Die Straße lebt.
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dicht belebte Straße ein relativ wirksamer Schutz vor Raubüberfällen und Verge
waltigungen.
Street Life übernimmt in großem Maße auch soziokulturelle Funktionen. Weil
im Slum kommerzielle und öffentliche Kommunikations- und Freizeitangebote
weitgehend fehlen, füllt Street Life die Lücke. Musik, Tanz, Unterhaltung im wei
testen Sinne machen Street Life attraktiv. Die Straße wird zur Bühne, auf der man
sich darstellen kann, seine Kompetenz im „rapping“ und „styling“, afro-amerika-
nischen Formen verbaler Performanz, beweisen kann. „We got our very own Be
verly Hills here“, sagt die 25jährige Elaine L., weist mit Ironie auf die herunterge
kommene Straße, in der sie lebt, und fügt hinzu, „I always wanted to be an actress“.
Die Straße ist schließlich auch Ort der kollektiven Identitätsarbeit — die „Street
people“ setzen gegen die stigmatisierte Reputation des Slums die für sie positiv be
setzte Identität ihrer Straße, ihres Blocks: üblicherweise partizipiert man am Street
Life dort, wo man wohnt, direkt vor der eigenen Haustür, an der nächsten Straßen
ecke. Individuelle Selbstdarstellung und kollektive Rede sind verflochten, in spon
tanen „Street córner rap sessions“ oder „bochinche“ werden persönliche Erlebnis
se in einen gemeinsamen Erfahrungsschatz integriert und in der Gruppe ein Bild
der Wirklichkeit des Slums konstruiert, das der räumlich und sozial extrem frag
mentierten, von unvorhersehbarer Gewalt geprägten Umwelt einen Sinn, eine kul
turelle Ordnung gibt. Dieser Diskurs ist stark raumbezogen und raumbildend, er
scheidet gefährliche von risikoarmen Orten und ist der Schlüssel zur sozialen Or
ganisation des Raumes im Slum.
Die 1985 durchgeführte Forschung in einem exemplarisch ausgewählten Stra
ßenabschnitt des Stadtteils Bushwick im Bezirk von Brooklyn, New York, war
kulturanthropologisch angelegt und unternahm es, das Undurchsichtige des Street
Life aufzuschlüsseln und in einer Ethnographie 2 transparent zu machen. Warum
hat ein Teil der Bewohner städtischer Slums, für die Bushwick nur ein Beispiel ist,
ihr Alltagsleben nach draußen verlegt, so daß die Straßenschluchten zwischen den
Fassaden von den ersten Frühlingstagen im März bis spät im November widerhal
len von Lachen und Geschrei, Radiomusik und Autohupen? Die Studie schlägt
vor, diese soziale Praxis kulturökologisch als eine alltagsweltliche Strategie der
Raumaneignung zu interpretieren, die sich adaptiv-anpassend und kreativ-eingrei
fend mit der Umwelt auseinandersetzt. Diese Umwelt ist die mit vielfältigen Defi
ziten behaftete des großstädtischen Slums. Street Life überwindet deren Mängel,
gleicht sie aus und verändert damit die „dissatisfaktionierende“ Umwelt in eine,
die durchaus Ressourcen zur Befriedigung von Lebensbedürfnissen bietet. Die Stu
die zeigt im einzelnen Zusammenhänge auf zwischen den Lücken, die städtische
Umstrukturierungsprozesse in das Bedürfnisdeckungsangebot des Stadtteils geris
sen haben, und den Antworten, die das Street Life darauf gefunden hat.
2 Vgl. Gisela Welz: Street Life. Alltag in einem New Yorker Slum, Institut für Kulturanthropologie
und Europäische Ethnologie der Universität Frankfurt, NOTIZEN Bd. 36, Frankfurt am Main
1991.