TRIBUS 43, 1994
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die Boas während der Vorbereitung seiner ersten und ein
zigen arktischen Reise und seines Aufenthaltes auf Baf
finland (August 1883 bis September 1884) geschrieben
hat. Der größte Teil dieser auf deutsch verfaßten Texte
befindet sich in Philadelphia, im Archiv der American
Philosophical Society (S. 1). Ludger Müller-Wille, der
Herausgeber, hat die verschiedenen Quellen (4 Tage
bücher, Briefe an seine Eltern, seine Verlobte und Dritt
personen, das Tagebuch von Wilhelm Weike, seinem Die
ner) geschickt chronologisch geordnet (S. 17). Sein Ziel
war es. für jeden Tag eine Eintragung zu finden, damit der
Leser die täglichen Ereignisse verfolgen kann. Hatte
Boas selbst nichts zu Papier gebracht, zieht Müller-Wille
das Tagebuch von Weike heran. Franz Boas wurde von
einem Diener seiner Familie, Wilhelm Weike, begleitet,
der sich um alle praktischen Dinge kümmerte (S.7),
wobei das Kochen der Konserven und des eingetauschten
Fleisches auf einem Petroleumkocher zu seinen Haupt
aufgaben gehörte. Weike baute eine scheinbar unkompli
zierte Beziehung zu den Einheimischen auf. Sein Ver
hältnis zu Franz Boas drückt sich darin aus, daß er ihn mit
»Herr Doktor« ansprach, was in Inuktituk zu »Doktoraa-
luk« wurde. Weike, von Boas schlicht »mein Wilhelm«
genannt, führte während der Reise ein eigenes Tagebuch,
das hier nur als Lückenbüßer fungiert. Wie der Herausge
ber erklärt (S. 22), ist es so umfangreich (445 Seiten), daß
es einer eigenen Publikation bedarf: Dem kann man sich
nur anschließen.
Voraussetzung für den von Boas als Sprungbrett für seine
Karriere (S.29) angestrebten Arktisaufenthalt war eine
finanzielle Unterstützung, die er in Form eines Vertrags
mit dem Berliner Tageblatt erhielt. Gegenleistung waren
fünfzehn Artikel über seine Arbeit (vgl. Müller-Wille
1984: 119-120). Freie Passage bekamen Boas und Weike
auf der Germania, dem deutschen Polarschiff. Einen
großen Teil des Buches nimmt die Anreise nach Baffin
land in Anspruch: der Leser muß bis Seite 80 warten, um
von intensiveren Kontakten mit der einheimischen
Bevölkerung zu hören. Nach der Ankunft in der Wal
fangstation Kekerten verhandelte Boas mit der Gruppe
der Deutschen Polar Station, die gerade eine Überwinte
rung (1883-84) hinter sich hatte, er übernahm Teile ihrer
Ausrüstung, da diese jetzt mit der Germania nach
Deutschland zurückfuhren. Nach der logistischen Sicher
stellung des Aufenthaltes begann Boas unverzüglich
seine naturgeographischen Erkundungsfahrten.
Besonders aufschlußreich für die Chronik der Expedition
sind die Briefe an seine Eltern und Schwestern (vgl.
S. 108, 113, 146, 213). Da sie nach der Abfahrt des letzten
Schiffes nur sporadisch geschrieben wurden und erst im
Sommer abgeschickt werden konnten, stellen sie eine
gestraffte Zusammenfassung der vorangegangenen
Monate dar. Bewundernswert ist der Umfang der Schrif
ten, die Führung von verschiedenen Tagebüchern, (eth
nographischen, Mythen-, Geographie-) Notizbüchern
und Briefen. Auch wenn der Diener Weike die alltägli
chen Aufgaben übernahm, blieben die schwierigen Ver
hältnisse auf Schlittenreisen; Wie können die Notiz
bücher sicher untergebracht werden und gleichzeitig bei
Gebrauch rasch zur Verfügung stehen? Das Auspacken
der Säcke und Kisten ist umständlich, da alles von trei
bendem Schnee durchdrungen wird, das Papier des
Notizbuches wird naß, die Tinte friert. Will man die
Kisten in den engen Zelten oder Schneehäusern öffnen.
engt man die Bewegungsfreiheit der Mitreisenden ein: sie
müssen unbeweglich warten, bis der eine mit dem Aus
packen fertig ist. Durch den Temperaturunterschied zwi
schen draußen und drinnen wird zudem der Inhalt feucht.
