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Full Text: Tribus, 44.1995,N.F.

301 
Buchbesprechungen Orient 
Angehörigen der Stämme selbst. Oft decken sich deren 
Auskünfte auch mit der Historie oder sie ergänzen diese. 
Die wichtigsten und ausführlichsten Kapitel dieses 
Buches handeln über »Die Säcke der Stämme und Regio 
nen« (S. 52-93). Hier gewinnt der Leser viele neue 
Erkenntnisse. Sie beinhalten genaue Beschreibungen der 
Säcke, der Webarten, Muster und Farben. Gewürzt und 
spannend gemacht werden diese Ausführungen durch 
immer wieder eingeflochtene Bemerkungen über 
Ursprung und Herkunft der Stämme in den verschiedenen 
Epochen und durch das Erraten der Bedeutung der Stam 
mesnamen, die den Verfasserinnen oft zu einfach vor 
kommt. Überzeugend werden Verwandtschaften zwi 
schen Großfamilienverbänden durch die Art und Weise 
der Musterverarbeitung und der Farben in den verschie 
denen Stücken bewiesen. Geschichtliche Zusammen 
hänge, gemeinsame Wanderungen und Gefolgschaften 
werden anhand der Textiluntersuchungen gezeigt, so daß 
die Webstücke die geschichtlichen Quellen bestätigen 
und umgekehrt. 
Die Verfasserinnen bemühen sich auf diese Weise sehr, 
jedem Stamm oder mehreren durch die gemeinsame Ver 
gangenheit verknüpften Stämmen ureigene Muster zuzu 
weisen. Jedoch geben sie zu, daß so eine Klassifikation 
sehr schwierig ist. Meines Erachtens nach könnte das für 
frühere Jahrhunderte zutreffend gewesen sein, kaum aber 
für unsere Zeit. Es sind zu viele Einflüsse vorhanden auf 
grund ausgebauter Straßen, der Verkehrsmittel, Radio 
und Fernsehen, denen die heute ja in Dörfern wohnenden 
Yürüken unterliegen. Darum neige ich dazu, ähnliche 
Webstücke einem größeren Raum zuzuschreiben. Letzt 
lich haben die Verfasserinnen das auch gemacht, weil sie 
die Schmucksäcke der ganzen Region Bergama zusam 
men untersucht haben. 
Die Verfasserinnen ziehen auch Querverbindungen zwi 
schen den Turkvölkern Anatoliens und denen Mittel 
asiens und beweisen Verwandtschaften anhand der Tex 
tilien. Das ist frappierend, weil ja über lange Zeiträume 
hinweg keine wesentlichen Verbindungen zwischen den 
weit entfernten Ländern stattgefunden haben. Es muß 
sich also um einen alten, gemeinsamen Musterschatz 
handeln. 
Ich möchte noch einmal erwähnen, daß dieses Buch in 
sehr verdienstvoller Weise mit ethnologischen, histori 
schen und soziologischen Methoden erarbeitet worden 
ist. Das ist keine Selbstverständlichkeit. Denn viele Ver 
öffentlichungen über volkskundliche Textilien zeigen nur 
Beschreibungen in kunstgeschichtlicher Manier. Auch in 
»Bergama Cuvallari« wird zum Teil so vorgegangen, 
aber eben nur zum Teil. So werden Musternamen erfun 
den, wie »Schwalbenflug«, »Bonbonstreifen« usw. War 
um können nicht die türkischen Bezeichnungen gegeben 
werden, die doch bildhaft genug sind? Ich denke dabei an 
Namen aus meinem eigenen südwesttürkischen For 
schungsgebiet, z. B. an das »Kranichzug-Motiv« (turna 
katari) mit seiner sehnsuchtsvollen, religiösen Bedeutung 
oder an »Wolfsmaul« (kurt agzi) mit dem abwehrenden 
Inhalt. 
