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Buchbesprechungen Afrika
Die Ausführungen im Abschnitt über traditionelle Krank
heitstheorien einschließlich der »Krankheitsbegriffe«
sind der Literatur oder anderen schriftlichen Quellen ent
nommen oder berufen sich auf Informanten, über die
keine näheren Angaben gemacht werden. Die traditionel
len Krankheitskonzepte, die das Herzstück einer Studie
wie dieser sein sollten, werden nur unvollständig unter
dem Titel einer »Domäne der Krankheitsbegriffe«, die in
Feke »häufig zitiert werden und teils aus einer traditio
nellen und teils aus einer modernen lexikographischen
Domäne stammen« und »nicht systematisch erhoben
wurden«. Als Quelle wird gegeben »Gespräche mit Infor
manten und Ärzten 1985«. Die Liste gibt in der ersten
Spalte keine Krankheitsbegriffe, sondern türkische
Krankheitsnamen, ohne sie wörtlich zu übersetzen. Die
folgenden deutschsprachigen Erklärungen dieser Namen
beziehen sich zum großen Teil auf Krankheitsbilder,
nosographische Einheiten, wie Durchfall, Verstopfung,
Abszeß, Kropf, einige andere auf den pathologischen
Befund, den medizinisch-naturwissenschaftlichen
Krankheitsbegriff, wie Polio, Tuberkulose, Pneumonie,
Lipom, einige wenige auf die Befindlichkeit des Kran
ken, Geisterbefall, Alpträume, Nervosität. Eine Beschrei
bung der Krankheitszustände, wie die Bevölkerung sie
überliefert, wird nicht gegeben. Die Angabe »lexikogra-
phische Domäne« scheint auf den Gebrauch von Wörter
büchern hinzudeuten. Der Leser fragt sich: Wie soll ein
Kranker, dem die Perzeption abgesprochen wird, unter
Halluzinationen, Alpdrücken, Zahnschmerzen und Nie
renkoliken leiden können? Wie will ein Feldforscher das
Krankheitsverhalten von Menschen untersuchen können,
wenn ihm deren Krankheiten und Krankheitszustände
ungenügend bekannt sind? Daß von vermuteten »ethno-
medizinischen Systemen heute nur noch Systemtrümmer
vorhanden sind«, ist eine vom Autor behauptete, aber
nicht überprüfte Hypothese.
Es mögen hier drei Beispiele der von Wirsing aufgeliste
ten »Krankheitsbegriffe« folgen. Die Buchstaben und
Ziffern hinter den Namen verweisen auf andere Kapitel
und sollen anzeigen, ob der Arzt die Bezeichnung kennt
und wer die Behandlung vornimmt.
Cocuk felci Polio c 2,7;
c = Begriff ist dem Arzt bekannt und wird auch unter Kol
legen verwandt;
2 = Behandlung durch einen hoca (Kapitel 15);
7 = Behandlung durch den Arzt (Kapitel 14). Der Bezug
des türkischen Krankheitsnamens zum pathologischen
Begriff Polio bleibt dunkel. In den Kapiteln 14 und 15 fin
den sich keine Angaben über die Behandlung.
Ince agri Tuberkulose a 7:
a = Begriff ist dem Arzt unbekannt und wird nicht im
Gespräch mit Patienten verwandt;
7 = Behandlung durch den Arzt (Kapitel 14). Es kann nur
gemeint sein, daß nicht der Begriff, sondern der Krank
heitsname ince agri dem Arzt unbekannt ist. Was der
Name bedeutet, wird nicht gesagt. Im Kapitel 14 wird all
gemein über Dienstleistungen im Tuberkulosezentrum
von Kadirli berichtet. Im Kapitel 17 (Seite 206) wird
Selbstbehandlung bei Tuberkulose erwähnt.
