veränderungen und Krisen
herrschten große Verunsicherung und Angst, die aber keine konkreten Anhalts-
punkte besäßen, deren Auslöser diffus blieben. Doch eine solch frei flottierende
Angst brauche ein Objekt; dafür aber eigne sich ein Phänomen derzeit besonders:
die Gewalttätigkeit der Jugendlichen. Deshalb werde sie fokussiert wahrgenom-
men, stilisiert und völlig überschätzt.
Wirth bestätigt diesen Verdacht, indem er auf die Ambivalenz des Publikums
hinweist. Einerseits bestehe ein großes Bedürfnis nach einer voyeuristischen Teil-
46
Punk, Randale, Prügelei: Zur Gewalt der Jugendlichen
habe an der interessanten Mischung aus Gewalt und Sexualität, andererseits sei da-
aber auch eine Form der Angstbewältigung verbunden. Die allgemeine Bedro-
ung unserer Lebensbedingungen lasse sich kaum in Bilder fassen, so benötige man
eine konkretisierte und personifizierte Angstquelle; diese finde sich aber in Ge-
^altvideos, Filmen, Kriegsberichten, wie jetzt wieder aus Bosnien, und in Berich-
ten über Fans, Skinheads und Jugendbanden. Die diffuse Angst werde entspre-
chend dem aus der Psychoanalyse bekannten Abwehrmechanismus der „Verschie-
üng ‘ vom unfaßbaren Angstobjekt - wie Atomkrieg oder Umweltzerstörung,
Wle Arbeitslosigkeit und Wohnungsnot - auf faßbare, anschauliche Objekte verla-
^ert- Im Grunde genommen bleibt den Jugendlichen nichts; auch ihre Gewalt wird
Cn noch genommen und ins System zurückgeholt. So aber erfüllen sie in fataler
etse eine stabilisierende Funktion in unserer Kultur.
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Abkürzungen:
DE = Darmstädter Echo
FR = Frankfurter Rundschau
SZ = Süddeutsche Zeitung
taz = Die Tageszeitung
English Summary
RONALD LUTZ: Punk, Riot, Brawl. On adolescent violence.
The essay discusses the eruptive violence of adolescents not merely along the lines of
prevalent theories that establish a causal link with the social structure, but proceeds to ad-
dress this phenomenon from the perspective of an ’’anthropological gaze”. It suggests that
violence is a form of cultural expression offering adolescents what they cannot get
elsewhere: fun, thrills, adventure, experience, intoxication, the ’’gang“, and its social bon-
ding - the social psychologist Csikszentmihalyi talks of a ’’flow-experience“, of being total-
ly absorbed in doing. Also, the public as well as politicians respond to adolescent violence
with a high degree of recognition. They are unnessarily attentive to the actions adolescents
per form on the ’’stages“ of streets and squares and further reinforce them by way of a
frightened disavowal that sometimes carries hidden undertones of approval. However, the
essay intends no ’’anthropologizing“ of the rise of violence in our society. Rather, it at-
tempts to contribute to an understanding of why particularly adolescent ’’Skinheads“ easily
fall into the trap of rightwing radicalism.
48
Alpenregion und Fremdenverkehr
Zur Geschieht^ und Soziologie kultureller Begegnung in Europa,
besonders am Beispiel des Salzkammerguts
Von Wolfgang Lipp, Würzburg
Meinem Vater, W. Hofrat o. Univ. Prof, (tit.) Dr. Franz C. Lipp,
vormals Direktor des OÖ Landesmuseums und Leiter der dorti-
gen Abteilung für Volkskunde, Linz, zum 80. Geburtstag am
30. Juli 1993 herzlich gewidmet.
Die Alpen haben in der Geschichte Europas, von ihrer geographischen Bedeu-
tUng für den Kontinent einmal abgesehen, immer hohen Rang behauptet; sie stell-
ten Und stellen nicht nur einen Faktor dar, der — mit wechselnden Schwerpunkten
" von evidenter wirtschaftlicher, militärischer oder politischer Bedeutung ist,
s°ndern prägten von Anfang an Europa in kultureller Hinsicht; Bestandteil des eu-
ropäischen Selbstverständnisses, bestimmen sie mit, was man europäische Identität
rannen kann. Umgekehrt zeigt sich, daß viele typische Kulturmerkmale, die die
nipen und Alpenlandschaften heute prägen, auf Kontakte mit nichtalpinen euro-
päischen Nachbarkulturen zurückgehen; sie erwuchsen Begegnungen, wie sie zu-
j^ichst die spätneuzeitliche, „aufgeklärte“ europäische Reisekultur (dazu näher:
riep 1991; Stagl 1992), später Fremdenverkehr und Tourismus mit sich brachten,
rnd verdankten sich Austauschprozessen, die vitale, tragfähige, neue kulturelle
^ Wicklungen möglich machten. Im folgenden versuche ich, Wechselwirkungen
eser soziologisch einmal genauer aufzuschlüsseln; dabei nehme ich auf das
” aizkammergut“ — als Region, die in den Alpen gewiß zu den profiliertesten kul-
tUrgeschichtlichen Räumen zählt — exemplarischen Bezug.
^ Daß Alpen, wie mancher Geograph behauptet, in Europa zu den peripheren
Junten zählen, zu Rückzugsgebieten für versprengte Völker, aussterbende Spra-
en, veraltete Wirtschaftsweisen, gilt ja nur oberflächlich und auf den ersten
CK Obwohl es zutrifft, daß die Region — sieht man von Grenoble und Inns-
r W einmal ab - eigene sozialräumliche Oberzentren kaum aufweist, so daß
drlucht und Abwanderung nicht intern abgefangen werden können, sondern
l T^oßstädte zielen, die wie München, Mailand, Zürich oder Wien schon außer-
der Alpen liegen: obwohl gewiß hier ein ernstzunehmendes siedlungsstruktu-
^ es Gefälle besteht (vgl. z. B. Gebhardt 1990), bleibt bei näherer Betrachtung un-
bestreitbar, daß der Alpenbogen für Europa stets auch als unentbehrliche, vielglie-
Au^6 ^C^se ^es Verkehrs, als Drehscheibe für Begegnungen, für Erfahrung und
tausch aller Art, ja schließlich als eminente kulturelle Pflanzstätte diente.
LaT' Vle^’ °k man au^ Dr_ un<^ Frühgeschichte zurückgeht, die Hallstatt- und
ene-zeitliche Kultur, die - von den Alpen ausstrahlend - einer ganzen Epoche
49
Wolfgang Lipp
den Namen gab (s. Morton 1953); ob man auf Augustus, Claudius, Septimius Seve-
rus blickt, jene römischen Kaiser, die wichtige, bis heute genutzte Alpenpässe anle-
gen ließen, oder die Alpen inzwischen als Ziel des Massentourismus der Moderne
sieht: überall zeigt sich, daß dieses Gebirge, seine Talschaften und Höhenstufen, in
denen Kelten und Romanen, Germanen und Slawen aufeinanderstießen, das Chri-
stentum den Zusammenbruch Roms überdauerte, die Brücke des Nordens zum Sü-
den und Südosten liegt, im Werdensprozeß Europas, beim Auseinandertreten, aber
auch Zusammenwachsen seiner Völker eine anhaltende und entscheidende Rolle
spielen. Ja, muß man am Ende nicht sagen, daß gerade die höchsten geistigen und
kulturellen Errungenschaften, auf die Europa sich etwas zugute hält, Freiheit,
Selbstbestimmung und Demokratie, in ganz besonderem Maße erst in jenem eigen-
tümlichen, vielfältig gekämmerten, sozialen Lebens- und Handlungsraum groß-
werden konnten, wie ihn die Alpen umschreiben?
Gewiß, die apostrophierten europäischen Potentiale sind geschichtlich nicht
immer in gleicher Stärke virulent gewesen. In der Tat gab es Abschnitte, in denen
die Alpen das Geschehen bloß am Rande flankierten, Phasen, in denen sie zur Pro-
vinz absanken, die Zeit gleichsam anhielten — während sich draußen der Fort-
schritt beeilte - und Genüge nur in sich selber fanden. Erst der moderne, mit der
Industriegesellschaft und ihren Vorläufern langsam aufkommende Fremdenver-
kehr - so meine These - war es dann, der die Alpen an Europa wieder zurück-
band und sie zurückholte in die größere europäische Geschichte! Gerade er, der
Fremdenverkehr, trug dazu bei, die Region als ganze - die mit der Beschleunigung
der wirtschaftlichen, technischen, soziokulturellen Entwicklungen, wie sie im
Vor- und Flachland und seinen Zentren erfolgt waren, nicht hatte Schritt halten
können - auf das Niveau der Zeit wieder anzuheben, und gerade er, der Fremden-
verkehr, öffnete die Alpen - einschließlich der Güter, die sie bieten konnten, wie
Erholung (vgl. Andreae 1983), Naturerfahrung, brauchtümliche Tradition und ur-
sprüngliche ethnokulturelle Vielfalt - produktiv auch wieder für Europa.
Ich kann die Geschichte des Alpentourismus hier nicht im einzelnen schildern
(s. Hinweise bei Kramer 1982; Gyr 1988). Sie ist mindestens 150 Jahre alt, bildete
unterschiedliche Spielarten und Stile aus, so die Badereise, die Naturromantik, den
Tourenalpinismus oder den durchorganisierten kollektiven Freizeitkonsum, und
ließe sich soziologisch, wie es etwa Knebel (1960) versucht hat, im Anschluß an
David Riesman (1950) in eine ältere „traditionsgeleitete“, eine mittlere „innengelei-
tete“ und eine aktuelle, „außengeleitete“ Phase untergliedern. Wenn ich im folgen-
den besonders auf letztere, aktuelle Phase Bezug nehme, so einmal aus Gründen
der gebotenen stofflichen Beschränkung, zum anderen aber im Sinne angebrachter
kritischer Problemzuspitzung: Stärker als seine Vorläufer bringt der moderne
Massentourismus nämlich zu Bewußtsein, daß gesteigerter Fremdenverkehr für die
Alpen nicht nur Vorteile, so besonders in wirtschaftlicher Hinsicht, sondern auch
Nachteile, ja extreme Gefahren mit sich bringt; durch Massentourismus, wie man
zunehmend klarer erkennt, wird die einheimische Bevölkerung, von allen drohen-
den ökologischen Zerstörungen einmal abgesehen, nicht nur ausufernder, immer
50
Alpenregion und Fremdenverkehr
Prekärerer „Überfremdung“ konfrontiert; sie wird von den Menschen und Men-
mhenströmen, jenen losgelassenen „Ferienmenschen“ (Krippendorf 1985), die aus
en Ballungsgebieten in die Region einschießen, ökonomisch, sozial und kulturell
~~ so die Befürchtung — auf „Kolonialstatus“ neuer Art degradiert, und man hat
rnit Recht gefragt, wie die Entwicklungen hier zu kontrollieren, ja drastisch umzu-
steuern und neu zu ordnen sind.
Nun, so wenig abweisbar diese Einwände heute erscheinen: sie sind nicht mein
üerna, und sie könnten infolge der hohen Wertaffektation, mit der sie beladen
sind, den Tatbestand vergessen machen, daß das Aufkommen des Tourismus für
^le Alpen vorab als Positivum, als bleibende Zufuhr von Energie zu sehen ist: Es
at bis heute die unerläßliche wirtschaftliche Erschließung, den Ausbau der Ver-
enrswege, den Anschluß an die industrielle — und inzwischen postindustrielle —
°oernisierung, und kurz: die Chance der Stabilisierung, Revitalisierung und Er-
neuerung gerade in wichtiger kultureller Hinsicht mit sich gebracht. Ich spitze den
uktus meiner Überlegungen an dieser Stelle daher dahingehend zu, daß die Al-
Penregion — ihre Modernisierung und Reintegration in die Zentren — gerade dort,
die Gefahren auch der Überfremdung, der Gleichschaltung und Ausbeutung
cntbar werden, einen im ganzen geglückten, beispielhaften Fall dafür darstellen,
^ die Regionen und Subregionen Europas im Zuge des Zusammenwachsens ihre
^mtschaftliche, soziale und ethnokulturelle Eigenart, ihre Identität, bewahren, ja
H°r>k ausbauen konnten; evident wird am Beispiel der Alpen dabei nicht zuletzt,
^ die Beziehungen der „Peripherie“ zu den „Zentren“ historisch keineswegs ein-
zig verliefen ; es war und ist ja nicht nur so, daß ein verarmter, stagnierender, halb
^tvölkerter Alp enraum auf Hilfsmaßnahmen und Entgegenkommen durch das
cnland ohne Eigenleistungen angewiesen blieb; die Wirkungen verliefen wech-
seitig und auch durchaus umgekehrt; das Hochland hatte begehrte Güter auch
st anzubieten, und es entsprach jener Nachfrage nach „Natur“, nach „Aben-
er und „einfachem Leben“, der Nachfrage aber auch nach unverstellter ge-
mütlicher Tradition, nach ethnischer und kultureller Authentizität, wie sie na-
mentlich die Geistesströmung der „Romantik“ formuliert hatte, auf gleichsam na-
mhe und selbstverständliche Weise. So ist, zusammenfassend gesagt, das
tu ,tn*s von Alpen und Außenzentren, Bergwelt und Flachlandzivilisation, kul-
soziologisch als durchaus dialektisch zu charakterisieren: Ein Gebiet ist auf das
ere im Wert- und Bedürfnisleben hier angewiesen', und als dritte vermittelnde
J>e erscheint — personalisiert, in diverser Stilisierung, in der Figur des „Touri-
sten“ _
augenscheinlich das System des Fremdenverkehrs.
II.
ner)C^ meine Überlegungen am Beispiel einer der klassischen alpinen Regio-
Hch ^ euroPa^sc^en Fremdenverkehrs, am „Salzkammergut“, einmal näher deut-
sin rnac^ler1. Neben der Schweiz mit dem Oberland, dem Engadin oder dem Tes-
• ’ ^ben dem Chamonix-Gebiet und dem Mont Blanc, neben Tirol natürlich,
üließlich Ost- und Südtirols, zählt das Salzkammergut gewiß zu den beliebte-
51
Wolfgang Lipp
sten alpenländischen Anziehungspunkten, und es war als Gebiet, in dem man
„Sommerfrische“ machte, in die Fußstapfen des Bozener „Ritten“, wo man die
Sommerfrische als typisch idyllisch-bürgerliche Wortprägung wohl „erfunden“
hatte, auch schon sehr früh eingetreten. Leider verbietet es der Raum, auf die Ge-
schichte dieses Gebiets, der Landschaft nördlich des Dachsteins, die — vom Traun-
Fluß entwässert - aus ursprünglich durchaus verschiedenen Bezirken, Kirchspren-
geln, Gerichtspflegschaften zusammengewachsen war und erst später, als Habsbur-
ger Privat-Erbland, unter dem Vorzeichen einheitlich verwalteter Salz-, Wasser-
und Forstwirtschaft genuine Gestalt gewann, im einzelnen einzugehen. Wichtig
für unsere Zwecke ist es zunächst zu sehen, daß sich im Lauf der Jahrhunderte dort
eine wirtschaftlich zwar bescheidene, brauchtümlich aber vielschichtige, profilier-
te ethnische Kultur entwickelt hatte. Während andere Regionen, so die Einzugsge-
biete der großen städtischen Ballungen, ihre Eigenständigkeit oft schnell verloren,
so daß sie kulturell verflachten, hatte das Salzkammergut, als damals noch periphe-
rer Raum, die typische Siedlungs-, Bau- und Wirtschaftsweise, die typischen religi-
ösen Gebräuche, die typische grau-grüne Volkstracht, das typische Volkslied, die
typische Lebensart generell im stillen gleichsam aufgespeichert und lange bewah-
ren können (dazu näher F. C. Lipp 1981, mit weiteren Literaturverweisen; vgl.
auch dens. 1966). So kam es - und mußte fast notwendig kommen -, daß jene
neugierigen, urbanen „Fremden“, die aus den Zentren Österreichs, früh aber auch
aus England, Frankreich oder Deutschland anreisten und die Region besuchten, im
Salzkammergut im reichen Maße nicht nur natur-, sondern kultur- und geschichts-
romantische Erwartungen — Erwartungen, wie sie der Zeitgeist hegte - befriedigt
sahen; sie hielten inne, blieben länger zu Gast, kartierten, vermaßen, inventarisier-
ten den Raum nach allen Richtungen, rühmten ihn, zeichneten seine Kulturgüter
auf und propagierten die Fama.
1. Wer waren diese Fremden, wie sind sie soziologisch griffiger zu charakterisie-
ren? Generell gilt gewiß, daß sie als „Fremde“, als typische kulturelle Vermittler
und Mittler, im Sinne Georg Simmels (1908; vgl. z.B. Hettlage 1987) verstanden
werden müssen: Sie nahmen aus der Region ja nicht nur etwas mit — Reiseschilde-
rungen etwa, die sie schrieben, Bilder, die sie malten, oder Gesteinsproben, oder
Jagdtrophäen, oder urgeschichtliche Funde -, sondern brachten auch selbst etwas
heran: den Glanz etwa des Kaiserhofs, die Agilität des Bürgertums, die Kompeten-
zen von Intellektuellen, Künstlern und Gelehrten, die Entdeckerfreude aber auch,
die Abenteuerlust, der frühen Idealisten des Bergsteigens, des Almenwanderns, der
Landschafts- und Volksverbundenheit. So oder so, das Geben und Nehmen war
wechselseitig, und es schlug sich, für das Salzkammergut, von Anfang an auch
wirtschaftlich und materiell, im Sinne der Förderung des Beherbergungswesens,
des Ausbaus von Hotellerie und Gastronomie, schließlich der Neubildung weite-
rer, nachgeordneter, tertiärwirtschaftlicher Dienste in Transport und Verkehr, im
Bad- und Kurbadbetrieb etc. nieder. Bis heute zählt - für die Region, hier wie
sonstwo, als Wirtschaftsfaktor inzwischen unentbehrlich - die Fremdenverkehrs-
wirtschaft zu den großen Wachstumsbranchen (s. generell z.B. Gebhardt 1990,
52
Alpenregion und Fremdenverkehr
H ff-; ferner etwa Keller 1983, für die Schweiz; Tepaß 1992, Ortsstudie), und bis
beute zielen die Interessen darauf ab, dieses Wachstum — wenn auch im Sinne eines
neuerdings geforderten „sanften Tourismus“ (Kramer 1983) inzwischen kritisch
reflektiert — in Maßen aufrechtzuerhalten.
Gehen wir auf diverse exemplarische Gruppen von Fremden, wie sie für das
Sälzkammergut bestimmend waren, soziologisch einmal näher ein. Ich habe sie
Schon angedeutet: Vorab sind gewiß hier die obersten politischen Eliten, die Reprä-
sentanten des Hauses Habsburg zu nennen; sie haben im Salzkammergut nicht al-
ein, wie in Bad Ischl, in der Gestalt Kaiser Franz Josephs (1848-1916) gewirkt, je-
nes »Markenartikels“ regionaler Identifikation bis heute, sondern, ursprünglicher
n°ch, besonders in Erzherzog Johann (1782-1859), dem Landesherrn der Steier-
^ark, österreichischen Feldmarschall und zeitweiligen designierten deutschen
^dchsverweser der Frankfurter Paulskirche, 1848/49. Unvergessen im Salzkam-
^ergut und geradezu in die offizielle regionale Mythenbildung aufgenommen, ist
le Romanze dieses Mannes mit Anna Plochl, der Tochter des Postmeisters aus
em heutigen Bad Aussee, der späteren „Gräfin von Meran“ und Ehefrau des Erz-
erzogS (s. Johann von Österreich 1930). Johann hatte nicht nur Anna, das Landes-
ln<a, sondern das Land selbst, Aussee und das ganze steierische Salzkammergut ge-
lebt; er widmete alle Kraft einer landesväterlich-aufgeklärten, techno- und agrar-
^lrtschaftlichen Entwicklungspolitik, begeisterte sich für die Volkskultur und
uürte erste einschlägige - bis heute übrigens nicht vollständig ausgewertete - eth-
pOSoziologische Erhebungen durch. Daß gerade Erzherzog Johann, wie später
ranz Joseph und andere, auch nicht-österreichische Vertreter des Hochadels zum
e)tstern des erwachenden regionalen Selbstgefühls, ja zum Vorbild signifikanter
uge der Selbstdarstellung wurden, kann daher kaum überraschen; die Tracht, die
Sle trugen - und die sie, in bezeichnender doppelter kultureller „Spiegelung“, von
^en Holzknechten, Jägern, Almleuten der Region zunächst selbst übernommen
atten —5 die Tänze, die sie mittanzten, und Volkslieder, die sie weitertrugen,
j^lrkten auf die Menschen zurück und formten, festigten und stärkten ihr Selbst-
°nzept vice versa. Anders als anderswo ist das Salzkammergut als selbständige,
rblge Volkskultur bis in die Gegenwart lebendig geblieben, und die Aristokratie
Und all die Geschichten, die sich vor Ort um sie rankten, haben gewiß einen nicht
Unbeträchtlichen Anteil daran.
Hbergehen wir den „Troß“ der Aristokratie, jene, die den Herren in die Som-
rnerfrische, ins Kurbad, auf die Esplanade aus den Reihen des Bürgertums folgten,
ünd wenden uns einer anderen typischen Gruppe von Fremden, Kulturmittlern al-
s°> zu, den Intellektuellen, Künstlern und Gelehrten. Auch sie haben an der äuße-
vor allem aber inneren, geistigen Erschließung der Region mitgewirkt und so
Gazu beigetragen, dem Salzkammergut erst ein „reflektiertes“, sichtbar attraktives
v-sicht zu geben. Gewiß, die Gruppe ist heterogen, und sie reicht von Dichtern
üi|d Malern der Biedermeierzeit, die - wie Adalbert Stifter, Friedrich Gauermann
er Ferdinand Georg Waldmüller — dem Land Reverenz erwiesen (s.f. a. Sotriffer
über Wissenschaftler wie Friedrich Simony, den Glaziologen und Kartogra-
53
Wolfgang Lipp
phen des Dachsteinmassivs, bis hin zu Komponisten der Wiener Spätklassik, wie
Johannes Brahms - vom späteren Operettenkönig des Salzkammerguts, Franz Le-
har, einmal zu schweigen -, oder zu den Literaten des frühen und mittleren 20.
Jahrhunderts, wie Hugo von Ffofmannsthal - dem Mitbegründer, übrigens, der
„Salzburger Festspiele“ (1917) -, Jakob Wassermann oder Friedrich Torberg. Ha-
ben letztere an der besonderen Aura, die die Region offenbar an sich hat, eher nur
indirekt mitgewirkt - immerhin versäumt es die Tourismuswerbung heute kaum,
auf diese Namen und den Umstand, daß sie in den Sommerfrischlerlisten einst
geführt wurden, hinzweisen -, so waren Wissenschaftler, Forscher, Gelehrte, die
im Salzkammergut ihre Studien betrieben, in die Stilisierung und Profilierung die-
ser Landschaft viel direkter einbezogen. Ich erwähne, neben Simony, hier nur Kon-
rad Mautner, den großen Kenner, Aufzeichner und Uberlieferer des Volksliedes
und der Volksmusik; er hat, wie sofort ergänzt werden muß, dieses wertvolle kul-
turelle Gut dabei nicht nur für das engere steirische Salzkammergut, den Raum um
Bad Aussee, vor dem Vergessen bewahrt (Mautner 1918), sondern es für den gesam-
ten ost- und nordalpenländischen Raum, darunter vor allem Bayern und Oberbay-
ern, vorbildhaft ausgewertet und der Gegenwart als großes, von den Medien längst
aufgenommenes, neu verlebendigtes Erbe übergeben.
Eine dritte Gruppe von Fremden, die ich nenne, ist schließlich in den zunächst
individuell auftretenden, später zu Vereinen zusammengeschlossenen städtischen
Naturromantikern, den Wanderern, Alpinisten, Skitouristen zu sehen. Einer An-
fangsphase einzeln wandernder bergsteigerischer Pioniere folgten hier, über die
„heroische“ Phase des Wirkens der „Alpenvereine“ hinweg, Entwicklungen, die
bis hin zum modernen, großverbandlich organisierten Massentourismus führten
(s. Oppenheim 1974). Die Zusammenhänge sind im ganzen bekannt; worauf es mir
ankommt ist der Umstand, daß der Alpinismus nicht nur wesentlich dazu beitrug,
die Region von Bergstock zu Bergstock mittels Wanderwegen, Klettersteigen, der
Logistik der Berghütten etc. rein wegemäßig zu erschließen; er war an der Gestal-
tung und „Gestaltpflege“, der „Imagebildung“ der Alpen, hier des Salzkammer-
guts, in hohem Maße vielmehr auch kulturell beteiligt, und was etwa für Südtirol
- ja die gesamte alpine Wertewelt überhaupt - Louis Trenker, einschließlich seiner
Wirkung durch das Medium des Films (s. z.B. „Berge in Flammen“, 1930; „Der Re-
bell“, 1931), bedeutet hat, lebt im Pendant im Salzkammergut im Andenken an
Paul Preuß, den Begründer der „sanften“ „Wiener Schule“ des Bergsteigens weiter;
Preuß hatte nicht nur klassische Dolomitenzinnen, sondern unzählige Gipfel auch
der Nordostalpen erstbestiegen; im Gosaukamm im Dachsteingebiet abgestürzt
(1913), im Bergfriedhof von Altaussee begraben, blieb er Zielpunkt für zahlreiche
alpinistische Pilgerfahrten bis heute; Fahrten dieser Art haben inzwischen, wenn
man so will, europäischen Zuschnitt; so sind es, gewiß nicht von ungefähr, vielfach
Bergsportler aus Italien, die am Grab von Paul Preuß Jahr für Jahr ihren Gruß,
einen Blumenstrauß, eine Verszeile hinterlassen.
An dieser Stelle wäre es wichtig, nicht zuletzt auf die Bedeutung einzugehen, die
für die Alpenregion generell, und für das Salzkammergut im besonderen, die schon
54
Alpenregion und Fremdenverkehr
erwähnten Alpenvereine, so der Österreichische Alpenverein, der Deutsche und
Österreichische Alpenverein (s. dazu z.B. Müller 1979), die „Naturfreunde“
(s- z.B. Schügerl 1975) etc. hatten. Mit den großen soziokulturellen Strömungen
^er Zeit eng verbunden, hatten die Alpenvereine teils bürgerliches, liberales, teils
nationales, teils sozialistisches, in jedem Falle spätromantisches Gedankengut im
Rucksack schon immer mitgepackt, und gerade an ihnen wird sichtbar, daß und
Wle die Ideen der Epoche, bis hin zur Bewegung des „Wandervogels“, von den Me-
tropolen des Tieflands aufstiegen in die Berge, Echo bei den Einheimischen fanden
ünd umgesetzt wurden ins alltagspraktische, regionale Leben.
2. Leider verbietet es der Raum, die Zusammenhänge näher nachzuzeichnen.
Ich wende mich statt dessen dem Gegenpol der Fremden, den „Einheimischen“
selber, zu und möchte, auch hier am Beispiel wieder des Salzkammerguts, kurz er-
läutern, wie Fremdenverkehr von dort her aufgenommen, zum Bestandteil von
Identität gemacht und produktiv genutzt werden konnte. Wie schon bei den Frem-
den, sind es auch nun, bei der autochthonen Bevölkerung, mehrere, dem Typus
nach unterschiedliche Gruppen, die die Aneignung vollzogen, und ich hebe erstens
die Gruppe der Wirtschaftsunternehmer — Gastronomen, Bergführer, Schiffahrts-
etreiber und Seilbahnbauer — hervor, nenne zweitens, damit verbunden, Lokal-
Politiker - Bürgermeister, das lokale Honoratiorentum, soweit sie Fremdenverkehr
Organisatorisch, durch Schaffung z.B. von Fremdenverkehrsverbänden, förderten
Ur>d verweise drittens auf das Phänomen eines aufblühenden folkloristischen
Vereinswesens, auf jene Volkslied-, Volkstanz-, Volkstrachten- und Brauchtums-
gruppen, die in der Geschichte des Fremdenverkehrs schon sehr früh auftraten; sie
sind und waren Ausdruck dafür, daß die latenten identifikativen Potentiale, die der
remdenverkehr weckte, bei aller Gefahr der Verkünstelung, Kommerzialisierung
und Verkitschung doch auch auf lebendigen sozialen Boden fielen, volksbildne-
^Sch „gepflegt“ werden konnten (vgl. exemplarisch F. C.Lipp 1960, 1978, 1984;
Minze 1978; Haid 1978) und „erneuerte“ regionalkulturelle Spiegelung fanden.
Man kann, was die Gruppe der Wirtschaftsunternehmer betrifft, den ganzen
olz, den einheimische Hoteliers, die auf die Fremden setzten, für ihren Betrieb,
M>hl aber auch ihren Ort, ihre engere „Heimat“ (zur neueren Heimat-Diskussion
V§I- W. Lipp 1986, wiederabgedruckt in Cremer/Klein 1990, S. 155-184) empfanden,
an emem Beispiel aus Gmunden, dem Tor zum Salzkammergut, 1869, illustrieren:
»Steininger’s Restauration zum ,König von Hannover“ bei Gmunden im österrei-
chischen Salzkammergute“, heißt es da auf einem Ansichtsblatt, „an einer der
Rundlichsten Uferstellen (sc. des Traunsees) gelegen, hat die Ehre, ein Lieblings-
Usilug Sr. Majestät des Königs Georg V. zu sein; ... Diese Restauration, außer
Rr Allerh. königlichen Familie auch von anderen Fremden und Einheimischen
esucht, ... gewährt, vorzüglich von einem Gloriette aus, ... eine entzückende
^alerische Seenlandschaft, sowie (Aussicht) auf die zerklüfteten steilen Felswände
ös Traunsteins mit seinem Adlerhorste. Restauration de 1’ A. Steininger, ,Au roi de
hnovre“, en lac de Traun pres de Gmunden“ (zit. nach Prillinger 1981). - Ich fü-
§e hinzu, daß Fremdenverkehrsprospekte — wie dieser Vorläufer — im Prinzip bis
55
Wolfgang Lipp
heute sehr ähnlich gestaltet werden. Gewiß, sie dienen in erster Linie dem Zweck
des Geschäfts; Geschäfte aber zu machen muß für die Region nicht von Nachteil
sein, und so oder so springt ins Auge, daß, darüber hinaus, durch sie das Lokalkolo-
rit gepflegt, Selbstwertgefühl bewiesen, sowie — evident für ein Publikum auch
von Einheimischen selbst - Heimat und Heimatliebe vorgeführt, bildwirksam ge-
macht und bekräftigt werden (vgl. z.B. Hinke 1990, mit Blick auf ein „neues Tou-
rismuskonzept“). Daß Wirtschaftsunternehmer über die bloß ökonomische Be-
deutung hinaus, die sie für ihr Umfeld haben konnten, in der Tat auch identifikati-
ve kulturelle Funktionen erfüllen, zeigt sich im übrigen am Umstand, daß sie
nicht selten avancieren zu einer Art von Lokalheroen. Der Zusammenhang ist im
Salzkammergut zu belegen für Unternehmerfiguren namentlich des älteren, „in-
nengeleiteten“ Typs, am Begründer z.B. des Passagierschiffverkehrs auf dem Traun-
see, Fulton, einem Engländer (vgl. Mayer 1992), oder am Erbauer der Gondelbahn
auf den Feuerkogel, Ippisch, ebenfalls im Traunseeraum (vgl. näher auch W. Lipp
1983). Heimatliebe, Liebe zu den Inhalten und Ereignissen, die mit Heimat zu ver-
binden sind, wird an diesen Namen gleichsam personalisiert — für,die Selbstausle-
gung also auf Kurzform gebracht —, und es wäre interessant zu erfahren, ob und in
welcher Weise das Modell auch für die Manager, das Publikum, die Heimateffekte
des modernen Tourismus gilt.
Die Überlegungen leiten hier über zur schon erwähnten zweiten Gruppe, die auf
seiten der Einheimischen Heimatbindungen pflegen, zu Honoratioren und loka-
len politischen Eliten. Dabei streife ich den augenscheinlich hohen Rang, der die-
ser Gruppe thematisch zukommt, bloß en passant und wende mich der für uns
wichtigen dritten sozialen Kategorie, lokalen „Vereinen“ und namentlich organi-
sierten „folkloristischen“ Aktivitäten zu. Notieren möchte ich hierbei vorab, daß
Vereine — wie die soziologische Empirie immer wieder belegt hat (s. Bühler/Ka-
nitz/Siewert 1978; Schock 1989; vgl. auch W. Lipp 1984); - für die Dynamik
und Vitalität, die Leistungsstärke, den Zusammenhalt eines Gemeinwesens einen
„klassischen“ positiven Faktor darstellen (s. für das Salzkammergut z.B. Gries-
hofer 1977, mit Bezug auf das Schützenwesen; vgl. auch Meier-Dallach/Gloor/
Hohermuth/Nef 1991, Teil 3, am Beispiel der Schweiz). Dies gilt unvermindert,
behaupte ich, auch für Vereine folkloristischer Richtung. Gerade der Folklorismus
(zur Diskussion und Kritik siehe erstmals Moser 1962; ferner Bausinger 1966;
Hörandner/Lunzer 1982; Assion 1986) ist es ja, der der Nachfrage von Alpen-
romantik, lokaler Kultur und Heimaterfahrung vor Ort konkret entgegenkommt,
und gerade er ist es auch, der vice versa der einheimischen Bevölkerung selbst die
Chance gibt, sich zu artikulieren, sich „darzustellen“ (dazu grundsätzlich F. Lipp
1972), und sich die Geschichte, das Brauchtum, die typischen ästhetischen Kon-
turen ihres Lebenskreises neu anzueignen. Daß unter dem Druck angeblich nur
„äußerer“, von der Tourismusindustrie gesteuerter, ökonomischer „Verwertungs-
interessen“ - wie kulturkritische, heute meist linksideologisch gerichtete Ein-
wände gerne unterstellen — alle „echten“, „eigentlichen“, „authentischen“ ethno-
kulturellen Potentiale zugeschüttet würden, liefe dabei auf eine teils säuerliche,
56
Alpenregion und Fremdenverkehr
gedankenblasse, teils unehrliche, schiefe und falsche Argumentation hinaus: Frem-
denverkehr beutet ja nicht nur aus, er kolonialisiert, er unterdrückt nicht nur, son-
dern macht das Dasein seiner selbst, seiner gewachsenen, so oder so geordneten
Eigenart, seiner Anerkennung durch andere gerade auch erst bewußt (s. F. C. Lipp
1982, vgl. Zum folgenden auch W. Lipp 1984, S. 44f.); nicht nur trägt er dazu bei,
national, europäisch, kosmopolitisch zu öffnen; er regt es auch an, sich lokal zu
befestigen, selbstsicher zu werden, und vitalisiert und steigert es vor Ort. Ortskul-
tUr> auf der anderen Seite, erscheint, wie Kultur überhaupt, niemals nur als „wah-
innere“ Kultur, als Kultur, deren urtümliche, „echte“ Gehalte gleichsam zeit-
°s überliefert werden könnten. Was echt ist am Echten, bleibt ja eher stets Speku-
ation. Kultur indessen ist wesentlich Konglomerat, Kompromiß und Ergebnis
^omplexer, durch unterschiedliche Epochen, unterschiedliche soziale Sphären lau-
ender materieller und ideeller Verflechtungen; sie zeigt sich, wie die Dinge in der
auf Fremdenverkehr fußenden, alpinen Welt nun heute einmal liegen, auf der Ebe-
ne gerade auch des vereinsmäßigen, durch Geschäfte hindurch auch auf Sinn, Iden-
tität, Repräsentation zielenden folkloristischen Betriebes.
h>aß die Alpenregion — mit vitalen kulturellen Kernen wie dem Salzkammer-
gut ~ inmitten der Moderne und das heißt: nicht ohne begleitende, „fremden“-
ezogene folkloristische Motive, europaweit etwa ihre Tracht, jene Bad Ischler, Bad
Ausseer grau-grüne steirische Lodentracht, präsentieren konnte, die dem Mode-
peschmack auch der Metropolen entspricht (vgl. F. C. Lipp 1977 1992): Sollte man
ulturkritisch darüber nur lamentieren, oder sieht man es - ebenso, wie den
§roßen europäischen Erfolg der Kunst, des Brauchs, der Musik der Region — bes-
Ser und richtiger als Zeichen dafür an (vgl. Schreiner 1983), daß Chancen zur
Schöpferischen, ausstrahlenden kulturellen Leistung auch in der Gegenwart, in der
Venrteintlichen alpinen Provinz bestehen?
III.
Ich will mit dieser Frage meinen Beitrag zum Thema auch schon zusammenfas-
Sen: »Alpenregion und Fremdenverkehr“ — mit meinen Ausführungen habe ich
^eigen wollen, daß die Größen — kulturgeschichtlich und kultursoziologisch gese-
en ~~ sich keineswegs widersprechen mußten. Die Alpen haben von den Fremden
Urchaus profitiert, und dies nicht nur wörtlich, im ökonomischen Sinne verstan-
perb sondern metaphorisch, im Sinne teils der Belebung und Stärkung, teils der
0rtentwicklung und Modernisierung ihrer Kulturgestalt. Wichtig dabei ist, daß
e Beziehung auch umgekehrt gilt. Auch die Fremden haben, indem sie den eige-
f1611’ ’’grauen“, großstädtischen Kreis hinter sich ließen und Sommerfrische, Berg-
ü L alpines Volkstum und alpinen Brauch bis ins Ästhetische hinein genossen, ih-
re Erfahrungen bereichern können; und im Effekt, in alltagspraktischer Synthese,
?S>b sich schließlich ein Drittes: Da sowohl die Alpenregion - wie ihre Geographie,
j re Geschichte von Anfang an belegen — multiethnisch und multikulturell ange-
egt ist, als auch die Touristen, die die Region bereisen, sich national sehr unter-
57
Wolfgang Lipp
schiedlich rekrutieren, kam es, bei den Fremden wie den Einheimischen selbst,
früh und notwendig zu „Lernprozessen“ (vgl. z.B. Greverus 1978) paradigmati-
scher europäischer Art. Was an Vorbildwirkung für Europa aufgrund ihrer beson-
deren, ins Spätmittelalter zurück reichenden Geschichte die Schweiz seit langem
im kleinen erbrachte - ihr jüngstes Votum (1992), dem Europäischen Wirtschafts-
raum vorerst nicht beizutreten, liegt auf schwer faßlicher tagespolitischer Ebene
und wird wohl revidiert -, leistet die Alpenregion auf moderner, vom Fremden-
verkehr mitbestimmter Basis in der Tat dabei heute als ganze: Sie präsentiert sich
als Experimentierfeld, in dem bei allen Konflikten, die — man denke an Südtirol -
auch hier auftraten, die Aufgaben praktischer euroethnischer Integration doch vor-
bildhaft angegangen und in enger, auch politischer Zusammenarbeit - wie seit
längerem die Arge Alp beweist (vgl. Vaitl 1978) - auch gelöst werden können. So
stellen, um es nochmals zu sagen, Alpenregion und Fremdenverkehr eine „Schule
Europas“ heute im großen dar; sie geben „Unterricht“ nicht nur in technischer,
wirtschaftlicher, organisatorischer Hinsicht, sondern bieten — und eben dies muß
gewürdigt werden — historisch erprobte, „kulturelle Curricula“ an.
Hier ist vielleicht eine Zwischenbemerkung angebracht. Ich möchte meine
Ausführungen nicht dahingehend verstanden wissen, daß ich ein lediglich ideali-
siertes Bild entwürfe. Die Gefahren, die der Massentourismus der Moderne gerade
für die Alpen mit sich bringt, Gefahren, die teils in drohender ökologischer Ver-
wüstung, teils in steigender Überfremdung und überhandnehmendem kulturellen
Kolonialismus liegen (vgl. neben Krippendorf 1985, auch dens. 1986; ferner z.B.
Heinrich 1988), sind mir wohl bewußt, und ich habe sie schon eingangs angespro-
chen. Dabei ziehe ich aus ihrer Analyse exakt denselben Schluß, den auch das Gros
der Kritiker zieht, freilich ohne Larmoyanz und ohne den Unterton, Fremdenver-
kehr sei etwas gleichsam „an sich Böses“. In der Tat, das Wachstum des Fremden-
verkehrs hat einen überhitzten Punkt erreicht; es muß von Quantität umgestellt
werden auf Qualität. Was in Zukunft vonnöten ist, ist nicht in erster Linie nur
geldabschöpfende, verwertungsorientierte, damit aber Vernichtung, auch kulturel-
le Vernichtung, in Kauf nehmende Fremdenverkehrswirtschaft; nötig ist vielmehr
gebremster, nicht raubbauender, sondern erhaltender Tourismus, ist „sanfter Tou-
rismus“, der nicht mehr nur die Natur, sondern die Kultur, die Geschichte einer
Region erschließt, ist „Histourismus“ (Römhild 1990), wie die Formeln heute lau-
ten, und ich habe nicht die geringste Schwierigkeit, ihre Forderungen zu verstehen,
mitzuvertreten und gutzuheißen.
Tourismus, wie er vonnöten ist, muß in den Alpen in Zukunft in der Tat in
Richtungen gehen, wie die Kulturgeschichte, die Volkskunde, die Kultursoziologie
sie weisen können. Im Salzkammergut, wie mir scheint, haben die zuständigen
Verbände, Beraterstäbe, Politiker die Aufgabe nicht nur schon erkannt, sondern
sind auf dem Weg, sie zu realisieren. Im „Entwicklungskonzept Salzkammergut.
Tourismus - Leitbild 1991-2000“, erstellt von der Wirtschaftsuniversität Wien
(s. Würzl 1992), ist dies programmatisch festgehalten, und ich zitiere daraus nur zur
Illustration: „Kultur in allen ihren Ausformungen bestimmt wesentlich die Identi-
58
Alpenregion und Fremdenverkehr
tat und das Image des Salzkammerguts, sie macht einen entscheidenden Anteil sei-
ner nationalen und internationalen Geltung aus. Es ist daher erforderlich, sich
nachhaltig für die Erhaltung und Stärkung der Eigenständigkeit des kulturellen Le-
bens ... der Region und ihrer Einwohner einzusetzen: Die Erhaltung und Siche-
rung des historischen Erbes in Dorf und Stadt gehört hierzu ebenso wie die Pflege
(her) Baukultur... Dorf- und Stadterneuerung sind (wertvoll) ... wesentlich für
hie Einwohner des Salzkammergutes selbst, sie sind aber auch .. . wichtiger Be-
standteil der Anziehungskraft dieser Region im Tourismus. ... Die Geschichte
Und die Lebensgrundlagen des Salzkammerguts, von der Urgeschichte an, sollen
unter Hervorhebung des Salzes als Ursprung von Kultur, Berufen, Ständen, Wohl-
stand usw. für die Einheimischen und für die Gäste neu erlebbar gestaltet werden;
dazu gehört auch die Rolle, die diese Region als zeitweiliges Zentrum der Monar-
de •.. (also Österreich-Ungarns — W. L.) gespielt hat. ... (Es geht um die) Aus-
Wahl und ... Neugestaltung von kulturellen Ereignissen, (die) die Voraussetzun-
gen dafür haben, zu zumindest mitteleuropäischem Rang aufzusteigen.“ (S. 22).
Für die Region, so wird resümiert, „wäre dies ein weiterer Schritt zur Betonung (ih-
rer) Rolle in der Mitte Europas — und auch ein deutliches Zeichen, daß die (daraus
•••) abzuleitende... (europäische) Verpflichtung gesehen und getragen wird“
(S. 66).
Lassen wir es dahingestellt, wie solche Konzepte sich tatsächlich realisieren. Kul-
Nrsoziologisch sinnvoll, wie ich glaube, und beherzigenswert ist ihre Programma-
allemal. Daß die Alpen Europa von Anfang an etwas „gaben“, daß sie das Um-
and, bis hin zu den Fremden und Fremdenströmen, lehrten, Gipfelblicke in wei-
tgespannte europäische Horizonte zu tun, ist ebenso festzuhalten wie der
u instand, daß sie europäische Impulse vom Tourismus auch selbst empfingen und
*n ihr kleingekämmertes regionales Leben damit Arbeit und Brot, Modernität und
t't» neue Zukunft erst einlassen konnten. Für die Gegenwart, die sich anschickt,
le Idee Europas umfassend, wirtschaftlich, politisch und rechtlich zu vollenden
und ein geeignetes institutionelles Gefüge aufzubauen, sollten die Erfahrungen der
Alpenregion nicht das schlechteste Beispiel bleiben. Zu diesen Erfahrungen zählt,
w*e in seinem Werk „Alpenländische Gesellschaft“ schon Adolf Günther (1930)
erLannt hat - und in diesem Punkt ist das Buch gewiß nicht verstaubt —, daß Al-
pinisten, die hinter großen und schwierigen Zielen, hinter Gipfelsiegen her sind,
ies tunlichst nur selten im Alleingang tun. Sie steigen vielmehr in Gruppen auf,
üden „Seilgemeinschaften“, wie Günther sagte, und einer kommt mit Hilfe nur
es änderen voran! Seilgemeinschaften dieser Art, wie sie am Berge meist ebenso
Verläßlich wie selbstverständlich sind: Dürfen sie im Kletterprozeß nicht auch je-
£er Einigung, in der die Völker Europas in steiler Wand sich heute im großen be-
iden, als erprobtes, hilfreiches Modell gelten können, das sich zur Nachahmung
Vpfiehlt?
59
Wolfgang Lipp
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English Summary
WOLFGANG LIPP: The Alpine Region and Tourism. Towards a History and Sociology of
Intercultural Contact in Europe, with special consideration of the case of the Salzkammer-
gut (Austria).
The Alpine Region and tourism are closely connected and in constant interaction with
each other. So far, the discussion had primarily warned that those regions that invite touri-
stic development may profit economically but by the same token face ecological pollution
and cultural loss. By contrast, this essay chooses to emphasize that tourism offers consider-
able opportunities for strengthening cultural self-definition and the regaining and stabili-
zing of identity as well as for intercultural contact and intercultural learning. The problema-
tic of folklorism serves as a case in point, providing evidence for this thesis. Exemplary data
are being presented from the Salzkammergut, the classic European tourist region of the
Northeastern Alps, referring also to other studies, most specifically those of Franz C. Lipp,
who has devoted his life as a researcher in Folklore and Cultural Studies to penetrating this
region. To him this essay is dedicated.
62
Über Geschichtsbilder in Erinnerungserzählungen
Von Frank Heins, Hamburg
Die Geschichte, so meint der französische Historiker Paul Veyne, sei ein „zwei-
sprachiges Wörterbuch“.1 Die Metapher sieht im Historiker einen Übersetzer, der
einem vergangenen, fremden Kontext nicht in einen unmittelbaren Dialog
tritt, sondern in einem mühsamen Prozeß die Unterschiede zum Heute freilegt
und begreifbar macht. Darstellungen der Vergangenheit gehen demnach von der
^eltauffassung und dem gegenwärtigen Horizont des jeweiligen Interpreten aus.
^ Idiom seiner Umwelt verfaßt er ein Bild vergangenen Geschehens. Jede Ge-
Schichte ist, das führt uns Veyne vor Augen, ein kulturelles Konstrukt.
Eine solche nominalistische Auffassung verheißt mehr als nur ein Überdenken
aer Wissenschaftlichkeit und Erklärungsfähigkeit der Geschichtsschreibung. Sie
^eist Wege zur Untersuchung einer kulturellen Formung jeder Historie: Zum ei-
nen kann reflektiert werden, mit welchen sprachlichen Mustern, rhetorischen Fi-
§Uren und mit welcher „Einbildungskraft“ Historiker Geschichte schreiben. Diese
ra§e gewinnt für eine theoretische Fundierung der historischen Disziplinen zu-
nehmend an Bedeutung.2 Zum anderen aber berührt sie eine genuin kulturwissen-
Schaftliche Thematik, die danach fragen läßt, in welcher Weise die Vergangenheit
außerhalb des historischen Fachdiskurses eine kulturelle Form gewinnt. Hier stel-
en sich meines Erachtens Aufgaben für die Volkskunde: Es geht dann um die Um-
buchung der kulturellen Vermittlung von Geschichte und das Entstehen von kol-
e*tiv verankerten Ansichten historischer Realität. Dieser Fragestellung liegt die
rarnisse zugrunde, daß „Geschichte“ nicht nur durch den professionellen Histori-
er gedeutet und zu Bildern verdichtet wird, sondern daß sie schon im Alltag inter-
pretiert, typisiert und pragmatisch genutzt wird. Geschichte als Konstruktion, an
formen und sozialen Strukturen ausgerichtet, ist so als Wissen über gemeinsame
eiflichkeit ein wesentlicher Faktor für die Konstitution von Gruppenidentitäten.
Solche in Interaktionsprozessen herausgebildeten Vorstellungskomplexe über
le Vergangenheit möchte ich „Geschichtsbilder“ nennen.3 Geschichtsbilder be-
1t.
in einem Gespräch mit Ulrich Raulff. In: Ulrich Raulff: Vom Umschreiben der Geschichte. Berlin
^86, S. 132-146, bes. 138 f.; siehe auch Paul Veyne: Geschichtsschreibung. Und was sie nicht ist.
Frankfurt am Main 1990, bes. S. 62. Eine Diskussion des Veyneschen Ansatzes in Hinblick auf die
Thematik der Geschichtsbilder findet sich in dem Band von Rainer Gries, V. Ilgen, D. Schindelbeck:
Gestylte Geschichte. Vom alltäglichen Umgang mit Geschichtsbildern. Münster 1989, S. 14-16.
Exemplarische Arbeiten zu diesem Problemfeld sind: Paul Ricoeur: Zeit und Erzählung. 3 Bde.
München 1988-1991; Pietro Rossi (Hrsg.): Theorie der modernen Geschichtsschreibung. Frank-
er* am Main Y)%7\Hayden White: Metahistorie. Frankfurt am Main 1991; ders.: Klio dichtet oder
3 ^le Fiktion des Faktischen. Stuttgart 1986.
dieser Begriffswahl lehne ich mich an die kulturwissenschaftlich orientierte historische For-
Schung an. Der Begriff „Geschichtsbild“ erscheint mir sinnvoll, weil er einen Vorstellungskom-
Piex umschreibt, der sich nicht nur in Texten, sondern auch in anderen Zeichensystemen wie
63
Frank Heins
greife ich als Ergebnis retrospektiver Selektionen und Bewertungen, die in eine Ka-
nonisierung der Geschichte münden; sie sind ein Produkt gesellschaftlicher Kon-
struktion von Wirklichkeit. Als Bild- und Wertvorstellungen sind Geschichtsbil-
der aus „kulturellen Versatzstücken aufgebaut“* 4, werden konstituiert durch ein
Konglomerat von Symbolen, Begriffen und Typisierungen. Es handelt sich um Fi-
gurationen semantischer Einheiten, um Bestandteile kultureller Wissenssysteme.
Wie alle ideologischen Systeme sind Geschichtsbilder gekennzeichnet durch eine
normative Struktur ihrer Elemente, in ihnen zeigen sich Präferenzen und Zurück-
stellungen. Das Geschichtsbild von einer bestimmten Zeitspanne setzt sich bei-
spielsweise aus hervorgehobenen Episoden und Ereignissen, aus der Betonung der
prägenden Kraft einzelner Personen, aus der Vernachlässigung oder Betonung von
gesellschaftlichen Gruppen und Schichten usw. zusammen und hat als solches eine
inhaltliche Struktur, die zu ergründen ist. Das kann so weit gehen, daß eine ganze
Epoche zu einem Symbol für bestimmte Ideenkomplexe werden kann.5
In diesem Zusammenhang ist an Maurice Halbwachs zu erinnern, der besonders
betonte, daß es neben der institutionalisierten, geschriebenen eine „lebendige“ Ge-
schichte gibt, die eigene Konturen besitzt.6 Er zeigte bekanntlich, daß dieses „kol-
lektive Gedächtnis“ nicht die Summe der individuellen Gedächtnisse ist, sondern
vielmehr durch soziale Zugehörigkeiten geprägt wird. Individuelle Sichtweisen be-
währen sich oder sie geraten in Opposition gegenüber kollektiven Deutungen.
Diese eigene Qualität des kollektiven Gedächtnisses sah Halbwachs vermittelt
durch kulturelle Objektivationen wie Gebäude, Bräuche, Institutionen und Spra-
che. Als Zeichen rufen sie in uns Erinnerungen wach und beeinflussen die Selek-
tion dessen, was wir für bedeutsam halten oder vergessen. Das kollektive Gedächt-
nis ist das Ergebnis der Welterfahrung einer Gruppe und hat eine soziale Dimen-
sion, schon weil die zeitliche und räumliche Gliederung von Erfahrungen
sozialisiert ist.7 Teilkulturen und Gruppen zeichnen sich daher durch unterscheid-
bare Wissensvorräte, Traditionen und Deutungsmuster aus. Gleichwohl ist das kol-
lektive Gedächtnis einer Gesellschaft kein erstarrter Vorrat an Symbolen, es läßt
sich vielmehr als „Netz sozialer Beziehungen“, als Ergebnis sozialer Auseinander-
setzungen und Vermittlungsprozesse verstehen.8
Fortsetzung Fn. 3.
Malerei, Fotografie usw. ausdrückt. Vgl. hierzu die vielfältigen Betrachtungen in Gries, Ilgen und
Schindelbeck (wie Anm. 1).
4 Helge Gerndt (Hrsg.): Stereotypvorstellungen im Alltagsleben. Beiträge zum Themenkreis Fremd-
bilder - Selbstbilder - Identität. Festschrift für Georg R. Schroubek. München 1988, S. 12.
5 Das „Mittelalter“ etwa war lange Zeit Synonym für eine umfassende ideologische Machtstellung
der Kirche, ein eurozentrisches Weltbild und Grausamkeit, bis vor allem französische Historiker
für eine Korrektur dieses Bildes sorgten.
6 Maurice Halbwachs: Das kollektive Gedächtnis. Frankfurt am Main 1985.
7 Vgl. Alfred Schütz, Thomas Luckmann: Strukturen der Lebenswelt. Bd. 1. 3. Aufl. Frankfurt am
Main 1988, S. 137.
8 Daniel Bertaux, Isabelle Bertaux-Wiame: Autobiographische Erinnerungen und kollektives Ge-
dächtnis. In: Lutz Niethammer (Hrsg.): Lebenserfahrung und kollektives Gedächtnis. Die Praxis
der „Oral History“. Frankfurt am Main 1985, S. 146-165; hier: S. 157.
64
Über Geschichtsbilder in Erinnerungserzählungen
Marc Ferro, der Geschichtsbilder aus verschiedenen Kulturen untersucht hat,
Sleht neben der institutioneilen Geschichtsschreibung und den auf diese „herr-
schende“ Version bezogenen Gegenpositionen im kollektiven Gedächtnis von
Teilkulturen und Gesellschaften mit eigener Identität ein weiteres Entstehungszen-
trum von Geschichtsbildern.9 Die „Zeit des Mythos“10, in der die Geschichte zur
siatur, zur unveränderlichen Wahrheit wird, und die „Zeit der Geschichte“, der
^ontingenzen und Prozesse, vermischen und verweben sich auf komplexe Weise in
!esen Entwürfen. Nach Ferros Meinung sind es weniger die historischen Inhalte
er Geschichtsbilder als vielmehr der den Elementen zugemessene Status, der
"Handlungen unterworfen ist. Von dieser Position aus gesehen sind Geschichtsbil-
er sowohl Produkte als auch Objekte eines fortwährenden Prozesses kultureller
An 1 ;
Aneignungen der Vergangenheit.
Muster des Erzählens über die „Schwarzmarktjahre“
Wollte man eine Hierarchie bundesdeutscher Geschichtsbilder aufstellen, die
eit unmittelbar nach Ende des Zweiten Weltkrieges würde mit Sicherheit an vor-
erer Stelle rangieren. Schon 1965 bemerkte hierzu der Schriftsteller Hans Habe:
'W/* j. ö
»wie die Märchen unserer Kindheit mit den Worten: ,Es war einmal ...‘ begannen,
^ beginnt heute jedes deutsche Märchen mit den Worten: ,1m Jahre 1945 .. .‘“.n
leses Rede- und Denkmuster eines „Wunders“ nach dem Kriege, wie es in vielen
exten aus den fünfziger und noch den frühen sechziger Jahren begegnet, ist längst
^ragwürdig geworden. Ganz augenscheinlich erfährt die „Gründerzeit“ der Nach-
Kriegs jahre in den letzten Jahren verstärktes Interesse. Beschäftigung und Ausein-
andersetzung mit der Zeit des „Wiederaufbaus“ haben Konjunktur in der histori-
Schen Forschung, aber auch in der öffentlichen Diskussion über die politischen
und gesellschaftlichen „Wurzeln“ von Bundesrepublik und DDR. Was in der Zeit
er deutschen Vereinigung einen Höhepunkt fand, deutete sich bereits zum 40.
J nrestag der Bundesrepublik an: Nachdem in den letzten beiden Jahrzehnten die
" Useinandersetzung mit dem Nationalsozialismus im Mittelpunkt des öffentli-
en Interesses stand, hat nun die Phase zwischen unmittelbarer Nachkriegszeit
^^Wirtschaftswunder“ der 1950 er an Stellenwert gewonnen.12
Marc Ferro: Geschichtsbilder. Wie die Vergangenheit vermittel wird. Beispiele aus aller Welt.
Frankfurt am Main 1991, bes. S. 279-283. Die Frage nach der Vermittlung von Vergangenheit in
Form von Geschichtsbildern hat Ferro an Beispielen aus über zwanzig Kulturen untersucht. Als
Quellen dienten ihm Schulbücher und Aufzeichnungen von Schulkindern. Es zeigte sich, daß in
allen Kulturen verschiedene Konzeptionen der eigenen Vergangenheit konkurrierend oder gleich-
, erechtigt nebeneinander^existieren.
Fine strukturalistische Theorie des Mythos findet sich bei Roland Barthes: Mythen des Alltags,
rankfurt am Main 1964. - Den Mythos als Gegenstand intellektueller Rede und öffentlicher
engewohnheiten untersucht Gerhard von Graevenitz. In: Mythos. Geschichte einer Denkge-
wohnheit. Stuttgart 1987.
Mab,
in: Helmut Hammerschmidt (Hrsg.): Zwanzig Jahre danach. Eine deutsche Bilanz
1945-1965. München, Wien, Basel 1965, S. 343.
F$ handelt sich um ein Modethema: Im Fernsehen bietet im Frühjahr 1992 „Die Welt der Jahrhun-
erUrutte“ Stoff für eine unterhaltsame Revue mit Wochenschauausschnitten, das Kino widmet
65
Frank Heins
Die Gründe für diese intensive Beschäftigung mit einer bestimmten Epoche
sind durchaus vielfältig: Es spielen aufgehobene Sperrfristen für Archivakten eine
nicht unwesentliche Rolle, zudem haben die politischen Umwälzungen der deut-
schen Einheit die Frage nach Orientierungsmöglichkeiten an den praktischen Lö-
sungsversuchen und Weichenstellungen der Nachkriegsjahre aufgeworfen. Die Be-
deutung und die Folgen von Befreiung und kultureller Beeinflussung durch die Be-
satzungsmächte, der Währungsreform 1948 und der deutschen Teilung, um nur
einige Stichworte zu benennen, werden unter neuen Vorzeichen dargestellt und
diskutiert. Auch psychologische Faktoren sind von Belang: aus dem Abstand von
fast fünfzig Jahren bzw. zweier Generationen scheint eine distanzierte und „neu-
gierige“ Betrachtungsweise (wieder) möglich.
Aus der Sicht der Volkskunde gibt es hier mehrere Anknüpfungspunkte, um die
kulturelle Dimension dieser Aneignung von Geschichte zu untersuchen. Ein viel-
versprechender Weg führt meines Erachtens über die Betrachtung des alltäglichen
Erzählens. Die biographische Methode der volkskundlichen Erzählforschung hat
den besonderen Stellenwert des Berichtens aus der Kriegs- und Nachkriegszeit
deutlich herausgearbeitet. An den Erinnerungserzählungen von Angehörigen je-
ner Generationen, die die Nachkriegsjahre miterlebt haben, ist die Intensität und
Offenheit der Äußerungen bemerkenswert.* 13 Gleichwohl zeigt auch das Erzählen
aus den Jahren nach 1945 eine Tendenz zur Betonung bestimmter Aspekte, zur
Fokussierung der Erinnerung.
Erzählen über die Nachkriegszeit ist heute in der Regel durch die Perspektive
auf die alltägliche Not gekennzeichnet. Trotz großer sozialer und regionaler Un-
terschiede und einer ausgeprägten Stadt-Land-Differenz ist die strukturelle Mangel-
situation zum Signum einer Epoche geworden. Doch nicht nur aus wissenschaftli-
cher Sicht läßt sich eine „alltagsgeschichtliche Einheit“14 konstatieren, auch in den
Formulierungen der Umgangssprache wird ein Epochenbewußtsein erkennbar:
Wörter wie „Trümmerjahre“, „Schwarzmarktzeit“ oder „Hungerjahre“ verdich-
Fortsetzung Fn. 12.
sich den „Trümmerfrauen“ („Rama Dama“, 1991, Regie: J. Vilsschneider), und Siegfried Lenz’ im-
merhin über 25 Jahre alte Erzählungen eines Schwarzmarkthändlers erscheinen als neue Taschen-
buchedition. Siegfried Lenz: Lehmanns Erzählungen oder So schön war mein Markt. München
1992 (erstmals 1964).
13 Welche individuelle und soziale Bedeutung die Erinnerungen an die Nachkriegsjahre besitzen, zei-
gen die verschiedenen Arbeiten von Albrecht Lehmann, z.B.: Gefangenschaft und Heimkehr.
Deutsche Kriegsgefangene in der Sowjetunion. München 1986; Im Fremden ungewollt zu Haus.
Vertriebene und Flüchtlinge in Westdeutschland 1945-1990. München 1991. - Gleiches bemerkt
Alexander Link: „Schrotteizeit“ - Nachkriegsalltag in Mainz. Ein Beitrag zur subjektorientierten
Betrachtung lokaler Vergangenheit. Mainz 1990, S. 3. Eine weitere volkskundliche Arbeit zur
Nachkriegszeit ist: Regina Brurs: Mit Zuckersack und Heißgetränk. Leben und Überleben in der
Nachkriegszeit. Bremen 1945-1949. Bremen 1989.
14 Detlev J. K. Peukert: Hamburg in den Jahren 1943-1953. Das Jahrzehnt einer unfreiwilligen Revo-
lution. In: Ders. (Hrsg.): Improvisierter Neubeginn. Hamburg 1943-1953. Ansichten des Photo-
graphen Germin. Hamburg 1989, S. 9-18; hier S. 11.
66
Über Geschichtsbilder in Erinnerungserzählungen
ten die Erfahrungen großer Teile der Bevölkerung; es sind Topoi „kollektiver
Schicksalsbetroffenheit“.15 Neben den vier großen materiellen Versorgungsengpäs-
sen - Wohnraum, Energie, Verkehr und Ernährung - ist es aber auch die psycho-
soziale Situation der „Zusammenbruchgesellschaft“, die Erinnerungen aus heuti-
§er Sicht ihre besondere Färbung geben.16 Vor diesem als Ausnahmezustand wahr-
§enommenen Alltag entfalten sich individuelle Lebensläufe im Umbruch. Die
typischen Schicksale der Nachkriegszeit - Ausbombung, Verwaisung und Verwit-
^ung, Kriegsgefangenschaft, Flüchtlingsdasein, Entnazifizierung und soziale De-
^assierung - erforderten in der Folgezeit eine von vorgezeichneten Normalkar-
rieten abweichende Neuplanung und Sinngebung des eigenen Lebens.17
In Erinnerungserzählungen über diese Zeit dominieren als „Ereigniskomple-
18 die Überlebensstrategien der Nachkriegszeit wie der Tauschhandel, der
Kohleklau, das „Organisieren“ und die Hamsterfahrten. Ereigniskomplexe sind
Ergebnis kultureller Überformung und selektiver Prozesse, die aus der Vielfalt,
Komplexität und Unordnung der Wirklichkeit eine Ordnung der erzählenswerten
und erzählbaren Inhalte gestalten. Die hierüber offenbar immer noch gern erzähl-
ten Episoden lassen sich anhand der darin geschilderten Ereigniskomplexe als
’’Schwarzmarktgeschichten“ typisieren.19 Der schwarze Markt der Kriegs- und
Nachkriegsjahre, jenes schillernde Phänomen in seinen zahlreichen Schattierungen
^°m individuellen Tauschhandel aus bitterer Not bis zur organisierten Schwerst-
nminalität, hat von der Faszination, die ihm damals schon anhaftete, wenig verlo-
Kn. Wohl kaum ein Phänomen kann in ähnlicher Weise den Status eines Symbols
er »Uberlebensmoral“20 jener Zeit beanspruchen und führt gleichzeitig die
Scheinbare Brüchigkeit und Relativität gesellschaftlicher Normen im „Ausnahme-
Zustand“ derart deutlich vor Augen.
Es handelt sich bei den „Schwarzmarktgeschichten“ um einen gängigen Modus
er Darstellung von Erlebnissen aus den Nachkriegsjahren. Ist das individuelle Er-
, nis auch von der subjektiven Wahrnehmung geprägt, so manifestiert sich die so-
^lale und kulturelle Dimension des Erzähltextes in der sprachlichen Aufbereitung.
ei den Erzählern besteht häufig eine klare Vorstellung davon, wie diese Geschich-
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67
Frank Heins
te erzählt werden sollte: sie finden einleitende und beendende Worte und verwen-
den dramaturgische Mittel, die nahelegen, daß die jeweilige Episode schon öfter
präsentiert wurde. Solche konventionellen Handlungsmuster verweisen auf die
kulturelle Dimension des Textes, auf ein vorgestelltes oder anwesendes Publikum.
Über eine Konzentration der Erzählinhalte hinaus sind für Schwarzmarktge-
schichten formale Verfestigungen typisch: Es lassen sich überindividuelle, formel-
hafte Redewendungen und Erzählweisen auffinden, wiederholbare Mittel zur Ge-
staltung. Muster dieser Art sind meines Erachtens für eine volkskundliche Betrach-
tung alltäglichen Erzählens von besonderem Interesse, weil sie das Zusammenspiel
von Erzählstoff und Erzählweise freilegen. Eine Perspektive wird ermöglicht, die
über die positivistische Kategorisierung von Erzählmotiven und rein formale Be-
schreibung von kommunikativen Gattungen und Genres hinausreicht. Jedes Er-
zählmuster spiegelt und verweist auf ein „Geschichtsbild“, vermittelt einen ein-
prägsamen Eindruck zeittypischen Geschehens. Zur Illustration dieser These ziehe
ich kurze Interviewpassagen heran, die für Typen des Erzählens über die „Schwarz-
marktzeit“ charakteristisch sind. Das folgende Erlebnis erzählte mir im Frühjahr
1990 ein heute 67jähriger Hamburger Friseur im Rahmen eines ausführlichen In-
terviews zu den Nachkriegsjahren. Aus der „Überlebenstechnik“ der Hamster-
fahrten wird in einer insgesamt über zehnminütigen Großerzählung ein amüsantes
Abenteuer:
„Dann vor allem, was dann eben noch war, wie gesagt, dann machte man Hamsterfahrten.
Dann ging es also los. Das waren die abenteuerlichsten Fahrten überhaupt. Eine der schönsten
Fahrten war: Da kam einer auf ’nem Donnerstag, kam einer und ließ sich noch das Haar schnei-
den, ich kannte ihn so ein bißchen (...) Da sagte er dann zu mir: Ja“, sagte er, ,ich will morgen
ganz früh los, ich hab da ’ne Apfelplantage“. - ,Ne Apfelplantage? Was soll das?“ - Jo, jo“, sagt er.
- ,Was gibt’s denn da?“ - ,Alles! Alles!“, sagt er, ,alles, was Du Dir denken kannst“. Und dann hat
er immer so davon geschwärmt. Ich sag: ,Mensch, hör mal zu, tu mir ’nen Gefallen und nimm
mich mit“. - Ich selber esse keine Äpfel, ich hab merkwürdigerweise in der Hungerzeit keine
Äpfel gegessen. Soviel Hunger wie ich hatte, ich weiß nicht, ich mochte keine Äpfel. Aber wir hat-
ten nun ein kleines Kind, nicht. - Na, andern Morgen um halb sechs habe ich ihn dann getroffen
am Hauptbahnhof. Und dann fuhr ein Zug. Der fuhr nach Neukloster, Stade. Wir kommen da
hin. Der Zug brechend voll!“ (...)
„Und da haben wir beide dann (auf dem Zug) gestanden und haben bis Neukloster Steckschach
gespielt. Nicht, das ging ja wunderbar. (...) Na ja, wir sind dann da gefahren, und wie wir dann
in Neukloster ankommen, da rennen die alle vom Zug runter und rennen alle in eine Richtung-
Ich sag: ,Mann“, sag ich (-), ,die laufen aber so!“ - ,Jo“, sagt er, ,das gilt nicht für uns. Du weißt, ich
hab meine Plantage“, sagt er, ,und da kümmern wir uns gar nicht drum“. Und dann zog ein Heer-
strom von Hamsterern, aber, na 2 000 waren das wohl, die da richtig hinmarschierten auf dieses
Dorf da zu. (-) Und dann bogen sie dahinten dann alle links ab. Vor Neukloster bogen sie ab, um
nach Neukloster reinzukommen, ungefähr so 400 Meter vom Bahnhof weg, nicht. Und wir gingen
rechts runter. ,Da haben wir nichts mit zu tun“, sagt er, ,arme Hamsterer!“, sagt er, ,die sind zu be-
dauern und so“. Ja, ja, der Flachs hat geblüht, nicht. - Na, dann gingen wir so eine Weile und
dann kommen wir an eine Obstplantage, tatsächlich.“ (...)
„Da sind doch immer so diese Gräben dazwischen. Und an den Pforten sind so rechts und links
Drähte gezogen, daß man da nicht rübersteigt. Und da sind wir dann rüber. ,So“, sagt er, ,hiet
kannst Du Dir aussuchen. Hier haben wir Boskop und hier haben wir den und den’. Ja, und dann
68
Über Geschichtsbilder in Erinnerungserzählungen
fingen wir an zu schütteln, und dann haben wir gesammelt. Und auf den Nachbarfeldern haben
die Bauern geerntet. Die konnten aber nicht zu uns rüberkommen, weil die breiten Gräben dazwi-
schen waren! Dann schmissen die mit Äppeln, und dann schmissen wir wieder zurück. (-)“ (...)
„Und dann kommen wir am Bahnhof an. Da waren wir um acht Uhr schon wieder am Bahn-
hof, da konnte man noch Leute sehen, die liefen - aber nachmittags um vier fuhr erst der Zug.
Nun sitz da mal. Dann saßen wir da in Neukloster in ’ner Kneipe. Schach wieder gespielt, Heißge-
tränk getrunken, nicht. Das ist so rotes Wasser. Kriegte man auch rote Zähne von. Na, und dann
(~) sind wir raus. Und dann kamen die Leute so allmählich wieder. Jeder hatte so ungefähr ’nen
Zentner Äppel, hatte jeder sich so allmählich da rangeholt. ,So‘, sagt er, ,ich werde schon mal Fahr-
karten kaufen1, und er geht weg zum Bahnhof. Und ich sitz da an so ’ner Scheune, und da denk
>ch: Mensch, denk ich (-), das Regenfaß hier, das sieht gut aus (-). Habe ich den Deckel hochge-
tuacht, meine Apfel da rein, den Rucksack da rein, alles, was wir an Äpfeln hatten, da rein, hab ich
den Deckel wieder raufgemacht und hab mich fünf Meter weiter wieder hingesetzt und hab gewar-
tet- Und dann mit einem Mal ging’s aber los - zack, zack, zack. Rundherum alles Polizei! Alles
Polizei. Und dann haben sie den ganzen Leuten den ganzen Plunder wieder abgenommen (-).
pff. - Na, mein Freund kommt wieder. ,Mann‘, sagt er, ,wo, wo?‘ - ,1s alles weg“, sag ich, ,die Poli-
Zei hat alles“. - ,Oh nee, oh, oh (unterdrücktes Schimpfen)“. Ich sag: ,Nun bleib hier sitzen!“, sag
lch,,Mensch, kümmer Dich da nicht um. Wir haben mit denen nichts zu tun, Du hast die doch
von Deiner Plantage geholt. Und dann zog sich die Polizei zurück (-) und war weg (-). Und dann
habe ich das rausgeholt. Mensch! Nun hatten wir ja.“
Das Kuriose, Absurde und Spannende der Nachkriegsjahre gerät hier im Rück-
fick zum eigentlichen zeittypischen Merkmal. Die sozialen und physischen Män-
|el und Nöte des Alltags dienen in diesem Text lediglich der Dramatisierung des
tzählgeschehens.
Der Soziologe Erving Goffman hat diese Dramatisierung zur Vermittlung von
rkbtem treffend als „Nachspielen einer Szene“ beschrieben.21 Exemplarisch läßt
fich an der obigen Geschichte verdeutlichen, daß die Erzählung durch ihren bild-
eten Charakter mehr als nur die Wiedergabe einer Episode aus dem Leben des
Wählers ist. Indem ihre Gestaltung und Dramatisierung Konventionen folgt, ver-
^eist die Geschichte auf übergeordnete Sinnzusammenhänge. Nach Meinung des
emiotikers Umberto Eco kann es überhaupt keine vorhergehende Erfahrung ge-
erfi die nicht bereits „in semantische Felder, in Systeme von kulturellen Einheiten
ufid folglich in Wertsystemen strukturiert wäre“.22 Erinnerungserzählungen geben
fischt einfach individuelle Erfahrungen wieder, sie fügen eine neue Interpretations-
ene hinzu; sie „vertexten“ das Erlebte.23
2l
22
23
Vgl. Erving Goffm an: Rahmen-Analyse. Ein Versuch über die Organisation von Alltagserfahrun-
§en. Frankfurt am Main 1977, S. 539
Umberto Eco: Einführung in die Semiotik. München 1972, S. 168.
einem erweiterten Textbegriff, der die mündliche Überlieferung miteinbezieht: Kirill V. Cistov:
2ur Frage der theoretischen Unterschiede zwischen Folklore und Literatur. In: J. Pentikäinen,
hjuurikka (ed., wie Anm. 25), S. 148-173. Außerhalb des Fachdiskurses: Konrad Ehlich: Zum
Textbegriff. In: Arnely Rothkegel, Barbara Sandig (Hrsg.): Text - Textsorten - Textsemantik. Lin-
guistische Modelle und maschinelle Verfahren. Hamburg 1984, S. 9-25; Clifford Geertz: Dichte
fieschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme. Frankfurt am Main 1987, S. 253-260;
J^rijM. Lotman: Text und Funktion. In: Ders.: Aufsätze zur Theorie und Methodologie der Litera-
tUr und Kultur. Kronberg (Taunus) 1974, S. 220-237. In den weiten Rahmen möglicher Objekte
69
Frank Heins
Nicht jeder Erzähler kann jedoch seine Erlebnisse distanziert zu einem
Schwank formen. Im nächsten Beispiel begegnet uns ein ganz anderes Geschichts-
bild: Im Grunde genommen handelt es sich um kein Erzählmuster, sondern einen
Modus des bedeutungsvollen Umschreibens und Auslassens bis hin zum Schwei-
gen: Ich meine die Rede über offenbar nicht Verarbeitetes. Für die unmittelbare
Nachkriegszeit trifft dies vor allem auf die Erfahrung des lebensbedrohenden
Hungers zu. Wen die „Hungerzeit“ in ihrer vollen Härte getroffen hat, dem fällt
es schwer, das Erlebte in eine abgerundete Geschichte zu fassen; die Sprache wird
formelhaft:
„Denn es gab ja nicht mal ein Stück Brot. Es gab ja nichts. Ich hab sogar sonntags gearbeitet
(-) für Brot.“
I.: „Einfach, um ein Stück Brot zu kriegen?“
„Ja, aber auch nur ein paar Stücke, bloß daß man was hatte. Es gab ja nichts. Und später haben wir
Brennessel gepflückt und Runkelrübenkraut, und alles so. Früher hatte man immer gedacht, das
sei nur für die Tiere. Doch Menschen kommen da auch mit zurecht.“
I.: „Dann haben Sie richtig gehungert in der Zeit?“
„Und wie. Wie selten in meinem Leben. Das war für mich die härteste Zeit.“
Eng verbunden mit diesem Geschichtsbild der „Hungerzeit“ ist die Vorstellung
der „Stunde Null“. In der Regel ist damit weniger die politische Situation gemeint
als vielmehr die ökonomische Ausgangslage, das Wirtschaften in einem perspek-
tivlosen Alltag. Die Zeitspanne zwischen Kriegsende und Währungsreform wird
dabei als „zyklische Zeit“ präsentiert, in damaliger Sicht ohne positive Zukunft.
Herr Leske, erfolgreicher selbständiger Handwerksmeister, betrachtet die Jahre
nach 1945 als „Chaos“, aus dem er sich „hochgearbeitet“ hat:
,Ja, es war eine sehr, sehr schwere Zeit. Es war ’ne sehr schwere Zeit. (-) Und, jetzt will ich
mal was von mir selbst erzählen. Mein Vater und ich, wir haben durch unsere Klempnerarbeit sehr
viel Milchkannen und Zuckerdosen und Brotdosen und was weiß ich, was Sie sich vorstellen kön-
nen, hergestellt aus Weißblech.“
Es folgt eine detaillierte Schilderung, wie Vater und Sohn aus dem Müll der bri-
tischen Besatzungsmacht Blechbehälter heraussuchten und die Metallreste zu Ka-
nistern verarbeiteten.
„Aus diesen Kanistern haben wir dann diese Gegenstände hergestellt. Und diese Gegenstände
haben wir wieder eingetauscht gegen Zigaretten. Die Zigaretten haben wir dafür genommen, um
wieder was zum Essen zu besorgen. Butter und Zucker, was ich gesagt habe. Also, so schloß sich
wieder der Kreislauf. (-) Und (-)> das ist also gewesen: ’45 bis ’46. Und dann wurde es eigentlich
immer schlimmer. Es gab so gut wie gar nichts. Also mußten sie ja organisieren, rauf und runter.“
Fortsetzung Fn. 23.
kulturwissenschaftlicher Textanalysen, der über das enge Kriterium der schriftlichen Fixierung
hinausgeht und die symbolische Struktur zum grundlegenden Merkmal erhebt, gehören sowohl
Mythen, Märchen, Sprichwörter als auch Rituale und Bräuche.
Über Geschichtsbilder in Erinnerungserzählungen
Wie sich in diesem Ausschnitt zeigt, erforderte das „Chaos“ neue, nicht selten
illegale Praktiken und Verhaltensformen, keineswegs wurden jedoch tradierte
Wertvorstellungen vollständig aufgegeben. Im Gegenteil, die Arbeit und der Wille
2ur Leistung des „Normalverbrauchers“ werden als Ursache und Garant des Wirt-
schaftswunders der 1950er Jahre angesehen.
Zu diesem Denkmuster gehört eine ambivalente Zeichnung des professionellen
Schwarzhändlers: der „Schieber“ wird zum Sozialtyp. Auf der einen Seite er-
Scheint er als Verbrecher, der sich auf Kosten der großen Mehrheit bereichert, auf
der anderen Seite aber wird er in den Erinnerungen zum Pionier einer freien Wirt-
Schaft, ausgestattet mit bewunderten Eigenschaften wie Cleverneß, Flexibilität
ünd Durchsetzungsfähigkeit. Mythologisches Pendant hierzu ist die „Trümmer-
^rau“. In dieser Figur verkörpern sich Eigenschaften wie Hingabe, Fleiß und Wie-
deraufbauwille. Im Geschichtsbild einer „Stunde Null“ steht der „Schule des
Marktes“24 mit ihren ungleichen Voraussetzungen, deren Lektionen noch heute
Bedeutung beigemessen wird, eine paradox anmutende Hervorhebung sozialer
Harmonie in den Nachkriegsjahren gegenüber. Die weitgehende Desorganisation
der Zusammenbruchgesellschaft verblaßt in der Erinnerung gegenüber der sozia-
len Unterstützung und Solidarität in der Familie.
Sind die Jahre der nationalsozialistischen Diktatur in vielem noch heute durch
Verschweigen und Verdrängen gekennzeichnet, so ist die nachfolgende Epoche zu
einem beliebten Gegenstand des Erzählens im Alltag geworden. Dabei scheint das
lrnrrter wieder Gesagte mitunter ebenso einen umfassenden und unbefangenen
Rückblick zu behindern.
Neben vielen anderen Funktionen des alltäglichen Erzählens, von der die
Selbstpräsentation in der Volkskunde die größte Beachtung gefunden hat, läßt sich
Darbietung „wahrer Geschichten“ daher als Vermittlung eines Bildes vergange-
ner Zeit begreifen.25 In besonderer Weise gilt dies für das Erzählen zwischen den
Generationen, genauer: für die Kommunikation zwischen Zeitzeugen und Nach-
§eborenen, zwischen denen ein Verständigungsprozeß erst durch die Existenz ei-
ner Vorstellung des historischen Kontextes möglich wird. Wer im Familienkreis, in
anonymen Räumen wie Zugabteilen und in Kneipen oder vor dem Interviewmi-
r°fon, um bevorzugte Orte volkskundlicher Forschung zu benennen, Selbster-
eUes oder Gehörtes erzählt, der betätigt sich nicht nur als Unterhaltungskünstler,
s°ndern unter anderem als „Alltagshistoriker“. Aufmerksamkeit verdie-
^ Lutz Niethammer (wie Anm. 20).
VÜ- Rudolf Schenda: Autobiographien erzählen Geschichten. In: Zeitschrift für Volkskunde
2?/1981, S. 67-87, oder auch ders.: Prinzipien einer sozialgeschichtlichen Einordnung von Volks-
erzählungsinhalten. In: Juha Pentikäinen, Tuula Juurikka (ed.): Folk Narrative Research. Helsinki
1976, S. 185-191. Schenda plädiert in Abkehr von strukturalistischen Ansätzen für eine Erzähl-
kvschung, die den Erzähltext als aus „der spezifisch historischen Situation erwachsen“ begreift;
er bleibt aber letztlich bei einer dokumentarischen Betrachtungsweise stehen, die in der Erzäh-
Lng nur einen Hinweis für historische Realität sieht.
71
Frank Heins
nen daher sowohl die gestalterischen Mittel des alltäglichen Erzählens als auch
deren Bezug zu kulturellen Mustern des Umgangs mit Geschichte.
Was aber unterscheidet die Erzählung von anderen Formen der Zeichenvermitt-
lung, deren bildhafter Charakter unmittelbar einleuchtet, wie z.B. Fotografie und
Malerei, in denen historische Wirklichkeit ikonographisch abgebildet und damit
eine Vorstellung vergangenen Geschehens im Raum entfaltet wird?26 Folgt man
den neueren Untersuchungen der Erzählforschung, so wird vor allem die Komple-
xität der Zeitstrukturen als entscheidendes Merkmal des narrativen Textes angese-
hen. Die hermeneutische Theorie geht dabei von einer Tiefenschicht der narrati-
ven Bedeutungsbildung aus, die einen bildhaften Charakter hat. Geschichtener-
zählen folgt einer poetischen Fogik; es bedeutet, Geschehenes zu Bildern zu
verdichten, es in eine symbolische Form zu übersetzen. Geschichten lassen sich
demnach als Allegorien begreifen, sie verweisen auf ein Bild, in dem sich erst ihr
Sinn kristallisiert. Die kategoriale Funktion von Geschichten liegt nicht in allge-
meinen Begriffen oder Formeln, sondern in der Konstitution der Bedeutung eines
Geschehens, in der Beziehung eines Geschehens zu einem Bild, das typische Fe-
bensformen repräsentiert.27 Geschichtenerzählen führt in der Kommunikationssi-
tuation zum Aufbau temporaler und sozialer Orientierung. Erzählen über die Ver-
gangenheit ist „primär Sinnerweiterung“.28
Zeit, Raum, Perspektive und Figur sind analytische Begriffe, die hier als Folie
für eine vergleichende Betrachtung mündlich erzählter Geschichten dienen kön-
26 Jurij A. Lotman: Bemerkungen zur Struktur des narrativen Textes. In: Ders.: Aufsätze zur Theorie
und Methodologie der Literatur und Kultur. Kronberg (Taunus) 1974, S. 21-30; bes. S. 21.
27 Hierzu Ferdinand Fellmann: Symbolischer Pragmatismus. Hermeneutik nach Dilthey. Reinbek
bei Hamburg 1991, bes. S. 162-174. Fellmann könnte auch der volkskundlichen Erzählforschung
Perspektiven einer hermeneutischen Betrachtung von Erzähltexten bieten. Seiner Meinung nach
sind sprachliche Bilder - Metaphern, Geschichten, Stile - die Folie für den sinnhaften Aufbau der
Wirklichkeit. In der interdisziplinären Erzählforschung wie auch in der analytischen Philosophie
hat dagegen eher die Oberflächenstruktur des narrativen Diskurses eine genaue Betrachtung erfah-
ren: Ausgehend vom Konzept eines „narrativen Schemas“ läßt sich jede Erzählung als Form der
Erklärung von kontingenten Ereignissen begreifen, als Beantwortung der Frage: Wie konnte das
geschehen? Der Übergang von einem Zustand zu einem folgenden, der sich zum ersten konträr
verhält, wird in Form einer Geschichte vermittelt; vgl. Arthur C. Danto: Historisches Erklären,
historisches Verstehen und die Geisteswissenschaften. In: Pietro Rossi: (wie Anm. 2), S. 27-56. Da-
bei ist es die Struktur der Erzählung, ihre Organisationsform, die den Gegenstand erst konstitu-
iert. Fritz Schütze spricht in diesem Sinne von strukturellen „Handlungszwängen“, die „narrative
Komplexe“ dem jeweiligen Erzähler auferlegen (wie Anm. 15, hier S. 571-573). Das narrative
Schema ermöglicht es, paradigmatische Oppositionen wie Leben-Tod, jung-alt, Glück-Unglück
syntagmatisch zu entfalten; vgl. Karlheinz Stierle: Geschehen, Geschichte, Text der Geschichte. In:
Ders.: Text als Handlung. München 1975, S. 49-55. Erzählen aus hermeneutischer Sicht ist je-
doch kein Code unter anderen, der in kurzen prägnanten Formeln darstellbar wäre und ohne
„Sinn“ -Yerlust z. B. in argumentative Sprechschemata übersetzbar ist, sondern ist eben durch die
„Tiefenschicht“ einer bildhaften Bedeutung gekennzeichnet.
28 Erläutert bei Kurt Röttgers: Der kommunikative Text und die Zeitstruktur von Geschichten. Frei-
burg, München 1982, S. 236.
72
Über Geschichtsbilder in Erinnerungserzählungen
nen.29 Sie fragen nach der Ausdehnung und Begrenzung der erzählten Wirklich-
st. Ebenso liefern sie Ansatzpunkte zur Untersuchung der Konstitution des in
diesem Rahmen handelnden Subjekts und sozialer Typisierungen als prägenden
Elementen der im Text enthaltenen Gesellschaftsschilderung. Kulturelle Vorstel-
lungskompl exe wie die Geschichtsbilder erschließen sich demnach aus den Mu-
stern der Vertextung bzw. in den aufgezeigten Beispielen aus den Mustern des Er-
zählens über die „Schwarzmarktjahre“. Darüber hinaus beinhalten Erinnerungser-
zählungen nicht nur Informationen über vergangene Wirklichkeiten, sondern
Pfägen als „Diskurs des Realen“30 die Wirklichkeit des Erzählens.
Ehe Bedingungen der Vermittlung von Geschichtsbildern
„Da war kein Wunder nach dem Krieg, sondern der Wille unseres Volkes zum Wiederaufbau.
Gerade heute sollen die Alten wieder mit den Jungen reden, der glücklichsten Generation der neu-
en Geschichte, und erzählen wie es damals war.“ (Bundeskanzler Helmut Kohl auf einer Wahl-
kampfveranstaltung in Hamburg im März 1990.)
„Mein Sohn ist 28, meine Tochter ist 30. Wenn meine Frau und ich von diesen Zeiten erzählen,
dann nehmen die immer die Hände hoch und sagen: ,Nun hör mal auf, das haben wir schon so
°ft gehört, und wir leben heute, nun laß das mal!1 Ich sag denn immer: ,Ihr müßt Euch das aber
auch mal erzählen lassen, wie das mal war.1 Ich sag: ,Wir kommen aus einer ganz schweren Zeit.1 “
(Handwerksmeister aus Hamburg während eines Interviews im April 1990.)
Zwei Zitate von Angehörigen derselben Generation stehen sich in der Montage
gegenüber. Der konservative Politiker vertraut auf die Überzeugungskraft des Ge-
Schichtenerzählens, auf ein kollektiv verankertes Geschichtsbild der Nachkriegs-
^eit- Das erste Zitat macht deutlich: Indem Geschichtsbilder eine eigene Wirklich-
st darstellen, kulturelles Wissen organisieren, können sie funktionalisiert und
lnstrumentalisiert werden. Die Aufforderung zum Erzählen zwischen den Genera-
tionen ist politisch motiviert, sie ist nur verständlich, wenn der Inhalt und die Bot-
Schaft der geforderten Erzählungen schon vorher festzustehen scheinen. Der Poli-
llker Kt sich sicher, daß seine Weitsicht und Handlungsorientierung im histori-
schen Geschehen bestätigt sind. Dem steht die empirisch abgesicherte Aussage des
arnilienvaters gegenüber. Er mußte die Erfahrung machen, daß seine Geschichten
Sch „abgenutzt“ haben. Was im zweiten Zitat geschildert wird, ist geradezu ein
aradebeispiel einer mißlungenen Erzählsituation. Das Erzählen zwischen den
penerationen scheitert an der Abwehr von Sohn und Tochter, die die Zeit nach
i riegsende nicht miterlebt haben und die Erzählungen der Eltern aufgrund ihrer
1 eutigen Wert Vorstellungen „nicht mehr hören können“.
E)ie Vermittlung von Geschichtsbildern durch das mündliche Erzählen ist für
en Erzählforscher nicht über die Kenntnis des Textes allein ergründbar, sondern
Cordula Kahrmann, Gunter Reiß, Manfred Schluchter: Erzähltextanalyse. Eine Einführung. 2. Aufl.
3o überarb. Neuausg. Meisenheim 1991, S. 133-164.
Vgl- Hayden White: Die Bedeutung der Form. Erzählstrukturen in der Geschichtsschreibung.
Frankfurt am Main 1990, S. 34. White wählt diese Formulierung unter Bezug auf den französi-
Schen Diskurstheoretiker Jacques Lacan.
73
Frank Heins
erfordert Wissen über dessen Performanz, über den „lebendigen, dynamischen,
kommunikativen Vorgang“, wie es Barre Toelken ausgedrückt hat.31 Schon 1967
wies der russische Folklorist Kirill V. Cistov darauf hin, daß bei den nichtmärchen-
haften Genres der Folklore der „Inhalt die praktische Funktion“ des Textes be-
stimmt und die „Form ein Ubermittlungsverfahren“ ist, das von der jeweiligen
Kommunikationssituation abhängt.32 Die rhetorischen Mittel transformieren und
strukturieren den „Sinn“ des Erzählten. Eine Geschichte verstehen, heißt über den
Inhalt hinaus ihre Form erkennen.33 Die Reaktion von Sohn und Tochter ist weni-
ger als mangelndes Interesse am geschilderten Geschehen zu begreifen. Ihr Textver-
ständnis ist von den kommunikativen Bedingungen abhängig, die immer über den
„fixierten Sinngehalt“ des Gesagten hinausreichen.34 Es bezieht sich auf die im
Text vermeintlich enthaltene Botschaft und auf das Ubermittlungsverfahren einer
lehrreichen Beispielerzählung, auf die Form eines Exempels.35
Jede Kommunikationssituation ist von kulturellen Mustern geprägt. So ver-
weist das zweite Zitat auf mehr als einen familieninternen Konflikt. Die Rezeption
der Erinnerungserzählungen des Vaters durch die Kinder ist insgesamt abhängig
von ihrer Einordnung seiner Rede in bekannte Denk- und Redemuster. Die Jahre
nach 1945 unter dem Leitgedanken von Wiederaufbauwillen und Fleiß zu betrach-
ten ist aus der Sicht der Nachgeborenen ein Mythos.
Alltägliche Erzählungen und die ihnen zugrundeliegenden Denkmodelle ste-
hen also nicht nur in Zusammenhang mit den sozialen Strukturen eines kollekti-
ven Gedächtnisses und werden nicht nur durch einen allgemein formulierbaren hi-
storischen Kontext beeinflußt. Texte sind darüber hinaus bezogen auf ein semanti-
sches Umfeld, das sowohl die Bedingungen des Redens über einen Gegenstand in
der Öffentlichkeit als auch die Art ihrer Rezeption beeinflußt. Der Text ist somit
ein „System, das nach Kategorien, Wahrnehmungs- und Geschmacksschemata und
Funktionsregeln errichtet wurde, die in seinen Entstehungsbedingungen nachweis-
bar sind“.36 Erzähltexte sind daher nie allein auf die Intention des Erzählers zu-
31 Barre Toelken: Zum Begriff der Performanz im dynamischen Kontext der Volksüberlieferung. In:
Zeitschrift für Volkskunde 77/1981, S. 37-50; hier S. 50.
32 K. V. Cistov: Das Problem der Kategorien mündlicher Prosa nicht-märchenhaften Charakters. In:
Fabula 9/1967, S. 27-40; hier S. 35-38.
33 Vgl. Hayden White (wie Anm. 30), S. 60.
34 Vgl. Hans-Georg Gadamer: Text und Interpretation. In: Philippe Forget (Hrsg.): Text und Interpre-
tation. Deutsch-französische Debatte mit Beiträgen von J. Derrida, Ph. Forget, M. Frank, H.-G.
Gadamer, J. Greisch und F. Lamelle. München 1984, S. 25-55, bes. S. 41.
35 Zur volkskundlichen Exemplaforschung: Christoph Daxelmüller: Exemplum. In: Enzyklopädie
des Märchens. Bd. 4 (hrsg. von Kurt Ranke). Berlin/New York 1984, Sp. 627-649; Angela Keppler:
Beispiele in Geschichten. Zu Form und Funktion exemplarischer Geschichten. In: Zeitschrift für
Volkskunde 84/1988, S. 39-57; Rudolf Schenda: Stand und Aufgaben der Exemplaforschung. In:
Fabula 10/1969. - Nur einen Aspekt des Erzählens in Exempeln thematisiert Peter Assion: Das
Exempel als agitatorische Gattung. In: Fabula 19/1978, S. 225-240.
36 Roger Chartier: Geistesgeschichte oder histoire de mentalites. In: Dominick LaCapra, Steven L.
Kaplan (Hrsg.): Geschichte denken. Neubestimmung und Perspektiven moderner europäischer
Geistesgeschichte. Frankfurt am Main 1988, S. 11-44; hier S. 36.
74
Über Geschichtsbilder in Erinnerungserzählungen
’’ückführbar, sie knüpfen an vorhandene kulturelle Muster der Rede an, modulie-
ren, konstruieren, selektieren und können weitererzählt werden, d. h. sie sind prin-
zipiell wiederholbar. Erst dies ermöglicht ihr Verstehen. Textlichkeit ist also im-
mer Hinweis auf den Standort von Geschichten in kulturellen Systemen.
Die kulturwissenschaftliche Frage nach der Einordnung einzelner Erzähltexte
m übergeordnete Erörterungszusammenhänge, nach Formalprinzipien und vorherr-
schenden Redeweisen könnte hier meines Erachtens von einer pragmatischen Ver-
wendung jener Ansätze profitieren, die sprachliche Muster als Elemente von alltäg-
lichen „Diskursen“ begreifen. Andreas Hartmann hat hier erste Erkundungen für
die Volkskunde unternommen.37 Freilich sollte dies nicht zu einer schematischen
Übertragung der Vielzahl von diskurstheoretischen Konzepten auf volkskundli-
che Fragestellungen führen, sondern in eine flexible Anwendung der mit dem Be-
griff verbundenen Perspektive münden. Denn anders als in wissenschaftlichen
Diskursen haben wir es bei der Betrachtung von alltäglicher Rede nicht mit starren
Regularien, sondern eher mit „Redegewohnheiten“ zu tun. Betrachtet man eine
historische Zeitspanne wie etwa die Nachkriegsjahre als einen Redegegenstand,
dann rückt die Frage nach Kontext und Zusammenhängen von Erinnerungs-
erzählungen und den in ihnen vorkommenden Begriffen und Metaphern und da-
mit nach vorherrschenden Redeweisen und ihren kommunikativen Bezügen in
den Mittelpunkt.38 Die Möglichkeit, ein Ereignis in einer bestimmten Weise zu er-
zählen, erweist sich als bereits durch die Formen eines öffentlichen Diskurses ge-
prägt. Jeder Erzählvorgang geschieht unter den Bedingungen augenblicklich gülti-
ger Deutungen, akzeptierter Redeweisen und publikumswirksamer Effekte. Der
dext alltäglicher Erzählungen ist nicht mehr losgelöst zu betrachten von Aussagen
lri Filmen, Schulbüchern, Tageszeitungen und anderen Massenmedien. Dem litera-
Andreas Hartmann („Über die Kulturanalyse des Diskurses - eine Erkundung“. In: Zeitschrift
für Volkskunde 87/1991) legt in seinem Aufsatz die Grundzüge einer diskurstheoretischen Analy-
se präzise frei und könnte damit der Volkskunde wichtige Anstöße liefern. Er orientiert sich dabei
vor allem an der (sozialgeschichtlich sicherlich fruchtbarsten) Diskurstheorie Michel Foucaults,
die vornehmlich an der Untersuchung machtvoller Institutionen entwickelt wurde, deren Über-
tragbarkeit auf das alltägliche Erzählen aber fraglich ist. Eine eher weiterführende theoretische
Durchdringung des „Interdiskurses“ und der „Kollektivsymbolik“, der allgemeinverständlichen
Rede also, findet sich in den literaturwissenschaftlichen Arbeiten von Jürgen Link (z. B. Die Struk-
tur des Symbols in der Sprache des Journalisten. München 1978). Eine neuere volkskundliche Ar-
beit, die den „Redeweisen über die Nacht“ nachspürt, stammt von Joachim Schlör (Nachts in der
großen Stadt. Paris, Berlin, London 1840-1930. München 1991).
Hier zeigt sich, daß der Begriff des Diskurses in der volkskundlichen Erzählforschung keineswegs
neu ist. Auf dem Kongreß in Helsinki 1974 analysierte Dan Ben-Amos, wie Untersuchungen von
Gattungen als Redeweisen der mündlichen Überlieferung diese Genres als „Forms of Discourse“
beschreiben: „In terms of this view, each genre has its own rhetorical features, vocabulary, disposi-
tion toward reality, use of descriptive language, types of characters, and dominant symbolic mea-
nings - all of which mark it as a distinct form of discourse within oral tradition.“ Als Beispiele
nannte er die Arbeiten von Lutz Röhrich und Max Lüthi zu Märchen und Sage. Dan Ben-Amos:
bhe Concepts of Genre in Folklore. In: /. Pentikäinen, T. Juurikka (ed„ wie Anm. 25), S. 30-43;
hier S. 39.
75
Frank Heins
rischen Text gleich, ist der Text einer Erinnerungserzählung dann zu begreifen als
ein „Knotenpunkt“ inmitten eines historisch beschreibbaren Feldes, das sich über
den Bezug auf Redeweisen in anderen Kontexten, über interdiskursive Verweisun-
gen strukturiert.39
Ein Beispiel: Zwei schriftlich aufgezeichnete Lebensgeschichten aus dem
Kempowski-Archiv in Hagen wurden verglichen in Hinblick auf die „Vertextung“
der nationalsozialistischen Vergangenheit Deutschlands. Es stellte sich heraus: In
einer 1959 verfaßten Lebensgeschichte besteht ein geradezu zwanghafter Bezug auf
die Zeit des „Dritten Reichs“. Erklärungen und Rechtfertigungen spielen eine ge-
wichtige Rolle im Text. Dagegen wird in einer zweiten Lebensgeschichte aus dem
Jahr 1981 zu diesem Thema nur noch lapidar festgestellt, es sei schon alles gesagt
worden.40 Ähnliches stellt Konrad Köstlin für das Erzählen über den „Krieg als
Reise“ fest: die Bedigungen der Performanz wandeln sich, der Text ist durch den
Kontext bestimmt.41 Ebenso steht der Text von Erinnerungserzählungen in Bezug
zum öffentlichen Diskurs über die Nachkriegsjahre; er spiegelt ihn wider, führt
ihn fort, verneint oder bejaht ihn. Für die mir 1990 erzählten Schwarzmarktge-
schichten war etwa der Vergleich von westdeutscher Nachkriegssituation und ost-
deutscher „Wendezeit“ bestimmend. Das Geschichtsbild der Nachkriegsjahre for-
muliert das Bild der heutigen neuen Bundesländer:
„Richtig funktionieren tat die ganze Geschichte nur durch die Schrebergärten, so wie das in
der DDR auch ist. Wenn in der DDR nicht so furchtbar viele Schrebergärten wären, die Leute wür-
den ja kein Gemüse kriegen. Das holen die sich alles aus ihren Schrebergärten und machen das alles
selber (-) Not macht erfinderisch! Das sollten Sie vielleicht auch mal in ihrer Geschichte mit ein-
bringen. Also auf alle Fälle waren wir alle unheimlich fleißig. Wir haben gewühlt wie die Ochsen,
damit das hier einigermaßen wieder auf Vordermann kam. Wo Sie hier sitzen, sie sitzen also auf
dem Betonboden vom Keller. Und das ist das einzige, was hier in diesem Haus stehen geblieben
ist - und ein paar Wände. (-) Und wir waren natürlich bemüht, hier was draus zu machen, daß
wir unsere Werkstatt unten im Keller, daß wir die in Betrieb hatten und die ganze Geschichte. Wir
haben so wie in der DDR, haben wir praktisch aus Mist wieder was hergerichtet. Im weitesten Sin-
ne: die krummen Nägel wurden alle wieder gerade gemacht.“
Kommunikationssituationen und diskursives Umfeld — Faktoren, die nicht nur
eine Performanz des Erzähltextes bestimmen, sondern Erzählungen einbinden in
eine gesellschaftliche Praxis der Konstruktion von Geschichte. Mündliche Erinne-
rungserzählungen verflüchtigen sich nicht in der Vielzahl einzelner Texte und in-
dividueller Erfahrungen, sie sind Hinweis auf die Relevanz von verfestigten Rede-
weisen über die Vergangenheit im Alltag und damit auf kulturelle Denkmuster in
Form von Geschichtsbildern.
39 Jutta Kolkenbrock-Netz: Diskursanalyse und Narrativik. Voraussetzungen und Konsequenzen ei-
ner interdisziplinären Fragestellung. In: Jürgen Fohrmann, Harro Müller (Hrsg.): Diskurstheorien
und Literaturwissenschaft. Frankfurt am Main 1989, S. 261-283; hier S. 277f.
40 Kurt Röttgers: Die Erzählbarkeit des Lebens. In: BIOS 1/1988, S. 5-18; hier S. 12-15.
41 Konrad Köstlin: Erzählen vom Krieg - Krieg als Reise II. In: BIOS, Heft 2/1989, S. 173-182. -
Zum Erzählen über den Krieg s. a. Hans Joachim Schröder: Die gestohlenen Jahre. Erzählgeschich-
ten und Geschichtserzählungen im Interview. Der Zweite Weltkrieg aus der Sicht ehemaliger
Mannschaftssoldaten. Habil. Tübingen 1992.
76
Über Geschichtsbilder in Erinnerungserzählungen
English Summary
PRANK HEINS: Historical Images in Narratives of Reminiscence.
This essay addresses the problematic of how history is culturally mediated through col-
ectively based notions of the past that are labeled “Geschichtsbilder” (historical images).
This cultural dimension of reports on individual experiences manifests itself in the way they
are articulated in language. Narratives of reminiscence from the earliest post-war period
1945-1948 are used as a case in point to illustrate how prevalent patterns of narrative enter-
ed delineating that particular era. The essay suggests to conceptualize narratives of reminis-
Cence as texts that can be analyzed on two points: first, how they construct a narrated reality,
and, secondly, how they are shaped by both the immediate instance of communication and
prevalent discourses in society.
77
Gottfried Keller irrt in einer Orient-Legende
Von Leopold Kretzenbacloer, München
Seit meiner Studentenzeit als Germanist an der Universität Graz (1932—1936)
und den Vorlesungen meines „Doktorvaters“ Karl Polheim (1883—1967) über die
drei großen Erzähler des 19. Jahrhunderts, über Gottfried Keller (1819-1890),
Conrad Ferdinand Meyer (1825-1898) und Theodor Storm (1817-1888) liebe ich
beim Erstgenannten seine „Sieben Legenden“ (1872).’ Darin aber ist mir die aller-
liebste die köstliche Schwank-Legende „Der schlimm-heilige Vitalis“, die Gott-
fried Keller mit leiser Bosheit unter ein Motto aus der „Nachfolge Christi“ (De
imitatione Christi) des Augustinerchorherren Thomas von Kempen (1379/90—
1471) stellt: Meide den traulichen Umgang mit einem Weibe, empfiehl du überhaupt
lieber das ganze andächtige Geschlecht dem lieben Gott. (Nachfolge, 8,2). Aber daran
hält sich nun ein wunderlicher Mönch namens Vitalis, der es sich zur besonderen Auf-
gabe gemacht hatte, verlorene weibliche Seelen vom Pfade der Sünde hinwegzulocken
und zur Tugend zurückzuführen eben nicht. Das mußte dann, obwohl es letztlich
„gut ausging“, zu seinem „Verhängnis“ werden.
Gottfried Keller spart nicht, schmunzelnd über des Vitalis Bekehrungseifer, mit
seiner eigenen Anschauung: Aber der Weg, den er (Vitalis) dabei einschlug, war so
eigenthümlich, und die Liebhaberei, ja Leidenschaft, mit welcher er unablässig sein
Ziel verfolgte, mit so merkwürdiger Selbstentäußerung und Heuchelei vermischt, wie
in der Welt kaum wieder vorkam. So trieb es dieser Vitalis auch „schlimm-heilig“
bei den Schönen der Nacht zw Alexandria in Ägypten. Bei etlichen „Buhlerinnen“,
über die Vitalis ein genaues Verzeichnis . .. auf einem zierlichen Pergamentstreifen
führte, übrigens verwahrt in einer kleinen Büchse unter seiner Kappe, mochte er
Erfolg haben. Das weiß der sinnenfrohe, reichlich dem farbigen Diesseits zuge-
wandte Gottfried Keller hier köstlich zu erzählen. Sein freundschaftlicher Um-
gang mit dem Philosophen und Begründer einer rein materialistischen Weltan-
schauung, Ludwig Feuerbach (1804—1872), der jegliches Religiöse nur als Aus-
druck menschlicher Sehnsüchte, Befürchtungen und Wünsche, mithin also
anthropologisch ausdeutete, hat Gottfried Keller keineswegs zu einem Nur-Noch-
Materialisten gemacht.1 2
Nur einmal wäre die Bekehrungsabsicht des „schlimm-heiligen Vitalis“ an einer
besonders feurigen Hetäre beinahe mißlungen. Die wollte ihn zunächst gar nicht
ohne Geld einlassen: ... und doch reizte es ihn über alle Maßen, gerade diese rot
schimmernde Satanstochter zu bändigen, weil große schöne Menschenbilder immer
wieder die Sinne verleiten, ihnen einen höheren menschlichen Wert zuzuschreiben, als
1 1. und 2. Auflage Stuttgart 1872; hier zitiert nach einer bibliophilen, von Georg W. Rössner illu-
strierten Ausgabe der Kleinbuchreihe „Die Schatulle“ der Deutschen Buchgemeinschaft, Berlin
o.J. (um 1935).
2 Fritz Buri: Gottfried Kellers Glaube. Ein Bekenntnis zu seinem Protestantismus. Bern 1944.
78
Gottfried Keller irrt in einer Orient-Legende
sie wirklich haben. Also schenkte Vitalis der Dirne jenes Silberbüchslein ..., welches
mit einem ziemlich wertvollen Amethyst geziert warf das schon erwähnte Büchslein
also, in dem Vitalis die Namen und die Wohnungen der von ihm zur „Bekehrung“
Vorgesehenen aufgeschrieben verwahrte, um einen neuentdeckten leichtfertigen Na-
nien beizufügen oder die bereits vorhandenen zu überblicken, zu zählen und zu berech-
nen, welche der Inhaberinnen demnächst an die Reihe kommen würde. Als Vitalis
dann aber, endlich eingelassen, sich nicht um die sich Entkleidende kümmerte,
sondern nach seiner Gewohnheit in eine Ecke (kniete) und betete mit lauter Stimme,
da verfiel auch die Hetäre in ein „unbändiges Gelächter“. Das Beten des Mönches
fing an, sie zu langweilen. Also entblößte sie unzüchtig ihre Schultern, schritt auf ihn
7M-> umstrickte ihn mit ihren weißen starken Armen und drückte den guten Vitalis
nilt seinem geschorenen und tonsurierten Kopf so derb gegen ihre Brust, daß er zu er-
sticken drohte, und zu prusten begann, als ob er im Fegfeuer stäke . .. Das sagte Gott-
fried Keller poetisch kraftvoll, ja deftig. Aber nach Theologie und Kulturgeschich-
te Im Anfang des achten Jahrhunderts, wie es zu Eingang der hübschen Legende
heißt, ist das nicht zeitgerecht, gar nicht möglich.
Zwei Dinge fallen also dem Volkskundler beim Lesen dieser vergnüglichen Le-
inde auf. Einmal der kleine Fach-Irrtum des Dichters mit dem „Fegfeuer“ im ach-
ten Jahrhundert. Zum andern, daß Gottfried Keller im „schlimm-heiligen Vitalis“
diesen nur religiös fundierten Typus eines exaltiert-absonderlich sich gebenden
Mönches zur Leitgestalt der Legenden-Novelle macht, die im wesentlichen (wenn
auch nicht ausschließlich) Südosteuropa, vor allem zunächst dem byzantinisch-
§riechischen Kulturraum als Erscheinungsform entspricht. Davon aber erst später.
Ein „Fegfeuer“, purgatorium im Sinne eines der möglichen Endpunkte der
Eschatologie nach dem irdischen Ableben des Menschen, lehrt das Christentum
tausend Jahre lang, da die Offenbarung darüber nichts aussagt, in keiner seiner
Geologisch ausgeprägten, lehrsatzgemäßen Sonderformen. Im Gegenteil! Die Fra-
§e des „Fegfeuers“ ist sogar heute noch im Lehrgebäude der katholischen Kirche,
dje allein unter den großen christlichen Konfessionen ein solches kennt, wobei sie
Slch auch in unseren Tagen gegen den unabweisbar mitschwingenden Begriff des
’’Feuers“ als Läuterungselement wehren möchte4, nicht bis zur letztmöglichen
Ein „Amethyst“ scheint mir durchaus bewußt von Gottfried Keller hier genannt zu sein, da er ge-
Mß Etymologie und Volksglauben um diesen Halbedelstein kannte. „Amethyst“ als die „dem
Rausch (im Alkohol und in der Liebe) widerstehend“, à-(iéî?UGTOÇ (ö und rj) gehört zu griech.
4é$u(tô)tür jedes „berauschende Getränk“. Es stellt sich zu sanskr. madhu, got. midus, ahd.
oictu = Met. Auch in beiden Versionen des Neugriechischen geläufig als àpétJuoTOc; =
°Xi HEtfucpévoc;, Der Stein wird - gewiß bedeutungerfüllt - auch schon bei den Priesterge-
wändern des Alten Testaments genannt: 2. Mos. 28,19; 39,12. Im Neuen Testament, Geheime
Offenbarung 21,10, ist der Amethyst der zwölfte Grundstein des Neuen Jerusalem. Vgl. Karl Hart-
mann, Bernd Binneweis: Edelsteine. Stuttgart 1975,21977, bes. S. 32; Christine und Richard Kerler:
Geheime Welt der Talismane und Amulette. Rosenheim 1977, S. 16 f.
Earl Rahner: Stichwort „Fegfeuer“ in: Lexikon für Theologie und Kirche. 2. Aufl. Band IV. Frei-
Eurg i.Br. 1960, Sp. 49-55 (A. Closs, ]. Gnilka), bes. Sp. 51 (Kirchliches Lehramt).
79
Leopold Kretzenbacher
Klarheit, wenn auch schon zu einem Dogma durchtheologisiert. Aber auch das
erst seit dem 16. Jahrhundert!5 Erst zu Anfang des zweiten christlichen Jahrtau-
sends bildet sich ein purgatorium als receptaculum animarum post mortem zur
„Läuterung“ für jene Seelen in der christlichen Vorstellungswelt von der Eschatö-
logie als den Lehren „Von den Letzten Dingen“6 aus, die noch mit Diesseitsschuld
beladen, also ohne sie hier abgebüßt zu haben, in ihr „ewiges“ Schicksal, das heißt
in die Himmelsherrlichkeit treten können, wenn sie durch die Qualen einer „Rei-
nigung“ eben in einem purgatorium, auferlegt durch den Richterspruch der Gott-
heit, gegangen sind. Erst dann entgehen sie für immer den anderen Ewigkeits-
receptacula, also der „Hölle“ (inferus, gehenna, locus poenalis u.ä.) und dürfen „ge-
läutert“ in den „Himmel“ (coelum).
Solches Denken, bezogen auf die nicht ganz klaren Ansatz-Aussagen im Alten
wie im Neuen Testament (2. Makk., 12,43-46; Matth. 12,31-32; Paulus, 1. Kor.
3,10—15, das besonders angezweifelt)7, hat sich - im Westen überkreuzt mit eigen-
artigen Jenseitsvorstellungen der so früh christianisierten Iren, die gleichwohl viel
an heidnischen Überlieferungen über „das Leben nach dem Tode“ bei sich bewahr-
ten und in die christliche Theologie einfließen lassen konnten - erst im abendlän-
dischen Hochmittelalter in der lateinischen Kirche zu Ansätzen einer spezifischen
Fegfeuer-Lehre verdichtet.8 Man darf hier nicht vergessen, daß erst zwei Konzile
des 13. Jahrhunderts, jenes zu Lyon 1245 und wiederum hier 1274, eine gewisse
Lehre vom Zwischenzustand der Seele zwischen Leibestod und ewiger Bestim-
mung zur Himmelsglorie kirchlich „verkündet“ hatten. Ferner, daß auch dies
noch lange nicht das Ende der theologischen Diskusssionen darüber bedeutet hat-
te. War doch z.B. das Unionskonzil von Florenz 1439 nicht bloß wegen der schier
unüberbrückbaren Gegensätze in der Frage nach Wesen und „Abkunft“ des Heili-
gen Geistes (in der berühmten Filioque-Formel), sondern gerade auch wegen der
Fegfeuer-Lehre der Lateiner, die die Griechen (bis heute!) nicht annehmen wollten
und wollen, beinahe gescheitert.9 Zu einem für die gesamte lateinisch-katholische
Kirche verbindlichen Glaubenssatz, zum Dogma also wurde die Fegfeuer-Lehre
5 Michael Schmaus: Katholische Dogmatik. Band IV/2: Von den Letzten Dingen. 5. Aufl. München
1959; bes. § 306: Das Wesen des Fegfeuers, S. 541-558.
6 Zur erstaunlichen Vielfalt dieser Lehren bereits des Früh-Christentums mit seinen Vorstellungen
von der jenseitigen Läuterung durch Strafen, insbesondere durch das Reinigungsfeuer (ttög
KCtiüötgoiov), etwa bei Origenes (um 185-254), vgl. das Standardwerk Leonhard Atzherger:
Geschichte der christlichen Eschatologie innerhalb der vornizänischen Zeit. Freiburg i.Br. 1896,
Nachdruck Graz 1970, bes. S. 402-407 et passim.
7 Johannes B. Bauer: Bibeltheologisches Wörterbuch. Band I. Graz, Wien, Köln 1959. 3. Aufl. 1967,
S. 386-389, s. v. „Feuer“.
8 Vgl. (in Auswahl) J. Le Goff: La naissance du purgatoire. Paris 1981; dazu mit Berichtigungen, we-
sentlichen Ergänzungen und neuester Literatur bis 1985 die Groß-Rezession von Peter Dinzelba-
cher in der niederländischen Zeitschrift ”Ons geestelijk erf“, Band 61, 1987, Heft 2—3, S. 278—282;
A. D’Ales: La question du purgatoire en concile de Florence an 1439 (Gregorianum III, Rom 1922,
S. 9-50).
9 Hans-Georg Beck: Die Byzantiner und ihr Jenseits. Zur Entstehungsgeschichte einer Mentalität (SB
der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, phil.-histor. Klasse, Jg. 1979, Heft 4, S. 49 et passim).
80
Gottfried Keller irrt in einer Orient-Legende
erst nach harten Auseinandersetzungen mit den gegenteiligen Ansichten von Jean
Calvin (1509—1564) und (seit 1530) Martin Luther (1483—1546) über die Eschato-
l°gie auf dem Konzil von Trient (1545—1563).10 Wenn wir nun — dem bevorzug-
ten Blickfeld über Südosteuropa und den Nahen Orient entsprechend - hier ver-
kürzte Umschau halten, so zeigt es sich eben, daß der Begriff „Fegfeuer“ sehr diffe-
renziert, auf jeden Fall als für die nichtkatholischen Völker und Sprachen eben
auch nicht bedeutsam, nicht glaubenswirksam verwendet wird.
Das Wort Ka^apTiipiov für purgatorium ist in den gängigen neugriechischen
Wörterbüchern durchaus bekannt und vermerkt sowohl für die Hochsprache
(Ka$ag8uouoa) wie für die „Volkssprache“, die heute im Öffentlichen sehr vor-
dringende öripoTiKfj- Aber seine Bedeutung ist ausdrücklich eingeschränkt als das
Wort für den „Ort, an dem nach der Lehre der Westkirche die Seelen der Sünder
geläutert werden durch das Fegfeuer, bis sie in das Paradies kommen“.11 So z. B.
auch in einem anderen neugriechisch-deutschen Lexikon von 1970.12 Genau der
Reiche Vermerk wie vorhin auch in einem rumänischen Wörterbuch der jüngsten
^eit: purgatorium (in religia catolica).13 Das gilt auch für das weltweit wichtigste
Oxford-Englisch-Wörterbuch von heute.14
Dementsprechend kehrt es in den südslawischen Sprachen, allerdings mit der
bewußten Einschränkung des Gebrauches für die „Lateiner“, nicht aber für die
»Rechtgläubigen“, die Orthodxen, pravoslavci, wieder. Wenn es in älteren Sprach-
Schichten, etwa bei Franz Miklosich (Miklosic) (1813—1891) in seinem bedeutsa-
men Lexicon linguae slovenicae veteris dialecti von Wien 185015, auftaucht als cistilo
10
11
12
13
14
15
Vgl. über die Diskussionen und die Lehrsatz-Formulierungen dazu Heinrich Denzinger: Echiri-
dion symbolorum, definitionum et declarationum de rebus fidei et morum. 30. Aufl., besorgt von
Karl Rahner, Freiburg i.Br. 1955; 36. Aufl. von Adolf Schönmetzer. Ebenda 1976; „Verbesserte, er-
weiterte“ lateinisch-deutsche Ausgabe als 37. Aufl. von Peter Hünermann. Freiburg i. Br. 1991; hier
Kr. M 1 b = S. 1645 f; M 2 bb = S. 1646; aufgrund von No 1820, deutsch S. 577-578. Es geht um
das Decretum de purgatorio nach der Konzilssitzung zu Trient am 3. XII. 1563. Die kirchliche Feg-
feuerlehre wurde daraufhin auch in die Professio fidei Tridentina aufgenommen. Vgl. dazu Emst
Koch: Theologische Realenzyklopädie. Band XI. Berlin, New York 1983, S. 69-78. Zu den volks-
tümlichen Vorstellungen in Vergangenheit und Gegenwart zumal in der Volksglaubens- und Er-
zählüberlieferung vgl. LeonhardIntorp: Enzyklopädie des Märchens. Handwörterbuch zur histori-
schen und vergleichenden Erzählforschung. Band 4, Lieferung 4/5. Berlin, New York 1984,
Sp. 964-979. Zu den Bilddarstellungen des „Fegfeuers“ Wolfgang Braunfels: Lexikon der christ-
lichen Ikonographie. Band II. Rom, Basel, Freiburg, Wien 1970, Sp. 16.20.
Theokritos Goulas: Synchronon orthographikon-hermeeneutikon lexikon tees helleenikees gloos-
Sees kathareusees-deemotikees. Athen 1961, S. 910.
Alexander Ä. Tsoukanas: Neon helleeno-germanikon lexikon. O.O. o.J., vermutlich Athen um
1970, S. 266.
Vasile Brehan: Dictionar general al limbii romäne. Bukarest 1987, S. 847.
J-A. Simpson, E.S.C. Weiner: The Oxford English Dictionary. 2. Aufl. Band XII. Oxford 1989,
S. 866 (mit dem Vermerk zu purgatory in Roman Catholic belief. Hier Belege seit dem frühen 13.
Jahrhundert; im Abschnitt b Saint Patricks’s Purgatory Belege seit etwa 1290.
Franz Miklosich (Miklosic): Lexicon linguae slovenicae veteris dialecti. Wien 1850. Neudruck Mün-
chen 1970, S. 196.
81
Leopold Kretzenbacher
und übersetzt wird mit Kadagovov piaculum, gezogen aus ioann. exarch, so steht
es damit nicht im Zusammenhang mit „Fegfeuer“-purgatorium, sondern für
„Sühnopfer“. Das gilt dann auch für das Serbische, wo der Begriff mit cistiliste so-
zusagen als Lehnwort für einen dem eigenen Bekenntnis fremden Begriff steht. Be-
zeichnenderweise ist das Wort denn auch im „Serbischen Wörterbuch“ (Srpski
rjecmk) des Vuk Stefanovic Karadzic (1787-1864) von Wien 1818 nicht enthal-
ten.16 Es fehlt auch in der dritten, der „berichtigten und vermehrten“, sogenannten
„Staatlichen Ausgabe“ (Drzavno izdanje) von Biograd 1898. So steht es auch nicht
im wohl bekanntesten größeren „Wörterbuch der serbokroatischen und deutschen
Sprache“ von Belgrad 1928 bzw. neugedruckt 1963.17 Ein jüngeres bulgarisches
Wörterbuch nimmt cistiliste ohne weitere Bemerkung für „Fegefeuer“, „Purgatori-
um“ auf.18 Einst durfte ich für meinen mir unvergeßlichen Freund Rudolf Tro-
fenik (17.12.1991) das Werden dieser Fegfeuer-Lehre und ihre Widerspiegelung
zumal im Slowenischen durch ein aus der mittelalterlich-deutschen Theologie
übernommenes besonderes Begriffswort (vice) als kleine Gabe zu seinem 70. Ge-
burtstag darstellen.19 Doch die Übernahme eines althochdeutschen Lehnwortes
für „Pein, Qual“ (und damit noch nicht eingegrenzt auf „Fegfeuer“!) wizzi ins
Slowenische ist zeitlich nicht festzulegen. Es begegnet in unserer Sonderbedeutung
nicht vor dem 16. Jahrhundert und damit erstmals bei Primus Truber/Trubar
(1508—1586), dem großen protestantischen Reformator. Bei ihm bezeichnender-
weise in seiner berühmten „Kirchenordnung“ (Cerkovna ordninga) von 1564, mit-
hin ein Jahr nach dem Abschluß des Trienter Konzils.20 Dabei in einem scharfen
16 Srpski Rjecnik, ispolkovan njemackim i latinskim rijecima ... skupio ga i na svijet izdao Vuk Ste-
fanovic/Wolf Stephansohn’s Serbisch-Deutsch-Lateinisches Wörterbuch/L«pz Stephani F. Lexicon
Serbico-Germanico-Latinum. V. Becu Wien, Viennae, gedruckt bei den P. P. Armeniern 1818.
Neudruck zum 100-Jahr-Gedenken des Todes von Vuk Stefanovic Karadzic, 1864-1964. Belgrad
1964, hrsg. von Pavle Ivic.
17 Svetomir Ristic, Jovan Kangrga: Recnik srpskohrvatskog i nemackog jezika. Band II. Belgrad 1928;
Neudruck als Enzyklopädisches Deutsch-serbokroatisches Wörterbuch. Band II. München, Bel-
grad 1963.
18 A.Doric, G.Mikova, St. Iv. Stancev: Bulgarsko-nemski recnik. Sofia 1962, S. 533; als solches auch
ohne weitere Bedeutungserklärung die Vertretungen in anderen slavischen Sprachen und die ety-
mologische Herleitung bei Erich Berneker: Slavisches etymologisches Wörterbuch. Band I. 2. Aufl.
Heidelberg 1924, S. 157 f.
19 Leopold Kretzenbacher: Zum Namen Vice und den Vorstellungen vom „Fegefeuer“ bei den Slowe-
nen. In: Serta balcanica-orientalia Monacensia. In honorem Rudolphi Trofenik septuagenarii.
Münchner Zeitschrift für Balkankunde. Sonderband I. München 1981, S. 47-69.
20 Rudolf Trofenik: Primoz Trubar/Primus Trüber, Cerkovna ordninga. Slowenische Kirchenord-
nung. Tübingen 1564. I. Teil (Text Facsimile-Druck). Reihenwerk: Geschichte, Kultur und Gei-
stesleben der Slowenen, Band X. München 1973. Die Stelle ausgezogen bei Leopold Kretzenbacher,
Anm. 19, S. 54 f. - Es ist bezeichnend, daß der protestantische Prädikant und erste Lexikograph
des Slowenischen, Hieronymus Megiser (1554-1619), es nicht in sein Dictionarium quatuor lingua-
rum aus dem Jahre 1592, gedruckt zu Graz bei Johann Faber, aufgenommen hat. Vgl. dazu Annelies
Lägreid: Hieronymus Megiser Slovenisch-Deutsch-Lateinisches Wörterbuch. Neugestaltung und
Facsimile der ersten Ausgabe aus dem Jahre 1592. Monumenta linguae slavicae dialecti veteris.
Fontes et dissertationes. Band VII. Wiesbaden 1967.
82
Gottfried Keller irrt in einer Orient-Legende
Angriff auf die „Päpstliche“ (katholische) Messe, in der es als ein „Mißbrauch“,
Jedenfalls als verfehlter Versuch angeprangert wird, zu glauben, man könne damit
den armen Seelen helfen, sie gar aus dem Fegfeuer (is Vyz) befreien. Das sei doch
nichts als Aberglaube zum Wetter- und Krankheiten-Zauber.
Das und alles Weitere in Fegfeuer-Lehre und Nomenklatur in den Einzelspra-
chen auch des europäischen Südostens gehört wie die frühen Bemühungen der la-
unischen Kirche und ihre Formulierungen vor der Dogmen-Festlegung von 1563
Jedenfalls erst dem zweiten Jahrtausend unserer Zeitrechnung an, reicht auf keinen
Pall in jenes „achte Jahrhundert“ und nach Alexandrien zurück, wo Gottfried Kel-
er die Vitalis-Legende ansetzt.
Bemerkenswert bleibt, daß Gottfried Keller in seiner Legende „Der schlimm-
^eilige Vitalis“ von 1872 einen auch schon für jenes achte Jahrhundert durchaus
»möglichen“, ja typischen „sonderbaren Fieiligen“ zeichnet, der im Abendland
ZWar nicht fehlt21, seine zeitkennzeichnende Ausprägung aber im byzantinisch-
§riechischen Kulturkreis, dem jenes Alexandria in Ägypten, das Gottfried Keller
anspricht, tatsächlich angehört, erhielt. Gemeint ist die Gestalt jenes dort gar nicht
s° seltenen „Narren in Christo“, der im Südosten weithin unter dem griechischen
tarnen eines oaXöc, geht.
Das sind nicht die „Armen im Geiste“ nach Christi Bergpredigt bei Matth. 5,3,
enen das Himmelreich versprochen wird. Die „Narren in Christo und um Chri-
m willen“, wie sie auch Gottfried Keller in einem ganz Besonderen hier so ein-
ringlich zeichnet, das sind „Geistbegabte“ (7tV8upaxiKoi).22 Die spielen den Nar-
reik um in der Gestalt des stultus/aaLöc, für sich und für die anderen ein Lachen
Zu geistlicher Freude (laetitia spiritualis) herauszulocken. Manchmal allerdings er-
eben sie ihr „Narrsein“ zu Höherem, zu Gezieltem in sozialer wie in geistlicher
Mahnung in der Maske. So die russischen Nachfahren der byzantinischen oaX,oi
s die jurodivji.23 Sie tun es in sehr bewußter Ernstnahme des Pauluswortes in sei-
^em 1. Korinther-Brief (3,18 f.), daß „die Weisheit dieser Welt Torheit ist vor
ott“. Sie erheben die Stimme des „Narren“, des sich verachtet Gebenden, des sich
^sinnig Gebärdenden zu gespielt gezielter und wirksam werdender Mahnung an
vermeintlichen Großen und Mächtigen dieser Welt, zum Anruf für eine heils-
die
Leopold Kretzenbacher: Bayerische Barocklegenden um „Narren in Christo“. In: Volkskultur und
Geschichte. Festgabe für Josef Dünninger zum 65. Geburtstag. Hrsg, von Dieter Harmening, Ger-
hard Lutz, Bernhard Schemmel, Erich Wimmer. Berlin 1970, S. 463-483, 1 Bildtafel; derselbe: „Nar-
ren in Christo“. Steirische und bayerische Barockspiele. In: Zeitschrift für bayerische Landesge-
schichte 47. München 1984, S. 407-440, Abb. 11-15.
Ernst Benz: Heilige Narrheit. In: Kyrios. Vierteljahresschrift für Kirchen- und Geistesgeschichte
Osteuropas. Jg. 3. Königsberg, Berlin 1938, S. 1-55; Walter Nigg: Der christliche Narr. Zürich,
Stuttgart 1956.
Leopold Kretzenbacher: Narren am heiligen Ort. In: Wallfahrt kennt keine Grenzen. 1 hemen zu
einer Ausstellung des Bayerischen Nationalmuseums und des Adalbert Stifter Vereins, München.
^rsg. von Lenz Kriss-Rettenbeck und Gerda Möhler. München, Zürich 1984, S. 33-44, bes. S. 35 f.;
4 Abb.
83
Leopold Kretzenbacher
notwendige „Umkehr“ (pexavoia). Dies gerichtet an die vielfach aufgespaltene
Gesellschaft von Byzanz wie an die Brennpunkte von Zarenmacht und Bojaren-
willkür gegenüber dem armseligen-„niederen“ Volke im Rußland des 16. und des
17. Jahrhunderts.
Auch der lateinische Westen hatte diese „Narren in Christo und um Christi wil-
len“ sehr wohl gekannt. Wie sonst hätte Franz von Assisi (1182—1226), der in Lie-
be zu den Armen Glühende, nachdem er fröhliche „Hochzeit mit der Frau Ar-
mut“ gefeiert hatte, für sich und seine in gleicher Armut fröhlich Mitstrebenden
sagen können: „Was sind denn die Diener Gottes, wenn nicht gewissermaßen seine
Gaukler, die die Herzen der Menschen bewegen müssen und erheben zur geistli-
chen Freude“.24 Das altgriechische „Erkenne Dich selbst“ (yvco$i oauiöv.) steckt
dahinter wie das vorhin genannte Pauluswort (1. Kor. 3,18): „Keiner täusche sich
selbst. Wenn einer unter Euch meint, er sei weise in dieser Welt, dann werde er tö-
richt, um weise zu werden“.
Solch geistiges Gehaben konnte gerade wegen seiner geistlichen wie der sozia-
len, ja sozial-revolutionären Wirkung auch noch im 19. Jahrhundert Motiv aussa-
gekräftiger Dichtung werden. So z.B. die öffentlichen Vorwürfe des „Narren“ Jo-
hannes von Moskau gegen den Zaren Boris Godunow (um 1551-1605) in Alexan-
der S. Puschkins Drama von 1825/30 und Modest P. Mussorgskijs Oper (1874) im
wilden Spottlied der Bettelmönche wie in der visionären Zukunftsschau des „Irr-
sinnigen“ (IX. Bild). Der Operntext liegt allerdings ebenso nach den „Sieben Le-
genden“ von Gottfried Keller (1872) wie die ergreifende Novelle vom „Gaukler
Pamphalon“ (Skoromoch Panfalon) 1887 des russischen Erzählers Nikolaj LeskoW
(1833-1895). Der hatte seinen ioculator-Gaukler (russ. skoromochj als einen um
die Schlechtigkeit der Welt „Wissenden“ gestaltet. Als Träger der „Einfalt“ um der
reinen Nächstenliebe willen, die alle Hybris der Gewalt und Sinnengier der Mäch-
tigen im Diesseits überwindet, eben weil er sich mühevoll, aber willig als um seiner
Späße willen begehrter „Gaukler“ in den Salons der Hetären durchschlägt.
Gottfried Keller wollte bestimmt weder einen byzantinischen oakÖQ noch ei-
nen ioculator im Geiste des poverello von Assisi oder gar einen sozialkritischen rus-
sischen jurodivij überhöhen. Es geht ihm als Dichter auch nicht um ein ridendo di-
cere verum und schon gar nicht um einen Anruf zu geistig-geistlicher „Umkehr“
im Sinne des Täufers Johannes bei Matth. 3,2: „Kehrt um!“ (psiavoeiiE). Eher
geht es ihm um das Erotisch-Prickelnde dieser köstlich zart oder auch derb-deftig
gezeichneten Halbwelt der Schönen der Nacht zu Alexandria und im 8. Jahrhun-
dert mit dem Hauch des „Östlichen“, das hier so ganz dem „Byzantinisch-Fernen
entnommen erscheint.
Aber es wäre wohl nicht Gottfried Keller, wenn der feinsinnige Dichter sich
nicht der poetischen Gesetze der „Novelle“ bewußt wäre, denen zufolge ein un-
24 M.Bigaroni (Hrsg.): Compilatio Assisiensis dagli scritti di fr. Leone e Compagni su. Portiuncub
1975, S. 236 (nach der Hs. 1045 zu Perugia): Nossumus ioculatoresDomini et in hiis volumus a vobis
remunerari, scilicet ut stetis in vera penitentia .. Quid enim sunt servi Dei nisi quodammodo quidatt1
ioculatores eins, qui corda hominum movere debent et erigere ad letitiam spiritualem?
84
Gottfried Keller irrt in einer Orient-Legende
envarteter Umschwung als Peripetie zu ihrem Wesen gehört. Also tritt ein ebenso
Wohlerzogenes wie hübsches und frommes Christenmädchen auf den Plan. Die be-
dachtet zuerst das bedenkliche Treiben des schlimmheiligen Vitalis bei den Hetä-
ren. Sie verliebt sich gar in ihn und verstellt sich nun selber in eine solche Liebes-
dienerin. So geschickt macht sie das mit weiblichem Charme gegenüber dem
Schalkhaften salos, daß erstens der selber sich Hals über Kopf in dieses sein zu „be-
ehrendes“ Opfer verliebt, und zweitens sie ihn, den man inzwischen wegen seines
vermeintlich anrüchigen Lebenswandels aus seinem Kloster geschmissen hatte,
ganz für sich gewinnt. Zuletzt bringt sie ihn gar noch mit väterlichem Segen in ihr
’»christliches Ehebett“. Dort schenkt sie ihm gewiß himmlisch erlaubte und reich-
lich gewährte Ehefreuden, ohne daß er sich vor den Qualen eines „Fegfeuers“
fürchten müßte, das ja die Exegesen der Theologen ohnehin erst ein Vierteljahrtau-
Send später zu umschreiben begannen und in das Lehrgebäude der lateinischen Kir-
cüe ab dem 12. Jahrhundert und mit vollem Gebotswert gar erst im 16. Jahrhun-
dert einbauen konnten.
English Summary
Leopold KRETZENBACHER: Gottfried Keller Commits an Error in an Oriental Legend
Appreciative of the sensuous side of life, the poet Gottfried Keller also had a liking for
a more otherwordly type of “legend”. This is indicated in his “Sieben Legenden” (1870),
Specially in the one of “Schlimm-heiliger Vitalis”, who according to First Corinthians 3,18
as a ‘‘fool in Christ” (Greek: salós; Russian: jurodivij) sets out to save the world, even the
s°uls of the “lost” whores of 8th century Antiochia. One of them draws him to her bosom
s° vehemently he is in danger of suffocation, “as if burning in purgatory”. This is where
Keller commits an error: the doctrine of the purgatory (Greek: katharteerion; Latin:
PUrgatorium; Slavic: cistiliste) did not emerge before the beginning of the second mille-
^lum, with early evidence for Lyon in 1245 and 1274, and dogmatized for Catholicism at
lrient in 1563. However, this would not have mattered to G. Keller, whose protagonist,
^claiming sinners by way of fool’s play, himself becomes so taken with a pious lady who
Poses” as a courtesan, that he is “converted”, abandons his fool’s play, and, defrocked, leaps
mto the matrimonial bed of the woman more cunning than himself.
85
Berichte
Milch und Milchprodukte
9. Internationaler Kongreß für Ethnologische Nahrungsforschung
in Dublin vom 17. bis 22. Juni 1992
Milk and Milk Products
9th International Ethnological Food Research Congress
Dublin, 17-22 June 1992
Vom 17. bis 22. Juni 1992 trafen sich in Dublin 35 Wissenschaftler aus 18 Län-
dern zum „9th International Ethnological Food Research Congress“, der in diesem
Jahr unter dem Thema „Milch und Milchprodukte“ stand. Ausgerichtet wurde
dieses Treffen von Patricia Lysaght vom Department of Irish Folklore des Universi-
ty College.
Der Kongreß in Irland war das neunte Treffen einer Gruppe von Nahrungsfor-
schern, die seit 1970 in zwei bis vierjährigem Abstand an wechselnden Orten und
mit wechselnden Themen Fachtagungen abhält. Obwohl die Volkskundler/Euro-
päischen Ethnologen den größten Teil der Teilnehmerschaft ausmachen, kamen in den
letzten Jahren zunehmend Vertreter der Nachbarwissenschaften Sozial- und Wirt-
schaftsgeschichte, Anthropologie, Soziologie und Ernährungswissenschaften hinzu.
Die erste Tagung in Schweden 1970 diente einem Überblick über Stand und Metho-
dik der volkskundlichen Nahrungsforschung in Europa.1 Die folgenden Kongres-
se fanden statt in Finnland 19732, in Wales 19773, Österreich 19804, Ungarn 19835,
Norwegen 19876, USA 1990 und waren jeweils spezifischen Fragestellungen gewid-
met. Das Thema des diesjährigen Kongresses erwies sich im konkreten Forschungs-
zusammenhang als vielfältiger und interessanter als es die eher an traditionelle volks-
kundliche Sachforschung erinnernde Themenstellung erwarten ließ. Der zeitliche
1 Zum Selbstverständnis der Gruppe und zu den vorhergehenden Tagungen bis 1981 s. Nils-Arvid
Bringeus: International Conferences on Ethnological Food Research. In: Ethnologia Europea 12 (1981)
228-233. Die Vorträge dieser ersten Tagung wurden 1971 in der Ethnologia Scandinavica publiziert.
2 N. Valonen/J. U. E. Lehtonen (EIrsg.): Ethnologische Nahrungsforschung. Ethnological Food Re-
search. Helsinki 1975.
3 'Alexander Fenton/Trevor M. Owen (Hrsg.): Food in Perspective>Proceedings of the Third Inter-
national Conference on Ethnological Food Research, Cardiff (Wales) 1977. Edinburgh 1981.
