Buchbesprechungen
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dieser Vorstellungen, so schließt das Vorwort, ist „die Reise des Lebenden in die Welt der To
ten“. Was ja das rätselhafte Herzstück jeder Historie ausmache: als Lebender zu den Toten
am Rettungsseil der Methode hinabzusteigen und mit dessen Hilfe (als Ariadnefaden) dem
gefährlichen Labyrinth wieder zu entkommen.
Ginzburgs Epilog macht deutlich, daß es ihm auch in der Komposition seines Buches um
einen intellektuellen Hexensabbat geht, auf dem Besen reitend mit allerhand Gelichter —
auch aus der volkskundlichen Totenkammer — zusammentreffend, um am Ende erschöpft
aber reicher wieder zurück in das Tageslicht der entmythologisierten Welt zu kehren, die ih
re Mythen nur nicht mehr erkennen möchte.
Jedenfalls eine weite Reise. Die diesbezüglichen Warnungen des Vorworts schlägt man
ziemlich schnell, zu schnell, in den Wind, liest man die aufregende Verknüpfung zwischen
der Verfolgung der Leprakranken, der Juden und schließlich der Ketzer und Hexen. Diese
Komplott-Theorie des ersten Kapitels ist die erste und einfachste dieser dokumentarischen
Reihen, in die Ginzburg sein Terrain einteilt. Es geht um Macht und um die Usurpierung
und Stigmatisierung von Körpern und Köpfen. Wie die Juden ihre Hüte, die Leprösen ihre
Kutten, so sollen die Hexen physisch die Anzeichen des Teufelspakts an sich tragen. Wesent
liche Definitionsmerkmale des Hexensabbats sind Tierverwandlungen und Flugrituale.
Diese beiden Ausdrucksformen dienen als Ausgangspunkte für die dokumentarischen
Reihen, die durch Analogien amplifiziert werden. Das Wilde Heer wird in allen Schattie
rungen herbeizitiert (dabei wird nebenbei am Beispiel Höflers gezeigt, wie man jenseits von
politischen Nähen wissenschaftliche Arbeit benützen kann, indem man Partialeinsichten
anerkennt, anders gesagt, das Taugliche am Höfler vom Untauglichen trennt), weibliche Er
fahrungen von ekstatischen Frauen so lange zusammengesucht und belegmäßig aneinander
gereiht, bis ein keltischer Ur-Sprung sich dunkel am Horizont der Belege abzuzeichnen be
ginnt.
In den Flügen, die zu Beginn des 15. Jahrhunderts vor Gericht gestellte Hexen und Hexer
aus dem Wallis beschreiben, hört Ginzburg „das verzerrte Echo eines ekstatischen Kults kel
tischer Tradition“. Bevor jedoch des Rätsels Lösung so einfach zustande käme, bringt Ginz
burg zusätzliche Stolpersteine in den oft mühevoll nachzuwandernden Weg. Solche „nächt
lichen Göttinnen mit den vielen Namen“ gibt es auch in Sizilien, wo niemals ein nennens
werter keltischer Einfluß spürbar war. Dieses Gegenargument erfordert eine weitere zeitli
che Ebene mit den eurasischen Steppennomaden und ihren schamanistischen Vorstellun
gen. Historische Zwischenglieder sind dabei die Skythen. Zwischenglieder sind für solche
Umgangsformen mit der Geschichte von besonderer Bedeutung, wie man vom Archäopte-
rix dem Bindeglied zwischen Reptil und Vogel weiß. Das Zwischenstück beweist den ver
bluteten Zusammenhang. Eine weitere Querverbindung existiert zu den Werwolfvorstellun
gen, in denen ja ganz ähnlich wie bei den Benandanti im Grunde auch der Teufel verjagt und
die Fruchtbarkeit befördert wird. Mit Karten versucht Ginzburg zu zeigen, daß Friaul an
der Schnittstelle zwischen rituellen Fruchtbarkeitskämpfen, ekstatischen Ausflügen von
weiblichen Gottheiten und Reisen in das Totenreich liegt. Eine andere kulturgeschichtliche
Kartographie hält ihren Einzug, die tief in der Archäologie des Vergessens ihre Koordinaten
bat, die aber gleichwohl unsere Ängste und Hoffnungen bestimmt, die sich vielleicht in die
Traumnächte, den Wahn, die Kindheitsfantasien zurückgezogen hat, die aber gleichwohl für
unsere Kultur konstitutiv ist.
Scheinbar unerhebliche Details werden „vom Zauberstab des Vergleichs“ berührt und
geben dadurch ihre geheime Physiognomie zu erkennen. Die Einführung der eurasischen