Skip to main content
Page Banner

Full Text: Globus, 47.1885

98 
Brügge. 
aus Holz und Glas, aus Eisen und Messing, aus Gold 
und Silber herstellte; Holland seinen Haus und Flachs; 
England seine Wolle; Spanien seinen Korduan und sein 
Leder; die Levante ihre Teppiche, ihr Rosenöl und ihre 
sonstigen Parfümerien; Afrika seine Elefantenzähne und 
sein Palmöl. An der Spitze aller fremden Handelsleute 
aber standen die Deutschen, von welchen der gelehrte Ar 
chivar Gilliodts van Severin schreibt, daß man sie damals 
als solche sofort erkannte an der Kostbarkeit und der Ele 
ganz ihrer Kleidung und an den Waffen, welche diese 
mächtige Genossenschaft überall zu führen pflegte, mit 
anderen Worten: die Hanseaten, die Männer aus dem 
Osten, welche man die Osterlinge nannte, und die ihr 
besonderes Komptoir hier hatten, welches man das Haus 
der Osterlinge nannte." 
Um die ganze Kraft und Gewalt des mittelalterlichen 
Brügge zu begreifen, muß man seinen Mittelpunkt und 
seinen Stolz aussuchen, den Belfried, einen wahren Berg 
von Stein, der in den Himmel aufragt, wie eine Leiter 
von Titanen: 107^2 m hoch steigt dieser Thurm der 
Fleisch- und Tuchballen empor, dessen Bau im Jahre 1291 
begonnen wurde. In ein solches Meisterwerk von Kühn 
heit und Trotz fügt sich ein jeder Steinblock ein, wie das 
Leben des Einzelnen in dasjenige seines Volkes. Und hier 
hat ein Volk in seinem Größenwahne seine Geschichte mit 
Blut niedergeschrieben. Wer denkt bei diesem überwülti- 
M 
Der Rosenkranzkaual in Brügge. 
genden Anblicke noch an das Schweigen der verödeten 
Kanäle, an den trüben Verfall der modernen Stadt? Hier 
ist Brügge nicht todt, hier lebt es wieder auf! Der Bclsried 
ist mehr als ein bloßer Thurm; er ist ein Kunstwerk, das 
nicht einem isolirten Gedanken, sondern dem Gesammtwillcn 
und dem Herzen eines ganzen Menschengeschlechtes ent 
sprossen ist. In ihm ist Gleichmaß und Regel so gewalt 
sam überschritten worden, daß der Beschauer zuerst wie 
beim Anblick eines Vulkans, eines Abgrundes, irgend eines 
Naturphänomens von einem Gefühl des Unbehagens er 
griffen wird; erst dann kommt ihm die Ahnung von einem 
Menschengeschlechte, in welchem es anders gührte, als in 
den heutigen Völkern, das ein Zuviel an Lebenskraft be 
sessen zu haben, im guten wie im bösen zügellos gewesen 
zu sein scheint. 
Wenige Schritte vom Belsried entfernt ändert sich alles; 
ein kurzes Stück Straße braucht man nur zurückzulegen, 
um sich in ein anderes Jahrhundert zu versetzen, und zwar 
in eine Zeit, deren Menschen unserer modernen Anschauung 
um vieles näher stehen, als die Erbauer des Bclsried. Das 
zierliche, 1367 erbaute gothische Rathhaus mit seinen sechs 
Thürmchen und dem reichen Statuenschmuck der Fa^ade 
verräth uns eine Bevölkerung von feinerer Bildung, die an 
zierlichen Eindrücken sich erfreute. Die Zeit, welche solche 
babylonische Thurmbauten errichtete, ist vorüber: das Stadt 
haus weist im Gegensatze zum Hallenthurme normale Ver 
hältnisse auf, ja im Vergleiche zu anderen Rathhänsern des 
belgischen Landes ist es nur ein Stern mittlerer Größe. 
Es nimmt sich ans, wie ein großer Reliqnienschrein, über 
groß ist es auch durch die vollkommene Symmetrie seiner 
Architektur; es erweckt die Vorstellung, daß seine Erbauer 
sich eines gesicherten Wohlstandes, ruhigen Gcmlsses erfreuten
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.