Ethnologie und Soziologie
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ein verläßlicher Automatismus ab ; beginnt es einmal an einer Stelle, so sind
Fortgang und Ende nach wenigen Modellmustern vorauszuberechnen. Ein
Abweichen von den Wachstumsgesetzen solcher Strukturen gibt es nicht.
Hier wird auf den ersten Blick das kategoriale Prinzip sichtbar. Sämtli
che Erscheinungen des lebendigen Prozesses erhalten ein Etikett und ein Fach,
aus dem sie bei Bedarf hervorgeholt und wie Rechenpfennige hin- und herge
schoben werden können. Die Erledigung der Probleme durch Benennung, die
Stanzung der Inhalte, die Sortierung des Zettelkastens herrschen unum
schränkt. Der Stoff wird in Schablonen gepreßt, denn nur die Gleichmäßigkeit
der Schablone gibt jene Recheneinheiten ab, die stets denselben Wert darstel
len. Die Wirklichkeit präsentiert sich als summativer Prozeß, sie besteht aus
addierbaren Teilen.
Die Propheten der Delawaren und Tupi-Guarani, die Geistertänzer Nord
amerikas, Antonier, Mau-Mau, Koreri, Cargo-Kulte, Makkabäer, Qumransek-
te, Urchristen, Montanisten, Katharer, Bogumilen, Kreuzzügler, Taboriten,
Hussiten, Waldenser, die Anhänger des Paukers von Niklashausen, Wieder
täufer, Millenarier, Independenten, Babisten, Mahdisten, Strigolniki, alles wird
über einen Leisten geschlagen und in dem Prokrustesbett der „kontra-akkul-
turativen Reaktion“ gedehnt und gekürzt, bis es paßt.
Ob diese wilde Versammlung unterschiedlichster geschichtlicher Erschei
nungen wirklich in das Schema „Vorbedingungen - Bewegungsstifter - Lehre -
Ablauf - Institutionalisierung“ hineinzuzwängen geht, ob tatsächlich Ver
laufsautonomien vorhegen, eigengesetzliche Steuerungen, unbeeinflußt durch
äußere Fakten, eine unheimliche Maschinerie 8 , wird jedem für geschichtliche
Individualitäten Empfänglichen fraglich Vorkommen. Die Maschinerie ent
stammt sicher dem Hirn des forschenden Maschinisten.
Der Schematismus im vergleichenden Teil des Chiliasmusbuches prägt
auch die Beiträge der Mitarbeiter. Sie analysieren offensichtlich nach vorher
aufgestellten Richtlinien und suchen den Stoff dem Plan anzupassen. Bei die
sem Kampf mit dem Inhalt treten bezeichnende Verzerrungen auf, denn da
Mühlmann sämtliche Erscheinungen soziologisch und personell interpretiert
sehen will, so müssen „Kontakte“ und „Bewegungsstifter“ her. Gleich im ersten
Regionalbeitrag, den Ausführungen Wolfgang H. Lindigs über die Wande
rungen der Tupi-Guarani 9 , fällt die Vergeblichkeit dieses Bemühens ins Auge
und zugleich der verfehlte Ansatz. Diese Indianer treibt nämlich nicht die
Phantasterei eines Medizinmannes, sondern eine figurative Vorstellung : das
Bild vom allmählichen Zusammenbruch des Weltkreuzes.
Der Schöpfer schuf am Anfang, so wissen die Guarani, als Unterlage der Erde ein
riesiges Kreuz. Einen Holzbalken legte er ostwestlich, darauf einen zweiten nordsüdlich.
Seit längerem zieht „Unser großer Vater“ den unteren Balken nach Osten zurück, zugleich
frißt ein Brand am Westende der Erde und läßt den Rand nach und nach abstürzen.
Diesem Unheil zu entgehen, wandern die Stämme nach Osten, um dort in einem „Land
ohne Unheil“ Schutz zu suchen.
8 A. a. O. 296, ebenda 258 „jene unheimliche Maschinerie“.
9 Chiliasmus und Nativismus 19-40.