4 Margot Schindler: Bericht über die 4. Internationale Konferenz für Ethnologische Nahrungsfor-
schung. In: Österreichische Zeitschrift für Volkskunde 83 (1980) 252-263.
5 Alexander Fenton/Eszter Kisban (Hrsg.): Food in Change. Eating Habits from the Middle Ages
to the Present Day. Edinburgh 1986.
6 Astri Riddervold/Andreas Ropeid (Hrsg.): Food Conservation. Ethnological Studies. London 1988.
86
Berichte
Rahmen der Vorträge reichte vom späten Mittelalter bis in die aktuelle Gegenwart;
der geographische Schwerpunkt lag aufgrund der Zusammensetzung des Teilneh-
merkreises auf den europäischen Ländern und den USA, jedoch mit Einblicken in
die bäuerliche Kultur Syriens (M. Abdalla, Polen) und einem Exkurs auf die verges-
senen Milchprodukte Chinas (E Sabban, Frankreich). Das thematische Spektrum
umfaßte, wenngleich durch das Kongreßthema beschränkt, viele relevante Aspekte
menschlicher Ernährung. Nicht nur Milchprodukte von der Molke bis zum Spei-
seeis standen im Mittelpunkt der Diskussionen; Probleme der Milchproduktion und
■konservierung im sozialen und ökologischen Kontext traditioneller ländlicher
Gesellschaften wurden ebenso thematisiert wie Fragen der Konsumtion und der
Kommerzialisierung von Milch und Milchprodukten sowie der Mechanisierung
und Technisierung der Milchwirtschaft im Zusammenhang mit Industrialisierung
und Urbanisierung (U. Spiekermann, Deutschland; R. Sandgruber, Österreich; A.
benton, U. Robertson, Schottland; N. Stora, Finnland). Ebenso interessant wie die
gegenwärtige industrielle Vermarktung traditioneller Milch- und Käsezubereitun-
gen in einigen europäischen Ländern (N. Andilios, Zypern; H. Gi'sladottir, Island)
^ar der Blick auf den Siegeszug des Speiseeises in der amerikanischen Gesellschaft
und die Ausprägung einer speziell auf den Hauptkundenkreis, nämlich Kinder,
0rientierten Vermarktungsstrategie (L.J. Shapiro, M. Schuchat, USA).
Nicht weniger relevante Fragen verfolgten Vorträge über die Stellung bestimm-
ter Milchspeisen und Zubereitungstechniken im festtäglichen und alltäglichen
Klahlzeitensystem gegenwärtiger und historischer Gesellschaften (N.A. Bringern,
Schweden; J. Jobse van Putten, J.M. van Winter, Niederlande; K. Kvideland, Finn-
land; E. Kisban, Ungarn; /. Toomre, USA) sowie über die Diskrepanzen zwischen
Uormativen Revitalisierungsbestrebungen für traditionelle Milch- und Getreide-
speisen in der Ernährungspropaganda des Ersten Weltkrieges und deren realer Um-
setzung durch die Bevölkerung (B. Krug-Richter, Deutschland).
Mit dem Blick auf das Problemfeld „Milk and Superstition“ thematisierte der
Einleitende Vortrag von Anders Salomonsson am Beispiel der vorindustriellen länd-
lichen Gesellschaft Schwedens das Phänomen irrationaler, auf übernatürliche Ein-
flüsse zielender Vorstellungen und ritualisierter Präventiv- und Protektionsmaß-
nahmen zur Sicherung einer erfolgreichen Milch- und Buttergewinnung, die pri-
mär in Situationen realen oder befürchteten Mißerfolgs menschliches Handeln
Riten konnten. Dieser primär die bäuerliche Bevölkerung betreffende Problem-
kreis kristallisierte sich als ein weiterer Schwerpunkt des Kongresses heraus: Im-
merhin drei Vorträge widmeten sich den im Detail zwar regional und national dif-
ferierenden, insgesamt jedoch sehr ähnlichen Normen und Ritualen und ihnen zu-
grundeliegenden Ängsten zur Sicherstellung einer erfolgreichen Milchproduktion
für das einzelne Mitglied der dörflichen Gemeinschaft (A. Salomonsson, Schwe-
in; P. Lysaght, Irland; A. Skjelbred, Norwegen).
Dennoch, so interessant und informativ die Vorträge im einzelnen waren, es gab
nur wenig Neues auf diesem Kongreß. Insgesamt dominierten vor allem bei den
Volkskundlern Frag en und Antworten traditionellen Zuschnitts: Obwohl die Er-
87
Berichte
nährungsbedingungen und Nahrungsgewohnheiten städtischer Bevölkerungen
nach wie vor ein Forschungsdesirat darstellen, waren in Irland wieder einmal die
Bauern die bevorzugt untersuchte Bevölkerungsgruppe. Vielfach bildeten die Ob-
jekte den Mittelpunkt der Ausführungen, gesellschaftliche und ökonomische Pro-
zesse dagegen fanden — mit Ausnahme der wirtschaftshistorischen Beiträge — nur
am Rande Erwähnung. Auch grundlegende Fragen des methodischen Zugriffs und
der Quellenkritik wurden lediglich sporadisch angesprochen, nur vereinzelt der
Blick „über den Rand des Milchbechers“ auf neue Fragestellungen, neue Quellen-
gruppen zur Ernährungsgeschichte oder neue Interpretationen gewagt. Dies mag
durch die enge Themenstellung des Kongresses bedingt gewesen sein. Unterstützt
wurde die inhaltliche Begrenztheit zahlreicher Darstellungen sicherlich auch
durch die Vorgabe von nur 20 Minuten pro Vortrag, ein zeitliches Limit, das für die
Vorstellung neuer Forschungsergebnisse hart an der Grenze des Sinnvollen liegt
und eine Methoden- und Quellendiskussion nahezu unmöglich macht.
M.E. ist dieser Eindruck jedoch auch Spiegel des momentanen Standes einer
volkskundlichen Nahrungsforschung, die den Höhepunkt ihrer inhaltlichen und
methodischen Diskussionen in den 70er und frühen 80er Jahren erreichte - zu-
mindest in Deutschland. Dies ist um so bedauerlicher, als hier die Chance eines
Anschlusses an die in der Geschichtswissenschaft und Soziologie aktive Diskus-
sion vertan wird. Vor allem die Nahrungs- und Ernährungsforschung in den Ge-
schichtswissenschaften wendet sich inzwischen mit dem Blick auf die kulturelle
Seite des Phänomens Ernährung genuin volkskundlichen Fragestellungen zu, und
die Volkskunde sollte die Erkenntnismöglichkeiten, die der.ethnologische Ansatz
auch jenseits objektbezogener Sachforschung bietet, nicht aus zeit- und modebe-
dingtem Desinteresse vertun.
Zum Abschluß des Kongresses stand zum wiederholten Male die Integration
dieser informellen, nicht fest organisierten Gruppe internationaler Nahrungsfor-
scher in die Societe Internationale d’Ethnologie et Folklore (SIEF) zur Diskussion.
Leider konnte sich das Gros der Teilnehmer nicht zu einem Beitritt entschließen,
der dieser Gruppe einen engeren organisatorischen Rahmen gegeben hätte. Einhel-
lig jedoch entschied man sich für Freising bei München als Ort des 10. Kongresses
1994 und folgte damit einem Vorschlag Gertrud Benkers, die auch die Organisation
des Kongresses übernehmen wird, unterstützt durch den derzeitigen Vorsitzenden
der Gruppe, Anders Salomonsson.
Auch das Thema des nächsten Kongresses wurde nach nur kurzer Diskussion
gefunden. Obgleich die Gefahr einer eher deskriptiven Behandlung des Themas
schon auf dieser Tagung nicht völlig umgangen werden konnte, entschied man sich
trotz fragestellungsorientierter Vorschläge wie „Food and gender“, „Food and cri-
sis“, „Food and techniques“ u.ä. wieder für ein einziges, noch dazu schon relativ
gut erforschtes Nahrungsmittel, die Kartoffel. Hier gilt es durch gezielte, überge-
ordnete Themen- und Fragestellungen für die Referenten sowie eine Begrenzung
der Anzahl der Vorträge schon im Vorfeld der Gefahr zu begegnen, daß die Ge-
88
Berichte
schichte der Kartoffel und ihres Siegeszuges in die Ernährung der Länder Europas
ünd Amerikas ohne eine vergleichende Analyse nebeneinander gestellt wird, ver-
bunden lediglich durch das fragenleitende Objekt. Eine strukturiertere inhaltliche
Konzeption des nächsten Kongresses läge auch im Interesse der Werbung wissen-
schaftlichen Nachwuchses, dessen mangelnde Teilnahme an den Tagungen diese
Gruppe internationaler Nahrungsforscher schon seit Jahren beklagt.
Münster Barbara Krug-Richter
Dritte Arbeitstagung
der Kommission für den volkskundlichen Film in Bonn
Third Working Session of the
Commission for the Ethnographie Film in Bonn
Die dritte Tagung der Kommission für den volkskundlichen Film in der Deut-
schen Gesellschaft für Volkskunde fand vom 24. bis 27. September 1992 in Bonn-
Kottgen statt. Sie wurde vom Landschaftsverband Rheinland, Amt für rheinische
Landeskunde, in Zusammenarbeit mit der Deutschen Landjugend-Akademie Fre-
deburg e. V. organisiert.
Edmund Ballhaus (Göttingen) eröffnete die Tagung mit einem Resümee der vor-
angegangenen Salzburger Tagung1 und wies dabei auf Probleme der Feldforschung
beim Filmen hin. Mit der Einbeziehung von Interviews in die Filmedition sei eine
gewisse Trendwende im volkskundlichen Film feststellbar, doch hätten diese häu-
bg nur Alibifunktion. Ein Gütesiegel stellten Interviews per se nicht dar.
Das Thema der Tagung, „Der Mensch im Mittelpunkt des volkskundlichen
bilms?“, erwies sich als ein anspruchsvoller und wichtiger Ansatz und die vorge-
bihrten Filme wurden an diesem Anspruch gemessen. Vorgestellt wurden insge-
Samt neun Filme. Stefaan Top (Leuven/Limbricht) stellte seine Videoproduktion
»Meen Van Eycken — Eine Biographie in Liedern“ (28 Min., prod. u. publ. 1981)
v°r> die eine „Volksliedersängerin“ aus Steenokkerzeel bei Brüssel2 thematisiert.
Karoline Gindl, Klaus Rüscher, Wolfgang Wehap: Wenn die Bilder doch endlich laufen lernen
dürften. ... Anmerkungen zu einer Arbeitstagung über den volkskundlichen Film. In: Österrei-
chische Zeitschrift für Volkskunde 93 (1990) 469-472.
Stefaan Top: Kommentar zu dem volkskundlichen Film „Meen Van Eycken, eine Biographie in
Liedern“. In: Jahrbuch für Volksliedforschung 27/28 (1982/83) 235-241.
89
Berichte
Der Film verbindet in einer „klassischen Gewährspersonenbefragung“ vorgetrage-
ne Lieder mit der Lebensgeschichte und -Situation, wobei auch „gespielte Szenen“ Ver-
wendung finden. Es ist Stefaan Top hoch anzurechnen, daß der Filmkommentar eigens
für diese Tagung in deutscher Sprache vorlag. - Ayten Fadel und Martin Kügler
zeichnen für die Produktion des Amts für rheinische Landeskunde (Bonn) „Schieß-
budenröhrchen und Nisteier aus Pfeifenton“ (16 mm, 34 Min., 1990) verantwort-
lich. Der Film zeigt sehr genau die einzelnen Arbeitsschritte der Herstellung. Den
Kommentar spricht nicht — wie bei älteren Produktionen des ARL üblich - ein
professioneller Sprecher, sondern der Pfeifenbäcker selbst. Dafür war ein Tonband-
interview Grundlage, das nun nachträglich dem Film unterlegt wurde. Kritiker im
Plenum bemerkten, daß diese Verknüpfung nicht durchgängig gelungen sei.
Rolf Wilhelm Brednich und Ulrich Roters (beide Göttingen) stellten den 16 mm-
Film „Schüttenhoff in Förste/Nienstedt“ (50 Min., prod. 1989, publ. 1992) vor,
der im Rahmen der „Volkskundlichen Filmdokumentation in Niedersachsen“ in
Zusammenarbeit mit dem Institut für den Wissenschaftlichen Film (IWF) entstanden
ist. Aufgezeichnet wurde ein elftägiges Dorffest zu Pfingsten, das sich aus einem pa-
ramilitärischen Männerritual (Schützengesellschaft) entwickelt hat. Das IWF
konnte zum Zeitpunkt der Aufnahmen keine Kameraleute mit ethnologischer Feld-
erfahrung zur Verfügung stellen und so ist die Kameraarbeit nicht ohne Mängel, es
fehlen z. B. ruhige Aufnahmen, der Schnitt ist hart und vermittelt ein sprunghaftes
Geschehen. — Unter Leitung von Peter Oberem (Bonn) haben Studenten des
Volkskundlichen Seminars der Universität Bonn einen Werkstattbericht über eine
Küferei gedreht („Faß-Ruland, Meckenheim“, 55 Min., 1991). Der Einwand, daß
diese Videoproduktion vorwiegend in der reinen Beschreibung verharrt und eher
an einen Unterrichtsfilm erinnert, mag berechtigt sein, doch war dies das erste und
sicher sehr begrüßenswerte Videoprojekt des Bonner Volkskundlichen Seminars.
Innerhalb der Abteilung Volkskunde des Deutschen Instituts der Universität
Mainz ist der Videofilm „Hammer und Amboß — Arbeit in der Dorfschmiede“
(9 Min., 1991, mit Begleitheft) entstanden, den Fritz Schellack (Mainz) vorstellte.
Der im Freilichtmuseum Sobernheim entstandene Film zeigt die Herstellung ei-
ner Türbefestigung. Der mit einem professionellen Kameramann und Sprecher
produzierte Film ist nicht zuletzt ein Beleg dafür, wie Musik dramaturgisch gezielt
genutzt werden kann. — Katja Sinn zeigte ihren am Seminar für Volkskunde der
Universtität Göttingen abgeschlossenen Examensfilm „Heimwerk hat goldenen
Boden“ (S-VHS, 59 Min., prod. 1990/91). Dem Film gelingt es gut, die Funktion
und Bedeutung des Heimwerkens an einigen Beispielen herauszuarbeiten.
Olaf Bockhorn (Wien) präsentierte eine Arbeitskopie seiner gemeinsam mit Eli-
sabeth Nopp entstandenen Videoproduktion „Elisabeth Unterweger, Sennerin“ (45
Min., prod. 1990 und 1992, publ. 1993). Sie ist Teil des Filmprojekts „Almwirt-
schaft im Kaiser Dorfertal“. Im Mittelpunkt steht die Sennerin Elisabeth Unterwe-
ger und ihr Tagesablauf, wobei der Kommentar von ihr selbst gesprochen wurde.
Lange persönliche Kontakte und eine intensive Vorbereitung ermöglichten dieses
90
Berichte
eindrucksvolle Dokument. — Eine ungewöhnliche Produktion brachte Wilma
Kiener (München) zur Vorführung: „IXOK-Frau“ (16 mm, 90 Min., prod. 1989
und 1990, publ. 1990). Ein Paar aus Guatemala, das in einer Theatergruppe von
arnnesty international in Europa arbeitet, steht im Zentrum dieses Films. Ihre Pro-
bleme, Sorgen, Wünsche und Hoffnungen werden u. a. mit dem Mittel der kontra-
stierenden Montage verdeutlicht. Die Autorin versteht ihren Film als „ein ,doku-
mentarisches Road-Movie’. Ein narrativer Dokumentarfilm, der mit filmästheti-
schen Mitteln des Spielfilms in Dramaturgie und Schnitt auf ein Kino-Erlebnis des
Zuschauers abzielt, indem er Prozesse der Identifikation und Projektion ermög-
licht“. Im Plenum nicht unumstritten, bietet er sicher eine wichtige Anregung für
unser Fach.
„Löwe frißt Gams“ (Video Betacam SP, 45 Min., prod. 1991, publ. 1992 Gesell-
schaft für den kulturwissenschaftlichen Film, Göttingen) stellten Edmund Ball-
baus und Georg Antretter (Sachrang) vor. Ausgangspunkt für dieses Filmprojekt
war der Aufkauf der Schloßbrauerei Hohenaschau im Chiemgau, deren Signet ei-
ne Gams ziert, durch die Löwenbräu AG München und die damit verbundene
Schließung der Schloßbrauerei. Im Mittelpunkt des Films steht der Biersieder Pau-
li Wörndl und seine Arbeit in und außerhalb der Bauerei, etwa in seiner kleinen
Landwirtschaft. Das Ziel des Films, „den Brauereibetrieb in seiner sozialen und
Wirtschaftlichen Vernetzung mit der Region zu erfassen“, ist weitgehend gelungen,
beispielsweise durch die Einbeziehung des Bierfahrers Erich Wirth. Der Mut zu
Kontrastmontagen - z. B. landschaftliche „Idylle“ und wirtschaftliche Schwierig-
keiten - verdient hervorgehoben zu werden. Auf die Kritik, der Film biete „von
allem etwas“, konzedierten die Filmautoren, daß dieser Film den Charakter eines
»Sozial-Features“ habe und eine Gratwanderung zum Fernsehen hin sei. Der Be-
deutung dieses Films tut dies keinerlei Abbruch.
Es war eine gute Idee der Veranstalter, ähnlich wie beim Volkskundlichen Film-
forum auf dem Volkskundekongreß 1989 in Göttingen einen Dokumentarfilmer
dnzuladen. An einem öffentlichen Filmabend zeigte der Kölner Dokumentarfil-
^er Dietrich Schubert seinen Film „Ein blindes Pferd darf man nicht belügen.
Geschichten aus der West-Eifel“ (16 mm, 90 Min., prod. 1991, publ. 1992). Das
»Gerüst“ für diesen Film bilden erzählte Erinnerungen alter Eifler Frauen und
Männer vor der Kamera, wodurch ein filmisches Panorama der „alten Zeit“ in der
Eifel gelingt.
Die abschließende Mitgliederversammlung bestätigte Edmund Ballhaus als Vor-
Sltzenden und Alois Döring (Bonn) als Geschäftsführer der DGV-Filmkommis-
Slon. Das nächste Treffen ist für 1994 geplant. Favorisiert wurde das Thema „Typen
des volkskundlichen Films und ihre Zielgruppen“.
Marburg (Lahn) Walter Dehnert
Köln Elisabeth Höhnen
91
Berichte
Mensch und Umwelt
Ein Thema volkskundlicher Forschung und Präsentation?
Zweites ökologisches Kolloquium des Bergischen Freilichtmuseums
Findlar am 8. und 9. Oktober 1992
Man and Environment
A Subject of Folklore Research and Presentation?
2nd Ecological Colloquium of the Bergisches Freilichtmuseum Findlar,
October 8—9, 1992
Ökologische Fragen der Vergangenheit und Gegenwart gehören - trotz drän-
gender Umweltprobleme - bis heute nicht zu den zentralen Themen volkskundli-
cher Arbeit. Vielfach herrscht wohl im Fach der Eindruck vor, damit im Grunde
„geisteswissenschaftliches“ Forschungsterrain zu verlassen und auf Arbeitsgebiete
der „Naturwissenschaften“ vorzustoßen, denen nach landläufiger Meinung ohne-
hin die meisten unserer Umweltsünden anzulasten sind und daher eine Auseinan-
dersetzung mit solchen heiklen Themen besser ansteht. Geradezu überfällig war
deshalb die Initiative des Bergischen Freilichtmuseums in Lindlar (NRW), das im
Oktober 1992 ein ökologisches Kolloquium für Volkskundler veranstaltete, und
zwar mit dem fragenden Untertitel: Mensch und Umwelt — ein Thema volkskundli-
cher Forschung und Präsentation? Ziel der Tagung war der Versuch, eine erste
Übersicht zum Diskussionsstand im Fach zu gewinnen und zu einer verstärkten
Beschäftigung mit der Thematik anzuregen (vgl. dgv Informationen 2/1992, S. 16).
Der Tagungsort war natürlich nicht zufällig Lindlar, wo seit Mitte der 1980er
Jahre ein vom Landschaftsverband Rheinland getragenes Freilichtmuseum mit
dem speziellen Auftrag entsteht, für eine ländliche Region nicht nur mit ausge-
wählten Häuserensembles das dörfliche Leben in vorindustrieller Zeit zu doku-
mentieren, sondern darüber hinaus eine historische Kulturlandschaft zu rekon-
struieren, die jenseits aller Romantik Einblicke in den alltäglichen Umgang unse-
rer Vorfahren mit ihrer Umwelt und „Natur“ ermöglichen soll.
Thema und Tagungsort lockten annähernd 70 Teilnehmerinnen und Teilneh-
mer aus dem gesamten Bundesgebiet nach Lindlar. Sehr unterschiedliche Institu-
tionen waren vertreten, neben verschiedenen Lreilichtmuseen etliche Agrar- und
Industriemuseen, einige geographische und botanische Institute, mehrere volks-
kundliche Universitätsseminare und Forschungseinrichtungen sowie nicht zuletzt
die örtliche Heimatforschung. In den Diskussionen erwies sich vor allem die Be-
gegnung zwischen Vertretern der sogenannten Natur- und Geisteswissenschaften
als spannend. Beide Seiten hatten offensichtlich Verständigungsprobleme, die letzt-
lich auf unterschiedliche Denktraditionen und Arbeitsweisen verwiesen. Unter
92
Berichte
diesen Umständen war es ein wichtiges Ergebnis der Tagung, daß in ihrem Verlauf
beiderseits die Einsicht in die Notwendigkeit konkreter interdisziplinärer Projekte
wuchs, um bestehende Barrieren abzubauen und die Forschung voranzutreiben.
Ansatzpunkte für solche Arbeiten, die im Rahmen der Planungen für das Frei-
lichtmuseum in Lindlar zum Teil schon vorbereitet und geleistet werden, ergaben
sich auch aus den referierten Themen zur Genüge. Obwohl die abgehandelten Bei-
träge nur wenig aufeinander aufbauten und dadurch dem Ganzen einen etwas zu-
fälligen Charakter verliehen, veranschaulichten sie doch gut das breite Spektrum
der Thematik. Am Anfang der Tagung standen zwei eher historisch ausgerichtete
Referate: Silke Göttsch (Freiburg) skizzierte die Heimatschutzbewegung um 1900
Und fragte insbesondere nach ihrem ideologischen Gehalt, Michael Simon (Mün-
ster) verfolgte die Geschichte der Schulgärten unter dem Aspekt ihrer sich verän-
dernden Funktionen im Laufe der Neuzeit. Den ersten Tag beschloß der Vortrag
von Berthold Heizmann (Bonn), der über das Thema „Mensch und Umwelt in
volkskundlichen Filmen“ sprach.
Die Referate des zweiten Tages vermittelten zunächst Einblicke in den musealen
Umgang mit dem Thema. Aus der Praxis des Detmolder Freilichtmuseums berich-
tete Kurt Dröge (Oldenburg) über natürliche Grenzen ökologischer Arbeit im Mu-
seum, während Jan Carstensen (Lindlar) in seinem Beitrag stärker die Möglichkei-
ten in dieser Hinsicht herausstellte. Sabine Schachtner vertiefte verschiedene dieser
Aspekte am Beispiel eines in Bergisch Gladbach geplanten Industriemuseums, das
nach seinem Aufbau in einer ehemaligen Mühle neben der Produktion und dem
Verbrauch von Papier gerade auch die damit verbundene Umweltbelastung zeigen
soll. Beispiele für empirische Untersuchungen boten am Ende Vera Deissner
(Mainz) und Heidi Schrutka-Rechtenstamm (Bonn), die über die Lebens- und Wirt-
schaftsweisen von Biobauern bzw. über den möglichen Beitrag von Volkskundlern
beim Aufbau eines Nationalparks in Oberösterreich (Kalkalpen) sprachen. Die
Veranstaltung schloß mit dem Versprechen, alle Vorträge samt Diskussionen in ei-
nem Sammelband zusammenzufassen und demnächst (1993) zu publizieren. Es
bleibt zu hoffen, daß diese Tagung und volkskundliche Beiträge zu ihrer Thematik
ln Zukunft kein Einzelfall mehr bleiben.
Lindlar, Münster Jan Carstensen, Michael Simon
93
Berichte
Nahe Fremde - fremde Nähe
Frauenforschen zu Ethnos — Kultur — Geschlecht
Tagung in Leihnitz vom 15—18. Oktober 1992
Close Strangeness — Strange Closeness
Women study ethnos — culture — gender
Meeting at Leibnitz, October 15—18, 1992
Diese 5. Tagung zur Frauenforschung in der Volkskunde1 unterschied sich in ei-
nigen zentralen Punkten von den bisherigen Tagungen. Sie wurde ausgerichtet von
den „Grazerinnen“, fand also in Österreich statt und damit außerhalb des formalen
Wirkungsbereiches der Kommission Frauenforschung in der DGV. Zwar hatte dies
kaum einen Einfluß auf die Zusammensetzung der Tagungsteilnehmerinnen (diese
war stärker bestimmt durch den eindeutig interdisziplinären Ansatz der Tagung),
war aber dennoch weit mehr als nur Formalität: von der Beschaffung der Mittel
und damit der notwendigen Einbindung in den österreichischen Fachverband bis
hin zur Frage nach der bisherigen „Unsichtbarkeit“, d. h. zugleich auch der Frage
nach den Bestimmungsfaktoren der neuen „Sichtbarkeit“ der Nicht-Deutschen
innerhalb der deutschsprachigen Volkskunde. Die Frage nach der Identität der
Vorbereitungsgruppe stand damit auch ein Stückweit paradigmatisch für das Ta-
gungsthema „Nahe Fremde — Fremde Nähe“; die Gruppe selbst verortete sich
entsprechend als „die Grazerinnen“: Christa Höllhumer, Elisabeth Katschnig-Fasch,
Helga Klösch-Melliwa, Margit Pufitsch-Weher; Roberta Sch aller-Steidl und Barbara
Schantl — Studentinnen, Absolventinnen und eine Lehrende des Grazer Instituts
für Volkskunde.
Aus diesen einleitenden Bemerkungen wird bereits deutlich, daß die Themen-
stellung nicht eine breite Plattform für die Präsentation und Aneinanderreihung
neuerer und neuester Ergebnisse volkskundlicher Frauenforschung darstellte, son-
der vielmehr Dreh- und Angelpunkt sehr dichter inhaltlicher Auseinandersetzung
aus der Perspektive unterschiedlicher kulturwissenschaftlicher Disziplinen war.
Zentrale Dimensionen der Beiträge waren das Phänomen der gesellschaftspezifi-
schen Wahrnehmung des Fremden und die kulturellen Konzeptionen der (auch ei-
genen) Alterität, das doppelte „Anders-Sein“ der Frauen im Zusammenhang mit
ethnisch/kultureller Differenz und die Vision einer lebbaren multikulturellen Ge-
sellschaft, die sich speist aus dem produktiven Konflikt zwischen Anpassung und
Wahrnehmung von Differenz.
1 Veranstaltet von der Frauengruppe im Österreichischen Fachverband für Volkskunde in Zusam-
menarbeit mit der Kommission Frauenforschung in der DGV.
94
Berichte
In Erweiterung des Themas ihres Eröffnungsvortrags „Antworten auf das Frem-
de“ begab sich Maya Nadig (Bremen) mit ihren „Annäherungen an den Rassismus“
ln die aktuelle, v. a. auch politische Diskussion. Aus der Perspektive der Ethnopsy-
ehoanalyse entwickelte sie eine behutsame und sorgfältige Analyse der Ereignisse
in Rostock, die sowohl den historischen Umgebungsbedingungen wie auch den be-
teiligten Subjekten Rechnung zu tragen versuchte. Die Kritik, die sich vor allem
entzündete an der Wahrnehmung, daß die Jugendlichen von Rostock eher als Op-
fer, denn als Täter dargestellt wurden („die immer Ausgegrenzten“), sowie an dem
geringen Raum, den Frauen in diesem Vortrag einnahmen, konnte am folgenden
Tag in einer zusätzlich angesetzten Diskussionsrunde ausführlich dargelegt werden
" auch ein Zeichen für die Flexibilität und die Ernsthaftigkeit, die die Auseinan-
dersetzung mit dem Tagungsthema bestimmten.
Am Vormittag des 16.10. standen jedoch zunächst drei Plenarvorträge auf dem
Programm, die sich aus thematisch wie disziplinär sehr unterschiedlichen Perspek-
tiven mit Dimensionen von Gleichheit und Differenz befaßten: Claudia Schöning-
Kalender (Kassel) führte ihre Darstellung der verschiedenen Wahrnehmungen von
^lultikulturalität (von der Konsum-Vielfalt bis zum „Patchwork der Minderhei-
ten“) zusammen in der Beobachtung transitorischer Gruppenidentitäten, die
Gleichheit und Differenz in einen sozialen, kulturellen und nicht zuletzt politi-
schen Prozeß übersetzen.
Aus der Perspektive der Linguistik sprach Cecile Huber von „Compound Ethni-
Clty — Compound Identity“, von kaum aufschlüsselbaren Komplexen aus Ethnie,
Kultur und Sprache. Vor allem die Sprache, in der die verschiedenen Zugehörigkei-
ten und Zuordnungen (Nation, Volk, Geschlecht etc.) ihren Ausdruck finden, ver-
mittelt diese nicht nur nach außen, sondern legt sie auch stets aufs Neue fest.
Die Anthropologin Henriette Stevens zeigte in ihrem Vortrag „Kultur und Ge-
schlecht“ am Beispiel einiger zentraler feministischer Theorien auf, daß diese deut-
lich der Gefahr des Essentialismus unterliegen und als „Gemeinsamkeitstheorien“
Differenz unter Frauen ausblenden. Diese Differenz und Fremdheit bzw. auch de-
ren Konstruktion im Blick auf die „Anderen“ und die Situation von Frauen in
feünderheitsgruppen, also als ethnisch andere, waren Inhalt der Vorträge und Ar-
beitskreise an den Nachmittagen. Diese waren keineswegs (wie sonst so häufig bei
Tagungen zu beobachten) den Plenumsvorträgen nachgeordnet und überfüllt mit
geplanten Beiträgen, sondern sie boten vielmehr die Möglichkeit, in der Konzen-
tration auf einen, maximal zwei thematische Beiträge noch einmal in einer kleine-
ren Gruppe die im Plenum andiskutierten Dimensionen von Fremdheit und Diffe-
renz zu bearbeiten. Ein erfreuliches Phänomen war deshalb, daß kaum (wie sonst
häufig bei Tagungen) zwischen den Gruppen gewandert wurde.
Am zweiten Plenumsvormittag lenkte die Grazer Philosophin Elisabeth List den
bück auf den Körper, das Fremde, auf „Alterität und Körperlichkeit in Kultur-
und Geschlechtstheorien“. Von Ausführungen über das Fremdsein heute, einer
^eit, „in der nichts und niemand mehr seinen Ort hat“, über die schnell beantwor-
95
Berichte
tete Frage, ob es Menschen gibt, „die in keiner Heimat zu den ,unseresgleichen“ ge-
hören“, bis hin zur Beschreibung des weiblichen Körpers als Körper für den ande-
ren zeigte Elisabeth List die Unbehaustheit der Frauen auf — Bosnien gerät zum
blutigen Beispiel.
Weniger bedrückend, dabei nicht weniger eindrücklich schließlich der Beitrag
von Nora Räthzel (Sozialwissenschaftlerin aus Hamburg) zur „Selbstunterwerfung
in Bildern der Anderen“. Anhand der (zum Teil sehr erheiternden) Ergebnisse ei-
ner Befragung von Studenten und Studentinnen zu ihren Bildern von deutschen
und türkischen Männern und Frauen machte sie deutlich, daß in den Bildern der
anderen stets Bilder von uns selbst stecken, daß sie uns auch dienen zur Herstellung
der inneren Harmonie trotz womöglich gegenläufiger Interessen. Die Diskussion
darüber, was dies für Frauen bedeutet, die nach den Worten von Elisabeth List ja
nirgends zu den „unseresgleichen“ zählen, geriet ganz ungeplant, aber nicht über-
raschend zu einer Diskussion mit allen Referentinnen über die unterschiedlichen
Präsentationen von Ethnos - Kultur - Geschlecht - ein Beweis dafür, wie gut die
Tagung inhaltlich geplant war, aber auch, wie sensibel alle Referentinnen in der
Wahrnehmung der jeweils anderen Blickweisen und Inhalte waren - zwei Voraus-
setzungen, die offensichtlich notwendig sind, um gelungene Interdisziplinarität
herzustellen. Der schon am Ende der Tagung reichliche Dank an die Grazerinnen
sei hier noch einmal von Herzen wiederholt! Nachzulesen sein werden alle Beiträ-
ge (auch die der Arbeitskreise) in einem Tagungsband, der im Herbst 1993 im Wie-
ner Frauen-Verlag erscheint.
Kassel Claudia Schöning-Kalender
Heimatmuseum 2000. Ausgangspunkte und Perspektiven
Local Museum 2000. Starting Points and Perspectives
Unter diesem Titel fand vom 11. bis 13. November 1992 eine vom Mindener
Museum für Geschichte, Landes- und Volkskunde veranstaltete Tagung aus Anlaß
des 70jährigen Jubiläums des Museums statt. Mit dem Titel knüpfte die Tagung an
das „Experiment Heimatmuseum“ an, ein Symposion gleichen Namens, das 1987
vom Heimatmuseum Neukölln in Berlin durchgeführt worden war. Damals hat-
ten sich neue Ansätze zur Museumsarbeit gerade aus diesem kleinen Haus und in
Gegenüberstellung zu den Großunternehmen in Berlin, Bonn und anderswo erge-
ben. Eine Neubewertung des Begriffs Heimatmuseum schien damit möglich zu
werden — Anlaß genug, jetzt — einige Jahre später — zu prüfen, ob dieser Begriff
96
Berichte
für eine gänzlich andere, nicht großstädtisch geprägte Museumslandschaft eben-
falls tragfähig sei.
Die Tagung gliederte sich in mehrere Themenkomplexe: Zunächst stellten sich in
emer Art Bestandsaufnahme in Typ und Größe unterschiedliche Museen der Re-
gion unter der Leitfrage, ob sie sich als Heimatmuseum verstünden, vor. Dabei
2eigte sich, daß dem Begriff Heimatmuseum eher mit Skepsis begegnet wurde. Vor
allem mit Blick auf das Publikum herrschte die Befürchtung vor, daß die Bezeich-
nung nach wie vor mit einer bestimmten politischen und auch darstellerisch-kon-
zeptionellen (besser: konzeptionslosen) inhaltlichen Prägung verbunden werde und die
Vorstellung einer „aktiven Heimatkunde“ sich noch nicht durchgesetzt habe.
Ein zweiter Themenblock behandelte drei spezielle Zugänge, die auch in den
Museumsvorstellungen schon hervortraten: Multikultur (Joachim Meynert), Ge-
schlechtergeschichte (Gisela Lixfeld) und Umwelt (Ulrike Klein). Entsprechend der
von den meisten der etwa 75 Tagungsteilnehmer vertretenen Forderung nach ei-
nem deutlichen Gegenwartsbezug wurden sie als Leitmotive für eine zeitgemäße
Museumskonzeption verstanden, die, von den Problemen der Gegenwart ausge-
hend, zu Gegenwartsfragen Stellung nehmen sollte, ja am besten (wie auch immer)
ln eine Alltagspraxis hineinwirken sollte. Hier wurde einmal mehr deutlich, mit
Welchem gesellschaftlichen Anspruch das Museum befrachtet ist. So wurde auch
der Mechanismus offenkundig, durch den das Museum kompensatorisch wirkt: Es
Schöpft nämlich zumindest bei denen, die diesen Anspruch an das Museum stellen,
das kritische Veränderungspotential ab, indem dieses sich in der Museumsarbeit ar-
tikuliert, anstatt vor Ort politisch zu wirken: Wenn auf der Straße der Ungeist
tobt, so wird im Museum das Problem analysiert oder praktische Solidarität geübt,
draußen ändert sich dadurch nichts - zumindest nicht unmittelbar.
Trotz dieser persönlichen Skepsis gegenüber den Wirkungsmöglichkeiten des
Museums eröffnen die genannten Zugänge doch einen differenzierten Blick auf das
gesellschaftliche Leben gestern und heute; bezogen auf die Sammlungsbestände der
Heimatmuseen bieten sie die Chance, sie mit neuen Fragen gegen den Strich gängi-
ger Interpretationen zu bürsten.
Bezugspunkt der Diskussion waren vielfach Sonderausstellungen, obwohl ja die
v°rgestellten Häuser über eine Dauerpräsentation verfügen bzw. diese erarbeiten.
Ha die derzeitigen Darstellungskonzepte sich weniger auf eine wie auch immer ge-
ordnete Präsentation der Bestände beziehen, sondern eindeutig themenorientiert
Slnd, wird die Zurückhaltung gegenüber der Dauerpräsentation, die schnell Ge-
Hhr läuft, zu veralten, verständlich. Gerade für kleine Häuser mit geringer Ausstel-
Jungsfläche bietet sich hier die Chance und — mit Blick auf attraktive Abwechs-
üng - auch Notwendigkeit zu ständigem Wechsel, der bei großen Schauräumen
Weniger sinnvoll und praktikabel ist. Es ist daran zu erinnern, daß die Forderung
nach einem wandelbaren Museum so alt ist wie das Museum selbst; dennoch wei-
Sen auch die vorgestellten Häuser ein Beharrungsvermögen von oft mehr als einer
Vüssenschaftlergeneration auf.
97
Berichte
Ein eindeutiges Plädoyer für die Dauerausstellung hielt der Lehrer Axel Jürgens,
der seit mehr als zehn Jahren mit seinen Schülern erfolgreich Projektunterricht im
Fach Geschichte betreibt und dabei auch im Museum arbeitet. Seiner Auffassung
nach präsentiert das Museum Einzelfälle, deren Einbindung in mögliche Kontexte
die Schule zu leisten hat. Dabei kommt es darauf an, den Schülern zu helfen, Fra-
gen an die Dinge zu richten, das Objekt zum Sprechen zu bringen. Für diese für
Lehrer recht aufwendige Arbeitsweise sind Sonderausstellungen wegen ihrer kur-
zen Laufzeit weniger geeignet, denn sie lassen einen kontinuierlichen „Unter
rieht“ innerhalb der Präsentation nicht zu.
Das Plädoyer für die Dauerausstellung bestärkte diejenigen, die angesichts der nun
anbrechenden finanziell schlechteren Zeiten eine Zukunftsperspektive des Museums in
der Rückbesinnung auf seine klassischen Aufgaben sahen. Durch den hektischen
Ausstellungsbetrieb der letzten Jahre sei die Sammlungsbetreuung, die weniger im
Blick der Öffentlichkeit steht, zu sehr in den Hintergrund getreten, so daß hier ein
erheblicher Nachholbedarf an museumsinterner Arbeit zu verzeichnen ist.
Der Gedanke der Rückbesinnung war auch in dem von Gottfried Korff in ge-
wohnter Eloquenz gehaltenen öffentlichen Abendvortrag zum gesellschaftlichen
Standort der Heimatmuseen präsent. Korff ging von dem großen Erfolg der Hei-
matmuseen in den vergangenen Jahren aus. Seine Ausführungen gipfelten in der
nüchternen Feststellung, daß das Heimatmuseum vieles leiste, weil es vieles zuläßt.
Nahezu jede denkbare Aktivität mit oder ohne historischen Bezug ist heute mit
dem Ziel der „Verlebendigung“ im Heimatmuseum möglich. Dadurch ist das Mu-
seum merkwürdig konturlos geworden, so daß eine Rückbesinnung auch deshalb
dringend erforderlich ist. Den Zuhörern bot sich hier eine Perspektive mit ge-
dämpftem Optimismus. Die Vorträge werden als Tagungsband gedruckt erscheinen.
Bielefeld CORNELIA FOERSTER
Helmut Dölker (1904-1992) zum Gedenken
Am 25. August 1992 starb in Esslingen Prof. Dr. Helmut Dölker nach kurzer,
schwerer Krankheit. Mit ihm ist aus einem noch immer engagierten Un-Ruhestand
heraus eine der profiliertesten Persönlichkeiten nicht nur der südwestdeutschen
Volkskunde dahingegangen. Auch wenn der Name Helmut Dölkers den jüngeren
Volkskundlern kaum mehr geläufig sein dürfte, hat er für die Entwicklung der
deutschen Volkskunde in der Nachkriegszeit doch eine entscheidende Rolle ge-
spielt.
Geboren wurde Helmut Dölker am 4. August 1904 in Stuttgart. In seiner Gym-
nasialzeit erhielt er die entscheidenden Impulse und Prägungen, die ihm den Weg
98
Berichte
2u einem philologisch-historischen Studium wiesen. Stationen dieses Studiums
mit den Fächern Germanistik, Geschichte und Anglistik waren Tübingen, Berlin
und London. Aus dem Studienaufenthalt in London 1925/26 resultierte eine le-
benslang anhaltende tiefe Verbundenheit mit England, die später ihren Ausdruck
fand in mehreren längeren Besuchen bei den angelsächsischen Nachbarn. Unter
den Teilnehmern legendär bis heute ist eine England-Exkursion mit Tübinger
Volkskundestudenten Anfang der 60er Jahre.
Das Studium schloß Helmut Dölker im Wintersemester 1928/29 mit Promo-
t’on und Staatsexamen ab. Seine Dissertation bei Karl Bohnenberger über „Die
Flurnamen der Stadt Stuttgart in ihrer sprachlichen und siedlungsgeschichtlichen
Bedeutung“ ist bis heute beispielhaft und maßstabgebend. Nach dem Studium war
er zunächst als Lehrer an verschiedenen Gymnasien Württembergs tätig. Sein
landes- und volkskundlicher Ruf brachte ihm jedoch schon in dieser Zeit verschie-
dene ehrenamtliche Aufgaben ein, insbesondere im Bereich der Flurnamenfor-
schung.
Als er im Jahr 1940 die Leitung der (später so benannten) Württembergischen
Landesstelle für Volkskunde übernehmen sollte, wurde die Ernennung vom dama-
ligen Kultminister abgelehnt mit der Bemerkung, Dölker habe keinerlei Verbin-
dung zur Partei.
Diese persönliche Integrität in Verbindung mit seinem untadeligen wissen-
schaftlichen Ruf trugen ihm nach dem Krieg rasch eine Vielzahl von Aufgaben ein.
Im Jahr 1946 wurde er dann doch gerufen, um die Leitung der Landesstelle für
Volkskunde zu übernehmen und so die volkskundliche Tätigkeit in Württemberg
Nieder in Gang zu bringen. Fast gleichzeitig wurden ihm leitende Funktionen
beim Wiederaufbau landesgeschichtlicher Vereine und Organe in Württemberg
übertragen. Sie alle hatte er über lange Zeiträume inne, und hier erwies sich seine
Gabe als äußerst hilfreich, Dinge anzustoßen, zu organisieren und zwischen Partei-
en zu vermitteln.
Solche Eigenschaften waren auch gefragt, als er im Jahr 1951 die Nachfolge John
Meiers als 1. Vorsitzender des „Verbandes deutscher Vereine für Volkskunde“, der
Vorgängerorganisation der „Deutschen Gesellschaft für Volkskunde“ antrat.
L^enn seine bis 1961 dauernde Amtszeit war zunehmend überschattet von Ausein-
andersetzungen im Gefolge des Kalten Krieges. Von west- wie ostdeutscher Seite
§ab es massive Abgrenzungsbemühungen, die den wissenschaftlichen Austausch
ünd die menschlichen Kontakte mehr und mehr belasteten bzw. ganz zu verhin-
dern suchten. In seine Zeit fiel auch das Wiedererstehen der Zeitschrift für Volks-
bünde (1953 zusammen mit Bruno Schier); lange Jahre hindurch fungierte er als ei-
ner der Mitherausgeber. Insgesamt sieben Volkskundekongresse wurden unter sei-
ner Leitung abgehalten: Jugenheim, Passau, Celle, Schleswig, Nürnberg, Cloppen-
burg und Konstanz.
Aus seiner Tätigkeit an der Landesstelle für Volkskunde heraus erhielt er im
Jahr 1949 einen Lehrauftrag am Ludwig-Uhland-Institut in Tübingen. 1954 wurde
99
Berichte
er zum Honorarprofessor ernannt, und von 1954 bis 1960 leitete er kommissarisch
das Institut. Die Schwerpunkte seiner Lehrtätigkeit lagen eindeutig im Bereich der
traditionellen Volkskultur: Sitte und Brauch, Namen, Kleidung und Tracht, Bauen
und Wohnen usw. Auch wenn er den kulturellen Wandel bejahte und seine Not-
wendigkeit einsah, waren die neu erstehenden Werte nicht die seinen. Er spürte in
diesem Wandel einen starken Verlust normativer Verbindlichkeit, die ihm ein im-
manenter Bestandteil der tradierten Volkskultur war. So hat er in seinen Seminaren
immer wieder davon gesprochen, Volkskunde sei die Wissenschaft vom „man“:
„man tut“, „man tut nicht”, „man glaubt“ usw.
Als er im Jahr 1969 pensioniert wurde — neben der Leitung der Landesstelle für
Volkskunde hatte man ihm 1955 auch die des Landesamts für Denkmalpflege
Stuttgart übertragen — traten die divergierenden Auffassungen über das, was
Volkskunde sein könnte, deutlich zutage. Der Verzicht auf die weitere Ausübung
seiner Honorarprofessur ist ihm deshalb leicht und schwer zugleich gefallen. Die
DGV hat ihn 1975 auf dem 20. Deutschen Volkskundekongreß in Weingarten zum
Ehrenmitglied gewählt.
Wer Helmut Dölker gekannt hat, wird seine lebhafte und engagierte Art, sein
breitgefächertes, vielseitiges Wissen, insbesondere aber sein jederzeit freundliches
und hilfbereites Wesen in Erinnerung behalten.
Stuttgart Gustav Schock
Ulrich Tolksdorf 1938-1992
Am 9. September 1992 ist Ulrich Tolksdorf nach kurzer, schwerer Krankheit in
Kiel gestorben - nur 54 Jahre alt. Wer ihn noch zweieinhalb Wochen zuvor in ru-
higer Zuversicht die Fülle seiner wissenschaftlichen Pläne hatte entfalten hören,
vermag es nicht zu fassen. Die Volkskunde verliert mit ihm einen inspirierten, auf
vielen Arbeitsfeldern präsenten und profilierten Wissenschaftler und zugleich
auch einen im Stillen wirkenden Wissenschaftsorganisator, einen produktiven Heraus-
geber und einfühlsamen Redakteur. Wir beklagen den herben Verlust eines hoch-
geschätzten, uneigennützigen Kollegen, und viele von uns trauern um einen lie-
benswerten Freund.
Am 5. Januar 1938 in Königsberg/Pr. geboren, war Ulrich Tolksdorf 1945 als
Flüchtlingskind nach Schleswig-Holstein gekommen und dort zur Schule gegan-
gen. Er studierte später in Kiel, Innsbruck, Freiburg (Breisgau) und Zürich Volks-
kunde, Germanistik und Geschichte, ferner Philosophie und Pädagogik, und wur-
de 1966 in Kiel mit einer umfänglichen Untersuchung zum Gegenwartsleben ost-
100
Berichte
Preußischer Heimatvertriebener promoviert. Anschließend verpflichtete ihn sein
Lehrer Erhard Riemann als Assistenten an das wiederbegründete Preußische Wör-
terbuch. Im Jahre 1984 wurde Tolksdorf mit der Leitung dieser Arbeitsstelle be-
traut, die der Akademie der Wissenschaften und der Literatur in Mainz untersteht
und dem Germanistischen Seminar der Universität Kiel angegliedert ist. Am Kie-
ler Seminar für Volkskunde nahm er zwei Jahrzehnte lang einen Lehrauftrag wahr.
Seit 1981 hatte er ferner den Vorsitz der Kommission für Ostdeutsche Volkskunde
m der DGV übernommen, auch die Redaktion des Jahrbuchs für ostdeutsche
Volkskunde und der Schriftenreihe der Kommission. Insgesamt zehn immer
Umfänglicher werdende Bände des Jahrbuchs hat er betreut, 31 Bände der Schrif-
tenreihe herausgegeben und weitere zum Druck vorbereitet.
Sachliches Zentrum aller Arbeiten Ulrich Tolksdorfs bildet die Alltagskultur in
und aus den ehemaligen deutschen Provinzen Ost- und Westpreußen. Im Laufe der
Jahre hatte er eine imponierende Materialsammlung geschaffen. Durch Feldfor-
schung in neuen Siedlungen und Aufnahmefahrten zu über ganz Deutschland ver-
streut lebenden Gewährspersonen entstand ein Archiv aus vielen hunderten von
Tonbandaufnahmen mit oft mehrstündigen narrativen Interviews; zahlreiche wei-
tere in Mundart besprochene Kassetten erhielt er nach Aufrufen in Heimatpresse
und Rundfunk zugesandt, andere durch gezielte Bitten von befreundeten For-
schern aus dem Ausland, darunter z. B. rund 60 ausführliche Berichte von bis heute
Westpreußisch sprechenden Mennoniten in Rußland, Kanada, USA, Mexiko und
Paraguay. Tolksdorf ergänzte die Tondokumente unablässig durch systematische
Literaturrecherchen sowie viele handschriftliche Aufzeichnungen und private Fo-
tografien. Nicht zuletzt aber erstrebte er eine ebenso rasche wie anspruchsvolle Pu-
blikation des Materials, und das ist ihm auch bereits in etlichen Büchern, die me-
thodisch neue, überzeugende Wege beschreiten, gelungen.
Mit der Dissertation, einer Gemeindestudie über das „Siedlungsgebiet Ahr-
brück“ in der Eifel, wo ermländische Flüchtlinge 1950 geschlossen auf einem ehe-
maligen Luftwaffenübungsplatz angesiedelt wurden, legte Tolksdorf seine erste ge-
wichtige Untersuchung zur Heimatvertriebenenvolkskunde vor. Im Vordergrund
steht eine breite Bestandsaufnahme traditioneller, aus der alten Heimat mitge-
brachter wie auch gegenwärtiger Kulturerscheinungen; zugleich geht es jedoch ge-
ttereil um Formen und Normen des Gemeinschaftslebens und um Einblicke in
Vhndlungs- und Assimilationsprozesse. Schon hier wird deutlich, daß für Ulrich
Tolksdorf Empirie und Theorie immer zusammengehören und daß für seinen ge-
genwartsbezogenen Ansatz sowohl die historische Perspektive als auch die Berück-
sichtigung soziologischer und psychologischer Aspekte unabdingbar ist. Auch in
der Folgezeit hat er das Alltagsleben der Ostdeutschen, ob in alter oder neuer Hei-
mat, immer erneut in substanzreichen Detailstudien dargestellt und mit erhellen-
den Theoriekonzepten (z. B. einem Modell des Integrationsprozesses) zu präzisie-
ren versucht. Nachdrücklich ist u.a. auf das Preußische Wörterbuch hinzuweisen
(übrigens das trotz kleinster „Mannschaft“ in der Publikation am schnellsten vor-
anschreitende Mundartwörterbuch), das sich unter Tolkdorfs Leitung seit dem
101
Berichte
Buchstaben K (jetzt bei R) zu einem veritablen volkskundlichen Handbuch ge-
mausert hat und neben den vielen Wortkarten nun - einzigartig für ein solches
Wörterbuch — auch eine Fülle von Strichzeichnungen und Fotos erhält.
Es wäre jedoch irreführend, Tolksdorfs wissenschaftliche Arbeit vorwiegend
auf regionale Forschungsinteressen festlegen zu wollen, selbst wenn man dabei sein
so ungemein weites Konzept ostdeutscher Volkskunde in Rechnung stellt, wie es
in Jahrbuch und Schriftenreihe der DGV-Kommission zum Ausdruck kommt (wo
— selbstverständlich ohne jede „revisionistische“ Tendenz — Überlieferungen aus
ganz Osteuropa oder z.B. auch aus Mexiko berücksichtigt sind). Er war bei aller
Freude am lebensvollen Detail ein strategisch denkender Kopf; ihn haben die Pro-
bleme unserer Zeit interessiert, und er hat für deren Lösung nach methodischen
Ansätzen und theoretischen Perspektiven gesucht. Neben seiner „Dienstverpflich-
tung“ zu sprachwissenschaftlicher Tätigkeit mit ihren vorbildlichen Ergebnissen
und neben kleineren literaturwissenschaftlichen Studien hat er im engeren Sinne
kulturwissenschaftliche Fragen insbesondere als Nahrungs- und als Erzählforscher
aufgegriffen und vorangetrieben. In diesem Feld besitzen außer vielen Aufsätzen
drei Buchmonographien ihren jeweils ganz spezifischen methodisch-dokumentari-
schen Modellcharakter: „Essen und Trinken in Ost- und Westpreußen. Teil 1“
(1975), „Eine ostpreußische Volkserzählerin. Geschichten - Geschichte - Lebens-
geschichte“ (1980) und „Ermländische Protokolle. Alltagserzählungen in Mund-
art“ (1991).
Im Gesamtwerk Ellrich Tolksdorfs (von dem sicher noch manches weit Vorbe-
reitete erscheinen kann) sind jeder Faktenpräsentation höchst subtile Gedanken-
gänge unterlegt. Insgesamt scheint mir die Kraft seiner innovativen Ideen und de-
ren mustergültige materialgesättigte Umsetzung in der Volkskunde noch viel zu
wenig erkannt. Hier sei jetzt nur summarisch an seine fruchtbaren systemtheoreti-
schen und strukturalistischen Darstellungsmodelle erinnert und daran, was er uns
z.B. über Wertordnungen, Vorurteile, Geschmacksattitüden oder folkioristische
Tendenzen im Ernährungsverhalten und über die konkreten Realisierungsvorgän-
ge in diesem kulturellen Handlungssystem an Einsichten eröffnet hat. Und es sei
auch nur pauschal auf sein — bisher relativ wenig zur Kenntnis genommenes -
ganzheitliches Konzept der Betrachtung von „Ethno-Texten“ hingewiesen, in de-
nen die Gesamtheit der Ereignisse und Gegenstände, der Verhaltensregeln und
Überzeugungen, der Wünsche und Bedürfnisse einer jeweiligen „Lebenswelt“ ent-
halten ist sowie zugleich auch personale Modelle der Lebensbewältigung und der
mehr oder weniger bewußte, kulturell vorgegebene Sinn- und Verstehenshorizont
einer Zeit erkennbar werden.
Jedem, der ihm näher begegnet ist, wird Ulrich Tolksdorf unvergessen bleiben.
Aus der Geschichte der deutschen Volkskunde der letzten beiden Jahrzehnte ist er
nicht wegzudenken, und viele seiner Impulse werden wir erst noch dankbar zu
entdecken haben.
München Helge Gerndt
102
Buchbesprechungen
Nils-Arvid BRINGEUS: Der Mensch als Kulturwesen. Eine Einführung in die europäische
Ethnologie, übersetzt von Pirkko Hösch, bearbeitet von Andrea Nisalke und Barbara Ra-
witzer. Würzburg 1990 (Veröffentlichungen zur Volkskunde und Kulturgeschichte. Heraus-
gegeben von Wolfgang Brückner und Lenz Kriss-Rettenbeck 44) 212 S., Abb., Tab.
1966 hatte Sigfrid Svensson eine Einführung in die schwedische Ethnologie vorgelegt, die
auf Vermittlung Günter Wiegelmanns 1973 auch in deutscher Sprache erschien. Damit wur-
den die Ansätze der schwedischen volkskundlichen Forschung auch in Deutschland einem
breiteren Fachpublikum bekannt gemacht.
1976 hat der ehemalige Lehrstuhlinhaber für Volkskunde an der Universität Lund Nils-
Arvid Bringeus erstmals eine Einführung in die schwedische Ethnologie vorgelegt, die in er-
ster Linie als Handbuch der Orientierung Studierender dienen soll. Sie trägt den bezeich-
nenden Titel „Människan som kulturvarelse“ (Der Mensch als kulturelles Wesen) und for-
muliert damit bereits im Titel Programm. Nachdem dieser Band in Schweden vier Auflagen
erlebt und somit seinen Wert als Standardwerk erwiesen hatte, hat sich 1990 Wolfgang
Brückner dankenswerterweise bereit gefunden, eine deutsche Übersetzung in die von ihm
mitherausgegebene Reihe „Veröffentlichungen zur Volkskunde und Kulturgeschichte“ auf-
zunehmen.
Kenntnisreich und mit weitem Blick für die Probleme des Faches entwickelt Bringeus das
Selbstverständnis der europäischen Ethnologie in Schweden, wobei er immer wieder auf die
Entwicklung in den anderen skandinavischen Ländern und in Deutschland verweist und so
die Entwicklung des Faches in einen größeren Bezugsrahmen einzuordnen versteht.
Zunächst beschreibt er die Volkskunde als Kulturwissenschaft, ihre Entstehungsgeschichte
ünd ihr Verhältnis zu Nachbarwissenschaften, um sich im folgenden Kapitel mit den Theo-
rien und Methoden des Faches auseinanderzusetzen. Hierin greift er auch auf die theoreti-
schen Konzepte des 19. Jahrhunderts zurück und kann so das Weiterwirken dieser Ideen bis
m die Volkskunde des 20. Jhs. aufzeigen. Aber auch heutige Ansätze wie z. B. Strukturalis-
mus, Interaktions-Forschung und historischer Materialismus werden behandelt. Gelegent-
lich muten die Theorien- und Methodendiskussionen etwas kurz gegriffen an, weil sie mei-
stens nur in ihrer Anwendung vorgeführt werden, aber nicht an den Theoretikern selbst ex-
pliziert werden (vgl. das Kapital über den Funktionalismus, S. 50 ff.).
Wirklich spannend und anregend zu lesen sind die folgenden Kapitel, in denen Bringeus
bas Konzept der schwedischen Ethnologie entwickelt. Ausgehend von den „kulturellen Di-
mensionen“ (Zeit, Raum, soziales Umfeld) beschreibt er die dazu korrespondierenden „kul-
turellen Prozesse“ (Tradition, Diffusion, Kommunikation und Kulturkontakte).
Anhand der drei Kategorien Sitten (besser wäre hier im Deutschen das Wort „Bräuche“
gewesen), Riten und Normen zeigt er die Determinanten „kulturellen Verhaltens“ auf, um
tm abschließenden Kapitel die Vernetzung aller dieser Elemente zu „kulturellen Systemen“
(soziale Systeme, ökonomische Systeme, Wertsysteme) vorzuführen.
Im einzelnen stellt Bringeus eine Fülle skandinavischer Untersuchungen vor, die sowohl
zu historischen aber auch zu gegenwärtigen Themen vorliegen, so daß der Leser nicht nur
eme gute Vorstellung über das ethnologische Forschungskonzept in Schweden erhält, son-
dern auch einen breiten Überblick über die skandinavische Forschung. Dabei überrascht
103
Buchbesprechungen
immer wieder, daß Themen, die in Deutschland erst langsam Interesse finden, in Schweden
und im übrigen Skandinavien bereits seit langer Zeit etabliert sind (so z. B. Ökologie und
Kultur, S. 198 ff.). Dem fortgeschrittenen Leser mag ob der Materialfülle gelegentlich das
theoretische Konzept zu stark in den Hintergrund gerückt sein, aber die Einführung in die
Kultur des vergangenen und gegenwärtigen Schwedens entschädigt dafür.
Leider weisen die Übersetzung und die redaktionelle Bearbeitung erhebliche Mängel auf.
Die Übersetzung bleibt häufig so nahe am schwedischen Original, daß sich im Deutschen
der Sinn nur schwer entnehmen läßt (z.B. als auf die fehlenden Umfeldinformationen bei
mündlicher Überlieferung hingewiesen wird, heißt es anschließend „Gab es es nur unter
Männer [sic!] oder nur unter Frauen?, S. 103). Auf die Vielzahl der Druckfehler und gram-
matikalischen Unzulänglichkeiten („Die Lehrer .. . lehrten den Kindern neue Sprachmu-
ster“, S. 180) möchte ich nur kurz hinweisen.
Außerdem fehlen sowohl Anmerkungen als auch ein Literaturverzeichnis, das in der
schwedischen Ausgabe sehr umfangreich über die entsprechende Literatur informiert. Die-
ser Mangel ist deshalb besonders schmerzlich, weil die von Bringeus vorgestellte und z. T.
ausführlich zitierte Literatur überhaupt nicht auffindbar ist. Zwar wird gelegentlich der
Originaltitel und das Erscheinungsjahr genannt, aber meistens wird daraus, wie z. B. bei den
Läsö-Studien von Bjarne Stoklund, ohne irgendeinen Nachweis zu geben, zitiert.
So verdienstvoll es ist, daß das schwedische Konzept einer europäischen Ethnologie nun
auch deutschen Fachkolleginnen und -kollegen zugänglich ist, aber man hätte sich ge-
wünscht, daß dieses anregende und gut zu lesende Buch eine angemessenere Bearbeitung er-
fahren hätte.
Freiburg Silke Göttsch
Volkskultur - Geschichte - Region. Festschrift für Wolfgang Brückner zum 60. Geburts-
tag. Hrsg, von Dieter Harmening und Erich Wimmer. Würzburg: Königshausen und Neu-
mann, 1990, 726 S., Abb. (Quellen und Forschungen zur europäischen Ethnologie, Bd. 7).
Nun ist also auch Wolfgang Brückner ins Festschriftenalter eingetreten: der wortgewalti-
ge, ideenreiche und noch immer so streitbare Würzburger Ordinarius, eines der letzten Uni-
versalgenies der Volkskunde mit einem kaum zu übersehenden, gewaltigen Oeuvre. Rein äu-
ßerlich sind Umfang, Ausstattung und thematische Breite der Festschrift seiner Stellung
und Bedeutung im Fach ebenbürtig. Dennoch muß man sich angesichts der Flut von volks-
kundlichen Jubiläumsgaben allmählich fragen, ob die -^auch im vorliegenden Fall zu beob-
achtende - Sammlung von Aufsätzen ihren Sinn als den Jubilar ehrendes Geschenk noch
erfüllt. Die (nicht auf das Fach Volkskunde beschränkte) Festschriftkultur wäre ihrerseits je-
denfalls ein lohnendes Feld für aufschlußreiche Analysen: Wer (und wer nicht) schreibt für
wen aufgrund welcher Quellen über welche Fragestellung mit welchem Ziel und welcher
Wirkung? Die drei Begriffe im Titel des vorliegenden Bandes signalisieren eine derartige
Bandbreite, daß letztendlich jeder Beitrag - und sei er noch so abgelegen — von den Hrsg,
als adäquat akzeptiert werden konnte. So tritt an die Stelle enger thematischer Begrenzung
das Prinzip Spielwiese. Wenn dann das Ergebnis von respektablen 726 Seiten (!) dazu noch
104
Buchbesprechu ngen
noch durch keinerlei Verfasser- oder Sachregister erschlossen wird, besteht die Gefahr, daß
viele der abgedruckten Beiträge zwischen den beiden Buchdeckeln begraben bleiben. Für
manche Aufsätze ist dies kein Nachteil, andere verdienten zweifellos die Aufmerksamkeit ei-
ner breiteren Fachöffentlichkeit. Ob der Geehrte selbst mit den Geburtstagsgaben in allen
Belangen zufrieden ist, wäre interessant zu erfahren. Jedenfalls wird er - wie der Rezensent
- seine zwei Wochen damit zugebracht haben, die 42 Zeugnisse der Gelehrsamkeit seiner
Kollegen, Freunde und Schüler(innen) zu lesen. Das Festschriftritual verlangt üblicherweise
vom Jubilar, daß er in 42 Dankschreiben zu jedem ihm gewidmeten Beitrag die passenden
Worte findet. Der Rezensent hat es besser: er kann auswählen und sich auf jene beschränken,
die Eindruck auf ihn gemacht haben bzw. von besonderem fachlichen Belang sind. Die mei-
sten dieser Beiträge finden sich nicht zufällig im ersten Teil der Feschrift, in welchem sich
ein Diskurs zum Phänomen der Volkskultur abspielt.
Der Altmeister K.-S. Kramer eröffnet den Reigen mit einer sehr persönlich gehaltenen Bi-
lanz seiner eigenen Arbeiten, die in einer Apologie des Volkskulturbegriffes gipfelt. Für die
Welt der historischen Volkskultur, wie sie Kramer in seinen drei Franken-Monographien be-
schrieben hat, will er an dem Begriff festhalten als geschichtlichem Ausdruck eines Lebens-
stils, der in ein Ordnungssystem eingebunden, durch Herkunft gefestigt, wiewohl nach Re-
gion, Ort und sozialer Gruppierung stark zu differenzieren sei. Diese „alte Volkskultur“ ist
für Kramer eine Realität, die mit Inhalt gefüllt werden kann, keine Konstruktion des 19. Jhs.
(Bausinger). Günter Wiegelmann will für die Gliederung der Volkskultur Konzepte der
Culture-Pattern-Theorie von A. L. Kroeber (1948) nutzbar machen und ein Netz von feinge-
gliederten Skalen in Anwendung bringen, während sich Klaus Guth für ein Nebeneinander
der beiden Begriffe Alltags- und Volkskultur einsetzt. Einen zentralen theoretischen Beitrag
steuert Konrd Köstlin bei, in welchem er die historische Methode der Volkskunde und den
Prozeß der Zivilisation von Norbert Elias in Beziehung zueinander setzt und - bei aller
Gegensätzlichkeit - die Verwandtschaft zwischen beiden Ansätzen charakterisiert. Sie zeigt
sich vor allem beim Problem der staatlichen Einflußnahme auf die Volkskultur und den Re-
aktionen darauf von unten, die sich als „Widerständigkeit“ objektivieren. Eine Entdeckung
für die Volkskunde ist die von Hermann Bausinger ans Licht gebrachte Abhandlung von
Karl List über „Die Ackerverfassung, die Zwergwirtschaft und die Auswanderung“ aus dem
Vormärz, in welcher sich List mit den Wechselwirkungen von Wirtschaftsstruktur und bäu-
erlicher Lebensweise auseinandersetzt und sich für die Unteilbarkeit bäuerlichen Besitzes
ausspricht. Den Begriff Volkskultur gebraucht List im Sinne von „Kultivierung des Volkes“
Und versteht ihn als Teil der politischen Praxis, welche möglichst vielen hierzulande ein
rnenschenwürdiges und freies Leben garantiert. Christoph Daxelmüllers Beitrag „Das Dilem-
ma der ,signalements1 “ unternimmt den lange fälligen Vorstoß der Volkskunde zu einer
Kritik der kulturellen Wahrnehmungsfähigkeit. Wahrnehmung bedeutet immer sowohl Se-
lektion als auch gesellschaftliche, historische und individuelle Prädispostion. Aus der Er-
kenntnis von der Beeinflußbarkeit von Wahrnehmung zeigt der Autor am Beispiel von se-
riellen Quellen (Inventare und Steckbriefe), welchen Regulierungen des „verordneten Se-
hens“ historische Wahrnehmung unterliegt und wie die eigene Wahrnehmung der
Wahrnehmung derjenigen, auf deren Zeugnisse wir angewiesen sind, bei der Analyse kultu-
reller Prozesse im Wege stehen. Am Beispiel einer einzelnen oberschwäbischen Votivtafel
von 1681 erörtert Walter Pötzl unter dem Titel „Prosographie und Volkskulturforschung“
Probleme und Möglichkeiten einer historischen Persönlichkeitsforschung. Helge Gemdts
^eit ausgreifende und wichtige Gedankengänge um „Tschernobyl als kulturelle Tatsache“
lassen sich mit seinen eigenen Worten am besten dahingehend zusammenfassen, daß es für
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Buchbesprechungen
die Volkskunde als empirischer Kulturwissenschaft unter dem Eindruck dieser Katastrophe
- jenseits von Spezifizierung, Regionalisierung und Kontextualisierung von Volkskultur -
jetzt um das „Erklären und Verstehen kultureller Vernetzungen in unserem sozial höchst
komplex verschlungenen Alltagsleben, um Einsichten in umfassende Lebenskomplexe aus
wertbesetzten Vorstellungs- und Verhaltensmustern“ gehen müsse.
Probleme hatte ich mit dem Aufsatz von Heidrun Alzheimer, „Frauen in der Volkskunde.
Ein Beitrag zur Wissenschaftsgeschichte“, der zunächst in dankenswerter Ausführlichkeit
den Frauen in der Volkskunde bis 1945 nachspürt. Nach diesem Zeitpunkt beschränkt sich
die Darstellung seltsamerweise auf Bayern, so daß das Kapitel „erste Schritte an den Hoch-
schulen“ mit den drei „großen alten Damen der Volkskunde“ - Lily Weiser-Aal, Martha
Bringemeier, Mathilde Hain - endet. Mit diesem Kunstgriff schafft es die Autorin, die Na-
men zweier weiterer „großer Damen“ im Fach zu vermeiden: Ingeborg Weber-Kellermann
und Ina-Maria Greverus. Dies ist eine zumindest eigenwillige Art, Wissenschaftsgeschichte
zu betreiben! Wer einen ausgesprochen witzigen und originellen Beitrag lesen möchte, sei
noch auf Eva Stilles Protokoll eines „Verkleidungs-Experiments“ verwiesen: fünf junge
Frankfurter Frauen berichten über ihre Erfahrungen, die sie machten, als sie sich mit Klei-
dern aus der Generation ihrer Mütter in fünf bürgerliche, „spießige“ Frauen verwandelten
und zunächst ein vornehmes Kaffeehaus, dann ein Szenecafe und schließlich ein Tanzlokal
mit Tischtelefonen besuchten. Damit müssen wir es bewenden lassen, in dem Bewußtsein,
bei dieser subjektiven Auswahl 75 Prozent der Beiträge übergangen zu haben. Sie gruppie-
ren sich um die Forschungsschwerpunkte von Wolfgang Brückner im Bereich von religiöser
Volkskunde, Brauchforschung, fränkischer Regionalforschung, Museologie, Bildforschung
und Erzählforschung und dokumentieren auf eindrucksvolle, mitunter aber auch verwir-
rende Weise die Bandbreite heutigen volkskundlichen Forschens und Denkens.
Göttingen Rolf Wilhelm Brednich
Volkskunde in der Hanuschgasse. Forschung - Lehre - Praxis. 25 Jahre Institut für Volks-
kunde der Universität Wien, hrsg. von Olaf Bockhorn und Gertraud Liesenfeld, Wien 1989,
308 S., Abb. (Veröffentlichungen des Instituts für Volkskunde der Universität Wien, 13)
Die Rezension des 1989 gedruckten Sammelbandes ist aus verschiedenen Gründen nicht
ohne Schwierigkeiten zu bewältigen. Zunächst ist der Sammelbänden immanente heteroge-
ne Charakter zu nennen, der eine ausführliche Diskussion der einzelnen Beiträge verbietet.
In diesem Fall gesellt sich noch ein weiterer Umstand hinzu: die Veröffentlichung war zu-
nächst für 1986 geplant und einige Beiträge sind dementsprechend bereits Jahre zuvor, näm-
lich zwischen 1983 und 1985, verfaßt worden. Mögliche Gegenargumente erscheinen daher
fallweise zu sehr post festum, post festum erscheint sogar generell die Diskussion zu einzel-
nen Arbeiten. Dennoch: es lohnt allemal, auf diese Publikation hinzuweisen, die letztend-
lich einen Querschnitt durch das Schaffen eines Instituts darstellt, wenn sich auch primär
die erste Hälfte der 80er Jahre darin spiegelt.
Etwas befremdend mutet allerdings die Unvollständigkeit des Querschnitts an, fehlt doch
ausgerechnet der Ordinarius des Wiener Instituts, Käroly Gaal, unter den Beiträgern. Seine
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Buchbesprechungen
Forschungsschwerpunkte sind somit nur indirekt aus dem am Ende des Bandes angeführten
kommentierten Verzeichnis der am Institut erarbeiteten Dissertationen und Diplomarbei-
ten zu erschließen.
Bereits im Vorwort der Herausgeber zeigen sich die Schwierigkeiten im Umgang mit Jubi-
läen; wissenschaftsgeschichtlich ist dabei von Interesse, daß sich einmal mehr erweist, daß
man die Gründung einzelner Institutionen nicht ohne weiteres an einem bestimmten Da-
tum festmachen kann. Das ursprünglich geplante Erscheinen der Festschrift 1986 hätte sich
auf den offiziellen Gründungsakt durch die Fakultät bezogen (1961). Die Verzögerungen
führten zu einem zweiten Bezugspunkt: 1989 waren 25 Jahre vergangen, seit das Institut sei-
nen Betrieb aufnahm. Hätte man noch zwei Jahre gewartet, wäre als 25-Jahr-Feier die offi-
zielle Eröffnungsfeier des Instituts im Jahre 1966 zur Verfügung gestanden. Man hätte aber
auch das 30jährige Gründungsjubiläum feiern können. Man sieht, daß das, was auf Staats-
ebene beginnt, sich auf Landes- und Gemeindebene fortsetzt, bei kleinen Institutionen en-
det: Gründungen vollziehen sich über einen längeren Zeitraum und sind meist auch Ergeb-
nis eines längeren Prozesses, in dem bereits vieles vorweggenommen wird, ehe eine Verdich-
tung zum Gründungsakt führt.
Da eine Rezension kaum ausreichenden Platz für eine Auseinandersetzung mit allen Bei-
trägen bietet, sei an dieser Stelle nur stichwortartig auf die Breite des Gebotenen hingewie-
sen. Beiträger für den Band waren der 1987 verstorbenen Institutsvorstand Helmut Paul
Fielhauer, der bedienstete Mittelbau des Instituts sowie eine Reihe von Lehrbeauftragten, ex-
ternen Dozenten und eine Gastprofessorin.
Es sei dem Rezensenten erlaubt, primär die Arbeiten der Institutsmitarbeiter herauszu-
greifen: Zu Beginn behandelt Bockhorn („Volkskundliche Forschungen aus dem Burgen-
land“) eine Region, die schon seit Leopold Schmidt ein beliebtes Forschungsgebiet Wiener
Volkskundler ist. Als Ergebnis liegen nicht nur zahlreiche Publikationen Schmidts vor, son-
dern auch eine Reihe bemerkenswerter monographischer Darstellungen aus dem Wiener In-
stitut.
Nicht ohne Betroffenheit werden wohl jene, die Helmut Paul Fielhauer kannten, seinen
Aufsatz lesen, der einmal mehr eines seiner Lieblingsthemen behandelt - die ländliche Ar-
beiterschaft Niederösterreichs. Obwohl die Studie 1983 als Referat für ein Symposium in
Niederösterreich entstand, fand sie keine Aufnahme in den Tagungsband, „... die Gründe
dafür sollen hier nicht analysiert werden ...“, schreiben die Herausgeber (S. 9). Schade, daß
sie es nicht taten, vielleicht wäre als Grund einmal mehr die gesellschaftskritische Position
Fielhauers sichtbar geworden, die manche in der Schärfe ihrer Argumentation verschreckt
hat, hinter der jedoch immer die Sehnsucht nach einer besseren Welt stand. H. P. Fielhauer
starb 1987; Zeit, wieder einmal daran zu erinnern, was er für die österreichische Volkskunde
geleistet hat und welchen menschlichen Werten sich unser Fach mit ihm verpflichtet fühlen
sollte.
Reinhard Johler greift - in der Tradition Fielhauers stehend - ein Thema auf, das einen
bisher weitgehend vernachlässigten Aspekt der Arbeiterkultur fokusiert: Die frühe Sozial-
demokratie nicht als Massenbewegung, sondern - am Beispiel Bregenzerwald - ihre einzel-
nen Mitglieder als an den Rand gedrängte Außenseiter inmitten einer überwiegend
katholisch-konservativen Mehrheit.
Der Wert des kommentierten Verzeichnisses der Dissertationen und Diplomarbeiten des
Wiener Volkskundeinstituts liegt erstens in der durch die Veröffentlichung verbesserten Zu-
griffsmöglichkeit und zweitens - wissenschaftsgeschichtlich betrachtet - in dem gebotenen
107
Buchbesprechu ngen
Spiegelbild des Forschungsinteresses einzelner Lehrender. So gerät die Zusammenstellung
(von Liesenfeld wohl auch beabsichtigt) zu einer Information über den sich in den 70er und
80er Jahren langsam vollziehenden Paradigmenwechsel am Institut.
Eine Reihe von Lehrbeauftragten und Dozenten ergänzen die Festschrift zu einem anspre-
chenden Überblick über die Breite unseres Faches an der Wiener Lehrkanzel. Der Bogen
spannt sich von Gunter Dimt (Wohnforschung), Siegfried Hermann (Einsatz von Bildplatten
als Informationsträger), Ilan Knapp (Wege der empirischen Sozialforschung), Franz C. Lipp
(Auseinandersetzung mit dem Folklorismusthema und einer „angewandten“ Volkskunde)
über Ute Mohrmann (Wissenschaftsgeschichte), Harald Prickler (Archivalische Quellen),
Emil Schneeweis (Ikonographie), Dieter Schräge (Kitsch) zu Hermann Steininger (Rechts-
denkmäler) und Wolfdieter Zupfer (Erwachsenenbildung). Aus diesem Reigen soll noch be-
sonders auf Ute Mohrmann hingewiesen werden, deren Beitrag über „Volkskunde an der
Humboldt-Universität zu Berlin von 1962-1986“ unbeabsichtigt zu einer Diskussion über
ein damals bereits fast abgeschlossenes Kapitel volkskundlicher Wissenschaftsgeschichte ge-
rät. Mohrmann, die im Sommersemester 1984 als Gastprofessorin am Institut für Volkskun-
de in Wien lehrte, behandelt Aspekte einer gesellschaftskritischen Volkskunde mit marxisti-
schem Ansatz, die heute - nur wenige Jahre nach dieser Veröffentlichung - keine Gültig-
keit mehr zu haben scheint. Mohrmanns Studie - im Jahr der Wende veröffentlicht,
bekommt nicht zuletzt deshalb ungewollte Aktualität, weil sie im Gegensatz zu einschlägi-
gen Veröffentlichungen nach der Wende (z.B. ZfVk 1991) die Arbeiten der DDR-Volks-
kunde noch unmittelbarer aus eigener Sicht bewertet.
Graz Helmut Eberhart
HEIDRUN ALZHEIMER: Volkskunde in Bayern. Ein biobibliographisches Lexikon der Vor-
läufer, Förderer und einstigen Fachvertreter. Würzburg: Bayerische Blätter für Volkskun-
de/München: Bayerisches Nationalmuseum, 1991, 362 S. (Veröffentlichungen zur Volks-
kunde und Kulturgeschichte, 50; Bio-Bibliographisches Lexikon der Volkskunde, Vorarbei-
ten, 4)
Mit beträchtlichem Aufwand und großer Konsequenz hat sich die Volkskunde in den letz-
ten anderthalb Jahrzehnten der Geschichte des Faches zugewandt. Das von Klaus Beiti und
Wolfgang Brückner veranstaltete Würzburger Symposion „Volkskunde als akademische
Disziplin“ 1982 (Tagungsband 1983) oder die von Helge Gerndt für die Deutsche Gesell-
schaft für Volkskunde ausgerichtete Münchner Tagung 1986 (Tagungsband 1987) bündeln
solche Aktivitäten, die von zahlreichen Einzelstudien begleitet werden. Von vornherein war
klar, daß im Bezugsrahmen wissenschaftshistorischer Untersuchungen oder Reflexionen be-
sondere Aufmerksamkeit den „Akteuren“ zu gelten hatte und es ist das große Verdienst von
H. Alzheimer, daß ihre Würzburger Dissertation am Beispiel der Volkskunde in Bayern ein
breit angelegtes, sorgfältig duchgearbeitetes Muster für die Erfassung derjenigen schuf, die
an der Formulierung des Faches teilhatten oder dieses nach der Etablierung bis in die Gegen-
wart vertraten.
Im Unterschied zu den biographischen Darstellungen aus anderen Disziplinen, die sich
ausschließlich auf die Eliten ihrer Wissenschaft oder gar auf die großen Wegbereiter und
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Buchbesprechungen
Neuerer konzentrieren, zeichnet sich das vorliegende Lexikon dadurch aus, daß hier das
ganze vielfältige Spektrum der für die Fachüberlieferung wichtigen Namen behandelt ist.
Unter dem Gesichtspunkt der breiten Streuung ist die Veröffentlichung wohl am ehesten
den „Lebensbildern“, wie sie von den Historischen Kommissionen oder von verwandten
Gremien für einzelne Länder erstellt werden, vergleichbar, weil auch hier viele in der Allge-
meinheit kaum bekannte Namen berücksichtigt sind.
Natürlich ließ sich die Absicht, Personalbiographien zur Volkskunde in der ganzen
Spannweite des Faches zu erstellen, nicht ohne die Sichtung und Aufbereitung eines immen-
sen Materials bewerkstelligen. Schon der Blick auf das unscharfe Profil des Faches oder auf
die Vielzahl der Gelehrten und Publizisten, bei denen Themen aus der Volkskunde nur an
der Peripherie eines hauptsächlich anderen Wissenschaftszweigen gewidmeten Werkes lie-
gen, mag ausreichen, die Schwierigkeiten der Ermittlungen und Vergewisserungen sich zu
vergegenwärtigen. Und wer je den Lebensdaten, dem Ausbildungsgang, den beruflichen Tä-
tigkeiten oder den Publikationen der vielen Personen, die keinen Eingang in die gängigen
biographischen Sammelwerke fanden, nachzuspüren hatte, weiß die Mühe, die Akribie und
Umsicht, die auf die 219 kompakt dargebotenen Lebensläufe zur Volkskunde verwendet
worden sind, zu würdigen.
Jedenfalls entstand für Bayern ein höchst aufschlußreiches Handbuch zur Orientierung
über die hauptsächlich oder nebenher mit dem Volkskundlichen beschäftigten Universitäts-
gelehrten, Archivare und Bibliothekare, Denkmalpfleger und Museologen, weiterhin aber
auch über Heimatforscher, Popularisatoren, Sammler und Dilettanten.
Gewiß wird aus regionalen Bezügen oder aufgrund von speziellem Wissen der eine oder
andere Name für die späteren Erweiterungen vorzuschlagen sein - wir nennen nur den
Philologen Friedrich Bock (1886-1964), Bibliotheksdirektor zu Nürnberg, mit seinen Stu-
dien zur populären Literatur und zur Volkskunde der ehemaligen Reichsstadt, den Kunsthi-
storiker und Oberstudienrat Konrad Kupfer (1883-1965), Leiter des Pfalzmuseums zu
Forchheim, wegen der Mannigfaltigkeit seiner volkskundlichen Beiträge, vor allem aber we-
gen seiner für die Untersuchung von technischen Denkmalen frühen Darstellung zu den
Wasserschöpfrädern in Franken oder auch August Töpfer (1834-1911) aus Ingolstadt, der
im Anschluß an sein Münchner Architekturstudium und seine Tätigkeit als künstlerischer
Leiter der Metallwarenfabrik Riedinger in Augsburg, als Direktor des Gewerbemuseums in
Bremen an niederdeutschen Verhältnissen die Sachforschung prägende Vorstellungen über
das „Bauernmöbel“ entwickelte. Im Grunde aber bestätigen solche Nachträge nur, daß die
Publikation als Paradigma für die regionalen Nachfolgebände auf dem Wege zu einem „Bio-
Bibliographischen Lexikon der Volkskunde“ eine wohldurchdachte, vor allem aber auch ei-
ne repräsentative Zusammenstellung vorlegte.
H. Alzheimer hat im Anschluß an die Folge der Biographien erste wichtige Schritte zu de-
ren Auswertung unternommen; vor allem hat sie Eckdaten zur Herkunft, zur Ausbildung
und beruflichen Tätigkeit wie schließlich zu thematischen Schwerpunkten der Veröffentli-
chungen unter Berücksichtigung regionalgeschichtlicher Aspekte systematisch erschlossen.
Mit dem aufbereiteten Material sind zugleich die über das Biographische hinaus auf eine
Analyse der Sachgegebenheiten zu führenden Fragen vorformuliert, etwa nach der Binnen-
steuerung, nach dem Verhältnis zu den Nachbardisziplinen mit ihren eigenen Traditionen
und wissenschaftlichen Anforderungen oder nach den Stadien der Professionalisierung.
Nürnberg Bernward Deneke
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Buchbesprechungen
KLAUS Beul, Eva KAUSEL (Hrsg.): Internationale und nationale volkskundliche Bibliogra-
phie. Spiegel der wissenschaftlichen Volkunde/Europäischen Ethnologie. Wien: Selbstver-
lag des Vereins für Volkskunde 1991, 180 S., mehrere Abb. und Tabellen (Buchreihe der
ÖZV, NS 9)
Das in der Buchreihe der ÖZV, die schon mehrfach bibliographische Arbeiten und Ta-
gungsbände herausgegeben hat, als Aktenband der Referate der zweiten Tagung der Arbeits-
gruppe für die Internationale Volkskundliche Bibliographie (IVB) und zugleich des 4. Inter-
nationalen Symposiums des Instituts für Gegenwartsvolkskunde der Österreichischen Aka-
demie der Wissenschaften vom 19. bis 21. April 1991 in Neusiedl/See (Burgenland) im
Auftrag des Vereins für Volkskunde in Wien und in Zusammenarbeit mit dem Institut für
Gegenwartsvolkskunde sowie der SIEF Kommission für Bibliographie, Information und
Dokumentation edierte Werk enthält 12 Referate von Fachvertretern aus Deutschland, der
Tschechoslowakei, Finnland, Frankreich, Niederlande, Österreich, Polen, Schweiz, Ungarn
und USA und stellt z. T. eine Fortsetzung der ersten Tagung der Arbeitsgruppe für die IVB
vom 1.-3. 5. 1990 in Lilienthal bei Bremen dar, wo „Vorschläge zur Verbesserung der
Schlagwortausgabe und Generierung von Schlagwortketten und EDV - technische Proble-
me behandelt werden“ (Einleitung von K. Beitl, S. 5). Ziele der zweiten Tagung, an der im-
merhin 30 Mitarbeiter(innen) an der IVB aus den verschiedensten Ländern zusammenge-
kommen sind, war „erstens nochmals die Frage der IVB-Systematik (Aktualisierung und
Anpassung der Systematik an die Weiterentwicklung der Volkskunde/Europäische Ethno-
logie unter Berücksichtigung unterschiedlicher Entwicklungen bestehender Parallelität von
innovativen und traditionellen Forschungsansätzen), zweitens ... eine Bestandsaufnahme
nationaler volkskundlicher Bibliographien und schließlich drittens die Bestimmung des
Standortes der IVB im internationalen Kontext von Dokumentationssystemen“ (S. 6).
Das Überdenken und die Neuordnung des „wichtigsten Forschungsinstrumentes der
Volkskundler der westlichen Welt“ (James Dow 1988) stellt von sich aus ein Thema von ho-
hem Interesse und aktueller Brisanz dar, gibt es doch wohl kaum einen Geisteswissenschaft-
ler, der die IVB nicht schon in der einen oder anderen Form benutzt hat. Es ist hier nicht
der Ort, Geschichte und Gesamtproblematik dieses ehrwürdigen Unternehmens, das gleich
nach dem Ersten Weltkrieg einsetzte, darzulegen. Anlaß für die Überlegungen bildet die
letzthin gelungene Institutionalisierung dieser von Robert Wildhaber, Rolf-Wilhelm Bred-
nich, James Dow und anderen auf ehrenamtlicher Basis geleistete Mammutsarbeit: die Zen-
tralredaktion liegt heute bei Rainer Alsheimer in der „Arbeitsstelle IVB innerhalb des Stu-
dienganges Kulturwissenschaft an der Universität Bremen“; es gibt auch einen Fachbeirat in
der Deutschen Gesellschaft für Volkskunde (BFG) und eine europäische Kommission für
volkskundlich-ethnologische Bibiliographien, Information und Dokumentation (BID-
Kommission) der Société Internationale d’ Ethnographie et de Folklore (SIEF). Zusammen
mit der Umstellung von Zettelkasten auf EDV-Speicher und die computergenerierte Text-
ausgabe ist dies Anlaß für überdachte Eingriffe in die traditionelle Systematik.
Im ersten Beitrag berichtet Rainer Alsheimer über „Die IVB-Fachsystematik und Gliede-
rung. Ergebnisse der Tagung Lilienthal 1990“ (S. 9-39) mit insgesamt sechs „Anhängen“,
die verschiedene Änderungsvorschläge reproduzieren. Über Einteilungen und Gliedei un-
gen läßt sich, vor allem wenn sie auf eine 75jährige Gewordenheit zurückblicken können,
diskutieren. Darüber hinaus ist die Teilung des Lebenstotums des „Kleinen Mannes“ und
des „Alltags“ immer bis zu einem gewissen Maße willkürlich. Bleibt die Frage nach der bi-
bliographischen Suchpraxis: hier hat jeder einzelne spezifische Wünsche vorzutragen, die
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Buchbesprechungen
aus einem spezifischen Themenblickwinkel kommen und in einer Gesamtsystematik nicht
immer gleichwertig berücksichtigt werden können. In diesem Sinne ist es vielleicht weise ge-
handelt, daß die letztlich durchgeführten Eingriffe nicht umfassend und grundlegend sind,
obwohl sich das jeder in gewissen Punkten vielleicht wünschen möchte. Doch ist dies sub-
jektiv. So scheint dem Rez. z. B., daß volkskundlich (auch) relevante Wissenschaftszweige
wie Sozial- und Kulturantrhopologie, Ruralsoziologie, Humangeographie, Agrarökonomie,
Sozialpsychologie usw. in der Kategorie Ol.C.4. „Volkskunde und Nachbarwissenschaften“
nur ungenügend gedeckt sind. Aber dies ist Sache einer theoretischen Diskussion, die in der
einen oder anderen Form schon stattgefunden hat. Daß Formen des „Volksschauspiels“ un-
ter ganz verschiedenen Unterkategorien zu suchen sind (in der Kategorie 10), während der
Kategorie 19 (Volksschauspiel) auch Zirkus und Kino beigeordnet sind (Anhang 6), ent-
spricht zwar den gängigen Entwicklungen, erleichtert aber die Sucharbeit eines Forschers,
der über Vorformen des Volkstheaters arbeitet, nicht gerade sehr. Doch dies gehört zu den
subjektiven Optiken, die eben nicht alle berücksichtigt werden können. Noch in den Griff
zu bekommen - und dies ist nicht spezifisch thematisiert worden - scheinen die Formen
der Kooperation (Institutionsstrukturen, spezifische Forschungspräferenzen der Mitarbei-
ter, Ermüdungserscheinungen bei langjähriger Mitarbeit usw.) und die Selektionskriterien
a) bei den eingesandten Angaben in der Hauptstelle (Restriktionen durch den Umfang der
Bibliographie) und b) bei der Auswahl der einzusendenden Angaben durch die Mitarbeiter-
stelle (so figuriert z. B. in der Anlage 1 - Angaben des Jg. 1985/86 aufgeschlüsselt nach Zah-
len auf S. 25 - die Kategorie 16.10 „Volkslied griechisches Sprachgebiet“ mit einer Nullmel-
dung - „nicht besetzte Stellen der Systematik“ -, wobei doch nachweislich eine ganze An-
zahl von nicht unwesentlichen Arbeiten in diesem Zeitraum erschienen sind, vgl. W.
Puchner, Wege der griechischen Liedforschung. Südost-Forschungen XLVIII [München
1989] S. 217-235).
Der zweite Beitrag von Rainer Alsheimer, „Die Internationale Volkskundliche Bibliogra-
phie (IVB) im Kontext universeller Klassifikationssysteme und Thesauri“ (S. 41-50) be-
schäftigt sich mit genau diesen Fragen und diskutiert verschiedene Möglichkeiten und Syste-
me. Sodann beginnt die Reihe der länderspezifischen bibliographischen Berichte zur Volks-
kunde: Andreas Cserhak „Bericht über die ungarische Bibliographie mit einem geschicht-
lichen Rückblick“ (S. 51-56), Eveline Doelman „Bibliographische Aktivitäten in den Nie-
derlanden und Flandern. Ein Kapitel aus der Geschichte der niederländischen Volkskunde“
(S. 57-68), Qemal Haxhihasani „Überblick über die albanischen volkskundlichen Biblio-
grapien“ (S. 89-100, besonders interessant und mit konkreten Abänderungsvorschlägen
zur Systematik), Emst J. Huber „Volkskunde in schweizerischen Bibliographien“ (S.
101-105), Henni Ilomäkki „Bibliographia Studiorum Uralicorum vol. 2: Traditionswissen-
schaften“ (S. 107-124), Richard /e/i«^e^„Volkskundliche Bibliographien in der ,Slawischen
Welt““ (S. 125-133), Eva Kausel „Bibliographien zur Volkskunde in Österreich“ (S.
135-159) mit einer objektiven Darstellung der Österreichischen Volkskundlichen Biblio-
graphie und einer verdienstvollen Zusammenstellung volkskundlich relevanter Regionalbi-
bliographien nach Bundesländern), Bronislawa Kopczynska-Jaworska „Volkskundliche Bi-
bliographien in Polen“, und schließlich Thomas K. Schippers „Bibliographische Arbeit und
ethnologische Datenbanken in Frankreich“ (S. 169-175, besonders wichtig wegen der un-
terschiedlichen Institutionalisierung des Faches in Frankreich). Es ist schade, daß der infor-
mative Bericht von Bernd Schöne über die einschlägigen Bemühungen der ehemaligen
DDR nicht abgedruckt werden konnte, da man über das künftige Schicksal des Referator-
gans „Demos“ (1960 ff.) zu Ost- und Südosteuropa gerne mehr erfahren hätte, so dürftig
111
Buchbesprechungen
und subjektiv (Jerabek, S. 126 f.) die Angaben in den letzten Jahren auch gewesen sein mö-
gen.
Anders geartet ist der Beitrag von James R. Dow und Daniel Uchitelle (S. 69-88) „Volks-
kundliche Arbeit bei der MLA“: James Dow war über zehn Jahre Mitarbeiter, Mitherausge-
ber und zuletzt Hauptherausgeber der IVB und arbeitet heute als Mitherausgeber des Bandes
5 (Folklore) der MLA International Bibiliography, die zwar vorwiegend literarisch und
sprachwissenschaftlich orientiert ist, seit einigen Jahren aber die Sektion „Folklore“ nicht
mehr nur als Orchideenappendix führt, sondern heute im Durchschnitt ca. 3000 einschlägi-
ge Angaben enthält. Die unterschiedliche Computeraufarbeitung und der bezügliche Ver-
gleich mit der IVB ist besonders aufschlußreich, da Dow intimer Kenner beider Systeme ist.
Mit dem vorliegenden Band ist also eine Methode- und Systematisierungsdiskussion und
-reflexion weitergeführt, die nicht so leicht zu Ende kommen dürfte, wenn man etwa ver-
gleichsweise die Geschichte der einschlägigen Gespräche und Tagungen der Balladenkom-
mission in der SIEF über die Klassifikationsprobleme und Länderkataloge betrachtet, die
sich europa- und amerikaweit nun schon weit über 20 Jahre hinziehen. Doch ist die Sachlage
hier wesentlich anders: schon allein der Zeitpunkt und die praktische Gebrauchsnotwendig-
keit lassen der rein theoretischen Diskussion einen weit engeren Diskussionsspielraum. Vor
allem die Vergleichende Volkskunde der überall postulierten „Ethnologia Europaea“ ist auf
dieses Organ fast ausschließlich angewiesen: in diesem Sinne bleibt ein umfänglicher Zu-
wachs der Informationsfülle zu wünschen (eventuell in Form einer flexibleren Datenbank)
sowie die Verringerung der druck- und sachtechnischen Verzögerungsphase (S. 98: der Band
von 1985/86 war erst 1991 greifbar, während bei der MLA zwischen Einsendeschluß der
Angaben und Edition ganze sechs Monate verstreichen, S. 80). Nur so ließen sich in kompa-
rativen Themenbereichen auch im 20. Jh. vor allem bei Kleinsprachen in Ost- und Südosteu-
ropa immer noch bestehende Informations- und Sprachbarrieren endgültig abbauen.
Athen Walter Puchner
HERMANN HeiDRICH (Hrsg.): Biographieforschung. Gesammelte Aufsätze der Tagung des
Fränkischen Freilandmuseums am 12. und 13. Oktober 1990. Bad Windsheim: Fränkisches
Freilandmuseum 1991, 179 S. sw (Schriften und Kataloge des Fränkischen Freilandmu-
seums, 14)
Dieser von Hermann Heidrich herausgegebene Band vereinigt eine Reihe von Beiträgen,
die eines gemeinsam haben: sie heben auf die Praxis biographischer Forschung mit besonde-
rem Schwerpunkt auf alltagsorientierter Museumsarbeit in einem zumeist ländlichen Um-
feld ab. Diesem Arbeitsbereich widmete sich eine Tagung im Fränkischen Freilandmuseum
in Bad Windsheim, deren Begleitpublikation hier vorliegt. Das Thema liegt nahe, wenn -
wie der Hrsg, in seiner Einleitung berichtet - sich die veranstaltende Institution seit gerau-
mer Zeit darum bemüht, themen- und objektbezogene biographische Erhebungen systema-
tisch in die Museumsarbeit einzubinden (S. 10 f.). Seine Anregung, an „Freilichtmuseen
oder größere(n) kulturhistorisch ausgerichtete(n) Regionalmuseen“ . . . „dezentrale, regio-
nale Archive“ (S. 15 f.) für lebensgeschichtliche Erzählungen aufzubauen, wird anhand
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Buchbesprechungen
mehrerer Praxisberichte bestätigt und konkretisiert. Die gezielte Erhebung sowohl münd-
lich wie auch schriftlich überlieferter biographischer Informationen müsse, so Heidrich,
„als Korrektiv zur Sachforschung gesehen werden“ (S. 15). Zwei der Autoren, Michael Mitte-
rauer und Christa Hämmerle, beziehen sich auf die am Institut für Wirtschafts- und Sozial-
geschichte der Universität Wien seit 1982 betriebene Dokumentation populärer Autobio-
graphik. Während Mitterauer die Entstehungsgeschichte und die rein praktischen Erfahrun-
gen dieses Dokumentationsprojekts darstellt, diskutiert Hämmerle vor allem die Spezifika
schriftlich niedergelegter Lebenserinnerungen. Entgegen der (häufig verkürzt wiedergege-
benen) These, daß im ländlichen Umfeld (noch) das kollektiv-anonyme „wir“ und „man“
im Gegensatz zum bürgerlich-individualistischen „ich“ vorherrsche, kommt die Autorin zu
dem Ergebnis, daß sich bei dem von ihr erhobenen Textmaterial viel eher ein Spannungsver-
hältnis zwischen beiden Polen beobachten lasse, mithin sich also auch hier der Drang zum
persönlichen Ausdruck und zur individuellen Reflexion ausdrücke. Populäre Autobiogra-
phik, so die Autorin, bewege sich generell in einem „Spannungsverhältnis zu den Normen
bürgerlicher Schreibkultur und Selbstdarstellung“ (S. 60). Dementsprechend konstatierte
sie qualitative Unterschiede in den Lebensbilanzierungen von Angehörigen verschiedener
sozialer Milieus.
Eine ganze Reihe weiterer Beiträge setzt sich ebenfalls mit ländlichen Lebenserfahrungen
im 19. und 20. Jh. auseinander. Birgit Jauernig-Hofmann und Lothar Hofmann zeigen im
Umfeld wissenschaftlicher Dokumentation im Museum, wie biographiebezogene Daten als
„Hintergrundinformation“ für Recherchen zur Sachkultur sinnvoll einbezogen werden
können.
Wie der Museumspraktiker weiß, spielen vielfach die Geschichte des Gebrauchs eines Ge-
genstandes einschließlich seiner Umnutzungen sowie Informationen über seine Benutzer
eine wesentliche Rolle für die Bewertung von Zeugnissen der Sachkultur. Lebensgeschichtli-
che Informationen geben oft den entscheidenden Hinweis für die Entschlüsselung der Ge-
schichte von Dingen. Es macht Sinn, etwa die „Objektbiographie“ landwirtschaftlicher Ge-
räte zu dokumentieren (S. 119). Ein klein wenig anders stellt sich die Verbindung zwischen
Museumsobjekt und Biographie am Beispiel des von Bertram Popp vorgestellten Johann
Konrad Dietel dar, der als zeitweiliger Bewohner und Inhaber eines Hofes auftaucht, der
sich heute im Oberfränkischen Bauernhofmuseum in Kleinlosnitz befindet. Hier führte der
Weg zu den bemerkenswerten biographischen Notizen des gebildeten Landwirts und späte-
ren Lehrers über das Interesse am Muesumsobjekt; umgekehrt bereicherte sein persönlicher
Nachlaß die Präsentation der Hofanlage im Freilichtmuseum. Mit ähnlicher Blickrichtung
heben Christel Köhle-Hezinger und Julian Aicher die Relevanz von Gesindebiographien für
volkskundliche Freilichtmuseen hervor. Wie sehr ein einzelner Mensch durch individuelle
Zufälligkeiten und biographische Besonderheiten trotz aller Anpassung seiner Existenz an
kollektive Muster gleichzeitig ein spannender Sonderfall sein kann, zeigt Ruth-E. Mohr-
mann anhand der aus der zweiten Hälfte des 19. Jh. stammenden biographischen Aufzeich-
ftungen der Schreinersgattin Katharina Horn. Demgegenüber stellt Bärbel Kuhn dar, wie
biographisch eingebundene Informationen zu den unspektakulären Seiten des Frauenalltags
ini 20. Jh. mittels eines Schreibaufrufs im Saarland erhoben werden konnten.
Frank Lang und Gottfried Korff führen zwei weitere Beispiele an, bei denen direkt aus der
Musealen Sammeltätigkeit heraus einzelne Lebensläufe ans Tageslicht gebracht wurden. In
beiden Fällen handelt es sich um durchaus eigenwillige und eigensinnige Persönlichkeiten,
deren Abweichen von der Norm ein neues Licht auf die Normalität wirft. Lang stieß bei der
Übernahme einer Mitte der siebziger Jahre unseres Jhs. geschlossenen Schreinerwerkstatt
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Buchbesprechungen
auf die Biographie ihres letzten Inhabers, eines konsequenten Innovationsverweigerers, der
bis zuletzt mit vorindustrieller Technik arbeitete. Korff stellt das bereits vor rund andert-
halb Jahrzehnten im Freilichtmuseum Kommern gezeigte Werk des Malers und Dorfhono-
ratioren Anton Keldenich unter biographischen Gesichtspunkten vor. Durch seine „kreati-
ve Sonderbegabung“ wurde Alltagserfahrung im 20. Jh. auf eine zwar mitunter naive, sehr
wohl aber pointierte Weise festgehalten. Bleibt noch der Hinweis auf ein Kuriosum. Daß
biographisches Erzählen Tabuthemen kennt, braucht nicht eigens betont zu werden. Ein
höchst ungewöhnliches Beispiel dieser Art stellt Albrecht Lehmann vor: eine sogar fotogra-
phisch belegte Begegnung mit Adolf Hitler auf dessen Berghof.
Alles in allem bietet der Band ein reichhaltiges Spektrum unterschiedlichster Themen und
Ansätze. Dabei handelt es sich sowohl um biographische Bezüge, die sich aus Objektbestän-
den der Museen ergaben, als auch um mündlich oder schriftlich fixierte biographische Texte
- für die kulturgeschichtlich-volkskundliche Museumsarbeit eine nutzbringende Samm-
lung von Beispielen und praktischen Anregungen, letztlich ein Beleg dafür - und hierin
sind sich alle Autoren einig -, daß populäre Autobiographik mehr als nur „singuläre Ein-
zelleistungen“ zu bieten hat, „die von geschickten Verlagen zu Verkaufsschlagern gepusht“
werden (S. 34). Wünschenswert wäre - wenn auch von der Anlage des vorliegenden Bandes
her nicht zu erwarten - die Erörterung der Frage der Ausstellbarkeit von Lebensläufen, der
museumsadäquaten Präsentation von zunächst einmal reinen Textdokumenten.
Kassel Alexander Link
Klaus J. Bade (Hrsg.): Deutsche im Ausland - Fremde in Deutschland. Migration in Ge-
schichte und Gegenwart. München: Beck, 1992, 542 S. m. zahlr. Abb. und 11 Karten.
Mit diesem Werk nehmen Bade und die anderen Autoren, deren Artikel hier nicht alle an-
gesprochen werden können, Stellung zu einem gesellschaftlich höchst brisanten Thema. Ihr
Versuch, die oft irrational geführte Diskussion zu versachlichen, basiert auf der Annahme,
daß nur der die Gegenwart als bedrohliche Ausnahmesituation erlebt, „wer die Geschichte
nicht kennt, in der die Bewegung von Menschen über Grenzen und die Begegnung ihrer
Kulturen nicht Ausnahme, sondern die Regel waren.“ Soweit sich diese in friedlichem Rah-
men vollzogen, bewirkten sie oft „Ergänzung und Bereicherung“; Aus- und Abgrenzung
brachten meist nur „Verarmung und Gefahr“ (Vorwort).
Beispielhaft und ohne Anspruch auf enzyklopädische Vollständigkeit werden Deutsche in
der Ferne und Fremdsein in Deutschland erörtert. Im ersten Teil wird die kontinentale
(nach Osten), überseeische (nach Westen) und zeitlich begrenzte, auf europäische Länder be-
zogene Auswanderung (meist von Arbeitsmigranten) vom Mittelalter bis in die heutige Zeit
untersucht. Der zweite Teil behandelt, gruppenorientiert und auf einzelne historische Pha-
sen bezogen, Fremdsein in Deutschland.
In der Einführung verweist Bade auf die Vielschichtigkeit solcher Begriffe wie „Deutsch-
land1‘/„Ausland“, „Deutsche“/„Fremde“ und „Nähe“/„Ferne“/„Fremde“. So bedeutete vor
1971 der Umzug von einem deutschen Territorium in ein anderes eine Aus-/Einwanderung.
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Buchbesprechungen
Weiter haben „Deutschstämmige“ fremder Staatsangehörigkeit und nicht selten fremder
Muttersprache Anspruch auf die deutsche Staatsangehörigkeit, wenn sie aus einem Vertrei-
bungsgebiet in Osteuropa kommen. Dies gilt jedoch nicht für „Deutschstämmige“ z. B. aus
Lateinamerika. Daneben beleuchtet er die Verschiedenheit des Verständnisses von „deut-
scher Kultur“ und nennt als Beleg dafür den Kulturschock vieler Aussiedler, die oft die Vor-
stellungen ihrer Vorfahren konserviert hatten. Auch können sich Bilder vom Fremden radi-
kal wandeln (z.B. von der Polenbegeisterung des Vormärz bis zum „slawischen Untermen-
schen“ der NS-Zeit). Fremdsein bedeutet nicht zwangsläufig räumliche Bewegung, wie die
Geschichte deutscher Juden zeigt. Andersherum konnte im 19. Jh. überseeische Auswande-
rung mit geringerer Fremdheitserfahrung verbunden sein als Binnenwanderung (z. B. vom
ländlichen Melle bei Osnabrück ins ländliche New Melle, Missouri/USA).
Im Rahmen der Kontinental-Wanderung wird auch die Geschichte der Deutschstämmi-
gen in Rumänien, Jugoslawien, Ungarn und besonders in Rußland bzw. der Sowjetunion
dargestellt. Bei letzteren wird bzgl. des ökonomischen Erfolges gerade mennonitischer
Gruppen nur unzureichend differenziert. Brandes führt zwar hierfür die bis in die zweite
Hälfte des 19. Jh. existierenden materiellen Privilegien an; gleichwohl vernachlässigt er die
Relevanz der Eigenarten der mennonitischen Glaubensrichtung fast ganz. Die stärkere Aus-
prägung von rationeller Lebensführung, Lustfeindlichkeit, Selbstzucht und durch den stär-
keren (kirchen-)gemeindlichen Zusammenhang verursachter sozialer Kontrolle waren mit
konstitutiv für deren Vorreiterrolle (auch vor anderskonfessionellen Deutschstämmigen).
Andererseits nimmt der historische Abriß der Vertreibung der Wolgadeutschen den überbe-
tonten Stellenwert, den die an der Schaffung einer „Wolgadeutschen“ autonomen Zone in-
teressierten Kreise behaupten: Bereits im Ersten Weltkrieg wurden Deutschstämmige aus ei-
ner bis zu 150 km breiten westlichen Grenzzone vertrieben. Zudem darf die Propaganda der
Nazis unter den „Volksdeutschen“ als Gefahr für die jeweiligen Staaten nicht verkannt wer-
den. Hier hätte Brandes etwas zu den Vermittlungsmöglichkeiten der Volkstumsideologie
vom Deutschen Reich in die Sowjetunion sagen und eventuelle Verbindungen aufzeigen
können. Daneben sei noch angemerkt, daß auch andere Volksgruppen (z. B. Krim-Tataren)
vertrieben wurden. Von gewissem Interesse wäre noch die Erwähnung der zumeist geschei-
terten Bestrebungen deutscher Kommunisten und Sozialisten zu Beginn der 20er Jahre, nach
der Sowjetunion auszuwandern, gewesen.
Die transmaritime Migration wird hauptsächlich auf die USA bezogen (fünf Aufsätze).
Daneben werden auch die Deutschstämmigen in Kanada, Lateinamerika und Austra-
lien/Neuseeland behandelt. Als erstes skizziert Bretting die deutsche Einwanderung und ih-
re Probleme in der englischen Kolonialzeit. Dabei bezieht sie sich öfter auf die alten Stan-
dardwerke von Cronau (1909) und Faust (2. Aufl., 1927); deren verklärende Tendenzen sie
unerwähnt läßt. Gleichwohl verweist sie auf den Entstehungszusammenhang der Legende
um die Staatsspracheabstimmung (englisch oder deutsch), nämlich den Kampf um die
deutsch-amerikanische Identität um 1900. Rößler beleuchtet den Wandel von der Siedlungs-
zur Arbeitswanderung im 19. Jh. und schildert in eingängiger Weise Entstehung, Vermitt-
lung und Wahrheitsgehalt von damaligen Amerikabildern.
Blaschke stellt Krise und Verfall von Deutsch-Amerika dar. Die ab 1900 beschleunigte Ak-
kulturation der Deutschamerikaner beantworteten verschiedene Deutschstämmige, zu-
meist Intellektuelle, mit kulturellem Chauvinismus. Im Ersten Weltkrieg und besonders
Uach dem US-Kriegseintritt stieß dann ein patriotischer Wahn auf den anderen. Blaschke
suggeriert hier die Neutralität Deutsch-Amerikas. De facto standen aber viele eindeutig auf
seiten des Deutschen Reiches und versuchten über die Neutralitätsforderung die Mittel-
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Buchbesprechungen
machte zu entlasten; einige schlugen sich nach Deutschland durch, um sich dort für die
Front zu melden. Wirklich tragisch an den deutschfeindlichen Ausschreitungen ist, daß
hiervon Gruppen betroffen wurden, die mit Krieg generell oder diesem Krieg nichts zu tun
haben wollten: z.B. die meisten Mennoniten und viele Sozialisten. So wanderten viele men-
nonitische Hutterer ab 1918 nach Kanada aus oder flohen dorthin, weil die Männer in den
USA zum Krieg gepreßt wurden. Weiter übergeht Blaschke salopp ein letztes Aufbäumen
Deutsch-Amerikas ab Ende der 20 Jahre. Viele Deutschamerikaner zeigten ab 1933 gewisse
Sympathien für das „wiedererstarkte Vaterland“. Diese schwanden in den Folgejahren und
wurden nach 1938 (Österreich- und Sudentenland-Annexion, Reichspogromnacht) kaum
noch öffentlich geäußert. Zu frisch war vielen noch die Zeit von 1917/18 im Gedächtnis.
Schniedewind stellt eine viergliedrige Rückwanderer-Typologie vor und betont, daß Er-
folgslosigkeit keineswegs der einzige Rückkehrgrund war. Kritisch merkt sie zur Typologie
an, daß diese wegen ihrer ökonomischen Orientierung solche Gruppen wie politische
Flüchtlinge und besonders Rückwanderinnen nicht erfaßt. Die deutsche Lateinamerika-
Auswanderung ab Anfang des 19. Jhs. wird von Bernecker/Fischer in fünf Phasen unterglie-
dert. Nach der differenzierten Darstellung der Siedlungsbewegung, Elitenwanderung (weni-
ge Kaufleute und Unternehmer, dafür aber um so bedeutender) und der Flüchtlinge aus
Nazi-Deutschland schließen sie mit einem idealtypischen Fünfphasenschema zur Akkultu-
ration der deutschen Einwandererkolonien in Südchile ab.
Im dritten Kapitel des ersten Teils werden zumeist saisonale Wanderungen fast aller deut-
scher Gesellschaftsschichten ins europäische Ausland in der Zeit vom 16. bis 19. Jh. erörtert.
Thamer beginnt mit Gesellen, Vaganten und fahrendem Gewerbe, untersucht dann großbür-
gerliches und adeliges Reisen (Kavalierstour und Bildungsreise mit Höhepunkt im 17. Jh.)
und beleuchtet in einem dritten Artikel Flucht und Exil im 19. Jh. In letzterem betont er,
daß viele politische Theoretiker ihre Ideen entsprechend den Verhältnissen ihres Exillandes
transformierten. Bö Isker- Sch licht untersucht im Rahmen des „Nordsee-Systems“ Arbeits-
wanderungen im landwirtschaftlichen und handwerklichen Bereich. Zu Beginn des 19. Jhs.
gab es ca. 20 solcher „Systeme“ mit deutlich abgrenzbarem Ursprungs- und Zielgebiet.
Im zweiten Teil werden zuerst beispielhaft die Wege verschiedener Gruppen nach
Deutschland behandelt. Flehemann stellt die verschiedenen Wellen der Verfolgung der allen-
falls geduldeten Sinti und Roma seit ca. 1500 dar. Oft verhinderte allein die mangelnde Effi-
zienz der Exekutive in den jeweiligen deutschen Ländern den Genozid. Weiter zeigt er, daß
Integrationsversuche sowohl unter dem „aufgeklärten“ österreichischen Regenten Josef II.
als auch nach 1945 in der Bundesrepublik Deutschland objektiv nur die Aufgabe der ethno-
kulturellen Identität bewirkten.
Das folgende Kapitel behandelt das Deutsche Reich um 1900 mit seinen Auswanderungen
und „Arbeitseinfuhren“. Just schildert die Transitwanderung aus Süd- und Südosteuropa
über deutsche Häfen mit ihren erniedrigenden Kontrollen und fremdenfeindlichen Reaktio-
nen. Kleßmann verweist im Artikel über die „Ruhrpolen“ auf den Vorteil einer relativen
Gettolage, die Neulingen die Eingewöhnung erleichtern kann. Außerdem hätten sich die
„ruhrpolnischen“ Arbeiter mit ihrer Gewerkschaft trotz ihrer Eigenheiten in den großen
Streiks von 1905 und 1912 als verläßliche Verbündete ihrer deutschen Kollegen erwiesen.
Blank erläutert die Situation der Ostjuden im Kaiserreich und der Weimarer Republik. Sie
zählten zu den verachtetsten Gruppen, da sich hier stark negativ belegte Begriffe dieser Zeit
trafen: , Juden“ und „Osten“. So verweist er auf antisemitische Ressentiments preußischer
Innenminister (Heine/SPD, Dominicus/DDP) und sogar des Außenministers Rathenau (jü-
116
Buchbesprechungen
discher Herkunft). Später kam es dann am 5. und 6. 11. 1923 zu dem Pogrom im Berliner
Scheunenviertel, wobei die Polizei erst am zweiten Abend einschritt.
Unter der verharmlosenden Überschrift „Massen in Bewegung“ werden die vom Natio-
nalsozialismus verursachten Probleme und Wanderungen verschiedener Gruppen darge-
stellt. Zimmermann entwirft ein Psychogramm des Begründers der „Rassenhygienischen
Forschungsstelle“ (Robert Ritter) und erläutert dessen Mitverantwortung als führender Wis-
senschaftler am Genozid an den Sinti und Roma.
Weiter wird neben der jüdischen und politischen Emigration {Röder) der „,Ausländer-
Einsatz1 in der deutschen Kriegswirtschaft“ mit seinen ideologischen und anderen Proble-
men untersucht {Herbert). Letzterer sieht das Funktionieren des Rassismus darin, „daß seine
Praktizierung zur täglichen Gewohnheit, zum Alltag wurde, ohne daß sich der einzelne dar-
an notwendig in Form von Diskriminierung oder Unterdrückung beteiligen mußte“ (S. 367).
Jacobmeyer beschreibt die Lage der fast 12 Millionen „Displaced Persons“ (ausländische
Zwangsarbeiter in Landwirtschaft und Industrie), deren Tragik auch nach ihrer Befreiung
noch nicht beendet war (zerstörte Gesundheit, Zwangsrepratiierung, fortgesetzte Diskrimi-
nierung nach 1945 etc.). Den Aufsatz „Flucht - Vertreibung - Integration“ beginnt Benz
mit der Umsiedlung von „Volksdeutschen“ ab Ende 1939 nach Westpolen, aus dem nach
siegreichem Feldzug ca. 1,2 Millionen Polen vertrieben wurden. Mit anderen Gruppen flo-
hen dann gegen Kriegsende die „Volksdeutschen“ nach Westen. Die daraus resultierenden
Wohnungs- und Arbeitsplatzprobleme bekam man mit der Zeit in den Griff, so daß gegen
Ende der 60er Jahre von einer erreichten Integration in der Bundesrepublik wie DDR ge-
sprochen werden kann.
Das letzte Kapitel handelt von dem Paradoxon, daß objektiv eine Einwanderungssituation
in der Bundesrepublik gegeben ist seit den 1970ern, aber offiziell nicht von einem Einwan-
derungsland geredet wird. Schließlich wird noch die „neue Einwanderungssituation“ seit
den späten 1980ern erläutert, die sich auszeichnet durch einen Massenzustrom von DDR-
Flüchtlingen, Übersiedlern und Aussiedlern einerseits und asylsuchenden Flüchtlingen aus
Europa und der sog. „Dritten Welt“. Bade, der dies in drei Aufsätzen untersucht, betont, daß
die Spannungen zwischen den Einheimischen (Skepsis und Sozialneid) und Aussiedlern
(schweigsame Überanpassung) nur oberflächlich der Situation um 1950 entsprechen. Da-
mals war das ganze Sozialgefüge in Bewegung, während heute die Einheimischen voll eta-
bliert sind. Zum Thema „Asyl“ weist Bade auf die künstliche Geburt des „Asylantenpro-
blems“ im Wahlkampf von 1980 hin, der eine jahrelange Konzeptionslosigkeit in der Aus-
länderpolitik gegenüber steht (Verhinderung von Integration usw.). Daneben schildert er
staatliche Maßnahmen, die nach Aussagen von Wohlfahrtsverbänden den Gebrauch des
Asylrechts verhindern sollen und betont, daß Folter, Bürgerkrieg und Terror noch lange
keine Asylgründe sind. Einen Ausweg sieht er in einer migrationsorientierten Entwicklung-
spolitik.
Leggewie untersucht die neue Angst vor dem Fremden und stellt fest, daß sich in der letz-
ten Dekade die Stimmung gegen Einwanderer und Fremde „beachtlich verschlechtert“ hat,
dieser Trend nicht monokausal aus Wirtschaftslage oder sozialstrukturellen Ursachen abge-
leitet werden kann und mangels relativ wenigen direkten Kontakten überwiegend „Fernbil-
der“ von ihnen existieren. Bevor Klauder mit einem Szenario für das Jahr 2030 abschließt,
diskutieren Bumlik/Leggewie Gestaltungsmöglichkeiten aus dem Multikulturalismus her-
aus, während Bade eine am Einwanderungsprozeß orientierte Konzeption für Migration, In-
tegration und Minderheiten in einem „Einwanderungsland neuen Typs“ entwickelt.
117
Buchbesprechungen
Insgesamt gesehen wurde der Anspruch dieses Buches, wissenschaftliche Sachkenntnis ge-
paart mit menschenfreundlicher Prosa zu bieten, eingelöst. Obwohl bewußt kein erschöp-
fendes Handbuch gewollt war, wird hier ein guter und breiter Einstieg in die Problematik
geboten.
Marburg Hans-Werner Retterath
WOLFGANG KASCHUBA: Lebenswelt und Kultur der unterbürgerlichen Schichten im 19.
und 20. Jahrhundert. München: R. Oldenbourg Verlag, 1990, 153 S. (Enzyklopädie deut-
scher Geschichte, hrsg. von Lothar Gail, 5)
Daß sich diese auf 100 Bände geplante Enzyklopädie diesem Thema öffnet, ist begrüßens-
wert. Sie gibt eine nicht unproblematische innere Gliederung vor: Einem enzyklopädischen
Überblick folgen gleichgewichtig „Grundprobleme und Tendenzen der Forschung“, danach
„Quellen und Literatur“ (hier mit thematisch geordneten 304 Titeln). Diese Aufteilung be-
deutet einerseits Wiederholungsgefahr, und sie verführt andererseits dazu, im ersten Teil
„gesicherte Erkenntnisse“ zu suchen, die interpretatorischen und diskursiven Elemente da-
gegen in den zweiten Teil zu verbannen.
Die Disparität der unterbürgerlichen Schichten läßt „gemeinsame Nenner“ (2) und das
Herausarbeiten struktureller Gemeinsamkeiten prinzipiell zu. Was das methodisch bedeu-
tet, wird nicht diskutiert. Im ersten Teil kommt der Verf. vielmehr gleich auf materielle Le-
bensführung, Freizeitkultur, soziale Milieus und Gruppenwelten zu sprechen (11), die sich
im Übergang von Ständen und Klassen entwickeln. Marktabhängigkeit (60), Konsum usw.
werden so immer wieder thematisiert, aber nie befriedigend theoretisiert: Die sozialhistori-
sche Empirie dominiert über die kulturtheoretische Reflexion. Was bedeutet es z.B., wenn
einerseits von „Volkskultur“ als Kultur und lebensweltlichem Leitsystem der Nicht-Eliten
(66, 69), und von Kultur als „kohärente(m) System von Deutungs- und Handlungsmustern ‘
(69) die Rede ist, andererseits die Beeinflussung der Kulturentwicklung durch Marktmecha-
nismen (z.B. konsumstimulierende Impulse, die etwa in der Industrialisierung des Nah-
rungswesens, 22, Suchräume öffnen) und den „Sog von Kosum und Kommerz“ (23) festge-
stellt wird? Markt und Konsumgüterindustrie beinhalten „Momente einer alltagskulturel-
len Demokratisierung'' (42), aber über die Dynamik und den Konflikt zwischen marktför-
miger Kulturindustrie, über die „Entfaltung marktbedingter sozialer Klassen“ (Wehler, zit.
60), über die Strukturbedeutung von Lohn und Markt (80) sowie die damit verbundene Ho-
mogenisierung von sozialen Lagen (64) (bei paralleler hoher Diskontinuität von Beschäfti-
gung und Einkommen, 75), über die Bedeutung der dynamischen Veränderung der
Konsum- und Lebensstile großer Bevölkerungsgruppen (nach 1948 so schnell wie nie zuvor,
52) und über die Prestigebedeutung dieser Konsum- und Lebensstile (55) hätte man gern
mehr und systematischeres gelesen: Dem Kulturwissenschaftler kommt zuviel von allem,
zu wenig Analyse vor. Gewiß, vieles läßt sich „mehr beschreiben als plausibel erklären“
(51), aber das Programm der Kulturwissenschaft unterscheidet sich doch von dem der So-
zialgeschichte.
Im sozialhistorischen Ablauf schaffen „die spezifischen Kultur- und Lebensformen der Un-
terschichten eigene Regulationssysteme des sozialen Wandels1 und der ,Modernisierung1“
118
Buchbesprechungen
(14) gegen den Versuch der „Modernisierung“ „von oben“ (13) (und durch den Markt?). Als
Akzente der neuen proletarischen Kultur (die sich von der Notkultur zu stabilen reputierli-
chen Lebensformen entwickelt) werden die „Ökonomie der Verausgabung“ (16, 108) als
Teil des Kampfes „um das Grundrecht auf Konsum und Genuß“ und als Vehikel plebei-
schen Selbstbewußtseins hervorgehoben (15).
Marburg Dieter Kramer
PaulHuggeR: Der Gonzen. 2000 Jahre Bergbau. Das Buch der Erinnerungen. Mit einem
Beitrag von Willfried Epprecht über: Geologie, Geschichte, Bergbau, hrsg. im Auftrag der
Eisenbergwerk Gonzen AG, Sargans: Kantonaler Lehrmittelverlag St. Gallen, 1991, 222 S„
113 Abb.
Die Erzgrube am Gonzen, einem pyramidenartigen Berg zwischen den Tälern des Rheins
und der Seez, der u. a. das Schloß Sargans überragt, ist die bedeutendste und älteste Abbau-
stätte der Schweiz. 1396 bereits urkundlich nachweisbar, wurde hier bis 1966 insbesondere
Eisenerz gefördert. Seither steht das Bergwerk für Besichtigungen offen (Verein „Pro Gon-
zenbergwerk“, St. Gallerstraße, CEi-7320 Sargans), wobei versucht wird, den Zustand des
Bergwerks zum Zeitpunkt seiner Schließung möglichst weitgehend zu erhalten und die Ar-
beitswelt der Bergleute den Besuchern und Besucherinnen realistisch nahezubringen.
Der im Auftrag der Eisenbergwerk Gonzen AG herausgegebene Band wurde fachlich von
Prof. Dr. Paul Hugger, Universität Zürich, konzipiert und betreut. Es geht ihm nicht um
eine Firmengeschichte oder gar um eine Jubiläumsschrift im herkömmlichen Sinne. Viel-
mehr steht die Geschichte des Berges im Mittelpunkt, „der wie kein anderer symbolhaft für
die Bergwerkskultur in der Schweiz steht und der jahrhundertelang den Bewohnern dieses
Landes das Erz lieferte, den unerläßlichen Rohstoff für Arbeitsgerät und technischen Fort-
schritt“ (S. 5). Zwei Beiträge sind dieser Geschichte eines Berges gewidmet: Paul Hugger
selbst umreißt die Bedeutung des Gonzen in der schweizerischen Bergbaulandschaft histo-
risch und ethnologisch. Volkskundlich besonders interessant sind dabei die Abschnitte über
das Leben der Köhler und Fragmente einer Bergwerkskultur in der Schweiz (anhand ent-
sprechender noch vorhandener Quellen der Jahre 1937-1967), die sich vor allem der Ar-
beitsteilung und dem Arbeitsverhalten der Bergleute widmen. Der zweite Beitrag von Will-
fried Epprecht behandelt Geologie, Geschichte und Abbautechnik im Gonzen und skizziert
die Firmengeschichte der Gonzen AG.
Der zweite Teil des Buches enthält aus einer Fotoreportage von 1942 Bilder der Arbeit und
stellt anschließend Auswertungen von Interviews mit vier Bergarbeiterinnen in der Aufbe-
reitung, 27 Bergarbeitern und 14 Ehefrauen, die nicht selbst im Bergwerk beschäftigt waren,
vor. In eindrucksvoller Weise werden die Strukturen eines „einfachen Lebens“, Strategien
zum Überleben, Arbeitsbedingungen und Berufskrankheiten, Ängste und Hoffnungen so-
wie die eigenen Lebensbilanzen, um nur einige Aspekte zu nennen, deutlich.
Teil des ausgesprochen ansprechend aufgemachten Bandes sind über 100 Fotografien in
hervorragender Qualität, neben Bildern der neueren Zeit von Gorgio von Arb die histori-
119
Buchbesprechungen
sehen Fotos von Louis Beringer, die dieser 1942 anläßlich des Firmenjubiläums publizierte.
Sie bringen den Berg wie die Menschen, die von und mit ihm lebten, gleichermaßen nahe.
In der Tat mehr als eine Firmengeschichte im engeren Sinne, kann „Der Gonzen“ nicht
nur den bergbau-, sondern allen kulturgeschichtlich Interessierten nachdrücklich empfoh-
len werden.
Kassel CHRISTINA VANJA
Wolfgang Kaschuba, Gottfried Korff, Bernd Jürgen Warneken (Hrsg.): Arbei-
terkultur seit 1945 - Ende oder Veränderung? 5. Tagung der Kommission „Arbeiterkultur
in der DGV vom 30. April bis 4. Mai in Tübingen. Tübingen: Tübinger Vereinigung für
Volkskunde e. V., 1991, 328 S. mit 8 Abb. (Untersuchungen des Ludwig-Uhland-Instituts der
Universität Tübingen, Bd. 76).
Die 1989 in Tübingen international und interdisziplinär durchgeführte 5. Tagung der
Kommission „Arbeiterkultur“ in der Deutschen Gesellschaft für Volkskunde wendet sich,
nachdem durch die vorangegangene volkskundlich-kulturwissenschaftliche Arbeiterfor-
schung die Herausbildung einer spezifischen Arbeiterkultur, Arbeiterbewegungskultur und
Arbeiterkulturbewegung untersucht worden ist, und dabei die Kenntnisse über die Konsti-
tutionsfaktoren, die Regelsysteme und die Arbeitersubjektivität wesentlich erweitert wer-
den konnten, der Frage nach Kontinuitäten und Transformationen in der Arbeits- und Le-
bensweise sowie in der Kultur der Arbeit(nehm-)erschaft seit 1945 zu, wobei im Zuge der
wissenschaftlichen Weiterentwicklung nicht mehr nur die Rede von der Transformation,
sondern vom Ende der Arbeiterkultur ist. Bei den Untersuchungen lassen sich im wesentli-
chen die organisationshistorisch und strukturanalytisch ausgerichteten Ansätze aus der So-
zialgeschichte, der Soziologie und der Politikwissenschaft von denen der alltags(kultur)un-
tersuchenden Forschung unterscheiden. Trotz dieser divergierenden Forschungsansätze, de-
nen inhaltlich oft unterschiedliche Ergebnisse inhärent sind, läßt sich als übereinstimmen-
der Befund aller Forschungsrichtungen konstatieren, daß die organisationsgeschichtliche
Ausrichtung der Arbeiterkulturforschung einer mehr alltagskulturellen Gewichtung gewi-
chen ist. Aufgrund dieser perspektivisch erweiterten Forschungsgrundlage können einige
Beiträge des Tagungsbandes Indizien für spezifische Lebensstile und Verhaltensformen von
Arbeitern Zusammentragen und somit die Existenz von Arbeiterkultur(en) auch heute noch
belegen.
Die Beiträge der an der Tagung teilnehmenden historisch arbeitenden Kulturwissenschaft-
ler aus der damaligen (Noch-)DDR werden in der Rezension vernachlässigt, da ihre Befunde
das Ende einer ideologisierten Arbeiterkulturforschung markieren und es noch abzuwarten
bleibt, wo die Wissenschaftler aus den Neuen Bundesländern ihre neuzubestimmende Posi-
tion in einem gesamtdeutschen Disput über das mögliche Ab- und Fortleben der Arbeiter-
kultur beziehen werden.
Im ersten, eine forschungshistorische Bilanz ziehenden Tagungs-Themenblock, der unter
der Leitfrage „Ende der Arbeiterkultur?“ steht, beantworten Klaus Tenfelde und Wolfgang
120
Buchbesprechungen
Kaschuba dieselbe übereinstimmend mit einem „ja“, da die organisationspolitische und so-
ziale Basis der „klassischen deutschen Arbeiterkultur“ nicht mehr besteht und sie in der de-
mokratischen Massengesellschaft aufgegangen ist. Während Tenfelde - trotz der Weiterexi-
stenz punktueller klassischer Arbeitermilieus - aus diesem Grunde das Ende (besonders
auch der prägenden und stabilisierenden Kraft des Politischen in) der Arbeiterkultur als irre-
versible ansieht und Nutzen „im reflektierten Umgang mit dem Erbe der Arbeiterkultur“
erkennt, geht Kaschuba von einer definitionsbegrifflichen „Arbeiterkultur“ aus, deren kon-
krete Bedeutung er im Kontext historischer Veränderungen sieht und die er als Faktor gesell-
schaftlicher Orientierung einschätzt. Durch diese Bewertung wird eine alltagskulturelle, le-
bensweltliche Forschungsschiene eröffnet, die beispielsweise die Entdeckung von Habitus-
und Mentalitätskontinuitäten, welche das Ende der traditionellen Arbeiterbewegung und
ihrer Kultur überlebt haben, ermöglicht.
Im zweiten Themenblock der Tagung werden anhand des Freizeitverhaltens von Arbei-
tern/Arbeitnehmern in der Bundesrepublik (und der DDR) eine Reihe von Indizien für spe-
zifische Lebensstile und Verhaltensformen von Arbeitern zusammengetragen, die das ak-
tuelle Weiterbestehen von Arbeiterkultur(en) belegen. Dieter Langewiesche sieht die Gründe
für den Untergang der traditionellen Arbeiterkultur, die in erster Linie stets eine Freizeit-
kultur war, vor allem durch die Entpolitisierung und Privatisierung des traditionellen Frei-
zeitangebotes für die weltanschaulich geprägte Arbeiterschaft (die sozialistische wie die ka-
tholische) gegeben, wobei er die Zeit der NS-Herrschaft in Deutschland und die des „Wirt-
schaftswunders“ in der Bundesrepublik als sozialhistorische Zäsuren für die Entwicklung
zur unpolitischen Arbeiterschaft von heute ansieht. Er vollzieht somit auf dem Freizeitsek-
tor die Begründung Tenfeldes für das Ende der Arbeiterbewegungskultur folgerichtig nach.
Die Beiträge von Rainer Alsheimer (über die Arbeiterwohlfahrt in einer Gemeinde) und von
Kaspar Maase (über die Rheinhausener Bewegung 1987/88) zeigen in einer Forschungsper-
spektive, die noch weitgehend die historisch gewachsenen Organisationsformen der moder-
nen Arbeit(nehm)erschaft in den Vordergrund stellt, daß sich sowohl durch eine wohlfahrts-
verbandsanalytische Lokalstudie als auch durch eine Untersuchung gewerkschaftlicher Kul-
turarbeit Aufschlüsse über das kulturelle Freizeitverhalten der jeweiligen Mitgliedschaft ge-
winnen lassen.
Die von Kaschuba konstatierte Erweiterung der Arbeiterkulturforschungsperspektive in
Richtung auf alltagsgeschichtlich-lebensweltliche Untersuchungsfelder wird deutlicher bei
den Autor(inn)en feststellbar, die sich mit den kulturellen Kontinuitäten und Transforma-
tionen am Beispiel von bundesdeutschen und österreichischen Arbeiter-Lebensstilen be-
schäftigen. Hierzu werden im Tagungsband (Einzel-)Untersuchungsergebnisse zu unter-
schiedlichen lebensweltlichen Aspekten aus dem Alltag der Nachkriegsarbeit(nehm)er-
schaft vorgelegt, die im folgenden eine exemplarische Kurzskizzierung erfahren sollen. So
kommt Michael Vester in bezug auf die Kinder von Arbeitern zu dem Resultat, daß „die länge-
re Verweildauer in der Schule ... praktisch die Gewerkschaften und die Arbeitermilieus in
der Prägung von Habitus und Lebensstil abgelöst“ hat. Katrin Pallowski, die die Stilentwick-
lung des bundesdeutschen Arbeiterwohnens seit 1945 analysiert, stellt diesbezüglich fest,
daß die von der Designer-Avantgarde für Arbeiterwohnungen entworfenen Einrichtungsge-
genstände von den Arbeitern kaum akzeptiert werden, da sie nicht ihrer eigenen Kulturwelt
entstammen. Ronald Lutz vergrößert die Befundpalette der alltagsorientierten Arbeiterkul-
turforschung durch seine Analyse des Arbeitersports und gelangt dabei u. a. zu dem Ergeb-
uis, daß derselbe, im Gegensatz zu dem nach Höchstleistungen strebenden bürgerlichen
Sport, dem menschlichen Körper ein bewegungskulturelles Erlebnisfeld bietet. Und nach
121
Buchbesprechungen
den Forschungsergebnissen von Elisabeth Katschnigg-Fasch, die aus einer empirischen Erhe-
bung einer metallverarbeitenden Fabrikbelegschaft resultieren, prägt das kollektive Wissen
um die grundsätzliche materielle Unsicherheit „nach wie vor die Arbeiter-Lebensstile am
nachhaltigsten und durchgängigsten“.
Die Beiträge von Frigga Haug, Burkhart Fauterbach und der Projektgruppe „Büro“ des
Ludwig-Uhland-Instituts Tübingen beschäftigen sich unter einer je spezifischen Themen-
stellung mit den Wandlungen der kulturellen Dimension von (v. a. Büro-)Arbeit (d. h. den
nicht rein zweckbezogenen Ffandlungen bei/neben der Arbeit) vor dem Hintergrund der
durch die neue Technologie veränderten Handlungsbedingungen und belegen durch ihre
Befunde die Relevanz des kulturwissenschaftlichen Forschungsbereichs „Arbeits-Kultur“,
der eine Erweiterung des bereits weitgehend beackerten Forschungsfeldes „Arbeiterkultur“
auf das aller „Berufsarbeits-Kulturen“, wie etwa das der im Büro Tätigen oder das der Aka-
demiker in der Universität oder im Museum (wie es Lauterbach anregt), vorsieht und bedeu-
tet.
Vor dem Hintergrund dieses Ausblicks auf zukünftige Arbeits-Kulturforschungsgebiete
wirkt der das Tagungsthema beschließende, partei-organisationshistorisch ausgerichtete Bei-
trag von Peter Assion zur sozialdemokratischen Symbolgeschichte an dieser Stelle etwas de-
plaziert wie auch der Sprachgebrauch in manchen Beiträgen (zwei beliebig vermehrbare
Textauszugsbeispiele aus dem rezensierten Tagungsband: „In solchen Imprägnierungen ei-
nes ,kollektiven Gedächtnisses“ vermittelt sich der Zusammenhang von Einzel- und
Gruppen-Klassenbiographie: Kollektive Erfahrungen prägen und bestimmen die individuel-
len Erwartungen wesentlich mit; die Selbstverortung und die Einschätzung der Chancen
zum Lebensentwurf folgen einem Schema, das vorgibt und zugleich vorwegnimmt.“ „Es ist
aber andererseits so, daß Theoretiker wie . . . durchaus heute ideologiebildend tätig sein
könnten, nämlich mit der These der Pluralisierung oder Auflösung der Kohäsion sozialen
Milieus oder Klassenzusammenhänge“) - allerdings nur dann, wenn wirklich Angehörige
des Gros der untersuchten Arbeit(nehm)erschaft damit konfrontiert werden sollten.
Darmstadt HANNO BROO
Lutz Niethammer, Alexander von Plato, Dorothee Wierling: Die volkseigene Er-
fahrung. Eine Archäologie des Lebens in der Industrieprovinz der DDR. Berlin: Rowohlt
Berlin Verlag, 1991, 640 S.
Seit dem Fall der DDR begegnet der auf dieses gewesene Land spezialisierte Kulturwissen-
schaftler immer häufiger der (zuweilen schadenfroh) gestellten Frage, ob er denn noch etwas
zu tun hätte, jetzt, da - im Jargon der Briefmarkensammler - sein Sammelgebiet abge-
schlossen sei. Und zweitens: ob nicht seine früheren Erkenntnisse über Kultur und Lebens-
weise in der DDR samt und sonders Makulatur geworden seien, jetzt, da doch alles „ganz
anders“sei.
