Internationales Centralblatt
für
Anthropologie und verwandte Wissenschaften.
(Vordem: Centralblatt für Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte)
in Verbindung mit
1). Anutschin-Moskau, T. de Aranzadi-Bareelona, G. Oolini-
Rom, A. Götze-Berlin, Fr. Heger-Wien, J. Heierli-Zürich,
A. H. K e a n e-London, Y. K o g an e i-Toky o, F. v. L u s e h a n-Berlin,
L. Manou vrier-Paris, R. Mart in-Zürich, 0. Montelius-
Stockholm, S. Reinach-Paris, L. Stieda-Königsberg, A. v.
Török-Budapest und anderen Fachgenossen
herausgegeben und geleitet
von
Dr. phil. et med. G. Buschan,
VIII. Jahrgang 1903.
Greifswald, Stettin,
Druck von J. Abel. Selbstverlag. Postamt G.
Preis für den Jahrg. von 6 Heften 12 Mark, nach dem Auslande 13 Mark
bei freier Zusendung. Bezug entweder direkt von Dr. Buschan in Stettin,
Postamt 6 oder durch die Post (Deutsche Zeitungspreisliste No. 3897)
Internationales Centralblatt
für
Anthropologie und verwandte Wissenschaften
in Verbindung mit
D. Anutschin-Moskau, T. de Aranzadi-Barcelona, Gr. Colini-Rom,
A. Götze-Berlin, Fr. Heger-Wien, J. Heierli-Zürich, A. H. Keane-London,
Y. Koganei-Tokyo, F. v. Luschan-Berlin, L. Manouvrier-Paris,
R. Martin-Zürich, O. M on te 1 iu s-Stockholm, S. R e i n a c h-Paris,
L. Stieda-Königsberg, A. v. Török-Budapest und anderen Fachgenossen
herausgegeben und geleitet von Dr. phil. et med. G. BllSChan, Stettin.
8. Jahrgang. Heft 1. 1903.
A. Originalarbeiten.
i.
Zur Entstehung des Rades und des Wagens.
Von Ed. Hahn-Berlin.
Ich habe seit 1895, wo mein Werk, Die Haustiere und ihre
Beziehungen zur menschlichen Wirtschaft, Leipzig, Dunker & Humblot,
a. d. Titel 1896 erschien, öfter, zumeist vergeblich gesucht, die Auf-
merksamkeit weiterer Kreise auf meine Theorie der Entstehung des
Ackerbaus hinzulenken. Selbst durch Widerspruch wurde das allge-
meine Schweigen nicht allzuoft unterbrochen. Eine solche Gelegenheit
habe ich im Globus 1899 benutzt, um mit verschiedenen Gegnern
abzurechnen. Zu meiner Theorie über die Einziehung der Haustiere
in die Wirtschaft des Menschen unserer Erdhälfte gehört nun, dass
einmal die Hirtenstufe nicht, wie bis dahin angenommen, dem Acker-
bau vorausgegangen ist, dass ferner die Produktion der Milch in
wirtschaftlich benutzbarem Maasse erst eine erworbene Eigenschaft
unserer Haustiere ist und dass endlich, was man bis dahin zumeist
so obenhin Ackerbau genannt hat, für welche Form ich jetzt, um
jede Zweideutigkeit zu vermeiden, den Namen „Pflugbau“ vorschlage,
durch den unlöslichen Zusammenhang von nicht weniger wie drei
Faktoren charakterisiert und von anderen bisher nicht besonders
benannten Formen des Bodenbaus, wie Hackbau, Gartenbau etc.
unterschieden wird. Das Feld des Pflugbaus ist einmal viel grösser,
wie das der übrigen bodenwirtschaftlichen Betriebe und es wird im
Gegensatz zum Hackbau und zur Gartenkultur zu allermeist jedes-
l
Intern. Centralblatt für Anthropologie. 1903.
2 A. Originalarbeiten.
mal mit einer einzigen Pflanze bestellt, wobei die Getreidearten
das erdrückende Übergewicht haben, da neben ihnen nur wenige
Leguminosen, die allerdings auch schon der ältesten Zeit angehören,
von erheblicher Wichtigkeit sind. Das Feld wird endlich nicht
direkt durch menschliche Thätigkeit, sondern mit dem Pfluge bestellt,
den der Ochse zieht. Neben dieser Verwendung des Rindes als
Arbeitstier geht die andere eigentümliche wirtschaftliche Verwendung
der Kuh als Milchtier her; der Genuss der Milch und der Butter
der Kuh ist nach meiner Ansicht das Prototyp für allen ferneren
Milchgenuss geworden.
Kommt nun dieser ganze Ideenverband den meisten Lesern
wahrscheinlich schon reichlich kompliziert vor, so wurde die Sache
weiterhin nur noch schlimmer, da ich auch noch die Erfindung des
Wagens mit meiner Theorie in Verbindung bringen musste; denn
es war mir nicht möglich, die Verwendung des Ochsens als Arbeits-
tier am Pfluge als das Ursprüngliche anzunehmen.
Ich musste vielmehr die Kenntnis des Wagens und seine Be-
nutzung und die Verwendung des Ochsen als Zugtier am Wagen
vor der Einführung des Pflugs und der Verwendung des Ochsens
an dem neu erfundenen Gerätli voraussetzen. Auch mit diesem
Teile meiner Theorie habe ich wenig Glück gehabt. Z. B. ist
Dr. Götze einer dringenden Aufforderung, die ich an eine unnötig
scharfe Kritik seinerseits angeknüpft hatte, die Prähistorie der
Wagen, besonders der kleinen Wagen, die man allgemein entweder
selbst als Kultgeräte oder als Modelle von grossen Kultgeräten ange-
sehen hatte, zu bearbeiten, leider nicht gefolgt. Tch kann daher
nicht angeben, wie man in den prähistorischen Fachkreisen jetzt
über die Entstehung des Wagens denkt.
Ich möchte aber dem Charakter unseres Central-Organs ent-
sprechend darauf hinweisen, dass vor einiger Zeit Forestier in einer
kleinen, aber sehr wertvollen Studie von rein technischem Stand-
punkt (Forestier, la roue. Études paléo-techniques. Paris 1900, 8°)
das Rad behandelt hat und dabei auf ein Resultat hinauskommt,
der sich dem meinigen sehr nähern dürfte. Die Entstehung des
Wagens ist natürlich wesentlich gegeben durch die Entstehung des
Rades. Forestier kann nun die Frage ebenso wenig apodiktisch
entscheiden wie ich, er spricht sich aber (S. 124) so deutlich wie
ich nur wünschen kann, gegen die Entstehung des Rades aus der
praktischen Verwendung der Walze, für die sich Reuleaux und
Tylor entschieden hatten, aus. Es kommt dabei wohl wenig darauf
an, ob F. sich die Entstehung des Modells zum Wagen aus einem
Kinderspielzeug erklärt oder ob ich für seine Entstehung aus einem
A. Originalarbeit.
3
Spielzeug müssiger Priester eingetreten bin. Jedenfalls möchte ich
auf die sehr bemerkenswerte Übereinstimmung mit aller Energie
hinweisen: dass wir beide uns, trotz des völlig verschiedenen Aus-
gangspunkts, in der Voraussetzung begegnen, dass das kleine un-
praktische Gerät, das Modell, der praktischen Verwendung des
grossen Wagens mit Zugtieren auf der Strasse vorausging und dass
wir Übereinkommen in dem Gedanken, dass die Entstehung des lose
auf der Axe beweglichen Rades in irgend einer Art oder Form
damit zusammenhängt, dass der Wirtel, jenes wichtige Gerät der
Urzeit schon vorhanden war. Wir meinen also beide, F. als Techniker,
ich als Theoretiker, dass das Modell bei einem der wichtigsten Ge-
räte der Menschheit der praktischen Verwendung vorausgegangen
ist. Das wird vielen seltsam klingen, hat mich aber natürlich nur
in meiner Theorie bestärkt, an der ich übrigens trotz des allge-
meinen Schweigens und des vereinzelten Widerspruchs nach lang-
jährigen weiteren Studien in derselben Richtung zunächst festhalte.
II.
(Aus dem anatomischen Universitäts-Institut des Herrn Professor
Dr. A. Räuber-Jurjew [Dorpat.])
Ein Apparat für die Schädelkubage.
Von stud. med. E. Landau.
Vorläufige Mitteilung.
Bekanntlich verfährt man bei der Bestimmung der Schädel-
kapacität nach den Angaben, die wir im trefflichen Lehrbuch für
anthropologische Untersuchungen: „Anthropologische Methoden,“
von Dr. E. Schmidt finden. Es müssen also bei der Ausführung
dieser Messung 2 Personen beschäftigt sein. Ich versuchte nun
mit dem zu beschreibenden Apparat eine Person durch eine technische
orrichtung zu ersetzen. Sowohl der Trichter, aus dem eine Masse
sich in den zu messenden Schädel schüttet, als auch der Schädel
selbst werden in einer zu diesem Zwecke angebrachten Vorrichtung
fixieit. Zu einer derartigen Messung möchte ich 2 Modelle Vor-
schlägen.
Erstes Modell. Es wird aus Brettern eine solide Wand
ieigerichtet; diese ist am Rande eines wiederum aus Brettern zu-
sammengefügten, auf Rollen beweglichen Podiums angebracht. An
einem an diese Wand zwischen 2 vertikalen Eisenschienen sich be-
1'
4
A. Originalarbeiten.
wegendem Galgen ist ein mit dem spitzen Ende nach unten ge-
richteter Metalltrichter (oberer Durchmesser 21 cm Welcher oder
mehr) befestigt. Derselbe hat vor der unteren Öifnung eine Vor-
richtung, welche es gestattet, dieselbe momentan zu öffnen und zu
schliessen. Die Einrichtung ist folgende: Ein zwischen 2 Messing-
schienen sich bewegender Schieber, welcher an einem Ende eine
runde Öffnung von 20 mm hat, wird durch eine kräftige Spiralfeder
gegen einen Anschlagstift gedrückt, so dass die Trichteröffnung
verschlossen ist. Von der anderen Seite des Schiebers geht eine
Darmsaite über eine Rolle zum Podium an eine einfache Trittvor-
richtung. Drückt man mit dem Fusse den Tritt herunter, so wird
die Spiralfeder zusammengedrückt und der Schieber gegen 2 An-
schlagschrauben bewegt, die so angeordnet sind, dass die Öffnung
im Schieber genau unter die Trichteröffnung zu stehen kommt,
mithin der Trichter geöffnet ist. Hebt man nun den Fuss vom
Tritte ab, so schnellt die Spiralfeder den Schieber in die alte Lage
und schliesst somit den Trichter wieder. Ausserdem ist oberhalb
des Schiebers ein Schlitz ausgespaart, in welchen man verschiedene
Messingblenden hineinschieben und so der Ausflussöffnung einen
verschieden grossen Durchmesser geben kann.
Unter die ganze Vorrichtung wird ein aus Pappe verfertigter,
innen mit einem weichen Stoff beklebter, zusammenklappbarer, vier-
kantiger Trichter auf ein leicht transportables Holzgestell montiert.
In der Höhe des Papptrichters befindet sich über demselben in
horizontaler Lage ein viereckiger Holzrahmen, der an die Rückwand
unbeweglich befestigt ist. An den 4 Ecken dieses Rahmens sind
4 Metallösen angebracht, welche zu 4 stärkeren Spiralfedern führen,
A. Originalarbeiten.
5
die an einem viereckigen Brett mit einem grossen ovalen Ausschnitte
befestigt sind. An den 4 Ecken des Brettes auf der oberen Seite
sind 4 gabelförmige, in der Mitte mit einem Schlitz versehene Holz-
brettchen vermittelst 4 Bolzenschrauben und Flügelmuttern, in jeder
Lage anklemmbar, angeordnet. Ausserdem ist an jedem der Brettchen
ein Gummiband derart befestigt, dass je ein Band mit dem gegen-
überstehenden mittelst einer einfachen Schnalle verbunden werden
kann. Für diese ganze Vorrichtung würde ich die passende Be-
nennung „Schüttelapparat“ vorschlagen. In diesem „Schüttel-
apparat“ kann ein beliebig grosser *Schädel so befestigt werden,
dass das foram. occ. magn. horizontal nach oben gerichtet ist. Auch
der Messcylinder kann vom selben Apparat gehalten werden, wobei
die zu messende Masse aus dem Schädel in den Metalltrichter ge-
schüttet wird (natürlich muss der Trichter vordem leer sein); aus
dem letzteren in den Messcylinder. Zu beiden Seiten des Galgens
können an der Rückwand auch verschiedene Regale und Haken zu
beliebigen Zwecken angebracht werden.
Zweites Modell. Ein solider quadratförmiger Rahmen ruht
nuf 4 massiven Holzfüssen; an jeder Ecke des Rahmens ist je eine
Metallöse angebracht, an den letzteren der so eben erwähnte „Schüttel-
apparat“. Der schon im ersten Modell figurierende Papptrichter
wird hier nicht auf ein Holzgestell montiert, sondern ist an der
Innenseite desselben Rahmens, in ihm entsprechender Grösse, be-
festigt. Unter dem grossen Papptrichter befindet sich natürlich
ein Gefäss zum Auffangen des bei der Arbeit sich verschüttenden
Materials. — An zwei gegenüberliegenden Seiten wiederum desselben
Rahmens ist in der Mitte je ein, genau vertikal stehender Holz-
stab Iest angebracht. Was nun den Messingtrichter betrifft, so hat
ei zu beiden Seiten horizontale Arme, die an ihren Enden Einschnitte
ia en, in welche die eben erwähnten Vertikalstäbe genau hineinpassen
in denen also der Trichter auf- und abgleiten kann. In einer
des16 ^6n können alsdann die vertikalen Stäbe an die Arme
tes Trichters durch Flügelschrauben angeschraubt werden. Am
e^ yGn ®11(fe^des Trichters ist, mit Bajonettverschluss aufschliessbar,
IfiatterSC^^USSai)Parat angebracht. Derselbe besteht aus einer festen
Aff ’ m aeren Mitte sich eine zum Trichter genau centrische
nung von 20 mm befindet. Unter dieser Platte ist eine zweite
zvisden abgeschrägten Schienen bewegliche Platte angebracht; die-
an der dem Experimentierenden zugekehrten Kante einen
s J1 h an We^lem die Platte gegen Anschläge vor- und zurückge-
• c o en werden kann. Am anderen Ende hat die Platte einen von
aussen mit Gewinde versehenen Aufsatz, dieser und die darüber
6
A. Originalarbeiten.
liegende bewegliche Platte ist kreisrund durchbrochen. Die Öffnung
hat an der unteren Seite einen Durchmesser von genau 20 mm. An
der oberen Seite ist die Öffnung ebenso gross, wie die Öffnung in
der festen Platte. Wird nun die Platte nach hinten geschoben, so
ist die Öffnung der oberen Platte verschlossen, zieht man die untere
Platte aber nach vorne, so kommen die Öffnungen beider Platten
genau untereinander zu stehen und der Blechtrichter ist geöffnet,
und zwar beträgt die Ausflussöffnung genau 20 mm. Damit auch
die Möglichkeit gegeben ist, die Ausflussöffnung zu verkleinern,
lassen sich Messingtrichter mit verschiedenen Ausflussöffnungen ein-
fach auf den mit Gewinde versehenen Aufsatz der beweglichen
Platte aufschrauben.
Damit der Inhalt des Blechtrichters möglichst ungehemmt
durch alle Öffnungen fliessen kann, ist darauf geachtet, dass sich
im Innern des Mechanismus keine unnützen Vorsprünge und Ver-
tiefungen befinden.
Beide Modelle sind schon vom Universitätsmechaniker P. Schulze
aufgebaut und im hiesigen anatomischen Institut aufgestellt. In
baldiger Zeit soll dieser vorläufigen Mitteilung ein ausführlicherer
Bericht über die an den Apparaten angestellten Versuche folgen.
A. Original arbeiten.
B. Referate. Anthropologie.
7
— Beiläufig bemerkt, wäre für die Kubage ein feinkörniger Aluminium-
schrot ein sehr geeignetes Material.
Ich freue mich bei der Gelegenheit, meinem hochgeehrten Lehrer,
Herrn Professor Dr. A. Räuber, für alle mir so liebenswürdig
und so belehrend geschenkte Zeit, wie während dieser Arbeit, so
auch während anderer Beschäftigungen am Institut, meinen auf-
richtigen Dank aussprechen zu dürfen.
Jurjew (Dorpat), im Juni 1902.
B. Referate.
I. Anthropologie.
1. R. Wiedersheim: Der Bau des Menschen als Zeugnis für
seine Vergangenheit. Dritte, gänzlich umgearbeitete und
stark vermehrte Auflage. Mit 131 Figuren im Text. Tüb.,
Lauppsche Buchhandlung, 1902. Preis 5,60 M., geh. 6,60 M.
Diese Schrift erschien zuerst 1887 als ein Heftchen von 114 Seiten
und ohne Abbildungen. Die 2. Auflage kam 1893 heraus; sie war auf
DK) Seiten erweitert und brachte durch 109 Figuren das im Text Gesagte
zur deutlicheren Anschauung. Nunmehr liegt das Buch völlig umgearbeitet
m 3. Auflage vor, die nicht weniger als 243 Seiten und 131 Figuren ent-
hält. Man kann aus diesem Wachstum schon ersehen, welche nie rastende
Aufmerksamkeit der Yerf. dem Stoffe gewidmet hat. Der Grundgedanke
lst der, dass der menschliche Körper, den wir als einen Dauertypus anzu-
sehen gewohnt waren, dies nicht ist. Eine ganze Menge teils rückschrittlicher,
teils fortschrittlicher Umbildungen der verschiedensten Organe und Organ-
systeme sind im Gang, nur so langsam, dass ihr Ausschlag in einer Gene-
ration nicht erkannt wird. Es giebt aber Anzeichen, die das Vorhanden-
sein des Schwankens verraten, und zwar sind diese Anzeichen teils noch
am Körper des Erwachsenen, teils nur noch am werdenden Körper zu be-
obachten. Hie Umwandlungsprozesse lassen Schlüsse zu auf die tierische
Abstammung des Menschen, worüber der Yerf. sich bestimmt, wenn auch
m (for Form schonend für die vielfach noch herrschenden gegenteiligen An-
sichten ausspricht. Der „Bau des Menschen“ ist ein für den Anthropologen
um entbehrJiches Handbuch geworden. Otto Ammon-Karlsruhe.
8
ß. Referate. Anthropologie.
2. Moritz Alsberg: Die Abstammung des Menschen und die
Bedingungen seiner Entwicklung. Für Naturforscher, Ärzte
und gebildete Laien. Mit 24 Abbildungen im Text. Cassel,
Th. Gr. Fischer & Co., 1902. 248 Seiten.
Seitdem die Abstammungslehre des Menschen durch die entwicklungs-
geschichtlichen Untersuchungen der jüngsten Zeit, im besonderen durch die
Studien von Klaatsch, Schwalbe u. a. in neue Bahnen gelenkt worden ist,
insofern sich herausgestellt hat, dass die heutigen Anthropoiden keineswegs
als die Vorgänger des Menschen in seiner Entwicklung zu betrachten sind,
sondern eher als „degenerierte Vettern“, war es gewiss angezeigt, die
Ergebnisse dieser neueren Forschungen einmal zusammenzufassen und
dem weiteren gebildeten Publikum vorzuführen. Alsberg hat meines Er-
achtens diese Aufgabe in geschickter Weise gelöst; das Buch ist so ge-
schrieben, dass es jeder naturwissenschaftlich gebildete Laie verstehen kann.
Im 1. Abschnitte (S. 1—37) beschäftigt sich Verf. mit der Neanderthal-
rasse. Aus den spärlichen Knochenresten rekonstruiert er den Schädel und
den mutmasslichen sonstigen Körperbau dieser diluvialen Rasse, die sich
infolge ihrer niederen Bildung sehr wesentlich vom heutigen Menschen unter-
scheidet. Der 2. Abschnitt (S. 38-—78) ist allgemeinen Betrachtungen
über „das Abstammungsproblem“ gewidmet. Verf. zeigt an den Beispielen
der Hand, des Fusses, des aufrechten Ganges, des Gebisses etc., sowie der
rudimentären Organe, dass von einer Abstammung des Menschen von den
Anthropoiden trotz mancherlei sonstiger Berührungspunkte unter allen Um-
ständen keine Rede sein kann, dass man vielmehr den Ursprung des Menschen
von einem älteren Abschnitte des tierischen Stammbaumes herleiten müsse,
und versucht eine Erklärung für das Zustandekommen der speziell menschlichen
Eigenschaften. Im weiteren Verfolg dieser Frage werden im 3. Abschnitte
(S. 79 —118) der Pithecanthropus, die niederen Affen und Anthropoiden
in ihren Beziehungen zur Abstammung des Menschen besprochen. Den
Pithecantropus hält Verf. nicht für einen direkten Vorfahren des heutigen
Menschen, sondern für den Spross einer Seitenlinie, der sich erst kurz vor
der Entwicklung des eigentlichen Menschentypus von einem gemeinsamen
Stamme abgezweigt und dementsprechend nähere Beziehungen zur menschlichen
Körperbildung beibehalten hat, als diejenigen sind, denen man bei den
Anthropoiden im engeren Sinne begegnet. Der Ursprung des Menschen
von einem auf relativ niederer Entwicklungsstufe stehenden Gliede des
grossen Säugetierstammes, wie es die Prosimier sind, erscheint dem Verf.
viel wahrscheinlicher, als die Affenabstammung. Als Anhänger des mono-
phyletischen Ursprunges des Menschen spricht sich Verf. im 4. Abschnitte
(S. 118—139) im Anschluss an Schoetensacks Hypothese für den indo-
australischen Archipel als „Urheimat des Menschen“ (den Punkt, wro sich
B. Referate. Anthropologie.
9
der Prozess der Menschwerdung vollzogen hat) aus. Die Bedeutung der
klimatischen Einflüsse (Eiszeit, Klima, Vegetation etc.), sowie der Wanderungen
des Urmenschen (räumliche Sonderung) führten, wie im 5. Abschnitte
(S. 140—181) dargelegt wird, zur Ausbildung der verschiedenen Varietäten
des Menschengeschlechtes. Im Anschluss hieran bespricht Verf. die neueren
Einteilungsversuche der Menschenrassen (Deniker, Stratz, Wilser etc.) und
bekennt sich mit Recht als ein Gegner der Lehre vom Menschen als Dauer-
typus. Der 6. Abschnitt (S. 182—213) ist der geistigen Entwicklung des
Menschen gewidmet. Es werden hier eine Reihe diesbezüglicher Fragen
(Beziehung zwischen Schädelform und Gehirngewicht zur geistigen Fähigkeit,
Bedeutung der Hirnfurchung, Entwicklung der Sprache, der moralische
Sinn etc.) behandelt. Im 7. Abschnitt (S. 214—226) kommt Verf. auf
die Geschlechtsunterschiede und die Frage der Frauenemanzipation zu sprechen.
Der Vorsprung, den im geistigen Wettkampf das männliche Geschlecht er-
langt hat, ist keineswegs ausschlieslich auf Rechnung des Unterschiedes in
der socialen Stellung zu setzen, sondern auf eine relativ bedeutendere Ent-
wicklung der nervösen Centralorgane. Im 8. Abschnitte (S. 227—248)
endlich erörtert Verf. die neueren Theorien (u. a. de Vries) über die Ver-
erbung und die Frage, bis zu welchem Grade die Entwicklung des Menschen-
geschlechtes durch Inzucht und Vermischung beeinflusst worden sind und
noch beeinflusst werden.
Das Büchlein sei aufs beste zur Aufklärung empfohlen.
Dr. Buschan-Stettin.
3. Wettstein: Über direkte Anpassung. Nach einem Vortrag
mitgeteilt von Kablitz. Die Umschau, 1902. Bd. VI, Nr. 29.
W. hat in einem Vortrage, welcher hier auszugsweise wiedergegeben
wird, die Einwirkung der Umgebung auf die Umgestaltung der Lebewesen
gezeigt. Europäische, winterkahle Pflanzen lassen unter dem Einfluss der
Dopen eine Veränderung der Belaubung eintreten, wie auch bei uns ein-
jährige Pflanzen dort Tendenz zum Ausdauern erhalten; wertvolle fremd-
ländische Weizensorten verschlechtern sich bei uns nach wenigen Generationen.
Bei Hefenarten ist es möglich, durch geeignete Kultur Rassen zu züchten,
welche Sporen überhaupt nicht bilden u. s. w. Wenn auch die an Bakterien
und Pflanzen gemachten Beobachtungen der Anpassung und vererbbaren
^ eränderung nicht direkt auf tierische Wesen höherer Organisation und b^-
. sonders auf menschliche Verhältnisse übertragen werden können, so sind sie
doch wichtig genug, um gewisse Schlüsse zu ergeben und auf die für weitere
Beobachtungen geltenden Gesichtspunkte hinweisen zu können. Die Er-
kenntnis, „dass direkte Anpassung eine fortschreitende und erbliche Ent-
wickelung des Organismus bei Reduktion funktionell nicht beinflusster
,rgane zulässt, macht uns aber schliesslich auch die offenbare allmähliche
10
ß. Referate. Anthropologie.
Steigerung der Organisationshöhe als Ausdruck eines grossen Anpassungs-
phänomens begreiflich“. Oberarzt Dr. Keller-Untergöltzsch.
4. M. I. Costantin: L’Hérédité acquise, ses conséquences horti-
coles, agricoles et médicales. Paris, C. Naud, 1901.
Im wesentlichen referierende Betrachtung des Problems der Vererbung
erworbener Eigenschaften. Uns interessiert namentlich das Kapitel über
die Vererbung erworbener Eigenschaften in der Pathologie. Verf. citiert
die bei uns weniger bekannten Arbeiten von Dupuy (Dupuy, De la trans-
mission héréditaire de lésions acquises, Bullet, scientif. de la France et de
la Belgique de Giard, 1890, 4 série, t. I. 445. Ferner: International
ophthalmolog. Congress New York, sept. 1876. — Populär Science Monthly
1877 New York. — Comptes rend, de la Soc. de biologie Paris, t. 34.
1882 p. 667), der die Versuche von Brown-Séquard fortgesetzt und er-
weitert hat. Dr. Warda-Blankenburg (Th.).
5. Wilhelm Ebstein: Vererbbare cellulare Stoffwechselkrank-
heiten. Stuttgart 1902.
Verf. betrachtet die Gicht, Fettleibigkeit und Zuckerkrankheit als
vererbbare cellulare Stoffwechselkrankheiten. Sie haben alle drei nicht nur
die Vererbbarkeit gemeinsam, sondern es besteht bei ihnen oft genug eine
alternierende Vererbbarkeit. Speziell die Zusammengehörigkeit der Zucker-
krankheit mit der neuropathisehen Belastung gilt dem Verf. dadurch als
bewiesen, dass sie nicht nur beide vererbbar sind, sondern dass gewisse
Erkrankungen des Centralnervensystems und die Zuckerkrankheit alternierend
bei Ascendenz und Descendenz Vorkommen. Dr. Warda-Blankenburg (Th.).
6. Hugo Ribbert: Über Vererbung. Marburg 1902.
Verf. spricht sich in einem akademischen Vortrage und mit wesentlicher
Exemplifizierung auf sociale Verhältnisse gegen die Vererbbarkeit erworbener
Eigenschaften aus. Dr. Warda-Blankenburg (Th.).
7. A. Dietrich: Die Bedeutung der Vererbung für die Pathologie.
Tübingen 1902.
Die Vererbung erworbener Eigenschaften gilt als nicht erwiesen; gegen
die experimentellen Resultate von Brown-Séquard und Westphal führt Verf.
allerdings lediglich die negativen Ergebnisse von Sommer an. — Über-
tragung von Immunität ist bisher nur von mütterlicher Seite aus mit
Sicherheit festgestellt worden und beruht auf placentarer Vermittelung, nicht
auf Vererbung. Bei den Infektionskrankheiten kann es sich niemals um
Vererbung, sondern nur um eine besondere Art der Infektion, nämlich um
eine placentare und um eine konceptionelle oder germinative, handeln.
Dr. Warda-Blankenburg (Th.).
B. Referate. Anthropologie.
11
8. William C. Krauss: Heredity — with a study of the statistics
of the New York State Hospitals. Americ. Journ. of Insanity,
1902. Vol. LVIII, Nr. 4. f
Statistische Zusammenstellungen über die erbliche Belastung bei den
Insassen der Irrenanstalten des Staates New York für die Jahre 1888 bis
1900. Belastung von mütterlicher Seite ist etwas häufiger als von väter-
licher sowohl für die Psychosen, wie für die organischen familiären Krank-
heiten des Nervensystems. J)r. Warda-Blankeriburg (Th.).
9. Wilhelm Strohmayer: Über die Bedeutung der Individual-
statistik bei der Erblichkeitsfrage in der Neuro- und Psycho-
pathologie. Münch, med. Wochenschrift 1901, Nr. 45 u. 46.
Diese Abhandlung giebt ein gutes Bild von den Schwierigkeiten, denen
die Hereditätsstatistik unterworfen ist. Wenn auch die Möglichkeit, aus
unseren bisherigen Kenntnissen über psychopathologische Vererbung Gesetze
abzuleiten, von Str. bestritten wird, so betont er doch die Thatsache der
Vererbung als ätiologischen Moments für die Entstehung von Nerven- und
Geisteskrankheiten. Str. verteidigt den „Stammbaum“ gegen die „Ahnen-
tafel“ und wendet sich gegen den Versuch, in der Ahnentafel das Quantum
der pathologischen Vererbung generationenweise rechnerisch zu bestimmen.
— Verf. hat die Stammbäume von 56 Familien mit 1338 feststellbaren
Mitgliedern gesammelt. Neben der Polymorphie der Vererbung findet Str.
auch exquisit gleichartige Vererbungstendenzen namentlich für Melancholie,
Manie, Hypochondrie, ferner Epilepsie, habituellen Kopfschmerz und Migräne,
dann Chorea, Hysterie, Alkoholismus, im Rahmen des Alkoholismus be-
sonders die arteriosklerotischen Hirnerkrankungen. Auch eine vollständige
„Erschöpfung“ der erblichen Belastung kommt vor, ohne dass eine Kreuzung
mit V ollblut oder sonstige artaufbessernde Massnahmen ersichtlich waren.
Von den ätiologischen Faktoren der psychopathischen Degeneration ist am
wichtigsten der Alkoholismus; merkwürdigerweise ist nach dem Materiale
von Str. die Bedeutung der Syphilis sehr gering, die Tuberkulose scheint
gelegentlich die Verschlechterung des Stammes rapid zu beschleunigen. —
Mit Recht wendet sich Verf. gegen die Diathesenlehre von Crocq.
Verf. fürchtet, dass die ätiologisch-klinische Forschung in der Neuro-
und Psychopathologie das entscheidende Wort in dem Streite, ob nur ererbte
oder auch erworbene Charaktere vererbbar sind, nicht sprechen wird, weil
Sle an den Hemmnissen räumlicher und zeitlicher Beschränkung, absichtlicher
Täuschung und menschlichen Irrtums erlahmen muss. •
Dr. War da-Blankenburg (Th.).
12
B. Referate. Anthropologie.
10. Heinrich Matiegka: Über das Hirngewicht, die Schädelkapa-
cität und die Kopfform, sowie deren Beziehungen zur
psychischen Thätigkeit des Menschen. I. Über das Hirn-
gewicht des Menschen. Sitzungsber. d. kgl. bölim. Gesell-
schaft der Wissenschaften in Prag. 1902, II. CL, Nr. 20.
75 Seiten.
Der schon öfters aufgeworfenen, aber immer noch nicht endgültig abge-
schlossenen Frage, wieweit das Hirngewicht des Menschen durch Wachstum,
Alter, Geschlecht, Körperzustand etc. beeinflusst wird, sucht Verf. auf Grund
der im bölrm. patholog.-anatom. Institut und in dem Institut für gerichtliche
Medizin in dem Zeitraum von 1895—1899, bzw. 1896—1900 vorge-
nommenen und gleichinässig durchgeführten Hirnwägungen (unter Mitnahme
von Pia und Araclmoidea) von neuem näher zu treten. Von diesem reich-
lichen Materiale wurden die Gehirne von Personen unter 20 Jahren, sowie
solche mit auffallenden substantiellen patholog. Veränderungen ausser Acht
gelassen, soclass in dem ersteren Institute (I) 94 Hirne Geistesgesunder und
322 Geisteskranker, in dem zweiten (II) die 581 Geistesgesunder und
9 Geisteskranker zur Verwertung kamen; die Untersuchungen an Geistes-
kranken gewinnen hier einen besonderen Wert, weil sie einen V ergleich mit
denen normaler Menschen aus demselben Institut zulassen, und zudem
mittels derselben Wägemethode von demselben Beobachter vorgenommen
wurden. — Wir können hier nicht auf die Einzelheiten dieser fleissigen
und sorgfältigen Studie eingehen, sondern wollen uns damit begnügen, die
Hauptergebnisse wiederzugeben.
1. Das durchschnittliche Hirngewicht betrug bei I für die Männer
1306,2 gr (46 Fälle), für die Frauen 1185,0 gr (48 Fälle), bei II für
erstere 1441,5 gr (376 Fälle), für letztere 1290,3 gr (205 Fälle); der
Unterschied zwischen I und II mag daher rühren, dass bei I über 57 °/0
der Männer, bei II aber noch nicht 5°/0 an Tuberkulose verstorben waren.
Der Unterschied des Hirngewichtes im reifen Mannes- und im Greisen-Alter
(über 60 J.) belief sich bei I auf 97,7 gr (^) bzw. 71,7 gr (9)5 bei H
auf 46,2 bzw. 74,3 gr. — Die meisten Fälle fielen beim ^ Gehirn (22,7 °/0
und 32,5°/0) auf 1400 gr, beim 9 (48°/0 und 36°/0) auf 1200 gr.
2. Mit zunehmender Körpergrösse steigt das Hirngewicht an, jedoch
nicht in demselben Verhältnisse; das Weiberhirn ist im Vergleich zur Körper-
grösse relativ leichter.
3. Einem kräftigen Knochenbau entspricht ein bedeutenderes Hirn-
gewicht und vice versa.
4. Ein guter Ernährungszustand hat eine Erhöhung, ein schlechter
eine Verminderung des Hirngewdchtes zur Folge. • ,
5. Die Serienmitte, sowie der Kulminationspunkt liegt bei den geistes-
B. Referate. Anthropologie.
13
kranken Männern tiefer (1200 gr.), als bei den geistesgesunden Männern
(1400), beim weiblichen Geschlecht fällt in beiden Reihen der Kulminations-
punkt auf denselben Wert (1200). Bei Geisteskranken beiderlei Geschlechts
kommt auf den Kulminationspunkt eine verhältnismässig kleinere Anzahl
von Fällen, als bei den Geistesgesunden, umgekehrt gehen die extremen
Fälle (sehr hohe, wie sehr niedere Werte) bei den Geisteskranken weiter
auseinander. Somit zeigt sich bei den Geisteskranken eine stärkere Tendenz
von dem Mittelwerte nach beiden Richtungen, sowohl nach den grösseren,
als auch besonders nach den geringeren Hirngewichten abzuweichen. — Der
Durchschnitt für das Gehirn männlicher Geisteskranker (159 Fälle) betrug
ohne Rücksicht auf Alter 1287,5 gr, für das der weiblichen (163 Fälle)
1178,2 gr. Demnach scheint das Hirngewicht Geisteskranker überhaupt
geringer zu sein. Die Ergebnisse anderer Forscher über das Hirngewicht
Geisteskranker widersprechen sich vielfach aus dem Grunde, weil ungleiches
Material bei den Untersuchungen verwendet worden ist, denn das Hirnge-
wicht ist in hohem Grade von der Krankheitsform abhängig. Bei den
wenigen (6) Fällen von angeborener Geistesstörung (Weiber) erhielt Yerf.
ein etwas niederes Hirngewicht (1190,8); auch bei den durch anatomische
Veränderungen der Hirnsubstanz gekennzeichneten Geisteskrankheiten war
es gleichfalls verringert, hingegen bei den funktionellen Psychosen vermehrt.
Aus den Serienzusammenstellungen geht hervor, dass das Hirngewicht bei
gewissen Geisteskrankheiten sich um einen höheren, bei anderen wieder um
einen niederen Kulminationspunkt anordnet, sowie dass der Kulminations-
punkt für alle Hirngewichtswerte Geisteskranker etwas unter jenen der
normalen Hirngewichte verrückt erscheint.
6. Durch zahlreiche Beobachtungen hat sich herausgestellt, dass im
allgemeinen die geistige Leistung von der Grösse des Hirngewichtes ab-
hängig ist; Yerf. findet sich mit den Einwänden, die dagegen erhoben
worden sind, in genügender Weise ab. Er fügt zu den schon bekannten
Hirngewichten bedeutender Männer noch die einiger slavischer Vertreter
von Kunst und Wissenschaft hinzu.
7. Er findet einen weiteren Beleg für die Ansicht von Beziehung der
Intelligenz zum Hirngewicht in der Thatsache, dass das letztere von Leuten
mit niederer Bildungsstufe zu solchen mit bedeutenden Geistesanlagen (vom
Tagelöhner zum Arbeiter, dann weiter progressiv zum Dienstmann, Diener,
Wachmann etc., zum Gewerbetreibenden und Handwerker, Lehrer, niederen
Beamten etc. bis zu den akademisch Gebildeten) ansteigt.
8. Die verschiedenen oben genannten Einflüsse, wenn sie kombiniert
einwirken, können das Hirngewicht steigern, wenn sie in derselben Richtung
dasselbe beeinflussen, und schwächen, wenn in entgegengesetzter Richtung.
Hie Differenz zwischen dem Hirngewichte grosser und kleiner Männer beträgt
72,3 gr, steigt bei entsprechender Berücksichtigung des Knochenbaus auf
14
B. Referate. Anthropologie.
123,9 gr, des Ernährungszustandes auf 151,5 gr, und endlich der Muskel-
entwicklung auf 231,7 gr.
9. Mit der Zunahme der Schädelmaasse, d. h. der Schädellänge und
-Breite, geht auch eine Zunahme des Hirngewichtes einher, sowohl bei
Geistesgesunden, wie bei Geisteskranken; die Schädelbreite ist jedoch für
das Hirngewicht von grösserer Bedeutung.
10. Was das Verhältnis des Hirngewichtes zur Schädelform betrifft,
so scheinen die Mittelformen mit einem höheren Gewichte verknüpft zu sein.
11. Über die Rassenverschiedenheiten hinsichtlich des Hirngewichtes
liegen noch allzu unvollkommene Beobachtungen vor, sodass weitere Schlüsse
noch nicht möglich sind.
12. Die dem Tode vorausgegangenen Krankheiten, sowie die Todesart
beeinflussen das Hirngewicht nicht unbedeutend. So z. B. üben die tuber-
kulösen Erkrankungen, die Sepsis und die übrigen, zumeist chronischen
Erkrankungen, die mit einer Abmagerung des Körpers einhergehen, auf
dasselbe einen verderblichen Einfluss aus. Natürlich muss man bei Beur-
teilung dieser Fälle auch die Körpergrösse, Konstitution, Beschäftigung etc.
in Betracht ziehen. Br. Buschan-Stettin.
11. F. Marchand: Über das Hirngewicht des Menschen. Abhandlg.
d. mathem.-phys. CI. d. Kgl. Sächsischen Gesellschaft d.
Wissenschaften, 1902. Bd. XXVII, Nr. IV, S. 393—482.
Leipzig, B. G. Teubner in Conim.
Während der Jahre 1885—1900 hat Verf. im patholog. Institut zu
Marburg, also im wesentlichen an der hessischen Bevölkerung, im ganzen
1173 Hirnwägungen (716 457 9)? vorgenommen; davon waren 707
erwachsene Individuen und 466 unter 20 Jahren.
Das Hirngewicht des Neugeborenen (allerdings nur 10 Fälle) belief
sich für die Knaben auf 371, für die Mädchen auf 361 gr. Das anfängliche
Hirn gewicht verdoppelt sich im Laufe der ersten dreiviertel Jahre; noch
vor Ablauf des 3. Lebensjahres verdreifacht es sich. Von dann an erfolgt
die Zunahme immer langsamer, und zwar bleibt sie beim weiblichen Geschlecht
hinter dem männlichen zurück. Nach dem 15. Jahre ist die Zunahme des
Hirngewichtes nur noch eine geringe. Die endgültige Grösse dürfte beim
Manne mit 19 — 20, beim Weibe mit 16—18 Jahren erreicht sein, jedoch
ist nicht ausgeschlossen, dass gerade, so wie beim Körperwachstum, bei
einer Reihe Individuen diese Grenze früher, bei anderen etwas später erreicht
wird. Für den ausgewachsenen Mann der hessischen Bevölkerung (15 bis
50 Jahren) stellte sich das Durchschnittsgewicht auf 1400 gr, für das aus-
gewachsene Weib auf 1275 gr; mit Hinzurechnung älterer Lebensalter (bis
über 80 Jahr) betrugen diese Werte 1388 und 1252 gr. — 84°/0 aller
erwachsenen Männer (von 15 bis über 80 Jahre) wiesen ein Hirngewicht
B. Referate. Anthropologie.
15
von 1250—1550 gr auf, 91°/0 aller erwachsenen Weiber ein solches von
1100—1450 gr. Ungefähr die Hälfte der Männer hatte ein Gewicht
von 1300—1450, ungefähr 30°/0 ein solches über 1450 und 20°/0 ein
solches unter 1300 gr; entsprechend 55 °/0 der Weiber ein Hirngewicht
von 1200—1350 gr, 20°/0 ein solches über 1350 und 25°/0 ein solches
unter 1200 gr. Die obere Grenze für ein normales männliches Gehirn
veranschlagt Yerf. auf höchstens 1700 gr, für ein weibliches auf 1550 gr,
die untere für ersteres auf 1100, für letzteres auf 1050 gr.
Bezüglich des Yerhaltens von Hirngewicht zur Körpergrösse gelangt
Yerf. zu einem etwas anderen Ergebnis, als frühere Beobachter. In der
Kindheit erfolgt die Zunahme des mittleren Hirngewichtes zwar entsprechend
dem Körperwachstum bis zu einer Körperlänge von ungefähr 70 cm, und
zwar unabhängig von Lebensalter und Geschlecht. Yon da ab ist sie aber
unregelmässiger, beim weiblichen Organismus geringer, als beim männlichen.
Beim Erwachsenen lässt sich ein bestimmtes Verhältnis zwischen Hirnge-
wicht und Körperlänge nicht feststellen; das einzige, was für eine gewisse
Abhängigkeit des Hirngewichtes von der Körpergrösse sprechen könnte, wäre,
dass das mittlere Hirngewicht bei den Individuen (beiderlei Geschlechtes)
unter Mittelgrösse etwas niedriger ist, als das bei normal grossen Personen.
Es sind dieses wahrscheinlich zum Teil Individuen, die von Geburt an
sclrwächlich, vielleicht auch zu früh geboren sind. Jedoch stellt es Yerf.
nicht als unmöglich hin, dass bei der Vergleichung einzelner Rassen oder
selbst Nationen ein gewisser Parallelismus zwischen durchschnittlicher Körper-
grösse und Hirngewicht bestehen mag. — Das geringere Gewicht des Weiblichen
Gehirns ist nicht oder wenigstens nicht allein von der geringeren Körper-
lage des Weibes abhängig, denn das mittlere Hirngewicht der Weiber ist
°hne Ausnahme niedriger als das des Mannes von gleicher Statur.
In der Einleitung betont Yerf. die Schwierigkeiten, die sich bei der
vorliegenden Studie ergeben, im besonderen die Fehlerquellen, die aus der
Todesursache resultieren können. .Dr. Buschan-Stettin.
12. H. ten Kate: Die Pigmentflecken der Neugeborenen. Globus
1902. Bd. LXXXI, Nr. 15.
Verf. stellt seine eigenen Beobachtungen und die Notizen aus der
Tdtteratur über Vorkommen und Art des Auftretens der Pigmentflecken bei
-Neugeborenen zusammen. Er hat sie bei Hawaiiern nachgewiesen. Bei
dmen sollen nach Aussage der Eingeborenen die Pigmentflecken fast aus-
uahmslos den Kindern zukommen; es sollen zwei Arten bestehen: „he ila“,
schwarzblau, nach dem Glauben der Hawaiier durch Genuss der popölo
(Solanum nodiflorum)-Früchte entstanden; die andere Art, ohia, soll rot sein
'Wle *Tie Früchte des Ohiabaumes (Metrosideros polymorpha) (vielleicht irgend
Une Pigmentanomalie). Aus der Litterator wird erwähnt, dass Japaner,
16
B. Referate. Anthropologie.
Chinesen, Koreaner, Tenggeresen Javas, chinesisch-siamesische Mischlinge
(89°/0 Kinder unter 1 Jahre), einzelne Völker der Philippinen, auch Negritos(!),
weiter Kinder auf Madagaskar und endlich Eskimo diese Flecke besitzen;
auch an zwei Indianerkindern seien die Flecken konstatiert. Bezüglich des
Ortes, den die Flecken auszeichnen, wird neben Steiss-, Sacrolumbal- und
Hinterbackengegend auch ein Vorkommen an ganz verschiedenen Stellen
erwähnt, Schultern, Fussgelenk, Arm, Rücken. Mischlinge halbeuropäischer
Abkunft weisen die Flecke meistens auf. Sie verschwinden meist in den
ersten Lebensjahren, können aber bisweilen sehr lange, ja dauernd bestehen
bleiben. Dr. E. Fischer-Freiburg i. B.
13. J. H. F. Kohlbrugge: Schädelmaasse bei Affen und Halb-
affen. Zeitschr. f. Morphol. und Anthropol. 1902. Bd. IV,
S. 318—344.
Verf. liefert einen sehr wichtigen Beitrag für vergleichende Primaten-
forschung. Er untersucht an reichem und absolut einwandfreiem Material
von Affen- und Halbaffenschädel die Länge (nach Schwalbe, also ohne „Vor-
bau“), Breite und Höhe. Die Messungen erstrecken sich auf Hylobates
(versch. Spez.), mehrere Katarrhinen (darunter z. B. mehr als 250 Makak),
dann Cebus niger, endlich verschiedene Lemuren und Tarsius. Von dem
reichen, in Tabellen niedergelegten Baumateriale für künftige Arbeiten sei
nur erwähnt, dass die Hylobatiden und alle Katarrhinen brachycephal sind
(Index 80—83), nur Macacus nemestrinus hyperbrachycephal. Der unter-
suchte Platyrhine ist dolichocephal, die Halbaffen teils meso-, teils doli-
chocephal; Tarsius hat einen Index von nahezu 100! — Neben den Tabellen
mit den absoluten und Indexwerten giebt Verf. solche mit den Mittelwerten
der einzelnen Spezies, dann solche mit der Verteilung der Indices nach
Geschlecht und Alter, sodass für die untersuchten Spezies hier eine erste,
zwar kleine aber dauernde Grundlage geschaffen ist.
Dr. Eugen Fischer-Freiburg i. B.
14. Eugene S. Talbot: Irregularities of the teeth and their
treatment. 4. Edition. Philadelphia, F. A. Davis Comp.,
1901. — 546 Seiten.
Wenngleich das vorliegende Werk in erster Linie für den praktischen
Zahnarzt geschrieben ist, so finden sich doch in ihm eine ganze Reihe
Kapitel, die auch den Anthropologen interessieren dürften, wie Einfluss der
Vererbung, der intrauterinen Bedingungen, der Konsanguinität, Früh- und
Spätheirat, Umgebung, des Klimas, Bodens und der Nahrung, Rasse u. a.
Faktoren mehr auf die Gestaltung des Gebisses. Wie alle anderen Arbeiten
des Verfassers zeigt auch die vorliegende wieder seine grosse Belesenheit
und seinen grossen Fleiss; freilich lässt sich über manche Punkte auch
B. Referate. Anthropologie.
17
anderer Ansicht sein. — Von ganz besonderem Werte sind die 333, im
Text beigegebenen Abbildungen, die Unregelmässigkeiten in der Zahn- und
Kieferbildung zur Darstellung bringen und von dem überaus reichen Material,
das dem Yerf. zur Verfügung steht, Vorstellung geben können. Beigefügt
sind dem Werke noch 33 Tabellen, die die Oberkiefer- und Gaumenmasse
eines ungeheuren Materials — genommen an über 11000 modernen und
vorgeschichtlichen Schädeln aller möglichen Rassen, über 8 000 normalen
Lebenden, nahezu 2 000 Verbrechern und 1 300 Geisteskranken amerikanischer
Anstalten, ferner 514 Alkoholikern, 107 Blinden und 1 935 Taubstummen
Amerikas, sowie an über 16000 Geisteskranken und Verbrechern europäischer
Anstalten (Athen, Konstantinopel, Wien, Moskau, Stockholm, Hamburg,
Amsterdam, Paris, Grossbritannien) — im Minimum, Maximum und Durch-
schnitt wiedergeben, sowie 36 Tafeln mit je 6 Zeichnungen, welche Längs-
und Querkurven am, harten Gaumen veranschaulichen.
Dr. Buschan-Stettin.
15. M. Sugär: Betrachtungen über das Gehirn Desider Szilägyis
(Ungar.). Orvosi Hetilap. 1902, Nr. 1 u. 2%
Das ausgesprochen makrogyrische Gehirn des ungarischen Staats-
mannes und Redners Desider Szilagyi wog 1380 gr. Ganz besonders ent-
wickelt zeigte sich der Frontallappen, namentlich der dem Sprachcentrum
entsprechende Teil der linken unteren Frontalwindung; ihre Breite belief
sich auf 37 mm (im Durchschnittsmaass nur 23 mm). Ein ähnliches,
wenn auch weniger ausgesprochenes Uberwiegen wies die Entwicklung bei
allen Frontalwindungen auf. Während an den übrigen Teilen keine auf-
fallende Entwicklung bemerkbar war, fiel nur eine mächtige Entwicklung
der motorischen Centralwindungen auf, was seine Erklärung in der That-
sache finden dürfte, dass Szilagyi eine mächtige Gestalt besass und ein auf
dem Gebiete sämtlicher Sportzweige geübter Athlet gewesen ist. (Nach
Neurolog. Centralbl. XXI, S. 398.) Br. Buschan-Stettin.
16. Hinrichsen: Beitrag zur Frage der inneren Degenerations-
zeichen. Correspondenzblatt für Schweizer Ärzte, 1902.
Bd. XXXII, S. 603.
Die normale Länge des Processus vermiformis beträgt nach Berry
8,3 cm 8,6, 9 8,0). Verf. fand gelegentlich der Sektionen von 119
geistesgesunden Menschen eine durchschnittliche Länge von 8,0 cm (^ 8,0,
Q 8,0), dagegen stellte er für Geisteskranke im Asyl Wil eine grössere
Länge fest: bei 85 Fällen von Dementia senilis betrug die Länge des Wurm-
fortsatzes 8,2, bei 27 Fällen von Dementia congenita und Idiotie 10,3, bei
L8 Fällen von Dementia paralytica 9,7, bei 49 Fällen von fast durchweg
chronischen Psychosen 8 ,4 cm. Einen Proc. vermiformis von mehr als
Intern. Centralblatt für Anthropologie. 1903. 2
18
B. Referate. Anthropologie.
9,5 cm traf Yerf. an normalen Leichen in 26°/0, bei Dementia senilis in
28 °/0, bei den chronischen Psychosen in 3 8 °/0, bei Dementia congenita in
51°/0, bei Dementia paralytica endlich in 61 °/0 der Fälle an, umgekehrt
einen kurzen Processus von 2 bis höchstens 5 cm bei den Normalen 20 °/0,
der Dementia senilis in 17 °/0, den chronischen Psychosen in 20°/0, der
Dementia congenita in 12 °/0 und der Dementia paralytica in nur 5 °/0 der Fälle.
Dr. Buschan-Stettin.
17. Cesare Lombroso: Nuovi studii sul genio. I. Da Colombo
a Manzoni. Milano-Palermo 1902. 267 pp. (Biblioteca
Sandron di scienze e lettere N. 17.)
Die „neuen Studien“ bringen keine neue Theorien über den genialen
Menschen, sondern einzelne Monographien zur Stütze der Lehre vom Genie.
Yerf. hat hier die Untersuchungen, die er selbst, seine Schüler und Anhänger
in den letzten Jahren gemacht haben, gesammelt. Wir treffen auch einige
alte Bekannte, die L. schon in „Genio e degenerazione“ und in Uomo di
genio“ besprochen hat, und für deren Psychose er jetzt neue Beweise zu
erbringen versucht hat, so Cardano, Petrarca (Melancholie), Pascal (Paranoia),
Schopenhauer, Tolstoi (nach Mariani, s. Ref. im letzten Jahrgang des
Centralbl. S. 88), Yerlaine, der im Uomo di genio zu den Mattoiden ge-
zählt wird, Savonarola, Rousseau, Comte. Neu hinzugekommen sind auf
Grund der Untersuchungen der letzten Jahre: Columbus,*) der lange Zeit
von der Lombrososchen Lehre unberührt stand und jetzt paranoisch und
moralisch irrsinnig ist; Manzoni, der an psychischer Epilepsie, Phobie uud
Melancholie leidet und alle Zeichen genialischer Entartung an sich trägt;
der unzweifelhaft geisteskranke Swedenborg, der an hallucinatorischem Wahn-
sinn litt; F. D. Guerrazi, der Verfasser der gelehrten, gross angelegten,
leider zu wenig bekannten Satire „PAsino“, der Hemikranie, Epilepsie, und
auf deren Boden Anfälle von Melancholie, Grössen- und Verfolgungswahn
hatte; Goethe (hypochondrische Vorstellungen, Lebensüberdruss, Selbstmord-
neigung, Zwangsdichten, Alkoholmissbrauch, Sammeltrieb). Mehr kursorisch
werden behandelt Alexander der Grosse, Cambyses, die Mathematikerin
Gaetana Agnesi (Lösung der mathematischen Probleme im Traum, Frühreife,
im zwölften Lebensjahr hysteroepileptische Anfälle; Anaphrodisie); der offen-
kundig geisteskranke Strindberg (konstitutionelle Verstimmung; nach Hirsch,
Genie und Entartung, S. 236—41: Paranoia simplex); Richard Wagner,
der Frühreife, Fantasie, Egoismus, Erregbarkeit, Zoophilomanie, häufige
zwecklose Reisen, Kopfschmerzen, Absencen, epileptische Anfälle vor dem
Tode zeigte; Goldoni (Neurasthenie und Melancholie); der Chirurg Maisonneuve
*) vgl. Bastian, Der Mensch in der Geschichte, Bd. II, S. 530—32, wo
das Geistesleben des Columbus auch auf Genialität oder Wahnsinn geprüft wird.
B. Referate. Anthropologie. — Ethnologie.
19
(moralisches Irresein); Leopardi. Genauer auf die sehr interessanten Einzel-
heiten einzugehen, verbietet bei der grossen Litteratur für und wider
Lombroso der Raum. — Missfällig macht sich übrigens die grosse Zahl
der Druckfehler, die selbst das Druckfehlerverzeichnis nicht verschonen,
bemerkbar. Dr. Laufer-Grafenberg-Düsseldorf.
ÎI. Ethnologie.
A. Allgemeines.
18. N. Vaschide et H. Piéron: Le rêve prophétique dans les
croyances et les traditions des peuples sauvages. Bull.
et Mém. de la Soc. d’anthropol. de Paris, 1901. N. S.
Tome II, S. 195—206.
19. Dieselben: Contribution à la séméiologie du rêve. Ebendas.
S. 293—300.
Die erste Arbeit bringt wenige Thatsachen und wenige Gesichtspunkte,
die nicht schon in allen neueren Behandlungen des Traumes von Rade-
stock bis Sante de Sanctis zur Genüge erörtert worden wären. Neu
sind die Gedanken über die Entstehung des Glaubens der Völker an den
prophetischen Wert der Träume. Das eine Motiv soll sein die Erkenntnis,
dass das Traumleben weit höher stehe als das Wachleben, insofern in ersterem
das Nahrungsbedürfnis und die Ermüdung aufgehoben sei, und auf diese
Weise die Seele den Göttern ähnlich werde und mit ihnen in Rapport trete;
das zweite liegt im Glauben an die Endlichkeit alles Seins, die der primitive
Mensch aus der ganzen Natur abstrahiert; alles im Leben hat ein Ende,
aber das Leben des Traumes ist ohne Ende, dieses Ende muss also in
einem andern Leben liegen, Aveist mithin auf die Zukunft. Bezüglich der
Bedürfnislosigkeit an Nahrung hat bereits Lejeune in der Diskussion darauf
hingewiesen, dass sich bei einer Reihe von Völkern die Götter und Seelen
der Verstorbenen von Speisen nähren wie die Menschen der Erde; Avir
Avollen hinzufügen, dass auch Traumillusionen im Gebiet der Geschmacks-
empfindung Vorkommen, Avie in der Litteratur durch Rechner und Spitta
belegt ist. Hinsichtlich des Mangels der Ermüdung sei an die nach Tis sie
zitierten Beispiele Sante de Sanctis’ erinnert, in denen nach der Traum-
illusion eines angestrengten Marsches Avirkliche Müdigkeit folgte. Der zAveite
Grund scheint io der Umkehrung der bisher gültigen und auch kurz zuvor
von den Verf. angegebenen Anschauung zu bestehen; denn der Glaube an
das jenseitige Leben, so nimmt man an, ist eine sekundäre Vorstellung,
die erst auf die Vorstellung von der träumenden, vom Körper losgelösten
Seele folgt und durch dieselbe hervorgerufen ist. -— Die ZAveite Darstellung
bat hervorragenden kasuistischen Wert für die oft genannten semiologischen
2'
20
B. Referate. Ethnologie.
Träume. In 13 Beobachtungen wurden eine bevorstehende Krankheit durch
Träume kundgethan. Die Träume wiesen auf den Sitz der körperlichen
Krankheit durch die illusionär gedeuteten Organempfindungen hin. Folgende
Erkrankungen kündeten auf diese Art ihre Inkubation an: Meningitis, zwei-
mal Angina, eitrige Otitis, hohes Fieber (ohne sichere Diagnose), typhoides
Fieber, akute Bronchitis, Synkope, hartnäckige Obstipation, Croup, Erfrierung,
schwere Dyspepsie, Orchitis. Der diagnostische Wert solcher Träume für
den Arzt kann trotz gegenteiliger Angabe der Verf. nur gering geachtet
werden; hingegen sind sie psychologisch ausserordentlich wertvoll.
Dr. Laufer-Grafenberg-Düsseldorf.
20. Aug. Loewenstimm: Eid und Zeugnispflicht nach den An-
sichten des Volkes. Archiv für Kriminal-Anthropologie und
Kriminalistik, 1901. Bd. VII, S. 191—212.
Bringt wertvolle Mitteilungen über das russische Rechtsleben in Bezug
auf Eid und Zeugnispflicht, indem Verfasser die verschiedenen Bräuche in
Bezug auf diese bei den verschiedenen Völkern Russlands (besonders bei
den Kaukasusvölkern) einer eingehenden Betrachtung und Zusammenstellung
unterzieht und so treffliche Beiträge und Vermehrungen zu den grossen
Arbeiten Posts und Steinmetz’ liefert. Gleichzeitig knüpft Verf. Folgerungen
daran, wie das russische Recht diesbezüglich zu ändern wäre, um allen
Völkerschaften in Bezug auf ifire Bräuche einigermassen gerecht zu werden.
Der Aufsatz ist sonst hauptsächlich Materialiensammlung.
E. K. Blüniml- Wien.
21. Havelock Ellis: Geschlechtstrieb und Schamgefühl. Äutoris.
deutsche Übersetzung v. Julia E. Koetscher unter Redaktion
v. Dr. Max Koetscher. 2. unveränderte Auflage. Würzburg,
A. Stübers Verlag, 1901. 364 Seiten.
Der vorliegende Band enthält drei Beiträge zu einer Analyse des
geschlechtlichen Instinktes aus der Feder des durch verschiedene andere
Arbeiten über die Geschlechtsverhältnisse genügend bekannten englischen
Psychiaters.
In der 1. Studie (S. 1 — 73) beschäftigt sich Verf. mit der Entwicklung
des Schamgefühls. Schamgefühl definiert er als instinktive Furcht, die zur
Verheimlichung, zum Verbergen treibt. Zwar ist diese beiden Geschlechtern
eigen, indessen tritt sie beim Weibe viel stärker in Erscheinung als beim
Manne, sodass man das Schamgefühl als eins der wichtigsten sekundären
Geschlechtscharaktere des Weibes auf psychischem Gebiete ansehen kann.
Wie an zahlreichen Beispielen gezeigt wird, ist das Schamgefühl eines
der ursprünglichsten Gefühle. Es setzt sich zwar aus einer Anhäufung von
Furchtgefühlen zusammen, hauptsächlich aber machen es zwei deutliche und
B. Referate. Ethnologie.
21
wichtige Furchtgefühle aus: das eine ist noch vormenschlichen Ursprunges
und geht nur vom weiblichen Wesen aus (geschlechtliche Verweigerung),
das andere dagegen ist ausgesprochen menschlichen Charakters und eher
socialen, als sexuellen Ursprunges (Neigung zu Abscheu, Ekel). — Das
sexuelle Schamgefühl des Weibchens ist auf die Sexualperiodicität des
weiblichen Geschlechtes überhaupt zurückzuführen. Es ist der unwillkürliche
Ausdruck der organischen Thatsache, dass augenblicklich nicht die Zeit zum
Lieben ist. Es ist daher das unvermeidliche Nebenprodukt der natürlichen
agressiven Handlungen des männlichen Wesens in geschlechtlicher Hinsicht
und der natürlichen abweisenden Haltung des Weibchens. Dieses Abwehr-
gefühl wird so zur Gewohnheit, dass es sich auch zu Zeiten äussert, wo es
aufhört angebracht zu sein. — Dieser „animalische“ Faktor des Scham-
gefühls erklärt aber nicht alle Erscheinungsformen desselben, so z. B. nicht
Schmuck und Kleidung und noch weniger das Schamgefühl des Mannes.
Verf. geht hierbei auf den Ekel zurück, eine der ursprünglichsten und allge-
meinsten socialen Eigenschaften der Menschheit. Mit Recht nimmt er an,
dass das Gefährliche und Nutzlose beim Menschen Abscheu errege und dass,
da die Verdauungs- und Geschlechtsausscheidungen in diese Kategorie fallen,
die genito-anale Gegend zum Mittelpunkt des Ekels wurde; der Mensch
wollte nicht Abscheu und Ekel erregen. Die sociale Furcht, Widerwillen
hervorzurufen, verbunden mit dem animalischen Faktor der geschlechtlichen
Verweigerung, erscheint ihm demnach als das Grundelement des Scham-
gefühls. Als weiteres Moment des Schamgefühls kommt dann das rituelle
Element hinzu, besonders die Idee der ceremoniellen Unreinheit. — Von
der Kleidung ist das Schamgefühl ursprünglich vollkommen unabhängig,
denn die primitiven Faktoren desselben entwickelten sich schon lange vor
der Einführung der Kleidung und des Schmuckes. Verf. verfolgt die weitere
Entwicklung des Schamgefühls mit der Zunahme der Civilisation, infolge
deren noch andere Momente hinzutreten und die Auffassung des Scham-
gefühls selbst mancherlei Veränderungen erfährt. Wenngleich wir mit seinen
Darlegungen nicht immer uns einverstanden erklären können, so müssen wir
doch zugeben, dass dieselben geistreich und anregend geschrieben sind.
Der zweite Abschnitt (S. 77 — 160) ist dem „Phänomen der Sexual-
Periodizität“ gewidmet. Unter Würdigung zahlreicher Beobachtungen be-
schäftigt sich Verf. zunächst mit den Erscheinungen der Menstruation bei
Tieren und Menschen, ihr Verhältnis zur Ovulation und Brunst, sowie ver-
schiedenen anderen das gleiche Gebiet streifenden Fragen. Er prüft sodann
die Frage nach dem Vorhandensein einer menstruellen Periodizität beim
männlichen Geschlecht; dass eine solche als absolut sicher anzunehmen ist,
will er nicht behaupten, hält sie aber auf Grund genügender Beobachtungen
für sehr wahrscheinlich. Schliesslich kommt Verf. auf die jährliche Sexual-
Periode bei Tieren und Menschen zu sprechen, im besonderen auf die Tendenz
22
B. Referate. Ethnologie.
einer periodischen Steigerung des Geschlechtstriebes im Frühjahr und Herbst
(grosse Feste, vor allem solche erotischen Charakters), ihren Einfluss auf
die Empfängnisziffer, sowie auf die Zunahme der geschlechtlichen Vergehen,
wie der Verbrechen überhaupt, das stärkere Auftreten von Irrsinn, Selbst-
mord u. a. m. zu bestimmten Jahreszeiten.
Der dritte Abschnitt (S. 163—291) ist zwrar mehr medizinischen
Charakters, bringt aber auch mancherlei Abschweifungen auf das ethnologische
und kulturgeschichtliche Gebiet. Es behandelt den Auto-Erotismus, im be-
sonderen die Masturbation. j>. Buschan-Stettin.
B. Specielles.
22. J. Roscoe: Further notes on the manners and customs of
the Baganda. Journal of the Anthropological Institute of
Great Britain and Ireland, 1902. Vol. XXXII, S. 25.
Diese Arbeit ist eine weitere Ausführung von kurzen Notizen über
die Waganda, die der Verf. in einem früheren Jahrgang derselben Zeitschrift
gegeben hat, und bildet eine wertvolle Ergänzung und Erweiterung der Mit-
teilungen, die bereits Felkin, Ashe, Mackay u. a. über Uganda geliefert
haben. Es sind auch diesmal, wie der Titel besagt, nur einzelne Stücke
aus der Ethnographie von Uganda, keine zusammenhängende Darstellung
derselben, aber einige Abschnitte sind so ausführlich und behandeln ihren
Gegenstand bis in die feinsten Einzelheiten, dass man sie wohl als erschöpfend
bezeichnen kann. Ich erwähne z. B. die Kapitel, die über Geburt, Namen-
gebung, Adoption und der dabei geübten Bräuche, insbesondere über die
äusserst merkwürdigen und umständlichen Ceremonien bei Zwillingsgeburten
handeln, ferner die Abschnitte über Heirat, Krankheit und Tod, Bestattung
und Totentrauer, die sämtlich vieles bisher noch nicht bekannte Material
beibringen. Viel neues enthalten auch die Angaben über die gesellschaftliche
Organisation des Volkes und die Verfassung und Regierung des Staates;
die Waganda sind, wie so viele Völker auf ähnlicher Kulturstufe, in Clans
geteilt, die die gleichen charakteristischen Eigentümlichkeiten wie anderswo
aufweisen, Exogamie, Totemismus u. s. w. Die Religion ist, wie in einem
ausgebildeten Staatswesen selbstverständlich, ziemlich entwickelt; der Verf.
zählt 14 verschiedene Gottheiten auf, die ihre eigene Priesterschaft haben;
doch ist die animistische Grundlage noch deutlich erkennbar und auch im
Bewusstsein des Volkes noch nicht verwischt. Nicht weniger wichtig und
inhaltreich als die wenigen hier hervorgehobenen, sind die weiteren Kapitel
über Kleidung und Schmuck, Ackerbau, Viehzucht, Fischfang und Jagd,
Kriegführung, Spiele, Grussformen, Märkte, Geld u. s. w. Ich erwähne hier
nur noch die meines Wissens ganz neue Angabe, dass vor Einführung der
Kauris runde Steine als Geld gedient haben. Wenn der Verf., wie er es
B. Referate. Ethnologie.
23
zum Schluss in Aussicht stellt, eine Fortsetzung seiner Abhandlung liefert,
die die noch vorhandenen Lücken in gleich vortrefflicher Weise ausfüllt,
so dürfen wir erwarten, von ihm eine Monographie der Waganda zu er-
halten, wie wir sie bisher nur von wenigen afrikanischen Stämmen besitzen.
Dr. B. Ankermann-Berlin.
23. C. W. Hobley; Eastern Uganda: an ethnological survey.
Published by the Anthropological Institute of Great Britain
and Ireland. Occasional Papers, No. 1. London 1902.
Der Titel der Arbeit ist einigermassen irreführend, da es sich in der-
selben nicht, wie man zunächst glauben muss, um das eigentliche Uganda,
sondern um den östlichsten Teil des vielumfassenderen britischen Uganda-
Protektorats handelt, nämlich um das an der Nordostecke des Nyanca ge-
legene und von Uganda durch die Landschaft Usroga getrennte Kavirondo.
Diese Landschaft ist ethnographisch äusserst interessant, weil sie eine Völker-
seheide bildet: mitten in Bantu-Stämme eingesprengt, sitzen hier dicht am
See die südlichsten Ausläufer der idiotischen Völkergruppe, während sich
östlich und nördlich davon Hamiten ausgebreitet haben. Von diesen dürften
die Bantu wohl als die ältesten Bewohner des Landes anzusehen sein, die
andern dagegen als spätere Eindringlinge. Das durch diese Wanderungen
geschaffene komplizierte ethnographische Bild stellt der Verf. sehr klar dar.
Er unterscheidet 4 Gruppen der Bevölkerung: Bantu, Niloten (die sich
selbst Ja-Luo nennen), Nandi und Massai, von denen er die beiden letzten
als Ergebnis der Mischung von Niloten und Hamiten betrachtet, und zwar
so, dass die Nandi den ersteren, die Massai den letzteren näher stehen.
Die Bantustämme hält der Verf. aus verschiedenen, hauptsächlich sprachlichen
Gründen für Verwandte der Wanyamwesi und lässt sie vom Süden her in
ihre jetzigen Sitze eingewandert sein, während er sie von ihren nordwestlichen
Nachbarn, den Wassoga und Waganda, scharf trennt. Die Niloten, wie die
Nandi sind dagegen sicher von Norden hergekommen. Alle diese Fölker-
gruppen zerfallen in zahlreiche Stämme, die der Verf. mit ihren vielen
Unterabteilungen unter Angabe ihrer Wohnsitze und Nennung der Namen
ihrer Häuptlinge im 5. Kapitel sämtlich aufzählt. In den Kapiteln 2—4
werden ethnographische Mitteilungen über die Bantu, Niloten und Nandi
gemacht; die Massai, von denen die Abteilung der Guasangishu zerstreut
unter den andern Stämmen wohnt, und zwar in festen Wohnsitzen, werden
ihrer geringeren Bedeutung wegen weniger ausführlich besprochen; ebenso
die stammverwandten Wandorobbo, die als Jäger auf dem Mau-Plateau
umherwandern. Um so reichhaltiger sind die Angaben über die übrigen
Völker. Die Verschiedenheit derselben ist sicher früher grösser gewesen
als heute, doch haben sich trotz der ausgleichenden Wirkung des langen
24
B. Referate. Ethnologie.
Zusammenwohnens noch manche Unterschiede erhalten. Beschneidung wird
von einigen Bantustämmen, von allen Nandi, aber nicht von den Ja-Luo
geübt. Alle Stämme entfernen einige Schneidezähne im Unterkiefer und
differieren nur in der Zahl derselben (1—4; bei den Ja-Luo ist auf S. 31
infolge eines Versehens von 6 Schneidezähnen im Unterkiefer die Rede).
Narbentätowierung scheint nur bei Weibern vorzukommen, ebenso wie in
Uganda. Die Hütten, die überall den gleichen Stil zeigen, stehen bei den
Nandi einzeln, während sie bei Bantu und Niloten zu Dörfern vereinigt
sind. Was die Waffen betrifft, so sind Bogen und Keule, teilweise auch
die Schleuder, im Gebrauch, treten aber hinter Speer und Schild zurück;
daneben hat das Massai-Schwert allgemein Annahme gefunden. Auch die
Kleidung weist Unterschiede auf: bei den Bantu gehen die Männer und
unverheirateten Weiber nackt, die verheirateten tragen einen Schurz aus
Schnüren; bei den Ja-Luo sind beide Geschlechter vor der Heirat unbe-
kleidet, nach derselben tragen die Männer ein Stück Ziegenfell, die Frauen
einen Schwanz von Schnüren; bei den Nandi ist die Kleidung reichlicher:
Männer und Frauen haben Fellmäntel, die Mädchen einen Lederschurz, nur
die Jünglinge gehen nackt. Die beiden letzten Kapitel enthalten ein um-
fangreiches Wörterverzeichnis der Sprachen der Awa-Wanga als Vertreter
der Bantu, der nilotischen Ja-Luo und der Nandi, sowie kleinere Vokabularien
einiger anderer Stämme. Ausser einer Anzahl von Textabbildungen sind
der vortrefflichen Arbeit fünf Tafeln in Lichtdruck mit Typen der Einge-
borenen, sowie eine ethnographische Karte von Kavirondo beigegeben.
Dr. B. Ankermann-Berlin.
24. A. Hetherwick: Some animistic beliefs among the Yaos
of British Central Africa. Journ. of the Anthrop. Institute
of Great Britain and Ireland, 1902. Vol. XXXII, S. 89.
Verf., der als Missionar unter den Wayao wirkt und als solcher Ein-
blick in ihre religiösen Vorstellungen erhalten hat, giebt eine kurze Dar-
stellung derselben, die im wesentlichen auf allbekannten animistischen
Grundanschauungen beruhen. Die Seele (lisoka) wird mit einem Schatten
verglichen, auch bildliche Darstellungen einer Person, z. B. Photographien,
werden als „masoka“ bezeichnet. Träume werden durch Umherwandern der
Seele verursacht, Wahnsinn gilt als Besessenheit durch Geister. Dagegen
scheint im Gegensatz zu den benachbarten Angoni und Atschewa der
eigentliche Fetischismus zu fehlen. Während lisoka die Seele im allgemeinen
bedeutet, wird die Seele eines Verstorbenen als Mulungu bezeichnet. Das-
selbe Wort wird aber auch für die Gesamtheit der Geister der Verstorbenen
gebraucht und beginnt anscheinend in den Begriff einer obersten Gottheit
überzugehen, die alle lebenden Wesen geschaffen hat. Nicht ausgeschlossen
B. Referate. Ethnologie.
25
dürfte es freilich sein, dass hier bereits Missionseinfluss vorliegt. Jedenfalls
eröffnen die Aufzeichnungen des Yerf. einen Blick in eine interessante
Entwicklungsphase der religiösen Ideen der Wayao.
Dr. B. Ankermann-Berlin.
25. H. B. Johnstone: Notes on the customs of the tribes occu-
pying Mombasa Sub-District, British East Africa. Journal
of the Anthrop. Institute of Great Britain and Ireland, 1902.
Vol. XXXII, S. 263.
Den Mombasa-Bezirk bewohnen sieben Stämme, die Waduruma, Wadigo,
Wakamba, Warabai, Wakambe, Wajibana und Waribe, von denen die vier
ersten die bedeutendsten sind. Die Wakamba sind von Norden eingewandert,
die Wakambe wollen von Taita, östlich des Kilimandscharo, hergekommen
sein und die Waduruma sollen von Makua abstammen, die in portugiesischer
Zeit als Soldaten ins Land gekommen sind. Die übrigen Stämme sind von
alters her hier ansässig. Die Beobachtungen des Yerf. beziehen sich haupt-
sächlich auf die Warabai und die ihnen ähnlichen Waribe, während die
andern Yölkerschaften weniger berücksichtigt sind. Es sind nur vereinzelte
Notizen, die sich aber auf fast alle Gebiete des Lebens der Eingeborenen
beziehen und z. T. von grossem Interesse sind. Dr. B. Ankermann-Berlin.
26. H. Balfour: The Goura, a stringed-wind musical instrument
of the Bushmen and Hottentots. Witli Plates XII—XIV.
Journal of the Anthropological Institute of Great Britain
and Ireland, 1902. Vol. XXXII, S. 156.
Verfasser, der vor einigen Jahren bereits den Bogen als Musik-
instrument zum Gegenstand seiner Studien gemacht hat (s. Centralb. f.
Anthropol. VI, S. 264), untersucht hier das Verhältnis der Goura oder Gorra,
jenes merkwürdigen Saiteninstruments der Buschmänner und Hottentotten,
zum Musikbogen. An der Hand der meist im Wortlaut angeführten Berichte
von 15 Beobachtern von dem alten Peter Kolbe an bis auf die neueste Zeit
stellt er zunächst alles zusammen, was über Bau, Verbreitung und Spiel-
weise der Gorra bekannt ist. Sodann macht er auf den principiellen Unter-
schied zwischen Gorra und Musikbogen aufmerksam, der darin besteht, dass
der Ton bei ersterer durch Anblasen, bei letzterem durch Schlagen oder
Anreissen der Saite erzeugt wird. Ebenso falsch ist, wie Balfour mit Recht
betont, die von den meisten Autoren gebrauchte Bezeichnung der Gorra als
Maultrommel. Der Yerf. weist nun darauf hin, dass sich in Ost- und Süd-
asien Bogeninstrumente finden, die ganz ähnlich konstruiert sind wie die
Gorra, mit breiter Saite, z. T. sogar unter Verwendung einer Federspule,
und auch in analoger Weise zum Tönen gebracht werden, freilich nicht durch
den menschlichen Atem, sondern indem man sie an einem Papierdrachen
befestigt und mit diesem aufsteigen lässt. Der Unterschied besteht also
nur darin, dass man bei der Gorra einen Luftstrom gegen die Saite treibt,
während hier das Instrument durch den aufsteigenden Drachen gegen die
ruhende Luft geführt wird. Der Yerf. scheint geneigt, einen genetischen
Zusammenhang zwischen der Gorra und den asiatischen Äolsharfen anzu-
nehmen. Zum Schluss lenkt er noch die Aufmerksamkeit auf die inter-
essante, wenngleich nur zufällige Analogie, die zwischen den besprochenen
Instrumenten und dem Schwirrholz besteht, das gleichfalls zum Tönen ge-
bracht wird, indem man es rasch durch die Luft schwingt. Die Stellung
der Gorra im System der Saiteninstrumente erscheint durch diese Aus-
führungen hinreichend geklärt, während ihre Geschichte noch dunkel bleibt.
Dr. B. Ankermann-Berlin.
27. E. Schiller: Japanische Geschenksitten. Mitteil. d. deutsch.
Gesellsch. f. Natur- u. Völkerk. Ostasiens, 1902. Bd. VIII,
Teil 3, S. 256—297.
Yerf. hat den wichtigen Zweig des sehr entwickelten japanischen
Höflichkeitszeremoniells — „das Wann, Was und Wie der japanischen
Geschenksitte“ — zum Gegenstand gründlicher Studien gemacht. Nachdem
er die japanische Litteratur, welche über diesen Gegenstand orientiert, er-
wähnt hat, werden die vielen speziellen Namen für verschiedene Arten von
Geschenken aufgezählt; dann giebt er eine Beschreibung der überaus zahl-
reichen Anlässe zum Schenken.
Das ganze Jahr hindurch, in jedem Monat, an bestimmten Tagen
Avird geschenkt. Die Geschenke beziehen sich sowohl auf die Feste, als
auch auf die Jahreszeiten, das Klima, die Ernte und die Zeichen des Zodiakus,
die im japanischen Volksglauben eine wichtige Rolle spielen. Viele Ge-
schenke haben auch eine symbolische Bedeutung. Sie bestehen meistens
in Esswaren, Kleidern, Schmucksachen, Geld, Blumen und Pflanzen, ferner
in zahlreichen Gegenständen der verschiedensten Art.
Obgleich viele Geschenke chinesischen Ursprungs sind, deutet manches
auf viel ältere shiatoistische und animistische Begriffe. Ausser gelegentlich
des Jahrescyklus schenkt man noch bei fröhlichen Eamilienereignissen, Avie
Hochzeitsfeier, ScliAvangerschaft, Geburt u. s. av. Fernerhin giebt man Trauer-
geschenke, Reisegeschenke, Geschenke, Avenn man ein neues Haus bezieht,
Geschenke an Kranke und eine endlose Reihe anderer Geschenke bei den
verschiedensten Anlässen. Dieselben alle hier aufzuzählen ist unthunlich.
Das Mitgeteilte zeigt schon genügend, „wie das ganze Leben des Japaners
von der Wiege bis'zum Grabe bei kleinen und grossen Anlässen von Geschenk-
sitten umrahmt ist“.
Eine Anzahl Tafeln mit guten Abbildungen erläutert den Text.
Obgleich Alt-Japan offiziell und nichtoffiziell schon längst tot erklärt
B. Referate. Ethnologie.
27
ist, genügt die Lektüre der Schillersclien, auf gründlichen Kenntnissen be-
ruhenden Arbeit, um uns zu überzeugen, wie grundfalsch und thöricht der-
artige Machtaussprüche sind. Wir haben das Zutrauen, dass die Fortsetzung
seiner Studie, welche Yerf. in Aussicht stellt, ebenso reichhaltig und lehr-
reich ausfallen wird, wie die vorliegende. J)r. H. ten Kate, z. Z. Batavia.
28. Georg Perthes-. Über den künstlich missgestalteten Fuss
der Chinesin im Hinblick auf die Entstehung der Belastungs-
deformitäten. Archiv f. kliu. Chirurgie, 1902. Bd. LVII,
Heft 3.
Die Veranlassung zu der vorliegenden Arbeit bot dem Yerf. die Ent-
scheidung der Frage nach der Genese der sogen. Belastungsdifformitäten.
Es standen sich hierüber bisher in der Hauptsache zwei Anschauungen
gegenüber: nach der einen spielt der Knochen eine wesentlich passive Rolle,
er giebt der auf ihn einwirkenden Druck- oder Zugkraft passiv infolge seiner
Plastizität nach; nach der andern transformiert eine veränderte Inanspruch-
nahme den Knochen in seinem inneren Rau und in seiner äusseren Gestalt
nicht etwa dadurch, dass der Druck selbst direkt ihn modelliert, sondern
vielmehr durch die Wirkung des trophischen Reizes der Funktion. Die
Sitte der Fussverunstaltung bei den Chinesinnen nun bietet eine Stütze für
die zweite Möglichkeit.
Während eines 8-monatlichen Aufenthaltes in Peking als Arzt eines
Feldlazaretts fand Yerf. Gelegenheit, an 11 chinesischen Mädchen von
14—20 Jahren und einer Frau von 40 Jahren 3 Gypsabgüsse, 3 Photo-
graphien, 5 Röntgenbilder und 6 Russabdrücke der verkrüppelten Fiisse
aufzunehmen. Diese Betrachtungen (13 Abbildungen), sowie seine sonstigen
Ermittlungen über die Methode und das Resultat der Bandagierung, schliesslich
auch die Zusammenstellung und Berücksichtigung der einschlägigen Litteratur
lassen die Arbeit auch für den Ethnologen wertvoll erscheinen. — Be-
züglich der von ihm am Eingänge aufgeworfenen Frage kommt Yerf. zu
folgendem Resultat: Wir haben zwei Arten von Vorgängen bei der Ent-
vvdcklung des chinesischen Frauenfusses zu unterscheiden, auf der einen Seite
passive Formenveränderung, die der während seiner Wachstumsperiode und
■wahrscheinlich noch darüber hinaus plastische Knochen unter der abnormen
Belastung erfährt, und auf der andern reaktive Vorgänge der funktionellen
Anpassung. Dr. Buschan-Stettin.
29. W. Laurence H. Duckworth: Some anihropological results
of the Skeat expedition to the malay peninsula. Witli
plate X. Journal of the Antliropological Institute, 1902.
Vol. XXXII, S. 142—152.
Es handelt sich hier um ein Skelett und einige wenige Messungen
an lebenden Individuen des Pangan-Sakai-Stammes. Zunächst wird die
28
B. Referate. Ethnologie.
Beschreibung des nicht ganz vollständigen und an den meisten seiner Knochen
periostitische Prozesse, wahrscheinlich syphilitischer Natur (das Yirchowsche
Citat ist nicht ganz korrekt angeführt) aufweisenden Skelettes eines (wegen
der Enge des angulus subpubicus) als männlich angesprochenen Erwachsenen
gegeben. Der asymmetrische, links abgeflachte Schädel mit sehr schwachen
Muskelleisten und Wülsten ist mesaticephal (Ind. 78,7), metriocephal,
mesognath, chamäprosop, mikrosem, platyrrhin und mesocephal (Capac.
1425 ccm). Die fast kreisförmige Rundung der Norma occipit. und die
Kürze des Unterkieferastes werden als infantile Retentionen gedeutet, die
subnasale Prognathie mit derjenigen der afrikan. Neger verglichen. Der
Gesichtsschädel zeigt manche verwandte Züge mit Schädeln aus Sumatra,
Java und Borneo. Bezüglich der übrigen Skelettknochen, die, abgesehen
von den patholog. Yeränderungen, auf ein kleines (ungefähr 1497 mm
grosses), graziles und schwächliches Individuum deuten, werden Yergleiche
mit Buschmann- und andern Zwergskeletten angestellt, unter Heranziehung
von Turners Beschreibung eines Sakai-Skelettes. Als Schlussergebnis resultiert
bedeutende Variabilität der skelettalen und kranialen Morphologie bei den
kleinen Aboriignern der malayischen Halbinsel.
Die Messungen an Lebenden umfassen 5 erwachsene Männer, 3 er-
wachsene Frauen, ein Mädchen zwischen 15 und 17, ein solches von 3 bis
4 Jahren, und einen Jungen von 14 Jahren. Die mittlere Körpergrösse
der erwachsenen Männer betrug 1491 mm, der L. B. Index des Kopfes
78,9. Das Grössenmittel der erwachsenen Frauen war 1408 mm, der Kopf-
index 81,1. Die meisten Individuen hatten dunkle (Topinard Nr. 3), zwei
jedoch eine hellere Haut. Das Haar war wollig oder wenigstens stark ge-
kräuselt, nur eine Frau (eine „orang Teku“, während alle andern orang
Pangan sind) besass schlichtes Haar. Diese war mit einem krausköpfigen
Panganmann verheiratet; ihr Kind, das 3—4jähr. Mädchen, hatte wiederum
schlichtes Haar. — Beigefügt ist dem Aufsatz eine Tafel mit Fussumriss-
zeichnungen. Hofrat Dr. B. Hagen-Frankfurt a. M.
30. Walter Rosenhain: Notes on Malay metal-work. Journal
of the Anthropological Institute of Great Britain and Ire-
land, 1901. Yol. XXXI, S. 161—166.
1. Die Anfertigung eines malayischen Kris.
R. giebt auf Grund der mikroskopischen Untersuchung der ihm über-
gebenen Proben und des Berichtes von Mr. W. W. Skeat, der von einem
malayischen Schmied einen Kris unter seinen Augen anfertigen liess, eine
hübsche Schilderung der Herstellung desselben und eine gute Erklärung
des Damaszierungsprozesses.
Das Erste ist die Anfertigung einer Anzahl kurzer Stangen von
Schmiedeeisen. Neun solcher Stangen von alternierender Dicke werden nach-
B. Referate. Ethnologie.
29
lässig zusammengeschweisst und zu einer langen Lamelle ausgehämmert. Die-
selbe wird dann in eng aneinanderliegende schlangen- oder besser mäander-
artige Windungen zusammengefaltet, derart, dass die einzelnen Krümmungen
alle in der Ebene der Schweissfugen liegen. Solcher eng geschlängelten
oder gefalteten Lamellen benötigt man zwei für jeden Kris. Nunmehr
werden drei Stücke Stahl, besi bäja, gewöhnlich von alten Werkzeugen her-
rührend, in eine diesen Lamellen ähnliche Gestalt, aber ohne die mäander-
artige Faltung gebracht; eines dieser drei Stücke ist beträchtlich dicker,
und dies bildet den Kern oder die Mittellage der Klinge. Zu beiden Seiten
desselben werden die Mäander- und auf diese die beiden dünneren Stahl-
lamellen aufgeschweisst, sodass die Klinge jetzt aus fünf der Länge nach
aufeinander geschweissten Lagen besteht. Zwei kleine, von den Mäander-
lamellen abgetrennte und hufeisenförmig gekrümmte Stücke werden schliesslich
nach dem breiten Ende derselben aufgeschweisst. Das Ganze wird hierauf
zu der verlangten Dicke und Breite zusammengehämmert, was mit einiger
Sorgfalt geschehen muss, da die Dimensionen des Kris von grosser gliick-
oder unglückbringender Bedeutung für den Besitzer sind.
Die bekannte wellenförmige Krümmung oder Schlängelung der Schneiden
wird durch separates Glühen und Aushämmern jeder einzelnen Krümmung
zu Stande gebracht, nur bei sehr engen Windungen mittels Feile und Schleif-
stein. Griffzunge und die beiden signifikanten Häkchen am hinteren Ende
des breiten Teils werden durch Einkerben und Aushämmern resp. Zurecht-
feilen hergestellt, der unserm Stichblatt entsprechende Teil wird separat
aufgesetzt und besteht aus einem vorher abgetrennten Teil der rohen Klinge,
euthält also ebenfalls abwechselnde Lagen von Stahl und Mäandereisen.
Um das bessere Herauskommen der Damaszierung zu befördern, erhält er
einige seitliche Einschnitte oder Zähnung. Das Härten geschieht durch ab-
wechselndes Glühen und Abkühlen in Wasser. Die Schneide wird mit
einer Feile roh heraus gearbeitet, ohne aber den mittleren Teil in Mitleiden-
schaft zu ziehen. Dies geschieht erst auf dem Schleifstein und danach
wird das ganze Blatt nochmals mit der Feile übergangen. Das Letzte ist
die Ätzung. Die Klinge wird in einen hölzernen Trog mit einer Mischung von
Schwefel, Salz und kochendem ReisAvasser gelegt und verbleibt 2 — 3 Tage
darin, bis die Damaszierung erscheint. Zum Schlüsse Avird die Klinge tüchtig
nilt Limonensaft abgerieben.
R. stellt folgende Yermutung auf: Der ganze Damaszierungsprozess
beruht auf dem durch das Mikroskop beAviesenen unvollkommenen und
Nachlässigen Zusammenschweissen der einzelnen Lagen des Mäandereisens,
das, wie man sich erinnert, zAvischen zwei Stahllamellen gelegt und Aveiss-
glühend mit diesen zusammengehämmert wird. Die Hammerschläge treiben
den in der Weissglühhitze weicheren und flüssigeren Stahl in die Poren
uml hugen des schlechtgeschAveissten Mäandereisens sowohl von oben wie
30
B. Referate. Ethnologie.
von unten hinein und legen so den Grund zur Damaszierung. Je schlechter
geschweisst, desto reicher die Damaszierung. Durch die späteren Prozesse
des Feilens und Schleifens werden dann die beiden äusseren dünnen Stahl-
lamellen hinweggearbeitet und was noch davon blieb, wird durch das Ein-
legen in die Ätzflüssigkeit vollends korrodiert, sodass die Damaszierung
klar und rein zum Vorschein kommt.
2. Werkzeug der malayischen Goldschmiede. Die malayischen Gold-
und Silberschrniede verarbeiten bekanntlich ein reineres und darum reicheres
Metall. Die interessantesten Geräte sind: 1. ein konisches Stück Hartholz
zum Herstellen von Gold- und Silberdrahtringen; 2. ein sehr leichter Hammer
aus der Spitze eines Ochsenhorns; 3. ein Satz Pfriemen und Meissei ver-
schiedenster Form aus Gong-Metall, dessen Analyse 70,8°/0 Kupfer und
29,2°/0 Zinn, also Hartbronze, ergab. Die Meissei sind nicht gehämmert,
sondern gegossen; 4. eine Formplatte aus reinem Zinn mit eingeprägten
Ornamenten zum Aushämmern von Golddraht oder -plättchen. Zinn ist
eine Ausnahme; die Formplatten werden sonst gewöhnlich aus einem Gemisch
von feinem Laterit- oder Limonitpulver mit kochendem Kokosöl hergestellt
und die Ornamente in die noch weiche Platte eingedrückt.
3. Gefässe aus Kupfer und Weissmetall. Das Weissmetall besteht
aus 95°/0 Zinn und 5°/0 Kupfer. Diese Gefässe werden ganz nach der
alten europäischen cera perduta-Methode gegossen und nachher auf der höchst
primitiven Drehbank abgedreht.
4. Gegossene Ketten ohne Naht. Der Guss dieser Ketten, welche
meist zum Beschweren der Wurfnetze dienen, liefert einen hohen Beweis
von metallurgischer Kunst sowohl wie von grossem Scharfsinn und Ge-
schicklichkeit. Trotzdem ist der Prozess so einfach, dass für gewöhnlich
sich die Frauen mit dem Guss solcher Ketten befassen, die in beliebiger
Länge hergestellt werden können. Der Guss geschieht in zwrei Abschnitten.
Wenn wir uns die Kette aus horizontalen und senkrechten Gliedern zu-
sammengesetzt denken, so werden zuerst die horizontalen paarweise gegossen
und im zweiten Teil die senkrechten in diese hinein. Da eine Beschreibung
des Processes ohne die erläuternden Abbildungen nur sclrwer verständlich
sein würde, so sehe ich von einer weiteren Besprechung ab.
Hof rat Dr. B. Hagen-Frankfurt a. M.
3i. A. H. Keane: Native American culture; iis independent
evolution. The International Monthly, 1902. Vol. V, Nr. 3.
S. 338—357.
Man wird nicht fehlgehen, wenn man annimmt, dass dieser Aufsatz
dem kürzlich erschienenen Werke von Zelia Nuttall „The Fundamental Prin-
ciples of Old and Newr World’s Civilizations“ seinen Ursprung verdankt.
Denn dieses Werk, geschrieben von einer langjährigen Forscherin auf mexi-
B. Referate. Ethnologie.
31
kanischem Gebiet, verficht allen Ernstes den Ursprung der amerikanischen
Kultur von derjenigen der alten Welt, die durch die alten Phönizier und
andere Völker nach Amerika herübergebracht sei. Dass es auf asiatischer
Seite ähnlich denkende Forscher noch heute giebt, die aber mehr auf künftige
Entdeckungen harren, als strenge aus dem vorliegenden Material ihre Meinung
zu erweisen suchen, ist bekannt. Es war also durchaus angebracht, jetzt
die verschiedenen Momente kurz durchzugehen, die hauptsächlich als Stütze
des altweltlichen Einflusses auf Amerika im Laufe der Zeit vorgebracht
worden sind. Namentlich ist es interessant, wie oberflächliche Ähnlich-
keiten teils durch den Nachweis der trotzdem vorhandenen Verschiedenheit
als Irrtümer dargestellt, teils durch die allgemein menschliche Gleichförmigkeit
in den fernsten Teilen der Welt erklärt werden. Trotzdem ist die Arbeit
mehr bezeichnend für die beiderseitigen Standpunkte als beweisend, denn
niemand wird sich durch einen kleinen Aufsatz bekehren lassen, wenn nicht
der Keim dazu schon in ihm vorhanden war. Br. IC. Th. Preuss-Steglitz.
32. 0. T. Mason: Aboriginal American harpoons. A study in
ethnic distribution and invention. Report of the U. S.
National Museum for 1900, S. 189—304, with 20 plates.
Die Arbeit giebt eine ausführliche Beschreibung der verschiedenen in
Amerika vorkommenden Harpunentypen, unter besonderer Berücksichtigung
der von den Eskimo verwendeten. Die ausserordentliche Mannigfaltigkeit
der Formen und die sinnreiche, für alle möglichen Jagdarten berechnete
Konstruktion dieser komplizierten, für die Hyperboräer recht eigentlich
charakteristischen Jagdwaffe, wird erschöpfend dargestellt und durch instruktive
Abbildungen erläutert, sodass die Arbeit für Museumszwecke von hohem
Wert ist. Als Hauptgruppen werden unterschieden: die barbed liarpoon,
bei der die ablösbare, mit Widerhaken versehene Spitze durch eine Leine
mit dem Schaft in Verbindung steht, der wiederum durch eine Schwimm-
blase im Wasser fixiert wird und die toggle head liarpoon, bei der die
starke Fangleine selbst an dem Spitzenträger der Harpune, der in seiner
ganzen Länge in das Tier eindringt, befestigt ist und so eine sehr feste
Handhabe gewährt. Die Formen von Grönland, Baffinsland und Alaska
sind speziell erörtert nebst den zahlreichen, zur Harpune und der Kayak-
ausrüstung gehörigen Utensilien. Auch die primitiven Harpunen Südamerikas
und des nordwestlichen Nordamerika, sowie die verwandten auf dem nord-
asiatischen Kontinent vorkommenden Formen werden zum Vergleich heran-
gezogen und abgebildet. Da die Arbeit ausschliesslich Museumsstücke be-
schreibt, so kann von einer ausführlichen Inhaltsangabe abgesehen werden,
Zllmal solche ohne Illustrationen ihren Zwreck verfehlen würde.
Br. P. Ehrenreich-Berlin.
32
ß. Referate. Ethnologie.
33. Al. Hrdlicka: An Eskimo brain. American Anthropologist.
1901. N. S. Vol. III, S. 454 ff.
Hrdlicka hatte Gelegenheit, das Gehirn eines 45jährigen Eskimo
Kischu, der im Bellevue-Hospital in New York an Schwindsucht gestorben
war, genau zu untersuchen. Er war 1896 mit noch fünf anderen Eskimos
von Leutnant Peary aus der Gegend des Smith-Sundes gebracht worden,
und war Häuptling eines dortigen Stammes. Er war kräftig gebaut, 164 cm
hoch, 170 it schwer; dem Aufsatz ist eine gute Autotypie von ihm und
seinem etwa sechsjährigen Sohn (nackt) in Vorder- und Seitenansicht bei-
gegeben. Am Gehirn fällt die Grösse, sowie die sehr günstige Oberflächen-
Entwickelung auf; es war schwerer als das durchschnittliche Europäer-Gehirn
und ebenso war es in seiner Längen- wie Breitenausdehnung um etwa
8 Procent grösser als dieses; ebenso waren die Windungen nach Zahl und
Oberflächengrösse, wie die Furchen in ihrer Tiefe günstiger entwickelt, als
das durchschnittliche Gehirn des Europäers. Das reiche Detail der Einzel-
schilderung des Gehirns gestattet nicht ein weiteres Besprechen des einzelnen.
Drei weitere Gehirne von Mitgliedern desselben Stammes und derselben
Expedition zeigten eine ähnlich günstige Entwickelung der Gehirngrösse
und der Gehirnoberfläche. Im Ganzen sind Eskimo-Gehirne bis jetzt fast
gar nicht beobachtet worden; nur Chudzinski hat ein solches beschrieben;
es gehörte wohl einem Eskimo des östlichen Grönland an, und besass wohl
auch ein beträchtliches Volum, dagegen nur dürftig entwickelte Furchen
und,Windungen. Pro/1. Pr. E. Schmidt-Jena.
34. H. R. Voth: The Oraibi Powamu Ceremony. Field Columbian
Museum Publ. 61. Vol. III, 2. Chicago 1901.
Abermals teilt der Verf. aus seinem reichen Schatze an Beobachtungen
wichtige Beiträge zur Kenntnis des Ilopi Ceremoniells mit. Wir kannten
bisher nur das Powamufest von Walpi nach den Arbeiten von Fewkes und
Stephen, die jedoch lückenhaft bleiben mussten, da sie sich nur auf ein
Beobachtungsjahr 1893 beziehen. Voths Studien erstrecken sich dagegen
über fünf Jahre (1894—98) und dürften alles Wesentliche erschöpfen, wenn
auch bezüglich mancher Einzelheiten und Varianten noch weitere Beob-
achtungen nötig sind. Abgesehen von der überaus reichen Illustrierung
gewinnt die Arbeit diesmal noch ein ganz besonderes Interesse durch die
Beigabe der Texte wichtiger Gesänge und Gebete in Ursprache und Über-
setzung, soweit solche möglich war. Es sind die ersten zusammenhängenden
Sprachproben, die wir von den Ilopi erhalten, doch sind viele der alter-
tümlichen Ausdrücke den Indianern selbst nicht mehr verständlich.
Was den Verlauf des Festes selbst anlangt, so zeigen sich sehr er-
hebliche Abweichungen von dem, was wir über die Feier in Walpi wissen,
namentlich scheinen die esoterischen Ceremonien in den Kiwas (unterirdischen
В. Referate. Ethnologie.
33
Versammlungsräumen) in Oraibi weit zahlreicher und komplizierter zu sein,
während in Walpi die öffentlichen Umzüge und Katschinatänze vorwiegen.
Gemeinsame Züge sind an beiden Orten 1. das ceremonielle Pflanzen von
Bohnen, die man in den geheizten Kiwas zum Sprossen bringt, 2. die
Initiation oder Einweihung der Kinder in die Geheimnisse der Katschina
durch Geisselnug, 3. der Umzug der von Fewkes sogenannten „Natashka-
Ungeheuer“ unter Führung der Katschina-Mutter, 4. das Bestreichen gewisser
Häuser mit Streifen von Weihemehl durch den Ahül (Aholi)-Katschina.
Die Hauptunterschiede, die die Feier in Oraibi zeigt, sind folgende:
Es geht eine besondere Vorbereitungsfeier, die Powalawu Ceremonie, voraus
und zwar acht Tage vor Beginn des eigentlichen Festes. Ein Sandmosaik,
die Sonne mit den Himmelsquartieren darstellend, von Symbolen und Fetischen
umgeben, dient dabei als Altar, vor dem unter rituellen Gesängen die Powamu
Bahos (Gebetsträger) angefertigt werden. Am fünften Tage des Hauptfestes
wird in der Kiwa der Powamu-Priester ein grosser komplizierter Altar
errichtet, unter dessen Idolen die Figuren der Ho-Katshinas von besonderem
Interesse sind; das dazu gehörige Sandgemälde stellt Häuser und Wolken-
Terrassen dar. Für die Katshina-Initiation der Kinder ist eine andere Kiwa
bestimmt, in der ein eigener Altar mit zwei aneinanderstossenden Mosaiken
ungelegt wird, von denen das eine den weiblichen Dämon Hakaai und die
beiden mit Geissein versehenen Ho-Katshinas darstellt, während das andere
den Eingang zur Unterwelt, das Sipapu, repräsentiert, auf dem die Kinder
bei der Exekution stehen müssen. Statt dfis Tunwup-Katshina in Walpi
funktionieren hier die beiden Ho, denen die Hahaai die Ruten zureicht.
Am achten Tage findet eine grosse Reinigungs-Ceremonie statt, der
Slch am neunten der Umzug der „Ungeheuer“ anschliesst. Sie heissen hier
Shooyokos, der von Fewkes angegebene Name Natashka wird hier nicht
erwähnt, wie denn überhaupt mehrfache Abweichungen in der Nomenklatur
л’Оп der in Walpi üblichen zu verzeichnen sind. Den Beschluss macht der
öffentliche Powamu-Tanz. Die grosse Prozession der Katshinas am zehnten
läge wird seit Jahren nicht mehr gefeiert, die Angaben darüber beruhen
auf Erzählungen. Dr. P. Ehrenreich-Berlin.
35. W. H. Holmes: Anthropological studies in California. Report
of the United States National Museum for 1900, S. 155—187.
With 50 plates.
Die Reise, die der Verf. zwecks urgescliichtlicher Forschungen im
'fahre US98 nach Kalifornien unternahm, hat nicht nur neues Material zur
Beurteilung der bei Calaveras gefundenen Reste des angeblichen Tertiär-
nienschen geliefert, das bereits früher im „American Anthropologist“ ver-
öffentlicht wurde, sondern gab ihm auch Gelegenheit zur Untersuchung
anderer, für die Prähistorik des Landes wichtiger Plätze und zu Beob-
Intern. Centralblatt für A nthropologi«. 1903. 3
34
B. Referate. Ethnologie.
achtungen ethnologischer Art unter den immer mehr dahinschwindenden
Eingeborenen, die bekanntlich innerhalb der nordamerikanischen Völkerwelt
eine so eigenartige Stellung einnehmen. Ungemein gross ist die Sprachen-
Verschiedenheit dieser pazifischen Stämme, während ihre Kultur und ihr
physischer Habitus ziemlich gleichartige Züge zeigt. Die zwanzig in Kalifornien
vertretenen Sprachstämme sind keineswegs durch Differenzierung in den gegen-
wärtigen Wohnsitzen dieser Völker entstanden, sondern auf Einwanderungen
der verschiedenartigsten Elemente zurückzuführen, die erst auf kalifornischem
Boden gleiches Gepräge erhalten haben. Charakteristisch für diese Kultur
sind die eigenartigen Steinartefakte, die Seltenheit irdener Gefässe. der
Reichtum an Muschelobjekten und die originelle reich entwickelte Korb-
flechterei. Wenn der Verf. auch eine Einwanderung der amerikanischen
Urbevölkerung aus Asien für wahrscheinlich hält, so betont er doch, dass
die gegenwärtige wie die frühere Kultur dieser Kalifornier keinerlei asiatische
Züge aufweist, vielmehr echt amerikanisch, ja spezifisch kalifornisch ist.
Die wichtigsten Ergebnisse der Reise sind folgende. In Nevada City
wurden mehrere Familien der Hi-eet-Indianer besucht, von denen Korb-
arbeiten und Steinutensilien erworben wurden. Zahlreiche „Milling places“,
bestehend aus trichterförmigen Aushöhlungen im anstehenden Granit, zwischen
denen Stösser und Mahlsteine zerstreut liegen, befinden sich in der Umgegend
und werden zum Teil noch heut von den indianischen Frauen zur Mehl-
bereitung verwendet. Da die modernen Bewohner über alten Minengängen
hausen, so konnten leicht Steinartefakte neueren Datums in jene Gänge
hineingeraten, was zur Beurteilung der Calaveras-Funde von Wichtigkeit
ist. Ähnliche Mahlplätze wurden bei Forest Hill (Placers County) entdeckt;
auch konnten in einem benachbarten Indianerdorf die Frauen in ihrer Arbeit
des Backens und des Kochens mit heissen Steinen in Körben direkt beob-
achtet werden. Weiteres Material lieferten die im Gebiet des Tuolumne
Table Mountain und bei der Minenstadt Murphys hausenden Indianer. Die
Untersuchung der Mercers Cave ergab in den oberen Schichten menschliche
Reste, von denen ein Schädel ganz den Typus des Calaveras-Fundes zeigt,
was sehr gegen die Annahme eines hohen Alters des letzteren spricht. In
den unteren Schichten fanden sich Skelettteile eines riesigen Edentaten.
Auf der Reservation der noch halbnomadischen Porno bei Ukiah, Mendocino
County, fand sich noch ein altes unterirdisches Versammlungshaus, dessen
Plan mitgeteilt ist. Eine reiche Ausbeute lieferten hier die in höchster
Vollendung von diesen Indianern gefertigten Körbe. Die Mitteilungen über
Kleidung, Nahrungsmittelbereitung u. s. w. sind von hohem Interesse und
trefflich illustriert. Im Stockton Distrikt wurden alte Moundartige Siedelungen
untersucht, in denen sich Steininstrumente (besonders solche von Obsidian),
Thonkugeln und Muschelartefakte fanden. Interessante Ethnographien bot
die Tulare Reservation bei Porterville. Ausser Körben, Spielen, Fallen,
B. Referate. Ethnologie.
35
Jagclgeräten ist auch ein federgeschmückter Tanzanzug bemerkenswert. Farbige
Felszeichnungen und Milling places in anstehendem Gestein wurden ebenfalls
hier angetroffen.
Die an prähistorischen Funden so reiche Küste des südlichen Kali-
forniens und der ihr vorgelagerten Inseln (S. Catalina) bot gute Gelegenheit
zu eingehenden Untersuchungen und Sammlungen von Stein und Muschel-
artefakten und zu Studien über die primitiven Industrien der Missions-
indianer von Coahuila, Agua Caliente und anderen Stationen. Die ausser-
ordentlich reiche Illustrierung verleiht diesem Bericht einen dauernden Wert.
Br. P. Ehrenreich-Berlin.
36. Alexander F. Chamberlain: Significations of certain Algon-
quian animal-names. American Anthropolog'ist, 1901. N. S.
Vol. III, S. 669 ff.
Chamberlain giebt ein Verzeichnis von Tierbenennungen der Algonkin,
die ein Licht werfen auf manche psychologische Besonderheiten der Letzteren.
Prof. Dr. E. Schmidt-Jena.
37. William H. Holmes: Aboriginal copper mines of Isle royale,
Lake superior. American Antliropologist. 1901. N.S. Vol. III,
S. 684 ff'.
Holmes hat im Auftrag der Smithsonian Institution zum Zweck von
Materialsammlung für die Chicagoer Weltausstellung 1892 die Gegend des
prähistorischen Kupferbergbaues der Indianer besucht und speziell eine
Exkursion nach der an Kupfer reichen Isle royale im Lake superior gemacht.
Er fand h ier mitten in den verlassenen Grubenfeldern einer modernen Kupfer-
bergbaugesellSchaft ein altes Indianer-Bergwerk, d. h. eiueö wohl 20' breiten,
10' tiefen Tagebau, der ausserordentlich grosse Mengen von beschädigten
schweren Steinhämmern in seinem Schutt enthielt. Diese waren natürliche
Creröllsteine von besonders zum Hämmern geeigneter Form, von zähem
Material und von einem Gewicht bis zu GO Pfund; Spuren einer Befestigung
an einen Stiel wurden zwar nicht beobachtet, doch war eine solche immerhin
Wahrscheinlich. Es gelang Holmes nicht, anstossende Kupferadern oder Stücke
von Kupfer zu finden; auch fehlten Spuren, die auf eine weitere Bearbeitung
des Kupfers in Werkstätten hinwiesen; wahrscheinlich wurden die losge-
hämmerten Kupferstücke weiter transportiert und erst in den Indianerdörfern
111 die gewünschte Form gebracht. Zahlreiche Stücke Kohle deuteten darauf
!dn, dass Feuer zum Aufschliessen des harten Gesteins benutzt wurde. Ein
Weiterer Besuch des kupferreichen Distrikts Ontonayon am Südufer des lake
superior, bei Rockland, zeigte ganz ähnliche Verhältnisse wie auf Isle royale,
dhe Steinhämmer wiesen etwas häufiger Rinnen zum Herumführen eines
biegsamen Holzstückes und zur Befestigung an den Stiel auf, als dort. Die
3:
36
B. Referate. Ethnologie.
Spuren alter Indianer-Bergbauarbeit sind ausserordentlich weit verbreitet
und der moderne Bergbau hat dort kaum Kupfer gefunden an Stellen, wo
nicht schon vor langer Zeit der Indianer auf Kupfer gegraben hätte.
Prof. Dr. E. Schmidt-Jena.
38, J. Walter Fewkes: The lesser new-fire ceremony at Walpi.
American Antliropologist. 1901. N. S. Vol. III, S. 438 ff.
Die Hopi-Indianer des nordöstlichen Arizona betrachten das Feuer als
ein lebendes Wesen und verehren es als Hervorbringer (Schöpfer) des Lebens
in der Natur.*1 In Walpi wird es im November durch ein grosses Fest, das
„grosse Neu-Feuer-Fest“ mit sehr umständlichen Ceremonien gefeiert, ausser-
dem giebt es noch ein zweites, einfacheres Fest, das des „kleinen Neu-
Feuer-Festes, das Sumaikoli der Hopi-Indianer, das in den Monaten März
und Juli von der Priesterbruderschaft der Yaya in Scene gesetzt wird.
Fewkes beschreibt dasselbe sehr genau nach eigener Beobachtung. Seine
Bedeutung war ursprünglich das Gebet um Hervorbringung neuen Lebens,
woran sich die Bitte um Regen und andere Himmelswohlthaten anschloss;
dabei wurden vor allem der „Keim-Vater“ und die „Keim-Mutter“ gefeiert,
der erstere, „Masauü,“ der Feuergott, wird angerufen durch Gebetstöcke,
die in seinem Heiligtum aufgestellt werden oder durch Feuer, die man nahe
bei denselben anzündet; die als Spinne personifizierte Keim-Mutter (Kokyan-
wüqti) durch uralte einsilbige Anrufungen vonseiten des Oberpriesters.
Die Yaya-Priester tragen dabei besondere Masken mit Zeichen, die ihnen
magische Kraft geben. Prof. Dr. E. Schmidt-Jena.
39. Al. Hrdlicka: A painted skeleton from northern Mexico,
with n'otes on bone painting among the American aborigines.
American Antliropologist. 1901. N. S. Vol. III, S. 701 ff.
Hrdlicka beschreibt ein von Lumholtz bei Talayote im Staate Chihuahua
in 7500 Fuss Meereshöhe gefundenes Skelet, dessen Knochen (besonders
die Rippen und Wirbel) Rotfärbung an der Oberfläche und in den Hohl-
räumen zeigte. Der Farbstoff ist ein organisches amorphes Pigment, der
cochonilleähnlich und im Wasser unlöslich ist. Das Skelet wird antliro-
pometrisch beschrieben; an ihm fällt die Kleinheit und niedere Bildung des
Schädels auf. Hrdlicka betrachtet dann eingehender die Verbreitung der
Knochenfärbungen in Amerika; er unterscheidet 5 verschiedene Arten der-
selben : 1. Eindringen von färbender Masse aus der die Knochen umgebenden
Erde (sehr häufig). 2. Grünfärbung durch Kupfersalze (durch kupferne
Schmuck- oder Gerät-Beigaben). 3. Färbung durch Farbstoff, die dem Toten
mit auf den Weg gegeben werden (vielleicht die häufigste Art von Knochen-
färbung). 4. Bemalung der Schädel, fast stets rot. 5. Aufträgen von
farbigen Zeichnungen auf den Schädel (selten und wahrscheinlich stets neueren
B. Referate. Ethnologie.
37
Ursprungs). Verfasser stellt zum Schluss noch Litterator-Angaben über
unabsichtliche oder absichtliche Rotfärbung von Menschenknochen zusammen.
Direkte Bemalung der Knochen entwickelte sich wohl aus der Sitte der
Leichenbemalung; man hielt den Knochen für den eigentlichen Sitz der
Seele und wollte dieser ein Zeichen der Ehrung mitgeben. Die Rotfärbung
war auch wohl als notwendige Ausstattung für das Jenseits gedacht.
Prof. Pr. E. Schmidt-Jena.
40. M. H. Saville: Mexican codices: A. list of recent reproductions.
American xAnthropologist. 1901. N. S. Vol. III. S. 523 ff.
Saville giebt eine Zusammenstellung der neuen Reproduktionen älterer
mexikanischer gemalter oder hieroglyphischer Aufzeichnungen (Codices), die
besonders in den letzten 6 Jahren durch Kingsborough aus Mexico gebracht
worden sind. Prof. Dr. E. Schmidt-Jena.
4L K. Th. Preuss: Kosmische Hieroglyphen der Mexikaner.
Zeitschrift für Ethnologie, 1901. XXXIII. Bd., S. 1—47
(mit 209 Figuren).
Als kosmische Hieroglyphen, d. h. als solche, die sich zugleich in der
Darstellung der Erde, des Himmels bezw. des Luftraums und der Unter-
welt finden, sind bei den Mexikanern drei zu bezeichnen: 1. der Schmetterling,
der hauptsächlich in der Gestalt eines Halbmondes erscheint, 2. das Auge
uud 3. die Schnecke, während 4. das Kreuz nicht ganz in diese aufgestellte
Kategorie passt.
Zunächst bespricht Verf. den „Schmetterlings-Halbmond“ und das
«Auge“, wobei aus einer früheren Abhandlung (Ztschr. f. Ethnol. XXXII
118 ff.) in Erinnerung zu bringen ist, dass 1. die Erdgöttinnen und damit
verwandte Gestalten in der Nasenscheidewand den Schmetterling in Form
emer stufenförmigen Platte oder eines Halbmonds als Schmuck tragen,
die die Ackererde darstellenden Häkchen oder Halbmonde, die auch den
°inen Teil des Symbols atl-tlachinolli ausmachen, auf Schmetterlinge zurück-
gehen und 3. dass aus atl-tlachinolli (-— Wasser und von feuriger Masse
durchzogene Erde) folge, dass der Schmetterling ein Symbol der feurigen
vulkanischen (?) Erde sei. Diese drei Ergebnisse werden in der vorliegenden
^rbeit erweitert und ergänzt. Die Häkchen, welche die Ackererde be-
lehnen, finden sich in gleicher Gestalt in der Darstellung des Nacht-
Idmmels, des blauen Himmels, des nächtlichen Dunkels, des Erdinnern bezw.
des Dunkels der Höhlen und der Unterwelt und zwar meist in Verbindung
111 ‘t Augensternen. Der Mond selbst ist durch einen grossen Schmetterling
durgestellt, und Schmetterlinge gehen auch als Strahlen von der Sonne aus.
nun die Schmetterlings-Häkchen und Halbmonde wie auch die Sonne
^uriner in Verbindung mit dem Auge Vorkommen, gleichzeitig aber auch zur
38
ß. Referate. Ethnologie.
Bezeichnung der Erde allein dienen, so müssen diese beiden Symbole gleiche
Bedeutung haben, d. h. also die Erde als „feurige (vulkanische) Masse“
und analog dazu der Kosmos als von Lichtkörperchen erfüllt, gedacht
werden, deren Koncentration die sichtbaren Lichtquellen Sonne, Mond und
Sterne bedeute. Die Erde wurde als Heimat des Feuers angesehen, denn
die Kleidung der Erdbebengöttin Teteoinnan ist von Schmetterlingen übersät
und den Schmetterling tragen die Erdgöttinnen, als Nasenschmuck. Auch
schüren beim Feste des Feuerreibens, von dessen Gelingen die Existenz
der Sonne abhing, Priester der Erdgottheiten das Feuer, und das Brennholz
schaffen Erd- und Fruchtgottheiten herbei. Das weitere behandelt das
Kreuz, das nichts weiter als die vier Richtungen bezeichnet (geht deutlich
aus Cod. Fejervary 44 hervor) und dessen Strahlen deutlich auf Licht-
strahlen zurückgehen, und wird deren Beziehung zu der Sonne durch das
Tonalo-Emblem hergestellt. Dabei ist jedoch nur an die 4 Strahlenrichtungen,
die ein Symbol der Erde sind, zu denken, womit stimmt, dass das Emblem
nur Erdgottheiten (Chicomecoatl — Maisgöttin; Opochtli —Wassergott; Macuil-
xochitl und Ixtlilton) zukommt. Die Kreuze selbst zerfallen in drei Typen:
1. aus zwei dünnen, kurzen, sich kreuzenden Strichen bestehend (bei den
Berg-, Wasser- und Fruchtgottheiten, auch bei einigen Todesgöttern), 2. auf-
recht und breiter als Typus 1, oft von weisser Farbe (bei Todes- und Erd-
gottheiten, bei der Erdgöttin Hamatecutli, bei Xipe, Macuilxochitl und
nächtlichen Xolotl-Gestalten, die Macuilxochitl nahe stehen, während Quetzal-
coatl dasselbe wohl in seiner Eigenschaft als Windgott trägt) und 3. das
breite, liegende Kreuz, das selbst auf dem Kreuzungspunkte etwas trägt
(bei der Erdgöttin Teteoinnan und den ihr nahestehenden Ciuapipiltin, bei
Macuilxochitl, bei Quetzalcoatl als Skelett, also in seiner Beziehung zu den
Todesgottheiten und bei Tezcatlipoca. Was nun die Schnecke (Strombilus
spec.) betrifft, so findet sich dieselbe entweder in ganzer Ausführung bei
Erdgottheiten und erklärt sich dieselbe hier mit Cod. Teil. R. als Symbol
des Mutterschosses (der Mensch komme aus demselben so hervor wie die
Schnecke) i. e. Erdschoss, Erdinneres; oder als Schneckendurchschnitt auf
den Spinnwirteln (den Erdgöttinnen als Beschützerinnen des Spinnens
zugehörig) sehr häufig und ebenso auf Darstellungen der Erdgottheiten
entweder als Querschnitt oder als Ableitung (abgestufte und einfache
Spirale), und ist auch hier die Deutung als Erdschoss, Erdinneres deutlich:
anders aber ist es beim AVindgott Quetzalcoatl, einer Gestalt, die ziemlich
dunkel ist, wo nach Cod. Vat. A. (Bl. 7) und dem Sahagunmanuskript
der Schneckenquerschnitt (ecailacatz-cozcate = spiralig gedrehtes Windge-
schmeide) der Wasserwirbel, den dieser Gott erzeuge, symbolisieren solle,
doch macht es uns Preuss auch hier wahrscheinlich, dass Quetzalcoatl zu den
Erdgöttern, war er doch kulturbringender, weltlicher Flerrscher von Tula,
gehöre, dessen Windfunktion sich vielleicht daraus erklärt, dass sein Vater
B. Referate. Ethnologie.
39
Tonacatecatli „den Willen hatte, ihn durch seinen Hauch zu erzeugen“
(Cod. Tell.-R. Bl. 8), sodass also auch hier die Schnecke das Erdinnere,
die Beziehung zu den Erdgottheiten ausdrücke. Kosmische Hieroglyphe ist
die Schnecke deshalb, weil das Schmetterlingshäkchen in Verbindung mit
den Augen und Schmetterlingen Schneckenmuster (Spiralen) bildend am
nächtlichen Himmel u. s. w. vorkommt. — Aus alledem ergeben sich dann
gewisse Schlussfolgerungen für die Auffassung der Götterwelt und zwar ins-
besondere für Quetzalcoatl, Tezcatlipoca und den Eeuergott, die allen ihren
Anzeichen nach zu den Erdgottheiten zu rechnen sind, sodass das mexi-
kanische Göttersystem, auf der Erde basierend, erst in späterer Zeit den
Himmel und seine Erscheinungen heranzog und denselben mit gewissen
Erdgottheiten bevölkerte und den abstrakten obersten Himmelsherrn Tonaca-
tecutli schuf. Die Begründung und strenge Durchführung dieser Ansicht
bleibt der Zukunft überlassen. E. ]{, Blümml-Wien.
42. Francis C. Nichoias: The aborigines of the province of
Santa Maria, Colombia. American Anthropologist. 1901.
N. S. Vol. III, S. 606 ff.
Nichoias übersetzt einen Teil eines alten spanischen Buches über die
Geschichte der römischen Kirche in Sante Marta (Columbien) aus der ersten
Hälfte des 18. Jahrhunders und vergleicht die Indianer jener Gegend und
jener Zeit mit den heute dort wohnenden Indianern. Nach dem 1735 ge-
schriebenen Buche des Pater Alvarez Don José Nicolas de la Rosa lebten
damals um Santa Marta herum die Stämme der Aurohuacos (von den
Spaniern Oro escondido, verstecktes Gold übersetzt), die Pintados (Tätowierte),
die Alcoholados (angeblich von den Spaniern wegen der um die Augen
gemalten Linien so benannt, die Alcoholados gehörten mit den Pintados
Zu dem Stamme der Tschimile), die Orejones (Grossohren), der indianische
Name ist Tomocos), die Acanyutos (angeblich nach der von den Spaniern
oft gehörten Anrede: Ha canalla ! so genannt), die Pampanillas (nach dem
kleinen Schurz, der das einzige Kleidungsstück von Männern und Frauen
bildet, genannt), die Tupes (Cerrados, die sich entfernt haltenden), die Moti-
lones (Kurzhaarige), die Guagiros (die „starken und beweglichen“), die Cosinas
oder Tignodos, die ihren Namen von dem Bestreichen des Körpers mit
emem Pflanzensaft zum Schutz gegen Mücken erhalten haben sollen. Pater
Alvarez macht Angaben über die Ethnologie dieser Indianer, die er als
O'Httelgross, breitschulterig, braun von Haut und schwarz von Haar schildert.
^ 0n all diesen Stämmen bestehen jetzt nur noch die Goajiras und die
Hotilones, sowie in den Bergen die Aurohuacos (Erwacas, Aruaken); sie
haben, obgleich jetzt christianisiert, noch viel von ihren alten Sitten und
Gewohnheiten beibehalten. Prof. Dr. E. Schmidt-Jena.
40
B. Referate. Ethnologie.
43. William H. Holmes: Use of textiles in pottery making and
embellishement. American Antliropologist, 1901. N. S-
Vol. III, S. 397 ff.
Holmes bespricht das Ornament auf den Thongefässen eines grossen
Bezirks, der Süd-Canada und die nördlichen Vereinigten Staaten von den
Felsengebirgen bis zum Atlantischen Ozean umfasst. Auf diesem ganzen
Gebiet bestanden nahe Beziehungen zwischen textiler und keramischer
Kunst: sehr charakteristische Gewebsmotive wurden bei der Anfertigung
von Gefässen auf den feuchten Thon abgedrückt oder imitiert aufgetragen.
Offenbar ist in diesem Gebiet die textile Kunst älter, als die keramische,
und letztere hat von ihrer ältesten Schwester manches Motiv in Form und
Verzierung entlehnt. Jede Anbringung textiler Muster ist daher ein charak-
teristisches Zeichen der primitiven Stufe der Thonbiklnerei. Ob diese sich
in dem erwähnten Gebiet selbstständig entwickelt hat oder ob sie von
Süden her aus weitentlegenen höheren Culturcentren berübergebracht worden
ist, ist schwer zu entscheiden. — Die textilen Eindrücke auf Thongeschirr
lassen sich in fünf Klassen unterbringen, nämlich 1. Eindrücke starrer
Formen (Körbe). Dass Körbe bei der Fabrikation von Töpfen als Stütze
oder als ganze Form von den Indianern benutzt wurden, dafür haben wir
direkte historische Zeugnisse, doch muss man sich hüten, die Häufigkeit
dieser Art von Gefässherstellung zu überschätzen. Weit entfernt, die Regel
zu bilden, sind nur es seltene Ausnahmen, wenn man ein so hergestelltes Thon-
gefäss findet. 2. Eindrücke biegsamer textiler Produkte (Gewebe, Netze).
3. Eindrücke von Gewebsstoffen die beim Formen über die Hand oder des
Modellier-Gerät gezogen waren. 4. Eindrücke von Schnüren, hierüber das
Modellierholz gewickelt waren. 5. Eindrücke von Schnurstückchen oder
anderen textilen Elementen, die zu bloss ornamentalem Zweck so angeordnet
waren, dass sie gewöhnliche Ornament-Elemente lieferten. Endlich giebt es
eine fünfte Klasse von Thongerät, bei der Gewebsmotive mit besonderen
mechanischen Hülfsmitteln (eingekerbte Rädchen, Stempel etc.) aufgedrückt
wurden. Prof. Dr. E. Schmidt-Jena.
44. F. von Luschan: Siebzehn Schädel aus Chaculä in Guatemala.
Sonderabdr. a. Seler, Die alten Ansiedelungen von Chaculä.
Mit 4 Tafeln. Berlin 1901.
Verf. lehrt uns Schädel kennen, die durch ganz besonders hochgradige
künstliche Deformation auffallen. Alle 17 untersuchten Schädel (im königl.
Museum f. Völkerkunde, Berlin befindlich) sind durch Druck von vorn nach
hinten verkürzt, unter einander nicht völlig gleich, meistens assymetrisch,
oft sehr stark. Die Deformierung ist derartig, dass nur bei fünfen die
Breite geringer ist als die Länge (Indices 90, 94, 96, 99), bei zehn da-
gegen ist die Breite grösser, sodass man Längenbreiten-lndices von 103,
B. Referate. Ethnologie.
41
104, 108, 110, 112, 113, 115, 122 und sogar 127 erhält! Letzterer
Schädel ist ein kindlicher, vielleicht hätte beim Weiterleben des Individuums
die Länge relativ noch etwas zugenommen. Bei einem Schädel ist das
Hinterhauptsloch quer oval. Die Nähte sind meistens erhalten, aber auch
ein sehr vorzeitiges Obliterieren kommt vor. Die Zähne fehlen alle; bei
her sonst guten Erhaltung von Schädel und Alveolen vermutet Verf., dass
sie z. T. absichtlich ausgebrochen sind. Die Maasse gestatten nicht, eine
genaue Beurteilung der Rasseneigentümlichkeit vorzunehmen, dazu ist das
Material zu lückenhaft. Verf. giebt für jeden Schädel eine kurze Be-
schreibung, bildet die vier am meisten typischen Exemplare ab (lateral,
frontal, occipital und vertical); dazu wird eine Tabelle mit den wichtigsten
Maassen gegeben. Dieselben zeigen recht grosse Unterschiede; so schwankt
der Obergesichtsindex von 57 bis 71, der Jochbreiten-Obergesichtsindex
von 43—51, der Nasenindex von 40—58. Angaben über die ursprüngliche
f orm des (nicht deformierten) Chaculä-Schädels lassen sich aus dem vor-
liegenden Material nicht gewinnen, ebensowenig eine Gewissheit, wieweit
hie Deformierung die Schädelhöhe und den Inhalt beeinflussten.
Dr. Eugen Fischer-Freiburg i. B.
45. Charles C. Willoughby: Aniler-pointed arrows of the south-
eastern Indians. American Anthropologist. 1901. N. S.
Vol. Ill, S. 431 if.
Willoughby beschreibt einige Pfeile im Museum der Harvard-Univer-
sity zu Cambridge, deren Spitzen aus Geweih-Enden angefertigt waren. Er
knüpft daran weitere Bemerkungen über die Spitzen-Armierung der I feile
bei nordamerikanischen Indianern. Eigentliche Flintspitzen waren nur im
centralen und westlichen Nordamerika häufiger in Gebrauch, anderswo
seltener (Materialmangel). Übrigens waren wohl hie meisten der sogenannten
»Pfeilspitzen“ nicht solche, sondern nur Abfälle bei der Herstellung anderer
Geräte; andere mögen auch als Messerklingen an kurzen Handgriffen, wieder
andere als Spitzen bei Handwurfgeschossen gedient haben. In den Neu-
Gnglandstaaten waren in nach-columbischer Zeit Steinpfeilspitzen nach euro-
päischen Berichten kaum in Gebrauch, dagegen wurden Spitzen aus Kupfer,
Beinknochen vom Hirsch, Seekrabbenzungen, Adlerklauen, Messing erwähnt.
Im Norden, Westen und Südwesten von jenen Staaten werden dagegen
Steinpfeilspitzen genannt, neben Spitzen aus anderem Material (Knochen,
Horn, grosse Fischgräten, Vogelklauen). Im Süden (de Soto) wurden Reh-
geweihe, Fischgräten, hartes Holz, Flint gebraucht, bei den Sioux Stein,
hie Knochen vom Büffel oder vom Dammhirsch. Die Pfeilspitzen aus Hirsch-
bern im Cambridger Museum waren in der Weise herstellt worden, dass
hie Geweihspitze durch einen Kreisschnitt in der entsprechenden Entfernung
'0ri her Spitze abgelöst und dann in die gewünschte Form gebracht wurde;
4 2
B. Referate. Ethnologie.
die Basis war entweder quer abgeschnitten oder es wurden an ihr zwei
Widerhaken aufgespeert; der Schaft wurde in ein Loch der Pfeilspitzen-
Basis hineingesteckt. Der Bogen der Irokesen und der die atlantische
Küste bewohnenden Irokesenstämme maass 51/0 bis 6 Fuss Länge; weiter
im Innern des Landes hatten die Algonkin kurzen Bogen, ebenso die süd-
lichen Küstenstämme. prof. Dr. E. Schmidt-Jena.
46. Theodor Koch: Die Guaikurustämme. Globus 1902.
Bd. LXXXI, S. 1—7, 39-46, 69—78, 105—112. Mit Text-
abbildungen und 1 Tafel. Theodor Koch: Die Maskoi-Gruppe
im Gran Chaco. Mitteilungen, der anthropologischen Gesell-
schaft in Wien, 1902. Band XXXII, S. 130—148.
Von seinen ersten vergleichenden Arbeiten über die Anthropophagie
und den Animismus der südamerikanischen Indianer ist der Verf. zu speziellen
Untersuchungen über die Chaco-Stämme übergegangen, über die im letzten
Jahrzehnt besonders der Maler Guido Boggiani auf seinen Reisen umfang-
reiches und einwandfreies Material zusammengebracht und veröffentlicht hat.
Da die Schriften dieses Forschers, der leider vor kurzem, ein Opfer seiner
Wissenschaft, auf einer neuen Expedition ermordet worden ist, und andere
benutzte Quellen teils nicht leicht zugänglich, teils schwer zu übersehen
sind, so muss es dem Leser sehr willkommen sein, hier ein klares Bild
von diesen Indianern zugleich mit dein zu Grunde liegenden wissenschaft-
lichen Apparat zu erhalten, das bei aller Kürze auf erschöpfenden Studien
beruht. Es kommt hinzu, dass das K. Museum für Völkerkunde zu Berlin,
dessen Schätze Koch benutzen konnte, seit kurzem ausser anderen Chaco-
Sammlungeu, umfangreiche Sammlungen Boggianis selbst aus jenen Gegenden
nebst einem Katalog von seiner Hand besitzt.
Es werden die beiden Hauptsprachgruppen des Chaco behandelt, die
Guaikurü, deren Bekanntschaft der Verf. in dem Stamm der Kadioeo machte,
als er sich bei der Rückkehr von der zweiten Xingu-Expedition des Dr.
Hermann Meyer in Porto Murtinho, Matto Grosso, aufhielt, und die Mascoi.
Von den Guaikurustämmen erfahren die Kadioeo, Toba und Pilaga eine
ausführlichere ethnographische Darstellung, während die Mokovi, Abipon,
Guatschi und Payagua den Quellen entsprechend nur nebenher geschichtlich
erwähnt werden. Die Guatschi und Payagua kann man vielleicht in der
That mit dem Verfasser der Guaikurügruppe zuzählen. Sprachlich ist nur
ein kurzes vergleichendes Vokabular als Beweis der Zusammengehörigkeit
der Stämme geliefert. Die Sprachen sollen später in extenso besprochen
werden. Maskoi nennt Koch die Machicui Boggianis, die dieser früher als
Enimaga bezeichnete. Der Verf. hält nämlich Machicui für die fehlerhafte
spanische Auffassung des Namens Maskoi, und in der That werden beide
Bezeichnungen für denselben Stamm angewandt. Es gehören dazu die Guana,
B. Referate. Ethnologie.
43
Sapuki, Sanapana, Angaite und Lengua. Von diesen allen erfahren wir
historische und — an der Hand eines von dem Zoologen und Forschungs-
reisenden Dr. Bohls dem Verf. überlassenen Vokabulars der Lengua Gekoin-
lahaak —- sprachliche Feststellungen, wobei auch die bereits früher von
Koch im Globus behandelten Lengua ausführlicher klassifiziert werden.
Dr. IL Th. Pr euss-Steglitz.
47. C. V. Hartman: Etnoyrafiska undersökningar öfver aztekerna
i Salvador. Ymer 1901. S. 277 ff. Mit 30 Abbildungen.
Nach Abschluss seiner archäologischen Untersuchungen in Costa Rica
(s. Centralblatt 1902, IX, S. 254) beschäftigte sich Verf. vom Herbst 1897
bis zum Frühling 1899 mit ethnographischen Studien unter den Azteken
in Salvador, den sg. Pipilen. Der vorliegende Aufsatz giebt eine kurze
Übersicht über die dabei gewonnenen Ergebnisse. Von grosser Bedeutung
ist die vollständige somatologische Untersuchung von 100 Individuen (80 männl.,
20 weibl.), die erste dieser Art, die in Central-Amerika ausgeführt worden
ist. Die Indianer dieser Gegenden hegen nämlich ein starkes abergläubiges
Misstrauen gegen das Photographieren u. dergl., und nur dadurch, dass eine
Anzahl Soldaten ihm behufs Untersuchung zur Verfügung gestellt wurde,
gelang es dem Verf., ein so reiches Material zu gewinnen. Als merk-
würdigstes Ergebnis hebt er die geringe durchschnittliche Körperlänge,
150—160 cm, hervor, die er auch bei anderen centralamerikanischen
Stämmen, z. B. bei den Quicheen in Guatemala, beobachtet hat, obwohl
er bei diesen Zwergvölkern gerade keine Messungen vornahm.
Nur etwa ein Viertel von den Pipilen spricht noch aztekisch. Verf.
hat bei ihnen eine umfangreiche Wortliste gesammelt; bisher waren von
den aussermexikanischen Nahuatl-Dialekten nur sehr unbedeutende Samm-
lungen vorhanden. Verf. betont die erstaunliche Stabilität der Sprache, die
bei einem Vergleich der jetzigen Pipilensprache mit dem Aztekischen des
XVI. Jahrhunderts hervortritt. Weiter hat er sich, unter Beihülfe von zwei
Indianern, mit der Deutung von aztekischen Lehnwörtern in der spanischen
Sprache Centralamerikas beschäftigt, eine infolge der starken Entstellung
der Wörter oft sehr schwierige Aufgabe.
Acker- und Gartenbau geben den Pipilen ihre Hauptnahrung; sie
halten auch die gewöhnlichen Haustiere mit Ausnahme des Schafes; der
Truthahn ist sehr häufig, Jagd und Fischfang sind von geringerer Bedeutung.
Die wichtigste Kulturpflanze ist der Mais. Bis vor 30 Jahren herrschte
noch ein kommunistischer Ackerbetrieb; die ganze Bevölkerung eines Dorfes
8lng damals gemeinschaftlich zur Feldarbeit wie zu einem Fest. Vor der
Saat wurde, dem Maisgotte geopfert, von Avelcher Sitte noch heute Überreste
vorhanden sind. Die kleinen groben Steinbilder des Gottes werden mit
Reben von Tradescantia versicolor geschmückt; nachts zündet man
44
B.' Referate. Ethnologie.
ihnen Wachskerzen und Räucherwerk an. Wenn der erflehte Regen gefallen
ist, werden die Götterbilder bis zur nächsten Saat in den Fluss versenkt.
Auch der Erde wird bei der Saat geopfert; in eine Grube giesst man den
weissen Maisbrei. In den vier Ecken der Saatfelder setzt man Pfähle mit
dem spitzen Ende nach oben als Schutz gegen die huracanes, welche man
auch, wenn Sturm zu drohen scheint, durch Blasen mit grossen Schnecken-
trompeten zu verscheuchen sucht. — Die Häuser der Azteken sind rektangulär.
Die Wände bestehen aus Palissadenwerk von Bambusrohr od. dergl. Die
mit Gras bedeckten Dächer sind sehr hoch. Will ein junges Ehepaar einen
Haushalt gründen, wird ihm das Haus von Freunden und Nachbarn in
einem Tage erbaut; abends wird dann ein Fest gefeiert. Die Monogamie
ist überall herrschende Sitte; mehr lockere Verbindungen sind meistens
unter spanischem Einfluss entstanden. Die Bevölkerung ist sehr reinlich.
Die Kleidung ist einfach; für die Weiber in den Küstenländern nur ein
Rock, zweimal um den Unterkörper gewickelt, in den Bergen wird dazu
noch ein Leibchen getragen. Die Männer trugen bis vor nicht sehr langer
Zeit nur eine Art Gürtel zwischen den Beinen, wie es bei den Xinca-
indianern in Guatemala noch allgemein üblich ist. Die Pipilen tragen jetzt
immer Hose und Hemd aus weisser Baumwolle.
Die hervorragendste Industrie der Pipilen ist das Flechten von Matten,
Körben u. s. w. aus Schilf und Rohr. Verf. beschreibt genau die dabei
benutzten Methoden und bildet viele Werkzeuge und Erzeugnisse ab. Er
erwähnt auch die jetzt mehr von den Nachbarvölkern geübte Herstellung
von Seilerwaren aus Agave-Fibern. Die altherkömmliche Webeiudustrie ist
dagegen im Aussterben begriffen.
Überreste des Heidentums sind unter den Pipilen noch reichlich vor-
handen. Die katholischen Priester suchen durch Zerstören der Steingötter
deren Verehrung einzuschränken. Stark eingewurzelt ist der Glaube, dass
Menschen durch Zauber in Tiere verwandelt werden können. Bei Mond-
finsternis sucht man durch starkes Lärmen „dem Mond zu helfen“. Von
den alten Tänzen in Tiermasken sind nur wenige Spuren noch lebend ge-
blieben, und diese sind mit den kirchlichen Prozessionen zusammengeworfen
worden. So wird am 24. Dezember eine Art Wildschweinjagd veranstaltet.
Am 1. November findet die Totenfeier statt, wobei Opfer und Tanz Vor-
kommen. Die Bestattungsgebräuche sind einfach; die Sitte, Speise und
Hausgeräte ins Grab zu legen, befindet sich im Aussterben.
Die vom Verf. gesammelten ethnographischen Gegenstände wurden von
Herrn Ingenieur A. Sjögren, der die Kosten dieser Reise getragen hat, dem
ethnographischen Reichsmuseum in Stockholm überwiesen.
Dr. 0. Almgren-Stochholm.
B. Referate. Urgeschichte.
45
IÏI. Urgeschichte.
A. Allgemeies.
48. Leboucq: Über prähistorische Tarsusknochen. Verhandl. d.
anat. Gesellsch. a. d. 16. Vers, in Halle 1902. Ergäuzungs-
heft z. Anat. Anzeiger, Bd. XX.
Yerf. untersuchte Talus und Calcaneus der Skelettreste aus belgischen
Höhlen. Unterschiede dieser Knochen zwischen rezenten und neolithischeu
Menschen bestellen nicht, wohl aber weichen die Spyreste stark von diesen
ab. Yon den Unterschieden, die in einer späteren Arbeit noch genauer
geschildert werden sollen, hebt Yerf. den plump-massiven Bau der beiden
Knochen bei Spy II hervor, dann eine Abbiegung des Talushalses, besondere
Breite des Taluskörpers, Kürze und Höhe des Fersen Fortsatzes, Erhebung
des medialen Randes des Calcaneus etc. Er misst am Talus die Sagittal-
länge vom Sulcus pro musculo flexore hallucis longo bis zur vorderen
Fläche des Kopfes und die grösste Breite von der unteren Spitze der Fibular-
fazette bis zum hervorragendsten Punkt des Tuberculum mediale des processus
•posterior, um daraus den Talus-Index zu erhalten. Er ist für Spy 91,07,
für neolithische Sprungbeine um 80 schwankend, für rezente (Mittel von
40 verschieden grossen) 77,03; also bleibt Spy von allen anderen zu sondern,
die prähistorischen scheinen im Durchschnitt relativ breiter als sezente.
Eine Untersuchung der Gelenkfazetten auf dem Halse des Knochens zeigt,
dass Spy nur die laterale hat, was am seltensten vorkommt, dass weiter
die neolithisclien öfter zwei Fazetten haben wie moderne (wie es ähnlich
G. Retzius gefunden). Auf die früher von Thomson und Havelock Charles
versuchte Erklärung der Fazetten durch starke Dorsalbeugung des Fusses
beim Hocken wird hingewiesen.
In der Diskussion weist Klaatsch darauf hin, dass mehrere Eigen-
schaften des Spy-Talus auch den Australiern zukommen, relative Breite u. a.
— Kollmann bespricht im Anschluss das Vorkommen von Pygmäen in
Europa, dann überhaupt deren Vorkommen und Bedeutung als primitive,
auf unterster Stufe in der Stammesgeschichte des Menschen stehende Form.
Dr. Eugen Fischer-Freiburg i. B.
49. A. Rutot: Sur la position du Chelléen dans la chronologie
paléolithique. Bulletin de la Société d’Antlirop. de Bruxelles,
1901. Tome XIX, Sep.-Abdr. 4 S.
Der für das Chelléen typische coup-de-poing kommt in Belgien mit
einer Anzahl anderer Geräteformen vergesellschaftet vor, welche der dortigen
geologischen Formation Campinien angehören. Letztere ist nun paläontologisch
gut bestimmt; hier tritt nämlich zum ersten Maie der Elephas primigenius
auf mit Ausschluss der durch den Elephas antiquus charakterisierten Fauna.
Dr. A. Götze-Berlin.
46
В. Referate. Urgeschichte.
В. Speeielles, Funde.
I. E u г о p a.
a. Frankreich.
50. A. Rutot: Les ballastières des environs de Paris. Bulletin
de la Société Belge de Géologie, 1900. Vol. XIV, S. 324
bis 331.
R. teilt die Beobachtungen mit, die er gelegentlich des Pariser Anthro-
pologenkongresses an verschiedenen französischen Fundstellen gemacht hat.
In Cergy ruht die Fundschicht unmittelbar auf dem Tertiär. Fauna und
Artefakte zeigen eine Mischung verschiedener Perioden, ln Chelles enthält
die untere Schicht (Stufe des Elephas antiquus) hauptsächlich die Industrie
mesvinienne und nur wenig Exemplare des coup-de-poing chelléen; R. be-
trachtet das Chelléen Mortillets nur als Übergang vom Mesvinien zum
Acheuléen. Die obere Schicht (Stufe des Elephas princip.) entspricht dem
Acheuléen. In Bicêtre konstatiert R. in der dem Tertiär auf lagernden
Kiesschicht seine Industrie reutelienne. In Villejuif hatte Laville geglaubt,
eine vom üblichen chronologischen Schema abweichende Reihenfolge der
steinzeitlichen Industrien beobachten zu können. R. führt die Abweichung
jedoch auf eine Störung der Schichten zurück. j)r. j, Götze-Berlin.
Ф
51. Ш. Boule: La caverne à ossements de Montmaurin (Haute-
Garonne). L’Anthropologie, 1902. Bd. XIII, S. 305 (9 Abb.).
Die Höhlen der Pyrenäen enthalten entweder an die Kälte angepasste
Arten (Mammuth, Rhinocéros tiehorhinus, Renntier) oder seltener eine
wärmeliebende Fauna (Rhinocéros Mercki, Ilyaena sp., Macacus sp.
u. s. w.) : so in Montoussé (Htes Pyrénées), in Es-Taliens unweit Bagnères de
Bigorre und in Montsaunès (Hte Garonne). Die von Cartailhac untersuchte
und von B. beschriebene Höhle gehört dieser „warmen“ Gruppe an. Sie
liegt im Departement Hte Garonne unweit der Grenze der Dep*"ts Htcs
Pyrénées und Gers in einem Hügel der Kreideformation, auf dem linken
Ufer der Seygouade, 40 m oberhalb des Thalwegs. Sie ist mit Sinter und
einer sehr harten Knochenbreccie vollständig angefüllt.
Die Knochen sind stark zersplittert und mit Sinter bedeckt. Indessen
konnten noch folgende Arten bestimmt werden: Rhinocéros Mercki,
Equus caballus, Sus scrofa, Bos sp., Cervu s elaphus, C. capreolus,
Canis lupus, Ursus sp., Hyaena brunnea Thumb. ( = H. fusca Geofr.),
Machairodus latidens, Castor sp. Diese Fauna ist sehr bemerkens-
wert, weil sie genau zwischen der pliocänen und quartären Fauna steht.
Das ist besonders von Equus hervorzuheben, der niemals in pliocänen
Schichten gefunden wurde, und von .Machairodus latidens. der sich
sehr gut vom pliozänen M. crenatidens unterscheidet.
B. Referate. Urgeschichte.
47
Man trifft ausserdem eine dunkle Erde an, die bezüglich ihrer Lage
in und vor der Höhle beträchtlich jüngeren Alters ist, als die Breccie.
Sie enthält: Canis sp., canis vulpes, Meies taxus, Bos sp., Cervus
elaphus und Cervus tarandus, also eine „kalte“ Fauna, welche auf
die erstere gefolgt ist. Dieses nicht zu unterschätzende Ergebnis wird noch
interessanter, wenn man bedenkt, dass, ebenso wie in Montousse und Mont-
saunes, die Höhe der Höhle über der jetzigen Thalsohle beweist, dass die
warme Fauna mit den Alluvial-Ablagerungen der oberen Terrasse gleich-
zeitig ist, während die kalte Fauna die untere Terrasse kennzeichnet.
Obwohl in den meisten Fundstätten die warmen und kalten Arten
durch nachträgliche Vermischung der Schichten durcheinander liegen, so
haben doch die Beobachtungen in den subpyrenäischen Höhlen festgestellt,
dass diese Tierarten nicht zusammengelebt haben, sondern dass die au die
Kälte angepassten jünger sind als die anderen (vergleiche darüber: M. Boule,
Note sur le remplissage des cavernes. L’Anthropologie Bd. III, 1892, S. 19).
Die Trennung beider Faunen fällt auch sehr gut in die Augen in den
vulkanischen Gebieten Mittelfrankreichs, wo die verschiedenen Ablagerungen
durch Lavaströme geschieden und sozusagen versiegelt worden sind.
Dr. L. Laloy-Bordeaux.
ß. Schweiz.
52. J. Nüesch: Das Schweizersbild, eine Niederlassung aus
paläolithischer und neolithischer Zeit. Mit Beiträgen zahl-
reicher Autoren, 1 Karte, 31 Tafeln u. 35 Figuren im Text.
Zweite verbesserte u. vermehrte Auflage. Neue Denkschriften
d. allgem. Schweiz. Ges. für die gesamten Naturwissenschaften.
Zürich 1902. '
Die im Jahre 1876 erschienene erste Auflage ist, wie der Yerf. im
Vorwort bemerkt, durch 6 neue Tafeln und 28 Abbildungen im Text, dieser
selbst um 24 Seiten erweitert. Neu hinzugekommen ist ein Beitrag von
Victor Fatio in Genf „Quelques vertebres de poissons provenant des fouilles
du Schweizersbild,“ in welchem Fischwirbel folgender Arten angeführt sind:
Perca fluviatilis, Lota vulgaris, Salmo lacustris u. Esox lucius. Zweifelhaft
sind Squalius cephalus, Alburnus lucidus u. Gobio fluviatilis. Diese Reste,
die sich in der unteren u. oberen Nagetierschicht, zahlreicher in ersterer,
^orfanden, dürften — dem Erhaltungszustände nach zu urteilen —- durch
Raubvögel, Fischottern u. s. w. hierher geschleppt sein. Sie zeigen, dass
die ichthyologische Fauna der Gegend um Schaffhausen in zwei durch lange
Zeitläufe getrennten Perioden sich nicht viel von der recenten unterschied.
Was die anderen Tierreste anbetrifft, so hat M. Schlosser das übrig ge-
bliebene osteologisclie Material aus den verschiedenen Schichten vom Schweizers-
bild in dankenswerter Weise einer Untersuchung unterzogen, deren Resultate
48
B. Referate. Urgeschichte.
von Nüsch in seiner zusammenfassenden Abhandlung berücksichtigt wurden.
Vom Ref. ist noch ein Beitrag „Über die Thonscherben der neolithischen
Schicht der Niederlassung am Schweizersbild“ hinzugekommen, und sämtliche
Mitarbeiter haben zahlreiche dem gegenwärtigen Stande ihres Faches ent-
sprechende Zusätze gebracht. — Von dem sogen. Kommandostabe mit
Ritzzeichnung von zwei Wildpferden ist eine vortreffliche Abbildung auf
S. 97 gegeben. In der ersten Auflage ist derselbe noch in Trümmern, so
wie er gefunden wurde, dargestellt. Die Zusammenfügung desselben gelang
durch Auffindung eines den Ring oben schliessenden Stückes, welches weit
weg von dem Hauptstücke in der Niederlassung lag und erst später erkannt
wurde — ein untrüglicher Beweis für die Echtheit des Gegenstandes.
Nüesch schliesst sich der im Anz. f. Schweiz. Altertümer 1901, Heft 1
vertretenen Ansicht an, dass diese sog. Kommandostäbe nichts anderes sind
als Fibeln, welche zum Zusammenhalten der Felle auf der Brust unterhalb
des Halses dienten, und es dürfte an der Zeit sein, die Bezeichnung
Kommandostab durch Fibula palaeolithica zu ersetzen. Es würde zu
weit führen, auf alle die Gegenstände, die in der neuen Auflage des
„Schweizersbild“ vollkommener oder neu abgebildet und beschrieben sind,
hier einzugehen.
Hinsichtlich der Fauna sind inzwischen auch in anderen Teilen Mittel-
europas (Deutschland, Böhmen und Belgien) Funde von Fossilresten, namentlich
kleiner pleistocäner Wirbeltiere gemacht, die unsere Kenntnis über dieses
Gebiet bedeutend erweitern und die in der ersten Auflage geäusserte Auf-
fassung über die klimatischen Verhältnisse Mitteleuropas in postglacialer
Zeit bestätigen. Auch in Beziehung auf den geologischen Teil „Die Glacial-
bildungen um Schaffhausen und ihre Beziehungen zu den prähistorischen
Stationen des Schweizersbildes und von Thayngen“ kann A. Penck seine 189G
geäusserte Ansicht über das Alter derselben in der Hauptsache durchaus
aufrecht erhalten. Nur haben sich inzwischen mancherlei Beobachtungen
ergeben, welche das Bild der Quartärbildungen um Schaffhausen weiter
präcisiren. So zieht der Verf. seine Zweifel am Vorhandensein zweier
Deckenschotter in dortiger Gegend zurück und gelangt zu dem Schlüsse,
dass sich auch hier fluvioglaciale Bildungen von vier Eiszeiten unterscheiden
lassen. Ob das Schweizersbild von der letzten Vergletscherung noch erreicht
wurde, ist dem Verf. heute nicht mehr ganz sicher. Weitere Belehrung
über diesen Gegenstand ist in der Penckscheu Nachschrift zur zweiten
Auflage zu finden. Diese reiht sich in jeder Beziehung würdig an die
erste au, die dem Entdecker des Schweizersbildes bereits aus allen mit der
Anthropologie Fühlung habenden Kreisen die weitgehendste Anerkennung
brachte. jDr. Otto Schoetensack-IIeidelberg.
B. Referate. Urgeschichte.
49
53. F. Zschokke: Die Tierwelt der Schweiz in ihren Beziehungen
zur Eiszeit. Basel 1901. 71 S.
Die Schweiz war einst mit Gletschern bedeckt. Am Gletscherrande
tummelte sich eine heute zum Teil ausgestorbene, zum Teil aus unseren Ge-
genden ausgewanderterte Tier- und Pflanzenwelt. Als die Gletscher zurück-
wichen, da zogen auch die eiszeitlichen Pflanzen und Tiere mit denselben
gegen Norden und in das Hochgebirge. Darum finden wir heute noch eine
merkwürdige Übereinstimmung vieler Arten der nordischen und der hoch-
alpinen Fauna und Flora. Manche dieser Eiszeitformen sind aber auch als
Relikte im Tiefland zurückgeblieben, als einsame Zeugen uralter Zustände.
So blüht bei Schneisingen (Aargau) die Alpenrose und bei Aarau gedeiht
die Alpenerle. Knochenfunde in Höhlen lieferten die Beweise, dass einst
eine nordisch-alpine Tierwelt in der oberen Schweiz zu Hause war: das
Ren und der Vielfrass, der Steinbock und das Murmeltier etc.
Auch die niedere Tierwelt zeigt diese Verhältnisse, auch bei ihr
lassen sich zahlreiche Verbindungsglieder der alpinen Region mit dem hohen
Norden nachweisen, auch von ihr haben wir Relikte in der Hochebene und
im deutschen Mittelgebirge. Ja, der Verfasser zeigt, dass sogar unter den
tiefstehenden Wasserbewohnern, im sogenannten Plankton, zahlreiche Formen
existieren, welche eiszeitliche Charaktere an sich tragen und im Hoch-
gebirge, in grossen Tiefen der Alpenseen, sowie im hohen Norden sich
finden. Die Veränderung der Erdoberfläche hat ihr Spiegelbild in der
Verteilung und Lebensweise ihrer Bewohner. j)r. J. Heierli-Zürich.
54. E. v. Tröltsch: Die Pfahlbauten des Bodenseegebietes. Mit
461 Abbildgn. im Text. Stuttgart, F. Enke, 1902. X und
255 Seiten. 8°.
Die Zahl der Pfahlbaustationen im Bodensee ist auf über 50 gestiegen,
üie Funde sind in mehreren grösseren und kleineren Sammlungen zerstreut,
Und die Litteratur dazu ist nicht immer leicht erhältlich. Darum ist es
dankenswert, dass der leider kürzlich verstorbene Verfasser alles kurz
zusammengestellt und eine Monographie der Bodensee-Pfahlbauten geschrieben
hat. Die, wenn auch einfachen, Abbildungen sind willkommene Ergänzungen
des im Wort Gebotenen. Eigentlich sollten bei solchen Arbeiten Männer
Verschiedener Wissenschaften Zusammenarbeiten, denn der Prähistoriker kann
nicht auch Zoologe, Mineraloge, Kenner aller möglichen primitiven Techniken
sein. Es soll deshalb nicht als Vorwurf gegen den Verfasser gedeutet
Werden, wenn wir gewünscht hätten, dass z. B. über die Textilkunst der
•^fahlbauer nach dem neueren Stand unseres Wissens referiert worden wäre.
o ,
enr erfreut waren wir andrerseits, in dem Werke mancherorts neue Ge-
danken und Wegleitungen zu finden, die vielleicht neue Untersuchungen
rVOrrufen. jyr j Heierli-Zürich.
