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Buchbesprechungen Orient
Angehörigen der Stämme selbst. Oft decken sich deren
Auskünfte auch mit der Historie oder sie ergänzen diese.
Die wichtigsten und ausführlichsten Kapitel dieses
Buches handeln über »Die Säcke der Stämme und Regio
nen« (S. 52-93). Hier gewinnt der Leser viele neue
Erkenntnisse. Sie beinhalten genaue Beschreibungen der
Säcke, der Webarten, Muster und Farben. Gewürzt und
spannend gemacht werden diese Ausführungen durch
immer wieder eingeflochtene Bemerkungen über
Ursprung und Herkunft der Stämme in den verschiedenen
Epochen und durch das Erraten der Bedeutung der Stam
mesnamen, die den Verfasserinnen oft zu einfach vor
kommt. Überzeugend werden Verwandtschaften zwi
schen Großfamilienverbänden durch die Art und Weise
der Musterverarbeitung und der Farben in den verschie
denen Stücken bewiesen. Geschichtliche Zusammen
hänge, gemeinsame Wanderungen und Gefolgschaften
werden anhand der Textiluntersuchungen gezeigt, so daß
die Webstücke die geschichtlichen Quellen bestätigen
und umgekehrt.
Die Verfasserinnen bemühen sich auf diese Weise sehr,
jedem Stamm oder mehreren durch die gemeinsame Ver
gangenheit verknüpften Stämmen ureigene Muster zuzu
weisen. Jedoch geben sie zu, daß so eine Klassifikation
sehr schwierig ist. Meines Erachtens nach könnte das für
frühere Jahrhunderte zutreffend gewesen sein, kaum aber
für unsere Zeit. Es sind zu viele Einflüsse vorhanden auf
grund ausgebauter Straßen, der Verkehrsmittel, Radio
und Fernsehen, denen die heute ja in Dörfern wohnenden
Yürüken unterliegen. Darum neige ich dazu, ähnliche
Webstücke einem größeren Raum zuzuschreiben. Letzt
lich haben die Verfasserinnen das auch gemacht, weil sie
die Schmucksäcke der ganzen Region Bergama zusam
men untersucht haben.
Die Verfasserinnen ziehen auch Querverbindungen zwi
schen den Turkvölkern Anatoliens und denen Mittel
asiens und beweisen Verwandtschaften anhand der Tex
tilien. Das ist frappierend, weil ja über lange Zeiträume
hinweg keine wesentlichen Verbindungen zwischen den
weit entfernten Ländern stattgefunden haben. Es muß
sich also um einen alten, gemeinsamen Musterschatz
handeln.
Ich möchte noch einmal erwähnen, daß dieses Buch in
sehr verdienstvoller Weise mit ethnologischen, histori
schen und soziologischen Methoden erarbeitet worden
ist. Das ist keine Selbstverständlichkeit. Denn viele Ver
öffentlichungen über volkskundliche Textilien zeigen nur
Beschreibungen in kunstgeschichtlicher Manier. Auch in
»Bergama Cuvallari« wird zum Teil so vorgegangen,
aber eben nur zum Teil. So werden Musternamen erfun
den, wie »Schwalbenflug«, »Bonbonstreifen« usw. War
um können nicht die türkischen Bezeichnungen gegeben
werden, die doch bildhaft genug sind? Ich denke dabei an
Namen aus meinem eigenen südwesttürkischen For
schungsgebiet, z. B. an das »Kranichzug-Motiv« (turna
katari) mit seiner sehnsuchtsvollen, religiösen Bedeutung
oder an »Wolfsmaul« (kurt agzi) mit dem abwehrenden
Inhalt.
Darüber hinaus werden Musterentwicklungen aufgezeigt
(z. B. S.78 oder Abb. 15 und 16 u. a.) und von älteren und
jüngeren Formen gesprochen, wie es für unsere westliche
Kunst durchaus zutreffend ist, aber meines Erachtens
nach nicht für die Volkskunst der Türkei. Dort gibt es
nämlich nicht eine Entwicklung in unserem Sinn. Man
bleibt in der Tradition, wie es ja auch das noch heute vor
handene gemeinsame Mustergut Mittelasiens und Anato
liens beweist. Und dennoch ist die Kunst des Individuel
len variierend stark ausgeprägt. Sie erfolgt aber immer im
Rahmen der Tradition. Sie beinhaltet keine Entwicklung
im westlichen Sinn. Letztlich ist es in der türkischen
Webkunst genauso wie in der Volksmusik und in der
Volksdichtung. Jedes Lied und jedes Gedicht läßt sich
zurückführen auf ein melodisches und dichterisches
»Modell«. Das ist eine Melodie-Idee oder Gedicht-Idee,
die im Kopf eines jeden traditionsgebundenen Volks
künstlers lediglich als Gerüst gespeichert ist. Bei jeder
Realisation wird dieses Melodie-Gedicht - oder im Fall
der Webkunst die als Gerüst im Kopf vorhandene Web-
Idee - anders, nämlich individuell, zutage gebracht und
nach dem Belieben und der Begabung des oder der Aus
führenden erweitert, abgewandelt und gesteuert. Für alle
diese Vorgänge gibt es bei den türkischen Musikern ent
sprechende Termini, ein Beweis für die Existenz dieser
Tradition. Auf diese Weise fällt das »componere« eines
Liedes, eines Gedichtes, eines Webstücks jedes Mal ver
schieden aus. Und dennoch kann man die entsprechende
Tradition erkennen.
Mit diesen Ausführungen möchte ich keinesfalls das
große Verdienst dieses Buches schmälern. Ich möchte nur
einen Denkanstoß geben, sich nicht nur von westlichen
Vorstellungen leiten zu lassen, sondern der orientalischen
schöpferischen Geisteshaltung und Mentalität gerecht zu
werden.
Das Buch von Doris Pinkwart und Elisabeth Steiner ist
eine große Bereicherung für die vorhandene Fachlitera
tur, nicht zuletzt auch wegen seiner schönen Aufma
chung, der ausgezeichneten Reproduktionen und Bilder,
durch die die nomadische Realität äußerst lebendig wird,
auch für die Nichtkenner der türkischen Yürüken.
Ursula Reinhard
Zschoch, Barbara:
Deutsche Muslime: Biographische Erzählun
gen über die Konversion zum fundamentali
stischen Islam. (Kölner Ethnologische
Arbeitspapiere, Bd. 6).
Bonn: Holos Verlag, 1994. 80 Seiten.
Die Untersuchungsmethode, biographische - oder ge
nauer gesagt autobiographische - Erzählungen zu einem
bestimmten Thema zu analysieren, ist in den letzten Jah
ren in der Ethnologie immer mehr in Mode gekommen.
Die Arbeiten zeigen aber alle, daß es sich hierbei nur um
eine ethnologische Quelle zur Erfassung des jeweiligen
Themas handelt. Der Untersuchungscorpus muß durch
andere Quellen, seien dies Daten durch teilnehmende
Beobachtung, gezielte Interviews, Archivforschung oder
zumindest durch eine Kontextualisierung ergänzt werden.
Bleibt es bei der reinen Analyse der biographischen
Erzählungen, so befindet sich die Forschung erst in einem
Anfangsstadium. Dies trifft auf die vorliegende Studie
zu, die 1992 als Magisterarbeit an der Philosophischen
Fakultät der Universität Köln eingereicht wurde.
Basis waren 12 ein- bis dreistündige Interviews mit deut
schen Konvertiten zum fundamentalistischen Islam. Unter
»fundamentalistischem Islam« versteht B. Zschoch ganz