7 AM UR-QUELL. Herausgegeben von Friedrich S. Krauss. „Das Volktum ist der Völker Jungbrunnen.“ V. B. IV. lift. Bezugpreis ganzjährig: 4M. = 5 Kronen. 1894. i. Zur Polyphem-Sage. Von A. Wiedeman n in Bonn. Ein gutes Beispiel für clie Wandlungen, welche die Volksage unter dem Einflüsse veränderter Anschauungen und besonders dem litterarisch gebildeter Bearbeiter durchlebt, gewährt die Erzählung von Polyphem. In dem alten Schiffermärchen, wie es Homer, Odyssee IX. 105 ff. berichtet, ist der Cyklop der Vertreter roher Unkultur; er lebt ohne Ackerbau, nur mit Viehzucht beschäftigt, und nährt sich gern von dem Fleische reisender, bei ihm an das Land steigender Menschen. Mit der wachsenden Kultur des griechischen Volkes wird auch Polyphem gebildeter. Als bei den Dichtern, besonders der alexandrinischen Periode, die Schwärmerei für das Landleben und den sich schön gebildet ausdrückenden Hirten Sitte wurde, wirkte dies auch auf die Darstellung des Cyklopen ein. Zwar blieb er ein Tölpel, aber weichere Gefühle begannen sein Herz zu erfüllen; er verliebt sich in Galathea. Bei den ältern Autoren freilich ohne Erfolg, er erntet bei der schönen und gewandten Nymphe nur Hohn und Spott. Doch auch dieses ändert sich. Bei den Schriftstellern der beginnenden römischen Kaiserzeit gelingt es ihm, Galathea milder zu stimmen, und ist er nur noch ein anfangs etwas ungeschickter, dann aber von Gegenliebe beglückter Hirte. Diese Civilisirung des Polyphem spielt sich nicht nur in der Litteratur, sondern auch in der bildenden Kunst ab, und dies geht so weit, dass man ihn, obwohl man theore tisch dauernd an der durch Homer verbürgten Einäugigkeit festhielt, mit zwei Augen darstellte, da ein Auge unnatürlich und hässlich erschienen wäre 1 ). l ) Litteraturangaben am besten bei Sauer, Der Torso von Belvedere. Giessen 1894.