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E. Baron Toll: Reise nach den neusibirischen Inseln.
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Auf den Touren hatte ich bis dahin und später stets
das tuugusische Lederzelt mitgeführt, an das ich so sehr ge
wöhnt war, daß mir der Aufenthalt im Hause kaum erträg
lich erschien. Als ich aber vom 8. Septbr. — nachdem der
Winter mit seinen furchtbaren SchneestUrmen wieder Einzug
gehalten hatte — bis zum 26. Octbr. mitllnterbrechung von
nur einigen Tagen darin gehaust hatte, vertauschte ich natür
lich ungern diese behaglichen Räume wieder mit dem luftigen
Zelte. Dieses letztere bestand aus dünnem, von Bremsenmaden
durchlöchertem Renthierleder, während jenes von außen mit
Schnee und Eis verstrichen und von innen mit Filz und
Fellen ausgeschlagen war. In diesem kauerte man sich um
das in der Mitte angefachte Feuer, dessen erstickender Rauch
bei strenger Külte das Zelt nicht verlassen wollte, während in
jenem zwei Räume — die Badestube und das Zimmer meiner
Begleiter-—von einem Kamin erhitzt wurden, mein Zimmer
aber von einem eisernen kleinen Ofen. Obendrein erfreute
ich mich in dem Hause sogar des Lupusses eines Backofens,
den ich der Geschicklichkeit meines ältesten Führers, des
würdigen Jakuten Mochaplew, zu verdanken hatte.
Am Tage meiner Ankunft am llrassalach, nach der
Rundreise um die Insel, am 18. August, erlebte ich nach
vier Monaten wieder den ersten Sonnenuntergang.
Damit hatte aber der Sommer sein Ende erreicht, ein
Sommer, dessen Mitteltemperatur (für die drei Monate
Juni, Juli, August berechnet) -s- 1,4« C. betrug, der am
12. Juli mit -j- 10" C. sein Wärmemaximum gehabt
hatte, und in dem während des Juni 6mal Schneesturin, 23mal
Schueefatt, 27mal Nebel und Illinal Regen an 02 Beob-
achtuttgstageu verzeichnet war. —
Am 18. August >var der Boden mit einer fußhohen
Schueeschicht bedeckt, die zwar in Folge anhaltenden Regens
wieder schwand, aber nur, um bald einer Eisdecke in den
Niederungen Platz zu machen, während auf den Höhen die
einzelnen Blüthen, besonders von Papaver nudicaule, von
Eis inkrustirt, ihre beschwerten vom Winde gepeitschten
Köpfchen klingend an einander schlugen.
Es waren während des Sommers die Schneemassen
selbst an vielen Stellen der Südwestküste, in den Schluchten
der Berge und an allen nach Norden gewandten Abhängen
nicht abgethaut.
Dem entsprechend konnte natürlich auch die Pflanzenwelt
nur zu einer kümmerlichen Entwickelung gelangen, obgleich
schon wenige Tage genügten, au denen die Mitteltemperaturen
den Nullpunkt überstiegen hatten, um die ersten winzigen
Pflänzchen zur Blüthe gelangen zu lassen. Zur Frucht
bildung reichte aber der kurze Sommer nicht hin.
Schutz suchend vor den unaufhörlich über die Fläche
streichenden eisigen Winden, die von Nord und Nordost
Uber die ringsum die Insel fast unbeweglich umlagernden Eis
massen des Meeres kommen, schmiegt sich die Flora eng an
den wärmenden, obgleich ewig gefrorenen Boden; kriechend,
nur wenige Zoll sich zu erheben wagend, gedeiht hier das
einzige Holzgewächs, die 8alix polarig.
Diese überragen nur wenige Pflanzen, die meisten aber
(auf der Insel Kotcluy sind circa 40 Arten von mir ge
sammelt, auf der Ljachow-Jnsel von Herrn Dr. Bunge
circa 70 Arten) stehen in den schutzgewährenden Spalten
und Rinnen, zwischen den polygonalen Feldern, in die der
Boden theils durch Frost, theils durch rasches Austrocknen
nach dem Schwinden des Schnees zersprungen ist.
Nur in gut bewässerten und geschützten Thälern findet
sich der ersehnte Anblick grünen Rasens, dem durch das ein
förmige Graubraun des Bodens ermüdeten Auge Erholung
bietend.
