TRIBUS 35, 1986
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Duerr geht dabei von einem Faktum aus, über das sich
bisher noch jeder Erforscher gewundert hat: Wieso sind
so viele Felsbilder an geradezu absurd unzugänglichen
Stellen angebracht? Und er greift als Erklärung an eine
Form der Sehfähigkeit auf, die allen Menschen (vermut
lich als Teil ihres anthropologischen Erbes) bis zum
heutigen Tag gleichermaßen eignet, der Möglichkeit
nämlich - und bei mentalen Krisen manchmal dem
Zwang -, in gewisse Formen und Farben die Gesichter,
ganze Gestalten oder vage Körperformen von Tieren,
Menschen oder numinosen Wesen »hineinzusehen«. Da
bei stellt sich stets heraus, z.B. heutzutage im psycholo
gischen Rorschach-Test, daß hier jeder von uns »sieht,
was er im Herzen trägt«. (So »sah« etwa eine Freundin
von mir während einer akuten Lebenskrise bei völliger
geistiger Gesundheit und wissenschaftlicher Schaffens
kraft in den wolkigen Kacheln ihres Badezimmers die
Gesichtszüge der Leute, mit denen sie sich im Clinch
befand.)
Dies sind Erkenntnisse der Gegenwart. Die Schöpfer der
Höhlenkunstwerke freilich konnten noch nicht wissen,
daß die Gestalten, die ihnen, wie sie es empfunden haben
müssen, aus dem Gestein »entgegensprangen«, in Wahr
heit Produkte der eigenen Visualisationsfähigkeit, mit
anderen Worten: persönlich konzipierte »innere Bilder«
gewesen sind. Sie mußten vielmehr annehmen, die so
geschauten Wesen seien wirklich im Stein beheimatet.
Dies erklärt auch das häufig wie achtlose Übermalen, die
willkürlich oder deutlich ohne inneren Zusammenhang
beieinander stehenden Geschöpfe, die zu »Szenen« zu
ordnen so häufig mißlingt: Jeder Betrachter entdeckte
anderes, doch alles war gleich wichtig und wert, den
Gefährten gezeigt zu werden. Das auch auf uns noch als
»Herausheben« wirkende Umzeichnen bzw. Kolorieren
solcher Visualisationen mag anfangs nur den unmittelba
ren Zweck gehabt haben, anderen »vor Augen zu füh
ren«, was ein Einzelner je zuerst erblickt, entdeckt hatte.
Mit dieser (hier sehr verkürzt wiedergegebenen) Deu
tung Duerrs, die übrigens von der Neurophysiologie
abgesichert ist, was der Autor allerdings nicht erwähnt
(vgl. etwa Gordon Rattray Taylor: »Die Geburt des
Geistes«, Frankfurt/M. 1982, bes. Kapitel 5), gewinnt
seine These, der Frühmensch habe den situationalen Ort
der Tiere vor deren Erscheinen in der Welt im »Bauch
der Erde« angesiedelt, psychologisch im Sinne eines Evi
denzbeweises durchaus Gewicht. Völkerkunde und Vor
geschichtsforschung sind sich seit langem einig, daß der
Frühmensch ebenso wie der rezente Wildbeuter Tieren
im Sinne numinoser Wesen von hoher Wirkmächtigkeit
mehr Bedeutung und »Kraft« zugemessen hat als ver
gleichbaren Gestalten in Menschenform; analog dazu
tritt die titelgebende »Sedna« wie viele ihrer göttlichen
Kolleginnen vom »Artemis«-Typ theriomorph auf. Auch
die Menschen sind »aus Erde« und »erdgeboren«, wes
halb numinose Tiermütter oft gleichzeitig als Geburtspa
troninnen für Menschen fungieren. Und weil aus ihnen
alles Leben stammt, werden sie nach dem Übergang zum
Bodenbau zu weiblichen Hochgottheiten.
