An den Leser.
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Mechanismus des Bewusstseins, war in unserem Jahrhundert nicht beliebt:
den Romantikern und Mystikern war sie abstossend; den Materialisten war
sie ein metaphysisches Überlebsei; selbst den Freunden der Psychologie
aber schien die Völkerpsychologie der falschen Vorstellung einer Volks¬
seele Vorschub zu leisten; und endlich hatte sie gar zu innige Freunde,
welche sie darum für überflüssig erklärten, weil sie längst vorhanden sei
und ihren Fortgang schon nehmen werde. Sie alle — ob sie uns gelesen
und unsere Äusserungen geprüft haben? Gleichviel. Am ungeberdigsten
hatten sich die letztgenannten Freunde gezeigt (Haupt, Scherer u. a.).
Ich bemerke hier nur kurz: die Geschichtsforschung erweckt das
Bedürfnis nach der Historik, die Interpretation und Kritik nach der Her¬
meneutik und der Theorie der Kritik, und niemals kann das eine das
andere ersetzen. Durch das Studium eines Lehrbuches der Historik oder
der Hermeneutik ist freilich noch niemand ein grosser Historiker oder
Philologe geworden; aber jenes Studium bleibt darum doch, neben der
Betrachtung vortrefflicher Musterleistungen der Meister, dem Anfänger sehr
nützlich, ja unentbehrlich. — Aber auch wenn das nicht wäre: so ist doch,
sollte ich meinen, eine Beobachtung der Maximen, welche unsere grossen
Historiker und Philologen geleitet haben, und, noch tiefer gehend, eine
Erforschung der Gesetze alles geistigen Geschehens, auf welche jene
Maximen sich gründen, eine für sich bestehende und höchst anziehende
Disziplin.
Mit dem Namen Völkerpsychologie wollten wir nicht den Ruhm einer
Erfindung oder auch nur einer Entdeckung erwerben, sondern nur auf
ein erst wenig und planlos bebautes Gebiet hinweisen, das uns von weitem
Umfange und, weil höchst fruchtbar, zur Kolonisation dringend empfehlens¬
wert schien. Wir haben die Hinweisungen bei W. von Humboldt, beim
Geographen Carl Ritter u. s. w. emsig aufgesucht, und zu den damals
aufgeführten Namen hätten wir heute nicht wenige neue hinzuzufügen; wir
waren bemüht, zu zeigen, dass wir nichts Neues, nichts Unerhörtes wollten.
Um in die Völkerpsychologie einzuführen, nahmen wir drei Ausgangs¬
punkte ein.
Zuerst die Psychologie im üblichen Sinne. Vor einem Menschen-
alter und darüber zurück konnte man meinen, die Psychologie sei eine
philosophische Disziplin, und folglich gebe es soviel Psychologien als philo¬
sophische Systeme, und so gebe es denn auch eine Herb art sehe wie eine
Hegeische u. s. w. Ich setze voraus, dass heute kein Leser mehr in
diesem Irrtum befangen ist. Die Psychologie ist eine empirische Disziplin,
nach Charakter und Prinzip so empirisch wie Physik und Physiologie.
Dies prinzipiell festgestellt zu haben, ist das unvergängliche Verdienst
Herbarts, das dadurch nicht verkümmert wird, dass er selbst seine
Psychologie auf Metaphysik gegründet glaubte, und selbst sein missglückter
Versuch, für die Bearbeitung derselben auch die Arithmetik zu Hilfe zu