Buchbesprechungen Allgemein
193
OLDENDORP, CHRISTIAN GEORG
ANDREAS:
Historie der caribischen Inseln Sanct Thomas,
Sanct Crux und Sanct Jan, insbesondere der
dasigen Neger und der Mission der evangeli
schen Brüder unter denselben. Erster Teil:
Kommentierte Ausgabe des vollständigen
Manuskripts aus dem Archiv der Evange
lischen Brüder-Unität Herrnhut. Band I der
Gesamtausgabe. Editiert von Gudrun Meier,
Stephan Palmie, Peter Stein und Horst
Ulbricht. (Abhandlungen und Berichte des
Staatlichen Museums für Völkerkunde
Dresden, Bd. 51, Monographien 9,1). Berlin:
Verlag für Wissenschaft und Bildung, 2000. 808
Seiten, 14 Farbtafeln, 24 Schwarzweißtafeln.
ISBN 3-86135-099-8, ISSN 0070-7295.
Den Ort Herrnhut in Sachsen gründeten Mährische
Exulanten auf der Kuhweide des Grafen Zinzendorf, also
auf des „Herrn Hut“, im Jahre 1722, die (Erneuerte)
Brüdergemeine entstand 1727. „Es war eine entscheiden
de Stunde in der Geschichte der evangelischen Mission,
als in den Morgenstunden des 21. August 1732 die beiden
ersten Heidenboten der Brüdergemeine, vom Grafen
Zinzendorf selbst geleitet, ihre Pilgerfahrt nach dem fer
nen Westindien antraten.“ (Müller, Karl. 200 Jahre
Brüdermission. Bd. 1, Herrnhut 1931, S. 3). Im Jahre 1764
beschloss die Generalsynode der Brüder-Unität, ein zen
trales Unitätsarchiv zu gründen und die Geschichte ihrer
Missionstätigkeit zu schreiben. Drei große Missionsge
schichten sollten verfasst werden: über Grönland (David
Cranz), über die Indianer Nordamerikas (Georg Heinrich
Loskiel) und über die dänischen Jungferninseln (Ch. G.
A. Oldendorp). Wie damals üblich, befragte Oldendorp
(1721 bis 1787) das Los, ob er den Auftrag annehmen sol
le. Das JA bedeutete für Oldendorp die Erlaubnis Gottes
zu dem Vorhaben. Auch der Bischof der Brüdergemeine
(seit 1737), der Reichsgraf Nikolaus Ludwig v. Zinzendorf
(1700 bis 1760), unterstützte das Vorhaben, das seine Idee
gewesen war. Er war mit der Königin von Dänemark ver
wandt und unterhielt deshalb Beziehungen zum dortigen
Hofe, die nicht immer problemlos verliefen (vgl. Bötler,
Jörgen. Zinzendorf und Dänemark, S. 74-81. Aus;
Unitätsarchiv in Herrnhut. Graf ohne Grenzen. Verlag
der Comenius-Buchhandlung Herrnhut, 2000).
Etwa 10 Jahre arbeitete Oldendorp an der Niederschrift -
um nach der Fertigstellung des Werkes erleben zu müs
sen, dass mit der Herausgabe ein Anderer beauftragt wur
de: der Theologe und Archivar Johann Jakob Bossart aus
Barby. Dieser kürzte das angeblich zu umfangreiche
Werk erheblich, besonders was die „Einleitung“ zur
Missionsgeschichte betraf, die nunmehr erstmals nach 223
Jahren in voller Länge vorliegt. Warum die Kürzungen,
die Oldendorp erst nach dem Erscheinen 1777 bekannt
wurden? Müller (op. cit. S. 342) zitiert eine Äußerung
Zinzendorfs, wonach dieser befürchtete, dass seine
Missionare „mit großen Büchern statt mit Seelen“ heim
kommen. Wer das Buch gelesen hat, kann sich als Grund
der Überarbeitung des Eindrucks nicht erwehren, dass
die allzu realistische Schilderung des Sklavenhandels und
der Behandlung der Sklaven der Absicht der Schrift für
abträglich gehalten wurde, einflussreiche Förderer zu
werben.
