Buchbesprechungen Allgemein
Sekundärliteratur und vielleicht auch auf persönliche
Mitteilungen stützt, wie es zum Beispiel aus seinen Äuße
rungen zum Bärenkult im Paläolithikum ersichtlich wird.
Er ordnet sich hier kritiklos in die Reihe derjenigen ein,
die beispielsweise Bächlers minuziöse Tagebuchauf
zeichnungen aus verschiedenen, nicht immer nur wissen
schaftlichen Gründen ablehnten (wahrscheinlich hat er
von deren Existenz gar keine Kenntnis). Die Diskussion
um paläolithische Bärenkulte (in jüngeren Zeitab
schnitten der Menschheitsgeschichte sind sie sowieso ein
deutig nachgewiesen) ist noch längst nicht abgeschlossen,
wie auch die jüngsten Hinweise von Martina Pacher zei
gen. Des Weiteren widmet sich der Autor in diesem
Kapitel der Forschungsgeschichte rund um Neandertaler
und ihre Vorläufer sowie deren Spätformen, wobei er die
Funde von Swanscombe und Steinheim ebenso erwähnt
wie diejenigen von Zhoukoudian und Ngandong. Mehr
Aufmerksamkeit wird den Funden in Israel zuteil. Leider
nennt Tattersall bei seinen forschungsgeschichtlichen Be
trachtungen nur selten die Namen der jeweiligen Archäo
logen und Paläontologen, abgesehen diejenigen aus den
USA und England sowie einige weltbekannte Forscher
der Vergangenheit, so dass der Übersetzer ständig mit
dem Wort „man“ (fand, untersuchte, folgerte usw.) arbei
ten musste.
Das sechste Kapitel mit dem Titel „Die Welt der Nean
dertaler“ wird mit einer Beschreibung der Eiszeiten und
der Gründe ihrer Entstehung eröffnet. Zu Beginn (120)
stolpert der Leser über die Gleichsetzung des Jung
pleistozäns mit dem „Eiszeitalter“ (gemeint ist das
Würm- bzw. Weichselglazial, zusammen mit dem ihm vor
angegangenen Eem bzw. Riß/Würm-Interglazial). Ähnli
che Ungenauigkeiten lassen sich auch an anderen Stellen
des Buches feststellen. Im darauf folgenden Abschnitt
dieses Kapitels werden die verschiedenen Klimate mit
ihren wechselnden Flora- und Faunazonen während des
Jungpleistozäns erläutert. Mit einem Blick auf die wahr
scheinlich bevorzugten Beutetiere im Mousterien endet
dieses Kapitel, das zweckmäßigerweise den Titel „Die
Umwelt der Neandertaler“ erhalten hätte. Seite 129 ist
vakat, wie auch Seite 6. Im siebten Kapitel „Evolution der
Neandertaler“ kommt Tattersall noch einmal - wenn
auch ausführlicher - auf das zurück, was bereits im vier
ten Kapitel „Vor den Neandertalern“ besprochen worden
war. Seine Ausführungen zeigen, dass die menschlichen
Abstammungslinien in Europa und teilweise Klein-
asien/Nordafrika noch höchst unsicher sind. Ich bin der
Meinung, dass stärker unterschieden werden muss. Für
Europa ergäbe sich dann; Ausgangspunkt: Homo heidel-
bergensis. Entwicklung in Richtung „vorläufiger Sapiens-
Endpunkt“ mit Steinheim/Swanscombe (gleich, ob dieser
Formenkreis „Präsapiens“ oder „Präneandertaler“ ge
nannt wird). Daneben ein entwickelter Heidelberger
(Atapuerca). Aufgrund ihrer weitgehenden Speziali
sierung können sich die „Präsapiens“-Formen während
der gravierenden klimatischen Änderungen im Riß-
Glazial nicht durchsetzen; sie scheiden aus der Ent
wicklungslinie zum Sapiens aus. Der ihnen gegenüber ro
bustere, weiter südlich lebende, weniger spezialisierte,
entwickeltere Heidelberger wandelt sich im Laufe der
nächsten ein bis zwei Jahrhunderttausende zu neanderta-
loiden Formen (zum Beispiel Ehringsdorf), die dann
während eines weiteren Jahrhunderttausends vor allem
im Riß bis ins Würm ihre Gestalt als „.klassische“
Neandertaler erhalten. Der postcraniale Körperbau die
ser Neandertaler wurde dabei im Laufe der klimatischen
Verschlechterungen stärker und gröber (als Gegensatz
hierzu können die Neandertaler in der nahöstlichen
Levante mit günstigeren klimatischen Verhältnissen
während der fraglichen Zeit angesehen werden). Der
Formenkreis Steinheim/Swanscombe war ein Versuch der
Natur in Richtung Sapiens, der letztlich scheiterte, im kli
matisch günstigen Südafrika jedoch Erfolg hatte. Dass es
dann noch 100.000 Jahre bedurfte, bis dieser Sapiens nach
Europa gelangte, liegt in der Natur der Sache. Übrigens:
Der Hinweis Tattersalls auf die Diskussion einer „Ver
gesellschaftung des Steinheimer Schädels mit ziemlich
einfachen Geröllgeräten“ (134) ist längst Geschichte.
