GLOBUS ,
ILLUSTRIERTE ZEITSCHRIFT FÜR LÄNDER - und VÖLKERKUNDE .
VEREINIGT MIT DEN ZEITSCHRIFTEN : „ DAS AUSLAND« UND „ AUS ALLEN WELTTEILEN« .
HERAUSGEGEBEN VON H . SINGER UNTER BESONDERER MITWIRKUNG VON Prof . Dr . RICHARD ANDREE .
VERLAG von FRIEDR . VIEWEG & SOHN .
Bd . lxxxvii . Nr . 12 . BRAUNSCHWEIG . 30 . März 1905 .
Nachdruck nur nach Übereinkunft mit der Verlagshandlung gestattet .
Die jüdischen Freistädte in ethnologischer Beleuchtung .
Von Dr . Albert Hellwig , Kammergerichtsreferendar .
Zu fast allen Erscheinungen geschichtlichen Werdens zeigt uns die Ethnologie Parallelen bei Völkern , die in keinerlei Berührung miteinander gekommen sind , wo Entlehnung also ausgeschlossen ist . Dadurch werden uns Institute , die wir früher als einzigartiges Produkt eines bestimmten Volkes aufzufassen gewohnt waren , als allgemeinen Völkergedanken angehörend gezeigt und aus ihren universalen Entstehungsursachen heraus erklärt .
Nicht zum wenigsten erscheinen uns heute , im alter der Ethnologie , die Geschicke des „ Volkes Gottes“ nicht mehr in dem mystischen Zauber einer in mehr als einem Punkte eigenartigen und einzigartigen Geschichte .
Von den zahlreichen Beispielen , die für diese hauptung angeführt werden könnten 4 ) , sei nur eins ausgegriffen , das Verbrecherasylrecht , welchem das saische Recht sechs Freistädten einräumte2 ) .
Die Grundzüge dieses Institutes dürfen als allgemein bekannt voi'ausgesetzt werden : Sechs Asylstädte gab es ; hatte nun jemand einen Menschen absichtlich oder absichtlich , fahrlässig oder zufällig getötet , so konnte er sich in eine dieser Freistädte retten ; gelang es dem Bluträcher , den Totschläger niederzuschlagen , bevor er das schützende Asyl erreichte , so war die Tat gesühnt und der Bluträcher straffrei . Entging aber der brecher glücklich den Nachstellungen des Bluträchers , so wurde über ihn Gericht abgehalten : Wurde er des vorsätzlichen Totschlages für schuldig befunden , so wurde er dem Bluträcher überantwortet ; stellte sich dagegen heraus , daß er ohne seinen Willen den Tod des anderen herbeigeführt hatte , so geschah ihm kein Leides , er durfte aber die Freistadt erst nach dem Tode des treffenden Hohenpriesters verlassen , ohne Gefahr zu laufen , sühnelos erschlagen zu werden 3 ) .
Dies Asylrecht , glaubte man , sei die Wurzel des chischen und römischen gewesen4 ) . Als sich der enge Gesichtskreis durch das nähere Bekanntwerden der völker allmählich erweiterte , entdeckte man auch bei
1 ) Weitere z . B . bei Garrick Mallery , „ Israeliten und Indianer“ . Aus dem Englischen von F . S . Krauss .
2 ) Num . XXXV ; Deut . IV , 41—43 ; Deut . XIX , 1—13 ; Jos . XX ; 1 . Chron . VI , 42 , 52 .
3 ) Aus den zahlreichen Darstellungen hebe ich die meines Erachtens besten heraus : Bis seil , „ The Law of Asylum in Israel historically and critically examined“ . Leipzig 1884 . Euld in Zeitschrift für vergleichende Rechtswissenschaft VII , S . 103ff . Besonders für das talmudische Recht : S . Ohlenburg , „ Die biblischen Asyle in talmudischem Gewände“ ( München 1895 ) und Gronemann in Zeitschr . f . vergl . R . - W . XIII , S . 438 ff .
4 ) Bisseil , a . a . 0 . , p . 6 .
Globus LXXXVII . Nr . 12 .
dem einen oder anderen primitiven Volk in Asien , Afrika , Amerika oder Ozeanien die Rechtseinrichtung , daß an gewissen heiligen Stätten , so einem grab , Tempel , Altar usw . , Verbrecher vor der Blutrache Schutz fanden . Der Gedanke , daß dieses Asylrecht ginär entstanden sein könnte , kam den Reisenden gangener Jahrhunderte nicht in den Sinn ; vielmehr suchte man oft auf Grund der gewagtesten Spekulationen das Asylrecht , das man z . B . bei den Indianern fand , von dem jüdischen historisch abzuleiten , oder doch ohne nähere Begründung , allein auf Grund der Ähnlichkeit beider Institutionen , einen Zusammenhang beider zu muten . So nahm z . B . noch Ellis an , das interessante Asylrecht der Sandwichinseln , auf das wir noch des näheren eingehen werden , könne sich „ traditionally“ von den jüdischen Freistädten ableiten 5 ) .
Daß dieser angebliche Zusammenhang nur infolge des beschränkten Gesichtskreises einer Zeit angenommen werden konnte , welcher die Leime vom Völkergedanken noch nicht faßbar war , weil ihr die nötigen Unterlagen fehlten , liegt auf der Hand . Aber auch auf das chische Asylrecht haben die Bestimmungen des schen Gesetzes , soweit ersichtlich , keinen Einfluß geübt , was heute auch wohl von Theologen nicht mehr bestritten werden wird .
Es scheint , als ob wir der Ansicht sind , allüberall , wo wir Verbrecherasylrecht finden , habe es sich aus dem Rechtsleben des betreffenden Volkes heraus entwickelt , unbeeinflußt von fremdartigen Einwirkungen welcher Art , besonders ohne das jüdische Asylrecht zum Vorbild genommen zu haben .
Im allgemeinen sind wir allerdings dieser Ansicht . Bei einem Lande nehmen wir aber einen direkten fluß des mosaischen Gesetzes auf Entstehung und bildung des Asylinstitutes an , und zwar bei einem Lande , bei dem dieser Zusammenhang unseres Wissens noch nie behauptet worden ist , nämlich bei Abessinien .
Daß dieses Land allerdings in gewissem lebendigen Zusammenhang mit dem mosaischen Recht stand , war längst bekanntü ) . Aber hieraus auch eine Beeinflussung des reich ausgebildeten abessinischen Verbrecherasyl - rechtes mit dem der Juden zu vermuten , diese Idee ist , soweit mir bekannt , vor meinem „ Asylrecht“ noch nicht ausgesprochen worden 6 7 * * ) .
6 ) Ellis , „ Reise durch Hawaii“ , S . 153 .
6 ) Vgl . z . B . Timotheus , „ Zwei Jahre in Abessinien“ II , S . 42 .
7 ) A . Hellwig , „ Das Asylrecht der Naturvölker“ in
„ Berliner juristische Beiträge“ , Heft I , S . 51 . Berlin 1903 .
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