Buchbesprechungen
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ALFRED Cammann, Heimat Wolhynien. Bd. I. und II. Marburg: N. G. Eiwert Verlag,
1985/1989. 468 S. u. 485 S. (Schriftenreihe der Kommission für Ostdeutsche Volkskunde in
der Deutschen Gesellschaft für Volkskunde, Bd. 35).
Wolhynien ist eines der weniger bekannten und erforschten bis in den Zweiten Weltkrieg
hinein bestehenden deutschen Siedlungsgebiete in Osteuropa. Die Landschaft liegt in der
Ukraine südlich von Brest zwischen der Westgrenze Kongreßpolens und Kiew im Osten. Sie
war charakterisiert durch eine Mischbesiedlung von Ukrainern, Deutschen, Polen, Juden,
Tschechen und wechselnde staatliche Zugehörigkeit. Mehrere Einwandererwellen folgten in
unregelmäßigen Abständen aufeinander. Die ehemaligen deutschen Kolonisten sind durch
Flucht, Deportation, Vertreibung und Umsiedlung heute über alle Welt verstreut.
Cammanns zwei Bände wollen zunächst als Heimat- und Erinnerungsbuch gewertet wer
den. Es ist in diesem Fall durchaus berechtigt festzustellen, daß viele der in den Büchern mit
enormem persönlichem Einsatz durch Cammann und seine Gattin als stetige Mitarbeiterin
zusammengetragenen Materialien in letzter Minute aufgezeichnet worden sind. Andernfalls
wären sie für die Kulturgeschichtsschreibung verlorengegangen, wie manches an For
schungsmaterial, das bereits durch den letzten Krieg vernichtet worden ist.
Bei den Inhalten handelt es sich vorwiegend um originale biographische und autobiogra
phische Zeugnisse, die einen erstaunlichen Bereich abdecken: Sozial- und Siedlungsge
schichte, Volkserzählung, Brauch, Lied, Auswandererüberlieferung, Wetterregeln, Sprich
wort, Interethnik, Kinderüberlieferung, Hausbau, Volksmedizin und -glaube, Nahrungs
mittelvolkskunde u. a. mehr.
Damit sind die Bände ein wichtiges volkskundliches Quellenwerk. Und einmal mehr ist
man bei Cammann frappiert, wie aktuell seine Thematiken für das Fach sind: Auswanderer
überlieferung, Autobiographie, oral history als Geschichte von unten in Reinkultur - und
das alles vor dem brisanten Thema der gegenwärtigen ethnischen Revolution in Osteueropa!
Die einzelnen Beiträge verblüffen zunächst einmal wegen ihrer willkürlichen Aneinan
derreihung und hochpersönlichen Zwischenkommentierung durch den Herausgeber. Ge
wöhnt, wohlgeordnete, systematisierende und kategorisierende wissenschaftliche Bücher zu
rezipieren, stellt sich dem Rezensenten hier zunächst scheinbar ein Chaos dar. Aber ist nicht
gerade das die Lebensweise der überlieferten Traditionen, daß sie sich „in situ“ nie nach wis
senschaftlichen Systematiken darstellen, sondern vielmehr bunt vermischt? Die äußere
Form der Bände spiegelt somit eigentlich mehr und echtere Lebenswirklichkeit - dies ist
vielleicht auch der Grund, daß hier nicht trockenes gelehrtes, sondern unterhaltsam span
nendes Lesematerial vorliegt: Spinnstubennächte in zwei Bänden.
Erschütternd allerdings jedes einzelne der persönlichen Schicksale von Mitgliedern einer
Siedlungsgruppe, die vom Ersten bis zum Zweiten Weltkrieg fünf Kriege sowie zahlreiche
Deportationen und Verschleppungen durchmachen mußte. Keine Familie, die dabei nicht
um die Hälfte dezimiert worden wäre und in primitivsten Verhältnissen nahe dem Hunger
tod vegetieren mußte. Und dennoch, trotz oder gerade wegen dieser Umstände scheint in al
len Beiträgen eine echte Toleranz gegenüber den Wirtsvölkern und benachbarten Ethnien
auf, besonders überzeugend bei Schilderungen von Besuchen der „alten Heimat“ in der
jüngsten Vergangenheit.
Bad Oeynhausen RAINER WEHSE