Ebenso plötzlich und unvermittelt wie das Erblühen der
kümmerlichen Pflanzenwelt ist das Erwachen der niederen,
besonders das Süßwasser bewohnenden Thierwelt. Kaum
sind die ersten durch Schmelzwasser entstandenen Lachen und
Pfützen da, so sind sie auch schon reich belebt von kleinen
Crustaceen — besonders Cypris lind Eopepoden sowie
von Insektenlarven, Anneliden, mikroskopischen Räderthierchcn
und kaum größeren Strudelwürmern.
Das bot den befiederten Wandergesellen eine wohlbesetzte
Tafel, und um sie schaarten sich die munteren Steinwälzer,
Strandläufcr und Wassertreter. Doch nur auf kurze Zeit
belebten sie die Einöde, denn nach besorgtem Brutgeschäft
waren sie lautlos und fast unsichtbar, indem sie so die junge
Nachkommenschaft vor ihren Feinden hüteten. Mitte August
begann auch schon wieder ihr Zug nach Süden, und mit
ihnen zogen die Gänse, die hier merkwürdiger Weise nicht ge
nistet, sondern nur gemausert hatten, die Taucher, sowie zu
letzt die Möven, während sich die Prachtenten nach Norden
zurück an die offenen Stellen des Eismeeres begaben.
Auch die reizende, durch ihren lieblichen Gesang ent
zückende Schneeammer verließ nun die Insel, und nur das
Moorasthuhu harrte bis zum November daselbst aus, nachdem
es schon im April — vor uns — und zwar paarweise
auf die Insel gewandert war.
Vogelberge, wie in anderen Polargegeuden und am
Nordkap Europas, giebt es hier nicht, da es den Küsten an
den nöthigen unzugänglichen Steilufern fehlt und der dreiste
Nesterzerstörer, der Eisfuchs, hier überall unbeschadet sein
Wesen treiben kann.
In Ermangelung der leckersten Kost — der Vogeleier —
ist diesem hier auch in den Lemmingen für Nahrung gesorgt,
auf die er, mit der Schneeeule concurrirend, Jagd macht.
Der Lemming sucht sich vor seinen Verfolgern in seinen
verzweigten Bauen zu retten, in dem Röhrensystem, das er
mit Benutzung der natürlichen Spalten und Furchen im
Boden anlegt, und wodurch er diesen auf weite Strecken so
durchwühlt und umarbeitet, daß er unseren europäischen
Sturzäckern und Brachfeldern ähnlich sieht. Es scheint fast,
als hingen die Wanderungen des Lemmings mit einer Art
Dreifelderwirthschaft zusammen, und als wechselte er die
Gegend, um in dem umgearbeiteten Boden neue Nahrung
für sich bilden zu lassen.
Ihm nach wandern die Eisfüchse. Doch wie dem
Löwen die Hyäne, so folgt der Eisfuchs auch den Spuren
des Eisbären, um sich von den Brocken seines Tisches zu
nähren. In diesem Sommer freilich konnte wenig für den
Eisfuchs abfallen, da der Eisbär selbst nicht genügend Nah-
rung an Seehunden — seiner gewöhnlichen Kost — gefunden
hatte und deshalb zu günstigeren Jagdrevieren fortgezogen war.
Vom Eisbären habe ich nur Spuren gesehen, Herr Dr. Bunge
alier hatte das Glück einen zu erlegen, und zwar an dem
<5Üdtap der Insel Kotcluy, wo diesen wahrscheinlich die in
der Nähe deponirten Vorräthe angelockt hatten.
Um so günstiger siel für mich die Jagd auf Renthiere aus.
Es^ sind von mir und meinen Jägern im Ganzen sechzig
Thiere erlegt worden, davon fünfzig allein auf der Insel
Kotcluy. Die wilden Renthiere ziehen aus der Gegend des
Swätoi Roß sowie auch vom Lena-Delta zum Sommer auf
die Inseln, von denen sie der nördlicheren und zwar der
Insel Fadejew den größten Vorzug geben. Ihr Zug be
ginnt Anfang April und währt bis Ende Mai. Durch
die Strapazen der Reise und in Folge des Gemeihmechsels
kommen sie zwar in höchst abgemagertem Zustande an, ver
mögen aber in der kurzen Sommerzeit sich eine bis vier
fingerdicke Speckschicht aufzumästen, die freilich im September,
sobald Kahlfröste eintreten, welche ihnen ihre Weideplätze
durch Eiskrusten unbenutzbar machen, nur zu bald wieder
schwindet. Ja häufig zwingt sie im Herbste der Hunger
zu früher Rückkehr, wobei sie nicht selten auf dem nicht