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Maja BoSkovic-Stulli
heutige korrekte Verhalten gegenüber den Textberichtigungen in Vuks und anderen
klassischen Sammlungen formuliert. Trotzdem wird über diese Fragen bis zum
heutigen Tag gestritten. Kennzeichnend dabei ist, daß man fast immer Jacob Grimm
als Autorität ins Feld führt, um die Veränderung von Texten zu rechtfertigen, mochte
auch seine Ansicht über diese Frage schon zu jener Zeit recht rigoros, doch nicht
ganz folgerichtig gewesen sein. So unterstützt z. B. J. Skerlic, der bekannte Ver
fasser einer Geschichte der neueren serbischen Literatur, in dem Kapitel über Vuk
Karadzic, das auch ziemlich oft von Grimm handelt, die Veränderungen Vuks an
Liedern und Erzählungen, als voll zu Recht bestehend, wobei er Vuks Geschmack,
mit dem er dabei vorgegangen war, bewundert. Dabei beruft er sich auf analoge
Handlungsweisen andrer Sammler: „So ist übrigens auch Jacob Grimm verfahren,
als er deutsche Volkserzählungen sammelte, ebenso die deutschen romantischen Dich
ter Arnim und Brentano bei der Sammlung der Volkslieder.“ 18
Noch bei einem anderen, bis heute lebhaft diskutierten Problem widerspricht
Murko Curcin unter Berufung auf Grimm, diesmal in Übereinstimmung mit ihm.
Murko, ein Slowene von Geburt, wirft Curcin vor, daß er Dalmatien und den
übrigen westlichen Gebieten Jugoslawiens einen schöpferischen Anteil an der Volks
dichtung, die er für ausschließlich serbisch hält, abspreche. Murko erinnert daran,
daß Jacob Grimm den richtigen Weg gewiesen habe, wenn er in seinem Vorwort zu
Vuks serbischer Grammatik — mochte er auch der Meinung sein, daß es für alle
Südslawen keinen ruhmreicheren Namen gebe als den serbischen — erwähnt, daß
Fortis die Welt mit einigen „morlakischen, d. h. serbokroatischen Liedern 19 be
kannt gemacht“ habe. Dieser Frage wendet sich Murko erneut in seinem berühmten
Werk über die serbokroatische Volksepik zu, worin er das erwähnte Grimm-Zitat
hervorhebt, „das man im Leben und in der Wissenschaft völlig vergessen“ habe.
An gleicher Stelle äußert Murko den Gedanken, daß „das Volkslied die Serben und
die Kroaten zu einem Ganzen vereint“, was auch J. Kopitar gewußt und Grimm
darüber belehrt habe. 20
So verknüpfte sich mit Grimms Namen eine grundsätzliche Frage über den
Charakter der serbokroatischen Volksdichtung, über die in dieser Beziehung schon
im vergangenen Jahrhundert debattiert wurde. In der Zagreber Zeitschrift „Vijenac“
18 Jovan Skerlic: Istorija nove srpske knjizevnosti (Geschichte der neuen serbischen
Literatur). 3. Aufl. Beograd 1953, S. 239.
19 Archiv für slavische Philologie 28 (1906), S. 361.
20 Matija Murko: Tragom srpsko-hrvatske narodne epike (Auf den Spuren der serbo
kroatischen Volksepik). Bd. I. Zagreb 1951, S. 10; s. auch S. 402. — Curcin hat in der
Zwischenzeit seine Ansicht berichtigt, nachdem er „mehr Tatsachen kennengelernt hat —
im Hinblick auf die Volkslieder und ihre Verbreitung namentlich in Dalmatien und Bosnien-
Herzegowina“, und er hat festgestellt, daß die ,Hasanaginica‘ „offenbar aus den Schichten
unseres Volkes stammt, die sich und ihre Sprache als kroatisch bezeichnen“ . . . „Und da
eben die ,Hasanaginica‘ unserem Volkslied den Weg in die Welt geebnet hat, wäre es nur
recht und billig, daß man, wenn in der Weltliteratur von ihm die Rede ist, den kroatischen
Namen neben dem serbischen Namen (den Vuk popularisiert hat) erwähnte.“ (M. C.:
,Hasanaginica‘ u narodu [Die ,Hasanaginica‘ im Volk], In: Nova Evropa 1932, Nr. 3—4,
S. 119 — 130; Zitat auf S. 130.)