Intern, Centralbiatt fiir Anthropologie. 1903. 4
50
B. Referate. Urgeschichte.
55. A. Bodmer-Bender: Petrographische Untersuchungen von
Steinwerkzeugen und ihrer Rohmaterialien aus schweizerisch.
Pfahlbaustätten. Neues Jahrbuch für Mineral., Geol. und
Paläontologie, 1902. Beilage-Band XVI. Mit 4 Tafeln.
Auf den Pfahlbaustationen Yorstadt-Zug und St. Andreas bei Cham
wurden neben fertigen auch unfertige Steinwerkzeuge und das dazu ver-
wendete, z. T. schon angeschnittene Rohmaterial gefunden und von J. Heierli
dem Yerf. zur Untersuchung übergeben. Durch Yergleich desselben mit
verwandtem alpinen und anderweitigem Rohmaterial ergab sich auf Grund
chemischer und mikroskopischer Prüfung folgendes Resultat:
„Eine vollständige Lösung (der Frage der Heimat des untersuchten
Gesteinsmaterials) gelang nur bei den Serpentinen von Zug und Cham,
deren Rohmaterial auf der Gurschenalp im Gotthardgebiet anstehend und
in seinen mineralogischen wie chemischen Eigenschaften mit den Pfahlbau-
serpentinen durchaus identisch ist. Betr. der Nephrite der Stationen am
Zugersee konnte fast ganz sicher dargethan werden, dass sie in den
Amphibolformationen, welche die Serpentine der Gurschenalp am Gotthard
begleiten, zu Hause sind .... Ähnlich verhält es sich mit den Nephriten
vom Bieler- und Neuenburgersee, deren Material aus den Serpentin-
Amphibolformationen des Riffelberges im Wallis stammen dürfte. — Bei
der Prüfung des Jadeit- und Chloromelanitmaterials wurde durch Zu-
sammenstellung und Vergleichung ihrer ehern. Analysen mit ähnlichen als
Einschlüsse oder Konkretionen in massigen Felsarten (Granite, Syenite,
Gabbros) auftretenden Substanzen der Nachweis geliefert, dass die Jadeite
ein diesen Einschlüssen analoges Vorkommen haben müssen. In der That
zeigten sich dann bei der mikroskopischen Untersuchung der Saussuritte Ein-
schlüsse aus dichtem Jadeit, sodass auch für dieses letztere Gestein
die Frage seiner Herkunft gelöst erscheinen muss . . . Die Untersuchung
und Vergleichung der piemontesisclien Gesteine mit unseren Jadeiten
und Chloromelaniten hatte ein negatives Ergebnis, sie stimmen weder
morphologissh noch in ehern. Gestalt überein. Dagegen schien einige
Wahrscheinlichkeit dafür zu bestehen, dass die von Damour analysierten
französischen Chloromelanite in den Walliser Alpen resp. den Rhonegletscher-
ablagerungen gefunden worden sein könnten.“
Dr. Otto Schoetensack-Heidelberg.
56. J. Heierli: Die Nefritfrage, mit spezieller Berücksichtigung
der schweizerischen Funde. Anzeiger für Schweiz. Alter-
tumskunde, 1902/3. N. F., Bd. IV, Nr. 1, S. 1—7.
Die Nefritfrage hat eine reiche Litteratur erzeugt. In Bezug auf die
Herkunft des Nefrits und seiner Verwandten [Jadeit und Chloromelanit]
standen sich zwei Ansichten unvermittelt gegenüber: Die eine suchte diese
B Referate. Urgeschichte.
51
Rohmaterialien in entfernten Gegenden; die andere glaubte sie in der Nähe
nachweisbar. In den letzten Jahren hat die letztere Meinung, obwohl nicht
eigentlich bewiesen, immer mehr Anklang gefunden. Verfasser hat nun
mit Hülfe von chemischen Analysen und mikroskopischen Untersuchungen,
die von Herrn Bodmer in Zürich gemacht wurden, den Nachweis zu leisten
unternommen, dass nicht bloss, wie man seit langer Zeit wusste, der Saussurit
in der Schweiz anstehend gefunden wird, sondern auch die übrigen Nefritoide
und zwar Nefrit am Gotthard und im Wallis, Jadeit und Chloromelanit in
saussüritischen Gesteinen des Kts. Wallis. Dadurch sind nun zunächst die
ungemein zahlreichen Nefritfunde der Schweiz in ihrer Herkunft erklärt;
da aber im Grazer Museum nach den neuesten Nachrichten über 500 Stücke
Rohnefrit aus den Schottern der Mur geborgen sind, so ist es wohl ausser
Zweifel, dass auch in den Alpen Nefrit anstehend gefunden werden muss,
was Hofrat A. B. Meyer schon vor langer Zeit behauptet hat. Es wäre
sehr zu wünschen, dass auch in Graz einige chemische Analysen und
mineralog.-petrographische Untersuchungen Hand in Hand gingen mit einem
neuen Versuch zur Ermittlung des bezüglichen anstehenden Gesteins.
Selbstbericht.
y. Italien.
57. L. Pigorini: Prime scoperte ed osservazioni relative all’ etä
della pietra dell’ Italia. Rendic. d. R. Accad. dei Lincei,
cl. di scienze morali, stör, e filol. 1902. Vol. XI, S. 348.
Zusammenstellung der ziemlich zahlreichen Nachrichten aus der älteren
italienischen Literatur, aus denen hervorgeht, dass man bereits um die 2.
Hälfte des 16. Jahrh. den prähist. Steinwerkzeugen und Steinwaffen Auf-
merksamkeit schenkte und sie sammelte. Entsprechend der uralten Volks-
anschauung hielten einzelne Schriftsteller diese „Cerauniae“ für mit dem Blitz
herabgefallene Steine, andere jedoch, darunter Michele Mercati (1541 —1593),
v°n dem die älteste Nachricht herrührt, erkannten bereits ihren wahren Ur-
sprung und ihre wirkliche Bedeutung. Der erste, der in Italien über die
^teinwaffen, wie überhaupt über die vorgeschichtlichen Funde insgesamt
systematische Untersuchungen anstellte, war B. Gastaldi. Die vor ihm
(1860) liegenden Nachrichten (29 an der Zahl) stellt Verf. nun zusammen.
Dr. Buschan- Stettin.
58. 0. Montelius: On the earliest Communications between Italy
and Scandinavia. Journal of the Anthrop. Institute, 1900.
Vol. XXX. S. 89—94. Taf. V—VIII.
Zum Beweise eines frühen Handelsverkehrs zwischen Nord- und Süd-
europa führt M. eine Anzahl Beispiele an: Bronzegefässe der La Tene-Zeit,
aus der Hallstatt-Zeit gerippte Cisten und Situlen, etwas ältere Bronze-
4*
52
B. Referate. Urgeschichte.
gefässe, die mit nordischen Bronzen der Periode 5 zusammen Vorkommen;
aus den Beginne des letzten Jahrtausends vor Chr. Antennen- und Mörigen-
Schwerter, Bronzeschiide und Gefässe mit Rad- und Uräusschlangen-Motiven,
etwas ältere Bronzetassen und Opferwagen; aus der Mitte des 2. Jahrtausends
nordischen Bernstein in Mykenä, südliche Fibeln im Norden und südliche
Spiralornamente auf nordischen Bronzen; aus dem Anfauge des 2. Jahr-
tausends trianguläre Dolche und Celte. Alle diese Gegenstände sind häufig
im westlichen Ostereich, in Ostdeutschland und Skandinavien, aber selten
in Westeuropa. Demnach ging auch der Handel auf diesem östlichen Wege.
In der Diskussion macht Myres gegenüber der Gleichmässigkeit des
chronologischen Schemas darauf aufmerksam, dass im Mittelmeergebiete die
Kultur und die Expansionsfähigkeit wohl nicht überall und immer gleich-
mässig waren, und dass derartige Unregelmässigkeiten sich auch in den
nordischen Perioden bemerkbar machen müssten. y>r a. Götze-Berlin.
59. J. Déchelette: Montefortino et Ornavasso. Étude sur la
civilisation des Gaulois cisaipins. Revue arcliéol. 1902,
S. 245—283.
D. hat es unternommen, die archäologischen Yerhältnisse der La Tène-
Zeit Oberitaliens, welche ja für die Chronologie dieser Periode überhaupt
grundlegend sind, an der Hand einiger neuerer Ausgrabungen zu besprechen.
Den Anlass hierzu giebt ihm die Publikation des Gräberfeldes von Monte-
fortino durch Brizio, welcher im Anschluss an Gozzadini die gallische
La Tène-Kultur aus der etruskischen ableiten will, und zwar hauptsächlich
mit Hilfe des genannten Gräberfeldes. Dem tritt nun D. entgegen in einer
gründlichen Besprechung der Typen und der Chronologie dieser Nekropole.
Die Funde zeigen zwar stark etruskischen und nur wenig La Tène-Charakter,
auch will D. nicht bestreiten, dass sie dem gallischen Stamm der Senonen
angehören, sie können aber schwerlich früher als in den Anfang des 3. Jahrh.
datiert werden, und somit entfällt die Möglichkeit, sie als Vorläufer der
La Tène-Kultur in Anspruch zu nehmen.
In diesem Zusammenhänge sind ferner die beiden Gräberfelder von
Ornavasso (San Bernardo und Persona) wichtig. Sie lassen sich durch
zahlreiche Münzfunde ziemlich genau datieren, und zwar reichen die Münzen
von San Bernardo von 234—80 vor Chr., und diejenigen von Persona von
89 vor Chr. — 80 nach Chr. Diese beiden Gräberfelder zeigen — ab-
gesehen von römischen Einflüssen in den jüngsten Gräbern von Persona —
reinen Mittel- und Spät- La Tène-Charakter; namentlich hat sich hier der
Gebrauch des gallischen Schwertes bis ca. 90 vor Chr. fast ausschliesslich
erhalten. Beachtenswert ist, dass eine lokale Form der Mittel- La Tène-
Fibel ' mit extrem langer Spirale als Überlebsel bis in den Beginn der
römischen Kaiserzeit reicht. £)r. A. Götze-Berlin.
ß. Referate. Urgeschichte.
53
60. Walter Goetz: Ravenna. Leipzig und Berlin 1901. (= Be-
rühmte Kuüststätten, No. 10.)
Das kleine Werk, eine reich illustrierte Monographie über die Ge-
schichte Ravennas, ist ein schätzenswertes Hülfsmittel für jeden, der sich
mit der Erforschung der Yölkerwanderungszeit beschäftigt.* Denn Ravenna
hat gerade im 5. und 6. Jahrhundert seine Glanzzeit gehabt: zuerst unter
der Regierung der Galla Placidia, die 25 Jahre lang das weströmische
Reich für den unmündigen Valentinianus III. verwaltete, dann unter dem
Ostgoten Theoderich. Aus beiden Perioden ist gerade in Ravenna eine
Anzahl wohldatierter kirchlicher Bauten erhalten, deren Mosaik- und sonstiger
Schmuck auch für den Archäologen von hervorragendem Werte ist, da hier
zahlreiche Motive und Ornamente erscheinen, die auch zur Verzierung
profaner Gegenstände nicht selten benutzt worden sind. Zu erwähnen ist
in diesem Zusammenhang besonders das Mausoleum der Placidia und das-
jenige Theoderichs, dieses nicht — wie früher angenommen wurde — ein
Denkmal gotischer Kunstübung, sondern ein spätantikes Monument. Doch
fehlt es in Ravenna auch nicht an Dingen aus späterer Zeit: lehrreich ist
beispielsweise ein Vergleich zwischen zwei figurenreichen Mosaikgemälden
aus dem 6. und der zweiten Hälfte des 7. Jahrhunderts.
Die Abbildungen sind nach Photographie angefertigt, zum Teil sind
es dieselben, die in Springer’s Handbuch der Kunstgeschichte verwertet
worden sind, das in demselben Verlage erschienen ist.
Der Preis des nützlichen Werkchens beträgt nur 3 Mark.
Heinrich Kemke-Königsberg.
61. V. Giuffrida-Ruggeri: Materiale paletnologlca di una caverna
naturale di Isnello presso Cefalü in Sicilia. Atti d. Soc. di
Antropol di Roma. 1901. Vol. VIII, Fase. III, S. 337, 2 Taf.
Verf. untersucht die Skelettreste aus einer Höhle bei Isnella, Provinz
Palermo. Hier lagen bei neolithischen Geräten, Obsidian- und Topfstücken,
etwa hundert menschliche Skelette über einander gehäuft. Nur ganz wenig
wurde gerettet, so dass dem Verf. schliesslich nur 4 ganze Schädel,
9 mehr oder weniger schadhafte Schädel und viele Bruchstücke, 7 Femora
(alle verletzt), 4 Humeri und einzelnes andere Vorlagen.
Die Schädel, welche im Gegensatz zu solchen aus Westsicilien keine
O
°pur von künstlicher Färbung aufwiesen, haben keinerlei besonders auffallende
Merkmale. — Verf. beschreibt sie einzeln genau und giebt die Maasse in
eiQer Tabelle: sie sind dolichocephal oder mesocephal (Index 68,6—73,1
75,2—76,0) der Obergesichtsindex ist 47—48,4—53,4; es sind
drunter chamäprosope und leptoprosope, platyrhine und leptorhine, chamä-
conche und hypsiconche (bei so geringem Materiale!) vertreten. Bezüglich
dßr Extremitätenknochen sei hier nur die Platymerie der Oberschenkel und
54
B. Referate. Urgeschichte.
die Platyknemie der Tibien erwähnt. Verf. vergleicht sein Material mit
anderem aus prähistorischen Stätten Siciliens und ' findet stets dieselbe
Erscheinung einer starken Ungleichheit des Gesichts — bei geringer
Variabilität des Gehirnschädels. Er glaubt, dass, da man diese Erscheinung
auch bei anderen mediterranen Stämmen findet (Iberern, Italern), diese
starke Variabilität des Gesichtsschädels eine den dolicho-mesocephalen
Mediterraneern zukommende und typische Eigenschaft sei (im Gegensatz zur
Annahme von [drei] verschiedenen ethnischen Grundelementen, Jacques
u. a.), die man überall wieder finde, nicht nur in Europa, sondern auch
in Nordafrika. Zu dieser Rasse, mit denselben Eigenschaften ausgestattet,
gehöre nun auch die sog. Cro-Magnonrasse, wie ja schon andere Autoren
auf dieselben Beziehungen hingedeutet haben. Dass auch unter der heute
lebenden sicilischen Bevölkerung solche Typen gefunden werden, ist ebenso
natürlich, wie man in Frankreich heute Menschen vom Cro-Magnon-Typus
findet.
Schliesslich werden ganz kurz die Kulturreste beschrieben und Ab-
bildungen von ihnen beigefügt: Es fanden sich zwei kleine münzenförmige
Kupferstückchen, sechzehn Schaber oder Messerchen aus Obsidian, acht
Thonurnen, ohne jede Verzierung, ohne Farbreste, z. T. mit rohen Henkeln;
einige Peilen aus Stein, durchbohrt, dann drei grössere durchbohrte Stein-
kugeln, vielleicht als Knopf, Keulen dienend, endlich ein Stück eines Arm-
bandes aus einem kohlenartigen Gestein. Dr. Eugen Fischer-Freiburg i. B.
o. Balkanlialbinsel und seine Inseln.
62. M. M. Vassits: La Nécropole de Klicevac (Serbie). Revue
archéologique. Paris 1902. Bd. I, S. 172—190. Mit Abb.
Klicevac an der Donau ist durch ein Thonidol in Glockenform, welches
Hoernes beschrieb, als Fundort in weiteren Kreisen bekannt geworden.
1901 grub daselbst Vassits einen Urnenfriedhof auf, der eine ausnehmend
schöne Ausbeute an Gefässen mit reichen Kalkeinlage-Verzierungen bot.
Der Einfluss auf die Ornamentik weist nach Süden, nach Griechenland hin.
Die Analogien der Klicevacer Gefässe selbst wurden jedoch am linken Ufer
der Donau gefunden. Schon 1899 fand Referent die Glockenfigur in Temes-
Kubin, 1901 aber entdeckte derselbe in Dubovacz einen Urnenfriedhof mit
den gleich reichverzierten Gefässen. Wie überall, wo die Keramik hoch
entwickelt ist, das Metall fehlt, so wurde auch weder in Klicevac, noch in
Dubovacz solches gefunden, und lässt sich auch nur auf Grund von Ver-
gleichungen bestimmen, dass Klicevac in die Hallstätter Periode einzu-
reihen ist. Felix Milleker-Werschetz.
B. Referate. Urgeschichte.
55
63. M. M. Vassits: Die neoiithische Station Jablanica bei Med-
iuluzie in Serbien. Archiv für Anthropologie, 1902. Bd.XXYII,
Heft 4. Mit Abb.
Jeder einzelne Fund aus dem Gebiete der Balkanhalbinsel ist von
hoher Bedeutung. Vermittelte doch dieselbe die Kulturfortschritte von Osten
und Westen, Norden und Süden. Um wievieles mehr erwecken unser Inter-
esse ganze Stationen. Vassits legt uns in vorliegender Arbeit die Resultate
der Durchforschung einer solchen, die circa 50 km südlich von Belgrad
auf einem Hügel bei Jablanica liegt, vor. Von einem Gebiet von beiläufig
40 ha Grösse grub V. wohl nur 84 qm auf, jedoch mit ausserordentlich
glücklichem Erfolge. U. a. wurden nicht weniger denn 83 ganze und frag-
mentierte Thonidole zu Tage gefördert, die u. a. abermals den Beweis
liefern, dass die ältesten uns bekannten Skulpturwerke nur das Weib zur
Darstellung gebracht haben. Jablanica kann durch diesen Fund hinsichtlich
der Zahl und Typen der Skulpturen, die auf einem und demselben Orte
gefunden worden sind, als die reichste derartige Fundstelle bezeichnet werden,
welche bis nun entdeckt wurde.
Was die Bolle anbelaugt, welche dieser Station als Bindeglied zwischen
Butmir im Westen, Troja und den übrigen Orten im Süden und Tordos
nnd Lengyel im Norden zukommt, so ist dieselbe eine wichtige zu nennen.
Was man schon längst suchte, die mannigfaltigen Verbindungen und gegen-
seitigen Beziehungen zwischen allen den erwähnten Fundorten, ist damit zu
beweisen gelungen. — Wertvoll ist auch das Material an Schmuckgegen-
ständen aus Thon und das keramische Material, welches in Bezug auf Typen
und Technik mit den Funden von Bos-öjuk in Kleinasien in engster Ver-
bindung steht. Felix Milleker- Werschetz.
64. A. J. Evans: The Palace of Knossos. Provisional report
of the excavations for the year 1901. Animal of the British
School at Athens. No. VII, 1900—1901, 120 S.
Die Fortsetzung der Ausgrabung hat mit überaus günstigem Erfolge
vom 27. Februar bis 17. Juni stattgefunden. Abgesehen von einigen kon-
servierenden Arbeiten wurde eine grössere Fläche des wider Erwarten aus-
gedehnten Palastgebietes untersucht, wobei eine Anzahl Räume mit teilweise
recht interessanten baulichen Details wie Säulenstellungen und Treppen
freigelegt wurden, darunter auch Baderäume und Magazine mit vielen Pithoi.
Von Interesse sind Anklänge an die Minotaurus-Sage, wie man sie in Dar-
stellungen stierköpfiger Menschengestalten auf Thonsiegeln und Gemmen
UQd in dem Freskobild eines weiblichen Toreadors sehen kann. Auch die
Darstellungen von Doppeläxten auf einem Gefäss und an Wänden erinnern
an das mit diesem Sagenkreis verknüpfte Labyrinth (s. o. N. . . ). Ein
56
B. Referate. Urgeschichte.
ägyptischer Alabasterdeckel mit der Kartouche des Hyksoskönigs Khyan
(19.—17. Jht.) ist für die Datierung des ganzen Palastes wichtig. Er
wurde in einer Schicht gefunden, welche unmittelbar unter den mykenischen
Fundamenten liegt; dieselbe Schicht enthält zahlreiche Fragmente von Stein-
vasen, die sich in Form und Ornament von denjenigen des entwickelten
mykenischen Stils unterscheiden. Ferner wurde ein Thongefäss mit einer
eingeritzten Inschrift gefunden und zwar in demselben Raume wie eine
Anzahl Thongefässe vom Charakter der prämykenischen Kamares-Keramik;
letztere reicht demnach mit ihren Ausläufern bis in die mykenische Zeit.
Von den sonstigen Funden seien hervorgehoben: das Freskobild eines
Mädchens, ein Relief eines Faustkämpfers, ein grosses Steingewicht mit
Reliefdarstellungen von Tintenfischen, eine reichverzierte riesige Stein-Amphora
von 69 cm Höhe und 2*^ m Umfang sowie die Überreste eines prachtvollen
Spielbrettes aus Elfenbein und Gold mit Einlagen von Bergkrystall, Silber-
platten und blauem Glasfluss. Br. A. Götze-Berlin.
65. A. J. Evans: The Mycenaen tree and pillar cult and its
mediterranean relations. With illustrations from recent
Cretan finds. London, Macmillan, 1901. 8°, XII, 106 S.
Die neuen Ausgrabungen auf Kreta, die nach den verschiedensten
Richtungen hin von grösstem Interesse sind, lassen auch auf eine im allge-
meinen schwer zu deutende Klasse von Denkmälern erwünschtes Licht fallen,
nämlich auf gewisse Gegenstände des religiösen Kults. Es ergeben sich
jetzt, wie Evans in überzeugender Weise darlegt, Beziehungen des alten
Baum- und Pfeilerkults zu Darstellungen von Altären, Doppeläxten, den
„horns of consecration“, den heraldischen Tieren nach Art des Löwenthor-
Reliefs und schliesslich auch zu megalithischen Bauten. Hiervon ist für
die Prähistorie von der grössten Bedeutung, was E. über die horns of conse-
cration sagt. Das sind Figuren in Form zweier von einer Basis aufstrebender
Hörner, von denen eine Menge Beispiele aus dem mykenischen Kulturkreise
beigebracht werden. Sie bilden häufig die Unterlage, gewissermassen einen
Sessel für heilige Bäume oder Pfeiler, oder auch für die Doppelaxt, das
Symbol des kretischen Zeus; sie stehen so einerseits — als Träger der
Gottheit — in Beziehung zu dem Reichelschen Thronkult, andrerseits zu
den ebenfalls in mykenischer Zeit vorkommenden Stierköpfen mit der Doppel-
axt zwischen den Hörnern. Gewisse symbolische Gegenstände, wie eben
die Doppelaxt, erscheinen als sichtbare Personifikationen der Gottheit und
werden so selbst Objekte der Yerehrung. Die Doppelaxt führt weiter zur
Erklärung des Labyrinthes. Labrys ist nämlich nach E. der lydische (oder
karische) Name für das griechische TceÄexu^, die zweischneidige Axt; das
kretische Labyrinth wäre also „das Haus der Doppelaxt“. Yon hohem
Interesse^ für die Kenntnis des mykenischen Kults ist ein im Palaste von
B. Referate. Urgeschichte. 57
Knossos aufgefuudenes Freskobild mit der Darstellung der Fassade eines
mykenischen Tempels. Br. A. Götze-Berlin.
e. Österreich-Ungarn.
66. L. Domeöka: Nälezy pfedhist. v s. v. Cechäch (Prähist.
Funde in N.O.-Böhmen). Pamätky archaeol. 1901. Bd. XIX,
S. 389.
Kurzer Bericht über die Funde aus der Umgebung von Königgrätz,
die im dortigen Museum deponiert sind: 4 Feuersteingeräte neben dilu-
vialen Knochen gefunden, Objekte aus den neolithischen Kulturgruben
von Plotiste, Placky, Chlum etc. (Keramik mit Stich- und Yolutenornament),
aus den Urnenfeldern vom schlesischen Typus in Trebechowitz, Cernilov,
Pfedmefitz, Königgrätz, Kukleny, Rosnitz, aus den La Tenegräbern bei
Horenitz, Unter-Gutwasser, Funde aus der Römerzeit bei Lochenitz, Ylkov,
Gr. Skalitz etc., aus der slavischen Zeit (slav. Schläfenringe und Burg-
■svallkeramik) aus Königgrätz, Jeritz, Lochenitz etc. Br. H. Matieglca-Prag.
67. L Domecka: Nälezy „na hrade“ v Hradci Kral (Die Funde
„auf der Burg“ in Königgrätz). Pamätky archaeol. 1901.
Bd. XIX, S. 529.
Sicherstellung der 4 Schichten (Burgwall, altchristliche, historische,
Neueste Aufschüttung) an Stelle der im J. 1423 zerstörten Burg.
Dr. H. Matiegka-Prag.
68. Al. Prochäzka: Nektere nälezy predm. starna Vyskovsku
(Einige Funde von Altertümern in der Gegend von Wischau-
Mähren). Casopis vl. spol. muz. v Olom. 1901. Bd. XVIII,
S. 83.
Finzelfunde, zumeist Steinwerkzeuge aus der an solchen Funden reichen
Oegend, überdies eine Bronzelanzenspitze, ein Celt, Bronzefibeln etc.
Br. H. Matiegka-Prag.
69. J. Knies: 0 nekterych pfedhist. hradistich na Morave
(Über einige prähist. Burgwälle in Mähren). Casopis vl.
sp. muz. v Olomouci, 1901. Bd. XIX, S. 55. Mit 4
Planskizzen.
1. Burgwall „Na liradiskäch“ bei Mohelno (Bez. Trebitsch), durch
steile Abhänge, an einer Seite durch einen Graben geschützt. — 2. Burgwall
bei ^edrovic (Bez. Mähr. Krumau) mit Graben und Wall. — 3. Kleiner,
^06 Schritte im Umfang messender, als „befestigte Warte“ gedeuteter
ßUrgwall bei Bil ovic (Bez. Göding) unweit einer prähistorischen An-
siedlung. — 4, Burgwall „Hradisko“ bei Kokor (Bez. Prerau), zum Teil
58
B. Referate. Urgeschichte.
von Natur, zum Teil durch Wall und Graben geschützt. — 5. Ansiedlung
auf einer von Natur geschützten Anhöhe bei Krhow (Bez. Boskowitz).
6. Burgwall „Na hradiskäch“ bei Senohrad (Bez. Trebitsch) durch Fels-
abhänge und z. T. einen Wall und Graben geschützt. — In allen Burg-
wällen wurden Scherben von aus freier Hand gefertigten, z. T. graphitierten
Gefässen, Feuersteinmesser, Steinmeissei und Beile, Beinartefakte, bei 5 edrovic
auch ein Bronzewirtel, bei Senohrad Thonkegel und ein Bronzenadelfragment,
bei Krhov ein Eisenring gefunden. Br. H. Matieqka-Praq.
70. J. Hellich: Kostrove hroby lateneske na Podebradsku (Skelet-
gräber der La Tenezeit in der Gegend von Podebrad).
Pamatky archaeol., 1901. Bd. XIX, S. 385. Mit Abbildungen.
(Ygl. dieses Centralbl. VI, S. 246.)
4. Grabfeld bei Kola’j mit Bronzearmbändern und Fibel. —
5. Grabfeld bei Korec (Zehün). — 6. Einzelnfunde (keltische Goldmünze,
Bronzepfeilspitze, röm. Eisenmesser mit verziertem Bronzegriff).
Br. H. Matiegka-Prag.
71. J. L. Cervinka: Kostrovy hrob u Slavkova (Skelettgrab bei
Slavkov und die gallischen Altertümer in Mähren). Casopis
vlast. spol. muz. v Olomouci 1901, S. 1. Mit 1 Tafel.
Diesen La Tenefund — Skelettgrab mit offenen Arm- und Fussringen,
Bronzering, Fibula, insgesamt vom Duxer System, und einem auf der Dreh-
scheibe gefertigten Topf — benützt Verf., ein guter Kenner der mährischen
Prähistorie, zur Besprechung der La Tenefunde in Mähren überhaupt.
Die Gräber sind über das ganze Land verbreitet, wurden aber bisher stets
vereinzelt gefunden und entbehren (mit Ausnahme eines Falles unter 20)
des typischen, kriegerischen Charakters. Zwei erhaltene Schädel
waren brachycephal zum Unterschiede von den dolichocephalen, älteren Hocker-
gräberschädeln. Als Beigaben erscheinen am häufigsten gekerbte oder Buckel-
armbänder aus Bronze, vereinzelt Glas- und Lignitringe, Bronze- und Eisen-
fibeln, Eisenschwerter, Lanzen, Pfeilspitzen etc. Überdies kommen einzelne
dieser Kultur angehörige Objekte in den zahlreichen Urnenfeldern vor. Aus
diesem Umstande, aus dem verstreuten und vereinzelten Vorkommen der
Gräber und ihrem friedlichen Charakter schliesst Verf., dass es sich hier
nicht um die Reste einer ansässigen, herrschenden Einwohnerschaft, sondern
nur um Vertreter einer fremden Kultur und Zeugen eines friedlichen Verkehrs
mit dem eigentlichen La Tene-Volke handelt. Br. ff. Matiegka-Prag.
B. Referate. Urgeschichte.
59
72. L. Snajdr: La Tensk6 pohrebiste u Horenic (Das La Tene-
grabfeld bei Horenic [N.O.-Böhmen]). Pamatky arcbaeol.
1902. Bd. XIX, S. 523.
Ein Dutzend Skelettgräber (nebst 2 Urnengräbern) mit typischem
La Tene-Inventar: 5 eisernen Lanzenspitzen, 3 Schwertern mit Scheide,
Schildbuckel, Schildbeschlag, Fibel, Armringen und Ringelchen, bronzenen
Arm- und Fussringen, Bronzefibeln, einem Lignitringe, Glasringelchen und
einigen Gefässen. Unter den Arm- und Fussringen finden sich offene, glatte
wie gekerbte, sowie aus zwei, durch Schliessen verbundenen Teilen bestehende
Buckelringe. Dr. H. Matiegka-Prag.
73. Koloman von Darnay: Das Diadem von Csabrendek (Korn.
Zala). (Ung.) Archaeolögiai Ertesitö, M. F., 1901. Bd. XXI,
S. 432—434. Mit Abb.
Im Csabrendeker Hallstätter Friedhofe öffnete Darnay ein Grab, welches
mit Kalksteinen umstellt war. Dasselbe enthielt ein Frauenskelett ohne
Reigefässe, dafür interessanten Bronzeschmuck. Über dem Schädel war ein
Diadem, unter dem Kinn eine Spiralschnur, in der Gegend des Brustkorbes
ejne Ziernadel, am rechten und linken Arme je ein Spiralarmband; unmittel-
bar ausserhalb des Steinkreises aber lag ein kleiner eiserner Hammer. Das
Diadem ist ein in der Mitte 0,05 m breiter Blechstreifen, der gegen die
offenen Enden zu sich verjüngt. Sein innerer Durchmesser beträgt 0,15 m.
Die Yerzierungen sind teils getrieben (kl. Buckel), teils punziert (parallele
Kreise und Kreisregmente). Felix Milleker-Werschetz.
74. Ladislaus Dömötör: Über einige aus der Uransiedelung von
Pecska (Arader Komitat) stammende Gussformen. (Ung.)
Archaeolög. Ertesitö, N. F., 1902. Bd. XXII, S. 271—274.
Mit Abb.
Eine im August 1901 vorgenommene Ausgrabung des Pecskaer Hügels,
"eiche viele Stein- und Beingeräte, sowie Thongefässse ergab, lieferte bei
wenigen Bronzeartefakten 5 Gussformen für Bronzeobjekte, welche aus dem
Anfänge der Bronzezeit stammen. Eine vollständige, aus gebranntem Thon
angefertigte Gussform diente zur Herstellung von flachen massiven Meissein,
(‘iner Form der späteren Steinzeit. Dieser Umstand erlaubt die Annahme,
(Uss der mit dem Schmelzen der Metalle schon bekannte Mensch das Stein-
werkzeug in Thon abdrückte, die Form brannte und dann dieselbe mit
E
r rz ausgoss. Die Form ist so primitiv, dass nicht einmal die Spur eines
^apfens vorhanden ist, welcher die beiden Hälften zusammmenhält. Yon
(Un übrigen Formen sind drei Hälften auf beiden Seiten benutzbar. Yor
60
B. Referate. 'Urgeschichte.
dem Gusse wurden die Negative mit Graphit eingerieben; dieser Stoff
verband sich infolge der Wirkung des Schmelzens mit der Form und schwärzte
dieselbe. Felix Milleker- Werschetz.
75. Felix Milleker: Neuere Funde von Vattina (bei Werschetz).
(Ung.) Archaeolög. Ertesitö, N. F., 1902. Bd. XXII, S. 48
bis 68. Mit Abb.
In vorliegendem Berichte werden die 1898—1901 gesammelten Objekte
mitgeteilt, unter welchen vogelförmige Thongefässe und geschnitzte Hirsch-
hornsachen im Hallstätter Stile die nennenswertesten sind. Selbstbericht.
76. Felix Milleker: Ausgrabung in Ulma (Kom. Temes). (Ung.)
Tört. es Reg. Ertesitö, N. F., 1901. Bd. XVII, S. 19—22.
Mit Abb.
Im Juli 1901 grub Ref. in der Gemarkung von Ulma einen Tumulus
auf. In demselben lag in einer Eichenkiste seitwärts zusammengekauert,
mit dem Gesichte gegen Ost gewendet, das Skelett eines 12—15jährigen
Mädchens. Unter dem Kinn war eine kleine Cylinderspirale aus blassem
(siebenbürgischem) Golde, an beiden Seiten des Schädels je ein Ringlein
aus dunklerem Golde und dabei ein kleiner Knollen Harz, in welches auch
kleine Goldfragmente eingedrückt waren. Lederreste mit Bronzestiften waren
in der Fussgegend vorhanden. Die Kiste, welche an den Kanten mit Röthel-
Streifen geschmückt war, ruhte auf vom Feuer gehärteter Erde, auf der
Basis des Hügels.
Der Hügel wird im Volksmunde „Kralyicza“ (serbisch: „Königstochter4-)
genannt; es heissen so noch einige Hügel der Gegend. In denselben sollen
der Sage nach Königstöchter begraben sein (Die analoge Sage — Central-
blatt, 1902, Nr. 47). Selbstbericht.
77. Edmund Gohl: Der Münzfund von Nadasd (Rohrbach, Kom.
Ödenburg). (Ung.) Arcliaeolögiai Ertesitö, N. F., 1902.
Bd. XXII, S. 322—331. Mit Abb.
1899 wurden hier 43 Stück — 11 Varianten — keltischer Gold-
münzen gefunden. Dieselben wurden mittels Stempels auf einem Amboss
geschlagen. Die Hälfte davon hat Muschelform. Der Fund ist verwandt
mit dem Funde von Podmokl in Böhmen. Diese Münzen wurden von
den Bojern nach den Goldstateren Alexander des Grossen verfertigt und,
speziell die nädasder, in Böhmen erzeugt und mit nach Pannonien gebracht.
Felix Milleker - Werschetz.
B. Referate. Urgeschichte.
61
78. Lad. Dömötör: Thongefässe aus der Römerzeit aus der
„grossen Schanze“ von Pecska (Korn. Arad). (Ung.) Arch.
Ertesitö, N. F., 1901. Bd. XXI, S. 327—335. Mit Abb.
Im südlichen Teile der „grossen Schanze“ fand Dömötör blaugraue,
auf der Töpferscheibe gedrehte Befasse, darunter pilzförmige, dabei Myrthen,
sodann Deckel, endlich tiefbauchige Gefässe, welche die charakteristische
keltische Form haben. Die ersteren waren also Räuchergefässe. Interessant
ist, dass neben den niedrigen pilzförmigen Gefässen der Römerzeit auch
noch die hohen, primitiven der älteren Zeit vorkamen.
Felix Milleker - Werschetz.
79. Arnold Börzsönyi: Ein Friedhof aus dem älteren Mittelalter
in Györ (Raab). (Ung.) Archaeolög. Ertesitö, N. F., 1902.
Bd. XXII, S. 12—24 und 128—143. Mit Abb.
Südlich von der Stadt war ein Friedhof, dessen Beigaben verschiedenen
Perioden angehören. Von den Objekten sarinatischen Stiles bis zu denen
der Avarenzeit sind alle Arten vertreten. Die meisten sind jedoch den
Avaren zuzuschreiben, die ihre Toten oft sitzend und mit dem Gesichte
Qach Ost gerichtet mit reichen Beigaben beisetzten.
Felix Milleker- Werschetz.
80. Ladislaus Eber: Grabfunde aus dem älteren Mittelalter von
Abony (Korn. Pest). (Ung.) Archaeol. Ert, N. F., 1902.
Bd. XXII, S. 241—263. Mit Abb.
Die Kenntnis jener Begräbnisstätte, welche Eber auf Kosten des Ung.
Nat.-Museums 1900 auszugraben begann, erweiterte die 1901 ausgeführte
Ausgrabung sehr bedeutend. 117 Gräber wurden diesmal geöffnet. Meistens
^raren es Frauen- und Kindergräber und zeigten die Artefakte, dass der
Stamm, welcher in Abony seine Toten zurückliess, in seinem Kunstgewerbe
Sehr wenig Selbständigkeit besass; denn viele Objekte zeigen spätrömischen
Einfluss. Felix Milleker- Werschetz.
81. Josef Hampel: Altertümer aus der Zeit der Landnahme.
(Ung.) Archaeol. Ertesitö, N. F., 1902. Bd. XXII, S. 296
bis 316. Mit Abb.
Seit dem Erscheinen des Milleniumswerkes (1900) (vergl. Central-
blatt 1901) sammelte sich ziemlich viel neues Material an. Auch jetzt
Wen das Alföld und die Gegend jenseits der Donau die Funde. Es sind
cWen zwölf. Am interessantesten unter den mitgeteilten Objekten sind
^ -Beinplättchen, welche auf einer Seite mit geschnitzten flachen Reliefs
^schmückt sind, die aus schlängelnden Bändern mit Rankenmustern bestehen,
^selben können den unteren Rand eines Sattelgestelles geziert haben.
Felix Milleker- Werschetz.
62
B. Referate. Urgeschichte.
82. Baron Adalbert Nyäry: Ein Friedhof aus dem ersten Jahr-
hundert unseres Königstums. (Ung.) Archaeol. Ertesitö,
N. F., 1902. Bd. XXII, S. 210—241. Mit Abb.
In der Gemarkung von Piliny, wo schon früher Baron Eugen Nyary
den Spaten mit Erfolg gebrauchte, grub Baron Ad. Nyary den Sirmeny-
Berg auf und legte dabei 78 Gräber (mit Münzbeigaben aus der Zeit von
St. Stefan bis St. Ladislaus) blos. Der Friedhof zieht sich auf der südl.
Seite des Hügels vom Gipfel bis zur Mitte des Abhanges hin. Die Gräber
sind koncentrisch zum Gipfel aneinander gereiht. Stand und Alter sind
nicht getrennt. Ein Sarg wurde nicht konstatiert. In drei Fällen lag der
Tote auf einem Brette. Dafür fanden sich Spuren von Kopfpolster und
Überdecke. In drei Gräbern lag ein zusammengedrücktes Ei. In einigen
Gräbern waren Spuren von Feuerung nachweisbar, doch war die Leiche
davon unberührt geblieben. Eine circa 10 Schritte im Durchmesser auf-
weisende Stelle war der Ort, wo das Totenmahl bereitet wurde, da sie
mit groben Topfscherben und Knochen bedeckt war; doch fanden sich da-
selbst keinerlei Werkzeuge oder ganze Thongefässe vor.
Die Leichen lagen auf dem Rücken und der Kopf war gegen Ost
gewendet. Kriegergräber gab es nur zwei, in diese waren die waffen-
fähigen Männer mit ihren Abzeichen, Pfeilen und Pferden versenkt. Drei-
mal fand sich ein Torques, „Schläfenringe“ aber waren sehr oft vertreten;
letztere dienten als Haarringe. Unter den zahlreichen Armbändern gab es
einige von der Form der geschlossenen Reifen, die für die erste Arpaden-
zeit charakteristisch sind. Häufig erscheinen auch Fingerringe, doch meistens
in Reifenform. Perlenschnüre gab es fünf; Amethyst, Cyprea, Glas, Pasta,
Bernstein, Silber und Bronze waren das Material für die Perlen. Ein
Reitergrab enthielt ausser dem Begrabenen vom Pferde nur den Kopf und
einen Teil des Halses und die Füsse mit dem Zaumzeug.
Felix Milleker- Wersehetz.
83. Curcic: Ein Flachgräberfeld der Japoden in Ribic bei Bihac.
Wissenschaft!. Mitteilungen aus Bosnien und der Hercegovina
1900. Bd. VII, S. 3—32. Taf. I—III, 46 Textabb.
Das vom Verf. und Fiala untersuchte Gräberfeld ist das zweitgrösste
Bosniens. Die 214 Gräber, welche eine reiche Ausbeute in das bosnische
Landesmuseum lieferten, sind sämtlich Flachgräber und zwar in der Mehr-
zahl Urnengräber, nur 6 Skelettgräber. Die Urnen waren teils bedeckt
teils mit einer Schüssel verschlossen, eine zweite Schüssel diente häufig als
Unterlage; ausserdem waren die Urnen oft mit einer oder zwei Steinplatten
bedeckt. Ausser den Thonurnen kamen 6 cylindrische Steinurnen und
1 viereckige Steinkiste vor. Die Chronologie des Gräberfeldes ist durch die
zahlreichen Fibeln gesichert. Die ältesten sind Certosa-Fibeln (nur 4 Stück),
B. Referate. Urgeschichte.
63
ebenso wurden nur 4 Früh-La Tene-Fibeln gefunden. Die Hauptmenge sind
Mittel-La Tene-Fibeln (126 Stück), aber Aviederum nur 13 Spät-La Tene-
Fibeln. Dann folgen noch 69 römische Fibeln, meist frühe Typen. Wenn
man die wenigen Certosa- und Früh-La Tene Fibeln als Uberlebsel ansieht,
beginnt also das Gräberfeld in der Mittel-La Tene-Zeit und reicht bis in
die römische Kaiserzeit, und zAvar nach Ausweis der Münzen bis in die
ZAveite Hälfte des 2. Jahrhunderts. Die geringe Anzahl der Spät-La Tene-
Fibeln kann man durch eine relativ lange Dauer der Mittel-La Tene-Kultur
und ein frühes Einsetzen der römischen Kultur erklären.
Dr. A. Götze-Berlin.
84. I. Szombathy: Das Grabfeld zu Idria bei Baca in der Graf-
schaft Görz. Mit 231 Abb. Mitteil, der prähist. Commission
der Kais. Akad. d. Wissensch. 1901, No. 5, S. 291—363.
Die unweit des bekannten Gräberfeldes Sta. Lucia liegende Nekropole
von Idria, Avelche von Szombathy untersucht wurde, enthält 47 Gräber;
mit zAvei Ausnahmen sind es Brandgräber. Sie werden in chronologischer
Anordnung beschrieben und sämtliche einigermassen gut erhaltene Stücke
■Werden abgebildet, Avas man besonders anerkennen muss. Die Fibeltypen
beginnen in der mittleren Hallstattzeit, sie laufen dann durch die jüngere
Hallstattzeit und die ganze La Tene-Zeit bis in den Beginn der römischen
Kaiserzeit. Zwei Gräber gehören der spätrömischen Zeit an. Unter den
Kundgegenständen befinden sich eine Anzahl schöner und Avichtiger Stücke,
s° eine behelmte Bronzefigur, mehrere Helme, ziemlich viel Bronzegefässe,
eine Anzahl landwirtschaftlicher Geräte und namentlich mehrere Inschriften,
über welche ausser den Deutungsversuchen Szombathys auch eine Äusserung
Kretschmers mitgeteilt wird.
Das Gräberfeld ist von prinzipieller Bedeutung für die Beurteilung
Prähistorischer Funde hinsichtlich ihres chronologischen Wertes. Es demon-
tiert mit aller nur wünschensAverten Deutlichkeit, Avieviel oder vielmehr
Wie wenig in gewissen Fällen eine Leitform für die Datierung eines Grabes
°der einer anderen Anlage massgebend zu sein braucht. Wir sehen da, um
Y°n mehreren Fällen nur ein basonders eklatantes Beispiel zu nennen, in
emem Grabe (No. 16) 2 Mittel-La Tene-Fibeln, 1 Spät-La Tene-Fibel und
1 römische Charnierfiebel vereinigt. Beim zufälligen Fehlen der für die
Zeit der Grabanlage charakteristischen Leitformen, wie sie Sz. bei Grab 1
Ur*d 14 vermutet, kann dieser Umstand für die Datierung des Grabes und
Weiterhin für die Bestimmung der begleitenden Typen geradezu verkängnis-
v°9 werden. In demselben Sinne ist ein Helm beachtenswert, dessen Typus
der jüngeren Hallstattzeit angehört, während eine darauf befindliche römische
HSchrift den Charakter des 2. Jahrhunderts hat. Dr. A. Götze-Berlin.
64
B. Referate. Urgeschichte. — C. Tagesgeschichte.
E,. Russland.
85. Ausgrabungen in der Umgebung des Subow’schen Landgutes
im Gebiet von Kuban- Mit 1 Taf. und 33 Figuren im Text
(Russ.). Nachrichten der K. Archäolog. Commission. St.
Petersburg, 1902. Liefg. 1, S. 94—183.
Im Kuban-Gebiet zwischen dem Flusse Selentschuk einerseits und
dem Kuban-Flusse andererseits, 20 Werst (Kilomet.) von der Stanitza
Tenginskoj befinden sich auf Grund und Boden des genannten Landgutes
einige Kurgane, von denen 4 durch Sabrodin 1899 untersucht worden sind;
2 davon gaben sehr interessante Funde. Die Fundgegenstände sind zum
grössten Teil für die K. Eremitage in St Petersburg erworben und wurden
bereits vor kurzem durch G. Kiseritzky im Jahrbuch des Deutschen Archäol.
Instituts, Bd. XVI, Heft 2, beschrieben. Prof. Dr. L. Stieda-Königsberg.
C. Tagesgeschichte.
Amsterdam. Dr. Eugen Dubois, der Entdecker des Pithecanthropus erectus
auf Java, wurde als Professor für Paläontologie an die städt. Universität in A. berufen.
Asuncion. Guido Boggiani, ursprünglich Landschaftsmaler, bekannter Er-
forscher der ethnographischen Verhältnisse Südamerikas, im besonderen des Gran
Chaco, dessen reichhaltige Sammlung die Museen von Rom, Berlin und Stuttgart
zieren, wurde auf seiner zweiten Forschungsreise nach dem Innern des Chaco er-
mordet; die behufs seiner Aufsuchung darthin abgesandte Expedition kehrte mit
den sterblichen Überresten nach Asuncion zurück.
Batavia. Zum Nachfolger Serruriers wurde C. M. Pleyte berufen.
Bern. Am 10. Mai verstarb im Alter von 64 Jahren Dr. Edmund v. Feilen-
berg, Direktor der urgeschichtl. Abteilung des Berner histor. Museums, bekannt
durch seine Erforschung der Pfahlbauten am Bielersee.
Brüssel. Ein offizieller Lehrstuhl für Anthropologie wurde an der Ecole
des Sciences sociales, einem mit der Universität verbundenen Institute, gegründet
und Dr. E. Houze, dem verdienten Vorsitzenden der Brüsseler Anthropol. Gesell-
schaft, übertragen.
Frankfurt a. M. Hofrat Dr. Hagen wurde von der Münchener anthropol.
Gesellschaft zum korrespond. Ehrenmitgliede und von der anthrop. Sektion der
Gesellschaft der Freunde der Naturwissenschaften in Moskau zum auswärtigen Mit-
gliede ernannt.
Giessen. Eine „Hessische Gesellschaft für Volkskunde“ wurde kürzlich in
G. begründet. Das Organ derselben sind die „Hessischen Blätter für Volkskunde“
unter der Leitung von Prof. Adolf Strack.
München. Die Akademie der Wissenschaften erwählte zum ordentl. Mitglied
der math.-physik. Klasse Prof. Dr. J. Ranke.
Tokio. Prof. E. Balz wurde anlässlich seines 25jährigen Jubiläums an der
Universität T. von der japan. Regierung eine goldene Medaille verliehen.
Washington. Am 23. September 1902 verstarb im Alter von 68 Jahren
JohnWesley Powell, der Direktor des Bureau of Ethnologie. Geboren am 24. März
1834 zu Mount Morris (New York) wandte er sich zunächst der geolog. Forschung
zu und erlangte auf diesem Gebiete eine nicht minder grosse Berühmtheit, als auf
dem der Ethnologie, auf welches ihn seine häufigen Reisen in die Indianerdistrikte
des Westens führten. Seit 1879, der Begründung des mit der Smithsonian Insti-
tution verbundenen Bureau of Ethnology war er mit voller Hingabe und grosser
Sachkenntnis für dasselbe thätig. — Zum Nachfolger Powolls als Direktor des Bureau
of Ethnology wurde Prof. W. H Holmes, erster Assistent am Nationalmuseum,
berufen.
Internationales Centralblatt
für
Anthropologie und verwandte Wissenschaften
in Verbindung mit
£>. Anutschin-Moskau, T. de A ran z ad i-Barcelona, G. Colini-Rom,
A. Götze-Berlin, Fr. Heger-Wien, J. Heierli-Zürich, A. H. Keane-London,
Y. Koganei-Tokyo, F. v. Luschan-Berlin, L. Manouvrier-Paris,
R. Mart in-Zürich, O. M o n te 1 iu s-Stockholm, S. R e i n a c h-Paris,
L. Stieda-Königsberg, A. v. Török-Budapest und anderen Fachgenossen
herausgegeben und geleitet von Dr. phil. et med. G. BllSChcUI, Stettin.
8. Jahrgang. Heft 2. 1903.
A. Originalarbeit
Russland in archäologischer Beziehung.
Von D. N. Anutschin.1)
Schon zu Ende des 17. und zu Anfang des 18. Jahrhunderts
begannen sich einige Ausländer, die nach Russland gekommen waren,
Urn hier Nachrichten über das Land zu sammeln, für die russischen
•Altertümer zu interessieren. Ihrem Beispiel folgte Peter I., der
den Befehl erlies, ihm nach St. Petersburg allerhand „Raritäten“
211 senden. Unter den eingelieferten Gegenständen befanden sich
h-uch Altertümer aus Sibirien und von jenseits der Wolga, die in
alten Gräbern gefunden worden waren. Das Gerücht, dass sich in
den Gräbern oder Kurganen Sibiriens, wie auch im Süden Russlands
Verschiedene Gegenstände, darunter auch wertvolle, goldene, finden,
hatte sich rasch im Volke verbreitet, und es entwickelte sich im
^8- Jahrhundert das Gewerbe der „Kurganengräber“ (kurgansciki),
die sich mit dem Ausgraben der Kurgane beschäftigten, um das
därin enthaltene Gold und Silber herauszuholen; dadurch erklärt es
Slch, dass viele alte Gräber ausgeplündert sind. Bei einigen von
lllen hat die Plünderung augenscheinlich schon in alter Zeit statt-
Sefunden durch Leute, die zur Zeit der Begräbnisse lebten und jeden-
. Rs darüber unterrichtet waren, dass dem Toten wertvolle Sachen
^ Grab mitgegeben worden waren, wie auch davon wussten, wo
g 1) Aus dem russischen „Encyldopädischeu Wörterbuch, herausg. von
I X?chhaus und Efron“ (Bd. XXVIÜ, St. Petersburg 1900), übersetzt von T. Pech-
^eipzig.
ntern' Centralblatt für Anthropologie. 1903.
5
66
A. Originalarbeit.
dieselben lagen. In die grossen Kurgane, deren Ausgrabung eine
Menge Zeit und Mittel erfordert hätte, grub man enge Gänge, gerade
nach der Stelle zu (zuweilen in beträchtlicher Tiefe), wo man die
Wertgegenstände erwarten konnte, und raubte sie dann.
Im 18. Jahrhundert kamen einige solche Gegenstände in die
Kunstkammer in St. Petersburg, wo sie die Aufmerksamkeit gelehrter
Ausländer erregten. Zu Ende des Jahrhunderts wurden interessante
Funde im Süden Russlands, im alten Gebiet der Skythen, bekannt,
und zu Anfang des 19. Jahrhunderts lenkten die griechischen Alter-
tümer, die auf dem Boden der Krim gefunden wurden, die Aufmerk-
samkeit auf sich. Nach und nach, besonders unter dem Einfluss
ausländischer Gelehrter, die sich in Russland niederliessen oder den
Süden desselben besuchten, wurden diese Altertümer ebenso zu einem
Gegenstand der Forschung, wie die Denkmäler des alten russischen
Schrifttums (die Forschungen Raoul-Rochettes und Köppens in den
20. Jahren). Unter Nikolaus I. begann die russische Archäologie
zuerst den Charakter einer Wissenschaft anzunehmen mit Spezial-
organen, Museen, Gesellschaften, Publikationen. Die Eremitage
wurde reorganisiert, die Kaiserliche Archäologische Kommission er-
richtet, es entstanden die Archäologischen Gesellschaften in St. Peters-
burg und Odessa, das Museum in Kertsch, es wurde der Grund zur
russischen und orientalischen Numismatik gelegt, es erschienen die
wertvollen Publikationen von Aschik, Graf Uwarow, Baer, Funduklej,
Saweljew u. a., endlich die monumentale Beschreibung der „Alter-
tümer des Russischen Reichs“ (ein Prachtwerk in Fol.).
Einen noch grossem Aufschwung nahm das Studium der russischen
Altertümer unter Alexander II. durch die Bemühungen der Regierung
und der Gesellschaft. Die Erforschung der Altertümer der Krim
und Südrusslands begann man systematischer zu betreiben, und sie
lieferte das Material zu einer ganzen Reihe von Regierungs-
publikationen, wie die „Altertümer des Kimmerischen Bosporus“,
die „Altertümer des Herodotischen Skythiens“, die „Berichte der
Kaiserlichen Archäologischen Kommission“ u. a., sowie auch zu vielen
Privatarbeiten russischer und ausländischer Gelehrter (Sabjelin, Herz,
Stephani, Neumann, Koehne, Bergmann, Bruun, Lenormant u. s. w.).
Auch die Altertümer des mittleren Russlands lenkten die Aufmerk-
samkeit auf sich; Graf A. S. Uwarow beschrieb die Kurgane der
Merjanen in den Gouvernements Wladimir und Jaroslawl; A. P.
Bogdanow die des Gouvernements Moskau, wobei er zum ersten
Mal die Aufmerksamkeit auf die Erforschung der Überreste der
Begrabenen selbst lenkte; L. A. Samokwassow machte zahlreiche
Ausgrabungen in den Gouvernements Tschernigow, Kiew, Kursk,
A. Originalarbeit.
67
Poltawa u. a.; andere (z. B. Iwanowskij, Brandenburg, Kelsijew,
Tyszkiewicz, Alabin, Newostrujew) machen dasselbe in den Gouver-
nements St. Petersburg, Nowgorod, Twer, in Litauen, an der Kama,
in den Ostseeprovinzen. Kotljarewskij erforscht die Begräbnisge-
bräuche der Slaven, Tiesenhausen giebt die Münzen der orientalischen
Chalifen heraus, die Orientalisten machen mit den Nachrichten über
die alten Slaven und Russen bekannt, finnische Gelehrte (Aspelin
u. a.) systematisieren die Nachrichten über die finnischen Altertümer,
Spasskij macht mit den Altertümern Sibiriens bekannt, Berge u. a.
mit der Archäologie des Kaukasus.
Die Entdeckung der ältesten Spuren des Menschen um diese
Zeit (Ende der 50. und in den 60. Jahren in Westeuropa), wie auch
der Überreste der Stein- und Bronzezeit kam zum Ausdruck in einer
Erweiterung der Grenzen der russischen Archäologie. Baer, Lerch
u. a. machen zuerst mit den Funden von Steingeräten im Norden
Russlands bekannt; die von Bagdanow 1879 in Moskau veranstaltete
anthropologische Ausstellung bringt eine Masse von Gegenständen
der Stein- und zum Teil aus der Bronzezeit aus verschiedenen
Gegenden Russlands zusammen; Feofilaktow, Graf Uwarow, Graf
Zawisza, Kelsijew entdecken die ältesten Spuren des Menschen auf
dem Boden Russlands aus der Zeit des Mammut; Inostranzew
sammelt und beschreibt interessante Überreste der Steinzeit, die an
den Ufern des Ladogasees gefunden wurden; P. P. Kudrjawzew
stellt eine reiche Sammlung von Gegenständen der neolithischen
Zeit zusammen, die in der Nähe des Dorfes Wolossowo bei Murom
gefunden wurden; Malachow u. a. erforschen die vorhistorischen
Altertümer des Urals u. s. w. In Moskau wird (1864) die Archäolo-
gische Gesellschaft gegründet; zu derselben Zeit entsteht die anthro-
pologische Sektion der Gesellschaft der Freunde der Naturwissen-
schaften; archäologische Forschungen werden ausserdem noch von
Kaiserlichen Geographischen Gesellschaft und deren ostsibirischen
Abteilungen vorgenommen, ferner von Gesellschaften in Helsingfors,
Kasan, Kiew, Tiflis u. s. w. Es werden archäologische Kongresse
veranstaltet, die nacheinander in Moskau (1869), Petersburg (1872),
Kiew (1875), Kasan (1878), Tiflis (1881), Odessa (1884), Jaroslawl
0887), Moskau (1890), Wilna (1893), Riga (1893) und wieder Kiew
(1899) stattfinden.2) Ein jeder solcher Kongress rief eine inten-
sivere Thätigkeit in der betreffenden Gegend hervor, gab Anlass und
Mittel zu lokalen Forschungen und Ausgrabungen, zog viele Forscher
^ran, deren Mitteilungen in den Kongresssitzungen später in aus-
2) Dazu kam 1902 der Archäologische Kongress in Charkow. Der Übers.
5*
68
A. Originalarbeit.
gearbeiter Form und mit einer Masse von Tabellen versehen in den
„Trudy“ (Arbeiten) der Kongresse erschienen, die jetzt gegen
25 Bände in 4° umfassen und reiche Materialien über die russischen
Altertümer enthalten.
In den letzten 20 Jahren entwickelt sich die russische Archäo-
logie weiter; es erscheinen viele neue archäologische Publikationen.
Die russischen Altertümer lenken immer mehr die Aufmerksamkeit
der Ausländer auf sich und werden in Zusammenhang mit den Alter-
tümern anderer Länder gebracht — des asiatischen Ostens, des
griechisch-byzantinisch-slavischen Südens, des europäischen Westens.
Als einen der Versuche einer gemeinsamen Behandlung der vor-
historischen Altertümer Westeuropas und Russlands erscheint das
Buch des czechischen Forschers Lubor Niederle: „Die Menschheit
in vorhistorischen Zeiten“.3) Im allgemeinen sind aber die ältesten
Epochen der Altertumskunde Russlands noch nicht zur Genüge
erforscht.
Über die Steinzeit haben wir zwar das Werk des Grafen
A. S. Uwarow: „Die Archäologie Russlands und die Steinzeit“
(russisch, 2 Bde., Moskau 1881), aber es ist schon sehr veraltet; als
Ergänzung dazu können angesehen werden das Werk Inostranzews:
„Der Mensch der Steinzeit an der Küste des Ladogasees“ (russisch,
Petersburg 1882) und die Abhandlungen des Grafen Zawisza, Kelsijews,
Antonowitschs und Armaschewskijs, Kudrjawzews, Stuckenbergs,
Wyssozkijs, Peredolskijs u. a. Zur Zeit lässt sich nur sagen, dass
der Mensch auf dem Boden des europäischen Russlands in einer
sehr frühen Periode aufgetreten ist und hier vielleicht noch das
Mammut und andere später ausgestorbene grosse Tiere, wie das
Nashorn, den Höhlenbär u. a. vorgefunden hat. Zieht man in Be-
tracht, dass in der sogenannten Gletscherperiode, die der gegen-
wärtigen geologischen Periode vorausging, die ganze nördliche
Hälfte Russlands von dem grossen skandinavisch-finnischen Gletscher
bedeckt war, so musste der Mensch anfangs die südlichen Teile
Russlands besiedeln und konnte erst später in dem Maasse, als der
Gletscher auftaute und zurückging, nach Norden zu vorrücken.
Die ältesten Spuren des Menschen zeigen sich im Löss (Gelb-
erde), der unter der Schwarzerde liegt. Diese Sputen bestehen aus
grob behauenen steinernen Geräten, zum grössten Teil aus Kiesel
(Schneiden, Messer, Schaber, Bohrer u. ä.), Überresten von Asche
und Kohle (Spuren vom Feuer), gespaltenen Knochen von Tieren
(die zur Nahrung dienten), selten Knochengeräten (die in einigen
3) In czechischer Sprache (Prag 1893—94); russische öbersetzg. unter
Redaktion von I). N. Anutschin (1898).
A. Originalarbeit.
69
Höhlen des Gouvernements Kalisch in Polen gefunden wurden).
Überhaupt sind rücksichtlich des ältesten, sogenannten paläo-
litlöschen Zeitalters die Funde in Russland dürftig und stehen in
Bezug auf Reichtum, Mannigfaltigkeit und künstlerische Ausführung
denen aus den französischen, schweizerischen und süddeutschen
Höhlen bei weitem nach. Die grössten bisher bekannten Stellen,
an denen in Russland paläolithische Altertümer gefunden wurden,
sind Kiew (die Kirillowskaja-Strasse), das Dorf Kostenki am Don
und einige Höhlen bei Kalisch.
Weit reicher ist in Russland die spätere Steinzeit, die soge-
nannte neolithisehe Periode, vertreten, und zwar nicht bloss durch
einzelne Funde, sondern auch durch Spuren von Ansiedelungen und
Gräbern. Die damals den Menschen umgebende Fauna und Flora
war ganz dieselbe wie heute, nur waren viele Tierarten, z. B. der
Biber, das Wildschwein, der Edelhirsch, viel weiter verbreitet und
kamen auch weit häufiger vor, als jetzt. Die bekanntesten Orte,
wo Gegenstände dieser Epoche gefunden wurden, sind die Stationen
an den Dünen der Oka, besonders bei dem Dorfe Wolossowo unweit
Murom, die Südküste des Ladogasees, einige Stellen an den Ufern
der Weichsel und des Dnjepr, in den Gouvernements Tula und
Kostroma, im Lande an der Kama und am Ural, in Finnland, in
den Gouvernements Olonez und Archangelsk. Die Kunst der Stein-
hearbeitung erlangte in jener Epoche eine hohe Vollendung. Aus
dem Kieselstein (manchmal auch aus Quarziten u. a.) wurden durch
eine Reihe kleiner Schläge Spitzen von Pfeilen und Lanzen, Messerchen,
Schaben, Bohrer u. a.) abgeschlagen und bearbeitet; aus andern
Gesteinen, die keinen muscheligen Bruch geben (z. B. Thonschiefer,
Sandstein, Diorit, Serpentin) wurden durch Schleifen mit Sand und
Wasser Meissei, Beile, Hämmer, Keulen, Hacken u. s. w. hergestellt.
Ausserdem benutzte man Tier- und Vogelknochen, machte aus ihnen
Bohrer, Pfeile, Messerchen, Angelhaken und viele andere Gegen-
stände, deren Bestimmung zum Teil zweifelhaft ist. Man benutzte
auch Holz (obgleich sich Holzgeräte nur unter ausnahmsweise
günstigen Bedingungen erhalten konnten) und Lehm, aus dem man
hauptsächlich Töpfe machte, ursprünglich häufiger mit rundem Boden,
später aber auch mit flachem.
Aus der Menge der Tier-, Vogel- und Fischknochen, die an
(Gfi Plätzen der alten Ansiedelungen gefunden werden, muss man
schliessen, dass der Mensch damals im Stadium der Jagd lebte, sich
^°m Fischen und Jagen ernährte, wahrscheinlich Pfeil und Bogen,
hen Spiess, die Angel, den Kahn, vielleicht auch Schneeschuhe be-
nutzte, sich in Tierfelle, Häute, in Erzeugnisse aus Bast kleidete,
70
A. Originalarbeit.
in Erdhütten, Zelten, zu kleinen Ansiedelungen vereint, wohnte, die
an den Ufern der Flüsse und Seen zerstreut waren. Spuren gegen-
seitiger Beziehungen sind dürftig, obgleich bisweilen bemerkbar in
Erzeugnissen aus Steinarten, die an dem betreffenden Orte nicht
Vorkommen. Künstlerische Bestrebungen zeigen sich in der Orna-
mentierung der Gefässe durch Abdrücke der Nägel oder Finger,
durch Ziehen von Strichen, Windungen, durch Eindrücken von
Grübchen oder sogar durchgehenden Öffnungen (längs des Bandes),
ferner in der Ausschmückung der Knochengeräte mit Strichen,
Punkten, sogar eingravierten Darstellungen von Tieren, Yogelköpfen,
Fischen, die manchmal (seltener) auch aus Stein gemacht wurden.
Die Verstorbenen wurden schon mit einem gewissen Bitual begraben-,
im Süden Busslands sind sogar Kurgane gefunden worden mit Be-
stattungen, die sich dem Anschein nach auf diese Epoche beziehen
— mit einem Gerippe in gebogener oder sitzender Stellung, sowie
daneben ein roher Topf und Steingeräte. Von den Haustieren hatte
der Mensch schon den Hund (Überreste desselben haben sich in den
Ablagerungen an der Küste des Ladogasees und in Wolossowo ge-
funden), und im Süden Kusslands war er vielleicht schon mit dem
Ackerbau bekannt, worauf die Funde Chwojkos in Tripolje hinzu-
weisen scheinen, wo Überreste verkohlten Weizens und lange, leicht
gekrümmte Splitter aus Kieselstein gefunden wurden, die man für
Sicheln halten kann, obgleich ebendaselbst auch einige Beilchen
aus reinem Kupfer gefunden wurden.
Die Verbreitung des Menschen in der neolithischen Periode
war sehr weit; Spuren desselben in dieser Epoche sind vom Schwarzen
bis zum Weissen Meer gefunden worden, und von der Westgrenze
Kusslands bis zum Ural, ja auch in Sibirien. Im äussersten Nord-
osten, bei den Kamtschadalen, bestand die Steinzeit noch zu Ende
des 18. Jahrhunderts und bei den Tschuktschen war sie noch vor
kurzer Zeit; in West- und Südsibirien gehört sie aber auch schon
zu den längstvergangenen Zeiten, und ihre Spuren finden sich nur
gelegentlich in Funden und Ausgrabungen (z. B. in denen Sawenkows
bei Krasnojarsk).
An die Stelle der Steinzeit trat überall das Zeitalter der
Metalle, und in vielen Ländern Westeuropas, Asiens und Amerikas
ging der Epoche des Eisens eine solche des Kupfers und der Bronze
(d. i. eine Legierung von Kupfer und Zinn, teilweise auch Zink und
Blei) voraus.
Im natürlichen Verlauf der Metallurgie musste die Bearbeitung
des Kupfers der weit verwickelteren Herstellung der Bronze voraus-
gehen, und in der Tliat bestand sowohl in Asien als in Europa in
A. Originalarbeit.
71
vielen Gebieten dem Anschein nach ein kupfernes Zeitalter früher
als das bronzene. Die irgendwo in Уorderasien erfundene Bronze,
die viele Vorzüge vor dem Kupfer hatte, drang zu vielen noch in
der Steinzeit stehenden Völkern. Händler brachten elegante bronzene
Schwerter, Beile, Lanzenspitzen u. s. w. an die Küste des Baltischen
Meeres und tauschten sie dort gegen Bernstein und wertvolle Felle
um. Im europäischen Russland breitete sich die Bekanntschaft mit
Kupfer und Bronze auf verschiedenen Wegen aus: teils kam sie vom
Südwesten und Westen — aus den griechischen Kolonien am Schwarzen
Meer, aus dem Donauthale und aus Skandinavien, teils von Osten
— aus Sibirien und aus dem Lande am Ural, teils von Südosten —
aus dem Kaukasus.
Der westliche Einfluss war ziemlich schwach; Spuren desselben
lassen sich feststellen — in Finland, Polen, Podolien — in den
Kunden von Bronzewaffen (Gelte, Paalstäbe, Schwerter, Sicheln u. s. w.)
westeuropäischer Typen, in den steinernen Formen zum Giessen von
Kelten, Sicheln, Lanzenspitzen (im südwestlichen Russland), in der
weiten Verbreitung von Bronzepfeilen. Aber im Dnjeprgebiet ist
das Bronzezeitalter überhaupt nur schwach vertreten und hat dem
Anschein nach keine selbständige Industrie hervorgerufen, obgleich
^a und dort im südlichen und mittlern Russland in den Gräbern
aad Schätzen Funde von Steinwaffen gleichzeitig mit Bronzewaffen
Vorkommen, und zwar solche der einfachsten Typen, z. B. geschmiedete
dache, blattförmige Lanzenspitzen. Die Gräber dieses ursprünglichen
Kronzezeitalters, wie auch die der Steinzeit, waren in Südrussland
durch Gerippe charakterisiert, die in gekrümmter Stellung begraben
u,id häufig mit rotem Ocker gefärbt sind — ein Gebrauch, über den
S(dion viele Vermutungen ausgesprochen worden sind und der dem
Anschein nach dafür Zeugnis ablegt, dass die Knochen erst nach
der Zerstörung der Weichteile gefärbt wurden. Im nördlichen
Kaukasus sind Spuren dieses Gebrauchs auch in den Gräbern einer
sPätern Zeit gefunden worden.
Der östliche Einfluss kam aus Sibirien, wo, besonders im
Minussinsker Land, die Kupferindustrie einst in grossem Umfang
blühte. In den dortigen eigenartigen Gräbern, wie auch schon einfach
aiA den Feldern sind Tausende von gegossenen Werkzeugen, Celten,
^eisseln, Hacken, Messern, Dolchen u. s. w. gefunden worden, zum
eü verziert mit Abbildungen von Tieren — Bergböcken, Hirschen,
Greifen u. a. — zuweilen auch im Verein mit Stein Werkzeugen oder
^ Puren von Eisen. Diese alte Kultur irgend eines Türkenvolkes,
le sich wahrscheinlich unter dem Einfluss des Südens auf einem
Hn Kupfer reichen Boden entwickelt hatte, war auch im Altai verbreitet
72
A. Originalarbeit.
und umfasste den südlichen und mittleren Ural, wo die Russen zahl-
reiche, von den alten Tschuden hinterlassene Kupferwerke entdeckten,
mit Spuren von Arbeit, sowie mit hölzernen, steinernen und kupfernen
Erzeugnissen dieses Volkes. Vom Ural drangen die Kupfergeräte
auch in das Gebiet der Kama und der Wjatka, wo einige alte Grab-
stätten (bei Ananjina, Kotlowka, Pjanobor) mit bei den Gerippen
liegenden bronzenen Geräten (Celten, Kriegsbeilen, Dolchen u. s. w.),
aber auch mit Waffen aus Eisen gefunden wurden. Die Kupfer-
industrie verband sich in Sibirien auch mit der Goldindustrie, wie
die von dort stammenden goldenen Schmucksachen beweisen. Letztere
sind zwar durch denselben Stil (Darstellungen von Tieren) charak-
terisiert, scheinen sich aber schon auf eine spätere Epoche zu beziehen.
Dieser Stil der Schmucksachen, der auch in Vorderasien und
im Kaukasus eine hohe Entwickelung erlangte, übte in der Folge
(zur Zeit der grossen Völkerwanderung) einen bedeutenden Einfluss
auf die Kunstindustrie Westeuropas und zum Teil auch Russlands
aus, der sich in dem sogenannten „Tierornament“ vieler Denkmäler
der Baukunst und kleiner Erzeugnisse bekundete. Die ältesten Grund-
lagen dieses Stils muss man in den Ländern östlich am Mittelmeer
suchen; von hier breitete er sich weiter aus und erlangte sowohl
in Griechenland als auf dem Kaukasus eine selbständige Bearbeitung.
Die vorhistorischen Altertümer des Kaukasus lenkten im Ganzen
erst vor 20 Jahren die Aufmerksamkeit auf sich. Ende der 70. Jahre
machte Bayern interessante Funde auf dem Grabfelde von Samtawro
bei Mzchet und G. D. Filimonow veranstaltete bemerkenswerte Aus-
grabungen bei der Station Kasbek und auf der Kobanschen Grab-
stätte, in Ossetien. Hier wurden Spuren einer originellen Kultur
entdeckt in zu den Toten gelegten Waffen und Schmucksachen, haupt-
sächlich aus Bronze. Die gekrümmten (d. h. auf der Seite, mit in
den Knieen gebeugten Beinen liegenden) Gerippe haben neben sich
schöne, elegante, geschweifte Beilchen, manchmal geschmückt mit
Ornament und mit Abbildungen von Tieren, flache Dolche, Gürtel
mit bronzenen Agraffen, grosse bogenförmige Fibeln (Broschen)
zum Zusammenhalten der Kleider, grosse schaufelartige Stecknadeln
um den Kopf, verschiedenartige Gehänge von Bergwiddern und Berg-
böcken, Hirschen, Pferden u. s. w., spiralförmige Armbänder, massive
Armspangen, verschiedenartige Perlen, thönerne, mit Ornamenten
versehene Krüge und Töpfe u. s. w. Diese merkwürdigen Grab-
stätten, die den Gegenstand der Forschungen des Grafen Uwarow,
Antonowitschs, Virchows, Chantres u. a. bildeten, weisen zum Teil
Spuren eines hohen Altertums auf, das nach Virchow, Chantre,
Montelius bis zum 10.—13. Jahrhundert v. Chr. zurückreicht; in
A. Originalarbeit.
B. Referate. Anthropologie.
73
andern Fällen gehören sie späteren Epochen an — den ersten Jahr-
hunderten n. Chr. und sogar dem 6.—7. In einigen Grabstätten Trans-
kaukasiens sind Spuren eines Kultureinflusses aus den Ländern des
Euphrat und Tigris gefunden worden; die im Thaïe des Aras ent-
deckten Keilinschriften weisen darauf hin, dass sich die assyrische
Kultur hierher verbreitet hat durch Vermittelung des Volkes im
Lande Urartu, im 8.—7. Jahrhundert v. Chr. Andererseits hat
diese kaukasische Kultur auch einen gewissen Einfluss seitens der
griechischen Kolonien am Schwarzen Meere erfahren. Im Norden
breitete sie sich bis zum Donischen Gebiet aus, wo ganz ähnliche
geschweifte Beilchen gefunden wurden, wenn auch schon späterer
Lypen, zum Teil aus Eisen, und wo einstmals ganz dieselben Alanen,
die Vorfahren der jetzigen Osseten, wohnten wie im Kaukasus.
Das Eisenzeitalter scheint in einigen Teilen Russlands un-
mittelbar an die Stelle der Steinzeit getreten zu sein (einige Spuren
der Bronzezeit sind auch im mittleren Russland, z. B. in den Gou-
vernements Wladimir und Kaluga gefunden worden). Im südlichen
Kussland hat das Eisenzeitalter zweifellos viel früher begonnen als
im Norden. Die hier im 7.—6. Jahrhundert lebenden Skythen
’Waren schon mit dem Eisen bekannt. (Schluss folgt.)
B. Referate.
I. Anthropologie.
86. K. Boege: Zur Anatomie der Stirnhöhlen (Sinus frontalis).
Doktordissertation, 60 S. in 8°, mit 1 Tafel. Königsberg
i. Pr. 1902.
V orliegende, unter Leitung von L. Stieda gearbeitete Schrift beschäftigt
Slch mit dem Verhalten der Sinus frontalis zunächst in rein anatomischer,
dann aber auch in anthropologischer Beziehung. Fehlt es doch, was Ent-
wicklung und Form der Stirnhöhlen betrifft, gewiss nicht an Widersprüchen
ln den Darstellungen. B. untersuchte 203 macerierte (grösstenteils Gräber-)
Schädel der Königsberger Sammlung. Aus den gewonnenen Ergebnissen
•;fuen hier folgende hervorgehoben. In 5°/0 der Fälle fehlen beide Sinus,
in 4l/2<yo (jgj. rechte 21/2°/o der linke. Die sog. Septula imperfecta
)lr“d entwickelungsgeschichtlich Reste der Stirnbeinspongiosa, die am öftesten
"n oberen und hinteren-äusseren Winkel des Sinus auftreten. Äusserst
riten (1 VgO/o) ist Verdoppelung der Zahl der Sinus. In einem Fall sah
74
B. Referate. Anthropologie.
Yf. komplette Trennung des Sinus von der Nasenhöhle. Fehlen oder Un-
vollständigkeit der Scheidewand kam in keinem Fall zur Beobachtung; in
1 °/0 der Fälle erschien das Septum durchbohrt.
Was die anthropologische Bedeutung der Frontalsinus betrifft, so
handelt es sich vor allem um die Frage nach den Wechselbeziehungen
zwischen Grösse der Sinus und dem Hervortreten der Arcus superciliares,
deren Form und Ausdehnung bei den Rassen bekanntlich beträchtliche
Variationen darbietet. Yf. leugnet das Vorkommen jener Wechselbeziehung
in dem Sinne, dass stark entwickelte Superciliarbögen nicht auf das Ver-
halten der Sinus zurückschliessen lassen. Er stellt ihre Entwickelung, wie
schon so oft behauptet wurde, in Abhängigkeit vom Muskelzug, in der
Meinung, die Arcus seien allen anderen ähnlichen Muskelansatzstellen am
Schädel gleichzuachten. Nun hat aber die Frage nach dem Einfluss von
Muskelzug auf das Knochenrelief ihre sehr schwierigen Seiten. Anderer-
seits fragt man sich unwillkürlich, ist denn ein Muskel von der Stärke des
Frontalis u. a. wirklich im Stande, am Knochen Spuren zurückzulassen,
wie dies etwa der Deltoideus am Oberarm oder der Serratus aus der Scapula
thut? Indessen bemerkt Vf. sicher mit Recht, dass die Arcus beim ^
lebhafter hervortreten, als im Q • Dem wäre hinzuzufügen, ihre Ent-
wickelung weise deutliche Beziehungen auf zu der allgemeinen Stärke des
Knochenmuskelsystemes, ein Umstand, der für das Auftreten kräftiger Super-
ciliarbögen bei Verbrechern verantwortlich gemacht wird. Unerwähnt lässt
Vf. ferner den Befund ungewöhnlich starker Arcus beim Quartär men sehen.
Zu bedenken ist endlich doch auch die Möglichkeit einer atavistischen
Genese des Merkmales; niedere Menschenrassen zeigen es häufig in be-
trächtlicher Ausprägung; doch erscheint ein endgiltiges Urteil in diesem
Punkte uns noch verfrüht. Die Thatsache, dass der rechte Sinus sehr oft
an Grösse hinter dem linken zurücksteht, findet Vf. bestätigt. Anthropo-
logisch bemerkenswert ist auch die Angabe, dass Kreuzköpfe nicht durch
geringe Grösse der Stirnhöhlen sich auszeichnen. Man sieht, auch quantitativ
gleiche Beobachtungsreihen können ausserordentlich verschiedene Resultate
ergeben infolge jener eigentümlichen Auslese, die bei der Entstehung anthropo-
logischer Sammlungen im Zusammenhänge mit rassenanatomischen, socialen,
geographischen und anderen Faktoren immer ihren Einfluss übt. Im vor-
liegenden Falle steht der Einfluss der Rasse sicher im Vordergründe, denn
unter 11 Schädeln fand Tarenetzki Fehlen der Sinus nicht weniger als
fünf Mal, also nahezu in der Fälle, woraus er schliesst, dass Metopismus
auf Grösse und Form der Sinus frontales einen entschiedenen Einfluss hat.
Dr. Richard Weinberg-Dorpat.
B. Referate. Anthropologie.
75
87. T. Sato: Über die Häufigkeit von Residuen der Fissura
mastoideo-squamosa und der Sutura frontalis bei den ver-
schiedenen Rassen und Geschlechtern. Zeitschrift für Ohren-
heilkunde, 1902. Bd. XLI.
Verfasser hat in den Sammlungen von Leipzig (Grassi-Museum) und
Rostock (Anatomie) neue Untersuchungen über die Häufigkeit der Fissura
mastoideo-squamosa und der Sutura frontalis angestellt. Mit Adeiman unter-
scheidet Verfasser stark ausgeprägte Fissur, deutliche und Spuren. Als
Ergebnis teilt Verfasser mit, dass unter Hinzuziehung der Adermanschen
Begebnisse die Fissuren bei afrikanischen und australischen Negern, bei
°ceanischen Mongolen, Indianern und Eskimos seltener vorhanden sind, als
bei den weissen Rassen. Erhebliche Geschlechtsunterschiede bestehen nicht;
starke und deutliche Fissuren sind im allgemeinen bei Männern, schwächere
bei den Weibern etwas häufiger. Ein Einfluss des Alters besteht insofern,
als die stark ausgeprägte Fissur bei den Kindern am häufigsten gefunden
'vurde. Dasselbe gilt von den übrigen Formen der Fissur. Das Vorkommen
»st endlich auf beiden Seiten nahezu gleich häufig. Die Untersuchung über
die Persistenz der Sirnnaht beruht auf der Vermutung, dass auf diese Weise
melleicht Anhaltspunkte gewonnen werden könnten für die Ursachen der
Persistenz der Fissura mastoideo-squamosa. Es finden sich unter 1185
Schädeln Erwachsener 7,65 °/0 mit einer Stirnnaht, die somit erheblich
seltener ist, als die Fissura mast, sqain., die Verfasser in 37°/0 von 1373
•Schädeln fand. Von den 90 Stirnnaht-Schädeln hatten 36 auch eine Fissura
’»'astoideo squamosa, davon 22 auf beiden Seiten, 14 nur auf einer. Die
ktirnnaht ist bezüglich der Rasse ebenso, wie die Fissura mast. sqam. bei
den afrikanischen und australischen Negern am seltensten, bei Germanen
»md Slaven am häufigsten (rund 2,5 °/0 gegen 26,2 °/0). Zu der Feststellung
v°n Beziehungen zwischen der Persistenz beider Nähte war das dem Ver-
fasser zur Verfügung stehende Material noch nicht hinreichend gross.
G. Thilenius-Breslau.
88. B. P. Babkin: Der Einfluss künstlicher Schädelnähte auf
Wachstum und Entwicklung des Schädels junger Hunde.
(Russ.) Neurologischer Anzeiger, 1901. Bd. IX.
Experimentelle Bestätigung der Virchowschen Lehrsätze von dem Ein-
fluss prämaturer Nahtsynosten auf die Schädelform. Als wesentlichstes Er-
•5ebrds wird nämlich hervorgehoben, dass das Schädelgewölbe senkrecht zur
östlichen Naht intensiver wächst, parallel zur Nahtrichtung im Wachsen
mrückbleibt und jedenfalls an Höhe einbiisst. Dass das Gehirn dabei
Alterationen seiner Form erleidet, ist selbstverständlich.
Dr. Richard Wcinbenj-Dorpat.
76
В. Referate. Anthropologie.
89. Hanotte: Recherches sur la trigonocephalie. L’Anthropologie,
1902. Bd. XIII, S. 587 (4 Abbild.).
Die Trigonocephalie verleiht dem Stirnbein eine dreieckige Form; alle
Stirndurchmesser sind verengert, aber die Querdurchmesser des hinteren
Schädelabschnittes sind grösser als normal, was von dem kompensatorischen
Wachstum des Hirns herrührt. Diese Missbildung ermöglicht eine normale
Gehirnentwicklung, da das Hirn in den unteren und hinteren Teilen des
Schädels den Raum sucht, den es in der Stirnregion nicht mehr findet.
Verf. hat die Trigonocephalie eingehend studiert, sowohl an Schädeln von
Föten, als auch an solchen von Kindern und Erwachsenen.
Bei den echten Trigonocephalen fehlen die Stirnhöcker fast vollständig,
und das keilförmige Stirnbein trägt in der Mitte einen sagittalen Kamm,
wo der Knochen dicker ist und zahlreiche Gefässlöcher aufweist. An anderen
Schädeln sind diese Merkmale weniger ausgeprägt. Sogar an den fötalen
Schädeln ist eine Synostose der metopischen Naht eingetreten; die Parietal-
höcker sind sehr vorstehend, ihre Entfernung von einander beträgt 0,142 m
(statt 0,135 m beim normalen Schädel). Sie sind zugleich nach hinten gerückt.
К. E. v. Bär glaubte, dass die Trigonocephalie von der Entwicklung
des Stirnbeins bei einem einzigen Verknöcherungscentrum herrühre, was
aber mit allen sonst beobachteten Daten nicht überein stimmt. Denn bei
vielen Schädeln liegt das Bregma zwischen den zwei Hälften des Stirnbeins,
was auf eine Entwicklung desselben infolge zweier Ossifikationscentren deutet.
Es scheint viel wahrscheinlicher, dass in den ersten Monaten des fötalen
Lebens die zwei ursprünglich isolierten Frontalhälften mit einander ver-
schmelzen. Der Kamm, der die Stelle der metopischen Naht vertritt, und
der beim Fötus mehr ausgesprochen ist, als beim Erwachsenen, sieht wie
eine entzündliche Verdickung des Knochens, und nicht wie eine Verschmelzung
der beiden Stirnhöcker aus, deren Spuren übrigens immer auf den Seiten,
des Kammes zu finden sind. Das durch frühzeitige Synostose der medio-
frontalen Naht in seiner Entwicklung gehemmte Stirnbein verleiht dem
Schädel eine dreieckige Gestalt, die noch durch die kompensatorische Ver-
grösserung der Parietalia deutlicher wird. Die Knochenentzündung, welche
zu dieser Synostose führt, kann früher oder später eintreten. Im ersten
Fall ist die Trigonocephalie vollkommen, während wir es sonst mit unvoll-
kommenen Trigonocephalen zu thun haben. Dr. L. Laloy-Bordeaux.
90. G. A. Adolphi: Über die Zukunft des Brustkorbes des Menschen.
Acta et Commentationes Imp. Universit. Jurjewensis olim
Dorpatensis. Mit 1 Figurentafel. 1902.
Vf. berichtet über Ergebnisse seiner Untersuchungen betreffend die
Varietäten der Rumpfsegmente, die den sog. Thorax bilden. Mit Welcher,
Tschugunow und Dwight tritt Vf. auf das entschiedenste gegen die bekannte
B. Referate. Anthropologie.
77
Lehre E. Rosenbergs auf, wonach der Brustkorb nicht allein während seiner
Ontogenese, sondern auch im Verlaufe der Phylogenie eine Verkürzung an
beiden Enden erfährt. A. glaubt und behauptet, obere und untere Grenze
des Thorax variieren nicht in entgegengesetzter Richtung, wie Rosenberg
annimmt, sondern in gleicher Richtung, so zwar, dass, wenn der Thorax
n&ch oben hin verlängert ist, er unten sich verkürzt und umgekehrt. Freilich,
gesteht der Vf., ist die Frage nach der Zukunft des menschlichen Thorax
nicht endgiltig gelöst. Vielleicht sind alle Variationen nur Abweichungen
vom typischen Zustande; vielleicht ändert der Thorax in der That seine
Zusammensetzung, in welchem Falle beide Enden dem Kopfe entweder sich
nähern oder von ihm sich entfernen. Letztere Bewegung indessen hält Vf.
bür die wahrscheinlichere und nimmt an, es sei mit der Möglichkeit zu
rechnen, dass die Rippen des siebenten Wirbels noch einmal zu voller Ent-
wicklung kommen. _Dr. Richard Weinberg-Dorpat.
91. W. A. Evans and M. G. McHugh: The shape of the ehest
in some thoracic conditions, and especially in tuberculosis.
The Medical Examiner and Practitioner (New York) 1902.
Bd. XII, Heft 10, S. 641—643.
Nach den Untersuchungen von Woods Hutchinson (Brit. med. Journ.
1899, II) ist der Thorax beim Fötus tiefer als breit, bei der Geburt sind
Hefen- und Breitendurchmesser einander ziemlich gleich, mit den Jahren
über wird der Brustkorb breiter und relativ flacher, sodass der Tiefen-
Lreiten-Index (Tiefe: Breite =100 gesetzt), während er bei der Geburt
heilig über 100 beträgt, progressiv abnimmt, mit 15 Jahren sich nur noch
ailf 80, zur Pubertätszeit auf 71 (nach Seaves an 3000 Studenten von
Jahren 68,5) beläuft. Die Verf. haben an 107 erwachsenen Tuber-
fl osen und 38 anderen Kranken mit schlecht entwickeltem Thorax die
^^bezüglichen Maasse genommen. Der Index der Tuberkulösen (bei Nor-
malen 70) stellte sich hiernach auf 80,8 (Hutchinson fand für 82 Tuber-
u öse 79,5), d. h. er stimmte mit dem Index von 12—15jähr. Kindern
erein. Der tuberkulöse Brustkorb ist somit relativ tief und relativ schmal;
Wahrscheinlich ist dieser Typus das Primäre und die Tuberkulose das Sekundäre.
Dr. Buschan-Stettin.
92- E. K. Fischer: Über die Furchen und Windungen des kindlichen
Gehirns im ersten Halbjahr des Lebens. (Russisch.) Dissert.
Mit 2 Tafeln. 90 S. in 8°. St. Petersburg 1902.
^ Da die vorliegenden Untersuchungen unter unmittelbarer Anleitung
es Referenten ausgeführt wurden, so sei hier nur das allerwesentlichste
flervorgehoben.
^ "s Dt bekanntlich noch immer eine offene Frage, wann beim Menschen
Dntwicklung der Furchen und Windungen und somit der ganzen Aussen-
78
B. Referate. Anthropologie.
form der Gehirnrinde zum Abschlüsse kommt. Es hängt damit auf das
innigste die weitere Frage zusammen, ob sich nachweisen lässt, dass Übung
und Erziehung noch auf verhältnismässig späten Entwicklungsstufen des
Menschenkörpers die Gestaltung des Hirns merklich beeinflussen. Yf. hat
nun 80 Hemisphären (= 40 Gehirne) aus der ersten Hälfte des Extrauterin-
lebens, 40 und ebensoviel Q, zusammengebracht; er untersuchte ausser-
dem 10 Hemisphären von Föten des 6.—9. Monats, 12 Hemisphären von
Kindern im Alter von 6 Monaten bis zu 8 Jahren, endlich 10 Hemisphären
erwachsener Individuen beiderlei Geschlechts. Yon den Ergebnissen, zu
denen Yf. gelangt, ist besonders beachtenswert der Satz, dass die Ent-
wicklung der Furchen und Windungen nicht, wie bisher vielfach angenommen
wurde, in der fünften Woche des Extrauterinlebens endgiltig abgeschlossen
ist, sondern sich bis zum Ende des ersten Halbjahres erstreckt. Yf.
ist sogar der Meinung, dass auch nach dem ersten Halbjahr und überhaupt
Avährend der ganzen Dauer des Hirnwachstumes (? Ref.) feinere Modellierungs-
vorgänge an der Gehirnoberfläche noch stattfinden. Irgend welche positive
Thatsachen zum Beweise dieses Satzes werden freilich nicht beigebracht.
Richtig ist jedenfalls, dass unsere Statistik der Furchen- und Windungs-
varietäten noch sehr der Vervollkommnung bedarf. Je mehr man mit der
Sache sich beschäftigt, desto deutlicher wird es, wie wenig wir eigentlich
davon wissen. Man fragt sich unwillkürlich, wo denn da die Grenzen der
Variationen liegen mögen? — Eine ausführlichere Besprechung des Inhaltes
der Schrift, auf die hier nur kurz hingewiesen sei, behalten wir uns vor.
Dr. Richard Weinberg-Dorpat.
93. E. Reinhardt: Über den Ansatz der Musculi lumbricales an
der Hand des Menschen. Anatomischer Anzeiger 1901.
Bd. XX, Nr. 5 und 6, S. 129.
Bestätigung der von Kopsch aufgesteliten zwei Typen der Insertion
des Systemes der Lumbricalmuskeln; 1. alle vier inserieren an der radialen
Seite des 2.—5. Fingers (39°/0), oder 2. Lumbricalis III zerfällt in 2 Köpfe
bei „normalem“ Verhalten der übrigen Muskeln. Da die Häufigkeit beider
Anordnungen keine grossen Differenzen aufweist, so sind rassenanatomische
Unterschiede zwischen Slaven und Germanen in diesem Punkte nicht anzu-
nehmen. Wie verhält sich die Sache bei weiter entlegenen Rassen? Auch
der Einfluss, den spezielle Berufe auf die Anordnung der Lumbricales üben,
ist zu eruieren, und schliesslich auf Geschlechtsunterschiede (die Vf. nicht
berücksichtigt) zu achten. J)r. Richard Weinberg-Dorpat.
94. Franz Daffner: Das Wachstum des Menschen. 2. vermehrte
lind verbesserte Auflage. Leipzig, W. Engelmann, 1902.
Gegenüber der ersten, 1897 erschienenen Auflage hat die vorliegende
eine ganz erhebliche Vermehrung erfahren, der Umfang des Buches erreicht
B. Referate. Anthropologie.
79
ia8t das vierfache des früheren. Es liegt in der Natur einer Kompilation
"Wie der vorliegenden, dass die einzelnen Kapitel entsprechend dem zeit-
weiligen Stande unseres Wissens sehr ungleichmässig behandelt sind. In-
hessen sind dem Verfasser eine Reihe wichtiger Arbeiten der letzten Jahre
anscheinend nicht zugänglich gewesen. Die Vermehrung des Inhalts ergiebt
sich fast in jedem »einzelnen Kapitel. Der Abschnitt „Embryo und Fötus“
hat eine Vermehrung erfahren, besonders durch kurze Angaben über das
biogenetische Grundgfsetz, den Transformismus, Anpassung und andere
theoretische Fragen. Weiterhin sind neuere Untersuchungen über die ersten
Eefruchtungsvorgänge berücksichtigt; der Abschnitt, in welchem das ausge-
wogene Kind behandelt wird, enthält Angaben über die Haltung des Neu-
gebornen, über Becken und Wirbelsäule. Der Abschnitt „Bemerkungen zum
Körpergewicht“ behandelt auch das erste Gehen des Kindes und das Wickeln
her Neugebornen, sowie anhangsweise Korpulenz und Stoffumsatz. Unter
der Überschrift „Hirngewicht und Geisteskraft“ ist die Zahl der mitgeteilten
Hirngewichte erheblich vermehrt. Ein Auszug aus Dubois-Reymond (aus
hem Jahre 1848!) über Kraft und Materie schliesst diesen Abschnitt. Unter
heu Schädelmaassen haben auch Varianten und Asymmetrien Platz gefunden;
has Kapitel „Wachstumszu- und -abnahme“ ist erheblich erweitert, neu ist
hie Aufnahme eines Abschnittes „Wachstum des Gesichts“. Unter „Grösse,
Gewicht, Kopf und Brustumfang“ ist der Einfluss körperlicher Übungen
berücksichtigt, am „Fuss“ sind die Untersuchungen über die Bewegungs-
fertigkeiten am Fussgelenk erwähnt und in dem letzten, die Pigmentierung
behandelnden Kapitel haben auch die Grössenunterschiede der Augäpfel
I iatz gefunden, die Verschiedenheiten in der Färbung des Menschen und
hie Ernährungsweise in extremen Zonen. Das Werk ist zum Nachschlage-
buch bestimmt und enthält eine ziemlich willkürlich zusammengestellte Aus-
wahl. Es wäre für die nächste Auflage, die ja sicher wieder eine erhebliche
Vermehrung bringen wird, zu wünschen, dass neben der einfachen Inhalts-
übersicht auch ein eingehendes Sach- und Autoren-Register Platz findet,
hass ferner die Auswahl des Stoffes kritisch erfolgt und auch die neueren
rrungenschaften berücksichtigt werden. G. Thilenins-Breslau.
95. Gabriel Giroud: Observations sur le développement de l’enfant.
Petit guide d’anthropométrie familiale et scolaire, avec 20 fig.
et 2 planches. Paris, Schleicher frères, 1902. 53 Seiten.
Das vorliegende Schriftchen soll zum. Führer für Eltern und Lehrer
enen, um die körperliche und geistige Entwicklung der Kinder verfolgen
u können. Es handelt sich dabei um anthropometrische, physiologische
II Rh psychologische Beobachtungen, die bereits bei der Ascendenz beginnen
s°9en. Wie sie angestellt werden und was alles zu beobachten ist, darüber
^ ebt der Verfasser unter bildlicher Beifügung des erforderlichen Handwerks-
80
B. Referate. Anthropologie.
zeuges, sowie Erläuterung seiner Handhabung dem Laien eine leicht fassliche
Anleitung. 12 Schemata, die der Arbeit beigegeben sind, sollen dazu dienen,
um die Beobachtungen in übersichtlicher Weise zu registrieren. Wenn solche
in so vielseitiger Weise, wie es der Yerf. wünscht, in diesen Tafeln nieder-
gelegt sind, dann werden sie nicht allein den Angehörigen der Kinder, bezw.
diesen selbst Belehrung und Erinnerung in späteren Jahren sein, sondern
auch in besonders hohem Grade der Wissenschaft zugute kommen, sofern
ein Sachverständiger mit der Bearbeitung des Stoffes »betraut wird.
Das Schriftchen sei zu dem angegebenen Zwecke aufs wärmste empfohlen.
Dr. Buschan-Stettin.
96. A. P. Ssytschew: Volum- und Oberflächenmessung des kind-
lichen Körpers in verschiedenen Lebensaltern. (Kuss.)
St. Petersburg 1902.
Mittelst der Methode der Gewichtsbestimmung ermittelt Yf. das Yolum
des Körpers an 100 Individuen verschiedenen Alters. Das Yolum erweist
sich nahezu gleich dem Gewicht. Auch die absolute Grösse der Körper-
oberfläche steht in Korrelation zu Gewicht, Yolumen und Länge des Körpers;
doch haben kleine Individuen eine verhältnismässig bedeutende Oberfläche.
Die Oberflächenmessung geschah mittelst der bekannten Methode der Papier-
wägung. — Die Untersuchungen erinnern an die bekannten Arbeiten des
allzu früh heimgegangenen Joseph Mies. Br. Richard Weinberg-Dorpat.
97. A. A. Falk: Das Wachstum des Herzens bei Kindern ver-
schiedenen Alters. (Euss.) St. Petersburg 1901.
Einige der Ergebnisse des Yf. sind recht beachtenswert. So findet
er beispielsweise, dass die Dimensionen des Herzens bis zum 12. Jahre bei
Knaben grösser sind, als bei Mädchen, vom 12. —15. Jahre dagegen wächst
das Herz Q Individuen stärker. Die Länge wächst intensiver als Breite
und Dicke. Untersucht wurden insgesamt 200 Herzen vom YII. Fötal-
monat bis zum 17. Lebensjahre. Um dem Faktor der Yariabilität voll
Rechnung zu tragen, bedarf es für die einzelnen Altersstufen grösserer Reihen,
als dem Yf. zur Verfügung standen. Dr. Richard Weinberg-Dorpat.
98. D. v. Hansemann: Echte Nanosomie, mit Demonstration eines
Falles. Berlin. Klin. Wochenschrift, 1902. Bd. XXXIX,
Nr. 52.
Anknüpfend an einen von ihm vorgestellten Fall von Zwergwuchs
(Dobos Janos, der „Vogelkopfrnensch“, 22 Jahre alt, von 1145 mm Höhe,
135 mm grösstem Längs-, 110 mm Breitendurchmesser und 395 mm Horizontal-
umfang des Kopfes; ein allgemein proportioniert entwickelter, ausgewachsener
geschlechtsreifer Mann, ohne Spur von Infantilismus, der keineswegs Idiot
B. Referate. Anthropologie
81
ist, sondern geistig auf der Höhe steht, die man bei seiner Ausbildung und
Umgebung voraussetzen kann) versucht Yerf. eine Einteilung dieser Er-
scheinung. Er unterscheidet zunächst unproportionierte Zwerge, d. h. durch
khachitis, Chondrodystrophie, kongenitale Knochendefekte und Kretinismus
bedingte Zustände von Zwergwuchs und proportioniert gebaute Zwerge.
Uhr die rassenweise auftretenden Zwergformen will Yerf. den Ausdruck
Zwerg nicht angewendet wissen, da sie nicht pathologischen Ursprunges sind.
Ui der Gruppe der proportionierten Zwerge glaubt Yerf. wiederum eine Ein-
teilung in zwei verschiedene Formen machen zu dürfen; die eine ist dadurch
gekennzeichnet, dass die Individuen in normaler Grösse geboren werden und
Zu irgend einer Zeit zu wachsen aufhören (Nanosomia infantilis), die zweite
beruht auf einer zu kleinen Anlage von Anfang an (Nanosomia primor-
dialis). Zu dieser letzten Gruppe, für deren Entstehung Yerf. bereits
Störungen im unbefruchteten Ei anzunehmen geneigt ist, rechnet der oben
aögeführte Fall. Interessant ist aus der Familiengeschichte des Dobos zu
erfahren, dass er unter 12 Kindern normal gebauter Eltern als 5. der erste
Zwerg gewesen ist und dass nach ihm noch 3 Zwerge derselben Art (zwar
nicht hintereinander) geboren wurden, die ebenfalls bei der Geburt nach
formaler Schwangerschaft der Mutter ungewöhnlich klein waren.
Dr. Buschan-Stettin.
99. Richard v. Wettstein: Der Neo-Lamarckismus und seine
Beziehungen zum Darwinismus. Jena, G. Fischer, 1903.
v. Wettstein hat seinen in Karlsbad auf der 74. Versammlung deutscher
N aturforscher und Ärzte gehaltenen Yortrag, mit Zusätzen und Anmerkungen ver-
üben, besonders herausgegeben. Er vertritt die Gültigkeit der Lamarckistischen
Anschauungen neben den Darwinistischen und ist überzeugt, dass direkte
Anpassung und Selektion vielfach kombiniert die Neubildung von Formen
bervorbringen. Wenigstens im Pflanzenreiche kommt bei der Erwerbung
^°n Anpassungsmerkmalen der direkten Anpassung sogar die Hauptrolle zu.
Ur definiert die direkte Anpassung als die Fähigkeit der Individuen unter
Gn jeweilig herrschenden Verhältnissen zweckmässige Veränderungen zu
erfahren und die so erworbenen Eigentümlichkeiten zu vererben.
Der Lamarckismus behauptet die Vererbung solcher Eigenschaften, die
^Urch direkte Anpassung erworben sind, nicht von Eigenschaften schlechtweg,
-ane A erstümmelung, eine Organisationsstörung irgend welcher Art ist keine
bürch Anpassung erworbene Eigentümlichkeit, deshalb ist ihre Nichtver-
A'barkeit kein Beweis gegen die Vererbung durch direkte Anpassung er-
M'rbener Eigenschaften. Allmähliche Reduktion von Organen bei Nicht-
^ brauch im Laufe phylogenetischer Entwickelung ist nur durch die jedes-
laHge erbliche Übertragung der vom Individuum durch Nichtgebrauch er-
zenen Reduktion zu verstehen, d. h. durch den Lamarckismus.
nLI:rn. Centralblatt für Anthropologie. 1903. 6-
■■HB
82 ß. Referate. Anthropologie.
Verf. führt aus dem Pflanzenreiche direkte Beweise für die Vererbung
der durch direkte Anpassung erworbenen Eigentümlichkeiten an. Die erbliche
Festhaltung der erworbenen Anpassungsmerkmale bedingt, dass die funktionelle
Änderung irgend eines Organes auch in der Qualität der Fortpflanzungs-
zellen zum Ausdruck kommt. Diese noch unerklärte Mitbeeinflussung der
Fortpflanzungsorgane sucht Verf. plausibel zu machen durch Hinweis auf
die Erscheinung der Korrelation. Br. Warda-Blankenburg in Th.
100. M. v. Lenhossek: Das Problem der geschlechtsbestimmenden
Ursachen. Jena, G-. Fischer, 1903.
Alle Bemühungen, auf dem Wege der Statistik das Problem der
geschlechtsbestimmenden Ursachen aufzuhellen, sind bisher ohne Erfolg ge-
blieben. Reicher an Resultaten und verheissungsvoller ist der biologische
Weg. Seit der grundlegenden Entdeckung von Korschelt an Dinophilus
apatris, durch die festgestellt wurde, dass bei diesem Wurm das Geschlecht
schon vor der Befruchtung im Ei festgelegt ist, haben sich für die Theorie,
dass das Geschlecht schon im unbefruchteten Ei vorausbestimmt sei, auch
bei anderen Tieren weitere Anfialtepunkte ergeben, v. Lenhossek deutet
auch die Form der Parthenogenese, die z. B. bei den Bienen besteht, im
Sinne dieser Theorie. Bei den Bienen gehen aus den unbefruchteten Eiern
nur Männchen, aus den befruchteten stets nur Weibchen hervor. Die ge-
wöhnliche Erklärung für diese Thatsache ist die, dass das Geschlecht durch
das Ausbleiben oder den Eintritt der Befruchtung entschieden wird; dem-
gegenüber macht Verf. geltend, dass das Hinzutreten oder Fernbleiben der
befruchtenden Samenfäden nicht die Ursache der Geschlechtsdifferenz der
Eier sein müsse, sondern sehr wohl als ihre Folge angesehen werden könne.
Für die Theorie, dass schon im unbefruchteten Ei das Geschlecht festgelegt
sei, sprechen einige Untersuchungen Pflügers an Fröschen und vor allem
die Thatsache, dass beim Menschen die eineiigen Zwillinge stets gleichen
Geschlechtes sind. Die Gleichgeschlechtigkeit eineiiger Zwillinge Hesse sich
aber, wie Verf. zugiebt, auch dadurch erklären, dass sie als Abkömmlinge
einer ursprünglich geschlechtslosen Eizelle erst durch die Einwirkung des
Samenfadens ihre Geschlechtsbestimmung erhalten und dass an der Befruchtung
eben nur ein einziger Samenfaden beteiligt ist.
Die verbreitete Behauptung, dass der menschliche Embryo in der
ersten Zeit seines Embryonallebens geschlechtlich nicht differenziert sei,
dass er seine Geschlechtsbestimmung erst später erhalte, ist nach Verf.
unbegründet; vielmehr liegt kein einziges Moment vor, das einen Rück-
schluss darauf gestattet, dass der Embryo seine Geschlechtsbestimmung erst
im Laufe seiner Entwickelung erhält, und das mit der Annahme unvereinbar
wäre, dass das Geschlecht bereits im Ei unabänderlich festgelegt ist.
Weiter folgen interessante Ausführungen über den Zeitpunkt der Ent-
ß. Referate. Anthropologie.
83
stehung des Geschlechts — Yerf. hält es für wahrscheinlich, dass die Ei-
zellen ihr Geschlecht nicht erst während ihrer Reifung gewinnen, sondern
von dem ersten Augenblick ihrer embryonalen Entwickelung an besitzen —
und über die Reihenfolge der Eireifung. An der Thatsache (Kyber, Nuss-
baum, Maupas), dass bei vielen niederen Tieren die Art der Ernährung auf
das Geschlecht der Nachkommenschaft einen mehr oder weniger intensiven
Einfluss auszuüben vermag, insbesondere dass Überernährung die Bildung
weiblicher, Unterernährung die männlicher Eier befördert, kann nicht ge-
zweifelt werden. Dagegen sind alle Versuche, auch bei den höheren Tieren
und dem Menschen, ein^n Einfluss der Ernährung auf die Geschlechtsbildung
erweisen zu wollen, als gescheitert anzusehen. Auch gewisse Schwankungen
der Geschlechtszahl (grösserer Überschuss männlicher Geburten bei der Land-
bevölkerung gegenüber der Stadtbevölkerung, geringerer männlicher Geburts-
uberschuss bei unehelichen Geburten gegenüber ehelichen Greburten) kann
uian nicht durch Differenzen in der Ernährung der Mutter erklären. Nach
von Lenhossek ergiebt sich für diese Schwankungen eher eine Erklärung,
Wenn man berücksichtigt, dass bei den Abortiv- und Totgeburten die Knaben
einen bedeutend höheren Procentsatz ausmachen als die Mädchen und dass
Aborte und Totgeburten auf dem Lande im allgemeinen seltener sind als
ln den Städten und bei unehelichen Geburten häufiger als bei ehelichen.
Jo mehr Aborte und Frühgeburten aber in einer Bevölkerungsschicht oder
innerhalb eines Territoriums Vorkommen, desto mehr wird bei den Lebend-
geborenen der Überschuss der Knaben sinken.
Wenn auch bisher zwingende Beweise dafür nicht erbracht sind, dass
auch bei den Säugetieren die Ernährung als geschlechtsbildender Faktor in
•betracht komme, so lassen sich doch von vornherein theoretische Bedenken
gegen die Möglichkeit einer Beeinflussung des Geschlechts der Eier durch
Verbesserung oder Beeinträchtigung der Ernährungsbedingungen des Mutter-
mdividuums nicht erheben. Die Schenkschen Theorien haben sich aller-
dings als völlig unzulänglich erwiesen. Br. Warda-Blankenburg in Th.
101. Hans Friedenthal: Über einen experimentellen Nachweis
von Blutsverwandtschaft. Archiv für Anatomie und Physio-
logie, 1900. Phys. Abteilg., S. 494.
102. Hans Friedenthal: Neue Versuche zur Frage nach der Stellung
des Menschen im zoologischen System. Sitzungsberichte
der Kgl. Preuss. Akademie der Wissenschaften, 1902.
Bd. XXXV, 10. Juli.
Landois hatte durch das Tierexperiment festgestellt, dass bei Trans-
Sl0n von Blut eines Tieres in die Vene eines anderen eine Auflösung der
rythrocythen, also ein Erscheinen von Blutfarbstoffen im Harn eintritt,
6
84
B. Referate. Anthropologie.
wenn das Blut einer fremden Spezies eingeführt wird, dass andererseits ein
ausgiebiger Austausch des Blutes nur möglich ist zwischen Vertretern ganz
nahe verwandter Spezies. Um zu erfahren, wie nahe die Tiere mit ein-
ander verwandt sein müssen, wurden die Versuche im Reagenzglas durch
Prüfung der globuciden Aktion von körperfremdem Blutserum weiter ver-
folgt: bei Zusatz weniger Tropfen defibririerten Blutes zum Serum eines
Säugetieres tritt innerhalb derselben Familie (z. B. Maus-Ratte, Hase-Kaninchen,
Esel-Pferd, Hund-Wolf-Fuchs, Hauskatze-Jaguar-Angorakatze) wohl eine er-
giebige Blutmischung ein; hingegen zieht der Farbstoff aus den roten Blut-
scheibchen aus und geht in Lösung über bei Zusatz tvon Blut einer fremden
Tierart (z. B. Kaninchen-Meerschweinchen, Schwein-Rind, Igel-Kaninchen,
Hund-Katze, wie aller dieser Tiere mit Menschenblut). Die Resultate
dieser Reagenzgläschenversuche über die Auflösung körperfremdlichen Blutes
durch Blutseru#! decken sich übrigens durchaus mit denen der Landoisschen
Transfusionsversuche.
Verf. hat die diesbezüglichen Versuche mit Anthropomorphen- und
Menschenblut fortgesetzt. Transfusion defibrinierten menschlichen Blutes
in die Vene eines Schimpansen lässt keine Erscheinungen auftreten, die
darauf schliessen lassen, dass ein Teil des eingeführten Blutes in seinen
Adern aufgelöst worden wäre. Nicht so fielen drei Transfusionsversuche
mit Menschenblut bei Macacus cynomolgus und Macacus sinicus aus. Schon
die Reagenzversuche mit Menschenblut hatten das Resultat ergeben, dass
die Blutscheiben aller Tiere aufgelöst werden, ausgenommen die von Primaten.
Weiter experimentierte Verf. nach dem von Bordet angegebenen Verfahren.
Injizierte er einem Kaninchen in mehreren Intervallen Blutserum einer
cynomorphen Affenart, so nahm das Blutserum so vorbehandelter Kaninchen
im Reagenzglas die Eigenschaft an bei Berührung mit minimalen Biutmengen
von Cyocphalus hamadryas, C. Dschelada, Macacus cynomolgus und Colobus
Guereza einen Niederschlag zu geben. Mit dem Blute des Menschen und
der anthropomorphen Affen aber gab das Serum der so behandelten Kaninchen
nicht die geringste Fällung. Wurde ferner frisches defibriniertes Menschen-
blut einer cynomorphen Affenart injiziert, so wurde ein geringer Bruchteil
des eingeführten Hämoglobins durch den Harn wieder ausgeschieden, hin-
gegen wurden grössere Mengen defibrinierten Menschenblutes von einem
Anthropomorphen gut vertragen. — Alle angeführten Versuche sprechen
deutlich für eine Blutsverwandtschaft zwischen Mensch und Menschenaffe;
diese beiden dürfen also als eine besondere Unterordnung mit vollem Recht
den Cynomorphen gegenübergestellt werden. Br. Buschan-Stettin.
85
B. Referate. Anthropologie.
103. Th. Volkov: Sur quelques os „surnumeraires“ du pied
humain et la triphalangie du premier orteil (et du pouce).
Bulletins et Mémoires de la Soc. ¿’Anthropologie de Paris,
1902. Série Y, tome III, S. 274—296.
Yerf. bringt zunächst kasuistische Beiträge, indem er weitere Funde
des Os trigonum, Tibiale externum, Cuboides secundarium, Cuneiforme I
bipartitum, Os Intermetatarsale mitteilt und zum Teil abbildet. Hinsichtlich
der Triphalangie von Grosszehe und Daumen, welche Yerf. gegenüber der
beute wohl allgemein angenommenen Diphalangie wieder zur Geltung bringen
'vili, stellt er folgende Umwertung auf: das heutige Metatarsale (Metacar-
Pale) I soll eine Grundphalanx darstellen, das Cuneiforme I (Trapezoides)
dagegen das Metatarsale (Metacarpale) I. Die Tuberositas oss. navicularis
des Menschen oder das Tibiale (Radiale) externum der Nager könnten die
Spuren des Cuneiforme I (Trapezoides) enthalten, u. s. w. Ehe diese neue
Auffassung diskutiert werden kann, ist die Durcharbeitung eines grossen
embryologischen Materiales unerlässlich. a. Thilenius-Breslcm.
104. Sante de Sanctis: La ricerca psicológica nella grafica infantile.
Rivista d’Italia, 1901, Fase. 2. (30 S.)
S. nahm sich die Mühe, 70 Zeichnungen von 24 intellektuell ver-
schieden veranlagten, 3—8 Jahre alten Kindern zu sammeln und psycho-
tisch zu analysieren. Siebzehn von ihnen waren Italiener, 4 Abessynier,
ö stammten aus Madras. Sie zeichneten verschiedene Gegenstände auf Papier,
teils willkürlich, teils auf Geheiss, und zwar entweder nach einem Natur-
Modell oder aber frei aus dem Gedächtnis.
Die Existenz einer von anderen Beobachtern vermuteten graphischen
Ärmst der Kinder stellt S. vollkommen in Abrede. Solche Zeichnungen
sind nichts anderes, als eine entfernte psyclxo-physiologische Vorbereitung
bei’ künstlichen Darstellung und bilden meistenteils eine genetische Geschichte
des Vorstellungsvermögens, sowie des graphischen Imitationstalentes. Die
syehologie des Kindes ist, wie schon W. Wundt aussprach, einem Fehler
Unterworfen, weil seine objektiven Beobachtungen durch subjektive Über-
gnngen vervollständigt werden. Darum ist es entschieden unrichtig, ge-
isse Äusserungen der kindlichen Seele etwa als die ersten Entwickelungs-
®bilen mancher psychischen Funktionen zu berauben und sogar mit den
Ps)chischen Äusserungen niederer Völker zu vergleichen. Das wäre ein
§r°ber anthropomorpher Fehler, denn sie sind nur einfache Nachahmungen
er erwachsenen Seele. Br. O. Hovorka, Edler v. Zderas- Wien.
86
ß. Referate. Anthropologie.
105. M. Kende: Die Entartung des Menschengeschlechts, ihre
Ursachen und die Mittel zu ihrer Bekämpfung. Halle a. S.,
Marhold, 1902.
Verfasser vertritt, ohne überall weitblickende Kritik zu zeigen und
ohne wesentlich Neues beizubringen, die Ansicht von einer allgemeinen
Degeneration der heutigen Kulturmenschheit. Seine Vorschläge zur Abhülfe
sind ziemlich mutig; unter anderem befürwortet er die Abschaffung der
Strafbestimmungen für Fruchtabtreibung. J)r. Warda Blankenburg in Th.
106. Felix Peipers: Konsanguinität in der Ehe und deren Folgen
für die Descendenz. Allgem. Zeitschr. für Psychiatrie, 1902.
Bd. LVIII, S. 793.
Verf. hat die Frage auf der Basis einer grösseren Beobachtungsreihe
erneuter Untersuchung unterworfen. Die häufig herrschende Abneigung
gegen konsanguine Ehen wird durch die Geschichte und die Völkerkunde
nicht begründet; wo das Verbot herrscht, dürfte es falsch sein, dasselbe
stets durch hygienische Rücksichten erklären zu wollen. — Bei primitiven
Volksstämmen mit dem Mutterrecht ist interessanterweise die Ehe mit
mütterlichen Blutsverwandten untersagt, mit den männlichen dagegen erlaubt;
umgekehrt dort, wo das Vaterrecht herrscht. Bei manchen Eheverboten
der Kirche, welche es stets besonders verstanden hat, die Abneigung gegen
konsanguine Ehen gross zu ziehen, können physiologische Gründe nicht
maassgebend gewesen sein (wie z. B. zwischen Stiefvater und Stieftochter),
sondern sociale und ethische. Bei den Südslaven ist es z. B. untersagt,
die Verwandte eines Wahlbruders zu ehelichen. Westmark glaubt, das
Verbot konsanguiner Ehen sei ursprünglich gegen jene gerichtet, welche
unter einem Dache wohnten und habe verschiedene Wandlungen durchge-
macht und sei ethischen Ursprungs; näher liegt es, dasselbe mit der Furcht
vor allgemein eintretender Promiskuität zu begründen.
Man hat als Folgen konsanguiner Ehen bekanntlich angeborene Taub-
stummheit, Retinitis pigmentosa, Idiotie, Sterilität, Neigung zu Psychosen
hingestellt, wobei befürchtet wird, dass entweder die Blutsverwandtschaft
an sich schuld sei oder dass krankhafte Anlagen der Eltern in der Descendenz
in potenziertem Grade wieder erscheinen, während die Konsanguinisten das
bestreiten und behaupten, dass die Vererbung auch bei Konsanguinität den-
selben Gesetzen wie sonst folge. Jedenfalls ist die Frage noch nicht spruch-
reif; vor allem fehlt der Vergleich mit Listen nicht blutsverwandter Ehen
und andererseits der Nachweis, dass krankhafte Anlangen der konsanguinen
Eltern auszuschliessen waren.
Nach Lorenz, welcher in seinem bekannten Buche der Behandlung
der Folgen von Verwandtschaftsehen einen breiten Raum giebt, ist die Ver-
wandtschaft und die Ahnen gern einschaft der einzelnen Familien des Volkes
B. Referate. Anthropologie.
87
unter einander weit grösser als man gewöhnlich annimmmt. L. wünscht
vor allem, dass dem Begriff Inzucht eine genaue Definition gegeben und
festgestellt werde, in welcher Breite die Verwandtschaft resp. bei welcher
Ähnlichkeit die Inzucht günstige Resultate, erzielt, ob die Inzucht im engeren
Sinne (wie bei den Tieren) oder ob der Ahnenverlust in höheren Reihen
sich als fortschrittliches Prinzip erweist. Verf. glaubt das Erste vermuten
zu können. Er weist übrigens darauf hin, dass konsanguine Ehen vielfach
Interessen- nicht Neigungsehen seien und dass deren Kinder die der gesamten
Entwickelung günstigen Faktoren weit weniger geniessen als andere. Deshalb
dürften auch auftretende Anomalien bei diesen nicht als rein degenerative
Inzuchterscheinungen aufgefasst werden. Von den Beobachtungen, welche
die Unschädlichkeit der Verwandtschaftsehen betonen und von P. mitgeteilt
werden, sind am bekanntesten jene von Voisin auf die Gemeinde Batz (Frank-
reich) bezüglichen, wo trotz Jahrhunderte langer Inzucht sich die behaupteten
Degenerationserscheinungen nicht fanden, und die von Ancelon, dass in
Dieuze (Frankreich) Verwandtschaftsehen günstigere Erfolge aufweisen als
die anderen.
Bei seinen Untersuchungen hat Peipers gefunden, dass sich die Resultate
der statistischen Bureaux, der Standesämter, die Zählkarten der Kranken-
anstalten aus verschiedenen Gründen nicht genügend verwerten, jedenfalls
zu direktem Vergleich nicht benutzen liessen, da der Begriff der Blutsver-
wandtschaft nicht gleichmässig eingeschränkt wurde, z. T. auch offizielle
Nachweise über die Blusverwandtschaft der Ehegatten nicht geführt wurden.
Darauf hat Verf. verschiedene Anstalten für Geisteskranke, Epileptische,
raubstumme und Blinde einer Untersuchung unterzogen. Unter 495 Epilep-
tikern von Bethel-Bielefeld mit bekannter Abstammung stammten 3 aus
Oeschwisterkinderehen, 7 von entfernten Verwandten; von 2450 Zöglingen
derselben Anstalt war nur 1 ebenso entsprossen. Von 220 Zöglingen
Oer Taubstummenanstalt zu Brühl waren 2,3 °/0 konsanguinen Ursprungs,
oder 1,6 °/0 der Ehen, welche taubstumme Kinder hatten, waren konsanguin.
der Taubstummenanstalt zu Essen waren 3,8 °/0, iu jener zu Neuwied
6,10/o (unter 65) der Kinder konsanguinen Ursprungs. In der Blinden-
anstalt zu Bonn waren von 1720 Fällen l,16°/0 der Ehen von Geschwister-
kindern oder von Onkel und Tante entsprossen.
Des weiteren hat P. versucht, durch den modernen Weg eines Zeitungs-
aulrufes in den Besitz von Ehen konsanguinen Ursprungs zu gelangen, an
welche er dann ins Einzelne gehende Fragebogen versandte. Der Erfolg
Nyar noch kein befriedigender, besonders wohl auch, weil die Presse nicht
genügend Entgegenkommen zeigte. Gleichwohl glaubt Verf., dass das Studium
u,lr auf diesem Wege einen Erfolg haben werde(?), besonders dann, wenn
8jch ein persönlicher Besuch in den Familien anscliliessen lässt. Bei jenen
durch private Mitteilung zur Kenntnis des Verf. gelangten konsanguinen
88
B. Referate. Anthropologie.
Ehen handelte es sich — wie immer — vorzugsweise um „interessante“
Fälle, sodass sich dieselben statistisch nicht verwenden Hessen.
Um die Frage mit Aussicht auf Erfolg studieren und ihrer Lösung
näher bringen zu können, ist es notwendig, die Grundlagen zu sichern, eine
Beantwortung der nötigen Fragen in die Zählblätter der Krankenanstalten
wie der statistischen Bureaux in erschöpfender Form zu sichern und auch
eine wissenschaftliche Benutzung der standesamtlichen Register zu ermöglichen.
Bis dahin ermangeln die Behauptungen der Nichtkonsanguinisten, wie dies
auch Peipers Forschungen darthun, des strikten Beweises. Übrigens ist bei
der Taubstummenfrage dem Yerf. die Arbeit von Huth „Consanguineous
marriage and deaf-mutism, The Lancet, 1900, 10. Februar“ entgangen.
Oberazt Dr. Kellner-Untergöltzsch.
107. P. Penta: Nuove anomalie degli arti nei delinquenti e nei
normali. Riv. mens, di psicliiatria forense. (Napoli) 1901,
Anno IY, S. 169—189.
P. fasst die Resultate einer früheren Arbeit, die sich auf die Unter-
suchung der Finger und Zehen von mehr als 4500 Sträflingen der italienischen
Strafhäuser bezieht, zusammen. Er versucht die verschiedenen Formen-
anomalien derselben auf mitogenetischem und phylogenetischem Wege zu
analysieren, z. B. Oppositions- und Greiffähigkeit der grossen Zehe, Ver-
minderung und Vermehrung der Zahl an Zehen, Syndaktylie, Brachydaktylie,
Makrodaktylie, Polydaktylie etc. Indem er Vergleiche mit den fossilen
Tieren anstellt, erklärt er für den Typus der menschlicheu Hand, sowie
aller Säuge- und anderen Wirbeltiere nicht die Pentadaktylie, sondern die
Heptadaktylie, welche Ansicht er auch durch Beispiele aus der Embryologie
zu stützen versucht. Die Finger- und Zehenanomalien führt er nun auf
die Reste jenes sechsten und siebenten Fingers, beziehungsweise Zehe zurück,
und findet sie bei den Verbrechern unverhältnismässig häufig. Als Ursache
dieser Formanomalien führt er die recenten hygienischen und socialen Ver-
hältnisse, verschiedene chronische Intoxikationen (Alkoholismus), sowie eine
krankhafte Vererbung der von ihnen betroffenen niederen Volksschichten an.
Dr. O. Hovorka, Edl. v. Zderas-Wien.
108. Tancredi Bertini: II contorno faciale e sue anomalie negli
epilettici, nei paranoici e negli idioti. Archivio di psichiatria.
Vol. XXIII, S. 456-463.
V. fand grössere Häufigkeit des pentagonalen Gesichtstypus bei den
Epileptikern (unter 28 E. 35,7 °/0) gegenüber den Normalen (unter 100 N.
8°/0), der die Folge der stärkeren Entwicklung der Massetermuskeln und
der grösseren Breite des Unterkiefers ist, wie sie Lombroso bei den Ver-
brechern häufig beobachtet hat. Eine andere Anomalie fand V. in der soge-
nannten Plagioprosopia peripherica. Diese ist charakterisiert durch Ver-
B. Referate. Anthropologie. — Ethnologie.
89
sehiedenheit des geometrischen Konturs beider Gesichtshäften; je nachdem
die eine Gesichtshälfte diesen, die andere jenen Kontur hat, werden drei
Haupttypen unterschieden: der hemipolygonale, der asymmetrische polygonale
und der asymmetrische krummlinige Typus. Bei den Epileptikern waren
nur 5 regelmässige Gesichter ( 17,85 °/0), hingegen 81,14 °/0 asymmetrische
und zwar war die hemipolygonale Form die vorwiegende (46,4°/0). Die
Paranoiker und Idioten zeigten mehr die asymmetrische krummlinige Form.
In aller Kürze werden noch einige andere Abweichungen der Gesichtsform
bei Epileptikern angedeutet, deren ausführlichere Bearbeitung Y. späteren
Darstellungen vorbehält. Inwieweit der geometrischen Gesichtsform Gesetz-
mässigkeit zukommt, werden erst Untersuchungen in grösserem Umfang als
die bisherigen darthun können. Dr. Laufer-Grafenberq-Diisseldorf.
109. Joseph Antonini: La dégénérescence et la criminalité chez
les pellagreux. Compte rendu du Congrès internat, d’Anthro-
pologie crimin., 5 session d’Amsterdam, 1902, S. 369—376.
Yon 59 hereditären Pellagrösen aus der Provinz Bergamo wiesen
38 — 62°/0 Degenerationszeichen (10 mal Henkel- oder asymmetrische Ohren,
9 mal schmale Stirn, 8 mal fronto-parietale Plagiocephalie, 6 mal asym-
metrisches Gesicht und ebenso oft hydrocéphale Stirn etc.), von 98 nicht
belasteten Pellagrakranken nur 18 = 17,9°/0 solche auf. Die Kapazität,
berechnet aus den drei ITauptschädelmaassen, belief sich bei 51 °/() der ersten
Klasse auf die mittlere Grösse von 1150—1250, hingegen bei 84°/0 der
zweiten fiel die Kapazität höher als das Mittel aus. Die hereditären Pella-
grösen ferner besassen zu 33°/0 sehr kleine Werte, d. h. unter 1150, und
zu 11 °/0 höhere, d. h. über 1250, für die Nicht-Hereditären stellten sich
diese Zahlen auf 27 °/0 und 5,3 °/0. Es scheint sich demnach der Schädel-
binnenraum der belasteten Pellagrakranken zu dem der nicht belasteten
ähnlich wie der von kriminellen zu normalen Leuten zu verhalten: die
ersteren übertreffen die letzteren in sehr kleinen und sehr grossen Werten
und sind hinsichtlich der Häufigkeit der mittleren Werte unterlegen, wie
auch für Geisteskranke festgestellt ist. Yerf. erblickt in solchem V erhalten
ein Degenerationszeichen. Dr. Biischan-Stettin.
II. Ethnologie.
A. Allgemeines.
110. Friedrich Ratzel: Die Erde und das Leben. Eine vergleichende
Erdkunde. 2 Bände. Leipzig und Wien, Bibliographisches
Institut, 1902. Preis jedes in Halbleder gebund. Bandes
17 Mark.
Wie Ratzel die Geographie aufgefasst wissen will, ist allgemein be-
kannt; ihm schwebt als Aufgabe von nicht nur eine Beschreibung der Erd-
90
B. Referate. Ethnologie.
Oberfläche zu geben, die geographischen Thatsachen zu registrieren, sondern
sie in Beziehung zum Weltganzen und zum vielseitigen Leben auf der Erde,
im besonderen auch zu der Menschheit zu bringen. Yon diesem Gesichts-
punkte aus möge das vorliegende Werk, das eine vergleichende Erdkunde
im Sinne Karl Ritters darstellen soll, auch an dieser Stelle Erwähnung und
Anerkennung finden.
Der erste Band (706 Seiten mit 264 Abbildungen und Karten im
Text, 9 Kartenbeilagen und 23 Tafeln) behandelt nach einer einleitenden
Darstellung der Vorgeschichte und Geschichte der Erkenntnis 1. die Erde
und ihre Umwelt, 2. die Wirkungen aus dem Innern der Erde, 3. Land
und Wasser, Festländer und Inseln, 4. Küsten, 5. Gesteine, Schutt und
Erdboden, 6. Verwitterung und Erosion und 7. Bodenformen. Der zweite
Band (702 Seiten mit 225 Abbildungen und Karten im Texte, 12 Karten-
beilagen und 23 Tafeln) ist 1. dem Wasser, sowohl in flüssiger als in fester
Form, 2. der Lufthülle der Erde und 3. dem Leben der Erde gewidmet.
Wir halten uns nicht für kompetent, über das geographische Material ein
Urteil abzugeben. Wie Verf. in der Einleitung betont, hat er sich bemüht,
wo bezüglich der Deutung des Wesens und der Ursachen der Erscheinungen
eine allgemeine Übereinstimmung noch nicht erzielt ist, die verschiedenen
Auffassungen zum Worte kommen zu lassen, jedoch ist keine Ansicht unge-
prüft wiedergegeben worden und Abweichungen von herrschenden Theorien
sind soweit begründet worden, wie es die Rücksicht auf die Gemeinver-
ständlichkeit zuliess. Wie schon erwähnt, hat Verf. das Hauptgewicht darauf
gelegt, eine vergleichende Darstellung der Erdkunde, im besonderen der
Wechselbeziehungen der Erscheinungen auf der Erdoberfläche zu geben.
Vielfach ist dabei auch das Verhältnis der Menschheit zur Erde berührt
worden, und ein besonderes Kapitel am Schluss des Ganzen (S. 617 — 677)
ist direkt Anthropogeographie betitelt. Es behandelt die Menschheit im
allgemeinen, das Verhältnis des Menschen zur Erde, die Kultur und das
Volk, sowie den Staat.
Die 46 in Farbdruck, Holzschnitt und Atzung ausgeführten Tafeln
stellen direkte Kunstwerke dar, wie wir sie von den übrigen Erscheinungen
des Bibliographischen Instituts her gewohnt sind; auch die Ausstattung des
ganzen Werkes ist eine dieser Verlagsbuchhandlung durchaus würdige.
Dr. Buschan-Stettin.
111. Wandtafeln für den Unterricht in Anthropologie, Ethnologie
und Geographie, herausgegeben von Prof. Dr. Rud. Martin.
Zürich, Art. Institut Orell Füssli, 1903.
Zwei Tafeln liegen uns von dem vorstehend angezeigten Unternehmen vor,
das ein in jeder Hinsicht mustergültiges Anschauungsmittel der wichtigsten
Vertreter der Menschheit zu bieten verspricht. Es sind zwei Ausgaben ge-
B. Referate. Ethnologie. 91
plant, eine kleinere aus 8 Tafeln bestehend, für die oberen Klassen der
Volksschulen und höheren Schulen berechnet, und eine grössere, die weitere
16 Tafeln enthalten Avird, für den Unterricht auf Hochschulen, Handels-
schulen, Museen u. s. w.; die kleinere Ausgabe soll 28, die grössere 64 Mark
kosten. — Die uns vorliegenden Tafeln, im Format 88 : 62 cm, sind recht
charakteristisch ausgewählt j sie bringen in farbenprächtiger und künstlerisch
vollendeter, lebenswarmer Ausführung die Brustbilder eines Grossrussen und
Eskimo in Uberlebensgrösse zur bildlichen Darstellung. Jeder Tafel ist
eine kurze Monographie des betreffenden Typus mit den wichtigsten Litteratur-
nachweisen aus der Feder Martins beigegeben.
Es kann keinem Zweifel unterliegen, dass dieses vornehme Tafelwerk
ein wirkliches Bedürfnis der anthropologischen Forschung erfüllt und in
den Kreisen, in denen Herausgeber und Verleger ihm Verbreitung wünschen,
als ausgezeichnetes Lehrmittel, wie bisher es kein zweites auf diesem Ge-
biete gab, ungeteilten Beifall finden wird. Möge es auch dazu beitragen,
dass die Lehre vom Menschen in weitere Kreise dringt und volkstümlich wird.
Dr. Bxischan-Stettin.
112. G. Buschan: Chirurgisches aus der Völkerkunde. Mit 6 Ab-
bildungen. Leipzig, Benno Konegen Verlag, 1902.
Verfasser stellt auf Grund einer erschöpfenden Durcharbeitung der
einschlägigen Litteratur die Kenntnisse prähistorischer und rezenter Natur-
und Halbkulturvölker zusammen. Er bespricht zunächst ausführlich die
Trepanation des Schädels auch unter Berücksichtigung der Technik, der
angeblichen Indikationen für die Operation und der Erscheinungsform des
trepanierten Schädels wie er in unsere Hände gelangt. Auch das „T. sinci-
pitale“ behandelt er im Zusammenhänge mit der Trepanation, da es augen-
scheinlich einem operativen Eingriff seine Darstellung verdankt. Der 2, Ab-
schnitt beschäftigt sich zunächst mit den Aveit verbreiteten Arten der Blut-
entziehung durch Skarifikation, Blutsaugen, Schröpfkopf u. s. w. Dann
werden Amrschiedene ableitende Verfahren besprochen: Peitschen mit Brenn-
nesseln, Auflegen hautreizender Pflanzen oder Tiere, Aufstreuen von Asche,
Benützung glühender Kohle u. s. av., und die Moxa. Daran schliesst sich
die Schilderung der Behandlung von Abszessen, Amputationen, Bruchschäden,
Verrenkungen, weiterhin die Mika-Operation, Zirkumzision, Kastration, Infi-
kulation, Laparotomie. Zum Schlüsse Avird der AVundbehandlung gedacht,
des Deckverbandes und der Sterblichkeit unter den geschilderten Verhält-
nissen, wobei besonders erwähnenswert ist, dass selbst die nach unseren
Begriffen höchst gefährlichen Prozeduren bei der Operation im allgemeinen
den günstigen Verlauf nicht beeinflussen, und für diese auffällige Thatsache
bleibt uns nur die Annahme als Erklärung, dass die niederen Kulturvölker
eine geringere Empfänglichkeit für die Mikroorganismen der Wundkrank-
92
B. Referate. Ethnologie.
heiten besitzen. Weiterhin besteht unzweifelhaft bei den Schwarzen die
Neigung zur Hervorbringung grösserer und soliderer Granulationen, als wir
sie bei uns zu sehen gewohnt sind. Den Schluss der Arbeit bildet ein
sorgfältig zusammengestelltes, über vier Druckseiten umfassendes Verzeichnis
der einschlägigen Litteratur. Q. Thilenius-Breslau.
113. F. Delisle: Les macrocéphales. Bull, et Mémoir. de la
Société d’Anthropologie de Paris 1902. Série V, tome III,
S. 26—35.
Verf. sucht nach einer Erklärung des Vorkommens von Makrokephalen
auf dem begrenzten Gebiete der Schweiz, Savoyen, des französischen Jura.
Er beginnt mit einer Besprechung der ältesten bezüglichen Nachrichten bei
Herodot und Hippokrates, aus denen hervorgeht, dass die erwähnte Defor-
mation bei den Bewohnern der Küste des Schwarzen Meeres üblich war
und mit deren Vorstellungen über Vornehmheit zusammenhing. Da aber
Hippokrates nach seiner eigenen Angabe zu der Zeit lebte, in welcher die
Sitte bereits erloschen war, so ist damit in dem IV. vorchristlichen Jahr-
hundert die eine zeitliche Grenze gegeben. Aus den bisher erhobenen Funden
ergiebt sich einmal, dass die Makrokephalie variabel ist, dass andererseits
nach der Häufigkeit der Funde das Centrum der Deformation in Transkau-
kasien zu suchen ist, von dem aus sie sich durch das übrige Europa ver-
breitete. Bezüglich des isolierten westeuropäischen Herdes stellt Verf. zu-
nächst fest, dass die dortigen Funde von Individuen stammen, welche den
alten kaukasischen Völkern verwandt sind, dass weiterhin die Deformation
des Kopfes eine bis zum heutigen Tage im Kaukasus erhaltene Sitte ist.
Die Annahme, dass der westliche Herd durch die Wanderung der Cimerier
(Broca) oder der Avaren (v. Bär) entstanden sei, weist Verf. mit guten
Gründen zurück. Auch an die Völkerwanderungszeit kann nicht gedacht
werden, da die Fundorte von M. eine grössere Verbreitung haben müssten,
wenn die Nachkomnien der Zeitgenossen des Hippokrates den wandernden
Horden nach Westen gefolgt wären. Verf. nimmt daher als Erklärung an,
dass die occidentalen, mit den kaukasischen verwandten Makrokephalen noch
vor jeder germanischen Einwanderung bei den Helvetiern oder Protohel-
vetiern lebten; damals befand sich das Gebiet in einer langen Zeit friedlicher
Entwickelung, die Makrokephalen hatten dort Handelsniederlassungen be-
gründet, wurden von den Eingeborenen als Bürger angesehen und als solche
auf den gemeinsamen Friedhöfen beigesetzt. In der vorsichtigen Angabe
Pruner-Beys, dass die Makrokephalen vermutlich dem Boden nicht fremd
waren, auf welchen sie gefunden wurden, sieht Verf. keine Förderung, ob-
gleich er selbst vorher die mangelnde Einheitlichkeit der Charaktere der
bisher gefundenen makrokephalen Schädel erwähnte und vermutet, dass die
Deformation des Schädels in Zusammenhang steht mit gewissen Haartrachten.
B. Referate. Ethnologie.
93
Wenn daher der Yerf. einen neuen plausibelen Weg angiebt für den Zu-
sammenhang der transkaukasischen und occidentalen Makrokephalen, so ist
er doch nur gültig bei der Voraussetzung eines genealogischen Zusammen-
hanges. Die Frage aber, ob die systematische Zusammengehörigkeit der
Makrokephalen eine genealogische oder aber eine Konvergenzerscheinung ist,
wird noch einer besseren Lösung bedürfen. Vielleicht gelingt sie auf dem
vom Verf. mit vollem Rechte befürworteten Wege gemeinsamer Arbeit des
Anthropologen und Archäologen. Jhilenius-Breslau.
B. Specielles.
114. B. Adachi: Geruch der Europäer. Globus 1903. Bd. LXXXIII.
Nr. 1.
Verf. berichtet über Beobachtungen, die er als Japaner an Europäern
machen kann, betreffend den Eigengeruch. Dem Europäer haftet darnach
ein starker, stechender, süss oder bitter riechender Geruch an, individuell
verschieden stark, Kindern und Greisen fehlend. Er geht von der Achsel-
höhle aus, ist auch nach deren gründlichen Abseifung bald wieder vorhanden.
Die Schweisssekretion scheine beim Europäer stärker, wie auch die Achsel-
höhlen-Schweissdrüsen viel grösser seien; beim Japaner seien sie nicht makro-
skopisch sichtbar. Japaner sollen weder für ihre, noch für europäische Nasen
einen Geruch an sich haben, nur als Ausnahme seien Individuen mit „Achsel-
grubengestank“ vorhanden, welche Erscheinung sogar militärlrei machen
könne. Bezügl. mikroskopischer Untersuchung wird auf künftige Unter-
suchungen verwiesen. Fr. E. Fischer-Freiburg i. B.
115. B. Adachi: Sogenannter Mongolenkinderfleck bei Europäern.
Anatomischer Anzeiger, 1902. Bd. XXII, Nr. 16.
Auf frühere und noch bevorstehende Veröffentlichungen bezgl. des
Sitzes des den „blauen Fleck“ verursachenden Pigmentes hinweisend, (Referat
s. Centralblatt, Jahrg. 1902, S. 198) teilt Verf. jetzt als vorläufige Mit-
teilung die interessante Thatsache mit, dass es ihm gelungen sei, äusserlich
wahrnehmbaren „blauen Fleck“ bei der rein weissen Rasse zu finden. Mit
grossem Interesse muss den ausführlichen Arbeiten entgegengesehen werden.
Fr. F. Fischer-Freiburg i. B.
116. Gustaf Retzius und Carl M. Fürst: Anthropologia Suecica.
Beiträge zur Anthropologie der Schweden, nach den auf
Veranstaltung der schwedischen Gesellschaft für Anthro
pologie und Geographie in den Jahren 1897 und 1898 aus-
geführten Erhebungen ausgearbeitet und zusammengestellt.
94
B. Referate. Ethnologie.
Mit 130 Tabellen, 14 Karten und 7 Proportionstafeln in
Farbendruck, vielen Kurven und anderen Illustrationen.
Stockholm, gedruckt in Aftonbladets Druckerei, 1902. VII
und 301 S. gr. Quart.
Wieder haben wir das Erscheinen eines schwedischen Prachtwerkes
zu verzeichnen. Nachdem G. Retzius die Schädel der Vorzeit herausgegeben
hatte, war er im Verein mit seinem Mitarbeiter Prof. Fürst in Lund be-
rufen, auch die Merkmale der lebenden Bevölkerung Schwedens festzustellen.
Die Materialien wurden an 45 688 Wehrpflichtigen zweier Jahrgänge erhoben,
und zwar, wie hier gleich bemerkt werden muss, nur an Tauglichen.
Alle Pflichtigen von weniger als 157 cm Körpergrösse (bis auf einige, deren
Anwesenheit nicht näher erklärt wird) und alle mit Gebrechen behafteten
sind ausgeschlossen. Eine sich in den verschiedenen Landschaften über
sämtliche Pflichtige erstreckende Untersuchung würde den Vorzug verdient
haben; aber wenn schon in Baden die Schwierigkeiten gross genug waren,
die Erhebungen beim Musterungsgeschäft vorzunehmen, so wären sie in
Schweden unüberwindlich gewesen. Die Ungeheuern Entfernungen der
Musterungsorte, die Hindernisse durch Kälte und Schneemassen, die mangel-
haften, pft nicht genügend hellen Lokale stellten sich einem solchen Vorhaben
entgegen, das von den Herausgebern auf Grund ihrer Kenntnis der Dinge
garnicht verursacht wurde. Sie zogen vor, die für tauglich erkannten Wehr-
pflichtigen an den Garnisonsorten zu untersuchen, wo alle Vorbedingungen
weit günstiger gestaltet werden konnten. Ausser den Herausgebern wirkten
im Jahr 1897 noch 7 Professoren und Kandidaten der Medizin mit, im
folgenden Jahr 8, soclass keine allzu erdrückende Arbeit auf den einzelnen
kam, obschon man Zahlen von 4—5000 Mann als sehr anerkennenswerte
Leistungen bezeichnen muss.
Im allgemeinen schliessen sich die Erhebungen dem Schema an, das
in Baden verwendet wurde. Die Hautfarbe wurde nicht einbezogen, auch
die Körperbehaarung u. s. w. nicht, dafür wurde aber die Spannweite ge-
messen. Die Darstellung der Ergebnisse verrät das erfreuliche Bestreben,
soviel wie möglich die Vergleichbarkeit mit den Arbeiten der Vorgänger
durchzuführen. Wo Neuerungen angewendet wurden, sind sie meist als
Verbesserungen zu bezeichnen.
Die Körpergrösse der Schweden wird auf durchschnittlich 170,88 cm
berechnet. Diese Zahl ist mit der in anderen Ländern gefundenen nicht
ohne weiteres zu vergleichen. Für Baden z. B. ist die mittlere Körper-
grösse 165,2 cm, aber dabei sind alle Wehrpflichtigen mit einziger Aus-
nahme der Verwachsenen einbezogen. Würde man diejenigen unter 157 cm
weglassen (die in Baden 9,3 °/0, in Schweden nur 2,2 °/0 ausmachen), so
käme eine Zahl von 166,4 cm heraus, also schon 1,2 cm mehr. Unter
den kleinen Leuten werden aber weniger ausgehoben als unter den mittleren
B. Referate. Ethnologie.
95
Und grossen, sodass die durchschnittliche Körpergrösse hei den Tauglichen
m Baden sich noch höher, vielleicht auf 167—168 cm stellen würde.
Immerhin ist die schwedische Bevölkerung um einige Centimeter grösser als
die badische, und dies rührt davon her, dass sie den germanischen Typus
Weit reiner bewahrt hat als diese.
In den einzelnen Landschaften variiert die Körpergrösse etwas. Wenn
man von Lappland mit 169,1 cm absieht, so haben alle übrigen 24 Land-
schaften mindestens 170 cm und die Breite der Schwankung von Blekinge
«oit 170,0 cm bis Gotland mit 172,7 beträgt nur 2,7 cm. Dabei lässt
Weder die Höhenlage, noch die sonstige Naturbeschaffenheit der Landschaften,
Doch die Beschäftigung, noch die Yermögenslage der Mannschaften einen
Einfluss erkennen. In ärmeren Gegenden ist oft die Körpergrösse höher
in wohlhabenderen. Die Rassenanlagen sind das Entscheidende.
Gmnz übereinstimmend war der Befund in Baden.
Die Sitzgrösse betrug bei den schwedischen Soldaten 90,4 cm, bei
Den badischen Wehrpflichtigen nur 86,4 cm, also 4 cm weniger, während
die Beinlänge in Schweden 80,5, in Baden 78,8 cm gefunden wurde, also
Dur um 1,7 cm differierte. Dies zeigt, dass man es in Schweden mit einer
^eit reiferen Bevölkerung zu thun hat. Die Soldaten waren nicht nur
durchschnittlich 1 Jahr älter als die badischen Wehrpflichtigen, sondern sie
bildeten eine Auslese nach Weglassung der noch unreifen Individuen. In
der Körperbehaarungsklasse 2 der badischen Wehrpflichtigen entspricht einer
Körpergrösse von 170,9 cm eine Sitzgrösse von 89,6 cm, d. i. 0,8 cm
Weniger als bei den gleichgrossen schwedischen Soldaten.
Die Spannweite der Schweden war durchschnittlich 176,46 cm, also
Dugefähr 5,6 cm grösser als die Körperlänge, natürlich mit individuellen
Schwankungen. Eine unter der Körpergrösse bleibende Spannweite kam
D,lr bei 8°/0 der Gemessenen vor. Im Ganzen ist mit diesem Maass nicht
Vlfcd anzufangen und es lohnt kaum die Mühe und Zeit, die man auf seine
Erhebung verwendet.
Es war sehr richtig gehandelt, dass die Verf. bei der Berechnung der
Dulividuellen Kopfindices die Decimalen einfach weggelassen und nicht
'diejenigen über 0,5 nach oben abgerundet haben, denn nur so erlangt man
eine richtige Klasseneinteilung. Bei der Berechnung des durchschnittlichen
budex ergiebt sich jedoch dadurch eine Unstimmigkeit. Die Yerf. finden
durchschnittlichen Index von ganz Schweden 77,855, ohne zu sagen,
Wl<i derselbe berechnet wurde. Rechnet man den Index aus der durchschnitt-
lichen Kopflänge von 19,29 cm und der durchschnittlichen Kopfbreite von
’10 cm, so kommt 78,279 heraus, um 0,424 mehr als die Verf. angeben.
as könnte seinen Grund in der Weglassung der Decimalen bei den indi-
^Dellen Indices haben. Yon 0,000 bis 0,999 variierend, ergeben diese
eD Durchschnitt von 0,499, und um soviel müsste man den Index erhöhen,
96
B. Referate. Ethnologie.
der also 77,855 + 0,499 = 78,354 zu setzen wäre. Diese Zahl stimmt
besser mit der aus den durchschnittlichen absoluten Maassen berechneten.
Eine Neuerung von grosser Tragweite ist die Umrechnung der Kopf-
indices in Schädel in dices. Dr. Fürst hat an 14 Leichen Erwachsener
die Dicke der Weichteile ermittelt, um Anhaltspunkte für die Umrechnung
zu bekommen. Er fand, dass durchschnittlich der Schädelindex um 1,83
Einheiten niedriger ist. Die Yerf. sind übereingekommen, von den Einzel-
indices je 2 Einheiten abzuziehen und alle Angaben des Werkes als Schädel-
indices zu machen. Auch die Gruppierung in die Fünferklassen geschah
nach den Schädelindices. Es ergab sich also ein Index von 75,855 (76,279),
und in den Klassen Hyperdol. 1,1 °/0, Dolichoc. 29,0°/0, Mesocephale 56,9°/0,
Brachyc. 12,3°/0, Ultrabrach. 0,1 °/0. Die wenigen (13) Leute, deren Index
bis 55 herunterging oder (5) bis zu 99 stieg, bilden so kleine Bruchteile
von Procenten, dass sie nicht für sich berücksichtigt werden konnten. Immer-
hin ist belehrend, dass solche vorkamen.
Die Verteilung der Dolichocephalie über die einzelnen Land-
schaften wird durch Tabellen, Kurven und Karten dargestellt. Der höchste
Index findet sich in Lappland mit 78,5, der zweithöchste in Schonen mit
78,0, der niederste in Södermannland mit 76,8. Wenn man also wieder
von Lappland absieht, so beträgt die ganze Variationsbreite nur 1,2 Ein-
heiten, was eine grosse Gleichartigkeit der schwedischen Bevölkerung dar-
thut. Bemerkenswert ist, dass in der Provinz Uppland einige Kirchspiele
besonders berechnet wurden, in denen sich Bergwerke befinden und wallonische
Bergleute im 16. und 17. Jahrhundert eingewandert sind. Es zeigte sich,
dass ihre Anwesenheit erhöhend auf den Kopfindex gewirkt hat.
Interessant ist die Vergleichung der absoluten Maasse der Köpfe.
Die Länge beträgt mit den Weichteilen durchschnittlich 19,29 cm; in Baden
nur 18,28 cm, wozu aber noch 0,12 cm zuzufügen sind, um die wirkliche
Länge zu bekommen, da in Baden die Horizontalprojektion nach der sogen.
Frankfurter Verständigung gemessen wurde, in Schweden die Maximallänge.
Das giebt 18,40 cm, wonach also die schwedischen Köpfe um 0,89 cm
länger sind. Würde man jedoch in Baden wieder die Mindermässigen, Un-
tauglichen und Zurückgestellten weglassen, so käme man den schwedischen
Maassen näher. Was die Breite betrifft, so ist sie in beiden Ländern in
gleicher Weise ermittelt worden; die Schweden haben 15,10 cm, die Badener
im ganzen Durchschnitt 15,38 cm, also 0,28 cm mehr. Der Kubikinhalt
der Schwedenköpfe ist hiernach etwas grösser, weil das Minus der Breite
von 0,28 cm durch die um 0,89 cm grössere Länge mehr als ausgeglichen
wird. Das ist ein ganz natürliches Ergebnis, denn den grösseren Körpern
entsprechen grössere Köpfe. Würde man bei den Badenern nur diejenigen
nehmen, die den gleichen durchschnittlichen Index und die gleiche durch-
schnittliche Körpergrösse haben, so würde man durch Interpolation der Tabelle
B. Referate. Ethnologie.
97
S. 102 meiner „Anthropologie der Badener“ eine Kopflänge von 19,12 cm
und eine Breite von 14,96 cm bekommen, was Unterschieden von 0,17 cm
in der Länge und von 0,14 cm in der Breite entspricht.
Die Versuchung liegt nahe, auch auf die Augen- und Haarfarben
näher einzugehen, doch sei der Kürze wegen nur angeführt, dass es gab:
bei den Augen blaue 47,4°/0, graue 19,3°/0, melierte (ungefähr dem ent-
sprechend, was in Baden „grün“ genannt wurde) 28,8 °/0, braune 4,5 °/0.
Bei den Haaren gelbe 23,3°/0, cendré (aschblonde) 52,0°/0, braune 21,6°/0,
schwarze 0,8 °/0, rote 2,3 °/0- Fasst man blaue und graue Augen als ver-
wandte Rubriken zu „hellen“ zusammen, so bekommt man 66,7 °/0, bei den
Haaren, wenn man gelbe und cendré zu „blonden“ vereint, die hohe Zahl
von 75,3 °/0. Es ist leicht zu ersehen, in wie hohem Grade die schwedische
Bevölkerung noch heute den germanischen Typus bewahrt hat. Die Ergebnisse
in den einzelnen Landschaften, so belehrend sie sind, müssen wir übergehen.
Die Verf. haben die Hautfarbe nicht erhoben, weil, wie sie sagen,
Gne eigentlich braune Hautfarbe in Schweden gar nicht vorkommt und die
schwachen Verschiedenheiten der weissen Haut zu schwer zu klassifizieren
sind. Sie nehmen daher allgemein die Haut als weiss an und sind deswegen
lßi Stande, auch die sogenannten Farbenverbindungen zu untersuchen. Dabei
schliessen sie sich in willkommener Weise dem badischen Schema an, in
dem nur die Verbindungen mit brauner Haut wegfallen. Ganz so, wie wir
es gemacht haben, vergleichen die Verf. das wirkliche Vorkommen der em-
pinen Verbindungen mit dem zu erwartenden, das sich durch die Wahr-
Scheinlichkeitsrechnung ermitteln lässt. Die Ergebnisse sind von erheblicher
Bedeutung, insbesondere wieder die Verteilung auf die Landschaften. Neben
(Hr Ausscheidung des hellen und dunkeln Typus ist die Zusammenfassung
^er Mischtypen in eine hellere und dunklere Gruppe eine Neuerung der
^erf-, die sehr die Übersicht erleichtert. Im Ganzen sind die hellen Typen
dIn stärksten im Südwesten Schwedens vertreten, die dunkeln am stärksten
Hn Norden. Wegen des Näheren ist auf das Werk selbst zu verweisen.
Schliesslich suchen die Verf. die Gesamtsumme der hellen und
'ünkeln Merkmale annähernd zu berechnen und schlagen dazu einen etwas
anderen Weg ein, als wir in Baden gethan haben, kommen aber auch auf
^sem zu Ergebnissen, die als einleuchtend bezeichnet werden müssen.
^Hrnach wäre die schwedische Bevölkerung von heute das Mischungsergebnis
ails einem hellen, germanischen Block, der 8 5 °/0 der Bevölkerung umfasste,
einer dunkeln nichtgermanischen Bevölkerung, die 15 °/0 ausmachte.
ie Verf. berechneten nach ihrer Methode das Verhältnis für Baden und
amen auf die Ziffern 69 und 31%, was mit meiner Aufstellung von 67
^Qd 33% selir nahe übereinstimmt. Für Italien finden die Verf. auf Livis
a Hn gestützt, ein Verhältnis des hellen zum dunkeln Bevölkerungsbe-
^üidteil wie 30 zu 70%; dort ist also letzterer weit überwiegend.
ntl:rn. Centralblatt für Anthropologie. 1303. <
98
B. Referate. Ethnologie.
«
Die Untersuchungen über die Wechselbeziehungen der einzelnen
Merkmale werden ähnlich wie in meiner „Anthropologie der Badener“ ange-
stellt und führen zu ganz überraschenden Übereinstimmungen. Die hohe
Zahl der vorhandenen echten Dolichocephalen ermöglicht den Verfassern die
Feststellung, dass, wie in Baden, nur noch ausgesprochener, die Langköpfigkeit
mit grosser Körperlänge vereint zu sein pflegt, und dass ebenso die hellen
Augen- und Haarfarben unter sich, wie die dunkeln unter sich enge Zu-
sammenhängen. Dagegen fehlt, wieder wie in Baden, eine Wechselbeziehung
zwischen den Körperlängen und Kopfformen einer- und den Farbenmerkmalen
anderseits. Die Farbenmerkmale der Augen und Haare haben die Neigung,
sich gleichförmig auf die verschiedenen Gruppen der Körpergrösse und
des Schädelindex zu verteilen.