Auch das Buch von Niethammer wird solchen Fragen nicht ausweichen können. Und um
die Antwort gleich vorwegzunehmen: Das Gegenteil des Unterstellten ist richtig. Von Tag
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Buchbesprechungen
zu Tag sehen wir deutlicher, daß unterm Dach der staatlichen Einheit zwei höchst unter-
schiedliche Gesellschaften nolens-volens zueinander gekommen sind; daß sich zwei „men-
tale Infrastrukturen“ (Christian Meier) aneinander reiben, deren produktiver Ausgleich uns
allen noch viel Kopfzerbrechen bereiten wird. Insofern ist die praktische Bedeutung einer
Untersuchung wie der von Niethammer und anderen durch die Wende noch gewachsen.
Dies gilt um so mehr, wenn ein Buch so gut ist wie das vorliegende.
Das Zustandekommen von Niethammers oral-history-Projekt war seinerzeit, 1987, sensa-
tionell - heute wäre es eine Selbstverständlichkeit. Um so wichtiger ist es, daß jetzt ein um-
fassendes Interviewarchiv von über 100 befragten DDR-Bürgern besteht (aus dem freilich in
diesem Buch nur 30 Lebensgeschichten veröffentlicht sind) - ein Archiv, das aus der Vor-
Wendezeit stammt. Bis dato waren wir, von Erika von Hornsteins (1960), Maxie Wanders
(1977) und wenigen anderen Büchern abgesehen, mit derlei Veröffentlichungen nicht gerade
gesegnet. Das erklärte sich daraus, daß die DDR-Oberen die vox populi so genau gar nicht
kennen, jedenfalls aber nicht öffentlich gemacht sehen wollten.
Die von Niethammer und seinen beiden erfahrenen Mitarbeitern angewandte Methode
des lebensgeschichtlichen Erinnerungsinterviews ist seit langem bekannt und braucht nicht
noch einmal eingehend vorgestellt zu werden (vgl. dazu Niethammer/von Plato, Hrsg., Le-
bensgeschichte und Sozialkultur im Ruhrgebiet 1930-1960. Bd. 3, S. 392-445). Sie hat sich,
alles in allem, auch hier wieder bewährt. Aus dem freien, ungesteuerten Erzählen der Le-
bensgeschichte im ersten Durchgang ergeben sich Schlüsselerlebnisse, „Knackpunkte“, auf
die hin in einem zweiten Schritt gezielte Nachfragen erfolgen. In einer dritten Phase wird
dann noch ein umfassender Fragespiegel absolviert. Der Darstellungsmodus im Buch ver-
doppelt diesen Dreischritt zum Glück nicht, sondern ist wohltuend individuell und varia-
bel in der jeweiligen Kombination von Selbstdarstellung (Interviewtext in Auswahl) und
Fremdwahrnehmung (Interpretation durch die Historiker). Alle drei Forscher verfügen in
hohem Maße über die Gabe, sich auf fremdes Leben verstehend einzulassen - erzählen
können freilich nicht alle drei gleich gut. Hier ist eindeutig Niethammer, von dem auch der
Löwenanteil des Buches stammt, der Meister mit geradezu literarischer Begabung, der aller-
dings gelegentlich dazu neigt, eine Pointe zu viel zu setzen. - Fast regelmäßig knüpft sich
an eine Lebensgeschichte ein Quasi-Exkurs, nämlich eine kleine räsonnierende Abhandlung
über ein wichtiges Thema aus der DDR-(Alltags-)Geschichte: über das Vertriebenen- resp.
Umsiedler-Problem, über den 17. Juni 1953, über die „Kirche im Sozialismus“ oder über
den sog. „sozialistischen Wettbewerb“. So greifen Exemplarisches und Allgemeines ineinan-
der, und das (Lebens-)Geschichtenbuch wird zum veritablen Geschichtsbuch. Freilich,
Niethammer und Kollegen sind allemal weniger an der historischen hardware, den Fakten,
interessiert, und um so mehr an der Software, sprich: den Verhaltensmustern, Bewußtseins-
Strukturen und Verarbeitungsprogrammen der traumatischen historischen Ereignisse durch
die individuellen Menschen, deren jeder, unter spürbarer emotionaler Beteiligung, von den
Interviewern ernstgenommen wird. Und was die Forscher im und auf dem Felde solcher
Muster, Strukturen, Programme und Fiktionen zutage fördern, ist aufregend und von ho-
hem Erkenntniswert. Nur einiges wenige kann ich hier nennen.
Zunächst enthält das Buch mehr und zugleich weniger, als der Titel vermuten läßt. Da die
Interviews in drei „Industrieprovinzen“ der DDR geführt wurden - Eisenhüttenstadt (vor-
mals Stalinstadt), Raum Bitterfeld und Karl-Marx-Stadt (jetzt wieder Chemnitz) -, würde
ftian annehmen, daß nur oder ganz überwiegend Arbeiter zu Wort kommen. Die Bilanz ist
arn Ende eine andere: zwei Geistliche (beider Konfessionen), ein jüdischer Kleinunterneh-
^er und Überlebender von Auschwitz, ein ehedem führender Kulturpolitiker, quasi J. R.
123
Buchbesprechungen
Bechers Vorgänger als Kulturminister (Klarname: Hans Lauter), ein leitender Chemiker,
mehrere Angestellte und Verteter anderer Berufsgruppen kommen ebenso vor wie die Indu-
striearbeiter, die man eigentlich als absolute Dominante erwartet hatte. Die Interviewten
entstammen den Jahrgängen 1909 bis 1932, wobei die Gruppe der 1987 60- bis 65jährigen
am häufigsten vorkommt. In der anschaulichen Vergegenwärtigung und Analyse der Le-
bensmuster eben dieser Altersgruppe liegt denn auch der eigentliche Focus und der Gewinn
der Forschungen von Niethammer, von Plato und Wierling. Ihr Buch verhilft uns zu einem
verstehenden, klaren und nüchternen Blick auf die Generationen von DDR-Bewohnern, die
von zwei Diktaturen, dem Nationalsozialismus und dem „Resozismus“ (Enzensberger), ge-
prägt worden sind, ja, für die - pointiert gesagt - ihr bisheriges Leben nur aus Diktaturer-
fahrung bestand. Und dies sind nun einmal diejenigen Generationen, die die DDR, wie sie
war und verging, gemacht haben. Am Ende müßte sich aus ihren Lebens- und Verhaltens-
mustern auch einiges Erklärende für die lautlose Implosion dieses staatlichen Gebildes ge-
winnen lassen. Und siehe da, so ist es auch.
Daß die DDR als Arbeiter- und Bauernstaat, der sie sein wollte, ihre neuen Eliten aus der
älteren Arbeiterschaft und später dann aus den Söhnen und Töchtern des Proletariats rekru-
tierte, ist bekannt. Daß sie dabei, zumal in den ersten 20 Jahren, in eklatante „Kadernot“
(S. 169) geriet, lernen wir eindrucksvoll aus Niethammers Buch. Die klassenbewußte Vor-
hut der Arbeiter war, dezimiert durch den Naziterror, klein, und die bürgerlichen Eliten so-
wie zahllose (sozialdemokratische) Facharbeiter liefen bis zum Bau der Mauer gen Westen
davon. Das erklärt, warum unsere drei Historiker selbst unter den Gesprächspartnern, die
ihnen die jeweilige ortsansässige SED-Führung vermittelte, zu ihrem Erstaunen kaum je auf
„proletarisches Urgestein“, auf Vorzeigearbeiter und schon gar nicht auf gestandene alte An-
tifaschisten als „Kerngruppe der DDR-Legende“ (S. 382) stießen. Um so häufiger begegne-
ten ihnen solche, die auch schon in der NSDAP oder in der SA gewesen waren und/oder
eher dem Landsertyp entsprachen. Ein frappierendes Beispiel ist Ludwig Färber (die Namen
sind durchweg Pseudonyme) vom Jahrgang 1910 - „Bürger, ehemaliger Parteigenosse,
DAF-Berufsfunktionär, zufriedener Soldat und unbelehrbarer Antisemit“ -, dem „ein
Jahr, nachdem er am 17. Juni in Tränen das Deutschlandlied gesungen hatte, die Mitglied-
schaft in der SED und damit das Billett zu noch weiterem Aufstieg angetragen wurde“
(S. 169). Ludwig Färber steht für die vielen, die ihre „Kindheitsmuster“ aus der Nazizeit un-
term „realen Sozialismus“ kaum gebrochen fortsetzten (häufig in Führungspositionen) und
damit eine autoritäre Kontinuitätslinie des unpolitischen, pragmatischen bis opportunisti-
schen Arrangements mit dem neuen System erzeugten, die der DDR den Anschein der Sta-
bilität verlieh, solange sie von außen militärisch garantiert wurde, aber eben nur so lange.
Neben dieser fragwürdigen „Führungsschicht“ der DDR stehen jene Unterschichtangehö-
rigen (darunter viele Ostflüchtlinge einerseits und Frauen andererseits), die aus ideologi-
schen Gründen und mehr oder weniger notgedrungen aufgestiegen und gleichsam zur
DDR-Elite wider Willen geworden sind. Niethammer und andere haben viele eindrucksvol-
le Belege dafür gesammelt, daß diese „Qualifizierung“ überwiegend als Überforderung, als
Streß erlebt wurde - mit entsprechenden Folgen für die Gesundheit. In diesem makabren
Sinne war die Arbeiterklasse tatsächlich zur „herrschenden Klasse“ in der DDR geworden.
Fazit: Zumindest in den hier repräsentierten älteren Generationen kommt der proklamierte
„neue sozialistische Mensch“ nicht vor, statt seiner treffen wir auf problematische Konglo-
merate aus alt und neu, deren signifikantes Merkmal die unterschwellige Kontinuität im
Denken, Verhalten und Handeln ist. In der Tat haben Wierling, von Plato und Niethammer
damit, wie versprochen, einen bedeutsamen Beitrag zur Aufhellung der „Geheimnisse der
124
Buchbesprechungen
DDR-Kultur“ (S. 71/73) geleistet. Auf den angekündigten zweiten Band, der „kollektive Er-
fahrungen und Mythen aus der Nachkriegsgeschichte“ (S. 71) in den Mittelpunkt stellen
will, darf man gespannt sein.
P. S. Ein lesenswerter und zugleich amüsanter Anhang druckt drei „Betreuerberichte“
(>,Vertraulich!“) jener DDR-Historiker ab, die die drei westdeutschen Forscher zuweilen be-
gleiteten. Sie zeigen, daß Kulturwissenschaftler aus der DDR (jedenfalls anno 1987) nicht
unbedingt sture Apparatschiks mit Stasi-Seele waren, sondern sensible, gescheite, differen-
ziert formulierende Intellektuelle in zutiefst melancholischer Grundstimmung. Die Hal-
tung der drei Westdeutschen zur DDR charakterisieren sie höchst treffend als „wider-
spruchsgeladenes Verhältnis von Sympathie und Deprimiertheit“ (S. 63).
Bremen WOLFGANG EMMERICH
JOACHIM SchlÖR: „In einer Nazi-Welt läßt sich nicht leben.“ Werner Gross - Lebensge-
schichte eines Antifaschisten. Tübingen: Tübinger Vereinigung für Volkskunde 1991, 261 S.,
Abb. sw (Studien & Materialien des Ludwig-Uhland-Instituts der Universität Tübingen, 7)
„Und ob sie mich erschlügen, sich fügen, heißt lügen.“
Diese Zeilen von Erich Mühsam, ebenfalls ein Opfer des Nationalsozialismus, treffen
auch auf Werner Gross zu, über den Joachim Schlör eine beeindruckende Lebensgeschichte
verfaßt hat. Der Autor weist in seiner Einleitung darauf hin, die Geschichte dieses Antifa-
schisten hätte sich auch für einen Roman oder ein Drehbuch geeignet. Dennoch habe er sich
für eine wissenschaftliche Arbeit entschieden, um nachzuweisen, „daß die Lebensgeschichte
dieses ,kleinen Mannes1 aus Nürtingen, aus kulturwissenschaftlichem Blickwinkel betrach-
tet, Fragen zumindest aufwirft, die für unser Fach von wesentlicher und aktueller Bedeu-
tung sind“ (S. 15). In der Tat werden in diesem Buch mehr Fragen gestellt als beantwortet,
aber dies sollte auf keinen Fall als Nachteil gesehen werden. Denn wie der Autor zu Recht
bemerkt, ist die Realität des faschistischen Widerstands - trotz einer Fülle von Literatur -
noch nahezu unentdeckt; die kleinen Leute seien zwar wissenschaftsfähig geworden, aber
ihre subjektiven Einstellungen und Wertungen blieben außerhalb der Betrachtung (S. 10).
Gerade darin liegt nun die Stärke dieser Arbeit. Der Mensch Werner Gross wird von ver-
schiedenen Seiten beleuchtet, indem Schlör auf eine Menge Datenmaterial wie Briefe, Tage-
bücher, Manuskripte etc. zurückgreift. Werner Gross wäre heute 85 Jahre, und obwohl der
Autor noch viele Verwandte und Freunde getroffen hat, verzichtete er darauf, die Gespräche
mit diesen Menschen für seine Arbeit zu verwenden, weil dabei eine andere Geschichte her-
ausgekommen wäre: „auf ihre Art nicht weniger interessant, nicht einmal weniger authen-
tisch, aber anders“ (S. 24).
Nach einer kurzen Abhandlung über die Ästhetik des Widerstands und der Einleitung
mit politischen und methodischen Überlegungen widmet sich Schlör dem Leben von Wer-
°er Gross bis zum Jahr 1945. Darunter fallen Ausbildung, erste Erfahrungen mit Arbeit und
Arbeitslosigkeit sowie Annäherung und Distanzierung vom Nationaloszialismus - „der
Jude ist auch ein Mensch!“ (S. 37). Vom März bis Juli 1933 gerät Gross erstmals in Haft, von
125
Buchbesprechungen
1935 bis 1945 bleibt er durchgehend eingesperrt, die längste Zeit davon im Konzentrations-
lager Dachau. Daran schließt sich ein Kapitel zu antifaschistischer Kultur vor 1945. Der
nächste Teil behandelt die letzten paar Jahre dieses unglücklichen Lebens von 1945 bis 1950;
Werner Gross, von einer Krankheit schwer gezeichnet, vom Kommunismus enttäuscht und
seine Ideale schwinden sehend, stirbt Ende November 1950 bei einem Verkehrsunfall. In
den abschließenden kürzeren Artikeln thematisiert Schlör noch Bereiche wie Entnazifizie-
rung und Wiedergutmachung, den Wert des Schreibens und das Schreiben über Dachau, die
antifaschistische Kultur nach 1945 sowie Kontakte mit drei Frauen, die Gross kannte.
Aus dieser kurzen Inhaltsangabe sollte bereits klar werden, daß diese Arbeit dadurch be-
sticht, interessantes Quellenmaterial nicht für sich stehen zu lassen, sondern in einen breite-
ren Kontext jener Zeit zu stellen. Man hat bei der Lektüre kaum einmal das Gefühl, sich in
einer Biographie zu verlieren, bei der die Rahmenbedingungen ausgespart bleiben. Trotz
der Beschreibung des Einzelfalles wird auch das Gesamte nicht vergessen. So wird die Studie
für alle an dieser Zeit Interessierten zu einer wichtigen Lektüre, obwohl die vielen Briefaus-
züge manchmal etwas mühevoll zu lesen sind. Andererseits vermitteln sie jedoch ein ein-
drückliches Stimmungsbild ihrer Schreiber.
Der Autor hat W. Gross dem Vergessen entrissen und trägt damit wohl auch einem politi-
schen Auftrag Rechnung. Daß er es geschafft hat, keine Jubelbiographie zu verfassen, ist be-
sonders erfreulich. Er zeigte diesen Menschen in möglichst vielen Facetten, die nicht „Rela-
tivierung“ zum Ziel haben, „sondern die genaue Würdigung einzelner Fälle, die es erlaubt,
hinter den Worthülsen den einzelnen Menschen zu erkennen, mit seinen Schwächen, seinen
Illusionen, seinen Zweifeln - auch mit seinen Stärken und manchmal heldenhaften Hand-
lungen, die dann um so beeindruckender sind“ (S. 136).
Graz Johannes Moser
Hermann Bausinger, Klaus Beyrer, Gottfried Korff (Hrsg.): Reisekultur. Von der
Pilgerfahrt zum modernen Tourismus. München: C.H. Beck, 1991. 413 S. m. zahlr. Abb.
(zit. a)
KLAUS Beyrer (Hrsg.): Zeit der Postkutschen. Drei Jahrhunderte Reisen 1600-1900. Mit
Beiträgen von Wolfgang Behringer, Klaus Beyrer, Hermann Glaser, Wolfgang Kaschuba,
Thomas Koppen, Norbert Ohler, Martin Scharfe und Ralph-Rainer Wuthenow. Frankfurt
am Main: Deutsches Postmuseum, 1992, 315 S., Abb. färb. u. sw (zit. b)
HASSO SPODE (Hrsg.): Zur Sonne, zur Freiheit! Beiträge zur Tourismusgeschichte. Berlin:
Verlag für universitäre Kommunikation, 1991, 158 S. (Freie Universität Berlin, Institut für
Tourismus, Berichte und Materialien, 11) (zit. c)
In einer lesebuchartigen Sammlung von 46 (Original-)Beiträgen unterschiedlicher Exper-
ten (a), einer Art Kompendium der Kulturgeschichte des Reisens seit dem Mittelalter (mit
weiterführenden Hinweisen in jedem Beitrag), in der keines der üblichen Themen fehlt,
braucht man bei der Vielfalt der Themen nicht zu erwarten, daß überraschende neue Per-
spektiven sich eröffnen. Wir finden Pilgerreisen, Wallfahrten, die „Apodemiken“ als Reise-
126
Buchbesprechungen
Hilfsliteratur (die auch in c, S. 15 f. von Wolfgang Günter als „Theorie der Erfahrung“ abge-
handelt werden), erfahren viel über Kavalierstour, Handwerkerreisen, Hausierer, Vaganten,
Messereisen der Kaufleute, über das Wirtshaus (wo es interessant gewesen wäre, über „Gast-
geberkultur“ neu nachzudenken), über die Annäherungen an die neuen Welten durch Eth-
nographen und über Auswanderer.
„Reisen als Horizonterweiterung“ist eines der Unterkapitel benannt, in dem es um Kom-
munikation auf der Reise und um Lernerfahrung beim Reisen geht. „Vom Zeitvertreib der
Kutschenfahrt“, d.h. dem, was sich im Coupe abspielt, berichtet Beyrer. Enthusiasmus und
Neugier prägen im Übergang zum 19. Jh. Reisen, nicht nur die Reisen der neuen philan-
thropischen Pädagogik, sondern auch die nach Griechenland und zu den Stätten des revolu-
tionären Fortschritts von 1789. In einem weiteren Kapitel werden die wichtigsten Reiselän-
der und Metropolen abgehandelt, dann die „Reisen auf dem Kanapee“ mit der Literatur der
Robinsonaden, der Kinder- und Jugendliteratur, der Reiseberichte, der Reisespiele und der
»empfindsamen Reise“.
„Neue Perspektiven“ im 19. Jh. beziehen sich auf die Schnellpost, auf Technologieerkun-
dung (das wäre ein Thema!), Weltausstellungen und Museumsreisen, auf neue Verkehrsmit-
tel und auf Wahrnehmungsumbrüche im Reisebild (verbunden mit der Kanonisierung von
Sehenswürdigkeiten, S. 328), auf die Anfänge des organisierten Tourismus, und schließlich
gibt es, in einem Schlußkapitel von Mitherausgeber Hermann Bausinger, auch einen Über-
blick über moderne Entwicklungen und Diskussionen im Tourismus. Ob die darin unter-
stellte Grenzenlosigkeit wirklich mehr als ein Klischee ist, wenn man sich erinnert, daß oh-
nehin nur die für die Grenzen unserer Erfahrung und Lebensweise konditionierten Räume
Zielregionen des Tourismus sind?
Klaus Beyrer, einer der Herausgeber dieses Bandes, ist hervorgetreten durch die strukturge-
schichtliche Interpretation der Entwicklung des Postkutschenwesens, die auch seine Aus-
stellung „Zeit der Postkutschen“ (1600-1900) im Deutschen Postmuseum prägt. Im Be-
gleitbuch (b) wird der System-Charakter dieses Postwesens erkennbar: Als „Beförderung
mit ... ,unterlegten1, das heißt stationsweise gewechselten Pferden“ (S. 9) mit entsprechend
vorgehaltener Infrastruktur von Transportmitteln, Personal, Straßen und Relais samt deren
Unterhaltung wird es seit 1490 als Taxis-Postsystem betrieben und überlebt das Reich, von
dem es ins Leben gerufen wurde, um 60 Jahre (b, S. 66). Zunächst wird es als Nachrichten-
Kuriersystem mit Beförderungsgarantie und Sicherheit entwickelt, dann seit etwa 1650 als
Fahrpost betrieben (S. 59) und im frühen 18. Jh. zum „geographisch-flächenübergreifenden
Kurssystem“ (14). „Der Staat Friedrichs des Großen zog aus dem Postverkehr nicht weniger
als die Hälfte seiner gesamten Roheinnahmen“ (S. 14).
Waren schon früher Personen mitgeritten oder mitgefahren, so bedeutete es dennoch eine
Revolutionierung des Personentransports, als seit 1821 durch das System der Eil wagen und
Schnellposten der „Personenverkehr auf die Stufe des Kurierwesens“ gehoben wurde (S. 18,
S. 189 f.). „Eilwagen und Schnellpost stehen im eigentlichen Sinne am Beginn der Verkehrs-
moderne“ (S. 193) - und nicht die Eisenbahn. Vor ihr hatte das Postwesen eine Systemqua-
lität erreicht, die von dieser lange nicht eingeholt werden konnte. Zum System gehören die
Straßen (vgl. S. 17), über die Martin Scharfe schreibt (S. 137f.). Sie organisieren Raum und
Verkehr, sie sind bearbeitete Natur und verlangen, besonders seit MacAdams 1819/20 syste-
matisierten Verbesserungen (S. 143), für ihre Stabilität und Trockenheit ständige Unterhal-
tung, schließlich auch eine entsprechende Politik. Sie sind so eine Art Vehikel des Fort-
schritts und Unterbau der Modernisierung - bis hin zu den Wegweisern (S. 148). Zum Sy-
127
Buchbesprechungen
stem gehören entsprechende Wagen und Kutschen (S. 44, 67, 86), allerhand Akzessoirs (für
Ausstellung und Katalog natürlich besonders geeignet). „Alle Kräfte der Mechanik und bil-
denden Künste vereinigen sich, dieses Schooß-Kind unseres Luxus zu vervollkommnen“
(S. 121), lesen wir in Krünitz’ „Enzyclopädie“ über die Kutschen.
Alpenpost und Kraftpost konkurrieren dann schon nicht mehr mit der Eisenbahn, son-
dern mit dem Auto - und am Ende bleibt, von Hermann Glaser beschrieben, nur noch die
Verklärung der Romantik der Postkutsche (S. 275).
Auch die Bildungsreise ist Thema dieses Kataloges. Wolfgang Kaschuha beschreibt Trends
bürgerlicher Welt-Erfahrung nach 1800 (S. 223), in denen die Planbarkeit des Reisens und
die neuen Motive des Reisens sich amalgamieren: Aufklärung schließt die Verpflichtung zur
Welt-Erfahrung ein (S. 225), dem bürgerlichen Lebensgefühl sind Neugier und „subjektiver
Enzyklopädismus“ (S. 227) eigen. Aber auch hier erstarren die festen Erwartungen zu Ste-
reotypen (S. 228), bilden Polit-Tourismus, Wünsche nach Dialog mit fremder Kultur (S.
231), Binnen-Exotismus, Technik-Begeisterung mit „bürgerlichen Fortschrittsvisionen als
ästhetischer Genuß und pathetischer Anmutung“ (S. 232) eine widerspruchsreiche Melange
dessen, was Georg Simmel dann schon „Reisesucht“ nennt (S. 235).
Tourismusgeschichte kann so auf eine Fülle kulturgeschichtlicher Details zurückgreifen,
ist aber, besonders was die Zeit seit Beginn des modernen Tourismus-Booms anbetrifft, ins-
gesamt eher schwach entwickelt. Dem versucht seit 1987 die Berliner Arbeitsgruppe Touris-
musgeschichte am Institut für Tourismus der FU Berlin mit Symposien und Veröffentli-
chungen abzuhelfen (c). Mit Recht wird die Empirie-Fixierung der Fremdenverkehrswissen-
schaft kritisiert, die den „Ferienmenschen“ nur in Einzelaspekten wie Kaufkraft und
Reisewünschen untersucht, nicht aber den „ganzen Menschen (c, S. 9). Wir erfahren im De-
tail viel Neues: Baedeker-Spezialist Alex W. Hinrichsen (c, S. 21 f.) gliedert die reiche Ge-
schichte der Gattung „Reiseführer“, Christine Keitz arbeitet die - dann vielleicht doch et-
was zu gering gewerteten — Unterschiede zwischen Baedeker und „Dietz-Arbeiter-Reise-
und Wanderführer“ heraus (dessen Hinweise auf soziale Stadtpolitik der 20er Jahre sind
wichtige neue Akzente, c, S. 56). Sie verweist im übrigen auf die ganze Breite der Reisekultur
der Arbeiterbewegung, die von Wolfgang Bagger ins Kaiserreich zurückverfolgt wird (c, S. 33),
während Hans Krumbholz zu gewerkschaftlichen Ferieneinrichtungen und Erich Hobusch
über proletarische Binnenschiffsreisen interessante Einzelheiten aus der Weimarer Zeit bei-
tragen. Hasso Spode und Albrecht Steinecke interpretieren den Durchbruch zum industriell
gefertigten Serientourismus während des Nationalsozialismus und relativieren dabei die
propagandistische Wirkung von KdF-Reisen (c, S. 79).
BRD-Tourismus vor 1989, die professionelle Vernachlässigung der Ferienarchitektur {F.A.
Wagner), Bodenseetourismus sind weitere Themen. Ein interessantes Detail aus W Stelzles
Geschichte des Landesfremdenverkehrsverband Bayern: „Die Marketing-Instrumentarien
des Fremdenverkehrs um die Jahrhundertwende waren bereits voll entwickelt, und es sind
bis heute, außer den Möglichkeiten exakterer Zielgruppenanalysen, kaum neue dazugekom-
men.“ Vor 1914 warb man um fünfstellige Übernachtungszahlen mit Prospektauflagen, die
schon halb so hoch waren wie heutige, wo es um achtstellige Übernachtungszahlen geht (c,
S. 145).
Marburg Dieter Kramer
128
Buchbesprechungen
JOHANNA ROLSHOVEN: „Provencebild mit Lavendel. Die Kulturgeschichte eines Duftes in
seiner Region.“ Bremen: Edition CON, 1991, 356 S., 31 Abb.
Zu einer List des volkskundlichen Feldforschers in Frankreich gehört es, den Eindruck zu
erwecken -, ohne dies natürlich ausdrücklich zu erwähnen -, daß er die lokale „Geschich-
te“ untersucht. Nicht daß die Forschungsperspektiven und Methoden beider Fachbereiche
getrennt bleiben oder sich nicht kreuzen sollen, sondern das hat einen anderen, einfachen
Grund: Er weiß in der Tat zu genau, wie er unmittelbares Interesse erwecken kann. Er muß
sich dabei jedoch hüten, behauptet Marc Auge1, diese Ambivalenz aufzuheben, will er
fruchtbare Kontakte und Informationen erhalten. Ob das immer der Fall ist, bleibt offen.
Ein unbeachteter Gesichtspunkt, ein in Vergessenheit geratener Aspekt der Dinge, ein po-
tentieller vergrabener Kulturschatz, usw. rechtfertigen die Anwesenheit des ethnologischen
Beobachters, seine Integration und erregen eine um so größere Nachfrage. Hat die Marbur-
ger Volkskundlerin Johanna Rolshoven diese Strategie auch angewendet?
Das Ergebnis ihrer Untersuchung ist indessen durchaus verschieden von einer bloßen exo-
tischen Mitteilung, die sich an die Vorstellungs- und Phantasiewelt eines mehr oder weniger
fernen Publikums richtet. „Provencebild mit Lavendel“: Es geht hier also auch um Bilder,
vielmehr noch um die Ausbildung dieser Bilder. Der Titel schon erweckt alte Sehnsüchte,
»eine liebliche Provence, eine Provence des Lichts, der sanften Hügel, der Traditionen und
Legenden, der bunten Tänze und Trachten, ein Land der Sonne“ (S. 49). Und genau diese
verbreitete mythische Bilderwelt — von Mistral und dem Dichterkreis der Felibrige eifrig
gepflegt - wird am Anfang des Buches heftig und wiederholt durchgerüttelt. Die Aufwer-
tung der Provence, - bislang nicht immer frei von rassistischen Einstellungen - durch den
Tourismus des 19. Jh., durch die Entdeckung der „Promenade“ (1800/1830), der romanti-
schen Reise (ab 1830), des Panoramas als Weltanschauung des „Gesichtspunktes“, durch die
Entwicklung des Eisenbahnnetzes, des Genres Reiseführer, duch die literarische Reisenovel-
le und die impressionistische Malerei war früher nicht immer so eindeutig.
Mit der zunehmenden Anerkennung der „Folklore“ treten „vor (der) malerischen Kulisse
historischer Bauwerke und pittoresker Landschaften (S. 56) die „Protagonisten dieses Schau-
spiels“ in Erscheinung: die Provencalen.
Johanna Rolshoven, die feinfühlig ihre Untersuchung über die „Lage“ der Provence skiz-
ziert, beschreibt weiter die krassen lokalen wirtschaftlichen und demographischen Unter-
schiede im ungleichen Entwicklungsprozeß der Region.
Ihre „Reise“ - jeder Bericht ist zugleich ein Reisebericht - betont ausdrücklich, daß die
Provence kein einheitliches Ganzes, sondern eine komplexe und problematische Wirklich-
keit oder Fiktion war und bleibt. Die soziale Spaltung zwischen dem südlichen Teil der Re-
gion, oder was heute so betrachtet wird, und dem „rauhen Hinterland“, zeigt „eine Lücke
Provencebild“ (S. 58). Menschlich spürbar wird diese Spaltung unter anderem in den Mi-
grationsbewegungen. Die Sommer-, aber hauptsächlich die Wintermigrationen führten gan-
ze Familien bis zu sechs oder acht Monate von der „Haute“ in die „Basse Provence“ („Man-
che arbeiten als Tagelöhner in der Landwirtschaft bei der Bodenbearbeitung, beim Schnitt
der Rebstöcke, bei der Olivenernte, in den Ölmühlen ...“ (S. 63) und konnten sich sogar zu
einer definitiven Abwanderung ins Ausland entwickeln. Eine Besonderheit war dabei die
Erauenwanderung: „In gewisser Weise“, schreibt die Autorin, „läßt sich sagen, daß die Frau-
en aufgrund der gegebenen familienrechtlichen Bedingungen, wie der strengen Patrilineari-
tat und der weitgehend exogamen Allianzpraktiken über eine Art Prädisposition zu der Mo-
bilität verfügten. Für sie gehörte das ,Fremdsein‘ zur Gewohnheit“ (S. 71).
129
Buchbesprechungen
Der Kernpunkt aber in ihrem Buch betrifft, zusammen mit dem Lavendel, eine besondere
Seite der Provence: der Umgang mit Duft und Sinnen und dadurch die Veränderungen der
Sichtweisen und Wahrnehmungen überhaupt, und allem, was dies für die Wirtschaft, die so-
zialen Werte usw. zu bedeuten hat.
Ohne ausschließlich in Corbins oder Vigarellos Kielwasser zu segeln, nähert sich Johanna
Rolshovens Studie dennoch sehr stark der „Geschichte der Sensibilität“. So „durchquert“
sie methodisch und nuancenreich die Lavendellandschaften der Provence: in historischer
Art und Weise zuerst, dann aus wirtschaftlicher, ökologischer, kultureller, - in einem Wort
- volkskundlicher Perspektive. Sie beobachtet mit dem Lavendel verschiedene bedeutende
Räume, Repräsentationssysteme, Identitätskategorien oder Andersartigkeiten, Gesellschaf-
ten und Kulturen. Sie betrachtet charakteristische Bedingungen und Änderungen (in der Po-
litik, der Wirtschaft, Technik, Kunst, Literatur, Bräuchen usw. ... ). Ihre Aufmerksamkeit
widmet sie dem ganzen „symbolischen Repertoire“ des Lavendels: Dies reicht von der neu-
en Sinnlichkeit des Bürgertums (Duft) bis zur Hygiene („Sauberkeit und Frische“) und me-
dikalen Werten (als „Heilmittel“) der neuen Zeiten, über alle möglichen materiellen Ver-
wendungen (Abwehr gegen Ungeziefer, als Zier- und Nutzpflanze, als Gewürzpflanze) und
bildlichem Gebrauch (Suggestionskraft oder Urlaubsassoziation).
Angefangen von der Nutzung des wilden Lavendels über seine Etablierung als landwirt-
schaftliche Kulturpflanze - die anfangs noch mit der Sichel geschnitten wurde und zum
Aufgabenbereich der Frauen gehörte -, bis zur Industrialisierung, in deren Folge sich die
Parfümindustrie entwickelte („sobald es wichtig wurde, haben die Männer es in die Hand
genommen“, S. 148), verfolgt Johanna Rolshovens Studie dem Einschlagen, den Aufschwün-
gen und den Krisen („Lavendelkrieg“ zum Beispiel) der Modernität für die Entwicklung
der Lavendelwirtschaft. Tourismus, aber auch sogar der Patriotismus scheint dabei eine Rol-
le gespielt zu haben. Dabei zeigt das Destillierverfahren, ob mit Maurenkopfalambic oder
Dampfdestilierprozedur, nicht nur technische Aspekte: Die Destillationsanlage war (und ist
noch teilweise) ein „Männertraum“ - was vermutlich schon die Fachsprache andeutet -,
aber auch ein Ort der Geselligkeit: „Das ,Erbitten* des Lavendelwassers als Zusatz für das
Waschwasser der Frauen, die als ,Lavenderinnen‘ zugleich Waschfrauen“ wie auch,Lavendel-
pflückerinnen“ sind, rechtfertigt und legitimiert eine Begegnung der Geschlechter“ (S. 170).
Der Lavendel kann sich auch als Zünd- oder Konfliktstoff erweisen, in den fließenden
Identitätslinien zum Beispiel, zumindest als Abgrenzungsbereich zwischen der Weidewirt-
schaft der Hirten - bedingt durch den wachsenden Fleischbedarf der städtischen Bevölke-
rung -, den Bienenzüchtern und dem Lavendelbau.
Die Wirkungen der Modernität auf die Lavendelwirtschaft lassen sich an vielfältigen Phä-
nomenen nachweisen: zum Beispiel an der Installierung von sog. „Zweitwohnsitzen“ seit
den 50er Jahren (in enger Verbindung mit der Popularisierung des Tourismus), dem Rück-
gang der Landwirtschaft (ab 1970), der Verödungsnutzung durch militärische Übungsplät-
ze. „Die staatliche Nutzung zu militärischen Zwecken, schreibt Johanna Rolshoven, hat zu
einer massiven Amputation der Landwirtschaft geführt“ (S. 223): - 36000 Hektar allein
für den Canjeurs, eine riesige Fläche; und als letztes Beispiel, der „interne Kolonialismus“,
„Die bestehende Anlage wurde nach nationalen und internationalen Kapitalinteressen an
den entsprechenden Ressourcen implantiert. Der Profit aus der Region fließt nicht in die
Region“ (S. 232). Was der Historiker Maurice Aguilhon, von Johanna Rolshoven zitiert,
kurz zusammenfaßt: „Kapital, Tourismus und EDF (Electricité de France) sind die drei Gei-
ßeln der Provence“, gemäß einem alten provenzialischen Sprichwort: „Parlament, Mistral
130
Buchbesprechungen
und die Durance sind die drei Geissein der Provence.“ Eines der besten Beispiele dieser „Ko-
lonialisierung“ (Aguilhon) ist die Parfümindustrie von Grasse: Die Luxusindustrie hat in
Grasse die lokale Wirtschaft völlig destrukturiert.
Der Lavendel bewirkt ebenso auf „symbolisch-ästhetischer“ Ebene ein Element proven-
zalischer Symbolformationen. Er gehört also zu einem Repräsentationssystem, das ebenso
von Marketingstrategen wie von den staatlichen Organisationen gefördert wird und unter-
stützt dadurch die Ausbildung einer spezifischen provencalischen Identität: „Man immuni-
siert das kollektive Imaginäre, schreibt Barthes, durch eine kleine Injektion (einen Schuß La-
vendelsymbolik also, bestätigt Johanna Rolshoven) und verteidigt es auf diese Weise gegen
die Gefahr einer verallgemeinernden Subversion.“ Um so mehr lenkt es von den heftigen
Kämpfen für wirtschaftliche, politische und kulturelle Eigenständigkeit ab.
Der Lavendel wird dabei als Markenzeichen emblematisiert und in verschiedenerlei Wer-
bekampagnen eingesetzt: beim Tag des Lavendels, in Form von Souvenirs, Ansichtskarten,
Ferienprospekten, Werbeanzeigen, Reiseführern und Reiseliteratur - von manchmal an-
spruchsvollem Charakter -, Märkte, Messe und Festveranstaltungen.
Johanna Rolshoven zeigt schließlich in Anlehnung an Roland Barthes, wie alle Provence-
bilder „mystifizierende Aussagen, Bedeutungsträger eines Mythos“ sind, die „stets eine de-
formierte Sinnwiedergabe darstellen“ (S. 328). Was dahinter verschleiert bleibt, sind die
komplizierten Sozialbeziehungen und Verbindungen, die Lebens- und Arbeitsbedingungen,
die Konfliktpotentiale. Das Lavendelbild und die Lavendelfelder skizzieren nicht nur
»Scharniere zwischen Agrar- und Freizeitland“ (S. 335), sondern sie prägen die Marken-
imagestrategie der „Firma Frankreich“ (Lothar Baier) auf dem Weltmarkt.
Es mögen einige Punkte oder „Eigenheiten“ zu kurz kommen wie die Auseinanderset-
zung mit der Religion, der Moral, der Magie. Die Darstellung Johanna Rolshovens ist den-
noch klar ausgeführt, reichhaltig dokumentiert und gut geschrieben. Sie entspricht der
Neugierde, dem neuen Blick der heutigen Volkskunde. Sie schlägt nicht nur eine Brücke
zwischen französischen Historikern und deutschen Volkskundlern, sondern setzt auch die
Tradition der Europäischen Ethnologie am volkskundlichen Institut in Marburg würdig
fort.
Stuttgart Daniel Devoucoux
Herbert Lachmayer, Sylvia Mattl-Wurm, Christian Gargerle (Hrsg.): Das Bad. Ei-
ne Geschichte der Badekultur im 19. und 20. Jahrhundert. Salzburg/Wien: Residenz Verlag
1991, 260 S., 254 Abb. sw und zahlr. Abb. färb.
Der Sammelband über die Geschichte der Badekultur im 19. und 20. Jh. erschien fast
gleichzeitig mit der vom Historischen Museum der Stadt Wien durchgeführten Ausstellung
nber „Körperkultur und Hygiene im 19. und 20. Jahrhundert“ (23. 3. 1991-8. 3. 1992).
Das vom Ausstellungsteam herausgegebene Buch ist nicht der Ausstellungskatalog, sondern
em themenverwandter Band, in den einige Beiträge aus dem Katalog übernommen wurden.
Der großformatige Leinenband vereinigt nun 14 Beiträge unterschiedlicher Qualität unter
drei Themenschwerpunkten. Den regenerativ-lustvollen Aspekt des Bades untersuchen die
131
Buchbesprechungen
Beiträge des ersten Abschnittes: „Von der mythologischen Szene zur Intimität des Badezim-
mers.“ Im zweiten Teil: „Das öffentliche Bad: Staatliche Maßnahmen und Hygiene“ steht
die umfassende Säuberung des individuellen Körpers, des Volkskörpers und die des öffentli-
chen Raumes, die Assanierung der Städte im Mittelpunkt. Der dritte Abschnitt: „Hydro-
therapie und Kur“ ist der Balneologie, der angenehmen Therapie durch Wasser und der stan-
desgemäßen Erholung gehobener Schichten in den Kurorten gewidmet. Dank des interdiszi-
plinären Spektrums der Beiträge gewinnt man einen guten Überblick über die vielfältigen
Aspekte in der Geschichte des Bades, das in seinen unterschiedlichen Funktionen als medi-
zinisches Therapeutikum, als Vergnügen oder der Hygiene dienend, zu der Herausbildung
moderner Zivilisationen beigetragen hat. So betrachten auch die Herausgeber die Geschich-
te des Bades als einen „Reflexionsspiegel für die Verfeinerung des Individualismus, für die
Differenzierung seiner Sinnlichkeit wie für das Verständnis der Leitbilder einer modernen
Massenkultur“ (S. 6).
Im ersten thematischen Block ist der Beitrag von Wolfgang Pircher hervorzuheben. Er ar-
beitet am Beispiel der drei mythischen Erzählungen von Artemis, Bathseba und Susanna im
Bade eine „Positionierung der Geschlechterrollen“ heraus. Im bekannten Bildmotiv der ba-
denden Frau vermittelt sich ein spezifisches zwischengeschlechtliches Gewaltverhältnis,
welches die entblößte Frau dem voyeuristischen Blick des Mannes schutzlos preisgibt. Das
Bild der Frau im Bade verweist auch auf die der Frau diffamierend zugeschriebene Unrein-
heit und drückt hierin die kulturelle Differenz zwischen den Geschlechten aus. Mit Pirchers
Blick auf die Badenden lernen wir ein weiteres Beispiel für den Objektsstatus der Frau ken-
nen.
Lachmayer und Gargerle gehen in ihrem Aufsatz: „Inszeniertes Wohlbehagen - Funktion
und Luxus des privaten Bades“ der Frage nach, wie die Veränderungen der Badegewohnhei-
ten an der Architektur, Ausstattung und der Lage privater Baderäume in den Wohngebäu-
den rekonstruiert werden können. Die Autoren, die die Badegewohnheiten gehobener Ge-
sellschaftsschichten untersuchen, stellen luxuriöse Badehäuser und Badeappartements des
17. und 18. Jh. vor, die vornehmlich der Repräsentation und weniger dem tatsächlichen Ge-
brauch dienten. Am Übergang von mobilen Badewannen und Waschtischen zum fest instal-
lierten Bad in den Wohnungen des Bürgertums seit der Mitte des 19. Jh. zeigen sie, wie die
Körperhygiene von einer gelegentlichen Verrichtung allmählich zu einer festen Gewohn-
heit wird. Als sich schließlich das Badezimmer im 20. Jh. immer mehr zu einer Standardein-
richtung entwickelt, steigt auch die Vielfalt der Badezimmertypen, die von Avantegardear-
chitekten kreiert wurden. So sind die luxuriösen Architektenbäder des Großbürgertums der
Zwanziger Jahre Teil der Persönlichkeitsstilisierung und des feinen Lebensstils, in welchem
die Körperpflege eine quasi-sakrale Qualität gewinnt. Mit dem Typus des Badezimmers ver-
binden sich nun soziale Utopien, das Bad ist Zeichen einer Weltanschauung. Die Entwick-
lung der gegenwärtigen Badezimmereinrichtungen aus dem industriellen Angebot zielt dar-
auf ab, gestiegene Komfortansprüche zu befriedigen, die Erlebnisqualität des Bades zu stei-
gern.
Die fünf Beiträge im Mittelteil des Buches befassen sich mit Entwicklungen in der privaten
und der öffentlichen Hygiene. Sie betonen die Kulturspezifität von Hygienestandards, zei-
gen, wie sich unsere Sauberkeitsvorstellungen in den letzten 200 Jahren gewandelt haben
und verweisen immer wieder auf den Zusammenhang von Gesellschaftssystem und hygieni-
schen Normen. Es ist bekannt, daß vor allem Arzte und Pädagogen seit der Mitte des 18. Jh.
die Erziehung zur Hygiene als ein wichtiges Mittel ansahen, die Menschheit zu zivilisieren,
Eigenverantwortlichkeit und Selbstdisziplin beim Individuum zu befördern. Diese umfas-
132
Buchbesprechungen
sende Zielsetzung in der hygienischen Erziehung hat im Laufe des 19. Jhs. so berühmt ge-
wordene Leitsätze wie „Moral ist Hygiene und Hygiene ist Moral“ (Nossig 1894) oder
„Cleanliness comes next to Godliness“ (Chadwick 1842) namhafter Arzte und Sozialpoliti-
ker hervorgebracht. Krauss muß also in seiner „medizingeschichtlichen Betrachtung“ der
Hygiene den Absichten „Moral und Ideologie, Kriterium der Kultur und Zivilisation“, wel-
che sich „unter dem Mantel der Sauberkeit“ tummel würden (S. 107), gar nicht besonders
nachspüren, sie sind Programm der damaligen Hygieneerziehung.
Die Vorstellung von einer engen Verklammerung zwischen gesellschaftlichen Strukturen
und hygienischer Norm, wo die Hygiene stets nur ein Mittel zur Stabiliserung bestehender
Machtkonstellationen sei, kehrt besonders in dem Beitrag von Elke Krasny: „Ideologien der
Reinheit - Von der Sauberkeit zum Rassenwahn“ wieder. Die Autorin vertritt einen an Mi-
chel Loucault orientierten Medikalisierungsbegriff. Alle hygienischen Reformen seit der
Aufklärung werden als eine Kette von pathologischen Uberwachungs- und Strafmaßnah-
men präsentiert, die einzig und allein der Zurichtung des menschlichen Körpers für den
Produktionsprozeß dienen sollen. Die Rassenhygiene des Paschismus erscheint dann fast als
logische Polge des Hygienisierungsprozesses. Der in dieser Weise konstruierte Zusammen-
hang zwischen staatlicher Repression und Hygiene erscheint vor allem dann problematisch,
wenn z. B. bei der Frage der Beseitigung der Exkremente in erster Linie auf mögliche psychi-
sche Störungen der Verdrängungsleistung hingewiesen wird, nicht aber auf die segensrei-
chen Wirkungen der Kanalisation angesichts der Cholera und der städtehygienischen Situa-
tion im 19. Jh. Den letztgenannten Aspekt finden wir im Artikel „Die Assanierung der
Großstadt“ von Sylvia Mattl-Wurm wieder.
Im Beitrag „Die Hydrotherapie - über das Wasser in der Medizin“ entwirft Krauss eine
kurze Geschichte der Hydrotherapie. Er stellt dar, wie die Theorien der Medizin über die
Eigenschaften des Wassers und den menschlichen Körper die Therapie und den Umgang mit
dem Wasser bestimmen. Da für die Arzte des 17. und des 18. Jh. noch feststand, daß das Was-
ser in den Körper einzudringen vermöge, dort zu Auflösungserscheinungen führen und je
nach Temperatur den Körper und seine inneren Organe festigen oder aufweichen könne, ist
die Zurückhaltung im Umgang mit Wasser nur allzu verständlich. Als im 19. Jh. dem Wasser
allmählich die Durchdringungsfähigkeit eines Körpers abgesprochen wird, erhält es immer
mehr die Funktion eines Universaltherapeutikums.
Der aufwendig und teilweise mit großformatigen Farbabbildungen schön illustrierte Band
ist ein nützliches Buch über die facettenreiche Geschichte der Badekultur. Es erscheint zu
einer Zeit, in welcher der Anspruch an Komfort des privaten Badezimmers steigt und allge-
mein eine Begeisterung für öffentliche Erlebnis- und Luxusbäder anzutreffen ist. Das Buch
kann auch außerhalb des Fachpublikums mit Gewinn gelesen werden.
Tübingen - Barbara Happe
Robert JÜTTE: Ärzte, Heiler und Patienten. Medizinischer Alltag in der frühen Neuzeit.
München: Artemis & Winkler, 1991, 295 S., Abb. sw.
Christian Probst: Fahrende Heiler und Heilmittelhändler. Medizin von Marktplatz und
Landstraße. Rosenheim: Rosenheimer Verlagshaus, 1992, 259 S., Abb. sw.
Zwei ebenso anschaulich gehaltene wie wissenschaftlich untermauerte Neuerscheinungen
smd anzuzeigen, die Medizingeschichte nicht aus moderner Fortschritts-, sondern aus der
133
Buchbesprechungen
zeitgenössischen Alltagsperspektive, nicht aus der Sicht der Arzte, sondern der Patienten
bzw. nichtakademischen Heiler beschreiben. Beide nehmen sich der oft vernachlässigten
medizinischen Vormoderne an.
Robert Jütte hat sich den medizinischen Alltag schlechthin in einer frühneuzeitlichen
Reichsstadt (Köln 1564 bis 1665) aus der Sicht der Patienten, ihr Krankheits- und Gesund-
heitsverhalten zum Thema genommen. Um diesen umfangreichen Gegenstand zu struktu-
rieren, bedient er sich zum guten Teil klassisch medizinsoziologischer Begrifflichkeit und
Systematik: Gesundheitsmarkt, Krankheitserleben und Selbstbehandlung, das Verhältnis
von Arzt und Patient, das Laiensystem, die therapeutischen Alternativen, die Krankenrol-
len, sowie die Formen von (materieller wie immaterieller) Krankheitsbewältigung. Er hat
sich dabei z. B. die Mühe gemacht, die vielfältigen Formen von Selbstmedikation als medi-
zinhistorische Fakte einmal ernstzunehmen und en detail zusammenzutragen. Jütte stützt
sich dabei auf eine Vielzahl von teils seriellen, häufig qualitativen Archivquellen, Tagebü-
cher, Verhörprotokolle, Arztrechnungen, Krankenprotokolle, unter denen die umfangrei-
chen autobiographischen Aufzeichnungen des Kölner Ratsherrn Hermann Weinsberg gera-
de in ihren noch nicht publizierten Teilen deutlich hervorstechen. Gestützt wird die
Quellenanalyse durch eine breit angelegte Rezeption, teils Diskussion häufig angloamerika-
nischer Sekundärliteratur. Die detaillierte Rekonstruktion ist ergänzt durch knappe histori-
sche Ausblicke und weite vergleichende Sprünge in unseren heutigen medikalen Alltag (der
allerdings eher schematisch abgehandelt wird). Das aus einer Vielzahl von Einzelbefunden
(z. B. über das Empfinden des Alterns, das Schamverhalten, Krankheit im Ausdruck populä-
rer Sprache etc.) von Jütte hervorgehobene Hauptergebnis ist, daß das frühneuzeitlich-
städtische Gesundheitssystem im Vergleich zu heute in einem deutlich pluralen, hoch spe-
zialisierten und noch nicht monopolisierten medikalen Angebot bestand (vom akademi-
schen Arzt und handwerklicher Wundarznei über Laienbehandlung bis zu Kräuterweib
und Scharfrichter etc., von innerlicher über chirurgische bis hin zu magischer Heilbehand-
lung), daß die Anbieter indes keineswegs harmonisch nebeneinander existierten, daß zwi-
schen wissenschaftlichen, „volksmedizinischen“ oder empirischen Praktiken und Einstel-
lungen fließende Grenzen bestanden und für sie das moderne Unterscheidungskriterium
„rational“/„irrational“ nicht tauglich ist. Das entsprechende Medikalverhalten bestand dar-
in, aus diesem Angebot für eine bestimmte Krankheitsursache einen Spezialisten zu finden,
der die Kompetenz besaß, das vielfältige Ursachenspektrum der Krankheit (in damaliger
Anschauung) aufgrund lebensweltlicher Erfahrung zu durchschauen und zu deren Bewälti-
gung beizutragen (S. 225-230). Wo es um subjektives Krankheitserleben geht, etwa
„Grunderfahrungen“
(S. 207) wie Leidens- und Todesangst, die Stigmatisierung von Kranken oder die Befolgung
ärztlicher Ratschläge („compliance“), zeigen sich Gemeinsamkeiten oder Ähnlichkeiten
zwischen Frühneuzeit und Gegenwart. Der alltagsorientierte Zugang Jüttes vermag es so,
Feinheiten der frühneuzeitlichen Medizin wahr- und ernstzunehmen, die unter einer ande-
ren Perspektive, etwa einer institutionen- oder ideengeschichtlichen, schnell unter den
Tisch hätten fallen können.
Christian Prohsts Zugang zum medikalen Alltag der späten Vormoderne führt über die he-
terogenste Berufsgqippe dieser Zeit: fahrende Heiler und Heilmittelhändler, das sind Zahn-
brecher, Starstecher, Bruchschneider, Harnbeschauer, Kräutermänner, Olitätenhändler,
Waldmänner, „Tiroler“, „Königseer“. Probst ist der erste Medizinhistoriker, der sich dieser
schnell als „Scharlatane“ verschrienen Berufsgruppe ausführlich und systematisch zuge-
wandt hat, die quellenmäßig nur „spärlich“ (S. 49) dokumentiert ist, und wenn, dann häufig
134
Buchbesprechungen
im Zusammenhang mit (teils notgedrungener) Illegalität. Es ist daher um so angenehmer,
wenn er sie, sofern sie therapierten, unter dem glücklichen, weil einmal nicht wertenden
Sammelbegriff „irreguläre Heiler“ zusammenfaßt. Sein Untersuchungsschwerpunkt liegt
auf dem Bayern des 18. Jh., der Hochphase dieser Berufsgattungen, doch nehmen geographi-
sche, chronologische und thematische Ausgriffe keinen geringen Raum ein. Die Sekundärli-
teratur, häufig aus der sozialhistorischen Medizingeschichtsschreibung, findet sich - ge-
wollt - vor allem im Anmerkungsapparat. Der sich nicht auf den ersten Blick erschließen-
de Aufbau des Buches spiegelt einerseits die verzweigte Thematik, andererseits den
Doppelanspruch, den Probst mit unterhaltsamer Erzählung und wissenschaftlicher Darstel-
lung in der Systematik der 17 Hauptkapitel bewußt (S. 245) gewählt hat. Den Rahmen bil-
den beispielhafte Biographien und Fallgeschichten, nicht nur aus Gründen der populären
Vermittlung, sondern, so Probst, weil die Vielfalt der Erscheinungen dies notwendig mache
(S. 22). Diese Biographien bieten den Anlaß, in eingeschossenen Unterkapiteln heilerische
Tätigkeiten, wie etwa Bruchschnitt, Starstich und Harnschau, eingehend zu erläutern. Den
Rahmenbedingungen, die sich dagegen nicht direkt ableiten ließen, wie dem medizinischen
Angebotsmarkt, der Medizinalbürokratie, der Heilerversorgung, wurden eigene Kapitel zu-
gedacht. Weitere, sachlich orientierte Kapitel befassen sich mit den Arzneiwaren selber, ih-
rer (früh industrialisierten) Herstellung sowie ihrem Vertrieb. Chronologisch abgegrenzte
Kapitel behandeln eher die Auswirkungen von staatlichen Verordnungen auf die Berufs-
gruppe, die im Zuge des medizinalpolizeilichen Ordnungsstrebens des 19. Jh. schließlich
(mit Ausnahme spezialisierter Operateure) weitgehend zum Verschwinden gebracht wurde.
Die letzten beiden Gruppierungen von Kapiteln sind wiederum häufig durch Biographien
und Fallgeschichten strukturiert. Probst kommt so zu einem Bild dieser Berufsgruppe, das
ihre Vertreter in meist rechtlich geordneten Verhältnissen zeigt, die jedoch nicht eingezünf-
tet waren und auch aus Konkurrentenneid häufig am Rand zur Illegalität und darüber hin-
aus arbeiteten. Während die Operateure eher handwerklich-wundärztlich ausgebildet wa-
ren, fanden sich unter den Heilmittelhändlern eher heilerische Autodidakten. Die im Ge-
gensatz zur akademischen Medizin eher aufs Praktische ausgerichtete und empirisch
fundierte Heilkunde beider Gruppen stieß einerseits auf ständige Anfeindung von seiten der
Schulmedizin (z.B. als „Seuche“ und „Natternbrut“ benannt, S. 72), doch andererseits
gleichzeitig auf eine Nachfrage in allen Gesellschaftsschichten, nach der sie ihr Angebot
richteten und die die staatlich-ärztlichen Verdrängungsbemühungen lange und oft mit Er-
folg vereiteln konnte. Sie waren Berufsgruppen, die „die medizinische Versorgung des klei-
nen Mannes gewährleistete(n)“ (S. 138), ihren angestammten Platz in der Vielfalt der vormo-
dernen Gesundheitsversorgung hatten und aus dieser Perspektive eben keine „Randfiguren“
(S. 246) der Medizingeschichte bezeichneten. Probst gelingt dieses m.E. realistische Bild mit
der Fähigkeit, aus normativen Quellen, etwa übertreibenden ärztlichen Agitationsschrif-
ten, den verläßlicheren Kern herauszulösen. Er führt seine differenzierten Befunde (z. B. die
Analyse eines Prüfungsprotokolls, S. 224 ff.) nicht in einem Resümee zusammen. Statt des-
sen endet er in einem „Sittenbild aus der Medizin des 18. Jhs.“ (S. 25), dem „bewegten Le-
benslauf“ des Heilers Johann Georg Leinberger.
Beide Arbeiten können aufgrund ihrer feinfühlig-qualitativen Interpretation der Quellen
(in je explizit formulierten Grenzen) die historische gesundheitliche „Realität“ über die da-
mals gesetzlich oder literarisch formulierte Norm hinaus rekonstruieren, Jütte etwa mit der
tatsächlichen Inanspruchnahme von Heilem (S. 11). Probst vor allem kann zeigen, wie häu-
fig Verbote nicht umgesetzt, übertreten und selbst von unteren Behörden im eigenen Interes-
se hintergangen wurden. Der große Unterschied beider Untersuchungen liegt jedoch darin,
135
Buchbesprechungen
daß bei Jütte Befunde eher aus verschiedensten Quellenstücken im konzeptuellen, theoreti-
schen Rahmen zusammengesetzt werden, während Probst wesentlich stärker im Quellenzu-
sammenhang verbleibt und in sich geschlossenere Fallgeschichten häufiger für sich sprechen
läßt. Beide Bücher zeichnet es aus, daß sie Patientenverhalten nicht aus der immer wieder
vorfindlichen süffisanten Perspektive des heutigen eng medizinischen Fachwissens beschrei-
ben, sondern sich auf die zeitgenössische Lebens- und Wissenswelt einlassen. Untersuchun-
gen wie diese tragen dazu bei, die lange Zeit traurig dichotomische Sicht auf Gesundheitsge-
schichte als einerseits stetig fortschreitende Arztekunst und andererseits zeitlos-curiose
Volksmedizin zu überwinden. Das hat seine Ursache m. E. darin, daß sie nichtprofessionel-
le, nichtakademische Medizin schon vom Ansatz her als funktionalen Teil des gesamten Ge-
sundheitssystems und in ihren Verschränkungen mit den anderen Bereichen sehen. Der Ter-
minus „Volksmedizin“ wird von beiden benutzt, aber nicht eigens definiert. Er wird weit,
im Sinne eher von Laienmedizin, medikaler Laienkultur verstanden, was besagtes Schubla-
dendenken abbauen hilft.
Tübingen Eberhard Wolff
DAVID WARREN SABEAN: Property, Production and Family in Neckarhausen, 1700-1870.
Cambridge: Cambridge University Press, 1990, 511 S., Abb., Tabb. (Cambridge Studies in
Social and Cultural Anthropology, 73)
„This is Neckarhausen, one of several villages with more or less the same name, whose Sto-
ries can only reveal a stränge world if we can penetrate the banality of repetitive written texts
and fix our gaze on the everyday representations of social reality from the inside“
(S. 37). Mit diesem abschließenden Satz seiner Einleitung ist das Programm der Mikrostudie
über die Gemeinde Neckarhausen des Sozialgeschichtlers und Sozialanthropologen David
W. Sabeans einleuchtend und schlicht umrissen: die Vergangenheit als eine zunächst fremde
zu enthüllen, sie aus der sprachlosen Überlieferung herauszudestillieren und ihre innere Lo-
gik zu erkennen. Mit diesem Programm steht David W. Sabean nicht nur in der Tradition
einer historischen Anthropologie - er war es, der zusammen mit Hans Medick in dem von
ihnen 1984 herausgegeben Band „Emotionen und materielle Interessen“ einen neuen Weg
der Sozialgeschichtsschreibung hin zu einer Vermittlung der Makrostrukturen mit der
Erfahrungs- und Handlungsweise der geschichtlichen Subjekte beschritt -, ein Weg, der die
Sozialgeschichte auch der Ethnologie und Volkskunde näher brachte. Damit ist Sabeans
Neckarhausen-Studie auch im Kontext volkskundlicher Gemeindestudien anzusiedeln, die
die Arbeits- und Eigentumsverhältnisse - die materielle Kultur - auf dem Lande und die
daraus entstandene Weitsicht, die Einrichtung der Menschen in ihrer Umwelt und die Zu-
richtung durch diese (Utz Jeggle: 1977, Kiebingen - Eine Heimatgeschichte) oder „die Fra-
ge nach der gesellschaftlichen Logik und nach dem Eigen-Sinn des traditionshaften, oft bis
an die Gegenwart heran bäuerlich anmutenden ,Kulturstils' dörflicher Lebenswelt“ (Wolf-
gang Kaschuba/Carola Lipp: 1982, Dörfliches Überleben. Zur Geschichte materieller und
sozialer Reproduktion ländlicher Gesellschaft im 19. und frühen 20. Jahrhundert, IX) zum
Gegenstand hatten. Dabei verfährt Sabean methodisch ähnlich wie die letztgenannte Studie,
denn auch er arbeitet die dörflichen Quellen nach demographischen Gesichtspunkten mit
136
Buchbesprechungen
Hilfe der EDV - dem historischen Datenbanksystem „Kleio“ - auf und vernetzt auf der ei-
nen Seite eine Familienrekonstituion des Dorfes aus den Familiendaten der Jahre
1560-1870 mit den entsprechenden biographischen Informationen aus Gerichts- und Ge-
meinderatsprotokollen, Kirchenkonventsprotokollen, Kaufbüchern, Inventuren und Tei-
lungen und Katastern.
Der Untersuchungszeitraum legt nahe, daß es in dieser Gemeindestudie auch um eine Un-
tersuchung des sozialen Wandels der bäuerlichen Gesellschaft geht. Um 1700 hatte sich
Neckarhausen erholt vom Dreißigjährigen Krieg und bildete in der Folgezeit die bis ins 19.
Jh. hinein gültigen agrarischen Besitzverhältnisse im klassischen Land kleinbäuerlicher Be-
sitzstrukturen - Württemberg - aus. Diese allerdings unterlagen durch die Einbindung
Neckarhausens in einen regionalen und internationalen Markt spezifischen Wandlungen.
Die Folgen der agrarischen Intensivierung und Kapitalisierung, die veränderte soziale Diffe-
renzierung und Mobilisierung von Frauenarbeit kommen so ins Blickfeld.
Wahrscheinlich ist es im Bereich der Geschichtswissenschaft noch weniger üblich, als im
volkskundlichen Forschen und Denken, von Details auszugehen, Mikroanalysen zu betrei-
ben. Sabeans Auseinandersetzung mit der Möglichkeit der Generalisierung von Geschichte
- besonders partikularer Gemeindestudien - dient jedoch auch seiner eigenen Standortbe-
stimmung. Sicherlich könne Neckarhausen als charakteristisch für bestimmte Sachverhalte
gelten - „peasant, agricultural, partible inheritance, rural, Protestant pietist ...“, doch
letztlich werde dies nur im Rahmen bestimmter Fragen, bestimmter Kontextualitäten inter-
essant, z.B. der Frage nach dem Bedeutungswechsel des Wortes „hausen“ im lokalen Erfah-
rungshorizont. Generalisierbar sei dies nicht, denn Hans Medicks Laichingen-Studie habe
gezeigt, daß dort ähnliche Deutungsmuster erst 50 Jahre später auftreten. Mit ähnlicher Ra-
dikalität stellt sich Sabean gegen eine Geschichtsschreibung, die vorher schon weiß, was sie
herausfinden will, z.B. wenn das Dorf als eine besondere Art der Anpassung an ökonomi-
sche Umstände interpretiert wird. Damit werde nicht nur der Dialog zwischen Forscher
und Untersuchten abgebrochen, indem Geschichte zur Suche nach dem eigenen Spiegelbild
wird, damit werde auch eine Vielfalt vereinheitlicht, die zweifellos vorhanden war. Ein ähn-
liches Problem sieht Sabean im Anlegen künstlicher Normen, wie z.B. die von der Aufklä-
rung beanspruchte Kategorie „Rationalität“.
Und vice versa? Hier ist sich Sabean der Gefahr eines neuen Historismus bewußt - des
Zurückweichens vor der Gegenwart in die Vergangenheit und der Relativierung historischer
Tatbestände. Er sieht sich gegen solche Rückgriffe gewappnet dadurch, daß er nicht Indivi-
dualität, sondern Beziehungen zum Ausgangspunkt seiner Untersuchung macht und radi-
kal vergleichen möchte: die Perspektive verschiedener Geschlechter, Altersgruppen und Be-
sitzverhältnisse, eingebettet in den Kontext von Herrschaft und Widerstand. Nur diese
komparative Perspektive „sharpens the view of social processes in Neckarhausen by placing
them against social scientific constructs of,peasant society1, against regions characterized by
other forms of inheritance, and against a variety of ideological notions of property. ... The
task we have set for ourselves is to examine the regularities of context and the logic of action
at the many different levels of discourse in this polyphony“ (S. 11).
So interessiert sich Sabean in seinem Neckarhausen-Buch ganz zentral dafür, wie Eigen-
tum und Produktion in einem Gebiet der Realteilung, in dem Männer und Frauen eine
gleich starke Stellung im Erbgang innehatten, durch familiäre Beziehungen geformt wurde.
(Wie wichtig dieses starke Recht der Frauen für alltägliches Rechtsempfinden war, zeigt sich
darin, daß schwäbische Auswanderer in den USA geschockt waren vom englischen Recht,
137
Buchbesprechungen
das der Frau diese Gleichstellung verweigerte.) Sein Blick ist dabei gerichtet auf die familiä-
ren Strategien in einer Situation, in der Land, Kapital und Arbeitskraft einem starken sozia-
len Wandel unterlagen. Letztlich geht es ihm um die soziale Reproduktion von Eigentum
und die dadurch strukturierten sozialen Beziehungen. Ganz im Sinne der neueren Sachkul-
turforschung sieht Sabean die Beziehungen der Menschen durch Dinge vermittelt. Die Art
und Weise wie die Dorfbewohner mit Land, Häusern und Geräten umgehen, grenze sie von-
einander ab und verbinde sie. Die Sachumwelt sei Disziplinierungs- und Sozialisationsmit-
tel, sie präge ganz bestimmte Charaktereigenschaften und Mentalitäten (so kommt er wie
neuere Sachkulturarbeiten zu dem Ergebnis, daß es in Realteilungsgebieten weder über Genera-
tionen zusammengehaltener Besitz, noch starke emotionale Bindungen an Besitz gegeben hat).
Eine der wesentlichen Beziehungen, die auch über Besitz hergestellt werden, ist die zwi-
schen Männern und Frauen. Sabean wendet sich hier einmal den internen Beziehungen im
Innern des Hauses zu (z. B. Ehekonflikten, die ihm zugleich eine geniale Schimpfwörterana-
lyse ermöglichen, oder der Krise des Haushalts zu Beginn des 19. Jhs., die sich in einer Viel-
zahl von Scheidungen und neuen Formen der Gewalt gegen Frauen äußerte, sowie der Zu-
sammensetzung des ehelichen Vermögens). Der durch die europäische Agrarrevolution her-
vorgerufene Wandel der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung habe den Frauen neue
Freiräume eröffnet - durch neue Arbeitsbereiche außerhalb des Hauses und in der Land-
wirtschaft, durch ihre Integration in den Markt -, gleichzeitig aber „schutzlos“ gemacht,
indem sich ihre rechtliche Stellung änderte; durch die Abschaffung der Geschlechtsvor-
mundschaft war ihr Eigentum gegenüber dem Mann nicht mehr geschützt.
Die externen Beziehungen zwischen den Häusern sind ein zweiter zentraler Bereich, den
Sabean untersucht. Sie fokussieren sich in der Beziehung Eltern - Kinder, besonders in
Form der intergenerativen Weitergabe von Besitz, die durch die Gleichheit aller Kinder im
Erbgang lange Perioden des Übergangs und der Abhängigkeit erforderlich machten. Hier
behandelt Sabean auch Themen wie den „access to capital equipment, the allocation of la-
bor, and the life cycle of land ownership and craft production“ (S. 34), denn letztlich sind
die Beziehungen der Generationen über Tausch von Besitz in unterschiedlicher Form ge-
prägt. Dabei mußte die Weitergabe nicht immer in Form des Erbens passieren, andere For-
men traten besonders in Zeiten der Krise auf: z. B. der Immobilienmarkt. Letztlich wurde
aber auch er durch verwandtschaftliche Beziehungen dominiert, besonders durch die
Eltern-Kind-Beziehung.
All dies führt Sabean zum Widerspruch gegen die landläufige Meinung, daß Modernisie-
rung Verwandschaft als ordnendes Prinzip auflöste und an deren Stelle die Kleinfamilie setz-
te, sowie Solidarität durch Konkurrenz und korporative Gruppen durch Individuen abge-
löst wurden. Gerade aufgrund der massiven gesellschaftlichen Veränderungen wurde „Ver-
wandtschaft“ als „soziales System“ wieder bedeutend. „Neckarhausen is a challenge to that
sort of linear story. As mobility came to dominate part of its work force, as agriculture was
intensified and capitalized, as social strata in the village became more pronounced, as a land
market came to be important in distributing resources, as most forms of feudal and familial
encumbrances on property were done away with, as land was fractionalized, as producers be-
came progressively tied into labor and product markets, and as a large part of village became
dependent on wages, kinship became more rather than less important. Close kin developed
a flexible set of exchanges, passing marriage partners, godparents, guardians, political favors,
work contacts, and financial guarantees back and forth“ (S. 36 f.). Heiratskreise, Patenschaf-
ten und andere verwandtschaftliche Beziehungen will David W. Sabean in einem geplanten
zweiten Teil der Neckarhausen-Studie darstellen.
138
Buchbesprechungen
Mit diesem breit gespannten Untersuchungsrahmen innerdörflicher Beziehungen hat Da-
vid W. Sabean zentrale theoretische und vergleichbare Kategorisierungen kontextual gefüllt.
Schlüsselbegriffe seines Buches sind Erbschaft, Besitz, Kapital, agrarwirtschaftliche Innova-
tion, Schichtung, Geschlecht und Staat. Wie gewinnbringend eine „dichte Beschreibung“,
eine kontextuale Darstellung dieser zentralen Schneisen durch die Dorfgeschichte auf der
Grundlage der Erfahrungsweise der Dorfbewohner und Dorfbewohnerinnen ist, hat Sa-
bean im Ergebnis seiner zwei Jahrzehnte dauernden Forschungsarbeit sinnfällig gemacht.
Manches Mal jedoch möchte man sich als Leserin eine Verbindung der Schneisen zu einem
Wegenetz durch die Dorfgeschichte wünschen. Vielleicht würde sich die Sicht auf die eheli-
chen Beziehungen schärfen, wenn nicht nur Geschlecht und Besitz, sondern auch Schich-
tung als Analysekriterium berücksichtigt worden wäre (Kapitel 6). Die Lebenswirklichkeit
von Frauen in der von Pauperisierung betroffenen Unterschicht oder im wohlhabenden
Schultheißenhaushalt war bestimmt nicht dieselbe, und es waren verschiedene Reproduk-
tionsmuster gültig. Vielleicht hätte Sabean die Frage nach dem Verlust der Autonomie von
Frauen im Modernisierungsprozeß eher als Verlustgeschichte für Frauen bewerten können,
wenn er die durch die Agrarrevolution hervorgerufene „Feminisierung des Dorfes“ in den
gesamtgesellschaftlichen Diskurs über „Die Ordnung der Geschlechter“ (Claudia Honeg-
ger) eingebettet hätte.
Mit seiner „dichten Beschreibung“ des dörflichen Alltags aus der Sicht der Agierenden
hat David W. Sabean jedoch auf jeden Fall ein plastisches Bild des mentalen Wandels der
ländlichen Gesellschaft im Prozeß der Modernisierung geschaffen. Sein Buch ist eine wahre
Fundgrube zu den ökonomischen, sozialen, politischen und kulturellen Mechanismen
dörflicher Reproduktion in Württemberg. Sabeans Arbeit wird so hoffentlich nicht nur der
Sozialgeschichte, sondern auch der Landes- und Volkskunde neue Impulse geben. Eine bald-
möglichste Übersetzung würde diesen Wunsch sicherlich befördern.
Bremen ANDREA HAUSER
EDWIN Dillmann (Hrsg.): Erinnerungen an das ländliche Leben. Ein historisches Lese-
buch zur dörflichen Welt an der Saar im 18./19. Jahrhundert. St. Ingbert: Werner J. Röhrig
Verlag 1991, 338 S., Abb. (Saarland-Bibliothek, 1, hrsg. von Richard van Dülmen und Rein-
hard Klimmt)
Im Saarland wird damit begonnen, die eigene Geschichte wissenschaftlich zu erarbeiten.
Die zahlreichen Studien zur Industriekultur an der Saar und die Ende 1992 vorgenommene
Gründung einer „Gesellschaft für Volkskunde im Saarland“ legen ein sichtbares Zeugnis da-
von ab. Mit dem Buch „Erinnerungen an das ländliche Leben“, dem ersten Band der
»Saarland-Bibliothek“, wird ein weiteres Zeichen für diese Entwicklung gesetzt. Der Hrsg.
Edwin Dillmann versammelt hier sieben Berichte über das ländliche Leben an der Saar, be-
ginnend mit den Kindheits- und Jugenderinnerungen Christian Friedrich Handels (Ende
des 18. Jh.), schließend mit den Kindheits- und Jugenderinnerungen Peter Wusts am Über-
gang zum 20. Jh. Die Zeugnisse sind zwar im Umfang wie auch im Aussagewert sehr unter-
schiedlich, doch allen gemeinsam ist der Bezug zum Alltagsleben auf dem Dorf. Hierbei las-
sen sich, wie der Hrsg, im Vorwort richtig bemerkt, drei Schwerpunkte ausmachen: die enge
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Buchbesprechungen
Verbindung der Landbevölkerung zu Übernatürlichem und Wunderbarem, der Einfluß von
Normen und Institutionen auf die dörfliche Gesellschaft, und die Bedeutung der alltägli-
chen Sorge um genügend Nahrung. Dies sind nur die zentralen Themen. Darüber hinaus
sind den Berichten zahlreiche, zum Verständnis des ländlichen Lebens im 19. Jh. bedeutsa-
me Hinweise zu entnehmen. Leider wurde jedoch der Hrsg, seinem Material nicht gerecht.
Quellenkritische Äußerungen im Vorwort sind sehr zaghaft und vage formuliert, eine über-
greifende Einführung in den beschriebenen Raum fehlt völlig, ebenso textüberschreitende
Querverweise. Der Hrsg, solch wichtigen Materials darf sich nicht darauf beschränken, bio-
graphische Angaben über die Verf. zu liefern und dialektale Begriffe zu übersetzen. So ist das
Buch leider wirklich nur eine Lesebuch. Ärgerlich sind daneben wahllos eingebundene Bil-
der (vgl. S. 95: im Bericht ist von einer Reise [1808] die Rede, auf der gleichen Seite findet
sich eine Fotografie vom Empfang des Bischofs zur Firmung aus dem Jahr 1891), sowie ein
völlig rudimentäres und schlecht recherchiertes Literaturverzeichnis, das den Anschein von
Beliebigkeit nicht zu zerstreuen vermag. Das Buch muß um der Beiträge willen in jeder
Fachbibliothek stehen. Die Hrsg, der Reihe (Richard van Dülmen und Reinhard Klimmt)
sollten jedoch fernerhin darauf achten, daß etwas mehr Sorgfalt und wissenschaftliche Strin-
genz zum Tragen kommt.
Freiburg Andreas Schmidt
MICHAEL AnDRITZKY (Hrsg.): OIKOS. Von der Feuerstelle zur Mikrowelle. Haushalt und
Wohnen im Wandel. Gießen: Anabas, 1992, 516 S., üb. 600, tlw. färb. Abb.
Wie bei Begleitveröffentlichungen zu (kultur-)historischen Ausstellungen zunehmend üb-
lich, ist der vorliegende Band als Aufsatzsammlung angelegt. Demnach verzichteten der
Herausgeber, Michael Andritzky, und die zahlreichen Mitarbeiter(innen) an dem Buch auf
eine intensivere Erschließung, Einordnung und Wertung von Einzelobjekten oder Objekt-
gruppen, wie sie anläßlich der vom Deutschen Werkbund Baden-Württemberg und vom
Design Center Stuttgart in Verbindung mit dem Museum für Gestaltung Zürich ausgerich-
teten Ausstellung über Haushalt und Wohnen im Wandel (zuerst in Stuttgart, Haus der
Wirtschaft) in großer Fülle und Vielgestaltigkeit versammelt wurden. Vielmehr bieten die
meisten Abschnitte des Buches mehr oder minder unabhängig von den Objekt- und Bilddo-
kumenten der Ausstellung Übersichtsbeiträge zu wesentlichen Sachbereichen des Themas
in seinen geschichtlichen und gegenwartsbezogenen Perspektiven. Diese gelten der Häus-
lichkeit mit der Küche und dem Herd, denen besonders E. Stille, M. Tränkle und B. Günter
aufschlußreiche Aufsätze widmeten, der Vorratshaltung, den Ernährungsgewohnheiten, al-
so auch den Änderungen im Gebrauch und der Zubereitung von Grundnahrungsmitteln,
der Tischkultur mit dem an Norbert Elias’ Konzept zum Prozeß der Zivilisation orientier-
ten einleitenden Aufsatz von A.-P. Lellwitz. Mehr am Rande der Publikation, um deren zen-
trale Kapitel sich kürzere Skizzen zu Einzelheiten gruppieren, finden sich Ausführungen
über die Hausreinigung und die Wäsche.
Ganz entsprechend dem Engagement der Veranstalter für aktuelle Aufgaben der Wirt-
schaftsförderung lagen die Entwicklungen der innovationsreichen Jahrzehnte nach dem
Zweiten Weltkrieg besonders im Blickfeld von Ausstellung und Veröffentlichung. Dies ge-
140
Buchbesprechungen
schieht in bemerkenswerter Weise jenseits der alten Werkbundbefangenheiten auf unter-
schiedlichen Ebenen zum Beispiel in Hinsicht der Anwendung oder Neubewertung von
Werkstoffen wie Edelstahl und Glas (Kunststoffe wurden etwas peripher in der Ausstellung,
jedoch nicht im Katalog berücksichtigt) oder für das geänderte Angebot der Lebensmittelge-
schäfte oder für neue Formen der Nahrungsaufnahme mit U. Tolksdorffs trefflichen Aufsatz
zu den Merkmalen der Schnellimbißkultur. Dabei sind auch die übergreifenden Trends an-
gesprochen, so wenn Th. Fuchs die Initiativen zur Einbeziehung des Dorfes in Modernisie-
rungsprozesse anhand der einst umstrittenen hessischen Dorfgemeinschaftshäuser behan-
delt oder M. Tränkte in zeitbezogenen Überlegungen über den fliegenden Wechsel zwischen
Fast Food und Feinkost facettenreich die bei allen Widersprüchen latent vorhandenen Zu-
sammenhänge in den Ausprägungen heutiger Eßkultur aufzeigt.
Im ganzen hält der Band für die Leser(innen) vielfältige Informationen bereit. Dabei erge-
ben sich indessen auch immer wieder Ansätze für kritische Rückfragen nicht nur in Hin-
sicht der Aussagen des reichen, aber keineswegs immer zulänglich erläuterten Bildmaterials,
sondern gleichfalls in Hinsicht der Quellen- und Literaturgrundlagen mancher Abschnitte.
Auch die Alltagsforschung bedarf sorgfältiger Erschließung der relevanten Dokumente und
Fakten unter Gesichtspunkten von deren Zeitstellung, deren Regionalität oder Repräsentati-
vität, wie sich dies, um ein etwas beliebig gewähltes Detail zu benennen, an der Auswertung
von Georg Heinrich Zinckes (1692-1768) Ökonomischen Lexikon für den Text über die
Vorratshaltung unschwer exemplifizieren ließe. Eine Zusammenfassung oder gar Weiterfüh-
rung des in den letzten anderthalb Jahrzehnten erheblich gewachsenen Wissens über die in
dem Band behandelten zentralen Ausschnitte aus der Lebenshaltung der Vergangenheit lag
nicht in gleicher Weise im Blickfeld aller Beiträge der Veröffentlichung. Und obwohl ein-
sichtsvoll vermerkt ist, daß, wie man zu Tische sitzt und was auf den Tisch kommt, immer
ein wichtiger Indikator für das alltagskulturelle Zustandsbild der Gesellschaft war und ist (S.
393), gebricht es doch, von wenigen Ausnahmen abgesehen, an allen Anstrengungen in
Richtung auf eine synthetische Durchdringung der vielfältigen Befunde.
Nürnberg Bernward Deneke
Museumsverband Baden-Württemberg e. V. (Hrsg.): Museen in Baden-Württemberg. Dritte,
völlig überarbeitete und erweiterte Auflage, bearbeitet von Karin Baumann. Stuttgart: Kon-
rad Theiss, 1992, 491 S., Register, zahlr. Abb. färb.
Vor 15 Jahren waren es noch 400, heute sind es an die tausend Museen, die im museums-
reichsten Bundesland eine vielfältige Landschaft bilden. Entsprechend voluminös ist der
Führer ausgefallen, obwohl er die einzelnen Häuser sehr knapp darstellt; Museen, denen
mehr als eine Spalte eingeräumt wird, können schon als große Häuser zählen. Die Institutio-
nen sind alphabetisch nach Ortsnamen geordnet, Adresse, Öffnungszeiten, Träger, Leitung,
Ausstellungsfläche, eine kurze Geschichte des Hauses sowie wechselnde Aktivitäten und
Publikationen werden im Telegrammstil genannt, die Beschreibung der Dauerausstellung
nimmt daneben dann etwas mehr Platz ein. Durch Karten auf den Umschlaginnenseiten ist
das einzelne Museum rasch zu finden. Schwieriger wird ein inhaltlicher Zugang durch das
Personen- und Sachregister. Dieses wurde offensichtlich zu spät geplant, so daß die Stich-
141
Buchbesprechungen
worte aus den einzelnen, von den Museen abgelieferten Kurzbeschreibungen genommen
werden mußten. Das führt zum Teil bei den Standards der Heimatmuseen zu ungeheuren
Häufungen („Flachsverarbeitung“) oder zu kaum mehr sinnvollen Stichworten („Geräte“,
unterteilt in „Bäuerliche“, „Handwerks-“, „Hauswirtschafts-“ und Landwirtschafts-“), die
zum Teil nicht präzise abgegrenzt werden („Landwirtschaftliche Technik“ gegen die ge-
nannten bäuerlichen resp. Landwirtschaftsgeräte).
Doch dies sind Schwierigkeiten, die fast überall beim Erstellen von Registern auftauchen.
Insgesamt muß man das längst überfällige Erscheinen des durchgehend farbig bebilderten,
gut pfundschweren Bandes begrüßen, dem über die Kollegen- und Fachkreise hinaus ein in-
teressiertes Publikum zu wünschen ist, da er tatsächlich kurz und präzise einen Überblick
gibt und einem die Wahl eines zu besuchenden Museums erleichtert; daß ein solcher Band
schon beim Erscheinen nicht mehr aktuell ist, liegt in der Natur des immer noch zu ver-
zeichnenden Museumsbooms: Die jüngsten 30 Häuser müssen bis zur nächsten Auflage
warten.
Tübingen Martin Beutelspacher
Kleider und Leute. Vorarlberger Landesausstellung 1991. Red.: Markus Barnay, Wolfgang
Brückner, Christine Spiegel. Hohenems: Renaissance-Palast, 1991, 384 S. mit zahlr. teils
färb. Abb.
Von der aufwendig, geradezu modernistisch gestalteten Ausstellung, deren beinahe kühle
Strenge den Betrachtern volle Konzentration abforderte, haften noch Eindrücke im Ge-
dächtnis. Länger leben und fruchtbar auf den wissenschaftlichen Diskurs einwirken wird
der große Text- und Bildband, der von der ebenso ideenreichen wie präzisen Arbeit, die hin-
ter der Präsentation stand, Zeugnis ablegt. Kleidung als individuelle und gruppen- oder in-
teressenspezifische, immer zeitverbundene Zeichensprache, wie sie so erst seit der Französi-
schen Revolution möglich wurde (vgl. die Einführung von Christine Spiegel), wird auf
höchst originelle, oft sehr subtile und vielfältige Weise erlebbar gemacht. Nach einem Ab-
schnitt über die Formbarkeit des Körpers beginnt das, direkt aufregend, mit dem Thema
Materialien (Susanne Breuss), ihren optischen, haptischen und akustischen Qualitäten (Samt
gegen Jute, Pelz gegen Mikrofaser, das Knistern der Seide), ihrer Bedeutung für soziale, aber
auch situative Distinktion, ihren wechselnden Zuordnungen zu den Geschlechtern und ent-
sprechenden Konnotationen, ihren Veränderungen im Kontext von Industrialisierung, von
Krieg, von Weltanschauung. Eher deskriptib bleibt das Kapitel über die Farben (Susanne
Breuss), deren symbolische Bedeutung auch hier als hoch erachtet wird, die sich, ein Chamä-
leon, einer Systematisierung aber immer wieder entzieht. Neu und interessant war mir aber
der Hinweis auf das Nachleben von Goethes Farbenlehre in modernen Karriere- und Stilbe-
ratungen ... Die Mode („der letzte Schrei“) als allgemeines Gestaltungsprinzip wird u. a.
exemplifiziert am Gegeneinander von Haute Couture-Modell und selbstgeschneiderter
Adaptation. (Jeanne Ligthart. - Glücklich die Museen, die solche Stücke gesammelt haben,
bewundernswert die Ausstellungsleute, die sie aufzuspüren wußten.) Das Thema wird vom
anderen Ende her nochmals aufgerollt in „Macht der Nuancen“ (Nina Gorgus): die Flüch-
tigkeit postmoderner Typenbricolage, das diffus gewordene Verhältnis von Original und
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Buchbesprechungen
Kopie - beides letztlich Zitat. Von ernsthafter Eindrücklichkeit auch beim Nachlesen die
Kleider-Geschichten als subjektive Spiegelungen der Zeitgeschichte (Christine Spiegel), die
zur Musterung der eigenen Biographie, zu persönlichen Lebens-Kleid-Erinnerungen anre-
gen. In einem umfassenden Kontext greift das Thema der Literarisierung von Kleidungsrea-
litäten auch Wolfgang Brückners Beitrag auf. (Vielleicht erscheint der dazugehörige Text-
band doch noch?) Dem genius loci wurde in der Ausstellung mitten im Textilland Vorarl-
berg nur an wenigen Stellen gehuldigt, was man bei der Besichtigung mit leisem Bedauern
vermerkte. Beim Lesen lassen sich die Bezüge um so genußvoller entdecken, so im (auch
sonst bei aller Leichtigkeit höchst lehrreichen) Kapitel über Unterwäsche und Bademode
[Eva Stille), wo sich die Anekdote über die 1954 in Dornbirn wegen eines Badenixenplakates
verlegte Fronleichnamsprozession findet. In einem letzte Teil geht es um Facetten der Be-
kenntniskleidung und ihre Wahrnehmungs- und Wirklichkeitsgeschichten, von Heckers
Filzhut über die Lederjacke (Nicola Lepp), das Reformkleid, die „grünen“ Naturwollstrick-
socken (Simone Wömer) bis zur Vorarlberger „Volks“-Tracht und ihre Indienstnahme durch
Politik und Tourismus - Bernhard Tschofen, verantwortlich für dieses Kapitel, hat seine
hochinteressanten Recherchen an anderer Stelle schon ausführlicher publiziert. Hier kommt
die vielfache Spiegelung in Bildern, Souvenirs, Puppen, Rahmdeckelchen dazu. Der Band
zeigt, klug, geistreich, auch spielerisch, aber immer wohl dokumentiert, wozu die in den
letzten Jahren deutlich neu konfektionierte volkskundliche Kleidungsforschung fähig ist.
Die Autorinnen und Autoren können sich sehen lassen in diesem Habit, aber sie laden nicht
zum Ausruhen ein, führen vielmehr vor Augen, wie spannend das alles auch in Zukunft ist.
Stricken, nähen, weben wir also unsere Beobachtungen und Analysen weiter.
Basel Christine Burckhardt-Seebass
Hand-Schrift - Schreib-Werke. Schrift und Schreibkultur im Wandel in regionalen Beispie-
len des 18. bis 20. Jahrhunderts. Katalog einer Ausstellung im Museumsdorf Cloppenburg
1991/1992, Teil 1. Red.: Karl-Heinz Ziessow. Cloppenburg: Museumsdorf, 1991, 321 S.,
Abb. (Materialien zur Volkskultur nordwestliches Niedersachsen, H. 16)
ELFRIEDE Heinemeyer: Schreibgarnituren aus der Sammlung Kommerzienrat F. Soen-
necken. Katalog einer Ausstellung im Museumsdorf Cloppenburg 1991/1992, Teil 2. Clop-
penburg: Museumsdorf 1991,114 S., Abb. (Materialien zur Volkskultur nordwestliches Nie-
dersachsen, H. 17)
Ein „Museum für die Geschichte der Schrift und Schreibkultur“ von europäischem Rang
wollte der Bonner Büroartikelhersteller Friedrich Sonnecken initiieren. Seine private, mit
großem Sachverstand und erheblichem finanziellen Aufwand zusammengetragene Samm-
lung sollte der Grundstein dazu werden. Daraus wurde nichts; Unklarheiten in der Testa-
mentsauslegung und Kriegswirren führten zur Trennung und Aufsplitterung der Samm-
lung; die traditionsreiche Firma Soennecken wurde in den 1960er Jahren an Leitz verkauft.
Ein Teil der Sammlung, nämlich 700 Schreibzeuge aus allen Zeiten und aller Herren Länder,
wurde vom Museumsdorf Cloppenburg in Privatbesitz in der Oldenburger Wesermarsch
aufgespürt und konnte dank großzügigem Mäzenatentum insbesondere ortsansässiger Ban-
ken 1989 dem Museumsdorf als Dauerleihgabe zur Verfügung gestellt werden. Das wurde
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Buchbesprechungen
zum Anlaß dafür, das nicht zustande gekommene Museum wenigstens in Form einer zeit-
weiligen Ausstellung zu präsentieren, noch dazu mit dem Anspruch, die Beispiele für die
Schreibkultur aus dem historischen Schreiballtag der Region, sprich dem Fundus des Mu-
seumsdorfes, zu nehmen. Wer die umfangreiche Ausstellung in Cloppenburg gesehen hat,
wird bestätigen, daß es ihr gelungen ist, ein umfassendes und faszinierendes, m.E. sonst nir-
gends gebotenes Bild von Schriftkultur zu vermitteln. Allerdings verlangte sie dem Besucher
ab, sich auf die z.T. ausführlichen Begleittexte und auch auf den Inhalt der ausgestellten
Schriftstücke einzulassen, wenn er die Verbindungslinien zwischen den auch optisch kon-
trastierenden Ausstellungsteilen (vor allem bäuerliche Schreibkultur, Firmenmuseum Soenn-
ecken, Schreibzeugsammlung) mitverfolgen wollte.
Das kann naturgemäß ein Katalog noch besser als die Vitrinenbeschriftungen. Eine Reihe
von Beiträgen1 vermittelt zunächst die technologischen Grundlagen einer Schreibkultur:
die durchaus komplizierten Herstellungsvorgänge so selbstverständlicher Hilfsmittel wie
Papier, Feder und Tinte. Das kann man sich zwar auch anderswo zusammenlesen, doch
spannend ist hier die regionale und historische Konkretisation: die Erklärung abstrus er-
scheinender Lumpen-Gesetze und -Privilegien durch die volkswirtschaftliche Bedeutung
des Lumpenhandels z.B. oder die sozialhistorischen Implikationen einer Veränderung in
der Gänsepopulation in Oldenburg (gemessen in Gänsen pro Quadratkilometer).2 Die
Schreibutensilien geraten als Wirtschaftsgut (auch historisch schon!) in den Blick, und da-
mit wird auch sehr glücklich die Verbindung zu Soenneckens Bürobedarfs-Imperium ge-
schaffen. - Utz Maas’ Beitrag „Schrift und Schreiben. Einige systematische und historische
Anmerkungen“ (S. 85-118) vermittelt gedrängt (und an einigen Stellen für einen Katalog
arg kompliziert formuliert) Grundlagenwissen über Entwicklung und Verwendung der
Schrift, über die mögliche „Demotisierung“ der Schrift durch die Entwicklung unseres ein-
fachen Alphabets und über die mannigfaltigen Bedingtheiten ihrer tatsächlichen Anwen-
dung im sozialen Alltag. Der historische Abriß endet mit dem Salto mortale nationalsoziali-
stischer Schriftpolitik, in dem 1941 die bis dahin offiziöse „deutsche“ Schrift als enttarnte
„Judenschrift“ per Erlaß durch die bis dahin zurückgedrängte Antiqua ersetzt wurde, da
Großdeutschland in seiner neuerrungenen Vormachtstellung seinen Einfluß auch in einer
im ganzen Imperium verstandenen Schrift zur Geltung bringen wollte! Mehrere Jahrhun-
derte deutschen Sonder(-Um-)weges mit Zweischriftigkeit und daraus resultierender sozialer
Differenzierung der Leserschaft hatten damit ein Ende. Und damit war einer Forderung Ge-
nüge getan, die Friedrich Soennecken allein auf Grund der wirtschaftlichen Verflechtung
und der Büroökonomie mit großem persönlichen Engagement jahrzehntelang verfolgt und
im Geschäftsbereich auch weitgehend durchgesetzt hatte.
In zwei weiteren Beiträgen („Haus- und Hofarchive der ländlichen Bevölkerung Nord-
westniedersachsens. Dokumente einer vergessenen Schreibkultur und einer unterbewerte-
ten Quellengattung“ und „Schreibmöbel des Osnabrücker Artlandes und angrenzender Re-
gionen aus dem 18. und 19. Jh.“, S. 157-192 bzw. S. 193-221) entwirft Helmut Ottenjann
ein facettenreiches Bild von der Verrechtlichung und Verschriftlichung des Alltags der bäu-
erlichen und handwerklichen Oberschicht des Artlandes, eines Alltags mit Buchführung
1 Karl-Heinz Ziessew: Die Grundlage des Schreibens: Das Papier (S. 13—36); ders.: Den Gedanken
zu Papier bringen: Feder und Tinte aus der Sicht des Chemikers (S. 75—84).
2 Mit Schaubild. — Darf man hier den Katalogmachern getrost auch Spaß an der Kuriosität solcher
Formulierungen unterstellen, so erst recht bei der Angabe des Jahrgangs des für die Tintenversuche
verwendeten Weines.
144
Buchbesprechungen
und dadurch erst ermöglichtem wohlüberlegtem Kapitaleinsatz, mit privater Briefkultur
und selbst einem gewissen Maß an Kunstgenuß. Bernd Jürgen Wameken schließlich führt
mit „Schreibkulturen. Von den unterschiedlichen Schreiberfahrungen der älteren Genera-
tion“ (S. 227-256) den Band in unsere Ubergangsepoche hinein fort, in der die teilweise
Ablösung oder doch Umorientierung der Schreibkultur durch neue Medien erfolgt, und
hebt dabei besonders auf die bildungsspezifische Ausprägung des Schriftgebrauchs ab.3 Ein
umfangreicher Materialanhang und eine Bibliographie zum Gesamtkomplex runden den
reich illustrierten Band ab.
Der Band ist weit mehr als ein Ausstellungskatalog: grundsätzlich angelegt, regionalge-
schichtlich anschaulich gemacht. Beides ist hervorragend gelungen, die faszinierende Dar-
stellung regionaler Schreibkultur die ureigenste Forschungsleistung der Cloppenburger
Mitarbeiter. Zu warnen ist jedoch vor der manchmal suggestiv naheliegenden Verallgemei-
nerung dieser Ergebnisse. Ottenjann und Ziessow haben gewiß recht, wenn sie betonen, daß
das Bild von der Alphabetisierung der deutschen Bevölkerung des 18. und 19. Jh. zu weit
mehr Schriftlichkeit hin korrigiert werden muß, doch wird das Artland vermutlich das po-
sitive Extrem darstellen: der derzeitige Forschungsstand läßt außer bei den Artländer
Großbauern4 und den von Jan Peters u. a. untersuchten Neuhollandbauern5 bislang nur in
Hohenlohe und in der Rheinpfalz ähnlich weit gehende kulturelle Wirkungen von bäuerli-
cher Wohlhabenheit und Marktverflechtung vermuten. Während die Forschungen des
Cloppenburger Teams auf Grund der vorhandenen Materialien und Vorarbeiten bereits sehr
in die Tiefe gehen, muß in anderen Regionen erst einmal Grundlagenarbeit geleistet werden
- unter vermutlich wesentlich ungünstigeren Quellenbedingungen. Cloppenburg wird
weiter Vorreiter spielen: angekündigt sind der Tagungsband6 zur Tagung „Bildung auf dem
Lande zwischen Aufklärung und Gründerzeit“ (1987); zur Zeit der Ausstellung fand statt
„Erforschung der Schrift- und Schreibkultur im ländlichen Raum der Frühmodernen“
(Dez. 1991), eine Folgeveranstaltung ist für Anfang 1993 geplant.
Ein wenig ratlos läßt der zweite Teil des Katalogs den Rezensenten, doch diese Ratlosigkeit
scheint sich schon in der Einführung der Bearbeiterin anzudeuten, wenn sie bedauert, daß
sich „keinerlei Hinweise auf die Auswahlkriterien, nach denen Soennecken seine Samm-
lung aufbaute“, finden ließen (S. 11; „etwas heterogen“, S. 12). Sie behilft sich durch eine
Auflistung des ausgestellten Querschnitts nach Materialien (Holz, Metall, Glas, Irdenware,
Steinzeug, Fayence, Porzellan, Steingut, Keramik) und kündigt eine wissenschaftliche Bear-
beitung der gesamten Sammlung an. Entstanden ist dabei ein vorzüglich (durchwegs farbig)
3 M. E. ist zu Warnekens interessanten Auführungen jedoch einschränkend anzumerken, daß
ein Personenkreis, von dem 3,5 Prozent angeben, schon einmal einen Roman veröffentlicht
zu haben (S. 247), schwerlich repräsentativ sein kann.
4 Uber die Schreibkultur der ländlichen Unterschicht scheinen die Hofarchive verständlicher-
weise wenig herzugeben.
5 Jan Peters, Hartmut Harnisch, Liselott Enders: Märkische Bauerntagebücher des 18. u. 19.
Jhs. Selbstzeugnisse von Milchviehbauern aus Neuholland (= Veröffentlichungen des Staats-
archivs Potsdam, Bd. 23). Weimar 1989.
6 Weil in Cloppenburg die Serie gewichtiger Bände zum Thema weitergeführt wird, noch ein
paar praktische Wünsche: eine typographische Titelgestaltung, die zumindest zweifelsfrei in
übliche Zeichen transskribierbar ist; ein Reihentitel, der grammatisch und in der Zeichenset-
zung vollständig wirkt; statt überschwerem weißem Hochglanzpapier welches, auf das sich
auch von Hand Notizen machen lassen.
145
Buchbesprechungen
bebildeter Katalog, ein optisch ansprechendes Bilderbuch, das ca. 250 Objekte darstellt und
sorgfältig beschreibt. Zusammenhänge, die über das Material hinausgehen, werden jedoch
nicht sichtbar. Die oft sehr ähnlichen, z. T. auch wenig alltagstauglichen und prunkvollen
Objekte legen vielmehr die Vermutung nahe, daß in diesem Teil der Soennecken-Sammlung
wohl die Freude am schönen Sammelstück im Vordergrund gestanden hat und nicht die Ab-
sicht, die Entwicklung der Schreibkultur zu dokumentieren.
Rheinfelden/Freiburg i. Br. REINHART SlEGERT
WALTRAUD Linder-BerOUD: Von der Mündlichkeit zur Schriftlichkeit? Untersuchungen
zur Interdependenz von Individualdichtung und Kollektivlied, Frankfurt am Main u. a.,
Lang 1989, 304 S., Abb. (= Artes populäres. Studia Ethnographica et folkloristica, hrsg. v.
Lutz Röhrich, Bd. 18)
Zwei Zielsetzungen verbindet die Autorin in dieser Schrift, ihrer Freiburger Dissertation:
Kernziel ist die Untersuchung der „komplexen genetischen Wechselbeziehungen“ zwischen
Kunstdichtung und Volksüberlieferung, anders gesagt - wie im Untertitel konkretisiert -
zwischen Individualdichtung und Kollektivlied. Die zweite Zielsetzung ist damit ebenfalls
bereits impliziert: die Auseinandersetzung mit John Meiers „Rezeptionstheorie“ sowie sei-
ner 1906 publizierten programmatischen Schrift „Kunstlieder im Volksmunde“ und ihrem
Demonstrationsmaterial.
Man darf feststellen, daß die Autorin in dieser gründlichen, perspektivreichen und -
trotz Freiburger Bindungen - hervorhebenswert objektiven Darstellung in der Tat beide
Ziele erreicht. Am Anfang steht im Rahmen einer ergebnisreichen Analyse der über
200jährigen Geschichte der Volksliedforschung u.a. der Nachweis der unbestreitbaren Ver-
dienste John Meiers um die Begründung der modernen Volksliedforschung, speziell um de-
ren Befreiung von der seit Herder üblichen Überschätzung der Bedeutung der Volkslied-
Anonymität, auch von der Hypothese der Kollektivität der Entstehung und von der Über-
bewertung der Rolle der Mündlichkeit der Volksliedtradierung. Verschwiegen wird den-
noch weder die - zutreffend diagnostizierte - Einseitigkeit und der „Gelehrtenhochmut“
der Position Meiers, nach ihm auch Hoffmann-Krayers und vor allem Naumanns, wie sie
sich ja zumal in der voreiligen und im Grunde „arroganten“, später von Meier revidierten
These vom Volkslied als „gesunkenem Kulturgut“ niederschlug, noch die - insofern konse-
quente - Verkennung der Bedeutung der im Volkslied wirksamen „Gegenbewegung von
unten nach oben“, d. h. der (von Josef Pommers konträrer „Produktionstheorie“ überbe-
tonten bzw. verabsolutierten) Kreativität der musikalischen Volkskultur.
Die daran angefügte Darstellung des Typenindexes des DVA sowie des diskussionswürdi-
gen Versuchs einer Typologie der Kunstlieder im Volksmund bildet die Basis des anschlie-
ßenden, an zahlreichen komparativen Analysen von Fallbeispielen der verschiedenen Jahr-
hunderte überzeugend geführten Nachweises der Intensität des Wechselverhältnisses zwi-
schen der bis heute erhaltenen Mündlichkeit (die allerdings um die indirekte Oralität der
Vermittlung durch elektronische Medien zu erweitern wäre) und einer vor allem in Hand-
schrift, Liedflugblatt und Lieddruck dokumentierten Schriftlichkeit der Volksliedüberliefe-
rung, aber auch der großen Vielfalt der Tradierungswege.
146
Buchbesprechu ngen
Begrüßenswert, daß nach der Demonstration der Einzelphänomene am historischen Ma-
terial im Schlußkapitel zumindest Grundzüge der aktuellen Situation von Lied und Singen
und der heutigen Relation zwischen schriftlicher und - offenbar als zu peripher gewerteter
- mündlicher Vermittlung dargestellt und so die Entwicklungslinien andeutungsweise
noch bis zur Gegenwart verfolgt werden.
Neuss Wilhelm Schepping
Karin BAUMANN: Aberglaube für Laien. Zur Programmatik und Überlieferung mittelal-
terlicher Superstitionskritik. 2 Bde. Würzburg: Königshausen & Neumann, 1989. 904 S.
(Quellen und Forschungen zur europäischen Ethnologie, Bd. 6)
Diese Würzburger Dissertation schließt sich an die „Untersuchungen zur deutschsprachi-
gen katechetischen Literatur des später Mittelalters“ von P. Egino Weidenhiller (1965) und
die „Superstitio“ von Dieter Harmering (1979) an und stellt dar, was in den frühneuhoch-
deutschen katechetischen Traktaten der Bayerischen Staatsbibliothek bezüglich „Aberglau-
ben“ gelehrt wurde. Der Wert dieses Buches besteht vor allem in den mitgeteilten Texten aus
ungedruckten Handschriften. Die einleitend gegebene Geschichte der Katechese (S.
11-122) ist wohl rein kompilatorisch aus älteren Monographien zusammengestellt, wie sich
sowohl am Fehlen neuer Gesichtspunkte als auch an der durchgehenden Verwendung veral-
teter Editionen (Migne) zeigt - von den meisten der zitierten Texte altkirchlicher und mit-
telalterlicher Autoren liegen längst kritische Ausgaben im Corpus Scriptorum Ecclesiastico-
rum Vindobonense und im Corpus Christianorum vor. So wie die ältere Literatur be-
schränkt sich Baumann auf Zitate aus theologischen und kanonischen Werken, ohne andere
Quellengattungen, die nicht Normen wiedergeben, sondern Praxis, zu berücksichtigen (Au-
tobiographien, Viten, Briefe, Historiographie, Visitationsprotokolle, Prozeßakten etc.).
Ein zweiter Abschnitt (S. 123-271) stellt die spätmittellalterlichen Dekalogtexte vor, na-
mentlich die Werke der Wiener Schule: Nikolaus von Dinkelsbühl, Martin von Amberg,
Thomas Peuntner, Stephan von Landskron, Johannes Schiitpacher, Hieronymus Pollster,
Heinrich von Friemar, Marquard von Lindau, Heinrich Krauter sowie eine Reihe anony-
mer Beichttraktate und Dekalogauslegungen. Systematisch werden für jedes der Zehn Ge-
bote die Superstitionen betreffenden Passagen durchgegangen und auf die Quellen seit den
Kirchenvätern verwiesen (am wichtigsten natürlich Augustinus und Thomas von Aquin).
S. 272-492 sind den bei der Besprechung des ersten Gebots erwähnten Vorstellungen und
Bräuchen gewidmet, die die Kirche verurteilte; hier ist eine Vielzahl von Themen angespro-
chen, am ausführlichsten das „auff mercken“ auf Zeichen (Angang, Traumdeutung, Augu-
rien etc.) und auf Zeiten (Jahresanfang, Lostermine, Unglückstage etc.). Immer wieder spre-
chen die Quellen auch von „divinatio“ mit dämonischer Hilfe und von Zauberei (desgl.).
Auch in diesem Schrifttum ist bereits „die Tendenz der Zuspitzung des Hexenwesens auf das
weibliche Geschlecht deutlich angelegt“ (S. 481).
Der zweite Teil bringt Transskriptionen zweier einschlägiger Texte, nämlich des Nikolaus
von Dinkelsbühl „Von den czhen poten ein tractat“ nach cgm 392 und „Die zehen gepot
gots“ (anonym) nach cgm 632.
147
Bucbbesprechungen
Zu der fraglos mit großem Fleiß gearbeiteten (Corrigenda: 37: Dunelmense = Durham in
Nordengland - 60: Nikolaus von Dinkelsbühl [nicht: Cusanus] - 119: ... von der unge-
lertten ...) und erfreulicherweise durch Register erschlossenen (freilich ob des umständli-
chen Stils und der Schreibmaschinentypographie ermüdend zu lesenden) Untersuchung
Baumanns ist zu bemerken: Sie bestätigt für das deutsche Spätmittelalter, was Harmening
schon für die ältere Literatur dieses Typs feststellte, nämlich daß die diskutierte Textsorte
weitgehend bereits im frühen Christentum formulierte Superstititonskritik weiter tradiert.
Nur bleibt die Frage unbeantwortet: tradierten die Theologen die einschlägigen Verbote,
weil sie aufgrund ihrer Verehrung der auctoritates auch für ihre Gegenwart Irrelevantes ab-
schrieben, oder weil es die genannten abergläubischen Konzepte eben in ihrer Gegenwart
gleicherweise gab. Dabei wäre es methodisch völlig verfehlt, aus der Verwendung von Topoi,
d. h. von Formulierungen, die die Kirchenväter geprägt hatten, zu schließen, daß sie deshalb
nicht auf Lebenswirklichkeit bezogen gewesen sein können. Im Mittelalter dienten die
Sphären der Bibel und der Kirchenväterliteratur immer als Bezugsebenen, von denen her
Gegenwartsfragen diskutiert wurden, und wenn es ein aktuelles Problem gab, zu dem sich
ein faktisches oder vermeintliches Analogon in der Heiligen Schrift oder den auctoritates
fand, dann verliehen mittelalterliche Autoren in der Regel ihrer Meinung durch Rückgriff
auf diese Schriften Gewicht. Ob man normative Texte wie die hier vorgestellten als durch
tatsächliche verbreitete (etwa magische) Vorstellungen und Prozeduren, die bloß vermittels
vorgegebener Terminologie beschrieben werden, veranlaßt auffaßt, oder als totes Traditions-
gut, hängt nur davon ab, ob man es für wahrscheinlicher hält, mittelalterliche Pastoraltheo-
logen hätten sich deswegen auf ältere Texte gestützt, weil sie in ihnen Gegenmittel zu Proble-
men ihrer Gegenwart sahen, oder weil es ihnen nur um die stofflichen Traditionen ihrer Dis-
ziplin ging, auch unabängig von einer praktischen Verwertbarkeit. Dagegen werden alle,
freilich meist kurze Passagen, die ein über die Tradition hinausgehendes Sondergut darstel-
len, wohl nur in ersterm Sinn interpretiert werden dürfen. Fazit: Normative Quellen sind
(prinzipiell) weniger geeignet, über die Faktizität der in ihnen kritisierten Gegebenheiten
Auskunft zu geben, als andere Quellentypen (S. o.) - und diese sind für das späte Mittelalter
ja in ausreichendem Maß erhalten. Die Aberglaubensforschung wäre gut beraten, sich dieser
Texte in verstärktem Maße anzunehmen, anstatt, wie Baumann vorschlägt (S. 492), sich
noch einläßlicher auf die von ihr hinreichend umfänglich untersuchten katechetischen
Traktate zu konzentrieren.
Salzburg Peter Dinzelbacher
GÜNTHER Hrabe DE AngeliS: Winterberg im Böhmerwald. Sozialstruktur und Volks-
glauben - Tradition und neue Wege. Marburg: Eiwert 1990, 571 S., 54 Abb. (Schriftenreihe
der Kommission für ostdeutsche Volkskunde in der Deutschen Gesellschaft für Volkskunde
e. V, 49)
Eine derart umfangreiche Studie über die Lokalhistorie einer Kleinstadt wie Winter-
berg/Vimperk über einen Zeitraum von etwa 800 Jahren läßt von vornherein Höhen und
Tiefen erwarten. Kennzeichnend für die Bearbeitung der Kulturgeschichte der Sudetenlän-
der ist zudem, daß zwar eine Fülle von Einzeluntersuchungen und -darstellungen vorliegt,
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Buchbesprechungen
übergreifende Arbeiten zu allgemeinen wie besonderen Problemstellungen weiterhin Man-
gelware sind. Unter dem besonderen Blickwinkel, daß durch die Vertreibung der Deutschen
die sprachliche und kulturelle Kontinuität gebrochen wurde, die noch lebenden Gewährs-
personen in absehbarer Zeit nicht mehr zur Verfügung stehen, um über die Methode der
oral history Informationen über die kleineren Sozialverbände zu erhalten, sind Arbeiten
wie die vorliegende von Hrabe in jedem Fall begrüßenswert und außerordentlich nützlich;
erst wenn auch die tschechische Volkskunde über ähnliche Studien verfügen wird, wird sich
ein detailliertes Bild über das Nebeneinander, Miteinander und Gegeneinander der beiden
Völker in ihrem Zusammenleben rekonstruieren lassen.
Nicht ganz logisch erscheint die gewählte Systematik der Darstellung (Siedlungsgeschich-
te und Bevölkerungsentwicklung; Chronologische Notizen; Wirtschafts- und Sozialstruk-
tur; Hauseigentum und Hausnamen; Sprache und Bevölkerung; Brauchtum im Jahres- und
Lebenskreis; Vereine als Träger der Volkskultur; Nebeneinander von Deutschen und Tsche-
chen im 20. Jh.; Deutsche und Tschechen vom Kriegsende bis zur Vertreibung; Mobilität
und Integration; Wohngebiete und Traditionspflege in der Bundesrepublik Deutschland).
So gehören die Unterpunkte Hauseigentum/Grundbesitz und Nationalität aus dem Ab-
schnitt 5 doch unzweifelhaft zur Sozialstruktur, Hausnamen und -formen doch eher zu den
volkskulturellen Äußerungen. Und die Vereine - explizit als Träger der Volkskultur be-
zeichnet - wären sinnvoll auch im Abschnitt 6 (Sprache und Bevölkerung) unterzubringen
gewesen. Der besseren Lesbarkeit wegen hätten die statistischen Abschnitte (Graphische Ge-
samtübersicht und Auswertung vom 12. Jh. bis 1984, vier Seiten; Die Geschichte Winter-
bergs im Überblick, 19 Seiten; Häuserliste der vier Stadtteile, 76 [!] Seiten; Liste und Topo-
graphie der Hausnamen, 29 Seiten; Wortliste sprachlicher Eigentümlichkeiten, 14 Seiten) in
einen Anhang gegeben werden können; so wird es oft schwierig, den berühmten roten Fa-
den der Darstellung zu finden.
In Anbetracht der Fülle der Informationen sollen im Rahmen dieser Besprechung nur
zwei Probleme zur Sprache kommen, die freilich aus dem Arbeitsbereich des Rezensenten
stammen. Es ist äußerst fraglich, ob es überhaupt Sinn macht, „ein umfassendes Bild der
Winterberger Mundart nachzuzeichnen“ (S. 272), gehört diese Aufgabe unzweifelhaft in
den Bereich der Dialektologie. Soweit sprachliche Äußerungen für das Erklären volkskund-
licher Phänomene nützlich sind, müssen sie selbstverständlich geboten werden. Mit den
Methoden des Deutschen Sprach- und Wortatlasses (z. B. den Wenker-Sätzen) ist dieser An-
spruch jedoch keinesfalls einzulösen. Hier werden altersspezifische, sozial bedingte und si-
tuative Varietäten außer acht gelassen, nur kontextliche Belege können semantische Diffe-
renzierungen deutlich machen. Zudem können sprachliche Eigentümlichkeiten nicht für
sich selbst, sondern immer nur kontrastiv (etwa zur sprachlichen Umgebung oder zur
Hochsprache) gesehen werden. Handfeste Beweise für die Beeinflussung der alten Mundart
durch die neue Umgebung oder andere Einflüsse liefert der Verf., wenn auch in bescheide-
nem Rahmen, mit seinen Beispielen auf S. 277 bis 284.
Hrabe stellt für die Winterberger im Exil „ein hohes Maß an Flexibilität und Mobilität“
(S. 421) fest, er sieht die Mobilitätsbereitschaft als Voraussetzung zur Existenzsicherung und
-Verbesserung“ (S. 422). Hier greifen jedoch m.E. ganz andere Mechanismen, die mit dem
Phänomen der Mobilität nur bedingt zu erklären sind. Sprachlich und sachlich ist in der
ländlichen Kultur des deutschen Sprachraums eine Nord-Süd-Differenzierung Tatsache;
auch die dem (ost-)mitteldeutschen Sprachraum zugehörigen Gebiete Böhmens und Mäh-
rens haben eine oberdeutsche Überformung durch die jahrhundertelange Zugehörigkeit zu
Österreich erfahren. Diese sprachliche und kulturelle Identität war das Hauptmotiv für die
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Buchbesprechungen
sudetendeutschen Vertriebenen, sich mehr in die mittleren und südlichen Bereiche der Bun-
desrepublik zu orientieren. Den Beweis für die Vertriebenen aus Winterberg im Böhmer-
wald liefert der Verf. selbst, denn von den auf S. 428/429 dokumentierten eigenständigen Be-
triebsgründungen fanden nahezu 75 Prozent in Süddeutschland eine neue Heimat.
Die Arbeit enthält indes für viele weitere Forschungen eine Fülle von Informationen, Da-
ten und Einzelergebnissen bereit, und allein aus diesem Grunde hat der Blickwinkel aus der
Lokalhistorie heraus mit der Beschreibung von detaillierten Lebensverhältnissen seine Be-
rechtigung und seinen Nutzen. Auch sollten die Besonderheiten für die Kulturgeschichts-
schreibung Böhmens und Mähren-Schlesiens nicht außer acht gelassen werden: Zum einen
sind es nur wenige, die sich mit diesem historischen Raum beschäftigen wollen und können,
zum anderen fehlende Quellen und das Aussterben der sog. Erlebnisgeneration.
Gießen Norbert Englisch
RUDOLF Schenda, Doris Senn (Übers, u. Hrsg.): Märchen aus Sizilien. Gesammelt von
Guiseppe Pitre. München: Diederichs 1991, 368 S. (Die Märchen der Weltliteratur)
In Form und Inhalt ein „Buch fürs Leben“: die aufwendige Aufmachung, Umschlaggestal-
tung und Inhalte wecken mittelmeerkulturelle Sehnsüchte und: das Stück des Herzens kann
herausgelesen werden, das die Hrsg, in diese Reedition hineingelegt haben.
Der vorliegende Band enthält 50 durchnumerierte aus dem Sizilianischen ins Deutsche
übertragene Märchen nebst einem Übersetzungsbeispiel. Jedes dieser Märchen erfährt im
Anhang eine ausführliche Kommentierung, die sich nicht auf die Einordnung der motivge-
schichtlichen Varianten beschränkt, sondern mit spannend zu lesenden inhaltlichen Inter-
pretationsfährten da Hilfestellung leistet, wo sich in Entbehrung sizilianischer Kultur-
kenntnisse die Grenzen deutschen Verständnisses auftun. Gleichfalls im Anhang bietet eine
Bibliographie Hinweise auf die Primärquellen sowie eine Auswahl an Sekundärliteratur.
Dazwischen das Kernstück des Bandes: das unentbehrliche und weise Nachwort der
Hrsg., das die Märchenlektüre wissenschaftshistorisch und -theoretisch geleitet, und dessen
Gewicht - bei allem Reiz der buchlichen „Verpackung“ - zumindest in der Titelei hätte
Ausdruck verliehen werden müssen! Denn allein hieraus: aus der Schilderung der
Sammlungs-Genese unter ihren historischen soziokulturellen Bedingungen wird ersicht-
lich, daß es sich nicht einfach romantisch um „Märchen aus Sizilien“ handelt, sondern um
die Sammlung sizilianischer Märchen, die der gelehrte Mediziner, Historiker und Philologe
Guiseppe Pitre (1841-1916) in der zweiten Hälfte des 19. Jhs. zusammengestellt hat. Das
Nachwort steht so als lebendiger Einfühlungsversuch in die Entstehungsbedingungen eines
Genres - grundsätzlich - zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit wie auch im Kontext
seiner mediterranen Kultur und der Biographie seiner „Konstrukteure“: der Erzähler/in-
nen ebenso wie des Aufzeichners und Sammlers.
Mit dem Märchenforscher Guiseppe Pitre schildern Rudolf Schenda und Doris Senn ei-
nen jener bürgerlichen Volksliebhaber, aus deren Kreis sich die unermüdlichen Erzählfor-
scher des 19. Jhs. vorzugsweise zusammensetzten, und die die Fußstapfen der volkskundli-
chen Wissenschaft vorzeichneten. Seine Person und sein umfangreiches Lebenswerk werden
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Buchbesprechungen
in die Zusammenhänge eines frühen Stücks europäischer Kulturforschung gestellt, die sich
scheinbar mühelos über die bestehenden Grenzen hinweg verständigen konnte, und nicht,
wie derzeit häufig, bei allen - auch wissenschaftlichen - Konstruktionsbemühungen um
Europa ganz banal an den Sprachgrenzen scheiterte. Aus dem gesellschaftlichen Kontext
heraus wird - vor allem in der zweiten Hälfte und gegen Ende des 19. Jhs. - ein „vereinter“
Sammelzeitgeist verständlich, der wohl nicht per Zufall in mehreren europäischen Ländern
gleichzeitig Wurzeln schlug. (Hier kann z. B. an die sich gegenseitig rezipierenden „Meeres-
volkskundler“ Paul Sebillot, Croften Croker, Fletcher Bassett und Paul Gerhard Heims er-
innert werden.)
Neben der Herausstellung des bedeutsamen wissenschaftlichen Beitrags von Guiseppe Pi-
tre, den die Veröffentlichung auch zu Ehren seines 150. Geburtstages unterstreicht, liegt ei-
ne der „stillen Absichten“ des Buches“ (vgl. S. 307) darin, die Lebendigkeit seiner Aufzeich-
nungen übermitteln zu wollen. Daß dies gelungen ist, liegt mit an der erahnbaren immensen
und liebevollen Ubersetzungsarbeit vom Sizilianischen ins Deutsche.
Die Märchensprache ist voller Sinnlichkeit, Charme, Witz und Spitzfindigkeiten - Text-
eigenschaften also, die meist zu den ersten Opfern einer Übersetzung gehören. Den Formu-
lierungen bleiben Eigenheiten und Eigenartigkeiten belassen, die in der Lektüre zur reizvol-
len Würze geraten; sie lassen sich als die bereichernden Feinheiten der fremden Kultur erah-
nen. Voller Lebendigkeit ist die Sprache auch: die Contage scheint noch spürbar, die
Erzählpersonen mit ihrem Ausdruck scheinen gegenwärtig - ein besonderes Leseerlebnis
für diejenigen, die mit den literarisch-idealistischen Grimmschen Märchensammlungen „so-
zialisiert“ sind. In Pitres Sammlung tritt uns die schriftliche Fassung einer mündlichen
Form entgegen, die in ihrer Zugänglichkeit und lustvollen Lesbarkeit den Gegensatz zu je-
nen glättend überformten bürgerlichen Sammlungen aus dem 19. Jh. vor Augen führt, die
unsere Vorstellungen von „volkstümlicher“ Mündlichkeit entscheidend geprägt haben. Die
direkte Rede zieht einen mitten hinein ins wundersame Geschehen.
Da gibt es Märchen mit vielen Prinzessinnen natürlich, mit schönen und häßlichen Men-
schen, armen und reichen, neidischen und großherzigen. Aber auch Märchen im Märchen
und solche, die sich selbst ironisch zum Gegenstand nehmen wie „Die Erzählung von ,Man
erzählt1 “, die als ein Beispiel für die Unzertrennlichkeit von Form und Inhalt auch in dieser
Gattung stehen kann.
Märchen von Notaren, die sich in Papageien verwandeln, von verwöhnten Königstöch-
tern, von hämischen Zauberinnen und freundlichen Riesen, von königlichen Vätern, die
um ihrer Töchter willen Krieg mit anderen Ländern führen, von ganz alltäglichen Schwe-
stern auch, die sich gegeseitig verprügeln, aber auch von Zaubereien befreien können. ...
Die Schlüsselrollen in fast allen Erzählungen haben die Frauen inne, vor allem die Töchter
sind es, die die Hauptrollen im Märchenleben besetzen. Ganz selbstverständlich liest sich
das: wie beispielsweise im Märchen vom „sprechenden Bauch“, in dem der König seiner
Frau aus Einsicht die Herrscherwürde überträgt, ganz einfach, weil sie schlauer ist. Idylli-
sche Phantasien kommen dabei keineswegs auf: In der „klugen Caterina“ hört die Ge-
schichte - im Gegensatz zu den vertrauten „Hausmärchen“ - endlich einmal nicht bei der
Hochzeit auf, die nur ein Detail im Vorspiel kommender Lebensprüfungen ist. Auch das
Märchen vom Basilikumtopf erzählt von den Unbillen eines ganz und gar nicht königlichen
Geschlechterverhältnisses.
Sprache und Gedankenführung des herausgeberischen Nachwortes stehen in diesem
Punkt den Märchen in nichts nach; es mag nicht nur am Stoff liegen. Selten finden sich wis-
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Buchbesprechungen
senschaftsgeschichtliche Darstellungen wie die vorliegende, in der die gleichermaßene Betei-
ligung von Männern und Frauen in der Entstehung und Produktion von Kultur mit Selbst-
verständlichkeit gedacht und geschrieben wird und sich nicht nur - wie häufig - überge-
stülpter sprachlicher Alibiwendung verdankt.
Die von Rudolf Schenda und Doris Senn herausgegebene Sammlung hebt sich deutlich ab
von den Blüten, die die gegenwärtige Volkserzählungsliebe in Form von nur blaß oder un-
kommentierten historisierenden Neuauflagen treibt: die Leser können unbeschadet der
Märchenliebe frönen, ohne einer etwa unterstellten „Zeitlosigkeit“ der Volkserzählung, mit
all ihren ideologischen Implikationen, aufsitzen zu müssen. Nicht stoffimmanent wird in-
terpretiert, sondern - von eigentlicher kulturwissenschaftlicher Relevanz - wird die Tatsa-
che des Märchens in seiner Pitreschen Genese als wissenschafts- und zeitgeschichtlicher Aus-
druck beleuchtet. So empfiehlt sich gerade auch für „Märchenmuffel“, für Volkskundlerin-
nen und Volkskundler die Lektüre, an der sie das verstaubte Image material- und
selbstverliebt vorgehender Erzählforschung bislang gehindert haben mag.
Basel Johanna Rolshoven
ALFRED CAMMANN: Märchen - Lieder - Leben. In Autobiographie und Briefen der Ruß-
landdeutschen Ida Prieb. Marburg: Eiwert 1991 (Schriftenreihe der Kommission für ost-
deutsche Volkskunde in der Deutschen Gesellschaft für Volkskunde, 54)
Wiederum stellt der unermüdliche Erzählforscher Alfred Cammann gewichtiges „un-
sichtbares Fluchtgepäck“ einer Deutschen aus Osteuropa vor: Märchen, Lieder und Lebens-
erinnerungen der 1923 in einem deutschen Dorf in der Ukraine geborenen Rußlanddeut-
schen Ida Prieb. Ihre Erfahrungen im Zusammenleben mit anderen Völkern erscheinen in
einer Zeit, da sich die Völker der ehemaligen Sowjetunion neu orientieren, dort über eine
deutsche Wolgarepublik und hier über die Integration von Ausländern nachgedacht wird,
besonders lesenswert, gewinnen hohe Aktualität.
Im Gegensatz zu den bisherigen Bänden mit Überlieferungen von Ausländsdeutschen
bzw. dem bereits 1975 erschienenen Aufsatz über Ida Prieb „Eine deutsche Märchenerzähle-
rin aus der Ukraine“ (JbfdVk Bd. 18, S. 88-177) stellt Cammann in seinem 12. Band die
Autobiographie und die Briefe seiner Gewährsfrau in den Mittelpunkt.
„Es war wie eine kleine Insel in einer großen ukrainischen Steppe“ (S. 65) beschreibt die
unerhört schreibgewandte Erzählerin dann ihr Heimatdorf, aus dem sie die Märchen ihres
Großvaters und die Lieder ihrer Mutter behielt, die Kollektivierung der Landwirtschaft er-
lebte, die Säuberungsgesetze in der Stalinzeit, das neue Schulgesetz, das den Unterricht in
deutscher Sprache untersagte und dafür russisch und ukrainisch einführte. Das, was von den
Dorfbewohnern allgemein als Reglementierung empfunden worden ist, sieht die Erzählerin
durchaus als Gewinn, da sie Sprache, Sitte und Gebräuche ihrer Nachbarn besser verstehen
lernt. Der Einzug von Hitlers Armee 1941 vereitelte Studienpläne, statt dessen folgten Dol-
metscherarbeit in der Ukraine, Umsiedlung nach Polen, Ausweisung durch die Polen,
Nachkriegszeit in Niedersachsen, die Wiederbegegnung mit Verwandten.
Das Besondere dieser ohnehin schon ungewöhnlichen Biographie liegt wohl im engen Zu-
sammenwirken von Initiator und Gewährsperson; die zunächst für ihre Kinder verfaßten
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Buchbesprechungen
Lebenserinnerungen erweiterte Ida Prieb auf Anregung Alfred Cammans. Dabei kannte sie
die Bücher und Aufsätze des Herausgebers, und das beeinflußte natürlich Art und Inhalt ih-
rer Darstellung. „Es ist im Grunde genommen etwas anderes geworden, nicht das, was ich
ursprünglich vorhatte ...“ bekennt Ida Prieb (S. 299). Cammanns Absicht, mit diesem Band
einen Beitrag zur Biographieforschung leisten zu wollen, muß auch unter diesem Aspekt ge-
sehen werden.
Cammann besitzt ihn, den Zauberschlüssel, mit dem er es versteht, seine Gewährsleute
aufzuschließen, ihnen eine Fülle von Erinnerungsgut zu entlocken, eine Informationsflut,
die schwer zu bändigen scheint: der fesselnd geschriebene Lebenslauf der Rußlanddeutschen
Ida Prieb setzt erst ab S. 133 ein. Davor ordnete Cammann Stichwortzusammenstellungen
zu der Autobiographie, seine Einführung, die Anliegen und Forschungsstand beschreibt,
drei Erinnerungsberichte von Rußlanddeutschen, von denen zwei aus dem Heimatdorf der
Haupterzählerin stammten, einige Märchen und Lieder der Ida Prieb, eine solide Analyse
des Liedrepertoires durch Hartmut Braun (DVA) und einige Liedübertragungen durch Ga-
briele Gröger, bei denen allerdings der Aufnahmeort Berestowo verwirrend erscheint.
Den Beschluß des lesenswerten Bandes bilden Auszüge aus dem anrührenden Briefwechsel
zwischen Ida Prib und dem Ehepaar Cammann. Wie engagiert und anteilnehmend der Feld-
forscher Cammann mit seiner Gewährsfrau arbeitete, belegen die kommentierenden Ab-
schnitte, die Cammann in die Briefe einfügte. Wer die Originalbriefe als Quellenmaterial
nutzen möchte, kann das im „Cammann-Archiv“ des Instituts für Heimatforschung in Ro-
tenburg/W. tun.
Oldenburg Heike Müns
Theodor Brüggemann in Zusammenarbeit mit Otto Brunken: Handbuch zur
Kinder- und Jugendliteratur. Von 1570 bis 1750. Stuttgart: J. B. Metzlersche Verlagsbuch-
handlung, 1991, LVIII Sp., 2486 Sp. m. zahlr. Abb.
Der bisher umfangreichste Band des großangelegten „Handbuchs zur Kinder- und Ju-
gendliteratur“ (KJL) behandelt den Zeitraum von 1570 bis 1750. Zusammen mit den beiden
anderen Bänden, „Vom Beginn des Buchdrucks bis 1570“ (hrsg. von T. Brüggemann/O.
Brunken, 1987) und „Von 1750 bis 1800“ (hrsg. von T. Brügjgemann/H.-H. Ewers, 1982), liegt
nun für die Zeit vom Beginn des Buchdrucks bis 1800 eine mit bewunderswerter Akribie er-
stellte, umfassende Dokumentation der intentionalen KJL des deutschsprachigen Kultur-
raums vor. Der für die Folgezeit von 1800 bis 1850 unter der Herausgeberschaft von B. Hur-
relmann, O. Brunken und K.-U. Pech erscheinende Band ist in Vorbereitung.
Wie schon in den anderen Bänden finden die speziell an KJL, aber auch die an allgemein
kulturgeschichtlichen Themen Interessierten - haben sie sich erst einmal mit dem etwas
verwirrenden System der Benutzung vertraut gemacht- ein Fülle von Informationen und
weiterführenden Hinweisen. In seiner Einleitung liefert Brunken zunächst einen Abriß des
zeitgenössischen pädagogischen Hintergrundes, um dann auf sein bereits im vorhergehen-
den Band aufgestelltes Gattungsmodell der frühen KJL vom Beginn des Buchdrucks bis 1750
einzugehen: 1. Religiöse Literatur, 2. Werke zur Sprachbildung, Rhetorikerziehung und
153
Buchbesprechungen
Realienkunde in der Tradition der Artesliteratur, 3. Offizien-, Virtus- und Civilitasliteratur
und 4. Unterhaltend-didaktische Literatur (jeweils mit Untergruppen). Diesen Kategorien
sind auch die 55 Einzelanalysen des sich anschließenden, reich bebilderten „Historischen
Teils“ zugeordnet. Als leitende Fragestellungen für die Einzelanalysen werden die Klärung
des Adressatenbezugs sowie der Intention des Autors und/oder Bearbeiters, Herausgebers,
Druckers oder Verlegers genannt, die inhaltliche und formale Struktur des jeweiligen Werks,
die Einordnung in den historischen, geistesgeschichtlichen und literarischen Kontext und
die Wirkungsgeschichte. Die darauf folgende Bibliographie enthält in alphabetischer Rei-
henfolge 1068 Nummern, einschließlich eines von M. Eisenberg zusammengestellten An-
hangs mit Einblattdrucken, Bilderbogen und Neujahrsblättern; die Beschreibung der aufge-
nommenen Druckwerke setzt sich zusammen aus dem Kopfregest, der diplomatisch getreu-
en Titelabschrift, Kollation und Angabe zum Format, Charakterisierung des
Buchschmucks, dem Standortnachweis (mit Signatur), bibliographischen Nachweisen und
einem Kommentar sowie einer Kurzbiographie des Autors. Uber die Register des Hand-
buchs sind die einzelnen Werke und Informationen schließlich unter verschiedenen Ge-
sichtspunkten zugänglich: Titelregister, Chronologisches Register, Gattungsregister,
Drucker- und Verlegerregister, Illustratorenregister, Standortverzeichnis, Namenregister,
Sachregister, Nachweis der Bildquellen. Außer der im Abkürzungsverzeichnis genannten
Literatur enthält der Band ein 3911 Nummern umfassendes Verzeichnis von Sekundärlitera-
tur, Werken der alten KJL in Ausgaben und Editionen nach 1750 sowie zeitgenössischen pä-
dagogischen und sonstigen Schriften, und auch diese Titel sind über das Namen- und Sachre-
gister zugänglich.
Ein Werk zu benutzen und es zu rezensieren, ist allerdings zweierlei. Während die Benut-
zer die vielfältigen Informationen, die das Buch bietet, einfach gewinnbringend weiterver-
wenden können, muß der oder die Rezensent(in) das Werk aus einer (fach)spezifischen Per-
spektive betrachten, und da ließe sich aus volkskundlicher Sicht schon einiges anmerken.
Zuvörderst wäre der zugrundeliegende Begriff der intentionalen KJL zu nennen. Wenn hier
unter intentionaler KJL jene Werke verstanden werden, „die in irgendeiner Weise vom Ver-
fasser, Herausgeber, Kompilator, Bearbeiter, Übersetzer, Verleger oder Drucker ausschließ-
lich oder unter anderem an Kinder und/oder Jugendliche adressiert sind und diesen zur Ei-
genlektüre bzw. -betrachtung dienen oder durch Dritte vermittelt werden sollen, wobei
nicht von heute gängigen Vorstellungen von Kindheit und Jugend ausgegangen, sondern die
zeitgenössische Begrifflichkeit zugrunde gelegt wird“ (Sp. 1), dann ist dies zwar eine, wie H.
ten Doomkaat schreibt (vgl. seine Rezension in Fabula 24, 1983, S. 290-293), bestens gelun-
gene Abgrenzung des Gegenstandes, jedoch wieder einmal eine bewußte, mit dem Hinweis
auf fehlendes wissenschaftliches Instrumentarium begründete Ausgrenzung des Begriffs der
Kinder- und Jugendlektüre, der tatsächlich rezipierten Lesestoffe (vgl. Handbuch zur KJL 1,
Sp. 3 f.) und damit auch der sozialhistorischen Aspekte, worauf ten Doornkaat ebenfalls hin-
weist (vgl. auch meine Rezension zu R. Wild, Geschichte der deutschen KJL, 1990, in Fabula
33, 1992, S. 181-183). So finden sich bezeichnenderweise im Register zu den Stichwörtern
„Adels- und Fürstenerziehung“ und „Fürstenspiegel“ zahlreiche Verweise auf die Einlei-
tung, den „Historischen Teil“ und das Literaturverzeichnis, schaut man dagegen beim Stich-
wort „Volksliteratur, populäre Lesestoffe“ nach, findet man eine Angabe zu Martin von Co-
chem (Sp. 190-207), drei zu J.C. Wagenseils , Jüdischem Geschicht=Roman von dem gros-
sen König ARTURO [...]“ (Einzelanalyse von C. Daxeimüller, Sp. 941-961) und wird
ansonsten auf einige Titel im Literaturverzeichnis verwiesen, obwohl eine ganze Anzahl auf-
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Buchbesprechungen
genommener Namen, Werke und Stoffe nicht mehr und nicht weniger unter die Kategorie
„Volksliteratur, populäre Lesestoffe“ fallen als die darunter verzeichneten.
Außer den genannten seien noch die Einzelanalysen zu G. Vogler (Sp. 106-122), J. Hüb-
ner (Sp. 231-259), G. Rollenhagen (Sp. 843-874) und G.R Harsdörffer (Sp. 875-902) er-
wähnt; in der Bibliographie erscheinen z.B. F. de Belieferest (num. 70), F. Dedekind (Sp.
193-195), G. Deila Casa (Sp. 200-206), D. Erasmus (von Rotterdam) (Sp. 235-242), E.
Francisci (Sp. 286f.), N. Frischlin (Sp. 300-307), C.F. Geliert (Sp. 315), S. Gerlach (Sp.
316), H.J.C. von Grimmelshausen (Sp. 339-341), A. de Guevera (Sp. 355 f.), E. W. Happel
(Sp. 369 f.), G. P. Harsdörffer (Sp. 372-374), V. Herberger (Sp. 404), W. Ketzel (Sp. 483), P.
Lauremberg (Sp. 530), M. Luther (Sp. 570-573), Martin von Cochem (Sp. 578), Phädrus
(Sp. 695 f.), Prokop von Templin (Sp. 714 f.), G. Rollenhagen (Sp. 769-782), M. Sachs (Sp.
797 f.), O. Schreger (Sp. 833), G. Vogler (Sp. 929-932), C. Weise (Sp. 953-989) und D. Wenz
(Sp. 994 f.). Für Erzählforscher seien außerdem noch einige Sach-Registerstellen zu Werken
und Stoffen/Motiven angeführt, wobei jedoch hinzugefügt werden muß, daß das Register
die Stoff-Vielfalt nur unzureichend wiedergibt: Amadis, Artuskreis, Dietrich von Bern, Flo-
rio und Bianceffora, Fortunatus, Genovefa, Griseldis, Heinrich der Löwe, Kalila wa-Dimna,
Pancatantra, Reineke Fuchs, Till Eulenspiegel, Undankbarer Sohn, Ungleiche Kinder Evas,
Verlorener Sohn, Wigalois. Darüber hinaus sind die Einträge zu Gattungen und allgemeine-
ren Themen zu berücksichtigen.
Wie schon H.-J. Uther in seiner Rezension des vorhergehenden Bandes beklagte (vgl. Fabu-
la 28, 1987, S. 330-334), ist die volkskundlich orientierte (Erzähl-)Forschung nicht sehr
stark vertreten. Zwar findet sich ein ganze Reihe bekannter Namen im Literaturverzeichnis,
und die „Enzyklopädie des Märchens“ sowie E. Moser-Raths „Lustige Gesellschaft“ (Stutt-
gart 1984) sind sogar ins Abkürzungsverzeichnis aufgenommen worden, systematisch aus-
gewertet wurde diese Literatur jedoch keineswegs. Auffällig ist allerdings die reichhaltig ver-
tretene volkskundliche Literatur bei num. 422, einem Lieddruck über das Motiv des un-
dankbaren Sohnes (Wen aber wundert’s, wenn er den Standortnachweis sieht: Dt.
