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E. Metzger: Haiti.
hoffte man in einer anderen Richtung, als man gekommen war,
einen Ausweg zu finden; wirklich traf man einen solchen
Kanal, der nach dem Ucayali hinüberführte, aber er war fo eng,
daß kein Dampfer ihn, außer vielleicht zur Zeit des Hoch
wassers, befahren könnte. Die Umstände, namentlich die Noth
wendigkeit, zu S. Negis Lebensmittel einzunehmen, zwangen
Wiener, hier alle weiteren Untersuchungen aufzugeben.
Alle diese unbewohnten Landstriche find mit Kautschuk-
bäumen und Safsaparille, die in außerordentlicher Menge
vorkommt, bedeckt; aus Mangel an Händen verfaulen diese
Schätze. Aber welche Zukunft könnte über diesem Lande
aufgehen, wie Viele könnten hier eine glückliche Zukunft
finden!
Haiti.
Von E. Metzger.
I. Einleitung.
In nicht zu großer Entfernung von uns, drüben in
Westindien, in nächster Nähe von europäischen Kolonien
und nicht gar weit von dem unter dem Schutze des Sternen
banners stehenden Kontinent liegt die Insel Haiti. Sie
hat ihren Namen der ans ihrer westlichen Hälfte liegenden
kleineren Negerrepublik gegeben, während der größere, öst
lich gelegene Mulattenstaat San Domingo heißt; mit der
zuerst genannten wollen wir uns hier beschäftigen.
Die Republik Haiti ist äußerlich ein wohl geordnetes
Staatswefen, mit einem Präsidenten, dessen Sessel aller
dings manchen Schwankungen unterworfen zu sein scheint,
mit Ministern, hohen und niederen Gerichtshöfen, mit
einem Erzbischof und einem zahlreichen diplomatischen
Korps, einer Armee mit Garde- und Linientruppen — mit
einem Worte, ans dem Papier scheint alles dort aufs Beste,
wenigstens ganz nach europäischem Muster, eingerichtet zu
sein, und wenn man mit der Geschichte des Landes be
kannt ist, möchte man staunen über die Entwickelung eines
Staates, dessen Entstehung vor noch nicht hundert Jahren
mit blutigen Zügen in den Annalen verzeichnet wurde, die
von Mord, von Greueln aller Art begleitet war, welche
die aufrührerischen Neger nach ihrer Empörung am
25. August 1791 gegen die Weißen begingen, gegen ihre
ehemaligen Herren, die sie nach der Einnahme von Cap
Frantzais in den Tagen vom 21. bis 23. Juni 1793
grausam abschlachteten. Unter Toussaint L'Ouverture,
dem kühnen Neger, der durch das Direktorium als Ober-
general aller „französischen" Truppen auf San Domingo
anerkannt worden war, riß es sich von Frankreich los und
nach L'Ouvertnre's Sturz wurde Dessalines, der Napoleon
der Neger, Kaiser; daun finden wir einen König, sehen das
Land wieder als Republik, bis ein neuer Monarch auftritt,
Faustin I. (1849), der zehn Jahre lang das Scepter führte;
nach dieser Zeit ist Haiti Republik geblieben, wiewohl man
die liebgewordene Gewohnheit der inneren Streitigkeiten
und Revolutionen noch nicht aufgegeben hat.
Wie unbeständig die Zustände auch gewesen sein mögen —
die eben angeführten wenigen Daten haben es wohl in
genügender Weise nachgewiesen — so finden wir dort, wie
schon erwähnt, ein äußerlich wohl geordnetes Staatswefen,
was gewiß interessant ist, da dasselbe von Söhnen Afrikas
gegründet und entwickelt wurde, welche die Grausamkeit
des weißen Mannes ihrem heimathlichen Boden entrissen
hatte. Welche Stellung man auch dem Neger einräumen
will, man wird gestehen müssen, daß ein vertrauenswürdiger
Bericht eines ruhigen, gründlichen Beobachters, gerade über
diese Negerrepublik und ihre Bewohner einen höchst wich
tigen Beitrag für die Erweiterung unseres Wissens liefern
muß. Haiti unterscheidet sich nämlich von der Schwester
republik San Domingo dadurch, daß man zur Zeit der
Stiftung des Staates bei der Ausrottung des weißen Ele
ments noch etwas gründlicher verfuhr, als dort der Fall
war; seit jenen blutigen Tagen hat das unvermischte Neger
element fortwährend den größten Einfluß besessen und hat
rücksichtslos das weiße und das mischblütige Element zu
entfernen gesucht. Das ist ihm geglückt. Mit wenigen
Ausnahmen sind die Weißen von der Insel verschwunden,
sind ausgerottet oder vertrieben; die Zahl der Mulatten
beträgt kaum den zehnten Theil der Bevölkerung, die
übrigen Bewohner sind Vollblut-Afrikaner, und man kann
sie mit vollem Recht als einen echten Zweig der Neger
rasse betrachten, der vom Stamme losgelöst, sich hier unter-
günstigen natürlichen Verhältnissen weiter entwickelt hat.
Günstiger nämlich als das Klima der heimathlichen Guinea
küste ist der Himmel Westiudieus, und die fruchtbaren, gut
bewässerten Niederungen Haitis sind ein ausgesuchtes Fleck
chen Erde, selbst in jenen so überaus üppigen Gärten der
westindischen Inseln, und bieten dem Bewohner ein viel
vortheilhafteres Feld für seine Thätigkeit, als die afrika
nische Küste. Gewiß ist es also von mehr als einem Ge
sichtspunkt aus betrachtet interessant zu erfahren, wie denn
jetzt der Zustand der Nachkommen jener aufrührerischen
Neger ist, nachdem sie seit drei Menschenaltern unter den
oben angedeuteten Verhältnissen gelebt haben und mit
großem Interesse haben wir darum das Buch Spenser
St. Johns i) begrüßt. Der Verfasser hat sich nämlich
lange in jenem Lande aufgehalten (zwölf Jahre lang als
englischer Geschäftsträger) und hatte Gelegenheit, sich mit
den Zustünden desselben bekannt zu machen, dann aber hat
er im Ganzen fündunddreißig Jahre lang unter verschie
denen farbigen Stämmen zugebracht und hat kein Vor-
urtheil gegen Menschen, welche keine weiße Haut haben;
dies ist sehr begreiflich, denn, wie er mittheilt, hat er seine
Laufbahn unter Sir James Brooke begonnen, dessen unbe
fangene Ansichten nicht gestatteten, daß in seiner Umgebung
auf Rasse oder Farbe begründete Einseitigkeit sich geltend
machte; das Urtheil eines Mannes, der in solcher Schule
erzogen ist, hat gewiß Anspruch auf volle Beachtung.
Im Vorhergehenden haben wir ungefähr die leitenden
Gedanken ausgedrückt, welche uns bestimmten, das Buch
Spenser St. John's mit besonderer Aufmerksamkeit zur
Hand zu nehmen in der Absicht, ans demselben Material
zu schöpfen, um den Lesern des „Globus" eine Uebersicht
von dem gegenwärtigen Zustande jener Republik zu geben;
vorher sei es uns aber erlaubt, noch ein Paar Worte über
i) Hayti, or the Black Republic. By Sir Spenser
St. John, K. C. M. G., London 1884.