Berichte
118
bereits mehrere Jahre im Schuldienst, aus dem er erst 1968 auf den Lehrstuhl für
Europäische Volksliteratur an der Universität Zürich berufen wurde, wo er bis
1979 wirkte.
Max Lüthi gilt in breiten Kreisen in erster Linie als Märchenforscher. In seinen
Hauptwerken {Das Europäische Volksmärchen [1947, 8 1985], Märchen [1962, 8 1990],
Das Volksmärchen als Dichtung. Ästhetik und Anthropologie, [1975, 2 1990]) steht
auch tatsächlich das Märchen im Mittelpunkt, von dem er „Aussage und Gewicht“
erwartete und diese auch überzeugend vermitteln konnte. Und doch ist die Be
zeichnung „Märchenforscher“ zu eng. Lüthi war Literaturwissenschaftler und
Volkserzählforscher, dem wir wichtige Erkenntnisse auch über Sprichwort, Sage,
Ballade und Legende verdanken. Auch als Mitherausgeber der Enzyklopädie des
Märchens, in der er zahlreiche Artikel verfaßte, hat er sich der vergleichenden Er
zählforschung verpflichtet. Lüthi war aber auch ein sensibler Shakespeare-
Interpret. In einem Brief schrieb er einmal mit der für ihn bezeichnenden selbstiro
nischen Bescheidenheit, daß er sein Buch Shakespeares Dramen (1956, 2 1966) zu ei
nem Zeitpunkt verfaßt habe, als er nichts mehr Neues über das Märchen schreiben
konnte ...
In Wirklichkeit vermochte Max Lüthi im Märchen bis zum Ende seiner Schaf
fenskraft immer neue Aspekte zu entdecken, und nicht zuletzt hat er die Erzähl
forschung mit seinen berühmten Kategorien bzw. Kategoriepaaren Eindimensio-
nalität, Flächenhaftigkeit, Abstrakter Stil, Isolation und Allverbundenheit, Subli
mation und Welthaltigkeit bereichert; mit Kategorien, welche nicht nur zeigen,
daß „Stil und Strukturelemente [... ] wie von selber zu einer bestimmten Aussage“
führen, sondern die auch anregend, ja weiterführend, vielleicht auch provozierend
sind: Es steht nämlich noch aus zu untersuchen, ob man den genuin mündlichen
Märchen mit diesen Kategorien vollständig gerecht werden könne.
Spätestens an diesem Punkt stellt sich die Frage, welche Bedeutung das Werk ei
nes Literaturwissenschaftlers für die volkskundliche Märchen- und Sagenfor
schung besitzt. Lüthi war ja nie Feldforscher, das Märchen interessierte ihn weniger
als Erzählakt in einem bestimmten sozialhistorischen Augenblick, sondern eher
als die Ur- oder Grundform der erzählenden Dichtung.
Die Beschäftigung mit den Märchen und Sagen war indessen von ihrem Anfang
an interdisziplinär: Die Brüder Grimm, als Begründer der Volkserzählforschung,
wurden gleichzeitig von einem volkskundlichen, einem poetisch-literaturhistori
schen und einem mythologischen Interesse geleitet. Was das Märchen betrifft, gab
es aber immer wieder Rivalitäten unter den verschiedenen Forschungsrichtungen;
W. E. Peuckert beklagte sich gar über eine „Usurpation des Märchens durch die Li
teraturwissenschaftler“. Dies liegt freilich u.a. am Wesen des Volksmärchens, das
polyfunktional und dementsprechend vielseitig instrumentalisierbar ist: Es kann
als Unterhaltung beim Maisschälen oder als Angstvertreibung bei der Totenwache
erzählt, aber auch zu emanzipatorischen, politischen und pädagogischen Zwecken
dienstbar gemacht werden. Es kann, in schönen Büchern gedruckt, als Literatur ge