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Full Text: Globus, 59/60.1891

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Richard Andree: Die Flutsagen. 
wenn er sagt: „Es scheint mir unmöglich, die Vielheit aller 
Dichtungen von der großen Flut und von der Erschaffung 
des Menschengeschlechts auf die mosaische Urkunde zurück 
zuführen, aus der sie verwildert und entstellt sein sollten, 
das verbieten schon die eigentümlichen Vorzüge, Mängel und 
Abweichungen einer jeden." Muß denn diese Sage gerade 
bei den Semiten entstanden sein, und könnten, wenn wir 
einmal von einem Urquell ausgehen wollten, die Hebräer 
nicht auch von andern Völkern etwas angenommen haben? 
Die Wahnvorstellung von der völligen Originalität der 
Juden in allen Dingen ist von der vergleichenden Völker 
kunde doch längst zurückgewiesen worden, und vieles, was 
nur aus sie oder ihren Gesetzgeber zurückgeführt wurde. (Be 
schneidung, Speiseverbote :c.) erweist sich als weit verbreiteter 
Brauch oder älter als bei den Inden. 
Die vergleichende Ethnographie und das Studium des 
Folklore haben uns heute weit genug geführt, um uns zu 
zeigen, daß Sagen und Erzählungen ihre Wurzeln in der 
Natur des menschlichen Geistes haben. Ihr Dasein hängt 
nicht ab von einer Rasse; gewisse Formen derselben sind 
unter günstigen Umstünden allerdings von einem Volke zum 
andern gewandert und haben dort, verändert nach den 
dortigen Verhältnissen, Lokalfärbungcn angenommen oder 
mit vorhandenen Mythen sich vermischt, so daß es Sache 
der Kritik ist, hier Ursprüngliches und Eingcwandertcs zu 
scheiden. Daß die geologische Diluvialperiode ausgeschlossen 
und mit der mosaischen Fluterzählung nicht in Zusammen 
hang zu bringen sei, wird jetzt allgemein zugegeben, wie denn 
überhaupt von einer die ganze Erde deckenden Flut nicht 
die Rede sein kann und es sich nur um örtliche, teilweise 
Überflutungen handelt. Mit demselben Rechte, wie der 
biblische Bericht, spricht der Indianer Amerikas oder der 
Südseeinsnlaner von der Überschwemmung der ganzen Erde; 
es ist eben die Erde, soweit sie in seinen Gesichtskreis 
fällt, darunter zu verstehen. Die Sage hat überhaupt die 
Neigung, das Kleine zum Großen zu gestalten, ein Ereignis, 
das nur örtlich war, wird von ihr zur Weltbegcbenhcit auf 
gebauscht. 
Abgesehen auch davon, daß die Flutsagen keineswegs in 
dem Grade universell sind, wie man gewöhnlich annimmt, 
spricht der innere Inhalt derselben gegen gemeinsamen Ur 
sprung. Bei vielen zeigt sich, wie wir gesehen haben, der 
offenbare Zusammenhang mit der biblischen Urkunde so 
deutlich, daß sofort der Einfluß christlicher Missionare in 
die Angen springt. Oft ist es die mosaische Erzählung, der 
nur ein örtlicher Mantel umgehangen wird, noch häufiger 
aber die Aufpfropfung derselben auf eine echte, vorhandene 
Flutüberlieferung, die dann erst von dem biblischen Beiwerk 
befreit werden muß, um sie genau zu erkennen. Häufig ist 
auch nur die nackte Thatsache von einer großen Flut über 
liefert, in welcher viele Menschen untergingen, einige aber 
sich auf Berggipfel oder vorsichtig in Kühnen retteten, welche 
vorher mit Lebensrnitteln versehen waren. Solche Ereignisse 
sind so natürlich rrnd einfach, daß man dabei nicht an Ent 
lehnung zu denken oder einen Nachhall des biblischen Be 
richtes anzunehmen braucht. Und will man dennoch letzteres, 
warum fehlen denn alle übrigen gleichwertigen biblischen 
Erzählungen, warum ist denn z. B. die Schöpfungsgeschichte 
nicht erhalten geblieben und nur die Sintslutsage? 
Mit den ausschmückenden Einzelheiten ist es etwas 
andres, und diese, wenn sie zu sehr an den biblischen Bericht 
sich anlehnen, geben uns oft Fingerzeige für eine Entlehnung 
und für spätere christliche Einflüsse. Man hat cs wohl als 
charakteristisch für den biblischen Bericht von der Flut hin 
gestellt und diesen allein auszeichnend, daß die Flut als ein 
göttliches Strafgericht über das sündhafte Menschengeschlecht 
kam und durch dieselbe die Vertilgung stattfand. Aber auch 
dieser Zug findet sich anderweitig in durchaus echten Flut 
sagen und erscheint mir nicht ausfällig. 
