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Richard Andree: Die Flutsagen.
wenn er sagt: „Es scheint mir unmöglich, die Vielheit aller
Dichtungen von der großen Flut und von der Erschaffung
des Menschengeschlechts auf die mosaische Urkunde zurück
zuführen, aus der sie verwildert und entstellt sein sollten,
das verbieten schon die eigentümlichen Vorzüge, Mängel und
Abweichungen einer jeden." Muß denn diese Sage gerade
bei den Semiten entstanden sein, und könnten, wenn wir
einmal von einem Urquell ausgehen wollten, die Hebräer
nicht auch von andern Völkern etwas angenommen haben?
Die Wahnvorstellung von der völligen Originalität der
Juden in allen Dingen ist von der vergleichenden Völker
kunde doch längst zurückgewiesen worden, und vieles, was
nur aus sie oder ihren Gesetzgeber zurückgeführt wurde. (Be
schneidung, Speiseverbote :c.) erweist sich als weit verbreiteter
Brauch oder älter als bei den Inden.
Die vergleichende Ethnographie und das Studium des
Folklore haben uns heute weit genug geführt, um uns zu
zeigen, daß Sagen und Erzählungen ihre Wurzeln in der
Natur des menschlichen Geistes haben. Ihr Dasein hängt
nicht ab von einer Rasse; gewisse Formen derselben sind
unter günstigen Umstünden allerdings von einem Volke zum
andern gewandert und haben dort, verändert nach den
dortigen Verhältnissen, Lokalfärbungcn angenommen oder
mit vorhandenen Mythen sich vermischt, so daß es Sache
der Kritik ist, hier Ursprüngliches und Eingcwandertcs zu
scheiden. Daß die geologische Diluvialperiode ausgeschlossen
und mit der mosaischen Fluterzählung nicht in Zusammen
hang zu bringen sei, wird jetzt allgemein zugegeben, wie denn
überhaupt von einer die ganze Erde deckenden Flut nicht
die Rede sein kann und es sich nur um örtliche, teilweise
Überflutungen handelt. Mit demselben Rechte, wie der
biblische Bericht, spricht der Indianer Amerikas oder der
Südseeinsnlaner von der Überschwemmung der ganzen Erde;
es ist eben die Erde, soweit sie in seinen Gesichtskreis
fällt, darunter zu verstehen. Die Sage hat überhaupt die
Neigung, das Kleine zum Großen zu gestalten, ein Ereignis,
das nur örtlich war, wird von ihr zur Weltbegcbenhcit auf
gebauscht.
Abgesehen auch davon, daß die Flutsagen keineswegs in
dem Grade universell sind, wie man gewöhnlich annimmt,
spricht der innere Inhalt derselben gegen gemeinsamen Ur
sprung. Bei vielen zeigt sich, wie wir gesehen haben, der
offenbare Zusammenhang mit der biblischen Urkunde so
deutlich, daß sofort der Einfluß christlicher Missionare in
die Angen springt. Oft ist es die mosaische Erzählung, der
nur ein örtlicher Mantel umgehangen wird, noch häufiger
aber die Aufpfropfung derselben auf eine echte, vorhandene
Flutüberlieferung, die dann erst von dem biblischen Beiwerk
befreit werden muß, um sie genau zu erkennen. Häufig ist
auch nur die nackte Thatsache von einer großen Flut über
liefert, in welcher viele Menschen untergingen, einige aber
sich auf Berggipfel oder vorsichtig in Kühnen retteten, welche
vorher mit Lebensrnitteln versehen waren. Solche Ereignisse
sind so natürlich rrnd einfach, daß man dabei nicht an Ent
lehnung zu denken oder einen Nachhall des biblischen Be
richtes anzunehmen braucht. Und will man dennoch letzteres,
warum fehlen denn alle übrigen gleichwertigen biblischen
Erzählungen, warum ist denn z. B. die Schöpfungsgeschichte
nicht erhalten geblieben und nur die Sintslutsage?
Mit den ausschmückenden Einzelheiten ist es etwas
andres, und diese, wenn sie zu sehr an den biblischen Bericht
sich anlehnen, geben uns oft Fingerzeige für eine Entlehnung
und für spätere christliche Einflüsse. Man hat cs wohl als
charakteristisch für den biblischen Bericht von der Flut hin
gestellt und diesen allein auszeichnend, daß die Flut als ein
göttliches Strafgericht über das sündhafte Menschengeschlecht
kam und durch dieselbe die Vertilgung stattfand. Aber auch
dieser Zug findet sich anderweitig in durchaus echten Flut
sagen und erscheint mir nicht ausfällig.
