Berichte
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sollte der natürliche, vollkommene Körper aus der Unterwerfung unter allerhand
asketische Regeln und schmerzendes technisches Gerät hervortreten. Gudrun
Silberzabn-Jandt schließlich lieferte eine in die Geschichte hineinleuchtende Ana
tomie der Wascharbeit. In einer geradezu unerbittlichen Offenlegungsdiktion er
läuterte die Referentin, womit die Augen, die Nase und die Hände der waschenden
Hausfrau im einzelnen konfrontiert sind Dieser Tagungsnachmittag, der von Sabi
ne Künsting geleitet wurde, bleibt außer durch die Referate aufgrund des unge-
spreitzten, konstruktiven und kollegialen Gesprächsklimas in guter Erinnerung.
Gegen Abend ging es dann vom Haupttagungsort, der Südwestfälischen Han
delskammer zu Hagen, hinüber in die Ricarda-Huch-Schule, zu Hermann Bausin
gers Schlußvortrag. Darin stellte er eine üppig mit Beispielen gespickte Kosten-
Nutzen-Analyse des Fortschritts auf. Eisenbahn, Nähmaschine, Telefon, Haus
haltsgerät und anderes mehr kamen auf den Prüfstand: Was haben sie uns gebracht,
und was haben sie uns genommen? Welcher kultureller Techniken und welcher
Lernprozesse bedarf es an den Schnittstellen zwischen Mensch und Maschine, um
gleichermaßen das Überleben und das Glück zu ermöglichen? Der kühle Kopf
und der unabhängige, die Systemwirkungen analysierende Verstand seien hier ge
fragt, nicht der Götzendienst der Technik und auch nicht die Teufelsaustreibung
des Fortschritts. Zu denken sei etwa an einen auf solche Kosten-Nutzen-Analysen
spezialisierten „Fortschritts-TÜV“.
In Hermann Bausingers Vortrag fanden sich noch einmal die verschiedenen
Aspekte versammelt, die in den vorangegangenen Tagen im einzelnen erörtert wor
den waren. Die historische Dimension des industrialisierten Menschen wurde
ebenso behandelt wie die Problemlagen der Gegenwart; theoretische Überlegun
gen wurden mit praktischen Lösungsvorschlägen verknüpft und der technisierte
Alltag des einzelnen wurde mit dem Strukturwandel der industriellen Gesellschaft
zusammengeschaut; die Wahrnehmungs- und Verhaltensänderungen, die physi
schen und die psychischen Modellierungen, die sichtbaren Verheißungen und ihre
oft unsichtbaren, dafür aber um so wirkmächtigeren Folgen: all dies kam zur Spra
che und eng damit verbunden auch die Gewalt, deren kulturwissenschaftliche
Analyse so notwendig ist.
So endete der Kongreß mit einer handwerklich meisterhaften Darbietung ideen
reicher, unterhaltsamer und zugleich ganz ernster Volkskunde. Das hinterließ Op
timismus. Nach Abschluß der Hagener Tage trug das Phantombild des industriali
sierten Menschen wie auch das der volkskundlichen Sprech- und Denkweisen zu
nehmend deutliche, wenngleich durchaus gespannte Züge. Ihre Rekonstruktion, ja
selbst die bloße Chronik ihres Sichtbarwerdens bleibt hier unvollständig, wo der
Bericht über all jene Referate fehlt, die in den parallel stattfindenden Sektionen
gehalten wurden. Ein Blick auf das Programm zeigt, daß vor allem die Themen
Arbeit, Museum und Erzählen eine eingehendere Behandlung erfuhren.
Göttingen Andreas Hartmann