Den Vergleichungen der einzelnen Landschaften ist keine zwischen
Stadt und Land zur Seite gestellt worden. In einem so langköpfigen
Lande wie Schweden ist nicht zu erwarten, dass die städtische Bevölkerung
sich durch grössere Langköpfigkeit abheben sollte; eher, dass wie in England
der Kopfindex der Gebildeten etwas höher ist als der Durchschnitt. Die
Untersuchungen von Nyström weisen nach dieser Richtung.
Das grossartige, vornehm ausgestattete Werk der beiden "V' erf. ent-
hält reiche Aufschlüsse von allgemeiner Bedeutung und giebt ein deutliches
Bild von der anthropologischen Beschaffenheit des schwedischen Volkes.
Die Arbeit wird durch die Genauigkeit ihrer Ausführung, durch die Sicher-
heit der angewandten Methoden, durch die kritisch gesichtete Darstellung
einen Ehrenplatz in der anthropologischen Litteratur einnehmen.
Otto Ammon-Karlsruhe.
117. F. Jörgensen: Anthropologiske Undersögelser fra Faeröerne.
iVnthropologia Fseroica. Afhandling for Doktorgraden i
Medicin ved Köbenhavns Universitet. Köbenhavn, Christian
F. Römers Boghandel, 1902.
Der Verf. bietet eine ausnehmend reichhaltige Materialsammlung,
die, grossenteils aus Zahlentabellen und Übersichtstafeln bestehend, 186 Seiten
gross Quart einnimmt; daran fügen sich weiter 36 Seiten Text. Dass die
Untersuchungen auf den weltentlegenen Färöern vorgenommen wurden,
über die bisher so gut wie nichts Anthropologisches bekannt war, erhöht
den Wert der Arbeit. Jörgensen hat auf der Süderö 1000 männliche und
1000 weibliche Individuen verschiedenen Alters gemessen und ihre Farben-
merkmale erhoben. Die Ergebnisse der umfangreichen Messungen sind io
einer etwas sonderbaren Weise dargestellt. Eine Tabelle, die erkennen liesse,
wie gross der durchschnittliche Kopfindex ist, findet sich nirgends. Auch
erfährt man nicht, wieviele Individuen auf jede Indexeinheit entfallen. V er
das wissen will, muss es selbst aus der Urtabelle berechnen, die sämtliche
B. Referate. Ethnologie.
99
Angaben enthält. Man erfährt nur, wieviele Dolichocéphale, Mesocephale
und Brachycéphale sich unter den Untersuchten befinden. Die Dolicho-
cephalen schliessen aber auch die Hyperdolichocephalen ein, deren Zahl nicht
angegeben wird, und die Brachycephalen umfassen auch Hyper- und Ultra-
brachycephale. Wünscht man die Beteiligung der betr. Klassen kennen zu
lernen, so muss man wieder selbst zum Rechenstift greifen, eine Arbeit, die
eigentlich Sache des Yerf. gewesen wäre. Er hält seine 3 Indexklassen
dnrchgeheüds getrennt, als ob es drei verschiedene Völker wären. Man
erfährt die Kopflänge und Breite im Maximum, im Minimum und im Durch-
schnitte bei den Dolichocephalen, bei den Mesocephalen und bei den Brachy-
cephalen, aber nicht die durchschnittlichen Kopfmaasse aller Individuen. Wie
sehr dadurch die Vergleichung der untersuchten Bevölkerung mit anderen
Völkern erschwert ist, braucht nicht gesagt zu werden. Die Trennung ist
auch bei den übrigen Angaben aufrecht erhalten. Die Stirnbreite, Joch-
breite, die Maasse der Nase u. s. w. sind nur für die drei Kopfklassen
einzeln berechnet, insgesamt nicht, desgleichen die durchschnittliche Körper-
länge. Auf diese Weise werden wohl recht interessante Ergebnisse festge-
stellt, für die Feststellung anderer wird aber nur die Möglichkeit gewährt.
Hier sei folgendes angeführt: Jörgensen fand auf der Süderö eine Ver-
schiedenheit der Kopfform der Männer und Weiber und ausserdem ein Ab-
nehmen des Kopfindex mit dem Lebensalter. Die erstere Feststellung ist
gewiss sehr wichtig, da man sonst bei Massenuntersuchungen meist nur
Männer vor sich hat. Die letztere bestätigt eine anderwärts gemachte
Wahrnehmung. Es gab:
Männer dolichocephal 21,0 °/0, mesocephal 25,0 °/0, brachyceplial 54,0 °/0
Weiber „ 14,1%, „ 22,0%, „ 63,9%
Demnach neigen die Weiber bedeutend mehr zur Brachycephalie. Bei
den Lebensaltern zeigt sich folgendes:
Männer:
mesocephal 23%
» 28%
Unter 25 Jahr dolichocephal 16%
Über „ „ „ 29%
Weiber:
Unter 25 Jahr dolichocephal 11 %
Üb« „ * * 20%
brachyccphal 61 %
» «%
mesocephal 19%
26%
brachycephal 70%
54°/a
Das Sinken des Index mit dem Wachstum kennzeichnet sich noch
deutlicher, wenn man das 20. Lebensjahr als Trennung annimmt. Referent
hat die Zahlen berechnet, verzichtet aber auf deren Wiedergabe.
Das allgemeine Ergebnis stimmt nach der Meinung des Ref. zu der
Thatsache, dass die Färöer hauptsächlich von Norwegen aus besiedelt worden
sind. Sie bildeten im Mittelalter lange Zeit hindurch das „Amerika“ aller
Unruhigen Geister, und die verhältnismässig grössere Neigung zur Brachy-
100
В. Referate. Ethnologie.
ceplialie weist auf die Küstenstriche Norwegens hin, die bekanntlich nach
Dr. Arbo etwas weniger dolichocephal sind als das Binnenland.
Bei der Kör per länge in den Kopfklassen können natürlich nur die
Leute über 20 Jahr verglichen werden. Jörgensen findet die Körperlänge
der Männer bei den Dolichoc. 169,2 cm, Mesoc. 169,6 cm, Brachyc. 167,7 cm.
Es erhellt, dass Dolichoc. und Mesoc. sich nicht viel unterscheiden, dass
aber Brachyc. nicht ganz unbedeutend zurückstehen. Es ist überflüssig, an
ähnliche Ergebnisse in anderen Ländern zu erinnern und den Schluss daran
zu knüpfen, dass auch auf den Färöern die Kurzköpfigkeit von einer kleineren
Rasse herrührt als die Langköpfigkeit. Die Leute von 20—40 Jahren sind
grösser, die von 60 und mehr Jahren kleiner als der angegebene Durch-
schnitt. Bei den Weibern sind die Dolichoc. die grössten mit 159,4 cm,
die Mesoc. mit 158,9 cm nehmen eine mittlere Stellung ein, und die Brachyc.
mit 157,6 cm sind wieder die kleinsten.
Als blaue Augen hat Jörgensen, und darin muss man ihm beipflichten,
nur solche angesehen, die wirklich rein blau sind. Die blaugrauen hat er
in die Mischrubrik verwiesen, und ebenso ist er mit den braunen verfahren.
Nach dem Ergebnis sind nun die erwachsenen Bewohner der Färöer nicht
so hellfarbig, wie man nach manchen Reisebeschreibungen anzunehmen ge-
neigt wäre. Es zeigt sich, dass sowohl Augen als Haare mit dem Alter
nachdunkeln. Bei den Männern über 24 Jahr gab es nur 15°/0 blaue,
80% gemischte und 5% braune Augen, bei den Frauen über 24 Jahr nur
13% blaue, 76% gemischte und 11% braune Augen. — Bei der Haar-
farbe ist das Nachdunkeln mit dem Lebensalter sehr bedeutend. ^ on
0—5 Jahre sind über die Hälfte der Kinder als „lys“ (hell) bezeichnet,
während bei den Erwachsenen diese Schattierung auf ein paar Procent zurück-
geht. Der Yerf. giebt nur die Ziffern für die drei Indexklassen; wir haben
daraus den Gesamtdurch schnitt berechnet und gefunden:
Über 25 rot und hell hell- bis braun und schwarz
Jahr rotblond (lys) dunkelblond dunkelbraun
Männer: 0.9% 3 2°/ Io 64,9% 25,4% 5.6%
Weiber: '.9% О o" co со" 94,0% 36,1% 5.6%
Bei den Haaren, wie bei den Augen, zeigt sich eine grössere Neigung
der Weiber zu dunkeln Farben, entsprechend ihrer höheren Ziffer an Braehy-
cephalen. Es ist bezeichnend, dass in der brachycephalen Gruppe die Dunkel-
heit der Weiber ganz besonders hervortritt, während die brachycephalen
Män ner an Dunkelheit eine mittlere Stellung zwischen den Meso- und Dolicho-
cephalen einnehmen.
Ausser der Haupttabelle, die 1000 Individuen jedes Geschlechts ent-
hält, bringt Jörgensen noch eine Darstellung der Ehemänner, Ehefrauen?
Söhne und Töchter von 250 Familien, wobei sich jedoch die Angaben
Lebensalter, den Kopfindex, die Haar- und Augenfarbe beschränken-
B. Referate. Ethnologie.
101
Nach Stichproben sind in der Haupttabelle teilweise die nämlichen Individuen
mit erweiterten Angaben enthalten, einige Familienglieder haben wir jedoch
in der Haupttabelle nicht gefunden, und es scheint sich somit bei den
Familien zu einem gewissen Teil um eine besondere Untersucliungsreihe zu
handeln. Diese Familientabellen, deren Zustandekommen eine äusserst mühe-
volle Arbeit voraussetzt, sind sehr wertvoll. Jörgensen untersucht eingehend,
welche Kombinationen von Kopfformen der Kinder bei den verschiedenen
möglichen Kobinationen der Eltern Vorkommen. Wie es zu erwarten war,
sind die Indices der Kinder sehr verschieden und gehen nach unten oder
nach oben über die der Eltern hinaus, was Jörgensen auf den Einfluss der
Erblichkeit von den (nicht gemessenen) Vorfahren zurückführt. Weniger
sicher steht Jörgensens Schluss, dass die Mutter einen grösseren Einfluss
auf die Erblichkeit habe als der Vater. Er führt an, dass in 38 Familien
braune Augen bei den Kindern gefunden wurden. In diesen 38 Familien
hatten von den Eltern braune Augen: ausschliesslich der Mann 4, aus-
schliesslich die Frau 18, beide Eltern 2, weder Mann noch Frau 14. In
7 Familien hatten sämtliche Kinder braune Augen, und in allen diesen
hatte die Mutter braune Augen, nur in einer Familie auch der Vater. Die
Thatsache begründet keine Notwendigkeit, das biologische Gesetz der Gleich-
wertigkeit von Eizelle und Spermazelle umzustossen und der Mutter eine
stärkere Vererbungskraft zuzuschreiben. Man kann die Sache auch anders
erklären. Sie kommt vielleicht nur von der grösseren Neigung der
Weiber zur dunkeln Farbe her. Man darf gewiss nicht annehmen, dass
es auf den Färöern heute noch Individuen mit reinrassigem Stammbaum
der einen oder andern Rasse giebt; gerade auf Inseln ist die Vermischung
unvermeidlicher als sonstwo. In Folge der Vermischung der Vorfahren hat
jedes Individuum mit blauen Augen auch latente Determinanten (um diesen
praktischen Ausdruck Weismanns zu gebrauchen) für braune Augen in sich,
aber nur eine Minderheit, und jedes Individuum mit braunen Augen hat
eine Minderheit von Determinanten für blaue Augen in sich. Nur diese
Annahme lässt es erklärlich scheinen, dass Eltern, die beide blauäugig
sind, Kinder mit braunen Augen erzeugen, und solcher Fälle zählt Jörgensen
unter 38 volle 14, ohne ein Wort darüber zu verlieren. Da war eben bei
der Frau die Minderheit der braunen Determinanten schon sehr bedeutend,
und es bedurfte nur des Spiels der Reduktionsteilung, um durch die ge-
ringere Minderheit der braunen Determinanten des Vaters die der Mutter
so zu verstärken, dass die braunen das Übergewicht erlangten. Sind die
Ehen „gemischt“, so werden, wenn die Frau braunäugig, der Mann blau-
äugig ist, die braunen Determinaten bei jeder Befruchtung durchschnittlich
näher daran sein, die Mehrheit zu erlangen, als im umgekehrten
Fall, wenn der Mann braune und die Frau blaue Augen hat, denn das
„Mehr“ der braunen Determinanten ist beim Manne durchschnittlich geringer,
102
B. Referate. Ethnologie.
kgnn also bei der Reduktionsteilung leichter das Übergewicht verlieren, als
dies durchschnittlich bei den Frauen (bei ihrer grossem Neigung zur dunkeln
Farbe) der Fall ist.
Warum aber neigen die Weiber von Süderö. mehr zu dunkeln Farben
und zur Brachy-cephalie? Über diese wichtige Frage sagt Jörgensen nichts.
Sie dürfte schwer zu lösen sein. Ref. macht sich folgende Gedanken, über
die freilich die Anhänger der anthropologischen Rechtgläubigkeit den Kopf
schütteln werden: 1. Die helle, langköpfige Rasse war die Herrenrasse, die
dunkle, rundköpfige gehörte zu den Leibeigenen. 2. Mancher Herr, der
trotz des Eheverbots ein dunkle, rundköpfige Leibeigene heiratete, die ihm
gefiel, hatte die Macht, weil er eben ein Herr war, seine Nachkommenschaft
nicht nur am Leben zu erhalten, sondern oft auch in den freien Stand zu
bringen. 3. Wenn ein dunkler, rundköpfiger Leibeigener eine Frau der Herren-
rasse freite, so drohte ihm Todesstrafe. Jedenfalls hatte er keine Macht,
seine etwaige Nachkommenschaft zu schützen. 4. Folglich befinden sich
unter den Yorfahren der heutigen Bevölkerung mehr dunkle rund-
köpfige Frauen als ebensolche Männer, und mehr helle, langköpfige Männer
als ebensolche Frauen. 5. Es ist daher nicht auffallend, dass bei Männern
und Frauen neben den Geschlechtsmerkmalen auch noch die ursprünglichen
Rassenmerkmale in etwas stärkerer Yerhältniszahl als der Durchschnitt
vererbt werden. 6. Eine stärkere Yererbungskraft der Frauen anzunehmen
ist überflüssig; auch eine stärkere Yererbungskraft der dunkeln Rundköpfe
ist durch die von Jörgensen festgestellten Thatsachen keineswegs bewiesen
und auch nicht logisch gefordert.
Die Abhandlung von Jörgensen kann den Anthropologen als eine
Fundgrube von Thatsachen empfohlen werden. Otto Ammon-Karlsruhe.
118. R. Hansen: Alte Ortsnamen der kimbrischen Halbinsel als
Anhalt für die Stammesangehörigkeit der Bewohner. Deutsche
Erde, 1902. Bd. I, Heft 3.
Der Aufsatz stammt aus der Feder eines Schulmannes in Oldesloe,
der aber nicht ganz auf der Höhe seiner Aufgabe steht, denn aus diesen
Ortsnamen lässt sich noch viel mehr herauslesen, als er vermochte. Sicher
hat „auch vor der Völkerwanderung die Bevölkerung der Halbinsel sich
wiederholt verschoben“, und wir wissen sogar, welche Völkerschaften nach
einander über diese Brücke zwischen dem Festland und dem „anderen Erd-
kreis“, Skandinavien, gezogen sind: Gallier, Beigen, Kimbern (die Frisen
als Angehörige - des kimbrischen Stammes sind nicht erst im 9. Jahrh. von
Westen her eingewandert), Teutonen, Yandalen, Langobarden, Angeln und
andere Schwaben, Franken, Sachsen und schliesslich Dänen. Eine Scheidung
von „nördgermanisch“ und „deutsch“ hat für alte Zeiten keinen Sinn, da
ja alle Yorfahren der Deutschen vordem im Norden gewohnt haben und
B. Referate. Ethnologie.
103
Sprachen und Mundarten sich um so ähnlicher werden, je weiter wir sie
ins Altertum zurückverfolgen. Der Verfasser stützt sich hauptsächlich auf
eine Arbeit über tonische Ortsnamen von E. Madsen im 15. und 16. Band
von Geografisk Tidskrift. Als älteste Namen dürfen wohl die auf heim,
hjem, heute meist zu um, om entstellt, betrachtet werden, denn diese Endung
wurde von den Franken bevorzugt, deren Hauptvölker zur Zeit von Tacitus
schon zwischen Elbe und Weser wohnten. Solche Entstellungen finden sich
selbstverstärdlich meist bei den ältesten Namen, besonders wenn sie von
einem ein wandernden Volk mit anderer Mundart und Namengebung vorge-
fonden waren; so ist beispielsweise das alte buren in dem den Alemannen
von den Franken abgenommenen Gebiet fast immer unkenntlich geworden,
Ountburen heute Gimpern, Dietebure heute Dittwar und dergl. Sehr alt
sind auch die Namen auf lev, leff, leben, die nicht den Warnen, sondern,
da sie auch in England häufig sind (ley, alt hlaev), den Angeln zugeschrieben
werden müssen. Die angelsächsische Form giebt auch die richtige, wie ich
nachträglich mit Genugthuung feststellen konnte, schon vor 40 Jahren vom
älteren Madsen befürwortete Erklärung, nämlich „Hügel“, got. hlaiv, ags.
hlaev, ahd. hleo, hlewes; dass die Namen „sämtlich“ mit Personennamen
zusammengesetzt seien, ist unrichtig, in Schleswig giebt es ein Klipleff,
helshügel, und ein Tingleff, Gerichtshügel, ähnlich in Schonen und England.
Schwäbischen Völkern, vielleicht teilweise auch den Sachsen, sind ferner
diu Ingenorte zuzuschreiben. Dass die Namen auf clorf alt sind, zeigt schon
die verschiedenartige Entstellung zu torp, trup, drup, rup; diese Bezeichnung
"ar anscheinend bei verschiedenen Stämmen beliebt; dass sie von den Angeln
^ach Süden verbreitet wurde, lehrt z. B. die Übereinstimmung von Wilstrup
>ud Moltrup in Schleswig mit Willsdruff und Mühltroff im Königreich
Sachsen, dem alten Gebiet der Thüringer, wo auch Ohrdruf. Sicher sächsisch
’dad sted und büttel, häufig zu büll entstellt (as. stedi und budil), von den
Sachsen auf ihrer Südwanderung bis nach Buttelstedt bei Weimar getragen.
^ °u den Dänen wurde dann by, ahd. bu, eingeführt; eine kleine Gruppe
s°lcher Ortsnamen in Deutschland, Barby, Brumby, Steckby, beim Zusammen-
Uss der Elbe und Saale, dürfen wir wohl einer mit den Sachsen vorge-
dfUQgenen Schaar von Frisen oder Dänen zuschreiben. Mit vollem Recht
^aubt Her Verfasser, dass die Namen „zum Teil weit vor die Völkerwanderung
^'ruckgehen und feste Siedelungen mit Ackerbau nicht erst seit Christi Geburt
A°rhanden waren, sondern erheblich älter sind“. Sechs Kärtchen veran-
schaulichen sehr gut die Verbreitung der einzelnen Namen.
Ludwig Wilser-Heidelberg.
104
B. Referate. Ethnologie.
119. G. Hervé: Alsaciens contemporains et Alsaciens du Moyen-
Age. Revue de l’École d’anthropologie de Paris, 1902.
Bd. XII, S. 355.
Dank den Messungen von Collignon, Mehnert, Brandt, Schwalbe, Blind
ist jetzt die Ethnologie des Eisass wohlbekannt. Der mittlere Lärgenbreiten-
index schwankt je nach den verschiedenen Serien zwischen 80,o und 81,3
(nach Reduktion der cephalometrischen Indices in Schädelindices durch Sub-
traktion zweier Einheiten), er ist also durchweg subbrachycephal und die
775 Unterelsässer von Blind sind mit 80,5 langköpfiger, als seine 73 Ober-
elsässer (81,3) (siehe Centralblatt III, 1898, S. 298). Die Yerteilung der
Indices auf die verschiedenen unterelsässischen Kreise ist höchst lehrreich.
Der Einfluss der Grossstadt macht sich in der Mesocephalie von Strassburg
(79,7) kennbar, während Weissenburg (80), Schlettstadt (80,3), Hagenau
(80,5) und Molsheim (80,7) an der unteren Grenze der Subbrachjcephalie
liegen. In Zabern erklärt sich die Kürze des Schädels (81,2) durch die
Nähe Lothringens, während für Erstein, das in der Rheinebene liegt, die
Kurzköpfigkeit (82,4) bis jetzt unerklärlich ist. Die Procentzahl der Kolicho-
cephalen (70 bis 77) ist in Strassburg-Stadt 28,5, Strassburg-Lani 24,9,
Schlettstadt 24, Weissenburg 23,7, Hagenau 21,4, Molsheim 20,8, Erstein
13,9, Zabern 13,6; Mittel 23,5. Im Obereisass ist die Proportion 20,6%,
Gruppierung nach Kreisen fehlt vorläufig noch.
Die Untersuchungen Blinds an 700 Beinhausschädeln haben nun ge-
zeigt, dass im Mittelalter der elsässische Schädel brachycephal (84,5) war.
Er war zugleich hypsicephal (Längenhöhenindex 74,4, beim modernen E'.sässer
72,2), orthognath, mit stark entwickelten Stirn- und Parietalhöckern, mt
abgeflachtem Hinterhaupt, schwach leptoprosop (Facialindex 51,9, statt
jetzt 54,3). Man findet am häufigsten brachycéphale Orthoprosopen (43 %;
und brachycéphale Leptoprosopen (22%). Orbitalindex 86 (jetzt 90,3),
Nasenindex 48,5 (heute 46,2). Nach allen beobachteten Merkmalen war
damals der elsässer Schädel rein keltisch, und die im Lauf der Zeiten auf-
genommenen, germanischen Elemente haben nur wenig Spuren hinterlassen,
Hyperbrachycephalie (85 und weiter) war beinahe so stark vertreten (38%)
wie bei den Auvergnaten (39%); dagegen betrugen Dolicho- und Meso-
cephalen (bis 80) nur 15,4%. Während man noch im Mittelalter von
einer wohl charakterisierten elsässischen Rasse sprechen konnte, die an die
Seite der Auvegnaten zu stellen war, haben wir es seit dem XYH. Jahr-
hundert mehr und mehr mit einem Rassenkomplex zu thun, der, wenigstens
im Norden fast ebenso germanisiert ist, als die Pfälzer. Es ist aber sehr
bemerkenswert, dass die Elsässer die fränkischen und alamanischen Ein-
dringlinge so stark absorbiert haben, dass im Mittelalter fast keine Spur
mehr davon übrig blieb, und dass der keltische Typus wieder seine ur-
sprüngliche Reinheit erreicht hatte, und dass die Bevölkerung seit dem
ß. Referate. Ethnologie.
105
XVII. Jahrhundert, also während der französischen Regierung wieder teil-
weise zum germanischen Typus zurückgekehrt ist. Das hängt, nach H.,
mit der grossen Verwüstung und Entvölkerung des Landes in der ersten
Hälfte des XVII. Jahrhunderts zusammen. Es kamen damals zahlreiche
Einwanderer aus Deutschland, welche den körperlichen Typus der Einwohner
stark beeinflussten, sodass die Regermanisierung des Elsasses eigentlich der
französischen Verwaltung zu verdanken ist, Avelch» diese Einwanderung be-
günstigte. Der neue Zufluss germanischer Rassenelemente seit 1871 kann
wohl nur den Typus in selbigem Sinn modifizieren, sodass die physischen
Eigentümlichkeiten der Elsässer im Vergleich zu den andern Deutschen
mehr und mehr verschwinden werden. Dr. L. Laloy-Bordeaux.
120. F. Delisle: Les déformations artificielles du crâne en France.
Carte de leur distribution. Bulletins et Mémoires de la
Société d’Anthropologie de Paris, 1902. Serie V, tome III,
S. 111—167.
Verf. teilt die Ergebnisse seiner langjährigen Untersuchungen mit,
welche so eingehend waren, dass sie eine gute kartographische Darstellung-
erlaubten. Danach gruppiert sich die Sitte der Deformation in einem* Frank-
reich von Norden nach Süden durchziehenden Streifen. Das Gebiet östlich
einer Linie von dem Departement Aisne zu dem Departement Bouches du
Rhone, ferner die Departements Manche, Vendée, Cantal, endlich den Zwickel
zwischen Gironde, Lot et Garonne; Gers und Pyrenäen sind von Defor-
mationen frei. Deren grösste Häufigkeit findet sich in Seine inf., Deux-
Sèvres, Haute Vienne, Creuse, Tarn et Garonne, Haute Garonne, Tarn,
Ariège, Aude. Meist handelt es sich um die Deformation, welche eine V er-
längerung des Schädels in sagittaler Richtung bedingt. Im Südwesten des
Landes kommt eine weitere Deformation vor, die eine Verkürzung in sagittaler,
dagegen eine Verbreiterung in transversaler Richtung zur Folge hat. Sie
ist weniger regelmässig als die erstere und wird nicht durch besondere Vor-
richtungen zu Wege gebracht, sondern ist eine Folge des dauernden Liegens
des Kindes auf harter Unterlage, wobei der Kopf durch ein Tuch oder
ähnliches fixiert ist. Neben dieser Abplattung des Kopfes in transversaler
Richtung geht die Plagiocephalie einher, welche sich in eben so einfacher
Weise erklärt. Das Kind wird immer in der gleichen Lage in der Wiege,
aber auch diese immer in der gleichen Orientierung zum Fenster unterge-
bracht. Das Kind sucht den Kopf dem Lichte zuzuwenden, kann aber den
fixierten Kopf nicht frei bewegen und wird daher eine Mittellage einnehmen,
welche die Fixierung und die Lage dem Lichte zu gestattet. Die Folge
dieser längere Zeit hindurch eingehaltenen Lage ist nicht symmetrische,
sondern asymetrische Abplattung, Plagiocephalie.
Die Deformation des Schädels nimmt allgemein ab; sie war ebenso
106
B. Referate. Ethnologie.
sehr eine Folge der durch die Mode bestimmten Haartracht, wie der ab-
sichtlich vorgenommenen Verunstaltungen. Mit der Änderung der Moden
und der Kinderpflege nimmt die Deformation ab, wie dies zur Zeit der Fall
ist. Zum Schlüsse erörtert Verf. nochmals die Frage der Erblichkeit der
Deformationen und kommt zu dem zu erwartenden Schlüsse, dass eine solche
nicht besteht. Ganz abgesehen von theoretischen Gründen spricht gegen
die Erblichkeit, dass überall da, wo man bei den Neugeborenen die An-
wendung der Binden u. s. w. zu verhindern vermochte, die Deformation
nie eingetreten ist. Eine Reihe von Abbildungen illustriert weiterhin den
Einfluss der zur Schädeldeformation verwendeten Binden u. s. w. auf die
Gestaltung des äusseren Ohres. Gr. Thilenius-Breslau.
121. A. Bloch: Considérations anthropologiques sur la Corse
actuelle, ancienne et préhistorique. Bullet, et Mém. de la
Soc. ¿’Anthropologie de Paris, 1902. Série 3, tome II, S. 333.
Verf. betont, dass, nach seinen Beobachtungen sowie nach denjenigen
von Jaubert, Mahoudeau und anderen, die Hellfarbigen in Korsika gar nicht
so selten sind. So hat Jaubert bei 500 Wehrpflichtigen 34% dunkelfarbige,
30,8% hellkastanienfarbige und 9,8% blonde gefunden. Bei den Kindern
sind blonde Haare natürlich noch viel häufiger. Nach Topinard haben
65,3% der Korsen dunkle Haare, aber B. meint, es seien dabei viel dunkel-
kastanienfarbige, die in ihrer Kindheit blond waren. Korsika hat 35,9 °/0
dunkle Augen, also weniger als die meisten südlichen Dépaitements. Verf.
glaubt nicht, dass der helle Typus- von den Einwanderungen herrührt, die
namentlich zu Ende des römischen Reichs in Korsika stattfanden, sondern
dass er sich in der Insel selbst entwickelt hat infolge der natürlichen
Bedingungen.
Der Längenbreitenindex wurde von Fallot bei 200 erwachsenen Männern
auf 76,8 festgestellt, Jaubert fand an 500 Wehrpflichtigen 76,6. Obwohl
m der Zahlenreihe 76 und 77 am öftesten Vorkommen, findet man doch
m gewissen Gegenden ein beträchtliches Verhältnis von Brachycephalen
(80 und darüber): Sartène 15,7%, la Balagne 16%, Bastia im NW.
Korsikas sogar 27,7 0% B. nimmt an, dass diese Kurzköpfe nicht einge-
wandert, sondern dass sie autochton sind. Die Körperhöhe betrug bei den
Wehrpflichtigen Jauberts 1,63 m.
Nachdem Verf. zusammengestellt hat, was uns die alten Schriftsteller
Korsika überliefert haben, geht er zur Beschreibung der prähistorischen
nde über, deren bemerkenswerteste die Leichentöpfe sind. Von Mérimée 1840
ieben, sind die meisten derselben verloren gegangen; aber 1899 hat
on einen solchen wieder aufgefunden und aufbewahrt. Es handelt sich
mehr als 1 m langen, mit der Drehscheibe gemachten Topf, der
emer Amphore mit weiter Öffnung gleicht und zwei Henkel trägt; die Öffnung
B. Referate. Ethnologie.
107
war mit einem flachen Deckel sehr fest Arerschlossen. Alle diese Töpfe ent-
hielten eine Leiche, die in keinem Falle Brandspuren aufwies, Diodorus
Siculus schreibt, dass zu seiner Zeit auf den Balearen die Toten in grossen
Töpfen beerdigt wurden. In Chaldäa, in der Ebene von Troja wurden auch
Töpfe gefunden, die ganze Skelette enthielten. Im SO. Spaniens haben die
.Gebr. Siret ähnliche Funde gemacht; jede Urne enthielt ein Skelett in Hocker-
stellung. In Nordafrika hat Teissereux de Bort in der Umgegend von Biskra
eine grosse Grabstätte entdeckt, welche Töpfe enthält, deren je zwei in ein-
ander eingefügt waren,, sodass der Schädel und der Stamm des Skeletts in
dem einen, die unteren Gliedmaassen in dem anderen lagen. Dagegen hat 1847
Guyon in der Provinz Constantine grosse Töpfe beschrieben, deren jeder ein
Skelett enthielt. Das Gesagte genügt um zu beweisen, dass zu einer gewissen
Zeit der seltsame Brauch um das westliche Becken des Mittelmeers sehr ver-
breitet war. Zu bemerken ist, dass bisher solche Töpfe nicht in Sardinien ge-
funden wurden, sowie dass Korsika keine sardinischen Nuraghi besitzt.
Yerf. glaubt, dass die Korsen iberischer Herkunft sind. Die aus Nord-
afrika stammenden Iberer hätten Spanien, Südfrankreich und die westlichen
Mittelmeerinseln bevölkert. Dadurch wäre die räumliche Verteilung der
Leichentöpfe zu erklären, und auch die Thatsache, dass die Couvade nach
Diodorus von den Korsen und nach Strabo von den Iberern geübt wurde.
Nach L. Bonaparte sind noch manche geographische Namen der Insel baskisch.
Br. L. Laloy-Bordeaux.
122. E. Wettstein: Zur Anthropologie und Ethnographie des
Kreises Disentis. Mit zahlreichen Abbild, und 4 Tafeln.
181 S. Zürich, Ed. Raschers Erben, 1902.
Die fleissige, aus dem Züricher anthropologischen Institut hervorge-
gangene Arbeit zerfällt in zwei Abschnitte, einen physisch-anthropologischen
and einen ethnographischen. Yerf. untersucht zunächst 252 Kalvarien aus
9 Beinhäusern des Kreises Disentis (Graubünden). Es werden alle wichtigen
Messungen und eine methodische Beschreibung der Schädel vorgenommen,
deren Resultat mit den auf geringem Materiale beruhenden Untersuchungen
von Bär, His, Hovelacque und Scholl übereinstimmt; insbesondere kann der
von His aufgestellte „Disentis-Typus“ voll bestätigt, diese Benennung als
eine glückliche erwiesen werden. Sowohl die Maasse, wie die Beschreibung,
die His gab, stimmen mit denen des Yerf. voll überein, haben also, nach-
dem sie jetzt an so reichem Material nachgeprüft sind, wohl dauernde Geltung
(Sion-Typus fand Verf. nur zu 7 °/0 oder noch weniger). — Neben den be-
kannten charakteristischen Eigenschaften des Disentis-Typus — geringe Länge,
bedeutende Breite, in 93,6°/0 Brachycephalie incl. der Hyperbrachycephalie,
nait 53,1 °/0 kugeliger Schädelform, Längen-Höhenindex von 75,5 im Mittel
(55,1 über 75,0), Steilheit der Stirn, flacher Scheitel, senkrecht abfallendes
108
B. Referate. Ethnologie.
Hinterhaupt, Abknickung der Unterschuppe, weder sehr breites noch sehr
hohes Gesicht, Orthognathie — sind die wichtigsten Merkmale — neben
diesen Punkten giebt Yerf. eine zwar etwas kleine, aber scharfe Abbildung
eines typischen Schädels in den verschiedenen Normen, Tabellen der wichtigsten
Maasse und Kurven (nach Sarasin). (Ref. geht auf Detail nicht näher ein,
da volle Ausnutzung des im wesentlichen His bestätigenden reichen Materiales-
doch nur nach dem Original geschehen kann.)
Bezüglich der Yerbreitung des Disentis-Typus zeigt \erf., dass die
brachycephalen Pfahlbau-Schädel der Schweiz nicht zu ihm gehören, wohl
aber die meisten Walliser — ebenso ein Teil der Waadtländer-Schädel; für
die bis jetzt untersuchten Schädel aus der Innerschweiz, ebenso für Tappeiners
Tiroler-Schädel lässt sich eine Entscheidung bezgl. Zugehörigkeit nicht stellen,
die brachycephalen Schädel Bayerns und Badens stehen ihm aber wohl nahe,
sicher die aus den Beinhäusern des Eisass; Denikers 4. Rasse scheint sich
auch damit zu decken. Ungemischt ist der Typus nirgends, am reinsten
aber in Graubünden vorhanden. — Untersuchungen an Lebenden sind nur
in ganz kleinem Maassstabe beigefügt; es scheint sich um eine dunkelhaarige,
grau- oder braunäugige, mittelgrosse Bevölkerung zu handeln.
Der ethnographische Teil giebt zunächst ein kurzes Wörterverzeichnis
des vorderrheintalischen (in Disentis üblichen) Dialektes, neben dem ladi-
nischen (beide = romanisch), dann Orts-, Flur-, Geschlechts- und Personen-
namen, weiter Aufschlüsse über Bevölkerungszahl, Heiratsfrequenz und Alter;
die Lebensweise wird kurz geschildert, Nahrung, Kleidung, Beschäftigung;
es folgt eine Anzahl Abbildungen von Hauszeichen, deren in Disentis noch
jede Familie eines hat, ebenso der Tierzeichen. Schliesslich werden Märchen,
Sagen, Kinderreime, alte Sprüche und Gebete, Sprichwörter, Rätsel, aber-
gläubische und volksmedizinische Mittel angeführt — von all diesem z. T.
reichen Inhalt, der für Volkskunde etc. viel Interessantes bieten dürfte, kann
Ref. nur kurze Erwähnung thun, da hier hauptsächlich der physisch-anthropo-
logische Teil in Betracht kommt. E. Fischer-Freiburg i. B.
123. Hans Moos: Die Einzelhöfe in St Luzern. Forschungen auf
dem Gebiet der Landwirtschaft. Festschrift zur Feier des
70. Geburtstages von Prof. Dr. Adolf Krämer. (Frauenfeld)
1903, S. 319—350. Mit 1 Karte und 8 Tafeln.
Eine sehr verbreitete Meinung hält die Siedelung der Alamannen in
Einzelhöfen als die diesem Germanenstamm eigentümliche, während ein Blick
auf die ganz nur von Alamannen bewohnten Gebiete des Schwabenlandes
typische Dorfanlagen erkennen lässt. Andere halten dafür, Einzelhof- und
Dorfanlagen hängen zusammen mit der verschiedenen Gestaltung der Boden-
nberfläche. Professor Moos zeigt, dass auch diese Ansicht unhaltbar ist.
Meitzen meint, die Einzelhöfe seien keltischen, die Dörfer bei uns dagegen
B. Referate. Ethnologie.
109
egrmanischen Ursprungs. Auch dieser Auffassung tritt Moos entgegen und
weist nach, dass in einem ganz germanischen Gebiet nur Einzelhöfe Vor-
kommen. Er sagt: „Nach unserem Ermessen ist die vereinzelte Lage der
schön arrondierten luzernischen Bauernhöfe auf eine Siedelung zurückzu-
führen, welche relativ spät, zu einer Zeit erfolgte, da in den Gegenden
älterer Dorfsiedelung das blosse kollektive Nutzungsrecht an der Feldflur
bereits einem sichern, festen Eigentumsrecht an Grund und Boden auch
ausserhalb der Hofraite gewichen war. . . und in der Folge bereits eine
gewisse Rechtssicherheit Platz gegriffen hatte, so dass für die Form, Art
und Weise der Siedelung gegenüber den Zweckmässigkeitsgründen alle andern
Rücksichten in den Hintergrund treten konnten“. Br. J. Heierli-Zürich.
124. Albert Volkart: Dreifelder- und Egertenwirtschaft in der
Schweiz. Forschungen auf dem Gebiet der Landwirtschaft.
Festschrift zur Feier des 70. Geburtstages von Prof. Dr.
A. Krämer. (Frauenfeld) 1902, S. 366—404.
Verfasser giebt eine historische Übersicht über die beiden Wirtschafts-
systeme und zeigt, dass die Unterschiede zwischen beiden immer mehr ver-
schwinden. „Die wirtschaftlichen Veränderungen verwischen die geschichtlichen
Gegensätze.“ Br. J. Heierli-Zürich.
125. F. G. Stehler: Ob den Heidenreben. (Monographien aus den
Schweizeralpen.) Als besondere illustrierte Beilage zum
Jahrbuch des Schweiz. Alpenklub herausgegeben. Zürich
1901. VIII und 112 S. Gross 8°.
Unfern des am Eingang ins Zermatter Thal gelegenen Fleckens Visp
im Kt. Wallis liegen die sog. Heidenreben, die einen ausgezeichneten Wein
liefern. In der ob den Heidenreben gelegenen Gemeinde Visperterminen
Wohnt ein halb nomadisches, einfaches und gesundes, die alten Vätersitten
treu bewahrendes Völklein. Dr. Stebler, Direktor der Eidg. Samenkontrol-
station, ein besonderer Kenner der ethnologischen Verhältnisse des Wallis,
hat es nun unternommen, das Leben und Treiben der „Terbiner“ zu be-
schreiben und er thut das mit solcher Sachkenntnis und dabei in so ein-
facher und schlichter Art, dass sein Werklein geradezu als eine Muster-
leistung zu bezeichnen ist. Nicht bloss werden Land und Leute beschrieben,
sondern auch deren Geschichte, Sagen, Poesie, Volkswitz, besonders aber
die Beschäftigung in Haus und Hof, in Feld und Stall, in Weinberg und
auf den Alpen. Das in unserm zivilisierten Europa so selten gewordene
Nomadisieren und andere urzeitliche Einrichtungen und Gepflogenheiten werde
kurz und treffend geschildert und durch gute Bilder illustriert. Hoffentlich
lässt der Verfasser dieser ersten Monographie aus den Schweizeralpen recht
bald eine zweite folgen! Br. J. Heierli-Zürich.
110
B. Referate. Ethnologie.
126. Otto Stoll: Die Erhebungen über Volksmedizin in der Schweiz.
Schweiz. Archiv für Volkskunde. (Zürich) 1901. Bd. V.
Im Aufträge der Kommission für Erforschung der Volksmedizin ver-
sucht St. die Grenzen der Schulmedizin von jener der Volksmedizin abzu-
stecken und stellt als modernes Verbindungsglied der beiden die hybride
Laienmedizin auf. Während uns die grossartige Entwickelung der Schul-
medizin zu den grössten Hoffnungen und Erfolgen berechtigt, ist ihre wilde
Kollegin, die Volksmedizin, auf ihrer archäischen Entwickelungsstufe stehen
geblieben und repräsentiert mit ihren halb empirischen, halb theurgischen
Verrichtungen inmitten unserer modernen Kulturwelt noch einen Rest aus
dem Stadium der Naturvölker.
St. macht auch spezielle Vorschläge zum praktischen Sammeln und
Verarbeiten der Volksmedizin. Es sollen zunächst allgemeine, äussere Vor-
stellungen (z. B. Riesenwuchs, Albinismus, Hasenscharte und dergl.), dann
solche an den einzelnen Körperteilen sichtbare Erscheinungen genau registriert
werden. Es käme ferner die Volksmedizin im engeren Sinne sowie die
pathologischen Ansichten des Volkes in Betracht, z. B. die Schwangerschaft,
die Geburt, das Wochenbett; dann wäre die eigentliche Pathologie und
Therapie nach den einzelnen Körperabschnitten zu behandeln, z. B. Krank-
heiten der Athmungsorgane, der Verdauungsorgane, der Geschlechtsorgane,
des Nervensystems, der Haut, Augen, Ohren etc. Den volksmedizinischen
Heilapparat trennt St. in drei Gruppen: 1. die chirurgisch-mechanische,
2. die medikamentöse, 3. die theurgische oder mystische. Hie medikamentöse
teilt er in äussere und innere Mittel.
St. regt auch eine Herstellung der Synonymi der Krankheitsbe-
zeichnungen in den einzelnen Kantonen der Schweiz, sowie die geographische
Verbreitung der einzelnen nosologischen Ausdrücke an und konstruiert speziell
zu volksmedizinischen Zwecken hergestellte Fragebogen.
Dr. 0. Hovórka, Edl. v. Zderas-Wien.
127. E. E. Tedeschi: Crani Romani moderni. Atti d. Società Rom.
di antropologia,. 1902. Voi. Vili, S. 297—336.
Veri, analisiert nach der Sergischen Methode 50 im anthropologischen
Museum zu Rom befindliche Schädel moderner Römer mit Rücksicht auf
die Norma verticalis, lateralis und occipitalis (darunter 15 Ellissoidi, 13 Ovoidi,
12 Sfenoidi hinsichtlich der Vertikalansicht vertreten), charakterisiert jede
dieser Schädelformen und zeigt in einer tabellarischen Zusammenstellung
ihre Häufigkeit unter den römischen Schädelüberresten aus der Zeit der
Könige, der Republik und ersten Kaiserzeit, der christlichen und der Neu-
zeit. Darnach herrschen zu allen Perioden hier die ellissoiden, ovoiden und
pentagonöiden Typen vor; somit dürften sie als der Grundstock des römischen
Volkes anzusehen sein und auf einen mediterranen Ursprung hinweisen.
B. Referate. Ethnologie.
111
Zur Zeit der Republik gesellten sich neue Typen hinzu und vermischten
sich mit dem Grundstock, die ältesten Typen behielten indessen das Über-
gewicht. — Zum Schluss teilt Yerf. noch die geographische Verbreitung
der Sergischen Schädeltypen über das östliche Mittelmeerbecken mit, soweit
Untersuchungen nach dieser Richtung hin an dem vorgeschichtlichen Materiale
bisher angestellt worden sind. Dr. Buschan-Stettin.
128. A. F. Rudolf Hoernle: A report on the British Collection
of antiquities from Central Asia. Part II. With 13 facsimile
plates, 3 tables and 6 woodcuts. Journal of the Asiatic
Society of Bengal, Extra-Number, Yol. LXX, Part I. (Calcutta)
1902. 55, 31, 7 p. 8°.
Ein neues, wichtiges Glied in der Kette der Publikationen zur central-
asiatisch-indischen Altertumskunde, die in den letzten Jahren so überraschende
Förderung erhalten hat. Hoernles neuer Bericht ergänzt den vor zwei Jahren
ausgegebenen (Extra-Number 1 zu Yol. LXVIIi der oben bezeichneten Zeit-
schrift) und ist um so lehrreicher, als inzwischen für einen Teil der vorher
von H. beschriebenen Manuskriptenfunde etc. durch die ausserordentlich
ergebnisreiche Expedition Dr. M. A. Steins nach Chinesisch-Turkestan der
Beweis der Unechtheit erbracht wurde. Wir können nun nicht mehr von
centralasiatischen Manuskripten in rätselhaften Schriftzeichen sprechen, sondern
haben nur noch mit der Feststellung unbekannter Sprachen in bekannten
Schriftcharakteren zu thun. Es ist ein Glück, dass die Fälschungen Islam
Akhuns, über die man alles nähere in Steins „Preliminary Report on a
journey of archaeological and topographical exploration in Chinese Turkestan“
(London 1901) findet, die Arbeitskraft eines Gelehrten wie Hoernle, dem
die altindische Epigraphik überaus viel verdankt, nicht noch länger mit
unfruchtbaren Mühen in Anspruch nahmen.
Die Manuskripte in Hoernles Sammlung sind teils einzelne Blätter,
teils sind sie nach Art der indischen Bücher geheftet, in oblongem lormat
zwischen zwei Holzbrettchen durch eine Schnur zusammengehalten, welche
durch eine das ganze Bündel durchbohrende Öffnung läuft. Diese Bündel,
sogenannte Pothis, zeigen ein weiches Papier von weisslicher Färbung und
können nicht jünger als das 8. nachchristliche Jahrhundert sein, manche
smd sogar in das 4.-5. Jahrhundert zurückzudatieren. Dass das Papier
m schmale, lange Streifen geschnitten ist, nicht in die bequemere, mehr
quadratische Form gewöhnlicher Papierblätter, erweist, dass man die indischen
Palmblatt-Manuskripte zum Vorbild nahm, deren oblonge Form sich aus
der Struktur des Palmblattes ergab. Die Schriftzeichen sind die sogenannten
kteahmi!)-Charaktere und zwar in einem steilen und einem kursiven
1) Die aus dem phönizischen Alphabete abgeleitete national-indische Schrift,
1301 800 v. Chr. in Indien eingeführt.
112
ß. Referate. Ethnologie.
Typus. Diese Brahmi-Schrift ist in Indien als Gupta-Schrift2) während des
4.—8. Jahrhunderts in Gebrauch gewesen. Die Sprache von sieben „Pothis“
ist Sanskrit, die der übrigen sechs ist noch nicht erschlossen. Hoernle
glaubt, dass die Nachforschungen eher in der Richtung der monosyllabisch-
tibetischen Sprachen als in der der turk-mongolischen einzusetzen seien.
Auch mit der historisch-politischen Entwicklung Turkestans steht die
obige Datierung in bestem Einklang. Es handelt sich um buddhistische
Schriftwerke, und seit dem 8. Jahrhundert hat der buddhistische Verkehr
zwischen Indien und Centralasien, von ganz vereinzelten Ausnahmen abge-
sehen, geruht. Die muhammedanische Invasion im 9. und 10. Jahrhundert
bedeutete für die gesamte buddhistische Kultur Ostturkestans einen unauf-
haltsamen Niedergang, sodass es auch unter diesem Gesichtspunkt wenig
wahrscheinlich ist, dass eine spätere Zeit buddhistische Schriftstücke in
kalligraphischer Vollendung hervorbrachte.
Was die Handschriften auf einzelnen Blättern betrifft, so finden sich
darunter chinesische, persische und sprachlich unbekannte Dokumente. Die
chinesischen gehören der zweiten Hälfte des 8. Jahrhunderts an und scheinen
aus einer Registratur der chinesischen Landes-Regierung zu stammen; die
Schrift ist mit einem Pinsel auf das ungleich gearbeitete, von Wasserlinien
netzartig durchzogene Papier aufgetragen. Die persischen Dokumente dürften
sämtlich in die erste Hälfte des 8. Jahrhunderts zu setzen sein; ihre Ver-
öffentlichung soll durch den Oxforder Professor Margoliouth erfolgen. Der
gleichen Periode scheinen von den Schriftstücken in unbekannten Sprachen
diejenigen anzugehören, deren Schrift — und vielleicht auch Sprache —
uigurisch ist; die übrigen zeigen eine kursive Brahmi-Schrift, die ungefähr
zu derselben Datierung Anlass giebt. Soweit die bisherigen sprachlichen
Untersuchungen dieser letzteren Dokumente einen Schluss gestatten, ver-
mutet Hoernle hier einen indo-iranischen Dialekt, der nach gewissen Pamir-
Sprachen hinweist.
An den Terrakotten und anderen kunstgewerblichen Gegenständen
hebt Dr. Hoernle besonders die eigentümliche Ähnlichkeit mit den Erzeug-
nissen altgriechischer Kunst hervor. Alle Gefässe sind aus sehr hartem,
gebrannten, rötlichen Thon; die Ornamente sind teils erhaben angebracht,
teils eingeschnitten. Unter den mannigfachen Formen der Krüge und Vasen
begegnen wir solchen mit drei Henkeln, wie sie, aber nur ganz selten, in
der frühesten griechischen Keramik auf Mykenae und Cypern Vorkommen,
während die klassisch-griechische Periode sie entbehrt. Die Henkel sind
meistens in Gestalt von Tieren oder Greifen gearbeitet, ein der griechischen
Kunst wenig vertrauter Stil. Die Reliefornamente sind separat hergestellt
und den Thongefässen erst vor dem Brennen angefügt; sie lösen sich leicht
2) Benennung nach der Gupta-Dynastie Indiens (319—480).
ß. Referate. Ethnologie.
113
ab, und solche abgefallene Stücke wurden in grossen Mengen bei den Gefäss-
fragmenten gefunden. Sie zeigen in ihrem Reichtum an Mustern vornehmlich
den Typus, den man als graeco-buddhistisch3) bezeichnet hat. Ausser den
konventionellen Blatt- und Blumenzeichnungen finden wir die verschiedensten
Tiergestalten, am häufigsten den Affen in allen möglichen Stellungen; sie
erinnern an griechische Satyrfiguren, und auch die Musikinstrumente, die
sie halten, sind griechischen Ursprungs, auf den ganz besonders die in der
indischen Kunst nirgends beobachtete Pansflöte deutet. Die Auffassung
menschlicher Figuren bewegt sich kunsthistorisch in der gleichen Richtung.
Auf die Appendices können wir, da sie rein philologischen Inhalts
sind, hier nicht eingehen; gleich den übrigen Abschnitten der textlichen
und illustrativen Darstellung bieten sie eine Fülle von Belehrung in Sprach-
und Schriftgeschichte. Prof. Dr. L. Scher man-München.
129. T. H. Holland: The Kanets of Kulu and Lahul, Punjab, a
study of contact metamorphism. Journal of the Anthro-
pological Institute of Great Britain and Ireland, 1902.
Bd. XXXII, S. 96 (3 photographische Tafeln).
Längs der himalayschen Grenze Vorderindiens kommen die langköpfigen
Völker der Ebene mit den Brachycephalen des tibetischen Hochlands in
Berührung, infolgedessen auf dieser langen Zone verschiedene körperliche
Merkmale sich zeigen, deren Studium auch vom allgemeinen Gesichtspunkte
aus recht interessant ist. So hat schon Risley konstatiert, dass der Längen-
breitenindex in den gleichen Kasten von W. nach 0. sich erhöht, sodass
im Bengal die Brahminen mit 78,7 eine ausgesprochene Neigung zur Brachy-
cephalie aufweisen. Es scheint also, dass die Grenze der Mongoloiden, statt
wie im Punjab mit dem Himalaya zusammenfallen, weiter nach SW. sich
bis zu den Hügeln oder der Ebene erstreckt, dass dort also die arische
Rasse weniger vorherrscht.
Die Kanets vom Pundjab sind insofern interessant, weil sie auf einer
sehr besuchten Handelsstrasse wohnen, die grosse Blutmischungen gestattet
und weil ihre zwei Zweige durch eine hohe Bergkette getrennt sind, sodass
die von Kulu mehr mit den übrigen Indern in Verbindung stehen, während
diejenigen von Lahul sich mehr mit den Mongolen vermischt haben. Wenn
man annimmt, dass die Tibetaner mehr brachycephal, mehr platyopisch,
mehr leptorhin und kleinwüchsiger sind als die Kanets von Kulu, dann
erkennt man, dass die Kanets von Lahul eine intermediäre Stellung einnehmen.
Ein eingehenderes Studium der Einzelzahlen hat nun dem Verf. ge-
zeigt, dass die erblichen Neigungen, die sich in einem Merkmal aussprechen,
3) Zu bevorzugen ist der Ausdruck „Gandhara-Kunst“ nach dem alten, die
heutigen indisch-afghanischen Grenzgebiete einnehmenden Königreiche dieses Namens.
Intern. Centralblatt für Anthropologie. 1903. 8
114
B. Referate. Ethnologie.
nicht zugleich alle anderen physischen Eigenschaften beeinflussen. Wenn
man von den Lahuli die 15 am meisten kurzköpfigen heraussucht, sollte
man erwarten, dass sie sich mehr dem tibetischen Typus annähern, also
dass ihr Nasomalar-Index niederer sei, und dass sie mehr leptorhin und
kleinwüchsiger seien. Dagegen ist ihr Nasomalar-Index etwas höher als das
Mittel, ihr Nasenindex etwas niederer und ihre Körperhöhe ein wenig grösser.
Die Unterschiede sind klein, und man kann sagen, dass sie in jeder anderen
Hinsicht als der Längenbreitenindex völlig normal sind. Dagegen die 15
langköpfigsten Lahuli lehnen sich in jeder Hinsicht an den indischen Typus
an, indem sie zugleich mehr proopisch, mehr platyrhin und grosswüchsiger
sind, als das Mittel.
Wenn man auf gleiche Weise die Messungen der Kulu analysiert,
so sieht man, dass keiner von ihnen genügend tibetische Eigenschaften in
sich vereinigt, um sich dem Mittel der Lahuli anzureihen, und dass die
Kurzköpfigsten in anderer Hinsicht mehr indische Merkmale besitzen als das
Mittel ihres Stammes. Sie sind also mehr proopisch, mehr platyrhin und
hochwüchsiger. Wenn man von diesen Kurzköpfigsten diejenigen heraus-
sucht, welche mehr platyopisch und leptorhin sind, so sieht man, dass sie
grösser sind als ihre Landsleute. Diejeniden, welche hinsichtlich der Schädel-,
Nasen- und Nasomalar-Indices mehr Neigung zum indischen Typus zeigen,
sind zugleich kleiner als das Mittel.
Verfassers Studien sind sehr dankenswert, denn sie eröffnen für die
Anthropologie neue Bahnen. Wenn sie auf andere Rassen und auf grössere
Individuenzahlen fortgesetzt werden, können sie auf die schwierigen Fragen
der Erblichkeit und der Hybridität Licht werfen. Die sehr schönen photo-
typischen Tafeln veranschaulichen die im Text geschilderten Unterschiede
des Lahul und Kulutypus. Br. L. Laloy-Boräeaux.
130. E. Pittard: Contribution ä l’etude anthropologique des Tsiganes
turcomans. L’Antliropologie, 1902. Bd. XIII, S. 477.
In der Dobrudscha sind die turkmenischen Zigeuner ziemlich zahlreich;
verschiedene Städte besitzen einen Vorort, der von ihnen allein bewohnt ist
(Constanja und Manjaha). Ob dieselben anderer Herkunft sind als die
rumänischen Zigeuner, oder ob sie einfach die Sprache, Religon und Sitten
der muhammedanisehen Völker angenommen haben, unter denen sie gelebt
haben, bleibt noch zweifelhaft. Falls die Zigeuner wirklich aus Indien
stammen, kann man annehmen, dass Teile ihres Volkes sich auf ihrem
Wanderzuge in Balutschistan, Afghanistan, West-Turkestan und Klein-Asien
zersplittert haben. Vielleicht haben diese Stämme ihre Wanderung nach
Westen fortgesetzt, nachdem sie sich mit der einheimischen Bevölkerung
vermischt hatten; sie können auch einen Teil derselben mit sich geschleppt
haben. In beiden Fällen würde ihre Rasse nicht mehr rein sein.
B. Referate. Ethnologie.
115
Yerf. hat bei 11 turkmenischen Zigeunern die Körperhöhe gemessen.
Sie beträgt 1,636 m, also etwas mehr als bei den rumänischen Zigeunern
(Centralbl. Bd. YII, 1902, S. 351). Bei den Zigeunern aus Turkestan
haben Wilkins und Ujfalvy noch höhere Zahlen (1,69 m und 1,72 m) ge-
funden und bei denen aus Lykien sogar 1,73 m. Folgende Zahlen beziehen
sich auf 62 Individuen (Geschlecht nicht angegeben!): Längenbreitenindex
78,44 (Dolichocephal 74,2°/0, Brachycephal 9°/0); Längenhöhenindex 67,45,
Breitenhöhenindex 86 — Nasenindex 69,4, variiert von 55 bis 91. —
Gesichtsindices: Jochbogenbreite zur Ophryo-Kinnlänge 108,59, zum Ophryo-
Alveolarfortsatz 73,94, zum Ophryo-Spina nasalis 57,28. — Das Ohr ist
grösser als bei den rumänischen Zigeunern: Länge 62,6, Breite 36,7,
Index 58,94. Die Länge der Augenlidöffnung beträgt 33,26, die des Mundes
54,2 mm.
Die Irisfarbe ist braun (wohl dunkel) bei 47 Individuen, grau bei 5,
bläulich bei 2, blau bei 7. Die Haare sind schwarz bei 49, braun bei 10,
kastanienfarbig bei 2. Die Brocasche Farbenskala würde viel grössere Dienste
leisten, als die Angabe solcher undeutlichen Epitheta. Die Nase ist in
31 Fällen mehr oder weniger konvex, in 17 grade, in 11 ein wenig konkav,
in 2 war die Spitze herabhängend. Für den Vergleich mit den rumänischen
Zigeunern verweise ich auf das oben veröffentlichte Referat.
Dr. L. Laloy-Bordeaux.
131. A. Wiedemann: Das Okapi im alten Ägypten. Umschau
1902. Bd. YI, Nr. 51.
Die Entdeckung des Okapi veranlasst den Verfasser zu einer Revision
der Deutungen, welche bisher das heilige Tier des Gottes Set gefunden hat.
Es ist bekannt, dass als Urbild des Settierers der Fenek, das Kameel, die
Giraffe, ein Fabelwesen, das Teile von Gazelle und Esel vereinigen sollte,
endlich verschiedene Mäusearten erklärt wurden. Zuletzt hat Ref. auch die
Klefantenrüsselmaus als heiliges Tier des Gottes ansprechen zu dürfen ge-
glaubt (s. d. Centralblatt VII, S. 218). Verfasser erklärt als charakteristisches
Herkmal des Kopfes des Settiei’es den nach dem Körper zu schräg abfallenden
Kais, das lange schmale Gesicht, weiterhin die lang ausgezogenen Lippen,
v°n denen die obere über die untere hervorragt, sodass der Mund fast einen
^nsselartigen Eindruck macht. Dabei sitzen die Nasenlöcher vorne an der
Oberlippe; über den beiden Augen zeigt sich an der Stirne je eine knochige,
ari einen Hornansatz erinnernde Erhöhung (?). Das Ohr ist lang, der Ansatz
(^er Ohrmuschel meist schmal, ihr oberer Abschluss ist fast eine grade Linie,
nach Ansicht des Verfassers auf Schematisierung beruht, oder bei einge-
Kngenen Tieren künstlich hergestellt wurde, da ein völlig rechtwinkliger
Abschluss des Ohres bei keinem lebendem Geschöpfe vorkommt. Als Farbe
^es Tieres gilt gelb, oder genauer rot. Verfasser ist nun der Ansicht, dass
8*
116
B. Referate. Ethnologie.
das Okapi alle wesentlichen Züge darbietet, welche die Kopfbildung des
Settieres charakterisiert. In der That ist die Ähnlichkeit beider eine grosse,
dine Reihe von Charakteren und zumal die rüsselartig ausgezogenen Lippen,
welche unter den bisher in Betracht kommenden Tieren nur bei der Elefanten-
rüsselmaus zu finden wären, sind beim Okapi vorhanden. Indessen wäre
der Nachweis der Übereinstimmung auch in den Einzelheiten erwünscht,
wenn wirklich das Okapi endgültig als Vorbild des Settieres anerkannt werden
soll. Zu erwähnen ist endlich, dass das Okapi in den ägyptischen Jagd-
darstellungen fehlt und nur in den Bildern von Beni Hassan vorkommt, in
welchen nicht nur die in der Wüste thatsächlich anzutreffenden Tiere vor-
geführt werden, sondern auch die Geschöpfe, welche der Tradition nach in
der Wüste hausen sollten, so Greifen und andere Fabelwesen. Nun ist in
der That Set der Wüstengott, ob aber das Okapi etwa nach seiner Ver-
drängung aus dem Nilthal zunächst in die Wüste flüchtete, kann nicht ohne
weiteres als sicher angenommen werden. Andererseits ist es durchaus wahr-
scheinlich, dass man es später mit dem Wildesel, dem die Sage Beziehungen
zu Set gab, verwechselte, obgleich nicht jeder ägyptische Gott zu allen
Zeiten nur ein einziges heiliges Tier hatte. Thilenius-Breslau.
132. Muskat: Der Plattfuss des Negers. Deutsche medizin. Wochen-
schrift 1902, Nr. 26.
M. hat die Füsse von 6 Togonegern untersucht und ist dabei zu dem
Resultat gekommen, dass die frühere Ansicht, der Negerfuss sei unschön
gebaut, sei ein Plattfuss, unrichtig sei. Hie 6 Fussspuren (3 3 y )
waren normal gebaut, standen in Bezug auf ihre Grösse im Verhältnis zur
Länge des Trägers, hatten gute Wölbung und Hessen die dem Plattfuss
eigentümliche Abknickung im Sinne der Abduktion der grossen Zehe ver-
missen. Nach M. ist der Plattfuss durchaus kein Rassenmerkmal des Negers;
wo er vorkommt, beruht er auf den gleichen schädigenden Verhältnissen, die
ihn bei der schwer arbeitenden Klasse, besonders durch schweres Tragen
auch bei uns hervorbringen. Oberarzt Dr. Kellner-Untergölizsch.
133. M. L. Perry: Some practical problems in sociology by a
study of the Southern negro. Medical Record. (New York)
1902. Vol. LXII, Nr. 9.
Unter der Negerbevölkerung der Südstaaten herrschen von Krankeiten
venerische Affektionen, Tuberkulose und Geisteskrankheiten vor. Im Staate
Georgia hat seit dem Jahre 1360, dem Zeitpunkte der Sklavenbefreiung,
die Zahl der geisteskranken Schwarzen beständig zugenommen. Bis dahin
waren irre Neger überhaupt wohl nicht vorhanden, oder wenigstens nur in
verschwindend kleiner Anzahl; 1860 kam ein Geisteskranker auf 10 584,
1870 auf 4225, 1880 auf 1764, 1890 auf 1533 und 1900 auf 1149 der
ß. Referate. Ethnologie.
117
schwarzen Bevölkerung. In 40 Jahren hat sich also die Negerbevölkerung
etwas mehr als verdoppelt, die Zahl ihrer Geisteskranken aber vervierzigfacht.
Bemerkenswert sind ferner die Durchschnittswerte der Gehirngewichte, die
Yerf. in seiner Eigenschaft als pathologischer Anatom des State Sanatorium
von Georgia feststellen konnte. Das mittlere Hirngewicht des normalen
Menschen veranschlagt er für den Mann auf 1403, für die Frau auf 1247 gr.
Für das Gehirn weisser Geisteskranker fand er einen Durchschnittswert von
1353 bezw. 1197 gr, für das farbiger Geisteskranker einen solchen von
1229 bezw. 1092 gr. Dr. Buschan-Stettin.
134. L. Brieger: Über Pfeilgifte aus Deutsch-Ost-Afrika. Berlin.
kliu. Wochenschrift 1902, Bd. XXXIX, 13.
Aus den Belegmassen vergifteter Pfeile der Wakamba gelang es Aerf.
zwei schnellwirkende Gifte, beides Herzgifte, und ein mehr langsam wirkendes
Gift zu isolieren. Das eine der beiden ersten ist ein chemisch genauer zu
bestimmendes (Formel C29H4GOs), schneeweisses, krystallinisch.es Glycosid,
das bei Warmblütern bereits nach 10—15 Minuten fibrilläre Muskelzuckungen,
Dyspnoe, Aufschreien, Erbrechen, Krämpfe und Tod, bei Einträufelung in
den Bindehautsack mehrere Stunden lang anhaltende Unempfindlichkeit der
Hornhaut und Erweiterung, sodann für mehrere Stunden Yerengerung der
Pupille hervorruft und mit dem giftigen Agens der Pfeile der Wagogo und
des Somalistammes Capo Shakal identisch zu sein scheint, das andere ein
amorphes, an der Luft leicht zerfliessliches Glycosid, das bei Einträufelung
ebenfalls stundenlange Yerengerung der Pupille, indessen keine Unempfind-
lichkeit der Hornhaut herbeiführt. Als Ursprungsstätte dieser beiden Herz-
gifte ermittelte Yerf. die Acoconthera abessynica, deren Zweige, Blätter und
Fruchtkerne (jedoch nicht das Fruchtfleisch) sehr giftig sind. —Das chronisch
wirkende Gift erzeugt Infiltratiou, lokale Eiterung und Nekrose und stammt
von der Kandelaber-Euphorbie her. Dr. Buschan-Stettin.
III. Urgeschichte.
A. Allgemeies.
135. G. Kossinna: Die indogermanische Frage archäologisch beant-
wortet. Zeitschrift für Ethnologie 1902. Bd. XXXIY,
Heft 5, S. 161—222.
Das vielumstrittene Problem der indogermanischen Wanderungen erfährt
in dieser Schrift eine neue Beleuchtung. Gustaf Kossinna, von Hause aus
selbst Sprach- und Geschichtsforscher, bestreitet diesen Wissenschaften das
Hecht, in den Fragen der vorgeschichtlichen Ethnologie eine führende Rolle
zu übernehmen. Nur die Archäologie sei dazu berufen, weil sie allein über
eine Fülle unverfälschter Zeugnisse aus der Urzeit verfüge. Freilich gehöre
118
B. Referate. Urgeschichte.
zu deren richtiger Anwendung eine räumlich möglichst umfassende Kenntnis
der vorgeschichtlichen Kulturen und namentlich die denkbar strengste chrono-
logische Sichtung des Stoffes. Indem K. diese Forderung zunächst für Nord-
und Mitteldeutschland in peinlich genauer Weise erfüllt, gewinnt er für seine
Untersuchung eine feste Grundlage, wie sie allen seinen Vorgängern und
nicht zum wenigsten dem jüngst erschienenen Werke von M. Much über
die Heimat der Indogermanen fehlt.
K. geht von einer Reihe von Voraussetzungen aus, deren Rechtfertigung
sich teils aus früheren Schriften des Verfassers, teils aus der Arbeit selbst
ergiebt. Dazu gehört die Annahme der Urheimat der Germanen, als welche
ihm die westlichen Küstenländer der Ostsee, sowie die angrenzenden Gebiete
der Nordsee, also Südskandinavien, Dänemark und Nord Westdeutschland
gelten, letzteres, soweit es megalithische Grabbauten oder eine diesen zu-
kommende Keramik aufweist, d. h. östlich bis an die Odermündung, südlich
bis zur Aller und der Magdeburger Gegend. Die Germanen sind gleichbe-
deutend mit dem Stammvolk der Indogermanen, deren Ursitze also mit denen
der Germanen zusammenfallen. Ein methodischer Leitsatz ist es ferner für
ihn, dass die von Süden nach Norden eilenden Ausbreitungswellen einer
Kultur im allgemeinen nur als Kulturmitteilungen, dagegen die umgekehrt
von Norden nach Süden gerichteten Verpflanzungen zusammenhängender
Kulturen für Ergebnisse von Völkerbewegungen zu halten sind. Vor allem
betont er, dass nicht die einzelne Thatsache, sondern nur die Verbindung
einer Reihe von Thatsachen, die anderwärts entweder so nicht wieder oder
gerade genau so wiederkehrt, das entscheidende Moment der ethnologischen
Sonderung oder Verbindung bildet.
In den ersten Perioden der jüngeren Steinzeit weisen Nord- und Mittel-
deutschland die grellsten Gegensätze auf: dort Megalithgräber und Tief-
Ornamentik der Thongefässe; hier vorzugsweise Kistengräber in Hügeln
nebst der Gruppe der Schnurkeramik, später Flachgräber und die ebenso
reiche Gruppe der Bandkeramik. Hinsichtlich des chronologischen Ver-
hältnisses dieser beiden keramischen Gruppen schliesst sich K. den An-
schauungen Götzes an, obwohl er sie selbst ausserordentlich schwach be-
gründet findet. In einem Nachtrage ist er denn auch genötigt, zu erklären,
dass durch die inzwischen erfolgte Veröffentlichung Höfers über das Spitze
Hoch beiLatdorf (Jahresschrift für die Vorgeschichte der sächsisch-thüringischen
Länder, Bd. I, 39 ff., Halle 1902) die Priorität der Schnurkeramik end-
giltig widerlegt sei. Es ist nicht zu leugnen, dass durch diesen Wechsel
der Anschauung der die jüngere Steinzeit behandelnde Abschnitt in eine
gewisse Verwirrung gerät, wenn auch der Kern seiner Ausführungen dadurch
nicht berührt wird. Im Gegensatz zu Much tritt er mit Entschiedenheit
für den südosteuropäischen Ursprung der Bandkeramik und demgemäss für
den nicht-indogermanischen Charakter der durch sie repräsentierten Völker
B. Referate. Urgeschichte. 119
ein. Die Entstehung der Schnurkeramik ist ihm dagegen ein vorläufig noch
ungelöstes Rätsel.
Während noch die Bandkeramik in Mitteldeutschland herrscht, macht
sich an dem Vordringen der Kugelamphoren und des Bernburger Typus
eine starke Südwärtsbewegung der Indogermanen in zwei Zügen bemerkbar :
einem westlichen längs der Elbe und Saale nach Thüringen, und einem
östlichen die Oder hinauf, der auf dem Wege über Galizien und Südruss-
land zur Bildung des arischen und wohl auch des slavischen Stammes führte.
Aus dem westlichen ging unter der Einwirkung neuer gewaltiger Nachschübe
und durch Verbindung mit dem Volke der Bandkeramik eine Abart der
Indogermanen hervor (Rössen-Albsheimer Typus), aus der sich um 2000
herum die Italiker und die Kelten entwickelten. Denn dass in der Über-
gangsperiode von der Stein- zur Bronzezeit indogermanische Stämme aus
Büddeutschland in die Schweiz, Tirol und Italien eingedrungen sein müssen,
ergiebt sich aus dem plötzlichen Umschwung der Handelsbeziehungen.
Während in der Steinzeit Mittel- und Süddeutschlands nur südosteuropäische
Beziehungen wirksam sind, beginnt in der frühen Metallzeit eine starke
italische Einfuhr und noch mehr eine Nach- und Weiterbildung italischer
Bronzeerzeugnisse. Umgekehrt finden sich in Oberitalien offenkundig aus
Mitteleuropa stammende Sachen. Ein derartiger Austausch zwischen der
alten und der neuen Heimat pflegt sich stets unmittelbar an eine Volks-
auswanderung anzuschliessen. Mit der allmählichen Entfremdung lässt er
nach, und so sehen wir den direkten Handel zwischen Italien einerseits und
lord- und Südeuropa andrerseits während der zweiten Bronzeperiode so gut
vie ganz aufhören und in der jüngeren Bronzezeit sich auf die Ausfuhr
getriebener Gefässe beschränken. Auch die Besiedelungsverhältnisse Süd-
teutschlands während der ältesten Bronzezeit stehen im Einklang mit dieser
Auffassung.
Wohl die gelungenste Partie der ganzen Abhandlung ist die über die
Üihe Bronzezeit Ostdeutschlands. Hier zeigt sich des Verfassers souveräne
Bherrschung des Fundmaterials in glänzendem Lichte, und seine Gruppierung
öe Stoffes giebt der Arbeit einen bleibenden Wert, auch wenn man seinen
Zögerungen nicht beipflichtet. K. erkennt in den Gräbern vom Aunjetitzer
Zyous eine neue Völkermischung nordisch-indogermanischer, von der Saale
üUcElbe her eingewanderter Stämme mit mitteldeutsch-nichtindogermanischen
Bleaenten. Diese neuen Stämme haben sich über Österreich südwärts bis
DaÜ Bosnien verbreitet (gerippte Manchetten-Armbänder in Hügelgräbern
v°öi Glasinac) und sind vermutlich als die Vorfahren der Illyrier und
Üri,cp
en zu betrachten. Ein südliches Abströmen der Bevölkerung während
^er rühen Bronzezeit wird auch durch die Spärlichkeit der Funde aus der
Zvveisn Periode in Österreich nördlich der Donau und besonders augenfällig
la Os-Deutschland bezeugt, wo schon aus dem späteren Abschnitt der ersten
120
B. Referate. Urgeschichte.
Periode jenseits der urgermanischen Grenzen Funde fast völlig fehlen. Etwas
später als die Illyrier und Griechen (um 1600) scheinen sich innerhalb
Ungarns die Thralten aus zerstreuten Siedelungsgebieten zu einer engen
Gruppe zusammengeschlossen zu haben. Durch sie erfolgt dann in der
dritten Bronzeperiode eine abermalige starke Besiedelung Ostdeutschlands
bis zur Saale, Elbe und Havel mit Einschluss Nordböhmens, jedoch mit
Ausnahme Hinterpommerns, Westpreussens und des Nordstriches von Posen.
Ihre früheste Nordgrenze wird am besten durch die Grenze der Brandgräber
mit den ältesten Formen der Buckelurnen und deren typische Begleiter-
scheinungen umschrieben. K. bezeichnet dieses aus Ungarn und Galizien
eingedrungene Volk nach seinen noch in historischer Zeit nördlich der Karpathen
nachweisbaren Überresten als Karpodaken.
Eine kurze Inhaltsangabe kann natürlich wenig mehr als eine Mit-
teilung der Ergebnisse bieten. Und doch sind es nicht sowohl diese, als
vielmehr die Art ihrer Begründung, die die Arbeit zu einer so bedeutenden
Erscheinung der prähistorischen Litteratur stempelt. Geistvolle Ursprungs-
theorien hat schon mancher angestellt. Hier aber wird zum ersten Male
der Weg gewiesen, auf dem sich, wenn auch vielleicht erst an der Hand
eines viel reicheren Materiales, als dem Verfasser zu Gebote stand, wirklich
sichere Resultate gewinnen lassen. Der Urgeschichtsforschung eröffnet sich
damit ein Ausblick in unermessliche Fernen. H. Seger-Breslau.
B. Specielles.
a) Deutschland.
136. J. Harbauer: Katalog der Merowingischen Altertümer vor
Schretzheim im Bayer. Schwaben. 2 Teile mit 6 Taf. 8°
98 S. (Gymnasial-Programm Dillingen) 1900/1 und 1901/2
Der historische Verein Diilingen hat seit 1890 ein merowingischs
Gräberfeld bei Schretzheim systematisch untersucht mit dem ausserordentlih
günstigen Resultat, dass 333 Gräber mit meistens reichen Beigaben auf£-
deckt wurden. Die Fundstücke, welche in der Sammlung des historiscfen
Vereins zu Dillingen aufbewahrt werden, sind in dem vorliegenden Katalge
gräberweise zusammengestellt und werden Stück für Stück exakt beschriefen.
Für die Kenntnis der Grabeinrichtung ist wichtig, dass auch die Lage der
Gegenstände zum Skelett angegeben ist. Ebenso ist das Geschlecht der
Bestatteten angeführt, wenn es aus der Grösse der Skelette und der Art
der Beigaben bestimmt werden konnte. Seltene Stücke sind fünf golene
Hängebrakteaten (Grab 33). Die unter Nr. 1586, 2406 und 2665 als
Nadeln bezw. Ohrlöffel angeführten Geräte könnten nach der Beschreiung
vielleicht Schreibgriffel sein. Es verdient hervorgehoben zu werden, dass
auch in diesem Merowinger-Gräberfeld, welches einen ganz reinen Chankter
B. Referate. Urgeschichte.
121
hat, wiederum eine Anzahl bedeutend älterer Gegenstände aufgefunden wurde,
und zwar nicht nur typische römische Sachen (Münzen, eine Thonlampe
mit eingestempelter Inschrift, eine frührömische Fibel), sondern auch ein
nach Naue vorrömisches Fibelfragment und sogar das Bruchstück einer
Paukenfibel. Für die Datierung des Gräberfeldes kommt die Nachbildung
einer Goldmünze Justinians I. (527—565) in Betracht. Ein ausführliches
Sachregister erleichtert die Benutzung dieses nützlichen Katalogs.
Dr. A. Götze-Berlin.
137. C. Mehlis: Exotische Steinbeile der neolithischen Zeit im
Mittelrheinlande. Archiv für Anthropologie, 1902. Bd. XXVII,
Heft 4.
Beschreibung und Abbildung eines Steinidols in Beilform aus Drusen-
heim im Untereisass (33 cm Länge im Privatbesitz von Dr. Nessel in
Hagenau), sowie dreier Jadeitbeile aus Speyerdorf (5,7 cm Länge, im Be-
sitze des Verfs.), Frankenthal (14 cm Länge im Museum zu Kaiserslautern)
und von der Hohkönigsburg bei Schlettstadt (5,7 cm Länge). Das Idol
stellt eine 17 cm grosse Frau (?) in Hockerstellung dar und ist auf dem
sauber geglätteten, nach unten spitz zulaufenden Beile aus hartem Gestein
(grauer Jad) anscheinend „durch Reibung eines weicheren länglichen Steines
— vielleicht Bimstein oder Tertiärkalk — auf der glatten Grundfläche“
erzeugt worden; Analogien zu ihm bieten in erster Linie die altägyptischen
fotenamulette(ta), ein von Ohnefalsch-Richter auf Cypern gefundenes Thon-
idol, Steinfiguren aus dem Depart. Gard u. a. m. Aus dieser grossen Über-
einstimmung mit den ägyptischen Funden und der hochentwickelten Schleif-
technik schliesst Verf. auf Ägypten als das Ursprungsland dieses Kunstwerks;
die Heimat der Jadeitbeile verlegt er nach dem Innern Asiens. Er nimmt
arb dass die Sachen durch uralte Völker- und Handelsbeziehungen nach dem
Pheinlande gebracht worden sein, und zwar direkt durch die Ligurer vom
Mittelmeerbecken her zur neolithischen Zeit (s. seine Hypothese über die
Ligurer im Rheinlande des Centralbl. 1900, S. 156 und 1902, S. 17).
Dr. Buschan-Stettin.
138. W. Blasius: Vorgeschichtliche Denkmäler zwischen Helm-
stedt, Harbke und Marienborn. Festschrift für Dedekind,
Braunschweig, 1901, S. 223, m. 1 Tafel und 2 Abb.
In der waldreichen Gegend südöstlich von Helmstedt sollen früher an
vorgeschichtlichen Denkmälern zahlreiche megalithische Grabbauten vorhanden
gewesen sein, von denen noch 5 nachweisbar sind als erkennbare Reste von
Grabkammern mit umgebendem Steinkreis; auch diese sind zerstört oder
durchsucht und ergaben nur geringe Beigaben, sind aber von Wert, um die
Lücke zu schliessen zwischen der an Megalithen so reichen Gegend von
122
B. Referate. Urgeschichte.
Neuhaldensleben und den Lübbensteinen bei Helmstedt, die jetzt allgemein
als neolithische Grabbauten angesehen werden. Dagegen sind an derselben
Stelle bronzezeitliche Kegelgräber sehr zahlreich, in etwa 100 Hügeln, vor-
handen, einzelne bis zu 20 Schritt im Durchmesser und oben mit Steinen
besetzt und darum von der Lokaltradition als Opferaltäre bezeichnet. Es
lassen sich noch 3 Gruppen unterscheiden, und auch hier sind schon im
18. Jahrhundert einzelne Grabungen vorgenommen, wahrscheinlich gehört
eine Urne mit Bronzebeigaben im Braunschweiger Museum hierher. Für
eine systematische Untersuchung ist hier noch reicher Stoff vorhanden.
Schlisslich ist der sog. Opferaltar von Marienborn zu erwähnen, eine Gruppe
von 3 Quarzitsteinen, deren grösster künstlich gestützt ist und auf der Ober-
fläche 2 Vertiefungen von über 40 cm Durchmesser zeigt mit Verbindungs-
rinne; er trägt ausserdem noch kleinere napfartige Vertiefungen, ebenso die
beiden andern Steine. Die Gruppe ist erst in den letzten Jahren beachtet
worden, und mag auch der Name willkürlich erfunden sein, so ist die Lage
des interessanten Schalensteins und der andern Näpfchensteine inmitten zahl-
reicher megalithischer und bronzezeitlicher Gräber jedenfalls nicht ohne Be-
deutung. Klarheit kann auch hier erst eine sorgfältige Untersuchung der
Umgebung bringen, nur ist bis dahin Schonung der Denkmäler wünschenswert.
Prof. Dr. Walter-Stettin.
139. W. Blasius: Die megalithischen Grabdenkmäler bei Neu-
haldensleben. 12. Jahresb. des Vereins für Naturwissen-
schaft in Braunschweig, 1901. S. 95, mit 3 Abbildungen.
Auf dem Alvenslebener Höhenzug südwestlich von Neuhaldensleben
sind noch 90 megalithische Gräber zu erkennen, eine besonders eng zu-
sammengedrängte Gruppe von 60 ist auf 169 qkm in Gestalt eines Fünf-
eckes verteilt und wohl wegen der Lage im Walde erhalten geblieben, übrigens
hier und da von Kegelgräbern durchsetzt. Nach den vorbereitenden Unter-
suchungen von Maass, Me wes und Wegen er wird nun eine topographische
Übersicht von 64 Einzelgräbern in 21 Gruppen gegeben, wobei 17 zweifel-
hafte nicht mitgerechnet sind; aber selbst wenn man für eine allgemeine
Betrachtung nur die gut erhaltenen hervorziehen will, so bleiben immer noch
50 für diesen Zweck verwendbar. Unter der Voraussetzung, dass einzelne
Grabkammern ursprünglich ohne Umfassungssteine angelegt und derselben
nicht erst später beraubt sind, dass ferner eine doppelte Steineinfassung hier
noch nicht sicher nachgewiesen ist, wird dann eine systematische Übersicht
der Bauten geboten. Als Hauptarten sind angesetzt: einfache Grabkammern,
Hünenbetten, d. h. Grabkammern mit Umfassungsring, endlich solche mit
mehr als einer Kammer. Indem jedoch kleinere Unterscheidungsmerkmale
berücksichtigt werden, ergeben sich z. B. aus der ersten Art die 5 Unter-
arten A—E: hochaufgerichtete Kammern auf künstlicher Erhöhung (Dolmen),
B. Referate. Urgeschichte.
123
niedrigere und halbbedeckte, runde auf ebner Erde, längliche von grösserer
oder geringerer Ausdehnung. Aus der zweiten Gruppe werden durch Be-
rücksichtigung der Lage, Form der Umfassung und des Einganges die Arten
B-—L unterschieden, endlich nach Zahl, Grösse und Lage der Kammern die
Arten M—P. Für die so durch wohldurchdachte Beobachtung der Einzel-
heiten gewonnenen 15 Gruppen folgt weiter eine genaue Beschreibung typischer
Beispiele, wobei gelegentlich Einzelnes richtig gestellt wird, wie die sagen-
hafte Zertrümmerung eines Decksteins in 2 Teile, die falsche Voraussetzung
von der ursprünglichen Erdbedeckung aller Megalithen u. a. Zum Schluss
'wird hervorgehoben, dass es in Deutschland, vielleicht in ganz Europa keine
Stelle geben dürfte, auf welcher jetzt noch die Megalithe so dicht gedrängt
zu finden sind, merkwürdigerweise aber auch so viele und grosse Verschieden-
heiten im Bau nebeneinander aufzuweisen haben. Im allgemeinen gilt immerhin,
dass diese Gräber überwiegend auf höherm Terrain, in der Regel auf den
Kuppen der Hügel und Höhenzüge, mitunter noch auf künstlicher Aufhöhung
aDgelegt sind. Als Baumaterial sind hauptsächlich die im Gebiet vorkommenden
erratischen Granitblöcke verwendet, während in Anhalt Sandstein, um Helm-
stedt Braunkohlenquarzite benutzt sind. Gleichen diese Gräber im Material
aLo den altmärkischen am meisten, so unterscheiden sie sich doch von ihnen
durch die geringere Grösse ihrer Blöcke, was in dem natürlichen Vorkommen
derselben seine einfache Erklärung findet. Wo sog. Wächter angebracht
Sllld, stehen sie meist im Süden, wo sich auch überwiegend die Seitenein-
gange zur Kammer befinden. Die Einfassungen sind im Vergleich zum
Befund andrer Gegenden eng und meist rundlich, nur selten eckig. Als
Bimmelsrichtung kann die ost-westliche nicht als bestimmend für die Bauten
angesehen werden, vielmehr sind die örtlichen Verhältnisse dafür maass-
gebend gewesen. Von künstlicher Bearbeitung oder sonstigen Zeichen auf
den Steinen ist nirgends etwas beobachtet worden. Trotz aller Verschiedenheit
gehört doch die grösste Zahl der besprochenen Gräber der Gruppe G an,
d. den länglichen einkammerigen Hünenbetten auf mittelhohem künstlichen
Bügel ohne Seiteneingang. Prof. Dr. Walter-Stettin.
HO. J. Mestorf: Die Funde aus dem Husumer Mühlenteich. Mit-
teilungen des Anthropol. Vereins in Schleswig-Holstein, 1902.
Heft 15, S. 11, m. 14 Abb.
Bei der Trockenlegung des südöstlich von Husum gelegenen Mühlen-
teiches zeigten sich 1867 am Nordrande und auf 2 inselartigen Erhöhungen
alte Herdstellen; besonders die ersteren traten deutlich in reihenweiser An-
0rdnung hervor als 15 cm dicke Aschenschichten mit Kohlen auf Stein-
Pflaster, nach anderer Schilderung als estrichartige Schichten mit gebrannten
Behmteilen, Kohlen und Scherben. Dabei fanden sich regelmässig in einem
Baufen allerlei Feuersteingeräte, auf den Inseln ähnliche Splitter am Rande,
124 B. Referate. Urgeschichte.
sonst aber Schleifsteine, Beile und Meissei zerstreut. Jetzt erst sind die
Eundstücke in das Kieler Museum gelangt und ihre Untersuchung beweist,
dass die betreffende Ansiedlung schon in der altern neolithischen Periode
bestanden hat. Trotzdem keine systematische Grabung und geordnete Auf-
bewahrung der Stücke stattgefunden hat, sind doch zahlreiche Mahl- und
Schleifsteine, besonders aber viele Flintgeräte gesammelt worden, und zwar
Äxte in allen Stadien der Bearbeitung, Meissei, Schaber, Sicheln, Dolche,
Messer und Nuclei, jedenfalls Zeugen einer langen steinzeitlichen Besiedelung
der Gegend. Aus späterer Zeit liegt ein Bronzeflachcelt und ein dreibeiniger
mittelalterlicher Krug vor, um 1200 aber wurde die Bewohnung durch An-
lage des Mühlenteiches unmöglich gemacht und die alte Ansiedlung unter
Wasser gesetzt. Übrigens sind auch westlich davon an zwei Stellen Hirsch-
hornäxte zu Tage gekommen, die den ältesten Flintgeräten der Sammlung
zeitlich nahe stehen, d. h. vor die Zeit der geschliffenen Steinwerkzeuge und
megalithischen Grabkammern zu setzen sind; selbst die Reste des einstigen
Waldbestandes vor der künstlichen Umwandlung der waldumkränzten Bucht
in einen Teich sind in der Tiefe des Moores noch erhalten.
Prof. Dr. Walter-Stettin.
ß) Russland.
141. E. Majewski: Zabytki przeddziejowe we wsi Janina w pow.
Stopnickim (Prähist. Funde im Dorf Janina, Distrikt Stopnica).
Swiatowit 1901. Bd. III, S. 60 ff. Mit Abb.
142. E. Majewski: Powiat Stopnicki pod wzgl^dem przed-
historycznem (Der Distrikt Stopnica in prähistorischer Hin-
sicht). Ebendas. 1901/2. Bd. III, S. 45 ff. und Bd. IV,
S. 73 ff. Mit zahlreich. Abb.
Bietet sehr eingehende Schilderungen überaus zahlreicher prähist. Fund-
stellen und Funde. Manches darunter dürfte paläolithisch sein; doch ist
nirgends dies durch die sonstigen Umstände des Fundes festgestellt. Sicher
paläolithische Funde rühren bisher auf polnischem Boden nur aus der Gegend
von Ojcöw und Krakau her. Prof. R. F. Kaindl-Czernoivitz.
143. F. Pulaskie: „Mogiiy“ o nasypie kamiennym w powicie
kamienieckim (Les tumuli en pierre du district Kamieniec
Podolski). Swiatowit 1902. Bd. IV, S. 1 ff. Mit Abb.
Diese unter Steinaufhäufungen liegenden Gräber enthalten Skelette,
Thongeschirre, Bronze- und Eisengeräte. Pulaskie entscheidet nicht über
ihre nähere Zugehörigkeit. Nach der grossen Zahl der dreikantigen Bronze-
pfeilspitzen und den Bronzespiegeln würden wohl diese Gräber der skythischen
Kultur zuzuschreiben sein. Auch die gefundenen Becher mit einem grossen
B. Referate. Urgeschichte.
125
Ohr scheinen skythisch zu sein. Endlich sind aber auch die Schüssel- oder
kesselförmige Gefässe mit einem Untersatz (Fig. 23) wohl skythische Formen.
Prof. B. F. Kaindl-Czernowitz.
144. L Rutowski: Szkielety i czaszki z cmentarzysk rzçdowych
powiatöw Pionskiego, Piockiego i Sierpskiego (Skelette und
Schädel aus den Reihengräbern Pîorisk, Plock und Sierpc).
Swiatowit 1901. Bd. III, S. 49 ff.
Die Schädel sind dolichokephal. Einer zeigt eine vernarbte, vollständig
geheilte Wunde, die offenbar von einem Beilhieb herrührt. Rutkowski ent-
scheidet nicht, ob es echte slavische seien oder ob, wenn diese als brachy-
kephal zu gelten haben, es sich um slavisierte Reste eines anderen Volkes
(Germanen) handelt. Jedenfalls nimmt er die Langköpf 1er der Tumuli auf
slavischem Boden, sowie die Kurzköpfler bereits als Zugehörige der Slaven
1Q Anspruch. Prof. B. F. Kaindl-Czernowitz.
145. W. Szukiewicz: Poszukiwania archeologiczne w powiatach
Lidzkim i Trockim (Recherches archéologiques dans les distr.
du Lida et Trocki). Swiatowit 1901. Bd. III, S. 1 ff.
Bringt reichliche Nachrichten über Funde aus der Stein- und Bronze-
nt im Gouvernement AVilno. Zahlreiche gute Abbildungen sind beigegeben,
-^ine Karte verzeichnet die steinzeitlichen Siedelstätten, Wallanlagen, Fund-
°rte von Steinäxten, Fundorte von Bronzen, Tumuli mit Brandgräbern,
Skelettgräber, Menhirs und dergl. Prof. B. F. Kaindl-Czernowitz.
146. J. Kolski: Kamieri z „wanienkq Matki Boskiej“ (Der Stein
mit der Badewanne der Mutter Gottes). Swiatowit 1901.
Bd. III, S. 33 ff.
Dieser Stein befindet sich im Dorfe Wrzqca bei Kalisz. Er weist
Mehrere Vertiefungen auf. Kolski vergleicht ihn mit den bekannten Schalen-
steinen und hält ihn für den einzigen bisher auf dem Boden des alten Polens
^achgewiesenen Opferstein dieser Art. Von ihm giebt der Verf. mehrere
Abbildungen. — Ein S. 42 abgebildeter ausgehöhlter Stein entspricht
ölcht dem Typus der Schalensteine. Prof. B. F. Kaindl-Czernowitz.
147. W. Szukiewicz; Kurhany kamienne w pow. Lidzkim, pub.
Wilehskiej (Steintumuli im Distrikt Lida). Swiatowit 1902.
Bd. IV, S. 40 ff. Mit Abb.
Diese Gräber liegen beim Städtchen Zablocia. Sie rühren schon aus
historischer Zeit her, zum Teil sogar schon aus dem 15. Jahrh. n. Chr.
hbe Leichname sind in Gruben hineingelegt, über denen nach ihrer Ver-
hüttung Steinhaufen errichtet wurden (vergl. Swiatowit 1899, Bd. I, S. 33).
Prof. B. F. Kaindl-Czernoivitz.
126
B. Referate. Urgeschichte.
148. S. J. Czarnowskie: Jaskinia Borsucza nad rzek$ R. Pr^dnikim
(Die Höhle Borsucza). Swiatowit 1901. Bd. III, S. 75 ff.
Mit Abb.
Yerf. beschäftigt sich bekanntlich seit Jahren mit der Erforschung der
Höhlen bei Ojcöw (vgl. Swiatowit I, Taf. I). Im vorliegenden Aufsatze
beschreibt er die Dachshöhle, die am linken Ufer des Flusses Pradnik ge-
legen ist; die Kulturreste derselben entsprechen jenen in der grossen Höhle
bei Ojcöw. Es finden sich bereits auch geglättete Steinwerkzeuge. Eine
nähere Zeitbestimmung weist Czarnowski bis zur Vollendung weiterer
Forschungen zurück. Pro/'. B. F. Kaindl-Czernowitz.
149. T. Woikow: Z powodu wykopalisk neolitycznych z ceramik^
typu przedmiceriskiego (Über die neolithischen Funde mit
Thongefässen altmykenischen Typus). Swiatowit 1901.
Bd. III, S. 233 ff.
Seit einigen Jahren haben reiche Funde von gemalten Thongefässen
viel von sich reden gemacht, die in Galizien, der Bukowina und Rumänien
vorgekommen sind und mit dem sogenannten altmykenischen Typus, wie er
sich vorzüglich in Kleinasien und dem Archipelagus entwickelt hat, nahe
verwandt sind. Das vorwiegende Ornament ist die Spiralenlinie. Es lag
nahe, dass diese Kultur von ihrem südlichen Sitze über das Schwarze Meer
sich nordwärts verbreitete. Woikow bringt nun Nachrichten über Funde
von Thongefässen desselben Typus in Südrussland. Damit ist die eben ge-
äusserte Annahme noch mehr gesichert. Zur Bemerkung Wolkows, dass
neben gemaltem Geschirr auch solches mit erhabenen (in den feuchten Thon
gepressten) Ornamenten sich findet, sei bemerkt, dass der Referent einige
solcher Scherben bereits auch bei seinen Untersuchungen in der Bukowina
gefunden hat. Doch sind die Funde bisher noch zu spärlich, um ein Urteil
abgeben zu können. Pro/. B. F. Kaindl-Czernowitz.
150. N. Röhrig: Über einige Alterthiimer im Gebiet von Waldai
(Russ.) Nachrichten der K. Archäologischen Kommission.
St. Petersburg 1901. Liefg. 1, S. 60—68. Mit 2 Text-
figuren.
Yerf. hat im Aufträge der k.-archäologischen Gesellschaft zu St. Peters-
burg Ausgrabungen in den Gouvernements Pskow und Nowgorod gemacht,
insonderheit, um die slavischen Beerdigungs-Typen zu untersuchen. Er
berichtet ausführlich über einen grossen Grabhügel, der 10 Werst von der
Station Okulowka am Ufer eines Sees liegt und die Bezeichnung Woss-
kressenzki führt.
Er ist am Rand 3,5 Arschin (1,05 m), am Gipfel 26 Arschin (c. 10 m)
hoch, mit Gesträuch und Bäumen bewachsen und mit vielen Steinen und
B. Referate. Urgeschichte.
127
Steinplatten bedeckt; einzelne Steine waren sehr gross, so dass 6—8
Menschen zur Fortschaffung notwendig waren. Das Ergebnis der genauen
Untersuchung ist: eine kleine natürliche Bodenerhebung ist zur Errichtung
eines grossen Scheiterhaufens hergerichtet. Die Erhebung wurde zunächst
gleichmässig mit weissem Sand bestreut — die verbrannte Holzmasse
(Scheiterhaufen) muss sehr beträchtlich gewesen sein, denn eine ausgedehnte
Schicht von 3—5,5 Werschok (12—16 cm) Asche ist übrig geblieben.
Auf dieser Aschenschicht ist eine mächtige 1 Sashe (2,1 m) dicke Auf-
schüttung von gelbem Sand erfolgt. Die Sandschicht ist von Kohlen- und
Aschenstreifen unregelmässig durchzogen. Auf der Schicht, zum Teil in
derselben, befinden sich grosse Kieselsteine; viele dieser Steine zeigen die
Spuren der Einwirkung eines starken Feuers, sie zerfallen leicht. Es lässt
sich nicht ermitteln, durch was für ein Feuer die Steine angegriffen worden
sind, ob durch das Feuer des ersten Scheiterhaufens oder ein späteres.
Kiese Aufschüttungsschicht diente zur Aufnahme einer Anzahl Leichen aus
Verschiedenen Zeitepochen; einige Skelette in sitzender Stellung befinden
sich in einer Tiefe von 2J/2 Arschin (1,75 m), die grosse Menge der
übrigen Skelette in einer Tiefe von nur 1 Arschin (0,70 m). Was die
Zeit betrifft, so gehört der tiefe Scheiterhaufen in das X. Jahrhundert, die
tiefer liegenden sitzenden Skelette in das XII. und XIII. Jahrhundert, die
°berflächlich liegenden Skelette in das XV. und den Anfang des XVI. Jahr-
bndert. — Die in der nächsten Nähe befindlichen Kurgane bieten nichts
besonderes dar. —
Eine andere Reihe von Ausgrabungen beschäftigt sich mit den Kurganeh
111 der Nähe des Dorfes Djälliga, von denen ein grosser Teil bereits durch
üwanowski untersucht worden ist. Die Ergebnisse sind, wie sonst, sehr
Mannigfaltig; die vielen Einzelheiten können nicht wiedergegeben werden.
Prof. Dr. L. Stieda-Königsberg.
151. A. Spitzyn: Über Ausgrabungen in der Nähe des Dorfes
Baschmatschka im Gebiet von Jekaterinoslaw. 1897. Mit
20 Figuren im Text. (Russ.) Nachrichten der k. archäolog.
Kommission. St. Petersburg 1901. Liefg. 1, S. 69—79.
Drei Werst vom Dorf Baschmatschka, nahe der von Jekaterinoslaw
üach Snamenka führenden Poststrasse befindet sich eine Gruppe von Kur-
ganen von verschiedener Grösse und verschiedenem Aussehen; davon wurden
b Kurgane aufgegraben und genau untersucht.
Sehr genaue Beschreibungen und Fundberichte liegen vor. Es handelt
Slch um sogenannte skythische Kurgane mit Resten von Pferdeskeletten
ll‘ s- w., ein Grab war bereits ausgeraubt. Bemerkenswerth sind einige
Glasperlen, Perlen von Schwefelkies, goldene Plättchen mit Abbildungen
ücr Chimaera (Fig. 12), mit dem Kopf der Athene in Helm und anderes mehr.
Prof. Dr L. Stieda-Königsberg.
128
B. Referate. Urgeschichte.
152. A. Spitzyn: Eine seltene Fibel von skandinavischem Typus,
gefunden am Oberlauf des Don. (Russ.) Nachrichten der
K. Kommission zu St. Petersburg, 1901. Liefg. 1, S. 106
bis 111. Mit 5 Abbildungen im Text.
In der Sammlung der gelehrten archäol. Kommission zu Orel befindet
sich eine silberne Fibel, die 7 Werst von der Stadt Jelez (Gouv. Orel)
am Flusse Worgla in einem Felsspalt gefunden worden ist. Leider ist die
Fibel nicht ganz vollständig erhalten, insofern, als ein Stück der einen
Hälfte fehlt; trotzdem ist das Fundstück wegen seiner Grösse und reichen
Ornamentik sehr merkwürdig.
Die Fibel ist etwa 14 cm lang gewesen, der noch erhaltene Rest
hat eine Länge von 8,5 cm, die Breite betrug 5—6 cm. Die Fibel bestand
aus 2 durch einen Bogen vereinigten Seitenflügeln; jeder Flügel (Seitenteil)
ist annähernd rhomboidal. Sowohl das Mittelstück, wie das eine, vollständig
erhaltene Seitenstück ist reich verziert mit ganzen Tieren und Tierköpfen.
Was das für Tiere sein sollen, ist nicht zu erkennen, — auffallend sind
die an dem Ende des erhaltenen Seitenstücks angebrachten sitzenden oder
kuieenden Tiere.
Die Fibel ist aus gutem Silber gearbeitet und ihre Oberfläche blass
vergoldet. Wie deutlich erkennbar, wurden die Figuren einzeln gegossen
und dann erst auf die Platte aufgelötet; die eigentliche Silberplatte ist
ausserordentlich dünn, die Unterlage der Silberfibel war offenbar eino kupferne
oder eiserne, doch hat sich davon nichts erhalten. Die Silberplatte zeigt
am Rande einige Löcher, mittelst deren sie offenbar an der Unterlage be-
festigt war. Am unteren Teil der Fibel ist der Fuss der Nadel noch sichtbar.
Das Gewicht des noch erhaltenen Fibelteils ist 224,6 gr, die Silber-
platte allein wiegt 74,4 gr.
Nach der Ansicht des Archäologen in Stockholm gehört die Fibel
dem X. Jahrhundert an. Prof. I)r. E. Stieda-Königsberg.
y) Amerika.
153- Harlan J. Smith- Summary of the archaeology of Saginaw
valley, Michigan. American Anthropologist. 1901. N. S.
Vol. III, S. 501 ff. und 726 ff.
Smith giebt eine eingehende Aufzählung (und kurze Beschreibung)
der im Saginaw-Thal in Michigan gefundenen Altertümer; dies Thal wett-
eifert danach an archäologischer Reichhaltigkeit mit den ergiebigsten Fund-
gegenden der Vereinigten Staaten. Prof. Dr. E. Schmidt-Jena.
Internationales Centralblatt
für
Anthropologie und verwandte Wissenschaften
in Verbindung mit
D. Anutschin-Moskau, T. de A ranz ad i-Barcelona, G. Colini-Rom,
A. Götze-Berlin, Fr. Heger-Wien, J. Heierli-Zürich, A. H. Keane-London,
Y. Koganei-Tokyo, F. v. Luscban-Berlin, L. Manouvrier-Paris,
K- M arti n-Zürich, O. M on te 1 iu s-Stockholm, S. R e i n a c h-Paris,
L. Stieda-Königsberg, A. v. Török-Budapest und anderen Fachgenossen
herausgegeben und geleitet von Dr. phil. et med. G. BuSChan, Stettin.
8. Jahrgang. Heft 3. 1903.
A. Originalarbeit.
Russland in archäologischer Beziehung.
Von D. N. Anutschin.1)
(Schluss.)
Wer diese Skythen eigentlich waren, ist nicht mit Sicherheit
bekannt; dem Anschein nach war dies hei den Griechen ein allge-
meiner Name für einige hier lebende barbarische Völker, die teils
Nomadisierten, teils den Ackerbau betrieben. Nach einigen auf uns
gekommenen Abbildungen von diesem Volke hatte es keine mon-
golischen Züge und trug einen Bart; einige Eigennamen lassen
darauf schliessen, dass sich iranisches Element in seiner Mitte befand.
ist die Meinung ausgesprochen worden, man könne in den Skythen
die Vorfahren der späteren Germanen und Slaven sehen. Über die
Sitten und Gebräuche dieses Volkes hat am eingehendsten Herodot
berichtet, der die nördlichen Küsten des Schwarzen Meeres im
b- Jahrhundert v. Clir. besuchte.
Zu jener Zeit blühten schon in dem jetzt zu Russland gehörigen
Küstenland am Schwarzen Meere griechische Kolonien, die von den
ionischen Griechen in Kleinasien, hauptsächlich aus Milet gegründet
Worden waren — Olvia (an der Mündung des Dnjepr), Pantikapaeon
(ao der Stelle des heutigen Kertsch), Phanagoria (gegenüber Panti-
capaeon), Tiros, Tanais u. a. Es waren dies kleine Republiken, die
1) Aus dem russischen „Encyklopädi sehen Wörterbuch, herausg. von
jb’ockhaus und Efron“ (Bd. XXVIII, St. Petersburg 1900), übersetzt von T. Pecli-
Leipzig
Intern. Centralblatt für Anthropologie. 1P03.
9
130
A. öriginalarbeit.
sicli mit Getreidelandel befassten und Attika mit Getreide versahen.
Andererseits versahen sie die Bevölkerung der Umgegend mit den
Erzeugnissen der griechischen Industrie und Künste — mit kupfernen
und eisernen Geräten, thönernen Amphoren, goldenen und silbernen
Schmucksachen, Geweben u. s. w. Olvia begann schon vom 3.—2.
Jahrhundert v. Chr. Verwüstungen unterworfen zu werdeu, und fiel
endgültig im 3. Jahrhundert n. Chr. Pantikapaeon wurde zum
Centruin des Bosporanischen Reichs, das seit dem 2. Jahrhundert
n. Chr. auch zu sinken begann. Von allen diesen Städten sind jetzt
nur noch einige Ruinen und der Hauptsache nach Grabstätten ge-
blieben, teils in der Form von in Fels gehauenen Katakomben oder
Kammern mit Gewölben, teils in der Form von Gruben in der Erde
mit darüber geschütteten Erdhtigeln (Kurganen).
Diese griechischen Gräber erweisen sich häufig als reich ge-
schmückt; die Toten liegen in reichen Sarkophagen, in Kleidern mit
Goldflittern, die Männer in Helmen, mit Waffen, die Frauen mit
goldenen Diademen, Halsgesclmieiden, Armbändern, Fingerringen,
zuweilen aucli mit goldenen Masken. Überhaupt lieferten diese
Gräber die grösste Menge goldener Schmucksachen von eleganter,
kunstvoller Arbeit aus dem 5.—3. Jahrhundert v. Chr.; die voll-
ständigste Vorstellung von den Juwelierarbeiten der besten Zeit
der griechischen Kunst geben die Sammlungen der Eremitage in
St. Petersburg. Ausserdem waren hier zu finden Skulpturen, Marmor-
statuen und Basreliefs, Thonstatuetten und Masken, zahlreiche In-
schriften auf Marmorplatten, elegante Terrakotten, Amphoren u. s. w.
Diese Erzeugnisse der griechischen Kunst verbreiteten sich unter
den Skythen, besonders unter deren Heerführern und Vornehmen,
die mit diesen Dingen auch ihre Toten versahen. Vorgezogen wurden
von den Barbaren die ihrem Verständnis näher liegenden Gegen-
stände, und die griechischen Künstler scheinen es sehr wohl ver-
standen zu haben, sich diesem Geschmack anzupassen, indem sie
z. B. Gegenstände des Pferdeschmucks, Blechschilder für Waffen-
taschen mit Darstellungen von Hirschen und anderen Tieren an-
fertigten, ferner goldene und silberne Gefässe mit Abbildungen
von Skythen, schöne Filigran-Halsgeschmeide und Ohrgehänge für
Frauen u. s. w.
Skythische Kurgane finden sich zuweilen neben griechischen,
und es ist nicht immer leicht, sie von einander zu unterscheiden.
Die den Städten näher wohnenden Skythen waren wahrscheinlich
stark helenisiert und die griechischen Kolonisten hatten auch all-
mählich einige skythische Gebräuche und Liebhabereien angenommen.
Aber im allgemeinen findet man in den skythisclien Gräbern mehr
A. Originalarbeit.
131
Gegenstände eines barbarischen Stils, imcl die grossen Kurgane der
sogenannten skythischen Könige weisen auf besondere, den Griechen
nicht eigentümliche ßegräbnisgebräuche hin. In diesen Kurganen
liegt die Begräbniskammer in beträchtlicher Tiefe und ist mit Seiten-
kammern verbunden; in der Hauptkammer wurde der König mit
seiner Frau begraben, und in den Seitenkammern die Krieger und
die Pferde, alle mit teuren Schmucksachen, Waffen, metallenen und
thönernen Gefässen u. s. w. Beim Tode eines Königs wurden augen-
scheinlich auch seine Frau, seine Diener, seine Pferde getötet, damit
sie ihn in jene Welt begleiteten, und mit Kleidern, Waffen, Schmuck-
sachen, Speisevorräten in ein grosses Grab gelegt. Sehr oft ist in
solchen Kurganen die Hauptkammer ausgeplündert, während die
Seitenkammern manchmal vom Raube verschont geblieben sind, und
eben in ihnen findet man gewöhnlich wertvolle Gegenstände. Ausser
den Spuren griechischen Einflusses fand man in den Skythengräbern
im Charakter und Stil einiger Gegenstände auch Analogien mit den
sibirischen Altertümern. Aller Wahrscheinlichkeit nach bestanden
schon damals Beziehungen zwischen den Gestaden des Schwarzen
Meeres und dem Ural, wodurch sich unter anderm auch der Reichtum
an Gold in den skythogriechischen Gräbern erklärt.
Die Skythen herrschten im jetzigen südlichen Russland bis zum
Jahrhundert v. Chr., wo sie unter die Macht der ebenfalls aus
Asien gekommenen Sarmaten gelangten, die noch zur Zeit des
Gerodot, östlich vom Don wohnten. Die Sarmaten waren ein arisches
^olk; über ihr Verhältnis zu den Skythen ist nichts Bestimmtes be
kannt. Die alten Schriftsteller vermengen oft die Namen beider
Völker, und übertragen das, was von dem einen gesagt wird, auf
^as andere. Im allgemeinen scheinen ihre Sitten viel Gemeinsames
gehabt zu haben, obgleich die Sarmaten wohl ein sesshaftes Volk
Waren und sich mit dem Ackerbau beschäftigten. Da sich auch
anter den Sarmaten die Erzeugnisse der griechischen Kunst und
Industrie verbreiteten, und die von ihnen errichteten Kurgane ähnliche
^ erhältnisse bei den Begräbnissen aufweisen wie die skythischen,
ist es schwer, beide von einander zu unterscheiden, und einige
Forscher wenden deshalb auch den gemeinsamen Namen „skythisch-
sarmatische“ Kurgane an. Die einzige Grundlage der Entscheidung
bildet nämlich in diesem Falle der Charakter der griechischen Kunst-
erzeugnisse, der aber aucli leicht zu Streitigkeiten führen kann.
Ger Kurgan am Tscliertomlyk (ein Fluss; 20 Werst nordwestlich
von Nikopol am Dnjepr), ausgegraben von J. E. Sabjelin, galt z. B.
früher allgemein für skythisch, in neuerer Zeit hat ihn aber N. P.
Gondakow in das 2.—1. Jahrhundert gesetzt und als sarmatisch
9'
132
A. Originalarbeit.
anerkannt. Eine ähnliche Meinungsverschiedenheit machte sich auch
bezüglich des Kulj - obskij - Kurgan bei Kertsch geltend, der eine
Menge wertvoller Gegenstände lieferte. Unter anderem fand man in
beiden Kurganen in Bezug auf das Gefäss, im Kuli-obskij goldenes
(oder genauer aus Elektron, einer Legierung von Gold und Silber
gefertigtes), am Tschertomlyk silbernes mit darauf angebrachten
sehr interessanten Abbildungen von Skythen oder Sarmaten. Die
griechischen Fabrikate breiteten sich wahrscheinlich auch über die
Wohnsitze der eigentlichen Skythen hinaus aus; sie wurden in einigen
Kurganen der Gouvernements Kiew und Tschernigow, im Donischen
und Kubanischen Gebiet gefunden. In den Vorbergen des Kaukasus
blieb diese alte Kultur mit ihren eigenartigen, reich ausgestatteten
Kurganen dem Anschein nach auch noch weiter bestehen, als sie
schon im heutigen Neurussland andern Aufschichtungen Platz ge-
macht hatte.
Im 2. Jahrhundert n. Chr. erschien an den Nordküsten des
Schwarzen Meeres der germanische Volksstamm der Goten, die aus
ihren früheren Wohnsitzen am Baltischen Meer gekommen waren,
und herrschte hier bis zum 4. Jahrhundert, wo er von den Hunnen
nach Westen gedrängt wurde. Noch früher begann der Einfluss der
Körner, die 64 v. Chr., nach dem Tode des Königs Mithridates,
das Bosporanische Reich einnahmen. Mit der Entwickelung der
Handelsbeziehungen der Römer begann im heutigen Russland die
Verbreitung der römischen Kaisermünzen des 2.—4. Jahrhunderts.
Eine Menge von vergrabenen Schätzen mit solchen Münzen ist im
südwestlichen Russland gefunden worden, und zum Teil noch weiter,
im Innern Russlands. Die den Goten zugeschriebenen Erzeugnisse
finden sich häufig zusammen mit Gegenständen der römischen Kunst
und Industrie. Die Goten haben viele Charakterzüge des asiatischen
Kunststils angenommen und überlieferten ihn zum Teil auch den
andern Germanen. In den gotischen Altertümern sehen wir eine
interessante Vereinigung von westlichen Formen, z. B. Schwertern,
Fibeln mit barbarischen, reichen, aber bunten asiatischen Verzierungen
aus Edelsteinen, Granaten, buntem Glas (rote Emaille) u. s. w. Gegen-
stände dieses sogenannten „gotischen Stils“ fand man auf der Krim,
an den Küsten des Asowschen Meeres und sogar im Innern Russ-
lands (z. B. im Gouvernement Kaluga). Typische gotische Gräber
lassen sich jedoch in Russland nur schwer nachweisen und ge-
wöhnlich lässt man bei Klassifizierung der russischen Altertümer
auf die skythisch-sarmatische Epoche unmittelbar die slavische,
beginnend mit dem 5. oder 6. Jahrhundert, folgen.
Es ist jedoch schwer, die ältesten Gräber der Slaven zu unter-
A. Originalarbeit.
133
scheiden, umsomehr, als wir nicht wissen, wann sich die Slaven
eigentlich in Russland niedergelassen haben. Die Legende von ihrer
Herkunft von der Donau, die man einstmals glaubte in die Epoche
setzen zu können, wo sich in Russland die Schätze mit römischen
Kaisermünzen aus den ersten Jahrhunderten n. Chr. verbreiteten,
hält nicht Stand vor der Kritik; ähnliche Schätze wurden auch im
nördlichen Deutschland, in Skandinavien, Gallien gefunden, und ihre
Verbreitung erklärt sich durch die Handelsbeziehungen, wie die darauf
folgende Verbreitung der byzantinischen und orientalischen Münzen.
Es ist Grund zu der Annahme vorhanden, dass die Slaven im süd-
westlichen Russland seit undenklichen Zeiten gewohnt haben, viel-
leicht schon seit der Steinzeit, dass sie aber nicht als herrschender
Stamm auftraten und unter andern Namen bekannt waren. Die
chorographische und topographische Nomenklatur widerspricht dieser
Annahme nicht, während wir weiter nach Norden und Osten zu
schon einer nichtslavischen Nomenklatur begegnen, im Norden einer
finnischen, im Osten einer türkischen, was bezeugt, dass diese Ge-
biete ursprünglich von einer nichtslavischen Bevölkerung besiedelt
waren.
Zweifellos slavische Gräber zeigen sich in Russland erst in
einer späteren Epoche, im 9.—11. Jahrhundert. Einige Gelehrte
schlugen unter Meldung ethnographischer Namen vor, diese Epoche
fiie byzantinische zu nennen, nach dem sie charakterisierenden
byzantinischen Einfluss.
Die Merkmale der slavischen Gräber (Kurgane) bestehen in
ihrer relativen Armut; Gold kommt sehr selten vor, Silber häufiger,
aber gewöhnlich von geringem Wert, auch Bronze; von Eisenwaffen
— Beile, seltener Schwerter, Spitzen von Lanzen und Pfeilen, Ring-
panzer, seltener eiserne Helme und Schilde (oder genauer der mittlere
Teil [umbo] derselben; das Übrige am Schilde war von Leder); ge-
wöhnlich auch eiserne Messer; von Schmucksachen sind charakteristisch
Schläfenringe (von Silber oder Bronze), gewöhnlich mit einem S-förmig
gebogenen Ende, von denen je einige in die Haare an den Schläfen
geflochten oder an den Kopfputz befestigt wurden; losgehakte Hals-
reifen oder Medaillen (kompakte, gewundene, kettenförmige), Ohr-
ringe (silberne, zuweilen goldene) aus einem Ringelchen mit auf ihn
gereihten drei, oft stacheligen oder geschliffenen Kügelchen; Arm-
bänder, Fingerringe; statt der Fibeln einfache Schnallen; die Töpfe
sind von ziemlich roher Arbeit mit einfachem Ornament aus geraden
°der gewellten Querlinien; Feuerstähle, Wetzsteine, Spinnräder,
knöcherne Kämmchen, eiserne Sicheln, Sporen, Trensen und Steig-
bügel; Perlen verschiedener Art und Zusammensetzung; bisweilen
134
A. Originalarbeit.
byzantinische und orientalische Münzen, Kreuzchen und Heiligen-
bildcheu. Die Kurgane der verschiedenen Gebiete weisen Abwechse-
lungen in ihrer Einrichtung und in der Art der Begräbnisse auf;
man kann z. B. die Kurgane der Drewljanen, der Sjewerjanen u. s. w.
unterscheiden. Einige werden übrigens, z. B. die der Poljanen (nach
Antonowitsch), mit Bestattungen zu Pferde, zuweilen den türkischen
Völkerschaften zugeschrieben, z. B. den Petschenegen (nach Branden-
burg), obgleich der Gebrauch, den Krieger mit seinem Pferde zu
begraben, bei vielen Völkern verbreitet gewesen zu sein scheint.
N. I. Wesselowskij begegnete ihm besonders in den Kurganen des
nördlichen Kaukasus, wo ein grosser Kurgan mit Hunderten von
Pferdegerippen gefunden wurde. Bemerkenswert ist noch, dass sich
in vielen slavischen Gräbern Spuren von Leichen Verbrennung
linden, und zwar in zweierlei Weise: bei der einen wurde die Leiche
in der Kleidung, mit den Waffen, den Schmucksachen u. s. w. auf
den Scheiterhaufen gelegt, dieser an gezündet, und dann auf der
Brandstätte der Kurgan aufgeschüttet; bei der andern fand die Ver-
brennung an einem gesonderten Orte statt, die Asche und die Reste
der Gegenstände wurden dann gesammelt, in eine Graburne gethan
und diese zuweilen mit andern Gefässen (mit Speise?) begraben.
Die erstere Art fand sich vor in den grossen Tschernigowschen
(Fürsten-)Kurganen, die Samokwassow ausgrub; er fand dort unter
an denn ein grosses eisernes Schwert mit Silbereinlage auf dem Griff
(von skandinavischem Typus), eiserne Helme, das Mittelstück eines
Schildes, Trensen, Steigbügel, zwei Auerochsenhörner mit Silberbe-
schlag, auf dem interessante Jagdscenen eingraviert waren, byzan-
tinische Münzen des 9. Jahrhunderts u. s. w. In den Gujesdowschen
Kurganen des Kreises Smolensk, die M. I. Sisow (Sizow) ausgrub,
wurden unter andern gefunden grosse schalenartige Fibeln (von
skandinavisch-keltischem Typus), ein eiserner Ringpanzer, ein Helm,
dalTMittelstück eines Schildes, ein Schwert, arabische Münzen des
10. Jahrhunderts u. s. w. Gräber mit Graburnen findet man in
Polen und überhaupt im Gebiet der Weichsel. Der Gebrauch der
Leichenverbrennung stellte sich im Westen in sehr frühen Zeiten
ein, zweifellos in der Epoche der Bronze, und dauerte im Eisenzeit-
alter fort, in der Epoche der slavischen Kurgane, aber hier nur
stellenweise, in einer kleinen Anzahl von Fällen, und dabei in ver-
hältnismässig alten Gräbern (10. Jahrhundert); manchmal finden sich
ihre Spuren neben Gräbern, die Leichen (Gerippe) enthalten, wobei
hier wie dort Gegenstände gleichartigen Charakters Vorkommen.
Seit der Annahme und Verbreitung des Christentums bei den Slaven
hörte der Gebrauch, in Kurganen zu begraben, allmählich auf, und
A. Originalarbeit.
135
wurde durch Begräbnisse bei den Kirchen, auf den Kirchhöfen, ersetzt.
Deshalb werden die Kurgane der späteren Jahrhunderte (12.—16.),
die sich im südlichen Russland finden, gewöhnlich den türkischen
Nomaden zugeschrieben; es ist sehr wahrscheinlich, dass man ihnen
auch, einige älterer Kurgane (z. B. mit Überresten von Pferden) zu-
scht eiben muss.
Ausser den Kurganen finden sich Überreste der altslawischen
Kultur auf vielen Burgwällen (gorodisca), in den Schichten ver-
schiedener Abfälle u. s. w., wie auch in den Schätzen wertvoller
Sachen, die besonders in der Zeit des Tatareneinfalls (im 13. Jahr-
hundert) vergraben und z. B. in Kiew, Tschernigow, Wladimir, Alt-
Rjasan, im Kreise Kanew, in Gnjesdow u. s. w. gefunden worden
sind. Je weiter nach Norden, um so schwerer lassen sich die slavischen
Gräber von den litauischen und finnischen unterscheiden. Die älteren
finnischen Grabstätten, 5.-8. Jahrhundert (z. B. in den Gou-
vernements Rjasan, Tambow, Witebsk), unterscheiden sich durch das
Fehlen kurgauischer Aufschüttungen, d. h. sie bilden nicht Kurgane,
sondern Friedhöfe; ausserdem finden sich in ihnen einige Arten von
Schmucksachen nicht vor, und umgekehrt sind wieder verschiedene,
mehr oder wenige massive, lärmende (d. h. mit herabhängenden
Glöckchen, Schellen u. a. versehene) Anhängsel in Überfluss vor-
handen. Der hauptsächlichste Kultureinfluss kam hier zu jener Zeit
aus Osten, die Wolga aufwärts, gleichzeitig mit der Verbreitung
des östlichen Handels. In der Epoche der Sassaniden wurden
durch diesen Handel im Gebiet der Kama und Wjatka, zum Teil
auch jenseits des Urals silberne Schüsseln, Krüge u. s. w., oft mit
eharakteristischen Abbildungen von Tieren, Jagdscenen und dergl.
verbreitet; solche Erzeugnisse giebt es viele in der Kaiserlichen
Eremitage. Unter dem Einfluss dieser Beziehungen mit dem Orient
entwickelte sich im Wolgagebiet ein örtliches Handels- und Kultur-
eentrum, Bol gar у (im Gouvernement Kasan), das die Erzeugnisse
seiner Industrie in ganz Mittelrussland, sogar bis zum Baltischen
Meere verbreitete, von wo ein zweiter, der westliche, Einfluss aus-
ging. Die Kurgane, die von dem Grafen Uwarow in den Gouvernements
Wladimir und Jaroslawl ausgegraben wurden, wurden von diesem
selbst den Merjanen zugeschrieben; für finnisch gelten auch die
Kurgane in den Gouvernements Moskau, Twer, Kostroma, Petersburg.
Eie finnischen und die slavischen Kurgane von einander zu unter-
scheiden ist deshalb schwer, weil wir in ihrer Einrichtung viel
Ähnliches finden wie auch im Charakter und Stil der Gegenstände
(Schmucksachen), die sich überall in Russland aus ganz denselben
Dandelscentren verbreiteten. Ausser Boigary an der Wolga bestanden
136
A. Originalarbeit.
solche Centren im Süden, besonders in Korsun und später in Kiew.
Korsun (das alte Cliersonesos) erlangte eine besondere Wichtigkeit
in der byzantinischen Epoche, weil von hier aus der Hauptsache
nach die Verbreitung des Christentums, seiner Symbole (der Kreuze,
Heiligenbilder u. s. w.) wie auch anderer Erzeugnisse der byzan-
tinischen Industrie ausging. Die in den letzten Jahrzenten erforschten
Ruinen von Cliersonesos können mit den Ruinen von Pompei ver-
glichen werden, und obgleich sie den letzteren in der Menge der
gefundenen Gegenstände naclistehen (Pompei wurde ja bekanntlich
durch einen Aschenregen des Vesuvs in kurzer Zeit verschüttet,
Cliersonesos aber während mehrerer Jahrhunderte geplündert und
verwüstet), so übertreffen sie dieselben doch durch die Mannigfaltigkeit
der dargestellten Epochen, von der skythisch-griechischen (4 Jahr-
hunderte und mehr v. dir.) bis zu der byzantmisch-slavischen. Hier
sind gefunden worden Überreste von Wohnungen, Tempeln und einige
Etagen von Gräbern, die sich auf verschiedene Epochen, in einem
Umfang von 14—15 Jahrhunderten, beziehen.
Die künftigen Forschungen haben die Einzelheiten festzustellen,
worin die Besonderheiten der altslavischen, der finnischen und der
türkischen Kultur in den Grenzen Russlands bestehen im Zusammen-
hang mit den Einflüssen, die sie aus andern in politischer, industrieller
und künstlerischer Beziehung vorgeschrittenem Ländern erfahren
haben. Zieht man aber in Betracht, dass sich die finnische und
türkische Kultur in Russland zu einer weitern Entwickelung als
unfähig erwies und vor der russisch -slavischen Kultur, die das
Russische Reich geschaffen hat, zurücktreten musste, so kann man
vom 9. Jahrhundert au schon von einer russischen Kultur reden,
die sich allmählich von Kiew, Smolensk, Nowgorod ausbreitete und
sich dann zu dem neuen grossrussischen Centrum in Wladimir, Susdal,
Rjasan, Twer, Moskau gestaltete. Der ursprünglichen Entwickelung
dieser Kultur waren die Einflüsse förderlich, denen sie hauptsächlich
vom Osten und Byzanz her unterworfen war. Der Einfluss des
Ostens verstärkte sich besonders in der Epoche der grossen Völker-
wanderungen. Sie brachten nach Europa neue Stilarten und Ge-
bräuche, die unter anderm im Charakter der Schmucksachen, im
sogenannten Tierstiel, zum Ausdruck kamen, und den Anstoss zu
neuen architektonischen Formen u. s. w. gaben. Später wurde das
südliche Russland zum Schauplatz des Handelsaustausches und leb-
hafter Beziehungen zwischen dem Orient und dem Occident, zwischen
der griechisch-orientalischen Industrie, die ihre Erzeugnisse über
den Kaukasus und die Krim vertrieb sowie auf der Wolga nach
Boigary lieferte, und der occidentalischen, die von den Warägern
A. Originalarbeit. — B. Referate. Anthropologie.
137
und aus Mitteleuropa kam. In der Epoche der Grossfürstentümer
gab es in den Grenzen Kusslands grosse und reiche Märkte: Korsun,
Boigary, Itil, Kaffa, Kiew u. a. Die gefundenen Schätze wertvoller
Gegenstände aus dem 12. und 13. Jahrhundert weisen auf eine ver-
hältnismässig hohe Entwickelung der Kunstindustrie hin, die schon
ihre russischen Meister gehabt zu haben scheint. Die tatarische
Eroberung erschwerte die Handelsbeziehungen mit dem Osten und
mit Byzanz, aber hob sie nicht auf. Bei den kürzlichen Ausgrabungen
im Kreml zu Moskau (zur Aufstellung des Denkmals Alexanders III.)
sind Bruchstücke verschiedener Erzeugnisse des Orients aus dem
14. und 15. Jahrhundert gefunden worden, z. B. arabisch-ägyptische
Glassachen mit emailliertem und vergoldetem Ornament, persisches
Porzellan, Gefässe von Saraischem Typus u. s. w., was alles auf
die Fortdauer eines Austausches mit dem Orient hin weist.
B. Referate.
I. Anthropologie.
154. Richard Weinberg: Zur Methode der Untersuchung der
Kapazität des menschlichen Schädels. Russische Protokolle
der Naturforscher-Gesellschaft der K. Universität Jurjew,
1902. Bd. XIII, Heft 1, S. 173-191.
Verfasser hat die betreffende Methode sehr kurz beschrieben in den
deutschen Sitzungsberichten der Gelehrten-Gesellschaft zu Dorpat am 6. Marz
1896; ferner ist die Methode in Kürze mitgeteilt in einer Dorp ater Disser-
tation (J. Jürgens, Über die Schädel der Dom-Ruine in .lurjew (Dorpat)
1896). In der oben zitierten Abhandlung schildert er das Verfahren aus-
führlich in russischer Sprache. Das wesentliche besteht darin, dass der
Verfasser zur Messung des Schädelraums künstlichen Sago benutzt. Er
hndet in der Anwendung des künstlichen Sagos gegenüber dem sonst ge-
brauchten Schrot den Vorteil, dass der Sago sehr leicht ist, und daher auch
1;jei etwas zerbrechlichen Schädeln benutzt werden kann. Ferner ist zu be-
tonen, dass die Kerne des künstlich aus Kartoffel-Stärkemehl hergestellten
8agos sich durch ihre grosse Regelmässigkeit auszeichnen.
Verfasser verwirft die von v. Luschan in Moskau (1897) bei Ge-
igen heit des internationalen medizinischen Kongresses vorgeführte Methode
mittelst, einer Kautschukblase den Schädelraum zu füllen, vollständig; dabei
138
B. Referate. Anthropologie.
hebt er hervor, dass dieser von Pohl konstruierte Apparat ursprünglich er-
funden sei von einem Schüler Benedikts in Wien, dem im Jahre 1883 ver-
storbenen Dr. Pachz.
155. Junichi Kikuchi: Untersuchungen über den menschlichen
Steigbügel. Inauguraldissertation. Wiesbaden, Bergmann,
1902. S. 23.
Der menschliche Steigbügel, von welchem Yerf. 244 Exemplare der
verschiedensten Rassen untersuchte, hat keineswegs eine konstante Gestalt,
sondern variiert vielmehr in einem hohen Grade. Den grössten Längen-
durchmesser haben die Deutschen (3,39), den kleinsten die Ägypter (3,08);
den grössten Breitendurchmesser die Peruaner (2,24), den kleinsten die
Ägypter (1,98). Es giebt auch Geschlechtsunterschiede beim Steigbügel,
indem der männliche länger, der weibliche breiter ist. Die Differenz von
Kopf- und Basisseitenlänge der oberen Seite ist bei allen Rassen grösser
als die der unteren. Die Form der Basis ist zumeist hemioval und hemi-
elliptisch, ihre Länge ist beim chinesischen Steigbügel am grössten, beim
ägyptischen am kleinsten. Von den Schenkeln des Bügels waren in den
meisten Fällen (62°/0) beide gekrümmt; bei 5°/0 waren beide gerade, bei
31 °/0 vorne gerade, hinten gekrümmt, 2 °/0 im umgekehrten Sinne. Die
Höhe, die Breite und den Flächenraum des Spatium intercrurale war bei
den Deutschen am grössten. X)r. Oskar v. Hovorka- Wien.
156. Junichi Kikuchi: Das Gewicht der menschlichen Gehör-
knöchelchen. Zeitschr. f. Ohrenheilkunde, 1902. Bd. XLI,
S. 1—3
o.
Die Gehörknöchelchen, von welchen J. K. 741 Stück wog, waren
unter den Rassen aller fünf Weltteile bei den Chinesen am schwersten
(Gesamtgewicht 6,096 cgr), bei den afrikanischen Negern am leichtesten
(5,110 cgr). Er fand folgende Gewichts-Werte:
im Durchschnitt
Minimum
2,35 cgr
2,75 „
Hammer
Amboss
1,63 cgr
1 74
, * * n
Steigbügel 0,28 „
0,16
Während die Durchschnittswerte in Bezug auf die linke und rechte
Seite eines und desselben Individuums keine nennenswerten waren, fand
J. K. die Durchschnittsgewichte der Gehörknöchelchen beim Manne schwerer
als beim Weibe, nur beim Steigbügel war das Yerhältnis ein umgekehrtes.
Dr. O. v. Hovorka-Wien.
B. Referate. Anthropologie.
139
157. Junichi Kikuchi: Beiträge zur Anatomie des menschlichen
Amboss. Zeitschr. für Ohrenheilkunde, 1902. Bd. XLII,
S. 122—125.
Für den menschlichen Amboss verschiedener Rassen fand J. K. folgende
Maasse: Durchschnitt Maximum Minimum
Länge 6,5 mm 7,2 mm 5,4 mm
Breite 4,5 „ 5,8 „ 3,8 „
Dicke 2,0 „ 2,2 „ 1 ,h „
Die längsten, breitesten und dicksten Ambosse finden wir bei den
Chinesen und Russen. Seinen Untersuchungen entnehmen wir ferner, dass
die Grössenverhältnisse des Ambosses bei neugeborenen Deutschen grösser
waren als beim erwachsenen; dagegen verhalten sich die Durchschnittsge-
wichte umgekehrt. Dr. 0. v. Hovorka-Wien.
158. P. Adloff: Zur Frage nach der Entstehung der heutigen
Säugetierzahnformen. Zeitschr. f. Morphol. und Anthropol.,
1902. Bd. V, Heft 2, S. 357—382 (1 Taf., 5 Textfig-.).
Nach kritischer Erörterung der beiden Theorien über die Entstehung
der komplizierten Säugetierzahnformen kommt Yerf. zum Resultat, dass
wohl zuerst durch Verschmelzungsprozesse aus Stiftzähnen der Reptilien kom-
PGeziertere Zähne geschaffen und dann mechanische Momente dieses neue
* rpbilde ^noch weiter differenziert hätten. (Das weitere würde die Zwecke
dieses Ref. überschreiten, es soll nur auf den Menschen bezüglich folg, bei-
gefügt werden:) Dieser Differenzierungsprozess scheine weiterzugehen; so sind
hierher die Bildungen überzähliger Höcker an den unteren Molaren des
°rang (nach Selenka) zu rechnen. Aber auch der Mensch weise solche
Gebilde auf: Der Carabellische Höcker sei so als progressive Bildung zu
deuten. Er komme bei höheren Rassen häufiger vor als bei niederen (? Ref.)
üa°h Batujeff, an den zahlreichen diluvialen Zähnen des Krapina-Fundes
fehle er. Homologie mit den Nebenhöckern des Orangzahnes bestehe nicht,
hde Entstehung wird in Zusammenhang gebracht mit einer durch die all-
mähliche Kieferverkürzung entstehende Verschiebung des Angriffspunktes der
6rössten Kraft (vom M9 der Affen zu M, des Menschen) eine Verschiebung
(und Vergrösserung des betr. Zahnes), die bei niederen Rassen oft noch
mcht vorhanden sein soll. Diese Verschiebung wird nun die im Fluss be-
dudliche Höckerneubildung beeinflussen, der Höcker findet sich meist am
*^1 (heim Orang die betr. Höcker öfter am M2). — Noch häufiger ist ein
überzähliger Höcker (bis 90% ?) am *2. Milchmolar; falls auch für seine
^euese obige Erklärung stimmt, müsste dieser Erwerb früher begonnen haben
0cfer rascher verlaufen sein.
140
B. Referate. Anthropologie.
Jedenfalls sind solche progressiven Bildungen an menschlichen Back-
zähnen recht auffallend. (Das interessante Vorkommen von labial gelegenen
Höckern und Abspaltungen an Backzähnen hat wieder mehr entwicklungs-
geschichtliches Interesse — prälakteale Dentition — und wird für die Kon-
krescenztheorie ins Feld geführt.) Br. Eugen Fischer-Freiburg i. B.
159. C. G- Seligmann: A note on albinism, with especial refe-
rence to its racial charaeteristics among Meianesians and
Polynesians. The Lancet (London) 1902, Voi. CLXIII,
Nr. 4125, S. 803—805.
Zusammenstellung der eigenen und fremden Beobachtungen von Albi-
nismus unter den schwarzen Rassen Australiens und der Südsee (Neusee-
land, Neu-Guinea, Neu-Hebriden, Depeyter Island etc.). Die Hautfarbe
dieser Leute schwankt von blassrosa bis zum „Café au lait“, gelegentlich
finden sich auch dunklere Flecke über die Körperoberfläche zerstreut. Das
Haar, auch das des Bartes und der Achselhöhle, ist mehr oder weniger
flachsfarben, die Augen lichtblau, grau bis braun. Die Sehschärfe erwies
sich als normal oder annähernd normal. Photophobie war zumeist nicht
ausgeprägt, Nystagmus oder sonstige ruckweise Bewegungen der Augäpfel
wurden nicht beobachtet. Die betreffenden Individuen pflegten geistig träge
und weniger beweglich zu sein. Bemerkenswert ist das Auftreten von Albi-
nismus in bestimmten Familien oder Familiengruppen; öfters ist es auch
erblich. Verf. führt einen Stammbaum aus Yam (Torres Straits) vor, in
dem der Albinismus drei Generationen hindurch nachweisbar war. — Par-
tieller Albinismus ist unter den Schwarzen selten, während Leucoderma
auf Neu-Guinea, Torres Straits und anderen Inseln ungemein verbreitet ist.
Diagnostisch kommt für letzteres Leiden im Gegensatz zu partiellem Albi-
nismus in Betracht, dass es erst im vorgerückterem Alter auftritt, und
meist symmetrisch. Einige Abbildungen sind der Arbeit beigegeben.
Fr. Buschan-Stettin.
160. Kluge: Männliches und weibliches Denken. Halle, Marhold,
1902.
Nach Kluge ist das Weib äusserlich, unbeständig, gemütvoll, aber von
geringerer Gemütstiefe, besitzt die Sucht aufzufallen; sein Denken ist ein
„minderwertiges“. Kl. schwimmt also ganz in Möbiusschen Anschauungen,
sucht dieselbe aber in geistreicher Weise physiologisch zu begründen durch
den stärker ausgebildeten Muskelsinn des Mannes.
Wie der Uranfang alles Empfindens aus Bewegung entstand, so ist
unser gesamtes Vorstellen im Grunde an Bewegungsvorstellungen gebunden;
der Mensch denkt mit Bewegungsvorstellungen; diese sind wie die Bewegungs-
empfindungen im Gehirn centralisiert. Das Weib denkt infolge seiner Ver-
B. Referate. Anthropologie.
141
anlagung(?) vorwiegend in Situationsbildern, wobei hauptsächlich gesehene,
erlebte Vorgänge reproduziert werden. Der muskulöser angelegte Mann
denkt zwar auch in Situationsbildern, doch ist sein Muskelsinn schon in
der Anlage für das Vorstellungsleben mehr geneigt als der des Weibes; er
neigt zum Schaffen, zum Produzieren. Die intensivere Betonung des Muskel-
sinns schafft nachhaltige, geistige Vorgänge und erschwert den schnellen
Wechsel der Situationsvorstellungen. In der Schulzeit zeigt sich diese
Neigung in Situationsbildern zu denken beim Weibe in der Veranlagung
ihr Geschichte, Religion, Litteraturgeschichte, beim Knaben dagegen für
Mathematik (?). Dort sind die parallellaufenden Spraclibilder betont, hier
nicht in gleichem Maasse. Die kulturellen Erfolge der Mathematik (im
weiteren Sinne) werden vom Verf. gegenüber der geringeren kulturellen
Wichtigkeit der Sprache (?) hervorgehoben. Bei der grösseren Bedeutung,
Welche Situationsbilder für das weibliche Denken besitzen, ist es diesen
auck leichter, sich in Situationen hineinzufinden. Dadurch wird Teilnahme,
Mitgefühl geweckt, aber auch ein erleichterter Wechsel der Empfindungs-
Dualitäten erzeugt: das Weib wird gemütvoll aber nicht gemütstief. Anderer-
seits (?) entsteht auch das Verlangen nach Teilnahme und Interesse Anderer,
der Wunsch diese zu wecken und als deren Folge die Sucht, aufzufallen.
Aus dem stärker ausgebildeten Muskelsinn des Mannes leitet Verf. dessen
billigeres, beständigeres und objektives Denken gegenüber dem schneller
Wechselnden, oberflächlicheren Vorstellen des Weibes ab, ebenso die ßedacht-
Samkeit, den Ernst, den stärkeren Willen auf der einen, den Frohsinn auf
anderen Seite.
Der Gedankengang des Verf. ist nicht ohne Interesse, insofern er die
Erklärung geistiger Unterschiede in physiologischen Verhältnissen sucht.
Zweifellos einseitig aber ist es, den Generationszweck, dem das Weib dient
Wut seinen mächtigen Reflexwirkungen, ebenso die Erziehungsresultate in
1^rer geschichtlichen Entwickelung gänzlich ausser Acht zu lassen. Unglück-
licher als Möbius’ Ausdruck „physiologischer Schwachsinn“ ist die Bezeichnung
des weiblichen Denkens als „minderwertig“ mit dessen degenerative!! Bei-
geschmack. Auf die Geistesströmungen im Verfall begriffener Völker den
Ausdruck „weibliches Denken“ anzuwenden, ist falsch, weil es sich bei
Jenen um etwas Pathologisches, um Degeneration handelt, auch weil diesen
Oj „ t
tr°uiungen die Lichtseiten des weiblichen Denkens fehlen. — Die Stellung
^es Verf. gegenüber der Frauenfrage ergiebt sich aus dem Referierten.
Kellner- Untergöltzscli.
161- F. von Oefele: Prähistorische Parasitologie nach Tierbeob-
achtungen. Archives de Parasitologie, 1902. Bd. V, S. 117.
Antiparasitäre Einrichtungen existieren nicht bloss im ganzen Tier-,
ändern auch im Pflanzenreiche; indessen dürfen nur diejenigen, welche mit
142
B. Referate. Anthropologie.
Bewusstsein verbunden sind, als eine Vorstufe der menschlichen Medizin
aufgefasst werden, wie z. B. die Hygiene der Defäkation bei der Katze,
obwohl es sich vielleicht hier, wie bei den anderen Fleischfressern, eher
darum handelt, ihre Spur den Feinden oder Beutetieren zu verheimlichen.
Ein viel treffenderes Beispiel wäre das der Bienen gewesen, die es auch
im Winter vermeiden, in der Bienenbehausung deu Kot abzulegen; wenn
sie nicht anders können, so thun sie dieses doch immer an einem bestimmten
Platz, der als Abort fungiert. Hie Bienen und die Ameisen haben übrigens
eine sehr entwickelte Hygiene betreffs der Leichen ihrer Stammesgenossen
oder fremder Tiere, die zufällig in ihrer Wohnung verendet sind.
Verf. studiert vornehmlich die Abwehr der Parasiten bei den uns
näherstehenden Vertebraten. Bei den Vögeln, Affen und Haustieren sind
sie wohlbekannt. Es ist interessant zu erfahren, woher das Schwänzeln
der Katze (wohl auch des Hundes) behufs Abwehr gegen die Mücken
stammt. Es bedeutet nämlich, das Tier habe gar keine Sorgen, und beuge
nur der Möglichkeit kleiner Störungen von Seite der Parasiten automatisch
vor. Dagegen wird bei den Fehden das Unlustgefühl durch peitschende
Bewegung des Schwanzes ausgedrückt, als ob ein hartnäckiger Parasit nicht
weichen wolle. So haben wir es also mit einer ursprünglichen Abwehrbe-
wegung zu thun, welche zur Pantomime geworden ist.
Die gegenseitige antiparasitische Hülfe geschieht zwischen Tieren der-
selben Art (Affen, Papageien) oder aus ganz entferntstehenden Gruppen:
Bachstelzen oder Krähen fliegen auf den Rücken der Kühe und Schafe und
bohren die Fliegenmaden aus ihrer Haut. Aber die ärztliche Hülfe ist
noch viel zielbewusster, wenn es sich um das Verhältnis der Eltern und
ihrer hülflosen Jungen handelt. Dasselbe ist bei den Vögeln leicht zu beob-
achten. Es ist auch bemerkenswert, dass das junge Tier sozusagen eine
medizinische Lehrzeit durchmacht, sodass es nach und nach sich von seinen
Schmarotzern befreien lernt. Das Gleiche kann man beim Menschengeschlecht
beobachten, wo die Kinder manchmal wahre Invasionen von Läusen und
Flöhen dulden. Es ist einleuchtend, dass bei manchen heutigen Natur-
völkern, und natürlich auch beim Urmenschen die Antiparasitologie weit
hinter der vieler Tiere, und namentlich der Vögel zurücksteht, sodass auch
in dieser Hinsicht keine Scheidewand an der Grenze von Tier und Mensch
errichtet werden kann. In dieser, wie in jeder anderen Beziehung hat das
menschliche Treiben und Denken seine tiefsten Wurzeln im Tierreich.
Dr. L. Laloy-Bordecmx.
162. Neumann: Über die Häufigkeit des Stillens. Dtsche. medizin.
Wochenschrift 1902, Nr. 44.
N. weist gegenüber französischen Beobachtungen, nach denen der Rück-
gang der natürlichen Säuglingsernährung höchstens in 1//10 der Fälle in der
B. Referate. Anthropologie.
143
mütterlichen Unfähigkeit zum Stillen begründet ist, darauf hin, dass für
Berlin die Verhältnisse weit ungünstigere sind, wo die natürliche Ernährung
stetig zurückgeht. Während 1885 von den unterjährigen Kindern 55,1 (}j()
Muttermilch, 2,7°/0 Ammenmilch und 33,9°/0 Tiermilch erhielten, war das
Verhältnis im Jahre 1900: 31,4°/0 0,7 °/0 und 54,8Zweifellos ist für
den Rückgang der Ammenernährung die Verbreitung des Soxhletschen Appa-
rates maassgebend gewesen, aber neben der Verbesserung der Milchverhältnisse
überhaupt müssen auch die socialen Verhältnisse der Mütter berücksichtigt
Werden. Charakteristisch in dieser Beziehung ist, dass von 1407 unehelichen
Kindern nur 337 Muttermilch und 12 Ammenmilch, die übrigen aber Kuh-
milch erhielten. Aber auch die Zahlen aus den Entbindungsanstalten sind
ungünstig. Kellner- Untergöltzsch.
163. Wagner von Jauregg: Über erbliche Belastung. Wiener
klinische Wochenschrift, 1902, Nr. 44, S. 1153—1159.
Verf. giebt lesenswerte Ausführungen über die Statistik der Heredität;
er betont die unbedingte Notwendigkeit des Vergleichs mit Gesunden und
weist mit einem gewissen Rechte darauf hin, dass nur die Berücksichtigung
(Kr Erblichkeit von Seiten der Eltern, höchstens noch der Grosseltern brauch-
bare Resultate ergebe, dagegen die Seitenverwandten, die gelegentlich sehr
2ahlreich sind, gelegentlich ganz fehlen, nicht herbeigezogen werden dürften.
Kuch die Einbeziehung alles dessen, was Féré als famille névropathique
¿usammengefasst hat, ist nur geeignet, die Thatbestände zu verwirren.
Die hergebrachte Anschauung, dass die hereditäre pathologische Dis-
position etwas Einheitliches sei, ermangelt vollkommen des Beweises. Was
gemeiniglich als hereditäre Belastung bezeichnet wird, setzt sich aus zwei
' orschiedenen Faktoren zusammen. Erstens handelt es sich um die indi-
mduell erworbene Schädigung des Keimes mit konsekutiver Störung der Ent-
wicklung, infolge deren beim Descendenten eine Disposition zu einer Krankheit
oder möglicherweise eine Krankheit selbst entstehen kann. Bei diesem Vor-
^’ang ist die Erscheinung der ungleichartigen Heredität, der Transformation
^er Erkrankung ganz begreiflich; dagegen ist mit ihr nur die direkte, von
den Eltern auf die Kinder übergehende Übertragung, nicht aber die indirekte
resP* atavistische vereinbar. Bei dem anderen, hereditäre Übertragung im
eigentlichen Sinne zu nennenden Vorgänge handelt es sich um die Über-
tragung einer Disposition im Wege einer wirklichen Vererbung, einer Dis-
position, die aber nicht individuell erworben ist, sondern einen vererbten
UQd vererbbaren, der Variabilität unterworfenen Artcharakter darstellt. Bei
diesem Vorgänge wäre Transformation der Erkrankung ausgeschlossen, da-
feegen die Fortpflanzung der Erkrankung durch mehrere Generationen, sowie
^as Überspringen einer Generation ganz begreiflich.
Dr. Warda-Blankenburg i. Th.
144
B. Referate. Anthropologie.
164. L. Manouvrier: Considérations sur l’hypermégalie cérébrale
et description d’un encéphale de 1935 grs. Revue de l’École
d’Anthropol. de Paris, 1902. Aimée XII, S. 391—444.
Verf. behandelt das Gehirn des Notars Bouny, den Broca wegen
dessen ausserordentlich voluminösen Schädels bestimmt hatte, sein Gehirn
dem anthropologischen Laboratorium zu vermachen. Yerf. zeigt zuerst, dass
Mangel an Berühmtheit hohe Intelligenz nicht ausschliesst, sondern dass
Berühmtheit von zahlreichen äusseren Umständen abhängt. Bouny galt in
Verwandten- und Freundeskreisen als ausserordentlich intelligent; besonders
war sein Gedächtnis geradezu erstaunlich. Pathologischer Riesenwuchs und
Degeneration des Gehirns werden für den vorliegenden Fall zurückgewiesen.
B. war von kräftigem Körperbau und hatte eine Körperlänge von 175 cm.
Das Gehirn hatte neben dem stattlichen Gewicht von 1935 g eine reiche
Gliederung, besonders tiefe Furchen. Die sich anschliessenden sehr geist-
reichen Ausführungen des Yerf., die schliesslich in dem alten Satz gipfeln,
dass von 2 gleichgrossen Individuen derselben Rasse derjenige mit grösserem
Hirngewicht auch die grössere Intelligenz hat, werden so lange hypothetisch
bleiben müssen, bis man erstens durch Flächen- und Volumenmessung der
einzelnen Hirnteile die relative Zunahme der beiden Substanzen und be-
stimmter Provinzen, zweitens mikroskopisch die Zunahme bestimmter Ele-
mente (Zellen, Fasern, Stützsubstanz) festsetzen kann, und drittens bei Leb-
zeiten exakte psychologische Analyse des Individuums gemacht hat, um die
Übereinstimmung psychologischer und anatomischer Befunde wirklich kon-
statieren zu können. Wie schwer oder schier unmöglich diese Bedingungen
heute mit den Hülfsmitteln, welche die Gehirnphysiologie und die Psycho-
logie an der Hand geben, zu erfüllen sind, ist sich Ref. wohl bewusst, da
er selbst bei einigen diesbezüglichen Versuchen zu keinem Resultat zu
kommen vermochte. Dr. H. Laufer-Giessen.
165. E. A. Spitzka: Is the central fissure duplicated in the brain
of Carlo Giacomini, anatomist? A note on a fissurai ano-
maly. The Philadelphia Medical Journal, 1901, Aug. 24.
Entgegen den Ausführungen Sperinos (Giorn. délia R. Accad. di
Torino, 1900, p. 737—808), der an der rechten Hirnhälfte des Anatomen
Giacomini eine doppelte Centralfurche und zwischen den beiden Central-
furchen einen überzähligen Gyrus Kolandicus konstatierte, — eine Erscheinung,
die um so bemerkenswerter wäre, als G. zuerst eine derartige Gehirnano-
malie bei einem Imbecilen beschrieben hat —, zeigt Verf. klar und deutlich,
dass Sperinos zweite Centralfurche nichts anderes ist, als ein ungewöhnlich
langer Sulcus postcentralis (superior), der sich mit dem Sulcus subcentralis
(postcentr. inf.) verbunden hat. Der Gyrus Rolandicus stellt deshalb nach
B. Referate. Anthropologie.
145
Vf. den gewöhnlichen Gyrus postcentralis dar, und Sperinos Sulcus retro-
centralis superior eine Verbindung der stets vorhandenen parietalen und
transparietalen Furchen, sowie der Sulcus retrocentralis inferior die inter-
mediale Furche, welche den Gyrus angularis vom Gyrus marginalis zu trennen
fliegt. Br. H. Lauf er-Giessen.
166. Jas. G. Kiernan: Degeneracy Stigmata as basis of morbid
suspicion. A study of Byron and Sir Walter Scott. The
Alienist and Neurologist (St. Louis) 1898, Jan., Jul., Okt.,
1899 April, Okt., 1900 Juli und 1901 Jan., April, Juli, Okt.
Verf. stellt die beiden äusserlich mit dem ganz gleichen Leiden, dem
Klumpfuss, behafteten Dichter, Byron und Scott einander gegenüber. Mag
dieser Vergleich auf Grund eines äusserlichen Merkmals beim ersten Blick
ungerechtfertigt erscheinen, so muss vom anthropologischen Standpunkt aus
diese Zusammenstellung als wissenschaftlich gerühmt werden, da der Klump-
biss, sowohl der angeborene wie der erworbene (mit Ausnahme des aus Ver-
letzung oder Gelenkerkrankung entstandenen) gewisse pathologische Vorgänge
bn Centralnervensystem voraussetzt. Byron litt an doppelseitigem kon-
genitalen Pes equino-varus, der am stärksten rechts ausgebildet war und
durch schlechte Behandlung verschlimmert wurde; Scott hatte rechtsseitigen
Klumpfuss infolge akuter Kinderlähmung in frühester Jugend (Poliomyelitis
anterior): also wichtige Unterschiede! Es wird nun gezeigt, wie auch die
Erblichkeit, die Erziehung, das Milieu, die degenerativen Momente (trotz
emer gewissen äusseren Ähnlichkeit) fundamentale Verschiedenheit zwischen
beiden Dichtern hervorrufen. Die sehr gelehrte Arbeit verfährt leider voll-
kommen unsystematisch und springt von einem Punkt zum andern, sodass
aian sich nur schwer im Gedankengang zurechtfindet; hinzu kommen zahl-
reiche Abschweifungen, die Verf. sich gestattet, um Genie und Entartung
bei zahlreichen andern Grossen zu behandeln, sowie erklärungsbedürftige
psychische Erscheinungen des Völkerlebens, wie die Grahamsehe Bewegung,
Christian Science u. s. w. zu analysieren. Wegen diesen reichen Inhalt sei
auf die ziemlich ausgedehnte Abhandlung selbst verwiesen.
Dr. II. Laufer-Giessen.
167. G. Sanna-Salaris: Sulla conformazione del padiglione deir
orecchio nei Sardi normali, alienati, criminali e prostitute.
Annali di Freniatria e Scienze affini del R. Manicomio di
Torino, 1902, Vol. XII, c. 28 tabell.
V. untersuchte die Ohren von 915 Sardiniern, und zwar Normale
(3 160 und 9 56; Geisteskranke $ 207 und 9 144; Kriminelle $ 271
9 55, und 22 Prostituierte. Indem er im Anschluss an Schwalb es
Untersuchungen die verschiedenen Maasse und morphologischen Abweichungen
h'tern. Centralblatt für Anthropologie. 1903. 10
146
B. Referate. Anthropologie.
des gesamten Ohres sowie der einzelnen Teile desselben sowohl rechts als
links für die einzelnen Gruppen in ihrem Verhältnis zu einander bespricht,
kommt er zu folgenden allgemeinen Resultaten: Die Ohranomalien sind zahl-
reicher und bedeutender bei den Männern als bei den Frauen, bei den Geistes-
kranken und Kriminellen beiderlei Geschlechts, als bei den Unbescholtenen
und unter den Frauen weit mehr ausgesprochen bei den Kriminellen und
prostituierten Frauen als bei den Geisteskranken. Für die Untergruppen
der Geisteskranken zeigt sich, dass Epileptiker, Phrenastenische und Dege-
nerierte die zahlreichsten und schwerwiegendsten Anomalien zeigen, und
unter den Verbrechern die Mörder beiderlei Geschlechts. Für die Verteilung
auf die rechte oder linke Seite kann allgemein der Satz gelten, dass die
Entartungszeichen bei den Kriminellen und Geisteskranken auf derjenigen
Seite häufiger sind, die der bei den Normalen bevorzugten Seite entgegen-
gesetzt ist und zwar weichen dabei am meisten die männlichen Geistes-
kranken und die Verbrecherinnen vom Normalen ab. Wenn man trotz der
Überschätzung der Degenerationsmerkmale durch die Italiener mit dieser
ausführlichen, exakten Arbeit wohl zufrieden sein kann, so muss aber ganz
entschieden die Methode der Tabellen getadelt werden. Kann man z. B.
aus folgenden zwei Reihen der Tab. I
Uomini normali
d. s. bil
mm 51—60 31,8% 34,3 % 9,3%
„ 61 in su 68,2o/0 65,7% 15o/o
sehliessen, dass das rechte Ohr des Normalen grösser ist als das linke, wie
es Verf. will? Wenn Verf. es uns nicht sagt, wird es wohl kaum jemand
ablesen können. Kurz an Stelle der zusammenfassenden, von 5 zu 5 mm
steigenden Gruppen und der dazu gehörigen Prozentzahlen der Individuen-
gruppen hätten die Reihen der absoluten Maasse und Zahlen gehört.
