Die Deutung des „Todaustreibens'
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gert sie zu mythischen riesischen Repräsentanten der beiden Jahreszeiten: Sumar
von guter, freundlicher, Vetr von böser Art, „sodaß sich auch hier wieder die doppelte
Natur der Riesen einleuchtend erweist.“ 5 Nach Grimm haben sich Spuren dieser
mythischen Auffassung der beiden Jahreszeiten in Redensarten des Volkes und in
dichterischen Wendungen lange erhalten. Vor allem die entsprechenden Personi
fikationen der mittelhochdeutschen Dichtersprache wertet er in diesem Sinne aus. 6
Auch in Sitte und Brauch sucht Grimm nach Spuren einstiger mythischer Bezüge
zwischen den beiden Jahreszeiten. Dabei überträgt er die ihm aus Edda, mittelhoch
deutschen Dichtungen und späteren Volkssagen bekannten Riesenkämpfe auch auf
das jahreszeitliche Gegnerpaar und setzt als selbstverständliches Postulat, daß auch
in der Brauchübung Sommer und Winter einen Kampf ausgefochten haben müßten.
Im Bericht des Olaus Magnus über das schwedisch-gotische Maigrafenfest, in Streit
gesprächen und Streitliedern zwischen Sommer und Winter sieht er Nachklänge
eines solchen Kampfes. Und wenn in niederdeutschenMaigrafenfahrten solche An-
und Nachklänge fehlen, so fragt er in unerschütterter Überzeugung: „Wie sollte
dieser Kampf in älterer Zeit gemangelt haben? Gewiß war er da, und erst allmählich
ließ ihn die Sitte weg.“ 7
Eine Hauptstütze seiner These sind für Grimm die Nachrichten über den Kampf
zwischen einem in Efeu oder Singrün gekleideten Sommer und einem in Stroh oder
Moos vermummten Winter. In Gegenden des mittleren Rheins, in der Pfalz, im
Odenwald sieht er die Sitte beheimatet, und da er das Sommertagssingen als diesem
Komplex zugehörig betrachtet, teilt er aus den Sommertagsliedern die seinem
Meinen nach auf einen Kampf hindeutenden Stellen mit und kommt zu dem Schluß:
„Alles ist ganz heidnisch gedacht und gefaßt; der herbeigeholte, aus seinem Schlaf
geweckte, tapfere Sommer, der überwundene, in den Kot niedergeworfene, in Bande
gelegte, mit Stäben geschlagene, geblendete, ausgetriebene Winter sind Halbgötter
oder Riesen des Altertums.“ 8
Im Weiterverfolg der Sommertagssitte stößt Grimm, der die einschlägige Literatur
über den Gegenstand ausgezeichnet kennt, auf ein merkwürdiges Phänomen: Die
ihn beglückenden Kampfverse
Stab aus, Stab aus,
Stecht dem Winter die Augen aus!
lauten, „jemehr man sich über den Odenwald zurück dem innern Franken, dem Spes
sart und der Rhön nähert“:
Stab aus, Stab aus,
Stecht dem Tod die Augen aus!
5 Mythologie II, S. 633.
8 Schon Ludwig Uhland hat diese Anschauung Grimms taktvoll korrigiert: „In sämt
lichen bisher aufgezählten Spielen und Kampfgesprächen sind Sommer und Winter lediglich
allegorische Personen; sie erscheinen mit ihren nackten begrifflichen Namen oder doch nur
in leichter Verhüllung.“ Abhandlung über die deutschen Volkslieder. Sommer und Winter..
7 Mythologie II, S. 648.
8 Mythologie II, S. 638.