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Buchbesprechungen Allgemein
Die in den ersten Monaten nach der Entdeckung des Neo-
lithikers in und über die Medien erhobenen Vorwürfe
dürften mit diesem Buch gegenstandslos geworden sein.
Die meisten der vor allem von Wiener Kollegen geäußer
ten Einwände wird Spindler jetzt wohl ebenfalls entkräf
tet haben. Nicht nur der historisch Interessierte muß
eigentlich sehr dankbar sein, daß bei allen nicht vor
hersehbaren kleineren Unfällen in den Anfängen der
Fundbergung mehrere glückliche Umstände rund um Ötzi
zusammentrafen, zum einen bei seiner Einlagerung im
Eis des Hauslabjochs vor 5000 Jahren, zum anderen bei
der Hebung seiner Leiche, wie zum Beispiel die ORF-
Filmaufnahmen. Mehr als amüsant ist für den Nicht
österreicher, daß zwischen den Zeilen österreichische
Mentalitäten, Staatsbürokratie und überholte gesell
schaftliche Strukturen sowie Animositäten zwischen
Landesteilen sichtbar werden, die auf den Außenstehen
den irgendwie beruhigend wirken ... dort wie hie ... c’est
la vie.
Glänzend versteht es Spindler, in das eigentliche Thema
der Publikation viel Lehrreiches zu integrieren, so über
Restaurierungen, über die jüngere Geschichte Mitteleuro
pas, wie das Mittelalter, und über die holozäne Klima
geschichte, die bereits vor etlichen Jahrtausenden Wär
meperioden aufwies, wie wir sie heute erleben. Wer von
den selbsternannten Klimatologen unserer Tag liest schon
ein Buch über Klimageschichte! Vielleicht greift der eine
oder andere jedoch zu Spindlers Ötzi-Buch und macht
sich dann eventuell Gedanken über pressegerechte Sen
sationsmache, womit jedoch nicht die Bedeutung jegli
chen Naturschutzes geleugnet werden soll. Fazit: »Der
Mann im Eis« ist auch ein archäologisches Lehrbuch,
nicht über Stratigraphien, Typologien und nicht nur für
Studenten, sondern über das gesellschaftliche Umfeld
von Grabungen, in dem sich Archäologen notgedrungen
ebenfalls bewegen müssen. Ein sicher nicht zu unter
schätzender Lehrbereich!
Bei so viel Lob drängen sich einige kleinere kritische
Anmerkungen geradezu auf. Beispielsweise die: Am 2.
Oktober 1991 wurde endgültig festgestellt, daß die
Mumie auf italienischem Hoheitsgebiet lag (81). Es wird
dem Leser nicht klar, warum Innsbruck dennoch mit sei
ner begonnenen Arbeit am Fund und am Fundplatz fort-
tahren konnte. Sicherlich haben doch auch italienische
Archäologen an der Bewältigung dieser Aufgabe Inter
esse gehabt. - Bei der von Spindler gegebenen Erklärung
zu den Schalensteinen (129) bleiben etliche Fragen offen,
zum Beispiel die nach der jeweils großen Zahl an »Schäl
chen« auf Monolithen. Kann sie wirklich mit der Lange
weile neo- und chalkolithischer Hirten erklärt werden? -
Der Hinweis auf die Verwendung zweier verschiedener
Holzarten bei einem der zwei »schußbereiten« Pfeile, der
kein Kompositpfeil gewesen sein soll, ist nicht schlüssig.
Gerade der Vorschaft bestand in der Regel aus einer ande
ren Holzart, wenn nicht sogar aus anderem Material. -
Der Exkurs über Mumien erscheint überflüssig, nachdem
den hiermit zusammenhängenden Fragen bereits in Teil
IV (Mumien) drei Abschnitte gewidmet wurden. Das im
Exkurs Niedergelegte hätte in den vierten Teil integriert
werden können. - Gemessen an der Bedeutung der Publi
kation insgesamt, fallen diese beispielhaft ausgewählten
Kritikpunkte nicht ins Gewicht.