De. H. Läufer-Giessen.
168. D. Schermers: Eenige anthropologische maten bij krank-
zinnigen en niet krankzinnigen onderling vergeleken-
Psycliiatr. en Neurolog. Bladen 1902, Nr. 6. Mit 9 Tabellen.
Im Anschluss an die bereits früher hier (Centralbl., VII. Jahrg., S. 91)
besprochenen Untersuchungen hat Verf. noch 50 Geisteskranke mit ver-
schiedenen Psychosen, 80 Epileptiker und 70 Idioten cephalometrisch studiert,
sodass er zusammen mit den früheren Gruppen 5 Reihen (Normale, Demente,
an verschiedenen Psychosen Leidende, Epileptiker und Idioten) zu je 100
Individuen erhielt. Aus dieser Zusammenfassung, die Verf. mit derselben
Exaktheit, die an der früheren Arbeit zu loben war, ausgeführt hat, hat
sich wieder klar gezeigt, dass die Schädelmaasse der Idioten kleinere Mittel-
werte mit grösseren mittleren Abweichungen aufweisen, als die der 4 andern
B. Referate. Anthropologie. — Ethnologie.
147
Gruppen; von den Gesichtsmaassen bleiben bei den Idioten nur diejenigen
hinter denen der andern zurück, die von den Hirnschädelmaassen abhängig
sind, wie der Ohr-Metopion-Abstand und die linea binauricularis. Mit Recht
betont Yerf. zum Schluss, dass die Kopfmessung, ausser in extremen Fällen,
keinen sicheren Schluss auf die Intelligenz eines Individuums gestattet, dass
dieser Schluss vielmehr psychiatrischer Untersuchung Vorbehalten werden muss.
Dr. H. Lauf er-Giessen.
91. ethnologie.
A. Allgemeines.
169. W. H. Holmes and 0. T. Masoiu Instructions to collectors
of historical and anthropological specimens. Smithsoman
Institution 1902.
Die vorliegende Anweisung weist als Yorzug besonders die Kürze und
leichte Verständlichkeit auf. Eine Einleitung von knapp 2 Seiten orientiert
den Laien über die Begriffe Anthropologie, Somatologie, Ethnologie, setzt
den Zweck und die für den Sammler wichtigen allgemeinen Gesichtspunkte
auseinander. Die klar abgesetzten Unterabteilungen enthalten an Stelle der
üblichen „Fragebogen“, die den Sammler leicht verwirren oder durch ihre
Zahl abschrecken, etwa folgende Anweisung: IV. Ästhetische Kultur: 2. Musik.
'— Das Museum besitzt bereits eine der besten Sammlungen von Musik-
lQstrumenten. Sammeln Sie Instrumente und Partituren, Photographien oder
Zeichnungen von Spielenden. Fügen Sie Name des Stammes und des Instru-
mentes bei. — VI, 4 lautet: Religionen, Verehrung. — Das Gebahren der
Gesellschaft in Gegenwart der Götter. Es giebt viele eng mit der Religion
verknüpfte soziale Pflichten — Beschneidung, Namengebung — welche zu
dieser Gruppe gehören.
Die Form der ursprünglich nur für die neuen amerikanischen Kolonien
beabsichtigten Anweisung ist weitester Verbreitung wert.
G. Thilenius-Breslau.
170. H. Fühner: Lithotherapie. Historische Studien über die
medizinische Verwendung der Edelsteine. Berlin, T. Calvary
& Co., 1902. S. 150.
Die Behandlung mit Edelsteinen, bei welcher es sich natürlich stets
nur um eine Suggestievtherapie handeln kann, war bereits den ältesten
Völkern, den Indern, Chinesen, Ägyptern, Babyloniern bekannt. Obwohl
die Lithotherapie selbst im XIX. Jahrhundert noch nicht ganz ausgestorben
lsL hat es bereits im XIII. Jahrhundert Spottgedichte gegeben, in welchen
sich deutsche Dichter über die Leichtgläubigkeit der Verfechter der Litho-
fberapie lustig machten. Es war vorzugsweise wohl der Glanz und Schimmer
10*
der Edelsteine, wodurch überhaupt Wirkungen hervorgebracht wurden. Im
speziellen Teile werden die wichtigsten Edelsteine alphabetisch angeführt und
besprochen. Dr. Oskar v. Hovorka-Wien.
171. M. A. Palem: Der Stand der Frage über Zahnkaries. (Russ.)
Zahnärztlicher Anzeiger, 1901.
Es handelt sich im wesentlichen um eine Statistik der Kariesver-
breitung nach Geschlecht, Nationalität, socialer Stufe, anthropologischem
Typus. Die Unterschiede, die an den aufgeführten Zahlen hervortreten, sind
nicht sehr gross; die grössten Differenzen sind offenbar durch die Rasse be-
dingt, denn Yf. giebt an, dass kariöse Zähne bei 57°/0 Russen, dagegen
nur bei 310/ Juden zur Beobachtung kamen. Ein hübsches Material —
rund 10000 Individuen beiderlei Geschlechts betreffend — lag zur Unter-
suchung vor. Dr. Richard Weinberg-Dorpat.
172. Newell K. Wardle: Evanescent congenital pigmentation in
the sacro-iumbar région. American Anthropologist. N. S.
1902. Vol. IY. S. 412 ff.
Wardle giebt zunächst einen Überblick über die Litteratur dieses
Gegenstandes und stellt dann eine eigene Hypothese über die Bedeutung
dieser sakralen Pigmentierung bei dunkler gefärbten Massen auf. Er fragt:
„Können nicht diese angeborenen, später verschwindenden Flecken gedeutet
werden als die Kerne (nuclei) einer allgemeineren Pigmentierung, als die
Gegend, in der die erste Ablagerung des den dunkleren Rassen eigenen
Hautpigments stattiindet, und lässt sich ihr scheinbares Verschwinden nicht
erklären durch das Dunklerwerden der ganzen Hautoberfläche,“ in dem dann
die lokale Pigmentierung nicht mehr zu erkennen ist?
Prof. Emil Schmidt-Jena.
173. Paul Wilutzky: Vorgeschichte des Rechts (Prähistorisches
Recht). I. Teil: Mann und Weib (Die Eheverfassungen).
Breslau, Eduard Trewendt, 1903. 252 S. Preis geh. 6 Mk.
Über die Entwicklungsgeschichte der Familie herrschen gegenwärtig
bekanntlich drei verschiedene Anschauungen. Die eine, die älteste, verficht
das bekannte Schema: Hetärismus — Gruppenehe; Endogamie — Exogamie;
Raubehe — Kaufehe; Mutterrecht — Vaterrecht. Eine zweite Theorie hält
die Einehe für ursprünglich und erklärt alle von der ersten Theorie als
Beweismittel geltend gemachten Thatsachen sexueller Lockerheit für erst
später eingerissne Verfallserscheinungen von nur episodischer Bedeutung.
Eine dritte Auffassung, die zwischen der ersten und zweiten vermittelt, der
zweiten jedoch näher als der ersten steht, hat jüngst Schurtz in seiner
„Urgeschichte der Kultur“ und besonders in seinem Buch über „Altersklassen
ß. Referate. Ethnologie.
149
und Männerbünde“ geltend gemacht; sie geht vor allem aus von dem Gegen-
satz zwischen sexueller Reinheit in der Ehe und sexueller Lockerheit vor ihr.
Das vorliegende Buch steht auf dem Standpunkt der erstgenannten,
heute bekanntlich stark erschütterten Anschauung. Neue Beweismittel bringt
es nicht vor und mit den entgegengesetzten Theorien setzt es sich über-
haupt nicht auseinander, sondern lässt sie stillschweigend auf sich beruhen.
Schon ein Blick auf die beigegebene Liste der benutzten Quellen, die im
ganzen 25 Bücher und Zeitschriften aufzählt, zeigt, dass man an das Buch
nicht mit den Erwartungen des modernen Ethnologen herantreten darf. Ein
Mann der juristischen Praxis hat sich in ihm mit der Frage nach der Ent-
stehung des Rechtes in einer Weise auseinandergesetzt, die in Form und
Inhalt an eine ältere, mehr konstruktive und mehr ethisierende Art, diese
Dinge zu behandeln, gemahnt, die aber jedenfalls ein erfreuliches Zeichen
dafür ist, dass auch die Juristen diesen Fragen immer mehr Interesse ent-
gegenbringen. Möchte das Buch namentlich im Kreise der Fachgenossen
des Verfassers in diesem Sinne anregend und vorbildlich wirken!
A. Vierkanclt-Berlin.
174. A. Vierkandt: Die Selbsterhaltung der religiösen Systeme.
Vierteljahressclirift für wissenschaftliche Philosophie und
Sociologie. 1902. Bd. XXVI, S. 205—220.
Die Zähigkeit, mit der sich die religiösen Systeme ungeachtet aller
etwaigen Absurdität behaupten, führt Verf., von ihrem etwaigen innern
Mert und moralischen Gehalt absehend, vorzüglich auf die folgenden Um-
stände zurück: 1. Der Betrug spielt zwar nicht in dem ansschliessenden
‘binne des älteren Rationalismus, wohl aber in inniger Verschlingung mit
der Gläubigkeit eine grosse Rolle. 2. Falsche Statistik. Erfüllte Weis-
>agi mgen. gelungene Wunderkuren, erhörte Gebete u. s. w. werden viel treuer
ioin Gedächtnis aufbewahrt als Fälle entgegengesetzter Art. 3. Das Urteil
^ 1 r d dem Erfolge an gepasst, indem als höhere Gottheiten nur solche,
die Proben ihrer Macht bestanden haben, anerkannt werden. 4. Unkon-
D’olierbare Behauptungen und unerfüllbare Forderungen werden aufge-
stellt. An Ausreden beim Misslingen fehlt es dem Priester nie, ebenso
'"’enig an immer neuen, schwer oder gar nicht zu erfüllenden Forderungen
f)eim Versagen z. B. des Regenzaubers. 5. Die suggestiven Wirkungen
Wm Verzaubern und Krankenheilen, beim Voraussagen künftiger Ereignisse
(Eriolg oder Misserfolg) und beim Verheissen des inneren Friedens liegen auf
d(n Hand. 6. Wirkungen der Furcht. Die Furcht vor der Allwissen-
leit der Götter und vor ihrer Strafe führt oft zum Geständnis. 7. Folter
UQd Gottesurteile. Beide erbringen anscheinende Wahrheitsbeweise, wenn
dD Folter zum Geständnis, das Gottesurteil aber zur Bestrafung führt, die
Nachträglich als Beweis der Schuld erscheint. 8. Ekstasen und Visionen
150
B. Referate. Ethnologie.
führen den Inhalt des Glaubens in vermeintlich objektiver Gestalt dem
Gläubigen vor Augen. Selbstbericht
175. Richard M. Meyer: Die Wette. Archiv für Kulturgeschichte.
1903. I, S. 1—17.
Da die gegenwärtige Völkerkunde sich mit den Spielen der Völker
so viel beschäftigt, so wird als eine Art Parallele dazu die vorliegende
Untersuchung über Wesen und Ursprung der Wette für sie sich einiger
Beachtung empfehlen. Die Wette unterscheidet der Verfasser von anderen
Arten des Kampfes durch die folgenden Merkmale: 1. Die Beteiligten dürfen
sich in keiner Weise um Herbeiführung des Sieges bemühen. 2. Sie ist
im allgemeinen ein Wettkampf mit gleichen Einsätzen. 3. Ihr Ausgang
wird von einer höheren Instanz bestimmt. 4. Sie ist ein Messen geistiger
Kräfte. 5. Sie ist ein Kampf auf gegenseitige Verabredung. Die Wurzeln
der Wette liegen zunächst in der allgemeinen Neigung primitiver Menschen
zum spielenden Kampf. Das Besondere der Wette erblickt der Verfasser
aber darin, dass dabei „Zwei gewissermaassen ihre Geister zum Kampf mit
einander herausfordern“, ln einer nahen Beziehung steht die Wette dabei
zum Prozess, der ursprünglich nur eine geregelte Wette ist. In einer Zeit,
in der das Bitten und Schenken wenig verbreitet war, war die Wette neben
dem Kriege das wichtigste Mittel zur Bereicherung. J. Vierkandt-Berlin.
176. Leo Frobenius: Die reifere Menschheit Bilder des Lebens,
Treibens und Denkens der Halbkulturvölker. Hannover,
Verlag von Gebrüder Jänecke, 1902.
Im Vorwort kündigt sich dieses Buch als Fortsetzung des früher an
dieser Stelle besprochenen Buches „Aus den Flegeljahren der Menschheit“
an; wie jenes die Naturvölker, so wolle das vorliegende die Halbkultur-
völker kennzeichnen. Den Erwartungen, die der Leser daraufhin wie auch
auf den Titel hin fassen könnte, entspricht das Buch jedoch nicht ganz.
Nur eine einzige Seite aus dem Leben der in Betracht kommenden Völker
wird geschildert, und auch diese nur in Form einzelner Skizzen, die sich
überdies zum Teil wiederum mit den Naturvölkern beschäftigen. Das Buch
macht so den Eindruck einer kleinen Reihe unter sich innerlich verbundener
Essais — womit wir über seinen Wert freilich durchaus nichts Nachteiliges
äussern wollen. Könnte man ja doch fragen, ob nicht bei dem heutigen
Stande der Völkerkunde zumal für populäre Zwecke diese Form besondere
Vorzüge hat.
Das Buch handelt vom Verhältnis des Menschen zur Tierwelt.
Zunächst führt es an einer Reihe von Beispielen drei verschiedene Typen
und Stufen von Tierlabeln vor: die Naturfabel, welche in naiver Teilnahme
gute und böse Züge der noch als wesensverwandt empfundenen Tiere dar-
B. Referate. Ethnologie.
15.1
stellt, clie moralisierende Kulturfabel und endlich einen Typus, bei dem die
tierischen Gestalten sich immer mehr in menschliche verwandeln. — Ein
weitres Kapitel schildert gewisse Feste, die manche Stämme nach der Er-
beutung ihrer Jagdtiere oder zu andrer Zeit offenbar zu deren nachträglichen
Versöhnung veranstalten und charakterisiert dabei hübsch die eigenartige
Intimität, die sich bei solchen Gelegenheiten zwischen Tier und Mensch
offenbart. Die folgenden Kapitel behandeln Jagdmethoden, Tierkämpfe und
Haustierzucht.
Der innere Zusammenhang ist nicht ganz leicht zu erfassen. Ver-
stehen wir den Verfasser recht, so können wir als das Leitmotiv des Buches
etwa den Satz hinstellen: aus einem Zustande wesentlicher Verwandtschaft
mit dem Tiere hat sich der Mensch allmählich herausgearbeitet, wobei ihm
das Tier teils als Feind, teils als Gehilfe die grössten Dienste geleistet hat.
Aus jener primitiven Zeit aber haben sich mancherlei Überreste und Er-
innerungen auf höherer Stufe erhalten sowohl in Gestalt der Freude an
der Tierfabel wie der Lust am Kampf mit den Tieren wie endlich der
Freundschaft mit ihnen.
Die Behandlung des Stoffes zeugt in ihrer Klarheit und Anschaulichkeit
von grossem didaktischen Geschick, in ihrer psychologischen Feinfühligkeit
von einem liebevollen Einfühlen und in der ganzen Art des Überblickes von
einer im besten Sinne historischen Auffassung. A. Vierkandt-Brrlin.
B. Npecielles.
177. Louis Bolk: Kraniologische Untersuchungen holländischer
Schädel. Zugleich ein Beitrag zur Kenntnis der Beziehung
zwischen Form und Kapazität des Schädels. Zeitschrift für
Morphologie und Anthropologie, 1902. Bd. V, S. 135—180.
Mit 11 Textfiguren.
Seite 8 des Jahrgangs 1902 dieses Centralblattes wurde unter Nr. 4
über einen Aufsatz des Amsterdamer Anatomen berichtet, worin ans einem
Satz von 229 holländischen Schädeln der Nachweis zu führen versucht
'v'trde, dass die mesocephalen durchschnittlich den grössten Rauminhalt haben,
1369 ccm gegen 1364 ccm der dolichocephalen und 1370 ccm der brachy-
Cephalen. Bolk hat mittlerweile das Material etwas vermehrt und seine
Untersuchungen erweitert und vertieft. Er verwendete nunmehr 302 Schädel,
deren Länge und Breite gemessen werden konnten, und von denen 298
mich die Messung der Bregmahöhe und 255 die Ermittelung des Inhalts
(mittels Wasser) gestatteten. Die Ergebnisse gewähren mehrfach ganz neue
Gesichtspunkte.
Was zunächst die Schädel formen der holländischen Bevölkerung
betrifft, so ergaben sich 15,7% Dolichocephale, 52,7 <% Mesocephale und
I
31,7 °/0 Brachycéphale. Verglichen mit den Zahlen der Reihengräberschädel',
23,3°/o Dol., 45,9°/0 Mes. und 30,8°/0 Brachyc., lassen die holl. Schädel
eine nahe Verwandtschaft mit den germanischen erkennen. Die Mesoc. haben
auf Kosten der Dolich. etwas zugenommen, aber die Zahl der Brachyc. hat
sich nicht erhöht; wobei allerdings zu bedenken, dass die Reihengräber-
schädel auch schon nicht mehr alle rasserein sind. Bei den holländischen
Schädeln ist der Prozess der Vermischung noch etwas weiter fortgeschritten.
Die Veränderung, die Bolk nachweist, spiegelt sich auch in der Indexcurve,
die bei 76—78 gipfelt, aber auf der brachycepb. Seite länger und voller
ist als auf der dolichocephalen. Auf die erstere Seite fallen 119 Schädel,
auf die letztere nur 77. (Ähnlich verhält sich die Kurve der Reihengräber-
schädel.) Verf. deutet das von ihm gefundene Ergebnis dahin, dass unter
seinen holländischen Schädeln 2 verschiedene Formen vertreten sind. Man
kann dies dahin erweitern, dass die ursprünglichen Bestandteile ungefähr
die nämlichen sind wie z. B. in Deutschland, dass aber der germanische
Bestandteil verhältnismässig stärker vertreten ist als der brachycéphale.
Erinnern wir uns, dass nach J. Ranke die altbayerische Landbevölkerung
nur 1 o/0 Dolichocéphale, nur 16°/0 Mesocephale, dagegen 83° 0 Brachv-
cephale aufweist, so springt der Unterschied in die Augen.
Neu sind Bolks Untersuchungen über die Beziehungen des Schädel-
index und der absoluten Längen- und Breitenmaasse. In meiner
Anthropologie der Badener habe ich zwar auch schon die Durchschnitts-
maasse der Längen und Breiten in den Indexklassen angegeben, aber Bolk
geht hierin weiter, und zwar mit dem Erfolg, dass manches viel deutlicher
wird. Beispielsweise fand er die niederste Länge eines dolichocephalen
Schädels gleich 175 mm; bei geringerer Länge kommt kein dol. Index mehr
heraus. Bei einer Länge von weniger als 170 mm ergeben sich nur noch
brachycéphale Indices. Die grösste Breite, bei der ein Schädel noch dol.
sein konnte, liegt bei 148 mm, die grösste Breite für Mesocephalie bei
157 mm, darüber gab es nur noch brachycéphale Schädel. Die niedrigste
Breite eines mesocephalen Schädels war 130 mm; darunter kamen nur noch
dolichocéphale Indices zu Stande. Die betr. Thatsachen sind sehr anschaulich
im Bilde dargestellt.
In ähnlicher Weise behandelt Bolk auch die Längen-Höhenindices
und macht dazu treffende Bemerkungen, die an Ort und Stelle nachzulesen
sind, da in einem Referat nur das Wichtigste mitgeteilt werden kann. Der
Höhenindex ist nach Ansicht des Ref. der schwächste Punkt in der Kranio-
logie, weil die Schädellänge als Divisor einen sehr grossen Einfluss auf den
Quotienten hat. Ein Schädel von bestimmter Höhe kann hypsieephal sein,
wenn er kurz, aber chamäcephal, wenn er lang ist. Benutzt man den Höhen-
Bre itenindex, so entgeht man diesen Schwierigkeiten nicht ganz, sie stellen
sich nur in umgekehrtem Sinne ein, doch immerhin weniger ausgeprägt.
В. Referate. Etimologie.
153
Eigentlich müsste man die Schädel höhe nicht mit der Länge allein und auch
nicht mit der Breite allein, sondern vielleicht mit der Summe von Länge und
Breite in Beziehung bringen. Mancher Irrtum ist schon aus der Verwendung
des Längen-Höhenindex entstanden und man glaubte oft ethnologische Unter-
schiede zu erkennen, wo bloss rechnerische Eigentümlichkeiten Vorlagen, die
man auf dem Wege einer anderen Darstellung hätte beseitigen können.
Was den Rauminhalt der Schädel und seine Beziehung zum Längen-
Breitenindex trifft, so wird das Ergebnis der früheren Untersuchung durch
die jetzige etwas modifiziert. Die mesocephalen Schädel haben nicht mehr
den grössten Inhalt, sondern sie werden darin von den Brachycephalen um
ein Kleines übertroffen. Die Ziffern sind dol. 1350 ccm, mesoc. 1388 ccm,
krachyc. 1390 ccm. Die Reihe der nach dem Längen-Breitenindex ge-
ordneten Rauminhalte zeigt aber die Merkwürdigkeit, dass 2 ausgesprochene
relative Maxima vorhanden sind, eines bei Index 77 mit 1440 ccm, das
andere bei Ind. 82 mit 1459 ccm, bei einem Schwanken der Einzelmaasse
der 255 Schädel von 1025—1796 ccm und einem Gesamtdurchschnitt von
1382,1 ccm. Man könnte in den Anschwellungen bei Index 77 und 82
eine Beziehung zu den beiden Rassenkomponenten finden, der Yerf.
drückt sich aber in dieser Abhandlung weniger bestimmt aus als in seiner
ersten. Die Thatsache, dass unter den holländischen Schädeln der Amster-
damer Anatomie sich gerade bei Index 77 und bei Index 82 besonders
grosse finden, geht auch aus der Betrachtung der Längen- und Breiten-
maasse (S. 148) hervor. Dabei ist aber kritisch zu berücksichtigen, dass
der ’Yerf. Männer- und Frauenschädel durcheinander verwendet, und
dass dabei nicht auf jeden Längen-Breitenindex das gleiche Prozentverhältnis
zwischen den Zahlen der Schädel beider Geschlechter zu erwarten ist, wie
<‘s doch sein müsste, um unanfechtbare Ergebnisse abzuleiten. Es ist möglich,
dass zufällig gerade auf die Indices 7 7 und 82 verhältnismässig mehr
Männerschädel fallen, und dann würde sich das grössere absolute Maass
and der grössere Rauminhalt auf einfache Art erklären. Der Verl, spricht
Slch darüber nicht aus. Ferner ist zu bedenken, dass die Schädel der
Anatomien meist von Individuen der unteren socialen Klassen, selten von
hervorragenden Persönlichkeiten herrühren; den letzteren Umstand hat Bolk
selbst in seinem Vortrag über die Rechtshändigkeit beklagt. Die unter-
suchte Schädelreihe ist daher ganz anders zusammengesetzt als die holländische
Bevölkerung. Eine Schädelreihe, die prozentual genau so zusammengesetzt
lsE wie die wirkliche Bevölkerung, wird kaum aufzutreiben sein, schon weil
man die Thatsache gar nicht nachzuprüfen im Stande wäre. Aber man
Ginnte die Schwierigkeit umgehen, indem man Schädel aus den verschiedenen
s°cialen Schichten für sich untersucht. Man würde dabei auf sehr deutliche
Brgebn
isse stossen, aber vor allem gilt es, das nötige Material aus den ge-
il und sonstigen bevorzugten Ständen zu beschaffen.
154
B. Referate. Ethnologie.
Die Untersuchung des Rauminhaltes in Yergleichung mit dem
Längen-Höhenindex lieferte bei Bolk keine deutlichen Ergebnisse, und
seine Erklärung (S. 176 ff.) klingt durchaus annehmbar. Der Wert der
Bolkschen Arbeit liegt nicht sowohl in den Ergebnissen, die sie enthält, als
in den mannigfachen Anregungen, die sie giebt, und in der Berichtigung
mancher Irrtümer über anthropologische Grundbegriffe. In dieser Hinsicht
bleibt noch manches zu thun übrig. Otto Ammon-Karlsruhe.
178. A. Waldenburg: Das isocephale blonde Rassenelement unter
Halligfriesen und jüdischen Taubstummen. Berlin, S. Calvary
& Co., 1902. 46 S. — Mk. 2.
Verf. hat drei Gruppen von Juden cepbalometrisch und genealogisch
untersucht: I. sämtliche 41 Taubstumme der Anstalt Weissensee, aus ganz
Deutschland dort vereinigt (IT) und von 17 von diesen die 52 vollsinnigen
Anverwandten (IA). II. 34 J. aus einem kleinen isolierten Inzuchtherd
Norddeutschlands, die wenig Taubstumme, indes viele Nervenkranke auf-
weisen. III. 24 aus körperlich und intellektuell hochbegabten Berliner
Eamilien, vollkommen frei von Taubheit und Taubstummheit. Er findet
Dolichocephalie, die in Gruppe II mit 14,7 %, in III mit 12,5 °/0 auftritt,
unter IA 3,8 %, unter IT 2,4%. Die Mesocephalen halten sich einiger-
maassen in IA, II und III die Wage (23,1—29,4°/0), während IT nur 14,3°/0
Mesocephalen aufweist. Die einfache Brachycephalie (82—86,9 Index) zeigt
in allen 4 Gruppen annähernd gleiche Werte (42,3—50,0 °/0). Aber nun
beginnt die wichtige Abweichung: Hyperbrachycephalie (87—91,9) bei TI
und III in 8,8°/0 bezw. 8,3°/0 gegen 28,9°/0 bei IA und 28,6°/0 bei IT;
Isocephalie (92 —100) bei II und III 0 °/0; bei IA in 1,9 °/0 und IT in
9,5%. Diese Zahlen besagen, dass die extremen Grade der Brachycephalie
ein Vorrecht der taubstummen Juden und deren Verwandten sind. Diese
isocephalen Taubstummen waren sämtlich blond. Um die Bedeutung dieser
Eigenschaften zu messen, suchte Verf. zum Vergleich mit der jüdischen
eine andere Rasse, er dachte dieselbe in der bisher als reingermanisch
geltenden Rasse Nordfrieslands zu finden, und zwar auf den Halliginseln,
Osterland-Föhr, Westerland-Föhr und Amrum. Aber er fand dort, ähnlich
wie Virchow in Ostfriesland, nicht den blonden dolichocephalen Germanen-
typus; im Gegenteil, auf den Halligen fand er denselben garnicht, auf Föhr
nur 3% Langschädel und überdies mit braunem Haar. Für die Halligen
ergaben sich folgende Prozentsätze: Dolichoceph. 0%; Mesoceph. 12,33%;
Brachyceph. 45,20%; Hyperbrachyceph. 35,62%; Isoceph. 6,85%; dabei
zeigte sich in jeder Halligfamilie mindestens einer der extrem Brachycephalen.
In Nieblum auf Föhr waren unter 70 Kindern Dolichoceph. 3,0%; Meso-
ceph. 23,9%; Brachyceph. 32,8%; Hyperbrachyceph. 26,9%; Isoceph.
13,4%. Diese nordfriesische Bevölkerung zeigte sich nun auf Grund der
B. Referate. Ethnologie.
155
Stammbäume durch Alkohol und Syphilis vollkommen degeneriert, und zu-
dem mit einem so hohen Prozentsatz Geisteskranker, wie noch nirgends
konstatiert. Aus dem zahlreichen Vorkommen der Isocephalie bei den
degenerierten Nordfriesen einerseits und den taubstummen Juden anderer-
seits schliesst Verf., dass dieselbe ein Zeichen der Belastung sein muss.
Er fasst seine Leitsätze dahin: Unter den Halligfriesen sind die germanischen
Langschädel, falls sie je vorhanden waren, völlig ausgestorben. Die Iso-
cephalie ist unter jüdischen Taubstummen häufiger, als unter ihren voll-
sinnigen Verwandten, unter diesen häufiger als unter belasteten Juden, aber
weit seltner als unter den Halligfriesen und noch seltner im Verhältnis zu
den Kindern in Nieblum. Und als Kapitalsatz: in Gestalt der Taubstummen
scheidet die jüdische Rasse gewisse Elemente aus ihrem Blute aus, die
ihrem Rassenorganismus von Natur nicht angehören. Wir müssen uns vor
der Hand eine Kritik dieser Schlüsse versagen, da Verf. nur eine vorläufige
Zusammenstellung seiner Resultate giebt; die Materialsammlungen selbst
will er erst in grösseren Arbeiten ausführlich behandeln. Sehr verdienstvoll
ist der beigegebene Halligstammbaum, und es berechtigt die in Aussicht
gestellte Veröffentlichung der übrigen Stammtafeln zu grossen wissenschaftlichen
Hoffnungen. Nur eins muss noch gesagt werden, dass die Arbeit wesentlich
mehr für sich eingenommen hätte, wenn einzelne neue, recht hypothetische
Sätze etwas weniger apodiktisch und mit etwas weniger Fanatismus ausge-
sprochen worden wären. So stehen z. B. einer wissenschaftlichen Arbeit
Sätze wie die folgenden, wenig an: „Wer zu einem selbst anscheinend
intakten Geschöpfe aus belasteter Familie sich hingezogen fühlt, der ist,
erkläre ich hiermit, bereits selber psychopathisch veranlagt“. „Alkoholfreie
lmd sittenreine Stämme spotten jeder Degeneration,“ und so noch mehr;
(Ee Sammlung liesse sich leicht vermehren. Br. II. Lauf er-Giessen.
179. Johannes Jungfer: Über Personennamen in den Ortsnamen
Spaniens und Portugals. Wissensch. Beilage z. Jahresber.
des Friedrichs-Gymnasiums. Berlin 1902.
Es war eine dankbare Aufgabe, in Spanien, wo sich Iberer, Kelten,
Eunier, Römer, Germanen, Mauren abgelöst und Spuren ihrer Herrschaft in
den Ortsnamen zurückgelassen haben, Beziehungen dieser zu den Eigen- und
Volksnamen nachzuweisen, und im Ganzen hat auch der Verfasser diese
Dicht leichte Aufgabe glücklich durchgeführt. Dass ihm Irrtümer mit unter-
laufen sind, darf uns auf einem Gebiete, wo noch so vieles streitig ist, nicht
wunder nehmen. Eine schärfere Scheidung der Iberer von den nach Rasse
und Sprache verschiedenen Kelten wäre wünschenswert gewesen; so ist bei-
spielsweise der Göttername Tullonius und Tullonium, eine Stadt der Varduler,
sicher keltisch, ebenso Astures, Artabri, Cantabri, Callaeci (vom Stamm Cal
vvie Caledus, Caledonia, Caletes, Ancalites). Der Name Wasken (span, b
156
B. Referate. Ethnologie.
wird wie w gesprochen), den die Nachkommen der Iberer führen, darf trotz-
dem nicht aus dem iberischen erklärt werden, sondern ist zweifellos nordischen
Ursprungs (waske bedeutet nach Saxo „athleta“ und ist auch ein altdeutscher
Schwertname) und von den keltischen Eroberern, die sich mit den Urein-
wohnern vermischten, mitgebracht worden. Ausser briga und dunum kommen
auch noch manche andere keltische Endungen von Ortsnamen in Spanien
vor, z. B. uba, durum, bura, briva u. a. (Salduba, Octodurum, Aebura,
Brutobria). Von den aus römischer Zeit stammenden Namen möchte ich
Son Gil, Son Blas oder Blay nicht von einem altkatalonischen son (ipsum),
sondern wie französisch Saint Gilles, Saint Blaise, von sanctus ableiten
(Sanctus Aegidius, Sanctus Blasius). Sehr zahlreich sind selbstverständlich
die germanischen, besonders gotischen Namen. Auch hier sind einige Aus-
stellungen zu machen: Alfonso, Alonso entspricht einem gotischen Athalafuns
(Edelfeurig), Alvaro dem gotischen Alavair (Ausgezeichneter Mann, wie das
schwäbische Alaman), Gonzalo dem gotischen Gundisal (nicht mit lateinisch
salvus zusammengesetzt), Hermenendus und Irmengild sind verschiedene
Namen (Hermeninanths und Hermenigilths). Die Endung ez ist die gotische
Verkleinerungsendung iza (wie in Witiza), nicht ein spätlateinischer Genitiv,
Ruy Diaz z. B. ist Rodericus (got. Rudoreiks) Didaci (aus Thiudiza, Kose-
form von Thiudareiks), Roderich Sohn des Diaz oder Dietrich. Ein alter
Irrtum ist die Ableitung des Landschaftsnamens Catalonia von Gotalania
(Goten und Alanen haben nicht zusammen in Spanien geherrscht); Catalonia
ist wie Catalauni keltisch. Ladung B User-Heidelberg.
180. Feder. Aragon: Breve estudio antropologico acerca del puefolo
Maragato. Anales de la Soc. espan. de liist. nat. 1902.
Ser. II, 7. Cuad. 3.—. 20 Seiten mit 12 Männer-, 12 Frauen-
Abbildungen und 2 Tafeln mit Vorder- und Seitenansichten
in Phototypie.
Die Maragateria ist ein zwischen Astorga und der leonesischen Manzanal-
kette gelegenes Hügelland mit über 390 qkm Flächenraum und 12 000 Ein-
wohnern, die ehemals hauptsächlich Maultiertreiber waren, jetzt als Händler
in Madrid, Galizien und Amerika ihren Unterhalt verdienen, indessen zur
Erntezeit, oder wenn sie freien wollen, auch wenn sie sich ein genügendes
Vermögen erworben haben, in die Heimat zurückkehren. Das Klima ist
kalt und trocken. Die Bezeichnung Maragato soll nach R. Barcia die Be-
wohner der „Mark“ bedeuten, nach des Verfassers Ansicht „Menschen des
Mahgreb“ oder was wahrscheinlicher ihm scheint, „mas-bracata,“ d. i. „Männer
mit Beinkleidern“. Und in der That tragen die Maragatonen weite, falten-
reiche Beinkleider oder Kniehosen, wie dies die Tracht der Bretonen ist.
\ erf. hat 80 Männer im Alter von 22 — 66 Jahren gemessen. Körper-
grösse 1650 (Min. 1520, Max. 1830) mm, Kopflänge 190, Kopfbreite
B. Referate. Ethnologie.
157
147 mm, Index 77; Stirnbreite 105, Augenbreite 32, Interorbitalbreite 34
(Max. 57), Länge 53,8, Nasenbreite 37,5, Nasalindex 70 (Max. 92,8),
Mundbreite 58, Ophryo-Alveolar-Länge 93, Jochbogenbreite 137,6 (Min. 120,
Max. 151), Unterkieferbreite 105 (Min. 92, Max. 127), Jochbogenbreite 123
(Min. 104, Max. 147) mm. Die Nase ist aufgestülpt in 36, gerade in 21,
gebogen in 15 Fällen. Die Nasenwurzel ist tief eingedrückt, die Nase
selbst breit, fleischig, zumeist aufgestülpt, die Nasenflügel kurz, die Wangen-
beine breit, der Nasen-Mund-Abstand gross, die Lippen dick, die untere
etwas aufgeworfen und hervortretend, das Kinn kurz, nicht vorspringend,
der Hals kurz und etwas gedrungen, die Schultern breit, der Rücken glatt,
die Arme lang, die Hände dick und mittelgross, desgleichen die Füsse. Die
Gesichtszüge sind grob geschnitten, der Ausdruck ernst. -— Was die Haut-
farbe anbetrifft, so ist der Maragatone noch viel dunkler, als die übrige
leonesische Bevölkerung; die Backen sind rotbraun, das Kopfhaar glatt, voll,
dunkelkastanienbraun (nach Brocas Farbenskala Nr. 27, 34, 35, 41, 48, 49
bei 35 Männern, Nr. 49—50, 50, 42, 36, 18 und Nr. 54 bei 1 Mann).
Die Augen waren braun in 40, grün in 17, blau in 7, grau in 2, blau-
grau in 2 und grünbraun in 10 Fällen.
Der Maragatone ist fieissig, sparsam, besitzt Erwerbssinn und Handels-
geist, dabei zeigt er immer Anhänglichkeit zur Heimat. Er ist äusserst gastfrei,
Wenig fromm. Er ist für seine persönliche Freiheit, sowie für seine Verwandten
UQd Landsleute in hohem Grade eingenommen. Er ist tapfer, argwöhnisch,
nicht grosssprecherisch, etwas verschlossen, kein Schmeichler. Die Weiber
tragen über Schulter und Brust grosse Metallstücke mit religiösen Bildern.
Nach dem Süden des Gebietes zu tritt uns ein ziemlich reiner Typus
entgegen: schlanke, 1735 mm grosse Gestalten, Haar und Haut braun,
0vales Gesicht, dicke Lippen, aufgestülpte Nase, Nasalindex 77,5, Cephal-
mdex 75,7. Es kommt auch ein anderer Typus vor: kleine Gestalt mit
Hang zur Fettleibigkeit, schmale Hüften, breite Schultern, kurzer Hals,
lange Arme, dicke Lippen, braune Augen, nach Verfassers Annahme der
Berbertypus. — Der Typus mit grünen Augen gleicht dem ethnischen Ele-
mente mit der gleichen Augenfarbe unter den Basken. — Der Typus mit
blauen Augen zeichnet sich durch Mesocephalie, breite Stirn, ein wenig auf-
gestülpte, kurze und breite Nase (Index 73,9), breiten Mund, ebenso be-
schaffenen Unterkiefer und Wangenbeine, ein wenig schiefstehende Augen
aus; er gleicht etwa der vistulischen Rasse Denikers. Die nordische Rasse
lst noch viel seltener vertreten und stammt aus viel jüngerer Zeit; denn
clas Blau der Iris hat sich relativ rein erhalten.
Verf. ist der Ansicht, dass die Maragatonen Leons nicht daselbst ein-
heimisch sind, sondern berberische Einwanderer, vielleicht von Sklaven ab-
stanimend, die von den Römern zur Ausbeutung der westlich von Asturica
-Higusta (Astorga) gelegenen Goldgruben gehalten wurden.
158
B. Referate. Ethnologie.
Die Maragatonen sind ein in ihrer Gesichtsbildung und gewissen Ge-
bräuchen und Sitten gut charakterisiertes Volk. Yerf. macht uns mit letzteren
eingehender bekannt. Prof. Dr. T. de Aranzadi-Barcelona.
181. R. M. de Azkue: La musica populär baskongada. Bilbao
1901. 16 Seiten mit 14 musikalischen Beispielen.
Verf. behandelt hier einen Stoff, der bisher nur ganz oberflächlich
verarbeitet worden ist, wohl, weil an denselben immer nur Menschen heran-
gegangen sind, die entweder keine musikalischen Kenntnisse besassen oder
deren klassisch geschultes Ohr für exotische Weisen kein Verständnis hatte.
Er unterscheidet hinsichtlich des Tonfalles religiöse und profane Melodien;
in dem französischen Gebiete des Baskenlandes herrschen die religiösen und
die Liebeslieder vor, in dem spanischen Baskenlande Tanzlieder mit Text,
der für gewöhnlich nur ein Vorwand zum Singen ist und wo im wesentlichen
das Singen die Hauptsache ist (ausgenommen natürlich die Spottlieder).
Unter den Liedern giebt es Wiegen-, Klage-, Spott-, Helden-, Scherz-,
Kriegs- und Liebeslieder. Verf. betont den Gegensatz zwischen der Unge-
bundenheit des Tonfalls, eines R. Wagner würdig, in den baskischen Melodien
und dem übermässigen Gleichmaasse in den Abschnitten, Perioden, Sätzen etc.
der italienischen Musikschule des 19. Jahrhunderts.
Merkwürdig ist auch die Verbindung verschiedener Takte innerhalb
einer und derselben Melodie, z. B. eines 3/4 oder ö/4 mit einem 2/4 oder 4/4
abwechselnd. Diese Verbindung entsteht im allgemeinen durch Verkürzung
der Pausen oder durch Ausdehnung einer Kote. Unter den Tanzweisen
kommt diese Art der Melodie des öfteren vor, z. B. in dem ersten Stücke
des „aurresku“ und indem zweiten der „ezpata-dantza“; im letzteren Falle
vermutlich weder durch Verkürzung noch Verlängerung enstanden, sondern
eine natürliche, originale Weise. Einige Melodien mit einheitlichen Texten
sammelte Bordes in Urrugne und Verf. solche mit kombinierten Takten in
Douostia (San Sebastian). Referent hält es für möglich, dass nur die ur-
sprüngliche Niederschrift ein gleichmässiger Takt gewesen ist. So z. B.
sind die „pordon-dantze“ in dem Werke von Fr. Michel, le pays basque
und die „saltotako zortzikoak“ im Iztueta 1826 als 6/g abgefasst worden,
treten uns aber in Wirklichkeit im Volke und in allen modernen Kollektionen
als ö/8 entgegen.
Unter den Tanzmelodien unterscheidet Verf. das Souletinische „mutyiko“,
das Navarresische „ingurutschu“, den Turngesang, den Gegenschritt, das
„arin-arin“ (= sehr geschwind) und das zortziko (d. h. acht, nämlich Männer).
Dieses letztere richtet sich nach einem Zeitmaass, das aus zwei Tempi zu-
sammengesetzt ist, nämlich aus einem Tempo von 3 und einem von 2 Achtel-
noten, d. h. zusammen aus 5 Achtelnoten anstatt 8 an der Zahl; es ist
sehr beachtenswert, eigenartig, anmutig, würdevoll, auffällig, aber schwierig,
B. Referate. Ethnologie.
159
bezwingend. (Der Fandango, der im Globus LXXIV, S. 356, Fig. 16 erwähnt
ist, darf für das baskische Volk nicht als spezifisch angesehen werden. Ref.)
Diese Beispiele sind nicht ausgesucht; sie dürfen auch nicht für die
schönsten und am meisten charakteristischen Melodien angesehen werden,
sondern stellen nur bisher nicht veröffentlichte Weisen vor. —• Es ist an
der Zeit, dass die Ethnologen sich davon überzeugen, dass man die volks-
tümliche Musik der verschiedenen Völker auch zum Gegenstand der Wissen-
schaft machen muss, aber wirklich nach der wissenschaftlichen, also technischen
Seite hin, nicht vom voreingenommenen Standpunkte der Musikschulen aus.
Prof. Dr. T. de Aranzadi-Barcelona.
182. V. Viiali: Gli Abruzzesi. Atti d. Soc. Romana di Anthropol.,
1901. Vol. VIII, fase. III.
Von der richtigen Voraussetzung ausgehend, dass die Individuen ver-
schiedener Stämme auch in ihren Jugend- und Entwicklungsjahren ver-
schiedene körperliche und geistige Eigenschaften, verschieden sowohl nach
zeitlicher Entwicklung wie nach Quantität und Qualität, aufweisen, versucht
es die Pädagogik neuerdings, durch exakte Methoden anthropologische und
psychophysische Werte für diese Eigenschaften zu finden und dieselben für
den Erziehungsplan nutzbar zu machen. So hat auch Verf. aus Kopf- und
Körpermaassen der abruzzischen Schüler die Zeit der grössten Entwicklungs-
fähigkeit der einzelnen Teile für diese festzustellen unternommen, um daraus
die geeignete Zeit für Schonung oder Übung des betreffenden Organs, be-
sonders des Gehirns, abzuleiten. Da bedauerlicherweise die Individuenzahl,
aa denen die Mittelmaasse gewonnen sind, nicht einmal genannt ist, ge-
schweige denn die Reihen der Maasse aufgeführt sind, so können die Schlüsse
des Verf. nur als unbewiesene Hypothesen gelten. Aus dem psychologischen
feil seien die Assoziationsversuche hervorgehoben. Verf. findet, dass die
abruzzische Jugend fast ausschliesslich Klang- und Ähnlichkeitsassoziationen
hervorbringt, in Übereinstimmung mit der Beobachtung des Vorwiegens des
Klangbildgedächtnisses vor dem Gesichtsbildgedächtnis und der geringen
Kombinationsgabe. Mit diesem Resultat setzt Verf. auch die Thatsache in
Verbindung, dass unter den Bewohnern der Abruzzen Redner, Musiker und
Sprachkundige sehr zahlreich sind, also Individuen, deren Intellekt die aus
her Gehörsempfindung resultierenden Vorstellungen umfasst. Man sieht, zu
Welch wichtigen Schlüssen — selbstverständlich unter gerechter Würdigung
her Individualpsychologie — die Pädagogik behufs Aufstellung eines adaequaten
Krziehungsplanes und Hinweisung auf Berufswahl im Sinne einer Rassen-
erziehungslehre kommen muss, wie sie auch Verf. in Kürze für seine
Abbruzzesen andeutet. Nur müssen wir auch hier vom wissenschaftlichen
Standpunkt aus bedauern, dass Verf. die psychologischen Experimente, ins-
besondere die Assoziationsreihen, allgemeiner Kenntnisnahme entzogen hat.
160
B. Referate. Ethnologie.
Im übrigen zeigt die treffliche Arbeit der Anthropologie, wie das ferne Ziel
einer Hassen- und Stammespsychologie zu erreichen sein dürfte.
I)r. H. Lanfer-Giessen.
183. V. Giuffrida-Ruggeri: Appunti di etnografia comparata della
Sicilia. Atti d. Soc. Rom. di antropol. 1902. Vol. VIII, 5.
In Sicilien begegnet man noch heutzutage manchen abergläubigen Vor-
stellungen und Volksmythen, welche eine auffallende Ähnlichkeit mit den
Anschauungen von geographisch weit entfernten Völkern aufweisen; so z. B.
die Fabel von der Blutschande zwischen der Sonne und ihrem Bruder Mond.
Dieselben Ansichten hatten auch die alten Ägypter, Peruaner und Canadier.
G-.-R. führt noch eine Reihe ähnlicher Analogien an. Er deduziert daraus,
dass man in dieser Richtung weiter nachforschen solle, denn die Demo-
psychologie bilde jedenfalls das interessanteste Kapitel der vergleichenden
Ethnographie. Dr. Oskar v. Hovorka-Wien.
184. Richard Weinberg: Vaterländische anthropologische Studien.
Dorpat 1902. 20 Seiten 8° (Sonder-Abdruck aus den Sitzungs-
berichten der Gelehrten Estnischen Gesellschaft. Dorpat 1902).
Unter diesem etwas auffälligen Titel erörtert der Verfasser die Körper-
grösse estnischer Rekruten. ln der Einleitung sagt er: „es giebt
grosse Einnenstämme und kleine Einnenstämme“; er meint aber nicht die
Grösse des Stammes, sondern die Grösse der den verschiedenen Stämmen
angehörigen Individuen. Die Wogulen haben die geringste, die Karelier die
grösste Körperlänge unter den Finnen.
Der Verfasser hat Messungen von 6965 . Rekruten in Dorpat vorge-
nommen, aber nach einer verkürzten Methode; er hat nur einen Teil der
in dem Buche von E. Schmidt (Anthropologische Methoden, Leipzig 1888)
angegebenen Maasse genommen. Er hat die Schemata zu den ausführlichen,
wie zu den abgekürzten anthropologischen Beobachtungen in der Einleitung
abgedruckt und danach die Ergebnisse in 9 Tabellen zusammengestellt.
Wir nehmen zuerst Tab. II. Sie giebt uns eine Übersicht der Körper-
grössen: klein, d. i. bis 1600 mm — 9,39 °/o — untermittel, d. i. von
1600—1650 — 24,80°/0 mm — übermittel, d. i. von 1650—1700 mm =
31,64°/0 — hoch (gross), d. i. 1750 mm = 34,19 °/0- Weiter erweist sich,
dass im Bezirk der Stadt Dorpat im Vergleich zu dem Nordosten von Est-
land die Rekruten kleiner sind, und zwar finden sich im Bezirk von Dorpat
7 °/0 mehr kleine Leute und dem entsprechend 7 °/0 mehr grosse Leute als
in Estland. Gegen Norden zu werden die Esten danach grösser.
•Das Maximum der Körpergrösse liegt zwischen 1660—1680 mm.
Hier ist demnach das arithmetische Mittel der Körperlänge estnischer Rekruten
zu suchen. Als Schlusssätze werden hingestellt:
B. Referate. Ethnologie.
161
1. Die Häufigkeit der Untermittelmaasse steht zur Häufigkeit der Über-
mittelmaasse wie 3:7.
2. In den nördlichen Gebieten (Gouv. Estland) ist dieses Verhältnis
wie 1 : 3, in den südlichen Gebieten =1:2; doch das hochwüchsige Ele-
ment ist unter den Nordesten um nicht weniger als */3 häufiger als unter
den Südesten.
3. Die Esten gehören im allgemeinen zu den hochwüchsigen Volks-
stämmen.
In den Schlussbemerkungen sagt der Verfasser, dass sich aus seiner
Tabelle I die durchschnittliche oder mittlere Körpergrösse hätte herausrechnen
lassen — er hat es aber unterlassen, weil er nicht glaubte, dass der Wissen-
schaft daraus ein grosser Nutzen erwächst. — Ich meine aber doch, dass
cs nicht ganz unzweckmässig ist, Mittelzahlen und Mittelwerte zu berechnen.
Es ist gewiss zweifellos, dass die einfachen Mittelmaasse nicht die Be-
deutung haben, die ihnen früher beigelegt wurde, denn wir haben unter An-
wendung der Wahrscheinlichkeitsrechnung die Möglichkeit eines Wahrschein-
lichkeits-Koeffizienten zu berechnen und damit erhalten die Mittelzahlen
ihren eigentlichen Wert.
Auf einen Vergleich seiner Zahlenergebnisse mit denen anderer Forscher
(Grube z. ß.) ist der Verfasser nicht eingegangen. L. Stieda-Königsberg.
185. M. Zaborowskie: Siowianie pod wzgl^dem rasy i ich pocz^lek
(Les Slaves de races et leurs origines). Wisla 1902.
Bd. XVI, S. 209 ff., 534 ff und 649 ff.
186. J. Taiko-Hryncewicz: Siöw par§ ze stanowiska antropologji
w kwestji pochodzenia Siowian (Einige Bemerkungen vom
Standpunkte der Anthropologie über die Herkunft der Slaven).
Ebendaselbst S. 754 ff.
187. E. Majewski: Z powodu rozpraw antropologöw giermariskich
na temat dziejöw przedhist. siow.-gierm. (Die Anschauungen
der germ. Anthropologen über die slav.-germ. Vorgeschichte).
Ebendas., S. 547 ff.
188. Derselbe: Prahistoria ziemi Obodrytöw (Die Vorgeschichte
des Landes der Öbotriten). Swiatowit 1902. Bd. 4, S. 206 ff.
Die Studie Zaborowskis ist eine der vielen neueren Arbeiten, welche
über den Ursprung und die Verbreitung der Slaven ganz neue, freilich aber
mcht immer sichere Ergebnisse bieten. Die Anschauungen Zaborowskis
lassen sich ungefähr folgendermaassen zusammenfassen. Die Nordslaven sind
aus jenen Gegenden gekommen, welche noch gegenwärtig von den Südslaven
bewohnt werden (zwischen Donau und Adria). Ihre Vorfahren waren ver-
Intsrn. Centralblatt für Anthropologie. 1903.
11
162
B. Referate. Ethnologie.
wandt und benachbart mit der Bevölkerung der Terramaren Italiens (Wenden-
Veneter). Sie waren wie die Südslaven brachykepkal und von dunkler Haut-
farbe. Infolge des Bernsteinhandels verbreiteten sich die Slaven nach Norden
(etw'a 800 v. Chr.), überstiegen die Karpathen und dehnten sich an der
Oder und Weichsel bis ans baltische Meer aus. Hier führten sie die bisher
unbekannte Leichenverbrennung ein, ferner die Bekanntschaft mit Metallen
und Glas; doch wurde Eisen nur zu Schmuckgeräten verwendet. Im Norden
der Karpathen hatten die Eingewanderten ein neolithisches \olk von heller
Hautfarbe vorgefunden, das sie beim Vordringen nach Südosten (bis in die
Gegend von Kiew) teilweise absorbierten; die Finnen wurden von ihnen
nach Osten gedrängt. Um Chr. Geburt drangen aus Skandinavien die Ger-
manen ein, welche den allgemeinen Gebrauch des Eisens zu Werkzeugen
und Waffen einführten. Erst um 500 zogen Slaven auch in das nordöstliche
Russland; vorher ist von ihnen hier keine Spur vorhanden.
In gewissem Sinne werden diese Ergebnisse durch die Forschungen
von Talko-Hryncewicz unterstützt. Auch dieser ist geneigt, die alten
Slaven für Brachykephalen mit dunklen Haaren zu halten. Hie Dolicho-
kephalen in altslavischen Gräbern hält er auch für fremde Elemente, und
zwar denkt er auch an ältere Bewohner, welche von den Slaven unterworfen
worden wären. Für den Ausgangspunkt der brachykephalen Slaven hält er
die Karpathengegend (Tatragebiet, Galizien), wo noch heute die Kurzköpfigkeit
besonders prägnant hervortritt. Die von hier nach West und Ost ausgehende
Bevölkerung hält er für eine kriegerische und ritterliche, welche die schwächeren
langköpfigen Ureinwohner unterwarf und assimilierte. Damit steht die von
Talko-Hryncewicz aber früher festgestellte Thatsache in Übereinstimmung,
dass der polnische Adel sich von dem übrigen Volke durch höheren Wuchs
und bedeutendere Kurzköpfigkeit auszeichnete. Nur hat er diese Erscheinung-
früher anders erklärt (verschiedene Lebensstellung; vergl. Globus, Bd. 74, 394).
Bemerkt sei noch, dass diese Ausführungen von Talko-Hryncewicz sich gegen
Niederles bekannte czechisclie Arbeiten und die durch dieselben veranlassten
Ausführungen von Potkanski (0 pochodzenin Slowian“ im Kwart. Hist.,
Lemberg 1902) wenden. Nach Niederle waren die Slaven bekanntlich ur-
sprünglich langköpfig und nahmen zufolge der Verhältnisse des Klimas und
der Lebensweise erst kurzköpfigen Typus an. Auch Potkanski nimmt für
die Slaven ursprünglich Langköpfigkeit in Anspruch und verwirft daher auch
die Beweisführungen, welche sich auf die Annahme ursprünglicher Kurz-
köpfigkeit der Slaven stützt. Er sieht daher auch gerade die von Talko-
Hryncewicz als reinen slavischen Typus aufgefassten Bewohner Galiziens
nicht als solche an.
Majewski hat schon im J. 1899 (vergl. Slavozytni Slowianie na ziemiack
dziesiejrzej Germanii, Warschau) seine Ansicht dahin dargelegt, dass Mittel-
europa nur von Slaven und Kelten bewohnt war, die Germanen erst aus
B. Referate. Ethnologie.
163
Skandinavien einwanderten und die Slaven verdrängten. Im Swiatowit
Bd. III, 205 ff. (Warschau 1901) besprach er unter diesem Gesichtspunkte
die betreffenden Verhandlungen auf der Anthropologenversammlung Halle 1900
und in der Wisla kritisiert er nun dieselben Ausführungen auf der Ver-
sammlung Lindau 1899. Er wendet sich also einerseits gegen die Ansichten
von Montelius, dass die Germanen erst seit etwa 300 n. Chr. in Nord-
deutschland von den Slaven abgelöst wurden, andererseits gegen jene Virchows
und Muchs, wonach dieses Gebiet nach der Auswanderung der Germanen
und vor der Einwanderung der Slaven lange menschenleer war. Dieselbe
Frage behandelt Majewski auch in seiner oben an letzter Stelle genannten
Arbeit. Er knüpft an den nicht bezweifelten slavischen Charakter der Wall-
anlagen Norddeutschlands an; zeigt sodann, dass in der Nähe einer grossen
Anzahl dieser, noch jetzt slavische Namen führenden Denkmäler Begräbnis-
stätten mit Leichenbrand sich finden. Er nimmt daher auch diese als
slavische in Anspruch und schliesst daraus auf die Altansässigkeit der Slaven
in diesen Gebieten.
Kurz sei nur noch erwähnt, dass St. Ketrzynski vor kurzem die
äussersten Konsequenzen dieser neuen Lehrmeinung gezogen hat; darnach
sind fast alle bisher für germanisch gehaltenen Völker, welche am Anfang
unserer Zeitrechnung Mitteleuropa bewohnten, Slaven (Suevi = Slavi). Man
"vergl. den Anzeiger der Krakauer Akad. 1902, S. 74 ff.
Prof. 11. F. Kaindl-Czernowitz.
189. L. Niederle: Vestnik slov. starozitnosti (Anzeiger slav. Alter-
tümer). Jahrg. II, Heft 4. Prag 1900. — L. Niederle,
F. Pastrnek, J. Polivka, J. Zubaty: Vestnik slov. filol. a star.
(Anzeiger f. slav. Philologie und Altertümer). Prag I. 1901,
II. 1902.
L. Niederle hatte seit dem Jahre 1898 unter Mitwirkung mehrerer
hervorragender Kenner slavischer Altertumskunde in seinem „Anzeiger slav.
Altertümer“ fortlaufend eine sorgsame Bibliographie und Besprechung der
dieses Gebiet betreffenden Arbeiten gebracht und zwar in folgende Gruppen
geordnet: I. Die Slaven und ihre anthrop. Beziehungen zu den übrigen
europäischen Völkern. II. Die ethnologische Entwicklung und die Anfänge
der Geschichte slavischer Völker. III. Berichte über archäologische Funde.
IV. Arbeiten aus verschiedenen Gebieten der altslavischen Kulturgeschichte.
V- Varia. Dem 3. Bande 1899 war K. Buchtelas Abhandlung über die
Vorgeschichte Böhmens und dem 4. (1900) L. Niederles Aufsatz „Zur Frage
über den Ursprung der Slaven“ (deutsch) beigegeben. Seit dem Jahre 1901
^urd nun diese periodische Publikation in erweiterter Form als „Anzeiger
Ihr slavische Philologie und Altertümer“ von den 4 obengenannten Redak-
teuren weiter herausgegeben. Das Material ist folgender Art geordnet:
11*
164
B. Referate. Ethnologie.
1. Anzeige von Zeitschriften, Bibliographie etc. II. Linguistik. III. Slavische
Literaturgeschichte bis zur Hälfte des XIX. Jahrhunderts. IX. Ethnologie
(allgemeine und einzelner slavischer Völker). V. Altertümer. VI. Baltische
Philologie. Der von Prof. Dr. Niederle redigierte V. Teil (Atertümer)
enthält Anzeigen von 1. Zeitschriften und Schriften allgemeinen Charakters.
2. Schriften über die ethnologische Entwicklung und die Anfänge der Ge-
schichte der Slaven. 3. Archäologische Funde und 4. Arbeiten, die sich
auf die altslavische Kultur beziehen.
Obzwar die wichtigen Erscheinungen auf den betreffenden Gebieten
auch in anderen Zeitschriften und Arbeiten (z. B. Jagics Archiv für slav.
Philol.) Berücksichtigung finden, entbehrte doch die Slavistik als Gesamt-
wissenschaft bisher eines einheitlichen, bibliographischen Organes. Aber nicht
bloss von diesem Standpunkte aus, sondern auch wegen der gewissenhaften
Durchführung hat dieses Unternehmen für das Studium der Sprache, Urge-
schichte, Entwicklung und Kulturgeschichte der Slaven eine grosse Bedeutung,
die auch schon dadurch anerkannt wurde, dass die Publikation mit Unter-
stützung der Kais. Akademie der Wissenschaften in Peterburg, der böhin.
Akademie der Wissenschaften in Prag und des k. k. Unterrichtsministeriums,
in Wien erscheint. Dr. JET. Mat iegka-Prag.
190- Eduard Boguslawski: Methode und Hilfsmittel der Erforschung
der vorhistorischen Zeit in der Vergangenheit der Slaven.
Vom Verfasser vermehrte deutsche Ausgabe. Aus dem
Polnischen übersetzt von Waldemar Osterloif. Berlin,
Hermann Costenoble, 1902.
Unter dem anspruchsvollen Titel verbirgt sich eine Streitschrift gegen
die „berliner-österreichische Schule“ (!), die sich gegen das vom Verfasser
schon in seiner „Geschichte der Slaven“ behauptete Urslaventum in Mittel-
europa ablehnend verhält. Seine Beweisführung ist ein zitatengespickter
Galimathias von sprachwissenschaftlichen, historischen und archäologischen
Hypothesen, die mit ebensoviel Selbstbewusstsein wie Mangel an Kritik
und Sachkenntnis als unumstössliche Thatsachen verkündet werden. Ein
näheres Eingehen auf den Inhalt wäre Raumverschwendung. Für den sprach-
lichen und ethnographischen Teil sei auf die gründliche Besprechung im
Globus (Bd. LXXXII, Nr. 15, S. 239 ff.) verwiesen. Für den archäologischen
Teil begnüge ich mich mit einigen Anführungen. Dass die Schläfenringe
ein Kennzeichen slavischer Bevölkerung sei, bestreitet B. (S. 55): „Die
Slaven trugen nie einen solchen sonderbaren Kopfputz“. Er verschweigt
aber, wie das typische Vorkommen der Schläfenringe in rein slavischen
Gegenden anders zu erklären und in Einklang mit seiner eigenen Theorie
zu bringen ist. Die Runenschrift ist eine Erfindung der Wenden (S. 58).
Ebenso haben diese die Hallstattkultur und die „lausitzer-schlesische“ Kultur
B. Referate. Ethnologie.
165
geschaffen (S. 64). Ja sogar die „in Norditalien, der Schweiz, Ober-Öster-
reich, Mähren, Polen, in den Ostseeprovinzen, in grosser Anzahl aufgefundenen
Pfahlbauten, können schon den Vorfahren der Slaven zugeschrieben werden“
(S. 66). Weiter kann man in der That den vorgeschichtlichen Panslavismus
wohl nicht treiben.
Stellt schon der Inhalt des Buches die Geduld des Lesers auf eine
harte Probe, so gilt dies in noch höherem Maasse von der Form der Dar-
stellung. Der Übersetzer verfügt nicht über die elementarsten Kenntnisse
der deutschen Sprache. Schnitzer wie: „Wer die Veneten am Adriatischen
Meere von allseitigem Gesichtspunkte ins Auge fassen wird —, der wird
an ihr Slaventum nicht zweifeln. Ebensowenig wird er aber auch an das
Slaventum der hallstätter Kultur zweifeln“ (S. 64), oder „In Brandenburg
und in der Lausitz begegnen wir einer voll entwickelten Bronzezeit, ganze
Urnenfelder“ finden sich auf jeder Seite. Man kann in der That sein
Erstaunen nicht unterdrücken, dass eine angesehene Verlagsbuchhandlung
ihren Namen zu einem derartigen Machwerke hergegeben hat.
Dr. H. Seger-Breslau.
191. Nadmorski: Polabianie i Siowincy (Die Polaben und Slowinzen).
Wisla 1902. Bd. XVI, S. 141—161.
Der Verf. giebt eine Übersicht und Besprechung der jüngsten Forschungen
über die Polaben in Hannover und die Slowinzen in Pommern, welche uns
durch Tetzners Werk „Die Slaven in Deutschland“ wieder bekannt geworden
sind. Beigeschlossen ist ein Verzeichnis slowinzischer Wörter.
Prof. R. F. KaindlrCzemowilz.
192. A. A. Iwanowski: Über anthropologische Forschungen unter
den Fremdvölkern Russlands. (Russ.) Russische Zeitschrift
für Anthropol., 1902. Bd. III, Nr. 9, S. 112.
Ex Oriente lux — dieser Satz gilt auch von der Anthropologie des
russischen Reiches, die den Schlüssel zu vielen ungelösten Rätseln moderner
Ethnologie in sich birgt. Ein Blick auf bisher Geleistetes kann daher nur
erwünscht sein. Wertvoll aber im höchsten Grade ist eine, die Übersicht
abschliessende Zusammenstellung der Quellenwerke, die es über Fremd-
völker Russlands giebt. Solche Völker sind über das weite Reich nicht
weniger als 96 zerstreut, und jedes von ihnen, sei es noch so klein und
unbedeutend, hat bereits seinen Bearbeiter gefunden. Zunächst sind nur
°he ersten Schritte gethan. Die Hauptsache ist noch unerledigt. „Ich hoffe“,
schreibt Gustaf Retzius in einer brieflichen Mitteilung, „dass der Kreis der
Forschung erweitert und eine Untersuchung des ganzen russischen Reiches
ln anthropologischer Beziehung vorgenommen werden wird. Es ist dies
ZWar eine Riesenaufgabe, aber sie lohnt sich sicherlich und ist von grosser
166
B. Referate. Ethnologie.
Bedeutung. Es ist eine Armee von Mitarbeitern zu organisieren und die
Genehmigung der Behörden zu erlangen.“ Dr. Richard Weinberg-Dorpat.
193. W. W. Worobjow: Zur Anthropologie der slavischen Be-
völkerung Russlands. (Russ.) Russische Zeitschrift für
Anthropologie, 1902. Bd. III, Nr. 9, S. 102.
Von der klassischen und gross angelegten Monographie Anutschins
über Körpergrösse der Yolksstämme Russlands ausgehend, erörtert Yerf.
eine Reihe von Fragen der physischen Ethnologie und prähistorischen Anthro-
pologie speziell slavischer Rassentypen. Zum Teil stützt sich Verfasser,
was das allgemeine anthropologische Signalement der Grossrussen betrifft,
auf ausgedehnte eigene Beobachtungen und Messungen, die schon früher
genauer bearbeitet, hier kurz rekapituliert werden. Der Urtyp der slavischen
Rassen ist nach Ansicht des Verfassers als ein hochgewachsener, dunkel-
haariger und dunkeläugiger, brachycephaler Menschenschlag zu denken, eine
Auffassung, die bekanntlich der Hypothese des keltischen bezw. dinarischen
Ursprunges der Slaven sehr nahesteht. Eine sehr hübsche Zusammenstellung
der Litteratur über Slavenanthropologie, die den Aufsatz schliesst, wird
manchem Leser nicht unwillkommen sein. Dr. Richard Weinberg-Dorpat.
194. J. Pantjuchow: Die heutigen Lesghinen. (Russisch.) Tiflis
1901. 32 S.
Kurze, vorzugsweise ethnographische Beschreibung der modernen
Lesghinen des Daghestangebietes. Den Lesern dieses Centralblattes ist der
Verfasser bereits bestens bekannt durch seine früheren Arbeiten zur Anthro-
pologie des Kaukasus und vor allem durch seinen Klassifikationsversuch der
Kaukasusvölker. Dr. Richard Weinberg-Dorpat.
195. A. Djatschkow-Tarassow: Die Abadsechen. Eine historisch-
ethnographische Skizze. (Russisch.) Schriften der Kaukasus-
Sektion der Kaiserl. Russ. Geogr. Gesellschaft, 1901. Bd. XXII,
Heft 4.
Auf Grundlage eigener Anschauung entwirft Vf. ein lichtvolles und
interessantes Bild der ethnographischen Verhältnisse der Abadsechen, eines
Sprosses der grossen Familie kaukasischer Völker und Völkchen, die be-
kanntlich dem Studium grosse Schwierigkeiten darbieten. Den Ethnographen
sei die Arbeit bestens empfohlen; hoffentlich erscheint sie bald in einer
den westeuropäischen Gelehrten leichter zugänglichen Form.
Dr. Richard Weinberg-Dorpat.
B. Referate. Ethnologie.
167
196. Maurice Fishberg: Physical anthropology of the Jews. I.
— The cephalic index. American Anthropologist. N. S. 1902.
Vol. IV, S. 684 ff.
Ob die Juden eine einheitliche Rasse bilden oder nicht, darüber gehen
die Meinungen weit auseinander. Fishberg, der in diesem Aufsatz nur den
Kopfindex der Juden behandelt und sich die Besprechung der anderen Merk-
male für später vorbehält, hat die Messungen von 14 Autoren, die 15 Gruppen
von Juden der verschiedensten Länder (2373 Individuen) betreffen, zusammen-
gestellt, und es ergiebt sich daraus eine überraschende Homogenität. Bei fast
allen europäischen Judengruppen bewegt sich der Kopfindex zwischen 81,5
und 83 und eine grosse Seltenheit der Dolichocephalie (1%—7,3 °/0)* Mehr
als 60% der Individualbeobachtung hatten einen über 80 hinausgehenden
Kopfindex. Damit stimmt auch eine Beobachtungsreihe, die Fishberg in New-
York an Juden (meist europäischer Provenienz) aufnahm: bei 500 männlichen
Individuen betrug das arithmetische Mittel des Kopfindex 82,12 (Min. 73,6,
Max. 94,8). Die graphische Kurve der Verteilung ist einheitlich und sehr
steil. Mehr als 80 % der Einzelfälle liegen innerhalb einer Iudexbreite
von 7 Einheiten (zwischen 78 und 85), 70% innerhalb 5 Einheiten und
50% innerhalb der Einheiten. Weniger homogen erscheint auffallender
Weise die Kurve bei den Jüdinnen, von denen nur eine kleinere Beob-
achtungsreiche (215 Köpfe) vorlag. Ihr Mittel stimmt jedoch mit dem der
männlichen Reihe fast genau überein (83). Die Kurve hat 2 Scheitel (bei
81 und bei 84), was sich wohl aus der relativen Kleinheit der Reihe er-
klärt. Eine zum Vergleich angefertigte Kurve von 215 in Russland ge-
messenen Jüdinnen zeigt ebenfalls eine geringere Homogenität als jene Männer-
kurve. Jedenfalls verdient diese Beobachtung weitere Berücksichtigung bei
neuen Aufnahmen. — Aus jenen Kurven lässt sich nicht auf stärkere Rassen-
mischung schliessen. Auffallend ist nun, dass alle anderen sog. semitischen
Völker, die Syrer, Araber, Abyssinier etc. hochgradige Dolichocephalen sind
(74—77). Wie erklärt sich dem gegenüber die starke Brachycephalie der
heutigen Juden? Eine Antwort ist auf Grund des Kopfindex kaum zu
geben und es ist dafür nötig, auch die übrigen Körpermerkmale zu berück-
sichtigen, was Verf. in weiteren Aufsätzen, zunächst in Betreff der Pigmen-
tierung, thun will. Prof. Emil Schmidt-Jena.
197. C. H. Stratz: Die Körperformen in Kunst und Leben der
Japaner. Mit 112 in den Text gedruckten Abbildungen und
4 farbigen Tafeln. Stuttgart Ferd. Enke.
In Verfolg seiner Studien über die Schönheit des Weibes sucht Verf.
lm vorliegenden Werke die Auffassung des nackten Menschen bei den Japanern
vom naturwissenschaftlichen, socialen und künstlerischen Standpunkte fest-
zulegeu.
168
B. Referate. Anthropologie.
Dementsprechend beschäftigt er sich im 1. Abschnitte (S. 4—66) mit
der Körperform der Japaner (Skelett, Maasse und Proportionen, Gesichts-
bildung, Körperbildung) im allgemeinen und kommt zu dem Ergebnis, dass
vom europäischen Standpunkte aus die Bevölkerung Japans kein Anrecht
darauf besitzen kann, schön genannt zu werden, denn der Kopf ist zu gross
und die Beine sind zu kurz; eine vollendete Schönheit ist daher beim Japaner
vollständig ausgeschlossen. Im 2. Kapitel (S. 66—93) versucht er sich in
den japanischen Schönheitsbegriff hineinzudenken. Er glaubt, dass man
diesen aus der Mischung der beiden ethnischen Elemente, welche das japanische
Volk zusammensetzen, herleiten könne: von dem reinen Naturvolke der Aino,
und dem zur Zeit der Mischung hochentwickelten und künstlerisch begabten
Volk der Mongolen. Dem Naturvolk erscheint der nackte Körper als etwas
Natürliches, Selbstverständliches, das übersehen wird; das Kulturvolk dagegen
beobachtet nur den Schmuck, die Kleidung; und die Entblössung macht auf
dasselbe nur den Eindruck des Ärmlichen, Unpassenden oder des Sinnlichen.
Die landläufige Auffassung menschlicher Schönheit in Japan setzt sich aus
der Beurteilung der Gesichtszüge, der Haltung und der Kleidung zusammen,
und dies bei beiden Geschlechtern. Im Vordergründe des Interesses steht
auch bei dem Japaner das Weib. Wie europäische Forscher übereinstimmend
herausgefunden haben, stellt der Japaner als Schönheitsbegriff auf: lange
und schmale Gestalt, ebenso beschaffene Nase und Gesicht, schmale und
lange Hüften, dünne Arme, lange und dünne Beine, lange und schmale
Hände; schlaffe Brust, plumper Fuss und hässlicher Gang werden gern ver-
ziehen, niemals aber breite Hüften. Die Japanerin ist bemüht, durch
künstliche Mittel, im besonderen die Kleidung, ihre körperlichen Reize dem
Schönheitsideal nahe zu bringen. Von den beiden verbreitetsten Typen in
Japan, dem Satsuma- und dem Chöshü-Typus, scheint der letztere der be-
vorzugte zu sein, als derjenige, welcher dem japanischen Schönheitsbegriff
entspricht. An zahlreichen Beispielen und Bildern sowohl aus dem öffentlichen
und Privatleben (S. 93 —118) wie auch aus den Darstellungen der Kunst
(S. 118—195) zeigt Verf. in den beiden weiteren Abschnitten, dass der
Japaner dem nackten Körper ziemliche Gleichgültigkeit entgegenbringt, ihm
gegenüber also den Standpunkt des Naturmenschen noch einnimmt und die
klassische Auffassung von der Schönheit des Nackten nicht kennt.
Das Werk ist durch zahlreiche (112) Bilder im Text und 4 farbige
Tafeln ausgestattet und macht, wie die früheren Werke des Verfassers aus
demselben Verlage, einen vornehmen Eindruck. Der Preis von 8,60 M.
entspricht dem Gebotenen. £)r. Buschan-Stettin.
B. Referate. Ethnologie.
169
198. Buntaro Adachi: Syphilis in der Steinzeit in Japan. Archiv
für Dermatologie und Syphilis, 1903. Bd. LXIY, Heft 1,
S. 1—4.
Riuken-Gakudzin (1895) lässt, auf umfangreichem japanischen und
chinesischen Quellenstudium fussend, die Syphilis, wie schon andere, ältere
japanische Autoren glaubten, erst in dem 16. Jahrhundert aus dem Abend-
lande in Japan eingeschleppt worden sein. In dem anthropologischen Museum
zu Tokio nun fand Yerf. unter den Knochenresten eines steinzeitlichen
Kjoekkenmöddinger bei dem Dorfe Katsushika (Provinz Shimoosa), dessen
Alter auf mehr als 3000 Jahre geschätzt wird, eine menschliche Tibia, die
eine Knochenverdickung aufweist, welche Yerf. für syphilitischen Ursprunges
hält. Der Krankheitsherd sitzt im mittleren Drittel und kennzeichnet sich
in einer Yerdickung und in einer Knochenbrücke zu der ebenfalls ver-
dickten Fibula. Die Knochensubstanz ist hart, die Fläche weiss, rauh und
Uneben mit vielen kleinen dornförmigen oder leistenartigen Fortsätzen und
vielen, verschieden grossen, senkrecht in die Tiefe führenden Gefässkanälchen
ynd einigen seichten Gefässfurchen versehen. — Ob diese Entzündungser-
scheinungen gerade auf Syphilis bezogen werden müssen, erscheint dem
Referenten zweifelhaft. Br. Buschan-Stettin.
199. Ch. S. Myers: The visual aeuity of the natives of Sarawak.
Journal of Physiology, 1902. Yol. XXVIII.
Die Ergebnisse des Verfassers wurden an 32 Individuen gewonnen
Und ergaben als deren mittlere Sehschärfe 7,5/r> oder etwa anderthalb „nor-
male Sehschärfe“. Die Untersuchungen von Rivers in der Torres-Strasse
ergaben dagegen 10’6/5, wobei 4 von 115 Murray-Insulanern eine mehr als
dreifache „normale Sehschärfe“ aufwiesen. Auch wenn man die wechselnde
Beleuchtung und andere Äusserlichkeiten in Rechnung zieht, ist die Seh-
schärfe in Sarawak erheblich geringer als bei den Papuas. 24 Erwachsene
v°n Sarawak unter 36 Jahren ergaben als Sehschärfe 9/5, gleichalterige
Mabuiag-Leute dagegen l3/5. Unter Berücksichtigung anderweitiger Unter-
suchungen scheint es dem Yerf. wahrscheinlich, dass die Sehschärfe der
Afrikaner, Australier, Papuas grösser ist als die der Mongolen, Malaien,
Polynesier, Europäer. G. Thilenius-Breslau.
200. Waldemar Bogoros: The folklore of northeastern Asia, as
compared with tliat of northwestern America. American
Anthropologist. N. S. 1902. Vol. IV, S. 577 if.
Bogoros hat etwa 500 Märchen und Erzählungen unter den Stämmen
Äordost Sibiriens gesammelt, und er untersucht, wieviele davon bei einzelnen
Stämmen diesseits und jenseits der Beringstrasse Vorkommen. Ähnlich oder
170
В. Referate. Ethnologie.
gleich sind bei Tschuktschen und Eskimos 26, bei Tschuktschen und Indi-
aner 33, bei anderen Stämmen Nordostasiens und den Eskimos 12, bei den
ersteren und den Indianern 18. Gemeinsam bei Tschuktschen, Eskimos und
Indianern kommen 13, bei anderen Nordostasiaten, Eskimos und Indianern
6 vor. Im Ganzen lässt sich daraus erkennen, dass die Tschuktschen in ihrem
Folklore viel Gemeinsames sowohl mit Eskimos, als mit Indianern besitzen,
dass dagegen die anderen West-Bering-Stämme weniger Gemeinsames mit
den Eskimos, aber mehr mit den Indianern besitzen.
Prof. Emil Schmidt-Jena.
201. Washington Matthews: Myths of gestation and parturition.
American Anthropologist. N. S. 1902. Vol. IV, S. 737 if.
Weitverbreitet in Polynesien wie in Amerika ist der Mythus, dass
das Menschengeschlecht in der Erde entstanden und durch ein Loch im
Boden an die Oberfläche gelangt sei, und zwar mit Hilfe eines Baumes,
einer Rebe oder eines Riedgrases; gewöhnlich findet bei diesem Hervor-
kommen eine gewaltige Flut statt. Matthews sucht zu begründen, dass
dieser Mythus einfach ein Symbol der Geburt des einzelnen Menschen, dass
die Erde einfach als Mutter der Menschheit (bei den Navahoes bedeutet das
Wort für Erde: Weib horizontal, d. h. das liegende Weib), dass das Loch,
aus dem die Menschheit zu Tage tritt, die Geburtswege, dass der Baum,
die Rebe etc. den Nabelstrang (bei den Mandanen in Nord- Dakota wird
ausdrücklich hervorgehoben, dass diese Rebe von links nach rechts gedreht
sei, nicht wie gewöhnliche Reben, sondern wie der Nabelstrang) und dass
die bei dem Erscheinen der Menschheit stattfindende Fluth das Fruchtwasser
bedeute. Prof. Emil Schmidt-Jena.
202. G. A. Dorsey: An aboriginal quartzite quarry in Eastern
Wyoming. Field Columbian Museum, Publication 51, Anthro-
pological Series 1901, Vol. II, No. 4, S. 233—243, Taf. XXVIII
—XXXIX.
Verf. lenkt die Aufmerksamkeit auf einen Quarzit-Steinbruch, den er
allerdings nur flüchtig untersucht hat. Er sammelte hier grosse Mengen
von primitiven Geräten, welche aber über die Nationalität der Benutzer
dieses Steinbruches und über das Alter noch keinen genaueren Aufschluss
gaben; wahrscheinlich geht die Anlage vor die europäische Besiedelung
zurück. Pr. A. Götze-Berlin.
203. W. H. Holmes: Fossil human remains found near Lansing,
Kansas. American Anthropologist. N. S. 1902. Vol. IV,
S. 743 ff.
Im Februar 1902 waren beim Ausgraben eines Kellers bei Lansing
in Kansas Gebeine von 2 Individuen gefunden worden (Schädel und Röhren-
B. Referate. Ethnologie.
171
knochen eines Erwachsenen und Unterkiefer eines Kindes). Da Holmes den
Keller schon mit Früchten gefüllt und deshalb für Untersuchung der geologischen
Zugehörigkeit seiner Wände ungeeignet vorfand, wurde im Oktober 1902
ein neuer Stollen in das Gestein getrieben. Das Ergebnis der Untersuchung
war, dass die Ablagerungen, in denen jene Menschenreste lagen, nicht aus
der Glacialzeit stammten, sondern dass sie in verhältnismässig neuer Zeit
lössartig sich gebildet haben; ihr Alter ist wohl eher nach hunderten, als
nach tausenden von Jahren zu schätzen. (Für Holmes steht es von vorn-
herein fest, dass der Mensch während der Eiszeit, oder auch nur am Ende
derselben, in Amerika noch nicht existiert hat.) Mit der Annahme eines
verhältnismässig jungen Alters stimmt nach Holmes auch das verhältnismässige
frische Aussehen der Skelettreste und ihre grosse Formähnlichkeit mit den
Schädeln historischer Indianerstämme. Die wichtigeren Merkmale des Schädels
(an dem das Gesicht fehlt) sind: feste, harte, dünne Knochen, mässige
Zähnelung der Nähte; fünfeckige Form der Vertikalansicht, vortretende Scbeitel-
beinhöcker, schmales Hinterhaupt, ziemlich kräftige Glabella und Augen-
brauenwülste, hohes Scheitelgewölbe, kräftiges Vorspringen des Hinterhaupts.
Mastoidfortsätze nicht sehr kräftig. Das Individuum war wahrscheinlich
40—50 Jahre alt und männlich; die grösste Länge — 188 mm, grösste
Breite 138 mm, Schädelindex 73. Im allgemeinen gleicht der Schädel auf-
fallend dem der heutigen Blackfoot-Indianer. prof. Emil Schmidt-Jena.
204. George A. Dorsey: The Osage mourning-war ceremony.
American Anthropologist. N. S. 1902. Vol. IV, S. 404 ff.
Verf. beschreibt nach eigener Anschauung die Kriegstrauer-Feier bei
den Osagen. Bei diesen muss der Geist jedes Verstorbenen durch Opferung
eines feindlichen Skalps auf dem Grabe versöhnt werden und zwar liegt
dies den näheren Verwandten ob; dieser Opferung müssen gewisse Ceremonien
(Kriegstänze) vorhergehen. Vier Tage lang dauert diese Feier: der früher
unbedingt zum Opfer nötige Menschenskalp wird jetzt durch Menschenhaar,
■ der zur Gewinnung des Skalps früher vorgenommene Kriegszug durch eine
Hirschjagd ersetzt. Prof. Emil Schmidt-Jena.
205. J. Walter Fewkes: Minor Hopi Festivals. American Anthro-
pologist. N. S. 1902. Vol. IV, S. 482 ff.
Die jetzt ganz friedlichen Pueblo-Indianer hatten bis zur Mitte des
vorigen Jahrhunderts beständig von kriegerischen Raubzügen der Utes, Apachen
Und Navahos zu leiden; die Erinnerung an jene schweren Kämpfe lebt noch
jetzt in gewissen Kriegsfesten fort, die zu gewissen Zeiten mit altgeheiligtem
Ritus gefeiert werden. Verfasser, einer der besten Kenner des Volkslebens
der Pueblo-Indianer, beschreibt aus eigener Beobachtung ein solches von
den Hopi-Indianern gefeiertes Fest, sowie ein kleines, von den • Hopi aus
172
ß. Referate. Ethnologie.
dem Pueblo Awatobi herübergenommenes Pest (das kleine Mamzrauti-Fest).
Weiter schildert er das Winterfest der Sonnen-Priesterschaft der Hopi, bei
welchem die Winter-Gebetstöcke angefertigt werden, den Büffel-Tanz (Mucaiasti,
der Büffel lebte in historischer Zeit nicht auf den dürren Hochflächen am
Arizona; seine Kenntnis ist wohl von anderen Stämmen zu den Hopi ge-
tragen worden), und schliesslich einen Kindertanz, der einen Katcina-Tanz
der Erwachsenen nachahmt. prof. Emil Schmidt-Jena.
206. Alice C. Fletcher: Star cult among the Pawnee. — A pre-
liminary report. American Anthropologist. N. S. 1902.
Yol. IY, S. 730 ff.
Die Pawnee (Pani) sind jetzt in 4 „Banden“ geteilt und von diesen
bestand wieder die Skidi-Bande aus einer Anzahl von Dörfern, von denen
jedes seine besonderen heiligen symbolischen Gegenstände besass, die in
Packen oder Schreinen verwahrt und mit eigenartigen Ceremonien verehrt
wurden. Die heiligen Dinge, wie die damit verbundenen Ceremonien wurden
den einzelnen Dörfern von bestimmten Sternen übergeben, nach denen der
betreffende Schrein und sein Dorf benannt sind, und die Lage der Dörfer
ist so angeordnet, dass sie ein Abbild der Stellung derselben Sterne am
Himmel ist. Alice Fletcher beschreibt diese Stellung, sowie die Ceremonien
bei der Feier der Sterne; die Vorstellung der Welt spiegelt sich sogar in
der Konstruktion der Erdhütten wider, bei denen der runde Boden die Erde,
das Gewölbe den Himmel und die 4 Stützpfähle des Daches die vier Sterne
der Hauptdörfer symbolisieren. Pro/’. Emil Schmidt-Jena.
207. George A. Dorsey: The Dwamish Indian spirit boat and its
use. Free Museum of Science and art. University of Pennsyl-
vania, 1902. Bull., Yol. III, Nr. 4, S. 227—238.
Bericht über eine interessante Medizin-Ceremonie der Dwamish am
Cedar-River, Washington Terr, bei der ein Geisterboot zur Anwendung kommt.
Die dazu gehörigen Paraphernalien bestehen aus sechs eigentümlich geformten,
mit mystischen Zeichen bemalten Brettern, aus denen das „Boot“ gebildet
wird, zwei rohen Holzidolen, die darin fahren und einigen Stangen, die als
Ruder dienen. Sämtliche Gegenstände sind in zwei Serien für die Museen
in Philadelphia und Chicago erworben worden. Die Ceremonie selbst ist
nur aus Beschreibungen bekannt. Kann ein Kranker trotz aller Mittel nicht
genesen, so nimmt man an, dass seine Seele ihn verlassen habe. Im Sommer
schweift sie auf der Erde herum und kann von einem geschickten Schamanen
wieder eingefangen werden, im Winter dagegen geht sie ins Totenreich, von
dessen Annehmlichkeiten sie sich nicht trennen kann. Es bedarf also einer
besonderen Reise der Schamanen dorthin, die nur mittels des Geisterschiffes
ausgeführt werden kann. In der Ceremonienhütte werden die Bretter in
B. Referate. Ethnologie.
173
zwei Reihen aufgestellt, und die beiden Idole dazwischen gesetzt. Der
Kranke nimmt an der Seite des „Boots“ Platz. Drei bis vier Schamanen
ergreifen die Stangen und arbeiten damit lJ/0 Tage lang, als wenn sie das
Fahrzeug fortstossen wollen, worauf sie erklären, dass die Unterwelt erreicht
sei. Um die Seele freizumachen, bedarf es der Hilfe jener Idole. Erst
nach 1 —1^/2 tägigem Kampfe gelingt endlich das Vorhaben, und man tritt
am vierten Tage die Rückfahrt an, bei der sich der Patient nunmehr im
Boote befindet. Schliesslich wird ihm die Seele wieder eingesetzt. Hoffentlich
gelingt es noch in letzter Stunde einem geschulten Beobachter, diese merk-
würdige Ceremonie im einzelnen zu studieren und die Bedeutung der an
den Brettchen gemalten Symbole zu erklären. p Ehrenreich-Berlin.
208. Fr. Starr: Physical characters of the Indians of Southern
Mexico- University of Chicago Decennial Publications IV.
Chicago 1902.
In dieser Arbeit giebt der Verf. eine Übersicht der anthropologischen
Ergebnisse seiner im Jahre 1895 unternommenen Reise durch das südliche
Mexico von Oaxaca nach Guatemala. Die untersuchten Eingeborenen ge-
hören 23 verschiedenen Stämmen an, verteilt auf die Sprachfamilien der
Nahuatl, Tarasca, Zoque, Totonaco, Zapotheken, Othomi, Maya, Huave,
Chinanteken und Tepehua. Programmmässig sollten von jedem Stamm
100 Männer und 25 Weiber gemessen werden, im Ganzen also 2875 Per-
sonen. Die wirklich erreichte Zahl beträgt 2847. Die am meisten charak-
teristischen Individuen wurden photographiert, und eine Auswahl aus den
600 Aufnahmen für das kürzlich publizierte ethnographische Album zusammen-
gestellt. Ausserdem wurden von jedem Stamm fünf Köpfe in Gyps gegossen.
Besondere Aufmerksamkeit wurde der Frage gewidmet, in wieweit die lin-
guistischen Gruppen sich mit den anthropologischen decken. Aus den allge-
meinen Bemerkungen sei hervorgehoben, dass mongoloide Schlitzaugen zwar
Vorkommen, aber nicht das gewöhnliche sind. Die vorherrschenden Plaut-
farben sind nach sieben kolorierten Normalproben bestimmt. Die wichtigsten
körperlichen Indizes sind in Vergleichstabellen niedergelegt. Was die Körper-
grösse anlangt, so gehören 19 der vertretenen Stämme zu den kleinwüchsigen
Typen unter 1600 mm, kein Stamm ist übermittelgross; Frauen sind häufig
unverhältnismässig kleiner als Männer. Der Arm ist im Verhältnis zur Ge-
samthöhe lang, doch sind die individuellen Schwankungen beträchtlich. Der
Index der Spannweite ist geringer als man nach der bedeutenden Armlänge
Und Brustweite erwartet (102—105 mm). Die Rumpf länge, bestimmt nach
dem Sitzhöhenindex, ist beträchtlich, 51,6—53,9 °/0 und scheint unabhängig
von der Meereshöhe des Wohnsitzes zu stehen.
Der Index der Schulterbreite erwies sich grösser, als die Zierlichkeit
des Brustkorbes bei den Meisten erwarten Hess. Sein Mittel bewegt sich
174
B. Referate. Ethnologie.
zwischen 21,5—23,2 °/0. Der Längenbreitenindex des Kopfes schwankt von
76,8—85,9, und zwar fehlen nach dem Topinardschen Schema dolichocephale
Typen ganz, während 5 als mesocephal und 17 als subbrachycephal zu be-
zeichnen sind. Die höchsten Grade der Brachycephalie weisen die Maya
und Totonaken auf. Sprachverwandte Stämme zeigen mehrfach grosse Diffe-
renzen. Die Form der Nase variiert sehr von den schmalen Adlernasen
der Juaves zu den breiten flachen der Triqui, von denen aber nur etwa
die Hälfte der Gemessenen als platyrrhin zu bezeichnen ist. Mesorrhinie
wiegt bei den übrigen vor.
Die Abhandlung macht dann noch spezielle Angaben über die einzelnen
Stämme nach der Reihenfolge, in der sie untersucht wurden, unter Beigabe
von 30 Doppelporträts, von denen sich lebensgrosse Reproduktionen im
Besitz des Museums von Chicago befinden, interessant ist dabei die be-
merkenswerte Ähnlichkeit, die manche der abgebildeten Köpfe mit. plastischen
oder gemalten Darstellungen aus der alten Zeit aufweisen.
O. Ehrenreich-Berlin.
209. Eduard Seler: Las excavaciones en Mexico. (Traducción)
Annales del Museo Nacional de Mexico, 1902. Tomo VII,
S. 235—200. Mit Abbildungen.
210. Eduard Seler: El cuauhxicalli del telpochcalli del Templo
mayor de Mexico. Ebendas. S. 260—262. Mit Abbildungen.
In den Mitteilungen der Anthropologischen Gesellschaft in Wien, XXXI,
S. 113—137 hat Eduard Seler über „die Ausgrabungen am Ort des Haupt-
tempels in Mexico“ gehandelt, die kürzlich in der Calle de las Escalerillas
bei Gelegenheit von Kanalisationsarbeiten vorgenommen wurden und eine
Anzahl schöner Funde zu Tage gefördert haben. Diese Arbeit ist ins
Spanische übersetzt in die Anales del Museo Nacional aufgenommen und
von Seler durch Beschreibung der Darstellungen auf zwei der ausgegrabenen
Gefässe und auf der Rückseite von 3 Räucherlöffeln, die in dem deutschen
Original nur flüchtig erwähnt sind, vermehrt worden. Freilich sind die der
Untersuchung zu Grunde liegenden Abbildungen aus mexikanischen Zeitungen
und die vorliegenden Photographien zu endgiltiger wissenschaftlicher Be-
stimmung oft nicht zureichend. Zunächst schildert Yerf. nach einer Zeichnung
im Sahagun-Ms. in Madrid und der beigegebenen Erklärung die Baulich-
keiten in dem mitten in der Stadt Mexico befindlichen Tempelbezirk, dem
Ort der gegenwärtigen Ausgrabungen. Dort erhob sich zur Zeit des mexi-
kanischen Reiches, von der „Schlangenmauer“ in weitem Rechteck umgeben,
die ca. 120 Stufen hohe Hauptpyramide mit den beiden Celias des National-
gottes Uitzilopochtli und des Regengottes Tlaloc auf der Plattform. Ausser-
dem enthielt dieser Bezirk nur einige Gebäude, Anlagen und monumentale
B. Referate. Ethnologie.
175
religiöse Geräte, die zu der Hauptpyramide in mehr oder weniger engem
ideellem Zusammenhang zu stehen scheinen, nämlich den früheren Tempel
Uitzilopochtlis „Colhuacan“, das Priesterhaus, das Haus der Sonne, den
Tempel Xipes mit dem runden Stein für das Sacrificio gladiatorio, den Ball-
spielplatz „teotlachtli“ u. s. w. Her Yerf. geht dann auf die Funde ein,
die gegen Ende des XVIII. Jahrhunderts in der Stadt Mexico gemacht
worden sind. Dahin gehört die Kolossalstatue der Erdgöttin Couatlicuc
(ursprünglich Teoyaomiqui genannt), ferner der sogenannte „Kalenderstein“,
der Stein mit dem Sonnenbild und den 20 Tageszeichen, den Seler jetzt
mit Recht als die grosse Opferblutschale im Tempel der Sonne auffässt, und
der Ti<;oc-Stein. Aus späterer Zeit datieren der sog. „Indio triste“, der
Steinkopf der Coyolxauhqui, wie Seler ihn deutet, und — 1897 — eine
weitere rechteckige Opferblutschale von riesigen Dimensionen. Bei den
neuesten Ausgrabungen sind ebenfalls fast ausschliesslich nur Figuren und
Geräte gefunden worden. Ein kegelförmiger Turm mit Zinnen auf dem
halben Umfang und einem runden Loch in der Mitte spricht S. als „netla-
tiloyan“ an, als einen der Orte, wo man die den Opfern abgezogenen Häute
am Fest Tlacaxipeualiztli aufbewahrte. Ein farbiges Steinbild des Wind-
gottes Quetzalcoatl in der Haltung einer Karyatide könnte auf seine Eigen-
schaft als Himmelsträger deuten, denn solche Träger sind in der That zur
Ausstattung der Pyramide Uitzilopochtlis verwandt worden. Gefunden sind
ierner Steinbildnisse eines alten Gottes (des alten Feuergottes?), eines Berg-
gottes, des Macuilxochitl, des Gottes des Spiels und Tanzes, 2 Steinstücke
Büt dem Gesicht des Regengottes Tlaloc, 2 Aschenurnen aus Thon, ein
goldener Schmetterling als Nasenschmuck, eine Goldscheibe, zwei schön be-
malte Vasen, 3 Räucherlöffel mit interessanten Darstellungen u. s. w.
Die zweite Mitteilung des Verfassers bezieht sich auf die Freilegung
emer 20 m breiten und 2,60 m hohen Treppe an der Vereinigung der
Calles la del Relox y Cordobanes. An dieser Treppe fanden sich ein ge-
waltiger Schlangenkopf und ein ruhender Jaguar, dessen Rücken durch eine
Vertiefung als Gefäss gestaltet ist. An der Ornamentierung der Innenseite
Biit Adlerfedern lässt sich erkennen, dass das Ganze eine Opferblutschale
*ar. Auf dem Grunde sind 2 Tezcatlipocagestalten skulptiert, die Buss-
hbungen obliegen. Dass gerade der Opfertod damit gekennzeichnet werden
sollte, wie der Yerf. will, und nicht nur Bussübungen an sich, vermag
Referent nicht einzusehen. Dagegen dürfte die Schale Tezcatlipoca geweiht
gewesen sein, und deshalb vielleicht in der That in dem Telpochcalli, dem
Rrziehungshaus der Krieger, dessen Patron Tezcatlipoca war, gestanden haben.
K. Th. Prenss-Berlin.
176
B. Referate. Ethnologie.
211. Charles P. Bowditch: On the age of Maya ruins. American
Antiquarian. 1901. N. S. Yol. III, S. 697 ff.
Bowditch glaubt, dass die von Edward H. Thompson kürzlich in Chichen
Itza aufgefundene Inschrift die Möglichkeit gebe, das relative Alter mancher
Ruinenstädte zu bestimmen. Er glaubt Gründe zu der Annahme zu haben,
dass Piedras negras, Copan, Palenque und Quirigua gleichzeitig in Blüte
standen, dass dagegen Chichen Itza jünger gewesen sei, als die genannten
Städte. Prof. Dr. E. Schmidt-Jena.
212. George A. Dorsey: Archaeological Investigations on the
Island of La Plata, Ecuador. Field Columbian Museum.
Publication 56. Anthropological Series. 1901. Yol. II No. 5,
S. 245—280. 63 Tafeln und 10 Textfiguren.
Die kleine Insel La Plata liegt 48 km von der Wüste Ecuadors ent-
fernt südlich vom Äquator und ist jetzt, wie sie es wohl auch vor der
spanischen Invasion war, unbewohnt. Nichtsdestoweniger sind dort archäo-
logische Funde gemacht worden. Der dortige Leuchtturmwärter fand zufällig
ein Grab und darin goldene Schmuckgegenstände und -Geräte. Durch den
General Manuel Flores, der daraufhin, aber vergeblich, weitere Nachforschungen
auf der Insel hatte anstellen lassen, wurde Dr. Dorsey bei seinem Aufenthalt
in Guayaquil 1902 aufmerksam gemacht und untersuchte 16 Tage lang die
Insel. Die vorliegende Arbeit berichtet über die interessanten Ergebnisse.
Am Nordende, oberhalb und nahe der Mündung eines Flüsschens sollen
auf dem niedrig gelegenen Boden die ersten Gräber gefunden sein. Dort
wurde auch ein weiteres Grab mit zwei Skeletten blossgelegt, deren Bei-
gaben meist auf das peruanische Hochland als Ursprungsort hinweisen.
So die Gold- und Silberfigürchen, die über einer Steinform gehämmert zu
sein scheinen, kupferne Anhänger in Gestalt von Glöckchen, goldene, silberne
und kupferne Nadeln (topos) und eine Thonurne von der charakteristischen
Form und Bemalung der grossen Gefässe aus Cuzco. Unter den anderen
Gegenständen sind besonders eine goldene Schale und eine grosse Ceremonial-
Steinaxt bemerkenswert. In der Umgebung des Grabes war die ausgeworfene
Erde in einiger Tiefe von zwei Schichten Asche und Kohle durchsetzt, und
unregelmässig verstreut fanden sich Bruchstücke von Thonfigürchen und ein-
gravierte Steine. Wie sich nachher herausstellte, waren diese Dinge augen-
scheinlich vom Hochplateau dahinter herabgekommen. Denn es lagen dort
an verschiedenen Stellen Haufen von zerbrochenen Thonfigürchen, dazwischen
mit Strichen und Ringen skulptierte Steine und Steinperlen, und ein Teil
einer Figur wurde unten gefunden, während das dazu passende Gegenstück
sich oben vorfand. Meist hatten die Thonfiguren menschliche Gestalt in
sehr mannigfaltigen Typen, wenige Tiere wrnren darunter, aber alle enthielten
B. Referate. Ethnologie.
177
im Kopf oder in der Brust ein bis zwei Pfeifen, oder man konnte auf deren
früheres Vorhandensein aus den Bruchstücken schliessen. Es ist daher
Dorseys Ansicht sehr annehmbar, dass diese Reste, von denen nichts utili-
tarischen Charakter aufweist, von periodischen Festen herrührten, zu denen
die Leute vom Festlande herüberkamen. Darauf deuten vielleicht auch die
vorhin erwähnten Aschenlager hin. Die Gräber dagegen seien zufällig dahin-
gekommen und rührten angeblich von germanischen Eroberern her. Ein
Zweck der skulptierten Steine verschiedener Form war nicht festzustellen.
Dr. K. Th. Preuss-Berlin.
213. Culin Stewart: The Indians of Cuba. Bulletin of the Free
Museum of Science and art. Philadelphia 1902. Vol. III,
Nr. 4, S. 185—226.
Ein Gerücht, wonach in den Bergen des östlicheu Cuba noch wilde
Indianer hausen sollten, veranlasste den Verf. im Frühjahr 1901 der Sache
auf den Grund zu gehen. Wie zu erwarten war, erwiesen sich die aufge-
fundenen Indianer durchweg als civilisiert, wenn auch von ziemlich reiner
Fasse. Als Reste der fast verschollenen Urbevölkerung der grossen Antillen
bieten sie immerhin einiges Interesse.
Bei El Caney unweit Santiago fand sich nur noch ein 112 Jahre alter
Mann vor, der bereits von Bastian im Jahre 1875 besucht worden war.
Eine grössere Anzahl lebt bei Yateras unweit Guantanamo in völlig dome-
stiziertem Zustande ohne Erinnerung an die früheren Verhältnisse und Ur-
sprache. Wahrscheinlich sind diese Indianer überhaupt nicht einheimisch,
sondern aus S. Domingo eingewandert bezw. eingeführt. Dagegen finden
sich bei Yara unweit Baracoa noch 600—700 Indianer in drei grossen,
«ug unter einander verschwägerten Grossfamilien, in 75 Häusern lebend,
auf die sich offenbar jene Gerüchte bezogen. Auch sie sind natürlich civilisiert,
haben aber noch manche Worte ihrer alten Sprache für Naturprodukte und
Qebrauchsgegenstände bewahrt. Die Untersuchung einiger Höhlen in diesem
Teile der Insel blieb ergebnislos, dagegen wurde bei Pueblo Viejo eine alte
Achteckige Umwallung entdeckt, deren Binnenraum mit zahlreichen Topf-
scherben bedeckt war. Es handelt sich wahrscheinlich um ein Befestigungs-
^verk. Die heimgebrachte ethnographische Sammlung enthält nichts, was
nicht auch sonst bei der cubanischen Landbevölkerung im Gebrauch wäre,
Saiteninstrumente, Calebassen, Sandalen, Mörser und dergl.
Die Arbeit ist gut illustriert, die Darstellung auch der heutigen Ver-
hältnisse der Insel und ihres Landschaftscharakters flott und ansprechend.
P. Ehrenreich-Berlin.
Intern. Centralblatt fiir Anthropologie. 1903.
12
178
B. Referate. Urgeschichte.
III. Urgeschichte.
A. Allgemeines.
214. S. Zaborowski: L’homme préhistorique. Septième Edition
entièrement refondue. Bibliothèque utile. Vol. CXXY. Paris,
Felix Alcan, 1902.
Seit dem ersten Erscheinen des kleinen Bändchens sind bereits 24 Jahre
verflossen. Dieser Umstand ist nicht nur eine Empfehlung für dasselbe,
sondern auch ein Anzeichen dafür, dass die vorgeschichtliche Forschung in
Frankreich das Interesse der gebildeten Kreise schon lange wachgerufen hat.
— Wie jede frühere Auflage, so hat auch die vorliegende nach dem aller-
neusten Stande der Wissenschaft Bereicherung und Umarbeitung erfahren, aller-
dings von dem für uns nicht ganz einwandfreien Standpunkte der französischen
Schule aus. Auf 187 Seiten trägt Verf. in populär-wissenschaftlicher Weise
alles Wissenswerte über den vorgeschichtlichen Menschen von seinem ersten
Auftreten bis zu Beginn der Metallzeit — die Bronze- und Eisenperiode
sind nur ganz kurz behandelt — zusammen, unterstützt von einer Reihe
Abbildungen. „C’est le plus petit, mais c’est le meilleur,“ dahin fasste
einmal Gr. de Mortillet sein Urteil über das Büchlein in einer Vorlesung
zusammen.
Wir wünschten, der deutsche Buchhandel entschlösse sich endlich auch
einmal zur Herausgabe einer so billigen Volksausgabe der Urgeschichte —
von nur 1 Franc für 187 Seiten mit Abbildungen. Buschan-Stettin.
215. Albrecht Penck: Die alpinen Eiszeitbildungen und der prä-
historische Mensch. Die Zeit (Wien) 1902, Bd. XXXII,
Nr. 417, S. 197—198.
Bei seinen nunmehr sich schon über 20 Jahre erstreckenden Studien
über die Eiszeit in den Alpen ist Verf. zu der Überzeugung gekommen,
dass sich deutlich vier Eiszeiten (die Günz-, Mindel-, Riss- und Würm-
Eiszeit) mit verschiedentlich lange anhaltenden Interglacialzeiten und nach
der letzten Eiszeit drei Rückgangsstadien des Eises, während deren das
allgemeine Aufsteigen der Schneegrenze durch Halte oder Momente zeitlicher
Herabsenkung unterbrochen wurde (das Bühl-, Gschnitz- und Daun-Stadium),
unterscheiden lassen. Diese Perioden der Erdgeschichte sucht Verf. nun
mit der prähistorischen Chronologie in Verbindung zu bringen. Die neolithische
Zeit ist jünger als das letzte der angeführten Stadien, denn zu dieser Zeit
hatten sich die Gletscher bereits bis tief ins Hochgebirge zurückgezogen;
während der ganzen Bronze- und Eisenzeit hat die Grenze des ewigen
Schnees nur wenig um ihre heutige Höhenlage geschwankt. Das Paläo-
lithikum umfasst einen grossen, wenn nicht den grössten Teil des Eiszeit-
alters (200,000 und mehr Jahre), das Chelléen de Mortillets dürfte in eine
ß. Referate. Urgeschichte.
179
der beiden ältesten Interglacialzeiten fallen, das Moustérien, desgleichen die
Lössfunde im Eisass, sowie die Mammutjäger-Funde in Niederösterreich und
Mähren der Riss-Würm-Interglacialzeit entsprechen und das Magdalénien
dem Bühlstadium parallel zu setzen sein. Die von de Mortillet unter-
schiedenen paläolithischen Epochen, welche er als bestimmte Entwicklungs-
phasen in der Herstellung und im Gebrauch von Steinwerkzeugen hinstellt,
entsprechen also bestimmten Abschnitten der Erdgeschichte. — Da wir für
den präglacialen Menschen in Europa keine sichere Spur besitzen, können
wir das Alter des Menschengeschlechtes mit einiger Wahrscheinlichkeit hier
auf ein paar hunderttausend Jahre veranschlagen. Das Neolithikum datiert
Verf. auf etwa 7 000 bis höchstens 10000 Jahre zurück. Der Hiatus
zwischen älterer und jüngerer Steinzeit, d. h. zwischen Bühl- und Daun-
stadium, würde nach des Yerfs. Berechnung auf 10000 bis höchstens 20000
Jahre zu berechnen sein; übrigens beginnt derselbe, wie bekannt, sich durch
neuere Entdeckungen schon allmählich zu schliessen. Unter solchen Um-
ständen ist Yerf. auch nicht der Annahme abgeneigt, dass die Neolithiker
kein zugewandertes Yolk gewesen sein, sondern sich aus den Paläolithikern
■entwickelt haben mögen. Bxischan-Stettin.
216. Josef Szombathy: Die Markhöhle in den langen Knochen
von Elephas primigenius. Mitteil. d. Anthropol. Gesellschaft
in Wien, 1901. Bd. XXXI, Sitzgsber., S. 74.
Zwischen Makowsky und Szombathy dreht sich schon seit einiger Zeit
der Streit um die Frage, ob die in den mit abgeschlagenen Enden aufge-
fundenen Mammutoberarmknochen der Brünner Diluvialfunde (Wranamühle)
vorhandenen viereckigen Höhlungen die natürliche Markhöhle vorstellen oder
künstlich durch Menschenhand erzeugt worden sind. Nachdem Szombathy
bereits an recenten Elephantenhumeri den Nachweis erbracht hatte, dass
diese Tiere eine derartige Markhöhle besitzen, zeigt er von neuem an vier
frisch durchsägten intakten Röhrenknochen des Elephas primigenius, darunter
auch einem Oberarmknochen eines noch nicht ausgewachsenen Tieres, sowie
an zwei Humeri eines ausgewachsenen Elephas indicus, dass diese eine
wirkliche Markhöhle von entsprechender Geräumigkeit besitzen, wobei er
seine Ausführungen durch 7 wohlgelungene Abbildungen der betreffenden
Durchschnitte unterstützt. An dem diluvialen Humerus „fällt vor allem
die Gestalt der Markhöhle und deren inniger Zusammenhang mit der Struktur
der Spongiosa auf. Der Querschnitt der Markhöhle bildet ein nahezu quadra-
tisches Viereck, dessen Seiten 3—3,4 cm lang sind. Die Markhöhle ist
auf allen Seiten von spongiösem Knochengewebe umgeben .. .“ Nach Prüfung
des vorliegenden Materials glaubt sich Yerf. in seinem früheren Urteil be-
stärkt, „dass die Mammutknochen von der Wranamühle bei Brünn weder
vom diluvialen Menschen glatt ausgekratzt, noch durch das Einstossen eines
12*
180
B. Referate. Urgeschichte.
Pfahles gehöhlt sind, sondern dass man in ihrem Innern die natürliche, im
grossen und ganzen vierseitige Markhöhle gewahrt, die an manchen Stellen,,
besonders dort, wo der Knochen entzwei gebrochen wurde, sekundäre Be-
schädigung aufweist“. Buschan-Stettin.
217. W. L. H. Duckworth: Note on the dispersive power of
runnig water on Skeletons; with particular reference tu
the skeletal remains of Pithecanthropus erectus. Proceed.
of the Cambridge Philos. Society, 1902. Vol. XI, S. 433—436.
Für die gelegentlich der Pithekanthropus-Diskussion angefochtene Be-
hauptung, dass der Schädel und das Femur dieses Wesens trotz der 50 Fuss
Entfernung zusammengehören, verdient die vorliegende Beobachtung des
Yerfassers Beachtung. Bei einem Ausflüge in das Sumpfplateau im Süd-
osten von Penmänmawr (Nord-Carnarvonshire) konnte er feststellen, dass
in einem zur Zeit nur 4 Fuss breitem Bache, der aber zur Periode der Regen-
güsse und Schneeschmelze über seine Ufer tritt, die Humeri eines Pferdes
153 Fuss von einander entfernt lagen (bei einem durchschnittlichen Ge-
fälle von 8°). Die Zugehörigkeit dieser Knochen zu einem Individuum
war dadurch einwandsfrei zu erweisen, dass das eine der beiden Tiere, deren
Knochen in dem Flussbett zerstreut lagen, deutliche Spuren einer Osteo-
Arthritis erkennen Hessen. Da ein etwaiges Fortschleppen der Knochen
durch wilde Tiere hier mit Sicherheit auszuschiiessen ist, so kann nur ange-
nommen werden, dass die Wassermassen des vorausgegangenen Winters
dieses zustande gebracht haben müssen, wofür auch die Fundstelle der wegen
ihrer Leichtigkeit am weitesten stromabwärts gespülten Rippen der Tiere
schon sprechen würde. — Demnach kann auch an der Zusammengehörigkeit
der Knochen des Pithekanthropus nicht mehr gezweifelt werden.
Buschan-Stettin.
B. Spcciclles, Funde.
a) Belgien.
218. J. Claerhout: Quelques objets en come et en os provenant
de la Station palustre de Denterghem. Annales de la Soc.
d’archeol. de Bruxelles, 1902. Bd. XYI, H. 1/2, S. 5 (avec 6 fig.).
Die Konstruktion der vom Yerf. in den Jahren 1899 —1901 erforschten
Pfahlbauten gleicht der von Ferd. Keller aus dem Baldegger-See (VIII. Pfahl-
bautenber. Zürich 1879, S. 25) beschriebenen. Die Hütten ruhten danach
auf einem Faschinen-Unterbau, der durch Geröll, Erde und Baumäste her-
gestellt war. Kleinere 0,6—1 m lange Pfähle dienten zum Zusammenhalten
derselben, während grössere 3—4 m lange die Hütten trugen. Auch die
aufgefundenen Geräte gleichen, den Abbildungen zufolge, durchaus den uns.
B. Referate. Urgeschichte.
181
aus den Schweizer Pfahlbauten bekannten. Es fanden sich mehrere Mahl-
steine, wie sie ganz allgemein der neolithischen Kultur zum Zermalmen
des Getreides eigen sind, sowie Hauen und Hacken aus Hirschgeweih und
schliesslich auch knöcherne Dolche und Pfriemen. Steingeräte und Thon-
gefässscherben sind nicht erwähnt. Wir möchten dem Yerf. empfehlen, auf
letztere ganz besonders zu fahnden, da bekanntlich die Ornamente derselben
uns am ehesten einen Anhaltspunkt zum Yergleichen darbieten.
Dr. Otto Schoetensack-Heidelberg.
ß) Deutschland.
219. August Schmidt: Das Gräberfeld von Warmhof bei Mewe,
Reg.-Bez. Marienwerder (W.-Pr.). Zeitschrift für Ethnologie.
Bd. XXXIY, 1902, S. 97-153. Mit Tafel YI—IX und
1 Kartenskizze.
In geschlossener Folge werden hier die Befunde der mehrere Jahre
hindurch fortgesetzten systematischen Ausgrabung eines westpreussischen
Gräberfeldes vorgelegt. Die Untersuchung ist leider nicht einheitlich, sondern
abwechselnd von den Herren Rittergutsbesitzer Fibelkorn, Hauptmann Matthes,
Hauptmann Schmidt, sowie Custos Dr. Kumm geführt worden. Dieser Art
der Aufdeckung entsprechend sind die Funde in mehrere verschiedene Samm-
lungen gelangt, was im Interesse einer übersichtlichen Aufbewahrung ent-
schieden zu bedauern ist.
Abgesehen von einigen Steinkisten, über die nichts Näheres mitgeteilt
wird, sind im Ganzen 177 Gräber, vorwiegend mit Beigaben aus den
Tischlerschen Perioden B und C aufgedeckt worden, und zwar 96 Skelett-
gräber, 32 Urnengräber und 49 Brandgruben. Ein Situationsplan fehlt, doch
ist in der kurzen Einleitung das Nötigste über die Verteilung der einzelnen
Gräber gesagt; die Lage des Gräberfeldes selbst ist aus der Kartenskizze
ersichtlich.
Die Protokolle geben den vollständigen Inhalt der einzelnen Gräber
ttdt Hinweisen auf die Abbildungen. Tafel VI zeigt Fibeln mit oberer und
unterer Sehne (sehr zahlreich sind die sogenannten Augenfibeln, d. h. Haken-
fibeln wie Almgren-Studien fig. 44—60, sowie Fibeln mit Rollen- und
Sehnenhülse; Armbrustfibeln sind weniger vertreten), Tafel VII Berloks und
Perlen aus verschiedenem Stoff, Tafel VIJI Armbänder, Armringe, S-förmige
Oürtelhaken, Schnallen, Riemenzungen, Schlösser und Schlüssel, Nadeln und
Messer, Tafel IX Urnen, Beigefässe, Kämme u. a.
Nicht abgebildet sind die vier Sporen, die nur in einem Exemplar
gefundene Pincette, sowie die ebenfalls nur in einem Exemplar gefundene
Münze: eine silberplattierte Bronzemünze des Antoninus Pius (auf S. 141
übrigens ohne weiteren Zusatz als Denar bezeichnet).
182
B. Referate. Urgeschichte.
In der Specialbeschreibung wäre es sehr nützlich gewesen, wenn Hr.
Schmidt bei jedem von ihm behandelten Gegenstände die Nummern der in
Betracht kommenden Gräber genannt hätte.
Die litterarischen, sowie die Hinweise auf Parallelstücke in andern
Sammlungen sind viel zu allgemein gehalten. Heinrich Kernke - Königsberg.
y) Österreich.
220- M. Much: Prähistorischer Bergbau in den Alpen. Zeitschrift
d. deutschen u. österreichischen Alpenvereines, 1902, S 1 ff.
Verfasser ist zur Darstellung dieser Materie besonders berufen, da er
nicht nur ein genauer Kenner der prähistorischen Funde in den Ostalpen
ist, sondern sich auch grosse Verdienste um die Erforschung des vorge-
schichtlichen Kupferbergwerkes auf dem Mitterberge bei Bischofshofen er-
worben hat. Er kommt zu dem Ergebnisse, dass die Menschen in den
Alpen im Gegensätze zu anderen Gebirgen schon sehr frühzeitig eingezogen
seien, um die Schätze der Berge zu gewinnen. Beweise dafür sind die
neolithischen Funde von Hallstatt und Hammerau bei Reichenhall, ferner
die Werkstätte für Stein Werkzeuge auf dem Götschenberge bei Bischofshofen.
Später wurden neben einigen Salzlagern auch die Kupferlager auf der Mitter-
bergalpe und der Kelchalpe bei Kitzbüchel ausgebeutet. Im Jahrtausend
vor Christo wurde auch Eisen gewonnen, und zwar in solcher Güte, dass
das norische Eisen einen grossen Ruf erlangte. In Kärnten wurde auf Blei
gegraben, und dieses zur Verzierung von Thongefässen verwendet.
Zum Schluss fordert der Verfasser die Besucher der Alpen auf, ihre
Aufmerksamkeit den Spuren vorgeschichtlichen Bergbaues zuzuwenden und
durch neue Beobachtungen die Lücken unserer Erkenntnis ausfüllen zu helfen.
Die klar und übersichtlich geschriebene Studie orientiert trefflich über
die einschlägigen Fragen. Ihr Wert wird erhöht durch eine grosse Anzahl
guter Abbildungen. £)r. Gustav Kraitschek-Landskron.
221. J. L. Cervinka: Pravek (Urgeschichte). I. 1903. Ung.
Hradischt, (Mähren).
Unter diesem Titel beginnt der tüchtige mährische Archäologe J. L.
Cervinka ein „Centralblatt für Prähistorie und Anthropologie der böhmischen
Länder“ in 2 monatlichen Heften mit den nötigen Illustrationen herauszu-
geben, nachdem die bisher erscheinenden mährischen Musealblätter bei ihrem
weiten Programme die Verarbeitung des hier zu Lande sehr reichlichen
prähistorischen Materials nicht bewältigen. Die wichtigeren Aufsätze werden
in diesem Blatte Berücksichtigung linden. I)r. Matiegka-Prag.
B. Referate. Urgeschichte.
183
222. V. Buchtela: Kultura knovizská (Die Kultur von Knovize
— Mittel-Böhmen). Pravék. 1903, Bd. I, S. 2.
In einigen prähistorischen Ansiedelungen Mittelböhmens (Knovize,
Plañan, Píemyslení, Slupy und Baumgarten bei Prag), sowie in Gräbern
(Branik, Lieben, Dablic, Kbel, Gr. Cicovic) tritt eine eigenartige Kultur
auf, für die Etagengefässe, doppelt abgestutzt kegelförmige Gefässe mit
scharfer Mittelkante, Ornamentierung mittelst Kannelierung, Riefung, Linien-
und Dreieckszeichnung, kantige Henkel, Bronzen vom Lausitzer Typus
(Lunulae, Armbänder mit spiral eingedrehten Enden, Gussformen) charakte-
ristisch sind. Yon Y. Schmidt wird sie in die Zeit der jüngeren Hocker-
gräber, von Smolik in die der jüngeren Hallstattperiode verlegt. Verf. er-
klärt ihr Entstehen durch Übernahme der allmählich vordringenden Lausitzer
Urnenfelderkultur von Seiten der älteren Einwohner Böhmens (Hocker).
Von der schlesischen Kultur wurde sie weniger beeinflusst, entwickelte sich
jedoch durch Aufnahme von Hallstätter Elementen schnell in die Kultur-
form von Bylan, während an den nordöstlichen Grenzen Böhmens die Lausitzer
Kultur schnell und gründlich der schlesischen Platz machte.
Dr. H. Matiegka-Prag.
223. L. Snajdr: Médéné sekyrky etc. (Kupferbeile aus d. König-
grätzer Bezirk — N.O-Böhmen). Pravék 1903. Bd. I, S. 4.
Mit 1 Taf., 1 Karte.
Beschreibung von 3 Kupferbeilen mit Schaftloch, 2 davon mit doppel-
seitigen, senkrecht zu einander gestellten Schneiden; dergleichen werden 2
aus Mähren angeführt neben 6 anderen Kupferbeilen. Yerf. citiert weiter
die Goldfunde (14) und die Bronzedepots im Königgrätzer Bezirke und
erläutert an einer Fundkarte den Verlauf einer prähistorischen Verkehrs-
strasse aus dem an Gold und Kupfer reichen Ungarn über Mähren und
den Königgrätzer Bezirk Böhmens nach Mittel- und Unterschlesien und
Leiter an die Baltischen Gestade. Dr. H. Matiegka-Prag.
224. J. L. Cervinka: Morava za provéku (Mähren zur Urzeit).
Brünn 1902. 368 SS. 52 Taf., 4 Karten.
Eine verdienstvolle und auch gelungene Arbeit, nämlich eine syste-
matische Verarbeitung der bisherigen prähistorischen Forschungsresultate in
Mähren. Der Einleitung sind die Geschichte des prähistorischen Studiums in
Mähren, Verzeichnis der Museen, Privatsammlungen und der Litteratur an-
breschlossen. Die Funde sind nach einzelnen Perioden und Kulturen ge-
°rdnet, derart, dass die allgemeine Schilderung durch Aufzählung der Fund-
0rte mit kurzer Beschreibung und Litteraturangabe belegt ist; hierdurch
l5S insofern betreffs Einreihung oder Datierung einzelner Funde abweichende
184
B. Refei'ate. Urgeschichte.
Ansichten bestehen können, die nötige Kontrolle ermöglicht. 154 Illu-
strationen im Texte und 52 Tafeln führen bildlich alle wichtigeren Funde
vor. Das Diluvium ist in Mähren reich vertreten. Yon 20 Funden ent-
fallen 16 auf Höhlen, 4 auf Löss. Alle mitteleuropäischen Kulturen haben
in Mähren gute, zum Teil reichliche Vertreter; nur die Hügelgräber sind
selten, die vom böhmisch-bayerischen Typus kommen überhaupt nicht vor.
Auf 4 Karten ist die topographische Verbreitung 1. der Ansiedlungen der
jüngeren Steinzeit, 2. der Hockergräber und zugehörigen Wohnstätten,
3. der Urnenfelder und 4. der Fundorte mit gallischer und provinzial-
römischer Kultur verzeichnet. Die 4 Mappen stimmen insofern überein,
als die Randgebirge nur Hochländer (also das böhmisch-mährische Hoch-
land, die von den Sudeten, dem Odergebirge und den Ausläufern der Kar-
pathen eingenommenen Gebiete) durch die ganze Zeit unbesiedelt blieben;
die Urnenfelder sind jedoch am zahlreichsten längs des oberen Laufs der
March und ihrer Zuflüsse gruppiert. Betreffs der Details muss auf die
Arbeit selbst verwiesen werden. Br. H. Matiegka-Prag.
225. K. Maska: Praehistorie moravskä (Vorgeschichte Mährens).
Ottos Konversations-Lexikon, Prag-, S. Otto. 1901. Bd.XVII,
S. 705.
Der bekannte mährische Diluvialforscher giebt hier eine übersichtliche
Darstellung der Vorgeschichte Mährens, wonach das Diluvium daselbst bis
etwa 5000 J. v. Chr., die neolithische Zeit bis 1500, die Bronzezeit bis 500,
die Hallstattkultur bis ins 1. Jahrh. v. Chr., die La Tene-Kultur ins 1. Jahrh.
n. Chr. gedauert haben mag. Die slavisclie Burgwallkultur fällt in das V.
bis XII. Jahrhundert. Übrigens werden schon die Urnenfelder der Bronze-
zeit den Slaven, die La Tene-Skelettgräber den vom Rhein kommenden
Germanen zugeschrieben. Br. H. Matiegka-Prag.
226. J. Knies: Praveke nälezy jesk. Balcarovy skäly (Urgeschichtl.
Funde in den Höhlen des Baicarfelsens bei Ostrov auf der
Drachauer Höhe). Vestnik klubu prirod. in Prossnitz (Mähren)
1900. Mit 4 Taf. u. Abb. im Texte.
4 Feuerherde mit reichlichen Feuerstein-, Knochen- und zum Teil
ornamentierten Renntierhorngeräten. Die diluviale Fauna ist durch 66 Säuge-
tier- und 35 Vogelarten etc. vertreten. Br. H. Matiegka-Prag.
227. J. Knies: Lunuk etc. (Der Lemming u. seine Verbreitung
in der diluvialen Zeit in Mähren). Casop. mor. mus. zemsk.
Brünn 1902. Bd. II, S. 28.
Der grosse Lemming, derzeit auf einen kleinen Bezirk N.O.-Russlands,
Kord-Sibiriens und das arktische Amerika beschränkt, war in der Diluvial-
B. Referate. Urgeschichte.
185
zeit in Mitteldeutschland nicht selten. In den mährischen Höhlen fanden
ihn Maska und Kriz. Verf. sammelte nun in der Balcarhöhle bei Ostrov
in einer mächtigen Schichte Knochen von kleinen Tieren, die wohl von der
Schneeeule hierher verschleppt wurden, 5916 Kieferhälften des grossen und
4 des nordischen Lemming (Myodes lemmus, der in der Ebene lebt).
Dr. H. Matiegka-Prag.
228. M. Kriz: Pizmon [Ovibos moschatus Blainville] na Morave
(Der Moschusochse in Mähren). Casop. mor. mus. zemsk.
Brünn 1902. Bd. I, S. 3.
Schön im Jahre 1894 konnte Dr. D. Cerskij 9 Schädelfunde in Russ-
land, 9 Funde aus England, 3 aus Frankreich, 10 aus Deutschland auf-
zählen. In Böhmen wurde der Moschusochse in den Lochover Brüchen
(Jicin), in Mähren in der „Certovä dira“ bei Stramberg und der Bycisltala-
Höhle, in Galizien in der Höhle Murek bei Mnikov (Krakau) aufgefunden.
Yerf. fügt nun eine ausführliche Beschreibung eines solchen Fundes in Stram-
berg bei. Aus den Funden lässt sich die Verbreitung dieses Tieres von
den Inseln des Eismeers über Sibirien nach Nord- und Mitteleuropa ver-
folgen. Dr. H. Matiegka-Prag.
229. J. Kucera: Zprävy o pfedhist nälezech z okoli Uh. Brodu
(Berichte über prähist. Funde aus d. Gegend v. Ung. Brod
— S.O.-Mähren). Casopis \i. sp. muz. in Olmütz, 1902.
Bd. XIX, S. 83.
1. Neolithische Ansiedlung bei Hradcovic. Neben Stein-, Bein- und
Knochengeräten (eines davon aus einem diluvialen Knochen gefertigtes, beim
Bohren gesprungenes) typische kugel-, krug- und schalenförmige Gefässe,
mit Konvoluten und gebrochenen Linien verziert. — 2. Ansiedlung aus d.
Übergangszeit bei Ung. Brod. Neben neolithischen Gelassen neue Formen;
beachtenswert mehrere Schalen mit hohlen oder massivem Fusse, 3 schiff-
ähnliche Gefässchen, Thonnachbildungen von Tierköpfen, menschlichen küssen,
Löffel und Löffelstielen, Bronzepfeilspitze, Sichel-, Armring-, Nadeliragmente,
Angelhaken etc. — 3. Massenfund von Volenov. 7 offene Bronzearmbänder
mit Linienornament (ungar.), 5 Spiralen, 2 Spiraldrahtringe, sämtlich aus
der späten Bronzezeit. — 4. Kulturgruben und Gräber mit Hockerskeletten
bei Ung. Brod, die ersten in dieser Gegend, soweit den Angaben der Arbeiter
Glauben geschenkt werden kann. Ohrringe und Gefäss ohne Ornament. —
5. Ansiedlung und Grabfeld aus der römischen Kaiserzeit bei Ung. Brod,
datiert durch Terra-sigillata-Scherben, provinzialrömisches Wellen-, ge-
stochenes Mäander-, plastisches Bandornament, Glasperlen, Fibelfragment etc.
—- 6. Reihengräber aus der Zeit des grossmährischen Reiches bei Tesov.
Gefässe mit Wellenornament, Eisenbeil (Franziska), Pfeilspitzen (eine doppel-
186
B. Referate. Urgeschichte.
spitzig), Eimerreifen, Bronzeohrringe mit hohlem Anhängsel. Ein ähnliches
Grabfeld, wurde in Drslavic gefunden. — 7. Ansiedlung mit Burgwallkultur.
Scherben, S-förmig endende slavische Schläfenringe (bis 8 cm im Durch-
messer), Eisengeräte und ein Solidus vom Regensburger Typus (XIII. Jahrh.).
Dr. H. Matiegka-Prag.
230. V. H.: Staroslov. hrob u Nämeste (Altslav. Grab bei Nämest
— Olmütz, Mähren). Casop. vl. sp. muz. in Olmiitz, 1901.
Bd. XVIII, S. 128. Mit 1 Taf.
Grab mit Gefässen vom Lausitzer Typus, eiserner Lanzen- und Pfeil-
spitze, Pferdetrense und 2 Eisenbeilen (ohne Schaftloch, 1 mit Lappen,
1 mit Querstange). Dr. IT. Matiegka-Prag.
231. K. Fisara: Nälezy u Näkla (Funde bei Naklo, Mähren).
Pravek, 1903. Bd. I, S. 21, mit Abb.
Depotfund (3 Bronzesicheln) auf einer Ansiedlung vom Urnenfeldtypus
bei Huncovic. — Hockergräber mit Säbelnadel. — Urnengräber aus der
römischen Kaiserzeit. — 4 Skelettgräber der spätslavischen Zeit (Topf vom
Burgwalltypus). Dr. II. Matiegka-Prag.
232. A. Prochäzka: Nova jadeit. sekerka na Morave (Ein neues
Jadeitbeilchen aus Mähren). Pravek, 1903. Bd. I, S. 23,
mit Abb.
57 cm langer Jadeitmeissei, wie solche in Mähren schon mehrfach
(Jaroschau, Tucin, Kfepitzer Hradisko [2], Hödnitz, Freiberg, Bosenitzer
Lhota, Lösch und ßosenitz) gefunden wurden. Dr. II. Matiegka-Prag.
233. J. Kucera: Zärove hroby n Vlachovic (Brandgräber bei Vlacho-
witz, Bez. Wall. Klobuk, Mähren). Pravek, 1903. Bd. I, S. 18.
2 Gräber vom Lausitzer Typus mit Steinbelag, die einzigen aus dieser
Gegend bekannten und die östlichst gelegenen in Mähren überhaupt. Typische
Gefässe und Ornamente, Bronzenadel. -— 2 Hügelgräber mit Steinbelag und
Asche, aber ohne Beigaben, konnten nicht datiert werden.
Dr. H. Matiegka-Prag.
5) Asien.
234. F. v. Luschan: Prähistorische Bronzen aus Kleinasien.
Globus, 1902, Bd. LXXXI, S. 295—301.
Vor etwa 10 Jahren erwarb die vorderasiatische Abteilung der Kgl.
Museen zu Berlin eine grössere Anzahl Bronzen, die angeblich in Soli-
Pompeiopalis zusammen in einem Thongefässe gefunden sein sollen. Nach
Besichtigung dieser Stelle hält v. Luschan die Angabe des Fundortes für
B. Referate. Urgeschichte. — G. Kongressbericht.
187
unrichtig, betont aber die gleichartige Beschaffenheit der Stücke (mit Aus-
nahme eines Stückes), welche die Annahme eines Depotfundes wahrscheinlich
macht. Der Fund besteht aus 26 Dolchklingen, teils Flach-, teils mit
Mittelrippe, 2 Klingen mit massiver Angel (Speerspitzen?), 3 Kurzschwertern
nebst einigen hohlgegossenen Bronzegriffen, 2 pfriemenartigen Geräten,
27 Beilen, davon 4 mit einem Loch versehen, 2 halbmondförmigen Beil-
klingen oder Helmkristen, 2 Tutuli, 2 Siegeln, einer Nadel mit abgerundetem,
kegelförmigem Kopf und einigen andern undeutbaren Gegenständen, v. L.
ist nicht abgeneigt, einen Teil der Beile als Surrogate für Geld anzusehen
(eine Deutung, der Ref. sympathisch gegenübersteht; vgl. Globus Bd. LXXI,
Nr. 14). Im höchsten Grade merkmürdig sind zwei auf einem Beil ange-
brachte Zeichen, die Darstellung einer menschlichen Fusssohle und ein
X-förmiges Zeichen zwischen zwei Querstrichen. Yerf. will sich nicht ent-
scheiden, ob sie als Wertmesser oder Eigentumsmarken aufzufassen sind;
das letztere Zeichen wiederholt sich auf einer der Dolchklingen. (Es sei
daran erinnert, das es auch einige Male auf prähistorischen Bronzen in Europa
vorkommt.) Die Analyse eines Dolches durch Weeren ergab 89,25°/0 Kupfer
und 10,56°/0 Zinn, diejenige eines Beiles durch Rathgen 92,97 °/0 Kupfer
und 3,89 °/o Zinn. • Br. A. Götze-Berlin.
C. Kongressbericht.
Der XII. Russische archäologische Kongress in Charkow, 1902.
Yon L. Stieda-Königsberg.
In Charkow fand in den Tagen vom 15.—27. August alten Stils der
XII. Russische archäologische Kongress statt. Das sog. vorbereitende Kon-
gress-Komitee hat seine Arbeiten in 2 Bänden herausgegeben; ausserdem
sind während des Kongresses wie gewöhnlich die Nachrichten (238 Seiten)
erschienen, in denen in Kürze über die stattgehabten Yorträge berichtet
wird. Herr Trutowsky-Moskau, Konservator der Orusheinaja Palata hat
die grosse Güte gehabt, mir die 3 Bände zuzusenden und mir dadurch die
Möglichkeit gewährt, über den Inhalt einiges mitteilen zu können. Ich sage
Herrn Trutowsky auch an dieser Stelle meinen verbindlichsten Dank für
seine Liebenswürdigkeit und Gefälligkeit.
Es hat auch im Anschluss an den Kongress eine Ausstellung ge-
geben, doch ist darüber weder in den Arbeiten des vorbereitenden Komitees,
Qoch in den Nachrichten etwas herauszufinden. Ein Katalog der ausge-
188
B. Referate. Urgeschichte.
stellten Sachen hat mir nicht Vorgelegen. Die Ausstellung bestand aus
3 Abteilungen: a) für vorgeschichtliche Altertümer und Münzen, b) für
Karten, c) für Ethnographie.
Die beiden Bände der Vorarbeiten (I. Bd. 549—829; II. Bd. 450 bis
241 Seiten) enthalten die Protokolle der Sitzungen und zahlreiche einge-
sandte Berichte und Mitteilungen. Mit Rücksicht auf den beschränkten
Raum kann hier der Inhalt nicht in systematischer Weise wiedergegeben
werden. Ausser der grossen Anzahl seien hier hervorgehoben zahlreiche
Berichte über die Aufdeckung von Kurganen, sowie über alte Handschriften.
Besonders hingewiesen sei auf die Beschreibung einiger in dem Gouvernement
Charkow und Jekaterinoslaw gefundenen orientalischen Metallspiegel. Die
Berichterstatter N. Katanow und D. Ainalow liefern an der Hand ganz vor-
trefflicher Photographien einige sehr genaue Beschreibungen. Es handelt sich
um 6 verschieden grosse, silberne und bronzene Spiegel, die zum Teil mit
arabischen Inschriften, zum Teil mit Ornamenten und Arabesken versehen
sind. Nur ein einziger Spiegel ist eine (bulgarische) Originalarbeit, die
anderen sind mehr oder weniger gelungene Kopien.
Bemerkenswert ist ferner eine Mitteilung Smirnows über Aquama-
nilien im Anschluss an ein Aquamanile, das im Gouv. Charkow gefunden
worden ist. Unter Aquamanilien versteht man die im Mittelalter gebräuch-
lichen Gefässe, die von den Priestern benutzt wurden, um das Wasser in
Becken zu giessen. Smirnow beschreibt 8 solcher Aquamanilien an der
Hand vortrefflicher bildlicher Darstellungen. Die Gefässe sind aus Bronze
und entstammen dem XII.—XIY. Jahrhundert; sie stellen menschliche und
tierische Figuren (Reiter zu Pferde) dar. — Drei ähnliche Figuren werden
in der Zeitschrift für christliche Kunst II. Jahrgang, Düsseldorf 1889 S. 209
bis 212 von A. Sehnütge beschrieben. — Zum Schluss bringen die Arbeiten
des vorbereitenden Komitees zwei lange Abhandlungen des Professors der
Anatomie M. A. Popow über Kurganschädel. Der erste Bericht um-
fasst die Untersuchung von 18, der zweite Bericht die Untersuchung von
36 Schädeln. Der Verfasser hat alle Schädel gemessen, einzeln beschrieben
und die Ergebnisse in Form von grossen Tabellen zusammengestellt. Eine
Zusammenfassung der Ergebnisse beider Berichte ist nicht zulässig. Der
Längendurchmesser der 18 Schädel der ersten Abhandlung schwankt zwischen
155—190 mm; der Breitendurchmesser zwischen 124—148 mm; die Höhe
zwischen 131 — 148 mm. Unter 16 messbaren Schädeln waren dolicho-
cephal 3, mesocephal 2, brachycephal (Index 80 und darüber) 11, hypso-
cephal 10, orthocephal 4, chämocephal 1 Schädel.
Die überwiegende Anzahl der Schädel ist demnach brachycephal und
hypsocephal. Der Verfasser glaubt, trotz seiner sorgfältigen Untersuchungen
keine besonderen Schlüsse wagen zu dürfen in Betreff der Zugehörigkeit
der Schädel und der anderen Knochen zu einem bestimmten Typus, zu einem
C. Kongressbericht.
189
besonderen Volksstamm. Eine den Abhandlungen beigefügte Tafel giebt
die Abbildung eines auffallenden hohen und breiten Schädels. Die zweite
Schädelgruppe umfasst 36 Stück. Auch alle diese 36 Schädel sind einzeln
gemessen und beschrieben. Der Längsdurchmesser schwankt zwischen 165
bis 188 mm, der Breitendurchmesser zwischen 112 —144 mm, die Höhe
der Schädel zwischen 124—150 mm. Unter diesen 36 Schädeln sind
dolichocephal 19, subdolichocephal 8, subbrachycephal 8, brachycephal 5,
ferner hypsocephal 19, orthocephal 9 Schädel.
Die Mehrzahl der Schädel neigen darnach zu Dolichocephalie. Der
Verfasser meint, dass die in der Gegend des heutigen Nizack (Gouv. Charkow)
gefundenen Schädel einem Volke angehört hatten, das den alten Slaven sehr
nahe gestanden hat. — Der II. Band der Arbeiten des vorbereitenden
Komitees bringt neben vielen kleinen, eine grosse und umfangreiche Arbeit,
über die Archive, insbesondere die Familien-Archive im Gouvernement Charkow.
Der Kongress wurde am 15. (28.) August eröffnet. Die Zahl der
Mitglieder betrug 402; es fanden 32 Sitzungen statt, in denen 94 Vorträge
gehalten wurden. Während des Kongresses wurden 2 Exkursionen in die
Umgegend Charkows gemacht und daselbst Ausgrabungen vorgenommen.
Aus der grossen Zahl der Vorträge heben wir einzelne hervor:
In der I. Sektion (Vorgeschichtliche Altertümer) wurden in
6 Sitzungen 22 Vorträge gehalten. Herr Gorodzow sprach über die Be-
stattung menschlicher Leichen mit einem Pferde; er unterschied
4 verschiedene Typen: in der ältesten Zeit wurden Pferde und Menschen
gemeinsam begraben, aber nicht nur ganze Pferde, sondern auch nur einzelne
Teile. Auch in der Eisenzeit wurden Menschen und Tiere gleichzeitig be-
stattet; wie es scheint, begrub man sogar lebende Pferde. Anhänger dieser
Sitte waren ursprünglich die Völker uralo-altaischen Stammes, jedoch nahmen
die Ureinwohner des jetzigen Russlands diese Sitte an. Erst während des
Kill.—XIV. Jahrhunderts hörten diese Gebräuche in Russland auf. — Eine
Anzahl von Mitteilungen beschäftigt sich mit den Ergebnissen der Auf-
deckung von Kurganen und Gorodischtschen, insbesondere ein grosser Goro-
dischtsch am Donez ist wiederholt untersucht worden (Chwoiko: Die
Gorodischtschen der mittleren Dnjeper Gegend; Gorodzow und
Samokwassow: Die Donez-Gorodischtsche). Von Interesse sind vor
allem die Auseinandersetzungen Samokwassows: Danach sind die ältesten
Anschauungen, wonach die Gorodischtschen als Kultusstätten eine religiöse
Bedeutung haben, durchaus aufzugeben. Bereits Passek. hat die richtige
Anschauung ausgesprochen: Gorodischtsche ist ein Ort, wo früher ein
Gorod (eine Ansiedelung) war. Dieser Auffassung schliesst sich Samo-
kwassow durchaus an. Lehrreich sind — als Bestätigung dieser Auf-
lassung — die Ergebnisse der Aufgrabung des schon genannten Donez-
Gorodischtsch bei Charkow; hier findet sich Alles, was auf eine Ansiedeluug,
190
C. Kongressbericht.
schliessen lässt. In der Umgebung der Gorodischtsch finden sich auch viel-
fach Gräber. In Betreff der Nationalität der Leute, welche jene Ansiede-
lungen bewohnten, kann die Antwort nicht völlig sicher gegeben werden.
Samokwassow meint, dass die Ansiedelungen, sowie die Grabstätten am
Donez aus der Zeit des Tataren-Einfalls stammten und dass die Bewohner
jener Ansiedelungen Polowzer gewesen seien.
W. Ssisow sprach über die Produkte der Töpferkunst, Stern über
die Ausgrabungen im nördlichen Bessarabien mit besonderer Berücksichtigung
der keramischen Funde, Sa witnewits ch über den Kultur-Einfiuss in Byzanz
auf die Lebensweise der Slaven während der Ivurgan-Periode. Eine Reihe
von Mitteilungen bezieht sich auf die Aufdeckung von Kurganen, insonderheit
auf die Lage der im Bereich der Aufschüttungen gefundenen Leichen
(M. Pokrowski in Werchno-Saltowsk, Gouvernement Charkow). Jantschuk,
Gorodzow, Wesselowski besprechen die Kurgane des Kubangebietes im
Kaukasus.
In Betreff der bereits oft erwähnten und von neuem wiederholt be-
stätigten Thatsache, dass die in Grabstätten gefundenen Knochen eine rötliche
Färbung aufwiesen, sind keine neue Erklärungen zu verzeichnen als die bis-
herige Ansicht, dass die Leichen bei der Bestattung sehr stark mit rotem
Farbstoff bestreut wurden (Melnik, Archäolog. Ausgrabungen in dem Kreise
Achtyrko-Kupjansk).
Professor ßagalei legte eine (neue) archäologische Karte des Gouver-
nements Charkow vor.
Auch mit den so vielfach besprochenen Steinfiguren (Kamenija baby)
beschäftigten sich einige Vortragende. In Berücksichtigung der vor ca.
12 Jahren gemachten Entdeckungen in der nördlichen Mongolei kann es
keinem Zweifel unterliegen, dass die auf den Kurganen stehenden Figuren
von Männern und Frauen Denkmäler der in dem Grabe darunter liegenden
Verstorbenen darstellen. Das geht aus den dabei entdeckten Inschriften
mit Sicherheit hervor. Was die Nationalität der Völker betrifft, durch die
die Steinbaby errichtet worden sind, so darf zunächst wohl angenommen
werden, dass es ein Türkenvolk war. Wesselowski beschreibt einen neuen
bisher noch nicht erwähnten Babentypus. Die Eigentümlichkeit des Typus
besteht darin, dass die Figur nicht wie gewöhnlich aufrecht steht, sondern
horizontal liegt. Er bezeichnet ihn als den Typus der liegenden
Steinbabi.
Aus den Vorträgen der 2. Sektion (Über geographische und
ethnographische Altertümer) ist hervorzuheben eine Mitteilung von
Krasnow über die Entwickelung der Wohnungen und Kleidung
der Bauern in der nächsten Umgebung Charkows, dass die Gross-
russen in zäher Weise sehr fest an dem Alten festhalten, während die Klein-
russen das Alte leicht aufgeben, sobald ihnen das Neue vorteilhafter erscheint.
C. Kongressbericht.
191
— Ferner sind zu berücksichtigen die Mitteilungen über die Kobsaren
(Banduristen) und Lyrniken (Leierspieler) d. h. über die wandernden
Volksmusikanten. Um den anwesenden Fremden eine richtige Vorstellung
von jenen jetzt allmählich aussterbenden Volkssängern zu geben, waren
einige jener Leute veranlasst worden, mit ihren Instrumenten zu erscheinen,
um zu spielen und zu singen. Kobsaren heissen die Leute, die auf der
Kobsa spielen — die Kobsa ist ein 8 saitiges Instrument, eine Art Mando-
line, auch Pandura genannt; Lyrniken heissen die Leute, die eine sog. Lyra
spielen. Die Kunst dieser Wandermusiker stirbt allmählich aus. Früher
spielten die Sänger und Spieler eine grosse Rolle im Volksleben (Sumzow:
Bemerkungen über Kobsaren und Lyrniken im Gouvernement Charkow;
Iwanov: Die Artelle der Blinden, ihre Organisation und ihre gegenwärtige
Lage; Chodkewitsch: Einige Worte über die Panduristen). — Pokrowski
sprach über die Goldschmiedekunst im Gouvernement Charkow und Wassi-
lenko über Weberei in Poltawa; Babenko über Teppich-Weberei. —
Eine Anzahl Vorträge hat einen historischen Inhalt: (Bagalei, Grün-
dung der Stadt Charkow).
Aus der 3. Sektion (Denkmäler der Kunst-Numismatik und
Sphragistik) ist nichts zu erwähnen.
In der 4. Sektion (Häusliches und öffentliches Leben, Rechts-
gebräuche) sind auch nur solche Vorträge gehalten worden, die ausserhalb
des hier uns interessierenden Gebietes liegen.
In der 5. Sektion (Kirchliche Altertümer) macht N. J. Troitzki
Mitteilungen über einen neu aufgedeckten christlichen Tempel im Taurischen
Chersones. Uwarow hat vor 50 Jahren daselbst die ersten Ausgrabungen
vorgenommen und sich energisch bemüht, dem durch unkundiges Graben ge-
machten Schäden zu steuern. Seit Uwanows Bemühungen wurden in Charkow
die Ausgrabungen methodisch fortgesetzt. Im Laufe der letzten Jahre wurde
eine grossartige Nekropole und das Fundament eines Tempels mit doppelter
Mauer aufgedeckt. Wahrscheinlich war der erste Tempel eingestürtzt und
es wurde ein zweiter aufgebaut. Ein anderer Tempel hat die Gestalt eines
Kreuzes mit gleichen Armen; er ist auf Grabgewölben — Katakomben —
errichtet, die durch verzweigte Gänge mit einander in Verbindung stehen;
hier sind Goldmünzen, Krüge, Lanzen gefunden worden. Der Fussboden
des Tempels ist bedeckt mit einem schönen Mosaik aus gelbem, rotem,
schwarzem und weissem Marmor. Auf Grund der gefundenen Münzen kann
man schliessen, dass der Bau im V., vielleicht am Ende des IV. Jahr-
hunderts ausgetührt worden ist. Auch Fresken mit griechischen und grusi-
nischen Inschriften haben sich erhalten.
Aus der 6. Sektion (Altertümer der Schrift und Sprache) seien
genannt: ein Vortrag von Simonik über den Kammer- und Hof-Gus-
Ksten Trutowski. Gusli ist ein Saiten-Instrument, eine Art liegende Harfe.
192
C. Kongressbericht.
Andere "Vorträge beschäftigen sich mit dem Stufenbuch (Stepennaja
knige), einer altrussischen Genealogie, mit einem kleinrussischen Philosophen
Skoworod, mit Evangelien-Handschriften u. s. w.
In der 7. Sektion (Klass. byzant. westeuropäische Altertümer)
wurden einige Vorträge gehalten, von denen wenigstens die Titel hier mit-
zuteilen wären. D. W. Ainalow sprach über die Ceremonien und Empfänge
der russ. Fürstin Olga am kaiserlichen Hof zu Konstantinopel, wobei er den
merkwürdigen Thronsessel des Kaisers ausführlich beschreibt. Kulakowski
schildert die Einrichtung eines byzantinischen Lagers im X. Jahrhundert;
das Lager war für 16 000 Mann festgesetzt. Shyssojew erörterte die
Nationalität der Kimerier, ohne zu einem völlig abschliessenden Urteil zu
gelangen; er meint, das Wort Kimerier sei kein griechisches.
Aus den Vorträgen der 8. Sektion (Slavische Altertümer) sei hin-
gewiesen auf eine Mitteilung Lipowskis: Kann man infolge philologischer
Erwägungen die Gorodischtschen des Dnjeper Gebietes (Pridnjeprowja) den
Slaven zusprechen? Der Vortragende beantwortet die Frage mit „nein“.
Es kann als eine ausgemachte Thatsache gelten, dass jene Grodischtschen
eine skythisch-griechische Kultur aufweisen; überdies sind die Skythen nicht
als Slaven anzusehen.
In der archaegraphischen 9. Sektion wurde nur über die Ein-
richtung von Archiven in Russland verhandelt.
D. Tagesgeschichte.
Görz. Am 20. Februar verstarb im Alter von 82 Jahren der österreichische
Diplomat Karl Ritter von Scherzer, der sich bekanntlich vom Setzerlehrling
bis zum bevollmächtigten Minister emporgearbeitet hatte. Seine Verdienste um die
Ethnographie hatte er sich in erster Linie als Teilnehmer der Novara-Expedition
und Bearbeiter des „wissenschaftlichen Teiles“ dieser Reise erworben.
Königsberg. H. Kemke wurde als Custos des Prussia-Museums angestellt.
Stockholm. Die Verwaltung des von Dr. Arthur Hazelius gegründeten
Nordischen Museums hat als Direktor des eigentlichen Museums Dr. Bernhard Salin,
bisherigen Assistenten am historischen Staatsmuseum, und als Direktor des Freilufts-
museums Skansen, Dr. Gunnar Hazelius, den Sohn des Begriindes. bestimmt.
Aufruf.
Mit der Herstellung eines Sammelbandes der kleineren archäologischen Schriften
des f Dr. Otto Tischler beschäftigt, richtet der Unterzeichnete hierdurch an alle
Freunde Tischler’s die Bitte, ihm von dem Vorhandensein solcher Schriften Kenntnis
zu geben, soweit sie nicht schon von Prof. Dr. Lindemann in den Schriften der
physikalisch-ökonomischen Gesellschaft in Königsberg Bd. XXXII (1891, in seiner
Rede am Sarge Tischler’s) und von dem Unterzeichneten an derselben Stelle
Bd. XXXVI (1895), Sitzungsberichte S. 34 Anm. 29, sowie im Vorwort zu dem von
Tischler hinterlassenen Tafelwerke über ostpreussische Altertümer (Königsberg 1902)
S. 8 Anm. 1 aufgeführt sind.
Heinrich Kemke, Königsberg i. Pr., Steindamm 165/166.
Internationales Centralblatt
für
Anthropologie und verwandte Wissenschaften
in Verbindung mit
D. Anutschin-Moskau, T. de Aranzadi-Barcelona, G. Colini-Rom,
A. Götze-Berlin, Fr. Heger-Wien, J. Heierli-Zürich, A. H. Keane-London,
Y. Koganei-Tokyo, F. v. Luschan-Berlin, L. M an ou v r i e r-Paris,
R. Martin-Zürich, O. M on te 1 iu s-Stockholm, S. R e i n a c h-Paris,
L. Stieda-Königsberg, A. v. Török-Budapest und anderen Fachgenossen
herausgegeben und geleitet von Dr. phil. et med. G. BuSChäil, Stettin.
8. Jahrgang.
Heft 4.
1903.
A. Originalarbeit.
Aus der Vorgeschichte von Donau- und Rheinland.
Von Prof. Dr. Mehlis.
I.
Bekanntlich tobt in den Kreisen der Keramiker zur Zeit ein
heftiger Streit über die Zugehörigkeit gewisser Formen der neo-
üthischen Keramik. Während Hofrat Dr. Schliz in Heilbronn, unter-
stützt von Dr. Götze-Berlin und Dr. Reinecke-Mainz, auf Grund
ihrer Erfahrungen behaupten, die verschiedenen Arten der Band-
keramik im weiteren Sinne seien gleichzeitig im Gebrauch gewesen,
Will Dr. Köhl-Worms diese als ältere Winkelbandkeramik, Spiral-
keramik, jüngere Winkelbandkeramik, Zonenbecherkeramik1) = Albs-
heimer Typus, getrennt nach Wohnstätten und Grabfeldern wissen.
Einen Beitrag zu diesem Scherbenkampf, und zwar in technologischer
wie in der von gewissen Berliner Grössen verbannten ethno-
graphischen Seite hin, lieferte jüngst ein Schüler Furtwänglers, der
Serbe Dr. Miloje Vassits in einer Spezialschrift: Die neolithische
Station Jablanica bei Meidjuluzje in Serbien (Verlag von Fr. Vieweg
und Sohn, Braunschweig 1902).
Die mit 133 meist gelungenen Abbildungen ausgestattete, in
einem etwas eigenen Deutsch geschriebene Abhandlung beschäftigt
sich mit den Resten einer Niederlassung, die gelegentlich eines Bahn-
1) vgl. Köhl: Über die neolithische Keramik Südwestdeutschlands bes.
S- 2—16, 20—21.
Intern. Centralblatt für Anthropologie. 1803.
13
194
A. Origmalarbeit.
baues, 54 km von der Hauptlinie Belgrad-Nisch gegen Westen, in
einem Hügel angetroffen wurden. Die Schicht hat eine Dicke von
0,30—2 m. In ihr lagen Klumpen von Hüttenlehm, Topfscherben,
Knochen, Steinwerkzeuge, Thonstatuetten und dergl. Darunter stiess
man auf die Feuerstellen mit Mahlsteinen und Herdsteinen. Wir
haben also hier eine Wohnstätte der jüngeren Neolithik aus dem
Gebiete der Morawa, des alten Margus, der Moesia superior, jetzt
Serbien, durchfloss. — Die Fundstücke sind im Nationalmuseum zu
Belgrad untergebracht.
Unter ihnen ziehen die Aufmerksamkeit der Archäologen be-
sonders auf sich die Reste kleiner, gebrannter Thonstatuetten.
Während Butmir in Bosnien nur 72 Thonstatuetten geliefert hat,
sind von Jablaniza bisher 83 Stück bekannt und meist hier abgebildet.
Der Yerf. scheidet hier diese primitiven Skulptur werke in solche
mit Yogelgesichtstypen und menschlichem Gesicht. Eine
dritte Gruppe, rohe Idole, gehören zu keiner von beiden Klassen
(Fig. 1—4). Diese Thonbilder geben meist weibliche Figuren wieder,
wobei einzelne ausgeprägte Steatopygie aufweisen. Die Idole er-
innern an ähnliche von Troja und Mykenae, besonders die mit dem
Yogelkopf, die Schliemann der Athene glaukopis zugeschrieben hat.
