E. Metzger: Haiti.
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das Gefühl, welches sich unserer nach Beendigung des Buches
bemächtigt hatte, beizufügen. Es lag ans uns wie ein
schwerer Traum; immer und immer wieder riefen wir uns
alles zurück, was im Stande war, die (übrigens nie ange
fochtene) Glaubwürdigkeit des Verfassers zu verbürgen;
wir sagten uns, daß ein noch im Dienst stehender Staats
mann nicht so furchtbare Anklagen gegen ein Land ans
sprechen würde, in dem er lange in amtlicher Stellung
gelebt, wenn dieselben nicht wahr waren, nicht jeden Augen
blick bewiesen werden könnten. Die „Schwarze Republik"
lautet der zweite Titel des Buches, Passender hatte der Ver
fasser es die „Kannibalenrepnblik" nennen können, denn
der brutalste, roheste Kannibalismus spielt unter den Be
wohnern Haitis eine blutige Rolle. Gegenüber dieser
Beschuldigung, welche, wie wir sehen werden, nur zn gut
bewiesen ist, tritt alles andere, was der Verfasser anführt,
um die herrschende Anarchie zu brandmarken, um das Nach
äffen europäischer Zustünde dem Fluche der Lächerlichkeit zn
übergeben, in den Hintergrund; man vergißt die Revolu
tionen im Stil Robespierre's und die monarchischen Inter
mezzos ä la Großhcrzogin von Gerolstein, mit ihren Grafen
und Marquis, wenn auch manchmal ein Herzog Schnaps
verkaufte und eine hochadclige Dame an der Waschbütte
stand; man vergißt, daß der Militarismus in der lächer
lichsten Gestalt sich breit macht und ähnlich wie in Vene
zuela die eine Halste der Armee ans Generalen besteht,
welche an Revuetagen in ihren strahlenden Uniformen mit
glänzenden Epauletten ans bunt aufgeputzten Pferden para-
dircn, während die Röcke ihrer Mannschaften kaum hin
reichen, ihre Blöße zu bedecken, und die Beinkleider sich in
einem Zustande befinden, der hier zu Lande zu einer gericht
lichen Verfolgung der Träger führen würde. Alles dies
aber, und noch viel mehr, muß vor dem entsetzlichen Bilde
zurücktreten, welches der Verfasser uns von dem auf Haiti
herrschenden Kannibalismus entwirft. Wir wollen hier
vorläufig nur die schauerliche Thatsache anführen, daß noch
1878 zwei Frauen auf frischer That ertappt wurden, welche
im Begriff waren, die blutlose Leiche eines Kindes roh zn
verzehren, nachdem sic vorher aus dem noch zuckenden
Körper das warme Blut ausgesangt hatten, und daneben
die zweite, daß eine Mutter, die ihre eigenen Kinder ver
zehrt hatte, dies ruhig eingestand und hinzufügte: „Wer
hätte denn mehr Recht gehabt, dies zu thun, als ich? Habe
ich sie doch geboren." — Das Buch Spenser St. Johns
bildet ein furchtbares Dokument gegen die Ncgerrasse im
allgemeinen, aber unserer Ansicht nach auch einen wichtigen
Beweis gegen diejenigen, welche die Gleichheit aller Menschen
rassen verkündigen. Dasselbe berührt düstere Seiten der
menschlichen Natur, doch wie schauerlich Manches, was in
demselben vorkommt, auch sein möge, für den Philosophen
wie für den Anthropologen findet sich, um mit A. H. Keane I
zu sprechen, auch in den Schattenseiten der menschlichen
Natur so viel Wichtiges und Belehrendes, daß wir nicht
zögern, im Folgenden den Versuch zu machen, demselben
eine möglichst vollständige Charakteristik der Leute aus Haiti
und der dort herrschenden Zustände zu entnehmen.
