Buchbesprechungen
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sind in der Tat diese „marginal men (und women)“ im Wissenschaftsbetrieb — gerade auch
der Anthropologie —, welche die Disziplinen gestalten und nicht nur verwalten. Ihre De-
konstruktion von Begriffen und Erklärungsmustern trägt dazu bei, der gemütlichen Ver-
spießbürgerung der Stadt und der globalen Vervorstädterung mit der Universität einen Ort
des Zweifelns entgegenzusetzen. Dies, Lindners Arbeit macht es deutlich, müßte die perma
nente Entdeckung der Stadtkultur nicht nur in Chicago begleiten.
Frankfurt Heinz Schilling
DIETER KRAMER, Theorien zur historischen Arbeiterkultur. Marburg: Verlag Arbeiterbe
wegung und Gesellschaftswissenschaft, 1987. 398 S. (Schriftenreihe der Studiengesellschaft
für Sozialgeschichte u. Arbeiterbewegung, Bd. 57).
Dieter Kramer, einer der Protagonisten volkskundlich-kulturwissenschaftlicher Arbeiter
kulturforschung der letzten zwanzig Jahre, hat 1987, sozusagen als Summe seiner langjähri
gen Auseinandersetzung mit dem Thema, diese umfangreiche Arbeit vorgelegt (die von
Wolf gang Jacoheit in einer eingehenden Würdigung einem „Lehrbuch“ gleichgestellt wur
de). Der verstorbene Wiener Volkskundler Helmut P. Fielhauer ermutigte den Autor nicht
nur zur Abfassung (die neben andersgearteten beruflichen Verpflichtungen erfolgen mußte),
sondern hat auch noch die Vorlage und Annahme als Habilitationsschrift an der Geisteswis
senschaftlichen Fakultät der Universität Wien in die Wege leiten können (an welcher Kra
mer seither als Dozent für Europäische Volkskunde lehrt).
Das Buch, ausgestattet mit einem nützlichen Personen- und Sachregister und mit einem
über vierzigseitigen Verzeichnis zitierter Literatur auch einen ausgezeichneten bibliographi
schen Überblick bietend, ist einer Reise vergleichbar — einer Reise „durch die Theorie der
Arbeiterkultur“, „durch die Vielzahl von möglichen theoretischen Zugängen“, „durch die
verschiedenen Ansätze zum Begreifen von Arbeiterkultur“. Diese Reise, in den neun klar
und überlegt gegliederten Kapiteln des Buches nachvollziehbar und zum Schluß von Kra
mer nochmals zusammengefaßt, bezieht sich primär (aber keineswegs nur) auf die deutsch
sprachige Forschung, erfolgt weitgehend chronologisch, historisch („Thema ist somit nicht
die Theorie zur Kultur und Lebensweise der Lohnabhängigen in der Gegenwart“) und kul
turwissenschaftlich (geht also von einem ethnologisch-kulturanthropologischen Kulturbe
griff aus, der Kultur als normsetzendes System der Lebenstätigkeit, als deren organisieren
den und strukturierenden Aspekt begreift; kulturwissenschaftlich ist die Reise, d. h. das
Buch auch, weil im Vordergrund die Frage steht, wie die eigentlichen Kulturwissenschaften
— Volkskunde/Europäische Ethnologie/Kulturanthropologie/Kulturgeschichte — und die
einschlägig interessierten historischen Teildisziplinen, voran die Sozialgeschichte, sich mit
der neuen sozialen Klasse auseinandergesetzt haben). Arbeiterkultur ist in diesem Werk hi
storischer Gegenstand; ihre Auflösung setzt Kramer 1933/34 mit der Machtergreifung von
Nationalsozialismus und Austrofaschismus — also der Zerschlagung der Organisationen
der Arbeiterbewegung — an, nicht ohne zu erkennen, daß sich nach 1945 neue Formen ent
wickelt haben, andere Formen, die einen geänderten Begriff von Arbeiterkultur zur Folge
haben müßten.