Aus Stein sind mehrere Tiergestalten dargestellt, so Vogel und Rind.
— Spuren von Kleidung, besonders von Schürzen, lassen die Frauen-
figuren mit denen von Butmir übereinstimmen, ebenso gehören die
Fundstellen von Tordos, Cucuteni und andere im südlichen Ungarn
hierher. — Auch die Caroussels aus Thon stimmen mit den Tro-
janischen überein, ebenso Wurfkugeln aus Thon, die man in Jabla-
niza und Hissarlik in grosser Anzahl gefunden hat.
Die Keramik stimmt in Gestalt — halbkugelige, rohe Töpfe,
vielfach mit Warzen —, Technik (roher Brand), Henkelbildung
(hierunter auch eine kyprische Form, Fig. 125) und besonders im
Ornament, das aus eingefurchten parallelen und spiralischen Linien,
Winkelbändern mit Grübchen, mit weissen Pasten ausgefüllten Punkten
besteht, mit den Erscheinungen der Spiralkeramik und der jüngeren
Winkelbandkeramik überein, wie sich solche auch in Mittelrheinland
bemerkbar macht. Einzelne Fundstücke, so Fig. 128, 129, 130, 131,
könnten gerade so gut Grabfeldern und Wohnstellen aus der Gegend
von Worms oder Dürkheim entstammen. Zunächst jedoch stehen
diese Formen in Verbindung mit Butmir, wo die Spirale als Relief
auftritt, Bos-öjük und Troja. — Ob übrigens die Drehscheibe
in Jablaniza erwiesen ist, muss nach den vorliegenden Abbildungen
noch bezweifelt werden. — Einen Fortschritt stellte jedenfalls gegen-
über den kleinasiatischen, nördlichen und westlichen Fundstellen
A. Origmalarbeit.
195
die häufige Anwendung der Polierstiche dar (Fig. 134—138). Im
Rheinlande erscheint diese Schmuckart erst in der Metallzeit in aus-
gebreiteter Anwendung.
Schliesslich macht der Yerf. auf den Schultern von Körte und
Tomaschek den Versuch, die archäologische Kette, die von Butmir
im Westen bis Troja im Osten zieht, nicht nur unter einen gemein-
samen archäologischen, sondern auch einen ethnographischen Gesichts-
punkt zu bringen. Mit obigen Forschern weist er auf die Thraker,
den ausgebreiteten Volksstamm im nördlichen Balkan-Hämus, als die
mutmasslichen Bewohner der genannten Wohnstätten hin. Auch die
prähistorischen Funde aus dem Burzenlande, die Julius Teutsch in
den „Mitteilungen der anthropologischen Gesellschaft zu Wien“,
Band XXX, beschrieben hat, scheinen ihm dahin zu gehören. Die
Phryger in Kleinasien, wozu ja Troja gehört, waren nach Körte ein
thrakischer Stamm, und so wäre auch die ethnographische Kette
vom Ufer der Bosna bis zum Gestade des Skamander hergestellt,
wenn zukünftige Funde und Thatsachen nicht diese Hypothese wieder
erschüttern.
Wenden wir diese allerdings z. T. noch hypothetischen Resultate
auf die im Anfang dieser Zeilen gestreifte Streitfrage hin, so geht
daraus zunächst hervor, dass sowohl Köhl2) wie Schliz3) Recht
haben, wenn sie die neolithische Bevölkerung mit Bogenband- oder
Spiralkeramik aus dem Osten ableiten und zwar aus der Thalung
der in west-östlicher Richtung fliessenden Donau.
Dagegen kann Schliz4) nicht beigestimmt werden, wenn er
die gesamte Kunst der Bandkeramik als eine einheitliche, der-
selben Bevölkerung angehörende bezeichnet. Die ältere Winkel-
bandkeramik ist weder in Butmir noch in Jablaniza aufgefunden
worden, auch nicht in Tordos und Troja, d. h. sie ist hier über-
haupt nicht vorhanden.
Diese Thatsache, wozu noch andere Erwägungen kommen, die
Ref. in seiner Schrift: „Die Ligurerfrage“ (1. und 2. Abteilung,
1899 und 1900, Fr. Vieweg und Sohn) im Einzelnen dargelegt hat,
drängen zu dem in diesen Abhandlungen erhaltenen Schluss.
Die Ligurerstämme drängten vom Süden her, von Massalia aus
durch das Rhönegebiet und längst des Doubs ins Mittelrheinland,
was überall ihre zahlreichen Ansiedlungen, ihre Orts-, Berg- und Fluss-
2) ygl. Köhl a. 0. S. 24.
3) vgl. Schliz im Correspondenzblatt d. d. Gesellschaft für Anthropologie,
1901, S. 108—111.
4) vgl. Schliz a. 0. S. 110.
13*
196
A. Originalarbeit.
namen, endlich ihre archäologische Hinterlassenschaft bezeugt, wozu
ältere und jüngere Winkelbandkeramik gehören.
Am Ende der neolithischen Periode kreuzte sich im Mittel-
rheinlande mit der von den Altligurern geübten, steifen Winkel-
bandkeramik, die in süd-nördlicher Linie vorgedrungen war, die aus
dem Osten stammende Spiralkeramik, welche thrakisch-illyrische
Stämme auslibten. Die Resultate dieser Kreuzung ergaben den
Albsheimer Typus, der beide Motive, das Winkelband und die
Bogenlinie, in sich zu einem dritten Typus vereinigt.5) Wenn
Köhl mit Recht anführt, dass „die Ornamentik hier schon mehr
verflacht und verwildert ist“, so steht dies mit der Thatsache der
Kreuzung zweier Stilrichtungen im Zusammenhang, wobei nichts
Besseres herauskommen kann, zweitens mit dem Gebrauche des
Metalles, hier in Form von dreieckigen Kupferdolchen und Bronze-
spiralen, der stets auf die Keramik degenerierend gewirkt hat.6)
Die Albsheimer Periode7) bildet den Abschluss der
neolithischen Phase im Mittelrheinlande und den Übergang
zur Metallzeit. Wenn die Etappen, auf denen die Spiralkeramik
aus Mösien und Dacien längst der Donau nach Westen bis zum
Neckar und Rhein vordrang, noch reichhaltiger festgestellt sein
werden,8) ebenso die betreffenden Grabfelder, die jetzt noch selten
sind, dann wird unsere, die Forschungen im Ost und West, zusammen-
fassende Gesamtansicht von der Gegenwirkung der verschiedenen
Formenkreise zur neolithischen Periode und vom Einfluss, den der
Osten Europas und die Balkanhalbinsel auf die Weiterentwicklung
dieser Periode und ihren Übergang zur vollen Metallzeit ausgeübt
hat, noch im Einzelnen bestätigt und ausgearbeitet werden können.
Die Thalengen des Rheins und der Donau brachten die Urein-
wohner und ihre Schnittpunkte die Weiterbildung der Kultur.
Naturgemäss häufen sich diese Funde im ersten Teile dieses
Landes, von Strassburg abwärts über Neustadt, Dürkheim, Worms,
Mannheim bis Mainz, Bingen, Wiesbaden. In Rücksicht auf die
5) Köhl a. 0. S. 12.
6) Über das Albsheimer Grabfeld vgl. Mehlis: „Studien der ältesten Ge-
schichte der Rheinlande“, II. Abt. S. 13—29. Köhl: Neue prähistorische Funde
aus Worms u. Umgebung, S. 57, Nr. 3 u. 4.
7) Im Gegensätze zu Dr. Köhl, der „über die neolitliische Keramik Süd-
westdeutschlands“ S. 11 behauptet: „Auf diesen — den Albsheimer — Gefäss-
typus habe ich zuerst aufmerksam gemacht“, stelle ich fest, dass in den „Studien
zur ältesten Geschichte der Rheinlande“ III. Abteilung, S. 17, Fig. 5 zuerst
von mir dieser Typus festgestellt und S. 17—19 in seiner Eigentümlichkeit
beschrieben wurde.
8) vgl. Schliz a. 0., S. 11: Karte der bandkeramischen Stationen.
A. Originalarbeit.
197
Bodenverhältnisse bevorzugten diese südlichen Einwanderer das
linke Rheingestade.9) Wären diese Uransiedler vom Osten her-
gekommen, wie Schliz unrichtiger Weise annimmt, so müsste sich
ältere Winkelbandkeramik oder Monnsheimer Typus im unteren Main-
und Neckargebiet vorfinden, was, abgesehen von einzelnen Scherben
in Grossgartach,10) nicht der Fall ist.
In etwas späterer Zeit, die aber noch neolithischer Natur ist,
zogen sich vom Donaulande aus neue Auswandererscharen, die nach
Körte, Tomaschek und Vassits thrakischen, nach der Ansicht von
Fligier und der des Referenten thrakisch-illyrischen Ursprungs sein
mochten, jedenfalls aber Gebrauch und Bekanntschaft der Spirale
und wahrscheinlich auch schon des Kupfers durch Handelsbeziehungen
mit dem Südosten der Balkanhalbinsel und den Küsten des ägäischen
Meeres — Troja, Amorgos und andere dortige Stationen — gemacht
hatten, hinauf über die niederen Pässe und hinab in die Teilungen
von Neckar und Main. Zieht man von den neolithischen Band-
keramikstationen Unter-Issling bei Regensburg und Rammingen bei
Ulm Verbindungslinien zum Main, Neckar und Rhein, so fassen diese
die Hauptstationen der Bandkeramik im Süden (Neckar), Norden
(Main) und Westen (Rhein) mit ihren Randungen ein.11) Innerhalb
dieses unregelmässigen Viereckes liegen im Süden Rammingen, Hof-
mauer, Cannstadt, Grossgartach, Heidelberg, Neustadt a. d. H., im
Norden Münnerstadt, Heidingsfeld, Eichelsbach, Steeten, Urmitz, im
Westen Neustadt, Dürkheim, Monnsheim-Worms, Alzey, Nierstein,
Mainzer Gegend. Im Ganzen friedlich, trafen im Mittelrheinlande
die beiden Völkerstämme zusammen.12)
II.
Hofrat Dr. Schliz in Heilbronn hat kürzlich in den „Fund-
berichten aus Schwaben“, X. Jahrgang, 1902/3 unter dem Titel:
>,Ua Tene-Flachgräber im württembergischen Unterland“
(mit 2 Tafeln, 20 Seiten) eine inhaltsreiche Arbeit erscheinen lassen,
9) vgl. die Karte in „Ligurerfrage'4; über die ältesten Besiedelungen aut
dem rechten Rheinufer vgl. neuestens Schumacher: Zur Besiedelungsgeschichte
des rechtsseitigen Rheintlials zw. Basel u. Mainz, S. 4—9 u. 29—30.
10) vgl. Schliz: Das Steinzeitdorf Grossgartach. Die strikte Zugehörig-
keit der drei auf Taf. XI verzeichneten Scherben zum Monnsheimer Typus ist
zweifelhaft.
11) vgl. das Kärtchen bei Schliz: Correspondenzblatt d. d. Gesellschaft f.
Anthropologie 1901, S. 110.
12) Von ausgesprochenen Waffen besitzen weder die liegenden, noch
die sitzenden Hocker, noch die „Gestreckten“ zweifellose Vertreter.
198
A. Originalarbeit.
die auch für Baden, Eisass und die bayerische Rheinpfalz von
grundlegender Bedeutung ist.
Schliz hatte Gelegenheit, in der Gegend von Heilbronn am
Neckar mehrere Reihengräberfelder festzustellen, die Funde der
gallischen La-Tene-Zeit (400 vor Christus bis zur Römerzeit) bei
den horizontal bestatteten Skeletten aufwiesen. Die betreffenden
Örtlichkeiten sind folgende: 1. Criesbach bei Niedernhall; 2. Flein;
3. Heilbronn; 4. Böckingen; 5. Horkheim. — Auch in der Heidel-
berger Gegend bei Wiesloch wurde 1902 ein analoges Gräberfeld
angeschnitten.13)
Unter den Beigaben erscheinen als charakteristisch Fibeln aus
Bronze und Eisen aus den drei Perioden der la-Tene-Zeit, mächtige
Schwerter aus Eisen, schlanke Speerspitzen, gebuckelte und ge-
knotete Hals-, Arm- und Beinringe. Die Gefässe sind von
roher, plumper Gestalt und entbehren bis auf eine zweifelhafte Aus-
nahme (II, 50 früh-fränkisch, nicht la-Tene-Zeit) jedwedes orna-
mentativen Schmuckes. — Die Schädel sind teils dolichokephal,
teils brachykephal, und zwar finden sich die Dolichokephalen im
Besitze der Waffen und des reichen Metallschmuckes, während diese
nur einen Wasserkrug oder einen Metallring, in keinem Falle Waffen
bei sich tragen. Die scheinbare Ausnahme des Skelettes an der
Heilbronner Pumpstation mit kurzem, breitem Gladius bestätigt die
Regel: es ist zweifellos ein römischer Krieger, der hier bestattet lag.
Auf Grund der im Ganzen zweifellosen Thatsachen konstruiert
nun Dr. Schliz folgende Serie historischer, im Einzelnen von Profi
Sixt ergänzter Ereignisse:
Um die Wende des 5. und 4. vorchristlichen Jahrhunderts
dringen über den Mittelrhein und zwar etwa von der Breite: Basel
bis Mainz aus gallische und gut bewaffnete Völkerschaften im Ge-
folge zahlreicher Höriger, die Breitschädel besassen, von Westen
nach Osten vor. Wie Flachgräber und Hügelgräber, Nekropolen
dieser Zeit, am linken Rheinufer (Leimersheim bei Germersheim, die
Nekropolen im Bienwalde, Ordejiswalde, Hasslocher Walde u. s. w.)
beweisen, rückt diese Völkerwanderung aus dem übervölkerten Mittel-
rheinland, wo sie die Hallstatt-Kultur bei Hagenau (vgl. Staatsrat
Dr. Nessels bahnbrechende Ausgrabungen) und Neustadt (vgl. Nekro"
pole im Binzenloch, aufgedeckt von Prof. Mehlis) jäh beendigt, in
das Neckarhügelland vor, etwa bis Wimpfen-Rappenau.
Hier teilt sich der Zug der gallischen Eroberer: der linke
Flügel zieht ins Mainland und rückt bis zum Thüringerwald vor,
13) vgl. Schliz a. 0. S. 28, Anmerk. 2.
A. Originalarbeit.
199
wo sie als Volcae Tectosages die römischen Autoren (Caesar, de
bell. gall. YI24) kennen und wo sie sich später mit den Nord-
germanen, den Hermunduren, vermischten. Der andere Flügel wendet
sich längst des Neckarstromes ins Donaugebiet, erobert als Boji,
Taurisci, Scordisci, dieses fruchtbare Gebiet mit Böhmen und Mähren,
und dringt über den Balkan bis Kleinasien vor. Ein dritter Zweig
bleibt im Neckarlande als Helvetii oder richtiger Elvetii wohnen,
wie Tacitus in der Germania (Kap. 28) berichtet, und die Ange-
hörigen dieses Stammes liegen wahrscheinlich in den Flachgräbern
bei Heilbronn bestattet. Unter ihnen scheidet Schliz mit Recht
die Herrengeschlechter und die Grundholden. Jene hatten z. B. auf
dem Burghügel bei Klingenberg am Neckar (5 km südwestlich von
Heilbronn gelegen) ihren Sitz, während jene zerstreut auf dem Lande
als Kolonen ihre Äcker bauten und auch unter der Römerherrschaft
als zinspflichtige Dekumatlandsbauern sitzen geblieben sind. Die
Ansicht des Elsässer Forschers Dr. Forrer von der Persistenz
der „glebae adstricti“ des Grundholdenstandes, der Krieg und Sieg,
Wanderungen und Dynastien überdauerte, scheint für das rechte
Rheinufer durch die Untersuchungen von Dr. Schliz bestätigt zu
werden. — An Stelle der gallischen Grossgrundbesitzer traten seit
der Einbeziehung des rechtsseitigen Mittelrheingestades in den Be-
stand der Provinz Germania einfach das Imperium romanum und
der kaiserliche Prokurator und später der Graf und der Abt der
romanischen Periode. — Jene selbst mussten sich seit dem Drucke
der Sueben des Ariovistus über den Rhein in die heutige Schweiz
zurückziehen. Diese neuen Eroberer aber, die Vangionen, Nemeter,
Triboccher, Markomannen, Horuden drängten jetzt ihrerseits nach
Südwesten in die Pfalz und ins Eisass vor, und in den Grabhügeln
des Bienwaldes, des Hasslocher Waldes, ebenso in den Tumulis der
Rheinwaldungen im Untereisass sind nach heimischen Sitten ihre
Gebeine verbrannt und über die Asche ist der Rasenhügel aufge-
schüttet worden (vgl. Tacitus, Germania, Kap. 27 und Mehlis in der
Zeitschrift: „Ptälzisches Museum“, Januar 1903: „Grabhügel im
Ordenswald und im Hasslocher Wald, mit Tafel; über die Elsässer
Hügelgräber und Flachgräber vgl. Winkler: Versuch zur Aufstellung
einer archäol. Karte des Eisass, S. 6—7; Winkler und Gutmann:
Leitfaden zur Erkennung der heimischen Altertümer, S. 40—53).
Auf die obige Annahme des historischen, durch die Nach-
richten von Caesar, Strabo, Tacitus bezeugten Zusammenhanges
zwischen dem Zurückweichen der Helvetier aus dem späteren Deku-
^atenlande, das bei Ptolemaeos (II, 11, 6) noch ’EXootjxlwv ep7]|xo?
= Helvetiorum desertum nach älteren Quellen (Strabo? vgl. Ptolemaei
200
A. Originalarbeit.
geographia ed. Carolus Müllerus p. 256 Note 2 zu ’EXouyjtcwv) ge-
nannt wird, und dem vorwärtsdrängenden Einwandern der Sueben
im 1. vorchristlichen Jahrhundert hat der Yerf. bereits in seinen
„Studien zur ältesten Geschichte der Rheinlande, 1. Abteil., S. 37
bis 43 hingewiesen.
Diese historisch bezeugten Verhältnisse erhalten neuerdings
archäologische Bestätigung durch die Aufdeckung der Nekropole
aus der jüngsten la-Tene-Zeit gerade in dem Gebiete, das speziell
den Nemetes, d. h. dem Waldland zuzuschreiben ist (vgl. über ihren
gallisch-germanischen Namen Mehlis: „Studien“ 1. Abt., S. 70—72),
welche mit Vangiowen und Tribocchern als erste Eindringlinge auf
dem linken Ufer des Mittelrheins historisch bezeugt sind. Noch
jetzt bildet die umfangreiche, zwischen Neustadt — römischer Vicus!
— und Speyer (colonia Nemetum, vorher Noviomagus = Neufeld)
gelegene ausgedehnte Forst, die den Gemeinden Mussloch, Speyer-
dorf-Lachen, Hassloch, Iggelheim, Böhl, Dannstadt, Schifferstadt,
Geinsheim, Hanhofen, Dudenhofen, Harthausen, Lingenfeld u. a. 0.
als Eigentum gehört, ein grosses, nur durch einzelne Rodungen
unterbrochenes Waldgebiet (= altgerm. nimid, = altgallisch nemet).
In diesem sind nun dicht bei einander Grabhügelgruppen festgestellt
und vom Verfasser i. J. 1902 aufgedeckt worden, welche zweifellos
(vgl. Pfälzisches Museum, a. 0.) der Einfallperiode der Nemeter auf
das linke Rheinufer entsprechen und ausserdem in der Art der Be-
stattung, des Hügelbaues und der Beigabe auf spezifisch germanische
Sitten und Gebräuche schliessen lassen.
Auf die Thatsache, dass sich in der südlichen Rheinebene am
rechten Ufer, also in Oberbaden, die Funde der Mittel- und besonders
der Spät-la-Tene-Zeit nur spärlich festsetzen lassen, hat mit
Bezug auf Völkerbewegungen dieser Periode auch Schumacher
letzthin wiederholt aufmerksam gemacht (vgl. Zur Besiedelungsge-
schichte des rechtsseitigen Rheinthaies zwischen Basel und Mainz
S. 15 und ausführlicher 29. Heft der „Schriften des Vereins f. Ge-
schichte des Bodensees“, S. 15—19). Diese auffallende Spärlichkeit
der Fundstellen aus der Zeit des 2.—1. vorchristlichen Jahrhunderts
„bezeugt jenen Zustand, den die Schriftsteller als helvetische Ein-
öde bezeichnen, wenigstens für die Spät-la-Tene-Zeit“, schreibt hier-
über Schumacher wörtlich. Auch die Thatsache, dass nach den
Grabhügelfunden von Ebersberg und der Zuringmauer bei Dürkheim,
sowie nach den Ergebnissen in den Grabhügelnekropolen im Ordens-
wald und im Hasslocher Wald bei Neustadt durch die germanische
Invasion die Kultur zunächst zurückging, bestätigt Schumacher für
die rechte Rheinseite (vgl. a. 0. S. 15—16). Während Schumacher
A. Originalarbeit. — B. Referate, Anthropologie.
201
dies mit dem Halbnomadenstand der germanischen Eindringlinge
in Zusammenhang bringt, dürfte vielmehr dieser Rückzug mit dem
Absperrung der Sueben vom Handel und Verkehr (vgl. Caesar de bell,
gall. IV, 2) und ihrer einfachen Lebensweise (a. 0. IV, 1) in Zu-
sammenhang stehen.
Auf diese Weise ergänzen sich die Nachrichten der klassischen
Schriftsteller durch die Arbeit des Spatens und die Kombination der
vergleichenden Archäologie. Hoffentlich gelingt es auf dem von
Schumacher, Schliz, Henning, Winkler, dem Verfasser u. a.
betretenen Wege, das Dunkel, das über der mittelrheinischen Vor-
geschichte liegt, baldigst dem helleren Schimmer der wissenschaft-
lichen Aufklärung weichen zu lassen!
B. Referate.
I. Anthropologie.
235. P. A. Minakow: Die Bedeutung der Anthropologie in der
Medizin (Russisch). Russische Zeitschr. f. Anthropologie
1902, Nr. 1, S. 89.
Nach Erwähnung einiger Thatsachen der Anatomie und Physiologie
der Menschenrassen und vor allem der auffallenderen unterscheidenden Merk-
male derselben, wendet sich Verf. zu einer Übersicht der Rassenpathologie
(Immunität gegenüber bestimmten Infektionskrankheiten, besondere Neigung
zu psychischen und nervösen Erkrankungen bei gewissen Rassen, von Selbst-
mord u. a. m.). Die Frage, welchen praktischen Nutzen bietet uns die
Anthropologie? beantwortet Verf. mit einem Hinweis auf die Bedeutung-
gewisser anatomischer Merkmale (Form der Nägel nach Régnault und Minakow,
Bertillonage u. s. w.) für die Agnostizierung von Verbrechern. Auch als
sog. medizinische Hilfswissenschaft soll die „Anatomie des Menschenwie
Verf. nach dem Vorgänge Waldeyers und anderer betont, Rassenanatomie
sein, also einen Teil der physikalischen Anthropologie darstellen. Im Ganzen
eine geschickte und angenehm zu lesende Darstellung von Fragen, über die
jeder Mediziner sich mit Nutzen informieren wird.
Richard Weinberg-Dorpat.
236. F. Frasetto: La variabilité del cranio umano. Atti d. Soc.
Romana di antropologia, 1902. Vol. VIII, Fase. III (S. 45).
Um einen Versuch über die Verwertbarkeit der Schädelbeschreibung
nach der kombinieten Methode Sergi-Camerano zu machen, unterwarf F.
202
B. Referate. Anthropologie.
180 Schädel der Stadt Messina, welche bereits vorher von Mondio genau
beschrieben wurden, in dieser Richtung seiner Untersuchung (s. Centralbl-
für Anthropol. 1899, IV, S. 217). Yon den Sergischen Gruppen waren
besonders die Formen Ellipsoides, Sphenoides und Pentagonoides vertreten;
die Methode Cameranos ist eine „quantitativ-statistische“, indem sie die
Schädel je nach dem Geschlechts, Form und Alter (in Perioden von 20 zu
20 Jahren) gruppiert. Als Ausgangspunkt seiner Messungen nimmt F. den
kleinsten Stirndurchmesser an. Er gelangt zu folgenden Schlüssen: Die
Yariabilität des Gehirnschädels ist grösser, als jene des Gesichtsschädels;
die Variabilität des Schädelbogens ist grösser, als jene der Schädelbasis;
die Yariabilität ist bei den Weibern grösser, als bei den Männern.
Dr. Oskar v. Hovorka- Wien.
237. G. Trascino: Un caso di macrosomia. Atti d. Società Rom.
di Antropol. 1903. Yol. IX, fase. 1 u. 2, S. 95—150.
T. untersuchte neuerdings das im anatomischen Institute zu Turin be-
findliche Skelett des Riesen Borghello, welcher als 19 jähriger Bauer im
Jahre 1837 in Turin starb. Die Skeletthöhe wurde damals von Demichelis
auf 216 cm angegeben; die richtige Zahl ist nach T. 210. Er stammte
aus einer hochgewachsenen Familie, seine Mutter hatte eine Körperhöhe von
197 cm; er selbst begann seit seinem vierzehnten Lebensjahre sehr rasch
an Körpergrösse zuzunehmen. Nach Taraffi gehört er zu den absoluten
(jenseits von 200 cm) und gracilen Riesen und wäre offenbar noch grösser
geworden, da alle Epiphysen der langen Knochen noch offen waren. Ausser
einigen Abweichungen des Skelettbaues wäre erwähnenswert die geringe
Schädelkapazität (1910 ccm), der Schädelindex 80,00, der Gesichtsindex 63,94,
sowie eine bedeutende Vergrösserung des Türkensattels. Die Schädelhöhe
ist im Vergleich zur Körpergrösse gering; ebenso bleibt der Gehirnschädel
im Vergleiche zum Gesichtsschädel zurück. Der Unterkiefer ist nicht ver-
grössert; die Zahl der Wirbel ist nicht vermehrt.
Dr. Oskar v. Hovorka-Wien.
238. v. Giuffrida-Ruggeri: Qualche contestazione intorno alla più
vicina filogenesi umana. Monitore zoolog. ital. 1902.
Anno XIII, Nr. 10, S. 257—270.
Den Streit über die nächsten Vorfahren des Homo sapiens haben
bisher weder die eingehendsten vergleichend anatomischen Arbeiten der ge-
wiegtesten Forscher, noch die Entdeckung des Pithecanthropus erectus zu
schlichten vermocht. Während man es schon längst aufgegeben hat, die
nächsten Verwandten des Menschen unter den höchsten Anthropoiden zu
suchen, ist man heute gezwungen, bei den phylogenetisch tiefer stehenden
Tieren Anknüpfungspunkte zu entdecken und zwar unter Zuhilfenahme der
B. Referate. Anthropologie.
203
verschiedensten Körperteile. So knüpft Cope die Verwandtschaft der Anthropo-
morphen nicht an die niederen Affen, sondern an die Lemuren, indem er
auf augenspringende Analogien der Zähne beider Gruppen hinweist; zwischen
den Anaptomorphus homunculus des Eocäns und den Hominiden des Pleistocäns
schaltet er ein bestimmtes Genus ein, welches Merkmale zugleich von Simia
und Hylolates aufweist. Morselli findet den homo sapiens sogar mehr
pithecoid als die höheren Affen, indem er darauf hinweist, dass der M. flexor
dig. min. weniger atrophisch ist, als beim Schimpanse und Orang. Nach
Albrecht müsste der Mensch ganz und gar als ein niederer Affe angesehen
werden. G.-R. wendet sich gegen solche Schlussfolgerungen und erklärt
diese scheinbar paradoxen Erscheinungen dadurch, dass der Mensch gewisse
Merkmale der niederen Affen in einem niederen Grade beibehalten hat, als
die Anthropoiden, sowie wieder diese andere Eigenschaften bewahrten, welche
der Mensch verloren hat. JDr. Oskar v. Hovorka-Wien.
239. J. Elbert Cutler: Tropical acclimatization. American Anthro-
pologist. 1902. N. S. Vol. IV, S. 421 ff.
Soviel auch über tropische Akklimatisation geschrieben worden ist, so
wenig wissenschaftlichen Wert hat doch das Alles und die neuere Wissen-
schaft verlangt dringend eine strenge Kritik der angeblichen Beobachtungen,-
sowie die planmässige Feststellung neuer Thatsachen. Erst in neuerer Zeit
(1898) hat Sambon gesundere Ansichten entwickelt. So löst er den Begriff
„Sonnenstich“ auf in zwei ganz verschiedene Zustände: Hitzschlag (syncope)
und thermisches Fieber (oiriasis), das nicht die unmittelbare Folge grösserer
äusserer Hitze ist (in den Philippinen z. ß. so gut wie unbekannt), sondern
wahrscheinlich infektiöser, mikrobischer Natur ist. Viel ist dem Klima zu-
gerechnet worden, was nur die Folge von schlechten sanitären Einrichtungen
auf den Schiffen, Ansiedelung in Malaria-Gegenden, ungesunden Lebensge-
wohnheiten, Alkohol, geschlechtlichen Ausschweifungen etc. war. Die meisten
tropischen Krankheiten sind parasitärer Natur, denn nicht das Klima als
solches bringt sie hervor, noch schwächt es die Konstitution (Schwächlichkeit
der Kinder in den Tropen, Verschlechterung der Konstitution alter Ansiedler,
Unfruchtbarkeit). Die nicht-klimatischen Schädlichkeiten, die in den Tropen
vorhanden sind, lassen sich durch zweckmässige sanitäre Einrichtungen heben
oder doch entschieden vermindern: die Hitze in den Häusern kann herab-
gesetzt, Eis billig hergestellt werden etc., und gegen die eigentlichen para-
sitären Tropenkrankheiten wird man um so wirksamer operieren können, je
mehr man die Parasiten selbst kennen lernt. Die Errichtung einer be-
sonderen Schule für Tropen-Heilkunde in London 1899 ist ein wichtiger
Schritt auf dieser Bahn. JE. Schmidt-Jena.
204
B. Referate. Anthropologie.
240. J. Travers: Internationales Verbrecher-Album. Nur zum
diskreten Dienstgebräuche für Beamte bestimmt. Mainz 1902,
Selbstverlag des Herausgebers.
Wenngleich das vorliegende Album eigentlich nur zum praktischen
Gebrauche für Kriminalbeamte bestimmt ist, insofern es den mit Strafver-
folgung und Strafjustiz befassten Behörden ein Hilfsmittel bieten soll, um
die Verhaftung flüchtiger, noch steckbrieflich verfolgter Delinquenten zu er-
leichtern und raschen Aufschluss zur Ermittlung der Identität solcher Indi-
viduen zu geben, so dürfte es auch für den Kriminalanthropologen von
wissenschaftlichem Interesse sein. Es bringt 502 bald besser, bald weniger
gut ausgeführte Porträts von Delinquenten der verschiedensten Länder
(1. Mörder, 2. Räuber, Einbrecher und Diebe, o. Taschendiebe, 4. Fälscher,
Betrüger und Defraudanten, 5. Post- und Amtsdefraudanten, 6. Hochstapler,
7. Sittlichkeitsverbrecher, 8. sonstige Delinquenten, 9. weibliche Delin-
quenten), welche in den Jahren 1894—1902 in dem vom selbigen Ver-
fasser, Polizeirat und Polizeiamtsvorstand in Mainz, herausgegebenen „Inter-
nationalen Kriminal-Polizeiblatte“ veröffentlicht worden sind. Jeder Ab-
bildung ist am Schlüsse des Werkes eine kurze Lebensgeschichte, bezw.
auch eine Schilderung des Äusseren des betreffenden Delinquenten beigegeben.
Unterzieht man das reiche Material einer Durchsicht, dann wird man
allerdings manchen Verbrecher auf den ersten Blick herauserkennen, da er
die von Lombroso aufgestellten Stigmata in augenspringender Weise dar-
bietet, auf der andern Seite aber auch wieder eine ganze Reihe von Typen
darin finden, die in ihrem Äussem absolut nichts darbieten, was sie zum
Delinquenten stempeln würde.
Für das Studium der Verbrecherphysiognomie sei das Album bestens
empfohlen. Buschan-Stettin.
241. Alexander F. Chamberlain: Work and Rest: Genius and
Stupidity. Populär Science Monthly, 1902, March, S. 413—23.
In diesem Essay, das mehr eine tiefe Wahrheit ahnen lässt als sie
beweist, und das darum als wissenschaftliches Essay bezeichnet werden mag,
zeigt Verf. an einer Reihe von Beispielen für das Leben des Tieres, des
Kindes, der Frau, des Genies, des Verbrechers, des primitiven Menschen,
des Volkes und der Rasse, dass mit Gesetzmässigkeit kurze Perioden der
Arbeitsleistung, meist sogar intensiver physischer wie geistiger Arbeits-
leistung abwechseln mit sehr langen, unverhältnismässig langen Zeiten der
Ruhe und Unthätigkeit. Kurz, Verf. will den volkstümlichen Glauben recht-
fertigen, dass ein Tag so gut sei wie drei, und eine Stunde ganze Jahre
aufzuwiegen vermöge. Die Beispiele sind gut gewählt, aber nicht alle stich-
haltig; so erscheint es z. B. mindestens gewagt, den Zuchthausknall als eine
erhöhte Arbeitsleistung der Verbrecheq^syche anzunehmen. Auf Grund seines
B. Referate. Anthropologie. — Ethnologie.
205
theoretisch gewonnenen Gesetzes kommt Verf. zu der Ansicht, wie nach
neuesten Untersuchungen 2 Stunden physischer Arbeitsleistung für den Tag
bei ökonomischer Verteilung der Arbeit und ihres Erzeugnisses ausreichen
sollen, so möchten auch wohl 2 Stunden geistiger Arbeit für den Tag ge-
nügen, um unter verständiger Arbeitsbewertung die Welt in ihrem Gange
zu erhalten. Welch mächtigen Ausblick bietet diese Lehre von der Zeit-
verschwendung für die sociale und Rassenhygiene und Erziehung! Der
Dichter der Zukunft, meint Verf. am Schluss, würde vielleicht singen:
„Besser der Neuen Welt Stunde als Europas langer .Tag“. Sollte indes
nicht des Verf. Postulat trotz der ihm innewohnenden Wahrheit ein frommer
Wunsch bleiben? Br. Läufer-Giessen.
II. Ethnologie.
A. Allgemeines.
242. Bibliotheca geographica. Herausgegeben von der Gesellschaft
für Erdkunde zu Berlin. Bearbeitet von Otto Baschin.
Bd. VIII, Jahrgang 1899. Berlin, W. H. Kuehl, 1902.
Wir haben bereits mehrfach Gelegenheit genommen, auf die verdienst-
volle Litteraturzusammenstellung Baschins’s in gebührender Weise aufmerksam
zu machen. Der vorliegende 8. Band verdient in gleicher Weise unsere
ungeteilte Anerkennung. Indessen können wir es uns nicht versagen, auf
einen kleinen Übelstand hinzuweisen, d. h. das allzuspäte Erscheinen des
Berichtes. Er bringt die geographische Litteratur des Jahres J899 und
gelangt erst mit Beginn des Jahres 1903 zur Ausgabe. Würde es sich
nicht ermöglichen lassen, bereits ein Jahr nach dem Erscheinen der Litteratur
die Zusammenstellung der Öffentlichkeit zu übergeben? Bei anderen Dis-
ziplinen, die über eine viel weiter zerstreute Litteratur verfügen, ist diese
Schnelligkeit der Berichterstattung doch erreicht worden. Wie wichtig es
bei unserem schnellarbeitenden Zeitalter und der grossen litterarischen Uber-
produktivität für den, der wissenschaftlich arbeitet, ist, möglichst schnell
Kenntnis von der vorhandenen Litteratur zu erhalten, bedarf keiner weiteren
Ausführung.
Bei den nahen Beziehungen der Geographie zur Anthropologie und
Ethnologie erscheint es überflüssig, von neuem darauf hinzuweisen, dass die
Bibliotheca geographica auch für unsere Eachgenossen von grösstem Werte
ist, zumal sowohl in dem allgemeinen Teile, wie auch in der speziellen
Geographie bei den einzelnen Ländern der „Anthropogeographie“ stets ein
besonderes Kapitel eingeräumt wurde. Natürlich können wir keine er-
schöpfende Zusammenstellung der einschlägigen Litteratur erwarten, sondern
dieselbe nur soweit vertreten sehen, als sie zur Geographie in engerem Zu-
sammenhänge steht. Aber es bestehen ja für diese Zwecke besondere
206
B. Referate. Ethnologie.
Bibliographien. — Beachtenswert ist, dass in dem vorliegenden Bande die
russische geographische Litteratur (bei gleichzeitiger Hinzufügung einer
deutschen Übersetzung der Titel) durch M. Groll in Charlottenburg eine
grosse Vervollständigung erfahren hat. Der Umfang des 8. Bandes ist der
gleiche wie des vorausgehenden geblieben. Buschan-Stettin.
243. Rudolf Lenz: Über den Ursprung und die Entwickelung der
Sprache. Die Neueren Sprachen. Zeitschrift f. den neu-
sprachlichen Unterricht, herausgegeben von Wilhelm Victor.
1900—1901. Bd. VIII, S. 449—472, 513—534 u. 577—589.
Bd. IX, S. 1—12.
Der auf dem Gebiete der araukanischen und allgemeinen Sprach-
forschung wohl bekannte Sprachforscher Rudolf Lenz hat die Gelegenheit
benutzt, eine Besprechung des Buches vou Jespersen (Progress in Language
with special reference to English, London 1894, Swan Sonnenschein & Co.)
zu einer wirklichen Kritik desselben zu erweitern und mit Berücksichtigung
des klassischen Werkes Georg von der Gabelenz (Die Sprachwissenschaft,
ihre Aufgabe, Methoden und bisheriger Ergebnisse, Leipzig, Weigel 1891)
seine eigenen Ideen über Ursprung und Entwickelung der Sprache daran
anzuknüpfen. Der reiche Inhalt der Abhandlung kann kaum nur angedeutet
werden; aber wer als Nicht-Fachmann auf linguistischem Gebiete auch nicht
überall zu folgen vermag, wird doch für die allgemein-wissenschaftlichen
Schlüsse dankbar sein, Schlüsse, die für die Gesamtanthropologie von höchster
Wichtigkeit sind. Soweit es dem nicht speziell sprachlich geschulten Inter-
essenten möglich, sei auf die offenbar wichtigsten Punkte teilweise in
wörtlicher Wiedergabe eingegangen.
Die bekannte Einteilung der Sprachen in isolierende, agglutinierende
und flektierende sollte nach Schleicher den Gang der Entwickelung aller
Sprachen darstellen, abgeschlossen in der vorgeschichtlichen Zeit des Menschen-
geschlechts, da die Sprachen innerhalb des Beobachtungszeitraumes, also in
geschichtlicher Zeit, kein Werden mehr, sondern nur ein Vergehen, Altern,
Verfallen, Auflösen zeigen. Letzteres ist indess nur eine Unvorsichtigkeit
beim Ausdruck; statt von morphologischer Analyse und phonetischem Zerfall
zu reden, sprach man allgemein vom Verfall der Sprachen.
Was das Erlernen der Muttersprache von Seiten des Kindes anbelangt,
so kommt Lenz zu dem Resultat, dass dies von dem Kinde grössere oder
geringere Anstrengung verlangt, je nachdem die Sprache phonetisch und
morphologisch einfach oder kompliziert ist, und dass eine angeborne Dis-
position für die Sprache der Eltern durchaus nicht vorhanden ist.
Das Verhältnis der Sprache zur allgemeinen Psychologie und zur
absoluten Logik ist noch wenig aufgeklärt. Wie weit lässt sich die Logik
einer bestimmten Sprache von den absoluten Denkgesetzen trennen ? Das
B. Referate. Ethnologie.
207
ist schwer zu beantworten, denn wir fragen uns meistens nie: „Wie denkt
das der Eingeborene?“ sondern wir suchen nach dem besten Ausdruck in
unserer eigenen Sprache. Im Grunde genommen müssen ja die Gesetze des
menschlichen Denkens von allen Sprachen unabhängig sein. Sicher entspricht
wohl keine Sprache diesen Gesetzen am besten, mit grösster Wahrscheinlich-
keit vielleicht das Chinesische. Unser Autor hält es für möglich, dass ein
Mensch, der zunächt in einer Sprache denken gelernt hat, eine zweite ganz
verschiedene richtig denken lernen und dass ein Kind zugleich in zwei
Sprachen denken lernen kann.
Die ursprüngliche Bedeutung und Entstehung der Flexionen der indo-
germanischen Gruppe kann z. Z. nicht befriedigend erklärt werden; wir müssen
andere Sprachen wissenschaftlich zergliedern, die vielleicht in ihrem Bau
klarer sind und auf den der indogermanischen Sprachen Streiflichter werfen
könnten und vielleicht wird auf amerikanischem Boden die sprachgeschicht-
liche Forschung einige ihrer ergiebigsten Minen finden.
Die Agglutinationstheorie als Erklärung der Flexionen ist nach Yerf.
insofern richtig, als Flexion nach seiner Auffassung in Zersetzung über-
gegangene Agglutination ist. Der Yerfall beginnt durch phonetische Ur-
sachen und wird nicht mehr durch psychologische Gründe der Klarheit auf-
gehalten. Die meisten agglutinierenden Sprachen zeichnen sich durch grosse
Regelmässigkeit des Baues aus; dieselbe grenzt manchmal für den an Flexion
gewohnten Forscher geradezu ans Unglaubliche. Die bei den agglutinierenden
Sprachen primitive Einfachheit verliert sich allerdings gegen das Ende der
Entwicklung beim Übergang zur Flexion. In den flektierenden Sprachen
bildet sich erst von neuem eine Einfachheit heraus, indem die Endungen
zusammenschmelzen und schliesslich abfallen, während andererseits die Be-
ziehungen durch neue Hilfsworte ausgedrückt werden, die wieder mit einer
Regelmässigkeit verwandt werden, die der Agglutinationsregelmässigkeit ent-
spricht. Auf diesem Wege ist das Englische weiter fortgeschritten als
irgend eine andere europäische Sprache. — Das Wesen des Zustandes der
Flexionslosigkeit einer Sprache wird am besten am Chinesischen ersehen.
Dies ist keineswegs, wie durch Schleicher verbreitet wurde, der lypus der
Ursprachen, aus denen später die agglutinierenden Sprachen hervorgegangen
sein sollten, sondern die feste Wortstellung des Chinesischen hat sich erst
allmählich entwickelt beim Übergang von einer älteren flexivischen Sprach-
stufe zur heutigen flexionslosen. „Eine so streng logische Gliederung, wie
sie das heutige Chinesische aufweist, ist auch schlechterdings dem Urmenschen
nicht zuzutrauen, sie ist vielmehr die höchste sprachliche Errungenschaft
des Menschengeistes, denn sie ermöglicht es, mit der geringsten Kraft-
anstrengung die Beziehungen der Begriffselemente klar und deutlich auszu-
drücken. Das Chinesische ist also vom psychologischen Standpunkt die
höchstentwickelte Sprache, die wir kennen.“
208
ß. Referate. Ethnologie.
Die flexivischen Sprachen streben, in fortschrittlicher Tendenz, mehr und
mehr danach, die Wortstellung für grammatische Zwecke nutzbar zu machen.
Ersatz der Flexion durch Wortstellung ist der Sieg geistiger Mittel über materielle.
Das Englische ist anerkannter Maassen unter den indogermanischen
Sprachen zur höchten Stufe der Entwicklung gelangt. Einmal vor vier-
tausend Jahren mag aber der Chinese der höchste geistige Typus der
Menschheit gewesen sein und dem entspricht seine Sprachentwickelung.
„Unsere Sprachen werden dank der Lautschrift wohl nie mehr so weit
kommen, wie das Chinesische schon damals war.“
Was die gesamte Sprachentwickelung anbetrifft, so ist das Chinesische
durchaus nicht eine primitive Sprache. Gewiss gab es aber einen isolierenden
Stand einer Sprache, wie es z. B. etwa das Araukanische darstellen würde,
wenn wir die Kombinationen mit den untergeordneten Pronominalendungen
und den eingeschobenen untergeordneten Hilfsverben hinwegdenken. Gewiss
wäre eine solche Sprache nur ein höchst mangelhaftes Mittel des Gedanken-
ausdrucks, aber es ist gang unmöglich, an die erste Sprachform der Menschheit
Anforderungen zu stellen, wie wir sie bei den existierenden Sprachen er-
füllt zu sehen gewohnt sind. Die Sprachen der Menschen (denn Sprach-
bildung ist an verschiedenen Stellen der Erde unabhängig geschehen) haben
sich zugleich mit dem Denken entwickelt.
Auf dem angedeuteten Zustand der Isolation steht aber z. Z. keine
einzige Sprache mehr. „Denn der Mensch, auch auf der niedrigsten uns
bekannten Kulturstufe, sei es Papua oder Feuerländer, ist überall über den
Zustand des unklaren Denkens und demgemäss über den Zustand des un-
klaren Sprechens mit einer Sprache, die zwar Sinnwörter (oder Sinnwurzeln,
das ist gleich) hatte, aber noch keine oder ungenügende Beziehungsworte,
hinausgekommen. Dass dem so ist, darf uns nicht wunderbarer erscheinen
als die Thatsache, dass es keine Menschen ohne Sprache giebt. Nicht die
gesamte Sprachbildung, wie Schleicher meinte, liegt in vorhistorischer Zeit,
sondern nur die Ausbildung der beziehungsfähigen Sprache, von da ab geht
alles noch vor unseren Augen vor sich.“ Eine scharfe Drei- oder Vier-
teilung sämtlicher Sprachen ist daher durchaus künstlich, denn alle die betr.
Formen geben allmählich in einander über. Isolierung (im Sinne des
Chinesischen) ist also einerseits das materielle Aufgehen des Formelements
im Sinnwort und sein Ersatz durch immaterielle Stellungsgesetze und anderer-
seits die völlig erhaltene materielle Trennung gewisser ursprünglicher Sinn-
wörter, die zu leeren Formwörtern mit syntaktisch geregelter Stellung werden.
Flexion die Untrennbarkeit, Agglutination die Trennbarkeit von Sinnwort
und Formelement (Beziehungselement). Inkorporation oder Polysynthetismus
die noch nicht vollzogene Loslösung der Sinn Wörter (Begriffsträger) des Ur-
teils von einander und von den um sie herum verstreuten Beziehungs-
elementen.
B. Referate. Ethnologie.
209
Die flektierenden Sprachen dürften ziemlich sicher aus agglutinierenden
entstanden sein und ihre Entwicklung, speziell die der indogermanischen
Sprachen, zeigt eine fortschrittliche Tendenz von untrennbaren, unregel-
mässigen Konglomerationen zu frei und regelmässig kombinierbaren kurzen
Elementen. Nur von flektierenden Sprachen kennen wir ja eine einen längeren
Zeitraum umfassende Geschichte ihres Lebens. Aber wie wir aus den neben-
einander bestehenden heutigen Lauten verschiedener verwandter Dialekte,
geleitet von rein physiologischen Gesichtpunkten, die unbekannte Geschichte
der Lautentwickelung dieser Dialekte ermitteln können, so können wir auch
aus den nebeneinander stehenden Formen der agglutinierenden Sprachen mit
Hilfe der Psychologie die Geschichte der Formbildung erhellen.
Da wir hier, um nicht zu ausführlich zu werden, nicht weiter darauf
eingehen können, wie sich Yerf. mit Jespersen betr. des Ursprungs der
Sprache auseinandersetzt, wenden wir uns direkt seinen eigenen Anschauungen
über diese Frage zu.
Zunächst wäre das Verhältnis zwischen Wort und Gedanke festzu-
stellen. Wie auch bei höheren Tieren der Fall, hatte der primitive sprach-
lose Mensch wohl nicht nur Gefühle und Instinkte, sondern auch mehr oder
weniger klare Vorstellungen und Erinnerung an Wahrnehmungen. Insofern
war das Wort zur Bezeichnung derselben etwas Zweites, im Augenblick des
Sprachbeginns Neues, freilich diese änsserliche Wiedergabe des Denkens
durch das Wort mangelhaft, wie auch das Denken selber unklar im Ver-
gleich zu unserem heutigen Fortschritte. Der sprachlose Mensch war jeden-
falls nicht stumm. „Er hatte mehr oder weniger zahlreiche und auch schon
bis zu einem gewissen Grade artikulierte Lautäusserungen, zunächst natürlich
nur als Gefühlsausdruck.“
Zur Beurteilung der Artikulation der Schreie muss man an die musika-
lischen Fähigkeiten und Neigungen des Urmenschen denken; der dem Menschen
näherstehende Anthropoide, der Gibbon, besitzt solche in bedeutendem Grade.
Hann kam rhythmische Unterbrechung der Vokale durch Konsonanten, wohl
teilweise in Nachahmung der Singvögel, also eine Art Jodelgesang, der zur
Gewohnheit geworden die Artikulation aus der unendlichen "V arietät der
möglichen Laute bald zu der Stabilität der häufigsten Sprachlaute bringen
und das Atmen, wie es zum Sprechen notwendig ist, verlangsamen musste.
Gelegentlich konnte nun aus dem Schrei und Jodler ein Wort werden. Die
ersten Worte müssen kurze Lautverbindungen gewesen sein, interjektions-
a*tig, auch redupliziert, von mehr oder weniger klarer Bedeutung. Allmählich
fixierte sich der Sinn. Wort war damals gleich Sprachwurzel; aber es fehlte
fier Ausdruck der genaueren Beziehung zwischen den verschiedenen Wort-
Hementen, wie es ja auch noch in der Kindersprache der Fall ist.
Mit der beginnenden Verständigung durch Worte kam auch die be-
ginnende Verständigung mit Gesten. Die Denkfähigkeit wuchs an und mit
Intern. Centralblatt für Anthropologie. 1P03. 14
210
ß. Referate. Ethnologie.
der Sprache. Formlose Sprachen giebt es freilich heute nicht mehr, denn
auch der heute tiefstehendste Mensch hat einen sprachlichen Ausdruck für
alle Beziehungen der Satzelemente gefunden und ein System des Be-
ziehungsausdrucks entwickelt. Im Laufe einer ganzen geologischen Periode
(mindestens einer, L.-N.) haben sich die Ursprachen nur langsam entwickelt
und für den Yerf. scheint der Gang der Entwicklung vom Polysynthetismus
(wie z. B. das Araukanische) über Agglutination und Flexion zur Isolation
harmonisch fortzuschreiten und einer Art psychologischen Entwicklung zu
entsprechen. Es ist das nicht etwa ein Kreislauf, bei dem sich die äusseren
Formen am Anfang und Ende sehr nahe stehen, denn der Unterschied liegt
im Fortschritt, in der Gedankenklarheit verbunden mit der Einfachheit der
Mittel. Die Sprachentwicklung muss schliesslich logisch-theoretisch ihr Ende
finden, bis Gedanke und Wort sich decken (die Existenz einer absoluten
Logik vorausgesetzt), wie in der Mathematik Wert und Wertzeichen. Dazu
wird es freilich schon wegen Fixierung der Sprache durch die Schrift nie
kommen.
Zum Schluss ermahnt Yerf., recht fleissig Materialien von Sprachen
der Naturvölker zu sammeln; denn eine allgemeine Sprachwissenschaft
existiert heutigen Tages überhaupt noch kaum.
Dr. B. Lehmann-Nitsche-La Plata.
244. Conrad Keller: Die Abstammung der ältesten Haustiere.
Herausgegeben durch die Stiftung von Schmyder von Wartensee.
Zürich 1902, Kommissionsverlag von Fritz Amberger (4°, 8°).
IV und 232 Seiten.
Die Arbeit des Yerfassers soll „eine der Gegenwart entsprechende
Grundlage schaffen, auf welcher ein „weiterer Aufbau möglich ist.“ Seine
Resultate verdankt er „Methoden“, die er „zum Teil selbst erst geschaffen
hat“ und hinsichtlich der wichtigsten in prähistorischer Zeit entstandenen
Haustierarten, vertritt er „da und dort Ansichten, die von den herrschenden
Meinungen abweichen“.
Nach einer historischen Einleitung behandelt er die Methoden der
Rassenforschung und der Haustier-Phylogenie, dann folgt die antike Kunst
im Dienste der Haustiergeschichte und der Yorgang der Haustierwerdung.
Das erste und auch älteste Haustier sind die Haushunde S. 35—80.
Schon auf der ersten Seite wendet sich K. zu den prähistorischen Hunde-
rassen in Europa und nach 5 Seiten zu den vorgeschichtlichen präkolumbischen
Hunden Amerikas, die mit 3 Abbildungen nach Nehring von Seite 39 bis 41
reichen, dann kommen auf 5 Seiten die Hunde des historischen Altertums
mit zwei schönen assyrischen und einer schlechten griechischen Abbildung.
Yon Seite 46 bis zum Schluss behandelt er dann das Yerhältnis der zahmen
Hunderassen zu den heutigen Wildhunden. Yom Canis occidentalis leitet
В. Referate. Ethnologie.,
211
er den Inkahund ah, тот C. latrans andere Indianerhunde, vom C. niger,
dem schwarzen Tibetwolf, die Tibetdogge, die altassyrische Dogge, den
Molosser, den Neufundländer, Bernhardiner, Bulldoggen, Mops. Уот C.
simensis, dem abessynischen Wolf, leitet Yerf. den altägyptischen Windhund,
den Slughi, den Barzoi, den Deerhound, dann Windspiele, Jagdwindhunde,
Haussahund, Laufhund und Yorstehhund (zum Teil gekreuzt) und Dachs-
hund ab. Ich darf vielleicht dazu gleich bemerken, dass mir die Ableitung
des Dachshundes, und zwar nach dem Stammbaum Seite 70, direkt vom
äthiopischen Windhund denn doch recht sehr wenig begründet zu sein scheint.
Ich möchte durchaus nicht jeden kurzbeinigen Hund und so auch nicht die
altägyptischen (2300 v. Chr. S. 69) mit unserm Dachs zusammenbringen.
Vom C. anthus, dem nordostafrikanischen Schakal leitet K. ägyptische und
westasiatische Parierhunde ab. Yon dem grösseren indischen C. pallipes
leitet er den (grösseren) Hund der Bronzezeit ab, Schäferhund, Collie und
Pudel und vom richtigen Schakal C. aureus, den kleineren Hund der ältesten
Zeit, den Torfhund der Pfahlbauten und davon die Spitzhunde, den Pinscher,
den Tungusenspitz, den (chinesischen) Tschau und den Battakhund. Also
der Hund der Bronzezeit ist aus Indien zu uns gekommen, der Hund einer
sehr isolierten, sumatranischen Völkerschaft, stammt aus Westasien. Ich
kann nicht recht heraus bekommen, ob mit dem Tungusenspitz, — Seite 49
wird er ein kleiner stehohriger Spitzhund mit langen schlichten Haaren ge-
nannt und Widdendorff ohne Stelle als Gewährsmann zitiert — der so wichtige
Schlittenhund der Tungusen gemeint ist, der ja auch die Gauss-Expedition
begleitet, oder ob der ganz fortgeblieben ist.
Dann folgt die Hauskatze. Hier wird die neue Hypothese des
italienischen Zoologen Martorelli mit gutem Grund widerlegt, der eine neue
sardinische Wildkatze für einen Teil des Stammes unserer Hauskatze in
Anspruch zu nehmen versuchte. Es handelt sich hier aber nur um eine
verwilderte Hauskatzenform. K. bemerkt, dass die in Altägypten einheimische
Zucht auffallend lange im Nilthal verweilt sei und sich nach Europa jeden-
falls nicht vor Beginn der christlichen Zeitrechnung verbreitet habe. Aber
ich glaube ihm nicht beipflichten zu können, dass die Л erbreitung nach
Asien viel früher stattgefunden hätte (Seite 83). Zum Schluss kommt er
auch ganz kurz auf die stummelschwänzigen Katzen Ostasiens, ohne die
ungelöste Frage wesentlich zu fördern.
Der siebente Abschnitt (S. 88—99) ist überschrieben: Pferd und
Esel. Die Reihenfolge ist also nicht chronologisch, denn auch K. ist der
Ansicht, dass der Esel das ältere Haustier ist. An Abbildungen bringt
K. nach Kobelt ein Bild vom equus Przewalskii und ein Bild eines Füllen
von der asiatischen Eselrasse aus Ägypten, beide ohne Grössenangabe. Im
equus Przewalskii meint er die Stammquelle der orientalischen Pferde zu
erblicken. Wenn es sich bei diesem Wildpferd um ausgedehntere Bestände
14*
212
B. Referate. Ethnologie.
eines wirklichen Wildpferdes handelt, so kann ich die in „meinen Haus-
tieren“ Seite 194 aufgestellte Hypothese, die mir seitdem immer ein wenig
kühn vorkam, ja zurücknehmen. Sie bezog sich auf das Vorkommen eines
ganz vereinzelten Trupps. Auf die doch zoologisch so ungemein wichtige
Bastardform zwischen Pferd und Esel, auch die zoologischen Unterschiede
der Kreuzungen gegen beide älteren Rassen und auf die Entstehung dieser
merkwürdigen Form, ist Keller leider nicht eingegangen.
Die Hausschweine leitet K. ähnlich wie Nathusius, dem auch ich
zumeist gefolgt bin, von einem aussereuropäischen Stamm her, mit dem
sich unser europäisches Schwein nur sehr ausgiebig gekreuzt hat. K. nimmt
aber nicht, wie das Nathusius gethan hätte, Sus indicus aus Indien, sondern
den Sus vittatus aus Ostasien, dazu an. Demgegenüber muss ich, wie
schon Nathusius gegenüber geltend machen, dass das Zwischengebiet, in dem
jetzt ja unter dem Einfluss des Islam nahezu alle Schweinezucht erloschen
ist, nur zu breit und die Kenntnis der Wildschweinform dieses Gebietes
noch viel zu gering zur Sicherstellung dieser Verhältnisse ist. Für die
chinesische Schweinezucht lässt sich natürlich leicht ein ostasiatischer selbst-
ständiger Ursprung annehmen und dafür käme natürlich die sus vittatus-
Reihe allein in Betracht; von diesem leitet aber K. auch das sogenannte
Torfschwein und das rechtabweichende und isolierte jetzige Bündner-Schwein
ab, was mir ein wenig weit hergeholt zu sein scheint.
Auch für die Rinder, die nächste Gruppe, leitet K. den ältesten
Bestandteil, die Torfkuh, ebenfalls direkt von einer indonesischen Form ab,
ohne darauf näher einzugehen, wie er sich denn die ältesten Wanderungen
des neuen Haustieres nun eigentlich vorstellt. Er bringt damit auch asiatische
und afrikanische Zeburinder in Zusammenhang; ich habe auf die Unge-
hörigkeit dieses Namens einmal schon 1895 hingewiesen und wie ich glaube,
auch mit gutem Grund, die Verwendung des Fetthöckers als Rassenmerkmal
bekämpft. Zur Nachkommenschaft des Bantengs rechnet er, wie gesagt,
die prähistorische Torfkuh, ferner die Kanalrinder, das Braunvieh der Alpen,
die hornlosen skandinavischen Schläge. Zum bos primigenius rechnet er
dagegen das englische Parkrind, die norddeutschen Niederungsrinder, das
holländische Rind, das Steppenrind, die Simmentaler und das Freiburger
Fleckvieh. Unter den Abbildungen findet sich ein Schädel des Apis, von
den Sarasins photographiert, ein Schädel des Ur nach Nehring, und das
Bild Hallerstains, ebenfalls nach Nehring, einige gute ägyptische, assyrische
und antike Darstellungen und aus Indien, S. 123, ein fabelhaft modernes
Bild der heiligen Kuh „Nandi“ nach einem Engländer!
Im Anschluss an die Wildrinder und ihre Verbreitung bringt K. dann
S. 139 f. die myknischen Goldbecher von Vaphio, von denen er meint, der
griechische Künstler habe alle Phasen der Haustierwerdung im Bilde fest-
gehalten. Er ist daher der Ansicht, dass die erste Zähmung und Domesti-
B. Referate. Ethnologie.
213
kation des Ur in Südosteuropa von den ältesten griechischen Yolkselementen
an die Hand genommen wurde (Seite 141). Yon den Yorbedingungen
dieses wichtigen, für die menschliche Wirtschaft so bedeutungsvollen Schrittes
finde ich nichts.
Auf den Zusammenhang der Zähmung des Rindes mit dem Ackerbau,
oder der Pflugkultur, wie ich jetzt sage und auf die Milchwirtschaft ist er
nirgends eingehender zu sprechen gekommen. Mit einem grösseren Reichtum
von Abbildungen, besonders afrikanischer Rinder stattet er endlich die vom
Banteng abgeleiteten Rassen und die Kurzkopfrinder aus. Auch die Schlapp-
hornrinder sind mit einer Originalskizze aus dem Somalilande bedacht. Her
Schädel desselben Rindes, Seite 159, ist leider ohne die Knochenkerne
der Hörner abgebildet.
Auch beim Schaf macht er einen eigenen Standpunkt geltend, indem
er für das älteste europäische, das Torfschaf, von dem er auch das noch
lebende Bündner-Schaf ableitet, einen afrikanischen Stammvater annimmt,
den Ammotragus tragelaphus (wie es im Text heisst; in der Tabelle kehrt
er zu dem einfacheren Ovis tragelaphus zurück). Yom südeuropäischen
Mouflon, 0. musimon, leitet er die Heidschnucken, das Hebridenschaf und
das Marschschaf ab. Yom 0. areal die altassyrischen Schafe, das Merino-
schaf, das Walliserschaf, die norddeutschen Landschafe, das Fettschwanz-
schaf, das Fettsteissschaf und das Bergamaskaschaf.
Auch für die Ziege nimmt K. einen mehrfachen Ursprung an. Yon
der Bezoarziege C. aegagrus leitet er die Torfziege, die arabische Ziege, die
ostafrikanische Ziege und die westafrikanische Zwergziege ab. Yon der
letzteren giebt er Seite 202 auch eine Abbildung, ohne beim Bilde oder
im Text eine Grössenangabe zu machen. Yon C. falconeri leitet er dagegen
die altassyrische, die Angora- und die Kaschmirziege ab. Als dritten teil-
weisen Stammvater nimmt K. die C. jemlaica für die indischen Ziegen der
Malayaküste und Sumatra in Anspruch, d. h. er denkt an einen mit diesem
Blut gekreuzten Stamm.
Has letzte behandelte Tier ist das Kameel. Im Gegensatz zu seiner
Stellung gegenüber dem „Zebu“ lässt K. für das Kamel die Entwicklung
des Fetthöckers nicht als massgebendes Rassezeichen gelten. Er schliesst
sich Lombardini an, leider ohne die Abbildung, die L. in seinem wenig
verbreiteten Buch gegeben hat, zu wiederholen. Hat die Ziege nur 4 Ab-
bildungen bekommen, während das Schaf 10 bekommen hatte, so muss sich
das Kamel ohne jede Abbildung behelfen. Auf die Tabelle folgt dann noch
ein 13 Seiten langer Rückblick, in dem Yerf. sich über Yererbung, erworbene
Eigenschaften, Transmutation, Rassencharakter und einiges andere ausspricht.
Eür die älteste Haustierwerdung glaubt er eine Periode von 10000 Jahren
anssetzen zu können, in die er die allerältesten Anfänge in Mesopotamien
setzen möchte. Naturgemäss bleibt der Hund im Gegensatz zum Rind,
214
B. Referate. Ethnologie.
Schaf und Esel hierbei ausser Ansatz. Mit Recht hebt er die grossen Er-
folge einer bewussten Züchtung hervor, so bei den Merinos und beim Simmen-
thaler Vieh. Er sehliesst, indem er ein Thema anklingen lässt, dass ich
immer wieder, aber ohne grossen Erfolg berührt habe, das Verwildern und
die Rückschläge in die wilde Form. K. spricht sich eine Seite früher kurz
aber energisch dafür aus, das Schaf könne überhaupt nicht mehr verwildern.
Auch mir ist noch kein richtig beglaubigter Fall von Verwilderung beim
Schafe vorgekommen, trotzdem möchte ich die Sache nicht als überhaupt
unmöglich abgethan wissen, ehe wir nicht einmal systematisch die A er-
wilderung einiger Heerden angebahnt haben. Er. Ed. Hahn-Berlin.
245. Th. Studer: Die prähistorischen Hunde in ihrer Beziehung
zu den gegenwärtig lebenden Rassen. Abhandlg. d. Schweiz,
paläontolog. Gesellschaft, 1901. Vol. XXVIII, 4°. 137 S.
mit 9 Tafeln.
I)ie Abhandlung soll eine ausführliche Begründung zu den von dem
Verf. veröffentlichen Beiträgen zur Geschichte unserer Hunderassen geben.
Studer hält sich in seinen Untersuchungen an den in den Überresten am
besten erhaltenen und zugleich charakteristischen Körperteil, den Schädel,
von dem ihm ein reichhaltiges Material aus den schweizer Pfahlbauten
(64 im Berner Museum, weitere Exemplare aus den Sammlungen von Basel,
Murten und Konstanz), Gipsabgüsse des Canis intermedius Woldfich, sowie
von Hunden aus den Crannogues von Irland, ferner 230 Schädel von recenten
Rassehunden und 46 Schädel von wilden Caniden zur Verfügung standen.
Ztir genauen Vergleichung wurde die Messmethode angewandt, wobei sich
der A7erf. auf einige 20 Maasse beschränkt, die ein klares Bild von den
wesentlichsten Verhältnissen des Schädels zu geben vermögen.
Danach ist es nicht möglich, den Canis familiaris L. nach seinem
Schädelbau in eine der Unterordnungen von Canis einzureihen, er zeigt
Charaktere der Untergattung Canis s. str. sowohl als der von Lupulus; das
Gebiss ist im allgemeinen wolfsähnlich, aber der Sektorius des Oberkiefers
ist in der Regel kürzer, als die beiden folgenden Backzähne zusammenge-
nommen, wie bei den Schakalen, der Gesichtsteil des Schädels ist gewöhnlich
vor dem Pm 4 eingeschnürt wie bei den Wölfen, und der Pm 3 steht in
einem Winkel zu den vorhergehenden Prämolaren, doch ist dieses in so
verschiedenem Maasse der Fall, dass man alle Grade von dem A7erhältnis
der Schakale an, bis über das des Wolfes beobachten kann. Das einzige
Merkmal, das konstant den Haushundschädel gegenüber dem eines wilden
Caniden unterscheiden lässt, ist die Stellung und Form der Augenhöhlen.
Beim Haushund ist gegenüber Wolf und Schakal die Augenachse mehr nach
vorn gerichtet, die Orbitalebene bildet mit der Stirnebene einen stumpfen
Winkel, der vordere Augenrand ist steiler. Der Verf. teilt auf Grund des
B. Referate. Ethnologie.
215
Schädelbaues und der Verwandtschaft der lebenden Formen zu den prä-
historischen die Hunderassen folgendermaassen ein:
A. Paläarktische Hunde (Europa, Nord-, Central- und Ostasien)
a) Typus des Canis f. palustris Rütim., dahin gehören Battakhund, Spitzer,
Pimscher (Terriers), b) Typus des Canis f. Inostranzewi Anutschin: Sibirische
und nordamerikan. Schlittenhunde, Elchhund, Neufundländer, Berhardiner,
Dsggen, Mopse, c) Typus des Canis f. Leineri Studer (Deerhounds), d) Typus
des Canis f. intermedius Woldfich: Jagdhunde, Dachshunde, e) Typus des
Caiis f. matris optimae Jeitteles (vom Autor zu Ehren seiner verstorbenen
Muter so genannt, d. Ref.): Schäferhunde, Collie, Pudel.
B. Südliche Hunde (Südasien, Sunda-Inseln, Australien, Afrika):
Ding), Tenggerhund, Pariahunde, Windhunde, Tibet-Dogge.
Nach eingehenden exakten Untersuchungen, die auch Rücksicht nehmen
auf de uns aus vor- und frühgeschichtlicher Zeit überlieferten Abbildungen
von Taushunden, kommt der Verf. auf die Stammformen für die palä-
arktiichen und südlichen Hunde zu sprechen. Für letztere weist er
als Stanmform eine mit dem Dingo übereinstimmende Art nach, den Canis
tenggeanus Kohlbrugge, der in Java noch bis in die jüngste Zeit existierte.
Dass crselbe in der orientalischen Region schon in der Diluvialzeit vor-
komme. musste, beweist der unverändert gebliebene Dingo, dessen pleisto-
cänes Torlcommen in Australien bewiesen ist. Dieser musste von der
orientalschen Region hereingewandert sein, denn dass ein placentaler
CarnivoB unvermittelt in der australischen Region sich entwickelt habe,
wird lim nicht annehmen können. Dieses Tier wurde gezähmt und bildete
die Staimform für die Pariahs, die Windhunde und die Tibetdogge. (Der
Dingo is sehr wahrscheinlich mit dem Menschen zu gleicher Zeit von dem
indo-aus*alischen Archipel aus nach dem austral. Festlande eingewandert,
denn naa W. Krause, Internation. Monatsschrift für Anatomie und Physiologie
1897, ß 198 — wurden nicht nur vom Dingo, sondern auch von dem
Menschei fossile Reste in Australien aufgefunden; letztere bestehend aus
zwrei Batczähnen, die in den Wellington Caves in New South Wales in
einer Knchenbreccie, die zugleich Knochen von ausgestorbenen Beuteltieren,
wie Diprtodon und Thylacoleo enthielt und sich jetzt im Australian Museum
in Sydne befindet, vorkamen. Anm. d. Ref.)
Übr den Ursprung der altweltlichen Haushunde fasst der Verf.
seine Anskt dahin zusammen: Es existierte von der Diluvialzeit an neben
dem Wob eine kleine Canisart, welche das Verbreitungsgebiet des Wolfes
teilte, nu im Süden noch über dieses hinausging und daher allein Gelegenheit
fand, bisauf das australische Festland überzuwandern. Die Art zerfiel in
2 HaupUrietäten oder Unterarten, in der orientalischen Region den Dingo,
in der piäarktischen den Canis ferus Bourg. Die Art war, wie der Wolf,
216
B. Referate. Ethnologie.
sehr variationsfähig; es existierten mittelgrosse und kleinere Rassen, vie
Canis Mildi und Canis hodophylax.
Biese schlossen sich zuerst an den Menschen an und wurden durch
Zuchtwahl mannigfach verändert. Grosse Rassen entstanden an verschiedenen
Orten durch einfache oder wiederholte Kreuzung mit Wölfen, deren Produkte,
dank der Yariabilität auch dieser Art, von vornherein verschiedene Rassen,
wie C. f. Inostranzewi, Leineri, decumanus ergaben.
Bas Werk, welches das Endergebnis der langjährigen kynologiscien
Studien eines hervorragenden Zoologen bringt, der sich gleichzeitig auf Kor-
und frühgeschichtlichem Gebiete vortrefflich unterrichtet zeigt, wird alle Zeit
einen dokumentarischen Wert für die genannten Wissenszweige behdten.
Df. Otto Schoetensack-Heidelbrg.
B. Spezielles.
246. L. Aschoff: Die Sambonsche Sammlung römischer Dmaria
(im Besitz der Firma Oppenheim in London). 8 Seitn mit
5 Holzschnitten im Text. Mitteilungen zur Geschiebe der
Medizin und der Naturwissenschaften 1903, Bd. II, left 1.
Als ich vor 2 Jahren meine Abhandlung über die Bonaria veröffentlichte
(Anatomische Hefte, Bd. XYI, Jan. 1902), kannte ich die Abhandung des
Br. Sambon (British Med. Journal 1895, 20.—27. Juli) niat. Bie
Arbeit war mir entgangen; — ich habe, als ich mich über ältere Arbeiten
belehren wollte, die philologische Litteratur studiert, die meczinische
nicht; ich erwartete nichts. Und in den Jahresberichten habe ch über
Sambons Abhandlung auch nichts gefunden. Ich muss anerkeußn, dass
Sambon der erste Mediziner gewesen ist, der ausführlich jent Bonaria
in medizinischer Hinsicht untersucht hat — von anderen kleinen geleentlichen
Bemerkungen (Neugebauer, Bartels u. s. w.) sehe ich ab. Als ih später
durch Hr. Aschoff die Arbeit Sambons kennen lernte, hatte ich aich ver-
geblich bemüht, über den Yerbleib der Sambonschen Sammlung, swie über
Br. Sambon selbst, etwas zu erfahren. Br. Aschoff war es danngeglückt,
die Sambonsche, jetzt Oppenheim-Sammlung, in London aufzunden; es
ist daher sehr dankenswert, dass er einiges darüber hier mitteilt.
Ich werde baldigst an einem andern Ort ausführlich auf die Smbonsche
^Sammlung zurückkommen; hier will ich nur in Kürze wiedergben, was
Aschoff daraus meldet.
Br. Sambon, ein Italiener von Geburt, jetzt Lehrer an df Tropen-
schule in London, hat vor Jahren viele Bonaria gesammelt; der gösste Teil
der Sammlung ist in den Besitz der Firma Oppenheim in Londa überge-
gangen, wo der übrige Teil geblieben, ist unbekannt. Wozu ie Firma
Oppenheim die Sammlung angekauft hat, ist nicht mitgeteilt. Ggenwärtig
B. Referate. Ethnologie.
217
sind die Gegenstände in Kisten verpackt; es gelang Dr. Aschoff, nur auf
einen Teil der Sammlung einen Blick zu werfen.
Was aus der Sammlung werden soll, ist unbekannt. Unter den Gegen-
ständen der Sammlung sind Herrn Dr. Aschoff besonders aufgefallen: die
Abbildung einer im Gebärakt sich befindenden Frau (Sambons Abhandlung
Fig. 13), eine Säuglingsflasche (Aschoff, Fig. 1 und 2), ein Junge mit den
Tonsillen.
Unter den sehr oft gefundenen Gegenständen sind die sog. Uteri zu
nennen: in Betreff derselben besteht ein Gegensatz in der Deutung zwischen
den älteren Forschern, zu denen auch Sambon zu rechnen ist, und mir.
Sambon denkt an einen puerperal zusammengezogenen Uterus und deutet
den kleinen ovalen Körper daneben als einen Eierstock. Ich habe den sog.
Uterus der gerunzelten Scheide verglichen und den kleinen ovalen Neben-
körper der Harnblase. Es freut mich, dass Dr. Aschoff sich zu dieser
Ansicht hinneigt.
Zur Unterstützung meiner früheren Ansicht, dass der sog. Nebenkörper
kein Eierstock, sondern die Harnblase ist, verweise ich auf Fig. 5 bei Aschoff
(bei Sambon Fig. 10), einen sog. Uterus mit zwei Öffnungen. Sambon
deutet das Stück als Uterus septus, Aschoff enthält sich eines Urteils.
Das Stück ist nach meiner Meinung entschieden kein Uterus septus —
es hiesse das den Alten doch zu viel anatomische Kenntnisse Zutrauen.
Das Original habe ich nicht gesehen, allein nach dem Bilde bei Sambon
und Aschoff unterliegt es meiner Ansicht nach keinem Zweifel, dass das
eine Loch die weibliche Genitalöffnung, das andere Loch die Mündung der
Harnröhre darstellen soll. — Der Nebenkörper (die Harnblase) erscheint
auch hier, freilich nicht ganz deutlich, sichtbar.
Es hat mir kürzlich ein italienischer Forscher mitgeteilt, dass er meiner
Ansicht in Betreff der Deutung zustimme, und als Beweis der Richtigkeit
führte er an, dass er einen derartigen „Uterus“ mit 3 Öffnungen gesehen
habe — die Geschlechts-Öffnung in der Mitte, vorn die Harnröhren-
öffnung, hinten die Afteröffnung. Ich habe bisher die versprochene Ab-
bildung vergeblich erwartet, daher kann ich keine nähere Mitteilung machen.
Sehr dankenswert ist es, dass Dr. Aschoff Abbildungen der äusseren
Geschlechtsöffnung (Fig. 4) und eines Gebildes giebt, das er für eine Placenta
erklärt. Zu erwähnen ist, dass nach den Mitteilungen Sambons die Figuren
bunt bemalt waren, Augen und Haare schwarz, die übrigen Theile blau und
roth, selten gelb.
Aschoff bedauert es mit Recht, dass die aus den verschiedensten
Gegenden Italiens stammende Sambonsche Sammlung in den Fabrikräumen
der Firma Oppenheim ein unfruchtbares Dasein führt. Es wäre sehr zu
wünschen, dass die einzelnen Stücke bald recht genau untersucht würden.
218
B. Referate. Ethnologie.
Auf das kürzlich erschienene Werk Rouse Greek, Votive Offerings,
1902, werde ich an einer andern Stelle zurückkommen.
Von Interesse ist der Hinweis auf die Skelett-Darstellungen der
Trinkbecher des Silberschatzes von Boscoreale. L. Stieda-Königsberg.
247. G. Papillault: L’homme moyen à Paris. Bull, et Mém. de
la Soc. d’anthropologie de Paris, 1902. Série 5, Tome III,
S. 393—526.
Nicht um den Canon der Proportionen des menschlichen Körpers oder
eine „goldene Regel“ zu finden, unternahm P. an 100 männlichen und eben-
soviel weiblichen Leichen der Pariser Anatomie äusserst genaue, äussere
und innere anthropometrische Messungen, sondern lediglich zu dem Zwecke,
um die geschlechtlichen und Höhenschwankungen und deren Wechselbe-
ziehungen bei der Pariser Bevölkerung festzustellen. Wesentliche Dienste
leistete ihm dabei auch die radioskopische Vergleichung, welche die nach
den üblichen Methoden ausgeführten Messungen bedeutend vervollständigt«.
Das Leichenmaterial gruppierte er so, dass er bei jedem Geschlechte drei
Körpergrössen, die kleinste, mittlere und grösste aufstellte und zwar bei den
Männern: 160,9, 167,5 und 173,7 cm, bei den Weibern 150,4, 156,3 und
163,5 cm. Da er bei jeder Leiche 98 festgesetzte Messungen abnahm, so
bekam er ca. 20000 Zahlen im Ganzen. Das grosse Zahlenmaterial be-
handelt er in drei grossen Abschnitten, welche dem Rumpfe, den Extremi-
täten und dem Kopfe gewidmet sind.
Die Körpergrösse ergab bei den Parisern 167,7 cm, bei Pariserinnen
156,4 cm im Mittel. Indem er die mittlere Länge der Wirbelsäule bei den
Männern auf 60,4, bei den Weibern auf 55,9 cm in der Projektion fest-
setzt, bezeichnet er die geringere Länge derselben als einen sexuellen Charakter
beim Weibe. Den Halsabschnitt der Wirbelsäule findet P. weniger ent-
wickelt beim Weibe und bei den kleinen Individuen. Der dorsale Ab-
schnitt ist dagegen bei denselben Gruppen mehr entwickelt. Der lumbale
Teil ist bei allen Gruppen fast derselbe, ja die lumbale Krümmung ist bei
beiden Geschlechtern ganz dieselbe. Die Neigung des Beckens zeigt sich
bei den Weibern stärker als bei den Männern, ebenso ist ihre Conjugata
grösser (11,0) als bei den Männern (9,8 cm); dagegen weisen diese einen
grösseren bitrochanteren Durchmesser auf (30,12) als jene (29,52). Es ist
nur auf die grösseren Dimensionen des weiblichen Beckens zurückzuführen,
wenn der Rumpf des Weibes relativ höher ist, als jener des Mannes; die
relativen Rumpfverhältnisse nehmen langsam ab, wenn sich die Körpergrösse
vermindert, jedoch stets im geringerem Maasse als die Wirbelsäule. Der
Hals des Weibes, verglichen mit der Wirbelsäule oder Körpergrösse ist etwas
länger als jener des Mannes.
Aus der Betrachtung der Messungen der Extremitäten geht hervor,
B. Referate. Ethnologie.
219
dass die unteren Extremitäten beim Weibe stets, oder wenigstens im Mittel
kleiner sind als beim Manne; doch bezieht sich diese Kleinheit lediglich
auf die Schenkel und scheint von der Entwickelung des weiblichen Beckens
abzuhängen, welches auf das Wachstum der Schenkel einen hemmenden
Einfluss ausübt. Bei der Zunahme der Körpergrösse ist es vorzugsweise
die untere Extremität mit dem Becken, welche diese Zunahme bewirken.
Die stärkere Entwickelung der oberen Extremität ist jedoch stets auf Rechnung
des Vorderarmes zu setzen, wenn auch derselbe beim Weibe etwas kürzer
ist, als beim Manne.
P. sucht im weiteren Verlaufe seiner Messungen den Beweis zu er-
bringen, dass die Dimensionen des Rumpfes mit jenen des Kopfes und seiner
einzelnen Teile in Beziehung stehen; so findet er z. B., dass bei zunehmendem
Wachstum der Körpeigrösse der glabellöse Durchmesser viel rascher wachse
als der metopische, oder dass der Stirndurchmesser schneller zunehme als
die Körpergrösse. Die zweifellose Enge der weiblichen Stirne hält er mit
Welcker für ein konstantes sekundäres Geschlechtsmerkmal der Europäer.
Die Schädelhöhe ist beim Weibe stets niedriger als beim Manne. Während
P. bei den Messungen der Augenhöhle noch einen Einfluss seitens des Ge-
schlechtes und der Körpergrösse zu finden vermeint, stellt sich ihm bei den
Nasenmesssungen eine unglaubliche Variabilität der Formen entgegen; dessen-
ungeachtet rechnet er heraus, dass sich die Form der weiblichen Nase mehr
jener des Kindes nähere, was allerdings bereits vorher auch ohne Messungen
längst bekannt war. Der alonasale Index steht in enger Beziehung mit dem
Nasenprofil, und er nimmt ab, je mehr sich die äussere Nasenform der
konkaven nähert. Ebenso scheint es Wechselbeziehungen zwischen der sub-
nasoalveolären und der Nasenhöhe zu geben; nimmt diese zu, so nimmt jene
ab und umgekehrt; auch in der geringeren Flöhe der Zähne erblickt P. ein
sekundäres Geschlechtsmerkmal. Br. Oskar v. Hovorka-Wien.
248. L. Niederle: Prispevek k poc. hist slov. (Beitr. zu d. An-
fängen der slovakischen Geschichte). Tovarysstvo (Rosen-
berg-Ungarn) 1900. Bd. III, 171.
Verf. konstatierte im Museum zu St. Martin (Turöcz) Objekte aus
Urnenfeldern vom schlesischen Typus, welche beweisen, dass das betreffende
Volk (Slaven, hier Vorfahren der Slovaken) noch vor Chr. Geb. über die
nördlichen Karpathen längs der in die Donau mündenden Flüsse in die
ungarische Slovakei eingedrungen ist. Br. H. Matiegka-Prag.
249. A. Weisbach: Die Slovenen. Mitteilg. der anthrop. Gesell-
schaft in Wien, 1903. Bd. XXXIII, S. 234.
Nach denselben Grundsätzen, wie sie bei den Deutschen der öster-
reichischen Alpenländer und bei den Bosniern zur Anwendung kamen, unter-
220
ß. Referate. Ethnologie.
suchte Weisbach nunmehr auch die Slovenen. Als Material dienten ihm
2481 im Alter von 21 bis 25 Jahren stehende Soldaten.
Die Untersuchung ergab folgendes Resultat: die durchschnittliche
Körperlänge beträgt 1683 mm, Grosse (1700 mm und darüber) 40°/0,
Kleine (unter 1600 mm) 4°/0.
Dunkle Haare fanden sich bei 49°/0 (davon schwarz 6,4 °/0), lichte
(blond und rot) bei 31 °/0; der Rest entfällt auf die hellbraunen Haare.
Die Augen sind meist licht 53 °/0 (31°/0 blau), seltener braun 31°/0, und
mischfarbig 15 °/0- Die Hautfarbe ist zu 57 °/0 weiss, 22°/0 gelblich und
20°/o dunkel. Der helle Typus (helle Augen, blonde Haare) ist mit 25 °/0,
der dunkle (dunkle Augen, dunkle Haare) mit 23 °/0 vertreten; 52°/0 ent-
fallen auf Mischtypen.
Die Kopflänge beträgt 185 mm, die Kopf breite 156 mm, der Index 84,3.
Dolichoide (unter Ind. 80) kommen nur 13 °/0 vor. Die vom Referenten
aus der beigegebenen Tabelle berechnete Zahl der Hyperbrachycephalen (über
Ind. 84) beträgt 41,3 °/0.
Nennenswerte Unterschiede finden sich zwischen den Bewohnern ver-
schiedener Kronländer. So z. B. sind die Krainer Slovenen die kleinsten
(1673 mm) und besitzen die wenigsten Dolichoiden (6,9°/0). Sehr eigen-
tümlich sind die Verhältnisse im Küstenlande. Hier finden sich die meisten
ausgesprochen blonden Haare (36,7 °/0), dabei aber auch die meisten dunklen
(53 °/0), worunter wieder 10°/0 rein schwarze vorhanden sind. Dement-
sprechend existieren liier die wenigsten Mischtypen. Von den reinen Typen
ist der helle mit 28,8 °/0, der dunkle mit 27,6 °/0 vertreten.
Der Wert der vorliegenden Arbeit wird erhöht durch das reiche anthro-
pologische Material, das der Autor zum Vergleich heranzieht. Er vergleicht
die Slovenen mit den ebenfalls von ihm untersuchten ostalpinen Deutschen
und Südslaven, sowie mit verschiedenen nordslavischen Stämmen. Von den
benachbarten Deutschen in Kärnten und Steiermark unterscheiden sich die
Slovenen besonders durch häufigeres Vorkommen des dunklen Typus und
überhaupt der reinen Typen, durch selteneres Vorkommen grauer Augen und
der Mischtypen, durch grössere Brachycephalie (Kärnten Ind. 81,7, Steier-
mark 82,9) und selteneres Auftreten von Dolichoiden (Kärnten 31,5 °/0,
Steiermark 19°/0).
Nicht berücksichtigt wurde die Form des Gesichtes. Es sei darauf
hingewiesen, dass nach den Forschungen Zuckerkandels bei den Slovenen
clas Breitgesicht, bei den Deutschen Innerösterreichs das Schmalgesicht
vorherrscht. 2)r. Gustav Kraitschek-Landskron.
B. Referate. Ethnologie.
221
250- U. Vram: Crani della Carniola. Atti della Soc. Romana di
antropol., 1903. Voi. IX, fase. 1 u. 2, S. 151—159.
Im Museum von Laibach befindet sich eine reiche Schädel-Sammlung
aus allen Teilen Krains; die Schädel stammen aus den verschiedensten Zeit-
epochen, von der Pfahlbauperiode bis in unsere Tage. — Bei den Schädeln
aus der ältesten Periode bis zur Römerzeit im zweiten und dritten Jahr-
hundert n. Chr. finden sich nur die drei Formen Ellipsoides, Ovoides, Penta-
gonoides vor; erst später erscheinen platycephale, sphenoidale und spliaroidale
Formen. Aus der Pfahlbauperiode (1000 v. Chr.) finden sich darunter drei
Schädel, bei denen sich gelegentlich einer Beschreibung derselben von Luschan
im Jahre 1880 die Frage vorlegte, ob es nicht Negerschädel seien, wenn sie
nicht den Ariern zuzurechnen wären. V. erklärt sie als zum eurafrikanischen
Stamme im Sinne Sergis gehörend. Ähnliche Beobachtungen sind auch in
der Schweiz von Rütimeyer und His gemacht worden. Yom 2. und
8. Jahrhunderte n. Chr. angefangen, beginnen sich sphenoidale und platy-
cephale Schädel zu zeigen; diese sind entweder zu jeuer Zeit nach Krain
eingewandert, oder aber waren sie dort schon früher ansässig und finden
sich nicht in den Gräbern, weil die Bevölkerung ihre Toten verbrannte.
N. neigt sehr zu der zweiten Hypothese. Jjr. Oskar v. Hovorka-Wien.
251. V. Giuffrida-Ruggeri: Animali totem e animali medicinali.
Atti d. Società Rom. di antropol. 1903. Voi. IX, f. I—II,
S. 161—173.
So wie überall, giebt es auch in Italien in der Volksmedizin Heil-
mittel aus dem Tierreiche, indem ganze Tiere oder Teile derselben zum
¿wecke der Heilung von den verschiedensten Krankheiten seitens des Volkes
xm Gebrauche stehen. Zu den häufigsten Tieren in Italien sind zu zählen:
die Henne, der Wolf, die Schlange, der Hund, die Kröte, die Eidechse.
O. -R. erblickt in diesen volksmedizinischen Gebräuchen Äusserungen des
lotemismus und findet Anknüpfungspunkte an ähnliche Vorgänge bei den
bilden Völken, als auch bei den Völkern des Altertums.
JDr. Oskar v. Hovorka-Wien.
252. V. Giuffrida-Ruggeri: Nuovo materiale scheletrico della ca-
verna di Isnello. Atti della Soc. Romana di antropol.
1903. Voi. IX. F. 1—2.
Zu dem von ihm schon früher besprochenen Inhalt der Höhle Isnello
hei Cefalü in Sicilien fügt G.-R. neues anthropologisches Untersuchungs-
material hinzu; in der Höhle fanden sich im Ganzen ca. 100 menschliche
^elette; allerdings waren dieselben nicht in einem guten Erhaltungszustände.
der neuen Serie fielen unter 36 Femora besonders zwei auf, welche mit
ihrem Iudex (130,7 und 133,3) jenen des Femurs von Cro-Magnon iiber-
hhgeln. j)r Qskar v. Hovorka-Wien.
2*22
B. Referate. Ethnologie.
253. Richard Weinberg: Crania livonica. Untersuchungen zur
prähistorischen Anthropologie des Balticums. Archiv für
Naturkunde Liv-, Esth- und Kurlands. Serie II, Biolog.
Naturkde. Dorpat 1902, Bd. XII, Lief. 2, 92 Seiten mit
5 Tafeln.
Allerdings sind es nur 7 Schädel, die den Untersuchungen des Ver-
fassers zu Grunde lagen, dafür sollen sie aber aus Gräbern herrühren, die
zweifelsohne dem livischen Stamme zuzuschreiben sind (Wende des 1. Jahr-
hunderts). Er findet für sie folgende Charakteristik heraus: ansehnliche
Kapazität, bedeutenden Modulus, Mesocephalie mit stark ausgeprägter Neigung
zur Dolichocephalie, Orthocephalie, mittlere Höhe in der Hinterhauptsnorm,
Breitstirnigkeit, Leptoprosopie an der Grenze der Chamaeprosopie, unver-
hältnismässig hohes Obergesicht, dabei vielfach Prognathie höheren Grades,
Meso- bis Hypsiconchie, Mesorrhinie, Leptostaphylinie und breite abge-
rundete Form des Foramen magnum. Als „Besonderheiten“ des Liven-
Schädels stellt er die ungewöhnlich hohen Dimensionen des Obergesichtes,
Entwicklung des Torus palatinus — unter 7 Schädeln 4 mal vorhanden —,
starke Erhebung der Umgebung des Foramen magnum mitsamt den Condylen
über das allgemeine Niveau der Hirnschädelbasis, sowie starke Gebissab-
nutzung hin.
Es erscheint uns etwas gewagt, auf nur 7 Schädeln, auch wenn ihre
livische Herkunft wirklich verbürgt ist, weitere Folgerungen aufzubauen,
im besonderen Kritik über die Zugehörigkeit von Schädeln zum livischen
Stamme zu üben, die ebenfalls auf livläudischen Boden (das Yirchow s. Z.
vorliegende Material) gefunden wurden. Daher dürften auch des \erfassers
Auslassungen bezüglich eines Vergleiches seines Livenschädels mit den Schädeln
der Nachbarstämme mit Vorbedacht aufzunehmen sein. Er findet eine Reihe
übereinstimmender Merkmale am knöchernen Schädel zwischen Esthen und
Liven, trotzdem beide Stämme in ihrem äusseren Habitus grundverschieden
von einander sind, desgleichen mit den Finnen jenseits des Meeres; aller-
dings sind diese merklich brachycephaler. Im übrigen besteht aber auch
bei den heutigen Liven eine grössere Neigung zur Kurzköpfigkeit als bei
ihren Vorfahren. — Die vorliegende Arbeit unterrichtet den Leser gleich-
zeitig in allgemeinen Umrissen über die nationale Kultur der alten Liven
auf Grund der Grabfunde. Eine kurze Zusammenfassung des gleichen Themas
giebt Verf. unter dem Titel: „Zur Schädelkunde der Liven“ im Biolog.
Centralblatt 1903, Bd. XXIII, Nr. 9. Buschan-Stettin.
B. Referate. Ethnologie.
223
254. R. Weinberg: Anthropologische Untersuchung estnischer
Rekruten. Sitz.-Ber. Gel. Estnische Gesellsch. 9-/22. Oktober
1902. Dorpat 1902. S. 112.
Unter Hinweis auf eine spätere ausführlichere Publikation, die unter
dem allgemeinen Titel „Vaterländische anthropologische Studien“ auch die
übrigen Rassen des Balticum (Liven, Letten) berücksichtigen wird, fasst der
Vortragende seine bisherigen Ergebnisse kurz zusammen. Die vorhandenen
Kenntnisse über die ethnischen Besonderheiten des Esten erscheinen im
Lichte modorner Wissenschaft nicht bloss lückenhaft, sondern völlig unzu-
reichend. Vortr. ist in den letzten Jahren bemüht gewesen, diese auf-
fallende Lücke zu beseitigen. Es ist ein umfangreiches Thatsachenmaterial
gesammelt worden, von welchem zunächst die am Lebenden gewonnenen
Ermittelungen zu berücksichtigen sind. Mit obrigkeitlicher Genehmigung
hat Vortr. Messungen an estnischen Rekruten angestellt, und zwar konnten
mehr als 1200 Eizeluntersuchungen angeführt werden, wobei jedoch zunächst
auf Körperhöhe, Brustumfang, Kopfmaasse, Farbe der Haut, Farbe und Be-
schaffenheit der Haare, Farbe der Iris das Hauptgewicht gelegt werden
musste. Benutzt wurden ausserdem, um vorläufig eine breitere Grundlage
zu gewinnen, Daten über Körpergrösse, Brustumfang und Beinlänge von
ca. 10,000 estnischen Rekruten früherer Jahrgänge, nach dem Aktenmaterial
der Wehrpflichtsbehörden. Die Bearbeitung des Materials hat zu wichtigen
Ergebnissen geführt, die den Esten in einer von den früheren Darstellungen
wesentlich abweichenden anthropologischen Beleuchtung erscheinen lassen.
Es sind bereits jetzt folgende Sätze als bemerkenswert hervorzuheben:
1. Der Este entspricht nicht einem einheitlichen Rassentyp; 2. es giebt
im Körperbau des Esten regionale Unterschiede; 3. der Nordeste ist im
allgemeinen von grösserer Standlänge als der Südeste; 4. in der Umgebung
der Stadt Dorpat und in ihr selbst wächst — im Vergleich zum flachen
Lande — das langköpfige Element unter den Esten. Sclbstbericht.
255. J. Talko-Hryncewicz: Zur Anthropologie Transbaikaliens
und der Mongolei. Russische Zeitschrift f. Anthropologie,
1902. Jahrg. III, Lieferg. X, S. 34. Mit 21 Figuren im
Text.
256. J. Talko-Hryncewicz: Die Volksstämme Centralasiens:
Mongolo-Chalchassen, Buräten und Tungusen (Russ.) Eine
anthropologische Studie. Schriften der Trojizkossawsk-
Kjachta-Sektion der Amur - Abteilung der Kaiserl. Russ.
Geograph. Gesellsch. Moskau 1902. Bd. V, Heft 1.
Verfasser, der seit mehr als zehn Jahren im Transbaikalgebiet als
Arzt thätig ist, hat in dieser Zeit Gelegenheit gehabt, die ethnischen Ver-
224
B. Referate. Ethnologie.
hältnisse des fernen Centralasiens aus eigener Anschauung näher kennen zu
lernen. Es handelt sich dort (abgesehen von Europäern — Grossrussen,
Kleinrussen, Polen, Deutsche, Finnen, Tataren, Juden) vor allem um Asiaten
i. e. S., also Buräten, sehr zahlreiche Mongolen, dann Tungusen, schliesslich
um Nordchinesen. Auch ein besonderer sibirischer Stamm der Grossrussen,
die sog. Ssemeiskije, lebt in Centralasien. Im wesentlichen beherbergt ja
das ungeheure Gebiet zwischen Jenissei und Amur Nomadenvölker: nord-
wärts Tungusen, südwärts Mongolen, und zwar zerfallen diese letzteren in
einen südlichen Stamm: Chalchas und einen nordöstlichen: Buräten, von
denen westlich sich die Torgouten abgesondert haben. Die Chalchas konnte
Verfasser bei einer dreimaligen Anwesenheit in Ugra, jener berühmten anthropo-
logisch-ethnographischen Fundstätte, genauer in Augenschein nehmen. Für
sämtliche drei Stämme ist nun ihre geringe Körpergrösse charakteristisch,
die indessen, wie auch in Europa, mit dem 20. Lebensjahre nicht abge-
schlossen ist. Die Chalchas scheinen am kleinsten (161) von allen zu sein.
Bei den Buräten (163) kommen örtliche, regionale Unterschiede der Körper-
grösse deutlich zum Ausdruck.
Dabei herrschen bei mässiger Armlänge relativ lange Beine vor. Be-
sonders kurzarmig erscheinen die Chalchas, aber zugleich auch verhältnis-
mässig (zu den anderen Völkern) kurzbeinig. Auffallend ist das durch-
schnittliche Vorherrschen kleiner Hände und Füsse. Die Schulterbreite ist
mässig; hinsichtlich des Brustumfanges sind die Tungusen am ungünstigsten
gestellt. Auch den Bauchumfang hat Vf. gemessen.
Die Hautfarbe erscheint durchweg „blass-gelblich“, am hellsten bei
den Chalchas. Bedeckte Stellen immer geringer pigmentiert. Das feste
nicht sehr reichliche Kopfhaar schwarz, mit einem Ton ins bläuliche,
ebenso das überaus dünn gesäte Barthaar, dessen Farbe hin \ind wieder
dunkelbraun erscheint (einen nennenswerten Bart bekommt der Mongole erst
im vorgerückten Alter). Auch die allgemeine Körperbehaarung ist recht
spärlich, doch tritt dieses charakteristische Merkmal besonders scharf bei
den Chalchas hervor. Die Farbe der Iris ist immer braun, am dunkelsten
bei den Tungusen, am hellsten unter den Chalchas. Die Buräten zeigen
an den Augen vielfach gemischte Nüancen. Für sie ist aber gleichzeitig
hochgradige Brachykephalie (88,4) charakteristisch, wie ja schon von früheren
Untersuchungen her zur Genüge bekannt. Chalchassen (81,8) und Tungusen
sind subbrachykephal. Die grössten Köpfe dagegen (im Horizontalumfang)
scheinen die Tungusen zu haben. Charakteristisch ist bei allen die Stirn:
niedrig, breit, fliehend bei Chalchas und Buräten, schmal und gerade bei
Tungusen. Das breite abgeflachte Hinterhaupt bildet ein Rassenmerkmal,
das unter den Tungusen am schwächsten auftritt. Dolichokephalie kommt
äusserst selten bei einzelnen Burätenstämmen zur Beobachtung. Leptoprosopie,
die besonders den Chalchas zukommt, ist bedingt durch stärkere Längen-
B. Referate. Ethnologie.
225
entwickhmg des Ober- und Mittelgesichts, wie ja in der Regel. Das Antlitz
erscheint dabei bekanntlich meist flach, viereckig, bei den Tungusen häufig
oval. Brachykephalie ist meist mit Langgesichtigkeit, selten mit Chamae-
prosopie verbunden. In der Wangengegend sind Buräten und Tungusen
besonders stark entwickelt; es tritt bei ihnen, besonders aber bei den Chal-
chassen die Mandibularwinkelbreite gegenüber der Wangenbreite in auf-
fallendem Grade zurück. Das Antlitz des Buräten und Tungusen erscheint
deshalb im mittleren und oberen Teil hochgradig verbreitert, im Kiefer-
gebiet verschmälert.
Schiefäugigkeit ist ein auffallendes Charakteristikum der Chalchas und
Buräten, gleichwie die Mongolenfalte, die mit zunehmendem Alter zurück-
tritt. Nase klein, flach, niedrig, mit abgeplatteten Flügeln, das Gesichts-
profil nicht überragend. Die Tungusen besitzen oft eine aufgeworfene Ober-
lippe, seltener die Chalchas. Das mittelgrosse Ohr erscheint bei allen
deutlich abstehend. In physiologischer Beziehung auffallend bei den in
Rede stehenden Volksstämmen ist schliesslich das plötzliche, durch nichts
angekündigte Hereinbrechen des Alters, obwohl der Körper verhältnismässig
lange seine Frische und Spannkraft bewahrt. Damit im Zusammenhang
steht das frühe Ausbleiben bezw. die Aufhellung der Iris, die nach Ansicht
des Verf. nicht so sehr durch Veränderungen des Irispigmentes selbst be"
dingt ist, als vielmehr durch Mattwerden der Cornea und frühzeitige senile
Degeneration derselben, vor allem infolge des Einflusses von Sonnenbe-
strahlung, Staub und Rauch, der früh zu Gewebsveränderungen im Gebiete
der Cornea und Konjunktiva führt.
Was die vorgeschichtlichen Verhältnisse aller dieser Völker betrifft,
deren Heimat bekanntlich von manchen nach Süd-Transbaikalien verlegt
wird, so gelangten besonders die Chalchas früh zu starker Entfaltung in
der Nordmongolei; ihrem Stamm entspross ja auch der einst allmächtige
Tschingis-Chan, dessen Dynastie durch IV2 Jahrhunderte die Völker Asiens
(Turkos, Mongolen) und Osteuropas beherrschte. Als Transbaikalien von
Russland annektiert wrar, gelangten seit der Mitte des XVII. Jahrhunderts
mehrere Mongolenstämme, vor allem viele Buräten, unter russische Bot-
mässigkeit mit Beibehaltung einer gewissen, den Bedingungen der Steppe
angepassten Autonomie, die ihnen seitdem gewahrt bleibt. Verf. hält sie
alle für stark gemischt. Gemessen wurden insgesamt 641, ausschiesslich
Ö Individuen. Die Abbildungen erscheinen recht charakteristisch.
Dr. 11. Weinberg-Dorpat.
257. Ch. de Ufjalvy: Iconographie et anthropologie irano-indienne.
L’Anthropologie, 1902. Nr. 4—6, 64 S.
Unter Zuhilfenahme der wichtigsten sich heutzutage noch in Indien
über die Bevölkerung dieses Landes vorfindenden Abbildungen und Auf-
15
Intern. Centralblatt für Anthropologie. 1903.
226
B. Referate. Ethnologie.
Zeichnungen (Skulpturen, Fresken, Kameen, Münzen etc.) versucht es U.,
ein klares Bild der Völker Indiens von der Einwanderung der Arier bis
auf heutige Zeiten zu entwerfen. Die grösste Aufmerksamkeit unter der
Masse des reichen Materiales verdienen die Fresken aus den unterirdischen
Tempeln von Adjanta, welche J. Griffiths genau beschrieben und chromo-
lithographisch abgebildet hat; Griffiths verlegt sie in das erste und zweite
Jahrhundert n. Chr.
Von der Bevölkerung Indiens zur Zeit der Ankunft der Arier nimmt
U. an, dass sie aus drei Gruppen bestand: weissen Ariern, gelben Nagas und
autochtenen Dasyus oder Dravidas; diese letzteren hatten eine mehr oder
weniger dunkle Haut, jedoch ohne jede Beimischung von Negerblut, und
bestanden aus verschiedenen Rassen. Von den sieben Hauptcharakteren
des arischen Typus (hohe Gestalt, Dolichocephalie, weisse Haut, blondes
Haar, blaue Augen, Leptoprosopie, Leptorrhinie) beginnen sich seit dem
Momente des Wechselverkehres Indiens mit dem Westen einzelne von ihnen
im Laufe der Zeiten abzuspalten; nur die blauen Augen scheinen .sich am
längsten behauptet zu haben. Unter der kurzen Herrschaft der persischen
Achaemeniden im Nordwesten Indiens unterschied sich der iranische Typus
augenscheinlich von indischen vorzugsweise durch die Hautfarbe.
Die Skulpturen von Gandhera, dessen Bewohner bereits Herodot be-
kannt waren, weisen einen mit turanischen Elementen stark vermischten
Hindutypus auf, in welchem Beziehungen zu einem sehr alten und proto-
arischen Volke mit gelber Haut zu finden sind. Die Denkmäler von Sautchi
und Bliarhut stammen von einem eingeborenen, dunkelgefärbten Volke,
welches jedoch nichts Negroides in sich hat. Die Typen der indischen
Miniaturen aus den drei letzten Jahrhunderten nähern sich fast vollkommen
dem jetzigen Typus. Der heutige Hindutypus — und damit bestätigt U.
vollkommen die schon vorher aufgestellte Einteilung noch E. Schmidt —
setzt sich aus drei Hauptvarietäten zusammen, und zwar: a) hohe Gestalt,
Dolichocephalie, Leptoprosopie, Leptorrhinie, helle Haut; b) niedrige Ge-
stalt, Dolichocephalie, Platyprosopie, Mesorrhinie oder Platyrrhinie, stark
nuancierte dunkle Haut; c) relativ hohe Gestalt, Leptoprosopie, Leptorrhinie;
oft dunkel gefärbte Haut. Überdies giebt es noch eine sekundäre Varietät
von hellfarbigen Platyrrhinen, welche jedoch wenig zahlreich ist.
Dr. Oskar v. Hovorka-Wien.
258. Max Uhle: Types of culture in Peru. American Anthropologist.
N. S. 1902. Vol. IV, S. 753 ff.
Uhle weist darauf hin, dass ein richtiges Verständnis der höheren
amerikanischen Kulturen in Amerika nur zu gewinnen ist, wenn man sie
nicht als in ihrem Nebeneinander, Lokalstile geographisch getrennter Stämme,
sondern jeden einzelnen in seinem Nacheinander, in seiner geschichtlichen
ß. Referate. Ethnologie.
227
Entwickelung studiert. Er selbst hat bei seinen sehr eingehenden Unter-
suchungen der peruanischen Kulturstätten nach solchem Prinzip verfahren.
Ein besonderes günstiges Feld hierfür war der alte Tempel des Gottes
Paehacamac, in dessen Trümmern er übereinanderliegend die Spuren fünf
aufeinanderfolgender Kulturperioden unterscheiden konnte. Die ältesten der-
selben war 1. charakterisiert durch den klassischen Stil der Monumente
von Tihuanaco, darauf folgte 2. eine lokale Weiterentwickelung dieses Stiles,
o. eine Periode weiss, rot und schwarz bemalter Gefässe, 4. eine solche,
die durch gewisse schwarze Thongefässe gekennzeichnet war und 5. die
Periode des eigentlichen Inkastils. Ähnliches fand sich in den Ausgrabungen
von Chaucan, der alten Stadt der Chimus; bei Moche liess sich nachweisen,
dass die gewöhnlich den Inkas zugeschriebene Huaca del Sol viel älter war;
sie entsprach der dritten der angeführten Perioden und lag wohl schon in
der vierten und fünften (der Inkaperiode) in Trümmern. Eine besondere
archäologische Provinz liegt südlich von Lima in den Thälern von Chiucha,
Pisco und Ica. Dort findet man vertreten: 1. die Inkakultur, 2. eine eigen-
artige, wahrscheinlich unmittelbar der Inka-Invasion vorausgehende Kultur,
o. manche Gräber, deren Einschlüsse der ältesten und zweiten Periode von
Paehacamac entsprechen und 4. eine wahrscheinlich noch ältere, sehr inter-
essante Kultur; obgleich die Gefässe derselben technisch denen von Tihuanaco
nahestehen, unterscheiden sie sich doch von fast allen anderen peruanischen
Typen durch die Freiheit des Stils. In ihr war der Gebrauch von Ziegeln
bei Errichtung der Gebäude noch nicht aufgekommen, sondern diese wurden
hergestellt durch rundlichst zusammengeballte Thonklumpen, die einfach mit
Thon zusammengeschmiert wurden. Diese Kultur muss als ältere Schwester,
vielleicht als Mutter derjenigen von Trujillo (schön bemalte Thongefässe)
angesehen werden. Die Entwickelungsfolge dieser alten peruanischen Kulturen
muss eine lange Zeit, wohl tausende von Jahren, in Anspruch genommen
haben; Uhle glaubt den fünf in Paehacamac und auch sonst nachgewiesenen
Perioden mindestens eine Zeit von 2000 Jahren zuschreiben zu müssen.
Die Analyse jener uralten Kulturen muss fruchtbringend sein auch für das
Studium der anderen höheren mittel- und südamerikanischen Kulturen, die
vielleicht schon in ältesten Zeiten mit der peruanischen in Verbindung ge-
standen haben. Prof, Emil Schmidt-Jena.
259. Theodor Koch: Die Apiakä-Indianer (Rio Tapajos, Matto
Grosso). Verhdl. d. Berliner Gesellschaft füi Anthropologie,
Ethnologie und Urgeschichte, 1902. Bd. XXXIV, S. 350—379.
In einem geschichtlichen Überblick giebt der auf dem Gebiete süd-
amerikanischer Ethnologie wohlbekannte Verf. alles wieder, was wir aus
■der Litteratur über diesen brasilianischen Indianerstamm wissen. Genauer
bekannt werde er erst seit dem Jahre 1819. Später ist er namentlich von
15*
228
B. Referate. Ethnologie.
Florence Castelnau, Barbosa Rodrigues, Coudreau und Katzer beobachtet
worden. Auch Yerf. hat 2 männl. Individuen in Cuyabä photographiert
und sprachliche Aufnahmen mit ihnen angestellt, die dann später durch
Dr. Max Schmidt wiederholt wurden, dessen Aufzeichnungen dem ver-
gleichenden Vokabulare zu Grunde liegen, welches den zweiten Teil der
Abhandlung bildet. Den Mitteilungen der Autoren zufolge standen die
Apiakä am Anfang des 19. Jahrhunderts auf derselben Kulturstufe wie die
heutigen Schingü-Indianer. Anthropophagie war früher bei ihnen Mode.
Ihr Hauptsitz war ursprünglich der eigentliche Tapajos, vonwo sie jedoch
zum grössten Teil in der ersten Hälfte des 19. Jahrh. zum Rio Säo Manoei
auswanderten, um ihre Freiheit zu retten. Dort bilden sie heute einen
neuen zahlreichen Stamm, die Parabitele, der zu den Weissen keine Be-
ziehungen unterhält und nur einen ganz geringen Handel treibt, während
die am Tapajos sitzengebliebenen schon vielfach im Dienste der Ansiedler
stehen. Beide Stämme sind aber durch die Stammestätowierung als identisch
zu erkennen.
Durch Vergleichung ihrer Sprache mit altem Tupi und Guarani, mit
modernem Guarani der heutigen Paraguayer und mit Vokabeln der Kayuä
vom Parana-panema (Säo Paulo) und der Kamayurä des unteren Kulisehu,
der Nachbarn der Apiakä, ergiebt sich die Zugehörigkeit des Apiakä zur
grossen Tupi-Gruppe.
Nicht zu verwechseln mit ihnen ist ein ebenfalls Apiakä genannter
Karaibenstamm, von Tocantius und Ehrenreich beobachtet, zu dem auch
die wenig bekannten Arära gehören. Dr. ß. Lehmann-Nitschc-La Plata.
260. Theodor Koch: Die Guaikurü-Gruppe. Mitteilungen der
Anthropologischen Gesellschaft in Wien, 1903, Band XXXIII,
S. 1-128.
In gleicher Art wie seine bereits früher erschienene „Maskoi-Gruppe‘:
(s. Centralbl. 1903, S. 42) und auch äusserlich an gleicher Stelle und in
gleicher Ausstattung behandelt Verf. in übersichtlicher Darstellung die
Stämme, welche sich sprachlich zu einer Gruppe zusammenfassen lassen, die mit
dem Worte Guaikurü bezeichnet wird, ein Wort, das früher eine sehr vage
Bedeutung hatte, aber allmählich auf gewisse Indianerstämme beschränkt wurde.
Seine eigentliche Bedeutung ist nicht ganz klar, wahrscheinlich ist es ein
guaranitisches Schimpfwort.
Im ersten Teil wird an der Hand der Litteratur, welche Verf. gründliich
beherrscht, über Namen und Wohngebiete der einzelnen Stämme abgehandelt.
Es sind dies die Guaikurü im allgemeinen, ein Wort, das nach des Ref.
Erfahrungen ganz allgemein in Argentinien für Chacostämme im Gebrauche
ist, die Mbayä, heute ausgestorben, und die durch des ermordeten Boggiani
Forschungen bekannter gewordenen Kadiueo. Ferner die Toba und Mokovi:.
B. Referate. Ethnologie.
229
<3a erstere sich nach Lafones Gewährsmann, welcher Ref. ganz unabhängig
von Lafones Untersuchungen bei anderer Gelegenheit dasselbe mitteilte,
Ntocoit nennen, so hätte Yerf. auf S. 28 ganz ruhig von einer Identität
der Namen Ntocoit und Mocovi statt blosser Ähnlichkeit sprechen können.
Man muss es erlebt haben, was nicht alles so ein spanisches Ohr aus einem
Worte heraushört, welches nicht der edlen Sprache Cervantes’ angehört.
Mocovi ist offenbar die noch verhältnismässig richtige spanische Trans-
skription für Ntocoit. Ebenso ist es mit einem weiteren Stamme der
Guaikurügruppe, den Pichibrä (deutsche Schreibweise, cli wie in ach zu
sprechen) der Fall, aus welchen das spanische Ohr, Pilaga verbrochen hat,
welche Bezeichnung nun allgemein in der Litteratur figuriert. Wenigstens
war dem alten Lopez, dem Gewährsmenne Lafones, welchen Ref. ebenfalls
mehrere Male befragen konnte, die Bezeichnung Pilaga absolut nicht be-
kannt, dagegen sprach er von den Pichilrä und ich halte die Identität beider
Worte für zweifellos. — Ein anderer Stamm der G.-Gruppe sind die Anguilot
Azaras, von denen weitere Angaben in der Litteratur nicht vorliegen; von
ihnen ebenso wie von den Pilaga als Unterabteilungen der Toba zu
sprechen, wie es Yerf. thut, ist nicht angängig; alle diese Indianer be-
zeichnen sich ja doch jeder mit einem besonderen Namen, ein gemeinsamer
Gruppenname auf Grund sprachlicher Übereinstimmung ist ein Kunstprodukt
der Ethnologie, und so lange nicht ein spezieller Grad des Zusammenhangs
dieser zwei Stämme mit den Ntocoit nachgewiesen wird, sind sie einfach
unter den Kunstausdruck Guaikurü unterzubringen. Deswegen rechne ich
auch die von mir in Buenos Airos anthropologisch aufgenommenen Takshik,
auf welche Yerf. auf S. 25 anspielt, ganz allgemein zur Guaikurügruppe,
nicht zu den Toba, denn die Leute erklärten ausdrücklich, sie seinen T.
und keine „Ntocoit“, die sie sehr wohl kannten. Die betr. Publikation
über die Takshik, welche zum ersten Male in der Litteratur auftreten, er-
scheint demnächst in der Revista del Museo de La Plata. — Die Abipön
schliesslich, aus des P. Dobrizhoffer köstlichem Werke bekannt, heute wohl
ausgestorben, bilden einen weiteren Teil der Guaikurü. — Ein sehr ent-
fernter Zweig scheinen die Guatschi zu sein. Noch mehr entfernen sich
die bei Asuncion lebenden Reste der Payagua; bei einer Yergleichung ihrer
Worte mit denen der G.-Gruppe lassen sich Ähnlichkeiten nicht feststellen.
Nichts destoweniger rechnet sie Yerf. im Einklang mit anderen Forschern
dazu, obwohl spezielle diesbezügl. Untersuchungen durchaus noch not-
wendig sind.
Den zweiten Teil der Arbeit schliesslich bildet ein vergleichendes
Wörterbuch der Guaikurügruppe, das für ethnologische Zwecke vollkommen
ausreicht, gefolgt von einigen sprachlichen Erläuterungen. Neu in der
Litteratur sind das Kadineo-Vokabular des Verfassers und das Toba-Vokabular
des Prof, von den Steinen.
230
B. Referate. Ethnologie.
Wir müssen dem Yerf. für seine fleissige und übersichtlich orien-
tierende Arbeit sehr dankbar sein, die eine fühlbare Lücke der Litteratur
ausfüllt. Die einschlägige Litteratur ist schwierig zu beschaffen, noch
schwieriger, von ihr überhaupt Kenntnis zu erhalten. Yerf. erreichte beides
und bietet eine übersichtliche Bearbeitung. Hoffentlich folgen bald andere
„Gruppen“ in gleicher Art und Weise nach. Einen nicht minderen Dank
verdient die Wiener anthropologische Gesellschaft für die mustergiltige
Drucklegung. Br. R. Lehmann-Nitsche-La Plata.
261. R. Karutz: Engano-Popolo. Malayische Einflüsse im Bismarck-
Archipel. Globus 1903. Bd. LXXXIII, Nr. 2.
Die wenig zahlreichen, aber durch ihre charakteristische Form auf-
fallenden und gut bekannten Speere von Engano in Beziehung zu setzen
zu den eigentümlichen Hau- und Reisswuiffen von Popolo ist der Zweck der
vorliegenden Arbeit. Kannte man bisher die Engano-Speere nur mit eiserner
Klinge, so kann Karutz aus den Beständen des Museums für Yölkerkunde
in Lübeck vier Exemplare aus Engano mitteilen, welche sicher die Vor-
läufer oder Urbilder der eisernen Spitzen darstellen. An dem einen Speer
ist das Mittelstück der Spitze ein breiter, platter, mit einem Holzfutter
ausgefüllter Röhrenknochen, der an den zwei gegenüberliegenden Kanten
mit je drei Längsschlitzen zur Aufnahme eiserner zweischneidiger Zacken
versehen ist. In das obere Ende des Knochens ist eine Schneide einge-
klemmt. An dem zweiten Speer besteht das Mittelstück der Spitze gleich-
falls aus einem Röhrenknochen, dessen Schmalseiten jedoch nur zweimal
zur Aufnahme der Eisenzacken durchbohrt sind; in das obere Ende ist ein
scharfrandiges Eisen von unregelmässig viereckiger Gestalt eingelassen. Der
dritte Speer zeigt das Mittelstück der Spitze aus Holz, wenn auch ebenso
geformt, wie bei den beiden vorhergehenden, die Schmalseiten tragen Aus-
schnitte zur Aufnahme eiserner Zacken. Der vierte Speer trägt eine Eisen-
spitze von der Form etwa einer Messerklinge, deren Rücken 6 Zacken trägt.
Der zweite, dritte und vierte Speer zeigen auf dem Schaft ein Zickzack-
ornament, zu welchen sich auch Spiralmotive gesellen.
Es geht zunächst aus den Stücken hervor, dass der Eisenzeit von
Engano eine Stein- und Holzzeit vorausging, und der Übergang vollzog sich
ohne prinzipielle Änderung der Typen, abgesehen von solchen, die das Material
nötig machte. Die Ähnlichkeit dieser Speere mit denen von Popolo, welche
zahnförmige Zacken aus Schildkrot tragen, ist augenfällig. Zur Erklärung
dieser Übereinstimmung erwähnt Verfasser folgende Möglichkeiten: 1. Es
können alte Engano-Speere nach Popolo gelangt sein, sodass wir in den
Waffen dieser Insel die Form der ersteren im Original oder nachgeahint
wiederfinden. 2. Es sind Engano-Speere der Eisenzeit nach Popolo ver-
schleppt und von den dortigen Eingebornen in dem Material ihrer Insel
B. Referate. Ethnologie.
231
möglichst getreu nachgeahmt worden. Die Möglichkeit, dass Engano-Speere
nach Popolo gelangen, ist meteorologisch durchaus gegeben.
Gr. Thilenius-Breslau.
262. Ch. Letourneau: La femme en Papouasie et en Afrique.
Revue de l’Ecole ¿’Anthropologie de Paris, 1902. Bd. XII,
S. 373.
Die Papua sind in sociologischer Hinsicht viel weiter vorgeschritten,
als die Australier. Trotzdem ist bei ihnen die Lage des Weibes noch trauriger
als bei ihren südlichen Nachbaren. Das beweist, dass wie bei den Kultur-
völkern, so auch bei den Naturvölkern industrieller Fortschritt bei weitem
nicht gleichbedeutend ist mit moralischer Hebung. In Australien existiert
noch der ursprüngliche Clan, der Mann kann seine Frau misshandeln, er
darf und‘soll sie auch unter gewissen Umständen verleihen, er kann sie
aber nicht töten, ohne sich der Rache des Clans auszusetzen, aus dem die
Frau herstammt. Auf den papuasischen Inseln sind nur wenige Clan-Spuren
erhalten geblieben, sodass auch dieser Schutz dem Weib fehlt. Sie hat alle
schwierigsten Arbeiten zu verrichten, ist eigentlich nur die Sklavin ihres
Mannes und kann von ihm umgebracht werden einfach, um seine Lust nach
menschlichem Fleisch zu befriedigen. Kein Wunder, dass unter solchen
schrecklichen Umständen der Selbstmord bei den papuanischen Weibern sehr
häufig vorkommt. Und doch ist die geistige Entwicklung dieser armen
Geschöpfe nicht so rudimentär, als man es glauben könnte: Verf. führt sogar
Dichtungen an, die von ihnen gemacht wurden. Wenn auf der einen Seite
der individuelle Raub, nach australischer Mode, selten geworden ist, so sind
dagegen Raubzüge sehr häufig: der Stamm sucht damit seine Weiberheerde
auf Kosten eines benachbarten Stammes zu vermehren. Polygamie ist allge-
mein. Die Verwandtschaft folgt der weiblichen Linie, man glaubt, dass
zwischen Vater und Kind keine Verwandtschaft bestehe, aber der Neffe
besitzt alle Rechte auf die Erbschaft seines mütterlichen Onkels. Dieser
«o sonderbare Gesichtspunkt scheint in den primitiven Gesellschaften all-
gemein gewesen zu sein; er zeugt vom völligen Unverständnis des Zwecks
des geschlechtlichen Verkehrs; wenn man ihn aber mit der traurigen Lage
des Weibes bei den Naturvölkern in Vergleich stellt, so spricht er nicht
für die frühere Existenz eines Matriarchats im Sinne des Vorrechts des
Weibes.
Wenn in Papuasien noch einige primitive Zustände auf bewahrt wurden,
so sind sie bei den afrikanischen Negern schon längst verschwunden. Mütterliche
Verwandtschaft ist noch allgemein; Spuren der primitiven Exogamie sind
noch bei den Kaffern zu bemerken. Überall herrscht Polygamie, und wenn
auch die Heirat durch Kauf des Weibes geschlossen wird, so giebt es doch
bei verschiedenen Völkerschaften Ausnahmen, nach welchen dem Mädchen
23 2
B. Refei'ate. Ethnologie.
eine gewisse Wahlfreiheit gelassen wird. Aber bei den meisten Stämmen
kauft sich jeder so viel Weiber, als es seine Mittel gestatten, sodass, trotz
der Überzahl der Frauen, doch in ganz Afrika ein gewisser Mangel ein-
getreten ist, und die weniger Bemittelten auf den Tod eines reicheren
Mannes warten müssen, um Weiber sich anzuschaffen. Unsere europäischen
Ideen über Tugend finden dort wenig Beifall: es ist üblich, dass, wenn ein
vornehmer Reisender einen Stamm besucht, der Fürst ihm seine Gastfreund-
lichkeit dadurch beweist, dass er ihm die schönste seiner Töchter für die
Nacht überlässt. Diese Sitte wird uns weniger sonderbar erscheinen, wenn
wir uns erinnern, dass wir in Europa unsere Gäste nicht besser zu empfangen
wissen, als indem wir sie zu einem Ball oder einem grossen Diner einladen,
wo unsere Frauen und Töchter in möglichst aufregender Dekolletierung er-
scheinen. Die Mode ist weniger patriarchalisch, als bei den Negern, im
Grund hat sie aber doch denselben Sinn. Dr. L. Laloy-Bordeaux.
263. W. L. H. Duckworth: Craniologica! notes on the aborigines
of Tasmania* Journal of the Anthropological Institute, 1902.
Vol. XXXII, S. 177—181.
Verf. beschreibt einen Schädel, zwei Unterkiefer, eine Calvaria, ein
Vorderstück nebst Gesicht ohne Unterkiefer. Unter den überhaupt in Be-
tracht kommenden drei Exemplaren ist bei zweien eine fronto-squamosale
Verbindung vorhanden, bei dem dritten ist die spheno-parietale Naht sehr
kurz. Im allgemeinen weichen die beschriebenen Schädel nicht von den
bekannten ab. Die Tasmanierschädel zeigen lediglich Steigerungen der für
Australier charakteristischen Merkmale, unter denen Verf. die folgenden auf-
führt: Kapazität, postorbitale Einziehung des Frontale, glabellare Prominenz,
flache aufgestülpte Nasenbeine, weiten Naseneingang, Prognathie, Macrodontie,
kleine Proc. mastoidei, flache Kontour der Schläfenschuppe, kurze Nasen-
Thränenbeinnaht, Torus occipitalis, u. s. w. Als erheblichen Unterschied
nennt Verf. die geringere Länge des tasmanischen Schädels, die wohl mit
der geringeren Körperlänge in Beziehung steht, da bei kleinen Rassen die
höheren Grade der Dolichokephalie nur ausnahmsweise erscheinen. Danach
sind die nächsten Verwandten der Tasmanier die Australier, neben denen
weder eine andere Rasse, noch etwa Pygmäen in Frage kommen.
G. Thilenius-Breslau.
264. Jules Garnier: Vocabulaire des indigènes de l’Australie
occidentale. Bull, de la Soc. Neuchâtel, de géographie.
1902. Tome XIV, S. 247—251.
Das vorliegende Vokabular wurde durch den Verf. von einem prote-
stantischen Katecheten, Namens Dagenbat, zu Coolgardie (Dialekt von Cool-
gardie und Dialekt der Espérance Bay) gesammelt. Um einen Vergleich
В. Referate. Ethn ologie.
233
darüber anstellen zu können, wieweit die australische Sprache mit den
oceanischen Sprachen Berührungspunkte aufweist, hat Verf. dieselben Worte
und in derselben Reihenfolge seinem Gewährsmann abgefragt, wie er sie
auf Neu-Caledonien, Tahiti etc. seiner Zeit gesammelt und in den Bull, de
la Soc. de géogr. de Paris 1870 veröffentlicht hat. Dr. Buschan-Stettin.
265. Paul Huguenin: Raiatea. La Sacrée. Bulletin de la Soc.
d’anthrop. Neucliateloise de géographie, 1902. Tome XIV,
S. 5—252.
Während seines vierjährigen Aufenthaltes in seiner Eigenschaft als
Direktor der Schulen fand Verf. reichlich Gelegenheit, Land und Leute der nur
200 qkm grossen Insel Raiatea, einer der Gesellschafts-Inseln, zu studieren.
Der umfangreiche Band, in dem er seine Beobachtungen niedergelegt hat,
ist vorwiegend ethnologischen Charakters; während die ersten 59 Seiten
den geographischen, floristischen, faunistischen, klimatischen und metereo-
logischen Bedingungen der Insel gewidmet sind, betreffen Seite 60—246
die ethnologischen Verhältnisse: Im Kapitel ЛII wird dem Leser die Be-
völkerung der Insel im allgemeinen (Ursprung der Polynesier — Verf. spricht
sich für eine asiatische Heimat aus —, Schilderung des tahitischen Typus,
physiologisches und pathologisches Verhalten, Bewegung der Bevölkerung,
sociologische Eigentümlichkeiten und psychisches Leben), im Кар. VIII die
Familie, im Кар. IX das sociale Leben des tahitischen Volkes vorgeführt.
Кар. X bringt sodann historische Angaben, Кар. XI behandelt die tahitische
Sprache, und Кар. XII giebt Erzählungen, Legenden und volkstümliche
Gesänge (mit Musikbegleitung) wieder. — Ein ausführliches Referat bringt
Revue de l’École d’anthrop. de Paris 1902, S. 350—353.
Der Abhandlung sind 24 Tafeln in Buntdruck (nach farbenprächtigen,
von dem Verf. selbst gezeichneten Aquarellen), 31 einfarbige Tafeln und
64 Figuren im Texte beigegeben; die Abbildungen bringen zumeist land-
schaftliche Scenerien, aber auch ethnographische Gegenstände und anthropo-
logische Typen zur Darstellung. Dr. Buschan-Stettin.
266. K. Weule: Zwergvölker in Neu-Guinea. Globus 1902.
Bd. LXXXII, Nr. 16.
Im Anschluss an die ersten von der Expedition Lauterbach stammenden
Nachrichten über Zwergvölker in Neu-Guinea veröffentlicht Verfasser drei
Photographien von Pygmäen aus dem Stromgebiet des mittleren Ramu.
Damit bestätigen sich, wie so häufig die Angaben Eingeborener, in diesem
Fall besonders derer vom Sattelberg und von Simbang. Verfasser bezeichnet
als durchaus nicht unmöglich, dass diese Ssigauii-Pygmäen dem Wuchs
nach typische Pygmäen sind, während der Tropfen Papuablutes, der viel-
leicht in ihren Adern rollt, hinreicht, ihnen die Züge des Küstenbewohners
234
i3. Referate. Ethnologie.
aufzudrücken. Als äusserste Grenze seines Urteiles stellt Referent die Be-
hauptung auf, dass diese Zwerge etwas weniger negroid aussehen, als die
Papuas der Astrolabe-Bai und ihrer nächsten Umgebung. Unter den Deutungen,
welche für Pygmäen im allgemeinen überall möglich sind, dass es sich nämlich
um Erscheinungen der Konvergenz oder um eine Rasse handelt, bevorzugt
Verfasser augenscheinlich die letztere, während wohl bei dem heutigen Stande
unserer Kenntnisse jedesmal von Fall zu Fall entschieden werden sollte, ob
die Pygmäen ein Volk, eine Rasse oder Kümmerformen u. s. w. darstellen.
Es hängt damit zusammen, dass Verf. der Theorie sympathisch gegenüber
steht, welche in allen kleinwüchsigen Elementen etwas gemeinsames, eine
einheitliche Völkerschicht sieht, die einer geologischen Formation gleich,
sich über weite Erdräume erstreckt. Er weist darauf hin, dass die heutigen
Pygmäen rings Tim den indischen Océan angeordnet sind und dass der heutige
Kulturzustand der Pygmäen sicherlich nicht ihren höchsten Stand bezeichnet,
da Vereinsamung stets den Rückschritt nach sich zieht. Die Zwergvölker
Afrikas, Süd-Asiens und des Archipels gehören ferner ihrem ganzen Er-
scheinungskomplex nach zu der schwarzen Rassengruppe. Durch den Nach-
weis von Pygmäen in Nordost-Neu-Guinea ist eine Schwierigkeit, welche
sich aus ihrer Zurechnung zu der schwären Gruppe ergab, gehoben, da nun
auch die Verbindung zwischen Negern, Melanesiern und Papuas herstellbar
erscheint. Für die Feststellung des Ursprunges von Neger und Papua ist
die Heranziehung der Pygmäen unerlässlich. Räumlich besteht eine Parallele
zwischen dem Westen und dem Osten durch den Nachweis der neuen Pygmäen.
Hier, wie dort ist dem grosswüchsigen Negroiden eine kleinwüchsige Varietät
untergelagert. Auch aus der gegenseitigen Stellung der beiden Varietäten
ergiebt sich eine Ähnlichkeit, insofern zunächst im Innern von Celebes die
To-Ala nachgewiesen sind; weiterhin angeblich die Pygmäen im Gogol-Gebiet
im Sklavenverhältnis stehen. Die To-Ala schliessen die Lücke, welche bisher
in der Verbreitung des Negritos bestand, das Sklavenverhältnis der Papua
im Gogolgebiet könnte sich als dem gleich heraussteilen, welches die Zwerge
am Hofe des Mombutto-Königs als Jäger hinstellt. Endlich findet sich der
zusammengesetzte Bogen vollständig unabhängig bei den Pygmäen am Nord-
ufer des Kivusees. Den gleichen Bogen veröffentlicht Luschan aus Sekar.
Ist dieser Bogen nicht zufällig hierher gekommen, so würde sich eine Über-
einstimmung in dem Kulturbesitz des Ostens und Westens ergeben. Ehe
die weitgehenden Folgerungen, welche sich aus dieser Theorie ergeben, aner-
kannt werden können, wird es indessen noch umfangreicher Untersuchungen
bedürfen, um die Möglichkeit, oder Wahrscheinlichkeit auszuschliessen, dass
hier die in der Völkerkunde nicht seltenen Erscheinungen der Konvergenz
vorliegen. (?. Thilenius-Breslau.
B. Referate. Ethnologie.
235
267. W. Foy: Ethnographische Beziehungen zwischen Britisch- und
Deutsch-Neu-Guinea. Globus 1902. Band LXXXII, 24. 1902.
Da man von Neu-Guinea im wesentlichen nur die Küstengebiete kennt,
so sind bisher Versuche, diese mit einander in Verbindung zu setzen, wohl
hauptsächlich deshalb unterblieben, weil man über die dazwischen liegende
Bevölkerung nur wenig oder gar nichts wusste. Dieser Zurückhaltung gegen-
über weist der Verfasser mit liecht darauf hin, dass dennoch eine Reihe
gemeinsamer Züge der Nord- und Südküste schon jetzt sich feststellen lasse;
unter den für beide Gebiete typischen Erzeugnissen finden sich derartig
gleiche oder verwandte Formen, dass sie sich nur als Zeugen alter Kultur-
wanderungen auffassen lassen. Dazu gehören z. B.: 1. Die scheiben-, stern-
und morgensternförmigen Keulensteine, die anscheinend nur im Bezirk des
Fly-Rivers, im Elema-Bezirk und weiter östlich bis Hood-Bay angefertigt
werden. Sie wandern im Tauschhandel bis zur Nord-Ost-Küste (Mitra-Felsen)
und beeinflussen auch die Formen im Hinterlande von Finschhafen. 2. Weiter-
hin ist der Aderlassbogen zu erwähnen, der im Elema-Bezirk und an der
Astrolabe-Bai vorkommt. 3. Die Rindengürtel von Berlinhafen schliessen
sich an die des Elema-Bezirk, des Fly-River und auch der Admiralitäts-
inseln an. 4. Rohrpanzer finden sich am Fly-River und in der Gegend von
Angriffshafen. 5. Schilde beim Bogenschiessen werden im Elema-Bezirk
bis zur Astrolabebai verwandt. G. An Maskenzusammenhängen bestehen
solche zwischen dem Elema-Bezirk und den Tami-Inseln. der Torresstrasse
und Finschhafen, endlich bezüglich eines Kopfschmuckes zwischen der Torres-
Strasse und der der Humboldt-Bai. Neu mitgeteilt und durch Abbildungen
belegt ist ferner eine geflochtene Gesichtsmaske vom Fly-River, welche sehr
stark an eine von Dallmannhafen stammende erinnert und auch mit einer
Holzmaske von Muschu (Nordwest Deutsch-Neu-Guinea) zusammen zu stellen
ist auf Grund der Nasenform. Verwandt mit ihr ist auch die sogenannte
Rüsselmaske vom Kaiserin Augusta-Fluss. Ein Unterschied besteht nur inso-
fern, als die neue Maske vom Fly-River über den Kopf gestülpt wird, die
Masken von Muschu und die Rüsselmaske nur vor das Gesicht gebunden
werden. Demnach ergeben sich folgende Beziehungen: 1. Fly-River einer-
seits, Angriffshafen, Dallmannhafen, Kaiserin Augusta-Fluss, Finschhafen
andererseits. 2. Elema-Bezirk einerseits, Berlinhafen, Astrolabebai, Finsch-
hafen, Tami-Inseln andererseits. 3. Mekeo-Distrikt und Hood-Bai einerseits,
Astrolabebai, Finschhafen andererseits. Ausgangspunkt und Geschichte dieser
Gleichheiten und Ähnlichkeiten festzulegen, ist eine weitere Aufgabe der
Forschung. Q. Thilenins-Breslau.
236
B. Referate. Ethnologie.
268. W. Semayer: Beschreibender Katalog der ethnographischen
Sammlung Ludwig Biros aus Deutsch-Neu-Guinea (Astrolabe-
Bai). Mit 22 Tafeln und 245 Textabbildg. in 73 Figuren.
Ethnograph. Sammlungen des Ung. Nationalmuseums, III.
Budapest 1901.
Das Werk bildet eine Fortsetzung des Berlinhafen behandelnden ersten
Teiles (s. Centralbl. f. Anthrop. IY, S. 226). Die Anlage des Bandes ist
so getroffen, dass der Beschreibung der Gegenstände möglichst Abbildungen
der Typen beigegeben sind, ausserdem sind die Notizen des bekannten
Sammlers derart verwertet, dass jedem Gegenstand die zugehörige Beobachtung
oder Schilderung beigefügt ist. Der dadurch drohenden Zerreissung der
Beobachtungen beugt die geschickte Zusammenfassung zu grösseren Gruppen
vor, unter deren Überschrift zunächst eine Einleitung des Sammlers meist
selbst folgt. Die grossen Gruppen des Kataloges sind folgende: Geographisch-
ethnographische Skizze der Astrolabe-Bai; Beschreibung der Sammlung:
a) Anthropologische Objekte, b) Ethnographische Objekte: 1. Bauart,
2. Schmuck und Kleidung, 3. alltägliche Gebrauchsgegenstände, 4. Spiel-
zeug der Kinder, 5. Tanz, Musik, Religion. — Auf den reichen Inhalt des
Kataloges kann hier natürlich nicht eingegangen werden. Zur Charakteristik
aber genügt es auf zwei Beispiele hinzuweisen, welche genügend den hohen
Wert der Arbeit erkennen lassen. Wir sind gewöhnt, die Verkäufer eines
ethnographischen Gegenstandes auch für dessen Verfertiger zu halten und
beurteilen danach das den Museen zugehende Material. Biro weist nun
nach, dass es bei den Tamol Sitte ist, ihre Geräte, Waffen u. s. w. fort-
während zu vertauschen und zu verkaufen. Ausserdem fertigt niemand
Geräte zum eigenen Gebrauch, sondern nur zum Tausch an. Jeder Gegenstand
hat seinen eigenen Anfertigungsort, der sich nicht nur auf ein Dorf, eine
Familie oder einen Mann beschränken, sondern auch sehr weit von dem-
jenigen entfernt liegen kann, an welchem das Stück gekauft wird. Zum
Überfluss wreiss der Verkäufer nun das Dorf anzugeben, wro er den Gegen-
stand seinerseits kaufte, das Dorf kann aber der erste oder soundsovielte
Zwischenhändler sein. — Wenn die Feststellung einer so wichtigen, aber
dem Museologen unauffindbaren Thatsache den Wert der langjährigen Thätigkeit
Biros erkennen lässt, so gilt dies nicht minder von der Sorgfalt, wrelche auf die
Ermittelung einzelner Dinge verwendet wurde. So gelangten in des Sammlers
Hände verzierte Holzstäbchen, wrelche allgemein als Essgeräte aufgefasst und
zumal von den ansässigen Weissen als solche bezeichnet wurden. Biro ermittelt
schliesslich, dass sie Miniatur-Schwirrhölzer sind, welche als Liebeszauber den
Männern von den Mädchen gegeben wurden. Der Katalog bringt daher nicht
nur gut bestimmtes Material, sondern enthält auch eine Reihe von Gesichts-
punkten, wrelche für spätere Sammler sowohl wie für die Sammlungen selbst und
deren Leiter oder Bearbeiter von der grössten Bedeutung sind.
G. Thilenins-Breslau.
о
ß. Referate. Urgeschichte. 237
III. Urgeschichte.
I. Europa.
a. Frankreich.
269. E. Fournier und J. Repelin: Recherches sur le préhistorique
de la Basse-Provence. Marseille 1901. 4°, 64 S. mit 8 Taf.,
1 Karte und zahlr. Textfiguren.
Nachdem bereits seit 1890 E. Fournier methodische Ausgrabungen in
Mer Umgegend von Marseille ausgeführt und dabei bemerkenswerte Resultate
aufzuweisen hatte, worüber zahlreiche Publikationen erschienen sind (vergl.
u. a. Les stations préhistoriques des environs de Marseille in L’Anthropo-
logie 1895, S. 653 ff.), hat sich in den letzten Jahren J. Repelin, G-eologe
vom Fach, hinzugesellt, um diese Untersuchungen fortzuführen, die durch
die Berufung E. Fourniers an die Universität von Besançon eine Unter-
brechung zu erleiden drohten. — Die Schrift berücksichtigt ausser den
Kulturresten auch genügend die Tierreste, unter welchen begreiflicher Weise
die von den Küstenbewohnern weggeworfenen Muschelschalen eine bedeutende
Rolle spielen. Bemerkenswert ist es, dass gut charakterisierte Niederlassungen
der Magdalenienne-Epoche in der Basse-Provence nicht festgestellt sind.
Reste des Renntieres fehlen und mithin auch die auf die Verarbeitung des
Renngeweihes sich stützende Industrie und Kunsterzeugnisse. Einige Stationen,
in welchen Thongefässe nicht vertreten sind, kann man allenfalls der Cam-
pignienne-Epoche zurechnen, doch sind sie nicht genügend gekennzeichnet
durch die für dieselbe typischen Silexartefakte. Überhaupt wurden meist
nur sehr kleine Kieselartefakte aufgefunden, entsprechend dem aus kleinen
Konkretionen bestehenden Rohmaterial. Die der neolithischen Periode sensu
stricto angehörigen Stationen weisen Knochenartefakte und Thongefässe auf,
welche vielfach Analogien mit Funden aus den Pfahlbauten der Schweiz und
den Dolmen der Bretagne zeigen. Eine ganz eigenartige Ornamentik tragen
die Thongefässe des Abris du cirque rocheux de Châteauneuf-les-Martiques.
Es sind hier nämlich alle Vertiefungen in den weichen Thon mit dem kleine
halbkreisförmige Zackung aufweisenden Rande der Herzmuschel (Cardium
edule) hergestellt: Zickzack, Wolfszahn u. s. w.; auch die Stelle von Henkeln
vertretenden Buckel sind z. T. durch Abdrücke des Innern von Muscheln
erzeugt. Die zahlreichen Bestattungen in Grotten ergaben viele menschliche
Skelettreste, u. a. einen dolicliocephalen Schädel (Grotte de Laseours). —
Eie im Maassstab 1 : 80000 beigegebene Carte palethnologique des environs
6e Marseille bietet eine dankenswerte Ergänzung der mit vielem Eifer und
grosser Sachkenntnis ausgeführten Untersuchungen, die hoffentlich in gleicher
Weise eine Fortsetzung finden. Br. Otto Schoetensack-Heidelberg.
238
B. Referate. Urgeschichte.
270. M. Imbert: Dolmen de Dampsmesnil Eure. L’Homme pré-
historique 1903. Bd. I, Nr. 1, S. 14, avec %.*)
An dem bereits bekannten Dolmen war die clurchlochte Platte des
Zugangs durch Steinsucher zerschlagen, der fehlende Teil wurde aber 1894
wiedergefunden, sodass nun die Öffnung auf 60 cm gemessen und ein herum-
laufender Falz beobachtet werden konnte. Die Steinkammer wird am schmalen
Ende von einer grossen, an beiden Seiten von 3 bezw. 4 Platten sowie
grossen Decksteinen gebildet und besitzt noch wohlerhaltenes Steinpflaster,
ist etwa 2 m hoch, gegen 2 m breit und gegen 6 m lang. Trotz offenbar
späterer Benutzung gelang es noch, Scherben, eine Feuersteinpfeilspitze, eine
Knochenperle und Schädelfragmente zu bergen. Besonders ist noch die zur
Linken in dem Vorraum stehende Platte wegen ihrer Skulptur zu erwähnen,
die wohl das weibliche Geschlecht darstellen soll. Vieles an dieser Grab-
kammer zeugt von der grossen Sorgfalt der Erbauer.
Prof. Dr. Walter-Stettin.
271. Ä. Le Maire: Dolmen de Ménouville. L’Homme préhistorique
1903. Bd. I, Nr. 3, S. 87, avec fïg.
Auch dieses Ganggrab (Seine et Oise) ist schon langer bekannt, aber
erst 1902 genauer untersucht: Von dem Vorraum wird die Kammer durch
eine Kalksteinplatte getrennt, die ein roh gearbeitetes Loch enthält; die
Kammer selbst hat etwa 1Y2 m Lreite und 51/2 m Länge. Nur ist die
Durchforschung des Innern erschwert, da ein Tragstein nachgegeben hat und
die gewaltige Deckplatte schräg eingesunken ist. Doch förderte man bei
grösster Vorsicht mehrere Schädel, viele Knochen, sowie neolithisclie Scherben
und Feuerstein Werkzeuge zu Tage, wenngleich auch hier Reste von Nach-
bestattungen aus römischer Zeit Vorkommen. Wichtig ist, dass mehrere
Schädel Trepanation zeigen; auch fand sich ein Schädelausschnitt von unregel-
mässiger Form mit Spuren der Säge und „Rillen, die anzudeuten scheinen,
dass man lange gezögert hat, ehe man sich entschloss, dem Amulett end-
gültig seine Form und seine Grösse zu geben“.
Prof. Dr. Walter-Stettin.
272. F. Pérot; Sur l’authenticité des pointes de flèches en silex
des environs de Digoin. L’Homme préhistorique, 1903. Bd. I,
Nr. 2, S. 33, avec 16 fig.
Die grosse Menge der im Departement Saône et Loire gefundenen
Feuersteinpfeilspitzen hat Bedenken gegen ihre Echtheit rege werden lassen,
*) Wir benutzen die Gelegenheit, um auf das Erscheinen dieser neuen von
Chervin und A. de Mortillet herausgegebenen Pariser Revue mensuelle illustrée
hinzuweisen, die sich hauptsächlich auf vorgeschichtliche Archäologie und Anthropo-
logie in Frankreich beschränken, aber auch Wichtiges aus andern Ländern bringen
will. Mitarbeiter, Ausstattung und billiger Preis verdienen vollste Beachtung.
В. Referate. Urgeschichte.
239
besonders glaubte man ihre moderne Herstellung aus der guten Erhaltung
und dem Fehlen der Patina herleiten zu dürfen. Der Verfasser tritt für
die Echtheit ein unter Hinweis auf den Unterschied der Ateliers und Stationen,
den Reichtum des Landes an Feuerstein und die ausgezeichnete Geschick-
lichkeit seiner Bewohner; er unterscheidet 16 Formen von Pfeilspitzen und
schildert die übliche Weise des Suchens, die noch heute nie versagt. Statistisch
wird festgestellt, dass seit 30 Jahren aus einem beschränkten Gebiet ungefähr
500 Pfeilspitzen jährlich gesammelt sind; die in 20 Sammlungen zerstreuten
Stücke von nachweislich burgundischer Herkunft werden aufgezählt: so er-
scheint Grund und Boden dort als eine unerschöpfliche Mine, eine Jahr-
hunderte hindurch von wirklichen Künstlern ausgeübte Industrie hat der
Gegenwart noch reiche Überreste gelassen. Prof. Dr. Walter-Stettin.
273. G. Courty: Les Eyzies et les bords de la Vezére. L’Homme
préhistorique, 1903. Bd. I, Nr. 1, S. 10, avec fig.
274. E. Rivière: Les parois gravées et peintes de la grotte de
la Mouthe. Ebendas. Nr. 3, S. 65, avec fig.
275. A. de Mortillet: Sur quelques figures peintes et gravées des
grottes des environs des Eyzies. Ebendas. Nr. 2, S. 43,
avec fig.
Diese 3 kurz hinter einander erschienenen Aufsätze geben ein zu-
sammenhängendes Bild von dem jetzigen Stand und den neusten Funden
im Gebiet der Höhlenforschung des Departement Dordogne. Courty er-
läutert an der Hand eines Kärtchens die 11 berühmtesten paläolitliischen
Lokalitäten bei Tayac-les-Eyzies an den Ufern der Yezere; Cro-Magnon
lieferte die von Broca untersuchten Skelettreste, les Eyzies Skulpturen von
Elfenbein, Laugerie-Haute und -Basse neben Resten von Equiden und Renn-
tieren auch Feuersteinartefakte der ältesten Typen, die Grotten von la Mouthe,
Eont-de-Gaume und Combarelles endlich eingemeisselte und gefärbte Fels-
zeichnungen. — Letztere beschreibt Rivière, der sie 1897 zuerst publizierte
Und mehrfach angefochten wurde, von neuem, soweit sie die Grotte la Mouthe
enthält; er unterscheidet in der auf 140 m freigelegten Grotte bei einer
Höhe von 2 m nach den Malereien einen Bisonsaal und einen Saal der ge-
fleckten Wiederkäuer. Im einzelnen fällt in einer Gruppe zwischen ver-
nickelten oder unvollendeten Darstellungen von kuh- oder katzenähnlichen
I ieren ein vollständig und gut gezeichneter Bison auf, in einer zweiten ein
vortrefflicher Renntierkopf, ein Steinbock und ein Mammut, dieses kommt
auch in der dritten Gruppe neben pferdeartigen Tieren und Wiederkäuern vor?
Aie schwärzliche Flecke auf dem Körper zeigen. Die Zeichnungen sind von ver-
schiedenem Wert und rühren wohl von mehreren Künstlern her, die darge-
stellten Tiere entsprechen den in den magdalenischen Schichten gefundenen
240
B. Referate. Urgeschichte.
Resten. Die verwendete Farbe ist von Moissan chemisch untersucht, sie
besteht aus schwärzlich geriebenem Pulver von Mangan-Oxyd, gemischt mit
Kiesel- und Kalkstücken. Dieselbe Farbe kommt in der Grotte Font-de
Gaume vor. Die zweite Gruppe enthält neben Tierdarstellungen eine zelt-
artige Zeichnung, weshalb die Fundstelle als Saal der Hütte bezeichnet wird;
die Streifen sind ebenfalls aufgemalt. Rivière bemerkt dazu, dass dies das
einzige Bild einer menschlichen Wohnung aus der magdalenischen Epoche sei.
Nun hat aber A. de Mortillet im 3. Aufsatz gewisse Zeichnungen
aus den Grotten Font-de-Gaume und Combarelles besprochen, die unter
den überwiegenden Tierdarstellungen auffielen; er hält sie gleichfalls für
Abbildungen von Hüttenwohnungen, nicht für symbolische Zeichen. Sie ent-
halten alle einen Mittelmast und konische Zeltbedeckung, daneben Seiten-
stützen und Eingänge. Zur Vergleichung werden die ebenfalls cylindro-
konischen Wohnungen der heutigen Tschuktschen in Sibirien herangezogeu,
die unter gleichen klimatischen Verhältnissen leben wie die damaligen Be-
wohner der Dordogne, gleiche Schnitzereien liefern und ihre Hütten ähnlich
wiedergeben wie die Künstler der südfranzösischen Grotten. Der Vergleich
ist ohne Zweifel schlagend. Auch die Schilderung und Darstellung nord-
amerikanischer Indianerhütten durch Catlin ergiebt deutliche Analogien.
Somit führen uns die Grottenbilder nicht nur die Fauna, sondern auch die
Wohnungen aus den Epochen des Solutréen und Magdalénien in authentischen
Darstellungen vor Augen; denn nicht überall gab es Höhlen, man musste
künstlich sich warme und wohl verschlossene Wohnungen hersteilen, wie
sie der Mensch unter gleichen Lebensbedingungen sich noch heute zu er-
richten gezwungen sieht. Prof. Dr. Walter-Stettin.
276. Capitan, Breuil et Peyrony: Les figures gravées à l’époque
paléolithique sur les parois de la grotte de Bernifal (Dor-
dogne). Revue de l’École et ¿’Anthropologie de Paris 1903.
Année XIII, S. 202—209.
Dem unermüdlichen Entdecker der bemalten Grotten des Vezèrethales
aus der älteren Steinzeit, Professor Capitan, ist es gelungen, mit Hilfe
seiner treuen Arbeitsgefährten den bisher bekannten Grotten eine neue hinzu-
zufügen. Überblicken wir zunächst einmal die schon bisher bekannt ge-
wordenen; es sind: Altamira in Nord-Spanien, Pair-non-Pair bei Bordeaux,
Marsoulas (Haute-Garonne) Chabot an der Ardèche. Die übrigen drei: La
Mouthe, Font-de-Gaume und Combarelles gehören dem Vezèrethal resp. deren
Nebenzweig an. Dasselbe gilt auch von der neuentdeckten von Bernifal.
Da Ref. im vorigen Jahre selbst im Vezèrethal und unter der Führung
des Herrn Peyrony in den Grotten von Font-de-Gaume und Combarelles
war, so glaubt er einige Anhaltspunkte zum Verständnis für das Gelingen
dieser neuen Entdeckung geben zu können. Ohne Zweifel hat daran Herr
ß. Referate. Urgeschichte.
241
Peyrony einen hervorragenden Anteil. Derselbe ist „Justiteur“, d. h.
Yolksschullehrer im idyllischen Hauptort des Yezérethales Les Eyzies, dessen
Häuschen grossen Teils an die überhängenden Kalkfelswände angefügt sind,
die einst die Behausungen eines paläolithischen Künstlervolkes überdachten.
Herr Peyremy ist ein Mann von einer Intelligenz und Feinheit des Benehmens,
wie man sie in Deutschland in einem entsprechenden Bildungskreis schwerlich
finden würde. Er war der erste, welcher in den niemals von Tageslicht
erreichten Grotten die Wände beleuchtet und daran die wunderbaren teils
gemalten, teils gekratzten Tierbilder gesehen hat. Über die Grotten von
Combarelles und Font-de-Gaume finden sich Capitans Berichte im vorigen
Jahrgang der Revue. Professor Capitan ist der wissenschaftliche Erforscher
der Grotten und Abbé Breuil ist ihm dabei ein besonders künstlerisch
thätiger Gefährte.
Die Grotte liegt in demselben, von deren ganz kleinem Nebenflüsschen
Beune durchströmten Nebenthal der Yezére, wie Font-de-Gaume und Comba-
relles. Dieses Beunethal trägt genau denselben Charakter, wie das Haupt-
thal. Überhängende Kalkwände von 50—100 m Höhe begrenzen einen
idyllischen Wiesengrund, durch den sich der schmale Wasserarm schlängelt.
Am Ende des Thaies liegt das Städtchen Sarlat. Indem man in der
Richtung auf Sarlat das Bennethal verfolgt, betritt man etwa 2 km von
Combarelles einen Fusssteig und gelangt 500 m von der Strasse, in der
Höhe von ca. 20 m über dem Thalgrunde zu einer engen brunnenförmigen
Öffnung von nur 60—80 cm Durchmesser. Durch diese muss man sich
hinablassen, um in 1,60 m Tiefe auf eine zweite Öffnung zu stossen. Eine
Stufenleiter von 4 m abwärts steigend dringt man mit Hilfe eines Strickes
in die Grotte ein durch die Decke eines ihrer Säle, während der alte Ein-
gang vollständig verschüttet ist. Die Grotte setzt sich aus 3 grossen Sälen
zusammen, welche durch enge Gänge mit einander verbunden sind. Der
untere Saal misst 22 m Länge auf eine Maximalbreite von 8 m. Ein kaum
1 m breiter Eingang führt in den zweiten Saal von 5 m Breite, 12 m Länge
und 1—8 m Höhe. Es folgt ein neuer Korridor von 3 m Breite und 15 m
Länge, der in den dritten Saal mündet, welcher eine Breite von 6 m und
eine Länge von 20 m aufweist. Nach beiden Seiten bestanden einst Fort-
setzungen der Grotte, die mit Erde ausgefüllt sind. Die Decke ist mit
schönen Stalaktiten behängt. Die feuchten Wände haben einen dicken, nur
ein zweiter Saal einen verhältnismässig dünnen stalagmitischen Überzug. Die
Figuren sind daher auch in diesem Saale am besten erhalten, obwohl sie
auch hier mit der sehr harten Sinterschicht überdeckt sind. Die Bilder
Slud ziemlich tief in den Kalk eingegraben, sie befinden sich V2—IV2 m
hoch über den jetzigen Boden der Grotte. Capitan führt 12 Figuren im
einzelnen auf, die sich ohne Weiteres erkennen lassen, während eine grosse
Anzahl anderer durch den Sinter-Überzug mehr oder weniger unkenntlich
Intern. Centralblatt für Anthropologie. 1903. 16
242
B. Referate. Urgeschichte.
geworden sind, und zahlreiche Striche und Zeichen noch der Entzifferung
harren. Bezüglich der Technik besteht offenbar die nähere Beziehung zu
den Bildern von Combarelles, insofern in der Grotte von Bernifal die ein-
fachen Ritzungen bei weitem überwiegen, bei einigen Tierkörpern aber sind
Spuren der Bemalung mit Ockererde und Manganschwarz unverkennbar;
doch kommt es nicht zu wirklichen Gemälden wie im Font-de-Gaume und
Altamira.