In dem von mir mitgeteilten Stosse ist ein Straf 
gericht durch eine vernichtende Flut, ausgehend von einem 
höheren Wesen und verfügt wegen der Sünden der Menschen, 
erzählt bei den Kohls, den Mincopi, bei den Dajaks, den 
Fidschiinsulancrn, den Pelaninsulanern, auf den Gesellschafts 
inseln, bei den Algonguin, den Arawaken. Von diesen 
können aber nur einige als biblisch beeinflußt gelten. 
Die Aussendung der Taube aus der Arche und ihre 
Rückkehr mit dem Ölzweig ist schon eine bezeichnendere 
Einzelheit, die bei ihrem Vorkommen in den Flutsagen der 
Naturvölker Verdacht erregen muß. Namentlich bei den 
Indianern treten verschiedene Vögel, der Nabe, die Moschus 
ratte an die Stelle der Taube, bei andern der Coyote. Stets 
ist dabei aber zu bedenken, daß im Bereiche seefahrender 
Völker das Mitnehmen von Vögeln auf weiten Seereisen, 
um durch diese in zweifelhaften Fällen die Küstcnrichtung 
zu erkennen, nichts Ungewöhnliches ist und daher leicht in 
den Sagen Aufnahme finden konnte. Gerade im Altertum 
finden sich darauf bezügliche Beispiele, wie solcher Gebrauch 
im Indischen Meere bei den Seefahrern von Taprobane 
erwähnt wird. Die Argonauten lassen Tauben fliegen, um 
von der Möglichkeit der Fahrt durch die Symplegadcn sich 
zu überzeugen. Floke Vilgedarson, der 868 auszog, um Is 
land zu entdecken, führte nach dem Landnambuk drei Raben 
mit sich, die ihm als Wegweiser dienen sollten und von 
denen man annahm, daß sie bei der Nähe von Land diesem 
zufliegen würden, so daß der Seefahrer ihnen bloß zu folgen 
brauchte. Auch in den Mythen der nordamerikanischen Völker 
spielen während der Flut ausgesandte Tiere eine Rolle, um 
Land zu erkundigen. 
Der Zug in der Dcnkalionischen Flut, daß Menschen 
durch das Werfen von Steinen entstehen, kehrt wieder bei 
den Indianern Guianas und zwar ganz unvermittelt. 
Als ein sich wiederholender Einzelzug tritt auch die 
Vorausverkündigung der Flut durch Tiere ein. Bei den 
Tschiroki ist ein Hund der Warner, bei den Peruanern sind 
cs Llamas. 
Wieder gilt als ein die Gemeinsamkeit der Flutsagen 
beweisender Zug, daß das Schiff, in welchem die Überlebenden 
sich retten, auf einem hohen Berge strandet. Sofort will man 
darin den Ararat erkennen. Wie aber die Rettung in einem 
Schiffe ein durchaus natürlicher, keine Entlehnung beweisender 
Zug ist, so auch das Sitzenbleiben des Schiffes aus einem 
Berge, und daß dieses ein hoher, durch die Formen in die 
Augen springender sein muß, ist beim Wesen der Sage ganz 
natürlich. Darum kehrt auch der Ararat so oft wieder. In 
Indien (Naubandhanam), der Tendong bei den Leptscha, die 
Insel Wolaemi bei den Mineopi, der Lulumut bei den 
Binnas, der Nusaku auf Ceram, der Parnaß (nach andern 
Othrys, Athos) bei den Hellenen, Mbengge bei den Fidschi- 
insulanern, die Insel Taomarama bei den Gesellschafts 
insulanern, der Tschaneguta der Loncheur, der „Befestigcr" 
in der Olympic Range bei den Clallam, die Cascade Range 
bei den Puyallop, der Taylors Peak bei den Mattoal, der 
Pik von Colhuacan in Mexiko, der Ancasmarca in Peru, 
der Thegtheg bei den Araukanern, der Tamanaku am Orinoko 
sind solche Parallelen des Ararat. Aber nur der kleinere 
Teil dieser Rettungsberge erscheint in unverfälschten Flut- 
sagen, eine etwas größere Zahl findet sich in solchen, die mit 
biblischen Elementen durchsetzt sind. 
Es giebt aber noch andere in den Flutsagen bei den ent 
ferntesten Völkern sich wiederholende Züge, die aus ganz 
natürlicher Veranlassung fließen, aber nicht als Beweisgrund 
einer Entlehnung aufgefaßt werden können. In vielen Flut 
sagen kehrt der Zug wieder, daß das rettende Schiss an ein
	        
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