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Dr. P. M. Küsters, O. S. B.
niedrig' abgemessen und beurteilt und nach diesen Gesichtspunkten die Reihe
der Entwicklung aufgestellt. Die historische Folge bleibt dabei unbeachtet.
Und doch kann nur die historische Folge uns ein objektives Bild der äußeren
Entwicklung einer Sitte geben. Von dieser historischen Erkenntnis aus ver
mögen wir dank der einheitlichen psychischen Veranlagung des Menschen
geschlechtes den inneren Gang der Entwicklung nachzudenken und nachzu
konstruieren, so daß wir an Hand der Tatsachen die Ideen gruppieren und
nicht nach unseren Ideen die Tatsachen modeln. Denn darauf lief letzten
Endes die Theorie von der Stetigkeit der Entwicklung hinaus. Nach der Arbeit
von Steinmetz über den Endokannibalismus hatte man eine Theorie für die
Entwicklung des Begräbnisses aufgestellt, die neuestens Reinhardt in seine
„Kulturgeschichte des Menschen“ aufgenommen hat. Er schreibt: „Hatte man
in der Urzeit da, wo der Mensch starb, die Leiche liegen gelassen und war
man aus Scheu vor dem unheimlichen Leichnam von dannen gegangen, um
dem Totengeist, der zunächst noch in der Leiche hausend gedacht war, die
Stätte zu überlassen, so beginnt man mit der Zeit, sich mit ihm zu beschäf
tigen und dementsprechende Maßnahmen zu ergreifen. Die ursprünglichste
derselben ist, daß die Angehörigen die Leiche verzehren, nicht sowohl um
den stets regen Hunger zu stillen, sondern vielmehr, um damit die Seele des
Verstorbenen mit dessen erwünschten Kräften in sich aufzunehmen und da
durch die eigene Zauberkraft zu erhöhen. Scheut man sich später, die eigenen
Angehörigen zu verzehren, so tauschen die Nachbarn solche Kostbarkeiten
unter Sich aus. ... Präanimistisch ... scheint die Sitte der Leichenaussetzung
zu sein ... Eine andere, sehr einfache und dennoch sehr gründliche Methode,
sich des unheimlichen Leichnams zu entledigen, ist die, ihn ins Wasser zu
werfen, wo ihn dann die Flut wegspült und die mancherlei fleischfressenden
Wasserbewohner für seine Beseitigung sorgen... Die Beisetzung im Boden soll
dem noch mit Vorliebe in der Leiche hausend gedachten Geiste eine Wohnung
gewähren, die der bisherigen ähnlich ist.“ Mumifizieren und Skelettieren
führt er auf den Wunsch zurück, den Geist des Toten möglichst lange zu er
halten. Verbrennen ist ein Unschädlichmachen des Toten (622). Kein Geringerer
als Heinrich Schurz hat seine Bedenken gegen diese psychologische Reihe
ausgesprochen. In seiner „Urgeschichte der Kultur“ offenbarte sich ihm bei
den Kulturparallelen, die er aufstellte, die Disharmonie der verschiedenen
Kulturgüter bei einem und demselben Volke. Hoher geistiger Kultur, vom
Standpunkte des Beobachters aus, stand eine materiell wenig entwickelte
äußere Lebensführung gegenüber, und der glänzenden Technik fehlte wiederum
eine entsprechende geistige Reife und Fortgeschrittenheit. Gerade beim Be
gräbnis formuliert er seine Bedenken in folgender Weise: „Ein enger Zu
sammenhang der Bestattungsgebräuche mit der Kulturhöhe besteht nicht, und
die verschiedensten Bräuche finden sich oft bei ein und demselben Volke;
die unserer Empfindung nach niedersten Formen sind zuweilen verhältnis
mäßig hoch kultivierten Völkern eigen, während wir bei niederen Rassen sehr
entwickelte Bestattungsweisen antreffen.“ Man denkt hierbei an den Kanniba- ✓
lismus der Kongoneger, der Mangbetu und Niam-Niam, deren Technik, speziell
die Metallbearbeitung, die Bewunderung auch der Europäer erregt.
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