TRIBUS 43, 1994
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stand verlängern oder zum Tode führen. Krankheitsver-
halten muß auch das Verhalten der besorgten bzw. um
Unterstützung angegangenen Angehörigen des jeweili
gen Kranken und das der Menschen und Einrichtungen
berücksichtigen, die sich berufsmäßig mit der Diagnose
und Therapie von Krankheit befassen« (Seite 14 f.).
Wirsing hatte sich 1981 (in: Anthropos 76, 758) noch auf
David Mechanics Bestimmung des Krankheitsverhaltens
bezogen, »die Art und Weise, wie eine Person Schmerzen
und Krankheitssymptome wahrnimmt, bewertet und
drauf reagiert« (in: Social Psychiatry 1, 1966). In der
deutschsprachigen Sozial- und Präventivmedizin wird
das Krankheitsverhalten als Verhalten von Personen
medizinischen Institutionen gegenüber unter den Begriff
des Gesundheitsverhaltens gestellt, was deren führender
Vertreter Manfred Pflanz wie folgt begründet: »Der
Begriff des Gesundheitsverhaltens ist vorzuziehen, da er
den ganzen Komplex von Motiven, Entscheidungen und
Aktionen umfaßt, die auf Gesundheit und Krankheit
bezogen sind« (in: Mensch und Medizin 6, 1965, 173).
Pflanz weist auf die Untersuchungen nordamerikanischer
medizinischer Soziologen zum Thema hin und führt 10
Konzepte an, die »dazu beitragen sollen, das Gebiet des
Gesundheitsverhaltens methodisch zu erfassen«. Wirsing
geht auf die von Pflanz erörterten Konzepte nicht ein und
zieht keine der genannten Untersuchungen heran.
Wirsings Definition des Krankheitsverhaltens wider
spricht den Erläuterungen, die er vorausschickt. Eine Per
son, die »sich gesundheitlich beeinträchtigt fühlt«, kann
dies nur, indem sie diese Beeinträchtigung an sich selbst
wahrniramt. Diese Wahrnehmung konstituiert z. T., was
wir Personalität nennen. »Weder Kultur beziehungsweise
soziale Umwelt noch Krankheit existieren als in sich
geschlossene Größen, die unmittelbar aufeinander wirken
können, sondern sie werden beide erst durch das Vorhan
densein von Personen ermöglicht«, hatte Pflanz 1969
gesagt (in: Der Kranke in der modernen Gesellschaft.
Neue wissenschaftliche Bibliothek 22, Soziologie, Köln
1969, 371). Eine Person, die sich gesundheitlich beein
trächtigt fühlt, muß nicht krank sein. Eine Person aber,
der die Perzeption abgetrennt wurde, kann keine Person
mehr sein.
Das Krankheitsverhalten wird von Wirsing auf ein beab
sichtigtes Verhalten reduziert, dessen Ziel die Wiederher
stellung der Gesundheit ist. Zur Definition des Krank
heitsverhaltens im Sinne Wirsings gehört, daß der Kranke
sich um die Wiederherstellung seiner Gesundheit
bemüht. Ein solches Bemühen setzt in jedem Fall ein
Wollen und Wünschen voraus. Es entspricht dem, was
Soziologen wie Park und Burgess mit dem psychologi
schen Terminus »Einstellung« (attitude) bezeichnen, ein
Begriff, von dem Wirsing zwei Jahre zuvor erklärt hatte,
daß er in der Ethnologie keinen Platz habe. Daß die Ein
stellung auf Wiedererlangung der Gesundheit das Verhal
ten von Kranken nicht notwendig motivieren muß, ist
eine andere Frage.
