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Brügge.
aus Holz und Glas, aus Eisen und Messing, aus Gold
und Silber herstellte; Holland seinen Haus und Flachs;
England seine Wolle; Spanien seinen Korduan und sein
Leder; die Levante ihre Teppiche, ihr Rosenöl und ihre
sonstigen Parfümerien; Afrika seine Elefantenzähne und
sein Palmöl. An der Spitze aller fremden Handelsleute
aber standen die Deutschen, von welchen der gelehrte Ar
chivar Gilliodts van Severin schreibt, daß man sie damals
als solche sofort erkannte an der Kostbarkeit und der Ele
ganz ihrer Kleidung und an den Waffen, welche diese
mächtige Genossenschaft überall zu führen pflegte, mit
anderen Worten: die Hanseaten, die Männer aus dem
Osten, welche man die Osterlinge nannte, und die ihr
besonderes Komptoir hier hatten, welches man das Haus
der Osterlinge nannte."
Um die ganze Kraft und Gewalt des mittelalterlichen
Brügge zu begreifen, muß man seinen Mittelpunkt und
seinen Stolz aussuchen, den Belfried, einen wahren Berg
von Stein, der in den Himmel aufragt, wie eine Leiter
von Titanen: 107^2 m hoch steigt dieser Thurm der
Fleisch- und Tuchballen empor, dessen Bau im Jahre 1291
begonnen wurde. In ein solches Meisterwerk von Kühn
heit und Trotz fügt sich ein jeder Steinblock ein, wie das
Leben des Einzelnen in dasjenige seines Volkes. Und hier
hat ein Volk in seinem Größenwahne seine Geschichte mit
Blut niedergeschrieben. Wer denkt bei diesem überwülti-
M
Der Rosenkranzkaual in Brügge.
genden Anblicke noch an das Schweigen der verödeten
Kanäle, an den trüben Verfall der modernen Stadt? Hier
ist Brügge nicht todt, hier lebt es wieder auf! Der Bclsried
ist mehr als ein bloßer Thurm; er ist ein Kunstwerk, das
nicht einem isolirten Gedanken, sondern dem Gesammtwillcn
und dem Herzen eines ganzen Menschengeschlechtes ent
sprossen ist. In ihm ist Gleichmaß und Regel so gewalt
sam überschritten worden, daß der Beschauer zuerst wie
beim Anblick eines Vulkans, eines Abgrundes, irgend eines
Naturphänomens von einem Gefühl des Unbehagens er
griffen wird; erst dann kommt ihm die Ahnung von einem
Menschengeschlechte, in welchem es anders gührte, als in
den heutigen Völkern, das ein Zuviel an Lebenskraft be
sessen zu haben, im guten wie im bösen zügellos gewesen
zu sein scheint.
Wenige Schritte vom Belsried entfernt ändert sich alles;
ein kurzes Stück Straße braucht man nur zurückzulegen,
um sich in ein anderes Jahrhundert zu versetzen, und zwar
in eine Zeit, deren Menschen unserer modernen Anschauung
um vieles näher stehen, als die Erbauer des Bclsried. Das
zierliche, 1367 erbaute gothische Rathhaus mit seinen sechs
Thürmchen und dem reichen Statuenschmuck der Fa^ade
verräth uns eine Bevölkerung von feinerer Bildung, die an
zierlichen Eindrücken sich erfreute. Die Zeit, welche solche
babylonische Thurmbauten errichtete, ist vorüber: das Stadt
haus weist im Gegensatze zum Hallenthurme normale Ver
hältnisse auf, ja im Vergleiche zu anderen Rathhänsern des
belgischen Landes ist es nur ein Stern mittlerer Größe.
Es nimmt sich ans, wie ein großer Reliqnienschrein, über
groß ist es auch durch die vollkommene Symmetrie seiner
Architektur; es erweckt die Vorstellung, daß seine Erbauer
sich eines gesicherten Wohlstandes, ruhigen Gcmlsses erfreuten