Unter den 12 Figuren, welche Capitan einzeln namhaft macht, bean-
spruchen ohne Frage zwei Mammuts das grösste Interesse. Das eine ist
90 cm lang und 70 cm hoch, das andere 80 cm lang und 45 cm hoch.
Das erstere ist an vielen Stellen von Kalksinter verdeckt, das zweite, auf
Capitans Fig. 64 abgebildet, ist fast ganz sichtbar. Die gewölbte Stirn,
der Rüssel, die gekrümmten Stosszähne und die dicke Mähne sind sehr
deutlich. Schön erkennbar sind ferner mehrere Pferde, deren eines zum
Teil farbig angelegt ist. Capitan findet in der charakteristischen Wieder-
gabe Anklänge an das jetzige wilde Pferd der mongolischen Wüste, den
„Kertag“. Von Bisons ist nur eine Figur deutlich, während in Fort-de-
Gaume bekanntlich gerade diese Tierform überwiegt. Mit einiger Wahr-
scheinlichkeit sind andere Figuren auf Antilopen, eine auf das Renn zu beziehen.
Das Interessanteste an den Figuren dieser neu entdeckten Grotte ist
ohne Zweifel das häufige Yorkommen jener dreieckigen Figuren, die bereits
an den anderen Fundorten bekannt waren. Die neuen Bilder, welche Capitan
davon giebt, bestärken die von ihm selbst vertretene Deutung dieser Figuren
als menschliche Behausungen. Es spricht sich in denselben meist das
gleiche Prinzip aus: Horizontale Balken, auf denen mehrere, 2, 3 auch 4
senkrecht gestellte Balken ruhen, gegen welche seitlich schräge Balken ange-
lehnt sind. Die mittleren Träger stehen auf zwei der Figuren nicht genau
senkrecht, sondern divergieren seitlich. In Font-de-Gaume sah ich die auch
von Capitan abgebildete Hüttenfigur, — sie ist auf einen Bison aufgezeichnet
— an welcher deutlich der Umriss einer Eingangsthür sichtbar ist. Eine
gewisse Mannigfaltigkeit besteht also in diesen wohl ältesten bis jetzt be-
kannten Behausungen des Menschen.
Dass die Hüttenfiguren so oft auf die Tierkörper selbst aufge-
zeichnet sind, giebt zu denken. Vielleicht haben wir, wie Capitan an-
deutet, darin das Bestreben zu erblicken, die Zugehörigkeit einzelner
Tiere zu einem Stamm oder einer Familie zu markieren. Die Bilder
von Combarelles und Font-de-Gaume sprechen in demselben Sinne, da die
Pferde z. T. Zaumzeug haben, woraus auf Anfänge von Domestikation
geschlossen werden darf.
In Technik und Art der Tierwelt schliesst sich die neue Grotte von
Bernifal näher an die von Combarelles als an diejenige von Font-de-Gaume
an; letztere ist, obwohl noch immer paläolithisch, jedenfalls jünger, da das
B. Referate. Urgeschichte.
243
Mammut fehlt und der Bison überwiegt, wozu noch die hervorragende
Verbesserung der künstlerischen Leistungen kommt.
Prof. Dr. jff. Klaatsch-Heidelberg.
ß. Belgien.
277. A. Rutot: Sur les relations existant entre les caillantis
quaternaires et les couches entre lesquelles ils sont com-
pris. Bull, de la Soc. belge de géologie etc. 1902, tome XVI.
Das belgische Diluvium weist folgende Gliederung auf (die annähernd
mit den Diluvialablagerungen Nordfrankreichs und des Mittelrheins über-
einstimmt. D. Ref.) :
Assise supérieure: Flandrien,
Brabantien,
„ moyenne : Hesbayen,
„ inférieur: Campinien, z. T. Chelléen Horizont,
Moséen, oben Mesvinien Horizont,
unten Reutelien Horizont.
Jede dieser drei Hauptabteilungen hat an der Basis eine Anhäufung
von Gerollen. Hier liegt zugleich die Kulturzone. Diese gehört aber that-
sächlich zu der jeweils darunter liegenden Schicht, was sich daraus ergiebt,
dass, wenn z. B. die Assise supérieure der Assise inférieure direkt aufliegt,
nur die das Campinien überlagernde Geröll- und Kulturschicht anzutreffen
ist. „Les caillantis fluviaux terminent donc, en général, les assises quater-
naires d’une manière aussi nette que les graviers marins commencent les
cycles sédimentaires.“ Dr. Otto Schoetensack-Eeideïberg.
278. A. Rutot: Esquisse d’une comparaison des couches pliocènes
et quaternaires de la Belgique avec celles du Sud-Est de
l’Angleterre. Bull. Soc. belge de géologie etc. Brüssel
(Mai) 1903.
Nachdem der Verf. bereits im gen. Bulletin (Oktober) 1902 einen
Vergleich der Gliederung der belgischen Quartärschichten mit denjenigen
Dentraleuropas geliefert hat, dehnt er in der vorliegenden Abhandlung diese
Untersuchungen auch auf den Belgien zugewendeten Teil Englands aus,-
wobei er zu den auf nachstehendem Schema verzeichneten für die Urge-
schichtsforschung höchst bemerkenswerten Ergebnissen gelangt:
16*
Comparaison des Couches pliocènes et quaternaire5
Grandes divisions. Subdivisions. Périodes glaciaires. Divisions en Belgique. Détail des phénomènes^
Région marine.
Pliocène. Inférieur. Diestien. Gravier d’immersion. Sables marins à faune tempère«- Gravier d’émersion.
Moyen. Glaciaire Pliocène. Phase d’avancement des glaces. Scaldisien. Gravier d’immersion. Sable marin à faune froide. Gravier d’immersion. Sable marin à faune boréale.
Poederlien.
Supérieur. Phase de retrait des glaces. Amstelien de il.Harmer.
Ic«nien deM .Harmer.
Cromerien de M .Harmer.
Quaternaire ou pleistocène. Premier glaciaire quaternaire. Phase d’avancement des glaces. Mcséen.
Phase de retrait des glaces. Invasion marine du delta de laMeu''f’ Gravier d’immersion à ossemeI1' roulés de cétacés et à Elep*1 antiquus. Sable marin de la Campine.
Deuxième Glaciaire quaternaire. Phase d’avancement des glaces. Campinien.
Phase de retrait des glaces. Hesbayen. J
Troisième Glaciaire quaternaire ou Baltique. Phase d’avancement des glaces. Phase de retrait des glaces. Brabantien.
Quatrième Glaciaire quater- naire ou Écossais. Phase d’avancement des glaces. Phase de retrait des glaces. Flandrien. Invasion marine. Dépôt du ^ flandrien à faune marine- jgj Glaces flottantes apportant blocs erratiques en Camp111 Retrait des eaux marines. Dépôt des zones grises limon supérieures.
derne. Alluvion marine inférieure. Argile inférieure des Polder3, * Alluvion marine supérieui^n^^M
la Belgique avec celles du Sud-Est de l'Angleterre.
dépôts en Belgique.
^_____Région continentale.
‘^bles, glaise et cailloux fluviaux
des plateaux et des hautes alti-
is eaux.
Îl;
°?ion et creusement jusqu au
niveau actuel des eaux dans les
Allées.
V-—__ _________________________
lavier fluvial inférieur delabasse
Samrasse-
P, ,es fluviaux.
à ^ fluviale.
Klte avec lits
P '^rupine.
fluvial
Détail des phénomènes et des dépôts
dans le S.-E. de l’Angleterre.
Région marine. Région continentale.
^tudes.
^Osions. Ébauche des vallées ac-
tuelles, puis dépôts fluviaux des
hautes terrasses. (90 à 100 mè-
^res au-dessus du niveau actuel
-^des eaux.)
Lenham crag 1 à faune
Coralline crag /tempérée.
r°sions et creusement jusque 20
Métrés au-dessus du niveau ac-
^el des eaux dans les vallées.
Errasse de 65 à 25 mètres.
)éPôts d’un important cailloutis
la terrasse de 65 à 25 mè-
qes au-dessus du niveau actuel
de
Walton crag infér.
à faune froide.
Walton crag supér.
à faune froide.
Red crag de New-
boum et de Butley
à faune boréale.
Norwich crag à faune
boréale.
W eybourne an d Bure
Valley Crag.
Couche à Leda
myalis.
Drift (Red clay and flints)
du „Chalk Plateau“ du
Kent.
Argile de Chillesford.
tourbeux de la
, — .muai supérieur de la
asse terrasse et de la terrasse
mètres.
r°sion jusqu’au creusementmaxi-
(jes vallées (15 à 30 mè-
les sous le niveau actuel des
lj,6aux).
Pôt de glaise, de sable et de
auloux du fond des vallées
^ de la terrasse de bas niveau
j' ‘aune du Mammouth et à
A^dustrie paléolithique.
e,Urriulations do débris végétaux
toarbe à insectes du fond des
crue de fusion des glaces.
U eP°t du limon hesbayen à He-
^-Ï!_^pa_et Succinées.
fusement des vallées au tra-
îrJs du dépôt de limon hesbayen.
^usport vers l’Ouest par des
laQ^s d’Est des poussières de
i surface desséchée du limon
Totfvm.
en Flandre.
Cromer Forest bed avec
faune d’Eiephas meri-
dionalis.
Couche antique d’eau douce
Avancement des glaces.
Lower Boulder clay (Till),
avec argiles laminées in-
tercalées (boues glaciaires).
Middle glacial sand, clay and pebbles
ou fluviaux.
Drift ultérieurement con-
tourné (Contorded drift)
Couches fluviales à Cor-
bicula fluminalis de la
vallée de la Tamise
(Erith), avec faune de
¡’Elephas antiquus.
Avancement des glaces.
Chalky Boulder clay et
Cannon shot gravel.
Contournement des cou-
ches précédentes par la
pression du glacier en
progression.
Argiles laminées à végé-
taux arctiques.
Glaise et gravier à Mam-
mouth et à industrie
paléolithique
Grande crue. — Dépôt
du loam et de la
Brickearth.
C:
T\f л
G Uepot du limon sableux dit
9fies“1"011' »terre à bri-
ViA«°ns argilo-sableuses des ri-
him^^/etueües.
üe lavage et éboulis des
Industries humaines
dans le
Bassin Anglo-Franco-
Belge.
ü
Industrie du
„Chalk plateau“
du Kent.
Industrie du
,Cromer bed“ et
de Saint-Prest
(France).
Industrie
reutellenne.
O
Industrie reutelo
mesvinienne.
Industrie
mesvinienne.
Transition du
Mesvinien au
Chelléen.
Industrie
chelléenne.
Industrie
acheuléenne.
Industrie
éburnéenne
(E. Plette).
Industrie
tarandienne
(E. Piette).
Industries néoli-
thiques. Indus-
tries du bronze
et du fer
Industrie belgo-
246
B. Referate. Urgeschichte.
Es ist für alle, welche unter Rutots Anleitung die Eolithenfrage
gründlich studiert haben, völlig klar, dass die Geologen künftig dieser
„Leitfossilien“ nicht mehr entbehren können bei dem Studium der quartären
und jungtertiären Gebilde, die, wie der scharf beobachtende belgische Geologe
nachweist, in dem Bassin anglo-franco-belge vom mittleren Pliocän bis zum
Schluss der grössten Ausdehnung der Gletscher (II. Eiszeit) uns ebenso
sicher führen wie die sie begleitenden Tierreste. Auch die letzte Phase
des Diluviums ebenso wie das Alluvium, die gegenwärtige Epoche der
Quartärformation, hat Rutot in Belgien in den Bereich eingehender strati-
graphischer Forschungen gezogen. Die Ergebnisse derselben sind in dem
umstehend abgedruckten Schema nur angedeutet; sie bieten eine solche Fülle
von neuen Beobachtungen, dass sie von jedem, der sich für methodische
Ausgrabungen interessiert, im Original gelesen werden sollten. Wie sehr
diese das Postglacial betreffenden Dinge anderwärts noch im Argen liegen,
geht aus den mit Fragezeichen versehenen Rubriken auf obigem Schema
hervor. Möchten sich doch auch recht bald in anderen Ländern geologisch
geschulte Pioniere finden, die dem Beispiele Rutots folgend, auf diesem so
dankbaren Gebiete Bahn brechen. Br. Otto Schoetensack-Heidelberg.
y. Grossbritannien.
279. J. Abercromby: The Oldest Bronze-Age Ceramic Type in
Britain; its Close Analogies on the Rhine; its Probable Origin
in Central Europe. Journal of the Anthropological Institute,
1903. N. S. Yol. V (XXXII), S. 373—397, Taf. XXIY
bis XXXVIL
Die eindringendere Beschäftigung mit der neolithischen Keramik, wie
sie seit einer Reihe von Jahren in Deutschland betrieben wird, beginnt nun
auch im Ausland Interesse zu finden. Hier liegt der erste Versuch eines
englischen Autors vor, eine keramische Gruppe in zeitgemässer Weise zu
bearbeiten, nämlich die Zonenbecher und ihre Verwandten. Nach Thurnams
Vorgang teilt er sie in drei Klassen ein: a) rundliche Becher mit hohem
Rand, b) eiförmige Becher mit geschweiftem Rand, c) Becher mit niedrigem
Rand. Bei allen drei Klassen kommen ausser Steingeräten und sonstigem
neolithischen Inventar vereinzelte Beigaben aus „Bronze“ und Gold vor
(wobei freilich noch zu untersuchen wäre, ob wirklich Bronze oder nicht
Kupfer vorliegt). A. setzt sie wegen des Vorkommens von Bronze und
weil sie mit brachycephalen Schädeln zusammen gefunden wurden, in die
Bronzezeit; die Einführung der Bronze in Britannien soll nämlich mit der
Ankunft eines neuen, brachycephalen Stammes zusammenfallen. Durch
einen eingehenden, auch auf die Ornamentierung sich erstreckenden Ver-
gleich der englischen Becher mit den niederländischen, rheinischen und
B. Referate. Urgeschichte.
247
mitteldeutschen Zonenbechern und weiterhin den Schnurbechern kommt A.
zu dem Schluss, dass ihr Ursprung in Thüringen oder .Nordböhmen zu
suchen sei. Indem er des Ref. Ansicht über die Beziehungen zwischen
Zonenbechern und Schnurbechern (Zonen-Schnurbecher) annimmt, leitet er
Typus a von den Ausläufern des Schnurbechers ab, welche von der alten
Form viel beibehalten, aber vom Glockenbecher (Zonenbecher) das Prinzip
der Ornamentierung von abwechselnd glatten und verzierten Zonen über-
nommen haben. Typus b scheint aus zwei verschiedenen zusammenlaufenden
Linien abzustammen. Die eine entspringt von den Ausläufern der Schnur-
becher, welche durch die Berührung mit den Glockenbechern stark beein-
flusst sind. Die zweite Linie geht von den Glockenbechern aus und ist
möglicher Weise beeinflusst durch die Berührung mit Bechern, welche zur
ersten Linie gehören.
Wenn auch dieser und jener Punkt den Ausführungen A.’s diskutabel
ist, so ist hierdurch doch bezüglich des englischen Materials eine gute
Grundlage für die weitere Behandlung der in Frage stehenden Probleme
geschaffen. Br. A. Götze-Berlin.
8. Deutschland.
280. A. Götze: Burgwall und Pfahlbau bei Freienwalde a. 0. Nach-
richten üb. deutsche Altertumsfunde, 1902. Jhg. XII, S. 85.
Östlich von Freienwalde hat v. Ledebur schon 1852 einen Burgwall
erwähnt, der neuerdings in den Durchmessern von 144 und 76 m gemessen
ist und unverzierte Scherben ergeben hat. An ihn schliesst sich ein Pfahl-
bau in der sumpfigen Wiese an, im Rechteck von 18 zu 10 m in 8 Reihen
geordnet, aus starken, scharf zugespitzten Eichenpfählen bestehend, die noch
2 m tief unter die Oberfläche hinabreichen; verzierte Thonscherben fanden
sich nur an einer Stelle dabei. Prof. Br. Walter-Stettin.
281. A. Götze: Eine slavische Bronzestatuette. Nachrichten über
deutsche Altertumsfunde, 1903. Jahrg. XIII, Heft I, mit
Abbildungen.
Auf einem bisher nicht bekannten Burgwall dicht an der Oder bei
Schwedt ist unter vielen charakteristischen Resten einer slavischen Ansiedlung
auch eine 5,5 cm grosse Bronzefigur zum Vorschein gekommen, die durch
Guss in der verlorenen Form hergestellt sein muss. Sie stellt einen Mann
mit in die Hüften gestemmten Armen dar, dessen spitzer Hut, starker
Schnurrbart und kurzer Rock recht wohl zur Tracht der bekanuten Stein-
figuren aus dem slavischen Kulturkreise passen würde, wenn auch die sonstigen
Attribute fehlen. Somit bleibt fraglich, ob eine slavische Gottheit vorge-
stellt sein soll. Aus dem beträchtlichen Scherbenmaterial folgert Götze
248
B. Referate. Urgeschichte.
unter Hinweis auf seine Einteilung der slavischen Keramik, die durch die
zahlreichen Funde von Riewend ermöglicht war, dass der Schwedter Burg-
wall der letzten slavischen Epoche zugeschrieben werden müsse; wenigstens
sind bisher fast nur Scherben mit scharfer Randumbiegung, horizontalen
Furchen und Kerben auf dem Wulst daselbst gesammelt worden.
Prof. Dr. Walter-Stettin.
282. Kornemann, Kramer, Gundermann: Die Funde in der Ge-
markung Ostheim bei Butzbach. Oberhess. Geschichtsverein.
Fundbericht f. d. Jahre 1899—1901. Giessen 1902, S. 3—30.
Nach dem Berichte Kornemanns über die Fundumstände wurden
4 Urnen und mehrere Scherbennester ausgegraben; K. vermutet wegen der
geringen Tiefenlage, dass ursprünglich Hügel darüber aufgehäuft gewesen
wären. Die Urnen enthielten Beigefässe und Bronzen, Eisen wurde nicht
gefunden. Die teils nach Giessen, teils nach Butzbach gelangten Funde
werden von Kramer einzeln beschrieben. Gundermann giebt einen Nachtrag
zu den Funden und führt in einer zusammenfassenden Besprechung aus,
dass sie teils Gräbern, teils Wohnstätten entstammen und der Steinzeit
.(Bandkeramik) und der Bronzezeit angehören. Dr. a Götze-Berlin.
283. Gundermann: Grabfunde in der Lindener Mark. Oberhess.
Geschichtsverein. Fundbericht für die Jahre 1899—1901.
Giessen 1902, S. 78—86.
ln der Lindener Mark, einem Waldgebiete südlich von Giessen, be-
finden sich viele Hunderte von Grabhügeln, von denen 1899 und 1901
sieben aufgedeckt wurden. Es sind sämtlich Brandgräber in grösseren oder
ganz flachen Hügeln, meist mit zahlreichen Gefässen, aber wenigen Bronze-
und Eisenbeigaben, nach G. der entwickelten Hallstattzeit angehörig. Es
fanden sich auch vereinzelt neolithische und bronzezeitliche Scherben, die
wohl bei der Anlage der Hallstattgräber aus ihrem ursprünglichen Zusammen-
hänge gebracht wurden. Dr. A. Götze-Berlin.
284. Gundermann: Hügelgräber bei Oberwetz. Oberhess. Geschichts-
verein. Fundbericht f. d. Jahre 1899—1901. Giessen 1902,
S. 47—51.
Von einer grossen Anzahl Hügelgräber untersuchte G. zwei. Das-
eine enthielt nur einen kleinen Feuerstein und ein Kohlennest, ohne jede
Spur von Knochen. Das andere enthielt ein Skelettgrab mit einem Bronze-
halsring, einer Bronzekette mit Anhängern, zwei Thonklappern und Teilen
eines Eisenschwertes. Nach G. ältere Hallstattzeit. Dr. A. Götze-Berlin.
B. Referate. Urgeschichte.
249
285. v. Schlemmer: Hügelgräber auf dem Trieb bei Giessen.
Oberhess. Gescliichtsverein. Fundbericht f. d. Jahre 1899
bis 1901. Giessen 1902, S. 31—46.
Ein Hügel, welcher schon früher teilweise ausgegraben war, wurde
vollständig und gewissenhaft untersucht. Er enthielt noch 10 Skelettgräber
in zwei Schichten, deren Altersunterschied jedoch nicht bedeutend ist, sie
gehören nach K. der Hallstattzeit an. Ausser zahlreichen anderen Bronzen
kommen sowohl in der unteren wie der oberen Schicht Radnadeln vor, auch
Eisen tritt bereits in der unteren Schicht auf. Bei einigen Skeletten wurden
Holzteile beobachtet, welche auf die Benutzung von Särgen oder Toten-
brettern hinweisen. Mehrfach fanden sich Überreste von Geweben vor. Ein
hervorragendes Stück ist ein mit Bronzebuckeln besetzter Ledergürtel.
Ein zweiter Hügel enthielt nur eine Aschen- und Kohlenschicht mit
einem eisernen Halsring und andern Eisenteilen. Nach Gundermanns An-
sicht ist es kein Grabhügel, sondern eine Wohnstätte, frühestens aus der
älteren La Tene-Zeit. Br. A. Götze-Berlin.
286. Kramer: Die Funde auf dem Rodberg bei Giessen. Oberhess.
Geschiclitsverein. Fundbericht für die Jahre 1899—1901.
Giessen 1902, S. 87—92.
K. berichtet über verschiedenartige Funde aus einer Sandgrube an
der Wiesecker Strasse (Thongefässe, ein Steinbeil, Reibsteine, sog. Napoleons-
hüte); ferner über Funde aus Trichtergruben (Scherben, ein „Napoleonshut“)
und solche vom nördlichen Abhange des Rodberges. An letzterer Stelle
handelt es sich um Spät-La Tene-Saclien, Gefässe, Fibeln, Gürtelhaken,
Ringe etc. anscheinend aus Brandgräbern. Genauere Fundberichte sind
nicht vorhanden. Br. A. Götze-Berlin.
287. Gundermann: Das örnenfeld im Giessener Stadtwalde. Ober-
hess. Geschiclitsverein. Fundbericht f. d. Jahre 1899—1901.
Giessen 1902, S. 93—122.
Ein wichtiges Urnenfeld der römischen Kaiserzeit, von der Mitte des
2. bis gegen das Ende des 3. Jahrh. reichend, wurde im Giessener Stadt-
walde untersucht. Die Flurbezeichnung „Ursulum“ giebt G. Veranlassung,
diesem Namen nachzugehen und zu ermitteln, dass in jener Gegend ein
Ort Ursenheim noch 775 bestanden hat, dass aber schon 1495 das Gelände
mit Eichwald bedeckt war. Die Gräber bestehen in der Regel aus je einer
Urne, die frei in der Erde steht. Die Verbrennung erfolgte für jedes Grab
auf einem besonderen Scheiterhaufen. Die Beigaben zeigen durchgängig
Brandspuren. Unter den Metallbeigaben ist eine Silbermünze des Vespasian
zu nennen. Auffällig ist der Reichtum an Bronzegefässen, von denen
mindestens 25 Exemplare in Bruchstücken vorhanden waren. An Fibeln
250
B. Referate. Urgeschichte
sind 20 Exemplare und Bruchstücke von 20 weiteren erhalten. Mehrere
Bruchstücke von Bronzeblech sieht G. als Teile eines Helmes an. Ferner
wurden eine Menge Scherben von Terra sigillata und 2 Gefässe aus Terra
nigra gefunden. Von den einheimischen Gefässen bemerkt G., dass sie
sämtlich auf der Drehscheibe gefertigt, manche auch in Formen ausgepresst
seien. Dazu kommen noch eine Menge kleiner Objekte, Spinnwirtel, Perlen etc.
aus Thon und Glas, sowie dünne Hornstangen.
Auf dem Gelände des Gräberfeldes wurden ferner steinzeitliche Einzel-
funde und eine Wohngrube der jüngsten Hallstatt- oder älteren La Tene-
Zeit aufgefunden, in welcher G. eine Fussbodenheizung nach Art der
römischen Hypokausten erkennen zu können glaubt. Dr. A. Götze-Berlin.
288. Gundermann: Die vorrömischen Bronzen aus Oberhessen in
Giessen. Oberhess. Geschichtsverein. Fundbericht für die
Jahre 1899—1901. Giessen 1902, S. 52—77.
Eine Zusammenstellung der Bronzen erstens nach Fundorten und
zweitens nach Gegenständen geordnet. Sie zeigt, das das behandelte Gebiet
durchaus nicht arm an Bronzen ist. G. bemüht sich, bei einzelnen Gegen-
ständen durch genaue Beobachtung der Abnutzungsspuren etc. deren Gebrauch
zu ermitteln. Bei den Arm- und Halsringen von relativ kleiner Öffnung
nimmt er an, dass sie dem betreffenden Körperteil direkt angegossen wurden.
Dr. A. Götze-Berlin.
289. 0. Förtsch: Steinzeitlicher Fund von Schönefeld bei Blöns-
dorf. Jahresschrift f. d. Yorgesch. d. sächs.-thür. Länder,
1902. Bd. I, S. 75—79.
Bei landwirtschaftlichen Arbeiten wurde eine halbkreisförmige Stein-
setzung aufgedeckt, in welcher 12 Thongefässe standen. Zwischen den
Gefässen lagen ein kleines Feuersteinbeil, ein Bruchstück eines solchen zu
einer Säge umgearbeitet, und ein flaches Bernsteinstück mit zwei Durch-
bohrungen. Yon den Gefässen blieben nur grössere Bruchstücke von drei
Exemplaren und eine Anzahl ornamentierter Scherben erhalten. Die Ge-
fässe sind typische Yertreter der Gruppe der Kugel-Amphoren. Uber die
Kombination von Stich- und Schnurverzierung, welche F. als besonders auf-
fällig hervorhebt, würde er das Nähere in meiner Arbeit über die Kugel-
Amphoren (Zeitschr. f. Ethnol. 1900, S. 154 ff.) gefunden haben.
Dr. A. Götze-Berlin-
290. 0. Lüdecke: Über die Steinbeile der Umgegend von Halle
a. S. Jahresschrift f. d. Yorgesch. d. sächs.-thür. Länder,
1902. Bd. I, S. 1—15, Taf. I—II.
Mineralogische Bestimmung der im Provinzial-Museum zu Halle be-
findlichen Steinbeile aus dortiger Gegend. Es sind folgende Materialien
B. Referate. Urgeschichte.
251
vertreten: Hornblendeschiefer, Augit, Serpentin, Chamosit, Diabas, Grau-
wacke, Konglomerat des Weissliegenden, Melaphyr, Porphyr, Rogenstein,
Phonolith, Basalt (?) und Feuerstein. Ihrer Herkunft nach stammen die
Gesteine teils aus der Nähe von Halle, teils aus entfernteren Gegenden:
Ruhla (?), Kyffhäuser, Ost-Thüringen, Harz, Rhön (oder Böhmen). Wenn
solche allerdings mühsamen und zeitraubenden mineralogischen Bestimmungen
erst in grosser Zahl ausgeführt und die Resultate mit einer detaillierten
Typologie in Zusammenhang gebracht worden sind, werden sich vielleicht
wichtige Schlüsse auf gewisse Fabrikationscentren und Verkehrswege ziehen
lassen. JDr. A. Götze-Berlin.
291. Grösster: Vorgeschichtliche Gräber und Funde im Amtsbe-
zirke Burgscheidungen a. d. Unstrut, Kreis Querfurt. Jahres-
schrift für die Vorgeschichte der sächs.-thür. Länder, 1902.
S. 88—116.
Es sind folgende Ortschaften vertreten: Burgscheidungen (Anger,
2 Stellen), Dorndorf, Wüste, Gleina (2 Stellen), Reinsdorf (mehrere Stellen),
Tröbsdorf. Wichtig ist eine Steinkammer bei Gleina mit Schnurkeramik,
welche in der Bronzezeit zu einer Nachbestattung benutzt wurde. Auch
in einem Hügel bei Dorndorf scheinen neolithische Steinkisten zu Nachbe-
stattungen benutzt worden zu sein. JJr. A. Götze-Berlin.
292. H. Grösster: Geschlossene vorgeschichtliche Funde aus den
Kreisen Mansfeld (Gebirge und See), Querfurt und Sanger-
hausen. Jahresschrift für die Vorgeschichte der sächs.-thür.
Länder, 1902. JBd. I, S. 125—244.
Der Aufsatz bringt reiches Fundmaterial über die jüngere Steinzeit,
namentlich die Schnurkeramik, einige wichtige bronze- und hallstattzeitliche
Funde, wenig La Tene- und Römische und auch einige Merowingerfunde.
Bei denjenigen Berichten, welche älteren Publikationen entnommen sind,
wäre es wünschenswert gewesen, wenn die z. T. ganz unbrauchbaren alten
Abbildungen nicht einfach übernommen, sondern die Gegenstände, soweit
sie noch vorhanden sind, neu gezeichnet worden wären. An hundorten
sind vertreten: Alsleben, Artern, Augsdorf, Belieben, Beesenstadt, Beyer-
naumburg, Blankenheim, Bornstedt, Burgisdorf, Duderstedt, Dornstedt, Eis-
leben, Erdeborn, Esperstedt, Farnstedt, Bergfarnstedt, Oberfarnstedt, Gehofen,
Gerbstedt, Helmsdorf, Höhnstedt, Hornburg, Krimpe, Laucha, Meisdorf,
Mittelhausen (Sachsen-Weimar), Mönchpfiffei (Sachsen-Weimar), Örner, Oster-
hausen, Polleben, Quenstedt, Ober- und Unter-Rissdorf, Ober-Röblingen,
Sandersleben (Herzogtum Anhalt), Schafsdorf (Sachsen-Weimar), Schiepzig
(Saalkreis), Rotenschirmbach, Weissenschirmbach, Schmon, Schönefeld, See-
252
B. Referate. Urgeschichte.
bürg, Siersleben, Sittichenbach, Stedten, Volkstedt, Welbsleben, Welfesholz,
Wüstung, Wesenstedt, Ober-Wiederstedt, Wormsleben, Zabenstedt.
Dr. A. Götze-Berlin.
293. P. Höfer: Baalberge. Jahresschrift f. d. Vorgesch. d. sächs.-
thür. Länder, 1902. Bd. I, S. 16—49.
H. berichtet über die Ausgrabung eines grossen Tumulus bei Baal-
berge, welche er zusammen mit Kommissionsrat Kälber aus Bernburg im
Juni 1901 ausgeführt hat. Der grosse Hügel von 133 m Umfang und
5 3/4 m Höhe wurde durch einen 2 m breiten Graben und zwei hiervon
nach Süden abzweigende Gräben aufgeschlossen, ausserdem kam noch die
Erdsonde zur Anwendung. Der Befund war folgender: In der Hügelmitte
in geringer Tiefe drei bereits ausgenommene Steinkistengräber, darunter
sechs ebensolche, weiter eine dritte Schicht mit Steinplatten umsetzter
Gräber (A) mit einem Henkelgefäss und zwei Bronzedolchen, und am Grunde
des Hügels ein Kistengrab (C) mit einer Henkelkanne und einer Henkel-
tasse. Im westlichen Teile des Hügels eine Steinkiste (D) ]/-> m unter der
Fläche des Abhanges mit zwei Gefässen der Schnurkeramik und einem
I euersteinmesser. Im östlichen Teile des Hügels eine auf der Hügelbasis
stehende Steinkiste (B) mit zwei Abteilungen, in deren einer ein Gefäss
des Bernburger Typus, in deren anderer zwei Kugelamphoren standen.
H. benutzt diesen Befund zu einer chronologischen Bestimmung. Indem
er das unterste Grab in der Mitte (C) für älter ansieht als dasjenige im
westlichen Hügelteile (D), und indem er die Gefässe des Grabes (C) für
Verwandte des Bernburger Typus hält, schliesst er darauf aus das höhere
Alter dieser Gruppe vor der Schnurkeramik. Ohne mich hier auf andere
mögliche Fehlerquellen einzulassen, will ich nur bemerken, dass der Nach-
weis für die Zugehörigkeit der Gefässe von C zum Bernburger Typus nicht
erbracht und somit auch der darauf beruhende Schluss hinfällig ist. In
einem Exkurs über den Latdorfer Hügel, dessen Verhältnisse ich gerade
für die Priorität der Schnurkeramik angezogen habe, sucht er das Gegenteil
nachzuweisen, aber auch hier entbehren seine Prämissen der Beweiskraft.
Ich kann mich im Rahmen dieses Referates natürlich nicht des Näheren
darauf einlassen und behalte mir die speziellen Nachweise für eine andere
Gelegenheit vor. Dr. A. Götze-Berlin.
294. P. Zschiesche: Gräberfeld aus der Bronzezeit bei Walters-
leben, Kr. Erfurt. Jahresschrift f. d. Vorgeschichte d. sächs.-
thür. Länder, 1902. Bd. I, S. 116—124.
Bericht über die Ausgrabung von 13 Gräbern. Von diesen enthalten
II gestreckte Skelette meistens in Kistengräbern, seltener frei in der Erde
oder nur mit Steinplatten bedeckt. Eine Kiste enthielt Brandknochen.
B. Referate. Urgeschichte.
253
Die Beigaben sind bronzezeitlich. Zwischen den Skelettgräbern wurde auch
ein Urnengrab mit Leichenbrand gefunden; die Urne enthielt drei kleinere
Gefässe und einen Steinhammer. (Der Typus des letzteren gehört hallstatt-
zeitlichen Urnenfeldern Ostdeutschlands an.) Br. A. Götze-Berlin.
s. Russland.
295. W. Szukiewicz: Szkice z archeologii przedhistorycznej Litwy.
Epoka Kamienna w gub. Wilenskiej. Mit 5 Tafeln und
einer archäologischen Karte. Teil I. Wilno 1901.
Sorgfältige Zusammenstellung und Sichtung aller vorhandenen Funde
aus der Prähistorie Littauens. Der erste Teil der vorliegenden Bearbeitung
beschäftigt sich mit der Steinzeit des Gouvernements Wilno. Die Funde
sind weitaus nicht lückenlos, wie ein Blick auf die archäologische Karte
zeigt: an manchen Stellen stehen zahlreiche Steinzeitniederlassungen dicht
neben einander verzeichnet, an anderen fehlen sie ganz. Sie finden sich
vorwiegend, ivie Vf. ausführt, auf Erhöhungen, die dem Verlaufe von Flüssen
sich anscldiessen; manche weisen beträchtliche Ausdehnung auf. Auch Gräber
fanden sich vor, mit Topfscherben (Urnen) und gebrannten Menschenknochen.
Vf. glaubt aus den Funden schliessen zu sollen, dass Leichenbrand in der
Steinzeit vorwiegender Kultus war. Die Asche ward in Urnen flach bei-
gesetzt, ringsum von kleinen Steinen umgeben. Zur neolithischen Zeit (ge-
schliffener Stein) gelangte die Asche ohne weiteres in den Erdboden; Urnen
gab es nicht. Seine Werkstätten verlegte der Steinmensch natürlich vor
allem da an, wo es viel Feuerstein gab. Unter den Feuersteinfunden über-
wiegen Pfeilspitzen von verschiedener Form, Messer, Schaber, Sägen, Kelte.
Alles Werkzeug ist vorzugsweise neolithisch. Nach den bisherig vorliegenden
Ermittelungen glaubt Vf., im Westen des Gouvernements Wilno sei die
Steinkultur zu besserer Entfaltung gekommen, als im östlichen Teil dieses
Gebietes Littauens. Die Untersuchungen werden vom Vf. fortgesetzt und
eine demnächstige weitere Veröffentlichung in Aussicht gestellt. (Nach
Russische Zeitschrift für Anthropologie 1902.) Br. B. Weinberg-Dorpat
296. W. J. Goschkewitsch: Schätze und Altertümer des Gou-
vernements Cherson. Erstes Buch. (Russ.) Cherson 1903.
196 Seiten mit XX Tafeln Abbildungen.
Der Zweck des Buches ist zunächst, die Einwohner des Gouv. Cherson
mit den Münzfunden und Altertümern des Landes bekannt zu machen, ferner
aber, den Mäcenen der Wissenschaft reichliches Material zu weiteren Studien
in die Hand zu geben.
Der erste Teil beschäftigt sich (S. 3—82) mit den Schätzen und
den Schatzgräbern. Wer hat das Recht, nach Schätzen zu suchen? Wer
darf die Kurgane aufgraben? Dann berichtet der Verfasser über die Er-
254
B. Referate. Urgeschichte.
gebnisse der Nachgrabungen in den verschiedenen Kreisen des Gouvernements
in sehr ausfürlicher Weise (Fundberichte).
Die Sucht, Münzschätze zu finden, ist unter den Bewohnern des Gou-
vernements Cherson sehr verbreitet; der Erfolg dabei aber ganz vergeblich.
Dagegen sind gelegentlich im Erdboden bei den Feldbestellungen oder beim
Graben Münzen gefunden worden, oder das Wasser hat hie und da Münzen
aus dem Erdboden ausgewaschen. Solcher zufälligen Funde sind 40 bekannt.
Unter den Münzen, die auf diese Weise ans Tageslicht gekommen sind,
finden sich griechische, römische, byzantinische, persische Münzen; ferner
Münzen des Chans der goldenen Horde, türkischer Sultane, polnischer Könige,
und selbstverständlich auch russische Kaisermünzen. Auf den Taf. X, XI
und XII sind sehr viele ältere und neuere Münzen abgebildet.
In der zweiten Hälfte des Buches (S. 83—176) beschreibt der
Verfasser die im Gouv. Cherson bisher gefundenen Altertümer, insbe-
sondere diejenigen, die bei regelrechten Ausgrabungen der Kurgane zu Tage
gekommen sind.
Die bei den Aufgrabungen gefundenen Altertümer, die verschiedenen
Gegenstände sind ausserordentlich zerstreut: in St. Petersburg (Eremi-
tage), in Moskau (historisches Museum), in Odessa und Kiew liegen
viel Chersonsche Altertümer. Viel ist aber auch nach London ins britische
Museum, nach Berlin und Wien geraten. Um dieser Zerstreuung entgegen
zu arbeiten, gründete man 1890 das Chersonsche Archäologische Museum;
1898 wurde das Museum offiziel eröffnet.
Wann die ersten Ansiedler im heutigen Gouv. Cherson auftauchten,
lässt sich nicht feststellen, doch scheint es unzweifelhaft, dass bereits lange
vor der christlichen Zeitrechnung jene Steppengebiete bewohnt waren. Ge-
wöhnlich nimmt man an, dass die Kimmerier, ein wenig zivilisiertes
Nomadenvolk, hier lebten. Sie wurden später durch die Skythen verdrängt
und zogen an den Kuban und weiter nach Kleinasien.
Der Verfasssr hält darnach die ältesten Kurgane für kimmerische;
doch ist dabei nicht zu übersehen, dass ein und derselbe Kurgan auch von
den später hier lebenden Völkerschaften zur Bestattung der Toten benutzt
wurde. In der Tiefe liegen Kimmerier, mehr oberflächlich andere Leute.
Die Einzelbeschreibungen können nicht wiederholt werden. Aus der
zusammenfassenden Darstellung heben wir folgende interessante Thatsachen
hervor: Die Kurgane bestehen aus Erde und aus Steinen. Die Toten liegen
in der Erdaufschüttung oder darunter in festerem Erdboden, in besonderen
Gräbern. Die Skelette der Bestatteten sind meist schlecht erhalten, oft
ist nur Knochenstaub vorhanden. Bemerkenswert ist, dass die Leiche mit
angezogenen Beinen begraben wurde; oft sind die Knie bis an den Unter-
kiefer heraufgezogen. Die Leichen liegen bald auf dem Rücken, bald auf
der Seite. Auch die Lage der Arme ist sehr verschieden. Auffallend ist,
B. Referate. Urgeschichte.
255
dass mitunter der Schädel im Becken liegt, während die anderen Körper-
knochen dabei liegen; wir müssen hieraus schliessen, dass die Leiche
sitzend bestattet wurde.
Die Knochen der Skelette sind oft gefärbt, d. h. mit gelber oder
rotbrauner Farbe bedeckt. Der Verfasser meint, dass vor der Bestattung
das Fleisch von den Knochen entfernt wurde und die Knochen mit dem
Farbstoff dicht bestreut wurden (1. c. p. 134).
In Betreff der Körpergrösse ist zu schliessen, dass die Kimmerier
gross von Wuchs waren. Nach den Messungen Stempkowskis an 129
Skeletten you Tiraspol zeigt die Mehrzahl der Skelette eine Grösse Yon
2 Arschin, 8 W. (ca. 1750 mm). Von Kleidung haben sich nur die Reste
wollener Gewänder und die hölzernen Sohlen der Schuhe erhalten. Das
Gewand ist durch Gürtel befestigt worden, die mit metallenem, noch erhalten
gebliebenen Schmuck ausgestattet waren. An Schmucksachen sind zu
nennen: Halsketten aus an einander gereihten Tierzähnen und kleinen Vogel-
knochen, bunte Perlen, ferner spiralig gedrehte Ringe aus Silber und Kupfer,
offenbar zum Schmuck des Haares u. s. w.
An Geräten sind bei den Skeletten gefunden: verschiedene Gefässe
und zwar zweierlei 1. schwarze Gefässe von grober Arbeit, schwach
gebrannt, ohne Hülfe einer Töpferscheibe gefertigt; 2. Gefässe von schöner
Form aus besonderem Thon, auf einer Töpferscheibe gearbeitet. Ausserdem
findet man eiserne Messer, Nadeln und dergl.
Von Waffen sind nur Pfeile und Lanzenspitzen aus Feuerstein
und Kupfer entdeckt, ein kupferner Dolch ist zufällig gefunden.
In dem sandigen Gebiet des linken Dnjeprufers gegenüber der (rechts
gelegenen) Stadt Cherson, sowie im Gebiet der in der Fortsetzung des linken
Ufers sich weit ins Meer hinaus erstreckenden Landzunge von Kinbura
findet man Scherben von allerlei Gefässen, Menschen- und Tierknochen.
Was für Leute hier gelebt haben, ist nicht zu bestimmen.
Es unterliegt für den Verfasser keinem Zweifel, dass im ganzen
(heutigen) Gouvernement von Cherson Kimmerier gewohnt haben. Er meint
aher, dass auch in dem benachbarten Landgebiet (Gouvernements Bessarabien,
Podolien, Kiew, Poltawa u. s. w. bis zum Don und Kaukasus) sich das
Wohngebiet der Kimmerier erstreckt habe; er gründet seine Ansicht auf
eine Abhandlung von Spizz.
Wann die Kimmerier hier am schwarzen Meere gelebt haben, woher
das Volk gekommen, ob das Volk erst hier mit den Metallen bekannt
"wurde und ob es hier auf ein älteres Volk stiess — alle diese Fragen
sind noch nicht zu beantworten. Stieda-Königsberq.
256
C. Tagesgeschichte.
C. Tagesgeschichte.
Berlin. Geh. Sanitätsrat Dr. M. Bartels hat wegen seiner verdienstvollen
wissenschaftlichen Arbeiten auf dem Gebiete der Anthropologie und Ethnologie den
Professortitel erhalten.
Bremen. Am 2. Mai verstarb im Alter von 40 Jahren Dr. Heinrich Schurtz,
Assistent am Städtischen Museum in Bremen. Geboren am 11. Dezember 1863 in
Zwickau, habilitierte sich Sch. als Schüler Ratzels 1891 an der Leipziger Universität
für Geographie, folgte 2 Jahre später einer Berufung als Assistent für Völkerkunde
an das Städtische Museum in Bremen, wo er an der Entwicklung der ethnographischen
Abteilung hervorragenden Anteil genommen hat. Nebenbei war er noch als frucht-
barer Schriftsteller auf dem Gebiete der Völkerkunde thätig.
Cambridge. Prof. F. W. Putnam, Kurator des Peabody-Museums der Har-
vard-Universität wurde durch die Verleihung der Lucy Wharton Drexel-Medaille des
Franklin Institute in Philadelphia ausgezeichnet.
Dorpat. Vom August ab wird Dr. Weinberg an der Universität Dorpat zum
ersten Male anthropologische Vorlesungen halten (1. Anthropologie, 2. Lehre vom
Nervensystem und centrale Leitungsbahnen, mit besond. Berücksichtigung der Rassen-
anatomie des Gehirns und der vergleichenden Lehre von den Hirnwindungen). —
Somit wird die Anthropologie in Russland nunmehr an 2 Universitäten (Moskau
und Dorpat) als nicht-obligatorisches Fach vertreten sein.
Heidelberg. Am 17. Juni verstarb im 77. Lebensjahre Prof. Dr. Karl Gegen-
baur, hervorragender Forscher auf dem Gebiete der vergleichenden Anatomie, dessen
Untersuchungen auch der anthropolog. Wissenschaft vielfach zu Gute gekommen sind.
Leiden. Am 11. März verstarb Dr. W. Pleyte, der Direktor des Reichs-
museums für Altertümer. — Prof. Dr. J. S. Speyer, bisher in Groningen, wurde
auf den durch Prof. Kerns vacant gewordenen Lehrstuhl berufen. — Zu Konser-
vatoren am ethnographischen Reichsmuseum in Leiden sind die seitherigen Assistenten
Drs. H. H. Juynboll und J. Marquart seit 1. März 1903 ernannt.
Meran. Am 14. April verstarb im Alter von 78 Jahren Professor Moritz
Lazarus, bekannter Philosoph und Volker-Psychologe.
New-York. Dr. Livingston Farrand von der Columbia-Universität wurde zum
Assistent-Kurator in der ethnolog. Abteilung des American Museum of natural history,
Dr. Alois Hrdlicka zum Assistent-Kurator für physikal. Anthropologie des National-
Museum berufen. — Marshall H. Saville, Kurator für mexiltan. Archäologie in dem
Amer. Museum of nat. history wurde zum Professor ernannt. — Der Herzog von
Loubat, der bekannte Mäcen der anthropol. Wissenschaften, spendete 100000 Doll.
der Columbia-Universität zur Errichtung eines Lehrstuhls für amerikanische Archäologie.
Paris. Am,5. April verstarb im Alter von 63 Jahren Dr. Jean-Vincent Laborde,
Professor, an der Ecole d’anthropologie und Direktor des anthropolog. Laboratoriums
an der Ecole des Hautes Etudes, ein als Biologe und Anthropologe gleich ge-
schätzter Forscher.
St. Petersburg. Am 30. April verstarb im Alter von 68 Jahren Paul du
Chaillu, ein bekannter Afrikareisender, dem die Ethnologie manche wertvolle Be-
obachtung verdankt. Ch. wurde s. Zeit dadurch bekannt, dass er den ersten lebenden
Gorilla nach Europa brachte.
Tiflis. Am 16. März verstarb Dr. Gustav Radde, Wirklicher Staatsrat und
Direktor des Kaukasischen Museums. Wenngleich sein Studium in erster Linie der
rein naturwissenschaftlichen Forschung galt, so hat er doch der Ethnologie und
Prähistorie viele Dienste auf seinen vielen Reisen durch Sibirien, Armenien und die
Kaukasusländer erwiesen. Das Kaukasische Museum in T. verdankt seiner Rührigkeit
seine Gründung und Entwicklung.
Trier. Dr. Graeven in Hannover ist an Stelle des verstorbenen Prof. Dr.
Hettner zum Direktor des Provinzialmuseums ernannt.
Worms. Vom 10—13. August wird in W. die XXXIV. allgemeine Ver-
sammlung der Deutschen Anthropol. Gesellschaft tagen. Die Zahl der angemeldeten
Vorträge ist eine besonders reiche.
Internationales Centralblatt
für
Anthropologie und verwandte Wissenschaften
in Verbindung mit
D. Anutschin-Moskau, T. de Aranzadi-Barcelona, G. Colini-Rom,
A. Götze-Berlin, Fr. Heger-Wien, J. Heierli-Zürich, A. H. Keane-London,
Y. K ogan ei-Tokyo, F. v. Lu sch an-Berlin, L. Manouvrier-Paris,
R. M a r t i n-Zürich, O. Mon tel ius- Stockholm, S. R e i n a c h-Paris,
L. Stieda-Königsberg, A. v. Török-Budapest und anderen Fachgenossen
herausgegeben und geleitet von Dr. phil. et med. G. BllSChan, Stettin.
8. Jahrgang. Heft 5. 1903.
A. Originalarbeiten.
I.
Priester und Braut
Von V. Jäkel.
Bachofen führt als einen Grund für seine Annahme, dass sieh
die Gynäkokratie, die er voraussetzt, auf der Priesterwürde der
Frau aufgebaut habe, die weibliche Kleidung der Priester an. Nicht
aber ist ihm aufgefallen, dass der Priester wie in Gewandung, Haar
tracht und Schmuck,1) so auch im Gebrauche des Throns und Thron-
himmels der Braut nahe steht, während andererseits die Braut durch
zeremonielle Vereinsamung und Ähnliches öfters eine Stellung und
Geltung einnimmt, die derjenigen heidnischer Priester nicht ganz
unähnlich sieht.
Wie häufig berichtet wird, dass der an den Baldachin erinnernde
Sonnenschirm ein Vorrecht der Fürsten ist, wie die mexikanischen
Könige kaum anders öffentlich erschienen als in einer Sänfte, mit
einem Baldachin über sich — so erweist sich der Thronhimmel nicht
weniger oft oder wohl noch öfter als ein priesterliches bezw. gött-
liches Attribut. Ein jeder dürfte wissen, dass die Priester der
katholischen Kirche bei Prozessionen nicht selten unter einem Balda-
chin einherschreiten; aber diesen selben merkwürdigen Gebrauch
beobachtete d’Héricourt1 2) in Schoa, und Burmeister3) war in
1) Auf die beiden letzteren Merkmale habe ich in den „Studien zur ver-
gleichenden Völkerkunde“ aufmerksam gemacht.
2) d’Héricourt, Reise in das Königreich Schoa. Stuttgart 1847. S. 169.
3) Bur meist er, Reise nach Brasilien. Berlin 1853. S. 441.
Intern. Centralblatt für Anthropologie. 1903.
17
258
A. Original arbeiten.
Brasilien Zeuge, wie bei Prozessionen die Pfarrer, das Allerheiligste
tragend, unter einem Thronhimmel einhergingen. Wenn in Polen
und Lithauen die Juden am Thorafeste mit dem Rabbi, der die
Thora in seiner Hand trägt, zur Synagoge ziehen, wird über dem
„Meister“ von eigens dazu erwählten jungen Leuten ein Baldachin
getragen,1) vor und neben welchem die Ältesten der G-emeinde ein-
hergehen. Indem C. v. Hügel erzählt, dass er zu Baramulla in
Kaschmir einen vornehmen Priester der Sikhs auf reich mit seidenen
Teppichen umhangenem Throne sitzen sah,1 2) liegt der Gedanke an
den Thronhimmel vielleicht nicht allzu ferne; und vielleicht liegt
er noch näher bei der Erzählung Heuglins, dass in der feierlichen
Marschordnung Theodors von Abessinien der Etschege, das ehr-
würdige, nächst dem Abuna höchste Oberhaupt der geistlichen Kon-
gregationen, mit weissem Gewände und Turban angethan und mit
einem ungeheuren indischen Sonnenschirm bewaffnet, einherschritt.3)
In den Tempeln der Kalmüken erblickt man nicht selten das Bild
des obersten Gottes von einem Baldachin überschirmt.4) Der heilige
Mahmel-Teppich, der alljährlich auf dem Grabe des Propheten
niedergebreitet wird, bildet auf einem viereckigen Gestell einen
Baldachin.5)
Erhellt aus derartigen Thatsachen die religiöse Bedeutung des
Baldachins, so ist es wohl noch leichter, die höchst auffallende Be-
ziehung desselben zur Braut darzulegen. Nach einem uralten, nicht
nur im Orient beobachteten Herkommen pflegt die jüdische Braut
unter einem Baldachin getraut zu werden, und Henriette Herz
weiss zu erzählen, dass sie selber als blutjunges Mädchen unter
einem Baldachin getraut wurde. Bei Klemm liest man, dass die
abiponische Braut unter einem auf Stangen ausgespannten Zeuge,
das acht junge Mädchen über ihr halten, nach dem Hause ihres
Zukünftigen schreitet.6) Zu Skogboland in Upland ist es bräuch-
lich, dass während der kirchlichen Einsegnung von vier jungen
Mädchen ein Himmel über dem Brautpaar gehalten wird.7) Wenn
Junker, der einen Hochzeitszug in Chartum beobachtete, meldet,
dass die Braut nebst einigen anderen Frauen unter einem an vier
1) G. Jaquet, Die Juden Polens und Lithauens. S. Aus a. Weltteilen
XVI, S. 103.
2) Harnisch, Die Weltkunde. Leipzig 1855. XIV 508.
3) Heuglin, Reise nach Abessinien. Gera 1874. S. 359.
4) v. Lanken au und v. d. Ölsnitz, Das heutige Russland. Leipzig.
1. Aufl. I 249.
5) Sepp, Jerusalem und das heilige Land. Schaffhausen 1873. II 805.
6) Klemm, Die Frauen. Dresden 1859. I 32.
7) Weinhold, Die deutschen Frauen in dem Mittelalter. Wien 1882. 1390.
A. Originalarbieten.
259
Stangen getragenen grossen Moskitonetz einherging,1) so ist das
allerdings eine Art von Baldachin, die schwerlich unseren Beifall
hat; dennoch dürfte man nicht berechtigt sein, die Verwandtschaft
dieses Moskitonetzes mit dem seidenen, goldstrotzenden Thronhimmel
alexandrinischer Bräute1 2) zu bestreiten. Sehr eigentümlich ist auch
der Baldachin, den in Tunis die Sitte den Frauen, aber mit ganz
besonderer Strenge deu Bräuten vorschreibt; sie müssen sich auf
der Strasse derartig verhüllen, dass der mit weit ausgebreiteten
Armen gehaltene Schleier vom Scheitel bis zu den Knieen in einer
Weise herabfällt, die aufs lebhafteste an einen Baldachin erinnert.3)
Der Gedanke, dass über dem Haupte der Braut, zum mindesten in
den entscheidenden Augenblicken ihres Daseins, eine baldachinartige
Bedeckung schweben müsse, tritt ferner in einer Erzählung Gerst.
äckers zu Tage. Derselbe teilt zunächst mit, dass, so oft im
chinesischen Viertel von Batavia eine Hochzeit stattfindet, die Braut
mit stets niedergeschlagenen Augen im Zuge schreitet; dann erzählt
er, dass, als die diademgeschmückte Braut, die er selbst sah, im
Begriffe war, in den Wagen, der sie zum Hause des Bräutigams
bringen sollte, einzusteigen, zwei männliche Hochzeitsgäste auf sie
zuschritten, um ein — Reissieb verkehrt über sie zu halten.4)
Oft genug wird der die Braut verdeckende Thronhimmel durch
eine andere Art von Umhüllung ersetzt, die aber wiederum ein
priesterliches Gepräge trägt; denn sie erinnert an die Kapuzen der
Mönche oder Derwische, an das Schleiertuch mexikanischer und
griechisch-katholischer Priester, an das verhüllte Haupt der des
Götterspruches harrenden Auguren und an den mit verhülltem Haupte
auf dem Karmel um Regen flehenden Elias. Bei Dithmarschen und
Skandinaviern wurde das Gesicht der Braut so völlig mit einem
Leintuche bedeckt, dass, wer sie ansehen wollte, sich unter das
Linnen beugen musste.5 6) Auf Sylt hatte die Braut das Gesicht und
den Oberkörper mit einem Umhang zu verdecken, aus dem sie nur
durch eine viereckige Öffnung heraussah.0) ln Hessen, wo die Braut
mit offenem, frei herabwallenden Haar das Haus des Bräutigams
betrat, wurde ihr während der Fahrt auf dem Braut wagen ein
weisses Tuch über den Kopf gehängt.7) Während die lettische Sitte
1) Junker, Reisen in Afrika. Wien 1889. III 469.
2) Sepp a. a. 0. II 668.
3) Platz, Die Völker der Erde. Würzburg. 1. Aufl. IV 530.
4) Gerstäcker, Reisen. Stuttgart 1854. V 45.
5) Weinhold I 386; Klemm II 168.
6) Weinhold I 386.
7) Klemm II 175.
17*
-rS- v.
2ß0 A. Üriginalarbeiten.
da und dort gebietet, dass die Braut sich mit verbundenen Augen
auf den Schoss der Schwiegermutter setzt, um in dieser Verfassung
die Fahrt nach ihrer neuen Heimat zurückzulegen,1) nähert sich
das uralte Herkommen der Altenburger Bauern schon bei weitem
mehr den zivilisierten Formen; dieses Herkommen fordert als un-
erlässliche Anstandspflicht, dass die mit einem schwarzen Mantel
bekleidete Braut ein weisses Tuch — es wird nicht gesagt, wie
lange — vor die Augen hält.1 2)
Wie der heidnische Priester des öfteren sein Leben lang in
Einsamkeit zu wohnen hat, wie der japanische Priesterkönig in
früheren Jahrhunderten täglich eine bestimmte Stunde unbeweglich
auf seinem Throne sitzen musste, wie der loangische Priesterkönig
Kukulu tagaus, tagein an seinen Stuhl gefesselt ist, auf dem er
auch bei Nacht in sitzender Stellung zu verbleiben hat, so gehört
bei nicht wenigen Völkern eine stunden- oder tagelange Unbeweg-
lichkeit, bei noch anderen eine tage- oder jahrelange Abgeschlossen-
heit zu den Verpflichtungen der Braut. Unter den Karaiben von
Cumana war es, obgleich sie auf jungfräuliche Keuschheit nicht den
geringsten Wert legten, üblich, dass „vornehme Bräute vor ihrer
Verheiratung zwei Jahre lang eingeschlossen leben mussten“.3) Bei
den Kaukasusvölkern darf die Braut in einigen Gegenden das ihr
angewiesene Zimmer während ihres Brautstandes nicht verlassen.
Zwar haben die Schwestern und Muhmen des Bräutigams die Ver-
pflichtung, sie während dieser Zeit zu unterhalten und ihr allerhand
Näschereien zuzutragen; aber man erlaubt ihr nur wenig zu sprechen
und verlangt, dass sie unbeweglich und starr vor sich hinsehend
auf dem Teppich sitze.4) Bei den Juden von Tetuan in Marokko
muss, wofür Lenz5) sich verbürgt, die Braut — die nach dem Ge-
brauche zahlloser Völker aufs kostbarste geputzt wird — an ihrem
Hochzeitstage stundenlang ganz still und steif wie eine Wachspuppe
sitzen, darf nicht einmal die Augen aufschlagen — eine Sitte, welche
vornehme wie geringe Familien mit gleicher Sorgfalt beobachten.
Scheint unter diesen selben Juden das hohe, mit Gardinen versehene
Bett, auf welchem die Braut, während ihre Verwandten sie an-
kleiden, sitzen muss, einen Baldachin zu ersetzen, so könnte ander-
1) Klemm I 121.
2) Klemm II 182.
3) Waitz, Anthropologie der Naturvölker. III 382.
4) Klemm I 151; vgl. Schweiger-Lerchenfeld, Zwischen Donau und
Kaukasus. Wien 1887. S. 315.
5) Oskar Lenz, Tetuan und die Landschaft Andschira; s. Aus allen
Weltteilen XV 6.
7
A. Originalarbeiten.
261
seits der Stuhl, auf welchem die Geschmückte von einigen Männern
nach dem Hause ihres Zukünftigen getragen wird, ebensowohl als
ein — Thron gedeutet werden. Denn unter einigen Völkern gehört es
thatsächlich zu den Hochzeitszeremonien, dass die Braut auf einem
Throne sitzt. So gebietet die Sitte der Georgier, dass die diadem-
geschmückte Braut, auf einer Art von Thronsessel sitzend, die Be-
grüssung ihres Bräutigams entgegennehme;1) so sitzt die von Gold
und Seide strotzende chinesische Braut auf einem Thronsessel.1 2) Und
an verschiedenen Orten geht man noch weiter. In Syrien3) wie in
mehreren Gegenden Westafrikas4) erteilt man der Braut während
der letzten Tage vor ihrer Vermählung den Titel „Königin“, dort
mit einheimischem Worte Malaki, hier Quicumhe.
II.
War der magische Spiegel im Besitztum der Vorzeit?
Von V. Jäkel.
Als vor etwa zwei Jahrzehnten der japanische Physiker Mu-
raoka entdeckte, es könne jeder metallene Spiegel „magisch“ ge-
macht, d. h. in der Weise geschliffen werden, dass, wenn man das
von dem Spiegel reflektierte Licht auf einer weissen Wand auftängt,
ein mehr oder minder vergrössertes Bild derjenigen Figuren zum
Vorschein kommt, die auf der Rückseite des Spiegels — wenn auch
noch so zart, etwa mit einer Messerspitze — eingeprägt sind, schloss
hieran Ernst Bötticher seine Hypothese, dass schon in fernster
Urzeit der magische Spiegel in der priesterlichen Magie seine Ver-
wendung gefunden haben möge. Bötticher vermochte sich dabei
nur auf zwei Thatsachen zu berufen, erstlich auf das von Daniel
erzählte Wunder des Menetekel und zweitens auf jene ägyptischen
Metallspiegel, die als sogenannte Sonnenscheiben ein Attribut der
ägyptischen Götter bildeten und deren Rückseiten zuweilen Hiero-
glyphen trugen, jene Metallspiegel, die durch Öffnungen, welche im
Tempeldache, teilweise versteckt, angebracht waren, vom Sonnen-
lichte bestrahlt werden konnten.5)
1) Hurtrel, La ferame. Paris 1887. S. 99.
2) v. Scliweiger-Lerchenfeld, Das Frauenleben der Erde. Wien
1881. S. 231.
3) Platz a. a. 0. II 386.
4) Bastian, Die deutsche Expedition an der Loangoküste. Jena 1874.
S- 176 in Note.
5) E. Bötticher, Der magische Spiegel und seine Bedeutung für die
Kunde der Vorzeit; s. Aus allen Weltteilen XIV 106.
262
A. Originalarbeiten.
Was der Bericht des Daniel und die Existenz des ägyptischen
Diskus nur von ferne vermuten lassen, wird durch eine Meldung
des Pausanias zu einer halben Gewissheit erhoben: Die griechischen
Priester verstanden es, Spiegel in Tempeln derartig anzubringen,
dass mehr oder weniger künstliche „Vorspiegelungen“ — ob zwar
in der betreffenden Erzählung nur von Wiederspiegelung wirklich
vorhandener Dinge die Rede ist — erzeugt wurden. Nachdem Pau-
sanias das Heiligtum der Despoina in Arkadien geschildert hat,
fährt er fort: „Rechts vom Ausgange aus dem Tempel ist in der
Mauer ein Spiegel so künstlich angebracht, dass, wer in denselben
hineinschaut, sich selbst nur ganz undeutlich oder auch gar nicht,
die Götterbilder aber samt ihrem Throne ganz deutlich sieht.“1)
Nun beantwortet dieser Bericht allerdings blos die eine Frage, ob
der griechische Priester dem Spiegel eine Verwendung in Tempeln
zuerkannt habe; nicht aber die andere, ob dem Altertum der ma-
gische Spiegel bekannt gewesen sei — der zum Zwecke der
Täuschung gebrauchte Zauberspiegel, der jede beliebige Erschei-
nung „vorspiegeln“ konnte, je nach dem Willen des Magiers, der
wohl mit eigenem Griffel das Menetekel, das er zu Nutz und Frommen
seiner Gläubigen beabsichtigte, zu zeichnen vermochte. Es sind
jedoch andere Nachrichten vorhanden, die in ihrer Gesamtheit eine
Gewähr dafür leisten dürften, dass thatsächlich der Spiegel von
Priestern der Vorzeit im Dienste hierarchischer Bestrebungen be-
nutzt wurde. Auf solchen Gebrauch deutet zunächst ein Bericht,
nach welchem zum Bezirk des grossen Haupttempels in Mexiko auch
das dem Tezcatlipoca geweihte „Haus der Spiegel“ gehörte, dessen
Wände ganz aus Spiegeln bestanden.1 2) Sollte solcher Tempelschmuck
wirklich nur als Zierde gegolten haben? Sollte er nicht vielmehr,
wenigstens in älterer Zeit, der Absicht gedient haben, durch einen
geschickt gehandhabten Zauberspiegel allerlei Bilder auf den Spiegel-
wänden entstehen zu lassen? Oder warum sagt die mexikanische
Überlieferung, dass der Gott Tezcatlipoca einen Spiegel besass, in
dem er alles, was in der Welt vorging, zu sehen vermochte3) — in
merkwürdigster Übereinstimmung mit der griechischen Tradition,
nach welcher Helios einen ebensolchen Spiegel besass, und in merk-
würdigster Übereinstimmung mit der persischen Sage, es habe der
Ahnherr Dschemsid von der Sonne einen becherförmigen Spiegel ge-
erbt, in welchem sich „die Vorgänge in der Welt“ spiegelten —
und in merkwürdigster Übereinstimmung mit der japanischen Mythe,
1) Pausanias VIII c. 37. Stuttgart bei Metzler 1854. S. 849.
2) Waitz, Anthropologie der Naturvölker, IV 150.
3) Müller, Geschichte der amerikanischen Urreligionen. Basel 1867. S. 623.
A. Originalarbeiten.
263
die von einem Spiegel redet, in dem man allzeit die „Wahrheit“ zu
schauen vermag. Die japanische Erzählung, die dem versilberten
Spiegel gilt, der im Tempel von Ise als heiligstes Palladium Japans
auf bewahrt wird, ist aus mehreren Gründen höchst beachtenswert:
„Die Sonnen- und Lichtgöttin Ainaterasu verbarg sich einst vor den
Verfolgungen ihres Bruders, des Meergottes Suzan, in einer ver-
borgenen Höhle. Finsternis herrschte nun überall, und die Götter
konnten die erzürnte Göttin durch keine List noch Gewalt aus
ihrem Versteck hervoriocken. Da schmiedete der Feuergott den
ersten Spiegel aus Metall und stellte ihn vor der Höhle der Göttin
auf. Neugierig besah sich diese im Spiegel und vuirde von den
Göttern gefangen genommen. Die Götter versöhnten Amaterasu,
indem sie ihr den Spiegel schenkten. Als Amaterasu ihren Neffen,
den Urgrossvater des ersten Kaisers von Japan, in die Welt sandte,
um sie zu unterwerfen, gab sie ihm drei Geschenke, erstens den
kostbaren Stein Magatama, eine Krystallkugel, Sinnbild der Seele
des Weibes, ein Schwert, Sinnbild der Seele des Mannes, und den
Spiegel, das Sinnbild ihrer eigenen Seele. „Betrachte“, sagte die
Göttin zu ihm, „diesen Spiegel als meinen Geist, bewahre ihn in
dem Hause und in dem Zimmer, wo du weilst, und verehre ihn,
wie du mich verehren würdest. Meine Seele ist die Wahrheit, und
wenn du in diesen Spiegel schaust, wirst du die Wahrheit schauen.“1)
Mehr als ein Zug der japanischen Überlieferung kehrt in den
Sagen anderer Völker wieder. Gleich dem japanischen Feuergott,
der den ersten Spiegel aus Metall schmiedete, schmiedete Hephästos
den ersten Spiegel aus Metall; wie Amaterasu durch einen Spiegel
zu Friedensgedanken bewegt wurde, so tvard Dionysos, der sich in
einer Grotte verborgen hatte, durch das Betrachten seines eigenen
Bildes in dem von Hephästos verfertigten Spiegel versöhnt. Hin'
wieder leitet die griechische Sage hinüber zur indischen. Wie nach
einer hellenischen Kosmogonie Dionysos, als er sein Bild im Spiegel
bemerkte, die Welt zu erschaffen begann, so betrachtete nach einer
indischen Kosmogonie das Urwesen sich in einem Spiegel und wurde,
sobald es sich erschaute, als Schöpferkraft thätig.1 2) Ähnlich ist
eine in Assam gefundene Sage; dieselbe erzählt, dass die von der
Gottheit Simbonga aus dem Himmel Verbannten in einem Spiegel
ihre Gottähnlichkeit erkannten und hierauf sich weigerten, die von
ihnen bis dahin gehorsam geleistete Arbeit fernerhin zu leisten.3)
1) v. 'Wlislocki, Vom wandernden Zigeunervolke. Hamburg 1890. S. 219.
2) vgl. Müller a. a. 0. S. 624.
3) Bastian, Völkerstämme am Bramaputra. Berlin 1883. S. 116.
264
A. Originaiarbeiten.
Gar nicht selten erscheint der Spiegel als ein Abzeichen des
Gottes wie des Priesters. Die westafrikanischen Ganga gewinnen
aus Spiegeln, deren sie sich bedienen, untrügliche Kunde, wer es ist,
der jemandem eine Krankheit angehext hat,1) und in Peru1 2) wurde
wie in Rom das neue Feuer von dem Priester mit einem goldenen
Hohlspiegel angezündet. Tezcatlipoca führte den Namen „glänzen-
der Spiegel“, und seine Augen waren stets auf den goldenen Spiegel
gerichtet, den er nach Bancroft3) in der linken, nach Waitz
(IV 140) in der rechten Hand hielt. Bastian sah an der Loango-
kiiste zu wiederholten4) Malen Götzen, die einen Spiegel bei sich
führten; gewöhnlich war ein einziger Spiegel auf der Brust be-
festigt; doch fand er in einem der Tempel den gefürchteten Fetisch
Mabiali als einen mit einer ganzen Anzahl von Spiegeln Beklebten.
Dem Dionysos eignete bekanntlich der Spiegel so sehr, dass noch
Aeschylus und Aristophanes ihn mit diesem Attribut auf die Bühne
brachten. In dem Spiegel der Aphrodite hat man ein Merkmal
weiblicher Putzliebe sehen wollen; aber wenn schon die Meldung,
dass die ernste ägyptische Mat den Spiegel führte, die Kichtigkeit
solcher Auffassung anzweifeln lässt, so scheint eine germanische
Nachricht den Beweis dafür zu liefern, dass gerade der weiblichen
Gottheit der Spiegel nicht immer zum Zwecke der Selbstbespiegelung
beigegeben ist. Als die erschreckten Götter von Idun eine Deutung
ihrer Träume erfragten, da gab sie keinen Laut; doch „Zähren
schossen aus den Spiegeln des Haupts“.5) Warum hätte die Edda,
die oft genug — und stets ohne alle Metaphern — von den „Augen“
der Götter und Riesen, etwa von den flammenden Augen Thors,
redet, gerade den Augen Iduns die höchst auffallende Auffassung als
„Spiegeln des Haupts“ zugewendet — eine Auffassung, die durchaus
nicht so natürlich ist als die bekannte Behauptung, das Auge sei
der „Spiegel der Seele“ — warum hätte die Edda das gethan, wenn
Idun nicht Spiegel an ihrem Haupte trug wie der afrikanische Götze
Majanga6) einen Spiegel an seinem Federbusch?7)
1) Bastian, Die deutsche Expedition an der Loangoküste. Jena 1874. 1205.
2) Müller a. a. 0. 368.
3) Bancroft, The native races of the Pacific States of North America.
Leipzig 1875. II 238.
4) Bastian, Die deutsche Expedition I 77; 76; 41; 243.
5) Hrafnagaldr. 6; Bastian, Die deutsche Expedition I 76.
7) Ob der glänzende Stein, den der Moloch auf seiner Stirne trug
(Müller 624), ein Spiegel war? Und ob die Bedeutung eines Spiegels ur-
sprünglich dem goldenen, mit einer Inschrift versehenen „Stirnblatt“ zukam,
das der jüdische Hohepriester allzeit, von einer Schnur an seinem Hute herab-
hängend, auf seiner Stirn tragen musste? (2. Moses 28, 36 f.)
A. Originalarbeiten.
265
Vielleicht noch mehr als die Gestalt der Idun ist die Gestalt
der zaubermächtigen Königin im Märchen von Schneewittchen, die
von einem Spiegel, der „die Wahrheit sagte“, sich Rede und Ant-
wort stehen Hess, ein Zeugnis dessen, dass der Germane in alter
Zeit von besonderer Kraft und Bedeutung des Spiegels wusste.
Nicht minder beachtenswert erscheinen die dem Deutschen — wohl
seit uralters — so geläufigen Worte „Vorspiegelung, Tugendspiegel,
Fürstenspiegel, Sachsenspiegel, Schwabenspiegel“, und ausserdem
treten verschiedene Berichte, die Grimm zu erstatten weiss, für
die verschwundene Geltung unseres Putzgerätes ein. In Thüringen
kann man das böse Gespenst, den Binsenschneider, umbringen, wenn
man sich, mit einem Spiegel an der Brust, zu Johannis oder Trini-
tatis, um die Zeit, wo die Sonne am höchsten steht, auf einen Ho-
lunderstrauch setzt; kommt dann der Binsenschneider und sieht sein
Bild im Spiegel, so muss er sterben.1) Während der Lithauer sagt:
„es ist nicht gut,“ eine Leiche so aufzubahren, dass sie im Spiegel
zu sehen ist; denn der Tote steht auf und beschaut sich im Spiegel1 2)
— meint der Germane, dass ein Kind, welches noch nicht sprechen
kann, durchaus nicht in einen Spiegel sehen dürfe; „es ist nicht
gut.“3) Und der Germane ist es auch, der die merkwürdigste aller
Spiegelsagen aufbewahrt hat, eine Tradition, die den Spiegel aufs
deutlichste mit dem Fürsten der Magie in Verbindung setzt: „Wer
nachts in einen Spiegel schaut, schaut den Teufel darin.“4)
III.
Stadt und Land II.
Genealogie und Anthropologie.
Von Dr. J. H. F. Kohlbrugge-Sidhoardjo (Java).
Im ersten Heft des sechsten Jahrgangs brachte ich unter obigem
Titel eine Anzahl Betrachtungen nach historisch-genealogischen That-
sachen, aus denen meiner Überzeugung nach hervorging, dass das
Stadtleben nicht einen so schlechten Einfluss auf seine Bewohner
ausübt, wie manche Forscher heutigen Tags annehmen. Soweit mir
bekannt geworden ist, wurde diese Deutung bisher noch nicht be-
stritten, doch erhielt ich ein Schreiben von einem befreundeten
1) Grimm, Deutsche Mythologie. Göttingen 1835. S. 629.
2) ebenda „Aberglaube“ CXXV.
3) ebenda CLX.
4) ebenda LXXI.
266
A. Originalarbeiten.
Forscher mit der sehr richtigen Bemerkung, dass ich meine Auf-
fassung mit Zahlen belegen müsse.
Ich erkenne diesen Einwurf an und habe mich seither bemüht
Zahlen zusammenzubringen; leider waren für mich die Umstände in-
sofern recht ungünstig, als ich Europa wiederum verlassen musste,
und auf der Indischen Inselflur kann man solche Studien nicht
treiben. Trotzdem gelang es mir, vor meiner Abreise einiges zu-
sammenzutragen, was ich dem Leser hier darbieten möchte. Ich will
hoffen, dass andere das fortsetzen werden, was hier begonnen wurde.
Wenn man genealogisch den Einfluss des Stadtlebens studieren
will, dann genügt es nicht, einzelne Familien herauszugreifen, man
muss eine ganze, in sich abgeschlossene Gruppe studieren und in
Prozenten berechnen, wieviele der zu solch einer Gruppe gehörigen
Familien durch das Stadtleben erschöpft wurden oder wieviele ihm
Widerstand boten. Nun war es ein glücklicher Zufall, dass in
Amsterdam, der grössten Stadt meines Vaterlandes, und seit Jahr-
hunderten einer der grössten Städte Europas, sich zwei solcher
Familiengruppen finden, deren Grenzen scharf umschrieben werden
können. Die erste Gruppe ist die der regierenden Geschlechter
(Oligarchie), die zweite die der Portugiesischen Juden.
Bei der Betrachtung der regierenden Geschlechter habe ich
alle Seitenlinien ausser Acht gelassen und nur die Vorfahren eines
Senators oder dessen direkte männliche Deszendenz beachtet. Durch
diese Einschränkung liess ich viele Geschlechter weit früher aus-
sterben, als sie thatsächlich ausgestorben sind; wenn der Hauptstamm,
erlosch, gilt das Geschlecht für erloschen. Diese Annahme ist ge-
wiss nicht zu Gunsten meiner Auffassung, dass das Stadtleben nicht
so ungünstig auf die Geschlechter einwirkt, aber ich musste mich
zu dieser Einschränkung entschliessen, weil ich nicht in der Lage
war, den Stammbaum der Seitenlinien kennen zu lernen.
Es wurde nun notiert: das Jahr, in welchem ein Geschlecht
sich in Amsterdam niederliess, und das Jahr, in welchem die Haupt-
linie ausstarb; es war natürlich nicht immer das bestimmte Jahr
ausfindig zu machen, aber ein Genealoge konnte mir in diesen
Fällen doch immer bestimmt den Abschnitt „Anfang, Mitte oder
Ende des Jahrhunderts“ angeben, und das genügt für unseren Zweck.
205 Geschlechter haben der Stadt Amsterdam vom Ende des 16.
Jahrhunderts bis zum Ende des 18. Jahrhunderts Regenten geliefert.
Von diesen fallen vier fort wegen fehlender Daten, von den übrig
bleibenden 201 sind 142 ausgestorben und leben noch 59, also noch
29 °/0. Betrachten wir zunächst diese noch fortlebenden Geschlechter:
dann zeigt sich, dass sie durchschnittlich 300 Stadtjahre hinter sich
A. Originalarbeiten.
267
haben, also wenigstens 9 Generationen besitzen. Unter diesen finden
sich sogar Familien, die 500 oder 400 Jahre in Amsterdam gelebt
haben, und von drei Geschlechtern ist hervorzuheben, dass sie sich
einer besonderen Fruchtbarkeit rühmen können. Die ausgestorbenen
142 Geschlechter werde ich in 7 Gruppen sondern, je nach den
kürzeren oder längeren Perioden, die sie in der Stadt zubrachten,
bevor sie ausstarben.
I. Gruppe . . . + 420 Stadtjahre
II.
III.
IY.
V.
VI.
VII.
+ 350
± 300
± 250
± 200
+ 150
+ 100
2 Geschlechter.
4
9
15
43
39
30
Wenn wir nun den Durchschnitt für alle 142 Geschlechter be-
rechnen, dann stellt sich heraus, dass sie 184 Jahre lang das
Stadtleben ertragen haben, also beinahe 6 Generationen; rechnen
wir die Stadtjahre der oben erwähnten noch lebenden Geschlechter
hinzu, dann ergiebt sich ein Mittel von 216 Jahren, also mehr als
6 Generationen (je 3 Generationen auf ein Jahrhundert). Dabei be-
denke man, dass fast alle diese Geschlechter ebenso wie die Ham-
burger Patrizier zu den Grosskaufleuten gehörten, und, wenn sie
auch in den besten Verhältnissen lebten, andererseits auch wieder
den am meisten anstrengenden, geistig ermüdenden Beruf erwählt
hatten. Ich muss gestehen, dass solches Resultat auch von mir
nicht erwartet wurde. Glänzender können Städte ihren Ruf gewiss
nicht rechtfertigen als die Stadt Amsterdam mit diesen Zahlen.
Von den 2 oder 3 Geschlechtern, die man Städtern zuschrieb, kommen
wir also auf 6 oder 7. Dabei möge man noch beachten, dass dieses
in sumpfiger Gegend angelegte nordische Venedig, wo der Boden
nicht fest genug ist, um ein Haus ohne tief eingeschlagene Pfähle
zu tragen, früher sehr von der Malaria heimgesucht wurde; über-
haupt ist Amsterdam erst in diesem Jahrhundert eine gesunde Stadt
geworden. Weiter muss ich noch hervorheben, dass einige Geschlech-
ter als ausgestorben gelten, welche thatsächlich auch in dem Haupt-
stamm noch weiter fortleben, aber von denen man, w'eil sie ganz
verarmten, nichts mehr weiss; (da es mir gelang, dies in einem
Falle nachzuweisen, so dürften gewiss mehrere derartige Beispiele
sich bei genauem Suchen finden lassen); hingegen ist ganz ausge-
schlossen, dass ein Geschlecht als fortlebend betrachtet wurde und
doch ausgestorben ist.1) Ich habe die genealogische Tabelle, welche
1) Auf weibliche Nachkommen wurde nicht geachtet.
268
B. Referate. Anthropologie.
obigen Berechnungen zu Grunde liegt, in einer genealogischen Zeit-
schrift veröffentlicht und uni etwaige nötig werdende Korrekturen
gebeten, es wurden aber keine Anmerkungen gemacht, welche obige
Resultate ändern könnten; ich nehme daher Abstand, diese Tabelle
hier nochmals abzudrucken.1) (Fortsetzung folgt.)
B. Referate.
1. Anthropologie.
297. Telesforo de Aranzadi: Antropometria, con 21 grabados.
Sammlung Manuales Soler Band XXXV. Barcelona, Suce-
sores de Manuel Soler, 1903. Preis 1,50 Pesetas.
Verfasser ist so eifrig, wie wohl selten einer, bemüht, seine Lands-
leute mit den Grundzügen der jungen Wissenschaft der Anthropologie be-
kannt zu machen. Seinen erst vor wenigen Jahren zusammen mit L. de
Hoyos Säinz herausgegebenen „Lecciones de antropologia“ hat er schnell
ein neues Werk von allerdings bescheidenerem Umfange (182 Seiten) folgen
lassen, das die Messungen am Menschen behandelt.
Nach einer kurzen orientierenden Einleitung über die Bedeutung der
Anthropometrie für die verschiedenen Wissenschaften (Kunst, Erziehung,
Kriminalistik, Sociologie etc.) führt Verf. den Leser zunächst in das ßertillonsche
Verfahren zur Wiedererkennung von Personen (Kap. 2) ein. Sodann (Kap. 3)
beschäftigt er sich mit dem Wachstum des menschlichen Körpers, sowohl
im Ganzen, wie in seinen einzelnen Teilen, und den Momenten, welche das-
selbe beeinflussen. Die beiden nächsten Kapitel (4 und 5) sind den Körper-
massen und den Methoden der Messung gewidmet; zur Vervollständigung
des anthropometrischen Signalements bringt Verf. im Kap. 6 noch eine Dar-
stellung der deskriptiven Merkmale (Haut, Haare, Augen, Nase, Ohren).
Im folgenden (7.) Kapitel beschäftigt er sich mit den Beziehungen der
einzelnen Körperteile zu einander und zum Ganzen. Weiter (Kap. 8) lässt
er sich über die Variation, die Mittelzahlen und den mittleren Typus aus
und schliesst seine Studie (Kap. 9) mit einer Schilderung der Forderungen,
welche die künstlerische Auffassung an den menschlichen Körper und seine
Proportionen stellt.
1) Maandblad van bet Genealogisch-heraldiek genootschap „de Neder-
landsche Leuw“ s’Gravenhage 1902.
/
B. Referate. Anthropologie.
269
Wir wünschen dem Büchlein, das, wie manches andere im Anslande
erscheinende anthropologische Werk für uns vorbildlich sein könnte, besten
Erfolg, zu dem nicht unwesentlich sein billiger Preis von nur 1,20 Mark
beitragen Avird. Buschan-Stettin.
298. Wm. W. Hastings: A Manual for physical measurements
for use in normals schools, public and preparatory schools,
boy’s clubs, girl’s club, and young men’s Christian asso-
ciations with anthropometric tables for each height of each
age and sex from live to twenty years, and vitality coeffi.
cients, 1902. Selbstverlag des Verfassers, Chair of antbro-
pometry and physical training, Springfield, Mass. 112 Seiten.
Gr. 4.
Von unseren Vettern jenseits des Meeres wird bekanntlich schon lange
der körperlichen Übung, sowie aller Art von Sport in viel höherem Grade
Beachtung geschenkt, als bei uns zu Lande, wo man erst seit wenigen Jahren
dank den Bestrebungen des Deutschen Vereins für Volkshygiene zu er-
kennen beginnt, dass zu einem gesunden Geiste ein gesunder Körper Vor-
bedingung sei. Den Zweck des vorliegenden Werkes fasst der Verfasser
in folgende Avenige Worte zusammen: „The primary object is Propaganda
of systematic physical training“. Obgleich es für amerikanische Verhältnisse
eigentlich überflüssig erscheinen könnte, die Bedeutung des körperlichen
Training für das körperliche und geistige Wohlbefinden und den Wert der
anthropometrischen Messungen als Maassstab für dasselbe besonders ausein-
ander zu setzen, thut dieses der Verf. dennoch Aviederholt und in eingehender
Weise. Was die Untersuchungen von Bowrditch, Peckham, Porter, Mac
Donald, Burk und anderen — leider werden ganz unsere deutschen Beob-
achter, im besonderen der rührige Schmid-Monnard übergangen — über das
Wachstum der Kinder ergeben haben, führt er in prägnanten Sätzen an.
Tn einem Aveiteren Kapitel teilt der Verf. das Verfahren (Formulare
und Apparate) mit, wie es bei der Amer. Association for the adv. oi physical
training üblich ist. Er führt uns hier in Abbildung eine Reihe neuer
Apparate vor. die unseres Wissens in Deutschland nicht bekannt sein
dürften. Die Unkosten für ein Instrumentarium, wie er es zum Gebrauche
in Volksschulen vorschlägt, belaufen sich auf 68—86 Dollar (um 300 Mark);
für höhere Schulen, Kollegs und Vereinigungen junger Leute würden noch
weitere Apparate (Dynamometer) in Höhe von 64—70 Dollar hinzukommen.
Glücklich das Land, das für seine Ahdksschulen eine solche, nach dem Urteil
unserer Behörden sicherlich als Luxus zu bezeichnende Ausgabe gestatten und
den Schülern die zu den Messungen erforderliche Zeit zur Verfügung stellen
kann. Im 3. Kapitel giebt der Verf. Anweisung, wie, wann und vom wem
die anthropologischen Erhebungen, die sich nicht nur auf die Vornahme
270
B. Referate. Anthropologie.
von Messungen, sondern des gesamten physischen und zum Teil auch des
psychischen Status beziehen, vorzunehmen sind. Im 4. endlich giebt er
eine eingehende Erklärung für den Gebrauch der anthropometrischen Tafeln,
die den II. Teil des Werkes bilden. Sie veranschaulichen für das Alter
von 7—20 Jahren an beiden Geschlechtern die Maasse (Sitzlänge, Arm-
spannweite, Breite des Kopfes, der Brust, der Taille, Tiefe des Brustkorbes,
Umfang des Kopfes und Brustexpansion, Lungenkapazität, Kraft der beiden
Yorderarme) und die Yitalitätskoefficienten bei jeder Körperlänge, Zahlen,
die an vielen Tausenden von Schulkindern von Nebraska und Omaha ge-
wonnen wurden. Buschan-Stettin.
299. Paul Godin: Recherches anthropologiques sur la croissance
des diverses parties du corps. Détermination de l’Adolescent
type aux différents âges pubertaires d’après 36000 mensu-
rations sur 100 sujets suivis individuellement de 13 à 18 ans.
Ouvrage couronné par la Société d’anthropologie de Paris,
1902 (Prix Broca). Paris, A. Maloine, 1902. 212 Seiten.
In seiner Eigenschaft als Arzt an der Militär-'Vorbereitungsschule zu
Saint-Hippolyte du Fort hat sich der Verfasser, ein Schüler Manouvriers,
der grossen Mühe unterzogen, 100 junge Individuen im Alter von 13 bis
18 Jahren fortgesetzt von Semester zu Semester einer eingehenden anthropo-
metrischen Untersuchung zu unterwerfen. Diese Messungen werden dadurch
noch besonders wertvoll, dass Yerf. sich nicht auf die üblichen wenigen
Maasse beschränkte, sondern die Zahl derselben bedeutend erhöhte, sodass
an jedem Schüler 129 Einzelmaasse (32 Längenmaasse, 9 Breitenmaasse,
27 Umfänge, 23 Kopf- und Gesichtsmaasse und 38 Maasse an Händen und
Füssen) genommen wurden. Das macht für das Halbjahr ziemlich 13 000
Messungen aus; im Laufe der 9 auf einander folgenden Semester erreichte
die Gesamtzahl der Messungen die stattliche Höhe von 116000. Dazu
kommt weiter noch, dass in jeder Sitzung noch andere physische und physio-
logische Beobachtungen (Beschaffenheit der Haare, der Augen, der Haut,
Betragen, Intellekt, etwaige künstlerische Veranlagung, Charakter, Tempe-
rament, augenblickliche Krankheit, Herzuntersuchung, Personalien, im ganzen
46 Einzelbeobachtungen) angestellt, bezw. revidiert wurden, wodurch die
Anzahl der anthropologischen Erhebungen innerhalb des angegebenen Zeit-
raumes auf 36000 anstieg. — Die Methode, die dabei verfolgt wurde, war
die gleiche, wie sie im anthropologischen Laboratorium der Ecole des Hautes
üblich ist.
Unter den zahlreichen Fragen, welche sich dem Beobachter bei seinen
Untersuchungen aufdrängten, war die wichtigste die nach der Entwicklung
der Pubertät; ihr hat Yerf. auch seine besondere Aufmerksamkeit geschenkt.
Nach den von ihm im 7. Kapitel seines Buches niedergelegten Erfahrungen
B. Referate. Anthropologie.
271
vollzieht sich dieselbe zwar langsam, sie bedeutet aber für den Organismus
eine Phase übermässiger Thätigkeit, an der alle Gewebe, jedoch in ver-
schiedenem Grade teilnehmen. Besonders günstig wird das Muskelgewebe
beeinflusst. Die Pubertät ist eingetreten, wenn die Schamhaare kräftig ent-
wickelt und ausserdem geringelt sind, die Achselhaäre sprossen und die
Stimme mutiert. Die beiden ersten Erscheinungen pflegen mit 15 Jahren
6 Monaten, die letztere bereits mit 14 Jahren 8 Monaten einzutreten; daher
ist als Zeitpunkt der Pubertät das 15.—16. Lebensjahr (im Mittel 15 Jahr
2 Monat) anzunehmen. Um die gleiche Zeit erfährt der Halsumfang seine grösste
Zunahme, nämlich um 8 Millimeter im Semester (von 15Va—lTVs Jahren
im ganzen überhaupt 25 mm.), ebenso das Körpergewicht, nämlich 3124 gr
im halben Jahre. Es tritt weiter eine Beschleunigung des Längenwachstums
für den Hals, den Oberschenkel (Femur) und den Vorderarm (Radius) ein;
für die übrigen Knochen macht sich indessen ein verlangsamtes Wachstum
geltend, nachdem jedoch eine Periode beschleunigten Wachstums für sie
vorausgegangen ist. Dagegen zeigt sich während der Pubertät eine be-
deutende Zunahme des Rumpfes und der Gliedmaassen in ihrem Umfange
(Dickenwachstum); eine Ausnahme hiervon machen nur der Brustumfang in
Höhe der Brustwarzen, der kleinste Umfang des Vorderarmes und des Beines.
Die Untersuchungen des Verfassers haben ferner dazu beigetragen, die
Grenzen des Jünglingsalters (adolescence) oder wenigstens den Beginn des-
selben genauer festzusetzen (Kap. 8). Es geht aus denselben hervor, dass
dieser Termin nicht erst in die Zeit nach der Pubertät fällt, wie die alte
Auffassung der Lebensalter will, sondern vielmehr in die Zeit vor dem Auf-
treten der ersten Erscheinungen, welche die Pubertät charakterisieren.
Im einzelnen auf die 129 Maasse des Körpers und seiner Teile näher
einzugehen, ist hier nicht der Ort. Es sei verwiesen auf Kapitel 2 — 6
(S. 37—179) der verdienstvollen Studie Godins, die mit vollem Recht mit
dem Prix Broca von Seiten der Pariser anthropologischen Gesellschaft ge-
krönt worden ist. Buschan-Stettin.
300. Robert Lehmann-Nitsche: Tipos de cráneos y cráneos de
razas. Kevista del Museo de La Plata, 1903. Bd. XI,
S. 159—170.
Verf. sucht in diesem Aufsatze nachzuweisen, dass man nicht schlecht-
weg von einem „Schädeltypus“ im allgemeinen sprechen kann; es kommt
vielmehr auf die verschiedenen Faktoren an, welche bei der Prägung der
Schädelform mitwirken; diese müssen zunächst, analytisch, isoliert betrachtet
werden, dann erst, gewissermassen synthetisch, können sie alle zusammen-
genommen werden, um den „Schädeltypus“ im allgemeinen darzustellen. Es
werden nun die verschiedenen Faktoren kurz durchgesprochen, ihr Einfluss
auf die Gesamtschädelform beleuchtet, und Autoren herangezogen, welche
272
B. Referate. Anthropologie.
besonderen, ja (in falscher Weise) aiisschliesslichen Wert den einzelnen zu-
schrieben. Jeder Faktor für sich allein betrachtet, schafft seinen bestimmten
„Schädeltypus“. Abgesehen von pathologischen Schädeltypen, zu welchen
in gewissem Sinne auch die künstlich deformierten zu rechnen sind, giebt
es zunächst individuelle, sexuelle und durch das Alter bedingte Schädel-
typen. v. Török z. B. erkennt nur individuelle an, Rieger nur physiologische,
eine weitere Form. Zu diesen gehören in gewissem Sinne auch die Ivultur-
schädeltypen. Dem Einfluss der Rasse wird heutzutage zu wenig Gewicht
beigelegt; freilich macht sich diese in sehr ungleicher Weise bemerkbar und
nur wenn in hohem, ja extremen Grade vorhanden, ist der Schädel als
Rassendiagnostikum zu verwerten. Freilich wird das Rassenhafte eines
Schädels nicht durch die craniometrische, sondern die cranioscopische Methode
Blumenbachs erkannt, der blosse Blick muss genügen. Um auf letzteren
Faktor die Aufmerksamkeit zu lenken, wurde in der Überschrift absichtlich
der Titel: „Schädeltypen und Rassenschädel“ gewählt. Ein späterer Auf-
satz soll speziell auf Südamerika eingehen und die hier vorkommende
„Poikilotypie“ der Schädeiformen behandeln. Selbstbericht.
301. Otto Walkhoff: Der Unterkiefer des Anthropomorphen und
des Menschen in seiner funktionellen Entwickelung und
Gestalt. Selenkas Menschenaffen, 1902. Liefg. IV. S. 209
bis 322, 59 Abb. Wiesbaden, C. W. Kreidel.
Verf. sucht an Hand der Vergleichung der allgemeinen Gestalt des
menschlichen Unterkiefers mit solchen der Affen, speziell der Anthropo-
morphen einerseits, andererseits durch Vergleich mit frühmenschlichen, wie
Sehipka-, Pfedmost- und Krapina-Kiefer, die Entstehung der heutigen Form
des menschlichen Unterkiefers zu studieren. Mit Hilfe der Röntgenphoto-
graphie werden die entwickelungsmechanischen Ursachen untersucht, die
diesen Veränderungen zu Grunde liegen können. Zahlreiche Photogramme,
deren Reproduktion allerdings nicht immer sehr deutlich ist, lassen erkennen,
dass die Spongiosa in gewissen Zügen angeordnet ist, die bestimmten Kraft-
richtungen entsprechen, und es wird ausgeführt, dass der Unterkiefer der
Anthropomorphen und des Menschen zwar aus ursprünglich durchaus gleichen
Konstruktionselementen zusammengesetzt ist, welche jedoch funktionell sehr
verschieden beansprucht werden und dadurch eine sehr verschiedene äussere
Gestalt und innere Struktur erlangen. Für die wichtigste Differenz hält
Verf. den altbekannten Unterschied in der Kinnbildung und er macht für
diese mit Mortillet und Schaaffhausen die Muskeln der Sprache, spez.
des Genioglossus, verantwortlich, indem er zu zeigen sucht, wie bei den
Anthropoiden ein wirkliches Trajektorium des Genioglossus noch fehlt,
während die diluvialen Kiefer, entsprechend ihrer Reihenfolge in den geo-
logischen Schichten, eine immer zunehmende Ausbildung desselben erkennen
B. Referate. Anthropologie.
273
Lassen, bis der Zustand des rezenten menschlichen Kiefers erreicht ist, —
wobei vorausgesetzt wird, dass die Entwickelung im Gebrauch der artikulierten
Sprache anatomisch sich widerspiegelt in der Entwickelung der Genioglossus-
Trajektorien (vgl. zu dieser, wie Ref. scheinen will, noch der Nachprüfung
bedürftigen Hypothese den kürzlich im Anat. Anz. XXIII, No. 2/3 er-
schienenen Aufsatz von Fischer, s. Referat No. 302). Ausserordentlich
wertvoll sind die schönen Photogramme und Radiogramme der Kieferreste
von Schipka, Pfedmost und Krapina, die für sich allein schon der Arbeit
bleibenden Wert sichern. Eines der schönsten, mit Hilfe der Radiographie
gewonnenen Resultate ist die Bestimmung des Alters des Schipka- und
Pfedmostmenschen: ersterer Kiefer gehörte nach W. einem zehnjährigen,
letzterer einem etwa siebenjährigen Kinde an. p. Bartels-Berlin.
302. E. Fischer: Beeinflusst der M. genioglossus durch seine
Funktion beim Sprechen den Bau des Unterkiefers? Anatom.
Anzeiger 1903, Bd. XXIII, No. 2/3, 1 Taf.
Yerf. wendet sich gegen Walkhoffs Genioglossus-Hypothese, indem
er die Frage, ob die Deutung aller Details bei W. richtig ist, ob all seine
Untersuchungen und Deduktionen betreffs Ursprung und Funktion von Spina
mentalis, Fossa digastrica etc., Ansatz der Muskeln und Gestalt der Tra-
jektorien, endlich seine Homologisierung der betreffenden Teile auf Radio-
gramme von Mensch und Affe, völlig einwandfrei sind, bei Seite lässt und
nur den einen Punkt untersucht, ob der dem Genioglossus-Trajektorium ent-
sprechende dunkle Fleck im Radiogramm auch bei Stummen vorkommt, was
nach Meinung des Yerf. eine völlige Widerlegung der W.sehen Hypothese
bedeuten würde. Er liess daher Radiogramme herstellen von dem Unter-
kiefer A. J. No. 546 der Freiburger anthropologischen Sammlung, der einem
von Geburt an blödsinnigen und stummen ^ Individuum angehört hatte,,
ferner von dem Unterkiefer der mikrocephalen Margarethe Mähler, die nicht
sprechen, sondern nur ein kreischendes Geschrei von sich zu geben vermocht
hatte, ferner von Konrad Schüttelndreyer, von dem berichtet wird, dass er
nur blökende Laute von sich geben konnte (nach dem Bericht der Ange-
hörigen soll er 4 Worte, wiewohl sehr unverständlich, ausgesprochen haben).
Die letzteren beiden Schädel sind in Yogts Microcephalen-Arbeit beschrieben.
Die Radiogramme zeigen nun, wie die 3 Abbildungen erkennen lassen,
sämtlich das dreieckige Genioglossus-Feld, womit Yerf. Walkhoff widerlegt
zu haben glaubt. P. Bartels-Berlin.
Intern. Centralblatt für Anthropologie. 1PÖ3.
18
274
В. Referate. Anthropologie.
303. Otto Walkhoff: Die diluvialen menschlichen Kiefer Belgiens
und ihre pithekoiden Eigenschaften. Selenkas Menschen-
affen, 1903. Liefe. Yl, S. 373—407, 24 Abb. Wiesbaden,
C. W. Kreidel.
Untersucht wurden die Kieferreste топ La Naulette, Spy und Goyet,
welche wieder in dankenswerter Weise genau beschrieben und mit Hilfe
der Photographie (zum ersten Male) naturgetreu abgebildet werden. Der
Kiefer топ La Naulette wird mit dem Schipka-Kiefer verglichen, indem auf
die von Yirchow namhaft gemachten Unterschiede beider von einander
eingegangen und diese Differenzen als Altersverschiedenheiten (Erwachsener
und zehnjähriges Kind) erklärt werden. Die innere Struktur ist, wie mit
Radiographie nachgewiesen wird, bei beiden die gleiche. Ein Trajektorium
des Genioglossus fehlt wie dem Schipkakiefer, so auch dem von La Naulette;
hieraus schliesst W. auch wieder auf das Fehlen einer artikulierten Sprache
in grösserem Umfange. Die Zähne sollen, nach X-Aufnahmen zu schliessen,
die die Alveolen sichtbar machen, beträchtlich, wenn auch nicht ausserge-
wöhnlich gross gewesen sein; dass der von Yirchow und Pruner-Bey
erwähnte nachträglich in der Höhle von La Naulette gefundene sehr kleine
Eckzabn zum Unterkiefer gehört habe, konnte W. in Brüssel nicht ermitteln.
Unter den angeführten pithekoiden Eigenschaften des Kiefers von La Naulette
sind die wichtigsten das Fehlen eines Kinnes, und das Fehlen eines Trajek-
toriums der Zungenmuskeln. Die Kieferreste des Spy-Menschen bestehen
aus einem ganzen Unterkiefer (ohne eigentliche Kinnbildung und ohne Genio-
glossus-Spina) mit sämtlichen Zähnen (die Molaren werden nach hinten zu
grösser), sowie einem Teil des zugehörigen rechten Oberkiefers; es ist ein
stärkeres Trajektorium des Genioglossus vorhanden; beim Schädel Spy II
ist vom Unterkiefer nur ein Stück der rechten Seite mit den 3 Molaren
und den beiden Prämolaren, ferner ein Stück der linken Seite mit den drei
Molaren und dem zweiten Prämolaren erhalten, ferner vom Oberkiefer fast
sämtliche Zähne. Yon den Molaren sind gleichfalls die letzten die grössten.
Letztere Hessen sich noch zu einem Zahnbogen zusammenstellen, der eine
sehr starke Prognathie des Oberkiefers ahnen lassen soll. Auf die Wieder-
gabe aller Eigenschaften der Kiefer und der Zähne, die W. für primitiv
hält, muss hier leider verzichtet werden. Es werden dann (geologisch)
immer jüngere Kiefer beschrieben, der von Goyet („der Mensch des jüngeren
Diluviums sprach schon mehr“) solche aus der Mammutzeit, eine Reihe
belgischer und deutscher Kiefer der Renntierzeit, und es wird an ihnen die
allmähliche Umwandlung der Kieferformen bis zur heutigen zu demonstrieren
gesucht; diesem letzteren Teil sind aber leider keine Abbildungen (mit Aus-
nahme solcher des Kiefers von Goyet) beigegeben, wodurch die Leichtigkeit
des Yerständnisses leidet.
P. Bartels-Berlin.
B. Referate. Anthropologie.
275
304. H. Klaatsch: Entstehung und Entwicklung des Menschen-
geschlechtes. Weltall und Menschheit, Bd. II. Berlin-
Leipzig, Deutsches Verlagshaus Bong & Co., ohne Jahreszahl.
Unter dem Titel „Weltall und Menschheit“ lässt das Deutsche Verlags-
haus Bong & Co. in Berlin-Leipzig unter der Leitung von Hans Krämer
ein gross angelegtes, glänzend ausgestattetes Werk erscheinen, das aus der
Feder namhafter Fachschriftsteller in populär-wissenschaftlicher Darstellung
eine „Geschichte der Erforschung der Natur und der Verwertung der Natur-
kräfte im Dienste der Völker“ bringen soll. Der uns vorliegende 2. Band
enthält drei Abhandlungen: zwei kürzere, „Die Entwicklung der Pflanzen-
welt“ von Potonie (69 Seiten) und „Die Entwicklung der Tierwelt“ von
Beushausen (109 Seiten) und eine grössere Abhandlung im Umfange von
338 Seiten: „Die Entstehung und Entwicklung des Menschengeschlechtes“
aus der Feder von Hermann Klaatsch. Für die Bearbeitung des uns hier
interessierenden Themas konnte keine geeignetere Persönlichkeit gewonnen
werden, als gerade Professor Klaatsch, der die Erforschung des Menschen
in der Vorzeit und seiner in frühere Perioden der Erdgeschichte zurück-
reichender Vorfahren, sowie der Beziehung der ältesten Menschenreste zu
den niederen Menschenrassen der Neuzeit sich zur Lebensaufgabe gestellt
hat und mit verschiedenen darauf bezüglichen wertvollen Untersuchungen
bereits an die Öffentlichkeit getreten ist.
Verfasser begnügt sich nicht damit, in seiner Darstellung der Ent-
wicklung der Menschheit auf die Primaten zurückzugreifen, wie man dieses
bisher zumeist gethan hat, sondern den Stammbaum der Säugetiere bis an
seinen Ursprung und noch weiter hinauf zu verfolgen und einen primären
Grundtypus der wichtigsten Organe, im besonderen des Gebisses (vierhöckriger
Backzahn) und der Bewegungsorgane (5 strahlige Extremität und Gegenüber-
stellung der Endglieder) ausfindig zu machen, von dem aus sich die späteren
Typen der Tierwelt und auch des Menschen ableiten lassen. Er zeigt, das
einzelne Tiergruppen, z. B. die Huftiere, Nager, Fleischfresser infolge An-
passung an bestimmte Lebensbedingungen von dieser Grundform sich ent-
fernten, indem sie die von den Vorfahren ererbten Eigentümlichkeiten in
der Tertiärzeit zum grossen Teile aufgaben, während andere Gruppen wieder,
z. B. zahlreiche Beuteltiere, einige Raubtiere, alle Halbaffen, die meisten
Affen und der Mensch zäher an den überkommenen Merkmalen festhielten
und längere Zeit als eine geschlossene Einheit gegenüber jenen sich früh-
zeitig abzweigenden Gruppen verhielten. Zu Beginn der Tertiärzeit waren
über weite Gebiete der damaligen Kontinente niedere Säugetiere verbreitet,
die in Gliedmaassen und Gebiss Merkmale der jetzigen Halbaffen und Affen
an sich trugen; Klaatsch bezeichnet diese Stammgruppe als Primatoiden.
Aus ihr heraus spezialisierten sich die einzelnen Formenreihen, und in dem
Maasse, als sie ihre ursprünglichen Merkmale einbüssten und sich von der
IS*
276
B. Referate. Anthropologie.
Entwicklungsbahn des Menschen mehr und mehr entfernten, schrumpfte der
Bestand der Primatoiden zusammen und gliederte sich einerseits in die
Halbaffen, die Affen und die Menschen. Die grosse Masse der jetzigen
Säugetiere haben wir demnach als einseitige Umprägungen von Anfängen
aus, die unserer Entwicklung viel näher verwandt waren, als die gegen-
wärtigen Endresultate es sind, zu betrachten. Mit Recht bekämpft Yerf.
die viel verbreitete Annahme, dass die Affen als Vorläufer des Menschen
anzusehen seien, dass das Studium ihres Organismus also von besonderer
Bedeutung für die Ergründung der Vorgeschichte des Menschen wäre.
Affen und Menschen gingen aus einer gemeinsamen Wurzel hervor.
Für diesen gemeinsamen Vorfahren nimmt Klaatsch ein Wesen an, das in
halbaufrechter Kletterstellung einherging bei gemässigten Proportionen des
Rumpfes und der Gliedmaassen, d. h. bei Armen und Beinen von annähernd
gleicher Länge, ferner mit Händen und Füssen zum vollständigen Greifen
ausgestattet war, eine ziemlich voluminöse Hirnkapsel, und wohl ent-
wickelte Kauwerkzeuge, aber dennoch kein Extrem der Ausbildung irgend
einer Zahngruppe aufwies. Aus diesem Zustand entwickelte sich der Mensch
in einfacher Weise, indem die Hirnkapsel sich weiter vergrösserte und stärker
sich wölbte, der Rücken sich vollends aufrichtete (stärkere Abknickung der
Lendenwirbelsäule gegen das Kreuzbein) und der Fuss aus einem Greiforgan
zu einem Stützapparat wurde. — Der Mensch ist monophyletischen Ur-
sprunges, was Klaatsch dahin verstanden wissen will, dass in einem be-
grenzten Gebiete der Erde sich an einer Gruppe der Urprimaten diejenigen
Veränderungen vollzogen, die uns jetzt als menschliche imponieren. Als
den betreffenden Himmelsstrich vermutet Kl. den Malaiischen Archipel; im
besonderen meint er mit Schoetensack, dass der australische Kontinent alle
Erscheinungen erfüllte, die für die Heranbildung des Menschen aus einer
niederen Form erforderlich waren.
Diesen Betrachtungen ist die erste Hälfte des Werkes gewidmet. Sa
geistvoll dieselben auch sind, so können wir uns doch nicht versagen, hier
besonders zu betonen, dass sie noch manches Llypothetisches enthalten, wenn-
gleich man hier und dort eine innere Wahrscheinlichkeit der Dinge wird
zugeben müssen. Solange aber keine strikten Beweise für wissenschaftliche
Probleme vorliegen, gehören diese nur vor das Forum wissenschaftlicher
Kreise, und noch nicht vor die grossen Massen, wie im vorliegenden Falle.
Der zweite Abschnitt behandelt das erste Auftreten des Menschen zur
Diluvialzeit, die Eiszeit und ihre Beziehung zu den ältesten Kulturstätten
in Europa, die Ausbreitung des diluvialen Menschen, seine Wohnungen,
Kulturerzeugnisse und seine körperliche Erscheinung. Besonders das letzte
Kapitel, das hoch wissenschaftlich gehalten ist und von einer eingehenden
Beschäftigung des Verfassers mit der Materie beredtes Zeugnis ablegt, ver-
dient volle Beachtung, insofern der Verfasser darin viele neue Gesichtspunkte
B. Referate. Anthropologie.
277
zu Tage fördert, denn er beherrscht den Stoff wie kein zweiter; hat er doch
die ältesten Zeugnisse der Menschen überall persönlich in Augenschein ge-
nommen und eines eingehenden Studiums durch Vergleich mit den Skeletten
der niederen Menschenrassen der Jetztzeit gewürdigt.
Der reiche Bilderschmuck, der das Werk auszeichnet und in seiner
exacten Ausführung der Verlagsbuchhandlung alle Ehre macht, trägt nicht
unwesentlich zu dem Gelingen des Ganzen bei; die Abbildungen sind durch-
weg neu und eigends zu dem Zwecke (nach den Originalen in den ver-
schiedenen Museen) angefertigt worden. Buschan-Stettin.
305. Selenka: Zur vergleichenden Keimesgeschichte der Primaten.
Mit 67 Abb. u. 1 Tafel; eingeleitet durch ein Lebensbild
Selenkas von Prof. A. A. W. Hubrecht in Utrecht; mit einem
Portrait Selenkas; als Fragment herausgegeben von F. Keibel.
Selenkas Menschenaffen, 1903. Liefg. V. Wiesbaden, C. W.
Kreidels Verlag.
Mit Wehmut nimmt man diesen fünften Teil der von Selenka seit
einigen Jahren herausgegebenen Studien über Entwickelung und Schädelbau
der Menschenaffen zur Hand; er bildet einen Teil der Zusammenfassung der
schönen Resultate, welche S. an dem reichen selbsterbeuteten Material ge-
wonnen. S. war es nicht mehr vergönnt, diese Zusammenfassung, welche
seine Untersuchungen über die Entwickelung der Affen, spez. der Anthro-
pomorphen, krönen sollte, vollständig zu liefern. In seinem Nachlass fand
sich nur eine Reihe von Manuskripten, welche sich mit dem im Titel ge-
nannten Gegenstand beschäftigen. Diese hat Keibel, obwohl sie in der end-
gültigen Fassung noch nicht durchgearbeitet waren, ja zum Teil noch Lücken
klafften, in fast unveränderter Form herausgegeben. Es ist sehr dankens-
wert, dass nun so die wertvollen Resultate doch noch zugänglich gemacht
werden; auch steht nach Ankündigung der Verlagsbuchhandlung die von
Selenka geplante Fortsetzung in Aussicht, indem Prof. Strahl die Placenta,
Prof. Keibel die Herausbildung der äusseren Körperform der Affen be-
arbeiten wird.
Unter den Resultaten sei als eines der richtigsten hervorgehoben, „dass
die Entwickelung des Keimes und des Embryo bei den örtlichen Schwanz-
affen und Menschenaffen, sowie dem Menschen in übereinstimmender Weise
vor sich geht, aber stark abweicht von der Entwickelung aller übrigen
Säugetiere. Das Primatenei erfährt alsbald nach seiner, sehr frühzeitig er-
folgenden Verwachsung mit dem Uterusepithel eine auffallend reichliche Er-
nährung durch das transsudierende Serum des Mutterblutes, und wenn es
auch noch nicht gelingt, die phyletische Entstehung dieser, für die Primaten
charakteristischen Ernährungsvorrichtungen darzulegen, so ist doch der Erfolg
und die Bedeutung derselben klar: Der hoch entwickelte Organismus schuf sich
278
B. Referate. Anthropologie.
zu seiner embryonalen Ausbildung auch einen vollkommeneren Ernährungs-
mechanismus, als die auf der niederen Stufe stehen gebliebenen Verwandten
ihn besitzen. Progressive Anpassungsphänomene kommen offenbar hier zur
Erscheinung, deren Werdegang freilich vorläufig noch nicht zu erraten ist“.
Die Grundzüge der Entwickelung des Eies der Affen und des Menschen
werden in folgenden vier Sätzen gegeben. 1. „Nach der Verschmelzug des
Chorion mit dem Uterusepithel müssen die formativen Zellen des zukünftigen
Embryos ins Eiinnere geschoben werden“ (S. braucht dafür die Bezeichnung
Entypie, d. h. Hineindrückung des Keimfeldes, und er meint, wie bei den
Nagern und Insektivoren, bei denen eine Entypie des Keimfeldes statt hat,
der Verschluss oder die Abschnürung der Amnion selbst bei nahe verwandten
Formen in sehr verschiedener Weise vor sich gehen könne, so möchte auch
bei Affen und Menschenaffen dieser Prozess etwas verschiedenartig verlaufen;
eine Frage, die erst auf Grund neuer Thatsachen geklärt werden könne).
2. „Zugleich oder unmittelbar danach lösen sich die Bildungszellen des Dotter-
blatts von den formativen Zellen und bilden einen dem Keimschilde an-
liegenden Sack.“ 3. „Unmittelbar darauf treten Mesenchymzellen auf, die
unter Vergrösserung der Chorionblase zwischen Chorion und Dotterblattblase
sich eindrängen und letztere vom Chorion abheben, indem sie die Innenfläche
des Chorion austapezieren, und Amnionektoderm wie Dotterblattblase über-
decken, zugleich in den Zotten ein lockeres Gewebe bildend.“ 4. „Die
Abschnürung des amniogenen Ektoderms vom Chorionektoderm geschieht sehr
frühzeitig, jedenfalls vor Differenzierung des Keimschildes. Doch können
die schlauchartigen, in der Verlängerung des Amnionzipfels gelegenen Schilde,
die sich in einigen Fällen vorfanden, als ein Testierender Amnionstiel ge-
deutet werden.“ Eine bisher nur am Menschen (von His und Minot) be-
obachtete Bildung, die von ihnen aber nicht mit Sicherheit als normaler
Vorgang gedeutet wurde, hat Selenka bei Cercocebus cynomolgus wiederge-
funden; es ist die sog. Rückenknickung, eine Umbiegung der Längsaxe nach
hinten, und zwar genau wie beim Menschen zwischen 12. und 14. Urwirbel.
Er bringt dies in Zusammenhang mit einer zweiten, bisher nur vom Menschen
bekannten, von ihm bei Cercocebus cynomolgus, verschiedenen Semnopitheci,
sowie bei Hylobates concolor und Rafflesi nachgewiesenen Bildung, dem
Haftstiel, der, ursprünglich nur eine strangartige Verbindung des Amnion
mit dem Chorion, allmählich den Allantoisschlaueh mit den Allantoisgefässen
und sogar das ganze hintere Körperende des Embryo, welches daher in der
Entwickelung zurückbleibt, in sich aufnimmt. Amerikanische Affen konnten
daraufhin nicht untersucht werden, doch scheint es sich um einen für die
Primaten charakteristischen Vorgang zu handeln. Auf die interessanten
Verschiedenheiten in der Ausbildung der Placenta soll hier nicht eingegangen
werden, da wir darüber bald Genaueres erwarten dürfen. Unter den vielen
schönen Abbildungen verdient die des kleinsten bekannten Primatenkeimes,
B. Referate. Anthropologie.
279
eines aus 4 Zellen bestehenden Furchungsstadiums von Macacus nemestrinus,
als besonders interessant hervorgehoben zu werden.
Dem Ganzen vorgeheftet ist ein von Hubrecht gezeichnetes Lebens-
bild, sowie ein Portrait Selenkas. p. Bartels-Berlin.
306. Ernst Unger: Geschwänzte Menschen und ihre Entwickelungs-
geschichte (nach gemeins. Unters, mit Hm. Brugsch). Zeit-
schrift f. Ethnologie, 1903. Bd. XXXV, Heft 2/2, S. 469
bis 475, 6 Abb.
Verf. beantwortet die Frage: Handelt es sich um wirkliche Schwanz-
bildungen im atavistischen Sinne? bejahend, indem er die Resultate der
Fntwiekelungsgeschichte in drei Sätzen zusammenfasst: 1. Der menschliche
Embryo besitzt einen voll entwickelten Schwanz, der auf der Höhe seiner
Entwickelung (bei Embryonen von 9 —12 mm Länge) genau so segmentiert
ist wie der Rumpf und 8, vielleicht noch mehr, Steisswirbelsegmente ent-
halten kann; 2. Avenn der Schwanz sich zurückbildet, so enthält èr in seiner
Basis noch die (5) Wirbelanlagen; der untere Teil ist wirbellos und wird
Schwanzfaden genannt; 3. ursprünglich liegt der Schwanzfaden in der Ver-
längerung der Wirbelachse, allmählich rückt er auf der Rückenfläche in die
Höhe. Da, wo er sitzt, endet das ligamentum caudale. — Aus Satz 1
folgt die Widerlegung des Einwandes, dass man niemals wahre Wirbel oder
Wirbelanlagen in den Schwanzbildungen gefunden hat, indem schon Waldeyer
hervorhob, dass die Epoche der Schwanzwirbel beim Menschen soweit zurück-
liegt, dass der einzelne in seiner Entwickelung schon einen grossen Schritt
rückwärts thun müsste, Avenn er die SchwanzAvirbel seiner Embryonalzeit
in das postfoetale Leben mit hinübernehmen wollte. Dass die Schwänze
oft an der Dorsalseite des Steiss- oder gar des Kreuzbeines angeheftet ge-
troffen werden, erscheint nach Satz 2 verständlich. Ein dritter Einwand;
dass ähnliche Bildungen auch an anderen Körperstellen Vorkommen, wird
mit der Bemerkung abgethan, dass eine Ähnlichkeit im anatomischen Sinne
nicht anerkannt werden könne. P. Bartels-Berlin.
307. Gaetano Perusini: Contributo allo studio della polimastia.
Giornale di psichiatr. din. e tecnica maniconi. (Ferrara) 1903.
Anno XXXI, Heft 1 u. 2.
308. Giuseppe Paravicini: Casi di polimastia e plejomazia in indi-
vidui di sesso maschile. Archivio di psichiatr., 1903. Voi.
XXIV, Heft 3, S. 249.
Perusinis Fall betrifft einen AvohlentAvickelten Soldaten ohne sonderliche
Degenerationszeichen. Die beiden überzähligen Brustwarzen sitzen unterhalb
und nach innen von den normalen Warzen.
280
B. Referate. Anthropologie.
In den von Paravicini beobachteten Fällen handelte es sich um dege-
nerierte Personen, im ersten Falle um einen Soldaten, der zwar geistig ge-
sund zu sein schien, aber verschiedene Anomalien am Ohre (breite, flache
Ohrmuschel, Satyrspitze, Darwinsches Knötchen, festsitzendes Ohrläppchen)
darbot, im 2. und 3. um epileptische Personen. Bei jenem sass die eine
überzählige Brustwarze direkt unterhalb der normalen, bei diesen beiden
war ebenfalls nur eine überzählige Warze vorhanden, die auch unterhalb
der normalen, indessen mehr nach innen sass. Yerf. erwähnt noch einen
von Cascella (Raccoglitore medico 1902, Oct.) beobachteten Fall an einem
mikocephalen epileptischen Degenerierten (Mörder). Hier waren drei über-
zählige Paare von Warzen vorhanden, das oberste Paar unterhalb der nor-
malen Brüste auf dem Rippenrande, das zweite in der Regio hypochondriaca
und das dritte in der Regio cruralis. Buschan-Stettin.
309. Paravicini: Sulla fossetta occipitale mediana. Archivio di
psichiatria, 1903. Yol. XXIV, Heft 3, S. 252.
Unter 296 Schädeln G-eisteskranker war die mittlere Hinterhaupts-
grube 11 mal vorhanden. Von einem Falle abgesehen, war das Foramen
occipitale stets mehr oder weniger asymmetrisch. Sämtliche Schädel wiesen
noch andere osteologische Eigentümlichkeiten degenerativen Charakters auf.
Buschan-Stettin.
310. Francesco Cascella: Deila fossetta occipitale media. Arch. di
psichiatria, scienze penali ed antrop. crim., 1903. Yol. XXIV,
S. 28—33.
Yerf. fand unter 707 Schädeln des anthropologischen Museums der
Universität Neapel 46 mal eine mittlere Hinterhauptsgrabe, also in 6,5%
der Fälle, unter 118 Schädeln von Geisteskranken aus Mittelitalien in 13,6%,
unter 47 Yerbrecherschädeln aus der anatomisch-pathologischen Sammlung
der Irrenanstalt Aversa in 23,6% und an 73 Leichen in Aversa verstorbener
Geisteskranker in 9,5% der Fälle.
Muss man nach italienischer Methode schon aus diesen Prozentzahlen
herauslesen, dass die mittlere Hinterhauptsgrube ein Degenerationszeichen
ist, so lässt die bei den 7 Leichen der Geisteskranken gleichzeitig 6 mal
vorkommende Hypertrophie oder wenigstens stärkere Ausbildung des Wurmes
oder der Mandeln des Kleinhirns für Yerf. gar keinen Zweifel mehr an dem
degenerativen Charakter dieser Abnormität aufkommen. J)r. Laufer-Giessen.
311. G. Paravicini: Di un interessante cranio microcefalico. Atti
della Soc. Ital. di Scienze Naturaii. (Milano) 1902. Yol.
XLI (28 S.).
P. hatte Gelegenheit, den Schädel eines bereits vorher von F. Venanzio
zu Lebzeiten untersuchten Mikrocephalen anthropologisch aufzunehmen; mit
B. Referate. Anthropologie.
281
9 Jahren war derselbe 112 cm lang, 18,5 Kilo schwer, der Kopfumfang betrug
in vivo 380 mm, der Kopfindex 76,92. Der Umfang des präparierten
Schädels betrug 360 mm, seine Kapazität 424 ccm, der Längsdurchmesser
140 mm, der Querdurchmesser 100 mm; die Gesichtshöhe 57, die Jochbreite
100 mm; der Schädelindex wurde mit 71,4 berechnet; er war somit dolicho-
cephal und chamaeprosop. — Im Anschluss an diesem Fall bespricht P.
die heute gangbaren Theorien über die Entstehungsursache der Mikrocephalie
und hält auch seinen Fall für einen Beleg gegen die Yirchowsche Theorie,
betreffend die frühzeitige Synostose der Schädelknochen. Am Schlüsse folgt
eine kurze Zusammenstellung der neueren italienischen Arbeiten über Mikro-
cephalie. Br. Oskar v. Hovorha - Wien.
312. G. Paravicini: Di un idiota microcephala. Gazetta del Mani-
comio in Mombello. (Milano) 1902. (35 S.)
Eiue im Irrenhause zu Mombello lebende mikrocephale epileptische
Kranke, welche P. dortselbst untersuchte, hat eine Körperhöhe von 138 cm;
der Kopfumfang misst 440 mm, der Längsdurchmesser 152 mm, der Quer-
durchmesser 122 mm, der Kopfindex 80,26. Der Kopf ist demnach mikro-,
brachy-, plagio- und etwas akrocephal. Überdies weist die behaarte Kopf-
haut dieser Kranken eigenartige Flecke auf, welche in der Richtung der
Lambclanaht verliefen. Br. Oskar v. Hovorka-Wien.
313. G. Paravicini: Di un interessante cranio deformato. Gazetta
del Manicomio della Prov. di Milano, 1903. Sdrabdrk., 24 S.
In der Schädelsammlung des Irrenhauses von Mombello befindet sich
ein auffallend deformierter Schädel eines im J. 1851 dortselbst verstorbenen
Irren, welcher an epileptiformen Anfällen litt und wie ein Hund bellte; er
starb plötzlich, ohne dass durch die Autopsie die Todesursache aufgeklärt
worden wäre. Der Schädel ist plagio- und akrocephal, plagioprosop; alle
Nähte der Schädelkapsel, sowie fast alle Nähte des Gesichtes zeigen eine
deutliche Atrophie. Die Impressiones digit. im Schädelinnern sind tief,
während rechterseits die Furche der Art. meningea media fehlt. Für die
Ansicht des sagittalen Schädeldurchschnittes von innen schlägt P. die Be-
zeichnung „norma“ verticalis interna, für die Ansicht des Schädelgrundes
von oben „norma “ basilaris interna vor. Br. Oskar v. Hovorka-Wien.
314. Walter Channing: The mental status of Czolgosz, the assassin
of President McKinley. Amer. Journ. of insanity, 1902.
Yol. LIX, No. 2.
Nach den psychologischen Auseinandersetzungen des Yerf. erscheint
es wahrscheinlich, dass Czolgosz geisteskrank war. Erbliche Belastung ist
gering; eine Tante war geisteskrank. Der Yater des Cz. soll sich an der
282
B. Referate. Anthropologie. — Ethnologie.
Ermordung seines tyrannischen Arbeitgebers beteiligt haben. Cz. selbst
war als Kind gesund, aber stets ruhig und zeigte wenig Interesse für Gleich-
altrige. Auch später zeigte er stets schüchternes Wesen, sodass der Yater
es unerklärlich fand, wie der scheue Jüngling einer solchen That fähig ge-
wesen sei. Er war stets fleissig und bei seinen Mitarbeitern beliebt. 1898, im
Alter von 25 Jahren, verliess er seinen Dienst, weil er krank sei. Er lebte
seitdem bei seiner Familie und verbrachte die Zeit mit Lesen, Schlafen und
Träumen; seine Mahlzeiten kochte er sich selbst und verzehrte dieselbe auf
seinem Zimmer. Mit Anarchisten hatte er wenig Verbindung. Nimmt man
seine Äusserung nach der Verhaftung hinzu, er sei Anarchist und habe den
Präsidenten ermordet, um das Volk zu befreien, und berücksichtigt man,
mit welcher Zähigkeit er stets davon sprach, dass er seine Pflicht und nur
seine Pflicht gethan habe, so drängt sich unabweisbar die Vorstellung auf,
dass es sich bei Cz. um eine durch Wahnideen gekennzeichnete Krankheit
gehandelt hat.
Unserem Erachten nach deutet die Darstellung des Verf. auf einen
Prozess fortschreitenden Schwachsinns bei Cz., auf sog. primären Schwach-
sinns, im speziellen auf Dementia paranoides hin.
Die ausführliche Analyse des Falles Cz. leistet der Kriminalpsychologie
grosse Dienste. Dr. H. Laufer-Giessen.
II. Ethnologie.
A. Allgemeines.
315. L. Weltmann: Politische Anthropologie. Eine Untersuchung
übei den Einfluss der Descendenztheorie auf die Lehre von
der politischen Entwickelung der Völker. Eisenach und
Leipzig, Thüringische Verlagsanstalt, 1903. (S. 326.)
Sowie der Einzelorganismus den allgemein geltenden biologischen
Naturgesetzen unterliegt, ebenso ist die biologische Geschichte der Menschen-
rassen und Staaten den Gesetzen der Veränderung und Vererbung, An-
passung und Auslese, Inzucht und Vermischung, Vervollkommnung und
Entartung unterworfen. In diesem Sinne unternimmt es W., eine natur-
wissenschaftliche, begründete Theorie der politischen Völkergeschichte auf-
zustellen und versucht sie nach der evolutionistischen, biologischen und
anthropologischen Richtung hin zu stützen. Er geht von der natürlichen
und geschlechtlichen Zuchtwahl aus, indem er unter Betonung der Wichtigkeit
der primären und sekundären Geschlechtscharaktere bei der Vererbung die
Faktoren der organischen Entwickelung analysiert. Zu den wichtigsten Ver-
erbungserscheinungen ist wohl die Amphimixis zuzuzählen, d. h. die Ver-
mischung zweier verschiedener Individual- oder Rassentypen; sie ist eine
der wichtigsten Quellen der Variation, durch welche die Naturzüchtung neue
ß. Referate. Ethnologie. 283
Arten hervorbringt. Für die richtige Würdigung der noch nicht ganz auf-
geklärten Vorgänge bei der Zeugung und Vererbung sind die Ergebnisse der
der neueren biologischen Forschung von einem unschätzbaren Werte; hierher
gehören z. B. die Untersuchungen über das Chromatin in den Chromo-
somaten der selbständigen Zellorgane der Keimzellen, oder über die Deter-
minanten Weismanns, d. h. Teilchen des Keimplasmas, welche Zellen oder
Zellengruppen entsprechend bestimmen, also vom Keim aus veränderlich
sind; über Iden, welche aus der Vereinigung von Determinanten hervorgehen.
Um uns über die natürliche Variation und Vererbung beim Menschen
klar zu werden, müssen wir bei der anthropologischen Untersuchung zugleich
morphologisch und genealogisch vorgehen, wobei allerdings bei Feststellung
des naturwissenschaftlichen Begriffes der Rasse die Gleichstellung des sprach-
lichen und politischen Begriffes des Volkes vermieden werden muss. Gegen-
wärtig werden fast allgemein drei grosse Grundrassen, Kaukasier, Mongolen
und Neger angenommen. Die Mongolen sind den Kaukasiern weniger ver-
wandt als die Neger, aus welchen die Mittelländer und Nordeuropäer hervor-
gegangen zu sein scheinen. Einige Knochenreste des urgeschichtlichen Menschen
in Europa zeigen auch negerhafte Charaktere; die alpine Rasse Mitteleuropas
ist als eine westliche Abzweigung der Mongolen anzusehen. Es ist klar,
dass unter dem Einflüsse dieser Rassenmischungen der Schädel nicht etwas
Starres darstellt, sondern die Schädelform ist vielmehr ebenso dem Entstehen
der verschiedensten Mischprodukte unterworfen. Durch die Rassenmischung
kommt es einerseits zur Vervollkommnung, andererseits zur Entartung der
Rassen; der organische Rückschritt in der Natur beruht auf dem Fehlen
der natürlichen und der geschlechtlichen Auslese. Darum versteht Weis-
mann unter Panmixie das Aufhören der Kontrole der Naturzüchtung bei
den nicht mehr nützlichen und daher überflüssigen Organen.
Der Ursprung des socialen Lebens ist nicht etwa beim Menschen zu
suchen; Beispiele der Vergesellschaftung finden wir nicht allein bei Säuge-
tieren und Vögeln, sondern schon bei viel niedrigeren Klassen des Tier-
reichs, z. B. bei den Mollusken, Würmern, Arthropoden. Sogar bei noch
tieferstehenden Tieren bestehen bereits die niedersten Stufen der socialen
Gemeinschaft, z. B. bei gewissen Geisseltierchen; allerdings ist dieselbe eine
rein organische, indem die Individuen im direkten körperlichen Zusammen-
hänge stehen. Der gesellschaftliche Zusammenhalt bei den Arthropoden und
Säugetieren erfolgt durch instinktive Regungen der Sympathie und der ge-
meinsamen Interessen, wenn auch manche Handlungen durch Regungen der
Intelligenz bewerkstelligt werden. Erst in der menschlichen Sphäre kommt
es zu einer geistigen Regelung der Gesellschaft und zu einem Zusammen-
schluss intelligenter Einzelnwesen, wenn auch organische und instinktive
Motive nicht immer dabei fehlen müssen.
Bezüglich der Reform der menschlichen Ehe und des Familienrechtes
284
B. Referate. Ethnologie.
nimmt W. die Monogamie als die regelmässige und weitverbreitetste Ehe-
form als erwiesen an, indem er die von Bachofen, Morgan, Darwin, Kohler,
Engels u. A. verfochtene Promiskuität und Gruppenehe (Blutsverwandtschafts-
ehe und Punaluaehe) als Vorläufer der Einehe verwirft; Polyandzie und
Polygamie sind seiner Ansicht nach nur zeitweilige Abzweigungen von regel-
mässigen Typus der Monogamie. Auch die Ansicht über die mutterrechtliche
Organisation der Familie, als die älteste rechtliche Yerwandtschaftsvorstellung
sucht W. richtig zu stellen, indem er darauf hinweist, dass beide Vererbungs-
arten in früheren Zeiten nebeneinander existiert haben.
Sehr bemerkenswerte Ansichten entwickelt W. über den socialen Kampf
ums Dasein, Herrschaft und Knechtschaft, Ursprung der Kasten, des Adels
und der verschiedenen Wirtschaftsklassen. Bei der Besprechung der intellek-
tuellen Berufe stellt er hinsichtlich der Familienüberlieferung des Berufs
eine sehr instruktive Tabelle auf, welche auf der amtlichen preussischen
Statistik basiert. Es stammen in Preussen nämlich aus dem Stande der
Juristen Theologen Mediziner Philologen
Juristen 55,11% 7,38% 16,51% 20,18 o/o
Geistlichen 14,13% 48,66% 21,46% O o CO t>-
Ärzte 27,06% 4,38% 50% 18,5%
Lehrer 31,63 o/o 10,30% 22,09% 33,25%
Ihrem Berufe am treuesten bleiben demnach die Juristen und Ärzte.
Der Ursprung der politischen Entwickelung der Völker ist vorzugs-
weise im Herrschaftstriebe, als einer socialen Äusserung der physischen
Selbsterhaltung und Vermehrung zu suchen. So wie in einer Tierheerde
kommt es auch beim Menschen im Verlaufe des Kampfes ums Dasein zu
einer inneren Herrschaftsorganisation, dem einzigen Mittel zur Abwehrung
der gemeinsamen Feinde; hierdurch ist der Beginn zum Entstehen einer
centralen Gewalt von selbst gegeben. Durch Vereinigung mehrerer Familien
kommt es zur Bildung einer Horde, in welcher zwar noch keine eigentliche
Herrschaft, aber doch schon Uber- und Unterordnung, Leitung und Gefolg-
schaft besteht; die Initiative, Legislative und Exekutive sind noch nicht
gesondert. Der Älteste bildet das Oberhaupt. Indem sich mehrere Horden
Zusammenschlüssen, entsteht der Stamm, wobei die Horde, als ein unter-
geordnetes Glied des Gesamtverbandes zur Sippe, Gens oder Clan wird.
Innerhalb der Gentes nahm die Gentilverfassung ihren Ursprung, die bei
den Irokesen von Morgan so gründlich studiert wurde. Durch Vereinigung
mehrerer Stämme kommt die Nation zustande und mit dem Anwachsen
der Stämme zur Nation entsteht zugleich der Staat. Dieses Wachstum
der inneren Orgenisation haben alle indogermanische Völker, die Inder,
Griechen, Römer, Germanen, Gallier und Slaven mitgemacht. Bei den
Griechen gab es Phylen, bei den Römern Gentes, bei den Germanen Ver-
wandtschaften, bei den Galliern Clans (in Schottland bis in die neueste Zeit),
B. Referate. Ethnologie.
285
bei den Rassen „Mirs“, bei den Südslaven „Zadrugas“. Den historischen
Ausgangspunkt der modernen Volksvertretungen müssen wir in den ständischen
Versammlungen suchen, die sich zuerst in England etwa im XIII. Jahr-
hundert bildeten; die Vertretung des ganzen Volkes fand erst während der
französischen Revolution statt.
Bei der Erwägung der anthropologischen Grundlagen der politischen
Entwickelung gelangt W. zu dem Schlüsse, dass wir in der nordeuropäischen
Rasse, d. h. grossschädeligen Menschen mit einer grossen Gestalt und
heller Pigmentierung, die am höchsten stehenden Vertreter des Menschen-
geschlechtes anzusehen haben; er rechnet auch aus, dass die besten Geister
der neueren Geschichte grösstenteils Vollblutgermanen waren. Durch Kreuzung
hochkultivierter mit niedrigstehenden Völkern, aktiver mit passiven (Klemm),
starker mit schwachen Rassen (Gobineau) kommt es zur Entartung der
Völker, wofür uns die Geschichte viele Beispiele bietet. Darum glaubt W.,
alle Blutkreuzungen der kaukasischen Rasse mit Negern und Mongolen, ja
selbst eine Vermischung der echten Germanen mit dem mediterranen und
alpinen Typus vom Standpunkte der historischen Anthropologie verdammen
zu müssen. Zu den veranlassenden Momenten des Niederganges eines Volkes
zählt W. innere Unruhen, Bürgerkriege, Eheflucht, übermässige Kinder-
sterblichkeit, Umwandlung eines Agrarstaates in einen Industriestaat, wobei
die Landbevölkerung abnimmt, die politische Individualausjätung u. a. Schon
im Altertum und im Mittelalter erwiesen sich die Städte als Massengräber
der Völker infolge der in ihnen begünstigten Seuchen, Selbstmorde, Ver-
brechen und Prostitution.
Indem W. Virchows, Schaafhausens, Matiegkas, Taylors Ansicht über
die geistige Überlegenheit der Brachycephalen bestreitet, schreibt er die
ganze europäische Civilisation vollends der germanischen Rasse zu und rechnet
hierzu das Papsttum, das Kaisertum, die Renaissance, die französische Revo-
lution (?) und die napoleonische Weltherrschaft (?). Er findet die germanische
Rasse dazu berufen, die Erde mit ihrer Herrschaft zu umspannen.
Zum Schlüsse unterzieht W. vom Standpunkte der historischen Anthro-
pologie die wichtigsten politischen Parteien (konservativ, liberal, social) einer
prinzipiellen Prüfung. Dr. Oskar v. Hovorka-Wien.
316. S. Ed. Rheindt: Farmacia cum era in extrema vechune (Die
Arzneikunde, wie sie im grauesten Altertume aussah).
Buletinul Asociatiunec gener. a corpuliü farmaceutic diu
Romania, 1902. Anul. IV, No. 1, Noembre. Bucarest. (24 S.)
(Rumänisch.)
Die ersten Anfänge der Arzneikunst und Arzneibereitung finden wir
in der prähistorischen und erstgeschichtlichen Zeit stets eng verknüpft mit
der primitiven Religion; zu jener Zeit waren die Priester nicht nur auch
286
B. Referate. Ethnologie.
Ärzte, sondern Apotheker zugleich. Dieses Stadium ist besonders für die
folkloristische Forschung interessant und wichtig, da man nicht selten viel-
fach Anklänge an jene Urmedizin findet.
Rh. bespricht nun die ältesten Reste der Pharmacie, die sich uns von
den alten Völkern bis zum heutigen Tage erhalten haben. Soviel wir aus
den wichtigen archäologischen Ausgrabungen Morgans und Abbe Scheils,
sowie aus deren geistvollen Bearbeitungen seitens Oefeles wissen, muss die
Arzneibereitungskunst der Babylonier und Assyrier schon ziemlich entwickelt
gewesen sein. Aus Keilschriften, welchen A. Scheil ein Alter von 6000 J.
v. Chr. zuschreibt, erfahren wir gewisse Arzneiformeln und Rezepte, die
allerdings dem damaligen Zeitgeiste entsprechen, indem ihre Dispensierung
mit verschiedenerlei Zaubersprüchen, Verwünschungen etc. verbunden war.
Unter den Heilmitteln werden genannt Knoblauch, Eselsharn, Ziegenmilch,
Bärenfleisch, Honig, Leinsamen, Gerste, Datteln, Cippernsamen, Krallen
schwarzer Hunde, Silber, Kalbsmilch (?) Schlangen, Cedernsamen u. a. m.
Die Babylonier scheinen auch das Sexagesimalsystem (5X12 — 60) einge-
führt zu haben, indem sie es bei ihrem Maass- und Gewichtssystem an-
wendeten. Es hat sich bis heute in der Einteilung der Stunde und des
Kreises in 60 Minuten und 60 Sekunden erhalten. In ähnlicher Weise be-
spricht Rh. auch die Uranfänge des Pharmacie bei den Phöniziern, Isra-
eliten, Chinesen und Japanern, Indern und Egyptern.
Dr. Oskar v. Hovorka-Wien.
B. Spezielles.
317. Enrico de Michelis: L’origine degli Indo-Europei. Biblioteca
di scienze moderne Nr. 12. Torino, Fratelli Bocca, 1903.
Ein neuer, mit grossem Eleiss und umfassender Litteraturkenntnis
unternommener Lösungsversuch der arischen Frage, dessen Hauptverdienst
darin besteht, dem Leser eine gute Übersicht über die Geschichte dieser
wichtigen Frage zu geben. Der Verfasser hat sich redliche Mühe gegeben,
seinen zahlreichen Vorgängern auf all ihren Irr- und Abwegen zu folgen,
und wir glauben ihm gerne, dass es ihm nicht an Stoff gefehlt hätte, damit
noch einen andern, ebenso dicken Band von 700 Seiten zu füllen. Die
asiatische Hypothese, für die es ja „nicht den Schatten eines Beweises“
giebt und von der „man nur mit Mühe begriff“, wie sie „die Mehrzahl der
grössten Gelehrten der Neuzeit, gerade die Begründer der Vergleichenden
Sprachforschung und der wissenschaftlichen Völkerkunde (diese war eben
leider nichts weniger als wissenschaftlich!) überzeugen konnte“, wird rück-
haltlos verworfen, und es verdient alle Anerkennung, dass der Verfasser
wieder einmal in gründlicher und eingehender Darstellung gezeigt hat, dass
„Asien vielmehr das Grab als die Wiege der Arier“ gewesen ist. Der Be-
B. Referate. Ethnologie.
287
griff „Arier“ könnte etwas schärfer Umrissen, „Rassen“ und „Yölker“ dürften
strenger auseinander gehalten sein. Überzeugt, dass „nur ein Teil, eine
Gegend des europäischen Festlandes“ die langgesuchte „Urheimat“ sein könne,
unterzieht De Michelis die verschiedenen europäischen Theorien, unter
denen er der skandinavischen, um die sich eigentlich in neuerer Zeit „der
ganze Streit gedreht“ habe, den „Ehrenplatz“ zugesteht, einer eingehenden
Vergleichung und Prüfung. Aber keine findet Gnade vor seinen Augen.
Die von der „nordischen Schule“ aufgestellte skandinavische Lehre sucht er
durch Einwendungen zu entkräften, die ich längst anderwärts als unberechtigt
zurückgewiesen habe und daher hier übergehen kann. Was aber, das ist
die Hauptsache, hat der italienische Verfasser an ihre Stelle zu setzen?
Die arische Sprache und Gesittung haben sich nicht im Schosse einer reinen
Rasse entwickelt, sondern das „Urvolk“ ist während der neueren Steinzeit
in den Donauländern aus einer Vermischung der ureuropäischen Rassen mit
asiatischen Rundköpfen, denen sogar die Hauptrolle zugeschrieben wird,
hervorgegangen. Selbsverstäudlicli glaubt der Verfasser, dass diese Hypo-
these „allen Bedingungen, die wir für die Entstehung der arischen Völker-
sippe voraussetzen müssen“, entspreche; aber allein die Thatsache, dass es
arische Völker von reiner oder doch fast reiner Rasse gab und trotz dem
ins Ungeheure gesteigerten Weltverkehr an geschützten Orten noch heute
giebt, bringt sie zu Fall. Ausserdem haben die keltischen und germanischen
Völkerwanderungen, die ja grösstenteils in die geschichtliche Zeit fallen,
eine dieser Annahme gerade entgegengesetzte Richtung. Dass einige in den
letzten Jahren erschienenen wichtigen Werke, so besonders die m. E. aus-
schlaggebende Anthropologin suecica nicht mehr berücksichtigt werden
konnten, wird man zwar bedauern, aber entschuldigen. Mit der vorsichtigen
Zurückhaltung des wahren Forschers giebt der Verfasser am Schlüsse be-
scheiden zu, dass seine Meinung „nur einen relativen Wert“ hat und dass
er sie von Grund aus umgestalten würde, wenn neue Thatsachen sie als
unzutreffend und unhaltbar erwiesen“ hätten. Nach meiner Auffassung sind
genug solcher Thatsachen bekannt. Ludwig Wilser-Heidelberg.
318: Thomas H. Bryce: Note on prehistoric human remains found
in the Island of Arran. Journal of the Anthropol. Institute
of Great Britain andlreland, 1902. Vol. XXXII, S. 398—406.
Auf der kleinen, Irland benachbarten Insel Arran ebenso wie auf der
nahen Halbinsel Kintyre kommen zwei Kulturformen vor. Die ältere ist
durch geteilte negalithische Kammern mit mehrfacher Bestattung ausge-
zeichnet, ohne Durchgang, aber vielleicht mit einem Portal. Ebenso alt
sind negalithische Cisten in grossen Cairns. Das Gerät besteht nur aus
Stein, die Erzeugnisse der Töpferei sind stets mit rundem Boden versehen,
und entweder kleine Schalen mit Handgriffen oder Gefässe mit scharf abge-
288
B. Referate. Ethnologie.
bogenem Rande. Der zweite Typus ist durch kurze Cisten mit Einzelbe-
stattungen charakterisiert und die Ciste steht entweder in einem Cairn oder
einfach in der Erde ohne Überbau. In den Cisten mit unverbrannten Knochen-
resten finden sich Steingeräte, manchmal solche von Bronce und Perlen,
sowie Gefässe. Auch typische Brandgräber haben sich in Arran gefunden.
Aus den älteren Gräbern stammen Reste von mehreren Individuen verschiedenen
Alters. Die Länge der Oberschenkel betrug bei einem Weibe (?) 413, bei
einem Manne (?) 447 mm. Der Index der Platymerie ist 69,8 für 8 Männer,
und 78,9 für drei Frauen. Die Platycemie betrug für 6 Männer (?) 59,8,
für drei Frauen (?) 66 mm. Die Körpergrösse überschritt bei den Männern
nicht 5 Fuss 5 Zoll und die Frauen waren kleiner als 5 Fuss. Die Schädel
sind brachycephal, verhältnismässig niedrig und orthognath; das Gesicht ist
schmal und lang. Im allgemeinen ist diese Bevölkerung gleich der von
Long Barrow. — Den jüngeren Gräbern wurden brachycephale Schädel ent-
nommen (Index 81). Yerf. ist der Ansicht, dass die langschädelige Be-
völkerung von Arran einer späten Periode der Steinzeit angehört und zu
einer späten Einwanderungswelle von Nordwest Frankreich gehört. Sie drang
unmittelbar durch den Sankt Georgs-Kanal und nicht über die Hauptinsel
in einer Periode, in welcher die Rundköpfe schon von Südwesten nach
Norden wanderten und wahrscheinlich in einer Zeit, welche der Kenntnis
der Metalle vorausging. Diese begegneten ihren iberischen Vorgänger in
Arran vermutlich in der Übergangszeit und begründeten dort, wie ander-
wärts, eine Gruppe von Gebräuchen, welche während der Bronzezeit dauerten.
Gr. Thilenius-Breslau.
319. R. Häcker: Katalog der anthropologischen Sammlung in der
anatomischen Anstalt der Universität Tübingen. Mit einem
Vorworte von Prof. 0. Froriep. Die Anthropol. Sammlungen
Deutschlands, XVI. Braunschweig, Fr. Vieweg, 1902. 52 S.
Im Vorworte erfahren wir eingehende Daten über die von Prof. Froriep
verfasste Geschichte der anatomischen Anstalt an der im J. 1477 errichteten
Universität Tübingen. Die anatomische Sammlung umfasst im Ganzen
260 Schädel, 33 Skelette und einige Gipsabgüsse von Schädeln. Das grösste
Kontingent bilden natürlich die aus Württemberg stammenden Schädel (ca. 170).
Der kleinste Längen-Breitenindex ist bei Männern 70,83, bei Weibern 76,83;
der grösste bei Männern 93,60, bei Weibern 88,13; im Mittel beträgt er
bei Männern 82,61, bei Weibern 82,73. Der mittlere Schädelinhalt beträgt
für würtembembergische 150 Schädel beiderlei Geschlechts 1457,07 ccm.
Die würtembergischen Schädel sind brachycephal und orthocephal, leptoprosop,
hypsikonch; die Nase der Weiber ist mesorrhin, der Männer leptorrhin; der
Gaumen ist bei beiden Geschlechtern leptostaphylin. Der Längenbreiten-
index der weiblichen Schädel, wenn der der männlichen sämtlich 100 be-
B. Referate. Etkn elogie.
289
trüge, wurde auf 100,15, der Gesichtsindex auf 94,91, der Nasenindex auf
105,19 berechnet.
Zum Schlüsse beschäftigt sich H. mit der Frage über die Grössen-
entwickelung der Hinterhauptschuppe und deren Beziehungen zu der Ge-
samtform des Schädels. Es besteht eine Variation der Kopfform, welche
Hand in Hand geht mit der "Variation in der Lagerung der Grosshirn-
hemisphäre; mit Hilfe der Tübinger Schädelsammlung nimmt H. an, nach-
gewiesen zu haben, dass dieselbe in keinem irgendwie nachweisbaren kon-
stanten Verhältnisse zur Entfaltung der übrigen Komponenten des Hirn-
schädels stehe. J)r. Oskar v. Hovorka-Wlen.
320. Gino de’ Rossi: La statura degli Italiani e’ l’incremento in
essa verificatosi nel periodo 1874—98. Archivio per l’antrop.
e la etnol. 1903. Vol. XXXIII, Fase. J, S. 1—80.
Aus den italienischen Rekrutierungslisten von 1874 bis 1898 wird
der Nachweis der interessanten Thatsache zu führen gesucht, dass die Körper-
grösse der Italiener (von 20 Jahren) ständig zugenommen hat, was Verf.
aus der Verbesserung der politischen und socialen Lage erklärt. Über eine
Million Angaben liegen der äusserst mühsamen Untersuchung zu Grunde.
Wichtig ist die Zurückweisung einiger möglicher Einwände: 1. Dass Fehler
oder Zufälligkeiten eine Rolle gespielt haben könnten (wovor die enorme
Anzahl der Einzelangaben schützt). 2. Dass die in Italien verhältnismässig
nicht seltenen „renitenti“, welche sich überhaupt nicht stellen, nicht berück-
sichtigt werden konnten; hiergegen wird Li vis sehr richtiger Einwand an-
geführt, dass solches dann nur vorkommt, wenn die Betreffenden eine solche
Körpergrösse haben, dass sie fürchten müssen, genommen zu werden; dass
also die Berücksichtigung dieser Leute das Resultat nur noch mehr im Sinne
des Verf. beeinflusst haben würde. 3. Dass bei der bekannten bedeutenden
Differenz in der Körpergrösse bei Italienern verschiedener Provinzen (die
kleinsten stammen aus Calabrien, Sicilien, Sardinien) eine Zunahme der
Norditaliener das Resultat vorgetäuscht haben können, was mit dem Hin-
weis auf das stets gleich gebliebene Verhältnis zwischen Grossen und Kleinen
widerlegt wird. 4. Der Einwand, dass die Zahl derer, die nur zurückgestellt
wurden und die sich daher im nächsten oder einem der folgenden Jahre
wieder stellen mussten, gewachsen sei, sodass es sich bei der Statistik
schliesslich gar nicht mehr um gleichaltrige (zwanzigjährige), sondern immer
mehr und mehr um ältere, und daher schon grössere, gehandelt habe.
Dieser Einwand wird, wie Ref. scheinen will, in doch nicht ganz über-
zeugender Weise abgefertigt, indem die einzelnen Zahlen, die hierfür Anhalts-
punkte geben würden, mit der Verschiedenheit in der Handhabung der ge-
setzlichen Bestimmungen erklärt werden; ausserdem werden die Mittelzahlen
und die durch Reihenbildung gewonnenen Mittelwerte der verschiedenen
19
Intern. Centralblatt für Anthropologie. 1903.
290
B. Referate. Ethnologie.
Centren verglichen und beide Mal ein Anwachsen der Körpergrösse kon-
statiert. Als arithmetisches Mittel ergiebt sich heut für die Grösse der
zwanzigjährigen Italiener 1,632 m; als medianer Wert (durch Reihenbildung)
1,629 m. P. Bartels-Berlin.
321. John Homer Hudliston: Über das Leben der Frau im alten
Griechenland nach Abbildungen auf griechischen Vasen (nach
einem Auszug in) Die Umschau, 1903. Bd. VII, No. 18.
Die griechische Litteratur gewährt zwar Einblick in das Leben der
Frau, in ihre politische und sociale Stellung wie in ihrer Stellung im Kunst-
leben des Altertums, doch bildet eine an feineren Details weit reichere
Fundgrube zweifellos die bildliche Darstellung. Insbesondere sind es die
immerhin spärlichen Überreste der Keramik, welche, für den Yerkauf ar-
beitend, dem wechselnden, gerade herrschenden Geschmack zwar Rechnung
tragen musste, gerade deshalb aber die Frau in der verschiedensten Be-
leuchtung zeigt. Die Untersuchung der Abbildungen hat Hudliston zu
wertvollen kulturgeschichtlichen Resultaten geführt. Die Bilder, Hochzeiten,
Toilettensachen, Augenblickseindrücke des täglichen Lebens festhaltend, geben
uns in der Yielseitigkeit des Sujets wie der Auffassung eine so lebendige
Vorstellung von Sitten, von Beschäftigung, von der reichverzierten Frauen-
kleidung, von den Gebrauchs- und Einrichtungsgegenständen der vornehmen
Welt zur klassischen Zeit, wie wir sie aus der erzählenden Litteratur nicht
gewinnen können. Flauptsächlich ist es die athenische Frau, die wir be-
gegnen, da die Kunst hauptsächlich in Athen zu Hause war. Auch wo
sich Darstellungen ausserathenischer Zustände oder mythologischer Vorgänge
finden, sehen wir die Charaktere athenischer Frauen, selbst wenn damit
ein Anachronismus begangen wird. Dass in manchen dieser Vasen sich
noch Zucker oder Schminke vorfand, sei nur nebenbei bemerkt.
JDr. Kellner- Unter‘¿öltzsch.
322. R. Weinberg: Die anthropologische Stellung der Esten. Zeit-
schrift f. Ethnologie, 1903. Bd. XXXV, S. 382—430. 3 Taf.
Die Frage nach der anthropologischen Einordnung der Ugro-Finnen
wird untersucht auf Grund von Beobachtungen, die an Esten angestellt
wurden, und zwar dienten als Grundlage die früheren Studien des Verf.
über anthropologische Untersuchungen an 1000 estnischen Rekruten, über
die Körperproportionen der Esten, und Ergebnisse anthropologischer Auf-
nahmen der estnischen Schuljugend. An Schädelmaterial standen 54 und
eine Reihe (wieviele?) Q Schädel zur Verfügung. Capacität und allge-
meine Schädelform bekunden eine mittlere Stellung der Esten unter den
weissen Rassen; durchschnittlich herrscht Mesocephalie (Index am Skelett 78,
am Lebenden 79) mit Hinneigung zur Brachycephalie. Der „finnische Ge-
B. Referate. Ethnologie.
291
ßichtstyp“, dem auch die Esten zeigen, wird bedingt: 1. durch beträchtliche
Breite des Mittelgesichts bezw. der Jochbeingegend; 2. durch starke Ent-
wickelung der Wangenbeine; 3. durch abs. und rel. kleine Längsdimensionen
des Gesichts; 4. durch starke Entwickelung und seitliche Ausladung der
weit von einander abstehenden Unterkieferwinkel. Die Haut ist schwach
pigmentiert, die Iris hell (hellgrau bis bläulichgrau), das Haar hellblond,
der Wuchs ist hoch. Das Becken, spez. das Geburtsbecken, zeigt eine sehr
geringe Neigung (33°); damit im Zusammenhänge stehen 2 charakteristische
Eigentümlichkeiten des äusseren Körperhabitus der Estin: geringes Nach-
hintenragen der Gesässgegend und wenig oder garnicht von den Schenkeln
gedeckte Lage der äusseren Geschlechtsteile. Die Durchmesser des Ç Beckens
sind im Vergleich zum germanischen bedeutende (leider fehlen hier genauere
Angaben); nur der Querdurchmesser ist kleiner als beim Becken der deutschen
Frau. Die Variationsstatistik der Esten ist noch lückenhaft. Von dem
Processus frontalis des Schläfenbeins wird angegeben, dass er in 3% der
vorliegenden Fälle vorhanden sei. Künstliche Umgestaltung von Teilen des
Körpers, spez. des Kopfes, kommt nicht vor, Tättowierung ist sehr selten.