In dem von mir mitgeteilten Stosse ist ein Straf
gericht durch eine vernichtende Flut, ausgehend von einem
höheren Wesen und verfügt wegen der Sünden der Menschen,
erzählt bei den Kohls, den Mincopi, bei den Dajaks, den
Fidschiinsulancrn, den Pelaninsulanern, auf den Gesellschafts
inseln, bei den Algonguin, den Arawaken. Von diesen
können aber nur einige als biblisch beeinflußt gelten.
Die Aussendung der Taube aus der Arche und ihre
Rückkehr mit dem Ölzweig ist schon eine bezeichnendere
Einzelheit, die bei ihrem Vorkommen in den Flutsagen der
Naturvölker Verdacht erregen muß. Namentlich bei den
Indianern treten verschiedene Vögel, der Nabe, die Moschus
ratte an die Stelle der Taube, bei andern der Coyote. Stets
ist dabei aber zu bedenken, daß im Bereiche seefahrender
Völker das Mitnehmen von Vögeln auf weiten Seereisen,
um durch diese in zweifelhaften Fällen die Küstcnrichtung
zu erkennen, nichts Ungewöhnliches ist und daher leicht in
den Sagen Aufnahme finden konnte. Gerade im Altertum
finden sich darauf bezügliche Beispiele, wie solcher Gebrauch
im Indischen Meere bei den Seefahrern von Taprobane
erwähnt wird. Die Argonauten lassen Tauben fliegen, um
von der Möglichkeit der Fahrt durch die Symplegadcn sich
zu überzeugen. Floke Vilgedarson, der 868 auszog, um Is
land zu entdecken, führte nach dem Landnambuk drei Raben
mit sich, die ihm als Wegweiser dienen sollten und von
denen man annahm, daß sie bei der Nähe von Land diesem
zufliegen würden, so daß der Seefahrer ihnen bloß zu folgen
brauchte. Auch in den Mythen der nordamerikanischen Völker
spielen während der Flut ausgesandte Tiere eine Rolle, um
Land zu erkundigen.
Der Zug in der Dcnkalionischen Flut, daß Menschen
durch das Werfen von Steinen entstehen, kehrt wieder bei
den Indianern Guianas und zwar ganz unvermittelt.
Als ein sich wiederholender Einzelzug tritt auch die
Vorausverkündigung der Flut durch Tiere ein. Bei den
Tschiroki ist ein Hund der Warner, bei den Peruanern sind
cs Llamas.
Wieder gilt als ein die Gemeinsamkeit der Flutsagen
beweisender Zug, daß das Schiff, in welchem die Überlebenden
sich retten, auf einem hohen Berge strandet. Sofort will man
darin den Ararat erkennen. Wie aber die Rettung in einem
Schiffe ein durchaus natürlicher, keine Entlehnung beweisender
Zug ist, so auch das Sitzenbleiben des Schiffes aus einem
Berge, und daß dieses ein hoher, durch die Formen in die
Augen springender sein muß, ist beim Wesen der Sage ganz
natürlich. Darum kehrt auch der Ararat so oft wieder. In
Indien (Naubandhanam), der Tendong bei den Leptscha, die
Insel Wolaemi bei den Mineopi, der Lulumut bei den
Binnas, der Nusaku auf Ceram, der Parnaß (nach andern
Othrys, Athos) bei den Hellenen, Mbengge bei den Fidschi-
insulanern, die Insel Taomarama bei den Gesellschafts
insulanern, der Tschaneguta der Loncheur, der „Befestigcr"
in der Olympic Range bei den Clallam, die Cascade Range
bei den Puyallop, der Taylors Peak bei den Mattoal, der
Pik von Colhuacan in Mexiko, der Ancasmarca in Peru,
der Thegtheg bei den Araukanern, der Tamanaku am Orinoko
sind solche Parallelen des Ararat. Aber nur der kleinere
Teil dieser Rettungsberge erscheint in unverfälschten Flut-
sagen, eine etwas größere Zahl findet sich in solchen, die mit
biblischen Elementen durchsetzt sind.
Es giebt aber noch andere in den Flutsagen bei den ent
ferntesten Völkern sich wiederholende Züge, die aus ganz
natürlicher Veranlassung fließen, aber nicht als Beweisgrund
einer Entlehnung aufgefaßt werden können. In vielen Flut
sagen kehrt der Zug wieder, daß das rettende Schiss an ein