Vorzugsweise von ihnen handelt der zweite Teil des
Werks. Besondere Beachtung widmet der Autor den
ägyptischen, vorderasiatischen und kretischen Göttinnen
sowie jenen des Alten Orients. Bei ihnen allen ist im Kult
anstelle der ehedem orgiastisch-anonymen Sexual»op
fer« (mit welcher Formulierung ich mich nicht auf Duerr,
sondern frei auf Herodot beziehe) das Ritual der »Heili
gen Hochzeit« getreten, die jährlich vollzogen werden
mußte, und zwar zwischen König und oberster Priesterin,
welche ihrerseits als Repräsentantin der Göttin selbst
aufgefaßt wurde. Ziel war: Wasser für die Felder (aber
bitte keine lebensbedrohlichen Überschwemmungen),
genügend Regen (aber bitte keine Sintflut) und vor allem
der Wunsch, daß die Jahreszeiten in gebührendem
Wechsel stetig und zuverlässig aufeinander folgen möch
ten, kurzum, daß Balance und Beständigkeit der Welt
gewahrt blieben. Mannigfache Ausformungen des hieros
gamos z.T. blutige Opfer, entwickelten sich, die Figur
der Magna Mater spaltet sich auf im Sinne einer Weiter
entwicklung ihrer angestammten zwei Aspekte der Spen
derin sowohl der Lebens wie der Herrin des Todes: wir
nähern uns den Gestalten der frühgriechischen Glau
benswelt.
Der dritte Teil des Buches fällt gegenüber den beiden
ersten stark ab, was schlicht den Grund hat, daß er
extrem kurz ist; tatsächlich wirkt er wie im Nachhinein
angefügt! Nicht, daß kein substantieller Zusammenhang
gegeben wäre, der existiert durchaus, denn Duerr stellt
den positiv-lebensbejahenden Vorstellungen der Früh
menschen, Wildbeuter und ersten Bodenbauer den
(Hochgott)glauben an einen unberechenbaren und des
halb genuin beängstigenden Jahwe sowie die »Religion
ohne Gott« des hinduistisch gefärbten Buddhismus ent
gegen, die unsere Welt ausschließlich als Jammertal ver
steht. Auf die historischen Wurzeln beider Weltanschau
ungen geht er nicht ein; hier hätten in der Tat Zoroaster
und Mani, die Staatsform der Hydraulischen Kulturen
(Wittfogel) und last but not least ein paar Abstecher zu
unserem eigenen indogermanischen Pantheon das Bild
abgerundet. Doch damit wäre ein Buch entstanden, das
unser Autor offenbar nicht schreiben wollte. Was er
vorgetragen hat, verdient allerdings auch so, wie es ist,
durchaus Beachtung, wobei die gelungensten Partien die
Diskussion der prähistorischen Phänomene umfassen.
Gisela Bleibtreu-Ehrenberg
Das Gupta, Tapan Kumar:
Beiträge zur Museumsdidaktik am Beispiel
einer ethnographischen Sammlung. Präsen
tation und Evaluation (= Monographien zur
Völkerkunde, herausgegeben vom Hambur-
gischen Museum für Völkerkunde, Band 9).
Hohenschäftlarn: Renner, 1985. 118 Seiten.
Die Untersuchung Das Guptas basiert auf der museums
didaktischen Präsentation einer 1928 vom Hamburgi-
schen Museum für Völkerkunde erworbenen Sammlung
aus Chota Nagpur, Indien. Da für die 488 von den Oraon
und Ho stammenden Objekte nur eine Vitrine zur Verfü
gung stand, bot sich die Möglichkeit, in verschiedene
Lebensbereiche einzuführen, oder sich aber auf ein The
ma zu konzentrieren.
Das Gupta, der die Ausstellung mit dem Erziehungswis
senschaftler Hausmann konzipierte, entschied sich für
das »exemplarische Lernen und Lehren« wobei er das
Thema »Kulturwandel am Beispiel >Kleidung und