Volksliedarchiv Freiburg!), und bei dem Doppelblatt num. 1057: Die Butzenbercht [und]
der Kinderfresser. Der Kommentar zu letzterem enttäuscht hingegen wiederum, da es in
ihm noch immer germanisch-mythologisch zugeht. Ärgerlich ist es, wenn man sämtliche
unter dem Namen Wenz angegebenen Stellen sowie die Nummern der Bibliographie
(S. 994 f.) nachschlägt und nirgends auf Sekundärliteratur hingewiesen wird, obwohl das Li-
teraturverzeichnis einen Aufsatz über Wenz enthält (num. 2975). Dort ist er aber nur zu fin-
den, wenn man dessen Autor schon weiß!
Dies alles soll die Gesamtleistung jedoch nicht herabwürdigen. Sind bereits die anderen
beiden Bände aus der wissenschaftlichen Beschäftigung mit didaktischer und unterhalten-
der Literatur längst nicht mehr wegzudenken, gilt das zu Recht schon jetzt auch für diesen
Band.
Göttingen Ingrid Tomkowiak
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Notizen
UTZ JEGGLE u.a. (Hrsg.): Zur Grenze. Ethnographische Skizzen. Eine Studie der Projekt-
gruppe des Ludwig Uhland Institutes für empirische Kulturwissenschaft der Universität
Tübingen unter Leitung von Utz Jeggle. Tübingen: Tübinger Vereinigung für Volkskunde,
1991, 75 S., mit zahlr. Abb. u. Photos
In kurzen Beiträgen erörtert die 17köpfige Tübinger Projektgruppe unter Leitung von
Utz Jeggle das Thema „Grenze“. Diese gehen meist von der elsässisch-badischen Rheingren-
ze aus; jedoch behandeln auch einige Essays die „Grenze“ im übertragenen Sinne. Begin-
nend mit einer knappen etymologischen Untersuchung wird die Rolle der Grenze in der al-
ten Volks- und der modernen Großstadtsage sowie im Volkslied beleuchtet. Neben Darstel-
lungen zu Zolluniformen, -häusern und Zöllnerlatein werden deutsche Wege von Touristen,
Dichtern, Studenten, Flüchtlingen und Besatzern ins Elsaß beschrieben. Weitere Themen
sind die geographische Festlegung der Rheingrenze, die Arbeitswanderung vom Elsaß nach
Baden und das Fährwesen am Oberrhein. Ausgehend von den 500-Jahrfeiern der europäi-
schen Eroberung beider Amerika wird der Aufbau neuer Grenzen durch die europäische
Wirtschaftsmacht geschildert. Überlegungen zur europäischen Identität, Grenzen im Kopf,
Tod als Grenze und Assoziation zur Grenze vervollständigen das Bild.
Marburg Hans-Werner Retterath
Volkskalender im 19. und 20. Jahrhundert. Zeitweiser, Lesestoff und Notizheft. Begleitband
zur Ausstellung im Kreismuseum Walderbach vom 22. Juli bis 31. Oktober 1992, red. von
Christine Oßwald. Cham: Landratsamt, 1992, 144 S., Abb. sw (Schriftenreihe Kreismuseum
Walderbach/Landkreis Cham)
Kalender gilt es in mehrfacher Hinsicht als Quelle für eine historische Kulturforschung
wieder- und neu zu entdecken - „Kalender als Zeit-Zeichen“ (Konrad Köstlin, S. 7-9), die
über die Zeit-Organisation des Individuums hinaus mit der Produktion billiger Volks- und
Bauernkalender zu Beginn des 19. Jhs. auch den Beginn der modernen Welt, die Industriali-
sierung und zeitliche Synchronisierung der Menschen andeuten. Und sie sind - in ihrer
vielfachen Verwendung als Notiz-, An- und Aufschreibebüchlein zugleich Quelle für den
persönlichen Umgang mit der Zeit, dem Erinnern, dem Festhalten von Erinnerungswerten
- Wirtschaftsdaten zumeist, die etwas über die Gestaltung des Alltags in Erfahrung brin-
gen können. Insofern ist diese „kurze Geschichte des Kalenders“ (Christine Oßwald,
S. 11-18), ergänzt um eine Abhandlung von Katharina Masel „Zum Kalenderwesen in Bay-
ern zur Zeit der Aufklärung“ (S. 19-45) und exemplarische Untersuchungen zum Sulzba-
cher Kalender {Reiner Braun, S. 47-60), zum Regensburger Marien-Kalender {Christine Oß-
wald, S. 61-78), zum Verlag Steinbrenner in Böhmen {Hans-Joachim Härtel, S. 79-94) und
zum Vertrieb des Straubinger Kalenders heute (Josef Heigl, S. 107-116) ein begrüßenswertes,
informatives Ausstellungs-Begleitheft, welches zudem für die Tagebuchforschung relevant
bleibt und mit dem Beitrag von Johanna Rödl zu Kalender-Notizen als lebensgeschicht-
156
Notizen
liehen Quellen (S. 95-106) sowie einem von Christine Oßwald ausgewählten Verzeichnis
niederbayerischer und Oberpfälzer Kalender auch über die Ausstellung hinaus bleibende
Beachtung erfahren sollte. S. B.
KLAUS Goebel, Hans Georg KlRCHHOFF (Hrsg.): Das Schreiben und das Lesen ist nie
einfach gewesen. Dortmund: Dortmunder Gesellschaft für Schulgeschichte in Verb, mit der
Forschungsstelle Schulgeschichte, Historisches Institut, 1991, 75 S., Abb. sw
Im Kriegsjahr 1941 wurde durch Vefügung des Reichserziehungsministeriums die Umstel-
lung von der deutschen Kurrentschrift auf die (lateinische) „Normalschrift“ im Deutschun-
terricht vollzogen: auf dem Höhepunkt der faschistischen Kriegspropaganda galt es nun-
mehr, in den eroberten Gebieten die Sprache der deutschen Besatzungsmacht verständlich
zu machen. 50 Jahre nach Einführung der lateinischen Schrift waren eine Ausstellung in der
Zentralbibliothek Dortmund und der vorliegende kleine Katalog der Entwicklung der
Schreibschrift gewidmet: antike Schriftphasen {Heinrich Koehlers), das Schriftwesen im Mit-
telalter (Gerhard E. Sollbach), Lesen und Schreiben in der frühen Neuzeit {Erich Schwerdtfe-
ger) und im Zeitalter des industriellen Nationalstaates {Friedrich Wilhelm Saal) werden kurz
erläutert und durch die Abbildungen einzelner Ausstellungsstücke illustriert. Der Schriftre-
form durch Sütterlin widmet sich Hans Georg Kirchhoff-, Klaus Goebel behandelt die Ent-
wicklung der deutschen Schreibschrift und gebrochener Druckschriften seit 1941. Eine Bi-
bliographie zur Schriftgeschichte unter besonderer Berücksichtigung des 19. und 20. Jh. (die
allerdings auch die Literatur zur Schriftfähigkeit und Alphabetisierung hätte berücksichti-
gen können!) ist von Kurt Mager zusammengestellt worden. S.B.
Paul Roux: Der Bauer in der Lüneburger Heide und seine Anpassung an die moderne
Entwicklung. Ehestorf 1991, 103 S., Abb. sw (Schriften des Freilichtmuseums am Kieke-
berg, 6)
Landschaft, Arbeit, Hof und Familie im Zeitalter der Industrialisierung zwischen
1870/80 und 1900, die sich in der landwirtschaftlich geprägten Lüneburger Heide vor allem
in den Einwirkungen des Verkehrs zeigte, sind Gegenstand dieser Veröffentlichung, die eine
Übersetzung der 1906 vom Verfasser in der Schriftenreihe Science Sociale der Pariser Uni-
versität vorgelegten französischsprachigen Studie ist. In der Veröffentlichung des Harburger
Freilichtmuseums um zahlreiche Fotos (z. T. etwas jüngeren Datums) ergänzt, läßt vor allem
auch das prononciert sozialwissenschaftliche Interesse des Autors ein dichtes Bild des Land-
lebens und der Innovationen in Wirtschaft und Haushalt erstehen. S. B.
157
Notizen
Landes- und Volkskundliche Filmdokumentation, Katalog ’92/93, bearb. von Alois Dö-
ring. Köln: Rheinland-Verlag, 1992, 92 S., 5 Abb. sw
Nun liegt der von Alois Döring bearbeitete 92 Seiten starke Filmkatalog des Landschafts-
verbandes Rheinland - Amt für rheinische Landeskunde Bonn - in der dritten Ausgabe
’92/93 mit 173 Filmnummern vor. Er gliedert sich in die Bereiche „Volksbrauch im Rhein-
land“, „Bauernwerk im Rheinland“, „Altes Handwerk im Rheinland“ und „Industrialisie-
rung im Rheinland“. Gegenüber dem Katalog von ’89/90 ist ein beachtlicher Zuwachs von
22 Filmen zu verzeichnen; der größte Teil betrifft Filme zum Thema Handwerk, zum Bei-
spiel der Zyklus Korbmacherei oder Rheinfischerei. Erfreulichen Anstieg haben die Filme
zur Industrialisierung erfahren. Stellvertretend sei der 42minütige Film von Berthold Heiz-
mann Glück auf. Die Geschichte des Steinkohlenbergbaus im Wurmrevier“ genannt, der
die Arbeit der Bergleute zeigt und in Intervallen auch auf soziale Aspekte eingeht. Der Ver-
leih einiger Handwerksfilme wurde jüngst auf die süddeutschen Länder (Landesfilmdienste)
ausgedehnt. Es steht zu hoffen, daß die Nutzung der Filme nicht nur dadurch weiterhin zu-
nimmt. Der Diskussion über den volkskundlichen Film in unserem Fach, in Bildungsein-
richtungen und in der Öffentlichkeit kann dies nur förderlich sein.
Marburg Walter Dehnert
ZOLTÄN FALVY, WOLFGANG SuPPAN (Hrsg.): Musica Pannonica. Pannonische For-
schungsstelle für Musikanthropologische und Musikethnologische Grundlagenforschung,
Band 1. Oberschützen - Budapest: Akaprint, 1991, 188 S.
Heute besitzen in Mitteleuropa insbesondere solche Bemühungen Aktualität, die im Rah-
men länderübergreifender wissenschaftlicher Arbeit der Analyse und dem Verstehen der
„Fremdheit“ dienen. 1990 wurde in Oberschützen ein gemeinsames österreichisch-ungari-
sches Forschungsinstitut eingerichtet, um im Pannonischen Raum - von Wien die Donau
entlang bis nach Belgrad - musikanthropologische und musikethnologische Grundlagen-
forschung durchzuführen. Die Einrichtung der „Pannonischen Forschungsstelle“ ist die er-
freuliche Folge einer fast 30 Jahre dauernden engen Zusammenarbeit zwischen dem Musik-
wissenschaftlichen Institut der Ungarischen Akademie der Wissenschaften in Budapest und
dem Institut für Musikethnologie der Musikhochschule in Graz. Der erste Band der neuen
Zeitschrift „Musica Pannonica“ umfaßt sechs deutschsprachige Beiträge und einen englisch-
sprachigen Aufsatz. Zwei Beiträge beschäftigen sich mit dem Lebenswerk des berühmten Ba-
rockkomponisten Johann Joseph Fux (H. Federhofer.; W. Suppari). In den übrigen Studien
werden verschiedene Themenkreise der Musikforschung aufgrund historischer und archiva-
lischer Quellen vor allem unter sozialgeschichtlichen Gesichtspunkten dargestellt: Histori-
cal Music Sociology - the Simplicissimus Phenomen (Z. Falvy), Das Signalwesen des Postil-
lions in Österreich-Ungarn (£. Brixel), Quellen zur Erforschung der Tätigkeiten und Rollen
von Militärorchestern in Bosnien und Herzegowina zur Zeit der österreichisch-ungarischen
Regierung 1878-1918 (T. Polomik). Die volksmusikalische Praxis der ungarischen Blas-
kapellen (L. Tari), Zur Ästhetik der Operette und ihrer Krise in der Zwischenkriegszeit
(L. L. Albertsen).
Marburg JozsefKotics
158
Notizen
Nabil OSMAN (Hrsg.): Kleines Lexikon untergegangener Wörter. Wortuntergang seit dem
Ende des 18. Jahrhunderts. (= Beck’sche Reihe BsR 487). 6., unveränd. Aufl. München:
C.H.Beck, 1992, 263 S.
Bei dieser in der 6., unveränderten Auflage erschienenen Monographie handelt es sich um
die ungewöhnlich erfolgreiche Dissertation von Nabil Osman. Sie bietet ein Lexikon von
Wörtern, die seit dem Ende des 18. Jhs. untergegangen sind. Das Kriterium ist das Ver-
schwinden aus der „allgemeinen Schriftsprache“. Als wesentliche Grundlage dazu dient das
1811 in Wien posthum erschienene Wörterbuch des Sprachforschers und Lexikographen
Johann Christoph Adelung (1732-1806). Für jedes aufgeführte Wort werden Belege nach-
gewiesen, außerdem wird der Untergangsgrund genannt. In einem kurzen Essay geht der
Autor schließlich auf die Bedingungen des Wortunterganges ein.
Das Literaturverzeichnis wurde bedauerlicherweise auch für diese Auflage nicht aktuali-
siert bzw. ergänzt; es blieb leider auf dem Stand von 1969/70. Bei der Lektüre wird man fest-
stellen, daß manche in der „allgemeinen Schriftsprache“ untergegangenen Wörter in der
Umgangsprache durchweg gebräuchlich sind, zum Beispiel „Tollhaus“ oder „Brast“, ein
Wort, das vor allem in der Jugendsprache in etwas veränderter Bedeutung zu finden ist. Dies
ist freilich nur ein abermaliger Beleg für die Lebendigkeit und den Wandel der Sprache, für
den Nabil Osmans Werk selbst beredt Zeugnis liefert.
Marburg Walter Dehnert
159
Eingesandte Schriften
Erscheinungsjahr 1991
Peter Bahn: Deutschkatholiken und Freireligiöse. Geschichte und Kultur einer religiös-
weltanschaulichen Dissidentengruppe, dargestellt am Beispiel der Pfalz. Mainz: Gesellschaft
für Volkskunde in Rheinland-Pfalz e. V, 1991, 373 S., 7 Abb. sw (Studien zur Volkskultur
in Rheinland-Pfalz, Bd. 10)
Joachim Bauer, Jens Riederer: Zwischen Geheimnis und Öffentlichkeit. Jenaer Freimaurei
und studentische Geheimgesellschaften. Jena/Erlangen: académica & studentica Jenensia,
1991, 285 S., Abb. sw (Schriften zur Stadt-, Universitäts- und Studentengeschichte Jenas, Bd. 1)
Vera Deissner: Menschen im biologischen Landbau. Erhebungen auf Bio-Höfen in der Pfalz.
Mainz: Gesellschaft für Volkskunde in Rheinland-Pfalz e.V., 1991, 131 S. (Mainzer Kleine
Schriften zur Volkskultur, Bd. 2)
Zoltan Falvy, Wolfgang Suppan (Hrsg.): Musica Pannonica. Pannonische Forschungsstelle
für Musikanthropologische und Musikethnologische Grundlagenforschung, Band 1. Ober-
schützen/Budapest: Akaprint, 1991, 188 S.
Helmut Fischer: Kinderreime im Ruhrgebiet. Reime, Lieder, Spiellieder, Rätsel, Scherzfragen
und Witze. Köln/Bonn: Rheinland-Vlg. - Habelt, 1991, 278 S. (Werken und Wohnen,
Volkskundliche Untersuchungen im Rheinland, Bd. 18)
Helmut Fischer: Der Rattenhund. Sagen der Gegenwart. Köln/Bonn: Rheinland-Vlg. - Ha-
belt, 1991, 184 S. (Beiträge zur rheinischen Volkskunde, Bd. 6)
Otto Holzapfel: Spuren der Tradition. Folkloristische Studien. Bern/Frankfurt am
Main/New York/Paris: Lang, 1991, 167 S. (Studien zur Volksliedforschung, Bd. 6)
Jahrbuch der Brüder-Grimm-Gesellschaft, hrsg. von Hartmut Kugler, Bernhard Lauer,
Fritz Paul, Lutz Röhrich und Ruth Schmidt-Wiegand. Bd. 1, Kassel 1991, 254 S.
Männer vom Morgenstern, Heimatbund an Elb- und Wesermündung. Jahrbuch 70. Bremer-
haven 1991, 284 S., Abb. sw
Jean-Pierre Pichette: L’Observance des conseil du maitre. Monographie internationale du
conte type AT 910B précédée d’une introduction au cycle des bons conseils (AT 910-915).
Helsinki: Academia Scientiarum Fennica, 1991, 667 S. (FF Communications No. 250)
Hans Reinhard Seeliger: Wein, Mönch und Etikett. Eine Kirchen- und Kulturgeschichte.
Wiesbaden: Gesellschaft für Geschichte des Weines e.V., 1991, 80 S., Abb. sw (Schriften zur
Weingeschichte, 101)
Susanne Sommer: Mühlen am Niederrhein. Die Wind- und Wassermühlen des linken Nie-
derrheins im Zeitalter der Industrialisierung (1814-1914). Köln/Bonn: Rheinland-Vgl. -
Habelt, 1991, 414 S., 318 Abb. sw, Ktn. (Werken und Wohnen, Volkskundliche Untersuchu-
gen im Rheinland, Bd. 19)
Evelyne Sorlin: Cris de vie, cris de mort. Les fées du destín dans les pays celtiques. Helsinki:
Academia Scientiarum Fennia, 1991, 346 S. (FF Communications No. 248)
Wolfgang Suppan (Hrsg.): Schladminger Gespräche zum Thema Musik und Tourismus. Tut-
zing: Schneider, 1991, 292 S. (Musikethnologische Sammelbände, Bd. 12)
160
Eingesandte Schriften
Valais d’émigration - Auswanderungsland Wallis. Begleitpublikation zur Ausstellung Ubi
bene ibi patria - Auswanderungsland Wallis 16.-20. Jahrhundert im Kantonalen Museum
für Geschichte und Ethno-Graphie Valère 1991, red. von Thomas Antonietti und Marie
Claude Morand. Sion: Musées cantonaux, 1991, 298 S., Abb. sw (Kantonais Museum Valère,
Ethnologische Reihe, Bd. 2)
Erscheinungsjahr 1992
Michael Andritzky (Hrsg.): OIKOS. Von der Feuerstelle zur Mikrowelle. Haushalt und Woh-
nen im Wandel. Gießen: Anabas, 1992, 516 S., üb. 600 tlw. färb. Abb.
Arbeitersiedlungen in Hamm. Hrsg, vom Oberstadtdirektor der Stadt Hamm in Zus.arb.
mit WohnBund Beratung NRW. Essen: Klartext, 1992, 175 S., Abb. sw
Armut im Rheinland. Dokumente zur Geschichte von Armut und Fürsorge im Rheinland
vom Mittelalter bis heute. Bearb. von Friedhelm Winforth. Kleve: Boss-Verlag, 1992, 304 S.,
174 Abb. sw (Veröffentlichungen der Staatlichen Archive des Landes Nordrhein-Westfalen,
Reihe G: Lehr- und Arbeitsmaterialien, Bd. 3)
Beiträge zur Volkskunde und Hausforschung, Bd. 5, hrsg. von Stefan Baumeier und Kurt
Dröge. Detmold: Westfälisches Freilichtmuseum, 1992, 207 S., zahlr. Abb. färb. u. sw
(Schriften des Westfälischen Freilichtmuseums Detmold, Beiträge 5)
Etta Bergen, Wilfried Wördemann: Badeleben. Zur Geschichte der Seebäder in Friesland. Ol-
denburg: Isensee, 1992, 276 S., Abb. färb. u. sw
Klaus Beyrer(Hrsg.): Zeit der Postkutschen. Drei Jahrhunderte Reisen 1600-1900. Mit Bei-
trägen von Wolfgang Behringer, Klaus Beyrer, Hermann Glaser, Wolfgang Kaschuba, Tho-
mas Koppen, Norbert Ohler, Martin Scharfe und Ralph-Rainer Wuthenow. Frankfurt am
Main: Deutsches Postmuseum, 1992, 315 S., Abb. färb. u. sw
Sybille Bolle-Zemp: Le réenchantement de la montagne. Aspects du folklore musical en
Haute-Gruyère. Basel: Schweizerische Gesellschaft für Volkskunde, 1992, 203 S. (Mémoires
de la Société siusse des traditions populaires, Vol. 74)
Christbaumschmuck. Aus den Sammlungen des Museums für Volkskunde. Katalogbearbei-
tung von Helena Horn, Stephanie Lohr, Sigrid Nagy, Dagmar Neuland, Ulrich Nußbeck
und Konrad Vanja. Berlin: Staatl. Museen zu Berlin - Preußischer Kulturbesitz, 1992,
79 S., zahlr. Abb. färb. u. sw
Comic Almanach 1992, hrsg. von Joachim Kaps in Zus.arb. mit dem Kulturamt der Stadt
Erlangen. Wimmelbach: Comic Press, 1992, 198 S., Abb. sw
13 Dinge. Form, Funktion, Bedeutung. Katalog zur gleichnamigen Ausstellung im Museum
für Volkskultur in Württemberg, Waldenbuch Schloß vom 3. Oktober 1992-28. Februar
1993. Mit Beiträgen von Martina Eberspächer, Christian Glass, Gottfried Korff, Martin Re-
xer, Hans-Ulrich Roller. Stuttgart: Württembergisches Landesmuseum, 1992, 276 S., zahlr.
Abb. färb. u. sw
Nicola Dischinger: Kultur - Macht - Image. Frankfurter Banken als Sponsoren. Frankfurt
am Main: Institut für Kulturanthropologie und Europäische Ethnologie, 1992,185 S. (Noti-
zen, Bd. 40)
Karl Ditt, Sidney Pollard (Hrsg.): Von der Heimarbeit in die Fabrik. Industrialisierung und
Arbeiterschaft in Leinen- und Baumwollregionen Westeuropas während des 18. und 19.
161
Eingesandte Schriften
Jahrhunderts. Paderborn: Schöningh, 1992, 508 S. (Westfälisches Institut für Regionalge-
schichte, Forschungen zur Regionalgeschichte, Bd. 5)
Christine Doege: Rheinisches Schützensilber. Die Bestände des Kölnischen Stadtmuseums.
Köln: Stadtmuseum, 1992, 208 S., Abb. färb. u. sw
Peter Dohms in Verb, mit Wiltrud Dohms und Volker Schroeder: Die Wallfahrt nach Keve-
laer zum Gnadenbild der „Trösterin der Betrübten“. Nachweis und Geschichte der Prozes-
sion von den Anfängen bis zur Gegenwart. Mit Abbildungen der Wappenschilder. Kevelaer:
Butzon & Bercker, 1992, 430 S., Abb. färb. u. sw
Alan Dundes: The Evil Eye. A Casebook. Madison/Wisconsin: University of Wisconsin
Press, 1992, 318 S.
Hermann Ehmann: affengeil. Ein Lexikon der Jugendsprache. München: C.EL Beck, 1992,
156 S.
Mircea Eliade: Schmiede und Alchemisten. Mythos und Magie der Machbarkeit. Frei-
burg/Basel/Wien: Herder, 1992, 221 S.
Gustav Faber: Auf den Spuren des Paulus. Eine Reise durch den Mittelmeerraum. Frei-
burg/Basel/Wien: Herder, 1992, 320 S., Karten
Norbert Fischer: „Das Herzchen, das hier liegt, das ist sein Leben los“. Historische Friedhöfe
in Deutschland. Fotographien von Wolfgang Jung, mit einem Beitrag von Ingmar Ambjorn-
sen. Hamburg: Galgenberg, 1992, 159 S., zahlr. Abb. färb. u. sw
Fotogeschichte. Beiträge zur Geschichte und Ästhetik der Fotographie. Jg. 12, 1992, H. 44.
Marburg: Jonas, 1992, 88 S., Abb. sw
Michael Pritsche (Hrsg.): Besonnte Kindheit und Jugend? Autobiographische Texte aus ver-
schiedenen Kulturen. Oldenburg: Bibliotheks- und Informationssystem der Universität,
1992, 278 S., Abb. färb. u. sw
Barbara Geiling-Maul, Hildegard Macha, Heidi Schrutka-Rechtenstamm, Anne Vechtel
(Hrsg.): Frauenalltag. Weibliche Lebenskultur in beiden Teilen Deutschlands. Köln: Bund,
1992, 256 S„ Abb. sw
Jaques Gelis: Das Geheimnis der Geburt. Rituale, Volksglaube, Überlieferung. Freiburg/Ba-
sel/Wien: Herder, 1992, 338 S., Abb. sw
Roland Girtler: Methoden der qualitativen Sozialforschung. Anleitung zur Feldarbeit. 3.,
unveränd. Aufl., Wien/Köln/Weimar: Böhlau, 1992, 179 S.
Fritz Graf{Hrsg.): Klassische Antike und neue Wege der Kulturwissenschaften. Symposium
Karl Meuli (Basel, 11.-13. September 1991). Basel: Schweizerische Gesellschaft für Volks-
kunde, 1992, 221 S. (Beiträge zur Volkskunde, 11)
Ueli Gyr: Das Welschlandjahr. Milieuwechsel und Alltagsforschung von Volontärinnen. Ba-
sel/Frankfurt am Main: Helbing & Lichtenhahn, 1992, 204 S. (Nationales Forschungspro-
gramm 21, Kulturelle Vielfalt und nationale Identität)
Christa Habiger-Tuczay: Magie und Magier im Mittelalter. München: Diederichs, 1992, 371
S., Abb. sw
Hans Haid: Aufbruch in die Einsamkeit. 5000 Jahre Überleben in den Alpen. Rosenheimer
Verlagshaus, 1992, 224 S., zahlr. färb. Abb.
Hans Haid, Josef Huber: Poesie des Landlebens. Bilder und Texte aus einer geliebten Heimat.
Innsbruck: Österreichischer Studien-Verlag, 1992, 96 S., Abb. sw
Walter Hartinger: Religion und Brauch. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft,
1992, 314 S.
162
Eingesandte Schriften
Hans-Peter Hasenfratz: Die religiöse Welt der Germanen. Ritual, Magie, Kult, Mythos. Frei-
burg/Basel/Wien: Herder, 1992, 139 S.
Stefan Heiland: Naturverständnis. Dimensionen des menschlichen Naturbezugs. Mit einem
Vorwort von Günter Altner. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1992, 190 S.
Nicolaus Heutger: Das Jahr des Herrn im alten Niedersachsen. Festbuch der St. Lamberti-
Kirche zu Hildesheim. Hildesheim: St. Lamberti-Kirchengemeinde, o.J. (1992), 100 S.
Bruno Hildenbrand, Karl Friedrich Böhler, Walter Jahn, Reinhold Schmitt: Bauernfamilien im
Modernisierungsprozeß. Frankfurt am Main/New York: Campus, 1992, 187 S.
Hubertus Hiller: Untertanen und obrigkeitliche Jagd. Zu einem konfliktträchtigen Verhält-
nis in Schleswig-Holstein zwischen 1600 und 1848. Neumünster: Wachholtz, 1992, 122 S.
(Studien zur Volkskunde und Kulturgeschichte Schleswig-Holsteins, Bd. 27)
Donald M. Hines: Ghost Voices: Yakima Indian Myths, Legends, Humor and Hunting Sto-
ries. Issaquah/Washington: Great Eagle Publishing, 1992, 435 S., Abb. sw
Otto Holzapfel: Vierzeiler-Lexikon. Schnaderhüpferl, Gesätzle, Gestanzeln, Rappeditzle,
Neck-, Spott-, Tanzverse und verwandte Formen aus mündlicher Überlieferung — ein kom-
mentiertes Typenverzeichnis. Bern/Frankfurt am Main/New York/Paris: Lang, Bd. 1, A-
E, 1991, 221 S., Bd. 2, F-J, 1992, 226 S., Bd. 3, K-N, 1992, 218 S. (Studien zur Volksliedfor-
schung, 7-9)
Mihdly Hoppal, Juha Pentikäinen (Hrsg.): Northern Religions and Shamanism. The Regio-
nal Conference of the International Association of the History of Religions, Selected Papers.
Budapest: Akademiai Kiadö, Helsinki: Finnish Literature Society, 1992,214 S. (Ethnologica
Uralia)
Gabriele Huber: Die Porzellan-Manufaktur Allach-München GmbH, eine „Wirtschaftsun-
ternehmung“ der SS zum Schutz der „deutschen Seele“. Marburg: Jonas, 1992, 224 S., 79
Abb. sw
Paul Hugger (Hrsg.): Handbuch der schweizerischen Volkskultur. 3 Bände im Schuber, Ba-
sel: Schweizerische Gesellschaft für Volkskunde/Zürich: Offizin, 1992, 1534 S., Abb. färb,
u. sw
MechtildM. Jansen, Doron Kiesel, Heike Deul (Hrsg.): Rechtsradikalismus. Politische und so-
zialpsychologische Zugänge. Frankfurt am Main: Haag & Herchen, 1992, 127 S. (Arnolds-
hainer Texte, Bd. 73)
Reinhard Karrenbrock: Zwei Generationen westfälischer Bildhauer. Heinrich Meiering,
Bernd Meiering. Bildwerke des 17. Jahrhunderts aus dem Cloppenburger Münsterland,
Emsland, Osnabrücker Land. Cloppenburg: Museumsdorf Cloppenburg, Niedersächsi-
sches Freilichtmuseum, 1992, 210 S., Abb. färb. u. sw
Ulrich Keuler: Häberle und Pfleiderer. Zur Geschichte, Machart und Funktion einer popu-
lären Unterhaltungsreihe. Tübingen: Tübinger Vereinigung für Volkskunde, 1992, 203 S.
(Untersuchungen des Ludwig-Uhland-Instituts der Universität Tübingen. Bd. 78)
Dagmar Kift (Hrsg.): Kirmes - Kneipe - Kino. Arbeiterkultur im Ruhrgebiet zwischen
Kommerz und Kontrolle (1850-1914). Paderborn: Schöningh, 1992, 257 S., Abb. sw (For-
schungen zur Regionalgeschichte, Bd. 6)
Nora und Bertram Kircher: Familienfeste von A-Z. Das praktische Lexikon für das ganze
Jahr. Freiburg/Basel/Wien: Herder, 1992, 224 S., Abb. sw
Ronald G. Knapp (Hrgs.): Chinese Landscapes. The Village as Place. Honolulu: University
of Hawaii Press, 1992, 313 S., Abb. sw
163
Eingesandte Schriften
Franz Kohlschein, Bernhard Schwessinger: „ Ihr Vierzehn Heil’gen, groß bei Gott, o helft uns
in Not und Tod!“ Untersuchungen zu den Wallfahrtsbüchern des Wallfahrtsortes Vierzehn-
heiligen. Bamberg: Historischer Verein, 1992, 115 S.
Dieter Kramer, Ronald Lutz (Hrsg.): Reisen und Alltag. Beiträge zur Kulturwissenschaftli-
chen Tourismusforschung. Frankfurt am Main: Institut für Kulturanthropologie und Euro-
päische Ethnologie der Universität Frankfurt, 1992, 273 S. (Notizen, Bd. 39)
Thomas Kuchenbuch: Die Welt um 1900. Unterhaltungs- und Technikkultur. Stuttgart:
Metzler, 1992, 268 S., 58 Abb. sw
Sabine Kübler: Blatt für Blatt die Rose. Katalog des Rosenmuseums Steinfurth. Rosenmu-
seum Steinfurth, Bad Nauheim/Steinfurth, 1992, 112 S., Abb sw
Kultur und Staat in der Provinz. Perspektiven und Erträge der Regionalgeschichte. Hrsg,
von Stefan Brakensiel, Axel Flügel, Werner Freitag, Robert v. Friedeburg. Bielefeld: Verlag
für Regionalgeschichte, 1992, 420 S. (Studien zur Regionalgeschichte, Bd. 2)
ReimundKvideland (Hrsg.): Tradition and Modernisation. Plenary Papers read at the 4th In-
ternational Congress of the Société internationale d’Ethnologie et de Folklore. Turku: Nor-
dic Institute of Folklore, 1992, 121 S. (NIF Publications, 25)
Eva Labouvie: Verbotene Künste. Volksmagie und ländlicher Aberglaube in den Dorfge-
meinden des Saarraumes (16.-19. Jahrhundert). St. Ingbert: Röhrig, 1992, 403 S., 31 Abb.
sw (Saarland-Bibliothek, Bd. 4)
Landes- und Volkskundliche Filmdokumentation, Katalog ’92/93, bearb. von Alois Dö-
ring. Köln: Rheinland-Vlg., 1992, 92 S., Abb. sw
Heike Linderkamp: „Auf Ziegelei“ an der Niederelbe. Zur saisonalen Wanderarbeit lippi-
scher Ziegler im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert. Stade: Geschichts- und Heimatver-
ein, 1992, 247 S., 35 Abb. sw, Tabellen (Einzelschriften des Stader Geschichts- und Heimat-
vereins, Bd. 31)
Klaus-Joachim Lorenzen-Schmidt, Björn Poulsen (Hrsg.): Bäuerliche Anschreibebücher als
Quellen zur Wirtschaftsgeschichte. Neumünster: Wachholtz, 1992, 244 S., Abb. sw, Tabel-
len (Studien zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte Schleswig-Holsteins, Bd. 21)
Kaspar Maase: BRAVO Amerika. Erkundungen zur Jugendkultur der Bundesrepublik in
den fünfziger Jahren. Hamburg: Junius, 1992, 312 S., Abb. sw (Schriftenreihe des Hambur-
ger Instituts für Sozialforschung)
Eske K. Mathiesen: Den Evige Jode. En monolog. Kopenhagen: Foreningen Danmarks Fol-
keminder, 1992, 22 S.
Helma Meier-Kaienburg: Frauenarbeit auf dem Land. Zur Situation abhängig beschäftigter
Frauen im Raum Hannover 1919-1939. Bielefeld: Verlag für Regionalgeschichte, 1992, 385
S., Tabellen (Hannoversche Schriften zur Regional- und Lokalgeschichte, Bd. 6)
SigneMellemgaard: Distriktskegen og lae soboerne. En medicinsk topografi fra 1859 og dens
forudsætninger. Odense: Landbohistorisk Selskab, 1992, 229 S., Abb. sw
Michael G. Meraklis: Studien zum griechischen Märchen. Eingeleitet, übersetzt und bearbei-
tet von Walter Puchner. Wien: Österreichisches Museum für Volkskunde, 1992, 244 S.
(Raabser Märchen-Reihe, Bd. 9)
Marita Metz-Becker: Henriette Keller-Jordan. Portrait einer vergessenen Schriftstellerin.
Marburg: Presseamt, 1992, 128 S., Abb. sw (Marburger Stadtschriften zur Geschichte und
Kultur, 41)
164
Eingesandte Schriften
Dietz-Rüdiger Moser (Hrsg.): Glaube im Abseits. Beiträge zur Erforschung des Aberglau-
bens. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1992, 496 S.
Johannes Moser, Elisabeth Katschnig-Easch (Hrsg.): Blatten. Ein Dorf an der Grenze. Graz:
Kuckuck/Institut für Volkskunde, 1992, 108 S., (Kuckuck, Notizen zu Alltagskultur und
Volkskunde, Sonderband 2)
Münzkabinett Museum Nienburg. Ehemalige Grafschaften Hoya, Diepholz und Wölpe im
Mittel weserraum. Dauerausstellung im Fresenhof. Nienburg/Weser: Museum Nienburg,
1992, 98 S., Abb. sw
Günther Noll (Hrsg.): Musikalische Volkskunde - heute. Symposion anläßlich des 25jäh-
rigen Bestehens des Instituts für Musikalische Volkskunde am 1. und 2. Dezember 1989 in
Köln. Köln: Universität, 1992, 263 S.
Günther Noll, Wilhelm Schepping (Hrsg.): Musikalische Volkskultur in der Stadt der Gegen-
wart. Hannover: Metzler Schulbuch, 1992, 219 S., 29 Abb. sw (Musikalische Volkskunde,
Materialien und Analysen, Schriftenreihe des Instituts für Musikalische Volkskunde der
Universität zu Köln)
Heinrich Nuhn: August Spies. Ein hessischer Sozialrevolutionär in Amerika. Opfer der Tra-
gödie auf dem Chicagoer Haymarket 1886/87. Mit Selbstzeugnissen und Dokumenten und
einem Nachwort von Professor Dr. Peter Assion. Kassel: Jenior & Pressler, 1992, 223 S.,
Abb. sw (Friedewälder Beiträge zur regionalen Volks- und Landeskunde, 1)
Nabil Osman (Hrsg.): Kleines Lexikon untergegangener Wörter. Wortuntergang seit dem
Ende des 18. Jahrhunderts. 6. unveränd. Aufl. München: C.H. Beck, 1992, 263 S.
Helmut Ottenjann, Karl-Heinz Ziessow (Hrsg.): Die Kartoffel. Geschichte und Zukunft einer
Kulturpflanze. Cloppenburg: Museumsdorf, 1992, 396 S., zahlr. Abb. färb. u. sw (Arbeit
und Leben auf dem Lande, Eine kulturwissenschaftliche Schriftenreihe, Bd. 1)
Patchwork-Quilts von Liesel Niesner aus Nienburg-Holtorf. Ausstellung im Fresenhof des
Museums Nienburg/Weser, 20. September bis 1. November 1992. Nienburg: Museum
Nienburg/Weser, 1992, 143 S., 77 Abb. färb. u. sw
Lorenz Peiffer {Hrsg.): Illustrierte Geschichte der Deutschen Turnerjugend. Essen: Klartext,
1992, 313 S., zahlr. Abb. sw
Martin Pott: Aufklärung und Aberglaube. Die deutsche Frühaufklärung im Spiegel ihrer Aber-
glaubenskritik. Tübingen: Niemeyer, 1992, 454 S. (Studien zur deutschen Literatur, Bd. 119)
Heinz-Jürgen Priamus, Stefan Goch: Macht der Propaganda oder Propaganda der Macht? In-
szenierung nationalsozialistischer Politik im „Dritten Reich“ am Beispiel der Stadt Gelsen-
kirchen. Essen: Klartext, 1992, 119 S., 71 Abb. sw (Schriftenreihe des Instituts für Stadtge-
schichte, Beiträge, Bd. 3)
Joachim Burkhard Richter: Hans Ferdinand Maßmann. Altdeutscher Patriotismus im 19.
Jahrhundert. Berlin/New York: De Gruyter, 1992, 482 S. (Quellen und Forschungen zur
Sprach- und Kulturgeschichte der germanischen Völker, NF 100)
Hans Ritz: Die Geschichte vom Rotkäppchen. Ursprünge, Analysen, Parodien eines Mär-
chens. 10., erw. u. neubearb. Aufl., Göttingen: Muriverlag, 1992, 191 S., Abb. sw
Brigitte Rossetti: Die Turkmenen und ihre Teppiche. Eine ethnologische Studie. Berlin: Rei-
mer, 1992, 278 S., zahlr. Abb. färb. u. sw, Tabellen
Sagenhafter Untersberg. Die Unter bergssage in Entwicklung und Rezeption. Hrsg, von Ul-
rike Kammerhofer-Aggermann unter Mitarb. von Katharina Krenn. Salzburg: Salzburger
Landesinstitut für Volkskunde, 1991/92, 288 S., 62 Abb. sw (Salzburger Beiträge zur Volks-
kunde, Bd. 5)
165
Eingesandte Schriften
Salzburger Klöppelspitzen - Reihe, Spitzenmuster aus dem Heimatkundlichen Museum
St. Gilgen und dem Salzburger Museum Carolino Augusteum mit Klöppelbriefen und An-
leitungen zum Nacharbeiten. Ausgearb. von Monika Thonhauser, Folge 3. Neukirchen am
Großvenediger: Tauriska, 1992, Abb. und Anleitungen
Holger Schettler: Arbeiter und Angestellte im Film. Die Darstellung der sozialen Lage von
Arbeitern und Angestellten im deutschen Spielfilm 1918-1939. Bielefeld: Verlag für Regio-
nalgeschichte, 1992, 359 S. (TRI-ERGON, Schriften zum Film, Bd. 1)
Gisela Schiller: Der organisierte Tod. Beobachtungen zum modernen Bestattungswesen.
Düsseldorf: Fachverlag des deutschen Bestattungsgewerbes, o.J. (1992), 183 S.
Hans Joachim Schröder: Die gestohlenen Jahre. Erzählgeschichten und Geschichtserzählung
im Interview: Der Zweite Weltkrieg aus der Sicht ehemaliger Mannschaftssoldaten. Tübin-
gen: Niemeyer, 1992, 1028 S. (Schriften und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur, Bd. 37)
Rainer Schröder: Das Gesinde war immer frech und unverschämt. Gesinde und Gesinde-
recht vornehmlich im 18. Jahrhundert. Frankfurt am Main: Keip, 1992, 218 S.
Gerhard Schulze: Die Erlebnisgesellschaft. Kultursoziologie der Gegenwart. Frankfurt am
Main: Campus, 1992, 765 S.
Anna-Lena Siikala, Mihaly Hoppal: Studies on Shamanism. Helsinki: Finnish Anthropologi-
cal Society/Budapest: Akademiai Kiadö, 1992, 230 S., 20 Abb. sw (Ethnologica Uralica, Bd.
2)
Gerd Spies: Technik der Steingewinnung und der Flußschiffahrt im Harzvorland in früher
Neuzeit. Braunschweig: Städtisches Museum, 1992, 188 S., zahlr. Abb. sw, Karten (Braun-
schweiger Werkstücke, Reihe B, Bd. 14)
Susanna Stolz: Die Handwerke des Körpers. Bader, Barbier, Perückenmacher, Friseur - Fol-
ge und Ausdruck historischen Körperverständnisses. Marburg: Jonas, 1992, 352 S., zahlr.
Abb. sw
Daniel Strauss (Hrsg.): Die Sinti/Roma - Erzählkunst im Kontext Europäischer Märchen-
literatur. Berichte und Ergebnisse einer Tagung. Heidelberg: Dokumentations- und Kultur-
zentrum Deutscher Sinti und Roma, 1992, 205 S. (Schriftenreihe des Dokumentations- und
Kulturzentrums Deutscher Sinti und Roma, 1)
Silke Technau: Zu Besuch in der Kasperbude. Streizüge über den Jahrmarkt ins Figurenthea-
ter. Frankfurt am Main: Puppen & Masken, 1992, 131 S., 28 Abb. sw
Gertrud Tobias, Johannes Boettner (Hrsg.): Von der Hand in den Mund. Armut und Armuts-
bewältigung in einer westdeutschen Großstadt. Essen: Klartext, 1992, 152 S.
Trotz alledem! Arbeiteralltag und Arbeiterkultur zur Zeit der Weimarer Republik in Duis-
burg. Hrsg, von der Stadt Duisburg, Red.: Manfred Pojana, Martina Will. Essen: Klartext
1992, 303 S.
Tunnel. Orte des Durchbruchs. Mit Beiträgen von Elmar Altwasser, Olge Dommer, Burk-
hard Fuhs, Friedhelm Grafweg, Detlef Hoffmann, Harald Kimpel, Dieter Mayer-Gürr, Pe-
ter Plaßmeyer, Hans-Christian Täubrich, Johanna Werckmeister. Marburg: Jonas, 1991,140 S.,
Abb. sw
Erika Uitz: Die Frau in der mittelalterlichen Stadt. Freiburg/Basel/Wien: Herder, 1992, 221 S.
Vermittlung durch Vorführung? Demonstration traditioneller und historischer Arbeits-
techniken im Museum. Bericht über die 3. Tagung der Museumspädagogen an Freilicht- und
Industriemuseen im Volkskunde- und Freilichtmuseum Roscheider Hof Konz und im
166
Eingesandte Schriften
Rheinischen Freilichtmuseum/Landesmuseum für Volkskunde Kommern vom 22.-24.
November 1989. Köln: Rheinland-Vlg./Bonn: Habelt, 1992, 89 S. (Führer und Schriften des
Rheinischen Freilichtmuseums und Landesmuseums für Volkskunde in Kommern, Nr. 46)
Volkskalender im 19. und 20. Jahrhundert. Zeitweiser, Lesestoff und Notizheft. Begleitband
zur Ausstellung im Kreismuseum Walderbach vom 22. Juli bis 31. Oktober 1992, red. von
Christine Oßwald. Cham: Landratsamt, 1992, 144 S. Abb. sw (Schriftenreihe Kreismuseum
Walderbach/Landkreis Cham)
Volkskunde en museum: een literatuurwijzer. Samenstelling: Jaap Kerkhoven, redactie:
Paul Post. Amsterdam/Arnhem:. J. Meertens-Institut, 1992, 140 S. (Publikaties van het P. J.
Meertens-Institut, deel 19)
Von der Volkskunst zur Moderne. Kunst und Handwerk im Elbe-Weser-Raum 1900-1930.
Stade: Landschaftsverband Bremen u. Verden, 1992, 288 S., zahlr. Abb. färb. u. sw
Bernd Wedemeyer: Wohnverhältnisse und Wohnungseinrichtung in Göttingen im 18. und in
der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Göttingen: Unitext Verlag, 1992, 232 S., 9 Abb. sw
(Reihe Kulturwissenschaft, Bd. 1)
Dorle Weyers, Christoph Köck: Die Eroberung der Welt. Sammelbilder vermitteln Zeitbilder.
Mit einem Beitrag von Kurt Dröge. Detmold: Landschaftsverband Westfalen-Lippe, Westfä-
lisches Freilichtmuseum, 1992, 175 S., zahlr. Abb. färb. u. sw (Schriften des Westfälischen
Freilichtmuseums Detmold - Landesmuseum für Volkskunde, Bd. 9)
Ernst Ziegler: Die Milizen der Stadt St. Gallen. Rorschach: Kantonale St. Gallische Winkel-
riedstiftung, Verlag E. Löpfe-Benz, 1992, 389 S., Abb. färb. u. sw
Erscheinungsjahr 1993
Edwin Huwyler: Die Bauernhäuser der Kantone Obwalden und Nidwalden. Basel: Schwei-
zerische Gesellschaft für Volkskunde. 1993, 591 S., 911 Abb., 6 Färbt. (Die Bauernhäuser der
Schweiz, Bd. 20)
Brietz-Rüdiger Moser: Bräuche und Feste im christlichen Jahreslauf. Brauchformen der Ge-
genwart in kulturgeschichtlichen Zusammenhängen. Graz/Wien/Köln: Styria, 1993, 320
S-, zahlr. Abb. färb. u. sw
Beter Vosswinkel: Der schwarze Urin. Vom Schrecknis zum Laborparameter. Mit einem An-
hangkapitel über die Geschichte des Harnstreifentests. Berlin: Blackwell, 1993, XIV/282 S.,
67 Abb. sw, 16 Farbtaf., 33 Tabellen
167
Anschriften der Autorinnen und Autoren der Aufsätze und Berichte
Dr. Jan Carstensen, Westfälisches Freilichtmuseum Detmold, Krummes Haus,
W-4930 Detmold
Walter Dehnert, Taubenweg 9, W-3550 Marburg
Dr. Cornelia Foerster, Historisches Museum, Bleichstr. 2, W-4800 Bielefeld 1
Prof. Dr. Helge Gerndt, Institut für deutsche und vergleichende Volkskunde, Ludwigstr. 25,
W-8000 München 22
Frank Heins, M. A., Koppel 100, W-2000 Hamburg 1
Elisabeth Höhnen, Weißenburger Str. 57/HS 4, W-5000 Köln 1
Prof. Dr. Leopold Kretzenbacher, Stangersdorf 20, A-8403 Lebring
Dr. Barbara Krug-Richter, Grimmstr. 6, W-4400 Münster
Prof. Dr. Carola Lipp, Seminar für Volkskunde, Friedländer Weg 2, W-3400 Göttingen
Prof. Dr. Wolfgang Lipp, Universität Würzburg, Lehrstuhl für Soziologie II,
Philosophische Fakultät III, Wittelsbacher Platz 1, W-8700 Würzburg
Dr. Ronald Lutz, Freiherr-vom-Stein-Str. 13 A, W-6309 Münzenberg
Dr. Gustav Schock, Landesstelle für Volkskunde, Alexanderstr. 9A, W-7000 Stuttgart 1
Dr. Claudia Schöning-Kalender, Gesamthochschule Kassel, Ausländerpädagogik,
Nora-Platiel-Str. 1, W-3500 Kassel
Dr. Michael Simon, Volkskundliches Seminar, Domplatz 23, W-4400 Münster
168
Das Ethos der
Humboldt-Universität zu Berlin
Universitätsbibliothek
Zweigbibliothek^Gfifchichte
Regid&rêichsbibtiothekÎÜrôp^ Ethnoiogie
Friedenstr. 3 '
Von RolfLindner Berlin*10249 Berlin
I
Die Rede von der kulturellen Eigenart ist durchaus nicht unproblematisch. In
Konzepten wie Eigenart, Identität usw. klingt stets etwas an, was Nachfrage provo-
ziert, was, wie es Hermann Bausinger formuliert hat, „des Abklopfens auf ihren
ideologischen Gehalt“ bedarf.* 1 Identität behauptet das Einssein mit sich selbst,
eine Übereinstimmung, die stets die Abweisung des Nichtübereinstimmenden
miteinschließt. Darin besteht das ideologische Potential dieser Konzepte: sie die-
nen nicht nur als Medium der Selbstzuschreibung und als Zertifikate von Authen-
tizität, sondern auch der Artikulation eines ethnozentrisch-xenophoben Codes.
Argumente, die die Bedeutung des Ethnopluralismus und der kulturellen Identität
betonen, gehören inzwischen zum Kernbestand des Diskurses der „Neuen Rech-
ten“. Das gilt nicht nur für Deutschland. Wie der französische Ethnologe Gérard
Althabe betont, haben die Intellektuellen der Rechten in Frankreich die These von
der „singularité ethnoculturelle“ in ihre Argumentation aufgenommen, um ihr
zentrales Thema — die Bekräftigung der Differenz und die Unmöglichkeit der An-
gleichung — zu stützen.2 Daß Argumente des Kulturrelativismus aufgegriffen und
genutzt werden können, die dieser doch allererst gegen den biologistischen Rassis-
mus entwickelt hatte3, daß es, wie unlängst Wolfgang Welsch hervorgehoben hat,
zu einem „kulturellen Rassismus“ kommen kann, der besagt: „Diese Kultur ist
eine andere als jene; nichts aus ihr ist unverändert in eine andere zu übertragen;
man muß Kulturen reinlich trennen und scheiden“4, liegt am Essentialismus des
* Diesem Aufsatz liegt ein Vortrag zugrunde, den ich am 28. September 1992 als fellow am Kultur-
wissenschaftlichen Institut Essen gehalten habe. Ich danke den Kollegiaten für Anregung und Kri-
tik. Eine erste schriftliche Fassung haben Aleida Assmann und Norbert Schindler kommentiert.
Ihnen gilt mein besonderer Dank.
1 Hermann Bausinger: Volkskunde und Volkstumsarbeit im Nationalsozialismus, in: Volkskunde
und Nationalsozialismus. Referate und Diskussionen einer Tagung der Deutschen Gesellschaft für
Volkskunde. München 23. bis 25. Oktober 1986. Herausgegeben von Helge Gerndt, München
1987, S. 131-141, hier: S. 141, Anm. 45.
2 Gérard Althabe: Vers une ethnologie du présent, in: Revue de L’Institut de Sociologie No. 3-4/
1988, S. 95.
3 George W. Stocking, Jr: Franz Boas and the Culture Concept in Historical Perspective, in: Ders.:
Race, Culture, and Evolution. Essays in the History of Anthropology, Chicago/London 1982,
S. 195-233. Vgl. zur Rolle des kulturellen Relativismus bei der Reduktion von „Difference“ auf
„Sameness“ (indem ihm nämlich alles gleich gilt) Paul Robinow: Humanism as Nihilism: The
Bracketing of Truth and Seriousness in American Cultural Anthropology, in: Social Science as
Moral Inquiry. Ed. by N. Haan, R. N. Bellah, P. Rabinow, W. M. Sullivan, New York 1983,
S. 52-75.
4 Wolfgang Welsch: Transkulturalität. Lebensformen nach der Auflösung der Kulturen, in: Informa-
tion Philosophie 19. Jg., H. 2/1991, S. 8
169
Rolf Lindner
Kulturrelativismus: Im Insistieren auf die Integritas kultureller Identität steckt im-
mer auch das Moment der Bewahrung vor Durchmischung. Begriffen wie „Eigen-
art“ und „Identität“ ist etwas überaus Beharrendes und tief Verankertes gemein;
mit ihnen wird Wesen und Wurzelgrund assoziiert. Mit dieser Substanzlogik gera-
ten diese Begriffe in die Nähe dessen, was, bezogen auf das Thema „Region“, in der
älteren Volkskunde die sog. „Stammescharakteristika“ meinten, die sich zu sog.
„Wesenslandschaften“ verdichteten, „in denen dasselbe Wesen, derselbe menschli-
che Charakter vorherrscht“: der fröhliche Rheinländer zum Beispiel oder der stu-
re Westfale.5 Ein klassisches Beispiel für diese Richtung ist die von Martin Wähler
1937 unter dem Titel „Der deutsche Volkscharakter“ herausgegebene „Wesenskun-
de der deutschen Volksstämme und Volksschläge“, aus der die zitierte Bestimmung
der „Wesenslandschaft“ stammt. Aufgabe des Werkes war es, den Versuch einer
„volkskundlichen Charakteristik der deutschen Volksstämme und Volksschläge,
einer seelischen Stammeskunde auf Erfahrungsgrundlage“ zu wagen6, wobei der
sprachliche Zusammenhang des Wortes Stamm mit dem Wort Abstammung nach
Ansicht von Wähler ein rassisches Gliederungsprinzip nahelege. Trotz dieser auf
die Zeitumstände opportunistisch einschwenkenden Argumentation, wäre es
kurzsichtig, die Wesenskunde der deutschen Volksstämme einseitig als ein Pro-
dukt nationalsozialistischen Denkens zu sehen; das ist sie höchstens dort, wo
Stämme als mystische Blut- und Kultgemeinschaften gesehen werden. Die Proble-
matik selbst, daß nämlich „gewisse regionale Verschiedenheiten vorhanden sind,
die sich stark im Leben der Völker bemerkbar machen“, ist in den späten 20er Jah-
ren virulent; davon zeugen u.a. die Verhandlungen des Siebenten Deutschen So-
ziologentags in Berlin (1930), bei denen, in der Untergruppe für Politische Soziolo-
gie im übrigen das Thema „Die deutschen Stämme“ behandelt wurde, referiert
und diskutiert u.a. von Franz Eulenburg, Willy Hellpach und Werner Sombart.7
Die Spannweite des „wesenskundlichen Denkens“ reicht, das wird in der Regel
übersehen, von der Rassenkunde bis zur Mentalitätsforschung. Nirgendwo wird
diese Spannweite deutlicher als im Werk des Soziologen und Volkskundlers Wil-
helm Brepohl. Nimmt man die Zitationshäufigkeit als Index, dann muß Brepohl
als Klassiker der Sozialgeschichte des Ruhrgebiets und der Industrievolkskunde an-
gesehen werden. Aber die am häufigsten zitierten Nachkriegsschriften „Der Auf-
bau des Ruhrvolkes im Zuge der Ost-West-Wanderung“ von 1948 und „Industrie-
volk im Wandel von der agraren zur industriellen Daseinsform dargestellt am
Ruhrgebiet“ aus dem Jahre 1957 hängen materialiter nicht in der Luft, sondern
sind von den Untersuchungen und Erhebungen gespeist, die Brepohl als Leiter der
5 Martin Wähler: Einleitung zu: Der deutsche Volkscharakter, Hrsg, von M. Wähler, Berlin 1937,
S. 24.
6 Wie Anm. 5, S. 8.
7 Verhandlungen des Siebenten Deutschen Soziologentages vom 28. September bis 1. Oktober 1930
in Berlin. Untergruppe für politische Soziologie. Gegenstand: „Die deutschen Stämme“, Tübin-
gen 1931, S. 233-278. Das vorstehende Zitat findet sich in den einleitenden Worten des Sektions-
vorsitzenden Eulenburg, S. 233.
170
Das Ethos der Region
Forschungsstelle für das Volkstum im Ruhrgebiet während des Nationalsozialismus
durchgeführt hat bzw. hat durchführen lassen. Ich will an dieser Stelle nicht näher
auf die Frage des Bezugs dieser Arbeiten zur nationalsozialistischen Politik
eingehen8; mir geht es hier vor allem um die durchaus irritierende Spannweite des
„wesenskundlichen Denkens“, wie ich sie weiter oben skizziert habe. Geradezu pa-
radigmatisch kommt diese im Aufsatz „Das Ruhrvolk und die Volkstumsfor-
schung“ aus dem Jahre 1937 zum Ausdruck. Hier argumentiert Brepohl nämlich
einerseits strikt rassekundlich, wobei er vor allem dem Zusammenhang von sog.
rassischen Sondereigenschaften und industriellen Berufserfordernissen nachgeht
(und damit die Arbeit der Forschungsstelle, wie Weyer zeigt, für Einrichtungen
wie die DINTA, das Deutsche Institut für technische Arbeitsschulung, nützlich zu
machen sucht); andererseits behauptet er expressis verbis gegen den Rassegedan-
ken, ein Ruhrvolk im Werden, das im Kulturellen zur regionalen Einheit strebt:
„Zunächst gibt es eine Art Eigenbewußtsein, das sich in dem Raum von Hamm bis Duis-
burg geltend macht. In diesem Raum, der frühestens bei Hamm anfängt, ... und bis an den
Rhein reicht, ... ,denkt’ man. Es ist der Raum des fast ausschließlich von Kohle und Eisen
bestimmten Lebens ... Diese Raumeinheit ist eine Lebenseinheit, ein Gebiet, das ausschließ-
lich von der Industrie regiert wird und in dem alles andere freundliche Zugabe ist... Inner-
halb dieser im Bewußtsein festen Grenze ,verstehen’ sich die Menschen, sie halten sich samt
und sonders für ihresgleichen, meinen sich, wenn sie ,wir’ sagen - kurz sie schreiben sich
wechselseitig eine Art geistiger Verwandtschaft zu, die es gestattet, sich unbeschwert auszu-
drücken, wobei sie fest davon überzeugt sind, daß sie richtig verstanden werden ... Dieser
von einem und demselben Stil geformte Raum zwischen Dortmund und Duisburg kenn-
zeichnet sich auch geistig - zum Beispiel darin, daß man hier die Industrie genau kennt,
daß die Namen der großen Firmen und der Industriekapitäne allen geläufig sind, und darin,
daß die Menschen zu Technik, Maschine, Elektrizität im gleichen Verhältnis stehen. In
ihnen das Dämonische oder Titanenhafte zu sehen, liegt diesen Menschen nicht; denn es ist
die Welt ihres Alltags“.9
Diese Passage, die Brepohl nahezu unverändert in den „Aufbau des Ruhrvolks“
übernommen hat und (dort) zu den meist zitierten Abschnitten seines Werkes ge-
hört10, ist durch einen gewissermaßen alltagssoziologischen und mentalitätsge-
schichtlichen Horizont gekennzeichnet. Fernab vom biologischen Determinis-
mus argumentiert Brepohl hier geradezu konstruktivistisch: die geistige Verwandt-
schaft erscheint als Resultat wechselseitiger Zuschreibung. Das rückt ihn in die
Nähe eines anderen Bearbeiters der Stammesproblematik, nämlich Max Weber.
Dieser ist im Kapitel IV des zweiten Teil von Wirtschaft und Gesellschaft, betitelt
>,Ethnische Gemeinschaftsbeziehungen“, auf die uns hier interessierende Fragestel-
8 Johannes Weyer ist dieser Frage in seinem Aufsatz: Die Forschungsstelle für das Volkstum im Ruhr-
gebiet (1935-1941). Ein Beispiel für Soziologie im Faschismus, in: Soziale Welt Jg. XXXV/1984,
S. 124-145 ausführlich nachgegangen.
9 Wilhelm Brepohl: Das Ruhrvolk und die Volkstumsforschung, in: Rheinische Vierteljahresblätter,
Jg. 7(1937), S. 366 f.
10 Wilhelm Brepohl: Der Aufbau des Ruhrvolks im Zuge der Ost-West-Wanderung, Recklinghausen
1948, S. 35—37. Die zitierte Passage ist hier noch mit textlichen Einschüben versehen.
171
Rolf Lindner
lung eingegangen. Weber, der übrigens ethnisch fast durchgängig in Anführungs-
zeichen schreibt, weil er, wie er am Ende dieses Kapitels bekundet, in diesem
Begriff einen „für jede wirklich exakte Untersuchung ganz unbrauchbare(n) Sam-
melname^)“ sieht11, vermeidet den essentialistischen Fehlschluß von vornherein
dadurch, daß er in den Mittelpunkt seiner Überlegungen nicht die Stammesver-
wandtschaft als objektiven Tatbestand als vielmehr den Stammesverwandtschafts-
glauben rückt: „Fast jede Art von Gemeinsamkeit und Gegensätzlichkeit des Habi-
tus und der Gepflogenheiten kann Anlaß zu dem subjektiven Glauben werden,
daß zwischen den sich anziehenden oder abstoßenden Gruppen Stammesverwandt-
schaft oder Stammesfeindlichkeit bestehe“.12 Die moderne Ethnizitätsdebatte vor-
wegnehmend, die in ethnischen Gruppen solche sieht, die sich selbst eine kol-
lektive Identität zusprechen13, nennt Weber ethnische Gruppen „solche Men-
schengruppen, welche auf Grund von Ähnlichkeiten des äußeren Habitus oder der
Sitten oder beider oder von Erinnerungen an Kolonisation und Wanderung einen
subjektiven Glauben an eine Abstammungsgemeinschaft hegen“.14 Die Nähe zu
Brepohl (oder besser, die Nähe Brepohls zu Weber) wird hier deutlich: „Ethnizi-
tät“ erscheint als Resultat einer wechselseitigen Zuschreibung geistiger Verwandt-
schaft, die auf dem „Erkennen“ anhand von kulturellen Selbstverständlichkeiten
beruht. Sich der regionalen Identität bewußt zu sein heißt dann, sich unter seines-
gleichen fraglos, also natürlich bewegen zu können, „die gleiche Sprache zu spre-
chen“, wie gesagt wird. Es ist die Fraglosigkeit des Verstehens, die die geistige Ver-
wandschaft ausmacht und das „Erkennen“ bedingt.15 16 Fragt man nach den Elemen-
ten, die das geistige „Verstehen“, das wechselseitige „Wiedererkennen“ begründen,
dann bleiben als „ethnische“ Differenzen, sieht man einmal, wie es Weber gedan-
kenexperimentell tut, von der Sprachgemeinschaft und der Gleichartigkeit der ri-
tuellen Lebensreglementierung ab (wobei er hinzufügt, daß starke Dialektunter-
schiede und Unterschiede der Religion ethnische Gemeinschaftsgefühle nicht ab-
solut ausschließen) vor allem die in die Augen fallenden Unterschiede in der Le-
bensführung, und zwar gerade solche Dinge, führt Weber aus, „welche sonst (als) von
untergeordneter sozialer Tragweite erscheinen können“, Unterschiede der typi-
11 Max Weber: Wirtschaft und Gesellschaft, 1. Halbband, fünfte, rev. Auflage, Tübingen 1976, S. 242.
12 Wie Anm. 11, S. 237.
13 Ygl. exemplarisch für die letzten Jahre die Sammelwerke: Ethnizität im Wandel, hrsg. von Peter
Waldmann/Georg El wert, Saarbrücken/Fort Lauderdale 1989 sowie Ethnizität, hrsg. von Eckhard
J. Dittrich/Frank-Olaf Radtke, Opladen 1990
14 Wie Anm. 11, S. 237.
15 „Wir sagen“, schreibt Ludwig Wittgenstein, „von einem Menschen, er sei uns durchsichtig. Aber
es ist für diese Behauptung wichtig, daß ein Mensch für einen anderen ein völliges Rätsel sein kann. Das
erfährt man, wenn man in ein fremdes Land mit gänzlich fremden Traditionen kommt; und zwar
auch dann, wenn man die Sprache des Landes beherrscht. Man versteht die Menschen nicht (und
nicht darum, weil man nicht weiß, was sie zu sich selber sprechen). Wir können uns nicht in sie
finden“. Zit. nach Clifford Geertz: Dichte Beschreibung, Frankfurt am Main 1987, S. 20.
16 Wie Anm. 11, S. 238 f.
172
Das Ethos der Region
sehen Kleidung, der typischen Wohn- und Ernährungsweise, der üblichen Art der
Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern, „alle solche Dinge also, bei denen es
sich fragt: was für,schicklich’ gilt und was vor allem das Ehr- und Würdegefühl des
einzelnen berührt“.16
II
Am 2. Dezember 1980 erscheinen in der Westdeutschen Allgemeinen Zeitung
(WAZ), auf der Revierseite, zwei Fotos aus einer Reportage des Deutsch-
Amerikaners Michael Wolf über das Leben in der Zechenkolonie Bottrop-Ebel.
Diese Reportage ist Teil einer Fotoaktion der Folkwangschule über das Ruhrge-
biet. Die beiden Fotos werden in den Kontext von Auszügen aus Hans-Dieter Ba-
roths (d.i. Dieter Schmidt) autobiographisch gefärbten Roman „Aber es waren
schöne Zeiten“ gestellt und werden mit einer redaktionellen Kommentierung ver-
sehen. Der Kommentar lautet folgendermaßen: „Der gebürtige Amerikaner Mi-
chael Wolf hat eine Zeit in Bottrop-Ebel zugebracht. Der junge Fotograf hat dort
offenbar viele Freunde gefunden, die ihm soviel Vertrauen entgegenbrachten, daß
er auch in ihren Wohnungen ungeniert Aufnahmen machen durfte. Nicht anders
ist die herzerfrischende Intimität seiner Bilder vom Leben der Bergmannskolonie
zu erklären“. Der Sprachduktus des Kommentars ist bekannt. Es ist die Sprache des
ethnologischen Textes, die, indem auf die Gewinnung des Vertrauens, ein Kern-
element des ethnologischen Diskurses, verwiesen wird, zugleich die Authentizität
des Textes verbürgt. Mit diesem Duktus ist etwas vorgegeben, was mit dieser Form
verknüpft ist, nämlich der Befund einer gewissen „Ursprünglichkeit“, vulgo Pri-
mitivität. Gerade bei ethnologischen Untersuchungen „at home“ ist der Tatbe-
stand des Auserwähltseins, d. h. einer Untersuchung wert zu sein, für die Unter-
suchten eine durchaus ambivalente Ehre, kann er doch von vornherein als Beweis
sozialer Randständigkeit genommen werden.16 17 Die beiden Abbildungen folgen,
bewußt oder unbewußt, der Tradition der visuellen Anthropologie. Auf der linken
Seite ist ein Foto von einer Hausschlachtung zu sehen: das abgestochene Schwein
füllt den Vordergrund, dahinter befinden sich zwei männliche Personen mittleren
Alters, von denen die eine, angetan mit einer blutbefleckten Schürze, gerade ein
Schnapsglas zum Munde führt, während die andere dem Vollzug des Rituals nach-
schenkbereit folgt. Das Foto auf der rechten Seite hat, wie die Überschrift ausweist,
den „Badetag“ zum Thema. Auf dem Foto ist, wie die Unterlagen im Ruhrland-
museum Essen verraten, eine 80jährige Frau am Herd zu sehen, die gerade Kaffee
kocht, sowie, etwas angeschnitten, im Vordergrund ihr 74jähriger Mann, der in ei-
ner relativ kleinen Zinkwanne hockt und sich wäscht. Auf dem Herd steht noch
ein Einkochtopf, in dem das Badewasser erwärmt wurde; am rechten unteren Rand
16 Wie Anm. 11, S. 238 f.
17 Vgl. Cynthia Keppley Mahmood: Transatlantic Interpretation: Insight or Insult?, Ethnofoor, III (2)
1990, S. 70.
173
Rolf Lindner
ragt ein Schöpftopf ins Bild, der offensichtlich dem Nachgießen von heißem Was-
ser zur Spülung dient. Auf der Rückseite des Orginalabzugs, archiviert im Ruhr-
landmuseum, ist folgende Legende zu lesen: , Jeden 2. Freitag wird so gebadet“.
Die Fotos zeigen unmißverständlich Eingeborene bei ihren rituellen Verrichtun-
gen.
Die Indigenen finden die in die Öffentlichkeit gezerrte Intimität der Aufnah-
men alles andere als „herzerfrischend“; vielmehr wird der WAZ-Bericht zum Ge-
genstand der größten Erregung auf der einmal jährlich stattfindenden Bürgerver-
sammlung. Diese Versammlung wurde durch eine weitere ethnographische Arbeit
dokumentiert, nämlich die Chronik der Dreharbeiten der Dokumentarfilmerin
Gabriele Voss, aus der ich auch im folgenden zitiere.18
Man fühlt sich übers Ohr gehauen, das Vertrauen, das entgegengebracht wurde,
erscheint als mißbraucht: „Der Mike hat z. B. folgende Erklärung abgegeben: daß
diese Aufnahmen nur für ihn bestimmt sind, für eine Studienarbeit. Die in seiner
Heimat vielleicht einmal veröffentlicht werden soll, aber nicht hier. Dies ist die
große Enttäuschung des einen oder anderen, daß die Dinger in der WAZ oder drü-
ben im Folkwang-Museum und in Zukunft weiß ich nicht, wo sonst noch weiter-
laufen werden. Auch der Anton (der Mann in der Wanne, R. L.) ist darüber ent-
täuscht. Ich habe persönlich mit ihm gesprochen. Der hat eine Pulle Schnaps hin-
gestellt und hat gesagt, genau wie er es uns gesagt hat: nur eine Studienarbeit“.19
Auch die Flasche Schnaps als Maßnahme der Vertrauensgewinnung ist aus der eth-
nologischen Feldforschung nicht ganz unbekannt. Wichtiger aber ist, daß die Pro-
bleme, die hier angesprochen werden, in ihrer Reihung geradezu Textbuch-Charak-
ter haben: die Probleme des Zugangs, des Eindringens in den Lebensraum einer
Gruppe von Menschen, wie es in einem Textbuch heißt; die Erläuterung von Sinn
und Zweck der Untersuchung (wobei die Erklärung, dies alles diene dem Studien-
abschluß, zur Standardformel junger Erforscher der eigenen Kultur geworden ist);
der Umgang mit dem Forschungsobjekt (Rückmeldung im Feld, Einspruchsrecht
der Untersuchten) und, hier schlagend vor Augen geführt, die Probleme, die mit
der Publikation verbunden sind (das „When The People We Write About Read
What We Write“-Problem), dies alles ist unlängst noch einmal im Zusammenhang
mit dem Klassiker der soziologischen Feldforschung, William F. Whytes „Street
Corner Society“, zur Sprache gebracht worden.20 Aber was an den Bildern erregt
die Gemüter so? Ein Teilnehmer der Bürgerversammlung faßt die Kritik oder bes-
ser: die Gefühle der Betroffenen folgendermaßen zusammen: „Wir wollen eines:
unser Image wahren. Wir wollen nicht, daß man denkt, Ebel ist ein verkommenes
18 Gabriele tbss: Der zweite Blick. Prosper Ebel. Chronik einer Zeche und ihrer Siedlung, Berlin o. J.
(1983).
19 Wie Anm. 18, S. 69.
20 Vgl. Heft 1/1992 der Zeitschrift Journal of Contemporary Ethnography, das ganz dem Thema
„Street Corner Society Revisited“ gewidmet ist.
174
Das Ethos der Region
Nest, wo Schweine geschlachtet werden21, wo nachts jemand in der Blechwanne
liegt, wo keiner deutsch kann, wo man nicht einmal schreiben kann“.22 Ausgehend
von einem, in charakteristischer Weise deplazierten, Versatzstück des medialen
Diskurses („Image wahren“) - Bourdieus These von der „geborgten Sprache“
trifft hier den Sachverhalt genau - entfaltet sich eine für den Außenstehenden
erstaunliche Assoziationskette der Vorwurfs- und Vorurteilsunterstellung - vom
„verkommenen Nest“ über „Schweineschlachter“ bis zum Analphabetentum —,
eine Assoziationskette, die nur als Rechtfertigungsrhetorik zu begreifen ist. In dieser
Rechtfertigungsrhetorik, deren Elemente, vom „Schwein“ bis zur „Blechwanne“
(Blechnapf?), ein- und vieldeutig zugleich sind, verrät sich eine Grundhaltung tief-
ster Beschämung, die dadurch zustande kommt, daß man in den Augen Dritter als
minderwertig, unzivilisiert, barbarisch erscheinen könnte.
Eine solche Grundhaltung ist den Bewohnern von Ebel, das von den Bottroper
Pohlbürgern wegen der vielen polnisch sprechenden Bewohnern lange Zeit Klein-
Warschau genannt wurde, in besonderer Weise nahegelegt, ja, man möchte sagen,
eingetrieben worden.
In Ebel zu wohnen galt bis in die 60er Jahre hinein als Makel; die Stigmatisie-
rung traf vor allem Kinder, die eine weiterführende Schule besuchten. Ich kann
mich noch erinnern, daß unser Klassenlehrer (oder war es der Rektor?) einen Mit-
schüler als ersten Oberschüler aus Ebel vorstellte, als würde er sagen: der „erste Ne-
ger an unserer Schule“. Ob es überhaupt zutraf, daß er der erste war, vermag ich
nicht zu sagen, tut aber auch wenig zur Sache. Tatsache ist, daß Ebel selbst in der
Bergbaustadt Bottrop Metapher für tiefstes Revier war. Der quasi koloniale Status
des frühen Reviers wird in der räumlichen Gestalt der Kolonie Ebel präsent. Von
vier Seiten ist sie wie eine Enklave eingeschlossen: nach Norden von der Emscher
und dem Emscherschnellweg, nach Süden vom Rhein-Herne-Kanal, nach Westen
von einem Bahndamm und einer Schnellstraße, nach Osten von Halden und einem
Tanklager der VEBA-Ol-AG. Ebel steht für das tiefste Revier, die Emscherzone,
wie die Emscherzone für das Ruhrgebiet steht: a heartland of darkness.23
Die Rede vom „Dreck“ bildet, so die Feststellung von Aring, Butzin und Co. in
ihrer wahrnehmungsgeographischen Studie zur Krisenregion Ruhrgebiet, den ver-
dichteten Kristallisationskern des Negativimage der Region. Ihrer Meinung nach
schlägt sich darin die Wahrnehmung des Ruhrgebiets als umweltverschmutzte Re-
21 Die Hausschlachtung hat(te)als Schlachtfest einen festen Platz im Jahrsablauf des Lebens der Berg-
arbeitersiedlung. Vgl. die Beschreibung in: Hochlarmarker Lesebuch. Kohle war nicht alles, Ober-
hausen 1981, S. 89 f. Interessant ist, daß dieses Ritual nach außen hin als beschämender Akt inter-
pretiert wird.
22 Wie Anm. 18, S. 69.
23 Die an Joseph Conrad angelehnte Umschreibung erfuhr letzthin eine überraschende Bestätigung
durch die Präsidentin des Zentralkomitees der deutschen Katholiken, Rita Waschbüsch, die zum
Vorschlag von Entwicklunghilfeminister Spranger, Asylbewerber aus Afrika und Asien einem
Aidstest zu unterziehen, feststellte: „Eine Unterscheidung zwischen Afrikanern und Bottropern
ist unzulässig“ (zit. n. Frankfurter Rundschau, 9. 1. 1993: Aufgespießt).
175
Rolf Lindner
gion nieder.24 Doch der ökologische Diskurs ist relativ jung, die Rede vom Dreck
aber hat die Geschichte des Ruhrgebiets begleitet. Diese Rede meint mehr als die
Wahrnehmung der montanindustriellen Umweltbelastung; sie bildet vielmehr,
dies meine These, eine semantische Verdichtung, d. h. eine Vorstellung, die „für sich
allein mehrere Assoziationsketten“ vertritt, „an deren Kreuzpunkt sie sich befin-
det“.25 In der Assoziationskette des Ebeler Bürgers, die von „Schmutz“ über die
„Schamlosigkeit“ bis hin zur „Primitivität“ reicht, ist die ganze Fülle vom
„Dreck“ als semantische Verdichtung enthalten. Diese Assoziationskette reprodu-
ziert noch einmal die Verschränkung von Arbeit, Armut und Schmutz, Schmutz
und Laster („wo nachts jemand in der Blechwanne liegt“), wie sie im 19. Jahrhun-
dert mit Blick auf das Proletariat herausgebildet wurde. „Dreck und Unrat sind die
entscheidenden Faktoren bei dem Bild, das sich (der Bourgeois) vom Volk macht“,
heißt es bei Alain Corbin.26 Als dessen Repräsentanten erscheinen daher in den
„low life studies“ auch zunächst „blackish figures“, der Kohlenträger etwa, der
Schornsteinfeger und der Müllarbeiter (also jene Personenstände, die die Drecksar-
beit leisten), bis die Sozialenquete das gesamte Proletariat zu ihrem Objekt er-
wählt. Als zentrales Diskurselement der frühen bürgerlichen Erziehungsprogram-
me, die sich an die Proletarier und Pauperschichten richten, ist die Rede vom
Dreck moralischer Natur. „Sauberkeit ist alles zugleich, sowohl Mittel der Selb-
sterhaltung als auch ein Zeichen, das den Sinn für Ordnung und Beständigkeit zum
Ausdruck bringt“, schreibt 1820 der „Armenbesucher“ Joseph Marie Dégerando,
Mitglied der „Société des Observateurs de l’homme“ und Autor der wegweisenden
„Considérations sur les méthodes à suivre dans l’observation des peuples sauva-
ges“27. „(E)s ist betrüblich anzusehen“, fährt Dégerando fort, „wie wenig diese
Tugend den meisten Bedürftigen bekannt ist - ein trauriges Symptom der morali-
schen Krankheit, von der sie befallen sind“28. „In der Zeit zwischen Reichsgrün-
dung und Erstem Weltkrieg“, darauf hat Klaus Mönkemeyer aufmerksam gemacht,
„wird Sauberkeit in den verschiedensten Phänomenen festgestellt und beschrieben.
Sauberkeit ist Zustand, ist direkte körperliche Reinigung, erscheint als Institution
der Hygiene, wird aber auch als Empfinden und als soziale Verkehrsform (sauber
zu sein) festgestellt“.29 Die Reinigung des Menschen wird, so Mönkemeyer, zur Be-
24 Jürgen Aring/Bernhard Butzin/Rainer Danielzyk/Ilse Helbrecht: Krisenregion Ruhrgebiet? Alltag,
Strukturwandel und Planung (= Wahrnehmungsgeographische Studien zur Regionalentwick-
lung, Heft 8), Oldenburg 1989, hier: S. 182.
25 Jean Laplanche/J.-B. Pontalis: Das Vokabular der Psychoanalyse, Band 2, Frankfurt am Main 1992,
S. 580.
26 Alain Corbin: Pesthauch und Blütenduft. Eine Geschichte des Geruchs, Frankfurt am Main 1973,
S. 192.
27 Jean Marie Degérando: Erwägungen über die verschiedenen Methoden der Beobachtung der wilden
Völker, in: Sergio Moravia: Beobachtende Vernunft. Philosophie und Anthropologie in der Auf-
klärung, München 1973, S. 219-251.
28 Zit. nach Corbin, wie Anm. 26, S. 209.
29 Klaus Mönkemeyer: Schmutz und Sauberkeit. Figurationen eines Diskurses im Deutschen Kaiser-
reich, in: Imbke Behnken (Hrsg.): Stadtgesellschaft und Kindheit im Prozeß der Zivilisation, Opla-
den 1990, S. 73 f.
176
Das Ethos der Region
reinigung vom Animalischen, wobei aber im Reinigungsakt, soweit er kollektiv
verläuft, das Animalische lauert.30
Eine Sekundäranalyse der Interviews von Aring, Butzin und Co., die Ruhrge-
bietsbewohner nach ihrer Meinung über Ruhrgebietsklischees befragt hatten, zeigt
im sprachlichen Ausgleiten, daß die Rede vom Dreck noch heute eine moralische
ist: assoziativ wird direkt von dreckigste Stadt auf meiste Arbeitslose geschlossen
(„Stand auch letztens erst wieder inner Zeitung ... dreckigste, meiste Arbeitslose“),
Dreck mit Verkommenheit verbunden („Jetzt Ruhrgebiet eben so dreckig und ver-
kommen“) oder generell von „als wenn wir wirklich wie im Dreck leben“ gespro-
chen, eine Redewendung, die ja nicht nur stoffliches, sondern gerade soziales
meint.31 Noch deutlicher tritt dieser Assoziationshof bei den politischen Reprä-
sentanten zutage, deren Klage über eine ihrer Meinung nach einseitige oder ver-
fälschte Ruhrgebietsdarstellung in den Medien mit schöner Regelmäßigkeit die
Rede davon, daß nur die „dreckigsten Ecken des Ruhrgebiets“ gezeigt werden,
verknüpft mit dem Anwurf, daß die Darstellung angefüllt sei mit „Geschmack-
losigkeiten und Obzönitäten“: Bei der Kritik des Films „Bergeborbecker Noti-
zen“ von Dieter Baroth, vorgetragen vom ehemaligen Essener Oberbürgermeister
Horst Katzor, kommt es zu einer ähnlichen Verkettung von Schmutz, Laster und
Dummheit, wie wir sie bei der Aussage des Ebeler Bürgers vorgefunden haben:
»Der Film stellt eine einzige Verzerrung und Uberzeichnung dar. Er reiht nur Ne-
gatives aneinander und läßt den ungerechtfertigten Eindruck entstehen: In diesem
Stadtteil ist alles schmutzig, verlottert, trist, ungebildet, kulturlos und zudem auch
noch dümmlich“.32
Auf viele Stellvertreter in den Revierstädten scheint zuzutreffen, was Sighard
Neckel am Beispiel des Schreibers Makar Alexejewitsch Djewuschkin, Hauptper-
son in Dostojewkis Roman „Arme Leute“(1846), aufgezeigt hat: „In einem schein-
bar unentfliehbaren Zirkel von realen Erfahrungen, von Projektionen und Selbst-
beobachtung lebend, wird das tatsächlich begründete oder auch nur auf Einbil-
dung beruhende Gefühl, ständig herabsetzend taxiert zu werden, zum Anlaß einer
permanenten, latenten Scham“.33
30 Franz-Josef Brüggemeier hat die Befürchtungen vor Augen geführt, die das Bürgertum bei der Ein-
führung einer neuen Reinigungsvorrichtung, der Brausen in Waschkauen, befielen. Vgl. F.-J. Brüg-
gemeier: Leben vor Ort. Ruhrbergleute und Ruhrbergbau 1889-1919, München 1983, S. 138 f.
31 Wie Anm. 24. Vgl. vor allem S. 172-175.
32 Zit. n. Roland Günter/Paul Hofmann/Janne Günter: Das Ruhrgebiet im Film. Bd. 2, Oberhausen
1978, S. 694.
33 Sighard Neckel: Status und Scham, Frankfurt am Main/New York 1991, S. 90. Meine Hervorhe-
bung. Um dem naheliegenden Einwand zu begegnen, die Beispiele seien älteren Datums und daher
für die heutigen Verhältnisse nicht mehr aussagekräftig, nur ein Beispiel aus dem Jahre 1992: der
Streit darüber, ob der Vorsitzende der F.D.P.-Fraktion im nordrhein-westfälischen Landtag Achim
Rohde „die Menschen im Ruhrgebiet beschimpft, beleidigt und diskriminiert“ hat. Nach den
Feststellungen des Stenographischen Dienstes des Landtags hat Rohde in der Debatte gesagt: „Daß
Sie keine Ahnung haben, weiß ich, das sieht man Ihrem Gesicht an. Kommen Sie nicht aus dem
Ruhrgebiet?“ Vgl. den Bericht in der WAZ vom 25. Januar 1992 (Bericht und Hintergrund).
177
Rolf Lindner
III
Max Webers Konzeption der „geglaubten Gemeinsamkeit“, die auf dem Erken-
nen anhand von Gepflogenheiten der Lebensführung beruht, hat viel gemeinsam
mit dem kulturanthropologischen Ethos-Konzept34, das die Aufmerksamkeit auf
die „Tönung“ einer Gesellschaft lenkt, auf die spezifische Ausrichtung und den
vorherrschenden „Tenor“. Dabei geht es häufig um kulturelle Details, die neben-
sächlich erscheinen, um „Ausschmückungen“, die, Indizien ähnlich, Auskunft ge-
ben über den „Charakter“, den „Stil“ einer Kultur. Ihr hoher Wiedererkennungs-
wert läßt sie zugleich zum potentiellen Träger der Vergemeinschaftung werden. Es
ist gewiß kein Zufall, daß die prominentesten zeitgenössischen Vertreter des Ethos-
Konzepts in Anthropologie und Soziologie, Clifford Geertz und Pierre Bourdieu,
Weberianer sind: verstanden als Neigung zu (wie sie etwa in Webers vernachlässig-
ter Kategorie der „Wahlverwandtschaft“ zur Geltung gelangt) wie als Ausdruck
von einer Lebensform (die Art der Lebensführung) bildet die Idee des „Ethos“
heute eine Synthese anthropologischer und soziologischer Überlegungen.35 Das
Konzept, das auf den gewohnheitsmäßigen Charakter zielt, den die Mitglieder ei-
ner Gesellschaft gemeinsam haben, meint weniger eine durch die Normen einer
expliziten Ethik geprägte Haltung, als vielmehr jene Besonderung einer Kultur,
wie sie in den Neigungen (und Abneigungen) ihrer Mitglieder zum Ausdruck
kommt, meint weniger ihre Gesinnung als vielmehr ihren „Sinn“ für (oder gegen)
etwas: nirgendwo mag dieser Sinn stärker zutage treten, als in dem, was man „auf
den Tod“ nicht ausstehen kann.
Der schwedische Anthropologe Ulf Hannerz hat den Versuch unternommen,
das Ethoskonzept auf eine räumliche Einheit, nämlich die Stadt zu übertragen. In
seinem Bemühen um eine urban anthropology, die ihren Namen verdient, plädiert
er für einen konfigurationalen Ansatz, der die Stadt in den jeweiligen gesellschaftli-
chen Nexus stellt, innerhalb dessen sie eine besondere Rolle spielt. Dabei dient ihm
das Ethos-Konzept vor allem dazu, die einzelnen Elemente zusammenzufügen, um
so etwas wie eine spezifische „Gestalt“ herauszuarbeiten. Auf diese Weise sollen,
das ist die damit verbundene Hoffnung, die Defizite einer ausschließlich auf Klein-
räume konzentrierten Stadtethnologie behoben werden.36 Zur Begründung wie
34 Vgl. Gregory Bateson, Naven, 2nd edition Stanford 1958 (‘ 1936); Alfred L.Kroeber, Anthropology.
Race, Language, Culture, Psychology, Prehistory, 2nd, revised edition, New York 1948, S. 292-295.
35 Es wäre lohnend, das Verhältnis der Konzepte „Ethos“ und „Habitus“ im Werk von Pierre Bour-
dieu systematisch zu bestimmen, und zwar sowohl unter werkgeschichtlichen wie unter epistemo-
logischen Gesichtspunkten: inwieweit beschneidet zum Beispiel das Habituskonzept (im Unter-
schied zum Konzept des Ethos) die Analyse des Lebensstils der unteren Klassen um die Dimension
der „sozialen Ehre“ (im Sinne von Max Weber), die zentral im „Kampf um Anerkennung“ ist. Vgl.
Axel Honneth: Kampf um Anerkennung. Zur moralischen Grammatik sozialer Konflikte, Frank-
furt am Main 1992 sowie Ders.: Die zerrissene Welt des Sozialen. Sozialphilosophische Aufsätze,
Frankfurt am Main 1990.
36 Ulf Hannerz: Exploring the City. Inquiries Toward an Urban Anthropology, New York 1980, v. a.
S. 296-308.
178
Das Ethos der Region
zur Illustration seiner Argumentation greift Hannerz auf eine Studie von Anthony
Leeds zurück.37 Dieser hat in einer stadtethnologischen Skizze versucht, die stilisti-
schen Differenzen zwischen Rio de Janeiro und Sao Paulo herauszuarbeiten. Leeds
ursprünglicher Forschungsgegenstand, die favela, steht ebenfalls ganz in der Tradi-
tion einer kleinräumig orientierten, holistisch verfahrenden Stadtethnologie: „Al-
most without exception, all literature on favelas treats them as enclaves having
their own unique internal characteristics in all respects: they are self-maintaining,
culturally autonomous outsiders, strangers to the city; in fact, they are rural
migrants who have squatted in the physical confines of the city, remaining isolated
in it, but not of it“.38 Aber ist es wirklich nicht von Belang, ob die untersuchte fave-
la in Rio de Janeiro oder in Sao Paulo liegt? Eben um die Beantwortung dieser Fra-
ge geht es Leeds, der untersucht, inwieweit sich Rio und Sao Paulo als Ganze unter-
scheiden. Es ist, anders formuliert, die Frage nach dem dominanten Ethos der
Stadt.
Leeds nimmt, für Stadtforscher eher ungewöhnlich, die sexuelle Atmosphäre
beider Städte zum Ausgangspunkt seiner Argumentation. Warum, so fragt er sich,
finden wir in Rio, im Unterschied zu Sao Paulo, eine so ausgeprägte, öffentlich
spürbare, geradezu zur Schau gestellte Sinnlichkeit vor? Die Antwort findet er
knapp zusammengefaßt in der besonderen Rolle, die Rio in Brasilien spielt. Rio de
Janeiro bildet den institutionellen Zusammenhang für eine patrimoniale Verwal-
tungselite, die öffentliche Positionen einnimmt, die der kontinuierlichen symboli-
schen Bekräftigung bedürfen, um Macht, Einfluß und Prestige zu erhalten: „The
resort-town atmosphere and economy (beaches, carnival, vistas and outlooks) are
both physical arenas for the specialized social drama of Rio and part of the actual
economy of the courtly-patrimonial elitism which permeates all sectors and activi-
ties of Rio’s population“.39 Im Vergleich dazu ist Sao Paulo eine „nüchterne“ Stadt
mit einer gleichsam protestantischen Ethik: „Weitläufigkeit und tropische Lebens-
kunst ist nicht die Stärke der geschäftigen Paulistanos; eher vermitteln sie einen
Hauch von sympathisch-solidem Provinzialismus“, heißt es in einem Reisebe-
richt.40 Als führende Industrie- und Handelsstadt Brasiliens ist Sao Paulo durch
private Eliten geprägt, die führende Positionen im Wirtschaftsleben einnimmt. De-
ren Aktivitäten und Interessen sind, im Unterschied zur Zurschaustellungspraxis
einer quasi-feudalen Repräsentationskultur, durch Zurückhaltung, Diskretion und
private Kontakte geprägt: „The operations of home life, courtship, sexuality are
correspondingly private“.41 Gewiß bedarf die Überlegung von Leeds der analyti-
schen Präzisierung und der historischen Vertiefung — zu fragen wäre etwa nach der
37 Anthony Leeds: The Anthropology of Cities: Some Methodological Issues, in: Elizabeth M. Eddy
(Hrsg.): Urban Anthropology, Athens 1968, S. 31-47.
38 Wie Anm. 37, S. 33.
39 Wie Anm. 37, S. 37.
Martin Gester: Lokomotive für ein ganzes Land. „Zukunft der Stadt“ (XIII): Sao Paulo, das New
York des Südens, trägt die Last Brasiliens, Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 7. 7. 1992, S. 29.
41 Wie Anm. 37, S. 37.
179
Rolf Lindner
Bedeutung der Stadtgeschichte (Sao Paulo als Gründung der Jesuiten, Rio als por-
tugiesische Residenzstadt) und dem Stellenwert der unterschiedlichen Bevölke-
rungszusammensetzung (Rios Wachstum beruhte in nicht unerheblichem Aus-
maß auf einer Sklavenpopulation, während Sao Paulos Wachstum vor allem euro-
päischer Immigration zu verdanken ist) —, beeindruckend bleibt, wie das jeweilige
Ethos alle Sektoren und Aktivitäten zu durchtränken scheint und auf alle Schich-
ten übergreift. Im Stellenwert und in der Praxis des Karnevals, der als eine kulturel-
le Verdichtung, und somit als eine Art Schlüssel zur Kultur, anzusehen ist (ähnlich
wie der balinesische Hahnenkampf in der Interpretation von Clifford Geertz),
zeigt sich dies auf besonders eindrucksvolle Weise. In den prunkvollen Aufzügen
der (vor allem von Angehörigen der unteren Schichten getragenen) Samba-
Schulen, in der barocken Prachtentfaltung, in der Imitation von Reichtum, Glanz
und höfischem Auftreten, alles Aspekte, die charakteristisch für den Karneval in
Rio (im Vergleich zur gleichsam plebeischen kermesse in Sao Paulo) sind, tritt die
Bedeutung von Privileg und Prestige als symbolische Statuskomponenten (selbst
noch in ihrer proletarisierten Version) zutage. Man gewinnt den Eindruck als ob
das Ethos (ähnlich wie das Standesethos des höfischen Menschen bei Elias) kein
verkapptes Wirtschaftsethos mehr sei, sondern zum Selbstzweck geworden ist.
Das jeweilige Ethos (einer Kultur, einer Stadt, einer Region) ist nicht ohne Sub-
jekt; vielmehr hat es, ganz im Sinne von Webers Untersuchungen zur Wirtschafts-
ethik, soziale Gruppen als Träger, Angehörige der Schicht(en), „deren Lebensfüh-
rung wenigstens vornehmlich bestimmend geworden ist“.42 Auch wenn uns Leeds
Beispiele, bei denen einmal die Verwaltungselite, das andere Mal die Wirtschaftseli-
te tonangebend war, einen entsprechenden Schluß nahelegen, gehören die Träger
des Ethos nicht notwendig der jeweiligen Führungsschicht (im Sinne der gesell-
schaftlichen Elite) an. Es ist vielmehr die Lebensführung der gesellschaftlichen
Gruppe, die aus historischen, mit den prägenden Wirtschaftsektoren verbundenen
Gründen für eine Stadt bzw. eine Region maßgebend geworden ist, die zum kultu-
rellen Leitbild wird.
In seiner „Volkskunde“ hat Hermann Bausinger deutlich gemacht, daß die Ste-
reotypisierung von Stämmen „nicht selten an ganz bestimmten Sozialschichten
und Gruppen entwickelt werden. Im deutschen Südwesten herrscht zum Beispiel
ein bürgerliches Stereotyp vor; die Honoratioren vertreten weitgehend den Stamm.
Im niedersächsischen Bereich tritt das bäuerliche — und zwar das großbäuerliche —
Element stärker in den Vordergrund. Natürlich hat dieser Unterschied wiederum
reale Hintergründe; aber der sogenannte Stammescharakter kommt jedenfalls
nicht durch ein Abwägen der Sozialstatistik zustande, sondern durch die Verabso-
lutierung einer bestimmten Schicht. Gegensätze und Unterschiede zwischen So-
zialschichten werden so - zum Teil wohl recht gezielt - aufgehoben, indem alle
42 Max Weber: Die Wirtschaftsethik der Weltregionen, in: Ders.: Gesammelte Aufsätze zur Religions-
soziologie I, Tübingen 1988, S. 239.
180
Das Ethos der Region
Schichten auf einen bestimmten Identifikationsraum festgelegt und symbolisch
auf eine einzige Schicht bezogen werden“.43
In diesen Ausführungen steckt die Überlegung, daß Regionalkulturen symboli-
sche Klassen- bzw. Schichtkulturen sind, bzw. besser, als solche wahrgenommen
werden. Mit Blick auf das Ruhrgebiet erweist sich eine solche Überlegung als fol-
genreich: das Ruhrgebiet erscheint vor diesem Hintergrund nicht nur als eine indu-
strielle Landschaft, sondern auch als eine Region, in der, wie es Karl Rohe ausge-
drückt hat, „(d)ie Bergarbeiterschaft... möglicherweise so etwas wie ein funktiona-
les Äquivalent für eine regionale Honoratiorenschicht in ländlich-agrarischen
Landschaften darstell(t)“.44 In dem, was Bausinger als „Stereotypisierung“ bezeich-
net, deutet sich überdies eine Perspektive an, die die regionale Identität auch als ein
Produkt „interaktiver Imagination“ — vor „reale(n) Hintergründe(n)“ — betrach-
tet, in der sowohl Auto- wie Heterostereotype eine Rolle spielen.
IV
Die merkwürdig subjektlose Betrachtung der Krisenregion Ruhrgebiet im re-
gionalwissenschaftlichen Schrifttum verkennt die historische Besonderheit dieser
Landschaft, die nicht nur darin besteht, daß es sich dabei um eine montanindu-
striell geprägte Region handelt, sondern auch — damit unmittelbar einhergehend —
um eine „Arbeiterrepublik“, wie es so treffend ein Interviewter in der Studie von
Aring, Butzin u. a. ausgedrückt hat. In einem, wie Klaus Tenfelde betont, unver-
gleichlichem Ausmaß, ist die Bevölkerung des Ruhrgebiets durch die Schwerindu-
strie in ein Klassenverhältnis gedrängt worden, „das sich durch weitgehend gleiche
Arbeits- und Lebensverhältnisse in Lohnabhängigkeit auszeichnete“.45 Diese sozia-
le Monokultur hat zu dem ebenfalls von Tenfelde angemerkten Tatbestand ge-
führt, daß eine Untersuchung der sozialen Ungleichheit in bezug auf die Region
stets zwei Ebenen zu beachten hat, nämlich einerseits die soziale Ungleichheit des
Ruhrreviers im Vergleich zu anderen Regionen, also die Andersartigkeit und Un-
terschiedlichkeit der Lebensbedingungen im schwerindustriellen Ballungsraum,
und die soziale Ungleichheit im Ruhrrevier als bedeutender Erfahrungshinter-
grund für Leben und Handeln in der Region.46 Ich denke, daß uns mit dieser Un-
terscheidung ein wichtiges heuristisches Mittel jenseits der von Tenfelde angestreb-
ten Ungleichheitsforschung an die Hand gegeben ist, um bestimmte regionalspezi-
43 Hermann Bausinger: Volkskunde. Von der Altertumsforschung zur Kulturanalyse, 2. Auflage, Tü-
bingen 1979, S. 121.
44 Karl Rohe: Regionalkultur, regionale Identität und Regionalismus im Ruhrgebiet: Empirische
Sachverhalte und theoretische Überlegungen, in : Industriegesellschaft und Regionalkultur. Un-
tersuchungen für Europa, hrsg. von Wolfgang Lipp, Köln etc., 1984, S. 135.
Klaus Tenfelde: Soziale Schichtung, Klassenbildung und Konfliktlagen im Ruhrgebiet, in: Wolfgang
Köllmann/Hermann Korte/Dietmar Petzina/Wolfhard Weher (Hrsg.): Das Ruhrgebiet im Indu-
striezeitalter, Bd. 2, Düsseldorf 1990, S. 147.
46 Vgl. wie Anm. 45, S. 154.
181
Rolf Lindner
fische Eigentümlichkeiten und Merkwürdigkeiten besser zu verstehen, aber auch,
um die Blicke von außen, die den Imagekorrektoren so sehr zu schaffen machen,
besser einordnen zu können. Der immer wieder zitierte, aber unverstanden geblie-
bene Tatbestand einer 1985 durchgeführten Imageuntersuchung, daß nämlich
einerseits 61 Prozent der Revierbürger „gerne im Ruhrgebiet wohnen“ und nur
elf Prozent überhaupt wegziehen möchten, andererseits aber 60 Prozent der in an-
deren Regionen befragten Personen „auf keinen Fall“ und weitere 33 Prozent „nur
ungern“ ins Ruhrgebiet ziehen würden47, scheint mir ein Resultat dieser Dialektik
von innen und außen zu sein. Das Ruhrgebiet stellt sich binnenregional als eine re-
lativ homogene Soziallandschaft dar, ein Tatbestand, der, so meine Vermutung, die
Attraktivität der Region interregional mindert: hier scheint der bewohnte Raum,
ganz im Sinne von Bourdieu, als eine spontane Metapher für den sozialen Raum
zu fungieren.48
Die Homogenisierung der sozialen Landschaft „Ruhrgebiet“ verdankt sich der
historischen Tatsache, daß die Dominanz der schwerindustriellen Arbeiterklasse
zum einen keine bedeutende innere Schichtung zuließ, es also nur zu schwachen
betriebs- und berufsbedingten Abgrenzungen innerhalb der Arbeiterbevölkerung
kam, sie zum anderen zu einer Konstellation führte, in deren Sog sich, wie Tenfelde
hervorhebt, „auch die selbständige Mittelschicht, deren Einkommen und Lebens-
weise sich mindestens am unteren Rand nicht deutlich von den Lohnabhängigen
unterschied, hineinversetzt sah“.49 Karl Rohe hat verschiedentlich darauf aufmerk-
sam gemacht, daß einer der konstitutiven historischen Prägefaktoren der
Ruhrgebiets-Kultur eine Nicht-Tatsache war, nämlich der weitgehende Ausfall
bürgerlich-bildungsbürgerlicher Schichten als stilbildender Träger.50 Dieser Aus-
fall ist durchaus wörtlich zu nehmen. Detlev Vonde spricht in seiner Studie „Re-
vier der großen Dörfer“ von der „physischen Verlorenheit (bürgerlicher Zwi-
schenschichten) in den Industriegemeinden“.51 Wie gering die physische Repräsen-
tanz des Bildungsbürgerlichen war, illustriert er am Beispiel von Altenessen, wo
47 Berhard Rechmann, Leiter der Abteilung Öffentlichkeitsarbeit beim Kommunalverband Ruhrge-
biet, zieht aus diesen Zahlen folgendes Fazit: „Unterstellt man, daß die Menschen im Revier ihre
Umgebung einigermaßen richtig einschätzen, wird deutlich, wie stark außerhalb klischeehafte
Fehlvorstellungen vom Ruhrgebiet vorherrschen“ (Die Imagekampagne des Ruhrgebiets, vervielf.
Manuskript, S. 4). Abgesehen von der etwas naiven Abbildtheorie, die dieser Aussage zugrunde
liegt, verfehlt sie exakt das Wesentliche: nämlich den physischen Raum als sozialen Raum zu se-
hen. Der Vorstandsvorsitzende der Karstadt AG, Walter Deuss, hat dies, wenn auch auf ver-
schrobene Weise, begriffen, wenn er auf der Jahrestagung der Deutschen Public Relations-
Gesellschaft (DPRG) in Essen 1991 vom Ruhrgebiet als ehemals „schlecht beleumundeter Re-
gion“ spricht, in der die DPRG wohl kaum ihre Tagung abgehalten hätte (nachzulesen in der
Tagungsdokumentation „Führung und Kommunikation“ der DPRG, S. 44).
48 Pierre Bourdieu: Physischer, sozialer und angeeigneter physischer Raum, in Martin Wentz (Hrsg.):
Stadt-Räume, Frankfurt am Main/New York 1991, S. 26.
49 Wie Anm. 45, S. 160.
50 Z.B. wie Anm. 44, S. 137.
51 Detlev Vonde: Revier der großen Dörfer. Industrialisierung und Stadtentwicklung im Ruhrgebiet,
Essen 1989, S. 60.
182
Das Ethos der Region
man 1911, bei 40000 Einwohnern, gerade 186 Gemeindemitglieder mit bildungs-
bürgerlicher Berufsangabe zählte.52 Den bildungsbürgerlichen Kreisen — Lehrern,
Richtern, Verwaltungsbeamten - erschien eine Versetzung in das Ruhrgebiet,
auch dies eine Parallele zur kolonialen Situation, lange Zeit als Strafversetzung (was
sie zuweilen wohl auch war). Ihnen blieb nur die Wahl zwischen sozialer Distan-
zierung in Form der gesellschaftlichen Abkapselung oder der Einlassung, d. h. der
Versuch, sich in die Gedanken- und Handlungswelt der Arbeiterbevölkerung zu
versetzen. Der Typus des „handfesten“, „patenten“ Lehrers oder Priesters, der zu-
zupacken versteht und mit dem man reden kann, ist eine Sozialfigur, die der kultu-
rellen Wirklichkeit Rechnung zu tragen versucht.53
Aber auch das gewerbliche Bürgertum war keineswegs souverän. In einem, mit
anderen Regionen kaum vergleichbaren Ausmaß (und in seltener Klarheit) sahen
sich Kaufleute, Handwerker und Kleingewerbetreibende in die abhängige ökono-
mische Rolle gedrängt, die sie objektiv innehaben. Das brachte u.a. mit sich, das
man nicht einmal von seiten der Gemeindevertretung auf die politische Loyalität
der Bürger im Streikfalle setzte, erschien ihr doch der Bürgerstand ökonomisch
derart abhängig vom Arbeiterstande, „daß er jede Kollision mit demselben ängst-
lich meidet“.54 Handel und Dienstleistungsgewerbe sahen sich nicht nur auf den
Geldbeutel der Arbeiterbevölkerung, sondern auch auf deren Ansprüche und
Geschmäcker verwiesen. Das hat zur Herausbildung einer Geschmackskultur bei-
getragen, bei der die Arbeiterschaft, zumindest in negativer, d. h. in beschränken-
der Hinsicht, als stilbildender Träger fungierte. Je nach Standpunkt betrachtet,
stellt sich dieser Stil als unprätentiös oder als spießig dar. In der Ablehnung von
Ostentation und Extravaganz scheint sich Bourdieus „Konformitätsprinzip der
unteren Klassen“ als regionales Stilprinzip durchzusetzen: „Nirgendwo gehen die
Reichen bescheidener gekleidet und die Armen anständiger“, beschrieb Horst
Krüger dieses Phänomen 1968.55
Nach Ansicht von Tenfelde ruhte die Homogenisierung der Arbeiterklasse im
Ruhrgebiet
),in erster Linie in ihrer besonderen, sehr stark demographisch bestimmten Lebensweise. Sie
nahm zu und blieb erhalten, weil man im Ruhrgebiet kaum jemand anderen als seinesglei-
chen antraf und mit seinesgleichen vielfach innig familiäre, aber auch stark überfamiliäre
Bindungen und Beziehungen in der Kultur der Arbeiter und zumal in ihrem reichlich auf-
blühenden Vereinswesen einging“.56
Diese soziale Monokultur im Ruhrgebiet hat einen regionalen Vergesellschaf-
tungsmodus mit sich gebracht, den man als erweitertes kinshipsystem bezeichnen
52 Wie Anm. 51, S. 67.
53 Auch das Modell der Industriepädagogik von Heinrich Kautz (Im Schatten der Schlote. Versuche
zur Seelenkunde der Industriejugend, Einsiedeln 1926) ist auf das Ruhrgebiet zugeschnitten.
54 Franz-Josef Brüggemeier: Leben vor Ort. Ruhrbergleute und Ruhrbergbau 1889-1919, München
1983, S. 156.
Horst Krüger: Im Revier. Bilder aus dem Ruhrgebiet, in: Merkur H. 238, 22. Jg./1968, S. 74.
56 Wie Anm. 45, S. 166.
183
Rolf Lindner
kann.57 In der ethnologischen Literatur wird seit längerem unter dem kinship-
system nicht mehr nur ein auf Blutbande und Verschwägerung beruhendes Ge-
flecht verwandtschaftlicher Beziehungen mit einer spezifischen Moralität verstan-
den, deren Kern das axiom of amity, „sharing without reckoning“ bildet.58 Viel-
mehr schließt das kinship-system als erweitertes Netzwerk auch Affinairelationen
ein, die sich mit anderen Arten der Sozialbeziehungen wie Freundschaft, Nachbar-
schaft und Alterskameradschaft berühren und überschneiden; Maurice Bloch
spricht in diesem Zusammenhang von „artificial kinship“.59 So verstanden kann es
im kinship-system auch symbolische (figurative) Verwandte, Wahlverwandte und
durch Kooptation gewonnene Verwandte, kurz: Verwandte in pragmatischer Ab-
sicht geben. Freilich, und darin liegt die Grenze eines scheinbar beliebig geworde-
nen Verwandtschaftsprinzips: auch Verwandte in pragmatischer Absicht unterlie-
gen den mit Verwandtschaftsbeziehungen konsanguinaler Art verknüpften Verhal-
tensvorschriften und Verhaltenserwartungen.
Die These vom erweiterten Verwandtschaftssystem als regionalem Vergesell-
schaftungsmodus läßt meiner Auffassung nach auch einen zweiten Blick auf das re-
viertypische Prinzip der basisnahen Stellvertretung zu. Dieses Prinzip, das die In-
teressenvertretung der Arbeiterschaft durch von der Basis kommende, in das Netz
der örtlichen und betrieblichen Sozialbeziehungen eingebundene Funktionäre
(Betriebsräte, Vertrauensleute, Knappschaftsälteste, Kommunalpolitiker) meint,
gilt als das Politikmodell im Bergarbeitermilieu: „Geh zu Hermann, der macht dat
schon“, unter diesem Titel hat Michael Zimmermann seine auf lebensgeschichtli-
chen Interviews beruhende Darlegung des Prinzips zusammengefaßt.60 Aber es
wäre meiner Auffassung nach verkürzt, im „Geh zu Hermann, der macht dat
schon“ ausschließlich den Ausdruck einer „Betreuungs- und Versorgungsmentali-
tät“ (Rohe) zu sehen, die ihre historischen Wurzeln im betrieblichen und außerbe-
trieblichen Paternalismus hat. Darin äußert sich vielmehr auch die Vorstellung
von einer Aufgabendelegation, wie sie in Verwandtschaftssystemen gang und gäbe
ist: „Geh zu Hermann, der macht dat schon“ heißt auch: „Geh zu Hermann, der
kann dat schon“. Wie bereits die Koppelung von Verwandtschaftssystem und Dele-
gationsprinzip zeigt, ist nicht beliebig, wer delegiert wird. Die Legitimation des
Stellvertreters ist sowohl an sachliche wie an soziale Voraussetzungen geknüpft, an-
ders ausgedrückt: Legitimation setzt Legitimität voraus. Deshalb können wir auch
57 Habermas’ Überlegungen, daß das Verwandtschaftssystem nur geringe soziale Ungleichheit zu-
läßt, läßt sich auch umkehren: geringe soziale Ungleichheit führt zu (symbolischen) Verwandt-
schaftssystemen. Vgl. Jürgen Habermas: Zur Rekonstruktion des Historischen Materialismus,
Frankfurt am Main 1976, S. 179 f.
58 Meyer Fortes: Kinship and Social Order, London 1969, S. 238.
59 Maurice Bloch: The Moral and Tactical Meaning of Kinship Terms, in: man vol6 (1971), S. 79-87.
60 Michael Zimmermann: „Geh zu Hermann, der macht dat schon“. Bergarbeiterinteressenvertretung
im Nördlichen Ruhrgebiet, in: Lutz Niethammer (Hrsg.): „Hinterher merkt man, daß es richtig
war, daß es schiefgegangen ist“. Nachkriegserfahrungen im Ruhrgebiet (=Lebensgeschichte und
Sozialkultur im Ruhrgebiet 1930 bis 1960, Bd. 2), Berlin/Bonn 1983, S. 277-310.
184
Das Ethos der Region
von einer doppelten Konstitution des Prinzips der basisnahen Stellvertretung spre-
chen: von einem politischen, das vor allem von Lutz Niethammer nachgezeichnet
wurde, und von einem kulturellen. Diese These scheint im unmittelbaren Wider-
spruch zu Niethammer zu stehen, der den Schwachpunkt der Basiselite gerade auf
der kulturellen Ebene sieht. Der Unterschied ist freilich, daß Niethammer in er-
ster Linie die Tradition der Arbeiterbewegungskultur im Blick hat, während es mir
um die Bedeutung soziokultureller Gemeinsamkeit und habitueller Nähe geht.61
Im Prinzip der Delegation aufgrund von Kompetenzzuschreibung im Kontext
eines erweiterten Verwandtschaftssystems i.o.S. sehe ich ein Kernelement dessen,
was man als traditionelle Revierkultur bezeichnen könnte. Es reicht vom alltägli-
chen Austausch von Fertigkeiten auf do-ut-des-Basis über das „clanförmige Gewim-
mel von Beziehungen“62 (wozu das „Organisieren“ von Materialien aller Art eben-
so gehört wie das „speaking for-system“ der Arbeitsplatzvermittlung) bis hin zum
Prinzip der Freisetzung von Kollegen für gewerkschaftliche, politische oder auch
„nur“ sportliche Zwecke. Der verwandtschaftliche Charakter, der dem Delega-
tionsprinzip innewohnt, kommt beim basisnahen Stellvertreter, dessen Position et-
wa als Mittler zwischen Betriebsleitung und Belegschaft nur ganz unzureichend
beschrieben ist, ausgesprochen deutlich zum Ausdruck. „Basisnah“ heißt ja nicht
nur, die Interessen der Basis zu vertreten und deren Sprache zu sprechen, „basis-
nah“ meint auch eine für Verwandtschaftssysteme charakteristische Gemengelage,
in der die Grenzen zwischen öffentlicher und privater Rolle verwischt werden.63
Stellvertreter zu sein bedeutet dann nicht nur, sich für materielle und soziale Belan-
ge einzusetzen, sondern auch ein Ohr (und ein Auge) für die privaten Belange zu
haben; dazu gehört das Schlichten von Streitigkeiten, das Eingehen auf familiäre
Probleme, ja, sogar das Stiften von Ehen. „Und ich darf nur folgendes sagen“, sagt
ein Vorstadtpolitiker, der fest an das Netz der lokalen Sozialkontakte gebunden
und Jugendleiter des Betriebsrats war: „Ich hab Jungens und Mädels zusammenge-
bracht, die heute wunderbare Ehen sind. Wo das Mädel nach mir hinkam: /Her-
mann, möchtest du nicht mal mit ihm sprechen?’ — ,Soll ich das machen?’ So die
schelmische Form dabei, nicht. Ja, ist gut, ich mach das schon. Dann kommst du
61 Lutz Niethammer: Vorwort des Herausgebers, in: Ders. (Hrsg.): „Hinterher merkt man, daß es
richtig war, daß es schiefgegangen ist“. Nachkriegserfahrungen im Ruhrgebiet, Berlin/Bonn 1983,
S. 7-15, hier: S. 13. Die Bedeutung von habitueller Nähe und soziokultureller Gemeinsamkeit
betont Bernd Faulenbach: Die Mitbestimmung als Faktor regionaler politischer Kultur, in : Beiträ-
ge, Informationen, Kommentare Nr. 8/1989, S. 57.
62 So die anschauliche, offensichtlich auf Emile Durkheim zurückgreifende Formulierung von Ulf
Matthiesen. Vgl. nicht nur unter diesem Gesichtspunkt: Christa Becker/Heinz Böcker/Ulf Matthie-
sen/Hartmut Neuendorff/Fiarald Rüßler: Kontrastierende Fallstudien zum Wandel von arbeitsbe-
zogenen Deutungsmustern und Lebensentwürfen in einer Stahlstadt (=Umbrüche. Studien des In-
stituts für empirische Kultursoziologie Bd. 1), Dortmund 1987. Das Zitat findet sich auf S. 289.
63 Gerade in der Gemengelage, in der Vermischung von Öffentlichkeit und Privatssphäre, liegt aber
auch die Kehrseite des erweiterten Verwandtschaftssystems: ein System sozialer Kontrolle, das weit
über den Familienverband hinausreicht.
185
Rolf Lindner
morgen bei mir vorbei. Ich treff ihn morgen“.64 Nicht die eine oder andere Praxis
- basisnahe Stellvertretung vs. informelles „speaking for“ -System - ist kennzeich-
nend für eine Kultur, deren inneres Band das erweiterte Verwandtschaftssystem bil-
det, sondern die Tatsache, daß jede Praxis zur Metapher einer anderen wird: in der
und durch die Praxis des „speaking for“ an der Basis wird die Praxis des „negotia-
ting“ auf Stellvertreterebene anerkannt, bestätigt und bekräftigt.
Zu fragen bleibt, ob im erweiterten Verwandschaftssystem „die überlieferten pa-
rochialen Gemeinschaftsbindungen auf industriellem Boden überleben“, wie es
Karl Rohe für das „alte Revier“ (im Unterschied zum Ruhrgebiet) konstatiert
hat.65 Es spricht viel dafür, daß wir es hier mit vormodernen, vorindustriellen Be-
ziehungsformen zu tun haben, wobei sich gerade die Herkunft der Ruhrbevölke-
rung als verführerisches Indiz anbietet. Aber ich denke, daß wir in diesem Kontext
etwas von der Sozialanthropologie lernen können, die bei Untersuchungen des Ur-
banisierungsprozesses und der Stadt-Land-Wanderung in Westafrika von der an-
fänglich vertretenen These der Detribalisierung abgekommen und auf den Tatbe-
stand der Neubildung, d. h. auf einen spezifisch städtischen Tribalismus gestoßen
ist.66 So sehr die Form des erweiterten Verwandtschaftsystems vorindustriell er-
scheint, so stellt es doch von der Funktion her eine industriegesellschaftliche, spe-
zifisch montanindustrielle Neubildung dar. Die kleinräumige Orientierung im
Ruhrgebiet hat dabei ebenso mitgewirkt wie gemeinsame Arbeitserfahrungen und
die geringe innere Schichtung der Arbeiterbevölkerung. Die Zusammenlegung der
Bergleute in Kameradschaften und die halboffene Familienstruktur in den Siedlun-
gen waren sicherlich zwei wesentliche Elemente einer Alltagsorganisation, die zur
Herausbildung des erweiterten Verwandtschaftssystems beigetragen haben.
Verblüffend ist wie diese ihre betriebliche Basis verlierende Form der Alltags-
organisation im Ruhrgebiet im Kontext der Diskussion über das Wiedererstarken
regionaler Ökonomien eine Renaissance erfährt. Gerade in der für berufliche wie
familiale Solidarstrukturen charakteristische Mischung von individueller Verant-
wortlichkeit und gegenseitiger Abhängigkeit wird eine unabdingbare Vorausset-
zung für flexible ökonomische Beziehungen gesehen.67
64 Wie Anm. 60, S. 300.
65 Karl Rohe: Vom alten Revier zum heutigen Ruhrgebiet. Die Entwicklung einer regionalen politi-
schen Gesellschaft im Spiegel der Wahlen, in Karl Rohe/Herbert Kühr (Hrsg.): Politik und Gesell-
schaft im Ruhrgebiet, Kronberg/Ts 1979, S. 21-73, hier S. 33.
66 Michael Banton: West-African City, London 1957; Ulf Hannerz (wie Anm. 35), Kapital 4,
S. 119-162.
67 Charles F. Sabel: The Reemergence of Regional Economies, Berlin 1989 (= WZB Forschungs-
schwerpunkt Arbeitsmarkt und Beschäftigung (IIMV), discussion papers). Auch die Wiederent-
deckung der „Clan“-Form im Rahmen der administrativen Organisationssoziologie (mit explizi-
tem Bezug auf Dürkheim) paßt in diesen Trend. Vgl. William G. Ouchi: Markets, Bureaucracies,
and Clans, in: Administrative Science Quarterly vol. 25 (1980), S. 129-141. Christoph Deutsch-
mann: Der Betriebsclan, in: Soziale Welt Jg. 38 (1987), S. 133—147.
186
Das Ethos der Region
V
Verstehen wir den bewohnten Raum, in Anlehnung an Bourdieu, als sozial kon-
struiert und markiert (d. h. mit „Eigenschaften“ versehen), dann stellt er sich als
Objektivierung und Naturalisierung vergangener wie gegenwärtiger sozialer Ver-
hältnisse dar.68 Der bewohnte Raum wird so zur Methapher des sozialen Raumes:
nichts anderes scheint sich auch hinter der bereits zitierten Sentenz zu verbergen,
daß „alle Schichten auf einen bestimmten Identifikationsraum festgelegt und sym-
bolisch auf eine einzige Schicht bezogen werden“.69 Die je bestimmte Ordnung
und Anordnung von Eigenschaften (als Spezifikum eines bewohnten Raumes) zu
eruieren, fiel zunächst der Kulturgeographie zu, die sich der Untersuchung von
Vorstellungsbildern, die über Städte und Regionen existieren, zuwandte. Bei ent-
sprechenden Umfragen, die nach der Zuschreibung von Eigenschaften fragten, er-
gab sich in den 70er Jahren ein eindeutiges Bild vom Ruhrgebiet: wirtschafts&rä/
tig, arbeitsam und dynamisch schien es den Befragten zu sein.70 Der Begriff wirt-
schaftskräftig ist dabei durchaus wörtlich zu nehmen. Wie die Autoren der Studie
betonen, hat der Begriff in Kombination mit der Kategorie „arbeitsam“ eine ande-
re Tönung als z. B. im Fall von Frankfurt am Main, das auch als wirtschaftskr'ihig
gilt, dies aber u. a. mit „hektisch“ (Börse!) verbindet: „Die enge Korrelation der
Nennungen für ,wirtschaftskräftig’ und ,arbeitsam’ beim Ruhrgebiet läßt vermu-
ten, daß bei den Begriffen ähnliche Vorstellungen den Ausschlag für die Nennun-
gen gaben. Neben anderen Faktoren dürfte die Vorstellung von der ,arbeitsamen
Ruhrgebietsbevölkerung’ entscheidend auf die Häufigkeit der Nennungen bei dem
Begriff ,wirtschaftskräftig’ gewirkt haben“.71
In diesem Bild spiegelt sich das Ruhrgebiet als (historisches) Kernland der Mon-
tanindustrie, aber unterhalb der Ebene tritt der soziale Raum im physischen Raum
zutage: das Ruhrgebiet als „Arbeiterrepublik“, in der vor allem, und das ist der ge-
meinsame Nenner der genannten Eigenschaften, physische Kraft zählt. Diese Cha-
rakterisierung als proletarische Region wird gestützt, ja verstärkt, wenn man die
Stellung des Ruhrgebiets relational, d. h. als Position im sozialen Raum, erschließt.
Als besonders wichtige Indikatoren erweisen sich dann, neben der als stark über-
durchschnittlich vermerkten Charakterisierung als „arbeitsam“ und der stark un-
terdurchschnittlichen Notierung als „international“ (während Hamburg, Frank-
furt und München gleichermaßen als international gelten), jene Eigenschaften, die
die Befragten dem Ruhrgebiet expressis verbis nicht zubilligen: „mondän“ und
»charmant“ wähnt das Ruhrgebiet niemand (Eigenschaften, die im Vergleich Mün-
Wie Anm. 48, S. 28.
Wie Anm. 43, S. 121.
Zielgruppe: Multiplikatoren. Das Ruhrgebiet: Meinungen, Mutmaßungen. Institut für Stadt- und
Regionalplanung. Leiter: Friedrich Landwehrmann. Verantwortlicher Bearbeiter: Hans Nokielski
unter Mitarbeit von Gerhard Raeder, Essen 1973.
Wie Anm. 70, S. 80.
187
Rolf Lindner
cheti zugeschrieben werden), und auch nur je eine Stimme fiel auf Zuschreibungen
wie „arrogant“ (hier dominiert Hamburg), „elegant“ (hier domiert München) so-
wie „größenwahnsinnig“ (auch hier ist München führend). Geht man davon aus,
daß jeder Akteur durch die Position seiner Lokalisation charakterisiert ist, läßt sich
leicht vorstellen, warum sich das Ruhrgebiet (bzw. seine Interessenvertretung) mit
dem Zuzug von Führungskräften so schwer tut: alles Distinktionsstreben, jede Art
der Verfeinerung, aber auch jede Überheblichkeit scheint dem Ruhrgebiet fernzu-
liegen.
In diesem Bild vom arbeitsamen und genügsamen Ruhrgebiet ist die Unterstel-
lung eines „Notwendigkeitsgeschmacks“ enthalten, eine Unterstellung, in der ich
eines der bedeutendsten Hindernisse einer Imagekorrektur sehe: noch immer, so
scheint es, sind die Arbeiter des Ruhrgebiets als stilprägende Gruppe von einer
(ästhetischen) Anspruchslosigkeit, die schon Joseph Roth „erschütternd“ fand.72
Zugleich verweist dieses Bild auf zentrale Elemente des traditionellen Revier-
Ethos: das Fehlen von Arroganz, Eleganz und Größenwahn läßt sich auch als Ab-
wehr jeden Versuchs der Exklusivität, der Absonderung und der Ausschließung le-
sen. Bourdieus Engführung dieses Musters auf ein reines „Konformitätsprinzip“73
läßt die Möglichkeit außer acht, in der Distinktion von der Distinktion auch ein
eigenes kulturelles Muster zu sehen. Was sich darin ankündigt, ist eine akteurszen-
trierte Schätzung und Einschätzung der Person: was zählt ist, wie ein Mensch sich
verhält, nicht, was er — und hier muß ergänzend hinzugefügt werden: von der
Herkunft her - ist. Daß diese akteurszentrierte Wahrnehmung ihre eigenen Fall-
stricke hat, liegt auf der Hand, führt sie doch auf seiten derer, die Macht erhalten
und/oder Einfluß gewinnen wollen, zu kulturell angepaßten Strategien: der Direk-
tor, der „zupackt“, ist dafür ein Beispiel.74 Aber noch in dieser Strategie tritt zuta-
ge, wogegen sich das Ethos richtet, was man „auf den Tod“ nicht ausstehen kann:
Prätention ohne Substanz. Deutlich wird, daß die Eigenschaft, „unkompliziert“
zu sein, d.h. „kein Gedöns“ zu machen, unmittelbar mit dem reviertypischen
Arbeitsethos verbunden ist, das zum letzten Prüfstein der Person wird: „er ist sich
für keine Arbeit zu schade“, diese Redewendung bildet das Konzentrat eines Hand-
lungsethos, das nicht durch Distanznahme zu den materiellen Zwängen, sondern
durch Umgang mit ihnen geprägt ist.75
72 Joseph Roth: Privatleben des Arbeiters, Frankfurter Zeitung vom 10.4.1926. Den Hinweis auf Roth
verdanke ich Matthias Uecker.
73 Pierre Bourdieu: Die feinen Unterschiede, Frankfurt am Main 1982, S. 596 f.
74 „Unser Direktor Ehlers, das war so ein Pfundskerl. Warum war das son Pfundskerl? Weil er von
der Pike auf die Arbeit mitgemacht hat. Und sein Sohn, wenn der Ferien hatte, dann kam der bei
der Zinkhütte und hat da gearbeitet, um sein Geld zu verdienen“ (Bernd Parisius: Arbeiter zwi-
schen Resignation und Integration. Auf den Spuren der Soziologie der fünfziger Jahre, in: L. Niet-
hammer (Hrsg.): „Hinterher merkt man, daß es richtig war, daß es schiefgegangen ist“. Nach-
kriegserfahrungen im Ruhrgebiet (= Lebensgeschichte und Sozialkultur im Ruhrgebiet 1930 bis
1960, Band 2), Berlin/Bonn 1983, S. 116.
75 Vgl. die entsprechenden Überlegungen von Norbert Schindler: Jenseits des Zwangs? Zur Ökono-
mie des Kulturellen inner- und außerhalb der bürgerlichen Gesellschaft, in: Ders.: Widerspenstige
188
Das Ethos der Region
Es ist das Ethos einer Klasse ohne ständische Geltung, d. h. einer rein ökono-
misch bestimmten gesellschaftlichen Gruppierung, der eine spezifische Art der
Lebensführung als Ausdruck „sozialer Ehre“ nicht zugebilligt wird. H. W., ein
Gewährsmann der Geographen Aring, Butzin, Danielzyk und Helbrecht, hat den
historischen Hintergrund des Arbeitsethos meiner Auffassung nach auf den Punkt
gebracht:
„Hier im Kohlenpott... da wurde ... da warn im großen und ganzen ... kamen die Leute
alle mit wenig ... oder gar nichts ... die hatten nur ihre Arbeitskraft einzubringen ... und ...
aus diesem heraus ... da steckte kein Besitz hinter ... vielleicht steckte in Schwaben ... viel-
leicht hatte jeder in Schwaben noch’n Weinberg über Stuttgart noch ... von der dreihundert-
fünfzigsten Teilung ... war nur noch’n Quadratmeter groß ... aber der hat das Eigentum,
nich ... was vielleicht dahinter steht... oder ich hab das Eigenheim ... das war hier jedenfalls
früher nich der Fall... derjenige, der hier hin gekommen ist... und der ... wenn er seiner Ar-
beit nachging, dann war auch nur maßgebend, wie er seine Arbeit machte ... und wurde
dann auch von seinen Kollegen aufgenommen ... in den Kreis ... und da sie alle ... da konnte
keiner ... wahrscheinlich, weil keiner den Stammbaum nachweisen konnte, Urschwabe oder
Urbayer zu sein (lacht), nich wahr ... sondern er war eben nur ... da gab’s nix, womit man
prunken oder sich herausstellen konnte ... oder besonders in Erscheinung treten konnte“.76
Wenn es an dem ist, was Richard Sennett und Jonathan Cobb in ihrem (viel zu
wenig beachteten) Buch „The Hidden Injuries of Class“77 so vehement behaupten,
daß nämlich Würde, Achtung und Selbstachtung, ein ebenso grundlegendes
menschliches Bedürfnis ist wie das nach Nahrung und das nach Geschlechtsver-
kehr, dann ist es angemessen, im tradionellen revierspezifischen Arbeitsethos, in
der Verbindung von zweckrationalen und wertrationalen Orientierungen (Rohe),
einen Versuch der Selbstbehauptung in einer Situation zu sehen, in der es „nix
(gab), womit man prunken oder sich herausstellen konnte“.
Die Bourdieu von seinem kategorialen System aufgezwungene Sicht der Unter-
schichtenkultur als eine zur Tugend gewendete Not verkennt, was in der Redewen-
dung „aus der Not eine Tugend machen“ zwar objektiv angelegt, aber in der Regel
subjektiv nicht gemeint ist, daß nämlich hier aus der Not tatsächlich eine Tugend
erwachsen ist: eine von den Prozeduren faktischer wie symbolischer Ausschlie-
ßung relativ freie Wertschätzung der Person.
Der „Kampf um Anerkennung“ gehört, trotz der beachtlichen Vorarbeiten von
Axel Honneth78, ebenso zu den Desideraten der sozial- und kulturwissenschaftli-
chen Forschung wie das Thema „soziale Kränkung“. Wie schwer diese Lücken
Fortsetzung Fn. 75.
Leute. Studien zur Volkskultur in der frühen Neuzeit, Frankfurt am Main 1992, S. 20-46, hier
S. 40.
76 Wie Anm. 25, S. 208.
7 Richard Sennett/Jonathan Cobb: The Fiidden Injuries of Class, New York 1973, hier: S. 191.
78 Vgl. die unter Anm. 36 genannten Arbeiten.
189
Rolf Lindner
wiegen, zeigt nicht zuletzt das Beispiel Ruhrgebiet, das zu einer unendlichen Ge-
schichte des Beleidigt-, des Gekränktseins zu werden droht.
Die Haltung des Ruhrgebiets zu sich selbst ist gekennzeichnet durch Scham,
wobei diese, so meine Vermutung, vor allem von der politischen Klasse an den Tag
gelegt wird. Man schämt sich der Vergangenheit als montanindustrielle Region
und projeziert eine Zukunft, die nicht aus der Vergangenheit und Gegenwart er-
wächst, sondern die Vergangenheit radikal vergessen machen soll. Die schwerindu-
strielle Vergangenheit wird als „schwerindustrielle Hypothek“ begriffen, die es ab-
zutragen, nicht aufzuarbeiten gilt. Ausgelöscht werden soll dabei nicht nur die
montanindustrielle Altlast, sondern auch die Erinnerung an einen Ort, der als be-
schämend erfahren wurde. Nur die bewußte Annahme der Geschichte aber, nicht
die Scham über die Herkunft (der Region ebensogut wie der Person), läßt die Ge-
winnung einer Identität als Rahmen des ökonomischen Umbaus zu. Diese Identi-
tät ist „die Identität einer Industrieregion, der sich niemand schämen muß, die
aber wohl der sinnlichen Erinnerungspunkte bedarf, um Gemeinsamkeit und
Selbstbewußtsein zu entfalten“.79
English Summary
Rolf Lindner.: Regional Ethos.
Notions of “cultural singularity” and “regional identity” are associated with essence and
roots. In order to avoid the essentialist error, this essay argues with Max Weber’s concept
that “ethnic bonds” are beliefs and elective affinities. “Ethnicity” appears as the result of a
reciprocal ascription of spiritual kinship based on the “recognition” of that which is cultu-
rally taken for granted. Weber’s concept of “ethnicity” hat a great deal in common with the
ethos concept in cultural anthropology, a link which in turn is apparent in the synthesis of
anthropology and Weberian sociology in the work of Pierre Bourdieu. Ethos here means
the special quality of a culture, as it is expressed in the likes and dislikes of its members, in
their “sense” of being in favour of (or against) something. The analysis of ethos is then
exemplified by considering the attitude of the Ruhr region towards itself.
79 Lutz Niethammer: Nachindustrielle Urbanität im Revier? Für die Wahrnehmung und Nutzung re-
gionaler Erfahrungen, in: „Die Menschen machen ihre Geschichte nicht aus freien Stücken, aber
sie machen sie selbst“. Einladung zu einer Geschichte des Volkes in NRW, hrsg. von Lutz Nietham-
mer u. a., Berlin/Bonn 1984, S. 242.
190
Der Blick aufs Meer
Facetten und Spiegelungen volkskundlicher Affekte
Von Johanna Rolshoven, Basel
„Du heiliges und weites Meer,
wie ist dein Anblick mir so hehr!1'
Friedrich Leopold Graf zu Stolberg (1750-1819)
Meeresliebe
Warum den Blick aufs Meer zum Thema machen, ihn sezieren, in volkskundli-
cher Manier (und ihrem Faible fürs schöngeistig Kuriose und wunderbar Neben-
sächliche) auseinandernehmen, mentalitätsgeschichtlicher Disziplin dabei wo-
möglich ins Zeug reden und vielleicht auch ganz private Restzufluchten in der Mo-
derne1 entzaubern?
Das Meer bietet eine geduldige und kulturell besonders aufgeladene Projek-
tionsfläche: eine langlebige, historisch sich anbietende, also naheliegende — ein
scheinbar zeitloses Objekt von Sehnsucht, das gleichzeitig immer wieder Sehn-
süchte weckt.2 Als Sujet ist es, vielleicht entgegen allgemeiner Vermutung, wissen-
schaftlich recht vielbehandelt. In historischen Abständen ruft es „intellektuelle“
Wellen von Interesse und Faszination hervor, so auch derzeit. Das vor allem in sei-
ner Aufmachung verführerische Werk „La mer hors d’elle meme“ des Literaten
und Literaturwissenschaftlers Jacques Darras3 kann hier zum Beispiel ebenso ge-
nannt werden wie die poetisch-essayistische Arbeit des Historikers Alain Corbin:
In „Le territoire du vide“ zeichnet er die Entdeckung des angstbesetzten Nie-
mandslandes der europäischen Küstenstreifen zum lustbesetzten Standort einer
bürgerlichen Ästhetenschicht nach, der Avantgarde des Küstentourismus aus heu-
tiger Sicht, die sich zwischen 1750 und 1840 einen neuen sozialen Raum in der
Natur erobert.4
1 Zu diesem Begriff, und das „post“ für einmal weglassend, vielleicht nur ein symptombenennender
Satz oder, wie Jörg Huber mit einfachen Worten schreibt: „Die als total erfahrene Mediatisierung
der Produktion und Rezeption von Realitäten verlangt nach einer Inszenierung des Zufälligen und
nach einer Sensibilität für die Ereignisse kodierter Wahrnehmung.“ - So in seinem Vorwort zu ei-
nem schönen Buch: ders. (Hrsg.): Wahrnehmung von Gegenwart. Interventionen von Hartmut
Böhme, Karl Heinz Bohrer, Christina von Braun u. a. Basel, Frankfurt am Main 1992, S. 7-13; hier:
S. 8.
2 Wie besonders Klaus Theweleit epochemachend vor Augen geführt hat. Vgl. ders.: Männerphan-
tasien. 2 Bde. Frankfurt am Main 1977/1978.
3 Jacques Darras: La mer hors d’elle même. L’émotion de l’eau dans la littérature. Paris 1991.
4 Alain Corbin: Le territoire du vide. L’occident et le désir du rivage 1750-1840. Paris 1988; in der
deutschen Übersetzung von Grete Osterwald unter dem Titel „Meereslust“ 1990 in Berlin erschie-
nen.
191
Johanna Rolshoven
Meeressehnsucht in der Gegenwart wird nicht nur behandelt, sie ist auch mani-
fest, sie fällt auf und verdiente eine kritische gesellschaftswissenschaftliche Betrach-
tung, denn - der Gedanke drängt sich auf - sie scheint sich in umgekehrt propor-
tionalem Verhältnis zur Umweltkatastrophe zu verhalten, der Bedrohung des Mee-
res als lebensnotwendiger Ressource und als „Rekreationsraum“. Es hat den
Anschein, als wachse die Empfänglichkeit für eine um so attraktivere Meeresmoti-
vik mit der zunehmenden Verschmutzung der wassernahen Urlaubstraumland-
schaften. Die horrenden Resultate der Kommissionsberichte5 indes rufen kaum
mehr Aufbegehren auf den Plan; Mythen6 sind zäher als die Realität der Tankerha-
varien.7 Nach wie vor erträumt man sich das Meer als einen der wenigen noch ver-
bliebenen Fluchtpunkte vor Alltagsbelastungen. Das muß auf den zweiten Blick
nicht erstaunen, denn Motiv und Zustand Meer hängen (auch historisch) in der
Wahrnehmung nicht zusammen; die Meeressehnsucht handelt nur sekundär vom
Meer Natur, dem Meer an sich. „Es ist farblos und kann alle Farben annehmen“8,
die die Betrachter sich in die Spiegelungen der Wasseroberfläche — denn nur sie
wird gesehen — hineinwünschen.
Die ungebrochene Anziehungskraft der Küsten versinnbildlicht eine vage Sehn-
sucht, sich an den Rand der Zivilisation, die Grenze zwischen Natur und Kultur
zu begeben, an ein äußerstes, Glück verheißendes Ende und dort vielleicht genau-
so hoffnungstraurig oder -froh in die scheinbare Unendlichkeit Richtung Hori-
zont zu blicken wie die schwärmenden Dichter zu Ende des 18. Jahrhunderts, als
sie ihn just zu entdecken begannen9, oder nach Inspiration suchende Gelehrte.10
Hinzu tritt ganz profan die Sehnsucht nach dem Wasserbad (bain-marie heißt das
ein wenig doppeldeutig im Französischen), nach Wärme und Entspannung, nach
Vergnügen und Strandlust, nach Aufatmen und Zivilisationsvergessen.
5 Vgl. hierzu eine Literaturauswahl: Baltic Marine Environment Protection Commission - Helsin-
ki Commission 1990: Zweite Fortschreibung der Bewertung des Zustands der Ostsee 1984-1988.
Allgemeine Schlußfolgerungen (Berichte zur Umwelt der Ostsee Nr. 35 A); Bundesminister für
Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit: Nationales Ostseesanierungsprogramm für die
Bundesrepublik Deutschland. 1.3.1991; North Sea Conference The Hague, March 7 and 8, 1990:
Zwischenbericht 1990 über den Qualitätszustand der Nordsee. Februar 1990; Xavier Pastor
(Hrsg.): Das Mittelmeer (GREENPEACE Die Meere Europas). O.O. 1991.
