54
Ioh a il Winkler: Friesland, Friesen und friesische Sprache in den Niederlanden.
Große Fabriken findet man überhaupt nicht; jedoch sind in
den letzten fünf Jahren viele kleine Bntterfabriken oder
Dampfmciereien errichtet worden.
Die meisten Friesen sind Protestanten und zwar Refor-
mirte, in drei kirchlichen Abteilungen. Unter den Katholiken,
deren Zahl durch Einwanderung, namentlich aus Westfalen
zunimmt, befinden sich nur wenige ans altfriesifchem Blute.
Die es aber sind, gehören gerade zu den ältesten friesischen
Geschlechtern, namentlich im Bauern- und Bauernarbeiter
stand. Die Zahl der Mennoniten, Anhänger des friesischen
Reformators Menno Simons, früher sehr zahlreich,
nimmt fortwährend ab.
Der Hanptort Leeuwardcn (fr. Eio^erä, gespr. Ljou’t,
mit 30 433 Einwohnern) ist eine schöne blühende Stadt mit
viel Binnenhandel und starkem Verkehr, zumal an Markt
tagen, wenn das Landvolk aus ganz Friesland hier zusammen
strömt. Mitten im Lande gelegen, vertritt sie in jeder
Hinsicht die Stelle einer kleinen Hauptstadt, den Mittelpunkt
des Verkehrs auf verschiedenen Gebieten. Sneek (Luits,
11 469 Einwohner) zeigt das Bild der Hauptstadt im ver
kleinerten Maße. Sic ist, wie Bolsward (ßoalswert, gespr.
Boalse’t, 6015 Einwohner), eine hübsche Stadt, die an
Reinlichkeit und freundlichem Aussehen noch alle andern frie
sischen und niederländischen Städte im allgemeinen übertrifft.
Bolsward und Franeker (Echsantchor, 7198 Einwohner)
sind von altersher ansehnliche Städte. Bolsward, durch
seine ehemalige Lage an der Middelzee begünstigt, trieb im
Mittelalter ansehnlichen Handel und war Mitglied der
Hansa; Franeker hatte von 1584 bis 1811 eine be
rühmte Hochschule. In beiden Städten sind noch einige
schöne alte Gebäude vorhanden, unter denen sich die Haupt-
kirchen und Rathäuser auszeichnen. Die Hanptkirchen, beide
St. Martinus geweiht, im gotischen Stile erbaut, stam
men aus dem späten Mittelalter. Die wunderbar zierlichen
Rathäuser sind im Renaissancestil erbaut; das Franekersche
von 1591, das Bolswardsche von 1614. Außer diesen bei
den schönen Rathäusern befindet sich auch noch zu Leeuwar-
den ein herrliches Renaissancegebäude ans dem Jahre 1571
mit dem Bilde Kaiser Karls V. auf dem hohen Giebel,
dem einzigen in den nördlichen Niederlanden; es ist dieses
die sogenannte Canselary, ursprünglich ein Gcrichtsgebäude.
An alten Kunstwerken, Architektur und Holzschnitzerei
weisen die zwei alten Bolswarder Kirchen, die Parochiekirchc
St. Martin und die nicht mehr benutzte Klosterkirche
(Brüderkirche, fr. Broarets^orko), viel schönes auf. Im
späten Mittelalter standen überhaupt in Bolsward die schönen
Künste in hoher Blüte; sie fanden dort Pflege und Ver
ständnis. Auch Dokkum (4053 Einwohner), jetzt ein freund
liches Landstüdtchen, ist ein sehr alter Ort; dort werden
Reliquien, von St. Bonisacius, d. i. Winfred dem
Friesenapostel, aufbewahrt, der in der Nähe Dokkums bei
Murmerwonde (fr. Noarmsrwalck, Mörderwald) im Jahre
755 von den heidnischen Friesen ermordet wurde. Harlingen
(fr. Harns, 10195 Einwohner), der wichtigste friesische
Hafen, besitzt Handel und Ausfuhr nach England. Staveren I
(fr. Stamm, Stearum, 820 Einwohner), die uralte friesische
Hauptstadt, vor dem Aufkommen Amsterdams im Mittel
alter eine blühende Handelsstadt, berühmt als Sitz der
friesischen Herzöge und Könige in sagenreicher Vorzeit, ist
i) Die amtliche niederländische Schreibart dieses Orts
namens, der man auch gewöhnlich in Deutschland solgt, ist
Stavoren; wobei jedoch der Ton nicht aus vo, sondern auf
Sta liegt. Diese Schreibart ist falsch. Sic beruht nur auf
der haltlosen Meinung der Stubengelehrten in der Perückenzeit,
die einen altfriesischen Götzen Stavo annahm, der in dieser
altfriesischen Hauptstadt besonders verehrt worden sein und ihr
den Namen gegeben haben soll.
