Ronald Lutz
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So scheint die Ahnung einer anderen Körpernutzung Ahnung zu bleiben, die
im modernen Sport eingelagert ist. Neben das „weiche Laufen“ tritt uneinge
schränkt das „Leistungslaufen“; beide sind Konkretionen einer Sache, die sich un
auflöslich durchmischen. Die Gesundheit, mit der diese Ahnung gekoppelt blieb,
war ständiger Begleiter des Zivilisationsprozesses, trat in Krisenzeiten als Protest
und Korrektiv auf, modifizierte den Fortgang der Moderne allenfalls; insofern war
sie lediglich der Kitt, der alles zusammenhielt. 76 So bleibt auch das „neue Laufen“
oder das „weiche Laufen“ eine Dimension, die als mahnender Zeigefinger dem Lei
stungslaufen allenfalls programmatisch Alternativen aufzeigt.
Die Ausdifferenzierung des Gesundheitsmotivs im Spaß-Sport, im Gesundheits-
Sport, oder welchen Bindestrich-Sport man noch erfinden mag, ist lediglich eine
neue Variante sportlicher Aktivität, die aktualisierte Bedürfnisse aufgreift und die
Menschen an den Sportbetrieb zurückbindet und damit auch in den Fortgang ge
sellschaftlicher Entwicklung.
Wenn man die Entwicklung der letzten Jahrzehnte unter dem „Individualisie
rungsaspekt“ sieht, dann ist die Laufbewegung hierfür ein Paradigma. Aus traditio-
nalen Bindungen gelöste Individuen, die zur lebensweltlichen Reproduktionsein
heit des Sozialen werden, ihr eigenes Biotop gestalten, sich scheinbar aus der Ge
sellschaft zurückziehen, haben im Laufen ein Werkzeug für ihre Biographie-Arbeit
gefunden. 77 Das Fatale aber ist, daß in dieser Individualisierung eine rigorose Au
ßensteuerung greift, die zur Vereinheitlichung und Standardisierung der Lebens
wege drängt und damit die isolierten Subjekte noch radikaler als zuvor an gesell
schaftliche Wirklichkeit anschließt. Die Menschen werden abhängig von Moden
und Bewegungen, da der Zugriff auf den einzelnen direkter geworden ist, unmittel
barer. Die Laufbewegung ist ein Beispiel für diese Steuerung der Menschen.
Insofern ist Laufen tatsächlich nur das Zwischenstadium einer Körpernutzungs
geschichte, die immer auch Ausblicke auf andere Dimensionen offen hält. Sich an
kündigende Weiterentwicklungen des Volkslaufs, wie Bergläufe, Triathlon oder
Kombinationen wie Laufen und Bergsteigen, tendieren letztlich in die eingeschla
gene Richtung. Allerdings verlassen sie auf noch radikalere Weise die seitherige
Regelhaftigkeit des Sports.
76 Vgl. J. Bopp: Die Tyrannei des Körpers. In: Kursbuch 88/1987, S. 49—66.
77 Vgl. U. Beck: Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne. Frankfurt am Main 1986.