6 Sie werden auch immer wieder durch Meldungen wie der folgenden genährt, die (z. B. am 4. 4.
1992 im Radiosender SWF 3) vom Fund eines Schatzsuchers auf dem Meeresgrund vor der Küste
Floridas berichtet, der aus einem im 18. Jahrhundert gesunkenen spanischen Schiff den langge-
suchten 1000 Karat schweren Isabella-Smaragd gehoben hat ...
7 Vgl. u. a. Ralf Sotschek: Das braune Meer im hohen Norden. In: Die Zeit vom 22.1.1993, S. 55.
8 Vgl. Hartmut Böhme: Umriß einer Kulturgeschichte des Wassers. In: ders. (Hrsg.): Kulturgeschichte
des Wassers. Frankfurt am Main 1988, S. 7-42; hier: S. 13.
9 Vgl. hierzu Stephan Oettermann: Die Entdeckung des Horizonts. In: Klaus Bergmann, Solveig
Ockenfuß (Hrsg.): Neue Horizonte. Reinbek 1984, S. 39-50.
10 Vgl. hierzu „theoretisch“ A. Corbin: Le territoire du vide (wie Anm. 4), S. 54-68, und „prak-
tisch“ am Strand, nach Inspiration für eine volkskundliche Standortbestimmung suchend Her-
mann Bausinger: Neue Felder, neue Aufgaben, neue Methoden. In: Isac Chiva, Utz Jeggle (Hrsg.):
Deutsche Volkskunde - Französische Ethnologie. Frankfurt am Main 1987, S. 326-344.
192
Der Blick aufs Meer
Beiden Formen des Verlangens, dem geistigen wie dem körperlichen, wird —
Akzeptanz vorausgesetzt — mit medialen Fiilfsmitteln kräftig nachgeholfen. Ist
der volkskundliche Blick einmal sensibilisiert, so erscheint die Fülle der Meeres-
hintergrundmotive schier unglaublich: in Literatur und Kunst, Werbung und Fil-
men, schlagertext- und kleidermodebestimmend11, aber auch in zahllosen anderen,
alltäglichen sachkulturellen Objektivationen.
Der Versuch, der Frage nach den Ursachen dieser Anziehungskraft und Sehn-
sucht nachzugehen, ob sie in der Natur der Menschen und des Meeres liegt oder
m deren Kultur, stößt schnell an Grenzen12 und ist vermutlich falsch gestellt.13 Die
Begründung der „ursprünglichen Symbiose allen Lebens aus dem Wasser“ hält
dem historischen Blick auf den Zivilisationsprozeß nicht Stand.14
Ertragreicher als der zu globalen Fragestellung zu erliegen, erscheint es daher,
den Versuch zu wagen, ein paar Meeresblicke einzufangen. Uber die Situierung des
Betrachterstandorts - in der Tat werden fast ausschließlich, aus der Not der Quel-
lenlage eine Tugend machend, Männerblicke ins Visier genommen - im sozialen
und historischen Raum und über die nähere Bestimmung des Anschauungsgegen-
standes lassen sich die Eigenschaften oder Aufladungen dieses speziellen kulturel-
len Blicks in der Folge konkreter bestimmen.
Es soll gewissermaßen und „in jeder Flinsicht der Betrachter selbst zum Maß
der Küsten“ erhoben werden.15 Wer hat also, warum natürlich und wann jeweils,
eigens mit seinem Blick das Meer in seiner kulturellen Aufladung mitkonstituiert
oder -kreiert? Da bei diesem kleinen Schöpfungsprozeß immer wieder Volkskund-
ler dabeiwaren und mit geschaut haben, geht es auch ein bißchen um Wissenschafts-
geschichte, es liegt in der Luft - auch das ein spannendes Thema. Zuvor jedoch,
ehe die blickenden Subjekte im Angesicht ihres maritimen oder ozeanischen Ob-
jektes der Betrachtung und inmitten ihrer historischen Betrachtungsbedingungen
zu Wort kommen, wird der Blick an sich und seine Physiognomie in Augenschein
genommen.
Blickbilder
Der Begriff des Blicks läßt sich als Bild mißbrauchen, das Interessenlagen und
Entstehungsbedingungen von Wissen und Wissenschaft metaphorisch und annä-
11 In diesem Jahr schon wieder marineblau mit Goldknöpfen, weiß paspelliert und blau-weiß ge-
streift ...
12 In der Literatur taucht bisweilen als Begründung für die Sehnsucht nach dem Meer auf, daß der
Mensch aus dem Meer stamme, dieselbe Konsistenz wie das Meerwasser aufweise. Vgl. hierzu u. a.:
Carl Schmitt: Land und Meer. Köln 1981 (1944), S. 9 ff.
13 Burkhard Fuhs und ich sind mit den Teilnehmer(inne)n unseres Marburger Seminars zum Thema
„Meeresufer“ diesen Fragen nach der Kultürlichkeit der Natur genauer nachgegangen. Befruch-
tende Diskussionen in diesem Zusammenhang machten manche der folgenden Gedanken erst
denkbar!
Vgl. H. Böhme: Umriß (wie Anm. 8), S. 11.
Vgl. A. Corbin: Le territoire (wie Anm. 4), S. 188.
193
Johanna Rolshoven
herungsweise zu benennen versucht. Für Blickarten und Wahrnehmungsweisen,
als deren „Rückkoppelungseffekt“, gilt es zunächst, Erklärungsfährten aufzutun,
um sich der Spezifik des Meeresblicks nicht voraussetzungslos zu nähern. Eine,
wenn auch ein wenig ausgetretene Fährte bietet sich um des Bildes willen an: im
Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens heißt es, noch Naturphilosophen
des ausgehenden 19. Jahrhunderts hätten in Anlehnung an antike Vorstellungen
gelehrt, daß „Sehen eine Tätigkeit des ,Nervengeistes‘ sei, der zuerst mittels der
vom Auge ausgehenden Strahlen sich nach außen hin verbreitet, von den mit den
verschiedensten Empfindungen beseelten Objekten berührt wird und sich dann
wieder zusammenzieht“.16
Das Sehen, der Blick und folglich die Wahrnehmung wären also - das Bild legt
dies nahe - der aktive Prozeß eines Betrachters, der nicht einfach so automatisch
dreinschaut, dessen Netzhaut keineswegs unwillkürlich das gerade anstehende Bild
aus der Wirklichkeit - seinem Gesichtsfeld in diesem Fall - empfängt. Natürlich
verhält sich die Sache ungleich komplizierter und komplexer. Zum naturwissen-
schaftlich erkannten Sachverhalt des Sehens und seiner Funktionsweisen17 hin ver-
mittelt der kulturwissenschaftliche Blickwinkel von Edward Hall18; zwischen der
sozialwissenschaftlichen und der philosophischen Betrachtung von Sehen und
Wahrnehmung schlägt - Volkskundler(inne)n zur Hilfe - Hartmut Böhme seine
faszinierenden Brücken.19
Nicht vom vermeintlichen Tatsachenblick20 - um beispielshalber zum ethno-
graphischen Berufsstand zurückzukehren - ist in der zitierten naturphilosophi-
schen Anschauung die Rede, dem Blick nämlich, der das sieht, von dem wir glau-
ben, daß es wirklich ist, und über den uns die entzaubernde Naturwissenschaft un-
widerruflich in Kenntnis gesetzt hat, sondern vom sentimentalen Subjekt-Blick,
mit dem wir das sehen, was unsere Emotionen „beseelen“, was wir sind, und dessen
Metaphorik psychologische Ansätze die Erhellung so mancher Wirklichkeits-
wahrnehmung verdanken. Ein Blick, mit dem wir auch das sehen, was wir sehen
wollen: ihm läge dann ein aktiver Aneignungsprozeß zugrunde; mit dem wir aber
auch nur das sehen, was wir zeitgenössisch und von unserem Standpunkt im sozia-
len und kulturellen Raum aus sehen können. Zum großen Teil verdankt er sich
also den Betrachtungsbedingungen.
16 Vgl. Kiesewetter: Okkultismus, 1896, S. 490; zitiert nach Hanns Bächtold-Stäubli u.a. (Hrsg.):
Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens. Bd. 1. Berlin, Leipzig 1927; Stichwort Auge,
S. 679-701; hier S. 679.
17 Sehr schön erklärt zum Beispiel von Mathis Brauchbar: Augen, liebe Fensterlein - und was hinter
ihnen ist. In: Die Weltwoche 9/1993, S. 26 f.
18 Vgl. Edward T. Hall: The Hidden Dimension. New York 1982 (1966), S. 66ff., sowie ausführlicher
James Gibson: The Perception of the Visual World. Boston 1950.
19 Vgl. H. Böhme: Ansichten einer ästhetischen Theorie der Natur. In: Jörg Huber (Hrsg.): Wahrneh-
mung von Gegenwart. Basel, Frankfurt am Main 1912, S. 31-53.
20 Vgl. Utz Jeggle: Zur Geschichte der Feldforschung in der Volkskunde. In: ders. (Hrsg.): Feldfor-
schung. Qualitative Methoden in der Kulturanalyse. Tübingen 1984, S. 11-46; hier: S. 14.
194
Der Blick aufs Meer
Ein einfaches Lehrstück hierzu erwähnt Nigel Barley in einer Feldforschungs-
notiz.21 Es handelt sich um eine Beobachtung, ein Erlebnis bei „seinem“ kameru-
nischen Bergvolk, den Dowayos, das dem englischen Ethnologen das hinter seiner/
unserer Wahrnehmung steckende westlich-„zivilisierte“ kulturelle Konditionstrai-
ning vergegenwärtigt: wie wir des Schauens belesen sind, trainiert im Sehen beim
Erkennen von Bildern, der Photographie in diesem Fall. Beim Vorzeigen eines
Leopardenphotos, einem Tier, das in dieser Kultur einen wichtigen mythischen
und historisch-realen Platz einnimmt, zeigen die Dowayos eine Reaktion der Rat-
losigkeit: sie erkennen den Leoparden auf dem Bild nicht, denn es besteht für sie
keine kulturelle Notwendigkeit, auf Photos etwas zu erkennen.
Trotz des ein wenig fraglichen Vergleichs — der Exotik des zitierten völker-
kundlichen Beispiels durchaus erliegend — ließe sich hier folgern, daß es manch-
mal gerade die toten Winkel des Blicks sind: das Nicht-Erkennen, das mehr Auf-
schluß über die Kultur gibt als das Betrachtungsding an sich im gesellschaftlichen
Fokus, im Rampenlicht des offensichtlich Erkennbaren. Sogar bei dem naturwis-
senschaftlich beschriebenen Gesichtsfeld handelte es sich also auch „nur“ um eine
kulturrelative Tatsache.
Ein anderes, bekanntes, näher liegendes und daher vielleicht salonfähigeres Bei-
spiel soll das Trügerische, das im Blick immer mitliegt, vor Augen führen. Dem
Meerblick — schlechthin vielleicht — wird hier schon vorgegriffen: die, wir wür-
den sagen „klassischen“, Caspar-David-Friedrich-Szenen; dunkelschwere Ölgemäl-
de mit einsam-traurigen schemenhaften Gestalten in Mondschein oder Dämme-
rung, die sehnsüchtig zum Meer blicken. Ihre Entstehung vollzieht sich zum Zeit-
punkt der „birth of the romantic eye“, die - wie Orvar Löfgren an vielen Beispie-
len aufgezeigt hat — die intellektuelle Bürgerlichkeit Europas zu neuen Seh-Arten
von Landschaft führte.22
Nur in Kenntnisnahme kunst-historischer Interpretation läßt sich der politisch
brisante Hintergrund der ins Weite Schauenden erdenken: das Deutschland in der
Nacht, die zeitgenössische Repression, die die Bürger bildlich an den Rand, an die
Ufer der See treibt, und die die gemalten Gestalten im Rücken haben, just dort, wo
sich der Standort des damaligen Bildbetrachters befindet. Die Ansicht ist trüge-
risch, da unser heutiger Standort sich so verändert hat, daß wir diesen Hintergrund
darin nicht erkennen können.
Hieraus läßt sich die Erkenntnis ableiten, daß Anschauung, Blick oder Sicht die
Umwelt und Objektwelt „beseelen“, also projektiv konstituieren und sich als Aus-
druck je zeitgenössischer Kultur lesen lassen. Es sind vor allem die Bedingungen
des 19. Jahrhunderts, denen sich die Spezifik der Affekte als Dimensionen solcher
Betrachtung, folglich auch als Konstituente von Erkenntnis und Wissenschaft, in
ihrer für uns heute erkennbaren und sichtbaren Weise verdankt.
21 Vgl. Nigel Barley: Traumatische Tropen. Stuttgart 1990 (1986), S. 125f.
Vgl. u. a. Orvar Löfgren: Wish you were here! Holiday Images and Picture Postcards. In: Nils-Arvid
Bringeus (Hrsg.): Man and Picture. Stockholm 1986, S. 90-107; hier: S. 92.
195
Johanna Rolshoven
Der Künstlerblick
Im 19. Jahrhundert hat sich ein Blick herausgebildet, eine Art auf die Land-
schaft, die Umgebung, die Welt zu schauen, die die heutigen gesellschaftlichen
Wahrnehmungsgewohnheiten ganz wesentlich beeinflußt hat. Das Auge ent-
wickelte sich zum bürgerlichen Trumpf in der Horizonterweiterung und opti-
schen Weltaneignung, die nicht nur von vermeintlichem Wissensdurst angetrieben
wurde, sondern der eminent politische Bedeutung beigemessen werden muß.
Neben der gewissermaßen immobilen Aneignung von Bücherwissen war der
reisende Bildungsbürger in die Welt hinausgetreten, um aus erster Hand in aufge-
klärter und scheinbar individualistischer Manier durch „authentisches Sehen“23
seinen Gesichtskreis zu erweitern und sich ein neues soziales Feld anzueignen. Die
aufkommende Reisebegeisterung ging mit der „Entdeckung der Gesichtswelt“ ein-
her als einer „Welt des empirischen Schauens und des systematischen Begreifenwol-
lens“.24 Ein naturwissenschaftlicher Tatsachenblick ist hier anvisiert, der sich ge-
meinsam mit der ihn tragenden (oder aussendenden) Disziplin - zuweilen bis ins
seziererische hinein25 — zu präzisieren beginnt und der den Königsweg aller Wis-
senschaften im 20. Jahrhundert ganz wesentlich mitpostuliert hat: die Annahme
und Voraussetzung einer real existierenden Wirklichkeit und deren adäquater Be-
schreibbarkeit. Die „Einübung des Tatsachenblicks“26 betrifft dabei nur eine Fa-
cette (oder ein paar Rezeptorzellen) auf der bürgerlichen Retina, nur einen Aspekt
dieser mobilen schichts- und geschlechtsmarkierenden Verortung im sozialen Raum.
Daneben formt sich in einer weiteren Facette ein Blick, der zu schweifen be-
ginnt, sei es von oben nach unten, von unten nach oben oder auch panoramatisch
in die horizontale Weite ringsherum, in alle Richtungen aber keineswegs unsyste-
matisch. Es ist ein Künstlerblick auf die Umgebung, wie ihn Maler, Denker und
Schreiber werfen konnten, eben auch bürgerliche Reisende und Wissenschaftler,
die sich in allen drei Fertigkeiten versuchen mochten. Voraussetzung für die Hinga-
be an den schweifenden Blick ist die Möglichkeit zum Genuß an der „freien“
zweckenthobenen Betrachtung.27 Denen blieb er zunächst Vorbehalten, die alltäg-
licher materieller Existenznöte entbunden waren oder sich ihrer — kraft eben die-
ser Neigungen oder Fertigkeiten - entbinden und außerhalb eines „unbewußten
Gefühles für das Nützliche“28 stellen konnten.
23 Vgl. Peter Märker, Monika Wagner: Bildungsreise und Reisebild. In: dies.: Mit dem Auge des Touri-
sten. Tübingen 1981, S. 7-18; hier: S. 8.
24 Vgl. Wolfgang Kaschuba: Erkundung der Moderne: Bürgerliches Reisen nach 1800. In: Zeitschrift
für Volkskunde 1/1991, S. 29-52; hier: S. 36.
25 Vgl. hierzu die ganz zentrale und wichtige Arbeit von Claudia Honegger: Die Ordnung der Ge-
schlechter. Die Wissenschaften vom Menschen und das Weib. Frankfurt am Main 1991.
26 Vgl. U. Jeggle: Zur Geschichte der Feldforschung (wie Anm. 20), S. 14.
27 Vgl. Joachim Ritter: Landschaft. Zur Funktion des Ästhetischen in der modernen Gesellschaft. In:
ders.: Subjektivität. Frankfurt am Main 1974, S. 141-190; hier: S. 151.
28 Vgl. Paul Cezanne: Über die Kunst. Gespräche mit Joachim Gasquet und Briefe. Hrsg, von W Hess.
Hamburg 1957, S. 21.
196
Der Blick aufs Meer
Die Genres als Objektivationen der Blickarten, als Produkt der Sichtweisen des
je betrachtenden Subjektes in Funktion seiner professionellen oder ambitionierten
Provenienz sind ineinander verflochten. Malende, schriftstellernde und wissen-
schaftlernde Männer und Frauen haben sich gegenseitig rezipiert und beeinflußt.
Utz Jeggle veranschaulicht etwa die Bedeutung der Landschaftsmalerei als ästheti-
sches Vorbild einer „optischen Erziehung“ der Sehgewohnheiten von deutschen
Schriftstellern bereits im 18. Jahrhundert, die „allesamt mit dem Worte malen und
über die Optik die Verbindung zwischen ihrer Seele und der Natur herstellen“.29
Zum aufgeklärten Tatsachenblick hatte sich also romantisch fortschreitend das
schweifende „Malerauge“ gesellt. Es hatte sich in den „bestimmten Blick des Natur-
freunds eingestohlen“30: der — ja oft auch malenden und schreibenden — aufge-
klärten, romantischen oder stürmisch drängenden Reisenden31; wohl auch in den
Blick der volkskundlichen Menschenfreunde als ähnlich konstituierter Spezies.
Deren Art des Künstlerblicks produzierte an der Schnittstelle zwischen dem Male-
rischen, das heißt dem von Malern geschaffenen „Volksleben in Ol“32 und dem
wissenschaftlich Schriftlichen Sittengemälde, die die Vorstellungen von Volkskul-
tur als Tatsachen vielleicht ebenso nachhaltig geprägt haben wie die Landschafts-
malerei die Natur-Vorstellungen als Kultur.
Der Fierausbildung des Künstlerblicks muß eine wesentliche Beteiligung an der
beginnenden Spezifizierung des volkskundlichen Blicks zugebilligt werden. Sein
schweifender Anteil im Auge des Volkskundlers eröffnete künftig die Möglichkeit
zum Blick aufs Meer und damit zum wassernahen Forschungsgegenstand.
Physiognomie und Perspektive des volkskundlichen Blicks
Es ist kein Zufall33, daß Utz Jeggles Versuch, der Geschichte der Feldforschung
in der Volkskunde nachzugehen, zum Ansatz einer volkskundlichen Blicktheorie
gerät.34 Das Schauen und Beobachten, das Betrachten und Hinsehen ist vielleicht
der wichtigste Einsatz im empirischen Feld des Faches, ihr historisch-idealistisches
»Produktionsmittel“ schlechthin. Uber den berühmten und vielzitierten volks-
kundlichen Blick verfügt man oder eben nicht. Wie ein verführerischer Duft, der
den Reiz der Wissenschaft erst zur Entfaltung bringt, haftet er den Fachvertre-
29 P- Jesfe: Landschaft - Landschaftswahrnehmung - Landschaftsdarstellung. In: Detlef Hoffmann
(Hrsg.): Landschaftsbilder, Landschaftswahrnehmung, Landschaft. Loccum 1985, S. 7—29; hier:
S. 18.
30 Vgl. ebd., S. 18.
31 Die geistesgeschichtlichen Klassifizierungen sollen zu Einordnungsmetaphern herhalten und we-
niger periodische Festlegung bedeuten.
32 Vgl. Anders Gustavsson: Gestalten des Volksglaubens einer Küstengegend dargestellt von einem
volkstümlichen Künstler. In: Nils-Arvid Bringeus (Hrsg.): Man and Picture. Stockholm 1986,
S. 252-264; hier: S. 264.
33 Vgl. Ulrich Holbein: Und wenn das doch ein Zufall war? In: Die Zeit vom 27.11.1992, S. 59.
34 Vgl. U. Jeggle: Zur Geschichte der Feldforschung (wie Anm. 20).
197
Johanna Rolshoven
ter(inne)n an; wie ein insgeheimes und unsichtbares gewisses Etwas gehört er zur
Aura der Volkskundler(innen) wie die im exotischen Gefilde überstandene Feldfor-
schung zu der der Völkerkundler(innen).35 Ähnlich dem Bösen Blick als von bei-
den Disziplinen gerne erforschter mysteriöser Spezialität läßt sich auch der volks-
kundliche nicht so leicht erlernen und kann allenfalls Ergebnis des rechten Soziali-
sationsprozesses im Fach sein; ein wenig Aberglaube hängt wohl auch ihm an.
Wie von einem geheimnisvollen inneren „dritten Auge“36, vielleicht dem „See-
lenauge“37 ausgesendet, das Volkskundler(innen) erst zu Volkskundler(innen) macht,
läßt er sich fast ebenso schwer lehren und vermitteln. Der volkskundliche Blick
scheint nicht definierbar, vielleicht aber mit Fiilfe der schönen Wortspiele oder
Wortkompositionen faßbar, mit denen man ihn zu umschreiben versucht hat, und
die ihn anschaulich schlaglichtartig spezifizieren und charakterisieren wollen.
Als jeweiliger Reflex von Zeitgeist und Wissen(schaft)stradition entwickelte sich
die Sichtweise aufs Volk vom nationalökonomisch dienstlichen Tatsachenblick
der Statistiker über einen zunächst aufgeklärten, dann romantischer werdenden
„Merkwürdigkeitsblick“, der vor allem privater Natur und — scheinbar zufälliger
„Reiseblick“ - Vorläufer des touristischen Auges war.38
Das Dienstliche vom Privaten, die Merkwürdigkeit von der Tatsache lassen sich
natürlich nur der Konstruktion halber scheiden; die Forscherpersönlichkeiten des
ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts vereinigen, durch die unbefan-
genere und unverfänglichere historische Brille betrachtet, ein wenig von allem auf
sich.39 Das Label des Volkskundlichen allerdings wird solchen Blickarten — weiten
Teilen der Fachgeschichtsschreibung folgend - erst mit Wilhelm Heinrich Riehl
zugestanden, der alle Blicke über die Zufälligkeit seiner dienstlichen Position und
Ambition zu einem „Ordnungsblick“ vereint40, dem die wissenschaftliche Weihe
zuteil wurde.
35 Zu den Initiationsfunktionen der Feldforschung für die Fach-Innung vgl. die humorvollen Gleich-
nisse zum männerbündischen Göttinnenkult, die sich aus Nigel Barley: Traumatische Tropen (wie
Anm. 21), vor allem S. 7-15, und Justin Stagl: Feldforschung als Ideologie. In: Hans Fischer
(Hrsg.): Feldforschungen. Berlin 1985, S. 289-310, herauslesen lassen; oder auch den ernsthafte-
ren Vergleich mit der obligatorischen Lehranalyse künftiger Analytiker bei Claude Lévi-Strauss:
Strukturale Anthropologie. Frankfurt 1977 (1958), S. 400.
36 Vgl. U. Jeggle: Geschichte der Feldforschung (wie Anm. 20), S. 16.
37 Vgl. Katharina Weisrock: Götterblick und Zaubermacht. Opladen 1990, S. 25.
38 Zu den Bezeichnungen und ihren Zusammenhängen vgl. U. Jeggle: Geschichte der Feldforschung
(wie Anm. 20), S. 14-19; zu ihrer bürgerlichen Auffälligkeit vgl. W. Kaschuba: Erkundungen der
Moderne (wie Anm. 24).
39 Besonders eindrucksvoll erscheint auch hier wieder Prosper Mérimée, der als reiseschriftstellernder
Novellist und Romancier dienstlich als Staatlicher Inspektor und Denkmalschützer seinen priva-
ten ethnographischen Ambitionen in Frankreich und Italien nachging.
40 Vgl. U. Jeggle: Geschichte der Feldforschung (wie Anm. 20), S. 20; daneben auch Riehls Tochter
Hedwig, die den väterlich „novellistischen“ Blick verklärt mit dem Vokabular einer Malerin und
Musikerin nachzeichnet, in dies.: Aus der Werkstatt meines Vaters. In: Niederdeutsche Zeitschrift
für Volkskunde 16/1938, S. 1-10.
198
Der Blick aufs Meer
Die aufgeführten bildlichen Begriffe bezeichnen zum Teil zugleich den Betrach-
tungsstandpunkt, den Blick-Sender, als auch das „Augenende“41, also Ziel oder
Objekt der Anschauung. Die Komplexität der dazwischenliegenden Wellen und
Möglichkeiten der Augen-Blickrichtungen, die ganze Bandbreite an Implikationen
des Schauens, bergen eine Reihe von Komplikationen für die mit ihrem Blick
alleingelassenen Volkskundler(innen), die sich den Volkbetrachtungen hingeben.
Diese Komplikationen des volkskundlichen Blicks suggerieren bei dem Versuch
ihrer Entschlüsselung, daß in der Interpretation von Kultur dem Blick als Trans-
porteur der Eigenarten des Blickenden mehr aufschlußreiches Gewicht zugespro-
chen werden kann als der Tatsache des Betrachteten. Dies offenbaren volkskundli-
che Ansichten von Gemälden aus dem 19. Jahrhundert, die wichtige Aspekte und
Proportionen im Verhältnis zwischen Malerleben und Volksleben in Bild und
Wirklichkeit zutage treten lassen.42
An hessischen Beispielen zeigt Martin Scharfe die bürgerlichen Verwandtschaf-
ten zwischen Volksleben malendem und Volksleben volkskundlich beschreiben-
dem Blick auf.43 Sowohl die gemalten als auch die schriftlich fixierten Bilder ent-
puppen sich bei näherer Betrachtung als „Vexierbilder“ vom Volk, die im Wider-
schein der Abbildung das zeitgenössische bürgerlich-männliche „Welt-Bild“ des
Volkbetrachters und Bildverfassers spiegeln.44 Die „wahre(n) Prachtgestalten des
Charakteristischen“45, die dieser Blick auf Leinwand oder Papier projiziert, enthül-
len bei fortschreitender biographisch und zeitgenössisch eingebetteter Analyse
weit über den Rückschluß auf die „Lebenswahrheit“46 oder Wirklichkeitstreue
der abgebildeten Szenen hinaus vor allem die „eigene Problemlage des Blicken-
den“.47
Vor dem Hintergrund dieser Erkenntnisse erhärtet sich der Verdacht, daß das
Fehlen der näheren Spezifizierung des volkskundlichen Blicks weniger an seiner
mangelnden Beschreibbarkeit liegen mag. Vielmehr fehlen hierfür die Worte, weil
dieser Blick (es sei wiederum an das Bild von den Augenstrahlen erinnert, die das
Objekt beseelen) so unlösbar mit den forschenden Subjektpersonen verbunden ist,
die in der Wissenschaft ihrem Anspruch nach nichts zu suchen hatten. Das hart-
näckig dominierende (und als Legitimation wissenschaftshistorisch verständliche
41 Vgl. S. Oettermann: Die Entdeckung des Horizonts (wie Anm. 9), S. 40.
42 Vgl. Konrad Köstlin: Gemaltes Trachtenleben. Volkslebenbilder in der Gesellschaft des 19. Jahr-
hunderts. In: Kieler Blätter zur Volkskunde 15/1983, S. 41-68; Christine Burckhardt-Seebass: Dia-
lektmalerei. In: Schweizerisches Archiv für Volkskunde 85/1989, S. 73-84; Martin Scharfe: Hessi-
sches Abendmahl. Exkurs zu Wissenschaft und Vergewisserung in volkskundlichem und folklori-
stischem Tableau. In: Hessische Blätter für Volks- und Kulturforschung NF 26/1990, S. 9-46.
43 Vgl. M. Scharfe: Hessisches Abendmahl (wie Anm. 42), S. 12.
44 Vgl. ebd., S. 12 u. S. 14.
45 Vgl. ebd., S. 21.
46 Vgl. den bei K. Köstlin zitierten Begriff von Richard Andree (1901), in: ders.: Gemaltes Trachtenle-
ben (wie Anm. 42), S. 42.
47 Vgl. M. Scharfe: Hessisches Abendmahl (wie Anm. 42), S. 25.
199
Johanna Ralshoven
und wichtige) Postulat der „Apartheit von Wissenschaft“ - wie Martin Scharfe
das apart formuliert48 und jüngst in Frage zu stellen begonnen hat der getrenn-
ten Welten zwischen Wissenschaft und Leben, wurde erst poröser mit der femini-
stischen Wissenschaftskritik seit den 1970er Jahren, die auch in der Volkskunde
aufs Tapet gebracht wurde und allmählich in die gemütlichen Salons des zünftigen
Fachs Eingang findet. Hier in den Herrenzimmern wird dieser Kritik zunehmend
eine gewisse zeitgenössische Akzeptanz gewährt, von Pierre Bourdieu aufbereitet
und vorformuliert.49 Sie kommt der Selbstreflexion befördernden Fin-de-Siecle-
Stimmung in den auch anderweitig (vielleicht glücklicherweise) ratlosen Geistes-
wissenschaften entgegen, die den Tatsachenblick als einzig legitime Möglichkeit
der Erkenntnisgewinnung schon längst wieder anzweifeln mußten.
Diese Spannung zwischen Wissenschaft und Leben, zwischen „verklärendem
Schimmer“50 oder auch „bösem Blick“ (im Friedellschen Sinne51) und den ver-
meintlichen Tatsachen, zwischen Romantik und Kritik, „Schwärmerei und Weis-
heit“52, zwischen den volkskundlichen Anfängen im 19. Jahrhundert und dem Be-
ginn der Perspektive eines erneu(er)ten Tatsachenblicks im 20. Jahrhundert -
denn das Interesse für Wissenschaftsgeschichte derzeit hat ja auch seine Implikatio-
nen und Komplikationen — soll mit Hilfe der Metaphorik, die der Blick aufs Meer
bietet, versuchsweise einmal durchgespielt werden.
Die Brücke kann mit einer schweizerisch-unbedenklichen Formulierung von
Richard Weiss geschlagen werden. Er hat - unfreiwillig, da zur Erklärung eines
bestimmten von ihm anvisierten wissenschaftshistorischen Zusammenhanges als
Bild formuliert - den volkskundlichen Blick in verkürzter, aber treffender Form
als die „Augen der Liebe und die Augen des Hasses“ bezeichnet.53 Sie sähen am
Volk „ähnliche Züge“ (also der Liebe, des Hasses) dort, „wo sie sich überhaupt be-
mühen, das Wesentliche zu sehen und nicht beim bloßen Affekt verharren“.54
Gegen diesen Affekt - auch gewiß vor dem Hintergrund seiner katastrophalen
Folgen im Nationalsozialismus — wendet Weiss sich, und damit hat er - auch hier
den fachgeschichtlichen Repräsentationen folgend — von gerne vermutetem neu-
tralem Boden aus dazu beigetragen, daß die deutsche nazifizierte Volkskunde wie-
der Schritte in Richtung Wissenschaft unternehmen konnte. Er markiert also wis-
senschaftshistorisch die notwendige Rückkehr des ideologisch NS-affizierten zum
volkskundlichen Tatsachen-Blick, dessen Aufstieg mit der Blüte exakter sozial-
48 Vgl. ebd., S. 23.
49 Vgl. früher Pierre Bourdieu: Sur le pouvoir symbolique. In: Annales E.S.C. 3/1977, S. 405-411
und später ders.: Homo academicus. Frankfurt am Main 1988 (1984).
50 Vgl. Karl Plenzat: Probleme der ostdeutschen Volkskunde. In: Niederdeutsche Zeitschrift für
Volkskunde 9/1931, S. 17-37; hier: S. 26.
51 Vgl. Egon Friedeil: Kulturgeschichte der Neuzeit. Bd. 1. München 1927, S. 14.
52 Vgl. M. Scharfe: Hessisches Abendmahl (wie Anm. 42), S. 34. ■
53 Vgl. Richard Weiss: Volkskunde der Schweiz. Zürich 1984 (1945), S. 6.
54 Vgl. ebd., S. 6 (Herv. JR).
200
Der Blick aufs Meer
wissenschaftlicher empirischer Verfahren in Betrachtung des Volkslebens besiegelt
werden konnte.
Gerade dieser zitierte Affekt jedoch, der sich Weiss zufolge den romantischen
Ursprüngen eines Faches verdankt, das — in seinen Augen unzulässigerweise —
„das Lebensproblem zu einem wissenschaftlichen Problem gemacht“ habe55, soll
als „das Wesentliche“ hier bemüht werden.
Beginnende volkskundliche Meereshlicke
Wissenschaftsgeschichtlich liegt der volkskundliche Blick aufs europäische
Meer nicht im toten Winkel, er ist weder Terrain vague noch exotisches Gebiet. Als
randständiger Blick, der er natürlich(erweise) ist, wurde ihm in der Fachgeschichte
immer wieder Aufmerksamkeit zuteil56, auch wenn nahezu alle Fachvertreter, die
sich mit der Erforschung der Küstenkulturen befaßt haben, die fehlende „meeri-
sche“57 Ausrichtung der Volkskunde als Forschungslücke beklagen.58 Seine ersten
Ausprägungen fallen in die Anfänge der Wissenschaft, die bürgerliche Besetzung
von beidem verbindet sie miteinander.
Die beginnende zaghafte gesellschaftliche Meeresliebe zu Anfang des 19. Jahr-
hunderts fiel historisch mitten in die Hoch-Zeiten der binnenorientierten Erzähl-
forschung und nahm - wissenschaftlich - folglich diese vorgegebene Gestalt an.
Märchen-, Sagen- und Legendenschätze wurden zuerst aus dem Meer gehoben, be-
vor man der Fischerbevölkerung gegen Ende des Jahrhunderts den Bauernkanon
antun konnte. Für die Seeleute sollte er noch lange nicht passen; über die mündli-
che Erzählkultur hinausgehend, entzogen sie sich in ihrer Lebensweise aufs Meer
hinaus und folglich denkbarer volkskundlicher Einordnung, vor allem in bezug
auf die gewünschte christliche Lebensart und Familienform. Noch 1962 machte
Wolfgang Stammler, der sich als erster Fabrikant einer „seemännischen Volkskun-
de“ wähnte59, für die Kultur der seefahrenden Bevölkerung allenfalls ein „Sonder-
brauchtum“ geltend60: „An allgemein menschlichen volkskundlichen Sinngehal-
35 Vgl. ebd. S. 6.
36 Ausführliche und aufschlußreiche fachgeschichtliche Überblicke finden sich bei Wolfgang Ru-
dolph, in ders.: Ein Jahrhundert maritime Volkskunde im Ostsee- und Nordseeraum. In: Jahrbuch
für Volkskunde und Kulturgeschichte 24/1981, S. 168-182; ders.: Wolfgang Steusloff: Seefahrende
Bevölkerung. In: Karl Baumgarten u.a. (Hrsg.): Mecklenburgische Volkskunde. Rostock 1988,
S. 230-252; ders.: Maritim-volkskundliche Inventarisationen im Ostseeraum. In: Kieler Blätter
zur Volkskunde 24/1992, S. 147-159.
37 Zum fehlenden Vokabular, das auf die Lücke im Bezeichnen und Denken von Meeresbezogenheit
unserer Kultur hinweist, vgl. Kurt von Boeckmann: Vom Kulturreich des Meeres. Berlin 1924, S. 7.
38 Es wäre interessant, den Funktionen solcher Lückenklagen auch in anderen Zusammenhängen
einmal nachzugehen.
39 Vgl. Wolfgang Stammler: Seemanns Brauch und Glaube. In: ders. (Hrsg.): Deutsche Philologie im
Aufriß. Bd. 3. Berlin 1962 (1958), S. 2901-2972; hier: S. 2903.
60 Vgl. ebd., S. 2905.
201
Johanna Rolshoven
ten kommen für den Seemann nur wenige in Frage“61; wenn der Matrose Weih-
nachten an Kap Hoorn vorbeifährt, formuliert er ganz seemännisch, ,,da fällt alles
Feiern aus“.62
Die volkskundlich motivierte Beschäftigung mit der Küste, und zwar mit der
Kultur sowohl der Fischer- als auch der seefahrenden Bevölkerung, war vor der
zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts aus mehreren Gründen kaum vorstellbar oder
denkbar. Alain Corbin hat die sozial- und mentalitätsgeschichtlich begründeten
Barrieren ausführlich dargestellt, die zu einem bis heute zwiespältigen Verhältnis
der europäischen Landbevölkerung zum Meer führten.63
Unter den geistesgeschichtliche Faktoren, die für die „Vernachlässigung der See-
überlieferung durch die Volkskundler“ mitverantwortlich sind, nennt Helge
Gerndt das „Schwelgen in regionaler Heimatbezogenheit“, das „die See als einen
,Volkslebens’raum gar nicht (habe) erkennen lassen“.64 Hier bleibt einzuwenden,
daß es den regionalen Heimatbezug auch für küstenbewohnende Volkskundler ge-
geben haben wird, allein das Meer und damit die von ihm lebenden Menschen eig-
neten sich noch zu wenig für Idylle.
Die zeitgeschichtliche Denkbarkeit als volkskundliches Sujet bezieht ihre Vor-
aussetzungen mit dem technischen Wandel, der die Ökonomie, staatliche Politik
und Ideologie, die Fremd- und Selbstverständnisse in den Repräsentationen, Bil-
dern und Wissenschaften tiefgreifend beeinflußt hat. Die „Technisierung“ des
Meeres zwischen 1860 und 18 8 065, die „Verkabelung“ der Ozeane, die technische
Perfektionierung der Navigationstechniken, konnte in Deutschland vor allem in
Anbetracht des Ausbaus der Kaiserlichen Kriegsmarine gegen die erzfeindliche
englische und französische Bedrohung vorangetrieben werden.
Die Ablösung der „natürlichen“ und „manuellen“ Segelschiffahrt durch die
moderne, maschinenbetriebene Dampfschiffahrt bot zum einen affektives Poten-
tial, volkskundliche „Rettungsgedanken“ auf sich zu ziehen und zu mobilisie-
ren.66 Aber sie hat zum anderen tatsächlich das Ausgesetztsein der Segelschiffe an
die Willkürlichkeit der Naturgewalten, an Wetter, Wind und Seegang eingeschränkt.
Für die gesellschaftlichen und daher auch volkskundlichen Meeres-Vorstellungs-
welten bewirkte die Zunahme der Kenntnisse ein größeres Vertrauen in die Be-
herrschbarkeit dieses Elementes, wider den „Horror des Nicht-Wissens“67, und
61 Vgl. ebd., S. 2903.
62 Vgl. ebd., S. 2916. - Sogar für die dörflichen Fischergemeinschaften an der deutschen Ostseeküste
schreibt Christa Pieske noch 1954, daß die dortigen Feste „keine brauchtümlichen Züge“ aufwie-
sen. Vgl. dies.: Glaube und Brauch der seefahrenden Bevölkerung der deutschen Ostseeküste. In:
Jahrbuch der Albertus-Universität zu Königsberg IV/1954, S. 29-82; hier: S. 46. Ich danke Frau
Prof. Dr. Ingeborg Weber-Kellermann herzlich für den Quellenhinweis!
63 Vgl. A. Corbin: Meereslust (wie Anm. 4), S. 13-35.
64 Vgl. Helge Gerndt: Kultur als Forschungsfeld. München 1986, S. 57.
65 Vgl. W. Rudolph: Ein Jahrhundert maritime Volkskunde (wie Anm. 56), S. 168.
66 Vgl. ebd., S. 57.
67 Vgl. Norbert Elias: Über die Natur. In: Merkur 1/1986, S. 467-481; hier: S. 472.
202
Der Blick aufs Meer
somit eine gewisse Beschwichtigung der Ängste vor Meeresgefahren68 - eine Beru-
higung, wie sie im Fortschrittsglauben an die Titanic einen symbolisch äußerst
aufgeladenen epochalen Höhepunkt findet.
Mit dem Aufschwung der deutschen Kriegsmarine erntete auch der Matrose als
Typus einen Teil der patriotischen Gesamtbegeisterung. Und mit ihm die Küsten-
bevölkerung, denn nicht selten wurde die Mannschaft aus Seefischern rekrutiert,
deren Meeresgewohnheiten und -Vertrautheiten sich für das Vaterland nutzbar ma-
chen ließen.69 Der „rauhe Menschenschlag“ der nördlichen Küstenbewohner hatte im
Laufe des 19. Jahrhunderts unter den strengen Blicken des binnenländisch-bürger-
üchen Wanderers einen allmählichen Pazifizierungsprozeß erfahren. Robert Bürkner
hatte die samländischen Fischer im Jahre 1844 noch ängstlich als „wetterfeste Ge-
sellen“ beäugt, die vermutlich keinen Spaß verstehen und ihn — die Branntweinflasche
in der Hand — mit „Brutalität“ in den Mienen „stumm und regungslos anglotzen“.70
Ein wenig später als Bürkner werden die „Barbaren am Meere“ für Wilhelm Hein-
rich Riehl zum Topos; er hatte jedoch bereits das „Edle“ dieser „Wilden“ im Blick
und mehr aufwertende Zugeständnisse für die deutsche Küstenbevölkerung übrig.71 72
Der Bedeutungswandel, der mit den technischen Terraineroberungen und ihren
ideologischen Folgen einhergegangen war, ermöglichte es, daß sich der volkskund-
liche Blick weniger ängstlich und bestimmter auf die Küstengebiete richten konn-
te. Er kam wohl auch der gleichzeitigen methodologischen Verlagerung einer jun-
gen Wissenschaft entgegen, die von den Worten der Volksüberlieferung ein wenig
weg, dafür zaghaft hin zu den Dingen und zu den Menschen zu schauen begann.
E)ie volkskundlich-maritimen Fachneigungen beförderte zusätzlich der Seebad-
tourismus, der sich mit der Jahrhundertwende allmählich etablierte. Der vorwie-
gend städtisch-bürgerliche Freizeitblick auf die Küsten konnte sich seiner sozialen
Provenienz nach mit dem der Volkskundler decken, deren Blick auf diesen Ort
folglich doppelt72 intensiv werden lassen, das heißt in zweierlei Weise affiziert.
68 Vgl. Jean Delumeau: Die Angst der Seefahrer vor dem Meer. In: Klaus Bergmann, Solveig Ockenfuß
(Hrsg.): Neue Horizonte. Reinbek 1984, S. 51-68; hier: S. 5lf.
69 Vgl. den sehr anschaulichen Aufsatz von Christian Tilitzki: Ostdeutsche Küstenfischer im Spiegel
der Reise- und Bäderliteratur des 19. Jahrhunderts. In: Jahrbuch für ostdeutsche Volkskunde
25/1982, S. 201-217; hier: S. 208.
70 Vgl. Robert Bürkner: Wanderungen durch das Samland. Ein Wegweiser für Reisende. Königsberg
1844, S. 47. In aufschlußreicher Weise zitiert findet sich die Textstelle bei C. Tilitzki: Ostdeutsche
Küstenfischer (wie Anm. 69), S. 203.
71 Vgl. Wilhelm Heinrich Riehl: Land und Leute (1854). In: Vom deutschen Land und Volke. Hrsg,
von Paul Zaunert. Jena 1922, S. 3-114; hier: S. 42. Im Küstenland sieht Riehl den „Geist der Wild-
nis, zugleich aber auch der strengen, harten germanischen Eigenart“ angesiedelt. Vgl. ebd., S. 33.
— Erste Akzente eines Fischerbildes werden hier formuliert, die in der Aufwertung des „NS-Fi-
schers“ als Wikinger-Ahn zur Mitte des 20. Jahrhunderts hin kulminieren. Vgl. z. B. Gustav Fr.
Meyer: Erzählungen vom „Starken Mann“ in Schleswig-Holstein. In: Niederdeutsche Zeitschrift
für Volkskunde 12/1934, S. 180-196, oder auch Robert Petsch: Schiffervolkskunde. In: Nieder-
deutsche Zeitschrift für Volkskunde 16/1938, S. 72-83.
72 Vgl. die von Martin Scharfe beschriebene „Doppelung“ des Blicks, in: ders.: Hessisches Abendmahl
(wie Anm. 42), S. 17.
203
Johanna Rolshoven
Für die bislang hauptsächlich von der Fischerei lebenden Küstenortsbewohner
bewirkte der Tourismus eine Verschiebung in den ökonomischen Grundlagen. Das
mochte zwiespältige Gefühle im bürgerlichen Volkskundler wecken: Zum einen
drohte die Veränderung der traditionellen Lebensweisen oder ihr Verlust73, zum
anderen bescherten die neuen Erwerbsmöglichkeiten der Küstenbevölkerung (auf
deren Seite die Volkliebenden sich ja stellten) deutliche Lebensverbesserungen.74 In
dem „doppelten Zweck“, den Alfred Haas 1891 seiner Sagenedition im Vorwort
zuschreibt, wird dies deutlich: zum einen gelte es, „den durch mündliche Überlie-
ferung ererbten Sagenschatz in der Erinnerung der Bewohner“ lebendig zu halten,
zum anderen soll der Band „den auswärtigen Besuchern“ willkommen sein.75 Haas
versucht die Brücke zwischen beiden Anliegen mit einer Perspektivenveränderung
zu schlagen: der Blick der Badegäste (und dies ist mithin sein eigener!) soll vom
Land zu den Leuten, von der Landschaft zum „Denken und Empfinden“ der Be-
wohner gelenkt werden.76
Den Affektimplikationen im wissenschaftsanfänglichen Prozeß des Erschauen-
und Erforschenwollens gehen die folgenden Passagen nach, die sich mit meeres-
volkskundlich ambitionierten Männer befassen. Den Anhaltspunkt, sich solcher-
art einer genaueren Bezeichnung der Beschäftigung mit Wissenschaft aus der „Er-
fahrung des Lebens“77 zu nähern, bieten zunächst die akzentsetzenden Berufs- und
Interessenprofile. Nicht nur die expliziten Fachvaterfiguren lassen sich hierzu bei-
spielshalber heranziehen, sondern, speziell auf den volkskundlichen Meeresblick
bezogen, vor allem die seiner institutionalisierten Verwissenschaftlichung voraus-
laufenden Formen, wie sie mit Wolfgang Rudolph etwa als „das Wirken der frühen
Laienforscher auf dem Gebiet der Maritimkultur“ verstanden werden können.78
Denn den Meeresvolkskundler zeichnet ebensowenig ein eindeutiges Profil aus
73 So etwa Richard Wossidlo, der mit beredtem Vokabular von „verschütteter und zertrümmerter
Überlieferung“ spricht und beschreibt, daß er „öfter, namentlich in aufstrebenden Badeorten, mit
Staunen beobachtet (hat), mit welcher Schnelligkeit Leute aus dem Landvolke die Frische ihrer
Ausdrucksweise verlieren, sobald sie [...] mit städtischem Verkehr in Berührung kommen“. Vgl.
ders.: Über die Technik des Sammelns volkstümlicher Überlieferungen. In: Zeitschrift für Volks-
kunde 16/1906, S. 1-24; hier: S. 23 u. Anm. S. 8.
74 Vgl. Reinhard Peesch: Die Fischerkommünen auf Rügen und Hiddensee. Berlin 1961, S. 39; Richard
Pietsch: Fischerleben auf der Kurischen Nehrung. Berlin 1982, S. 61.
75 Vgl. Alfred Haas: Sagen und Erzählungen von den Inseln Usedom und Wohin. Stettin 1904, S. III.
Siehe hierzu auch die veränderten Vorworte von der ersten zur dritten Auflage (1891, 1896, 1903),
in ders.: Rügensche Sagen und Märchen. Stettin 1903, S. V-VII. Solche - heute könnte man sagen
„marktgerechte“ - Veränderung in der Zuschneidung einer Edition kommt im Titel einer Veröf-
fentlichung von William Förster besonders schön zum Ausdruck. In der ersten Auflage heißt das
Buch „Die schönsten Sagen und Märchen der Inseln Usedom und Wohin. Nach alten Chroniken“
(Swinemünde 1895) und in der zweiten Auflage „Aus Pommerns Vergangenheit. Sagen und Erzäh-
lungen aus den Ostseebädern Swinemünde, Heringsdorf, Misdroy“ (Swinemünde 1901).
76 Vgl. A. Haas: Sagen (wie Anm. 75), S. III.
77 Vgl. M. Scharfe: Legales Christentum. Eine Revision von Thesen zur Volksreligiosität. In: Westfäli-
sche Forschungen 42/1992, S. 26-62; hier: S. 26.
78 Vgl. W. Rudolph: Ein Jahrhundert maritime Volkskunde (wie Anm. 56), S. 169.
204
Der Blick aufs Meer
wie die Volkskunde selbst eine Profession ist, zu der man ohne Umwege oder
Unfälle79 findet.
Als Funktion tritt sie in zuweilen exotisch anmutender Vielgestalt in Erschei-
nung: häufig als Liebhaberei von Germanisten80, als Nebenbeschäftigung von
Handlungsreisenden81, als Nostalgie von Kapitänen.82 Landschaftsmaler, die das
Genre wechseln83, finden sich ebenso darunter wie die zahlreichen bienenfleißigen
Lehrer84 ... oder auch betagte Revolutionshistoriker, die im Exil am Meer das
„Ozeanische“85 in und mit der weiblichen Sexualität zu entdecken beginnen.86
Faul Sebillots Meeresvolkskunde
Zum gleichen Zeitpunkt wie Alfred Haas an der Ostseeküste und vor dem Hin-
tergrund des beschriebenen Spannungsfeldes zwischen volkskundlicher Sammel-
leidenschaft und beginnender (oder gleichzeitig denkbarer) Verwissenschaftli-
chung hatte der französische Gelehrte Paul Sebillot an einem anderen europäi-
schen Ufer ein ähnliches Problem. Auch er mußte seinen erst in der Geburt
begriffenen maritimkulturellen Lorschungsgegenstand mitten in einem umfassen-
den Veränderungsprozeß in der gewünschten Überschaubarkeit zu fassen kriegen.
79 Vgl. Richard. Pietschs Bericht über seinen (in der dritten Person geschilderten) Werdegang: „Im Un-
terschied zu diesen (seinen kurischen Landsleuten, JR) war er nicht Fischer, denn sein beruflicher
Werdegang wurde durch einen Unfall geprägt, den er als Kind erlitt und der eine Lähmung des
rechten Armes hinterließ. So wurde er Postfahrer, nach einem weiteren Unfall Banklehrling, dann
Angestellter und schließlich - nach dem Besuch einer Kunstgewerbeschule (sic!) - Leiter einer
Werkstatt für Kriegsbeschädigte und Körperbehinderte. Dazwischen arbeitete er gelegentlich als
Fischer.“ Ders.: Fischerleben (wie Anm. 74), S. 2.
80 Z. B. Walter Mitzka: Deutsche Fischervolkskunde. Neumünster 1940.
81 Z. B. Hans Szymanski: Der Ever der Niederelbe. Ein Beitrag zur Geschichte der deutschen Schiff-
fahrt und zur Volkskunde Niedersachsens. Lübeck 1932.
82 Vgl. den Hinweis auf die zahlreiche Kapitänsliteratur in W. Stammler: Seemanns Brauch (wie
Anm. 59), S. 2902.
83 Der malende Volkskundler Sebillot ist, auch auf die Gegenwart bezogen, keine Ausnahme; natür-
lich wäre es interessant, dieser besonderen Affinität zwischen Haupt- und Nebenbeschäftigung in
Funktion des wissenschaftlichen Blickwinkels der Malenden einmal nachzugehen.
84 Exemplarisch sei Richard Wossidlo angeführt: „Reise, Quartier, in Gottesnaam“. Das Seemannsle-
ben auf den alten Segelschiffen im Munde alter Fahrensleute. Rostock 1940. - Zur Metaphorik
des volkskundlichen Bienenfleißes vgl. vor allem den schönen Aufsatz von Siegfried Becker: Der
Bienenvater. Zur kulturellen Stilisierung der Imkerei in der Industriegesellschaft. In: Hessische
Blätter für Volks- und Kulturforschung NF 27/1991, S. 163-194.
85 Vgl./. Darras: La mer (wie Anm. 3), S. 163; sowie hierzu in Erläuterung des Freudschen Terminus
K. Theweleit: Männerphantasien. Bd. 1: Frauen, Fluten, Körper, Geschichte. Frankfurt am Main
1977, S. 317-321.
86 Es handelt sich um Jules Michelet, der viel ausführlichere Erörterung verdiente. Vgl. ders.: Das
Meer. Frankfurt am Main 1987 (1861), insbesondere die Bezugsetzung von Michelets „grandioser
Wasser-Etude“ (H. Böhme, wie Anm. 8, S. 35) zu seinen Tagebüchern, wie Rolf Wintermeyer sie
in seinem dichten und kenntnisreichen Nachwort vornimmt; ebd., S. 315-337.
205
Johanna Rolshoven
Sébillot hat in gewisser Weise den ersten französisch-volkskundlichen Blick ge-
zielt aufs Meer geworfen. Vor den Bauern gab er entschieden den Fischern den Vor-
zug; und noch vor beiden galt seine Liebe dem Meer in personifizierter und mit
vielerlei Eigenschaften versehenen Form. Zwischen 1880 und 1905 ist sein umfang-
reiches Werk zur „maritimen Folk-Lore“87 erschienen, das ganz im Geist einer haupt-
sächlich sich mit Sammeln begnügenden Erzählforschung steht.88 Wie als symboli-
sche Grundsteinlegung89 erschien „Le Folk-Lore des Pêcheurs“ im Jahre 1901 als
erster Band der Reihe „Folklore de la France“, gefolgt im Jahre 1905 von dem zwei-
ten Band „La mer et les eaux douces“, der in einer Vorfassung bereits 1886 unter
dem Titel „Légendes, croyances et superstitions de la mer“ verlegt worden war.
Die Besonderheit an Sébillots Geschichte ist, daß er erst Landschaftsmaler war,
bevor die Volkskunde ihn interessierte, und daß dies wiederum keine Besonderheit
ist in Anbetracht seiner Zeitgenossenschaft, innerhalb der das gemalte Trachtenle-
ben — wie Konrad Köstlin dies für eine andere Meeresküste beispielhaft veran-
schaulicht hat — mit einer „gewisse(n) Konsequenz [...] in die pflegende Trachten-
bewegung“ geführt hat.90 Sébillots Werdegang zum „Folkloristen“ soll daher kurz
skizziert werden, um seine „Malerbiographie“ als Zugang zum Bilderlebnis91
fruchtbar zu machen. In diesem Individuell-Historischen manifestiert sich ein
Übergang vom Künstlerblick zum ethnographischen und somit vielleicht ein
empfindlicher Punkt im Frühstadium der volkskundlichen Wissenschaftsgenese,
der unser Fachgedächtnis und daher Fachverständnis mitbewegt.
1843 an der nordfranzösischen Atlantikküste geboren, absolvierte Paul Sébillot
als gutbürgerlicher Sohn ses droits, das Jurastudium in Rennes.92 Den kurze Zeit
praktizierten Notariatsgehilfen hängte er an den Nagel, um sich im Pariser Künst-
lermilieu zu bewegen (an den gleichen Orten wie zum Beispiel Gustave Courbet,
einem der besessensten Meereswogenmaler des 19. Jahrhunderts). Mit 22 Jahren -
so berichtet es sein Zeitgenosse und Biograph Léon Séché — habe er mit Vorliebe
begonnen, Schiffe auf dem Meer zu zeichnen, und sich zu diesem Zweck von Paris
in die Bretagne begeben. Weitaus mehr als für die Landschaft war sein Malerauge
sensibel für die „tausend Aspekte des Meeres“. In Pont-Aven an der Küste (wo we-
nig später auch Paul Gauguin das Meer malte) hielt er sich länger auf; zwischen
1870 und 1883 entstanden hier 20 Ölgemälde.93
87 Vgl. Paul Sébillot: Le Folk-Lore des Pêcheurs. Paris 1901, S. I.
88 Was nicht heißen will, daß es bar jeder wissenschaftlichen Analyse oder Interpretation ist.
89 Dies sei auf die Gefahr hin gesagt, daß meine Auswahl an Fachvätern ganz und gar nicht den „gene-
alogischen“ Geschmack der französischen Fachgeschichtsschreibung trifft, bei der es aber im übri-
gen genauso turbulent zugeht wie in der deutschen. Vgl. etwa Isac Chiva: Wie die Ethnologie
Frankreichs entstand. Versuch einer genealogischen Begründung. In: ders., Utz Jeggle (Hrsg.):
Deutsche Volkskunde - Französische Ethnologie. Frankfurt am Main 1987, S. 13-43.
90 Vgl. K. Köstlin: Gemaltes Trachtenleben (wie Anm. 42), S. 59.
91 Vgl. C. Burckhardt-Seebass: Dialektmalerei (wie Anm. 42), S. 75.
92 Zu den biographischen Angaben vgl. Léon Séché: Paul Sébillot. Notice biographique et bibliogra-
phique. Vannes 1890.
93 Vgl. ebd., S. 11.
206
Der Blick aufs Meer
Beim Durchstreifen der Bretagne auf der Suche nach malerischen Motiven be-
gann er sich für die Bevölkerung zu interessieren und legte seine Energien zuneh-
mend in das Sammeln von Märchen und Sagen der Haute-Bretagne. Die Malerei
gab er schließlich auf; die auf seinem Türschild eingravierte Berufsbezeichnung des
„peintre“ soll er jedoch ebensowenig entfernt haben94, wie er den Blick auf sein
Lieblingsmotiv gewechselt haben wird.
Sébillots Meeresblick speiste sich aus verschiedenerlei Motivationen. Er selbst
schreibt, daß ihn „die Welt des sagenhaften Meeres“ dort anzieht, wo es „Schätze“
an Volksdichtung zu heben gibt. Die „Liebe zum Meer“, formuliert er weiter, „hat
mich angetrieben, an dessen Küsten ich geboren bin und das mich in meinem Wer-
degang als Landschaftsmaler immer mehr bewegt hat als die schönsten und lieb-
lichsten Motive im Binnenland“.95
Die ästhetische Meereswahrnehmung gewinnt für den Künstler Sébillot eine ge-
wissermaßen „existentielle Brisanz“.96 Die Beschäftigung mit dem Meer wird zum
Versuch der Wiederannäherung an die symbolischen Orte der Kindheit. Aus dem
Leiden an ihrem Verlust erwächst der Impetus, das Bald-Verlorene retten zu wol-
len. Die in „La Folk-Lore des Pêcheurs“ beschriebenen Bräuche und Glaubensvor-
stellungen, klagt er, seien zum Zeitpunkt der Buchedition schon weitestgehend
verschwunden.97 Die Überfremdung durch den aufkommenden Badetourismus,
wirtschaftliche Nöte und Alkoholismusprobleme bedrohten die (für die bürgerli-
che Anschauung) ästhetisch „schöne und gesunde“ Küstenbevölkerung.98 99
Die Kindheit als Topos und die Verluststimmung, welche sich zum Fin-de-siècle
hin vor allem in Frankreich intellektuell verdichten, sind ebenso als zeitgenössisch
in der Luft liegend zu diagnostizieren wie die Bretagnemode. Der Ruf der wilden
und befremdlichen Erhabenheit dieser Landschaft und der aufregend-mysteriös im
Dunkeln liegenden Herkunft ihrer Bewohner versetzte „Tout Paris“ in Entzücken
und Kelto-Manie."
Das noch unerschlossene Gebiet der maritimen Folk-Lore und die mutmaßli-
che terra incognita der Haute-Bretagne forderten Sébillots Forscherdrang heraus.100
Die Neuheit des Forschungsgegenstandes, das Erforschenswerte der Fischerbevöl-
94 Vgl. ebd., S. 16.
95 Vgl. P. Sébillot: Legendes, croyances et superstitions de la mer. Bd. 1: La mer et le rivage. Paris 1886, S. VI.
96 Vgl. Herbert Lachmayer: Distanzen der Sehnsucht. Betrachtungen zu Ferne und Erinnerung im ro-
mantischen Bewußtsein. In: Jean Clair u.a. (Hrsg.): Wunderblock. Wien 1989, S. 99-104; hier: S. 99.
97 Vgl. R Sébillot: Légendes (wie Anm. 95), S. VIII.
98 Vgl. ebd., S. VIII.
99 Vgl. Cathérine Bertho: L’Invention de la Bretagne. Génèse sociale d’un stéréotype. In: Actes de la
Recherche en Sciences Sociales 35/1980, S. 45-62; hier: S. 49.
100 Vgl. R Sébillot in seinem Vorwort zu ders.: Le Folk-Lore (wie Anm. 87), S. I; sowie ders.: Question-
naire des croyances, légendes et superstitions de la mer. Extrait des Bulletins de la Société d’Anthro-
pologie, séance du 21. mai 1885. Paris 1885, S. 5. - In Wirklichkeit war zwischen dem ausgehen-
den 18. bis zum Ende des 19. Jahrhunderts zu kaum einer französischen Region so viel publiziert
worden wie über die Bretagne. Vgl. C. Bertho: L’invention (wie Anm. 99), S. 48.
207
Johanna Rolshoven
kerung noch vor den bereits entdeckten Bauern bedurfte einer Rechtfertigung. In volks-
kundlicher Manier macht er sich hierzu den Standpunkt der zu Erforschenden zu
eigen und stützte mit der Authentizität des Informantenwortes sein Anliegen:
„Die Meeresleute“, schreibt er, betrachten „die Landleute als ihnen in jeder Hin-
sicht unterlegen“. Und darin hätten sie recht, führt er mit scharfem Männerblick
weiter aus: die Fischerinnen101 seien allemal „hübscher, anmutiger und sauberer“
als ihre landarbeitenden Geschlechtsgenossinnen.102 Solches unvermittelte (ver-
meintliche) „Abschweifen“ in der wissenschaftlichen Schilderung oder Argumen-
tation hin zum Weiblichen ist keine Seltenheit im Werk, es beschäftigte Sebillot.103
Sprachliche Formulierungen legen nahe, daß ihn wohl auch ein gewisser gegen-
weltlicher Exotismus gereizt haben mochte - ähnlich den ersten Ethnologen, die
sich brennend für die polygamen Eheformen ihrer primitiven Völker interessier-
ten —, wenn er Beobachtungen exponiert, wie die der Fischerfrauen in Boulogne,
die die häusliche „Regentschaft“ innehaben: wenn sie mit ihren Ehemännern zu-
frieden seien, schreibt er, spendierten sie ihnen beim Zuckerbäcker allerlei Süßig-
keiten.104
Eroberungen
Solche Projektion in eine libidinös besetzte verkehrte Welt ist keine an die Per-
son Sebillot gebundene Ausnahme. Sie läßt sich gleichsam als Gemeinplatz im
gesellschaftlich-männlichen Projektionsgebäude der Repräsentationen des 19.
Jahrhunderts105 verorten, das seine Wirksamkeiten bis weit ins 20. Jahrhundert
hinein entfaltet. Der große Revolutionshistoriker Jules Michelet, den es als Volks-
kundler zu entdecken gibt, hatte ein paar Jahre zuvor in seiner faszinierenden Kul-
turphysiognomik des Meeres vielleicht die deutlichsten Parallelen zwischen der
femme-nature des Meeres und der seiner jungen Frau Athenai's formuliert. Er ver-
stand sich als „Liebhaber der See“, dem „große(n) Weib des Erdballs, dessen nie ver-
siegendes Begehren, dessen unausgesetztes Empfangen und Gebären ohne Ende“ er in
pathetischer Faszination für die zeitgenössisch neuen naturwissenschaftlichen Er-
kenntnisse zur Physiologie des weiblichen Körpers auf das Meer bezieht.106
Im Hinblick auf Standpunkt und Blickwinkel der Betrachtung erinnert Miche-
lets „Meer“ auf die ein knappes Jahrhundert später begonnenen Meeres-Elogen,
die Fernand Braudel in dem seiner Zeit gemäßen wissenschaftlichen Gewand mit
101 Vgl. hier den in der französischen Bezeichnung u. U. evozierten Doppelsinn der „Fischerin/Sün-
derin“, der im Gleichklang der Wortwurzeln von „pécheresse“ (-euse) und „pêcheuse“ liegt.
102 Vgl. P. Sebillot: Le Folk-Lore (wie Anm. 87), S. V.
103 Interessant hierzu auch ders.: Les femmes et les traditions populaires. La section des traditions po-
pulaires à l’exposition des arts de la femme. Paris 1892.
104 Vgl. P Sébillot: Le Folk-Lore (wie Anm. 87), S. 56. - Auch die Wendung „elles (...) leurs paient des
douceurs“ kann doppelt ( d. h. sexuell konnotiert) gelesen und verstanden werden.
105 Mit dem sich erstaunlicherweise die Literaturwissenschaftler(innen) bislang weitaus eingehender
befaßt haben als die Sozialwissenschaftler(innen).
106 Vgl. /. Michelet: Das Meer (wie Anm. 86), S. 30 u. S. 90.
208
Der Blick aufs Meer
französischem Pathos an die Geliebte Mittelmeer richtete107: Michelet im politi-
schen Exil am Atlantik, das napoleonische Regime im Rücken, und Braudel in
deutscher Kriegsgefangenschaft an der Ostsee.108
Im Standort ähnlich situiert, aber ganz anders akzentuiert nimmt sich da Kapi-
tän Fred Schmidts 1941 erschienene Seemannsbrauchdarstellung aus, die er im
Ruhestand an Land formuliert hat.109 Der sogenannten Kapitänsliteratur zuzuord-
nen, und als Quelle von volkskundlichem Anspruch ist Schmidts nostalgischer
Rückblick deutlich vom Ethos des Praktikers durchzogen.110 Dessen Stimme ist es
daher auch eher, die die meeresbezogenen Projektionen des Geschlechterverhält-
nisses formuliert. Neben Rettungsgedanke und Unbehagen in der Gegenwart, die
sich bei der Lektüre deutlich ausmachen lassen, steht seine seemännische Brauch-
liebe noch für eine dritte Trauerform, der eine spezielle Verlustangst zugrunde lie-
gen mag: der Seemann vom alten Schlage hat zu Wasser und zu Lande an Autorität
eingebüßt. Es gibt sie nicht mehr, die „starke(n) Kerle“, die einst „in der blauen
Weite“ ihr Glück suchten.111 Die Schiffe sind nicht mehr „Werkzeug des Seeman-
nes“112; maschinenbetrieben haben sie Oberwasser über den Menschen gewon-
nen. Die Dampfschiffahrt benötigt sie nicht mehr als „Mittler“ zur „rauhen Groß-
artigkeit des Meeres“.113 Eine Männerkultur, die es in ihrer Männer-Bezwinger-
Natur mit und gegen die „Allgewalt der Natur“114 hatte aufnehmen können, hat
scheinbar „unwiderruflich“115 an Notwendigkeit verloren. Wehmütig muß der
Verlust einer männlichen Gesellschaftsvormacht beklagt werden — im National-
sozialismus und Krieg ein Bild, das die Sehnsucht des Seebären nach der „blauen
Weite“ noch in einem anderen Licht erscheinen läßt.
Mit seinen Geschichten zeichnet der pensionierte Kapitän liebevoll eine alkoho-
lisierte rauhe, aber kameradschaftlich gerechte Männerwelt; eine Welt auf dem
Kopf, in der die Landregeln mineralwassertrinkender weibischer und klerikaler
Sittlichkeit nicht gelten. Polemisch karikiert er einen „Himmelslotse(n)“ in „bra-
tenrockumwallter naphtalinduftender persona“ und die „Megären vom Tempe-
renzverein“ als „Schrecken aller Schrecken“ für ein Seeschiff.116 Nur in der einen
dieser zwei Welten fühlt sich der Seemann zuhause: auf See, in der Natur; an Land,
in der „Zivilisation“ muß er — Mutter, Frau, Braut oder Hure überlassen — das
107 Vgl. Fernand Braudel: La Méditerranée et le monde méditerranéen à l’époque de Philippe II. Paris
1949, sowie ders.: La mer. In: La Méditerranée. Bd. 1. Paris 1985, S. 47-80.
108 Vgl. Peter Burke: Offene Geschichte. Die Schule der »Annales«. Berlin 1991, S. 37-57.
109 Vgl. Fred Schmidt: Von den Bräuchen der Seeleute. Hamburg 1947 (1941).
110 Für Wolfgang Stammler ist dies der einzig legitime Standort einer Seemannsvolkskunde. Vgl. ders.:
Seemanns Brauch (wie Anm. 59), S. 2901.
111 Vgl. F. Schmidt: Von den Bräuchen (wie Anm. 109), S. 10.
112 Vgl. ebd., S. 9.
113 Vgl. ebd., S. 9.
114 Vgl. ebd., S. 9 u. S. 206.
115 Vgl. ebd., S. 10.
116 Vgl. ebd., S. 13f.
209
Johanna Rolshoven
„ewige Wickelkind“117 bleiben. Hier - auch Stammler gesteht dies ein - ist der
Seemann nicht mehr „wetterfest“ und droht — da „voll kindhaften Vertrauens“ -
von den „Deerns“ übers Ohr gehauen zu werden.118
Das „echte Seemanns-Brauchtum“, das der Kapitän mit seiner Brauchantholo-
gie wiederheraufbeschwören will119, steht stellvertretend. Es verkörpert eine Sehn-
sucht nach Vergewisserung der Geschlechtsverwandtschaft mit den einstigen See-
heroen und ein Mittel wider die eigene altersbedingte und auch zeitgenössische
Angst vor Bedeutungsverlust.
Sirenenklänge zum Beschluß
„Lust, Motiv, Antrieb“120, sich mit „Meerischem“ zu beschäftigen, kann bei
vielen Forschern, deren Forschungsgegenstände die Küsten berühren, in ähnlicher
Weise nachgesehen und aufgetan werden. Daß „Schatzsucherblick“121, Rettungsge-
danke und der angedeutete einschlägige Männerblick als volkskundliche Antriebs-
formen motivlich an den (sich für Gefühlsbesetzungen grundsätzlicher Natur an-
bietenden) maritimkulturellen Gegenstand geknüpft sind, verleiht ihnen eine in
besonderer Weise existentielle Akzentuierung.
Die Beispiele zeigen — vor allem für das 19. Jahrhundert —, wie die Verunsiche-
rungen des eigenen sozialen Standes und des eigenen Geschlechtes als Begleiter-
scheinungen gesellschaftlichen Wandels das Bedürfnis nach Vergewisserungen er-
heben können, die sich in Verklärungen ebenso wie in Formen der Ablehnung -
eben mit den Weiss’schen Augen der Liebe und des Hasses - in künstlerisch-wis-
senschaftlichen Produktionen ent-äußern. Der wissenschaftliche Betrachterstand-
punkt erscheint im „Blick aufs Volk am Meer“ als Rand- oder Uferperspektive:
der Blick ist Metapher der Erkenntnis, der Blick aufs Meer Selbstfindungsanliegen.
Suchen Wissenschaftler in der passionierten Hinwendung zum Volk (zum For-
schungsgegenstand überhaupt) die eigene verdrängte Seite des „gebrochenen“
Ich122, dann gerät Wissenschaft - so die (interpretative) Spekulation im Rück-
schluß aus den Zeitverhältnissen heraus — als Vergewisserungsprozeß zwangsläufig
zur Verklärung, die den erforschten und beschriebenen Tatsachen ihre Couleur
verleiht. Indem diese die Akzente der Beschreibung setzt, wird sie zudem zum
ideologischen Moment. Michel Leiris, dessen Anliegen es ist, seine persönliche
Subjekt-Erfahrung mit seiner „professionellen“ ethnographischen poetisch zu ver-
binden, weist immer wieder auf diese Spiegelungen des Ich in der Wissenschaft
117 Vgl. ebd., S. 20.
118 Vgl. W. Stammler: Seemanns Brauch (wie Anm. 59), S. 2922.
119 Vgl. F. Schmidt: Von den Bräuchen (wie Anm. 109), S. 9.
120 Vgl. M. Scharfe: Legales Christentum (wie Anm. 77), S. 26.
121 Vgl. U. Jeggle: Geschichte der Feldforschung (wie Anm. 20), S. 19.
122 Vgl. Eric Bullot: Die Karte und die Spur - La carte et la trace. In: Fotogeschichte 36/1990,
S. 29-34; hier: S. 31.
210
Der Blick aufs Meer
hin, auf die auf „phantasmagorische Weise“ gefilterte Wahrnehmung der zum
anderen gemachten Kultur.123
Der Wunsch nach Erkenntnis (zur Wiederaufrichtung des Ich) wird von der
Sehnsucht nach den irrealen Orten der Kindheit, der Sehnsucht nach dem „Weibe“
~ dem Regressionswunsch ins „Mütterlich-Vergangene“ - „beseelt“.124 Eine Fülle
an in dieser Hinsicht gegen den entsprechenden Strich betrachtenswertem Material
verdankt sich beispielsweise der literarischen und erzählforscherisch-volkskundlichen
Neigung vor allem (aber nicht nur) des 19. Jahrhunderts für die zweideutig verfüh-
rerisch-verhängnisvollen Wasserfrauen: Sirenen, Undinen, Nixen, Melusinen
etc.125
Durch das Bewußtmachen des eigenen forscherischen Affekthaushaltes und aus
der Einsicht in die im Rückblick erfahrbaren Befunde ließe sich die Konstruktion
der wissenschaftlichen Tatsache angemessener und unverstellter bewerkstelligen
und vermitteln. „Identifikation mit der Sache, persönliches Interesse und emotio-
nale Betroffenheit bilden zwar den Motivationsgrund für jede wissenschaftliche
Betätigung, erscheinen aber im Kommunikationsprozeß und als Resultat der Ar-
beit nicht mehr als benennbare Faktoren.“126 „Ziel einer emanzipatorischen Wis-
senschaft wäre es“ - so das viel und doch viel zu wenig zitierte Postulat von Maya
Nadig und Mario Erdheim —, die „aggressiven und libidinösen Strebungen bewußt
zu handhaben und als kreativen Impetus in die Arbeit einfließen zu lassen“.127
123 Michel Leins: Das Auge des Ethnographen (1930). In: ders.: Das Auge des Ethnographen. Ethnolo-
gische Schriften. Bd. 2. Hrsg, von Hans-Jürgen Heinrichs. Frankfurt am Main 1985, S. 29-35; hier:
S. 34. - Er formuliert dies aus Anlaß seiner bevorstehenden Forschungsreise nach Afrika (im Jah-
re 1931, zusammen mit Marcel Griaule), von der er sich „die Erfüllung bestimmter Kindheitsträu-
me“ erwartet hat, als ,,eine(r) Möglichkeit zugleich, gegen das Altern und den Tod anzukämpfen“;
vgl. ebd., S. 34.
124 Die wassernahe „Imaginierung des Weiblichen“ als „Selbstvergewisserungsprozeß“ wurde in vie-
ler Hinsicht als eine solche Form der Verklärung beschrieben. Vgl. z. B. IrmgardRoebling: Nixe als
Sohnphantasie. In: dies. (Hrsg.): Sehnsucht und Sirene. Pfaffenweiler 1992, S. 145-203; hier:
S. 155. Roebling deutet die affektiv aufgeladene und im 19. Jahrhundert auffällige Beschäftigung
männlicher Literaten mit dem Bedeutungskomplex Wasser-Frau-Sexualität als „Sohnphantasien“
und wesentliches „Movens künstlerischer Produktivität“, vgl. ebd., S. 152 u. S. 180.
125 Für Wassermänner hat man sich ebenfalls, aber weitaus weniger interessiert. Zumeist sind sie auch
eher böse! Vgl. C. Pieske: Glaube und Brauch (wie Anm. 62), S. 74. Aus seiner sehr eigenen Sicht
vermittelt etwa Richard Kohl einen Überblick über die Beschäftigung mit dem Melusinenmotiv,
in ders.: Das Melusinenmotiv. In: Niederdeutsche Zeitschrift für Volkskunde 11/1933, S.
183-227; eine schöne und allgemeinere „Ordnung der Wasserwesen“ findet sich bei J. A. Leit:
Water-beings in Shetland Folk-Lore, as remembered by Shetlanders in British Columbia. In: Jour-
nal of American Folklore 31/1918, S. 180-201. Ganz besonders interessant hierzu ist auch Maria
Kurz-Adam: „Liebe und Wissenschaft mögen nie verlassen Deinen Sigmund“ (18. Dezember
1885). Die Melusinengeschichte in Freuds Liebesbriefen an Martha Bernays. In: I. Roebling
(Hrsg.): Sehnsucht und Sirene (wie Anm. 124), S. 205-215.
126 Helga Grubitsch: Der befreiende Blick aus der Fremde. Paderborner Universitätsreden Nr. 26. Pa-
derborn 1991, S. 14f.
'2' Vgl. Maya Nadig, Mario Erdheim: Die Zerstörung der wissenschaftlichen Erfahrung durch das aka-
demische Milieu (1980). In: ders.: Psychoanalyse und Unbewußtheit in der Kultur. Frankfurt 1991,
S. 99-115; hier: S. 100.
211
Johanna Rolshoven
In Anbetracht solchen Plädoyers, sich den „verklärenden Schimmer“128 im
volkskundlichen Tatsachenblick erhellenderweise ein- und zuzugestehen, wäre
denn am Ende zu fragen - nachdem eingangs ausdrücklich die Referenz auf den
männlichen Blickwinkel zugegeben werden mußte -, ob unter den oben ersehn-
ten Bedingungen nicht mehr Frauen in der Wissenschaft und ihren Institutionen
mitschauten. Weil dieser Blick des um die bereichernden Affektnuancen erweiter-
ten Gesichtsfeldes (und durchaus auch Horizontes) ihnen etwa mehr läge und die
Annahme einer Trennung zwischen Wissenschaft und Leben ihnen aus sozialisa-
tionsnäherliegenden Gründen weniger denkbar erschiene? Auch solche Annahme
drängt sich nicht zuletzt immer wieder am historischen Beispiel auf: der Beobach-
tung nämlich, daß bestimmte Klimata einer Frauenbeteiligung im prestigiöseren
Teil des Wissenschaftsproduktionsbetriebs förderlich gewesen zu sein scheinen.
Sehr eindrücklich hat Claudia Honegger diese Bedingungen für die zahlreichen
Frankfurter Soziologiestudentinnen unter der (zeitlich aus fatalen Gründen zu
knapp bemessene) Ausbildergemeinschaft Karl Mannheim und Norbert Elias be-
schrieben.129 Ein meeresbezogeneres Exempel in dieser Hinsicht harrte schließlich
noch der Aufarbeitung: die auffallend zahlreichen Elbinger Volkskundlerinnen,
die Ende der 1920er und Anfang der 1930er Jahre am Volkskundlichen Seminar
der dortigen Pädagogischen Hochschule ihre Staatsarbeiten bei Karl Plenzat absol-
vierten...130
English Summary
Johanna Rolshoven: A View of the Sea.
The view of the sea in particular reveals existential and desirous needs and emotions of
the viewer. In this essay, the image and the physiognomy of the view are employed as meta-
phorical approaches in order to name the interests and conditions that produce knowledge
and science. Special attention is focussed on the male folklorist’s gaze that has been estab-
lished by our discipline as the central instrument of perception. Examples of (folklore) re-
searchers interested in maritime cultures disclose that the scientific point of observance, po-
sitioned as ’’gazing at the folk on the sea’s rim“ takes a marginal or shore perspective and
is motivated by the desire to find oneself. These observations challenge researchers to admit
to their own emotional economy, thereby allowing these ’’self reflections“ to productively
tint the process of acquiring scientific knowledge as enriching (and not as obstructing) nuan-
ces.
128 Vgl. К. Plenzat: Probleme der ostdeutschen Volkskunde (wie Anm. 50), S. 26.
129 Vgl. C. Honegger: Das Pathos des Konkreten. Die ersten Soziologinnen im Frankfurt der Weimarer
Republik. In: Frankfurter Rundschau vom 14. 4. 1990, S. ZB 2.
130 Vgl. K. Plenzat: Probleme der ostdeutschen Volkskunde (wie Anm. 50).
212
Aufstiege — Auswege
Skizzen zu einer Symbolgeschichte des Berges im 20.Jahrhundert
Von Bernhard Tschofen, Wien
Sieht man von den politischen Massenbewegungen dieses Jahrhunderts ab, hat
vermutlich kein anderes Phänomen so nachhaltig die öffentliche Wahrnehmung
und ihre Symbolkomplexe bestimmt wie die Begeisterung für die Natur. Solches
für ein Zeitalter zu behaupten, das mit Recht ein technisches genannt worden ist,
mag verstiegen klingen. Immerhin könnte der Hinweis, daß alles Technische den
Nimbus der Zeitlosigkeit nicht kennt und zudem mit dem Natürlichen seine er-
folgreichsten Allianzen eingeht, die Hypothese rechtfertigen. Jedenfalls wird - bei
allen Zweifeln im Detail - Einstimmigkeit darüber herrschen, daß die Hinwen-
dung zum Naturschönen, seine Stilisierungen und Symbolisierungen, integraler
Bestandteil des Prozesses der Modernisierung sind. Das Meer, die Heide, die Al-
pen1 - sie haben mit bestimmten Verschiebungen das Verständnis einzelner Re-
gionen in den letzten hundert, hundertfünfzig Jahren ganz nachhaltig und bis in
die Gegenwart wirksam bestimmt.
Für den Alpenraum war es der Alpinismus, jene weit über die touristische Pra-
xis des Bergreisens und Bergsteigens hinausreichende Massenbewegung, der am
meisten zur Formulierung einer spezifischen Naturästhetik beigetragen hat. Mit
ihm haben die Gebirgsregionen nicht nur den Anschluß an die Moderne gefunden,
sondern sind darüberhinaus in das Blickfeld einer Epoche geraten, die nur allzu
gerne den Blick von der Realität ab und zu Höherem hin gewandt hat. Alpinismus
ist also - und darin spiegelt sich die grundlegende Dialektik jedweder Naturbewe-
gung — mit der Moderne zwiefach verbunden: als Produkt und Reaktion auf der
einen und als Motor und Abbild auf der anderen Seite. Stilbildend - die Bewegung
sei hier zuallererst als eine ästhetische verstanden — für die Kultur des Alpinismus
Ovaren die in den sechziger und siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts gegründeten
alpinen Vereinigungen. Unter ihnen tonangebend, zumindest in den Ostalpen, war
der 1873 durch Zusammenschluß des „Österreichischen“ (1862) und des „Deut-
schen Alpenvereins“ (1869) entstandene „Deutsche und Österreichische Alpen-
verein“. Die Publikationsorgane dieser Vereine zählen heute mit zu den wichtig-
sten Quellen jeder historischen Annäherung an die Kultur des Alpinismus.2 Eine
1 Zuletzt Wolfgang Lipp: Alpenregion und Fremdenverkehr. Zur Geschichte und Soziologie kultu-
reller Begegnung in Europa, besonders am Beispiel des Salzkammerguts. In: Zeitschrift für Volks-
kunde 89 (1993), H. I., S. 49-62. Allgemein mit kulturwissenschaftlicher Perspektive Dieter
Kraner: Der sanfte Tourismus. Umwelt- und sozialverträglicher Tourismus in den Alpen. Wien
1983; kulturhistorisch und v. a. quellenmäßig aufschlußreich Roy Oppenheim: Die Entdeckung der
Alpen. Frankfurt am Main/Wien/Zürich 1974 und Gabriele Seitz: Wo Europa den Himmel be-
rührt. Die Entdeckung der Alpen. München/Zürich 1987.
Vgl. Alfred A. Müller: Geschichte des Deutschen und Österreichischen Alpenvereins. Ein Beitrag
zur Sozialgeschichte des Vereinswesens. Diss. Münster 1979. Zur „anderen“, sozialdemokratisch.
213
Bernhard Tschofen
weitgehende Konzentration auf die vom D.u.O.A.V. herausgegebenen Schriften
scheint für meine an Beispielen zu entwickelnde Fragestellung insofern zulässig zu
sein, als sie die wichtigste Plattform für den Diskurs um Wesen und Berufung alpi-
nistischer Tätigkeit waren und somit auch die öffentliche Praxis der Bergsteigerei
nicht nur prägten, sondern auch spiegeln.
Opfergang: Wolldecken contra Federbetten
Ich möchte hier ein Motiv näher einkreisen, das über Jahrzehnte eines der am
meisten bemühten in der Debatte über Sinn und Zweck des Alpinismus war und
die Ästhetik der Gebirgsnatur bestimmt hat: die Vorstellung von der läuternden
Wirkung der Höhen. Dieses Motiv ist jedoch nicht in jener Epoche erfunden wor-
den, der im folgenden mein besonderes Interesse gelten soll, und dieses Motiv kam
in der Hauptsache im Kontext mit verwandten Metaphern zum Einsatz oder wur-
de auch in solche Symbolkomplexe eingebaut, deren Zusammenhang mit dem
Kernthema nicht immer evident ist. Mir geht es darum, die Durchformulierung
und Verdichtung eines tradierten Bildes an einer für diese Fragestellung bislang we-
nig beachteten Wendezeit, der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg, näher zu beleuch-
ten, seine Verästelungen und Adaptierungen zu verfolgen. Hier wird also ganz be-
wußt nicht von Petrarca3 und Goethe die Rede sein, und auch nicht von alpin-
literarischen Größen wie etwa H. A. Berlepsch, der in seinem 1861 erschienen
Klassiker Die Alpen freilich schon vieles vorwegnahm, was dann bei den Wortfüh-
rern des organisierten Alpinismus bis etwa 1900 dekliniert worden ist: „Es ist ein
beneidenswertes Tagewerk, welches der Naturfreund vollbracht hat, wenn er am
Abend körperlich unverletzt, geistig gehoben, reich an Erfahrungen und berei-
chert im Schatze seines Wissens, drunten in den Hütten der Menschen, ein Gefei-
erter des Tages, wieder anlangt; — es ist ein Genuß und ein Bewußtsein, dessen nur
Wenige von der großen Menge der Alpenwanderer sich erfreuen können.“4
Dieser Hinweis mag genügen, um noch einmal die tragenden Zusammenhänge
alpinistischer Kultur in Erinnerung zu rufen: Die reine Lust am Bergsteigen schien
gerade in den deutschen Ländern zur Erklärung der Alpenbegeisterung niemals
auszureichen. Wie zur Rechtfertigung machte bereits der Diskurs der frühen Jahre
stets höhere Ziele und Motive geltend; und diese reichten mitunter über die gängi-
gen evasionistischen und zivilisationsskeptischen Momente weit hinaus. So selbst-
verständlich - dies ist das Paradox dieser Entwicklung - der Alpinismus in der
zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts geworden war, so zäh wurde an der Be-
Fortsetzung Fn. 2.
orientierten Alpinismuskultur v. a. Gerald Schügerl: 80 Jahre Naturfreunde Österreich. Wien 1975.
3 Ruth und Dieter Groh: Weltbild und Naturaneignung. Zur Kulturgeschichte der Natur. Frankfurt
am Main 1991, s. S. 92-194 haben zuletzt gezeigt, daß für die frühe Geschichte moderner Natur-
ästhetik noch kritische Revisionen (Stichwort: Kompensationsthese) notwendig sind.
4 H. A. Berlepsch: Die Alpen in Natur- und Lebensbildern. Leipzig/St. Gallen/Zürich 1861, S. 286.
214
Aufstiege — Auswege
hauptung festgehalten, Bergsport sei, wenn nicht Kultus, so doch geistige Tätig-
keit.5 Bezeichnenderweise ließ die Vehemenz, mit der die Sinnpostulate verfochten
wurden, auch nicht nach, als zunehmend jene Versportung Platz griff, die sich
selbst theoretisierende Extreme nur schwer eingestehen konnten und welche die
anfänglich stets legitimierenderweise ins Treffen geführte, auch in den Statuten der
Vereine verankerte wissenschaftlich-literarische Tätigkeit weitgehend an den Rand
drängte. Die gängigen Tugendvorstellungen sprachen dagegen, soviel Zeit und
Energie nur in einen Zeitvertreib zu investieren: Das Bergsteigen hatte der Verede-
lung des Menschen zu dienen und zuallererst die angestammten männlichen Tu-
genden zu befördern. Als „bastardhafte Mischung von Naturismus und Puritanis-
mus“6 hat deshalb auch Roland Barthes in Anlehnung an André Gide jenes
typisch bürgerliche Aufwärtsstreben, jenen überhöhten Drang nach oben in ver-
gleichbarem Zusammenhang beschrieben.
Kampflos und ganz ohne Askese war der Gral nicht zu finden. Weil die Auffas-
sung vom Bergsteigen eine so sehr moralisch geleitete war, verwundert es nicht,
wenn in den Besteigungsberichten der Hinweis auf den „Entbehrungsreichtum“
der Unternehmungen selten fehlt, ja wenn selbst von „aufopfernden Kämpfen“ die
Rede ist.7 Die Einfachheit von Unterkunft und Verpflegung, das Glück der dabèi
empfundenen Unabhängigkeit von der zivilisierten Welt sind über Jahrzehnte To-
poi der alpinen Literatur. Bei Ludwig Purtscheller, dem berühmten, sportlich und
schriftstellerisch gleichermaßen erfolgreichen „Führerlosen“, liest sich das so:
„Den Magen erzieht man nicht, indem man ihn mit Gansleberpastete, zartem
Hühnerfleisch und Bisquits traktiert, sondern indem man ihn vor Allem an Ein-
fachheit und Mässigkeit gewöhnt. Die Ansprüche gehen in diesem Punkte je nach
Gewohnheit, Erziehung und Aufwand sehr weit auseinander, sie sind meist um so
grösser, je geringer es mit unserer Leistungsfähigkeit bestellt ist. Frei ist nur, wer
entbehren kann.“8 In der Praxis freilich fand das sprichwörtliche „segensreiche
Wirken“ des D. u.O.A.V. auf dem Gebiet des Hüttenbaus weit größere Anerken-
nung. Und doch mehrten sich die Stimmen, welche die Verwandlung einfacher
5 Vgl. etwa Heinrich Hofmann: Was soll der Mensch da oben? In: Zeitschrift des Deutschen und
Österreichischen Alpenvereins (ZsDÖAV) 18 (1887), S. 246-253; Ludwig Purtscheller: Zur Ent-
wicklungsgeschichte des Alpinismus und der alpinen Technik in den Deutschen und Oesterreichi-
schen Alpen. In: Johannes Emmer (Red.): ZsDÖAV 25 (1894) (= Festschrift zur Feier des fünfund-
zwanzigjährigen Bestehens des Deutschen und Österreichischen Alpenvereins. Berlin 1894).
S. 95-176, s. v. a. S. 129 f; Emil Hogenauer: Der Alpinismus als Element der Culturgeschichte.
Ebd. 31 (1900), S. 80-96 oder Heinrich Steinitzer: Sport und Kultur. Mit besonderer Berücksichti-
gung des Bergsports. München 1910.
6 Roland Barthes: Der „Blaue Führer“. In: Ders.: Mythen des Alltags. Frankfurt am Main 1962,
S. 59-63.
7 Vgl. dazu die zahlreichen alpinen Ratgeber und Handbücher, meist mit eigenen Kapiteln zu den
geistigen und körperlichen Voraussetzungen, etwa: Emil Zsigmondy: Die Gefahren der Alpen.
Praktische Winke für Bergsteiger. Augsburg 21886; Franz Nieherl: Das Klettern im Fels. München
1909 oder Josef Ittlinger: Handbuch des Alpinismus. Feipzig o.J. (1910).
8 Purtscheller 1894 (wie Anm. 5), S. 121.
215
Bernhard Tschofen
Schutzhütten in regelrechte Alpenhotels9 zunehmend skeptisch sahen: „Wohl zu
bedenken ist aber, daß auch wir Bergfahrer selbst wesentlich dazu beitragen kön-
nen, einen Zustand im Alpengebiet zu erhalten, der die veredelnde Wirkung der
Bergfahrt auch weiteren Kreisen möglich erscheinen lassen wird: wenn wir über
dem Genießen einer andern Umwelt und ihrer Körper und Psyche kräftigenden
Eigenart (...) materielle Bedürfnisse wie in früherer Zeit mehr zurückstellen. Es gilt
deswegen nicht geradezu Entbehrungen zu tragen, aber eine zeitweise Vereinfa-
chung der Lebensführung ist nur überaus gesund für uns in Gewöhnungen nur all-
zuleicht erschlaffende Stadtbewohner.“10
Programm wurde die lange postulierte Selbstbeschränkung für den D. u. O. A. V.
erst nach dem Ersten Weltkrieg, als der Alpinismus in eine an Praxis und Ideen ab-
lesbare neue Epoche eintrat.11 Die revidierte Orientierung fand auf Statutenseite
ihren deutlichsten Niederschlag in den 1923 beschlossenen Tölzer Richtlinien, im
umfassenderen Sinne in einem recht einhellig geführten Diskurs über die Aufga-
ben des Alpinismus nach den schmerzlichen Erfahrungen des Krieges. Beide Ebe-
nen sind zutiefst geprägt von der Vorstellung der moralischen und hygienischen
Funktion eines Aufenthaltes im Gebirge und trachten daher danach, diese nach
Kräften zu fördern und Maßnahmen zu setzen, dem alpinistischen Terrain die ver-
lorengeglaubte Unschuld wiederzugeben. So enthalten etwa die zwölf Punkte der
Tölzer Richtlinien neben der generellen Einschränkung weiterer Bau- und Er-
schließungsarbeit, dem Verbot jeder Reklame für Vereinseinrichtungen und der
Empfehlung, bewirtschaftete Hütten den „einfachsten bergsteigerischen Bedürf-
nissen“ anzupassen, auch Vorschriften für die Einrichtung derselben: „Federbet-
ten sind allmählich durch Wolldecken zu ersetzen. Die Einrichtung der Hütten ist
auf das den bergsteigerischen Bedürfnissen genügende einfachste Maß zu beschrän-
ken. Z. B. sind mechanische Musikinstrumente, wie Grammophone, Orchestrions
usw., zu entfernen.“12 Dabei ging es allerdings nicht nur darum, „dem echten Berg-
steigertum, dem die Erschließung der Alpen zu verdanken ist, die gebührende Ach-
tung und die Möglichkeiten seiner anspruchslosen Betätigung zu erhalten“, wie die
9 Zur Berliner Hütte, dem Stolz der mächtigen und mitgliederstarken hauptstädtischen Sektion,
vgl. auch Bernhard Tschofen: Zillertal. In: Wörter - Sachen — Sinne. Eine kleine volkskundliche
Enzyklopädie. Gottfried Korff zum Fünfzigsten (= Tübinger Vereinigung für Volkskunde: Stu-
dien und Materialien 9), S. 179-183.
10 Otto von Zwiedineck-Südenhorst: Einige Betrachtungen über die Kosten der Turistik einst und
jetzt. In: ZsDÖAV 41 (1910), S. 18-29, s. S. 29.
11 Bereits die erste Hauptversammlung nach dem Krieg (Nürnberg, 1919) empfahl den Sektionen
den diesbezüglichen Leitsatz: „(...) Insbesondere darf jene Tätigkeit (sc. der Bau von Unterkunfts-
hütten und Wegen) nicht so weit ausgedehnt und nicht so gestaltet werden, daß die Bergsteiger ge-
rade um dasjenige gebracht werden, was sie berechtigterweise im Hochgebirge suchen: Ruhe, Ur-
sprünglichkeit und ungestörten Naturgenuß.(...)“ Zit. n. Verfassung und Verwaltung des Deut-
schen und Österreichischen Alpenvereins. Ein Handbuch zum Gebrauch für die Vereinsleitung
und die Sektionen. Unter Benützung der Akten der Vereinsleitung zusammengestellt und erläu-
tert von Dr. phil. J. Moriggl, Generalsekretär des D. u. Ö. Alpenvereins. München 41928, S. 122.
12 Zit. n. Moriggl 1928 (wie Anm 11), S. 122-125, s. Pkt. 6, S. 124.
216
Aufstiege — Auswege
einleitende Formel der Tölzer Richtlinien verlautete. Auch handfeste ökonomi-
sche Interessen des Gros’ der durch den Krieg um ihren sozialen Status gekomme-
nen Mitglieder hatte das Statut zu wahren.
Die Flucht in die Einfachheit, so sehr sie nach einem mutigen Schritt in Rich-
tung einer Demokratisierung und auch ökologischen Besinnung aussehen mag,
sollte nicht zuletzt die scheinbar angestammten Rechte der bergsteigenden Elite
und ihre ritualisierten Kulturformen vor einer heraufdämmernden Popularisie-
rungswelle schützen. Bezeichnenderweise wurden die diesbezüglichen Änderun-
gen der Vereinsstatuten von einem unter dem Titel „Bergsteigergruppe im
D.u.Ö.A.V.“ auftretenden Sektionenverband betrieben, und die Abgrenzung ge-
gen die sogenannten „nichtalpinen Kreise“ wurde zu keiner Zeit mit solcher Deut-
lichkeit vorgetragen wie im ersten Jahrzehnt nach dem Krieg. Ferngehalten werden
sollten besonders Leute, die im Verdacht standen, der auf dem Lande allgemein bes-
seren Versorgungslage wegen und aufgrund gerade für Reisen in die österreichi-
schen Alpen günstiger Währungsunterschiede die Schutzhütten des Vereins für
einen mehrtägigen Aufenthalt zu nützen. Ein Muster einer Hüttenordnung für
bewirtschaftete Hütten hält daher als ersten Punkt fest: „Mehrtägiger Aufenthalt
auf der Hütte ist nur zur Ausführung von Bergbesteigungen oder zu wissenschaft-
lichen Zwecken gestattet. Für Sommerfrischler und Personen, die mit dem ausü-
benden Bergsteigertum nichts zu tun haben, ist die Hütte nicht bestimmt. Filmge-
sellschaften sind von der Benützung der Hütte ausgeschlossen.“13
Schwierigkeiten ergaben sich allerdings bei den wiederholten Versuchen einer
Definition der „bergsteigerischen Bedürfnisse“, weil sie zwangsläufig zu einer Cha-
rakterisierung des Bergsteigers führen mußte. Mit der 1925 gefundenen Formel
„(...) wenn einer nur um der Berge willen in die Berge geht“14 konnte wohl ein
Kompromiß gefunden werden. Berücksichtigung fanden dabei sowohl „der junge
angehende Kletterer“, „der Veteran der Berge“ und „der eis- und wintererprobte
Hochturist“ als auch „der harmlose Jochbummler“ — sowohl „der Gebirgler“ als
auch „der Städter des fernen Flachlandes“. Dennoch blieb die Definition eine
moralische, stellte sie doch die richtige Einstellung in den Mittelpunkt: „Vorausset-
zung für alle Träger des Edelweiß ist aber inneres Interesse an den Bergen, nicht
Krämergeist, der nur an die Vorteile des Mitglieds denkt“15, heißt es in einer Erwei-
terung der Formel. Woher rührt also das Insistieren auf den hier nur knapp umris-
senen Ideenkomplex, woher die Rückbesinnung auf die legendäre - übrigens teil-
weise auch praktisch umgesetzte - Einfachheit im Unterbringungswesen, woher
der Verzicht auf Luxus zugunsten authentischen Erlebens, zugunsten der Ideale?
13 Zit. n. Moriggl 1928 (wie Anm 11), S. 183-185, s. S. 183.
14 Zit. n. Moriggl 1928 (wie Anm 11), S. 127.
15 Vgl. Mitteilungen des Deutschen und Österreichischen Alpenvereins (MtDÖAV) 1925, Nr. 20,
S. 303. Vgl. die einem Ehrenkodex gleichkommenden, das Tragen des Vereinsabzeichens (Edel-
weiß) regelnden Statuten - Moriggl 1928 (wie Anm. 11), S. 55 f.
217
Bernhard Tschofen
Krieg: Niederlage der Heldenbergsteiger
Die programmatischen Beiträge zur Zukunft des Alpinismus sind nach dem Er-
sten Weltkrieg Legion. Sowohl im allgemeinen als auch für einzelne Sparten, etwa
das Jugendbergsteigen, skizzieren sie die erhofften ideellen Grundlinien der künfti-
gen Entwicklung. Ihre Stoßrichtung unterscheidet sich über weite Strecken nur
wenig von den bereits während der Kriegsjahre entwickelten Visionen, aber sie be-
reichern diese um ein wichtiges Motiv: eine unbestimmte Form von Schuld.
„Schwere, dunkle Wolken sind heraufgezogen über Deutschlands Himmel (...).
Da gilt es Bergsteiger zu sein und alle Kräfte der Bergsteigernatur herauszuholen
aus der Tiefe der Seele und mit ihnen jenen unüberwindlichen Drang zur Höhe,
der dieser Seele innewohnt. (...) Drum wollen und werden wir den Kopf nicht
senken in den Tagen nationalen Unglücks, es sei denn vor denen, die die heimatli-
che oder fremde Erde deckt (...). Um ihretwillen aber wollen v^r uns tatkräftig
an die Arbeit machen, um wieder aufzubauen, was jetzt eingestürzt; an ihrem
Kampfeseifer wollen wir uns stärken und begeistern für den Kampf, der nun bevor-
steht, der zwar hoffentlich nicht mehr mit Blut und Eisen ausgefochten werden
muß, der aber darum, weil er ein friedlicher Kampf, nicht minder groß und jeder
Aufopferung bar sein wird. Und wenn des Alltags Sorge und Beschwerde uns zu
Boden zu drücken drohen, dann wollen wir uns daran erinnern, daß wir Bergstei-
ger sind, und uns aufrichten an bergsteigerischer Sitte und Art und gemeinsam,
treue, feste Kameradschaft haltend, wieder zur Höhe streben.“16 Drei Formeln ver-
leiten dazu, die - durchaus mehrfach ersetzbare — Quelle so ausführlich zu zitie-
ren. Der übertragene Aufwärtsdrang des Bergsteigers, die Dankesschuld gegenüber
den Gefallenen und die daraus abgeleitete Aufopferung im Sinne alpinistischer Tu-
genden sind häufig wiederkehrende Motive, wenn es darum geht, den Bergfreun-
den einen Ausweg aus der Katastrophe zu zeichnen. Daß solche Argumentations-
ketten zumindest im Umfeld des D. u.O.A.V. dominierten und für pazifistisch
motivierte Visionen17 keinen Platz ließen, läßt auf ein besonderes Nahverhältnis
von alpinem und kriegerischem Heldentum schließen.18 Dies scheint ein erster
Blick auf die Organe der alpinen Vereinigungen nur zu bestätigen: Sie nahmen be-
reits mit Kriegsbeginn sehr direkt am Geschehen Anteil.
Damit fanden die bekannten inneren Affinitäten, wie sie in der kämpferischen
Sprache, in den heroisierenden Sicht- und Wahrnehmungsweisen der alpinisti-
schen Elite seit Jahrzehnten gepflegt worden waren, ihre äußere Korrespondenz.
Die Zusammenhänge in aller Kürze herstellen mag wiederum ein Textstück, das
gerade für das seit den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts florierende Helden-
16 Paul Jacohi: Alpine Zukunftsgedanken. In: MtDÖAV 1919, Nr. 1-2, S. 3-8, s. S. 3.
17 Vgl. dazu die Auseinandersetzung zwischen Adolf Deye und Hermann Amanshauser: Alpenverein
und Jugendbewegung. In: MtDÖAV 1919, Nr. 3-4, S. 20-23.
18 Vgl. Bernhard Tschofen: Alpen - Front in Friedenszeiten. Anmerkungen zum heroischen Alpinis-
mus. In: Jahrbuch des Vorarlberger Landesmuseumsvereins - Freunde der Landeskunde 1992.
S. 151-160.
218
Aufstiege — Auswege
gebaren als typisch erscheint. Die „jungen“, sich stark existenzialistisch inszenie-
renden „Führerlosen“ (eine Art erster alpinistischer Gegenkultur) machten die Be-
tonung kämpferischer Tugenden zu ihrem besonderen Anliegen und letztere zum
Zeichen einer neuen, modernen Naturauffassung: „Der Kampf, den der Mensch
in unblutiger Weise gegen die übermächtigen Gewalten der Natur besteht, ist der
ehrenvollste, der idealste von allen, denn kein anderer gewährt eine solche Befriedi-
gung, ein so erhebendes Siegesbewusstsein. (...) Nur der muskelstramme, der aus-
dauernde und ganze Mann wird den Gefahren des Gebirges mit kaltem Blut und
mit freudiger Zuversicht gegenübertreten, er wird (...) selbst die grössten Schwierig-
keiten, soweit es überhaupt in menschlicher Kraft liegt, glücklich besiegen.“19
Es nimmt also nicht wunder, daß sich die in solchem Diskurs geübten Alpini-
sten durch den Ausbruch des Krieges gefordert sahen — zunächst noch vor allem
als Chronisten.20 Denn vor Eröffnung der sogenannten Alpenfront durch den
Kriegseintritt Italiens im Mai 1915 galt die Anteilnahme vor allem dem Schicksal
der Vereinsmitglieder in Rußland. Ab 1915 stand alles unter dem Eindruck des Ge-
birgskrieges: Die bergerfahrenen Soldaten waren zur Verteidigung ihrer Berge aus-
gerückt, die Alpenfront wurde zu der am meisten idealisierten Front, weil sie berg-
steigerische und kriegerische Tugenden gleichermaßen voraussetzte. Der „alpini-
stischen Heimat nicht nur mit Tinte und Worten, sondern, wenn es ein muß, mit
Blut und Leben meine Dankbarkeit bezeigen“21 konnte etwa der bekannte Berg-
steiger und -Schriftsteller Hanns Barth, der im Kriegsjahr 1916 („z. Z. im Felde“)
in der Zeitschrift des D. u. O. A. V. Bergfahrten und Wanderungen im Adamello Be-
reich publizierte. Mehr noch denn die als Jahrbuch angelegte und längeren wissen-
schaftlichen oder regionalen monographischen Beiträgen verpflichtete Zeitschrift
spiegeln die Jahrgänge der Mitteilungen die Kriegsbegeisterung im alpinistischen
Milieu. Manche Bergschriftstellerkarriere nahm an der Alpenfront ihren
Ausgang22, fixe Rubriken hielten die Leser über den Kriegsverlauf — und nebstbei
absolvierte bergsteigerische Unternehmungen der Mitglieder — in den einzelnen
Frontabschnitten auf dem laufenden, und selbst ältere Tourenberichte aus den nun-
mehr zum Kriegsschauplatz gewordenen Gebirgsgruppen gelangten zur Publika-
tion, um der Nachfrage nach einschlägigem Lesestoff zu genügen.
19 Ludwig Purtscheller: Das Bergsteigen als körperliche Uebung und als Beförderungsmittel der Ge-
sundheit. In: MtDÖAV 1886, Nr. 4, S. 37-39.
20 Die Mitteilungen erschienen ab Heft 17/18 vom 30. September 1914 aus „nationalen Gründen“
in Fraktur, um „nun auch unsere Gedanken und unsere Taten in jener Schrift künden (zu kön-
nen), die nur uns eigenthümlich ist“ - ebd. S. 230.
21 Hanns Barth: Bergfahrten und Wanderungen im Adamello Bereich. In: ZsDÖAV 47 (1916),
S. 183-211, s.S. 183.
22 Genannt seien etwa Luis Trenkers (übrigens selbst Heeresbergführer — vgl: ders.: Kameraden der
Berge. Berlin 1936) späterer kongenialer Partner und Ghostwriter Walter Schmidkunz, Karl Sprin-
genschmid, der Verfasser alpin-heimatlich-revisionistischer Südtirolbücher, Günther Langes, der
Dolomitenkletterer, Bestsellerautor alpiner Führerliteratur und Historiograph der Alpenfront so-
wie der Schweizer Kriegsfreiwillige Gustav Renker, Autor einiger der erfolgreichsten Bergromane
der Zwischenkriegszeit.
219
Bernhard Tschofen
Alpinisten und bergbegeisterte Bewohner der Alpenländer waren ausgerückt,
um an der praktischen Verteidigung der „alpinistischen Heimat“ mitzuwirken. In
den „Schneeschuhtruppen“23, in den Gebirgseinheiten und in den verschiedenen
Truppenteilen, die unter extremen Bedingungen einen anachronistischen Stel-
lungskrieg ausfochten, war die Zahl der Freiwilligen überdurchschnittlich hoch.24
Als „Alpine Referenten“ oder als Heeresbergführer Dienst zu tun, galt als besonde-
re Auszeichnung. Der Nutzen der alpinen Bewegung beim raschen Auf- und Aus-
bau der Gebirgstruppen war zweifellos ein großer — dessen war man sich bald be-
wußt. Doch auch über die künftigen Vorteile für den Alpinismus wurde schon im
ersten Kriegsjahr laut nachgedacht, freilich unter dem Eindruck der deutsch-
österreichischen Erfolge und eines noch grenzenlosen Patriotismus: „Das Gebiet,
in dem jetzt noch der Krieg tobt, geht meiner Meinung nach einer großen Zukunft
entgegen. Nicht allein die gewaltige Schönheit der Berge, die ja schon früher Rei-
sende hierher lockte, wird von neuem ihre Anziehungskraft ausüben, sondern die
ganzen gewaltigen Anlagen, die der Krieg geschaffen hat, und noch schafft, sind ei-
ne Sehenswürdigkeit ersten Ranges, und gewiß wird es niemand versäumen, durch
eigenen Augenschein sich von den Denkmälern der großen Zeit zu überzeugen.“25
Gustav Renker, der 1916 den Lesern der Zeitschrift begeistert die touristische Zu-
kunft der Frontabschnitte schilderte, hat mit den militärischen Unterkunftsanla-
gen gar eine Entschädigung für zerstörte Schutzhütten zu bieten: „Für Bergsteiger,
die so oft nach der alten, romantischen Selbständigkeit auf unbewirtschafteten
Hütten seufzen, werden diese einsamen Bauten in der Bergwildnis das reinste Dora-
do sein.“26
Auf zwei zentrale Motive stützt sich die alpine Kriegsberichterstattung immer
wieder; einmal auf die Behauptung, daß sich im Krieg vollendet habe, was der Al-
pinismus lange ersehnte, zum anderen auf den Glauben, daß durch den Krieg die
Bergsteigerei zu ihrer eigentlichen, reinigenden, dem Wohle der Nation dienenden,
Bestimmung zurückkehren würde. Neben den Verlockungen neuer Wege und
Hütten werden mithin die ethischen Komponenten ins Treffen geführt, die aus der
eingegangenen Liaison resultieren: „Auf neuen Wegen werden neue Menschen, ein
kraftvolles, sieggestärktes (1916!) Geschlecht, zur Höhe steigen (...). Dort aber, wo
einst der Kampf tobte, wird der lebensfrohe Gott Alpinismus zweierlei suchen.
Kraft und geistige Gesundung aus der Tretmühle des täglichen Lebens und tiefe,
dankbare Erinnerung an ein Heldentum, das auf jenen wilden Höhen mit unver-
gleichlicher Heimatliebe seine Scholle verteidigte.“27 Die Botschaft der Synthese
aus Alpinismus und Krieg stand bereits lange vor Kriegsschluß fest. Sie bestimmte
23 Karl J. Luther: Von den deutschen Schneeschuhtruppen. In: MtDÖAV 1915, Nr. 11-12,
S. 123-135.
24 An diesbezüglichen Aufrufen mangelte es nicht - vgl. etwa MtDÖAV 1915, Nr. 21-22, S. 233.
25 Gustav Renker: Der Krieg in den Bergen. In: ZsDÖAV 47 (1916), S. 219-236, s. S. 235.
26 Ebd., Vgl. S. 225 f.
27 Renker (wie Anm. 25), S. 236.
220
Aufstiege — Auswege
- so könnte man zumindest die Quellen lesen - den Gebirgskrieg allein wegen
der Bedingungen an den Kampfstätten zum Uberkrieg, weil er durch die Multipli-
kation mit der reinigenden Kraft der Höhe den ohnehin schon als große Läuterung
begrüßten Krieg noch vervollkommnete.28 Den Alpinismus selbst und die ihm an-
gelasteten kollektiven psychohygienischen Qualitäten hielt sie aber in jedem Fall
zur moralischen Aufrichtung für die Zeit nach dem Krieg bereit.
Die äußeren Umstände dieses „Krieges in Fels und Eis“ mögen auch mitverant-
wortlich dafür gewesen sein, daß seine ästhetische und ideologische Verwertung im
Bergsport der Nachkriegsjahre letztlich vom Kriegsausgang losgelöst erfolgen
konnte. Daß die Gebirgstruppen selbst 1918 eigentlich unbesiegt waren, fügte sich
glücklich dazu. Weit mehr noch als die angeblich von inneren Feinden getroffenen
Reiche blieben nämlich die Kämpfer der Alpenfront im Grunde Unbesiegte, zu-
mal neben dem wirklichen Feind stets ein zweiter — die Hochgebirgsnatur — gel-
tend gemacht werden konnte. Die Mythen vom Helden als Bergsteiger und vom
Bergsteiger als Helden29 hatten durch die Niederlage nichts von ihrer Attraktivität
verloren; vielmehr boten sie sich der nach Visionen und Identifikationsangeboten
Ausschau haltenden Bewegung des Alpinismus abermals an. Was zur symboli-
schen Sühne im Frieden taugte, könnte man sagen, erfüllte seinen Zweck erst recht
nach einem verlorenen Krieg. Dieser fand Eingang in die Erinnerung als vollende-
te Bergtour — als Bergtour von der man gestärkt zurückkehrte. Ernst Enzensper-
ger, schon vor 1914 einer der Väter des Jugendbergsteigens und nach dem Krieg
vom D. u.Ö. A. V. mit der nunmehr für die Vereinspolitik so wichtigen Funktion
eines Jugendreferenten betraut, schilderte der Rosenheimer Generalsversammlung
von 1924 den Krieg als eine Art großartigen „rite de passage“. Mit einer Bergtour
hatte er mit der von ihm geleiteten Jugendgruppe Abschied gefeiert: „Sie zogen alle
hinaus und taten ihren Dienst fürs Vaterland in Ehren. In Flandern, in Rumänien,
am Isonzo, an der Duna erlebten sie in jäher Raschheit, wie es niemals die Jugend
vorher erlebte, die Wandlung vom Jüngling zum stahlharten Mann. Doch zuwei-
len fand ein Brief den Weg zur Heimat, der in der Herzen tiefsten Grund hinab-
leuchtete. Und immer kehrte als Leitgesang die Erinnerung an den letzten Ab-
schied wieder, die Sehnsucht nach den Bergen. Die Zwölfe kehrten alle zurück.
Und alle fanden aus Not und Niedergang auch wieder den reinigenden Weg zu
ihren Bergen.“30
Das ideologische Substrat aus der Erfahrung des Krieges soll nicht darüber hin-
wegtäuschen, daß auf seiten des D.u.Ö. A. V. auch genaue Bilanz über die Verluste
und über den Nutzen des Weltkrieges für den Alpinismus geführt wurde. Einer nicht
zu unterschätzenden Popularisierung und Fortentwicklung alpiner Techniken31,
28 Vgl. Adalbert Zöhnle. In: MtDÖAV 1917, Nr. 1-2, S. 1-2, s.v.a. S. 2.
29 Übrigens mit deutlichem Niederschlag in der Ikonographie - vgl. Tschofen (wie Anm. 18), S. 156.
30 Emst Enzensperger: Aus alpiner Jugendarbeit. In. ZsDÖAV 56 (1925), S. 75-89, s. S. 89.
31 Vgl. Franz Rigele: Die k. u. k. Bergführertruppe im Weltkriege. In: ZsDÖAV 59 (1928), S. 249-265,
s.S. 265.
221
Bernhard Tschofen
besonders des Skilaufs, standen die Zerstörungen von Hütten und Wegen in den
nunmehr verlorenen Gebieten der Südalpen32 gegenüber. Doch die in der Tat ver-
heerenden äußeren Umstände konnten kaum den Glauben an die innere Kraft bre-
chen; immer gipfelten die Bilanzen in Bekenntnissen. Heinrich Menger etwa been-
dete sein bereits 1919 vorgelegtes detailreiches Resümee über die Verdienste des Al-
penvereins im Krieg und die personelle und materielle Schwächung, die jener in
den Kriegsjahren erfahren hatte, ganz im Sinne der hier skizzierten Bergideologie
mit einem „Ex alpibus robur ac virtus!“33 Die Hauptversammlung des Vereines im
Oktober 1919 empfahl dann auch unter anderen den Sektionen folgenden Leitsatz
„dringend zur Beachtung: Eines der wichtigsten Mittel, um die sittliche Kraft des
deutschen Volkes wiederherzustellen, ist der Alpinismus, und zwar in der Form
der bergsteigerischen Arbeit. Denn diese ist geeignet, überaus wertvolle, haupt-
sächlich auf dem Gebiete des Willens liegende geistige Kräfte zu wecken und zu
stärken und damit die Entwicklung echter deutscher Mannestugenden zu för-
dern“.34
So sehr nach dem Ersten Weltkrieg die Zukunft des Alpinismus und mit ihm des
Alpenvereins thematisiert wurde, so sehr herrschte in den Grundlinien Einigkeit
über die künftigen ideellen Fundierungen der Vereinsarbeit. Die Debatte als solche
bezog sich lediglich auf Fragen des Wie - auf die Frage des weiteren Ausbaus des
Hütten- und Wegenetzes, auf die Frage nach der Organisation der Jugendarbeit
oder auf das Verhältnis zu anderen alpinen Vereinigungen. Ansonsten glichen sich
die Formeln oft bis aufs Wort: Ist der Alpinismus einmal das „Tor, durch den die
deutsche Jugend den Weg zu einer glücklicheren, neuen Zeit betreten kann“35 oder
„eine unerschöpfliche Quelle der Erholung und Erbauung (...), die uns Trost spen-
det, wenn wir uns bedrückt fühlen“36, werden die Berge ein andermal „zum Jung-
brunnen der Nation, ein Trost den Gereiften, der Jugend aber ein Symbol trutziger
Kraft, die unbeirrt von dem, was das Ameisenvolk dort unten Schicksalsschläge
nennt, immer und ewig emporstrebt zum Licht.“37 „Die Berge und ihre Bedeutung
für den Wiederaufbau des deutschen Volkes38“ lautete schließlich der programma-
tische Titel einer der Beiträge jener Jahre, der „den Kampf als ehernes Weltgesetz“
postulierte und die Ideale, wie sie „in den Bergen thronen“ wieder eingesetzt wis-
sen wollte.
32 Vgl. Heinrich Menger: Alpenverein und Weltkrieg. In: ZsDÖAV 50 (1919), S. 168-194.
33 Ebd., S. 194.
34 Verhandlungsschrift der 45. Hauptversammlung des D. u. Ö. Alpenvereins zu Nürnberg am 10.
und 11. Oktober 1919. In: MtDÖAV 1919, Nr. 21-22, S. 125-135, s.S. 130, Punkt 1.
35 Gustav Renker: Die künftigen Aufgaben des Alpinismus. In: Feierabend. Wochenendbeilage des
Vorarlberger Tagblattes 2 (1920), Folge 8, S. 33f., s.S. 34.
36 Josef Aichinger: Zur Entwicklungsgeschichte des Alpinismus und des alpinen Schneeschuhlaufs.
In: ZsDÖAV 50 (1919), S. 140-167, s.S. 153.
37 Julius Mayer: Vorwort. In: Ders. u. a.: Ein Halbjahrhundert Alpenverein. In: ZsDÖAV 50 (1919),
S. 1-139, s.S. 4.
38 Gustav Müller: Die Berge und ihre Bedeutung für den Wiederaufbau des deutschen Volkes. In:
ZsDÖAV 53 (1922), S. 1-9, s.S. 8f.
222
Aufstiege — Auswege
Technik: Schwehefahrt und steinige Wege
Ideale bestimmten auch eine Debatte, an der sich die Organe der alpinen Vereine
nur am Rande beteiligten, obwohl sie ihre angestammten Arbeitsfelder sehr direkt
betraf. Die Rede ist von dem in den zwanziger Jahren vielbesprochenen und mit
aller Kraft vorangetriebenen Bau von Berg- und Seilbahnen - ein Beispiel, das
vom eigentlichen Alpinismus ein Stück weit wegführt, aber hilft, eine weitere
Facette von Höhenlust in diesem Jahrhundert einzukreisen. Das Zusammengehen
von tradierter populärer Alpenbegeisterung und technischem Fortschritt, ein Kon-
stituens moderner Bergästhetik, läßt sich am diskursiven Niederschlag der frühen
Seilbahnbauten musterhaft verfolgen.
Eine Spur, die technikgeschichtliche, führt sogleich wieder zurück in den Krieg.
Die Seilbahnhistorie39 will wissen, daß gerade der fehlende Zugriff der gestrengen
österreichischen Eisenbahnbehörden eine in der Folge die gesamte Seilbahntechno-
logie revolutionierende Erfindung ermöglichte. Die Stellungen im Gebirgskrieg an
der Dolomitenfront erforderten den raschen und sicheren Transport von Nach-
schub, Kriegsgerät und Soldaten; und der Meraner Techniker und Landsturm-
Ingenieur Louis Zuegg entdeckte, daß entgegen einer alten Lehrmeinung, die
Drahtseile durch eine erhöhte Seilspannung keinesfalls Schaden nahmen, sondern
im Gegenteil durch den vermiedenen Seildurchhang an den Stützen die Lebensdau-
er der Seile vervielfacht, die Anzahl der - in ihrer Errichtung stets teuren - Stüt-
zen bedeutend verringert und die Fahrtgeschwindigkeit ohne Risiko gesteigert wer-
den konnte. Dieses System — Bleichert-Zuegg — bildete die Grundlage für den re-
gelrechten Seilbahnboom der Zwischenkriegszeit, der das Alpenerlebnis in eine
neue technisch-virtuelle Epoche führte.40
Wenn der Berichterstatter des Berliner Lokal-Anzeigers — das Presseecho der
Bahneröffnungen war vor allem in den zwanziger Jahren noch enorm — über die
Pfänderbahn ausrief, „glückliche Bregenzer, die fortan jeden halbwegs sonnigen
Tag, jede Stunde ausnützen können, um den Nebeln der Tiefe zu entfliehen und
hier oben im Lichte herumzuspazieren (,..)“41, dann mischen sich unter die Bewun-
derung für die neuen Möglichkeiten der Technik freilich auch jene aus dem älteren
Alpinismus bekannten zivilisationskritischen Fluchtmotive. Und überhaupt zeigt
sich bei genauerem Hinsehen, daß die Ästhetik der Seilbahnfahrt zwar auf Formen
39 Vgl. Günther Luxbacher: Bergauf Schweben. Die Raxbahn - die älteste Moderne Seilbahn Öster-
reichs. In: Wolfgang Kos (Hrsg.): Die Eroberung der Landschaft. Semmering - Rax - Schneeberg.
Katalog zur niederösterreichischen Landesausstellung 1992 Schloß Gloggnitz (= Katalog des Nie-
derösterreichischen Landesmuseums NF 295). Wien 1992, S: 557-566, vgl. auch Kramer (wie
Anm. 1), S. 127-131.
40 Umfassender dazu auch Bernhard Tschofen: Das Seilbahnerlebnis. Gebirgswahrnehmung zwischen
klassischer Alpenbegeisterung und moderner Ästhetik. In: Tourismus und Regionalkultur. Öster-
reichische Volkskundetagung in Salzburg 1992 (erscheint 1993).
41 Eugen Kalkschmidt: Die Eröffnung der Seilbahn auf den Pfänder. In: Berliner Lokal-Anzeiger vom
24. März 1927, zit. n. Feierabend. Wochenendbeilage zum Vorarlberger Tagblatt vom 31. März
1937.
223
Bernhard Tschofen
der Wahrnehmung aufbaute, wie sie den bewegten Bildern des Kinos, dem Luft-
und Geschwindigkeitskult der Aviatik und der Dynamik der Vergnügungsparks
entsprachen, in der Ordnung und Beschreibung der Eindrücke aber immer wieder
auf den Kanon der hier zur Debatte stehenden Motive zurückgriff. Neben eskapi-
stischen Tendenzen fand selbst die Aufstiegsmetapher von der geistigen Hebung
der Bergansteigenden ihre Fortsetzung. In einem ein Fahrterlebnis beschreibenden
Gedicht liest sich dies dann so: „Ich gleite, wie ein Vöglein fliegt, / Durchs Son-
nenmeer der Lüfte; / Auf Wald und Blumenauen liegt / Der Atem reiner Düfte;
/ Die Brust wird weit ... der Blick wird hell — / Fern ruht die Welt, ihr Beiden;
/ Ich trinke an der Gottheit Quell/Und ahne Ewigkeiten .. ..“42
Hatte schon der Alpinismus, also das Vordringen in bis dahin unbekannte Hö-
hen, mit Unvertrautem konfrontiert und daher auch die metaphernreichsten Ima-
ginationen heraufbeschworen, so mußte der rasche, lautlose und unbeschwerliche
Anstieg einer Seilbahnfahrt erst recht zuerst einmal seine Sprache finden. Regel-
rechte Hilflosigkeit spricht aus manchem heute befremdlich anmutenden Topos,
und fast neigt man dazu, jenem Besucher des Pfänders Glauben zu schenken, der
sich „mit einemmal auf der Höhe stehen und wie hilflos die Augen schweifen las-
sen“ sah, „nicht wissend, wie man in diese Fülle von überwältigenden Eindrücken
Ordnung bringen kann“.43 Daß eine solche, zumindest seit der Mitte des 19. Jahr-
hunderts hochidealisierte und in der Zeit um den Ersten Weltkrieg noch einmal
durchformulierte Erfahrung durch die Mittel der Technik plötzlich allgemein ge-
macht werden sollte, fand naturgemäß den Widerspruch der eingeschworenen Al-
pinisten. Dabei ging es um weit mehr als um die Angst vor dem Verlust des ange-
stammten Privilegs der Bergeinsamkeit. Vielmehr drohte der Anstieg ohne
Schweiß und ohne Anstrengung, die in jahrzehntelanger alpinistischer Praxis und
ihrem Diskurs mühsam definierten idealen Motive außer Kraft zu setzen. Die
Fahrt selbst, dies zeigt die Analyse der zeitgenössischen Schilderungen von
Seilbahnfahrten44, hatte mit ihrer rasanten Durchmessung der unterschiedlichen
Ausblicke und Perspektiven, der wechselnden Umgebungen und Szenarien so viel
zu bieten, daß sie das eigentliche Höhenerlebnis ersetzte.
„In feierlichen ,Entschließungen der Hauptversammlungen, in Protestver-
sammlungen, in Schrift und Wort, in Eingaben an die Regierungen hat der D. und
O. Alpenverein den Bau von Bergbahnen im Hochgebirge bekämpft. Er hat diesen
Kampf geführt nicht allein aus Gründen des Naturschutzes — (...) — auch aus
dem Grunde der Reinhaltung der Bergesgipfel von dem Publikum, das diese Auf-
züge in Massen hinaufbringen und das zu den Gipfelfelsen paßt, wie die Faust auf
42 Irmgard Vischer: Pfänderfahrt. In: Festschrift zur Hauptversammlung des D. u. Oe. Alpenvereins
in Bregenz. Hrsg, von der Sektion Vorarlberg (= Beilage der Vorarlberger Landeszeitung vom 30.
August 1935), S. 24; vgl. die erste Strophe mit ähnlichen Motiven.
43 Was der Pfänder bietet. In: Eröffnung der Pfänderbahn am 20. März 1927 (= Feierabend. Wochen-
endbeilage zum Vorarlberger Tagblatt vom 27. März 1937), S. 131.
44 Z. B. Sepp Niedermeier: Bergfahrt. In: Ders.: Die Predigtstuhl-Bahn Bad Reichenhall. Bad Reichen-
hall o.J. (1928), S. 17-20.
224
Aufstiege — Auswege
das Auge. Der ruheliebende Bergsteiger meidet daher heute diese Gipfel (s. Zugspit-
ze); sie sind ihm, der auf dem Gipfel die Erhabenheit und Ruhe der Natur sucht,
verekelt. Aber nicht das allein ist es. Die Bergbahnen schädigen auch die Bergsteige-
rei an sich. Tausende und Abertausende, die früher, wenn auch nicht „Alpinisten“,
so doch Anfänger oder schon Gelegenheitsbergsteiger waren (...), sind heute zu be-
quem, auch nur diese wenigen Türen zu unternehmen, und ziehen die Bergfahrt
dem Berggang vor, indem sie sich sagen: Wozu sich plagen, wenn man so bequem
in die Höhe gelangen kann?“45 Die Stoßrichtung der Seilbahnkritik war demnach
relativ eindeutig, sie stellte meist die um den Preis des Yerlusts eines individuellen
Erlebnisses erkaufte Popularisierung in den Mittelpunkt. Anstößig war der kampf-
lose Gipfelsieg an sich, und besonders hart gingen die eingeschworenen Traditiona-
listen mit den Skifahrern ins Gericht, „denn so fällt jede Anstrengung weg, es
bleibt rein nur das Vergnügen der Abfahrt, der „Sport“ und der Genuß der Hö-
hensonne“.46
War die Seilbahn für die einen ein „Fluchtmittel“, galt sie den anderen als Sym-
bol jener Zivilisation, vor der die alpine Bewegung letztlich geflohen war. Daß da-
bei ein enger Zusammenhang zur Erschließungstätigkeit der alpinen Vereine selbst
und zu den stets gesuchten „unberührten und weltfremden Höhen“ bestand, wur-
de in Ansätzen auch erkannt. Aber der Bau von Seilbahnen war im Gegensatz zum
Hütten- und Wegebau der Vereine nicht nur dazu angetan, die „Bereisung der
Alpen zu erleichtern“, sondern er traf — mit der damit einhergehenden Aufhe-
bung von Raum und Zeit — den Kern alpinistischer Tugend. Immerhin fanden in
den Vereinsorganen der dreißiger Jahre auch Beiträge Aufnahme, die die Benüt-
zung der Aufstiegshilfen von vornherein miteinbezogen, auch wenn in zumindest
verbaler Distanzierung festgehalten wurde, daß etwa, „wer die Welt der Höhen um
Bozen voll erfassen will, zu Fuß auf einem der alten steinigen Bergwege hinaufstei-
gen (muß)“.47
Allein die Existenz von Aufstiegshilfen hat die Wahrnehmung der Bergland-
schaft verändert.48 Sie hat einer neuen Bergästhetik den Weg bereitet und damit zur
Neuordnung des alpinen Raumes, wie sie der frühe Alpinismus mit seinen Mes-
sungen und Benennungen initiiert und die Tätigkeit der alpinen Vereine mit der
Besetzung der Landschaft durch ein enges Netz von Hütten, Wegen und Stütz-
punkten perfektioniert hatte, beigetragen. Freilich baute die Synthese auf eine lan-
ge Tradition. Die kultivierte Wildnis stand als Nachklang des romantischen Inter-
nes am Nebeneinander einer vom Menschen gestalteten und einer erhabenen
45 Franz Moriggl: Zehn Jahre Vereinsgeschichte 1919-1929. In: ZsDÖAV 60 (1929), S. 301-355,
s.S. 341.
46 Ebd.
4' Raimund von Klebeisberg: Höhen um Bozen. In: ZsDÖAV 67 (1936), S. 136-144, s.S. 144.
4!i Zur Veränderung der Wahrnehmungsweisen im Gebirge am Beispiel der Automobilisierung vgl.
Martin Scharfe: Alpen und Automobil. Rede aus Anlaß der Hundertjahrfeier der Sektion Tübin-
gen des Deutschen Alpenvereins 1991. Unveröffentl. Ms.
225
Bernhard Tschofen
Natur auch im Mittelpunkt der Alpenästhetik der zweiten Jahrhunderthälfte.
Praktisch abzulesen ist diese Sichtweise an der Mehrzahl der zeitgenössischen Ge-
birgsbilder gleichgültig welcher Technik. Die frühe Photographie kam wie ihre
graphischen Vorläufer kaum umhin, bei der Abbildung von Gebirgslandschaften
dem Auge zumindest einen Anhaltspunkt aus dem Reich der Zivilisation zu bie-
ten. Meist sorgfältig komponiert, beleben so Hütten, Wege oder einige alpinisti-
sche Utensilien das Szenarium. Dahingegen begann sich mit der zunehmend leich-
teren Handhabbarkeit der Photographie im Gebirge (was keine monokausale Her-
leitung suggerieren soll) eine Verselbständigung der Natur abzuzeichnen. Die
Vertikale wurde betont, einzelne Fels- oder Eisformationen wurden herausgeho-
ben, die Ästhetik wurde insgesamt heroischer, und zunehmend wagte man es, die
Regeln der klassischen Kompositionslehre zu verlassen.49 Mit der Betonung der
Kontraste wuchs auch der Anteil des Himmels: Wolken gerieten zu einem bevor-
zugten Sujet.
Hier soll nun kein Exkurs zur Darstellung des Gebirges in den Künsten vorge-
führt werden, sondern lediglich dem Hinweis Platz gemacht werden, daß eine be-
stimmte Art ins Bild gesetzter Bergästhetik anscheinend erst in der Zeit nach dem
Ersten Weltkrieg, erst in den zwanziger und dreißiger Jahren, möglich geworden
war. Die Rede ist von den aus den Bildbänden dieser Jahre vertrauten kontrastrei-
chen Bildern, die kühne Mastenkonstruktionen und kraftvoll sich emporwinden-
de Alpenstraßen zeigen - häufig genug idealtypisch ergänzt von einem in den
Wolken kreisenden Flugzeug. Der Weg zu solchen Ikonologien führt nicht direkt
aus der panoramatischen Tradition mit ihrer Neigung, die Horizontale zu beto-
nen, in die Moderne. Neben allen anderen Einflüßen ist die der Zeit eigene neue
Art, Erhabenheit zu zelebrieren, nicht zu übersehen. Die Symbole des technischen
Zeitalters unterstützen dabei den Drang nach oben und lassen die Höhen nur noch
erstrebenswerter erscheinen.
Die Seilbahn als Vehikel, das von den Niederungen zu den Bergen führt, taugte
zudem als Metapher des öffentlichen Aufstiegs. Gerade im wirtschaftlich ange-
schlagenen und in seiner Identität schwer erschütterten Österreich der zwanziger
Jahre, wo es dank der eingangs geschilderten technischen Innovationen möglich
war, in wenigen Jahren ein Dutzend solcher Bahnen zu errichten, kam dem neuen
Verkehrsmittel die Rolle eines zentralen Fortschrittsymbols zu. „Schon in weni-
gen Monaten werden die ersten Wagen lautlos zur Höhe schweben und dem Aus-
lande einen neuen Beweis dafür geben, daß Österreich nichts unversucht läßt, um
aus eigener Kraft wieder emporzukommen (.. .)“50, heißt es in einer für den Bau
der Raxbahn, der ersten österreichischen Seilschwebebahn, werbenden Broschüre.
Die Intensität, mit der Österreich sowohl in der Ersten als auch in der Zweiten
49 Vgl. Susanne E. Rieser: Wahrnehmung und Repräsentation der Gebirgswelt. Zur Geschichte des
Blicks auf die Berge an Beispielen aus der frühen Tiroler Gebirgsfotografie. In: Tiroler Heimat.
Jahrbuch für Geschichte und Volkskunde 56 (1992), S. 83-91.
50 Die Seilschwebebahn auf die Raxalpe. Wien 1925, s. S. 36.
226
Aufstiege — Auswege
Republik seine Leitbilder im Alpinen suchte, wird noch an anderer Stelle im Detail
zu verfolgen sein.51 In dem zur Behandlung stehenden Zusammenhang muß vor-
erst der Hinweis genügen, daß die Aufstiegsideologien über die innere, moralische
Aufrüstung hinaus auch für die Konstruktion nationaler Mythologeme taugten.52
Wie das Beispiel der Seilbahn zeigt, gingen dabei die Symbole des Natürlichen —
gespeist aus dem Fundus des Alpinismus - mit dem Technischen wirkungsvolle
Verbindungen ein.
Heimatberge: Schutz und Schönheit
Die Interventionen des D.u.O.A.V. gegen den Bau von Seilbahnen - die Ro-
senheimer Hauptversammlung von 1924 faßte eine „Entschließung’ gegen den
Bau der Zugspitzbahn und von Bergbahnen überhaupt“53 — zählen mit zu den er-
sten unter „Natur- und Heimatschutz“54 firmierenden Aktivitäten des Vereines.
Begriff und Sache tauchen in den Organen des Alpenvereins zwar bereits vor dem
Ersten Weltkrieg gelegentlich, aber fast ausschließlich in Beiträgen, die Außensei-
terpositionen vertreten, auf.55 Erst nach 1918 markieren Natur- und Heimatschutz
eine über Jahrzehnte wichtige Leitlinie von Selbstverständnis und Vereinspolitik.
Hier interessiert in diesem Zusammenhang wiederum, wie der Alpinismus die
Heimatschutzidee — jenen in den Bemühungen um Denkmal-, Ortsbild- und Na-
turschutz angesichts beschleunigter Modernisierung um die Jahrhunderwende
gründenden konservativen Reformgedanken — in sein Repertoire aufnahm und
welche Verbindungen dabei die von den beiden Bewegungen verfochtenen Erneue-
rungsideen eingingen.
„Was der Krieg zerstört hat, soll wieder hergestellt, was da ist, soll erhalten wer-
den. Damit aber ist es nun genug des Erschließens. Denn was suchen wir in den
Bergen, in ihren Tälern, auf ihren Höhen, in ihren Wäldern, auf dem Eis ihrer Fer-
51 Seilbahnen, Alpenstraßen und Staumauern sind drei wichtige Stichworte; der Nationalisierung
solcher Symbole qua Stilisierung der Landschaft zum Stimmungszeichen - einschließlich Edel-
weiß u. a. - im Sinne eines Beheimatungsprogrammes ist noch vergleichend nachzugehen.
52 Vgl. zur Bedeutung des Matterhorns für eine Schweizer Nationalsymbolik Werner Jehle: Das Mat-
terhorn. „What’s the matter?“ Basel 1989.
53 Josef Moriggl: Neues Erwachen des Naturschutzgedankens im D.u.O.A.V. In: Ders. 1928 (wie
Anm. 11), S. 348 f., s. S. 349. Vgl. Kundgebung gegen den Bau der Zugspitzbahn aller alpinen Krei-
se. In: MtDÖAV 1925, Nr. 7; S. 103-112.
54 Grundsätzlich vgl. Rolf Peter Sieferle: Fortschrittsfeinde? Opposition gegen Technik und Industrie
von der Romantik bis zur Gegenwart. München 1984, s.v. a. S. 167-174; Edeltraud Klueting
(Hrsg.): Antimodernismus und Reform. Zur Geschichte der deutschen Heimatbewegung. Darm-
stadt 1991.
