Kurt Hassert: Der Fuciner See einst und jetzt.
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Umwohner anstellen liefs. Er wollte durch Reinigung
der gänzlich verstopften Sauglöcher den Fluten einen
Ausweg verschaffen; aber der See hatte einen so hohen
Stand erreicht, dafs man nicht bis zu den Ponoren ge
langen konnte. Die Entwässerungsarbeiten, die zu Be
ginn des 17. Jahrhunderts durch den Fürsten Lorenzo
Colonna mit Unterstützung der beteiligten Gemeinden
aufgenommen wurden, mufsten wegen Geldmangels wieder
aufgegeben werden. Seitdem hielt man die Bezwingung
des Fucino für ein übermenschliches Unternehmen, ja
der Claudische Emissär lief Gefahr, gänzlich in Ver
gessenheit zu geraten, und 200 Jahre hindurch geschah
nichts, um seinen Verheerungen entgegenzutreten.
Als der See seit 1780 wiederum in verhängnisvoller
Weise anwuchs, liefs König Ferdinand IV. (später Fer
dinand I.) durch den Ingenieur Ignazio Stile und den
Abbate Giuseppe Lolli einen Plan entwerfen, der auf
eine Reinigung und Neueröffnung des verschütteten und
verfallenen Emissärs abzielte. Trotz der beträchtlichen
Kosten, die schon die Vorarbeiten verursachten , wurde
der Bau 1790 in Angriff genommen und zwei Jahre
lang fortgesetzt, bis er infolge der politischen Wirren
der napoleonisclien Zeit ins Stocken geriet und nach
langjährigen unfruchtbaren theoretischen Streitigkeiten
erst unter Ferdinands Nachfolger weitergeführt ward.
Der tüchtige Ingenieur Afan de Rivera schlug einen
ganz neuen Weg ein, indem er den Tunnel erst voll
ständig trocken legen und dann von Grund auf neu
ausbauen wollte. Die Arbeiten fielen zufällig in eine
Periode beständigen Rückganges des Sees und konnten
deshalb rüstig gefördert werden. Alle Reisenden, die
um jene Zeit den Fucino besuchten, schildern mit be
redten Worten die rege Thätigkeit, die von 1825 bis
1835 ununterbrochen auhielt und eine vollständige Aus
räumung des gänzlich verschütteten Emissärs zur Folge
hatte. Noch aber galt es, umfassende Vorkehrungen zu
treffen, um den Kanal gegen die Gewalt des einströmen
den Wassers zu sichern, und Afan de Rivera machte in
seinem oft erwähnten, gründlichen Buche eine Reihe
beherzigenswerter Vorschläge. Da starb er, bevor sein
Werk ganz vollendet war. Nach seinem Tode erlahmte
das rege Hasten und Treiben oder hörte zeitweilig ganz
auf, zumal auch der König die Lust an dem kost
spieligen Unternehmen verlor und seine Weiterführung
der Privatinitiative iiberliefs; und ein neues Anschwellen
des Sees vernichtete mit einemmale alle bisher gemachten
Fortschritte. Da sich die Holzverschalungen der Kanal
wände und die aufgehäuften Baumaterialien im Tunnel
festsetzten und ihn fast verstopften, so wurden die Über
schwemmungen des Sees ärger als zuvor und hatten
1851 einen solchen Grad erlangt, dafs die verzweifelnden
Bewohner ihren vollständigen Ruin vor Augen sahen.
Diesmal mufste auf jeden Fall geholfen werden, und es
ward geholfen. Um die Staatskasse zu schonen, veran-
lafste König Ferdinand II. die Bildung einer Aktien
gesellschaft, die gegen Überweisung des neugewonnenen
Landes den Lago Fucino aus Privatmitteln trocken
legen sollte. Die neugegründete Gesellschaft stiefs aber
auf ungeahnte Schwierigkeiten, namentlich seitens der
neapolitanischen Beamten, und konnte die erforderliche
Summe nicht aufbringen. Da entschlofs sich ein hoch
herziger römischer Millionär, der Banquier I ürst
Alexander Torlonia, den unwürdigen Zuständen ein Ende
zu machen. Bereits an der Hälfte des Gesellschafts
kapitals beteiligt, während englische Kapitalisten die
andere Hälfte auf bringen wollten, mit ihren borde-
rungen aber abgewiesen wurden, kaufte er sämtliche
Aktien auf und machte sich anheischig, die Bezwingung
des ungebändigten Sees ganz und gar auf eigene Kosten |
und Gefahr zu übernehmen unter der Bedingung, den
trockengelegten Boden als Eigentum zu erhalten ]7 ).
