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Buchbesprechungen Amerika
wird von ihr in der umfassendsten Bedeutung des Wortes
gesehen. Es ist daher verständlich, daß sie der funktiona
len Kunst breiten Raum gibt. In dem Kapitel »Crafts«
wird diese »Kunst« beispielhaft anhand von Kayak und
Umiak, außerdem dem Schlitten, dem äußeren und inne
ren Wohnbereich sowie der Kleidung erläutert. Entge
gen der Meinung von Roland Force in seinem Grußwort
überrascht es keineswegs, daß die Eskimo kein Wort für
»Kunst« haben. Sie reihen sich damit in die meisten
vorhochkulturlichen Autochthonen der Welt ein. Den
religiösen Sektor als die stärkste Antriebskraft für das,
was wir uns angewöhnt haben, »Kunst der Primitiven»«
zu nennen, erfaßt Kaalund in einem einführenden Ab
schnitt »Cult and magic« sowie später in dem Kapitel
»Sculpture«. Doch wie hat die Verfasserin ihr Thema
überhaupt gegliedert?
Die Antwort lautet: sehr knapp, was allerdings den Vor
teil der Übersichtlichkeit mit sich bringt. Eine Einfüh
rung in Geschichte und Kunstgeschichte der grönländi
schen Eskimo bietet das erste Kapitel »A people of
Wanderers«. Hier führt Kaalund nicht nur die technisch
gekonnte Daseinsbewältigung der Eskimo auf die strenge
Umwelt der Arktis zurück, sondern auch die künstleri
schen Begabungen der Polargruppen. In gewisser Weise
ist dies berechtigt, denn die jägerische Kunst ist - von
den Anfängen bis in die jüngste Vergangenheit - doch
hauptsächlich auf den Jagderfolg gerichtet gewesen,
wenn auch vielleicht in etlichen Fällen unbewußt. Alle
anderen Erklärungsversuche sind unbefriedigender und
weniger wahrscheinlich, wenn auch immer wieder da
nach getrachtet wird, die jagdmagische Komponente der
primitiven Kunst zu verwerfen. Obwohl die Autorin dies
alles auch sieht, und die Eskimo sind ja das Paradebei
spiel spezialisierter Jäger in Reinkultur, fehlt mir doch
bei ihr die Einbettung ihrer Aussagen in einen theoreti
schen Rahmen. Unter Umständen hängt das damit zu
sammen, daß sie die Dinge vor allem als Künstlerin sieht
und beschreibt. Selbstverständlich verarbeitet sie dabei
völkerkundliche Tatbestände, doch ohne ein ethnologi
sches Gerüst als Grundlage zu benutzen. Die Mitteilun
gen von Informanten, zitiert nach älteren Quellen, wer
den zwar als Erklärung vorgelegt, doch fehlt das eindeu
tige Fazit. Dennoch machen zahlreiche, insbesondere
geschichtliche Details, zum Beispiel Begebenheiten aus
den 20er Jahren, das Buch zu einer Fundgrube für den
historisch und ethnologisch interessierten Leser. Kaa
lund beschränkt sich dabei keineswegs nur auf Grönland,
sondern liefert auch Beispiele aus anderen arktischen
Regionen, nicht nur in Worten, sondern ebenfalls in
Bildern.
Nach der Einführung in die Welt der Eskimo wendet sich
die Verfasserin dem künstlerischen Bereich zu, der die
arktischen Ethnien neben ihrer Umweltbewältigung be
rühmt gemacht hat. Unter der Überschrift »Sculpture«
erfaßt sie die Werke des 20. Jahrhunderts. Der Leser
merkt recht schnell, daß dies ihr eigentliches Metier ist.
