cüiümwft&Yü
72
Friedrich Sieber
sicht, das Leben ganzer Jahrhunderte sei durchdrungen gewesen von dumpfer, un-
erfreuender Barbarei“, und so ist er glücklich festzustellen: „Unser einheimisches
Heidentum erscheint ungedrückt durch traurige Vorstellungen vom Elend des
herabgesunkenen Daseins (wie die indische Emanationslehre), es huldigte sorgen
freiem Fatalismus und glaubte ein Paradies, Welterneuerung, vergötterte Helden..
In dienender Hingabe sieht er seine Arbeit als im Dienste des Vaterlandes vollbracht:
„Weil ich lernte, daß seine Sprache, sein Recht und sein Altertum viel zu niedrig ge
stellt waren, wollte ich das Vaterland erheben.“ 3 Diese Dreiheit: die wissenschaft
liche Behandlung der Sprache, der Rechts Satzungen und Weistümer und der hei
mischen Glaubens weit in Vor- und Frühzeit brachte er der bürgerlichen Nation seiner
Zeit als edle Gaben, die sich in der Hand ganzer Geschlechter tüchtiger Gelehrter
vielfältig mehrten. Zwar führte Verengung der Horizonte gerade auf dem Gebiet
der Mythologie zu törichten Übertreibungen, aber Germanentümelei und chauvi
nistischer Wahn nährten sich nicht aus der sachlichen Kühle und humanen Weite der
Grimmschen Mythologie. Solche Entartungen kamen aus politischen Bereichen und
schufen, wenn sie sich wissenschaftlich drapieren wollten, eine für ihre Zwecke zu
gestutzte Germanenkunde.
Im Gang der Forschung übten die Deutsche Mythologie und die Autorität ihres
Schöpfers über die Grenzen Deutschlands hinweg langhin dauernde Wirkung aus.
Erst Wilhelm Mannhardt überwand mit seiner Theorie des Vegetationsdämons in
gewissen Bereichen die mythologisch-mythische Schau Grimms.
Doch offenbar erschließen Brauchtraditionen eher ihren Sinn, wenn sie ohne vor
gefaßte Theorie aus sich selbst verstanden werden. Dabei sind wir geneigt, zeit
bedingte Elemente, die wir, wenn sie bedeutungsvoll genug sind, epochale Kultur
gebärden nennen wollen, wichtiger zu nehmen als bislang im allgemeinen geschehen
ist. Eine solche Verfahrensweise zeigt die Brauchtraditionen, den jeweiligen Ent
wicklungsphasen der Volkskulturen eingebunden, im Widerspiel von Beharrung und
Wandel in bezug auf Form, Funktion und Sinn. Eine solche Verfahrensweise zielt
auf die historisch greifbare Lebensgeschichte eines Brauches ab. Diese Betonung
epochaler historischer Konkretisierungen läßt uns zögernder genetische Zusammen
hänge zwischen scheinbaren Entsprechungen über weite Zeiten und Räume hinweg
ansetzen.
Es sei erlaubt, am Beispiel des Todaustragens die Deutung Grimms, ihre Nach
wirkungen und neuere Einsichten nebeneinander zu stellen. Wir wählen dieses Bei
spiel, um weitere Fehlansätze zu verhindern, wie sie gerade einflußreichen neueren
Darstellungen des so beliebten Themas anhaften. 4 Die Behandlung des Brauches, am
Sonntag Lätare den Tod auszutreiben (auszutragen), ist in Grimms Mythologie dem
24. Kapitel mit der Überschrift Sommer und Winter eingefügt. Grimm haucht diesen
beiden Personifikationen allegorisierenden nordischen Dichtens Leben ein und stei-
3 Mythologie I, Vorrede S. VIII; XLI; XL.
4 Die vorgetragenen Ergebnisse sind einer sich dem Abschluß zuneigenden Untersuchung
über Todaustragen und Sommerholen entnommen, die vom Verf. des Aufsatzes in Partner
schaft mit Dr. Siegfried Kube im Institut für deutsche Volkskunde, Forschungsstelle Dres
den, durchgeführt wird.