Berichte
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lesen und vorgelesen oder aber in der Psychiatrie heilend angewendet werden. Max
Lüthi nun gehörte zu den wenigen Wissenschaftlern, die versucht haben, die fach
wissenschaftlichen Grenzen in der Märchenkunde abzubauen und damit den vie
len Gesichtern der Märchen gerecht zu werden. In seinen zwei Grundsatzartikeln
„Volksmärchen und Literaturwissenschaft“ und „Volkskunde und Literaturwis
senschaft“ (in: Volksmärchen und Volkssagen, 3 1975) hat er methodische Gemein
samkeiten zwischen Volkskunde und Literaturwissenschaft, wie etwa Funktiona
lismus und Ursprungsforschung, herausgestellt. Lüthi hat sich aber gleichzeitig
auch gegen eine methodische Einseitigkeit gewandt und verlangt, daß die For
schung nicht nur der Funktion der Erzählungen, sondern auch dem Text gebüh
rende Aufmerksamkeit schenke: „Wer in seiner Studierstube ein Märchen oder
Volkslied analysiert, der ist nicht nur Literatur- und Musikwissenschaftler, er ist
zugleich auch Volkskundler.“
Lüthi hat nicht nur versucht, die trennenden Grenzen zwischen Literaturwis
senschaft und Volkskunde abzubauen, sondern auch jene zwischen den Texten der
Volks- und der Hochliteratur. Er tat dies, indem er zeigte, wie weit menschliche
Grundthemen sowohl die mündlich-anonyme als auch die individuelle Literatur
beschäftigen. Seinem Sammelband Volksliteratur und Hochliteratur (1970) verdan
ken wir einen guten Einblick in diese idées fondamentales: Sein und Schein, Kleines
überwindet Großes, Selbstbefangenheit und Selbstbegegnung des Menschen, Hy
bris — dies sind vielleicht die wichtigsten. Lüthi untersuchte die Volkserzählungen
nicht als Unterschichtsliteratur: im Mittelpunkt seiner Phänomenologie des Mär
chens stand einfach der Mensch. Darum auch erblickte er in der Kunstgeschichte,
Volkskunde und Literaturwissenschaft keine konkurrierenden Fächer: Sie seien
„insgesamt der Kunde vom Menschen verpflichtet“.
Dieser Satz zeigt bereits, daß der Ansatz Lüthis nicht nur ästhetisch, sondern ge
nauso ausgeprägt auch anthropologisch war. Nicht zufällig heißt der Untertitel sei
nes Werkes Das Volksmärchen als Dichtung: „Ästhetik und Anthropologie“. Lüthi
erblickt im Märchen eine fast schon metaphysisch überhöhte Beschreibung der
Grundzüge unserer Existenz: Der Mensch erscheine im Weltbild des Märchens als
isoliertes Mangelwesen, das gleichzeitig universal beziehungsfähig sei. Dieses Men
schenbild gründet teilweise auf der Anthropologie Arnold Gehlens, wird aber mit
einer nicht näher definierbaren jenseitigen Welt ergänzt und damit transzendiert:
Der kontaktsichere Märchenheld, die begnadete Märchenheldin sind als Repräsen
tanten des Menschen schlechthin mit unsichtbaren Schicksalsmächten verbunden.
Sie sind im Weltganzen, im Kosmos und in der Natur, geborgen.
Daß Lüthi jedoch die Ver-dichtung der condition humaine nicht bloß in einer
der Volkserzählgattungen erblickte, wird bezeugt durch seine stete Bemühung, das
Märchen vor allem mit der Sage zu vergleichen. „In vielen Sagen herrscht die
Angst“: Diese lapidare, aber eminent wichtige Aussage faßt das Wesentliche zu
sammen und erhellt die sich ergänzenden Funktionen beider Gattungen: Sie beste
hen nach Lüthi in einer narrativen Weltbewältigung. In Märchen und Sage äußern