In dem Kapitel: „Vergleichend anthropologisches“ kommt Verf. zu
dem Schluss, dass der sog. ugrofinnische Rassentyp aus mehreren distinkten
anthropologischen Typen zusammengesetzt ist, sodass der ethnographisch be-
gründete Sammelbegriff der Ugro-Finnen bezw. Ural-Altaier nicht gestützt
werden kann. Doch erscheint die Annahme einer ursprünglichen Einheit-
lichkeit der Finno-Ugrier nicht ohne weiteres ausgeschlossen, sogar nicht
unwahrscheinlich, und damit entstehen eine Reihe weiterer Fragen, deren
Lösung der Zukunft Vorbehalten bleibt. Entsprechend der Überzeugung
des Verf. von der Wichtigkeit der Prähistorie und der Linguistik für eine
solche Lösung sind auch diese Gebiete, sowie das Seelenleben der Esten in
besonderen Kapiteln behandelt. p. Bartels-Berlin.
323. Bertholon: L’Année anthropologique Nord-Africaine. Revue
Tunisienne, 1902, S. 318—335. — Sonderabdruck Tunis,
Imprim. Rapide.
Unter dem am Eingänge erwähnten Titel beabsichtigt der bekannte
Verfasser alljährlich einen zusammenfassenden Überblick über die Fortschritte
auf dem Gebiete der Anthropologie Nordafrikas zu geben, im besonderen
des Berbérie genannten Himmelsstriches, aber mit Einschluss der angrenzenden
Gebiete, selbst Ägyptens und der mittelländischen Inseln, sofern die Arbeiten
für die Geschichte des Ursprunges der Berber von Bedeutung sind. Diese
Zusammenstellung soll sich auf 1. die Prähistorie (jedoch mit Ausschluss
der Dolmen, Menhir, Tumuli, da diese jüngeren Datums sind), 2. die Kranio-
logie, 3. die Ethnologie und Sociologie und 4. die Demographie erstrecken.
Der vorliegende erste Bericht bringt die Litteratur über die Jahre 1901
19’
292
B. Referate. Ethnologie.
und 1902. Sofern er Lücken aufweisen sollte, will Verf. im nächstjährigen
diese ausfüllen. Es bedarf keines Hinweises, dass Verf. sich den Dank der
Fachgenossen durch diese Veröffentlichung verdienen wird. Wenn wir eine
Bitte aussprechen dürfen, so wäre es die, dass bezüglich der Ausführlichkeit
der Referate mehr Übereinstimmung sein möchte; denn einige Arbeiten, die
unseres Erachtens mehr Beachtung verdienen, sind mit wenigen Zeilen ab-
gethan worden. Buschan-Stettin.
324. Seale Harris: Tuberculosis in the negro. The Alabama
Medical Journal, 1903. Sonderabdr., 19 Seiten.
Zur Zeit der Sklaverei war unter den Schwarzen Amerikas Tuber-
kulose eine äusserste Seltenheit, nach der Freilassung der Sklaven nahm
dieses Leiden aber unter ihnen auffällig zu und heutigen Tags erfordert die
Tuberkulose unter Negern mehr Todesfälle als alle übrigen Infektionskrank-
heiten zusammengenommen, und dreimal soviel Todesfälle als unter der
weissen Bevölkerung. Nach dem Census von 1900 starben in den Ver-
einigten Staaten von 100000 Menschen 126,5 eingeborene Weisse und
485,0 Neger an Lungentuberkulose, und 176,7 Weisse, sowie 349,0 Schwarze
an Pneumonie. Ähnlich stellt sich das Verhältnis in den statistischen Er-
hebungen der einzelnen Staaten.
Verf. sucht den Ursachen für so hohe Sterblichkeit der Schwarzen
an Tuberkulose nachzugehen. Einen Einfluss der Rasse möchte er weniger
hierfür verantwortlich machen, als vielmehr die socialen Bedingungen. In-
dessen giebt er wohl zu, dass die Neger eine schwächere Entwicklung der
Brustorgane besitzen, kleinere Grössenverhältnisse, geringeres Gewicht und
geringere Kapazität der Lungen gegenüber den entsprechenden Verhältnissen
bei den Weissen, wie die Untersuchungen von Mc Dowell, Otis und Woodward,
Rüssel, Hoffmann, Gould u. a. festgestellt haben. Er meint aber, dass-
dieses Verhalten der Lungen, das natürlich leichter zur Acquisition eines
Lungenleidens führt, durch die unglücklichen socialen und hygienischen Be-
dingungen der Neger zur heutigen Zeit bedingt wird. Als die Sklaverei
noch bestand, war die Lage der Schwarzen eine weitaus günstigere. Die
Plantagenbesitzer waren sich wohl bewusst, welche wertvollen, dem Klima
angepassten Arbeitskräfte sie in den Schwarzen besassen, und suchten daher
dieselben sich zu erhalten und auf tüchtigen Nachwuchs besonderes Gewicht
zu legen. Daher gaben sie ihnen gute und reichliche Nahrung, gute Unter-
kunft, bewilligten ihnen Sonntagsruhe, belohnten die Mütter für kräftigen
Nachwuchs u. a. m. Heutzutage leben die Schwarzen aber unter sehr
schlechten hygienischen und ökonomischen Bedingungen, eingepfercht, unter-
ernährt, verfolgt, sodass ihre Konstitution eine minderwertige sein muss.
Dazu kommt die grosse Zunahme der Syphilis, sowie der Gonorrhoe unter
ihnen. Die Syphilis disponiert erfahrungsgemäss sehr zur Erwerbung vom
B. Referate. Ethnologie.
293
tuberkulösen Krankheiten, und die Gonorrhoe macht die Schleimhaut der
Genitalorgane für Tuberkulose der Unterleibsorgane leicht empfänglich.
Tuberkulöse Peritonitis ist sehr verbreitet unter den Schwarzen, und dieses
in höherem Grade, als unter den Weissen. Buschan-Stettin.
325. Maurice Fishberg: Health and Sanitation of the immigrant
Jewish population of New York. The Menorah (New York)
1902, August and September. 34 Seiten.
Erwähnenswert aus dieser Studie ist, dass unter der jüdischen Be-
völkerung New Yorks Neurasthenie, Hysterie (auch bei den Männern) und
Diabetes, desgleichen Geisteskrankheit sehr verbreitet sind, hingegen eine
auffällig geringe Disposition für Diphteritis, Croup, diarrhoeische Erkrankungen,
Typhus, venerische Erkrankungen und besonders Tuberkulose besteht. Die
gleiche Beobachtung ist bereits an den Juden anderer Länder mehrfach ge-
macht worden. Buschan-Stettin.
326. Karl Himley: Ein chinesisches Werk über das westliche
Inner-Asien. Ethnologisches Notizblatt, 1902. Bd. III, Heft 2r
S. 1—77.
Im Jahre 1824 erschien in Peking das Si-yü-shui-tao-ki, „Aufzeich-
nungen über die Wasserläufe der Westmarken“. Sein Verfasser ist ein in
diese Gegenden verbannter Chinese, der mit Erlaubnis des Oberlandesver-
wesers an verschiedenen militärischen Expeditionen teilnahm und einen be-
deutenden Teil des Landes aus eigener Anschauung und durch Erkundigungen
kennen lernte. Das vervollständigte er durch ältere und neuere Berichte
zu einem fünf Abteilungen umfassenden Werke, dessen ersten beiden Teile
Ostturkestan und das Tarimbecken sowie das Gebiet des Lob-nor behandeln.
Himley hat nun in der vorliegenden Arbeit aus dem zweiten Teile jenes
Werkes einen Auszug mit umfassenden Erläuterungen gegeben, der die Fort-
setzung seiner Bearbeitung in der Zeitschrift der Gesellschaft für Erdkunde
zu Berlin (XV, 1880, S. 182 ff., 287 ff.; XVII, 1882, S. 401 ff.) bildet.
Abgesehen von dem geographischen Interesse, den dieser Auszug hat,
giebt er dem Ethnographen ein wertvolles Bild von den eingehenden geo-
graphischen Kenntnissen der Chinesen, denen z. B. astronomische Ortsbe-
stimmungen und genaue Angaben der Entfernungen eigen sind. Er zeigt,
welche Unzahl von Siedelungen in diesen in fortwährender Umwälzung be-
griffenen Gebieten existierten, bietet zahllose historische Exkurse und giebt
auch die Stätten alter Städte und sonstiger Altertümer an. Es lässt sich
wohl begreifen, dass archäologische Expeditionen, wie das auch A. Grün-
wedel und Georg Huth beim Antritt ihrer Expedition nach Turfan dankbar
anerkannt haben, durch diesen Auszug manche Förderung erfahren. Das
Werk geht von der Schilderung der Flussläufe aus und beschreibt von ihnen
aus die nähere und weitere Umgebung. j)r. K. Th. Preuss-Berlin.
294
B. Referate. Ethnologie.
327. Hans Virchow: Das Skelett eines-verkrüppelten Chinesinnen-
Fusses. Zeitschrift f. Ethnologie, 1903. Bd. XXXV, Heft 2,
S. 266—316, 5 Taf.
Folgende 6 Arten der Formveränd erung werden durch die bekannte
Manipulation bewirkt: 1. allgemeine ungleichmässige trophische Mikroplasie,
infolge gestörter Ernährung; 2. partielle funktionelle Mikroplasie, besonders
der Mittelfussknochen und des ersten Gliedes der 4. Zehe, die messerartig
abgeplattet werden (= „Platymetatarsie“, analog Platyknemie gebildet); nur
die zur Gelenkbildung dienenden Knochenabschnitte werden geschont; 3. lokale
Atrophie, und zwar Druckatrophie (an den Köpfchen von Metat. IV u. V.,
Proc. post, calc., Cuneif. II und III, und den aneinanderstossenden Teilen
von Würfel- und Fersenbein) und Atrophie durch Nichtgebrauch; 4. Ver-
biegung (der Mittelfussknochen und des Calcaneus); 5. Verquetschung (an
der Rückseite des Calcaneus) und 6. Verödung von Gelenkabschnitten, be-
sonders deutlich an der Verbindung yon Metat. IV u. V mit dem Cuboides,
aber überhaupt an der Mehrzahl der Gelenke vorhanden, bestehend in Uneben-
heiten an den sonst zur Gelenkbildung dienenden Knochenilächen, sodass
nun ein Spalt zwischen ihnen klafft. Sämtliche Knochen sind in natür-
licher Grösse abgebildet, die Zeichnungen sind durch Nachziehen der Umrisse
an Photographien gewonnen, die dann wieder ausgewaschen werden. Eine
genaue Beschreibung jedes einzelnen Knochens sowie ausführliche Würdigung
der Litteratur ist angeschlossen. p Bartels-Berlin.
328. E. Thurstoii: Anthropology. Bulletin of tlie Madras Govern-
ment Museum. Vol. IV, No. 3. Madras 1903. (S. 222.)
In den Mitteilungen des Madraser Regierungsmuseums werden einige
Hochzeitsgebräuche besprochen, wie sie im südlichen Indien üblich sind.
Eigenartig sind die Ceremonien, wenn ein Mann bereits die dritte Frau
heiratet; da eine solche Hochzeit von übler Vorbedeutung ist, heiratet der
Mann vorerst symbolisch nicht die Braut, sondern eine Pflanze, und so wird
die dritte Heirat zu einer vierten gestempelt. Manche Hochzeitsgebräuche
weisen darauf hin, dass es früher Raubehen, d. h. Mädchenraub gegeben
haben müsse. Ein anderer Artikel enthielt eine genaue Beschreibung der
im südlichen Indien gebräuchlichen Verstümmelungen des menschlichen
Körpers, welche ihren Ausgangspunkt teils in abergläubigen Ansichten, teils
in hygienischen Motiven, teils in Modetorheiten besitzen. In einem anderen
Abschnitte werden die ziemlich tiefstehenden Stämme der Uralis, Sholagas
und Irulas beschrieben. Ferner wird über einen Feuergang oder Feuertanz
in Gaujam, sowie über die körperliche Strafe in den einheimischen Schulen
berichtet, von welchen letzteren die Mehrzahl wahrlich ganz und gar un-
menschlich ist. j)r. Oskar v. Hovorka-Wien.
B. Referate. Ethnologie.
295
329. L. Riitimeyer: Über die Nilgalaweddas in Ceylon. Globus 1903.
Band LXXXIII, Nr. 13, 14 und 17.
Verfasser hatte Gelegenheit, drei Gruppen von Weddas kennen zu
lernen. Von den Danigalaweddas erschienen vier Männer und eine Frau
im Alter von 60, 50, 30 und cirka 20 Jahren. Die Körpergrösse war
gering, 160—145 cm, jedoch nicht pygmäenhaft, der Thorax kräftig ent-
wickelt, die Extremitäten muskulös und sehr schlank, der Ernährungszustand
durchaus gut. Von Krankheiten wurden ihm Fieber und Lungenkrankheiten
genannt, dagegen fehlen Diarrhoen anscheinend. Der Geburtsakt der Frauen
erfolgt in halb hintenübergelegter, halb sitzender Stellung. Die Geburt er-
folgt rasch, die Frau bleibt nach der Geburt nicht liegen, sondern wandert
weiter und besorgt ihre sonstigen Verrichtungen. Die Danigalaweddas haben
keine festen Wohnungen, sondern wohnen in Felsenhöhlen. Schmuck fehlte,
zur Körperbedeckung dient ein Hüfttuch. Die Nahrung wird auf der Jagd
von Büffel, Hirsch, Wildschwein, Affen, Hasen, Vögeln und kleineren Tieren
gewonnen, sowie durch Einsammeln von wildem Honig, Waldfrüchten und
wildem Yams. Der Elefant wird nicht gejagt; als gefährlichster Feind er-
scheint der Lippenbär, der mit der Axt bekämpft wird. An Waffen wurden
Bogen und Pfeile getragen. Der alte Mann trug als Würdezeichen die Klinge
eines der alten grossen Elefantenpfeile, die jetzt ausser Gebrauch sind, in
einem rohen Holzgriff. An Gerät hatten die Leute Feuerzeug mit sich,
sowie einen kleinen Thontopf als Honigbehälter.
Von Kolonggalaweddas erschienen 6; 3 Männer von etwa 40 Jahren,
eine Frau und ein Knabe von 8 —10 Jahren. Sie sahen minder gut
genährt aus als die ersteren. Diese Weddas hatten einen ihrer Hunde
mitgebracht, ein schakalartiges Tier von gelber Farbe. An Waffen hatten
sie nur Äxte, keine Bogen und Pfeile. Bezüglich der Wohnung wurde
mitgeteilt, dass die Leute jetzt in Felsen wohnen, nicht mehr in den
für sie von Singhalesen erbauten Hütten. Im Übrigen war Kleidung und
Ausrüstung die gleiche, nur bei den Jagcltieren wurde angegeben, dass die
Leute Fische mit der Hand fangen oder mit Pfeilen schiessen. — Henne-
becldaweddas wurden 6 Leute gesehen, vier Männer und zwei Knaben; nur
ein junger Mann von etwa 20 Jahren trug einen Vollbart, was vielleicht
auf singhalesische Beimischung schliessen lässt. Der Ernährungszustand
dieser Leute war gut. Der Geburtsakt erfolgt bei ihren Frauen in einfach
kauernder Stellung, und die Weiber bleiben nach erfolgter Geburt etwa
6 Tage liegen. Über die Wohnung war nicht genaueres zu erfahren, jeden-
falls können die Leute keine Hütten in singhalesischer Art bauen; gelegentlich
wohnten sie dagegen in Felsenhöhlen. Auf die Aufforderung des Verfassers
hin bauten sie in wenigen Minuten eine „Primitiv-Hütte“ (Sarasin). Ihre
Mahlzeiten nahmen die Leute in zwei Gruppen von je drei offenbar näheren
Verwandten ein, wobei sie um das Feuer niederkauerten. So wenig wie
296
B. Referate. Ethnologie.
bei den andern Weddas wird von diesen irgend eine Art von Pflanzen kulti-
viert. An Waffen waren Bogen und Äxte vorhanden; ein Knabe besass
einen kleinen Kinderbogen nebst Pfeil mit Holzspitze. Über das geistige
Leben der Leute konnte Yerf. feststellen, dass die Leute von einem Gott
oder Göttern nichts wissen, ebensowenig von bösen Geistern und Dämonen
oder einem Fortleben der Seele nach dem Tode. Auch die Unfähigkeit zu
zählen oder Geschenke und Geldstücke richtig zu verteilen, wurde fest-
gestellt. G. Thilenius-Breslau.
330. B. Hagen: Die Gajo-Länder auf Sumatra. Jahresbericht d.
Frankfurter Vereins f. Geographie u. Statistik f. 1901—1903,
S. 29—85. Frankfurt a. M. 1903.
Auf Grund der in der Militärzeitschrift für Niederländisch-Indien,
sowie in einer Reihe niederländisch-indischer und holländischer Tagesblätter
veröffentlichten Berichte über die in den Jahren 1901 und 1902 nach den
Gajo-Ländern unternommenen militärischen Expeditionen, an der indessen
auch Beamte der Landesaufnahme und Geologen teilnahmen, versucht Yerf.,
gestützt auf eigene, während eines langjährigen Aufenthaltes auf Sumatra
durch Erkundigung gesammelte Erfahrungen, eine geographisch-ethnographische
Schilderung von Land und Leuten dieses bisher so gut wie unbekannten
Himmelsstriches zu geben.
Die Gajo-Länder bilden ein gebirgiges, ziemlich in sich abgeschlossenes
und isoliertes Plateau von 900—1200 m Höhe in dem nördlichen Viertel
Sumatras. Wir sehen hier von einer Wiedergabe der geographischen Be-
dingungen, mit denen Yerf. ausführlich sich beschäftigt, ab, und wollen uns
auf die ethnographischen Beobachtungen beschränken.
Die Gajos (Gajus) betrachten sich als die Urbewohner der Insel und
behaupten, stammverwandt mit den Bataks zu sein. Die anthropologische
Untersuchung muss dieses vollauf bestätigen. Die Gajos, wie auch die Alas
und Bataks gehören einer und derselben Menschenspielart an, die man als
die Urbevölkerung der Sundainseln ansehen muss; Hagen hat für sie frühef
die Bezeichnung Urmalaien vorgeschlagen. Ihr Typus kennzeichnet sich
durch kleine gedrungene Gestalt, grossen, umfangreichen, langen Kopf (Meso-
cephalie), sehr hohe und breite Stirn, vorstehende Jochbogen, kurze, breite,
platte Nase, langen Rumpf, kurze Beine und mittellange Arme. Jedoch
vermag Yerf. nachzuweisen, dass auch unter den angeführten Yolksstämmen
bereits Typen Vorkommen, die auf Mischung mit dem atjehschen Küsten-
element hinweisen. — Die Gajos sind ein offenes, biedres Naturvolk. Ihre
Kleidung soll der der Atjelxs ähnlich, indessen sehr ärmlich und einfach
sein; die Frauen tragen selbstgewebte Kleider. Das üppige, wellige, kastanien-
braune Haar wird von beiden Geschlechtern lang und gut gepflegt getragen.
Die Gajos leben in schönen und gut gehaltenen Dörfern (Kampongs). Die
B. Referate. Etimologie.
297
zumeist grossen, auf Pfählen ruhenden Holzhäuser werden von einer Anzahl
Familien des gleichen Stammes gemeinschaftlich bewohnt und sind derartig
eingerichtet, dass jede Familie über eine eigene Kammer und einen eigenen
Heerd verfügt, die Yeranda allen aber gemeinsam ist. Ihre Beschäftigung
besteht in intensivem Ackerbau (zumeist Reis, daneben viel Tabak, ferner
Baumwolle, Zuckerrohr, Erdfrüchte u. a. m.), ausgedehnter Viehzucht (Büffel
und Rinder, Schafe, Hühner, Tauben) und wo sich die Möglichkeit dazu
bietet, auch in Fischfang (mittels Netz und Harpune). Daneben üben die
Gajos aber auch noch eine Reihe blühender Industrien aus; so betreiben
sie Töpferei (Töpfe und Kannen mit hübscher Ornamentik, sogar mit silbernen
Verzierungen), flechten Matten, die durch ihre geschmackvolle Farbenzu-
sammenstellung, Zeichnung und Technik unsere Bewunderung herausfordern,
knüpfen Netze, weben Stoffe, fertigen Holzschnitzereien und Schmiede-
arbeiten an, die gleichfalls grosse Kunstfertigkeit verraten, ja sie prägen
sogar eigene Münzen.
Die politischen und socialen Verhältnisse der Gajos sind im Grossen
und Ganzen die gleichen, wie in den Bataks-Hochländern, nur mit dem
Unterschied, dass sie bei diesen Völkern bereits weiter entwickelt sind und
feste Formen angenommen haben, während sie bei jenen noch im Flusse
sind. Die Gajos sind in Stämme und Geschlechter eingeteilt. Merkwürdiger
Weise wohnt jedoch ein ganzer Stamm oder ein ganzes Geschlecht keines-
wegs in einer Landschaft oder in einem Dorfe zusammen, sondern oft
genug über weite Gebiete verteilt. Daher kommt es, dass es unzählige
Stämme giebt und dass, da der Stammverband ein ziemlich laxer ist, unter
Umständen jeder Teil eines und desselben Stammes einen Häuptling (Rödjö)
besitzt, dessen Würde erblich zu sein pflegt. Trotzdem hat sich bei den
unzähligen Untergruppen eines Stammes das Bewusstsein einer Zusammen-
gehörigkeit erhalten, was darin zum Ausdruck kommt, dass das exogame
Prinzip des Heiratens in aller Strenge aufrecht erhalten wird. Wie überall
auf Sumatra, herrscht auch bei den Gajos Frauenkauf. Die Frau wird
Eigentum des Mannes und geht vollständig in den Stamm des Mannes auf;
diesem gehören auch die aus der Ehe resultierenden Kinder an (Patriarchat).
Daneben kommt aber auch die Erscheinung des Matriarchats vor. Wenn
nämlich der Brautvater seine Einwilligung zur Heirat unter Verzicht auf
den Kaufpreis resp. Brautschatz giebt, so wird der Bräutigam als Sohn
aufgenommen und tritt dann als vollberechtigtes Mitglied vollständig in den
Stamm seiner Frau über.
Im Anhänge hat Hagen ein Wörterverzeichnis der Gajo-Sprache bei-
gefügt. Ausserdem sind der Arbeit mehrere Kartenskizzen, sowie das Porträt
eines Gajo-Mannes nach einer Originalaufnahme des Verfassers beigegeben.
Buschan-Stettin.
298
B. Referate. Ethnologie.
331. C. G. Seligmann: The medicine, surgery, and midwifery of
the Sinaugolo. Journal of the Anthropol. Institute of Great
Britain and Ireland, 1902. Yol. XXXII, S. 297—304.
Das Gebiet der Sinaugolo liegt im Rigo-Distrikt Neu-Guineas, und
zwar im Binnenlande. Nur wenige Krankheiten sind klar genug erkannt,
um benannt zu werden. Man unterscheidet Malaria unter dem Namen
enaguli, wörtlich Kälte, während beni die Bezeichnung für den ihr konischen
Milztumor ist. Die Behandlung besteht in einer Tätowierung über der Milz.
Dysenterie, kukurara, wörtlich blutiger Stuhl, wird nicht behandelt. Leuco-
derma, tabu, soll von kleinen Organismen erzeugt werden, welche in Sand
und Schlamm leben. Der Ringwurm, levu, ist wahrscheinlich neuerdings
eingeführt, er wird gewöhnlich nicht behandelt; Vorstellungen über seine
Herkunft fehlen. Gicht, nagama, gilt als erblich und ist sehr häufig, Rheuma-
tismus wird ebenso bezeichnet und durch Tätowierungen behandelt, deren
Muster wiedergegeben wird. Aus dem Gebiet der Chirurgie ist die Ver-
wendung des Saftes von Hoya australis zum Bestreichen von Brandwunden
zu erwähnen. Knochenbrüche werden mit Holzsplittern geschient und mit
Blättern umpolstert, doch werden die Gelenke niemals immobilisiert. Blutungen
stillt man durch Aufbandagieren eines Bananenstengels. Der tätliche Aus-
gang von Schlangenbissen beruht auf dem Einfluss der Zauberei. Bisse am
Morgen gelten als stets tätlich, eine Behandlung ist unbekannt. Bemerkens-
wert ist die Sorgfalt der Leute für ihre Kranken, die nicht isoliert, sondern
gepflegt werden. Für gewöhnlich ist auch hier die Krankheit hervorgerufen
durch dämonische Einflüsse und wird entsprechend behandelt.
Als Ort der Empfängnis gelten die Brüste, da sie die ersten Zeichen
der Schwangerschaft erkennen lassen; wenn das Kind eine gewisse Grösse
erlangt hat, fällt es in den Unterleib herab. Irgend welche weitere Kenntnisse
bestehen nicht. Verfasser meint, die Vorstellung über Empfängnis und
Schwangerschaft knüpfte an Beobachtungen an, welche das wohlbekannte
und viel gejagte Wallaby bietet. Bei der Geburt giebt der Hausherr den
Frauen der Nachbarschaft ein Fest, ebenso nach der Geburt. Geschieht
dies nicht, so schreit das Kind andauernd. Die Geburt selbst erfolgt im
Busch. Hebammen giebt es nicht, obgleich auch hier Zauberei ausgeübt
wird. Die Mutter bleibt eine Woche nach der Geburt im Hause, während
des ersten Monats darf die Frau mit den Nahrungsmitteln nicht in Be-
rührung kommen, für sich selbst darf sie nicht kochen und muss die für
sie bereiteten Speisen mit einem spitzen Stäbchen zum Munde führen. Eine
eigentliche Mädchenweihe besteht nicht, nur wird bei Beginn der Mann-
barkeit die Tätowierung der Mädchen vervollständigt. Gewöhnlich lebt in
jedem Dorf oder in einer jeden Landschaft eine Frau, von der man glaubt,
dass sie Liebeszauber besitzt, Sterilität verursachen kann u. s. w.
G. Thilenius-Breslau.
B. Referate. Ethnologie.
299
332. Giglioli; Testa monumentale singolarissima da Ronongo
(isole Salomone). Archivio per Fantrop. e la etnol., 1903.
Vol. XXXIII, Fase. I, S. 81—84, 2 Abb.
Runder, subbrachycephaler, ziemlich kleiner, ganz erhaltener Schädel,
vollständig mit einer schweren, harten, schwarzen Paste ^überdeckt, mit
welchem die Gesichtszüge der Verstorbenen wieder hergestellt sind. Die
Lippen sind rot, die Nasenlöcher tiefblau gefärbt, die Augenhöhlen mit
Muschelstücken, die in der Mitte als Pupille ein Stück blaues Glas tragen,
ausgefüllt; mit Kalk ist die bei Festen übliche weisse Bemalung des Ge-
sichtes aufgetragen. Solche Köpfe, „Batu“ genannt, kommen in das Ver-
sammlungshaus, zuweilen auch in eine kleine Hütte, die die Nachbildung
eines Grabes darstellt. Verf. hält die „Batu“ nicht nur für eine Erinnerung,
gewissermaassen ein Porträt des Verstorbenen, sondern auch für einen
Talisman, in den die Tapferkeit und die Kraft des Verstorbenen (= „mana“)
übergehen, und der diese Eigenschaften dem jeweiligen Besitzer zuwende.
G. kennt ausser seinem kürzlich erworbenen Exemplar nur 2 in Oxford,
1 in Sidney und 1 in einer englischen Privatsammlung.
P. Bartelfi-Berlin.
333. Hahl: Feste und Tänze der Eingeborenen von Ponape. Ethno-
logisches Xotizblatt, 1902. Bd. III, Heft 2, S. 95—102.
334. Born: Einige Bemerkungen über Musik, Dichtkunst und Tanz
der Yapleute. Zeitschrift für Ethnologie, 1903. Bd. XXXV,
S. 134—142.
So kurz diese sich ergänzenden Arbeiten über Feste und Tänze auf
einer Insel der östlichen und westlichen Karolinen sind, so muss man ihnen
doch grossen Wert beimessen. Gerade solche Dinge erfordern eingehende
Beobachtung, die so selten möglich ist. Sie verlangen nicht nur ein ästhetisches
Urteil — das ist das wenigste —, sondern vor allem eine genaue Dar-
stellung der Umstände, die zu einem Fest oder Tanz führen, die Beziehung
zu Ernte, Aussaat, Wachstum, Jagd und andern Anlässen und womöglich
einen Überblick über sämtliche derartigen Ereignisse mindestens im Verlaufe
eines ganzen Jahres. Kommt dann noch die Frage an die Leute bezw. das
Augenmerk darauf hinzu, ob irgend ein Zweck mit der Ausführung jedes
einzelnen Festes, Tanzes u. dgl. m. erreicht werden soll, so lässt sich aus
der genauen Beschreibung des Verlaufs bisweilen ersehen, welchen Ursprung
und welche Bedeutung die Tänze u. s. w. ursprünglich gehabt haben.
Beide Verfasser haben in ihrer amtlichen Thätigkeit als kais. Vice-
gouverneur bzw. als Kais. Regierungsarzt längere Zeit zu Beobachtungen
Gelegenheit gehabt, und wenn ihre Arbeiten auch durchaus nicht erschöpfend
sind, so zeigen sie doch, welche Schätze dort verborgen liegen. Hahl be-
300
B. Referate. Ethnologie.
schreibt die z. T. mit religiösen Feierlichkeiten verbundenen Feste der Brod-
frucht- und Yamsernte, die Besuchsfeste und schildert nach kurzer Auf-
zählung dreier Arten von Tänzen den Kapirtanz, der gefeiert wird, wenn
dem Stammeshaupt ein neues Kanu überreicht wird. Das dabei angeführte
alte Lied soll eine historische Erinnerung an das Zusammentreffen mit
fremden Kanonen führenden Segelschiffen sein. Born geht auf die Veran-
lassung zu den Tänzen wenig ein. In unzähligen Tanzliedern und Er-
zählungen sind die Begebenheiten früherer Zeiten und der Gegenwart ver-
arbeitet. Dem äusseren Charakter nach teilt er die Tänze in obsköne und
nicht obsköne. Beide Arten werden sowohl von Männern wie von Frauen,
aber nur gesondert, ausgeführt. Ja, meist darf das andere Geschlecht nicht
einmal Zusehen. Während nun die eine Art völlig decent und anmutig ist,
lässt die andere an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig. Koitus in allen
Lagen mit Andeutung ungeheurer Geschlechtsteile soll die Pointe sein. Wie
das zu erklären ist und inwieweit die Tänze überhaupt aus religiösen Zauber-
zeremonien hervorgegangen sind bzw. mit ihnen Zusammenhängen oder -hingen,
lässt sich aus dem Gebotenen nicht feststellen. Man muss neues Material
ab warten, hat aber alle Ursache, derartige religiöse Erklärung, wie sie z. B.
für andere obsköne Tänze an verschiedenen Stellen der Erde nachgewiesen
ist, nicht aus den Augen zu lassen. Dr. K. Th. Preuss-Berlin.
335. N. Léon: Los Comanches y el dialecto Cahuülo de la Baja
California. Anales del Museo Nacional de Mexico, 1902.
Tomo VII, S. 263—278.
Der Verf. veröffentlicht aus den im Museo Nacional befindlichen
Schriften von Jose Fernando Ramirez bisher ungedruckte Aufzeichnungen
über Gebräuche bei den Comanchen und ein kurzes Vokabular des ihrer
Sprache verwandten Cahuillo-Dialektes von Antonio Penafiel. Hinzugefügt
ist die Bibliographie über die Comanchen. Als sehr interessant stellt sich
der Sonnenkultus der letzteren heraus, dessen Beschreibung neben den Notizen
über Ehe und Begräbnis den Hauptteil der ersten Abhandlung bilden. Die
Sonne ist ihre höchste Gottheit. Ihr wird Mitte August ein grosses Fest
gefeiert, das den ersehnten Regen herbeiführen soll, und der stellt sich
denn auch immer um diese Jahreszeit ein. Es herrscht der Glaube, dass
an diesem Feste ein Mensch durch den ersten Strahl der aufgehenden Sonne
getötet wird. Es handelt sich also um ein Menschenopfer oder das Rudi-
ment eines solchen. Auf Ramirez’ Frage, ob man an dem Leichnam irgend
welche Wunden wahrnehmen könnte, antwortete sein gläubiger indianischer
Gewährsmann, dass der Körper Brandspuren aufweise. Weiter veranstaltet
man an diesem Feste in einer Pappelpflanzung eine Feierlichkeit, deren
Mittelpunkt eine ihrer Zweige beraubte Pappel ist, die man in die Erde
gegraben hat. Am oberen Teile des Stammes wird das Bild der Sonne
B. Referate. Ethnologie.
301
angebracht und am Fusse ein Knabe von 5—6 Jahren, der Sohn eines be-
sonders angesehenen Kriegers, fest angebunden. 8 Tage tanzen 44 Krieger
um den Baum, von dem Rest des Stammes umgeben. Diese 44 und der
Knabe in der Mitte müssen während der ganzen Zeit strenge fasten. Nicht
einmal Wasser sollen sie erhalten. Fällt der Knabe in Ohnmacht, so fächelt
man ihm mit einem Federfächer Wind ins Gesicht und glaubt dabei, dass
die Sonne ihm seinen Atem einhauche und seine Kräfte wiederherstelle.
Auf die Frage, ob er nicht manchmal ums Leben komme, verneinte das
der Indianer mit Überzeugung, da die Sonne ihn erhalte. Der Zusammen-
hang der beiden beschriebenen Zeremonien ist nach Ansicht des Ref. wahr-
scheinlich nach Analogie der germanischen Gebräuche zu erklären, nach
denen im Frühjahr resp. um die Zeit der Sommer-Sonnenwende der Dämon
des Wachstums im Feuer verbrannt wird, weil ein neuer Dämon, d. h. eine
neue Sonne geboren wird. Das ist auch in Mexico vom Ref. nachgewiesen,
wo ein Mensch als Verkörperung der Sonne in der Gestalt des Gottes
Tezcatlipoca geopfert wird, wenn die Sonne im Mai über der Stadt Mexico
im Zenit steht, und zugleich ein neuer menschlicher Repräsentant der Sonne
zur Opferung im nächsten Jahr „geboren“ wird. Bei den Comanchen ist
der durchaus analoge Vorgang, der sich übrigens auch in andern Teilen
der Erde wiederholt, besonders deutlich zum Ausdruck gebracht. Das Kind
repräsentiert die neue Sonne, ist ihre Verkörperung, der „vom Sonnenstrahl
getötete“ Mensch die alte Sonne, die eben von der neuen Sonne selbst zu
Tode gebracht wird. £>r. x. Th. Preuss-Berlin.
336. Erland Nordenskiöld: Präkolumbische Wohn- und Begräbnis-
plätze an der Süd-Westgrenze vom Chaco. Kongl. Svenska
Vetenskaps-Akademiens Handlingar, 1902. Bandet XXXVI,
No. 7, 22 Seiten, 4°, mit 5 Tafelu und 17 Textfiguren.
Verf. beschreibt seine archäologischen Forschungen im Flussthal des
Rio San Francisco, auf dem Grenzgebiete zwischen Argentinien und Bolivien
gelegen. Es handelte sich um alte Wohnplätze, jetzt in tiefem Urwald
versteckt, deren Anwesenheit nur dadurch verraten wird, dass die Gürtel-
tiere Topfscherben heraufwühlen, und um Gräber; diese sind auch nur dann
kenntlich, wenn sie das Wasser angeschnitten hat. Verf. hat beide Arten
sorgfältig untersucht und Lage wie Ergebnis genau registriert. Mauerwerke
fanden sich nicht; die Bevölkerung lebte in der Ebene. Da die Wohnstelien
heute weit vom Wasser entfernt liegen, denkt Verf. an eine Klimaver-.
schlechterung, doch könnte auch eine allmähliche Verschiebung der Fluss-
läufe eingetreten sein. Aus Gräbern stammen grosse bauchige Gefässe mit
spitz zulaufendem Boden, in ihnen waren Kinder beigesetzt. Ausserdem
lagen darin Kohle und einige der beigefügten Schneckenschalenperlen sind,
wie die menschlichen Knochen, angebrannt. Es wurden wahrscheinlich
302
ß. Referate. Ethnologie.
glühende Kohlen der Leiche beigefügt, sodass eine unvollständige Verbrennung
zu Stande kam. — Auffallender Weise hatte das Skelett eines Erwachsenen
einen durchbohrten, einer Pfeife ähnlichen Knochen aus dem oberen Teile
eines menschlichen Humerus im Munde stecken. Leider ist eine Abbildung
des Stückes nicht beigegeben. Die Lage der Skelette ist gewöhnlich liegend
in gekrümmter Stellung.
Yerf. lässt es unentschieden, ob Wohnplätze und die Begräbnisstätten
gleichzeitig sind, obwohl die an beiden gefundenen Gegenstände recht ähnlich
sind. Diese sind recht einfacher Natur und nur solche aus Thon oder Stein
haben sich erhalten. Letztere sind Steinbeile mit Schäftungsrillen oder
seitlichen Schäftungsfortsätzen, sodass in letzterem Falle eine ganz charakte-
ristische Form zu Stande kommt, die ich den „Ambos-Typus“ nennen
möchte (Taf. Y, Fig. 3). Aus Thon sind schöne Modellierungen, wohl Reste
von grossen Gefässen, vorhanden, unvollständige Gesichter, Yogel- und Affen-
köpfe; die Ornamente der Scherben sind sehr selten gemacht (spitze Zick-
zacklinien, TU. II, Fig. 1), fast immer geritzt in ausserordentlich variierenden
geometrischen Formen, die Yerf. für entstellte Tierornamente ansehen möchte,
dadurch eben entstellt und als solche nicht mehr erkennbar, dass das ur-
sprüngliche Reliefornament geritzt ausgeführt wurde. Gerade durch diese
unterscheiden sie sich von der Calchaquikultur, wo geritzte Verzierungen
selten sind, und ich kann Yerf. dieses durchaus bestätigen. Er hat voll-
kommen Recht, wenn er sagt, dass nur durch genaue Grabungen, namentlich
im sog. Calchaquigebiete selber die Frage gelöst werden kann, ob es sich
um einzige oder mehrere, wenn auch ähnliche Kulturen handelt. Bis jetzt
ist ja freilich in diesen interessanten Gebieten bis auf wenige Ausnahmen
nur von kreolischen Abenteurern Raubbau getrieben worden.
Einen wesentlichen Teil der Arbeit des Yerf. bilden die fünf geradezu
wundervollen Lichtdrucktafeln, bei deren Durchsicht man übersichtlich die
Ornamentik etc. studieren kann. Hoffentlich werden die weiteren Ergebnisse
der schwedischen Expedition in ebenso schöner Weise und ebenfalls in
deutscher Sprache zugänglich gemacht. Br. B. Lehmann-Nitsche-La Plata.
337. Theodor Koch: Der Paradiesgarten als Schnitzmotiv der
Payaguä - Indianer. Globus 1903. Bd. LXXXIII, No. 8,
Seite 117—124.
Unter diesem Titel hatte Karl von den Steinen einen Aufsatz in dem
„Ethnologischen Notizbiatt“ veröffentlicht (Bd. II, 1901, Heft 2, S. 60 ff.)
und nach ihm Hein in den Mitteilungen der Wiener anthropologischen Ge-
sellschaft (Bd. 31, S. 128—129, 1901) die in Wien befindliche schöne
Tabakpfeife publiziert, denn solche sind es, auf welchen Holzschnitzereien
von den Indianern ausgeführt werden. Es sind die Payaguä, welche heute
noch in geringer Individuenzahl bei Asuncion leben und im 18. Jahrhundert
B. Referate. Ethnologie.
303
mit unter der Herrschaft der Jesuiten standen. Yon diesen wurden christliche
und Renaissancemotive in die Ornamentik der Chaco- und Paraguayindianer
eingeführt, die sich auch heute noch nachweisen lassen. Nach der Ver-
treibung der Jesuiten durch Bemühen der Franziskaner blieben natürlich
die religiösen Motive unverständlich, erhielten sich aber und verfielen mehr
und mehr. Wenn schon zur Jesuitenzeit selber von den Indianern alles
andere als Kunstwerke im europäischen Sinne ausgeführt wurden, so ist
doch eine gewisse Geschicklichkeit nicht zu verkennen. Im La Plata Museum
ist z. B. eine Tischglocke, um zum Essen zu rufen, in einer der alten
Jesuitenmissionen Paraguays gefunden, zweifellos von den Indianern gegossen,
wie es auch Dobrizhoifer erzählt. Nachher aber verfällt die aufgepfropfte
Kunst und treibt auf dem amerikanischen Kulturleibe wahre Zerrbilder,
denn nur solche sind die holzgeschnitzten Darstellungen des Paradiesgartens,
der mit merkwürdiger Vorliebe auf den langen Tabakpfeifen, Nachbildungen
der „Rauchrolle“, dargestellt wird. Verf. hat sämtliches bekannte Material
beschrieben und in schönen Abbildungen vor Augen geführt.
Dr. B. Lelimann-Nitsche-La-Blata.
338. Theodor Koch: Zur Ethnographie der Paraguay-Gebiete und
Matto Grosses. Mitteilungen der Anthropologischen Gesell-
schaft in Wien, 1903. ßd. XXXIII, S. [21J—[33].
In Form eines Vortrages, den er vor der Wiener anthropologischen
Gesellschaft am 22. Nov. 1902 gehalten, lässt Verf. die gesamten Stämme
der im Titel angegebenen riesigen Gebiete Revue passieren. Der rote Faden
ist die Sprache. In knapper Form werden die Hauptmerkmale von Körper
und Kultur herausgehoben, um bei den Schingüstämmen länger zu verweilen,
wo kaleidoskopartig die Vertreter der verschiedenen sprachlichen Gruppen
zusammengedrängt sind, welche Verf. als Begleiter der zweiten Expedition
des Dr. Hermann Meyer kennen lernte. Wer sich daher schnell einen Über-
blick über die wenig bekannten Urbewohner dieses Teiles von Südamerika
verschaffen will, dem sei der Aufsatz dringend empfohlen, den 9 nach Photo-
graphien angefertigte Abbildungen illustrieren. Leider giebt Verf. nur bei
dreien an, wo er sie her hat; für eine anthropologische Photographie ist
doch aber ebenso gut eine genaue Herkunftsbezeichnung nötig, wie für irgend
einen ethnographischen Gegenstand, der wissenschaftlichen Wert haben soll.
Abb. 3 z. B. „Schiessender Lengua“ sieht so aus, als ob sie Verf. in Buenos
Aires in einem der grösseren Papiergeschäfte erworben hätte, wo Photo-
graphien von Chacoindianern sogar als Ansichtskarten zu haben sind. Ich
konnte sogar in Punta Arenas in der Magelianstrasse „Grüsse aus Feuer-
land“ mit — Chacoindianern darauf, wahrscheinlich Toba, als Ansichts-
karten kaufen! Im Handel erhältliche Photographien von Indianern sind
nur mit grösster Vorsicht aufzunehmen, wenn es sich nicht um sofort kenn-
304
B. Referate. Ethnologie.
bare Stämme resp. Individuen, z. B. chilenische Araukanerinnen, handelt.
Aus den Papiergeschäften von Buenos Aires stammen z. B. die sämtlichen
schönen Photographien von Chacoindianern, welche Yerf. in einem früheren
Aufsatze im Globus (Die Guaikurustämme, Bd. 81, S. 1—6, 39—46,
69—78, 105—112, siehe Centralbl. YIII, S. 42) reproduziert hat. Warum
giebt er auch hier nicht an, wo er sie her hat? Die Bezeichnungen dürften
hier zwar im allgemeinen zutreffend sein, doch habe ich speziell betr. des
„Pilagakriegers“ (Abb. 24) und des „Tobahäuptlings, der angeblich 118 Jahre
alt wurde“ (Abb. 25) meine begründeten Bedenken. Möge es Yerf. be-
schieden sein, alle diese Stämme, die er aus der Litteratur so gründlich
kennt, nun auch selber aufzusuchen und zu studieren.
Dr. R. Lehmann-Nitsche-La Plata.
339. Erland Nordenskiöld: Präkolumbische Salzgewinnung in der
Puna de Jujuy. Verhdl. d. Berlin. Gesellschaft für Anthro-
pologie, 1902. Bd. XXXIY, S. 336—341.
In der Puna de Jujury, einem öden unfruchtbaren Hochlande, wird
Borax und Kochsalz gewonnen, ersteres von einer belgischen Gesellschaft,
letzteres von den Omaguaca-Indianern, die es mit schweren breiten Eisen-
äxten in grossen Würfeln von etwa 25 kg Gewicht brechen. Yerf. glaubt
mit Recht, dass es ein uralter Gebrauch ist, nur dass die Indianer früher
mit grossen, ja riesigen (62,5 cm langen) Steinhauen arbeiteten, wie sie
sehr häufig in der Puna gefunden werden und von denen Yerf. eine ganze
Anzahl mitbrachte. Sie haben eine sog. Schäftungsrille in der Nähe der
Basis und ihre Ränder erheben sich manchmal wulstartig, das längste Stück
dürfte aber wohl nicht gefasst worden sein, sondern wurde mit beiden Händen
gepackt und einfach so zum Arbeiten verwendet. Eindrücke deuten auch
daraufhin, dass man sich bemühte, der Basis eine gut in beide Hände
passende Form zu geben. Rr. _ß. Lehmann-Nitsche-La Plata.
340. H. von Ihering: El hombre prehistórico del Brasil. Historia,
1903. Bd. I, Seite 161—172, 1 Tfl.
Das Museum zu Säo Paulo in Brasilien, dessen vielseitig thätiger
Direktor der Yerf. des vorliegenden Aufsatzes ist, erwarb aus dem Nach-
lass des verstorbenen Karl von Koseritz eine Sammlung prähistorischer
Gegenstände aus Rio Grande do Sul, welche J. in Bd. YI der „Revista del
Museo Paulista“ studieren wird. Darunter befindet sich auch ein Sambaqui-
schädel von Cidreira, von dem sich bereits Angaben vorfinden bei K. von
Koseritz: Bosquejos Etnológicos, Porto Alegre 1874, p. 73—83. In vor-
liegendem Aufsatze, den Yerf. in einer seit kurzem in Buenos Aires er-
scheinenden Zeitschrift veröffentlichte, giebt er eine Art vorläufiger Mitteilung
über seine Studien, anknüpfend an diese Schädelkapsel. Ihre Maassse sind
B. Referate. Ethnologie.
305
folgende: Horizontalumfang 526, gr. Länge 186, gr. Breite 134, kl. Stirn-
breite 9'6, gr. Höhe 150, Ohrhöhe 134 mm; Kopfindex 72,0. Pfeilnaht,
speziell ron der Norma occipitalis aus gesehen, erhoben; der Schädel ist
also hypsostenocephal, fast scaphocephal. Er entspricht den modernen Boto-
kudenschädeln, wie das auch der Fall ist mit den prähistorischen Schädeln
ron Lagoa Santa. Die früher in Sambaquis gefundenen Schädel sind dagegen
dolichocephal und entsprechen den heutigen Tupí oder Guarani, der be-
kannten grossen Sprachgruppe.
Die Caingangues stehen, wie Verf. nebenbei bemerkt, linguistisch sehr
nahe den Guayana, beide gehören, wie die Botokuden, zur grossen Sprach-
gruppe der Ges.
Auf des Verf. Hauptarbeit darf man gespannt sein; die Kraniologie
wird dadurch hoffentlich eine neue Beleuchtung erhalten. Der Wert des
Kopfindex ist ja in letzter Zeit ausserordentlich verschieden beurteilt worden.
Offenbar ist aber doch er resp. gewisse Schwankungsgruppen desselben ein
sekundäres Rassen- oder vielmehr in vorliegendem Falle Unterrassenmerkmal
und würde, wie die gesamte Kraniometrie, an Wert gewinnen, wenn für
gewisse Gebiete zunächst einmal der Nachweis erbracht wird, dass er in
der That in Korrelation steht zur sprachlichen Gruppierung. Solche Wechsel-
beziehungen zwischen Körper und Psyche zu ermitteln, wird stets eine der
wichtigsten Aufgaben der Anthropologie bleiben. Vielleicht Hessen sich die
aus dem blossen Messen des Schädels festzustellenden Eigentümlichkeiten
noch besser verwerten durch Anwendung der sog. Variationsstatistik. Die
kranioskopischen Eigentümlichkeiten, die sich aus blossem Betrachten des
Schädels ergeben und vom Auge erfasst werden müssen, scheinen bei den
beiden hier in Betracht kommenden Gruppen nicht glänzend ausgeprägt zu
sein, um Unterschiede festzustellen. J)r. R. Lehmann-Nitsche-La Plata.
341. Carlos Bruch: Descripción de algunos sepulcros Calchaquis.
Resultado de las excavaciones efectuadas en Hualfin (Pro-
vincia de Catamarca). Revista del Musco de La Plata, 1902.
Bd. XI, S. 11—27.
Verf. ist Entomologe am Museum zu La Plata und benutzte einen
Aufenthalt in der Provinz Catamarca, um in Hualfin einige Gräber aufzu-
decken und mit dem Bleistift des Künstlers äussere und innere Form der-
selben, sowie die darin gefundenen Gegenstände festzuhalten und auf einem
topographischen Plane die Ruinen der alten Ansiedelungen übersichtlich dar-
zustellen. Die Gräber dieser alten Calchaquikultur zeigen drei Typen. Bei
dem ersten ist die Form oval und die Steinsetzung, welche das Grab aus-
kleidet, ragt gerade noch über den Boden. Bei dem zweiten ist das Grab
rund und die Steinsetzung ragt über den Boden hinaus, um sich zu einer
an der Spitze offenen Kuppel zusammenzuschliessen. Oft umgiebt noch eine
20
Intern. CeotraJblatt für Anthropologie. 1903.
306
B. Referate. Ethnologie.
halbkreisförmige Steinsetzung von einer Seite her solches Grab, indem die
beiden Enden derselben an dieses anstossen; mitunter ist ausserdem noch
diese ganze Anlage von einem koncentrischen Steinkreise umschlossen. Bei
einem dritten Typus ist unter den ziemlich horizontalen Schichten des Ur-
gesteins dort, wo sie ausgehen, ein rundliches Grab wie ein horizontaler
Stollen in die Erde hinein angelegt und mit Steinen ausgekleidet.
Die Beigaben solcher Gräber, in welchen eine und mehrere Personen
beigesetzt wurden, sind grosse Urnen und kleinere Thongefässe, z. T. mit
Bemalungen in Form geometrischer Ornamente und Schlangen, auch mit
Reliefdarstellungen, Gesichtern und Köpfen, kleine Kupfergegenstände, Platten
und ähnliches, Hornspachteln und Holzlöffel mit rechteckig ausgezähneltem
Rande des Griffes, ferner Überbleibsel der Kleidung. Die Schädel sind z. T.
in fronto-occipitaler Richtung künstlich deformiert, wobei auch Plagiocephale
und Hypsicephale zu Stande gekommen sind.
Die gesamte Ausbeute der Ausgrabungen des Yerf. ist durch Hoch-
wasser nebst den Maultieren, welche sie transportierten, noch im Fund-
gebiete selber vernichtet worden, die Zeichnungen aber, welche Yerf.
unmittelbar nach den Grabungen anfertigte, lassen die Originale nicht
vermissen.
Zum Schlüsse sind zwei sehr gute Photographien eines Mannes und
eines 13 jährigen Mädchens der heutigen Bevölkerung von Hualfin beige-
geben, welche man wohl als direkte Abkömmlinge der alten Calchaqui be-
trachten kann. Kopf und Gesicht des Mannes sind sehr schmal, der Hirn-
sehädel kurz und hoch und erinnert an die bekannten Typen deformierter
Schädel. jPr. Ii. Lehmann-Nitsche-La Plata.
342. Carlos Bruch: La piedra pintada del arroyo Vaca Mala y
las escultnras de la cueva de Junin de los Andes (Territorio
del Neuquen). Revista del museo de La Plata, 1901. Bd. X,
S. 173-176.
No. I ist ein grosser Block, der auf einer schrägen Fläche in der
Nähe des Bodens mit Malereien und ausgemalten Skulpturen bedeckt ist,
hauptsächlich in roter, auch gelber und schmutzig blauweisser Farbe. Die
dargestellten Zeichen sind menschliche Fussspuren, Guanaco- und Puma-
fährten und Pfeilspitzen, ausserdem viele unverständliche Fiecke, koncentrisclie
Doppelkreise, Punkthaufen, Striche, Schlangenlinien und komplizierte Ge-
bilde. Am Fuss dieses Steines fand Verf. zwei Scherben von handge-
fertigten Töpfen.
No. II sind Felsskulpten in einer Höhle ohne Malerei, weiche Fährten
vom Guanaco, Puma und Strauss sowie vom Pferde, alle in natürlicher
Grösse, ferner ein Yiereck von unbekannter Bedeutung darstellen; die Pferde-
spur beweist das postkolumbische Alter.
B. Referate. Ethnologie.
307
Mit Recht enthält sich Yerf. aller Deutungen und überlässt auf zwei
sehr schönen Tafeln das Material dem unbefangenen Auge des Lesers
zur Prüfung. Dr. B. Lehman n-Nitsche-La Plata.
343. Lino del Valle Carbajal: La Patagonia. Studi generali. Serie
prima. Storia - Topografia - Etnografia. S. Benigno Cana-
vese 1899. 8°. 456 Seiten.
Das gesamte Werk, aus mehreren Bänden bestehend, ist bereits voll-
ständig erschienen. Für die Interessen eines Centralblattes für Anthropologie
kommt aber nur der erste hier vorliegende Band in Betracht. Er zerlegt,
sich in die drei im Titel bezeichneten Teile, von denen Teil III, Etnografia,
uns hier nur angeht. Yerf. ist Salesianer, welche den Pfaden der alten
Jesuiten folgend, Indianermission betreiben. Freilich machen sie sichs be-
quemer. Die Indianersprachen zu erlernen, fällt ihnen gar nicht ein, höchstens
dass sie sich einige dürftige Yokabularschemata ausfüllen lassen und diese
dann publizieren. Yerf. hat sich damit aber nicht beschäftigt. Er hat
gründliche Studien über Land und Leute gemacht, in Litteratur wie Natur,
und das alles in seinem Werke vereinigt. Mangelhaft ist das erste Kapitel
über die Bevölkerung. Die Einteilung der verschiedenen Indianerstämme
ist dem Yerf. durchaus unklar; allerdings wäre die Verarbeitung der ein-
schlägigen, äusserst schwer zu beschaffenden Litteratur eine Arbeit für sich.
Der Hauptwert liegt aber in dem Kapitel, wo Yerf. seine eigenen Beob-
achtungen niedergelegt hat und das er: „Ethnographische Studien“ betitelt.
Er schildert die volkstümlichen Feste, Eigentümlichkeiten der Nahrung, der
in Relief geschnitzten Vampyrköpfen oder Tierkörpern, in welchen Bündel
zusammengebundener Nadeln aus Disteln stecken. Ref. vermutet darin
ein Instrument zum Skarifizieren mit nachfolgendem Schröpfen durch An-
saugen. Ferner kleine Schüsselchen mit schönen Schnitzereien, welche nach
Ambrosetti zum Darbringen von Opfergaben dienten. Aus Holz sind ferner
Bogen und Pfeil, die Spitze der letzteren Stein oder auch Holz, ferner
Löffel und Spachteln, Spindel und Wirtel, Gebisse für Lamas, Tassen und
kleine Döschen; aus Knochen sind Falzbeine und Büchschen; aus Wolle
allerhand Gewebe, darunter ein sehr schöner Gürtel mit Zickzackornament,
eine Mütze und verknotete Schnüre zu unbekanntem Zwecke. Eine Kopf-
bedeckung in Form eines Strohhutes ist aus den teilweise der Länge nach
halbierten Puppenhülsen eines Insektes angefertigt; ein Poncho aus Bast-
lasern gewebt mit Lamawollzotten darin, sodass diese daran wie an einem
Yliess herunterhingen. Eine Prunkaxt steckt noch mit Leder befestigt am
Holzstiel. Die Thonsachen sind meist einfache Schüsseln und Tassen. Aus
Bast sind auch Stricke und Zäume, die eine auffallende Frische aufweisen.
Wie gesagt, um dieser Kultur ihren Platz anweisen zu können, sind
noch viele systematische Forschungen von berufener Seite nötig, namentlich
20’
308
B. Referate. Ethnologie.
muss man genauer die Wohnplätze der Leute kennen, welche ihre Toten
auf den Bergeshöhen Jujuys bestattet haben.
Dr. R. Lehmann-Nitsche-La Plata.
344. Robert Lehmann-Nitsche: Nuevos objetos de industria humana
encontrados en ia caverna Eberhardt en Ultima Esperanza.
Revista del museo de La Plata, 1902. Bd. XI, S. 55—69,
1 Tafel.
Neue Funde aus der bekannten Höhle in Patagonien, über die bereits
berichtet wurde (Centralbl. 1900, p. 113, 371,). Die Höhle ist leider nicht
wissenschaftlich erforscht worden und Abenteurer durchwühlten alles, um
es in Sandy Point (Punta Arenas) in der Magellanstrasse in den Handel
zu bringen. So konnte Yerf. ein zusammengenähtes Stück Leder erwerben;
es ist wahrscheinlich Fragment einer Ledertasche, von der sich zufälliger-
weise gerade der ehemals geflickte Teil erhalten hat. Der Riss, den das
Leder bekommen hatte, wurde an einer feinen Sehne in einfach fortlaufender
Naht zusammengezogen und auf das Ende noch ein Flicken daraufgesetzt.
Ein Lederstreifchen hat beide Ränder mit Einkerbungen versehen, möglich,
dass hier eine Art Verzierung vorliegt, es sich also um die Anfänge der
Kunst handelt. Aus dem rudimentären Metacarpus einer Pferdeart ist ein
Pfriemen hergestellt, aus einem hohlen Yogelknochen eine Art Nadel, wahr-
scheinlich, um schmale Lederstreifchen wie einen Nähfaden durch zusammen-
zunähendes Leder durchzuziehen. Aus dunkelrötlichem Feuerstein ist ein
Messerfragment. Zwei menschliche Metacarpalia und ein Metatarsus sind
grácil, verhältnismässig lang und gerade gestreckt; sie stammen offenbar
von demselben, vielleicht weiblichen Individuum.
Am Schluss ist eine vollständige Literaturzusammenstellung über die
Eberhardshöhle und das Grypotherium Darwinii var. domesticum zugefügt..
Selbstbericht.
345. Robert Lehmann-Nitsche: Hallazgos antropológicos de la
caverna Markatsh Aiken (Fatagonia Austral). Revista del
Museo de La Plata, 1903. Bd. XI, S. 171—177.
Die Funde aus der Eberhardthöhle hatten bis dahin vereinzelt dasre-
standen. Yerf. konnte aber danach einen anderen Fund sicherstellen, der
schon vor längerer Zeit von Hauthal eingeliefert war, die Resultate einer
Ausgrabung in der oben angegebenen Höhle. In dieser hatte der Besitzer
des Terrains einen trockenen Kadaver, landläufig als Mumie bezeichnet, ge-
funden, der in das Museum zu Breslau (!) gelangte. Hoffentlich wird durch
Professor Thilenius bald etwas über seine Eigentümlichkeiten bekannt. Es
konnte aber nicht festgestellt werden, in welcher Beziehung diese „Mumie“
zu den Funden stand, welche Hauthal in der Aschenschicht machte, die
B. Referate. Urgeschichte»
309
den Boden der Höhle bedeckte. Diese sind eine Knochennadel oder -pfriemen^
den aus der Eberhardhöhle her bekannten äusserst ähnlich, vier geschlagene
Steine ähnlich dem Moustierstypus der französischen Paläolithik und Reste
eines Bogens, die nicht geborgen werden konnten. Das mitgefundene Zahn-
fragment einer ausgestorbenen Pferdeart weist die Sachen der gleichen Zeit
an, wie die aus der Eberhardthöhle. Vielleicht hatte der prähistorische
Pferdejäger seine Beute in der Höhle gebraten und verspeisst.
Selbstbericht.
III. Urgeschichte.
a. Deutschland.
346. M. Nabe: Eine steinzeitliche Ansiedelung bei Leipzig-Eutritzsch.
Wissenschaft!. Beilage zur Leipziger Zeitung, 1903, No. 67.
Im Jaliie 1902 und 1903 wurden bei Leipzig an der Delitzschen
Landstrasse zwischen Eutritzsch und Wiederitzsch Reste ausgedehnter prä-
historischer Ansiedelungen blossgelegt. Die Einen bestehen aus 3 sechs
Centimeter unter der Oberfläche liegenden Steinkreisen mit einem Durch-
messer von 12—15 m. Die Steine sind sorgfältig geschichtet und besitzen
die Grösse eines Kopfes bis zum 6—8 fachen eines solchen. Ausser grossem
Thonscherbenmaterial fanden sich zahlreiche Feuersteinstücke und -Splitter
ohne deutliche Bearbeitung, die durch ihre Menge eher auf Abfälle einer
Ansiedelung als auf eine Grabanlage hinweisen.
Auf der anderen Seite der Strasse, wo sich schon früher dicht unter
der Oberfläche Steinartefakte fanden, wurden 30—40 cm tief im Lehm etwa
50 Heerdstellen aufgedeckt. Ausser massenhaften Thonscherben der ver-
schiedensten Art wurden zahlreiche Steinwerkzeuge, eine Paste aus fettem
rotem Thone, welche Verf. für ein Mittel zum Hautfärben hält, sowie ge-
brannter Lehm mit anhaftenden Gras- und Getreidesamen aufgefunden. Die
Keramik der Thonscherben lässt nach Verf. 2 Kulturkreise erkennen, jenen
der reinen Bandkeramik und einen weiteren, welcher ausgezeichnet ist durch
amphorenartige Henkelgefässe mit Warzenansätzen und gekerbten Thonleisten,
Schalen mit Zickzacklinien, Ausfüllung der Ornamentik mit weisser Masse
und durch das Vorkommen des Hakenkreuzes. Aus den 3 letzten Punkten
glaubt Verf. eine vom Südosten hereindringende Kultur zu erkennen, welche sich
hier mit dem Kreis der alten Bandkeramik berührt. Br. Kellner- Untergöltzsch.
347. 0. Förtsch: Bronzezeitliche Gräber von Goseck. Jahres-
schrift f. d. Vorgesch. d. sächs.-thür. Länder, 1902. Bd. I,
S. 62—74.
F. hat an verschiedenen Stellen bei Goseck Gräber mit ziemlich
ziehen Bronzebeigaben und einem goldenen Noppenring aüfgedeckt. Es
SlQd Hockerskelette teils in Steinkisten, teils nur mit kleineren; Steinen'
310
B. Referate. Urgeschichte.
umsetzt. In einigen Gräbern, bei denen die Skelettknochen nicht komplett
waren, sieht er partielle Bestattung. Merkwürdig ist ein Grab, bei dem
die Beigaben in zwei seitlichen Gruben zusammengewickelt lagen und zwar
zusammen mit einzelnen Menschenzähnen. Br. a. Götze-Berlin.
348. Eugen Fischer: Die Reste eines neolithischen Gräberfeldes
am Kaiserstuhl. Berichte d. Naturforschend. Gesellschaft
zu Freiburg i. Br., 1903. Bd. XIII, S. 271—235.
Bei dem Dörfchen Bischoffingen an der Westseite des Kaiserstuhles
wurden auf dem Wiedemann sehen Acker gelegentlich einer systematischen
Durchgrabung eine Menge schwarzer, dicker Thonscherben, eine bedeutende
Anzahl Knochenstücke, sowie einige Steingeräte gefunden und einige wenige
unverletzte Gräber aufgedeckt, die allerdings ausser einem Feuersteinnukleus
und einem ganz rohen Feuersteinmesserchen keine weitere Beigaben enthielten.
Die Skelette ruhten bei 60 cm unter der Erdoberfläche im freien Löss, und
zwar in der typischen Stellung der „liegenden Hocker“.
Ans den Fundstücken (einige Breitmeissel, durchlochte Hammer —
Referent möchte sie ihrer Form wegen lieber als Netzsenker oder Spinn-
wirtel ansprechen —, Scherben und ein Gefäss vom Typus der Spiralband-
keramik nach Koehls Bestimmung) geht hervor, dass das Gräberfeld zu
Bischoffingen der neolithischen Zeit angehört.
Die Skelettreste waren recht schlecht erhalten. Es gelang jedoch dem
Verfasser, 5 Schädel zum Gegenstand der Untersuchung zu machen. Zwei
derselben fallen durch ihre dolichocephale Form (72,99 und 73,12) auf,
während zwei andere mesocephal (78,80 und 78,65) und der vierte in ge-
ringem Grade brachycephal (80,92) sind. Der eine der beiden langköpfigen
Schädel ist absolut der längste und zugleich absolut der schmälste; der
andere ist absolut klein, aber im Verhältnis zur Länge ist die Breite ganz
besonders gering (174 : 127 mm). Auch aus anderen Maassen ergiebt sich
die Schmalheit dieser beiden Schädel. Höhenvergleiche Hessen sich nicht
anstellen, nur an dem einen mesocephalen Schädel war es möglich, die be-
treffenden Indices festzustellen, L.-H.-Inclex 76,09 und Br.-H.-Index 96,5-5.
— Die wichtigsten und absoluten Verhältniszahlwerte der Schädel werden,
soweit es möglich war sie zu nehmen, vom Verf. am Schlüsse zusammen-
gestellt. Buschan-Stettin.
ß. Frankreich.
349. R. Verneau: Les fouilles du prince de Monaco aux Baousse-
Rousse. Un nouveau type humain. L’Anthropologie, 1902.
Bd. XIII, S. 561 (5 Abbild.).
Die neuen Ausgrabungen in einer der Höhlen von Baousse-Rousse
wurden mit grosser Sorgfalt durch Villeneuve und Lorenzi unter der Auf-
B. Referate. Urgeschichte.
311
sicht des Fürsten von Monaco ausgeführt, sodass eine sichere Feststellung
der Aufeinanderfolge der Schichten möglich Av»r. Diese Höhle, genannt
grotte des enfants, befindet sich im Fürstentum, 350 m von der Grenze
entfernt; es wurden 1875 darin von E. Riviere zwei Kinderskelette ge-
funden; dabei waren Feuerstein- und Hirschhorninstrumente. Auf den Skeletten
lagen mehr als tausend durchbohrte Muscheln von Nassa neritea, welche
zu einem vom Nabel bis zum oberen Drittel der Schenkel reichenden Gürtel
vereinigt gewesen zu sein scheinen. Die Fauna bestand hauptsächlich aus
Sus Scrofa, Cervus und Capra.
In verschiedenen Höhen wurden Aschenschichten aufgedeckt, die sich
in der ganzen Höhle verfolgen lassen und von einander durch Erdmasse
getrennt sind; dieser Umstand weist auf mehrfache zeitweise Bewohnung
der Höhle. Der unterste Flerd liegt auf dem Grundfelsen selbst. Sobald
der Mensch die Höhle verlassen hatte, kamen Hyänen, welche den Herd
durchwühlten und ihre Koprolithen zurückliessen. Die zweite und dritte
Aschenschicht sind nicht dick; dagegen deutet der dritte Herd auf einen
längeren Aufenthalt des Menschen. Diese Herde sind durch roten Thon
von einander getrennt. Es lagerte sich noch einmal eine Schicht (von 1,15 m)
desselben Thons ab, bis der Mensch zum vierten Mal kam und den neu
entstandenen Herd als Begräbnisstätte benutzte. Ein junger Mann und eine
alte Frau wurden nebeneinander in Hockerstellung beigesetzt. Von da an
kommt an Stelle des Thon eine graue, mehr oder weniger kieshaltige Erde;
0,70 m darüber (7 m unter der Oberfläche) ist ein anderer Herd mit Be-
stattung nachweisbar, ein Mann von hohem Wuchs, der gestreckt begraben
wurde, mit gebeugten Vorderarmen, sodass die Hände auf dem Hals liegen.
Fine Steinplatte beschützte den Kopf, eine andere die Füsse. Oberhalb
dieses Skeletss wurden Knochen von Hyaena spelaea aufgefunden. Nachher
wurde die Höhle noch 6 mal längere oder kürzere Zeit von Menschen be-
wohnt, die Aschenschichten und Steinwerkzeuge hinterliessen.
Diese Steinartefakte sind von magdalenischem Typus; die aus dem
unteren Niveau sind noch viel roher, aus Sand- oder Kalkstein. Sie sollen
später ausführlich behandelt Averden. Jedenfalls steht fest, dass die drei
unteren Skelette echt paläolithisch sind. Schliesslich lag noch oben, 1,90 m
von der Oberfläche ein viertes Skelett, dasjenige einer alten Frau, deren
Körperhöhe auf 1,44 m berechnet Averden konnte. Die Knochen sind sehr
zart, das Schenkelbein ausgesprochen platymerisch, der Kopf ziemlich lang-
gezogen, Parietalhöcker wohl markiert, Augenbrauenbögen wenig deutlich,
Augenhöhlen breit und niedrig mit undeutlichen Winkeln. Es konnten leider
keine Messungen angestellt werden. Dieses Skelett unterscheidet sich von
der Cro-Magnon-Rasse besonders durch die geringe Körperhöhe und die
Zartheit der Knochen.
Das männliche Skelett des 7. Herdes hat eine berechnete Höhe von
312
JB. Referate. Urgeschichte.
1,92 m, einen Längenbreitenindex von 76,26; dagegen ist das Gesicht breit
und niedrig (Faeialindex 63,2). Die Stirn besitzt, gerade aufsteigend, kaum
deutliche Parietalhöcker; kleinster Stirndurchmesser 0,103 m, Gesicht orthog-
nath, Glabella sehr stark, Augenhöhlen niedrig und viereckig (Index 66,6),
untere Kinnlade gross, mit vorstehendem Kinn, Nase breit (Index 56,8).
Dieser Schädel unterscheidet sich von dem des Greises von Cro-Magnon nur
durch das Fehlen der Parietalhöcker, was die Norma verticalis elliptisch
statt fünfeckig gestaltet, das Fehlen der Prognathie und die relativ breitere
Nase. Trotz dieser wahrscheinlich individuellen Unterschiede kann man
behaupten, dass die Rasse von Monaco die gleiche gewesen ist, wie die der
Renntierjäger des Yezere-Thals.
Die Skelette des 8. Herdes scheinen einer noch älteren Rasse anzu-
gehören. Berechnete Körperhöhe des ungefähr 16jährigen Mannes 1,54 m;
die der alten Frau 1,58 m. Die Köpfe sind sehr unharmonisch gebaut;
Längenbreitenindex ^ 69,27, ßß,5S; Gesichtsindex <5 61,54, $ 63,57.
Schädel elliptisch mit stark gewölbter Sagittaikurve. Stirnhöcker mehr aus-
geprägt bei der Q; Glabella deutlich; Augenhöhlen niedrig (^ 65,33, 9 71);
Nasenindex ^ 51, 9 63,6. Bei beiden enden die Nasenhöhlen nach vorn
nicht in einer scharfen Kante, sondern in einer Rinne, wie bei vielen
Negern. Sehr starker Prognathismus und wenig vorstehendes Kinn, was
auch dem Gesicht etwas Negerartiges verleiht. Zahnbögen eng, Zähne sehr
gross, Eckzähne sehr spitzig. Bei der 9 sind die Zähne stark abgenutzt.
— Wir haben es hier mit einem noch nicht beschriebenen, stark negroiden
Typus zu thun, welchen man mit Yerf. den Typus von Grimaldi nennen
kann. Derselbe ist rezenter als die Spy-Neanderthal-Rasse, wird aber noch
besser von der Cro-Magnon-Rasse unterschieden. Es bleibt trotzdem nicht
ausgeschlossen, dass letztere vom Grimaldi-Typus abstammen kann. Beiden
Rassen gemeinschaftlich sind die Disharmonie von Gesicht und Schädel, die
Form der Glabella und der Augenbrauenbögen, die breiten, niederen, eckigen
Augenhöhlen. Der Prognathismus existiert noch bei dem Greise von Cro-
Magnon. Bei anderen Yertretern derselben Rasse ist er infolge besserer
Existenzbedingungen, die zugleich grössere Körperhöhe ermöglichen, ver-
schwunden. Jedenfalls steht fest, dass dank den sorgfältigen Ausgrabungen
des Fürsten von Monaco und seiner Mitarbeiter wir jetzt ein Bindeglied
zwischen den Rassen von Spy-Neanderthal und Cro-Magnon kennen gelernt
haben. Eine ausführliche Bearbeitung des vorhandenen Materials steht noch
in Aussicht. j)r £ £aioy-Bordeaux.
B. Referate. Urgeschichte.
313
y. Schweiz.
350. B. Reber: Les sculptures préhistoriques à Salvan (Valais).
Revue de l’École d’anthropol. de Paris, 1903. Année XIII,
S. 270—277.
Im Südosten des Dorfes Salvan, \lU Stunde oberhalb der Station
Vemayaz in der Richtung nach Chamonix traf Verf. eine Unmasse von
eigenartigen Felszeichnungen — er schätzt sie auf 6—700 Stück, die sich
auf 12—13 Gruppen verteilen — am Rocher du Planet an, einem aus
sehr hartem Glimmerschiefer bestehenden Gestein, das im übrigen völlig
glatt ist und nur Gletscherrillen aufweist. Es sind einfache Kreise oder
solche, die Fortsätze nach oben und unten tragen, andere wieder mit einer
Grobe in der Mitte, ferner Näpfchen von verschiedener Grösse, entweder
einzeln stehend oder zwei, drei und vier durch eine Rinne mit einander
verbunden, Dreiecke, an denen entweder zwei Schenkel oder die Spitze in
eine Rinne verlängert sind, welche in ein Näpfchen endigt, Kreuze mit
einem langen Stiel, deren Arme ebenfalls in ein Näpfchen auslaufen, 2 pri-
mitive Figuren, von denen eine einem Reiter, die andere einem Krieger
mit Schild ähneln soll, u. a. m. Alle diese Zeichen kommen gruppenweise
in den verschiedensten Kombinationen unter einander vor. Jede der Gruppen
besitzt einen ganz speziellen Charakter, macht einen besonderen Eindruck
für sich und dürfte demnach wohl einem besonderen Zwecke gedient haben.
Bemerkenswert ist die grosse Gleichmässigkeit, mit welcher diese Zeichen
in ziemlich regelmässigen Abständen von einander linienweise angeordnet
sind, eine längere Linie oben, eine kürzere darunter.
Die grösste Gruppe ist 1 m lang und setzt sich aus 150 Zeichen
zusammen. — Der Einwand, dass die rinnenartigen Zeichen ihre Entstehung
etwa der Einwirkung des Gletschers verdanken könnten, wird dadurch hin-
fällig, dass die meisten derselben die Gletscherrillen fast senkrecht schneiden.
Ein Urteil über die Bedeutung dieser rätselhaften Zeichen giebt Verf.
nicht ab. — Auf 5 Abbildungen sind die hauptsächlichsten Typen wieder-
gegeben. Buschan-Stettin.
o. Italien.
351. C. Bicknell: The prehistoric Rock Engravings in the Italian
Maritime Alpes. Bordigiiera, Printed hy Pietro Gribelli, 1902.
352. C. Bicknell: Further explorations in the régions of the pre-
historic Rock Engravings in the Italian Maritime Alps.
Ibidim 1903.
In den Thälern des Monte Bego, einem 2873 m hohem Bergriesen
der Seealpen (bei der Station Ventimiglia) erregten schon lange: zahlreiche
314
B. Referate. Urgeschichte.
Felsenzeichnungen die Aufmerksamkeit der Besucher. Als erster erwähnt die-
selben Goiffredo, später beschäftigten sich mit ihnen v. Moggridge (1868),
Riviere (1877), Celesia (1885) und Issel (1901). Verfasser ist seit einer
Reihe von Jahren beschäftigt, diese höchst merkwürdigen Felsenskulpturen
Felsenskulpturen zu sammeln und zu entziffern. Bis jetzt gelang es seinen
rastlosen Bemühungen, 2554 Zeichen daselbst abzuklatschen resp. zu zeichnen;
er schätzt die Gesamtzahl der vorhandenen Darstellungen auf nicht weniger
als 7000. Vier Thäler kommen in Betracht: Vallone delle Meraviglie, Val
Fontanalba, Val Valmasca und Val Valauretta; die weitaus meisten Zeich-
nungen haben die beiden erstgenannten Örtlichkeiten ergeben. Besonders
dicht liegen sie im Meraviglie-Thal zusammen, hingegen im Fontanalba-Thal
finden sie sich über eine grössere Strecke zerstreut.
Die Zeichnungen sind durch wiederholtes Einschlagen von stumpfen Werk-
zeugen, höchst wahrscheinlich von solchen aus Feuerstein oder einer anderen
harten Gesteinsart entstanden; ihre Tiefe beträgt 1—3 mm. Einige Figuren,
resp. einzelne Teile derselben scheinen durch Schaben hervorgebracht zu sein.
Öfters haben die Künstler die Arbeit unvollendet gelassen, soclass nur ein Bruch-
stück des beabsichtigten Gegenstandes sich dargestellt findet. Sämtliche Zeich-
nungen heben sich sehr deutlich von der farbigen Gesteinsoberfläche ab.
In weitaus grösster Anzahl finden sich Tierköpfe oder Tierkörper mit
einem paar Hörner dargestellt. Es kann keinem Zweifel unterliegen, dass
der Künstler hier Rinder wiedergeben wollte. Andere Beobachter glauben
in manchen dieser gehörnten Geschöpfe Schafe, Gemsen, Steinböcke, Mufflons,
Auerochsen, Rehböcke, Elentiere u. a. Tiere mehr erblicken zu müssen.
Auch die Deutung auf Fische, Vögel, Käfer, Hummer, Skorpione und Schnecken
ist bei verschiedenen Darstellungen zulässig. Nicht selten besitzen diese
gehörnten Köpfe zwei Paar Hörner, oder diese sind in der Mitte oder am
Ende gegabelt; es findet sich auch gelegentlich eine Art Verzierung zwischen
den Hörnern, entweder runde Punkte oder ein drittes aufrechtstehendes
Horn oder ein Kreuz. Öfters sind die Hörner durch einen Kreuzstab mit
einander verbunden oder vereinigen sich an der Spitze, sodass sie einen
geschlossenen Kreis bilden. Es herrscht auch bezüglich ihrer Form eine
grosse Mannigfaltigkeit; bald verlaufen sie konvex, bald konkav, bald zick-
zackförmig oder gewellt; bald gehen sie weit auseinander, bald stehen sie
gerader, bald laufen sie parallel. — Der Tierkörper findet sich durch ein
Viereck dargestellt, das entweder ohne Anhängsel, den Kopf ausgenommen,
sich repräsentiert, oder Füsse und einen Schwanz besitzt, auch wohl nur
Füsse allein oder einen Schwanz allein. Besonders zahlreich sind die Rinder
im Thal Fontanalba vorhanden; hier trifft man an einem einzigen Felsen
deren öfters 20—40 Stück an. Eine Reihe rechteckiger Figuren, die Fort-
sätze ausschicken, in ähnlicher Anordnung wie Füsse und Schwanz, werden
als abgezogene Felle gedeutet.
B. Referate. Urgeschichte.
315
Recht häutig finden sich die Rinder dargestellt, wie sie an einem
Pflug angespannt sind, den ein menschliches Wesen mit der Hand deutlich
an dem Pflugstiele lenkt. Im soeben erwähnten Thale vermochte Yerf.
nahezu 100 mal dieses Bild (Rinder mit pflügendem Menschen) nachzuweisen.
— Der Mensch ist auf diesen Darstellungen entweder von vorn oder von
der Seite wiedergegeben; beinahe stets hält er mit der Hand die Pflugschaar,
die so deutlich veranschaulicht ist, dass über die Bedeutung der Zeichnung
kein Zweifel entstehen kann. Gelegentlich ist die menschliche Person
grösser als die Tiere, manchmal auch wieder lächerlich klein gegenüber
den Pflugochsen. Auf einem Bild sind drei, auf zwei anderen Bildern vier
Rinder vor einem Pflug gespannt. Verschiedentlich steht die menschliche
Figur allein und schwingt in der Hand etwas wie eine Waffe oder ein
Gerät von öfters unverhältnismässig grossen Dimensionen.
Nächst den gehörnten Geschöpfen kommen am häufigsten Zeichnungen
vor, welche Waffen vorstellen: Schwerter, Dolche, Spiesse, Pfeilspitzen,
Piken, Kelte, Formen, welche sehr an die entsprechenden Altsachen aus
der älteren Bronzezeit erinnern. Andere Zeichnungen wieder machen den
Eindruck von Fahnen, Dreschflegeln, Spaten und Körben. Bemerkenswert
ist, dass da, wo die Anzeichen des Ackerbaus vorherrschen, Avenig Waffen
sich dargestellt finden und umgekehrt. Yerf. möchte daraus schliessen,
dass zAvei verschiedene Völker, vielleicht auch zu verschiedenen Zeiten, die
Felsen eingeritzt haben, ein ackerbautreibendes und ein kriegerisches Volk.
Die dritte Gruppe sind Zeichnungen, welche geometrischen Charakter
-tragen: oblonge, resp. rechteckige und noch anders geschlossene Figuren,
ohne sonstige Zeichnungen oder, was häufig ist, \Ton Längs- und Q,uerlinien
(sowohl geraden, wie gewellten) gitterartig durchzogen, was als Hürden oder
Netze gedeutet wird, ferner einfache oder koncentrisch in einander liegende
Kreise, Spiralen und andere höchst bizarre Formen mehr, die sich kaum
deuten lassen werden.
Über das Alter und die Bedeutung der Felseninschriften am Monte
Bego sind die verschiedensten Ansichten geäussert worden, ohne dass man
wirklich zu einem einwandfreien, befriedigenden Resultate gekommen A\räre.
Man hat ihre Entstehung bald älteren Völkern, wie Phöniziern, Iberern,
Libyern, bald wieder modernen Völkern (Kriegern des Hannibal, französischen
Soldaten) zugeschrieben. Am wahrscheinlichsten bleibt aber doch die An-
nahme, dass die Zeichnungen von Völkern afrikanischen Ursprunges her-
rühren mögen, denn die Ähnlichkeit mit solchen in Nordafrika ist zu auf-
fällig. Ebensowenig kann es einem Zweifel unterliegen, dass die Zeichnungen
sehr hohen Alters sind, also in die vorgeschichtliche. Zeit zurückreichen,
wie schon aus der Übereinstimmung der dargestellten Waffen mit denen
der frühen Bronzezeit übereinstimmend hervorgeht. Ausserdem heben sich
die aus moderner Zeit stammenden, wenn auch schon mehrere Jahrhunderte
316
B. Referate. Urgeschichte.
zurückliegenden (wie aus beigefügten Zahlen ersichtlich) Eingravierungen von
den mutmaasslich antiken deutlich ab. — Die Frage, zu welchem Zwecke
diese Tausende von Zeichnungen angefertigt worden sind, hält schwer zu
beantworten. Zu reinem Vergnügen oder aus langer Weile dürfte man sich
die grosse Mühe kaum gegeben haben. Verfasser will nicht die Mutmaassungen
anderer Beobachter gerade in Abrede stellen. Es mag wohl möglich sein,
dass einzelne Zeichen Hieroglyphen vorstellen, dass andere, besonders die
Hörner, symbolischen Zwecken dienten, dass sie Unterscheidungszeichen für
Tribus, Familien oder einzelne Individuen hinsichtlich ihres Besitztums und
ihrer Beschäftigung gewesen sein mögen oder Ereignisse der Nachwelt über-
liefern sollten u. a. m. Indessen glaubt er doch annehmen zu dürfen, dass
die grösste Mehrzahl der Darstellungen zu kulturellen Zwecken angefertigt
sein mag. Sicherlieh übte der imposante Ivegel des Monte Bego auf die
Bewohner des Landes in der Vorzeit einen geheimnisvollen Zauber aus und
mag auch für ein Heiligtum gegolten haben, zu dem in den Sommermonaten
die Hirten pilgerten, um hier religiösen Kult zu üben. Die Felsenzeich-
nungen mögen daher eine Art von Votivgaben vorstellen, den Ausdruck
ihrer Wünsche für das Wohlbefinden der Heerden, die Sicherheit der Nieder-
lassungen, für Zunahme des Besitztums und für guten Erfolg beim Aas-
üben des Ackerbaus und der Jagd. Vielleicht kommt diese Annahme der
Wahrheit noch am nächsten.
Die vorliegende erste Arbeit macht uns mit der Geschichte der Felsen-
zeichnungen von Monte Bego und der darüber existierenden Litteratur be-
kannt, schildert mit peinlichster Genauigkeit die Mannigfaltigkeit derselben
und macht einen Versuch zu ihrer Deutung, die zweite Arbeit berichtet in
Form eines Tagebuches über die Ergebnisse der letzten Kampagne des Ver-
fassers im Sommer 1902. 23 Tafeln der ersten und 10 Tafeln der zweiten
Arbeit veranschaulichen in Hunderten von Einzeldarstellungen die für uns
immer noch rätselhaften Felsenzeichnungen in den Thälern des Monte Bego.
Buschan-S tettin.
353. Albert Mayr: Die vorgesch. Denkmäler von Malta. Abhandl.
der k. bayr. Akademie der Wissensch. I. Kl., 1902. XXL Bd.,
3. Abh., S. 645—726, m. 12 Tafeln und 7 Plänen.
Die seit dem 17. Jahrh. bekannten megalithischen Bauten Maltas sind,
bei einem mehrmonatlichen Aufenthalt von neuem untersucht, doch werden
die lückenhaften Ergebnisse der schlechten Behandlung der Baureste und
dem Fehlen von Fundberichten zugeschrieben. Als uralte Heiligtümer sind
Gebäude anzusehen, deren offne Räume von einer halbkreisförmigen Um-
fassungsmauer und leicht gebogenen Frontmauer umschlossen sind; die ovalen
Innenräume liegen hintereinander, im Zug der Eingangslinie stösst man dann
hinten noch, auf eine besondre Nische. Diese Grundform zeigt am reinsten
B. Referate. Urgeschichte.
317
die Gigantia auf Gozo, in der sogar zwei gleiche Gebäude ohne Verbindung,
doch in derselben Umfassungsmauer erhalten sind. Demnächst scheint die
Mnaidra auf Malta ursprünglich ebenso angelegt gewesen, aber später umge-
baut und mit unregelmässigen Nebenräumen versehen zu sein. Auch die
grosse Anlage von Hagar-Kim hat vermutlich eine längere Baugeschichte
und mehrfache, auf Jahrhunderte sich verteilende Umbauten erfahren; jetzt
erkennt man noch sechs ovale Räume, an deren Zugänge und Nebennischen
viel geändert ist, ausserdem Reste besonderer Nebengebäude und verbindende
Mauerzüge. Nicht bekannt und niemals ausgegraben ist eine scheinbar
ähnliche Ruine von It-torri-tal-Mramma auf Gozo, die als älter angesehen
wird, weil der typische Grundriss noch nicht klar ausgebildet und die Bau-
weise noch primitiver ist. Im allgemeinen standen nur Kalksteinplatten
zur Verfügung, die vertikal aufgestellt wurden und mit Vorliebe ovale Räume
umschlossen, wohl Anfänge von Übertragung zeigen, aber nie zur Dach-
wölbung fortgeführt wurden; nur die Korridore waren mit Platten einge-
deckt. Das Material ist meist gross, die Bearbeitung sehr roh. Die Seiten-
steine der Korridore und Schwellen sind wichtig und darum oft ornamentiert,
die Nische im Hintergrund hat einen tischartigen Aufbau zwischen hohen
Pfeilern, wie sich ebenso in den später eingebauten Rezessen solche Tische
finden. In einem Nachtrag werden diese Tische in Anlehnung an Arbeiten
von Evans (s. Centralblatt 1903, S. 56) als Reste der Dolmen angesehen,
ihre Verehrung auf den Totenkult oder die Aufbewahrung eines Steinidols
zurückgeführt; konische und pfeilerartige Steine wurden als Symbole der
Gottheit verehrt. Von Wohnstätten der ältesten Zeit sind mehrfach Funda-
mente erhalten, deren Grundriss im Kreis oder in Kurven verläuft; sie
mögen Lehmoberbau und leichte Bedachung getragen haben. Natürliche
und künstliche Felsgrotten dienten ebenfalls zu Wohnzwecken.
Die vorgeschichtlichen Gräber Maltas sind noch nicht sicher nachge-
wiesen. Plastisch verziert durch Punktornament, Spiralen und konische
Figuren in Flachrelief waren wenige Steine der Heiligtümer; in einem Raume
von Hagar-Kim fanden sich 7 Kalkstein- und 2 Terrakottastatuetten, die
äusserst roh weibliche Gestalten in kauernder Stellung unter übertriebener
Betonung der Körperfülle darstellten. Das Museum von Faletta enthält
noch 2 Köpfe, 1 Büste und 1 Relief von ähnlicher Ausführung: Alles er-
innert an Beispiele der ägäischen Inselkunst oder steatopygische Figuren,
wie sie Flinders Petri in Oberägypten als Erzeugnisse der altlibyschen Be-
völkerung fand. Von Thongefässen sind mit Wahrscheinlichkeit nur wenige
den megalithischen Bauten gleichzeitig zu setzen: eine Schüssel mit Kerb-
schnitten und Bogen, ein Topf mit abgeplatteter Basis, ein aus 3 Einzel-
gefässen gebildetes, endlich ein Gefäss mit 3 Mündungen. Alle diese Alter-
tümer Averden nicht, wie bisher, den Phönikern zugeschrieben, sondern auf
Avestliche Analogien in Sardinien, den Balearen und Süclostspanien zurück-
318
B. Referate. Urgeschichte.
geführt, und zwar im Grundriss der Heiligtümer, der Verehrung konischer
Kultgegenstände und der Art der Bauten von fortifikatorischem Charakter;
daneben sind ägäische und mykenische Einflüsse erkennbar. Als Zeit er-
giebt sich, da auf Malta eine reine Steinzeit noch nicht erwiesen ist, die
Bronzezeit etwa im 2. Jahrtausend v. Chr.
G. A. Colini hat diese Arbeit im Bullettino di paletn. Ital. XXVIII,
10—12, p. 204—233 ausführlich und anerkennend unter Wiedergabe vieler
Abbildungen und Pläne besprochen, um schliesslich in Fig. 8 und 9 im
Grundriss zweier Grotten aus Sardinien die Annahme eines nordwestlichen
gemeinsamen Ursprungs aller dieser Sepulkral- und Sakralanlagen noch mehr
zu stützen. \ Br. Walter-Stettin.
e. Asien.
354. R. Leonhard: Paphlagonische Denkmäler (Tumuli, Felsen-
gräber, Befestigungen). Sep.-Abdr. a. d. 80. Jahresber. der
Schles. Gesellsch. f. vaterländ. Kultur. Breslau 1903. 40 S.
L. hat auf einer zweiten Reise nach Kleinasien Beobachtungen ver-
schiedener Art gemacht, welche auch für den Prähistoriker nicht ohne Inter-
esse sind. So fand er in Paphlagonien Tumuli vor, wodurch die Grenze
dieser Denkmäler, welche sich über Phrygien und die Troas nach Europa
fortsetzen, in der Richtung nach Nordost weiter geschoben wird. Seine
besondere Aufmerksamkeit richtete er auf die Untersuchung der Felsen-
gräber, von denen er zwei noch unbekannte auffand, und von denen das-
jenige von Suleimanköi für die Beurteilung dieser ganzen Denkmälerklasse
von Bedeutung ist. Sie fallen nach L. vor die Zeit des Einflusses griechischer
Kultur und bilden eine selbständige Weiterentwicklung der alten nordhittitischen
Kunst. Auffallende Ähnlichkeiten zwischen der paphlagonischen und der
mykenischen Kunst weisen auf eine annähernd gleiche Entstehungszeit hin.
Als äusserste zeitliche Grenze, bis zu welcher die Felsengräber errichtet
wurden, sieht L. den Kimmerier-Einbruch an. Zum Schluss werden einige
befestigte Anlagen aus vorgeschichtlicher Zeit beschrieben.
Dr. A. Götze-Berlin.
355. R. Robert: Über einige in Phrygien ausgegrabene sehr alte
Gegenstände. Mittei], zur Geschichte der Medizin u. Natur-
wissenschaft, 1902. Bd. I, Heft 4.
Ausgrabungsgegenstände aus altphrygischen Gräbern der von G. und
A. Körte vermuteten Stadt Gordion bei dem Dorfe Tebi gelangten seitens
Koberts zur mikroskopischen und chemischen Untersuchung. Das Holz der
Totenkammer war Koniferenholz; eine dunkle, krümelige Masse erwies sich
als ein aromatisch riechendes, stark rauchendes Räucherpulver. Ehr schmutzig-
braun gefärbtes Gewebsstück, welches wie mit Blut durchtränkt aussah,
B. Referate. Urgeschichte. — 0. Tagesgeschichte. 319
war eia mit Kupferrost bedecktes Leinwandstück; ein anderes Leinengewebe
war mit Indigo sehr gut blau gefärbt, woraus sich ergiebt, dass die Phönizier
schon zu homerischen Zeiten feine Gewebe herzustellen und gut zu färben
verstanden. Bei dem Gerben von Leder scheint nicht Gerbsäure, sondern
verschiedene Salze verwendet worden zu sein. In einem Salbgefässe fanden
sich Reste von phrygischer Butter, wohl die älteste der Welt, da sie ca.
2500 Jahre alt ist. Doch hat sie sich infolge Einwirkung des Grund-
wassers stark verändert; es erfolgte eine teilweise Umwandlung der Neutral-
fette in freie Fettsäuren und dann in fettsaure Salze, d. h. Leichenwachs.
Dr. Oskar v. Hovorka - Wien.
Ç. Afrika.
356. V. Jacques: Instruments de pierre du Congo. Collection
Haas. Mém. de la Société d’anthrop. de Bruxelles, 1901.
Teil XIX, S. 1—32, mit 20 Taf.
Während bisher in Museen und Privatsammlungen insgesamt nur einige
100 Steingeräte vorhanden waren, welche vom unteren Congo und der Gegend
der Katarakte stammen, hat Haas eine Sammlung von 655 Stück zusammen-
gebracht und zwar von einer einzigen Station, einer Werkstätte in der
Gegend von Tumba, über deren Beschaffenheit man leider nichts Näheres
erfährt. Die Sammlung setzt sich aus folgenden Gruppen zusammen: 555 Pfeil-
spitzen; 45 Entwürfen von Spitzen, Schlagsplittern, Schabern und Messern;
15 Lanzenspitzen und Dolchen; 4 geschliffenen Beilen; 33 geschlagenen
Beilen und Beilchen, Schabern und Messern; 3 verschiedenen Gegenständen.
Die Geräte haben teils in Form und Technik grosse Ähnlichkeit mit euro-
päischen Typen der älteren Steinzeit, teils nähern sie sich oder gleichen
solchen der jüngeren Steinzeit. Dr. A. Götze-Berlin.
C. Tagesgeschichte.
Berlin. Professor F. von Luschan wurde von dem Anthropological Institute
of Great Britain and Ireland in London zum Ehrenmitglied erwählt.
Cassel. Das Programm der (TI.) Abteilung für Anthropologie, Ethnologie
und Prähistorie der vom 20.—28. September zu Cassel tagenden 75. Versammlung
deutscher Naturforscher und Ärzte weist folgende Vortrüge auf: Achelis (Bremen),
Die Religion als Objekt der Völkerkunde. — Alsberg (Cassel), Das erste Auftreten
des Menschen in Australien (unter Vorführung von Gypsabgüssen von Fuss- und
Gesässabdrücken des Menschen im australischen Sandstein). — Blasius (Braun-
schweig), 1. Megalithische Bauten des nordwestlichen Deutschlands. 2. Vorge-
schichtliche Befestigungen im Braunschweigischen und am Harze. 3. Anthropo-
logische Funde in den Harzer Höhlen. — Gorjanovic-Kramberger (Agram), Neuer
Beitrag zur Osteologie des diluvialen Homo Krapinensis (verbunden mit Vorzeigung
von neu ausgegrabenen Knochenresten des Diluvial-Menschen von Krapina). — Hagen
320
C. Tagesgeschichte.
(Frankfurt a. M.), Über Rassen-Wachstum. — Hoops (Heidelberg), Die Baumnamen
und die Urheimat der Indogermanen. — Krause (Berlin), Über den chinesischen
Volkscharakter. — Mehlis (Dürkheim a. H.), Neue Grabhügel-Untersuchungen am
Mittelrhein und deren Methode. — Nolte (Gleiwitz), Die Ursachen der indoger-
manischen Völkerwanderung. — Schwalbe (Strassburg i. E.), Über die Stirnnaht bei
den Affen. — Stieda (Königsberg i. Pr.), Über die Anatomie alter und neuer Weih-
geschenke. — Wilser (Heidelberg), Über die Urheimat des Menschengeschlechts.
Köln a. Rh. Am 1. August fanden sich eine Anzahl Herren zur Begründung
einer anthropologischen Gesellschaft zusammen; mit den vorbereitenden Schritten
wurden die Herren Rektor Rademacher, Arzt Dr. Bermbach und Arzt Dr. Baron
v. Ofele betraut.
Kopenhagen. Am Johannistage liess die Direktion des Nationalmuseirrns
vor diesem Gebäude 2 Musiker der Kgl. Kapelle auf einigen der im Museum be-
findlichen vorgeschichtlichen Bronzehörnern, den sogen. Luren, ein Konzert veran-
stalten, bei welchem der sanfte Klang und dabei doch bedeutende Tonumfang dieser
Jahrtausende alten Musikwerkzeuge die allgemeine Bewunderung des zahlreich ver-
sammelten Publikums erregten.
München. Prof. Dr. Joh. Ranke wurde als baierisches Mitglied der römisch-
germanischen Kommission des Kaiserl. Deutschen Archäologischen Instituts berufen.
Paris. Eine internationale Jury verlieh den Angrand-Preis in Höhe von
5000 Francs Dr. Rene Verneau für sein Werk „Les anciens Patagons“. Bei dem
gleichen Anlass erhielt Dr. Carl Lumbholtz eine ehrenvolle Anerkennung für seine
Untersuchungen unter den Tribus der Sierra Madre in Mexico, besonders den
Huicholes und Tarahumares.
St. Petersburg. Die Russische Geographische Gesellschatt verlieh die grossen
goldenen Medaillen ihrer Sektion für Ethnographie an Prof. V. A. Zhukovsky für
sein Werk über Persische Folklore und an V. N. Perets für ethnologische Arbeiten.
Schwerin. Zum Direktor des Grossherzoglichen Museums ist an Stelle des
verstorbenen Prof. Dr. Schlie der seither in Rom lebende Dr. Ernst Steinmann
berufen worden.
Aufruf.
Von allen Seiten ist der Wunsch laut geworden, als Zeichen unserer Dank-
barkeit und zur Aufmunterung für zukünftige Geschlechter unserem Virchow in
Berlin, der Stätte seiner Entwickelung und Hauptwirksamkeit, an öffentlicher Stelle
ein Denkmal zu errichten. Das Komitee, welches ihm an seinem 80. Geburtstage
die Virchow-Stiftung überreichte, hat es übernommen, diese Aufgabe auszuführen
und richtet deshalb an die Schüler, Kollegen, Verehrer und Freunde unseres grossen
Meisters Rudolf Virchow die Bitte, sowohl selbst einen Beitrag zu spenden, als auch
in ihren Kreisen zu Beiträgen aufzufordern.
Unser Schatzmeister, Herr Geh. Kommerzienrat E. von Mendelssohn-Bartholdy,
ist bereit, solche unter der Adresse: Bankhaus Mendelssohn & Cie., Berlin W., Jäger-
strasse 49/50, in Empfang zu nehmen.
Alle Mitteilungen, soweit sie nicht die Einzahlung von Beiträgen betreffen,
bitten wir an unsern Schriftführer, Herrn Prof. Dr. Posner, Berlin SW., Anhalt-
strasse 7, zu richten. Der geschäftsführende Ausschuss.
Internationales Centralblatt
für
Anthropologie und verwandte Wissenschaften
in Verbindung mit
D. Anutschin-Moskau, T. de Aranzadi-Barcelona, G. Colini-Rom,
A. Götze-Berlin,Fr. Heger-Wien, J. Heierli-Zürich, A. H. Keane-London,
Y. Koganei-Tokyo, F. v. Luschan-Berlin, L. Manouvrier-Paris,
R. M art in-Zürich, 0. Montelius-Stockholm, S. R e in a ch-Paris,
L. Stieda-Königsberg, A. v. Török-Budapest und anderen Fachgenossen
herausgegeben und geleitet von Dr. phil. et med. G. BuSChcM, Stettin.
Stadt und Land II.
Genealogie und Anthropologie.
(Fortsetzung-.)
Von Dr. J. H. F. Kohlbrugge-Sidhoardjo (Java).
Weit schwieriger war es für mich, die Genealogie der Portu-
giesischen Juden zu studieren, und zwar, weil über diese keine Vor-
studien Vorlagen; ich kann hier nur einige, immerhin interessante
Daten bringen. Die portugiesischen Juden kamen teils 1590, die
meisten erst um die Mitte des 17. Jahrhunderts nach Amsterdam.
Sie wurden ihrer hohen Bildung und auch ihrer Einkünfte wegen
für die Aristokratie der Juden angesehen, sie vermischten sich nie
mit den sogenannten Deutschen oder Polnischen Juden; sie standen
eben durch ihre Bildung den Christen näher, und gingen in letzter
Zeit auch öfter mit diesen Ehen ein, manche traten auch zur refor-
mierten Kirche über, wobei streng darauf geachtet wurde, dass alle
Mitglieder der portugiesischen Gemeinde wirklich aus Portugal
stammen. Einige Familien kamen allerdings erst nach 1650 nach
Amsterdam, ’) aber diese hatten nach der Flucht aus Portugal immer
in grossen Städten wie Paris, London und Antwerpen gelebt, bevor
sie sich in Amsterdam niederliessen. Dem Stadtleben hatten sich
also alle, wenigstens seit 1650 angepasst: von diesen Juden sagt
man heute, dass sie stark degenerieren, und zwar besonders wegen
der vielen konsanguinen Ehen, zu denen sie sich genötigt seheu, da
sie mit anderen Juden nicht heiraten wollen und die meisten die Ehe
mit Christen verabscheuen. Nun heiraten nur die wohlhabenden
Familien untereinander und beschränken ihre Kinderzahl, um das
1) Alles was ich hier mitteile, beruht auf historischen Studien im Archiv
der Stadt Amsterdam, dessen Archivar ich sehr zu Dank verpflichtet bin.
Intern. Centralblatt für Anthropologie. 1903. 21
322
A. Originalarbeit.
Vermögen nicht zu zersplittern; die Natalität ist also gering, aber
auch die Mortalität. Die Wohlhabenheit geht immer mehr zurück,
eben weil diesen Aristokraten nicht jeder Arbeitskreis genehm ist,
und viele heute am liebsten nicht mehr arbeiten. Zwar ist mir be-
kannt, dass nicht alle Forscher den degenerierenden Einfluss kon-
sanguiner Ehen anerkennen, aber in diesem Falle werden sie ihn
zugeben müssen, weil die meisten portugiesischen Juden nerven-
schwache Neurastheniker oder abnormale Geister sind, ganz in dem
Sinne, den man in Frankreich dem Worte „dégénérés“ beilegt. Ich
glaube also nicht, dass man den Zurückgang dieser Rasse dem Stadt-
einfluss zuschreiben darf; jedenfalls ist er sehr wenig geeignet, um
einen günstigen Eindruck von dem städtischen Einflüsse zu geben.
Trotzdem fand ich folgendes: Im Jahre 1780 wurde ein Verzeichnis1)
derjenigen portugiesischen Familienhäupter angefertigt, welche Bei-
träge zahlen konnten. Diese, d. h. nur die wohlhabenderen, ver-
teilen sich auf 66 Familiennamen. Es hatten diese Familien also
bereits 130 bis 190 Jahre in Amsterdam gelebt, also 4—6 Gene-
rationen lang, und bei Nachfrage im Archiv der Synagoge stellte
sich heraus, dass von diesen 166 Familiennamen heute nur noch die
Hälfte in Amsterdam zu finden sind. Nehmen wir nun an, was aber
thatsächlich unrichtig ist, dass diese verschwundenen Namen nicht
durch Verzug abgingen, sondern ausstarben, dann würden doch noch
84 Geschlechter übrig bleiben, die jetzt 250 bis 300 Jahre in Amster-
dam gelebt haben. Manche von den so als ausgestorben ange-
nommenen leben aber heute an anderen Orten noch fort, andere
wurden Christen und dann dürfen ihre Namen nicht mehr erwähnt
werdeu. Das oben erwähnte Verzeichnis vom Jahre 1780 erwähnt
alle erwachsenen männlichen Mitglieder einer Familie, soweit sie
einen eignen Hausstand gegründet hatten; dabei fällt auf, dass ganz
wie bei den oben erwähnten Regentengeschlechtern sich einzelne
Familien durch aussergewöhnliche Fruchtbarkeit auszeichnen, wie
die folgende Tabelle zeigt.
Anzahl selbstständiger männlicher Repräsen- tanten 33 26 21 15 14 13 10 8 7 6 5 4 3 2 1
Anzahl der Familien 1 1 1 1 1 1 5 3 4 4 7 9 18 39 69
Ich habe auch diese Zahlen aufgeführt, weil sie trotz 130 bis
190 Jahre Stadtleben noch eine erhebliche Fruchtbarkeit bezeugen.
Es leben zur Zeit noch 5000 portugiesische Juden in Amsterdam,
1) Dieses Verzeichnis verschaffte mir der Archivar der Stadt Amsterdam-
A. Originalarbeit.
323
die sich auf 151 Geschlechter verteilen; jedes Geschlecht würde also
noch durch 83 Mitglieder repräsentiert sein. Wir sehen hieraus,
dass es mit dem Aussterben noch nicht so arg bestellt ist, und alles,
was darüber geredet wird, gilt wohl mehr für die am meisten hervor-
tretenden Geschlechter, wo man, wie bei manchen Adelsgeschlechtern
Deutschlands, nur innerhalb des Familienkreises heiratet und dann
mit oben erwähntem Eesultat.
Andere Zahlenreihen kann ich den Untersuchungen des
statistischen Bureaus entnehmen. Dieses untersuchte nämlich den
Einfluss des Wohlstandes auf Mortalität und Natalität. Sofern es
nun gestattet ist, anzunehmen, dass die wohlhabenden Familien länger
in den Städten gewohnt haben, als die ärmeren, kann man aus diesen
Zahlen auf den Einfluss des Stadtlebens schliessen. So wurde in der
Stadt Dordrecht (38000 Einwohner) die Natalität von 786 Familien
ermittelt, deren Ehen von 1877—1881 geschlossen wurden, also (1897)
nach 16—20 Jahren Ehe. Dabei wurden die Familien nach dem
Wohlstände in vier Gruppen eingeteilt.
Wohlstandsgruppe I ärmste II III IV reichste
Anzahl der Geburten mit Einschluss der Totgeborenen pro Familie . . . 5,76 5,68 4,94 4,16
Totgeborene auf 100 Geburten .... 3,27 3,86 2,87 2,50
Anzahl der Kinder, welche das 5. Lebensjahr erreichten pro Familie 4 4 3,7 3,5
Aus diesen Zahlen geht hervor 1. dass in ärmeren Kreisen weit
mehr Kinder geboren werden, aber 2. auch die Anzahl totgeborener
Kinder weit grösser ist, als bei den wohlhabenden Familien, dass
3. auch die Mortalität bei den ärmeren Familien weit grösser ist,
wodurch die Unterschiede sich schliesslich zum Teil ausgleichen, denn
wenn man auf die Anzahl Kinder achtet, welche das 5. Lebensjahr
erreichen, dann sind die für die wohlhabenden ungünstigen Unter-
schiede weit geringer geworden. — Es muss weiter hervorgehoben
werden, dass die Mortalität auch bei den wohlhabenden Familien
schnell zunimmt, wenn die Natalität ansteigt. Demnach ist die hohe
Mortalität nicht eine Folge der Armut; ich denke vielmehr, dass
wir sie der durch viele Geburten hervorgerufenen Schwächung der
Mutter zuschreiben müssen.
Somit darf es als abgemachte Thatsache gelten, dass Kinder
aus kleineren Familien eine bessere Anwaltschaft auf das Leben
haben, als Kinder aus grösseren Familien.
21'
324
A. Uriginalarbeit.
In gleicher Weise wurden 3972 Ehen in Kotterdam untersucht,
einer Grossstadt mit 318000 Einwohnern. Das Ergebnis war folgendes:
Wohlstands gruppe I ärmste II III IY reichste
Anzahl der Geburten mit Einschluss der Totgeborenen pro Familie . . . 5,59 5,04 4,18 4,19
Totgeborene aut 100 Geburten .... 3 3,21 3,85 2,80
Anzahl der Kinder, die das 5. Lebens- jahr erreichten, pro Familie .... 4,02 3,72 3,14 3,47
Die Unterschiede zwischen beiden Tabellen sind keine besonders
grossen. Nur zeigt sich, dass die Ehen in der kleinen Stadt Dordrecht
fruchtbarer ausfallen, aber da die Mortalität dort auch grösser ist,
so gleichen sich die Unterschiede so ziemlich aus, denn wenn man
nur die Kinder berücksichtigt, welche das 5. Lebensjahr erreichen,
dann erhält man ungefähr das gleiche Mittel: es übt die fast zehn-
mal grössere Stadt somit keinen viel schlechteren Einfluss auf die
wirkliche Vermehrung aus. Die Ausgleichung der Unterschiede legt
den Gedanken nahe, dass eine Familie nur eine bestimmte Anzahl
Kinder grossziehen kann. Wie dem auch sein möge, jedenfalls bleiben
die ärmeren Familien im Vorteil, wenn die Unterschiede auch gering
sind. !) Man hat wohl angenommen, dass die wohlhabenden Familien
darum weniger fruchtbar sind, weil die Männer später heiraten. Es
genügt diese Thatsache aber nicht zur Erklärung des Unterschiedes,
denn aus den ärmeren Familien traten 73 % der Männer vor dem
30. Jahre in die Ehe, von den wohlhabenden 64°/0, also beträgt der
Unterschied nur 9%. Ausserdem ist die Fruchtbarkeit des Mannes
doch so wenig eingeschränkt, dass solcher Unterschied ganz wertlos
wird, zumal sich für diese Städte herausstellte, dass die Frauen der
verschiedenen Gruppen ungefähr in gleichem Alter heiraten. Ich
glaube, dass der Unterschied in der Fruchtbarkeit nicht physischen,
sondern psychischen Ursachen zuzuschreiben ist, es will die Bourgeoisie
eine kleine Kinderzahl und erreicht dies durch den Neo-Malthusianismus ;
anderseits ertragen auch manche Mütter der besseren Stände eine
grössere Zahl Geburten nicht, aus bleichsüchtigen Mädchen werden
keine kräftigen Weiber; diese Schwächung der Mütter könnte dann
1) Es werden diese Unterschiede natürlich bei Multiplikation weit grösser,
in etwa Jahren werden 100000 Ehen der Arbeiter ungefähr 402000 Kinder pro-
duzieren (welche fähig sind, 5 Jahre alt zu werden), während 100000 Familien
der reichsten Klasse nur 347000 Kinder besitzen werden. Wir werden weiter
unten sehen, dass diese Berechnung uns aber auf Irrwege führt.
A. Originalarbeit.
325
allerdings dem Einfluss der Stadt zugeschrieben werden. Falls sich
nun aber herausstellen sollte, dass auch auf dem Lande die wohl-
habenden Familien weniger kinderreich sind, dann würde jeder Grund
fortfallen, die Ursachen der geringeren Fruchtbarkeit dem Stadt-
leben zur Last zu legen, und es könnte zur Erklärung nur noch der
bei allen wohlhabenden Leuten hervortretende Wunsch nach frei-
williger Beschränkung der Kinderzahl herangezogen werden; wir
wissen ja auch, dass wohlhabende Bauern gern die Kinderzahl ein-
schränken, um den Grundbesitz nicht zu sehr zu zerteilen.
Vergleichen wir nunmehr Stadt und Land. Es gelangten durch
oben genanntes statistisches Bureau 4685 auf dem Lande lebende
Familien zur Untersuchung, die wir denen der oben genannten Städte
(4758 Familien) gegenüberstellen können.
Anzahl Geburten pro Familie mit Ein- schluss der Totgeborenen
Gruppe I ärmste II III IV reichste
Stadt .... 5,61 5,21 4,35 4,18
Land .... 5,19 5,09 4,75 4,50
Totg eborene pro 100 Geburten
Gruppe I II III IV
Stadt .... 8,03 3,41 3,60 2,72
Land .... 3,36 3,70 3,98 2
Aus dieser Tabelle geht hervor, dass auch auf dem Lande die
Natalität bei der wohlhabenden Klasse geringer ausfällt, als bei den
ärmeren Klassen. Soweit hat der Einfluss der Städte damit nichts
zu schaffen. Es geht aus diesen Zahlen hervor, dass die Frucht-
barkeit in der Stadt bei den ärmeren Leuten sogar grösser ist; sie
ist demnach auch im Durchschnitt grösser, weil es viel mehr arme
als wohlhabende Leute giebt. Auch ist die Anzahl der Totgeborenen
auf 100 Geburten auf dem Lande (3,56) grösser, als in der Stadt (3,15).
Aber auch hier zeigt sich nun wieder eine nivellierende Kraft; die
Zahl der Stadtkinder wird im Vergleich zu denen der Landkinder
wieder herabgedrückt durch grössere Mortalität bei ersteren. Das
zeigt sich deutlich, wenn wir berechnen, wieviele Kinder pro Ehe
das 5. Lebensjahr erreichen.
326
A. Origmalarbeit.
Gruppe I II III IV
Stadt 4 3,8 3,27 3,5
Land 4,13 4,1 3,93 3,82
Wir finden hiernach für die besseren Stände einen nicht unbe-
deutenden Überschuss zu Gunsten des Landes; für die Armen sind
die Zahlen fast gleich. Somit müssen die ländlichen Familien, soweit
sie wohlhabend sind, sich schneller vermehren, als die städtischen.
Ein ungünstiger Einfluss der Städte wäre demnach nachgewiesen.
Berechnet man den Durchschnitt für die 4685 Landehen und die
4758 Stadtehen, dann stellt sich heraus, dass auf dem Lande 4,08
Kinder pro Familie das 5. Lebensjahr erreichen und in der Stadt 3,86;
bei 100000 Ehen würde man also einen Unterschied von 22000
Menschen in etwa 20 Jahren zu Gunsten des Landes konstatieren
können, und zwar nicht etwa wegen grösserer Fruchtbarkeit der
Landleute, sondern wegen der grösseren Mortalität in der Stadt.
Man beachte weiter, dass die Unterschiede zwischen den Ständen
auf dem Lande geringer sind als in der Stadt. Weiter kann ich
hinzufügen, dass die Kinder der kinderreichen Ehen auch auf dem
Lande bei allen Ständen eine schlechtere Lebensaussicht haben, als
Kinder aus weniger fruchtbaren Ehen.
Der gefundene Unterschied zwischen Stadt und Land ist nicht
zu erklären durch das Alter, in dem die Ehen geschlossen werden,
denn die Frauen heiraten auf dem Lande in demselben Alter wie in
der Stadt, und merkwürdiger Weise heiraten die Männer sogar später
als in der Stadt,*) denn in letzterer heiraten 71 % vor dem 30. Lebens-
jahr, auf dem Lande hingegen nur 57,44%. Das sind also 14%
zu Gunsten der Stadt, während der Unterschied zwischen den ver-
schiedenen Ständen in der Stadt nur 8% betrug. Deshalb darf man
den Schluss machen, dass die geringere Fruchtbarkeit der wohl-
habenden Klasse in der Stadt nicht durch das Faktum erklärt werden
kann, dass die Männer aus besseren Ständen etwas später heiraten.
— Ich bin überzeugt, dass auf dem Land und in der Stadt die
besseren Stände nur darum weniger Kinder haben, weil sie weniger
Kinder wünschen. Da eine zunehmende Kinderzahl nicht als Ver-
mehrung der Arbeitskraft gelten kann, wird man weniger Kinder
wünschen. Dies gilt besonders für die wohlhabenden Familien, bei
denen die Kinder nur Geld kosten, ohne durch ihre Arbeit den Wohl-
1) Die Männer der verschiedenen Stände auf dem Lande zeigen in Bezug
auf das Alter der Eheschliessung dieselben Unterschiede wie in der Stadt.
A. Originalarbeit.
327
stand zu mehren. Übrigens sinkt ja in den meisten Ländern Europas
die Natalität herab; sie sank in Holland von 37,35 pro 1000 im
Jahre 1885 auf 30,91 pro mille im Jahre 1894.
Wir haben nun nachgewiesen, dass die wohlhabenden Familien
weniger Kinder grossziehen, als die ärmeren, auch wenn man nur
auf die Kinder achtet, welche das 5. Lebensjahr erreichen. Da wir
nun wiederholt beobachteten, dass die Mortalität die Unterschiede
in der Natalität fast zum Verschwinden bringt, so entsteht die Frage,
ob nicht jeder Unterschied verschwinden würde, wenn man berechnen
könnte, wie viele Kinder aus den verschiedenen Ständen sich fort-
pflanzen, also selbst Ehen schliessen, denn darauf kommt es doch
eigentlich an. Es könnte sogar sein, dass sich dann herausstellen
würde, dass die besseren Stände relativ produktiver sind, sich schneller
vermehren, als die armen Leute. Diese Frage ist leider nicht direkt
zu beantworten, da man die Kinder bestimmter Ehen wegen der
Freizügigkeit nicht so weit verfolgen kann. Indirekt kann man
aber diese Frage wohl beantworten. Dazu können die Sterbetafeln
der Stadt s’Gravenhage von (1866—1884) uns behülflich sein. In
dieser Stadt wohnen nämlich 71 °/0 der Arbeiter in bestimmten, scharf
umschriebenen Häuserkomplexen, sogenannten „Höfen“, welche sich
in verschiedenen Gegenden der Stadt vorfinden. Vergleicht man nun
die Bewohner dieser Höfe (41000), also die ärmsten Familien, mit
der übrigen Bevölkerung (92000), dann ergiebt sich, dass auf 1000
Geborene
Arbeiter Übrige Be- völkerung Unterschied in %
1 Jahr alt wurden 791 809 18
5 Jahre alt wurden 711 734 23
20 Jahre alt wurden 670 699 29
Diese Zahlen zeigen recht deutlich, dass die Mortalität unter
den Kindern der Arbeiter nicht nur vom 1. bis 5. Lebensjahr grösser
ist, als bei der übrigen Bevölkerung, sondern dass der Unterschied
noch nach dieser Zeit zunimmt, sodass verhältnismässig weniger
Arbeiterkinder das 20. Jahr erreichen, als bei der übrigen wohl-
habenderen Bevölkerung. Wir dürfen also schliessen, dass, wenn
man alle Kinder bestimmter Ehen bis zum 20. Jahre verfolgen könnte,
sich ergeben würde, dass die wohlhabenden Eltern ebensoviel oder
noch mehr Kinder zur Fortpflanzung bringen, als die Arbeiter. Der
oben festgestellte Unterschied zu Gunsten der ärmeren Stände wird
328
A. Originalarbeit. — B. Referate. Anthropologie.
demnach ganz verschwinden. Es haben also die Städte keinen
schlechten Einfluss auf die wohlhabenden, länger in ihnen verweilenden
Familien; es kann keine Rede davon sein, dass diese Familien durch
das Stadtleben aufgerieben werden.
Es wäre allerdings in dieser Beziehung noch eine Frage zu
beantworten. Wenn bei verschiedener Fruchtbarkeit der Stände die
Anzahl der selbst zur Befruchtung gelangenden Kinder ungefähr die
gleiche ist,1) und auch die Anzahl steriler Ehen die gleiche ist,
wird dann vielleicht trotzdem ein relativer Unterschied zwischen
den Klassen hervorgerufen, indem verhältnismässig mehr Leute aus
der einen Klasse ledig bleiben als aus der anderen? Auf diese
Frage kann ich einstweilen keine Antwort geben; ich vermute aber,
dass die Unterschiede in dieser Beziehung nicht gross sind. Wie
dem auch sei, es würde mich sehr freuen, wenn meine Resultate in
anderen Ländern Nachprüfung erfahren würden, und so lange dies
nicht geschehen ist, möge man meine Schlüsse nicht mit der aprio-
ristischen Bemerkung zurückweisen, dass das, was für Holland gilt,
für andere Länder nicht richtig zu sein braucht. Mit diesem Argu
ment könnte ich auch die Untersuchungen anderer Forscher zurück-
weisen, bis alle Länder untersucht sein werden. Ich glaube auch
nicht, dass in dieser Weise mein von anderen Forschern abweichendes
Resultat erklärt werden kann; wir verfolgen eben verschiedene
Methoden. Nun mögen andere entscheiden, welche Methode die
beste ist.
B. Referate.
I. Anthropologie.
357. Le Double: Les variations osseuses. Gazette médicale du
Centre. (Tours) 1903. Année VIII, Nr. 1.
Sowie früher von Le Double eine Abhandlung über die Varietäten
des Muskelsystems erschienen ist, versucht er jetzt eine ähnliche Klassi-
fikation der Knochenvarietäten des Schädels aufzustellen; dabei stellt er
sich vorzugsweise auf dem vergleichend-anatomischen Standpunkt. Erste
Gruppe: Reversive, theromorphische, atavistische oder Vererbungsvarietäten
(z. B. zungenförmige Lambdaapophyse, Torus occipitalis transv. etc.). Zweite
Gruppe: Durch Verknöcherung der Dura mater oder eines fibrösen Liga-
mentes bedingte Varietäten (z. B. doppeltes, dreifaches, vierfaches For.
1) Auch dies wurde durch obengenanntes Bureau nachgewiesen.
B. Referate. Anthropologie.
329
condyl. ant). Dritte Gruppe: Durch Eindrücke der Gefässe, Nerven oder
Gehirnhäute bedingte Varietäten. Vierte Gruppe: Überzählige (Wormssche)
Knochen. Fünfte Gruppe: Vermehrte Ossifikationspunkte. Sechste Gruppe:
Abweichungen von der mechanischen Ordnung (Hydrocéphalie, Mikrocephalie
etc.). Siebente Gruppe: Dystrophische Varietäten (z. B. Pneumatisation
der Apophysen im Keilbein und Hinterhauptsbein; senile Atrophie des
Schädeldaches). Achte Gruppe: Missbildungsvarietäten.
Dr. Oskar v. Hovorka-Wien.
358. G. Paravicini: Prebasioccipitale in cranio adulto. Gazetta
del Manicomio della Prov. di Milano, 1903. (8 S.)
Eine für die Entscheidung der Ossifikationscentrenfrage nicht unwichtige
Varietät fand P. bei einem Irrenschädel des Irrenhauses zu Mombello, bei
welchem sich ein fast vollkommen individualisiertes, durch Verwachsen des
Synchondrosis sphenobasilaris mit dem Postsphenoides ganz verschmolzenes und
vermittelst einer etwa 9 mm breiten Knochenbrücke mit dem os basioccipitale
verbundenes os praebasioccipitale zeigte. Von Albrecht wurde dieser im
J. 1878 beschriebener Knochen (Os basioticum) als der Körper des ersten
Schädelwirbels im Sinne Göthes und Owens aufgefasst.
Dr. 0. v. Hovorka-Wien.
359. G. Paravicini: Fori e canali del basioccipitale. Rendiconti
del R. Istit. Lomb. di sc. e lett. 1903. Serie II, Vol. XXXVI.
Milano 1903. S. 480—488.
Um die grundlegende Arbeit W. Grubers (nicht Grüber!) über die
verschiedenen Kanäle des Hinterhauptsbeines zu revidieren, welche sich auf
4000—5000 Schädel erstreckt, untersuchte P. 296 Schädel des Irrenhauses
zu Mombello in derselben Richtung und half viel dabei mit einer gefärbten
Flüssigkeit, die er mit einer Pravazschen Spritze injicierte. Während Gruber
alle Kanäle in drei Gruppen vereinigte, teilt P. die basioccipitalen endo-
und ektokranischen Foramina folgendermassen ein: 1. Canalis basilaris
medianus superior (von welchen er zwei besondere Fälle beschreibt), 2. Can.
basilaris inf. vel cordalis, 3. Can. verticalis, 4. Can. uniperforatus. Er be-
antragt von den drei Gruppen Grubers (1. Can. basilaris medianus sup.,
2. Can. basilaris inf., 5. Canalis basilaris medianus bifurcatus) die dritte
zu streichen. Dr. O. v. Hovorka-Wien.
360. G. Paravicini: Interparietali e preinterparietali. Rendiconti
del R. Istit. Lomb. di scienze e lettere, 1903. S. II, Vol.
XXXVI. S. 129—148.
P. unterwirft eine Arbeit des Dr. Rossi, welcher sich mit demselben
wissenschaftlichen Material (Schädelsammlung in Mombello) vor kurzem be-
330
B. Referate. Anthropologie.
schäftigte, einer Nachprüfung, indem er in seiner Arbeit mehrere Unrichtig-
keiten gefunden zu haben geglaubt. Er beschäftigt sich vorzugsweise mit
den zahlreichen Varietäten des Scheitelbeines und beschreibt ausführlich
vier Fälle von os interparietale und 36 Fälle von os prae-interparietale.
Vorsichtshalber enthält er sich hierbei einer jeden percentuellen Berechnung.
Dr. Oskar v. Hovorka- Wien.
361. G. Paravicini: Di alcune nuove ossicina suturo-fontanellari.
Rendiconti del R. Istit. Lomb. di sc. e lett. 1902. S. II,
Vol. XXXV, S. 1005—1022.
In dem embryologisch aus mehreren Teilen zusammengesetzten Hinter-
hauptbein können mehrere sonst verknöchernde Nähte persistieren; zu ihnen
rechnet P. vorzugsweise: die Sut. transversa squamae occipitis, S. inter-
praeinterparietalis, S. basiotico-basiooccipitalis und die S. esoccipito-supra-
occipitalis. Er untersuchte in dieser Richtung systematisch die Irrenschädel-
sammlung zu Mombello, sowie die Sammlung von normalen Schädeln des
Prof. Meggi in Pavia und fand hierbei eine Reihe von interessanten Varie-
^a^en • Dr. 0. v. Hovorka-Wien.
362. G. Paravicini: Morfología dell’ osso frontale. Atti della
Soc. ital. di sc. natur. V. XLI. (S. 22.)
In der Schädelsammlung des Irrenhauses zu Mombello fand P. unter
291 Schädeln 31 metopische. Er registriert den heutigen Stand der Kontro-
verse über die Bedeutung des Metopismus; denn während die erhaltene
Stirnnaht von manchen Anthropologen (Broca, Pommerol, Calori u. a.) auf
eine Hypertrophie des Stirnhirns zurückgeführt, demnach als ein Superioritäts-
zeichen angesehen wird, finden sie wieder Andere (Mantegazza, Canestrini)
vorzüglich bei Idioten, Imbecillen und geistesschwachen Individuen. Auch
P. neigt zur letzteren Ansicht. Bei dieser Gelegenheit bespricht er die
Morphologie des ganzen Stirnbeins und nimmt seine einzelnen Bestandteile
systematisch durch, z. B. die Stirnhöcker, die Arcus superciliares, Cristae
frontales laterales, Fossula et Spina trochlearis, Crista frontalis, Sinus frontalis.
Dr. Oskar v. Hovorka- Wien.
363. E. Bloch: Der hohe Gaumen. Zeitschrift f. Ohrenheilk., 1903.
Bd. XLIV, S. 1—40.
Bloch liefert uns in seiner aus der Praxis und für die Praxis ge-
wonnenen Arbeit auch anthropologisch sehr interessante Daten. Er stellt
die Beziehungen fest zwischen hohem Gaumen und habitueller Mundatmung
(Hyperplasie der Rachentonsille). Verf. misst den Gaumen am Lebenden
mit dem Siebenmannschem Palatometer (Siebenmann, Wien. med. Wochen-
schrift 1899) \xnd zwar da, wo der Index am grössten wird (höchste Stelle);
B. Referate. Anthropologie.
331
das ist bei Erwachsenen in 53% hinter dem 2., in 39% hinter dem 1. Prä-
molar, in 8% hinter dem 1. Molar, bei Kindern in % der Fälle hinter
dem 1. Milchbackzahn. „Hoch“ nennt Verf. einen Gaumen, wenn der Index
über 58,0 ist; dann erscheint der Gaumen auch dem Beobachter „hoch“-;
für Kinder (I. Dentition) nimmt er als entsprechende Grenze 50,0 an.
Die Untersuchung von 700 Personen zeigt nun, dass 225 Erwachsene
mit Mundatmung einen mittleren Gaumenindex von 64,2 haben, dagegen
332 solche mit Nasenatmung 53,0. Das Material an Kindern ist noch
nicht so gross, spricht aber in gleichem Sinne: mundatmende Kinder (I. Dentit.)
haben einen Gaumenindex von 53,7, dagegen nasenatmende von 49,3; in
der II. Dentition: mundatmende 58,3, nasenatmende 48,4 (letztere Ziffer
zu niedrig, geringes Material)! Man findet also stets bei Mund-
atmung einen erheblich höheren Gaumen als bei der normalen
Nasenatmung.
Verf. begegnet nun im 2. Teile der Arbeit dem Einwand, als ob der
höhere Gaumen etwa nur in Korrelation mit einem schmalen Gesicht stünde,
indem bei schmalem Gesicht und hohem Gaumen enge Nase eben leichter
Mundatmung einträte. Verf. maass bei allen seinen Gaumen-Untersuchten
die Obergesichtsbreite (Schneide der oberen Incisivi bis Stirn-Nasennaht).
Sein Obergesichtsindex zeigt nun thatsächlich eine gewisse Korrelation, indem
der Gaumenindex bei Leptoprosopen (Grenze der Chamäprosopie = 50,0)
im Mittel 59,4, bei Chamäprosopen 53,0 ist. Aber eine Scheidung der
Mund- und Nasenatmer zeigt äusserst interessante Verhältnisse.
Der Gaumenindex ist im Mittel bei:
179 Leptoprosopen erwachs. Mundatmern 65,4
206 „ „ Nasenatmern 54,8
40 Chamäprosopen „ Mundatmern 60,1
118 „ „ Nasenatmern 50,6.
Wenn der hohe Gaumen nur in Korrelation stände mit dem Schmal-
gesicht, müsste der Durchschnitt aller Schmalgesichter den hohen Index
haben; so aber haben die mundatmenden Breitgesichter einen höheren
Index als die nasenatmenden Leptoprosopen; also gleichviel ob schmales
oder breites Gesicht, die Mundatmung bedingt hohen Gaumen.
Auf einige weitere Erörteruugen, welche mehr den Praktiker inter-
essieren (Beobachtung bei Choanalverschluss) möchte Ref. nicht eingehen,
für die Leser dieser Zeitschrift dürften die referierten Ergebnisse genügen;
sie zeigen uns hoch wichtige Probleme für unsere Auffassung der Schädel-
formen, Probleme, deren Beantwortung bis jetzt kaum noch begonnen hat.
Dr. Eugen Fischer-Freiburg i. B.
332
B. Referate- Anthropologie.
364. H. Pfister: Über das Gewicht des Gehirnes und einzelner
Hirnteile beim Säugling und älteren Kinde. Neurol. Central-
blatt, 1903, Nr. 12.
Yerf. wog 161 Knaben- und 141 Mädchenhime von Kindern im Alter
zwischen 1 Woche und 14 Jahren (wegen Mischehen mit slavischen und
romanischen Elementen nicht ganz rasserein), sodass hier eine schöne Er-
gänzung der Marchandschen Arbeit vorliegt. An 228 von allen Gehirnen
wurden weiter Teilwägungen vorgenommen. Aus den (nur je die Mittel-
werte für jede Altersstufe enthaltenden) Tabellen geht folg, hervor: Das
Gesamtgewicht ist auf allen Altersstufen beim Knaben grösser, anfangs um
weniger, später um mehr. Bei beiden Geschlechtern wird das erste Drittel
der Gesamtzunahme schon am Ende des 8. Monates, das zweite in der ersten
Hälfte des dritten Lebensjahres erreicht, dann geht es immer langsamer;
aber in einzelnen Fällen werden Werte der Erwachsenen schon im 5. Lebens-
jahre erreicht. Auf allen Altersstufen besteht sehr starke Variabilität des
Gesamtgewichtes. Das absolute Kleinhirngewicht ist stets bei Mädchen ge-
ringer, die Differenz wächst mit dem Alter. Auch das Kleinhirngewicht
schwankt individuell sehr, und zwar nicht immer parallel zum Gesamtge-
wicht, sein Mittel ist bei Neugeborenen 20 gr. Die Gewichtszunahme ist
rascher als die des Gesamthirnes; ihr erstes Drittel erfolgt schon im 6. Monat,
das 2. vor Ende des zweiten Jahres. Die absolute Zunahme ist beträchtlich;
das Kleinhirn versiebenfacht sein Anfangsgewicht, während das Gesamthim
sein Gewicht nur vervierfacht. Das Grosshirn allein ist ebenfalls stes bei
Knaben schwerer, zeigt ebenfalls starke Variabilität, in 54,5% war die
linke Hemisphäre schwerer als die rechte. Aus diesen und anderen (hier
nicht wiedergegebenen Details) sieht man, dass eine Verschiebung des relativen
Gewichtes der einzelnen Teile mit dem Wachstum zu Stande kommt, sodass
das Kleinhimgewickt von 5,5% beim Neugeborenen auf fast 11% beim
Erwachsenen, der Hirnrest von 1,6 auf 2% des Gesamtgewichtes steigt,
während das rel. Grosshirngewicht von fast 93% auf 87,5% herabsinkt.
Dr. Engen Fischer-Freiburg i. B.
365. H. Pfister: Zur Anthropologie des Rückenmarks. N eurolog.
Centralblatt, 1903, Nr. 16 u. 17.
Die Untersuchungen des Verf. beruhen auf 72 Rückenmarken v&n
Kindern im Alter von 9 Tagen bis 67a Jahren. Das Material stammte
aus dem Kaiser- und Kaiserin Friedrich-Krankenhaus zu Berlin; bei der
Auswahl desselben war besonders darauf Rücksicht genommen worden, dass
alle Fälle mit irgend welcher organischer Erkrankung im Bereiche des
Centralnervensystems, ferner frühgeborene, hereditär-luetische, schwer rachi-
tische Kinder nicht verwendet wurden.
Diese Beobachtungen ergaben im wesentlichen folgendes Resultat:
B. Referate. Anthropologie.
333
1. Das Rückenmark der Knaben ist auf allen Altersstufen durchschnittlich
schwerer und auch länger als das der Mädchen. 2. Im Verhältnis zum
Gehirn ist das Rückenmark der Knaben von Geburt an leichter, als das
der Mädchen. Bei gleichaltrigen (gleich- wie ungleichgrossen) Kindern
desselben Geschlechts entspricht durchschnittlich einem schweren Gehirn
auch ein schwereres Rückenmark. — Im Laufe des Lebens verschiebt sich
das Verhältnis (Rückenmarksgewicht: Hirngewicht) bei beiden Geschlechtern
in ziemlich gleichmässiger Weise derart, dass der Quotient R/H von weniger
als 1/110 beim Neugeborenen auf etwa 1/50 beim Erwachsenen ansteigt;
es wird also mit zunehmendem Alter das Rückenmark im Verhältnis zum
Gehirn immer schwerer. 3. Das mittlere Rückenmarksgewicht (bei Geburt
3,0—3,4 gr betragend) nimmt im Laufe der extrauterinen Entwicklung bis
ungefähr zum achtfachen (27—28 gr) zu, und zwar ist besonders in den
beiden ersten Jahren das Wachstum ein äusserst starkes und wird späterhin
in gleichen Zeiten immer geringer. 4. Beim Neugeborenen entsprechen einem
Gramm Rückenmark im Mittel 14 cm Körperlänge. Mit zunehmendem Alter
trifft immer weniger Körpergrösse (beim Erwachsenen nur noch etwa 6,2 cm)
auf die gleiche Quantität Rückenmark. — Im Verhältnis zur Körpergrösse
haben die Knaben durchschnittlich ein schwereres Rückenmark als die Mädchen.
5. Die mittlere Länge des Rückenmarks, beim Neugeborenen etwa 14 cm
betragend, nimmt extrauterin bis zum gut dreifachen ihres Anfangswertes
(45 bezw. 43,7 cm) zu. Diese Längenzunahme erfolgt von vornherein
relativ langsam, die in den ersten Lebensjahren stattfindende starke Gewichts-
vermehrung beruht demnach mehr auf einem Dicken-, als Längenwachstum
des Organs. 6. Beim Neugeborenen beträgt die Rückenmarkslänge im
Mittel 29,5% der Körperlänge, sinkt dann anfangs langsam, vom Ende des
1. Jahres sehr rasch auf 26—25% (vielleicht vorübergehend sogar noch
tiefer), welche Zahl schon dem Verhältnis von Rückenmarks- und Körper-
länge beim Erwachsenen ungefähr entspricht. Buschan-Stettin.
366. B. Adachi: Hautpigment beim Menschen und bei den Affen.
Zeitschrift f. Morphologie und Anthropologie, 1903. Bd. VI.
Die eingehende und sorgfältige Arbeit behandelt das Hautpigment bei
Mensch (Weisse), Orang, Schimpanse, Gibbon, Cynocephalus, Semnopithecus,
Macacus, Cercopithecus, Mycetes, Cebus, Chrysothrix, Ateles, Hapale, Lemur.
Unter den Ergebnissen seien die folgenden genannt: Menschliche Neuge-
borene besitzen bereits Hautpigment, jedoch nach Rassen verschieden, hin-
sichtlich Häufigkeit, Verbreitung und Menge. Beim Menschen findet sich
das Pigment meist in grösserer Menge in der Epidermis als im Corium,
dabei sind die Mengen i. A. einander direkt proportional. Im Corium liegt
das Pigment bei Erwachsenen nur in den höheren Lagen. Das Pigment
der Epidermis liegt intracellulär und intercellulär in meist kugeligen
334 B. Referate. Anthropologie.
Körnchen. „Chromatophoren,“ d. h. oft verästelte, meist varicose Pigment-
figuren sind nicht verästelte Pigmentzellen, sondern intercelluläre Anhäufungen
von Pigmentkörnchen und finden sich bei Farbigen und auch bei Weissen.
Im Corium finden sich Pigmentzellen in zwei Lagen, einer tiefen und
einer höheren, in letzterer kommen auch freie Pigmentkörperchen vor.
Pigmentzellen des Corium bleiben stets durch einen Saum deutlich von der
Epidermis getrennt. Die Pigmentzellen der höheren und tiefen Corium-
schicht sind klein; grosse finden sich nur in der Sakralhaut der Kinder in
der Tiefe des Coriums. Prinzipiell gleiche Befunde bieten die untersuchten
Affen; auf Einzelheiten einzugehen, verbietet der Raum, doch sei erwähnt,
dass der Yerf. für Mensch und Affen sehr genaue Angaben über Menge
und Lokalisation des Pigmentes giebt. — Das Hautpigment wird in Epi-
dermis und Corium selbständig gebildet, nicht eingeschleppt. Da bei Affen
eine pigmentreiche Epidermis stets mit pigmentarmen Corium verbunden
ist und umgekehrt, so ist anzunehmen, dass dem Pigment eine physiologische
Bedeutung zukommt (Licht, Wärmeschutz?) und bald die eine, bald die andere
Pigmentschicht zweckmässiger ist. — Yon Bedeutung sind endlich die Angaben des
Yerf. über den „blauen Sakralfleck“ der Neugeborenen und Kinder, in welchem
man ein spezifisches Merkmal der Mongoloiden gefunden zu haben hoffte. Yerf.
giebt zunächst eine geschichtliche Übersicht der bezüglichen Angaben bei
japanischen und chinesischen Schriftstellern und eine Zusammenstellung der
Völker, bei denen er bisher beobachtet worden ist. Der blaue Sakralfleck
der Kinder beruht auf dem Vorhandensein grosser (vergi. Choroidea), tief
liegender Pigmentzellen, neben welchen in den höheren Hautschichten auch
kleine Pigmentzellen wie anderwärts vorhanden sein können. Der Sakral-
fleck findet sich aber nicht nur bei Mongoloiden, sondern, wie
Yerf. nachweist, auch bei Weissen, er ist bei ersteren nur stärker
ausgeprägt und fehlt wohl keiner Rasse vollständig. Yerf. sieht in dem
Sakralfleck nicht eine atavistische Bildung, die verloren gegangen ist und
gelegentlich wieder auftritt, sondern sie ist ein rudimentärer oder in Rück-
bildung begriffener Charakter: Der Mensch trägt in späteren Stufen seiner
Entwickelung ganz normaler Weise Pigmentzellen, die viele Affen lebens-
lang und in grösserer Verbreitung tragen; dem Menschen eigentümlich ist nur
die Lokalisierung dieser Pigmentzellen in der Sakral- und Glutäalgegend.
G. Thilenius-Breslau.
367. V. Giuffrida-Ruggeri: Sulla plasticità delle varietà umane.
Monitore zoolog’, ital., 1903. Anno XIY, Nr. 7, S. 158—167.
Obwohl G.-R. an der Persisteriz von Varietäten und Typen mit Sergi,
Kollmann u. a. streng festhält, giebt er die Existenz von Mischtypen zu;
nur will er einen strengen Unterschied zwischen Mischtypen und Zwischen-
typen ein für allemal feststellen. Jedenfalls giebt es eine gewisse Plastizität
ß. Referate. Anthropologie.
335
bei den menschlichen Varietäten, welche besonders bei den mittelländischen
und eurasischen Schädeln auffallend ist. Als Beispiel führt er die Messungen
bei Juden an, welche Fishberg in New York ausgeführt hat; er fand unter
500 Männern und 215 Weibern eine mässige Brachycephalie, während die
Dolichocephalie äusserst selten war. Und doch sind die Juden den Semiten,
zu welchen die Araber, Phönizier u. a. gehören, und welche dolichocephal
waren, zuzuzählen. Man müsste demnach die Juden nicht als Semiten,
sondern — wie v. Luschan thut, — als Nachkommen der Hittiten oder Hethäer
ansprechen. Ähnliche Gesichtspunkte eröffnen sich bei Betrachtung der
Schädelformen der amerikanischen Mestizzen, bei welchen auch Boas eine
gewisse Plastizität nachgewiesen hat. Br. 0. v. Hovorka-Wien.
368. V. Giuffrida-Ruggeri: Superiorità intelettuale e funzione
genesica. Archivio di psichiatria, 1903. Voi. XXIV, S. 434
bis 436.
Veri, wendet sich gegen die von Richard aufgestellte Theorie, dass
der Mann seine Superiorität einzig und allein dem Umstande verdanke,
dass er mit der Erhaltung seiner Spezies weniger zu thun hat, als das
Weib, und dass infolgedessen die Intelligenz des Weibes mit der Zunahme
der Entbindungen, sowie mit dem vorzeitigen Zeitpunkte der Eheschliessung
bedeutend abnehmen müsse. Br. Oskar v. Hovorka-Wien.
369. Krauss: Über die Vererbung von Geisteskrankheiten. Allgem.
Zeitschrift f. Psychiatrie, 1903. Bd. LX, S. 224—231.
Das Darwinsche Gesetz der gleichmässigen Vererbung, d. h., dass
infolge der Vererbung bestimmte physiologische Zustände der Ascendenz
bei der Descendenz zur Erscheinung kommen, besitzt für die Formen der
Geisteskrankheiten keine Giltigkeit, wie die vom Verf. an dem Materiale
der psychiatrischen Klinik in Heidelberg und an der Irrenanstalt Kennen-
berg angestellten Untersuchungen festgestellt haben. Verf. beschränkte die-
selben nicht nur auf die Eltern und Kinder, sondern dehnte sie auch auf
Geschwisterkinder und dementsprechende Verwandtschaftsgrade aus, wobei
er von der richtigen Voraussetzung ausging, dass, wenn das Gesetz einer
vorwiegend gleichartigen Vererbung für Ascendenz und Descendenz gilt,
wie Vorster auch für Geisteskrankheiten festgestellt haben will, es in gleicher
Weise auch für Geschwisterpaare gelten müsse. Es fand sich gleichartige
Vererbung in 65% bei Eltern und Kindern, 67% bei Geschwistern und
nur 33 Vs% hei Geschwisterkindern. Es verschiebt sich somit das pro-
centuale Verhältnis der ungleichartig erkrankten Fälle sehr zu Ungunsten
der gleichartig erkrankten bei den entfernteren Verwandtschaftsgraden.
Die Untersuchungen stellten ferner eine überwiegende Zielstrebigkeit
im Sinne einer Degenerescenz der Krankheitsform im Vergleiche zu den
336
B. Referate. Anthropologie.
Ascendenten fest, was auch darin zum Ausdruck kommt, dass bei sämtlichen
zur Beobachtung gelangten Descendenten (mit einer einzigen Ausnahme)
die Anstaltsbedürftigkeit durchweg in einem früheren Alter sich einstellte
als bei den Ascendenten. Buschan-Stettin.
370. John E. Weeks: The influence of heredity on the eye.
Medical Record (New York), 1903. Vol. LXIY, Nr. 6, S. 205.
Zusammenstellung der bisher aus der Litteratur bekannt gewordenen
Fälle von erblicher Übertragung von Anomalien des Auges. Über Ver-
erbung von Epicanthus, Ptosis, Colobom der Iris, wie auch der Chorioidea,
Aniridie, Policorie, Albinismus u. a. liegen diesbezügliche Beobachtungen
vor. Besonders häufig wird die Catarakt vererbt; auch Übertragung der
Opticusatrophie, und zwar Generationen hindurch, kommt öfters vor. Bei
den Affektionen der Netzhaut spielt die Erblichkeit gleichfalls eine grosse
Rolle; am häufigsten wird Glaucom, demnächst aber auch Retinitis pigmen-
tosa und Farbenblindheit übertragen. Buschan-Stettin.
371. Isaiah Frank: The hereditary influence in nystagmus remar-
kably illustrated. Medical Record (New York) 1903. Yol.
LXIII, S. 175.
Bemerkenswerter Fall von Vererbung. X, der mit Nystagmus behaftet
war, vererbte diesen Fehler auf ein Enkelkind seiner ersten Frau und eine
Tochter seiner zweiten Frau, sowie 5 Enkelkinder dieser zweiten Frau, ohne
dass die Mütter der mit Nystagmus behafteten Enkelkinder das gleiche
Übel aufwiesen. Buschan-Stettin.
372. E. Rabaud: L’atavisme et les phénomènes tératologiques.
Rev. scientifique. Paris 1903. S. 4, tome XX, S. 129—138.
R. wendet sich gegen einige Auswüchse der transformistischen Theorie,
besonders gegen die übertriebenen Schlussfolgerungen, welche mitunter aus
der Annahme eines Rückschlages in den Atavismus resultieren. Er weist
zunächst darauf hin, dass selbst die Definition des Begriffes „Atavismus“
noch nicht vollkommen festgelegt und streng umgrenzt sei; bei der Deutung
atavistischer Merkmale gehen manche Autoren so weit, dass sie sich mit
der Reproduktion von Charakteren direkter Vorfahren nicht begnügen, sondern
in Ermangelung derselben gleich auf kollaterale greifen. Mit Hilfe der
Kollateralität lasse sich dann alles erklären. Als typisches Beispiel führt
er die Spaltung der Endphalangen beim Menschen an, welche genau mit
dem normalen Zustande bei den Fischen vergleichbar erscheint. Doch ist
es ganz und gar unnötig, so weit zu greifen, denn nach Schenk besteht
ganz normalerweise in einem gewissen embryonalen Stadium eine Spaltung
der vorknorpeligen Elemente der Endphalangen; es liegt in einem solchen
B. Referate. Anthropologie.
337
Falle folglich nur eine Variation in der Histogenèse des Verbindungsgewebes
vor. R. ist überzeugt, dass eine ganze Reihe atavistischer Erklärungsver-
suche in ähnlicher Weise auf ihr richtiges Maass zurückzuführen sei; und
analysiert einige solche „Rückschläge“ in ähnlicher Weise (Polymastie, Mikro-
cephalie, dreigelappte linke Lunge etc.). Indem er den Atavismus als eine
für die Erklärung einer ganzen Reihe von sog. reversiven Anomalien min-
destens unnötige Hypothese bezeichnet, ist er überzeugt, dass dieselben
keineswegs ein Wiedererscheinen von Merkmalen nicht ihrer unmittelbaren,
sondern mittelbaren Vorfahren bedeuten; er sieht sie vielmehr als ganz
neue, auf den Ruinen eines verschwundenen Organes erbaute Organe, als
die Folgen einer Excesserscheinung in der Entwickelung einer abortiven Knospe.
Der Atavismus und Transformismus schliessen sich seiner Meinung nach aus.
Dr. Oskar v. Hovorka - Wien.
373. Metchnikoff et Roux: Inoculation de la syphilis aux singes
anthropoides. Revue scientifique, 1903. Série 4, Nr. 7,
Août 15.
Die beiden Verf. inokulierten Syphilis-Gift auf ein Schimpanse-Weibchen
(Clitoris). Nach 25 Tagen entwickelte sich an der geimpften Stelle ein
kleines opakes Bläschen, das sich in den nächsten Tagen in ein kleines
grauschwarzes Geschwür mit harten Rändern umwandelte. Bald entstanden
auch beiderseits in der Inguinalfalte vollständig indolente Drüsenanschwellungen;
Ausschlag auf der Haut war noch nicht aufgetreten, als das betreffende Tier
in der Académie de médecine vorgestellt wurde. Der bekannte Syphilis-
kenner Fournier, der anwesend war, bestätigte, dass es sich im vorliegenden
Falle zweifelsohne um ein syphilitisches Geschwür handelte. — Der Versuch
erscheint insofern von Wichtigkeit, als es bisher trotz vielfacher Inokulations-
versuche niemanden geglückt ist, die Syphilis auf ein Tier .zu übertragen.
Der Versuch mit dem Chimpansen gelang wahrscheinlich aus dem Grunde,
weil das Blut der Anthropoiden verwandte Eigenschaften mit dem des
Menschen aufweist, wie durch neuere Untersuchungen (s. d. Centralblatt 1903,
S. 83, No. 101) erwiesen ist. Buschan-Stettin.
374. V. Giuffrida-Ruggeri: Considerazioni antropologiche sulP
infantilisme. Monitorezoolog. ital., 1903. Anno XIV, Nr. 4u.5.
Der für die Beurteilung des Infantiiismus als eine Hemmungser-
scheinung in der ontogenetischen Entwickelung maassgebende Zeitpunkt
wird nach Manouvrier in das 15. bis 16. Lebensjahr verlegt.
Für die Abschätzung der infantilen Symptome sind manche Körper-
maasse sehr wertvoll, auf welche in neuerer Zeit Godin aufmerksam ge-
macht hat, so beträgt die Höhendifferenz zwischen Brustwarze und Brust-
beinhöhe im I3V2. Jahre 14 mm, im 14. Jahre 13 mm, im 1472- Jahre
22
Intern. Centralblatt für Anthropologie. 1903.
338
B. Referate. Anthropologie.
12 mm, um später immer mehr und mehr abzunehmen. Ähnlich verhält
es sich mit der Höhendistanz zwischen der Schamhöhe und dem grossen
Trochanter. G.-R. wendet sich nun gegen jene Anthropologen, welche das
Zurückbleiben der Maasse am weiblichen Körper hinter jenen des männlichen
als Infantilismus auffassen wollen, sowie gegen alle polygenetischen Hypo-
thesen überhaupt. Er versucht auch die spezifisch weibliche Schädelform
auf Entwickelungsverschiedenheiten des Gehirns bei den beiden Geschlechtern
zurückzuführen, und bringt das Zeugnis Brocas bei, nach welchem das Stirn-
hirn des Weibes sogar grösser ist als jenes des Mannes.
Es betragen die relativen Gewichte der Gehirnlappen im Alter von
16—91 J. (bei der Annahme der Hemisphäre = 1000):
Stirnlappen Schläfenscheitellappen Hinterhauptslappen
5 427 473 100
(5 431 469 100
Daraus erklärt G.-R. die Geschlechtsunterschiede des weiblichen
Schädels, wie z. B. die gerade Stirne mit hervorspringenden Stirnhöckern,
die geringere Schädelhöhe, die charakteristische Abplattung des Weiber-
schädels im Bregma u. a. Obwohl er an der Unveränderlichkeit der Schädel-
form festhält, giebt er eine Variabilität der langen Knochen zu und sieht
deswegen die hochstehenden Rassen als relativ jung an, da sie sonst mit
der Zeit ihre Plastizität verloren hätten. j)r. o. v. Hovorka-Wien.
375. Kompe: Kasuistische Beiträge zur Lehre von den Miss-
bildungen. München, mediz. Wochenschrift, 1903, Nr. 4.
376. David u. Lipliawsky: Zur Ätiologie der Spalthand. Deutsche
mediz. Wochenschrift 1903, Nr. 24.
Gesunder Vater, gesunde, aber kleine Mutter mit infantilem Gesichts-
ausdruck und kurzer schmaler Oberlippe, zeugen 2 normale Kinder; das
3. besitzt eine einfache Hasenscharte, das 4. einen Wolfsrachen, das 5. eine
doppelte Hasenscharte, doppelte Gaumenspalte und symmetrische Defekte
an beiden Händen und Füssen, und zwar fehlen beiderseits die mittleren
Finger und Zehen samt Metatarsus und Metakarpus, an deren Stelle sind
die Zwischenfingerräume tief verlängert (Spalthand und -Fuss). Syndaktylie
war ausgeschlossen.
Abgesehen von der leichten Anomalie der mütterlichen Oberlippe sind
erbliche Einflüsse auszuschliessen. Ätiologisch wichtig könnten die kümmer-
lichen Verhältnisse der Eltern (Sachsengänger) erscheinen, sowie eine während
der Schwangerschaft erlittene psychische Erregung der Mutter wegen krimi-
neller Bestrafung des Ehemannes. Ob aber diese wirklich die (fast habi-
tuelle) Entwickelungsstimmung des Eies zu erklären vermag, ist mindestens
zweifelhaft.
B. Referate. Anthropologie.
339
Während in diesem Falle ein von der Norm abweichendes Idioplasma,
besonders wegen der ähnlichen Erkrankung der 3 Geschwister anzunehmen
ist, trifft für den 2. Fall die Theorie von den abschnürenden Amnionfalten
zu. Es handelt sich in diesem um ein Fehlen der 3 Phalangen der 3
mittleren Finger. Durch die Spalte zwischen Daumen und 5. Finger, welche
ebenfalls Yerbildungen an sich tragen, wird die Hand in 2 Hälften geteilt.
Am Daumen scheint eine seichte, an den Rändern etwas gewulstete Rinne
auf einen embryonalen Amnionstrang hinzuweisen und so die Deformität
als eine mechanisch verursachte zu beweisen. Irgendwelche Deformitäten
sind in der Familie des im übrigen wohlgebildeten Mannes noch nicht vor-
gekommen. £)r. Kellner-Untergöltzsch.
377. Sioli: Die Entartung des Menschengeschlechts und ihre Er-
scheinungen. Die Umschau, 1903. Bd. VII, Nr. 1 u. 2.