55 Ihre Argumentationsweise kennt noch nicht den umfassend zivilisationskritischen Ton der zwan-
ziger Jahre und konzentriert sich vor allem auf den symbolischen Schutz bestimmter Tier- und
Pflanzenarten oder auf den mehr an Optik orientierten Lanschaftsschutz — vgl. M. Merz: Unbe-
dingter und allgemeiner Naturschutz. In: MtDÖAV 1914, Nr. 5; S. 65-68; Rudolf Jugoviz: Über
Natur und Heimatschutz. In: MtDÖAV 1914, Nr. 9, S. 126-128; Nr. 10, S. 136-140 und Nr. 11,
S. 149-152.
227
Bernhard Tschofen
ner, in Fels und Firn? Erholung die einen, stille Andacht gegenüber der urgewalti-
gen Schönheit ihrer Natur die anderen, noch andere wagemutiges Ringen Brust an
Brust mit den Bergen, viele auch wissenschaftliche Erkenntnis und die Unersättli-
chen suchen alles zusammen. Jeder aber kommt am besten da zum Ziel, wo der
Strom der Vielzuvielen, der Genußmenschen der Großstädte, der Salontiroler jeg-
licher Art fernbleibt oder doch nach Kräften eingedämmt wird.“56 Heimat- und
Naturschutz im D. u. Ö. A. V. nach 1918 war nahezu gleichbedeutend mit den vom
als Bergsteigergruppe firmierenden Sektionenverband vertretenen Beschränkungs-
vorschlägen. Es ging um die Erhaltung alter Ideale und um geeignete Maßnahmen,
das sogenannte Massenpublikum von den Hochregionen fernzuhalten. Daß diese
Forderung mit dem Gedanken des Schutzes der „Heimatberge“ verbunden wurde,
unterscheidet den neuen Vorstoß von den Beschränkungsbestrebungen der Vor-
kriegszeit. Diese lagen vor allem im Interesse einer im höchsten Maße idealistisch
argumentierenden Elite und fanden keinen nennenswerten praktischen Nieder-
schlag. Eine Verbindung mit der in Ansätzen bereits nach der Jahrhundertwende
betriebenen Schutzarbeit, die sich wiederum weitgehend auf Aktivitäten in und
um einen unter den Fittichen des D. u.Ö. A. V. operierenden „Verein zum Schutze
der Alpenpflanzen“57 beschränkten, bestand nicht. Letzterer konzentrierte sich
vor allem auf die Einrichtung botanischer Alpengärten, wirkte aber auch an der
praktischen Gestaltung von ersten Natur- und Pflanzenschutzgesetzen mit und
konnte die Einrichtung eines Pflanzenschutzschonbezirkes als seinen größten Er-
folg verbuchen. Auch gelegentliche, von seiten der Heimatschutzbewegung vorge-
tragene Wünsche zur Beachtung heimatschützerischer Grundsätze beim Schutz-
hüttenbau, fanden vor dem Krieg kein besonderes Gehör.
Bereits die erste Hauptversammlung des D. u. O. A. V. nach sechsjähriger Pause,
1919 in Nürnberg, thematisierte jedoch einen Vorstoß für eine qualitativ begrün-
dete Erschließungsbeschränkung. Ein Antrag zweier Sektionen auf verfassungsmä-
ßige Verankerung des Heimatschutzes wurde auf dieser weichenstellenden Ver-
sammlung noch einmal zurückgestellt, aber die symbolische Dimension des Schut-
zes von Natur bestimmte in der Zwischenkriegszeit von Anfang an den Diskurs
über Zukunft und Berechtigung des Alpinismus. Mehrfach wurden nun auch die
ansonsten seit der Gründung des Vereines nahezu unangetasteten Satzungen er-
gänzt und korrigiert, bis schließlich die inzwischen zu Unworten gewordenen
Schlüsselbegriffe Erschließung und Bereisung 1927 ganz weichen mußten: „Zweck
des Deutschen und Österreichischen Alpenvereins ist, die Kenntnis der Hochge-
birge zu erweitern und zu verbreiten, das Bergsteigen zu fördern, das Wandern in
den Ostalpen zu erleichtern, ihre Schönheit und Ursprünglichkeit zu erhalten und
dadurch die Liebe zur deutschen Heimat zu pflegen und zu stärken.“58 Natur-
56 F. Meigen: Alpenverein und Naturschutzpark. In: MtDÖAV 1919, Nr. 19-20, S. 110-121, s. S.
119 f.
57 Vgl. Carl Schmolz: Verein zum Schutze der Alpenpflanzen. In: ZsDÖAV 50 (1919), S. 99f.
58 Zit. n. Moriggl 1928 (wie Anm. 11), S. 3f. Schon die Hauptversammlung 1925 hat eine in diesem
Zusammenhang stehende Entschließung gefaßt: „Zweck des Vereins ist ferner, deutsches Volks-
228
Aufstiege — Auswege
Schutz, wie er im zumindest verbal sich immer mehr von den Interessen des Frem-
denverkehrs absetzenden Alpenverein verstanden wurde, argumentierte stets na-
tional. Die Verteidigung des Flochtourismus wurde verstanden als Beitrag zum
Schutz der Heimatberge vor einer die Ideale untergrabenden Zivilisation. Wo sollte
die deutsche Jugend sich im Kampfe erproben, wo in das Gewand der Tugend
schlüpfen, wenn die Alpen zu einem Tummelplatz der Massenkultur, der Alpinis-
mus zu einer kommerzbestimmten Vergnügung herabsänke?
Der „äußere“ praktische Naturschutz, das zeigten auch die Argumente im Dis-
kurs um den Bau und Betrieb von Seilbahnen, zielte auf einen Schutz des Erlebnis-
ses der „inneren“ Natur, der Schutz der Heimat auf die Erhaltung eines für solche
Erfahrungen notwendigen Terrains. Heimatschutz, wie ihn die dafür zuständigen
Vereinigungen verstanden, war immer Kulturarbeit. Es ging darum, die gedachte
Wirkung alpiner Natur der Nachwelt zu erhalten: „Unsere Kinder und Kindeskin-
der werden uns anklagen und fragen: ,Was habt Ihr aus den Alpen gemacht? Wie
gerne würden auch wir noch lauschen und lernen in den freien Bergen, uns erfreu-
en an dem zarten Rot der Alpenrosen, an dem zottigen Pelz des Edelweiß, den
blauen Sternen des Enzians? Aber wo sind sie geblieben? Eure enge Kultur glaubtet
Ihr zu fördern, die wahre Kultur habt Ihr zerstört.4“59 Die ganz im kulturkriti-
schen Jargon der antimodernistischen Heimatschutzbewegung gehaltene Argu-
mentationsweise darf nicht darüber hinwegtäuschen, daß Idee und Realisierung
von Nationalparks, obgleich schon vor dem Krieg prinzipiell angedacht60, letzt-
lich in den Postulaten der frühen zwanziger Jahre ihren Ausgang nahmen. Der
D. u.O.A.V. hatte ein neues Tätigkeitsfeld gefunden — kein ausschließliches frei-
lich, aber eines, das zunehmend die Selbstdefinition des Vereines mitzutragen hat-
te. In das bereits in den Anfängen von Arbeit bestimmte Vereinsprofil fügte es sich
zudem bestens: „Es ist eine ideale Aufgabe, die der Alpenverein übernimmt, aber
eine Kulturtat ersten Ranges, wenn es gelänge, von einem kleinen Teil der Alpen
die menschliche Kultur fernzuhalten.“61 Der Widerspruch schien nicht mehr auf-
lösbar zu sein: Das Fernhalten von Kultur wurde als Kulturtat postuliert.
Der Kampf für die Heimatberge war ein symbolischer, obwohl er sich sehr inte-
gral verstanden wissen wollte. Denn es ging letztlich darum, den Bergen (wieder)
zu einer verklärenden Metaphysik zu verhelfen, sie durch einen neuen Zweck zu
heiligen, wo sie entheiligt schienen. Daß dies im Interesse von Heimat und Nation
zu stehen galt, adelte Natur- und Heimatschutz in den Bergen doppelt: Die Werte
übertrugen sich vom einen auf das andere. Einmal verwaltete der D. u. O. A. V, wie
Fortsetzung Fn. 58.
tum zu wahren und zu pflegen und somit Heimatkunde, Heimatschutz und Heimattreue des deut-
schen Volkes in den Ostalpen zu fördern“ - ebd. S. 6.
59 Meigen 1919 (wie Anm. 56), S. 120.
Vgl. zur Geschichte der Nationalparkidee Roland Floimair u. a.: Nationalpark Hohe Tauern. Der
Kärntner Anteil. Salzburg 1985, s. S. 35-53.
61 Ebd., S. 121.
229
Bernhard Tschofen
die Organisationen mit ähnlichen Anliegen auch, mit den Alpen ein traditioneller-
weise besonders ausgezeichnetes Stück Natur, zum anderen hatte er sich die Aufga-
be auferlegt, in diesem Reservat für die Heimat die Formulierung des Naturschö-
nen zu übernehmen. Dem Bild des Berges und der Symbolik seiner Besteigung ist
dadurch zwangsläufig zu einer neuen Bedeutung verholfen worden.
Aufstieg als Ausweg
Der organisierte Alpinismus teilt mit anderen Naturbewegungen das Schicksal,
die Transformation seiner Ideen in die Massenkultur, trotz Anfeindungen, nicht
bemerkt zu haben.62 Daran konnten auch die Modifizierungen der zentralen
Zweckkonstruktionen mit all ihren Folgen für die alpinistische Praxis nicht viel
ändern. Was man sich unter dem Eindruck des bürgerlichen Eskapismus des 19.
Jahrhunderts aufgebaut hatte, und was in der Tat so etwas wie eine alpinistische
Kultur — Sicht- und Redeweisen über die Berge und ihre Ästhetik — begründet hat-
te, drohte durch die Begeisterung der eigenen Arbeit in Verlust zu geraten. Wäh-
rend ein breitangelegter Diskurs sich noch damit abmühte, zeitgemäße Formen zu
finden, hatten die eigenen Stile längst den Weg in die populäre Alltagsästhetik ge-
funden. Die neuen Medien etwa verstanden es, die Verheißungen, mit denen der
Alpinismus angetreten war, aus der Enge des Vereinsidealismus herauszuführen.
Alpenbegeisterung war eben mehr als nur Alpinismus, aber sie war auch gleichzei-
tig ohne ihn nicht zu denken. Das mußte Willy Hellpach, das „alpine Naturge-
fühl“ ergründend, bereits 1913 feststellen: „Um die Jahrhunderwende selber aber
begann etwas ganz anderes. In die Glieder namentlich der studierenden Jugend
fuhr der Bergsteigeteufel; der Strom sommerlicher Reisender flutete in Höhenla-
gen hianuf, denen er sich bis dahin höchstens scheu auf Stunden und Tage genähert
hatte, das Engadin wurde Mode samt seinem Segantini. Bald tauchten die Schier
und die Rodeln auf, die Ärzte entdeckten die Heilkraft der winterlichen Hochge-
birgssonne, den Lebenskünstlern ging die berauschende Schönheit auf, mit der die
Lichter des Himmels und seiner Gestirne sich auf Schneefeldern brechen und beu-
gen — der moderne Mensch schwor auf Alpen und Alpenwinter. Er tut es gegen-
wärtig noch, ja vielleicht noch umfassender; er hängt Bilder von Erler-Samaden in
seinen Salon, pilgert zu Hodlers seltsamen Offenbarungen, und liebt es, wenn die
Sonne von St. Moritz auch in Romanen und Feuilletons leuchtet.“63.
Diese Popularisierung des Alpenerlebnisses ließe sich an der Geschichte des Ski-
laufs beispielhaft verfolgen. Er fand seine Verbreitung durch andere Kanäle als die
des organisierten Alpinismus, war nicht - oder zumindest nicht ausschließlich -
auf die Erschließungsarbeit der alpinen Vereine angewiesen und mußte daher gera-
62 Vgl. Klaus Eder: Die Vergesellschaftung der Natur. Studien zur sozialen Evolution der praktischen
Vernunft. Frankfurt am Main 1988.
63 Willy Hellpach: Das alpine Naturgefühl und die geopsychische Abhängigkeit. In: ZsDÖAV 44
(1913), S. 40-53.
230
Aufstiege — Auswege
de in seinen Anfängen die Skepsis der etablierten Bergsteigerverbände hervorrufen.
Der Skilauf, obwohl naturgemäß mit dem Alpinismus eng verbunden, war in weit
größerem Maße einer kommerziellen Freizeitkultur verpflichtet. Seine Verbrei-
tung verdankt sich den frühen Skifilmen eines Arnold Fanck und Luis Trenker
ebenso wie den Reizen einer dem jungen Sport rasch nachgesagten jugendlichen
Mondänität. Doch das ist ein anderes Thema.64 Tatsache ist - und dies interessiert
in diesem Zusammenhang -, daß in den Skilauf genauso wie in den Bergtouris-
mus des Seilbahnzeitalters die gängigsten Bilder aus dem alpinistischen Symbol-
komplex Aufnahme fanden. Die „Sonne von St. Moritz“ stand zu einem Gutteil
auch für jenes Freiheitsversprechen, das oben, im Lichte, das gute Leben vermutete.
Sie war, wie bei Bernard von Brentano beschrieben65, auf den großen Hygieneaus-
stellungen der Weimarer Republik genauso zu Hause wie in den ungezählten, einer
mittleren Kultur zuzuzählenden Romane alpinen Inhalts, die heute besonders die
Bücherkisten in den Antiquariaten alpennaher Großstädte füllen.
Die eine Symbolik des Berges gibt es ebensowenig, wie es die eine Kultur des Al-
pinismus gibt. Dies gilt auch für den Zeitraum, der hier zur Untersuchung stand.
Aber es gibt einen bestimmten Kanon von Bildern, die einer sehr umfassenden
Alpenbegeisterung entstammen, ihre Konfiguration jedoch im Umfeld des Alpi-
nismus der schwellenhaften Jahre um den Ersten Weltkrieg erfahren haben und in
der Folge die unterschiedlichsten Wege gingen. Diese Bilder leben allesamt von der
Vorstellung, daß der Berg eine besondere Qualität von Natur darstelle, und solche
Naturerfahrung daher auch besonders wertvoll sei. Gleichgültig ob sich diese Er-
fahrung ästhetischer Natur - das Besteigen von Bergen aus eigener oder aus frem-
der Kraft, das Handeln darüber in Wort und Bild — in alpinistischer Tradition ste-
hen sah oder nicht, sie barg ein Versprechen in sich. Und dieses bewegte sich zwi-
schen individuellem und kollektivem Aufstieg, zwischen nationalem und
ökologischem Ausweg. Wie der Aufstieg immer ein Ausweg war, so war der Aus-
weg nach subjektiver Erfahrung in aller Regel ein Aufstieg; und so zäh die Mythen
angesichts eines gelegentlich ärgerlichen rezenten psychohygienischen Redens66 oft
erscheinen mögen, ihre Feinabstimmung auf die jeweils wechselnden Bedürfnisse
ist nicht zu übersehen. Es wird daher auch nicht entscheidend sein, die Motive in
eine progressive und eine antimodernistische Richtung zu trennen, denn ein Stück
weit haben auch die „Pfade aus der Moderne“, um mit Wolfgang Lipp zu sprechen,
die Moderne erst „urbar“ gemacht.67 Die Adaptierung dieser Bilder in den wech-
selnden Ideologien dieses Jahrhunderts - mit einem besonderen Blick auf das
Symbolische - zu untersuchen, steht trotzdem noch an.
64 Bester Beleg dafür ist noch immer Luis Trenker: Berge im Schnee. Hamburg 1962.
65 Bernard von Brentano: Die künstliche Landschaft. In: Ders.: Wo in Europa ist Berlin? Bilder aus
den zwanziger Jahren. Frankfurt am Main 1987, S. 80-84.
66 Viktor E. Frankl: Bergerlebnis und Sinnerfahrung. Bilder von Christian Handl. Innsbruck/Wien
1992.
67 Wolfgang Lipp: Heimatbewegung, Regionalismus. Pfade aus der Moderne? In: Friedhelm Neidhart
u. a. (Hrsg.): Kultur und Gesellschaft. Rene König zum 80. Geburtstag gewidmet (= Kölner Zeit-
schrift für Soziologie und Sozialpsychologie - Sonderhefte 27). Opladen 1986, S. 331-355.
231
Bernhard Tschofen
English Summary
BERNHARD Tschofen: Ascensions - Evasions. Towards a history of mountain symbolism in the 20th
century.
Central to this essay is the old “notion of the rectifying influence of heights”, one of the
most customary metaphors of the modern Alpine experience. The adaptations of this motif
during and after World War I are outlined by way of a discourse analysis of sources origina-
ting from the “Deutscher und Österreichischer Alpenverein” (German and Austrian Alpi-
ne Club), that - founded in 1873 - was formative for the style of alpinism in the Eastern
Alps. Special attention is paid to forms of heroic-idealist mountain symbolism and their
transferences that were maintained in organised alpinism. Especially the “ascension meta-
phor” came to be incorporated both into the perception of mountains promoted by the cul-
ture industry and the programmes of technical and national progress (for instance, exempli-
fied in cable cars) as well as into preservationist efforts strongly opposing mass tourism in
the Alpine region.
232
Bilder aus der Luft
Anmerkungen zur Konstruktion einer Perspektive
Von Burkhard Fuhs, Cölbe
Der Blick aus der Luft auf die „Welt von oben“ hat - so die These dieser Über-
legungen — durch die technischen Erfindungen der Fotografie und der Flugappara-
te seit der Mitte des 19. Jahrhunderts an Quantität und Qualität gewonnen und das
Bild von der „Welt“ grundlegend verändert.
Die Vogelperspektive
Trotz des Einbruches, den das technisierte Luftbild brachte, lassen sich auch für
den Blick von oben „Vorläufer“ finden, die diese spezifische Sehgewohnheit schon
vor ihrer industriellen Produktion und Verbreitung eingeübt haben. Verwiesen sei
hier auf graphische oder gemalte Landschaftsbilder und Stadtansichten, die die ab-
zubildende Lokalität zumeist in einer erhöhten Schrägperspektive Wiedergaben.
Solche „Überschaulandschaften“ finden sich schon in der holländischen Malerei
des 16. Jahrhunderts zum Beispiel bei Bruegels , Jäger im Schnee“ oder in Merians
Städteansichten des 17. Jahrhunderts.1
Diese vogelperspektivischen Abbildungen sind offensichtlich so alltäglich, daß
wir kaum noch wahrnehmen, daß es sich dabei um einen Blick aus erhöhter Posi-
tion handelt. Schon eine flüchtige Durchsicht von Sigrid und Wolfgang Jacobeits
„Illustrierte Alltagsgeschichte des deutschen Volkes“, um ein Beispiel zu nennen,
macht sehr schön deutlich, wie häufig, selbstverständlich und unkommentiert An-
sichten aus der Vogelperspektive von Dörfern, Städten, Klosteranlagen oder szeni-
schen Gegebenheiten zur Illustration von „Lebenswelt“ eingesetzt wurden und
werden.2 Dabei waren „die in Reisebeschreibungen und militärtechnischen Veröf-
fentlichungen des 16. bis 18. Jahrhunderts enthaltenen ,Vogelperspektiven4 keine
Abbildungen selbsterlebter Raumeindrücke, sondern mit mathematisch-techni-
schen Hilfsmitteln und meist großem Kunstverstand konstruierte Perspektiven
mit beliebig gewählten Fluchtpunkten“.3
1 Zum Beispiel „Ulm im Dreißigjährigen Krieg“. Nach Merian, 1643. In: Wolfgang Braunfels:
Abendländische Stadtbaukunst. Herrschaftsform und Baugestalt. Köln 1976, S. 123. Braunfels
Darstellung der abendländischen Stadtbaukunst macht deutlich, daß die konstruierte Vogelper-
spektive die dominante Sehweise der Stadtarchitekturgeschichte ist. Von den 218 Abbildungen des
Buches sind 17 Bilder vom „Boden“ und 201 von „oben“. Bei den „Luftbildern“ variiert der Blick-
winkel zum Boden von sehr flachen Winkeln bis zu senkrechten. Auch sind die Übergänge zur
Karte und zum Grundriß fließend.
2 Sigrid und Wolfgang Jacobeit: Illustrierte Alltagsgeschichte des deutschen Volkes 1350-1810. Bd. 1.
Köln 1986.
3 Werner Rietdorf Horst Baeseler, Lothar Willmann (Luftbildfotografie): Im Flug über die DDR. 2.
Aufl. Leipzig 1984, S. 10.
233
Burkhard Fuhs
Ziel dieser Abbildungstechnik war es, Gegenstände, die bei einer waagerechten
„Bodenperspektive“ hintereinander liegen, auf dem Papier so übereinander anzu-
ordnen, daß der Eindruck eines Blickes von oben entsteht. Damit wird die Infor-
mation eines Bildes gesteigert, da jeder Gegenstand aus der konstruierten schrägen
Sicht von oben unverdeckt zu betrachten ist, und das Gemälde, die Zeichnung oder
der Stich zugleich ein Bild von der räumlichen Relation der abgebildeten Objekte
zu einander vermittelt. Die Vogelperspektive erstellt mit technischen Mitteln ei-
nen Eindruck von der Struktur einer Siedlung, zeigt ihren Umfang und ihre Lage
beispielsweise zu Fluß oder Gebirge und gibt einen Überblick über die wichtigen
Gebäude wie Burg, Kirchen, Rathaus, Brücken oder Verteidigungsanlagen. -
Zeichnungen und Gemälde aus der Vogelperspektive finden sich immer dort, wo
komplexe räumliche Gegebenheiten visualisiert werden sollen: so in der Architek-
tur, in der Geographie, aber auch in Kinderbüchern, wenn zum Beispiel ein Dorf
oder eine Stadt idealtypisch dargestellt werden soll.4
Das Kinderlexikon „Die Kinderwelt“ von 1954 ist zum Beispiel überwiegend
mit buntkolorierten vogelperspektivischen Zeichnungen illustriert. Es werden
Kontinente, eine Alpenlandschaft, ein Bauernhof und vieles mehr aus der Über-
blicksperspektive gezeigt. Dabei weisen die Autoren darauf hin, daß diese Darstel-
lungsart konstruiert ist und nicht der Wirklichkeit entspricht. Zu der abgebildeten
Vogelperspektive des Zoologischen Gartens, auf der sich eng an eng zahlreiche
Käfige über- und untereinander finden, schreiben sie: „Der Zeichner hat recht
viele Tiere auf dem Bild zeigen wollen. Du weißt aber, daß unsere Tiergärten viel
weitere Gehege und kaum noch Käfige haben.“5
Erhöhter Kamerastandpunkt
Das Prinzip des erhöhten Standpunktes zur Strukturierung des Bildes findet
sich auch in der Momentphotographie, die Mitte des 19. Jahrhunderts entsteht.6 Es
werden zwar,,Alltagsszenen“ von Straßen und Plätzen wie zufällig abgelichtet,
aber stets von oben.7 „Wir haben es in allen Bildern mit einem erhöhten Aufnah-
mestandpunkt zu tun (...). Wären die Aufnahmen vom Straßenniveau aus aufge-
nommen worden, hätte man nur ein Chaos von Überschneidungen wahrgenommen
und nur die nächsten Bewegungen zur Kamera wären erkennbar gewesen.“8 Leitern
4 Ein schönes Beispiel sind die Bilderbücher von Mitgutsch. Vgl. Ali Mitgutsch: Rundherum in mei-
ner Stadt. Ravensburg o.J. (1990).
5 Richard Bamberger, Fritz Brunner, Fritz Westphal (Hrsg.): Die Kinderwelt von A bis Z. Wien 1954,
S. 255.
6 Vgl. Brian Coe: Das erste Jahrhundert der Photographie. 1800-1900. Bindlach 1986, S. 44-49.
7 Schon William Henry Fox Talbot, der 1835 das Fotonegativ erfand, demonstriert den Einsatz der
Fotografie in einem seiner Bildbeispiele an einer vogelperspektivischen „Ansicht der Pariser Bou-
levards“. William Henry Fox Talbot: Der Zeichenstift der Natur (1844-1846). zit. nach Wilfried
Wiegand (Hrsg.): Die Wahrheit der Photographie. Klassische Bekenntnisse zu einer neuen Kunst.
Frankfurt am Main 1981, S. 45-89.
8 Marlene Schnelle-Schneyder: Photograhie und Wahrnehmung am Beispiel der Bewegungsdarstel-
lung im 19. Jahrhundert. Marburg 1990, S. 57.
234
Bilder aus der Luft
und ein sorgfältig ausgewählter erhöhter Standpunkt gehörten um 1900 zu den
Mitteln der fotografischen Inszenierung von Stadtansichten.
Der Blick von oben diente der optischen und ästhetischen Bewältigung der
wachsenden Unübersichtlichkeit. Schnelle-Schneyder weist ausdrücklich darauf
hin, „daß für diese Art der Aufnahme der erhöhte Kamerastandpunkt zwingend
war, um den Gesamteindruck einer Bewegungssituation einigermaßen übersicht-
lich darzustellen.“9 Die Vogelperspektive in der Straßenfotografie diente nicht nur
der Konstruktion eines Überblicks, sondern kann auch als technisch-optische Di-
stanzierung von unübersichtlichen Bewegungsszenen verstanden werden. Diese
frühen „Fotografien von oben“ stammen aus in einer Zeit, in der die Beschleuni-
gung des Verkehrs die Wahrnehmung tiefgreifend veränderte und zu einer „quanti-
tativen Zunahme der Eindrücke, die der Warnehmungsapparat aufzunehmen und
zu verarbeiten hat“, führte.10
Der Blick vom erhöhten Standpunkt ist für die bürgerliche Sehweise des 19.
Jahrhunderts charakteristisch. Ausblicke zählten zu bevorzugten Ausflugzielen,
die nicht nur in Wanderführern beschrieben und zusammengestellt wurden, son-
dern über Wege, Bergbahnen und Aussichtstürme für ein bürgerliches Publikum
in Erholungslandschaften systematisch erschlossen wurden.11
Die Sehkultur des konstruierten Aus-, Um- und Überblicks wird im 19. Jahr-
hunderts durch das technische Kunstwerk des „Panoramas“ zu einer Institution
verdichtet.12 Die perfekte Illusion der Rundblicke vermittelte von einem erhöhten
zentralen Punkt „dem Beschauer, ohne daß er sich zu bemühen brauchte, den
Blick nach allen Seiten“.13 Produziert wurde ein Standpunkt des „Feldherrenhü-
gels“, der den Besucher aus den Aktivitäten der Welt herausnimmt und zum distan-
zierten Zuschauer einer dramatisch-romantischen Szenerie macht.
Gemeinsam ist den bisher beschriebenen Blicken, daß sie zwar den freien Aus-
blick über weite Räume ermöglichen, aber auf einen definierten Standpunkt fi-
xiert sind. Auch das Alpenrundpanorama wird durch die Bergspitze, von der es
sich dem Betrachter entfaltet, in seinen geographischen Koordinaten und in seiner
Flöhe exakt determiniert.
Anfänge des Luftbildes
Zur freien Rundperspektive von einer erhöhten Erdposition kommt erst durch
die Erfindung von Flugapparaten der für den Fotografen wählbare Standort hinzu.
9 Ebd., S. 62.
10 Wolfgang Schivelbusch: Geschichte der Eisenbahnreise. Zur Industrialisierung von Raum und Zeit
im 19. Jahrhundert. Frankfurt am Main, Berlin, Wien 1979, S. 55.
11 Vgl. Burkhard Fuhs: Mondäne Orte einer vornehmen Gesellschaft. Kultur und Geschichte der Kur-
städte 1700-1900. Hildesheim, Zürich, New York 1992, S. 453-455.
12 Vgl. Stephan Oettermann: Das Panorama. Die Geschichte eines Massenmediums. Frankfurt am
Main 1980.
13 Dolf Stemherger: Panorama oder Ansichten vom 19. Jahrhundert. Frankfurt am Main 1974, S. 12.
235
Burkhard Fuhs
So kann beim Ballon die Höhe frei bestimmt werden, während für die Bewegung
über Grund der schwer kalkulierbare Wind der Manövrierfähigkeit enge Grenzen
setzt. Demgegenüber verfügen das motorisierte Luftschiff und das Flugzeug über
zwei weitere Freiheitsgrade. Die steuerbaren Flugtechniken ermöglichen einen
nahezu beliebigen Blick auf eine Landschaft oder eine Stadt, aus jeder Richtung
und aus jeder Höhe.
Die Fotos von Felix Tournachon, genannt Nadar, sind in die Fotogeschichte als
erste Luftaufnahmen eingegangen. Nadar (1820-1910), der ein bekannter Pariser
Porträtfotograf war, erstellte bereits 1859 aus einem 520 Meter hohen Fesselballon
„überraschend gute“ Aufnahmen von Paris.14 Da die Fotos noch im Naßplatten-
verfahren15 aufgenommen wurden, hatte Nadar mit großen technischen Schwie-
rigkeiten zu kämpfen: „Er mußte in einer kleinen Dunkelkammer, die durch ein
orangegelbes Leinwandfenster erhellt war, im Korb des Luftballons seine Platten
präparieren. Dabei wirkte sich besonders das schwefelwasserstoffhaltige Gas der
Ballonfüllung schädlich auf die gesilberten Kollodiumplatten aus, d.h., die Negati-
ve verfärbten sich und wurden fleckig.“16 Erst als Nadar - nach etlichen fehlge-
schlagenen Versuchen - aus Mangel an Gas - mit geschlossenem Ballonventil auf-
stieg, gelangen die ersten Luftaufnahmen.17
In den folgenden Jahren wurde - im Zuge der Entwicklung der Fototechnik -
auch die Luftbildaufnahme laufend verbessert. Neben dem Ballon wurde mit ande-
ren Techniken experimentiert; es kamen zum Beispiel Drachen18, Brieftauben
oder kleine Raketen zum Einsatz. „Auch erste Versuche, die heute als frühe Vorläu-
fer der Fernerkundung gesehen werden müssen, wurden unternommen, beispiels-
weise die erste bekannte forstliche Luftbildaufnahme im Jahre 1887 in Pommern
(...). Aber weder die Phototechnik noch die Flugtechnik jener Zeit reichten für
praktische Anwendungen aus.“19
Das militärische Luftbild
Mit der Entwicklung der Aviatik begann auch die militärische Nutzung des
Luftblickes und Luftbildes. Der erste genannte - „erfolgreiche“ - Einsatz des foto-
14 Vgl. Heinz Habenkorn: Anfänge der Fotografie. Entstehungsbedingungen eines neuen Mediums.
Reinbek bei Hamburg 1981, S. 118.
15 Die Fotoplatten müssen kurz vor der Aufnahme mit der lichtempfindlichen Schicht versehen und
sofort nach der Belichtung entwickelt werden. Ebd., S. 107 f.
16 Ebd., S. 118.
17 Vgl. Nadar (Gaspar Félix Tournachon): Als ich Photograph war (1859/1900). Zit in: Karl Riha
(Hrsg.): Reisen im Luftmeer. Ein Lesebuch zur Geschichte der Ballonfahrt von 1783 (und früher)
bis zur Gegenwart. München; Wien 1983, 209-211.
18 Drachen waren um 1900 keineswegs bloßes Kinderspielzeug oder Sportgerät, sondern ernstzuneh-
mende technische Flugapparate, die auch in der wissenschaftlichen Beobachtung eingesetzt wur-
den. Vgl. Alfred Wegener: Die Drachen- und Fesselballon-Aufstiege der Danmark-Expedition.
Habilitationsschrift. Kopenhagen 1909.
19 Jörg Albertz: Grundlagen der Interpretation von Luft- und Satellitenbildern. Eine Einführung in
die Fernerkundung. Darmstadt 1991, S. 5f.
236
Bilder aus der Luft
grafischen Luftbildes wird datiert mit dem Jahr 1862. In diesem Jahr wurden im
US-amerikanischen Bürgerkrieg bei Ballonaufstiegen „Luftbilder vom feindlichen
Gebiet zur Information über Truppenbewegungen“20 und Aufnahmen der „Vertei-
digungsanlagen des belagerten Richmond“21 aufgenommen.
Ideen um einen militärischen Einsatz von Luftfahrzeugen haben schließlich in
den Jahren nach der Jahrhundertwende die Erfindungen und Weiterentwicklun-
gen der Luftfahrtechnik entscheidend beeinflußt; wobei vor allem der Ersten Welt-
krieg eine rasante Beschleunigung im Luftrüstungswettlauf brachte. Nicht nur der
Zeppelin22, sondern auch das Flugzeug wird schon wenige Jahre nach den ersten
gelungenen Flügen von Wilbur und Orville Wright 1903 für den militärischen
Einsatz produziert.
Das Flugzeug hatte als Waffe — wie Salewski betont — im ersten Weltkrieg eine
eher untergeordnete Rolle, erst seit Beginn der 20er Jahre entwickelte es sich im-
mer mehr zur „strategischen Wunderwaffe“.23 Seine Hauptaufgabe war im Ersten
Weltkrieg die Luftbeobachtung, wobei zu Anfang des Krieges die Maschinen noch
nicht bewaffnet waren. Luftschiffe und Flugmaschinen, so von Bernhardi, General
der Kavallerie 1914, „dienen hauptsächlich Erkundungszwecken“.24
C. C. Bergius schildert die Bemühungen um eine Bewaffung der militärischen
Luftbeobachtungsflugzeuge aus der Sicht des flugbegeisterten Luftfahrtchronisten
wie folgt: Garros, der Erfinder des durch den Propeller schießenden Maschinenge-
wehrs, wollte „die in aller Seelenruhe sich über seiner Heimat tummelnden Geg-
ner daran hindern, Stellungen zu fotografieren und Truppenaufmärsche zu beob-
achten. Für ihn war es ein unmöglicher Zustand, daß sich Franzosen, Deutsche
und Engländer in der Luft zuwinkten und sich mehr für die Konstruktion des be-
gegnenden Flugzeuges interessierten als für irgend etwas anderes.“25
Die leichten Ein- oder Zweisitzer des Ersten Weltkriegs waren also vor allem
„schnelle“ und wendige Instrumente der Beobachtung aus der Luft26, deren
20 Hans-Günter Gierloff-Emden, Hellmut Schroeder-Lanz: Luftbildauswertungen. Bd. 1 Grundlagen.
Mannheim; Wien; Zürich 1970, S. 13.
21 Winfried Welzer: Luftbilder im Militärwesen. Berlin (Ost) 1985, S. 7.
22 Vgl. Karl Clausberg: Zeppelin. Die Geschichte eines unwahrscheinlichen Erfolges. Augsburg 1990,
S. 139 und S. 171.
23 Vgl. Michael Salewski: Technologie, Strategie und Politik oder kann man aus der Geschichte lernen.
In: Militärgeschichtliches Beiheft zur Europäischen Wehrkunde. Wehrwissenschaftliche Rund-
schau 4/1988, S. 1-11.
24 Von Bernhardi: Das Heerwesen. In: Deutschland unter Kaiser Wilhelm IL Bd. 1. Berlin 1914,
S. 374.
25 C. C. Bergius: Die Straße der Piloten im Bild. Gütersloh 1969, S. 128.
26 Auch Zeppeline, die sehr windabhängig waren und für die Flugzeuge gute Ziele boten, wurden -
außer für Bombenangriffe - für Luftbeobachtungen eingesetzt, indem ein Spähkorb mit dem
Beobachtungsposten über ein Seil ausgebracht und abgelassen wurde. Da die Seillänge über 1000
Meter betragen konnte, war es möglich den Korb „auf die Unterseite einer das Schiff selbst schüt-
zenden Wolkendecke zu bringen.“ Clausberg: Zeppelin (wie Anm. 22), S. 216.
237
Burkhard Fuhs
Einsätze die aufkommenden Jagdflugzeuge in Luftkämpfen, die sich in den Be-
schreibungen wie Ritterturniere von Ehrenmännern ausnehmen27, zu verhindern
suchten.
Strategisch waren diese Blicke von oben von hoher Bedeutung. Dies hängt eng
mit der Veränderung der Kriegsführung in den Jahren 1914 bis 1916 zusammen.
Die Industrialisierung des Krieges hatte zur „Materialschlacht“ und zum „Trom-
melfeuer“ der Artillerie28 geführt, das ganze Landstriche in verwüstete Kraterland-
schaften29 verwandelte. Das Massensterben im Granathagel führte zur Aufgabe der
bis dahin ideologisch hoch besetzten starren Hauptkampflinie; die Front wurde
ausgedehnt und in der Tiefe gestaffelt, es begann der „moderne“ Stellungs- und
Grabenkrieg.30 Eingegrabene Stellungen, die sich weit in die Tiefe erstreckten,
erforderten genaue Karten des Geländes und der Positionen des Gegners. Angriffe
waren dann besonders erfolgreich, wenn das Artilleriefeuer beobachtet werden
konnte. Der Blick von oben aus dem Flugzeug diente der Ausspähung der gegneri-
schen Stellungen; Luftbilder wurden zu wichtigen Feuerleit- und Kampfinforma-
tionen. Der aufklärende Blick von oben - auch eine Facette der Dialektik der
Aufklärung - wurde zu einem todbringenden Blick.
Die Kriegsluftbilder des Ersten Weltkriegs dokumentieren die Dimension der
Vernichtungsschlachten in einer sachlich-geometrischen Perspektive: Zum Bei-
spiel zeigt eine Luftaufnahme vom 25.9.1917 aus 3000m die Höhe „Toter Mann“
vor Verdun. Dünne, verästelte Adern der Schützengräben durchziehen das senk-
recht von oben aufgenommene Bild; Artilleriekrater reiht sich an Artilleriekrater,
die gesamte Landschaft sieht vollständig durchlöchert aus. „Man erkennt“, so das
Lehrbuch für Luftbildauswertung fachmännisch, „daß sich um die Höhe 285,9
herum das aufgelockerte Verteidungssystem der französischen Truppen befindet.
Das Grabensystem des kaiserlichen Heeres beginnt am Heckengrund und verläuft
über die Höhe „Toter Mann“ zur Senke „Die Maus“. Konzentrisch verlaufen von
den Höhen vorgetriebene Gräben zu den gegnerischen Linien. Auf Handgranaten-
wurfweite standen sich die Truppen in dem von rund 8 Millionen Granaten ge-
zeichneten Trichterfeld gegenüber. Fast 150000 deutsche und französische Solda-
ten verloren dabei ihr Leben.“31 Aufgenommen wurde das Bild, um die Wirkung
des deutschen Feuers auf die Höhe zu kontrollieren und die Artillerie auf die feind-
lichen Stellungen zu zentrieren. Aber auch andere Fotos lassen sich finden: vier
27 Vgl. Manfred Freiherr von Richthofen: Der rote Kampfflieger. Eingeleitet und ergänzt von Bolko
Freiherr von Richthofen. Mit 22 Aufnahmen. Berlin 1933 (Erstveröffentlichung 1917).
28 Die Dominanz der Artillerie wird z.B. in der Offensive von Arras 1917 deutlich, wo bei einem
Trommelfeuer auf einem 18 km langen Abschnitt 2 687 000 Granaten zum pausenlosen Einsatz ka-
men. Vgl. Timothy T. Lupfer: Die Dynamik der Kriegslehre. Der Wandel der taktischen Grundsät-
ze des deutschen Heeres im Ersten Weltkrieg. In: Militärgeschichtliches Beiheft 10/1988, S. 1-16.
29 Vgl. zum Beispiel das Foto „Weltkriegslandschaft“ in: Hermann Glaser: Die Kultur der Wilhelmi-
nischen Zeit. Topographie einer Epoche. Frankfurt am Main 1984, S. 318.
30 Vgl. Lupfer: Dynamik der Kriegslehre, (wie Anm. 28).
31 Welzer: Luftbilder im Militärwesen, (wie Anm. 21), S. 9.
238
Bilder aus der Luft
Soldaten beispielsweise aus niedriger Höhe aufgenommen, die sich in einem Gra-
natentrichter verschanzt haben, verdutzt nach oben schauen und dem „tödlichen“
Blick des Aufklärers schutzlos ausgeliefert sind.32
60 Millionen Luftbilder sollen an der Westfront aufgenommen worden sein33,
und die Gefahr, die von ihnen ausging, läßt sich daran ablesen, daß eine wichtige
Neuerung in den taktischen Grundsätzen nach 1914 die Tarnung der Stellungen
und die Abwehr von Aufklärungsflugzeugen war.34
Der Erfolg der Luftaufnahmen führte zu deren technischen Verbesserung:
Waren die Bilder zunächst mit der Hand schräg aus dem Flugzeug aufgenommen
worden, wurden bald spezielle Flugzeuge und Kameras entwickelt, die fest im
Rumpf der Maschinen eingebaut waren. Lange Brennweiten ermöglichten bei
Flakfeuer Aufnahmen aus großer Höhe. Es entstanden mathematische Verfahren,
die nunmehr stets senkrecht nach unten abgelichteten Bilder zu „entzerren“ und
über Meßpunkte in das Koordinatensystem topographischer Karten zu bringen.
Areofotogrammetrie, also die Vermesssung von Luftbildern, und die Luftbildinter-
pretation entwickelten sich bereits 1915/16 zu einer eigenen Stabsabteilung des
deutschen Heeres.
Nach 1920 und im Zweiten Weltkrieg wurde durch die verbesserten Luftab-
wehrsysteme die militärische Nutzung des Blicks von oben perfektioniert. Immer
neue Kamerasysteme und spezielle Flugzeuge, die entweder aus großer Höhe oder
im Tiefflug mit hoher Geschwindigkeit fotografieren konnten, wurden in Dienst
gestellt.35 Neben dem optischen Bild wurden bald auch andere Wellenbereiche, die
dem menschlichen Auge nicht zugänglich sind, eingesetzt: beispielsweise thermi-
sche Luftbilder, die Motoren und Raketen besonders gut erkennen lassen, Infrarot-
aufnahmen, die auch nachts den Blick von oben offenhalten, oder die Radar-
Beobachtung, die sich auch durch dichte Wolkendecken bewerkstelligen läßt.
Die Zeit des kalten Krieges nach 1945 besteht aus gegenseitiger Bedrohung auf
der einen Seite und der systematischen Ausspionierung des Gegners mittels Luft-
aufklärung auf der anderen Seite. „Legendäres“ Luftbildflugzeug der 50er Jahre
war der U-2-Aufklärer, der als „erster Späher, der lange Zeit ungestört jeden Win-
kel der Sowjet-Union ablichten konnte“, zum „Symbol des kalten Krieges zwi-
schen den Supermächten“ wurde.36 In 27 Kilometer Höhe — für die Jagdflugzeuge
unerreichbar - wurden in den Jahren 1956-1960 aus der U-2 Informationen über
Atombombenfabriken, Unterseeboote und über die ersten Interkontinentalrake-
ten aufgezeichnet; erst 1960 gelang es den Sowjets, über ihrem Hohheitsgebiet
eines der Flugzeuge mit einer verbesserten Abwehrrakete abzuschießen. Die welt-
32 Vgl. Ivan Rendall: Griff nach dem Himmel. Das Abenteuer der Fliegerei. 2. Aufl. Köln 1992 (erst
1988), hier: Der Angriff aus der Luft, S. 183-227.
33 Ebd.
34 Vgl. Lupfer: Dynamik der Kriegslehre, (wie Anm. 28), 7.
35 Vgl. Welzer: Luftbilder im Militärwesen, (wie Anm. 21), S. 11.
36 „Schwarze Engel“. In: Der Spiegel 19/1989, S. 260.
239
Burkhard Fuhs
politische Bedeutung des kontrollierenden fotografischen Luftblicks wurde
schließlich während der Kuba-Krise offensichtlich, als Fotos der U-2 von Foto-
Auswertern eindeutig als Raketenstellungen interpretiert wurden.
Bilder aus der Luft hatten und haben potentiell immer auch machtpolitische Be-
deutung. Das Luftfoto war beispielsweise auch in der Bundesrepublik lange Zeit
kontrolliert und „zensiert“. Nicht nur, daß für bestimmte militärische Gebiete
Uberflugverbot besteht, auch bedurften Veröffentlichung von Luftbildern bis zum
30. 6. 1990 der Freigabe durch eine staatliche Stelle.37
Einen wichtigen qualitativen Sprung in der Geschichte des fotografischen Blicks
von oben stellen die Satelliten dar, die in den 60er Jahren die immer gefährlicher
werdenden Flugaufklärungen ablösten. Zur Geschichte der Satelliten gab es im
Ost- und Westblock unterschiedliche wissenschaftliche Versionen, die heute nach
der deutsch-deutschen Vereinigung in den Regalen der Bibliotheken nebenein-
ander stehen.
Gierloff-Emden und Schroeder-Lanz lassen die Satellitenbildgeschichte mit den
frühen amerikanischen Raketenabwehrsystemen MIDS (Missile Defensiv Alarm
System) und SAMOS (Satellite And Rocket Observation System) 1959 beginnen.38
Albertz setzt den Anfang der Geschichte des Weltraum-Blicks mit den amerikani-
schen Gemini- und Apollo-Raumkapseln (1965) und erwähnt im weiteren den US-
LANDSAT-Satelliten (1972) und den französischen SPOT-Satelliten (19 8 6).39 Dem-
gegenüber präsentiert Barthel in seinem Buch den „östlichen“ Blick auf die Zeit-
marken der technischen Entwicklung. Für ihn beginnt die Weltraumaufklärung
mit dem die westliche Welt in Schock versetzenden sowjetischen Sputnik (1957)
und führt über den amerikanischen LANDSAT zu den Sojus-Raumschiffen von
1976.40
Bis heute läßt sich, auch in einer Zeit der Massenmedien und der weltweiten
Verbreitung von Luftblicken über Foto, Film und Fernsehen, eine große Differenz
zwischen dem öffentlichen Weltraumblick und dem als Geheimnis streng gehüte-
ten militärischen Blick feststellen. Der machtrelevante Aufklärungs-Satellitenblick
ist keineswegs demokratisiert. So machte Rußland erst in aller jüngster Zeit „neue
hochauflösende Satellitenbilddaten“ des militärischen Komplexes zugänglich.41
Solche Bilder waren noch bis vor kurzem durch unscharfes Kopieren oder durch
elektronisches Scannen mit niedriger Bildpunktzahl in ihrer Qualität wesentlich
verschlechtert worden, um das wahre Auflösungsvermögen der Satellitenkameras
37 Vgl. Albertz: Luftbilder, (wie Anm. 19), S. 60.
38 Gierloff-Emden: Luftbildauswertung, (wie Anm. 20), S. 152.
39 Ebd.,S. 6f.
40 Vgl. H. Barthel (Hrsg.): Geofernerkundung: Luft- und Kosmosbilder in ihrer Bedeutung für Wis-
senschaft und Volkswirtschaft, Gotha 1985, S. 7. Barthel stellt zudem stolz die Leistungen der
Luftbildkameras des VEB Carl Zeiss Jena heraus.
41 Vgl. Achim Riess u.a.: Neue hochauflösende Satellitenbilddaten aus Rußland. In: Zeitschrift für
Photogrammetrie und Fernerkundung (ZPF), früher Bildmessung und Luftbildwesen (BUL), 61.
Jg. 1993, Heft 1, S. 42-46.
240
Bilder aus der Luft
zu verschleiern. Die USA haben solche Bilder bisher noch nicht öffentlich ge-
macht.
Gerade um die geheimgehaltene „Auflösung“ der Satellitenfotos kursieren im-
mer wieder Spekulationen und Gerüchte, so wurden auch bei der Vorbereitung zu
diesem Aufsatz von Freunden Vermutungen darüber geäußert, was die Militärs
eigentlich alles „sehen“. Und es kommen Visionen einer perfekten Überwachung
a la Orwell auf, wenn Gierloff-Emden und Schroeder-Lanz schreiben: „Bei Spe-
zialaufklärung kann auf einem aus 10 km Höhe mit geeigneter Optik aufgenom-
menen Luftbild jeder Nagelkopf im Straßenpiaster erkannt werden. Auf einem aus
15 km Höhe aufgenommenen Photo ist noch eine Zeitungsschlagzeile lesbar. Aus
20 km Höhe ist eine Fußspur bei geeigneter Belichtung erkennbar und aus 25 km
Höhe läßt sich ein Radfahrer noch von einem Fußgänger unterscheiden. Von einer
Satellitenaufnahme kann aus einer Höhe von 500 km ein Objekt von drei Metern
Durchmesser bei guter Sicht noch einwandfrei identifiziert werden.“42
Solche technischen Beschreibungen lösen Gefühle nicht nur von Angst, son-
dern auch von Bewunderung und Faszination für die Luftbild-Technik aus.
Wie groß die Unterschiede zwischen dem militärischen und dem zivilen Bick
von oben sind, wird deutlich, wenn man sich beispielsweise die Überlegungen des
Ministerrates der Westeuropäischen Union für ein eigenes Satellitenbeobachtungs-
system anschaut. Vorhandene zivile Satelliten sind für die projektierten militäri-
schen Aufgaben wie „Verifikation“ der Abrüstungsabkommen oder „Krisenüber-
wachung“ nicht geeignet.43 Der zivile LANDSAT 5 aus dem Jahre 1984 hat eine
Auflösung von 30 m, der LANDSAT 6 von 1991 von 15 m und der SPOT immer-
hin von 10 m. Allein aber für die Verifikation wären - so Ruske - Auflösungen
bis 3 m nötig, und auch dies reiche keineswegs für die Überwachung von Krisen-
herden aus. Auch seien für eine „Krisenüberwachung weltweite Beobachtungsmöglich-
keiten (. ..), große Flexibilität des Systems, hohes Bildauflösungsvermögen und In-
formationen über Krisengebiete in nahezu Echtzeit“ notwendig.44 Mit „Echtzeit“
ist gemeint, daß der Satellit einen bestimmten Erdpunkt nicht in größeren Zeitab-
ständen überfliegt, der französische SPOT ist zum Beispiel in 26 Tagen wieder am
selben Punkt, sondern Beobachtungen zu jeder Zeit ermöglicht. Die westdeutschen
Industriestaaten streben also mit ihrer neuen Einrichtung eine lückenlose erdum-
spannende Aufklärung an.45 Militärische Satellitenkontrolle ist aufgrund ihrer ho-
hen Kosten nicht nur Beweis der wirtschaftlichen Stärke eines Landes, sondern
ebenso symbolträchtiges Prestigeobjekt, das für militärische und technologische
Stärke eines Landes steht. So hält es beispielsweise Israel aus militärischen Überle-
gungen - trotz astronomischer Kosten - für unverzichtbar, dem exklusiven Club
42 Gierloff-Emden: Luftbildauswertung, (wie Anm. 20), S. 15.
43 Olaf Ruske: WEU-Initiative: Raumgestützte Erdbeobachtung. In: Europäische Sicherheit. Politik,
Wirtschaft, Technik, Streitkräfte, 41.Jg. 1992, Heft 1, S. 612-615.
44 Ebd., S. 614.
45 Die Akzeptanz des Systems wird sicherlich durch die Tatsache erhöht, daß externe Auswertungen
zu Umweltproblemen geplant sind.
241
Burkhard Fuhs
der Staaten beizutreten, die ein Satellitensystem besitzen, und ein eigenes „Auge im
Weltall“ zu installieren.46
Das wissenschaftliche Luftbild
Die Erfolge der militärischen Luftbildaufklärung im Ersten Weltkrieg führten
zu Überlegungen, das Foto aus der Luft auch für zivile Aufgaben zu nutzen. Es
entwickelte sich die wissenschaftliche Photogrammetrie, die sich mit der Vermes-
sung und Auswertung von Luftbildern beschäftigt. 1921 hält Dr.Ing. K. Gürtler
vor der Mitgliederversammlung der wissenschaftlichen Gesellschaft für Luftfahrt
e. V. einen Vortrag über die Luftbild-Erfahrungen aus dem Weltkrieg und die zu-
künftigen Nutzungsmöglichkeiten.47 Die positiven Kriegserfahrungen mit dem
Luftbild sollten zur Entwicklung exakter Verfahren der Aufnahme und Auswer-
tung genutzt werden. Es hegt, so Gürtler zu den Aufgaben der Photogrammetrie,
„im Interesse sowohl der Allgemeinheit als auch der einzelnen Länder, die Schätze
ihres Bodens zur Gewinnung von Rohstoffen zu heben und Siedlungen zur Aus-
nutzung des Bodens für Acker, Vieh- und Forstwirtschaft zu schaffen. Im weiteren
Verlauf wird für diesen Zweck die Anlage von Verkehrsmöglichkeiten erforderlich
sein, es müssen Straßen und Eisenbahnen gebaut, Flußläufe reguliert und schiffbar
gemacht werden (...). Die Arbeiten für die Erschließung neuer Länder von der er-
sten Erkundung an bis zur Durchführung der letzten industriellen und wirtschaft-
lichen Projekte erfordern aber eine rege Vermessungstätigkeit.“48
Das Luftbild wird also im Zusammenhang der vollständigen Erschließung und
Nutzbarmachung der Erde gesehen. Neue Länder sollen von oben entdeckt, ver-
messen und besiedelt werden. Wo vor der Zeit des Flugzeuges Wochen- und mona-
telange Expeditionen nötig waren, reichen nun wenige Luftbildflüge, um einer wil-
den, unzugänglichen Landschaft ihre „Geheimnisse zu entreißen“.49
Dem Blick von oben kommt bei der „letzten“ Eroberung der Natur eine zen-
trale Bedeutung zu. Walter Bauer beschreibt den Wandel in der Aneignung von
Wildnis nach dem Ersten Weltkrieg in einer Biographie von Fridtjof Nansen, dem
Polarforscher, der Zeit seines Lebens dem Eis mit Schiff und Hundeschlitten begeg-
net war. „1924 gründete Nansen die Internationale Studiengesellschaft zu Erfor-
schung der Arktis mit dem Luftschiff. (...) Dem Blick aus der Luft öffnete sich
das herbe Geheimnis des Pols. Er war menschenleer, kalt und grenzenlos. (...)
1929, am 28. und 29. November, überflog Byrd den Südpol. Als erster sah er die
ewige Dauer der Eiszeit. Die Pole hatten ihr Geheimnis verloren.“50
46 Vgl. Davids Auge. In: Der Spiegel, Nr. 39/1988.
47 Die Arbeit des Luftbildes im Dienste der Landvermessung nach dem Stande der heutigen Erfah-
rungen, München 1921. Nachdruck in: ZPF, 1/93, S. 30—41.
48 Ebd.,S. 31.
49 So entdeckten Auswerter von Luftbilder wenige Flugminuten vom Panamakanal ein 100 Meilen
langes bis dahin unbekanntes Mittelgebirge. Vgl. Gierloff-Emden: Luftbildauswertung, (wie Anm.
20), S. 15.
50 Walter Bauer: Fridtjof Nansen. Flumanität als Abenteuer. Frankfurt am Main 1991 (erst 1956),
S. 259 f.
242
Bilder aus der Luft
Die Einsatzbereiche der Luftbilder, ihre Aufnahmetechniken und Auswertungs-
möglichkeiten wurden ständig erweitert; es entstand schließlich in den 20er Jahren
eine eigenständige wissenschaftliche Luftbilddisziplin.51
Der fotografische Blick wurde durch die Photogrammetrie wissenschaftlich-
technischen Konstruktionprinzipien unterworfen: Die senkrechte Perspektive
wird zur dominanten Blickachse; es werden unterschiedliche Bildmaßstäbe und
Spektralbereiche (Bänder), die weit über die Möglichkeiten des menschlichen
Auges hinausgehen, definiert und technisch erschlossen.52 53 Satelliten werden in sol-
che Umlaufbahnen gebracht, daß sie periodisch die gesamte Erdoberfläche in sich
überlappenden Bildstreifen scannen. Die Daten werden elektronisch verarbeitet
und ausgewertet. Farbauszüge stellen diejenigen Informationen heraus, die jeweils
benötigt werden. Es werden komplexe Regeln für die systematische Erkennung
und Interpretation von Bilddaten aufgestellt. Aus Linien, Schwärzungen, Schattie-
rungen werden Objekte interpretiert und zueinander in Beziehung gesetzt. Diese
Bildinterpretation ist ein schwieriger Prozeß, der viel Übung bedarf, da Objekte
von oben anders aussehen als vom Boden. So können unterschiedliche Flächen-
muster im Bild als Oberflächentexturen erkannt und Objekten zugeordnet wer-
den: Laubwald im Frühjahr hat zum Beispiel eine andere charakteristische Textur
als Laubwald im Sommer.54 Der interpretierende menschliche Blick, der auf be-
stimmte Objekte geschult ist, ist in diesem Prozeß noch nicht durch Computer zu
ersetzen. Gierloff-Emden und Schroeder-Lanz nennen als nötige Vorausetzungen,
die ein Luftbild-Beobachter für seinen Beruf mitbringen muß, „normale Augen-
sehschärfe, gute stereoskopische Sehfähigkeit, Farbtüchtigkeit, Beobachtungsgabe,
Phantasie, Geduld und Urteilsfähigkeit“.54
Für den nicht geübten Betrachter solcher Bilder ist es erstaunlich, welche De-
tailvielfalt aus den Luftbildern „herausgesehen“ werden können. In der militäri-
schen Auswertung werden beispielsweise bei Welzer Aussagen über den Grad der
Zerstörungen von Bahngleisen und Straßen getroffen, oder es werden aus einigen
hellen und dunklen Flecken Panzer identifiziert, deren Ketten zerstört sein sol-
len.55 Ähnliche für Außenstehende erstaunliche Ergebnisse präsentieren Bildaus-
werter aus anderen Einsatzgebieten. Dem trainierten Beobachter kommt dabei,
trotz EDV-Unterstützung, eine zentrale Bedeutung zu, da das Wissen um die zu
identizifierenden Objekte den Blick strukturiert. Gierloff-Emden und Schroeder-
Lanz erläutern dies am Beispiel des Erkennens von Landschaften: „Landschaft und
Landschaftbild, diese Begriffe sind nicht abgeleitet von den kleinen Objekten, aus
51 Im August 1992 fand in Washington D. C. — mit militärischen Zeremonien — der 17. Kongreß der
Internationalen Gesellschaft für Photogrammetrie und Fernerkundung statt. Es kamen 5200 Besu-
cher; die Vorträge füllen 5370 Seiten. Vgl. den Kongreßbericht in: ZPF, 1/93.
52 Vgl. Albertz: Luftbilder, (wie Anm. 19), S. 7.
53 Ebd., S. 109.
54 Gierloff-Emden: Luftbildauswertung, (wie Anm. 20), S. 35.
55 Welzer: Luftbilder im Militärwesen, (wie Anm. 21), S. 130 und S. 183.
243
Burkhard Fuhs
denen sich die Landschaft im einzelnen zusammensetzt, sie sind gewonnen aus ei-
ner von vornherein zusammenfassenenden Art der Betrachtung.“56
Für die Ausbildung von Bildinterpreten bedeutet dies, daß sie nicht nur in der
allgemeinen Auswertung von Luftbildern geschult, sondern auch in das spezielle
Aufgabengebiet eingeführt werden müssen, da nur das erkannt wird, was man
kennt und sucht. Erst in der Interpretation werden die Bilder verständlich; so tritt
beispielsweise eine „schockierende“ Erkenntnis ein, wenn auf einem Satelliten-
Bild des Amazonas, das aus einem Muster von grünen und blauen Farbflecken be-
steht, die grünen Bereiche dem Wald und die roten Bereiche den abgeholzten Ge-
bieten zugeordnet werden.57 Von den 232 Vorlesungsstunden der Luftbildauswer-
tung auf dem Sektor Forstwirtschaft kommen neben Mathematik, Kartographie
und weiteren Grundlagenfächern 78 Stunden auf das Erlernen eines eigenen forst-
wissenschaftlichen Luftbildblickes.58
Die Auswertungsgebiete der Fernerkundung sind - wie gesagt - in den letzten
Jahrzehnten ständig erweitert worden. Gerade das Satellitenbild eröffnet eine so
weite Perspektive von neuen Möglichkeiten für unterschiedliche Wissenschaften,
die niemand erwartet hatte, so daß einige Autoren die Weltraumbilder bereits als
die „Dritte Entdeckung der Erde“59 bezeichnet haben. Luftbilder werden heute in
der Kartographie, Geologie, Geographie60, Bodenkunde, Forst- und Landwirt-
schaft, Tierkunde, Regionalplanung, Siedlungsplanung, Archäologie oder Gewäs-
serkunde eingesetzt.61 Eine Anwendung hat in ihrer populären Variante sogar Ein-
gang in die täglichen Fernsehnachrichten gefunden: die meteorologische Satelliten-
wetterkarte, die den Zuschauern von „freundlichen“ Fachleuten in einer Kurz-
version interpretiert wird.
Zur Ästhetik und Emotionalität des Luftbildes
Während es in den obigen Ausführungen um die Kultur des wissenschaftlich-
technischen Blickes aus der Luft, seine Konstruktion und seine Nutzung ging,
steht in diesem letzten Abschnitt die Frage nach dem subjektiven Erleben des
Blicks von oben, also seine ästhetische und emotionale Präsentation, im Vorder-
grund.
56 Gierloff-Emden: Luftbildauswertung, (wie Anm. 20), S. 15.
57 Vgl. „ESA/ERS-l-Radarbild des zerstörten Regenwaldes“. In: Geo-Informations-Systeme. Zeit-
schrift für interdisziplinären Austausch innerhalb der Geowissenschaften. 6/1992, Heft 1, S. 24.
58 Gierloff-Emden: Luftbildauswertung, (wie Anm. 20), S. 19. Luftbildauswertung kann an mehreren
Universitäten der Bundesrepublik studiert werden.
59 Ebd., S. 6.
60 Eine interessante Einführung in die geographische Nutzung von Luftbildern mit farbigen Aufnah-
men findet sich in: Geographische Rundschau. Deutschland in Satellitenbildern und Interpretatio-
nen, 9/1981.
61 Vgl. Albertz: Luftbilder, (wie Anm. 19), S. 158.
244
Bilder aus der Luft
Ausgangspunkt der Überlegungen ist, daß wir es mit zwei grundsätzlich unter-
schiedlichen Blicken zu tun haben: Auf der einen Seite steht der gesellschaftlich
zentrale, wissenschaftlich-technische „Nutzblick“, der in detaillierten Analysen
das Gesehene in Zusammenhang mit den verschiedenen Nutzungsanwendungen
bringt.62 Dies kann beispielsweise die Observierung einer Lokalität als Artillerie-
feuerziel, die Suche nach Bodenschätzen, die Kartierung eines unbewohnten Land-
striches oder die Überwachung von Meeresverschmutzungen63 sein. Auf der anderen
Seite steht die ästhetische Wahrnehmung eines Geländes als Landschaftsbild64, wo-
bei gleichermaßen Natur- oder Stadtlandschaften gemeint sind. Dieser Blick wird
nicht rational analysiert, sondern emotional erlebt. Norbert Elias betont, daß bei-
de Blicke eng Zusammenhängen und der beherrschende, kontrollierende Blick
Voraussetzung für den ästhetischen ist. Erst wenn die Natur durch Technik und
Naturwissenschaft gezähmt und befriedet ist und keine Angst mehr vor ihr be-
steht, kann sich ein romantisches Naturgefühl einstellen. Den befriedeten Men-
schen wird die befriedete Natur „zu einem Gegenstand von Augenlust“.65 Nicht
mehr handeln in der Natur, sondern das Erleben der Landschaft steht im Vorder-
grund. Die Menschen, so beschreibt Elias die Entwicklung des 18. und 19. Jahr-
hunderts, „erfreuen sich am Zusammenklang der Farben und Linien; sie werden
offen für das, was man die Schönheit der Natur nennt“.66
Der Augenblick, die ruhige Betrachtung aus der Distanz, stellt für die Luftper-
spektive eine zentrale Verhaltensweise dar. Dabei produziert der Blick von oben ei-
ne ganz besondere Augenlust, weil er ungewohnte Ausblicke auf die Welt vermit-
telt. Die Umwelt wird nicht mehr face-to-face, also in direkter Begegnung mit den
„Fassaden“ und Vorderfronten der Dinge, erlebt, sondern im Überblick. Vertraute
Objekte werden aus dieser ungewohnten Perspektive fremd; einen Menschen oder
ein Haus erkenne ich nur schwer, wenn ich lediglich Haare oder nur ein Dach von
oben sehe.
Zugleich geht die Relation des eigenen Körpers zur dinglichen Erdoberflächen-
Umwelt verloren. Der Sehende in der Luftmaschine findet sich nicht mehr in
einen festen Raum von Straßen, Häusern, Bäumen und Menschen eingebunden, zu
denen er sich verhalten muß und die ihm materielle Grenzen in der Bewegung
62 Der „Nutzblick“ wird z. B. in Abhandlungen zur Fotogeschichte meist vergessen. Aus diesem
Grund wurde an diese Stelle dem militärischen und wissenschaftlichen Blick ein breiter Raum ein-
geräumt.
63 Vgl. Heinrich Smid: Reiner Reuter, Konrad Grüner: Luftüberwachungssystem zur Erkennung von
Meeresverschmutzungen. Hrsg, vom Bundesverkehrsministerium. Bonn 1991.
64 Zur Entstehung der ästhetischen Landschaftswahrnehmung vgl. Joachim Ritter: Landschaft. Zur
Funktion des Ästhetischen in der modernen Gesellschaft. In: Joachim Ritter: Subjektivität. Sechs
Aufsätze. Frankfurt am Main 1974.
65 Vgl. Norbert Elias: Humana conditio. Beobachtungen zur Entwicklung der Menschheit am 40.
Jahrestag eines Kriegsendes (8. Mai 1985). Frankfurt am Main 1985, S. 11.
66 Norbert Elias: Über den Prozeß der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersu-
chungen. 2. Bd. Frankfurt am Main 1979, S. 406.
245
Burkhard Fuhs
aufzwingen. Sein Blick erfaßt vielmehr die Welt als etwas vom eigenen Körper Un-
abhängiges; während die Autos und Menschen der engen Straße folgen müssen,
scheint seine Bewegung ungehemmt bis zum Horizont verlängerbar. Die Distan-
zierung von der Umwelt und die damit einher gehende Verfremdung der Welt voll-
zieht sich stufenlos mit der Flughöhe. Während in niedriger Höhe der schräge
Blick im flachen Winkel noch die „Aufrisse“ der Landschaft erkennen läßt,
schrumpfen mit zunehmender Höhe die Objekte, zeigen nunmehr nur noch ihre
Kopfseite und relativieren sich: aus einem speziellen, wiedererkennbaren Haus
wird ein Haus allgemein.
Mit der Abkoppelung von der Bodenperspektive wird in der Luft aber auch die
Orientierung schwieriger; man ist nicht mehr an die Grenzen der Oberflächendin-
ge gebunden, kann aber auch keinen direkten Bezug zu ihnen mehr hersteilen und
benötigt technische Hilfsmittel, um seinen Standort zu ermitteln.67 Aus der ver-
trauten Welt wird schließlich ein Muster aus Flächen und Farben, das sich anschau-
en läßt wie ein modernes Gemälde.
Die Distanzierung vom Erdboden und die Verfremdung der Welt geht mit un-
terschiedlichen, zumeist starken Emotionen einher. Hier wäre eine eingehende
Untersuchung der Historizität der ästhetischen Vogelperspektive nötig. An dieser
Stelle sind indes nur einige Hinweise möglich.
„So wie ich es sehe“, zitiert Albertz zu Anfang seiner Grundlagen der Luftbild-
interpretation Georg Gerster, „ist das Luftbild ein einzigartiges Vehikel für Stau-
nen, Zorn, Freude, Arger — kühl läßt es nie.“68 Für Gürtler sind diese starken Ge-
fühle für eine wissenschaftliche Nutzung des Luftbildes hinderlich: „Wenn man ab
und zu hört“, - schreibt Gürtler 1921 —, „daß photographische Luftbildaufnah-
men die persönliche Beobachtung von einem Flugzeug aus nicht ersetzen können,
so ist dieser Irrtum verzeihlich. Die Eindrücke, die man während eines Fluges emp-
fängt, sind auf einen für die Schönheit der Natur aufnahmefähigen Menschen
meist derart gewaltig, daß man alles, was man während des Fluges gesehen, zu opti-
mistisch beurteilen wird.“69
Euphorische Beschreibungen des Blick von oben finden sich seit Beginn der
Luftfahrt. Professor Charles, der Erfinder des Gasballon schreibt 1783 zu seinem
ersten Aufstieg:
„Nichts kann dem Vergnügen gleichen, das sich in dem Augenblick, da ich die Erde verließ, sich
meines Daseyns bemächtigte; es war nicht bloß Vergnügen, es war Glückseligkeit. Ich fühlte mich al-
len Mühseligkeiten der Erde, allen Plagen des Neids und der Verfolgung entflohen; ich fühlte mich
selbst genug, indem ich mich über alles erhob.“70
67 Diese Angst vor möglichem Orientierungsverlust erzeugt in Fliegerkreisen Erzählungen, aber
auch Witze. So druckt das fliegerMAGAZIN in Heft 5/1993 als Witz einen Funkkontakt ab, bei
dem sich herausstellt, daß ein Flugzeug statt Bratislava aus Versehen Wien zur Landung anfliegt.
Vgl. fliegerMAGAZIN 5/93, S. 81.
68 Vgl. Albertz: Luftbilder, (wie Anm. 19), Vorwort.
69 Arbeit des Luftbildes, (wie Anm. 47), S. 32.
70 Zit. n. Michael Stoffregen-Büller: Himmelfahrten. Die Anfänge der Aeronautik. Weinheim 1983, S. 115.
246
Bilder aus der Luft
Die Distanz von der Welt wird als Glück beschrieben, da sie zugleich auch eine
emotionale Distanz von den Sorgen der Welt bedeutet. Dieses Glück erlebt Char-
les gleichzeitig als moralische Verbesserung seiner Person.
Die vom Luftblick ausgelösten Emotionen lassen sich anscheinend nur schwer
in Worte fassen. Hermann Hesse beschreibt 1912, wie er Zeitungsartikel von Flug-
gästen liest, um herauszufinden, welche Erfahrungen die neue Art des Fliegens mit
dem Flugzeug vermittelt: „Ich las sie mit Eifer, aber es stand nichts drin. (...). Ent-
weder standen die Verfasser jener Artikel eben wirklich auf jenem unpersönlichen,
allgemein kultivierten Standpunkt, den ihre Artikel betonten, oder aber es war un-
gemein schwierig, die eigentlichen Gefühle eines Fliegenden darzustellen. Ich glau-
be heute, die zweite Annahme war die richtige.“71 Der emotionale Blick von oben
läßt sich offensichtlich nur literarisch einigermaßen erfassen.72 Als Hesse selbst die
Gelegenheit zu einem Flug mit einem Flugzeug angeboten bekommt, nimmt er sie
wahr. Beim Blick aus dem Flugzeug fällt ihm auf, daß der größte Unterschied zum
Zeppelin der ist, daß der Blick von oben kein „behagliches Zuschauen aus einer
Loge ist“, sondern vom dynamischen Erlebnis des Fliegens bestimmt wird. Der
Motor und die Geschwindigkeit werden zentral. Erst als der Flieger höher steigt,
stellen sich beschaulichere Blicke ein. Hesse fühlt sich „ganz Kind, ganz Knabe,
ganz Abenteuer, ich trinke den berauschenden Wein des Losgerissenseins, der
Gleichgültigkeit und Verachtung gegen alles Gestrige, der animalischen Erregung
in tiefen Zügen, ich bin Drache und Wolke, Prometheus und Ikarus .. .“73 Hesse
beschreibt eine Läuterung seiner Person wie bei einer religiösen Bekehrung: „Die
Welt ist Erhabenheit, erhaben ist Gebirge, Wüste, Meer. Der Mensch bringt den
Humor hinein. Ich beginne sie wieder zu lieben, die Menschen, die da drunten so
kleinlich und sonderbar wirtschaften“.74 Die pathetischen Gefühle, die Hesse
schildert, stehen auch in engem Zusammenhang mit der realen Gefahr, die diese
frühen Flüge mit dem Motorflugzeug bedeuteten. Gabriele d’Annunzio hat dieses
Lebensgefühl der frühen Flieger, Emotionen des Wagens auf Leben und Tod, des
Kämpfens, Scheiters und Siegens eindringlich beschrieben. Der Blick aus der Ma-
schine ist nicht gelassen, er ist begleitet vom Klang des Motores, dessen Aussetzen
den Tod bedeuten konnte. Gabriele d’Annunzio beschreibt den Blick auf das Was-
ser bei einem wagemutigen Flug über das Meer: „Ein schönes tiefes Grab habe ich
unter mir. Was für ein schöner Tod mein Freund!“75 Und als der Held endlich das
Ufer erreicht: „Es war das Land! Es war das Leben (...). Es war der Sieg!“76
71 Hermann Hesse: Im Flugzeug. In: Helmut Bauer, Andrea Kroemer, (Hrsg.): Über die Wolken hin-
aus. Bad Homburg 1986, S. 110.
72 In dem Film „Der Club der toten Dichter“ fordert der Lehrer seine Schüler auf, auf den Tisch zu
steigen, da zum Dichter die fremde Perspektive gehöre.
73 Hesse: Im Flugzeug, (wie Anm. 71), S. 113.
74 Ebd., S. 114.
75 Gabriele d’Annunzio: „Vielleicht - vielleicht auch nicht“. München 1989 (Ersterscheinung 1910),
S. 419.
76 Ebd., S. 421.
247
Burkhard Fuhs
Mit der weiteren Entwicklung und der besseren Beherrschung der Flugmaschi-
ne weichen diese herausfordernden, kämpferischen Einstellungen einem mehr ro-
mantischen Luftblick. Tania Blixen beschreibt 1937 das Gefühl, das sie beim Flug
über Afrika verspürte: „Aber nicht, was man sieht, sondern was man tut, ist das
Beglückende; die Wonne und das Entzücken des Fliegens ist das Fliegen selbst. Es
ist eine trübe Not und Sklaverei, die die Menschen in den Städten erdulden (...)
sie gehen einen Strich entlang, als wären sie auf einen Faden aufgezogen. (...) In
der Luft aber genießt man die volle Freiheit aller drei Dimensionen, nach Jahrhun-
derten der Verbannung und der Träume stürzt sich das sehende Auge in die offenen
Arme des Raumes. (...) Jedesmal, wenn ich in einem Flugzeug aufstieg und hinab-
schauend merkte, daß ich vom Boden frei war, trat es mir ins Bewußtsein wie eine
große Entdeckung: ,Ich begreife“, sagte ich mir, ,so war’s gemeint, jetzt verstehe ich
alles.“ “77
Bei Tania Blixen spielt zwar auch die Dynamik der Maschine noch eine Rolle,
aber die Gefahr, die dAnnunzio so eindringlich beschreibt, ist einer philosophi-
schen Anschauung gewichen; der Blick von oben vermittelt Freiheit und tiefe „re-
ligiöse“ Erkenntnis.
Das Freiheitsgefühl steht bei den Beschreibungen des Luftblicks immer wieder
im Mittelpunkt. Zu einem populären Refrain ist dieses Gefühl in Reinhard Meys
Lied „Über den Wolken“ geworden. Im Text wird diese Freiheit allerdings nur von
jemandem „erträumt“, der ein Flugzeug in den Wolken verschwinden sieht:
„Über den Wolken muß die Freiheit wohl grenzenlos sein. Alle Ängste, alle Sor-
gen, sagt man, blieben darunter verborgen und dann würde, was hier groß und
wichtig erscheint, plötzlich nichtig und klein“.78
Freiheit wird auch hier in Verbindung gebracht mit der Distanz von alltäglichen
Ängsten und Sorgen; Fliegen und der Blick von oben wird zu einer Sehnsucht
nach einer besseren Welt, oder zumindest einer Flucht aus dem Alltag, wird zum
Prinzip Hoffnung.
Der Privatflieger Mey hat in weiteren Liedern dieses Thema immer wieder auf-
gegriffen. Da wird das Flugzeug als „letztes Abenteuer“79 gesehen, als letzter Kin-
dertraum, „bevor ich ganz erwachsen werde“, die Maschine wird als „Ausguck
hoch im Baum“ beschrieben, der einem „ein Stück Freiheit läßt“, weil sie „einen
hinträgt“, wohin man möchte. In einem anderen Lied heißt es: „Die Wiesen und
Wälder, die Dörfer und Felder, die Menschen, die da unten gehn, wie im Spielzeug-
laden ist alles, von oben gesehn.“80 Und auch hier erfüllt sich in der Distanzierung
zur Welt, die zum Spielzeugszenario wird, ein Kindheitstraum aus sorglosem Ver-
gnügen.
77 Tania Blixen: Jenseits von Afrika. »Afrika, dunkel lockende Welt«. München 1992 (Ersterschei-
nung 1937), S. 212.
78 Reinhard Mey: Alle Lieder von Anfang an bis heute. Bad Godesberg o.J. (1977), S. 49.
79 „Das letzte Abenteuer“. Reinhard Mey: Balladen, o. O. 1989.
80 „Auf eines bunten Vogels Schwingen“. Reinhard Mey: Die Zwölfte, o. O. 1983.
248
Bilder aus der Luft
Der Blick von oben wird so zu einem individuellen, einmaligen Erlebnis, das in
einer Zeit des Massenverkehrs abgrenzende Individualität zu garantieren scheint.
In den letzten Jahren, wo der Blick aus dem Charter-Flugzeug zu einer Routineur-
laubserfahrung geworden zu sein scheint, entstehen immer neue Luftblicke. Zum
einen sind dies sportliche Luftblicke wie beim Paragliding und Drachenfliegen,
zum anderen erlebt aber der Ballon wieder eine Blüte, scheint er doch, gegen die
perfekte Technisierung der modernen Fliegerei, so etwas wie ursprüngliche Lufter-
fahrung zu vermitteln. Der ADAC beispielsweise wirbt für das Erlebnis „Ballon-
fahren“ mit dem Hinweis, daß auch erfahrene Flieger von dieser Erfahrung über-
wältigt seien: „Wir wissen von einem altgedienten Lufthansa-Kapitän, der seine
Flugmeilen nach zig. Millionen angeben müßte, daß er seine Fahrt in einem Ballon
über den Rhein und das Elsaß noch immer als sein eindrucksvollstes Erlebnis zwi-
schen Himmel und Erde bezeichnet.“81
Dies macht deutlich, daß es beim Blick von oben eine klare Hierarchie gibt. Der
Ballonblick - so kann der Reisetip interpretiert werden - vermittelt „tiefere“ Er-
fahrungen als Millionen Jumbomeilen. Luftblicke unterliegen also auch einer Ver-
nutzung, wenn sie alltäglich sind, werden uninteressant. Es scheint immer der Blick
besonders intensiv, der nicht nur biographisch außergewöhnlich, sondern auch in
der jeweiligen Kultur historisch selten und deshalb emotional hoch besetzt ist.
Zur Zeit wird in den Medien der Blick der deutschen Astronauten während der
D2-Mission vermarktet. Dieser Astronautenblick — so die Botschaft - hebt die
Männer im All über die Alltagsmenschen hinaus und macht sie zu einmaligen Per-
sönlichkeiten. „Schlegel zeigte sich vom Anblick auf die Erde beeindruckt. Die
Schönheit und Gebrechlichkeit der Erde fasziniere ihn am meisten.“ Dieser Blick
— so die Oberhessische Presse weiter — ist etwas, was der Astronaut seiner Familie
mit nach Hause bringen wird: „Schlegel will mangels Einkaufsmöglichkeiten im
All seinen Kindern vor allem die faszinierenden Eindrücke mitbringen“.82
Eine Bekleidungsfirma bringt die Persönlichkeitsveränderungen, die mit diesem
Weltraumblick einhergehen, in einer Anzeige auf den Punkt:
„Begegnung in Windsor. Reinhard Furrer ist Physiker und Astronaut. Wer wie
er die Erde, das blaue Wunder, mal aus der Ferne sah, betrachtet die Welt in neuem
Licht. Radikal idealistisch mit Werten, die er klassisch nennt: Integrität und Frei-
heit — dieser schöne Götterfunken. Das Honorar für das Foto kommt der
Wernher-von-Braun-Stiftung für Weltraumforschung zu.“83
81 Peter Frieben: Stehplätze am Himmel. In: ADAC motorweit, 6/1992, S. 75 f.
82 Der deutsche Astronaut Hans Schlegel bei der Pressekonferenz im All 300 Kilometer über der Er-
de. In: Flug zum Mars denkbar. D2-Mission: Astronauten schlafen wie „Murmeltiere“. Oberhessi-
sche Presse 4.4.1993.
83 Werbe-Text für eine Kleidungsfirma. In: Der Spiegel 47. Jg., Nr. 18, 3.5.1993, S. 134—135.
249
Burkhard Fuhs
English Summary
BurkhardFuhs: The Aerial View.
The image of the world created by an aerial view is a central perspective of industrialized
societies. According to this essay, images taken in flight are constructed views whose history
is closely connected both with the history of technology and with political and strategic in-
terests. Aerial views have made a new image of the world and a new quality of civilization
possible. At the same time, two complementary types of the view from above have evolved:
the technical-mathematical and the romanticized aerial view.
250
Berichte
Arbeits-, Arbeiter- oder Volkskultur?i:*
Bemerkungen zur 6. Tagung der Kommission „Arbeiterkultur“
in der DGV an der Universität Bamberg vom 16. bis 21. 9. 1992
Labor-Culture, Workers’ Culture or Folk Culture?
Observations on the 6th Meeting of the Commission for “Workers’
Culture ” of the German Folklore Society,
Bamberg, Oct. 16-21, 1992
Es soll hier eine Diskussion erneut aufgegriffen werden, die auf der Bamberger
Arbeiterkulturtagung schon geklärt schien, nämlich die über den Wunsch, die Kom-
mission umzubenennen. Vorgeschlagen war „Arbeits- und Arbeiterkultur“ bzw.
„Arbeiter- und Arbeitskultur“. Begonnen hatte diese Diskussion um Umbenen-
nung implizit lange vorher, und auch schon lange vor dem Scheitern der für Bre-
men angekündigten 6. Arbeitstagung der Kommission — schon die damaligen Ab-
sagen von Referaten und deren anderweitiges Auftauchen kann sehr wohl auch als
Diskussionsbeitrag sui generis gewertet werden. Tenfelde, Mooser und auch andere,
schließlich auch Tübinger Kollegen(innen) hatten sich in Aufsätzen schon viel frü-
her von der Arbeiterkulturforschung abgewandt, besonders was die Kultur der Ar-
beiter in der Gegenwart angeht („Milieuaufweichung“ usw.). Einigen schien gar
die „Wende“ und „Vereinigung“ Grund genug, diesen Forschungsbereich ad acta
zu legen. Doch Kultur muß es doch geben bei jenen, die nun nicht mehr Arbeiter
heißen sollen (und wohl auch nicht mehr heißen wollen) — Gerhard Schulze (Bam-
berg) wird in seinem Aufsatz im Tagungsband* 1 gerade auf diese Frage eingehen.
Auf dem Ffagener Volkskundekongreß regten einige Kollegen(innen) (zu denen
auch ich mich damals zählte) die Begründung einer zusätzlichen Kommission für
Handwerksforschung in der DGV an. Innerhalb dieser Gruppe gab es einige, die
die Bezeichnung zu antiquiert fanden, da Vielfalt und Herausforderung der For-
schungsgebiete mit „Handwerk“ nicht hinreichend bezeichnet seien. Doch das
war und ist selbstverständlich kein rein terminologisches Problem. In der Volks-
kunde als empirischer Kulturwissenschaft müsse die Designgeschichte als
Produzenten- wie Produktkultur und ebenso als Sach- bzw. Objektforschung auf-
gehoben sein. Es sollten Hofkünstler ebenso wie „SED“ (Sozialistisches Einheits-
Design), der Elends- und Alleinmeister ebenso wie der Menschenhandel mit aus-
* Die Veröffentlichung einer Informationsgrundlage im DGV-Info erfolgte versehentlich und ohne
Abstimmung mit dem Autor.
1 Der Tagungsband der 6. Kommissionstagung wird voraussichtlich gegen Ende 1993 im Thomas-
Verlag, Düsseldorf, erscheinen; vgl. Gerhard Schulze: Die Erlebnisgesellschaft. Kultursoziologie
der Gegenwart. Frankfurt am Main/New York 1992.
251
Berichte
wärts angeworbenen Bauarbeitern, oder die „produktkulturelle Identität“ (Gerd
Seile) thematisiert werden können.2
Kulturelle Erscheinungformen spezieller Berufe (Mutjahre), Berufskulturen, die
Betriebskultur, die Corporate Culture, die Büro- und Angestelltenkultur oder auch
die Organisationskultur, die „Kultur der Wahl“ in der Konsumption, schließlich
auch die Kultur der Arbeitslosigkeit und der Arbeitslosen (Marienthal-Studie!) —
all das kann aber doch eher im Bereich der Arbeits- und Arbeiterkultur, als im Be-
reich der Handwerksforschung angesiedelt werden. Dies gilt um so mehr, wenn
man die zunehmende Konturlosigkeit des Arbeiterbegriffs in Rechnung stellt. Der
Begriff „Handwerker“ und „Handwerk“ steht doch ebenso zur Diskussion und
Disposition wie der des „Arbeiters“. Um nicht mißverstanden zu werden, nicht
die Ähnlichkeit der Problemlage schlechthin, sondern die Definitionsmerkmale
des Gegenstandes von der menschlichen (und insofern gesellschaftlichen) Arbeit
her bilden eine Gemeinsamkeit. Sonst wäre uns ja alles Kultur, Alltag, Volkskultur.
In Bamberg wurde auf der Abschlußdiskussion zur Abstimmung gestellt, ob und
wie die Kommission Arbeiterkultur Weiterarbeiten soll. Die Referate der Tagung
hatten, wie schon aus dem Bremer Programm zu erkennen war, entschieden ge-
zeigt, wie sinnvoll die Weiterarbeit ist. Neben zwei Beiträgen über türkische Mi-
granten (Ursula Eymold, Max Matter) bewiesen dies vor allem Referate über The-
men, die die Ex-DDR betreffen (Dorothee Wierling, Bernd-Jürgen Warneken, Rai-
ner Albrecht). Der Zusammenhalt einer subproletarischen Gruppe, die sich u.a.
über Beschaffungskriminalität ein Leben außerhalb des sozialistischen Arbeiter-
und Bauerndaseins ermöglichte, die Fortexistenz einer Erblast aus der sozialisti-
schen Arbeiterkulturbewegung, oder die regionalgeschichtlichen Identitäten Bit-
te rfelds im historischen Prozeß seit dem Kriegsende verwiesen auf die Unbrauch-
barkeit des alleinigen Fixpunktes „Arbeiter“ für die darzustellenden Probleme.
Niemand konnte oder wollte darüber hinwegtäuschen, daß der Begriff „Arbei-
ter“ (im Sinne von Klasse ebenso sehr wie im Sinne des Arbeitsrechts), ja daß der
Sinn des Wortes „Arbeiterkultur“ zumindest in der Gegenwart ein höchst frag-
würdiger geworden zu sein scheint.
Die Welle der Gewalt gegen zugewanderte Mitbürger, gegen Homosexuelle und
Behinderte demonstriert auf makabere Weise den Bedeutungsverlust des Schicht-
und Klassenmodells für die Kulturanalyse. Gerhard Schulze formuliert, wenn auch
leicht ironisierend, sogar den „Milieuethnozentrismus“, der die Identitätszweifel
des einzelnen über symbolisch-ästhetische Prozesse zu steuern und zu beheben
scheine. Doch noch bedeutet Arbeit und,,Arbeithaben“ etwas in dieser Gesell-
schaft (zu sehen u. a. an den Gründen der Gewaltbereitschaft der meist jugendli-
2 Vgl. dazu: Biographisches Erinnern und keramische Produktion. In: A. Lehmann/A. Kuntz
(Hrsg.): Sichtweisen der Volkskunde. Zur Geschichte und Forschungspraxis einer Disziplin. Ber-
lin 1988, S. 381—391 (= Lebensformen, 3); Gert Seile/Jutta Boehe: Leben mit den schönen Din-
gen. Anpassung und Eigensinn im Alltag des Wohnens. Reinbek bei Hamburg 1986.
252
Berichte
chen Arbeitslosen), im Wertehaushalt geht der Arbeitsgesellschaft jedenfalls die
Arbeit noch nicht aus. Wer „la longue duree“ und das „Kapitel der Ehre“ nicht ab-
schreiben will, sieht sich wohl gezwungen, anzuerkennen, wie sehr Arbeit und
Stolz, Produkt und Zufriedenheit, Betriebsklima und Gesundheit usw. Zusammen-
hängen. Ist dieses moralische Kapital der Arbeit nicht ausreichend gewährleistet, so
wird Ersatz-Arbeit (z.B. in Hobbyismus, „Volkskunst“) gesucht oder soziale Ar-
beit geleistet; Arbeit also, bei der es nicht mehr auf ein vorzeigbares Produkt an-
kommt, sondern ausschließlich auf menschliche Beziehungen und deren Geltung.
Dies ist evtl, beides: Ausdruck und Selbsttherapie gesellschaftlicher Verhältnisse.
Zeitordnungen spielen dabei als gesellschaftliche Strukturierungen eine hervorra-
gende Rolle.3 4
Schon 1983, auf dem 2. Treffen der Kommission, versuchte ich mit einer „Anstif-
tung zur Selbstethnographie“ die Vielschichtigkeit der Arbeiter-, Großstadt- und
Arbeitskultur einzufordern. „Immerhin spielte sich in der und um die Arbeits-
sphäre damals noch ein Großteil aller sozialen Interaktions- und Kommunika-
tionstätigkeit ab, kulturell geformt in Arbeitstechniken und Arbeitsrhythmen, in
Kooperationsformen und Regenerationsmustern, in kollegialen Beziehungen und
in kollektiven Konflikthaltungen gegen Hierarchien und Herrschaftserfahrungen.
Und zweifellos wirkten diese Verhaltensmuster weit über den Arbeitsort und über
die unmittelbare Arbeitssituation hinaus auf das gesamte kulturelle und kommuni-
kative Verhalten ein, vertieft und reflektiert noch durch die in gleicher Weise sozia-
lisierte und sozialisierende Umgebung der Kollegen, der Familien, der Bezugsgrup-
pen“.5 Diese alltagshistorische Bestimmung stammt von Wolfgang Kaschuba aus
dem Jahre 1989 - mit Carola Lipp6 würde ich diesen Formulierungen des Arbei-
ters und seiner Fabrik als nervus rerum der Arbeiter- wie der Alltagskultur die Fra-
ge anfügen wollen, ob hier nicht ein Ritt in die heile Welt männlicher Körperlich-
keit unternommen werden soll. Ähnlicher Milieuexotismus hat die Volkskunde als
empirische Kulturwissenschaft schon in Sackgassen geführt.
Ein Zirkel scheint dann auch unausweichlich: „Die geschichtliche Erfahrung
selbst und ihre Umsetzung in kulturelle Formen und Zeichen werden als Schlüssel
benutzt zur Dechiffrierung historischer Symbolsprachen und schichtspezifischer
3 Andreas Kuntz: Volkskundliche Reflexionen zum Thema „Zeit“. In: Ethnologia Europaea 16
(1986) S. 173-182.
4 Andreas Kuntz: Aporetisches zur Arbeiterkulturforschung - oder: Anstiftung zur Selbstethno-
graphie. In: A. Lehmann (Hrsg.): Studien zur Arbeiterkultur. 2. Tagung der Kommission „Arbei-
terkultur“ in der DGV. Münster 1984, S. 225—243.
5 Wolfgang Kaschuba: Volkskultur und Arbeiterkultur als symbolische Ordnungen. Einige volks-
kundliche Anmerkungen zur Debatte um Alltags- und Kulturgeschichte. In: Alf Lüdtke (Hrsg.):
Alltagsgeschichte. Zur Rekonstruktion historischer Erfahrungen und Lebensweisen. Frankfurt am
Main/New York 1989, S. 191-223, hier S. 198.
6 Carola Lipp: Alltagsforschung im Grenzbereich von Volkskunde, Soziologie und Geschichte. In:
Zeitschrift für Volkskunde 89 (1993) S. 1—33.
253
Berichte
Weltbilder“.7 Was anders sind schichtspezifische Weltbilder als die geschichtliche
Erfahrung in schichtspezifischen Symbolen? „Identität durch Arbeit“, Arbeits-
stolz und weiteres wird zu Recht ins Treffen geführt, doch mag die funktionale
Äquivalenz zur Handwerks- und Handwerkergeschichte ein weiteres Argument
zur Zusammenarbeit unter dem Begriff der Arbeitskultur sein.
Verschiedene Kollegen und Kolleginnen vertraten in Bamberg die Auffassung,
daß Arbeitskultur ein wichtiges Arbeitsgebiet darstellt und daß es die Arbeitsfä-
higkeit der Kommission auch in historisch-systematischer Hinsicht verbessern
würde, wenn man sich darauf einigen könnte, die Kommission umzubenennen. Da
es bislang keinerlei organisatorischen Rahmen für die Arbeit unserer Kommission
gibt, sollte sie evtl, doch etwas in dieser Richtung unternehmen; ein erster Schritt
war in Bamberg die Benennung einer Vorbereitungsgruppe zur Themenfindung
für die nächste Tagung. Gerade die weniger empirisch-museumsbezogen arbeiten-
den Kolleginnen und Kollegen sollten anerkennen, daß die Umbenennung in
„Kommission Arbeits- und Arbeiterkultur“ theoretisches Arbeiten erleichtert, da
im neuen Namen eben nicht ein psychologistischer oder ökonomistischer, wohl
aber ein sozial-funktionaler Arbeitsbegriff enthalten und auszufüllen ist.
Wie in der Arbeiterkultur, so auch in der Handwerksforschung: Ohne begriffli-
che Debatte ist die Kulturanalyse bis in die Gegenwart hinein nicht möglich, ja ist
der theoretische Diskurs blockiert. Die schon bei Eduard Hoffmann-Krayer zu fin-
dende Verbindung von Arbeitsvollzügen und kulturellen Mustern geht in den
Klammerbegriff „Arbeiter- und Arbeitskultur“ (oder umgekehrt) ein. Volkskund-
liches Forschen in museumsbezogenen Sachgebieten, in der Ergologie, im ethno-
graphischen Film und auch im Bereich Fremdheit/Gewalt (z.B. am Arbeitsplatz)
würde aus der Arbeit dieser Kommission profitieren können. Es wäre wünschens-
wert, die Umbenennung auf dem Volkskundekongreß in Passau erneut zu disku-
tieren und zu beschließen und die nach Kopenhagen einberufene 7. Tagung der
Kommission unter das Thema „Arbeitskultur — Implikationen eines Theorie-
und Terminologieproblems“ zu stellen. Außerdem sollte der zeitliche Abstand
zwischen den Tagungen auf drei Jahre (oder mehr) festgeschrieben werden.
Bamberg/Bayreuth Andreas Kuntz
7 Wolfgang Kaschuba (wie Anm. 5): S. 200. Wie schon 1983 von mir aus einem Roman aus der Ar-
beitswelt zitiert (wie Anm. 4), bezieht Kaschuba das „russische Roulette“ mit der Automatenpres-
se nun allerdings auf die Körperlichkeit; vgl. Kaschuba (wie Anm. 5), S. 208.
254
Berichte
Rencontres Européennes des Musées d’Ethnographie
Erstes Treffen der Ethno-Museologen in Paris
vom 22.-24. Februar 1993
First Conference of Ethnological and Social History Museums in
Paris from February 22-24, 1993.
„Musées et Société dans l’Europe des Cultures/Museums and Society in a Euro-
pe of Different Cultures“ - so lautete das Thema der im Februar 1993 im Musée
national des arts et traditions populaires (Atp) erstmals stattgefundenen Zusam-
menkunft von rund 300 „Ethno-Museologen“ (der Begriff wurde auf der Tagung
geprägt) aus „ganz“ Europa. In der Tat hatten die Veranstalter für eine starke Prä-
senz der Museumsvertreter aus den mittel- und osteuropäischen Staaten gesorgt
und damit bewußt den Blick und die Diskussion auf zentrale Probleme der kultu-
rellen Identitätsbildung in den Prozessen der ideologischen und „nationalen“
Neuorientierung Europas gerichtet. Vorbereitet worden war das Treffen von der
Direktion der Musées de France und dem Atp (unter der Leitung von Martine
Jaoul), das in den letzten Jahren in die Schlagzeilen der französischen Presse geraten
war und auf der Suche nach einem neuen Profil ist. An der Vorbereitung beteiligt
waren außerdem u. a. der ICOM, das Musée Dauphinois in Grenoble und andere
Institutionen (aus Österreich, Belgien usw.).
In der Eröffnungsveranstaltung hatte der französische Staatspräsident eine Gruß-
botschaft verlesen lassen, in der - angesichts der gegenwärtigen politischen Ent-
wicklung in Ost- und Westeuropa - an die Verantwortung der Ethnologen - als
Vertreter des „patrimoine“ - appelliert worden war. Ihre Aufgabe sei es, die ak-
tuellen Entwicklungen in einem Geist der Demokratie, Gerechtigkeit und des
Friedens zu befördern: „Pour nous tous, le nom d’Europe est inséparable de ceux
de liberté et de tolérance face aux servitudes et aux fanatismes.“
Die zum Teil vehement geführten Diskussionen zwischen ost- und westeuropäi-
schen Museumswissenschaftlern ließen erkennen, daß die „diversitées et différen-
ces culturelles“, von denen der Staatspräsident in seiner Grußadresse gesprochen
hatte, tatsächlich bestehen und eine Herausforderung für eine „muséologie euro-
péenne“ in den nächsten Jahren darstellen werden. Insbesondere die Vertreter
Osteuropas stellten Konzepte und Modelle vor, die überwiegend dem Prinzip der
„kulturellen Identitätsbildung“ verpflichtet waren; diese wurden von Vertretern
der westeuropäischen Länder nicht selten als ideologieanfällig und wissenschaft-
lich überholt kritisiert.
In einem brillanten Einführungsreferat hatte der französische Historiker Krzy-
sztof Pomian (EHESS) auf eine in der europäischen Geschichte stets nachweisbare
Dialektik von „unifications et diversifications culturelles“ hingewiesen. Die De-
255
Berichte
chiffrierung und Dokumentation dieser zum Teil gegenläufigen Entwicklungen
sei Hauptaufgabe der ethnologischen und kulturgeschichtlichen Museen: mit ei-
nem undifferenzierten Identitätskonzept sei die Politik, aber nicht die Wissenschaft be-
dient. Pomian wies seine Thesen an Beispielen aus der Religions-, Kunst- und Mo-
dernisierungsgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts nach. Skeptisch war der
Blick, den Gottfried Korff Tübingen, auf die Museumsforschung (research in mu-
séums) warf. Als Folge des Museumsbooms der 70er Jahre sah er in der „cultural
animation“ einen Tribut an die Erlebnisgesellschaft, der eine wissenschaftliche
und faktische Wissensvermittlung in den Museen weitgehend entbehrlich mache.
Auch er äußerte Bedenken gegen das Identitätskonzept: „Wo es um die Formulie-
rung und Etablierung von Identitäten geht, sind Ideologien nicht weit entfernt.“ In
ähnlicher Richtung argumentierte Adriaan de Jong, Freilichtmuseum Arnheim,
der in einer institutionengeschichtlichen Analyse der ethnologisch-volkskundli-
chen Museen in den Niederlanden zeigte, wie kompliziert die „balance between
national identity and cosmopolitism“ zu halten ist. Mit großer Sensibilität mode-
rierte er in seiner Sektion die Bestrebungen nach musealer Identitätsstiftung, wie
sie von nicht wenigen Ethno-Museologen vorgetragen wurden.
Als wegweisend für eine moderne Museumsarbeit, die die Schwierigkeiten der
Ausbildung von Identitäten in Gegenwartsgesellschaften kennt, wurde das in
Schweden seit 1973 praktizierte Dokumentationsverfahren Samdok vorgestellt.
Dieses Projekt sieht eine landesweite wissenschaftlich fundierte Koordination von
Dokumentation und Sammeln in kulturhistorischen Museen vor. Der rasante
technische und wirtschaftliche Wandel zeige, ebenso wie die Fülle unterschiedli-
cher Schicht- und Gruppenkulturen, daß, wenn von Identität gesprochen wird, al-
lenfalls von Identitäten (im Plural) die Rede sein darf. Samdok ist ein museologi-
sches Dokumentationsmodell, das die plurikulturelle Verfassung in modernen Ge-
sellschaften ernst nimmt. Das Samdok-Konzept wurde von Eva Silven-Garnert,
Konservatorin am Nordiska Museet, in der table ronde „Réalités sociales contem-
poraines“ vorgestellt. Ganz anders waren die Ergebnisse der parallel tagenden Sek-
tion „artisanat et création „contemporaine“, in der die Arbeit des ethnologischen
Museums bewußt als „invention of tradition“, als „construction of identity“ pro-
klamiert wurde. Das Nebeneinander solch unterschiedlicher Positionen zeigte,
wie wichtig der museologische Diskurs unter den Ethnologen Europas ist und wie
dringend die Pariser Tagung war. Daß die Epochenwende von 1989 und die mit ihr
bewirkten Entwicklungen, die der Anstoß für die Konferenz in Paris waren, selbst
auch Thema einer reflektierten ethnologisch-anthropologischen Museumstätig-
keit sein könnten, machte Vinos Sofka, Vize-Präsident der ICOM, Stockholm,
deutlich; er schlug vor, die kulturellen Schöpfungen der Wende, der sie vorberei-
tenden Widerstandskulturen, die sie begleitenden und intensivierenden Symbol-
wandlungen und die von ihr erzeugten Kulturkonflikte zu erforschen und museal
zu dokumentieren.
André Desvallées, Chefkonservator des „Patrimoine“ in Paris, der sich seit Jahren
für die Entwicklung einer „nouvelle muséologie“ bemüht, schlug neue Begriffe
256
Sitte und Konvention
für eine klare Veständigung der Museumsfachleute untereinander vor. Er unter-
schied zwischen „expographie“ (all das, was mit der Ausstellungspraxis zusammen-
hängt) und „muséographie“ (alle im Museum anfallenden Arbeiten und die damit
verbundenen Techniken); eine Definition, die in den folgenden Diskussionen wie-
derholt aufgegriffen wurde.
Jean-Pierre Laurent, ehemaliger Direktor des Musée Dauphinois in Grenoble,
forderte die Entwicklung einer „ethnomuséologie“, um Forschung besser ins Mu-
seum einzubinden und damit den Menschen, um den es in erster Linie im Museum
gehe, mehr in den Mittelpunkt zu rücken. Er plädierte, wie zuvor Desvallées, für
mehr Wechselausstellungen, um eine größere Attraktivität des Museums für die
Besucher zu erreichen. Für die Zukunft des ethnologischen Museums wichtige Ka-
tegorien sind nach Laurent Subjektivität und Individualität. Die Wissenschaftler
sollten sich zu einer subjektiv geprägten Museumsarbeit bekennen, der Besucher
sollte individuell angesprochen werden.
Die table ronde „Expressions muséographique“ war hinsichtlich ihrer Diskus-
sionsbeiträge eine der informativsten Runden dieser Art. Sehr engagiert berichte-
ten Vertreter kleinerer Museen aus Kroatien, Spanien und der Schweiz von ihren
unterschiedlichen Erfahrungen.
Der letzte Tag stand ganz im Zeichen der Gegenwart. Wie kann das Museum, so
lautete die Leitfrage, mit den gegenwärtigen gesellschaftlichen Situationen und Realitä-
ten angemessen umgehen? Wie soll dabei auf aktuelle Probleme wie Rassismus und
Krieg reagiert werden bzw. welche Rolle sollte das Museum dabei übernehmen?
Florence Pittomi (Kunst- und kulturgeschichtliches Museum, Colombes) wies
auf einige Schwierigkeiten der Bewältigung auch des „normalen“ Alltags hin: Ins-
besondere seien Gruppen von Menschen, die zu keiner sozialen wie ethnischen
Minderheit gehörten und somit keinen Forschungsgegenstand bildeten, obwohl
quantitativ in der Überzahl, im Museum generell unterrepräsentiert.
Hugues de Varine, einer der Initiatoren des „écomusée“, berichtete von der nahe-
zu 25 Jahre dauernden Auseinandersetzung um und mit dem Écomusée Le Creu-
sot in der Bourgogne. De Varine plädierte für ein stark auf die Bedürfnisse der Be-
völkerung ausgerichtetes Museum, das stets dynamisch und im Aufbau begriffen
sein sollte — ein Konzept, das direkt auf die Muséologie von Georges-Henri Rivière
verweist, der eine Art Grundsatzdefinition für das écomusée entwickelte hatte.
Nicht nur in Fankreich, sondern in ganz Europa gilt dieser Museumstyp, der so-
wohl ländliche wie auch Industrie-Kultur integriert, als Vorbild für Erforschung
und Präsentation der industriellen Archäologie und Alltagskultur.
In einem eindrucksvollen Vortrag setzte sich Jacques Hainard, Direktor des Eth-
nographiemuseums in Neuchâtel, für mehr Nachdenklichkeit im Museum ein. Die
Konservatoren sollten sich zunächst intensiv mit ihren Sammlungen auseinander-
setzen und dann erst nötige Konsequenzen ziehen. Seiner Ansicht nach sei es nicht
so wichtig, welche Objekte ein Museum sammelt, sondern vielmehr sei das Pro-
gramm, die Art und Weise, wie die Sammlung dem Publikum vermittelt wird, aus-
257
Berichte
schlaggebend. So beurteilte Hainard die rasche Schließung und Übernahme des
Ostberliner Geschichtsmuseums im Zeughaus durch westliche Träger als „assassin
du memoire“. Ziel des Museums sollten Aufklärung und kritische Fragestellungen
für den Besucher sein. Gerade das ethnologische Museum müßte maßgeblich dazu
beitragen, Begriffe wie Nationalismus und Rassismus zu zerstören und zeitgenössi-
sche Themen wie Aids, Drogen und Kriege in Ausstellungen behandeln und zu er-
klären versuchen. Ein Vertreter aus Bulgarien formulierte sein Bedürfnis nach neu-
en Museen und Sammlungen, die den gesellschaftlichen Umbruchszeiten Rech-
nung tragen sollten. Die kulturhistorischen Museen des östlichen Europas hätten
sich zudem mit ganz anderen sozialen und politischen Gegebenheiten auseinan-
derzusetzen und seien noch auf der Suche nach eigenen Strategien und kulturellen
Programmen. Abschließend wurde eine Resolution verabschiedet, in der die Aus-
arbeitung einer gemeinsamen Charta der europäischen Museen vorgesehen ist. Zu-
gleich wurde die Einladung für eine zweite Tagung ausgesprochen: Rumänien stell-
te sich dafür 1996 zur Verfügung. Schließlich appellierte nochmals Martine Jaoul,
die die Tagung souverän, unangestrengt und freundlich leitete, die Kontakte der
Museen untereinander zu intensivieren, um so ein enges Museumsnetz auf europä-
ischer Ebene in die Tat umzusetzen.
Der Pariser Kongreß stellt in dieser Hinsicht einen hoffnungsvollen Auftakt dar.
Auch wenn, wegen der Dichte des Programms, viele Fragen offen blieben, bot die
Tagung ein erstes Forum des Kennenlernens und der Kommunikation. Gefördert
wurde dies durch ein attraktives Rahmenprogramm, das neben der Präsentation
zweier Sonderausstellungen im Atp selbst um abendliche Besichtigungstermine im
Louvre sowie im Musee de l’homme ergänzt wurde.
Auf einer anderen Ebene hielten sich die Vertreter des Atp genauso wie ihre Kol-
legen des Museums für Volkskunde in Berlin allerdings zurück: in beiden Häusern
stehen große inhaltliche wie räumliche Veränderungen an — doch davon erfuhr
das Auditorium nichts.
Berlin Theresa Beitl, Nina Gorgus
258
Berichte
Kulturgrenzen und nationale Identität
Arbeitstagung der Internationalen europäischen Ethnokartographi-
schen Arbeitsgruppe (IEEA) in Bad Honnef vom 5.-7. April 1993
Cultural Boundaries and National Identities
Working Session of the International European Ethnocartographic
Working Group (IEEA) in Bad Honnef, April 5-7, 1993
Wer sich umsieht stellt fest, daß das Thema „Europa“ Hochkonjunktur hat -
auch im volkskundlich-ethnologischen Diskurs. „Que répond l’éthnologie“, fragte
sogar der französische Staatspräsident François Mitterrand auf der großen, im Pari-
ser ATP veranstalteten Ethno-Museologen-Konferenz. Was in Paris schon allein
wegen der Dimension der Tagung nur pauschal und wenig differenziert (aber den-
noch nachwirkend) diskutiert werden konnte, wurde auf der wohltuend kleinen,
aber recht sorgsam und intensiv vorbereiteten Tagung im Physikzentrum Bad
Honnef „kleingearbeitet“: Kompetent und sicher, kenntnisreich und gründlich
wurde das Thema Grenze und Identität erörtert. Gewiß: Grenze ist mittlerweile
ein kulturanthropologisches Modethema geworden, aber davon vermittelte sich in
Bad Honnef nichts, weil solide und auf der Grundlage eines perfekt beherrschten
Materials argumentiert wurde - manchmal etwas trocken (weil das die Material-
darstellung verlangte), jedoch kam die Frage-, Deutungs- und Debattierlust auf kei-
nen Fall zu kurz. Man merkte, daß Fachleute zusammensaßen, Fachleute, die z. T.
schon Jahre an Detailfragen forschen, trotz aller Routine freilich auch weiterhin
zur empirischen und theoretischen Neugierde fähig sind und aufgrund ihres siche-
ren Kenntnisstandes auch Mut zur Revision, zum intellektuellen Spiel mit vielfälti-
gen Perspektiven und Orientierungen haben.
Stringenz (aber dadurch auch eine gewisse Gelassenheit) war möglich, weil es
sich bei dem Symposium um die Arbeitstagung der Internationalen Ethnokarto-
graphischen Arbeitsgruppe handelte. Sie war von H. L. Cox in seiner Eigenschaft
als „Sprecher“, als „Archivar“ des Atlas der Deutschen Volkskunde, großzügig un-
terstützt von der Universität Bonn, vorbereitet und arrangiert worden. Einleitend
hatte H. F. Cox - fast desillusionistisch - die Möglichkeit kartographischer Kul-
turanalyse bilanziert und das Problem kulturgeographischer Grenzmarkierungen
einer auch ideologiehistorischen Durchleuchtung unterzogen. Wie wichtig solche
Re-Dimensionierungen des Atlas-Blicks sind, zeigten die Referate von Soha
Kovacevicova und Magdalena Parikova, beide aus Bratislava, die mit kartographi-
schen Mitteln multikulturelle und multinationale Profile in der ehemaligen Tsche-
choslowakei zu bestimmen versuchten und dabei - wie auch Josef Vareka, Prag —
auf kulturelle Inkonsistenzen und Uneindeutigkeiten stießen und stets, ob gewollt
oder ungewollt, Ethnizitäten im Schema von Macht und Herrschaft, Politik und
Wirtschaft auf höchst komplexe Weise vermessen mußten.
259
Berichte
Über das Thema Grenze und Konflikte setzten Edith Hörandner und Elisabeth
Katschnig-Fasch, beide Graz, in Kenntnis, wobei deutlich wurde, daß Grenzen, mit
G. Simmel gesprochen, soziale und politische Gegebenheiten räumlich definieren
(also intellektuelle Konstruktionen und politische Applikationen sind). Das neben
der räumlich uneindeutigen Konstitution einer Grenze auch die prozessual-histo-
rische Konstitution von kulturellen Identitäten mehr Fragen stellt als Antworten
gibt, wurde in E. Katschnig-Faschs Bericht über eine Feldforschung im steirisch-
slowenischen Grenzgebiet eindrucksvoll vermittelt.
Einen Schwerpunkt der Tagung bildeten sprachgeographische Darlegungen.
Probleme sprachlicher Minderheiten sowohl der Niederlande (/• van der Kooi,
Groningen, sprach über die Friesen zwischen Separatismus und Folklorismus) wie
auch der Romania (H. Goebl, Salzburg, analysierte Katalanen, Occitanen und Ladi-
ner), Irlands (R Lysaght informierte über Beziehungen zwischen Sprache und
national-kultureller Identität) und des Rheinlands (J. Macha, Bonn, behandelte den
rheinischen Sprachfolklorismus) standen zur Debatte. Über die nationale Sprach-
politik in Australien als Modell einer „multikulturellen“ Administrations-Vorgabe
eines Einwanderungslandes, das nach „sozialer Gerechtigkeit“ wie nach einer spe-
zifisch australischen Identität strebt, berichtete ausführlich, mit großer Kenntnis
und mit großer Leidenschaft Michael Clyne von der australischen Universität Clay-
ton.
Aktuelle Probleme (EG-Referendum) und wissenschaftshistorische Überlegun-
gen verband das gründlich erarbeitete Referat von Christine Burckhardt-Seebass, Ba-
sel, über den sog. „Röstigraben“, die berühmte von Richard Weiss beschriebene
„Brünig-Napf-Reuss-Linie“. Intensiv setzte sich das Referat mit politikgeschicht-
lich bedingten kulturellen Grenzziehungen auseinander, Grenzziehungen, die we-
niger mit „alten“ Stammes- und Ethnizitätszuweisungen als mit komplexen kultu-
rellen, politischen und konfessionellen Überlagerungen, aber auch „neuen“ wirt-
schaftlichen Beziehungen und Bedingungen zu erklären sind. Burckhardt-Seebass’
Ausführungen machten in aller Eindringlichkeit klar, daß Grenzen nicht nur über-
windbare Scheidelinien, sondern auch Kontakt- und Austauschprozesse fördernde
Konfigurationen sind, die im Kontext kulturräumlicher Forschungen erkundet
werden müssen, damit sie als temporär wechselnde, symbolische Konstruktionen
erkannt werden können.
Das Symposion lebte von der Spannnung empirisch-historischer Detailfor-
schung und „großen“ — sowohl politisch als auch theoretisch angelegten - Frage-
stellungen. Probleme wie Folklorismus, Regression, Alltagskultur, Kulturalismus
etc. wurden einerseits in mikroanalytischer Perspektive vorgeführt, andererseits -
komparatistisch und strukturhistorisch - im übergreifenden theoretischen Zu-
sammenhang vermessen. Es stellte sich heraus, daß Grenzen und Identitäten sozial
konstruiert und imaginiert und deshalb zuweilen kartographisch schwer zu fassen
sind, daß aber die Kulturraum-Forschung erfolgversprechende Wege eingeschlagen
hat, um kulturelle Identitäten als Konstruktionen des Kollektiven im Spannungs-
260
Berichte
feld von Kultur, Politik und Wirtschaft zu erfassen - bei aller „Unschärferela-
tion“, die dem differenzierter gewordenen Blick auf die Grenze eigen ist.
Tübingen Gottfried Korff
L’anonymat urbain / Städtische Anonymität
Studientagung der Société d:Ethnologie Française
Paris, 29. April 1993
Urban Anonymity
Meeting of the Société d’Ethnologie Française
Parisy April 29, 1993
Im Rahmen ihrer jährlichen Fachkonferenzen führte die Société d’Ethnologie
Française (SEF) eine Studientagung durch, die ethnologische Stadtforscher und
Vertreter aus sozialwissenschaftlichen Nachbardisziplinen anzusprechen inten-
dierte. Das Centre d’Ethnologie Française (CEF) hatte die Tagung organisiert, sie
fand am 29. April 1993 im Musée National des Arts et Traditions Populaires in Pa-
ris statt. Thematisch auf das Problem städtischer Anonymität zentriert, wurden
aktuelle Forschungsfragen und Resultate aus laufenden Projekten vorgestellt. Die
Diskussionen sollten weitere Annäherungen auf allgemeiner und problembezoge-
ner Ebene ermöglichen. Dem externen Beobachter bot sich Gelegenheit, direkten
Einblick in ein Segment französischer Stadtforschung zu nehmen, von dem in
deutschsprachigen Fachorganen so gut wie nichts bekannt ist.
Bei genauerer Betrachtung erwies sich, daß sich alle Referenten(innen) aus dem
Kreis des Laboratoire (l’Anthropologie Urbaine (L.A.U.) rekrutierten. Dabei handelt
es sich um eine von Colette Pétonnet und Jacques Gutwirth seit 1988 unter diesem
Namen geführte Forschergruppe von rund einem Dutzend jüngerer Urbanethno-
logen(innen), deren Arbeiten mehrheitlich (aber nicht ausschließlich) den Groß-
raum Paris (einschließlich Banlieue) berühren. Das Laboratoire d’Anthropologie
Urbaine ist eine vom Centre National de Recherche Scientifique (CNRS) unter-
stützte Institution. Sie ermöglicht es den Forschern, sich regelmäßig zu treffen und
Projekte, Forschungsresultate und Methoden zu diskutieren. Nach außen tritt das
L.A.U. selten gemeinsam auf: Die Urbanethnologen verstehen sich mehr als Ein-
261
Berichte
zelforscher. Der aus diesem Kreis hervorgegangene Band „Chemins de la ville/En-
quetes ethnologiques“ (Paris 1987, Editions C.T.H.S) belegt dies klar.
Auf der gleichen Linie lag auch das Tagungsprogramm: keine Selbstdarstellung
des L.A.U., schon gar keine unite de doctrine, lediglich ein übergreifendes Thema
als Ausgangspunkt. Colette Petonnet, die sich in den 70er und 80er Jahren mit qua-
litativen Arbeiten zur Ethnologie de la Banlieue (Migranten, bidonvilles) aner-
kannte Verdienste erworben hat, machte den Auftakt. Sie bestimmte begriffliche
Inhalte von Anonymität und postulierte in dieser ein wesentliches Merkmal städti-
schen Lebens überhaupt. Mobilität, Fluidität und die ständigen Menschenströme
bedingen es, gleichsam ein kollektives Strukturprinzip, welches vom einzelnen in-
dividuell genutzt und gestaltet wird: Keine negativ besetzte Leere, keine undurch-
schaubare Masse, keine urbane Malaise, sondern ein elastischer „Schutzmantel“,
der gleichzeitig Nähe und Distanz, Sicherheit und Freiheit zuläßt, zudem über all-
tägliche Zufälligkeiten zu einer eigenständig urbanen Geselligkeit führen kann.
Der französische Terminus „anonymat“, so ging aus einem ersten Arbeitspapier
{Didier Privat) hervor, ist relativ jung. Die Wortgeschichte erhellt, daß der substan-
tivische Gebrauch erst ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Gang kam.
Offensichtlich im Zusammenhang mit dem Aufkommen von Verstädterung und
Proletarisierung verlagerte sich sein stadtbezogener Wortinhalt zunehmend auf
negative Konnotationen: Einsamkeit, Vereinzelung sowie Angst vor anonymen
Massen und Kriminalisierung vermischen sich bis heute zu einem schwammigen
und strapazierbaren Begriff. Daß er dem städtischen Alltagsleben nicht entspricht
bzw. inhaltlich anders gefüllt ist, versuchten die nachfolgenden Referate nachzu-
weisen.
Am Beispiel von typischen Begegnungen und Ubergangsriten, wie sie bei Bahn-
fahrten spielen, zeigte Daniel Terrolle, wie sich Anonymität situativ auflösen kann.
Im Zugabteil, im Korridor oder an der Stehbar formieren sich vorübergehende
und zufällige Gemeinschaften auf Zeit, in denen kommuniziert wird. In der Regel
bleiben solche Begegnungen folgenlos, die Anonymität der Teilnehmer bleibt ge-
wahrt. Liliane Kuczynski, die sich seit einiger Zeit mit den „Marabouts“ (Wahrsa-
ger, Heiler und Okkultisten aus Afrika) in Paris beschäftigt, legte dar, welche Etap-
pen die diesen Beruf ausübenden Migranten durchlaufen, um aus ihrer Anonymi-
tät herauszukommen. Die in der Herkunftsgesellschaft üblichen Identitätszeichen
werden in Paris modifiziert. So werden etwa ihre Familiennamen und Genealogien
zugunsten neuer Pseudonyme (z. B. Professor Bah, Maitre Bouba, grand medium
voyant) und „angepaßter“ Attribute aufgegeben, durch die sich diese Berufsgruppe
an Metrostationen, auf Visitenkarten und in Gratisanzeiger'n empfiehlt.
„Vie libre“ bezeichnet eine neuere Vereinigung von ehemaligen Alkoholikern,
doch steht der Ausdruck gleichzeitig für eine Bewegung, die die Wahrung der indi-
viduellen Anonymität bewußt durchbricht, dies im Gegensatz zur üblichen Praxis
ähnlich gesinnter Vereine. Sylvie Fainzang untersuchte das „Innenleben“ von „Vie
libre“, beleuchtete die Aufnahmeriten von Teilnehmern und erfaßte deren kollekti-
262
Berichte
ve Identitätssuche aufgrund von teilnehmender Beobachtung und Gesprächen.
Hinter die Kulissen und in unsichtbare Zonen des Showbusiness, des Theaterspek-
takels sowie der Welt von Schlagersängern führte Eliune Daphy. Viele Stars bedan-
ken sich nach ihren Auftritten bei jenen anonymen Vielen, die ihren Ruhm zu ei-
nem beträchtlichen Teil mitermöglichen. Durch die kollektive Würdigung der Lei-
stungen bleiben Texter, Komponisten, Techniker und Instrumentalisten unsicht-
bar und anonym. Im Vergleich mit „historischen“ Mustern zeichnen sich gegen-
wärtig jedoch Verschiebungen ab, die einzelne Gestalter ebenfalls ins Rampenlicht
führen, teilweise sogar mit besonderen Preisen (z.B. Tontechnik, Arrangement)
auszeichnen.
Auf eine ganz andere Art von Anonymität ging Dominique Dray ein. Sie unter-
suchte im Pariser Vorort Aulnay-sous Bois, wie Opfer von anonym bleibenden Ag-
gressoren (Raub, Diebstahl, Überfälle) mit ihrer Situation umgehen. Eine typische
Bewältigungsstrategie besteht darin, daß die Geschädigten den Vorfall zu rekon-
struieren versuchen, in der Hoffnung, den Täter zu identifizieren. Die Protokolle
enthalten häufig ein Gemisch von Indizien, stereotypen Bildern, Vorstellungen
und medialisierten Geschichten, durchsetzt mit autobiographischen Elementen.
Die Rekonstruktion dient weniger der realen Identifizierung der Täter, sie hilft
vielmehr, die individuelle Betroffenheit erträglicher zu machen. Yves Delaporte
schließlich legte dar, was Klatsch und Gerücht unter passionierten Insektensamm-
lern in Paris bedeuten können. Er selbst gehört diesem Kreis an und analysiert das
höchst spannende Interaktionsfeld in wissenschaftlichen Vereinigungen französi-
scher Insektensammler. Nach seiner Auffassung wirken Klatsch und Gerüchte als
ein strategisches Mittel, Drittpersonen zu mobilisieren, persönliches Wissen und
Fachinformationen tropfenweise preiszugeben, das heißt, den Anonymität wah-
renden Schutzwall punktuell zu öffnen.
Die Referate lösten interessante Diskussionen aus, auch wenn sie das Tagungsthe-
ma sehr unterschiedlich angingen, teilweise künstlich darauf zurechtgebogen wur-
den. Zwar kamen die Voten mehrheitlich aus dem Arbeitskreis des L.A.U., doch
registrierte man auch Anstöße von außen. Der Tenor, daß die Strukturierung städ-
tischer Anonymität weiterer Forschungen bedürfe, dominierte klar, ebenso eine
gewisse Tendenz, vordringlich nach den Mediatoren (z.B. Kinder, Tiere), Auslö-
sern und Plätzen (Haltestellen, Metro, Friedhöfe, Markt, Kneipe) zu fragen, über
welche städtische Anonymität durchbrochen und „positiv“ erlebt wird. Kritisch
gilt es anzumerken, daß die Analysen hier nicht stehenbleiben dürfen - auch In-
halte (Gespräche) und Kontexte (Lebenswelten) gehören dazu. Die Spannweite der
Referate und Voten belegte außerdem, daß der Singular (l’anonymat urbain) von ei-
nem homogen anmutenden Begriffsinhalt ausging, der angesichts der diversen Ge-
staltungsformen zu pluralisieren ist.
Zürich/Paris Ueli Gyr
263
Berichte
Volkskunde in den baltischen Staaten;
Folklore in the Baltic States
Die Volkskunde in Estland, Lettland und Litauen hat sich in den letzten Jahren
grundlegend gewandelt, besonders seitdem die drei Republiken 1991 ihre Unab-
hängigkeit von der Sowjetunion erlangten. Finanzprobleme stehen dabei heute an
erster Stelle: Im Gefolge des Zusammenbruchs der zentralisierten Sowjet Wirtschaft
verfügen die jungen Republiken über wenig Finanzmittel, und einzelne Forscher
wie auch Institutionen sehen einer ungewissen Zukunft entgegen, nachdem sie die
staatlichen Subventionen verloren haben, die einst unter dem Sowjetsystem ein In-
strument der Unterstützung wie auch der Kontrolle der Volkskunde waren. Bi-
bliotheken können sich kaum die wenigen Abonnements jener westlichen Zeit-
schriften leisten, die sie vor 1991 noch hatten, noch weniger die enormen Lücken
füllen, die sich in ihren Beständen seit 1940 aufgetan haben. Feldforschung ist
nicht mehr finanzierbar, da die Preise von Benzin, Batterien und Tonbändern jen-
seits der Budgets der meisten Institute und Forscher gestiegen sind; die Aufnahme-
und Archivierausrüstung ist sehr veraltet. Bevorstehende Haushaltskürzungen
werden wahrscheinlich noch weitere Einsparungen bei Personal und Gehältern er-
forderlich machen.
Auf der anderen Seite sind seit dem Ende der staatlichen Kontrolle der Massen-
medien viele Veröffentlichungen herausgekommen, die lange Zeit von der Zensur
zurückgehalten worden waren: Der letzte Band einer Serie von interdisziplinären
litauischen Gemeindestudien, Gerveciai, 1972 verboten, konnte 1989 schließlich
erscheinen; den Sammlungsband Liaudies kuryha, dem 1982 das Erscheinen ver-
sagt worden war, brachte K. Grigas 1992 in überarbeiteter Form heraus. Die Litau-
er haben auch die Vorkriegszeitschrift Tautosakos darbai / Folklore Studies (Hrsg.
L. Sauka) wiederbelebt und planen für Ende 1993 die Publikation einer englisch-
sprachigen Zeitschrift, Baltic Folklore. Zwei neuere Sammelbände aus Lettland und
Estland wären auch zu erwähnen: Traditional Folk Belief Today (1990, in engl. Spra-
che) und Latviesu folklora (1992). Berichte über lettische und estnische volkskund-
liche Forschungen und Aktivitäten von Volkskundlern erscheinen regelmäßig in
Latvijas Zinatku Akademijas Vestis (Riga), Keel ja Kirjandus und Proceedings of the
Estonian Academy of Sciences: Humanities and Social Sciences (Tallinn).
Die Unabhängigkeit öffnete den Eisernen Vorhang, der für Jahrzehnte nahezu
alle Verbindungen mit Kollegen im Westen unterbunden hatte. Zwei internationale
volkskundliche Organisationen, die Folklore Fellows und das Nordic Institute for
Folklore, hielten 1991 und 1992 in Finnland Seminare ab und stellten Mittel für die
1 Der Bericht ist in englischer Sprache in American Folklore Society News 22 (1993) Heft 2, S. 5—6
erschienen; Übersetzung der vom Verf. überarbeiteten Fassung ins Deutsche durch Klaus Roth.
264
Berichte
Teilnahme einer Reihe von baltischen Kollegen zur Verfügung. Die Seminarpro-
gramme, die Vorführungen von Ausrüstung und die Diskussion neuer Theorien
und Techiken mit Volkskundlern aus der ganzen Welt machten einen nachhaltigen
Eindruck, u. a. auf die jüngeren Kollegen aus Lettland, die lange Jahre an der Unter-
bindung von freier Information gelitten hatten.
Die akademischen Strukturen, die den baltischen Wissenschaftlern in den
1950er Jahren aufgezwungen wurden, haben natürlich starken Einfluß auf die ge-
genwärtige Volkskunde, vor allem die Teilung des Faches: „Folklore“ umfaßt dem-
zufolge nur die mündliche Überlieferung und Volksglauben, während das Volksle-
ben, die materielle Kultur, Sitte und Brauch von der „Ethnographie“ untersucht
werden, die der Geschichte zugeordnet ist. Die Wissenschaftler der beiden Fächer
arbeiten in getrennten Organisationsstrukturen mit einem — im Vergleich zu den
westlichen Ländern — nur geringen Maß an Dialog über die Genre- und Disziplin-
grenzen hinweg.
Die baltischen Volkskundler pflegen das Erbe des deutschen Philosophen Jo-
hann G. Herder, der die Volkslieder der drei Völker veröffentlichte und lobte. Die
Sammlung, Archivierung, Publikation und Erforschung altertümlicher Volkslie-
der sind daher weiterhin das vorrangige Ziel baltischer Folkloristen. Die Publi-
kation vielbändiger Liedsammlungen wird derzeit in Litauen und Lettland vor-
angetrieben, und die meisten Volkskundler beschäftigen sich damit, Archive
durchzuwühlen, Texte zu kopieren und Editionen von Hand vorzubereiten. Eine
Förderung durch die Soros-Stiftung wird es 1993 dem Lettischen Volkskundear-
chiv endlich ermöglichen, die technische Ausstattung für die Umstellung des Kata-
logs auf EDV zu kaufen. Die Liedsammlungen werden ohne Zweifel zu den größ-
ten derartigen Publikationen in der Welt zählen und Material für ganze Generatio-
nen von Forschern zur Verfügung stellen. Estnische Kollegen haben in den 1980er
Jahren ähnliche Sammlungen sowie eine monumentale sechsbändige Sammlung
estnischer Sprichwörter herausgegeben.
Die Auflösung der Sowjetunion und die Aufhebung der Zensur öffneten in den
baltischen Staaten lange Zeit verbotene Forschungsgebiete, vor allem die Erfor-
schung der vorchristlichen Mythologie, aber auch die Sammlung und Publikation
politischer Witze. Einige der in Westeuropa und Nordamerika gegenwärtig aktuel-
len Bereiche fehlen hingegen. Forschungen zur Kultur der ethnischen Minderhei-
ten sind selten (der Begriff „ethnische Folklore“ wird für regionale und dialekti-
sche Kulturen benutzt, umfaßt aber nicht die nationalen Minderheiten). Nur we-
nige Kollegen erforschen die „Volkskunde des öffentlichen Sektors“, trotz (oder
wegen?) der Tatsache, daß die drei Kultusministerien weiterhin starke öffentliche
Folkloreprogramme unterhalten. Einige der laufenden Forschungsvorhaben über
gegenwärtige Prozesse sollten jedoch hier vermerkt werden: eine Untersuchung
estnischer Kinderfolklore von Mare Köiva und Eda Kaimre (Estnische Akademie
der Wissenschaften) in Zusammenarbeit mit dem Folklorearchiv der Finnischen
Literaturgesellschaft; die Sammlung und Analyse von Geistergeschichten und mo-
265
Berichte
dernen Sagen durch Guntis Pakalns (Lettisches Volkskundearchiv); und Forschun-
gen zum Folklorismus in Litauen durch Stasys Skrodenis (Litauisches Pädagogi-
sches Institut).
Westliche Volkskundler sind herzlich eingeladen, mit ihren baltischen Kollegen
Verbindung aufzunehmen und, wenn sie in die Länder reisen, Vorträge über ihre
gegenwärtigen Forschungen zu halten. Ihnen ist eine freundliche und sehr aufge-
schlossene Zuhörerschaft unter ihren baltischen Kollegen sicher. Dringend benö-
tigt ist auch Hilfe in Form von neuerer Literatur und von Zeitschriften. Die Adres-
sen der volkskundlichen Institutionen lauten:
Sektion Folkloristik, Institut für Sprache und Literatur, Estnische Akademie der Wissenschaften,
Roosikrantsi 6, EE-0106 Tallinn, Estland
Sektion Ethnographie, Institut für Geschichte, Estnische Akademie der Wissenschaften, Rüütli 4,
EE-0101 Tallinn, Estland
Sektion Folklore, Literaturmuseum F.R. Kreutzwald, Vanemuise 42, EE-2400 Tartu, Estland
Lettisches Volkskundearchiv, Institut für Literatur, Folklore und Kunst, Lettische Akademie der Wis-
senschaften, Turgeneva iela 19, LV-1524 Riga, Lettland
Sektion Ethnographie, Institut für Geschichte, Lettische Akademie der Wissenschaften, Turgeneva ie-
la 19, LV-1524 Riga, Lettland
Folklore Institut, Litauische Akademie der Wissenschaften, Antakalnio 6, 2055 Vilnius, Litauen
Sektion Ethnographie, Institut für Litauische Geschichte, Litauische Akademie der Wissenschaften,
Kosciuskos 30, 2600 Vilnius, Litauen
Litauisches Volksmusikarchiv, Liaudics muzikos archyvas, Lietuvos Konservatorija, Gedimino pr. 51,
2600 Vilnius Litauen.
Bloomington Guntis Smidchens
Das ostjüdische Studienzentrum in Bukarest
The Center for the Study of Eastern Jews in Bucharest
Als Ende der siebziger Jahre, auf Anweisung Ceau§escus, im Zuge der landeswei-
ten „allgemeinen Systematisierung“ das ehemalige jüdische Stadtviertel im Süden
Bukarests weggebaggert wurde, konnten durch das mutige Auftreten des Oberrab-
biners Dr. Moses Rosen und die danach einsetzenden internationalen Proteste einige
Denkmäler ostjüdischer Kultur vor der Vernichtung bewahrt werden. So blieb die
ehemalige Synagoge der Zunft der Herrenschneider, Achdut Kodesch, die „Hern-
schnaidrschil“, strada Mämulari 3, stehen, in der heute das Muzeul Evreiesc (Jüdi-
sches Museum) und das Centrul pentru Studiul Istoriei Evreilor din Romania (Stu-
dienzentrum der Jüdischen Geschichte Rumäniens) untergebracht sind. Im Jahr
266
Berichte
1850 errichtet, 1910 von den Baumeistern Ignatz und Hermann Jankowitsch reno-
viert, 1978 als Museum und Forschungsstelle eröffnet, gehört diese letzte Synagoge
jüdischer Handwerker zu jenen Gedenkstätten der Welt, wo man sich die Leiden
und Leistungen der Ostjuden wieder in Erinnerung rufen kann.
Die Geschichte der Juden auf dem Gebiet des heutigen Rumäniens begann -
wie neuere archäologische Forschungen belegen - im 1. Jh. n. Chr., da an der Sei-
te der römischen Eroberer Daziens auch jüdische Legionäre mitkämpften und be-
reits zwischen 106 und 271 hier eine jüdische Gemeinschaft bestand. Diese Zeit-
spanne von etwa 18 Jahrhunderten - vom Grabdenkmal des Juden Aelia Cassia, 2.
Jh. n. Chr., in Sarmisegetusa, bis zur Diktatur Antonescus und der systematischen
Vernichtung der rumänischen Juden (1941-1944) - wird im Museum anhand
zahlreicher Objekte dokumentiert.
Eine besondere Fundgrube für die Forschung ist jedoch das im Rückgebäude un-
tergebrachte Studienzentrum, ebenfalls 1978 auf Anregung von Dr. Moses Rosen ge-
gründet und heute vom Historiker Sergiu Stanciu geleitet. Hier befindet sich ein
reicher Bestand an verschiedensten Schriften, Aufzeichnungen, Zunfturkunden,
Bilddokumenten und anderen Zeugnissen ostjüdischen Lebens im ehemaligen
Schtetl sowie Sammlungen jüdischer Zeitungen und Zeitschriften, die bis 1944 in
der Walachei, im Banat, in der Moldau, in Bessarabien, Siebenbürgen, Marmatien,
in der Bukowina und im Sathmarland in jiddischer, deutscher und rumänischer
Sprache erschienen sind.
Das Studienzentrum kann auch auf eine Reihe eigener wissenschaftlicher Veröf-
fentlichungen von großem dokumentarischen Wert hinweisen. So erschienen in
den letzten sieben Jahren vier umfangreiche Urkundenbände, die Sources and Te-
stimonies Concerning the Jews in Romania, hrsg. von Victor Eskenasy u.a., Vor-
wort von Moses Rosen (Bd. I, 1986; Bd. II/1, 1988; Bd. II/2, 1990; Bd. III, 1992),
der umfangreiche Dokumentarband The Martyrdom of the Jews in Romania,
1990, hrsg. von J. Alexandru u.a., Vorwort von M. Rosen, sowie die memoriali-
stisch-historische Studie Ob§tea evreiascä din . .. Podul Ilioaei. File din istoria un-
ui §tetl moldovenesc (Die jüdische Gemeinschaft in ... Podul Ilioaiei. Geschichtli-
che Blätter aus einem moldauischen Schtetl), hrsg. von I. Kara, Redaktion Paula
Litman.
München Brigitte Nussbächer
267
Buchbesprechungen
Arnold Niederer: Alpine Alltagskultur zwischen Beharrung und Wandel. Ausgewählte
Schriften aus den Jahren 1956 bis 1991. Hrsg, von Klaus Anderegg und Werner Bätzing.
Bern/Stuttgart/Wien: Haupt, 1993, 518 S., Abb. sw
Arnold Niederer zählt zusammen mit Richard Weiss zu den bekanntesten Schweizer
Volkskundlern der Nachkriegszeit. Sein Hauptinteresse galt und gilt einem Thema, das an-
gesichts tiefgreifender Umbrüche und dadurch verursachter Probleme von ungebrochener
Aktualität ist: dem kulturellen Wandel im Alpenraum. Erstmals liegen Niederers wichtigste
Arbeiten dazu nun in einem Band versammelt vor. Herausgegeben haben ihn Klaus Ander-
egg und Werner Bätzing, beide profunde Kenner der Alpenraumproblematik.
Die Kulturfähigkeit ist die Bedingung der menschlichen Existenz überhaupt, indem sie es
dem „Mängelwesen Mensch“ erlaubt, das Instrumentarium zu entwickeln, sich in der Welt
zurechtzufinden und darin Seinsmöglichkeiten zu schöpfen. Kultur gewährleistet und
schafft in diesem Sinne eine weitgehend ausgedeutete Welt für und durch Interpreten. Das
heißt, in ihr und ihren Erscheinungsformen repräsentiert sich unsere spezifische Einstellung
zur Welt und zu uns selbst.
Selbstgesetzten Bedeutungen gemäß lebend, nach den Regeln eines bestimmten Symbolsy-
stems, das jedoch nie das einzig mögliche ist, paßt sich der Mensch weniger den Gegebenhei-
ten an, als daß er diese seiner Wirklichkeitsauffassung integriert. Dies ist nicht ganz unge-
fährlich, da Systeme dazu neigen, sich zu verfestigen und nur noch auf sich selbst bezogen
zu wirken: dem anderen, aber auch sich selbst läßt sich dann nicht mehr angemessen begeg-
nen.
Eben dieser Frage nach der Kultur als Konstitutionsrahmen und Leitsystem einer Gesell-
schaft hat sich der Zürcher Volkskundler Arnold Niederer in seiner Forschungsarbeit ge-
widmet und dabei auch immer wieder die Auseinandersetzung der Menschen mit sich ver-
ändernden Bedingungen in den Blick genommen — weniger in theoretischer Form als in
„dichten Beschreibungen“, die dank ihrer Exemplarität stets die problemorientierte Analyse
erkennen lassen. Die Auswahl und die Zusammenstellung der Texte zur alpinen Alltagskul-
tur durch die beiden Herausgeber, Klaus Anderegg und Werner Bätzing, vermögen dies sehr
schön aufzuzeigen.
Ihre exemplarische Aussagekraft verdanken die Texte wohl nicht zuletzt dem Umstand,
daß Niederer im Wallis und insbesondere im Lötschental eine „alpine Wahlheimat“ gefun-
den hat. Dort war er nach einer kaufmännischen Lehre (das Universitätsstudium absolvierte
Niederer auf dem zweiten Bildungsweg) während der Krisenzeit in den 1930er Jahren als
Handlungsreisender für Tabakwaren und als Wanderlehrer für Fremdsprachen unterwegs.
Angeregt von seinem geistigen Mentor, dem volkskundlich engagierten Kunstmaler Albert
Nyfeler (1883-1969), der sich im Lötschental niedergelassen hatte, und die persönliche
Teilnahme am Leben der Bevölkerung, machte Niederer diesen Raum zu einem Kristalli-
sationspunkt seiner wissenschaftlichen Tätigkeit.