Kurt Parasitosis b 1:
b = Begriff ist dem Arzt bekannt und wird im Gespräch
mit Patienten, aber nicht mit Kollegen verwandt;
I = Selbstbehandlung zu Hause (Kapitel 15). Parasitosis
ist kein Krankheitsbegriff und kann sich auf alle Arten
von Parasitenbefall beziehen. Im Kapitel 15 wird nur über
traditionelle Heiler berichtet. Im Kapitel 17, traditionelle
Selbstbehandlung, rindet sich kein Hinweis, ausgenom
men die Behandlung bei Tuberkulose.
Es ist ein erheblicher Mangel dieser fleißigen Arbeit, daß
Zusammengehöriges auseinandergerissen wird. Die Glie
derung des Buches, die auf den ersten Blick so beste
chend wirkt, erweist sich als Hindernis bei der Lektüre.
Das Fehlen eines Registers setzt die Brauchbarkeit der
Arbeit weiter herab.
Den umfangreichsten Teil des Buches bilden die Kapitel
über das Gesundheitsverhalten, den schwächsten die über
das Krankheitsverhalten. Was Wirsing unter dem Titel
»Gesundheitsverhalten« darstellt, entspricht fast aus
nahmslos dem, womit sich die seit über 100 Jahren beste
hende medizinische Wissenschaft der Hygiene, später
auch der Tropenhygiene, befaßt. 1 Die Behauptung, seine
Arbeit sei (soweit ihm bekannt) die erste ihrer Art, ist
zurückzuweisen (Seite 14). Es ist anzunehmen, daß die
ses Fach seit langem an türkischen Universitäten gelehrt
wird und daß Veröffentlichungen in türkischer Sprache
darüber vorliegen. Hinweise darauf finden sich in Wir
sings Texten nicht.
Der eigentliche ethnologische Gehalt dieser Habilitati
onsschrift ist gering. Ob sie Epidemiologen. Hygienikern
und Medizinsoziologen von Nutzen sein kann, erscheint
zweifelhaft. Ob die türkischen Behörden und die
Angehörigen der Heil- und Pflegeberufe des Landes mit
einer Übersetzung dieser demographisch-hygienischen
Bestandsaufnahme etwas anfangen könnten, mag des
gleichen bezweifelt werden.
Joachim Sterly
Blanc, Ulrike:
Lieder in Erzählungen der Bulsa. Eine musik
ethnologische Untersuchung. Forschungen
zu Sprachen und Kulturen Afrikas, Bd. 3.
Münster/Hamburg: Lit, 1993, 157 Seiten.
Auch wenn man heute sicher nicht mehr von völlig
weißen Flecken auf unserer musikalischen Landkarte
Schwarzafrikas sprechen wird, so bleibt doch festzuhal
ten, daß dort nach wie vor einige Musikkulturen von der
ethnomusikologischen Forschung bisher eher stiefmüt
terlich behandelt worden sind. Es ist also durchaus zu
begrüßen, wenn - wie im vorliegenden Fall - das Augen
merk einer ethnischen Gruppe gilt, die in der Literatur bis
dato kaum Beachtung gefunden hat.
Gegenstand der Untersuchung sind hier in Erzählungen
eingestreute Lieder der im Norden Ghanas lebenden
Bulsa. Diese Art von »story songs« sind uns ja auch aus
anderen Regionen Afrikas bekannt. Neben einer Inhalts
angabe der Erzählungen mit zusätzlichen ethnographi
schen Informationen werden die Liedtexte im Original
(Buli) und deutscher Übersetzung wiedergegeben und die
1 Seit 1829 wurden in Paris die »Annales d’hygiène publique et
de médecine légale« veröffentlicht. In Deutschland waren die
ersten Lehrstühle für Hygiene 1865 an bayerischen Universitäten
errichtet worden (Pettenkoffer und Ziemssen, Handbuch der
Hygiene und der Gewerbekrankheiten. 3 Teile, 3. Auflage, Leip
zig 1882)