Der Pfarrer Oldendorp galt als gediegener Historiker; mit
gleicher Berechtigung könnte man ihn auch einen
„Ethnologen“ oder „Soziologen“ nennen, wenn es diese
Wissenschaften zu seiner Zeit schon gegeben hätte. Denn
seine Informationen gewann er zum großen Teil durch
das Befragen der weißen („blanken“) und farbigen Be
wohner der damals von Dänemark okkupierten Inseln (in
heutiger Schreibweise) Saint Thomas, Saint Croix und
Saint John, wo sich Oldendorp vom 22. 5. 1767 bis 23. 10.
1768 aufhielt. Daneben wertete er auch zeitgenössische
Literatur aus, die durch Fußnoten nachgewiesen wird.
Der Rezensent kann nur voller Bewunderung staunen,
wie der Verfasser die Übersicht über das äußerst umfang
reiche Material behielt. Offenbar bediente er sich dazu ei
nes detaillierten Themenkatalogs, der dann den einzelnen
Teilen („Büchern“) des Werkes als Überblick vorange
stellt wurde. Diese Inhaltsverzeichnisse können dem
Leser heute noch als Orientierung dienen, zumal ein
Sachregister („Glossar“) erst in Band II der Gesamtaus
gabe folgen wird. Die Verweise Oldendorps auf Seiten
zahlen beziehen sich leider nicht auf die aktuelle Ver
öffentlichung, sondern auf das Original-Manuskript; dies
bedeutet mühsames Suchen. Das Werk lässt sich heute
noch mit Interesse, stellenweise sogar mit Spannung le
sen, beispielsweise wenn er Menschenschicksale schildert,
die er erkundet hatte.
Das „erste Buch“ behandelt hinsichtlich der im Titel ge
nannten Inseln „ihre Lage; Größe, Entdeckung, Ein
nahme und Besetzung; von dem Meer, das sie umgibt,
ihren Keyen, Bayen, Häfen, Städten und Einteilungen
nebst ihrem Flächenraum und den Reisen sowohl zu ih
nen als von ihnen nach anderen Ländern“. Das „zweite
Buch“ hat zum Gegenstand: „Von dem Clima dieser In
seln, ihren natürlichen Begebenheiten, ihrem Erdreich
und den Producten des animalischen, vegetabilischen und
Stein-Reichs.“
Das „dritte und vierte Buch“ beinhalten heute für uns ei
nen wertvollen Beitrag zur historischen Völkerkunde, wie
man ihn sich aussagekräftiger und dabei unaufdringlich
nicht vorstellen könnte. Das „dritte Buch“ trägt die Über
schrift: „Von den Blanken oder weißen Einwohnern die
ser Inseln und den verschiedenen Nationen der
Schwarzen oder Neger in Guinea, aus denen sie Sklaven
bekommen“ und gliedert sich in zwei Abschnitte: „Von
der Verschiedenheit, Beschaffenheit, Nahrung und Ein
richtung der Blanken“, d. h. Weißen, sowie „Von den ver
schiedenen Nationen der Schwarzen, ihrem Vaterland
Guinea, ihrer dortigen Religion und anderen Ge
bräuchen, wie auch von ihren Sprachen“.
Das vierte Buch „Von den auf den Inseln wohnenden
Schwarzen, sowohl den Sklaven als den Freien“ gliedert
sich in drei Abschnitte und 120 Paragraphen. Oldendorp
schildert hier ausführlich den Sklavenhandel in West
afrika und das Martyrium der Geraubten während der
Überfahrt nach Amerika. Er geht auch auf deren unge
brochenen Freiheitsdrang ein, der u.a. in Selbstmorden
und Empörungen zum Ausdruck kam. Wir erfahren dann
von den Wohnungen, der Kleidung und der grausamen
Behandlung der Sklaven auf den Zuckerrohrplantagen.