Die Untersuchung zeigt, daß der Autor die Abtrennung
der Perzeption und die Reduktion des Patientenverhaltens
auf das Bemühen um Wiederherstellung vornehmen muß,
um therapeutische, pflegerische und behördliche Maß
nahmen und Dienste in den Begriff des Kranheitsverhal-
tens einbeziehen zu können. Wiederholte Aussagen wie
»Jedes Krankheitsverhallen ist per definitionem beab
sichtigt, es hat die Wiederherstellung der Gesundheit zum
Ziel« bestätigen diese Annahme (Seite 17 f., 224). Nun
sind »Kranksein« (illness) und »Therapie« keine identi
schen Begriffe. Sie lassen sich unter einen gemeinsamen
Begriff nur bringen, wenn die Begriffsinhalte beider
gewahrt bleiben. Wirsing verstößt gegen diese Regel,
indem er das Patientenverhalten demontiert und die ärzt
liche und pflegerische Versorgung als Krankheitsverhal
ten abqualifiziert. Krankheitsverhalten wird hier nicht
begrifflich definiert, sondern im Hinblick auf Operatio-
nalisierbarkeit konzeptionalisiert.
Der Teil II der Arbeit gibt einen kurzen länderkundlich-
deraographischen Bericht über die Kleinstadt Feke und
ihre Bewohner. Von Interesse für uns sind die Abschnitte
über den Gesundheitszustand und die traditionellen
Krankheitskonzepte. Bei der Lektüre finden wir, daß der
Text zum großen Teil auf schriftlichen Quellen fußt, Ver
öffentlichungen, Statistiken und anderen Berichten, und
auf Fragebögen, mit deren Hilfe Krankenschwestern
Befragungen Vornahmen (was in Kadirli scheiterte, wes
halb die Untersuchung dort mißlang). Als Ergebnis spe
zifisch ethnologischer Feldforschung können nur die 35
Seiten über traditionelle Krankheitstheorien, Heiler und
Selbstbehandlung gelten, doch wurden auch diese Texte
zum Teil aus schriftlichen Quellen übernommen. Die
Aussagen sind durchweg allgemein gehalten, ohne Nen
nung der Gewährsleute und ohne Datum. Immerhin
erfährt der Leser, daß mit einem Außenseiter wie Wirsing
über Namen, Aufenthalt und Dienste traditioneller Heiler
nicht gern gesprochen wurde und daß der Autor über die
Identität anderer Heiler nichts erfahren konnte (Seite 172,
174). Daß in dem Ort Heiler lebten, von denen er etwas
hätte lernen können, gibt der Text zu erkennen (p. e. Her
balistin, Seite 173). Wirsings Verhaltensbegriff macht es
nicht erforderlich, die traditionellen Krankheitskonzepte,
das Befinden und Verhalten der Kranken und die Thera
pie der Heilkundigen religions- und medizinethnologisch
zureichend aufzunehmen und zu untersuchen.
Die Beurteilung des Gesundheitszustandes stützt sich in
der Hauptsache auf die Antworten von Hausfrauen aus 38
Haushalten in Feke, die zwei Krankenschwestern anhand
ausgearbeiteter Fragebögen erhielten und aufzeichneten.
Diese Antworten werden ergänzt durch Diagnosen aus
dem Gesundheitszentrum. Wirsing wählte nicht Haus
halte aus, die nach Art und Größe die Gesamtheit der
Haushalte am treffendsten repräsentierten, sondern ging
numerisch vor und ließ aus der Liste der 748 Haushalte
jeden 19. befragen. Bei Durchsicht der 70 Fragen fällt
auf. daß sie in der Mehrzahl suggestiv gestellt sind und
daß die Frauen nur mit ja oder nein antworten konnten.
Daß 72 % der Befragten mit 3 bis 10 Krankheitssympto
men behaftet waren und 68 % sich nicht für gesund hiel
ten, läßt den Leser stutzen. Er fragt sich, ob die Haus
frauen nicht meinten, bestätigende Angaben machen zu
müssen? Der Epidemiologe dürfte mit den Ergebnissen
solcher Meinungsumfragen wenig anfangen können.
Auch ein völkerkundlicher Feldforscher kann nicht
erwarten, wahrheitsgetreu Auskunft zu erhalten, wenn er
Suggestivfragen stellt, etwa »Die bösen Geister verursa
chen beim Menschen epileptische Anfälle, verschobene
Kiefer und ähnliche Krankheiten?« (Seite 260). Der
»Feldforscher« weiß schon im vorhinein, welche Ant
wort er erhalten will, und die Befragte kann entweder die
Frage verneinen und unbedeutend bleiben oder ihm sein
Wissen bestätigen.