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Full Text: Anthropos, 16/17.1921/22

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Hedwig v. Dracheneels ; 
wechselnden Mode, deren Veränderungen man z. B. für einen Zeitraum von 
40 bis 50 Jahren an Hand der Sammlungen des Kaukasischen Museums deutlich 
verfolgen kann. Drittens überwuchern in der Oberkleidung oft allerlei Zierrat 
und sekundäre Teile, wie die riesigen Handteller beim Frauenkostüm der 
Bergtataren (Fig. 1). Das Zweckmäßige wird gern und häufig dem Schönsein 
sollenden geopfert. Ganz anders bei Hemd und Hose, die der Mode nur in 
geringem Maße unterworfen sind, weil sie von den übrigen Kleidern verdeckt 
und kaum gesehen werden. Ein Hemd wird höchstens an Kragen, Ärmel 
rändern und Saum verziert und verändert, eine Hose gar nur an den unteren 
Rändern. 
Ich nehme daher an, daß Hemd und Hose Kostümteile sind, die sich 
lange Zeit in gleicher Form erhalten und werde in dieser Annahme dadurch 
bestärkt, daß Hemd, Weiberhose und Männerunterhose immer von den Frauen 
der eigenen Familie angefertigt werden, während die Männeroberhose manch 
mal vom Schneider genäht wird. Ich glaube daher, daß die Hemd- und Hosen 
schnitte älter sind als die Schnitte der Oberl/leidung. Sie haben sich, meine 
ich, seit langer Zeit von Mutter auf Tochter vererbt und werden in oft ge 
dankenloser Weise immer wieder angewendet. 
Das sieht man, wenn das Kleidungsstück nicht aus hausgewebtem, 
sondern aus Maschinenstoff angefertigt ist. 
Die Schnitte sind nämlich dem schmalen handgewebten Zeuge sehr sinn 
reich angepaßt, lassen sich aber bei den neuen breiten Stoffbahnen nicht so 
ohne weiteres verwenden, und man kann bemerken, wie die Arbeiterin, durch 
die ungewohnte Breite verwirrt, sich nicht recht zu helfen weiß. Ein Beispiel: 
Im ganzen Kaukasus werden die Hemdenärmel (mit einer einzigen mir be 
kannten Ausnahme 1 ) so geschnitten, daß die Breite der. Stoffbahn der Ärmel 
länge entspricht. Dabei gelangt die eine Webekante an die Schulternaht, die 
andere ans Handgelenk (siehe Fig. 3, Chewsurisches Männerhemd). Falls der 
Är-inel keine Stulpen hat, so wird er, der festen Kante wegen, am Handgelenk 
nicht besäumt. Die Arbeiterin ist also gewöhnt, hier an dieser Stelle des 
Hemdes nicht zu nähen. Bei den neuen Fabriksstoffen kommt es aber vor, 
daß die Ärmel infolge der alten Schnittmethode zu lang werden. Es wird nun 
ein Streifen des Zeuges mitsamt der Webekante abgerissen, und der Ärmel 
rand bleibt offen und ausgefasert, trotzdem das ganze Hemd sorgfältig genäht 
und gesäumt ist. Die Arbeiterin kommt nicht auf den Gedanken, hier auch 
einen Saum zu machen, das ist sie nicht gewöhnt, „das tut man nicht“! 
Da im Kaukasus gerundete Wäscheschnitte (bis auf das meistenteils halb 
kreisförmig ausgeschnittene Halsloch) unbekannt sind, und nur gerade Nähte 
angewendet werden, so half man sich, um den Armen und Beinen Spielraum 
zu lassen, teils mit Zwickeln, d; h. kleinen Lappen von verschiedener Form, 
die unter der Achsel ins Hemd und im Schritt in die Hose eingesetzt werden, 
teils erfand man andere, oft recht geistvolle Lösungen. 
Am einfachsten machen es die Chewsuren (Fig. 2), ein karthwelischer 
Stamm, der südöstlich vom Kasbek am Fuße der Gletscher wohnt. Bei ihnen 
1 Das westarmenische Hemd (siehe Fig. 23).
	        
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