Buchbesprechungen
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risierungsfaktor. Dabei liegt der Schwerpunkt auf der linguistischen Darstellung dieser Son
dersprache; ein Wörterverzeichnis ist beigefügt. Eine zum erheblichen Teil aus Hessen
stammende, deutschsprachige Gruppe im heutigen Ungarn analysiert Zsigmond Csoma in
seinem Beitrag über das Fest des „Emmausgehens“, eines volksreligiösen Brauchs am Oster
montag. Den Umgang mit Zigeunern in der Grafschaft Solms im 18. Jahrhundert und die
verschiedenen Phasen der Zigeunerpolitik dokumentieren Reimer Gronemeyer und Georgia
A. Rakelmann anhand einer Auswertung von Quellen aus hessischen Archiven. Dabei
reicht die offizielle Politik von der Ansiedlung anpassungsbereiter bis zur Vertreibung
durchziehender fremder Zigeuner.
Im Gegensatz zu dem genannten Band konzentriert sich das von Andreas Kuntz und Bea
trix Pfleiderer herausgegebene Sammelwerk fast ausschließlich auf das 20. Jahrhundert, wei
tet dafür aber den Untersuchungsbereich teilweise auf andere Länder aus: In einer Mikrostu
die belegt Michael Knieriem am Beispiel der aufkommenden Textilindustrie des Wuppertales
den Zusammenhang von Protoindustrialisierung und Migration. Peter Höher analysiert die
besondere Problematik der Fremdheit am Beispiel Sauerländischer Wanderhändler, deren
dreifache Fremdheit das Entstehen einer spezifischen Kultur geprägt hat: Sie gelten in ihrem
Herkunftsort wegen ihrer langen Abwesenheit als Fremde, sind in den Wandergebieten be
argwöhnte Eindringlinge und begegnen sich schließlich untereinander als Fremde, da sie als
Konkurrenten auftreten. Die scheinbar exotische Schwarzwaldhaus-Architektur in einem
Hamburger Vorort ist Ausgangspunkt der Betrachtungen von Michael Holtmann. Er legt
dar, warum das Schwarzwaldhaus für die 1935 aus dem Schwarzwald in Rüstungsunterneh
men dienstverpflichteten Arbeitsmigranten gerade nicht die beabsichtigte Wirkung eines
Heimatsymbols erzielte, sondern zu gesteigerter Ablehnung durch ihre Umwelt führte. Dar
auf aufbauend stellt in einer Befragung von ehemaligen Mitarbeitern der Schwarzwälder, in
Hamburg gebliebenen bzw. in den Schwarzwald zurückgekehrten Schwaben Andreas Kuntz
stereotype gegenseitige Vorwurfshaltungen von Norddeutschen versus Süddeutschen her
aus. Die ökonomisch bedingte Zuwanderung ostpreußischer Fischer nach Büsum, ihre Inte
gration bzw. kulturelle Eigenständigkeit untersucht Jörgen Bracker anhand von Archivaus
wertungen und Gesprächen. Waltraut Kokot berichtet über ethnische Gruppen in Thessalo
niki und thematisiert dabei die Schwierigkeiten ethnologischer Feldforschung in Großstäd
ten. Ebenfalls in der Mittelmeerregion arbeitet Thomas Hauschild das Fremde im Span
nungsverhältnis von Magie, Medizin und katholischem Heiligenkult in Süditalien heraus.
Erika Dettmar beschreibt die gegenseitige Wahrnehmung von Afrikanern und Ansässigen in
Hamburg. Max Matter berichtet über die Re-Migration türkischer Gastarbeiter in ihre Hei
mat und deren Probleme bei einer Eingliederung in das dortige gesellschaftliche System. Be
atrix Pfleiderer schließlich skizziert Fremdheit als strukturbedingtes Phänomen im weibli
chen Lebenszyklus in Nordindien.
Insgesamt belegen beide Titel die ganze Breite gegenwärtiger Forschungsansätze und
-methoden. Deutlich wird auch, daß der Diskurs der Volkskunde und der Völkerkunde auf
einander zugeht. Vor allem der erstgenannte Band bietet durch seine Konzentration auf Hes
sen eine weitgehende inhaltliche Geschlossenheit, die der zweite Band vermissen läßt. Lei
der umfassen zudem beide Werke eine Reihe von Beiträgen, die die inhaltliche Konzeption
der Bände auf das Problem der Fremdheit sprengen und auf die hier nicht eingegangen wor
den ist.
Bochum Alwin Müller-Jerina