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Traufe und Flur grenze
begleiten einen, bis man die Grenze erreicht (ebd. 624). Von der
Grenze her weht ein Geisterwind (ebd. 344), und als der Teufel eine
Braut entführte, verschwand sie an der Grenze (ebd. 19). An diese
Gruppe schließt sich nun noch eine Sondergruppe an: ein spukhafter
Heuwagen fährt bis „knapp vor das Dorf“ (ebd. 272); ein spukhaftes
Kalb oder ein Hund (ebd. 345), ein Schwarzer Hund (ebd. 561), die
Wilde Jagd (ebd. 317 Anm. 5) kommen bis zu den Dorf zäunen oder
zu den Gartenzäunen hinterm Dorf (ebd. 289). Hier scheint es sich
um ein Zwischenglied zwischen dem Dachtraufen- und Flurgrenzen
zug zu handeln, denn das Voigtland zeigt ja jenen Typus der Stra
ßendörfer, bei dem die hinter der enggestellten Häuserzeile gelege
nen Gärten sich gleichtief ins Feld erstrecken und durch Hecken
zäune von dem zwischen dem Dorfe und den Feldern hinlaufenden
Wege abgeschieden sind.
Das bisherige Ergebnis zusammenfassend aber wird man sagen dür
fen, daß in der zwischen einer westlichen und einer östlicher ge
legenen mittleren Zone Traufen- und Flurgrenzen sich etwa im Ver
hältnis 1 : 1 gegenüberstehen, wobei von Westen nach Osten eine
Zunahme des Flurgrenzenzuges zu bemerken ist.
Ich sagte, der Schluß, es handle sich bei dem Dachtraufen- und Flur
grenzenzuge um eine Aussage, hinter der einmal das Haus und ein
diesem entsprechender Rechtsgedanke, ein andermal die Sippe und
ihr Friedensraum stehe, erhält durch die eben auf gewiesene geogra
phische Lagerung der Sagen anscheinend eine Bekräftigung. Daß das
Haus, um mit einem Wort auf die zeitliche Lagerung des Problems
hinzuweisen, eine Freiung, ein Rechts- und Friedensgebiet darstelle,
wird uns durch Zeugnisse der Volksrechte als im ersten nachchrist
lichen Jahrtausend gültig bewiesen. Die Sippe als Rechts- und Frie
denselement scheint zeitlich schwieriger zu fixieren. Eine Anzahl von
Siedlungsforschern, unter ihnen zuletzt Helbok, ließen, wie bereits
bemerkt, die westoberdeutsche Landnahme sippenweise geschehen;
Homberg hat dagegen eingewendet, daß sippenhafte Siedlungen
erst in der Merowinger- und Karolingerzeit urkundlich sichtbar
würden; wäre schon die Landnahme sippenweise geschehen, dann
müßte im 8. Jahrhundert, in der neunten oder zehnten Generation,
der Aufbau längst zerwachsen sein. Wie dem nun auch immer sei.
ein Blick auf die Saga-Literatur und die nordischen Volksrechte läßt
erkennen, daß eine sippenmäßige Aufgliederung des Volkes noch
nach der Jahrtausend wende eine Wirklichkeit gewesen ist. Damit
aber wäre die Möglichkeit, daß die Sagen des vorderen, westlichen
Kolonisationsraumes eine Ordnung widerspiegelten, in welcher
sippenmäßiges Denken wirksam war, gegeben.
Dazu käme schließlich noch ein zweites. Das ostdeutsche Dorf ist, im
Gegensatz zu dem „gewachsenen“ westdeutschen, aus einem ein
maligen Akt hervorgegangen; die sämtlichen Bauern werden an
einem Tage oder innerhalb eines kurzen Zeitraumes angesetzt. Das