Entartung im allgemeinen ist Rückgang ganzer Generationen mit zu-
nehmenden körperlichen Verbildungen und geistiger Schwächung mit der
Eigenschaft der erblichen Übertragbarkeit. Sie entsteht durch Verkümmerung
der inneren treibenden Kräfte oder durch Mangel an äusseren Hilfsmitteln,
wie bei ganzen Völkern (Lappen, Negritos), so bei einzelnen Volksklassen
(die irische Landbevölkerung, gewisse Arbeiterklassen in England). Diese
Entartungszustände scheinen beim Umschwung der äusseren Verhältnisse
assanierbar zu sein. Eine weitere Ursache der Entartung ist die Kultur-
entwickelung. Ist diese aber notwendig mit Entartung verbunden oder wird
letztere zufällige Begleiterscheinung? Die Naturvölker, welche bekanntlich bei
Berührung mit hochkultivierten Völkern schnell untergehen, werden durch Infek-
tionskrankheiten und Alkohol zu schnell dezimiert, als dass man von Entartung
sprechen könnte. Auch bei dem rapiden Aussterben der Landbevölkerung, so-
bald diese in die Grossstadt zieht, spielen zahlreiche Nebenfaktoren mit.
Wie wir bei gewissen Haustieren sehen, dass einseitig geförderte Eigen-
schaften und Fähigkeiten zur Entartung und zur Fortpflanzungsunfähigkeit
führt (Rennpferd, Merinoschaf, gewisse Tauben- etc. Spezialitäten), so hat
die Kultur und Hyperkultur gewisse Begleiterscheinungen: Verzärtelung,
Widerstandslosigkeit (Unterliegen der alten Kulturvölker). Die mit höherer
Kultur einhergehende grössere Konkurrenz lässt zahlreichere Reizmittel ver-
langen, unter denen der Alkohol das schädlichste ist, die Entartung ver-
ursacht oder für sie den Boden präpariert.
Die äusseren Zeichen der nachlassenden schöpferischen Entwickelungs-
kraft sind die Missbildungen. Der Unterschied zwischen zufälligen Bildungen,
Rückbildungszeichen und Rückschlägen wird betont. Wichtig werden die
Missbildungen beim Hinzutreten geistiger Schwäche. Die praktisch wichtigste
Form der Entartung ist der Schwachsinn mit antisocialen Anlagen, aus dem
■das Verbrechertum erwächst.
22:
340
B. Referate. Anthropologie.
Die Entartung der Kulturnationen beruht zum grössten Teil auf einer
falschen Richtung der Kultur und im Übermaass angewandter Reizmittel.
Natürliche Lebensweise, Abhärtungsmittel, Enthaltsamkeit, Verbesserung der
Volkshygiene kann der Entartung entgegegenwirken.
Dr. Kellner- Untergöltzsch.
378. W. Kruse: Entartung. Zeitschrift für Socialwissenschaft,
1903. Bd. VI, S. 359—376 und 411—434.
K. wendet sich gegen die landläufigen Begriffe der Entartung, wie
sie heute von vielen Anthropologen bei den meisten Kulturvölkern ange-
nommen wird. Die Annahme einer Tendenz der Zivilisation, die Rasse zu
verschlechtern, indem sie die natürliche Auslese im Kampfe ums Dasein be-
schränke, lässt er nicht gelten; er führt aus der Völkerkunde die Busch-
männer, Weddas, Australier, Lappen an, welche der natürlichen Auslese
noch am meisten unterworfen wären, aber doch nicht die vollkommensten
Vertreter der menschlichen Art darstellen. In ähnlicher Weise bestreitet
er die vermeintlich üblen Folgen der „militärischen Auslese“, durch welche
infolge der Kriege die Blüte der männlichen Jugend vorzeitig vernichtet
werden solle, und führt die rasche Regeneration der männlichen Bevölkerung
an, wie sie nach den völkermordenden Kriegen aus der französischen Revo-
lutionszeit, zur Zeit des Napoleons I., sowie nach dem deutsch-französischen
Kriege aufgetreten ist. Die Möglichkeit, auf theoretischem Wege zu end-
gültigen Schlüssen zu gelangen, hält K. überhaupt als ausgeschlossen, da
man es immer nur mit Möglichkeiten zu thun hat, aus welchen der eine
Entartung, der andere Fortschritt folgert, und beide zum Teile Recht haben
können. Als viel wichtiger hält er die Ergebnisse der statistischen Beob-
achtung und zwar vorzugsweise solche über die Sterblichkeit. Aus den
Sterblichkeitstabellen verschiedener Länder ergiebt sich, dass die Mortalität
der Bevölkerung, mit Ausnahme des Säuglingsalters, erheblich abgenommen
hat. In Preussen ist die Sterblichkeit vom J. 1875 bis 1899 in fast allen
Altersklassen seit 20 Jahren um 10—40 Prozent gefallen. Dieser Umstand
ist in erster Linie auf die Besserung der Lebensbedingen und auf die
hygienischen Vorkehrungen zurückzuführen; es gilt dies besonders von den
Infektionskrankheiten. Während in den Dreissigerjahren in Preussen auf
je 10000 Einwohner noch 4,2 Prozent an Cholera, 2,6 an Pocken starben,
sank in den Jahren 1890—1899 dieses Verhältnis bei der Cholera auf
0,05 Prozent, bei den Pocken auf 0,015 Prozent. Eine Ausnahme macht
hiervon die Influenza. Aus dem Umstande, dass die Zahl der an Tuber-
kulose, an allgemeinen Ernährungsstörungen, sowie an Organkrankheiten
Verstorbener im Vergleiche zu den früheren Jahrzehnten nachweislich stets
im Sinken begriffen ist, folgert K., dass man von einer Entartung des
heutigen Menschengeschlechtes nicht schlechthin sprechen dürfe, dass hin-
B. Referate. Anthropologie.
341
gegen die Widerstandsfähigkeit desselben sogar erheblich zugenommen habe.
Aus der hohen Kindessterblichkeit zieht K. andere Schlüsse, als dies mancher
Anthropologe erwarten würde; indem er sie z. B. mit den Aushebungser-
gebnissen der 89 französischen Departements vergleicht, versucht er fest-
zustellen, dass von einer Auslesewirkung der Säuglingssterblichkeit keine
Rede sein kann, da die junge Mannschaft durchaus nicht etwa kräftiger
war, wenn auch die Sterbensgefahr in den untersten Altersstufen sich
ziemlich hochstellte. Die Voraussetzungen der Auslesetheorie sieht er dem-
nach durch diese Thatsache direkt widerlegt. Die Frage der Säuglings-
sterblichkeit hängt nicht von der Höhe des Kulturzustandes, sondern viel-
mehr von der Ernährung der Säuglinge ab. Der Säugling gedeiht am
besten an der Mutterbrust und jede Abweichung von dieser ersten Mutter-
pflicht rächt sich bitter am Leben der Kinder. Doch hat dies mit dem
Kulturfortschritt wenig zu thun, da die Unfähigkeit oder Unwille vermögender
Frauen, ihre Kinder selbst zu stillen, im Altertume stark verbreitet war;
bereits Soranus spricht von künstlichen Kindernährmitteln und künstlichen
Brustwarzen.
Aber auch die Ergebnisse der KrankheitsStatistik lehren uns, dass von
einer Entartung unserer Generation durchaus nicht die Rede sein kann. So
ist es z. B. nachgewiesen, dass im preussischen Heere vom J. 1829 bis
1899 die Krankheitsfälle an Schwindsucht und Typhus erheblich abgenommen
haben. Dasselbe gilt von den Geschlechtskrankheiten, vom Alkoholismus
und von den Geisteskrankheiten, deren scheinbares Überhandnehmen vielfach
ganz falsch beurteilt wird. Die Neurasthenie bezeichnet K. als eine Kinder-
krankheit unserer Kultur, die sich sicher auch vermindern wird, wenn sich
das Tempo des jetzigen Fortschrittes einmal verlangsamt. Die künftigen
Geschlechter werden gewiss auch in richtiger Verfolgung einer geistigen
Hygiene Gegenmittel ausfindig machen, um der nervösen Überreizung ent-
gegen zu arbeiten. Als ein Zeichen des Fortschrittes ist jedenfalls auch
die nachweisbare Abnahme der Zahl der Blinden und Taubstummen zu be-
o-rüssen. Sowie der üble Einfluss des städtischen Lebens auf die Körper-
entwickelung seiner Ansicht nach stark überschätzt wird, verhält er sich
gegen die angebliche Entartung des modernen Weibes sehr skeptisch. Er
findet, dass selbst die Statur der alten Germanen, soweit man nach den
Skeletten der altgermanischen Gräber urteilen darf, von jener der heutigen
Deutschen gar nicht erheblich abweicht. Einen ähnlichen Standpunkt nimmt
K. bei der Beurteilung der vermeintlich üblen Folgen der Rassenmischung
ein, sowie der Thatsache, dass der dolichocéphale mitteleuropäische arische
Schädel langsam, aber sicher durch einen brachycephalen, unarischen in
ganz Mitteleuropa verdrängt werde. Dr. 0. v. Hovorka-Wien.
342
B. Referate. Anthropologie.
379. N. Vaschide et CI. Vurpas : Les signes physiques de dégéné-
rescence. Annali di mevrologia. (Napoli) 1903. Anno XXI,
S. 1—72.
An Versuchen, die Degenerationszeichen auf eine anatomische Grund-
lage zu stellen und besonders die psychischen mit den somatischen Merk-
malen in direktem Zusammenhang zu bringen, hat es bisher nicht gefehlt.
In dem bisherigen Misserfolge darin Ordnung zu schaffen, ist offenbar der
Grund zu suchen, warum es noch nicht vollkommen gelungen ist, im Studium
der Degenerationszeichen systematisch vorwärts zu kommen. Während
manche Autoren den Degenerationserscheinungen einen inneren Wert voll-
kommen absprechen und am leichsten als Zufallsbildungen ansprechen möchten,
gehen andere Forscher im Gegenteile wieder gar zu weit und überschätzen
ungebührlich ihre Bedeutung. Die beiden Verfasser unterziehen sich nun
der nicht sehr dankbaren Aufgabe in das Wirrwarr ein Licht der kritischen
Sichtung zu bringen und das weitläufige Feld sozusagen systematisch zu
parzellieren. Während man in der Pathologie jenen Menschen als degeneriert
bezeichnet, welcher abnormal, von andern verschieden geboren wird, es
während seines ganzen Lebens bleibt und auch abnormal stirbt, bezeichnen
sie jenes Wesen als degeneriert, welches von der Gesamtheit der anderen
Wesen verschieden beschaffen ist, kurz, ein abnormes Wesen darstellt. Es
ist zweifellos, dass es Beziehungen giebt zwischen den morphologischen
Abweichungen und den degenerativen Störungen des Seelenlebens; sie sind
bisher eigentlich nur beim Kretinismus und bei der Idiotie sicher nachge-
wiesen worden. Auch bei einer Reihe anderer Degenerations-Merkmale
scheint bis zu einem gewissen Grade eine Korrelation zu bestehen, nur
sind die bisherigen Beobachtungen noch zu spärlich, um endgiltige Schlüsse
zu gestatten. Soviel steht jedoch fest, dass in dieser Richtung die Degene-
rationszeichen des Kopfes und des Gesichtes die wichtigste Rolle spielen;
ihnen müssen wir den grössten klinischen und diagnostischen Wert zuschreiben.
In der systematischen Einteilung der Degenerationszeichen gehen die
Verf. in der Weise vor, dass sie dieselben in zwei grosse Hauptgruppen,
eine morphologische und eine funktionelle, einteilen; die erstere ist nach
den anatomischen Körperregionen geordnet (Schädel, Rumpf, Gliedmaassen,
Haut, Geschlechtsorgane); zur letzteren zählen sie folgende Zustände: Be-
wegungsanomalien, Ptosis, Blepharospasmus, Strabismus, reflektorische
Störungen, Sprach-, Stimm-, Pubertätsanomalien, sensorielle Störungen
(Daltonismus, Chromopsie), emotionelle und instinktive Abweichungen, krank-
hafte Erregungszustände, Verlust der Heredität und Anpassungsfähigkeit.
In diesem System sind die anatomischen Abweichungen und Varietäten der
inneren Organe gar nicht begriffen.
Zum Schlüsse führen sie noch als Beispiel den von Magnan und
Galippe beschriebenen Fall eines fast an allen seinen Körperteilen degene-
B. Referate. Anthropologie.
343
rierten 35jähr. schwachsinnigen Mannes an, bei welchem besonders die Glied-
maassen in einer bemerkenswerten Weise verbildet waren.
Dr. Oskar v. Hovorka-Wien.
380. A. Zuccarelli: Intorno alla fossetta occipitale mediana o
vermiana. Ricordi e nuove observazioni. L’Anomalo (Napoli)
1903. Anno IX, Nr. 2—6, S. 9—21.
Bereits früher (1899) hatte Verf. auf die Häufigkeit der mittleren
Hinterhauptsgrube an Yerbrecherschädeln aufmerksam gemacht, was Lombroso
in seiner vorstehend besprochenen Arbeit unberücksichtigt gelassen hat.
Damals stellte er unter 21 Schädeln schwerer Verbrecher aus dem Bagno
penale von Nicida an 4, d. i. in 19,04% das Vorhandensein einer Fossa
occipitalis mediana fest. Neuerdings hat er seine Schädelsammlung, die
ungefähr ein halbes Tausend Schädel umfasst, daraufhin durchgesehen, und
zwar nicht bloss auf das Vorkommen einer vollständig ausgeprägten Hinter-
hauptsgrube (a), sondern auch einer unvollständigen (b), ferner einer ein-
fachen dreieckigen Abflachung des unteren Trakt der Crista mit der
Spitze nach oben und einer Basis, die sich an dem Rande des Foramen
verbreitert (c), und einer rinnenförmigen Bildung und Verdünnung des frag-
lichen Trakts und des hinteren Randes des Hinterhauptloches (d). Es
standen ihm, genauer gesagt, 472 Schädel zur Verfügung, die er in normal
gebildete (322), solche mit auffälligen Anomalien (49), und solche mit
nicht sonderlich bemerkenswerten Anomalien (102) einteilt. Von diesen
Gruppen wiesen auf: das Verhalten
1. die normal gebildeten Schädel O o" 05 « cT b 0,31% c 0,93% d 0,0 %
2. die Schädel mit auffälligen Anomalien 2,04 2,04 4,08 4,08
3. die mit nicht sonderlich auf- fälligen Anomalien . 2,97 6,93 3,96 0,99
4. die Schädel mit Anomalien überhaupt 2,66 5,33 4 2
Dieses Ergebnis bestätigt von neuem die von zahlreichen anderen
Autoren bereits angegebene Thatsache, dass die mittlere Hinterhauptsgrube
ein Degenerationszeichen bedeutet. Verf. neigt sich auch zu der Auffassung,
dass es sich dabei um eine Rückschlagserscheinung handelt. Ob den von
ihm gefundenen beiden sub c und d angeführten Anomalien eine Be-
deutung zukommt, will er vorläufig noch nicht entscheiden. Die in Be-
tracht kommenden Schädel werden von Z. einzeln kurz beschrieben.
Buschan-Stettin.
344
B. Referate. Anthropologie.
381. A. Marro: Idiota microcefalo. Atti della Soc. Rom. di Antropol.
1903. Vol. IX, S. 267—280.
Der beschriebene 23jährige Idiot aus der Irrenanstalt Turin ist der
letzte von 8 Geschwistern, von denen 6 geistig gesund waren, das siebente
Kind, eine Schwester, ebenfalls mikrokephal und idiotisch war. Der Yater,
der zur Zeit der Erzeugung des letzten, idiotischen Kindes schon im vor-
geschrittenen Alter, Ende der 40, war, ist starker Trinker, die Mutter leidet
an Kopfschmerzen und Depressionszuständen. Mit Geschick unterscheidet
Yerf. atavistische einerseits und atypische und krankhafte Symptome andrer-
seits in dem beschriebenen Falle. Die ersteren, deren Ursache er in dem
vorgeschrittenen Alter des Yaters bei Erzeugung des Kindes sieht, sind
Mikrokephalie, Adhärenz des Ohrläppchens, ellipsoide Kontur des Zahn-
bogens, Lemurfortsatz des Unterkiefers, Haarwuchs in der Sakralgegend,
relativ stärkere Ausbildung der Unterarm- und Unterschenkelknochen, knorpel-
artige Beschaffenheit des septum intercavernosum penis; kindliche Intelligenz
und Sprache, wenig differenzierter Geschmack und Gehässigkeit. Zu den
atypischen und pathologischen Erscheinungen, die ihre Entstehung krank-
haften Zuständen der Eltern, hier dem Alkoholismus des Yaters und dem
Geisteszustand der Mutter, verdanken sollen, gehören im vorliegenden Falle
ungleichmässige Einpflanzung der Ohrmuscheln, Hammerzehen, Abweichen
der Zunge, leichter Strabismus, klonische Zuckungen der Gesichtsmuskulatur,
Ausfall in den Geruchsempfindungen und niedriges Gefühlsleben. Man muss
zugeben, dass die Differenzierung der sogenannten degenerativen Erscheinungen,
wie sie Yerf. versucht, wenigstens einen kleinen Fortschritt in der Lehre
von den Degenerationsmerkmalen bedeutet, wenn die ätiologischen Verhältnisse
wohl auch nicht so einfach liegen mögen, wie es Yerf. darstellt.
H. Laufer-Giessen.
382. A. Baer: Über jugendliche Mörder und Totschläger. Archiv
f. Krimmalanthropologie, 1903. Bd. XI, S. 103—170.
Verf. schildert bei 22 jugendlichen Yerbrechern im Alter von 14 bis
18 Jahren den Hergang der Strafthat, das Verhalten des Individuums bei
und nach dieser und dann die weiteren Wahrnehmungen, die er während
der Gefangenschaft an den Delinquenten gemacht hat.
Aus den Einzelbeobachtungen zieht Yerf. folgende, durchaus gerecht-
fertigte Schlüsse. Wenn man erwarten durfte, dass die typischen Zeichen
des geborenen Verbrechers am meisten im kindlichen und jugendlichen Alter
ausgeprägt sein müssten, so muss man beim Mangel solcher spezifischer
Merkmale, die nur in der somatischen Organisation der Verbrecher, nicht
aber in der der Unbescholtenen vorkämen, durchaus die Existenz des ge-
borenen Verbrechers und des Verbrechertypus leugnen. Im Gegensatz dazu
wird betont, dass wie sonst die Verbrecher auch die jugendlichen durchweg
B. Referate. Anthropologie.
Ethnologie.
345
den Charakter der Minderwertigkeit tragen. Intellektuelle und emotive
Defekte sind häufig. Von den 22 waren 3 geistesschwach, 4 epileptisch,
3 psychisch defekt; 12 geistesgesund: von letzteren zeigten aber 5 vorüber-
gehend Depressionszustände mit Suizidtendenz. Im übrigen wiesen viele
bei relativ genügender intellektueller Befähigung geringe Ausdauer und ge-
ringen Grad der Denkfähigkeit, sowie Mangel an Aufmerksamkeit auf; ferner
Defekte der Willensthätigkeit, einerseits Impulse ohne Hemmung, andrerseits
hochgradige Beeinflussbarkeit und Mangel an sittlichem Fühlen, den Verf.
mit Recht mehr dem Mangel der Erziehung und dem Beispiel der UmgebuDg,
als angeborener Anlage zuschreibt. JET. Läufer-Giessen.
II. Ethnologie.
A. Allgemeines.
383 Natur und Staat. Beiträge zur naturwissenschaftlichen Ge-
il. 384. sellschaftslehre. I. Philosophie der Anpassung mit besonderer
Berücksichtigung des Rechtes und des Staates von Heinrich
Matzat. Nebst einer Einleitung von Dr. H. E. Ziegler,
Prof, an der Universität Jena. Verlag v. Gustav Fischer
in Jena. 1903. 323 S. und 24 S. 8°. II. Darwinismus
und Socialwissenschaft. Von Arthur Ruppin. Verlag von
Gustav Fischer in Jena, 1903. 179 S. 8°.
Am 1. Jan. 1900 erliessen die Professoren Haeckel (Jena), Conrad
(Halle) und Fraas (Stuttgart) ein Preisausschreiben über das Thema:
„Was lernen wir aus den Prinzipien der Descendenztheorie in Bezug auf
die innerpolitische Entwickelung und Gesetzgebung der Staaten?“ Bis zu
dem festgesetzten Termin, dem 1. Dez. 1902, wurden 60 Abhandlungen,
Schriften und Bücher eingesandt, davon 44 aus Deutschland, 8 aus Öster-
reich, 4 aus der Schweiz, 2 aus Russland und 2 aus Amerika. Preisge-
krönt wurden 8 Arbeiten, die nun nach einander unter dem obigem Titel
„Natur und Staat“ der Öffentlichkeit übergeben werden. Bis jetzt sind
deren 2 herausgekommen; darunter jedoch noch nicht die mit dem 1. Preis
von 10000 M. ausgezeichnete Schrift von Dr. med. W. Schallmayer.
Die oben genannten erhielten zweite Preise.
Ausserhalb des Sammelwerkes erschien die Arbeit von Dr. L. Wolt-
mann, dem Herausgeber der Politisch-anthropologischen Revue, der den
ihm zuerkannten dritten Preis ablehnte und seine Arbeit zurückzog, um sie
besonders zu veröffentlichen, was bereits geschehen ist. (Sie ist im vorigen
Heft unter Nr. 315 von anderer Seite besprochen worden.)
Dem ersten der oben genannten Werke schickt Prof. Dr. H. E. Ziegler,
der bei der Durchprüfung der Arbeiten beteiligt war, eine 24 Seiten starke
Einleitung voraus, in der er über das Ergebnis des Preisausschreibens, die
346
B. Referate. Ethnologie.
Bedeutung desselben und des Sammelwerkes, die politische Richtung der
Preisarbeiten und ihren Hauptinhalt kurz Bericht erstattet, sodass der Leser
gleich eine Übersicht über das Ganze gewinnt.
Heinrich Matzat steht im 57. Lebensjahr und ist Direktor der
Landwirtschaftsschule in Weilburg a. d. Lahn. Seine Arbeit, die vorwiegend
den Charakter einer philosophischen Betrachtung trägt, ist nicht gerade
leicht zu verstehen. Oberflächliche Leser werden kaum auf ihre Rechnung
kommen. Man muss sich Mühe geben, den oft eigenartigen Gedankenwegen
des Yerf. zu folgen und sich in seine Vorstellungswelt zu versenken, um
Freude an denselben zu gewinnen. Dann allerdings wird man zu dem
Urteil kommen, dass eine sehr tiefgedachte und lehrreiche Arbeit vorliegt.
Im 1. Abschnitt wird eine Wertethik aufgestellt, die zu der Erkenntnis
führt, dass Werte Anpassungsverhältnisse sind. Auch die Tugend und die
Pflicht sind Anpassungen. Die Wertsumme, die in der Welt vorhanden
ist, vermehrt sich fortwährend durch bessere Anpassung. Die sittliche Welt-
ordnung wird begründet, ohne dass es eines persönlichen Weltordners be-
darf; die zweckmässigen Anpassungen bilden sich mechanisch, ohne vorbe-
dachten Zweck weiter, und dies eben ist die sittliche Weltordnung. Dabei
leitet der Verf. die Wertethik nicht aus der Descendenzlehre ab, sondern
die Übereinstimmung der Prinzipien beider ergiebt sich erst am Schlüsse.
Da nun bei dem Verfasser alles Anpassung ist, so hat er seine Schrift mit
Recht „Philosophie der Anpassung“ genannt. Gestützt auf seine Grundsätze,
erörtert er in den folgenden Abschnitten die Fragen, ob die Descendenz-
theorie auf die innerpolitische Entwickelung und die Gesetzgebung ange-
wendet werden kann und muss. Beide Fragen werden bejaht. Der Natur-
forscher ebensowohl wie der Staatsrechtler, werden stutzen, wenn das Prinzip
der Anpassung sozusagen von den Sternen heruntergeholt wird; auf die
Kant-Laplacesche Theorie, auf die Flertzsche Mechanik und viele andere
ebenso entlegene Dinge wird es begründet. Aber man muss sich vergegen-
wärtigen, dass die Gesetze der Natur überall dieselben sind und dass eine
so weitgreifende Begründung, wie sie der Verf. ausführt, nur dazu dienen
kann, unsere Auffassung durch neue Beziehungen zu bereichern. Wie schon
gesagt: leicht ist es nicht, es kostet Mühe, den Verf. zu verstehen, und
man wird sich nicht allzusehr verwundern dürfen, wenn er in der Beur-
teilung unter allerlei Missverständnissen zu leiden haben sollte. Manche
Kritiker haben den obersten Leitsatz vor Augen: Was ich nicht kapiere,
das giebt es nicht, das wird heruntergerissen und lächerlich gemacht.
Hoffentlich wird Matzat sich über solche Erfahrungen zu trösten wissen.
Aus dem Begriff der Anpassung ergeben sich für den Verf. neue
Definitionen, z. B. von Sitte und Recht, von Gesellschaft und Staat u. s. w.
Wie er den Verlauf geschichtlicher Abschnitte aus seiner Theorie der An-
passung erklärt, wie er die Anpassung fortschreiten lässt, natürlich unter
B. Referate. Ethnologie.
347
Zuhilfenahme der Auslese, welche starr gewordene und nicht mehr anpassungs-
fähige Gebilde ausmerzt, das ist alles scharfsinnig beobachtet und geistvoll
dargestellt. Niemand wird dies originelle Buch ohne Nutzen lesen, immer
vorausgesetzt, dass er sich die Mühe nicht verdriessen lässt, in den Ideen-
gehalt desselben einzudringen.
Der Rezensent muss auch angeben, welche Ausstellungen zu machen
sind. Da scheint es mir, dass Matzat der natürlichen Yererbung nicht
gerecht geworden ist. Er stösst sich daran, dass die Vererbung von Rechten
fortdauert, auch wenn die Vererbung geistiger Vorzüge aufgehört hat. Die
Rechtsverhältnisse geraten dadurch aus der Anpassung, und an diesem Mangel
sind seit den Merowingern verschiedene Versuche einer deutschen Staats-
bildung gescheitert. Deswegen ist die Anpassung dem Yerf. ein heilsames,
die Verbung von Rechten ein zerstörendes Prinzip. In dem angegebenen
Umfang erscheint letzterer Ausspruch anfechtbar. In den ersten Geschlechter-
folgen verlaufen die beiden Vererbungen in der Regel noch parallel, und
es ist offensichtlich, dass die Klassenbildung die Paarung von Gleich und
Gleich begünstigt und dadurch die Erzeugung hochbegabter Individuen be-
deutend vermehrt, wie ich dies früher nachgewiesen habe. Es ist ferner
klar, dass die so erzeugten begabten Individuen sich leichter und höher
entwickeln, wenn die Vererbung von Rechten ihnen die Mittel zur Aus-
bildung gewährt. Manches Talent könnte sich nicht oder langsamer empor-
arbeiten, wenn ihm nicht äussere Mittel zu Hilfe kämen. Die Vererbung
von Rechten wirkt also in vielen Fällen günstig, da sie das vererbte Talent
unterstützt. Erst in späteren Geschlechterfolgen pflegen die vererbten Rechte
aus der Anpassung zu geraten, wenn das Talent in einer Familie ver-
schwunden oder ausgeartet ist. Über diesen Punkt erfährt man aber aus
Matzas Schrift gar nichts.
Auch das Rasseproblem wird kaum gestreift. Und doch sind von
allen Anlagen die rassemässigen die wichtigsten. Wie eine Bevölkerung
in einer bestimmten Umwelt der Vorzeit sich zur Rasse ausgebildet hat,
wie sie, durch Wanderung in eine andere Umgebung versetzt, noch Jahr-
hunderte oder Jahrtausende unter der Herrschaft ihrer Rassenanlagen steht,
wie bei der Kreuzung mit fremden Rassen die ursprünglichen Anlagen in
den einzelnen Individuen verschieden kombiniert werden, das sind Prägen,
die in der Gesellschaftslehre einen immer breiteren Raum einnehmen. Bei
Matzat findet sich davon kaum eine Spur. Jeder beliebige Mensch kann
in jeder beliebigen Umwelt die Matzatsche Glückseligkeitslehre auf sich
anwenden.
’Vielleicht darf ich ein paar Worte zu meiner eigenen Rechtfertigung
beifügen. Der Verf. gönnt mir (S. 16 —19) die Ehre einer Erwähnung,
indem er die von mir einmal angewendete Einteilung der Seelenanlagen in
drei Hauptgruppen beanstandet. Sein Scharfsinn hätte bemerken sollen,
348
ß. Referate. Ethnologie.
dass es mir auf die Einzelheiten der Einteilung gar nicht ankam. Ich
brauchte eben mit Einschluss der körperlichen Anlagen vier Gruppen, weil
das Kombinationsbeispiel mit den Würfeln, das so überaus anschaulich ist,
mit vier Würfeln seinen Zweck am besten erfüllt. Mii 2 W’ürfeln wird
die Gausssche Kurve zu einer gebrochenen Geraden, mit 3 Würfeln ist die
Kurve zu wenig gebogen, mit 4 Würfeln wird sie passend zu einem Bei-
spiel. Ich habe also nur eine „Anpassung“ geübt. Auch der mir S. 126
gemachte Vorwurf, die Anpassung als etwas Sekundäres betrachtet zu haben,
ist nicht zutreffend. Ich habe allerdings als die 4 Hauptprinzipien der
Darwinschen Theorie die Vererbung, die Variabilität, den Kampf ums Dasein,
die natürliche Auslese mit Sperrschrift gedruckt, aber schon in der Auf-
zählung ist von „angepassten Individuen“ die Rede und im erklärenden Text,
wie überhaupt in meiner „Gesellschaftsordnung“, wimmelt es nur so von
Ausdrücken wie „angepasst“, „Anpassung“, „anpassen“ u. s. w.; auch der
Satz, dass Rechts- und sociale Verhältnisse durch die fortschreitenden
Änderungen der Umwelt aus der Anpassung geraten und dann durch innere
Reform neue angepasst oder durch den Sieg eines fremden Volkes beseitigt
werden, kommt oft genug vor. Hoffentlich hat Matzat die Anführungen
aus anderen Autoren, die er meist wörtlich giebt und die dem Leser wert-
voll sind, richtiger ausgewählt als die von mir entlehnten.
Trotz des soeben Gesagten kann ich das Buch Jederm der tiefer in
die socialen und Anpassungsprobleme eindringen will, wärmstens zum Studium
empfehlen.
A on ganz anderer Art ist die Schrift des 1876 geborenen, zur Zeit
im Justizdienst thätigen Dr. Arthur Ruppin in Magdeburg. Schon die
verschiedenen Lebensalter machen sich fühlbar, indem dort mehr eigene ge-
reifte Lebenserfahrung, hier mehr sanguinische Hoffnungsfreudigkeit mit-
spricht, während die Belesenheit bei beiden Verfassern sehr reich und weit
ist, wenn schon sie sich über ganz verschiedene Gebiete erstreckt. Ruppin
fasst alle Dinge realistisch, konkret an und bleibt mit seinen Folgerungen
immer möglichst nahe an den Thatsachen. Dem grossen Einfluss der Ver-
erbung sucht er in eingehenden Darstellungen gerecht zu Werden. Er ent-
wirft eine Schilderung der Thatsachen der Vererbung und der darauf
gebauten Theorien, sowie der Schlüsse, die sich aus beiden ergeben. Auf-
fallend ist, dass er bei der Erörterung der Reifung und Befruchtung der
Fortpflanzungszellen mit keinem Worte der Ausstossung der Richtungs-
körperchen gedenkt, in der Weismann eine sogen. Reduktionsteilung er-
blickt, and die, man mag sich zu Weismanns Theorie stellen, wie man will,
jedenfalls eine grosse Wichtigkeit für die Vererbung beansprucht. Hätte
Ruppin diesem Punkte mehr Aufmerksamkeit geschenkt, so würde er nicht
so ratlos der Thatsache gegenüberstehen, dass die Kinder aus einer und der-
selben Ehe und selbst Zwillinge aus zwei Eiern einander nie völlig gleichen;
B. Referate. Ethnologie.
349
er brauchte nur anzunehmen, dass die Vererbungssubstanz der beiden Eltern
jedesmal in etwas anderer Weise halbiert worden ist. Auch die Möglichkeit,
dass Krankheitsanlagen der Eltern vor der Befruchtung ausgeschieden, also
nicht auf das Kind übertragen wrerden, wäre durch Bezugnahme auf die
Richtungskörperchen zu erklären, endlich die von Ruppin ausgiebig be-
sprochene Thatsache, dass bei gesunden Eltern die Blutsverwandtschaft keines-
wegs eine fehlerhafte Nachkommenschaft bedingt, während es leicht geschehen
kann, dass die in einer Familie vorhandene Krankheitsanlage nicht mit den
Richtungskörperchen ausgestossen wird, also in den Nachkommen mit doppelter
Vererbungsmasse auftritt. Anderseits muss anerkannt werden, dass Ruppin
die Wirkung der standesmässigen Heiraten im Sinne der socialen Auslese
und der Erzeugung einer hochwertigen Nachkommenschaft anerkennt.
Leider hat auch bei ihm das Wort Rasse nur eine gelegentliche Er-
wähnung gefunden. Die Verschiedenheit der Rassenanlagen und die wichtigen
Folgen, die dadurch in Mischlingsbevölkerungen hervorgerufen werden, ent-
gehen ihm gänzlich. Auf der Grundlage, die er in seinen Abschnitten über
die Vererbung gelegt hat, hätte er notwendig zu der Folgerung kommen
müssen, dass die der einen oder andern Rassenkomponente nahestehenden
Mischlinge bei freiem Wettbewerb eine sociale Schichtung hervorbringen.
Der Verf. geht ausführlich auf das gegenwärtig herrschende Parteileben
Deutschlands ein. Dass er dabei nur an die Bethätigung der Parteien in
der inneren Politik denkt, ist ihm nicht als Fehler anzurechnen, weil das
Preisausschreiben ausdrücklich nur von dem Einfluss der Deszendenztheorie
auf die innerpolitische Entwickelung der Staaten spricht. Da aber die
Stellung der einzelnen Staaten zu den Problemen der Weltwirtschaft und
der Weltpolitik heute mehr als je auf die inneren Verhältnisse zurückwirkG
beispielsweise die Mittel zur Bestreitung des Aufwandes für die deutsche
Socialpolitik von aussen her gewonnen werden müssen, so hätte ihm eine
Abschweifung nicht verboten werden können. Er behandelt auch die Social-
demokratie als Partei nur hinsichtlich ihrer Bedeutung für die inneren Zu-
stände des Deutschen Reiches und schliesst mit dem Satze, dass, je mehr
man sich gewöhnen würde, diese Partei als gleichberechtigt anzusehen und
sie zur positiven Mitarbeit heranzuziehen, um so eher sie ihren oppositionellen
Charakter aufgeben und sich innerhalb der heutigen Gesellschaftsordnung zu
einer Klassenvertretung der industriellen Arbeiter entwickeln werde. Dass
die Miliz- und Entwaffnungsprojekte der Socialdemokratie wahrscheinlich
schon viel früher, als die Entwickelung zu einer Klassenvertretung der indu-
striellen Arbeiter vollendet w'äre, eine Katastrophe der auswärtigen Politik
herbeiführen und das deutsche Volk auf eine tiefe Stufe des Wohlstandes
und der materiellen Kultur herabdrücken würde, ist eine Möglichkeit, die
er nicht erwogen hat.
Die Kritik hat, wie schon gesagt, die Mängel der betr. Schriften auf-
350
B. Referate. Ethnologie.
zuzeigen. Dies soll aber nicht hindern, auch der Ruppinschen Arbeit warme
Anerkennung zu zollen. Sie wird gewiss dazu beitragen, die Anwendung
naturwissenschaftlicher Prinzipien auf sociale Probleme zu fördern, und da
dies die Absicht des Preisausschreibens war, so hat diese Schrift das ihrige
geleistet. Otto Ammon-Karlsruhe.
385. Wolf gang Droeber: Kartographie bei den Naturvölkern.
Inaugural-Dissertation d. Universität Erlangen, 1903. 80 S.
Bekanntlich besitzen die Naturvölker infolge ihres beständigen Verkehrs
mit der Natur eine viel schärfere Beobachtungsgabe, und dementsprechend
auch ein viel grösseres Orientierungsvermögen, als man es bei uns im allge-
meinen antrifft. Dieser Umstand in Verbindung mit dem ziemlich ent-
wickelten Zeichentalent befähigt sie u. a. auch ihre durch Beobachtung
gewonnenen geographischen Kenntnisse anschaulich zum Ausdruck zu bringen.
An der Hand der in der Litteratur ziemlich zerstreuten einschlägigen Beob-
achtungen giebt Verf. eine hübsche Zusammenstellung der kartographischen
Versuche von Seiten der Naturvölker. Als Erstlingsversuche kartographischer
Leistungen bezeichnet er die Felszeichnungen, wenngleich er einräumen muss,
dass diese in ihrer Bedeutung öfters überschätzt werden. Wir können aus
dem beigebrachten Material nicht die Überzeugung gewinnen, dass die Felsen-
einritzungen dem Zweck gedient haben resp. dienen, den Verf. ihnen bei-
gelegt wissen möchte. Mit mehr Recht, glauben wir, kann man die sogen.
Näpfchensteine der Vorzeit als kartographische Versuche auffassen, wie es
in der That auch Reber thut; leider sind diese dem Verf. vollständig ent-
gangen. In den Pfadzeichen der Wilden (in Stein eingeritzte Fussspuren,
in die Rinde der Bäume eingeschnittene Pfeile, in Sand gezeichnete Winkel
mit verlängerter Spitze, mit den Bruchenden die Richtung angebende Zweige
oder Halme u. a. m.) finden wir indessen einen sicheren Beweis dafür, dass
ihnen die Fähigkeit innewohnt, die Lage von Örtlichkeiten ihrer Gegend
mitzuteilen. Eine Vervollkommnung dieser Methode führt zu den ersten
„Seekarten“. Aus den Pfadzeichen im Sande gingen zunächst die „Sand-
karten“ hervor. Wie Verf. an einer Reihe von Beispielen darthut, finden
sich Sandzeichnungen bei den Naturvölkern ziemlich verbreitet, und zwar
nicht nur zur Darstellung eng begrenzter Gebiete des Festlandes, sondern
sogar weiter Flächen- und Inselgruppen. Dadurch, dass die Sandkarten
durch plastische Mittel ergänzt werden, kommen Gebilde zustande, die be-
reits Reliefkarten vorstellen. Hierhin rechnet Verf. auch die festen Stein-
setzungen. Ein noch weiterer Fortschritt besteht darin, dass man sich von
dem Boden unabhängig zu machen strebte und eine Karte schuf, die trans-
portiert werden und im besonderen auf offener See Verwendung finden
konnte. So entstanden die eigentlichen Seekarten, die besonders bei den
Südsee-Insulanern in Gebrauch waren. In Anlehnung an die Arbeit Schücks
B. Referate. Ethnologie.
351
über die Stabkarten der Marshall-Insulaner (s. u. Referat Nr. 396) verbreitet
sich Yerf. über die Art und die Verbreitung dieser Stabkarten. — Bei einer
Reihe Naturvölker findet man nun noch, dass sie, sobald sie mit den euro-
päischen Hilfsmitteln bekannt geworden sind, diese für ihre Zwecke nutzbar
machen. An einer Anzahl Beispiele zeigt Yerf., mit welcher Geschicklichkeit
diese mit den europäischen Hilfsmitteln umzugehen und mit welcher staunens-
werten Genauigkeit und Sicherheit sie mittels Holzkohle, Kreide oder Blei-
stift Karten auf Papier, Birkenrinde oder den Holzboden zu entwerfen ver-
stehen, sowie mit welchem Verständnis sie unsere modernen Karten zu lesen
vermögen. Buschan-Stettin.
386. Geographen-Kalender. In Verbindung mit Dr. Wilhelm
Blankenburg, Professor Paul Langhaiis, Professor Paul Leh-
mann und Hugo Wichmann heraus gegeben von Dr. Her-
mann Haack. I. Jahrgang 1903/1904. Mit einem Bildnis
von Ferdinand y. Richthofen in Stahlstich und 16 Karten
in Farbendruck. Gotha, Justus Perthes, 1903. — Pr. 3 M.
Die Herausgabe eines „Geographenkalender“ nach dem Muster der
für die verschiedenen Zweige der Wissenschaften bereits existierenden Fach-
kalender war ein guter Gedanke, der sicherlich weitgeteilten Beifall finden
wird, zumal, wenn derselbe in einer so ansprechenden Form und Ausstattung
erscheint, wie der vorliegende erste Jahrgang. Aus einer Anstalt hervor-
gegangen, die Wissenschaft und Praxis in gleicher Weise zu pflegen als ihre
Aufgabe betrachtet, trägt der Kalender selbst diesen Doppelcharakter. Sein
reicher Inhalt gliedert sich folgendermaassen.
In dem 1. Abschnitt hat Prof. Lehmann die Daten aus der astro-
nomischen Geographie zusammengestellt, die gleichsam das Handwerkszeug
für den Geographen und Forschungsreisenden bedeuten. Im 2. Abschnitt,
Weltbegebenheiten“ führt Prof. Langhans in Wort und Karte die Ereignisse
aus dem Jahre 1902 vor, die das politische und physische Antlitz der Erde
umzugestalten geeignet sind. Der 3. Abschnitt, aus der Feder von IJ. Wich-
mann, ist den geographischen Forschungsreisen des Vorjahres gewidmet; der
4. giebt eine Zusammenstellung der geographischen Litteratur (450 Ab-
handlungen) desselben Jahres von Dr. W. Blankenburg. Den Interessen
der geographischen Lehrerwelt trägt der folgende Abschnitt Rechnung, der
über die Schulgeographie des Jahres 1902 berichtet. Whiter bringt der
Geographenkalender im 6. Abschnitt („Totenliste“) Mitteilungen über den
Lebensgang und die wissenschaftliche Thätigkeit einer grossen Anzahl im
Vorjahre verstorbener Gelehrten des Faches. Sehr wertvoll sind schliesslich
noch die beiden letzten Abschnitte, von denen der 7. eine 80 Seiten um-
fassende Statistik über alle Länder der Erde von Dr. H. Haack, und der
8. auf 124 Seiten ein Adressenverzeichms der lebenden Geographen und
352
B. Referate. Ethnologie.
Gelehrten verwandter Wissenschaften bringt; beide Kapitel bilden unent-
behrliche Nachschlagebücher. In dem Adressbuch ist zwar auch den meisten
Ethnologen und Anthropologen Beachtung geschenkt worden, indessen ver-
missen wir doch noch darin manchen Namen von gutem Klang.
Bei den engen Beziehungen, die zwischen Völkerkunde und Erdkunde
bestehen, bedarf es keines Hinweises, dass auch der Ethnologe bei dem
Geographenkalender auf seine Kosten kommen dürfte, was auch schon aus
dem reichen Inhalt hervorgeht. Wenngleich der Herausgeber in der Ein-
leitung bescheiden um Nachsicht bittet, dass der vorliegende Jahrgang noch
nicht das geworden ist, was ihm bei der Bearbeitung des Kalenders vor-
schwebte, so bildet er doch bereits eine „nie versagende Auskunftei für den
Tisch des Geographen“ und auch des Ethnologen. Buschan-Stettin.
B. Spezielles.
387. J. Amtmann: Untersuchungen über frühmittelalterliche und
moderne Schädel aus Pfünz bei Eichstätt. Inaug.-Diss.,
München 1903. Abgedruckt in: Beiträge zur Anthropologie
u. Urgeschichte Bayerns, 1903. Bd. XV, S. 13—65.
Einen Beitrag zur Beleuchtung der Frage über die Übergangsperiode
von der vorhistorischen dolichocephalen in die moderne brachycéphale Schädel-
form leistet A. mit seiner Untersuchung einer beim römischen Kastell zu
Pfünz in Bayern aufgefundenen Reihe von Schädeln, welche ihm von Ranke
zur Bearbeitung übergeben wurden. Die Schädel stammten aus dem Mittel-
alter und zwar waren hiervon 21 frühmittelalterlich, 6 spätmittelalterlich;
ausserdem lagen 10 moderne Schädel aus einem Ossarium desselben Ortes
vor. Von den frühmittelalterlichen waren 9 Schädel dolichocephal, 4 meso-
cephal, 6 brachycephal; die übrigen mittelalterlichen Schädel waren 3 doli-
chocephal, 1 mesocephal, 2 brachycephal; die modernen Schädel sind vor-
wiegend brachycephal. A. nimmt an, dass in Pfünz, welches im fränkischen
Jura liegt und der Sitz der am meisten brachycephal en Bayern zu sein
scheint, die Umwandlung der einst vorwiegend dolichocephalen Reihengräber-
bevölkerung in die heutige stark brachycéphale bedeutend rascher vor sich
ging als in Lindau von der mesocephalen in die brachycéphale, worüber
eine gründliche Arbeit Rankes vorliegt. Hingegen blieb die Kapazität des
Schädels innerhalb ihrer absoluten Grenzen dieselbe, wie sie vor tausend
Jahren war (3562), wenn auch bekanntlich die Brachycephalen selbst bei
kleinerem Schädelvolumen eine relativ viel höhere Kapazität aufweisen, als
die Dolichocephalen. A. stellt sich auf den Standpunkt Rankes, indem er
die Pfünzer Schädel nicht als Übergangsformen, sondern als direktes Resultat
der Mischung zweier Schädeltypen bezeichnet. Br. Oskar v. Rovorka- Wien.
B. Referate. Ethnologie.
353
388. E. Rietz: Das Wachstum Berliner Kinder während der Schul-
jahre. Archiv f. Anthropologie, 1903. 1SL F. Bd. I, S. 30—42.
R. maass 5134 Berliner Kinder im schulpflichtigen Alter (6.—19.)
aus drei Gymnasien, vier Gemeindeschulen und einer höheren Mädchenschule
in Bezug auf ihre Länge, Gewicht und Brustumfang; dabei schied er ärmere
Kinder von solchen wohlhabender Klassen. Diese Unscheidung erwies sich
als nötig, weil sonst das arithmetische Mittel, wie dies auch von Anderen
bereits früher erwiesen wurde, bei den recht beträchtlichen Unterschieden
in der körperlichen Entwickelung von Kindern social besser und schlechter
gestellten Eltern, einen praktisch wenig verwertbaren Wert ergeben hätte.
Diese Unterschiede machen sich auch bei den Berliner Kindern geltend,
indem die Differenz zwischen Knaben und Mädchen der höheren Schulen
und ihren Altersgenossen in den Gemeindeschulen in der Höhe 5—6 cm,
im Gewicht 3—5 Kilo ausmacht. Aber auch die beiden Geschlechter weisen
gegeneinander erhebliche Unterschiede auf. Während sich die Kinder beider
Geschlechter vom 7. bis zum 11. Lebensjahre die Wagschale halten, werden
die Knaben von den Mädchen sowohl in der Länge, als im Gewicht über-
holt. Mit dem 15. Lebensjahre wurden wieder die Mädchen von den Knaben
überflügelt. Dies ist zweifelsohne auf den verschiedenen Zeitpunkt der Puber-
tätsentwickelung zurückzuführen. Die Pubertätsentwickelung bei den Berliner
Mädchen verlegt R. in die Zeit zwischen dem 11. bis 14. Jahre, während
sie bei den Knaben erst mit dem 16. Lebensjahre beginnt. Aber auch die
socialen Umstände sind von Einfluss auf den Beginn der Pubertät, welcher
sich bei den ärmeren Kindern im Vergleiche zu den besser gestellten be-
deutend verzögert, und zwar sowohl bezüglich der absoluten Längen- als
auch der Gewichtswerte. Die Werte der ersteren sehen sich so an, „als
ob ihre Zahlenkolonne um ein Jahr nach abwärts verschoben wäre“. Sehr
interessante Ergebnisse erhellen aus vergleichenden Betrachtungen ähnlicher
Messarbeiten, wie sie in anderen deutschen und ausserdeutschen Städten
(Hamburg, Halle, Turin, Boston, Stockholm etc.) vielfach ausgeführt wurden.
Dr. Oskar v. Hovorku-Wien.
389. K. B. Wiklund: Lapparna, deras lif och Kultur (Leben und
Kultur der Lappen). Svenska Turist föreningens Arsskrift,
1903, S. 15—44.
Eine lebendige und anschauliche Schilderung des Lebens und Treibens,
der Freuden und Leiden, der Sitten und Gerätschaften der schwedischen
Berglappen, eines vielleicht dem Aussterben nahen Völkchens, denn wer
weiss, „wann der letzte Nomande sein letztes Renntier schlachten und zu
Pflug und Spaten greifen wird?“ Umsomehr wird es Pflicht der Touristen,
die in neuerer Zeit Lappmarken häufiger, sogar im Winter auf Schneeschuhen
aufsuchen, zu bewahren und zu sammeln, was noch von der lappischen Kultur
23
Intern. Centralblatt für Anthropologie. 1903.
354
B. Referate. Ethnologie.
vorhanden ist. Wie die Abbildungen zeigen, sind nämlich die Lappen durch-
aus nicht ungeschickt und wissen ebenso zweckmässige wie geschmackvolle
Arbeiten aus Leder, Sehnen, Horn, Bein, Holz und dgl. herzusteilen; die
Muster sind häufig dem Eiechtwerk nachgebildet. Seit vorgeschichtlicher
Zeit im nördlichsten Teil der skandinavischen Halbinsel wohnend, haben
die Lappen seit der Berührung mit Schweden und Norwegern sehr viel von
diesen angenommen, wie z. B. die Lehnwörter vuoksa, lcussa, kaitsa, vuosta,
salte, körne, laipe, vatas, kolle, silpa, kuopar, Ochs, Kuh, Geiss, Käse
(schwed. ost), Salz, Korn, Brot (Laib), Tuch (schwed. radmal, mhd. wat),
Gold, Silber, Kupfer u. a. beweisen. Ihre ursprüngliche Sprache haben die
Lappen mit der finnischen vertauscht, doch haben sich durch Redeentwickelung
die Mundarten so verändert, dass sich Lappen und Finnen nicht mehr ver-
stehen. Ludwig Wilser-Heidelberg.
390. Milan Markovic: Die serbische Hauskommunion (Zadruga)
und ihre Bedeutung in der Vergangenheit und Gegenwart.
Leipzig, Duncker & Humblot, 1903. 87 S. Preis 2,40 Mk.
Über die serbische Hauskommunion herrschen in Deutschland vielfach
falsche Vorstellungen, was daher kommen soll, dass diejenigen, die sich
mit ihr beschäftigt haben, die wirtschaftlichen Verhältnisse Serbiens aus
persönlicher Erfahrung nicht kennen gelernt haben, auch verschiedentlich
nicht einmal über die oberflächlichsten Kenntnisse der serbischen Sprache
verfügen. Umsomehr Bedeutung ist daher den Ausführungen des Verfassers
beizumessen, der selbst Serbe ist und mit den wirtschaftlichen Verhältnissen
seiner Heimat sich eingehend vertraut gemacht hat.
Nachdem er einige Notizen über die gegenwärtige Lage der Land-
wirtschaft in Serbien vorausgeschickt hat, versucht er im 1. Abschnitte Be-
griff, Wesen und Organisation der Zadruga bei den Südslaven festzulegen.
Das Wesen der serbischen Hauskommunion ist durch das serbische Bürger-
liche Gesetzbuch vom Jahre 1844 zum ersten Male schriftlich fixiert worden.
Darnach besteht eine Hauskommunion dort, „wo die Gemeinschaft des Lebens
und Vermögens durch Verwandtschaftsbande oder durch Aufnahme in die
Kommunion natürlich begründet und befestigt worden ist“. — Im 2. Ab-
schnitte beschäftigt sich der Verf. mit dem Ursprünge der Zadruga und
mit ihrer Stellung in der Geschichte des Grundeigentums, dessen besondere
und ältere Form sie darstellt. Er übt zunächst Kritik an den hierüber
aufgestellten Theorien, die er sämtlich für unhaltbar erklärt, im besonderen
die Theorie Laveleyes, der in der Hauskommunion eine Entwicklungsphase
in der Grundeigentumsentwicklung, eine Übergangsstufe vom Gesamteigentum
zum Privateigentum erblickt, sodann die Hildebrandts, wonach das Grund-
eigentum der Hauskommunion nur eine noch nicht vollkommen durchge-
führte Erbteilung (pro indiviso) oder nur ein Miteigentum (condominium)
B. Referate. Ethnologie.
355
vorstellt, und schliesslich auch die Peiskers, wonach die Hauskommunion
seit dem Mittelalter (durch Rezeption der byzantinischen Besteuerungsform)
dem Volke aufgezwungen worden sei. — Verf. äussert sodann seine eigene
Ansicht in der Sache. Er hält die Hauskommunion der Slaven für eine
natürliche urgeschichtliche Erscheinung bei fast allen Völkern auf der primi-
tiven Stufe des Ackerbaus, besonders wenn dieselben die Naturalwirtschaft
noch nicht überwunden haben. In dieser Phase der ökonomischen Ent-
wicklung ist jede Familie genötigt, für alle Bedürfnisse durch Eigenpro-
duktion zu sorgen, was sie wiederum zu einer Vermehrung der Arbeits-
kräfte zwingt. Diese rein ökonomischen Bedürfnisse haben auch zur Folge,
dass, falls eine Familie sich nicht vermehren kann, auch Fremde in der
Hauskommunion Aufnahme finden. Bei fast allen arischen Völkern lässt
sich die Hauskommunion nachweisen. Auch bei den Altslaven wird ihr
Vorhandensein durch die ältesten Überlieferungen, die auf uns gekommen
sind, bestätigt. — Im 3. Abschnitt beleuchtet Verf. noch die rechtlichen
Verhältnisse der Hauskommunion und im 4. die Hauskommunion als wirt-
schaftliche, sociale und politische Institutionen. Buschan-Stettin.
391. Bernhard Stern: Medizin, Aberglaube und Geschlechtsleben
in der Türkei. Mit Berücksichtigung der moslemischen
Nachbarländer und der ehemaligen Vasallenstaaten. Eigene
Ermittelungen und gesammelte Berichte. Berlin, H. Bars-
dorf, 1903. Zwei Bände, 437 u. 417 Seiten.
Mit einem wuihren Bienenfleiss hat Verfasser im Laufe einer Reihe
von Jahren alles zusammengetragen, was er über Medizin, Aberglaube und
Geschlechtsleben in den Ländern des Islam teils während eines fünfjährigen
Aufenthaltes im Orient, verbunden mit mehrfachen weiten Reisen in das
Innere der europäischen, wie asiatischen Türkei durch Umfrage und per-
sönliche Beobachtung, teils beim Verarbeiten einer umfangreichen Litteratur
in Erfahrung bringen konnte, sodass ein stattliches Werk von 854 Seiten
entstanden ist. Der Inhalt des zweibändigen Werkes besteht aus 57 Kapiteln
und gliedert sich in 6 Hauptabschnitte. Von diesen behandeln die 3 ersten
Abschnitte die Geschichte der Heilkunde und der Ärzie in der Türkei, die
Heilbäder und Spitäler, die Kurpfuscherei und Volksmedizin, die Fieber-
und Wasserkuren, die Epidemien und den Aberglauben in der morgenländischen
Medizin; die drei letzten Teile sind der Liebe und Ehe im Islam, den sul-
tanischen Heiraten und Hochzeiten, der Macht der Frauen im Osmanen-
reiche, den Hochzeitsgebräuchen der Völker in der Türkei, dem intimen
Geschlechtsleben und den sexuellen Entartungen, endlich Mutter und Kind
gewidmet.
Ärzte, Priester und Volkskenner in Konstantinopel und an sonstigen
Orten, die Verf. auf seinen Reisen aufsuchte, haben ihn bei seinen Er-
23*
356
B. Referate. Ethnologie.
(
Hebungen unterstützt. Ausserdem hat er die Litteratur reichlich herange-
zogen, wie die der Studie vorangeschickte Litteraturzusammenstellung zeigt.
Wir finden darunter auch Abhandlungen erwähnt, die entweder für uns
schwer zugänglich sind, oder die nicht die Beachtung gefunden haben, die
sie vielleicht verdienen. Leider ist Verfasser in der Berufung auf seine
Gewährmänner allzuwenig kritisch verfahren, da er u. a. auch unkontrollier-
bare Zeitungsausschnitte und Feuilletons verarbeitet hat, was wohl daraus
zu erklären sein dürfte, dass er weder Arzt noch Fachethnologe ist, sondern
als Korrespondent für einige bekannte Berliner und Wiener Tageszeitungen
herausging, in welcher Eigenschaft er dort allerdings mit Personen und
Situationen in Berührung gekommen ist, bei denen er reichlich Gelegenheit
fand, sich über sein Thema eingehender zu unterrichten. Es soll dieser
Vorwurf indessen das Werk nicht herabsetzen, das immerhin eine verdienst-
volle kompilatorische Leistung vorstellt. Der Fachmann wird aus der reichen
Fundgrube für allerlei Volkstümliches aus dem Morgenlande das herauszu-
finden wissen, was von Wert ist. Buschan-Stettin.
392. L. Raynaud: Etude sur l’hygiène et la médecine au Maroc,
suivie d’une notice sur la climatologie des principales villes
de l’Empire. Alger, Imprim. S. Léon; Paris, J. B. Baillière
& fils. 204 S.
Der Titel des vorliegenden Buches, das übrigens von der Academie
de médecine zu Paris im Jahre 1901 preisgekrönt worden ist, liess mich
anfänglich vermuten, dass es sich darin wohl nur um die klimatischen und
epidemiologischen Verhältnisse, sowie um die modernen Bestrebungen der
Hygiene in Marokko handeln würde, also um Dinge, die fast nur Interesse
für den Hygieniker haben, ich war indessen angenehm überrascht, als ich fand,
dass der Ethnologe hier mehr auf seine Kosten kommt, als der Mediziner;
denn das Werk bringt eine Fülle von Beobachtungen über Sitten und Ge-
wohnheiten der einheimischen Bevölkerung, allerdings immer vom Gesichts-
punkte der öffentlichen Gesundheitspflege aus. Verfasser, zur Zeit Directeur
de santé zu Alger, war seiner Zeit vom Gesundheitsrat zu Tanger nach
Mogador berufen worden, um hier ein Lazarett einzurichten. Während
seines 6 monatlichen Aufenthaltes bot sich ihm reichlich Gelegenheit, die
Bevölkerung zu studieren und ein umfangreiches Material über die ein-
heimische Medizin zusammenzubringen, das er später gelegentlich zweier
weiterer Reisen nach Marokko vervollständigen konnte.
Das 1. Kapitel ist allgemeinen Betrachtungen über die marokkanische
Bevölkerung, ihre Zusammensetzung, Gebräuche bei der Hochzeit und dem
Begräbnis, Kleidung und Kosmetik, Ernährung, Wohnung, Leibesübung und
die religiösen arabischen Sekten, soweit sie für die öffentliche Hygiene in
Betracht kommen, gewidmet. Im 2. Kapitel wird der Leser über einzelne
B. Referate. Ethnologie. 357
hygienisch in Betracht kommende Einrichtungen, wie Beschaffenheit der
Moscheen, Bäder (Reinigung der Weiber), Marktwesen, Beseitigung des
Schmutzes und der Abwässer, Schlachten der Tiere, Beschaffung von Trinlc-
wasser, Beschaffenheit der Friedhöfe, Gefängniswesen, die daselbst an den
Gefangenen ausgeübten Grausamkeiten und schliesslich das Pilgerwesen unter-
richtet. Das 3. Kapitel interessiert mehr den Arzt, insofern darin das
öffentliche Wohlfahrts- und moderne Krankenhauswesen behandelt wird, des-
gleichen das folgende 4. Kapitel, das die Ursachen der Entvölkerung des
Landes, als da sind Hungersnot, Epidemien (Pest, Cholera und Typhus),
Missbrauch von Alkohol, Tabak, Hanf und Opium, sowie die beständige
Anwendung von Aphrodisiaca und reizenden Speisen, darlegt. Das 5. Kapitel
bringt eine Schilderung des gegenwärtigen Standes der Medizin in Marokko;
neben wenigen diplomierten, bzw. auf arabischen Medizinschulen vorgebildeten
Ärzten giebt es noch die sogenannten Tobibs, Ärzte und Apotheker in einer
Person, die indessen jedes medizinischen Wissens bar im Herumziehen ihr
Gewerbe ausüben; ausserdem kommen für die Bevölkerung die lebenden
und bereits gestorbenen Heiligen, Talismane, Amulette, wertvolle Steine u. a.
auf Aberglauben beruhende Methoden in Betracht. Kapitel 6, externe Patho-
logie betitelt, bringt interessante Beiträge zu den chirurgischen Fertigkeiten
der einheimischen Medizinmänner, ferner zur einheimischen Augenheilkunde
und Geburtshilfe. Im 7. Kapitel erfahren wir näheres über die Yerbreitung
der Infektionskrankheiten und die Behandlung derselben durch die ein-
heimischen Ärzte, im darauffolgenden über die Syphilis und das grosse Heer
der sonstigen Hautkrankheiten, im besonderen die Lepra. Im 9. Kapitel
lässt sich Yerf. sodann ausführlicher über die Therapie, die eine ganze Reihe
von Droguen kennt — 156 werden namentlich angeführt und gleichzeitig
die Krankheit angegeben, für welche jedes Mittel ist, — und im besonderen
über die Opotherapie aus, die sehr verbreitet ist. Das nächste Kapitel ist
allgemeinen Betrachtungen über die Tiermedizin der Marokkaner gewidmet
und im 11. stellt der Yerf. Betrachtungen darüber an, wie weit man die
eingeborenen Tobibs wirklich nützlich machen kann (Unterrichten in den
allgemeinsten medizinischen Kenntnissen auf öffentliche Kosten). Mit einer
Schilderung der klimatischen Verhältnisse in Marocco im allgemeinen, und
in den Städten Mogador, Tanger, Rabat, Marrakesch und Fez im besonderen
(Kapitel 12—17) schliesst das interessante Werk, das für den Ethnologen
eine wahre Fundgrube bedeutet. Buschan-Stettin.
393. R. Weinberg: Über einige ungewöhnliche Befunde an Juden-
hirnen. Biolog. Centralblatt, 1903. Bd. XXIII, S. 154—162.
An drei Judenhirnen hat Yerf. eine Anzahl von Abweichungen von
der Norm gefunden: Yereinigung des Sulcus Rolando mit der Fissura Sylvii
an beiden Hemisphären desselben Gehirns; an der rechten Hemisphäre des-
358
B. Referate. Ethnologie.
selben Gehirns verläuft die Fissura occipitalis von der Innenfläche quer über
die ganze Breite der Konvexität als tiefeinschneidende Spalte bis in die
Gegend der Incisura prae-occipitalis; oberflächlicher Gyrus cunei zweimal;
Kommunikation der Fissura occipitalis mit dem Sulcus interparietalis, drei-
mal, an einer rechten und an 2 zusammengehörigen Hemisphären; doppel-
seitige Überbrückung des Sulcus Rolando. Diese relativ zahlreichen unge-
wöhnlichen Befunde gemahnen, wie Yerf. mit Recht hervorhebt, zu weiteren
Untersuchungen, um den Wert jener Yarietäten ermessen zu lernen.
H. Laufer-Giessen.
394. Y. Koganei: Über die Urbewohner von Japan. Mitteil. d.
Deutsch. Gesellsch. f. Natur- u. Völkerk. Ostasieus. (Tokyo)
1903. Bd. IX, Teil 3, S. 297—329. Abgedruckt in Globus
1903. Bd. LXXXIV, No. 7 u. 8.
Von dem Anatomen in Tokyo, Prof. Koganei, besonders bekannt durch
sein grosses Werk über die Aino, liegt jetzt wieder eine Abhandlung vor,
welche sich in mancher Beziehung seinen früheren Forschungen anschliesst.
Besonders hat er dabei eine Reihe japanischer Arbeiten berücksichtigt und
diese hierdurch auch weiteren Kreisen zugänglich gemacht.
In ganz Japan sind Rester aus der Steinzeit reichlich vorhanden. Die
Zahl der Fundorte beträgt schon mehr als zweitausend. Es sind entweder
freiliegende Stellen, wo man einfach auf der Bodenfläche allerlei Gegenstände
aus der Steinzeit gefunden hat, oder Erdschichten, die solche enthalten;
ferner Muschelhaufen und Erdgruben, d. h. Reste ehemaliger Wohnungen.
Die wichtigsten dieser Gegenstände sind Stein- und Knochengeräte; es kommen
ferner vor Tonobjekte, wie Gefässe, Platten, menschliche Figuren; und auch
menschliche Knochenreste.
Es frägt sich nun, ob die Menschen, welche alle diese Reste hinter-
lassen haben, noch eine einzige Rasse bildeten oder ob es deren mehr als
eine war. Die Ansichten darüber sind verschieden. Einige vertreten die
Auffassung, dass die Steinzeitreste nicht von den Vorfahren der Aino her-
rühren, sondern von einem prähistorischen Volke, den Koropokguru. Andere
dagegen, und wohl die meisten, sind der Meinung, dass diese Relikten nur
den Vorfahren der Aino zuzuschreiben sind. Hauptvertreter der ersten
Ansicht ist Prof. Tsuboi; der zweiten Prof. Koganei selbst. In der vor-
liegenden Schrift nun wird diese Frage ausführlich kritisch behandelt. Es
würde uns zu weit führen, wollten wir hier die Argumentation Koganeis in
allen Einzelheiten wiedergeben. Es dürfte genügen, hervorzuheben, dass
Koganei sich der Koropokguru-Hypothese gegenüber vollständig ablehnend
verhält. Bei der mangelhaften und nicht selten kritiklosen Beweisführung
Tsubois war dies wohl kaum anders zu erwarten.
Die Hauptgründe Koganeis sind folgende: Alle Merkmale, die an den
359
B. Referate. Ethnologie.
Knochen der Steinzeitmenschen gefunden worden, kommen auch hei denen
der Aino vor. Tsuboi schreibt den nackten osteometrischen Zahlen eine
viel zu grosse Bedeutung zu. Auch was derselbe über den Wert der Platyknemie
und der Zahnkaries als Unterscheidungsmerkmale sagt, entzieht sich, im
Grunde genommen, der Kritik. Alle Punkte, welche bei einer direkten Ver-
gleichung zwischen Steinzeitresten und jetzigen Aino nicht übereinstimmen,
stellt Tsuboi ganz willkürlich als ein Unterscheidungsmerkmal auf, ohne
dabei jenen mächtigen Faktor, die Zeit, in Betracht zu ziehen. Solange
wir nicht beweisen können, in wiefern die Lebenszustände der Aino seit
der Steinzeit sich geändert haben, ist die ehemalige Existenz des Koropok-
guruvolkes durchaus zweifelhaft. Kogonei legt, mit vollem Rechte, grosses
Gewicht darauf, dass die Aino der Nordkurilen und von Sachalin noch jetzt
Erdjurten bewohnen. Er hebt ausdrücklich hervor, dass Tsuboi bei seinen
Untersuchungen diese Aino vollkommen ausgeschlossen und bloss die von
Yezo in Betracht gezogen hat. Spuren von Jurtenwohnungen, in Form von
Erdgruben, sind nicht nur auf Yezo, Sachalin und den Kurilen, sondern
auch auf der Hauptinsel Japans anzutreffen. Tsuboi legt auch der märchen-
haften Sage der Aino über die Koropokguru (auf Sachalin als Tonchisage
bekannt), eine zu grosse Bedeutung zu. Es ist bemerkenswert, dass die
Aino auf der Insel Shikotan (Südkurilen) von dieser Sage nichts wissen.
Aber diese Leute stammen von den Nordkurilen und zeigen in Lebensweise
und Sitten mancherlei Unterschiede von den übrigen Aino. Der Häuptling
auf Shikotan erzählte Koganei, „dass die Nordkurilen-Aino früher Steinge-
räte und irdene Gefässe gebraucht hätten; über die Herstellungsweise wisse
man nichts mehr, aber er vermochte noch die Gebrauchsweise des Stein-
beils genau anzugeben“. Steingeräte und Gefässscherben sollen häufig in
den Gruben gefunden werden, welche die einstige Stelle früherer Jurten-
wohnungen auf den Inseln Shumshu, Poromoshiri u. s. w. einnahmen. Des-
wegen kennen die Aino der Nordkurilen die Sage der Koropokguru resp.
Tonchi nicht. Die kleine Gruppe (etwa 60 Seelen) der Shikotan-Aino bildet
sozusagen ein missing-link zwischen den Steinzeit- und den jetzigen Aino.
Die Meinung Koganeis wird u. a. von Läufer (siehe diese Zeitschrift,
Jahrg. Y, 1900) geteilt. Auch der Japaner Torii, der Untersuchungen auf
den Nordkurilen anstellte, bringt sichere Beweise für die Annahme, dass
die dortigen Reste der Steinzeit nur von den Vorfahren der Aino herrühren.
Koganei schliesst seine lehrreiche Schrift mit den Worten, welche er schon
früher ausgesprochen hat: „Das japanische Reich war einst ein Aino-Reich“.
Wir müssen Prof. Koganei Dank wissen, dass er auch durch Be-
nutzung der japanischen Quellen in dieser verwickelten Frage Klarheit ge-
bracht hat. Mögen seine Kollegen in Tokyo dem Beispiel Koganeis folgen
und fortan ihre Arbeiten in irgend einer europäischen Sprache der übrigen
Wissenschaft zugänglich machen. jy. ¿en Kate-Kobe.
360
ß. Referate. Ethnologie.
395. V. Giuffrida-Ruggeri: Crani e mandibole di Sumatra. Atti
d. Società romana di antrop. Roma 1903. Yol. IX, S. 203
bis 264.
Vierzehn Schädel und sieben Unterkiefer, welche Dr. Rudel aus Sumatra
brachte und dem ethnographischen Museum zu Rom schenkte, machte Verf.
zum Gegenstände seiner kraniologischen Untersuchung. Leider fehlten alle
näheren Daten über die Abstammung; es wurde nur angegeben, dass die
Schädel den „gemischten Rassen“ von Sumatra angehören. Darunter waren
zwei dolichocéphale, fünf mesocephale und sieben brachycéphale, 10 männ-
liche und 4 weibliche Schädel; der Schädel-Index lag innerhalb der Grenzen
von 71,5 und 92,9. In Bezug auf die Gesichtsbildung waren vier Schädel
mesoprosop, neun leptoprosop. Bei der Untersuchung der Unterkiefer er-
gaben sich einige sehr bemerkenswerte Einzelheiten, wobei G.-R. die Ge-
legenheit wahrnimmt, dieselben mit prähistorischen Knochen, besonders jenen
aus Krapina, zu vergleichen. Bei manchen Merkmalen vermeint er Zeichen
von Infantilismus feststellen zu können; er rechnet hierzu besonders den
weiten Thränenkanal, den horizontalen Verlauf des unteren Nasenrandes, die
aussergewöhnliche Breite des Augenzwischenraumes.
Dr. Oskar v. Hovorka-Wîen.
396. E. Clement: Ethnographical notes on the Western-Australian
Aborigines. With a descriptive catalogue of a collection of
ethnographical objects from Western Australia by J. D. E.
Schmeltz. Internationales Archiv für Ethnographie, 1903.
Bd. XVI.
Dr. Clement giebt in diesem Artikel einige Beobachtungen und Notizen
über die Eingebornenstämme (im ganzen 8) des nordwestlichen Australiens
zwischen dem Eertesene- und dem Fitzrey-Fluss, welche er auf einer Reise
in den Jahren 1896—98 gesammelt hat. Dieselben bilden eine wertvolle
Bereicherung unserer ethnographischen Kenntnisse über jene Völker.
Wir erfahren Näheres über die Gewinnung der pflanzlichen wie tierischen
Nahrung, über Jagd und Fischerei, über die Zubereitung des häufig vor-
kommenden Tabaks, der nur als Kautabak, wie es scheint, Verwendung
findet, über das Feuerbohren resp. -quirlen, die Herstellung von Flint- und
Glas-Speerspitzen, deren Schärfung durch festes Anpressen an das abge-
brochene scharfe Ende eines Känguruhknochens hervorgebracht wird, ferner
über die Ceremonien des Regenmachens und derjenigen zur Vermehrung des
Wildes oder der Nahrungspflanzen, sobald diese drohen, knapp zu werden.
Weiterhin wird die Hantierung des eingeborenen Arztes, des „Taketa“
(das ist wohl nur unser europäisches „Doktor“ in australischer Aussprache
und wird wahrscheinlich nur dem Europäer gegenüber gebraucht werden?)
in Fällen von Krankheit, die stets von bösen Geistern herrührt und daran
B. Referate. Ethnologie.
361
anschliessend die (Hocker-)Beerdigungs- und Trauerceremonien besprochen.
Kannibalismus kommt im ganzen Nordwesten vor; die Fleischteile eines erlegten
Feindes werden unabänderlich gegessen und, wenn ein grosser Krieger oder Jäger
des eigenen Stammes stirbt, so schneidet man sein Herzfett aus und isst es auf,
um sich der Kraft und Geschicklichkeit der Yerstorbenen zu versichern.
Sehr rudimentäre, mit der Steinaxt nach Yorzeichnung mit Kreide
oder Holzkohle eingehauene Felsenzeichnungen von Tieren wie Menschen in
oft sehr obskönen Stellungen finden sich auf allen Berggipfeln; auch die
Wände mancher Höhlen sind förmlich damit bedeckt.
Im Alter von 16—17 Jahren bringen sich beide Geschlechter tiefe Schnitte
über der Brust mit dem Flintmesser bei, deren Narben später die Familien- und
Namenszeichen bilden. Bei allen Stämmen Nordwest-Australiens ist die Circum-
cision im Schwange, deren Yollziehung, wie fast überall, mit grossen Initiations-
festlichkeiten verknüpft ist, über die ziemlich ausführlich berichtet wird.
Den Schluss von Clements Artikel bilden kurze Mitteilungen über
Wohnung (während der schweren Regen und Cyklone im Februar und März
in Höhlen, sonst meist nur unter halbkreisförmigen Windschirmen aus Zweigen),
dann über Heirat und die gerade bei den Australiern so verwickelten Heirats-
gesetze; die Hochzeitsfeierlichkeiten selbst sind fast null. Polygamie ist
Regel; von Polyandrie hat CI. nur einen einzigen Fall gesehen. Als Kuriosum
wird vermerkt, dass die ältesten Männer gewöhnlich die meisten und jüngsten
Frauen haben. Die Mika-Operation als Yorbeugungsmittel gegen allzu reich-
lichen Nachwuchs wird überall an einer Anzahl junger Männer ausgeführt.
Clement gelang es, ein ausgezeichnetes Präparat an die Universität Oxford
einzusenden.
Beigefügt sind dem Aufsatze ein Yokabular des Gualluma-Stammes
und ein durch vier ausgezeichnete Tafeln illustrierter beschreibender Katalag
einer von Herrn Clement an das Leidener Yölkermuseum eingesandten ethno-
graphischen Sammlung aus der Feder des Direktors dieses Instituts, Dr. J. D.
E. Schmeltz, der den Artikel auch mit wertvollen Hinweisen und Anmerkungen
versehen hat. Hofrat Dr. B. Hagen-Frankfurt a. M.
397. G- Thilenius: Ethnographische Ergebnisse aus Melanesien,
II. Teil. Nova Acta. Abhdl. d. Kaiserl. Leopold. Carol.
Deutschen Akademie d. Naturforscher z. Halle, 1903. Leipzig,
in Kommiss, bei W. Engelmann.
Thilenius besitzt den umfassenden Blick, der allein im Stande ist, sich
und Anderen Klarheit in dem Gewirr der pazifischen Inselgruppen zu ver-
schaffen, das zeigt auch der zweite Band seiner ethnographischen Ergebnisse
aus Melanesien, der die westlichen Inseln des Bismarck-Archipels behandelt,
Taui, Agonies, Kaniet, Ninigo und Popolo-Hunt. Es fällt schwer, sich an
diese neuen Namen zu gewöhnen an Stelle der alten, wohlbekannten und
362
ß. Referate. Ethnologie.
geläufigen: Admiralitäts-, Hermit-, Anachoreten-, Echiquier-, Matty-Durour-
Inseln, wenn wir auch die Berechtigung zum Zurückgreifen auf die ur-
sprünglichen Eingebornen-Namen nicht wegleugnen wollen.
Die geographisch-naturwissenschaftliche Betrachtung, welche für das
ethnographische Verständnis unerlässlich ist, zeigt diese Inseln, wie Thilenius
sagt, von Anfang an als ungleichwertig für die Kultur der Eingebornen.
Neben der reichen Gruppe von Taui, die in ihren Mineralien, ihrer zum
Teil farbenprächtigen Flora und Fauna eine ganze Reihe von entwicklungs-
fähigen Produkten und Vorbildern bietet, sehen wir Kaniet und Ninigo in
einer Beschränkung, der auch der beste Wille des Bewohners nur wenig
abzugewinnen vermag; zwischen beiden Gruppen steht Agomes.
Es folgt nun die eingehende ethnographische Schilderung der einzelnen
Inseln und Inselgruppen, der wir folgendes entnehmen: Im Taui-Archipel
sind die Bewohner in Küstenleute, Manus, und Binnenländler, Usiai, zu
unterscheiden; erstere bauen ihre Häuser auf Pfählen am liebsten in die
See hinaus, letztere wohnen ebenerdig auf steilen isolierten Höhen. Beide
Kategorieen leben wirtschaftlich getrennt, oft sogar feindlich einander gegen-
über; auf die verschiedenartigen Bedürfnisse beider wird auch die grosse
Mannigfaltigkeit ihrer Geräte zurückgeführt. Nach ihrem Aussehen stehen
sie den Papuas nahe und können bestimmt von den Leuten des Bismarck-
oder Salomons-Archipels unterschieden werden. Erwähnenswert ist, dass
Thilenius die bekannte, nicht bloss auf Taui, sondern auch auf Agomes und
Kaniet vorkommende Vergrösserung der Vorderzähne auf sorgfältig behütete
und künstlich beförderte Ablagerung von Zahnstein zurückführt.
Bei den Bewohnern von Agomes finden wir ein trauriges Bild des
Rückgangs; die Bewohnerschaft, die „einst wohl Hunderte von Individuen,
vielleicht Tausend zählen mochte“, besteht heute nur aus „etwa vierzig Ein-
gebornen, davon die Hälfte Frauen, acht bis zehn halbwüchsige Knaben und
Mädchen kommen hinzu; seit Jahren werden keine Kinder mehr geboren,
können vielmehr nicht geboren werden. Unter der ganzen kleinen Be-
völkerung giebt es etwa o—4 Individuen, die gesund erscheinen, alle übrigen
leiden an Elephantiasis, Lues, Frambösie u. s. w.“. Die unschwer zu er-
kennende Ursache dieses Aussterbens sind die reichen, mühelos auszubeutenden
Holothuriengründe zwischen den Riffen und in der seichten, stillen Lagune,
welche die Händler und Trepangfischer anzogen. Interessant und wichtig
ist eine längere Abhandlung über die bekannten, zierlich geschnitzten Betel-
spatel dieser Inselgruppe, deren Ornamentik der Verf. auf zwei Ausgangs-
punkte zurückzuführen sucht: die Phallusfigur und das Beuteltier resp. die
Schildkröte.*) Das Tiermotiv soll das jüngere sein.
*) Ref. erlaubt sich, hier noch auf 2 im Frankfurter Museum befindliche Betel-
spatel aufmerksam zu machen, von denen der eine das Schildkröten-, der andere
sehr schön das Beuteltier- (oder Eidechsen-?) Motiv in Reduplikation zeigt.
B. Keferate. Ethnologie.
363
Auf Kaniet herrscht derselbe Verfall; die Bevölkerung beläuft sich auf
höchstens 30 Individuen, der Mehrzahl nach alte Leute; Kinder und Säuglinge
fehlen; die Ursache davon soll vorwiegend an der Sterilität der Männer liegen.
Der Ninigo-Archipel zählt auf seinen etwa 40 grösseren Schuttinseln
ca. 400 Einwohner, die physisch den unzweifelhaften Eindruck einer nicht
homogenen Bevölkerung machen. Pfeil und Bogen fehlen, dagegen zeigen
die Speere einen auffallenden Formenreichtum.
Popolo-Hunt hat Thilenius nicht selbst besucht. Zwischen Ninigo
und Popolo bestehen rege Beziehungen; Ninigo-Mädchen heiraten sogar ge-
legentlich nach Popolo, doch sollen umgekehrt Popolo-Männer und -Weiber
niemals nach Ninigo gekommen sein. Die Abgeschlossenheit von Popolo
folgt nach Th. aus dem Mangel eines geeigneten Verkehrsmittels; Popolo
kennt das Segel nicht.
An diese Einzeldarstellungen, die für den Ethnographen doppelten
Wert besitzen, weil sie, mit Ausnahme von Popolo-Hunt, auf Selbstan-
schauung beruhen, werden im zweiten Teil der Arbeit die sich ergebenden
Schlüsse und Polgerungen angereiht, die Thilenius in folgendem zusammen-
fasst: „Die indonesischen und die ostasiatischen Beziehungen unserer Inseln
können seit Jahrhunderten bestehen, sind aber, sofern sie durch Premde
vermittelt wurden, nur gelegentliche und nicht so regelmässige, wie es die
durch Trepangfischer hergestellten Verbindungen mit Yap und den westlichen
Karolinen während Jahrzehnten waren. Nimmt man im übrigen die ein-
fachsten Verhältnisse an und lässt die in Betracht kommende Küste von
Neu-Guinea als rein melanesisch gelten, so enthalten die Bevölkerungen von
Taui, Agomes, Kaniet, Ninigo, Popolo-Hunt mindestens zwei verschiedene
Elemente, ein melanesisehes und ein nicht-melanesisches, von denen letzteres
ausschliesslich in Mikronesien vorkommt. Es sind indessen Hinweise genug
vorhanden, welche weitere Elemente vermuten lassen“. In dieser Beziehung
ist die Thatsache von Belang, dass ein malayischer und damit Hand in Hand
ein chinesischer Handel längs der Nordküste von Neu-Guinea bis in die
Nähe der Astrolabebai seit Jahrhunderten stattfand, sodass indonesische und
ostasiatische Elemente leicht auf diese Inseln gelangen konnten. Eine Ver-
bindung „Engano-Popolo“ hat für Thilenius nichts Unwahrscheinliches.
Als Anhang ist dem Buche ein Verzeichnis von Worten aus den
Sprachen von Tani, Agomes, Kaniet, Nimigo, Popolo beigegeben. Zahlreiche
Textabbildungen und zwanzig Tafeln illustrieren und ergänzen aufs trefflichste
das hervorragende Werk. Bezüglich der Abbildungen wäre nur das Ab-
decken des Hintergrundes der anthropologischen Typenbilder zu rügen, wo-
durch der wissenschaftliche Wert, namentlich der Gesichtsprofile, manchmal
geradezu illusorisch gemacht wird. Dieser, leider noch sehr allgemein ver-
breitete Unfug sollte endlich abgestellt werden.
Hofrat Dr. B. Hagen-Frankfurt a. M.
364
B. Referate. Ethnologie.
398. A. Schiick: Die Stabkarten der Marshall-Insulaner. Ham-
burg, Kommissions-Verlag von H. C. Persielil, 1902. 37 S.
und 11 Tafeln.
Dass unter Umständen die praktischen, während eines Jahrzehnte lang
ausgeübten Berufes gesammelten Erfahrungen eines Laien auch für die Wissen-
schaft von Wert sein können, zeigt uns die vorliegende Abhandlung. Mit
schätzenswertem Eifer hat sich Verf., ein alter Seemann, der Mühe unter-
zogen, durch Anfrage bei fast allen öffentlichen Sammlungen beider Erd-
hälften und bei den ihm bekannt gewordenen Privatsammlungen nach dem
Vorhandensein von sogen. Stabkarten Nachforschungen zu halten und Zeich-
nungen sowie Photographien von allen vorhandenen sich zu verschaffen. Es
ist ihm auf diese Weise gelungen, im ganzen 45 Exemplare dieser merk-
würdigen Seekarten zusammenzubekommen. Die erste Nachricht von den-
selben stammt von einem amerikanischen Missionar, Dr. Gulick, aus dem
Jahre 1860. Seitdem blieb man indessen über ihre Bedeutung im Unklaren,
bis Kapitän z. S. Winkler im Jahre 1898 eingehende Nachforschungen hier-
über bei den Eingeborenen mit Erfolg anstellte.
Bis jetzt kennt man solche Karten mit Sicherheit nur aus den süd-
lichen Teilen der Marshall-Inseln; die meisten stammen naturgemäss vom
Mittelpunkt des dortigen Verkehrs, von Jaluit. Sie stellen ein System von
zusammengebundenen Stäbchen mit einzelnen darauf befestigten Muscheln
vor. Die Stäbchen, bald gebogen, bald gerade, bezeichnen die vorherrschende
Dünung, die Kreuzungspunkte die beim Zusammenstoss verschiedener Dünungen
entstehenden Kabbelungen, die Muscheln die Inseln. Ausserdem bedeuten
einzelne Linien noch die Sichtweite der Inseln, sowie einige andere bei
der Seefahrt in Betracht kommende Merkmale. Mit Winkler, der der Ein-
teilung der Stabkarten bei den Eingeborenen folgte, unterscheidet Verf. drei
Arten. Die erste Gruppe, die Mattang, sind Lehr- oder Anschauungskarten;
sie sollen für den jungen Insulaner den Verlauf der Dünungen zwischen zwei
Inseln im allgemeinen erläutern. Die zweite Art, die Rebbelib, stellt Über-
sichtskarten vor, und zwar umfassen diese Rebbelib-Karten entweder den ganzen
Archipel oder nur eine der beiden Ketten der Marshall-Inselwelt (Ratack
und Raliclc), oder sie geben entweder den südlichen Teil oder den nördlichen
Teil der gesamten Gruppe wieder. Die dritte Art, Medo genannt, sind
Einzeln- oder Spezialkarten von den Untergruppen oder Teilen der Gruppen,
innerhalb welcher der betreffende Schiffsführer verkehrt.
Wegen der Einzelheiten sei auf das Original verwiesen. 11 Tafeln
geben die 48 Stabkarten in Zeichnungen wieder, sowie eine gleichfalls auf
die Seefahrt sich beziehende kartographische Darstellung, welche Haddon
auf einer der Murray-Inseln der Torresstrasse entdeckte, eine Steiusetzung
auf der Weihe-Stätte bei Dam auf der Insel Mer. Diese Gruppe von 14
ß. Referate. Ethnologie.
365
Steinen soll den Weg veranschaulichen, welchen der Ahn und Nationalheld
Malu nach Mer genommen hat. Buschan-Stettin.
39a George A. Dorsey and H. R- Voth: The Mishognovi Cere-
monies of the Snake and Antelope fraternities. Field Colum-
bian Museum Publ. 66. Yol. III, 3. Chicago 1902.
Die bisher nur unvollständig in ihrer öffentlichen Feier bekannten
Schlangenzeremonien von Mishognovi haben durch diese Publikation eine
ebenso vollständige Darstellung erfahren, wie wir sie bereits von denen der
Dörfer Walpi und Oraibi besitzen. Obwohl die Priesterschaften von Mishog-
novi, das noch wenig von den Weissen beeinflusst ist, streng konservativ
an ihren Riten festhalten, so gestatteten sie doch aufs bereitwilligste den
Beobachtern die Teilnahme an allen esoterischen Zeremonien, was wohl haupt-
sächlich der Verwendung des sprachkundigen Missionars Yoth zu verdanken
ist. Im Ganzen verläuft die Feier sehr ähnlich wie in Oraibi; die Varianten
bestehen der Hauptsache nach darin, dass bei der grossen Altar-Zeremonie
der Antelopenpriester neben dem Schlangenjüngling und der Schlangenjungfrau
noch zwei Vertreter des Kriegerordens der Kalektoka funktionieren, das die
Aufbewahrung der gefangenen Schlangen in grossen irdenen Töpfen erfolgt,
die später in einer Höhle beigesetzt werden, dass endlich beim Tanze selbst
die Reptilien in der in Walpi üblichen Weise gehandhabt werden. Die
wichtigste Bereicherung unserer Kenntnisse betreffen diejenigen Vorgänge,
die auch auf den anderen Dörfern bisher nur mangelhaft bekannt waren.
Namentlich gelang es die Thätigkeit der Schlangenjäger in allen Einzelheiten
zu beobachten, sowohl die Art des Einfangens der Reptile, wie auch die
vorausgehenden Gebetszeremonien an heiligen Quellen. Auch die Vorgänge
bei den rituellen Wettläufen, über die man recht wenig wusste, sind nun-
mehr ermittelt. Andere interessante Beobachtungen sind die Initiationsweihe
der Novizen des Schlangenordens, eine eigentümliche Heilungszeremonie zum
Wohle der Kinder und die „Entzauberung der Priester“ am Schluss des
Festes. Sehr wichtig ist endlich eine neue Version der Sage vom Schlangen-
heros, die alle Unklarheiten der bisher bekannten beseitigt. Sehr dankens-
wert ist auch dieses Mal die Mitteilung der wichtigsten Anreden und Gebete
im Originaltext mit freier Übersetzung.
Die Illustrierung ist überreich, indem kaum ein Akt unabgebildet
bleibt, manche sogar durch ganze Serien veranschaulicht weiden. Natürlich
sind auch weniger gelungene Aufnahmen reproduziert, sofern nur der dar-
gestellte Vorgang von Interesse war. p Ehrenreich-Berlin.
366
B. Referate. Urgeschichte.
III. Urgeschichte.
A. Allgemeines.
400. Julius Naue: Die vorrömischen Schwerter aus Kupfer, Bronze
und Eisen. Mit einem Album, enthaltend 45 Tafeln u. Ab-
bildungen. München, K. priv. Kunstanstalt Piloty u. Loehle,
1903. 4°. VIII u. 126 Seiten.
Schon einige Male wurde der Versuch gemacht, den Ursprungsort und
die Entwicklung der prähistorischen Schwerter klar zu legen, aber immer
erwies sich das Material als noch nicht umfangreich genug. Mit der Zeit
haben sich aber die Funde derart gemehrt, dass jener Versuch mit Aus-
sicht auf Erfolg wiederholt werden konnte. Freilich brauchte es dazu einen
Forscher, der die gesamten einschlägigen Materialien übersah und beherrschte,
ein feines Gefühl für Formen und Ornamentik besass und die prähistorische
Technik genau kannte. Alle diese Anforderungen trafen in Professor Dr.
J. Naue, der ein langes Leben hindurch auf urgeschichtlichem Gebiete thätig
war, vollkommen zu.
Naue betrachtet zuerst die Schwerter ohne Vollgriffe und unterscheidet
fünf Typen derselben. Typus I ist entstanden aus den ältesten bekannten
Kupferdolchen und begreift diejenigen Schwerter in sich, die im Osten der
Mittelmeerländer zuerst in Kupfer, dann in Bronze gegossen wurden und
teilweise bis ins dritte vorchristliche Jahrtausend hinunter reichen, wie die
im ganzen dreieckigen, mit rauten- oder linsenförmigem Klingendurchschnitt
versehenen Kupferschwerter von Cypern. Bedeutend jünger sind die in den
mykenischen Schachtgräbern gefundenen Schwerter aus Bronze. Sie haben
eine dreieckige Klinge und endigen in eine kurze Griffzunge. Aus ihnen
mögen sich jene um 1400 vor unserer Zeitrechnung erscheinenden Bronze-
schwerter entwickelt haben, welche bei ähnlicher Klinge eine mit niedrigen
und schmalen Rändern versehene Griffzunge besitzen. Nach und nach treten
dann Schwertklingen auf, deren Mitten einen verstärkenden Wulst aufweisen
oder bei denen der rautenförmige Durchschnitt in einen spitzovalen übergeht.
Viel einheitlicher ist Typus II, nur Bronzeschwerter umfassend. Ob-
wohl ein Exemplar desselben in Mykenä zum Vorschein kam, ist dieser
Schwerttypus nicht im östlichen Mittelmeerbecken entstanden, sondern in
Mittel-Italien, wo er gegenwärtig in 20 Stücken nachgewiesen werden kann.
Fine weitere Entwicklung erfuhr diese seit ca. 1200 v. Chr. existierende
Form in Ungarn und in Nordeuropa. Das zum Schlag geeignete ungarische
Bronzeschwert, dessen Schwerpunkt mehr gegen die Spitze gerückt ist, er-
scheint eigentümlich wuchtig gegenüber dem eleganten Bronzeschwert des
nördlichen Europa. Aus dem zweiten Typus haben sich die Bronzeschwerter
der Hallstattzeit entwickelt mit ihren stark geränderten Griffen, ihren oben
einziehenden und nach unten anschwellenden Klingen. Sie leiten über zu
B. Referate. Urgeschichte.
367
den eisernen Schwertern vom Hallstatt-Typus, deren manche als eigentliche
Kunstwerke zu bezeichnen sind.
Alter als der zweite ist der dritte Bronzeschwertertypus. Er hat sich
in der ersten Hälfte des zweiten vorchristlichen Jahrtausends aus dem Terra-
maredolch entwickelt und weist wie dieser ursprünglich weder Griffzungen
noch Griffangeln auf. Im Laufe der Zeit erscheinen dann kurze Griffzungen
oder Griffplatten. Auch der Klingendurchschnitt verlässt die einfache Rauten-
form und erhält in der Mitte eine kleine wulstartige Verstärkung oder zeigt
spitzovale Gestalt. Die Klinge selbst wird weidenblattförmig. Der Terra-
maretypus drang von Italien aus nach Mittel- und Nordeuropa vor und er-
hielt sich bis in die jüngere Bronzeperiode, wo er oft unter den Vollgriff-
Schwertern nachgewiesen werden kann.
In der Mitte der Bronzezeit entstand Typus IV, der in Naues Werk
ebenfalls sehr klar umschrieben ist. Er umfasst diejenigen Schwerter, welche
in eine kurze, nach oben sich verjüngende Griffzunge ausgehen, an welcher
der eigentliche Griff mit kleinen Nietnägeln befestigt wurde.
Die Bronzeschwerter, welche statt der Griffzungen Griffdorne oder
Griffangeln besitzen, bilden den Typus V. Sie gehören der jüngeren Bronze-
zeit an.
Was die Griffe der Bronzeschwerter anbetrifft, so bestanden dieselben
meist in Bein oder Holz, welche Stoffe im Laufe der Zeit vergangen sind.
Schon um 1800 vor unserer Zeitrechnung treten indessen auch Vollgriffe
aus Bronze auf, und zwar bei Dolchen und Schwertern des Terramaretypus.
Naue widmet den mit Bronzegriffen versehenen Schwertern mit Recht eine
eingehende Betrachtung und unterscheidet auch fünf Typen von solchen Griffen.
Typus A erscheint bei italischen Dolchen und Schwertern von drei-
eckiger Form mit rautenähnlichem Querschnitt. Der Griff selbst ist mehr
oder weniger zylindrisch. Dieselbe Form weist auch Grifftypus B auf, aber
er besitzt noch drei erhabene Bänder und endigt in eine ziemlich grosse
runde oder, seltener, ovale Knaufplatte. Die Griffflügel bilden innen einen
Drei viertelkreis. Die wahrscheinlich mit kurzer Griffzunge versehene Schwert-
klinge läuft nach oben konvex aus und ist durch zwei kleine Bronzenägel
an den Griffflügeln befestigt. Manchmal finden sich zwischen den Bändern
des Griffes vertiefte Ornamente, z. B. Spiralen.
Schwerter dieses Typus sind besonders in Ungarn und Süddeutschland
häufig. Sie gehören der jüngeren Bronzezeit an. Diejenigen des Typus C
erscheinen um dieselbe Zeit. Sie haben aber vertieft eingeschlagene Linien-
bänder an den Griffen. Die Griffknäufe sind meist oval und die Schwerter
besitzen gewöhnlich gerade Klingen mit breiten, aber wenig hohen Mittel-
rippen. Auch diese Schwerter kommen in Süddeutschland und Ungarn
relativ häufig vor.
Charakteristisch für die Bronzeschwerter des Typus D sind die im
368
ß. Referate. Urgeschichte.
Durchschnitt achteckigen, im Umriss ovalen, meist reich verzierten Griffe,
die ovalen oder spitzovalen Griffknäufe und Knöpfe, die unten nach innen
abgeschrägten, spitzigen Griffflügel und die meist mit Mittelrippe versehenen
Klingen. Mit diesen in Bayern, speziell in Südbayern häufigen Schwertern
treten Vasenkopfnadeln auf, die dem Ende der jüngeren Bronzezeit ange-
boren, wodurch die Zeitstellung der Schwerter bestimmt ist.
Typus E zeigt uns Bronzeschwerter mit ähnlichen Klingen wie D.
Auch die Griffe sind nicht sehr verschieden, obwohl die achteckige Form
manchmal nur schwach ausgeprägt ist oder ganz verschwindet. Die Griff-
flügel bilden innen nicht mehr einen Dreiviertels-, sondern einen grossen
Halbkreis. Diese Schwerter sind in Süddeutschland und Österreich eben-
falls relativ häufig und so ist denn die von Naue ausgesprochene Ansicht,
dass in der jüngeren Bronzezeit in Bayern, Böhmen, Österreich, Ungarn,
sowie im Norden zahlreiche Schwertgiessereien bestanden haben, gewiss richtig.
Eine gesonderte Betrachtung verdienen die sehr zahlreichen nordischen
Bronzeschwerter mit Vollgriffen. Die ältesten derselben mögen aus den
Typen B und C, andere aus dem Typus D entstanden sein, aber sie haben
eine ganz eigene, spezifisch nordische Entwicklung erfahren, wie sich nicht
bloss an den Griffen und ihren meist stark differenzierten Flügeln, ihren
Knäufen und Knöpfen, sondern auch an den Ornamenten nachweisen lässt.
Immer aber bleiben ihre Formen elegant und die Verzierungen schön, ein
Beweis der hohen Stufe der Bronzetechnik und bronzezeitlichen Kunst im
Norden. Glücklicherweise besitzen wir zahlreiche Grabfunde, welche die
Chronologie der nordischen Bronzeschwerter sicherstellen.
Aus den Schwertern des Typus E entwickelten sich zwei Typen, die
wahrscheinlich zu Anfang der Eisenzeit in der Schweiz entstanden sind.
Es sind die Möriger-Schwerter (auch Rhönetypus genannt) und die Antennen-
Schwerter. Die ersteren besitzen eine oben etwas eingezogene, dann aber
meist gerade oder mit sanfter Schwellung verlaufende Klinge. Der Voll-
griff ist doppelkonisch und mit drei erhabenen Bändern versehen. Die
anfangs halbkreisförmigen Flügel werden bald nach aussen geführt und bilden
eine Art Parierstange. Der ursprüngliche Knauf verschwindet und eine kon-
kave Platte erscheint, die einen kleinen Knopf trägt. Eine zweite Klasse
von Möriger-Schwertern endigt in runde und ovale, aber selten konkave
Platten. In der Mitte der Griffe befindet sich eine Vertiefung, die mit drei
Knöpfen verziert und mit einer Harzmasse erfüllt war. Das häufige Vor-
kommen dieser Schwertform in Norddeutschland weist auf ausgedehnte Be-
ziehungen mit der Schweiz hin.
Die Antennen-Schwerter haben sich gleichzeitig mit dem Möriger-Typus
entwickelt. Beide Formen gleichen einander, nur endigen die Antennen-
Schwerter nicht in Knäufe oder Platten, sondern in Voluten oder Spiralen.
Auch diese Schwerter sind in der Schweiz oder in Frankreich entstanden
B. Referate. Urgeschichte.
369
und haben sich von dort aus nach den anderen Ländern, besonders auch
nach dem Norden, verbreitet.
Grosse Verwandtschaft mit den letztgenannten Typen zeigen gewisse
Dolche und Schwerter aus Eisen, die in dem berühmten Hallstätter Grab-
felde zahlreich gefunden worden sind. Charakteristisch ist besonders der
Griff. Phantasiereichen Beobachtern fällt es nicht schwer, in demselben die
Darstellung eines Reiters mit emporgehobenen Händen zu erblicken. Der
eigentliche Griff repräsentiert dann den Leib des Reiters; die Griffflügei
bilden dessen Beine und zwischen den empor gestreckten Armen erscheint
ein Knopf, der bei jüngeren Typen wirklich die Form eines menschlichen
Kopfes annimmt. An einem derartigen Kurzschwert aus der Thielle (Schweiz)
erkennt man ganz deutliche Gesichtszüge und selbst der Haarschmuck ist
unverkennbar dargestellt. Sicher waren das nicht Waffen der nordischen
Söldner Karthagos, wie behauptet wurde, sondern Schwerttypen, die eben-
falls in der Schweiz entstanden und auch sonst in Mitteleuropa benützt
worden sind.
Neben den Kurzschwertern der ersten Eisenzeit oder der Hallstatt-
periode finden sich lange Waffen, die in Grabfunden jener Zeit nicht selten
zum Vorschein kommen. In der zweiten Eisenzeit erscheinen die La Tene-
Schwerter. Sie wurden aus weichem Eisen hergestellt und verbogen sich
leicht im Kampfe. Meist besitzen sie Scheiden aus dünnem Eisenblech, die
nicht selten Verzierungen aufweisen.
Das Früh-La Tene-Schwert, im vierten und dritten vorchristlichen
Jahrhundert in Gebrauch stehend, zeigt einen oben geraden Scheidenabschluss;
am unteren Ende dagegen finden sich häufig Verzierungen, die manchmal
hörner- oder flügelartige Gestalt annehmen. Die Schwertklinge ist, wie bei
allen La Tene-Schwertern, zweischneidig, oben mit einem Dorn versehen,
unten in eine ziemlich lange Spitze auslaufend.
Beim Mittel-La Tene-Schwert, der Zeit von 200 bis 50 v. Chr. an-
gehörig, verkürzt sich die Spitze; die Scheide trägt unten fast keine Ver-
zierungen mehr, weist dagegen oben einen geschweiften Bügel auf, dem der
Scheidenrand folgt. Manche dieser Schwerter tragen Fabrikmarken, Schmiede-
zeichen. Unter den Scheidenverzierungen erscheint auch das Triquetrum.
Die Spät-La Tene-Schwerter zeigen oben den geraden Abschluss, haben
eine sehr kurze, abgerundete Spitze und führen oft Bronzescheiden, deren
zwei Blätter durch Querbänder zusammengehalten werden.
Am Schlüsse seines Werkes bespricht Naue noch einige Dolche und
Schwerter aus Sibirien, Kaukasien, Assyrien und Kreta. Eine chronologische
Übersicht über die verschiedenen Formen, Sach- und Tafel-Register sind
willkommene Beigaben.
Wenn ein Forscher wie Naue eine Arbeit darbietet, so darf man hoffen,
in derselben neue Gesichtspunkte aufgestellt und eine Anzahl wichtiger Fragen
24
Intern. Centralblatt für Anthropologie. 1903.
370
B. Referate. Urgeschichte.
beantwortet zu finden. Das ist denn auch in dem vorliegenden Werke der
Fall. Sozusagen alle bis jetzt bekannt gewordenen prähistorischen Schwerter
sind ins Auge gefasst, nach ihren Fundumständen, ihren Formen, ihrer Technik
und Ornamentik geprüft und unter einander verglichen worden, um daraus
ihre Herkunft und ihre chronologische Stellung zu fixieren. Noch sind nicht
alle Fragen bezüglich dieser Waffen beantwortet; es ist möglich, dass manche
Details, die in Naues Schwerterwerk zu einem grossen Bilde verwoben wurden,
später in eine etwas andere Beleuchtung gerückt werden, aber es ist ganz
gewiss, dass das Werk eine grosse Lücke in der urgeschichtlichen Litteratur
ausfüllt, dass es jeder mit grossem Vorteil studieren wird, besonders der-
jenige, der auch etwa zwischen den Zeilen zu lesen versteht und Freude
hat an manchen kleinen, aber feinen Bemerkungen, die der Verfasser in
reicher Zahl in die grossen Züge seines Gedankenganges einzustreuen ver-
standen hat. Dr. J. Heierli-Zürich.
401. A. Schliz: Der Bau vorgeschichtlicher Wohnungen (Vortrag
in der anthropolog. Sektion der 74. Versammlung deutscher
Naturforscher und Ärzte in Karlsbad). Mitteilg. d. anthrop.
Gesellsch. in Wien, 1903. Bd. XXXIII (N. F. III), S. 301
bis 320.
Für die mittlere Neckargegend lässt sich ein Bild der prähistorischen
Besiedlung von den Uranfängen bis zur Schwelle der geschichtlichen Kenntnis
entwerfen. Die grundlegende Verschiedenheit der Wohnanlagen aus ver-
schiedenen Epochen berechtigt zu der Annahme, dass verschiedene Völker
mit verschiedener Kultur nacheinander hier gewohnt haben.
In der jüngeren Steinzeit bestanden zwei Siedlungsformen: friedliche
Dörfer in fruchtbarer Ebene und enggedrängte, befestigte Ansiedlungen auf
Berghöhen. Erstere sind an die Flussläufe gebunden und erinnern an die
germanischen Haufendörfer; es sind Dauersiedlungen, während die anderen
wohl nur vorübergehend benutzt wurden. Bei einem typischen Beispiele
eines Hauses der ersteren Siedlungsform erscheint der Schlafraum gegen
den Wirtschaftsraum erhöht, die Wandpfosten waren durch Reiswerk ver-
bunden. Der Bewurf bestand aus Lehm, im Inneren bemerkt man Glatt-
strich mit Kalk und Tünchung, ja sogar Malerei mit Wasserfarben. In der
Nähe des Wohnhauses lag ein Stall. Die zusammengehörigen Gebäude
waren wahrscheinlich durch eine Einzäunung verbunden. Im Inventar er-
scheint stich- und strichverzierte Keramik mit Linearkeramik gemischt.
Die Gräber sind reihenförmig angeordnet.
In der Bronzezeit besetzen wahrhafte, viehzüchtende und handel-
treibende Stämme mit beschränktem Ackenbau die Höhen. In der Nähe
mächtiger Ringwälle finden sich Erdbauten, besonders Trichtergruben. Es
sind wohl Notwohnungen. Im fruchtbaren Hügelgelände lagen Gruppen
B. Referate. Urgeschichte.
371
friedlicher Hütten zu 2 und 3 beisammen, unabhängig vom Wasserlauf.
Sie sind einfacher als die der Steinzeit. Meist sind sie rund und aus ge-
spaltenen, senkrecht gestellten Hölzern hergestellt, deren Fugen mit Lehm
gedichtet sind. Daneben giebt es bienenkorbähnliche Erdwohnungen wie
in Lengyel.
In der La Tenezeit herrscht der keltische Einzelhof vor. Die Ge-
bäude eines Hofes stehen noch getrennt, die Wohngrube aber ist ver-
schwunden. Die Wände bestehen aus Fachwerk mit schweren Pfosten und
Lehmverputz. Das Inventar weist auf Ackerwirtschaft und Viehzucht hin.
Sämtliche in den zu diesen Siedlungen gehörigen Flachgräbern gefundenen
Skelette sind brachykephal und wurden ohne Walfenbeigabe bestattet. Es
handelt sich hier eben um die friedliche keltische Bauernschaft, während
man in den meist dolichokephalen Skeletten von Langugest die Reste der
bahnbrechenden, wehrhaften Ritterschaft vor sich hat.
In der gallo-römischen Dekumatlandzeit herrschte noch der keltische
Einzelhof, während später grosse Gutskomplexe mit einer villa rustica als
Mittelpunkt aufkommen.
Die Franken endlich drückten den Dörfern den heutigen fränkischen
Charakter auf. Die Anlagen finden sich wieder an denselben Stellen wie
zur Steinzeit.
Die deutlichste Parallele zum Steinzeithaus bildet das nordische; im
provinzialrömischen Bauernhaus tritt der erste Einhaustypus auf. Parallelen
dazu finden sich im österreichisch-oberdeutschen Alpenhause.
Dr. Gustav Kraitschek-Wien.
ß. Spezielles.
a. Deutschland.
402. 0. Förtsch: Brand- und Skelettgräber von Bodelwitz, Kr.
Ziegenrück. Jahresschrift f. d. Vorgeschichte der sächs.-
thtir. Länder, 1902. Bd. I, S. 79—88.
Die Brandgräber (Urnengräber) gehören einem schon ziemlich zer-
störten Gräberfeld an, nach Förtsch stammen einige Beigaben aus dem
Ende der Hallstattzeit. Einige kleine Steinringe fanden sich in Kinder-
gräbern vor und werden von F. als „Zahnringe“ gedeutet. Die an der-
selben Stelle befindlichen Skelettgräber sind slavisch.
Dr. A. Götze-Berlin.
403. H. Seelmann: Wendische Funde aus der Umgebung Dessaus.
Jahresschrift f. d. Vorgesch. d. sächs.-thür. Landes, 1902.
Bd. I, S. 49—61.
Die Gegend ist ziemlich reich an wendischen Ansiedelungsplätzen, die
zum Teil ursprünglich wohl befestigt waren. Bei fünf Arten wurden Funde
24*
372
B. Referate. Urgeschichte.
wendischen Ursprungs gesammelt, meist Scherben, nur wenige Bronze- und
Eisengeräte. Bemerkenswert ist das Vorkommen eines wendischen Urnen-
grabes mit Leichenbrand bei Gross-Kühnau; es enthielt keine Beigaben.
Dr. A. Götze-Berlin.
ß. Österreich.
404. K. Äsen: Funde von Steinen mit eingeritzten Zeichen aus
Grabhügeln der Hallstattzeit in Oberösterreich. Prähist.
Blätter, 1903. Bd. XV, Nr. 1 mit 1 Tafel.
Bei Heiligenstadt (Lengau, Oberösterreich) fanden sich in flachen Grab-
hügeln mit oder ohne Steinpackung ausser Eisenlanzenspitzen, gekerbtem
Bronzearmring und Urnenscherben mehrfach Sandsteine mit eingeritzten
Zeichen. Sie lagen meistens in der Mitte und auf der Brandschicht, waren
faust- bis kopfgross und enthielten sowohl einzelne, wie mehrere buchstaben-
ähnliche Zeichen, eine Platte sogar eine ganze Zeile derselben. Bei ge-
schärfter Aufmerksamkeit wurden ähnliche Steine auch unter den Resten
zerstörter Gräber gefunden, sonst aber nicht in dem zum Bau der Grab-
hügel verwendeten Material.
Naue bemerkt dazu, dass die Zeichen durchschnittlich 7 cm gross
sind und dass einzelne mehrfach wiederkehren, einige wenige auch sorg-
fältig in Tremolierstich hergestellt sind. Ob sie Personennamen oder sym-
bolische Zeichen sind, lässt sich natürlich nicht mit Sicherheit behaupten,
doch ist eine Absicht bei der Niederlegung inmitten des Grabinventars und
der durchgängigen Wahl des weichen Sandsteins unverkennbar. Sie scheinen
vorläufig auf einen kleinen Bezirk beschränkt, fehlen aber in der Richtung
auf Mondsee und Salzburg, während Eidam in Mittelfranken wieder ähnliche
Zeichensteine unter gleichen Fundumständen beobachtet hat.
Prof. Dr. Walter-Stettin.
405. Max de Terra: Mitteilungen zum Krapina-Fund unter be-
sonderer Berücksichtigung der Zähne. Schweiz. Viertel-
jahresschrift für Zahnheilkunde. (Zürich) 1903. Bd. XIII,
Heft I u. II. (43 S.)
Bei dem bekannten Krapinafunde des Prof. Gorjanovic in Agram be-
fanden sich ausser zahlreichen Knochen diluvialer Tiere auch menschliche
Reste, welche zu den wichtigsten Dokumenten der Quarternärzeit gehören
und somit zu Vergleichszwecken von unschätzbarem Werte sind. In der
Beurteilung derselben bezüglich ihres ontogenetischen Charakters gehen die
Ansichten der Anthropologen noch auseinander. Während Gorjanovic die
von etwa zehn Individuen verschiedenen Alters herrührenden menschlichen
Knochenreste im Grossen und Ganzen als normal bezeichnet und einige
morphologische Abweichungen derselben als Adaptionseigentümlichkeiten an-
B. Referate. Urgeschichte.
373
sieht, erklärt T. die letzteren direkt als pathologisch. Hierzu rechnet er vorzugs-
weise die Verschmelzung der Zahnwurzeln, und darin stimmen mit ihm Martin,
Rüge, Ernst und Felix überein. Den Schmelzfalten der Zähne will er keinen
■entwickelungsgeschichtlichen Wert beimessen, dafür bespricht er ausführlich die
Bedeutung des Carabellischen Höckerchens resp. Grübchens an den Mahlzähnen,
welches er als eine für den Menschen typische und in progressiver Entwickelung
begriffene Bildung hält. jjr Oskar v. Hovorka- Wien.
y. Schweiz.
406. R. Ulrich: Der Grabhügel im Wieslistein bei Wangen, Kr.
Zürich. Anzeiger für Schweiz. Altertumskunde, 1902/03.
N. F., Bd. IV, S. 8—17. Mit 2 Tafeln u. Textillustrationen.
Dieser grosse Tumulus enthielt 10 Skelette und mindestens 11 Brand-
gräber der I. Eisenzeit und ergab eine Reihe sehr schöner Funde. Darunter
sind mehrere Gürtelbleche, Fibeln und besonders zahlreiche Thongefässe zu
erwähnen. Leider wurde die Untersuchung nicht mit der nötigen Genauig-
keit durchgeführt. Heierli-Zürich.
407. H. Kasser: Jahresbericht des Historischen Museums in Bern
pro 1902. 74 S. und 1 Tafel mit dem Bildnis des verstorbenen
Dr. E. v. Feilerberg.
Der Jahresbericht enthält einige biographische Notizen über den ver-
storbenen Prähistoriker Fellenberg, ausserdem aber besonders einen Bericht
über die Ausgrabung des neolithischen Pfahlbaues Burgäschi, Kt. Solothurn,
welche von den Museen Solothurn und Bern gemeinschaftlich durchgeführt
wurde. Man fand zwei Kulturschichten übereinander. Unter den Funden
waren die Thonscherben und Feuersteine am zahlreichsten, bei welch letzteren
namentlich schöne Pfeilspitzen liegen. Die Ornamentik der Gefässe war
meist sehr einfach. Reihen von Finger-Eindrücken und Buckeln kamen
nicht selten vor; das Schnurornament war selten. Nefrit und Jadeit wurde
nur in wenigen Stücken gefunden, auch Horn- und Knochengeräte waren
nicht häufig, dagegen gelang es, mehrere Holzobjekte zu finden, worunter
Schalen und Kellen. Die Knochenreste stammen von Bär, Dachs, Wolf,
Fuchs, Biber, Wildschwein, Edelhirsch, Elen, Reh, Urstier, Torfhund, Torf-
schwein, Torfschaf und Torfkuh; auch Reiher und Wildente waren vertreten.
In der Nähe des Pfahlbaues fand sich ein Hockergrab. Heierli-Zürich.
408. A. Näf: Le cimetière gallo-helvète de Vevey. Separatabzug
aus dem Anzeiger für Schweiz. Altertumskunde 1902—1903.
64 S. mit zahlreichen Textillustrationen u. Tafeln.
Vevey ist das römische Vibiscum. Wie an vielen andern Orten, haben
die Römer auch hier ihre Niederlassung neben und über einer älteren Siedelung
374
B. Referate. Urgeschichte.
erbaut. Die gallo-b elvetische Ansiedlung Yevey ist uns zwar noch unbe-
kannt, dagegen konnte der zu derselben gehörige Friedhof untersucht werden.
Er lag und liegt z. T. jetzt noch beim Boulevard St. Martin oberhalb des
heutigen Städtchens. Bei der Anlage des Boulevards stiess man auf mehrere
eisenzeitliche Gräber und durch die Bemühungen des jetzigen Kantonsar-
chäologen Dr. A. Näf wurde nun der ganze Friedhof sorgfältig untersucht
und in vorliegender Schrift beschrieben.
Die La Tene-Gräber von Yevey erwiesen sich als höchst interessant.
Zunächst gelang es Näf, bei mehreren Gräbern die Sargspuren zu eruieren
und die Sargformen zu ermitteln; sodann fanden sich mehrere Beigaben,
die zwar schon früher an andern Orten auch zum Yorschein gekommen,
aber noch nie genau in ihrer Lage im Grabe beobachtet worden waren.
Dahin gehören zunächst die Bronzeketten, die nun als Gürtelketten sicher
gestellt und in ihrer Befestigungsweise genau erkannt werden konnten. Ein
eisernes Schwert mit Scheide war mit dem Gürtel umwickelt und es konnte
die Art der Befestigung derselben an demselben studiert werden. Eines
der Gräber enthielt eine massaliotische Silber-Obole, auf deren Alter aus
der Beschaffenheit des Grabes und den Beigaben ein neuer Lichtstrahl fällt.
Ein Kriegergrab mit Schild, Schwert, Lanze etc. zeigte, dass die Waffen in
absichtlich zerbrochenen Zustand beigegeben worden waren. Sonderbarer
Weise fehlte jegliche Thonware. Merkwürdig sind auch einige Teilbestattungen.
Männer, Frauen und Kinder ruhten in demselben Leichenfeld. Sie
gehören nach den Untersuchungen von Dr. Schenk in Lausanne einer grossen
dolichocephalen Rasse an. Das Gesicht ist leptoprosop, die Nase leptorhin.
Schenk rechnet sie zu den Germanen und sagt, dass die Kelten Kurzschädel
gehabt, überhaupt ihrem Bau nach durchaus verschieden gewesen seien von
diesen Kymro-Germanen. Die überaus sorgfältige Arbeit Näfs dürfte über
die Grenzen seiner Heimat Beachtung finden, da sie eine Reihe fraglicher
Punkte erklärt, neue Beobachtungen aufweist und Anregungen giebt, die sehr
beachtenswert sind. Die Funde selbst liegen im Musée Jenioch in Yevey.
Heierli-Zürich.
409. J. Heierli: Archäologische Funde in den Kantonen St Gallen
und Appenzell. Anzeiger für Schweiz. Altertumskunde 1902
bis 1903. N. F. Bd. IY, Nr. 4; Y, Nr. 1 etc.
Yerfasser stellt die prähistorischen Funde in dem am Fusse des Sentis-
gebirge liegenden Gebiete zusammen. Nachdem er schon früher die archäo-
logischen Karten verschiedener Schweizerkantone publiziert, sucht er mit
dieser Arbeit die Funde der Ostschweiz abschliessend zu kartieren, um sich
später mehr dem Westen seiner Heimat zuwenden zu können, aus welchem
die Materialien bereits gesammelt sind. Selbstbericht.
B. Referate. Urgeschichte.
375
5. Italien.
410. L. Pigorini : Le più antiche civiltà dell’ Italia. Koma, Tipogr.
d. R. Acced. dei Lincei, 1903, S. 61—66.
Die ersten menschlichen Spuren lassen sich auf der appeninischen
Halbinsel aus der Quaternärzeit nachweisen; der damalige Mensch, dessen
Zeitgenosse der Elefant und das Nilpferd war, erschien zur selbigen Zeit
auch auf der iberischen Halbinsel, in Frankreich, Belgien und aui den bri-
tannischen Inseln. Das Fundmaterial Italiens aus der älteren Steinzeit weist
den Chelléen- und Moustérien-Typus auf. Diese ältesten Bewohner scheinen
aus Afrika gekommen zu sein und müssen ein Leben geführt haben, welches
am besten jenem der jetzigen Australneger zu vergleichen ist. Der Mensch
der jüngeren Steinzeit stand bereits um eine Stufe höher und führte ein
Hirtenleben; von ihm stammen die ersten Grabdenkmäler Italiens, da er die
Toten begrub. Später wurden die neolithischen Werkzeuge durch solche
aus Kupfer ersetzt, indem die Kenntnis der Bearbeitung derselben aus dem
Osten des Mittelmeeres importiert wurde. Während im Norden Europas
noch megalithische Denkmäler ihre Verwendung finden, erscheinen im Norden
Italiens bereits die Bewohner der Pfahlbauten mit ihrer eigenartigen Kultur
und Kenntnis in der Bearbeitung der Bronze, einer Kultur, welche in
naher Beziehung mit jener aus Kroatien, Mähren, Nieder-Österreich und
Bosnien steht. Die Toten der Pfahlbauperiode wurden infolge der eigenen
Terrainbeschaffenheit ihrer Wohnstätten nicht bestattet, sondern verbrannt,
und zwar ausserhalb ihrer Wohnungen. Erst im 10. bis 8. Jahrhundert
v. Chr. erfolgte mit Einwanderung fremder, aus Kleinasien und Griechen-
land stammender Elemente der Beginn der Eisenperiode.
Dr. Oskar v. Hovorka-Wien.
£. Amerika.
411. Carlos Bruch: La piedra pintada del Manzanito (Territorio
del Rio Negro). Re vista del Museo de La Plata, 1902.
Bd. XI, S. 71—72.
Ein etwa 12 m hoher und 15 m breiter Felsblock auf der genau an-
gegebenen Stelle ist unten am Fusse auf einer Seite mit ausgemalten Skulp-
turen und Malereien versehen, von denen sich einige gut erhalten haben;
dieses sind Fährten vom Strauss und Guanäco, Pfeilspitzen und Boleadoras
(Wurfkugeln), wahrscheinlich sog. Boleadoras perdidas, eine Steinkugel mit
einem Riemen daran zum Iortschleudern. Alles ist den im Referat No. 342
beschriebenen Felsskulpturen sehr ähnlich.
Dr. II. Lehmann-Nitsche-La Plata.
376
B. Referate. Urgeschichte.
412. Juan B. Ambrosetti: Antigüedades calchaquies. Datos arqueo-
lógicos sobre la provincia de Jujuy (República Argentina).
Anales de la Sociedad Científica Argentina, 1901. Bd. LII,
S. 161—176, 257—277; 1902, LIV, S. 29—48, 64—87;
1902, Bd. LUI, S. 81—96.
413. Robert Lehmann-Nitsche: Catálogo de las antigüedadas de
la provincia de Jujuy, conservadas en el Museo de La Plata.
Revista del Museo de La Plata, 1902. Bd. XI, S. 73—120.
5 Tafeln.
Beide Arbeiten stehen in ursächlichem Zusammenhang und sollen
daher auch zusammen besprochen werden. Als Ambrosetti es unternahm,
die in seinem Besitz befindlichen Altertümer aus Jujuy zu beschreiben, er-
schien es rätlich, auch die dem Museum zu La Plata gehörigen zu ver-
öffentlichen, und zwar so, dass beide Arbeiten sich gegenseitig ergänzen
und in der einen auf die andere Rücksicht genommen werden konnte. Zu
diesem Zwecke Hessen die Yerf. die gegenseitigen Korrekturbogen einander
einsehen und konnten so an den Stellen, wo es nötig erschien, Hinweise
auf die Arbeit des anderen anbringen. Auf die Weise kam jeder zu seinem
Recht und zur Äusserung seiner persönlichen Meinung; andererseits werde
für andere das Studium der Gegenstände durch die wechselseitigen Hinweise
sehr vereinfacht. Yon sonstigem Materiale aus Jujuy ist die von Baron
Erlund Nordenskiöld mitgebrachte Sammlung soeben in mustergültiger Weise
veröffentlicht worden (Centralbl. YIII, No. ), nur von den im Berliner
Königlichen Museum für Yölkerkunde aufbewahrten Sachen der Sammlung
Uhle liegt immer noch weiter nichts vor, als allgemeine Angaben in den
Verhandlungen der Berliner anthropologischen Gesellschaft (1894, S. 409
bis 410), doch sind die Stücke dem einen der Yerf. (dem Ref.) bekannt
und konnte stellenweise darauf Bezug genommen werden. Mau kann aber
sagen, die Hauptsache des in Museen befindlichen Materials ist publiziert.
Und was ergiebt sich nun daraus für die allgemeine Kenntnis Südamerikas?
Ambrosetti schlägt alles ohne weiteres, ohne auch nur Gegengründe zu er-
örtern, zu der von ihm studierten Kulturgruppe der Calchaqui. Ref. kennt
letztere zur Genüge aus dem reichen, im Museum zu La Plata aufgestapelten
Material, hält aber die Zugehörigkeit durchaus nicht für so ohne weiteres
bewiesen und zieht es vor, eine systematische Aufzählung der Objekte nach
Gräbern unter Beifügung einer Abbildung für jedes einzelne zu geben, eine
weitere Beurteilung späteren Publikationen überlassend. Auch Nordenskiöld
hat dieses Verfahren beibehalten.
Hie eben skizzierten Gesichtspunkte geben das Verständnis für die
beiden hier zu referierenden Arbeiten. Ambrosetti schildert nach Gruppen,
die einzelnen Objekte, Töpfereien, Waffen, Kupfergegenstände etc. gemeinsam
B. Referate. Urgeschichte.
377
behandelnd; die Abbildungen, wo solche beigegeben werden, sind durchaus
nicht immer einwandfrei, stellenweise unbrauchbar. Nach des Ref. Ansicht
wird er zu allgemein, statt zunächst einmal genaue Detailbeschreibungen
zu geben. Zu allgemeinen Schilderungen wird man erst berechtigt sein,
wenn mehr genaue Fundberichte für die einzelnen Gräber vorliegen. Ref.
suchte diesen Fehler durch sorgfältige Aufzählung und Abbildung der Stücke
in Form eines simplen Kataloges zu vermeiden.
Im allgemeinen ist die Kultur von Jujuy ähnlich der Calchaqui-
kultur und Berührungen haben zweifellos stattgefunden. Auffallend ist das
Fehlen der grossen, für die Calchaqui charakteristischen Gefässe mit Kugel-
bauch und hohem, breitem, oben ausladendem Halse. Die wenigen aus Jujuy
bekannten Kupfer- und Steinartefakte haben durchaus keinen lokalen oder
typischen, sondern einen allgemein andinen Charakter, der sich bis nach
Ecuador zu findet. Was sonst aus Jujuy bekannt ist, ist aus leicht ver-
gänglichem Materiale, Holz, Wolle etc., das sich dank einem geeigneten Klima
in den Berghöhen Jujuys prächtig erhalten hat; man kann ein wenden, im
Calchaquithale ist solch alles längst vergangen, sonst würde man es finden.
Dann müssten sich aber in Jujuy mehr Ähnlichkeiten in Bezug auf Stein-
objekte und Thongefässe ergeben, als es bis jetzt der Fall ist. Die ganze
Frage erscheint dem Ref. noch nicht spruchreif, bis aus Jujuy mehr Material
und genaue Fundberichte, namentlich aber Wohnstättenanlagen bekannt sind
und im Calchaquithale an Stelle des alles verwüstenden Raubbaues von
unberufenen und ungeschulten Abenteurern systematische Forschung ge-
treten ist.
Bemerkenswert unter den leicht vergänglichen Altertümern Jujuys
sind prächtige Holzschnitzereien, namentlich eine Art Cigarrenspitzen mit
in Relief geschnitzten Yampyrköpfen oder Tierkörpern, in welchen Bündel
zusammengebundener Nadeln aus Disteln stecken. Ref. vermutet darin
ein Instrument zum Skarifizieren mit nachfolgendem Schröpfen durch An-
saugen. Ferner kleine Schüsselchen mit schönen Schnitzereien, welche nach
Ambrosetti zum Darbringen von Opfergaben dienten. Aus Holz sind ferner
Bogen und Pfeil, die Spitze der letzteren Stein oder auch Holz, ferner
Löffel und Spachteln, Spindel und Wirtel, Gebisse für Lamas, Tassen und
kleine Döschen; aus Knochen sind Falzbeine und Büchschen; aus Wolle
allerhand Gewebe, darunter ein sehr schöner Gürtel mit Zickzackornament,
eine Mütze und verknotete Schnüre zu unbekanntem Zwecke. Eine Kopf-
bedeckung in Form eines Strohhutes ist aus den teilweise der Länge nach
halbierten Puppenhülsen eines Insektes angefertigt; ein Poncho aus Bast-
fasern gewebt mit Lamawollzotten darin, sodass diese daran wie an einem
Yliess herunterhingen. Eine Prunkaxt steckt noch mit Leder befestigt am
Holzstiel. Die Thonsachen sind meist einfache Schüsseln und Tassen. Aus
Bast sind auch Stricke und Zäume, die eine auffallende Frische aufweisen.
378
B. Referate. Urgeschichte.
Wie gesagt, um dieser Kultur ihren Platz anweisen zu können, sind
noch viele systematische Forschungen von berufener Seite nötig, namentlich
muss man genauer die Wohnplätze der Leute kennen, welche ihre Toten auf
den Bergeshöhen Jujuys bestattet haben. Br. li. Lehmann-Nitsche-La Plata.
4Í4. Robert Lehmann-Nitsche: La pretendida existencia actual
del Grypotherium. Supersticiones araucanas referentes á la
lutra y al tigre. Revista del Museo de La Plata, 1902.
Bd. X, p. 269—281.
Ameghino schien trotz aller Gegengründe noch anzunehmen, dass der
grosse Edentat, dessen Anwesenheit und Gleichzeitigkeit mit dem Menschen
in der Eberhardshöhle bei Ultima Esperanza nachgewiesen worden war
(s. Centralblatt 1900, S. 113, 371), noch lebend in Patagonien anzutreffen
sei und erzählte Yerf. von einem Tier, das die Indianer erefilu nannten und
das ganz rätselhaft sei. Yerf. erkundigte sich daher bei seinem araukanischen
Freunde Nahuelpi, mit dessen Hilfe er eine grosse Zahl indianischer Er-
zählungen und Märchen aufgenommen hatte, sofort nach diesem Tier und
es stellte sich heraus, dass es ngürüfilu, „Fuchsschlange,“ heisst und weiter
nichts ist, als die patagonische — Fischotter, vor der die Araukaner aller-
dings eine merkwürdige Scheu haben und die sie für den Herrn des Wassers
halten. Nahuelpi diktierte in Araukanisch verschiedene selbsterlebte Episoden,
in denen der Fischotter alles mögliche zugeschoben wird; beinahe wären
Leute ihretwegen ertrunken, sie packe Ross und Reiter und ziehe sie in
die Tiefe des Wassers u. s. f. Die Indianer opfern ihr daher und lassen
ihr Verehrung zu Teil werden. — Solch ein Tier kann also nicht der aus-
gestorbene Edentat sein, an dessen Nichtmehrvorkommen keiner, der die
Verhältnisse kennt, zweifeln wird.
Ergänzend wird dann noch ebenfalls in spanischer Übersetzung eine
Erzählung über den Herrn des Landes, den Tiger, mitgeteilt (die Fisch-
otter ist Herr des Wassers), die stark an das Märchen von Heinrich dem
Welfen und seinem Löwe erinnert.
Zu Anfang befindet sich eine Litteraturübersicht über die Frage vom
Grypotherium. Selbstbericht
C. Tagesgeschichte.
Stuttgart. Die XIV. Tagung des Internat. Amerikanischen Kongresses wird
vom 18.—23. August in Stuttgart stattfinden. Die Geschäftsführung soll den Herren
Graf von Linden, Prof, von den Steinen und Prof. Seler anvertraut werden. Die
auf dem Kongress zu behandelnden Thema sollen betreffen a) die eingeborenen
Stämme von Amerika nach Ursprung, geographischer Verteilung, Geschichte, körper-
licher Beschaffenheit, Sprachen, materieller Kultur, Mythologie, Kultus, Sitten und
Gebräuchen; b) die Denkmäler und die Altertumskunde Amerikas; c) die Geschichte
der Entdeckung und Besiedelung des neuen Kontinents. Anmeldungen werden er-
beten an die Adresse des General-Sekretärs des Organisations-Komitees, Oberstudien-
rat Dr. Kurt Lampert, Stuttgart, Archivstrasse 3.
Register
i. Âutoren-Verzeichnis,
(Die Zahlen bezeichnen die Seite; die Originalarbeiten
Abercomby 246.
Adachi 93, 169, 333.
Adloff 139.
Adolphi 76.
Alsberg 8.
Amtmann 352.
Antonini 89.
Anutschin 65, 129.
Aragon 156.
de Aranzadi 268.
Aschoff 216.
Azkue 158.
Babkin 75.
Baer 344.
Balfour 25.
Baschin 205.
Bertini 88.
Bertholon 291.
Bickwell 313.
Blasius 121, 122.
Bloch 106, 330.
Bodmer-Bender 50.
Boege 73.
Börzsönyi 61.
Bogoros 169.
Bogulawski 164.
Bolk 151.
Born 299.
Bow ditch 176.
Breuil 240.
Brieger 117.
Bruch 305, 306.
Bryce 287.
Buchtela 183.
Buschan 91.
Capitan 240.
Carbajal 307.
Cascelia 280.
Cervinka 58, 182, 183,
Chamberlain 35, 204.
Channing 281.
Claerhout 180.
Clement 360.
Constantin 10.
Courty 239.
Culin-Stewart 177.
Curcic 62.
Cutler 203.
Czarnowski 126.
Daffner 78.
v. Darnay 59.
David 338.
Déchelette 52.
Delisle 42, 105.
Djatschkow-Tarassow 166.
Dietrich 10.
Dötöwör 59, 61.
Domecka 57.
Dorsev 170, 171, 172, 176,
36o.
Dröber 350.
Duckworth 27, 180, 232.
Eber 61.
Ebstein 10.
Ellis 20.
Evans 55, 56, 77.
Fallt 80.
Fewkes 36, 171.
Fishberg 167, 293.
Fischer “77, 273, 310.
Fletcher 172.
Förtsch 250, 309.
Fournier 237.
Foy 235.
Frank 336.
Frasetto 201.
Frobenius 150.
Friedenthal 83.
Fürst 93.
Fiihner 147.
Garnier 232.
Giglioli 299.
Giroud 79.
Giuffrida-Ruggeri 53, 160,
202, 221, 334, 335, 337,
360.
Godin 270.
Götz 53.
Götze 246, 247.
G ohi 60.
Goschkewitsch 253.
Grossier 251.
Gundmann 248, 249, 250.
Haack 351.
Bäcker 288.
sind fett gedruckt.)
Hagen 296.
Hahl 295.
Hahn 1.
Hempel 61.
Hanotte 76.
v. Hansemann 80.
Hansen 102.
Harbauer 120.
Harris 292.
Hartmann 43.
blastings 269.
Hellich 58.
Heierli 50.
Hervé 104.
Hetherwick 24.
Himley 293.
Hinrichsen 17.
Hobley 23.
Höfer 252.
Hörnle 111.
Holland 113.
Holmes 33, 38, 40, 147, 170.
Hrdlicka 32, 36.
Hudliston 290.
Huguénin 233.
Jacques 319.
Jäkel 258, 261.
v. Jauregg 143.
v. Ihering 304.
Imbert 238.
Jörgensen 98.
Johnstone 25.
Jungfer 155.
Iwanowski 165.
ten Kate 15.
Karutz 230.
Keane 30.
Keller 210.
Ken de 86.
Kiernan 145.
Knies 57, 184.
Kikuchi 138, 139.
Klaatsch 275.
Kluge 140.
Kobert 318.
Koch
Koch 42, 227, 228, 302, 303,
304.
380
Register.
Koganei 388.
Kohlbrugge 16, 265, 321.
Kolski 125.
Kompe 338.
Komemann 248.
Kossinna 117.
Kramer 249.
Krauss 11, 335.
Kricz 185.
Kruse 340.
Kucera 185, 186.
Landau 3.
Leboucq 45.
Le Double 328-
Le Maire 238.
Lenz 206.
Leonhard 318.
Léon 300.
Letourneau 231.
Lipiawsky 338.
Lombroso 18.
Löwenstimm 20.
v. Luschan 186.
Lüdicke 250.
Majewski 124, 161.
Manouvrier 145.
Marchand 14.
Markowic 354.
Marro 344.
Martin 90.
Mason 31, 147.
Maska 184.
Mathews 170.
Matiegka 12.
Matzat 345.
Mayr 317.
Me Hugh 77.
Mehlis 121, 194.
Mestorf 123.
Metchnikoff 337.
Meyer 150.
de Michelis 286.
Milleker 60.
Minakow 201.
Montelius 51.
Moos 108.
de Moi’tillet 239.
Much 182.
Muskat 116.
Myers 169.
Nadmorski 165.
Nabe 309.
Naue 366.
Neumann 142.
Nichols 39.
Niederle 163.
Nordenskiöld 301.
Nydry 62.
v. Öfele 141.
Palem 148.
Pantjuchew 166.
Papillault 218.
Paravicini 279, 280, 281,
329, 330.
Peipers 586.
Penck 178.
Penta 88.
Perot 238.
Perry 116.
Perthes 27.
Perusini 279.
Peyrony 240.
Pfister 332.
Pieron 19.
Pigorini 50.
Pittard 114.
Preuss 37.
Procliäzka 57, 186.
Puleski 124.
Rabaud 336.
Ratzel 89.
Regnaud 386.
Reber 313.
Reinhardt 78.
Repelin 237.
Retzius 93.
Rheindt 285.
Ribbert 10.
Riviere 239.
Röhrig 126.
Roscoe 22.
Rosenhaim 28.
de Rossi 289.
Roux 337.
Rütimeyer 295.
Ruppin 345.
Rutot 45, 46, 243.
Rutowski 125.
de Sanctis 85.
Sanna-Salaris 145.
Sato 75.
Saville 37.
Schermers 146.
v. Schlemmer 249.
Schiller 26.
Schmidt 181.
Schlick 364.
Selenka 277.
Seler 174.
Seligmann 140, 298.
Semayer 236.
Sioli 339.
Smith
Snajdr 54, 183.
Spitzka 144.
Spitzyn 127, 128.
Ssytschew 80.
Starr 183.
Stern 355.
Stehler 109.
Stieda 187.
Stoll 110.
Strohmeyer 11.
Stratz 167.
Studer 214.
Sugar 17.
Szombathy 63, 179.
Szukiewicz 125, 253.
Talbot 16.
Tallco-Hryncewiez 261, 223.
Tedeschi 110.
Thilenius 361.
Thurston 294.
Traver 204.
Tröltsch 49.
Truschio 202.
Uhle 226.
Ujfalvy 225.
Unger 279.
Yaschide 19.
Yassits 54, 55.
Verneau 310.
Yierkandt 149.
Virchow' 294.
Vitali 159.
Volkart 109.
Volkow 85, 126.
Yoth 32, 365.
Vram 221.
Vurpas 342.
Waldenburg 154.
Walkhoff 272, 274.
Wardle 148.
Weeks 336.
Weisbach 219.
Wettstein 9, 107.
v. Wettstein 81.
Weule 233.
Weinberg 137, 160, 222,
223, 290, 357.
Wiedemann 115.
Wiedersheim 7,
Wiklund 353.
Willoughby 41.
Wilutzki 148.
Voltmann 282.
Worobjew 166.
Zaborowski 49.
Zschokke 49.
Zschiesche 253.
Zuccarelli 343.
Register.
381
2. Sachregister.
Abadschen 166.
Abstammung des Menschen 7, 8.
Abruzzesen 159.
Ackerbau, Entstehung d. 1.
Ägypten, eth. 115.
Afrika, ethn. 22—25, 116, 231, 291: präh.
291, 319.
Akklimatisation 203.
Albinismus 140.
Algoquian 35.
Amerika, ethn. 30—43, 169—177, 300
bis 308, 365; präh. 128, 170, 306, 375
bis 378.
Anpassung 9.
Anthropoiden 83, 272, 333, 337.
Anthropologie, polit. 282; A. und Medizin
201.
Anthropométrie 268, 269.
Apiakä 227.
Apparat zur Schädelkubage 3.
Arrand-lsland, ethn. 287.
Arzneikunde im grauen Altertum 285.
Asien, ethn. 26—28, 111—112, 167—169,
223—225, 293—296; präh. 186, 318.
Atavismus s. Descendenztheorie.
Australien, ethn. 232, 360.
Azteken 43.
Bälkanhalb insei, ethn. 290; präh. 54—56.
Baoussé-Roussé, Ausgrabg. 310.
Basken 158.
Bau des Menschen, Zeugnis für s. Ver-
gangenheit 7.
Belgien, präh. 180, 243.
Berliner Schulkinder 353.
Bernifal, Grotte z., 240.
Berühmte Leute 17, 18, 144, 145.
Bibliographia geographica 205.
Bismarckarchipel, ethn. 230.
Bodensee, Pfahlbauten 49.
Brasilien, präh. 304.
Brustkorb 76, 77.
Burgwälle 57, 247.
Burjäten 223-
Calchaquis 305.
Californien, ethn. 300; präh. 33.
Caries d. Zähne 148.
Ceylon, ethn. 295.
Chaco, ethn. 301.
Chalchas 213.
Charkow, Bericht des Kongress zu 187.
Chelléen 45.
China, ethn. 27, 293, 294.
Chirurgie i. d. Völkerkunde 91.
Columbien, ethn. 39.
Comanches 300.
Congo, präh. 318.
Corsika, ethn. u. präh. 106.
Costarica, ethn. 43.
Cuba, präh. 177.
Degenerationsanthropologie 17, 18, 86 bis
89,143—146, 204,279—281,339—344.
Descendenztheorie 7, 8, 81—85, 202, 336,
345.
Deutschland, ethn. 102, 154, 288; präh.
117—123, 180, 247—252, 309—310.
Diluvialzeit 45.
Disentis, anthrop. 107.
Donarien, römische 216.
Donauland, Vorgeschichte d. 193—201.
Dwamish 172.
Ecuador, präh. 176.
Edelsteine, medizin. Verwertung d. 147.
Eid im Glauben d. Völker 20.
Eiszeit 49, 178.
Eisass, ethn. 104.
Entartung s. Degenerationsanthropologie.
Epileptiker s. Degenerationsanthropologie.
Erde u. ihr Leben 89.
Eskimos 32.
Esthen 160, 223, 290.
Färöer, ethn. 98.
Felsenmalereien, -Zeichnungen 239, 240,
313 372.
Frankreich, ethn. 105, 218; präh. 237,
240, 310, 460.
Gaumen 330.
Gehirn, -Gewicht 12,14, 144, 332; Eskimo-
G. 32, kindliches G. 77, Giacominis
144, Szilágyis 17, d. Juden 357.
Gehörknöchelchen 138, 139.
Geisteskranke s. Degenerationsanthropo-
logie.
Genealogie u. Anthropologie 265—267.
Genie s. berühmte Leute, Degenerations-
anthropologie.
Geographen-Kalender 351.
Germanen 117.
Geruch d. Europäer 93.
Geschlechtsbestimmende Ursachen 82.
Geschlechtsmerkmale 140.
Geschlechtstrieb 20.
Griechenland s. Balkanhalbinsel.
Grimaldi-Typus 310.
Grossbritannien, ethn. 287; präh. 243,
246, 287.
Grypotherium 308, 378.
Guaikuru 42, 228.
Gura 25.
Harpunen, amerikan. 31.
Haus-Kommunion 354.
Hautpigment s. Pigment.
Haustiere, Ursprung d. 210, 214.
Hieroglyphen in Mexico 37.
Hintei-hauptsgrube 280, 343.
Holland, ethn. 151.
Hopi 171.
Hunde d. Vorzeit 214.
Hygiene in Marokko 356.
Jablanica, Fund z. 55.
Japan, ethn. 26, 167—169, 358; präh. 358.
Idria, Grabfeld z. 63.
Indien s. Asien.
382
Register.
Indogermaneu 117, 286.
Infantilismus 337.
Italien, ethn. 110, 221, 289; präh. 51 bis
bis 53, 110, 375.
Juden 154, 167, 293, 357.
Kapazität des Schädels 3, 137.
Kärnten, ethn. 221.
Kanets 113.
Karolinen, ethn. 299.
Kimbrische Halbinsel, ethn. 102.
Kinderstudium 77, 78, 79, 85.
Kartographie d. Naturvölker 350.
Klicevac 54.
Knossus 55.
Konsanguinität 86.
Kupferminen in Amerika 35.
Lappen 253.
Les Eyzies 239.
Lesghinen 166.
Ligurer 121.
Livland, ethn. 222.
Magischer Spiegel in d. Vorzeit 261.
Makrocephalie 92.
Makrosomie 202.
Malaien 28, 230.
Malaische Halbinsel, ethn. 27, 28.
Malta, präh. 316.
Margatos 157.
Marokko, ethn. 356.
Markhöhle in langen diluv. Knochen 179-
Marshall-Inseln, ethn. 364.
Maskoi-Gruppe 42.
Maya-Altertümer 176, s. a. Mexiko.
Medizin der Naturvölker 91, 298.
Megalitische Bauten 122.
Melanesien 140, 361 s. u. Südsee.
Mensch, seine Stellung in d. Natur 7, 83,
150, 202, 275.
Merovinger-Altertümer 120.
Metallarbeiten der Malaien 28.
Mexico, ethn. 36, 37, 173; präh. 36, 174.
Mikrocephalie 280, 281, 344.
Mishognovi, ethn. 365.
Missbildungen 338.
Mongolenflecke s. Pigment.
Mörder, jugendliche 344.
Montefortino, Funde z. 52.
Montmaurin, Funde z. 46.
Moschusochse 185.
Muskeln 78.
Musik 25, 158, 299.
Mykenae, Baum- u. Pfeilerkult 56.
Nanosomie 80.
Nefritfrage 50.
Neger 116, 292; s. a. Afrika.
Neo-Lamarkismus 86.
Neu-Guinea, ethn. 233—236, 298.
Österreich, präh. 57—59, 182—186, 372.
Ohr 138, 139, 145.
Okapi 115.
Oragen 171.
Ora'ibi 32.
Ornavasso 52.
Ortsnamen d. kimbr. Halbinsel 102.
Ostasien s. China, Japan.
Paphlagonien, präh. 318.
Paradiesgarten d. Indianer 302.
Parasitologie, prähistorische 141.
Paraguay-Gebiet, ethn. 303.
Patagonien, ethn. 307.
Pawnee 172.
Payagua-Indianer 302.
Pellagra 89.
Peru, präh. 226.
Petrograph. Untersuchungen 50.
Pfahlbauten 49, 50.
Pfeilgifte 117.
Pfeilspitzen d. Südamerikaner 41.
Pigment der Haut 15, 93, 148, 333.
Pipilen 43.
Polaben 165.
Polymastie 279.
Polynesier 140.
Portugal, ethn. 155.
Priester u. Braut 257.
Rad, Entstehung d. 1.
Raiatea 233.
Ravenna 53.
Recht, Vorgeschichte des R. 148.
Religiöse Systeme, Selbsterhaltung d. 149.
Rheinlande, präh. 193.
Rückenmark, Anthropologie d. 332.
Russland, ethn. 165, 166; präh. 64, 65
bis 73, 124—128, 129—137, 187—192,
253.
Salomons-Inseln, ethn. 299.
Salzgewinnung, präkolumbische 304.
Sammlungen, anthropologische 147, 288.
Sarawak, ethn. 169.
Schädel, -Fontanellen 280, -Fissuren 75,
-Kanäle 329, -Hinterhauptsgrube 280,
343, -Maasse 16, -Nähte 76, -Schalt-
knochen 329, 330, -Stirnhöhle 73,
-Typus 271, -Variabilität 201, 328,334,
-Verunstaltung 92, 105, 281.
Schamgefühl, Entstehung desselben 20.
Schwanz d. Menschen 279.
Schweden, ethn. 93—98; präh. 93- 98.
Schweiz, ethn. 107—110; präh. 47—50,
313, 373, 374.
Schweizerbild — Niederlassung 47.
Schwerter, prähistor. 366.
Semiten s. Juden.
Serben, ethn. 354; präh. 54.
Sizilien, ethn. 160, 221; präh. 53.
Skandinavien s. Schweden; s. Beziehungen
zu Italien 51.
Slaven, ethn. 161—165, 219; präh. 247.
Slovinzen 165.
Slowenen 219.
Socialanthropologie 345.
Spalthand 338.
Spanien, ethn. 155, 156.
Sprache, Ursprung derselben 206.
Stabkarten 364.
Stirnhöhle 73; Stirnbein 330.
Register.
383
Sumatra, ethn. 296, 360.
Südsee, ethn. 230—236.
Syphilis in Japan zur Vorzeit 169; der
Affen 337.
Tänze 299.
Tasmanien, ethn. 232.
Tagesgeschichte 64, 192, 256, 319.
Tarsusknochen, präh. 45.
Textilmuster d. Indianer 40.
Tierwelt d. Schweiz z. Eiszeit 49.
Totems 221.
Traum im Glauben d. Völker 19.
Trigonocephalie 76.
Triphalangie 85.
Tungusen 223.
Türkei, ethn. 355.
Uganda 23.
Ungarn, präh. 59, 62.
Unterkiefer 272—274.
Variabilität des Schädels 201.
Vererbung 10, 11, 101, 142, 143, 335,336.
3. Mitarbeit
Almgren, 0., Dr. (Stockholm, Histor.
Museum) 43.
Ammon, 0. (Karlsruhe, Hirschgasse 120)
7, 93, 98, 151, 345.
Ankermann, Dr., Direktorial - Assistent
(Berlin, Museum f. Völkerkunde) 22,
23, 24, 25.
Anutschin, D. N., Dr. Prof. (Moskau,
Tschernyschewski pr. 7) 65, 129.
de Aranzadi, T., Dr. Prof. (Barcelona)
156, 158.
Bartels, P., Dr., Arzt (Berlin, Lessing-
strasse 23) 272, 273, 274, 277, 289,
290, 294, 299.
Blümmel, E. K. (Wien, Gentzgasse 134)
20, 37.
Buschan, Dr. (Stettin, Friedrich Karlstr. 7)
8, 12, 14, 16, 17, 20, 27, 51, 77, 79,
83, 89, 90, 117, 121, 140, 167, 168,
- 178, 179, 204, 222, 268, 269, 270, 280,
291, 296, 310, 313, 332, 336, 343, 350,
351, 354, 355, 356.
Ehrenreich, P., Dr., Privatdozent (Berlin,
Nettelbeckstr. 9) 31, 32, 33, 172, 173,
177, 365.
Fischer, E. Dr., Privatdozent (Freiburg
i. B., Erwinstr.) 15, 40, 45,53, 93, 107,
139, 330, 332.
Götze, A., Dr., Direktorial-Assist. (Berlin,
Museum f. Völkerkunde) 45, 46, 51, 52,
55, 56, 62, 63, 120, 170, 186, 246, 248,
249, 250, 251, 252, 309, 318, 319, 371.
Hagen, Dr., Hofrat (Frankfurt a. M.,
Miquelstr. 5) 27, 28, 360, 361.
Hahn, E., Dr., Privatgelehrter (Berlin,
Nollendorfstr. 31/32) 1, 210.
Heierli, J. Dr., Privatdozent (Zürich V)
49, 50, 108, 109, 366, 373, 374.
Verunstaltung des Fusses 27, 294; des
Schädels 92, 105, 281.
Volksmedizin 120.
Vorgeschichte, allgemeine 178—180, 182.
Wachstum d. Menschen 78, 79, 80, 269,
270, 353; des Schädels 75.
Wagen, Entstehung d. 1.
Wakamba 25.
Walpi 36.
Wandigo 25.
Wandtafeln, anthropol. 90.
Weddas 295.
Weib in d. Anthropologie 140, 231, 290,
335.
Wette, Ursprung derselben 150.
Yaos 24.
Zähne 16, 139, 148, 372.
Zadruga 354.
Zigeuner 114.
Zwergvölker 233.
-Verzeichnis.
v. Hovorka, O., Dr., Arzt (Wien, Floriani-
gasse 58) 85, 88, 110, 128, 138, 139,
147, 160, 201, 202, 218, 221, 225, 281,
282, 285, 288, 294, 319, 321, 329, 330,
334, 335, 336, 337, 340, 342, 352, 353,
360, 372, 375.
Jäkel, V., Privatgelehrter (Leobschütz,
Schwarze Schanze 8) 257, 261.
Kaindl, R., Dr. Professor (Czernowitz,
Neue Weltgasse) 124, 125, 126, 161,
165.
ten Kate, H., Dr., Arzt (Kobe, Japan)
26, 358.
Kemke, Museumskustos (Königsberg i. Pr.,
Weidendamm) 53, 181.
Kellner, H., Dr., Oberarzt (Untergöltzsch
bei Rodewisch) 9, 86, 116, 140, 142,
290, 309, 338, 339.
Klaatsch, H., Dr. Professor (Heidelberg,
Römerstr. 31) 240.
Kohlbrugge, H., Dr., Arzt (Sidhoardio,
Java) 265, 321.
Kraitschek, G., Dr. Professor (Wien, Schön-
brunnerstr. 110) 182, 219, 370.
Laloy, H., Dr., Bibliothekar (Bordeaux,
Chemin de Bouquay 33) 46, 76, 104,
106, 113, 114, 141, 230, 310.
Landau, E., Dr., Arzt (Riga, Paulucci-
strasse 11) 8.
Läufer, E., Dr., Arzt (Giessen, Psych.
Klinik) 18, 19, 88, 144, 145, 146, 154,
159, 204, 344, 357.
Lehmann-Nitsche, R., Dr., Museumschef
(La Plata, Argentinien) 206, 228, 271,
301, 302, 303, 304, 305, 306, 307, 308.
375, 376.
Matiegka, H., Dr., Privatdo,zent (Prag) 57,
58, 59,163, 182, 183,184,185,186,219.
384
Register.
Mehlis, Chr., Dr. Professor (Neustadt a.
d. H.) 193.
Milleker, F., Museumskustos (Werschetz,
Ungarn) 54, 55, 59, 60, 61, 62.
Preuss, P., Dr., Direktorial - Assistent
(Berlin, Museum f. Völkerkunde) 29,
42, 174, 176, 293, 299, 300.
Scherman, L., Dr. Professor (München,
Ungererstr. 18) 111.
Schmidt, E., Dr. Professor (Jena, Kaiser
Wilhelmstr. 31) 32, 34, 35, 36, 37, 39,
40, 41, 128, 148, 167, 169, 170, 171,
172, 176, 203, 216.
Schötensack, 0., Dr., Privatgelehrter (Hei-
delberg) 47, 50, 180, 214, 237, 242.
Seger, H., Dr., Museumsdirektor, Breslau,
Kunstgewerbe-Museum) 117, 164.
Stieda, L., Dr. Professor, Geheimrat
(Königsberg i. P., Pulverstr. 33) 64,
126, 128, 160, 187, 216, 253.
Thilenius, G., Dr. Professor (Breslau, Ufer-
strasse 9) 75, 78, 85, 91, 92, 105, 115,
147, 168, 230, 232, 233, 235, 236, 287,
295, 298, 337.
Vierkandt, A., Dr., Privatdozent (Gross-
lichterfelde b. Berlin, Moltkestr. 40)
148, 149, 150.
Walter, Dr. Professor (Stettin, Friedrich
Karlstr. 4) 121, 122, 123, 238, 239,
247, 316, 372.
Warda, W., Dr., Arzt (Blankenburg i. Th.)
16, 81, 82, 86, 143.
Weinberg, R., Dr., Privatdozent (Dorpat,
Marienfelderstr. 52) 73, 75, 76, 77, 78,
80, 148, 165, 166, 201, 223, 253.
Wilser, L., Dr., Arzt (Heidelberg, Leopold-
strasse 14) 102, 155, 286, 353.
Druckfehler in Heft 3.
S. 156, Zeile 16 v. u. anstatt 11,7 lies X,
„ 156, „ 12 v. u.
* 157, „ 4 v. o.
„ 158, „ 15 v. u.
„ 158, „ 12 v. u.
Bordes’.
390 „ 350,
Jochbogenbreite lies Malarbreite,
Texten „ Takten,
die ursprüngliche Niederschrift lies die Niederschrift
N
C/)
0
Internationales Centralblatt
für
Anthropologie und verwandte Wissenschaften.
(Vordem: Centralblatt für Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte)
in Verbindung' mit
I). Anutschin-Moskau, T. de Aranzadi-Bareelona, G. Colini-
Rom, A. Götze-Berlin, Fr. Heger-Wien, J. Heierli-Zürich,
A. H. K e a n e-London, Y. K o g an ei-Tokyo, F. v. L u s eh an-Berlin,
L. Manonvrier-Paris, R. Martin-Zürich, 0. Montelius-
Stockholra, S. Reinach-Paris, L. Stieda-Königsberg, A. v.
Török-Budapest und anderen Fachgenossen
herausgegeben und geleitet
von
Mi
hn.
Dr. phil. et med. G. Buschan,
-Jo l 1,0 ' I» I Iso r f« I 1,
_2 = im ■iiii=1
50mm
VIII. Jahrgang.
-2 -1
Greifswald,
Druck von J. Abel.
3 =
4 EMI
6 Im1/! ¡1=1
35iii,:..:i; in — H
ÜIH '"J III = 5
Sì," "1=1 III = 6
Preis für den Jalirg. von 6 Heften 12 Mai—sri
bei freier Zusendung. Bezug entweder dir» I
Postamt 6 oder durch die Post (Deutsch-3
o
0
Li-
li!
<
Copyright 4/1999 YxyMaster GmbH www.yxymaster.com VierFarbSelector Standard* - Euroskala Offset