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Amborn; Von der Stadt zur sakralen Landschaft
von Individuen) ergeben (vgl. das Konzept von Giddens, der »Platz« durch »Schau
platz« ersetzt wissen will und darunter die »physische Umgebung zeitlich ablaufen
der Interaktionen von Individuen« versteht; 1985: 271-72). Die geschilderten Plätze
der Burji weisen jedenfalls eine überaus vielschichtige raumzeitliche Dimension
auf, die Handlungszeit und Handlungsort (für Versammlungen, Diskussionen,
Opferzeremonien, soziale Riten etc.) nicht nur auf das Hier und Heute beschränkt,
sondern auf einer zeitlichen Achse Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft als vir
tuelles Kontinuum errichtet, das auf einer räumlichen Achse sich fortwährend mit
einem gleichfalls virtuellen Raum durchdringt. Die spezifische zeitliche Tiefe eines
Platzes erwächst beispielsweise aus der ständigen Wiederholung eines dort stattfin
denden Geschehens entweder von einem bekannten Anfang an oder seit undenkli
chen Zeiten; aus dieser repetitio ad infinitum - denn selbstverständlich greift die
Wiederholung auch auf die Zukunft über - erwächst als Grundkonstituente Bedeu
tung - und bestätigt sich zugleich. Die zeitliche Dimension, die ihre räumliche
Komponente nie verleugnen kann (so auch umgekehrt), geht weitgehend verloren,
wenn die Wiederholung, aus welchen Gründen auch immer, unterbunden wird. Der
Multifunktionalität der Plätze ist es zu verdanken, daß eine solche temporale Unter
brechung u. U. auf eine Funktion beschränkt bleibt (wenn ein Platz etwa seinen Cha
rakter als Markt verliert, aber weiterhin als Opferstätte und Versammlungsort fun
giert).
Funktionen sind anders als Bedeutungen zunächst räumlich verankert, aber diese
räumliche Verankerung hat wie selbstverständlich ihren Ausgangspunkt in der Ver
gangenheit; ob diese mythischer Art ist, sozusagen in illo tempore, oder historisch
datierbar, spielt keine Rolle. Wichtig ist nur, daß einst ein Ereignis stattgefunden hat,
das als bedeutungstragend verstanden wurde und um das sich in raumzeitlicher
Kontextualisierung soziale (kulturelle, religiöse, symbolische etc.) Praxis organi
sierte, die aufgrund eben dieser Interaktion zur Wiederholung einlud.
Zeitliche Tiefe wird in ganz ähnlicher Weise auch über die Verbindung mit den
Ahnen hergestellt. Dies gilt vor allem für Opferplätze, jedoch auch für Friedhöfe,
und es gilt im Prinzip für alle Orte, an denen die Vorfahren ihre Spuren (Auslöser von
Erinnerungsakten) hinterlassen, d. h. handelnd in Raum und Zeit eingegriffen haben.
So gesehen erscheint der von Giddens verwendete Terminus locale, »Schauplatz«,
auch im Burji-Kontext als praktikabel.
Akephales Grundprinzip: Beziehungsgeflecht unterschiedlicher sozialer Ver
bände. Wenn eine akephale Gesellschaft mit ihren vielfältigen, labilen und sich
immer wieder neu definierenden Beziehungssystemen die Stadt als Siedlungsform
wählt, ist es dann nicht sinnvoll, wenn sie sich »Brenn- und Knotenpunkte« schafft,
auf denen die verschiedenen Ebenen ihrer Kultur dem gesellschaftlichen Diskurs
ausgesetzt sind?
Plätze in Burji sind demnach in erster Linie als Orte der Kommunikation zu verste
hen, die nicht nur verbal stattfindet, sondern auch durch Tanz, Performance, Zere
monien und der (An-)Teilnahme an diesen Ereignissen. Mit diesem Diskurs nimmt
das soziale, politische und religiöse Leben der Burji Gestalt an; im permanenten Dis
kurs werden auf den öffentlichen Plätzen flexible Handlungspraxen erzeugt, wobei
die Orte, an denen die Diskurse stattfinden, offensichtlich ihrerseits zum Ausdruck
akephaler Kultur werden. Die Plätze mit ihren vielfältigen Bedeutungen auf ver
schiedenen sozialen Organisationsebenen spiegeln Grundprinzipien der akephalen
Gesellschaftsstruktur und des Wertesystems der Burji wider.
Durch die Verwendung der Plätze in ihrer Funktion als Kommunikationszentren (im
weitesten Sinne) etc. werden auf der jeweiligen Organisationsebene die entspre
chenden Verbände bestätigt, durch die Verbindung mit den Ahnen durch religiöse
Zeremonien in ein größeres Ganzes gestellt und durch ihre Multifunktionalität in ein
synchrones Beziehungsgeflecht eingebunden. 88
Akephales Grundprinzip: Einheit in der Vielfalt. Diese strukturellen Beziehun
gen zeigen sich am gleichen Aufbau von Plätzen mit demselben Sinngehalt, die