Burkhart Lauterbach
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ten. 6 Die Befunde von Barthes und Ranft werden zudem gestützt durch eine aus
führliche, vergleichende Rezension unterschiedlicher deutschsprachiger Reisefüh
rer durch die „Stiftung Warentest“. In dem entsprechenden Bericht in der Zeit
schrift „test“ (6/1984) heißt es: „Wirklich hinführen zu den Touristenattraktionen
unserer Tage tut kein einziger der Bände, die wir unter die Lupe nahmen. (...) Wäh
rend Fernreiseführer — ob alternativ oder konventionell — und die neuerdings wie
Pilze wuchernden Wanderführer für mitteleuropäische Landschaften erkennbar
vor Ort erarbeitet werden (in welcher Qualität auch immer), scheinen die Autoren
der allgemein informierenden Deutschlandführer bienenfleißige Schreibtischmen
schen zu sein: Sie füllen ihre Zettelkästen mit Notizen, die sie der Konkurrenz ent
nehmen, entlehnen Jahreszahlen aus Dehio oder Reclam, treffen aus örtlichen Ga
stronomielisten eine nicht nachvollziehbare Auswahl, und flicken, falls sich ir
gendwo ein Freizeitpark, ein Funbad, eine Superseilbahn etabliert, deren Namen
an mehr oder minder geeigneter Stelle ein. Und so sehen die Bände von Baedeker
bis Polyglott aus: Flickwerk.“ 7 Ebenso, wie Barthes es unterläßt, zu eruieren, wie
die Fragen des modernen Reisenden lauten könnten, wird hier nicht der Versuch
unternommen, zu klären, was die „Touristenattraktionen unserer Tage“ sind. Dar
über hinaus bleibt zu erwähnen, daß bereits der Titel des Warentest-Artikels eine
der zentralen - bisher unbeantworteten - Fragen als Aussage präsentiert: „Am
Schönsten vorbeigeführt“. Das Fragezeichen fehlt.
Die bisherigen Ausführungen sollen eines illustrieren: der Reiseführer hat es
schwer. Er wird penibel auf Falschinformationen untersucht; er wird bisweilen
veralbert; die in ihm enthaltenen Ideologien werden als anachronistisch entlarvt;
usw. usf. Dem Reiseführer wird aber auch viel zugetraut, was sich dann so aus
drückt: „Reiseführer entwerfen Verhaltensstrukturen des Reisenden. (...) Sie steu
ern Touristenströme, wenn sie das ,Sehenswerte 4 auswählen. Sie produzieren und
verstärken Urteile über die Fremde“ 8 ; sie „strukturierten zugleich die Reiseerfah
rung der Benutzer weitgehend vor“ 9 ; sie stellen „Sehanleitungen“ bereit 10 11 ; sie wer
den „zu einem Instrument der Blendung“ 11 ; allgemein gesprochen: „In ihnen spie
geln sich in konzentrierter Form die Vorstellungen der Gesellschaft in einer be
6 Ferdinand Ranft: Städte ohne Menschen. Die Konzeption vieler Reiseführer ist fragwürdig. In: Die
Zeit Nr. 6 v. 1.2. 74.
7 Deutschland-Reiseführer. Am Schönsten vorbeigeführt. In: test 6/1984. S. 76—80. Hier S. 76.
8 Emst Wagner: Anmerkungen zu Romreiseführern. In: Reisebriefe 15/16. 1986. S. 16—32. Hier
S. 16.
9 Hans-Werner Prahl/Albrecht Steinecke: Der Millionen-Urlaub. Von der Bildungsreise zur totalen
Freizeit. Frankfurt am Main/Berlin/Wien 1981. S. 158.
10 Peter Märker/Monika Wagner: Bildungsreise und Reisebild. Einführende Bemerkungen zum Ver
hältnis von Reisen und Sehen. In: Mit dem Auge des Touristen. Zur Geschichte des Reisebildes. Ei
ne Ausstellung des Kunsthistorischen Instituts der Universität Tübingen. Tübingen 1981. S. 7—18.
Hier S. 10.
11 Barthes. Wie Anm. 3. S. 61.