Buchbesprechungen Allgemein
werden, die Bilder letztlich sogar ohne die dazugehörige
Erzählung kaum Beachtung finden. Folglich kommt es
bei der in der gängigen europäischen Kunstbetrachtung,
die gewöhnlich Kunst als „stumme Poesie“ aus sich selbst
heraus betrachtet, zu erheblichen Missverständnissen. Sie
fordert daher die (Kunst-)Ethnologen auf, sich vermehrt
im Erzählen von Geschichten zu üben.
Es folgen weitere Beiträge von Literaturwissenschaftlern
und Ethnologen, die ebenfalls mit dem ethnologischen
Blick ausgewählte Autoren und ihre Werke untersuchen.
Sibylle Benninghoff-Lühl unternimmt mit ihrem Essay
„Hier wittert’s nach der Hexenküche“ (S.257f) eine Lese
reise in den „Faust“ und die Zeit Goethes, ist fasziniert
von seinem andeutungsreichen Spiel mit Wörtern und in-
tertextuellen Anspielungen. José Ignacio Üzquiza hinge
gen stellt in seinem Aufsatz „Die Vermischung von
Anthropologie und Literatur“ (S.275f) den peruanischen
Schriftsteller und Ethnologen José Maria Arguedas vor
und versucht zu ergründen, warum Arguedas in dem
Vorhaben, mit seiner Poesie eine Kulturbegegnung zwi
schen dem Hispanischen und Indianischen zu erreichen,
gescheitert ist. Sylvia M. Schomburg-Sherff plädiert mit
ihrem Beitrag über „Ethnologie in fiktionaler Rhetorik -
Zur Grenzziehung zwischen Wissenschaft und Kunst“
(S.293f) genau für diese Auflösung und hat mit Paul K.
Feyerabend einen bestechenden Wortführer gefunden.
Sie bestätigt und unterstützt die „experimentelle Ethno
graphie“, die frühe Versuche von literarisch ambitionier
ten Ethnologen wieder neu entdeckt haben. Und zu
Recht weist sie auf frühe Ethnologen hin, die mit ihren
ausgezeichneten schriftstellerischen Fähigkeiten große
Wirkung erzielen konnten. Am Beispiel karibischer
Belletristik erinnert sie schließlich daran, dass auch die
Romanliteratur eines Landes für Ethnologen „Quelle des
Wissens“ (Paul Feyerabend) ganz eigener Art sein kann,
da sie unendlich vieldeutig ist und als „soziale Tatsache“
als Teil der Kultur zu betrachten ist.
Klaus Hoffers Beitrag „Die Nähe des Fremden“ (S.309f)
zeigt aus schriftstellerischer Perspektive, welche Inspi
rationsquelle ethnologische Fachliteratur sein kann. Für
seinen Roman „Bei den Bieresch“ hat er, wie er selbst be
schreibt, spielerisch Literatur über nordamerikanische
Indianer verarbeitet, indem er Potlach, Initiationsriten
und Minderheitenkonflikte in den Osten Österreichs ver
legte. Auch Heike Thote greift den Roman in ihrem
Artikel „Schmerzraum - Versuch über das Ethno-
poetische“ (S.319f) nochmals auf und vergleicht ihn mit
anderen Werken, die ebenfalls durch die Verdrehung eth
nologischer Theorien Wissenschaft ironisieren oder in
eine literarische Form bringen - sie nennt das „verschön
geistigen“. Im Gegensatz zu Ethnoromanen, in denen die
beschriebene Gesellschaft mehr oder weniger stark ver
zerrt und von außen betrachtet wird, benutze die Ethno-
poesie die Ethnologie als „Bastelmaterial“ und verlege
die ethnographische Realität nach innen, kreiere damit
kulturell bedeutsame Metaphern. „Ethnopoesie ver
mischt so Eigenerfahrung mit kultureller Erfahrung, was
eine Fremderfahrung ermöglicht.“ (S.327)
Insgesamt liegt dem Experiment „Zwischen Poesie und
Wissenschaft“ also ein schlüssiges Konzept zugrunde.
Nicht jeder Beitrag wird alle Leser gleichermaßen an
sprechen, aber nur selten wird er vom Erkenntnisgewinn
enttäuscht sein. Ara Ende der Lektüre dieser Versuchs
reihe stellen sich weitere Fragen an die schreibenden
Ethnologen: Welche Forschungsgegenstände sind es wert,
beschrieben zu werden und wie? Wen wollen wir mit un
seren Texten erreichen? Gibt es nicht einen Unterschied,
ob wir für Fachkollegen, Kollegen anderer (fachverwand
ter und fachfremder) Disziplinen oder für eine interes
sierte Öffentlichkeit schreiben? Wie sehen die Schreib
stile dann aus?
CHARLOTTE BRINKMANN
SIMON, ARTUR (HRSG.):
Das Berliner Phonogramm-Archiv 1900-2000 -
Sammlungen der traditionellen Musik der
Welt. The Berlin Phonogramm-Archiv 1900-
2000 - Collections of the Traditional Music of
the World. Zweisprachige Ausgabe. Berlin:
VWB - Verlag für Wissenschaft und Bildung /
Staatliche Museen zu Berlin - Preußischer
Kulturbesitz, 2000. 264 Seiten mit Färb- und
SW-Abbildungen.
ISBN 3-86135-680-5
Das Berliner Phonogramm-Archiv wurde im September
1900 Carl Stumpf gegründet mit den ersten Tonauf
nahmen einer thailändischen Musikgruppe. Diese Ton
aufnahmen fertigte Stumpf mit einem Edison-Phono-
graphen an, dem Aufnahmemedium reisender
Ethnologen und Musikethnologen bis in die 1930er Jahre
hinein. Die Methode der Aufnahmen auf Wachszylinder,
wie sie beim Edison-Phonographen zur Anwendung
kommt, stellte eine verlässliche, robuste und auch von
Laien handhabbare Technik dar, die zudem nicht sehr ko
stenintensiv war. Dies ermöglichte das intensive Sammeln
von Klangdokumenten traditioneller Musik und machte
Berlin innerhalb weniger Jahre zu einem bedeutenden
Zentrum der Vergleichenden Musikwissenschaft. Erich
Moritz von Hornbostel übernahm von 1905 - 1933 die
Leitung des Phonogramm-Archivs und machte es mit ei
ner Anzahl von über 15.000 Walzen zu einer der größten
Sammlungen der Vergleichenden Musikwissenschaft.
Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde das Archiv als
Kriegsbeute verschleppt, und es begann eine neue Ära
der Tonbandsammlungen, die eingeleitet von Kurt
Reinhard, später von Dieter Christensen weitergeführt
wurden. 1972 übernahm Artur Simon das Archiv, unter
dessen Leitung vergrößerte es sich stetig. Von den ca.
15.000 Walzen wuchs es bis zum Jahr 2000 auf insgesamt
150.000 Aufnahmen unterschiedlichster Medien an.
Seit seinen Anfängen durchlief das Phonogramm-Archiv
eine wechselvolle Geschichte. Vom Psychologischen
Institut der Berliner Universität wurde es 1922 vom Staat
übernommen und von der Hochschule für Musik verwal
tet (1922 - 1933). Danach wurde es vom Museum für
Völkerkunde übernommen (1934 - 1948), anschließend
vom Musikwissenschaftlichen Institut der Freien Uni
versität (1948 - 1952), und seit dem 31. März 1952 gehört
es wieder zum Museum für Völkerkunde. Seit 1999 wird
es wegen seiner einmaligen Schätze im „Memory of the
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