Darüber hinaus werden Musterentwicklungen aufgezeigt 
(z. B. S.78 oder Abb. 15 und 16 u. a.) und von älteren und 
jüngeren Formen gesprochen, wie es für unsere westliche 
Kunst durchaus zutreffend ist, aber meines Erachtens 
nach nicht für die Volkskunst der Türkei. Dort gibt es 
nämlich nicht eine Entwicklung in unserem Sinn. Man 
bleibt in der Tradition, wie es ja auch das noch heute vor 
handene gemeinsame Mustergut Mittelasiens und Anato 
liens beweist. Und dennoch ist die Kunst des Individuel 
len variierend stark ausgeprägt. Sie erfolgt aber immer im 
Rahmen der Tradition. Sie beinhaltet keine Entwicklung 
im westlichen Sinn. Letztlich ist es in der türkischen 
Webkunst genauso wie in der Volksmusik und in der 
Volksdichtung. Jedes Lied und jedes Gedicht läßt sich 
zurückführen auf ein melodisches und dichterisches 
»Modell«. Das ist eine Melodie-Idee oder Gedicht-Idee, 
die im Kopf eines jeden traditionsgebundenen Volks 
künstlers lediglich als Gerüst gespeichert ist. Bei jeder 
Realisation wird dieses Melodie-Gedicht - oder im Fall 
der Webkunst die als Gerüst im Kopf vorhandene Web- 
Idee - anders, nämlich individuell, zutage gebracht und 
nach dem Belieben und der Begabung des oder der Aus 
führenden erweitert, abgewandelt und gesteuert. Für alle 
diese Vorgänge gibt es bei den türkischen Musikern ent 
sprechende Termini, ein Beweis für die Existenz dieser 
Tradition. Auf diese Weise fällt das »componere« eines 
Liedes, eines Gedichtes, eines Webstücks jedes Mal ver 
schieden aus. Und dennoch kann man die entsprechende 
Tradition erkennen. 
Mit diesen Ausführungen möchte ich keinesfalls das 
große Verdienst dieses Buches schmälern. Ich möchte nur 
einen Denkanstoß geben, sich nicht nur von westlichen 
Vorstellungen leiten zu lassen, sondern der orientalischen 
schöpferischen Geisteshaltung und Mentalität gerecht zu 
werden. 
Das Buch von Doris Pinkwart und Elisabeth Steiner ist 
eine große Bereicherung für die vorhandene Fachlitera 
tur, nicht zuletzt auch wegen seiner schönen Aufma 
chung, der ausgezeichneten Reproduktionen und Bilder, 
durch die die nomadische Realität äußerst lebendig wird, 
auch für die Nichtkenner der türkischen Yürüken. 
Ursula Reinhard 
Zschoch, Barbara: 
Deutsche Muslime: Biographische Erzählun 
gen über die Konversion zum fundamentali 
stischen Islam. (Kölner Ethnologische 
Arbeitspapiere, Bd. 6). 
Bonn: Holos Verlag, 1994. 80 Seiten. 
Die Untersuchungsmethode, biographische - oder ge 
nauer gesagt autobiographische - Erzählungen zu einem 
bestimmten Thema zu analysieren, ist in den letzten Jah 
ren in der Ethnologie immer mehr in Mode gekommen. 
Die Arbeiten zeigen aber alle, daß es sich hierbei nur um 
eine ethnologische Quelle zur Erfassung des jeweiligen 
Themas handelt. Der Untersuchungscorpus muß durch 
andere Quellen, seien dies Daten durch teilnehmende 
Beobachtung, gezielte Interviews, Archivforschung oder 
zumindest durch eine Kontextualisierung ergänzt werden. 
Bleibt es bei der reinen Analyse der biographischen 
Erzählungen, so befindet sich die Forschung erst in einem 
Anfangsstadium. Dies trifft auf die vorliegende Studie 
zu, die 1992 als Magisterarbeit an der Philosophischen 
Fakultät der Universität Köln eingereicht wurde. 
Basis waren 12 ein- bis dreistündige Interviews mit deut 
schen Konvertiten zum fundamentalistischen Islam. Unter 
»fundamentalistischem Islam« versteht B. Zschoch ganz
	        
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