Noch in demselben Jahre, in dem sich Fürst Torlonia
zur Verwirklichung des kühnen Unternehmens bereit
erklärt hatte, 1854 (also 1800 Jahre nach Fertigstellung
des Claudischen Emissärs), begannen die Arbeiten unter
der Leitung des rühmlichst bekannten französischen
Ingenieurs F. M. de Montricher, des Erbauers des die
Durance mit Marseille verbindenden Kanals. Als er
schon vier Jahre später im Alter von kaum 48 Jahren
starb, folgte ihm sein minder ausgezeichneter Stellver
treter Bermont, und nach dessen Tode (1872) führte
der ebenfalls seit langem am Fucino beschäftigte Inge
nieur A. Brisse (1892 gestorben) den Kanalbau glück
lich zu Ende.
Um die Niederung nicht blofs teilweise, sondern
gänzlich trocken zu legen und sie auch in Zukunft vor
Überschwemmungsgefahr zu schützen, schlug Montricher
vor, den Claudischen Emissär im allgemeinen beizube
halten, seinen unzureichenden Querschnitt aber auf 12
oder 20 m 2 zu erweitern, damit er in letzterem Falle
in der Sekunde mindestens 50 cbm Wasser abzuführen
vermöchte. Trotz der beträchtlichen Mehrausgaben, die
er verursachte, wurde der zweite Vorschlag angenommen,
weil er für den Erfolg des Unternehmens, vor allem für
die vollständige Austrocknung des Sees, die beste Ge
währ bot.
Die Ausführung des Werkes hatte von vornherein
mit ungewöhnlichen Schwierigkeiten zu kämpfen, und
die Umwohner hegten ernstliche Besorgnisse, ob wohl
der See vom Fürsten Torlonia oder Torlonia vom See
würde trocken gelegt werden. Da es gar keine Beob
achtungen über die klimatischen Verhältnisse und über
die Beziehungen der Niederschlagsmenge zur Verdunstung
gab, von denen in erster Linie das Fallen und Steigen
und die Schwankungen des Sees abhingen, so wurde
ein meteorologischer Dienst eingerichtet, um auf Grund
der gewonnenen Ergebnisse den Querschnitt der im
Becken anzulegenden Abzugskanäle, die Höhe und
Stärke der Schutzdämme und den Durchmesser des
Emissärs berechnen zu können. Die zum Bau erforder
lichen Werkzeuge und ein grofser Teil des Rohmaterials
mufsten aus weiter Ferne, aus Neapel, ja aus Frank
reich, herbeigeschafft werden; und wegen der mangel
haften Verbindungen war es notwendig, zuvor eine
Fahrstrafse zwischen Neapel und dem Fucino anzulegen.
Die durch jahrhundertelanges Elend abgestumpften Um
wohner des Sees zeigten keine Lust und kein Verständ
nis für den Kanalbau, so dafs anfangs fremde Hand
werker, namentlich Provengalen, herbeigezogen werden
mufsten, die mit gutem Beispiel vorangingen und all
mählich das Interesse der Eingeborenen weckten. Da
aufserdem die Umgebung des Sees von allen Hülfs-
mitteln entblöfst war, so mufsten erst Fabriken, Maga
zine u. s. w. errichtet werden, bevor der eigentliche
Tunnelbau in Angriff genommen werden konnte.
Die Arbeiten begannen am 10. Juli 1854 damit, dafs
man nach dem Vorbilde der alten Römer einen doppelten * 11
17 ) v. Rennenkampff, a. a. O., I, S. 282.—Hirt, a. a. O.,
11. Stck., S. 53, 54, 75 bis 79. — Beschreibung des König
reichs Neapel S. 306. — Ausflüge in den Abruzzen, S. 154.
— Afan de Rivera, Progetto III, S. 69 bis 79, 81 bis 372.—
Kramer, a. a. O., S. 35, 37, 39, 55. — Der See Fucino, S. 1153.
— Knop, a. a. 0., S. 647 bis 648. — Amato, a. a. 0., S. 6,
7. — Gallenga, a. a. O., S. 172. — Brisse et Rotrou, a. a. 0.,
S. 5, 44 bis 58, 65 bis 73. — Geffroy, L’Archéologie, S. 3 bis
11. — Desgrand, a. a. 0., S. 14, 15. — Abbati, a. a. 0.,
S. 137. — Eine friedliche Annexion, S. 235. — Filippis,
a. a. 0., S. 23, 24, 26 bis 32, 34 bis 43. — Carta idrograflca
d’Italia, p. 78 bis 81.