Eine solche Verbindung wurde schon vor Jahrzehnten mit
guten Gründen zurückgewiesen (so Adam 1982 mit
Literaturangaben sowie an anderen Stellen).
Im achten Kapitel liefert der Verfasser einen Deutungs
versuch zur „Lebensweise der Neandertaler“. Dabei stellt
er vor allem auf die geänderten Anschauungen der
Archäologen zum Daseinskampf der Neandertaler ab. Er
stützt sich, wie in anderem Zusammenhang bereits ange
führt, vornehmlich auf englischsprachige Autoren. Die
naturgemäß nichtenglischsprachigen Forschungsergeb
nisse von Wissenschaftlern aus den Ländern, in denen die
Existenz von Neandertalern vielfach nachgewiesen wur
de, konnte er nicht so heranziehen, wie das umgekehrt -
da Englisch Weltsprache ist - der Fall ist. Unverständ
licherweise hat er dennoch die umfangreichen For
schungsergebnisse über Neandertalerstationen in Ost
europa sowie im Irak nicht in seine Überlegungen
einbezogen, obwohl hier - zumindest über das letztge
nannte Land sowie über Tschechien - detaillierte Unter
suchungen in englischer Sprache vorliegen. Stattdessen
kommt er im vorliegenden Kapitel schnell auf Lewis
Binford, den er „einen der geistreichsten Köpfe der
Archäologie“ nennt (151), und dessen Gedankengänge
auf der Grundlage rezenter Jäger/Sammler zu sprechen.
Zuzustimmen ist dem Autor, dass wir uns bei allen
Vermutungen und (oft weit hergeholten, komplizierten)
Beweisketten immer vor Augen führen müssen, dass der
Neandertaler eine von uns verschiedene Spezies war.
Wahr ist andererseits jedoch auch, dass sich menschliche
Verhaltensweisen gleichen, seitdem der Mensch zum
Menschen wurde (wenn selbst bei unseren tierischen
Verwandten uns ähnelndes Verhalten festgestellt werden
kann!). Bedenkt der Leser, dass in allen Abschnitten die
ses Kapitels (zu „Ökonomie“, „Technologie“, „Symbolis
mus“, „Bestattungsnachweise“ und „Konnten Neander
taler sprechen?“) kein einziges Mal das Wort „Kultur“
fällt, so stellt sich bei ihm der Wunsch ein, Tattersall möge
bei einer möglichen zweiten Auflage besonders dieses
Kapitel einer kritischen Überarbeitung unterwerfen. Auf
den letztgenannten Abschnitt über das Sprachvermögen
der Neandertaler sei noch kurz eingegangen. Der Autor
gesteht den Neandertalern „ein ausgefeiltes Kommuni
kationssystem mit Lauten, Gesten oder dergleichen“ zu
(170), erläutert dann kurz verschiedene (anatomische)
Forschungsansätze der jüngeren Vergangenheit zum
Thema Sprechvermögen der Neandertaler und kommt zu
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