TRIBUS 43, 1994
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und der Stoffverarbeitung - um nur die Hauptschritte zu
nennen.
Welches sind also die Neuerungen? Es ist die Aufnahme
einiger erst kürzlich entdeckter Techniken (z. B. das
Zwirnspalten). Es sind Umstellungen aufgrund neuerer
Erkenntnisse in der Systematik von Textilien und einige
terminologische Veränderungen, z. T. in Anlehnung an
den englischen Sprachgebrauch, wodurch häufige
Mißverständnisse vermieden werden können (»abgelei
tete Bindungen« sind jetzt »zusammengesetzte Bindun
gen« = englisch »compound weaves«, und »zusammen
gesetzte Bindungen« sind jetzt »kombinierte Bindungen«
= englisch »combined weaves«). Neu sind zahlreiche Ab
schnitte »Notation und theoretische Überlegungen« im
Anschluß an Beschreibungen von Techniken. Die Dar
stellung des Fadenverlaufs durch Zahlensymbole ist
erfahrungsgemäß eine Erleichterung bei der Beschrei
bung von Stoffen. Ob die Erfassung der Möglichkeiten
von Fadenkreuzungen bei der Stoffbildung durch Einhän
gen und durch Verschlingen mit Hilfe von mathemati
schen Formeln korrekt ist, kann ohne eine entsprechende
Vorbildung nicht beurteilt werden. Sehr nützlich sind die
gegenüber der ersten Auflage stark vermehrten »anderen
Bezeichnungen« für die jeweils beschriebene Technik,
die einem die Orientierung in der babylonischen Sprach
verwirrung innerhalb der Textilliteratur sehr erleichtert.
Neu ist auch der Umfang des Anhanges (128 von 290 Sei
ten). Er enthält neben einigen Beispielen zur Strukturbe
schreibung eine ausführliche Bibliographie, die auch nach
bestimmten Themenbereichen aufgeschlüsselt ist, sowie
ein mehrsprachiges Register. Sicher werden die Leser und
Benutzer auch das ansprechendere Äußere - gutes Papier,
klarer Druck und einige Farbabbildungen - zu schätzen
wissen.
Bei einer allfälligen Neuauflage sollten die wenigen
Druckfehler berichtigt werden, die vor allem bei Zahlen
im Zusammenhang mit der Notation verunsichern, es
sollten noch einmal die Zeichnungen sehr genau kontrol
liert werden, da sich an einigen - wiederum wenigen -
Stellen Fehler eingeschlichen zu haben scheinen, und es
sollte überlegt werden, wie die Systematik optisch deutli
cher gestaltet werden kann. Als Beispiel sei auf die Seite
17 verwiesen, wo die Hauptüberschrift »Verschlingen«
weit weniger ins Auge fällt als die Unterüberschrift »1.
Einfaches Verschlingen«. Völlig unklar bleibt lange Zeit
eine Art Zwischenüberschrift (bei »Verschlingen« und
»Verknoten«), die als Bestandteil einer Aufzählung
mißverstanden werden kann (z. B. S.26 »-Knotenfor
men:«).
Doch angesichts der ungeheuren, bewunderungswerten
Arbeit, die in diesem Werk steckt, und der gar nicht hoch
genug einzuschätzenden Hilfe, die es bei der wissen
schaftlichen Beschäftigung mit Textilien bietet, sind
diese Einwände kaum der Erwähnung wert. Niemand, der
sich intensiv mit textilen Fragen befaßt, wird auf dieses
Buch verzichten können, und auch, wer die erste Auflage
bereits besitzt, wird nicht ohne diese erweiterte Neufas
sung auskommen.
Gisela Dombrowski
Spindler, Konrad:
Der Mann im Eis - Die Ötztaler Mumie ver
rät die Geheimnisse der Steinzeit. München:
C. Bertelsmann, 1993. 352 Seiten, 55 Farb-
Fotos, Zeichnungen, Karte.
Die Zahl der Ötzi-Bücher ist Legion. Daher soll gleich
vorweggenommen werden - diese Publikation ist, nach
dem 1992 imRGZM, Mainz, erschienenen wissenschaftli
chen Bericht über die Restaurierungsarbeiten an der 1991
entdeckten Gletschermumie und ihrem Begleitmaterial,
der einzig authentische, umfassende Beitrag zum Thema.
Darüber hinaus ist das Werk ein fundiertes Sachbuch im
besten Sinne des Wortes. Spindler ist als archäologischer
Leiter der »Operation Ötzi« nicht nur ein kompetenter
Autor, sondern auch Sprecher der zahlreich beteiligten
Wissenschaftler in Österreich, Deutschland und Holland.
Sie alle geben mit ihren sorgfältig und mit bester techni
scher Ausrüstung erarbeiteten Untersuchungsergebnissen
Einblick in das mitteleuropäische Neolithikum, wie er in
dieser Detailfülle bis dahin nicht möglich gewesen ist.
Unglaublich ist zudem das Glück, daß dieser Ötztaler
Hirte/Jäger bei seinem letzten Gang über die Berge so gut
ausgerüstet war, und - natürlich - daß sich so vieles von
seiner Kleidung und den mitgeführten Utensilien über fünf
Jahrtausende im Eis erhalten hat.
Das Buch ist in sechs Teile mit bis zu 16 Abschnitten
gegliedert. Ausgezeichnete Farb-Fotos und eingängige
Zeichnungen unterstreichen den flüssigen und spannen
den Text. Einem Prolog und dem ersten Teil über die Ent
deckung, Bergung und Nachuntersuchungen folgt als
zweiter Teil »Die Ausrüstung des Mannes im Eis«. Im
dritten Teil wendet sich der Autor der Bekleidung zu, um
im vierten Teil »Die Mumie« über die Gletscherleiche
selbst umfassend Auskunft zu geben. Im fünften Teil wird
die natürliche und kulturelle Umwelt während des alpi
nen Neolithikums beschrieben. Begrüßenswert ist, daß
sich Spindler erst im sechsten und letzten Teil seinen Kri
tikern zuwendet, die zum Teil mit übereilten, zum Teil
sogar lächerlichen Argumenten gegen den Jahrhundert
fund und seine Begleitumstände zu Felde zogen. Medien
und Verlage leben nun einmal von der Auflagenhöhe
ihrer Produkte, und zu dieser tragen »Reißer« entschei
dend bei. Reagieren? Ja. - Ernst nehmen? Nein. Soviel
dazu. Einem Exkurs über Mumien schließen sich ein
Glossar sowie die üblichen Verzeichnisse und Nachweise
an, von denen die umfangreiche Literaturliste besonders
erwähnt werden soll.
Gekonnt und minuziös schildert der Autor zu Beginn die
Geschehnisse rund um die Fundbergung. Dabei wird dem
Leser sehr anschaulich das wissenschaftliche Umfeld
nahegebracht, dessen Komplexität ebenfalls zu den vie
len Fehlinformationen in den ersten Monaten nach der
Bergung beitrug. Souverän legt Spindler die Motivatio
nen, Gedankengänge und Vorstellungen der vielen Betei
ligten an der Fundbergung und -deutung dar. Die Aus
leuchtung der Begleitumstände und Hintergründe des
Ötzi-Fundes liest sich teilweise wie ein Krimi. Doch wird
dem Leser nicht nur Spannung geboten, sondern auch viel
Wissenswertes, wie beispielsweise zu Anfang eine Ein
führung in das Auffinden und die Behandlung von Glet
scherleichen durch Behörden, Mediziner und Historiker.