jetzt ein kleiner, ganz unbedeutender Ort. Auch das be
nachbarte Hindeloopen (fr. Hînljippen, 1030 Einwohner),
dessen Einwohner das Friesische in einer besonderen Mnnd-
art reden, und die bis in unser Jahrhundert eine eigene,
merkwürdige Tracht besaßen, ist von seiner ehemaligen
Größe und Wohlfahrt, die in Handel und Schiffahrt wur
zelte, ganz herabgesunken. Workum (Woarkum, Warkom,
4245 Einwohner) treibt Handel und ist nicht oh-ne be
lang; 4)lst (Drîlst, 1529 Einwohner) und Slotcn (Staat,
771 Einwohner) sind unbedeutende Landstädtchen.
Die friesischen Dörfer erstrecken sich über 30, rechnet
man die Inseln hinzu, über 32 Landgemeinden. Letztere,
dem Umfange nach größer lind volkreicher als diejenigen
der übrigen niederländischen Provinzen, führten — und
führen in der Volkssprache noch jetzt — den altfriesischen
Namen der Grietenyen, ebenso wie der vorgesetzte Rc-
giernngsbeamte Grietman hieß, jetzt niederländisch Burge-
meester. Im Jahre 1848 oder kurz darauf mußten auch
diese altfriesischen Benennungen der Centralisationswut der
Holländer, der Egalité der Umstürzler zum Opfer fallen.
Doch die alte Einteilung ist geblieben, ebenso der altfriesische,
jetzt taliter qualiter verholländerte Name der Grietenyen
Leeuwarderadeel (fr. Liowerteradiel), Menaldnmndecl, Tie-
tjerksteradeel, Wymbritseradeel, Doniawarstal, Hemelumcr-
Oldefert u. s. w. Sind die friesischen Städte im allgemeinen
klein, einige sogar sehr klein und nicht volkreich, so sind im
Gegensatze die Grietenyen meist größer und bevölkerter.
Opsterland hat 14 570 Einwohner in 14 Dörfern; Schoter-
land 14 094 Einwohner in 19 Dörfern; Tietjerksteradeel
13 949 Einwohner in 14 Dörfern; West-Stellingwerf
15 492 Einwohner in 20 Dörfern; Wonseradeel 12 844
Einwohner in 29 Dörfern; Wymbritseradeel 12 321 Ein
wohner in 28 Dörfern.
Außer den elf Städten machen acht belangreiche und
blühende Flecken, die ebenso vielen kleinen netten Städten
gleichen, einen Schmuck des Fricsenlandes aus. Es sind dieses
Kollum, Drachten, Gorredyk, Heerenveen, de Joure, Balk,
de Lemmer und Makkum. Außer den beiden letzten an
der See, an der Süd- und Westküste des Landes gelegenen,
liegen die sechs übrigen Marktflecken alle in den schönsten,
waldreichsten Gegenden Frieslands, in der umuittelbarcn
Nähe von Beenklooster, Beetsterzwaag und Olterterp, des
Oranjewoud, Gaasterland (de Joure auch noch ans Wasser
land grenzend), wo Natur und Kunst die lieblichsten Land
schaften hervorbrachten. Diese Lage der friesischen Markt
flecken steht im völligen Gegensatze zu jener der friesischen
Städte, die alle auf baumlosem Klei- und Moorboden stehen,
inmitten endloser Weiden. Und da nun die Fremden meist
die Städte aufsuchen, weit mehr als Flecken und Dörfer,
so ist dieses auch mit die Ursache gewesen, Friesland in den
ganz unbegründeten Ruf eines unschönen, prosaischen Landes
zu bringen. Große und schöne Dörfer, abgesehen von den
bereits oben genannten sind noch Bcrgnm (fr. Birgum),
Stiens, Hallum, Berlikum (fr. Beltsum), Dronrijp, Arum,
Witmarsum, Wolvega, Koudum, Gron, Akkrum n. a.
Das friesische Volk zeichnet sich durch viele Eigentüm
lichkeiten aus. Wo fände ich ein Ende, wenn ich alle diese
Eigenheiten, wenn auch noch so oberflächlich, meinen Lesern
mitteilen wollte? Ich will mich daher auf eine Eigentüm
lichkeit beschränken, auf die vornehmste und merkwürdigste,
auf die friesische Sprache. Doch kann ich dazu nicht über
gehen, ohne noch vorher flüchtig den uralten, aus der Vor
väterzeit stammenden Kopfschmuck der Friesinnen, die so
genannten Ohreisen (fr. eariser, gesprochen ^erisck'r, niederl.
ooryzer) zu erwähnen. Es ist dieses ein metallener Bügel