Buchbesprechungen
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ANGELIKA Gross, „La folie“. Wahnsinn und Narrheit im spätmittelalterlichen Text und
Bild. Heidelberg: Carl Winter Universitätsverlag, 1990. 180 S. m. Anh. u. 86 Abb. (Beiträge
zur älteren Literaturgeschichte).
Die hier vorliegende Zürcher Dissertation gibt eine nützliche Zusammenfassung der auf
mentale Deviationen eingehenden Konzepte, die in Schrift- und Bildquellen (trotz des Ti
tels: des ganzen) Mittelalters greifbar sind. Willkommen ist auch der qualitätvolle Abbil
dungsteil, da das reich bebilderte Buch von Beek „Waanzin in de middeleeuwen“ (1969) nicht
leicht greifbar ist und leider von der Forschung nur wenig berücksichtigt wird. Groß ver
folgt das Thema von der „mania“ der altgriechischen Mythologie über die biblischen Texte
zur geistlichen Literatur des Mittelalters, um dann den religiös-medizinischen Vorstellungen
bei Hildegard von Bingen (die aber wohl nicht als typische Vertreterin der Klostermedizin
[25] apostrophiert werden sollte) und Bartholomäus Anglicus besondere Aufmerksamkeit
zu schenken. Die Fachliteratur wird genauso berücksichtigt wie die moraldidaktische, na
mentlich Anselm von Canterbury und Thomas von Aquin. Konrad von Megenberg und Ei
ke von Repgow stehen als Beispiele naturkundlicher bzw. juristischer Behandlung der Toren
und Narren. Das abschließende Kapitel ist dem Hofnarren in seinen vielfältigen Erschei
nungsformen gewidmet, von der historischen Realität bis zu seinem Auftreten auf Spielkarten.
Wenngleich das Thema also dankenswerterweise unter zahlreichen Aspekten betrachtet
wird, so gibt es doch einige, die zu ergänzen wären: Weder die „Narren Christi“ 1 (wie im
Westen Franziskus) werden behandelt, noch die Ambivalenz zwischen Wahnsinn und Hei
ligkeit, die in den Viten zahlreicher spätmittelalterlicher Mystikerinnen greifbar ist. Haben
doch Zeitgenossen z. B. eine sei. Christine von Stommeln genauso als Irrsinnige betrachtet
wie eine hl. Birgitta von Schweden u. a. Überhaupt würden sich aus einer einläßlicheren Un
tersuchung der hagiographischen Quellen, in denen unzählige an Wahnsinnigen geschehene
Wunder geschildert werden, noch zahlreiche Details gewinnen lassen, z. B. der Brauch, die
Kranken in einer Kirche bei dem Grab eines Thaumaturgen anzuketten usw. Auch bei den
bildlichen Quellen erbrächte die Auswertung von Mirakelzyklen (wie etwa in Altötting)
noch zahlreiche Darstellungen.
An Sekundärliteratur hat Groß eine eindrucksvolle Bibliographie zusammengestellt; zu
ergänzen wäre u. a.: F. P. Knapp, „Antworte dem Narren nach seiner Narrheit!“ Das „Specu-
lum stultorum“ des Nigellus von Canterbury: Reinardus 3, 1990, 45—68 — U. Lindgreen,
Narren und Tiere, über das Verhältnis der Menschen zur vernunftlosen Kreatur: Sudhoffs
Archiv 60, 1976, 271—287 — W. Mezger, Hofnarren im Mittelalter, 1991 — ders., Narrenidee
und Fasnachtsbrauch, 1991 — V. Peset, Terminologia psichiatrica usada en los estados de la
Coronoa de Aragon en la baja edad media: Archivo Iberamericano de Historia de la Medici-
na y Antropologia Medica 7, 1955, 431—442. Dazu zahlreiche literaturhistorische Arbeiten
zum Wahnsinn Yvains, Tristan als Narren, etc. — Daß gerade eine solche referierende Über
sichtsdarstellung ohne Register publiziert wurde, muß bedauert werden. Sie wird trotzdem
auch allen volkskundlichen Forschungen zum Thema dienlich sein. 2
Salzburg Peter Dinzelbacher
1 Vgl. R. Albrecht, s. v., in: P. Dinzelbacher (Hrsg.), Wörterbuch der Mystik, Stuttgart 1989, 371 f.; bei
der Literatur zu ergänzen: /. Saward, Dieu ä la folie, Paris 1983.
2 An Irrtümern sei richtiggestellt: 10, Anm. 4: „gebrechlich an iren sinnen“ heißt nicht „alters
schwach“ — 40: der Liber — 99, Anm. 252: ioculatoria — 133: Im Mittelalter gab es kein Papiergeld,
und solches ist auch auf dem besprochenen Holzschnitt (nicht Miniatur) nicht abgebildet. -
106ff.: Die Deutung der Narrentonsur von der klerikalen her scheint mir fraglich; vielmehr wäre
das Scheren der Sklaven als Symbol der genommenen Selbstbestimmung zu vergleichen.