Wir lernen, welche Wandlungen sich in den zurücklie
genden fast neun Jahrzehnten auch auf Grönland vollzo
gen haben. Abgesehen von den Tupilaken (einge
deutschter Begriff; an sich tupilek = Mehrzahl von tupi-
lak) erinnern nur noch die Motive der Schnitzwerke aus
Stein, Holz, Bein und Geweih an das traditionelle Eski
mo-Dasein. Fast schon eine Binsenweisheit ist der Hin
weis, daß die autochthonen Bildhauer überall in der
Arktis dem europäischen Geschmack in der jüngeren
Vergangenheit sehr entgegengekommen sind. Dazu hat
die überaus große Nachfrage nach »Eskimo-Kunst« we
sentlich beigetragen. Diese Nachfrage haben viele Eski
mo-Schnitzer in den vergangenen fast vierzig Jahren
befriedigt. Heute ist das Angebot - zusätzlich vermehrt
durch staatliche Unterstützungsmaßnahmen - so groß,
daß es seit einiger Zeit auch auf den europäischen Kunst
markt drängt.
Etwas aus dem Rahmen dieses Kapitels fallen die leder
nen Masken, von denen angenommen wird, daß sie eine
relativ junge Erscheinung unter den Kunstwerken der
Eskimo sind. Viele Fragen sind hier noch zu beantwor
ten. Kaalund bemüht sich, einiges Licht in das vorherr
schende Dunkel zu bringen, doch muß auch sie zugeben,
daß gerade auf dem Gebiet der Masken zur Zeit vieles
offenbleiben muß. Daß es sich bei ihnen um rituelles
Zubehör zu religiösen Tänzen gehandelt hat, ist kaum
der Erwähnung wert, denn was sonst hätten Masken sein
sollen. Wertvoll ist denn in diesem Teil vor allem das
Eingehen der Verfasserin auf bestimmte regionale Stile
der Eskimo-Masken.
Den bereits erwähnten Tupilaken widmet Kaalund einen
längeren Abschnitt, sind doch diese kleinen Figuren un
heilvoller, geistähnlicher Wesen aus Mythen und Sagen
so bekannt, daß sie fast schon als Synonym für die
gesamte grönländische Eskimo-Kunst angesehen wer
den. Die Autorin schildert ihre Herkunft, ihre Bedeu
tung und Anwendung in den »alten Tagen«. Interessant
ist, daß diese Schnitzwerke aus Elfenbein, Holz und
Stein ebenfalls auf europäische Nachfrage zurückgehen,
zunächst auf wissenschaftliche Neugierde ethnologisch
interessierter Reisender, heute auf den Tourismus.
Es folgt das weiter oben bereits angeführte Kapitel
»Crafts«, das Beispiele angewandter Kunst enthält. Der
englischsprachige Ausdruck ist in etwa gleichbedeutend
mit dem deutschen Begriff »Kunsthandwerk«. Insofern
ist der Titel dieses Kapitels zum Teil verfehlt. Dazu
kommt die schwierige Abgrenzung zwischen Kunst und
Kunsthandwerk. Es wäre wohl sinnvoller gewesen, die
hier angeführten Beispiele unter der Überschrift »mate
rielle Kultur« in den einleitenden Abschnitten des Bu
ches zu bringen, zumal Kaalund hier auch Objekte als
»crafts« vorstellt, die bis zur Hundepeitsche reichen.
Ebenfalls hätten die langen und mit vielen Details verse
henen Passagen über grönländische Eskimo-Kleidung
besser ihren Platz in einem Abschnitt über die Material
kultur der polaren Ethnien gefunden. Dazu kommt wei
terhin, daß kein Unterschied zwischen autochthonen Ge
genständen und der Akkulturations- sowie Souvenir
kunst (zum Beispiel Kronenkorkenöffner und Kerzen
halter), die noch am ehesten unter den Begriff »crafts«
fällt, gemacht wird.
Im vierten und letzten Kapitel »Painting« bietet Kaalund
einen in die Tiefe gehenden, weitgefaßten Überblick
über alles, was irgendwie mit Eskimo-Malerei zusam
menhängt. Wer erwartet hat, hier nur die bekannten
zeitgenössischen Bilder vorzufinden, wird angenehm ent
täuscht. Die Autorin schließt in dieses Kapitel auch
Tatauierung, Gravuren auf Geweih und die Punktverzie
rung auf kleinen Elfenbeinschnitzereien ein, außerdem
Bleistiftzeichnungen aus dem beginnenden 20. Jahrhun-