II. Die Bevölkerung. (Erste Hälfte.)
Die Bevölkerung von Haiti wird in dem Gothaer
Almanach aus 550 000 Seelen angegeben, wesentlich
höher schätzt sie Spenser St. John. Er begründet
seine Ansicht etwa folgendermaßen: Am Ende des vorigen
Jahrhunderts bestand die Bevölkerung ans 46 000 Weißen,
etwa 57 000 freien Farbigen und Schwarzen und gegen
510 000 Sklaven von beiden Farben. Madion, dem
diese Angaben entnommen sind, erwähnt ausdrücklich, daß
es eine Gewohnheit der Pflanzer sei, alle Kinder und alle
über fünfundvierzig Jahre alten Sklaven nicht in ihre
Listen aufzunehmen, um sich der Bezahlung des für Sklaven
festgestellten Kopfgeldes zn entziehen; demnach würde nach
Abzug der Weißen die Zahl der Bevölkerung damals auf
circa 750 000 Seelen angenommen werden müssen. Der
selbe Autor ist der Ansicht, daß bis 1847 die Bevölke-
rungszisfer keine nennenswerthe Veränderung erlitten habe.
1863 schätzte der damalige Präsident General Gesfrard
die schwarze Bevölkerung nach den besten Quellen ans
900 000 Seelen; Spenser St. John meint, daß dieselbe
seit 1825 sich verdoppelt habe. Selbst wenn man diese
Angabe annehmen will, wäre die Bevölkerung schwach zu
nennen (Oberfläche beinahe 24 000 qkm); jedenfalls ist
sie viel schwächer, als sie sein könnte, denn mit Rücksicht
auf die Fruchtbarkeit der Negerinnen darf man wohl an
nehmen, daß selbst die inneren Streitigkeiten der Zunahme
nur geringen Abbruch gethan haben. Wenn man einen
Haitier nach der Ursache fragt, meint er, daß die Nege
rinnen schlechte Mütter seien. Ob der Kannibalismus
Einfluß hierauf hat, dürste wohl kaum nachzuweisen sein;
dagegen scheint eine andere Erscheinung (die große Ucber-
zahl der Frauen) anzudeuten, daß die Sterblichkeit bei dem
männlichen Geschlecht abnorm hoch ist. Wenn es nämlich
nach dem eben Erwähnten auch nicht gerade leicht sein dürfte,
die Gesammtzahl der Bewohner mit einiger Sicherheit anzu
geben, so stinnncn doch alle Quellen darin überein, daß die
Zahl der Frauen viel größer als die der Männer ist;
manche behaupten, daß letztere nur den vierten Theil der
Bevölkerung ausmachen, andere schätzen ihre Zahl auf ein
Drittel derselben. Allerdings ist auch eine ähnliche Er
scheinung aus der Guineaküste beobachtet worden. Doch
sind die Vorbedingungen nicht gleich. Während nämlich
ans der Küste eine starke Auswanderung, zum großen Theil
von Männern, stattgefunden hat, muß man für Haiti eine
Einwanderung aus der Union und ein Einströmen von
freigelassenen Sklaven berücksichtigen, was hauptsächlich der
männlichen Bevölkerung zn Gute kam, so daß man eher
denken sollte, daß das männliche Geschlecht hier in der
Mehrzahl sein müsse. Ob wir zur Erklärung an die
inneren Kämpfe allein zn denken haben, oder aber an
nehmen müssen, daß eine erhöhte Sterblichkeit der Männer —
zu erklären durch die Excesse, denen sich dieselben in höhe
rem Maße hingeben — stattfindet, ist eine offene Frage;
von europäischem Standpunkte aus möchte man sie vielleicht,
wie wir sehen werden, in letztgenanntem Sinne zn beant
worten geneigt sein.
Daß etwa der zehnte Theil der Bevölkerung aus Far
bigen besteht, ist oben schon erwähnt worden; dieselben
nähern sich mehr und mehr dem Negertypus, wie dies aus
der großen Uebcrzahl der Vollblutneger leicht erklärlich ist;
dieser Theil der Bewohner lebt meistens in Städten und
Dörfern.
Mackenzie hat von einer Art Bnschncger gesprochen, die
im östlichen Theile des Landes sich aufhalten und sehr ver
schlagen sein sollen. Man hat dabei aller Wahrscheinlich
keit nach an die Nachkommen geflüchteter Sklaven zu denken;
unser Autor hat sie nicht aus eigener Anschauung kennen
gelernt, sondern von ihnen nur bei einem gelegentlichen
Besuch, den er den Bergen abstattete, unter dem Namen
Vien-vienncnt sprechen hören; doch schien ihre Existenz
mehr traditionell als durch Thatsachen erwiesen zu sein.
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i) „Nature" vom 4. Dec. 1884.
Globus XI.VII. Nr. 14.