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Herbert Zschelletzschky
Und noch einmal kehrt das Motiv der gefesselten Gerechtigkeit wieder: diesmal
auf Dürers Holzschnittfries Der Teppich von Michelfeld 47 ), der, wie wir sahen,
dem Sebald Beham und damit sicher auch seinem Bruder Barthel bekannt gewesen
ist. Wie auf dem Sachs-Bilderbogen erblicken wir die „Gerechtigkait“ in den Block
gespannt: diesmal durch die „betrügnüs“, den ungerechten Richter, inhaftiert und
ihres Schwertes überhaupt beraubt und in Gemeinschaft mit den beiden anderen sitt
lichen Prinzipien Vernunft und Wahrheit. Und wie auf Barthel Behams Blatt von der
Welt Lauf begegnen wir — als für unsere Untersuchung bemerkenswertestem Fakt —
der Tierfigur des Fuchses. Auch hier sehen wir — jetzt als den Gegenspieler der
„Jungfrau Zeit“, die das mit „lauter Raubvögeln und Schädlingen der Vogelwelt“
als vielfältigem Ausdruck der Schädlinge der Gesellschaft besetzte Lebensrad nicht
mehr drehen mag, „als habe sie es satt, ihre als unsinnig durchschaute Arbeit weiter
fortzusetzen,... weil sie eingesehen hat, daß eine Welt, worin Vernunft, Gerechtigkeit
und Wahrheit vergewaltigt werden, nicht mehr verdient, daß sie sich weiterdreht“ —
den Fuchs als „böses Weltprinzip“ am negativen Werk: bei dem wütenden Bemühen,
den bösen Lauf der Welt, das Zeitrad, weiterzutreiben und in Schwung zu halten.
Es ist kein Zufall, daß sich zu Barthel Behams Darstellung der schlafenden und in
Ketten geschlagenen Gerechtigkeit in ihrer zeitlichen Umgebung thematisch ver
wandte Allegorien finden. Vielmehr bezeugt dies, daß der Künstler mit seinem
Bildvorwurf einen für seine Zeit typischen Stoff aufgegriffen hat, der aus dem un
glücklichen Ausgang des Bauernkrieges seine erhöhte Aktualität erhält und in der
geheimen Spannung des Bildes die großen politischen Spannungen der von antago
nistischen Widersprüchen erfüllten Zeit widerspiegelt. Diese geheime Spannung er
gibt sich aus den gegeneinanderwirkenden Schrägen des Bildes: der sinkenden Dia
gonale der schlafenden Gestalten, der ansteigenden Silhouette der Stadtansicht im
Hintergrund, der aktiven Gegenbewegung des enteilenden Fuchses, der blitzenden
Gegenschräge des Schwertes. Und sie entsteht weiter aus dem noch im Schlaf schmerz
lich angestrengten Gesicht der Frau, aus der Haltung des Weibes, die nicht einen
geruhsamen Schlummer verrät, sondern im erschöpften Anlehnen des nackten Ober
körpers an den dunklen Baumstamm am Bildrand noch ein Widerstreben, ein Sich-
haltenwollen spürbar werden läßt. Mit dem Gefühl der Enttäuschung über der Welt
Lauf ringen Parteinahme des Künstlers für den in diesem Bilde nicht sichtbar werden
den verratenen und entrechteten Hauptakteur des großen Bauernaufstandes und bitte
rer Zorn über dessen Schicksal. Sie erhöhen den Inhalt des kleinen Kupferstiches,
der trotz seiner geringen äußeren Ausmaße in der kraftvollen Gestalt des ins Eisen
geschlossenen Weibes einen Anspruch auf Monumentalität erhebt, zu einem bild
mäßigen Denkmal des tapferen revolutionären Streiters für Recht und Freiheit, für
die von Thomas Münzer verkündete bessere Weltordnung — zu einem Denkmal, das
wir mit Fug in die Nähe jenes Holzschnittes setzen dürfen, mit dem Albrecht Dürer in
heißem Mitgefühl eine Gedächtsnissäule für den Geschlagenen des Bauernkrieges
entworfen hat. 7
i7 ) Vgl. hierfür den schon mehrfach erwähnten Aufsatz Wilhelm Fraengcrs: Der Teppich
von Michelfeld, besonders auf den Seiten i9if., 196, 198. Die Zitate nach W. Fraenger.