Leider erfährt der Leser über diese praktischen Aspekte
des Alltags einer Feldarbeit recht wenig. Boas legt größ
ten Wert auf seine Peilungen und die Erstellung von Kar
ten (berichtet wird hauptsächlich über Geländevermes
sungen. Wegverhältnisse und das Wetter). Man erlebt
einen unermüdlichen, dynamischen Entdecker, der, stän
dig unterwegs, unzählige Hunde verbraucht und immer
neue erwerben muß. Mit seinen begehrten Tauschgütern
kann er sie den Eskimo abkaufen, obwohl sie selber
zuwenige haben. Sein Vorhaben, bis nach Igloolik mit
Hundeschlitten zu fahren, um eine möglichst isolierte und
weitgehend unbekannte Gegend zu erkundschaften,
scheiterte an einer Tierseuche (Epizootie), welche die
Hunde dezimiert hatte. Äußerungen und Ereignissen, die
im Zusammenhang mit dem Diener Weike und den Es
kimo stehen, kommen selten vor.
Der lakonische Ton der Tagebücher läßt kaum vermuten,
daß Boas trotz widriger Verhältnisse bereits von Januar
bis März und im August 1884 sehr intensiv und produk
tiv, parallel zu seinen kartographischen und meteorologi
schen Erhebungen, ethnographische Informationen
gesammelt hat. In diesen Monaten hatte Boas Kontakt zu
mehreren Inuitfamilien. Erstaunlicherweise hinterläßt
das unmittelbar Erlebte wenig Spuren im vorliegenden
Text, der Autor reagiert sich nicht ab, Laune. Mißerfolge,
Zweifel werden dem Tagebuch fast nicht anvertraut:
Seine persönliche Entwicklung vom Geographen zur
führenden Figur der Anthropologie läßt sich nicht nach
vollziehen. Wo ist der Mensch, der soviel Daten über die
»Central Eskimo« gesammelt hat? Wie hat er sie bekom
men? Wuchs sein Interesse für die einheimische Kultur,
wie entwickelte er seine Feldforschungsmethode - wir
wissen es nicht. Hat Boas bereits seine eigenen Tage
bücher von allen persönlichen Ausführungen gereinigt?
Schließlich sind die Central Eskimo etwa 270 Seiten
lang, die hier vorgelegten Tagebücher dagegen nur 120
Seiten. Selbst wenn die Daten seiner Publikationen aus
»ethnographischen« Notizbüchern (S. 17) kommen, hat
der Leser den Eindruck, daß die Ethnographie nebensäch
lich war, auf jeden Fall, laut Boas, »weniger anstren
gend« (S. 242). Die Tagebücher (Boas selbst nennt sie Ili-
nerarien, S.250) ähneln ein wenig den Logbüchern
mancher weitgereister Seeleute, die nur von der Wind
stärke, den Strömungen und der Reiseroute erzählen.
Ist Boas wirklich so nüchtern, oder liegt es beim Heraus
geber? In den Briefen an die Familie, besonders aber an
seine Verlobte, finden sich nämlich häufig Auslassungs-
punkle, die, so liest man im Vorwort, »persönliche Äuße
rungen und Liebesbezeigungen enthalten« und wegen
»ihres intimen Charakters hier nicht veröffentlicht wer
den sollten« (S. 22). Vielleicht ging hier die menschliche
Dimension in der Persönlichkeit Boas’ verloren, etwas,
das die Lektüre zu einer wirklichen Bereicherung
gemacht hätte?
Es ist dem Herausgeber gelungen, durch akribische
Transkribierung und durch logisches Anordnen der
gewählten Quellen, den Alltag des jungen Boas darzu
stellen. Trotz physischer Erschöpfung und extremen kli
matischen Umständen führt er mit stoischer Ausdauer und
exemplarischem Fleiß seine Messungen und Beobachtun