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Schwartz :
leben, dem er seiner Bildung nach selbst angehört, und den beschränkten
oder formlosen, ja oft in roher Natürlichkeit ihn zunächst oft unangenehm
berührenden Lebensformen der seitab lebenden Massen. Und dennoch
liegt in dem richtigen Erfassen des Kerns jener der Schwerpunkt der
Sache und überhaupt die Möglichkeit einer wissenschaftlichen Behandlung
des Volkstums.
Denn das Volkstum ist nicht bloss ein lebendiges, stets sich erneuendes •
Reservoir der Lebenskraft einer jeden Nation, sondern auch das Prototyp
und die Grundlage ihres ganzen Denkens und Empfindens, wie es auf den
Höhen der Kultur und der Bildung zum vollen Ausdruck gelangt und der
Nation ihren weltgeschichtlichen Charakter verleiht. Und wenn hiernach
die Volkskunde schon zu einem Objekt der historischen Wissen¬
schaft wird, so weitet sich, als selbständige Wissenschaft gefasst, die
vergleichende Volkskunde zu einer Völkerpsychologie, welche im
Leben der Völker das allgemein Menschliche in seinen mannichfachen
Gebilden und Phasen verfolgt, in denen es historisch in die Erscheinung
getreten ist oder noch lebendig sich gelegentlich im einzelnen vor unseren
Augen bekundet.
Die Vergleichung der verschiedenen Volkstypen eröffnet aber nicht
bloss weitere Perspektiven, sondern bringt auch meist erst die einzelnen
Fakta in ihre richtige Stellung und lehrt ihren natürlichen Ursprung,
sowie ihre Weiterentwicklung richtig fassen.
Die Blutrache erscheint z. B. bei einem Volke vom Standpunkt der
heutigen Gerechtigkeitspflege civilisierter Völker aus zunächst als eine rohe
und grause Sitte. Die vergleichende, in die Anthropologie auslaufende
Volkskunde knüpft aber bei Betrachtung derselben an Analogien, besonders
innerhalb der ersten Gestaltungen menschlichen Lebens in Familie, Ver¬
wandschaft und Stamm an und lehrt uns, dass für diese Zeit die Blutrache
ein Fortschritt und der erste Schritt auf dem Gebiet einer natürlich sich
entwickelnden Gerechtigkeitspflege war, indem nach ihr ein Totschlag
nicht mehr straflos blieb, sondern die Familie, bezw. der Stamm, den Mord
eines der Ihrigen zu rächen als eine natürliche Aufgabe oder Pflicht ansah.
Wenn dann weitere Phasen zeigen, wie in fortschreitender Entwicklung
des Lebens zu mehr staatlichen Zuständen mit der Zeit der Träger der
Rache, bezw. die Form der Verfolgung, wechselte und sich dabei allmählich
im Anschluss an ethisch-religiöse Empfindungen das Gefühl einer sühnen¬
den Gerechtigkeit in der Welt in den Gemütern anbaute, und aus dem
rohen Wiedervergeltungsakt so ein „gerichtliches" Verfahren wurde, so
stellt die Anthropologie damit fest, wie aus einem rein naturalistischen
Zustande durch eine Kette von Entwicklungsstufen sich allmählich ideellere
Formen und Grundsätze gebildet haben.
Dass aber jener das Ursprüngliche gewesen, findet seine Bestätigung
darin, dass selbst unter civilisierten Verhältnissen noch immer gelegent-