Aufgrund seines Lebensweges hat Niederer die alpine Welt umfassend im praktischen Ar-
beitskontext kennengelernt und ihre tiefgreifenden Umbrüche persönlich mitvollzogen. So
können sich seine Untersuchungen zu den traditionellen Wirtschafts- und Kulturformen im
Alpenraum, den kooperativen Arbeits- und Gesellschaftsformen, den Fragen der kulturel-
len Identität, zu den Traditionen, Sitten und Bräuchen auf ein breites empirisches Funda-
ment stützen, was letztlich auch eine falsche Romantisierung verhindert hat.
268
Buchbesprechungen
Es verwundert deshalb nicht, daß die beiden Herausgeber Niederers Arbeiten als eine
Grundlage betrachten, die soziokulturelle Situation im Berggebiet systematisch zu themati-
sieren. Denn Planung und Politik müßten - angesichts einer durch wirtschaftliche Ent-
wicklung und Mobilität induzierten Veränderung - zur Lösung der Regionalprobleme
auch diesen Aspekt verstärkt beachten. Tatsächlich läßt sich einem „überwältigend“ Neuen
nur da fruchtbar begegnen, wo man sich über den eigenen Sinnhorizont, die lebenswelt-
lichen Tiefenstrukturen bewußt ist.
Unter dem Aspekt der aktuellen Diskussion über die Berggebiets- und Alpenfragen
kommt dem Anhang dieses Bandes eine besondere Bedeutung zu, und entsprechend sorgfäl-
tig ist er gestaltet: das Literaturverzeichnis, die vollständige Bibliographie von Niederers Ar-
beiten sowie die editorischen Anmerkungen geben eine eigentliche Einführung in die volks-
kundliche Forschung über den Alpenraum; das ausführliche, von Niederer selbst erstellte
Register ermöglicht das gezielte problemorientierte „Querlesen“. Einen sinnlich-anschau-
lichen Zugang zum Thema eröffnet der Bildteil (S. 385-468). Die historischen Aufnahmen
der drei Amateurfotografen Albert Nyfeler, Charles Krebser (1885-1967) und Rudolf Zin-
geler (1864-1954) sowie des Fotojournalisten Theo Frey (* 1908) machen den fundamenta-
len Wandel des Lebens im Alpenraum deutlich, indem sie Szenen aus einer Welt zeigen, die
noch in den ersten Jahrzehnten unseres Jahrhunderts eine auf Eigenproduktion beruhende
Bedarfswirtschaft war.
Luzern Daniela Walker
HILDEGARD MANNHEIMS: Wie wird ein Inventar erstellt? Rechtskommentare als Quelle
der volkskundlichen Forschung. Münster: Coppenrath, 1991, 465 S., Abb., sw, Tab. (Beiträ-
ge zur Volkskultur in Nordwestdeutschland, 72)
Jedem Wissenschaftler, der sich mit Inventarforschung bzw. mit der Bearbeitung von
Nachlaßinventaren in historischen Zeiträumen befaßt, ist die Formelhaftigkeit und Gleich-
förmigkeit im Aufbau der Inventare schon mehr als einmal aufgefallen, erleichtert dieser
Umstand die eigene Forschung in vielerlei Hinsicht doch ungemein. Die Tatsache jedoch,
daß diese schematisierten Inventare im Zusammenhang mit zeitgenössischen Rechtsdiskus-
sionen zu sehen sind, deren Ergebnis die Erstellung praktischer Vorlagen und bindender
Muster für rechtlich vorgeschriebene Inventaraufnahmen waren, wurde in der Forschung
bislang eher stiefmütterlich behandelt. Zu Unrecht, da diese Rechtskommentare bzw. Mu-
sterinventare u. a. eine wichtige Quelle für die Sachkulturforschung darstellen, die nicht un-
terschätzt werden sollte.
Hildegard Mannheims ist es zu verdanken, in ihrer in Münster bei Prof. Dr. Günter Wie-
gelmann angefertigten Dissertation diese vernachlässigte Quellengruppe für die Forschung
transparent gemacht und ihre Wichtigkeit eindrücklich belegt zu haben. Für ihre Untersu-
chung greift sie sich als Schwerpunkt den Raum Baden-Württemberg heraus und analysiert
die für dieses Gebiet relevanten Rechtskommentare und Inventarmuster vom frühen 17. bis
zum 19. Jahrhundert. Anhand eines halben Dutzends Autoren und ihrer Kommentare, die
teilweise mehrere Auflagen erlebten, erarbeitete sie Form, Wandlung und Etablierung der
269
Buchbesprechungen
Inventarformulare, die den Juristen und Schreibern die Inventaraufnahme durch die Aufstel-
lung und Vorgabe genauer Rubriken, nach denen sich zu richten war, erleichtern sollten.
Dabei mündete die zeitgenössische Diskussion erst im 18. Jahrhundert in ein gemeinsames
allgemein bindendes Inventarformular, in einer Zeit, in der gleichzeitig ein „beginnendes
Streben nach . . . flächenmäßig übergeordneter Organisation des Gemeinwesens“ (S. 242)
zu erkennen ist.
Das Schema der Inventar-Repertorien, die Hildegard Mannheims dankenswerterweise in
ihrem Anhang mit abdruckt, umfaßte im Endstadium 21 Sachrubriken, die über Liegen-
schaften und Grundbesitz, Bargeld, Wertsachen, Bücher, Kleidung, Möbel, Hausrat etc. bis
hinunter zu Lebensmitteln reichten. Jedem Posten wurde eine genaue Beschreibungsformel
hinzugefügt, die die eindeutige Identifizierung der Einzelobjekte bei z. B. späterem Verkauf
oder Aufteilung exakt zuließ. Einen maßgeblichen Vorteil dieser akribischen Vorlage für die
heutige Forschung bildet die Tatsache, daß die Inventar-Repertoiren einen Querschnitt
„durch den Sachkatalog der betreffenden Zeit“ (S. 244) bieten, da neue Sachgruppen oder
einzelne Sachgüter nach Auftauchen bzw. Etablierung in die jeweilige Sachkultur sofort in
die Kataloge integriert wurden.
Um die Nützlichkeit dieser Quellen für die Diffusionsforschung zu illustrieren, hat die
Autorin die mühevolle Aufgabe unternommen, anhand des Beispiels „Schmuck und Silber-
geschirr“ die Inventarkataloge mit zeitgleichen württembergischen Inventaren zu verglei-
chen und in der Tat in beiden Quellengruppen zeitgleiche Übereinstimmungen hinsichtlich
des Auftretens von Formen und Gegenständen entdecken zu können. Die Repertoiren sind
also tatsächlich als „aktuelle und nicht nur als ... aktualisierte Verzeichnisse anzusehen“
(S. 244 f.).
Die in den Inventar-Repertorien auftretenden Begrifflichkeiten für die aufzunehmenden
Gegenstände hat die Autorin zudem in ein Glossar zusammengefügt, das als kleines Nach-
schlagewerk für unbekannte Bezeichnungen dienlich ist und diese unter Verwendung zeitge-
nössischer Lexika erläutert; ein Anhang, der sicher mühsame Arbeit gekostet hat.
Trotz vielerlei statistisch anmutender Elemente gerät Hildegard Mannheims nie in Ge-
fahr, dieses doch eher zähe Thema auch entsprechend trocken darzustellen. Dafür sorgen
nicht nur biographische Angaben über die Autoren der Inventar-Repertoiren, deren Werke
dadurch viel plastischer werden. Sie beschäftigt sich zudem auch mit der Rolle des Schrei-
bers von Inventaren, dessen Zuverlässigkeit, Arbeitseinstellung und Beschäftigungsumstand
für eine Einschätzung des Wahrheitsgehaltes von Inventaren von ausgesprochener Bedeu-
tung sind, und der in seiner tragenden Rolle in der Forschung ebenfalls noch nicht genügend
berücksichtigt worden ist.
Auch dank dieser Einschübe wirkt die Dissertation nie trocken, sondern überaus lesbar
und bietet mit ihrem in der Forschung bislang unterschlagenen Thema einen beachtenswer-
ten Beitrag zur volkskundlichen Inventarforschung.
Göttingen Bernd Wedemeyer
270
Buchbesprechungen
CHRISTIAN HELFER: Lexicón auxiliare. Ein deutsch-lateinisches Wörterbuch. Dritte, sehr
verbesserte Auflage. Saarbrücken: Verlag der Societas Latina, Universität des Saarlandes FR
6.3, 1991, IL, 644 S.
Klassisches Latein ist nicht zuletzt deshalb eine tote Sprache, weil Cäsar und Cicero sich
wortwörtlich keinen Begriff von den gängigsten Erscheinungen unseres heutigen Alltags
machen konnten. Dem will dieses Wörterbuch abhelfen. Im Zeitalter der Raumfahrt (aetas
cósmica) kann man jetzt auch lateinisch über Atommülldeponien (despositoria purgamento-
rum atomicorum), Entwicklungsländer (populi egentiores) oder Leihmütter (matres conducti-
ciae) debattieren. Selbst ein Wort wie Leitmotiv, das Franzosen und Engländer einfallslos als
leitmotiv übersetzen, erscheint hier als thema fundamentale bzw. thematis caput. Die Volks-
kunde wird als laographia oder demologia latinisiert (man könnte auch sagen gräzisiert, doch
waren schon im klassischen Latein Fremdwörter durchaus gebräuchlich). Bei den meisten
Lemmata wird eine Quelle angegeben, für die demologia z. B. ein Göttinger Vorlesungsver-
zeichnis (index lectionum) für das Sommersemester 1882. Als weitere Quellen, die alle bi-
bliographiert sind, dienen ältere und neuere lateinische Wörterbücher (oft aus dem Vati-
kan).
Viele volkskundlich interessante Begriffe sind dagegen barocken Dissertationen entnom-
men, so wird für Aussteuer als Beleg eine Marburger Dissertation De adparatu et instructu
nuptarum aus dem Jahre 1744 genannt, bei der J. G. Estor als Praeses fungierte. Unter Blu-
menstreuen werden mehrere Dissertationen De ritu spargendi flores aufgeführt. Ein Beleg für
Mode lautet: Chr. W. Loeber: De mutationeformarum in vestibus. Diss. Jena 1722. Unter Zunft
findet man schließlich vier barocke Titel De collegiis opificum.
Auf die Bedeutung barocker Dissertationen für die historische Volkskunde hat Christoph
Daxelmüller hingewiesen (Disputatones curiosae. Zum „volkskundlichen“ Polyhistorismus
an den Universitäten des 17. und 18. Jhs. [= Veröffentlichungen zur Volkskunde und Kul-
turgeschichte, Bd. 5], Würzburg 1979). Er legte auch eine ausführliche Bibliographie vor (in
fünf Teilen im Jahrbuch für Volkskunde, N.F. 3-7 [1980-1984]). Die Mehrzahl der von
Helfer zitierten „volkskundlichen“ Dissertationen sind nicht unter Daxelmüllers gut 1300
Titeln verzeichnet, was nur demonstriert, wie wenig diese Quellengattung noch erschlossen
ist. Das Lexicón auxiliare erweist sich somit als eine für Volkskundler sehr hilfreiche Biblio-
graphie, was von Helfer durchaus geplant war: „Evo modo evenit, ut una cum vocabulario
neolatino non pauca auxilia bibliographica suppeditarentur, quae a Latinae linguae cultori-
bus adhiberentur, praesertim ab omnibus, qui historiae scientarum atque cultus civilis ope-
ram navarent“ (Vorwort).
Als Verf. werden nur die Praesides genannt, was den Katalogisierungsregeln vieler, aber
leider nicht aller Bibliotheken entspricht, doch hätte die Nennung der Respondenten eine
deutliche Erweiterung des Umfangs mit sich gebracht; die neue Auflage enthält immerhin
174 Seiten mehr als die zweite Auflage aus dem Jahr 1985. Die genannten Belege sind nicht
immer die frühesten, auch kann man sich manchmal über die Auswahl der Einträge wun-
dern, doch darüber mögen sich klassische Philologen streiten, auch darüber, warum die
Wortbildung auf griechische und lateinische Wurzeln beschränkt bleibt und oft nur um-
ständliche Umschreibungen bietet.
Für Volkskundler besteht der Wert dieses Lexikons zweifellos in seiner Anwendbarkeit als
Bibliographie. Die alphabetische Anordnung erleichtert das Auffinden der Stichwörter.
Darüber hinaus gibt es Querverweise, z. B. von der Feuerprobe zur Wasserprobe, wo u.a.
271
Buchbesprechu ngen
eine Tübinger Dissertation De probatione per aquam et ignem aus dem Jahre 1622 aufgeführt
wird.
Cambridge JÜRGEN BEYER
MICHAEL PROSSER: Spätmittelalterliche Rechtsaufzeichnungen am Oberrhein zwischen
Gedächtniskultur und Schriftlichkeit. Untersuchungen am Übergang von analphabeti-
schen zu skriptualen Überlieferungsformen im Blickfeld rechtlicher Volkskunde. Würz-
burg: Bayerische Blätter für Volkskunde/München: Bayerisches Nationalmuseum, 1991,
223 S. (Veröffentlichungen zur Volkskunde und Kulturgeschichte, 47)
Aus dem Gebiet der Rechtlichen Volkskunde sind seit Karl-S. Kramers Grundriß einer
rechtlichen Volkskunde von 1974 kaum noch größere volkskundliche Arbeiten hervorge-
gangen. Es ist deshalb höchst begrüßenswert, daß mit der anzuzeigenden Arbeit von Mi-
chael Prosser die volkskundliche Forschung anhand historischer Rechtsaufzeichnungen er-
neut aufgegriffen wird. Dies geschieht weniger durch das ursprünglich intendierte Erfassen
und Aufarbeiten ungedruckter archivalischer Quellen (die Untersuchung stützt sich weitge-
hend auf gedruckte Texte, vgl. S. 7 f.). Vielmehr ist die Interpretation bekannter Quellen im
Lichte neuer Fragestellungen zum zentralen Forschungsproblem geworden. Die ländlichen
spätmittelalterlichen Rechtsaufzeichnungen, die seit Jacob Grimm unter dem Oberbegriff
der Weistümer eine breite, von Prosser kritisch nachgezeichnete Forschungstradition haben,
werden von ihm nun als Zeugnisse einer Gedächtniskultur im Übergang zur Verschriftli-
chung gedeutet. Das Plädoyer des Autors für den Begriff „Gedächtniskultur“ gegen die un-
schärferen Termini der „Oralität“ und „Mündlichkeit“ überzeugt. Die neu gewonnene
Trennschärfe sollte in zukünftigen Diskussionen nicht mehr aufgegeben werden.
Prossers vorwiegend südwestdeutsche Quellen, hier zeitgenössisch als„Dingrödel“, „Öff-
nung“ oder „Kundschaft“ bezeichnet, aber als „Weistümer“ zu verstehen, werden von ihm
detailiert an genau dieser entscheidenden Schnittstelle der ersten schriftlichen Fixierung der
im Gedächtnis bewahrten und mündlich tradierten Rechtstraditionen untersucht. Die exak-
te Beschreibung der Entstehungsmodalitäten gibt eindrucksvolle Kunde über die Verfahren
gedächtniskulturaler Überlieferungsweisen. Auch die Einprägung von Dingrechtstexten
nach erfolgter Verschriftlichung wird von Prosser als Vorgang der Gedächniskultur gesehen
und interpretiert. Im Licht der Kommunikationswissenschaft werden in einem eigenen Ka-
pitel die Rechtsbräuche untersucht.
Prossers Untersuchung stellt einen erfreulichen Neueinstieg volkskundlicher Forschung
in das Gebiet spätmittelalterlicher ländlicher Schriftlichkeit dar. (Daß es sich hierbei um ei-
ne Freiburger Dissertation handelt, sollte gutem akademischem Brauch entsprechend er-
wähnt werden.) Angesicht der breiten sozialhistorischen (Blickle, Schulze, Wunder u.a.)
und sprachgeschichtlichen (Maas u. a.) Forschung in diesem Feld und der hohen Beachtung,
die die neuzeitliche ländliche Schriftlichkeit erfährt (erinnert sei nur an die Projekte der Er-
forschung ländlicher Anschreibebücher), tut es gut, auch wieder eine kompetente volks-
kundliche Stimme in diesem Kreis zu wissen. Gerne würde man hierfür dem Autor jedoch
einen weniger sperrigen und unzugänglichen Stil wünschen.
Bayreuth RUTH-E. MOHRMANN
272
Buchbesprechungen
MICHAEL BienerT: Die eingebildete Metropole. Berlin im Feuilleton der Weimarer Repu-
blik. Stuttgart: Metzler, 1992, 280 S., 36 Abb., sw
Im Detail genau so glitzernd und vielschichtig wie das Berlin-Bild der zwanziger und be-
ginnenden dreißiger Jahre und doch mit zunehmender Übersicht immer klarer strukturiert
erscheint mir die vorliegende literaturwissenschaftliche Arbeit. Der Autor interpretiert dar-
in eine Menge älterer oder neu edierter literarischer Großstadtbeschreibungen (wie von
Franz Hessel, Walther Kiaulehn, Siegfried Kracauer oder Joseph Roth) und vor allem bis-
lang unbekannte oder vergessene Feuilletons, Reportagen und Essays aus der Presse der
„Goldenen Zwanziger“ (festgehalten auch in einer umfangreichen Bibliographie). Bienert
geht es darum, aus diesen „Städtebildern auf die ,Logik ihres Produziertseins“ zurückzu-
schließen, Einsichten in den ,Aufbau der Repräsentation* zu gewinnen“; einbezogen in die
Analyse solcher oft jenseits fester Gattungszugehörigkeit liegender literarischer Äußerun-
gen ist die Frage nach ihrer Eigenart. Diese liegt wohl unter anderem im gemeinsamen Sujet
sowie in der Art und Weise der Veröffentlichung und wirkt von da aus auf Produktion und
Rezeption, Form und Funktion der Texte. Diese Problemstellungen vor Augen geht es dem
Verf. dann um Rückschlüsse auf das konstruierte Bild von der Metropole Berlin, wie Men-
schen den städtischen Raum wahrnehmen, mit Sinn und Bedeutung besetzen und sich
schließlich darin verhalten (S. 3 ff.).
Im Verlauf seiner Darstellung setzt Bienert - expressis verbis angelehnt an Ernst Cassirers
Phänomenologie der symbolischen Formen (S. 4) - unzählige Mosaiksteinchen literari-
scher Berlin-Bilder um bestimmte Schwerpunkte herum zusammen. Die Untersuchung be-
ginnt mit den unterschiedlichen Erfahrungen von Stadt,,land“schaften am Beispiel der
Wahrnehmung des Gleisdreiecks. Zum einen ist es akzeptiertes Symbol historisch-wirt-
schaftlicher Weiterentwicklung, wird es als Wunschbild erlebt und - etwa im Vergleich mit
einer emsig webenden Spinne - organisch und lebensnah definiert. Zum anderen fungiert
das Technikbauwerk als Inkarnation der Entfremdung, als Metapher für die Schrecken der
Industriestadt. Weiterhin geht es im Buch um bestimmte Orte wie den Potsdamer Platz oder
um das Verhalten des Flaneurs, einem emotionell-affektiven Gegner großstädtischen Urba-
nismus, woran dann die Ausstrahlung Berliner Tempos, eines zentralen Topos der zwanziger
Jahre diskutiert wird: „Wer, etwa als Ankömmling in Berlin, noch unvertraut mit dem inne-
ren und äußeren ,Tempo* ist, erfährt es als Beschleunigung; wer die ,innere Urbanisierung*
an sich vollzogen hat, dem geht alles zu langsam. Relativ wie das ,Tempo* sind auch die Emp-
findungen . . . Einem Menschen mit einer starken affektiven Bindung ans Land (...) muß
das Großstadtleben als Vergewaltigung erscheinen; ist das Verhältnis zur Herkunft schon ge-
brochen (wie oft bei Zugereisten aus Provinzstädten), wird der Zuwachs an Lebensmöglich-
keiten in der Großstadt als Befreiung erfahren“ (S. 74). Und auch in der Großstadtpoetik
scheiden sich rasender Reporter und flanierender Feuilletonist.
Die Hintergründe der unterschiedlichen, sich konträr am gängigen Topos brechenden und
diesen so erst recht produzierenden Wahrnehmungs- und Verhaltensweisen bleiben der ver-
tieften Sicht des Verf. nicht verborgen. Die Weltstadt soll „inszeniert“ werden (Kapitel 4).
Zunächst entpuppt sich die öffentliche Berlin-Sehnsucht als ein Teil systematischer Werbe-
strategie: ,Jeder einmal in Berlin“ (S. 97). Angesichts zunehmender Not, von Stagnation
und Verfall dient die Weltstadtinszenierung „der symbolischen Überwindung der Vergan-
genheit; ein neues Stadtbild soll den Anbruch einer neuen Epoche signalisieren und die Er-
innerung an die Kaiserzeit, die Kriegszeit, die Niederlage, die gescheiterte Revolution, an die
verheerenden sozialen und politischen Folgen tilgen“ (S. 100). — Noch heute bestimmen
273
Buchbesprechu ngen
Reklame und Konsum - zugeschnitten auf „selektive und ,oberflächliche1 Wahrnehmung“
(S. 118 ff.) sowie auf „Zerstreuung und Verausgabung“ (S. 127ff.) - das Bild vieler west-
(und zunehmend auch ost-)deutscher Städte und übertünchen Erinnerung und Verantwor-
tung. Wohl nicht zuletzt aus dem in dieser Hinsicht enttäuschenden Erlebnis der deutschen
Wiedervereinigung heraus markiert Bienert im Nachwort (S. 211 ff.) die von den Großkon-
zernen und Politikern so gern verbreiteten alten Metropolenphantasien (etwa vom Potsda-
mer Platz als der Mitte Berlins bzw. Europas) als bemäntelte Spekulation und kühlen Ge-
schäftsgeist zu Lasten der gewachsenen historischen Substanz Berlins und seiner Bewohner.
Schon in den zwanziger und frühen dreißiger Jahren also kennzeichnen politische Inan-
spruchnahme und ideologische Interessenkonstellationen die Berlin-Wahrnehmung. Jedoch
sind darüber hinaus gerade auch die sozialen und alltäglichen Lebensverhältnisse in den ein-
zelnen Gesellschaftsschichten maßgebend. „Soziologische Expeditionen“ (Kapitel 5) füh-
ren uns in die ärmliche Realität der unteren Schichten, der grauen Arbeiter und Angestell-
ten, der Arbeits- und Obdachlosen oder sonstwie Gestrandeten, welche die erzeugten
Wunschbilder nur verinnerlichen, aber nie leben können. - Doch da scheint man die per-
manente wirtschaftliche und politische Krise am Beginn der dreißiger Jahre endlich behe-
ben und somit die gesellschaftlichen Verhältnisse mit der bestehenden Weltstadt-Mentalität
wieder ins Benehmen setzen zu wollen - die Katastrophe des deutschen Nationalsozialis-
mus nimmt ihren Lauf. Wenngleich an dieser Stelle des Buches die bislang so plastisch zwi-
schen Realität und Illusion der zwanziger Jahre gestellte Mentalitätsentwicklung etwas zu
einspurig in die faschistische Machtergreifung und -inszenierung zu münden scheint, ist das
Kapitel „Krise und Mentalität“ (S. 163 ff.) doch der Höhepunkt des Buches. Denn in diesem
zusätzlich psychologisch untermauerten Abschnitt vereinen sich Bienerts literaturwissen-
schaftlicher Entwurf, seine kunst- und kulturgeschichtlichen Ansätze, die zitierten technik-
bezogenen, architektonischen oder stadtgeographischen Fakten mit der Geschichtsdarstel-
lung zu einer Synthese, die zweifellos Beispielwirkung für manche geisteswissenschaftliche
Disziplin haben kann.
Berlin-Wilhelmshagen THOMAS SCHOLZE
STEFAN Maier: Schottenheim. „Die neue Stadt bei Regensburg“ als völkische Gemein-
schaftssiedlung. Bamberg: WVB, 1992, 235 S. u. Anh., Abb. sw (Regensburger Schriften zur
Volkskunde, 8)
Die hier zu besprechende Arbeit wurde 1986 als Magisterarbeit im Fach Volkskunde an
der Universität Regensburg eingereicht und erfährt 1992 eine relativ späte Veröffentlichung.
Dies ist u. a. deshalb bedauerlich, weil mittlerweile früher nicht zugängliche Aktenbestände
in einer Dissertation aus dem Jahr 1991 aufgearbeitet wurden.
Die Arbeit selbst beschäftigt sich mit dem äußerst interessanten Thema des Wohnhaus im
Nationalsozialismus am Beispiel der sogenannten Schottenheim-Siedlung (heute Konrad-
Siedlung) in Regensburg, die zwischen 1933 und 1940/41 errichtet wurde. Der Autor rückt
dabei die Frage in den Mittelpunkt, ob aus den Intentionen des Nationalsozialisten Realität
geworden ist bzw. ob nicht möglicherweise „die eigene Kultur der Bewohner das Vorgegebe-
274
Buchbesprechu ngen
ne in teilweise oder erheblich anderer Weise benutzte, als die Machthaber es beabsichtigten“
(S. 11). Diese Frage wird in der Folge jedoch nur zum Teil beantwortet. Als empirische
Grundlagen dienten Maier die betreffenden Archivalien, lokale Zeitschriften und regionale
Heimatschriften. Darüber hinaus führte er Interviews „eher qualitativer, nicht quantitati-
ver“ Art durch (S. 15), über deren genaue Kriterien er jedoch nichts weiter verlautbaren
läßt.
Der Autor unterteilt seine Arbeit in drei Abschnitte, wobei sich der erste Teil mit dem
Wohnungsbau von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis 1945 beschäftigt. Maier zeigt zunächst
die integrative Funktion, die das Wohnen nach den Vorstellungen vieler Sozialreformer ha-
ben sollte; bürgerliche Werte sollten auch von der Arbeiterschicht übernommen werden
(S. 25 f.). An einen kurzen Überblick über die Wohnungssituation in Regensburg bis 1918
schließt sich ein Exkurs über ideengeschichtliche Grundlagen des Wohnungsbaus, wobei
der Verfasser hauptsächlich auf die Gartenstadtbewegung eingeht, die auch die Nationalso-
zialisten beeinflußte (S. 30 ff.). In der Folge skizziert Maier den Wohnungsbau von der Wei-
marer Republik bis zum Nationalsozialismus und verweist auf die politische Dimension der
Siedlungsprogramme, die „neben ihrer wirtschaftlichen Funktion stets im Zusammenhang
mit Familien-, Jugend-, Lohn- und Arbeitspolitik im Rahmen einer auf die Volksgemein-
schaft abzielenden Sozialpolitik zu sehen ist“ (S. 50 f.). Im besonderen wird der Eigenheim-
gedanke propagiert, der einerseits eine Bindung an Grund und Boden gewährleisten und an-
dererseits durch Kleintierhaltung und Gartenkultivierung zum Lebensunterhalt beitragen
sollte.
Der zweite Abschnitt bringt eine kurze Biographie des Oberbürgermeisters Dr. Otto
Schottenheim, der dieses Amt von 1933 bis 1945 innehatte und maßgeblichen Anteil an der
Verwirklichung dieser Siedlung hatte. Dieses Kapitel hätte ohne weiteres eine kritischere
Würdigung der Tätigkeit in einem öffentlichen Amt während der NS-Zeit vertragen.
Der dritte und Hauptteil der Arbeit beschäftigt sich mit der Schottenheim-Siedlung an
sich, die eine „Mustersiedlung“ werden sollte. Der Autor präsentiert zunächst Planung, La-
ge und Ausdehnung der Siedlung. In diesem Zusammenhang stellt sich für ihn die Frage
nach den Faktoren, „die auf die Gestaltung der Schottenheim-Siedlung Einfluß genommen
haben“. Dieser Frage geht er anhand der Beispiele Finanzierung, Auswahl der Siedler und
der davon abhängigen Gestaltung der Häuser nach (S. 105). Die Finanzierung erfolgte über
die Gewährung von Darlehen, die jedoch an gewisse Bedingungen geknüpft waren. So muß-
te ein Bewerber „1933 für die Zuteilung einer Siedlerstelle seine Arbeitslosigkeit, Arbeits-
willen, Kinderreichtum und zum Teil auch die Parteimitgliedschaft in der NSDAP“ nach-
weisen (S. 106). Der Bau der Siedlerstelle erfolgte dann von Arbeitsgruppen zu je 20 Mann
bzw. Siedlern, die meist arbeitslose Arbeiter oder Handwerker waren. Die Häuser wurden
erst nach der Fertigstellung verlost, damit es beim Bau zu keinen Unregelmäßigkeiten kom-
men konnte. Mit der Zeit wurden die Darlehen erhöht, wodurch nur mehr in festem Ar-
beitsverhältnis stehende Bewerber für diese Siedlungsstellen in Frage kamen. Auch die Se-
lektion der Bewerber veränderte sich: „So können nur grundsätzlich alle ehrbaren, minder-
bemittelten Volksgenossen, und zwar vornehmlich Arbeiter und Angestellte, die ebenso wie
ihre Ehefrauen deutschen und artverwandten Blutes, politisch zuverlässig und erbgesund
sind, als Siedler zugelassen werden.“ Darüber hinaus mußte die Ehefrau ihren Beruf aufge-
ben und binnen drei Jahren mußte eine Ehe Nachwuchs vorweisen können. Weiter sollten
die Bewerber eine Eignung für Bodenkultur aufweisen. Diese Bedingungen wurden mittels
dreier Fragebogen erhoben (S. 113).
275
Buchbesprechungen
Leitbild des NS-Wohnbaus war einfache Formgebung unter Anpassung an das Orts- und
Landschaftsbild. Maier stellt dann die Ffaus- und Wohnungstypen in dieser Siedlung vor
und verweist darauf, wie bedingt durch die wirtschaftlichen Verhältnisse eine Verbilligung
der Bauten einsetzte. Beispielsweise wurde auf Kanalisation verzichtet und pro Haus gab es
nur eine Anschlußstelle für Strom bzw. eine Zapfstelle für Wasser. Entgegen ihren ursprüng-
lichen Forderungen setzten die Nationalsozialisten aus Kostengründen auch auf die Standar-
disierung von Bauelementen. Auch in anderen Bereichen mußten Abstriche von den ur-
sprünglichen Vorstellungen gemacht werden. Innerhalb der Siedlung gibt es eine Aufteilung
zwischen Gunst- und Ungunstlagen, wobei in ersteren die verbeamteten Kleinbürger in
zweiteren die Arbeiter beheimatet waren. „Damit ist eine dem Diktum der Volksgemein-
schaft, die alle Klassen- und Standesgegensätze aufheben wollte, widersprechende Entwick-
lung angedeutet“ (S. 139).
Die Schottenheim-Siedlung als völkische Gemeinschaftssiedlung „sollte den von bürgerli-
chen Kreisen getragenen Glauben an eine Sicherheit stiftende, meist bäuerlich-ständisch or-
ganisierte Volkskultur“ verbreiten helfen (S. 141). Das Eigenheim sollte positive Einflüsse
auf die Familie haben: „Das Kleinhaus, besonders das Eigenheim schafft den Sinn für Ord-
nung, Sparsamkeit, schafft Selbstbewußtsein und Heimatliebe, es fördert die Familie und
die Kinderaufzucht. Die Bewohner werden und bleiben krisenfest“ (S. 148), hieß das ent-
sprechende Credo. Maier geht dann noch der Frage nach, inwieweit die „Volksgemeinschaft
als Zauberwort“ in dieser Siedlung verwirklicht werden konnte. Als Beispiele für Aspekte
des Lebens in einer Gemeinschaftssiedlung betrachtet er Eigenheim und Familienbildung,
die „Verklärung der Knappheit“ und die Organisation und Einrichtungen der Gemein-
schaft.
In einem Ausblick beschäftigt sich der Autor noch damit, wie Zeitzeugen und heutige Be-
wohner die Geschichte ihres Wohngebietes betrachten. Dabei fiel ihm in Gesprächen die we-
nig erstaunenswerte Tatsache auf, „daß in der Erinnerung der Nationalsozialismus für den
Ausbau der Siedlung nicht die erwartete Rolle spielte“ (S. 195). Heute sind die Siedlungshäu-
ser begehrte Miet- und Kaufobjekte geworden, „da sie in relativer Stadtnähe ein Wohnen im
Grünen garantieren“.
In Summe handelt es sich bei dieser Studie sicherlich um eine gute Magisterarbeit, den-
noch bleibt der unangenehme Eindruck, daß der so wichtige Bereich Wohnen in ungenü-
gender Weise aufgearbeitet wurde. Während die Ideen und Konzepte nationalsozialistischer
Wohnungspolitik sehr eindrücklich herausgearbeitet werden, verschwindet die Realität des
Wohnens eher im Hintergrund. Zentrale Begriffe wie Lebensstil und Lebensweise hätten
wahrscheinlich einen Zugang erlaubt, der über das politische und ideologische Umfeld der
nationalsozialistischen Wohnungspolitik hinausgeführt hätte. Ein gewisser Wermutstrop-
fen liegt auch im Layout dieses Bandes, da es wiederholt zu völlig willkürlichen Seitenum-
brüchen gekommen ist. Dies wäre bei einer ordentlichen Endredaktion zu verhindern gewe-
sen.
Graz Johannes Moser
276
Buchbesprechungen
Dagmar Kift (Hrgs.): Kirmes - Kneipe - Kino. Arbeiterkultur im Ruhrgebiet zwischen
Kommerz und Kontrolle (1850-1914). Paderborn: Schöningh, 1992, 257 S., Abb. sw (For-
schungen zur Regionalgeschichte, Bd. 6)
Unterhaltung ist die Universalsprache moderner Massenkultur - Unterhaltung durch
starke Gefühle und Reizung der Sinne, durch Spannung und durch die aus Lust und Ab-
scheu gemischte Anziehungskraft von Sensation und Enthüllung. Von den intimsten Bezie-
hungen bis zur Öffentlichkeit der Politik hat diese Sprache Bedürfnisse, Empfindungen und
Wahrnehmungsformen der Menschen geprägt. Geformt wurde Massenkultur zu Anfang
des 20. Jahrhunderts in „Schundliteratur und Kino, Schausport und illustrierter Sensa-
tionspresse. Muster und Vermarktungsrezepte entwickelten sich jedoch schon in der Indu-
strialisierung und Urbanisierung Deutschlands nach 1870. Kirmessen und Tingeltangel,
Tanzveranstaltungen und Vergnügungsparks des Kaiserreichs waren die Experimentalla-
bors, in denen im Wechselspiel von Artisten, Publikum und Unternehmern die Elemente
moderner Massenkultur entstanden.
In diese Werkstätten einer neuen Ästhetik und Mentalität führen die Beiträge des von
Dagmar Kift herausgegebenen Sammelbandes. Verfasserinnen und Verfasser, überwiegend
aus der historischen Zunft, sind mit zwei Prämissen ans Werk gegangen, die ihre Befunde in
den Augen des Rezensenten so überaus anregend machen. Das Publikum, insbesondere Ar-
beiterinnen und Arbeiter, war aktiver und gestaltender Partner der Vergnügungskultur. Es
handelte zugleich in einer sozialen Auseinandersetzung, überrollte bürgerliche Reglemen-
tierungen und Diskriminierungsstrategien. Das führt zur These, Arbeiter(selbst)bewußt-
sein habe sich nicht zuletzt auf dem Feld von Freizeit und Unterhaltung formiert, und wirft
die Frage auf, inwieweit populäre Lebensauffassungen und ihr Ringen um Behauptung und
Selbstanerkennung die Kultur der Moderne geprägt haben.
Lynn Abrams gibt einen Überblick über die kommerzielle Vergnügungskultur für Arbei-
ter/Arbeiterinnen im Ruhrgebiet: die Kirmessen und ihre Modernisierung; die Kneipen, aus
denen einfache Tingeltangel und große Singspiel- und Spezialitätentheater mit breitem pro-
letarischem und kleinbürgerlichem Publikum erwuchsen; die Vereine mit einer reichen Pa-
lette von Tätigkeiten und Vergnügungen. Exemplarisch führt Elisabeth Kosok Motivation
und Scheitern staatlicher Reglementierung vor: Eine Fülle hochprofessioneller „Privat“bäl-
le von Vereinen unterlief die Praxis der Polizei, nur wenige öffentliche Tanzvergnügungen
zu erlauben. Ulrich Linse stellt die „Animierkneipen“ mit weiblicher Bedienung vor. Jürgen
Kinter zeichnet den Weg des Kinos von den Jahrmärkten bis zur „Verbürgerlichung des
Films“ und zur Vermischung der Publikumsschichten schon vor 1914. Horst Groschopp
skizziert das Unterhaltungsverständnis der Arbeiterbewegung als Suche nach dem „Mittel-
weg zwischen kulturvoller Kurzweil und politischem Nutzen“. Ursula Kreys Studie zur Ver-
einskultur des Ruhrgebiets fragt, wie sich hier ein neues, nicht- oder gar antibürgerliches
Verständnis von Geselligkeit und die Haltung des „Kulturkonsums“ herausbildeten, an die
die Angebote der Kulturindustrie anknüpften. Auch die organisierten katholischen Arbei-
ter wehrten sich, wie Michael Schäfer darstellt, gegen bürgerlich-klerikale Bevormundung;
zugleich ermöglichte das Aufnehmen neuer Freizeitinteressen bis 1914 den sozialdemokrati-
schen Einfluß im Ruhrgebiet einzudämmen. Dem komplexen Wechselspiel zwischen Ge-
walttoleranz im Arbeitermilieu, bürgerlicher Gewaltsensibilität und Distinktion sowie vor-
urteilsgeprägter Problemwahrnehmung im Staatsapparat, der seinen Disziplinierungszu-
griff legitimieren wollte, geht Ralph Jessens differenzierte Untersuchung proletarischer
Alltagsgewalt nach.
277
Buchbesprechungen
Fast durchweg neue Quellen auswertend, eröffnen die Einzelstudien ein ganzes Panorama
bedeutsamer Fragen, deren weitere Bearbeitung auch der Kulturwissenschaft gut anstünde.
Die meisten Autoren/Autorinnen, auch die souverän und prägnant einleitende Herausgebe-
rin, wollen die Betrachtung von populärer Vergnügung als Arbeiterkultur rechtfertigen
gegenüber einer Forschung, die sich auf die organisierte Arbeiterbewegung konzentrierte;
immer wieder versuchen sie, deren Anspruch auf Repräsentation der Klasse zu entzaubern.
Da werden, mit Verlaub, offene Türen eingerannt. Der neue Forschungsansatz, jüngst in Es-
sen („Viel Vergnügen“) und Dortmund („Acht Stunden sind kein Tag“) mit Ausstellungen
und gewichtigen Katalogen präsentiert, kann durchaus selbstbewußt auftreten. Fruchtbarer
als die Betonung der Gegensätze zwischen dem Bildungsprogramm der Arbeiterbewegung
und der Vergnügungskultur der Arbeiterinnen und Arbeiter scheint mir die Betrachtung ih-
rer Wechselwirkungen; so stellt Jessen die These auf, die Arbeiterbewegung habe gerade
durch die Umlenkung proletarischer Ehr- und Männlichkeitsauffassungen in das Feld diszi-
plinierter Politik und ihrer Symbolik eine bedeutsame Zivilisierungsleistung erbracht.
Ingesamt handelt es sich um ein gelungenes Exemplar der Gattung Sammelband: keine
Buchbindersynthese disparater Studien zu Vertrautem, sondern einander ergänzende Vor-
stöße in Neuland. In diesem Sinne abschließend einige weiterführende Fragen. Wie sahen
weibliche Vergnügungswünsche und Unterhaltungspraxis aus, bevor sie im Kino erstmals
öffentlich dominant wurden? Inwiefern brachten Tingeltangel und Singspieltheater eine
„proletarische Sehweise der Welt“ (Abrams) zum Ausdruck? Wie waren die Beziehungen
zwischen Arbeitern und (Klein-)Bürgern im entstehenden Massenpublikum; wer brachte
welche Geschmackstraditionen ein, und wie bildete sich die moderne, schichtübergreifende
Ästhetik der Unterhaltung aus? Was war der Beitrag der Artisten, was der der Unterhal-
tungs-Unternehmer hierzu?
Hamburg Kaspar Maase
SVEND AaGE ANDERSEN: Havnearbejdere i Ärhus - for containernes tid. En undersogelse
af deres livsform og erfaringsverden ca. 1880-1960. Ärhus: Universitetsforläget i Ärhus,
1988, 247 S. m. Abb.
„Arbeiterkultur“ ist ein häufig sehr weit gefaßter Begriff, der sich auf die Arbeitsbedin-
gungen ebenso bezieht wie auf die Ausbildung eines gruppenspezifischen, sich in kulturel-
len Formen und Aktionen äußernden Bewußtseins. Hin und wieder tritt Pauschalisierung
an die Stelle einer erforderlichen Binnendifferenzierung: Industriearbeit unterliegt anderen
Bedingungen als etwa die Bergwerksmaloche, ein festes Arbeitsverhältnis schafft einen ande-
ren sozialen Rahmen als die Saison- und Gelegenheitsarbeit. Erstellt man eine Rangord-
nung, dann stehen die Hafenarbeiter an unterster Stelle der Hierarchie, outcasts, so will man
meinen, Sammelbecken für die unterschiedlichsten, oft gebrochenen Lebensläufe, einge-
sperrt in einen Armutszyklus, aus dem es nur in den seltensten Fällen ein Entrinnen gibt.
Dieser Personengruppe widmet Svend Aage Andersen eine Studie, am Beispiel von Ärhus,
der größten Stadt Jütlands (und inzwischen - zumindest was das kulturelle und wissen-
schaftliche Leben anbelangt - der geheimen Hauptstadt Dänemarks); man vermutet zuerst
278
Buchbesprechungen
einen recht kleinen Ausschnitt, eine lokalhistorische, vom „Ärhus byhistoriske udvalg“
herausgegebene Untersuchung, die wiederum nur einen Baustein innerhalb des Forschungs-
projekts „Die andere Arbeiterkultur in Ärhus 1890-1940 bildet, mithin eine Veröffentli-
chung ohne größere überregionale Relevanz.
Nach der Lektüre ist man allerdings eines Besseren belehrt. Behutsam, dennoch mit einer
eindringlichen, nahezu dreidimensionalen Beschreibungsweise führt Andersen den Leser in
den Hafen von Ärhus und an die Gruppe der Tag für Tag um Beschäftigung anstehenden
Lohnarbeiter heran, läßt ihn an deren Lebenswelt, an der Arbeit zwischen fünf Uhr mor-
gens und neun Uhr abends, an den kleinen Freuden und großen Enttäuschungen, an
Lebens- und Überlebensstrategien am Rande des Existenzminimums teilhaben, begleitet ihn
in die erbärmlich(st)en Wohnverhältnisse und in den Teufelskreis eines Lebens ohne Flucht-
und Aufstiegsmöglichkeiten. Indem er sich des gerade innerhalb der skandinavischen Eth-
nologie produktiven Schlagworts der „Lebensperspektive“ bedient, gelingt es ihm überzeu-
gend, die spezifische Identität dieser Arbeitergruppe darzustellen.
Das Buch umfaßt den Zeitraum zwischen 1880 und 1960, der zeitliche Rahmen ergibt sich
einerseits aus der Erinnerungsreichweite der von Andersen befragten Hafenarbeiter, ande-
rerseits aus dem Beginn des Containertransports, der die herkömmlichen Arbeits- und
Löschtechniken grundlegend veränderte. Die Informationen stammen, von den wenigen
zeitgenössischen Berichten und dem geringen, vom Nationalmuseum in Kopenhagen ge-
sammelten autobiogaphischen Material abgesehen, vorwiegend aus Interviews, die 1985 und
1986 geführt wurden. Um es vorwegzunehmen: Andersen hat es nicht auf die vordergründi-
ge Rekonstruktion eines kulturellen, sich etwa in politischen Symbolen und gesellschaftli-
chen Institutionen wie Vereinen objektivierenden Bewußtseins, sondern auf die Erarbei-
tung alltäglicher Mentalitäten in der Komplexität von Arbeitsverhältnissen und -bedin-
gungen, Arbeitsprozessen und -regulierungen, Reaktionen auf die äußeren Bedingungen in
Form politischer Organisierungsversuche sowie dem Einfluß der Arbeit auf das private Le-
ben abgesehen. Grundlegend für die Lebenskultur der Hafenarbeiter ist die saisonale Ab-
hängigkeit, wobei hier keinesfalls nur die Jahreszeit, sondern auch und vor allem die indivi-
duelle Willkür eine Rolle spielt: Ihr minimales Einkommen erwarben sich die Hafenarbei-
ter durch alltägliches Anstehen in der unsicheren Hoffnung auf Arbeit in den einlaufenden
Frachtschiffen und Personenfähren, der Tagesablauf war geprägt von unregelmäßigen, von
der jeweiligen Ladung abhängigen Arbeitszeiten und von der mutwilligen Auswahl durch
die Vorarbeiter, die entweder nach speziellen Fähigkeiten suchten oder vorab zu bestechen
waren. Andersen setzt sich ausführlich mit der sozialen Herkunft und Struktur der Gruppe
auseinander, die eben auf diese Arbeit angewiesen und keinesfalls homogen war, sondern ei-
ne Rangordnung erkennen läßt: Am Ende der (kurzen) Leiter standen die Gestrandeten, Al-
koholiker z. B„ Nichtseßhafte oder entlassene Strafgefangene; sie wurden von den Arbeits-
kollegen nie akzeptiert und integriert, sondern sogar zusätzlich schikaniert, indem man ih-
nen besonders schwere und gefährliche Arbeit aufbürdete. Wer im Hafen sein einigermaßen
gesichertes Auskommen fand, vermochte dennoch nicht aus dem Armutszyklus auszubre-
chen; der Verdienst reichte bestenfalls für die Miete einer Wohnung im Hinterhof, deren Zu-
stand den Bezug einer Kellerwohnung im Vorderhaus bereits zum Signal für einen beschei-
denen sozialen Äufstieg und verbesserter Lebensqualität geraten ließ. Die restlichen Lebens-
haltungskosten hatte die Frau durch Putzarbeit, Blumenverkauf u. a. mehr zu erbringen.
Andersen zeichnet diese dumpfe Überlebenskultur, aber auch das vorsichtige Aufbegeh-
ren gegen die Despotie der Vorarbeiter mit eindringlichen Strichen nach. Sozialistisches
oder sozialdemokratisches Gedankengut hatte es schwer, in dieser Sphäre der Existenzangst
279
Buchbesprechungen
wirksam zu werden, nicht allein wegen des Verbots der politischen Betätigung im Hafen
und in den Aufenthaltsräumen der Arbeiter, sondern auch infolge des Zwangs zur schwei-
genden Konformität, die Arbeit und Einkommen gewährleistete. Die Unsicherheit des Ar-
beitsplatzes wurde zusätzlich durch die Einführung technischer Neuerungen in dem Augen-
blick erhöht, in dem sie die Hand-, oder besser: Körperarbeit überflüssig machten.
Die Studie spürt auch der Wohn- und Familiensituation nach, dem Einfluß der Arbeit auf
das Familienleben und auf die Berufstätigkeit der Frau, spart Intimbereiche wie die Sexuali-
tät nicht aus und widmet sich abschließend dem Problem einer durch autonome Eckwerte
wie Unsicherheit der Lebensperspektive, gruppeninterne Solidarität und Arbeitsethik, so-
ziale Rituale und Umgangsformen, Sprache und Kommunikationsmuster beschreibbaren
Kultur der Hafenarbeiter. Zu ihr aber gehörte sowohl als Handlungsform wie als physiologi-
sche Notwendigkeit der Alkoholkonsum in der widersprüchlich erscheinenden Bandbreite
von Alkoholismus und dem für gefährliche Arbeiten unabdingbaren Gebot der Nüchtern-
heit.
Als ich Andersens Buch zur Hand nahm, war ich entschlossen gewesen, es nur mit weni-
gen Sätzen vorzustellen, da mir das Thema zu speziell erschien. Nach der Lektüre gelangte
ich zur Überzeugung, daß ich ihm damit Unrecht täte. Wohlgemerkt: Es handelt sich um
eine wissenschaftliche Analyse auf abgesicherter methodologischer Grundlage. Dennoch
gelang es Andersen auch, eine Geschichte, die eigentlich keine Geschichte, sondern eine Zu-
standsbeschreibung ist, in spannender, ja plastischer Form zu erzählen, die den Leser mehr
und mehr in ihren Bann zieht und ihn zuletzt am Geschehen beteiligt. Man fühlt geradezu
physisch die Arbeitsbelastung, den in den Nacken rieselnden Staub undichter Mehlsäcke,
gegen den man sich durch aufgeschnittene, über den Kopf gezogene Säcke zu schützen such-
te, man ahnt die Bedeutung der Wärme in den Aufenthaltsräumen („varmestuer“), die phy-
sischen Gefahren und psychischen Erniedrigungen des Arbeitstages, die berufsspezifischen
Erkrankungen (Gicht, Bandscheibenschäden), aber auch die einschnürenden Verhältnisse
in den Wohnungen, für die sich eine Renovierung längst nicht mehr gelohnt hätte. Ge-
schichte von unten wird be-greifbar und auch die Verzweiflung einer Zeit, als Dänemark in
der Sozialgesetzgebung noch weit von seiner später international führenden Position ent-
fernt war. So hilft dieses Buch nicht nur, die andere Seite des kulturell reichen Ärhus zu se-
hen und sich jener Menschen zu erinnern, denen die Stadt einen Teil ihres Reichtums ver-
dankt, es stellt auch eindrucksvoll unter Beweis, daß die vereinzelt totgesagte Arbeiterkul-
turforschung lebendig wie nie zuvor und zusätzlich in der Lage ist, die Kultur der
übersehenen Dinge sichtbar zu machen: den in die Mitte des Zimmers gestellten Spucknapf,
das als Bestechung für den Vorarbeiter an die Türklinke gehängte, dann jedoch verfaulte Ge-
flügel, den Kran, der die Arbeitsplätze reduzierte, die Sprache, die kein Wörterbuch ver-
zeichnet, den Diebstahl von Frachtgut, der zu überleben hilft. Man legt das Buch aus der
Hand und wäre geneigt, von einem Lesevergnügen zu sprechen, würde dies die Wirklichkeit
der geschilderten Lebenswelten erlauben.
Regensburg CHRISTOPH DAXELMÜLLER
280
Buchbesprechungen
UTEFREVERT: Ehrenmänner. Das Duell in der bürgerlichen Gesellschaft. München: C.H.
Beck, 1991, 376 S.
Die ambitiös-hochfahrenden, gerne auch unkompliziert in Raufhändeln kulminierenden
Schmähhändel unter Kindern, Schülern und Akademikern, Wirtshaus- und Bierzelthabi-
tues, Weltmännern, Zuhältern, Generälen, Präsidenten, Bürger- und Schulmeistern, Pfar-
rern, Clochards und Eheleuten, also unter uns christlich-abendländisch zivilisierten Men-
schen, befolgen stets akribisch die Regeln der aristotelischen Poetik. Die dramatische Ver-
wicklung, kunstreich zum Knoten geschürzt durch retardierende Momente und nach einem
Augenblick der Peripetie meist formvollendet und glücklich in der Katastrophe sich lösend,
entfaltet ihre Dynamik aus der Exposition polarer Willenskräfte der Helden („erregendes
Moment“), deren jeder das letzte Wort und damit recht behalten sowie mit seiner felsenfe-
sten Ansicht, von ihr beständig kohlhaft-kühn und seßhaft ausgehend, auch sein Ansehen
geltend machen will. Wie jedes menschliche Grundbedürfnis wurde auch solches Geltungs-
bedürfnis im Zivilisationsprozeß kulturell zu einem „Distinktionsbedürfnis“ der besseren
Gesellschaft veredelt und wurden seine Äußerungsformen vom volkstümlich-grobianischen
Injurien- und Balgereibrauchtum zum subtil-strengen Comment einer noblen „Duell-Kul-
tur“ und nun endlich gar zu einer öffentlich-politischen „Streit-Kultur“ raffiniert. Ähnlich
war schon das attische Drama aus bäuerlichem Possenspiel entsprossen.
Mit der „Vorgeschichte des bürgerlichen Duells“ in Raufhandel, Fehde, gerichtlichem
Zweikampf und ritterlichem Turnier und mit der „Blütezeit (des Ehrenzweikampfs) in der
Adelskultur des 17. und 18. Jahrhunderts“ befaßt sich die Neuhistorikerin Ute Frevert in
ihrer Habilitationsschrift nur in einem knappen Vorspann zur hauptsächlich von ihr beab-
sichtigten Untersuchung seines Vorkommens im 19. und frühen 20. Jahrhundert. Rund 550
preußische, badische und bayerische Fälle aus der Zeit zwischen 1770 und 1937, recherchiert
in 17 Archiven sowie in Zeitungen und autobiographischen Aufzeichnungen belegen die
„hohe Bedeutung (des Themas) für eine Geschichte kollektiver Imaginationen“ (S. 10), „für
eine Mentalitäts- und Gesellschaftsgeschichte des 19. Jahrhunderts“ (S. 267). Denn sowohl
in der Praxis des Duells wie im Verhältnis der Zeitgenossen dazu bildeten sich „zentrale
Strukturprinzipien der deutschen Gesellschaft des 19. und frühen 20. Jahrhunderts“ ab, wo-
durch „Funktionen in den Blick“ gerieten, „die das Duell speziell für die Lebensführung
und Distinktionsstrategien adelig-bürgerlicher Oberschichten wahrnahm“ (S. 16). Als „sze-
nische^) Höhepunkt eines ,sozialen Dramas1 “ (ebd.) vermöge es Victor Turners (Vom Ri-
tual zum Theater. Der Ernst des menschlichen Spiels, Frankfurt am Main 1989) Konzept ei-
ner Analogie zwischen Bühnendrama und sozialem Geschehen besonders anschaulich zu
belegen (S. 275, Anm. 18).
Ohne aus dem Umstand, daß sich Frauen in Deutschland, anders als etwa in Frankreich,
kaum duelliert haben (S. 214 f.; vgl. das allerdings nur in die Bibliographie aufgenommene
Werk von R. Baidick, The Duel, London 1965, das S. 169-178 in Kap. 11 „Women Duel-
lists“ behandelt) einen oberflächlich-süßen feministischen Triumph zu saugen, perlustriert
Frevert scharfsinnig und bedächtig, aber zuweilen auch umständlich und sprachlich etwas
matt und uninspiriert („dem Alkohol geschuldete Gleichgültigkeit“; „Stellenwert“; „bein-
haltete“; „fanden Eingang“; „verdankte sich“; „gingen [unnötig oft!] davon aus“; „Meinungs-
verschiedenheiten, ..., die sich an diesem ... Punkt festmachten“; und unvermeidlich
auch wieder mindestens zweimal „unverzichtbar“) die einzelnen Entwicklungsphasen der
Einstellungen zum Duell in den verschiedenen Gesellschaftskreisen seit Mitte des 18. Jahr-
hunderts. Zunächst faßt sie die Fülle von Äußerungen aus der Zeit der Aufklärung in sechs
Buchbesprechungen
Hauptvorwürfe gegen das Duell zusammen, die auch bei einzelnen Duellforderungen Be-
denken und Satisfaktionsverweigerungen auslösten, und stellt ihnen dann sieben Argumen-
te der Befürworter gegenüber. Exemplarisch an Bayern und Preußen zeigt Frevert die Folgen
solcher Diskussion für die zwar auf dem geduldigen Papier mit Verboten agierende, in der
Rechtspraxis aber oft permissive staatliche Duellpolitik, der es um „die Vereinbarkeit von
allgemeinem Recht und ständischen Privilegien, den Emanzipationsprozeß des Bürgertums
und das Selbstverständnis des Staates gegenüber einer in Bewegung geratenen bürgerlichen
Gesellschaft“ (S. 66) ging, die somit den spätabsolutistischen bzw. frühkonstitutionellen
Zeitgeist spiegelt. Als einer „soziale(n) Bastion des Ehrenzweikampfs“ gebührt natürlich
dem für sich einen Sonderstatus beanspruchenden Militär ein ausführlicheres Kapitel eben-
so wie den Studentenverbindungen und ihrem Comment. Was Ewald Gerhard Seeliger nur
bündig behauptet, bestätigt sich aus Freverts reichem Quellenfundus: , Jede Kaste hat ihre
besondere Ehre (s. Beleidigung) und treibt damit Handel (s. d.). Je blutdürstiger der Ehren-
händler ist, um so zerhackter ist die nähere Umgebung der oberen Öffnung seines Verdau-
ungsrohres (s. Verdauung, Mensur, Duell, Zote)“ (Art. „Ehre“, in: Handbuch des Schwin-
dels, München 1922, Neudruck Frankfurt am Main 1986, S. 64).
Mit den abschließenden beiden Kapiteln versucht Frevert eine „Innenansicht der Duell-
Kultur“ zu vermitteln, begreifen zu lassen, weshalb sich als Träger dieser Kultur fast aus-
schließlich Männer exponieren mußten, und zuletzt auch die Gründe für die „tiefe Erschüt-
terung dieser Kultur“ (S. 233) und für ihren allmählichen Untergang zu deuten, der schließ-
lich 1969 mit der Streichung des Zweikampfparagraphen aus dem Strafgesetzbuch der Bun-
desrepublik Deutschland offiziell besiegelt werden konnte, da der Straftatbestand selber
schon verschwunden war. Daß es „in einer Zeit konvergierender ,Geschlechtscharaktere‘“
für die heldische, „aus Mut, Tapferkeit und Standfestigkeit zusammengesetzte Männlich-
keit“ keinen Bedarf mehr gebe (S. 266), befriedigt indes als letzte Begründung des Ver-
schwindens der „Menschenhackerei“, der „blutige(n) Ehrenhändelei“, als welche Seeliger in
seinem Handbuch (S. 61 f.) das Duell stichhaltig definiert, noch nicht ganz. Nicht nur bei
weltfremden Altherrentreffen auf bierseligen Festkommersen lebt das hehre Ideal des für das
Leben stählenden Ehrenzweikampfes wenigstens noch in burschenschaftlicher Sangeskunst
hoch und fort. Als mythische „Urbilder wie die homerischen Sagengestalten“ (Sergio Leo-
ne, zit. von Werner Kließ, Kino, das frei macht. Gedanken zum Italo-Western, in: Film 1969.
Chronik und Bilanz des internationalen Films, Velber bei Hannover [1969], S. 74-84, hier
S. 83) verkörpern auch noch die Protagonisten des Western und des Italo-Western diese
Männlichkeit. Sie wird gefeiert im Ritus des showdown, in dem Johann Huizingas Auffas-
sung vom Duell als „seinem Wesen nach rituelle Spielform“ (Homo Ludens. Vom Ursprung
der Kultur im Spiel, Hamburg 1956, S. 95) anschaulich wird, und aus dem als Überlebender
immer der Bessere hervorgeht, so auch, ganz aristotelischer Tragödientheorie gemäß, den
Zuschauer kathartisch-gebessert ins Leben entlassend. Solche letzte Transformierung des
Duells in den Mythos konnte aber nicht mehr Gegenstand von Ute Freverts bewunderswert
gründlicher sozialhistorischer Untersuchung sein.
Nürnberg Wolfgang Oppelt
282
Buchbesprechungen
Sigrid WlEMER: Das Leben in Münsteraner Armenhäusern während des 19. Jahrhunderts.
Münster: Coppenrath, 1991, 205 S., Abb. sw, Tab. (Beiträge zur Volkskultur in Nordwest-
deutschland, 71)
Das Buch von Sigrid Wiemer (eine Doktorarbeit) geht der Frage nach dem Lebensalltag in
den Armenhäusern des 19. Jhs. nach. Bedeutete der Einzug in ein Armenhaus einen gesellschaft-
lichen Abstieg oder war er eher der Weg in ein sorgenfreies Leben, in dem die Grundbedürfnis-
se, wie Wohnen und Nahrung, gewährleistet waren? Da hauptsächlich alte Menschen hier Auf-
nahme fanden, fragt sich die Autorin auch, ob die Armenhäuser etwa als Vorläufer der Al-
tersheime betrachtet werden können. Als Quellenbasis dient ihr Archivmaterial des
Stadtarchivs Münster. Sowohl die ab 1815 einsetzende rege Verwaltungstätigkeit der Armen-
kommission, die gut dokumentiert ist, wie überlieferte Nachlässe und Besitzverzeichnisse
der Pfründner wurden als aussagekräftige Quellen herangezogen. Mit ihrer Arbeit leistet Sigrid
Wiemer einen Beitrag zur Geschichte des caricativen Fürsorgewesens, das bislang kaum un-
ter dem volkskundlichen Aspekt des Alltagslebens in den Armenhäusern analysiert wurde.
Nach einem allgemeinen Abriß zur Hospitalgeschichte geht die Autorin der Frage nach
dem Armenhauswesen der Stadt Münster nach. Sie beschreibt die Arbeit der Armenkom-
mission, schildert die Aufnahmebedingungen, die Hausordnung, die durchschnittliche Auf-
enthaltsdauer und das tägliche Leben in diesen Häusern. Dabei rekonstruiert sie die Zusam-
mensetzung der Mahlzeiten, die Gebäude- bzw. Wohnverhältnisse und die pflegerischen
Maßnahmen im Krankheitsfall. Sie geht auf den kleinen Privatbesitz der Pfründner ein, den
sie aus aktenkundigen Nachlaßverkäufen in vielen Fällen ermitteln konnte, und ermöglicht
damit den Einblick in deren sozialen Status. Ferner untersucht sie die gesellschaftliche Ak-
zeptanz der Armenhäuser und deren Veränderung im Verlauf des 19. Jhs.
Ein fast 40 Seiten starker Anhang veranschaulicht in Form von faksimilierten handschrift-
lichen Aufnahmeanträgen ins Armenhaus, Lageplänen, diversen Rechnungen, Grundrissen
und Tabellen - beispielsweise der Lebensmittelkosten über 50 Jahre hinweg - oder Inven-
tarlisten und historischen Abbildungen die konkrete Situation in Armut geratener Men-
schen in diesen Institutionen. Sigrid Wiemer errechnet für Münster, daß im letzten Jh. 50
Prozent der Bevölkerung der Gefahr der Altersverarmung ausgesetzt waren. Als Angehörige
unterer Sozialschichten vermochten sie es nicht, Rücklagen für Unglücksfälle oder das Alter
zu schaffen. Da die eigenen Kinder in der Regel ebenfalls deren Unterhalt zu leisten nicht
imstande waren, war allein das Armenhaus der Ort, der Unterkunft und Verpflegung ge-
währleistete. Die bereits im Mittelalter wurzelnde Tradition, sich verarmten Menschen in
den Hospitälern anzunehmen und zu verköstigen, kann jedoch mit dem ausgehenden 19.
Jh. als erloschen angesehen werden. Der Einzug in ein Armenhaus war um die Jahrhundert-
wende zugunsten einer offenen Armenpflege im wesentlichen überflüssig geworden. Das In-
dividualisierungsstreben der Menschen, verbunden mit einem neuen Rechts- und Persön-
lichkeitsempfinden - so die These -, kollidierte zunehmend mit den starren Hausordnun-
gen dieser Institutionen. Hinzu kam, daß die Sozialversicherung und eine verbesserte
wirtschaftliche Gesamtlage es den Armen ermöglichte, sich selbst zu versorgen. Auch eine
veränderte Wohnungspolitik ließ die Schaffung von Armenhausplätzen obsolet werden.
Die Studie von Sigrid Wiemer kann als Bereicherung der historischen Alltagsforschung
angesehen werden. Vor allem gebührt ihr das Verdienst, sich einer oft vergessenen Gruppe
zugewandt zu haben: Den alten Menschen unterer sozialer Schichten, die bislang durch die
Maschen gängiger Geschichtsschreibung gefallen sind.
Marburg Marita Metz-Becker
283
Buchbesprechungen
UELI GyR: Das Welschlandjahr. Milieuwechsel und Alltagserfahrung von Volontärinnen.
Basel/Frankfurt am Main: Helbig & Lichtenhahn, 1992, 204 S. (Nationales Forschungspro-
gramm 21, Kulturelle Vielfalt und nationale Identität)
„Volontärinnen im Welschlandjahr“ sind junge Mädchen aus der deutschsprachigen
Schweiz, die ein Jahr lang in Privathaushalten der Westschweiz leben und für Kost, Unter-
kunft und ein geringes Entgelt arbeiten. Die Schweizerische Arbeitsgemeinschaft für haus-
wirtschaftliche Bildungs- und Berufsfragen hat dazu „Richtlinien“ mit Empfehlungscharak-
ter erlassen, denen zufolge das Volontariat „dem Erlernen der Sprache und der Einführung
in Lebensart und Kultur des Aufenthaltsortes, aber auch der Persönlichkeitsentwicklung des
Mädchens dienen“ soll (S. 6). Ueli Gyr, aus dessen Untersuchung „Das Welschlandjahr“ wir
das erfahren, weist zu Recht darauf hin, daß diese Zweckbestimmung die Arbeit, die die
Mädchen verrichten müssen, völlig ausblendet. Dabei handelt es sich in der Regel um mehr
als nur Mithilfe im Haushalt: Die in der Untersuchung befragten Mädchen betreuen nicht
nur die Kinder, sondern bewältigen häufig die gesamte Arbeit in den Mehr-Personen-Haus-
halten allein; über zwei Drittel haben einen Arbeitstag zwischen 8,5 und 11 Stunden. Auf-
grund ihres umfangreichen Materials kann die Untersuchung diesen Sachverhalt aus unter-
schiedlichen Perspektiven beleuchten.
Gyr versteht das Phänomen der Welschlandaufenthalte als traditionelles, spezifisch schweizeri-
sches Kulturmuster, das dem außerhäuslichen Erziehungsprinzip folgt. Die Volontariate
wurden gegen Ende des 19. Jahrhunderts geschaffen, wodurch Welschlandaufenthalte auch
für Knaben und Mädchen aus den Mittel- und Unterschichten möglich wurden. Heute sind
es fast nur noch Mädchen, die einen Aufenthalt in Privathaushalten absolvieren. Dies wäre
sicherlich nicht so, wenn sie nicht billige Hausarbeitskräfte darstellten - ein Aspekt, den
Gyr allerdings nicht anspricht. Anliegen der Untersuchung ist, die spezifischen Bedingun-
gen und Verlaufsmuster der Welschlandaufenthalte aus volkskundlicher Sicht zu erfassen.
Dabei kommt dem Geschehen auf der Mikroebene, den Motivationen, Erwartungen, Erfah-
rungen und Verhaltensweisen der Mädchen große Bedeutung zu.
Die Untersuchung arbeitet mit Längsschnittanalysen, in denen eine Kombination von
quantifizierenden und qualitativen Verfahren gelang. So wurden fast 350 Welschlandgänge-
rinnen des Jahres 1987 jeweils vor Antritt und nach Beendigung ihres Aufenthaltes zu ihren
soziodemographischen Daten, den Einstellungen und Erwartungshaltungen, Aufenthalts-
bedingungen, Problembereichen und persönlichen Bilanzen schriftlich befragt. Ebenfalls
mit einem Fragebogen wurden die soziodemographischen Daten von 269 welschen Aufnah-
mefamilien sowie deren Aussagen zur Erfahrungen mit „Welschlandmädchen“ und Stellen-
vermittlungen, zu ihren Erwartungen, Konflikten und Einstellungen gegenüber Deutsch-
schweizern erhoben. Alle Fragebogen waren standardisiert und enthielten jeweils nur weni-
ge offene Fragen. Ergänzend zu diesen quantitativen Erhebungen wurden qualitative
Interviews und Gruppendiskussionen mit zunächst 40, später 38 bzw. 36 Mädchen durch-
geführt. Insgesamt gab es drei Gesprächsrunden in zeitlichen Abständen von mehreren
Monaten.
Das Untersuchungsmaterial wird in gegenstandsadäquater Strukturierung dargeboten,
sorgfältig analysiert und meist überzeugend interpretiert. Es deckt ein breites Spektrum an
interessanten Inhalten ab. So erhalten wir detaillierte Informationen über die soziale und fa-
miliäre Herkunft der Mädchen, ihre Ausbildungs- und Berufswünsche sowie Motivation
zum Aufenthalt, über ihren Alltag mit den Aufnahmefamilien, über Arbeitsbedingungen,
Arbeitsfelder und -klima wie auch über Freizeitverhalten, Spracherwerbsmöglichkeiten und
284
Buchbesprechungen
Konflikterfahrungen. Die Interviewauszüge gewähren lebendige Einblicke in das Erleben
der zunächst fremden Umwelt, Familie und der Beziehungen zu dieser. Am Ende wird als
wohl wichtigstes Ergebnis festgehalten, daß die Volontärinnen zwar Fremdkontakte haben,
deren entscheidende Wirkung aber nicht von der kulturellen Dimension ausgeht. Vielmehr
steht „im Mittelpunkt die alterstypische Übergangs- und Identitätserfahrung, deren Beson-
derheit darin besteht, daß sie in der Fremde in einem anderssprachigen Milieu gemacht
wird“ (S. 197).
Obwohl sich die Fallstudie von wichtigen theoretischen Konzepten und Modellen leiten
läßt, verbindet Gyr mit ihr keinen Anspruch auf einen theoretischen Beitrag zum Kultur-,
Kontakt- und Übergangsparadigma „Welschlandaufenthalt“. Dazu weist der Autor auf die
Erklärungsansätze hin, die er in seiner Veröffentlichung „Lektion fürs Leben. Welschland-
aufenthalte als traditionelle Bildungs-, Erziehungs- und Übergangsmuster“ (1989) entfaltet
hat. Von der vorliegenden Studie erwartet er vor allem einen praktischen Nutzen für alle,
die an einer „verbesserten Praxis interkultureller und zwischenmenschlicher Kommunika-
tion“ interessiert sind (S. 6). Dazu soll die Aufdeckung von typischen Konflikten, Kontakt-
behinderungen, Vorurteilen und Mustern gelungener,Aufenthaltsbewältigung Anstöße ge-
ben.
Die Veröffentlichung „Das Welschlandjahr“ dokumentiert eine interessante, überfällige
und gelungene empirische Untersuchung. Kritische Anmerkungen der Rezension betreffen
einen methodischen und einen wissenschaftsorganisatorischen Aspekt: Die Untersuchung
erfolgte im Rahmen des Projekts „Welschlandaufenthalte 87. Kontakte und Verhaltensmu-
ster im interkulturellen Alltag“ und stützt sich auf Materialien und Ergebnisse eines gleich-
lautenden internen Arbeitsberichts (1989) der Projektmitarbeiterinnen Beatrice Hess, Eva
Nadai und Brigitte Stucki. Die Studie hat diesen Arbeitsbericht „durch empirische Daten
aus zwei zusätzlichen umfangreichen Erhebungen“ erweitert und verändert (S. 3). Die drei
Mitarbeiterinnen haben die Interviews durchgeführt. Gyr merkt an, daß das Engagement
der Interviewerinnen in einer prinzipiell solidarisierenden Haltung mit den Welschland-
mädchen konstant durchschlug und daß „Interviewführung, Fragestellungen und Themen-
auswahl die Aussagen auch inhaltlich mitprägten“ (S. 6). Leider erfahren wir nicht, ob und
gegebenenfalls wie diese Solidarisierung, die sich bei dem vorliegenden Problembereich
wohl nicht ganz vermeiden läßt, methodologisch reflektiert und methodisch bearbeitet
wurde. Interviews repräsentieren ja bekanntlich immer eine von Befragten und Befragerin-
nen/Befragern gemeinsam erstellte Textproduktion. Deshalb ist es schade, daß die Mitarbei-
terinnen an der Dokumentation offenbar nicht mehr beteiligt waren.
Osnabrück Jutta Dornheim
Vermittlung durch Vorführung? Demonstration traditioneller und historischer Arbeits-
techniken im Museum. Bericht über die 3. Tagung der Museumspädagogen an Freilicht- und
Industriemuseen im Volkskunde- und Freilichtmuseum Roscheider Hof Konz und im Rhei-
nischen Freilichtmuseum/Landesmuseum für Volkskunde Kommern vom 22.-24. No-
vember 1989. Köln: Rheinland Verlag/Bonn: Habelt, 1992, 89 S. (Führer und Schriften des
Rheinischen Freilichtmuseums und Landesmuseums für Volkskunde in Kommern, Nr. 46)
285
Buchbesprechungen
Der gesamte Komplex der Schauproduktion im Museum befindet sich im Konflikt bereich
zwischen Museumswissenschaftlern, -pädagogen, Handwerkern und Besuchern, gleichzei-
tig zwischen den Anforderungen von Authentizität, Wirtschaftlichkeit, Darstellbarkeit und
den je spezifischen Arbeitsbedingungen. Daß in diesem Geflecht von Interessen ein Konsens
und eine einvernehmliche Lösung auf lange Sicht äußerst schwer sind, vermitteln die Beiträ-
ge dieses angenehm knapp und präzise gehaltenen Tagungsbandes.
In seinem einleitenden Referat weist Michael H. Faber auf das Problem von Attraktivität
und folkloristischen Tendenzen hin und auf die Unmöglichkeit, beim Vorführen soziale
Hintergründe und psychische oder physische Belastungen deutlich zu machen. Die Illusion
der Ganzheitlichkeit und der historischen Wirklichkeit zieht sich nicht nur als Problem
durch seinen Beitrag: Dieser Schein wird durch die Bank als Belastung empfunden, dem
man die museale Wirklichkeit und zumindest den deutlichen Hinweis auf das Nicht-
Dargestellte gegenüberstellen muß.
Ein weiteres weitverbreitetes Problem stellen die Personen der Vorführer dar. Alte Hand-
werker mit Qualitätsanspruch, leistungsbezogene Produzenten, ehemals im nun musealen
Betrieb beschäftigte Arbeiter sind alle nicht auf die Situation vorbereitet, daß die Besucher
sie mit ihren immergleichen Fragen löchern, daß die Produktion nicht an der Stückzahl ge-
messen wird, daß die Produkte nicht so perfekt werden, wie wenn man neue Maschinen hät-
te - und entsprechend reagieren sie auf diese Problematik nicht immer im Sinne der Mu-
seumspädagogik.
Konservatorische Bedenken spielen mit, jedoch stehen sie nicht im Vordergrund. Daß
man einzelne Geräte inventarisiert und nicht benutzt, wird akzeptiert, aber öfter wird der
Vorschlag gemacht, dann doch Zweitgeräte zur Benutzung anzuschaffen, was einen bürokra-
tischen, aber keineswegs objektgerechten Umgang mit historischem Kulturgut ahnen läßt.
Interessant sind die geschilderten Beispiele von (vor allem) Schülerproduktionen im Frei-
lichtmuseum am Beispiel der Flachsverarbeitung und der Lehmausfachung {Bernd, Blumen-
thal) sowie des Kommerner Projekts „Schüler wohnen im Museum1 {Claus Cepok), über das
man gerne mehr erfahren hätte.
Kritisch gehen die Autoren und Autorinnen mit der ökonomischen Situation der Vorfüh-
rer ins Gericht. Hier scheint eine sparsame Bezahlung und zögerliche Weiterbildung die
Fluktuation enorm zu beschleunigen. Hier erscheint eine Angleichung zumindest auf den
Stand der in der freien Wirtschaft erzielten Löhne anzustreben zu sein.
Eine Resoluton, die einen Forderungskatalog an die Vorführung von Haus- und Land-
wirtschaft, handwerkliche und industrielle Produktion enthält, beschließt den etwas eng
auf ökonomische und pädagogische Fragestellungen kozentrierten Band.
Tübingen Martin Beutelspacher
WOLFGANG SUPPAN (Hrsg.): Schladminger Gespräche zum Thema Musik und Tourismus.
Tutzing: Schneider, 1991, 292 S. (Musikethnologische Sammelbände, 12)
Von den drei Themen, die auf der Ende Juli 1989 im steiermärkischen Schladming abge-
haltenen 30. Weltkonferenz des International Council for Traditional Music zur Diskussion
standen, kam fraglos dem ersten, das den Problemkreis „Auswirkungen des Tourismus auf
286
Buchbesprechungen
die traditionellen Musikkulturen“ beleuchten sollte, ein herausragender Stellenwert zu.
Zum einen war dies bedingt durch das weltweite Anwachsen des Massentourismus mit allen
daraus resultierenden Folgeerscheinungen und zum anderen bot sich das Gastland der Kon-
ferenz selbst als anschauliches Beispiel an, angesichts der Tatsache, daß für Österreich der
Fremdenverkehr ein äußerst wichtiger volkswirtschaftlicher Faktor mit weitreichenden
Auswirkungen auf die einheimische Bevölkerung und ihre Kultur ist. Die fortdauernde Bri-
sanz des Themas aber läßt den nunmehrigen Abdruck der in Schladming vorgelegten, dar-
auf bezogenen Referate als besonders begrüßenswert erscheinen und dafür ist dem Herausge-
ber, der schon maßgeblichen Anteil am Zustandekommen der Konferenz hatte, zu danken.
Als erstes gibt der Band die Plenar-Vorträge wieder: John Blacking, Belfast: Towards a Hu-
man Science of the Tonal Art: Anthropology and the Reintegration of Musicology; Kurt
Blaukopf, Wien: Legal Policies for the Safeguardig of Traditional Music: Are they Utopian?;
und Wolfgang Suppan, Graz: Tourism-Culture-Music (Anthropological Aspects). Der nicht
nur theoretisch anspruchsvolle, sondern auch mit anschaulichen Bezügen zu konkreten
Fakten untermauerte Suppan-Beitrag leitet gleichzeitig über zur Gruppe der 16 entweder
deutsch oder englisch abgefaßten Referate, die in alphabetischer Reihenfolge der Autorenna-
men aufeinander folgen. Dabei wird offenbar, daß die Beziehung Volkslied/Volksmu-
sik/Volkstanz -Tourismus ziemlich weit in die Vergangenheit zurückreicht und daß die
zeitgenössische Problematik viel besser verstanden werden kann, wenn man ihre historische
Tiefe mit auslotet. In diesem Sinne sind denn auch eine Reihe von Referaten ausgerichtet:
Drei der vier österreichischen Beiträge setzen historische Akzente und zwar Helga Thiel, die
über frühe Formen des Tourismus in Österreich referierte, Ottfried Hafner, der den Einfluß
Erzherzogs Johann auf die Volksmusikpflege und den Folklore-Tourismus in Österreich be-
handelte und Rainer Gstrein, der Tanz- und Tanzmusiknachrichten in Reiseberichten über
Österreich aus der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts herausteilte. Uber Berichte deut-
scher Forschungsreisender über die Volksmusik Kaukasiens schreib Emst Emsheimer aus
Stockholm und auf Reiseberichte des 18. und 19. Jahrhunderts mit Nachrichten über das
Kleftenlied bezog sich Rudolf M. Brandl aus Göttingen. Während Zdravko Blazekovic aus
Agram-New York ein revolutionäres Liedgenre des 19. Jahrhunderts, die sog. Budnica, als
Kunstlied im Volksmund behandelte, war der zweite kroatische Beitrag, das Referat von Jer-
ko Bezic, Agram, auf die Gegenwart ausgerichtet: er behandelte „Neue Beziehungsformen
der traditionellen Musik zum Tourismus in Kroatien“. Engelbert Eogar aus Graz referierte
sodann über die aktuelle Problematik des Volksgesangs der slowenischen Minderheit im
Fremdenverkehrsgebiet von Kärnten, und wie es um die Volksmusikinstrumente in einem
der heute wichtigsten Touristikgebiete Polens, in Podhale, bestellt ist, untersuchte Ewa Dah-
lig aus Warschau anhand eines konkreten Beispiels: „Die Geschichte einer Tanzillusion und
ihre Bedeutung für den Tourismus“, so überschrieb Lisbet Torb aus Kopenhagen ihre sehr an-
schauliche Analyse von „Zorbas Tanz“.
Außereuropäische Fragestellungen waren aufgeworfen in den Referaten von Susanna Fried-
mann aus Kolumbien (Mündliche Techniken und die musikalische Überlieferung der Ro-
manzen in den Tiefländern Kolumbiens), Martin Ramstedt aus München (Kulturtourismus
- Erziehung - Identität. Indonesische Kulturpolitik und die Entwicklung der balinesi-
schen Darstellenden Künste), Tatsuko Takizawa aus Japan (Tourismus und traditionelle Mu-
sik. Fallstudie Singapore und Japan) und MelindaA. Rüssel aus Illinois (die über den aus der
Karibik stammenden Reggae in England und den Vereinigten Staaten berichtete). Von einer
anderen Seite beleuchtet wurde das Thema in den Referaten von Piotr Dahlig aus Warschau,
der über Musik und „traditionellen Tourismus“, d.h. über die Wandermusikanten berichte-
287
Buchbesprechungen
te, und auch im Referat von Ruth Davis aus Cambridge, bei der es um Straßenmusikanten
in dieser englischen Universitätsstadt ging.
Das letzte Drittel des Buchumfangs wird von einem „Anhang“ eingenommen, in dem
wiedergegeben sind: ein Schriftenverzeichnis 1974-1990 der Mitarbeiter des Instituts für
Musikethologie in Graz; eine von Helmut Brenner erstellte, kommentierte Bibliographie der
eben dort verfaßten Magister- und Diplomarbeiten; und ein Verzeichnis 1967-1988 der Ta-
gungen und der gedruckten Referate der Historischen Studiengruppe im ICTM. Obwohl
der „Anhang“ keinen unmittelbaren Bezug zum Vorausgehenden hat, bietet er trotzdem ei-
nen willkommenen Einblick in die rege Tätigkeit des von Wolfgang Suppan geleiteten Insti-
tuts.
Freiburg i. Br. Gottfried Habenicht
KRIEMHILD KaPELLER: Tourismus und Volkskultur. Folklorismus - Zur Warenästhetik
der Volkskultur. Ein Beitrag zur alpenländischen Folklorismusforschung am Beispiel des
Vorarlberger Fremdenverkehrs mit besonderer Berücksichtigung der Regionen Montafon
und Bregenzerwald. Graz: dbv-Verlag für die Technische Universität Graz 1991. 352 S. mit
42 Abb. (Dissertationen der Karl-Franzens-Universität Graz, Bd. 81).
Der Anspruch der Arbeit ist kein geringer: - wie und welches Angebot kommt als
Volkskultur in Form von Folklorismus für den Tourismus zustande; - welche Funktions-
änderung und welcher Bedeutungswandel erfolgen durch einen Folklorisierungsvorgang im
Tourismus; - welches sind die Erwartungen der Vorarlberg-Touristen speziell an die Volks-
kultur des Gastlandes; - welche Bedürfnisse werden geweckt; - wie versuchen die Einhei-
mischen, den touristischen Rollenerwartungen gerecht zu werden.
Letztendlich will die Arbeit das Selbst- und Fremdverständnis von Bereisten und Reisen-
den reflektieren. Dabei soll hinter die Kulissen geblickt werden, um herauszustreichen, wel-
che Elemente der Volkskultur im Sinne einer Warenverpackung ästhetisierend umhüllt wer-
den.
Um es vorweg zu erwähnen: Nach meinem Dafürhalten hat die Autorin ihren eigenen
Anspruch in lesenswerter und durchaus überzeugender Weise erfüllt. Es ist eine materialrei-
che Detailstudie zum Vorarlberger Tourismus herauskommen, die in ihren empirischen Tei-
len die Notwendigkeit und die Fruchtbarkeit einer volkskundlich/kulturwissenschaftli-
cher Tourismusforschung darlegt, in ihren Analysen aber im Rahmen bisher üblicher Theo-
rien bleibt, was den Ertrag der Arbeit allerdings kaum schmälert. Immerhin reizt sie den
Leser, zumindest Blicke auf mögliche neue Ufer einer Tourismusinterpretation zu werfen.
Die Arbeit liefert eine Fülle von Fakten und Überlegungen: - zum Fremdenverkehrsver-
band Vorarlberg; - zu touristischen Veranstaltungen vom „Heimatabend“ bis zum „Hand-
werk wie zu Großvaters Zeiten“, die eigens für Touristen marktgerecht inszeniert werden;
- zu Bräuchen und Sitten, die als Element der Volkskultur für den Tourismus aufbereitet
werden; - zum „architektonischen Folklorismus“, indem im wahrsten Sinne des Wortes
„Verfallenes“ für den Touristen neu „aus der Asche“ ersteht; - zum Nahrungsfolkloris-
mus, in dem neben internationaler Küche vermehrt das „heimatliche“ Ambiente und die re-
288
Buchbesprechungen
gionale Kost speziell für den Touristen auf den Teller kommen; - zu den Souvenirs, die aus-
schließlich zur touristischen Vermarktung wieder aufgelegte Volkskultur darstellen; - und
schließlich zur Werbung, in der volkskulturelle Embleme zentrale Bedeutung gewinnen.
Die Arbeit besticht in ihren empirischen Inhalten und zeugt von einer regen und genau
beobachtenden Feldarbeit der Autorin. Es wäre allerdings müßig, aus dieser Fülle sich einen
Punkt herauszugreifen und ihn zu diskutieren. Das würde der Arbeit insgesamt nicht ge-
recht werden können. Wesentlicher scheint mir deshalb eine Auseinandersetzung mit dem
tourismuswissenschaftlichen und fachspezifischen Hintergrund, vor dem sich die Arbeit
bewegt. Das erscheint auch deswegen notwendig, da hier das schwelgende Lob seine „abers“
erfährt. Und eine Kritik will ja nun mal nicht nur loben, sondern vor allem die Arbeit ins-
gesamt einordnen. Das aber muß an ihrer Bedeutung für den wissenschaftlichem Diskurs
über das Thema ansetzen.
In der Klärung ihrer Begriffe führt Kapeller eine interessante Auseinandersetzung mit
dem Folklorismus: den Begriff kann man nach ihrer Überzeugung nicht von der Sache tren-
nen, in Anlehnung an eine Arbeit von Max Matter plädiert sie für funktionale Analysen
und somit für eine Annäherung von der Empirie her. Sie rekurriert in ihrer eigenen Be-
griffsbestimmung von Folklorismus, der in ihrer Auseinandersetzung mit Tourismus eine
zentrale Rolle einnimmt, die nachdenklich macht, auf eine Arbeit von U. Bodemann, nach
der es folgende Regelmechanismen für folkloristische Phänomene gibt: 1. Eine Kulturer-
scheinung ist im Verschwinden begriffen. 2. Sie wird entgegen ihrem zu erwartenden völli-
gen Aussterben wieder aufgenommen. 3. Dabei werden ihre Demonstrations- und Repräsen-
tationsmerkmale verstärkt, bzw. sie wird um solche Merkmale bereichert. 4. Durch die
Wiederaufnahme erhält die Kulturform neue Funktionen für die beteiligten Personen-
kreise.
Folklorismus so betrachtet kann für eine kritische Tourismusforschung, die jene zentrale
„interethische Situation“ zwischen Reisenden und Bereisten reflektiert, von Relevanz wer-
den. So wäre hierin möglicherweise ein kommunikatives Bindeglied für diese Situation ge-
funden.
Kapellers weitere thoeretische Auseinandersetzung mit dem Tourismus-Begriff bleibt al-
lerdings oberflächlich, streift zwar die gängigsten Theorien, ist letztlich aber zu allgemein
und zu unkonkret. Beim Lesen verdichtet sich der Eindruck, daß es ihr schwer fällt, eine ein-
deutige Position im theoretischen Wirrwarr über Tourismus und seine Funktion in der Mo-
derne zu beziehen; dies äußert sich dann in folgender Feststellung: „. .. und das ist wahr-
scheinlich die einzige sichere Aussage über den Tourismus unserer Zeit, daß er in jeder Hin-
sicht widersprüchlich ist.“ Diese theoretische Schwammigkeit nimmt letztendlich der
Arbeit aber einiges von ihrem empirischen Gehalt, der in der Tat beeindruckend ist und des-
wegen aber nach einer theoretischen Reflexion verlangt.
Kapeller stellt in der Analyse ihres Materials fest, daß die den Touristen gebotene Volks-
kultur keiner Wirklichkeit geschichtlicher Volkskultur entspricht, sondern von ihren sozia-
len und ökonomischen Zusammenhängen gelöst und durch allerlei vermeintlich
schmückendes Beiwerk verzerrt erscheine. Sie löst diese empirische Tatsache in der These
auf, daß die den Touristen offerierte und inszenierte Gegenwelt, in der diese Abstand von
ihrem eigenen Alltag gewinnen wollen, nicht gelebt sondern erlebt werden soll!
Einer solchen These ist durchaus zuzustimmen, doch darüber hinaus wäre zu fragen, wel-
che Bedeutung diese erlebte Gegenwelt, deren Künstlichkeit allen bewußt ist, sowohl im
■Alltag der Reisenden als auch der Bereisten gewinnt. Wird sie nicht jenseits ihrer Künstlich-
289
Buchbesprechungen
keit wiederum authentisch, da sie als Kunstprojekt im Augenblick der Begegnung Wahrheit
und Einmaligkeit beanspruchen kann und auch vermittelt? Der Leser hätte sich zumindest
eine kurze Diskussion zu diesen Fragen erhofft.
Kapeller bewegt sich in gängigen Thesen zum Verhältnis von Tourismus und Alltag, in-
dem sie Folklorismus und Naturerfahrung als Sinnsuche und Sinngebung interpretiert und
dies mit dem Hinweis auf einen relativ unbedeutenden Aufsatz von Karl-Markus Michel
zum Alltag belegt, der in der bürgerlichen Gesellschaft einen ständig wachsenden Bereich
des Privaten sieht, dem immer mehr Sinn-Stiftung aufgebürdet wird, je weniger der öffentli-
che Bereich noch dafür aufkommt.
Natur- und Kulturerlebnisse im Urlaub dienen in der Analyse von Kapeller so als kom-
pensatorische Praxis, die im raschen Wandel der Zeit Elemente der Wiedererkennbarkeit
und Hilfen zur Identitätsbestimmung zu geben versuchen und so ein Indiz dafür darstellen,
daß unserer Zivilisation in emotionale Distanz zu sich selbst geraten und ebenso gegen-
wartsflüchtig wie vergangenheitssüchtig geworden ist.
Das ist zwar nicht falsch, doch es führt in der Tourismusforschung erneut in jene Falle der
Kompensationsthese, die durch ihre allzu einfache Überzeugungskraft vielfach verhindert
hat, daß man das Verhältnis von Reisen und Alltag anders begreift. Seit Enzensbergers „The-
orie des Tourismus“ nämlich wird dieser immer wieder als Flucht und Gegenwelt zum bür-
gerlichen Alltag interpretiert. Dabei wäre es an der Zeit, touristische Verhaltensweisen und
Erlebnismöglichkeiten als integralen Bestandteil dieses Alltags selbst zu sehen, als Aspekt
des sozialen, ökonomischen und kulturellen Kapitals von Menschen bzw. als handhabbare
Lebensstilelemente, mit denen Menschen, wie mit vielen anderen Dingen auch, nahezu
spielerisch und zugleich gewinnbringend umgehen, sie eben kulturell so verwenden, wie es
ihnen gerade nützlich erscheint.
Kapeller stellt weiterhin fest, daß Reisen und Urlaub als Mittel gelten, fremde und eigene
Grenzen zu erleben. Zugleich arbeitet sie heraus, daß diese Grenzerlebnisse sehr wohl do-
siert sein sollen. Weshalb aber sollen sie dosiert sein? Eine Antwort, die sie nicht gibt, wäre,
daß eine Dosierung deswegen erforderlich ist, da auf keinen Fall der Erlebniswert bestimm-
ter Grenzziehungen die Alltäglichkeit der Menschen, in der Urlaub einen bestimmten
Raum einnimmt, überschreiten darf. Die Alltäglichkeit darf und soll sogar vorübergehend
aufgebrochen werden, doch nur innerhalb ihrer eigenen Gesetzmäßigkeit und Ordnung.
Welche das aber sind und welche Bedeutung sie entfalten, das wären zentrale Fragen einer
volkskundlich/kulturwissenschaftlichen Tourismusforschung, an die Kapeller zwar heran-
kommt, die sie aber leider nicht weiter verfolgt. Hier zeigt sich deutlich das Fehlen eines aus-
gearbeiteten theoretischen Ansatzpunktes in ihrer Tourismusanalyse, der neue Wege be-
schreitet.
Kapeller liefert eine Fülle von Material mit durchaus überzeugenden Analysen. Doch es
fehlt der Bezug dieser Analysen auf eine Theorie der Moderne, in der Urlaub eine spezifi-
sche kulturelle Erscheinung darstellt, die sich seit den ersten Studien erheblich gewandelt
hat. Der heutige Urlauber ist nicht mehr mit jenem zu vergleichen, an denen die leider noch
immer gängigen Theorien entwickelt wurden. So aber ist die theoretische Phantasie gefor-
dert, die unser Fach durchaus entfalten kann. Möglicherweise konnte das aber in einer De-
tailstudie nicht geleistet werden.
Ein großes Verdienst der vorliegenden Studie sehe ich allerdings darin, daß sie den Urlau-
ber nicht als Täter begreift, sondern als Subjekt, das seine Freiheit, die es bitter nötig hat,
genießt. Damit hat sie sich dem Bann entzogen, der allenthalben auf dem Touristen lastet.
290
Buchbesprechu ngen
Nicht der einzelne Tourist ist der große Zerstörer, es ist die Art, wie Reisen in der Moderne
organisiert sind.
Um den roten Faden der Arbeit wieder aufzunehmen, muß darauf eingegangen werden,
daß Kapeller in ihrem Schlußteil das Verhältnis Tourismus und Folklorismus noch einmal
durchdenkt und dabei bestimmt. Folklorismus läßt sich demnach keiner allgemeingültigen
Thorie unterwerfen, er bezieht seinen wesentlichen Antrieb heute vielmehr aus dem Touris-
mus. Diesen Gedankengang sollte die Tourismusforschung in der Zukunft noch vertiefen.
Auf Grund der schon kritisierten theoretischen Vorgehensweise sieht Kapeller Folklore
allerdings als Gegenwelt zur Arbeits- und Alltagswelt, das Interesse an Folklore speise sich
demnach aus der symbolintensiven Gebrauchswertbestimmung wie Geselligkeit, Exotik
aber auch „die gute alte Zeit“ und Tradition. Mit der Ausbreitung der verwalteten Welt
wachse die Sehnsucht nach Unverschandeltem; volkskulturelle Elemente, die zu sinnent-
leerten Traditionen wurden, werden im Tourismus zu ästhetischen Gebilden, die völlig an-
dere Funktionen ausüben: im Tourismus symbolisieren sie Heimweh nach dem verlorenen
Paradies, nach dem Paradies der Ursprünglichkeit, nach dem einfachen Leben.
Mit diesem Schlußteil hat Kapeller noch einmal einen Punkt erreicht, an dem ich ihr
nickend zustimme und mich im Lehnstuhl räkele. Doch es hätte mich zugleich erfreut,
wenn sie die Bedeutung der Paradies-Metapher, die sie eher schlagwortartig einsetzt, in der
Geschichte und der Gegenwart des Reisens noch ausführlicher reflektiert hätte. Hier hat sie
m. E. einen jener Punkte erreicht, an denen sie, leider, stehen bleibt; der nächste Schritt dar-
über hinaus nämlich hätte Blicke auf ein anderes Ufer eröffnet, von dem aus ein veränderter
Zugang zum heutigen Tourismus möglich sein könnte.
Dennoch oder trotzdem bleibt es ihr Verdienst, aufzuzeigen, daß dem Folklorismus eine
zentrale marktpolitische Bedeutung für den Tourismus zukommt; das aber unterscheidet
ihn von all seinen Vorgängern. Somit ist Folklorismus, bzw. was sich darin empirisch trans-
portiert, letztlich Ausdruck eines diffusen Unbehagens mit den augenblicklichen Zustän-
den. Nicht das Unbehagen aber scheint mir, noch einmal ergänzend zu Kapellers Ausfüh-
rungen, das Problem, sondern weshalb diese Elemente, die als Folklore im Tourismus aufge-
griffen werden, überhaupt zu Projektionsflächen dafür werden können. An dieser Stelle
aber begänne wohl eine neue Studie. Kapeller kommt nicht über den derzeitigen theoreti-
schen Stand der Tourismusforschung hinaus, doch das wollte sie auch nicht. Sie diskutiert
ihre empirischen Ergebnisse auf der derzeitigen Grundlage theoretischen Denkens. Das
aber führt sie überzeugend aus. Sie fügt aber vor allem der Diskussion über Tourismus ein
spannendes empirisches Bausteinchen hinzu, indem sie auf die Funktion von Folklore hin-
weist.
Insgesamt, und das sei abschließend besonders gewürdigt, verifiziert sie in beeindrucken-
der Weise eine eingangs von ihr formulierte Hoffnung, daß Volkskunde mehr zu bieten ha-
be als Heimatmuseen, Heimatpflege, Brauchtümeleien oder Trachtenerneuerung. Volks-
kunde kann in der Tat, und das zeigt Kapellers Studie, wesentlich zum Entziffern der Mo-
derne beitragen; das Tourismusphänomen ist dabei nur ein, wenn auch gewichtiger, Bereich,
den das Fach für sich gewinnen und dabei aus seiner Sicht reflektieren kann.
Münzenberg RONALD LUTZ
291
Buchbesprechungen
MARTIN SALOWSKI: Osterreiten in der Lausitz. Bautzen: Lausitzer Druck- und Verlagshaus,
1992, 96 S. u. zwei Beilagen
Zu Zeiten der Deutschen Demokratischen Republik mangelte es dem sorbischen
Domowina-Verlag schlicht an Interesse, Bücher über das Osterreiten zu veröffentlichen. Der
Stoff hat sich daher gewissermaßen angestaut. Und so verwundert es nicht, daß zu Ostern
1992 gleich zwei einschlägige Publikationen auf den Markt gelangten: in Sorbisch Alfons
Frencls illustrierte Darstellung „Krizerjo“ („Osterreiter“; seit Ende 1992 auch deutsch), in
Deutsch Martin Salowskis „Osterreiten in der Lausitz“, als Band II der Reihe „Lausitzer
Land“ von der einstigen Domowina-Druckerei in Bautzen selbständig ediert.
Mit seinem goldbedruckten braunen Kunstledereinband und der bunten Werbemanschet-
te macht Salowskis Arbeit einen geradezu exklusiven Eindruck. 29 meist farbige Abbildun-
gen auf 20 Glanzpapierseiten bilden eine separate, sinnfällige Ergänzung zu den gut 90 Seiten
Text. Martin Salowski möchte dem aufgeschlossenen Leser „eine verläßliche Information
über Inhalt, Ursprung und Verlauf dieses bemerkenswerten Osterbrauches geben“ (Vor-
wort, S. 7). Zu Recht, denn mit dem Hintergrundwissen ist es nicht weit her; schon der
Bautzener Kanonikus Michal Hornik hatte sich 1866 im „Katolski Posol“ (Katholischer
Landbote) über die herrschende Ignoranz beschwert. Für jeden Autor als problematisch er-
weist sich zunächst die Ordnung des Materials. Auf der einen Seite haben wir den religiösen
Inhalt, der sich seit 1000 Jahren kaum verändert hat, auf der anderen Seite die Form des seit
1490 schriftlich bezeugten Volksbrauches, die ihre wechselvolle Geschichte durchaus be-
sitzt.
Im ersten größeren Abschnitt widmet sich der Verfasser vornehmlich dem Inhalt und
dem damit verbundenen religiösen Bekenntnis. Er interpretiert die Brauchhandlung ganz
als Vehikel der Osterbotschaft und zitiert als Beleg für letztere das älteste schriftliche Zeug-
nis über die Auferstehung, das der Apostel Paulus im ersten Brief an die Korinther um das
Jahr 55 niederschrieb. Mit theologischer Kompetenz erläutert er den christlichen Begrün-
dungszusammenhang des ursprünglich heidnischen Umrittes, auf S. 15 gerät er direkt in den
Duktus der Predigt. Verwundern dürfte das nicht die sorbischen Leser, wohl aber die „frem-
den“ Adressaten, die nicht wissen, daß der auf der Manschette als „ehemaliger Osterreiter“
apostrophierte Autor im Hauptberuf Geistlicher ist.
Die Schwierigkeit der Präsentation zeigt sich konkret dann, wenn Salowski etwa unter der
Zwischenüberschrift „Inhalt des Brauches“ selbständige Ausführungen zur Länge der Pro-
zessionsstrecken macht und extensiv früheren Beschreibungen Raum gibt, wenn er im histo-
rischen Abschnitt „Veränderungen im letzten Jahrhundert“ einleitend über Witterungsbe-
dingungen referiert. Überhaupt wird mancherorts ohne Not wiederholt. In den Passagen
über Ursprung, Entfaltung, historische Wandlungen und mögliche Zukunft des Osterrei-
tens finden sich jedoch zuverlässig sämtliche Informationen - etwa über die Auseinander-
setzungen nach der Reformation, über die katholische Aufklärung, über den Aufschwung
vor und nach dem Ersten Weltkrieg, die Beeinträchtigungen während der Nazizeit -, die so
oder ähnlich schon aus Artikeln des sorbischen Volkskundlers Siegmund Musiat bekannt
sind und nun auch in Frencls neuem Buch stehen. Das spricht dafür, daß die Quellenbasis
begrenzt und inzwischen weitgehend gesichert ist. Gewisse Besonderheiten ergeben sich
hier dennoch - so, wenn Salowski beispielsweise als Initiatoren der Bautzener Reiterprozes-
sion ab 1928 erst den Gastwirt Robel (S. 43) und danach den Kaplan Josef Noack (S. 51)
nennt, wenn er die 1974 erwogene Zusammenlegung der Prozessionen unbestimmt läßt
(Frencl zitiert den „Katolski Posol“: „Am Ende werden wir nur noch zwei Züge haben -
292
Buchbesprechungen
von Crostwitz nach Wittichenau und umgekehrt.“), wenn er schließlich - auf S. 31 - er-
klärt, daß schon vor dem Zweiten Weltkrieg „sorbische Geistliche durch ihr Mitreiten ihre
Wertschätzung“ für den Brauch bekundeten; bisher galt in der Sekundärliteratur die Teil-
nahme von Pfarrer Krahl (Wittichenau) und Kaplan Scholze (Ralbitz) im Jahr 1940 als das
Debüt der Gemeindepfarrer. Eine soziologisch beachtenswerte Aussage trifft Salowski übri-
gens im historischen Abriß (S. 23): „Das Osterreiten wird mittlerweile von Sorben wie
Deutschen als religiöser sorbischer Osterbrauch verstanden und akzeptiert.“ Mißverständ-
nisse in der Endzeit der DDR dürften eher aus Unkenntnis denn aus Bosheit erwachsen
sein.
Auf den ersten 30 Seiten des handlichen Büchleins wird insgesamt die Absicht deutlich,
den Verkündigungscharakter des Rittes zu exponieren. Das heißt nicht, daß die ethnogra-
phischen Details zu kurz kämen. Was bis hierhin noch fehlt, sucht der Verf. ab S. 33 zu er-
gänzen: im Großkapitel „Osterreiten - eine Laienbewegung“. Unter der Überschrift „Vor-
bereitung und Ablauf“ kommen die verschiedensten Begleiterscheinungen dieser „Männer-
sache“ (S. 33) zur Sprache (bis hin zu der Anekdote, daß „in den Versicherungslisten der
Reiter ein Sorbe seinen ordentlichen Wohnort Paris in Frankreich angegeben hatte“), es
werden verdiente Reiter genannt, organisatorische Probleme skizziert, die Strecken näher
bestimmt, denn die beigelegte Skizze der Prozessionswege ist so grob gezeichnet, daß man
meinen möchte, potentielle Zuschauer sollten in die Irre geleitet werden.) Eine wirkliche
Neuheit bietet Salowski mit seinen „Berichten aus den Gemeinden“ (S. 36 ff.). Hier stellt er
Zeitungsmeldungen aus dem „Katolski Posol“ zusammen, die oft zeitgeschichtliche Wende-
punkte markieren und die man derart sortiert noch nirgends hat lesen können. Unter den
Berichtsjahren sind 1849, 1891, 1918, 1939, 1951, die frühen 60er und die 70er Jahre; alle
Osterreitergemeinden werden berücksichtigt. S. 54/55 sind die 1984 formulierten „Empfeh-
lungen für die sorbischen Osterreiter“ abgedruckt, ein für Gäste des Ereignisses sehr auf-
schlußreiches Regelwerk. Die gelegentlichen Besuche von Bischöfen (angeführt ist eine An-
sprache von Kardinal Bengsch, 1977) erscheinen als Würdigung der Aktion. - Zugaben wie
die Ostermeditation des Berliner Seelsorgers und Sozialpolitikers Carl Sonnenschein von
1922 oder die Ostergedanken von Karl Rahner sprengen den Rahmen des Buches, man hätte
sie nicht vermißt.
Eine Bereicherung indessen ist des Verf. Interview mit fünf Reitern, bei dem der Brauch
aus der Sicht eben jener Laien vorgeführt wird, die ihn mit ihrem Engagement seit jeher tra-
gen. Von den persönlichen Gründen für das Mitreiten über die Beschaffung von Pferd und
Gerätschaft, die Rolle der Frauen im Vorfeld bis hin zu praktischen Konsequenzen der poli-
tischen Wende in Deutschland werden Themen reflektiert, die einen interessierten, aber ah-
nungslosen Beobachter durchaus bewegen. Jedoch ist die Gelegenheit des lebendigen Dia-
logs nicht dafür genutzt worden, die Eigenheiten jeder der acht Prozessionen (ab 1993 neun)
sichtbar zu machen.
Gleichfalls willkommene Ergänzung ist das finale Kapitel „Reiterprozessionen in anderen
Gegenden“. Über die Osterritte in Ostritz, in Nordböhmen (seit langem eingestellt), in
Oberschlesien und Mähren sowie über den „Blutritt“ im oberschwäbischen Weingarten
wird hinreichend informiert; dabei ist den historischen Zusammenhängen ebenso Beach-
tung geschenkt wie den äußeren Details, so daß der aufmerksame Leser den Vergleich zur
sorbisch-lausitzischen Ausprägung selbst ziehen kann. Wer freilich, als Ausländer, auf die
minimalen, dazu eigentümlich gefaßten Resümees in Tschechisch, Polnisch, Englisch ange-
wiesen ist, der ist zu bedauern. Ihm entgeht eine Schrift, deren Autor nach Wartejahren aus
vielen Quellen geschöpft hat, um einen im einzelnen noch immer weitgehend unbekannten
293
Buchbesprechu ngen
Brauch vorzustellen und zu deuten. In einer Zeit, da die visuellen Medien das Ereignis für
sich entdecken und gewohnt spektakulär reproduzieren, ist solche sorbenkundliche Litera-
tur erwünscht. Denn Aufklärung über „Deutschland, deine Sorben“ bedarf es mehr.
Berlin/Bautzen DIETRICH SCHOLZE
ANNEMIE SCHENK: Deutsche in Siebenbürgen. Ihre Geschichte und Kultur. München:
Beck, 1992, 191 S., 60 Abb. sw
Rumäniendeutsche sind in der Volkskunde nicht unbekannt, oft aber nur am Rande er-
wähnt oder (viel schlimmer!) für treues Bewahren alter Sitten gelobt. Kleine Aufsätze, Mate-
rialsammlungen in Periodika werden wenig beachtet, darum gebührt Annemie Schenk und
dem Verlag C. H. Beck Dank für diesen Band „Deutsche in Siebenbürgen“. Gewidmet wird
das Buch Ingeborg ’Weber-Kellermann, zu deren Interethnik sich die Autorin auch mit die-
ser Publikation bekennt. Eine Verbindung mit den politischen Ereignissen in Rumänien
und auch mit der Aussiedlung, die „einen Großteil der Deutschen in Rumänien erfaßte“
(S. 9), stellt A. Schenk in ihrem Vorwort her, es wäre aber falsch, ihre Arbeit nur plötzlich
aufgetauchtem Interesse am Thema, der Beteiligung an tagespolitischen Diskussionen zuzu-
schreiben. Sie kennt die Literatur über Siebenbürgen gut, mit der Lebenswirklichkeit dort
ist sie durch Feldforschung vertraut, deren Ergebnisse sie sorgfältig strukturiert hier einer
geschichtlichen Gliederung eingeordnet hat.
Im ersten von sechs Kapiteln wird Siebenbürgen am Schnittpunkt zwischen Ost und
West, aber auch zwischen Nord und Süd, vorgestellt: seine Geographie, die Bevölkerung, de-
ren Religion, die Wirtschaftsstruktur. Wer die hier geweckte Neugier befriedigt, indem er
seine Lektüre gleich mit dem Kapitel sechs „Siebenbürgen ohne Siebenbürger Sachsen?“
fortsetzt, bestraft sich selbst durch nicht wegzuwischende no-future-Gedanken. Aber wird
der gewissenhafte Leser davon verschont bleiben? Vielleicht. Weil er die gut dargebotenen
Siedlungs- und Angleichungsprozesse, die Entwicklung der drei Nationen (Landstände) und
den (bitteren) Weg der ehemals privilegierten Sachsen zur ethnischen Minderheit noch im
Gedächtnis, das Wechselspiel des kulturellen Austausches vor Augen hat, verkraftet er den
Orakelspruch. (Dank Fragezeichen ist er milder.)
„Sie akzeptierten die Notwendigkeit, sich auf Veränderungen einzustellen“, das hat un-
längst eine Politikerin den Siebenbürger Sachsen bescheinigt. Welche Sozial- und Kulturpro-
zesse haben sich dabei abgespielt? Nicht wenige Beispiele hat Annemie Schenk anzubieten.
Aufschlußreich sind auch Steuerregister, die sie interpretiert. Wirtschaftliche, politische
und soziale Aspekte sowie interethnische Verflechtungen werden an den drei Beispielen der
Goldschmiede-, der Kürschner- und der Töpferzunft einprägsam dargestellt, nämlich in
Glanzzeiten, bei einbrechenden Veränderungen und in der Phase des Niedergangs. Wirt-
schaftlichen Einbrüchen folgen politische, die einschneidendste politische Veränderunge für
die Siebenbürger Sachsen vor dem 20. Jahrhundert war aber der Verlust der Eigenständig-
keit im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts (1876).
Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde der Wandel in der Sozialstruktur durch Zwangsmaß-
nahmen beschleunigt herbeigeführt, als eine durch Deportation bereits dezimierte sächsi-
294
Buchbesprechu ngen
sehe Bevölkerung durch Enteignung ihre Existenzgrundlage einbüßte. Dermaßen deklas-
siert entgingen die recht- und besitzlosen Siebenbürger Sachsen dem vorprogrammierten
Aus nur durch schnelle Umorientierung, durch Arbeitsaufnahme auf Großbaustellen, au-
ßerhalb des sächsischen Siedlungsgebietes, später in der Industrie. Als Unselbständige waren
die ehemals Selbständigen, trotz einiger Abstriche, dann bereits eingegliedert, als die wirt-
schaftspolitische Umgestaltung Rumäniens verbunden mit forcierter Industrialisierung ein-
setzte.
Frau Schenk hat viele Elemente, Verflechtungen und den historischen Rahmen recht
schlüssig und verständlich auch für den Leser ohne Vorkenntnisse dargeboten, dabei sind 60
Abbildungen (2 Karten) eine willkommene Ergänzung; schade nur, daß der Versuch ihrer
Datierung manchmal unterbleibt. Optimale Lesbarkeit und/oder der Umfang zwingen zu
Kompromissen, aber Kompromißbereitschaft verführt zu Oberflächlichkeit wie bei folgen-
den. Quellenangaben: „Gündisch, 1990“ (S. 36, 41, 63) heißt Konrad Gündisch, doch soll
der Leser in „Gündisch 1987“ einen anderen Verf., nämlich Gustav Gündisch, erkennen. In-
konsequent werden mal erste, oft aber letzte Werkausgaben zitiert. Während die Texte des
späten MA und der vorromantischen Zeit (S. 54f., S. 136), aber auch statistische Daten (S.
18 f.) indirekt zitiert werden aus bequem zugänglichen neuen Veröffentlichungen, bleibt so-
gar im Literaturverzeichnis Weber-Kellermanns Band „Zur Interethnik“ (Suhrkamp, 1978)
unerwähnt. Gerade hier wäre allerdings die neueste Ausgabe es grundsätzlichen Aufsatzes
von 1959 (Österr. Zs. f. Vk.) für manchen Leser hilfreich gewesen.
Hilfe soll auch ein Register leisten, aber hier (S. 188-191) fehlen leider u.a.: „Agrarland“,
,,-reform“, ,,-wirtschaft“, „Bodenreform(en)“, „Landwirtschaft“; von den Zusammenset-
zungen mit dem Bestimmungswort „Dorf-“ gibt es nur „Dorfzerstörung“. Ebenfalls ver-
missen wird man: „industrielle Produktion“, „Tauschhandel“, „Zunftmeister“, „Zunftzere-
monie“, während „Zunftgottesdienst“, „Schwerttanz“ und „Patrizier“ aber Platz fanden.
Geschichte und Kultur der Deutschen in Siebenbürgen, genauer gesagt der Siebenbürger
Sachsen, hat die Verf. in sechs Kapiteln sachkundig vor uns ausgebreitet. Die Frage nach den
Zukunftserwartungen der Deutschen in Siebenbürgen bleibt freilich unbeantwortet. Sie ist
nicht пит eine politische Entscheidung. Viele Fragen nach dem sozialen und geschichtlichen
Hintergrund ausgesiedelter Siebenbürger könnten heute in Deutschland mehr bewirken als
mancher Rechtsakt zugunsten der Spätaussiedler. Annemie Schenk hat auch dazu einen Bei-
trag geleistet.
Bonn Evemarie Sill
HERBERT SCHWEDT: Nemesnadudvar - Nadwar. Leben und Zusammenleben in einer un-
garndeutschen Gemeinde. Marburg: Eiwert 1990, 539 S„ 290 Abb. sw (Schriftenreihe der
Kommission für ostdeutsche Volkskunde in der Deutschen Gesellschaft für Volkskunde
e.V„ 50)
Mit dieser Publikation wird Bericht gelegt über eine mehrwöchige Feldforschung einer
Mainzer Studiengruppe in einer ungarndeutschen Gemeinde, ca. 120 km entfernt von Buda-
pest. Mitten in die Abfassung der Ergebnisse traten die gesellschaftspolitischen Umwälzun-
295
Buchbesprechungen
gen in Ungarn, so daß mit Erscheinen dieser Studie der soziale Kontext bereits Geschichte
war.
Nicht ein Heimatbuch oder eine Chronik des Ortes war das Ziel der Arbeit, sondern viel-
mehr „die Spiegelungen der politischen und wirtschaftlichen Veränderungen der zurücklie-
genden Jahrzehnte in den sozialen und kulturellen Wandlungen zu erfassen, die ein ungarn-
deutsches Dorf erfahren hat“ (S. 7). Nicht nur wegen der Kürze des Aufenthaltes, sondern
auch in bewußter Beschränkung auf wesentliche Segmente wurden nur bestimmte Thesen
ausgewählt, die nur auf den ersten Blick nicht dem „volkskundlich üblichen“ Kanon von
Gemeindeuntersuchungen entsprachen. Die Arbeitsgruppe verfolgte ein anders gewichtetes
Konzept: das Erkenntnisinteresse richtete sich zunehmend auf eine Ebene, die . . . zwischen
den . . . Umwälzungen und deren kulturellen Ausdrucksformen liegt: die des Bewußtseins,
des Rollenverhaltens, des Selbstverständnisses“ (S. 8).
Hieraus ergaben sich - im vorliegenden Bericht - Themen wie Feiern in Nadwar, Frau-
enleben, Mann sein, alt sein, Sprache und Sprechen, religiöses Leben, Handwerk. Vom Kon-
zept her also weder ein beliebiges noch ein zufällig pragmatisches Vorgehen - sieht man
einmal ab von dem geplanten, aber nicht realisierten Kapitel „Jung sein“. Nach einer kurzen
Einleitung beginnen Herbert und Elke Schwedt den Band mit „Feiern in Nadwar. Zur Verge-
sellschaftung dörflicher Geselligkeit“ (S. 11-44). Analog zum rasanten Wandel der Bräuche
besonders in der Zeit nach 1945 postulieren die Autoren auch einen Wandel der Fragestel-
lungen in der Brauchforschung selber. Nicht chronologische Phänomenologie und die Su-
che nach dem Ursprung, sondern Veränderungsgeschichte von Bräuchen stehe im Zentrum
der Arbeit, die Frage, warum sich Bräuche jeweils veränderten, wie sich in ihnen gesell-
schaftliche, d. h. soziale und kulturelle Wandlungen spiegelten.
Nadwar gliederte sich regional wie von der Sozialstruktur her gesehen in zwei Bereiche,
zunächst durchaus nach dem Schema „arm - reich“ zu ordnen. Hieraus resultierte ein
Wertsystem, das sich traditionell am „value of soll“ orientierte, sich aber dann den sozialen
und politischen Veränderungen in den jeweiligen „Epochen“ der Zeit von 1920 bis 1988 an-
paßte und zu den heute dominierenden Werten Bildung und beruflicher Aufstieg ent-
wickelte.
An Festen und Bräuchen, wie Kirchweih, Beerdigung, Hochzeit, Wallfahrten und Märk-
ten, Maifeier u. a. demonstrieren die Autoren diesen Forschungsansatz, bei dem die jeweilige
Ablaufchronologie in den Hintergrund tritt, die Indikatoren für Wandel und Veränderung
aber zum Argumentationsstrang gerieren. So entsteht ein analytisches Bild von der sozial-
historischen und lokalen Bedingtheit von Bräuchen, erarbeitet mit einem Ansatz, der die
Brauchforschung über „Nadwar“ hinaus zu neuen Ufern führen kann.
Auch die folgenden Beiträge haben über den direkten „Nadwar-Bezug“ hinaus exemplari-
schen Charakter, sowohl für interethnische Forschungsansätze als auch für; die Gemeinde-
forschung ganz allgemein. Nicht mehr eine Ges^mischau, sei sie historisch-chronologisch,
sei sie strukturanalytisch orientiert, ist das Ziel moderner Dorfstudien und -chroniken, son-
dern eher ein bewußt exemplarisch auswählendes Vorgehen, welches die verändernden Fak-
toren und Prozesse zum Kriterium erhebt.
Gabi Horn-Stinner geht in ihrem Bericht „Frauenleben in Nadwar.,Manchmal denk’ ich,
jetzt wär aber doch schon gut hinsetzen . .(S. 47-111) auf die Lebensbedingungen von
Frauen ein, unter Betonung interethnischer Aspekte. Besonderen Wert legt die Autorin auf
den Wandel im Verhältnis zur Arbeit und die zunehmende Bedeutung von Ausbildung mit
der daraus resultierenden Notwendigkeit von Mobilität.
296
Buchbesprechungen
Thomas Ludewig stellt in seinem Aufsatz „Mann sein in Nadwar“ (S. 115-181) besonders
den Generationenwandel heraus. Einleitend berichtet er ausführlich über das methodische
Vorgehen, über Probleme des lebensgeschichtlichen Erzählens und betrachtet dann sowohl
das Erzählen wie das „Mann sein“ und die Bedeutung von Frau und Familie in den „Män-
ner“-Erzählungen, jeweils im Drei-Generationen-Schritt.
Christina Niem befaßt sich ebenfalls zunächst mit methodischen Fragen der biographi-
schen Interviews, diesmal im Zusammenhang mit gerontologischer Forschung. „Altsein in
Nadwar“ (S. 185-218) behandelt die Lebensbedingungen alter Leute im ungarndeutschen
Dorf, wie Wohnen, Rente, Krankheit, Kontakte, Altersheim. Die Autorin erörtert abschlie-
ßend Probleme des Erzählens, Vergleichens und Bewertens, Unrechtsgeschichten, frü-
her/heute-Geschichten und ruft zu verstärkter Alternsforschung in der Volkskunde auf.
Gisela Grasmück stellt „Sprachen und Sprechen in Nemesnadudvar/Nadwar“ (S. 221—
259) in das Zentrum ihres Berichtes. Besonders die Auswirkungen von Sprachen- und Schul-
politik im Berichtszeitraum - also 1920-1988 - in der Erinnerung ihrer Probanden geben
ihr Material zur Analyse von Sprache im Dorf, in der Familie und als „Transportmittel na-
tionaler Gesinnung“.
Vera Deißner hat das „Religiöse Leben in Nadwar“ (S. 263-287) zum Thema ihres Beitra-
ges gewählt. Hier stehen Fragen der Interethnik, des Kirchgangs, des politischen Drucks und
der Sozialstruktur (arm-reich) als Raster zur Interpretation religiöser Bräuche im Vordergrund.
Marlies Lang-Schilling und Helmut R. Lang schildern in einem Bericht über „Handwerk
in Nadwar“ (S. 291-345) anhand von Fallbeispielen zahlreicher traditioneller und moder-
ner Handwerker - z. B. vom alten Faßbinder zum jungen Faßbinder oder Maurer, Schnei-
derin, Sattler usw. - die Arbeits- und Lebensbedingungen dieser Berufsgruppe sowie das
Verhältnis selbständiger und staatlicher Handwerbsbetriebe im Wandel der letzten Jahr-
zehnte.
Neben den Anmerkungen zu jedem Beitrag wurde dem Band ein gemeinsames Literatur-
verzeichnis beigefügt. Besonders hervorzuheben ist aber ein sehr umfänglicher, instruktiv
erläuterter Bildteil mit 290 Fotos, historische Reproduktionen wie auch gegenwärtige Auf-
nahmen. Schon für sich betrachtet gibt dieser Anhang einen trefflichen Eindruck von Nad-
war. „Liest“ man darüber hinaus die Bilder im Zusammenhang, so dient er gleichsam als
Strukturgeschichte des Ortes. Zu bemängeln ist allerdings manchesmal die nicht ausreichen-
de Druckqualität einiger Abbildungen.
Alles in allem ist der Band gut zu lesen, vermittelt nachhaltige Eindrücke, Probleme und
Informationen über eine ungarndeutsche Gemeinde. Zugleich beeindrucken Ertrag und
Umfang dieser nur dreiwöchigen Feldforschung als eine erfolgreiche Leistung Lehrender
und Studierender.
Marburg Andreas C. Bimmer
Erika UlTZ: Die Frau in der mittelalterlichen Stadt. Freiburg/Basel/Wien: Herder, 1992,
221 S.
Erika Uitz ist emeritierte Professorin für Geschichte des Mittelalters bzw. Allgemeine Ge-
schichte und war als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Akademie der Wissenschaften
(Institut für deutsche Geschichte) in Berlin tätig. E. Uitz, die auf zahlreiche Publikationen
zur mittelalterlichen Frauenthematik verweisen kann, akzentuiert ihre Fragestellung in die-
297
Buchbesprechungen
ser Veröffentlichung folgendermaßen: „Für den Fachhistoriker wie für den historisch Inter-
essierten ergibt sich angesichts der Rolle, die das Städtewesen für die Entfaltung und Blüte
der europäischen Gesellschaft im Mittelalter gespielt hat, sowie der nicht zu übersehenden
Veränderungen in den Beziehungen zwischen Adel und Städtebürgern wohl ganz von selbst
die Neugier zu erfahren, in welchem Maße neben der männlichen auch die weibliche Stadt-
bevölkerung aktiv oder passiv an diesem gesellschaftlichen Fortschritt beteiligt war“ (S. 10).
Neben Urkunden, Steuerregistern, Dokumenten über die städtische Rechtsprechung und
Gesetzgebung werden von Uitz auch autobiographische Mitteilungen, Stadt-, Gerichts- und
Urfehdebücher, Verträge, Bürgerannahmelisten, Testamente und Bildmaterial als Quellen
genutzt.
Fünf Flauptkapitel gliedern die Publikation. Grundlegend geht die Autorin davon aus,
daß trotz der zahlreichen stadttypologischen Unterschiede ein gemeinsamer sozialer und
rechtlicher Habitus vorliegt, „der die Bürger der Groß-, Mittel- und Kleinstädte miteinander
verbindet und von Adel und Bauern als eigene soziale Kraft abgrenzt“ (S. 10).
Im ersten Kapitel wird die Ehe als Ausgangspunkt gesellschaftlicher Bindungen wie auch
die frühmittelalterlicher Arbeitssituation der Entfaltung des Städtewesens vorgestellt. Die
Emanzipierung der Bürger gegenüber der Feudalherrschaft findet vor allem in der Kommu-
nebewegung Ausdruck, die zu einem verbesserten Rechtsstatus der Bürger und auch der
Bürgerinnen führt. Der sich entfaltende Wirtschaftsraum Stadt eröffnet gerade Frauen neue
Tätigkeitsfelder und Handlungsmöglichkeiten. In erster Linien betraf dies die Beteiligung
an den Geschäften, Verpflichtungen und Wirtschaftsinteressen des Ehemannes, darüber hin-
aus aber auch wirtschaftlich und rechtlich eigenständige Berufsmöglichkeiten.
Die Erschließung neuer Absatzmärkte, eine gezielte Spezialisierung der städtischen Pro-
duktion auf Nah- und Fernhandel ermöglicht die Einbeziehung weiblicher Arbeitskräfte in
den Handel und die gewerbliche Produktion. Anhand ausgewählter Quellen werden im
zweiten Kapitel Berufe wie die der Kauffrau und Fernhändlerin, der Teilhaberin von Han-
delsgesellschaften, der Krämerin, der Kleinhändlerin und Mäklerin, der Hökerin und Käuf-
lerin etc. vorgestellt.
Gerade das mit besonderen Privilegien ausgestattete „Kaufmannsrecht“ kann nach Uitz
schrittweise die Formen der im Feudalrecht verankerten Muntgewalt über die Frau sprengen
(S. 60).
Das dritte Kapitel ist „Frauen im Handwerk und in weiteren städtischen Berufen“ gewid-
met. Für das städtische Handwerk fehlen solche repräsentativen Quellen wie Geschäftsbü-
cher, Handelsbriefe, Verträge usw., die über die Stellung der Kauffrau Auskunft geben. Je-
doch läßt sich auch im Bereich des Handwerks feststellen, daß die selbständige Berufstätig-
keit der Frau vom ausgehenden 13. Jahrhundert bis zur zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts
an Bedeutung gewinnt. Weibliche Berufsttätigkeit im Handwerk zeigt sich vor allem im Be-
reich der Bekleidungs- und Luxuswarenherstellung und im Lebensmittelgewerbe. Als Grün-
de für die Zunahme der Frauenarbeit im Spätmittelalter führt Uitz die gesteigerte soziale
Notsituation, Lücken im Arbeitskräfteangebot, aber auch eine entstehende schulische Aus-
bildung für Töchter des mittleren städtischen Bürgertums an.
Zahlreiche Umgestaltungen im Ehe- und Familienrecht kennzeichnen die verbesserte
rechtliche Stellung der Städterin. So vollzieht sich im Spätmittelalter bspw. eine Lockerung
der Ehe- und Vermögensvormundschaft des Ehemannes. Die Frau erhält nun - noch wäh-
rend der Lebenszeit ihres Ehemannes - das Verfügungsrecht über einen Teil des ehelichen
Vermögens, eine grundlegende Voraussetzung für eine wirtschaftliche selbständige Tätig-
298
Buchbesprechungen
keit. Frauen, die über das Bürgerrecht verfügen, können Rechtsgeschäfte durchführen, Ver-
träge abschließen, handeln als Bürgen, als Zeugen und Kläger vor dem städtischen Gericht.
Das letzte Kapitel beschäftigt sich mit „Religion und Religiosität“, der theologisch be-
gründeten Abwertung des weiblichen Geschlechts. Anteilig zur weiblichen Gesamtbevölke-
rung können es sich nur wenige Frauen leisten, einem Kloster beizutreten. Als alternative
Lebensformen werden ebenfalls Beginenkonvente und Ketzerbewegungen vorgestellt. Die
Mehrzahl der Städterinnen hat jedoch - so Uitz - „ein angepaßtes Verhältnis zur katholi-
schen Religion“ (S. 186).
Die faktenreiche Darstellung weiblicher Berufstätigkeit im Mittelalter gibt anhand der
ausgewerteten Quellen zahlreiche neue Auskünfte über die wirtschaftliche und rechtliche
Situation der Städterin. Darin liegt jedoch zugleich auch die Schwäche des Buches, da bei der
vorliegenden Beschränkung auf wirtschaftliche Begründungszusammenhänge anzuzweifeln
ist, ob die gesamtgesellschaftliche Situation der Frau in der mittelalterlichen Stadt damit
hinreichend erfaßt werden kann.
Marburg Susanna Stolz
JACQUES GELIS: Das Geheimnis der Geburt. Rituale, Volksglaube, Überlieferung. Frei-
burg, Basel, Wien: Herder, 1992, 338 S., Abb., sw.
Jacques Gelis Buch ist das Ergebnis eines Jahrzehnts historisch-anthropologischer For-
schung über Schwangerschaft und Geburt. Seine Absicht war, wie er selbst formuliert, „we-
niger eine Darstellung der Meilensteine in der Entwicklung der medizinischen Wissen-
schaft, als vielmehr die Aufdeckung der Motivationen und Verhaltensweisen der Männer
und Frauen - und vor allem der letzteren -, die im westlichen Kulturgebiet in früheren Jh.
das Leben Weitergaben“ (S. 11).
Sein Forschungszeitraum umfaßt vier Jh. (1500-1900), das primäre Forschungsmaterial
stammt aus Frankreich, einiges auch aus anderen westeuropäischen Ländern.
Gelis weist die Zusammenhänge der Menschen in traditionellen ländlichen Gemeinschaf-
ten mit der sie umgebenden Natur nach und auch den Verlust dieses Zusammenhangs in der
Moderne, in der sie sich mehr kulturellen und sozialökonomischen „Regulatoren“ unter-
werfen. In dem alten Gedanken des Lebenszyklus sieht er einen inneren Zusmmenhang: die
Unterwerfung unter die Ordnung der Natur, die Familienbande und den Willen Gottes. Die
Tradition nahm den Menschen zum Bindeglied zwischen Vergangenheit und Zukunft. Daß
sie die Risiken von Seuchen oder Tod im Kindbett fatalistisch hinnahmen, sei nichts anderes
als eine Unterwerfung unter höhere Gesetze gewesen, die nicht in Frage gestellt wurden.
Erst mit dem ausgehenden Mittelalter entstand ein neues Daseinsgefühl und die sich ent-
wickelnde Individualität verdrängte den „Platz der Ahnen“. Diese kollektive Mentalitäts-
veränderung setzte neue demographische Verhaltensmuster in Gang: „Der Wille, die natür-
lichen Antriebe unter Kontrolle zu bringen, vor allem hier und jetzt das Leben sicherzustel-
len, und den verletzlichen Leib vor Schmerzen zu behüten“ (S. 326).
Jener „Optimismus der Renaissance“, das Leben auszukosten, schloß ein neues Körperbe-
wußtsein ein, das sich gegen Unglück, Tod und Schmerz auflehnte.
Buchbesprechungen
Anhand konkreten, historschen Quellenmaterials weist Gélis diese Entwicklung nach. Er
dringt in die Vorstellungen des Volksglaubens ein, analysiert kultische Handlungen um die
Geburt, zeigt Verhaltensweisen, Mentalitäten und Motivationen, insbesondere von Frauen,
den Gebärenden. Wie erlebten die Frauen des jeweiligen Jhs. ihre Schwangerschaft, in wel-
chen kosmischen Zusammenhängen stand diese, welche wirtschaftlichen und politischen
Interessen wirkten sich auf das Geburtsgeschehen aus, sind Fragen, die Gélis zu beantworten
sucht.
Dabei wertet er Hebammenberichte und ärztliche Diskurse ebenso aus wie die von Histo-
rikern und Volkskundlern oder das Dokumentationsmaterial der Kirche.
Um das Febensgefühl und Körperbewußtsein vergangener Generationen verstehen und
die Bilderwelt im Umkreis der Geburt dechiffrieren zu können, müssen sich die Leser auf
eine Zeitreise in die Vergangenheit und in einen ihnen fremden Alltag einlassen. Als Beloh-
nung werden sie dem Geheimnis ein wenig auf die Spur kommen, zu erstaunlichen Einsich-
ten und Ansichten gelangen und - wenn sie Volkskundler oder Kulturwissenschaftler sind
- froh sein über diese, längst fällige Kulturgeschichte der Geburt von Jacques Gélis.
Marburg Marita Metz-Becker
SUSANNA STOLZ: Die Handwerke des Körpers. Bader, Barbier, Perückenmacher, Friseur.
Folge und Ausdruck historischen Körperverständnisses. Marburg: Jonas Verlag, 1992, 352
S., Abb.
Der Titel des Buches läßt die beiden thematischen Schwerpunkte erkennen: Susanna Stolz
geht es einerseits um das historische Verständnis des Körpers, andererseits um die Herausbil-
dung der Körperpflege-Handwerke. Dabei hat sie den Anspruch, den mentalitätsgeschicht-
lichen und den berufs- oder handwerksgeschichtlichen Aspekt „in einen sinnvollen Bezug
zueinander zu setzen“ (S. 7). Sie nimmt drei historische Epochen in den Blick, Mittelalter,
Barock und Bürgerliches Zeitalter (d. h. 19. und 20. Jahrhundert), und ordnet diesen die drei
Berufsgruppen Bader und Barbiere, Perückenmacher und Friseure als Repräsentanten des je-
weils epochenspezifischen Körperverständnisses zu.
Angesichts der Themenstellung räumt S. Stolz in einer salvatorischen Klausel ein: „Ein
mehrere Epochen umfassendes Thema und die darin versuchte Abhandlung explizit ver-
schiedener Schwerpunkte (...) bedeutet insofern ein wissenschaftlich ,waghalsiges“ Unter-
nehmen, als hier im Vergleich zu den von der heutigen Kulturgeschichte präferierten Detail-
studien, denen eine in Zeit, Region und Objekt enger begrenzte Thematik zugrunde liegt,
eine größere Angriffsfläche geboten wird“ (S. 12). Partiell ist dem zuzustimmen, denn in der
Tat hat sich hier eine Anfängerin mit dem großen Untersuchungszeitraum von neun Jahr-
hunderten und dem Versuch, zwei disparate Themenschwerpunkte zu synthetisieren, auf
ein waghalsiges Unternehmen eingelassen. In einem entscheidenden Punkt allerdings irrt
die Verfasserin, nämlich wenn sie ihre Arbeit als wissenschaftlich bezeichnet. Dieser Trug-
schluß liegt freilich nahe, denn immerhin ist die am Institut für Europäische Ethnologie
und Kulturforschung entstandene Arbeit vom Fachbereich Gesellschaftswissenschaften und
Philosophie der Philipps-Universität in Marburg als Dissertation angenommen worden.
300
Buchbesprechu ngen
Auch die Verwendung des wissenschaftlichen Jargons und das rund 800 Titel umfassende
Literaturverzeichnis sollten nicht glauben machen, daß es sich hier um ein wissenschaftli-
ches Werk handelt. Denn allzu grob hat S. Stolz gegen einige grundlegende Regeln der Wis-
senschaft verstoßen. Die beiden wichtigsten besagen bekanntlich, daß eine Dissertation er-
stens einen Fortschritt der wissenschaftlichen Erkenntnisse aufgrund selbständiger For-
schung bringen und zweitens den methodischen Grundsätzen des jeweiligen Faches gerecht
werden müsse. Beides ist nicht gegeben.
Schon ein erster Blick auf die Gliederung läßt den Mangel an wissenschaftlicher Präzision
und Stringenz erkennen. Allein die Exkurse (S. 69f., S. 261 ff., 266f.) und Nachträge (S.
214 ff., 230, 240 ff., 253 ff.) sind Zeichen der Schwierigkeiten der Verfasserin, ihre Darstel-
lung sinnvoll zu strukturieren.
Der erste Eindruck wird bei der näheren Auseinandersetzung mit dem Buch bestätigt, na-
mentlich durch die auffallende Häufigkeit wörtlicher Zitate. Diese machen ein bis zwei
Drittel des fortlaufenden Textes aus. Viele Seiten sind nur mit Zitaten gefüllt, zwischen de-
nen sich lediglich ein überleitender Satz findet, teilweise fehlt selbst dieser (vgl. u.a. S.
206-208 oder 245-250); Zitate von 20 bis 30 Zeilen sind keine Seltenheit (vgl. u.a. S. 177,
278, 315, 328). Dabei gilt schon im wissenschaftspropädeutischen Unterricht der gymnasia-
len Oberstufe die Wiedergabe in eigenen Worten als niedrigste Anforderung im Umgang
mit Quellen bzw. Sekundärliteratur.
Fatal erscheint in diesem Zusammenhang auch die Tatsache, daß - abgesehen vom letz-
ten Kapitel - Primärquellen nicht eingesehen, ja nicht einmal Texteditionen benutzt, son-
dern Zitate aus der Sekundärliteratur übernommen worden sind (vgl. etwa den Abschnitt
über die Reden Bertholds von Regensburg, S. 41 ff., oder die Auszüge aus den Briefen Lise-
lottes von der Pfalz, u. a. S. 144, 153 und 168). Ebenso fatal ist die offensichtliche Annahme,
ein Zitat spreche für sich. Denn die zitierte Literatur wird kaum je kritisch diskutiert und
gewertet, ein eigener Standpunkt kaum je argumentierend erarbeitet, was S. Stolz an anderen
Publikationen kritisiert (vgl. S. 125). Die Verfasserin selbst kompiliert jedoch bedenkenlos,
mischt ihr sogenanntes „wissenschaftliches Potpourri“ (S. 45), ohne zu berücksichtigen, daß
Wissenschaft und Potpourri einander ausschließen.
Infolge solch fundamentaler Mängel der Methode kann der Inhalt nicht befriedigen.
S. Stolz nimmt sich zuviel vor, infolgedessen bleibt sie auf allen Gebieten Dilettantin. Das
erweist schon ein Blick in das Mittelalter-Kapitel (S. 13-119). Unter dem ambitiösen Titel
„Die Zeichenhaftigkeit des Körpers: Grundlegende Strukturen mittelalterlicher Körper-
lichkeit“ (S. 19-38) handelt sie Aspekte der mittelalterlichen Kulturgeschichte, von denen
sie einleitend selbst sagt, daß jeder einzelne „Thema einer bücherfüllenden Studie“ (S. 19)
sein könne, auf je ein bis zwei Seiten ab.
Einen exemplarischen Einblick in den unsystematischen, eklektizistischen und unkriti-
schen Charakter des Buches soll hier das Kapitel „Ländliches Leben“ (S. 26 f.) eröffnen.
Nach der einleitenden Bemerkung, daß das Leben auf dem Lande abhängig von der natürli-
chen Umwelt und entsprechend unsicher war, folgt ein Verweis darauf, daß nicht nur die
Natur, sondern auch die Kultur (z.B. Festtage) das Leben strukturierte. Es schließt sich eine
Aufzählung der Hauptnahrungsmittel an, gefolgt von der ebenso fragwürdigen wie unkla-
ren Feststellung: „Zeigt sich also im ländlichen Lebensraum eine enge Verflechtung von Na-
tur - Arbeit, Natur - Religion etc., so diktiert die Natur auch über die Arbeit, die Gestal-
tung und den Umgang mit dem Körper: Nahrung, Kleidung, Reinlichkeit etc. blieben un-
tergeordnete Elemente ohne Wert für das Selbstverständnis der Landbewohner - sie folgen
301
Buchbesprechu ngen
den Prinzipien der Notwendigkeit und Praktikabilität“ (S. 26). Abgesehen von den forma-
len und stilistischen Schwächen (das häufig verwendete, die Unendlichkeit des Gedanken-
fluges der Autorin andeutende Etcetera, die falsche Präposition, der unbegründete Tempus-
wechsel der Verben), fragt man sich vergeblich, wieso Nahrung und Kleidung ohne Bedeu-
tung für die Landbewohner gewesen sein sollen, sind doch die im Spätmittelalter
entstandenen, die Bauern in ihre Schranken weisenden Kleiderordnungen sowie die Unter-
scheidung zwischen Herren- und Bauernspeisen deutliche Hinweise darauf, daß Kleidung
und Nahrung sehr wohl wichtige Elemente für das Selbstverständnis der Landbewohner wa-
ren. Das kleine Kapitel endet sodann unvermittelt mit einem nicht weiter kommentierten
Zitat aus einer literarischen Quelle, das in diffamierender Weise die Häßlichkeit und Grob-
schlächtigkeit der Bauern hervorhebt.
