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kratisch". Von der Verquickung wirtschaftlicher und religiöser Fragen sieht
die christliche Gewerkschaftsbewegung ab, besonders warnt die oben er
wähnte Schrift vor der Spaltung in konfessionelle Organisationen. Die
christlichen Gewerkschaften stehen, wie die Hirsch-Dunckerschen Gewerkvereine,
auf dem Boden der heutigen Gesellschaftsform, die sie als „von Gott ein
gesetzte natürliche sittliche und rechtliche Ordnung" hinstellen. Auch den
sogenannten Harmoniestandpunkt teilen die christlichen Gewerkschaften mit
den Hirsch-Dunckerschen Gewerkvereinen. Trotzdem kommen sie in manchen
Punkten den „freien Gewerkschaften" viel näher, als den Hirsch-Duncker
schen Gewerkvereinen, so in der Art ihrer Organisation und den stärkeren
Lohnbewegungen. Einzelne Mitarbeiter der christlichen Gewerkschaften stellen es direkt
als erstrebenswertes Ziel hin, daß die Trennung in freie und christliche
Gewerkschaften aufhört. Sie meinen, die Trennung wäre nicht nötig ge
wesen, wenn die Gewerkschaften sich auf ihre wirtschaftlichen Aufgaben
beschränkten, nicht durch antichristliche Reden und Artikel die Gefühle der
christlichen Arbeiterschaft kränkten, sondern ihre politische und religiöse
Neutralität auch wirklich voll bewahrten?) So sehr auch die durch Grün
dung der christlichen Gewerkschaften herbeigeführte Zersplitterung zu be
klagen ist, so sollten, meines Erachtens, die Leiter der freien Gewerkschaften
diesen Gedanken ernste Beachtung schenken. Tatsächlich steckt in der Arbeiter
schaft, besonders in dem weiblichen Teil, ein Zug, der im alten beharren
möchte. Viele werden von den Gewerkschaften nur zurückgestoßen, wenn
zu energische Umsturzideen dort gepredigt werden, und wo in einem mensch
lichen Herzen noch der feste Glaube wurzelt, sollte nicht darüber gespottet,
sondern diesem Glauben dieselbe Achtung wie für andere Weltanschauungen
gezollt werden.
Vergleichen wir die Tendenzen der drei Gruppen, so sind die Haupt
unterschiede: 1. der Harmoniestandpunkt, den die freien Gewerkschaften
nicht einnehmen, 2. die Hirsch-Dunckerschen Gewerkvereine und die christ
lichen Gewerkschaften respektieren die heutige Gesellschaftsform, die Gewerk
schaften sehen sie als etwas an, das „überwunden werden muß".
Bei der Beurteilung des ersten Punktes kann man, wie die Dinge
jetzt noch liegen, nur den freien Gewerkschaften zustimmen. Selbstver
ständlich ist 'die gute Entwicklung der Industrie von gleichem Wert für
Arbeitgeber wie Arbeitnehmer. Aber die Arbeitgeber wollen möglichst
hohe Profite gewinnen, die Bestrebungen einer kräftigen Organisation
(Verkürzung der Arbeitszeit, höherer Lohn usw.) gehen jedoch darauf aus,
die Lage des Arbeitnehmers zu verbessern, zielen also indirekt dahm, diese
Profite zu schmälern.
Was nun den zweiten grundsätzlichen Unterschied, die Anerkennung,
resp. Nichtanerkennung der heutigen Gesellschaftsordnung betrifft, so braucht
man nicht an den sozialistischen Zukunstsstaat zu glauben und kann doch
der Meinung sein, daß unsere heutige Gesellschaftsform nicht die beste
aller Welten darstellt. Wir halten die heutige Gesellschaftsordnung durch
aus nicht für eine von Gott eingesetzte natürliche Ordnung, sondern nur
für eine äußere Form, die sich ändern und entwickeln wird.
8) Bergl.: Die christlichen Gewerkvereine, S. 39.