Helmut Ottenjann
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„Stoffhuberei“ ohne ersichtlichen theoretischen Forschungs- und Sammlungs
ansatz und die daraus gezogene Schlußfolgerung einer schmalspurigen oder wissen
schaftlich geringwertigen Erkenntnismöglichkeit durch die materielle Kultur führ
ten zu höchst unterschiedlichen Standpunkten, jedoch letztendlich zu fruchtbaren
neuen Denkansätzen und neuen Forschungsprojekten in vielen dieser Museen.
Noch heute gültige Aussagen bei der seinerzeitigen Suche nach neuer Zielorien
tierung für alle Institutionen volkskundlicher Forschungs- und Dokumentations
arbeit verdanken wir u. a. K.-S. Kramer, der unermüdlich und unüberhörbar alle
kulturellen Äußerungen unterschiedlicher Bevölkerungsschichten — ob geistiger
oder materieller Art - als gleichermaßen erforschenswert und dokumentations
würdig anerkannte, indem er formulierte: „Keine Wissenschaft kann es sich lei
sten, einen Quellenbestand einfach zu ignorieren oder ihn nur nach Gelegenheit
ünd Neigung zur Kenntnis zu nehmen, und zwar einen Quellenbestand, der, wie
es sich erwiesen hat, von erstaunlicher Aussagekraft und Aussagebreite ist. Und es
geht nicht an, die allerdings sehr mühevolle Aufschließung dieses Quellenbestan
des als zweitrangige Kärrnerarbeit abzuwerten, weil der ,Odem des Ganzen’ nicht
darin wehe (Was übrigens erst erwiesen sein müßte!)“. 4
Die kurzfristigen fachinternen Meinungsverschiedenheiten in der Gewichtung
der Dokumentation und Erforschung des historischen materiellen und geistigen
Kulturgutes durch die Volkskundler an den Museen einerseits sowie durch die
Volkskundler an den Universitäten und wissenschaftlichen Instituten andererseits
konnten überwunden und harmonisiert werden durch das gemeinsame, kraftzeh
rende Ringen um einen Konsens in der Neueinschätzung des Wissenschaftspro
gramms der Volkskunde. Dieser notwendige Prozeß der Umorientierung und
Standortfindung eines klar umrissenen Wissenschafts- und Bildungsauftrags der
Volkskunde im großen Konzert aller Geisteswissenschaften erbrachte nicht zuletzt
für die volkskundlich orientierte Museologie einen beachtlichen Zugewinn, eine
neue Identität als gesellschaftlich relevante, öffentlich anerkannte und alljährlich
millionenfach frequentierte Kultürinstitution.
Dank der konsequenten Hinwendung zum großen Bereich der historischen So
zialwissenschaften sind sich die Volkskundler heute in der bestimmenden Mehr
heit einig, daß diese Wissenschaftsdisziplin die ganze Bandbreite einer Alltagskul
tur unterschiedlicher Bevölkerungsschichten in zeitlicher und räumlicher Perspek
tive zu erforschen und - was das volkskundliche Museum angeht - auch zu
sammeln und zu präsentieren hat. 5
Zugegebenermaßen stellt die Analyse regional unterschiedlichen kulturellen
und sozialen Verhaltens bestimmter Gruppen aller Bevölkerungsschichten im
Wandel der Zeit sowie die Erforschung der materiellen Indikatoren dieses Wand
lungsprozesses schlichtweg eine historische Aufgabe dar. Einerseits bedeutet die
4 Karl-Sigismund Kramer: Zur Erforschung der historischen Volkskultur (wie Anm. 2) S. 9.
5 Harry Kühnei (Hrsg.): Alltag im Spätmittelalter, Graz 1984.