Wie das angeführte Beispiel zeigt, wären - einmal abgesehen von formalen Fehlern -
zahlreiche inhaltliche Fehler und Ungenauigkeiten des Buches zu rügen. Aus Platzgründen
seien hier nur einige erwähnt (Platzgründe verbieten eine genauere Beweisführung, Belege
können bei der Rezensentin erfragt werden), wie z. B. die Behauptung, daß es ein typisches
Merkmal des Barocks sei, daß die Gestaltung des Körpers der sozialen Distinktion gedient
habe (vgl. u. a. S. 33), was mit Fug und Recht sowohl vom Mittelalter als auch von der Mo-
derne gesagt werden kann. Weiterhin war es nicht der Friseur des späten 19. Jahrhunderts
(vgl. S. 334), sondern der Bader und Barbier des späten 17. Jahrhunderts, der erstmals die
drei Körperpflege-Handwerke in einer Person vereinte. Die (anscheinend aus einem mißver-
standenen Zitat eines preußischen Ministers abgeleitete) Behauptung, daß die Körperpflege-
Handwerke des 19. Jahrhunderts von den Folgen der Gewerbefreiheit weitgehend unbe-
rührt geblieben seien (vgl. S. 214, 216, Anm. 36), ist unzutreffend. Als Beispiele für die feh-
lerhafte Begrifflichkeit der Verfasserin sei angeführt, daß sie in bezug auf fahrende Heiler
oder Heilmittelhändler die mißverständliche bzw. falsche Bezeichnung „Handwerkswande-
rer“ gebraucht (S. 291) und an anderer Stelle in „Physikern“ nicht angestellte Arzte (Plural
von Physikus) erkennt, sondern sie, entsprechend der heutigen Wortbedeutung, für Natur-
wissenschaftler hält (vgl. S. 274). Hinzu kommen fehlerhafte Angaben zur verwendeten Li-
teratur, so ist Bumkes Werk zur höfischen Kultur nicht erst 1990 (vgl. S. 27, 338), sondern
bereits 1986 erschienen, hingegen ist Diepgens S. 61 zitiertes Werk nicht 1983 posthum ver-
öffentlicht worden (gemeint ist sicher 1963, vgl. S. 339).
Weitaus schwerer als derartige Fehler wiegt indes, daß der in der Einleitung formulierte
Anspruch, den mentalitäts- und den handwerksgeschichtlichen Ansatz miteinander zu ver-
knüpfen, nicht eingelöst wird. Inwiefern das epochentypische Körperverständnis - ist die
Verwendung des Singulars hier überhaupt angebracht? - die Körperpflegeberufe entschei-
dend geprägt hat, ist m.E. für keine der drei Epochen überzeugend herausgearbeitet. Wenn
die Verfasserin etwa in Anlehnung an die Forschungsliteratur das Körperbild des 19. und 20.
Jahrhunderts als von Hygiene- und Leistungsvorstellungen bestimmt sieht, so bleibt sie die
Erklärung dafür schuldig, daß ausgerechnet der Fiseur ein typischer Vertreter dieses bürger-
lichen Körperverständnisses sein soll.
Aufgrund seiner mangelnden Wissenschaftlichkeit ist das Buch von S. Stolz für wissen-
schaftliches Lesepublikum ein Ärgernis, für Laien ist es ebenfalls wenig erhellend, da vieles
nur angedeutet bzw. nicht klar und korrekt dargestellt wird. Allenfalls Ausstellungsma-
chern könnten die Zitatensammlung und die sehr zahlreichen Abbildungen, die mitsamt
den Legenden ungefähr ein Viertel des Buches ausmachen, den Zugang zur Thematik er-
leichtern. Allerdings entsprechen die Abbildungsbeschreibungen und -nachweise nicht den
302
Buchbesprechu ngen
in der Wissenschaft üblichen Standards, und der Zugriff auf den Inhalt wird durch das Feh-
len von den Text erschließenden Registern erschwert.
Friedrichsdorf SABINE SANDER
SABINE KlibleR: Blatt für Blatt die Rose. Katalog des Rosenmuseums Steinfurth. Bad
Nauheim-Steinfurth: Rosenmuseum Steinfurth 1992, 112 S., Abb. sw
ANNEMARIE SCHIMMEL: Die Rose. (Schriftenreihe Rosenmuseum Steinfurth) Frankfurt am
Main 1991, 34 S. (Schriftenreihe Rosenmuseum Steinfurth)
Die vorliegenden Publikationen können nicht miteinander antreten, sollen aber unter
dem poetischen Stichwort der Rose und als „Erzeugnisse“ des Rosenmuseums in Steinfurth
gemeinsam angeführt werden.
Sabine Kübler ist die Leiterin dieses ungewöhnlichen und ganz besonderen Museums; sie
ist auch Autorin des ungewöhlichen und ganz besonderen Katalogs, der als „Bilder- und Le-
sebuch über die Rose“ in liebevoller und ansprechender Aufmachung weit mehr als erläu-
ternder Begleittext einer Dauerstellung ist. Das enzyklopädisch aufgebaute Inhaltsverzeich-
nis weckt mit verführerisch-mysteriösen bis sachlich-konkreten Stichworten von A wie
„Anagramm“ über E wie „Eitelkeit“ und K wie „Kulturgeschichte“ bis Z wie „Zahme Ro-
sen“ entscheiden die Neugier der Leserinnen und Leser. Im einfallsreichen Layout steckt
viel fruchtbare Arbeit; die präzisen wissenschaftlichen Literaturangaben stören keineswegs
die lustvolle Aufmachung; Querverweise im Text zu anderen Stichworten kommen der
Flandhabung, dem Blättern entgegen.
Viele Abbildungen illustrieren die knappen, aber kenntnisreichen und informativen Pas-
sagen zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte des Steinfurther Rosenanbaus, der sich in die-
sem Gebiet Hessens als landwirtschaftliche Kulturform in der zweiten Hälfte des 19. Jahr-
hunderts unter speziellen (nachlesenswerten) Bedingungen etabliert hat. Darüber hinaus
werden verschiedene Begriffsassoziationen um das Rosenmotiv thematisch erläutert: ein
kurzer Blick auf die von der Kunstgeschichte wenig ernst genommenen Blumenmalerinnen,
bislang ungeahnte Aufschlüsse über den Kern der Redensart, es „durch die Blume“ sagen zu
wollen, oder auch kleine Duftgeschichten tragen neben vielen weiteren spannenden Aspek-
ten weit über das hessische Steinfurth hinaus (natürlich kommt auch Dornröschen vor) und
beleuchten mit exemplarischen Episoden jeweils Bausteine einer Kulturgeschichte der Rose.
Keineswegs ausgespart wird dabei die „Rose unterm Hakenkreuz“; „das Deutsche“ der
Rose rückt ins Bewußtsein, wobei die passionierten Rosengärtner Goethe und Adenauer ir-
gendwie auch noch in diesen Zusammenhang hineinzupassen scheinen. Der Aspekt der ro-
senliebenden, aber sonst wenig Hand ans (durchaus gesellschaftlich) Verschönernde legen-
den Männer lädt zu anregenden zwiespältigen Gedanken ein. Dazwischen geht der Bezug
zu Steinfurth nicht verloren: neben vielem mehr werden Rosenmuseum, Rosenfest und Ro-
senkönigin facettenreich skizziert. Alles in allem liegt ein attraktiver, sympathischer Katalog vor,
der anläßlich des sich anbietenden baldigen Museumsbesuchs erstanden werden kann.
Anders nimmt sich die schmale Broschüre „Die Rose“ aus, der ein Vortrag von Annemarie
Schimmel, Professorin für islamische Sprachen und Religionsgeschichte, zugrunde liegt.
Buchbesprechungen
(Der Klappentext informiert: „Im Herbst 1991 verknüpfte die Veranstaltungsreihe
Rose+Herz die beiden kulturgeschichtlichen Symbole in einer für das Herzheilbad Bad Nau-
heim beziehungsreichen Weise: Die Rose als Symbol der Liebe und das Herz als symboli-
scher Ort der Liebe - In Steinfurth wird die Rose produziert, in Bad Nauheim das Herz
kuriert“, vgl. S. 36.) Vor allem am Beispiel von Gedichten aus dem persisch-türkischen Kul-
turkreis behandelt die Autorin den „immerwährenden“ Bedeutungsgehalt des Rosen-Bildes
vom alten Persien bis zu Hermann Hesse. Den Zeugnissen dichterischer Rosenfaszination
fehlen nicht nur die bibliographischen Angaben, sondern entschieden auch der Vorspann.
Er hätte verdeutlichen können, was Sinn und Zweck dieser Schrift jenseits musealer Illustra-
tion und thematischer Alliteration ist. Dem Sprung durch die Jahrtausende und von einem
Erdteil zum anderen vermag die Leserin/der Leser nicht recht zu folgen: die Grenzen zwi-
schen Gedicht und Kommentar sind bisweilen nicht ersichtlich. Vereinzelte Versuche, Poe-
tik in alltagswirkliche, dem Sinn nach allgemein verbindliche Begriffe zu übersetzen, erin-
nern an die einstigen schulmeisterlichen Gedichtinterpretationsversuche und wirken in ih-
rem Wörtlichnehmen (vor allem im Hinblick auf die abgegriffene Gleichsetzung von Frau
und Rose) eher peinlich.
Die Ausführungen enden ebenso unvermittelt, wie sie begonnen haben; das stimmt ärger-
lich. Auch die wenig belastbaren Bad Nauheimer Eierzpatienten als anvisiertes Auditorium
hätten für ihre 10,— DM etwas mehr Kontext verdient.
Basel Johanna Rolshoven
NORBERT Fischer: „Das Herzchen, das hier liegt, das ist sein Leben los.“ Historische
Friedhöfe in Deutschland. Fotografien von Wolfgang Jung. Mit einem Beitrag von Ingvar
Ambjornsen. Hamburg: Galgenberg 1992, 2, 159 S„ zahlr. Abb. färb. u. sw.
Der Volkskundler Norbert Fischer, ein ausgewiesener Kenner der Hamburger Trauerkul-
tur, begibt sich mit seinem jetzt erschienenen Buch, einem „Leitfaden“ über historische
Friedhöfe in Deutschland, auf ein Gebiet, das in den letzten Jahren sowohl bei den kultur-
und kunsthistorischen Wissenschaften als auch beim allgemeinen Publikum immer mehr
Beachtung findet. Einige großangelegte Inventarisierungsmaßnahmen wurden in jüngster
Zeit beispielsweise auf Friedhöfen in Bielefeld, Berlin, Hamburg und München durchge-
führt. Außerdem erschienen volkskundliche oder historische Dissertationen zur Sepulkral-
kultur in Tübingen, München, Münster und Würzburg. Ausstellungen zum Thema Tod
und Friedhof in Berlin, Bonn, München, Münster, Telgte und Erlangen fanden ein reges
Publikumsinteresse; selbst ein eigenes Museum für Sepulkralkultur gibt es inzwischen in
Kassel.
Geographisch schlägt der Autor einen weiten Boden vom jüdischen Friedhof in Worms
über einige der bekanntesten und sehenswertesten Bestattungsplätze Deutschlands wie die
von Nürnberg, Halle, Dessau, Weimar, Berlin, Köln, Hamburg und München bis hin zu
Anlagen, die wohl mehr dem Friedhofskenner vertraut sind, z.B. auf den Inseln Amrum
und Föhr, in Lunden, Tübingen, Bonn und Heidelberg. Den Abschluß bildet ein Kapitel
über die Einführung der Feuerbestattung in Deutschland. Etwas vernachlässigt wird der
304
Buchbesprechu ngen
ländliche Bereich; wie die überwiegende Menge der Sepulkralliteratur konzentriert sich
auch dieses Buch auf urbane Stätten, doch verschafft es da einen guten Überblick.
Natürlich ließe sich eine derartige Liste verlängern. Keine Erwähnung fanden bespielswei-
se die alten Friedhöfe von Aschaffenburg, Bielefeld, Stuttgart, Schenklengsfeld und Würz-
burg, die — gemessen an ihrem Grabstein- und Vegetationsbestand - den Vergleich mit den
besprochenen Anlagen nicht zu scheuen brauchen, doch ist es nicht möglich, alle bedeuten-
den Friedhöfe aufzulisten.
In der Absicht, ein breites Publikum anzusprechen, garniert der Autor die ortsbezogenen
Kapitel mit einer bunten Mischung von Informationen: Kurzbiographien prominenter Be-
statteter und Einschübe über die (politische) Geschichte der jeweiligen Gegend wechseln
sich ab mit kulturhistorischen Betrachtungen über Bestattungsriten und Auszügen aus Ly-
rik und Philosophie; ja, selbst Wandersagen wie die von dem Wirt, der sich unter die Trauer-
gäste mischt und sein eigenes Lokal für den Leichenschmaus vorschlägt (S. 89), dienen dem
Zweck, dem Leser nicht trocken wissenschaftlich, sondern gut lesbar und doch fundiert die
Atmosphäre und den Reiz alter Friedhöfe zu vermitteln.
Den mehr wissenschaftlich interessierten Leser mögen einige der Einschübe angesichts ih-
rer Vielfalt und Länge stören. Auch hätte man sich vielleicht eine vertieftere Gesamtbetrach-
tung über die Friedhofsentwicklung, eine Einbindung in das europäische Spektrum und
mehr Aussagen über einzelne Themen wie Friedhofsgestaltung und -Ordnung, Verlegung
der Anlagen, hygienische und gestalterische Aspekte, die in der Vergangenheit oft variieren-
de Mentalität den Verstorbenen gegenüber und eine abschließende Zusammenfassung ge-
wünscht. Es fehlt auch der wichtige Aspekt der Konfessionalität, denn diese und in ihrem
Gefolge die politische und wirtschaftliche Entwicklung gaben den Ausschlag dafür, wie auf-
wendig oder sorglos ein Friedhof besonders in der Zeit vom 16. bis 18. Jahrhundert gestaltet
und organisiert wurde. Dieser Zusammenhang ist bisher in der Friedhofsforschung völlig
vernachlässigt worden. Daß er dennoch besteht, ist unübersehbar. Nicht ohne Grund befin-
den sich fast alle nennenswerten Grabsteinbestände vor dem 19. Jahrhundert in traditionell
protestantischen Gebieten und Städten, wo das Bürgertum eine deutlich selbstbewußtere
und wirtschaftlich stärkere Stellung gegenüber kirchlicher und weltlicher Obrigkeit be-
haupten konnte als in katholischen Landen. Erst ab dem 19. Jahrhundert begann der Ein-
fluß der Konfession auf die Friedhofs- und Grabsteingestaltung zu schwinden.
Die reiche und zum Teil farbige Bebilderung von Wolfgang Jung korrespondiert leider
nicht immer mit dem Text. Bei längeren personenbezogenen Exkursen wäre ein nebenste-
hendes Bild des dazugehörigen Grabes anschaulicher gewesen als das eines Grabes, das im
Text nicht näher besprochen wird. Auffällig ist dieses Manko besonders bei den Kapiteln
über den Nürnberger St. Johannisfriedhof und die Friedhöfe von Föhr, Amrum und Hei-
delberg. Auch sollte darauf geachtet werden, daß die Inschriften entweder in der Abbildung
zu lesen sind oder separat abgedruckt werden.
Norbert Fischer führt als Vorbilder für den deutschen Campo Santo die italienischen An-
lagen wie Pisa an (S. 12 u. 40). Dieser Irrtum geistert leider seit langer Zeit durch die Fried-
hofsliteratur. Die Tübingerin Barbara Happe machte hingegen in ihrer 1991 erschienenen
Dissertation „Die Entwicklung der deutschen Friedhöfe von der Reformation bis 1870“
darauf aufmerksam, daß Pisa die einzige italienische Anlage ihrer Art vor dem 19. Jahrhun-
dert war. In Deutschland, besonders in Franken und Sachsen, gab und gibt es aber über 20
- meist protestantische - aus dem 15. bis 17. Jahrhundert. Die Vorbildfunktion Pisas für al-
le diese Anlagen darf dabei bezweifelt werden.
305
Buchbesprechu ngen
Derartige Kritikpunkte schmälern jedoch nicht den guten Gesamteindruck. Nicht selbst-
verständlich und daher positiv auffallend sind das sonst mehr aus der kunsthistorischen Li-
teratur bekannte Glossar, die nach Friedhöfen unterteilte Literaturliste und die Register.
Dieser Anhang trägt zum Eindruck eines gelungenen und übersichtlichen Reiseführers
durch deutsche historische Friedhöfe bei.
Würzburg Ludger Heuer
MARTIN Pott: Aufklärung und Aberglaube. Die deutsche Frühaufklärung im Spiegel ihrer
Aberglaubenskritik. Tübingen: Niemeyer, 1992, 454 S. (Studien zur deutschen Literatur,
Bd. 119)
Die Aufklärung ist in unserer Vorstellung vor allem lebendig geliehen als System einer Le-
bensorientierung und Weltverarbeitung, das den Menschen ermuntert, die ihm innewoh-
nenden Erkenntnismöglichkeiten konsequent auszuschöpfen. Dem Philosophenhistoriker
Martin Pott geht es in dieser Veröffentlichung aber nicht um die systematische Ergründung
der zukunftsweisenden Ideen der Aufklärung, sondern um die Rekapitulierung der Früh-
phase, welche primär getragen wurde durch die Auseinandersetzung mit zeitgenössischen
Formen des Aberglaubens, also durch die konkrete tagespolitische Auseinandersetzung. Im
Zentrum steht dabei unter den Trägern des neuen Geistes vor allem Christian Thomasius
und als entscheidende Frage diejenige nach dem Teufels- oder Dämonenglauben; insofern ist
diese Veröffentlichung auch für einen Volkskundler von Bedeutung.
Der Autor erweist sich als subtiler Kenner der philosophischen, moralischen und medizi-
nischen Schriften des 17. und 18. Jahrhunderts und vermag in einer Reihe jeweils in sich ge-
schlossener Kapitel überzeugend aufzuzeigen, wie Juristen, Theologen und Mediziner um
1700 mit dem Problem des virulenten Dämonenglaubens, der nach wie vor die Stellungnah-
me von Richtern und Rechtsgelehrten herausforderte wie auch die praktische Therapie
durch den Arzt, fertiggeworden sind. Besonders beeindruckend fand ich die beiden ersten
Kapitel mit der Rezeptionsgeschichte der Begriffe „deisidaimonia“ und „superstitio“, wel-
che allmählich aus ihren positiven antiken Konnotationen herausgelöst wurden und zur
Kennzeichnung des zeitgenössischen Aberglaubens verwendet werden konnten.
Um den zentralen Christian Thomasius werden zahlreiche Gelehrte, durchweg aus dem
norddeutsch-niederländischen Raum, ausgebreitet mit ihren Überlegungen zu dem Pro-
blem, wie Dämonen als Geistwesen Wirkungen in der materiellen Realität auszuüben ver-
mögen. Einen besonderen Rang nimmt dabei die traditionelle Temperamenten- und Säfte-
lehre ein, welche ein Junktim sehen wollte zwischen schwarzer Galle bzw. Melancholie und
den zugehörigen Charaktereigenschaften wie Furcht und Ängstlichkeit einerseits und dem
Teufelsglauben andererseits. Recht eindrucksvoll können wir miterleben, mit welchen
Schwierigkeiten sich das damalige Bemühen um Verwirklichung einer sittlichen Weltord-
nung zwischen Orthodoxie und Atheismusverdacht hindurchzulavieren hatte. Der zeitge-
nössische Hexenwahn klingt im Verlauf der Abhandlung zwar immer wieder an, doch ist er
für den Autor nicht das alles entscheidende Leitmotiv; ihn interessieren stärker die theoreti-
schen Implikationen der diversen Kampfschriften. Dementsprechend bleiben die histori-
306
Buchbesprechu ngen
sehen Wurzeln der Hexenverfolgungen und deren frühen Kritiker außerhalb der Betrach-
tung oder spielen eine eher beiläufige Rolle. Dies gilt auch für die zeitgleiche Entwicklung
von Philosophie und Moraltheologie im katholischen Raum. Auch dort gibt es so etwas wie
eine Frühaufklärung, die beispielsweise zur Ablehnung veräußerlichter Formen kultischer
Frömmigkeit geführt hat, nicht anders wie dies im protestantischen Bereich geschah, was M.
Pott wiederholt erwähnt.
Doch dies festzustellen bedeutet nicht, den Wert der vorliegenden Arbeit einzuschränken;
sie hatte ein klar abgegrenztes Untersuchungsgebiet, in welchem sie legitimerweise verblieb.
Es bedeutet vielmehr, auf ein Forschungsfeld hinzuweisen, für welches manche ähnlich qua-
lifizierte Arbeit noch geschrieben werden könnte wie die gegenwärtige.
Passau Walter Hartinger
Eva FabOUVIE: Zauberei und Hexenwerk. Fändlicher Hexenglaube in der frühen Neuzeit.
Frankfurt am Main: Fischer 1991, 303 S., 10 Abb. sw
Eva FABOUVIE: Verbotene Künste. Volksmagie und ländlicher Aberglaube in den Dorfge-
meinden des Saarraumes (16.-19. Jahrhundert). St. Ingbert: Röhrig, 1992, 403 S., 31 Abb.
sw (Saarland-Bibliothek, Bd. 4)
„Die Spannbreite frühneuzeitlicher Weltdeutungen und Möglichkeiten der Febensbewäl-
tigung ist, ebenso wie der Glaube an Hexen und Zauberer und die Vorstellung von ihrem
Wirken, nicht vorstellbar ohne die Berücksichtigung des Glaubens an die Kräfte und Mög-
lichkeiten der volkstümlichen Magie“ (Fabouvie, Verbotene Künste, S. 318). Dieser „Welt
der Magie“, die „eine Welt für sich und doch zur anderen gehörig ist (Marcel Mauss), sind
die beiden Bände der Saarbrücker Historikerin gewidmet, die auf ihre Dissertation bei Ri-
chard von Dülmen zurückgehen.
Gemeinsamer regionaler Bezugspunkt der Studien ist der „Saarraum“ mit dem Saarland,
Fothringen, Kurtrier und Pfalz-Zweibrücken, ein Bereich mit sehr unterschiedlich struktu-
rierten Herrschafts- und vor allem Konfessionsgebieten (katholisch, protestantisch und cal-
vinistisch), der die gegenseitige Durchdringung der verschiedenen Vorstellungswelten und
die mögliche obrigkeitliche Einflußnahme vergleichend diskutieren läßt.
An Quellen liegt den einem sozialanthropologischen Ansatz verbundenen Analysen die
umfangreiche schriftliche Überlieferung in den zuständigen Staats-, Kommunal- und Kir-
chenarchiven zugrunde. Besonders erwähnt seien die Visitationsberichte und Prozeßproto-
kolle.
In dem zweiten übergreifenden Band mit den Titel „Verbotene Künste“- der anziehende
Buchtitel bewahrheitet sich inhaltlich nur teilweise - geht die Autorin dem umfangreichen
Repertoire ländlicher Magiepraktiken nach, der Heil-, Hilfs-, Abwehr-, Bann-, Schutz- und
Schadenszauber sowie der Formen christlich-heidnischer Magie, die Personal und/oder
dinglich vermittelt wurden. Im Mittelpunkt der magischen Handlungen standen „alltägli-
che“ Ereignisse und Geschehnisse wie Geburt, Krankheit und Tod, gegenwärtige und zu-
künftige Febenssituationen, das Glück und Unglück einzelner Menschen oder ganzer
Flaushalte. Insofern wirft die Studie nicht nur bezeichnende Schlaglichter auf die in sich
307
Buchbesprechungen
durchaus „rationale“ und „ökonomische“ Vorstellungswelt der ländlichen Bevölkerung,
sondern auch auf die zu bewältigenden Probleme und Konflikte, zu deren Lösung die Vertre-
ter die kirchlichen Orthodoxien keine oder keine hinlänglichen Angebote machen konn-
ten. Ganz in Gegenteil, das kirchliche Leben selbst blieb lange Zeit ebenfalls durch magische
Vorstellungen bestimmt. Daher ist es erklärlich, daß die ländliche Bevölkerung zum Teil bis
in das 19. Jahrhundert hinein alternativ oder in gegenseitiger Ergänzung auf kirchliche An-
gebote (Wallfahrten, Heiligenverehrung, Kreuzes- und Blutsymbolik etc.) und auf volksma-
gische Praktiken zurückgreifen konnte, ohne dadurch in Glaubenskonflikte zu kommen.
Befragungen in den nichtkatholischen Territorien verweisen hierbei auf die nur relativen
Konfessionsunterschiede: die katholischen „Hilfen“ wurden auch in lutherischen oder cal-
vinistischen Gemeinden, wenn nötig, genutzt.
Die Volksmagie blieb von den historischen Wandlungen der Frühen Neuzeit nicht unbe-
rührt. Interessant ist hierbei etwa die im 18. Jahrhundert zunehmende Verschriftlichung der
Magie (Zauberbücher, Verträge) und die verstärkte Orientierung auf materiellen Reichtum
(Schatzgräberei).
Die gegenseitige Durchdringung und Nutzung kirchlich-obrigkeitlicher und volksmagi-
scher Glaubensvorstellungen zeigt in besonderer Weise der Bereich von Zauberei und Hexen-
werk, auf den L. in dem zeitlich früher erschienenen Band besonders eingeht. Die Hexerei
als „schwarze Magie“ war Teil des magischen Repertoirs der Landbevölkerung. Brachte die
„weiße Magie“ Heilung, Hilfe, Abwehr und Schutz, waren die Handlungen der Hexen mit
Tod, Verfluchung, Verwünschung und Vergiftung verbunden. Zur Ausschaltung dieses un-
berechenbaren und für Gesundheit, Leben und Wohlergehen der Gemeindemitglieder be-
drohlichen „Schadenszaubers“ nutzte die Dorfbevölkerung die Möglichkeiten der formel-
len Hexenprozesse, ohne allerdings die Vorstellungen von Teufelsbuhlschaft und Teufels-
pakt als essentielle zu übernehmen. Wie bereits auch andere Regionalstudien zeigten, halfen
Hexenprozesse insbesondere bei der Lösung innergemeindlicher, vor allem nachbarlicher,
sozialer Konflikte. Besondere Bedeutung besaßen in diesem Rahmen im „Saarraum“ dörfli-
che Hexenausschüsse, die das Anklagematerial zusammentrugen und die „Hexen“ vor Ge-
richt brachten. Zu dem im 18. Jahrhundert einsetzenden Bedeutungsrückgang magischen
Denkens trugen verschiedenste Entwicklungen bei. Während allen Disziplinierungs- und
Kriminalisierungsversuchen der Kirchen des 16. und 17. Jahrhunderts wenig Erfolg beschie-
den war, verloren die „abergläubischen Handlungen“ in der Folgezeit vor allem durch Zu-
nahme neuer - wissenschaftlicher, ökonomischer und sozialer - Hilfen zur Bewältigung
des Alltags und umfassende Belehrung und „Aufklärung“ ihre ursprüngliche grundlegende
Bedeutung. Überreste magischen Denkens und Handelns verblieben bis heute in „ungelö-
sten“ Problembereichen, nun jedoch nicht mehr als anerkannte Alternativen, sondern als
„Subkultur“.
Die beiden Bände L.’s, die leider durch manche komplizierten Satzbildungen nicht immer
leicht zu lesen sind, bieten eine Fülle von Material und erste interpretierende Thesen, die die
weiteren Diskussionen sicherlich in allen Fachdisziplinen befruchten werden. Zwar liegen
- entgegen der pauschalierenden Aussage des Kladdentextes - auch für den deutschsprachi-
gen Raum durchaus schon einzelne Studien zum ländlichen Magieglauben vor (z.B. von
K. S. Kramer oder D. Meili; bemerkenswerterweise wurden die Arbeiten D. W. Sabeans nur
teilweise ausgewertet), die nun hier vorliegenden umfangreichen Arbeiten zum Thema soll-
ten jedoch die Magie als wesentliche Variable der frühneuzeitlichen Lebenswelt nun endgül-
tig aus der wissenschaftlichen Randposition herauslocken.
Kassel Christina Vanja
308
Buchbesprechungen
GENEVIÈVE HerberiCH-MarX: Evolution d’une sensibilité religieuse. Témoignanes scrip-
turaires et iconographiques de pèlerinages alsaciens. Strasbourg: Presses Universitaires de
Strasbourg, 1991, 312 S., Abb., Tab.
Geneviève Herberich-Marx hat sich die Zeugnisse elsässischer Wallfahrten zum Gegen-
stand genommen. Es sind an sich die üblichen Quellen schriftlicher und bildlicher Art, fast
500 Votivbilder der letzten zwei Jahrhunderte, insbesondere aus Thierenbach, einer Marien-
wallfahrt nahe Guebwiler. Der Votivtafelbestand wird analysiert und interpretiert, die kor-
respondierenden Mirakelbücher als schriftliche Quellen herangezogen und untersucht. Da-
zu kommen pastorale Literatur, Handreichungen für Priester, Pastoralliteratur. Dabei zeigt
sich, daß auch diesen und anderen „Quellen“ (so wird auch die Architektur als Text inter-
pretiert) durchaus neue Fragen abzugewinnen sind.
Ziel der Untersuchung ist die Frage nach der Evolution einer religiösen Sensibilität, die
am Anfang unserer Moderne steht und die einmal auch als „kollektive Panik“ bezeichnet
wird. In der Tat: die schriftlichen und ikonographischen Zeugnisse für Wallfahrten scheinen
mit ihrem fast hypertrophen Aufblühen der These in einer Evolution religiöser Sensibilität
zu belegen, die freilich unterschiedliche Formen ausprägt, hohe Zeiten und Tiefpunkte
kennt. Wie aber, und unter welchen Bedingungen entsteht solche Sensibilität, wo sind ihre
Muster, wie wird religiöse Sensibilität gemacht? Was hat es mit der religiösen Evolution auf
sich? Haben religiöse Gefühle eine Geschichte? Läßt sich „Volksfrömmigkeit“ als im histo-
rischen Prozeß „gelerntes“ Verhalten beschreiben? Ist es möglich, populäre Ausdrucksfor-
men in Bildern und Texten zu lesen? Lassen sich aus populären Umgangsweisen auch Konse-
quenzen für die Aneignungen des Religiösen schließen?
Hier verbirgt sich ein Thema, das unter den Stichworten „Volkskultur“ und „Widerstän-
digkeit“ immer etwas grobschlächtig traktiert worden war; es wird differenzierend und oh-
ne Hast überprüft. Denn die Patsche Herrschafts- und Sozialkritik (als „Methode“ der Par-
teilichkeit) schlug schon immer zu hart zu und hat das, was sie befragen wollte, oft gleich
mit zerstört. Was haben die Mächtigen, hat die Kirche, toleriert? Wie weit hat sie es ermög-
licht, zugelassen, geduldet, vielleicht sogar gefördert (im so verstandenen eigenen Interesse),
daß religiöse Konterbande - populäre Frömmigkeit - eingeschmuggelt wurde? Hat sich
vielleicht mit den kirchlicherseits angebotenen Heilsmitteln ein autonomes, populäres In-
strumentarium entwickelt, das die Menschen für ihre eigentlichen Bedürfnisse zu nutzen
verstanden? Die zentrale These Michel de Certeaus wird hier herangezogen; sie wird ent-
scheidend, weil sie vom „wilden“ und damit autonomen (und dennoch oft auch prekären)
Konsum des Obrigkeitlichen, das wäre hier der Katalog das Religion, ausgeht.
Es geht der Autorin um Weltbild und Welterkärung, um Wahrnehmung von Welt, um In-
terpretationen und Erfahrungen. Die Tatsache, wie die an sich bekannten, oftmals nur ober-
flächlich beachteten Quellen bearbeitet werden, ergiebig gemacht werden, verdient Auf-
merksamkeit. Die Neugierde wird belohnt. Evolution meint eine Dynamik, die sich auch
in der Permanenz der longue durée zeigen läßt. In den Mirakelbüchern und mehr noch in
den Anliegenbüchern (die ja als erste privatere und weniger kontrollierte Quelle gelten dür-
fen) kommen wilde Nutzungen zum Ausdruck, die von der Kirche so nicht vorgesehen wa-
ren. Gerade die Analyse der Anliegenbücher hilft hier weiter. Wahrnehmung von Welt, das
unterstellt freilich auch, daß in den Bildern und Texten eine „eigene Welterfahrung“, ein ei-
genes System von Wahrnehmung und Erklärung der Welt enthalten sei, das sich im Vota-
tionsakt symbolischen Ausdruck verschafft. Vielleicht ist in diesem Zusammenhang die
Rolle des Verlöbnischarakters der Votation zu wenig akzentuiert. Wolfgang Brückner, Karl-
309
Buchbesprechu ngen
S. Kramer und Lenz Kriss-Rettenbeck haben auf diesen rechtlichen Aspekt, der sich auch in
den Denkstrukturen abbildet, hingewiesen. Nicht geklärt, nur angedeutet wird die Rolle
der Maler, die die Ex-Votos fertigten. Diese kollidiert nur auf den ersten Blick mit der be-
haupteten Spontaneität der Ausdruckformen. So anregend Marcel Mauss das System der Ga-
be im „Essai sur le don“ beschrieben hat, so plausibel auch der Idealtyp bei Max Weber ist:
Gerade weil das Ex Voto-Bild so naiv und stereotyp, auch seriell ausgebildet erscheint, kon-
stituiert es gleichwohl den Ausdruck einer individuellen Frömmigkeitshaltung (piété) und
reflektiert gleichzeitig eine kollektive Mentalität. Das wäre, so könnte man mutmaßen, vie-
leicht auch die ungeheure Modernität jener Sensibilität: daß sie immer mehr als eine Lesart
zuläßt, ja sogar verlangt und daß sie Individualität aus der Massenhaftigkeit kreiert. Kultur
ist ein Zusammensetzspiel.
Im Nachweis, daß und wie Religiosität in einem historischen Prozeß ausgebildet wird und
wie sie die zeittypischen Bedürfnisse aufnimmt, liegt der weiterführende Ertrag dieser Stu-
die. Die Linien sind sorgfältig nachgezeichnet: ob es um Anrede, Bild und Bezeichnung der
Maria geht, die ja auch eine Art des Umgangs bedeuten, Mutter oder frauliche Schwester,
Heilige oder Himmelskönigin, Jungfrau mit oder ohne Kind, Pietà, oder ob es um die Cho-
reographie der Akteure und der thematischen Anlässe auf den Bildtafeln geht.
Eine beschreibende Analyse der gegenwärtigen Formen schließt den Band ab. Der Kano-
niker Gérard Sifferlen, dem Frau Herberich-Marx viele Einsichten verdankt, erklärt ihr in
Gesprächen die Belebung der Wallfahrt. Er, der - gibt es nichts Neues unter der Sonne? -
zuerst den „ganzen Exzess der populären Religion hinausfegen“ wollte, respektiert die Be-
dürfnisse der Menschen nach heiligen Orten.
Die Fächer sind näher aneinander geraten, wenngleich oft isoliert. Die Claims aber sind
nicht mehr abgesteckt. Die Historie ist anthropologisiert und, wie die Soziologie, auch hi-
storisiert. Jüngst hat die Historikerin Rebecca Habermas einen heftig kritisierten Deutungs-
versuch der neuzeitlichen Wallfahrten vorgelegt, der ob der einsinnigen Deutung selbst sol-
che Kreise auf den Plan rief, die eigentlich vereinbart hatten, dem Gegenstand keinen Reiz
mehr abzugewinnen. Vielleicht ist es überhaupt von besonderem Reiz und die Diskussion
anregend, wenn „klassische“ Themen der Volkskunde von anderen Wissenschaften neu auf-
genommen und wenn ihnen, unter gewandelter Perspektive, neue Fragen und neue Interpre-
tationen abgerungen werden. Einen neuen Blick versprechen die Forschungstraditionen der
jeweiligen scientific community. In dem von Freddy Raphael geleiteten und inspirierten
Straßburger Institut für Regionalsoziologie, dort ist die Arbeit entstanden, hält man große
Stücke auf Max Weber, auf Georg Simmel, der in Straßburg einmal eine Professur hatte, auf
Emile Durkheim, Marcel Mauss und andere Soziologen. Aber sie und andere waren ja nicht
bloß Soziologen. Sie waren eigentlich Kulturwissenschaftler mit hohen Anregungspotentia-
len auch für uns Heutige, die wir eine Renaissance der Klassiker fördern und sie als deu-
tungsmächtige Stichwortgeber nutzen. Max Weber ist da besonders hilfreich: ist er doch der
Soziologe, der eine Wissenschaft zu begründen suchte, in der die Subjekte nicht verschwin-
den, sondern verstanden sein sollten.
Wenn traditionelle „Gegenstandsbereiche“ anders und neu beackert werden, denen man-
che kaum mehr einen Reiz abzugewinnen mochten, dann regt das an. Die Arbeit, die viele
methodische Ansätze höchst plausibel und verständig integriert, bietet Anregungen und Er-
weiterungen zur Diskussion an, wie etwa die der Abbildhaftigkeit von Welt und Welterfah-
rung in Texten, Bildern und Sachen und deren Nutzung. Sie weist unser Fach nachdrücklich
310
Buchbesprechungen
auf die weiterhin bestehende Aktualität und Bedeutung seiner „alten“ Themen und der in
ihnen längst noch nicht genau genug vermessenen Felder hin.
Tübingen KONRAD KÖSTLIN
Peter Dohms in Verb, mit Wiltrud Dohms und Volker Schroeder: Die Wallfahrt
nach Kevelaer zum Gnadenbild der „Trösterin der Betrübten“. Nachweis und Geschichte
der Prozessionen von den Anfängen bis zur Gegenwart. Mit Abbildungen der Wappenschil-
der. Kevelaer: Butz & Bercker, 1992, 430 S„ Abb. färb. u. sw
Über Kevelaer, den Ort mit der bedeutendsten Wallfahrt Nordwesteuropas, liegt - insbe-
sondere für die neuere Zeit - massenhaft aufbewahrtes Schriftgut vor: Wallfahrtspläne,
Pfarrchroniken usw.
Der Autor des zu besprechenden Buches, Peter Dohms, ist als Archivar mit solchen Mate-
rialien vertraut und stellt schon im Vorwort eine Gefahr für sein Vorhaben dar, nämlich daß
die „mit der zunehmenden Erweiterung der Kevelaer-Wallfahrt verbundene, stetig zuneh-
mende, um nicht zu sagen: ausufernde Vermehrung der Überlieferung den ins Auge gefaß-
ten Gesamtumfang des Buches zu sprengen drohte.“
Als weitere Schwierigkeiten bei den Beschreibungen der Prozessionen zu dem Gnadenbild
der „Trösterin der Betrübten“ treten die Veränderungen der Konfigurationen hervor. Zwar
werden in diesem Werk bevorzugt Wallfahrten aufgelistet, die von kirchlichen Gebietskör-
perschaften (Pfarreien, Gemeinden, Distrikten mit Leitpfarreien) ausgehen, dennoch wird
darauf hingewiesen, daß die Motorisierung der Einzelwallfahrt zu enormem Aufschwung
verholfen hat und daß — insbesondere seit dem 2. Vaticanum (1963) sich das herkömmliche
Bild der Prozessionen wandelte. Gruppen von primär nichtkirchlicher Provenienz (Partei-
gliederungen, Betriebsräte, Berufsverbände, Schützen, Vertriebene) organisieren den ge-
meinsamen Besuch der Gnadenkapelle. Die „Wallfahrt der Motorradfahrer“ (seit 1985)
brachte es 1991 auf etwa 1000 Motorradfahrer mit insgesamt 1200 Teilnehmern, darunter
mehreren motorradfahrenden Geistlichen. Die Kevelaer Polizeistaffel regelte den Ablauf im
Ort. Diese Wallfahrt führt einen Schild, der neben einer Abbildung des Gnadenbildes
Bremshebel, Zündkerze, Ritzel und Olfilter aufweist. 1991 wurde erstmals eine brennende
Votivkerze mit Hilfe einer „besonders windgeschützten Konstruktion“ auf einem Motor-
rad mitgeführt (S. 54 f.).
Aber die gute Dokumentation der Gegenwart und die volkskundlichen Erhebungen aus
unserem Jahrhundert (Materialsammlung Matthias Zender; „Rheinischer Volkskundefra-
genbogen“ von 1932) sollen nicht darüber hinwegtäuschen, daß die Quellenlage bis zum Be-
ginn des 19. Jahrhunderts eher dürftig ist. Dies betrifft kirchliche und staatliche Archive.
1986 wurden deshalb von Dohms und 1989-1992 von der Wallfahrtsleitung Kevelaer er-
gänzende Umfragen an auswärtige Pfarrämter gerichtet.
Die Ergebnisse der Archivrecherchen und Befragungen sind in dem Hauptteil „Nachweis
und Geschichte der Prozessionen“ (S. 1-376) zusammengefaßt, recht unterschiedlich in ih-
rer Aussagekraft. Die Kapitel Belgien (S. 1-11), Deutschland (S. 12-313) und Niederlande
(S. 315-376) umfassen selbstverständlich die Hauptmenge der nach Herkunftsarten geglie-
311
Buchbesprechungen
derten Prozessionsveranstalter. Jeder Artikel ist gegliedert nach (1) Träger, (2) Beginn, (3) Be-
sondere Ereignisse, (4) Anliegen, (5) jährliche Termine, (6) Weg und Gestaltung, (7) Aufent-
halt in Kevelaer. Teilweise sind die Eintragungen aber so marginal, daß es erlaubt sei zu fra-
gen, wozu sie nutzen können; etwa wenn sie nur durch den erwähnten Volkskundefrage-
bogen von 1932 für das gleiche Jahr belegt sind (wie der Ort Faid auf S. 102), oder wenn die
Kapitel Japan und Schweiz jeweils nur einen Ort enthalten, nämlich „Nagoya (1) Gesell-
schaft der Orgelfreunde (2) seit 1984 (5) Aug.“ beziehungsweise ,,St. Gallen (2) 1958, 1984
bezeugt (5) 1958 11. Okt., 1984 11.-12. Aug. (6) Mit dem Bus“. Bei der Beschreibung der
für die Kevelaer-Wallfahrt wichtigen Orte wirkt dagegen die vorgegebene Struktur der Arti-
kel einengend. Eher würde man monographische Darstellungen vorziehen.
Daß die Belege für unser Jahrhundert am dichtesten sind, ist sicherlich nicht zu kritisie-
ren. Allerdings erweckt der Titel des Buches den Eindruck, daß 350 Jahre Wallfahrten nach
Kevelaer gleichermaßen komplett erfaßt worden seien. Diese Sichtweise wird auch vermit-
telt durch den chronologischen Anhang „Übersicht über Pilgeraufkommen und Anzahl der
Prozessionen“ (S. 377-396), in dem seit „ca. 1650“ bis 1991 nicht vergleichbare Zahlen und
lückenhafte Angaben produziert werden. Da hilft dem ratlosen Leser die Vorbemerkung auf
S. 377 kaum weiter: „Grundsätzlich sei hier auf die Möglichkeit hingewiesen, daß die in der
folgenden Übersicht verwandten Zahlen- und Mengenangaben bisweilen überhöht sind.“
Fassen wir zusammen: ein inhomogenes Quellenmaterial von großem Umfang wurde
ausgewertet und geordnet. Die Zusammenstellung zeigt jedoch, daß Jahrhunderte von Wall-
fahrtskultur sich nicht immer befriedigend in ein gleiches Schema ordnen lassen. Vielleicht
hätte schon eine Auskartierung nach einzelnen Kategorien (z. B. Träger, Beginn, Gestaltung)
mehr Übersicht geschaffen.
Die Hinweise für den Leser sind jedenfalls so vielseitig, daß dieses Nachschlagewerk mit
Wahrscheinlichkeit weitere Untersuchungen nach sich ziehen wird.
Bremen RAINER ALSHEIMER
WALTER SALMEN: ,,. . . denn die Fiedel macht das Fest“ - Jüdische Musikanten und Tän-
zer vom 13. bis 20. Jahrhundert. Innsbruck: Edition Helbling, 1991, 224 S„ 20 Beil., 50
Abb., Bibliographie.
Nach Walter Salmens ausführlich-detaillierter sozialhistorischer Beschreibung der jüdi-
schen Musikanten und Tänzer läßt sich jüdisches Musizieren als ein alltägliches europäi-
sches Erlebnis seit dem Mittelalter betrachten. Nach der Fülle von Akten und Dokumenten,
die hier sorgfältig untersucht wurde, hätte man jüdische Musik sowohl bei jüdischen als
auch nichtjüdischen Festen hören können. Nach der Darbietung von jüdischen Sitten und
Gegenständen, aus denen ein komplexes Musikleben entstand, wäre kein Mangel an Spuren
von jüdischer Volkskultur bzw. Volksmusik in der europäischen Ethnologie zu erfahren.
Mit diesem Buch ist nun eine ganz andere Geschichte der Präsenz jüdischer Kultur in der
europäischen Vergangenheit und Gegenwart geschrieben worden.
Walter Salmen gilt als der wichtigste Archäologe in der europäischen Musikwissenschaft
der Nachkriegszeit. Ich begreife hier „Archäologe“ als eine Bezeichnung für jene For-
schungsmethoden, die Nachweise ausgraben und Spuren erkennen können, welche für kon-
312
Buchbesprechu ngen
ventionelle wissenschaftliche Methoden unsichtbar und nicht wahrnehmbar bleiben. Cha-
rakteristisch für Salmens zahlreiche Bücher und Beiträge in mehreren Bereichen ist seine Fä-
higkeit, das Verborgene wahrnehmbar zu machen. Teilweise untersucht er Quellen, die un-
bekannt sind; teilweise stellt er Beziehungen zwischen musikalischen und anderen Gebieten
vor, die für einzelne Forschungsbereiche unvorstellbar sind. Seit dem Holocaust litt die jüdi-
sche Volkskunde in Europa unter dieser Verborgenheit bzw. unter einer konstruierten
Nichtwahrnehmbarkeit. Einerseits gab es den ungeheuren Mangel an Material nach der sy-
stematischen Zerstörung jüdischer Kultur in Europa. Es folgte daraus, daß eine lebendige jü-
dische Volkskultur nur außerhalb Europas - hauptsächlich in Israel und in den USA - zu
finden war. Andererseits ließ sich jüdische Volkskultur als jene einer „Anderen“ erkennen,
d. h. als getrennt von europäischer Volkskultur durch zeitliche Abgrenzung. Aus unter-
schiedlichen Gründen blieb die jüdische Präsenz in der europäischen Volkskultur nicht
wahrnehmbar, deshalb verlangt ihre Ausgrabung die Forschungsmethoden und interdiszi-
plinäre Vorstellung Walter Salmens, dem wir deswegen zu danken haben.
Die zentrale Rolle dieser Sozialgeschichte jüdischen Musizierens spielten die Instrumen-
talmusik und der jüdische Musikant oder Klezmer (pl. Klezmorim). Obwohl der Begriff
Klezmorim seit den 1960er Jahren bekannt, wenn nicht sogar geläufig ist - aufgrund eines
zunächst in Amerika erfolgten Revivals und einer vor einem Jahrzehnt in Mitteleuropa Mo-
de gewordenen Popularmusik -, bezieht sich der Verfasser nicht nur auf den von Vaudevil-
le und jiddischem Theater geprägten Klang, sondern auch auf eine Breite und Vielfalt jiddi-
schen Musizierens, das überall unter aschkenasischen (Hebr.: „deutschen“ bzw. deutsch-
und jiddischsprachigen) Juden zu finden war. Das Hauptgebiet des Buches ist eigentlich Mit-
teleuropa, d. h. die Länder, in denen sich Juden in Deutsch oder westlichen Dialekten des
Jiddischen als Alltagssprachen unterhielten. Die Volkskunde dieses jüdischen Mitteleuropas
läßt sich von Osteuropa wesentlich unterscheiden. Das Buch gilt daher als ein sehr wichtiger
Beitrag zur Ausbreitung der jüdischen Volkskunde in Mitteleuropa. Am Beispiel des Klez-
mers stellt der Verfasser eine Geschichte der jüdischen Volks- und Popularmusik dar - die
Grenzen sind hier fast unmöglich zu erkennen -, die sich seit dem Mittelalter im deut-
schen Sprachraum entfaltete, und deren Einflüsse in der Musik der modernen Zeit unent-
behrlich sind.
Nach Salmens Darstellung wird der Klezmer nicht nur als Instrumental- bzw. Volksmusi-
kant verstanden. Demgegenüber repräsentiert die Klezmer der Tätigkeit von Musikern -
hauptsächlich professionellen Musikern - in den weltlichen Bereichen in der europäischen
Gesellschaft. Diese Gebiete waren sowohl jüdisch als auch nichtjüdisch, und oft waren die
sozialen Grenzen dazwischen verschwommen. Die Musiker, die in diesem Buch vorgestellt
werden, haben oft Namen, die auf Steuerakten zu finden sind, und es ist zu vermuten, daß
sie öffentliche Rollen in ihren Gemeinden sowie auf europäischen Höfen und in Groß- und
Kleinstädten bekleideten. Diese Musiker haben die Grenzen zwischen Nationen sowie zwi-
schen Sprach- und Kulturgebieten überschritten, um eine musikalische Volkskultur zu
schaffen, die sowohl jüdisch als auch europäisch war, wenn auch hoch differenziert und viel-
fältig. Vor allem fehlen uns die Repertoirs - d. h. überlebende Noten -, mit denen moderne
Forscher die Musik wieder konstruieren könnten; trotzdem schildert Walter Salmen das
Musikleben jüdischer Gemeinden in Europa durch die Dokumente, die er in Archiven, Bi-
bliotheken und Privatsammlungen ausgrub. Im Buch erscheinen diese Dokumente in ver-
schiedenen Formen, d. h. als Zitate, längere Beilagen und 50 Abbildungen. Teilweise sind
diese Dokumente schwierig zu benutzen, z. B. ist es sehr zu bedauern, daß ein Register zum
313
Buchbesprechungen
Buch fehlt. Ohnehin lohnt es sich, dieses Buch mehrmals zu lesen, um verschiedene Per-
spektiven aus den einzelnen Details und Dokumenten zu gewinnen.
In einem von Walter Salmen verfaßten Buch erwartet man eine neue Entdeckung, und so
wird man auch in diesem Buch nicht enttäuscht. Schon im Untertitel taucht die Präsenz von
Tanz und Tänzer in Salmens Sozialgeschichte der jüdischen Musik auf, und durch das Buch
hindurch erscheinen Tanz und Tänzer - und darunter mehrere professionelle Tänzer - in
eindrucksvollen Beispielen. Auf einer Ebene spielte Tanz eine Rolle im jüdischen Volksle-
ben, da die Musik häufig zum Tanz gespielt wurde. Auf einer anderen, komplexeren Ebene
schildert der Verfasser den Tanz aufgrund seiner Fähigkeit, die europäisch-jüdische Gesell-
schaft zu organisieren. Überall in Dörfern und Städten im aschkenasischen Europa versam-
melten sich Juden bei gekennzeichneten Tanzhallen, die oft mitten im jüdischen Viertel im-
ponierend standen. Auf überzeugende Weise schildert der Verfasser den Tanz im Verhältnis
zu Aufzügen und Prozessionen, d. h. in den Momenten, als die Juden in die Öffentlichkeit
traten. Es folgt daraus, daß der Tanz ein Mittel lieferte, um zwischen jüdischen und nichtjü-
dischen Welten zu verkehren, sogar das Verhältnis dazwischen umzuwandeln. Der Tanz
und die Musik fungierte daher als Mittel der sozialen Umwandlung sowie der Emanzipation
der Juden in der modernen europäischen Geschichte.
In der historischen Darstellung des Verfassers verkehrten jüdische Musiker auf mehreren
sozialen Ebenen sowie über etliche berufliche Grenzen hinweg. Schon Salmens Titel weist
darauf hin, daß nicht nur Klezmorim oder anderen Volksmusikensembles betrachtet worden
sind. Tänzer sind nicht die einzigen, die erwähnt werden, sondern auch Musiker auf allen
professionellen Ebenen in Europa. Dieses Buch läßt sich keineswegs nur als eine Betrach-
tung von jüdischer Volksmusik erkennen, sondern zeigt in vielen der darin dargestellten
Karrieren die Gattungen und Sozialfunktionen der Volksmusik auf. Im 19. Jahrhundert
durchliefen einige Instrumentalmusiker fast parallele Karrieren in der Volksmusik, als Hof-
musiker oder auf der Popularbühne. Außerdem konnten Synagogenvorsänger (= Kantoren
bzw. Chasanim) verschiedene berufliche Laufbahnen einschlagen, die inner- und außerhalb
der jüdischen Gemeinde und Religionsgrenzen standen, z. B. als Opernsänger oder Gesangs-
komiker. Dem Verfasser ist berufliche Flexibilität bzw. Mobilität ein Merkmal des jüdi-
schen Musikanten, der öfter hat umherziehen müssen und ständig von wechselhaften finan-
ziellen Bedingungen und Toleranzgesetzen abhängig war. Diese soziale Flexibilität ent-
wickelte sich weiter als eine musikalische Anpassungsfähigkeit, die die nach der Aufklärung
wachsende Präsenz jüdischer Musiker im Musikleben des modernen Europa ermöglichte.
Obwohl er die Nachweise zu seinem Argument für nahezu alle Regionen im jüdischen
Europa sammelte, differenziert der Verfasser nicht immer, wie die Einzelheiten die Vielfäl-
tigkeit der jüdischen Musik und Kultur Europas repräsentieren. Es ergibt sich damit eine
Tendenz, das Jüdische zu verallgemeinern. Einerseits hilft diese Verallgemeinerung den Le-
sern, jüdische Sitten und Feste, die im gegenwärtigen Europa seit dem Holocaust noch unbe-
kannt blieben, zu verstehen. Andererseits stellt die Verallgemeinerung eine zeitlose Sozialge-
schichte dar, in der alle Hochzeiten ländlich und vormodern sind, und orthodoxe religiöse
Sitten das jüdische Volksleben dominieren (zu „Verlobung und Hochzeit“ s. S. 92 ff.). Bei
dieser Vorstellung wurde jüdische Musik nicht nur idealisiert, sondern in eine distanzierte
Vergangenheit verschoben. Dadurch wurde die jüdische Musik in die Kultur und Welt des
verlorenen „Anderen“ umgewandelt. Dennoch waren jüdische Volkskultur und Volksmu-
sik - war das jüdische Europa - nicht nur auf dem Land und nicht nur vor der Aufklärung
zu finden, sondern auch in der Stadt und im 20. Jahrhundert. Weiter waren sie urban und
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Buchbesprechungen
modern, und sie sind von der europäischen Geschichte des 20. Jahrhunderts durch Verallge-
meinerung nicht trennbar.
Walter Salmens überwiegendes Ziel ist aber, eine jüdische Musik- und Sozialgeschichte
wiederherzustellen. Dies wäre möglich, so meint der Verfasser, wenn nur die Nachweise
richtig ausgegraben würden, und wenn die komplexe Teilnahme jüdischer Musikanten an
der europäischen Kultur ausführlich dargestellt würde. Trotz des Mangels an Nachweisen ar-
gumentiert Walter Salmen im abschließenden Absatz: „Dennoch sollte diese unabänderli-
che Sachlage nicht dazu verleiten, diesen für die Kulturgeschichte Europas, Asiens, Afrikas
und Nordamerikas gewichtigen Gegenstand gänzlich aus dem Auge zu verlieren, sondern
vielmehr Anlaß zu dem produktiven Bestreben geben, dieses Thema nicht abzulegen“
(S. 130-131). Walter Salmens Buch dient nicht nur als ein erster Schritt auf dem Weg zu ei-
nem neuen, für Europäer unentbehrlichen Ziel des Verständnisses. Es dient sogleich als
Wegweiser dazu, ein neues Forschungsgebiet zu eröffnen und zu ermöglichen.
Chicago/Illinois PHILIPP V. BOHLMANN
Sylvie BOLLE-ZemP: Le réenchantement de la montagne. Aspects du folklore musical en
Haute-Gruyère. Basel, Genève: Schweizerische Gesellschaft für Volkskunde, 1992, 203 S.
(Mémoires de la Société suisse des traditions populaires, Vol. 74)
Ein handlicher Band liegt hier vor, vorbildlich in Gliederung und Aufbau, die es erlauben,
der Argumentation mit Spannung und Einsicht zu folgen. Der bestechende Titel trifft in sei-
ner Mehrdeutigkeit prägnant Inhalt und Anliegen der ethnomusikologischen Untersu-
chung im Gebiet von Intyamon. Um die Geräuschkulisse dieser Landschaft der Haute-
Gruyère im französisch-schweizerischen Voralpengebiet geht es, um den tönenden Hinter-
grund, der die im ökonomischen Abwind befindliche „Bergwelt“ wiederbelebt und „ver-
zaubert“.
Sylvie Bolle-Zemps Studie ist einmal mehr ermutigendes Beispiel einer Überwindung
gebietlich eng gefaßter (volkskundlicher) Spezialität: der musikalische Ausdruck einer Be-
völkerung und ihrer Kultur wird weit über instrument-, lied- und notenimmanente
regional-musikologische Aspekte hinausgehend differenziert in seiner gegenwärtigen gesell-
schaftlichen Bedeutung gesehen. Die breite Materialbasis ist nicht Selbstzweck, sie erhält in
kleiner Auswahl den ihr gebührenden Platz im Anhang.
Die Breite des methodologischen Zugangs und der (wissenschaftlich-relevanten) Fragestel-
lungen werden offengelegt und mit sensiblen Reflexionen zum feldforscherischen Statut er-
gänzt. Die Anmerkungen lesen sich nicht als öde Pflichtübung, sie offenbaren vielmehr ei-
nen kenntnis- und zugangsreichen wissenschaftlichen Apparat. Mit reichen Quellenstütz-
und -ausgangspunkten (Interviews, Tonbandaufnahmen und schriftlichen Quellen) be-
leuchtet die Autorin den Hintergrund eines Gesamt-Klanges von Viehrufen, Viehglocken,
individuellem und choralem Singen und Gesang als inszeniertem Ausdruck Schweizer Berg-
weltvorstellungen, indem sie den symbolischen Dimensionen einer von technischen, wirt-
schaftlichen und sozialen Prämissen bestimmten kulturellen Praxis nachgeht.
315
Buchbesprechungen
In einem ersten Teil werden die Viehrufe der Sennen sowohl in ihrer Funktion als „Ar-
beitsgerät“ veranschaulicht, als auch in ihrer ausgeschmückten Form als „Rufgesang“ und
individuellem Stimmungsausdruck zwischen eigenen Varianten und aus anderen Kontexten
gezogenen musikalischen Vorgaben. In ihrer technischen, individuell-symbolischen und in
ihrer gesellschaftlichen Funktion wirken sie unterstützend auf die Nostalgie pittoresker
Greyerzer Alpwirtschaft, für die nicht nur touristische Besucher und „modernisierte“
Gruyèriens empfänglich sind. Hinzu „höre“ man sich den Klang der Kuhglocken, deren
Summe an objektalen Verwendungszusammenhängen einen regional tönenden und ebenso
Bergwelt Vorstellungen evozierenden Identitätsreferenten ausmacht: als „Arbeitsinstru-
ment“, das Almauf- und -abtriebe oder den Bewegungskreis der Herde signalisiert, als Preis
und Pokal, Geschenk oder Souvenir und je nach Gelegenheiten als Musik- oder Lärminstru-
ment ...
In weiteren Kapiteln wird die Inszenierung des singenden Bergbewohners verfolgt, die
sich im einsamen Einzelgesang des Sennen manifestiert, aber auch in den multiplen Zugehö-
rigkeiten der Greyerzer Bevölkerung zu örtlichen Kirchen- und Laienchören sowie in Auf-
tritten von „Folkloregesang“-Gruppen, die als kommerzielles und medienwirksames Ob-
jekt soziale Nachfrage beantworten. „Die Stimmen der Heimat“ (S. 93) modullieren und
propagieren so die „ideologische und ästhetische Konstruktion“ der Alpengebiete (S. 73):
„Ça fait connaître le pays en musique“ - wie es ein singender Informant mit schönen Wor-
ten unterstreicht (S. 93). Neben den Chören als wichtige Institutionen lokaler Geselligkeit
werden auch die weniger organisierten Formen gemeinschaftlichen Singens entlang ihrer so-
zialen Funktionen beschrieben. Die mit Sensibilität erfaßten Beobachtungen der „conven-
tion du rire“ (S. 117) beschreiben etwa, wie sich sowohl individuelle Entspannungs- oder
Entlastungs- als auch Gruppenzusammenhaltsfunktionen am Lächeln, der Erheiterung und
Belustigung ablesen lassen oder sich in Formen der Gesangskarikierung, der Parodie äu-
ßern.
Sylvie Bolle-Zemp trägt ihrem Anspruch, in der Untersuchung der Greyerzer Bergmusik-
kultur „die funktionalen Zusammenhänge zwischen dem Gesang, der Vielfalt der sich in
Rede und Bezeichnung ausdrückenden Repräsentationen, den körperlichen Haltungen, den
Objekten und den Formen des Zusammenlebens, den Umständen und den Orten“ heraus-
zuarbeiten (S. 19), in vorbildlicher Weise Rechnung. Die engen Beziehungen zwischen dem
(Wohl-)Klingenden, Hörbaren und dem Sichtbaren der voralpinen Landschaft sowohl als
Lebensraum und Produktionsmittel wie auch als ästhetischer Anblick werden in souverä-
nen Interpretationen und mit großer begrifflicher Genauigkeit (etwa im facettenreichen Ge-
sangsbegriff) formuliert.
Die Autorin hütet sich, in das Klagelied um die „Folklorisierung“ und Kommerzialisie-
rung von „Kultur“ miteinzustimmen. Sie packt, im Gegenteil, die Schweizer Kuh bei den
Hörnern und geht mit hellsichtigem ökonomisch-analytischen Blick den am Prinzip der
Wirtschaftlichkeit geschulten Denkprinzipien der (singenden) Greyerzer Bevölkerung auf
den Grund. Dem „nouveau goodwill de la région“, zur touristischen Attraktivierung mit
gesundem Selbstbild beizutragen, d. h. dem „Bild einer ,gesunden (singenden) Bergbevölke-
rung1 “ und einer intakten Landschaft (S. 93), kommt das „Gesunde“ der florierenden Öko-
nomie in Gestalt einer gewissen Rentabilität des dergestalt „folklorisierten“ Selbstbildes
entgegen.
Die Aura der alpinen Provenienz, die als Glied des identitären Greyerzer Rückgrates her-
hält, wird in ihrer - für den Prozeß des „réenchantement“ nicht unwesentlichen - „Ur-
316
Buchbesprechungen
sprungsmythenfunktion“ angeschnitten (den etwaigen Wahrheitsgehalt dabei glücklicher-
weise beiseite lassend) und die geschlechtsspezifische Einschlägigkeit des schweizerisch ver-
innerlichten Selbstbildes der „Freiheit der Berge“ betont. Im Licht der unbedingten Reprä-
sentation (aber eben wieder mal gar nicht so sehr „in Wirklichkeit“) ruft der Berg den
Mann, der Mann das Vieh und selbst dann einsam in die Bergwelt hinaus. „Gleichzeitig ver-
körpert er die Produktivität der Weidewirtschaft und den kulturellen Heros, der sich durch
seine Darstellung, seine Werte, seine Taten und seine musikalische Begabung zu erkennen
gibt. Er ist der Mann ohne Frau, der sich allein in den Bergen von allem Zwang zu befreien
vermag“ (S. 141). Manche Interpretation, gerade in bezug auf das Geschlechterverhältnis,
wäre da mit mehr historischer Tiefe noch fruchtbar zu machen. Mit dieser Anregung bleibt
am Ende die Frage: Wer übersetzt „le reenchantement de la montagne“, damit wir im
deutschsprachig-europäischen Raum vorurteilsfreieren Aufschluß über die jodelnden Men-
schen in den Bergen gewinnen können?
Basel Johanna Rolshoven
Michael G. MerakLIS: Studien zum griechischen Märchen. Eingeleitet, übersetzt und be-
arbeitet von Walter Puchner. Wien: Österreichisches Museum für Volkskunde, 1992, 244 S.
(Raabser Märchen-Reihe, Bd. 9)
Der nunmehr schon seit dem Frühjahr 1991 fortdauernde, immer noch grauenhafter wer-
dende Wahnsinn des brudermörderischen Krieges auf dem Balkan wird auch die Bemühun-
gen der Geisteswissenschaften, spät genug auch die Traditionen und die stürmischen Neue-
rungen der Kulturentwicklung im Südosten stärker in eine ersehnte „Ethnologia Europaea“
einzubringen, empfindlich stören. Waren es bisher schon die schwer übersteigbaren Barrie-
ren der Vielzahl der Sprachen, Religionen, Konfessionen, zumal der so sehr verschiedenen
„Mentalitäten“, so sind gerade heute diese durch Wirtschaftsnöte und grenzüberschreitende
Kriegswirren angeheizten, vereinzelt bis zu messianistisch manipuliertem Chauvinismus
übersteigert, weitere Hindernisse für den Südosten auf einem „Weg nach Europa“. Man muß
dies tief bedauern, darf andererseits über jeden Versuch auch unserer Wissenschaft froh sein,
Zeugnisse der Volkskultur, in einer der Südost-Sprachen wissenschaftlich erarbeitet, nun-
mehr in Übersetzungen und kenntnisreich kommentiert auch in deutscher Sprache verfüg-
bar zu haben. Das gilt z. B. für das wertvolle, bei uns kaum zur Kenntnis genommene Werk
von Gheorghe Vrabie (t 1992) „Zur Volkskunde der Rumänen“, Bukarest 1989, Neuerdings
auch für jene „Studien zum griechischen Märchen“, die M. G. Meraklis (geb. 1922 zu Kala-
mata, Peloponnes; derzeit Prof, für „Soziale Volkskunde“ an der Fakultät für Pädagogik der
Universität Athen) mit einer einzigen Ausnahme zwischen 1973 und 1989 griechisch veröf-
fentlicht hatte und nun durch Walter Puchner (geb. zu Wien 1947; o. Prof, für Theaterwis-
senschaft zu Athen; habil, f. Theaterwissenschaft und Volkskunde in Wien) ins Deutsche
übersetzt der internationalen Erzähl-, zumal der Märchen-Forschung vorlegen kann.
M. G. Meraklis hatte als Humboldt-Stipendat 1967-1969 bei meinem Freund Kurt Ran-
ke (1908-1985) zu Göttingen an der „Enzyklopädie des Märchens“ (EM) mitgearbeitet,
dort auch mit der Dissertation „Das Basilikummädchen, Eine Volksnovelle“ (AT 879, gedr.
1970), promoviert (EM I, Sp. 1308-11). Er kann sich auf unglaublich reiche Hss.-Archive
317
Buchbesprechungen
der neugriechischen „Volksdichtung“ (einschließlich des Brauchtums usw.), gesammelt von
Nikolaos G. Politis (1852-1921), vermehrt durch Georgios Megas (1893-1976) und andere
stützen. Als Assistent bei G. Megas (1956-1961), als Nachfolger von Dimitrios Loukatos
zu Joannina/Epirus und wiederum ab 1990 als Hochsschullehrer zu Athen galt seine
Hauptaufmerksamkeit neben dem Wirken als Literaturkritiker, Philologe und als Volks-
kundler (1979: Die griechische Volkskultur der Gegenwart; 2. Aufl. 1983; Griechische
Volkskunde, 3 Bände 1983, 1986, 1992) eben dem Märchen als einer vielschichtigen, weit
verbreiteten Sondergattung. Dazu nun hier übersetzt, reich kommentiert, mit Quellen-
nachweisen, AT-Registertypen, gesondert Registern für Namen und Autoren, für Werke und
Titel, für Sachen und Begriffe (S. 229-244) zwölf sorgfältig ausgewählte Aufsätze über das
griechische Märchen im allgemeinen, über das Erbe an byzantinischem Erzählgut, über Ra-
tionalität, Asthtetik, über Lieder und Mechanik im neugriechischen Märchen, über seinen
Bestand im Pontischen (Kleinasiatischen, 1922 größtenteils untergegangenen) Griechentum
mit seiner besonderen Motivik. „Verwandlung und Totenauferstehung als Gattungselemen-
te der griechischen Volksliteratur“ (über den Bereich „Märchen“ hinaus) sind ebenso vorge-
tragen wie der nicht unbeträchtliche, ursprünglich noch wesentlich stärkere Gehalt von Lie-
dern im griechischen Märchen, vergleichbar den Beobachtungen von Felix Karlinger (da-
mals Salzburg) über „Die Funktion des Liedes im Märchen der Romania“, Salzburg-Mün-
chen 1968. Mündlich vorgetragene Biographien von Dorfbewohnern und Lebenserzählun-
gen von messenischen Bäuerinnen, in der Feldforschung mit Studenten seit 1975 in der SW-
Peloponnes, also in der eigenen Heimat um Kalamata aufgenommen, folgen einem sehr we-
sentlichen Bestreben heutiger Erzählforschung. Den Abschluß der „Studien“ bilden nur
knappe, aber sehr nachdenklich stimmende Bemerkungen zum „Griechischen Märchenka-
talog von Georgios A. Megas“ (S. 223-225). Das liest sich wie die Passionsgeschichte der
Märchenforschung nicht nur in Griechenland, vielmehr seit A. Aarne 1910 und K. Krohn
1913, St. Thompson 1928 und 1961, M. de Meyer 1921 und 1968. Als St. Thompson 1957
auch nach Athen gekommen war, konnte ihm G. Megas in seinem Zettel-Katalog seit 1910
(damals 2000 Varianten) die „Fülle“ griechischen Eigens zeigen. Doch nur die Tierfabeln
sind von G. Megas als „Mythoi zoon“ Athen 1978 veröffentlicht worden, auch das posthum
(Megas f 1976). Volle 23000 Varianten lagen bei Beginn der Drucklegung vor. M. G. Mera-
klis bemüht sich um die Weiterführung und muß nun zweifeln, „ob die Drucklegung des ge-
samten Werkes überhaupt jemals vor sich gehen wird“ ...
Lebring Leopold Kretzenbacher
Maria Tatar: Off with their Heads! Fairy Tales and the Culture of Childhood. Prince-
ton, New Jersey: Priceton University Press, 1992, 295 S„ sw, 30 Abb.
„The queen had only one way of settling all difficulties, great or small. ,Off with his head!'
she said, without even looking around." (Lewis Caroll: Alice in Wonderland)
Auf den ersten Blick scheint die amerikanische Germanistin Maria Tatar mit ihrem Off
with Their Heads! nur ein neues Anti-Bettelheim Buch geschrieben zu haben, wenn man sich
aber eingelesen hat, sieht man bald, daß es sehr viel mehr ist. Der Titel, den sie dem Spruch
der Herzogin aus Alice in Wonderland entlehnt (in Deutschland auch von Mallets
318
Buchbesprechungen
Bettelheim-Gegenstück Kopf ab her bekannt), deutet bereits darauf hin, daß sie Kinderlitera-
tur im allgemeinen und nicht nur die KHM oder andere Volksmärchen im Blickfeld hat. Ihr
rezeptionstheoretischer Ansatz unterscheidet sich zudem von dem anderer Anti-
Bettelheim-Autoren: er versucht einerseits, eine kontext- und performanzbezogene Betrach-
tungsweise mit sozialhistorischen Gesichtspunkten zu verbinden (weil man früher mit Ker-
zen ins Bett ging, gibt es so viele Warn- und Schreckgeschichten, in denen kleine Mädchen
im Nachthemd verbrennen, oder: weil so viele Kinder ausgesetzt wurden, gibt es „Hänsel
und Gretel“ in dieser From usw.).
Andererseits bringt der Ansatz psychologische und literatursoziologische Aspekte ins
Spiel, die bei der Bettelheim-Debatte bislang nur marginal ins Gesichtsfeld traten. Als die
Märchen von den Spinnstuben und Wirtshäusern in die Kinderzimmer wanderten - so ei-
ne ihre Thesen - habe sich auch ihr Charakter grundlegend gewandelt. Dabei hätten sie
nicht nur einen Großteil ihres bodenständigen Humors eingebüßt. Mit dem Aufstieg der
Gattung in den Rang offizieller Kultur sei auch eine grundsätzlich oppositionelle Haltung
des Volksmärchens unwiederbringlich verlorengegangen.
Ein weitere These lautet: Anders als den ja eigentlich nicht auf Kinder abzielenden Mär-
chen sei ausgesprochener Kinderliteratur immer schon daran gelegen gewesen, das Kind zu
domestizieren, in ihren Worten: aus lustbetonten kleinen Körpern gefügige Köpfe zu ma-
chen. Das oberste Erziehungsprinzip dieser Literatur war die Erzeugung von „produktiver
Disziplin“. Der Wille zu Ungehorsam und Müßiggang mußte gebrochen werden. Einen Teil
ihres Buches widmet Tatar nun der Darstellung der Art und Weise wie eben jenes Prinzip
bei Perrault, den Grimms und anderen Bearbeitern griff, als diese tradierte Stoffe im Sinne
der jeweils geforderten Sozialisation der Kinder literarisierten.
Darüber hinaus ist die Autorin der Meinung, daß wir, die wir die Märchentexte heute le-
sen und interpretieren, zumeist einem pädagogischen Trugschluß aufsitzen: wir sehen
nicht, daß das Böse nicht in den Kindern stecke, die wir mit Märchen sozialisieren wollen.
Wir halten die Kinder selbst eigentlich immer noch für grundsätzlich ungezogen und unar-
tig. Dabei sei das Prinzip des Bösen in den Märchen selbst und nicht in ihren kleinen und
großen aufmüpfigen Rezipienten zu suchen. Dies ist auch der Punkt, an dem Tatar Autori-
täten wie Bettelheim angeht: Bettelheim sehe in „Hänsel und Gretel“ neben den für ihn
nachvollziehbaren Urängsten der Eltern hauptsächlich die Spiegelung der destruktiven Zü-
ge der Kinder, die ihre Aggressionen ausleben wollten, ihre unkontrollierten Wunschvorstel-
lungen, ihre oralen Fixierungen und ihre ambivalenten ödipalen Gefühle. In ihren Augen sei
bei Bettelheim dieses Märchen demzufolge nicht das, was es eigentlich sei: eben nicht eine
Geschichte über das ungerechtfertigte, böswillige Fehlverhalten von Elten ihren Kindern ge-
genüber, das in der schwarzen Pädagogik der Mehrzahl der Kinderbücher jener Zeit ihr Pen-
dant fände. Ein frappantes Beispiel für die Brutalpädagogik derart frisierter Märchen sei die
Geschichte vom Eigensinnigen Kind (KHM 117), das von der Mutter noch nach dessen Tod
verprügelt wird, weil ein Ärmchen sich aus dem Grabe reckte, „dann erst hatte das Kind Ru-
he“. Diese Geschichte sei selbst für hartgesottene Grimm-Märchenverteidiger geradezu
schockierend didaktisch. Man müsse sich fragen, wo denn hier neben dem Domestizie-
rungsprinzip noch das von Bettelheim postulierte Therapiepotential liegen könne. Tatars
Meinung nach bietet dieses Märchen für Kinder kein wie auch immer zu Sublimierungen
geeignetes Identifikationsmuster.
Nachdem sie die Konvertierungsprozesse von wilder Volksliteratur in gezähmte Kinderli-
teratur mehr allgemein dargestellt hat, zeigt die Autorin diese dann an einzelnen Märchen-
319
Buchbesprechungen
helden und -heldinnen auf (Aschenputtel, The Beauty and the Beast). Fazit: Nicht weil die
Helden und vor allem Heldinnen sich emanzipieren, sondern weil sie brav, schön oder ein-
fach vom Glück verfolgt sind, sei in den zensierten, zurechtgeschriebenen Märchen das mär-
chenspezifisch gute Ende garantiert. Auf unbotmäßiges Verhalten indessen folgt stets eine
Bestrafung, die ihres geradezu grotesk übertriebenen Ausmaßes wegen allenfalls surreal wir-
ke. Diese Texte könne man nun einmal als nichts anderes, denn als von Erwachsenen bewußt
geschriebene Sozialisationsliteratur wahrnehmen. Besonders auffällig sei indes in nahezu al-
len Texten der genderlect: Hier würden von Sammlern und Aufzeichnern, also Männern,
spezifische Frauenverhaltensweisen festgeschrieben, deren Zählebigkeit auf der Hand läge.
Es werde versucht, das Weibliche genauso wegzuakkulturieren, wie das Infantile. Neugier
und Ungehorsam, gleichermaßen Eigenschaften von Frauen wie Kindern, sei auf besorgnis-
erregende Weise negativ sanktioniert, wenn beispielsweise schlechte Mütter (Stiefmütter)
schrecklich bestraft und hausfrauliche Tugenden (Frau Holle, Drosselbart) belohnt würden.
Märchen codierten dabei nicht nur die sozialen Verhaltensweisen der Vergangenheit, sie
würden in fataler Art und Weise auch in Gegenwart und Zukunft hinein wirken. Es gelte
also, die nur scheinbar archaischen, nur scheinbar zeitlosen cultural stories schleunigst den
heutigen Umständen anzupassen.
Der Aufbau des Buches ist nicht ganz einfach zu erfassen, zumal die zehn Kapitel, um-
rahmt von einem Vorwort und einem zusammenfassenden Epilog problemorientiert über-
schrieben sind: Über Festschreibprobleme, Perspektivik bzw. schwarze Pädagogik der Er-
wachsenen und Belohnungs- bzw. Bestrafungsmodelle kommt sie zu einem Kapitel über
Wilhelm Grimms versus Maurice Sendak (IV, S. 70-93), das eher Exkurs-Charakter hat.
Während nämlich Sendak ausdrücklich seine eigenen Kindheitsängste erinnert und um-
setzt, und im Bettelheimschen Sinne potitiven use of the enchantment macht, indem er die
Kinder mitnimmt auf seine Phantasy-Reisen, auf denen sie all ihre Ängste ausleben können,
auf daß sie danach befriedigt und hungrig wieder im Bettchen liegen (Identifikation und
Abreaktion, Katharsis), sei Wilhelm Grimm mit seinen repressiven Texten eigentlich unter
dem von Bettelheim propagierten Anspruch geblieben. Anders als Max, der Held von Sen-
daks Rahmen-Märchen, könne das Kind, das einen Grimm-Text höre, sich keineswegs beru-
higt und zufrieden mit seiner realen Welt in die Kissen kuscheln. Grimms Märchen erfor-
derten deshalb immer wieder die erklärende, beruhigende Intervention des Erzählers: eine
Frau Trude, die ungehorsame Kinder in Holzscheite verwandelt, oder einen Blaubart, dessen
Frau ihn unter Tränen um Gnade für ihren Ungehorsam anfleht - dies scheinen in der Tat
Geschichten zu sein, die wir unseren Kindern nicht unkommentiert darbieten können. In
dem Moment aber, wo wir ein Märchen dem Kind erklären, sei, so bemerkt Tatar sehr tref-
fend, der Zauber dahin! Sendaks Märchen, und interessanterweise seine Grimmadaptionen
Dear Mili und The Juniper Tree dagegen enthielten aber implizit jenen Kommentar. Sendak
billigt den Kindern außerdem sehr viel eigenes Entscheidungsvermögen zu: wenn ein Buch
nicht dem kindlichen Anspruch genüge, dann fliege es von allein in die Ecke, so meint er,
und dies wiederum wird von Tatar kritisch aufgegriffen, die nicht annimmt, daß die Wahl
eines Kindes spontan und unabhängig von vorheriger Beeinflussung durch Erwachsene er-
folgt. Hier schließt sich eine Ergänzung zum eingangs angeführten Gedanken von den
Erwachsenen-Märchen überzeugend an: ähnlich wie die Grimms hätten auch die großen
Autoren wie Lewis Caroll ihre Kinderbücher ja auch nur gewissermaßen mit einem Augen-
zwinkern für Kinder geschrieben, wußten sie doch genau, daß diese Art von Büchern im
Endeffekt auf den Nachttischen der Erwachsenen zu liegen kamen - Kinderliteratur er-
reichte eben Kinder nur gefiltert: durch die Produktion und die bereits vorselektierende Re-
320
Buchbesprechungen
zeption von Erwachsenen. Diese aber müssen zwangsläufig ein misreading (Harold Bloom)
betreiben.
Immer wieder wird bei Tatar nach diesem misreading gefragt, das sie auch an den Beginn
ihres Buches stellt: Da schließlich die culturalstories, die die Märchen nun einmal darstellen,
unseren Kindern in entscheidenden Lebensphasen und dann auch noch als Gute-Nacht-
geschichten vorgetragen werden, sei es nötig, sie immer wieder neu (und richtig implizit in-
terpretierend) zu lesen oder zu erzählen.
Dem Sendak-Exkurs folgen Kapitel über Märchenheroinen, die als Töchter Evas insge-
samt eher als bedrohlich empfunden werden und gezähmt werden müssen (Drosselbart).
Mit subtiler Variantenkenntnis wird ferner über häusliche Tyrannei (Inzest: Allerleirauh,
Mädchen ohne Hände), über Tierbräutigammärchen und Zusammenhänge zwischen blin-
dem Gehorsam und darauffogender „Liebe auf den ersten Blick“ reflektiert. Das ausgezeich-
nete Kapitel VII über ritualisierte Gewalt oder die Tücke des Objekts, über die fragwürdige
Didaktik von Sadismus, Schadenfreue und Rassismus, Katastrophenketten und Schicksals-
begriff im Märchen (Herr Korbes, KHM 41, Dance among Thorns AT 510 u. a.) könnte sei-
ner vielen neuen und detaillierten Beobachtungen wegen eine fruchtbare Debatte über das
Thema Grausamkeit im Märchen neu in Gang bringen. Die Kapitel IX und X zumal, über
Kannibalismus, orale Fixierungen und die Grabenkämpfe zwischen Eltern und Kind gehen
in vielem in ihrem engagierten Plädoyer für eine reflektierte Märchenrezeption noch über
das zuvor Gesagte hinaus.
Eines der großen Verdienste des Buches von Maria Tatar ist zweiffelos die originelle Ver-
knüpfung der Folklore-Materialien mit den Inhalten der klassischen Kinderbücher des 19.
und beginnenden 20. Jhs. Bezüglich beider Genres weist sie sich mit OffWith Their Heads!
als profunde Kennerin aus. Lediglich ein technisches Detail muß moniert werden: Dem
nicht-englischsprachigen Leser des Buches wäre damit gedient, wenn die anglisierten Mär-
chentitel eine KHM-Nr. bekommen hätten. So muß man Titel wie „Riffraff“, „Misfortune“
oder „Catskin“ vom Kontext her rückübersetzen, was nicht immer ganz mühelos ist. Die
überaus reichhaltige Bibiliographie auf dem neuesten Stand macht außerdem auf nützliche
Weise mit der amerikanischen Forschung bekannt, der Index erlaubt auch das gelegentliche
Nachschlagen zu einzelnen Fragestellungen. Insgesamt ist Maria Tatar mit OffWith Their
Heads! ein Werk mit Standardcharakter geglückt, dem man auch in Deutschland eine große
Leserschaft wünschen darf.
Göttingen Sabine Wienker-Piepho
Lutz RÖHRICH: Das große Lexikon der sprichwörtlichen Redensarten. Redaktion Ger-
traud Meinel. 3 Bde. Freiburg/Basel/Wien: Herder, 1991-1992, 1910 S., ca. 1000 Abb.
Vor knapp zwanzig Jahren begann ich meine Rezension der Erstauflage von Lutz Röh-
richs zweibändigem Lexikon der sprichwörtlichen Redensarten (1973) mit dem Sprichwort
„Das Werk lobt seinen Meister“, und am Schluß meiner kritischen Laudatio dieses Lebens-
Werkes nannte ich das längst als „Röhrich“ geläufige Lexikon „ein monumentales Ereignis
in der Geschichte des Buchdrucks, der Sprichwörterkunde, der Sprach- sowie der Kulturge-
321
Buchbesprechungen
schichte.1 Inzwischen ist dieses wertvolle Nachschlagewerk in fünf Auflagen erschienen,
und 1977 brachte der Herder-Verlag gar eine vierbändige Taschenbuchausgabe heraus, die
ebenfalls fünf Auflagen erlebt hat. Wann hat ein wissenschaftliches Buch in der Volkskunde
oder überhaupt in den Geistes- und Sozialwissenschaften je einen solchen Erfolg gehabt? Da
wäre es durchaus verständlich, wenn der unermüdliche Lutz Röhrich sich auf seinen sprich-
wörtlichen Lorbeeren ausgeruht hätte. Statt dessen hat er mit seinem Freiburger Team,
darunter vor allem seine bewährte Assistentin Gertraud Meinel, Magdalen Rubbert-Frank,
Elisabeth Reich, Gerald Tantzen und Marie Rayers (vgl. im Vorwort S. 21-22), eigentlich
sofort nach Erscheinen des massiven Lexikons mit dessen erweiterter Neubearbeitung be-
gonnen. Dafür sei Lutz Röhrich gleich zu Beginn dieser Besprechung unser aller Dank aus-
gesprochen. Das Resultat dieser engagierten Arbeit ist ein neues „großes“ Lexikon, das diese
Bezeichnung zweifelsohne verdient.
Im Vorwort (S. 9-22) stellt Röhrich selbst dar, was an diesem Großen Lexikon der sprich-
wörtlichen Redensarten nun neu und anders ist. Er betont, daß die Zahl der Stichworte um
50 Prozent erweitert wurde, wozu u.a. die über 200 Rezensionen der Erstausgabe wichtige
Vorschläge enthielten. Zu betonen ist auch, daß Röhrich nun viel mehr fremdsprachliche
Parallelen, vor allem aus dem Englischen und Französischen, verarbeitet hat, was die europä-
ische Verbreitung vieler Redensarten verdeutlicht. Es hilft aber auch den vielen an der deut-
schen Sprache und Kultur interessierten Lesern, für die Deutsch eine Fremdsprache ist. Hier
sei nebenbei bemerkt, welche beachtliche Bedeutung Röhrichs Lexikon gerade für Deutsch-
lehrer und Germanisten sowie deren Schüler und Studenten im Ausland hat. In meiner eige-
nen Abteilung für Germanistik hier an der Universität von Vermont ist es z.B. seit Jahren
gang und gäbe, Student(inn)en zum Abschluß ihres Studiums als besondere Auszeichnung
den „Röhrich“ zu schenken. Erst durch dieses Lexikon erschließen sich ihnen die volks-
sprachlichen Elemente der deutschen Sprache, die sie dann zu einem besseren Verständnis
der Literatur, Massenmedien und mündlichen Kommunikation führt. So wäre nun zu wün-
schen, daß der Herder-Verlag in Bälde eine sechsbändige Taschenbuchausgabe dieses „gro-
ßen Röhrichs“ herausbringt, damit auch diese gewichtige Neuausgabe zu einem preiswerten
„Volksbuch“ werden kann.
Zu erwähnen ist auch, daß Röhrich auf ein stärkeres Einbeziehen der Mundarten geachtet
hat. Vor allem sind die „versteckten“ Bibliographien am Ende der Artikel um viele Titel er-
weitert worden. Es ist immer wieder erstaunlich, wieviele Einzelstudien zu gewissen
Redensarten verfaßt worden sind, wobei manche zwar nur eine halbe oder einige Seiten um-
fassen, während andere bis zu massiven Monographien anschwellen können. All dieses For-
schungsmaterial haben Röhrich und sein Team gewissenhaft verarbeitet, so daß viele der be-
reits sehr reichhaltigen Artikel erheblich umgearbeitet werden mußten. Röhrich hat immer
wieder das Prinzip der „Erklärungsbedürftigkeit“ für die Aufnahme der jeweiligen Redens-
art betont2, und die Fülle dieser sehr verstreut erschienenen und nur schwer auffindbaren
Einzeluntersuchungen zeigt deutlich, mit welchen Schwierigkeiten die etymologischen,
kulturgeschichtlichen und semantischen Erläuterungen verbunden sind. Am Schluß des
dritten Bandes befindet sich zusätzlich ein massives „Literaturverzeichnis“ (S. 1787-1834),
das eine übersichtliche Zusammenstellung der bedeutendsten Arbeiten zur deutschen und
internationalen Sprichwörter- und Redensartenforschung mit über 1500 Titeln bietet, wo-
1 Vgl. in: Fabula 15 (1974), S. 136-144.
2 Vgl. hierzu auch Röhrich, Lutz: Prolegomena zu einer Neu-Bearbeitung des Lexikons der sprich-
wörtlichen Redensarten. In: Proverbium 1 (1984), S. 127—152.
322
Buchbesprechungen
bei die am Ende der Lexikonartikel verzeichneten Veröffentlichungen zu einzelnen Redens-
arten nicht nochmals aufgeführt werden.
Mit berechtigtem Stolz weist Lutz Röhrich selbstverständlich auch darauf hin, daß sein
neues Lexikon nun gut 1000 Abbildungen enthält. Er hat in den vergangenen Jahrzehnten
ein unübertroffenes Bildmaterial zur historischen Redensartenforschung zusammengetra-
gen, so daß sein Lreiburger Institut für Volkskunde neben anderen Archiven zur Sage, Witz
usw. auch das bedeutendste Bildarchiv aufzuweisen hat. Hier ist festzustellen, daß Röhrich
natürlich seit 1973 viele historische Bildbelege gefunden hat, die nun im großen Lexikon als
wichtiges Anschauungsmaterial der Erklärung schwieriger Metaphern zugute kommen.
Der größte Unterschied zwischen den beiden Ausgaben des Lexikons liegt jedoch darin, daß
Röhrich nun auch viel mehr modernes Bildmaterial aufgenommen hat. Hier handelt es sich
um politische Karikaturen oder Witzzeichnungen, wobei der bekannte Karikaturist Horst
Haitzinger besonders oft vertreten ist. Natürlich könnte man bei Karikaturen von Politi-
kern wie Lranz Josef Strauß, Willy Brandt, Helmut Schmidt und Helmut Kohl (selbst Ro-
nald Reagan tritt auf) kritisieren, daß solche auf Redensarten aufbauenden Verbildlichungen
zu zeitbedingt sind. Doch wichtiger scheint mir, daß gerade die Aufnahme von Bildern aus
dem Tagesgeschehen ganz direkt darauf hinweist, welche ungemein wichtige Rolle sprich-
wörtliche Redensarten in der Moderne spielen. Der Wert von Röhrichs Neubearbeitung
liegt gerade auch darin, daß sein historisch ausgerichtetes Lexikon nicht vor der heutigen
Gebrauchsfunktion der Redensarten haltmacht. Das macht sich natürlich auch bei der Auf-
nahme der Redensarten bemerkbar, die eigentlich erst im 20. Jh. geläufig geworden sind.
Hier handelt es sich vor allem um Gegenwartsidiomatik aus der Werbesprache und Jugend-
sprache (z. B. Slogans, Sponti-Sprüche, Graffiti, sowie Anti-Sprichwörter und Anti-Redens-
arten [vgl. S. 16-19]). So ist Röhrichs Lexikon auch „moderner“ geworden, was seinen all-
gemeinen Wert noch erhöht.
Ein Lexikon volkssprachlicher Ausdrücke kann natürlich nicht davor zurückschrecken,
auch auf die vielen Vorurteile und Ethnostereotypen einzugehen, die sich in Redensarten
und Sprichwörtern niedergeschlagen haben.3 Darunter gehören auch die zahlreichen frauen-
feindlichen Aussagen, die mit Vorbehalt aufgenommen wurden, da sie leider noch weiterhin
in häufigem Gebrauch sind. Eine meiner Meinung nach berechtigte Entscheidung des Her-
ausgeberteams war es jedoch, das Stichwort ,Jude, jüdisch“ mit seinen antijüdischen Re-
densarten nicht wieder aufzunehmen (vgl. S. 467-469 im alten Lexikon), „um eine Perpe-
tuierung dieses Wortschatzes nicht zu fördern, um einen eventuellen Rücklauf antijüdischer
Sprichwörter und Redensarten in jedem Pall zu verhindern“ (S. 21). Dies ist eine ethische
Entscheidung, die es zu respektieren gilt, denn offensichtlich hätte das objektive Argument
der „Vollständigkeit“ die Aufnahme auch dieser gefährlichen Ausdrücke gerechtfertigt. Eine
Debatte über solche lexikographischen Prägen wäre in der Tat angebracht. Hier nur ein kur-
zes Beispiel: Röhrich hat die seit dem Mord an Juden nicht mehr akzeptable Redensart „et-
was bis zur Vergasung tun“ (vgl. S. 1108 im alten Lexikon) nicht wieder aufgenommen.
Doch die Hrsg, des gerade erschienenen Duden: Redewendungen und sprichwörtliche Re-
densarten (1992) führen die Redensart auf, allerdings mit einem wichtigen Vermerk auf die
Pragwürdigkeit dieser Redensart in bezug auf „die Massenvernichtung der Juden mit Gas im
3 Vgl. dazu auch den soeben erschienenen Nachdruck von Reinsberg-Düringsfeld, Otto von: Inter-
nationale Titulaturen. Mit einem Vorwort von Wolfgang Mieder. Leipzig: Hermann Fries, 1863;
Hildesheim: Georg Olms, 1992.
323
Buchbesprechungen
Dritten Reich“.4 Wer will hier entscheiden oder richten? Auch diese heute schreckliche Re-
densart ist noch im oft wohl unbewußten Umlauf, aber sie verdient es, geächtet und verges-
sen zu werden. Deshalb Röhrichs moralische Entscheidung, sie und andere Redensarten aus
seinem Lexikon zu verbannen. Warum sollte ein deutscher Volkskundler diese mutige Ent-
scheidung nicht treffen dürfen, auch wenn dadurch sozusagen eine noch gängige Redensart
unterschlagen wird. Doch wie gesagt, diese Problematik wäre ganz allgemein eine Diskus-
sion wert.
Das Vorwort enthält alos ungemein wichtige Aussagen, vor allem auch über das Verhält-
nis von der modernen Phraseologieforschung zur volkskundlichen Parömilogie (S. 12—
15). Das ist selbstverständlich auch der Fall für die informative Einleitung (S. 23-49), die je-
doch bis auf ganz minimale Änderungen unverändert übernommen wurde. Dafür ist die
Zahl der Belege von etwa 10000 auf rund 15000 angestiegen, die auf etwa 3 000 Artikel ver-
teilt sind. Manche dieser Artikel sind freilich recht kurz (nur ein paar Zeilen) und enthalten
auch keine historischen Belege. Das ist z. B. der Fall bei den Redensarten unter den Stichwor-
ten „Schlafzimmeraugen“ (S. 1349), „Schleudersitz“ (S. 1365), „Schlüsselkind* (S. 1372),
„Schrei“ (S. 1401), „Schreibtischtäter“ (S. 1402) und „Sendepause“ (S. 1466), die alle neu
aufgenommen wurden. Diese Beispiele und eine Reihe anderer zeigen deutlich, daß gerade
die modernen Phraseologismen ebenfalls ihre Schwierigkeiten mit sich bringen, wenn es
gilt, Erstbelege und Varianten aus der Literatur und den Massenmedien zu verzeichnen. Wie
modern und auch immer internationaler ausgerichtet dieses neue Lexikon ist, zeigen natür-
lich auch solche Stichworte wie „anmachen“ (S. 87), „Blackout“ (S. 202), „cherchez la fem-
me“ (S. 292), „easy“ (S. 349), „FdH“ (S. 422), „feuern“ (S. 440), „fifty“ (S. 443), „fishing“,
Gruppenbild“ (S. 591), „Hippie“ (S. 722), „Okay“ (S. 1118-1119) „Schallmauer“ (S.
1299-1300), „show“ (S. 1469) und „Tango“ (S. 1598), wobei es sich hauptsächlich um di-
rekte oder übersetzte Entlehnungen aus dem Angloamerikanischen handelt. An der moder-
nen Idiomatik interessierte Forscher und Leser werden gerade solche Neuaufnahmen und
Ergänzungen begrüßen, auch wenn die verzeichneten Belege noch recht spärlich sind.
Dafür gibt es für eine große Anzahl von Stichworten recht umfangreiche Artikel, die man
berechtigterweise als Monographien zu gewissen redensartlichen Motivkreisen bezeichnen
kann. Fast immer kommen dann auch gleich mehrere Illustrationen dazu, die gewisse Re-
densarten auch bildlich von mittelalterlichen Holzschnitten bis zu modernen Karikaturen
belegen. Dies gilt besonders für die Artikel zu „Affe“, „Bär“, „Besen“, „Blinder“, „Boot“,
„Brille“, „Fisch“, „Frosch“, „Gans“, „Geschrei“, „Haar“, „Hand“, „Hund“, „Herz“, „Holz-
hammer“, „Horn“, „Hose“, „Hund“, „Kopf“, „Korb“, „Kuh“, „Kuhhaut“, „Licht“, „Perle“,
„Pferd“, „Wurst“, und „Zylinder“. Viele Beispiele ließen sich anführen, worin Röhrich die
neuesten Forschungsergebnisse verarbeitet hat; vgl. dazu etwa die Redensarten „Das Kind
mit dem Bade ausschütten“ (S. 837-838), „Mein lieber Freund und Kupferstecher“ (S. 911)
und „Ein Wendehals sein“ (S. 1716). Freilich sind Röhrich hier und da auch einige For-
schungsbeiträge zu gewissen Ausdrücken entgangen, wie etwa zu dem wichtigen neuen
Stichwort „man“ (S. 993), das in den Verbindungen von „Man soll“ oder „Man muß“ be-
kanntlich aus Redensarten didaktische Sprichwörter macht. Darüber hatte der parömiologi-
sche Altmeister Archer Taylor bereits 1930 einen grundlegenden Aufsatz in der Zeitschrift
4 Vgl. Drosdowski, Günther und Scholze-Stubenrecht, Werner: Duden: Redewendungen und
sprichwörtliche Redensarten. Mannheim: Dudenverlag 1992, S. 758. Vgl. zu diesem Thema auch
Polenz, Peter von: Sprachkritik und sprachwissenschaftliche Methodik. In: Jahrbuch des Instituts
für deutsche Sprache (1966—1967) S. 159—184 (über diese Redensart bes. auf S. 168—179).
324
Buchbesprechungen
für Volkskunde veröffentlicht.5 Weitere erklärende Beiträge liegen auch vor zu den Texten
„Das Hexeneinmaleins deklamieren“ (S. 712-713)6, „Die Hunde bellen, aber die Karawane
zieht weiter“ (S. 805)7 und „In seinen vier Phählen“ (S. 1155)8. Schließlich sei auch hinge-
wiesen auf einen interessanten Beitrag über „Das Alphabet in der Phraseologie“ (1987)9, da
Lutz Röhrich zusätzlich zu den erweiterten Artikeln über die Buchstaben „L“, „P“ und
„X“ sowie das „Abc“ nun auch einen neuen Artikel bringt zu dem Buchstaben „A“ (S. 51).
Abschließend sei noch auf einige ganz neue Stichworte hingewiesen, wo Röhrich wissen-
schaftlich exaktes und vor allem auch lesbares Belegmaterial in „Hülle und Fülle“ liefert:
„Flasche“ (S. 455-457), „Glückauf“ (S. 561-562), „Gruß“ (S. 591-597), „Klapperstorch“
(S. 846-851), „Liebe“ (S. 963-965), „Osterhase“ (S. 1124-1126), „Rattenfänger“ (S.
1228-1230), „sehen“ (S. 1457-1458), „Venusberg“ (S. 1669-1670) und viele andere, die hier
nicht aufgezählt werden können. Außer dem bereits erwähnten und um vieles erweiterten
Literaturverzeichnis enthält der dritte Band am Schluß selbstverständlich ein Abbildungs-
verzeichnis (S. 1835-1863), das nochmals von Lutz Röhrichs Bildschätzen zeugt. Schließ-
lich gibt es auch ein gewaltiges „Register“ (S. 1865-1910), das sämtliche Stichworte, Kern-
wörter aller Redensarten und (ganz neu) auch Hinweise auf die Gebrauchsfunktion (z. B.
„Abschied“, „Doppeldeutiges“, „Schwangerschaft“ usw.) enthält. So findet der Leser ohne
Schwierigkeiten die gesuchten Redensarten und wird in den meisten Fällen absolut zufrie-
den sein mit der Reichhaltigkeit der Belege und den sprach- und kulturgeschichtlichen Er-
klärungen.
Zweifelsohne ist Lutz Röhrich erneut ein bedeutendes und gewaltiges Werk gelungen. Sein
dreibändiges großes Lexikon ist einmalig in der internationalen Sprichwörterforschung, und
es wird in Kürze zu einem der wichtigsten Standardwerke zur Volkssprache allgemein und
zur sprichwörtlichen Sprache insbesondere werden. Es gehört in jede Bibliothek im In- und
Ausland, es spricht alle an der Sprachkultur interessierten Leser an, und es vermittelt lesbare
und verständliche Information zu sprichwörtlichen Redensarten, die im mündlichen und
schriftlichen Verkehr eine so große Rolle spielen. Mit Recht trägt dieses dreibändige mag-
num opus den anspruchsvollen und vielversprechenden Titel „Das große Lexikon der
sprichwörtlichen Redensarten“, und ebenso berechtigt wird dieser Buchtitel als „Der große
Röhrich“ in die Wissenschafts- und Volkssprache eingehen.
Burlington/Vermont WOLFGANG MIEDER
5 Vgl. Taylor, Archer: The Proverbial Formula „Man soll ...“ In: Zeitschrift für Volkskunde, neue
Serie, 2 (1930) S. 152-156; auch in Mieder, Wolfgang (FIrsg.): Selected Writings on Proverbs by
Archer Taylor. FFC 216. Plelsinki: Suomalainen Tiedeakatemia, 1975, S. 101—105.
6 Vgl. Bülow, Ralf: Aus I mach X. Bemerkungen zu Goethes Flexeneinmaleins. In: Muttersprache 97
(1987) S. 327-329.
7 Vgl. Mieder, Wolfgang: „Die Pfunde bellen, aber die Karawane zieht weiter“. Zum türkischen Ur-
sprung eines neuen deutschen Sprichwortes. In: Der Sprachdienst 32 (1988) S. 129-134.
8 Vgl. Uther, Hans-Jörg: Eulenspiegel und die Landesverweisung (Historie 25, 26). Einige Betrach-
tungen zur Stoff- und Motivgeschichte. In: Eulenspiegel-Jahrbuch 25 (1985) S. 60-74.
9 Vgl. Eismann, Wolfgang: Zeichenbausteine als Zeichen. Das Alphabet in der Phraseologie. In: Bur-
ger, Harald und Zett, Robert (Hrsg.). Aktuelle Probleme der Phraseologie. Bern: Peter Lang, 1987,
S. 225-243.
325
Notizen
SlGNE MELLEMGAARD: Distriktlaegen og laesoboerne. En medicinisk topografi fra 1859 og
dens forudsastninger. Odense: Landbohistorisk Selskab, 1992, 229 S. Abb. sw
Das in dänischer Sprache verfaßte Buch „Der Bezirksarzt und die Bewohner von Lasso“
behandelt die 1859 vom Amtsarzt Chrisdten Rasmussen verfaßte medizinische Topographie
über die dänische Insel Lasso. Im ersten Teil setzt die Autorin „das Manuskript in einen so-
zialen, kulturellen und medizinischen Kontext“ (S. 13), im zweiten Teil ist die bisher unver-
öffentlichte Topographie publiziert.
Signe Mellemgaard geht es bei ihrer einleitenden Untersuchung (S. 14-81) nicht so sehr
darum, was der Amtsarzt Rasmussen über den Alltag der Inselbewohner aussagt, sondern
mehr um die Voraussetzungen für diese medizinische Ortsbeschreibung. Sie erläutert Ras-
mussens Lebensverlauf und seine Auffassungen über Kultur und Geschichte (im Vergleich
zu norwegischen Chronisten und Pfarrer Eilert Sundt). Neben diesen subjektiven Paktoren
der Entstehung befaßt sich die Autorin mit der Tradition medizinischer Topographien und
der medizinischen Diskussion zur Entstehungszeit.
Im zweiten Teil wird die Topographie von Rasmussen erstmals veröffentlicht (S. 84-213)
und kann nun zu Vergleichen mit deutschen Topographien genutzt werden. Durch Abbil-
dungen zeitgenössischer Maler wird das Buch angereichert.
Mit der Erörterung der subjektiven Bedingungen (Rasmussens Ethnozentrismus und evo-
lutionistisches Denken) sowie der Diskurse, in deren Spannungsfeld die Topographie ent-
stand, hat die Autorin eine interessante Basis geschaffen. Vor diesem Hintergrund wird das
Lesen von Rasmussens Beschreibungen immer wieder mit neuer Spannung angereichert.
Marburg Klaus Schriewer
HansHaiD: Aufbruch in die Einsamkeit. 5000 Jahre Überleben in den Alpen. Rosenheim:
Rosenheimer Verlagshaus, 1992, 224 S„ zahlr. färb. Abb.
HANS Haid, Josef Huber: Poesie des Landlebens. Bilder und Texte aus einer geliebten
Heimat. Innsbruck: Österreichischer Studien-Verlag, 1992, 96 S„ Abb. sw
Eindrucksvolle Aufnahmen sind in diesen beiden Fotobänden komponiert zu Stim-
mungsbildern alpinen Lebens der Gegenwart, die aufrütteln sollen, über die Zukunft von
Landschaft und Kultur im Alpenraum nachzudenken. Daß sie bewußt zur Unterstützung
ökologisch orientierter Bürgerinitiativen wie der Iniziativa da las Alps, des Schweizerischen
Bundes für Naturschutz und des internationalen Vereins Pro Vita Alpina geschrieben und
verlegt worden sind, dafür steht der Name des Ötztalers Volkskundlers Hans Haid; daß zu-
dem die alte Welt der Bergbauern in einer die emotionale Verbundenheit mit ihr, Heimatlie-
be nicht leugnenden, anrührenden, in der Retrospektive aber auch wehmütigen und manch-
mal schonungslos anmutenden Fotodokumentation eingefangen wurde, ist das Verdienst
des vielfach ausgezeichneten Fotografen Josef Huber.
Was in der Poesie der Landleben-Aunahmen noch schwarzweiß gezeichnet, damit auch im
Gestern verortet wird, gerät in Haids Aufbruch in die Einsamkeit tatsächlich zu einem
326
Notizen
Sprung über 5000 Jahre alpiner Kultur und Wirtschaft, unbesorgt zuweilen ob der Stichhal-
tigkeit historischer Argumentation und unbefangen in der Herleitung kultischer Relikte
aus dem Urvätererbe der großen antiken Kulturen. Was in seinem Buch Mythos und Kult
in den Alpen bereits formuliert wurde, erhält hier aktualisierte Dimension. Die Versuche
zur Formierung des politischen Widerstandes gegen die Alpenzerstörung werden genährt
aus einer ehrfürchtig-unkritischen Rückschau auf die in archaische Tiefen zurückversetzten
Traditionen der Alpenbevölkerung, vielfach ergänzt um den Abdruck von Sagen und Le-
genden der Sennen und Hirten, doch kaum einem wissenschaftlichen Anspruch verpflich-
tet und gerade in der Behandlung der wichtigen Frevelerzählungen ohne den Nachweis der
einschlägigen Literatur. So sind mit den beiden hier anzuzeigenden Büchern ansehnliche,
gewiß auch bewegende Arbeiten entstanden, die in ihrer weitgespannten kulturgeschichtli-
chen Rezeptur dem Leser freilich nicht immer recht munden wollen. Die Popularisierung
unreflektierter volkskundlicher Prämissen kommt dabei nicht ohne einen bitteren Nach-
geschmack aus. S. B.
ARMIN Sorge (Hrsg.): Mitteilungen des Bauernhausmuseums Amerang. Heft 2. Amerang:
Förderverein des Bauernhausmuseums, 1992, 110 S., Abb. sw
Die Aufsätze des Heftes konzentrieren sich vor allem auf den ins Bauernhausmuseum
Amerang translozierten Mittermayerhof aus Schlich bei Haag; Bauzustand, Wiederaufbau
und Ausstattung, Bau- und Familiengeschichte werden kurz vorgestellt und als monographi-
sche Skizzen zur Baugeschichte des Querhauses mitgeteilt. Darüber hinaus wird mit zwei
weiteren Aufsätzen zum Wagnerhandwerk ein handwerks- und technikgeschichtlicher
Schwerpunkt gesetzt; die Mitteilungshefte des Ameranger Freilichtmuseums bieten damit
—- ergänzt durch reichhaltige Illustration - ein Informationsangebot zur regionalen Kultur-
geschichte, das über die Ausstellungserläuterungen hinaus Materialien zur Sachkulturfor-
schung vermittelt. S. B.
HUBERTUS HlLLER: Untertanen und obrigkeitliche Jagd. Zu einem konfliktträchtigen Ver-
hältnis in Schleswig-Holstein zwischen 1600 und 1848. Neumünster: Wachholtz, 1992, 122
S. (Studien zur Volkskunde und Kulturgeschichte Schleswig-Holsteins, Bd. 27)
Die Kieler Magisterarbeit thematisiert die von der volkskundlichen Forschung bislang
noch viel zu wenig beachteten, die ökonomischen Bedingungen und kulturellen Ausdrucks-
formen der bäuerlichen Lebenswelt jedoch vielfach beeinflussenden Klassenkonflikte um
das Jagdregal, die nicht zuletzt in der Revolution 1848 kulminierten. Hiller hat sich nach ei-
ner Auseinandersetzung mit dem Forschungsstand (zu der ergänzend die jagdwissenschaftli-
chen Arbeiten Kurt Lindners und Sigrid Schwenks in ihrer Schriftenreihe Homo Venator
und die darin berücksichtigten kulturgeschichtlichen Aspekte Erwähnung finden sollen)
und einem Abschnitt zu Quellen und Quellenkritik zunächst mit der historisch-rechtli-
chen Entwicklung des Jagdregals und den dadurch hervorgerufenen Beschränkungen der
agrarischen Wirtschaft befaßt, ehe er unter eingehender Heranziehung schleswig-holstei-
nischer Quellen die Verstöße gegen obrigkeitliche Rechtsnormen untersucht. Strafarten
327
Notizen
und Strafmaße, schließlich auch die Möglichkeiten zur Minderung des Strafmaßes mit den
Änderungen des Jagdrechtssystems im späten 18. Jahrhundert werden dargestellt und aus
den Gerichtsprotokollen Formen des Protest- und Widerstandsverhaltens der Untertanen
gegen obrigkeitliche Jagdnormen erschlossen. In einem letzten Kapitel befaßt sich Hiller
mit dem Leben und Arbeiten der unteren Jagd- und Forstbediensteten - jenem Personen-
kreis, der im Brennpunkt der zuvor dargestellten Auseinandersetzung um Holznutzung
und Jagdhege stand. S. B.
HEINRICH NuhN: August Spies. Ein hessischer Sozialrevolutionär in Amerika. Opfer der
Tragödie auf dem Chicagoer Haymarket 1886/87. Mit Selbstzeugnissen und Dokumenten
und einem Nachwort von Professor Dr. Peter Assion. Kassel: Jenior & Pressler, 1992, 223
S., Abb. sw (Friedewälder Beiträge zur regionalen Volks- und Landeskunde, 1)
Das Buch ist weit mehr als eine Biographie, auf die der Titel hindeutet. Heinrich Nuhn
hat sich in akribischer Eruierung und einfühlsamer Auswertung der Quellen eines Auswan-
dererschicksals angenommen, welches durchaus geeignet ist, Hoffnungen, Ideen und Ent-
täuschungen vieler Amerikaauswanderer nachempfinden zu lassen: die Flucht vor Not und
Unterdrückung, die den 1856 im kurhessischen Friedewald geborenen Försterssohn im Al-
ter von 16 Jahren nach Amerika trieb, das Entsetzen über das repressive Vorgehen gegen die
Arbeiter im amerikanischen Kapitalismus, die Anstrengungen zur Erkämpfung von Sozial-
gesetzen. 1877 trat Spies der Sozialistischen Arbeiterpartei bei und übernahm 1880 die Ge-
schäftsführung der deutschsprachigen Chicagoer Arbeiter-Zeitung, vier Jahre später auch
ihre Redaktion. Damit wird es möglich, in der exemplarischen Befassung mit Leben und
Wirken von August Spies auch die Entwicklung der sozialen und kulturellen Bedürfnisse
der amerikanischen Arbeiterbewegung nachzuzeichnen, die Brenn- und Bezugspunkt ihrer
internationalen Organisation werden sollte. Im Prozeß gegen die Sozialrevolutionäre nach
den Haymarket-Vorfällen wurde Spies - durch Pogromstimmung und Sozialistenhetze ge-
schürt - als wohl profiliertester Sprecher der Arbeiterbewegung zum Tode verurteilt und
1887 hingerichtet. Umstände und Hintergründe, die in der amerikanischen Gesellschaft zur
hysterischen Reaktion und gewaltsamen Unterdrückung der Arbeiterinteressen führten, hat
Nuhn in seiner engagierten Studie eindrucksvoll herausgearbeitet. Daß sie nicht nur ein
grundlegender Beitrag zur Sozial- und Kulturgeschichte der Amerika-Auswanderung und
zur Geschichte der Arbeiterbewegung ist, sondern auch auf die Folgen von Gewalt und
Fremdenfeindlichkeit aufmerksam macht, hat Peter Assion in seinem Nachwort eigens be-
tont — so bleibt dem Buch eine weite Verbreitung zu wünschen! S.B.
MARINA Moritz (Hrsg.): Volkskunde in Thüringen. Eine Zustandbeschreibung. Erfurt:
Thüringische Vereinigung für Volkskunde e. V., 1992, 108 S. (Thüringer Hefte für Volks-
kunde, 1)
Die 1991 gegründete Thüringische Vereinigung für Volkskunde legt mit dieser Übersicht
über Geschichte, Ansätze und Perspektiven der volkskundlichen Forschung in Thüringen,
ihre Institutionen und laufenden Projekte ein erstes Heft ihrer Schriftenreihe vor, auf die es
328
Notizen
aufmerksam zu machen gilt; werden hierin doch nicht nur die Bestandsaufnahmen der Ak-
tivitäten in den DDR-Folklorezentren, in volkskundlichen und regionalgeschichtlichen
Museen und in den thüringischen Staatsarchiven vorgestellt und in ihren gegenwärtigen und
künftigen Arbeitsmöglichkeiten erläutert, sondern auch die Arbeitsfelder „alter“ und neu-
er Vereine und wissenschaftlicher Korporationen in kurzen Berichten aufgezeigt. Somit
kann das Heft als Diskussionsgrundlage und Ausgangspunkt für eine Institutionalisierung
des Faches in Thüringen angesehen werden. S. B.
STEFFEN LieberwirTH: „Wer eynen spielmann zu tode schleaegt ...“ Ein mittelalterliches
Zeitdokument anno 1989. Mit einem Beitrag von Stefan Gööck. Leipzig: Peters - Militzke,
1990, 244 S„ Abb. sw
Der Musikwissenschaftler Lieberwirth dokumentiert in dem nach den Märzwahlen 1990
herausgegebenen Band die Schwierigkeiten von Straßenmusikern in Leipzig mit der Büro-
kratie in der ehemaligen DDR. Während in einigen anderen Städten (z. B. Halle, Dresden)
die Polizeibehörde öffentliche und selbstorganisierte Auftritte von Straßenmusikern eher
selten verhinderte oder beeinträchtigte, wurden diese in Leipzig sofort unterbunden. Gegen
diese Zustände organisierten dann am 10. 6. 1989 trotz ordnungspolizeilichen Verbots eini-
ge interessierte Personen auf Plätzen in der Leipziger Innenstadt ein Straßenmusikfestival.
Als mit den ersten Lieder- und Theatervorträgen begonnen wurde, nahm die „Deutsche
Volkspolizei“ einige Personen fest und vertrieb die anderen vom Platz. Letztere wiederum
zogen singend auf andere Plätze, um das Festival fortzusetzen. Ein großer Teil sammelte sich
später vor dem Polizeirevier, um die Herausgabe der Inhaftierten zu verlangen.
Vor diesem Hintergrund untersucht Lieberwirth einleitend die soziale Mißachtung der
Spielleute im Mittelalter und deren relative Beachtung durch das Leipziger Bürgertum in der
frühen Neuzeit zwecks Hebung des eigenen Status. Im folgenden trägt er dann Hintergrund-
informationen zu den Ereignissen und den Folgen des Straßenmusikfestivals zusammen.
Beide Seiten kommen hier anhand von Polizeiberichten (teilweise in Verbindung mit der
Stasi aufgenommen), einer Dokumentation der Straßenmusiker, Briefen, Gedächtnisproto-
kollen, Zeitungsartikeln usw. zu Wort. Weiter werden Passanten aus der öffentlichen Dis-
kussionsveranstaltung „Straßenmusik einst und jetzt“ von Ende August 1989 im Leipziger
Neuen Gewandhaus (geleitet vom Gewandhauskapellmeister Kurt Masur) wiedergegeben,
Abschließend beleuchtet Stefan Gööck (damaliger Direktor des Stadtkabinetts für Kulturar-
beit) in „Die Verwaltung der Spontaneität“ in Verbindung mit obigen Ereignissen das Kul-
turverständnis der DDR-Bürokratie und deren Reglementierungsmöglichkeiten.
Marburg Hans-Werner Retterath
KATJA WERTHMANN: Zen und Sinn. Westliche Aneignung, Interpretation und Praxis einer
buddhistischen Meditation. Frankfurt am Main: Institut für Kulturanthropologie und Eu-
ropäische Ethnologie, 1992, 194 S., Abb. sw (Notizen, 38)
Als Teil eines Forschungsschwerpunktes am Frankfurter Institut zur Sinnkrise der Gegen-
wart und zur kritischen Auseinandersetzung mit den Suchbewegungen zur Sinnfindung,
329
Notizen
der neuen Spiritualität und ihrer synkretischen Aneignung fremder Kulturgestaltungen,
zum New Age im urbanen Raum, liegt mit der Magisterarbeit von Katja Werthmann eine
sensible Analyse von Zen-Meditation als permanentem Initiationsritual und Institution für
Biographisierungsprozesse in der westlichen Aneignung vor. Zen als Form neuer Religiosi-
tät wird hinsichtlich der Wertekonfrontation einer „Kultur des Werkes“ im Westen und ei-
ner „Kultur des Weges“ im Osten anhand des Dürckheimschen Oppositionspaares unter-
sucht und in der Übernahme des „Weges“ als individualistischem Selbstfindungsprozeß in-
terpretiert. Ihre kritische Würdigung stellt insbesondere den therapeutischen Effekt der
Zen-Meditationen als weithin im Privaten verhaftete individuelle oder pseudokollektive
Aus-,,Wege“ heraus, die eine Entlastung der Gesellschaft vom notwendigen Angebot gesell-
schaftlicher Lösungsmodelle bedeuten und nur selten als Orte auch einer kollektiv-
kreativen Zivilisationskritik zu nutzen sind. S.B.
Jahrbuch der Brüder Grimm-Gesellschaft, hrsg. von Hartmut Kugler, Bernhard Lauer,
Fritz Paul, Lutz Röhrich und Ruth Schmidt-Wiegand. Bd. 1, Kassel 1991, 254 S.
Das neu initiierte Jahrbuch der Brüder-Grimm-Gesellschaft soll als kontinuierlich er-
scheinendes Publikationsorgan ein wissenschaftliches Diskussionsforum bieten und die
Grimm-Philologie in einen interdisziplinären Kontext stellen. Den Arbeitsbereichen der
Brüder Grimm verpflichtet, gilt die Aufgabe insbesondere der Entwicklung fächerübergrei-
fender Perspektiven und Methoden auch im Zusammenhang der Bemühungen um die euro-
päische Integration und der interkulturellen Beziehungen. Neben kleineren Beiträgen, Be-
richten und Besprechungen sowie einer Grimm-Bibliographie 1986-1990 sind in diesem er-
sten Band vor allem die Aufsätze von Hans-Bernd Harder zu „Aufgaben und Perspektiven
der Brüder-Grimm-Forschung“ und Ruth Schmidt-Wiegand zu den „Rechtsalterthümern“
Jacob Grimms in der Kritik unserer Zeit: „Goldmine oder Steinbruch?“ hervorzuheben.
Die weitgespannten Aufgaben des aufwendig ausgestatteten Periodicums berücksichtigend,
werden die weiteren Bände gewiß einen aufmerksamen Leserkreis finden. S. B.
Sagenhafter Untersberg. Die Untersbergsage in Entwicklung und Rezeption. Hrsg, von Ul-
rike Kammerhofer-Aggermann unter Mitarb. von Katharina Krenn. Salzburg: Salzburger
Landesinstitut für Volkskunde, 1991/92, 288 S., 62 Abb. sw (Salzburger Beiträge zur Volks-
kunde, Bd. 5)
Der Band - Richard Wolfram zum 90. Geburtstag gewidmet und von Ulrike
Kammerhofer-Aggermann mit einer Auflistung der Bibliographie und Biographie des Jubi-
lars versehen - enthält die Ergebnisse eines maßgeblich von Katharina Krenn durchgeführ-
ten Feldforschungsprojektes zur Untersbergsage und ihrer aktuellen Rezeption in historisie-
renden Darstellungen, im Volksschauspiel und in der Tourismuswerbung. Der Überliefe-
rung von Herrschern im Berg am Beispiel der Untersbergsage hat sich zunächst Yvonne
Weber-Fleischer in einem umfangreichen Beitrag angenommen; K. Krenn geht in ihrem Auf-
satz auf die Präsenz von Sagen und Sagenfiguren in den Gemeinden rund um den Unters-
berg ein, ergänzt um Beiträge zur Ikonographie der Untersbergsage am Beispiel der Abbil-
330
Notizen
düngen einer Mitte des 18. Jahrhunderts entstandenen Handschrift (U. Kammerhofer-
Aggermann) und des 1920 herausgegebenen Notgeldes aus den Untersberggemeinden (Ste-
fan Fuchs). Der hier deutlich werdende kommerzielle Aspekt der Fremdenverkehrswerbung
hätte in den stoffgesättigten, die Sagenvarianten und -rezeptionen sorgfältig eruierenden Bei-
trägen die Interpretation freilich auch auf einen stringenteren, kulturanalytischen Weg brin-
gen können. Daß mit dem Thema zudem auch Fachgeschichte nachgezeichnet werden
kann, macht der Band (und nicht nur der angehängten Institutschronik wegen) deutlich: als
Beitrag zur neueren, sammlungsgeschichtlich orientierten Sagenforschung bietet er reich-
lich Material. S.B.
HANS RITZ: Die Geschichte vom Rotkäppchen. Ursprünge, Analysen, Parodien eines Mär-
chens. 10., erw. u. neu bearb. Aufl., Göttingen: Muriverlag, 1992, 191 S., Abb. sw
Bemüht, aktuelle Versionen und Verarbeitungen des Rotkäppchen-Märchens in die mitt-
lerweile zehnte (und damit das Interesse am Stoff dokumentierende) Auflage einzufügen, hat
der Autor den Text um einige Beispiele erweitert - unter Verzicht auf wenige Versionen,
nicht jedoch zu Lasten von politischen Parodien des Märchens, auch wenn hier der zeit-
genössische Kontext an Aktualität eingebüßt hat. Die Neuauflage wurde zudem genutzt, die
Interpretationen zu überarbeiten, zu ergänzen und ggf. zu korrigieren; sie sollte daher einer
weiteren Beschäftigung mit dem Thema und seiner Darstellung im Ritzschen Bändchen
unbedingt zugrunde gelegt werden. S. B.
331
Eingesandte Schriften
Erscheinungsjahr 1991
Wolfgang Raible (Hrsg.): Symbolische Formen, Medien, Identität. Jahrbuch 1989/90 des
Sonderforschungsbereiches „Übergänge und Spannungsfelder zwischen Mündlichkeit und
Schriftlichkeit.“ Tübingen: Günter Narr, 1991, 350 S. (ScriptOralia, 37)
Ernst Helmut Segscbneider (Hrsg.): Jahre im Abseits. Erinnerungen an die Kriegsgefangen-
schaft. Bramsche: Rasch Vlg. 1991, 367 S. Abb. färb. u. sw (Schriften des Kulturgeschichtli-
chen Museums Osnabrück, 5)
Erscheinungsjahr 1992
Klaus Beitl (Hrsg.): Volkskunde. Institutionen in Österreich. Wien: Selbstverlag des Öster-
reichischen Museums für Volkskunde, 1992, 144 S. (Bio-Bibliographisches Lexikon der
Volkskunde, Vorarbeiten, 5)
Gerhard, Binz: Gußeiserne Öfen aus zwei Jahrhunderten. Die Sammlung Lengler im Saar-
land. Mainz: Gesellschaft für Volkskunde in Rheinland-Pfalz e. V, 1992, 175 S., 77 Abb. sw
(Studien zur Volkskultur in Rheinland-Pfalz, 12)
Domingo Blanco: A poesia popular en Galicia 1745—1885. Recopilación, estudio e edición
critica. Vigo: Edicións Xerais de Galicia, 1992, Volume I: 484 S., Volume II: 580 S.
Enzyklopädie des Märchens. Handwörterbuch zur historischen und vergleichenden Erzähl-
forschung. Hrsg, von Rolf Wilhelm Brednich zus. mit Hermann Bausinger, Wolfgang
Brückner, Lutz Röhrich, Rudolf Schenda, red. von Ines Köhler, Ulrich Marzolph, Elfriede
Moser-Rath, Christine Shojaei Kawan, Hans-Jörg Uther; Bd. 7, Lieferungen 1 und 2/3. Ber-
lin/New York: de Gruyter, 1991/92, 872 Sp.
Doris Foitzik in Zusammenarbeit mit dem Institut für Popularkultur und Kinderkultur der
Universität Bremen (Hrsg.): Vom Trümmerkind zum Teenager. Kindheit und Jugend in der
Nachkriegszeit. Bremen: Edition Temmen, 1992, 160 S. Abb. sw
Winfried Folz: Pfälzer Rückwanderer aus Nordamerika. Schicksale, Motive, Reintegration.
Mainz: Gesellschaft für Volkskunde in Rheinland-Pfalz e.V., 1992, 192 S. (Studien zur
Volkskultur in Rheinland-Pfalz, 13)
Burkhard Fuhs: Mondäne Orte einer vornehmen Gesellschaft. Kultur und Geschichte der
Kurstädte 1700-1900. Hildesheim/Zürich/New York: Georg Olms, 1992, 487 S. (Histori-
sche Texte und Studien, 13)
Cornelia Göksu: Vom Kupfferschmidt zum Kupferschmied. 400 Jahre Kupferschmiede-
Handwerk in Hamburg. Hamburg: Innung für das Kupferschmiede-Handwerk, den
Apparate- und Rohrleitungsbau zu Hamburg von 1592, 1992, 124 S., zahlr. Abb. färb. u. sw
Carsten Lenk: Geht’s Bouma, tanzt’s a weng! Otto Peisl und die Anfänge der Volksmusik-
pflege in der Oberpfalz 1948-1969. Nabburg: Oberpfälzer Freilandmuseum, 1992, 116 S.,
Abb. sw (Schriftenreihe „Oberpfälzer Freilandmuseum, 7)
Kurt Lussi: Himmel und Hölle. Willisau: Willisauer Bote, 1992, 128 S.
332
Eingesandte Schriften
Jürgen Macha, Wolfgang Herborn (Bearb.): Kölner Hexenverhöre aus dem 17. Jahrhundert.
Köln/Weimar/Wien: Böhlau, 1992, 248 S. (Mitteilungen aus dem Stadtarchiv von Köln, 74)
Max Matter unter Mitarbeit von Astrid Mischlich und Hanne Straube (Hrsg.): Fremde
Nachbarn. Aspekte türkischer Kultur in der Türkei und in der BRD. Marburg: Jonas Ver-
lag, 1992, 262 S., Abb. sw (Hessische Blätter für Volks- und Kulturforschung, 29)
Renate Messer: Gaststätten in einem Taunusdorf. Funktionale Änderungen ländlicher Gast-
stätten innerhalb der letzten Jahrzehnte. Mainz: Gesellschaft für Volkskunde in Rheinland-
Pfalz e.V., 1992, 81 S. (Mainzer Kleine Schriften zur Volkskultur, 4)
nord nytt, nordisk tidsskrift for folkelivsforskning, 47: „En massa tili massorna?“ Perspektiv
pa det moderna samhället. Vibourg: Museumstjenesten, 1992, 80 S.
nord nytt, nordisk for tidsskrift folkelivsforskning, 48: Vägen tili nordisk kultur. Register tili
1.169 verk och 1.100 författare/recensenter, nord nytt nr. 28-45. Viborg: Museumstjene-
sten, 1992, 40 S.
Katharina Oxenius: Vom Promenieren zum Spazieren. Zur Kulturgeschichte des Pariser
Parks. Tübingen: Tübinger Vereinigung für Volkskunde, 1992, 158 S., Abb. sw (Untersu-
chungen des Ludwig-Uhland-Instituts der Universität Tübingen, 79)
Holger Rasmussen: To faeroske gardanlteg. Düvugardar i Saksun og bylingen Heimi i luisi pa
Koltur. Copenhagen: Commissioner Munksgaard, 1992, 85 S., Abb. sw (Historik - filoso-
fiske, 16)
Mathias Rauert, Anneliese Kümpers-Greve: Van der Smissen. Eine mennonitische Familie vor
dem Hintergrund der Geschichte Altonas und Schleswig-Holsteins. Hamburg: Kümpers
Vlg., 1992, 274 S. (Studien zur Kulturgeschichte Norddeutschlands, 1)
Elisabeth Roth: Volkskultur in Franken. Band II: Bildung und Bürgersinn. Hrsg, von Klaus
Guth. Bamberg/Würzburg: Historischer Verein Bamberg, 1992,471 S. (Mainfränkische Stu-
dien, 49/2)
Fritz Schellack, Thomas Schneider (Hrsg.): Hammer und Amboß. Arbeit in der Dorfschmie-
de. VHS-Film 9 Min. und Begleitheft. Mainz: Gesellschaft für Volkskunde in Rheinland-
Pfalz e.V., 1992 (Deutsches Institut der Universität, Abt. Volkskunde, Volkskundliche
Filmdokumentation)
Stefanie v. Schnurbein: Religion als Kulturkritik. Neugermanisches Heidentum im 20. Jahr-
hundert. Heidelberg: C. Winter, 1992, 338 S. (Skandinavistische Arbeiten, 13)
Bernadette Schöller: Kölner Druckgraphik der Gegenreformation. Ein Beitrag zur Geschich-
te religiöser Bildpropaganda zur Zeit der Glaubenskämpfe mit einem Katalog der Einblatt-
drucke des Verlages Johann Bussemacher. Köln: Kölnisches Stadtmuseum, 1992, 207 S., 61
Abb. sw (Veröffentlichungen des Kölnischen Stadtmuseums, 9)
Christine Aka: Tot und vergessen? Sterbebilder als Zeugnis katholischen Totengedenkens.
Detmold: Landschaftsverband Westfalen-Lippe, Westfälisches Freilichtmuseum, 1993, 239
S., Abb. färb. u. sw (Schriften des Westfälischen Freilichtmuseums Detmold, 10)
Gerald Beyreuther, Barbara Pätzoldt, Erika Uitz (Hrsg.): Fürstinnen und Städterinnen. Frau-
en im Mittelalter. Freiburg/Basel/Wien: Herder, 1993, 352 S.
John R. Bowen: Muslims through Discourse. Religion and Ritual in Gayo Society. Prince-
ton/New Jersey: Princeton University Press, 1993, 358 S., 19 Abb. sw
Stefan Brakensiek, Regine Krull, Irina Rockel (Hrsg.): Alltag, Klatsch und Weltgeschehen.
Neuruppiner Bilderbogen, ein Massenmedium des 19. Jahrhunderts. Bielefeld: Verlag für
Regionalgeschichte, 1993, 165 S., 87 Abb. sw
333
Eingesandte Schriften
Brüder Grimm. Deutsche Sagen. Bd. 1 und 2 hrsg. von Hans-Jörg Uther, Bd. 3 hrsg. von Bar-
bara Kindermann-Bieri. München: Diederichs, 1993, 652, 188 S.
Alexander Brunotte, Raimund J. Weher (Bearb.): Akten des Reichskammergerichts im
Hauptstaatsarchiv Stuttgart, A-D; Inventar des Bestands C3. Stuttgart: Kohlhammer,
1993, 671 S. (Veröffentlichungen der Staatlichen Archivverwaltung Baden-Württemberg,
46/1)
Michael Chesnutt (Hrsg.): Telling Reality. Folklore Studies in Memory of Bengt Holbek.
Kopenhagen-Turku: Nordic Institute of Folklore, 1993, 294 S. (NIF Publications, 26)
Hans-Peter Ecker: Die Legende. Kulturanthropologische Annäherung an eine literarische
Gattung. Stuttgart/Weimar: Metzler, 1993, 397 S. (Germanistische Abhandlungen, 76)
Esther Gajek, Irene Götz: „Studentenfutter“. Was Studentent(inn)en einkaufen und wie sie
(miteinander) kochen und essen. München: Münchener Vereinigung für Volkskunde, 1993,
62 S., Abb. sw (Münchner Beiträge zur Volkskunde, Sonderheft)
Heidi Gansohr-Meinel: „Fragen an das Volk“. Der Atlas der deutschen Volkskunde
1928-1945. Ein Beitrag zur Geschichte einer Institution. Würzburg: Königshausen & Neu-
mann, 1993, 237 S. (Quellen und Forschungen zur Europäischen Ethnologie, 13)
Hamhurgisches Wörterbuch. Auf Grund der Vorarbeiten von Christoph Walter und Agathe
Lasch hrsg. von Jürgen Meier und Dieter Möhn, bearbeitet von Jürgen Meier unter Mitar-
beit von Jürgen Rüge. 12. Lieferung: Gött-Hans. Neumünster: Wachholtz, 1993.
Ursula Heckei: Volkskünstler heute. Eine Studie über die Aussteller der 50. Krippenausstel-
lung im Museum Heimathaus Münsterland in Telgte. Münster/New York: Waxmann, 1993,
198 S., Abb. sw, Tabn.
Gudrun Hempel: Zinn. Gerät in Alltag und Brauch, aus der Metallsammlung des Österrei-
chischen Museums für Volkskunde. Katalog zur Ausstellung Schloß Gobelsburg. Wien:
Selbstverlag des Österreichischen Museums für Volkskunde, 1993, 84 S., Abb. sw
Herder-Lexikon Symbole. Mit über 1000 Stichwörtern sowie 40 Abbildungen. Freiburg/Ba-
sel/Wien: Herder, 1993, 192 S.
Hermann Kaiser: Ein Hundeleben. Von Bauernhunden und Karrenkötern. Zur Alltagsge-
schichte einer geliebten und geschundenen Kreatur. Cloppenburg: Museumsdorf, 1993, 173
S., 136 Abb. sw (Materialien zur Volkskultur nordwestliches Niedersachsen, 19)
Andrea Kiendl: Die Lüneburger Heide. Fremdenverkehr und Literatur. Berlin/Hamburg:
Reimer, 1993, 342 S. (Lebensformen, Veröffentlichungen des Instituts für Volkskunde der
Universität Hamburg, 6)
nord nytt, nordisk tidsskrift for folkelivsforskning, 49: livscyklus. Viborg: Museumstjene-
sten, 1993, 128 S.
Petra Raymond: Von der Landschaft im Kopf zur Landschaft aus Sprache. Die Romantisie-
rung der Alpen in den Reiseschilderungen und die Literarisierung des Gebirges in der Er-
zählprosa der Goethezeit. Tübingen: Niemeyer, 1993, 367 S. (Studien zur deutschen Litera-
tur, 123)
Paul W. Roth: Soldatenheilige. Graz/Wien/Köln: Styria, 1993, 155 S., zahlr. Abb. färb. u. sw
Wolfgang Ruppert (Hrsg.): Fahrrad, Auto, Fernsehschrank. Zur Kulturgeschichte der All-
tagsdinge. Frankfurt am Main: Fischer, 1993, 239 S., 31 Abb. sw
Werner Schiffauer (Hrsg.): Familie und Alltagskultur. Facetten urbanen Lebens in der Tür-
kei. Frankfurt am Main: Institut für Kulturanthropologie und Europäische Ethnologie der
Universität, 1993, 345 S. (Notizen, 41)
334
Eingesandte Schriften
Hans-Ulrich Schlumpf (Hrsg.): Filmkatalog der Schweizerischen Gesellschaft für Volkskun-
de. Basel: Schweizerische Gesellschaft für Volkskunde, 1993, 252 S.
Christoph Schmitt: Adaptionen klassischer Märchen im Kinder- und Familienfernsehen. Ei-
ne volkskundlich-filmwissenschaftliche Dokumentation und genrespezifische Analyse der
in den achtziger Jahren von den westdeutschen Fernsehanstalten gesendeten Märchenadap-
tionen mit einer Statistik aller Ausstrahlungen seit 1954. Frankfurt am Main: Haag & Her-
chen, 1993, 568 S., Tbn. (Studien zur Kinder- und Jugendmedien-Forschung, 12)
Adelheid Schrutka-Rechtenstamm (Red.): Frauenforschung. Bonn: Dümmlers, 1993, 226 S.
(Rheinisches Jahrbuch für Volkskunde, 29, 1991/92)
Dieter Stellmacher (Hrsg): Niedersächsisches Wörterbuch. 27. und 28. Lieferung. Neumün-
ster: Wachholtz, 1992 und 1993, je 125 S.
Heinz-Günter Vosgerau: Töpferzentrum Wildeshausen. Nordwestdeutsche Keramik aus
dem 17. bis 19. Jahrhundert. Cloppenburg: Museumsdorf, 1993, 185 S., 87 Abb. färb. u. sw,
47 Tafeln (Materialien zur Volkskultur nordwestliches Niedersachsen, 20)
Wanderarbeit jenseits der Grenze. 350 Jahre auf der Suche nach Arbeit in der Fremde. Red.
A. Eiynck u.a., Assen: Provinciaal Museum van Drenthe, 1993, 168 S., zahlr. Abb. sw
335
Anschriften der Autorinnen und Autoren der Aufsätze und Berichte
Theresa Beitl, M. A., Spielhagenstr. 14, D-10585 Berlin
Dr. Burkhard Fuhs, Utergasse 24, D-35091 Cölbe
Nina Gorgus, M. A., bei Klotz, Taborstr. 9, D-10997 Berlin
PD Dr. Ueli Gyr, Volkskundliches Seminar,
Zeltweg 67, CH-8032 Zürich
Prof. Dr. Gottfried Korff, Ludwig-Uhland-Institut,
Schloß, D-72070 Tübingen
PD Dr. Andreas Kuntz, Postfach 2022, D-56230 Ransbach-Baumbach
Prof. Dr. Rolf Lindner, Niedstr. 25, D-12159 Berlin
Brigitte Nussbächer, Keuslinstr. 10, D-80798 München
Dr. Johanna Rolshoven, Seminar für Volkskunde,
Augustinergasse 19, CPT4051 Basel
Guntis Smidchens, Folklore Institute,
504 North Fess, Bloomington, IN 47405, USA
Bernhard Tschofen, M. A., Österreichisches Museum für Volkskunde,
Laudongasse 15—19, A-1080 Wien
336
Im Auftrag der Deutschen Gesellschaft für Volkskunde
herausgegeben von
Gottfried Korff und Martin Scharfe,
Siegfried Becker und Klaus Roth
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Zeitschrift
für Volkskunde
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89. Jahrgang 1993
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