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Full Text: Anthropos, 59.1964

Ethnologie und Soziologie 
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ein verläßlicher Automatismus ab ; beginnt es einmal an einer Stelle, so sind 
Fortgang und Ende nach wenigen Modellmustern vorauszuberechnen. Ein 
Abweichen von den Wachstumsgesetzen solcher Strukturen gibt es nicht. 
Hier wird auf den ersten Blick das kategoriale Prinzip sichtbar. Sämtli 
che Erscheinungen des lebendigen Prozesses erhalten ein Etikett und ein Fach, 
aus dem sie bei Bedarf hervorgeholt und wie Rechenpfennige hin- und herge 
schoben werden können. Die Erledigung der Probleme durch Benennung, die 
Stanzung der Inhalte, die Sortierung des Zettelkastens herrschen unum 
schränkt. Der Stoff wird in Schablonen gepreßt, denn nur die Gleichmäßigkeit 
der Schablone gibt jene Recheneinheiten ab, die stets denselben Wert darstel 
len. Die Wirklichkeit präsentiert sich als summativer Prozeß, sie besteht aus 
addierbaren Teilen. 
Die Propheten der Delawaren und Tupi-Guarani, die Geistertänzer Nord 
amerikas, Antonier, Mau-Mau, Koreri, Cargo-Kulte, Makkabäer, Qumransek- 
te, Urchristen, Montanisten, Katharer, Bogumilen, Kreuzzügler, Taboriten, 
Hussiten, Waldenser, die Anhänger des Paukers von Niklashausen, Wieder 
täufer, Millenarier, Independenten, Babisten, Mahdisten, Strigolniki, alles wird 
über einen Leisten geschlagen und in dem Prokrustesbett der „kontra-akkul- 
turativen Reaktion“ gedehnt und gekürzt, bis es paßt. 
Ob diese wilde Versammlung unterschiedlichster geschichtlicher Erschei 
nungen wirklich in das Schema „Vorbedingungen - Bewegungsstifter - Lehre - 
Ablauf - Institutionalisierung“ hineinzuzwängen geht, ob tatsächlich Ver 
laufsautonomien vorhegen, eigengesetzliche Steuerungen, unbeeinflußt durch 
äußere Fakten, eine unheimliche Maschinerie 8 , wird jedem für geschichtliche 
Individualitäten Empfänglichen fraglich Vorkommen. Die Maschinerie ent 
stammt sicher dem Hirn des forschenden Maschinisten. 
Der Schematismus im vergleichenden Teil des Chiliasmusbuches prägt 
auch die Beiträge der Mitarbeiter. Sie analysieren offensichtlich nach vorher 
aufgestellten Richtlinien und suchen den Stoff dem Plan anzupassen. Bei die 
sem Kampf mit dem Inhalt treten bezeichnende Verzerrungen auf, denn da 
Mühlmann sämtliche Erscheinungen soziologisch und personell interpretiert 
sehen will, so müssen „Kontakte“ und „Bewegungsstifter“ her. Gleich im ersten 
Regionalbeitrag, den Ausführungen Wolfgang H. Lindigs über die Wande 
rungen der Tupi-Guarani 9 , fällt die Vergeblichkeit dieses Bemühens ins Auge 
und zugleich der verfehlte Ansatz. Diese Indianer treibt nämlich nicht die 
Phantasterei eines Medizinmannes, sondern eine figurative Vorstellung : das 
Bild vom allmählichen Zusammenbruch des Weltkreuzes. 
Der Schöpfer schuf am Anfang, so wissen die Guarani, als Unterlage der Erde ein 
riesiges Kreuz. Einen Holzbalken legte er ostwestlich, darauf einen zweiten nordsüdlich. 
Seit längerem zieht „Unser großer Vater“ den unteren Balken nach Osten zurück, zugleich 
frißt ein Brand am Westende der Erde und läßt den Rand nach und nach abstürzen. 
Diesem Unheil zu entgehen, wandern die Stämme nach Osten, um dort in einem „Land 
ohne Unheil“ Schutz zu suchen. 
8 A. a. O. 296, ebenda 258 „jene unheimliche Maschinerie“. 
9 Chiliasmus und Nativismus 19-40.
	        
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