Was hleibt, ist dies: Spindler und seinen Mitarbeitern ist
eine detaillierte Dokumentation der Fundumstände, der
Befunde und der Funde, die »der Mann im Eis« mit sei
ner Hebung und in den Folgejahren freigab, bestens
gelungen.
Axel Schulze-Thulin
Wirsing, Rolf;
Gesundheits- und Krankheitsverhalten und
seine kulturelle Einbettung in einer Klein
stadt im Südosten der Türkei. Kölner Ethno
logische Mitteilungen, Bd. II. Köln: Böhlau,
1992. 312 Seiten
Dieser Habilitationsschrift, eingereicht 1990 bei der Phi
losophischen Fakultät der Universität Köln, ging eine
einjährige Feldforschung des Autors 1984/85 in der Tür
kei vorher.
Das Buch macht einen ausgezeichneten Eindruck, wenn
man es in die Hand nimmt und durchblättert. Es ist über
sichtlich gegliedert, in gut verständlicher Sprache
geschrieben, und die Thematik wird gründlich vorbereitet
und kommentiert. Zunächst werden Theorie und Metho
den dargestellt (31 Seiten), dann wird ein Überblick gege
ben über die kulturell geprägte Umwelt einschließlich
Geographie, Demographie, Soziologie, Politik, Wirt
schaft und das kulturelle Wissen der Bevölkerung zum
Thema (56 Seiten). Das Gesundheitsverhalten wird auf
65 Seiten, das Krankheitsverhalten auf 56 Seiten behan
delt. Eine Zusammenfassung (19 Seiten), 9 Appendizes
(65 Seiten) und eine Bibliographie (19 Seiten) beschlie
ßen das Werk.
Bei näherer Betrachtung fällt dem Leser auf. daß von den
312 Seiten nicht mehr als 118 dem Thema »Gesundheits
und Krankheitsverhalten« Vorbehalten sind und daß
davon ganze 53 Seiten dem »Krankheitsverhalten« ein
geräumt werden, das nach Wirsings Definition nicht nur
das Verhalten der Kranken, sondern auch die Leistungen
medizinischer Einrichtungen und Personen, traditioneller
Heiler und Krankenversicherungen einschließen soll.
Bei der Lektüre des Buches stolpert der Leser gleich ein
gangs über diese Definition des Krankheitsverhaltens
(Seite 14 f.). Sie enthält grammatikalische Fehler, ist in
sich widersprüchlich, steht in Widerspruch zu Ausführun
gen des Autors in anderen Veröffentlichungen, läßt vorlie
gende medizinsoziologische und epidemiologische Arbei
ten zum Thema unberücksichtigt und stimmt insgesamt
mit den Gegebenheiten, die begrifflich definiert werden
sollen, nicht überein. Mit der Problematik vertraute Medi
zinsoziologen und Epidemiologen dürften mit dieser Defi
nition nichts anfangen können. Die für die Habilitation
und die »Kölner Ethnologischen Mitteilungen« verant
wortlichen Ethnologen nahmen daran keinen Anstoß.
Wirsings Definition des Krankheitsverhaltens »trennt die
bei einer Person beobachteten Reaktionen auf sein(!)
Kranksein von der seinem!!) Verhalten zugrundeliegen
den Perzeption und Bewertung ab. Sie definiert Krank
heitsverhalten als das Verhalten einer sich gesundheitlich
beeinträchtigt fühlenden Person, die sich um die Wieder
herstellung ihrer Gesundheit bemüht. Krankheitsverhal
ten ist dabei ein Prozeß, der die Mobilisierung besonde
rer Verhaltensweisen zur Folge hat, ungeachtet, ob diese
Verhaltensweisen ihr beabsichtigtes Ziel der Wiederher
stellung der Gesundheit erreichen, den Krankheitszu